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Full text of "Völkerkunde"

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L 


VÖLKERKUNDE 


VON 


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"Ji  '  "Ü  ,1  tJ  u  i    , 


OSCAR  PESCHEL. 


LEIPZIG, 

VERLAG  VON   DUNCKER   &   HUMBLOT 

1874. 


•  • 


Das  Recht  der  Uebersetzung  wie  alle  anderen  Rechte  vorbehalten. 

Die  Verlagshandlung. 


4^\ 


f.^&X.'jf^-^ 


V. 


ORWORT. 


Andere  Antriebe  als  der  innere  Drang  müssen  wirksam  sein, 
wenn  sich  ein  Schriftsteller  entschliesst ,  etwas  zu  veröffentlichen, 
was  auch  nur  annähernd  einem  Handbuche  gleicht,  denn  an  eine 
solche  wenig  erquickende  Arbeit  \vird  immer  die  Forderung  der 
Vollständigkeit  gestellt  werden  müssen.  Handelt  es  sich  dabei 
um  eine  Völkerkunde,  so  sieht  sich  der  Verfasser  gez^vungen,  auch 
solche  Gebiete  zu  betreten,  deren  Anbau  nur  dem  strengen  Fach- 
mann gestattet  ist.  Er  hat  dann  nicht  mehr  eigene  Gedanken 
vorzutragen,  sondern  nur  die  Erkenntnisse  maassgebender  Ge- 
lehrten zu  wiederholen,  und  es  verlässt  ihn  dabei  nie  das  drückende 
Gefühl ,  als  pflücke  er  Rosen  in  fremden  Gärten,  Nie  wäre  es 
dem  Unterzeichneten  in  den  Sinn  gekommen,  ein  Lehrgebäude 
der  Völkerkunde  neu  aufzurichten,  wenn  er  nicht  am  Beginn 
des  Jahres  1869  von  dem  damaligen  Kriegsminister  General 
A.  V. '  Roon  aufgefordert  worden  wäre ,  dessen  „Völkerkunde 
als  Propädeutik  der  politischen  Geographie"  in  vierter  Auflage 
verjüngt  herauszugeben.  Der  Wunsch  eines  Mannes,  dessen 
Name  eng  an  die  Schöpfung  unsers  Heerwesens  geknüpft  ist, 
wurde  zur  Pflicht  für  einen  Deutschen,  dem  die  errungene  Stärke 
seines  Volkes  Dankespflichten  für  ihre  grossen  Urheber  aufer- 
legte. Nach  rasch  erfolgtei  brieflicher  Verständigung  sollte  auf 
dem  Titel  das  neue  Werk  als  ein  gemeinsames  des  Herrn 
V.  Roon  und  des  Verfassers  bezeichnet,  dem  ersteren  aber  die 
Arbeit  zur  Billigung  vorgelegt  werden. 

Als  aber  nach  beinahe  fünf  Jahren  ein  Theil  des  fertigen 
Druckes  im  letzten  Herbste  abgehen  konnte,  ergab  sich,  dass  Se. 
Excellenz,  der  Herr  Feldmarschall  Graf  Roon,  wegen  seiner  er- 
schütterten Gesundheit    sich    vorläufig    nicht    über    den  Inhalt  der 


O 


97930 


VI  Vorwort. 

„Völkerkunde**  zu  unterridhten  vermochte,  dass  er  zwar  nach  Ein- 
tritt der  Genesung  es  zu  thun  gedächte,  dass  er  indessen,  wenn 
ein  derartiger  Aufschub  Nachtheile  für  den  Verfasser  und  Verleger 
befürchten  Hesse ,  eine  alsbaldige  Veröffentlichung  ihrem  Er- 
messen anheim  stellte,  dann  aber  eine  Erwähnung  seines  Namens 
auf  dem  Titel  ausgeschlossen  bleiben  müsste.  Ein  längerer  Auf- 
schub war  in  der  That  nicht  rathsam,  denn  wie  rasch  bei  der 
heutigen  wissenschaftlichen  Thätigkeit,  namentlich  auf  dem  Gebiete 
der  Völkerkunde,  die  Arbeiten  altern,  wurde  dem  Verfasser  während 
des  Druckes  empfindlich  nahe  gerückt  durch  das  Erscheinen 
mancher  neuen  Untersuchung,  die  sich  nicht  mehr  benutzen  Hess. 
So  ist  auch  in  den  früheren  Abschnitten  des  Buches  das  Reich 
der  Mohammedaner  in  Talifu  als  bestehend  und  erblühend  be- 
zeichnet worden,  während  nach  den  letzten  Nachrichten  die  Chi- 
nesen es  1872  zerstört  haben. 

Der  ursprüngliche  Zweck  des  Unternehmens,  nämlich  A.  von 
Roon's  „Völkerkunde  als  Propädeutik  der  politischen  Geographie** 
für  die  heutigen  wissenschaftHchen  Ansprüche  neu  zu  erwecken^ 
ist  demnach  zur  Bekümmerniss  des  Verfassers  verfehlt  worden. 

Leipzig,   10.  Januar  1874. 

Oscar   Peschel. 


Inhalt. 


Einleitung. 

1.  Stellung  des  Menschen  in  der  Schöpfung.  Uebereinstimmun- 
gen  und  Verschiedenheiten  zwischen  ^lenschen  und  Affen.     S.  i — 6. 

2.  Arteneinheit  oder  Artenraehrheit  des  Menschenge- 
schlechtes. Morphologischer  und  physiologischer  Artenbegriff.  Frucht- 
barkeit der  Racenraischlinge.  Darwin's  natürliche  Zuchtwahl  und  geschlecht- 
liche Auswahl.     Psychisches  Einerlei  des  Menschengeschlechtes.     S.  7 — 27. 

3.  Schöpfungsherd  des  Menschengeschlechtes.  Nicht  auf 
Inseln.     Nicht  in  Australien.     Nicht  in  Amerika.     Lemurien.     S.  28 — 36. 

4  Alter  des  Menschengeschlechtes.  Abbeviller  Kieselgeräthe. 
Höhlenfunde.  Französische  Renthierzeit.  Schussenried.  Kjokkenmöddinger. 
Pfahlbauten.     Funde  in  Nilablagerungen.     S.  37 — 47. 

Die  Körpermerkmale. 

1.  Grössenverhältnisse  des  Gehirnschädels.  Kreuzköpfe.  Ge- 
schlechtsunterschied.    Breitenindex.     Höhenindex.     S.  49- -63, 

2.  Das  menschliche  Gehirn.  Gewicht  bei  Menschen  und  Thieren. 
Mikrocephalen.  Racengewichte.  Gehirnvolufnen.  Himgestalt  und  Hirnge- 
wicht.    S.  63—73, 

3.  Der  Gesichtsschädel.  Kieferstellung.  Jochbogen.  Nasensattel, 
S.  74—80. 

4.  Grössenverhältnisse  des  Beckens  und  der  Gliedmassen. 
Beckenformen.  Körpergrösse.  Proportionen  der  obern  und  untern  Glied- 
massen,    S.  80 — 91. 

5.  Haut  und  Haar.  Farbzellen.  Farbe  der  Neugebornen.  Geruch. 
Entstehung  der  Hautfarbe.  Haarfarben.  Querschnitt  des  Haares.  Verfilzung. 
Leibhaare.     S.  91 — 102. 

Die  Sprachmerkmale. 

1.  Entwicklungsgeschichte  der  menschlichen  Sprache.  Thier- 
sprache.  Unabhängigkeit  von  Laut  und  Sinn.  Onomatopoesie.  Interjectionen. 
Betonung.  Geberde.  Taubstumme.  Kindersprache.  Wortreichthum.  S. 
103—117. 

2.  Bau  der  menschlichen  Sprache.  Einsylbigkeit.  Sinnbegrenzung. 
Uralaltaischer  Typus.  L.iutharmonie.  Einverleibung.  Präfixsprachen  Südafri- 
ka*s.      Grammatisches    Geschlecht.       Semitismus.        Indoeuropäischer    Typus, 

3.  Die  Sprache   als  Classificationsmittel.     S.  133 — 136. 


VIII  Inhalt. 

Die  technisciien,  bärgerlichen  und  religiösen  Entwioklungsstufea. 

1.  Die  Urzustände.  Keine  thierischen  Zustände  nachweisbar.  Feuer- 
finäung.  Feuerbohrer.  Buschmänner.  Vedda.  Mincopie.  Feuerländer.  Bo- 
tocuden.     Ursachen  des  Aussterbens  roher  Völker.     S.  137 — 158. 

2.  Die  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung.  Wildwachsende 
Nährpflanzen.  Pantophagie.  Menschenfresserei.  Alkoholische  und  narcoti- 
sche  Genussmittel.  Steinkocher.  Thongeschirr.  Gabeln,  l-öffel.  Salz. 
S.  158—176. 

3..  Bekleidung  und  Obdach.  Schamgefühl.  Bekleidungsstoffe. 
Fussbekleidung.  Laubschirme.  Blätterhütten.  Steinbauten.  Bogenwölbung. 
S.  176—188. 

4.  Bewaffnung.  Bogen  und  Pfqil.  Blasrohr.  Pf^ilgift.  Schleuder. 
Waffen  von  Ackerbauvölkern.     S.   188 — 202. 

5.  Fahrzeuge  und  Seetüchtigkeit.  Ströme  und  Binnenseen. 
Phönicier  und  Araber.     Fjord bewohner.     Inselbewohner.     S.  202 — 216. 

6.  Einfluss  des  Handels  auf  die  räumliche  Verbreitung  der 
Völker.  Edle  Metalle.  Kabeljaufang.  Pelzthiere.  Gewürze.  Farbhölzer. 
Sklavenhandel.     Zinn.     Bernstein.     S.  217 — 227. 

7.  Ehe  und  väterliche  Gewalt.  Heirathsalter.  Unkeuschheit.  Po- 
lygamie. Polyandrie.  Blutschande.  Frauenraub.  Brautkauf.  Hetärismus. 
Verwandtschaftsnamen.     Gynäkokratie.     Neffenerbrecht.    Kuss.     S.  227—247. 

8.  Keime  der  bürgerlichen  Gesellschaft.  Blutrache.  Wergeid. 
Eigenthumsbegriffe.  Häuptlingswürde.   Sklaverei.    Kaste.   AdeL    S.  247 — 255. 

9.  Religiöse  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern.  Das 
menschliche  Causalitätsbfedürfniss.  Steindienst.  Baumdienst.  Thierdienst. 
Verehrung  des  Wassers,  der  Sonne,  der  Naturkräfte.  Unsterblichkeitsidee. 
Ahnendienst.     Heroencultus.     S.  255 — 274. 

10.  Schamanismus.  Priestertrachten.  Zauber  als  Todesursache.  Hexen- 
processe.  Gottesgerichte.  Gebet.  -Opfer.  Brahma  und  die  Brahmanen. 
S.  274—283. 

11.  Buddhalehre.  Vedäntä  und  Sänkhja.  Leben  des  Religionsstifters. 
Nirväna.     Sittenlehre.     Heutige  Verbreitung.     S.  283 — 291. 

12.  Dualistische  Religionen.  Gute  und  schaden  stiftende  Mächte. 
Zoroaster.  Ormazd  und  Ariman.  Auferweckung  der  Todten.  Sittenlehre 
S.  291 — 299. 

13.  Israelitischer  Monotheismus.  Polytheistische  Anfänge.  Vor- 
malige Rohheit  der  Gottesidee.  Auftreten  der  Propheten.  Sittliche  Welt- 
ordnung.  Verachtung  des  Opfers.  Erhabenheit  der  Gottesidee.  Läuterung 
im  Exil.     S.  299—308. 

14.  Christliche  Lehre.  Prä  existenzlehre  im  Alten  Testament.  Gütige 
Vorsehung.  Vaterunser.  Sittenlehre.  Christenthum  und  Buddhismus.  S. 
308-316. 

15.  Islam.  Mohammad.  Qorän.  Monotheistischer  Purismus.  Sittengesetz. 
Lehre  von  der  Gnadenwahl.     Heutige  Ausbreitung.     S.  316 — 324. 

16.  Zone  der  Religion s Stifter.  Schreckmittel  der  Natur.  Einfluss 
der  Nahrung.     Einfluss  der  Wüste.     S.  324—336. 


.„..i  .\M 


Dia  Mensshenraoen. 
1)  Australier.    2)  Papuanen.    3I  Mongolen.    4)  Dtavida.    5)  Hottenlolteii 
xnd  BuEchnnänner.    6)  Neger.    7)  Jlillelländische  Völker.     S.  JJ?— 338. 

I.    Australier, 
eckmale.    Sprache     Wohnraum.    Geiälhe.    Gebl  es  gaben.    Sitii-n. 


Körpennetkmale.  Australische  und  asiatische  Gruppe  (Alfuren,  NegriM. 
Jlincopie,  Semangl.  Geistige  Begabung.  GerSlhe  und  Sitten.  Fidschiinsu- 
laner.     S.  358 — 368. 

ni.  -Mongolenalinllche  Volker. 

1,  Der  raalayische  Stamm.  Geogr.  Verbreitung  der  Polynesier.  Gt- 
täthe,  Sitten  und  Gcistesgabtn  <!er  polynesischen  Malayen.  Asiatische  M.l- 
l.iyen  (Tagalen,  Bisaya,  eigentliche  Malayen,  Sund.inesen,  Javanen,  Batt^, 
Dajaken,  Macassaren,  Buginesen).  Mikronesier.  Bewohner  Madagaskars  und 
Formosa's.     Körpermerkmale.     S.  369 — 382. 

2.  Südostasiateo  mit  einsylbigen  Sprachen.  Tübet^ner  imi 
Himalayastämme,  Birmanen.  Thai  oder  Siamesen.  Laos.  Annaniiten.  Ctii- 
nesen.     Chinesische  Cullur.     Confulse.     Laolse.     S.  382 — 400. 

3,  Koreaner  und  Japanesen.     Sprach  merk  male.     S.  400 — 401. 

4.  Mongolenähnliche  Völker  im  Norden  der  alten  Welt.  Ut.il- 
altaiischer  Stamm,  'n)  lungusischer  AsI,  i]  mongolischer  Ast  (Ostmongolen, 
Kalmükeo,  Burjäten,  Haiareh),  1:)  türkischer  Ast  (Uiguren,  Oeibegen,  Do- 
mänen, Jakuten,  Turkmauen,  Nogaier,  Basianen,  Kuniüken,  Karak:ilpaken, 
Kirgisen),  rf)  finnischer  Ast,  Ugrischer  Zweig  (Ostjaken,  AVogulen,  Magyaren), 
Bulgarischer  Zweig,  Permischer  Zweig,  eigentlich  finnischer  Zweig  iSuomi, 
Lappen),  e)  samojedischer  Ast.     S.  401—413. 

i.  Nordasiaten  von  unbestimmter  Stellung.  Jenissei-Ostjaken. 
Jukagiren.    Aioo.     S.  413  —  41;. 

6.  Beringsvölker,  Körpermeikraale.  a)  Kamtschad.ilen,  b]  Korjaken 
und  Tschuktschen,  c)  Namollo  und  Eskimo,  rfj  Aleulen,  «■)  Thlinkiten  umi 
Vancouverstämme.     S.  415 — 418, 

7.  Amerikanische  Urbevölkerung.  Wanderung  von  Asiaten  Lim 
die  Beringsenge.  Mongolische  Racenmerkmale.  Beziehung  der  Sprache  iui;i 
altaischen  Typus,     Mongolische  Sitten.    Vergleich  der  neuen  und  alten  Weil. 

a]  Die  Jägerslämme  im  nördlichen  Festlande  (Kenai  und  Athapj- 
ken,    Algonkinen,   Irokesen,   Daeula,    südöstliche    und    südwestliche  Gruppe. 

b)  Südamerikanische  Jä^erstamme.  Tupi,  Guaycuru,  Ggs,  Cren,  Arü- 
waken,  Cariben.  Vergleich  der  nördlichen  und  südlichen  Jägerstätonn 
Moundbuäders.  Kupferbergbau.  De  Soto's  Kriegszug.  i:)  Die  Cultur- 
völker  Nordamerika's.  Sonori^che  Sprachen.  Qbola.  Pueblos.  Nahuai- 
laken,  Maya,  Quichi.     Die  Cnlturvälker  Südamerika's.    Chibcha.    Qui- 


X  Inhalt. 

chua.  Yunca.  Araucanier.  Patagonier.  Einheimischer  Ursprung  der  ameri- 
kanischen Cultur.  Vergleich  der  Gesittungen  im  nördlichen  und  südlichen 
Festland.     S.  428—482. 

IV.    Dravidabevölkerung  Vorderindiens. 

Körpermerkmale,    i)  Mundavölker  oder  Dscheagelstämme.  2)  Eigentlich- 
Dravida  (Brahui,  Tulu,  Tamulen,  Telugu,  Canaresen,  Tuda).    3)  Singhalesen 
Typus  der  Dravidasprachen.     S.  483 — 487. 

V.   Hottentotten  nnd  Buaoliin&nner. 

Körpermerkmale.  Zwergvölker.  Hottentottensprache.  Sittenschilderun;» 
der  Hottentotten.     S.  488 — 496. 

VI.   Neger. 

Körpermerkmale.  1)  Bantuneger.  Suaheli.  Betschuanen.  Kaürn.  Bin- 
nenstämme. Bundavölker,  Kongoneger.  Nordwestliche  Küstenstämme.  2)  Su- 
danneger. Ibo.  Nuffi.  Ewhe.  Odschi.  Zahn-  und  Pfefferküste.  Mandingo. 
Joloffer.  Sererer.  Fulbe.  Sonrhay.  Hansa.  Kanuri.  T6da  (Tibbu)  keine  Neger. 
Bagrimma.  Maba.  Nilstämme.  Fundj.  Nobah.  Afrika  als  Wohnraum.  Ge- 
sittung der  Bantu-  und  Sudanneger.     S.  497 — 516. 

VII.   Die  mittelländische  Raoe. 

Körpermerkmale,  i.  Hamiten.  a)  Berber,  Guanchen,  Schellah,  Tuareg» 
T6da);  ö)  Altägypter;  c)  Ostafrikanische  Hamiten  (Berabra,  Bedscha,  Schu- 
kurieh,  Kababisch,  Hassanieh,  Dankali,  Galla,  Somali,  Wakuafi,  Masai);  Alt- 
ägyptische Gesittung.     S.  517 — 529. 

2.  Semiten;  Körpermerkmale.  Ethnographie  der  Bibel,  a)  Nord- 
semiten (Aramäer,  Hebräer,  Kanaanäer,  Assyrier  und  Babylonier).  Stellung 
der  Akkadier  oder  Sumerier.  b)  Südsemiten  (a.  Nordaraber,  ß.  Südaraber, 
Abessinier).     Chaldäische  Gesittung.     Religion  der  Semiten.     S.  530 — 538. 

3)  Europäische  Stämme  von  unbestimmter  Stellung,  a)  Ban- 
ken, b)  kaukasische  Bevölkerungen  (Daghestäner,  Tschetschenzen,  Abchasen, 
Tscherkessen,  Lazen,  Suanen,  Mingrelier,  Georgier).     S.  538 — 540. 

4.  Der  indoeuropäische  Stamm,  a)  Asiaten,  Sanskritvölker  (Neu- 
indische Sprachen.  Siaposch.  Zigeuner).  Er&nier.  (Perser,  Kurden,  Armenier, 
Osseten,  Tadschik).  Awghanen.  b)  Europäer,  a.  Nordeuropäer,  Lcttoslavcn 
(Letten,  Slaven),  Germanen  (Skandinavier,  Gothen,  Germanen),  ß.  Südeuro- 
päer. Griechen.  Albanesen.  Lateiner  (Portugiesen,  Spanier,  Catalonier,  Proven- 
9alen,  Nordfranzosen,  Alpenmundarten,  Furlaner,  Rumänen).  Kelten.  Ur>ii/- 
der  Indoeuropäer.     Europa  als  Wohnort.     S.  540 — 557. 


Appendix  A.    Welcker'sche  Schädelmessungen.     S.  558. 
Appendix  B.    Bamard  Davis*  Schädelmessungen.     S.  560. 

Namen-  und  Sachregister.     S.  562. 


EINLEITUNG. 


I. 

DIE  STELLUNG  DES  JIENSCHEN  IN  DER  SCHÖPFUNG. 

Schon  bei  dem  ersten  Versuche  die  belebte  Schöpfung  zu 
classificiren,  vereinigte  Linn^,  ohne  einen  Anstoss  zu  erregen  inner- 
halb der  Säugethierclasse ,  die  Menschen  und  die  Affen  zu  einer 
Ordnung,  welche  er  als  die  Primaten  bezeichnete.  In  unsern 
Tagen  hat  sich  jedoch  ein  wissenschaftlicher  Streit  entsponnen,  ob 
das  Menschengeschlecht  von  den  Affen  durch  den  Rang  einer  Ord- 
nung oder  nur  durch  den  einer  Unterordnung  getrennt  werden 
solle.  Da  es  sidh  hier  darum  handelt,  welchen  Werth  man  den 
Begriffen  Ordnung  oder  Unterordnung  innerhalb  eines  systema- 
tischen Baues  beizulegen  gesonnen  ist,  so  hat  die  Völkerkunde 
keinen  Beruf  sich  in  diese  Verhandlungen  zu  mischen.  Richard 
Owen  glaubte  sich  überzeugt  zu  haben,  dass  bei  dem  Menschen 
allein  das  kleine  Gehirn  vollständig  vom  grossen  überragt  werde 
und  uns  dadurch  ein  entschieden  höherer  Rang  selbst  über  die  am 
günstigsten  gebauten  Affenarten  gesichert  sei.  Dass  aber  diese 
Behauptung  nur  auf  irrigen  Beobachtungen  beruhte,  ist  allgemein 
anerkannt  worden,  selbst  von  solchen  Naturforschern,  die  wie  Gra- 
tiolet,  gegen  die  Lehre  der  historisch  erfolgenden  Antenumwand- 
lungen  sich  erklärt  haben. 

Auch  die  Unterscheidung  des  Menschen  und  der  Affen  als  Zwei- 
händer  und  als  Vierhänder  Ist  durch  neuere  Untersuchungen  be- 
seitigt worden.  Die  Fusswurzelknochen  des  Gorilla  gleichen  in  allen 
wichtigen  Beziehungen  der  Zahl,  Anordnung  und  Form  denen  des 
Menschen.  Nur  sind  bei  diesem  Thiere  die  Mittelfussknochen  und 
Finger  verhältnissmässig  länger  und  schlanker,  während  die  grosse 

Pesckel,  Völkerkunde.  I 


2  Stellung  des  Menschen  in  der  Schöpfung. 

Zehe  nicht  bloss  vergleichsweise  kürzer  und  schwächer,  sondern 
durch  ein  beweglicheres  Gelenk  mit  ihren  Metatarsalknochen  an  die 
Fusswurzel  gelenkt  ist  ^).  Ferner  besitzt  der  Greiffuss  der  Affen 
die  drei  Muskeln  (M.  peronaeus  longus,  flexor  brevis,  extensor 
brevis),  welche  der  Hand  fehlen  ^),  wenn  auch  die  Befestigung  der 
Zehenbeuger  beim  Menschen fuss  etwas  verschieden  sein  mag.  Wenn 
aber  auch  die  hintern  Gliedmassen  des  Gorilla  als  echte  Füsse 
anerkannt  werden  müssen,  so  sind  doch  ihre  Verrichtungen  andere 
als  die  unseres  Fusses  und  durch  sie  allein  erhöht  sich  schon  der 
morphologische  Rang  des  Menschen  weit  über  die  am  höchsten 
gestellten  Affen.  Als  höher  gilt  uns  nämlich  derjenige  Körperbau, 
der  besondere  Verrichtungen  auf  besondere  Werkzeuge  beschränkt. 
Niedriger  stehen  uns  dagegen  solche  Geschöpfe,  die  mit  den- 
selben Gliedmassen  eine  Mehrzahl  von  Thätigkeiten  vollziehen 
müssen,  wie  etwa  Vögel  ihre  Kiefern,  die  uns  nur  zur  Zermal- 
mung  der  Nahrung  dienen,  zum  Ergreifen,  bisweilen  selbst  zum 
Klettern  also  zur  Ortsbewegung  benützen  müssen.  Die  vordem  und 
die  hintern  Gliedmassen  der  Affen  verrichten  die  nämlichen  Dienste, 
nämlich  sie  greifen  und  sie  klettern,  wobei  noch  zu  erwägen  ist, 
dass  gerade  im  Klettern  die  wichtigste  Ortsbewegung  jener  Ge- 
schöpfe besteht.  Wohl  versuchen  auch  die  menschenähnlichen 
Affen  sich  zum  aufrechten  Gange  zu  erheben,  doch  legen  sie  nur 
kurze  Strecken  und  diese  nicht  ohne  Anstrengung  zurück.  Im 
maläyischen  Indien  gehen  die  Hylobatesarten ,  die  sonst  dem 
Menschen  viel  ferner  stehen  als  die  drei  andern  höchsten  Affen, 
wiewohl  mit  gebogenen  Knien  stets  aufrecht,  dabei  berühren  sie 
jedoch  mit  ihren  langen  bis  auf  die  Erde  herabreichenden  Finger- 
spitzen, um  sich  im  Gleichgewicht  zu  erhalten,  bald  rechts  bald 
links  den  Boden  ^).  Andrerseits  muss  zugegeben  werden,  dass  bei 
manchen  Menschenstämmen  der  Fuss  zum  Ergreifen  benutzt  wird, 
namentlich  sind  es  Nubier,  die  sich  mit  der  grossen  Zehe  im  Schiffs- 
tauwerk festhalten  '')  oder  Eingeborene  der  Philippinen,  die  mit  ihren 
Zehen  kleine  Geldstücke  vom  Boden  aufheben,  ja  selbst  im  Schoosse 


i)  Huxley ,  Stellung  des  Menschen  in  der  Natur.  Braunschweig  1863.  S.  105. 

2)  Claus,  Grundzüge  der  Zoologie.     Marburg  1873.     S.  I125. 

3)  Dr.   Mohnike.     Die    Affen    der   indischen   Welt.     Ausland   Bd.    45. 
1872.     No.  30.     S.  714. 

4)  G.  Pouchet,  Plurality  of  the  Human  Race.  London  1864.  p.  39. 


Stellung  des  Menschen  in  der  Schöpfung.  ^ 

europäischer  Gesittung  ist  es  vorgekommen,  dass  wegen  Körper- 
mängel Schönschreiber  und  geschätzte  Maler  Feder  und  Pinsel  mit 
ihren  Zehen  geführt  haben  *).  Doch  verengern  solche  kleine  An- 
näherungen nur  wenig  die  breite  Kluft  zwischen  uns  und  den  Affen, 
die  sich  zunächst  auf  die  Arbeitstheilung  zwischen  den  vorderen 
und  hinteren  Gliedmassen  begründet.  Sobald  das  Kind  aufhört 
die  Hände  zur  Ortsbewegung  zu  benützen,  hat  es  sich  schon 
seinen  hohen  Rang  in  der  Schöpfung  erworben.  Wenn  auch  am 
Fusse  des  Gorilla  nur  der  Unterschied  haftet,  dass  die  grosse  Zehe 
den  andern  Zehen  entgegen  gestellt  werden  kann,  so  wird  er  doch 
eben  dadurch  zu  einem  Greiforgan  und  zum  Gehen  ungeeignet. 
Die  Affen  treten  überhaupt  entweder  mit  den  äusseren  Rändern 
ihrer  Sohlen  oder  wie  Orang  und  Schimpanse  mit  dem  Rücken 
ihrer  gebognen  Fingerglieder  auf^).  Der  Mensch  im  Gegensatz 
zum  Affen  steht,  geht,  läuft,  springt,  tanzt,  klettert,  schwimmt, 
reitet,  sitzt  und  kann  lange  in  der  Rückenlage  verweilen. 
Der  aufrechte  Gang  hat  die  Verkürzung  der  vorderen  Gliedmassen 
zur  Folge  gehabt  und  wie  Carl  Vogt  bemerkt,  auch  die  Schüssel- 
form des  Beckens  zum  Tragen  der  Eingeweide  ^).  Unser  verhält- 
nissmässig  so  geräumiger  Schädel  schwebt  im  Gleichgewicht  auf 
den  Stützpunkten  die  ihm  die  Wirbelsäule  gewährt  und  treten 
wie  beim  Neger  die  Kiefern  stark  nagh  vorn,  so  verlängert  sich 
zur  Beseitigung  der  Störung  zugleich  das  Hinterhaupt.  Die  vor- 
deren Gliedmassen  erlöst  von  den  Verrichtungen  der  Ortsbewegung, 
dienen  nur  noch  zum  Ergreifen  und  sie  sind  bisher  noch  'immer 
geschickt  gefunden  worden  um  alles  auszuführen,  was  der  mensch- 
liche Verstand  ersinnen  mochte  "*). 

Naturforscher,  wie  Pruner  Bey,  haben  die  Behauptung  in  Umlauf 
gesetzt,  dass  der  Bau  der  Stimmwerkzeuge  bei  den  Affen  un- 
geeignet   sei    zum    Hervorrufen    gegliederter    Laute,   allein  dieser 


i)  Mohnike  a.  a.  O.     No.  36.     S.  847.     Waitz,  Anthropologie  I,  117. 

2)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen  I,  120. 

3)  Vorlesungen  über  den  Menschen,  Bd.  i.  S.  172. 

4)  Steinthal  (Psychologie  und  Sprachwissenschaft.  Berlin  1871.  Bd.  i. 
S.  342  §  453)  will  behaupten,  dass  unser  Auge  durch  die  Arme  bei  Erkennt- 
niss  der  Raumverhältnisse  unterstützt  werde  und  dass  deshalb  die  räumlichen 
Anschauungen  des  Menschen  entwickelter  seien  als  die  des  Thiercs.  Allein 
den  Affen  leisten  ihre  Arme  die  nämlichen  Dienste,  dem  Hlephanten  sein 
Rüssel,  den  Insecten  ihre  Fühlhörner  vielleicht  noch  bessere  Dienste. 


Stellung  des  Menschen  in  der  Schöpfung. 

Satz  ist  von  Darwin  widerlegt  worden,  der  als  Beispiel  an- 
führt, dass  ein  Affe  in  Paraguay  ')  bei  innerer  Atifregung  sechs 
verschiedene  Töne  ausstösst,  welche  bei  seinen  Genossen  ähnliche 
Stimmungen  veranlassen.  Wenn  auch  das  Getiiss  lies  Menschen 
und  der  Affen  in  der  alten  Welt  übereinstimmt,  so  entwickelt  sich 
doch  bei  uns  der  dauernde  Spitzzahn  vor  den  letzten  Backzähnen 
und  unter  diesen  die  vorderen  vor  den  hinteren,  beim  Affen  da- 
gegen bildet  die  Entwicklung  der  dauernden  Spitzzähne  den  Schluss 
der  Ziihnbildung,  auch  tritt  der  zweite  hintere  Backzahn  früher  hervor 
als  die  zwei  vorderen  Backzähne.  Endlich  ist  noch  das  frühere 
Verschwinden  des  Zwischen kieferknochens  bei  der  menschlichen 
Leibesfrucht  als  Unterscheidung  vom  Affen  anzufüliren. 

Uurch  die  letzten  Thatsachen  werden  wir  noch  gemahnt  einen 
Blick  auf  die  Entwicklungsgeschichte  des  Menschen  zu  werfen,  die 
so  wii^htig  geworden  ist,  seit  1812  Johann  Friedrich  Meckel  in  Halle 
OS  aussprach,  dass  jedes  Thier  im  unreifen  Zustande,  und  dieser 
dauert  von  der  Befruchtung  des  Eies  bis  zu  den  ersten  Geschlechts- 
thätigkeiten,  alle  Formen  durchläuft,  welche  den  tief  und  tiefer 
unter  ihm  stehenden  Thieren  während  des  ganzen  Lebens  zu- 
kommen. Zur  Zeit  der  Geburt  ist  die  Kluft  zwischen  dem 
Kindi.'  und  dem  Affenjungen  noch  immer  sehr  schmal.  Neu- 
linge könnten  in  Verlegenheit  gerathen,  wenn  sie  Schädel  von 
Kindern  oder  jungen  Tschimpansen  unterscheiden  sollten.  An 
Grösse  kommen  sich  die  Hirne  der  Kinder  und  der  Affen- 
junf;cTi  sehr  nahe,  von  allen  Theilen  des  Kopfes  aber  wächst 
das  i;ehim  des  Affen  am  wenigsten.  Wenn  daher  auch  das  Ge- 
hirn des  menschenähnlichen  Affen  alle  Haupttheile  des  mensch- 
lichen Gehirns  enthält,  so  verfolgt  doch  seine  Entwicklung  eine 
gan^  andere  Richtung.  Das  Junge  des  Orang  oder  Tschimpanse, 
unscTa  Kindern  im  Betragen  so  ähnlich,  verliert  im  Laufe  des 
Wachsthums  mehr  und  mehr  die  Anklänge  an  die  menschliche 
iiilduiijj.  Ehe  noch  der  Zahnwechsel  sich  einstellt,  hat  das  Gehirn 
des  Affen  in  der  Regel  seine  Vollendung  erreicht,  während  beim 
Kinde  die  eigentliche  Ausbildung  dann  erst  recht  beginnt.  Um- 
gekehrt wächst  beim  Affen  der  Gesichtsschädel  in  thierischer  Rich- 
tung, so  dass  schliesslich  der  grösste  Affe  ein  Kindergehirn  mit 
dem    Gebiss    eines    Ochsen    vereinigt.       Daraus    ergibt    sich,    dass 

1)  Cebus  Azarae,     Darwin,  Ursprung  des  Menschen  1,  45. 


Stellung  des  Menschen  in  der  Schöpfung.  c 

durch  fortschreitende  Entwicklung  der  Affen  nie  ein  Mensch  ent- 
stehen kann,  denn  ihre  Ausbildung  ist  nach  anderen  Zielen  ge- 
richtet, und  je  länger  sie  sich  nach  diesen  bewegen,  desto  mehr 
erweitern  sich  zwischen  ihnen  die  Abstände.  Gerade  bei  den  nied- 
rigsten, in  ihrer  Entwicklung  gleichsam  verzögerten  Affenarten,  bei 
den  Uistiti  des  östlichen  Brasiliens  behält  das  Knochengerüst  des 
Kopfes  eine  höhere  Menschenähnlichkeit,  als  bei  den  menschen- 
ähnlichen Arten  *).  Es  ist  nur  ein  volksthümliches  Missverständniss 
gewesen,  dass  der  Mensch  nach  dem  Dogma  der  Arten wandelung 
von  einem  der  vier  höchsten  Affen  abstammen  solle.  Weder 
Darwin  noch  irgend  einer  seiner  Anhänger  haben  jemals  so  etwas 
behauptet,  sondern  vielmehr,  dass  die  Vorfahren  der  Menschen  sich 
abzweigten  von  längst  ausgestorbenen  Arten  ,der  Katarrhinengruppe 
im  ersten  oder  frühesten  Abschnitt  der  Tertiärzeit*).  Sollte  diese 
Vermuthung  jemals  von  der  Wissenschaft  anerkannt  werden,  so 
müssten  Zwischenformen  und  Übergänge  von  jenen  Affen  der 
eocänen  Zeit  zu  den  heutigen  Menschen  irgendwo  entdeckt 
werden.  An  dem  Tage  wo  diess  geschähe,  wo  die  einzelnen 
Glieder  in  der  Kette  des  Gestalten  wechseis  sichtbar  vor  uns  lägen, 
bliebe  keinem  denkenden  Menschen  ein  Zweifel  über  den  Vorgan«; 
übrig.  Bis  dahin  jedoch  behält  jede  andere  Hypothese  die  gleiche 
Berechtigung  und  die  bisherigen  geologischen  Funde  gewähren  noch 
nicht  die  geringste  Ermuthigung,  dass  jene  Lücken  früher  oder 
später  ausgefüllt  werden  müssten. 

Wir  können  diese  Betrachtungen  nicht  schliessen,  ohne  einen 
Vorwurf  zurückzuweisen,  der  im  Stillen  sich -vielleicht  regen  möchte, 
als  ob  wir  nämlich  die  Verstandesthätigkeiten  des  Menschen  un- 
beachtet lassen  wollten.  So  mag  denn  sogleich  wiederholt  werden, 
was  bereits  Darwin  ausgesprochen  hat,  dass  Gewissensregungen 
verknüpft  mit  der  Empfindung  von  Reue,  dass  Pflichtgefühle  als 
die  bedeutungsvollsten  Unterschiede  uns  vom  Thiere  trennen,  dass 
bei  diesem  letzteren  keine  Möglichkeit  vorhanden  ist  zur  Lösung 
einer  mathematischen  Aufgabe  noch  bei  ihm  die  Rede  sein  kann 
von  Bewunderung  eines  Naturgemäldes  oder  einer  Kraftäusserung, 
dass  auch  kein  Nachdenke«  statthaben  kann  über  eine  Verkettung 


i)  Virchow,  Menschen-  und  Affenschädel.     Berlin  1870.     S.  25 — 26. 
2)  Darwin,  Ursprung  des  Menschen  1, 171.  H a eck el,  Natürliche  Schöpf 
ungsgeschichte.     2.  Aufl.     S.  574. 


6  .  Stellung  des  Menschen  in  der  Schöpfung. 

der  Erscheinungen  und  noch  weniger  die  Annahme  eines  Urhebers 
oder  eines  göttlichen  Willens ').  Die  höchsten  Unterschiede  zwi- 
schen Menschen  und  Thieren  werden  erst  bei  der  Untersuchung 
über  die  Entwicklungsgeschichte  unsrer  Sprache  von  selbst  hervor- 
treten und  ebenso  enthält  die  Sittengeschichte  der  Völker  still- 
schweigend die  beste  Begründung  einer  höheren  Würde  der  Mensch- 
heit, Doch  zählen  alle  diese  Thatsachen  nicht  mit,  wenn  es  sich 
darum  handelt,  dem  Menschen  innerhalb  des  Thierreicltes  seine 
Stelle  anzuweisen ,  gerade  so  .wenig  als  die  Klugheit  des  Elephanten 
nicht  seinen  Platz  in  einem  zoologischen  Lehrgebäude  zu  verriit;ken 
vermag.  Dem  Menschen  gebührt  nur  derjenige  Rang  in  einem 
morphologischen  Systeme,  den  ihm  in  künftigen  Erdaltem  ein 
denkendes  Geschöpf  innerhalb  einer  wissenschaftlichen  Ordnung 
des  Thierreiches  anweisen  würde,  wenn  nichts  mehr  von  unserm 
Geschlechte  vorhanden  sein  sollte,  als  eine  ausreichende  Anzahl 
versteinerter  Knochenreste.  Nach  den  Grundsätzen  der  verglei- 
chenden Anatomie  und  nach  dem  systematischen  Bedürfniss  allein 
würde  er  dann  als  Ordnung  oder  als  Unterordnung  von  den  Affen 
der  geologischen  Gegenwart  getrennt  werden. 

i)  Darwin,  Ursprung  des  Menschen.    Bd.  i.    S.  28.    S.  S9.    S.  76.    S.  90. 


Der  Versuch  alle  sich  am  besten  gleichenden  Geschiipic  unli-r 
einen  Namen  zu  vereinigen,  ist  genau  so  alt  wie  die  Stnii'  ilt-r 
Sprachentwicklung,  auf  welcher  diese  Vereinigung  durch  ein  Wort 
vollzogen  wurde.  Bei  niedrig  geMiebenen  \  olkcrn  finden  wir  Aus- 
drücke für  verschiedne  Arten  der  Eiche,  aber  keinen  für  die  Eii.hen- 
gattung,  ja  nicht  einmal  einen  für  Baum.  Die  unterscheid oridfii 
Merkmale  wurden  daher  früher  erfasst  als  die  übereinstirnmLndcn 
Eigenschaften.  Aus  einem  Bedurfniss  der  Verständigung  ülit-r  dir 
Aussenwelt  sind  Namen  für  Hnnd,  Wolf  und  Fuchs  entstandtu  tunl 
damit  war  bereits  eine  Classification  vollzogen.  \Vissenscli:ililii.li 
gerechtfertigt  wurden  solche  Sprachbildungen  aber  erst  von  l.iiJin'. 
Der  Artenbegriff  ist  also  vor  noch  nicht  anderthalb  Jahrhuruli  rti  ii 
aufgestellt  worden  und  zwar  dachte  Linnc  sich  die  Arten  l.iim  s- 
wegs  schon  als  von  Anfang  her  starr  begrenzt,  sondern  er  j:[jiilit.-, 
dass  neue  Species  aus  den  Blendlingen  ungleicher  Vertreter  dir 
Gattungen  hervorgehen  könnten.  Goethe  wiederum  durfti*  ncnjli 
immer  behaupten,  dass  die  Natur  blos  Ein  zeige  schöpfe  konn'  .  die 
Arten  daher  nur  in  den  Lehrbüchern  vorhanden   seien. 

Als  man  für  die  typischen  Verschiedenheiten  des  Meii-ilun- 
geschlechtes  ebenfalls  Schlagwörter  ersinnen  wollte,  erhob  siili  su- 
gleich  der  Streit,  oh  die  Völker  der  Erde  in  verschiedne  Arli.ii 
oder  nur  in  verschiedne  Spielarten  zerfallen.  So  sind  es  tilt  dii- 
höchsten  und  dunkelsten  Aufgaben,  die  Unvorbereitete  am  stirlisLii 
anziehen  und  dann  zu  verfrühten,  also  gänzlich  wertblosen  l.ni- 
scheidungen  fortreissen.  Nicht  einmal  mit  Unbefangenheit  ir.uuu 
die  älteren  Anthropologen  an  die  Lösung  des  schwierigen  R.nli- I-. 
denn  die  einen  bemühten  sich  das  Schlussergebniss  in  Ci"  Ein- 
stimmung zu  setzen  mit  der  hebräischen  Sage  von    der  Schii[ifu(ii^ 


( 


8  Arteneinheit  des  Menschengeschlechtes. 

eines  ersten  Menschenpaares,  die  andern  suchten  die  Vielheit  der 
Arten  zu  begründen,  um  dem  Neger  das  Mitgefühl  milder  Ge- 
müther zu  entziehen  und  die .  Stimme  des  Gewissens  über  die  Ent- 
würdigung des  Menschen  zum  Lastthier  in  der  tropischen  Land- 
wirthschaft  zu  besänftigen.  Seltsam!  dass  man  sich  über  Einheit 
oder  Vielheit  erhitzen  konnte,  ehe  eine  einzige  Begriffsbestimmung 
der  Art  allseitige  oder  nur  vielseitige  Anerkennung  gefunden  hatte! 
,, Diejenigen  belebten  Wesen*',  sagte  Blumenbach,  „zählen  wir  zu 
einer  und  derselben  Art,  die  in  Gestalt  und  Tracht  mit  einander 
so  genau  übereinstimmen,  dass  ihre  Unterscheidungsmerkmale  nur 
aus  der  Abartung  entsprungen  sein  können.  Als  getrennte  Arten 
aber  betrachten  wir  solche,  deren  Verschiedenheiten  so  wesentlich 
sind,  dass  sie  aus  den  bekannten  Einflüssen  der  Abartung,  wenn 
man  dieses  Wort  entschuldigen  will,  sich  nicht  erklären  lassen  ')." 
Wie  mag  es  •  dem  sonst  scharfsifinigen  Blumenbach  entgangen  sein, 
dass  bei  diesem  Spiel  mit  Worten  alles  wieder  im  Ungewissen 
bleibt,  indem  er  den  Begriff  der  Abartung  als  bekannt  voraussetzt 
und  daher  völlig  unbegrenzt  lässt?  Denken  wir  uns  übrigens,  dass 
durch  ein  Wunder  vom  Planeten  Mars  ein  Geschöpf  zu  uns  herab- 
gelangte, welches  im  Körperbau  wie  in  seinen  geistigen  Verrich- 
tungen uns  völlig  gleich  wäre,  so  würde  es  Blumenbach  als  Arten- 
genosse uns  beigezählt  haben  müssen.  Diess  hätte  auch  nach  der 
Ansicht  Cuviers  geschehen  sollen,  denn  „die  Art",  sagt  er,  „ist 
die  Vereinigung  aller  belebten  Wesen,  die  von  einander  oder  von 
gemeinsamen  Voreltern  abstammen  mit  denjenigen,  die  ihnen 
durch  Ähnlichkeit  ebenso  nahe  stehen  als  sie  unter  einander  sich 
gleichen  *).**  Cuvier  und  Blumenbach  verlangten  also  noch  nicht, 
dass  alle  Artgenossen  gemeinsame  Vorfahren  besitzen  sollten. 
Eine  gemeinsame  Abstammung  forderte  jedoch  schon  der 
ältere  Decandolle.  „Die  Art",  so  lautet  seine  Begriffsbestimmung, 
,,ist  die  Vereinigung  aller  Einzelwesen,  die  sich  gegenseitig  besser 
gleichen  als  anderen  und  aus  deren  Begattung  fruchtbare  Nach- 
kommen hervorgehen,  die  sich  ebenfalls  wieder  durch  Geschlechts- 
^olge  erneuern,  so  dass  auf  ihre  ehemalige  Abstammung  von  einem 
einzigen  Wesen  geschlossen  werden  darf^).** 

1)  De  generis  humani  varietate   nativa.     Ed.  3.     Götlingen  1795.     p.  66. 

2)  Quatrefages,  Rapport  sur  lesprogres  de  1*  Anthropologie.  Paris  1867.  p.  56. 

3)  Quatrefages,  Rapport,     p.  104. 


4V.>.- 


Arteneinheit  des  Mcnschengeschlechles, 

Hier  schien  endlich  die  Art  scharf  und  glücklich  begrenzt  ko 
sein.  So  oft  zwischen  belebten  Wesen,  mochte  ihre  Tradit  und 
Gestalt  noch  so  auffällige  Unterschiede  wahrnehmen  lassen,  Nacli- 
kommen  erzeugt  wurden,  die  und  deren  Nachkommen  wiederum 
fruchtbare  Begattungen  vollzogen,  wurden  sie  zu  einer  Art  ler- 
einigt.  Unfruchtbarkeit,  wenn  sie  bei  Nachkommen  oder  aiicli  bei 
Enkeln  sich  einstellte,  entschied  das  Gegentheil,  Ah  diesem  Er- 
kennungszeichen hielt  auch  Flourens  fest,  „Die  Fruchtbar- 
keit", sagte  er,  „begründet  die  Beharrlichkeit  der  Artenmerkmalc, 
Die  verschiednen  Arten  erzeugen  Mischlinge  von  nur  beschränkter 
Fruchtbarkeit ')."  Noch  enger  zieht  Herr  von  Qnatrefages  de-u  Be- 
griff in  den  Worten:  „Die  Art  vereinigt  alle  mehr  oder  weniger 
sich  gleichenden  Einzelwesen,  die  von  einem  einzigen  Urelternpaare 
durch  eine  ununterbrochene  Familienfolge  abstammen  oder  als  ab- 
stammend gedacht  werden  können  ")." 

Ehe  wir  uns  über  den  Werth  dieser  Artenbestimmun-  ent- 
scheiden, wollen  wir  zuvor  untersuchen,  ob  das  Merkmal  der  i'rui.ht- 
barkeit  den  Bastarden  verschiedener  Menschenra^en  zukommt.  IJass 
arische  Hindu  mit  Drawida,  Chinesen  mit  Europäerinnen,  Araber 
mit  Negerfrauen  Mischlinge  und  diese  Mischlinge  wiederum  Nauli- 
kommen  erzeugen,  ist  wohl  nie  bestritten  worden,  sehr  olt  wird 
dagegen  behauptet,  dass  die  Mulatten  in  den  spätem  Geschieehts- 
folgen  aussterben,  auch  gelten  die  Frauen  gemischten  Ulmes  in 
Mittelamerika-  gewöhnlich  als  unfruchtbar.  Die  Ursache  dieser 
allerdings  häufigen  Erscheinung  ist  hier  jedoch  keine  physiologische, 
sondern  ein  unsittlicher  Lebenswandel  ^),  Die  Thatsache,  dass  iiui  der 
Insel  Cuba  und  auf  Haiti  halbblütige  Bevölkerungen  bis  zu  Ilmulert- 
tausenden  angewachsen  sind,  bestätigt  wenigstens,  dass  dio  Ab- 
kömmlinge von  südeuropäischen  Creolen  und  Negern  fruchtbar 
sind.      Völlige  Unfruchtbarkeit   angelsächsischer   Mulatten    :iiif  Ja- 


t)  Ftourens,  Kxanieii  du  Uvie  de  I'Jr.  Darwin  sur  l'origine  do.^ 
Paris  1864.     p,  21. 

2)  Unit*  de  l'espÄce  humiiine.     Paris  iSöi,    p.  54. 

3)  Der  Verfasser  hat  über  diese  äuich  slienge  Beobachtungen  1 
schlichtende  Streitfrage  deutsche  Kaullcute,  die  lange  Zeit  auf  Culi 
hatten,  befragt  und  stets  die  Antwort  erhalten,  dass  Mulattinnen  vi 
denkbaren  Fruchtbarkeit  nicht  ungewöhnlich  seien,  und  dass  sie  dc^n  I 
Mangel  an  Kindersegen  bei  andern  Mischlingen  nur  frühieitipen  Au 
fungen  zuschreiben  müssteo. 


lO  Arteneinhett  des  Mensch  enge  schlechtes. 

maica  ist  nur  von  einem  einzigen  Beobachter  behauptet  worden 
unii  nicht  ohne  Widerspruch  geblieben  ').  In  Amerika  sind  ferner 
als  Mischvolk  die  Zambos,  Abkömmlinge  von  Negern  und  Frauen 
der  sogenannten  rothen  Urbewohner  entsprungen. ')  Unter  den 
Crct-k  Indianern  der  Union  werden  sie  häufig  getroffen^),  ebenso 
in  Wittelamerika  und  schon  jetzt  trägt  die  Bevölkerung  an  den 
KQsttn  des  Ystmo  und  Neugranadas  deutlich  die  Wahrzeichen 
halbafrikani sehen  Blutes.  Nach  Millionen  zählen  in  den  ehemaligen 
spanischen  Tßchterstaaten  die  Mischlinge  von  Kuropäern  und  ein- 
gt'bornon  Amerikanerinnen,  Ladinos  in  Mexico,  Cholos  in  Ecuadori 
Peru  und  Chile,  sonst  gemeinsam  Mestizen  gehcissen.  Wenn  in 
Australien  die  Mischlinge  zu  den  Seltenheiten  gehören,  so  rührt 
diess  nur  daher,  dass  wie  durch  gerichtliche  Untersuchungen  es 
sich  btstaligt  hat,  die  Eingebornen  selbst  die  Racenblendlinge  zu 
tödten  pflegen  ■*).  Auch  tasmanischc  Frauen  haben  zahlreiche 
MiscliUnge  geboren  und  James  Bonwick  *)  kannte  und  nennt  uns 
eine  jMutter  von  dreizehn  halbblütigen  Kindern.  Paul  Broca  war 
also  falsch  unterrichtet,  als  er  das  Dasein  von  Halbaustraliem  und 
HalbtLi^maniern  läugncte*)  und  damit  sinken  zugleich  die  gewagten 
Schlüssig  die  er  mit  ungerechtfertigter  Sicherheit  ausgesprochen 
hatte,  Npch  wichtiger  aber  ist  es,  dass  aus  den  Vereinigungen 
üwischi-n  Europäern  und  Hottentotten  Halbblütige  entspringen, 
denn  wenn  irgend  ein  Menschenschlag  Anspruch  hätte,  als  ge- 
sonderte Art  aufgefasst  zu  werden,  so  sind  es  gewiss  jene  Urbe- 
wohner der  Caplande ').  Endlich  haben  auf  abgelegnen  Inseln,  wie 
Tristan  d'Acunha  mehrfache  Kreuzungen   von   Briten,  Holländern, 


i|  ?.  Broca,  Hybridily  in  Ihe  Genus  Homo.     London  1864.     S.  36. 

2)  Fülle,  dtus  Negerinnen   mit   eingebornen   Männern   Amerikas  Verbin- 

'liini;cn  eingehen,  sind  aus   einer  bekannten   prosaischen  Ursache   sehr  selten. 

3)  Xiich  dem  Second  annual  reporl  of  the  Board  of  Indian  Comnüssioners. 
Washiiinlon  1871  in  Zeilsehrift   für  Ethnologie.     Berlin  1871.     Bd.  3.     S.  412. 

4)  Charles  Darwin,  Die  Abstammung  des  Menschen.     Bd.  i.     S.  194, 
Ehun'o  Kdward  John  £yre,  Central  Aastraüa.  London  1843.  ^ol.  II,  p,  324. 

i)    Ihe  last  of  the  Tasmanians.     London  1870.     p.  316. 

f.)   Bioca,  a.  a.  O.      S.  47. 

7)  Diese  Mischlinge  weiden  theils  ,3as(arde"  theüs  Griquas  in  ihrer  Hei-    , 
math   ):(:nBniit,   die   letztere  Bezeichnung  ist   jedoch    so    missbraucht    worden, 
ilas<^  F^ii'  keinen  strengeren   anthropologischen  BegrifT  mehr  deckt.     Frilsch, 
Dil-  Kincebornen  Südarrihas.     S.  376  flg. 


Arteneinbeit  des  Menschengeschlechtes.  n 


7. 


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Mulatten  und  Negerinnen  stattgefunden ').  Nach  den  Erfahrungen 
aus  dem  Pflanzenreiche  zu  schliessen,  bemerkt  Darwin,  würden  drei- 
fache Kreuzungen  zwischen  Negern,  Indianern  und  Europäern,  wie 
sie  in  Amerika  vorkommen,  die  schärfste  Probe  für  wechselseitige 
Fruchtbarkeit  der  elterlichen  Formen  darbieten*).  .'"■* 

Selbst  wenn  nicht  länger  mehr  gestritten  würde,  dass  alle  noch  'l. 

so  verschiedenen  Völkerstämme  fruchtbare  Mischlinge  erzeugen 
könnten,  so  würden  wir  doch  der  Entscheidung  über  die  Einheit 
oder  Vielheit  der  Menschenarten  nicht  näher  gerückt  sein.  Die  neuere 
Wissenschaft  erkennt  nämlich  an,  dass  Thiere,  welche  vormals  in 
der  Freiheit  sich  geschlechtlich  gemieden  haben,  doch  zur  gänz- 
lichen Mischung  ihres  Blutes  und  ihrer  Artenmerkmale  gebracht 
werden  konnten.  Wir  denken  dabei  weniger  an  die  gewöhnlich 
aufgezählten  Bastarderzeugungen  des  Hundes  mit  Wolf  und  Fuchs, 
der  Ziege  mit  dem  Schafe,  des  Kaninchens  mit  dem  Hasen,  denn 
theils  gelang  es  nicht  die  Mischgestalten  zu  befestigen,  theils  über- 
dauerte die  Fruchtbarkeit  der  Blendlinge  nicht  mehrere  Geschlechts- 
folgen. Erinnern  wollen  wir  wenigstens  an  die  neue  Erfahrung, 
welche  wir  Mr.  Buxton,  einem  englischen  Parlamentsabgeordneten  ver- 
danken, der  in  Südengland  zwei  Cacaduarten  eingebürgert  hat, 
welche  in  seinem  Park  alljährlich  Junge  ausbrüten,  sich  im  Freien 
auch  gekreuzt  und  eine  Bastardart  erzeugt  haben,  die  von  einer 
purpurrothen  Haube  geziert  wird,  wie  keine  der  beiden  Elternarten, 
so  dass  hier  die  Schöpfung  um  eine  neue  Species  bereichert  er- 
scheint^). Jedenfalls  sind  unsere  Hunderacen  das  Ergebniss  einer 
Artenmischung  gewesen.  Die  Eskimohunde  nähern  sich  in  Tracht 
und  Gestalt  dem  arctischen,  die  Indianerhunde  dem  Prairienwolfe, 
der  nubische  Haushund  und  seine  Mumien  bezeugen  deutlich  ihre 
Abkunft  vom  Schakal  *),  auch  trat  der  eigenthümliche  Geruch  dieser 
letzteren  Thiere  bei  Hunden  ein,  die  von  Geoflfroy  St.  Hilaire 
längere  Zeit  mit  rohem  Fleisch  gefüttert  wurden.  Ferner  sind 
unsre  heutigen  Rinderschläge  hervorgegangen  aus  zwei  getrennten 

i)  Quatrefages,  Rapport,    p.  477. 

2)  Darwin,  Die  Abstammung  des  Menschen.     Bd.  i.     S.  198. 

3)  Sem  per  im  Anthropol.  Correspondenzblatt.     Octbr.  1871.     S.  73. 

4)  Herr  J ei t tele s,  der  sich  geraume  Zeit  mit  diesen  Fragen  beschäftigt  und 
Thierschädel  fleissig  gesammelt  hat,  behauptet,  die  völlige  Übereinstimmung 
zwischen  dem  sogenannten  Torfhunde  und  dem  algierischen  Schakal  (Canis 
Sacalius).     Alterthümer  der  Stadt  Olmütz.    Wien  1872.     S.  79. 


12  Arteneinheit  des  Menschengeschlechtes. 

europäischen  Arten  (Bos  primigenius  zu  Cäsars  Zeiten  noch  wild 
und  Bos  longifrons  oder  brachyceros  der  schweizerischen  Pfahl- 
bauten) ').  So  lange  sie  in  der  Freiheit  neben  einander  vorkamen, 
bewahrten  sie  ihre  Artenmerkmale  in  aller  Reinheit,  während  jetzt 
durch  Querkreuzungen  ihre  Gestalt  und  Tracht  völlig  sich  ver- 
mischt haben.  Ja  selbst  mit  dem  Zebu  (B.  indicus)  oder  d^m 
indischen  Buckelochsen  kann  das  europäische  Rind  fruchtbare 
Bastarde  erzeugen.  Ferner  sind  unsere  Hausschweine  Mischlinge 
aus  dem  Eber  oder  Sus  scrofa  und  dem  nicht  mehr  wild  vorkom- 
menden Sus  indica.  Wir  verdanken  diesen  Satz  den  Schädelunter- 
suchungen des  Herrn  v.  Nathusius,  der  sonst  unte;^  die  erklärten 
Gegner  der  Darwinischen  Schule  gehört.  Gilt  das  letztere  be- 
kanntlich auch  von  Agassiz,  so  legen  wir  doppeltes  Gewicht  da- 
rauf, dass  auch  er  den  Versuch,  die  fruchtbare  Begattung  zur 
Artenbegrenzung  zu  benutzen  für  eine  Irrlehre  erklärt  hat  *).  Ist 
diess  der  Fall,  dann  besteht  kein  Hinderniss  länger  etliche  Men- 
schenracen  als  verschiedne  Menschenarten  aufzufassen,  wenn  sich 
bei  ihnen  erfüllt,  was  Grisebach  für  die  Begründung  einer  Art  noth- 
wendig  hält,  nämlich  der  Mangel  von  Übergängen  3),  die  nicht  auf 
Kreuzungen  beruhen.  Wirklich  Ikssen  sich  bisweilen  scharfe  Grenzen 
ziehen  wie  zwischen  den  Hottentotten  und  den  Kafirstämmen,  den 
Papuanen  Neu-Guineas  und  den  reinen  Polynesien!.  Solche  That- 
sachen  haben  die  pluralistische  Anthropologen  schule  zu  der  Be- 
hauptung einer  Mehrheit  der  Mensche^arten  ermuthigt.  In  den 
Vereinigten  Staaten  Nordamerikas,  wo  sie  vormals  ihre  heissesten 
Vertreter  fand,  entstand  die  Lehre,  dass  die  verschiednen  Bewohner 
der  Erde  in  den  Welttheilen  geschaffen  wurden,  die  sie  jetzt  be- 
wohnen, auch  dass  sie  nicht  von  einzelnen  Elternpaaren  abstammen, 
sondern   durch  einen  Saatwurf  des  Schöpfers  sogleich   in   Horden 


i)  Rütimeyer  gelangte  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  Rinder  des  Chillingham- 
Parkes  Abkömmlinge  des  gezähmten  Ur  (B.  primigenius)  seien,  sowie  dass 
die  Trochoceros-  und  Frontosus-Form  ebenfalls  vom  Ur  abstaivmen,  dagegen 
B.  brachyceros  eine  eigne  sogenannte  Species  vertrete.  Art  und  Race  des 
europäischen  Rindes  im  Archiv  für  Anthropologie.  Bd.  i.  Braunschweig 
i866.     S.  240—247. 

2)  A    complete   fallacy.     Essai   on    Classification.     London  1849.     p.  250. 

3)  Die  Vegetation  der  Erde  Bd.  i.  S.  8.  „Darin  besteht  die  Methode 
des  Systematikers  Varietäten  und  Arten  zu  unterscheiden,  dass  er  bei  jenen 
Zwischenformen  nachweisen  kann,  bei  diesen  nicht.*' 


Arteneinheit  des  Menschengesjchlechtes.  I^ 

die  Erde  bevölkerten  und  bereits  theilweise  im  Besitze  ihrer  heu- 
tigen Wortschätze  sich  befanden,  denn  in  ihrem  Eifer  nahm  jene 
Schule  sogar  eine  Artenmehrheit  innerhalb  der  sprachverbundenen 
arischen  Völkerfamilie  an.  Diese  wunderlichen  Ansichten  stützten 
sich  zunächst  auf  die  Behauptung,  dass  die  Merkmale  der  Arten- 
verschiedenheit sich  unverändert  in  der  historischen  Zeit  erhalten 
haben,  namentlich  bei  Juden  ^)  und  brahmanischen  Indiern.  Beide 
Beispiele  vermögen  aber  ernste  Zweifler  nicht  zu  bekehren,  denn 
wir  wissen  von  Juden  und  brahmanischen  Hindu,  dass  sie  seit  Jahr- 
tausenden streng  unter  sich  geheirathet  haben.  Dass  sich  aber  dann 
nothwendig  Racenmerkmale  befestigen  müssen,  lehren  uns  die  Er- 
fahrungen der  Thierzüchter.  Selbst  in  unsern  heutigen  Gesell- 
schaften, wo  durch  Kastenvorschriften  Heirathen  in  dem  nämlichen 
Stande  vorgeschrieben  werden,  tritt  bisweilen  kenntlich  ein  aristo- 
kratischer Typus  hervor  und  bei  den  Habsburgern  wie  bei  den 
Bourbonen  sind  in  vergleichsweise  kurzer  Zeit  physiognomische  Be- 
sonderheiten innerhalb  zweier  Familien  erblich  geworden. 

Das  hohe  Alter  und  die  Beharrlichkeit  des  Typischen  in  den 
verschiedenen  Menschenarten  sollen  uns  ferner  die  Racenbilder  der 
Denkmäler  am  Nil  bezeugen.  Allerdings  herrscht  Einstimmigkeit 
bei  allen  Aegyptologen,  dass  man  in  den  heutigen  Fellahin  des  Nil- 
landes noch  scharf  und  deutlich  das  Volk  der  Pharaonen  wieder 
erkenne,  und  wenn  auch  stark  verzerrt  sind  neben  ihnen  die  Neger 
des  Sudan  in  den  Wandgemälden  so  deutlich  wieder  gegeben,  dass 
jeder  Verwechselung  vorgebeugt  ist.  Bedenklich  bleibt  indessen, 
dass  die  altägyptischen  Künstler  ihre  Menschen  ijach  starren  Vor- 
bildern naturwidrig  entstellten;  die  Gesichter  nämlich  zeichneten  sie 
stets  im  Profil,  das  Auge  stets  en  face,  und  die  Hände  immer  als 
zwei  rechte.  Staunen  muss  man  daher  über  die  Kühnheit  der 
Pluralisten,  welche  aus  den  Bildnissen  der  Könige  und  Königinnen 
sogar  die  Mischung  mit  semitischem  oder  europäischem  Blute  bei 
den  Pharaonen  herauslesen  wollten.  Von  der  Gemahlin  des  Grün- 
ders  der  17.  Dynastie  Amunoph  I.,  der  in  das  Jahr   1671   v.  Chr. 


i)  Anfanger  in  der  Völkerkunde  möchten  wir  vor  Missverständnissen  be- 
züglich der  „schwarzen  Juden"  in  Cochin  warnen,  die  früher  als  Beispiel  miss- 
braucht wurden,  dass  die  indische  Sonne  die  Hautfarbe  zu  ändern  vermöi^e. 
Die  schwarzen  Juden  sind  indische  Eingebome,  die  von  den  rechten  weissen 
Juden  als  Sklaven  gekauft  und  dann  nach  Erfüllung  der  mosaischen  Gebräuclio 
in  die  Judengemeinde  aufgenommen  wurden. 


I_i  Arteneinheit  des  Menschengeschlechtes. 

gesetzt  wird,  heisst  es,  sie  trage  am  stärksten  die  Wahrzeichen  heb- 
räischen Blutes  und  es  wird  daraus  sogleich  der  Beweis  abgeleitet, 
,,dass  der  chaldäische  Typus  schon  vor  der  Ankunft  Abrahams  in 
Aegypten  nachgewiesen  worden  sei  ^).**  .Der  Kopf  des  grossen 
Ramses  wird  als  hoch  europäisch  und  napoleonsähnlich  gepriesen '). 
Wirklich  mahnt  auch  bei  Rosellini  das  Ramsesbild  .lebhaft  an  den 
ersten  Kaiser  der  Franzosen,  allein  diese  Nachbildung  war  ent- 
weder nicht  glücklich  getroffen  oder  absichtlich  mit  bonapartischen 
Zügen  ausgestattet  worden,  wie  es  sich  aus  einer  genauem  von 
Robert  Hartmann  veröffentlichten  Zeichnung  ergeben  hat  ^).  Dar\vin 
erzählt  uns,  dass  bei  einem  Besuche  des  britischen  Museums  ihm 
und  zwei  Beamten  jener  Anstalt,  die  er  als  urtheilsfahige  Richter 
bezeichnet,  die  stark  ausgesprochne  Negerform  der  Statue  Amu- 
noph  111.  auffiel.  Dennoch  wird  sie  von  Nott  und  Gliddon  als 
,, Bastard  ohne  Beimischung  von  Negerblut"  beschrieben  ^).  Robert 
Hartmann  endlich  konnte  sich  nicht  überzeugen,  dass  der  ägyp- 
tische Typus  Änderungen  durch  asiatische  Mischungen  erlitten  habe, 
viel  eher  solche,  die  sich  aus  nubischen  Eroberungszügen  erklären 
lassen  5).  Beweisen  die  Denkmäler  Aegyptens  einerseits,  dass  nach 
4000  Jahren  noch  die  Bewohner  des  Nillandes  ihren  Voreltern 
gleichen,  so  lehren  sie  andrerseits,  dass  schon  damals  die  soge- 
nannten Typen  durch  Mischungen  ineinanderflössen.  Niemand  fühlt 
dagegen  besser  die  Sch>Väche  der  Ansicht  von  der  Unveränderlichkeit 
der  Racenmerkmale  als  derjenige,  welcher  versucht  hat,  die  Völker 
zu  beschreiben,  denn  nicht  ein  einziges  Kennzeichen  ist  strenges 
Alleingut  irgend  ^iner  Menschenrace,  sondern  verliert  sich  durch  un- 
merkliche Abstufungen.  Wäre  es  leicht  die  Grenzen  zwischen  ver- 
schiednen  Racen  zu  ziehen,  so  würden  die  Anthropologen  in  ihren 
Annahmen  nicht  in  dem  Masse  von  einander  sich  entfernen,  dass  der 
eine  die  Menschheit  in  zwei,  ein  andrer  sie  in  hundertundfünfzig  Arten, 
Racen  oder  Familien  sondern  zu  müssen  glaubte^).  Das  Ver- 
fahren bei  solchen  Trennungen  läuft  gewöhnlich  auf  eine  Täuschung 

> 
i)  Morton,  Types  of  Mankind.     p.  163.     Fig.  33. 

2)  1.  c.  p.  148. 

3)  Zeitschrift  für  Ethnologie.     Berlin  I869.     S.  153. 

4)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen  I,  191. 

5)  Zeitschrift  für  Ethnologie.     Berhn  1869.     S.  147. 

6)  Quatrefages,  Unite.     p.    366.     Nach   Darwin,   (Ursprung   des   Men- 
schen I,  199)   nahm    Virey  2,  Jacquinot  3,   Kant  4,   Blumenbach  5,  BüfTon  6, 


Arli^nEinheit  des  Menschengeschlecht«!.  |e 

hinaus,  denn  nicht  die  Häufigkeit  bestimmter  Merkmale  wird  fest- 
gestellt, sondern  als  \ertreter  eines  Typus,  wird  unter  sehr  Vielen 
derjenige  herausgesucht,  welcher  am  schärfsten  sich  von  den  Glie- 
dern anderer  Menschenslämme  absondert.  So  trägt  der  deutsche 
Reisende,  ehe  er  die  Alpen  überschreitet,  eine  bestimmte  Vorstel- 
lung vom  italienischen  Gesichtsschnitt  und  Körperwuchs  in  sich. 
Er  erwartet  in  Neapel  überall  Männern  zu  begegnen,  denen  er  nur 
eine  phrygische  Jlütze  aufzusetzen  braucht,  um  in  ihnen  bekannte 
Operngestalten  wieder  zu  erkennen  oder  er  denkt  einem  jeden 
Mädchen  dürfe  man  nur  einen  silbernen  Teller  mit  einem  abge- 
schlagnen Männerhaupt  in  den  Arm  geben,  um  sie  in  eine  Judith 
zu  verwandein.  Die  Enttäuschung  läs.st  nicht  warten  und  zuletzt 
gestellt  sich  der  Hintergangene,  dass  das,  was  er  als  italienischen 
Typus  sich  vorgebildet  hatte,  nur  an  der  spanischen  Treppe  in  Rom 
herumlagert,  wo  die  unter  Tausenden  herausgemusterten  Modelle 
sich  dem  Künstler  feilbieten.  In  der  Heimath  geht  es  nicht  besser. 
Sehen  wir  ein  Kind  mit  zarter  Haut  und  Rosen  Schimmer,  hellblonden 
Flechten  und  blauen  verschämten  Augen,  so  (reuen  wir  uns  über 
eine  solche  echt  deutsche  Jungfrau  ohne  zu  bedenken,  dass  wir 
neben  ihr  tausend  andere  damit  ftir  unecht,  das  heisst  für  racelos 
erklären. 

In  unsern  Tagen  ist  die  bisher  giltige  N'orstellung  von  der 
Beharrlichkeit  der  Artenmerkmale  tief  erschüttert  worden  durch 
Charles  Darwin.  Widerlegt  waren  schon  vor  ihm  die  Träumereien 
der  älteren  Geologen,  dass  die  AltersaUschnitte  der  Erdrinde,  welche 
die  Lehrbücher  der  Verständigung  wegen  aufzustellen  genöthigt 
sind,  mit  einer  gänzlichen  Vernichtung  der  belebten  Schöpfung  ge- 
endigt hätten  und  dann  durch  einen  Werderuf  an  ihre  Stelle  eine 
neue  Schöpfung  getreten  sei.  Lautlos  haben  sich,  so  lange  unser 
Planet  organisches  Leben  beherbergt,  einzelne  neue  Trachten  der 
belebten  Wesen  unter  die  alten  gemischt,  lautlos  sind  andre  ver- 
schwunden, bis  nach  Ablauf  gewisser  Zeiträume  andre,  von  den 
älteren  abweichende  Arten  sich  zusammen  fanden.  Die  Zeitfolge, 
in  welcher  sich  die  verschiednen  Trachten  und  Gestalten  ablösten, 

HuDler  7,  AcüssIk  S,  Pickcring  tt,  Bory  St,  Viacent  IJ,  DesmouLns  l6, 
Morton  22,  Ctawfurd  60  und  Burke  63  Arten  oder  Racen  an.  Haeckel  (Na- 
türliche Schöpfungsgeschichte  2.  Aufl.  S.  604)  und  Friedr.  Müller  {Anlhro- 
pol.  ThI.  III  der  Niivara  Reise  I.  Karte)  begnügen  sich  mit  zwölf  Arien 
und  wir  selbst  sind  zu  sieben  Abtheilungen  geführt  M-oiden. 


l6  Arteneinheit  des  Menschengeschlechtes. 

war  keine  willkürliche,  sondern  sie  stellt  eine  morphologische  Kette 
dar;  ein  Ring  hält  hier  den  andern,  jede  Neuerung  knüpft  ge- 
horsam dem  Gesetze  alles  Werdens  an  das  früher  Bestehende  an. 
Eh  gibt  vit'Ueicht  unter  den  Sachkundigen  Europas  nicht  einen 
einzigen,  der  nicht  anerkennen  würde,  dass  die  jetzige  Schöpfung 
mit  strenger  Nothwendigkeit  voraussetze,  dass  ihr  eine  tertiäre 
vorausgegangen  sei,  denn  auf  das  engste  schiiesst  sich  die  Thter- 
welt  Australiens  und  Südamerikas ,  sowie  andrer  gegen  Artenaus- 
tatisch  gut  gesicherter  Erdräume,  an  die  Örtlich  ausgestorbne 
Fauna  an.  Bestände  das  Dogma  Darwins  daher  nur  in  dem  Satze, 
dass  die  Reihenfolge  der  Arten  mit  der  Vergangenheit  durch  irgend 
eine  Ursache  verknüpft  sei,  so  würden  alle  Geologen,  Botaniker 
und  Zoologen  zur  Schule  des  grossen  Briten  gehören.  Er  begnügt 
sich  aber  nicht  mit  diesem  Ausspruch,  sondern  er  glaubt  den  Vor- 
gang selbst  und  seine  Nothwendigkeit  uns  enthüllen  zu  können. 
Nach  seiner  Lehre  werden  Eltern  oder  geschlechtliche  Doppelwesen 
alle  ihre  Merkmale  bis  auf  kleine  Verschiedenheiten  vererben,  so 
dass  die  Nachkommen  ihren  Erzeugern  zwar  gleichen,  aber  auch 
um  einen  verschwindend  kleinen  Betrag  in  einer  nützlichen,  gjeich- 
giltigen  oder  scliadlichen  Richtung  sich  von  ihnen  entfernen.  Die 
schädlichen  Abirrungen  würden  zum  frühen  Untergange  ihres  Trä- 
gers führen,  die  gleich  giltigen  hätten  wiederum  keine  Aussicht  auf 
dauernde  Erhaltung,  die  nützlichen  allein  sollen  die  Umgestaltung 
der  Geschöpfe  bewirken.  Durch  eine  fortgesetzte  Anhäufung  kann 
aber  das  verschwindend  Kleine  in  achtunggebietenden  Zeiträumen 
allmählich  bis  zum  Arten  unterschiede  heranwachsen.  Bei  dieser  Aus- 
bildung neuer  Formen  übt  die  Schöpfung  zugleich  eine  Art  Kritik 
unbewussl  gegen  sich  aus,  denn  da  jedes  Einzelwesen  oder  jedes 
Elternpaar  weit  mehr  Nachkommen  zu  erzeugen  pflegt ,  als  auf 
Erden  gedeihen  können  '},  so  entspinnt  sich  zwischen  den  Nach- 
kommen einer  Art,  wie  zwischen  allen  Vertretern  der  verschiednen 
Arten  ein  Kampf  um  das  Dasein,  in  welchem  die  lebensfähigeren 
Streiter    die   minder    günstig    ausgestatteten    unterdrücken.     Durch 

I)  So  bemerkie  kürzlich  Dr.  Botggreve,  Prüf,  an  der  Forstakademie  z\x 
Münden,  dass  eine  Birke  von  etwa  0,3  Aleler  Slammesdurchmesser  in  einem  Jahie 
über  30  Milliuiten  Samenkörner  uusstreul,  die  bei  trocknen  Herbstslürmen  bis 
Bof  jede  in  Deiitstliland  vertrelne  Enlfernung  verweht  werden  könnten.  Ab- 
hnndlnnBen  des  nalurwissensch.iftlichen  Vereines  la  Bremen.  3,  Bd.  3.  Heft. 
Bremen  iB;;.      S.  :33. 


Arteneinheit  des  Menschengeschlechtes. 

m 

fortgesetztes  Ausscheiden  der  lebensschwachen  Artgenossen  und 
durch  beständiges  Vererben  der  neuerworbnen  günstigen  Abände- 
rungen tritt  unbemerkt  ein  Wechsel  der  Gestalten  ein.  Der  Kern 
und  die  Neuheit  des  Darwinschen  Dogmas  besteht  nur  in  der  eben 
geschilderten  Zuchtwahl,  welche  in  der  Natur  ausgeübt  werden 
soll.  Mit  Recht  ist  daher  dieser  Vorgang  der  Artenumwandlung 
von  Nägeli  als  ein  Nützlichkeitsverfahren  bezeichnet  worden.  Als 
die  Begeisterung  für  den  neuen  kühnen  Gedanken  einer  kühleren 
Ueberlegung  gewichen  war,  ergab  sich  mehr  und  mehr,  dass  eine 
Zuchtwahl  nach  den  Nützlichkeitsgrundsätzen  nicht  immer  statt- 
gefunden haben  könne.  Die  Ausbildung  neuer  oder  die  Umbil- 
dung älterer  Organe  hätte  sicherlich  lange  Zeiträume  erfordert, 
während  deren  die  unfertige  Neuerung,  wenn  nicht  geradezu 
schädlich  wirken,  doch  jedenfalls  gleichgiltig  im  Kampfe  um  das 
Dasein  bleiben  musste.  Es  ergab  sich  weiter,  dass  Organe  früher 
vorhanden  sein  können,  ehe  aus  ihnen  Nutzen  gezogen  wird. 
Unter  den  Angehörigen  der  verschiedensten  Menschenstämme  be- 
sitzt eine  Mehrzahl  Stimmwerkzeuge,  die  sich  zum  Gesänge  treff- 
lich eignen,  ohne  dass  sie  musikalisch  gebraucht  würden*).  Die 
natürliche  Zuchtwahl  erklärt  uns  auch  nicht,  dass  die  Formen  und 
Trachten  der  belebten  Schöpfung  den  empfindenden  Menschen  in 
künstlerische  Stimmungen  versetzen.  Nicht  blos  das  Schöne,  Zier- 
liche oder  Anmuthige,  sondern  auch  das  Widerliche,  Unheimliche, 
Lächerliche  und  Dämonische  gewahren  wir  durch  Thiere  oder 
Pflanzen  vertreten.  Darwin  hat  diese  Schwierigkeit  in  dem  Buch 
über  die  Abstanmiung  des  Menschen  durch  einen  neuen  Glaubens- 
satz, nämlich  durch  die  geschlechtliche  Auswahl  zu  überwinden  ge-» 
sucht,  indem  die  Weibchen  der  Thiere  dasjenige  Männchen  be- 
vorzugen sollen,  welches  ihre  Sinne  am  lebhaftesten  reizt.  Nun 
sind  aber  bei  Schmetterlingen,  namentlich  bei  Sphingiden,  die 
Unterflügel  besonders  lebhaft  bemalt  und  mit  bunten  Augen  ge- 
giert, obgleich  das  Thier  im  Sitzen  den  eignen  Schmuck  bedeckt, 
beim  Fluge  aber  durch  seine  raschen  Bewegungen  jede  Wahr- 
nehmung von  Zeichnung  und  Farbe  verhindert  ^).     Manche  schön- 


1)  Es  wird  diess  von  Darwin  selbst  zugestanden.    NAbstammung  des  Men- 
schen II,  293. 

2)  Darwin,   der  nie   etwas   verschweigt,   was  ihn  beunruhigt,    theilt    uns 
(Abstammung  des  Menschen  I,  354)  eine  Reihe  von  Fällen  mit,  wo  die  Unter- 

Peschel,  Völkerkunde.  2 


l8  Arteneinheit  des  MenschengescWetbles. 

gestaltete  Menschen  in  Amerika  und  Afrika  pflegen  sich  durch 
Scheiben  und  Pflocke  in  Lippen  und  Wangen  zu  entstellen,  und 
beweisen  uns  dadurch,  dass  ihr  Geschmack  noch  unausgebiidet  ge- 
blieben ist,  so  dass  ihre  sonstigen  Körperreize  gewiss  nicht  einer 
glücklichen  Wahl  zu  verdanken  sind.  Endlich  finden  wir  Schon- 
heilen auch  bei  Thieren,  'die  sich  selbst  tiefruchten,  und  sogar  im 
stillen  Reiclie  der  Gewächse.  Der  Anblick  einer  Eiche  im  Sturm, 
der  elegische  Ausdruck  im  Bau  einer  Deodara-Ceder,  die  Farben- 
muster mancher  lilumenkronen,  die  anmuthigen  Linien  kletternder 
Reben,  der  Bau  eines  Rosenkelches  vermögen  uns  künstlerische 
Befriedigungen  zu  gewähren  und  dennoch  ist  jeder  Gedanke  an 
eine  geschlechtliche  Auswahl  bei  diesen  Gegenstanden  streng  aus- 
geschlossen. 

Noch  weniger  iässt  sich  mit  einer  zweckmässigen  Zuchtwahl 
die  Vererbung  schädlicher  Merkmale  vereinigen.  Zwar  berufi  sich 
Darwin  auf  die  Wechselbeziehungen  aller  Bestandtbeile  eines  thie- 
rischen  Leibes,  in  Folge  deren  Aenderungen  an  der  einen  Stelle 
von  Aenderungen  in  abgelegnen  Körperräumen  begleitet  werden, 
aber  da  wir  die  Noth wendigkeit  dieses  Zusammentreffens  nicht 
nachweisen,  nfcht  einmal  ahnen  können,  so  bleibt  auch  diese  Aus- 
rede unbegründet.  Nach  der  Darwinschen  Lehre  dürfen  wir  for- 
dern, dass  der  Vorgänger  des  modernen  Menschen  ein  behaartes 
Geschöpf  und  gegen  Wärmewechsel  durch  einen  Pelz  ■  geschützt 
gewesen  sei.  Der  Verlust  des  letzteren  konnte  in  dem  Kampfe 
um  das  Dasein  aber  nur  nacbtheilig  wirken  ').  Das  Gleiche  gilt 
bei  Vögeln  von  der  grellen  Befiederung,  welche  die  Nachstellungen 
der  Feinde  begünstigt,  von  den  kahnartigen  Auswüchsen  ihrer 
Schnäbel,  sowie  den  schleppenden  Schweifen,  welche  den  Flug  und 


fläche  der  Flügel  von  Nachtschmelterlüigen  glänzend  gefäibt  oder  mit  präch- 
tigen Aagenflecken  geziert  ist.  Im  Sitzen  bleiben  diese  Schönheiten  stets 
verborgen. 

1)  Übericugle  Schüler  Darwins  erinnern  daran,  dass  IComer  fressende 
Thiere ,  wie  Pferde ,  wenn  sie  zur  Fleischnahmng  übergehen ,  die  Haaie  ver- 
lieren. Seligmann,  Fortschritte  der  Raceolehre.  Geogr.  Jahrbach.  Gotha 
IS7Z.  Band  4.  S.  zSS.  Die  Gespenstaffen  (Tarsius)  sind  indessen  Raub- 
thiere,  Carl  Semper  war  selbst  Zeuge,  wie  ein  solches  Geschöpf  eine  Maas 
durch  seinen  Biss  lödtete  und  verzehrte.  (Allgem.  Zig.  1S73.  S.  239.)  Den- 
noch gewahren  wir  nicht,  dasE  sie  sich  dorch  diese  Nahrungsmittel  Kahlheit 
zugezogen  hiiltcn. 


Arteneinheit  des  Menschengeschlechtes.  ig 

das  Bebrüten  erschweren.  So  steht  denn  gerade  der  neue  Kern 
der  Darwinschen  Lehre,  nämlich  die  Zuchtwahl,  noch  unbeglaubigt 
uns  gegenüber,  ja  der  Meister  selbst  hat,  wahrheitliebend,  wie  er 
sich  stets  zeigt,  in  Bezug  auf  die  Einwürfe  Nägelis  und  Brocas 
offen  gestanden,  dass  er  in  den  früheren  Auggaben  seiner  Ent- 
stehung der  Arten,  wahrscheinlich  der  Wirkung  der  natürlichen 
Zuchtwahl  oder  dem  Überleben  der  Passendsten  zu  viel  zuge- 
schrieben habe  ^).  V«rstattet  sei  es  uns  noch  hinzuzufügen,  dass 
die  ältere  Geschichte  der  belebten  Schöpfung  Pralle  kennt,  wo  das 
Aussterben  von  Thierfamilien  durch  eine  tiefgreifende  Änderung 
ihres  Baues  eingeleitet  wird,  die,  so  weit  überhaupt  bei  fossilen 
Erscheinungen  solche  Schlüsse  berechtigt  sind,  ihnen  schädlich  ge- 
wesen sein  muss.  Die  Ammoniten,  die  in  der  Kreidezeit  aus- 
sterben sollten,  b^eginnen  vorher  in  sogenannte  Krüppelformen  über- 
zugehen. Ihre  ursprünglich  zur  Spirale  in  einer  Ebene  einge- 
wickelten Gehäuse  winden  sich  später  spiralig  im  Räume,  strecken 
sich  gradlinig,  krümmen  sich  bogen-,  haken-  oder  krumstabähnlich 
oder  ziehen  sich  wenigstens  so  auseinander,  dass  ihre  emzelnen 
Umgänge  sich  nicht  -mehr  berühren  *).  Auf  dieses  Verlassen  des 
alten  Typus  erfolgte  aber  das  gänzliche  Aussterben  dieser  Familie. 
Das  Darwinsche  Dogma  gilt  uns  gleichwohl  zwar  nicht  als  ein 
gelungner,  immerhin  aber  als  der  beste  Versuch,  den  Zusammen- 
hang der  älteren  mit  der  neueren  Schöpfung  zu  erklären  und  es 
wird  sich  nur  durch  eine  befriedigendere  Lösung  wieder  verdrängen 
lassen.  Es  ist  nicht  recht  verständlich  wie  fromme  Gemüther  durch 
diese  Lehre  beunruhigt  werden  konnten,  denn  die  Schöpfung  ge- 
winnt an  Würde  und  Bedeutung,  wenn  sie  die  Kraft  der  Erneuerung 
und  der  Entwicklung  des  Vollkommeneren  in  sich  selbst  trägt. 
Gläubige  Christen  wollen  wir  an  die  Gefahr  erinnern,  deren  sie 
sich  bei  Schmähung  eines  so  hoch  geachteten  Forschers  wie  Darwin 
aussetzen.  Als  Copernicüs  mit  seiner  noch  schwach  begründeten 
Lehre  von  der  Planeteneigeftschaft  der  Erde  auftrat,  ja  selbst  später 
als  das  Fernrohr  in  der  Sichelgestalt  der  Venus,  sowie  in  der  Ju- 
piterswelt die  sinnliche  Ueberzeugung,  und  Kepler  durch  seine  Ge- 
setze die  strengen  Beweise  von  der  Wahrheit  der  copernicanischen 
Anschauung  gewährt  hatten,  wurde   dennoch   nicht   blos   von    der 


1)  Abstammung  des  Menschen.    Bd.  i.     S.  132. 

2)  Credner,  Elemente  der  Geologie,     i.  Aufl.     S.  435. 

2» 


20  Arteneinheil  des  Menschengeschlechtes. 

römischen  Curie,  sondern  auch  von  protestantischen  Eiferern  die 
neue  Wahrheit  verdammt.  Der  wahre  Schöpfer  wurd^,  weil  er  bei 
seinen  Werken  nicht  ptolemäisch,  sondern  copernicanisch  verfahren 
war,  in  der  Persou  derer,  die  seine  Wahrheiten  verkündigten,  auf 
den  Index  gesetzt,  und  als  Ketzer  diejenigen  verfolgt,  auf  die 
(jott,  wie  Kepler  von  sich  selbst  schreibt,  sechstausend  Jahre  ge- 
wartet hatte,  damit  sie  seine  Werke  erkennen  sollten ').  Auch 
jetzt  stehen  wieder  zwei  Schöpfer  vor  uns,  der  Schopfer,  wie  ihn 
Cuvier  sich  dachte,  der  seine  Werke  vernichtet,  weil  er  bessere 
ersonnen  hat,  und  der  Schöpfer,  wie  ihn  Darwin  sich  denkt,  der 
das  lielebte  verändedich  geschaffen,  die  Richtung  dieses  Gestalten- 
wechsels aber  vorausgesehen  hat,  und  nun  die  Uhr  ablaufen  lässt 
ohne  ihren  Gang  zu  stören.  Ein  einziger  fossiler  Fund,  den  wir 
übrigens  weder  herbei  sehnen  noch  voraus  ankündigen  wollen, 
könnte  morgen  schon  bekräftigen,  dass  der  wahre  Schöpfer  der 
Darwinschen  Vorstellung  näher  stehe  als  der  von  Cuvier,  und  die 
unbesonnenen  Eiferer  würden  dann  wie  die  Verfolger  Galileis  sich 
anzuklagen  haben,  dass  sie  den  wahren  Gott  zu  Gunsten  eines 
wissenschaftlichen  Phantoms  verfolgt  hätten.  Kennt  doch  gerade 
die  Geschichte  der  Umwandlungslehi-e  bereits  den  Fall  einer  glän- 
zenden Widerlegung.  Cuvier  brachte  den  Vorgänger  Darwins,  La- 
marck,  damit  zum  Schweigen,  dass  er  ihm  auferlegte,  eine  Mittel- 
form zwischen  dem  Paläotherium  und  dem  jetztigen  Pferd  aufzu- 
finden, wenn  eine  Artenumwandelung  aus  jenem  älteren  in  das  neuere 
Geschöpf  stattgefunden  haben  soile,  Cuvier,  wenn  er  noch  lebte, 
müsste  beschämt  bekennen,  sobald  er  in  irgend  einem  unsrer  Mu- 
seen das  zierliche  Hipparion  der  Vorwelt  mit  den  zwei  After- 
hufen erblickte,  dass  seine  Forderung  streng  erfüllt  worden  sei'). 
Obgleich  Darwin  seine  Lehre  von  der  Arten wandelung  nicht 
streng  begründen  konnte,  hat  er  doch  die  Glaubwürdigkeit  des 
gegen th eiligen  Dogmas  von  der  UnveränderlichKeit  der  Arterimerk- 
male  tief  geschwächt  und  dadurch  im  Gebiete  der  Völkerkunde 
die  Vermuthung  bekräftigt,  dass  alle  Racen  einer  Urform  entsprungen 
und  durch  die  Anhäufung  kleiner  durch  ungestörte  Vererbung  be- 
harrlich gewordner  Unterschiede  sich  zu  Spielarten  ausgebildet  haben. 


I)  C.  G.  Reiisclile,  Kepler  und  die  Aslronomie.     Frankf.  1870.     S.  127. 
1}  Richard  Owen,  Analomy  of  Vertcbrates.     London  1868.     lom.  III. 
p.  791- 


Arteneinheit  des  Menschengeschlechtes.  21 

Sehr  günstig  ist  dieser  Ansicht  eine  Reihe  von  Thatsachen,  die 
auf  ein  sehr  hohes  Alter  unseres  Geschlechtes  schliessen  lassen, 
sowie  die  Fähigkeit  des  Menschen  sich  den  grössten  Witterungs- 
gegensätzen' auf  unsrer  Erdoberfläche  anzupassen. 

So  weit  als  bisher  auf  den  Festlanden  die  Menschen  polwärts 
vorgedrungen  sind,  hat  man  Spuren  von  Bewohnern  entdeckt,  denn 
kurz  bevor  der  Matrose  Morton  und  der  Eskimo  Hans  am  24.  Juni 
1854  Cap  Constitution  der  Westküste  Grönlands  unter  81  °  22'  N.  B.  er- 
reichten, hatten  sie  die  Trümmer  eines  Schlittens  bemerkt').  ,  Er 
bezeugte  die  frühere  Anwesenheit  von  Eskimos,  die  wir,  homerisch 
gesprochen,  als  die  äussersten  Menschen  ßa%a%oi  avSqSiv) 
zu  preisen  haben.  Auch  entdecken  wir  neben  dem  Menschen  die 
Fährte  wenigstens  eines  Hausthieres:  der  Hund  ist  stets  sein  Be- 
gleiter gewesen.  Noch  soll  der  Erdraum  gefunden  werden,  der 
nicht  von  irgend  welchem  Volke  bewohnt  oder  wenigstens  besucht 
werden  könnte.  Die  .Übergänge  aus  verschiednen  Climaten  dürfen 
allerdings  nicht  plötzlich  erfolgen.  Selbst  Isländer,  die  nach  Kopen- 
hagen übersiedeln,  erliegen  dort  der  Schwindsucht  ^) ,  obgleich  sie 
doch  mit  den  Dänen  eine  gemeinsame*  Abkunft  besitzen  und  vor 
800  Jahren  noch  eine  gemeinsame  Sprache  redeten.  Während  die 
Spanier  sich  in  der  Neuen  Welt  wie  auf  den  Philippinen  dem  tro- 
pischen Lebensraum  angepasst  haben  ^) ,  ist  es  weder  den  Briten 
gelungen  Vorderindien,  noch  den  Holländern  die  Sundainseln  mit 
Abkömmlingen  von  Europäern  zu  bevölkern.  Alle  Kinder  eng- 
lischer Eltern  die  in  Indien  geboren  werden,  kränkeln  und  sterben, 
wenn  sie  ein  Alter  von  etwa  10  Jahren  überschreiten.  Daher  senden 
die  Briten  ihre  Kinder  beim  Herannahen  des  gefährlichen  Zeit- 
punkts nach  Europa,  und  ein  gleiches  geschieht  von  den  Hollän- 
dern. Eine  Europäerin  in  Niederländisch-lndien  bedenkt  sich  sehr 
reiflich  ehe  sie  in  eine  Ehe  willigt,  denn  das  erste  Kindbett  kostet 
gewöhnlich  der  Mutter  das  Leben.  Diesem  Schicksale  erliegen 
sogar  portugiesische  Frauen  im  südafrikanischen  Tete  am  Zambesi, 
wie  es  kürzlich  der  englische  Missionär  Rowley  bestätigt  hat.  Er- 
folgen aber  die  Uebergänge  zu  andern  Climaten  stufenweise  und 
in  grossen  Zeitzwischenräumen,  so  herrscht  allerdings  kein  Zweifel, 


1)  Kane,  Arctic  Exploraüons.     Philadelphia  1856.     I,  297. 

2)  Waitz,  Anthropologie.     Bd.'i.     S.  145. 

3)  Ja  gor,  Reisen  in  den  Philippinen.     Berlin  1873.     S.  29. 


22  Arleneinlieit  des  Menschengeschlechtes. 

dass  derselbe  Menschenschlag  jede  Zone  der  Erde  bevölkern  kann, 
denn  niemand  bestreitet,  dass  der  Hindu  hoher  Kaste,  sei  es  in 
Bengalen,  sei  es  in  Madras  oder  im  Sind,  oder  an  irgendeiner 
heissen  Stelle  seiner  Heimath,  arischer  Abkunft  sei,  wie  die  alt- 
nordischen Bewohner  Islands,  und  dass  die  unbekannten  Urvor- 
fahren  beider  eine  gemeinsame  Heimath  bewohnt  haben  müssen. 
Auch  wird  niemand  Lust  haben  zu  behaupten,  dass  die  gothischen 
Eroberer  jenseits  der  Pyrenäen  nicht  lange  Zeit  die  Reinheit  ihres 
„blauen  Blutes"  bewahrt,  also  Kinder  ihres  Stammes,  Spanier  in 
Spanien  erzeugt  haben.  Aus  der  spanischen  Halbinsel  stammten 
wiederum  die  Ansiedler  auf  Madeira  und  den  Canarien,  die  von 
dort  nach  Ausbruch  der  Traubenkrankheit  schaarenweise  vor  zwei 
Jahrzehnten  nach  Trinidad  und  dem  britischen  Guayana  aus- 
gewandert sind.  Alle  Voikerk  und  igen  sind  einig  darüber^  dass  die 
Eingebornen  Amerikas  höchstens  mit  Ausnahme  der  Eskimo  eine 
einzige  Race  bilden  und  dieser  einzigen  Race  gelang  es  sich  auf 
beiden  Halbkugcln  vom  nordiichen  Polarkreis  bis  zum  Aequalor 
und  wiederum  bis  über  den  50.  Breitegrad  allen  Witterungs Ver- 
hältnissen anzupassen.  Die  Chinesen  treffen  wir  in  Maimatschin 
(Kiachtal  an  der  sibirischen  Grenze,  wo  die  Mitteltemperatur  noch 
unter  dem  Gefrierpunkt  liegt  und  das  Thermometer  bis  auf  —  40°  R. 
im  Winter  sinkt,  und  zugleich  auf  der  Insel  Singapur,  die  fast  vom 
Aequalor  berührt  wird ').  Türkische  Völker ,  wie  die  Jakuten, 
sitzen  an  der  Lena,  wo  sie  Kennan  bei  — 32°  R.  nur, mit  einem 
Hemd  und  I'elz  bekleidet  im  Freien  plaudernd  antraf),  weiden 
wie  die  Kirgisen  auf  der  vielleicht  höchsten  Steppe  der  Erde,  auf 
dem  Pamir-I'lateau,  und  wohnen  als  Herrscher  im  heissen  Süd- 
ägypten ^),  sowie  in  dem  verrufenen  Hassaua  am  rothen  Meere. 
Dei  der  Musterung  der  Racen  merk  male  wird  es  sich  am 
besten  zeigen,  wie  wenig  ihre  grossen  Schwankungen  feste  Grenzen 
zu  ziehen  erlauben,  vorläufig  aber  sei  es  uns  verstattet  an  einer 
Reihe  von  Thatsachen  zu  zeigen,  dass  die  abgelegensten  Völker 
und  die  äusserlich  am  wenigsten  sich  nahe  stehenden  Menschen- 
racen  in  ihren  geistigen  Regungen  sich  auf  eine  so  überraschende 
^Veise  begegnen,  dass  wenigstens  in  Bezug  auf  das  Denkvermögen 

1)  Pumpclly,  Across  America  and  Asia.     London  1870.     p.  256. 

2)  Tenl.Ufe  in  Siberia,     p.  118. 

J)  Laiham,  Varieües  of  Man.     p,  77, 


Arteneinlieit  des  Menschengeschleclites.  23 

die  Einheit  und  Gleichheit  der  Menschenart  nicht  bezweifelt  werden 
kann.  So  werden  wir  später  noch  davon  zu  reden  haben,  dass 
die  Zeichen-  und  Gebärdensprache  europäischer  Taubstummer 
zusammentrifft  mit  den  gleichen  Verständigungsmitteln  der  nord- 
amerikanischen Rothhäute.  Alle  Völker  mit  wenigen  Ausnahmen 
sind  zum  einfachen  oder  doppelten  Decimalsystem  gelangt,  weil 
sie  die  Finger  beim  Zählen  zu  Hilfe  genommen  haben.  Haut- 
malerei und  Tätowirungen  kehren  in  allen  Welttheilen  wieder.  Das 
Ausschlagen  der  Vorderzähne  ist  nicht  blos  ein  Negerbrauch,  son- 
dern kommt  auch  in  Australien  vor.  Spitz  gefeilt  wiederum  werden 
sie  sowohl  in  Brasilien  *)  als  im  westlichen  Afrika  von  den  Otando-, 
Apono-,  Ischogo-  und  Aschangostämmen  *).  Erwähnt  schon  Hippo- 
krates  ^)  oder  wer  sonst  der  Verfasser  des  Buches  über  Luft,  Wasser 
und  Ortsbeschaffenheit  sein  mag,  dass  unter  der  Steppenbevölkerung 
Südrusslands  die  Schädel  der  freigebornen  Kinder  zwischen  Bretter 
geschnürt  werden,  um  ihnen  eine  steilere  Gestalt  zu  geben,  so  be- 
gegnen wir  der  nämlichen  Mode  bei  den  Conivos  am  Ucayali  in 
Südamerika*),  bemerkt  wurde  sie  von  Ch.  Bell  und  Berthold 
Seeman  in  Mosquitia  bei  den  Smu^),  eigen  ist  sie  auf  dem  nörd- 
lichen Festlande  namentlich  den  Tschinuk  Britisch  Columbiens, 
überhaupt  allen  sogenannten  Flachköpfen,  die  wiederum  das  Pressen 
des  Schädels  nur  bei  Kindern  von  Freigebornen  verstatten  ^).  Ge- 
sundheitsrücksichten haben  viele  Völker  bewogen  die  Beschneidung 
einzuführen.  Herodot  7)  hielt  die  Aegypter  und  Aethiopier  für  die 
Erfinder  dieses  Vorbeugungsmittels,  das  ihnen  von  Phöniciern  und 
Syriern  erst  abgelauscht  worden  sei.  Bei  der  Eroberung  fanden 
die  Spanier  beschnittne  Völker  in  Mittelamerika®),  am  Amazonen- 
strome aber  huldigen  die  Tecuna-  und  Manaoshorden  noch  jetzt 
diesem  Gebrauche  9).  In  der  Südsee  ist  er  bei  drei  verschiednen 
Racen  angetroffen  worden.     Auf  dem  australischen  Festlande  näm- 


i)  V.  Martius,  Ethnographie  I,  536. 

2)  Du  Chaillu,  Equatorial  Africa  p.  74  und  Ashango-I^nd  p.  431. 

3)  Cap.  80. 

4)  Grandidier,  P^rou  et  Bolivie.   p.  129. 

5)  Journal    R.    Geogr.    Soc    XXXII,    256    und 'Seemann,    Nicaragua, 
Panama  and  Mosquitia.    London  1869.     p.  308. 

6)  Paul  Kane,  Indians  of  North  America,     p.  181. 

7)  H,  104. 

8)  Herrera,  Historia  general.     Dec.  IV.     Llbr.  9.     Cap.  7. 

9)  V.  Martius,  Ethnographie  I,  582. 


24 


Arteneinlieit  des  Mensche  ngescblechl  es 


lieh  beschneiden  sich  zwar  nicht  alle,  doch  eine  Mehrzahl  von 
Stammen,  Von  papuanischen  Völkern  halten  an  dieser  Sitte  die 
Neu-Caledonier  und  die  Bewohner  der  Neuen  Hebriden  fest '). 
,  Cook  Tand  sIl'  auf  seiner  dritten  Reise  bei  den  polynesischen  Be- 
wohnern der  Freundschaftinseln,  genauer  auf  Tongatabu ')  und  der 
jüngere  Pritchard  bezeugt  ihre  Ausübung  auf  der  Samoa-  und 
Fidschigruppe  ^).  Eine  andre  mosaische  Satzung  verlangte,  dass 
der  Jude  der  \Vittwe  seines  Bruders  Nachkommenschaft  zu  erwecken 
suche  *).  Diese  Auffassung  von  Geschwisterpflicht  traf  Plan  Carpin, 
der  Botschafter  Ludwigs  des  Heiligen,  bei  den  Mongolen  *),  Mar- 
tius '')  bei  den  brasilianischen  Tupinambastämmen  und  ebenso  herrscht 
sie  bei  den  Koluschen  im  Nordwesten  Amerikas'),  sowie  bei  den 
Osljaken  im  nordlichen  Russland*).  Ja  es  fehlt  sogar  nicht  an 
einem  Falle,  dass  wir  auf  zwei  mosaische  Satzungen,  nämlich  die 
Beschneidung  und  die  eben  erwähnte  Schwagerpflicht  bei  einer  Be- 
völkerung stosscn,  die  ganz  sicherlich  keiner  Beziehungen  zum  Juden- 
thum  verdächtig  werden  kann,  nämlich  bei  den  Papuanen  Neu- 
Caledoniens  Die  seltsame   Gewohnheit  sich   durch  Reiben    der 

Nasen  zu  begrussen,  ist  nicht  blos  sämmtlichen  Eskimo  bis  nach 
Grönland  eigen '"),  sondern  wird  auch  den  Australiern  zuge- 
schneben  ' '  Darwin  beobachtete  sie  bei  den  Maori  Neu-See- 
lands"j,  Lamont  gedenkt  ihrer  bei  den  Polynesiern  der  Penrhyn 
und  Marqnesas  Inseln'*),  Wallace,  dem  sie  unter  seiner  Schiffs- 
mannschaft beim  Abschied  von  Mangkassar  auffiel,  nennt  sie  den  Ma- 
layenknss '*),    und    Linn^    begegnete   ihr   wieder   in    Lappland '^), 

I)  Cook,  Voyage  dans  l'Hteiiipliire  austral,  tom.  Ilt,  137, 
1)  Cook  and  King,  tom,  I,  p.  384. 

3)  Polyncsinn  Remimscences,  p.  393. 

4)  Deuter.     XXV,  5—10, 

Sl  Recueil  de  Voyages,  lom,  IV,  613, 

6)  Ethao^apliie  I,  153, 

7)  Waiti,  Anthropologie  III,  328. 

8)  Caslrin,  Ethnolog.  Vorlesungen.     S,  119. 
91  Rach]i5,  Nouv.  Calidonie,  p,  232. 

10)  Barrow,  Arclic  Voyages,  p.  30, 

n)  Waitz  (Gerland),  Anlhmpologie.     Bd,  6.     S,  749. 

i;l  Naturw.  Reisen  II,  198, 

13)  Wild  Life  amoog  the  Pacific-lslajiders,    p,  18.    p,  269. 

14|  Malay  Archipelago  II,  165, 

15)  Tylor,  Urgeschichte   der  Menschheit.     S.  66. 


Arteneinheit  des  Menschengeschlechtes.  25 

Durch  Hawkesworth  und  der  beiden  Forster  Beschreibungen  von 
Cooks  erster  und  zweiter  Fahrt  kennen  wir  die  polynesische  Sitte 
einen  Freundschaftsbünd  durch  Namensaustausch  zu  besiegeln.  Der 
gleiche  Brauch  herrschte  bei  den  Mohawk  in  Nordamerika*)  und 
in  Südafrika  wurde  in  Gegenwart  Livingstone's  *)  auf  diese  Art 
Brüderschaft  zwischen  einem  Makololo  uud  einem  Zulukafirn  ge- 
schlossen. Jede  Möglichkeit  einer  gegenseitigen  Entlehnung  fällt 
hinweg,  wenn  ferner  bei  den  Feuerländern  in  Südamerika  und  bei 
den  Bewohnern  der  Andamaninseln  im  bengalischen  Golfe,  die 
Wittwen  den  Schädel  ihres  verstorbenen  Gatten  an  einer  Schnur 
um  den  Hals  tragen  müssen  ^). 

Auf  den  Hochebenen  von  Peru  und  Bolivien  gewahrt  man  auf 
den  Bergspitzen  sogenannte  Apachetas  oder  Steinhaufen,  an  denen 
kein  Maulthiertreiber  vorüberzieht  ohne  ein  neues  Stück  zu  dem 
Denkmal  hinzuzufügen  ^),  Dieser  Gebrauch  geht  durch  die  ganze 
Welt.  Capitän  Speke  beobachtete  ihn  in  der  Landschaft  Usui  süd- 
lich von  Karagwe  und  südwestlich  vom  Ukerewe  See^).  Der  un- 
genannte Verfasser  eines  wegen  seiner  ethnographischen  Schilde- 
rungen geschätzten  Romans^)  beschreibt  die  nämliche  Sitte  im 
Mahrattengebiete  Indiens,  Adolf  Bastian  sah  solche  Steinpyramiden 
auf  Passhöhen  in  Birma  und  bei  den  Kayan  in  Borneo  ^)y  die 
Brüder  Schlagintweit  in  Tübet^),  Michie  auf  seiner  Reise  von 
Peking  durch  die  mongolischen  Steppen^),  Ebers  auf  der  Sinai- 
Halbinsel  *°).  In  der  Schweiz  werden  Steine  über  den  Gräbern 
Verunglückter  aufgethürmt ")  und  genau  die  nämliche  Bedeutung 
und  Entstehung  haben  diese  Male  im  heutigen  Venezuela  *  *). 
Spenser  St.  John  erzählt,  dass  solche  Steinhaufen  von  den  Dayaken 


i)  Tylor,  Urgeschichte  der  Menschheit.     S.  161. 

2)  Zambesi,  p.  149. 

3)  Frederic  Mouat,  Andaman  Islanders.     p.  327. 

4)  Grandidier,  P6rou  et  Bolivie,  p.  235.  Genaueres  bei  J.  J.  v.  Tschudi, 
Reisen  durch  Südamerika.     Leipzig  1869.     £d.  5.  S.  52. 

5)  Source  of  the  Nile,  p.  193.  • 

6)  Tara,  a  Mahratta  tale,  I,  144. 

7)  Völker  des  östlichen  Asiens.     Bd.  2.  S.  483.     Bd.  5.  S.  47. 

8)  Indien  und  Hochasien.     Bd.  2.  S.  330. 

9)  Siberian  Overland-Route,  p.  136. 

IG)  Georg  Kbers,  Durch  Gosen  zum  Sinai.     S.  188. 

11)  Carl  Vogt,  Vorlesungen  über  den  Menschen  II,  119. 

12)  Dr.  Ernst,  im  Globus.     Bd.  XXI,  No.  8.     Febr.  1872.     S.  124. 


25  Arlcneinheil  des  Mensühenge  schlechtes. 

Borneo's  üur  ewigen  Schmach  eines  Mannes  errichtet  würden,  der 
sich  einer  schamlosen  Lüge  oder  eines  Wortbruches  schuldig  ge- 
macht habe  '). 

Ein  scheinbar  ganz  sinnloser  Brauch  ist  es  endlich,  daas  der 
Mann,  wenn  ihm  ein  Kind  geboren  wird,  sich  auf  das  Lager  streckt 
und  wie  eine  Wiichnerin  gebärdet.  Diodor  kennt  eine  solche  Sitte 
in  Corsika .  Strabo  beschreibt  sie  unter  den  spanischen  Basken ') 
und  bei  ihnen  hat  sie  sich  unter  der  Bezeichnung  couvade  noch 
bis  auf  die  Gegenwart  erhalten  3).  Marco  Polo  schreibt  diese  Ge- 
wohnheil der  Bevölkerung  von  Zardandam  oder  den  „Leuten  mit 
den  goldenen  Zähnen"  zu,  die  wir  nach  Pauthier's  Erläuterungen 
westlich  vom  chinesischen  Yünnan  am  obern  Mekong  suchen 
müssen*),  und  nicht  allzuweit  entfernt  davon,  nämlich  auf  Bomeo 
darf  noch  jetzt  bei  den  Dayaken  der  Vater  des  Neugebornen  acht 
Tage  lang  nur  Reis  essen,  muss  sicii  hüten  in  die  Sonne  zu  gehen 
und  vier  Tage  lang  auf  jedes  Bad  verzichten '),  In  Südamerika, 
östlich  von  den  Cordilleren,  ist  die  Sitte  des  väterlichen  Wochen- 
bettes von  Martins  bei  den  Mundrucus  und  Manaos  am  Amazonen- 
atrom  beobachtet  worden,  sie  erstreckt  sich  auch  auf  die  Cariben  *) 
und  auf  die  Macui^chi  Guayanas,  bei  denen  sie  der  jüngere  Schom- 
burgk  vorfand  '),  sovrie  auf  die  Jivaro  am  Napö  nach  James  Orton  *). 
Damit  ist  übrigens  noch  nicht  die  Aufzählung  aller  Völker  erschöpft, 
die  sich  dieser  Sitte  anbequemten ') ,  doch  wollen  wir  nur  hinzu- 
fügen, dass  sie  am  Beginn  des  vorigen  Jahrhunderts  von  dem 
Missionär  Zucchelli  auch  bei  Negern  in  Cassange  angetroffen  wurde  "^. 
Flüchtige  Reisende  haben  nicht  versäumt  diesen  Gebrauch  als  eine 

1)  Lire  in  Ihe  Far  Easl.     London  1S62.     lom.  I.     p.  76. 

2)  Gcogr.  lib.  III,  cap.  4,  Taacho.  ed.  I,  26$. 

3)  Lubbock,  Prchisloric  Times,     p.  580. 

4)  Marco  Polo,  lib.  11,  cap.  41  oder  cap.  CXIX. 
5}  Spcnser  Sl.  John  1.  c.  I,  160. 

6)  !?pix  und  Marlius,  Reise  in  Brasilien  Bd.  j,  S.I339  undHartius, 
KÜinogrjphie  S.  392,  S.  588.  • 

7)  Reisen,  Bd.  2.     S,  314. 

5)  Tbe  Andes  and  (he  Amazon.     London  1870.     p.  17:. 

9)  Seitdem  d;is  <lbige  ßedruckt  wurde  (Ausland  1867.  S.  1108}  hat 
Dr.  Ploss  eine  Abhandlung  „über  das  MänneckindbctI "  im  10.  Johresbeiichl 
des  Leipziger  Vereins  für  Erdkunde.  Leipzig  1871.  S.  33 — 48  mit  einem 
noch  grossem  KeichthuiQ  an  Belegstücken  drucken  lassen. 

10)  Antonio  Zucchelli,  Missione  di  Congo.  Veneziu  1712.  VU,  15  p.  I18. 


Arteneinheit  des  Menschengeschlechtes.  27 

Albernheit  zu  schmähen  oder  zu  verspotten,  gründliche  Kenner 
dagegen  haben  uns  belehrt,  dass  nur  ein  ängstlicher  Wahn  dieser 
Sitte  zu  Grunde  liegt.  DobrizhofFer ,  der  sie  bei  den  Abiponen 
beschreibt,  belehrt  uns,  dass  die  Väter  nur  deswegen  den  Luftzug  ver- 
meiden und  streng  fasten,  weil  sie  voraussetzen,  es  bestehe  noch 
ein  leibliches  Band  mit  dem  Neugebornen,  so  dass  ihre  Unmässig- 
keiten  oder  Erkältungen  auf  das  Kind  sich  übertragen  möchten. 
Stirbt  der  Sprössling  in  den  ersten  Tagen,  so  verfehlen  die  Frauen 
niemajs  dem  Erzeuger  lieblosen  Leichtsinn  vorzuwerfen  ^).  Auf  den 
Antillen  durfte  der  Vater,  der  Nachkommen  zu  erwarten  hatte,  kein 
Schildkröten-  und  kein  Manatifleisch  essen,  denn  im  ersten.  Falle 
war  Taubheit  und  Gehirnmangel,  im  andern  eine  Entstellung  durch 
kleine  runde  Augen  für  das  Kind  zu  befürchten  *).  Ganz  ähnlich  legen 
sich  bei  den  Indianern  des  britischen  Guayana  nach  einem  Schlangen- 
biss  die  Eltern  und  Geschwister  des  Verwundeten  etliche  Tage 
Fasten  und  Entbehrungen  auf^).  Auf  dieselben  Gedanken  oder 
auf  dieselben  Wahnbilder  sind  also  die  Bewohner  von  vier  Welt- 
theilen  gerathen  und  wir  können  dieses  Zusammentreffen  nur  auf 
eine  doppelte  Weise  erklären,  denn  entweder  entstanden  jene  Ver- 
irrungen  schon  als  die  sämmtlichen  Spielarten  unsres  Geschlechtes 
noch  eine  enge  Heimath  bewohnten,  oder  sie  haben  sich  selbst- 
ständig erst  entwickelt  nach  der  Zerstreuung  über  den  ganzen  Erd- 
kreis. Ist  das  Letztere  wahrscheinlicl^  dann  gleicht  das  Denkver- 
mögen  aller  Menschenstämme  sich  bis  auf  seine  seltsamsten  Sprünge 
und  Irrfahrten. 


i)  Geschichte  der  Abiponer.    Bd.  2.     S.  273. 

2)  E.  B.  Tylor,  Urgeschichte  der  Menschheit.     S.  372. 

3)  C.  F.  Appun  im  Ausland  1872.    No.  31.     S.  440.  ^     ^  ^    j 


DER  SCHOPFUNGSHERD  DES  MENSCHENGESCHLECHTES. 

Alle  oceanischen  Inseln,  ä.  b.  solche  die  in  beträchtlichem 
Abstand  vom  nächsten  Festland  liegen,  sind,  mit  wenigen  Aus- 
nahmen, von  europäischen  Seefahrern  unbewohnt  gefunden  worden. 
Dass  Barcnt  1596  auf  der  Bäreninsel  und  Spitzbergen  keine  Be- 
wohner entdeckte,  wird  uns  wegen  ihrer  unwirthKchen  Lage  nicht  be- 
fremden, wohl  aber,  dass  diess  ehemals  der  Fall  war  mit  Island,  da  doch 
das  gegenüberliegende  Ostgronland  von  Eskimo  bis  zum  75"  N.  B.  be- 
wohnt wird.  Die  ersten  Ansiedler  Islands  scheinen  celtische  Christen 
um  das  Jahr  795  gewesen  zu  sein,  denn  als  Normannen  zuerst  das 
Eisland  betraten,  fanden  sie  auf  einem  Inselchen  der  Südküste, 
noch  jetzt  die  Pfaffeninsel  yehei.ssen,  Krümmstabe,  Glocken  und 
irische  Bücher,  wie  es  in  den  Sagas  heisst.  Unbewohnt  waren  im 
atlantischen  Meer,  die  von  Korallen  erbaute  Bermudasgruppe,  die 
vulcanischen  Azoren,  die  vulcanische  Madeiragruppe,  die  vulcanischen 
Inseln  des  grünen  Vorgebirges,  die  vulcanischen  Insein  im  Meer- 
busen von  Guinea  '),  die  einsamen  Inselvulcane  Fernando  Noronha, 
Trinidad  mit  den  Martin  Vaz-Klippen,  St,  Helena,  Ascension,  Tri- 
stan d'Acunha,  ja  selbst  der  geräumige  Falklandsarchipel ,  zu 
schweigen  von  allen  was  in  das  antarktische  Poiarme^  fällt.  Auch 
die  Vulcaninseln  der  Marion-,  Crozet-  und  Kerguelengruppe  oder 
was  südlicher  liegt,  und  die  beiden  Inselvulcane  St.  Paul  und  Amster- 
dam, ja  selbst  die  Mascarcnen,  nämlich  die  beiden  vulkanischen 
Zuckerinseln  Mauritius  und  Bourbon  und  die  ihnen  beigezählte 
Granitinsel  Rodriguez  waren  menschenleere  Stätten.  Selbst  das 
stattliche  Neu-Seeland  ist  erst  in  neuester  Zeit  bevölkert  worden 
denn  nach  den  freilich  unzuverlässigen  Angaben  der  Maori  landeten 

I)  Sie  wurden  von  den  Porlugiesen  in  der  Zeit  von  1470  bis  i486  ent- 
deckt iGhiUany,  Marlin  Beh»iin  S.  8(1)  und  waren  unbewohnl. 


Schöpfungsherd  des  Menschengeschlechtes.  20 

ihre  Vorväter  etwa  um  1300  n.  Chr.  auf  der  Nordinsel,  während 
die  östlich  liegende  vulkanische  Chathamgruppe  wiederum  von  Neu- 
seeländern erst  seit  dem  vorigen  Jahrhundert  besiedelt  worden  ist, 
und  die  südlich  liegenden'  vulcänischen  Aucklandinseln ,  berühmt 
durch  einige  moderne  Robinsonaden,  bis  jetzt  noch  auf  den  ersten 
Besitzergreifer  harren. 

Auf  den  bisher  durchmusterten  Meeresräumen  waren  nur  die 
canarischen  Inseln  bewohnt,  nämlich  von  den  ausgestorbenen  Guan- 
chen,  die  zur  Zeit  ihrer  Entdeckung  nichts  mehr  davon  wussten, 
dass  in  der  Nähe  ein  Festland  lag,  denn  auf  das  Befragen  der 
spanischen  Missionäre  wie  sie  nach  ihrem  Archipel  gekommen  seien, 
gaben  sie  die  naive  Antwort:  „Gott  hat  uns  auf  diese  Inseln  ge- 
setzt, dann  verlassen  und  vergessen."  Reste  ihrer  Sprache  haben 
indessen  erlaubt  sie  als  versprengte  Bruchtheile  der  Berberfamilie 
zu  erkennen.  Auch  wissen  wir,  dass  sie  ihre  Todten  in  Mumien 
zu  verwandeln  pflegten,  sowie  dass  sie  bei  ihrer  ersten  Besiedelung 
Ziegen  mit  nach  den  Inseln  brachten. 

Ebenso  sind  die  Eilande  im  Stillen  Meere  westlich  von  Süd- 
amerika unbewohnt  gefunden  worden,  und  wir  nennen  hier:  Juan 
Fernandez,  den  Schauplatz  von  Selkirks  Abenteuern,  mit  Masafuera, 
S.  Feliz  und  Ambrosio,  nicht  minder  Sala  y  Gomez,  ferner  die  vul- 
cänischen Galapagos,  welche  die  Buccanier  zu  ihren  Schlupfwinkeln 
wählten,  die  Cocosinsel  und  die  Revillagigedo-Gruppe.  Ja  selbst 
solche  Inseln  sind  unbewohnt  geblieben,  welche  geräumig  und  dem 
Festlande  nahe  lagen,  wie  die  Bering-Insel ,  traurig  berühipt  durch 
den  Schiffbruch  des  Entdeckers,  dessen  Namen  sie  trägt. 

Von  diesen  geschichtlichen  Erfahrungen  ermuthigt,  dürfen  wir 
wohl  aussprechen,  dass  die  ersten  Menschen  Bewohner  eines  Fest- 
landes gewesen  sein  müssen.  Als  eine  einzige,  aber  nur  scheinbare 
Ausnahme  könnte  die  Verbreitung  der  malayischen  Völker  gelten 
zu  denen  ausser  den  eigentlichen  Malayen  Sumatra's  und  Malaka's, 
sowie  den  Javanen,  auch  die  braunen  Stämme  mit  schlichtem  Haar 
gehören,  die  unter  dem  Namen  Polynesier  über  alle  tropischen  oder 
subtropischen  Inseln  der  Südsee  sich  zerstreut  haben.  Seit  Wilhelm 
V.  Humboldts  Forschungen  über  die  Kawi-Sprache  wissen  wir,  was 
vorher  noch  bestritten  wurde,  dass  auch  die  herrschende  Race 
auf  Madagaskar  zur  malayischen  Familie  gehöre.  ^  Es  hat  sich 
dieser  Menschenschlag  von  den  Comoren,  denn  auch  auf  ihnen  ist 
die  Sprache  malayisch,  bis    zur  Osterinsel,    vom   61.    bis  zum  268. 


3Q  Sthiipfungslierd  des  Menschengeschlechtes. 

Längengrade,  also  auf  */»  eines  Breitenkreises  ausgedehnt.  Trotzdem 
ist  es  von  vornherein  nicht  sehr  glaubhaft,  dass  der  Mutterstatnin 
der  malayischen  Völkerfamilie  zuerst  auf  Inseln  aufgetreten  sei. 
Die  Übereinstimmung  ihrer  Sprachen  beweist  uns,  dass  die  weit 
entfernten  Glieder  dieser  Familie  vor  ihrer  Ausstreuung  eine  ge- 
meinsame Heimath  bewohnt  haben  müssen.  Diese  darf  aber  nur 
dort  gesucht  werden,  wo  die  malayischen  Völker  jetzt  noch  am 
dichtesten  auftreten.  Der  Ausstrahlungspunkt  jener  Horden  lag 
daher  irgendwo  zwischen  Sumatra,  Java  und  der  Halbinsel  Malaka, 
Wir  dürfen  sogar  noch  etwas  weiter  gehen  und  ihn  auf  dem  süd- 
asiatischen Festlande  suchen,  denn  nach  ihren  körperlichen  Merk- 
malen gewürdigt  zählen  die  Malayen  zur  grossen  mongolischen  Race. 

Die  Ausbreitung  lies  malayischen  Menschenstammes  über  mehr 
als  die  halbe  Länge  eines  Erdumfanges  genügt  uns  als  Beispiel, 
wie  weit  die  Wanderungsbegierde  einen  Menschenstamm  aus- 
einander treiben  kann,  sobald  er  sich  einmal  Verkehrs  Werkzeuge 
zur  Bewegung  auf  dem  Meer  geschaffen  hat.  Allein  auch  auf  den 
Festlanden  erstreckten  sich  die  Wanderungen  der  frühesten  Men- 
schenstämme  in  die  grössten  Fernen.  Auf  Australien  herrschen 
von  Ost  nach  West  verwandte  Mundarten!^  und  nur  im  Norden 
scheint  eine  Mischung  mit  papuanischen  Sprachen  stattgefunden 
zu  haben.  Ganz  Südafrika  bis  zum  Aequator  erfüllt  nur  eine 
grosse  mundartlich  schattirte  Sprache,  so  dass  der  Suaheli  der  Ost- 
kuste  immer  noch  den  Afrikanern  im  äquatorialen  Westafrika  am 
Gabun  nicht  ganz  unverständlich  bleibt.  Wir  selbst  gehören  un- 
serer Sprache  nach  dem  grossen  arischen  Völkerkreise  an,  zu  dem 
die  Gelten  Galliens  und  Britanniens,  alle  Germanen,  die  Italiener, 
die  Griechen  und  Albanesen,  sämmtliche  Slaven,  die  Armenier, 
die  Osseten  des  Kaukasus,  die  Kurden,  die  Perser  und  die.  brah- 
mani sehen  Hindu  zählen. 

Nicht  das  gleiche  aber  ein  ähnliches  Schauspiel  gewährt  uns 
Amerika.  Wenn  wir  absehen  von  den  Eskimo  und  etlichen  Stämmen 
des  weiland  russischen  Amerika,  so  gehören  nach  dem  überein- 
stimmenden Zeugniss  aller  Anthropologen  die  sämmtlichen  Be- 
wohner der  neuen  Welt  einem  Menschenstamm  an,  so  dass  uns 
nichts  hindern  würde  sie  von  einem  Elternpaar  entsprungen  zu 
denken.  Ihre  Sprachen  freilich  zeigen  im  Wortschatze  ein  kau- 
kasisches Gewirr,  dagegen  ist  der  Satzbau  oder  vielmehr  die  Wort- 
bildung so  eigenthumlich  und  gleichartig,  dass  spanische  Missionäre 


Schopfungsherd  des  Menschengeschlechtes.  21 

* 

in  Südamerika  vorgezogen  haben  das  Evangelium  theils  in  der 
peruanischen  Quichuasprache ,  theils  in  der  brasilianischen  Tupi- 
sprache  oder  dem  Guarani  zu  verkündigen,  weil  die  dortigen  In- 
dianer mit  Leichtigkeit  int  den  Geist  dieser  Sprachen  eindringen, 
während  das  Spanische  oder  Portugiesische  ihrem  Verständniss 
widerstrebt. 

Freilich  ist  eine  Familienähnlichkeit,  ja  selbst  eine  nähere 
Uebereinstimmung  in  der  Sprache  kein  untrüglicher  Beweis  eines 
gemeinsamen  leiblichen  Stammbaumes,  denn  sonst  müssten  die 
vormals  slavisch,  jetzt  deutsch  redenden  Völkerschaften  östlich  der 
Elbe  von  jeher  Germanen,  es  müssten  die  englisch  sprechenden 
Neger  der  Vereinigten  Staaten  Angelsachsen,  die  spanisch  redenden 
Indianer  Mittel-  und  Südamerika's  Blutsverwandte  Calderons  sein. 
Die  Einheit  oder  Familienähnlichkeit  der  Sprache  beweist  aber 
streng,  dass  vormals  alle  Völkerschaften,  die  sie  umfasst,  ein  ge- 
sellschaftliches Band  vereinigt  haben  musste.  Wir  dürfen  also 
schliessen,  dass  die  sämmtlichen  Australier,  dass  die  Südafrikaner, 
dass  die  arischen  Völker,  dass  die  Amerikaner  vor  der  Trennung 
ihrer  Sprachen  eine  Heimath,  einen  Ursitz  inne  hatten,  von  dem 
aus  sie  durch  Wanderung  sich  verbreiteten.  Konnte  aber  die  neue 
Welt  von  irgend  einem  Ausgangspunkt  nach  und  nach  bevölkert 
werden,  sq  ist  es  nur  eine  Frage  der  Zeit,  dass  alle  Festlande 
ebenfalls  von  einem  Punkte  aus  bevölkert  wurden. 

Wir  haben  aber  bisher  nur  gezeigt,  dass  unser  Geschlecht 
von  einem  irdischen  Revier  ausgehend  allmählich  alle  Festlande 
durchwandert  und  bevölkert  haben  kann.  Das  Mögliche  ist  noch 
nicht  das  Wahrscheinliche,  geschweige  etwas  nothwendiges.  Glück- 
licherweise bietet  uns  die  Geologie  und  die  Thiergeographie  die 
Mittel  den  Raum  sehr  eng  einzuschränken,  wo  allein  der  Ursitz  des 
Menschengeschlechts  gesucht  werden  darf.  Die  Geologie  lehrt  uns, 
dass  die  Stockwerke  der  Erdrinde  in  chronologischer  Reihenfolge  ge- 
schichtet liegen,  und  zwar  da,  wo  nicht  absonderliche  Störungen 
eintraten,  das  jüngste  zu  öberst,  das  älteste  zu  unterst.  Wenn  wir 
nun  vom  obersten  Stockwerk  abwärts  steigen,  ändern  sich  die 
Trachten  der  Schöpfung,  sie  werden  in  unmerklichen  Uebergängen 
den  jetzigen  fremder  und  fremder.  Das  moderne  finden  wir  oben, 
das  alterthümliche  unten,  denn  die  Geschichte  der  Schöpfungen 
gleicht  der  Geschichte  der  Moden.  Zugleich  bemerken  wir,  dass 
nicht  immer  aber  im  grossen  Durchschnitte  die  höher  gegliederten 


32  Schöpfungslierd  des  MenscbenEss'^*''sctiles. 

Geschöpfe  die  neueren,  die  unvollkommener  gegliederten  die  älteren 
sind.  Aber  die  zoologischen  Moden  haben  sich  nicht  überall  mit 
gleicher rieschwindigkeit  geändert.  Sie  haben  sich  am  hastigsten  in  der 
alten  Welt  umgestaltet,  minder  rasch  jn  Nordamerika,  sie  sind 
aiemlich  weit  zurückgeblieben  in  Südamerika,  am  alterthümlichsten 
in  Australien.  Je  kleiner  und  je  abgesonderter  ein  Erdraum  lag, 
desto  langsamer  legte  er  seine  Trachten  ab  oder  behielt  sie  wohl 
gänalich  bei, 

Australiens  Thierwelt  bewahrt  die  Trachten  jener  Zeit  als  noch 
die  Känguruh  Mode  waren,  denn  tjei  uns  finden  wir  Beutelthiere 
nur  noch  als  Versteinerungen  der  tertiären  Zeit,  auch  in  der  neuen 
Welt  sind  sie  bis  auf  wenige  kleinere  Arten  über  dem  Erdboden 
\'611ig  verschwunden.  Australien  fehlen  alle  Affen,  alle  Raubthiere, 
alle  Hufthierc,  alle  Zahnlücker.  Von  seinen  132  Säugethierarten 
sind  I02  Beutelthiere  und  der  Rest  besteht  aus  Nagern,  Fleder- 
mäusen und  seltsamen  Monotrematen  oder  Cloakenthieren.  Allerdings 
ist  in  diese  Schiipfung  auch  der  Mensch  hineingeratben  und  in 
seiner  Begleitung  —  denn  gleich  und  gleich  gesellt  sich  gern  — 
ein  reissendes  Thier,  der  Dingo  oder  neu  holländische  Hund,  Allein, 
dass  sie  als  Fremdlinge  diese  zoologische  Provinj  betraten '),  fühlt 
ein  jeder  der  den  Thatsachen  der  Thiergeographie  ihre  geschicht- 
lichen Lehren  abgewonnen  hat. 

Das  gleiche  gilt  von  Südamerika,  welches  ein  eigenes  streng 
gesondertes  Säugethierreich  beherbergt,  als  dessen  Charaktergestalten 
die  Zabnlücker  gelten.  Alle  seine  Arten,  die  Mehrzahl  der  Gat- 
tungen, ja  selbst  der  Familien  sind  verschieden  von  denen  der 
alten  Welt.  \Vichtig  für  unsere  Beweisführung  ist  noch  die  Be- 
merkung Andreas  Wagners,  dass  die  heutigen  Säugethiere  Austra- 
liens und  Südamcrika's  viel  näher  den  fossilen  Trachten  der  ter- 
tiären Zeit  stehen  als  die  unsrigen  '),  dass  also  auf  beiden  Gebieten 
die  Moden  viel  langsamer  gewechselt  haben.  War  doch  Süd- 
amerika eine  Insel  noch  in  einer  kurzen  geologischen  Vergangen- 
heit, bevor  die  Landenge  von  Panama  die  beiden  Festlande  zu- 
sammenschloss.     Südamerika  also,  das  aiterthümliclf  gebliebene,  ist 


l)  Dieüs  gesteht  Mlbst  Agassiz  im  Essay  on  Classification.  London  l349.  p.  60, 
2]  Abhandlun(!en  der  mathem.  physik.  Glosse  der  k.  bayr,  Akademie  der 
iKsenschaßen.     München  1846.     IV.  Bd,     1,  Ablh.     S.  iS. 


Schöpfungsherd  des  Menschenge  schlechtes.  31 

nicht  die  schickliche  Säuge thier-Provinz  wo  das  modernste  aller 
Geschöpfe  ursprüogiich  aufgetreten  sein  sollte. 

Eher  Hesse  sich  vermuthen,  dass  in  Nordamerika  die  Wiege 
der  Menschheit  gestanden  haben  könnte.  Nordamerika  hat  in 
seiner  Thier-  und  Pflanzenwelt  manches  U  eberein  stimmen  de  und 
viel  Aehnliches  mit  Asien  und  Europa.  Die  Physiognomie  setner 
Schöpfung  ändert  sich  erst  in  Mittelamerika  völlig,  etwa,  wenn  auch 
nicht  ganz  genau,  an  der  Aequatorialgrcnze  der  Nadelhölzer,  die 
bekanntlich  Südamerika  fehlen. 

Dennoch  ist  Amerika  alterthümlicher  geblieben  gerade  in  der 
"  zweit  höchsten  Ordnung  der  Säugethiere.  Die  fälschlich  sogenannten 
Vierhänder  Amerika's  sind  so  verschieden  von  den  unsrigen,  dass 
sie  eine  Familie  für  sich  bilden,  die  im  System  „Affen  der  neuen 
Welt",  also  geographisch  benannt  werden  konnten.  Die  amerika- 
nische Familie  unterscheidet  sich  durch  den  Zahnbau,  durch  seit- 
liche Stellung  der  Nasenlöcher,  durch  Mangel  von  Gesässschwielen 
und  Backentaschen,  auch  findet  sich  in  ganz  Amerika  k«n  unge- 
schwänzter Atfe.  Da  aber,  wo  die  höchsten  Thiere,  wo  der 
Tschimpanse,  Gorilla  und  Orang  auftreten,  werden  wir  auch  die 
Menschen  suchen  müssen. 

Alle  diese  Schlüsse  sind  unabhängig  von  dem  Schicksal  des 
Darwinschen  Dogmas,  sie  stehen  oder  fallen  dagegen  mit  der  Lehre 
von  der  Einheit  des  Schöpfungsherdes  für  die  Arten  des  Thier-  und 
Pflanzenreiches.  Auch  diese  Lehre  stösst  noch  vereinzelt  auf  hart- 
näckigen Widerspruch,  weil  sie  noch  nicht  alle  Thatsacben  zu  er- 
klären vermag.  Die  grösste  Schwierigkeit  jedoch,  nämüch  das  \'or- 
kommen  von  fünfzig  nordischen  Gewächsarten  im  Feuerlande  ist 
durch  den  Scharfsinn  .und  die  Gelehrsamkeit  eines  deutschen  Bo- 
tanikers besiegt  worden  '),  Die  Abstammung  der  Urbewohner  Ame- 
rikas aus  Nordasien  wird  der  Abschnitt  zu  beweisen  suchen,  der 
ihnen  gewidmet  ist.  Im  Voraus  wollen  wir  nur  bemerken,  dass  je 
roher  also  auch  je  genügsamer  und  abgehärteter  ein  Volk  sei,  desto 
leichter  es  seine  Wohnsitze  ändere,  so  dass  alle  Völkerstämme  auf 
ihren  niedrigsten  Entwicklungsstufen  völlig  befähigt  waren  die  Wan- 
derungen auszuführen,  die  wir  ihnen  zugemuthet  haben.  Die  Schwie- 
rigkeiten sind  überhaupt  nur  in  der  Einbildungskraft  des  verwöhnten 
Culturmenschen  vorhanden.     Im  Innern  Australiens,  wo  europäische 

I)  Giisebach,  Vegetation  der  Erde.    Bd.  II,  S.  496- 
Piickil.  Välketkunde.  3 


I*  Schöpfung shetd  des  Menschengeschlechtes. 

Entdecker ,  vor  Hunger  ermatteten,  ziehen  Horden  sorgenfreier 
Schwarzer  umher,  und  wenn  uns  bei  dem  Gedanken  schaudert,, 
dass  vor  JahttausenLlen  ?chon  asiatische  Stämme  zur  Bevölkerung 
Amerika's  über  das  Beringsmeer  gezogen  sein  sollen,  so  vergessen 
wir  vollständig,  dass  noch  heutigen  Tags  im  Feuerland,"  wo  doch 
die  Gletscher  bis  zum  und  bis  ins  Meer  herabreichen,  ein  nacktes 
l^ischervolk  haust. 

Wir  zeigten  also,  dass  das  erste  Auftreten  des  Menschen  ein 
continentales  gewesen  sein  müsse,  wir  bewiesen  aus  wirklich  statt- 
gefundenen Wanderungen,  dass  die  Ausbreitung  unseres  Geschlechtes 
von  einem  Ausgangspunkt  über  die  ganze  Erde  nur  eine  Frage  der 
Zeit  sein  könne,  wir  haben  nach  den  Lehren  der  Thiergeographie 
uns  überzeugt,  dass  weder  Australien  noch  Südamerika,  ja  selbst 
Nordamerika  nicht  ein  schicklicher  Platz  für  die  Wiege  der  Mensch- 
heit gewesen  sei,  folglich  müssen  wir  sie  in  der  alten  Welt  suchen. 
Dort  wiederum  dürfen  wir  das  sibirische  Tiefland  getrost  beseitigen, 
weit  es  noch  in  einer  geologisch  ziemlich  nahen  Vergangenheit  vom 
Meer  bedeckt  gewesen  ist.  Dieses  Hinderniss  wäre  für  Europa  nicht 
vorhanden,  allein  wenn  Europa  der  Ausgangspunkt  gewesen  sein 
sollte,  so  hätten  wir  sicher  schon  den  sogenannten  -  fossilen  Men- 
schen bei  uns  gefunden,  so  gut  wie  man  zwei  tertiäre,  sehr  hoch 
organisirte  Affen,  einen  in  Griechenland,  einen  in  der  Schweiz, 
entdeckt  hat. 

Lassen  wir  auch  Europa  fallen,  so  bleibt  uns  nur  Südasien 
oder  Afrika  übrig,  wo  «ir  die  ältesten  Spuren  unseres  Geschlechtes 
noch  mit  Aussicht  auf  Krfolg  zu  finden  hoffen  dürfen.  Das  bri- 
tische Indien  ist  von  diesen  -Räumen  geologisch  noch  am  besten 
durchforscht,  und  da  man  dort  schon  viele  vorausgehende  Typen 
iler  heutigen  Säugetliiere  angetroffen  hat,  noch  nicht  aber  den  ter- 
tiären Mensulien,  so  sind  die  Aussichten  für  die  dortige  Orts- 
befestigung des  ältesten  Menschen  immerhin  schon  geschmälert. 

Es  ist  jedoch  denkbar,  dass  weder  in  Südasien  noch  in  Afrika 
das  erste  Auftreten  staltfand,  sondern  im  indischen  Ocean  selbst. 
Dort  lag  vor  Zeiten  ein  grosses  Festland,  dem  Madagaskar  und 
vielleicht  Stücke  von  t'stafrika,  dem  die  Malediven  und  Lakadiven, 
ferner  die  Insel  Ceylon,  die  nie  mit  Indien  zusammenhing,  vielleicht 
sogar  im  fernen  Osten  die  Insel  Celebes,  die  eine  befremdende 
Thierwelt  mit  halbalrikanischen  Gesichtszügen  besitzt,  angehört 
haben.     Dieses    Festland,    welches   dem    indischen    Aethiopien    des 


Schöpfuiigsherd  des  Jlenschengeschlethtes.  ;- 

Claudius  Ptolemäus  entsprechen  würde,  hat  der  britische  '/.no\nt; 
Sclater  Lemuria  genannt,  weil  es  den  Verbreitungs bezirk  der  Jlalb- 
affen  unischliessen  würde.  Ein  solches  Festland  aber  ist  deswi^jt-n 
ein  anthropologisches  Bedürfniss,  weil  wir  dann  die  niedrig  stelu'iuli  ii 
Bevölkerungen  Australiens,  Indiens,  sowie  die  Papuanen  der  l:iini  r- 
indifchen  Inseln,  endlich  auch  die  Neger  fast  trockenen  Fu^ms  in 
ihre  heutigen  Wohnstätten  einziehen  lassen  könnten.  Klim.niviJi 
würde  sich  ein  solcher  Welltheil  geeignet  haben,  weil  er  \»  ilii? 
Zone  fallt  wo  wir  jetzt  die  menschenähnlichen  Affen  antreffen  '\. 

Auch  ist  die  Wahl  jenes  Schauplatzes  weit  orthodoxer  :ih  is 
auf  den  ersten  ßlick  erscheinen  könnte,  denn  wir  befinden  un^  .lort 
in  der  Nähe  der  vier  räthselhaften  Flüsse  des  biblischen  iJuii 
in  der  Nähe  des  Nil,  des  Euphrat,  Tigris  und  des  Indus.  Auch 
wäre  durch  das  allmähliche  Untertauchen  Lemuriens  die  Austreiluni^' 
aus  dem  Paradies  unerbittlich  vollzogen  worden.  Dazu  käme-  iiipuli, 
dass  ahe  Schriftsteller  der  Kirche,  wie  Lactantius  =),  Beda  der  l.lir- 
würdige  ^),  Hrabanus  Maurus'),  Kosmas  Indicopleustes  ^),  fennT  drr 
ungenannte  Geograph  von  Ravenna*)  das  biblische  Paradies  in  iIils 
südöstliche  Asien,  zum  Theil  ausdrücklich  auf  einen  abgetri  ntUfri 
Continent  verlegt  haben,  und  uns  die  naiven  Weltkarten  des  JMiiirl- 
alters  das  ertte  Elternpaar  in  einem  vor  Indien  gelegenen  uu-or- 
umflossenen  Land  zeigen.  Daher  erklärt  sich  auch,  dass  Chri^tuv.J 
Colon  nach  Entdeckung  Südamerika's,  weil  er  es  für  einen  in^il- 
c-ontinent  südöstlich  von  der  Gangesmündung  gelegen  hielt,  ii.llIi 
Spanien  schreiben  konnte:  „Grosse  Anzeichen  deuten  hier  am  dk- 
Nähe  des  irdischen  Paradieses,  denn  es  entspricht  nicht  nur  dit; 
mathematische  Lage  den  Ansichten  der  heiligen  und  gelrlirion 
Theologen,  sondern  es  treffen  auch  alle  sonstige«  Merkmal'  zu- 
sammen ')". 


t)  Das  Obige  wurde  geschrieben  und  abgedruckt  im  Jahre  18Ö7. 
land  1867.  No.  47  vom  19.  Nvbr.  S.  1113.  und  in  veiänderter  Form, 
land  1869-     S.  1105. 

2)  Div,  Instit.  II,  13. 

3(  De  mundi  conslil.     p.  326. 

4)  De  Universo  XJI,  3. 

5)  cd.  Montfaucon,  lom.  II.     p.  188. 

6)  Geogr.  lib.  I,  cap.  6, 

7)  Navarrete,    Coleccion    de    los    viages    y    descubrimicntos.      -M 
1815,     lom.  I,  p.  259. 


-lg  üchöprungsherd  des  Mensche  ngeschlecbles. 

Uebrigcns  ist  das  Vorgetragene  nur  eine  Hypothese,  die  nie- 
manden beunruhigen  darf,  der  sich  lieber  das  Paradies  dort  denkt, 
wo  tue  Lotosblumen  blühen,  oder  der  sich  vielleicht  nach  den  mit 
Papyrus  Stauden  umsäumten  Ufern  der  frischentdeckten  Nilseen  sehnt, 
oder  der  es  noch  näher  dem  biblischen  Morgenlande  rücken  möchte. 
Der  VVcrth  der  Hypothese  liegt  darin,  dass  sie  eine  Herausforderug 
enthält,  eine  Herausforderung  zu  geologischen  Untersuchungen  Ma- 
dagaskar^!  Ctylons,  der  Insel  Rodriguez,  sowie  zu  Seetiefeomessungen 
im  mdischen  Oceanf  ob  noch  Hühenüberreste  des  verschwundenen 
Lemuricn  \orhandcn  sein  möchten.  Unerlässlich  bleibt  nur  die 
Ethduptung  eines  einzigen  Ausgangsortes  sämmtlicher  Mensch en- 
r-iien  m  Gegensatz  zur  Anthropologenschule  unter  den  Ameri- 
kanern, dit  m  neuester  Zeit  über  hundert  Menschenarten,  nicht 
Menschenracen,  überhaupt  so  viele  geschaffen  hat,  als  V'ölker- 
typcn  sich  aufstellen  lassen,  und  die  sie  durch  einen  grossen  Saat- 
wutf  des  Schöpfers  sogleich  in  Mehrzahl  wie  Bienenschwärme  dort 
ausgestreut  sich  denkt,  wo  sie  noch  jetzt  sitzen. 

Eine  solche  Hypothese  beantwortet  uns  nicht,  warum  die  In- 
seln bei  jenem  Snatwurf  leer  ausgingen,  warum  die  einzelnen  Welt- 
t heile  durch  ihre  Thier-  und  Pflanzenwelten  als  Provinzen  sich 
Charakter) siren  lassen.  Sie  verzichtet  überhaupt  auf  jede  Erklä- 
rung der  Gegenwart  aus  der  Vergangenheit,  während  es  doch  tief 
begründet  Hegt  in  der  menschlichen  Natur,  nicht  eher  sich  mit  den 
beobachteten  Thatsachen  auszusöhnen  als  bis  wir  sie  irgend  einer 
Causalilät  untergeordnet   haben.      .    .  _  j     t  a  t/ 


IV. 

UEBER  DAS  ALTER  DES  MENSCHENGESCHLECHTES. 

Wer  sich  für  die  Entwicklung  der  verschicdncn  Racen  aus 
einer  einzigen  Menschenart  erklärt,  die  zuerst  innerhalb  eines  be- 
schränkten Gebietes  aufgetreten,  allmählich  sich  über  die  ganze 
Erde  verbreitet  habe,  der  muss  sich  eingestehen,  dass  solche  Vor- 
gänge ungemein  lange  Zeiträume  erforderten  und  es  fällt  ihm  die 
Last  des  Beweises  zu,  dass  auch  wirklich  bis  In  grosse  vorhistori- 
sche Fernen  sich  die  Spuren  unsres  Geschlechtes  verfolgen  lassen. 
Diese  Bedenken  würde  die  Entdeckung  des  Abb6  Bourgeois  er- 
ledigen, der  in  der  Nähe  von  Tenay  (Loir  et  Cher)  aus  Schichten 
von  unzweifelhaftem  miocänen  Alter,  Messer  und  Aexte  aus  Stein 
sammelte,  welche  uns  bezeugen  würden,  dass  Frankreich  bereits  in 
der  Mitte  der  Tertiärzeit  bewohnt  gewesen  wäre.  Allein  auf  dem 
Brüsseler  Congress  der  Alterthumser forscher  im  Jahre  1872,  ent- 
schieden sich  die  besten  Kenner  solcher  Fundstücke  gegen  den 
künstlichen  Ursprung  der  vorgelegten  angeblich  menschlichen  Hinter- 
lassenschaften aus  miocäner  Zeit.  Die  .höchste  Wahrscheinlichkeit 
menschlichen  Ursprungs  muss  dagegen  den  Kieselgeräthen  beigemessen 
werden,  die  zuerst  von  Boucher  de  Perthes  1847  im  Thale  der 
Somme  zwischen  Abbeville  und  Amiens,  namentlich  bei  Menche- 
court  in  kalkhaltigem  Lehm  untermischt  mit  Resten  des  Mammuth, 
des  wollhaarigen  Nashorn ,  einer  ausgestorbnen  Art  des  Pferdes, 
des  europäischen  Hippopotamus  und  andrer  Geschöpfe  der  Dilu- 
viatzeit  entdeckt  wurden  und  deren  Fundstätten  von  den  besten 
Geologen  der  Gegenwart  besucht  worden  sind.  Menschliche  Ueber- 
reste  selbst  sind  bis  jetzt  vergeblich  gesucht  worden,  denn  der 
Fund  eines  Unterkiefers  unweit  Moulin-Quignon  hat  den  Verdacht 
einer  betrügerischen  Einschaltung  auf  sich  gezogen.  Die  Abwesen- 
heit von  Knochenresten  des  Menschen  darf  unsern  Argwohn  jedoch 
nicht  allzusehr  erregen,  denn  auch   nach  Austrocknung  des  Har- 


■^8  Dos  AliHi-  des  Menschengeschi  et  Lies. 

Jemer  Meeres  wurden  nur  spärliche  SchifFslrümmer  aber  keine 
inenschlidien  Gebeine  gefimcien,  obgleicli  doch  auf  diesem  ehe- 
maligen Cülfe  Fahrzeuge  verunglückten  und  Seeschlachten  ge- 
schlagen wurden.  Nach  der  scharfsinnigen  Vermuthung  von  Prest- 
wich  können  wir  uns  vorstellen,  dass  in  der  Gletscherzeit  am  Schluss 
des  Tertiüt  alters  die  Bewohner  der  I'icardie  wie  die  heutigen  Es- 
kimo das  Eis  der  Somme  aufgehauen  und  an  den  frelgehaltnen 
Oeffnungen  Fische  mit  ihren  Geschossen  harpunirt  haben.  Die 
Steinklingen,  die  bei  einem  misglückten  Wurfe  auf  das  Bett  des 
Flusses  fielen,  wurden  dann  von  Diluvialschutt  eingehüllt  und  sie 
Buid  es,  die  jetzt  die  Museen  schmücken  und  das  üerz  der  Alter- 
thumskenner  erfreuen.  Wirklich  gibt  es  unter  diesen  Kostbar- 
keiten einige  von  so  regelmässigen  Umrissen  und  solcher  genauer 
Zuschärfung,  dass  an  ihrem  künstlichen  Ursprung  nicht  gezweifelt 
werden  darf.  Wiclitig  wäre  es  nur  zu  erfahren,  ob  sie  aus  Hun- 
derten oder  'J'ausenden  ähnlicher,  aber  roher  Geschiebe  in  ihrer 
Nachbarschaft  herausgesucht  worden  wären.  In  Ländern,  wo  Feuer- 
steinknollen an  der  Oberfläche  gefunden  werden  und  wo  sie  unter 
starker  Besoniiung  leicht  bersten,  zerspringen  sie  gern  zu  Spänen 
und  Klingen,  ans  denen  sich  um  die  Mühe  des  Aufliebens  eine 
artige  Sammlung  von  Steingeräthen  zusammenstellen  Hesse.  Unter 
den  Stein  werkzeugeil,  die  üoucher  de  Perthes  dem  Museum  von 
St.  Germain  einverleibt  hatte,  bemerkte  Virchow  sehr  viele  Dinge, 
die  ihm  aus  seiner  pommerächen  Heimath  als  Naturspiele  ganz 
geläufig  waren '). 

Glücklicherweise  gibt  es  eine  Fülle  unverdächtiger  Zeugnisse, 
die  genau  das  nämliche  bestätigen,  wie  jene  Kieselgeräthe 
des  Somme  thales.  Schon  in  den  Jahren  1833 — 40  wurden 
von  ■  Dr.  Schmerling  Funde  menschhcher  Ueberreste  vereinigt 
mit  den  Knochen  diluvialer  Säugethiere  in  belgischen  Hohlen 
entdeckt,  blieben  aber  lange  Zeit  misachtet  aus  Scheu  vor  dem 
Ansehen  Cuviers,  der  den  Menschen  nicht  vor  den  Thieren  der 
heutigen  Stlii'iifung  hatte  auftreten  lassen.  Jene  Funde  wurden 
gewaltsam  misdiutet,  indem  man  annahm,  die  menschlichen  Gebeine 


1)  Vgl,  Virchuw  in  der  Zeilschr.  für  Ethnologie  1871,  S.  51  in  Bezug  1 
Pommern,  dessen  Angaben  Wetislein  für  das  südhche  Syrien  ergänzen  koaa 
«1^  auf  der  dici  Tagereise  langen  Strecke  'Ardh  e'-  Samln  der  Boden  1 
JfWwrsicmspliUera  bedeckt  isi. 


Das  Alter  des  Menschengeschleclites.  jg 

seien  von  Raubthieren  verschleppt  oder  von  Bachen  in  dit  H  ililen 
hinabgefülirt  und  unter  die  Diluvialrcste  gespult  worden,  ^iiidmi 
aber  dio  Alterthumserforscher  die  neuen  |\Valirheitcn  willij,  aiitr- 
kannt  liatlen,  folgten  sich  ausserhalb  Belgiens  rasch  du  hnt- 
deckungen  solcher  Knochen  höhlen.  Bisweilen  wurden  dit.  Lcbir- 
reste  der  diluvialen  Erdbewohner  erst  unter  einem  Estrich  von  Kalk- 
sinter und  unzweifelhafte  Kunstgeräthe  aus  Feuerstein  tintiT  der 
Schicht  mit  Knochen  vorweltlicber  Thiere  hervorgezogen.  Dit-  l."ntcr- 
suchung  einer  solchen  Hijhle  bei  Brixham  durch  einen  so  vertr;uiens- 
würdigen  Geologen  wie  Dr.  Fal coner  erweckte  schon  1858  in  (irüis- 
britannien  bei  allen  Sachverständigen  die  Ueberzeugung,  da>s  der 
Mensch  ein  Zeilgenosse  des  Mammufh,  des  wollhaarigcn  Nu^liorn, 
des  Holilenbären,  der  Höhlenhyäne,  des  HÖhtenlowen,  alMi  von 
*  Säugethieren  der  nächsten  geologischen  Vorzeit  gewesen  sei. 

Zu  diesen  ebengenannlcn  Geschöpfen  gesellte  sich  auLli  das 
Renthier,  welches,  wie  ja  bekannt,  nicht  zu  den  ausgeslorbnen, 
sondern  nur  zu  den  verdrängten  Arten  gehört.  Es  streifte  vuniials 
im  westlichen  Frankreich,  wo  seine  Spuren  im  Thalc  der  Vczijic 
bedeutsam  geworden  sind.  Dort  nämlich,  wo  die  Esenbalin  /.ti- 
schen Orleans  und  Agen  die  Landschaft  P^rigord  im  Depaii' mcnt 
Dordogne  durchzieht,  sind  nach  und  nach  sechs  Hohlen  aulfi  I  iiulrn 
worden.  Sie  enthalten  in  ihrem  Schutt  Reste  künstlich  bearlti  iii'ter 
Rengeweihe,  aber  auch  Steingoräthe,  In  einem  dieser  eheni.iligen 
Schlupfwinkel  bei  Cro-Magnon  wurden  auch  die  Schädel  unl  Ske- 
lette von  zwei  Männern  und  zwei  Frauen  nel)en  Resten  des  1 1.  hl.-n- 
tigers  (Felis  spelaea),  eines  riesenhaften  Bären,  des  AurochscL.  >kinn 
hoch  nordischer  Thiere  wie  des  Ziesel  (Spermophilus  erytlir-Li-iuis^ 
und  des  Steinbocks  gefunden.  Diese  Höhlenfranzosen  ernlilirten 
sich  vom  Jagdbetriebe  und  vorzüglich  wurde  dem  Rosse  als  \\  ild- 
pret  nachgestellt.  Da  die  Knochen  der  Thiere  keine  Brandjpurcn 
zeigen,  so  wurde  das  Fleisch  entweder  roh  genossen,  oder  viel- 
leicht in  wasserdicht  geflochtnen  Korben  gesotten,  wie  es  noch 
jetzt  von  Stämmen  in  Nordamerika  geschieht,  welche  keim'  inine 
Geschirre  kennen  und  in  hölzernen  Gefässen  das  Wasser  durch 
Einschütten  glühender  Steine  erhitzen.  In  der  That  nämlicli  fniJet 
man  bei  den  Aschenresten  der  Cro-Magnon-Höhle  Geschieb'  ,  die 
einen  derartigen  Gebrauch  errathen   lassen. 

Die  alten  Bewohner  der  Dordogne  versuchten  bereits  durch 
Schnitzereien    in   Hörn    und   auf   dem  Elfenbein   von  Mammuth- 


^O  ^3s  Alter  des  MenscbengescMechtes. 

zahnen  Gegenstände  der  Aussenwelt  Fische,  Rene,  Menschen  ab- 
zubilden mit  einer  Deutlichkeit  und  Lebensbewegung,  die  uns  An- 
erkennung abnothigt ').  Unter  den  Geräthen  aus  Hörn ,  meist 
Ahlen  und  Pfeilspitzen '  mit  oder  ohne  Widerhaken ,  erregt  unsre 
Aufmerksamkeit  auch  das  Vorkommen  von  Nadeln,  mit  denen  jene 
Höhlenbewohner  ohne  Zweifel  Thierfelle  zusammennähten.  Ein 
weicher  rother  Otker,  der  sich  unter  den  Resten  befand,  lässt  uns 
schliessen,  dass  sie  ihre  Haut  bemalten.  Ihre  Putzsucht  verräth 
uns  ferner  der  Fund  von  Malsbündem  aus  durchbohrten  Thier- 
zähnen  und  Muscheln.  Lelztre  stammen  obendrein  von  dem  weit 
entfernten  adantischen  Strande,  können  also  nur  durch  Tausch  in 
ihren  Besitz  gelangt  sein,  ebenso  wie  vorgefundene  Bergkrystalle, 
die  in  grossem  Unikreise  um  die  Fundstätten  nicht  vorkommen. 
Selbst  Hörner  der  Saigaantilope,  deren  nächstes  Verbreitungsgebiet 
erst  in  Polen  erreicht  wird,  gehörten  zu  der  Habe  jener  alten 
Jäger  und  dienen  als  Urkunde,  dass  durch  den  Handel  schon 
damals  geschätzte  Waaren  in  grosse  Fernen  verbreitet  wurden. 
Nach  den  Knochenresten  zu  schliessen,  waren  die  Jäger  der  Dor- 
dogne  nicht  wie  die  belgischen  Höhlenbewohner  ein  kleiner  Men- 
schenschlag, sondern  von  stattlicher  Grösse  und  gewaltigem  Körper- 
bau. Die  Schädel  gehörten  der  längeren  Form  (Dolichocephalen) 
an,  und  ihr  knöchernes  Antlitz,  abgesehen  von  einer  massigen 
Neigung  zum  Prognathismus,  überrasclit  durch  die  Schönheit  seiner 
eUiptischen  Umrisse.  Auch  würde  die  Geräumigkeit  einer  männ- 
lichen (isgo  Kubikcentimeter)  und  einer  weiblichen  Gehirnkapsel 
(1450  Kubikcentimeter}')  auf  hohe  geistige  Begabung  hindeuten, 
wenn  überhaupt  ein  solcher  Sehluss  zuverlässig  wäre.  Hier,  als  an 
einem  schicklichen  Ort.  wollen  wir  sogleich  des  Schädelbruch  Stückes 

i)  Sir  John  Lubback  hat  in  seinen  Prehisloric  Times  2.  ed.  London 
1869  das  Bild  eines  Mammulli  anf  Knochen  gerilzl  aus  der  Höhle  la  Made- 
lainc  im  Pärigotd  vc raffen tlichl.  Kjilischc  Bettachter  haben  aber  wahrnehmen 
wollen,  dass  arcbäologische  Phantasie  an  der  Ausführung  der  Umrisse  jenes 
ThicrEemildes  das  Beste  beigetragen  habe.  Wir  folgen  im  Teile  selbst  dem, 
soviel  wir  wissen,  nocli  immer  unvolleudcicn  Werke  von  Eduard  Lartel  und 
Henry  Christy,  Heliquiae  Aquitanicae.  London  1865  —  69.  Einen  Auszug 
aus  diesem  Werk  mit  einem  Theil  der  OriginalhoUscbtiilte  hat  Alei.  Etker 
im  Archiv  für  Anthropologie,  Braunschw.  1347,  Bd.  4,  S,  109  flg.  veröffendichl. 

2|  A,  Ecket  im  Archiv  für  Anthropologie  Bd.  4,  S.  116.  Der  männ- 
liche Schädel  liess  sich  wirklicli  messen,  die  Geräumigkeil  des  weiblichen  da- 
gegen wegeu  Beschädigungen  nur  abschätzen. 


Das  Alter  des  Menschengeschlechtes.  41 

gedenken,  welches  in  einer  Höhle  des  Neanderthales  im  August 
1856  unweit  Düsseldorf  gefunden  und  anfangs  wegen  seiner  ge- 
waltigen Augenbrauenbogen  und  flachen  Schädeldecke  als  eine  Ur- 
kunde zur  Beglaubigung  für  das  Aufsteigen  unsres  Geschlechtes  aus 
dem  Thierreich  gepriesen  wurde.  Bald  ergab  sich  jedoch,  dass 
seine  Maassverhältnisse  den  heutigen  Mitteln  der  Europäer  ziem- 
lich nahe  stehen.  Im  gegenwärtigen  Zustande  umfasst  nämlich  jene 
Hirnschale  einen  Raum  von  63  KubikzoUen,  der  nach  einer  Schätzung 
Schaaffhausens  auf  75  Cubikzolle  steigen  würde,  wenn  sie  uns  un- 
versehrt erhalten  geblieben  wäre  ').  Europäische  Schädel  schwanken 
aber  zwischen  55  und  114  C.  Z.  Deswegen  durfte  auch  Charles 
Darwin  den  Neanderthalschädel  „sehr  gut  entwickelt  und  geräumig 
nennen"  *),  Endlich  hat  Virchovv  vor  der  Berliner  anthropologischen 
Gesellschaft  am  27.  April  1872  geäussert,  dass  jener  Schädel  von 
einem  alten,  mit  Rhachitis  behafteten  Manne  herrühre,  als  Racen- 
schädel  zu  verwerfen  sei,  auch  seiner  Grösse  nach  „innerhalb  ganz 
erträglicher  Grenzen  sich  bewege"  und  •in  Bezug  auf  die  Kau- 
muskeln nicht  die  Zeichen  von  thierischer  Rohheit,  wie  bei  Eskimo 
und  Australiern  zur  Schau  traget).  Damit  ist  der  Werth  dieses 
Fundstückes  auf  ein  sehr  alltägliches  Mass  herabgesetzt  worden. 

Auch  in  unserm  Vaterlande  fehlt  es  nicht  an  Resten  von 
Höhlenbewohnern,  wie  die  seit  1871  untersuchten  im  Hohlefels  bei 
Schelklingen  unweit  Blaubeuren.  Zu  der  Thierwelt  im  damaligen 
Thaie  der  Blau  gehörten  nicht  blos  Mammuthe  und  Elephanten, 
sondern  ein  stattlicher  Löwe  (Felis  spelaea),  drei  ausgestorbne  Bären- 
arten (Ursus  spelaeus,  U.  priscus  und  U.  tarandi  Fraas)  und  das 
Renthier,  dessen  Geweihe  zu  Geräthen  verarbeitet  wurden.  Unter 
die  dortigen  Culturreste  mischen  sich  auch  Scherben  von  Thon- 
geschirren,  die  ihrer  flachen  Form  wegen  zum  Rösten  und  Braten 
gedient  haben  müssen'*). 

Alle  bisherigen  Funde  verstatten  uns  nur  das  Alter  unsres 
Geschlechtes  in  die  Zeit  der  ausgestorbnen  Höhlenfauna  hinauf- 
zurücken.    Dagegen  berechtigt  uns  nicht  die  Verbreitung  des  Ren 


1)  Fuhlrott,    der   fossile    Mensch    aus   dem    Neanderthale.     Duisburg 
1865.     S.  69. 

2)  Abstammung  des  Menschen  I,  126. 

3)  Verhandlungen  der  Gesellschaft  für  Anthropologie.    1872.    S.  157 — 161. 

4)  S.    Oscar   Fraas,    Über  die    Ausgrabungen   im    Hohlefels    in    den 
Würtemberg.  naturw.  Jahresheften.    1872.     i.  Heft.     S.  25. 


A-p  Das  Aller  ües  McnEchenge schlechtes. 

Über  das  mittltro  Frankreich  ausehnliche  Veränderangen  des  Klimas 
vorauszusetzen,  denn  selbst  wer  Sich  sträuben  wollte  in  Cäsars  Be- 
schrL-ibung  ')  des  Rhcuo  den  Cervus  tarandus  wieder  zu  erkennen  '), 
der  wird  doch  eingestehen  müssea,  dass  das  Ren  nicht  streng  unter  die 
PoJarthiere  gehöre,  da  das  Caribu,  sein  \'ertreter  in  Amerika  zur 
Zeit  der  ersten  Besiedclung  an  den  Ostküsten  der  Vereinigten 
Staaten  noch  unter  dem  4,;,  Breitegrade,  also  unter  dem  Parallel 
von  Toulon  angctroflen,  bei  dem  Begegnen  mit  den  Europäern  aber 
rasch  nach  dem  hohen  Norden  verscheucht  wurde.  Obendrein 
sind  in  einer  belgischen  Höhle  (Frontal)  neben  dem  Ren  auch 
Knochen  des  Schafes  und  der  Ziege  gefunden  worden,  so  dass  die 
dortigen^  Höhlen  menschen  friedliche  Hirten  gewesen  sein  müssen  3). 
Das  Verschwinden  der  Höhlenfauna  in  Europa,  die  theils  aus  schäd- 
lichen Raubthieren,  theiis  aus  grossen  Dickhäutern  bestand,  welche 
letztere  örtlich  immer  nur  durch  eine  spärliche  Zahl  von  Einzel- 
wesen vertreten  sind,  könnte  sich  in  vergleichsweise  rascher  Zeit 
vollzogen  haben,  sobald  nur  unser  Welttheü  dichter  besiedelt  wurde 
und  die  Bewohner  wirksamere  Waffen  mit  grösserem  Jagdgeschick 
vereinigten.  Das  jähe  Verschwinden  vieler  Thierarten  innerhalb  der 
letzten  Jahrhunderte,  wie  des  flügellösen  Alk  aus  Nordeuropa,  der 
Stcller'schen  Seekuh  im  Beringsmeer,  der  Dronte  auf  Mauritius,  der 
Moaarten  auf  Neu-Seeland  entmuthigt  uns  für  das  Verschwinden 
der  Diluvialartcn  hohe  Zeiträume  zu  begehren. 

Glücklicherweise  besitzen  wir  aber  Wahrzeichen,  dass  das 
schwäbische  Land  bereits  bewohnt  wurde  zur  Zeit,  wo  mächtige 
Gletscher  das  Reinthal  und  dea  Bodensee  ausfüllten.  Unweit  der 
alten  Abtei  Schussenried  wurde  im__Sommer  1866  bei  Erdarbeiten 
an  der  Quelle  der  Schüssen,  eines  bescheidnen  Gewässers,  das  un- 
weit Langenargen  in  den  Bodensee  fallt,  eine  ungestörte  Boden- 
schicht aufgedeckt,  in  welcher  sich  bearbeitete  Rengeweihe,  Pfriemen 
mit  aus  geschlitztem  Oehr,  eine  hölzerne  glattgeschabte  Nadel,  Haken 
Eum  Angeln,  Janzett-  und  sägeb!attförmige  Feuersteine,  rothe 
Farbenknollen  zur  Ilautmalerci ,  Asche    und  Kohlenreste    vereinigt 

I)  De  Bello  GalJ.  VI,  21  u.  26, 

1)  Herr  Charlc!<  Gard  sprich)  in  seinen  „Skizzen  aus  dem  Kisass" 
(Ausland  1871  S,  i2lä)  sehr  zuverstcbllich  aus,  dass  das  Ren  auf  den  Inseln 
im  Rheiu  noch  bis  zur  Regietuag  des  Augustus   sein  Dasein   gefristet   habe. 

3)  O.  Fraas  im  Archiv  Tiir  Anthropologie.  Braunschweig  1872,  Bd.  5. 
ä.  480, 


Das  Alter  des  Menschengeschlechtes.  az 

fanden  ').  Wollte  man  auch  weniger  Gewicht  darauf  legen ,  dass 
die  Culturreste  zwischen  Schichten  von  Gletscherlehm  eingeschlossen 
sind,  so  genügt  es  doch  für  die  Altersbestimmung,  dass  sich  den 
menschlichen  Geräthen  auch  die  Knochen  des  Eisfuchbcs  und  zwar 
im  Bau  übereinstimmend  mit  einer  Art,  die  jetzt  bei  Nain  in  Labrador 
haust,  sowie  des  Fiolfrasses  (Gulo  .borealis),  endlich  die  Reste 
zweier  Moose  beigesellen,  wovon  das  eine  (Hypnum  sarmentosum) 
sonst  nur  in  Lappland,  in  Norwegen  an  der  Grenze  des  aus- 
dauernden Schnees,  sowie  auf  den  höchsten  Bergen  der  Sudeten 
und  TyrolSj.das  andere  (Hypnum  fluitans  var.  tenuissima)  gegen- 
wärtig auf  sumpfigen  Wiesen  der  Alpen  und  im  arctischen  Amerika 
vorkommt  *).  Hier  liegen  also  Thatsachen  vor  uns,  die  jeden  geo- 
logisch Gebildeten  fest  davon  überzeugen,  dass  der  Mensch  bereits 
zur  Eiszeit  Schwaben  bewohnt  habe.  Die  frühere  Vergletscherung 
jener  Landstriche  darf  aber  weder  dadurch  erklärt  werden,  dass 
das  Sonnensystem  kältere,  vom  Sternenlicht  minder  durchwärmte 
Himmelsräume  durchzogen  habe,  noch  etwa  durch  Verlängerung 
der  Winterzeit  in  Folge  des  Vorrückens  der  Nachtgleichen  während 
eines  Zeitraumes  gesteigerter  Excentricität  der  Erdbahn,  denn  in 
beiden  Fällen  müsste  sich  die  Eiszeit  glelchmässig  über  alle  Theile 
der  nördlichen  Halbkugel  erstreckt  haben,  während  ihre  Spuren 
im  Kaukasus  sehr  schwach  sind,  im  Altai  gänzlich  fehlen  ^).  Wohl 
aber  vermögen  wir  die  ehemalige  Eisbedeckung  der  Schweiz  und 
der  angrenzenden  Gebiete  sehr  leicht  durch  eine  andre  Vertheilung 
von  Land  und  Wasser  in  Europa  zu  erklären.  Da  aber  die  Aen- 
derung  der  Umrisse  von  Festlanden  Zeiträume  von  äusserst  langer 
Dauer  erfordert,  so  genügt  die  Gegenwart  des  Menschen  zur  Eis- 
zeit in  Schwaben  vollständig,  um  ein  sehr  hohes  Alter  für  das  erste 
Auftreten  unseres  Geschlechtes  zu  beanspruchen. 

Viel  jünger  sind  die  Urkunden,  welche  vormalige  baltische  Küsten- 
bevölkerungen aus  den  Schalen  essbarer  Muscheln  am  Strande 
Jütlands  und  der  dänischen  Inseln  wallartig  angehäuft  und  die 
vo^    den    Alterthumskundigen    die    angemessne    Bezeichnung    von 

i)  Oscar  Fraas  im  Archiv  für  Anthropologie.     Bd.  2.     S.  38,  39,  42,  44. 

2)  O.  Fraas,  Die  neuesten  Erfunde  an  der  Schussenquelle.  Würtemb. 
naturwissensch.  Jahreshefte.  1867.  Heft  1.  S.  7 — 24.  Im  Archiv  für  An- 
thropologie Bd.  II,  S.  33  führt  Fraas  unter  den  Funden  noch  ein  drittes  jetzt 
boreales  Moos  Hypnum  aduncum  var.  groenlandica  Hedw.  auf. 

3)  B.  V.  Cotta,  Der  Altai.     Leipzig  1871.     S.  65. 


11  Das  Aller  des  Mensch  enge  schlechtes. 

Kuchenabfallen  {KjÖkkenmöddingern)  erhalten  haben.  Unter  diesen 
Nahrungsreslen  wurden  Steingeräthe  mit  rohen  Bruchflächen,  sel- 
tener geschliffne,  dann  Scherben  von  irdnem  Geschirr,  die  Reste. 
des  Hundes  als  Hausthier,  endlich  sogar  ein  Spinnwirtel ,  dagegen 
keine  Spuren  von  ausgestorbnen  T'hieren  des  Diluvium  gefunden. 
Zur  Zeit  ihrer  Anhäufungen  übten  daher  jene  Muschelesser  noch 
nicht  die  Kunst  oder  fingen  erst  an  den  Feuerstein  zu  glätten. 
Einen  bessern  Begriff  von  dem  Alterthum  jener  Muschelbänke  er- 
weckt der  Umstand,  dass  damals  Jiitland  und  die  dänischen  Inseln 
mit  Fichtenwäldern  bedeckt  waren.  Zur  Zeit  als  die  Einwohner 
Bronzegeräthe  sich  verschafft  hatten,  verschwanden  die  Nadelhölzer 
und  Eichen  herrschten  an  ihrer  Stelle.  Seit  der  Bronzezeit  aber , 
sind  auch  die  Eichenwälder  nach  und  nach  durch  die  Buche  ver- 
drängt worden,  deren  Waldbestände  jetzt  fast  ausschliesslich  jenes 
Gebiet  bedecken.  Die  Küchenreste  enthalten  aber  Knochen  des 
Auerhahnes,  der  sich  von  Fichtensprossen  nährt  und  die  Gegen- 
wart von  Kadelholiiern  voraussetzt.  Es  hat  also  jener  Erdraum  seit 
der  Zeit  der  muscheiess enden  Strand be wohner  zweimal  seine Pflanzen- 
trachl  verändert,  wozu  gewiss  jedesmal  Jahrtausende  gehörten '). 
Diess  bestätigt  auch  das  Vorkommen  von  Austerschalen  in  den 
dänischen  Küchenabfällen ,  denn  die  Auster  gedeiht  jetzt  in  der 
Ostsee  nicht  mehr,  wegen  des  geringen  Salzgehaltes  dieses  Golfes. 
Folglich  mussten  damals  Strö^nuiigen  der  nördlichen  Oceane  durch 
viel  grössere  Pforten  als  die  gegenwärtigen  Sunde  bis  zu  den  dä- 
nischen Inseln  gelangt  sein. 

Zu  den  jüngsten  Resten  des  vorgeschichtlichen  Alterthums  ge- 
hören die  Ortschaften  an  Aipenseen,  die  wie  dermaleinst  Venedig,  wie 
noch  jetzt  die  Wohnungen  der  Eingebornen  am  Maracaibogolfe, 
wie  die  Stadt  Bruni  auf  Bornoo,  wie  die  Hütten  der  Papuanen 
an  der  Nordküste  von  Neu-Guinea  auf  einem  Rost  von  Pfählen  im 
Wasser  errichtet  wurden  ').     Die  Gewohnheit  auf  solchen  im  Wasser 

1)  Sir  Charles  Lyell,  Antiquily  of  Man.  London  1863.  p.  9 — 17. 
1)  Der  Golf  van  Maiaeaibo  wurde  von  den  erslen  Entdeckern  Golf  von 
Venedig  genannt,  weil  ein  indianisch«;  Pfahldorf  am  Eingange  zuvor  den 
NamenVenciuela  empfangen  halte.  (S.  Peschel,Zeitaller  der  Entdeckungen  S.313.) 
Noch  bis  auf  den  heuligen  Tag  wcr^len  Wohnungen  auf  Plahlen  mitten  im 
Maracaibocolfe  errichlel.  (Ramon  Pacz ,  Wild  Scenes  in  South  America 
|),  3Q2.)  L'eber  die  papuanischen  Pfahldorfer  vgl.  Wallace,  der  malayiscbe 
ibipEl.  BiauDschweig  1S69,  Bd.  2,  S.  2S2.  und  über  Bruni  s.  Spenser 
"    ■    in  ihe  Far  Easl.     London  1862.     tom.  I,  p,  89. 


Das  Alter  des  Menschengeschlechtes.  ^^ 

errichteten  Bühnen  Hütten  zu  bauen,  muss  sich  durch  lange  Zeiten 
erhalten  haben,  denn  in  den  älteren  Pfahlbauten  finden  sich  wohl 
geschliffne,  aber  nicht  durchbohrte,  das  heisst  zur  Aufnahme  eines 
Stieles  vorbereitete  Steinklingen,  an  jüngeren  Fundstätten  dagegen 
sind  die  geschärften  Steine  durchbohrt  und  in  den  neuesten  mi- 
schen sich  unter  sie  bereits  Geräthe  aus  Bronze.  Wenn  eine  Mehr- 
zahl von  Pfahlbauten  durch  Feuersbrünste  zerstört  wurden,  so 
braucht  rnan  nicht  immer  an  feindliche  Uoberfälle  zu  denken,  denn 
wir  werden  später  Menschenstämme  kennen  lernen,  die  aus  einem 
schamanistischen  Aberglauben  ihre  eignen  Behausungen  anzünden, 
wenn  sie  zur  Wanderung  sich  anschicken.  Nichts  hindert  uns  bis 
jetzt  die  schweizerischen  Pfahlbauern  für  einen  arischen  Volksstamm 
zu  halten,  Sq  gehört  der  Schädel,  welcher  bei  Meilen  gefunden 
wurde  einem  etwa  13jährigen  Kinde  und  wie  der  Schädel  bei  Au- 
vernier  aus  der  Bronzezeit  dem  sogenannten  Siontypus  an,  welcher 
die  keltischen  Helvetier  vertreten  soll ').  Die  schweizerischen  See- 
bewohner trieben  Ackerbau  und  assen  Brod,  pflanzten  Obstbäume 
und  dörrten  Aepfel.  Rinder,  Schafe  und  Ziegen  bewohnten  gemein- 
schaftlich mit  ihnen  die  Pfahlbauten  und  für  ihre  Fütterung  zur 
Winterszeit  musste  also  gesorgt  werden,  ja  auch  Katzen  und  Hunde 
waren  bereits  zu  Gesellschaftern  herangezogen  worden.  Nur  das 
Schwein  befand  sich  wenigstens  zur  Zeit  der  ältesten  Ansiedelungen 
noch  im  wilden  Zustande  und  der  Ur,  der  Bison  und  das  Elen- 
thier  gehörten  noch  immer,  wenn  auch  selten,  zur  Jagdbeute.  Ab- 
gesehen von  diesen  in  den  historischen  Zeilen  vertilgten  Geschöpfen 
erlitt  die  Thierwett  keine  Verluste  und  innerhalb  des  Pflanzen- 
reiches beschränkt  sich  alles  auf  das  Verschwinden  einer  Nadel- 
holzart und  zweier  Wasserpflanzen,  die  sich  aus  den  Ebnen  hin- 
weggezogen  haben  °),  Solche  Pfahlbauten  sind  theils  unter  Torf- 
schichten  begraben,  theils  durch  Verschüttungen  der  Seen  vom 
Ufer  landeinwärts  gerückt  worden  o^ier  es  lagen  die  Steingerüthe 
unter  den  Schuttkegeln  von  Wildwassern  wie  im  Delta  der  Ti- 
nifere  bei  Villeneuve  am  Genfer  See.  Aus  der  Mächtigkeit  oder 
der  Ausdehnung  solcher  Neubildungen  wurde  versucht  das  Alter 
der    Hinterlassenschaften    um    5 — 7000    Jahre     zurückzuverlegen. 


I)  His  «.  Riitimeyer,  Crania  helvetica.   p.  36 — 37, 
I)  Rütimeyer,  Die   Fauna   der    Pfahlbauten    in    der    Schweii. 
I.     S.  8.     S,  218—29. 


«6  Das  Aller  .Ics  Menscheng «schlechtes. 

Aller  Scharfsinn  der  Untersucher  scheiterte  aber  an  dem  Uebelstande, 
dass  weder  das  Wachsthum  des  Torfes,  noch  die  Absätze  von  Ge- 
birgsschutt  so  stotifj  fortschreiten  wie  das  Abrinnen  des  Sandes  in 
einem  Stundenglase,  sondern  dass  bei  solchen  Bildungen  Zeiträume 
der  Ruhe  mit  Zeiträumen  einer  hastigen  Thätigkeit  wechseln.  Gegen- 
wärtig fehlt  es  also  an  jeder  zwingenden  Thatsache,  um  irgend 
einen  Rest  der  Pfahlbauerzeit  für  aller  zu  halten  als  die  Pyramiden 
am  Nil,  ja  nicht  einmal  derjenige  könnte  streng  widerlegt  werden, 
der  die  Hinterlassenschaft  der  schweizerischen  Steinzeit  in  das 
zweite  Jahrtausend  vor  Chr.  versetzen  wollte. 

Selbst  in  Aegyplen  ist  es  nicht  völlig  geglückt  einen  verlässigen 
Zeitausdruck  für  sehr  alte  Zeugnisse  von  der  Gegenwart  des  Men- 
schen zu  finden.  Unter  der  Leitung  eines  äusserst  vorsichtigen 
Geologen,  Leonhard  Homer  wurden  von  einem  trefflichen  Inge- 
nieur Hekekyan  13ey,  einem  armenischen  Katholiken,  in  den  Jahren 
1851— -1854  nicht  weniger  als  96  Bohrlöcher  in  vier  Reihen  vom 
Nil  senkrecht  bis, zu  Abständen  von  acht  eng).  Meilen  abgeteuft. 
Die  meisten  dieser  Ausgrabungen  lieferten  auf  verschicdnen  Tiefen 
Reste  von  Haustliieren,  Trümmer  von  Backsteinen  und  von  Ge- 
schirren. Nicht  immer  verstatteten  solche  Reliquien  eine  befriedi- 
gende Zeitbestimmung,  weil  die  durchstochenen  Schichten  oft  von 
Sandiagcrn  durchsetzt  wurden,  die  dem  Wüstenwinde  ihre  Ent- 
stehung verdankten.  In  unmiflelbarer  Nähe  des  Steinbildes  von 
Ramtes  II.  bei  Memphis  wurde  jedoch  unter  Schichten  reinen  Nil- 
schlammes, die  nicht  vom  \\'üstensande  iiberweht  worden  waren 
aus  39'  (fect)  Tiefe  ein  rotli  gebrannter  Thonscherbcn  hervor- 
gezogen. Seit  das  Ramsesbild  errichtet  wurde,  nämlich  seit  1361 
v.  Chr.  etwa,  hatte  sich  um  dieses  eine  Nilschicht  von  9  Fuss 
4  Zoll,  ungerechnet  eine  Sandschicht  von  8  Zoll  Mächtigkeit,  an- 
gehäuft und  der  Masstab  der  Alluvialbildung  an  jener  Stelle  hat 
seit  1361  V.  Chr.  demnach  3 '/j  Zoll  im  Jahrhundert  betragen.  Wäre 
also  in  gleicher  Geschwindigkeit  jener  Töpferscherben  vom  Nil- 
schlamm eingchülh  worden,  dann  müssten  schon  11,646  Jahre  vor 
unsrer  Zeitrechnung  Gefasse  aus  Thon  am  Nil  gebrannt  worden 
sein ').  Gegen  diese  Berechnung  sind  viele  unbegründete  Ein- 
wände   erhoben    worden.     Die    einen    vermutheten ,    dass   der  Nil 


i   rhilosophical   Transactions.     London   1S59. 


Das  Alter  des  Menschengeschlechtes. 


47 


in  Vorzeiten  unter  der'  Ramsesstatue  geflossen,  andere,  dass  jener 
Scherben  aus  einem  ehemaligen  Brunnen  oder  einem  ehemaligen 
Teiche  hervorgezogen  worden  sei,  als  ob  es  sich  um  ein  vereinzeltes 
Fundstück,  nicht  blos  um  das  am  tiefsten  gelegne  unter  unzähligen 
andern  handele.  Oder  man  sagt,  dass  durch  Wässerbauten  an  einem 
beliebigen  Punkte  in  kurzer  Zeit  sich  Sedimente  von  grosser  Mäch- 
tigkeit anhäufen  lassen,  übersieht  aber  dabei  gänzlich,  dass  dieses 
Verfahren  dann  auf  dem  Gebiete  aller  vier  Reihen  von  Bohrlöchern 
stattgefunden  haben  müsse,  so  wie,  dass  die  Sohle  der  Ramsesstatue 
nur  78'  3"  über  dem  Meeresspiegel  liegt  *),  der  Scherben  also  nur 
auf  39'  3"  absoluter  Höhe  gefunden  wurde.  Selbst  das  Bedenken 
Sir  Charles  Lyells,  dass  die  alten  Aegypter  nach  Herodot  ihre 
Tempel  und  Denkmäler  mit  einem  Walle  gegen  den  Andrang  der 
Nilfluthen  zu  schützen  pflegten^),  erscheint  nicht  stichhaltig,  denn 
wurden  diese  Schutzwehren  einmal  durchbrochen,  dann  wuchsen 
die  Niederschläge  in  der  Bodensenkung  um  so  rascher  und  der 
Strom  konnte  in  wenig  Jahren  einholen,  woran  er  im  letzten  Jahr- 
tausend verhindert  worden  war.  Wohl  aber  ist  gegen  die  obige 
Berechnung  einzuwenden,  dass  uns  die  Mächtigkeit  des  Nilschlammes 
seit  136 1  vor  Chr.  deswegen  nicht  als  zuverlässiger  Massstab  dienen 
kann,  weil  die  Stromgefilde  keineswegs  in  einer  glatten  Ebene 
liegen.  Homer  selbst  bemerkt,  dass  wenn  der  Nil  das  24.  Ellen-, 
zeichen  am  Pegel  auf  der  Insel  Rhoda  erreicht,  er  bald  Tiefen  von 
20',  bald  nur  von  weniger  als  einem  Zoll  bilde,  so  gross  seien  die 
Unebenheiten  des  Bodens  ^).  Daraus  folgt ,  dass  die  Schlamm- 
schichten in  den  Vertiefungen  viel  rascher  wachsen  müssen  als  an 
den  erhöhten  Stellen,  und  dass  wenn  die  Aegypter  ihren  steinernen 
Ramses,  wie  fast  vermuthet  werden  darf,  auf  einer  Anschwellung 
errichteten,  die  sich  rasch  neben  einer  Vertiefung  abgesetzt  hatte, 
der  spätere  Zuwachs  an  Nilschlamm  nur  langsam  den  Boden  er- 
höhte. Wer  hätte  aber  trotzdem  den  Muth  noch  zu  bestreiten, 
dass  jener  Scherben  aus  39  Fuss  Tiefe  mindestens  um  4000  Jahre 
älter  sein  müsse,  als  das  Denkmal  des  grossen  Ramses? 


^ 


1)  Homer  1.  c.     p.  56. 

2)  Sir  Charles  Lyell,  Antiquity.     p.  38. 

3)  Homer  1.  c.     p.  56. 


DIE   KOERPERMERKMALE  DER 
MENSCHENRACEN. 

I.  Die  Grössenvcrhältnisse  des  Gehirnschädels. 

Niemand  läugnet,  dass  Hausthiere  bei  strenger  Zuchtwahl 
auf  ihre  Nachkommen  alle  elterlichen  Besonderheiten  vererben. 
Ebenso  war  eine  wenig  zahlreiche  Menschenhorde,  die  sich  in  der 
Vorzeit  durch  Wanderung  von  der  übrigen  Menschheit  absonderte 
und  in  einem  abgelegenen  Erdraume  Jahrtausende  verharrte,  durch 
die  Umstände  gleichsam  zur  Reinzucht  gezwungen  und  musste  die 
Familienzüge  'der  ersten  Auswandrer  zu  Racenmerkmalen  befestigen. 
Die  Reinheit  des  erworbnen  Typus  erhielt  sich  aber  nur  so  lange, 
als  die  Absonderung  dauerte,  denn  da  die  Unfruchtbarkeit  der 
menschlichen  Spielarten  unter  einander  nicht  bewiesen  werden  kann, 
die  einzelnen  Horden  und  Stämme  vor  und  selbst  nach  dem  Ueber- 
gang  zum  Ackerbau  beständig  auf  Wanderungen  begriffen  waren, 
und  eine  Spielart  unter  die  andre  wieder  hineindrang,  so  musste 
auch  durch  Kreuzung  ein  Theil  der  Sondermerkmale  immer  wieder 
verwischt  werden.  So  dürfen  wir  denn  höchstens  nur  dort,  wo 
eine  Abtrennung  von  andern  Spielarten  entweder  durch  Abgelegen- 
heit  der  Wohnorte  oder  durch  Kastenvorschriften  während  langer 
Zeiträume  aufrecht  erhalten  wurde,  einigermassen  gut  begrenzte 
Racen  anzutreffen  hoffen,  überall  anderwärts  werden  sie  in  einander 
überfiiessen.  Vielleicht  wird  sich  ergeben,  dass  auch  nicht  ein  ein- 
ziges Körpermerkmal  einer  Race  ausschliesslich  angehöre,  sondern 
in  Uebergängen  auch  bei  andern  angetroffen  werde.  Daher  kann 
sich  die  Völkerbeschreibung  nur  auf  eine  Mehrzahl  von  Erkennungs- 
zeichen stützen  und  sie  darf  kein  einziges  verschmähen,  so  sehr 
es  auch  in  seinem  Betrage  schwanken  mag. 

Merkmale  am  menschlichen  Körper,  die  zur  Unterscheidung 
der  Racen  dienen  könnten,  wird   ein  jeder  unwillkürlich   zuerst  in 

Peschel   Völkerkunde.  .  4 


CO  Die  GrÜBsen Verhältnisse  des  Gehimschädels. 

den  Formen  des  Hauptes  suchen,  dem  Sitze  unsrer  höchsten  Thä- 
tigkciten.  Fleiss  und  Scharfsinn  der  neueren  Anatomen  haben 
daher  einen  jungen  Wissenszweig  gepflegt,  der  sich  mit  dem 
knöchernen  Schädel  beschäftigt.  Was  die  Volkssprache  einen 
Todtenkopf  nennt,  ist  ein  kunstvoll  geordnetes  Gehäuse,  enger  und 
kleiner  am  Kinderkopfe,  geräumiger  beim  Erwachsenen.  Es  ist 
also  bis  zu  einem  gewissen  Alter  in  der  Ausdehnung  begriffen  und 
gelangt  erst  in  reifen  Jahren  zum  Stillstand.  Meistens  bleiben  die 
einzelnen  Knochen  der  Gehirnschale,  wo  sie  an  ihren  Grenzen 
zusammepstossen  durch  Nähte  mit  eingreifenden  Zacken  nur  zu- 
sammengefügt, so  dass  dem  fortgesetzten  Wachsthum  kein  unbe- 
siegiiches  Hinderniss  entgegentritt.  Ein  verfrühtes  Verschmelzen 
der  Schädel  platten  muss  dagegen  die  völlige  Ausbildung  des  Ge- 
hirnes verhindern  und  wird  daher  eine  Verwischung  der  Nähte 
bei  jugendlichen  Schädeln  bemerkt,  so  gehören  solche  Köpfe 
gleichsam  zu  den  missrathenen  Bildungen.  Da  nun  die  Wissen- 
schaft nur  die  gesunden  Erscheinungen  vergleichen  darf,  so  folgt 
daraus,  dass  von  den  Messungen  alle  Schädel  au  s  zu  sc  hh  essen  sind, 
deren  Nähte  frühzeitig  verschwinden  oder  was  dasselbe  bedeutet, 
verwachsen  (Obliteration,  Synostose).  Eine  der  Deckplatten  des 
Gehimschädels,  nämlich  das  Stirnhein,  besteht  anfänglich  aus  zwei 
Hälften,  einer  rechten  und  einer  linken,  die  hei  dem  Affenjurigen 
nach  der  Geburl,  bei  Kindern  im  2,  Jahre  völlig  verwachsen.  Bei 
einer  Anzahl  von  Menarhen  dagegen  schliessen  sie  sich  nie  und 
da  die  Stimnaht  dann  als  eine  \'erlängerung  der  Pfeilnaht  recht- 
winkelig die  Kronennaht  durchsetzt,  so  bildet  der  Verlauf  der  Nähte 
ein  Kreuz,  weshalb  Schädel  mit  offner  Stirnnaht  KreuzkÖpfe  genannt 
werden.  Auch  sie  müssen  bei  den  Schädelmessungen  völlig  aus- 
geschieden werden  wie  die  Vertreter  einer  eignen,  nur  unter  sich 
nicht  mit  andern  vergleichbaren  Menschenart,  Das  Offenbleiben 
der  Stirnnaht  hindert  nichts  an  den  gesunden  Verrichtungen  des 
Gehirns,  ja  da  es  dessen  Wachsthum  nach  vorn  noch  bis  in  ein 
späteres  Alter  verslallet,  vereinigen  die  Kreuzköpfe  grossere  Stimbreite 
mit  grösserer  Geräumigkeit,  so  dass  sogar  vermuthet  worden  ist,  die 
mittleren  Leistungen  des  menschlichen  Denkvermögens  müsslen  merk- 
lich gesteigert  werden,  wenn  das  Offenbleiben  jener  Naht  ein  statisti- 
sches Uebergewicht  erreiche  oder  sogar  zum  herrschenden  Merkmale 
des  gesunden  Schädels  werde.  Ueljer  die  Häufigkeit  der  Kreuzköpfe 
hat  tins  Hermann  Welcker  nachfolgendes  Zifferngemälde  geliefert: 


Die  Grössenverhältnisse  des  Gehirnschädels. 


51 


Schädel 

on  Völkerschaften 

mit 

ohne 

Verhältniss  der  Kreuz- 

offne 

Stirnnaht 

t 

1 

köpfe 

zu  gewöhnlichen 
Schädeln 

Deutsche  aus  Halle 

70 

497 

I  :   7»i 

Petersburger 

70 

I02ß 

l  '  Hft 

Andre  Kaukasier 

14 

129 

i:    9,a 

Mongolen 

7 

96 

i:  13.» 

Malayen 

5 

87 

1 :  17»* 

Neger 

I 

52 

1:52 

Amerikaner 

I 

53 

1:53 

Andre  Beobachter  wollen  sich  überzeugt  haben,  dass  Schädel, 
welche  der  Zeit  des  Diluvium  angehören,  seltner  dieses  günstige 
Merkmal  an  sich  tragen  ^).  Bleibt  die  Stirn  offen,  so  schliesst  sich 
auch  die  Pfeilnaht  gewöhnlich  später  und  nicht  ganz  unberechtigt 
dürfen  wir  das  Raumsuchen  des  Gehirns  als  Ursache  dieser  Er- 
scheinung  uns  denken  *),  nur  sollten  wir  nicht  vergessen ,  dass  die 
Kreuzköpfe  bisweilen  auch  bei  Blödsinnigen  vorkommen  ^).  Um- 
gekehrt kann  aber  auch  durch  ein  vorzeitiges  Verwachsen  der 
Knochen,  wenn  es  mit  Überwältigung  des  Gegendruckes  vorwärts 
schreitet,  die  volle  Entwicklung  des  Gehirns  gehemmt  werden*), 
und  es  ist  gewiss  sehr  wichtig,  in  welcher  Reihenfolge  die  ein- 
zelnen Knochen  des  menschlichen  Schädels  sich  schliessen  und  das 
Wachsthmn  der  innern  Theile  beendigen.  Bei  den  minder  be- 
gabten Menschenstämmen  sollen  die  vorderen,  bei  höher  begabten 
die  hinteren  Nähte  früher  verwischt  werden^).  Bei  Negerschädeln 
wollte  Pruner  Bey  einen  frühzeitigen  Zusammenschluss  der  Stirn- 
naht  wahrgenommen  haben,  gefolgt  von  einem  Verwachsen  der 
Kronnaht  am  mittlem  Theil  und  der  Pfeilnaht,  während  die  Lambda- 
naht  um  den  Gipfel  sich  am  längsten  offen  erhielt.  Bisweilen  ver- 
schmilzt nicht  einmal  gänzlich  die  Basilosphenoidal-Naht  und  selbst 
bei  Erwachsenen  sei  noch  die  Incisivnaht  zu  unterscheiden  6).  Der 
Werth  solcher  Wahrnehmungen  lässt  sich  aber  nur  durch  die  sta- 


1)  Canestrini  bei  Darwin,  Abstammung  des  Menschen.     Bd.  i.     S.  107. 

2)  Hermann  Welcker,  Wachsthum   und  Bau  des  menschlichen  Schä- 
dels.    Leipzig  1862.     S.  97.     S.  102. 

3)  Virchow,  Entwickelung  des  Schädelgrundes.     Berlin  1857.     S.  87. 

4)  Virchow,   1.  c.     S.  113. 

5)  Gratiolet  bei  Quatrefages,  Rapport,     p.  302. 

6)  Pruner  Bey,  Memoire  sur  les  N6gres.     1861.     p.  328 — 329. 


52 


Die  Grösse  nvcrhällnisse  des  Gehiinschädels. 


tistischen  Mittel  aus  einer  grossen  Zahl  von  Beobachtungen  fest- 
stellen und  grosse  Zahlen  werden  erst  durch  fortgesetztes  Sammeln 
erworben  werden.  Vorläufig  ergibt  sich  nur,  dass  Schade!  mit  vor- 
zeitig oder  nicht  rechtzeitig  verschmolzenen  Nähten  bei  den  Mes- 
sungen ausgeschieden  und  nicht  mit  den  übrigen  verglichen  werden 
sollten. 

In  grössere  Verlegenheit  versetzt  uns  die  Geschiechtsbeslim- 
mung  der  Schädel.  Weicker  hatte  sich  überzeugt,  dass  bei  den 
deutschen  Schädeln,  deren  Geschlecht  bekannt  war,  die  weiblichen 
zwischen  die  kindlichen  und  männlichen  in  allen  messbaren  Verhält-  , 
nissen  sich  einschalten  lassen.  Unsre  Anatomen  haben  sich  daher 
angestrengt,  Wahrzeichen  aufzufinden,  nach  welchen  sich  das  Ge- 
schlecht des  Schädels  bestimmen  lasse.  Die  craniologische  Sta- 
tistik hat  bis  jetzt  wenigstens  so  viel  ermittelt,  dass  bei  den  hoch- 
gesitteten  Völkerschaften  alle  Oeschlechtsunterschiede  zweiter  Ord- 
nung viel  stärker  entwickelt  sind ,  als  bei  den  roh  gebliebenen 
Menschen  Stämmen.  Bei  ersteren  ist  der  männliche  Hirnschädel 
merklich  geräumiger  als  der  weibliche.  Ungewiss  dagegen  bleibt 
vorläufig,  ob  sich  der  letztere  mehr  als  der  männliche  zur  Schmal- 
heit neige.  Fand  Weicker  die  Frauenschädet  bei  fast  allen  Racen 
dolichocephaler  als  die  männlichen,  so  hat  Weisbach  für  osterreichi- 
■  sehe  Frauen  einen  mittleren  Breitenindex  von  82,,  erhalten  und  bei 
ihnen  eher  eine  Hinneigung  zu  Bracliycephalie  wahrgenommen').  Die 
geringere  Höhe  des  Schädels  beim  weiblichen  Geschlecht  ist  andrerseits 
von  Alexander  Ecker  betont  worden,  der  auch  daran  den  Frauenschä- 
del erkennen  will,  dass  der  flache  Scheitel  ziemlich  plötzlich  in  die 
senkrechte  Stirnlinie  übergehe  ').  Grössere  Zartheit  der  Knochen- 
vorsprünge, verminderte  Gesichtslänge  bei  gross  er  n  Augenhöhlen,  ge- 
ringere Unterkieferbreite  sollen  ebenfalls  den  weiblichen  Schädel  aus- 
zeichnen. Doch  sind  wir  noch  weit  entfernt  das  Geschlecht  eines  un- 
bekannten Schädels  mit  Sicherheit  bestimmen  zu  können.  Der  britische 
Craniolog  Barnani  Davis  schrieb  vor  etlichen  Jahren  an  A.  Ecker. 
dass  er  einen  Schädel  aus  Bengalen  nach  den  angenommenen  Ge- 
schlechtsmerkmalen für  männlich  hätte  erklären  müssen  und  doch 
wisse  er  genau,  dass    er   von    einer  Frau  abstamme^).     Bei  Schä- 


1)  Atcbiv  für  Anlhropologie.     Braun scliweig  1H6S.     Bd.  3.     S.  61. 

2)  Archiv  fiir  Anthropologie  1866.     Bd.  I.     S.  85. 
31  Archiv  für  Anthropologie  1867.     Bd.  2.     S.  35, 


Die  GrÜssenverhiltiiisse  des  Gehiniscliä,iel>.  53 

delrt  aus  alten  Gräbern  wird  daher  das  Geschlecht  aus  dL'Ui  Bau 
des  Kopfes  nicht  sicher  zu  erralhcii  sein.  Daher  sagte  auch  Vir- 
chow  in  seiner  Arbeit  über  altnordische  Schädel  in  Kopenhagen: 
flieh  fühle  mich  nicht  im  Stande  überall  mit  Bestimmtheil  die 
Grenzen  zwischen  männlichen  und  weiblichen  Schädeln  zu  ziehen, 
und  ich  habe  daher  lieber  auf  eine  solche  Untersuchung  verzichtet, 
um  nicht  willkürliche  und  zweifelhafte  Trennungen  vorzunehmen"  '). 
In  gleichem  Sinne  bemerken  His  und  Rütimeyer:  „Eine  Scheidung 
der  Schildel  nach  dem  Geschlecht  haben  wir  nicht  durchgeführt. 
Die  Gcschlechtibestimmung  nach  dem  blossen  Aussehen  führt  all- 
zuieicht  zu  WillkürUchkeilen,  als  dass  man  sich  auf  sie  verlassen 
könnte"^).  Der  eben  erwähnte  Barnard  Davis  endlich  äussert  in 
Bezug  auf  das  Vcrzeichniss  seiner  Schädelsammlung;  „Das  Ge- 
schlecht wurde  nur  durch  den  Eindruck  auf  den  Ueschauer  be- 
stimmt, welcher  keinen  untrüglichen  Gesetzen  gehorcht;  daher  auch 
leicht  Fehler  vorgekommen  sein  mögen"  ^).  Die  strenge  Wissenschaft 
wird  indess  die  Forderung  nicht  fallen  lassen,  dass  die  Schädel 
dem  Geschlecht  nach  völlig  getrennt  und  die  getrennten  so  wenig 
unter  einander  verglichen  werden  sollen,  als  gehorten  sie  zwei  völlig 
verschiednen  Arten  an.  Künftige  Sammler  sollten  daher  alles  auf- 
bieten, das  Geschlecht  des  Schädels  am  Fundort  zu  ermitteln. 
Werden  alte  Schädel,  bei  dewen  die  Geschlechter  ungeschieden 
bleiben,  zusammengeworfen,  dann  kann  es  geschehen,  dass  zwei 
Typen  oder  Mittelformen  aus  den  Messungen  hervorgehen,  die 
nicht  zwei  Völkerschaften,  sondern  nur  die  Geschlechter  einer  ein- 
zigen Völkerschaft  vertreten.  Ferner  besteht  die  Gefahr,  dass 
wenn  wir  für  Raceiischädel  das  Mittel  aus  der  Summe  beider  Ge- 
schlechter erhalten,  die  mittleren  Unterschiede  einen  viel  geringern 
Betrag  zeigen  werden,  als  wenn  nur  Männer  mit  Männern  ver- 
glichen würden." 

Die  Grössen  Verhältnisse  des  menschlichen  Schädels  sind  in 
neuerer  Zeit  bis  in  die  feinsten  Einzelnheiten  bestimmt  worden,  so 
dass  die  Zahl  der  gemessenen  Werthe  an  einem  einzigen  Schädel 
bis  auf  ijg  gestiegen  ist').     Bei  diesem  Fleiss  und  Eifer  darf  man 

1)  Archiv-  für  Anlhropolueie.     Bd.  4.      S.  61. 

2)  Crania  hcWcIica.     Basel  1S64.     S.  8. 

3)  Thesaurus  Ctariorum.     London  1867.     p.  XV. 

4)  Man  s.  die  drei  Tabellen  für  10  Schädel  von  Zieeunem,  die  Tsidor 
Küjieinicki  dem  Archiv  Tut  Anlhropologie  Bd.   5,  S.  320  Kclicfi-rl  hat. 


.  54 


Die  Grössenverhältnisse  des  Gehirn  schiidels. 


noch  die  Hoffnung  nähren,  dass  es  dem  Scharfblick  eines  Be- 
obachters früher  oder  später  gelingen  möge  in  scheinbar  gleich- 
giltigen  Grilssenverlältnissen  den  Schlüssel  zum  Verständnisse  der 
übrigen  zu  entdecken.  Vielleicht  wird  noch  genau  festgestellt,  durch 
welches  Wachsthuiii  der  einzelnen  Knochen  die  Form  des  Kopfes 
bedingt  werde  ')  und  deshalb  muss  vorzüglich  iJie  Länge  der  ein- 
zelnen Nähte  zum  Erwerb  eines  statistischen  Schatzes  festgestellt 
werden.  Mit  diesen  Votarbeiten  zu  künftigen  Erkenntnissen  kann 
sich  aber  die  heutige  Völkerkunde  nicht  beschäftigen,  sondern  muss 
sich  mit  den  bereits  festgestellten  Unterschieden  l^gnügen. 

Leider  gibt  es  kein  übereinstimmendes  Mess verfahren.  ]n  Eng- 
land geht  man  anders  zu  Werke  als  in  Frankreich,  und  in  Deutsch- 
land befolgen  kaum  zwei  Craniotogen  die  gleichen  Vorschriften. 
„'Dem  einfachen,  sowohl  als  dem  wissenschaftlichen  Beobachter", 
bemerkt  Virchow '),  „liegt  daran,  einen  bestimmten  Zusammenhang 
zwischen  Schädelform,  Gesichtsbildung  und  Gehirnbau  zu  finden", 
je  nachdem  der  eine  da  oder  dort  diesen  Zusammenhang  zu  er- 
kennen hofft,  wird  er  seine  Messungen  einrichten.  Ehe  aber  ein 
solcher  Zusammenhang  wklich  entdeckt  worden  ist,  müssen  wir 
uns  allein  au  die  Itaumverhältnisse  haken.  Retzius  war  der  erste, 
der  uns  aus  dem  Vergleiche  des  Längen-  und  B reiten durchroessers 
Lang-  und  BreitFchüdel  (DolLchocephalen  und  Brachycephalen)  unter- 
scheiden lehrte,  wenn  er  auch  noch  keine  scharfen  Grenzen  zwi- 
schen diesen  Formen  zog.  Schon  beim  Aufsuchen  der  Schädel- 
durchmesser werden  aber  verschiedene  Wege  eingeschlagen.  Die 
Dicke  der  Hirnschadelknochen  ist  nämlich  eine  sehr  schwankende. 
Wenn  wir  einen  Massstab  an  die  Wände  eines  senkrechten  Schädel- 
quersctinittes  anlegen ,  so  finden  wir  meistens  zwei  bis  fünf  Milli- 
meter für  die  Mächtigkeit  der  Knochenplatten.  Diese  Schwan- 
kungen würden  bei  den  Messungen  keine  Störung  hervorrufen,  da 
sie  gleichmüssig  die  Längs-  wie  die  Querdurchmesser  steigern 
oder  herabsetzen  können.  An  andern  Stellen  aber  und  gerade  da, 
wo  wir  die  grösste  Axe  des  Schädels  zu  suchen  haben,  klafft  das 
Stirnbein  in  eine  doppelte,  eine  äussere  und  innere  Knochentafel 
auseinander  um  beträchtliche  Hohlräume  einzuschliessen.  Am 
Hinterhaupt  wiederum  wird  die  innere  und  äussere  Knochenschicht 

i)  Virchow,  Die  Znlwiddung  des  Schädelgrundes.    Berlin  1857.    S.  Gl. 

-I  Virchow,  L  c     S.'g. 


Die  GrüssenvethälmisEc  des  Gehirn schäJtU.  i^c 

in  der  Mitte  durch  schwammartige  Blasen riiunif  auseinander  ge- 
trieben und  der  Schädel  erreicht  dann  in  dem  einen  und  andern 
FaUe  Mächtigkeiten  von  20  und  15  Millimetern  oder  darüber.  Da 
nun  diese  inneren  Aufblähungen  dc-r  Knochen  sicherlich  in  iteiner 
Beziehung  zu  den  Verrichtungen  des  Gehirns  stehen  und  Liei  den 
Angehörigen  desselben  Stammes  sehr  schwanken,  auch  mit  dem 
Lebensalter  sich  steigern,  so  schien  es  unangemessen  bei  Bestim- 
mung des  Längsdurchmessers  die  Zirkelspitzen  yerade  über  diesen 
Knochenan  schwel  lim  gen  anzusetzen.  Bamard  Uavis  misst  daher 
von  der  Stimglatze  {glabella)  nach  dem  am  meisten  hervorragenden 
Punkt  des  Hinterhauptes.  Welcker  wieiJertim  setzt  die  eine  Spitze 
des  Tastercirkels  ebenfalls  an  der  Stirnglatze  ein,  die  andre  aber 
etwa  einen  Zoll  über  dein  Hinterhauptstachel.  Beide  vermeidL-n 
also  die  Stellen,  wo  sich  die  Knochen  der  Hirnschale  am  stärksti-n 
verdicken.  Vielleicht  wäre  das  scheinbar  roheste  Verfahren,  näm- 
lich die  grossie  Achse  da  zu  suchen,  wo  man  sie  findet,  die  rich- 
tigste gewesen,  denn  die  Entwicklung  der  Stirnhöhlen,  so  unwesent- 
lich sie  sonst  sein  mag,  trügt  doch  ohne  Zweifel  (lä£u  bd,  den 
Schädel  ku  verlängern  und  der  Betrag  dieser  Verlängerung  soll  ja 
mit  Hilfe  des  Cirkels  gefunden  werden.  Da  sich  aber  ein  jedes 
Messverfahren  rechtfertigen  lässt,  keines  bis  jetzt  durch  allgemeine 
Zustimmung  zur  Herrschaft  gelangt  ist,  so  müssen  wir  heutigen 
Tages  denjenigen  Schädclkennem  folgen,  welche  die  grösste  Zahl 
von  Messungen  geliefert  haben,  die  einen  Vergleich  unter  sich  zu- 
lassen. Es  sind  diejs  Barnard  Davis  und  Hermann  Welcker '), 
Wenn  wir  die  Ergebnisse  dieses  Letzteren  vorzugsweise  beachten,  so 
muss  noch  ein  Vorbehalt  hinzugefügt  werden.  Die  Breite  des 
Schädels  wird  jetzt  übereinstimmend  an  keiner  anatomisch  streng 
befestigten  Stelle  gemessen,  sondern  überhaupt  die  Stelle  auf- 
gesucht, wo  der  Schädel  am  breitesten  ist.  Welcker  dagegen  misst 
die  Breite  an  einer  Kbene,  die  durch  die  Hinterhauptöffnung  ge- 
richtet, den  Schädel  in  eine  vordere  und  hintere  Hälfte  zerlegt.  Da 
sich  nun  alle  nicht  genau  elliptischen  Schädel,  also  die  überwäl- 
tigende MehrBahl  hinter  dieser  Theilungsebne  verbreitern,  so  lassen 
Welckers  Messungen  alle  Schädel  durchschnittlich  um  etwa  zwei 
Procenl  länglicher  erscheinen,  als  sie  sich  dem  Auge  darbieten. 
Man  pflegt  nämlich  den  Lüngendurchmesser  100  gleichzusetzen 

I)  Vgl.  Apptndix  A.  und   B. 


jö  Die  Grosse nverhällnisse  des  Gehirnschädels. 

und  den  Querdurchmesser  in  Procenlen  jener  Einheit  auszudrücken. 
Der  Pvocentsatz  selbst  wird  der  Breitenindex  genannt.  Völlig  runde 
Schädel,  also  solche,  bei  denen  der  Breitenindex  loo  und  sogar 
über  loo  beträgt,  kommen  theüs  in  Nordamerika,  theils  bei  den 
Peruanern  und  den  Chibcha  in  Neugranada  vor,  verdanken  jedoch 
ihre  Gestalt  einer  künstlichen  Zusammen pressung  des  Schädels,  und 
müssen  daher  von  allen  Vergleichen  ausgeschlossen  bleiben.  Sonst 
nähert  sich  einer  völligen  Rundung  am  meisten  der  Schädel  eines 
Bewohners  der  „TaUrei"  mit  97,,,  dem  Huxley  einen  Schädel  aus 
Keu-Seeland  mit  62,  als  Breitenindex  als  den  schmälsten  aller  be- 
kannten Schädel  gegeniibersteUt  ').  Doch  besitzt  Barnard  Davis 
Eittreme  Schädeiformen  nach  Huiley.     Nornia  verticalis. 


Fig.  I.  Schädel  eiiWE  Bewohners  Fig.  2.  Schädel  eines 

der  „Talarei".  Neuseeländers, 

einen  angeblichen  Keltenschädel,  der  bei  einer  Längenachse  von 
8,j  Zoll  und  einer  Breite  von  nur  4,^  Zoll  bis  zu  einem  Index  von 
58  sich  erniedrigt').  Zwischen  58  und  98  bewegen  sich  also  die 
Breiten indices,  wenn  wir  die  äussersten  Fälle  berücksichtigen.  Die 
mitticren  Zahlen  schwanken  aber  um  vieles  weniger,  denn  sie  gehen 
nur  von  67  bis  etwa  85,  In  diese  Claviatur  mit  ig  Tasten  lassen 
sich  alle  mittleren  Breitenproportionen  der  menschlichen  Schädel 
einschalten. 

Wie  Welcker  sich  überzeugt  hat^},  schwankt  der  Breitenindex 

1)  Huiley  über  zwei  exlreme  Formen   des  menschlichen  Schädels,     Ar- 
chiv für  Anthropologie.     Braunschwelg  lSä6.     Bd.  1.     S,  J46. 
i)  Thesaurus  Craniorum,  p.  63, 

j)  Nämlich  in  seinen  Craniologischen   Miltheilungen   im   Archiv   (iir  Aiv- 
iropologie.     Braunschweig  1S66.     Bd.  1.     S.  Ij6. 


Die  (icossenvcTliältnisse  des  Gehirnschädels. 


57 


bei  den  Völkern,  welche  der  Zahl  nach  die  Hälfte  der  Menschheit 
umfassen  von  74  bis  78  und  diese  nennt  er  Rechtschädel  (Ortho- 
cephaien),  wofür  mit  Broca  aber  besser  Mittel  schade!  (Mesocephalen) 
gesagt  wird.  Sinkt  der  Index  unter  74,  so  sprechen  wir  von  Schmal- 
oder Langschädeln  (Dolichocephalen),  und  erreicht  er  7g  oder  mehr, 
von  ISreit-  oder  Kurzschädeln.  Statistisch  hat  sich  nun  ergeben, 
dass  die  Mehrzahl  der  Bewohner  eines  bestimmten  Gebietes  sich 
um  eine  mittlere  Schädellorm  schaare,  sowie  dass,  je  weiter  die 
Abirrungsstufen  sich  von  der  mittleren  Form  entfernen,  sie  durch 
eine  sich  rasch  vermindernde  Schädelzahl  vertreten  werden.  Das 
ist  nun  genau  dasjenige,  was  jeder  erwarten  wird,  der  Arten-  und 
Racenmerkmale  als  etwas  flüssiges  betrachtet,  der  in  der  belebten 
Schöpfung  nur  Einzelwesen  erkennt,  und  der  mit  Goethe  annimmt, 
dass  die  Arten  nur  im  Lehrhuche  der  Systematiker  existiren.  Selbst 
die  Mittel  der  Schädel  Proportionen  schwanken  innerhalb  der  ein- 
zelnen Racen.  Ueberraschend  sind  namentlich  die  Ziffern ,  welche 
Welcker  für  den  Stamm  der  malayischen  Völker  gefunden  hat.  Be- 
achten wir  dabei  zunächst  nur  den  Breitenindex  und  beseitigen  wir 
die  stark  dolichocephalen  Schädel  (68)  der  Carolinenbewohner,  weil 
sie  als  Mikronesier  von  dem  Verdacht  einer  Blutmischung  nicht 
frei  sind,  so  erhalten  wir,  noch  an  der  Gränze  der  Dolichocephalie, 
mil  einen)  Breitenindex  von  73  die  Maori  Neu-Seelands.  Es  folgen 
dann  in  der  Indexscala  aufwärts  steigend  als  Mesocephalen  die 
Schädel  der  Marquesasinsutaner  (74),  der  Tahitier  (75),  der  Chatham- 
insulaner  (76),  der  Kanaken  auf  dem  Sandwicharchipel  (77).  Auf 
den  grossen  Inseln  zwischen  Australien  und  Asien  finden  wir  die 
Dayaken  Borneo's  mit  75,  die  Balinesen  mit  76,  die  Amboinesen 
mit  77,  Schädel  Sumatra's  mit  77  und  Mankassaren  mit  78  ange- 
geben. An  diese  Mesocephalen  schliessen  sich  noch  als  Breit- 
schädel an:  die  Javanen  und  die  Buginesen  mit  79,  die  Mena- 
daresen  mit  80  und  die  Maduresen  mit  82. 

Von  den  19  Theilstrichen  der  Breiten  Verhältnisse  nehmen  nun, 
wie  wir  eben  sahen,  die  Schädel  der  Malayenfamilie  nicht  weniger 
als  neun  ein,  von  73  bis  8z.  Man  kann  hier  nicht  sagen,  dass  die 
malayischen  Schädel  etwa  Mischformen  darstellen,  denn  rings  um- 
geben von  Schmalschädeln  konnten  sie  nie  ihre  hohe  Brachycephalie 
der  Kreuzung  verdanken.  Wären  sie  aber  ursprünglich  brachyce- 
phal  gewesen,  so  müsste  sich  diess  vorzugsweise  bei  den  Dayaken 
zeigen,  da  wir  sie    als   die    reinsten  Vertreter    des    alten   Maiayen- 


eß  Die  Grössen  Verhältnisse  des  Gehimschädels, 

typus  betrachten  dürfen.  Die  Messungsergebnisse  nöthigen  uns 
vielmehr  als  Thatsache  anzuerkennen,  dass  die  Grössenverhältnisse 
der  Schädel  innerhalb  der  nämlichen  Race  beträchtlich  schwanken. 
Ais  begründet  gilt  jetzt,  dass  sämmtüche  Polynesier  über  die  Südsee 
nach  drei  Himmelsrichtungen  von  der  Samoa-  oder  Navigatoren- 
gruppe  sich  verbreitet  haben.  Diese  Wanderungen  begannen  min- 
destens schon  vor, 3000  Jahren.  Die  Samoaner  selbst  sind  frei- 
gebiieben  von  jeder  fremden  Mischung,  und  die  Inseln,  welche  die 
Auswanderer  aufsuchten,  waren  völlig  unbewohnt.  Hier  liegen  also 
Thatsachen  vor,  die  als  anthropologisches  Experiment  nicht  gün- 
stiger hätten  angeordnet  werden  können.  Hier  können  wir  durch 
Messungen  streng  ermitteln,  welche  Aenderungen  jn  den  Schädel- 
proportionen im  Laufe  von  3000  Jahren  durch  Auswanderung  und 
Isolirung  vor  sich  gegangen  sind.  Wohl  haben  wir  bereits  aus 
Wclckers  Messungsergebnissen  einiges  mitgetheilt.  Die  Anzahl  der 
Schädel  aber,  die  ihm  zur  Verfügung  stand,  ist  doch  nicht  ausreichend 
zur  Feststellung  guter  Mittel  werthe,  auch  fehlen  von  den  beiden  wichtig- 
sten lnselgrup[jen  die  Indices.  Am  wichtigsten  wären  nämlich  sa- 
moaner- sowie  tonganer  Schädel,  weil  sie  die  Original maasse  des 
polynesischen  Typus  vertreten  könnten,  dann  aber  die  Schädel  aus 
Paumotu  oder  von  der  Wolke  der  niedrigen  Inseln.  Die  letztere 
KJrallen kette  war  nämlich  ein  höchst  ungünstiger  Lebensraum,  so 
dass  auf  ihren  Atollen  der  poiynesische  Menschenschlag  von  seiner 
gesellsch altlichen  Höhe  zur  Zeit  der  Auswanderung  beträchtlich 
abwärts  steigen  musste.  Man  wird  daher  die  Spannung  begreiflich 
finden,  mit  der  Anthropologen  Schädelsendungen  und  Schädel- 
messungen in  Bezug  auf  Paumotuaner  entgegensehen.  Barnard  Davis, 
der  über  eine  grössere  Zahl  polynesischer  Schade!  verfügte,  ist  zu  ähn- 
lichen Ergebnissen  wenn  auch  minder  grossen  Schwankungen  gelangt. 
Auch  bei  ihm  neigen  die  Maori  mit  einem  Index  von  75  am 
meisten  zur  Dolichocephalie ,  während  die  Javanen  {Index  :  82) 
noch  brach ycephaler  erscheinen  als  die  Maduresen  (8t), 

Die  Erfahrungen  im  eigenen  Vaterland  endlich  sind  höchst 
eigenthümlicher  Art  gewesen,  bestätigten  aber  was  wir  über  das 
Vertialten  in  der  malayischen  Menschenrace  schon  angeführt  haben. 
Retzius  zählte  die  Deutschen  noch  unter  die  Schraalschädei,  wenn 
er  auch  später  sich  überzeugte,  dass  in  Süddeutschland  andere 
Grössenverhältnisse  die  Oberhand  hätten.  Er  war  zu  seiner  An- 
schauung gelangt,   weil  er   hauptsächlich    die   nördlichen  Vertreter 


EenverhähniE;«  lies  Geliirnschädels. 


59 


des  teutonischen  Stammes  unter  den  Augen  hatte.  Es  lauten 
aber  die  Ziffern  des  Breitenindex  bei  Schweden  75,^,  bei  Hollitn- 
dem  75,j,  und  nach  einer  andern  holländischen  Serie  75,;,,  bei 
Engländern  76,0,  endlich  bei  Dänen  tind  Isländern  76,,.  Da  die 
Mesocephalie  bei  einem  Breitenindex  von  74  beginnt,  und  bei  einem 
solchen  von  "jq  aufhört,  so  stehen  die  Teutonen  Nordeuropa's  der 
Dolichocephaiie  näher  als  der  Brachycephalie. 

Bei  deutschen  Schüdeln  finden  wir  dagegen  folgende  Ziffern: 
in  Hannover  76, ^ ,  in  der  Umgegend  von  Jena  76, ^ ,  in  Holstein 
77,,,  bei  Bonn  nnd  Köln  77,^,  in  Hessen  7g,,,  in  Schwaben  79,^  '), 
in  Bayern  79,9,  in  Unterfranken  80,^ ,  im  Breisgau  80,,.  Der 
nächste  Gedanke  diese  Unterschiede  zu  erklären,  möchte  vielleicht 
dahin  führen,  einer  Mischung  mit  Kelten  den  wachsenden  Breiten- 
indeK  in  Süddeutschland  zuzuschreiben,  allein  die  Kelten  neigen 
nicht  sehr  slark  znr  Brachycephalie,  die  Franzosen  werden  z.  B. 
nur  mit  yq.j,  und  die  Iriänder  sogar  nur  mit  73,^  aufgeführt.  Eine 
Mischung  von  Teutonen  und  Kelten  sollten  wir  -in  Schottland  finden, 
der  dortige  Index  aber  lautet  nur   75,,. 

Müssen  wir  die  Kelten  aufgeben,  so  denken  wir  zunächst  an 
die  Slaven.  Bei  ihnen  finden  wir  sehr  achtungswerthe  Indices  wie 
78.8  bei  Serben,  79,,  bei  Kleinrussen,  79,^  bei  Polen,  So,^  bei  Ru- 
mänen, 8o„  bei  Grossrussen.  80, ^  bei  Kuthenen,  81,0  bei  Slovaken, 
82,5  bei  Croaten,  und  82,,  bei  Tschechen.  Die  letzteren  sind  also 
unter  den  Slaven  die  grössten  Breitköpfe.  Nun  würde  eine  Mi- 
schung mit  Slaven  die  Brachycephalie  wohl  in  Thüringen  erklären, 
nicht  aber  im  südwesdichen  Deutschland,  und  vor  allem  gar  nicht 
bei  den  teutonischen  Schweizern,  wo  sich  der  Index  auf  81,^  em- 
porschwingt '}.  Ausserdem  müsslen  die  De  utschüsl  erreich  er,  welche 
doch  mitten  unter  Slaven  sitzen,  brachycep haier  erscheinen  als  die 
Deutschen.  Das  Indexmittel  der  Deutschen  lautot  aber  78,^ ,  und 
das  der  Deutsch -O es terreicher  78,5  ^),  folglich    ist    tler  Unterschied 

1)  Schilleis  Schädel  besitzt  einen  Bteitenindtx  von  82. 

2)  Weisbach  fand  den  Breitenindex  der  Deutschösterreicher  lu  81,1,  den 
der  Ciechen  £u  83^.  Da  er  den  Schädel  a.n  der  breiteslen  Stelle  miSBl,  su 
erklären  sich  seine  von  Welcker  abweichenden  Ziffern  esiüE^"*'-  Archiv  für 
Anlhropoloßie.     Ed.  2.     S.  293. 

3)  His  gibt  sogar  dem  olemannischen  Schweiierschädel  (Disenlislypus] 
einen  Breitenindex  von  86j ,  einen  Höhenindex  von  8ia,  Hip  nnd  Rüli- 
meyer,  Crania  helvelica.     Basel  1864.     S.  11. 


b 


60  ßie  Gro'senveriiältnisse  des  Gehlrnscliädels, 

viel  kleiner  als  die  Fehlergränzen  der  Messungen.  Wir  gelangen 
vielmehr  zu  dem  F.r^ebtiiss,  dass  der  Teutonenschädel  im  Mittel  sehr 
beträchtlich  schwankt,  und  dass  er  in  Deutsehland  von  Nord  nach  Sud. 
und  namentlich  nach  Südwest  merklich  nach  Brachycephalie  strebe. 
Wollen  wir  weitere  Fortschritte  in  der  Craniologie  gewinnen, 
so  müssen  zunächst  die  Indices  europäischer  Uevöikerungen  durch 
grosse  Ziffern  festgestellt  werden.  Eine  solche  Arbeit  in  Bezug  auT 
Italien  verdanken  wir  Luigi  Calori  in  Bologna.  Er  bezeichnet 
Schädel  mit  ÜreiteninJices  von  74  bis  80  als  Ortho cephalen,  wofür 
wir  jedoch  Mesocephalen  sagen  woUen,  die  mit-  höheren  Ziffern  als 
Breitschädel  und  diejenigen  unter  74  als  Schmalschädel,  Mit  Aus- 
schluss der  weiblichen  Exemplare  untersuchte  er  nicht  weniger  als 
244z  italienische  Schädel  und  fand  darunter  1665  brach ycephal,  im 
Mittel  mit  einem  Index  von  84.  Die  andern  777  dagegen  ge- 
währten im  Mitte!  einen  Index  von  77,  Wie  in  Deutschland  mi- 
schen sich  auch  in  Italien  örtlich  breite  und  lange  Schädel  durch- 
einander. Von  100  bologneser  Schädeln  beiderlei  Geschlechtes 
waren  7g  Breit-,  16  Mittel-  und  nur  5  Schmalschädel.  Von  852 
Köpfen  aus  der  Emilia  gehörten  733  zu  den  Breit-,  iio  zu  den 
Mittel-  und  q  zu  den  Seh  mal  Schädeln.  Ebenso  zeigten  unter  254 
Köpfen  aus  dem  Vcneti an i sehen,  der  Lombardei  und  dem  italieni- 
schen Tyrol  230  die  breite ,  23  die  mittlere ,  ein  einziger  die 
schmale  Form.  In  den  adriatischen  Küstenstrichen  südlich  von 
■  Bologna  fallen  von  377  Schädeln  265  unter  die  breiten,  105  auf  die 
mittleren  und  7  auf  die  schmalen.  Begeben  wir  uns  über  den 
Apennin,  so  sind  dagegen  von  213  toskanischen  Schädeln  nur  134 
brachy-,  59  dagegi-n  ineso-  und  20  dolichocephal.  In  dem  ehe- 
maligen Kirchenstaat  gehörten  von  200  Schädeln  nur  52  zu  den 
Brachy-,  dagegen  100  zu  den  Meso-  und  48  zu  den  Dolichoee- 
pbalen.  Endlich  zählten  von  363  NeapoüUnern  131  zu  den  Breit-, 
169  zu  den  Mittel-  und  63  zu  den  Schmalschädeln.  Daraus  ergibt 
sich,  dass  die  Norditaliener  zu  den  stark  brachy cephalen  Völkern 
gehören,  dass  aber  mit  dem  Fortschreiten  nach  Süden  auf  der 
Halbinsel  der  .Schädel  sich  etwas  verlängert  und  die  Mittelform 
schliesslich  zur  Herrschaft  gelangt ').  Auch  hier  offenbart  sich  also 
bei  örtlichen  Veränderungen  ein  Sehwanken   der  Indices.     Dürfen 


I)   Joum&l    of   the   Anthropological    Institute,      London    1S7Z.     lom.   I. 

p.  IIO  fi. 


Die  Grössenverhiltnisse  des  Gehirnschädels.  6l 

wir  aber  etwas  anderes  erwarten?  Predigen  uns  nicht  alle  neueren 
Untersuchungen ,  dass  alle'  physischen  Merkmale  grossen  Schwan- 
kungen ausgesetzt  sind,  dass  überhaupt  die  belebten  Geschöpfe 
nicht  nach  starren  Urformen  sich  entwickeln,  sondern  beständige 
Umbildungen  erleiden?  Darf  man  überhaupt  Beharrlichkeit  des 
Typus  innerhalb  der  Menschenart  erwarten,  da  die  meisten  Racen 
sich  fruchtbar  kreuzen  können?  Wenn  diess  aber  der  Fall  ist, 
dann  darf  es  weder  beunruhigen,  noch  in  Verwunderung  setzen, 
dass  es  in  Göttingen  eine  Sammlung  deutscher,  sogenannter  ana- 
tomischer Schädel  gibt,  welche  die  EigenthnmHchkeiten  der  ver- 
schiedenen Menscheriracen  vertreten  sollen. 

Kaum  bedarf  es  wohl  noch  der  Warnung,  dass  niemals  aus 
dem  Breitenindex  irgend  eines  unbekannten  Schädels  auf  seine 
Racenabkunft  geschlossen  werden  könne.  Der  schmälste  Slaven- 
schädel  (72,g)  könnte  noch  für  einen  Negerschädel  seinem  Index 
nach  gehalten  werden,  denn  einzelne  Negerschädel  gehen  noch  bis 
77,8 ,  aber  Negerschädel  unter  72  können  nicht  m(=hr  mit  Slaven- 
schädeln  \'erwechselt  werden.  Unter  237  deutschen  Schädeln  findet 
sich  ein  einziger,  dessen  Index  auf  69,,,  also  auf  das  Mittel  von 
66  Negern  sinkt,  Negerschädel  unter  69  werden  aber  niemals 
mdir  für  deutsche  Schädel  erklärt  werden  können. 

Die  statistischen  Mittel,  wenn  sie  mit  kritischer  Vorsicht  ge- 
braucht werden,  haben  auch  bisher  immer  noch  bestätigt,  was  auf 
anderm  Wege  bekannt  geworden  war.  Alle  Aegyptologen  sind 
einstimmig,  dass  sich  der  alte  Menschenlypus  der  Denkmäler  in 
den  Fellahin  und  Kopten  erhalten  habe.  Ihr  Breitenindex  (71,^) 
stimmt  genau  zu  dem  der  ägyptischen  Mumien.  Wenn  man  auch 
Falimerayers  extreme  Ansichten  nicht  billigt,  so  wird  man  doch 
den  Neugriechen  immer  als  stark  gemischt  mit  slavischem  Blut 
betrachten,  und  der  Index  lehrt  uns,  dass  die  Neuheüenen  mit  77,, 
gegen  die  Altgriechen  mit  75,5,  beträchtlich  brachyc'ephaler  ge- 
worden sind.  Das  gleiche  war  zu  erwarten  in  Italien,  wo  wir  die 
Altrömer  mit  74,0  angegeben  finden, 

Zur  Warnung,  dass  man  sich  nicht  auf  Schädel merkmale  allein 
verlassen  darf,  wollen  wir  mittheilen,  dass  der  hochverdiente  Bar- 
nard Davis  geglaubt  hat,  die  Eskimo  in  drei  Racen  sondern  zu 
müssen,  je  nachdem  bei  ihnen  die  pyramidale  Gestalt  der  Schädel 
mehr  oder  weniger  scharf  ausgebildet  war.  Als  die  reinsten  be- 
zeichnet er  die  grönländischen,    die  Mitte  halten   d;e   ostamerikani- 


Ö2  Die  Gro^senverhältnisse  des  GehirnschädeU. 

sehen  und  völlig  entfremdet  der  Musterform  sind  die  westameri- 
kanischen. „Dass  die  Eskimo  des  Polarkreises",  fährt  er  fort,  „ein 
und  dasselbe  Volk  sein  sollen,  ist  eine  unzulässige  Ansicht,  mögen 
sie  auch  noch  so  oft  von  Reisenden  verwechselt  oder  Beweise  in 
ihrer  Sprache  gefunden  worden  sein.  Ihre  Körpereigenthümlich- 
keiten  sind  zweifellos  verschiedne ') ".  Nun  hat  ein  grosser  Kenner 
nordischer  Alterthümer  jüngst  gezeigt,  dass  die  Eskimo  erst  seit 
der  Mitte  des  14,  Jahrhunderts  sich  über  Grönland  verbreitet  haben  '), 
und  ferner  hätte  der  britische  Craniolög  schon  aus  Capt.  Hall's 
Beschreibungen  sich  unterrichten  können,  dass  die  Eskimomütter 
den  Schiiiel  der  Neugebornen  seitlich  pressen  und  ihm  eine  eng- 
schliessende  Lederkappe  überziehen,  um  die  gewünschte  pyramidale 
Gestalt  künstlich  zu  erzeugen  ^). 

Was  den  bisherigen  Ergebnissen  der  Schädeimessungen  noch 
mangelt,  ist  die  dürftige  Anzahl  der  Beobachtungen,  die  nur  durch 
eine  fortgesetzte  Bereicherung  unsres  Schatzes  an  Racenschädeln 
sich  vergfiJssern  lässt.  Die  höchste  Eile  ist  hier  dringeild  zu  em- 
pfehlen, da  so  viele  bunte  Menschenracen  unter  unsern  Augen 
zusammenschmelzen. 

Von  gleicher  Wichtigkeit  wie  die  Verhältnisse  des  Breitendurch- 
messers ist  die  Höhe  der  Schädel.  Bei  ihrer  Bestimmung  setzte 
Welcker  die  eine  Schenkelspitze  des  Tastercirkels  an  den  vorderen 
Rand  der  HinterhauptÖiTnung,  die  andere  aber  gleichsam  auf  den 
Zenilhpunkt  des  Hauptes,  da  wo  sich  die  Ebenen  kreuzen,  welche 
den  Schädel  in  eine  rechte  und  linke,  sowie  in  eine  vordere  und 
hintere  Hälfte  scheiden  *).  Auch  hier  wird  das  Messungsergebniss 
in  Hunde rttheiien  des  Längendurchmessers  ausgedrückt  und  der 
Höhenindex  genannt.  Durch  eine  lehrreiche  Anordnung  bei  Welcker') 
erkennen    wir,    dass   im   Durchschnitt    die    Höhe    im    umgekehrten 


1)  Thesaurus  Craniorum.     p.  224. 

3)  Koiirud  Maurer  in  der  Zweilen  deutschen  Nord  polarfahrt.  Leipiig 
187J.     Bd.  1.     S.  234. 

3)  Life  wiih  (he  Eequimaux.     London  1S65.     p.  5Z0. 

4)  Alex.  Kcker  niisst  dagegen  zuerst  vom  vorderen  Rande  und  sodann 
vom  hinteren  Rande  des  Hinterhau plloches  nach  der  höchslen  Erhebung  de» 
Hinlerhauplts.  Crania  Germaniae  merid.  p.  3.  Das  Mittel  aus  beiden  Mes- 
sungen ist  wohl  diejenige  „Höhe",  welche  der  Völkerkunde  für  Classification 3- 
z wecke  die  wünschenswettheste  wäre. 

5)  CrLiniolugische  Mittheilungen.     5.  154. 


Das  menschliche  Gehirn.  63 

Verhältniss  zur  Breite  wächst,  dass  schmale  Schädel  im  Allgemeinen 
hoch,  breite  Schädel  flach  sind,  dass  mit  andern  Worten  der  Höhen- 
index bei  Dolichöcephalen  den  Breitenindex  übersteigt,  bei  Brachy- 
cephalen  hinter  ihm  zurückbleibt,  so  dass  also  eine  geringere  Aus- 
dehnung in  die  Breite  durch  ein  gesteigertes  Hohenwachslhum  aus- 
geglichen wird.  Doch  ist  dieses  Verhalten  weder  ein  strenges  noch 
ein  ebenmässiges.  Das  Schwanken  der  Höhenindices  ist  viel  ge- 
ringer als  bei  der  Breite,  es  bewegt  sich  zwischen  70,,  und  82,_|, 
denn  der  Höhenindox  von  86,g  bei  Altperuanem  ist  nicht  ohne 
Verdacht  eines  künstlichen  Ursprunges.  Wir  kennen  ausserdem 
Völkerschaften,  die  für  ihren  Breitenindex  eine  viel  zu  geringe 
Höhe  besitzen,  wie  die  Hottentotten,  die  als  Schmalschädel  {69,,) 
es  doch  nur  zu  einem  Höhenmdex  von  70,,  bringen,  während  er 
um  mindestens  drei  volle  Indexziffern  höher  steigen  sollte.  Um- 
gekehrt vereinigen  die  Bewohner  der  Insel  Madura,  eine  der  höch- 
sten Schädel  breiten  (82,5)  mit  dem  grössten  Höhenindex,  nämlich 
82., ,  während  wir  bei  ihnen  einen  solchen  von  75  etwa  erwarten 
sollten.  Solche  Fälle  gewähren  nun  gerade  der  Völkerkunde  für 
die  Beschreibung  vortreffliche  Schlag^vorte,  so  dass  wir  die  Hotten- 
totten als  flache  Schmalschädel  (Platystenocephalen),  die  malayischen 
Bewohner  Maduras  als  hohe  Breitschädel  (Hypsibrachycephalen)  be- 
zeichnen können.  Der  Breitenindex  gibt  uns  einen  Ersatz  für  die 
Gestalt  des  Schädels  bei  einer  Betrachtung  der  Hirnschale  von 
oben,  wenn  das  Auge  senkrecht  den  Mittelpunkt  der  Langenaxe 
trifft  {Norma  verticalis).  Der  Höhenindex  wiederum  bietet  einen 
Ersatz  für  die  Ansicht  des  Schädels'  von  der  Rückseite  (Norma 
occipitalis).  Freilich  können  bei  gleichlautenden  Indices  die  Um- 
risse bald  eckig  bald  abgerundet  sein,  die  grössten  Breiten  bald  in 
der  Mitte  bald  weiter  nach  rückwärts  auflreten.  Der  Vergleich  der 
gemessenen  Ziffern  untereinander  ist  indessen  das  einzige  Verfahren, 
welches  bisher  der  Wissenschaft  zu  Gebote  stand,  während  die  Aus- 
wahl von  Typen  nach  dem  Augenmasse  zu  künstlerischer  Willkür 
verleiden  würde, 

2.  Das  menschliche  Gehirn, 

Wenn  wir  einen  durchschnittncn  Todlenkopf  auseinanderlegen, 
müssen  wir  uns  gestehen,  dass  wir  nichts  weiter  in  der  Hand  halten, 
als   gleichsam    die  Hülse    einer    abgcschossnen    Patrone    oder    den 


(jA  Das  mensch liclie  Gehirn. 

Larvenmantel,  dem  das  geflügelte  Geschöpf  entschlüpft  ist.  Daran 
knüpft  sich  die  Erkenntniss ,  dass  alle  Schädelformen  nur  einen 
künstlerischen  Werth  besitzen,  und  uns  vorläufig'  keinen  Aufschluss 
gewähren,  über  etwaige  Stufen  des  menschlichen  Denkvermögens 
unter  einem  dolichocephalen  oder  einem  brachycephalen  Knochen- 
helm, Künstliche  Verunstaltung  des  Schädeldaches  durch  Zu- 
sammenschnüren des  Kinderkopfes,  wie  es  bei  Völkern  des  Alter- 
thums  geschah,  wie  es  noch  jetzt  vorkommt  bei  unzähligen  Be- 
wohnern Amerikas,  wie  es  selbst  in  Nord f rankreich  der  Brauch 
unvorsichtiger  Mütter  ist'),  mögen  zwar  nicht  völlig  unschädlich 
sein,  haben  aber  doch  die  gesunden  Verrichtungen  der  künstlich 
umgeformten  Denkwerkzeuge  nicht  wahrnehmbar  gehindert. 

Was  nun  das  edelste  unsrer  Organe,  nämlich  das  Gehirn  und 
zwar  sein  Gewicht  betrifft,  so  schwankt  es  von  2,  3  bis  zu  4  Pfund 
während  wir  beim  Elephanten  8 — 10,  beim  Walfisch  4 — 5,  bei 
einem  18  Fuss  langen  Narwal  noch  2  Pfd.  30  Loth ,  bei  einem 
7  Fuss  langen  Delphin  a'/j  Pfd.  Gehimmasse  antreffen,  „Wer 
aber  möchte  wagen",  bemerkt  ein  berühmter  iranzösischer  Physiolog, 
„aus  der  Masse  des  Gehirnes  auf  das  Wesen  und  die  Kraft  eines 
menschlichen  oder  nur  eines  thierischen  Geschöpfes  zu  schliessen," 
Wer  wollte,  konnten  wir  hinzusetzen,  nach  dem  Gewichte  ent- 
scheiden, ob  eine  Thurmuhi;  oder  ein  Taschenchronometer  schärfere 
Zeitein theilungen  gewähren?  und  doch  sind  beides  nur  Kunstwerke 
unsrer  Hände,  Die  Schwere  des  Gehirns  in  Bezug  auf  das  Ge- 
sammtgewicht  des  Körpers  nimmt  ebenfalls  bei  dem  Menschen 
nicht  die  höchste  Stelle  ein ,  denn  wenn  auch  das  Hirn  des  Wal 
nur  einem  3300stel,  das  des  Elephanten  einem  soostel,  des  Hundes 
einem  250stel,  das_  des  Menschen  einem  37Siel  bis  35stel  des 
Körpergewichtes  entspricht,  so  werden  wir  doch  übertroffen  von 
den  Singvögeln,  bei  denen  das  Gewicht  des  Gehirns  '/i?'  von  der 
Blaumeise,  bei  der  es  '/.ai  ^"o*  Sperling,  bei  dem  es  '/j,  und  von 
amerikanischeh  Affen,  bei  denen  es  '/,9  bis  '/ij  <1^S  Körperge- 
wichts erreicht"). 

Wenn  daher  dem  hohem  Range  des  Menschen  in  der  Schöpfung 


1)  S.  AuEbnd  1S66.   S.   1095   die  Abbildungen   von   künstlichen  Schädel- 

2)  Th.  Bi^choff  in  den  Naturwissenschaftlichen   Vortiä^en    Münchenei 
r.elehrleTi.     München  1858.  S.  319. 


Das  i^enschliche  Gehirn.  (^c 

auch  ein  hoher-  Rang  seines  Gehirns  entsprechen  soll,  so  müssen 
wir  die  Unterschiede  des  letzteren  in  anderen  Beziehungen  suchen 
als  in  dem  Gewichte.  Das  menschliche  Grosshirn,  welches  allein 
als  Sitz  und  Werkzeug  des  Denkvermögens  betrachtet  werden  darf, 
besteht  aus  einer  inneren  weissen  von  zarten  Fasern  durchzogenen 
Masse,  die  als  eine  Leitungsvorrichtung  und  als  Sammelplatz  der 
Nerventhätigkeiten  betrachtet  wird,  so  wie  aus  einer  äusseren  grauen 
Rinde,  die  Körnchen,  kugelförmige  Gebilde  und  Bläschen  erkennen 
lässt  und  \yenn^  nicht  als  Urheber ,  doch  wenigstens  als  Sitz 
der  psychischen  Thätigkeiten  gilt.  Je  reicher  nun  die  Oberfläche 
gewunden,  je  tiefer  gefurcht  sie  erscheint,  desto  mehr  gewinnt 
die  Rinde  oder  graue  Substanz  an  Oberfläche.  Wir  wissen  zugleich, 
dass  eine  mehr  oder  weniger  ausgebreitete  Erkrankung  dieser 
Schicht  die  höheren  Geistesthätigkeiten,  zumal  das  geordnete  Denken 
vernichten  kann.  Es  lag  daher  sehr  nahe,  im  Windungsreichthum 
eine  Bürgschaft  für  den  höheren  Rang  des  Gehirns  erkennen  zu 
dürfen,  zumal  das  klügste,  aller  Thiere,  der  Elephant,  ein  Gehirn 
von  tiefgezogenen  Furchen  und  vielgestalteten  Windungen  dem  er- 
freuten Beschauer  darbietet.  Die  früheste  Anlage  der  Furchen, 
bemerkt  A.  Ecker,  scheine  im  Allgemeinen  eine  mehr  symmetrische 
zu  sein  und  die  Assymetrie  nehme  erst  mit  dem  Auftreten  der 
Nebenfurchen  überhand,  so  dass  grössere  Symmetrie  der  Furchen 
und  Windungen  um  so  mehr  für  einen  Ausdruck  einer  Bildungs- 
hemmung betrachtet  werden  dürfe,  als  das"  Gehirn  Blödsinniger 
dieses  Merkmal  zeige*).  Andrerseits  hatte  Rudolph  Wagner  daran 
erinnert,  dass  das  Gehirn  des  Hundes  im  Vergleich  zu  dem  ver- 
wickelten Windungssystem  des  geistesarmen  Schafes,  eine  ausser- 
ordentliche Armuth  verrathe  und  dass  die  Gehirne  bei  unsern 
grossen  Mathematikern  Gauss  und  Dirichlet  zwar  in  Bezug  auf 
Tiefe  und  Vielgestalt  der  Furchen,  vorzüglich  in  den  Stirngegenden, 
zu  den  am  höchsten  ausgestatteten  gehören,  die  er  gesehen  habe, 
eigenthümliche  Krümmungen  aber  auch  ihnen  fehlen*). 

Wenn  nun  Huxley'  in  den  Oehirnschädel  einer  geistes- 
gesunden Frau  55,^  Cubikzoll  Wasser,  in  den  geräumigsten  Gorilla- 
schädel  aber  34^2    Cubikzoll   Wasser   einzugiesen    vermochte 5),    so 


1)  Arch.  für  Anthrop.  Bd.  3.  S.  221. 

2)  Wagner,  Windungen  der  Hemisphären.  S.  6.  S.  7.  S.  24. 

3)  Er   rechnet   252,*    Gian    Hirn   =   i    Cubikzoll    Wasser.     Stellung    des 

Menschen   in   der  Natur.   S.    87.     Genauer    bestimmt    Carl    Vogt    (Archiv    für 
Feschel,  Völkerkunde.  c 


^ 


56  1^3s  meoschtiebc  Gehirn. 

sollten  wir  schon  im  Klaren  sein ,  ob  Menschen-  und  Allengehirn 
überhaupt  so  genau  übereinstimmen,  dass  ihr  Rauminhalt  verglichen 
werden  darf.  Leider  sind  die  Untersuchungen  über  das  embryo- 
nale Affengehirn  noch  sehr  spärliche').  Als  seine  Ueberzeugung 
hat  jedoch  Th.  v.  Bischoff  ausgesprochen,  dass  zwar  das  mensch- 
liche Gehirn  keine  Haupt  furche  und  keine  Hauptwindung  be- 
sitze, die  nicht  beim  Orang  vertreten  wäre,  dennoch  aber  das 
menschliche  Geiiirn  keineswegs  blos  einen  Fortschritt,  das  Gehirn 
des  Orangs  eine  Verzögerung  des  Wachsthums  darstelle,  sondern 
dass  beide  einen  andern  Entwicklungsgang  einschlagen,  nach  an- 
deren Richtungen  sich  entfalten  und  zu  keiner  Zeit  mit  einander 
übereinstimmen').  Vorläufig  ist  dies  zwar  nur  die  Ueberzeugung 
eines  von  seinen  Fachgenossen  hochgestellten  Gelehrten ,  es  ent- 
spricht aber  zugleich  unsern  Erwartungen.  Wiederholte  Erfahrungen 
liegen  vor,  dass  Krankheiten ,  die  bei  den  Eltern  zur  Zeit  der  Er- 
zeugung noch  schlummerten  und  viel  später  erst  hervorbrachen, 
dennoch  auf  ihre  Kinder  übertragen  "wurden,  um  auch  bei  ihnen 
erst  im  reifen  Alter  aufzutreten.  Wenn  also  die  Ursachen  künftiger 
Störungen  schon  erblich  sind,  so  muss  dies  noch  um  vieles  mehr 
von  den  Arten-,  Gattungs-  und  Ordnungsunterschieden  gelten. 
Somit  können  wir  uns  der  Vorstellung  nicht  entziehen,  dass  schon 
bei  der  ersten  Lebenserregung  die  morphologischen  Ziele  dem 
Keun  des  Menschen  wie  dem  des  Affen  vorgezeichnet  sind,  Ihre 
Entwicklung  lässt  sich  vergleichen  mit  zwei  Schienenspuren,  die 
vom  Abgangsorte  auf  einem  geraeinsamen  Bahnkörper  lange  neben 
einander  laufen,  um  sich  schliesslich  in  gefälligen  Krümmungen 
nach  rechts  und  links  zu  .verlieren.  BischofT  gesteht  übrigens  zu, 
dass  es  der  genauesten  Untersuchungen  bedürfe,  um  bei  der  grossen 
morphologischen  Nahe   noch  Unterschiede   zwischen   den    Gehirnen 

Anthropologie,  Bd.  2,  S.  l86)  die  minieren  Werthe  des  Schädelinnenraums  bei 
den  höheren  Affen. 

Männchen.      Weibchen. 

Cubikcentimeler. 

beim  Orang  und  Pongo  448  378 

,',     Tschimpanse  und  Tscbego     417  370 

,.     Gorilla  500  423 

1)  Ad.  Pin  seh  konnte  das  fötale  Hirn  eines  Ccbus  apella  und  die 
zweier  neugebonien  Atlen  beschreiben.  Über  die  typische  Anordnung  der 
Fuichea  und   Windungen  im  Archiv  für  Anthropologie.  Bd.  3.  S.  239. 

2)  Die  Grosshirnirindungen  des  Menschen.  München  1868.  S.  96. 


Das  menschliche  Gehirn.  g^ 

des  Menschen,  Orang,  Tschimpanse  und  Gorili  zu  erkennen 'J.  Auf 
Rolleston's  Messungen  gestützt  findet  Bischoff,  dass  die  Halbkugeln 
des  menschlichen  Grosshirns  von  denen  der  Affen  sich  besonders 
durch  ihre  Hohe  auszeichnen").  Wenn  übrigens  auf  Unters t-hie dt 
in  der  Quantität  meist  wenig  Gewii-ht  gelegt  wird,  so  übersieht 
man,  dass  bei  chemischen  Mischungen  von  den  Quantitäten  auch 
die  Qualitäten  der  Stoffverbindungen  abhängen,  dass  durch  Zutritt 
eines  einzigen  Atoms  Sauerstoffes  Schwefelsäure  aus  schwcfeliger 
Säure  entsteht,  dass  eine  numerische  Steigerung  der  Schwingungs- 
frequenz dunkle  in  leuchtende,  das  heisst  die  Sehnerven  erregende 
Wärme  verwandelt  und  dass  selbst  bei  Zahlengrössen  geringe  \'er- 
änderungen  in  der  Quantität  zu  innerlichen  Unterschieden  von 
höchster  [Wirksamkeit  führen^).  Bei  dem  Dunkel  aber,  welches 
über  den  Beziehungen  der  einzelnen  Gehirntheile  zu  den  Verrich- 
tungen des  Denkvermögens  ruht,  bleibt  die  Vermuthung  noch  ver- 
stattet, dass  die  höheren  geistigen  Thätigkeiten  vielleicht  an  einen 
äusserlich  geringfügigen  Zuwachs  des  Gehirns  geknüpft  sind. 

Auch  darf  es  als  herrschende  Ansicht  bezeichnet  werden,  dass 
ein  ungestörtes  menschliches  Denkvermögen  nur  dort  vorhanden 
sei,  wo  das  Hirngewicht  eine  untere  Grenze  überschreitet,  die  thoils 
nach  den  Geschlechtern,  theils  nach  den  Menschenracen  Schwan- 
kungen erfährt,  Quatrefages  wollte  bei  Europäern  die  GewiL-hts- 
menge  des  männlichen  Gehirns  auf  1I13,  des  weiblichen  auf  575 
Grammes  festsetzen*).  Carl  Vogt  fordert  im  ersten  Falle  nur  1000, 
im  andern  nur  goo  Grammes*).  H,  v.  Luschka  erklärte  wiederum 
kürzlich  64  Loth  oder  1000  Grammes  als  das  geringste  Ge- 
wicht eines  Gehirns  von  ungestörter  Thätigkeit*).     Im  frischen  Zu- 

I)  a.  a.  O.  S.  loi. 
3)  a.  a.  O,  S.  98-99. 

^)  Der  Untenchied  der  Quantität  zwischen  d«n  Grössen 
0.99999999 


ist  ein  relaüv  sehr  schwacher,  dennoch  besitzt  die  erste  Zahl  die  Eigcnschart 
durch  forlgeseizte  Potenzirung  sich  bis  ins  Unendliche  verkleinern,  die 
dritte  auf  dem  gleichen  Wege  sich  bis  ins  Unendliche  vergrüsscrn  zu  lassen, 
während  die  mittlere  bei  jeder  Poleniirung  ihre  Unveränderljchkeit  bewahrl. 

4)  Kapport  3ur  les  progiis  de  I'Anlhropologie,  p.  324. 

5)  Vorlesungen  über  den  Menschen.  Bd.  1.  S.  103. 

6)  Dritte  Versammlung  der  Deutschen  anlhrop.  Gesollsch,  S.  17. 


(,g  Das  menschliche  Gehirn. 

Stande  gewogen,  fand  er  das  Geliirn  eines  weiblichen  Mikrocephalen 
nur  30  und  das  eines  männlichen  sogar  nur  20  Loth  schwer.  Bei 
diesen  unglücklichen  Geschöpfen  lässt  sich  ausser  einer  verlängerten 
Form  der  Gehirnsciiale  und  einem  starken  Vorspringen  der  Kiefern 
an  dem  Schädel  nichts  Thierisches  wahrnehmen,  denn  Virchow  hat 
entschieden  der -Behauptung  Carl  Vogts  widersprochen,  dass  die 
Stellung  der  Hinterhauptsöffnung  eine  regelwidrige  sei.  Das  gleiche 
gelte  von  den  Verhältnissen  des  Grundbeines,  die  natürlich  bei 
erwachsenen  Mikrocephalen  und  erwachsenen  Affen,  bei  jungen 
Mikrocephalen  und  jungen  Affen  und  zwar  hohen  Affen,  nicht  bei 
erwachsenen  Mikrocephalen  und  jungen  Affen  verglichen  werden 
müssen").  C'ari  Vogt  hatte  nun  gewagt,  die  Schädel  von  solchen 
verkümmerten  Menschen  mit  Affenschädcln  su  vergleichen.  Nach 
seinen  Befunden  betrug  die  Geiäumigkeit  der  Hirnschale  bei  einem 
Ulüdsinnigen  62z,  bei  einem  andern  460  Cubikcenlimeter,  während 
ein  männlicher  (jnrill  500  Cubikcentimelet  erreichte').  Gestützt 
auf  diese  Untersuchungen  wollte  er  in  jenen  menschlichen  Miss- 
bitdungen einen  KüLkschlag  oder  in  der  Sprache  der  Uarwinischen 
Lelire  einen  Atavismus  wahrnehmen,  der  durch  Wiederkehr  von 
Ahnen  merkmalen  aus  weit  entlegener  Vorzeil  uns  über  die  thierische 
Abkunft  unserer  Voreltern  eine  Beglaubigung  gewähren  sollte^). 
Allein  auf  der  dritten  Versammlung  der  deutscheu  anthropolo- 
gischen Gesellschaft  erhoben  sich  alle  Fachkenner  gegen  diese 
Deutung  der  Thatsachen.  Fast  mit  denselben  Ausdrücken  wurden 
die  Mikrocephalen  als  menschliche  Geschöpte  anerkann^t,  die  durch 
krankhafte  Hemmung  sich  nicht  entwickeln  konnten  und  durchaus 
nicht  etwa  als  vermittelnde  Glieder  die  Kluft  füllen,  welche  den 
Menschen  von  den  ihm  ähnlichsten  Geschöpfen  der  Thierwelt 
trennt.  Schon  dass  den  Blödsinnigen  die  Geschlechtskrait  fehlt, 
zeigt  uns,  dass  die  Vorfahren  der  Menschen  nie,  auf  einer 
Mikrocepbalenstufe  gestanden  haben,  dass  nie  irgend  ein  Erdraum 
in  der  Vorzeit  von  Cretinen  bevölkert  gewesen  war*). 

So  gelangen  wir  zu   dem  Satze,    dass    nur    das    menschliche 


1  Menschen-  und  AHenschädel.  S.  31. 

)  Memoire  sur  Ics  Microciphatcs  in  Mfm.  de  rinslilut  naüonal  gen 
IX.  Gentvc  1867.  p    54; 
I  1.  c.  p,  ly?. 
I  Vgl.  die  Reden  v.  Luschka'^,  Vircliow's,  Ecker's,  S^liariiDiiiii.^ciri 


•>  Das  menschliche  Gcbim.  69 

Gehirn  mit  andern"  menschlichen  Gehirnen  verglichen  werden  darf. 
Dies  geschieht  bei  Racenschädeln  annähernd  dadurch,  dass  die 
Geräumigkeit  der  Gehirnschale  gemessen  wird,  Wasser  pflegt 
man  dabei  nicht  anzuwenden,  weil  die  vielen  Oeffnungen  der 
Knochen  verklebt  werden  müssten.  Die  Ausfüllung  mit  Leim 
oder  Gyps  kann  iu|r  nach  erfolgten  Querschnitten,  also  bei  zer- 
störten Schädeln  stattfinden,  gewährt  auch  keine  streng  vergleich- 
baren Ergebnisse,  weil  verschiednen  Sorten  des  Ausfüllungsstoffes 
auch  verschiednes  specifisches  Gewicht  zukommt  und  ist  selbst  von 
denen  aufgegeben  worden,  die  sie  ehemals  empfahlen').  Jetzt 
wird  die  Gehirnkapsel  entweder  mit  Hirsekornern  oder  mit  feinem 
Schrot,  ausnahmsweise  und  minder  glucklich ,  mit  Sand  angefüllt 
»nd  der  Inhalt  hierauf  in  ein  metrisch  geaichtes  Gefäss  ausge- 
schüttet. Auf  diese  Art  haben  wir  die  Geräumigkeit  der  Gehirn- 
kapsel bei  verschiedenen  Racen  kennen  gelernt.  Lucae's  Messungeii 
würden  lehren ,  dass  der  weiteste  Negerschäde!  noch  nicht  das 
Mittel  bei  Deutschen,  der  beste  Australierschädel  noch  nicht  das 
Mittel  des  Negers  erreiche,  sowie  dass  die  individuellen  Schwan- 
kangen  mit  den  absoluten  Ziffern  immer  grösser  werden').  Fast 
wie  eine  Bestätigung  klingen  die  Ergebnisse  Broca's,  der  den, mitt- 
leren Schädelinnenraum  bei  dem  Australier  100  gleich  setzt  und  bei 
dem  Neger  iii,^.  bei  dem  Teutonen  124,^  finden  wollte^).  Nicht 
so  ungünstig  für  die  von  ■  uns  als  niedrig  angesehenen  Menschen- 
racen  lauten  die,  allerdings  bedenklich  hohen,  Mittelwerthe,  zu  denen, 
gestützt  auf  die  reichste  aller  Sammlungen,  Barnard  Davis  gelangt 
ist*).      Er   fand    nämlich  eine  Geräumigkeit  des  Hirnschädels 

Jäger's  in  dem  Bericht  über  die  dritte  Versamml.  der  D.  onthropol.  Gesell- 
schaft, S.  16—25,  femer  H,  Schule  im  Archiv  fiir  Anthropoloßie,  Braunschw. 
1872,  Bd.  5.  S.  444—446. 

I)  Lucae,   Morphologie  derRacenschädel.  Heft  3.  (I«64.)  S.  45- 
2}  Lucae,  Morphologie  der  RacenschädeL  ilefi  2.  U864.]  S,  45,  geTnesseii 
mit  Hirse; 


Zahl  der  Schädel. 

Minim. 

Maiim. 

Mittel. 

Cubikcentimt 

:ler. 

tj  Deut&che 

1300 

172s 

I53i.t 

6  Chinesen 

1400 

'575 

■482,> 

-5   ^-eger 

1190 

1S05 

'344 

5  Australier 

"15 

1300 

1186. 

a,  bei  QualrefaRes  Rapport 

,  p-  306. 

-Q  Daf  menschliche  Gehirn.  - 

engl.  Cubikioll  Cubikcenüm. 

bei  Europäern  92,j  1835 

„    Amerikanern  89  1774 

„   Asiaten  88,,  1768 

„    Afrikanern  86„      '  1718 

„    Au=lraliern  81,7  1628 

Neben  diesen  IMitteln  aus  zahlreichen  Einzelwqjthen  ist  es  rathsam, 
auch  auf  die  Schwankungen  einen  Blick  zu  werfen.  So  stiess 
Morton  unter  allen  Racenschädeln  auf  einen  kleinsten  von  63  und 
auf  einen  grossten  von  114  Cubützoll  (engl.)  Rauminhalt').  Barnard 
Davis  aber  besitzt  einen  allrömischen  Schädel  mil  nur  62  Cubikzoll 
und  einen  irischen  mit  (21.5.  Ein  andrer  irischer  Schädel  im 
Museum  Bateman  erreicht  sogar  124,,  CubikzoU').  Selbst  innerhalb 
eines  Volkstarames  können  die  grössten  Sprünge  vorkommen,  da 
toskanische  Schädel  noch  tief  an  Rauminhalt  hinter  dem  engsten 
Australierschäde!  zuriickbleiben.  Bei  einem  23jährigen  Florentiner 
Dienstmädchen  traf  Paolo  Mantegazza  nur  1046  Cub.  Cm.,  bei 
einem  erwachsenen  Florentiner  aber  1727  Cub.  Cm.  und  bei  einem 
angebüi'h  etruskischen  Krieger  sogar  1750  Cub,  Cm.^) 

Sollte  die  geringe  mildere  Geräumigkeit  des  Schädels  in  einem 
ursächlichen  Zusammenhang  stehen  mit  einer  verzögerten  geistigen 
J.ntwicklung,  so  durften  wir  erwarten ,  dass  auch  die  Schädel  der 
Alleuropäer  geringere  Maaasc  wie  die  ihrer  Nachkommen  aufweisen 
würden.  An  dazu  ermulhigenden  Thatsachen  ist  kein  Mangel. 
Broca  will  eine  zunehmende  Geräumigkeit  der  heutigen  Pariser 
Schädel  {1462 — 1484  Cuh.  Cm.)  gegen  solche  aus  dem  I2.  Jahr- 
hundert (1426  Cub.  Cm.)  gefunden  haben^).  Schädel  von  Altgriechen, 
nämlich  der  einer  wohlhabenden  Dame  Namens  Glykera  aus  der 
makedonischen  Zeit  mit  nur  1150  Cub.  Cm.,  sowie  eines  Mannes 
mit  1280  Cub.  Cm.,  die  kürzlich  in  Athen  ausgegraben  wurden, 
begünstigen  diese  Ansicht*).  Umgekehrt  haben  His  und  Rütimeyer 
für  ihren  Disentis-  oder  alemannischen  Typus,  dem  drei  Viertel  der 
heutigen  Schweizer  angehören,  im  Mittel  1377  Cub.  Cm-,  für  den 
Hohbergtjpus,   angeblich  AltrÖmer,   1437   Cub.    Cm.    und    für    den 

ij  Huxlej',  Stellung  des  Menschen  in  der  Natur.  S.  87. 

21  Thesaurus  craniotum,  p.  360,  p.  65. 

31  Archivio  per  l'antropologia.  Flrenze  1871.  vol.  I.  p.  53  sq. 

4)  Nach  Broca  bei  Carl  Vogt,  Vorlesungen  über  den  Menschen,  Bd.  i, 
S.  105—108. 

5)  Siehe  darüber  Virthow's  Bericht  in  den  Verhandl.  der  Berliner 
jutliropol.  Gesellschaft.  1872.  S.  174  ff. 


Das  menschliche  Gehirn. 


71 


Sionkopf,  der  mit  Pfahlbauschädeln  übereinstimmt,   1558   Cub.   Cm. 
\M~ — 8     )  &^^^"^^"'     Somit  hätte  die  schweizerische  Bevölkerung 

an  Schädelgeräumigkeit  beträchtlich  verloren'). 

Das  Ergründen  dieser  Raumgrössen  geschieht  offenbar ,  um 
wenigstens  annäherungsweise  auf  die  Mächtigkeit  des  Gehirns 
schliessen  zu  können,  lieber  das  Gewicht  dieses  Organes  besassen 
wir  lange  Zeit  nur  eine  bahnbrechende  Arbeit  von  Rudolf  Wagner. 
Leider  stammte  die  Mehrzahl  der  964  untersuchten  Gehirne  von 
Geisteskranken ,  die  also  von  Vergleichen  hätten  ausgeschlossen 
bleiben  sollen.  Die  Gewichtsbestimmungen  rührten  ausserdem  von 
verschiedenen  Anatomen  her,  die  nicht  ein  gleiches  Verfahren  inne 
gehalten  zu  haben  scheinen.  Auch  war  es  zu  beklagen,  dass  die 
Körpergrösse  der  untersuchten  Leichen  nur  hin  und  wieder  ange- 
geben war.  Da  nun  bei  Cuvier  ein  Gewicht  von  1861  Grammes, 
bei  Lord  Byron,  freilich  auf  zweideutige  Angaben  hin,  ein  solches 
von  1807  Grammes  ermittelt  worden  war,  so  schien  ein  hohes  Ge- 
wicht von  hoher  geistiger  Begabung  begleitet  zu  werden.  Allein 
bei  Göttinger  Gelehrten,  wie  Dirichlet  (1520  Gr.),  wie  dem  grossen 
Gauss  (1492  Gr.),  dem  Pathologen  Fuchs  (1499  Gr.),  dem  Philo- 
logen Hermann  (1358  Gr.)  und  dem  Mineralogerl  Haussmann 
{1226  Gr.)  sanken  die  Werthe  bis  zum  sonstigen  Mittel,  ja  sogar 
tief  unter  dieses  herab  ^).  Als  einzig  dauernder  Gewinn  dieses 
ersten  Versuches  lässt  sich  anführen,  dass  Wagner  im  Mittel  das 
weibliche  (iehirn  leichter  fand,  als  das  männliche.  Diese  That- 
sache  konnte  später  W^eisbach  bei  den  deutschen  und  slavischon 
Bevölkerungen  Oesterreichs  streng  bestätigen.  Ferner  hat  Calori, 
gestützt  auf  eine  gfrosse  Zahl  von  Gewichtsbestimmungen  bei  Italiern 
das  weibliche  Gehirn  um  150 — ^200  Grammes  leichter  gefunden. 
Die  Geräumigkeit  der  Schädel  ist   ebenfalls   bei   den  Geschlechtern 

verschieden  nach  folgender  von  Weisbach "5)  entworfenen  Statistik: 

• 

i)  Crania  Helveüca.  Basel  1864.  p.  44. 

2)  Rudolf  Wagner,  Die  Windungen  der  Hemisphären  u.  das  Hirage- 
wicht.  Göttingen  1860.  S.  32 — 33.  In  einem  offnen  Schreiben  an  Bamard 
Davis  on  the  skull  of  Dante  p.  13  hat  jedoch  Welcker  aus  den  Wagner'schen 
und  andern  Wägungen  gezeigt,  dass  die  Gehirne  von  26  Männern  hohen 
geistigen,  Ranges  zusammen  um  14  Proc.  das  Mittel  der  ihnen  zukommenden 
Himgewichte  überschritten.  Dante's  Gehirn  (1420  Gr.)  steht  übrigens  sehr 
wenig  über  dem  Mittel  von  1390  Gr. 

3)  Der  deutsche  Weiberschädel,  im  Archiv  für  Anthropologie.  Braunschw. 
1868.  Bd.  3.  S.  63. 


Das  menschliche  Gehirn. 

cit    des    weiblichen 

Hiraschädels   im    Ver 

der  letztere  =  locx 

gesetzt 

Beobachter. 

hei  Nceen, 

984 

B.  Davis. 

„    Hindu 

944 

„   Negern 

932 

Tiedemann. 

„    Malayen 

9J3 

„    Holländern 

919 

„    Irländem 

912 

B.  Davis. 

„    Kaniken 

906 

„    Slaven 

90J 

Weisbach. 

„    Marquesas-Insul 

902 

B.  Davis. 

„    Deutschen 

897 

Welcher. 

„    HoUMndtrn 

883 

B.  Davis. 

„    Deutschen 

■878 

Weisbach. 

„    Javanen 

874 

B.  Davis. 

„   Deutschen 

864 

Tiedemann. 

„    Engländern 

860 

B.  Davis. 

.,   Deutschen 

8J8 

Huschke. 

Lehrreich  ist  an  diesen  Werthen  vorzüglicli,  dass  bei  den  hochge- 
sitteten Völkern ,  wie  sicli  dies  auch  bei  andern  Körpermerkmalen 
wiederholt,  die  Geschlechts  Verschiedenheiten  stärker  hervortreten. 

Auch  andere  überraschende  Aufschlüsse  über  die  Gewichts- 
verhältnisse erhielten  wir  durch  die  Untersuchungen  A.  Weisbachs, 
die  sich  zwar  nur  über  429  Gehirne  von  Bewohnern  Oesterreichs 
erstreckten,  dagegen  aber  ausschliesslich  geistesgesunden  Personen 
angehört  hatten').  Stets  wurde  zunächst  das  Gesammtge wicht, 
dann  aber  wiederum  das  Gewicht  des  grossen  sowie  des  kleinen 
Hirns  und  der  Brücke  besonders  festgestellt.  Belehrend  war  vor 
allem  die  Thatsache,  dass  das  Gehirn  zwischen  dem  20.  und  .^o. 
Lebensjahre  sein  höchstes  Gewicht  erreicht  und  dann  bis' zum  80.  Jahre 
einen  Verlust  erleidet,  der  bis  zu  10  Proc.  anwächst.  Dieser  Verlust  er- 
streckt sich  gleichzeitig  auf  alle  Abschnitte  des  Gehirns  mit  Ausnahme 
der  Brücke,  die  noch  bis  in  das  50.  Lebensjahr  zunimmt').  Daraus 
muss  die  Lehre  gezogen  werden ,  dass  nur  das  Gewicht  der  Ge- 
hirne bei  gleichem  Lebensalter  verglichen  werden  darf.  Ferner 
sind  die  Untersuchungen  einer  älteren  Vermuthung  günstig  gewesen, 
dass  nämlich  die  sperifische  Schwere  der  Gehirne    verscliieden    sei. 


I)  Die  GewichlBverhältuisse  der  Gehirne  österreichischer  Völker,  im  Archiv 
r  Anthropologie,  Brauiischw,  l8£6.  Bd.  I.  S.  190. 
2}  a.  a.  O.  S.  199. 


Das  menschliche  Gehirn.  ^3 

denn  die  geräumigeren  Schädel  der  Deutschen  zeigten  eiii  geringeres 
Hiiaigewicht,  wie  andre  engere  Schädel,  nämlich'): 

Geräumigkeit  des  Gewicht  des 

Männer:  Schädels.  Gehirns. 

Cub.  Cm.  Grammes. 

Deutsche  iSOi»«6  I3H>» 

Magyaren  I42i,6e  1322,« 

Slaven  1484»*»  1325,1 

Demnach  würde  die  Geräumigkeit  der  Schädel  für  die  Völkerkunde 
lehrreicher  sein,  als  das  Hirngewicht.  Hinzufügen  wollen"  wir  noch, 
dass  bei  den  männlichen  deutschen  Gehirnen  ein  Minimum  von 
986,^  Gr.  mit  einem  Alter  von  65  Jahren,  bei  den  weiblichen  ein 
solches  von  889,1   ^^i^  ^^^  Alter  von  83  Jahren  verknüpft  war. 

•  Eine  andere  Aufklärung  verdanken  wir  Calori  in  Bologna,  der 
schon  einmal  durch  seine  zahlreichen  Messungen  der  Wissenschaft 
dankenswerthe  Dienste  geleistet  hatte.  Er  gibt  uns  das  Hirngewicht 
von  421  Italienern  beiderlei  Geschlechtes,  trennt  aber  die  Fälle  je 
nach  der  Form  der  Schädel. 


Himgewicht  in  Grammes. 

Zahl  der  Fälle. 

Gesammtgewicht         Grossgehirn 
bei  brachycephalen  Schädeln. 

201 

Männer 

1305                        1145 

72 

Frauen 

1150                         1004 
bei  Schädeln  mit  einem  Breiten- 
index unter  80. 

104 

Männer 

1282                        1122 

44 

Frauen 

1136                         992 

Hier  wiederholt  sich  nicht  blos  die  Erfahrung,  dass  das  weibliche 
Gehirn  das  leichtere  sei,  sondern  es  scheint  sich  weiter  zu  ergeben 
dass  bei  beiden  Geschlechtern,  die  Breitschädel  ein  höheres  Ge- 
wicht besitzen  wie  die  Schmalschädel.  Das  leichteste  Gehirn  bei 
einem  Manne  von  22  Jahren  mit  einem  Breitschädel  wog  1024  Gramm, 
bei  einem  34jährigen  Schmalschädel  1088  Gramm,  während  die 
geringsten  Werthe  bei  den  breit-  und  schmalschädeligen  Frauen 
909  und  918  Gramm  lauten*). 


i)  a.  a.  O.  S.  314. 

2)  Journal  of  the  Anthropological  Institute.   London  1872.   vol.  i.  p.  117. 


Der  Gesichts  5chä<3el. 


3)    Der   GesichtBschädel. 

An  dem  senkrecht  durchschnittenen  Schädel  erkennt  auch  das 
ungeübte  Auge  sogleich  den  Bereich  der  Gehirnkapsel  und  des 
Gesichtsschädels.  Dieser  letztere  beansprucht  im  Vergleich  zn 
ersterer  beim  Menschen  einen  viel  kleineren  Raum,  denn  er  ist 
nicht  halb  so  lang,  nicht  halb  so  hoch  und  immer  schmäler  als 
der  andere.  Bei  den  Affen ,  selbst  bei  den  höchsten ,  überwiegt 
dagegen  das  Wachsthum  des  Gesichtsschädels  und  hauptsächlich 
beruht  auf  dem  Hervordrängen  der  Kiefern  zur  Schnauzenform 
der  thicrische  Ausdruck  di^s  Kopfes,  Anklänge  an  diese  Gesichts- 
bildung bei  Menschenstämmen  nennen  wir  Prognathismus.  Peter 
Camper  war  der  erste,  welcher  es  versuchte,  durch  den  sogenannten 
Gesichtswinkel  den  Betrag  jener  Wachsth  ums  Verhältnisse  zu  ermit- 
teln'). Er  zog  nämlich  eine  Linie  vom  äussern  Gehörgang  nach 
der  Nasen  sc  hei  de  wand  und  Hess  sie  durchschneiden  durch  eine 
Linie  vom  Schluss  der  Zähne  nach  dem  am  meisten  hervortreten- 
den Theil  der  Stirn,  In  der  Grosse  des  Winkels  fand  er  den 
Maassstab  für  den  edleren  Gesichtsausdruck,  Virchow  hat  schon 
richtig  eingewendet,  dass  jener  Winkel  bei  alten  Leuten  sowohl 
durch  die  Entwicklung  der  Stirnhöhlen  wie  durch  das  Zurücktreten 
der  Zahnfortsätze  geringer  werden  müsse').  Noch  viel  misslicher 
aber  war  es,  dass  Camper  die  Nasenscheidewand  und  die  Gehör- 
gänge erwählte,  um  durch  sie  eine  sogenannte  Horizontalebene  des 
Schädels  zu  legen.  Nach  einer  solchen  Ebene  ist  von  Craniologen 
so  eifrig  gesucht  worden,  wie  von  den  Alchymisten  nach  den 
Grundbestand  theil  en  des  Goldes.  Man  dachte  sich  diese  Ebene 
parallel  zum  Horizont  durch  den  Kopf  gelegt,  sobald  dieser  auf 
seinem  Schwerpunkt  bei  der  geringsten  Nachhilfe  von  Muskeln 
schwebe.  Der  Verlauf  der  Jochbogen  schien  in  diese  Ebene  zu 
fallen  und  der  Schädel  wurde  dem  entsprechend  aufgestellt.  Es 
ergab  sich  aber  bald,  dass  diese  Ebene  bei  Racenschädeln  einen 
ganz  verschiedenen  Verlauf  nahm,  dass  man  nicht  immer  den 
Jochbogen  folgen,  sondern  den  Schädel  bald  vorn,  bald  hinten  ein 

0  Peter  Camper,  über  den  natürlichen  UnlerscMed  der  Gesichtszüge. 
Berlin  1792.  XV,  17.  :i— 12. 

2)  Schadelgnind.  S.  ng. 


Der  Gesichtsschädel.  yc 

wenig  heben  müsse  *).  Bei  einem  solchen  Verfahren  verliess  sich  der 
Untersuchende  auf  sein  künstlerisches  Gefühl,  das  aber  zeitenweise 
wechseln  kann.  Es  ist  einem  Anatomen  begegnet,  der  sich  auf 
diesen  schlüpfrigen  Pfad  wagte,  dass  Messungen  an  denselben 
Schädeln,  die  er  nach  drei  Jahren  wiederholte,  Unterschiede  ergaben, 
die  über  50  Procent  stiegen,  wie  H.  v.  Ihering  nachgewiesen  hat^). 
Solche  Winkel  lassen  sich  übrigens  nur  bestimmen  auf  gezeichneten 
Schädelumrissen.  In  Folge  dessen  ist  die  Wissenschaft  wenigstens 
mit  dem  Verfahren  der  sogenannten  geometrischen,  vielleicht .  rich- 
tiger orthographischen  Projection  des  Schädels  bereichert  worden. 
Lucae,  ihr  Erfinder,  gibt  nämlich  auf  einer  festen  Unterlage  dem 
Schädel  die  erforderliche  Stellung.  Parallel  mit  der  Unterlage  ruht 
über  dem  Schädel  eine  Glasplatte,  auf  welcher  ein  dioptrisches 
Instrument  mit  einem  Fadenkreuz  dermassen  fortbewegt  wird,  dass 
seine  optische  Axe  stets  die  Umrisse  des  Schädels  berührt.  Dem 
Kreuzungspunkt  der  Fäden  folgt  dann"  auf  der  Glasplatte  eine 
Feder,  um  den  durchlaufenen  .Weg  mit  Tinte  einzutragen  3).  Auf 
diese  Weise  erhalten  wir  ein  Bild  des  Schädels,  wie  er  von  uns 
aus  unendlicher  Ferne  gesehen  werden  würde,  etwa  wie  dies  an- 
nähernd bei  unserem  Monde  von  der  Erde  aus  der  Fall  ist  und 
solche  Gemälde  sind  nicht  blos  befreit  von  allen  Mängeln  des 
perspectivischen  Sehens,  sondern  sie  verstatten  auch,  Maasse  mit 
dem  Cirkel  zu  nehmen. 

Noch  weniger  Einklang  wie  bei  den  Grössenbestimmungen 
der  Gehirnkapsel,  herrscht  bei  den  Winkelmessungen  am  Gesichts- 
schädel. Ein  jeder  Anatom  betrat  seinen  eignen  neuen  Weg  ohne 
Rücksicht  auf  seine  Vorgänger,  ja  gebrauchte  sehr  oft  dieselben 
Benennungen  für  Winkel,  die  ein  andrer  früher  an  andern  Punkten 
gesucht  hatte.  Die  Ergebnisse  der  verschiedenen  Messungsarten 
lassen  sich  also  nicht  unter  einander  vergleichen  und  der  folternde 
Anblick  dieses  lichtlosen  Reiches  von  Widersprüchen  hat  der 
Craniologie  eine  vielleicht  nicht  gänzlich  unverdiente  Missachtung 
zugezogen,  denn  oft  genug  war  es  weniger  das  Bestreben,  der 
Völkerkunde  brauchbare  Zahlenausdrücke  zu  liefern,  als   vielmehr 


1)  Lucae,  Morphologie  der  Racenschädel.   1861.  Heft  i.   S.   42.  Heft  2, 
(1864.)  S.  31. 

2)  Archiv  für  Anthropologie.  Bd.  5.  Braunschweig  1872.  S.  396. 

3)  Morphologie  der  Racenschädel.  Heft  i.  S.  10 — 11. 


76 


Der  GesichtBscliädel. 


in  den  Racenschädeln  Bestätigungen  für  morphologische  Theorien 
zu  finden,  welches  zu  immer  künstlicheren  Messungsversuchen  an- 
gereizt hat. 

Bei  dieser  Lage  der  Dinge  kann  die  Anthropologie  nur  dem- 
jenigen Anatomen  folgen,  welcher  die  grösste  Zahl  der  Schädel 
gemessen  hat,  nämlich  Welcker,  und  glücklicher  Weise  ist  gerade 
sein  Verfahren ,  wenn  auch ,  wie  er  das  selbst  sich  eingestanden 
hat,  nicht  vollkommen  und  keiner  Verbesserung  mehr  bedürftig, 
doch  dasjenige,  welches  noch  am  meisten  die  Erwartungen  be- 
friedigt. \\'elcker  sucht  keine  Horizontalebene ,  sondern  bestimmt 
nur  die  Lage  von  Punkten  am  Gesichtsschädel  und  zwar  ohne 
Rücksicht  auf  die  Stirnknochen. 

Der  thierische  Ausdruck  des  menschhchen  Antlitzes  wird  durch 
das  Vortreten  der  Kieferbeine  erweckt  und  der  Betrag  dieses  Vor- 
tretens  lässt  sich  am  günstigsten  durch  Winkelmessungen  bestimmen. 
Schon  Virchow  hatte  vor  Welcker  den  Gedanken  ausgesjjrochen, 
däss  der  Prognathismus  oder  die  Schnauzen  form  des  Gesichts- 
achädels  abhängig  sei  von  der  Gestalt  des  Schädejgrundes, 
wenn  er  sich  auch  diese  Abhängigkeit  anders  dachte,  als  sie  sich 
aus  Weickers  Messungen  ergibt.  Dieser  letztere  überzeugte  sich 
vielmehr,  dass  das  Vorspringen  der  Kiefern  mit  der  Grösse  des 
Sattelwinkels  wächst.  Die  Grösse  des  Winkels  beim  'lurkensattel 
lässt  sich  durch  ein  Dreieck  bestimmen,  dessen  eine  Seite  (Fig.  ^ne) 
der  Entfernung  der  Nasenwurzel  zum  Sattel ,  dessen  zweite  {ei) 
dem  Abstand  dc-s  Sattels  vom  vordem  Rande  des  Hinterhaupt- 
loches, dessen  dritte  (_i>n)  der  Linie  von  letzterem  zurück  zur 
Nasenwurzel  gleich  ist.  Dieser  sogenannte  Sattelwinkel  übertrifft 
schon  bei  dem  Menschen  einen  rechten,  bei  den  Thieren  aber 
erweitert  er  sich  viel  beträchtlicher.  Beim  Kinde  und  beim  Affen- 
jnngen  ist  seine  Grösse  oder  der  Betrag  der  Einknickung  des 
Schädelgrundes  nur  wenig  verschieden,  nämlich  141°  im  ersten  und 
155°  im  andern  Falle,  mit  dem  Alter  aber  verschärft  sich  beim 
erwaclisenen  Menschen  diese  Einknickung  bis  zu  134°,  beim  Affeu 
dagegen  flacht  sie  sich  bis  zu  174°  ab,  und  Welcker  erkennt  in 
dieser  veränderten  Wachslhumsrichtung  einen  tiefen  Unterschied 
zwischen  Mensch  und  Thier'},  Jener  Sattelwinkel  ist  jedoch  an 
einem  geschlossenen  Schädel  weder  sichtbar  noch  messbar  und  be- 


)  Biiu  uiid  W'acbslhum  des  Schadeis.  S.  1 


Der  Gesiclilsschädel. 


■s* 


sitzt  daher  lür  unsere  Zwecke  nur  einen  theoretischen  Werth,  inso- 
fern ein  andrer  Winkel  des  Gesichts  zu  ihm  in  Wechsel abhängig- 
keit  steht.  Dieser  Winke]  liegt  an  der  Nasenwurzel  («)  und  lässt 
sich  an  allen  Schädeln  messen  mit  Hilfe  eines  Dreiecks,  dessen 
Seiten  entsprechen  den  Abständen  von  der  Nasenwurzel  bis  zum 
vorderen  Rande  der  Hinterhauptsöffnung  (h),  von  dieser  bis  zu  dem 
Ansatz  der  Zahnfächer  (a;),  und  endlich  von  diesem  zurück  nach 
der  Nasenwurzel,  Offenbar  ist  es  der  Winkel  an  dem  Beginn  der 
Zahnrächer,  welcher  den  Gesichtsausdruck  beherrscht  und  mit  dessen 
Grösse  sich  in  unsern  Augen  das  Antlitz  veredelt.  Weisbach  fand 
ihn  bei  Amboinesen,  javanen,  Uanjaresen,  Chinesen  und  Bugincsen 


Fiß.  3.  Durch  seh  niti  des  menscHichen  Schädels  in  der  Rithtuag  dei*  Pfeiliinhl. 

11  Nasenwurzel,  e  Türliensatlel .  6  vorderer  Rand  de«  Hinlerhauptloches, 

a:  Stelle  am  Oberkiefer  über  den  Zaiin fächern, 

von  70  bis  zu  72°  im  Mittel  sich  erheben,  bei  50  deutschen  Mannern 
erreichte  er  73°,  bei  Norditalienem  75",  bei  24  deutschen  Frauen 
76°,  bei  28  Czechen  77°.  ")  Welcker  hat  indessen  vorgezogen,  die 
Kieferstellung  mittelbar  durch  den  Winkel  an  der  Nasenwurzel 
{bnx)  zu  bestimmen,  weil  dieser  letztere  einerseits  mit  dem  Sattel- 
winkel zu  wachsen  pflegt,  andrerseits  der  Winkel  an  den  Zahn- 
fächern (bxn)  sich  umgekehrt  verhält,  nämlich  abnimmt,  wenn  jene 
anderen  wachsen.     Der  Winkel  an    der  Nasenwurzel   schwankt   bei 

I)  Weisbach,  der  deutsche  Weibcrschädel ,  im  Archiv  (ür  Anlhropo- 
logie.  Bd.  3.  Btaunschwcig  1868.  S,  78.  Sein  Gesichtswinkel  ist  nahezu  der 
Winkel  öx„  bei  Welcker, 


78  Der  GesichtsschäJel. 

Racenschädeln  von  60°  bis  zu  72°.  Als  prognath  bezeichnet 
Welcker  einen  Sdiädel,  wenn  jener  Winkel  68°  und  mehr  beträgt, 
als  opistOj^nath ,  wenn  er  unter  65°  bleibt,  Schädel  dagegen  von 
65°  bis  nicht  ganz  68°  nennt  er  orthognath,  wofür  wir  aber  meso- 
gnath  sagen  wollen.  Eine  Musterung  der  Schädel  formen  lässt  uns 
wahrnehmen,  dass  im  Allgemeinen  Prognathismus  vorzugsweise  bei 
Schmal  Schädeln  auftritt,  während  die  Mittel-  und  Breitschädel  meist 
mesognath,  bisweilen  opistognath  sind.  Doch  ist  auch  dieses  Zu- 
sammentreffen kein  strenges,  denn  Eskimo,  Mexicaner,  Hottentotten 
und  Hochscbottcn  gehören  nach  Welcker  zu  den  mesognathen 
Dolichocephalen,  wie  umgekehrt  die  Sumatraoer  und  Baschkiren 
einen  Breilenlndes  von  8o„  und  02,^  mit  einem  Prognathismus  im 
Betrage  von  bg"^  und  67°6  vereinigen.  Es  konnte  nun  befremden, 
warum  bei  Bestimmung  der  Kieferrichtung  die  Zirkelspitze  über  den 
Zahnfächern  und  nicht  sogleich  an  dem  untern  Zahnfächerrande, 
oder  wohl  gar  an  den  Schneidezähnen  angesetzt  wurde,  da  an 
diesen  Punkten  das  Vorspringen  des  Gesichtsschädels  am  meisten 
sich  steigert.  Sehr  viele  Schädel  sind  aber  gerade  an  jenen  Stellen 
-  verletzt,  sie  müsstcn  deshalb  als  unbrauchbar  ausgeschieden  werden. 
Aber  wichtiger  ist  es  noch,  dass  derjenige  Prognathismus,  der  durch 
die  schräge  Stellung  der  Zahnfächer  erzeugt  wird,  auf  unwesentliche 
Wachsthumsrichtuiigen   sich    begründet. 

Der  prognathe  Gesichtstypus  kann,  wie  Virchow  auseinander- 
gesetzt hat'),  das  Gehirn  in  seiner  vollen  Entwickelnng  hemmen. 
Es  ist  daher  von  tiefgehender  Bedeutung,  dass  wir  jene  ungünstige 
Kieferstellung  fast  ausschliessUch  nur  bei  solchen  Völkern  finden, 
deren  Gesittung  noch  ziemlich  unreif  erscheint.  Allein  auch  hier 
muss  wieder  erinnert  werden,  dass  innerhalb  der  nämlichen  Volker 
abweichende  Gestaltungen  neben  einander  vorkommen.  Fälle  von 
Prognathismus  sind  bei  Engländern  und  Franzosen  nicht  unerhört, 
in  Paris  sollen  sie  ziemlich  häufig  auftreten*),  ferner  werden  die 
Chinesen  von  manchen  Craniologen  unter  die  prognathen  Völker 
gerechnet  und  in  Welcker's  Statistik  begegnen  wir  den  Holländern 
sogar  mit  einem  Winkel  an  der  Nasenwurzel,  der  67°  8  lautet.  Bei 
so  grosser  Veränderlichkeit  belehren  uns  die  Mittelzahlen  nur  über 
die  Häufigkeit  einer  bestimmten  Form  des  Gesichtsschädels,  während 

i)  Schädelgrund,  S.  121. 

;1  Quatiefages,  Rapport,  p.  JII. 


Der  Gesichtsschädel. 


79 


die  individuellen   Schwankungen  hinüberführen   zu   einem    höheren 
oder  zu  einem  niederen  Typus. 

Sehr  stark  wird  der  Ausdruck  des  menschlichen  Antlitzes 
durch  das  Hervortreten  der  Jochbogen  beherrscht.  Beharrlich  ist 
auch  dieses  Merkmal  nicht,  gleichwohl  leistet  es  dort,  wo  es  in  der 
überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  auftritt,  der  Völkerbeschreibung 
nicht  zu  verschmähende  Dienste.  Bringt  man  einen  Schädel  in 
die  Lage,  dass  der  Blick  des  Beschauers  oben,  senkrecht  die  Mitte 
der  grossen  Achse  trifft  (Norma  verticalis),  so  kann  das  Auge  mit 
Sicherheit  entscheiden,  ob  die  Jochbogen  wie  zwei  Henkel  die  Um- 
risse der  Gehirnschale  überragen  (phanerozyge)  oder  ob  sie  hinter 
ihnen  verdeckt  bleiben  (kryptozyge  Schädel),  und  im  ersteren  Falle 
werden  wir  sagen  können,  dass  die  Backenknochen  stark  hervor- 
springen. In  neuester  Zeit  hat  man  auch  der  Gestalt  der  Augen- 
höhlen am  knöchernen  Gesicht  Aufmerksamkeit  geschenkt,  doch 
haben  die  bisherigen  Messungen  Merkmale,  welche  für  die  Völker- 
kunde brauchbar  wären,  nicht  erkennen  lassen.  Ganz  unabhängig 
von  den  knöchernen  Gebilden  scheint  die  schiefe  Stellung  der 
Augenschlitze  zu  sein^),  die  als  Kennzeichen  aller  mongolenähn- 
lichen t'ölker  zwar  nicht  ganz  verlässig  ist,  doch  aber  bei  der  Be- 
schreibung nicht  völlig  vergessen  werden  darf.  Auch  die  Form 
der  Nase  war  bei  den  älteren  Völkerschilderungen  nicht  übergangen 
worden.  Am  jüdischen  Typus  seiner  Nase  ist  der  Papuane,  an 
ihrer  Plattdrückung  suid  die  nordasiatischen  Mongolen  zu  erkennen. 
Bei  den  Bewohnern  Tübets  soll  der  Nasensattel  so  flach  sein,  dass 
er-  in  der  Profilansicht  nur  wenig  über  die  Wölbung  des  Auges 
hervortritt  oder  bei  kräftigen  Personen  wohl  völlig  hinter  ihr  ver- 
schwindet*). 

Das  Unterkieferbein  ist  früher  von  den  Schädelkennern  vernach- 
lässigt und  erst  in  neuerer  Zeit  beobachtet  worden.  Je  nachdem  es  sich 
zuspitzt  oder  abflacht,  bekommt  das  Gesicht  bald  ovale,  bald  eckige, 
bald  quadratische  Umrisse.  Wenn  wir  uns  aber  umschauen  in  unsrer 
täglichen  Umgebung,  entdecken  wir  auch  hier  so  viele  Typen,  so  viele 
Uebergänge  neben  und  durch  einander,  dass  eine  sehr  stattliche 
Zahl  von  Messungen  dazu  gehören  würde,  um  nur  sagen  zu  können, 
welche   unter   den   mancherlei  Bildungen  an  Häufigkeit   überwiege. 


i)  V.  Schlagintweit,  Indien  und  Hochasien.  Bd.  2.  S.  51. 
2)  V.  Schlagintweit,  1.  c.  Bd.  2,  S.  48. 


8o  Die  GrÖssenverhällnisse  des  Beckens  nnd  der  Gliedmassen. 

Der  Mund  gehört  ebenfalls  zu  den  Gegenständen,  Bei  welchen  die 
Racenbeschreibung  gern  verweilt.  Es  sind  namentlich  die  wulstigen 
Lippen  der  Mittel-  und  Südafrikaner,  welche  gegen  unsern  Schon- 
heitsbegriff  Verstössen.  Die  schmalen  Lippen  der-  Europäer  u^d 
'  ihrer  Abkömmlinge  in  Amerika  sind  indessen  ein  Merkmal,  welches 
sie  den  Affen  wieder  nähert.  Selbst  unter  Negern  aber  schwankt 
dieser  Theü  der  Gesichtsbildung  beträchtlich  und  wenn  ihnen  im 
.Allgemeinen  eine  starke  Lippen  an  seh  wellung  zugeschrieben  wird, 
so  soll  damit  nichts  weiter  gesagt  werden,  als  dasa.  bei  ihnen  die 
Form  des  europäischen  Mundes  nicht  häufiger  vorkommt  al?  bei 
uns  die  negerhafte.  Bei  den  Juden,  die  doch  strenge  Inzucht  seit 
Jahrtausenden  gepflogen  haben,  finden  wir  .beide  Gegensätze,  den 
fein  geschnittenen  Mund  und  die  aufgequollenen  Lippen  hart 
neben  einander. 


4.  Die  Grössen  Verhältnisse  des  Beckens  und  der 
Gliedmassen. 

Werfen  wir  vom  Kopf  noch  einen  Blick  abwärts,  so  leuchtet  von 
selbst  ein,  dass  zwischen  dem  Schädel  und  dem  weiblichen  Becken 
eine  Uebe  rein  Stimmung  der  Maassverhältnisse  bestehen  sollte.  War 
aber  die  Zahl  der  Racenschädel  noch  zu  klein ,  um  uns  in  allen 
Fällen  ein  unerschütterliches  Vertrauen  in  die  gefundenen  Mitte!- 
werthe  der  Messungen  einzuflössen,  so  erreicht  der  Schatz  an  Racen- 
becken  kaum  den  hundertsten  Theil  der  Schädel.  Dennoch  hatte  es 
M.  J.  Weber  schon  gewagt,  ein  europäisches  oder  ovales,  ein  ameri- 
kanisches oder  rundes,  ein  mongolisches  oder  viereckiges,  ein  afrika- 
nisches oder  keilförmiges  Becken  unterscheiden  zu  wollen.  Joulin  da- 
gegen behauptete  wieder  eine  völlige  üebereinstimmung  des  mongo- 
lischen, richtiger  des  javanischen  oder  papuanischen  mit  dem  Neger- 
becken, Pruner  Bey  endlich  wollte  sich  überzeugt  hat>en,  dass  es 
keine  Race  gebe,  deren  Frauen  nicht  Kinder  von  einem  europäischen 
oder  irgend  welchem  Vater  gebären  können,  dass  überhaupt  aus 
dem  nämlichen  Schoos  Kinder  von  abweichender  Schädclform  aus- 
treten, wenn  auch  die  Geburt  nach  Beobachtungen  bei  Javanerinnen 
und  Nordamerikanerinnen  leichter  erfolgt,  sobald  das  Kind  der 
reinen  Race  angehört  und  nicht  ein  Mischling  ist").     In   neuester 


fetudes  sur  Ic  bassin.  Paris  1865.  p.  13, 


Die  GrössenverhSltnisse  des  Beckens  und  der  Gliedmassen.  8[ 

Zeit  hat  Frilsch  eine  vergleichsweise  reiche  Anzahl  von  Becken 
südafrikanischer  Völker  nach 'Europa  gebracht,  aber  bei  der  ge- 
ringen Beharrlichkeit  der  Merkmale  es  nicht  gewagt,  Typen  auf- 
zustellen. Er  ist  dabei  auf  einen  Umstand  gestossen,  der  wohl 
geeignet  ist,  uns  zu  ernstem  Nachdenken  anzuregen.  Unter  den 
europäischen  Skeletten  wird  Weib  und  Mann  an  der  Geräumigkeit 
und  Gestalt  des  Beckens  mit  ziemlicher  Sicherheit  erkannt.  Das 
Becken  gehört  daher  unter  die  Geschlechtsmerkmale  zweiter  Ord- 
nung. Bei  Becken  von  Buschmännern  dagegen  könnte  das  weib- 
liche mit  einem  männlichen  verwechselt  werden,  und  das  Gleiche 
gilt  von  den  Hottentotten  und  Kafim ').  Sollte  diese  Erscheinung 
in  andern  Welttheilen  sich  bestätigen,  so  würden  wir  zu  dem  Satze 
gelangen,  dass  die  gänzliche  Durchbildung  der  Geschlechtsunter- 
schiede erst  unter  dem  Schutze  der  höheren  Gesittungen  sich 
vollziehe. 

Die  zahlreichsten  Messungen ,  freilich  nur  weiblicher  Becken, 
verdanken  wir  Carl  Martin,  der  längere  Zeit  in  Brasilien  als  Arzt 
thätig  war  und  dort  Negerinnen  sowie  eingeborne  Frauen  und 
Mischlinge  behandelte.  Er  hat  die  Maasse  von  8  papuanischen, 
2  uramerikanischen,  i8  malayischen,  4  b u sc hmänni sehen  imd  15 
Negerfrauen  mit  den  Mitteln  aus  den  europäischen  Befunden  ver- 
glichen. So  weit  aus  diesem  Schatz  von  anatomischen  Urkunden 
ein  Ergebniss  gezogen  werden  konnte ,  würden  die  Becken  zer- 
fallen in  solche  mit  rundem  Eingang  bei  Eingebornen  Amerika's, 
bei  Malayen  und  Papuanen,  und  in  solche  mil  querovalem  Ein- 
gang bei  afrikanischen  und  europäischen  Frauen.  Rund  heisst  der 
Eingan  ,  wenn  die  Conjugata  so  gross  oder  fast  so  gross  ist,  wie 
die  andern  Durchmesser,  queroval  dagegen,  wenn  sie  um  mehr 
als  zehn  Procent  von  den  queren  und  schrägen  Durchmessern 
übertroffen  wird.  Genauer  lässt  sich  noch  sagen,  dass  das  Becken 
der  Europäerinnen  die  grösste  Geräumigkeit  und  Breite  mit  wesent- 
lich querovalem  Eingange  vereinige,  das  Becken  der  Negerin  zwar 
am  Eingang  gleich  gestaltet,  sonst  aber  kleiner  und  schmaler  sei. 
Entsprechend  ihrer  geringen  Körpergrösse  besitzen  die  Buschmann- 
frauen das  kleinste  Becken  unter  alfen  Kacen  mit  einem  Eingang, 
der  manchmal  stehend  oval  wird.  Die  'malayischen  Becken  sind 
schmal,  der  Eingang  rund,  nicht  selten  stehend  oval.    Die  Becken 

I)  Frilsch,  Eineeborne  Südiifrlliü5.  S.  39.    S.  299,    S.  415. 


§2  I^ie  Grössenverhältnisse  des  Beckens  und  der  Gliedmassen. 

der  eingebornen  Amerikanerinnen   kommen   an   Grosse   den  euro- 

« 

päischen  ziemlich  nahe,  unterscheiden  sich  jedoch  durch  einen 
runden  Eingang.  Die  papuanischen  Becken  endlich  sind  zwar 
noch  ziemlich  rund,  stehen  aber  an  der  Grenze  zur  querovalen 
Form'). 

Wenden  wir  uns  nun  zur  Körpergrösse,  so  wird  wohl  von  vorn 
herein  erwartet  werden,  dass  sie  kein  sicheres  Erkennungszeichen  für 
die  Menschenstämme  zu  gewähren  vermöge.  Die  grösste  Sumpae  der 
hierher  gehörigen  Beobachtungen  wurde  bisher  in  den  Vereinigten 
Staaten  während  des  letzten  Bürgerkrieges  gewonnen.  Es  erstreckten 
sich  dort  die  Messungen  über  1,104,841  Männer.  Erst  aus  diesen 
hohen  Ziffern  hat  sich  ergeben,  dass  das  Wachsthum  bei  allen 
denen,  die  zum  Waffendienst  in  der  nordamerikanischen  Union 
herbeigezogen  wurden,  sich  mit  dem  20.  Lebensjahre  sichtlich  ver- 
minderte, immerhin  aber  noch  langsam  bis  zum  24.  fortdauerte, 
ja  für  geborene  Amerikaner  erst  mit  dem  30.  Jahre  völlig  still- 
stand*). Ueberraschend  war  dabei  die  Thatsache,  dass  die  Be- 
wohner der  westlichen  Unionsstaaten  sowie  Kentucky's  und  Ten- 
nessee's  an  Körpergrösse  die  Eingebornen  im  Osten,  noch  mehr 
aber  die  Canadier,  die  Schotten,  Iren,  Engländer  und  Deutschen 
übertrafen  ^). 

Mittel  der  Körpergrösse. 
centim. 
Kentucky  und  Tennessee  176,«  9 

Ohio  und  Indiana  I75«i» 

Michigan,  Illinois  u.  Wisconsin  174)»  1 

Neu-£ngland  173,4» 

New- York,  Pennsylvanien,  New-JersÄy  i73»oo 

Es  bleibt  dabei  im  Dunkeln,  ob  die  harte,  den  Körper  besser  ent- 
wickelnde Arbeit  auf  jungfräulichen  Erdräumen  die  Ursache  sei^ 
oder  ob  nicht  überhaupt  Männer  von  hohem  Wuchs  und  grösserer 
physischer  Kraft  zur  Auswanderung  sich  häufiger  entschliessen, 
schwächliche  dagegen  lieber  in  der  Heimath  zurückbleiben  und 
diese  Art  der  Ausmusterung  in  den  Mitteln  der  grossen  Ziffern  sich 
abspiegele.     Da  aber  die   gebornen  Amerikaner  an  Körpergrösse 


1)  Monatsschrift  für  Gebürtskunde.  1866.  Bd.  XXVIII.  Heft  i.  S.  23—58. 

2)  Gould,  Investigations  in  the  military  and  anthropological  statistics  oC 
American  Soldiers.  New-York.  1869.  p.  108. 

3)  Gould,  1.  c.  p.  125. 


Die  Grössenverhäl Inisse  des  Beckens  und  der  Gliedmassen.  85 

die  zugewanderten  Schotten,  Iren,  Engländer  und  Deutschen  über- 
ragen, so  kann  kein  Zweifel  vorhanden  sein,  dass  die  Nachkommen 
der  ausgewanderten  Europäer  innerhalb  kurzer  Zeit  in  den  Ver- 
einigten Staaten  merkhch ,  an  Leibeshöhe  zugenommen  haben.  Dass 
dem  Ortswechsel  diese  Wirkung  zugemessen  werden  darf,  wird  uns 
dadurch  glaubhafter,  dass  die  Ureinwohner  ebenfalls  durch  Körper- 
grosse  sich  auszeichnen  und  auch  bei  ihnen  erst  mit  dem  30.  Le- 
bensjahre der  Stillstand  des  Wachsthums  eintritt,  wenigstens  waren 
die  Irokesen,  deren  mehr  als  500  gemessen  wurden,  im  Mittel  noch 
ein  wenig  grösser  wie  die  Unionsamerikaner  in  den  gleichen  Werbe- 
bezirken ■).  Dass  bessere  und  reichliche  Nahrung  die  Körpergrösse 
befördert,  bezeugen  uns  die  durcbgehends  stattlicheren  Gestalten 
der  polynesischen  Häuptlinge  auf  den  Südseeinseln  *),  In  gleicher 
Weise  zeigten  sechs  Männer  einer  Häuptlings familie  unter  Kafirn 
ein  Mittel  von  1830  Mm.,  oder  iio  Mm.  mehr,  als  sonst  bei  süd- 
afrikanischen Bantunegem  angetroffen  wurden^.  Die  auffallende 
Kleinheit  der  Buschmänner  am  Südrande  der  Kalahari  kann  eben- 
falls der  schlechten  Ernährung  beigemessen  werden,  weil  Chapman 
im  Norden  bei  grösserem  Reichthum  an  Wild  ihren  Körperwuchs 
BtatÜicher  fand  und  die  ihnen  leiblich  verschwisterten  Koi-koin  oder 
Hottentotten  vielleicht  nur,  weil  sie  Hirten  und  nicht  Jäger  sind 
wie  die  Buschleute,  diese  an  Hohe  des  Wuchses  übertreffen.  Doch 
erklärt  die  Ernährung  und  die  Beschaffenheit  des  Wohnorts  durch- 
aus nicht  alle  Unterschiede,  sonst  könnten  nicht  wiederum  die 
Kafim  die  Hottentotten  überragen,  während  doch  beide  in  den- 
selben Erdräumen  auf  gleiche  Art  sich  ernähren.  Gustav  Fritsch^) 
bestimmte  nämlich  folgende  Mittel: 

Köipergrösse. 
Männer  Mm. 

55  Bantun^er  171 8 

10  Koi-koin  1604 

6  Biascliinänner  1444 

Bis  zu  einem  gewissen  Betrage  darf  also  die  Verschiedenheit   der 

Leibeshöhe  der  Abstammung  zugeschrieben   und  in   diesem  Sinne 

kann  die  Körpergrösse  als   Merkmal  bei  der   Völkerbeschreibung 


1)  Gould,  Invesligations.  p.  151—152. 

2)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen.  I.  99. 

3}  Gustav  Fritsch,  Eingebome  Südafrikas.  S.  17. 
4)  Eingeborne  Südafrita's.  S.  17.  S.  177.  S.  397. 


84 


Die  Grössenverhältnisse  des  Beckens  und  der  Gliedmassen. 


»> 


» 


benutzt  werden.  Doch  sind  wir  noch  weit  entfernt,  Mittel  aus  zahl- 
reichen Grössenbestimmungen  zu  besitzen,  es  weichen  vielmehr  bei 
dem  nämlichen  Volksstamm  die  Messungen  stark  von  einander  ab. 
Für   die  Maori    Neu -Seelands   finden    wir    beispielsweise    folgende 

Angaben  ^) : 

Beobachter. 
Thomson 

Scherzer  und  Schwarz 
Garnot  und  Lesson 
Wilkes 

Wahrscheinlich  verdienen  hier  die  Mittel  von  Thomson  ,  die  aus 
147  Messungen  gewonnen  wurden,  das  meiste  Vertrauen^).  Inner- 
halb derselben  Völkerfamilie  können  durch  vieltausendjährige  Tren- 
nung, Wanderung,  nach  grossen  Fernen  und  veränderte  Lebens- 
gewohnheiten auch  die  Mittel werthe  der  Körpergrösse  steigen  oder 
fallen,  denn  trotz  aller  Schwankungen  der  Ziffern  ist  doch  nicht 
zu  verkennen,  dass  die  asiatischen  Malayen  unter  die  kleinen  Völker 
gehören,  die  polynesischen  Malayen  durch  ihre  Körpergrösse  her- 
vorragen ^). 


Körpergrösse. 
1695,4  Mm. 

1757»« 
1813,0 
1904,. 


,'■' 

Beobachter. 

Körpergrösse. 
Mm. 

Asiat 

ische  Malayen. 

Crawfurd 

Javanen 

1549,4 

Scherzer  und  Schwarz 

»» 

1679,0 

Keppel          / 

Dayaken 

1574,8 

Müller 

Timoresen 

1586,» 

Scherzer  und  Schwarz 

^aduresen 

1625,0 

1» 

Sundanesen 

1646,0 

M 

Buginesen 

1653,» 

Polynesische  Malayen. 

Wilkes 

Sandwichinsulaner 

1676,4 

Gaimard 

n 

I755,» 

Wükes 

Marquesasinsulaner 

1689,0 

Marchand 

>» 

1786^. 

Batare 

i> 

1800,0 

Gamot  und  Lesson 

Tahitier 

1786,0 

Wilkes 

») 

i8o3,j 

La  P^rouse 

Schifferinsulaner 

1895,0 

Wilkes 

>» 

1930,4 

i)  Bei  Weisbach,    Anthropol.  Thei,  der  Novara-Reise.  2.  Abthl.  Wien 
1867.  S.  217. 

2)  Gould,  Investigations.  p.  146. 

3)  Weisbach,  a.  a.  O. 


Die  Grössenverhältnisse  des  Beckens  und  der  Gliedmassen.  85 

Innerhalb  jedes  Menschenstammes  wird  der  Volksnaund  Leute  von 
ungewöhnlichem  Wuchs  als  Riesen  bezeichnen.  Angaben  über 
solche  äusserste  Fälle  haben  jedoch  keinen  Werth  für  die  Völker- 
kunde^). Wichtiger  war  es,  dass  das  alte,  von  Pigafetta,  Magalhäes' 
Begleiter,  verbreitete  anthropologische  Märchen  von  der  über- 
menschlichen Grösse  der  Patagonier  fast  jedem  neuen  Erdumsegler 
einen  Widerspruch  entlockt  hat.  WoHl  gehören  jene  südamerika- 
nischen Stämme  jedenfalls  zu  den  Völkern  von  stattlichem  Körper- 
wuchs, wie  die  nachfolgenden  Messungen  bezeugen: 

Körpergrösse  der  Patagonier. 
r  Beobachter  Mm. 

d'Orbigny  1730 

1780 
d'UrviUe  1732 

^     Wilson  1803,4 

doch  Stehen  ihnen  die  Polynesier  an  heldenhafter  Gestalt  durchaus 
nicht  nach.  Die  hohen  vulkanischen  Südseeinseln  und  die  beiden 
Festlande  von  Amerika  sind  vielmehr  diejenigen  Lebensräume, 
wo  örtlich  das  Menschengeschlecht  den  höchsten  Körperwuchs 
erreicht  hat*). 

Das  niedrigste  Höhenmaass  bei  Männern  kann  in  vereinzelten 
Fällen  auf  überraschende  Werthe  herabsinken,  denn  Zwerge  von 
920,  ja  750  Mm.  werden  uns  noch  als  völlig  wohlgebildet  bezeichnet^). 
Aber  auch  hier  ist  der  Völkerkunde  nur  mit  den  Mitteln  aus 
grossen  Ziffern  zu  dienen.  Als  die  kleinsten  unter  den  Menschen 
galten  bisher  immer  die  Buschmänner  Südafrikas,  deren  Grösse 
Barrow  nur  zu  1300  Mm.  angibt,  während  durch  ihre  Messungen 
Knox  zu  1372   und   der   gewissenhafte   Fritsch    zu    1444    Mm.    ge- 


l)  Nach  Gould,  Investigations  p.  153  finden  sich  unter  je  einer  Million 
der  für  den  Kriegsdienst  gemessenen  Männer 

je    47    über    2007  ^^a. 


„  II  „  2657  „ 

„      7  „  2083  „ 

„      6  „  2108  „ 

»      2  „  2134  „ 


2)*  Unter  den  500  Irokesen  bei  Gould,    Investigations,    p.  152,    erreichten 
159  Männer  von  31  Jahren  und  darüber  eine  Höhe  von  68,«  Zoll. 
3)  Gould,  1.  c.  p.  153. 


86  Die  Grösse nverbäUnisse  des  Beckens  und  der  Gliedmassen. 

langten').  Von  gleicher  Zwergenhaft igkeit  fand  Du  Chaillu')  im 
aequatorialen  Afrika  die  Obongo,  wdche  auch  in  sonstigen  Merk- 
malen den  Buschmann'ern  nahe  stehen  und  es  gleichen  ihnen  femer 
die  Acka  des  Reisenden  Schweinfurth  im  Gebiete  des  Gazellenntts. 
die  aber  immerhin  schon  auf  1500  Mm,  sich  erheben  ^J.  Nicht  un- 
bedeutsam ist  es,  dass  sich  an  diese  tropischen  Menschenstäuime 
die  Polarvölker  der  alten  und  neuen  Welt  anschliessen.  Zwar  sind 
lue  Angaben  von  Pauw,  nämlich  1300  Mm.  als  Mittelwerth  der 
Kürper^TÖsse  bei  Eskimo  völlig  unglaubwürdig,  da  andre  Messungen 
vorliegen,  nämlich : 

Körgergrössc  der  Eskimo, 
lisobaebter.  Ort  der  Beobachlung.  Mm. 

Beechey  Melville  Insel  1659 

,.  Boothia  Sund  1689 

.     Kolzebue  Sund      _  1714 

Chappel  Savage  Insel  1676 

auch  sind  1380  Mm.  für  die  Lappländer  als  Mittelzahl*)  sicherlich 
2u  wenig,  dennoch  werden  beide  Bevölkerungen  übereinstimmend 
von  den  Reisenden  unter  die  kleinen  Menschen  gerechnet.  Jeden- 
falls können  wir  den  Satz  vertreten,  dai>s  unter  jedem  Breitegrade 
sich  Menschtnstämme  ünden,  die  durch  ihre  Kleinheit  auffallen. 

Hatten  wir  bisher  nur  die  Grösse  der  Männer  in  Betracht  ge- 
zogen, so  gilt  es  jetzt,  die  Thatsache  auszusprechen,  dass  eine 
geringere  Leibeshöhe  zu  den  secundären  Merkmalen  des  weiblichen 
Geschlechtes  gehört.  Bei  diesem  schwanken  die  Mittel  der  Körper- 
grösse  innerhalb  viel  engerer  Grenzen ,  nämlich  nur  von  1395  bis 
1662  Mm.  ^).  Auch  ergab  sich  aus  den  bisherigen  Messungen,  dass 
die  Grössen  unterschiede  der  Geschlechter  bei  kleinen  Völkern  fast 
verschwinden').  So  erhielt  Fritsch  als  Mittel  von  5  Buschmann- 
frauen 1448  Mm,  oder  4  Mm.  mehr  als  er  bei  Männern  gefunden 
halte   und   ein    ähnliches  Ergebniss  gewinnen    wir    auch    aus    den 


I)  Weisbach,   I.  c.  S.  116.     Fritsch,  Eingeborne  Südafiikas.   S.  397. 
2|  Ashan^o  Land,  p.   319.     Das   Mittel  der  Kärpecgrüsse   bei   6   Frauen 
lautete  56'/,  Zoll  (jnches)  oder  1410  Mm, 

31  Pciermttnn'B  Geogr.  Mitlheiluneen.   1871.  S.  139.  S.  150. 

11  Nach  Tenon  bei  Gould,  Investigations.  p.  144  und  Weisbach  1.  c 


Die  Grössenverhältnisse  des  Beckens  und  der  Gliedmassen.  87 

Angaben  Weisbachs.  Demnach  ist  es  vorwiegend  das  männliche 
Geschlecht,  an  welches  gedacht  wird ,  wenn  wir  von  grossen  oder 
kleinen  Völkern  reden').  Die  mittlere  Körpergrösse  des  männ- 
lichen Geschlechtes  wollen  wir  aber  auf  1600  bis  1700  Mm.,  die 
mittlere  Grösse  des  weiblichen  Geschlechtes  auf  1525  bis  1575  be- 
stimmen und  danach  kleine,  mittlere  und  hochgewachsene  Völker- 
stämme unterscheiden. 

Dürfen  wir  wagen,  über  die  Ursachen  des  Schwankens  der 
Körpergrösse  einige  Vermuthungen  zu  äussern,  so  hat  sich  aus  den 
grossen  Ziffern  der  Rekruten-Messungen  während  des  Union skrieges 
offenbart,  dass  beträchtliche  Körpergrösse  verknüpft  ist  niit  einer 
verlängerten  Wachsthumszeit.  Diese  letztere  aber  denken  wir  uns 
verkürzt  bei  den  Frauen,  weil  ihre  Geschlechtsreife  früher  eintritt, 
als  bei  uns.  Ebenso  ist  es  wahrscheinlich,  dass  frühzeitige  Ehen, 
die  namentlich,  wie  sich  noch  zeigen  soll,  bei  Polarvölkern  und  bei 
den  Buschmännern  vorkommen,  die  volle  Ausbildung  des  Körper- 
wuchses-  zu  hemmen  pflegen. 

Nur  zahlreiche  Messungen  vermögen  uns  über  die  örtlich 
herrschenden  Grössenverhältnisse  der  einzelnen  Abschnitte  und 
Glieder  des  menschlichen  Körpers  Aufklärung  zu  gewähren.  Quetelet 
wollte  sich  überzeugt  haben,  dass  der  menschliche  Typus  in  Bel- 
gien übereinstimme  mit  den  Werthen,  welche  aus  Messungen  an 
Kunstwerken  griechischer  Bildhauer  abgeleitet  worden  waren*).  In- 
dessen hat  sich  doch  ergeben,  dass  die  Künstler  des  Alterthums 
nicht  blind  einer  Richtschnur  folgten,  dass  auch  später  grosse 
Meister,  wie  Leonardo  da  Vinci  und  Albrecht  Dürer  in  ihren  For- 
derungen des  sogenannten  Ebenmasses  nicht  übereinstimmten.  Ein 
Brüsseler  Maler  wird  sich  ferner  stets  an  den  grossen  Vorbildern 
des  Alterthums  im  Zeichnen  üben,  bis^zuletzt  ihre  Maassverhältnisse 


i)  Beechey  bei  Weisbach  1.  c.  gibt  folgende  Maasse  für 

Eskimo: 

Männer.  Frauen. 

Mm.  Mm. 

Melville  Insel             1^59  1536,« 

Savage  Insel               1676  I549,s 

Bootbiasund                1689  I57l»s 

2)  Anthropomitrie.  Bruxelles  1870.  p.  86. 


SS  T>ie  Grössen  Verhältnisse  des  Beckens  und  der  GliedmasEen. 

als  die  streng  giltigen  sich  ihm  fest  einprägen.  Er  wird  demnach 
ein  weibliches  Modell  für  Naturstudien  entweder  miethen  oder  ver- 
werfen, je  nachdem  es  sich  dem  gesuchten  Ideale  nähert  oder  sich 
von  ihm  allzuweit  entfernt.  Wenn  daher  die  Mittel  der  Grössen- 
verhältnisse  einzelner  Körperabschnitte  bei  zehn  weiblichen  Modellen 
Brüsseler  Bildhauer  oder  Maler  den  gleichen  Mitteln  bei  Statuen 
dc-s  Alterthums  recht  nahe  kamen,  so  hätte  Quetelet  nicht  sowohl 
auf  eine  Ue  berein  Stimmung  der  belgischen  und  altgriechischen  Typen 
sc'hliessen,  sondern  er  hätte  nur  das  Augenmaass  Brüsseler  Künstler 
bewundem  dürfen,  welche  unter  den  Bewerberinnen  um  jenes 
Rollenfach  diejenigen  mit  sicherem  Blick  ausgesondert  hatten, 
welche  von  den  anerkannten  Idealen  sich  zu  weit  entfernten.  Die 
Höhe  des  Kopfes,  welche  für  viele  Künstler  die  Majsseinheit  bildet, 
schwankt,  wie  wir  noch  beisetzen  wollen,  mit  der  KürpergrÖsse. 
Letztere  beträgt  bei  Neugebornen  das  5,^,  bei  8jährigen  Knaben  das 
8,  ,  bei  kleinen  Männern  das  u,^,  bei  miUelgrossen  das  12,,,  bei 
grossen  das  13,,  fache  der  senkrechten  Höhe  des  Gehirn  Schädels 
nach  Wclcker's'l  BestiminurLgen,  so  dass  also  grosse  Leute  verhält- 
nissmässig  die  kleinsten  Küpfe  haben. 

Die  Maassverhältnisse  der  menschhchen  Glieder  können  nur 
ausgedrückt  werden,  wenn  die  Körpergrösse  als  Einheit  gesetzt 
wird.  Auf  der  Reise  der  Fregatte  Novara  haben  v.  Scherzer  und 
Scliwarz  ihre  Messungen  an  den  lebenden  Menschen  bis  zu  den 
grössten  Einzelheiten  ausgedehnt.  Als  das  wichtigste  muss  immer 
die  Länge  der  untern  wie  der  obern  Gliedmassen  erscheinen.  Bei 
dem  Verhältniss  des  Unterschenkels  zum  Oberschenkel  tritt  ge- 
wöhnlich der  Fall  ein,  dass  grosse  Kürze  des  einen  durch  Länge 
des  andern  Knochens  ergänzt  wird.  Stets  ist  der  Unterschenkel 
länger  als  der  Oberschenkel.  Wird  nun  der  letztere  gleich  lOOO 
gesetzt,  so  finden  wir,  dass  bei  einem  Stewartsinsulaner  der  Unter- 
schenkel bis  zu  1238  steigt,  hei  Neuseeländern  ausnahmsweise  untfr 
lOOO,  ja  sogar  bis  965  sinken  kann.  Dabei  ^eigt  sich  jedoch,  dass 
der  Stewartsinsulaner,  wenn  die  Körpergrosse  gleich  1000  gesetzt 
wird,  einen  sehr  kurzen  Oberschenkel  von  198  Mm.,  der  Neusee- 
länder einen  sehr  langen  vcui  229  Mm.  besass").  Die  Länge  des 
Beines  schwankt  ebenfalls  beträchüich.     Sie  kann  bei  Chinesen  auf 


und  Wach^ihum  des  Schädels.  S.  jr. 

islijch,  Rtise  det  Fregatte  Novjri.  Anthropologie.  Thl.  l(.  S.  255. 


Die  Grössenverhältnisse  des  Beckens  und  der  Gliedraassen.  8q 

das   o,^^^  fache    der  Korpergrösse    sinken    imd    bei   Buschmännern 
auf  das  o,^,^  fache  sich  erheben. 

Weit  bedeutsamer  aber  sind  die  Grössenverhältnisse  der  obern 
Gliedmassen,  da  ihre  Verkürzung  ein  Merkmal  ist,  welches  den 
Manschen  von  den  ihm  zunächst  stehenden  Thieren  scheidet.  Carl 
Vogt  hat  dieses  Verhältniss  dadurch  ausgedrückt,  dass  der  Orang 
bei  aufrechter  Stellung  mit  den  Fingerspitzen  seine  Knöchel,  der 
Gorill  die  Mitte  seiner  Unterschenkel,  der  Tschimpanse  die  Kniee 
berühren,  der  Mensch  nur  über  die  Mitte  der  Oberschenkel  reichen 
kann  ^).  Bei  den  Rekruten  im  Unionskrieg  wurde  auf  diesen  Aus- 
druck der  menschlichen  Grössenverliältnisse  besondere  Rücksicht 
genommen  und  der  Abstand  des  Mittelfingers  bei  soldatisch  straffer 
Stellung  vom  obern  Rande  der  Kniescheibe  gemessen.  Bei  weissen 
Amerikanern  und  Europäern  betrug  das  Mittel  5"036  *),  bei  Negern 
der  Freistaaten  etwas  mehr  (3"298)  als  bei  Negern  der  Sklaven- 
staaten (2"832),  ja  bei  diesen  waren  die^  Schwankungen  so  beträcht- 
lich, dass  in  einzelnen  Fällen  die  Fingerspitzen  sogar  den  Rand 
der  Kniescheibe  überragten  3). 

Abstand  der  Fingerspitzen  vom  obern 
Rand  der  Kniescheibe. 
Zahl  der  Messungen.  Mittel.  Minimum.         Maximum. 

2020  Vollneger  2"88  —  o"5  7"6 

863  Mischlinge  4"i3  -f  o"2  7^2 

Ueberrascht  werden  wir  zugleich  von  der  Thatsache,  dass  die 
Lebensgewohnheiten  diese  Schwankungen  hervorrufen  können,  denn 
bei  1146  Matrosen  war  der  Zwischenraum  im  Mittel  etwas  grösser 
als  bei  der  Bevölkerung  des  flachen  Landes*). 

Abstand  der  Fingerspitzen  vom  obern  Rand  der  Kniescheibe. 
Neu-England.    N.-York,  N.-Jersey,      England.  Irland. 

Pennsylvanien. 
Soldaten  4"93  4"92  4"90  S"o» 

^Matrosen _$*'$? 6"o6 s"SS 6''07 

Unterschied  &'6^  i"i4  '  0^65  o"99 

£s  waren  nämlich  die  Arme  der  Matrosen  kürzer,  ilire  Beine  aber 
länger  als  bei  den  Rekruten,  die  sich  zum  Felddienste  stellten.  Die 


1)  Vorlesungen  über  den  Menschen.  Bd.  i.  S.  193. 

2)  Gould,  Investigations.  p.  279. 

3)  Gould,  1.  c.  p.  298.  p.  299. 

4)  Gould,  1.  c.  p:  287. 


go 


Die  GrössenverhällnisBe  des  Beckens  und  der  Gliedmassen, 


Länge  des  Armes  schwankte  bei  weissen  Amerikanern  und  Euro- 
päern je  nach  deo  Mittein  der  einzelnen  Staaten  von  0,^,^  der 
Korpergrösse  (Michigan,  Wisconsin,  Illinois)  bis  zu  o^,  (Sltandi- 
navien").  VoUoeger  der  SklavensWaten  (o,,,,)  zeigten  einen  ver- 
hältnisa massig  längeren  Arm  als  Neger  der  Freistaaten  (o,^^j)  *), 
ein  Verhältniss,  welches  sich  in  gleicher  Weise  bei  Mulatten  {o,,,j 
und  o,,6o)  wiederholte.  Der  Werth  von  Mitteln  aus  grossen  Zahlen 
wird  uns  abermals  fühlbar,  denn  wir  gewahren  hier  viel  geringere 
Schwankungen,  als  andre  Racenm essungen  sie  erwarten  liessen, 
Bei  Weisbach^)  finden  wir  den  Arm  der  Deutschen  zu  0,^5^,  der 
Slaven  zu  o,,^,,  der  Romanen  zu  o,,j, ,  bei  einem  Stewartsinsu- 
Laner  zu  o,^,,  und  bej  einem  von  Wilkes  gemessenen  Sulumalayen 
zu  0,^pg  der  KörpergrÖsse  berechnet.  Solange  wir  also  bei  einem 
solchen  Uetrage  der  individuellen  Schwankungen  nicht  für  die  ver- 
schiednen  Menschenstämme  Messungen  besitzen,  die  den  jetzigen 
Schatz  um  das  hundertfache  übertreffen,  lassen  sich  aus  den  vor- 
handnen  Angaben  keine  verlässigen  Merkmale  für  die  Völkerbe- 
schreibung gewinnen. 

Endlich  ist  auch  noch  das  Längen  verhältniss  des  Vorderarmes 
zum  Oberarn  bei  den  Körpermessungen  auf  der  Erdumsegelung 
der  Fregatte  Novara  statistisch  ermittelt  worden.  Für  den  Orang 
ergab  sich  e.n  Verhältniss  von  877  :  lOOO.  Genau  die  nämlichen 
Werthe  wurden  bei  den  Maduresen  angetroffen,  bei  den  Romanen 
erreicht  der  Vorderarm  sogar  eine  relative  Länge  von  883,  bei  den 
Slaven  wenigstens  eine  von  868.  Dem  Orang  stehen  im  Maassver- 
hältnisse auch  die  Australier,  Sundanesen'  und  Neger  noch  nahe, 
am  weitesten  entfernen  sich  die  deutschen  Männer  (835}  und  bei 
den  deutschen  Frauen  sinkt  das  Verhältniss  sogar  auf  82z  *}.  Auch 
hier,  müssen  wir  zunächst  über  die  dürftige  Zahl  der  Messungen 
klagen.  Ge«riss  aber  ergibt  sich  aus  den  bisherigen  Erfahrungen 
der  Satz,  dass  auch  die  Grössen  Verhältnisse  der  menschlichen  Glied- 
raassen  innerhalb  der  Völkerschaften  einer  Race  und  individuell 
wieder  innerhalb  der  Völkerschaften  höchst  beträchtlich  schwanken, 


I)  Gonld,  Invesügalions.  p.  337—339- 
1)  1.  c.  p.  351- 

3)  Weisbach,  a.  a.  O.  S.  151. 

4)  Weisbach,  a.  a.  O.  S.  241—143- 


Haut  und 'Haar  des  Menschen. 


91 


dass  selbst  Lebensgewohnheiten  Einfluss  auf  das  Wachsthum  üben 
können  und  daher  auch  die  GrÖssenunterschiede  beim  Gliederbau 
als  flüssige  erklärt  werden  müssen. 

5.  Haut  und  Haar   des  Menschen. 

Die  Geographen  des  Alterthums  glaubten  sich  überzeugt  zu 
haben,  dass  die  Dunkelung  der  Haut  mit  der  Annäherung  an  den 
Aequator  zunehme  und  dass  sogar  aus  der  Farbe  der  Menschen 
auf  die  Polhöhe  ihres  Wohnortes  geschlossen  werden  könne*). 
Innerhalb  des  damals  bekannten  Erdkreises  widersprachen  die  Er- 
fahrungen nicht  dieser  Lehrmeinung.  Im  Norden  sassen  blonde, 
in  Südeuropa  und  Nordafrika  leicht  gebräunte  Völker,  am  obern 
Nil  Negei*  und  in  Indien  schwärzliche  Menschen.  Zu  besseren 
Anschauungen  gelangte  man  erst,  als  die  Spanier  in  der  Neuen 
Welt  unter  allen  Breitengraden  auf  Menschen  mit  brauner  Färbung 
stiessen,  bald  heller  bald  dunkler,  je  nach  der  O ertlichkeit ,  aber 
ohne  Beziehung  auf  die  Polhöhe.  Bei  den  Abiponen  am  Paraguay, 
namentlich  den  Frauen ,  '  war  die  Haut  so  licht ,  dass  sie  in  euro- 
päischer  Tracht  mit  Europäerinnen  hätten  verwechselt  werden 
können,  während  die  Puelchen  und  Aucas,  deren  Gebiete  um  zehn 
Breitengrade  dem  Aequator  ferner  lagen,  viel  dunkler  gefärbt 
waren  ^).  Dazu  gesellte  sich  noch  die  Wahrnehmung,  dass  gerade 
im  hohen  Norden  der  alten  Welt  auf  die  blondhaarigen  Völker 
wieder  die  gebräunten  Lappen,  Wogulen,  Ostjaken  folgten. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  lehrte  bisher  nur,  dass  die 
menschliche  Haut  aus  zwei  Schichten  bestehe,  wovon  die  äussere 
als  Oberhaut  (epidermis),  die  innere  als  Unter-  oder  Lederhaut 
(cutis)  bezeichnet  wird.  Die  Oberhaut  wieder  bestand  aus  zwei 
Abtheilungen,  nämlich  der  oberen  durchsichtigen  Hornschicht  (Stra- 
tum comeum)  und  der  tiefei:  liegenden  Schleimschicht  (Stratum 
mucosum)  oder  dem  malpighischen  Netz  (rete  Malpighi).  Die 
Lederhaut  (cutis)  sowohl  wie  die  äussere  Lage  der  Oberhaut 
wurden  bei  alle)i  Völkerstammen  als  gleichartig  erkannt  und  nur 
in  der  von  ihnen  eingeschlossenen  Schleii^schicht  •  zeigten  sich 
Zellen,  erfüllt  mit  einem  feinkörnigen  Farbstoff.    Je  nachdem  diese 


1)  Plin.  VI,  22. 

2)  Dobrizhoffer,  Geschichte  der  Abiponer.    Wien  1783.    Bd.  2.  S.  18. 


gz  Haut  und  Haar  des  Menschen. 

Farbzellen  sich  nur  auf  die  Grundfläche  der  Schleimschicht  be- 
schränkten oder  mehr  und  mehr  anhäuften,  in  seltenen  Fällen  sogar 
bis  in  die  Hornhaut  aufwärts  sich  erstreckten,  wuchs  die  Tiefe  der 
Hautfarbe.  Einzelne  Korperstellen  sind  selbst  bei  allen  Menschen- 
racen  gefärbt,  wie  der  Warzenhof,  welcher  obendrein  während  der 
Schwangerschaft  noch  dunkler  wird').  Auch  die  Sommerflecken, 
die  Muttermale  und  Bräunungen  an  andern  Körperstellen  verhalten 
sich  genau  wie- die  Negerhaut'). 

Bei  der  Geburt  ist  das  Negerkind  nicht  schwarz,  sondern  dem 
europäischen,  beinahe  ähnlich.  Pruner  Bey  beschreibt  die  Farbe 
als  röthlich,  gemengt  mit  Nussbraun,  und  fügt  hinzu,  dass  im  Sudan 
die  volle  Färbung  schon  mit  dem  ersten,  in  Unterägypten  erst  mit 
dem  dritten  Jahre  sich  einstelle*).  Auch  Camper  sah  ein  Neger- 
kind röthlich  geboren  werden,  sich  zuerst  an  den  Rändern  der 
Nägel,  am  dritten  Tage  an  den  Geschlechtsth eilen,  am  fünften  und 
sechsten  allmählich  am  ganzen  Körper  färben*).  Die  Augen  der 
Negerkinder  sind  anfangs  blau,  das  Haar  kastanienbraun  und  nur 
an  den  Spitzen  gekräuselt^).  Auch  bei  den  Pimos  oder  Pirnas  im 
nordwestlichen  Mexico,  sowie  bei  den  Australiern  werden  die  Kinder 
hellfarbig  oder  schmutzig  gelb  geboren,  ihren  Eltern  aber  an  Dun- 
kelung  der  Haut  in  wenigen  Tagen  ähnlich*).  Prinz  zu  Neuwied 
erfuhr,  dass  die  Botocudenkinder  gelb  geboren  werden  und  sich 
rasch  bräunen'),  im  Widerspruch  mit  dieser  Angabe  rühmt  er  aber 
wieder  die  Helligkeit  der  Erwachsenen.  Kinder  von  Mulatten  und 
Mulattinnen  sollen  schwarze  Flecke  zur  Welt  bringen,  namentlich 
in    der    Gegend    der    Fortpflanzungswerkzeuge*).     Von    der    Farbe 

l)  Blunienbach  et^ähll  von  einer  jungen  Frau,  die  während  der  Schwanger- 
Schaft  so  schwarz  wurde,  wie  eine  Negetin.  Ein  ähnlicher  Fall  von  Melanis- 
niu»  wurde  von  Dr.  Guyfitanl  beobachtet,  Quattefages,  Unit*  de  l'espice 
huraaine.     Paris  1861,  p.  65. 

Z)  Flourens  bei  Watlz,  Anthropologie  I,  llj. 

3)  Pruner  Bey,  Mämoire  sur  les  Nigres.  p,  327. 

4]  Waid,  Bd.  1.  S.  [[4. 

5)  Darwin,  Ursprung  des  Menschen,  H,  278, 

6)  Waiti,  Anthropologie.  IV,  202,  VI.  713.  Bei  Lalham  (Varieties 
p.  199)  ttiidei.  man  dagegen  die  Behauptung,  dass  aaf  Hawai  (Sandwich- 
inseln)  die  Kinder  der  Polynesier  völlig  schwarz  geljor"»  werden. 

71  Reise  nach  Brasilien.  Bd.  2,  S.  65—66.  Der  Jesuit  Lafitau  sagt  sehr  be- 
stimmt, dass  die  Kinder  der  nord amerikanischen  Rothhäute  „weiss  geboren  wer- 
den, wie  die  litisrigen".  Moeurs  des  sau  vages  amiriquains.  Paris  1724.  tom  I.  p,  104. 

8|  Qiialrefages,  Rapport,  p.  455. 


Haut  und  Haar   der  Menschen. 


93 


der  Haut  ist  auch  der  Geruch  der  Ausdünstung  abhängig.  Be- 
sonders widerlich  sind  die  stark  aramoniakalischen,  ranzigen,  bock- 
ähnlichen Aushauchungen  des  Negers*),  die  von  den  Luftströmungen 
über  den  Ocean  getragen,  in  früheren  Zeiten  schon  von  Weitem 
die  Annäherung  eines  Sklavenschiffes  verkündigten.  Auch  wir  sind 
an  den  Gasen  kenntlich,  die  wir  verbreiten,  denn  der  Hund  ver- 
möchte sonst  nicht  die  Spuren  seines  Herrn  zu  verfolgen.  Die 
Eingebornen  der  neuen  Welt  unterscheiden  auch  den  Europäer  am 
Gerüche  und  wiederum  gibt  es  besondere  Ausdrücke  der  Creolen 
sowohl  für  die  schwachen  Ausdünstungen  der  Amerikaner  (catinca) 
wie  für  den  ausnahmsweise  starken  und  widerlichen  Geruch  (soreno) 
der  Araucaner^). 

Hätten  wir  andre  und  strengere  Merkmale  zur  Unterscheidung 
der  Menschenstämme,  gewiss  würde  es  Niemand  wagen,  die  Farbe 
der  Haut  in  solcher  Absicht  herbeizuziehen,  da  sie  sowohl  an 
Dunkelung  wie  in  den  Tönen  selbst  bei  jedem  Volksstamm,  ja 
oft  bei  den  Angehörigen  einer  einzelnen  Horde  schwankt.  In 
Europa  selbst  begegnen  wir  Menschen  von  blondem  'und  von 
brünettem  Teint.  Der  erstere  ist  häufiger  im  Norden,  der  andre  . 
häufiger  im  Süden.  Unter  Italiener,  Spanier  und  Portugiesen 
mischen  sich  eine  Anzahl  blonder  Menschen,  wie  umgekehrt  die 
brünetten  Erscheinungen  in  England  nicht  zu  den  Seltenheiten 
gehören.  Die  Kelten  Galliens  werden  in  der  römischen  Kaiserzeit 
von  den  alten  Erdbeschreibern  als  ein  blonder  Menschenstamm 
geschildert  und  da  auf  die  heutigen  Franzosen  ein  solches  Schlag- 
wort nicht  mehr  passt,  so  sind  wir  zu  dem  Schlüsse  berechtigt, 
dass  derartige  Merkmale  sich  in  vergleichsweise  kurzer  Zeit  ver- 
ändern. Bei  den  Wakilema  im  äquatorialen  Ostafrika  trafen 
deutsche  Reisende  theils  eine  lichte  Negerfarbe  mit  einem  Stich 
ins  Bläuliche,  gleichzeitig  aber  auch  Leute,  die  an  Helligkeit  die 
Mulatten  übertrafen  3),  ohne  dass  der  Verdacht  einer  Mischung 
irgendwie  begründet  worden  ist. 


1)  Burmeister,  Reise  nach  Brasilien.  Berlin  1853.  S.  89.  Auch  die 
Araber  sollen  aus  Afrika  einen  üblen  Hautgeruch  mit  in  ihre  Heimath  bringen, 
der  sich  erst  mit  der  Zeit  verliert  und  bei  wohlbeleibten  Südeuropäern  soll 
sich  bei  Fieberzuständen  eine  fast  negerartige  Ausdünstung  entwickeln.  Selig- 
mann  im  Geogr.  Jahrbuch.  Bd.  i.  S.  433. 

2)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  i.  S.  114.  S.  118. 

3)  Otto  Kersten,  v.  d.  Deckens  Reisen  in  Ostafrika.  Bd.  i.  S.  273. 


94 


Haut  und  Haac  des  Menschen. 


Dass  die  Polhöhe  auf  eine  noch  unerforschte  Weise  die 
Färbung  der  Haut  bis  zu  einem  massigen  Betrage  beherrscht,  darf 
nicht  gänzlich  verneint  werden.  Die  tiefste  Schwärze  treffen  wir 
nnr  in  der  Nähe  des  Aequators  in  Afrilca,  in  Indien  und  in  Neu- 
guine^a.  Die  Emgübornen  in  der  Nähe  der  Horetonbay  Australiens 
waren  so  dunkel  wie  irgend  ein  Neger,  während  zehn  Grad  süd- 
licher kupferne  Färimngen  häufiger  wurden')-  Unter  den  Gliedern 
der  mittelländischen  Race  sind  die  Abessinier  stark,  unter  den 
Indoeuropäern  die  Zigeuner  und  brahmanischen  Hindu  am  meisten 
gedunkelt.  Bei  den  letzteren  könnte  an  eine  Mischung  mit  der 
Urbevölkerung  gedacht  werden,  immerhin  vermochte  ein  Beobachter 
wie  Graul,  den  Mann  hoher  Kaste,  also  den  Indier  arischen  Ur- 
sprungs, unter  den  schwarzen  Tamulen  an  der  beinahe  europäischen 
Helligkeit  der  Haut  noch  zu  unterscheiden').  Dass  nicht  die 
Sonnenstrahlen  die  X>unkelung  hervorrufen,  ergibt  sich  schon  daraus, 
dass  die  bedeckten  Körpertheüe  bei  farbigen  Menschen  kdne 
Unterschiede  zeigen.  Wäre  aber  die  höhere  Temperatur  die 
Ursache,  dann  müssten  wir  in  Tiefländern  überall  grössere  Dun- 
kelung  finden,  als  auf  Hochebenen.  In  der  That  wird  diese  Vor- 
aussetzung zwar  bestätigt  durch  einen  Vergleich  zwischen  den  Be- 
wohnern Bengalens  und  den  weit  helleren  Gebirgsvölkem  des 
Himalaya,  und  das  nämliche  gilt  im  abessinischen  Afrika  von  den 
Bewohnern  der  Hochebnen  Enarea's  und  KafTa's^.  Allein  andre 
Beobachter  haben  in  denselben  Erdräumen  gerade  die  Thalbe- 
wohner lichter  angetroffen*)  und  ebenso  bemerkt  Munzinger,  dass 
das  heisse  Ufer  des  rothen  Meeres  von  hellen  Menschen  bewohnt 
werde,  die  Bergluft  aber  dunkele^).  Noch  entschiedener  spricht 
die  Thatsache,  dass  von  allen  Eingebornen  Amerikas,  bei  denen  der 
Verdacht  von  Blutmischung  völlig  ausgeschlossen  bleibt,  gerade  die 
Aymara,  welche  doch  Hochebenen  von  gleicher  Erhebung  wie  die 
Gipfel  des  Berner  Oberlandes  bevölkern,  durch  ihre  schwarzbraune 
Farbe  aufTitUen,  die  gerade  in  den  kältesten  Strichen  am  tickten 
erscheinf").     Andere  Beobachter    dachten  sich  die  Dunkelung    der 

1)  Wailz,  Anihropologie.  Bd.  i.  S.  52. 

2)  Reise  nach  Ostindien.  Leipzig  1855.  Bd.  4.  S.  151—151. 

3)  Waiti,  Anthropologie.  Bd.  i.  S.  49— So. 

4)  Abbndie  bei  QuatreTages,  Rapport,  p.  15;. 

5)  Au5hnd.  i86n.  S,  954. 

b)  V.  Tschudi,  Reisen  durch  Südamerika.  Bd.  5.  S.  212. 


Haut  und  Haar  der  Menschen.  q^ 

Haut  dort  am  stärksten,  wo  sich  zu  den  heissen  Temperaturen 
eine  hohe  Sättigung  der  Luft  mit  Wasserdämpfen  gesellt.  Hitze 
und  Feuchtigkeit  sollen  nach  der  Ansicht  Livingstones  in  Südafrika 
die  tieferen  Färbungen  hervorrufen').  Auch  gegen  diese  Ver- 
muthung  können  die  dunklen  Aymara  im  trockenkalten  Peru  und 
Bolivien  sowie  umgekehrt  die  Yuracara,  deren  Name  schon  eine 
bleiche  Gesichtsfarbe  andeutet,  als  Widerlegung  dienen,  denn  sie, 
die  letzteren,  bewohnen  die  von  beständigen  Niederschlägen  trie- 
fenden Ostabhänge  der  südamerikanischen  Cordilleren  ^. 

Trotzdem  dürfen  wir  nie  ausser  Acht  lassen,  dass  der  Euro- 
päer bei  einem  dauernden  Aufenthalt  im  indischen  Morgenlande 
einer  Aenderung  in  seinen  bisherigen  physiologischen  Verrichtungen 
sich  anbequemen  muss.  Die  Farbenunterschiede  zwischen  dem 
Blut  der  Arterien  und  der  Venen  werden  unter  den  Tropen 
auffallend  bei  Europäern  vermindert,  weil  der  Sauerstoffverbrauch 
bei  schwächerem  Verbrennungsprocess  geringer  geworden  ist^). 
Umgekehrt  werden  die  Absonderungen  von  Galle  lebhafter  in 
heissen  Erdstrichen.  So  kommt  es,  dass  durch  Ueberarbeitung 
derjenigen  Organe,  die  vergleichsweise  zur  Ruhe  bestimmt  sind, 
nämlich  der  Leber  bei  dem  Bewohner  höherer  Breiten,  der  Lunge 
bei  dem  Bewohner  der  Tropen,  der  eine  in  den  ihm  fremdartigen 
heissen  Clima  den  Gallenfiebern,  der  andere  nach  kalten  Erd- 
strichen versetzt,  der  Auszehrung  häufig  erliegt*).  Der  Europäer, 
der  den  Wechsel  überstanden  hat,  verliert  unter  den  Tropen  seine 
rosige  Gesichtsfarbe.  Wir  haben  sogar  das  Beispiel  eines  britischen 
Edelmanns  Namens  Macnaughten,  der  lange  Zeit  im  Dschengel- 
lande  Südindiens  nach  Art  der  Eingebornen  lebte  und  dessen 
Haut  auch  an  den  bekleideten  Theilen  sich  bräunte,  wie  die  eines 
Brahmanen^).  Ein  Negerknabe  aus  Bagirmi,  den  Gerhard  Rebifs 
nach  Deutschland  brachte,  veränderte  hier  nach  zweijährigem  Aufent- 
halte seine  Farbe  „vom  tiefen  Schwarz  in  helles  Braun"  ^).  Hat  eine 
gesteigerte  Gallenabsonderung  Einfluss  auf  die  Anhäufung  von  Farb- 

1)  Missionsreisen  in  Südafrika.  Bd.  i.  S.  378. 

2)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen.  Bd.  II,  305. 

3)  J.  R-  Mayer,  Die  Mechanik  der  Wärme.  Stuttgart  1867.  S.  97. 

4)  Bastian  in  Zeitschrift  für  Ethnologie.  1869.  Heft  i. 

5)  Pruner  Bey,  Questions  relatives  ä  T Anthropologie.  Paris  1864,  p.  5. 

6)  Zeitschr.  f.  Ethnologie.  18 71.  S.  255.  Andre  Beispiele  vom  Hellerwerden 
der  Neger  nach  Blumenbach  bei  W  a  i  t  z ,  A  nthrop.  I,  60. 


q5  Haut  und  Haar  des  Menschen. 

stoffBellen  in  der  Schleim  schiebt  der  Unterhaut,  so  kann  die  Dunkelung 
der  Lappen  und  Finnen  ihrer  Unsauberkeit,  der  unreinen  Luft  ihrer 
Behausung  und  der  ungesunden  Nahrung  zugeschrieben  werden, 
insofern  auch  sie  auf  die  Gallenabsonderun  gen  Einfluss  ausüben"). 
Längst  hatte  man  erkannt,  dass  Negerstämme  im  äquatorialen 
Afrika  sich  völliger  Gesundheit  erfreuen,  während  Küstenfieber 
rasch  die  Europäer  hinwegraffen.  Das  gelbe  Fieber  verschont  in 
Amerika  die  Neger,  selbst  die  Mulatten.  Sollte  nun  ein  ursäch- 
licher Zusammenhang  zwischen  der  Hautdunkelung  und  dem 
Schutze  vor  örtlichen  Krankheiten  sich  erkennen  lassen,  so  würden 
bei  der  ersten  liesiedelung  von  Fiebergebieten  einerseits  alle  die- 
jenigen Leute,  welche  schon  gebräunt  waren  oder  sich  bräunten, 
besser  die  Gefahren  des  Aufenthaltes  überstanden  haben,  andrer- 
seits die  bleicheren  unter  ihnen  früher  hinweggerafft  worden  sein 
und  in  Folge  dieser  Ausmusterung  hätte  eine  Hautdunkelung  all- 
mählich erblich  werden  können "),  Damit  wird  freilich  nur  eine 
Vermuthung  ausgesprochen,  welche  der  strengeren  Beglaubigung 
entbehrt  und  nur  den  Vorzug  besitzt,  dass  sie  bis  jetzt  den  ein- 
zigen Versuch  einer  Erklärung  enthält.  Doch  muss  sogleich  hin- 
zugefügt werden,  dass  Dr.  Nachtigal  nach  den  Ueberschwemmungen 
in  K-uka  die  schwarzen  Eingebornen  des  Sudan  den  Sumpffiebern 
eben  so  rascli  erliegen  sah,  als  die  zugewanderten  Fremden^). 
'  Eu   den   strenger    vererbten    Körpermerkmalen    des   Menschen' 

gebort  seine  Hairbekleidung,  Schwankend  ist  freilich  die  Farbe 
des  Haares,  öle  von  einem  Pigment  herrührt,  dessen  Verschwinden 
im  Alter  das  W'eisswerden  nach  sich  zieht.  Rothe  Haare  kommen 
mit  Ausnahme  Amerikas  fast  in  allen  Welttheilen  vor,  selbst  unter 
Australiern  will  sie  Dumont  d'Urville')  bemerkt  haben.  Sie  sind 
nicht  ungewöhnlich  bei  finnischen  Völkern,  so  wie  unter  den  Berbern 
Nordafrikas.  Unter  diesen  gibt  es  auch  helläugige  und  blond- 
haarige in  Marokko^}  und  schon  Skylax  kennt  blonde  Libyer,  die 

1]  Rithard  Owen,  .\natoiny  of  vertebrates.-  London  iSöS.  tom.  III, 
p.    615. 

3)  Aus  einem  Vortrage  des  Dr.  Wells  vor  der  Royal  Society  im  Jahre 
1813;  bei  Darwin,  Knl^tebung  der  Arten,  ü.  3  und  Abslammung  des  Men- 
schen, Bd.  1.  S.  2H. 

3)  Zeitsclirifl  lür  Erdkunde,  BerUn  1871.  Bd.  6.  Heft  4.  S.  335, 

41   Vuy.ige  de  l'Aslrolabe,  toni.  I.  p.  404. 

j}  G.  Rohlfs.  Erster  Aufenthalt  in  Marokko.  Bremen  1S73.  S.  60. 


Haut  und  Haar  des  Menschen. 


97 


Gyzanten ,  an  der  kleinen  Syrte  ^).  Nach  Manetho  zeichnete 
sich  auch  die  ägyptische  Königin  Nitokris,  welche  der  VI.  Dynastie 
angehört,  durch  helle  Hautfarbe,-  rosige  Wangen  und  blondes 
Haupthaar  aus*).  Das  letztere  ist  auch  an  den  Mumien  der 
Guanchen  oder  der  ausgestorbenen  Bewohner  des  cariarischen 
Archipels,  die  einem  Zweige  der  Berbern  angehörten,  erkannt 
worden^).  Selbst  unter  den  Monbuttu  am  Uelle  sah  Georg  Schwein- 
furth  graublonde  Neger  auffallend  häufig '^).  Unter  den  Unionssol- 
daten während  des  letzten  Bürgerkrieges  wurden  von  Spaniern 
und  Portugiesen  5  Proc,  von  Skandinaviern  laber  51  Proc.  mit 
blonden,  rothen,  überhaupt  hellen  Haaren  gezählt 5).  Diese  letz- 
teren Haarfarben  treten  hin  und  wieder  auch  bei  Armeniern,  syri- 
schen Semiten  und  Juden  auf  und  zeigen  sich  bei  Mischlingen  von 
Europäern  und  Eingebornen  Perus  um  Moyobamba^).  Dürfen  wir 
daher  die  Haarfarbe  bei  der  Völkerbeschreibung  auch  nicht  völlig 
übergehen,  so  gehört  sie  doch  sicherlich  zu  den  wenig  beharrlichen 
Merkmalen. 

Weit  wichtiger  ist  die  Gestalt  des  Haares.  Auch  bei  ihr  fehlt 
es  zwar  an  strengen  Grenzen,  dennoch  lassen  sich  bisweilen  mit 
ihrer  Hilfe  benachbarte  Völkerstämme  leicht  von  einander  trennen. 
Unter  den  Eingebornen  Amerikas  finden  wir  ohne  Ausnahme  nur 
straffes  grobes  Haar  und  durch  seine  Haarkrone  unterscheidet  sich 
der  Papuane  Neu-Guineas  von  dem  Australier,  dessen  Haar  sich 
zwar  kräuselt,  aber  nicht  in  Büscheln  sich  vereinigt.  Der  Wuchs 
der  Haare  und  vorzugsweise  der  Kopfhaare  lässt  sich  bezeichnen 
als  ein  schlichter  oder  straffer,  als  ein  lockiger  oder  anmuthig  ge- 
ringelter, dann  als  ein  gekräuselter  und  endlich  als  ein  büschel- 
förmiger. Die  Ursachen  der  Krümmung  und  Drehung  sind  sehr 
mannigfache.  Schon  in  der  Grösse  des  Durchmessers  ist  eine  solche 
gegeben,  denn  je  feiner  das  Haar,  desto  williger  wird  es  sich  den 
Krümmungsursächen  fügen.  Kein  menschliches  Haar  erreicht  die 
Zartheit  der  Schafwolle,  daher  echte  thierische  Wolle  nirgends  bei 


i)  Scylax,  Periplus  cap.  110.  Geogr.  Graeci  minores  ed.  Müller  I,  p.  88. 

2)  Lauth,  Aegyptische  Reisebriefe.  AUgem.  Zeitung.  1873.  S.  1335. 

3)  Peschel,  Zeitalter  der  Entdeckungen.  S.  54. 

4)  Zeitschr.  für  Ethnologie.  Berlin  1873.  Bd.  5.  S.  15. 

5)  Gould,  Investigations  in  military  and  anthropological  statistics.  p.  193. 

6)  Nach  Raymondi's  Geografia  del  Peru  im  Globus.  Bd.  XXI.  No.  19. 

1872.  S.  300. 

Peschel,  Völkerkunde.  7 


ng  Haut  und  Haar  des  Menschen- 

Menschen  •  angetroffen  wird.  Wichtiger  ist  aber  für  unsre  Zwecke 
die  Gestalt  des  Querschnittes,  der  bisweilen  kreisrund,  bisweilen 
elliptisch  plattgedrückt  sich  zeigt,  so  dass  das  Haar  von  der  Walzen- 
form  bis  zu  der, eines  doppeltconvexen  Bandes  sich  verändern  kann. 
Obgleich  nun  bei  den  einzelnen  Vertretern  einer  Race  beträchtliche 
Schwankungen  vorkommen,  so  hoffte  doch  ein  Anthropolog  wie 
Pruner  Bey,  durch  mittlere  Grossen  bestimmun  gen  ein  brauchbares 
Mittel  zur  Classification  der,  Menschenstämme  zu  erwerben.  Wird 
der  grosse  Dütchmesser  des  Haarquerschnittes  gleich  hundert  ge- 
setzt, so  drückt  das  Sinken  der  Ziffer  für  den  kleineren  Durch- 
messer ein  Fortschreiten  der  Abflachung  aus.  Der  reinsten  Walzen- 
form mit  95  als  Werth  für  den  kleinen  Durchmesser  begegnen  wir 
bei  Südamerikaner:i;  auch  die  Mumien  der  Aymara  in  Peru  zeigen 
noch  89.  Es  schliessen  sich  aber  in  Bezug  auf  den '  Querschnitt 
des  Haares  an  die  Bewohner  der  Neuen  Welt  zunächst  die  Mon-, 
golen  an,  bei  denen  die  Abplattung  zwischen  81  bis  gi  schwankt. 
Am  meisten  verkürzt  ist  der  kleine  Durchmesser  bei  dem  Haar  der 
Papuanen  Ntu-Cuineas,  nämlich  bis  zu  2Ö  und  56  in  .äussersten 
Fällen,  bis  zu  34  im  Durchschnitt.  Auch  hier  unterscheiden  sich 
die  Australier  mit  einem  Index  von  67  und  75  noch  deutlich  von 
den  Papuanen.  Auch  ist  es  von  nicht  unbeträchtlichem  Werthe, 
dass  mit  den  Papuanen  die  Hottentotten  nahe  übereinstimmen, 
denn  bei  ihnen  sinkt  der  kleine  Durchmesser  auf  55  und  50'). 
Scharfe  Begrenzungen  lassen  sich  aber  auch  auf  diesem  Wege 
nicht  gewinnen,  sondern  nur  die  Erfahrung,  dass  mit  der  grösseren 
Flachheit  des  Haares,  zumal  mit  ihr  auch  eine  grossere  Feinheit 
sich  zu  vereinigen  pflegt,  die  Anlage  zu  dem  Lockigwerden  und 
der  Kräuselung  beträchtlich  wächst. 

Verschieden  von  der  Kräuselung  ist  die  bündelweise  Ver- 
einigung von  Haaren  zu  gesonderten  Strängen,  die  nicht  unglück- 
lich mit  den  Ohrqliasten  bei  echten  Pudeln  verglichen  worden  ist. 
Diese  gruppenweise  Vereinigung  wird  unterstützt  durch  äusserlich 
hinzutretende  Bindemittel,  nämlich  durch  Ausscheidung  von  Fett 
und   Talg').     Das  büschelförmige   Wachsthum    der   Kopfhaare   ist 


1)  Pruner  Bey,  De  la  chevelure.  Paris  i86j.  p,  IJ.  Goetle  (das  Haar 
des  Buschweibes,  Tübingen  1867,  S.  43)  fand  dagegen  bei  der  Afandy  nur 
eini:n  kleinen  Durchmesser  von  73, 

2)  Goetle,  Das  Haar  des  Buschweilies.  Tübingen  1867,  S.  34  ff. 


Haut  und  Haar  des  Menschen. 


99 


es,  welches  uns  verstattet,  die  einzelnen  Glieder  der  papuanischen 
Race  von  den  malayischen  und  australischen  Bevölkerungen  streng 
zu  sondern.  Weit  weniger  zuverlässig  ist  dieses  Merkmal  in  Süd- 
afrika. Dort  ist  das  büschelartige  Wachsthum  der  Haare  am 
deutlichsten  ausgeprägt  bei  den  Hottentotten,  den  ihnen  körperlich 
nahe  stehenden  Buschmännern,  sowie  einigen  vereinzelt  auftreten- 
den Horden  im  Innern-  Afrikas  bis  in  die  Nähe  des  Aequators. 
Die  Vereinigung  der  Haare  zu  eirfzelnen  Gruppen  ist  auch  bei 
kurz  geschornen  Köpfen  noch  deutlich  sichtbar  und  letztere  gleichen 
dann,' um  einen  prosaischen  aber  zutreffenden  Ausdruck  Barrows 
zu  wiederholen,  dem  Ansehen  und  dem  Gefühl  nach  einer  abge- 
nutzten Schuhbürste.  Von  der  Gleichstellung  mit  Schafwolle  ist 
jedoch  auch  dieses  Haar  schon  durch  seine  gröbere  Beschaffenheit 
geschützt.  Leider  ist  auch  in  diesem  Falle  das  Merkmal  nicht 
streng  auf  eine  Völkerfamilie  beschränkt,  denn  nach  den  Unter- 
suchungen von  Gustav  Fritsch  verfilzt  sich,  wenn  auch  in  ge- 
ringerem Grade,  der  Haarwuchs  der  südafrikanischen  Bantuneger 
ebenfalls  zu  kleinen  Zöpfchen*).  Da  diess  aber  nicht  blos  von 
den  Ama^^osa  Kafirn  gilt,  die  einer  Blutmischung  verdächtigt  werden 
könnten,  weil  sie  sich  einige  Schnalzlaute  der  Hottentottensprache 
angeeignet  haben,  sondern  auch  bei  den  tiefer  binnenwärts 
sitzenden  Betschuanen  *)  oft  recht  deutlich  noch  sich  wahrnehmen 
lässt,  nie  gänzlich  verschwindet,  so  entzieht  auch  dieses  Merkmal 
durch  allmählige  Uebergänge  uns  die  Möglichkeit  einer  scharfen 
Racenbegrenzung. 

Krauses  Haar,  welches  die  Neger  Afrikas  und  die  Australier 
auszeichnet,  unterscheidet  sich  von  dem  büschelförmigen  durch  den 
Wegfall  der  Verfilzung,  von  dem  lockigen  durch  seine  grössere  Kürze, 
seine  starke  spiralartige  Drehung  und  eine  Spaltung  der  Länge  nach, 
welche  das  Haar  in  zwei  platte  Bänder  zerlegt"*).  Fällt  der  letztere 
Umstand  hinweg,  wird  das  Haar  gröber  und  walzenförmiger,  so  be- 
ginnt eine  schwächere  Krümmung  von  Haargruppen  zu  Locken, 
wie  bei  den  Europäern  und  Semiten.  Das  gröbste  und  rundlichste 
Haar  endlich  ist  ein  beharrliches  Merkmal  der  Amerikaner  und 
ihrer  physischen   Geschwister    in    Nord-    und   Ostasien.     Wo    eine 


1)  Fritsch,  Die  tingebornen  Siidafrika's.  S.  275.  276.  S.  15 — 16. 

2)  Fritsch,  Eingeborne  Südafrikas.  Atlas.  Tafel 'XI  bis  XX. 

3)  Goette,  a.  a.  O.  S.  23. 


•  7* 


IQO  Plaut  und  Haar   des  Menschen. 

Mischung  zwischen  kraushaarigen  Afrikanern  und  den  grob-  und 
schlicht  haarigen  Amerikanern  stattgefunden  hat,  da  behält  das  Haar 
die  Kräuselung  /war  bei,  nimmt  aber  an  Länge  und  Sprödigkeit  zu. 
Bei  den  Cafusos,  wie  solche  Mischling^  in  Brasilien  genannt  werden, 
entwickelt  sich  eine  üppige  vom  Haupt  abstehende  Haarkrone,  die 
ihnen  eine  trügerische  Aehnlichkeit  mit  den  Papuanen  verleiht '}. 
Diese  letztcien  stehen  in  Bezug  auf  die  Dichtheit  des  Wuchses 
wahrscheinlich  unter  allen  Volkern  am  höchsten.  An  Länge  des 
Haupthaares  dagegen  werden  die  Jägerstämme  Nordamerikas 
nicht  übertroffen.  IJei  den  Mannern  der  Schwarzfüsse  und  der 
Siüux  oder  Uacota  reicht  es  fasst  bis  zu  den  Fersen'),  ja  ein 
KräbenhäüptUng  brachte  es  sogar  bis  zu  einem  Längenwachsthum 
von  lo  Kuss  7  Zoll  engl,^) 

Die  Haarbckleidiing  andrer  Körpertheile  als  der  Kopfhaut  ist 
mehr  oder  minder  reichlich  vorhanden  oder  fehlt  oft  gänzlich  bei 
beiden  Geschlechtern.  Am  seltensten  verschwindet  die  Bedeckung  in 
den  Sexualgegend t*n.  Ihre  Spärlichkeit  oder  ihr  gänzlicher  Mangel 
bei  nordasiatisclien  Mongolen,  bei  amerikanischen  und  malayischen 
Stämmen  sowie  bei  Hottentotten  und  Buschmännern  gehört  zu  den 
beharrlichsten  und  bewährtesten  Racenkennz eichen,  nur  muss  hinzu- 
gefügt werden ,  das^  die  natürliche  Kahlheit  des  Körpers  noch 
durch  sorgsames  Auszupfen  vereinzelter  Haare  künstlich  gesteigert 
zu  werden  pflegt.  Auch  der  Bartwuchs  mangelt  oder  ist  auf  das 
äusserste  beschränkt  bei  allen  Völkern  mit  straffem  groben  Haar, 
also  bei  Amerikanern,  Nord-  und  Ostasiaten,  sowie  bei  Malayen. 
Kümmerlich  entwickelt  ist  er  bei  den  Hottentotten,  reichlicher  und 
häufiger  kommt  er  bei  mittel-  wie  südafrikanischen  Negern  vor. 
Bei  allen  diesen  Measchenstämmen  iet  obendrein  der  Backenbart 
nicht  oder  nur  als  Sehenheit  anzutreffen.  Durch  einen  massigen 
Bartwuchs  können  die  Australier,  durch  reichlichen  Bartwuchs  die 
Papuanen  leicht  von  ihren  malayo-polynesischen  Nachbarn  unter- 
schieden werden.  Eine  üppige  Haarbekleidung  des  Körpers  gehört 
zu  den  Kennzeichen  der  Semiten  wie  der  indoeuropäischen  Volker- 


1)  Ueber  den  Ursprung  des  NamcDB  Cafuz  s.  MartiuE,  Ethnographie.  1,150. 
In  Guayana  werden  sie  Cabocie»  oder  Capucres  genannt.  Appun  im  Aus- 
land. 1871.  S.  967. 

2)  l'runcr  Bey,  Chevelore.  p.  4. 

3)  Callin,  Indianer  Nordamerika's.  2.  Ausgabe.  1851.  S.  34. 


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Haut  und  Haar  des  Menschen.  loi 


i)  Der  bekannten  Tänzerin  Pastrana,  welche  fast  unter  die  dicht  behaarten 
Geschöpfe  gehörte,  soll  auch  ein  wenig  die  berüchtigte  Lola  Montez  geglichen 
haben.     Ausland.  1861.  .S.  503. 

2)  Laperouse  (Voyage  autour  du  monde.  Paris  1798.  tom.  HI,  p.  125.) 
begnügt  sich  indessen,  von  den  Bewohnern  Saghaliens  an  der  Crillon-Bai  zu 
behaupten,  dass  Bärtigkeit  und  Behaarung  von  Armen,  Nacken,  wie  sie  bei 
Europäern  zu  den  Seltenheiten  gehöre,  bei  ihnen  die  Regel   sei. 

3)  H.  Heine,  China,  Japan  und  Ochotzk.  Bd.  2.  S.  223.  Wie  H.  Heine 
äusserte  sich  auch  H.  v.  Brandt,  deutscher  Consul  in  Japan,  am  16.  Decbr. 
187 1  in  der  Sitzung  der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft  (vgl.  deren 
Verhandlungen,  Berlin  1872,  S.  27).  Bei  Francis  L.  Hawks  (Narrative  of  the 
expedition  under  Comm.  M.  C.  Perry.  Washington,  1856.  tom.  li  p.  454.)  wird 
nur  von  dem  starken  Bartwuchs  und  der  reichUchen  Haarbedeckung  der 
Beine  bei  Ainos   in  der  Nachbarschaft  von  Hakodadi  gesprochen. 

4)  Gould,  Investigations.  New- York.  1869.  p.  568 — 569. 


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familie.  Bei  Südeuropäern,  namentlich  Portugiesen  und  Spaniern, 
soll  dieses  Merkmal  am  stärksten  sich  entwickeln*).  Von  allen 
Völkern  der  Erde  standen  aber  die  Aino,  die  Bewohner  von  Jezo 
Saghalien  und  den  Kurilen,  seit  dem  Besuche  Lap6rouse*s,  in  dem 
Rufe,  eine  Art  thierischer  Behaarung  am  Oberkörper  zu  besitzen*). 
Neuere  Beobachter  haben  diese  Uebertreibung  beträchtlich  gemil- 
dert, so  dass  die  Aino  nicht  einmal  völlig  den  Vergleich  mit  euro- 
päischen Matrosen  bestanden.  Heinrich  Heine  fand  die  Barte  der 
Aino  nur  5 — 6  Zoll  lang,  Brust  und  Nacken  waren  kahl  und    nur  £ 

bei  einer  einzigen  Person  zeigten  sich  an  den  genannten  Körper- 
stellen etliche  Haarbüschel).  Immerhin  wird  selbst  dieser  massige 
Grad  einer  zottigen  Haut  in  der  Nachbarschaft  so  bartarmer 
Völker,  wie  der  Japanen  und  Chinesen  uns  in  Verlegenheit  setzen, 
wenn  wir  den  Aino  in  unsrer  Raceneintheilung  einen  schicklichen 
Platz  anweisen  wollen,  denn  das  Auftreten  der  Leibhaare  sind  wir 
genöthigt,  zu  den  beharrlichsten  Kennzeichen  der  Menschenracen 
zu  zählen.  Wenn  nun  bei  2129  Mulatten  und  Negern  des 
25.  Armeecorps,  die  zur  Zeit  des  amerikanischen  Bürgerkrieges 
beim  Baden  von  Aerzten  beobachtet  wurden,  nur  9  als  ganz 
kahl  sich  zeigten,  21  dagegen  beinahe  die  höchste  Stufe,  zwei 
Drittel  aber  die  mittlere  Häufigkeit  der  Behaarung  wie  bei  weissen 
Soldaten  wahrnehmen  Hessen*),  so  dürfen  wir  doch  nicht  daraus 
schliessen,  dass  eine  Vertauschung  des  afrikanischen  Wohnortes 
mit  der  neuen  Welt  das  Hervorsprossen  des  Leibhaares  bei  den 
Negern  veranlasst  habe.    Es  ist  hier  vielmehr  der  Ort,  den  Irrthum 


102  Haut  und  Haar  des  Menschen. 

Ell  widerlegen,  als  gehörten  die  Neger  zu  den  Völkern  mit  glatter 
Haut.  \\'ohl  ist  ihr  Bartwuchs  nicht  so  reich  entwickelt  wie  bei 
den  mittelländischen  Völkern ,  aber  besser  wie  bei  den  Koi-koin 
(Hottentotten)  und  ungleich  mehr  als  bei  allen  mongolenähnlichen 
Stämmen  der  allen  und  der  neuen  Welt.  Selbst  der  Backenbart 
fehlt  niclit  gänzlich,  wie  i-iele  haben  behaupten  wollen  und  die 
Brust  der  Männer  ist  bei  einigen  Stämmen  bisweilen,  bei  anderen 
durchgehends  bewachsen'). 

Werfen  wir  jetzt  noch  einen  Blick  rückwärts,  so  werden  wir 
uns  eingestehen  müssen,  dass  weder  die  Form  des  Schädels,  noch 
andre  Abschnitte  des  Skelettes  scharfe  Abgrenzungen  der  Menschen- 
racen  veistatteten .  dass  auch  die  Hautfarbe  nur  verschieden  ab- 
gestufte Dunkeluns  zeigt  und  dass  allein  das  Haar,  aber  auch 
dieses  nicht  immer  und  niemals  scharf  genug  unseren  systemati- 
schen Bestrebungen  nu  Hilfe  kommt.  Wer  sollte  also  den  Huth 
besitzen,  von  der  Un Veränderlichkeit  des  Racentypus  zu  reden? 
Auf  das  Haar  allein,  wie  Ernst  Haeckel  es  gethan  hat,  eine  Glie- 
derung des  Menschengeschlechts  zu  begründen,  war  von  vornherein 
ein  Wagniss  und  mus^te  enden,  wie  alle  künstlichen  Systeme  ge- 
endet haben.  Bei  der  Scheidung  der  Koi-koin  von  den  Bantu- 
negern  hat  dieses  Verfahren  zu  Missgriffen  geführt  und  die  Ver- 
einigung der  Australier,  als  angeblich  straffhaariger  Menschen,  mit 
den  Mongolen  beruht  auf  Unkenntniss  der  Thatsachen. 


i|  Vj^l.  den  Barulong-Neget  bei  Fritsch,  Eingebome  Südafrikas.  Atlas. 
Taf.  XVI,  und  die  BeschreibunE  der  Kissamaneger  von  Hamilton  im  Journal 
of  Ihe  Anlhropül.  Ine-litute.  London  1872.   lom.  I.  p.  187. 


DIE  SPRACHMERKMALE. 

1.  Die  Entwickelungsge schichte  der  menschlichen  Sprache. 

Versteht  man  unter  Sprache  das  Mittel,  anderen  Geschöpfen 
Erregungen  oder  Absichten  mitzutheüen ,  so  besitzen  sogar  die 
wirbellosen  Thiere  solche  Fähigkeiten.^  Insecten,  die  in  sogenannten 
Staaten  beisammen  leben,  wie  die  Ameisen,  sehen  wir  wie  auf 
Verabredung  planvolle  Kriegsunternehmungen  und  Ueberfalle  aus^ 
führen.  Wenn  ein  Scarabäus  den  Düngerball,  der  das  Ei  ein- 
schliesst,  beim  Rollen  in  eine  Bodenvertiefung  gerathen  lässt  und 
die  Anstrengungen  des  Käfers  nicht  ausreichen,  ihn  wieder  auf 
eine  glatte  Bahn  zu  bringen,  so  fliegt  er  fort,  um  nach  einiger 
Zeit  mit  etlichen  Helfern  wieder  zu  kehren,  die  nun  gemeinsam  die 
Kugel  an  den  Wänden  des  Abhangs  hinaufwälzen.  Ohne  Zweifel 
müssen  also  diese  Geschöpfe  Mittel  besitzen,  sich  über  eine  Ver- 
einigung zu  einer  solchen  Leistung  zu  verständigen.  Bei  unsern 
Singvögeln  können  wir  nach  kurzer  Beobachtungszeit  schon  die 
verschiedenen  Töne  unterscheiden,  welche  sie  ausstossen,  wenn  sie 
die  Jungen  vor  einer  Gefahr  warnen,  zum  Futter  herbeirufen  oder 
sich  gegenseitig  zur  Paarung  locken  wollen.  Diese  Thiere  verfügen 
also  für  eine  kleine  Anzahl  von  Lebensbedürfnissen  über  eine 
gleiche  Anzahl  von  Signalen ,  welche  ihre  erforderliche  Wirkung 
nicht  versagen  und  diese  Signale  sind,  wie  wir  vorläufig  nicht 
anders  vermuthen  könnnen,  von  ihnen  wie  die  Instinkte  erworben 
und  vererbt  worden.  Die  Bedürfnisse  der  Mittheilung  sind  be 
keinem  Thiere  mannigfacher  und  dringender  als  beim  Hunde.  Wir 
verstehen  vollständig  sein  Bellen,  ob  es  Freude,  Missbehagen,  War- 
nung vor  Gefahr,  einen  bestimmten  Wunsch  oder  eine  Kriegs- 
erklärung bedeuten  soll.     Der  Hund  beschränkt  sich  nicht  blos  auf 


104  ^'^  Entwicketungsgeschichle  ä,ei  menschlichen  Sprache. 

seine  Stimme,  sondern  er  scharrt  oder  fletscht  die  Zähne,  bedient 
sich  also  auch  einer  Art  von  Gebärdensprache.  Mit  gewisser  Be- 
rechtigung hat  man  daher  das  Bellen  des  Hundes  als  den  ersten 
Sprechversuch  eines  Thieres  bezeichnet').  Diese  Fertigkeit  erwarb 
jedoch  dieses  Thier  durch  seinen  Umgang  mit  dem  gesprächigen 
Menschen,  denn  europäische  Hunde,  die  auf  einsamen  Inseln  aus- 
gesetzt wurden,  entwöhnten  sich  des  Bellens  und  erzeugten  eine 
stumme  Nachkommenschaft,  die  erst  durch  erneuten  Umgang  mit 
dem  Menschen  zu  dem  verlornen  Gebrauch  der  Stimmwerkzeuge 
zurückkehrte. 

Die  menschliche  Sprache  aber  unterscheidet  sich  von  den 
Verständigungslauten  der  Thiere  nicht  etwa  blos  durch  einen 
grösseren  Spielraum  der  Rlittheilungen,  sondern  dadurch,  dass  sie 
etwas  zu  verkündigen  vc-miag,  was  jenseits  des  thierischen  Denkver- 
mögens liegt,  nämlich  nicht  blos  Wahrnehmungen,  sondern  Er- 
kenntnisse. Ist  das  Bellen  des  Hundes  der  erste  Sprechversucii, 
so  können  wir  auch  hinzusetzen,  dass  der  Versuch  bisher  noch 
immer  misslungen  sei.  Nicht  einmal  so  weit  gelangte  das  Thier, 
dass  es  einen  Lockruf  für  eine  bestimmte  Person  sich  aneignen 
konnte.  Wenn  das  Kind  so  weit  gereift  ist,  dass  es  zum  ersten 
Mal  bewusst  Vater  oder  l\[utter  ruft,  so  ist  ihm  der  erste  Sprech- 
versuch völlig  geglückt.  Ein  Thier  wird  niemals  solche  einfache 
Erkenntnisse  rnittheilen,  wie  sie  in  den  Worten  hell,  warm,  süss, 
hart,  spitz,  blau,  roth  enthalten  sind. 

Da  nun  die  Geschichte  und  die  täglichen  Erfahrungen  uns 
lehren ,  dass  die  Sprachen  sich  ändern  und  dass  sie  zugleich  an 
Umfang  wachsen,  ihre  Bildung  also  nie  stillsteht,  und  die  Umbil- 
dungen und  Neubildungen  jedenfalls  von  uns  selbst  herrühren ,  so 
sollte  eigentlich  nie  ein  Streit  sich  erhöhen  haben,  dass  der  Mensch 
der  Schöpfer  seiner  Sprache  gewesen  sei.  Dennoch  hat  man  die 
ersten  Anfange  einem  übernatürlichen  Vorgange  zuschreiben  wollen. 
Wenn  aber  gerade  in  der  menschlichen  Sprache  der  einzige  sprung- 
artige Unterschied  zu  suchen  ist,  der  uns  innerhalb  der  Thierwelt 
von  unsern  Mitgeschijpfen  absondert,  so  erniedrigen  diejenigen 
unsre  geistigen  Fähigkeiten  und  schmälern  jene  Kluft,  welche  be- 
haupten, der  Mensch  habe  nicht  aus  sich  selbst  seine  höchste  Aus- 
zeichnung erworben,     (lieschieht  diese  Verneinung  aus  krankhafter 


]  L.  Geiger,    Ursprung  der  Sprache.  StuUgsrt  1869.  S.  190, 


Die  Entwickelungsgeschichte  der  menschlichen  Sprache.  105 

Frömmelei,  so  braucht  man  nur  daran  zu  erinnern,  dass  unsre 
heilige  Schrift  selbst  entschieden  die  Sprache  als  eine  Schöpfung 
des  Menschen  bezeichnet  (Gen.  II,  19 — 20). 

Wer  aber  über  die  ersten  Anfänge  der  menschlichen  Sprache 
zur  Klarheit  gelangen  will,  der  muss  zunächst  gewarnt  werden, 
dass  ihn  dabei  alle  Vergleiche  aus  den  jetzt  vorhandenen  Wort- 
schätzen in  die  Irre  führen  müssen.  Wenn  wir  die  früheren  For- 
men unsrer  Ortsnamen  nur  wenige  Jahrhunderte  zurückverfolgen, 
finden  wir,  dass  sie  mit  der  2jeit  bis  zu  trügerischer  Unkenntlich- 
keit entstellt  wurden,  Wildenschwerdt  ist  aus  Wilhelmswerda,  Wald- 
see (Württemberg)  aus  Walchsee,  Oehringen  aus  Oringau,  Welzheim 
aus  Walenzin,  Holzbach  aus  Heroldsbach  entstanden,  wie  A.  Bac- 
melster  uns  belehrt  hat.  Martin  Luther  durfte  vor  300  Jahren 
noch  schreiben:  Gott  thue  nichts  als  schlechtes  und  das  Evangelium 
sei  eine  kindische  Lehre  ^).  Damals  bedeutete  also  wie  noch  heute 
in  unsrer  Redensart  recht  und  schlecht,  das  Schlechte  etwas 
Schlichtes,  das  Kindische  etwas  Kindliches.  Im  Süden  Deutschlands 
wird  jedes  männliche  Kind  ohne  Arg  ein  Bube  genannt,  im  Norden 
bezeichnet  dieser  Ausdruck  nur  noch  einen  verworfenen  Menschen, 
gerade  so  wie  die  entsprechenden  Laute  des  Englischen  für  Knabe 
fknave)  diesen  üblen  Sinn  {knavery,  Büberei)  sich  zugezogen  haben. 
Wir  gewinnen  damit  die  wichtige  Erfahrung,  dass  der  Sinn  durch- 
aus  nicht  fest  an  einer  Lautgruppe  haftet,  sondern  sich  ihr  inner- 
halb derselben  Sprachgenossenschaft  unmerklich  entzieht  und  sogar 
auf  andre  Lautgruppen  übergeht. 

Diese  Unabhängigkeit  des  Gedankens  von  seinem  Schallaus- 
druck widerlegt  die  oft  gehörte  Behauptung,  dass  wir  nur  in 
innerlich  gesprochner  Rede  denken  sollen.  Sprachloses  Denken 
begleitet  vielmehr  fast  alle  unsre  häuslichen  Verrichtungen.  Ferner 
baut  der  Musiker  seine  Schöpfungen  aus  einer  rhythmischen  Ton- 
folge auf,  der  Maler  wählt  die  Farbe  zum  Ausdruck  seiner  Stim- 
mungen oder  Gedanken,  der  Bildhauer  die  menschliche  Gestalt,  .der 
Baumeister  Linien  und  Flächen,  der  Geometer  Begrenzungen  des 
Raumes,  der  Mathematiker  Ausdrücke  der  Quantität.  Wäre  die 
Sprache  dagegen  eine  strenge  und  nothwendige  Lautverkörperung 


I)  L.  Geiger  a.  a.  O.  S.  64.  S.  72. 


lo6  I^ic  Entwickelungsgeschichte  der   menschlichen  Sprache. 

des  Gedankens,  so  müsste  dieser  überall   durch    dieselben    Schall- 
erregungen sich  uns  offenbaren*). 

So  müssen  wir  also  das  Begegnen  eines  gewissen  Sinnes  mit 
einer  gewissen  Lautgruppe  nur  als  etwas  flüchtiges  betrachten. 
Sprachforscher,  welche  die  Entwickelung  der  indoeuropäischen 
Sprachen  rückwärts  so  weit  verfolgt  haben,  als  überhaupt  Urkunden 
es  verstatteten,  konnten  schliesslich  einen  Schatz  von  Wurzeln  zu- 
sammenlesen, den  wir  als  den  ältesten  erreichbaren  Stoff  der  Sprach- 
forschung betrachten  müssen.  Gleichwohl  haben  wir  keine  Ge- 
wissheit, dass  diese  Wurzeln  das  Uranfangliche  gewesen  seien,  wir 
dürfen  wohl  eher  annehmen,  dass  auch  sie  schon  lautliche  Um- 
wandlungen erlitten,  ehe  sie  auf  uns  gelangten.  Zwar  haben 
mahche  Völker  die  Gabe,  die  Lautgruppe  länger  und  schärfer 
festzuhalten,  während  andre  viel  unstäter  mit  dem  Werkzeuge  des 
Gedankenausdruckes  wechseln,  dennoch  lässt  sich  wohl  als  allge- 
mein giltig  behaupten,  dass  die  Befestigung  einer  Sprache  mit  der 
Zahl  der  Sprechenden  und  zugleich  mit  der  strengeren  Gliederung 
der  Gesellschaft  wächst.  Die  ausserordentliche  Vielheit  der  Sprachen 
in  Amerika  hängt  genau  zusammen  mit  der  unstäten  Lebensweise 
wandernder  Jägerstämme.  Wo  dagegen  wohlgeordnete  Gesell- 
schaften bestanden  wie  im  alten  Peru,  da  konnte  auch  die  herr- 
schende Ketschuasprache  sich  über  mehr  als  zwanzig  Breitengrade 
erstrecken. 

Es  ist  von  früheren  Schriftstellern  bereits  erläutert  worden, 
dass  der  Glaube  an  eine  Fortdauer  nach  dem  Tode  die  Umbil- 
dung der  Sprache  beschleunigt  hat.  Die  Namen  der  Abgeschie- 
denen werden  nicht  mehr  genannt  aus  Furcht,  das  Gespenst  des 
Gerufenen  herbeizuziehen.  Viele  Volker  wagen  nicht  einmal,  den 
wahren  Namen  ihrer  Gottheit  auszusprechen  und  etwas  Aehnliches 
wenigstens  verordnet  das  zweite  sinaitische  Gebot.  Als  unter  den 
Dayaken  Borneo's  die  schwarzen  Blattern  ausbrachen,  floh  Alles 
erschreckt  in  die  Waldeinsamkeiten.  Die  Krankheit  wagte  man 
nicht  mehr  beim  Namen  zu  nennen ,  sondern  man  hiess  sie 
Dschengelblatt  oder  Datu  (Häuptling)  oder  sagte  schlechtweg:  ist 
er  abgezogen^).     Da   nun   die  Eigennamen   bei   der   Mehrzahl   der 

2)  Steinlhal,  Psychologie  u.  Sprachwissenschaft.  Berlin  1871.  Bd.  i. 
S.  54.  S.  361.  Whitney,  Language  and  the  study  of  language.  London 
1867.  p.  413—420. 

2)  Spenser  St.  John.    Far  East.  London.  1862.   tom.  L  p,  61 — 62. 


Die  Entwickelungsgescliiclite  der   meo  schlichen  Sprache. 


107 


halbentwickelten  Völker  aus  Worten  des  täglichen  Gebrauchs  zu- 
sammengesetzt werden,  so  müssen  für  diese  letzteren  neue  Aus- 
drücke ersonnen  werden.  Als  König  Pomare  auf  Tahiti  gestorben 
war,  verschwand  des  Wort  po  (Nacht)  aus  der  Sprache.  Den 
nämlichen  Gebrauch  huldigen  oder  huldigten  die  Papuanen  Neu- 
Guinea's,  die  Australier,  die  Tasmanier,  die  ostafrikanischen  Wasai, 
die  Samojeden  und  die  Feuerländer.  Doch  darf  man  die  Trag- 
weite dieser  Gewohnheit  bei  Umwandlung  der  Sprache  nicht  über- 
schätzen, denn  wenn  ein  neues  Geschlecht,  welches  den  Verstor- 
benen nicht  mehr  kannte  oder  nicht-  mehr  fürchtete,  heranwuchs'), 
kehrte  es  wohi  zu  dem  alten  Worte  zurück,  oder  wo  das  Verbot 
sich  nur  über  eine  Horde  erstreckte  und  das  verpönte  Wort  in  einer 
andern  Horde  fortlebte,  konnte  es  ebenfalls  durch  Zwischen  he  irathen 
wieder  eingeschleppt  werden.  Auch  darf  man  nicht  denken,  dass 
neue  Lautgruppen  ersonnen  wurden,  sondern  man  fügte  aus  den 
Bestandtheilen  des  Sprachschatzes  nur  neue  Worte  zusammen.  Bei 
den  Abiponen  am  westlichen  Ufer  des  Paraguay  Stromes  Südamerika's 
war  den  alten  Frauen  das  Geschäft  anvertraut,  die  neuen  Benen- 
nungen festzustellen.  Der  Name  des  Tigers  (Jaguars)  wurde  wegen 
eingetretner  Todesfälle  drei  Mal  in  sieben  Jahren  von  ihnen  abgeän- 
dert, zuletzt  in  laprireirae  oder  der  „Fleckige",  ,, Buntscheckige'"). 
Weit  bedenklicheren  Umwandiungen  ist  die  Sprache  solcher 
Menschenstämme  ausgesetzt,  die  in  Banden  von  weni^'cn  Köpfen 
oder  auch  wohl  nur  in  Familien  dünn  bewohnte  Jagdreviere  durch- 
streifen. Jeder  Angehörige  einer  grossen  Gesellschaft  wird  durch 
das  tägliche  Bedürfniss  streng  zu  einer  deutlichen  Aussprache  ge- 
(11  .-Mlfi]  viT^Laiiklcii  ivi-rciu.  ^-chlecht  erzogene 
.  Lautgruppen,  die  eine  Zeitlang  innerhalb   de-* 


und  die  sich  für  ii 
Wrkehr  5i;c  nicht  wie 
iJic  Kinilei 


festsetzen  würden, 

:bi.'kannlc    Münzeii 

zur  Mannesge- 

^ehie  Stämme  nicht 

ihren  ehemaligen 

^n   bei  denen   aus 

79J.  t<im  IV.  p.  1011 
1  Verstoibtnm  :iii- 
e1  oder  Grcjssenkel 
Lif^jefrischl   werde. 


Io8  ^ic   Entwickelungsgeschichte  der   menschlichen  Sprache. 

Eii^ensinn  jeder  an  seiner  Sonderaussprache  festhält.  Der  Reisende 
Martins  klagte  daher,  dass  unter  seinen  Begleitern,  obgleich  sie 
der  nämlichen  Horde  angehörten,  ein  jeder  kleine  dialektische  Ver- 
schiedenheiten in  Betonung  und  Lautumwandlung  festhielt.  Seine 
Genossen  verstanden  ihn,  wie  er  seine  Genossen  verstand").  Bei 
einem  solchen  Hange  verändern  sich  natürlich  die  Lautgruppen  in 

der  kürzesten  Zeit 

< 

Wenig  Mühe  kostet  es  unserm  Nachdenken ,  sich  das  all- 
mähliche Wachsthum  der  Sprachen  auszumalen,  sobald  nur  aer 
erste  grosse  Sprung  ausgeführt  war,  dass  durch  irgend  einen  be- 
stimmten Schallausdruck  die  Mittheilung  eines  Gedankens  oder  nur 
eines  Bedürfnisses  von  dem  Sprechenden  beabsichtigt  und  von 
einem  Mitgeschöpfe  erkannt  worden  war.  Dieser  erste  Sprung 
bleibt  aber  noch  immer  von  tiefem  Dunkel  umhüllt,  denn  die  An- 
knüpfung irgend  eines  Gedankens  mit  einem  Laute  der  mensch- 
lichen Stimme  beruht  auf  einem  Vertrage  des  Sprechers  und  des 
Hörers,  und  wie  Hess  sich  der  erste  Vertrag  oder  die  erste  Ver- 
ständigung über  das  erste  Wort  schliessen,  wenn  es  eben  noch 
keine  Verständigungsmittel  gab?  Nach  der  ältesten  Vermuthung 
hätte  sich  der  Vorgang  auf  dem  Wege  der  Tonmalerei  vollzogen 
und  durch  die  Wahl  der  nachahmenden  Laute  sei  die  Aufmerk- 
samkeit des  Zuhörers  auf  irgend  einen  Gegenstand  von  Sinnes- 
wahrnehmungen gelenkt  worden.  Da  nun  alle  Sprachen  reich  sind 
an  Lautbildungen,  die  uns,  was  sie  ausdrücken  sollen,  gleichsam 
musikalisch  schildern,  so  dachte  man  sich  den  ersten  Anfang  als 
einen  onomatopoetischen  Versuch.  Es  wurde  indessen  in  Folge 
der  raschen  Lautveränderungen  den  Gegnern  dieser  Ansicht  sehr 
leicht,  sie  dadurch  zu  widerlegen,  dass  den  älteren  Formen  der 
gegenwärtigen  Nachahmungsworte  jede  Absicht  einer  Tonschilde- 
rung mangelt.  Wie  leicht  lassen  wir  uns  täuschen,  dass  unser 
Wort  rollen^  besonders  wenn  wir  dabei  an  den  rollenden  Donner 
denken ,  aus  dem  Versuche  einer  Geräuschschilderung  ent- 
sprungen sei?  Dennoch  fiel  es  L.  Geiger*)  nicht  schwer,  dieses 
Zeitwort  von  dem  französischen  rouler,  dieses  vom  lateinischen 
rotulare  und  das  letztere  endlich  von  rota  (Rad)  abzuleiten,  bei 
dem  die  Schallnachahmung  völlig  erlischt.  Allein  jener  geist- 
reiche Sprachzergliederer  übersah  gerade  hier  einen  wichtigen  Um- 

1)  Ausland  1869.  S.  891.  Nach  einer  mündlichen  Mittheilung  des  Reisenden. 

2)  Ursprung  der  Sprache.   S.  27. 


Die  Ent Wickelungsgeschichte  der   menschlichen  Sprache.  lOQ 

stand,  denn  aus  rouler  hätte  beim  Uebergang  in  unsre  Sprache 
ein  Wort  entstehen  müssen,  welches  etwa  ruhlen  lautete.  Dass 
nun  aus  ruhlen  rollen  gebildet  wurde,  verräth  uns  ein  Bemühen, 
dem  Worte  durch  eine  Lautveränderung  onomatopoetische  Kraft 
und  damit  eine  grössere  Verständlichkeit  zu  geben.  Wie  die 
Geologen  aber  nun  schliessen,  dass  die  gegenwärtig  an  und  in 
unsern  Planeten  sich  vollziehenden  Gestaltenwechsel  von  Anfang  an 
in  gleicher  Art  sich  vollzogen  haben,  so  können  auch  wir  aus  der 
bis  in  die  Neuzeit  unverminderten  Lust  zur  Lautschilderung  mit 
Recht  vermuthen,  dass  derselbe  Hang  auch  bei  den  ersten  Anfangen 
der  Sprachbilduug  sich  geregt  haben  müsse.  Diese  Erklärung  hat 
Max  Müller  auf  schnippische  Weise  abzufertigen  gesucht,  indem 
er  sie  eine  Bau-wau-Theorie  nannte,  weil  bei  den  ersten  Sprach- 
schöpfungen die  Kuh  Muh  und  der  Hund  etwa  Bauwau  in  Nach- 
ahmung ihres  BrüUens  und  Bellens  genannt  worden  seien.  Er 
selbst  aber  sucht  den  Vorgang  ins  Mystische  hinüberzuspielen.  Jeder 
Körper,  meint  er,  habe  seinen  besondern  Klang,  wie  Glas  und 
Glocken  und  so  habe  auch  der  Gedanke  die  Sprach  Werkzeuge 
gleichsam  zu  den  angemessenen  Schwingungen  genöthigt.  Mit 
Anspielung  auf  den  Glockenton  ist  daher  Max  Müllers  Erklärung 
als  Bimbaumtheorie  (ding-dong)  von  anderen  wieder  verspottet 
worden.  In  neuerer  Zeit  neigt  man  sich  der  älteren  Auffassung 
mit  Vorliebe  zu.  Als  der  Sprachforscher  A.  Pott  über  die 
örtlich  verschiednen  Ausdrücke  für  Donner  eine  linguistische  Heer- 
schau in  allen  Welttheilen  hielt,  ergab  sit:h  am  Schlüsse,  dass  die 
Mehrheit  der  Völker  den  Eindruck  jener  Schallerscheinung  durch 
einen  Nachhall  im  Ausdruck  wieder  zu  geben  versuche').  An 
andern  Beispielen  hat  Tylor  gezeigt,  dass  Menschenstämme  in  weit 
abgelegenen  Erdräumen  dieselben  Lautgruppen  für  geräuschvolle 
Bewegungen  gebrauchen.  Das  Hervorbrechen  stark  gespannter 
Luftarten,  alles  was  heflig  geblasen  wird,  bezeichnen  Malayen, 
Australier,  Afrikaner,  Asiaten  und  Europäer  mit  Lauten,  die  pu 
und  puf  sehr  nahe  kommen.  Auch  der  Name  für  das  Rind 
§ovq^  bos,  bou,  bo  findet  sich  bei  Hottentotten  und  Chinesen  wieder*). 
Ferner  darf  nicht  übersehen  werden,  dass  unsre  Kinder  bei  ihren 
ersten  Sprechversuchen    einen   gehörten  Schal^  mit   ihren   Stimm- 


i)  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft.   Berlin  1865. 
Bd.  3.  S.  359. 

2)  Anfänge  der  Cultur.  Bd.  i.  S.  202 — 210. 


HO  Die  Entwickelungsgeschichte  der  menschlichen  Sprache. 

Werkzeugen  nachzuahmen  und  Thiere  fast  ausschliesslich  mit  den 
Thierlauten  zu  bezeichnen  pflegen.  Der  Kreis  der  Wahrnehmun- 
gen, die  sich  durch  Tonmalerei  ausdrücken  lassen,  ist  aber  be- 
schränkt auf  diejenigen  Vorgänge,  welche  mit  Schallerregungen 
verknüpft  sind,  denn  es  gibt  ja  keine  Tonmalerei  für  das,  was 
wir  durch  das  Gesicht  oder  den  Tastsinn  wahrnehmen. 

Erleichtert  dachte  man  sich  die  ersten  Anfänge  der  Sprach- 
bildung durch  die  unwillkürlichen  Thätigkeiten  unsrer  Stimmwerk- 
zeuge bei  starker  innerer  Erregung.  Der  Schrei  der  Freude  und 
des  Entsetzens  ist  noch  jetzt  Eigenthum  selbst  der  gebildeten 
Völker.  Wir  bringen  den  Schrei  bei  der  Geburt  mit  auf  die 
Welt,  denn  das  erste  Lebenszeichen  eines  Kindes  besteht  in  einer 
Thätigkeit  seiner  Stimmwerkzeuge.  Der  Schrei  ist  uns  allen  ver- 
ständlich, obgleich  nie  Unterricht  oder  Uebung  stattfindet,  ja  das 
Schreien  genügt  in  den  ersten  Monaten  des  Lebens  vollständig 
zur  Ankündigung  der  verschiedenen  Bedürfnisse.  Ohne  dass  eine 
Absicht  des  Sprechens  vorhanden  ist,  wird  doch  das  Schreien  ver- 
standen und  Kinder  bedienen  sich  noch  eine  Zeit  lang,  ja  noch 
lange  Zeit,  sehr  bald  mit  Bewüsstsein  und  Absichtlichkeit  des 
Schreiens  zur  Verständigung.  Ebenso  mag  das  Schreien  der  Er- 
wachsenen in  den  ersten  Anfängen  der  Sprachbildung  noch  lange 
Zeit  das  Sprechen  vertreten  haben  und  Schreilaute  haben  sich  als 
Ausrufungen  noch  bis  in  die  Gegenwart  erhalten.  Nur  muss  auch 
hier  wieder  gewarnt  werden,  dass  wir  unser  Ach!  und  Weh!  nicht 
ableiten  dürfen  aus  der  Zeit  der  ersten  Sprachursprünge,  denn  es 
ist  unzählige  Male  schon  gelungen,  solche  Rufe,  die  scheinbar 
unwillkürlich  sich  dem  gepressten  Herzen  entringen,  als  abge- 
kürzte Worte,  ja  Redensarten  zu  entlarven.  Das  englische  zounds 
entsprang  aus  by  GocTs  woundsl  und  alas  aus  Oh  me  lassoH) 
Der  westafrikanische  Neger  ruft  vor  Furcht  oder  Staunen  mämd 
mdmd,  der  Indianer  Neucalifomiens  and!  Beides  bedeutet  Mutter 
und  wie  unerwachsene  Kinder  rufen  sie  also  die  Schützeria  ihrer 
Jugend  zu  Hilfe  ^).  Bedeutsam  ist  nur,  dass  solche  Lautausbrüche 
noch  in  keiner  gebildeten  Sprache  völlig  entbehrt  werden  können. 
Die  Sprache  der  Thiere   ist  aus  Nichts  zusammengesetzt    als    aus 


i)  Whitney,  Language  and  the  study  of  language.  London  1867,  p.  277. 
2)  Tylor,  Anfange  der  Cultur.  I,  176 — 77. 


Die  Entwickelungsgeschichte  der  menschlichen  Sprache.  m 

solchen  hervorbrechenden  Lauten  der  Stimmwerkzeuge  und  dass 
der  Mensch  zu  allen  Zeiten  seine  inneren  Bewegungen,  Schmerz, 
Freude,  Schreck,  Ueberraschung,  Abscheu  durch  solche  Signale 
ausgedrückt  habe,  bedarf  nur  des  Nachdenkens,  nicht  des  Be- 
weises '). 

Dazu  gesellt  sich  als  wichtiges  Hilfsmittel  die  Betonung.  Unser 
Ja  und  unser  Nein  verstatten  eine  Stufenleiter  der  Aussprache,  aus 
welcher  der  Fragende  oder  Bittende  deutlich  heraushören  kann,  ob 
die  Bewilligung  oder  Zustimmung  eine  freudige  oder  saure,  die  Ver- 
neinung eine  schwankende  oder  eine  entschiedne  sei,  überhaupt 
in  welcher  Stimmung  beide  Aeusserungen  erfolgen.  Der  Sinn  des 
Rufeö  P/ut\  wenn  er  klanglos  ausgesprochen  wird,  dürfte  jedem, 
der  des  Deutschen  nicht  mächtig  wäre,  völlig  dunkel  bleiben,  mit 
voller  Betonung  des  Abscheues  ausgestossen,  würde  aber  selbst 
ein  Feuerländer  errathen  können,  dass  diese  Lautgruppe  den 
Gegensatz  einer  Billigung  ausdrücken  solle.  Die  Betonung  aber, 
die  etwas  ursprüngliches,  nichts  erworbenes  und  andrerseits  nichts 
beabsichtigtes,  sondern  etwas  unwillkürlich  hervorbrechendes  ist, 
konnte  bei  dem  Beginn  der  Sprachbildang  das  gegenseitige  Ver- 
ständniss  mächtig  fördern.  Es  'ist  gewiss  nichts  zufalliges,  dass 
gerade  die  formlosen,  einsylbigen  Sprachen  die  Betonung  noch 
immer  als  wichtige  Aushilfe  zur  Unterscheidung  gleichlautender 
Wurzeln  benutzen. 

Aehnüch  wirkte,  nicht  auf  das  Gehör,  sondern  auf  das  Auge 
das  Mienenspiel  und  die  Gebärdensprache.  Die  sogenannten 
wilden  Völker  üben  ungelehrt  und  unbewusst  oder  wenigstens  nur 
halb  bewusst  die  Kunst,  welche  unsere  Schauspieler  durch  müh- 
same Uebung  vor  dem  Spiegel  sich  von  neuem  aneignen  müssen. 
Die  Buschmänner,  bemerkt  Lichtenstein,  verständigen  sich  unter 
einander  mehr  durch  Gebärden  als  durch  Reden  *).  Es  gibt  jedoch 
eine  Mehrzahl  solcher  Körperbewegungen,  deren  Sinn  keineswegs 
von  allen  Menschenstämmen  übereinstimmend  gedeutet  wird,  es 
sind  sogar  Zweifel  verstattet,  ob  in  dem  Ballen  der  Faust  überall 
auf  Erden  eine  Drohung,  im  Stampfen  mit  dem  Fusse  ein  Aus- 
bruch des  Unwillens  erkannt  werden  sollte.      Wird    doch   bei    den 


1)  Steinthal  (Psychologie  und  Sprachwissenschaft.  Berlin  1871.  S.   367). 
hält  die  Interjectionen  für  ReflexJaute. 

2)  Reisen  im  südlichen  Afrika.  Berlin  1811.  Bd.  2.  S.  82. 


112  Die  EntwickeluQgsgeschichte  der   menschlichen  Sptache. 

Basutonegem  ein  glücklicher  Volksrednei  durch  Zischen  belohnt, 
also  von  den  Zuhörern  nicht  ausgezischt,  sondern  bezischt').  Viele 
Gebärdet!  haben  vielmehr  nur  durch  gegenseitige  Verständigung 
ihren  Sinn  erliallen.  Unter  anderm  bejahen  die  Türken  durch 
Kopfschütteln  und  verneinen  durch  Nicken.  Im  alten  Griechen- 
land wurde  ein  Bittender  durch  Zurückwerfen  des  Hauptes  (ava' 
VfveivJ  abgewiesen  und  in  Süditalien  winkt  man  heran,  wenn  die 
Hand  mit  dem  Rücken  an  die  Brust  gelegt  wird  und  die  Finger 
nach* dem  Herbeizuziehenden  spielen*).  Dennoch  schlummert  in 
jedem  Menschen  die  Gabe,  sich  durch  Zeichen  zu  verständigen. 
Alle  Seefahrer,  die  ein  fremdes  Gestade  betraten,  eröffneten  mit 
den  Eingebornen  einen  Verkehr  durch  diese  Mitlei  und  es  gelang 
ihnen  dann  immer,  Wasser  oder  Nahrung  zu  erhalten.  Ueberall 
auf  Erden  ist  der  Mensch  auf  dieselbe  Gebärdenmalerei  zum  Aus- 
druck seines  Gedankens  gefallen.  Die  Taubstummen  sind  die 
Erfinder  ihrer  eignen  Zeichensprache  gewesen,  woraus  wir  den 
schönen  Satz  gewinnen,  dass  der  Mensch  auch  ohne  Sprechwerk- 
zeuge zu  einem  Verständiglingsmittel  gelangt  wäre.  Die  Mehrzahl 
ihrer  Sprach  zeich  en ,  vor  allen  die  Luftzeichnungen,  bedürfen  zum 
Verständnisa  keiner  weiteren  Erklärung,  so  dass  man  sagen  durfte, 
die  Taubstummen  bedienten  sich  derselben  Gebärden,  die  im 
stummen  Verkehr  der  Indianer  von  der  Hudsonsbai  bis  zum  mexi- 
kanischen Golfe  üblich  waren.  Auch  konnte  sich  schon  ein  taub- 
stummer Engländer  durch  seine  tagesgewohnten  Zeichen  mit  den 
Lappländern  in  einer  Schaubude  verständigen.  Endlich  soll  sich 
die  unglückliche  Laura  Bndgman,  eine  blinde  Taubstumme,  bei 
welcher  jede  äussere  Anleitung  hinwegfiel ,  was  freilich  gerechten 
Zweifehl  unterliegt,  derselben  pantomimischen  Bewegungen  bedient 
haben,  wie  sie  bei  anderen  Menschen  gesehen  werden  ^j. 

So  gab  es  denn  in  der  Zeit  der  ersten  Sprachentwickelung 
eine  Anzahl  von  Hilfsmitteln  zur  Mittheilung  des  Gedankens,  zu- 
gleich aber,  da  der  Mensch  von  allen  Geschöpfen  am  stärksten 
zur  Geselligkeit  sich  neigt,  trieb  ihn  das  Bedürfniss,  sich  irgendwie 
mit    seinem    Nächsten    zu    verständigen.      Trotzdem    ist    es    noch 


l)  CasalLs,   Los  BasEüutof.  Paris  1859.  p.  247. 

1}  Kleinpaol,   zur  Theorie   der  Gebärdensprache.   Zeitschr.    f.    Völker- 
psychologie. Betlio  1869.  Bd.  fi.  S.  36a. 

3)  Tylor,  Urgeschichie  der  Menschheil.   S.  21.  S.  44.  S.  69.  S.  86. 


Die  Entwickelungsgeschichte  der  menschlichen  Sprache.  n^ 

schwierig,  sich  den  ersten  Sprechversuch  zu  erklären.  Eine  Ab- 
sicht, durch  die  Stimmwerkzeuge  einem  andern  einen  Gedanken 
mitzutheilen,  darf  nicht  angenommen  werden,  dazu  hätte  ja  gehört, 
dass  der  Sprechende  sich  bewusst  gewesen  wäre,  dass  ein  Laut 
überhaupt  zur  Gedankenmittheilung  dienen  könne.  Selbst  wenn 
aber  der  erste  Sprecher  mit  einem  bestimmten  Laut  einen  be- 
stimmten Gedanken  verknüpft  haben  würde,  so  hatte  er  doch,  da 
sich  an  jede  Verlautbarung  jeder  Gedanke  knüpfen  lässt,  gar  keine 
Aussicht,  verstanden  zu  werden').  Eine  Aufhellung  dieses  dunklen 
Vorganges  wäre  nicht  denkbar,  wenn  nicht  ein  jeder  von  uns  selbst 
einmal  aus  dem  sprachlosen  Zustande  sich  hätte  emporarbeiten 
müssen.  Ein  jedes  Kind  muss  die  Sprechversuche  der  Menschheit 
wiederholen,  nur  dass  bei  seinem  Entwicklungsgang  durch  das  Ent- 
gegenkommen der  Erzieher  eine  Anzahl  Mittelglieder  übersprungen 
werden.  Das  Erwachen  des  Sprachverständnisses  und  die  Sprach- 
schöpfung lassen  sich  deshalb  bei  jedem  Kinde  neu  beobachten.  Zu 
den  übereilten  Behauptungen  L.  Geigers  gehört  es  auch,  dass  keine 
neuen  Worte  mehr  erfunden  werden  sollen.  Die  jugendlichen  Ame- 
rikaner hätten  ihn  vom  Gegentheil  belehren  können.  Der  Partei- 
narae  Locofoco,  der  Geheimbundname  Kluklux,  der  Sectenname  Mor- 
monen sind  willkürliche  Erfindungen.  Schurlemurle,  wie  ein  Getränk 
au«  gemischtem  Wein  in  Würzburg  genannt  wird  und  Pic-nic  lassen 
sich  wohl  schwerlich  von  älteren  Ausdrücken  ableiten.  Wer  aber 
Kinder  beobachtet  hat,  der  wird  über  den  Zweifel,  dass  Sprach- 
laute nicht  zu  neuen  Gruppen  zusammengestellt  werden  sollten, 
nur  staunen  können^).  In  Südafrika  verlassen  die  Bewohner  öder 
Strecken  ihre  Ortschaften,  in  denen  die  Kinder  unter  Aufsicht 
von  etlichen  altersschwachen  Leuten  zurückbleiben.  Die  Jugend 
beginnt  nun  eine  eigene  Sprache  sich  zu  schaffen,  die  lebhafteren 
fügen  sich  dabei  den  minder  entwickelten  und  im  Laufe  eines 
einzigen  Geschlechtes  vermag  sich  auf  solche  Weise  das  Wesen 
der  Sprache  zu  ändern^).  Zwei  Worte,  die  in  allen  Sprachen  der 
Erde  erklingen,   sind  von  Kindern  geschaffen  worden  'und   werden 


1)  Steinthal,   Psychologie  und  Sprachwissenschaft.   Berlin  1871.   S.    84. 

S.  370  ff. 

2)  S.  einen  solchen  Fall  bei   Steinthal,    Psychologie    u.    Sprachwissen- 
schaft. Bd.  I.  S.  382.  §  510. 

3)  Max  Müller,  Science  of  language,  tom.  II,  54. 
PcscheU  Völkerkunde.  8 


114 


■:  Entwickelungsgeschichle  der   menschlichen  Sprache. 


von  jedem  Kinde  aufs  Neue  wieder  geschaffen,  nämlich  die  Laute 
Papa  und  Mama.  Der  anfängliche  Ma-  oder  /"a-Laul  des  Kindes 
ist  durchaus  kein  Sprechversuch ,  sondern  nur  eine  Uebung  der 
Sprach  Werkzeuge,  hervorgegangen  aus  einem  inneren  physischen 
Drange,  ohne  Absicht  und  Bewusstsein,  um  nichts  besser  oder 
höher  als  der  Schüll !  scAü//. '-Ruf  unsrer  Buchfinken.  Die  Eltern- 
Uebe  hat  aber,  so  iange  Menschen  auf  Erden  wandeln,  stets  in 
süsser  Täuschung  das  Kind  missverstanden ,  als  sei  ein  Lockruf 
beabsichtigt  gewesen,  als  verlange  das  Kind  nach  Vater  oder 
Mutter.  Dass  nun  diese  ersten  Uebungen  der  Stimmwerkzeu^'e  den 
Laut  des  künftigen  Wortes,  die  Deutung  der  Eltern  aber  den  Sinn 
der  t^ute  bestimmten,  erkennen  wir  daraus,  dass  in  einer  Anzahl 
von  Sprachen  der  ^n-Laut  für  Vater,  der  ma-Laut  für  Mutter  gi!t 
und  in  einer  g^eicVicn  Anzahl  das  Umgekehrte  eintritt').  Andere 
Kinderl.iute  für  Watter  sind  ai/hef  (gothisch)  und  a//a  (sanskr.), 
letzterer  auch  für  die  ältere  Schwester  giltig,  Al/a  sieht  im  Latein 
und  Griechischen,  auch  im  Gothischen  für  Väterchen,  wohin  auch 
iic/fi-  für  Grossvater  in  deutschen  Mundarten  gehört').  Das 
lallende  Kind  hat  nun  verschiedne  Stufen  des  Sprach  Verständnisses 
KU  ersteigen,  denn  es  muss  zunächst  die  Erfahrung  erwerben,  dass 
bei  seinen  ma-  oder  /'rr-Uebungen  entweder  die  Eltern  herbeikom- 
men oder  den  gegenwärtigen  Freude  bereitet  wird.  Dann  erst  Äird 
der  Laut  von  dem  Kinde  absichtsi'oll  geäussert,  aber  erst  \iel 
später  und  nicht  ohne  entgegenkommende  llemühung  der  Ehern 
ifHingt  es  endlich,  dass  der  eine  Laut  für  den  Vater,  der  andere 
für  die  Mutter  als  Lockruf  angewendet  werde,  Monate,  ja  Jahre 
verstreichen,  ehe  hierauf  die  Erkenntniss  durchbricht,  dass  Jifüiiia 
und  Papa  nicht  Eigennamen  sind,  sondern  für  alle  Kinder  zu- 
nächst die  Ernährer  und  Erzieher  bezeichnen.  Erst  bei  einer 
späteren  Reife  entdeckt  das  Kind  weiter,  dass  jene  Xamen  den 
Erzeugern  zukommen  und  den  wahren  vollen  Inhalt  erfassen  selbst 
lue  Erwachsenen  erst  dann,  wenn  sie  die  Freuden  und  Sorgen  von 
Vätern  oder  Müttern  gekostet  haben.  Wenn  auch  nicht  vollständig, 
t.o  doch  annähernd  gleicht  der  Entwicklungsgang  im  zarten  Lebens- 
alter den  ersten  Sprech  versuchen  unsros  Geschlechts, 

I)  Eine   Muslening  iler  Vater-  und  MultcrTufe   aus  Spr:ichen   aller   Welt- 
theile  findet  sich  bei  d'O  TliiKny,  rilomme  amiricain.  p.  79. 

3j  A.    BacmcLsfer   in   der  Ailgem.  Zeitung.    1871.    Beilage   29.   Octbr 


Die  Entwickelungsgeschichte  der   menschlichen  Sprache.  i\^ 

Ueber  den  Reichthum  der  Sprache  entscheidet  immer  nur  das 
Bedürfniss  nach  MittheUung  und  dieses  müssen    wir    uns    bei    den 
Entwicklungsanfängen  unsres  Geschlechts  sehr  gering  denken.    Die 
Engländer  rühmen  sich  eines  Schatzes  von   100,000  Wörtern,   ihre 
Feldarbeiter   aber    sollen    sich    angeblich    nur    mit    300    begnügen. 
Nicht  mehr  will  ein  Geistlicher  bei  einem  Tagelöhner  seines  Kirch- 
spiels  auf  einer   friesischen    Insel  gezählt  haben.     Ein   Mann   von 
Durchschnittsbildung,    so    belehrt    uns    Kleinpaul'),    verfügt    über 
3 — 4000,  ein  grosser  Redner  über  10,000  verschiedne  Wörter  und 
in  den  Berliner  Taubstummenanstalten  kommen  nicht  weniger   als 
5000   Zeichen   zur   Anwendung.      Dass    mit    dem   Bedürfniss    nacb 
Ausdruck  auch  die  Menge  der  Ausdrücke  wachse,  beweisen  uns  die 
Zahlwörter,  die  gewöhnlich  nicht  über  zwanzig  bei  rohen  Menschen- 
stämmen hinausreichen.    Alex.  v.  Humboldt  war  der  erste,  der  das 
Entstehen  von  Zahlengruppen  zu  5,  10  und   20   Einheiten  auf   die 
Anzahl  der  Glieder  an  Händen  und  Füssen  zurückführte,   so    dass 
wir    mit    sechsfingrigen    Händen    zum    Duodecimalsystem    gelangt 
wären  ^).     Indessen  gibt  es  doch  Ausnahmen  namentlich  bei  einem 
australischen  Stamme,  der  nur  zwei  Zahlworte  verwendet,   so  dass 
gesagt  wird  für  i  netaf  *  für  2  naes ;  für  3  naes-netat;    für  4    nacs- 
naes ;     für     5     naes-naes-nctat ;     für    6    naes ^naes" naes  ^),      Andere 
australische  Mundarten  besitzen  einen  unabhängigen  Ausdruck   für 
drei  und   in   einem   der   dortigen   Sprachgebiete  reichen    die   Zahl- 
wörter bis  15  oder  20  ^).     Orton    behauptet,    dass   die  Zaparos   in 
Ecuador  am  Napöstrome  nur  -bis  drei  zählen   können   und   höhere 
Mehrheiten    nur    durch    Aufheben    der    Finger    ausdrücken  5),    und 
das    nämliche    versichert    der    Prinz    zu    Neuwied^)    von     den  Bo- 
tocuden.     Nach  näheren  Untersuchungen    möchten    sich    aber    bei 
den  meisten  der  genannten    Völkerstämme   günstigere   Thatsachen 
ermitteln  lassen ,    denn  auch  den   Abiponen    sind    Zahlwörter   über 
drei  abgestritten  worden.      Jn    Wahrheit   aber    sagen    sie   statt  vier 
,,Straussenzehen",  für  Fünf  gebrauchen  sie  zwei  Ausdrücke,  für  zehn 


1)  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie   und  Sprachwissenschaft.  Berlin  1869. 
Bd.  6.  S.  354.' 

2)  A.  V.  Humboldt's  Leben,  herausgegeben  von  Carl  Bruhns.  Bd.  3.  S.  9. 

3)  Latham,  Opuscula.  p.  228. 

4)  Tylor,  Anfange  der  Cultur.  Bd.  T.  S.  24T. 

5)  James  Orton,  The  Andcs  and  the  Amazon.  London  1870.    p.  170. 
6^  Reise  nach  Brasilien.  Frankfurt  1825.  Bd.  2.  S.  41. 

8» 


Il6  Die  Entwickelungsgeschichte   der  menschlichen  Sprache. 

sagen  «ie  „Finger  zweier  Hände**,  für  Zwanzig  „Finger  und  Zehen 
an  Händen  und  Füssen**  *).  Uns  selbst  fehlt  ein  Ausdruck  für 
zehntausend,  wie  ihn  die  griechische  Sprache,  ein  andrer  für  hun- 
derttausend (Lak),  oder  für  zehn  Millionen  (Kror),  wie  ihn  die 
indische  Sprache  besitzt,  die  reichste  der  Erde  an  Ausdrücken  für 
hohe  Ziffern  bis  zu  solchen  mit  51  Stellen,  weil  diese  bei  den 
Zahlenspielereien  der  Sankhjäphilosophen  und  der  Buddhisten  viel- 
fach *  zur  Anwendung  gelangten.  Das  Wort  Million  war  den 
Völkern  des  classischen  Alterthums  fremd  und  der  Ausdruck 
Milliarde  ist  erst  in  ^unserm  Jahrhundert  in  Umlauf  gesetzt  worden. 
Ein  Vergleich  der  Sprachen  dürftig  entwickelter  Menschen- 
stämme lässt  uns  die  Erfahrung  gewinnen,  dass  die  Wahrnehmung 
der  Arten  unterschiede  um  vieles  früher  eintrat,  als  die  Erkenn  tniss 
der  übereinstimmenden  Merkmale  innerhalb  der  Gattung.  Die 
rohen  Jägerstämme  benennen  den  Biber,  Wolf  und  Bär,  sie  haben 
aber  keinen  Namen  für  Thier*).  Den  Sprachen  der  Australier 
fehlen  Ausdrücke  für  Baum,  Fisch  und  Vogel,  wohl  aber  ist  an 
Bezeichnungen  der  einzelnen  Arten  kein  Mangel^).  Das  Gleiche 
lässt  sich  von  den  sogenannten  Rothhäuten  Nordamerikas  sagen, 
denn  in  der  Tschoctasprache  gibt  es  .wohl  Bezeichnungen  für  die 
Weiss-,  Roth-  und  Schwarzeiche,  aber  keine  für  die  Eichengattung. 
Wenn  wir  Nahrungsmittel  zu  uns  [nehmen ,  sei  es  Suppe ,  Brod, 
Fleisch,  Gemüse  oder  Brei,  bedienen  wir  uns  stets  des  Wortes 
essen,  die  Huronen  aber  wechselten  den  Ausdruck  je  nach  der 
Verschiedenheit  des  Genossenen^).  Die  Eskimo  wieder  besitzen 
Sonderausdrücke  für  das  Fischen,  je  nach  den  angewendeten  Ge- 
räthen^).  Die  Malayen  unterscheiden  roth,  blau,  grün,  weiss,  aber 
es  fehlt  ihnen  das  Wort  für  Farbe.  Die  Tasmanier  haben  keine 
Eigenschaftswörter,  sondern  statt  hart  sag^n  sie  „steingleich**,  statt 
rund  „mondgleich**,  statt  hoch  „mit  langen  Beinen**. 


i)  Dobrizhoffer,   Gfeschichte  der  Abiponer.  Bd.  2.  S.  202. 

2)  Auch  die  griechische  Sprache  hat  insofern  kein  "Wort  für  Thier,  als 
(^(3ov  den  Menschen  mit  einschliesst,  weswegen  sich  das  Lied  „Mensch  und 
Thiere  schliefen  feste"  (freilich  kein  beklagenswerther  Uebelsland)  nicht  in 
das  Griechische  übersetzen  lässt.  Steinthal,  Zeitschrift  für  Völkerpsycho- 
logie. 1869.  Bd.  6.  S.  480. 

3)  Lubbock,  Prehistoric  Times.  2.  ed.  p.  437. 

4)  Charlevoix,  Nouvelle  France.  Paris  1744.  tom.  III,  p.  197. 

5)  La t harn,  Varieties  of  Man,  p.  376. 


Der  Bau  der  menschlichen  Sprache.  ny 

An  Lauten  sind  die  Sprachen  verschieden  ausgestattet.  Den 
Arabern  fehlen  die  Schnalzlaute  der  Hottentotten,  uns  selbst  fehlen 
wieder  viele  arabische  Consonanten,  die  grÖsste  Armuth  aber  wird 
wohl  in  der  Südsee  angetroffen.  Die  Polynesier  verfügen  nämlich 
nur  über  die  zehn  Consonanten  f,  k,  1,  m,  n,  ng,  p,  s,  t,  v,  welclie 
wiederum  bloss  auf  Fakaafo  und  Vaitupu  rein  und  vollständig  vor- 
handen sind^),  während  die  Bewohner  der  Tupuai-Gruppe  südlich 
von  Tahiti  nur  acht  m,  n,  ng,  p,  r,  t,  v  und  einen  mit  '  be- 
zeichneten Kehllaut  festgehalten  haben*).  Die  gleiche  Lautarmuth 
auf  den  Sandwichinseln  ist  durch  Verfall  entstanden,  nichts  ursprüng- 
liches und  einfaches,  denn  andre  polynesische  Sprachen,  die  reicher 
an  Consonanten  geblieben  sind,  haben  sich  desto  mehr  alterthüm- 
liche  Formen  bewahrt.  Wird  damit  die  Thatsache  verknüpft,  dass  die 
Sprache  der  Buschmänner  namentlich  wegen  ihrer  Schnalzlaute  zur 
Verlautbarung  den  Sprach  Werkzeugen  die  höchsten  Anstrengungen 
auferlegt,  so  könnte  man  zu  dem  Schluss  ^verleitet  werden,  dass 
bei  den  uranfanglichen  Sprechversuchen  ein  grösserer  Vorrath  an 
Lauten  zur  Verwendung  gekommen  sei^).  Doch  gibt  es  auch  Ge- 
lehrte, die  das  Gegentheil  behaupten^),  so  dass  eine  allgemein 
giltige  Regel  vorläufig  noch  nicht  ausgesprochen  werden  darf. 


2.   Der   Bau   der  menschlichen   Sprache. 

Die  fremden  Sprachen,  mit  welchen  wir  Europäer  in  unsern 
Schuljahren  uns  beschäftigen,  seien  es  ältere  oder  neuere,  besitzen 
alle  mehr  oder  weniger  grammatische  Formen,  mit  Hilfe  deren  den 
Wurzellauten  eine  bestimmte  Verrichtung  im  Satze  zugewiesen 
wird.  So  entsteht  die  Täuschung,  dass  jede  Sprache  nothwendig 
durch  zugefügte  Sylben  oder  Laute   deutlich  Hauptwort,    Fürwort, 


1)  V.  d.  Gabelentz,  Die  melanesischen  Sprachen  in  den  Abhandl.  der 
phiL  hist.  Classe  der  k.  sächs.  Gesellschaft  der  Wissensch.  Bd.  3.  Leipzig 
1861.  S.  253. 

2)  Haie,  Ethnogr.  p.  142. 

3)  W.   H.  J.  Bleek,   Ueber  den  Ursprung  der  Sprache.  Weimar  1868. 

s.  53. 

4)  Whitney,  Language  and  the  study  of  I-anguage.  p.  467.  The  ten- 
dency  of  phonetic  change  is  always  towards  the  increase  of  the  aiphabet. 


IlS  Der  Bau  der  menschlichen  Sprache. 

Zeitwort,  Präposition,  Conjunction  erkennen  lassen  müsse.  Die 
-erste  Ueberraschung  wird  dem  Neuling  durch  die  semitischen 
Sprachen  bereitet,  denen  es  zwar  an  den  Formen  nicht  fehlt,  die 
sich  aber  ungewohnter  ]Mittel  zu  ihren  Sinnbegrenzungen  bedienen. 
Das  Staunen  wächst,  wenn  die  Erkundigung  sich  über  afrirkanische 
und  nordasiatische  Sprachen  erstreckt,  bei  denen  nicht  blos  die 
Unterscheidung  eines  grammatischen  Geschlechtes,  sondern  sogar 
des  Zeitwortes  völlig  wegfällt.  Dass  es  aber  Sprachen  geben  sollte^ 
die  nicht  einmal  bis  zur  Wortbildung  sich  erhoben  haben,  versetzt 
uns  anfangs  in  ungläubige  Rathlosigkeit,  besonders  wenn  hinzuge- 
setzt wird,  dass  ein  hochstehendes  Culturvolk  in  einer  solchen 
Sprache  Werke  von  tiefer  Lebensweisheit  und  Erzählungen  von 
hohem  künstlerischen  Schliff  und  Feinheit  abgefasst  habe.  Gleich- 
wohl sind  die  besten  Beweise  vorhanden,  dass  alle  Sprachen  einst 
aus  diesen  rohen  Anfängen  hervorgegangen  seien. 

Bei  allen  einsylbigen  Sprachen  mangeln  jene  Laut-  oder  Sylben-- 
Zusätze,  durch  welche  anderwärts  Hauptwort,  Eigenschaftswort  oder 
Zeitwort,  und  noch  vielmehr  solche,  an  denen  der  Träger  einer 
Handlung  von  ihrem  Gegenstande  unterschieden  wird,  denn  es 
sind  überhaupt  noch  keine  Worte,  sondern  nur  Wurzeln  vorhanden. 
Warnen  möchten  wir  jedoch  sogleich  den  Unvorbereiteten,  dass  er 
nicht  etwa  die  einsylbigen  Klänge  unsrer  Sprache  mit  der  wurzel- 
haften Einsylbigkeit  verwechsle.  Wohl  können  wir  lange  Sätze  bil- 
den mit  einsylbigen  Worten,  wie  etwa:  Der  Mann  ging  auf  die 
Jagd  und  schoss  ein  Reh  u.  s.  w.,  allein  in  diesem  Beispiele  ist  die 
Einsylbigkeit  von  gin-g,  von  Jag-d  nur  eine  scheinbare  und 
die  von  schoss  eine  zufällige.  Noch  weit  mehr  als  unsre  Mutter- 
sprache ist  das  Englische  durch  Lautverwitterung  und  Abschlei- 
fung  einem  Zustande  starrer  Einsylbigkeit  nahe  gebracht  worden^ 
allein  aus  seinem  früheren  Zustande  hat  es  sich  doch  die  klare 
Unterscheidung  der  grammatischen  Categorien  gerettet')  und  nur 
bei  etlichen  Fällen,  wie  butttr^  oil^  P^'PP^r^  cudgel  muss  der  Hörer 
oder  Leser  aus  dem  Sinn  der  Rede  errathen,  ob  das  Hauptwort 
Butter,  Oel,  Pfeffer,  Knüttel  oder  das  Zeitwort  mit  Butter  be- 
streichen, einölen,  pfeffern  oder  prügeln  angewendet  werden  sollte'}. 

Das  Chinesische  ist  die  Sprache,   welche  aller  grammatischen 


I)  Whitney,  Language  and  the  study  of  langnage.  p.  264, 
',\  Tylor,  Urgeschichte  der  Menschheit.  S.  80. 


Der  Bau  der  inenschUclien  Sprache.  119 

Sinnbegrenzungen  entbehrt.  Ihr  fehlen  alle  Beugungen,  jede  Unter- 
scheidung von  Hauptwort  und  Zeitwort,  jede  Wortbildung  über- 
haupt. Die  Lautgruppe  sin  kann  Ehrlichkeit,  ehrlich;  ehrlich  sein, 
ehrlich  handeln,  ja  sogar  trauen  bedeuten.  Was  es  in  einem  ^ge- 
gebenen Falle  bedeuten  solle,  entscheidet  die  Stellung  im  Satze 
und  der  Sinn  der  ganzen  Rede').  Durch  die  Berührung  von  Wurzel 
mit  Wurzel  wird  der  Sinn  begrenzt  und  es  entsteht  auf  diese  Weise 
ein  ähnliches  Verständniss  bei  den  Hörenden  wie  bei  der  Wort- 
bildung. Der  Deutlichkeit  wegen  werden  auch  im  Englischen  bis- 
weilen Synonymen  wie  ivay-paih  gehäuft,  oder  Classificationszusätze 
wie  fnaple-iree  angewendet^).  Auch  im  Deutschen  sagen  wir 
Haifisch,  Tannenbaum,  Elenthier.  Doch  gewähren  diese  Beispiele 
nur  entfernte  Analogijen,  denn  Wortzusammenfügungen  dürfen  streng 
genommen  nie  mit  Wurzelgruppirungen  verglichen  werden.  Die 
lateinische  Sprache  schreibt  kein«  Wortstellung  im  Satzbau  vor, 
oder  sie  überlässt  die  Stellung  der  Redetheile  der  künstlerischen 
Absicht  des  Sprechers,  das  Chinesische  dagegen  folgt  den  strengsten 
Vorschriften  im  Satzbau.  Alle  Wurzeln,  die  für  eine  nähere  Be- 
stimmung (Attribut)  dienen  sollen,  sei  es  als  Eigenschaftswort  oder 
Genitiv,  müssen  dem  zu  Bestimmenden,  sei  es  nun  ein  Subject 
oder  ein  Zeitwort,  vorausgehen. .  Alle  Ergänzungen  (Objecte)  aber 
müssen  hinter  dem  zu  ergänzenden  (Zeitwort)  nachfolgen.  Wie 
fast  zu  errathen,  lässt  die  Gruppirung  zweier  Wurzeln  in  unzähl- 
baren Fällen  einen  Doppelsinn  zu.  Werden  ischung  treu  und  kyün 
Fürst  vereinigt,  so  könnte  ein  Europäer  zweifeln,  ob  damit  Fürsten- 
treue oder  Unterthanentreue  gemeint  sei.  In  allen  solchen  Fällen 
hat  aber  längst  der  Redebrauch  fest  entschieden,  in  welchem  Sinne 
ausschliesslich  eine'  solche  Gruppirung  statthaft  ist  und  da  der 
Chinese  überhaupt  nur  Unterthanenpflichten  kennt,  so  bedeutet 
jene  Gruppe  Loyalität.  Die  chinesischen  Wurzelgruppen  bestehen 
oft  aus  mehreren  Gliedern.  Für  nicht  übereinstimmen  sagt  der 
Chinese;  ich  Ost,  du  West  ni  hing  wo  si  und  für  plaudern:  du 
fragen,  ich  antworten  ni  wen  zvo  ia.     Gewicht  heisst  leicht  «schwer 


1)  Stein thal,  Charakteristik  der  hauptsächlichsten  Typen  des  Sprach- 
baues. Berlin  1860.  S.  117.  Ueberhaupt  ist  der  obige  Abschnitt,  wo  nicht 
andere  Nachweise  beigebracht  werden,  diesem  nicht  hoch  genug  zu  schätzen- 
den Buche  entlehnt  worden. 

2)  Whitney,  Study  of  Language.  p.  335. 


I20  I^er  ßau  der  menschlichen  Sprache. 

khing  tschung  und  Abstand  fern-nahe  ywan  kin,  Aehnliche  Wortbil- 
dungen in  unsrer  Sprache  sind  Helldunkel,  Pianoforte,  im  Spani- 
schen calofrio  warmkalt  für  Fieber  und  altihajo  hochniedrig  für 
einen  Hieb  von  oben  nach  unten').  Da  ihnen  ein  Wort  für 
Tugend  fehlt,  sagen  die  Chinesen  Unterthanentreue ,  Ehrfurcht 
gegen  Eltern,  Mässigung,  Gerechtigkeit  tschun  hyau  tsye  /",  sie  zählen 
also  auf,  was  sie  für  die  höchsten  Pflichten  des  Chinesen  halten. 
Bei  allen  solchen  Wurzelzusammenfügungen  ist  die  Reihenfolge 
stets  vorgeschrieben.  Wer  in  Wurzeln  spricht,  also  der  Chinese, 
kann  auch  nicht  einfach  sagen:  lesen  oder  essen,  sondern  er  muss 
sagen  Buch  lesen  oder  Reis  essen. 

Es  gibt  indessen  selbst  im  Chinesischen  schüchterne  Aniange 
zur  Wortbildung.  Allerdings  bewahren  alle  Wurzeln  immer  ihre 
Selbstständigkeit,  doch  gibt  es  einzelne,  durch  deren  Beifügung 
andere  Wurzeln  zu  einem  Hauptwort  erhöht  werden.  Die  Wurzel 
thau  Kopf  hat  diese  Wirkung  überall.  So  kann  tschi  je  nach  seiner 
Stellung  zeigen  oder  Finger  bedeuten,  ischi^thau  aber  heisst  stets 
Finger.  Wiederum  wird  eine  Wurzel  mit  der  Bedeutung  Sohn  tsz 
zu  Verkleinerungen  verwendet,  so  dass  aus  Schwert  tau  Schwert- 
sohn tau-tsz  mit  der  Bedeutung  Messer  gebildet  wird.  Beim  Zählen 
von  Gegenständen  wird  stets  ein  Stückname  hinzugefügt,  wie  wir 
etwa  auch  im  Deutschen  sagen  ein  Laib  Brot,  ein  Blatt  Papier, 
ein  Bund  Heu,  eine  Elle  Leinwand.  Handelt  es  sich  um  Götzen- 
bilder, Gelehrte  oder  Beamte,  so  setzt  der  Chinese  zur  Zahl  noch 
die  Prädicäte  Ehrwürden,  Würden,  Kleinode  bei*).  Bei  Thieren 
wird  das  Geschlecht  durch  Beifügung  zweier  Wurzeln  angedeutet, 
die  in  dieser  Verbindung  den  Sinn  von  Mann  oder  von  Mutter 
verleihen.  Die  Mehrzahl  aber  bilden  die  Chinesen  durch  Zusatz 
der  Wurzeln,  die  den  Sinn  von  viel  oder  von  allen  besitzen. 

Das  Stellungsgesetz  reicht  also  hin,  um  mit  einsylbigen  Wurzeln 
der  Rede  völlige  Klarheit  zu  geben.*  Der  Stolz  der  Chinesen  kann 
also  sein,  mit  diesem  einfachen  Mittel  die  höchsten  Anforderungen  des 


i)  Tobler,  psycholog.  Bedeutung  der  Wortzusammensetzungen  in  Zeit- 
schrift für  Völkerps)'chologie.  Bd.  5.  Berlin  1868.  S.  209. 

2)  Die  Mexicaner  und  Malayen  fügen  dem  Zahlwort  immer  noch  Stein 
hinzu,  die  Javanen  Korn,  die  Niasmalayen  Frucht.  Man  sagt  also  in  diesen 
Sprachen  nicht  drei  Hühner,  vier  Kinder,  fiinf  Schwerter,  sondern  drei  Steine^ 
Hühner,  vier  Kömer  Kinder,  fünf  Früchte  Schwerter.  Tylor,  Urgeschichte, 
S.    208. 


Der  Bau  der  menschlichen  Sprache.  12 1 

Gedankenaustausches  befriedigt  zu  haben.  Dennoch  müssen  wir  das 
Chinesische  unter  allen  Sprachen  der  Erde  auf  die  niedrigste  Ent- 
wicklungsstufe stellen.  Es  belastet  das  Gedächtniss  mit  dem  Fest- 
halten einer  übergrossen  Anzahl  von  Wurzelgruppen,  denen  allein 
der  Gebrauch  ihren  unabänderlichen  Sinn  verliehen  hat  und  'er- 
schwert dadurch  unnöthig  den  Erwerb  der  Sprache  selbst.  Unbe- 
greiflich  ist  es  daher,  dass  der  scharfsinnige  Steinthal  das  Chine- 
sische zu  seinen  Formsprachen  rechnen  konnte,  nachdem  er  doch 
selbst  eingesteht:  „Berücksichtigt  man  allein  den  morphologischen 
Bau,  so  würde  die  Ordnung  eine  andre  werden  müssen.  Vorzüg- 
lich würde  das  Chinesische,  welches  jetzt  eine  so  hohe  Stelle  ein- 
nimmt, an  die  imterste  gerückt  werden  müssen')".  Was  würde 
Steinthal  von  einem  Zoologen  halten,  der  die  hochbegabte  Ameise, 
weil  sie  durch  ihre  psychischen  Vorzüge  weit  über  dem  Lanzett- 
fischchen  steht,  unter  die  W^irbelthiere  reihen  wollte?  Und  gleicht 
er  nicht  selbst  einem  solchen  Systematiker? 

Bei  den  südlichen  Nachbarn  der  Chinesen,  den  Bewohnern 
von  Siam  und  Birma  finden  wir  ebenfalls  nur  einsylbige  Sprachen. 
Doch  sind  sie  bereits  reicher  als  das  Chinesische  an  Wurzeln,  die 
zur  Sinnbegrenzung  verwendet  werden.  Ihr  Stellungsgesetz  schreibt 
indessen  vor,  dass  im  Siamesischen  die  Hilfswurzel  der  Hauptwurzel 
stets  vorausgehe,  im  Birmanischen  ihr  folge*).  Durch  die  Beifügung 
dieser  Wurzeln  werden  nun  Hauptwörter  und  Zeitworter,  sowohl 
solche,  die  in  eine  Thätigkeit,  wie  solche,  die  einen  leidenden  Zu- 
stand ausdrücken,  unterschieden.  Wir  dürfen  wohl  annehmen,  dass, 
wenn  diese  beiden  Sprachen  ungestört  ihrer  Entwicklung  überlassen 
werden,  die  Wortbildung  bei  der  einen  vorherrschend  durch  Wurzel- 
vorsätze (Präfixe),  bei  der  anderen  durch  Wurzelzusätze  (Suffixe) 
sich  vollziehen  würde. 

An  das  Birmanische  und  Siamesische  schliessen  sich  örtlich 
die  malayisc'hen  Sprachen  an,  die  theils  die  sinnbegrenzenden  Laut- 
gruppen der  Hauptwurzel  vorausschicken,  theils  sie  ihr,  jedoch 
minder  häufig  hinzufügen.  Eine  grosse  Kluft  trennt  sie  bereits 
von  den  bisher  geschilderten  Typen,  da  wir  bei  ihnen  mehrsylbigen 
Wurzeln  begegnen.  Noch  immer  aber  werden  keinerlei  Redetheilc 
streng  unterschieden,    so  dass   dieselbe  Wurzel  oder  Wurzelgruppe 


i)  Typen  des  Sprachbaues.  S.  328. 
2)  Steinthal,  1.  c.  S.  148. 


122  I^cr  Bau  der  menschlichen  Sprache.  ' 

die  Verrichtung  eines  Hauptwortes,  Eigenschaftswortes,  Thätigkeits- 
wortes,  ja  selbst  einer  Präposition  vollziehen  kann.  Keinerlei  Laut- 
gruppen sind  vorhanden,  durch  deren  Beifügung  Geschlecht,  Casus, 
Zahl,  Zeit,  Modus  oder  Person  ausgedrückt  werden  könnte.  Bios 
Fürwörter,  hinweisende  Partikeln  und  einige  Präpositionen  ver- 
richten bereits  ihre  besonderen  grammatischen  Aufgaben.  Nur  die 
persönlichen  Fürwörter  sind  durch  Verbindung  mit  den  Zahlaus- 
drücken einer  Art  von  Mehrheitsbestimmung  fähig  und  zwar  ent- 
steht dadurch  nicht  blos  ein  Dual  und  Plural,  sondern  beide  For- 
men können  einschliessend  oder  ausschliessend  gebraucht  werden,, 
je  nachdem  der  oder  die  Angeredeten  mit  einbegriffen  werden 
sollen  oder  nicht.  Ein  achtes  Zeitwort  fehlt  noch  gänzlich,  es 
treten  vielmehr  an  seine  Stelle  Plauptwörter,  die  eine  Thätigkeit 
ausdrücken,  etwa  wie  wenn  wir  den  Gedanken:  ich  gehe  nach 
Osten,  durch  die  Worte:  mein  Gang  nach  Osten  wiedergeben 
wollten.  So  liegt  in  dem  Präfix  ba  des  Dayakischen  der  Sinn,  mit 
etwas  behaftet  sein.  Aus  iiroh^  Schlaf  entsteht  batiroh,  schlafen, 
aus  kahovut  Decke,  bakahovut^  bedeckt,  also  iä  batiroh  bakahovut^ 
wörtlich:  er  mit  Schlaf  mit  Decke,  vertritt  den  Gedanken:  er 
schläft  bedeckt. 

Eigenthümlich  ist  diesen  Sprachen  der  häufige  Gebrauch  von 
Wiederholungen  und  Verdoppelungen,  die  auf  älteren  Entwicklungs- 
stufen auch  sehr  hoch  gestiegenen  Sprachen  eigen  gewesen  sind, 
wie  im  Lateinischen  sich  in  quisqtiis  noch  ein  Rest  solcher  Wort- 
bildungen, sowie  in  dedii  \in^  peperit  ähnliche  Trümmer  aus  der 
Vorzeit  erhalten  haben.  Die  malayischen  Sprachen  unterscheiden 
übrigens  die  einfache  Wiederholung,  bei  welcher  die  Betonung  un- 
verändert bleibt,  von  der  Verdoppelung,  bei  welcher  das  vordere 
Wort  die  Betonung  verliert.  Durch  die  Wiederholung  drücken  sie 
Vervielfachung,  Steigerung  oder  Dauer,  durch  die  Verdoppelung  aber 
eine  Abschwächung  oder  Flüchtigkeit  aus,  so  das  UndäUndä  oft, 
Undä  Undä  dagegen  von  Zeit  zu  Zeit  innehalten  bedeutet')  Diese 
Spärlichkeit  von  sinnbegrenzenden  Hilfsmitteln  schliesst  aber  nicht 
einen  Reichthum  an  Ausdrücken  aus.  Im  Malayischen  gibt  es  nicht 
weniger  als  zwanzig  Lautbildungen  für  den  Begriff  schlagen,  je 
nachdem  mit  einem  dünnen  oder   dicken    Holz,    sanft,    von    obeir 


I)  Steinthal,  Sprachtypeii.  S.  156.    Whitney,  Study  of  language,  Lon* 
tlon  1867.  p.  338. 


Der  Bau  der  menschlichen  Sprache.  123 

I 

nach  unten,  von  unten  nach  oben,  in  ebner  Richtung,  mit  der 
Hand,  mit  der  flachen  Hand,  mit  der  Faust,  mit  einer  Keule,  mit 
einer  scharfen  Kante,  mit  einer  Fläche,  etwas  gegen  etwas,  mit 
einem  Hammer  geschlagen  oder  etwas  wie  ein  Nagel  einge- 
schlagen wird. 

Ueber  den  Norden  Asiens  und  Europas  in  fünf  grossen 
Gruppen,  der  tungusischen ,  mongolischen,  türkischen,  samo- 
jedischen  und  finnischen  hingelagert ,  finden  wir  einen 
Sprachbau,  der  sich  streng  auf  Wurzelzusätze  (Su(fixe)  beschränkt. 
■Mittelst  dieser  Zusätze  wird  die  grammatische  Verrichtung  eines 
Wortes  im  Satze  schon  ziemlich  scharf  bestimmt.  Der  Zusatz  ~sif 
bezeichnet  eine  Person,  die  m^t  dem  Gegenstand  der  vorausgehen- 
4en  Wurzel  sich  beschäftigt.  Aus  ati  Waare  bildet  der  Jakute 
ati'sit  Kaufmann,  aus  ayi  Schöpfung  ayi-sit  Schöpfer.  Durch  An- 
fügung von  ~ir  wird  eine  Thätigkeit  bezeichnet  und  aus  tial  Wind 
wird  daher  tialir  wehen.  Dieser  Gruppirung  von  Wurzeln  ist  keine 
Grenze,  gesetzt,  so  dass,  um  an  ein  oft  gebrauchtes  Beispiel  zu 
erinnern,  der  Osmane  den  Gedanken :  nicht  dazu  gebracht  werden 
können  sich  einander  zu  lieben,  durch  die  Gruppirung  sewsch^-dir- 
il-eme  in  einem  Worte  aussprechen  kann.  Uebrigens  gestatten 
auch  Formsprachen  eine  ausserordentliche  Anhäufung  der  sinnbe- 
grenzenden Lautglieder,  z.  B.  das  Englische  in  folgender  Reihe, 
true^  tru'th,  truth^ful^  truth/ul-ness^  tm-iruth/ulness.  Die  Einfach- 
heit des  suffigirenden  Verfahrens  und  die  Aussicht,  einen  ver- 
wickelten Gedanken  in  einer  einzigen  Sylbengruppe  auszusprechen, 
mag  anfangs  bestechen,  dennoch  sind  diese  Sprachen  nie  dahin  ge- 
langt, ein  Zeitwort  zu  bilden,  sondern  sie  begnügen  sich  mit  Be- 
nennungen der  Thätigkeitsträger  (Nomina  verbi),  etwa  wie  wir 
sagen  ^ie  Mitlebenden  (Nomen  praesentis),  die  Verstorbenen  (No- 
men perfecti),  der  Gefangene,  der  Absender').  Im  Türkischen 
bedeutet 

dog-mak  schlagen 

Jog'ur  ein  schlagender 

dog'ur-uvi  ein  schlagender  ich  =  ich  schlage 

dog'ur-lar  schlagende  (Schläger)  sie  ==  sie  scWagen^). 
Die  Sprachen  der   ural-altaischen  Völker   bereichern    uns    mit 


i)  Steinthal,  Sprachtypen.  S.  193. 

2)  Whitney,  Study  of  Language.  London  1867.  p.  319. 


124  ^^^  ^^^  ^^^  menschlichen  Sprache. 

einem  Einbhck  in  die  Vorgänge   der  Wortbildung.     Ihr  Sprachbau 
begnügt  sich  nämlich  nur   mit   der  Anlöthung    (Agglutination)   von 
Lautgruppen.     Etwas  .ähnliches  kommt  selbst  in   solchen   Sprachen 
noch  vor,  bei  denen  sonst   Verschmelzungen   üblich   sind.     Treten 
zwei  Lautgruppen  zusammen ,    ohne  sich  zu   verändern  und  ohne 
ihren  selbstständigen  Sinn  zu  verlieren,  so  sind  sie  »ur  locker  ge- 
einigt (agglutinirt).     Wenn  wir  solche  Wörter  wie   muth-voll,   geist^ 
reiche    laui~arm  in    ihre    beiden  Hälften  zerschneiden,  können  das 
Hauptwort  wie  der  sinnbegrenzende  Zusatz  für  sich   allein    fortbe- 
stehen.    Auf  solche  Bildungen  beschränken  sich  die  uralaltaischen 
Sprachen,  überhaupt  alle  solche,    die   sich   mit  der  Anlöthung  be- 
gnügen.    Wurden  aber  längere  Zeit  dieselben  Wurzeln  vorzugsweise 
nur  zur  Sinnbegrenzung  verwendet    und    verloren    sie    durch    den 
Gebrauch  ihre  Selbstständigkeit,    so   dass   sie   nur  noch    zur   Aus- 
hilfe   dienten,    entschwand    später    ihre     ursprüngliche  Bedeutung 
dem  Bewusstsein  der  Sprechenden ,    so  wurde  bereits   eine   höhere 
Gliederung   des   Sprachbaues   erreicht.     Diesen   Fall  vertreten    Bil- 
dungen in  unsrer' Sprache,  wie  tugend^haft^    irag-bar,    un^deuilichy 
Die  Anhängsel   -äö/7,   ^har  ^und    die    Vorsatzsilbe    un-   können    in 
unsrer  Sprache   nicht    mehr    selbstständig    auftreten,    sondern    sie 
haben  ihre  Freiheit  eingebüsst,    seit   ihre   ursprüngliche  Form   und 
ihre  ehemalige  Bedeutung  dem  Sprachverständniss  entrückt  wurden. 
Endlich  ist  noch  ein  dritter  Fall  denkbar,   dass   in  Folge  der  An- 
löthung die   sinnbegrenzende  Wurzel   eine  Lautabänderung  in   der 
Hauptwurzel    voDzog    und    beide    Gruppen   derartig   verschmolzen, 
dass  nun  keine  von  beiden  selbstständig  mehr  bestehen  kann,  wie 
etwa  in  solchen  Bildungen  als  hölz-ern^  lüsi-ern^  schzvier-ig^  bläu-lich. 
Ein    KeiiÄ    zu    Lautverwandlungen    ist    nun    schon    in    den 
uralaltaischen    Sprachen    vorhanden ,    wenn    er    auch    nur  .  durch 
das  Bestreben  nach  Wohlklang  (Vocalharmonie)  herbeigeführt  wurde. 
Die    acht   Vocale   jener    Sprachen    zerfallen    nämlich    in    schwere, 
leichte,  harte  oder  weiche  und  nach  dem   Sprachgebrauch   darf  in 
der  nachfolgenden  Zusatzwurzel  entweder  nur  derselbe  oder  irgend 
ein  bestimmter  andrer  Vocal   folgen.      So    besteht    im    Jakutischen 
die  Nachsatzwurzel,  welche  die  Mehrheit  ausdrückt,  aus  der  Laut- 
gruppe Ar,  welcher  Vocal   aber  zwischen    /   und    r    hineinzutreten  ' 
habe,  wird  durch  den  Vocal  der  Hauptwurzel  entschieden,  so  dass 
aja4ar  die  Väter,  o%o4or  die  Kinder,  äsä4är    die    Bären    gebildet 
werden  muss.     Dieses  musikalische  Bestreben  könnte  bewirken,  dass 


Der  Bau  der  menschlichen  Sprache.  125 

vielleicht  in  späterer  Zeit  die  Verschmelzung  der  Begrenzungszusätze 
(Suffixe)  mit  dem  herrschenden  Wort  sich  gänzlich  vollzöge. 

Lehrreich  ist  es  daher,  dass  wir  auf  einem  andern  Sprachge- 
biete, nämlich  bei  den  nichtarischen  Bewohnern  Südindiens  oder 
der  Dravidagruppe.  ebenfalls  lautharmonische  Gesetze,  jedoch  mit 
rückwärts  gerichteter  Wirkung  antieffen.  Dort  nämlich  tritt  der 
Vocal  der  sinnbegrenzenden  Sylbe  als  Herrscher  auf  und  zwingt 
den  Vocal  der  vorausgehenden  Hauptwurzel,  sich  mit  ihm  in  Wohl- 
klang zu  setzen.  Die  W^orte  katti  Messer  und  puli  Tiger,  ver- 
wandeln sich  durch  den  Begrenzungszusatz  /«,  der  eine  Mehrheit 
ausdrückt,  nicht  in  katii^lii  und  puli-luy  sondern  in  kattulu  die 
Messer  und  pulalu  die  Tiger'). 

Wenn  die  uralaltaischen  Sprachen  die  sinnbegrenzenden  Wur- 
zeln stets  der  Hauptwurzel  nachfolgen  lassen,  also  zu  den  nach- 
setzenden (suffigirenden)  Sprachen  gehören,  so  finden  wir  in  ganz 
Südafrika  bis  zum  Aequator  mit  einziger  Ausnahme  der  Hotten- 
totten und  Buschmänner  innig  verwandte  Sprachen,  welche  sämmt- 
lich  die  sinn  begrenzenden  Sylben  der  Hauptwurzel  vorausschicken, 
jedoch  auch  Zusätze  (Suffixe)  nicht  ausschliessen.  Wenn  wir  bei 
der  Delagoabai  an  der  Ostküste  beginnen  und  nach  Süden  fort- 
schreiten, stossen  wir  auf  Flüsse  mit  den  Namen  Um-komanzi,  Um-zuti, 
Um-kuzi,  üm-volosi,  Um-hlutane,  Um-lazi,  Um-gababa,  üm-kamazi,. 
Um-tenta  u.  s.  f.^)  Daraus  könnte  man  schliessen,  dass  das  Präfix 
Um  Wasser  bedeute,  wie  im  Deutschen  das  Suffix  -ach  in  Namen 
wie  Bacharach,  Aichach,  Stockach,  Lörrach,  Elzach.  Doch  finden 
sich  auch  südafrikanische  Namen  für  Berge  und  Ortsnamen,  denen 
die  Sylbe  um  vorausgeht.  Hordennamen  werden  gebildet  durch 
die  Vorsatzsilbe  wa,  ^la-tebele,  Ma-sai,  Ma-kua,  Ma-ravi,  Ma-kololo, 
oder  durch  das  Doppelpräfix  ö-wa,  wie  Ama-)(Osa,  Ama-pondo, 
Ama-tonga,  Ama-zulu,  wofür  wir  setzen  könnten:  die  Leute  des 
Häuptlings  Xosa,  Pondo,  Tonga,  Zulu.  Vielleicht  gab  es  in  einer  nicht 
allzugrossen  Vergangenheit  einen  Häuptling  Namens  Suto,  nach  ihm 
benannten  sich  die  Ba-suto  als  Leute  des  Suto,  der  einzelne  hiess  ein 
Ma-suto,  ihr  Land  nannten  sie  Le-suto  und  ihre  Sprache  Sc-suto.  Aus 
diesem  Beispiele  erkennen  wir,  welche  sinnbegrenzenden  Wirkungen 

1)  Dr.    Friedr.    Müller,    Reise    der    Fregatte    Novara.     Linguistischer 
Theil.  S.  81.  "* 

2)  Bac  nie  ister  im  Ausland.  1871.  No.  25.  S.  577. 


126  I^er  Bau  der  menschlichen  Sprache. 

die  Vorsatzsylben  Ba-^  Ma-^  Le-  und  Se-  nach  sich  ziehen.   Da,  wo 
sich  diese  Präfixen   in  Vollständigkeit  erhalten   haben,   finden   wir' 
deren  i6,  vielleicht  18,  von  denen  die  meisten    entweder   nur  eine 
Mehrheit  oder  nur  die  Einheit  anzeigen.    Nur  zwei  von  diesen  Vor- 
satzsylben    unterscheiden     unzweideutig     natürliche    Unterschiede, 
nämlich  Mu  und  Ba^  beide  werden  für  Personen,  die  eine  für  die 
Einheit,  die  andre  für  die  Mehrheit  gesetzt  und  vielleicht  bedeutete 
ehemals  Mu  Person  und  Ba  Leute  *).     Jedes  Hauptwort  und  ebenso 
jeder  Thätigkeitsausdruck,  um  nicht  zu  sagen*  jedes  Zeitwort  ist  mit 
einer  vorgesetzten  Sylbe  versehen,  so  dass  ein  Präfix  ein   so  uner- 
lässlicher  Bestandtheil  eines  Wortes  in  diesen  Sprachen  ist,  wie  ein 
Suffix  in  den  altern  Zweigen  der  arischen  Sprachenfamilie ^).    Dass 
die  Vorsatzsylben  ehemals  selbstständige  Worte  waren,   dürfen  wir 
vertrauensvoll  aussprechen,  aber  ihre  Bedeutung  ist   aus    dem  Be- 
wusstsein  der  jetzigen  Geschlechter  entschwunden  und  die  Sprach- 
gliederung ist  hier  bereits  so  weit  gediehen,  dass  Lautgruppen  aus- 
schliesslich nur  zu    grammatischen    Leistungen    verwendet  .werden. 
Der  Gebrauch  der  Präfixe  erfordert  unter  anderm,  dass  das  Eigen- 
schaftswort   die    nämliche    Vorsatzsylbe    wie    das    Hauptwort    em- 
pfängt.    Wäre  das  Lateinische  eine  präfigirende  Sprache,  so  würde 
es  statt   vitt'-um   hon-um   heissen   müssen   um-vin  um-bon.      Im    Zulu 
bedeutet  tyi  Stein  und  bi  hässlich,   i  ist   der    unbestimmte    Artikel 
und    li  das  unerlässliche    stellvertretende    Präfix.      Daher    entsteht 
i4i-tyi  i'li'bi  e'm  hässlicher  Stein.  Ja  sogar  der  Genitiv  wird  durch  das 
Präfix  des  Nominativs  ausgedrückt,  so  heisst  im  Zulu  i-si-iya  s-o-m- 
fazi  die  Schüssel  der  Frau  und  u^ku-dhla  kw-o^n^/azi  die  Nahrung 
der  Frau,    S^chm^fazi  und  hv-o-m-fazi  sind  die  Genitive  von  u-m-fazi 
Frau,    die    mit    dem    Hauptwort    im     Präfix     zusammenklingen^). 
Uebrigens  verwenden  die  südafrikanischen  Sprachen  auch  Suffixe  zu 
vielgliedrigen  Wortbildungen^). 

i)  W.  H.  Bleek,  Comparative  Grammar  of  South  African  Languages. 
London  1869.  S.  95. 

2)  Whitney,  Study  of  language.  London  1867.  p.  345.  In  der  Suto- 
sprache  sagt  man  ba-ntu  (Menschen),  ba-otle  (alle),  ha-molemo  (gute),  ba-lefatse 
(der  Welt),  ba-ratoa  (die  Geliebten),  was  so  viel  bedeutet,  wie:  in  der  Welt 
werden    alle    guten  Menschen    geliebt.     Casalis,   Les  Bassoutos.  Paris  1859. 

P.    339. 

3)  Bleek  im  Joum.  of  the  Anthrop.  Institute.  London  1872.  tom.  I- 
p.  LXXI. 

4)  Aus   bomtj    sehen    wird    isi-bonn,  Gegenstand    des    Sehens,    isi-boniso' 


Der  Bau  der   menBchlicIien  Sprache,  127 

Eine  neue  Art  des  Sprachbaues  treffen  »ir  L>ei  den  Völkern 
Amerikas  mit  Ausschluss  der  Eskimo.  Wilhelm  v.  Humboldt  hat 
ihr  Verfahren  das  einverleibende  genannt,  weil  dabei  die  Satzbildnng 
völlig  von  der  Wortbildung  verdrängt  werden  kann.  Der  auicrika- 
nische  Eingeborne  vermag  nämhch  einen  verwickelten  Gedanken  in 
ein -einziges  Wort  zusammenzumauern.  In  der  Tschirokispraclir  kann 
man  sagen :  ivi-m-tmtt-li-ge-gi-na-U-skaiv-lung-ia-naiü-ne-ie-ii-fi-sli, 
was  soviel  bedeutet  wie :  sie  werden  um  diese  Zeil  zu  Ende  gekommen 
sein  mit  ihren  (Gunst-)  Bezeugungen  an  dich  und  mich').  S.lbsl  in 
solchen  amerikanischen  Sprachen,  die  nur  einen  massigen  Gebraucli 
der  Einverleibung  verstatten,  wird  doch  stets  zwischen  das  SuLijt-ct 
und  Zeitwort  das  Object  hineingeschoben.  Obendrein  werden  noch 
Sylben  der  eingeschobenen  Wörter  verschluckt,  so  dass  dann  die 
verstümmelte  Lnutgruppe  nur  noch  im  Zusammenhang  verslii  11dl  ich 
bleibt.  In  der  Del awaren spräche  wird  aus  opik  weiss  und  ,siuiiiii 
Stein,  opussuun,  also  Weissstein  gebildet  und  damit  das  SüIkt  be- 
zeichnet^), Ist  es  auch  nicht  strenges  Gesetz,  dass  wir  bei  hoch- 
gesitteten  Völkern  auch  hochentwickelte  Sprachen  finden,  da  wir 
ja  kurz  zuvor  das  Gegentheil  bei  den  Chinesen  eintreten  sahen 
und  umgekehrt  das  Hottentottische  uns  sogleich  überzeugm  koII, 
dass  einer  höher  entwickelten  Sprache  nicht  immer  eine  Gosilliing 
von  gleicher  Würde  entspricht,  so  erregt  gleichwohl  eine  hnchrnt- 
wickelte  Sprache  die  Erwartung,  in  ihrem  Gebiete  bürgerliclio  Zu- 
stande von  höherer  Reife  anzutreffen.  In  Amerika  redrif  d:is 
höchste  Cuhurvolk,  die  Altraexicancr ,  auch  die  besten twicki.lte 
Sprache,  das  Nahuall.  Schon  der  letztere  Name  deutet  durch  die 
Endlaute  -//  auf  einen  günstigen  Fortschritt,  Die  Sprr.cljr  ii  aus 
dem  uralaltaischen  Kreise  waren  noch  gar  nicht  zur  rechtrii  Wort- 
bildung gelangt,  während  im  Altmexicanischen  an  dem  .Ait-ilaute 
-//  Hauptwörter  kenntlich  werden.  Das  Wort  teo'fl,  Gctt  verliert 
bei  Zusammensetzungen  die  angehängten  Laute,  wie  Iri'-calli, 
Gotteshaus,  Tempel  oder  Uo-Ilallolli,  Gottes  Wort.  Aus  diesen 
Beispielen  gewahrt  man  zugleich,  dass    noch    nicht    alle    nalmatla- 


Vision,  bon-akala,  erscheinen,  isi-bonatala,  Erscheinung,  üi'bonatnl.y 
harung.     Ft.   Müller,    Reise   der   Fregafte  Novata.  Anlhropologie. 


ey,  Sludy  of  LanRuauc 
il traft   bei  Tyliir,  L'r;;i 


{ 


128  I^er  Bau  der  menschlichen  Sprache. 

kischen  Hauptwörter  mit  dem  //-Suffix  versehen  sind*).  Das  Alt- 
mexikanische  bedient  sich  zwar  wie  alle  amerikanischen  Sprachen 
der  Einverleibung  und  schiebt  das  Object  zwischen  Subject  und 
Zeitwort  ein,  wie  aus  schotschi-tl^  Blume  und  ni-temoa^  ich  suche,  ni" 
sckotschi'temoa,  ich  suche  Blumen  gebildet  wird,  doch  ist  daneben 
auch  ein  andrer  Satzbau  im  Gebrauch,  dass  nämlich  zwischen 
Subject  und  Zeitwort  nur  das  Pronomen  es  k  oder  Jemand  ie 
oder  etwas  Ua  eingeschaltet  \yird  und  dann  erst  das  Object  folgt. 
Aus  ni  ich,  k  es,  mikiia  tödten,  se  ein,  ioiolin  Huhn,  bildet  der 
Nahuatlake  den  Satz  ni-k^miktia  se  ioiolin,  ich  es  tÖdte  ein  Huhn. 
Auf  diese  Weise  wurde  dann  wieder  dem  Uebermaasse  der  Ein- 
verleibung gesteuert.  Die  Plurale,  die  nur  bei  belebten  Dingen, 
zu  denen  auch  die  Sterne  gezählt  werden,  vorkommen^),  werden 
auch  im  Nahuatl  durch  Anfügung  der  Suffixe  m^  und  iin  ausge- 
drückt, wie  lischka^il  Schaf,  itschka^mS  Schafe,  oder  ta^ili  Vater,  ia^tin 
Väter.  An  geistreichen  Wortbildungen  ist  ebenfalls  kein  Mangel ; 
aus  ome,  zwei  und  yolli,  Herz  entsteht  omeyolloa,  zweifeln;  aus 
nakasiliy  Ohr  und  isaisi,  schreien,  nakaisaisa^il,  einer  dem  ins  Ohr 
geschrieen  wird,  ein  Tauber. 

Bei  den  Präfixsprachen  der  südafrikanischen  Neger  bedeutet 
uvi'iu  einen  Mann,  uvi-fazi  eine  Frau,  um^ti  einen  Baum.  Die 
nämliche  Vorsatzsylbe  dient  also  für  Gegenstände,  die  doch  als 
männlich,  weiblich  und  als  geschlechtlos  hätten  aufgefasst  werden 
sollen.  Wird  erst  das  Hauptwort  vom  Zeitwort  durch  wahrnehm- 
bare Lautzusätze  unterschieden,  so  kann  auch  das  Geschlecht  der 
Hauptwörter  getrennt  werden.  Bisher  handelte  es  sich  nur  um 
Sprachen,  welche  grammatische  Geschlechter  nicht  unterschieden^ 
etzt  aber  wenden  wir  uns  zu  denen,  welche  die  Sexualität  aus- 
drücken. Wie  wirksam  bei  der  Mythenbildung  dieser  Sprachvor- 
zug gewesen  sei,  kann  erst  später  erläutert  werden,  Jiier  wollen 
wir  nur  andeuten,  dass  überhaupt  die  Forderung '  eines  gramma- 
tischen Geschlechtes   zu   schärferer  Beobachtung    der  Aussendinge 


i)  Steinthal,   Charakteristik.  S.  203. 

2)  Auch  in  der  Algonkinsprache  wird  zwischen  einem  belebten  und  un- 
belebten Geschlecht  unterschieden,  zu  ersterem  aber  die  Sonne,  der  Mond,  die 
Sterne,  Blitz  und  Donner,  die  Opfersteine,  die  Adlerfeder,  der  Kessel,  die 
Tabakspfeife,  die  Trommel  und  das  Wampun  gezählt.  Tylor,  Anfange  der 
Cultur,  I,  299. 


Der  Bau  der  menschlichen  Sprache.  I2Q 

anregte.  Spuren  einer  Geschlechtsunterscheidung,  wenigstens  beim 
Fürwort  der  dritten  Person,  sind  im  Tarawa^),  der  Sprache  auf  den 
Gilbert-  oder  Kingsmill-liiseln  anzutreffen,  andre  finden  sich  in  Süd- 
amerika bei  den  Abiponen*),  den  Arowaken  undMaypuren^),  endlich 
im  Khasi,  der  Sprache  der  Khasia  des  indischen  Assam^).  Durch 
ein  doppeltes  grammatisches  Geschlecht  zeichnen  sich  in  Afrika  die 
Sprachen  der  Hottentotten,  der  Haussa-Neger ,  endlich  der  Alt- 
ägypter aus.  Die  Sexualität  ist  überhaupt  der  wichtigste  Fortschritt 
im  Sprachbau  dieses  letzteren  Culturvolkes.  Sonst  sind  die  Wurzeln 
des  Altägyptischen  vorwiegend  einsylbige  und  manche  unter  ihnen 
können  wie  im  Chinesischen  als  Hauptwort,  Zeitwort  und  Eig'en- 
schaftswort  auftreten.  Dieselbe  Lautgruppe  bezeichnet  schreiben, 
eine  Schrift  und  einen  Schreiber,  dieselbe  leben,  lebendig  und 
das  Leben.  Andre  Wurzeln  jedoch  dienen  nur  als  Haupt-  oder 
als  Zeitwort.  Ein  vorgesetzter  Artikel,  der  freilich  nur  locker  ver- 
bunden ist,  lässt  indess  das  Hauptwort  deutlich  erkennen,  eine 
Declination  ist  aber  noch  nicht  vorhanden ,  sondern  wird 
durch  vorgesetzte  Präpositionen  vertreten.  Bei  der  Bildung 
des  Zeitwortes  werden  übrigens  die  Fürwörter  locker  dem 
Stamme  angefügt,  Zeit  und  Modus  aber  durch  vorgesetzte 
Hilfsworte  ausgedrückt.  Da  aber  diese  pronominalen  Suffixe  auch 
an  Hauptwörter  angehängt  werden  und  dann  den  Besitz  ausdrücken, 
so  wird  die  Trennung  des  Zeitwortes  vom  Hauptworte  noch 
immer  nicht  streng  vollzogen.  Ran^i  kann  übersetzt  werden : 
ich  nenne,  aber  auch:  mein  Name,  wörtlich  bedeutet  es  mein  Nennen^). 
In  manchen  ihrer  Wortbildungen  ist  diese  Sprache  so  kahl  wie 
das  Chinesische,  ja  mitunter  zweideutiger  als  das  letztere,  wekhes 
durch  seine  strengen  Stellungsgesetze  für  Klarheit  des  Verständ- 
nisses sorgt.  Doch  erhaben  ist  es  wiederum  über  diese  Sprache, 
insofern  die  sinnbegrenzenden  Zusatzlaute  ganz  unselbständig  sowie 
ihre  ursprünglichen  Formen  und  Bedeutungen  durch  Verschluckung  und 


i)  Horatio  Haie,  Unit.  States  Explor.  Expedition.  Ethnography.  Phila- 
delphia. 1846.  p.  441. 

2)  Dobrizhoffer,  Geschichte  der  Abiponer.  Bd.  2.  S.  200 — 206. 

3)  Bleek  im  Journ.  of  the  Anthropol.  Institute,  vol.  I.  p.  93. 

4)  Bleek,  1.  c.  Proceedings  p.  LXVII. 

5)  Whitney,  Study  of  language«  London  1867.  p.  342. 
PescheK  Völkerkunde.  9 


jTQ  Der  Bau  der  menschlichen  Sprache. 

Abschleifung  meist  bis  auf  einen  einzigen  Consonanten  ganz  •  un- 
kenntlich geworden  sind,  so  dass  sie  also  nur  noch  zu  gramma- 
tischen Zwecken  dienen. 

Eine  breite  Kluft  liegt  zwischen  den  höchst  entwickelten  der 
niederen  Sprachen  und  denen  des  semitischen  und  arischen  Völker- 
kreises. Hier  sind  die  sinnbegrenzenden  Lautbestandtheile  meistens 
fest  zusammengeschmolzen  mit  dem  Hauptstamme.  Die  Wurzel- 
haftigkeit  ist  am  Hauptwort  und  Zeitwort  völlig  verschwunden, 
eine  wahre  Beugung  und  eine  wahre  Wandelung  sind  vorhanden, 
nur  werden  sie  bei  den  Ariern  und  Semiten  auf  ganz  verschiedne 
Art  vollzogen.  Die  Sprachen  Vorderasiens  oder  die  semitischen 
sind  kenntlich  daran,  dass  ihre  Stämme  stets  drei  Consonanten 
zeigen,  wenn  auch  oft  genug  der  dritte  Consonant  dürftig  oder 
kümmerlich  vertreten  ist.  Vor,  nach  oder  zwischen  diese  Con- 
sonanten werden  Vocale  eingeschoben,  welche  die  Sinnbegrenzung 
vollziehen.  Der  Consonant  ist,  wie  Steinthal  es  glücklich  aus- 
spricht, der  Stoff  des  Gedankens  und  der  Vocal  verleiht  ihm  die 
Gestalt.  Man  könnte  auch  den  ersteren  mit  dem  Marmorblock 
vergleichen,  den  andern  mit  dem  Bildhauer.  Ein  oft  benutztes 
Beispiel  wird  das  eben  Gesagte  erläutern.  Für  alles,  was  sich  auf 
das  Vergiessen  von  Menschenblut  bezieht,  verwendet  die  arabische 
Sprache  die  Dreiconsonantengruppe  ^-/-/.     Daraus  bildet  sie 

qatala  er  tödtet 

qutila  er  wurde  getödtet 

qutilu  sie  wurden  getödtet 

uqtul  tödten 

qatil  tödtend 

iqtal  Tödtung  verursachen 

quatl  Mord 

qill  Feind 

qutl  mörderisch. 
Bei  dem  Zeitwort  verleiht  der  mittlere  Vocal  eine  transitive  oder 
intransitive  Bedeutung,  am  Vocal  der  ersten  Stammsylbe  wird  das 
Activum  (ö)  vom  Passivum  («)  unterschieden,  und  am  Vocal  des 
letzten  Consonanten  der  Modus,  wobei  u  den  Indicativ,  a  den 
Conjunctiv  ausdrückt,  während  beim  Jussiv,  der  eine  Aufforderung 
enthält,  der  Vocal  gänzlich  wegfallt.  Die  anderen  Wandlungen  des 
Zeitwortes  werden  durch  Präfixe  und  Suffixe  vollzogen,  die  aber 
ebenfalls  eine  Lautwirkung  auf  die  Vocale  der  Sylben,    denen    sie 


Der  Bau  der  menschlichen  Sprache.  iii 

vorgesetzt  oder  angehän^;!  werden,  ausüben.  Endsylben  bezeichnen 
Einheit  oder  Mehrheit,  sowie  die  drei  Casus  (Nominativ»  Genitiv 
und  Accusativ), 

Wir  dürfen  mit  Recht  bewundern  und  staunen,  wie  es  im  Hau 
der  semitischen  Sprachen  dem  menschlichen  Verstand  gelungen  ist. 
den 'Lauten  der  Sprach  Werkzeuge  eine  sinnbildliche  Bedeutung  vtr- 
liehen  zu  haben  und  dieses  Werkzeug  des  Gedankenaustiusclies 
auf  das  höchste  zu  vergeistigen.  Die  Entwicklungsgeschichte  dicsus 
Vorganges  bleibt  uns  vorläufig  völlig  dunkel,  da  nicht  einmal  \"lt- 
muthungen  vorhanden  sind  über  die  früheren  Stufen ,  weicht-  die 
Sprachbildung  überstiegen  hat. 

Eine  ebenbürtige  oder,  wie  Viele  wollen,  eine  höhere  Stelliin- 
nehmep  die  Sprachen  ein ,  welche  sich  um  das  Sanskrit  als  '  'nj- 
schwister  Schaaren ,  die  Sprachen  der  Indogermanen  oder  der 
arischen  Völker.  Ihr  Vorrang  vor  der  semitischen  Gruppe  l:i-st 
sich  zunächst  darauf  begründen,  dass  nicht  wie  bei  diesen  .;>vc-i, 
sondern  drei  Geschlechter  oder  vielmehr  geschlechtliche  und  L^e- 
schlechtslose  Dinge  unterschieden  werden.  Dieser  Vorzug  ist  aber 
im  Laufe  der  Zeiten  zum  Theil  wieder  verloren  gegangen.  Das  Nlu- 
engli sehe  unterscheidet  mit  wenigen  Ausnahmen  die  Geschleciiter  nur 
noch  bei  Menschen  und  Thieren,  sowie  die  geschlechtlosen  DiriLje. 
Auch  für  die  deutsche  Sprache  sind,  wie  Steinthal  bemerkt,  die  sjln'.iiien 
leiten  vorüber,  wo  wir  noch  sagten,  je  zweene  für  ein  Ä'aiiiii  r- 
paar,  je  zwo  für  ein  Frauenpaar,  je  zwei  für  ein  Kinderpaar  iJlt 
für  Mann  und  Frau  zusammen.  Das  Armenische  endlich  kninl 
keine  grammatische  Geschlechtsunterscheidung ').  Viel  bedeutsLimur 
ist  es  aber  noch,  dass  die  arischen  Sprachen  aliein  ein  ZeitMon 
sein  besitzen,  welches  selbst  den  semitischen  Sprachen  fehlt,  dw 
den  Gedanken  der  Güte  Gottes  nicht  durch  die  Worte  ausdrÜLki-ii 
können,  Gott  ist  gütig,  sondern  sagen  müssen,  Gott  der  Gii(i;;e, 
oder  Gott,  er  der  Gütige,  in  welchen  Sprachen  daher  auch  iui.ht 
die  Behauptung  möglich  war:  ich  denke,  folglich  bin  ich. 

Die  Entwicklungsgeschichte  innerhalb  dieses  Sprachenliroi^e.'i 
ist  weit  durchsichtiger,  als  bei  dem  semitischen.  Alle  Untersuch  uiiLieii 
haben  dahin  geführt,    dass  unsre  Ahnen  in   einer   grauen  \orKcii 


,  Alleem.  Zig.  1871.  S.  6374. 


172  Der  Bau  der  menschlichen  Sprache. 

mit  einem  massigen  Schatze  einsylbiger  Wurzeln  ihren  Gedanken- 
austausch vollziehen  konnten  und  ihre  Sprache  auf  einer  Stufe  stand,  wie 
noch  jetzt  das  Chinesische.  Doch  trat  die  Scheidung  der  Wurzeln 
für  die  Pronomina  so  früh  ein,  dass  sie  manchen  Beobachtern 
sogar  als  etwas  ursprüngliches  erscheint*).  Die  Ansicht  Jacob 
Grimms,  dass  der  Stamm  der  Wurzel  tu  auf  den  Begriff  gross 
sein,  wachsen  zurückführe,  so  dass  du  eigentlich  Grösse  bedeutet 
oder  etwa  heutige  Prädicate,  wie  Euer  Gnaden  vertrete,  wird  je- 
doch von  Kleinpaul  durch  die  Beobachtung  gestützt,  dass  der 
Chinese  aus  Höflichkeit  im  Gespräche  sich  selbst  erniedrigt  und 
statt  ich  habe  sich  ausdrückt  Diener  hat,  Knecht  hat,  Dumnikopf 
hat%  Im  Deutschen  hört  man  ganz  ähnlich  das  Wort  ich  durch 
meine  Wenigkeit  ersetzen.  Die  Wortbildung  geschah  ursprünglich 
durch  Anlöthung  der  sinnbegrenzenden  .Wurzel  am  Ende,  während 
Präfixe  nur  sehr  spärlich  angewendet  wurden,  nämlich  hauptsäch- 
lich bei  Verneinungen  durch  un  in  un-dankbar  oder  a  in  Atheis-" 
mus,  dann  durch  vortretende  Präpositionen,  wie  jwjdehnen, 
z'orschlagen,  e///rfÄschauen,  endlich  durch  das  vorausgehende  a  oder 
a  des  sogenannten'  Augmentes  bei  dem  ursprünglichen  Tempus 
der  Vergangenheit  •5).  Die  deutsche  Sprache  ist  übrigens  reich  an 
Präfixen,  deren  ursprüngliche  Bedeutung  dem  Verständniss  ent- 
schwunden ist,  wie  ^^schreiben,  <?rgründen,  s^rfieischen,  i'<?rkaufen 
u.  s.  w.  Die  ursprüngliche  Bedeutung  dieser  Hilfswörtchen  gehört 
längst  der  Vergessenheit  an  und  so  treten  sie  nur  noch  in  Dienst- 
barkeit als  sinnbegrenzende  Lautgruppen  an  oder  vor  die  Haupt- 
wurzel. In  neueren  Zeiten  aber  trat  ein  Verfall  der  Formbildungen 
namentlich  in  den  germanischen  Sprachen  ein.  Nachd<em  die 
Flexionsendungen  bis  zur  Unkenntlichkeit  sich  abgestumpft  hatten, 
griff  die  Sprachbildung  zum  Ersatz  für  bedeutsame  Affixe  und  Re- 
duplicationen  zu  einem  früher  nur  zufallig  und  beiläufig  angewen- 
deten Mittel  der  Sinnbegrenzung,  zu  dem  Vocalwandel.  Sie  be- 
nutzte den  Umlaut  von  a,  o,  u  in  ä,  ö,  ü  zur  Bildung  theils  der 
Plurale  theils  der  Conjunctive  (Vater,  Väter,  Mutter,  Mütter  oder 
konnte,  könnte,  trug,  trüge)  sowie  den  Ablaut  zu  verschiednen  Ver- 


1)  Whitney,  Study  of  language.  London  1867.  p.  261. 

2)  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie.  Berlin  1869.  Bd.  6.  S.  363. 

3)  Whitney,  Study  of  language.  p.  256.  p.  267. 


Die  Sprache  als  Classificationsmittel  der  Völkerkunde.  ji-i  '.», 

richtungen  vorzüglich  zur  Zeitabstufung  bei  Thätigkeitsausdrücken 
{hebe,  hob,  Abhub;  gebe,  gab,  gibst;  graben,  Grube).  So  ge- 
wöhnte sich  der  deutsche  Sprachsinn  an  einen  Vocalwandel, 
^ast  wie  der  semitische,  vielleicht  dass  die  semitischen  Sprachen 
auf  ähnlichen  Wegen  zu  ihrer  sinnbildlichen  Vocalisirung  ge- 
langt sind. 


3.  Die  Sprache  als  Classificationsmittel  der  Völkerkunde. 

Um  die  vielgestaltigen  Erscheinungen  innerhalb  des  IMenschen- 
geschlechtes  zu  sondern  und  in  Gruppen  zu  ordnen,  bedürfen  wir 
Merkmale,  die  dauernd  auftreten.  Wenn  also  die  Sprachen  sich 
beständig  ändern  ,  nicht  blos  der  Sinn  gewisser  Lautgruppen  sich 
in  bedenklich  rascher  Zeit  verwandelt,  sondern  auch  der  Sprachbau 
selbst  ein  andrer  werden  kann,  so  sinkt  die  Hoffnung  tief  herab, 
dass  die  Sprache  für  Classificationszwecke  uns  Dienste  leisten 
könne.  Wir  wissen  nur  zu  genau,  dass  die  Bewohner  Frankreichs 
vor  der  römischen  Herrschaft  eine  keltische  Sprache  redeten,  diese 
aber  mit  einer  neulateinischen  vertauschten.  Die  Bewohner  Deutsch- 
lands östlich  von  der  Elbe  gehörten  vor  etwa  tausend  Jahren  zur 
slavischen  Familie.  Umgekehrt  redeten  die  Bewohner  Islands  und 
Norwegens  noch  vor  acht  Jahrhunderten  die  nämliche  Sprache.  In 
Island  hat  sie  sich  beinahe  unverändert  erhalten,  in  Norwegen  hat 
sich  aus  ihr  das  Dänische  entwickelt.  Selbst  wenn  uns  hier  noch 
der  Trost  bliebe,  dass  diese  Wandlungen  sich  innerhalb  desselben 
urverwandten  Sprachenkreises  vollzogen  haben,  so  dass  der  Ueber- 
gang  ausnahmsweise  erleichtert  war,  so  fällt  auch  diese  Stütze  hin- 
weg, wenn  die  Abkömmlinge  von  Afrikanern,  die  als  Sklaven  nacli 
den  Vereinigten  Staaten  gebracht  wurden,  englisch  und  zahlreiche 
Eingeborne  Amerikas  spanisch  reden.  Wollten  wir  also  die  Völker 
nur  nach  den  Sprachen  ordnen,  so  müssten  wir  Neger  mit  Angel- 
sachsen und  reinblütige  Indianer  mit  den  Abkömmlingen  roma- 
nischer Europäer  in  die  nämliche  Abtheilung  versetzen. 

Daraus  ergibt  sich  die  Nothwendigkeit,  dass,  ehe  wir  aus  der 
Sprachengleichheit  oder  Sprachenähnlichkeit  auf  irgend  eine  Ver- 
wandtschaft schliessen,  geschichtlich  zuvor  untersucht  werden  muss» 
ob  nicht  die  Uebereinstimmung  der  Sprache  nur  durch  einen  ge- 
sellschaftlichen Zwang  erzeugt  worden  sei.     Selbst  wo   eine  solche 


1^4  Die  Sprache  als  Classiiicationsroittel  der  Völkerkunde. 

Besorgniss  fehlt,  darf  die  Sprache  nur  als  Merkmal  zweiter  Ord- 
nung betrachtet  werden.  Sprachgemeinsamkeit  zwischen  Horden 
und  Völker  Stämmen  beweist  nichts  weiter,  als  dass  in  irgend  einer 
Vorzeit  die  Glieder  einer  Sprachengruppe  eine  gemeinsame  Heimath 
bewohnten  und  innig  unter  einander  verkehrten.  Damit  ist  jedoch 
auch  hinreichend  viel  bewiesen,  denn  da  alle  Menschenstämme  unter 
einander  fruchtbare  Mischlinge  erzeugen,  so  genügt  der  Aufenthalt 
in  einer  Heimath,  um  selbst  aus  physisch  verschiednen  Bruchtheilen 
des  Menschengeschlechts  eine  neue  Mischrace  zu  erzeugen.  Es 
könnte  sich  aber  das  Bedenken  auch  hier  wieder  regen,  dass  eine 
gemeinsame  Heimath  von  zwei  physisch  getrennten  Racen  bewohnt 
werden,  beide  eine  herrschende  Sprache  vereinigen  und  den- 
noch keine  oder  doch  nur  eine  spärliche  Blutmischung  statt- 
haben könne.  Wir  sehen  diese  Fälle  in  den  Vereinigten  Staaten 
und  in  Indien  verwirklicht,  wo  nur  ausnahmsweise  zwischen  Weissen 
und  Farbigen,  zwischen  Ariern  hoher  und  Eingebornen  niedrer  Kaste 
Blutmischungen  eintreten.  Dieses  Bedenken  ist  allerdings  nicht 
aus  dem  Auge  zu  verlieren,  aber  jene  Beispiele  stehen  auch  ver- 
einzelt. Weder  die  Semiten,  noch  die  Hamiten,  noch  unter  den 
Europäern  Spanier,  Portugiesen  und  Franzosen  haben  eine  gleiche 
Abneigung  gegen  Ehen  mit  Negern  gezeigt,  wie  die  Angelsachsen. 
Nur  sehr  hochgestiegene  Völker  neben  sehr  niedrigstehenden  wer- 
den durch  Kastenbewusstsein  von  einer^  Blutmischung  abgehalten. 
Bei  jugendlichen  Menschenstämmen  ist  nichts  derartiges  zu  be- 
fürchten. Da  ferner  der  Sprachbau  zu  seiner  Entwicklung  lange  Zeit- 
räume erfordert,  während  dereh  die  Glieder  einer-linguistischen  Familie 
im  engstenGedan kenverkehr  standen,  so  wird  bei  Völkerschaften,  welche 
eine  Gemeinschaft  der  Wortbildung  und  der  Redetheile  verknüpft,  mit 
einiger  Sicherheit  auf  eine  gemeinsame  Abkunft  oder  eine  fortge- 
setzte Verschwägerung  geschlossen  werden  dürfen.  Dass  die  so- 
genannten Indoeuropäer ,  dass  die  Semiten ,  dass  die  südafrikani- 
schen Bantuvölker  in  derselben  Heimath  durch  innigen  Verkehr 
die  Grundzüge  ihres  Wort-  und  Satzbaues  entwickelten  und  sich 
eines  gemeinsamen  Wurzelschatzes  bedienten,  daran  zweifelt  jetzt 
kein  Unterrichteter  mehr.  Niemals  aber  wäre  es  durch  Verglei- 
chung  von  Körpermerkmalen  gelungen,  in  den  Bewohnern  Islands 
und  den  Hindu  hoher  Kaste,  in  den  Bewohnern  Madagaskars  und 
der  Osterinsel  Abkömmlinge  von  Vorfahren  zu  erkennen,  die  eine 
gemeinsame  Heimatl^  bewohnten   und  unter  einander   heiratheten. 


Die  Sprache  als  Classificationsmittel  der  Völkerkunde.  13 ^ 

Nach  Erfüllung  aller  kritischen  Vorsichtsmassregeln  die  Sprache 
auch  dann  als  Classificationsraittel  verschmähen  oder  sich  über  die 
Ergebnisse  der  linguistischen  Forschungen  unsrer  Tage  hinweg- 
setzen wird  nur  der,  welcher  sich  über  die  Ausdauer  der  Körper- 
merkmale überspannte  Vorstellungen  gebildet  hat.  Wo  aber  die 
Sprachvergleichung  sich  mit  den  flacenmerkmalen  in  Widerspruch 
befindet,  da  müssen  wir  nothwendig  an  eine  Blutmischung  denken. 
Wir  werden  daher  nicht  zögern ,  die  Bewohner  Kaschgariens  zu 
den  türkischen  Mischvölkern  zu  zählen,  denn  nach  ihrem  Gesicht s- 
typüs  müssten  sie  sonst  unter  die  Indogermanen  gereiht  werden. 
Wir  haben  nämlich  bei  ihnen  anzunehmen,  dass  der  herrschende, 
türkisch  redende  Völksstamm  mit  den  unterworfnen  Tadschik, 
iranischer  Abkunft,  so  stark  sich  vermischt  habe,  dass  seine  ur- 
sprünglichen Körpermerkmale  völlig  sich  verloren. 

Die  Sprachverwandtschaften,  die  sich  auf  Gemeinsamkeit  der 
sinnbegrenzenden  Hilfssylben  begründen ,  werden  unangefochten 
von  allen  Linguisten  anerkannt.  Bedenklicher  sind  die  Fälle  und 
getheilter  die  Meinungen  bei  Aehnlichkeiten,  die  nur  auf  dem 
übereinstimmenden  Wesen  des  Sprachbaues  beruhen.  Selbst  hier 
aber  herrscht  Einmüthigkeit ,  wenigstens  in  Bezug  auf  die  Einge- 
bornen  Amerikas.  Noch  allen  Linguisten  hat  die  Gemeinsamkeit 
des  einverleibenden  Verfahrens  genügt,  um  sie  als  Glieder  einer 
Menschenfamilie  zu  betrachten  und  von  ihnen  die  Eskimo  abzu- 
sondern, die  ihre  Worte  durch  Suffixe  bilden,  zumal  auch  bei  den 
ersteren  keine  scharfen  körperlichen  Sondermerkmale  zu  irgend 
einer  tiefgreifenden  Trennung  ermuthigen  könnten.  Viel  besorgter 
müssen  wir  auf  die  Zusammenfassung  der  uralaltaischen  Völker 
blicken,  bei  denen  das  Gemeinschaftliche  der  einzelnen  Gruppen 
nur  im  Typus  des  Sprachbaues  beruht,  in  ihrer  Beschränkung  auf 
suffigirte  Formelemente.  Selbst  bei  ihnen  nehmen  wir  noch  die 
Abkunft  aus  einer  gemeinsamen  Heimath  an,  weil  wenigstens  die 
Besonderheit  ihrer  lautharmonischen  Gesetze  nur  ihnen  allein  eigen 
ist  und  wir  vermuthen  dürfen,  dass,  wenn  ihre  Sprachdenkmale 
nicht,  wie  es  der  Fall  ist,  nur  wenige  Jahrhunderte,  sondern  ein 
paar  Jahrtausende  zurückreichten,  wahrscheinlich  stärkere  Verwandt- 
schaftsmerkmale sich  entdecken  Hessen  und  endlich  weil  die  Körpcr- 
merkmale  zu  einer  solchen  Vereinigung  ermuthigen.  Unzulässig  dünkt 
uns  dagegen,  die  uralaltaische  Gruppe  wieder  zu  einer  turanischen 
Familie   zu    erweitern    und    die    Dravidasprachen    der    eingebornen 


1^6  I^ie  Sprache  als  Classificationsmittel  der  Völkerkunde. 

Indier  deswegen  ihnen  beizugesellen ,  well  auch  sie  Wohlklangsge- 
setze bei  Wortbildungen  beobachten.  Weil  aber  diese  Gesetze 
andre  sind  als  in  den  uralaltaischen  Sprachen ,  und  auch  die 
Körpermerkmale  uns  dazu  zwingen,  werden  wir  je^e  südindischen 
Bevölkerungen  als  ein  getrenntes  Glied  der  menschlichen  Familie 
behandeln. 


DIE  TECHNISCHEN,  BUERGERLICHEN  UND 
RELIGIOESEN  ENTWICKLUNGSSTUFEN. 

I.  Die  Urzustände  des  Menschengeschlechtes. 

Als  die  älteren  und  neueren  überseeischen  Entdeckungen  den 
erstaunten  Europäern  die  Zustände  sogenannter  wilder  Völker  nahe 
gerückt  hatten,  fehlte  es  nicht  an  überspannten  Gemüthern,  welche 
sich  unser  Geschlecht  bdi  seinem  ersten  Auftreten  mit  den  höchsten 
körperlichen,  geistigen  und  sittlichen  Vorzügen  ausgestattet  dachten 
und  ihren  Mangel  bei  den  farbigen  Wald-  und  Inselbewohnern 
einem  verschuldeten  Herabsinken  aus  jenen  goldenen  ^Zuständen 
zuschrieben.  Zur  Widerlegung  dieser  längst  unschädlich  gewor- 
denen Verstandesverirrung  wird  es  heutigen  Tages  wohl  genügen, 
hier  auf  die  Sinnesänderung  eines  so  verdienten  Fachgelehrten,  wie 
Hrn.  V.  Martins  zu  verweisen.  Auf  der  Versammlung  deutscher 
Naturforscher  zu  Freiburg  im  Jahre  1838  konnte  er  noch  äussern: 
„Jeder  Tag,  den  ich  noch  unter  den  Indianern  Brasiliens  zubrachte, 
vermehrte  in  mir  die  Ueberzeugung,  dass  sie  einstens  ganz  anders 
gewesen  und  dass  im  Verlauf  dunkler  Jahrhunderte  mancherlei 
Katastrophen  über  sie  hereingebrochen  seien,  die  sie  zu  ihrem  der- 
maligen Zustand,  zu  einer  ganz  eigenthümlichen  Verkümmerung 
und  Entartung  herabgebracht  haben.**  Ehe  noch  dreissig  Jahre 
voll  abgelaufen  waren,  hören  wir  dagegen  aus  seinem  Munde  über 
die  nämlichen  Völkerschaften  die  Worte:  „Es  liegen  bis  jetzt  keine 
Gründe  vor,  dass  der  dermalige  barbarische  Zustand  in  diesen 
Gegenden  ein  secundärer,  dass  ihm  hier  ein  anderer  von  höherer 
Gesittung  vorausgegangen ,  dass  dieser  Tummelplatz  ephemerer 
unselbständiger  Haufen  jemals  Schauplatz  eines  gebildeten  Volkes 
gewesen  sei')**. 

Ebenso  wenig  haben   sich    die  Anschauungen    der   Reisenden 


1^3  ^ic  Urzustände  des  Menschengeschlechtes. 

aus  dem  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  bewährt,  die  wie  Georg 
Forster,  erfüllt  von  Rousseau'schen  Träumereien,  die  Südseebevöl- 
kerungen als  ein  glückliches,  dem  Naturzustande  treues,  von  Cultur- 
verirrungen  noch  nicht  um  das  Menschenideal  betrogenes  Ge- 
schlecht beneideten.  Lamanon,  der  Begleiter  La  Perouse'ai^  be- 
hauptete eines  Abends  im  Gespräche  mit  seinen  Begleitern,  dass 
die  Wilden  viel  besser  seien,  als  wir  Culturmenschen.  Am  andern 
Tage  wurde  er  von  ihnen  erschlagen*).  Die  oft  gerühmten  Kör- 
perreize zwanglos  einherschreitender  Naturkinder  werden  gewöhn- 
lich auf  den  photographischen  Nachbildungen  vermisst,  die  jetzt  so 
reichlich  in  unsere  Hände  gelangen.  Selbst  dort,  wo  sie  wirklich 
vorhanden  sind  und  den  hässlichen  Bedrohunj^en  entgehen,  die 
ein  irre  geleiteter  Geschmack  ihnen  auferlegt,  fehlt  sehr  häufig  die 
beste  Pflege  des  menschlichen  Körpers,  nämlich  die  Sauberkeit. 
Das  Haar  bleibt  ungeordnet  und  die  Zähne  ungereinigt.  Gewisse 
Laster  suchen  wir  nur  bei  hochgestiegenen  und  tief  gesunkenen 
Völkern,  bei  den  Hellenen  und  im  späteren  Rom.  Wer  aber  ein  wenig 
vertraut  ist  mit  den  älteren  spanischen  Berichten  über  amerikanische 
Stämme,  der  weiss  r.echt  gut,  dass  sie  Verfeinerungen  kannten,  an  die 
weder  die  Römer,  als  Tiberius  auf  Capri  weilte,  noch  die  Byzan- 
tiner gedacht  haben,  als  Theodora,  die  spätere  Gemahlin  des 
Kaisers  Justinian,  mit  Schauspielerbanden  umherzogt).  Fügen  wir 
noch  hinzu,  dass  fast  allen  diesen  Bevölkerungen  die  Gifte  bekannt 
waren,  die  den  befruchteten  Menschenkeim  zerstören  und  dass  sie 
mit  gedankenloser  Leichtfertigkeit  gebraucht  wurden^).  Aus  allen 
diesen  Nachtseiten  unmündiger  Völker  haben  rohe  und  lieblose 
Ansiedler   in   überseeischen   Gebieten    sich    das    Recht   angemasst. 


i)  Ethnographie.  Bd.  i.  S.  5.  S.  375. 

2)  Schaaffhausen  im  Archiv  für  Anthropologie.  Bd.  i.  S.  166.  Genau 
ebenso  schrieb  Helfer  einen  Tag,  hevor  ihn  die  Andamanen  ermordeten',  in 
sein  Tagebuch:  „Das  also  sind  die  so  gefürchteten  Wilden!  Sie  sind  furcht- 
same Kinder  der  Natur,  froh,  wenn  ihnen  nichts  Böses  zugefügt  wird".  Joh. 
Wilh.  Helfers  Reisen  in  Vorderasien  und  Indien.  Leipzig  1873.  Bd.  2.  S.  260. 

3)  Vespucci,  Quattuor  Navigationes,  passim.  Geschlechtliche  Verirrungen 
der  Aleuten  hei  Erman,  Zeitschrift  für  Ethnologie.  1871.  Hefl  3.  S.  164;  der 
Tschuktschen,  bei  W  rangell,  Reise  in  Sibirien,  Bd.  2,  S.  227;  der  Itelmen, 
bei  Stell  er,  Kamtschatka.  S.  289. 

4)  Eine  Musterung  über  die  Völker,  bei  denen  dioses  Verbrechen  ge- 
duldet wird,  ist  unlängst  im  Archiv  für  Anthropologie  (Braunschweig  1872^ 
Bd,  5.  S.  452)  abgehalten  worden. 


Die  Urzustände   des  Menschengeschlechtes.  i^ 

die  Eingebornem  von  ihrem  Erbe  hinweg  zu  cultiviren  und  den 
Racenmord  als  einen  Sieg  der  Gesittung  zu  betrachten. 

Andre  Schriftsteller,  berauscht  von  Darwinischen  Glaubens- 
sätzen, wollten  "Bevölkerungen  entdecken,  die  einen  ehemaligen 
thierischen  Zustand  gleichsam  zur  Belehrung  unsrer  Zeit  noch  fest- 
gehalten hätten.  So  sollen  nach  den  Worten  einer  Schöpfungs- 
geschichte im  Modegeschmack  unserer  Tage  „in  güd-Asien  und 
Ost-Afrika  Menschen  in  Horden  beisammen  leben,  grösstentheils 
auf  Bäumen  kletternd  und  Früchte  verzehrend,  die  das  Feuer  nicht 
kennen  und  als  Waffen  nur  Steine  und  Knittel  gebrauchen,  wie  es 
auch  die  höheren  Aifen  zu  thun  pflegen."  Diese  Behauptungen 
sind  nachweisbar  aus  der  Schrift  eines  Bonner  Gelehrten  über  den 
Zustand  der  wilden  Völker^)  geschöpft  worden  und  beruhen  dort 
auf  den  Aussagen  eines  afrikanischen  Sklaven  von  den  Doko, 
einem  angeblich  zwergartigen  Volke  im  Süden  von  Schoa*),  oder 
sie  beziehen  sich  auf  Mittheilungen  bengalischer  Pflanzer  •*)  oder 
Erlebnisse  eines  Jagdabenteurers,  dass  in  Indien  einmal  Mutter 
und  Tochter,  ein  anderes  Mal  Mann  und  Frau  in  halb  thierischem 
Zustande  angetroffen  worden  waren  ^).  Völkerschaften  dagegen 
oder  nur  Horden  in  affenähnlichen  Zuständen  ist  nirgends  ein 
glaubwürdiger  Reisender  der  Neuzeit  begegnet.  Es  sind  viel- 
mj?hr  selbst  diejenigen  Menschenstämme ,  welche  nach  den  ersten 
oberflächlichen  Schilderungen  tief  unter  unsere  eigene  Gesittungs- 
stufe gestellt  worden  waren,  bei  genauerer  Bekanntschaft  den  ge- 
bildeten Völkern  merklich  wieder  näher  gerückt  worden.  Noch 
soll  irgend  ein  Bruchtheil  des  Menschengeschlechts  entdeckt  wer- 
den, bei  welchem  nicht  ein  mehr  oder  weniger  reicher  Wortschatz 
mit  Sprachgesetzen,  bei  welchem  nicht  künstlich  geschärfte  W^affen 
und  mannigfaltige  Geräthe,  sowie  endlich  die  Kenntniss  der  Feuer- 
bereitung angetroffen  worden  wäre. 

Wohl  hat  ein  in  England  gefeierter  Anthropolog,  Sir  John 
Lubbock,  in  seinem  Buche  über  die  vorgeschichtlichen  Zeiten 
etlichen  Bewohnern  der  Inseln  des  stillen  Meeres  jeden  Umgang 
mit  dem  Feuer  abgesprochen,  aber  nicht  ohne  Unwillen  bemerken 


1)  Archiv  für  Anthropologie.  Bd.  i.  Braunschw.  1866.   S.   166 — 68. 

2)  Krapf,  Reisen  in  Ostafrika.  Ed.  i.  S.  76 — 79. 

3)  G.  Pouchet,  The  plurality  of  the  human  race.   London  1864.  p.  18. 

4)  Ausland  1860.  S.  935. 


laO  Die  Urzuslände  des  Menschengeschlechtes. 

wir  in  seiner  Aufzählung  auch  die  Eingebomen  von  Van  Diemens 
Land,  da  Sir  John  nur  den  Bericht  Abel  Tasmans  nachzuschlagen 
gebraucht  hätte'),  um  zu  finden,  dass  bereits  der  erste  Entdecker 
Rauchsäulen  aus  dem  Innern  der  Insel  habe  aufsteigen  sehen. 
Ganz  genau  so  verhält  es  sich,  wenn  Lubbock  den  Bewohnern  von 
Fakaafo  die  Bekanntschaft  mit  dem  Feuer  abspricht.  Diese  Süd- 
seeinsol  gehört  zur  Unionsgruppe  und  hegt  im  Norden  des  Samoa- 
Archipels,  dessen  Bewohner  wegen  ihrer  nautischen  Geschicklich- 
keit und  ihrer  weiten  Seefahrten  die  Kavigatorcn  genannt  worden 
sind  und  welche  daher  längst  ihren  Nachbarn  auf  Fakaafo  das 
Feuer  und  die  Feuerentzündung  über  bracht  haben  würden, 
wenn  es  nöthig  gewesen  wäre,  Dass  in  der  Mundart  der  Fakaafo- 
Leute  dasselbe  Wort  für  Feuer  vorkommt,  welches  je  nach  den 
verschiedenen  Tonarten  der  Malayen-Sprache  api,  afi,  ahi  lautet, 
wäre  für  jeden  Anderen  eine  hinreichende  Warnung  gewesen'). 
Sir  John  Lubbock  dagegen  beruhigt  sein  Gewissen  mit  der  Aus- 
rede, das  Wort  möge,  wie  in  der  verschwisterten  Maori-Sprache, 
nur  für  Licht  und  Hitze  stehen.  Zur  Begründung  seiner  Behaup- 
tung kann  er  sich  nur  auf  den  bekannten  amerikanischen  See- 
fahrer Wilkes  berufen,  der  auf  Fakaafo  Feuerplälze  allenthalben 
vermisste  und  desshalb  vermuthete,  die  Eingebornen  möchten  ihre  " 
Nahrung  roh  verzehren.  Ein  Jahr  nach  Veröffentlichung  von 
Wilkes'  Entdeckerbe  rieht  erschien  jedoch  das  grosse  Werk  seines 
Begleiters  Horatio  Haie  über  die  Sudseesprachen.  Dieser  hoch- 
geschätzte Anihropolog  bezeugt  nicht  nur,  dass  ein  Wort  für  Feuer 
auf  jener  Insel  vorhanden  gewesen  sei,  sondern  bemerkt  ausdrück- 
lich, um  Wilkes'  Irrthum  zu  widerlegen,  dass  er  und  seine  Ge- 
fährten am  Abend  'vor  der  Landung  eine  Rauchsäule  von  Fakaafo 
liaben  aufsteigen  sehen^.  Getrost  vertreten  wir  daher  den  Satz, 
dass  auf  der  ganzen  Erde  noch  der  Menschenstamm  gefunden 
werden  soll,  der  keinen  Verkehr  mit  dem  Feuer  unterhielte. 

Das  I'Vuer    ist    aber    ein    gelehriger    und    starker  Gehilfe  des 


1}  Buiney,  Discoveries,  tom.  III.  p.  7a  Uebrigens  besissen  die  Tas- 
inier  eine  Sage  über  Herabkunft  des  Feuers,  s.  Tylor,  Urgeschichte.  S.  301. 

2)  Nach  dem  Wörietbuche  zu  Mariner's  Tonga  Islands  bedeutet  lalo-afi 
■11er  reiben  und   tolonga   das  Rinnenholi,  in  dem  es  gerieben  wird. 

j)  Uniled  fitstes  Exploring  Expedition.   Etbnography.   Philaielphia  1846. 


Die  Urzustände  des  Menschengesclilechtes.  141 

tierischen.  Es  ist  ein  unersetzliches  Mittel,  um  solche  Stoffver- 
änderungen herbeizuführen,  ohne  welche  die  wichtigsten  unserer 
Nahrungsmittel  ungeniessbar  wären.  Mit  dem  Beistande  des  Feuers 
gelang  es  zuerst  und  gelingt  es  noch  jetzt,  Baumstämme  in  Fahr- 
zeuge auszuhöhlen.  Das  Feuer  allein  verscheucht  die  grimmigen 
Raubthiere  des  Waldes  und  der  Wüste,  den  afrikanischen  Löwen, 
den  asiatischen  Tiger,  den  amerikanischen  Jaguar.  Am  Feuer 
härteten  die  Menschen  der  Urzeit  ihre  rohen  Waffen,  die 
Spitzen  ihrer  hölzernen  Speere.  Das  Feuer  als  Steppenbrand  muss 
den  Jägerstämmen  in  Australien,  Süd-Afrika,  sowie  in  der  neuen 
Welt  in  Ermangelung  abgerichteter  Hunde  das  Wild  in  Schussbe- 
reich treiben.  Reste  von  verkohltem  Holz  und  Asche  sind  aber  sowohl 
in  den  Höhlen  des  P^rigord^),  als  auch,  was  noch  schwerer  ins 
Gewicht  fällt,  bei  der  Schussenquelle  unter  den  Geräthen  aus 
Renthierhorn  angetroffen  worden,  die  noch  in  die  nordeuropäische 
Eiszeit  gehören^). 

Ueberlegen  wir  nun,  auf  welche  Art  der  Mensch  sich  ursprüng- 
lich in  den  Besitz  des  Feuers  gesetzt  haben  möge,  so  wird  der 
erste  Gedanke  wohl  sein,  dass  er  es  als  ein  Geschenk  aus  der 
Höhe  empfangen  habe  durch  einen  Blitzstrahl,  der  einen  Baum  in 
Flammen  setzte.  Allein  um  das  Feuer  als  einen  brauchbaren  Ge- 
hilfen an  sich  zu  fesseln ,  dazu  hätte  eine  Kenntniss  aller  der 
Leistungen  gehört,  zu  denen  es  der  Mensch  erst  abrichten  muss. 
Der  Aufbewahrung  des  Feuers  musste  also  e\n  vertraulicher  Um- 
gang vorausgegangen  sein.  Wenn  ein  Schluss  erlaubt  ist  aus  den 
Beobachtungen  derer,  die  Völker  im  halben  Naturzustande  be- 
lauscht haben,  dürfen  wir  hinzufügen,  dass  der  Mensch  der  unbe- 
kannten Vorzeit  mit  Entsetzen  sich  von  dem  Schauspiele  des  auf- 
lodernden Baumes  abgewendet  hätte,  so  oft  etwa  ein  zuckender 
Strahl  aus  der  drohenden  Wolke  zündend  herabfuhr.  Das  höchste 
Maass  innerer  Wahrscheinlichkeit  besitzt  daher  die  Vermuthung, 
dass  in  der  Nachbarschaft  von  Lavaergüssen  aus  Vulcanen  die 
Menschen  zuerst  und  dauernd  mit  den  Wohlthaten  des  Feuers  be- 
kannt wurden^).  Noch  zwanzig  Jahre  nach  dem  Ausbruche  des 
JoruUo  vermochte  man   in   den  Spalten    seiner  Hornltos    oder  Mi- 


i)  S.  oben  S.  39. 

2)  S.  oben  S.  42. 

3)  Charles  Darwin,  Die  Abstammung  des  Menschen.  Bd.  r.  S.  44. 


112  Die  Urzustände  des  Menschengeschlechtes. 

niaturkrater  Späne  zu  entzünden ,  wie  Alexander  v.  Humboldt  uns  , 
berichtet').  Ein  Menschenalter  spendete  also  die  Lavamasse  die 
Möglichkeit,  immer  von  Neuem  mit  Feuer  sich  zu  versehen.  Auf 
dem  Boden  mancher  Krater,  wie  bei  den  Havai-Vulcanen  oder  wie 
bei  der  sogenannten  Holle  von  Massaya  hat  aber  die  glühende 
Lavatnasse  ohne  Unterlass  durch  seculäre  Zeiten  gebrodelt.  Ferner 
fehlt  es  einzelnen  Gegenden  nicht  an  sogenannten  Feuerquellen, 
das  heisst  an  Ürunnen,  die  entzündliche  Luftarten,  nämlich  Kohlen- 
wassers tolf  gas  aushauchen.  Wir  wollen  an  solche  Erscheinungen 
in  den  Vereinigten  Staten,  in  China,  in  Italien,  vor  Allem  aber  an 
die  ewigen  Feuer  der  Halbinsel  Abscheron  bei  Baku  am  caspischen 
Meere  erinnern,  welche  Tag  und  Nacht,  Winter  und  Sommer  15  bis 
20  Fuss  hoch  auflodernde  Gasstrahlen  ausstossen')  und  zu  denen 
aus  dem  indischen  Gudscherat  und  Multan  fromme  Parsi  oder 
Feueranbeter  waltfahrten,  um  ihrer  Flammengottheit  ins  Angesicht 
zu  schauen.  • 

Im  geschichtlosen  Alterthum  muss  jedoch  eine  Zeit  eingetreten 
sein,  wo  der  entzündete  Gasbrunnen  erlosch  oder  der  Lai'abach 
erkaltete  und  der  Mensch  auf  eine  künstliche  Feuer berejtung  be- 
dacht sein  musste.  Das  Gelingen  dieser  Aufgabe ,  ein  grosser 
Wendepunkt  in  unserer  Sittengeschichte,  wurde  später  erklärt 
durch  den  Mythus  von  Prometheus,  der  dem  höchsten  der  Götter 
das  Feuer  entwendete.  Da  d^ese  Sage  als  ein  Nationalgut  bei  den 
Osseten  oder  Iron  im  Kaukasus  fortlebt  und  die  Sprache  dieses 
Bergvolkes  zur  indogermanischen  Familie  zählt,  so  muss  sie  schon 
vor  den  späteren  Trennungen  der  arischen  Menschen  stamme  vor- 
handen gewesen  sein;  da  aber  bereits  in  der  Eiszeit  an  der  Schussen- 
quelle,  fern  von  allen  vulkanischen  Erscheinungen,  Feuer  künstlich 
erzeugt  wurde,  so  dürfen  wir  in  jenem  Mythus  nicht  die  Rettung 
einer  geschichtlichen  Begebenheit  suchen.  Wir  können  uns  dafür 
sogar  auf  Aeschylus  berufen,  der  im  verlornen  Schlussstücke  seiner 
Trilogie  dem  Tronistheus  die  Worte  in  den  Mund  legt:  30  Jahr- 
tausende habe  er  in  Fesäeln  geschmachtet-'),  so  dass  also  auch 
von  ihm  der  Feuerraub. weit  über  die  Grenzen  menschlicher  Zeit- 
erinnerung zutückverlegt  wird. 

4  S.  334-  S.  341- 

Gsognosie.  2.  Aufl.  Bd.  1.  5.  282. 

oi,  Prolegomenen  zu  Aestbylus' Tragödien.  Leipiij;  1869. 


Die  Urzustände  des  Menschengeschlechtes.  I^^ 

Das  älteste  Verfahren  der  Feuerentzündung  hat  sich  bei  den 
Polynesiern  erhalten.  Ein  Stab  wird  schräg  in  der  Rinne  eines 
ruhenden  Holzstückes  so  lange  hin  und  her  gerieben,  bis  dieses 
zu  glühen  beginnt.  Solche  Feuergeräthe  traf  Chamisso  auf  den 
Sandwichinseln  und  der  mikronesischen  Radakgruppe ') ,  sie  waren 
jedoch  auch  unter  den  übrigen  Polynesiern  auf  Tahiti,  Neuseeland, 
der  Samoa-  und  Tongagruppe*),  ja  selbst  auf  Baladea  oder  Neu- 
•Caledonien  verbreitet^).  Mindere  Muskel anstrengung  erforderte  der 
Feuerbohrer.  Die  alterthümlichste  Vorrichtung  dieser  Art  wird  uns 
auf  den  Antillen  und  an  den  Küsten  des  südamerikanischen  Fest- 
landes von  Spaniern  beschrieben.  Zwei  Hölzer  wurden  zusammen 
geschnürt,  zwischen  sie  ein  zugespitzter  Stab  geklemmt  und  durch 
quirlartige  Bewegung  Feuer  entzündet*).  Bald  jedoch  wurde  er- 
kannt, dass  als  Unterlage  ein  einziges  Stück  genüge,  wenn  vorher 
in*  dieses  eine  Vertiefung  zum  Einsetzen  des  Feuerbohrers  einge- 
schnitten wurde.  Dieses  Werkzeug,  eine  der  ältesten  Erfindungen 
unsres  Geschlechts,  kehrt  in  allen  Welttheilen  wieder.  Wir  erkennen 
es  auf  bekannten  Bildwerken  der  Altmexicaner^),  es  befindet  sich 
noch  jetzt  in  den  Händen  der  Indianer  Guayana's^),  sowie  der 
Botocuden  Brasiliens^),  in  Südafrika  bedienen  sich  seiner  die  Busch- 
männer *),  die  Kafirn  und  die  Hottentotten '),  auf  Ceylon  die 
Vedda*°)  und  in  Australien  die  dortigen  Eingebornen ").  Das 
Gelingen  der  Feuerentzündung  darf  man  sich  nicht  allzuleicht  vor- 
stellen. Die  Arbeit  ermüdet  so  stark,  dass  sich  bei  den  Botocuden 
am  Belmonte  immer   mehrere   beim  Quirlen   abzulösen'  pflegten**). 


i)  O.  V.  Kotzebue's  Entdeckungsreisen.  Weimar  1821.  Bd.  3.  S.  154. 

2)  Tylor,  Urgeschichte.  S.  303. 

3)  Knoblauch  im  Ausland  1866.  S.  448. 

4)  Oviedo,  Historia  general  de  la^  Indias.  lib.  VI,  cap.  5.  Madrid  185L 
tom.  I,  fol.  172  u.  Taf.  II  fig.  2. 

5)  Neuerlich  wieder   abgebildet  von  O.  Caspari,   Die  Urgeschichte  der 
Menschheit.  Leipzig  1873.  Bd.  2.  S.  55. 

6)  C.  F.  Appun  im  Ausland  1872.  S.  968. 

7)  J*  !•  ^'  Tschudi,    Reisen   durch  Südamerika.   Leipzig    1860,    Bd.    2. 
S.   278. 

8)  F  ritsch,  Eingebome  Südafrikas.  S.  440. 

9)  Kolben's  Vorgeb.  d.  G.  Hoffnung.  S.  449. 

10)  Emerson  Tennent,  Ceylon,  tom.  II,  p.  451. 

11)  A.  Lortsch  im  Ausland.  1866.  S.  7(X). 

12)  Prinz  zu  Neuwied,  Reise  nach  Brasilien.  Bd.  2.  S.  18 — 19. 


I^^  Die  Uriuslände  des  Menschengeschlechtes. 

Genau  das  nämliche  berichtet  Theophilus  Hahn  von  den  Kafirn'), 
die  doch  sehr  trockne  Erdstriche  bewohnen.  Bei  seinen  Streif- 
zügen im  Himalaya  bemerkte  Hermann  v,  Pchlagintweit  zuerst  bei 
den  Leptsdia  ein  solcbes  Feuerzeug,  welches  nur  darin  etwas  Be- 
sonderes zeigte ,  dass  die  Unterlage  aus  hartem ,  der  Quirl  aus 
weichem  Holze  bestand.  Auch  er  fügt  hinzu,  dass  die  Arbeit  staik 
ermüde  und  der  Erfolg  bei  grösserer  Sättigung  der  Luft  mit  Wasscr- 
dampf  unsicher  sei'). 

Vergegenwärtigen  wir  uns,  dass  die  Schwierigkeit,  durch  Rei- 
bung Feuer  zu  entzünden,  so  gross  ist,  dass  selbst  im  trockenen 
Süd-Afrika  in  die  raich  tTmüdende  Arbeit  sich  mehrere  theilen, 
so  setzt  die  künstliche  Feuerbereitung  eine  Verständigung  zwischen 
den  Theilnehmern  voraus,  unJ  es  kann  gegen  die  Strenge  des 
Schlusses  wohl  nichts  eingewendet  werden,  dass  die  menschliche 
Sprache  vorhanden  gewesen  sein  müsse,  bevor  ein  Feuer  künstlich 
bereitet  werden  konnte,  dass  somit  die  früher  erwähnten  Schwaben 
der  Eiszeit  im  Genuss  einer  solchen  Sprache  sich  befunden  haben 
müssen,  also  damals  bereits  die  psychische  Kluft  schon  vorhanden 
war,  die  Mensch  und  Thier  von  einander  trennt.  Tief  erregt 
werden  wir  gleichzeitig  durch  die  Frage,  ob  die  künstliche  Ent- 
zündung des  Feuers  eint  Erfindung  oder  nur  eine  Entdeckung  ge- 
wesen sei.  Würde  sich  etwa  ein  gewaltiger  Denker  der  Vorzeit 
von  der  Vermuthung  haben  leiten  .lassen:  durch  Reibung  -  werde 
Wärme  erzeugt,  sollte  nicht  auch  das  Feuer  durch  die  höchste 
Steigerung  der  Reibungswärme  gewonnen  werden  können?  so  hätte 
in  ihm  die  Wahrheit  gedämmert,  dass  die  leuchtende  Wärme  sich 
durch  nichts  als  ihre  Quantität  und  ihre  Wirkung  auf  den  Seh- 
nerven von  der  dunklen  Wärme  unterscheide  und  sein  darauf  be- 
gründeter Entzündungsversuch  durch  Reibung  wäre  ein  Ja  der 
Natur  auf  eine  richtig  gestellte  Frage  gewesen.  An  Schärfe  des 
Verstandes  wäre  ein  solcher  Prometheus  der  Eiszeit  nicht  hinter 
einem  Kopernikus  oder  Kepler,  einem  ChampoUion  oder  Grote- 
fend ,  einem  Kirchliotf  oder  Faraday  zurückgeblieben  und  wir 
gewännen  damit  den  Salz,  dass  das  höchste  Waass  der  Denkkraft, 
welches  einzelnen  auserwählten  Menschen  hin  und  wieder  zu  Theil 
wird,   in   unsern  Tagen  nicht  grosser  sei,    als  es   bei   den  Völkern 


Die  Urzustände  des  Menschengeschlechtes.  l^.c 

des  classischen  oder  biblischen  Alterthums,  bei  diesen  nicht  grösser 
als  es  zur  Eiszeit  gewesen  ist.  Uebersehen  darf .  bei  einer  solchen 
Erwägung  nicht  werden,  dass  in  den  Zeiten  der  mittelalterlichen 
Scholastiker  eine  Abnahme  des  menschlichen  Fassungsvermögens 
eingestanden  wurde,  insofern  damals  die  geistigen  Grössen  der 
Griechen  und  Römer  selbst  auf  dem  Gebiete  der  strengen  Wissen- 
schaften als  nicht  mehr  erreichbare  Vorbilder  galten.  Gegenwärtig 
werden  die  Chinesen,  deren  geistige  Entwickelung  neuerdings  nur 
sehr  träge  fortschreitet,  von  der  Anschauung  beherrscht,  dass  die 
geistigen  Kräfte  der  Denker  ihrer  Vorzeit  den  heutigen  Maasstab 
weit  überschritten  hatten.  Die  Vermuthung  eines  Wachsthumes 
oder  einer  Abnahme  des  menschlichen  Fassungsvermögens  wird 
daher  schwanken  mit  dem  Selbstgefühl  oder  dem  Mangel  an 
Selbstgefühl  der  einzelnen  Zeiträume,  und  in  der  Gegenwart,  wo 
durch  die  ausgebildete  Gliederung  der  Gesellschaft  jedes  geistige 
Licht,  methodisch  ernährt,  viel  leichter  dazu  gelangt,  Klarheit  um 
sich  zu  verbreiten,  werden  wir  uns  zu  der  Annahme  neigen,  dass 
der    menschliche    Scharfsinn    in    der  Mittagshöhe  schwebe. 

Der  goldenen  Regel  eingedenk,  dass  nur  aus  dem  Bekannten 
auf  das  Unbekannte  geschlossen  werden  dürfe,  müssen  wir  aber 
eingestehen,  dass  die  Culturanfänge  unseres  Geschlechtes  noch  viel 
zu  dunkel  vor  uns  liegen,  um  nicht  auch  die  Vermuthung  gelten 
zu  lassen,  dass  ein  gnädiger  Zufall  die  Erzeugung  leuchtender 
Wärme  durch  Reibung  offenbart  habe.  Wir  denken  dabei  nicht 
wie  Adalbert  Kuhn,  dass  ein  dürrer  Rankenschoss  in  einer  Asi- 
höhlung  vom  Sturme  so  lange  gepeitscht  worden  wäre,  bis  er  Feuer 
gefangen  habe.  Wir  zweifeln  sogar  an  der  physischen  Möglichkeit, 
dass  nach  Aussage  der  Wogulen  im  Ural  ein  umgeknickter  Baum 
gegen  einen  Nachbarstamm  bis  zur  Entzündung  gerieben  werde 
und  Waldbrände  verursachen  könne.  Da  bei  allen  Völkern  beider 
Welten  ursprünglich  die  nämliche  Art  der  Feuerbereitung  und  das 
nämliche  Entzündüngsgeräth  angetroffen  worden  sind,  so  musste  die 
zufallige  Entdeckung  bei  einem  Bohrversuche  erfolgt  sein  und 
durchbohrten  Werkzeugen  —  freilich  nur  aus  Hörn  —  begegnen 
wir  schon  unter  den  Resten  der  Bewohner  Europa's  zur  Eiszeit. 
Nur  bliebe  immerhin  unerklärt,  da  die  Ermüdung  des  Einzelnen 
früher  eintreten  musste,  als  die  Entzündung,  während  jeder  Unter- 
brechung aber  die  Wärme  wieder  entwich,  wesshalb  der  Bohrver- 
such ohne  Pause  fortgesetzt  wurde.     Das  Reich  der  Möglichkeiten 

Ptsckel,  Völkerkunde.  lO 


1^.6  Die  Urzustände  des  Memchengeschlechtes. 

ist  indessen  nicht  zu  erschöpfen,  und  wir  müssen  verzichten,  genau 
die  Verkettung  aller  Vorgänge  in  jenen  uns  weit  entrückten  Zeiten 
schon  jetzt  durchschauen  zu  wollen. 

Das  alte  Feuerreibzeug,  welches  seine  Dienste  bisweilen  ver- 
sagte und  zu  seiner  Handhabung  immer  wenigstens  zwei  Bundes- 
genossen erforderte,  erhielt  seine  höchste  Vollendung  durch  den 
glücklichen  Einfali,  dass  der  Bohrstift  durch  eine  sich  auf-  und 
abwickelnde  Schnur  in  Drehung  versetzt  werden  konnte.  Diese 
Erfindung  hatte  sich  Über  den  Norden  Amerikas  verbreitet  bis  zu 
den  Sioux  oder  Dacota"),  sowie  zu  den  Irokesen').  Noch  sinn- 
reicher pflegten  die  .^ISuten  den  Drehstift  mit  der  Spitze  in  das 
Feuerholz  einzusenken,  sein  oberes  Ende  aber  in  einem  beinernen 
Mundstück  zwischen  den  Zähnen  festzuhalten.  Bei  raschem  An- 
ziehen der  Schnur  sah  Chamisso  das  Tannenholz  in  wenigen  Se- 
cunden  schon  Feuer  geben  *).  Dieses  nämlichen  Werkzeuges  haben 
alle  Volker  des  Abendlandes  in  der  Vorzeit  sich  bedient.  Selbst 
Plinius  spricht  noch  von  Feuerreibung  wie  von  .einer  gut  be- 
kannten Thatsacho'),  Nach  den  Untersuchungen  Adalbert  Kuhns 
pflegten  die  brahmanischen  Hindu  einen  Stab,  Pramaniha  geheissen, 
eingeklemmt  zwischen  zwei  anderen  Hölzern,  Namens  Arani,  durch 
eine  sicli  auf-  und  abwickelnde  Schnur  in  Drehung  zu  setzen, 
Der  genannte  Sprachforscher  überlässt  uns  sogar  die  Entschei- 
dung, ob  wir  den  Namen  Prometheus  von  Pramätha  Raub  oder 
von  dem  Drehstift  Pramantha  ableiten  wollen  und  erinnert  uns 
zugleich,  dass  die  Thurier  vormals  einen  Zeus  Promantheus  ver- 
ehrten^. Wie  dem  auch  sei,  nicht  anders  als  die  Indier  zur  Zeit 
der  Hymnen dichtungen  bereiteten  die  alten  Griechen  das  Feuer. 
Ihre  Pyreia  oder  Feuerzeuge  bestanden  ebenfalls  aus  zwei  Stücken, 
einer  Unterlage  aus  weichem,  am  liebsten  aus  Epheuholz,  Esckdra 
geheissen,  und  dem  aus  Lorbeer  geschnittenen  Trypanon,  was 
füglich  mit  Bohrstift  übersetzt  werden  kann^).  Diese  Bereitung 
des  Feuers  hat  sich  in  unserer  Heimath    noch    bis   in    die  jüngste 


]]  Tylor,  Urgeschichte,  S.  Jil. 

2)  Wail!,   Anthropologie.  Bd.  3.  S.  97. 

31  O,  V.  Kolzebuc's  Reisen,  Weimar  l8ll.   Bd.  3.  5.  t54. 

4)  Hist.  nat.  lib,  IL  cap.  in.  liumani  ignes  .  .  ■  stlrita  inter  se  ligna. 

5)  A.  Kuhn,  Die  HeribkODfl  des  Feuers.  Berlin  1859.  S.  15—17, 

6)  Theophraalus,  Hist.  pbrnanim  V,  q  ed.  Wimiaer.    tom.,  I.    p.  i< 


Die  Urzustände  des  Menschengeschlechtes.  i^j 

Zeit  erhalten,  denn  einem  Feuer,  auf  diese  ehrwürdige  Weise  be- 
reitet, legte  der  Volkswahn  Wunderkräfte  bei.  Der  englische 
Ausdruck  wUlfire  bezieht  sich  ebenfalls  auf  eine  Entzündung  durch 
Reibhölzer.  In  Deutschland  wurde  eine  Walze  aus  Eichenholz  in 
den  Vertiefungen  zweier  eichener  Pfahle  durch  ein  auf-  und  ab- 
rollendes Seil  zur  Erzeugung  eines  sogenannten  Nothfeuers  ge- 
dreht, welches  letztere  die  Seuchen  abwenden  sollte.  Noch  im 
Jahre  1828  wurde  beim  Ausbruche  der  Bräune  unter*  dem  Borsten- 
vieh und  des  Milzbrandes  unter  den  Kühen  im  Dorfe  Edesse,  Amt 
Meinersen  in  Hannover,  ein  Nothfeuer  angezündet^).  Auch  bei 
anderen  indogermanischen  Geschwistervölkern  musste  jedes  Feuer, 
sollte  es  eine  gewisse  Weihe  besitzen,  durch  Reibung  angezündet 
worden  sein.  War  im  Tempel  der  Vesta  zu  Rom  durch  Verschul- 
dung einer  Priesterin  das  Feuer  erloschen,  so  durfte  nicht  durch 
Stahl  und  Stein,  die  längst  in  Gebrauch  waren,  sondern  nur  durch 
Reibung  auf  geweihtem  Brett  eine  neue  Gluth  angezündet  werden*). 
Das  Feuer  am  Beginn  eines  kleinen  Jahrhunderts  wurde  von  den 
Altmexicanern  wieder  frisch  gerieben  und  im  ähnlichen  Sinne 
löschten  die  Suaheli  am  Tage  des  Neujahres  ihr  Feuer  aus  und 
entzündeten  ein  neues  durch  Feuerbohren  ^).  Das  Funken  schlagen 
aus  spröden  Steinen  mit  oder  ohne  Feuerstahl  gehört  in  Europa 
dem  nachhomerischen  Alterthum  an  und  Plinius  hat  uns  noch  den 
Namen  eines  angeblichen  Erfinders  aufbewahrt*). 

Ist  noch  nie  eine  Bevölkerung  im  feuerlosen  Zustande  über- 
rascht worden,  so  passt  auch  für  keine  von  ihnen  die  Bezeichnung 
als  Wilde,  die  einer  irrigen  Anschauung  entsprungen  ist.  Ebenso 
wenig  dürfen  wir  von  Naturvölkern,  höchstens  von  Halbculturvöl- 
kern  sprechen,  denn  sicherlich  ist  der  Naturzustand  des  Men- 
schengeschlechtes unsrer  Beobachtung,  ja  sogar  unsrer  Ahnung 
entrückt.  Stellen  wir  uns  lieber  vor,  es  stiesse  jemand,  der  noch 
-nie  Rosen  gesehen  hätte,  auf  eine  Gesträuchgrupjje  dieser  Pflanze 
in  einem  vorgerückten  Zustande  des  Wachsthums,  dann  wird  er 
zugleich  neben    reifenden  Früchten    abwelkende   Blumen,   Blüthen 


1)  Kuhn,  1.  c.  S.  45. 

2)  Hermann  Göll,  Die  Geheimnisse  der  Vesta.    Ausland  1870.  S.  177. 

3)  S teere  im  Joum.  of  the  Anthropol.  Institute,  vol.  I,  p.  CXLVIII. 

4)  Das  Obige  wurde  zum  grössten  Theil,  jedoch  ohne  Quellennachweise, 
vom  Verfasser  in  der  österreichischen  Zeitschrift  für  Kunst  und  Wissenschaft 
1872  veröffentlicht. 

IG* 


1^.8  I^ic  Urzustände  des  Menschengeschlechtes. 

in  jeder  Stufe  der  Entwicklung,  aufspringende  und  geschlossene 
Knospen,  Sprossen  mit  schwellenden  Knoten  und  schliesslich  in 
in  den  Achselhöhlen  der  Blätter  neue  Augen  entdecken.  So  liegt, 
wenn  er  den  allmähligen  Uebergängen  sorgsam  nachgeht,  der 
Lebenslauf  der  Pflanze  völlig  aufgeschlossen  vor  ihm  da:  Ver- 
gangenes, Gegenwärtiges  und  Künftiges  folgt  hier  nicht  nach,  son- 
dern nebeneinander.  Behält  man  in  diesem  Falle  nur  die  Reihen- 
folge des  Gestaltenwechsels  im  Auge,  so  lässt  sich,  wie  seltsam  es 
auh  klingen  mag,  behaupten,  dass  die  Frucht  jünger  sei  als  die 
Rose,  und  die  Rose  jünger  als  die  Knospe;  denn  die  Frucht  folgte 
nach  der  Blüthe  und  den  Blumen  ging  die  noch  blattähnliche 
Knospenanschwellung  voraus,  wie  man  auch  im  morphologischen 
Sinne  hinzusetzen  darf,  dass  der  Knabe  jedenfalls  eine  ältere  Er- 
scheinung ist  als  der  Greis.  Auch  im  Knospenzustand  werden  wir 
Völker  nicht  mehr  anzutreffen  erwarten  dürfen,  doch  lässt  sich 
immer  aussprechen,  bei  welchen  Menschenstämmen  die  ältesten 
oder  vielmehr  die  alterthümlichsten  Zustände  sich  noch  jetzt  be- 
obachten lassen.  Die  niedrigsten  Gesittungszustände  suchte  man  bisher 
gewöhnlich  bei  den  Hottentotten  und  Buschmännern  in  Südafrika^ 
bei  den  Vedda  auf  Ceylon,  bei  den  Mincopie  auf  den  Andamanen, 
bei  den  Australiern  und  den  geschwisterlichen  Tasmaniern,  endlich 
bei  den  Eskimo,  sowie  bei  den  Feuerländern  und  den  Botocuden 
Brasiliens.  Mit  Ausnahme  der  letzteren  finden  wir  alle  aufgezählten 
Bevölkerungen  am  äussersten  Rande  der  Festländer,  vorzugsweise 
an  ihrer  Südspitze,  oder  auf  abgelegnen  Inseln  und  Weltinseln,  sei 
es  nun,  dass  sie  als  schwache  Stämme  bis  in  die  Endglieder  der 
Ländermassen  verdrängt  wurden,  oder  dass  sie  sich  vorzeitig  von 
dem  andern  Menschengeschlechte  absonderten  und  von  dem 
wachsenden  Cultursegen  nicht  mehr  erreicht  werden,  ja  vielleicht 
erworbne  Gesittungsschätze  nicht  länger  wegen  einer  Verminderung 
ihrer  Kopfzahl  festhalten  konnten.  Nur  der  MissgrijQf  Unkundiger 
konnte  aber  unter  diese  alterthümlich  gebliebenen  Menschen  geistig  so 
hochstehende  Völker  wie  die  Hottentotten  und  die  Eskimo  mischen. 
Ob  die  Australier  sammt  den  Tasmaniern  in  das  Musterbuch 
der  niedrigsten  Menschengeschöpfe  gehören,  wird  sich  zur  Genüge 
aus  einem  späteren,  ihnen  gewidmeten  Abschnitt  ergeben.  At>er 
auch  die  übrigen  vorher  genannten  Völker  haben  alle  bei  näherer 
Bekanntschaft  beträchtlich  gewonnen. 

Die  Buschmänner  oder  San,  um  mit  ihnen  zu  beginnen,  dienten 


Die  Urzustände  des  Menschengeschlechtes,  j^g 

bisher  dazu,  um  das   fehlende  Glied  in  der  Kette   zwischen  Affen 
und  Menschen  auszufüllen   und  der  Verfasser  bekennt  gern,    dass 
er  im  Jahre  1852  zu  London  Buschmänner  gesehen  hat,   die  durch 
ihr  thierisches  Aeussere  wohl  Jeden  von  dem    guten  Wahn  geheilt 
haben  würden,   dass   alle  Menschen    das  Ebenbild   eines    erhabnen 
Wesens  vertreten  sollten.     Livingstone  hat  aber  bald    darauf  seine 
Landsleute  gewarnt,  in  jenen  zur  Schau  gestellten  Jammergestalten 
echte  Typen   eines  Zweiges    der    afrikanischen  Menschheit    zu    er- 
blicken, da  nur  auserlesen  Hässliche  zur  Befriedigung  der  Neugierde 
nach  Europa  gebracht  werden^).     Nur  ^in    der  Kahalariwüste   ver- 
kümmert   der  Stamm   der  Buschmänner  bis  zu  einem  zwerghaften 
Wuchs.     Weiter  nördlich  beim  Ngami-See  beschrieben  Livingstone*) 
und  Chapman^)  hochgewachsene  und  schöne  Menschen  unter  ihnen. 
Ihre  Haltung  und  ihr  Auftreten  zeigt  von  dem  hohen  Selbstgefühl, 
welches  allen  in  ungeschmälerter  Freiheit  lebenden  Stämmen  eigen 
ist^).     Obwohl  nackt,  herrscht  doch  unter  ihnen  strenge  Keuschheit 
und  die  Zartheit,  wie  sie  um  ein  Mädchen  freien,  sowie,  dass  sie 
Ehen  nur  aus  Zuneigung  schliessen,  stellt  sie  hoch  über  unzählige 
andre   Völkerschaften.      Chapman    erzählt    uns    gerührt,    dass    ihn 
Buschmänner  eines  Morgens  mit  einer  Schale  Wasser  überraschten, 
der  köstlichsten  Gabe  in  jenen    durstigen   Erdstrichen,   aus  Dank- 
barkeit, weil  er  vorher  mit  ihnen   seine  Jagdbeute   getheilt    hattet). 
Merkwürdig  ist  es,  dass  diese  niedrigen  Menschen  gleichwohl  Freude 
an    künstlerischen  Versuchen    finden.      Mit    grosser  Sicherheit    der 
Hand  haben  sie  vom  Cap    bis    über    den  Orangefluss    hinaus    die 
Felsen  mit  Thier-  und  Menschenbildern  in  rother,  brauner,  weisser 
oder  schwarzer  Farbe  bemalt  oder  auch  auf  dunklem  Grunde  hell 
ausgekratzt  und  die  Abbildungen,  die  wir  davon  besitzen,    berech- 
tigen den  Ausspruch,    dass   die  Umrisse  naturgetreuer  erscheinen, 
als    auf  vielen   ägyptischen   Denkmälern^).     Lichtenstein    bestreitet, 
dass  die  Buschmänner  Vorstellung  von  einem  höchsten  Wesen  be- 
sitzen 7),  allein  spätere  Reisende  wollen  den  Glauben  an  eine  männ- 

1)  Missionsreisen  und  Forschungen  in  Süd-Afrika.  Bd.  I.  S.  64. 

2)  a.  a.  O.  S.  99.  S.  200.  S.  207. 

3)  Travels  into  the  Interior  of  South  Africa.  London  1868.  tom.  I,  p.  320. 

4)  G.  Fritsch,  Drei  Jahre  in  Süd-Afrika.  S.  295. 

5)  Chapman,  1.  c.  I,  250. 

6)  G.  Fritsch,  Die  Eingebomen  Südafrikas.  S.  426  u.  Tat  50. 

7)  Reisen  im  südlichen  Afrika.  Berlin  i8n.  Bd.  2.  S.  328. 


jcQ  Die  Urzustände  des  Menschengeschlechtes. 

liehe  und  weibliche  Gottheit*)  bei  ihnen  wahrgenommen  haben  und 
jedenfalls  weilen  unter  ihnen  Zauberpriester*).  Da  sie  sprüchwört» 
lieh  sagen,  der  Tod  sei  nur  ein  Sehlaf,  so  ist  es  fast  selbstver- 
ständlich, dass  sie  auch  zu  den  Abgeschiedenen  beten,  wie  Living- 
stone  sich  davon  überzeugen  konnte^).  Unmässigkeit  und  Schmutz 
sind  die  einzigen  Laster,  deren  sie  geziehen  werden. 

Einen  anderen  alterthümliehen  Menschenschlag  finden  wir  in 
den  ungelichteten  Wäldern  Ceylons.  Dort  leben  angeblich  bis  auf 
8000  Köpfe  zusammen  geschmolzen  die  Vedda,  ein  beinahe  nackter 
Jägerstamm,  dessen  Sprache  ein  altes,  von  Sanskrit  und  Pali  unbe- 
flecktes Singhalesisch  sein  soll.  Ihre  Schädel  sind  schmal  (Breiten- 
index 66  bis  78),  aber  stets  ansehnlich  hoch,  erträglich  mesognath 
und  mit  wenig  vorstehenden  Jochbeinen  versehen*).  Sie  treiben 
mit  den  Nachbarn  einen  stummen  Handel  und  erwerben  von  diesen 
gegen  Elfenbein  und  Wachs,  Werkzeuge  und  Geräthe,  die  sie  in 
die  Eisenzeit  versetzen.  Sie  verschmähen  nicht  die  ekelhafteste 
Nahrung,  wie  faulendes  Fleisch,  binden  sich  aber  wiederum  an 
Speiseverbote,  berühren  auch  nie  eine  Kost,  die  ein  Kandianer 
zubereitet  hat,  aus  Furcht,  ihre  Kaste  zu  verlieren,  denn  seltsamerweise 
beanspruchen  sie  und  wird  ihnen  von  ihrenNachbarn  ein  höherer  Racen- 
adel  zugestanden.  Wenn  sie  als  Teufelsanbeter  bezeichnet  werden, 
so  haben  wir  uns  darunter  zu  denken,  dass  sie  schädliche  Mächte 
durch  ihre  Verehrung  zu  besänftigen  suchen.  Ihre  Jagdreviere 
sind  als  strenges  Eigenthum  unter  die  Familien  vertheilt.^).  Femer 
fallen  die  Vedda  in  der  Umgebung  von  polygamischen  Völkern 
dadurch  auf,  dass  sie  nur  ein  Weib  ehelichen  und  bei  ihnen  das 
Sprüchwort  gilt:  der  Tod  allein  könne  Mann  und  Frau  scheiden^). 

Ebenso  wie  über  die  Vedda  sind  wir  nur  sehr  dürftig  über 
die  Mincopie  oder  die  Bewohner  der  Andamanen  unterrichtet, 
obgleich  die  Engländer  seit  beinahe  zwanzig  Jahren  nach  diesem 
Archipel  ihre  indischen  Verbrecher  zu  verbannen  pflegen.  Da  es 
auf  jenen  Inseln  an  vierfüssigem  Wild  nicht  mangelt,  so  gehört  die 


1)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  2.  S.  346. 

2)  Fritsch,  Eingeborne.  S.  427. 

3)  a.  a.  O.  Bd.  i.  S.  200. 

4)  Barnard  Davis,  Thesaurus  craniorum.  p.  132 — 134. 

5)  Sir  Emerson  Tennent,  Ceylon,  vol.  II.  p.  439 — 451. 

6)  Tylor,   Anfange  der  Cultur.    I.    S.    51.  und    Lubbock,  Prehistoric 
Times  1869.  p.  424. 


Die  Urzustände  des  Menschengeschlechtes.  15 1 

Jagd  zu  dem  Nahrungserwerb  der  Eingebornen,  welche  auch  als 
Pfeilschützen  von  ihren  Gegnern  gefürchtet  werden ').  Zum  Fisch- 
fang verfertigen  sie  bewundemswerthe ,  Netze  ^)  und  noch  mehr 
eeichnen  sie  sich  aus  durch  den  zierlichen  Schnitt  ihrer  Kähne,  die 
sie  aus  Baumstämmen  aushöhlen  bis  die  Wände  nicht  dicker  sind, 
als  die  einer  hölzernen  Hutschachtel^).  Mit  ihnen  wagen  sie  sich 
weit  auf  die  See  hinaus,  um  beim  Fackelglanze  Fische  zu  Speeren. 
Da  ihre  Sprache  noch  undurchforscht  ist,  war  es  höchst  übereilt, 
ihnen  religiöse  Regungen  abzusprechen.  Unter  sich  verkehren  sie 
freundlich  und  liebreich,  besonders  zärtlich  ist  die  Zuneigung  zwischen 
Eltern  und  Kindern.  Zu  den  niedrigen  Menschenstämmen  hat  man  sie 
wegen  ihrer  Nacktheit  gerechnet  und  wahrscheinlich  auch,  weil  sie 
sich  den  Landungsversuchen  stets  mit  den  Waffen  widersetzt  haben. 
Als  Schreckbilder  der  Menschheit  sind  von  allen  Seefahrern 
die  Bewohner  der  ewig  feuchten,  gleichmässig  kühlen  Magalhaes- 
strasse  beschrieben  worden.  Ihre  nächsten  ethnographischen  Ver- 
wandten sind  die  Araucanier,  jedenfalls  haben  wir  sie  als  eine 
physisch  schwache  Horde  zu  denken,  die  nur  in  dem  unwirthlichen 
Feuerlande  eine  Rettung  vor  stärkeren  Bedrängern  fand.  Zwei 
Erfindungen,  die  ihnen  ausschliesslich  angehören,  dürfen  uns  keinen 
Zweifel  übrig  lassen,  dass  es  auch  diesen  geringsten  aller  Menschen 
nicht  gänzlich  an  Scharfsinn  fehlt.  Wie  wir  später  in  dem  Abschnitt 
über  die  nautischen  Leistungen  der  Küstenbevölkerungen  zeigen 
werden,  sind  die  Feuerländer  die  einzigen  Südamerikaner,  die  von 
Ecuador  bis  zum  Cap  Hörn  und^von  Cap  Hörn  bis  weit  über  den 
La  Plata  das  Meer  in  hohlen  Baumstämmen  befahren.  Auf  diesen 
Kähnen  unterhalten  sie  beständig  ein  Feuer,  woher  ihr  Land  und 
sie  selbst  ihren  Namen  von  Europäern  empfangen  haben.  Beider 
hohen  Dampfsättigung  der  Luft  gelingt  es  nämlich  sehr  schwer 
Holz  in  Brand  zu  stecken.  Der  Feuerbohrer  würde  also  seinen 
Dienst  wahrscheinlich  versagen  und  daher  gehören  die  Bewohner 
der  Magalhaes'schen  Inselwelt  zu  den  wenigen  Menschenstämmen, 
welche  Fimken  aus  Eisenkiesen  schlagen  und  sie  in  Zunder  auf- 
fangen*).    Ferner  befolgen  sie  bei  der  Vermehrung  ihrer  Jagdhunde 


i)  Frederic  Mouat,  the  Andaman  Islanders.  London  1863.  p.  321. 

2)  1.  c,  p.  326. 

3)  1.  c.  p.  316—318. 

4)  W.    Parker  Snow,    OfF  Tierra   del  Fuego.    London   1857,    tom.  II, 
p.  360.     Vielleicht  haben  sie  aber  diese  Erfindung    erst   den  Patagoniem  ab* 


IC 2  Die  Urzustände  des  Menschengeschlechtes. 

die  Regeln  derRacezüchtung^).  Leider  todten  sie  aber  auch  bei  Hungers- 
nöthen  die  alten  Frauen  vor  den  Hunden,  weil  [diese,  sagen  sie,  See- 
ottern fangen,  jene  aber  nicht  *).  Daran  wollen  wir  noch  die  Bemer- 
kung eines  der  besten  Beobachter  unsrer  Tage  knüpfen.  „Als  ich, 
am  Bgvd  des  Beagle,  versichert  Charles  Darwin,  mit  den  Feuer- 
ländern zusammenlebte,  ward  ich  unaufhörlich  überrascht  von 
kleinen  Charakterzügen,  welche  zeigten,  wie  ähnlich  ihre  geistigen 
Eigenschaften  den  unsrigen  waren"  ^).  Fitzroy  endlich  schreibt 
ihnen  den  Glauben  an  eine  gerechte  Gottheit  zu,  welche  Unheil 
sendet,  als  Strafe  für  begangene  Verbrechen*). 

Unter  allen  Bewohnern  der  Erde  stehen  vielleicht  die  Boto- 
cuden  Brasiliens  dem  Urzustände  noch  am  nächsten.  Wohnen  sie 
auch  nicht  an  der  Südspitze  eines  Festlandes,  so  ist  doch  ihre 
Heimath  unwirthlich  und  am  spätesten  von  allen  Küstenstrichen 
Brasiliens  durch  Europäer  besiedelt  worden.  Die  Botocuden  leben 
in  gänzlicher  Nacktheit  und  entstellen  sich  durch  Lippen-  und 
Wangenhölzer,  wodurch  sie  sich  ihren  Namen  zugezogen  haben, 
der  von  dem  portugiesischen  hotoque  (Stöpsel)  ^abzuleiten  ist,  denn 
unter  sich  heissen  sie  Engkeräkmung.  Ihre  Nahrung  erwerben  sie 
sich  mit  dem  Pfeil,  tragen  übrigens,  was  andere  Horden  versäumen, 
die  linke  Hand  mit  einer  Schnur  umwickelt,  um  sie  vor  Verletzung 
durch  die  zurückschnellende  Sehne  zu  schützen.  Sie  leben  im 
Zeitalter  der  geschliffnen  aber  undurchbohrten  Steingeräthe,  bauen 
Hütten,  schlafen  auf  Bastmatten,  kochen  in  Thongeschirren  und 
sollen  im  Monde  den  Urheber  der  Schöpfung  verehren  5).  Die 
Nutzung  der  Jagdreviere  wird  nur  den  Eigenthümern  verstattet  und 
Wildfrevel  durch  duellartige  Zweikämpfe  gerächt^).  Auf  ihren  Ge- 
bieten sorgen  sie  für  Verkehrsmittel,  denn  sie  erbauen  schwebende 
Seilbrücken  aus  Schlingreben  (^ipo)^).  Setzen  wir  noch  hinzu,  dass 
ihre  Sprache  einen  Ausdruck  für  Schamröthe  besitzt*),  sowie   dass 


gelauscht,  welche  sich  nach    europäischer  Art    des  Feuersteines  und   Stahles 
bedienen.    Musters   im  Journal  of  the    Anthropol.   Institute,    vol.   I.    p.   198. 

1)  Darwin,  Domestication.  tom.  II,  p.  207. 

2)  Darwin,  Journal  of  Researches.  London  1845.  p.  214. 

3)  Abstammung  des  Menschen.  Bd.  i.  S.  209. 

4)  W.  P.  Snow,  1.  c.  tom.  II,  p.  358. 

5)  Prinz  zu  Neuwied,  Reise  nach  Brasilien.  Bd.  2.  S.  18,  21,   27,  35. 

6)  1.  c.  Bd.  I.  S.  368. 

7)  1.  c.  Bd.  2.  S.  37. 
>8)  1.  c.  Bd.  2.  S.  312. 


Die  Urzustände  des  Menschengeschlechtes.  icx 


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1)  J.  J.    V.  Tschudi,    Reisen  durch   Südamerika.    Leipzig  1860.    Bd.   2. 
S.  285. 

2)  Alexander  V.  Humboldt.     Eine  wissenschaftl.  Biographie.     Heraus- 
gegeben von  Karl  Bruhns.  Leipzig  1872.  Bd.  i.  S.  379. 


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sie  ihre  Gelage  durch  Gesänge  beleben,  die  freilich  roh  und  ge- 
dankenarm sein  mögen.  In  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhun- 
derts, waren  die  Engkeräkmung  noch  so  kräftig,  dass  sie  drei 
Hafenplätze  zerstören  und  die  Portugiesen  völlig  aus  der  Provinz 
Porto  Seguro  vertreiben    konnten ,    was  ihnen   doch   niemals   ohne  ';^ 

ein    nationales   Gemeingefühl   und  ^ein   Bündniss   der  verschiednen  V^j 

Zweige  ihres  Stammes  gelungen  wäre.     Als   ihre   höchste  Leistung  ij 

lässt  sich  noch  mittheilen,  dass    die  Nakenuk,   eine   ihrer  Horden,  ^^"l 

drei  Jahre  nach  einander  genau  am  6.  Sptbr.  bei  einer  brasilia- 
nischen Niederlassung  sich  einstellte,  um  dort  vertragsmässig  mit 
einem  jährlichen  Festschmaus  bewirthet  zu  werden,  so  dass  sie  also 
irgend  eine  Zeitrechnung  sich  angeeignet  haben  müssen'). 

Vielleicht  haben  wir  nur  Missgriffe  begangen,  jene  eben  ge- 
schilderten Menschenstämme  unter  alle  andren  zu  erniedrigen.  *"r 
Ihre  Sprachen  sind  nur  sehr  unvollkommen  gekannt  und  ehe  dies 
nicht  der  Fall  ist,  wird  Niemand  in  den  Kreis  ihrer  geistigen  Vor- 
stellungen eindringen  können.  Flüchtige  Reisende  sind  stets  die- 
jenigen gewesen,  welche  uns  die  traurigsten  Gemälde  der  soge- 
nannten wilden  Völker  entworfen  und  namentlich  die  Beschränktheit 
ihrer  Sprache  behauptet  haben.  So  war  es  auch  beispielsweise  dem 
Caribischen  ergangen,  bis  Alexander  v.  Humboldt  aussprach:  „Es 
verbindet  Reichthum,  Anmuth,  Kraft  und  Zartheit.  Es  fehlt  ihm 
nicht  an  Ausdrücken  für  abstracte  Begriffe,  es  kann  von  Zukunft, 
Ewigkeit,  Existenz  reden  und  hat  Zahlwörter  genug,  um  alle  mög- 
lichen Combinationen  unsrer  Zahlzeichen  anzugeben*).** 

Die  oben  genannten  Völker  leben  von  Jagd  oder  Fischerei, 
sie  bewohnen  auch  meistens  Inseln  und  werden  aus  allen  diesen 
Gründen  im  Kurzen  dem  Racentode  verfallen.  Damit  wollen  wir 
nicht  ausschliessen,  dass  nicht  auch  Hirtenstämme  aussterben  sollten, 
wie  es  das  sichere  Loos  der  Hottentotten  und  sämmtlicher  nord- 
sibirischer Nomaden  sein  wird.  In  Nordamerika  haben  sich  bis 
jetzt  auf  den  Gebieten  der  Hudsonsbaigesellschaft  durch  gute  Schutz- 
gesetze die  Jäger  gesund  erhalten,  jetzt  wo  die  Privilegien  jener 
Gesellschaft  erloschen  sind,  droht  auch  ihnen  das  Verhängniss.  Die 
Eröffnung  der  grossen  Westbahnen  nach  Californien  wird  das  Aus- 


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1^4  ^ic  Urzustände  des  Menschengeschlechtes. 

Sterben  der  Bisonheerden  und  der  noch  übrigen  Reste  von  India- 
nern ausserordentlich  beschleunigen,  und  das  neue  Jahrhundert  in 
den  Vereinigten  Staaten  nicht  mehr  für  Rothhäute  anbrechen  oder 
es  werden  sich  höchstens  einzelne  als  bezähmte  Merkwürdigkeiten 
noch  ein  paar  Jahre  hinschleppen.  Dieser  paläontologische  Process 
sollte  für  uns  nichts  geheimnissvolles  besitzen. 

Vor  allen  Dingen  ist  nicht  etwa  an  eine  blutige  Unterdrückung^ 
zu  denken.  Oft  genug  wird  den  Spaniern  besondere  Grausamkeit 
vorgeworfen.  Wir  wollen  durchaus  nicht  abläugnen,  dass  sie  sich 
reichlich  mit  Indianerblut  befleckt  haben,  es  geschah  diess  aber 
nur  aus  Habsucht,  nicht  aus  Mordlust ;  die  Ausrottung  wurde  auch 
stets  beklagt  und  durch  milde,  wenn  auch  ohnmächtige,  Gesetze  ihr 
entgegengewirkt.  Die  überseeische  Geschichte  Spaniens  kennt  keinen 
Fall,  der  sich  an  Verworfenheit  mit  dem  messen  könnte,  dass  Portugiesen 
in  Brasilien  die  Kleider  von  Scharlach-  oder  Blatterkranken  auf  die 
Reviere  der  Eingebornen  abgelegt  haben  ^),  um  die  Pest  künstlich 
unter  ihnen  zu  verbreiten,  oder  dass  die  Brunnen  in  den  Wüsten 
Utahs,  welche  von  den  Rothhäuten  besucht  zu  werden  pflegten,  von 
Nordamerikanern,  mitStrychnin  vergiftet  wurden  *),  oder  wie  in  Austra- 
lien, wo  zu  Hungerszeiten  die  Frauen  von  Ansiedlern  Arsenik 
unter  das  Mehl  mischten^),  mit  dem  sie  die  bettelnden  Eingebornen 
beschenkten,  oder  endlich  wie  in  Tasmanien,  wo  englische  Ansiedler 
die  Eipgebornen  niederschössen,  wenn  sie  kein  besseres  Futter  für  ihre 
Hunde  fanden*).  Doch  haben  nicht  Grausamkeit  oder  Bedrückung 
irgendwo  einen  Menschenstamm  völlig  ausgerottet,  selbst  neue  Krank- 
heiten, die  Pocken  mit  eingeschlossen,  haben  nicht  Völker  vertilgt,  und 
noch  weniger  die  Branntweinseuche,  sondern  ein  viel  seltsamerer 
Todesengel  berührt  jetzt  einst  fröhliche  und  glückliche  Menschen- 
stämme, nämlich  der  Lebensüberdruss.  Die  unglücklichen  Bewohner 
der  Antillen  tödteten  sich  auf  Verabredung  gemeindeweise  theils 
durch  Gift,  theils/  durch  den  Strick^).  Ein  Missionär  in  Oaxaca 
vertraute  dem  spanischen  Historiker  Zurita,  dass   sich  Horden  der 


i)  Prinz  zu  Neuwied,  Reise  nach  Brasilien.  Bd.  2.  S.  64.    v.  Tschudi^ 
Reisen  durch  Südamerika.  Bd.  2.  S.  262. 

2)  R.  Burton,  The  city  of  the  Saints.  London  1862,  p.  576, 

3)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie.  Bd.   6,  S.   824  und  £yre,  Central 
Ausbalia.  London  1845.  tom.  II,  175. 

4)  Bonwick,  The  last  oft  the  Tasmanians.  London  1870.  p.  58. 

5)  Las  Casas,  Hist.  de  las  Indias,  IIb,  III.  cap.  81. 


Die  Urzustände  des  Menschengeschlechtes.  jcc 

Chontalen  und  Mijes  verabredet  hatten  jedem  Umgang  mit  ihren 
Frauen  zu  entsagen,  oder  die  ungeborne  Leibesfrucht  durch  Gift  zu 
entfernen').  Darin  liegt  denn  auch  die  wahre  Ursache  des  Aus- 
sterbens so  vieler  bunter  Menschenracen,  dass  kein  neues  Geschlecht 
mehr  unter  ihnen  keimt.  Es  ist  die  Abnahme  der  Geburten  auf 
den  Sandwich-Inseln  *)  und  auf  Tahiti,  welche  das  Abschiednehmen 
von  Völkerstämmen  befördert.  Auf  Taio-Hae,  einer  Insel  der  Men- 
danagruppe,  verminderten  sich  im  Laufe  von  drei  Jahren  die  Ein- 
wohner von  400  auf  250  Köpfe,  während  in  dieser  Zeit  nur  3 — 4 
Geburten  vorkamen  3). 

Warum  diess  geschieht,  darüber  können  uns  einige  missver- 
standene Fälle  belehren.  Ein  junger  Botocudenknabe  wurde  von 
einer  brasilianischen  Familie  in  Bahia  erzogen,  besuchte  die  Gym- 
nasien, die  Universität,  erwarb  sich  das  Doctordiplom ,  und  prak- 
ticirte  eine  Zeitlang  als  Arzt  in  Bahia.  Eine  tiefe  Schwermuth  war 
immer  der  Grundzug  seines  Charakters  gewesen.  Eines  Tages  ver- 
schwand er,  und  nach  Jahren  erhielten  seine  Pflegeeltern  die  sichere 
Kunde,  dass  er  Kleider  und  Erziehung  abgestreift  und  nackt  mit 
seiner  Horde  in  den  Wäldern  umherstreife*).  Einen  ähnlichen  Fall 
erlebte  Dobrizhoffer  unter  den  Abiponen,  ja  er  erzählt  uns  oben- 
drein von  einer  spanischen  Edeldame,  die  mit  ihren  Kindern  in 
die  Gefangenschaft  jenes  streitbaren  Stammes  gerieth  und  unter 
ihnen  blieb,  bis  endlich  ein  Lösegeld  für  sie  eintraf.  Ihr  Sohn 
Raimund  jedoch  und  ihre  Tochter,  die  unter  den  Rothhäuten  auf- 
gewachsen waren,  verzichteten  freiwillig  auf  jede  Rückkehr  5).  Der 
verstorbene  Admiral  Fitzroy  hatte  einen  Feuerländer  nach  England 
mitgebracht,  wo  er  Jemmy  Button  getauft,  erzogen  und  eine  Zeil- 
lang in  vornehmen  Gesellschaften  als  Schosskind  verhätschelt  wurde. 
Um  ihn  nach  seiner  Heimath  zurückzubringen,  wurde  eine  Expe- 
dition gerüstet,  auf  der  Charles  Darwin  seine  Fahrt  um  die  Erde  voll- 
zog, Jemmy  Button,  der  in  Europa  stets  Handschuh  und  blankgeputzte 
Stiefeln  getragen  hatte 6),  wurde,    in  seine  Heimath  zurückgekehrt, 

1)  Zurita,  Chefs  de  la  Nouvellc  Espagne,  ed.  Temaux-Compans,  p.  272. 

2)  Auf  den  Sandwichinseln  wurden  bei  der  ersten  Volkszählung  im  Jahre 
1832  130,315  Köpfe  ermittelt,  die  1853  auf  73,138  und  1872  auf  49,044  ge- 
sunken waren.  Globus.  1873.  Juni.  Bd.  XXIII,  S.  334. 

3)  Quatrefages,  Rapport,   p.  358. 

4)  J.  J.  V.  Tschudi's  Reisen  in  Südamerika.  Bd.  2.  S.  286. 

5)  Geschichte  der  Abiponer.  Wien  1783.  Bd.  2.  S.  176. 
6)CharlesDarwin,  Journal  of  Researches.  2d.  edit.  London  1845.  p.  207. 


ijö  Die  Urzustände  des  Men sehen geBcUechtes. 

sogleich  ein  nackter,  ungewaschener  und  ungekämmter  Feuerländer. 
wie  er  gewesen  war,  und  unterschied  sich  1855  nicht  mehr  von 
den  Seinigen'}.  Ein  anderer  bekannter  Fall  dieser  Art  betrifft  einen 
Australier,  Namtn^  Bimgati,  der  in  Sydney  erzogen  wurde,  auf 
dem  Gymnasium  Preise  sich  erwarb  und  ein  gutes  Latein  sprach, 
dennoch  aber  später  aus  der  Civilisalion  in  den  Busch  entsprang, 
und  hinterdrein  geäussert  hat,  die  Erziehung  habe  ihin_^nichts  ge- 
nützt, als  dass  er  sein  Elend  gewahr  geworden  sei').  Ganz  ähnlich 
erzählt  der  Hydrograph  Neumayer,  dass  er,  verirrt  am  untern 
Murray  1861  von  den  Eingebornen  zu  einem  nackten  Schwarzen 
geführt  wurde,  der  ihm  in  sein  Taschenbuch  in  fehlerlosem  Eng- 
lisch die  Namen  der  wichtigsten  0 ertlichkeiten  eintrug,  die  er  zur 
Rückkehr  berühren  sollte.  Der  seh  reib  kund  ige  Australier,  damals 
24  Jahr  alt,  war  auf  einer  Missionsschule  in  Adelaide  erzogen  worden  3), 
Eine  lieblose  Anthropologen  schule  hat  aus  sok:hen  Fällen  den 
Beweis  schöpfen  wollen,  dass  die  anders  gefärbten  Menschen  einer 
von  uns  verschiedenen  Species  angehören.  Jene  Beispiele  beweisen 
aber  zunächst,  dass  das  Maass  der  geistigen  Fähigkeiten  nicht  un- 
gleich vcrtheilt  sei,  nur  bemerken  wir  staunend,  dass  der  soge- 
nannte wilde  Mensch  das  Leben  in  der  Freiheit  allen  Vortheilen 
und  Bequemlichkeiten  der  Gesittung  vorzieht.  Die  Schwierigkeit, 
Jägerstamme  an  ein  sesshaftes  Leben  zu  gewöhnen,  besteht  nicht 
darin,  dass  sie  nicht  nach  unserer  Art  leben  konnten,  sondern  dass 
sie  nach  ihrer  Art  leben  wollen.  Sie  betrachten  jede  Arbeit  als 
erniedrigend  und  nur  die  Jagd  als  standesgemäss  und  mannes- 
würdig'). Der  schwarKe  Wann  arbeitet  nicht,  sagen  die  Australier, 
denn  er  ist  von  edler  Geburt'}.  Als  die  britischen  und  holländi- 
schen Ansiedler  an  der  Ostküste  der  Vereinigten  Staaten  sich 
niederjiessen ,  bemerkte  man    dann   und    wann    einen  Eingebornen 


l)  Philipps,  the  Missionar)-  0!  Tierra  dsl  Fuego.  London  1861.  p.  69 
5q.  u.  Parker  Snow,  OiT  Tietra  dcl  Fuego,  II,  p.  27—31. 

j)  Bonivick,  the  lost  of  Ihe  Taamaniaaa.  London  1870.  p.  359. 

31  Neumayer  in  der  Siliun;;  der  unthropologischen  Geseilschaft  iu  Berlin 
am  15.  April  1871. 

4I  So  die  AlRonkinen  und  Irokesen  nach  Charlevoix,  Nouvelle  Franc«. 
Paris  1744.  tom.  ItL  p.  334.  Grossen  Fleiss  /ei^en  sie  dagegen  bei  der  An- 
fertigung ihrer  Jagd-  und  Fischereigeräthe. 

5)  White  fcUows  work,  nol  block  feUow;  black  fellow  gentleman.  Haie, 
UaiL  Stalcs  Exiiliiring  Exped.  tlllinoGr.iphy.  p.  109. 


Die  Urzustände  des  Menschengeschlechtes.  icj 

der  von  einer  Anhöhe  zuschaute,  wie  der  Neubauer  hinter  seinem 
Pfluge  herging,  nicht  etwa  um  iKto  seine  Geheimnisse  abzulauschen, 
sondern  um  6rst  verwundert  drein  zu  schauen,  und  dann  bedauer- 
lich ihm  den  Rücken  zu  kehren,   als   habe   er   im  Stillen    gedacht 
wie  der  lateinische  Dichter,  dass  unmöglich  das  Leben  mehr  werth 
sein  könne  als  die  Lebensreize  (non  propter  vitam  vivendi  perdere 
causas).     Dass  diess  der  letzte  Gedanke  sei,  können  wir  auch  durch 
eine  andere  Betrachtung  inne  werden.     Die  rothen  Indianerstämme 
Nordamerika's  denken    sich   das   Jenseits    als    eine   Fortdauer   des 
irdischen  Lebens.     Der  grosse  Geist,    so    hoffen  sie,   werde  sie  in 
wildreiche  Gefilde  versetzen*).     So  stellen  sich  auch  die  streitbaren 
Maori  Neu-Seelands  das  Leben  nach  dem  Tod  als  eine  fortgesetzte 
Reihe  von  Gefechten  und  Fehden  vor,  aus  denen  die  Seligen  immer 
wieder  erneuert  als  Sieger  hervorgehen.     Unsere  germanischen  Vor- 
eltern hegten    die   gleichen    Hoffnungen.      Folglich    erscheint   dem 
wenig  cultivirten  Menschen  das  Leben,  welches  er  lebt,  so  genuss- 
reich, dass  er  sich  ein  anderes  nur  als  eine  Steigerung  zu  denken 
vermag.     Fragen  wir  uns  nun  selbst,  ob  uns  mit  einem  gesteigerten 
Diesseits  'irgend  wie  gedient  wäre,  ob  sich  etwa   ein    Lohnarbeiter 
das  Leben  nach  dem  Tode  vorstellen  möchte,  als  eine  meilenlange 
Garnmühle  ?    Oder  können  wir  glauben,  dass  ein  Londoner  Cockney, 
der  jährlich  nur  wenigemal,  manches  Jahr  gar  keinmal,    in    das 
Freie   gelangt,  das  Jenseits    sich    vorstellen    könnte    als   ein    ver- 
grössertes  London  ?  Wir  müssen  also  schliessen,  dass  das  physische 
Wohlbehagen  auf  den  niedersten  Gesittungsstufen  viel  grösser,  der 
Schätz  ungs  werth  des  Lebens  viel  geringer  sei,  dass  der  sogenannte  Wilde 
lieber  auf  das  Dasein  verzichtet,  als  die  Lasten  der  Gesittung  sich 
zuzuziehen.     Wäre  die  Heimath  der  alten  Deutschen,  wie  sie  Ta- 
citus  schildert,  in  Nordamerika  gelegen  gewesen,  allem  Vermuthen 
nach  wären   sie  nach  der  Entdeckung   durch  die   Europäer   dem 
nämlichen  Verhängniss   verfallen,   wie   die  Algonquinen    oder   die 
Fünf  Nationen.      Der  Uebergang    von   Jagderwerb    zum   strengen 
Ackerbau  muss   durch    mehrere   Geschlechter    sich   langsam    voll- 
ziehen, sonst  stellt  sich  der  Racentod  ein.     Wir  sehen  daher,  dass 
in    der   neuen   Welt  diejenigen  Eingebornen,   welche    schon   einen 
höheren   Culturgrad  erreicht  hatten,  wie    die  Bewohner  Mexico's^ 


1)  Charlevoix,  Nouvelle  France.  Paris  1744.  •tom.  III.  p.  352 — 353. 


jcg  Die  Nabnings mittel  und  ihre  Zubereitung. 

Yucatans,  Mittel amerika's,  Ecuadors,  Peru's  und  Chile's,  nicht  nur 
nicht  aussterben,  sondern  dass  sie  jetzt  nach  etwa  300  Jahren  in 
ihrer  Heimath  wieder  die  herrschenden  Racen  werden,  freilich  zu- 
n^ichst  mit  einem  Rüiischritt  ihrer  Gesittung. 

Wenn  wir  Jät'erstämme  mit  schriftgelehrten  Völkern  vergleichen, 
sollten  wir  eins  nie  vergessen.  Wir  alle  sind  Knechte  der  Ge- 
sellschaft, mühsam  abgerichtet  von  unsrer  Jugend  auf  um  den 
Dienst  eines  RaJes  im  Räderwerke  des  bürgerlichen  Lebens,  oft 
genug  nur  den  einer  Spindel  oder  Schraube  zu  vollziehen,  Freiheit 
allein  geniesst  der  Botocude,  der  Australier,  der  Eskimo.  Den 
Verlust  der  natürlichen  Freiheit  fühlen  wir  nie,  weil  man  nicht  ver- 
lieren kann,  was  man  nie  besessen  hat.  Damit  man  nicht  in  diesen 
Worten  den  Ausbruch  von  Klagen  um  ein  verlornes  Paradies  im 
Geschmack  von  Georg  Forster  zu  vernehmen  glaube,  wollen  wir 
gleich  hinü u setze n ,  dass  der  Mensch  der  Culturstaaten  andrerseits 
eine  Freiheit  geniesst,  um  die  ihn  die  farbigen  Jäger  wohl  beneiden 
dürften,  nämlich  seine  geistige  Freiheit,  Man  hat  oft  gefragt,  ob 
bei  allen  sogenannten  Wilden  religiöse  Regungen  gefunden  werden. 
Ein  VÖlkerkundiger  wird  diese  Frage  nicht  stellen.  Er  weiss,  dass 
mit  der  Annäherung  an  den  Naturzustand  immer  mehr  und  mehr 
geglaubt  wird.  Die  Herrschaft  des  Unglaubwürdigen  ist  nirgends 
stärker,  als  im  Gemüthe  des  sogenannten  Wilden  und  er  zittert 
durch  das  ganze  Leben  vor  den  Gebilden  seiner  eignen  Imagina- 
tion. So  war  unser  Geschlecht  vor  die  Wahl  gestellt;  Sklaven  zu 
werden  innerhalb  einer  bürgerlichen  Ordnung  aber  frei  zu  sein  von 
den  Bedrängnissen  der  Einbildungskraft,  oder  alier  geselligen  Fes- 
seln ledig,  als  einzige  Freiherren  Jagdreviere  zu  durchschreiten,  aber 
dafür  eingeschüchtert  zu  werden  von  Jedem  fratzenhaften  Traum 
und  eine  Beute  zu  bleiben  der  kindischen  Gespensterfurcht. 


2,    Die  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung. 

Ais  man  über  die  früheste  Entwicklung  des  Menschenge- 
schlechtes nachzudenken  begann,  galt  es  als  selbstverständlich  den 
Schauplatz  seiner  ersten  Ausbreitung  dorthin  zu  verlegen,  wo  von 
der  Natur  die  Tagesnahrung  freigebig  jeder  ausgestreckten  Hand 
■  dargeboten  wurde.  Nur  zwischen  den  Wendekreisen  fand  man 
diose  Voraussetzung  erfüllt  und  nicht    anders    als    mit   den  Feder- 


Die  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung.  i^q 

krönen  von  Palmen  geschmückt,  konnte  man  sich  den  gesegneten 
Garten  vorstellen,  wo  unsre  Stammeltern  mit  Ernährungssorgen  noch 
nicht  zu  kämpfen  hatten.  Doch  ist  es  noch  heutigen  Tages 
kleinen  Gemeinden  vergönnt  zu  ernten,  wo  sie  nicht  gesäet,  zu 
pflücken,  wo  sie  nicht  gepflanzt  haben.  Im  Gebiete  der  Sagopalme, 
also  in  der  Banda  See  finden  Malayen  und  Papuanen  immer  Nah- 
rungsvorräthe ,  die  ihrer  warten.  Auf  etlichen  Korallengruppen 
der  Südsee  und  des  indischen  Oceanes  bestehen  die  Mahlzeiten  zu 
jeder  Tagesstunde  und  im  Laufe  des  ganzen  Jahres  nur  aus  Co- 
eosnüssen,  höchstens  dass  der  Fischfang  gelegentlich  eine  Abwech- 
selung gewährt.  Unter  den  Palmen  finden  wir  überhaupt  die 
willigsten  Nährmütter  des  Menschen.  Zu  den  Bäumen,  welche  die 
Eingebornen  des  tropischen  Südamerikas  pflegen,  gehört  die  Gui- 
lelma  speciosa^  welche  die  apricosen-  oder  eierpflaumenartigen  Pu- 
punhas  trägt.  Sie  muss  seit  uralten  Zeiten  schon  gezüchtet  und 
durch  Edelreiser  fortgepflanzt  worden  sein,  da  der  ursprünglich 
steinharte  Samenkern  entweder  in  Fasern  zerschmolzen  ist  oder 
sich  gänzlich  zu  Fruchtfleisch  aufgelöst  hat^).  Einem  herrenlosen 
Obstgarten  gleichen  die  Wälder  am  Amazonenstrom,  wo  die  bra- 
silianische Kastanie  (Beriholletia  excelsa)  ihre  mandelähnlichen 
Samen  reift,  der  Cacao,  die  Ananas,  der  Breiapfel  (Achras  SapotaJ^ 
die  Avagate  fPerseß  gratissima)^  sowie  eine  Anzahl  beeren-,  pflau- 
men- und  kirschenartiger  Früchte  wild  wachsen,  zu  denen  die  Miriti 
oderMoriche/^i^«r/'//'(ayff  Jtrwöjoy  denPalmwein  und  dieTageskost  liefert. 
Dort  ist  also  der  Tisch  beständig  gedeckt  und  für  Abwechselung  reich- 
lich gesorgt*).  Mehr  als  200  orangengrosse  sättigende  Nüsse  trägt 
alljährlich  in  Mittelafrika  der  Dum-  oder  PfefFerkuchenbaum  (Hy^ 
phaena  thehaicaj  ^  die  einzige  Palme,  welche  abtrünnig  dem  Fami- 
lientypus ihren  Stamm  verzweigt  3).  Neben  ihr  ernährt  die  Dattel 
in  den  saharischen  Oasen  nicht  bloss  den»  Reiter,  sondern  sogar 
das  Ross,  das  ihn  trägt.  Freilich  ist  sie  nirgends  mehr  wild  an- 
zutreffen, erfordert  sie  doch  sogar,  damit  die  Ernte  gesichert  sei, 
dass  die  Blüthen  der  männlichen  Bäume  mit  denen  der  weiblichen 
durch  kundige  Hand  vermählt  werden. 

Von   seiner  Heimath  auf  den  Molukken  und   Philippinen  ist 


1)  Martins,  Ethnographie  I,  136. 

2)  Martins  1.  c.  S.  449—451.     L.  Gnmilla,  Orinoco.  cap.  9.  p.  84. 

3)  Samuel  Baker  in  Proceedings  of  the  R.  Geogr.  Society  1866.  p.  260. 


l6o  Bie  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubeieitung. 

der  Brotfruchtbaum  mit  den  Polynesiern  über  die  Südsee  vorgerückt. 
Seine  melonengrossen  Früchte  bringt  er  acht  Monate  des  Jahres 
hinter  einandtr  nur  Reife,  auch  lassen  sie  sich,  unter  der  Erde 
aufbewahrt,  nocli  die  andern  vier  Monate  geniessbar  erhalten'). 
Uebrigens  ist  das  letztere  gar  nicht  strenger  Brauch,  denn  wie  der 
jüngere  Pritchard')  bemerkt,  gelangen  gerade  in  den  sechs  Mo- 
naten, wo  die  Brotfrüchte  zur  Neige  gehen  oder  fehlen,  die  Yams- 
wurzeln zur  Reite,  welche  letztere  allerdings  schon  Ackerbau  voraus- 
setzen. Es  genügen  aber  nach  J.  R.  Forsters  Berechnung  27  Brot- 
fruchtbäume, die  freilich  auch  einen  enghschen  Acker  mit  ihrem 
Schatten  bedecken  würden,  zur  Ernährung  von  10 — 12  Personen, 
während  der  acht  Monate  ihres  Fruchttragens J).  Wüssten  wir 
endlich  mit  Sicherheit  die  ursprüngliche  Heimath  des  Pisang  an- 
zugeben'), der  dreimal  im  Jahre  seine  ya — 80  Pfund  schweren 
Trauben  zur  Reife  bringt  und  der  nach  einer  oft  benützten  Be- 
rechnung A,  V.  Humboldts  auf  einem  gleichen  Flächenraum  fünfzig 
mal  mehr  Nahrungswerth  liefert,  als  der  Waizen,  dann  würden  wir 
am  liebsten  unter  den  malerisch  zerfetzten  Ruderblättern  der  Mu- 
saceen  die  Voreltern  unsres  Geschlechtes  auftreten  lassen. 

Doch  gibt  es  auch  ausserhalb  der  Tropen  gesellig  wachsende 
Bäume,  die  essbare  und  leicht  aufbewahrte  Früchte  für  arbeits- 
scheue Menschen  herabschütteln.  Zollhoch  bedeckt  sich  der  Boden 
in  den  nord amerikanischen  Mezquitewäldern  mit  den  abgefallenen 
Schoten,  die  nicht  blos  von  Pferden  und  Maulthieren  gierig  ge- 
fressen, sondern  aus  denen  auch  für  den  menschlichen  Genuss 
ein  säuerliches  Qelränk  bereitet  und  deren  Bohnen  in  Mexico  ver- 
mählen und  zu  Brod  verbacken  werden  sollen*).  Gewiss  ist  wenig- 
stens, dass  diese  Samen  der  Algarrobia  oder  Prcsopis  gtandulos:i 
von  den  Mohavestämmen  am  westlichen  Colorado,  vorsichtig  in 
Korbe  verpackt  imd  aufbewahrt  werden   um    bei    einem  Miarathen 

1)  Charles  Martins,   von  SpitzbeigcD  zur  Sahaia.  Bd.  1.  S.  33. 

2)  PolyncaiiiQ  RcmiDiscenceii.  Loodon  1866.  p.  127. 

3)  Bem«tkuii£en  auf  einer  Reise  um  die  Welt  Berlin  1783.  S.  195. 

^)  GiihebAtli,  Vegetation  der  Erde  bezeichnet  Bd.  3,  S.16  mitR.  Bro  wn 
Btitisch  Indien  als  das  Vaterland  von  Musa  paradisiaca  (Pisang)  u.-M.  sa- 
pientium  (Banane),  hält  eE  aber  für  möglich,  dass  diese  Gewächse  schon  vor 
der  Entdeckung  Ametihas  in  diesen  Weltlheil  gelangt  seien.  Diese  letztere 
VermulitDDg  muss  freilich  die  Völkerkunde  als  völlig  unbegründet  verwerfen. 

5)  J.  Froebel,  Au5  Amerikj.  Bd.  2.  S.  446. 


Die  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung.  l6i 

der  beliebteren  Früchte  als  Aushilfe  zu  dienen').  Aehnlich  ge- 
staltete Schoten,  wie  diese  Acazie  des  trocknen  westlichen  Nord- 
amerika bringt  auf  den  Pampas  der  Laplatagebiete  die  Prosopis 
horrida  hervor.  Ihre  Früchte  werden  von  den  jetzigen  Bewohnern 
Johannisbrod  (algarr6ba)  genannt,  äie  ha|^n  aber  ausser  dem  Namen 
nichts  gemein  mit  den  Schoten  der  südeuropäischen  Ceratonia  si- 
Itqua,  Zweimal  im  Jahre  wurden  von  den  Abiponen  die  Früchte 
aufgelesen  und  entweder  trocken  genossen  oder  mit  Wasser  ver- 
mengt durch  Gährung  in  ein  weinartiges  Getränk  verwandelt"). 

Gehören  die  bisher  aufgezählten  Nahrungsmittel  vorzugsweise 
den  Ebenen  an ,  so  sind  auch  Gebirgsabhänge  nicht  gänzlich'  leer 
ausgegangen.  In  ^^n  chilenischen  Cordilleren  tragen  die  Arau- 
carien,  welche  dort  unsere  Nadelhölzer  vertreten,  in  ihren  menschen- 
kopfgrossen  kugeligen  Früchten  nicht  weniger  als  2 — 300  Nüsse, 
doppelt  so  gross  als  eine  Mandel  und  frisch  geröstet  vom  Ge- 
schmacke  der  Kastanien.  Da  200  dieser  Nüsse  dem  stärksten 
Esser  eine  reichliche  Tagesnahrung  gewähren,  so  genügen  ihm 
18  Araucarien  für  einen  Jahresunterhalt 3).  .  Wir  brauchen  aber 
solche  Beispiele  nicht  in  den  Anden  von  Antuco  zu  suchen,  auch 
die  Pinienwälder  Südeuropas  könnten  angeführt  werden,  ja  selbst 
in  der  Zirbel  unsrer  Hochgebirge,  welche  nicht  gern  und  nur  ver- 
einzelt tiefer  als  4000  F.  herabsteigt,  besitzen  auch  wir  einen  Nähr- 
baum der  Freiheit.  Es  sei  uns  an  dieser  Stelle  verstattet,  noch 
daran  zu  erinnern,  dass  auf  den  Hochlanden  Chile's  die  Kartoffel 
wild  gefunden  worden  ist  und  auf  Montblanc-Höhe  in  Peru  die 
Kinoahirse  (Chenopodium  Quinoa)  wächst,  ohne  deren  Gegenwart 
es  gar  nicht  denkbar  gewesen  wäre,  dass  am  Titicaca  See  eine 
jedenfalls  dichte  Bevölkerung  die  berühmten,  dem  Sonnendienst 
geweihten  Tempel  erbaut  hätte. 

Während  noch  immer  vergeblich  nach  der  Heimath  unsrer 
Getreidepflanzen  gesucht  wird,  gibt  es  in  seichten  stehenden  Ge- 
wässern noch  wild  wachsende  Körnerfrüchte,  welche  der  Cultur  sich 
bisher  entzogen  haben.  In  Nordamerika  sammelten  und  sammeln 
noch  jetzt    die   Eingebornen   die  Aehren    der    Surapfhirse   (Zizania 


1)  Möllhausen,  Tagebuch.  S.  397. 

2)  Dobrizhoffer,  Geschichte  der  Abiponer.  Bd.  2.  S.  74.  S.  139. 

3)  Pöppig,  Reisen.  Bd.  i.  S.  400. 

Peschel,  Völkerkunde.  IT 


I 


t 


1^2  ^^  NAhningBinillel  und  ihre  Zubereitung, 

aquaiica)'').  An  den  Weihern,  Stauwassem  und  Igarapes  (Neben- 
armen) des  brasilianischen  Rio  Negro  wächst  als  Grasteppich  der 
wilde  Reis  (Oryza  subnlalaj,  dessen  reife  Körner  der  Ansiedier  im 
Vorüberfahren  nur  in  seinen  Kahn  abzustreifen  braucht').  Erst 
kürzlich  hat  Georg  Schweinfurth  3)  eine  andre  Art  Reis  (Oryza 
punclala)  erwähnt,  die  zur  Regenzeit  in  allen  Teichen  des  Bongo- 
landes  im  Gebiete  des  Oazellenflusses  sich  einstellt,  von  den  dor- 
tigen Negern  zwar  nicht  gesammelt,  wohl  aber  von  den  Baggara- 
Arabern  und  in  Darfur  ais  wohlschmeckendes  Nahrungsmittel  ge- 
schätzt wird.  Selbst  die  trocknen  Ebenen  der  Kalahari  in  Sud- 
afrika bringen  eine  Anzahl  essbarer  Wurzeln,  Knollen,  Bohnen, 
saftige  Früchte  und  die  geniessbare,  durch  ihre  Milch  den  Durst 
stillende  Maguli  hervor*). 

Die  angegebnen  licispiele  erschöpfen  die  Zahl  aller  Nähr- 
pflanzen der  Wildniss  keineswegs,  sondern  ein  nachsichtiger  Fach- 
kenner wird  im  Stillen  vieles  zu  ergänzen  haben,  mancher  besser 
Bewariderte  sogar  erstaunt  sein,  dass  wichtige  Erscheinungen  tiber- 
sehen wurden.  Allein  das  Angeführte  wird  für  den  Zweck  unsrer 
Untersuchung  völlig  ausreichen.  Auch  sollte  keineswegs  bei  der 
Ijisherigen  Aufzählung  von  Nahrungsmitteln  der  Gedanke  vertreten 
n-erden,  als  habe  der  Mensch  auf  seinen  ältesten  Entwicklungs- 
stufen ausschliesslich  das  Pflanzenreich  um  Nahrung  angesprochen 
und  sei  wie  Brahmanen  und  Buddhisten  mit  heiliger  Scheu  an  der 
Thierwelt  vorübergegangen.  Nur  insofern  mussten  zuerst  die  Er- 
zeugnisse der  Gewächse  erwähnt  werden,  als  der  Mensch  seinem 
GebisB  und  seinen  Verdauungs Vorrichtungen  nach  auf  vegetabilische 
Kost  angewiesen  ist,  so  dass  ihn  nur  der  Hunger  zur  Aenderung 
seiner  Nahrungsweise  getrieben  haben  möchte.  Aber  auch  Thiere, 
die  nach  den  I-ehren  der  vergleichenden  Anatomie  unter  die 
Pflanzenfresser  gehören,  beobachten  nicht  streng  die  ihnen  zu- 
kommende Diät.  Da  die  Affen  der  alten  Welt  im  Zahnbau,  wo- 
rauf es  hier  zunächst  ankommt,  mit  den  Menschen  völlig  überein- 
stimmen, so  ist  es  für  uns  von  Wichtigkeit,  wenn  auch  bei  ihnen 

1)  Der  Acclimatisaüonsverein  in  Berlin  hat  sich  seit  1S70  mit  dem  Anbau 
des  Indinnerreiscs,  wie  es  scheint,  mit  Glück  beschäfligt.  Ausland  1872.  S.  741. 

2)  V.  Martius,  Ethnogiaphie.  Bd.  I.  S.  679. 
i)  Globus,  Bd.  XXn.  S.  76. 

4)  Chapman,  Travels   inlo   the  Inteiior  of  South-Africa.    London   1868. 


Die  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung.  163 

eine  gleichsam  regelwidrige  Ernährung  beobachtet  wird.     So  pflücken 
nach  Otto  Kerstens   Schilderung')   die  Paviane   Blätter    und   Blatt- 
knospen, Blüthen  und  halbreife  Früchte,  graben  Knollen  und  Wur- 
zehi  aus,  stellen  aber  auch  Thieren  nach,  die  sie  bewältigen  können. 
Sie  drehen  Steine  um  in  der  Erwartung  auf  der  Rückseite  Kerb- 
thiere  zu  finden.     Puppen  von  Ameisen  und  Schmetterlingen,  Käfer- 
larven, glatthäutige  Raupen,  Fliegen  und  Spinnen  sind  willkommene 
Beute.     Endlich  gehören  sie  noch  zu  den  schlimmsten  Nesträubern, 
verzehren    Eier  und  Nestlinge    aller   nicht    zu    grosser    Vögel,    ja 
fangen  die  flüggen  Jungen  oder  greifen  Mäuse  um   sie   mit   sicht- 
lichem Behagen  zu  verspeisen.     Nicht   viel    anders  wie    diese    Be- 
schreibung   ostafrikanischerjp  Hundsaffen    klingt    es ,    wenn    Alfred 
Lortsch  von  den  Australiern   bemerkt,   sie  verzehrten   ausser    den 
Beutelthieren    alle  Vögel,    selbst  Aasgeier,  Aale  und    Fische  jeder 
Art,    Fledermäuse,   darunter   auch    fliegende  Hunde,  Frösche,  Ei- 
dechsen,   Schlangen    und  Würmer*).     Einer  ähnlichen    Aufzählung 
begegneten  wir  unlängst  bei  G.  Schweinfurth,  der  von  den  Bongo- 
oder  Dornegern  versichert,  dass  sie  mit  Ausnahme  von  Hund  ur.d 
Mensch  kein  thierisches  Nahrungsmittel,  auch  nicht  Ratten,  Schlangen, 
Aasgeier,    Hyänen,    fette    Erdscorpione,    geflügelte    Termiten    und 
Kaupen    sich    entgehen    lassen^).      Wiederum    berichtete    kürzlich 

• 

F.  Appun  über  die  Indianer  Britisch  Guyana's:  „Wild  und 
Fische  bilden  ihre  Hauptnahrung];  doch  verschmähen  sie  auch 
Ratten,  Aff'en,  Alligatoren,  Frösche,  Würmer,  Raupen,  Ameisen, 
Larven  und  Käfer  nicht^)."  Der  Ekel  vor  irgend  einer  Kost  beruht 
nur  auf  Uebereinkommen  oder  auf  dem  „Grauen  vor  dem  Un- 
bekannten*^  Auch  haben  gesittete  Europäer  wenig  Berechtigung 
zu  schaudern,  dass  Chinesen  Schwalbennester  und  Trepang  (Holo- 
thurien)  zu  den  besten  Leckerbissen  rechnen  oder  in  Arabien  die 
Heuschreckenzüge  wie  ein  gottgesendeter  Fcstschmauss  begrüsst 
werden,  da  sie  selbst  weder  vor  den  Verdauungsrückständen  der 
Schnepfen  noch  vor  Hummern  und  Flusskrebsen  zurückweichen, 
welchen  letzteren  doch  zur  Reinigung  ihrer  W^assergcbiete  das  Ge- 
schäft obliegt,  gleichzeitig   als  Grab   und  Todtengräber   zu   dienen. 


1)  Reisen  des  Baron  v.  d.  Decken  in  Ostafrika.  Bd.  I.  S.  158, 

2)  Ausland  1866.  S.  700. 

3)  Globus  Bd.  XXII.  Xo.  5.  S.  76. 

4)  Ausland.  1872.  No.  27.  S.  635. 


if)^  Die  Nflhningsniillel  und  ihre  Zubereitung. 

Wollen  wir  uns  also  ein  Bild  von  der  Ernährungsweise  der 
Urstämme  unsres  Geschlechtes  vor  der  Erhebung  zum  Ackerbau, 
ja  vor  dem  IJetrieb  der  Jagd  entwerfen,  so  dürfen  wir  nicht  den- 
ken, dass  Pllan7.enkost  allein  den  Hunger  gestillt  habe,  sondern 
dass  vielmehr  alles  ergriffen  wurde,  was  geniessbar  erschien.  Be- 
geben wir  uns  zunächst  an  die  See,  so  lassen  sich  dort  von  den 
Watten  oder  vom  Meeresgrund  selbst  nahrhafte  Muscheln,  sowie 
Schnecken  in  ergiebiger  Menge  und  zu  jeder  Jahreszeit  auflesen. 
Die  Anhäufungen  von  Schalen  und  Gehäusen  essbarer  Weichthiere, 
die  sich  bankartif;  längs  den  Ufern  der  dänischen  Inseln  erstrecken 
und  den  Archäolo^'en  als  Küchenabfälle  (Kjökkenmöddingfr)  wohl 
bekannt  sind,  bestehen  aus  den  Schalen  von  4  Mollusken  arten  der 
Ostsee,  die  in  der  Zeit  der  ungeglätteten  bis  zur  Zeit  der  abge- 
glätteten Steingerädie  baltische  Strombewohner  ernährten '),  Sobald 
das  Auge  für  solche  Erscheinungen  geschärft  war,  haben  andre 
Forscher  ganz  gleiche  Muschelanhäufungen  in  Schottland,  den 
Vereinigten  Staaten,  in  Brasilien  und  in  Australien  erkannt. 

Erbeutung  voi  Fischen  ohne  Fischereigeräthe,  also  ohne  Netze 
oder  Angelschnur  gehört  zum  Alltagsleben  in  Kamtschatka.  Fünf- 
zehn Meilen  im  Innern  dieser  Halbinsel  fand  Kennan'j  dir 
schwachen  Gewäster  durch  die  Leiber  von  todten  und  faulenden 
Lachsen  verpestet.  Solche  Fische  von  18 — 20  Zoll  Länge  sah  er 
in  Bächen,  die  kaum  ihre  Rücken  mit  Wasser  völlig  bedeckten, 
sich  mühsam  aufwärts  winden,  so  dass  sie  mit  Händen  herausge- 
hoben worden  konnten.  In  Kambodia,  wo  Fischereigeräthe  fehlten, 
bemerkte  Adolf  Hastian^),  dass  die  Elngebornen  das  Wasser  des 
Tasavai  in  einen  Kanal  leiteten,  dann  es  abdämmten  und  wieder 
ausschöpften,  um  die  mittlerweile  eingetretnen  Fische  mit  den 
Händen  zu  fangen.  Ganz  ähnlich  verfuhr  ein  Chinese  bei  Calumpit 
auf  der  Insel  Luzon,  den  F.  Jagor*)  beobachtete.  Mehr  Ueber- 
iegung  und  längere  Naturbeobachtung  setzt  schon  das  Vergiften 
von  Fischwassern  voraus,  wie  es  vorzüglich  in  Südamerika  betrieben 
wird.  Am  ausführlichsten  ist  das  Verfahren  in  Guayana  von 
F,  Appan    geschildert    worden*),    der    übrigens    bei    den    dortigen 

1}  S.  oben.  S.  44. 

])  Teilt  Life  in  Siberia.  London  1871.  p.  loS, 

3)  Völker  Oslasisns.  Jena  1868.  Bd.  4.   S.  49. 

4)  Reisen  in  ilen  Philippinen.  Berlin  1873.  S.  47. 

5)  Ausland  1870.  S.  1139-  ß.  "S*". 


Die  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung. 


165 


Indianern,  wie  in  Cambodia,  ebenfalls  das  Abdämmen  und  Aus- 
schöpfen von  Fischwassern  anwenden  sah. 

Wie  man  sich  längst  gestanden  haben  wird,  wäre  es  eine  hoff- 
nungslose Aufgabe,  irgend  emen  Erdraum  als  denjenigen  zu  be- 
zeichnen, der  durch  leichten  Erwerb  des  Tagesbedarfs  sich  für  die 
Ileimath  der  frühesten,  noch  nicht  durch  Nachdenken  und  Uebung 
erstarkten  Stammeltern  mehr  als  andre  geeignet  haben  sollte,  viel- 
mehr war  unser  Planet  an  unzähligen  Strecken  beider  Festlande 
für  den  Empfang  des  Menschen  vorbereitet.  Dagegen  können  die 
von  uns  verknüpften  Thatsachen  dazu  dienen,  uns  von  dem  alten 
Irrthum  zu  erlösen,  dass  die  Ausbreitung  unsres  Geschlechts  von 
irgend  einem  Schöpfungsherd  nach  entlegenen  Festlanden  nur  bei 
reiferen  Zuständen  habe  stattfinden  können.  An  Nahrung  hat  es 
wenigstens  nirgends  gefehlt,  ja  die  örtlich  wechselnde  Fülle  und 
die  ursprünglich  engen  Verbreitungsgebiete  wohlschmeckender  Ge- 
nussmittel, die  als  etwas  Neues  von  ausgeschwärmten  Horden  entdeckt 
werden  mussten,  mögen  viel  dazu  beigetragen  haben,  dass  mensch- 
liche Bewohner  bis  in  die  äussersten  Winkel  des  Erdkreises  gelockt 
wurden.  So  weit  Geschichte  und  Erforschung  vorgeschichtlicher 
Zeiten  reichen,  waren  die  Völker  beständig  auf  der  Wanderung 
begriffen,  ja  das  Verwachsen  mit  dem  Boden  gehört  erst  sehr  vor- 
gerückten gesellschaftlichen  Zuständen  an. 

Nicht  gänzlich  darf  an  dieser  Stelle  eine  Entartung  des 
Menschengeschlechts  verschwiegen  werden.  Während  es  bei  Thieren 
selten  vorkommt,  dass-  sie  ihre  eigene  Art  verzehren,  stossen  wir 
auf  die  Anthropophagie  fast  in  allen  Welttheilen.  Einige  dieser 
Fälle  werden  dadurch  gemildert,  dass  der  entsetzlichen  Gewohnheit 
nur  der  schlimme  Wahn  zu  Grunde  liegt,  als  könne  man  schätzens- 
werthe  Eigenschaften  des  Verzehrten  in  sich  aufnehmen.  Zur  Zeit 
des  Taipingaufstandes  traf  ein  englischer  Kaufmann  in  Shanghai 
seinen  Diener  auf  der  Strasse,  der  das  Herz  eines  Rebellen  nach 
Hause  trug  und  eingestand,  es  verzehren  zu  wollen,  um  seinen 
.Muth  zu  stärken').  Bisweilen  ist  es  nicht  sinnliche  Gier,  sondern 
Rachsucht,  um  dem  erschlagnen  Feinde  die  schimpflichste  aller 
Bestattungsarten  zu  bereiten.  Manchmal  wird  die  Gottheit  selbst 
zur  Theilnahme  herabgezogen,    wenn   auf  das  Menschenopfer  der 


^ 


,i 


I)  J.  B.  Tylor,  Urgeschichte  der  Menschheit.  S.  167. 


l66  Die  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung. 

empörende  Menschen  sc  hinaus  nachfolgt,  wie  im  alten  Mexico*). 
Gänülith  unzulässig  ist  es  dagegen,  die  Menschenfresserei  aus 
einem  physiologischen  Zwang  rechtfertigen  zu  wollen,  als  erfordere 
unsre  Leib  es  wohl  fahrt  dringend  einen  Wechsel  zwischen  Fleisch- 
und  Pflanzenkost,  während  doch  in  Indien  mehr  als  hundert  Mil- 
lionen Bewohner  sich  ausschliesslich  mit  letzterer  begnügen.  Ge- 
wöhnlich beruft  man  sich  auf  die  Maori,  welche  in  Neuseeland 
kein  vierfüssiges  Landthier  vorfanden  und  von  einem  unbezwing- 
lichen  Naturtrieb  erfasst,  zum  Genuss  von  Menschenfleisch  getrieben 
worden  wär^^n').  Allein  die  Anthropophagie  ist  allen  andern  Po- 
Ij'aesiern  gemeinsam.  Sie  ist  auf  den  Marquesasinseln,  der  Hawai- 
gruppe,  Tahiti^)  und  anderwärts  nachgewiesen  worden,  wo  doch 
überall  Schweine  und  Hunde  zur  Fleisch erzeugung  gezüchtet  wur- 
(ien,  so  dass  sicherlich  die  Maori,  ehe  sie  sich  von  den  Geschwister- 
slämmen  trennten ,  schon  mit  dem  grauenhaften  Laster  befleckt 
waren.  Dazu  kommt,  Uass  von  diesem  Gräuel  nicht  einmal  vieh- 
zuchttreibende Völker,  nämlich  in  Südafrika  die  Itnmithlanga ,  ein 
Zulustamm,  frei  waren^)  und  er  bei  den  ihnen  nahe  stehenden  Basuto 
erst  von  dem  Häuptling  Moichesch  unterdrückt  wurde*).  Täuschung 
wäre  es  ferner,  diese  Verworfenheit  bei  den  sogenannten  niederen 
und  minder  zu  rech  nungsfiili  igen  Völkern  zu  suchen.  Sind  auch 
die  Australier  nicht  gänzlich  rein  zu  sprechen*),  so  gehören  sie  doch 
nicht  unter  die  Gewohnhc.tscanibalen.  Hottentotten  und  Busch- 
männer sind  unsres  Wissi-ni  noch  nie  verdächtigt  worden,  dagegen 


1(  PreBcoll,  Conqucst  of  Mexico,  lom.  I.  p.   78. 

3)  Das  Gleiche  konnte  vor.  den  Bewohnern  Rapi  nui's  der  Osterinsel 
gelten.  Revue  miritime  et  coloniale.  Tome  XXXV.  Novbr.  1872.  p.  iiO, 

3)  Meinicke  äussert  (Zeilschr.  für  Etdkundu  1870.  No.  19.  S.  396)  bei 
Erwähnung  der  ThaUauhe,  dass  auf  den  wcsllichen  Paumotu-Inseln  die  An- 
thropophagie durch  Tahitier  unterdrückt  worden  sei,  die  Vermuthung,  dass 
lelilere  nie  jenes  Lasier  gekannt  hätten.  Uerland  [Waitz,  Anthropologie. 
Bd.  6.  S.  158!  hal  indessen  mehrere  Zeugnisse  dafür  beigebracht. 

41  Waili,  AnlhtupoloEic.  Bd.  1,  S.  352. 

51  Casalis,  Lcs  Bassoulis.  Paris  1851).  p.  II.  p.  319-  '^u  Je"  Höhlen- 
canibalcn  gehörten  iwci  Beläcliuanenhorden ,  die  Ba-fukeng  oder  Ba-hukeng 
und  die  Ma-kalla  sowie  zwei  Kafirstämme,  die  Ba-makakana  und  die  Ba- 
maUapatlapa.  Ihr  Schlupfwinkel  lag  in  der  Nähe  von  Thaba-Bosigo  bei  den 
yuellen  des  Caledonflusscs.  Anthropological  Review.  April  1869.  No,  25. 
YOL  Vn.  p.  121— 1;8. 

6)  Pelermann's  Miuhcilungen.  1870.  S.  1+8. 


Die  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung.  157 

kann  über  die  Anthropophagie  derBotocuden  kein  Zweifel  aufkommen. 
Weit  zahlreicher  sind  jedoch  die  Fälle,  dass  wir  die  grauenhafte  Ge- 
wohnheit gerade  bei  Völkern  und  Völkergruppen  antreffen,  die  sich 
durch  Begabung  und  reifere  gesellschaftliche  Zustände  vor  ihren 
Nachbarn  auszeichnen,  wie  die  Altmexicaner,  deren  schon  gedacht 
wurde.  So  sind  auch  sämmtliche  Papuanen,  also  die  Bewohner 
Neu-Guineas  mit  seinem  Zubehör  an  Inseln,  der  Salomonen,  der 
neuen  Hebriden,  Neu-Caledoniens  und  der  Fidschigruppe  Men- 
schenfresser aus  Lüsternheit  und  doch  müssen  wir  sie  als  Race 
geistig  so  hoch  oder  höher  stellen  als  die  Polynesier.  Unter  den 
asiatischen  Malayen  sehen  wir  die  Batta  auf  Sumatra  so  hoch  ge- 
stiegen, dass  sie  sich  ein  eignes  Alphabet,  wenn  auch  nach  indi- 
schen Mustern,  erschufen*).  Was  ein  holländischer  Statthalter  von 
Padang  dem  Reisenden  Bickmore*;  über  den  angeblich  späten 
Ursprung  des  empörenden  Lasters  mittheilte,  ist  eine  selbsterfundene 
Sage  der  Batta,  denn  sie  waren  Anthropophagen  bereits  zu  Nicolo 
Conti's^),  selbst  schon  zu  Marco  Polo's^)  Zeiten,  ja  wenn  die  Insel 
Ramni  der  alten  arabischen  Reiseberichte  richtig  als  Sumatra  er- 
kannt worden  ist,  so  würden  schon  vor  tausend  Jahren  die  Batta 
die  Würde  des  Menschengeschlechtes  durch  ihr  Laster  geschändet 
habend).  Im  äquatorialen  Afrika  finden  wir  zwei  eben  so  tief  ge- 
sunkene Stämme,  nämlich  an  der  Westküste  die  von  Du  Chaillu 
zuerst  und  später  von  Burton  beschriebenen  Fan,  die  sich  durch 
ihre  Eisenindustrie  und  einen  höheren  Grad  von  Intelligenz  aus- 
zeichnen^), so  wie  im  Gebiete  das  Gazellen-Nils  dip  beträchtlich 
über  ihre  Nachbarn  an  Cultur  hervorragenden  Niamniam  oder 
Sandeh,  deren  Anthropophagie  uns  nacheinander  von  Petherick 
und  Piaggia  bestätigt  worden  ist.    Endlich  hat  Georg  Schweinfurth 


1)  Waitz,   Anthropologie.  Bd.  5.  S.  114. 

2)  Reisen  im  ostindischen  Archipel.  Jena  1869.  S.  340. 

3)  Seine  Worte  lauten  nach  dem  «unzig  richtigen  Texte  des  Poggio  den 
Fr.  Kunstmann  neu  herausgegeben  hat  (Indien  im  15.  Jahrhundert.  München 
1863.  S.  40)  In  ejus  itnuJae  (nämlich  Sumatra),  quam  dicunt  Bathech  parte 
anthropophagi  hahitant. 

4)  lib.  III,  cap.  II. 

5)  Peschel,  Gesch.  d.  Erdkunde.  S.  107. 

6)  Winwood  Reade  (Savage  Africa.  London  1863.  p.  l6i)  nennt  die 
Fan  „eioen  äusserst  höflichen  und  liebenswürdigen  Menschenstamm."  Nach 
Zucchelli  (Missione  di  Congo  XI,  i.  Venezia  171 2.  p.  198)  gehören 
auch  die  Congoneger  unter  die  Menschenfresser. 


( 


l68  *I^e  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung. 

die  erste  Kunde  von  ihren  südlichen  Nachbarn  am  Uelle,  den  hell- 
farbigen Monbuttu,  nach  Europa  gebracht,  deren  Halbcultur  neben 
den  Urzuständen  der  Nilbevölkerungen  auf  das  höchste  überraschen 
muss  und  über  deren  Canibalenthum  kein  Zweifel  übrig  bleibt.  Es 
bestätigte  sich  auch  bei  ihnen  eine  alte  Erfahrung,  dass  nämlich 
der  Genuss  von  Hundefleisch  der  erste  Schritt  zur  Anthropophagie 
/  und  ihr  Begleiter  zu  sein  pflege ').  Dass  selbst  Europäer  in  unserm 
Jahrhundert  vor  Menschenfleisch  nicht  zurückschauderten,  behauptet 
H.  Schaaff"hausen ^) ,  dem  wir  freilich  überlassen  müssen,  die 
Glaubwürdigkeit  seiner  Quelle  zu  vertreten.  Bei  der  letzten'  Be- 
lagerung von  Messina  soll  nämlich  das  Fleisch  der  gefangenen 
Soldaten  afuf  der  Giudecca  verkauft  worden  sein  und  zwar  das  der 
Schweizer  um  einen  höheren  Preis  als  das  der  Neapolitaner. 

Aus  der  Summe  dieser  Thatsachen  ergibt  sich,  dass  mit  Aus- 
nahme der  Papuanen  und  Polynesier  die  Anthropophagie  nicht 
über  ganze  Völkergruppen  verbreitet  ist,  sondern  nur  sehr  verein- 
zelt in  Afrika  und  in  Amerika  auftritt,  in  Asien  beinahe  gänzlich 
fehlt,  in  Europa  einer  vmsichern  Vorzeit  angehört.  Die  Ansicht, 
dass  alle  menschlichen  Gesellschaften  auf  ihren  roheren  Stufen 
dieses  Laster  einmal  gekannt  und  überwunden  haben  sollten,  lässt 
sich  daher  nicht  streng  begründen,  zumal  neuerdings  erkannt  worden 
ist,  dass  die  Sagen  von  Menschenfressern  sich  von  einem  Volke 
zum  andern  mit  grosser  Leichtigkeit  verbreitet  haben,  so  dass  ihr 
örtliches  Vorkommen  durchaus  nicht  eine  Anthropophagie  in  der 
Vorzeit  andeutet.  Auch  wurde  früher  mit  unberechtigter  Hast 
vorausgesetzt,  dass,  wo  Menschenopfer  im  Gebrauche  waren,  ehe- 
mals auch  Menschenfleisch  verzehrt  worden  sei,  als  habe  man  auf 
die  Altäre  der  Götter  nur  dasjenige  gesteuert,  dessen  Genuss  auch 
den  Darbringern  schätzbar  erschien.  Mit  den  zahlreichen  Menschen- 
opfern in  Khondistan  war  jedoch  niemals  Anthropophagie  verknüpft.  Sie 
fielen  der  göttlich  gedachten  Erde,  um  die  Gunst  ergiebiger  Ernten 
zu  gewinnen,  wie  man  aus  Campbell's  ausführlichen  Schilderungen 
sich  überzeugen  kann.  Die  Opfer  von  Frauen  und  Hausgesinde 
auf  den  Gräbern  Verstorbener  haben  ebenfalls  keinen  Zusammen- 
hang mit  anthropophagen  Gewohnheiten.  So  beruht  die  Ada  oder 
„grosse  Sitte"  in  Dahöme  ebenfalls  auf  dem  Unsterblichkeitsglauben. 


1)  Zeitschrift  für  Ethnologie.  Berlin  1873.  Bd.  5.  S.  10. 

2)  Archiv  für  Anthropologie.  Braunschweig  1870.  Bd.  4.  S.  247. 


Die  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung.  i6o 

Am  Grabe  des  Königs  fallen  dort  Hunderte  von  Menschen  dem 
Wahne,  dass  ihre  Geister  als  dienstbare  Gehilfen  dem  Abgeschie- 
denen nachfolgen  oder  ihm  Botschaften  über  die  jüngsten  dies- 
seitigen Begebenheiten  ins  Jenseits  überbringen  sollen^).  Die  Hindu 
enthalten  sich  schon  seit  Jahrtausenden  jeder  Fleischnahrung  und 
dennoch  haben  sie  sich  ehemals  bei  den  grossen  Dschaggernauth- 
festen,  von  religiöser  Raserei  ergriffen,  zu  Dutzenden  unter  die 
Räder  des  grossen  Götzenwagens  geworfen,  um  sich  selbst  zum 
Opfer  zu  bringen.  Wenn  also  Abraham  seinen  Sohn  auf  den 
Holzstoss  bindet,  so  folgt  daraus  noch  nicht,  dass"  die  Hebräer 
vor  Abraham,  oder  wenn  Plinius*)  erwähnt,  dass  im  Jahre  657  u,  c. 
in  Rom  ein  Verbot  der  Menschenopfer  erlassen  worden  war,  dass 
die  Römer  ehemals  Canibalen  gewesen  sein  müssten.  Wir  dürfen 
vielmehr  beruhigt  annehmen,  dass  nur  hin  und  wieder  nicht  blos 
rohe-,  sondern  selbst  hochgestiegene  Menschenstämme  der  ent- 
setzlichen Versuchung  unterlagen  und  die  Anthropophagie  gewiss 
*  nicht  zu  den  unerlässlichen  Entwicklungskrankheiten  unsres  Ge- 
schlechtes gehört  habe. 

Sehr  schwierig  ist  es,  den  Einfluss  der  Ernährung  auf  die 
Sittigung  der  einzelnen  Völker  nachzuweisen.  Mit  Zuversicht  lässt 
sich  nur  aussprechen,  dass  ungenügende  oder  ungeeignete  Kost 
stets  eine  physische  und  geistige  Verkümmerung  zur  Folg©  gehabt  hat. 
Auf  den  reichen  Jagdgründen  Australiens  haben  die  Reisenden 
nicht  die  dürren  Missgestalten  wie  an  der  Westküste,  sondern 
rüstige  und  wohlgebildete  Menschen  angetroffen.  Nur  in  den  Wild- 
nissen der  Kalahari  sind  die  Buschmänner  klein  und  zu  Gespenstern 
abgemagert. 

Was  dagegen  die  Wahl  der  Kost  betrifft,  können  wir  nur 
einen  Satz  wiederholen,  der  längst  Gemeingut  geworden  ist.  In 
kalten  Ländern  werden  kohlenstoffreiche  Nahrungsmittel  mit 
grösserm  Verlangen  ergriffen  werden,  als  in  warmen.  Der  Polar- 
kreis wäre  für  einen  Hindu  ohne  Aenderung.  seiner  Speisevor- 
schriften unbewohnbar,  wie  es  andrerseits  einem  Eskimo  schwer 
fallen  dürfte,  nach  Indien  versetzt,  Seehundsspeck  roh  in  unaus- 
sprechHchen  Mengen  zu  verschlingen.  Fügen  wir  noch  die  gewiss 
treffende  Bemerkung  Moritz  Wagners -5)    hinzu,   dass    in    Südasien, 

I)  Ausland.  1861.  S.  407. 
'    2)  Hist.  nat.  XXX,  3—4. 
3)  Allgem.  Zeitung.  Beilage.  1871.  S.  2887. 


170  ^'E  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung. 

J 
sowie  in  Mittel-  und  Südamerika  überall  wo  Fleischkost  mangelt, 
Leguminosenfrüchte  stark  verzehrt  werden  und  wo  Reis  die  Tages- 
nahrung  bildet,  der  Fischfang  eifrig  betrieben  wird,  so  haben  wir 
'  bereits  erschüpft,  was  als  sicher  ermittelt  betrachtet  werden  darf. 
Streng  erwiesen  ist  dagegen  nicht,  dass  Korperstärke,  physischer 
Mutb  oder  \'erst  an  des  schärfe  bei  Fasten  kost  nicht  in  gleichem 
Maasse  wie  bei  Fleischkost  erwartet  werden  dürfen.  Von  allen 
Polynesiern,  die  Bewohner  einsamer  Inseln  abgerechnet,  waren  die 
Rlaori  Neu-Seelands  die  einzigen,  welche  weder  Schweine  noch 
-Hunde  mäsleten  und  wenn  man  nicht  annehmen  will,  dass  ihre 
gelegentlichen  Mahlzeiten  von  Menschenfleisch  diesen  Hangel  er- 
setzt haben  könnten,  so  muss  man  zugeben,  dass  sie  bei  ihrer 
Fisch-  und  Wurzelkost  der  kräftigste,  muthigste,  streitbarste  und  in 
gesellschaftlichen  Künsten  am  weitesten  gestiegene  Stamm  ihres 
\  ölkerkreiaes  geworden  sind. 

Gewiss  hat  schon  ein  jeder  von  uns  einmal  die  Wirkungen 
alcoholischer  uad  narcotischer  Genussmitte]  an  sicli  erfahren  und 
vielleicht  bemi.-rkt,  dass  ein  massiger  Genuss  von  Wein  uns  über 
unser  prosaisches  Werkeltags-lch  zu  erheben  vermag.  Noch  mäch- 
tiger ist  bei  Vielen  die  Anregung  durch  Thee  oder  Kaffee,  Sobald 
wir  uns  durch  sie  gestärkt  fühlen,  ist  es,  als  ob  wir  heller  zu  sehen 
und  scliärfer  zu  schüessen  vermöchten,  Gedanken,  welche  vorher 
eifrig  aber  erfolglos  gesucht  wurden,  eilen  nun  in  raschem  Fluge 
herbei  und  neuen  Wahrheiten  scheinen  wir  bis  zum  Erfassen  nahe 
gerückt.  SfclJtjn  nicht  also  die  Bewegungen,  die  wir  in  unsem 
Denk  Vorrichtungen  hervorrufen,  durch  die  narkotischen  Gcnussmittel 
beschleunigt  oder  ihre  Schwingungsweite  vergrösscrt  werden?  Und 
sollten  nicht  auch  die  geistigen  Fortschritte  innerhalb  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  seit  Entdeckung  dieser  Zaubertränke  merklich 
raschere  geworden  sein  ? 

Lassen  wir  uns  die  Irrfahrten  l'homas  Buckle's  als  Warnung 
dienen,  der  vun  solchen  Trugbildern  verlockt,  aus  den  chemischen 
Bestandthcilen  der  Nahrung  die  geschichtlichen  Verhängnisse  von 
Culturvülliern  des  höchsten  Ranges  erklären  zu  können,  sich  und 
einer  gern  getäuschten  Menge  vorspiegelte.  Die  Geschwindigkeit 
der  geistigen  Fortschritte  in  unsem  Tagen  ist  zunächst  nur  den 
Einrichtungen  der  modernen  Gesellschaft  zuzuschreiben,  die  der 
Wissenschaft  unendlich  mehr  Jünger  und  alle  viel  besser  vorbereitet 
als  früher  zuführt.    Die  grössten  Erfindungen  des  Menschen,  Bilder- 


Die  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung. 

und  Lautschrift,  die  Theilung  der  Zeit,  Maasse  und  Gewichte, 
Stellenwerth  der  Zahlen  sind  älter  als  die  Kenntniss  der  narco- 
tischen  Genussmittel  und  nur  dem  Wein  könnten  wir  daran  ein* 
Verdienst  zuschreiben.  Der  mosaische  Gottesgedanke,  der  zoro- 
astrische  Dualismus,  Christenthum  und  Islam,  indische  Sagenwelten 
und  Philosophien  sind  sämmtlich  ohne  narkotische  Nachhilfe  ans 
Licht  getreten.  Der  Thee  war  dem  erfindungsreichen  alten  China, 
also  dem  China  der  drei  ersten  Dynastien  nicht,  bekannt.  Coper- 
nikus  hat  sein  System  erdacht ,  Galilei  es  begründet  und  Kepler 
es  durch  s'eine  Gesetze  bewiesen,  ohne  dass  sie  je  den  Kaffee 
auch  nur  dem  Namen  nach  gekannt  hätten.  Es  ist  daher  wohl 
vorsichtiger,  das  dunkle  Gebiet  der  Forschung  über  die  Erregbar- 
keit unsres  Denkvermögens  durch  geniessbare  Reizmittel  nicht  zu 
betreten. 

Nicht  minder  wichtig  als  die  Nahrung  ist  ihre  Zubereitung. 
Der  Genuss  rohen  Fleisches  und  Speckes  kommt  ausnahmsweise 
allenthalben,  als  Gewohnheit  nur  bei  den  Eskimo  vor.  Sonst  wird 
die  Aschengluth  oder  ein  hölzerner  Bratspiess  gewöhnlich  zum 
Rösten  verwendet.  Als  Trihkgefässe  dienen  meistens  die  Rinden- 
gehäuse melonenartiger  Früchte,  die  Schalen  der  Nüsse  oder  ge- 
egentlich  den  Buschmännern  die  Eier  südafrikanischer  Strausse. 
Ihre  Nachbarn,  die  Betschuanen  und  Kafirn  flechten  Körbe  so 
dicht,  dass  sich  Flüssigkeiten  darin  aufbewahren  lassen*).  Hölzerne 
Gefässe  dienten  aber  schlecht  dazu ,  Wasser  ins  Sieden  zu  ver- 
setzen und  doch  half  sich  der  menschliche  Scharfsinn  dadurch, 
dass  Steine  bis  zum  Glühen  erhitzt  und  dann  in  das  Wasser  des 
Holzgefässes  geschüttet  wurden.  Auf  diese  Weise  ist  das  Kochen 
zuerst  betrieben  worden.  Noch  einfacher  ist  das  Verfahren  eines 
Stammes  der  Rothhäute  im  Norden  der  Prärien.  Sie  gruben  eine 
Höhlung  in  die  Erde,  kleideten  sie  mit  dem  Felle  des  erlegten 
Wildes  aus,  gössen  Wasser  darauf  und  erhitzten  dieses  mit  glühen- 
den Steinen.  Deshalb  nannten  die  Odschibbewäer  diese  Stämme 
Assinniboin  oder  Steinkocher*).  Seitdem  sie  der  Handel  mit  Thon- 
geschirren  und  Kesseln  versehen  hat,  wird  die  alferthümliche  Zu- 
lereituTi^  des   Fleisches  nur   bei  festlichen  Gelegenheiten  noch  an- 


-^1 


-t. 


1)  Gas  aus,   Les  Bassoutos.    Paris  1859.  p.  145.     I.  G.  Wood,    NatuAl 
History  of  man.  Africa.  London  1868.  p.  63. 

2)  Catlin,  Indianer  Nordamerikas.  Leipzig  1851.  S.  38. 


172  Die  Nahrungsmidel  und  ihre  Zubereilung. 

gewendet').  Jenseits  der  Fdsengebirge  bedienen  sich  die  Aht  der 
Vancouverinsel  *),  sowie  die  Tschinuk  in  Oregon  erhitzter  Steine  und 
Holzgefässe  beim  Kochen-')  und  die  nordlicher  sitzenden  Koloschen 
verwenden  sogar,  wenn  es  gilt,  grössere  Fische  zu  sieden,  ihre 
Kähne  als  Geschirr,  Auch  die  Kamtschadalen  kochen  in  ihren 
hölzernen  Trogen  mit  glühenden  Steinen').  Selbst  in  Europa  hatte 
sich  noch  bis  1732,  wie  Linnö  berichtet,  das  Kochen  mit  Steinen 
als  Rest  einer  grauen  Vorzeit  im  finnischen  Ostbotlande  erhalten*). 
Wie  1'ylor  ermittelt  hat,  wurden  in  Irland  noch  um  1600  glühende 
Steine  num  Erwärmen  von  Milch  benutzt  und  auf  den  Hebriden 
wurde  im  16.  Jahrhundert  das  Fleisch  noch  in  der  Haut  des 
Thieres  gekocht^).  Dieses  letztere  Verfahren  war  zu  Herodots 
Zeit  in  den  hclzarmen  südrussischen  Steppen  im  Gebrauche,  Seine 
Skythen  benuttten  die  Knochen  als  Brennstoff  und  die  Haut  des 
Thieres  als  Gefäss,  welches  das  Fleisch  und  Wasser  beim  Kochen 
aufnahm').  Die  Polynesier,  welche  keine  Thongeschirre  besassen, 
bereiteten  ihre  Nahrung  in  Erdgruben,  die,  mit  Blättern  ausgefüllt, 
Fleisch  oder  Pflanzenkost  samt  den  glühenden  Steinen  aufnahmen, 
dann  wieder  mit  Blättern  zugedeckt  und  mit  Erde  überschüttet 
wurden.  Wenn  daher  von  einem  Volke  gesagt  wird,  dass  es 
mit  Steinen  koche  oder 'dass  ihm  Thongeschirre  fehlen-,  so  er- 
halten wir  eine  klare  Vorstellung  von  der  Zubereitung  seiner  Kost. 
Zur  Erfindung  der  Thongeschirre  können  die  Menschen  der 
Vorzeit  auf  verschiednen  Wegen  gelangt  sein.  Sir  John  Lubbock 
erinnert  nämlich  daran,  dass  Capt.  Cook  auf  Unalaachka  bei  den 
Aleuten  Steine  sah,  die  mit  einem  Lehmrand  umgeben  waren, 
doch  könnte  dies  auch  als  eine  Nachahmung  von  europäischen 
Geschirren  betrachtet  werden,  mit  weichen  letzteren  jene  Inselbe- 
wohner durch  russische  Seefahrer  damals  schon  bekannt  geworden 


I)  Auch  diu  FalagonieT  verfahren  bei  ihren  Jagdiügen  noch  auf  die 
gleiche  Weise,  wenn  sie  auch  daheim  sich  eiserner  Töpfe  bedienen,  Musters 
im  Journal  of  ihe  Anlhropol.  Institute.  London  1872,  fom.  1.  p.  199. 

3)  Ausltnd  jS6S.  S.  6SS. 

3)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  3.  S.  336. 

4)  G.  W.  Sleller,  Kamtschatka.  Frankfurt  1774.  S.  322. 
•       s)  LinnEus  bei  Tylor,  Urgeschichte.  S.  341. 

61  Tylor,  Anfange  der  Cultur.  Bd.  I.  S.  45. 
7}  Herod.  üb.  IV.  61. 


Die  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung.  173 

^aren.  Auch  dass  die  Australier  am  untern  Murray  Erdaushöh- 
lungen mit  Thon  ausstreichen  und  darin  Speisen  kochen,  hätte 
vielleicht  einen  erfinderischen  Kopf  auf  die  Verfertigung  von  Ge- 
schirren führen  können.  Besser  erklärt  uns  den  Vorgang  jedoch  der 
Bericht  des  französischen  Seefahrers  Gonneville,  der  in  dem  Jahre 
1504  an  einer  südatlantischen  Küste,  wahrscheinlich  in  Brasilien, 
landete*)  und  bei  den  Eingebornen,  in  welchen  H.  d'Avezac  bra- 
silianische Carijö  zu  erkennen  glaubt,  hölzerne  Kochgeschirre  be- 
schreibt, die  zum  Schutze  gegen  das  Feuer  mit  einer  Lehmschicht 
umkleidet  waren  ^).  Löste  sich  durph  Zufall  die  Holzschale  von 
der  irdenen  Umkleidung  ab,  so  blieb  ein  Thongeschirr  übrig.  Bei 
Untersuchung  einer  alten  Töpferwerkstatt  der  Rothhäute  am  Ca- 
hokia,  der  unterhalb  St.  Louis  in  den  Mississippi  mündet,  entdeckte 
Carl  Rau  halbfertige  Gefasse,  nämlich  Körbe  aus  Binsen  oder 
Weiden,  die  innerlich  mit  Thon  ausgestrichen  waren.  Wurde  das 
Geschirr  gebrannt,  so  verzehrte  das  Feuer  von  selbst  das  ausser- 
liehe  Gehäuse.  In  den  südlichen  Staaten  der  Union  hat  man  an 
halbfertigen  Gelassen  wieder  wahrgenommen,  dass  nicht  Geflechte, 
sondern  Kürbisschaleri  innerlich  mit  Thon  ausgekleidet  wurden^). 
Die  Töpferkunst  ist  daher  in  Amerika  selbständig  erfunden  worden 
und  ebenso  in  der  alten  Welt  ah  einem  für  uns  unbekannten 
Culturheerd.  Sie  hatte  sich  von  ihm  aus  aber  nicht  bis  in  den 
äussersten  Nordosten  Asiens  und  nicht  über  die  Beringstrasse  ver- 
breitet, wohl  aber  durch  ganz  Afrika,  mit  einziger  Ausnahme  des 
Buschmännergebietes.  Dass  nun  auch  die  Europäer  der  Vorzeit 
ursprünglich  Korbgeflechte  mit  Thon  auskleideten,  lassen  die  Ge- 
schirre der  Steinzeit  an  ihren  Verzierungen  wahrnehmen,  die  nur 
aus  Reihen  von  Nägeleindrücken  bestehen,  als  sollten  sie  die  hinter- 
lassnen  Spuren  des  Korbgeflechtes  vertreten*).  Als  nämlich  ein 
verwegner  Kopf  anfing,  aus  freier  Hand  den  Thon  zu  formen,  mag 
sein  irdnes  Geschirr  als  nicht  echt,  oder  von  angeblich  minderer 
Güte  verschmäht  worden  sein,  weil  ihm  der  alterthümliche  Ursprung 
fehlte,  und  so  erlaubte  er  sich  wohl  zur  Beruhigung  der  vermeint- 
lichen Besorgnisse,  die  Rutheneindrückc  mit  dem  Nagel  zu  falschen. 


i)  Pierre  Margry,  Les  navigations  fran9aises.  Paris  1867.  p.  167. 

2)  d'Avezac,  Voyage  du  Capitaine  de  Gonneville.  Paris  1869.  p.  97. 

3)  Carl  Rau  im  Archiv  für  Anthropologie.  Bd.  3.  S.  24. 

4)  G.  Klemm,  Allgemeine  Culturgeschichte.  Leipzig  1843.  Bd.  i.  S.  188. 


174  ^'^  Nahriingsinittel  und  ihre  Zubereilung. 

In  Südamerika  bedienen  sich  der  Thongeschirre  selbst  die  Boto- 
cuden,  überhaupt  alle  Eingebornen  bis  auf  einige  Horden  in  den 
Pampas').  Sie  fehlen  auch  nicht  den  Papuanen,  wohl  aber,  um 
es  zu  wiederholen  den  Polynesiern  und  Australiern. 

Zum  Zerlegen  des  Fleisches  in  grössere  Stücke  bedienten  sich 
alle  Menschenstämme  ihrer  schneidenden  Werkzeuge,  rohe  Völker 
gewöhnlich  mit  anatomischer  Meisterschaft.  Die  Gabeln  die,  wie 
wir  später  sehen  werden,  noch  vor  wenigen  Jahrhunderten  selbst 
in  Nordeuropa  mangelten"),  hat  man  nur  bei  reifen  Culturvolkern 
und  ausserdem  bei  papuanischen  Fidschiinsulanern  angetroffen^). 
Das  erste  Vorbild  zum  Loflel  gab  die  Muschel,  die  noch  jetzt  an 
der  atlantischen  Küste  Maroccos  seine  Dienste  verrichten  muss'). 
Am  weissen  Nil  essen  die  Bari-Neger  ihren  Mehlbrei  mit  Holz- 
löffeln und  die  Kitschneger  mit  Flussmuschelschaten^).  In  Süd- 
afrika verfertigen  die  Hottentotten  ihre  Löffel  aus  Perlmutter  oder 
aus  Schildpat";  und  bei  Hantunegern  schnitzen  Künstler  diese  Ge- 
räthe  aus  Holz  und  schmücken  sie  mit  Thierliguren').  Endlich 
sind  Essstähchen,  nach  chinesischer  Art,  und  Kochlöffel  bei  den 
Papuanen  Neuguineas  in  Gebrauch*), 

Alexander  v,  Humboldt  bemerkt  in  Bezug  auf  die  rohen  Ein- 
gebornen Südamerikas,  dass  sie' auf  einerlei  Pflanzenkost  beschränkt, 
wie  die  Raupen,  bei  Ucbersiedlung  schwer  an  andre  Nahrung  sich 
gewöhnen  und  meistens  erkranken.  Der  Jahreszeitenwechsel  in 
den  gemilderten  Erdvicrteln,  fährt  er  fort,  reizte  den  Menschen 
auf  verschiedene  Art  und  zwang  ihn  Verschiedncs  verdauen  zu 
lernen,  zugleich  erwarb  er  aber  auch  dadurch  grössere  Freiheit  in 
der  Wahl  seiner  Wohnorte^).     Die  Zubereitung  der  Nahrungsmittel 

j]  d'Orhicny.  l'njiiime  amfirieain.  p,  ')S. 

2)  Lieber  den  Gebrauch  der  Gabeln  in  Europa  JBl  noch  vieles  dunkel. 
Wie  Tylor  belebt  hat,  waren  Gabeln  ia  Riiysbraek's  Zeilen  |i2;jl  sowohl 
im  Abendlande  wie  bei  den  Mongolen  schon  im  GebTiiuch.  Urgeschiclite,  S.  22. 

3)  Williims,  Fiji,  tom.  I.  p,  212. 

4I  G  erhard  Ruhlf^,  liistct  Aufenthalt  in  Marokko,  Bremen  1873.  S.  75. 

5)  W.  V.  Harnicr'B  Reise  am  obern  Nil.  S.  +9- 

6)  Kolben's  Reise  an  das  Vorpeb.  d.  G.  Hofftiung.  S.  456. 

7)  Casnlis,  Les  Bassoutos.  Paris  l8)(j,  p.  I47- 

S)  Otto  Finsch,  Xeu.Guinea.  Bremen  1865.  S.  100  und  Nieuw  Guinea, 
elhnoEiaphisch  en  naiuurkuiidig  onderzochl,  uilEegcvcn  door  het  kon.  Institut 
vQor  taal-,  land-  en  voikenkunde.  Amsterdam  1862.  Tafel  VV.  lig.  2. 

9)  Hiinilüchriflen.  Bd.  IIT.  UiRene  Gedanken,  g.  10.  S,  30, 


Die  Nahrungsmittel  und  ihre  Zubereitung.  lyc 

gewinnt  dadurch  für  die  Völkerkunde  ein  höheres  Gewicht  und  wir 
freuen  uns  über  die  Angabe,  dass  auf  der  Freundschaftsinsel  Tonga- 
tabu aus  den  wenigen  Nahrungspflanzen  doch  40  verschiedne  Ge- 
richte durch  kunstvollen  Wechsel  der  Zubereitung  ersonnen  worden 
waren  *).  Künftige  Beobachter  sollten  .  immer  genau  aufzeichnen, 
ob  auch  die  Einwohner  ihre  Nahrungsmittel  salzen.  Diess  geschieht 
beispielsweise  weder  von  den  Papuanen^)  noch  von  vielen  Malayen- 
völkern«*)  und  ebenso  in  Südafrika  nicht  von  den  Hottentotten^). 
In  den  Negerreichen  des  Sudan  fehlt  es  an  Steinsalz,  aber  aus 
der  Sahara  wird  es  von  den  Karawanen  zugeführt  und  die  Neger 
zwischen  Gambia  und  Niger  saugen  an  Salzstücken  mit  gleicher 
Begier,  wie  unsre  Kinder  an  Süssigkeiten.  Von  reichen  Leuten 
sagt  man  dort,  sie  essen  Salz  zur  Mahlzeit 5).  Der  Missionär 
Zucchelli  beschreibt  an  der  Küste  von  Congo  das  Verfahren  der 
Eingebornen  Seewasser  abzudampfen,  doch  sind  wir  nicht  sicher, 
ob  diese  Erwerbsart'  des  Salzes  schon  vor  der  Niederlassung  von 
Portugiesen  dort  in  Gebrauch  war^).  In  Südamerika  haben  die 
brasilianischen  Küsten^ölker  erst  durch  europäisches  Beispiel  das 
neue  Genussmittel  sich  angeeignet  und  seinen  Werth  rasch  be- 
griffen. Die  Patagonier  verzehren  viel  Salz,  welches  sie  ohne  Mühe 
aus  den  natürlichen  Salzweihern  ihrer  Heimath  erwerben  7).  Schon 
zur  Zeit  der  Entdeckung  diente  aber  bei  den  Küstenbevölkerungen 
am  caribischen  Golfe  Salz  in  Ziegelform,  wie  es  aus  natürlichen 
Pfannen  an  der  Halbinsel  Araya  gewonnen  wurde,  im  Verkehr  als 
Geld^).  Am  Orinoco  musste  salpeterreiche  Pflanzenasche  das  fehlende 
Salz  ersetzen  9).  P.  Charlevoix  bemerkt  ausdrücklich,  dass  die  von  ihm 
besuchten  Algonkinen  und  Irokesenvölker  ihre  Kost  nicht  zu  salzen 
pflegten'^).     Dagegen  wurden  die  Indianer  der  heutigen  Südstaaten 


1)  Quatrefages,  Rapport,  p.  390. 

2)  Otto  Finsch,  Ncu-Guinea.  S.  69.  S.  81.  S.  100. 

3)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  5.  S.  129. 

4)  Kolbe   a.  a.  O.  S.  491. 

5)  Mungo  Park,   Reisen  ins  Innere  Afrikas.  Berlin  1799.  S.  250. 

6)  Zucchelli,  Relazioni  del  viaggio  e  Missione  di  Congo.  Venezia  1712 
xni,  15.  p.  136. 

7)  Musters  in  Journal  of  the  Anthrop.  Institute,  I,  199. 

8)  Petrus  Martyr,  De  orbe  novo.  Dec.  I.  cap.  8. 

9)  Gumilla,  El  Orinoco  ilustrado.  Madrid  1741.  I,  cap.  20.  p.  209. 

10)  Nouvelle  France,  tom.  III,  p.  364. 


j-fg  Bekleidung  und  Obdach. 

in  Nordamerika  wahrend  de  Soto's  abenteuerlichen  Kriegszügen 
von  einheimischen  Kaufleuten  mit  Saiz  aus  der  Landschaft  Cayas 
versorgt"). 

3.   Bekleidung  und  Obdach. 

Wo  europäische  .Secfahrei'  an  frisch  entdeckten  Küsten  die 
Bewohner  in  nacktem  Zustande  gewahrten,  waren  sie  gleich  bereit 
diese,  auf  die  niedrigste  Stufe  menschhcher  Entwicklung  zu  stellen. 
Eine  Verhüllung  der  kurperlichen  Blossen,  als  erster  Schritt  zur 
Erhebung  aus  der  sogenannten  Wildheit,  wird  übrigens  nicht  blos 
von  den  hochgesitteten  Vi'dkern  gefordert.  Von  einem  Schamanen 
oder  Priester  aus  Somosomo,  also  einem  Fidschi  Insulaner,  der  sich 
wie  seine  Landsleute  mit  dem  Masi  oder^  einem  dürftigen  Hüften- 
schurz begnügte,  erzählt  der  Missionär  Williams  er  habe  bei  einer 
Schilderung  der  nackten  Keu-Caledonier  und  ihrer  Götzen,  ver- 
ächtlich ausgerufen :  „nicht  im  Besitz  eines  Masi  und  wollen  Götter 
haben!"  je  vertrauter  wir  aber  mit  fremden  Sitten  durch  gründ- 
liche Forschungen  geworden  sind,  desto  häufiger  ergab  sich,  dass 
Nacktheit  und  Sittsarakeit  sich  durchaus  nicht  ausschliessen  und 
vor  allen  Dingen,  dass  bei  verschiednen  Völkern  das  Schamgefühl 
bald  diesen  bald  jenen  Körpertheil  zu  verhüllen  gebietet.  Wenn 
ein  frommer  Muslim  aus  b'erghana  unsern  Bällen  beiwohnen,  die 
Entblössungen  unserer  trauen  und  Töchter,  die  halben  Um- 
armungen bei  unsern  kundtanze  wahrnähme,  so  würde  er  im 
Stillen  nur  die  Langmuth  Aüah's  bewundern,  der  nicht  schon  längst 
über  dieses  sündhafte  und  schamlose  Geschlecht  Schwefelgluthen 
habe  herabregnen  lassen.  Gleichwohl  war  vor  dem  Auftreten  des 
Propheten  die  Verschleierung  der  Frauen  im  Morgenlande  nicht 
gebräuchlich.  Im  königlichen  Harem  von  Maskat  erregte  die  Gräfin 
Pauline  Nostiz  die  Verlegenheit  fürstlicher  Damen,  weil  sie  ohne 
Drahtmaske  sich  ihnen  näherte.  Nicht  einmal'  die  Mutter  sieht 
dort  nach  dem  zwölften  Jahre  ihre  Tochter  mit  unbedecktem  Ge- 
sicht, dagegen  lassen  die  durchsichtigen  Gewänder  Leib  und 
Glieder  deutlich    erkennen 'l.     Frauen    die    bei    Basra    am   Euphrat 


1)  Carl  Rau  im  Archiv  für  Anthropologie.  Bd.  5.  Brannschw.  1871.  S.  8. 

2)  Joh.    VVilh.   Helfern   Reisen  in   Vorderasien   und   Indien.    Leipzig 
'873.  Bd.  2.  S.  10— ij. 


Bekleidung  und  Obdach.  177 

und    in    einem    Bade    Constantinopels    von    Männern    überrascht 

wurden,  bedeckten,  wie  der   ehrwürdige  Carpte«  Niebuhr   anführt, 

* 

nur  das  Gesicht').     Ebenso    entblossen    sich    in  Aegypten   Fellah- 
frauen  vor  Männern    ohne"  Scheu,    wenn   nur    das   Antlitz   verhüllt 
bleibt*).     „Die  Araberin",  sagt  Georg  Ebers,  „wird  Fuss,  Bein  und 
Busen    ohne    Verlegenheit    sehen    lassen,    dagegen    gilt    die    Ent- 
blössung    des  Hinterhauptes   für  noch   unanständiger    als    die    des 
Gesichtes,  welches  letztere  jede  ehrbare  Frau   sorgsam  verbirgt^)." 
Aehnlich  dachte  man  in  den  ältesten  Christengemeinden,  denn  der 
Apostel  befiehlt   den  Frauen  bei  Andachtsübungen  das  Haupthaar 
zu  verhüllen '^).     Seltsamerweise  tragen  auch  die  Hottentottenfrauen 
stets  ein  Tuch  als  Haube  auf  dem  Kopfe  und  manche  lassen  sich 
durch  nichts  bewegen,  es    zu    entfernen *).     Bei   Völkern- der  ma- 
layischen  Race   stellt   das  Schamgefühl    wieder    eine    andere   For- 
derung.    Der  Reisende  Jagor  erzählte  dem  Verfasser,  dass,  als  er 
auf  der  Philippineninsel  Samar  ein  kleines  nacktes  Mädchen  zeich- 
nete, die  Mutter  scheltend  dazwischen  fuhr  und  das  Kind  nöthigte 
ein    Hemd    anzilziehen,    welches    freilich    nach    unsern    Anstands- 
begriffen  ebensogut  hätte  wegbleiben  können^).     Dennoch  verhüllte 
es  das  Nöthigste  nach  den  Landessitten,  nämlich  den  Nabel.     Auch 
bei  den  Bewohnern  der  Schifferinseln   gilt   es   als    höchste  Beschä- 
mung, wenn  diese  Körperstelle    sichtbar   wird^).     Für  eine   grosse 
Frechheit  wird  es  in  China  angesehen,  dass  eine  Frau  einem  Manne 
ihren   künstlich   verkümmerten  Fuss   zeige,  gilt   es  doch   sogar   für 
unschicklich  von  ihm  zu  sprechen    und   bleibt   er   auch    auf  züch- 
tigen Gemälden  immer  unter   dem  Kleide  versteckt s).     Longobar- 
dische  Frauen  hielten  sich  ebenfalls  für  tödtlich  beschimpft,  wenn 
Männer  ihre  Füsse  bis  zu  den  Knien  sahen 9).    Zu  diesen  wunder- 


i)  Reisebeschreibung  nach  Arabien.  Kopenhagen  1774.  Bd.  i.  S.  165. 

2)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  i.  S.  359. 

3)  Durch  Gosen  zum  Sinai.  Leipzig  1873.  S.  45. 

4)  I.  Corinther  ii,  5—6. 

5)  F  ritsch,  Eingeborne  Südafrikas.  S.  311. 

6)  S.  d.  Abbildung  der  Kleinen   in  Ja  gor 's  Reisen  in  den  Philippinen. 

S.  192. 

7)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  i.  S.  359. 

8)  Wilh.  Stricker  im  Archiv  für  Anthropologie.  Bd.  4.  Braunschweig 

1870.  S.  243. 

9)  Chron.   Salernit.   cap.   76.    bei   Pertz,    Monumenta.     Hannover   1839, 

tom.  V.  fol.  505. 

Pesc/icl,  Völkerkunde.  12 


irg  Bckicidiini;   Und  Obdach. 

liehen  Sprüngen  des  Schamgefühls  gesellt  sich  noch  der  Wider- 
spruch, dass  wir  Entblüssungen  als  Zeichen  der  Ehrerbietung  for- 
dern. So  ziehen  wir  den  Hut  zum  Griisse  auf  der  Strasse,  in  der 
Kirche,  überhaupt  in  jedem  bedeckten  Räume.  Die  britischen  Be- 
amten in  Indien  wiederum  fordern  aufs  strengste  von  jedem  Ein- 
gebornen,  welcher  Kaste  er  auch  angehöre,  dass  er  ihre  Amtszimmer 
nur  nach  Ablegung  seiner  Schuhe  bettete. 

Brauch  und  Sitte  entscheiden  also  über  Verstattetes  und  An- 
stössiges,  und  erst  nachdem  sich  eine  Ansicht  befestigt  hat,  wird 
irgend  ein  Verstoss  zu  einer  verwerflichen  Handlung.  Das  Scham- 
gefühl hat  sich  noch  gar  nicht  geregt,  es  herrscht  also  Nacktheit 
beider  Geschlechter  bei  den  Australiern,  bei  den  Andamanen,  bei 
etlichen  Stämmen  am  weissen  Nil,  bei  den  rothen  Negern  des 
Sudan  und  bei  den  Buschmännern.  Auch  die  Guanchen  oder  die 
alten  Bewohner  der  Canarien,  wenigstens  die  von  Gomera  und 
Palma  gehören  auf  diese  Liste').  Als  gänzlich  nackt  werden  von 
den  ersten  spanischen  Entdeckern  die  Bewohner  der  Bahamainseln, 
der  kleinen  Antillen  und  eine  Anzahl  von  Küstenstämmen  des 
heutigen  Venezuela  und  Guayana  bezeichnet,  denen  vielfach  mit 
Unrecht  der  Name  Cariben  beigelegt  wird.  Zu  Eschwege's  und 
Manius'  Zeiten  war  die  Zahl  der  nackten  Brasilianer  wie  der  Puris, 
l'acachos,  Coroados  viel  grösser  als  gegenwärtig,  wo  nur  noch  die 
Botocuden  keine  Bekleidung  an!,'e!egt  haben '}. 

Durchaus  irrig  würe  die  Annahme,  dass  sich  das  Schamgefühl 
irüber  beim  weiblichen  Geschlechte  rege  als  beim  männlichen,  denn 
die  Zahl  solcher  Menschenstämme,  bei  denen  die  Männer  allein 
sich  bekleiden ,  ist  nicht  unbeträchtlich.  Am  Orinoco  versicherten 
Missionäre  unserm  A,  v.  Humboldt^),  dass  die  Weiber  weit  weniger 
Scliamijcfühl  zeigten  als  die  Münner,  Bei  den  Obbo  Negern,  öst- 
lich von  dem  Ausflusse  des  grossen  Baker'schen  Nilsees,  besteht 
die  Bedeckung  der  Frauen  in  einem  Laubbüschel,  während  die 
Männer  einen  Fellachurz  trajjen').  In  dem  merkwürdigen 
Staate    der  Monbuttuneger    am   Helle    bedeckten    sich    die  Männer 

1)  Kunstnuiiiii,  Anika  vor  iIcq  Entdeckungen  der  Forlugiesen.  Mün- 
chen lHs3,  S.  4(j. 

2)  Uclier  die  heutige  Bekkidung  der,  Curoados  s.  Burmeisler,  Rcipe 
nach  Br..silicn.  Bertin  185].  S.  246, 

31  Reisen  in  die  Acijuino:;tialgegeQden,  Stuttgart  1860.  Ed.  j.  S,  95. 
4    üikrjr,  Albe«  Nyania,  Bd.  1.  S.  273. 


: 


Bekleidung  und  Obdach.  l^o 

mit  einem  Gewand  aus  Baumrinde,  das  von  der  Brust  bis  auf  die 
Kniee  reicht,  ihre  Frauen  dagegen  befestigen  blos  ein  handgrosses 
Stück  Bananenlaub  an  der  Lendenschnur*).  Ausserordentliche 
Strenge  in  Bezug  auf  sittsame  Kleidung  fand  Speke  am  Hofe 
Mtesa's  des  Königs  von  Uganda.  Waren  auch  die  Besorgnisse 
seines  Freundes  Rumanika  unbegründet,  dass  man  ihm  und  Grant 
das  Betreten  jenes  Landes  verweigern  werde,  weil  beide  nur  Bein- 
kleider trügen,  nicht  lange  fliessende  Gewänder,  wie  die  Araber, 
so  ergab  sich  doch  später,  dass  der  König  mit  dem  Tode  jeden 
Mann  bestrafte,  der  in  seiner  Gegenwart  auch  nur  ein  Zollbreit 
seines  Beines  unbedeckt  Hess,  während  doch  gleichzeitig  völlig  nackte 
Frauen  Kammerdienste  verrichten  mussten^).  Der  arabische  Rei- 
sende Ibn  Batuta  versichert ,  dass  sich  dem  König  des  Mandingo- 
reiches  von  Melli  Frauen,  selbst  Prinzessinnen  nur  unbekleidet 
nahen  durften^).  In  Südafrika  empfing  die  Königin  der  Balonda- 
neger  Livingstone  im  Zustande  völliger  Nacktheit  und  nicht  anders 
erscheinen  die  Frauen  der  benachbarten  Kissamaneger  bei  Fest- 
lichkeiten'^).  Bei  halbgekleideten  Menschenstämmen  wird  gewöhn- 
lich die  Bedeckung  erst  mit  der  Altersreife  angelegt  und  es  ist 
ein  Ausnahmsfall,  der  überdies  noch  einer  Bestätigung  bedarf,  dass 
bei  Australierinnen  die  EntblÖssung  der  Frauen  erst  nach  der  Ehe 
stattfinden  solle  5). 

Hellfarbige  Völker  empfinden  viel  lebhafter  als  dunkle  das 
Bedürfniss  einer  Umhüllung.  Die  Afrikaner  sind  sich  auch  der 
Vorzüge  ihrer  dunklen  Hautfarbe  recht  wohl  bewusst^).  Wir  er- 
innern uns  bei  Adolf  Bastian  gelesen  zu  haben,  dass  ihm  beim 
Baden  neben  braunen  Asiaten,  seine  weisse  Haut  als  etwas  krank- 
haftes erschienen  sei,  und  als  geschähe  durch  sie  der  Schönheit 
Abbruch,  Genau  so  äussert  Hr.  v.  Maltzan:  „die  Nacktheit  steht 
bei  der  schwarzen  Haut  immer  gut,  bei  hellhäutigen  Menschen 
kam  sie  mir  stets  widerwärtig  vor  7)."    In   gleichem  Sinne  schildert 

1)  Zeitschrift  für  Ethnologie.  Berlin  1873.  Bd.  5.  S.  16. 

2)  Speke,  Entdeckung   der  Nilquellen.  Bd.  i.   S.  262.   S.  283.   S.  284. 
S.  293. 

3)  Voyages  d'Ibn  Batoutah.  Paris  1858.  tora.  IV.  p.  418- 

4)  Livingstone,  Missionsreisen.  Bd.  i.  S.  315.  Hamilton  im  Journ.  of 
the  Anthropol.  Institute,  tom.  I.  S.  189. 

5)  Dumontd*Urville,  Voyage  de  TAstrolabe.  Paris  1830.  tom.  I.  p.  47 '• 

6)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen.  Bd.  2.  S.  303 — 304. 

7)  Globus  1872.  Bd.  21.  S.  26. 

12* 


igQ  Eekleutung  und  Obdach. 

F.  Jagor  uns  seinen  Kutscher  in  Singapur,  einen  schwarzen  Kling 
von  der  indssclien  Koromantlelküste,  der  'nur'  mit  Turban  und 
Lemlentuch  bckli;idct  war,  mit  dem  bedeutsamen  Zusatz:  „er  sah 
nicht  unanständig  aus,  da  die  dunkle  Farl>e  den  Eindruck  des 
Nackten  fast  aufhebt')."  Bei  der  Mehrzahl  der  Indianer  Amerikas 
wird  die  Kleidung  durch  Hautmalerei  ersetzt.  Wo  diess  der  Fali 
ist,  regt  sich  das  Schamgefühl  bei  Frauen  und  Männern,  wenn  sie 
unbemalt  eiblickt  werden.  *  A.  v.  Humboldt,  dem  wir  diese  Be- 
merkung verdanken ,  füjft  hinzu,  liass  man  am  Orinoco  die  grösste 
Dürftigkeit  mit  den  Worten  ausdrücke:  ,,der  Mensch  ist  so  elend, 
dass  er  seinen  Leib  uiclit  einmal  zur  Hälfte '  bemalen  kann"'). 
Einen  andren  Ersatz  für  die  Bekleidung  gewährt  die  Tätowirung, 
die  entweder  durch  Einspritzung  bunter  Farbstoffe  unter  die  Haut 
besteht  oder  die  durch  künstliche  Narbenbildung  erhabne  Zeich- 
nungen auf  dem  Leib  hervorruft.  Dass  sie  wirklich  bis  zu  einem 
hohen  Grade"  den  Eindruck  der  Nacktheit  aufhebt,  werden  alle 
bezeugen,  welche  den  völlig  tätowirten  Albanesen  zu  sehen  Ge- 
legenheit hatten.  Die  Tätowirung  ist  mit  Ausnahme  Europas  noch 
jetzt  in  allen  Welttheiien  anzutreffen.  Auf  den  Südseeinsdn  dient 
sie  nicht  blos  zur  Verzierung,  sondern  hat  auch  da,  wo  sie  sich 
über  verhüllte  Korperräume  erstreckt  und  wo  die  einyeätzten  Zeich- 
nungen Sinnbilder  von  Gottheiten  vorstellen,  eine  religiöse  Be- 
deutung. 

Dass  die  Bekleidung  oft  nur  zur  Zier  oder  zum  Schutz  gegen 
Kälte  getragen  wird,  aeigt  sich  an  den  gut  verhüllten  Maorjs 
Neuseelands,  die  von  Scham haftigkeit  keinen  Begriff  haben  ^). 
Das  gleiche  gilt  von  den  hochgestiegnen  Japane;ien,  denen  das 
gemeinsame  Baden  beider  Geschlechter  in  geschlossnen  Räumen*), 
sowie  im  Freien,  erst  neuerlich  von  den  Behörden  untersagt  worden 
ist.  Die  Eskimo,  zu  Winterszeiten  bis  zum  Gesicht  in  Pelze  ge- 
hüllt, legen  gleichwohl  in  Owen  unterirdischen  Bauten,  wie  Kane 
es  so  drastisch  beschrieben  hat,  ihre  Kleidung  völlig  ab,  wie  denn 
auch  das  Benehmen  der  Frau  des  Eskimo  Hans  an  Bord  von 
Hayes'  Entdeckerschiff  deutlich  bekundet,  dass  ihr  jede  Schall 
fremd  war.     ja  selbst  die   christliche,    des  Lesens    durchweg   kun- 

I)  Rciseski;ien.  S.  14. 

I)  Reisen  in  die  Aequinuclialgegenden.  Bd.  3.  S.  9:. 

3)  Waitz,  Amhropulugie.  Bd.  i.  S.  357. 

4)  Wilhelm  Heine,  Japan.  Bd.  I.  S.  34. 


Bekleidung  und  Obdach.  l8i 

dige  Bevölkerung  Islands  ist  nach  den  Erlebnissen  G.  G.  Winklers*) 
noch  nicht  bis  zu  der  Erkenntniss  gelangt,  welche  die  biblischen 
Eltern  des  Menschengeschlechtes  (Gen.  III,  7)  schon  im  Eden 
sich  erwarben, 

Di^se  Reihe  von  Thatsachen  sollte  uns  zur  höchsten  Vorsicht 
stimmen,  den  sittlichen  Werth  irgend  eines  Volkes  nur  nach  dem 
Bedürfniss  seiner  Körperverhüllung  abzuschätzen.  Obgleich  aber, 
wie  wir  gezeigt  haben,  Keuschheit  und  Sittsamkeit  ganz  unabhängig 
sind  von  dem  Mangel  oder  der  leichten  Erregbarkeit  des  sexuellen 
Schamgefühles,  so  bezexhnet  doch  das  Erwachen  des  Letzteren 
eine  Erhebung  bei  jeder  Völkerschaft.  Bevor  irgend  ein  Mensch 
auf  den  Einfall  gerieth  sich  zu  bedecken,  muss  von  ihm  Schönes 
und  Hässliches  [unterschieden  worden  sein.  Die  Bekleidung  ver- 
danken wir  daher  den  ältesten  ästhetischen  Regungen  des  mensch- 
hchen'^^öeschlechtes  und  insofern  die  Verehrung  des  Schönen 
veredelnd  auf  uns  wirkt,  förderten  auch  jene  Regungen  die 
Erziehung  des  Menschen.  Umgekehrt  stellte  sich  mit  dem 
Verfall  strenger  Sitten  im  alten  Rom  eine  Missachtung  der 
Anstandsvorschriften  ein.  Das  Bedürfniss  sich  zu  kleiden  er- 
wacht erst  mit  dem  Bewusstsein  einer  höheren-  Würde  und 
verkündet  uns  das  Bestreben  die  Scheidewand  zwischen  Mensch' 
und  Thier  zu  erhöhen.  Nicht  blos  Eitelkeit  ist  es,  die  etwa  den 
Verlust  von  Jugendreizen  in  höherem  Alter  den  Blicken  zu  ent- 
ziehen sucht,  sondern  noch  viel  früher  regt  sich  der  Wunsch  einen 
Schleier  zu  werfen  über  alle  gleichsam  unverdienten  Erniedrigungen, 
die  uns  der  Haushalt  unsres  thierischen  Leibes  auferlegt  und  vor 
Andern  zu  erscheinen  als  seien  wir  so  rein  und  sehenswürdig  wie 
die  Lilien  in  der  Sprache  der  Evangelien.  Trotz  aller  oben  auf- 
gezählten Sonderbarkeiten  des  Schamgefühles,  hat  doch  die 
über\^'ältigende  Mehrzahl  der  Völker  immer  genau  gewusst,  was 
einer  Hülle  am  meisten  bedürfe.  Wie  leicht  verletzt  im  alten  Ly- 
dien  die  Frauen  waren,  ist  aus  Herodots  Erzählung  von  der  Ge- 
mahlin des  Candaules  hinlänglich  bekannt*)  und  wie  sorgsam  die 
Schamhaftigkeit  des  weiblichen  Geschlechtes  in  Nordamerika  von 
den  Mandanen   geschützt   wurde,   rühmt  uns    der    Maler    Catlin^). 


1)  Island.  S.  107— iii. 

2)  Lib.  I,  8—12. 

3)  Die  Indianer  Nordamerikas.  2.  Aufl.  S.  70. 


iB;  Bekleidung  und  Obdach. 

Bei  den  lialbpapunnischen  Bewohnern  der  Palauinseln  geniessen 
die  Frauen  ein  unbegrenztes  Recht  jeden  Mann,  der  in  ihre  Bade- 
plätze eindringt,  ku  schlafen,  mit  Geldbussen  zu  strafen  oder,  wenn 
es  sogleich  geschehen  kann,  zu  tödten'). 

Bis  in  die  sogenannte  Renthierzeit  Europas  können  wir  das 
Vorkommen  von  Bekleidung'  nachweisen,  da  in  den  Höhlen  des 
P^rigord  beinerne  Nadeln  entdeckt  worden  sind'),  ja  ein  gleicher 
Fund  in  der  Culturschicht  an  der  Schüssen  quelle  zeigt  uns,  dass 
die  Bewohner  Schwabens  in  der  F.iszeit  schon  genäht  haben  ^}. 
In  beiden  Fällen  deutet  aber  das  Vorkommen  mennigrother  Farben- 
knollen gleichzeitig  auf  Haütmalerei. 

Die  Wahl  der  BekleidungsstofFe  hing  immer  ab  von  dem  Kah- 
riingser\verb  der  Menschen  stamme.  Bei  Jägern  und  Hirten  sind  es 
daher  die  Felle  der  erlegten  Thiere,  welche  verwendet  werden. 
Belehrend  ist  aber  auch,  dass  die  Erfindungsgabe  auf  weit  ge- 
trennten Räumen  dasselbe  Auskunftsniittel  ersann.  Die  einfachste  Art 
einer  Bedeckung  besteht  darin,  dass,  wie  oben  bereits  gezeigt  wurde, 
Blätter  oder  Laubbüscliel  in  eine  Lendenschnur  gesteckt  werden.  An 
eine  solche  Lendenschnur  werden  anderwärts  wie  diess  von  papuani- 
schen  Frauen  auf  Neu-Guinca,  oder  den  Palauinseln  geschieht,  Schilfe 
oder  Binsen  aufgereiht.  Da  in  den  letzteren  Fällen  eine  allzuhäufige 
Erneuerung  nothig  war,  ersetzte  man  die  Grashalme  durch  Bast- 
schnüre oder  Lederriemen  und  so  entstand  für  das  weibliche  Ge- 
schlecht der  Fransenyürlel  am  Colorado  Nordamerikas  bei  den 
Mohavestämmen  und  ihren  Nachbarn,  in  der  Südsee  bei  den 
Fidschi,  wo  er  Liku  heisst,  so  wie  bei  den  Neucaledonietn')  und 
endlich  in  Südafrika  bei  den  Kafirn^).  Ausschliesslich  den  Poly- 
nrsiern  gehört  die  Tapa  an,  bekanntlich  nichts  weiter  als  die 
weich  geklopfte  Kinde  de?  Papiermaulbeerbaums  (Broussone/ia  pa- 
Pyrifcraj.  Das  Flechten  von  Körben  und  Matten  führte  dann,  wo 
Verfeinerung  eintrat  und  höhere  Ansprüche  sich  regten,  zur  We- 
berei, Als  die  polynesischen  Maori  nach  Neu-Seeland  wanderten, 
brachten  sie  aus  der  Heimath  schon  alle  Geheimnisse  der  Matten- 
verfertigung mit.    Sie  fanden  an  ihrem  neuen  Wohnorte  in  den  Blatt- 

1)  Karl  Semper,  Die  PJnuinseln.  Leipzig  1873.  S.  G8. 

2)  S.  üben  S.  40. 

3)  S.  oben.  S.  4a. 

4)  Vgl.  Knot.l.,uch  im  Ausland  1866.  S.  447- 

5)  S.  die  Zulumädchen  bei  O.  F  ril  seh,  die  Eingeborneii  Südafrikas.  S.  24. 


Bekleidung  und  Obdach.  183 

rosetten  des  Phormium  tenax  oder  neuseeländischen  Hanfes  einen 
vorzüglichen  Faserstoff  und  erfanden  selbständig  die  Kunst  der 
Zubereitung  und  die  Anfertigung  einer  Art  Leinwand.  Die  Nutz- 
barkeit der  Baumwolle .  ist  in  beiden  Welten  erkannt  worden,  denn 
die  Bewohner  Amerikas  sind  durch  eignes  Nachdenken,  nicht  durch 
fremde  Anleitung,  dazu  gekommen  aus  ihrem  einheimischen  Er- 
zeugnisse Faden  zu  drehen  und  diese  in  Gewebe  zu  verwandeln. 
Im  alten  Aegypten  war  die  Baumwolle  heimisch  und  wurde  eben- 
falls zu  Zeugen  verwebt*).  Doch  drängte  die  Vorliebe  für  Lein- 
wand sie  völlig  in  den  Hintergrund.  Selbst  in  Syrien  finden  wir 
schon  in  den  frühesten  Zeiten  die  Baumwolle  eingebürgert.  Wenn 
nämlich  unser  Wort  Kattun  zunächst  vom  englischen  cotton  abzu- 
leiten ist,  so  stammt  doch  dieses  wieder  von  keton^  was  mit  ge- 
ringen vocalischen  Abweichungen  in  allen  semitischen  Sprachen 
Baumwolle  bezeichnet  und  im  Neuarabischen  noch  kutn  lautet'). 
Baumwollengewebe,  nicht  Leinwand,  brachten  daher  unter  dem 
Namen  kitonet  oder  ke tonet  phönicische  Seefahrer  nach  griechi- 
schen Häfen  und  von  jenem  Ausdruck  entstanden  dann  Wörter 
wie  xvtdv  und  xi^cSv.  Das  Wort  für  Lein,  im  Griechischen  und 
Lateinischen  ursprünglich-  schwankend  gebraucht,  geht  wenig  ver- 
ändert von  seiner  lateinischen  Form  durch  die  baskische,  die  kel- 
tischen und  die  germanischen  Sprachen^),  scheint  also  von  Südost- 
europa nach  Nord-  und  Westeuropa  sich  verbreitet  zu  haben. 
Wenn  wir  übrigens  dem  Spinnwirtel  bereits  in  den  dänischen  Mu- 
schelüberresten begegneten  und  der  Webstuhl  schon  auf  den 
Schweizer  Pfahlbauten  stand*),  so  reicht  die  Kunst  des  Spinnens 
und  Webens  in  Zeiten  hinauf,  wo  sich  nicht  mehr  entscheiden 
lässt,  welches  Volk  oder  welcher  Menschenstamm  der  erste  Erfinder 
gewesen  sein  mag.  Der  Hanf  ist  jedenfalls  ein  Culturgewinn,  der 
den  sogenannten  barbarischen  Völkern  verdankt  wird.  Schon  bei 
medopersischen  Skythen  fand  Herodot^)  den  Hanfbau. 


1)  G.  Ebers,  Durch  Gosen  zum  Sinai.  S.  478. 

2)  H.  Brandes,   anüke   Namen   der  Baumwolle.     Fünfter  Jahresbericht 
des  Ver.  für  Erdkunde  in  Leipzig  1866.  S.  103.  iio.  116. 

3)  V.  He hn,  Kulturpflanzen  und  Hausthiere.  S.  iii. 

4)  S.  oben  S.   44   und  Wilhelm  Baer,    der    vorgeschichtliche  Mensch. 
Leipzig  1874.  S.  232. 

5)  Lib.  IV.  cap.  74. 


iS^  Bekleidung  und  Obdach. 

Hemd,  Hut,  Haube,  Schuhe,  Rock  und  Hosen,  glaubte  A.  Bac- 
meister  behaupten  zu  dürfen,  seien  uralte  Worte  unsrer  Sprache'), 
Merkwürdig'  ist,  dass  das  Beinkleid  zuerst  von  Nordeuropa  über  die 
classischen  Mittelmeergestade  und  dann  über  den  ganzen  Erdkreis 
skh  verbreitet  hat.  Doch  ist  auch  dieser  Bekleidungsschnitt  an 
•verschiedenen  Orten  erfunden  worden,  Hosen  tragen  und  trugen, 
so  weit  wir  zurückdenken  und  zurückschliessen  dürfen,  alle  Nord- 
asiaten, Wollte  man  auch  annehmen,  dass  Eskimo  diese  Neue- 
rung aus  ihrer  alten  westKchen  Heimath  bei  ihrer  Wanderung 
nach  Amerika  mitgebracht  hätten ,  .  so  ünden  wir  doch  auch  im 
Norden  der  neuen  \\'elt  bei  den  sogenannten  Rothhäuten  diese 
Tracht  verbreitet,  Di«  amerikanischen  Eingebornen  haben  auch 
darin  vor  den  alten  Culturvölkern  einen  kleinen  Vorzug,  dass  sie 
bereits  eine  treffliche  Fussbekleidung  nicht  etwa  Sandalen,  sondern 
Hatbstiefeln  oder  Jlocassin  zu  verfertigen  pflegten,  Me;kwürdiger- 
woise  bedienen  sich  auch  der  lelzteren  die  Patagonier,  im  äussersten 
Süden  dei  neuen  Welt,  während  sie  in  Mittelamerika  und  im 
übrigen  Südamerika  vermisst  werden,  Schuhe  sahen  die  Römer 
zuerst  bei  den  Barbaren;  auch  bleibt  bei  den  Götterbildern  der 
alten  Aegyptcr  der  Fusü  unbekleidet.  Ebenso  fehlten  in  Babylon,  wo 
doch  nach  dem  walzenförmigen  Petschaft  des  Königs  Uruch  (2326 
V.  Chr.)  schon  ein  grosser  Luxus  in  Kleidertrachten  herrschte, 
Schuhe  und  Sandalen  noch  gänzlich').  Barfüssige  Volker  sind 
noch  jetzt  überall  unter  niedrigen  Breiten  anzutreffen,  während  da, 
wo  der  Schnee  liegen  bleibt,  wo  es  friert  oder  wo  der  Boden 
wenigstens  durch  Ausstrahlung  stark  erkaltet,  frühzeitig  auf  den 
Schutz  der  Füsse  gedacht  werden  muss.  In  Afrika  wird  des  Ge- 
brauches von  Sandalen  bei  den  Wandingonegern  in  Musardo^),  ja 
auffallend  erweise  bei  den  sonst  nackten  Barinegern  am  weissen 
Ni!*),  bei  den  Kissama  in  Angola'),  bei  den  Kafirn*)  sowie  an- 
deren Bantunegern   und  endlich  bei  den  Hottentotten')  gedacht, 

1)  Ausland.  iSjr.    Ü.  604.     Hemd  ist  doch   wohl  von  ifiäiiov  abzuleiten, 
z)  G.  RawlinEon,  Great  manarclües.  tom.  I.  105. 

31  Aus  Andersou's  Joumey  lo  Musardo  in  den  Mittheil,  der  Wiener 
geogr.  Gesellschaft.  1871.  S.  363.  S.  415. 

1)  W.  V.  Harnier's  Reisen  am  obem  Nil.  S.  37. 

5)  Hamilton  in  Juum.  of  Ibe  Anlhropol.  Inctilute.  lom.  I.  p.  iSS. 

6]  G.  Frilsch.  Eingebome  Südafrikas.  S.  60.  S.  2J2. 

7)  Kolbe,  Kap  der  Guten  Hoffnung.  S.  479- 


Bekleidung  und  Obdach.  igr 

Da  sehr  viele  Thiere  und  zwar  sogar  niedrige  Thiere  gegen 
die  Unbilden  der  Witterung  einen  künstlichen  Schutz  sich  ver- 
schaffen, und  kein  Menschen  stamm  auf  Erden  ohne  irgend  ein 
Obdach  getroffen  worden  ist,  so  sind  die  ersten  Regungen  der 
Baulust  so  alt,  wie  unser  Geschlecht  selbst.  Den  ältesten  Spuren 
unsrer  Vorfahren  sind  wir  in  Höhlen  begegnet,  aber  wir  dürfen 
darum  nicht  schliessen,  dass  solche  natürliche  Zufluchtstätten,  die 
doch  nur  felsigen  Strichen  und  zwar  vorzugsweise  dem  Kalk- 
gebirge angehören,  die  ältesten  VVohnstätten  des  Menschen  ge- 
wesen sein  oder  die  Anregung  zu  den  ersten  künstlichen  Deckungs- 
mitteln gegeben  haben  sollten.  Die  Buschmänner,  wenn  sie 
auf  ihren  Streifzügen  ihre  Höhlen  verlassen,  bedecken  sich  mit 
Sand  so  oft  sie  im  Freien  übernachten  oder  flechten  sich  im 
Dickicht  aus  Aesten  und  Reissig  ein  Wetterdach.  In  der  milden 
Jahreszeit  schützen  sich  die  Australier  mit  Windschirmen  aus 
Laub,  sonst  aber  spannen  sie  abgelöste  Baumrinden,  oft  u  Fuss 
lang  und  8 — lo  Fuss  breit,  über  ein  kegelförmiges  Gerüst  zelt- 
artig aus  *).  Ein  ähnliches  Sommerzelt,  aus  Birkenrinde  zu- 
sammengenähet,  genügt  den  Ostjaken  Sibiriens  ^)  und  nicht  viel 
besser  beschreibt  der  Jesuit  CharlevoLx  das  Obdach  vieler  Jäger- 
stämme in  Canada^). 

Im  äussersten  Norden  der  alten  und  der  neuen  Welt  jenseits 
der  Baumgrenze  oder  schon  dort,  wo  die  Baumstämme  nicht  mehr 
die  nöthigen  Durchmesser  besitzen,  oder  endlich  auf  den  baum- 
losen Steppen  werden  die  Rindenwände  durch  Thierfelle  ersetzt. 
So  reicht  das  Lederzelt  von  Lappland ^)  durch  ganz  Sibirien,  bis  in 
die  Prairien  der  Vereinigten  Staaten  zum  35.  Breitengrade  s).  Im 
äquatorialen  und  im  südlichen  Amerika  verschwindet  es,  um  noch 
einmal  bei  den  Patagoniern  wiederzukehren,  die  ein  Geripp  aus 
Stangen  mit  zusammengenähten  Guanacohäuten  bedecken  ^).  Das 
Zelt   aus   Filz,   eine  Erfindung    der  uralaltaischen    Völker,    gehört 


1)  Dumont  d'Urville,    Vöyage  de  TAstrolabe.    tom.  I.   p.  407.    Atlas 
pl.  18. 

2)  Pallas,  Voyages.    Paris  1793.   tom.  IV. 'p.  57. 

3)  Nouvelle  France,  tom.  III.,  p.  334. 

4)  Siehe  die  Abbildung  lappländischer  Sommerzelte   bei  J.  A.  Frijs  im 
Globus.  1873.     Bd.  XXIII.  Nr.  3.  S.  34. 

5)  MöUhausen,  vom  Mississippi  nach  der  Südsee.  S.  134. 

6}  Musters,  im  Journ.  of  the  Anthropol.  Institute,  tom.  I.  p.  197. 


igg  tichleUluDg  und  Obdach. 

ohne  Zweifel  einem  liolien  Alterthume  an.  Aus  Innerasien  hat  es 
sich  mit  dem  Passatmndc  und  innerhalb  der  Pasaatzone  über  die 
Sahara  bis  zu  dem  Waldgebiete  Mittelafrikas  verbreitet,  aber  unter- 
wegs in  ein  luftiges  Zelt  aus  gewebten  Stoffen  verwandelt  und  ist 
im  arabischen  Bausfyl  mit  seinen  Kuppeln  und  dünnen  Säulen- 
schäften,  welche  letztere  die  Zeltstangen  vertreten,  architectonisch 
geworden. 

Im  tropischen  Hoehwalde  Amerikas  schützt  die  wandernden 
Jäger  gegen  den  Regen  ein  schräges  Dach  aus  Palmwedeln  oder 
raderartigen  Blättern,  die  schuppenartig  über  einander  gelegt 
werden.  Wenn  Völkerschaften  sich  endlich  festsetzen,  begnügen 
sie  sich  zunächst  mit  einem  viereckigen  oder  runden  Unterbau 
aus  Stangen,  die  mit  Flechtwerk  oder  Rindenstücken  verbunden 
werden.  Ein  giebel-  oder  kegelförmiges  Dach,  das  mit  ßlättern, 
Grasbüscheln  oder  Binsengarben  bedeckt  wird,  vollendet  die  ein- 
fache Hütte.  Oft  wohuen  dann  ganze  Horden  in  einem  einzigen 
klosterartigen  Bau,  innerhalb  welchem  für  jede  Familie  eine  Zelle 
abgetheilt  wird.  Zwei  solcher  Gebäude  zusammen  für  150  Per- 
sonen beschreibt  Dumont  d'Urvilie  t}ei  den  Arfaki  Neu-Guineas, 
und  ähnliche  kommen  ebendaselbst  am  Utanatefluss  vor  ').  Spenser 
St.  John  traf  auf  Gorneo  ein  Gebäude  der  Dayaken  von  534  Fuss 
Länge').  Solche  Zellenan reihungen  sind  auch  bei  den  Ostjaken  ge- 
bräuchlich-'), aber  die  geräumigsten  Holzbauten  dieser  Art  werden 
im  Nordwesten  Amerikas  von  den  Haidah  auf  den  Königin-Char- 
lotte-lnseln  und  den  Colquiith  auf  Vancouver  bewohnt,  die  PlatE 
für  2 — 300,  ja  am  Nutka  Sund  sogar  für  800  Kopfe  bieten'), 
Nicht  so  stark  bevölkert  aber  immerhin  für  etliche  Familien  aus- 
reichend sind  die  Rindenhütten  der  Indianer  im  Osten  der  heu- 
tigen Union,  die  Charlevoix  beschreibt  ä).  Selbst  in  Südamerika 
fehlen  solche  Gemeindehäuser  nicht.  Wallace  traf  sie  am  Uaup^s 
(Rio  Negro)  bei  dem  Stamme  gleichen  Namens  bis  zu  115'  Länge 
und  75'  Breite*). 

Die   Verwendung    von    knetbarer.  Erde    zur    Verdichtung    der 

1)  Ollo  Finsicli,  Ncii -Guinea.  S.  (,o. 

2)  Life  in  ihe  Far  Kapt.  10m.  I.  p,  7. 
31  Pallas.  1.  c.  p.  58. 

4)  Waili,  Anthropulogie.  Bd.  3.  S.  332. 

5)  Nouvelle  France,  loni.  III.  p.  33V 

f>}  V.  Martins.  Ellinot;raphic.  Bd.  1.  S.  S97- 


Bekleidung  und  Obdach.  iSy 

geflochtnen  Wände  fehlt  in  Australien  und  in  der  Südsee  gänzlich. 
Der  Bau  mit  Luftziegeln  oder  Adoben  ist  ein  Eigenthum  der 
trocknen  Hoch-  und  Tiefländer  Neu-Mexicos,  Mexicos  und  Mittel- 
amerikas, während  Mittelafrika  wieder  seine  Thonhütten  besitzt, 
deren  Mauern  aus  gestampftem  Lehm  bestehen,  auf  welchen  zu- 
letzt ein  Strohdach  aufgesetzt  wird.  Der  Steinbau  wagte  sich  an- 
fangs  nur  an  die  niedrigsten  Aufgaben,  weil  sich  einer  lothrechten 
Aufthürmung  von  Bruchstücken  zu  Mauern  unbesiegbare  Schwie- 
rigkeiten entgegensetzten.  Alte  Tempelbauten  in  Mittelamerika 
wie  in  Mesopotamien  bestanden  aus  Treppen pyramiden  und  die 
ersten  Versuche  zu  solchen  Kunstwerken  mögen  den  einfachen 
Terrassen  oder  Morai  auf  den  polynesischen  Inseln  geglichen 
haben,  ihre  höchste  Vollkommenheit  erreichten  sie  aber  in  den 
glatten  Pyramiden  Aegyptens.  In  trocknen  waldentblössten  Erd- 
räumen wurden  die  Bewohner  zuerst  zu  Mauerbauten  angeregt, 
weil  dort  am  früliesten  auf  einen  Ersatz  für  die  mangelnden  Balken 
gedacht  wurde.  Daher  ist  die  Baukunst  Aegyptens  fast  um  viertausend 
Jahre  älter,  als  die  indische,  die  sich  in  den  Felsentempeln  zuerst 
regte,  deren  Decken  aber  noch  mit  Eisenholzstämmen  gestützt 
wurden,  während  freistehende  Steinbauten  nach  Fergusson's  For- 
schungen erst  unter  König  A^'oka,  also  um  die  Mitte  des  dritten 
Jahrhunderts  v.  Chr.  aufgeführt  wurden.  Das  Durchbrechen  der 
Mauern  um  der  Luft  und  dem  Licht  sowie  den  Bewohnern  selbst 
Eingang  zu  gewähren,  setzte  den  Scharfsinn  auf  eine  neue  und 
harte  Probe.  Sie  wurde  dadurch  gelöst,  dass  die  Bausteine  treppen- 
artig nach  Oben  vorsprangen,  bis  die  Mauerränder  sich  so  weit 
näherten,  dass  ein  breiter  Stein  querüber  als  Brücke  die  Oeffnung 
nach  oben  schliessen  konnte.  Dass  die  Kunst  der  Aegypter  und 
Hellenen  auf  dieser  Stufe  ehemals  gestanden  sein  muss,  bezeugen 
uns  ihre  Tempelpforten,  die  an  der  Schwelle  breiter  sind  als  am 
Gesims,  in  dem  man  selbst  später,  als  rechteckige  Zugänge  längst 
durch  die  Leistungen  der  Steinmetzarbeit  sich  herstellen  Hessen, 
doch  aus  Anhänglichkeit  oder  aus  künstlerischer  Vorliebe  das 
Alterthümliche  beibehielt.  Auf  die  gleiche  Weise,  nämlich  durch 
vorspringende  Backsteinlagen  wurden  im  alten  Babylonien  schräg 
zulaufende  unechte  Gewölbe  oder  auch  falsche  Spitzbogen  aus- 
geführt '). 


i)  Rawlinson,  Monarchies  of  the  Eastern  World,  vol.  I.  p.  86.  p.  329. 


l8g  Die  BcwaffnunE. 

Aus  diesen  schüchternen  Versuchen  erkennen  wir  das  hohe 
Verdienst  einer  Erfindung  wie  die  des  Steinbogens,  der  sich  selber 
trügt.  Die  Assyrier  waren  in  der  alten  Welt  wohl  die  ersten,  die 
zu  diesem  Hilfsmittel  griffen  und  die  Römer  diejenigen,  die  vom 
Thur-  und  Fensterbogen  fortschritten  zu  Gewolb-  und  Kuppel- 
bauten. Um  jedoch  sogleich  diese  Verirrung  auf  das  Gebiet  der 
Kunstgeschichte  zu  rechtfertigen,  wollen  wir  nur  erinnern,  dass 
diese  Thatsachen  uns  wichtig  werden  bei  Abschätzung  des  gei- 
stigen Ranges  amerikanischer  Bevölkerungen.  Steinhütten  und  Stein- 
gräber ')  finden  wir  auf  den  Puna  oder  den  Hochebnen  zwischen 
den  Cordilleren ,  in  dem  Gebiete  der  ine  aperuanischen  Cultur. 
Bei  Caxamarca  hat  aber  Humboldt  im  Palaste  des  Atahuallpa 
auch  BogengewBlbe  abgezeichnet  °)  und  südlich  In  Tiahuanaco,  so- 
wie am  Sonnentempel  in  Cuzco  sind  Gewolbebauten  und  Rund- 
bogen von  Desjardins  U7id  J.  J,  v,  Tschudi  beschrieben  worden  ^). 

Nicht  gering  dürfen  ^vi^  es  den  Eskimo  anrechnen,  dass  sie 
die  Zugänge  zu  ihren  Hütten  und  die  Hütten  tunnetartig  aus 
Steinen  wölben*).  Der  Gedanke  dazu  stellte  sich  leichter  bei  ihnen 
ein,  als  bei  den  Bewohnern  milderer  Erdgürtel,  weil  sie  sich  früh- 
zeitig üblen,  Grotten  in  den  Schnee  oaer  domförmige  Hütten  ans 
Schneeblöcken  aufzuthürmen  *). 


4.     Die   Bewaffnung. 

Wenn  wir  vor  Capt.  Cooks  Zeiten  irgend  einen  alten  spani- 
schen, holländischen  oder  englischen  Entdecker  anf  einer  Zrdfahrt 
über  die  Südsee  begleiten,  so  gerathen  wir  in  grosse  Verlegenheit, 
so  oft  wir  den  Inseln,  die  er  sah,  den  richtigen  Namen  in  der 
Sprache  der  heutigen  Erdkunde  geben  sollen.  Waren  auch  die 
Messungen    der    geographischen  Breite    bis  auf  einen  halben  Grad 

1)  Cl,  Waithani,  Proceedings  of  Ihe  R.  Geogr.  Soc,  1871.  Vol.  XV. 
No.  5.  p.  371. 

2)  Alexander  von  Humboldt.  Eine  wissenschafUiche  Biographie  ed. 
Karl  Bnihns.  I^ipiig  1873,  Bd.  l.  S.  381. 

3)  F.  V.  Hellwald  im  Ausland  1871.  No.  41.  S,  956. 

4)  Wailz,  AnHiTopologie.    Bd.  3.  S.  306. 

51  Die  Bcsthreibung  ihre^  Verfahrens  bei  Charles  Francis  Hall. 
Life  u-ilh   Ihe  üsquiniaux.      London  IS65.  p.  461. 


Die  Bewaffnung.  i8q 

■etwa  genau,  so  können  dagegen  bei  den  Längenangaben  die  Fehler 
auf  das  zwanzigfache  anwachsen  und  wir  müssen  daher  in  Schwär- 
men von  Inseln  herumsuchen,  die  sich  obendrein  sämmtlich  ähn- 
lich sehen,  denn  entweder  sind  es  nur  Korallenbauten  oder  die 
Gerüste  von  jüngeren  wie  älteren  Vulcanen.  Unsere  Aufgabe  wäre 
also  hoffnungslos,  wenn  wir  nicht  die  geographische  Länge  an 
2wei  Wahrzeichen  ermitteln  könnten.  Schildert  uns  nämlich  der 
Seefahrer  auf  seiner  Fährt  gegen  Westen  Eingeborne  'mit  Haar- 
kronen ,  so  befinden  wir  uns  mindestens  hart  am  iSosten  Green- 
wicher  Mittagskreise,  weil  die  Zwillingsinseln  Hoorne  und  Alofa 
die  östlichsten  Punkte  sind,  zu  denen  sich  die  Papuanen  verbreitet 
haben,  denen  jenes  Merkmal  ausschliesslich  zukommt.  Lesen  wir 
aber ,  dass  zu  Wasser  oder  zu  Land  der  Seefahrer  von  den  Ein- 
gebornen  mit  Pfeilschüssen  begrüsst  worden  sei,  so  dürfen  wir  mit 
Sicherheit  schliessen,  dass  wir  uns  bereits  in  der  Nähe  von  Neu- 
Guinea  befinden. 

Nie  haben  sich  gegen  Europäer  polynesische  Stämme  der 
Südsee  des  Bogens  und  der  Pfeile  als  Waffe  bedient,  und  der  Grund, 
wesshalb  sie  es  nicht  thaten,  ist,  so  seltsam  es  auch  klingen  mag, 
schliesslich  ein  geologischer.  Wollte  jemand  diesen  Umstand 
damit  erklären,  dass  die  Polynesier,  gleich  den  andern  ma- 
layischen  Völkern,  jene  Schiessgeräthe  nicht  gekannt  hätten ,  weil, 
bevor  sie  aus  Südostasien  nach  ihren  Wohnplätzen  in  den 
Stillen  Ocean  hinausfuhren,  das  Schiessen  mit  dem  Bogen  über- 
haupt noch  nicht  erfunden  gewesen  wäre,  so  würden  wir  ent- 
gegnen, dass  es  als  Spielwerk  für  Knaben  auf  Nukufetau  der 
Ellicegruppe  und  noch  weit  im  Osten  selbst  auf  Tahiti  bekannt 
sei').  Es  waren  daher  die  malayischen  Polynesier  beim  Antritt 
ihrer  Wanderungen  mit  jenem  Schie^sgewehr  bereits  vertraut,  und 
es  kam  erst  später  ausser  Gebrauch.  Genau  so  verhält  es  sich 
mit  den  Papuanen,  in  deren  Urheimath,  Neu-Guinea,  Bogen  und 
Pfeil  von  den  Männern  nie  aus  der  Hand  gelegt  werden,  während 
bei  den  ihnen  verschwisterten  Neu  -  Caledoniern  diese  Waffen 
gänzlich  fehlen.  Dagegen  brachten  die  Fidschi  -  Insulaner,  ein 
Stamm  mit  Haarkrone,  wie  die  Papuanen  Neu'Guinea's,  aller- 
dings Bogen  und  Pfeile  mit   auf    ihre  Inseln,    allein   sie  bedienen 


I)  Waitz,  Anthropologie  der  Naturvölker.  Bd.  5,  II.  Abth.  S.  131. 


[go  Die  Btwaffnung. 

sich  ihrer  nur  noch  um  Brandgeschosse  in  eine  befestigte  Ortschaft 
zn  werfen,  oder  sie  überlassen  sie  den  Frauen,  um  damit  zur  Ver- 
theidigung  der  Pfalilwerke  das  Ihrige  beizutragen.  Die  Männer 
dagegen  führen  als  Lieblingsw äffen  die  Keule  und  den  Speer'). 
Von  ihren  Nachbarn  auf  der  Fidschigruppe  wurden  auch  die  Ton- 
ga'ner  aufs  Neue  wieder  mit  Bogen  und  Pfeilen  t>ekannt "), 

Wesshalb  aber  Bogen  und  Pfeile  auf  den  Inseln  der  -Südsee 
in  Vergessenheit  gerathen  mussten,  lässt  sich  leicht  aussprechen. 
Die  Fuhrung  dieser  Waffen  erfordert ,  eine  grosse  Gest:hicklichkeit 
und  bestandige  Uebung.  Wo  sie  bei  wilden  Völkern  im  Gebrauche 
sind,  berichten  uns  die  Reisenden,  dass  schon  die  Knaben  sich 
mit  Kindergeräthen  im  Schiessen  üben.  In  der  Hand  des  Vir- 
tuosen ist  aber  der  Bogen  aul'  der  Jagd  weit  zweckmässiger  als 
unsere  Feuerrohre,  weil  er  mit  Verschwiegenheit  mordet.  Ein 
Pfeil  der  nicht  trifft  bleibt  unbeachtet,  daher  der  Schütze  zwei  bis 
drei  Geschosse  senden  kann,  oline  das  Wild  zu  verscheuchen. 
Wir  dürfen  daher  nicht  erstaunen,  dass  der  Reisende  Marcou  in 
Neu-Mexico  Jäger  von  weisser  Haut  und  spanischer  Abkunft  an- 
traf, welche  ihre  Flinten  beseitigt  und  dafür  Indianerwaffen  er- 
griffen hatten,  die  sie  für  das  \V'aidwerk  geeigneter  hielten  ^).  Zu 
weiterer  Bestätigung  berichtet  Reinhold  Hensel  von  den  brasilia- 
nischen Coroados,  dass  sie  es  ablehnten,  Bogen  und  Pfeile  mit 
Schiessgewehren  zu  vcriauschcn,  weil  letztere  .wegen  ihres  Knalles, 
ihrer  Schwere,  des  Zeitverlustes  beim  Laden  und  der  schwierigen 
Beschaffung  von  Pulver  und  Blei  sich  schlecht  für  die  Jagd  in 
tropischen   Wäldern  eigneten''). 

Die  Meisterschaft  auf  diesem  Instrument  setzt  aber  voraus, 
dass  die  Uebung  nie  aufhöre,  und  zur  Uebung  allein  werden  unter 
den  wilden  Völkern  nur  diejenigen  veranlasst  sein,  die  vom  Ertrag 
der  Jagd  leben.  Ursprünglich  dienten  ja  die  rohen  Geräthe  des 
Menschen  allen  Zwecken;  der  Jäger  griff  nach  seinen  Geschossen, 
um  einen  Feind  abzuwehren,  und  die  Steinaxt  des  Wilden,  welche 
den  Baum  fällte,  spaltele  im  Gefecht  auch  den  Schädel  eines  Geg- 


I)  Thomas   WilUamB,    Fiji    and    the    Fijians. 

P-  75- 

J|  Muriner,  Tonga  Islands.     Hdinburgh  1827. 
3)  Lattcl  aaä  Chrisly.  Reliquiae  A.qui 
41  Zeiisdirifl  fiit  Elhnologic.     Berlin  1869. 


Die  Bewaffnung.  igi 

ners.  Die  älteste,  echteste  und  edelste  Kriegswaffe  ist  daher  das 
Schwert,  weil  es  nie  amphibisch  für  Krieg  und  Handwerk  gebraucht 
werden  kann ').  Hinzufügen  wollen  wir  gleich  hier^  dass  in  Europa 
bis  jetzt  die  Erfindung  der  Schwerter  nicht  höher  hinaufreicht  als 
in  das  .Bronzezeitalter,  während  wir  später  anderwärts  einen  Fall 
kennen  lernen  werden,  dass  es  .auch  Schwerter  in  der  Steinzeit 
geben  kann. 

Bogen  und  Pfeil  müssen  überall  dort  verschwinden,  wo  die 
Jagd  nicht  mehr  ein  Lebenserwerb  ist,  oder  wo  es  Jagd  überhaupt 
gar  nicht  geben  kann.  Sowie  wir  uns  aber  von  Neu-Guinea  öst- 
lich, nördlich  oder  süd-süd-östlich  bewegen,  hört  die  Jagd  auf,  weil 
allen  diesen  Inseln  die  Landsäugethiere  fehlen,  abgesehen  von  den 
Fledermäusen,  den  gezähmten  Schweinen,  den  Hunden  und  Ratten. 
Es  erregte  desshalb  nicht  wehig  Aufsehen,  als  vor  etlichen  Jahren 
Haast  auf  der  Südinsel  Neu-Seelands  ein  wildes  Säugethier,  frei- 
lich wieder  ein  schwimmendes,  nämlich  eine  Fischotter  entdeckte. 
Dass  es  auf  jenen  Inseln  aber  keine  Säugethierwelt  geb^n  kann, 
erklärt  sich  einfach  aus  ihrem  Ursprung,  denn  die  Koralleninseln 
entstehen  erst,  wenn  von  der  Flur  eines  früher  versunkenen  Fest- 
landes aus  seichten  Untiefen  Polypen  mit  ihren  Kalkästen  wall- 
artige Riffe  heraufbauen.  Oder  wir  haben  es  mit  vulcanischen 
Bauwerken  zu  thun,  die  zunächst  unterseeisch  gebildet,  und  dann 
allmählich  durch  Auswürfe  über  den  Spiegel  des  Meeres  aufge- 
schüttet wurden.  Alle  jene  Inseln  standen  nie,  oder  doch  wenig- 
stens nicht  mehr  seit  den  tertiären  Zeiten,  auch  Neuseeland  nicht, 
mit  irgend  einem  Festlande  in  Verbindung,  so  dass  also  alle  solche 
Säugethiere,  die  nicht  zu  fliegen  und  nicht  zu  schwimmen  ver- 
mögen, jene  Inseln  nicht  erreichen  konnten.  Folglich  hängt  das 
Verschwinden  von  Bogen  und  Pfeil  mit  dem  geologischen  Ursprung 
jener  Inseln  zusammen. 

Dass  dies  der  wahre  und  letzte  Grund  sei,  wird  uns  auf  einem 
andern  Schauplatz  bestätigt.  In  Westindien  haben  wir  nicht  kleine 
und  schmale  Korallenbauten  vor  uns,  sondern  geräumige  Körper 
wie  Cuba,  Haiti,  Jamaica  und  Puertorico.  Aber  selbst  diesen  ge- 
räumigen Inseln  fehlten,  mit  Ausnahme  von  Cuba,  alle  grössere 
Landsäugethiere,  denn  zur  Zeit  der  Ankunft  der  Spanier  gab  es 
ausser  den  Fledermäusen  überhaupt  dort  nur  fünf  Arten  von  kleinen 


I)  D.  h.  das  Schwert  der  Bronzezeit,  welches  nur  für  <len  Stoss  geeignet  war. 


192 


i  Bewaffnung. 


Nagern,  von  denen  die  grosste  an  Wuchs  ein  wenig  die  Ratten 
übertraf.  Jene  Inseln,  die  Ueberreste  grosserer  Landmassen,  müssen 
ihren  Zusammenhang,  mit  dem  nächsten  Festlande,  nämlich  mit 
Südamerika,  früh  am  Anbruch  der  Tertiärzeit  schon  verloren  haben, 
Nordamerika  aber  lag  ihnen  noch  weit  ferner,  denn  die  Halbinsel 
Florida  ist  eine  ganz  junge  hoch  unfertige  Schöpfung  von  Korallen. 
Da  es  auf  jenen  Inseln  keine  Jagd  geben  konnte,  so  bedienten 
sich  auch  die  Einwohner  nicht  der  Bogen  und  Pfeile,  obgleich  alle 
Stämme  des  ihnen  so  nahe  liegenden  Festlandes  diese  Geschosse 
führten.  Doch  muss  zur  \'erschätfung  des  Gesagten  hinzugefügt 
werden,  dass  doch  auf  den  Antillen,  nämlich  an  dem  Ostrande 
Haitis,  auf  der  östlichen  Hälfte  Puertorico's,  sowie  auf  den  „Inseln 
über  dem  Winde"  Völkerschaften  sassen,  die  mit  Meisterschaft  jene 
Waffen  führten.  Allein  es  waren  frische  Ankömmlinge,  nämlich 
Cariben,  die,  seetüchtig  wie  kein  anderer  Völkerstaram  Amerikas, 
die  harmlosen  Bewoiiner  der  Antillen  heimsuchten,'  die  Männer  er- 
schlugen und  die  Frauen  in  Gefangenschaft  schleppten,  daher  sich  bei 
ihnen  eine  gesonderte  Männer-  und  Frauensprache  ausbildete.  Die 
Cariben  aber  kamen  vom  Festlande,  wo  sie  vom  Ertrag  der  Jagd 
lebten,  und  daher  erklärt  sich,  dass  sie  bei  ihrer  Verbreitung  über 
die  Antillen  flogen  und  Pfeile  noch  nicht  gänzUch  abgelegt 
hatten. 

Eine  andere  eigenthumliche  Schusswaffe  ist  das  Blasrohr,  wel- 
ches von  malayischen  Stämmen  auf  Borneo,  dann  aber  auch  auf 
dem  asiatischen  Festlande  von  den  m  al ay ochin es i sehen  Laotiern  am 
Mekong,  sowie  den  Orang  kubit")  und  den  Semang  der  Halbinsel 
■  Malaka  geführt  wird').  \'on  Malayen  mögen  es  auch  die  Papuanen 
auf  Neu-Guinea  sich  angeeignet  habend).  Das  Blasrohr  ist  aber  nicht 
bloss  in  Südoslasien  erfunden  worden,  sondern  wir  treffen  es 
auch  in  den  Händen  der  Indianer  des  Amazonas,  die  damit 
bis  auf  250  Fuss  Entfernung  ihres  Zieles  sicher  sind*).  Vor  andern 
Waffen  besitzt  das  Blasrohr  den  Vorzug  eines  Rückladungsgewehres, 


T.)  Peschel,  Zeitalter  der  Entdeckungen.  S.  217. 

3)  Mouliot,  Travels  in  TndD-China,  Cambodja  and  Laos.  London  1864.. 
lom.  II,  p.  14-t-  F.  Jagor.  Singapur,  Malacca,  Java,  Berlin  1866.  S.  107. 
Latham,  VarielieE  uf  man.  London  1850.  p.  136. 

31  W-iiti  (GcrLinil),  AntlitiipolöSie.  Bd.  6."  S.  55y- 

41  V.  Martius,  tlhnoytjpliie.  Bd.  1.  S.  660. 


Die  Bewaffnung.  IQ7 

« 

SO  dass  in  einer  Minute  von  geübter  Hand  mehrere  Ge- 
schosse abgesendet  werden  können.  Die  kleinen  dünnen  Bolzen 
entziehen  sich  noch  leichter  als  die  Pfeile-  den  Blicken  der  Be- 
drohten, und  aus  seinem  Versteck  Jtann  der  Schütze  so  lange  seine 
Geschosse  entsenden  bis  eines  trifft.  Da  ihre  Tragkraft  von  den 
Muskeln  des  Thorax  herstammt,  so  ist  ihr  PercussionsvermÖgen  ein 
sehr  geringes.  Damit  der  Bolzen  tödtlich  wirke,  ist  daher  erforder- 
lich, dass  er  mit  Gift  gesalbt  werde.  Das  Gift  selbst  also  ist  hier 
die  Waffe  und  das  Geschoss  nur  der  Ueberbringer.  Auf  den  ma- 
layischen  Inseln  dient  dazu  das  Ipo  oder  die  Milch  des  Upas- 
baumes  (Antiaris  tQxicaria) ^  die  zwar  sehr  bösartige,  aber  selten 
tödtliche  Wunden  erzeugt.  Wenigstens  behauptet  Dr.  Mohnike, 
dass  es  zur  tetanischen  Erstarrung  alter  Orangutang  einer  be- 
trächtlichen Anzahl  Pfeile  bedürfe*).  Andrerseits  versichert  Spenser 
St.  John,  dass  die  Engländer  1859  in  einem  Gefecht  gegen  die 
Kanowit-Dayaken  auf  Borneo  30  der  Ihrigen  an  den  kleinen  kaum 
bemerkbaren  Wunden  verloren*),  welche  die  Giftbolzen  hinterlassen 
hatten,  und  Lieutn.  Crespigny  sah  einen  Eingebo^nen  Borneos,  der 
auf  solche  Art  in  der  Wade  und  der  Schulter  verwundet  worden 
war,  in  zwei  Stunden  sterben«').  Aehnlich  wirkte  eine  Giftsalbe, 
deren  sich  die  streitbaren  und  blutgierigen  Bewohner  der  Küsten 
des  caribi sehen  Golfes  bedienten.  Nach  der  Schildenjng  der  alten 
spanischen  Seefahrer  trat  der  Tod  der  Verwundeten  unter  Rase- 
reien und  Qualen  ziemlich  spät,  oft  erst  nach  24  Stunden  ein.  Sie 
behaupten,  dass  zu  dem  Gift  die  Milch  des  Manschinellenbaumes 
(Hippomane  Mancimlla)  mit  Zusatz  von  Schlangengift  verwendet 
worden  sei*),  doch  ist  alles  sehr  dunkel  und  zweifelhaft,  was  sie 
darüber  mittheilen. 

Um  so  besser  sind  wir  unterrichtet  über  das  unheimlichste 
aller  Gifte,  nämlich  über  das  Urari,  Curare  oder  Wurali  der  In- 
dianer   am    Amazonasstrome  5)    und    in    Guayana.     Weder  Lacon- 


1)  Ausland  1872.  Bd.  45.  No.  38.  S.  894.  * 

2)  Far  East,  tom.  I:  p.  46. 

3)  Proceedings  of  the  R.  Geogr.  Soc.  1872.  vol.  XVI.  p.  173— rS- 

4)  Oviedo,  Historia  general  y  natural  de  las  Indias,  lib.  XXVII.  cap.  3. 

5)  Am  Amazonenstrome  wird  das  giefurchtete  Gift  von  den  Stämmen  be- 
reitet, welche  die  Quellengebiete  der  nördlichen  Nebenflüsse  zwischen  dem 
Rio  Negro  und  Japura  bewohnen  (Bat es,  the  Naturalist  on  the  Amazons« 
2d.  edit.  pag.  370).    Die  Indianer  des  Napöflusses  holen   das  Urari   von   den 

Peschcl,  Völkerkunde.  13 


läi    (  J*ie  BewafFnung, 

damine  noch  Spis  und  TMartius  haben  diises  Pfeilgift  bereitöi 
sehen;  erst  Alex.  v.  Humboldt  drang  am  Orinoco  in  das  Labl- 
ratorium  eines  Giftkoches  ein,  und  brachte  Muster  von  Curatö 
nach  Europa.  Der  Zubereitung  der  Salbe  wohnte  aber  erst  der 
jüngere  Schomburgk  in  Pirarä  bei').  Daa^rari,  wie  er  es  nennt, 
wurde  aus  verschiedenen  PflanzenstofTen  feekocht,  der  eigentliche 
Giftträger  aber  sind  Rinde  und  Splint  dev^S/rychnos  loxifera.  Bei 
der  geringsten  Verwundung  erfolgt  der  Tod  kleiner  warmblutiger 
Thiere  augenblicklich,  und  selbst  grössere  taumeln  und  sinken  zu- 
sammen, ja  Humboldt  versichert,  dass  die  erdessenden  Otomaken 
durch  Eindrücken  des  vergifteten  Daumen  nageis  ihren  Gegner 
tödten').  Proben  von  Urari  oder  Curarö  gelangten  vor  etwa  zehn 
Jahren  nach  Paris,  und  wurden  dort  von  dem  geschätzten  Physio- 
logen Claude  Bernard^)  zu  Versuchen  benutzt.  Es  ergab  sich 
damals,  dass  das  Gift  nur  wirkt,  wenn  es  sich  mit  dem  Blute 
mischen  kann.  Dann  tritt  zunächst  die  Aufhebung  der  Nerven- 
kraft bei  den  willkürlichen  Mnskelbewegungen  ein,  zuletzt  aber 
hört  auch  die  Thätigkeit  von  Lunge  und  Herz  auf,  und  der  Tod 
erfolgt  ganz  schmerzios  durch  den  denkbar  höchsten  Grad  der  Er- 
müdung, ähnlich  dem  Ausschwingen  eines  Pendels,  wenn  das  Uhr- 
werk abgelaufen  ist.  Ist  das  Gift  frisch,  so  sinken  selbst  so  grosse 
Geschöpfe,  wie  Tapire,  nach  wenig  Schritten  zusammen. 

Auch  in  Afrika  ist  die  Vergiftung  der  Geschosse  weit  ver- 
breitet. Nach  den  Berichten  der  portugiesischen  Entdecker  sollen 
vormals  in  Guinea  die  Jolotfer,  sowie  die  Neger  am  Rio  Grande 
ihre  Pfeile  vergütet  haben').  So  geschah  es  auch  noch  zu  Mungo 
Park's  Zeiten  von  den  Mandingonegem*)  und  geschieht  es  noch 
heutigen  Tages  nach  Benjamin  Anderson  von  den  Mandigo  zu 
Musardo*").  Am  weissen  Nil  werden  die  Moro-Xeger,  die  etwa 
unter  5°  N.    Br.    sitzen'),    sowie    die  Barineger,    des   Salbcns    der 

Tgcudss  und  brauchen  2ui  Rückkehr  in  ihre  Heimath  mil  den  Kähnen  nicht 
weniger  aU  drei  Monate,  tla^  Gift  w^d  freilich  in  ihrer  Heimath  mit  Silber 
aufgewogen.     James  Orion,  the  Andes  and  the  Amazon.  London  1870.  p.  197. 

1)  Richard  Schomburgk,  Reisen  in  Guayana.  Leipzig  1847.  Bd.  i.  S.  100. 

s)  Ansichten  der  Natur.  3.  Aufl.  ßd.  I.  S.  247- 

3)  Revue  des  deux  mondes.  Paris  1864.  tom.  LIXI.  p.  164. 

4)  Peichcl,  Zeitalter  der  Enldecltungen.  S.  77—78. 

5)  Mungo  Park,  Reisen  im  Innern  v.  Afrika.  Berlin  1799.  S.  251. 
61  Globus  1B71.  Sptbr.   Bd.  XX.  No.  9.  S.  142- 

7)  Pctherick,  CeniraJ-Africa.  London  1869.  p.  276. 


Die  Bewaffnung.  ige 

Pfeile  mit  Schlangen-  oder  Pflanzengift  geziehen*).  In  Südafrika 
bedienen  sich  nach  Du  Chaillu  die  Fanneger  dieses  verwerflichen 
Mittels*).  Ferner  erzählt  Ladislaus  Magyar 3)  von  den  südlichen 
Nachbarn  der  Kimbunda  in  Bihö,  dass  sie  ihre  Speerklingen  ver- 
gifteten. Livingstone  berichtet  von  einem  Gifte  Namens  Kombi, 
welches  die  Anwohner  des  Schire  aus  einer  Strophanthus-Art  be- 
reiten, sowie  von  einer  andern  Pfeilsalbe,  die  am  Nyassa-See  an- 
gewendet wurde,  endlich,  dass  die  Buschmänner  der  Kalahari  aus 
den  Eingeweiden  einer  kleinen  Raupe  unter  dem  Namen  Nga  ein 
Gift  für  ihre  Geschosse  gewinnen'*).  Nach  Theophüus  Hahn  da- 
gegen sollen  diese  Letzteren  das  Gift  für  die  Jagdpfeile  aus  den 
Zwiebeln  von  Haemanthus  toxtcarius,  für  die  Kriegswaffen  aber  aus  den 
Giftdrüsen  der  Schlangen  und  dem  Saft  einer  Wolfsmilchart  (Eu- 
phorbia candelabrumj  bereiten  5).  Bei  Kolbe's  Anwesenheit  salbten 
auch  die  Hottentotten  ihre  Pfeile  mit  dem  Gifte  der  Brillen- 
schlangen^). Plinius  nennt  uns  arabische  Piraten  im  troglody- 
tischen  Afrika,  also  am  Gestade  des  südlichen  rothen  Meeres  unter 
den  Pfeilvergiftern,  zu  denen  wir  noch  einen  asiatischen  Stamm, 
nämlich  die  Bhutia  im  himalayischen  Bhutan,  der  Vollständigkeit 
wegen  anschliessen  wollen  7). 

Vergleichen  wir  die  Wohnorte  aller  genannten  Völker,  so 
fallen  sie  sämmtlich  zwischen  die  Wendekreise  oder  wenigstens  in 
die  subtropischen  Gürtel.  Ganz  Nordamerika  ist  rein  von  diesem 
Frevel,  welcher  nach  Moriz  Wagner  in  der  neuen  Welt  seine 
nördliche  Begrenzung  an  der  dariensischen  Landenge  und  im 
Choco  am  Atrato  erreichen  würdet).  In  der  That  ist  auch  uns 
bisher  nur  eine  einzige  Ausnahme  bekannt  geworden,/  nämlich, 
dass   die  Ceres  oder   Seris   am    californischen  Meerbusen    solcher 


i)  W.  V.  Harnier,  Reise  am  obern  Nil.  S.  50. 

2)  Explorations    and    Adventures    in    Equatorial    Africa.    London    1861. 

p.  77—78. 

3)  Reisen,  Bd.  i.  S.  357. 

4)  Livingstone,  Zambesi.   p.   466  sq.    Eine    Abbildung  der  Insecten- 
larve  bei  Wood,  Natural  History  of  man.  tom.  I.  p.  286. 

5)  Th.  Hahn,  im  Globus  1870.  2.  Sem.  S.  100.  Gustav  Fritsch,  Ein- 
geborne  Südafrikas.  S.  431. 

6)  Vollständ.  Beschreibung  des  Vorgebirges  der   guten  Hoffnung.    Nürn- 
berg 1719.  S.  532. 

7)  H.  V.  Schlagintweit,  Indien  und  Hochasien.  Bd.  2.  S.  143. 

8)  Naturwissenschaftliche  Reisen.  Stuttgart  1869.  S.  314. 


jg^  Die  Bewaffnung. 

verpönter  Waffen  sich  bedienen').  In  Südamerika  wurde  bereits 
des  Blasrohres  gedacht,  hier  wollen  ^vir  nur  noch  erinnern,  dass 
auch  die  Chiquiten  in  Paraguay,  wie  Dobrizhoffer  berichtet,  ihre 
Geschosse  mit  einem  so  mörderischen  Gifte  salbten,  dass,  wenn 
nur  Blut  floss  auch  die  geringste  Verletzung  den  Tod  nach  wenig 
Stunden  herbeiführle. 

Irrig  wäre  es  aber,  wollte  man  diese  Wahl  der  Mordwerk- 
zeuge nur  in  heissen  oder  warmen  Erdstrichen  suchen.  Chine- 
sische Schriftsteller  gedenken  im  3.  jahrh.  n.  Chr.  bei  einem 
Tungusenstamm  und  im  5.  Jahrhundert  bei  den  Mongolen  der 
Waffonvetgifiung '},  Sie  wird  noch  heutigen  Tages  von  den  bär- 
tigen Aino^)  auf  SaghaUen  und  den  Kurilen  nicht  verschmäht,  zu 
Stellers  Zeiten  bedienten  sich  die  Itelmen  Kamtschatkas  zu  gleichem 
Zwecke  des  Sturmhutes  fAconitum  NapellusJ'')  und  selbst  die  Be- 
wohner der  Alcuten  kannten  und  benutzten  ein  Pfeilgifi*). 

Auch  auf  dem  ßoden  des  classischen  Alterthums  begegnen 
wir  solchen  unedlen  Mordgeräthen.  Horaz  gedenkt  ihrer  in  einer 
seiner  gefeierten  Oden"),  Ovid  beschuldigt  pontische  Völkerschaften 
in  der  Nähe  seines  Verbannungsoites  dieses  Frevels').  Plinius  hat 
uns  Gegenmittel  für  Giflwuiiden  aufgeschrieben  und  dabei  zugleich 
einen  Blick  in  den  finslern  Abgrund  der  menschlichen  Natur  geworfen, 
insofern  v  d  Scharfe  des  Eisens  noch  mit  derWirkung  desSchlang'en- 
stiches  auszustatten  suchen").  Selbst  die  Kelten  Galliens  verschmähten 
gelegentl  ch  n  ht  d  es  s  Jlittel'),  und  das  gleiche  geschah  sogar 
noch  vo    den  apan  acl  en  Arabern  im  granadensischen  Kriege  1484 '"). 

So  ^e  vahren  r  denn,  dass  jener  Brauch  über  alle  Erdräume 
mit  einziger  Ausnahme  Australiens  und  der  polynesischen  Inseln, 
wo  Bogen  und  Pfeile  fehlton,  sich  verbreitet  hatte.  Wir  verweilen 
aber  deswegen  länger,  ah  gewöhnlich  bei  diesem  Gegenstand,  von 

1)  Wiiiz,  Anthropologie  der  Nalurvölker.  Bd.  4.  S.  223. 

2)  Ales.  Caslrdn,  Eilinol.  Votlesungen.  S.  26—27. 

3)  Nach  einem  Vorlrafje  iles  Hrn.  v.  Brandt,  deutschen  Consuls  in 
Japan,  vor  der  Berliner  antlito|)ol.  Gesellschaft  am  10.  Decbr.  1871,  |Verhind- 
lungen.  1872.  S.  2S.I 

4)  Kamtschatka.  Frankfurt  1774.  S.  236. 
51  Waiti,  Anthropologie.  Bd.  3.  S.  jrö. 

6)  Lib.  I,  22. 

7)  Triiüuin  lib.  in,  EleB-  X.  v.  62. 

*i)  Hisi.  not.  hb.  XX,  8l.  lib.  XVIII,  1. 

<))  Forbiger,  Il.indbuch  der  alten  Geogrjphie.   Bd.  3.  S.  147, 

]uj  Hern^iiidii  Je   Pulgat,  Crönica,  Valencia  ijSa  P.  III.  cap.  33. 


Die  Bewaffnung.  ig 7 

dem  wir  die  erste  Ueberschau  gegeben  haben  ^),  weil  die  Unter- 
drückung dieses  Frevels  uns  zugleich  einen  der  seltnen  Fälle  ge- 
währt, dass  der  Mensch  nicht  blos  seinen  Geselligkeitstrieb  zur 
sittlichen  Richtschnur  erhoben  hat,  sondern  dass  er  über  diesen 
hinaus  nach  Veredlung  strebt,  denn  der  rohe  Selbsterhaltungstrieb 
würde  sicherlich  auch  den  Gebrauch  vergifteter  Waffen  verstatten. 
Dass  aber  die  Völker  anfingen  sich  einer  solchen  Wehr  zu  schämen 
und  sie  unvereinbar  hielten  mit  ihrer  W^ürde,  lässt  uns  eine  Stelle 
bei  Homer  erkennen.  Odysseus  will  nämlich  von  llos  in  Ephyra 
ein  tödtliches  Pfeilgift  einhandeln,  der  es  ihm  jedoch  aus  Scheu 
vor  den  ewigen  Göttern  verweigert^).  Der  Grund  dieser  Weigerung 
lässt  uns  ahnen,  woher  es  komme,  dass  wir  die  Giftwaflfen  jetzt 
nur  noch  xmter  den  Tropen  oder  in  ihrer  Nähe  finden,  weil  eben 
dort  die  rohesten  Menschenstämme  sitzen,  die  sich  noch  nicht  um 
den  Zorn  der  'ewigen  Götter  kümmern. 

Ein  anderes  Wurfgeschoss ,  die  Schleuder,  kann  gewiss  nur 
dort  erfunden  worden  sein,  wo  es  Steine  gibt.  Steine  gibt  es  nicht 
überall.  Sobald  der  Amazonas  oder  seine  gewaltigen  Nebenströme 
aus  den  Abhängen  der  Cordilleren  heraustreten,  durchziehen  sie 
eine  Niederung,  eben  wie  eine  Tafel  mit  fast  unmerklichem  Ge- 
fall, wo  sich  kein  Geschiebe  mehr  findet,  denn  Modererde  lagert 
klaftertief  über  fein  zermalmtem  Lehm  oder  Thon^).  Könnten  wir 
uns  also  denken,  dass  alle  Erdvesten  jenen  südamerikanischen 
Ebenen  glichen,  so  hätten  die  Menschen  nie  zum  Steinzeitalter 
sich  erheben  können,  sondern  bei  Holz  und  Hörn  verharren 
müssen.  Auch  werden  wir  uns  im  voraus  sagen,  dass  in  einem 
amazonischen  Waldland  ohnehin  die  Schleuder  nicht  anwendbar 
wäre.  Wir  finden  Schleudern  nicht  in  Nordamerika,  ausser  bei  den 
Eskimos.  Sehr  häufig  sind  sie  dagegen  auf  den  Südseeinseln,  so 
bei  den  Bewohnern  der  Marianen'^),  auf  der  Samoagruppe^),  auf 
Tahiti  und  den  Sandwichinseln ^).     Die  papuanischen  Bewohner  der 

1)  Ausland  1870.  No.  19.  Ueber  den  Einfluss   der  Ortsbeschaffenheit  auf 
einige  Arten  der  Bewaffnung.  S.  432.  flg. 

2)  Odyss.  I,   259    flg.  Ephyra    muss    entweder   in  Epirus    oder   in    einer 
nsel  des  argolischen  Meerbusens  gesucht  werden. 

3)  Ed.  Pöppig,  Chile,  Peru  und  der  Amazonenstrom.  Bd.  2.  S.  340. 

4)  Waitz,  Anthropologie,  Bd.  5.  II.  Abth.  S,  130. 

5)  Fr.  Müller,  Reise  der  Fregatte*'  Novara.  Anthropol.  Bd.  3.  S.  39. 

6)  Heinr.  Zimmermann,  Reise  um  die  Welt  mit  Capt.  Cook.  Mann- 
heim 1781.  S.  75. 


jgg  Die  Sewaffnuag. 

Fidschigrappe  und  Neu-Caledoniens  .fährten  sie  ebenfalls*).  Aaf 
diesen  Inseln  diente  sie  zugleich  einem  lägUchen  BedürfnJss,  denn 
es  wurden  die  Kokosnüsse  durch  Steinwürfe  von  den  Palmen  herab- 
geholt. Weniger  klar  ist  es,  weshalb  gerade  die  Guanchen,  ode' 
die  ausgestorbenen  Bewohner  dpr  canarischen  Inseln  sich  dieser 
Waffe  bedienten,  rielleicht,  dass  sie  die  Schleuder  aus  ihrer  früheren 
nordafrikanischen  Heimath  auf  den  Archipel  mitbrachten.  Auch 
die  besten  Schleuderer  im  classiöchcn  Alterthum  stammten  von 
einer  Inselgruppe,  den  Balearen').  Im  Sudan  und  im  südlichen 
Afrika  kommt  die  Schleuder  entweder  gar  nicht  oder  nur  als 
Seltenheit  vor,  um  so  reichlicher  bei  Völkern  der  biblischen  Ge- 
schichte, Uerühmt  waren  unter  den  Hebräern  die  Schleuderer  des 
.  Stammes  Benjamin,  die  mit  der  Rechten  und  Linken  fochten  und 
mit  ihren  Steinwürfen  das  Ziel  nicht  um  Haaresbreite  fehlten^), 
Auch  wurde  ja  durch  einen  glücklichen  Steinwurf  gegen  einen 
riesenhaften  Philistäer  die  Dynastie  der  Konige  in  Juda  begründet. 
Steinige  Weidotriften,  me  sie  in  Palästina  nirgends  fehlen,  waren 
herausfordernd  zur  Ucbang  des  Schleuderns,  zumal  alle  Hirten- 
völker im  Werfen  geübt  sind,  theils  zur  A'ertheidigung  ihrer  Thiere, 
theils  zur  Bestrafung  der  Hunde  oder  zerstreuter  Heerdenstücke. 
Förmlichen  Uebungen  im  Scheiben  schiessen  und  im  Steinewerfen 
wohnte  Adolph  v.  \\'rede  unter  Beduinen  des  arabischen  Hadh- 
ramaut  bei*).  National-  und  Lieblingswaffe  ist  die  Schleuder  aber 
in  Sudamerika  geworden.  Während  die  Ebenen  Östlich  von  den 
Anden,  mit  Wald  bedeckt,  nur  Jägerstämme  kennen,  die  überall 
den  Bogen  führen,  treffen  wir  im  Reiche  der  Inca  oder  Sonnen- 
söhne,  bei  den  Cultur volkern,  den  Ketschua  und  Aymara,  auf  den 
baamlosen  Puna  oder  Hochebenen  zwischen  den  Cordilleren  die 
Schleuder  als  Jagd-  und  Kriegswaffe,  Sämmtliche  Völker  in  den 
Anden  Südamerikas  führen  die  Schleuder  bis  südwärts  herab  zum 
Cap  Hom,  wo  sich  ihrer  die  Feuerländer  zu  ihren  Jagden  auf 
Llamas  oder  vielmehr  Guanücos  bedienen.  Anthropologisch  ver- 
wandt mit  den  Völkern  der  Anden  sind  die  Patagonier  der  Steppen 
im  Süden  imd  Westen  des  Silberbundes.     Dort  hat  das  Schleudern' 

T)  F.  Knoblauch,  Ausland  l»66.  S,  +(.6. 
2|  Forbiger,  alle  GenEraphie.  Bd.  3,  S.  loQ. 
jl  Judit.  XX,  15— :6. 

4j  V.  Wrede's  Reisen  im  Hadhramaul.    Herausg.  von    H.  v.  Mallmn. 
Brannschweig  1870.   S.  195. 


Die  6^i«^nung.  Iqq 

und  die  Schleuder  ihre  höchste  Vollkomrpenheit  erreicht.  Die 
Steine  sind  nämlich  gerundet,  und  werden ^  an  einem  Leder- 
riemen befestigt,  über  dem  Kopf  geschwungen.  So  entstand 
die  Wurfleine  mit  den  Kugeln  oder  Bolas*).  Ja  mit  der 
Zeit  verwendete  man  sogar  die  Wurfleine  ohne  jeden  Stein  i  und 
noch  jetzt  schwingen  die  Gauchos  oder  halbblütigen  Hirten  der 
Argentina  ihren  Lasso  so  meisterhaft,  dass  sie  ihn  zur  Bewältigung 
eines  Gegners  sogar  dem  Feuerrohr  vorziehen^).  Auch  im  alten 
Aegypten  war  an  die  Stelle  der  gewöhnlichen. Schleuder  die  Leine 
mit  den  Wurfkugeln  getreten,  denn  unter  den  Jagdscenen,  welche 
uns  die  Denkmäler  erhalten  haben,  erblicken  wir  einen  pharaoni- 
schen  Waidmann,  der  einem  Büflfel  die  Leine  mit  der  ^ugel  um 
die  hinteren  Füsse  wirft ^).  Es  ist  wohl  nicht  zu  besorgen,  dass 
jemand  den  kühnen  Schluss  ziehe,  die  Patagonier  stammten  von 
den  Altägyptern  ab,  oder  es  hätten  sich  Aegypter  vielleicht  von 
der  phönicischen  Flotte,  die  unter  dem  Pharaoh  Neku  Afrika  um- 
schiffte, nach  Südamerika  verirrt.  Wir  stossen  vielmehr  hier  auf 
eines  der  unzähligen  Beispiele,  dass  die  nämlichen  Geräthe  von 
ganz  entfernten  und  sich  ganz  entfremdeten  Völkern  selbständig 
erfunden  worden  sind. 

Haben  wir  bisher  nur  die  Technik  der  Waffen  mit  der  Be- 
schaffenheit der  Erdräume  verglichen,  so  wenden  wir  uns  jetzt  einer 
ernsteren  Seite  des  Gegenstandes  zu.  Wie  die  vergleichende  Ana- 
tomie den  lateinischen  Sinnspruch  zur  wissenschaftlichen  Wahrheit 
erhoben  hat,  dass  aus  der  Klaue  der  Löwe  sich  erkennen  lasse, 
so  kann  die  Völkerkunde  aus  den  Waffen  mit  grosser  Sicherheit 
•  auf  die  Gesittungsstufe  eines  Volkes  schliessen.  Die  Vorbedingung 
aller  höheren  gesellschaftlichen  Zustände  ist  die  räumliche  Ver- 
dichtung der  Bevölkerung,  weil  sie  eine  Theilung  der  Arbeit  ver- 
stattet.    Aus  der  Kopfzahl  und    dem  Flächeninhalt,    welchen    1825 


i)  Ueber  die  Verbreitung  der  Bolas  bei  den  Ketschuavölkem  in  Peru, 
vgl.  Markham,  Proceed.  of  the  Royal  Geogr.  Soc.  vol.  XV.  No.  5.  Sitzung 
vom  10.  Juli  1871. 

2)  V.  Tschudi,  Reisen  in  Südamerika.  Bd.  4.  S.  287.  Dass  er  von  den 
Alliirten  im  Kriege  gegen  die  Paraguiten  angewendet  wurde,  darüber  vergl. 
Ausland  1870.  S.  320  und  Max  v.  Versen,  Reisen  in  Amerika  und  der 
südamerikanische  Krieg.  Breslau  1872.  S.  119. 

3)  Wilkinson,  ancient  Egyptians,  tom.  III,  p.  15,  sowie  in  Lepsius* 
Denkmälern. 


200  ^^  Bewaffnung. 

die  Rothhäute  der  Vereinigten  Staaten  inne  hatten,  ist  berechnet 
worden,  dass  Jägerstämme  zu  ihrem  Unterhalte  für  jeden  Kopf 
i^/^  engl.  Q.  Meilen  nöthig  haben,  während  in  einem  vergleichbaren 
Erdstrich,  nämlich  in  Belgien,  320'  Köpfe  auf  einer  engl.  Q.  Meile 
wohnen  ^). 

Nur  eine  blühende  Landwirthschaft  verstattet  eine  hohe  Ver- 
dichtung. Der  Ackerbauer  aber  kann  nicht  Waffen  führen,  die 
eine  beständige  Uebung  und  seltene  Fertigkeiten  erfordern.  Um 
sich  gegen  ferne  Geschosse  von  Jägerstämmen  zu  sichern,  wird  er 
vielmehr  seinen  Körper  durch  eine  Bedeckung  von  Watte,  wie  in 
Amerika,  oder  durch  Leder,  oder  durch  Metall  schützen.  Ferner 
wird  er  das  zerstreute  Gefecht,  welches  mit  Jägerart  viel  Aehn- 
lichkeit  hat,  aufgeben  und  in  Gliedern  sich  zusammenschliessen. 
In  Amerika  sehen  wir  diese  Neuerung  bei  allen  Culturvölkern  voll- 
zogen. Die  Mexicaner  und  Yukateken  hatten  nicht  bloss  Schutz- 
waffen, sondern  sie  führten  das  Schwert  des  Steinzeitalters  aus 
Holz  geschnitzt  und  mit  einem  Falz  versehen,  in  welchen  stück- 
weise die  Klinge  aus  scharfen  Obsidi anscher ben  eingefügt  wurde. 
Wie  weit  wären  überhaupt  sämmtliche  Nahuatlvölker  Mittelamerikas 
zurückgeblieben,  wenn  sie  nicht  den  Obsidian  oder  das  Iztli  unter 
den  Laven  ihrer  Vulcane  gefunden  hätten?  ein  Mineral,  das  bei 
jedem  geschickten  Hammerschlag,  wir  möchten  sagen,  in  lauter 
Messerklingen  zerspringt,  so  scharf,  dass  noch  lange  nach  der  Er- 
oberung die  Spanier  sich  von  einheimischen  Barbieren  mit  Obsi- 
dianscherben  rasiren  Hessen.  Bei  den  Incaperuanern  treffen  wir 
hölzerne  Helme,  mit  Watte  gepolsterte  Wämser,  Schwerter  aus 
Kupfer,  Streitäxte,  Speere  und  Wurfspiesse*),  sowie  Fahnen,  letztere« 
das  beste  Zeugniss  für  eine  bereits  vorhandene  taktische  Ein- 
theilung. 

Die  Uebergänge  bedurften  jedenfalls  grosser  Zeiträume.  Hirten- 
völker legten  die  Jagdwaffen  nicht  plötzlich  ab,  sondern  nur  nach 
und  nach.  Im  trojanischen  Kriege  begegneten  sich  Völker,  die 
halb  Ackerbau,  halb  Viehzucht  trieben.  In  den  Reihen  der  Achäer 
treffen  wir  daher  nur  zwei  oder  drei  Virtuosen,  die  Bogen  und 
Pfeil  führen,  und  in  der  Odyssee  fordert  die  schlaue  Penelope  ihre 
Freier  zu  einem  Probeschiessen  auf,  wobei  sich  ergibt,  dass  sie  alle 


1)  Sir  John  Lubbock,  Prehistoric  Times.  2d  ed.  p.  582.  sq. 

2)  Prescott,  Conquest  of  Peru.  tom.  I,  p.  72  sq. 


,    Die  Bewaffnung.  20I 

mit  dem  altmodisch  gewordenen  Gewehre  nicht  mehr  umgehen 
können.  Aehnliche  Uebergänge  werden  jetzt  in  Afrika  beobachtet. 
Bei  allen  viehzuchttreibenden  Negern  am  weissen  Nil  finden  wir 
Keulen,  Lanzen  und  Schilder  wie  bei  den  Schilluk  und  den  Nuer'), 
oder,  weil  Jagd  noch  betrieben  wird.  Bogen  und  Pfeile  wie  bei  den 
Kitsch-,  Dschur-,  Moro-  und  Niamniamnegern  *).  Ausnahmsweise 
traf  Georg  Schweinfurth  bei  den  merkwürdigen  Monbuttu  am  Uelle 
Schild  und  Speer  mit  Bogen  und  Pfeilen,  aber  er  fügt  ausdrück- 
lich hinzu,  dass  eine  solche  Vereinigung  von  Waffen  in  den  Neger- 
landen  zu  den  Seltsamkeiten  gehöre^).  Die  rechten  Kafirn,'Sagt 
Theophilus  Hahn^),  bedienen  sich  nie  des  Bogens  und  der  Pfeile, 
sondern  sie  fechten  abgetheilt  in  Legionen  zu  600 — 1000  Mann. 
Der  grosse  Zulukönig  Tschaka  liess  sogar  die  5 — 6  Wurfspeere 
der  alten  Bewaffnung  entfernen  und  führte  eine  kurze  Lanze  zum 
Stosse,  sowie  lange  Schilde  ein,  unter  deren  Schutz  seine  Krieger 
gegen  ihre  Feinde  stürmten  und  ihnen  mit  der  kurzen  Waflfe  zu 
Leib  gingen.  Hottentotten  und  Buschmänner  gehören  zu  einer 
scharf  gesonderten  Familie  und  sind  unter  sich  verwandt.  Die 
Hottentotten  sind  Hirten,  die  Buschmänner  Jäger,  die  Hottentotten 
bedienen  sich  mit  spärlichen  Ausnahmen  nicht  mehr  des  Bogens 
und  Pfeiles,  der  bei  den  Buschmännern  die  einzige  Waffe  ist.  Die 
Kelten  Galliens  und  unsere  eigenen  Vorfahren  zu  Cäsars  und 
Tacitus'  Zeiten  waren  ebenfalls  keine  Bogenschützen  mehr  5). 

Als  Einwand  gegen  diese  Auffassung  könnte  man,  abgesehen 
von  den  Chinesen,  geltend  machen,  dass  wir  ja  auf  ägyptischen 
Denkmälern,  auf  den  Sculpturen  von  Chorsabad,  Niniveh  und  Ba- 
bylon unzähligemale  Bogenschützen  abgebildet  finden.  Warum 
aber  jene  ehrwürdigen  Culturvölker  die  alten  Jägerwaffen  führten, 
darüber  gewährt'  uns  das  alte  Testament  willkommenen  Aufschluss. 
Der  Sieg,  den  die  Philistäer  über  König  Saul  gewonnen  hatten, 
wurde  auf  Rechnung  ihres  Schützencorps  geschrieben,  und  David, 
obgleich  selbst  der  beste  Schleuderer  seines  Volkes,  liess  zur  Aus- 


1)  Petherick,  Central  Africa,  L  98,  99,  100,  120,  319. 

2)  1.  c.  I,  194,  217,  247,  248,  276,  280. 

3)  Zeitschrift  für#  Ethnologie.  Berlin  1873.  Bd.  5.  S.  18. 

4)  Globus  1871.  Septbr.  Bd.  XX*  No.  11.  S.  163—165. 

5)  Wenigstens  wurde  von  den  Kelten  Galliens  nur  gelegentlich  noch  von 
Bogen  und  Pfeil  Gebrauch  gemacht.  Strabo,  Geogr.  üb.  IV.  cap.  4.  ed. 
Tauchn.  I,  p.  317.  • 


202  l^is  Bewaffnung. 

gleichung  des  Nachtheüs  die  Kinder  Juda  im  Bogenschiessen  wieder 
einüben,  und  seit  dieser  Zeit  wurde  diese  Kunst  nicht  mehr  von 
ihnen  vernachlässigt').  Die  Kriege,  die  damals  in  Vorderasien  ge- 
führt wurden,  galten  meist  den  Städten.  Die  Mauern  der  Städte 
wurden  aber  bereits  von  Thürmen  flankirt.  Auch  war  zur  Deckung 
von  Belage rungsarbeiten  oder  der  Stürmeuden  selbst  damals  ein 
fernwirkendes  Geschoss,  wie  der  Pfeil,  unentbehrlich.  Finden  wir 
ja  selbst  in  der  römischen  Schlachtordnung  ein  Schützencorps  für 
besondere  Gefechtsaufgaben,  obgleich  die  wahre  Legionswaffe  nur 
das  Schwert  und  der  Wurfspiess  gewesen  sind").  Nicht  unbeab- 
sichtigt wurde  oben  angeführt,  dass  die  Fidschi-Insulaner  bei  Be- 
lagerung ihrer  festen  Ortschaften ,  sowie  bei  Vertheidigung  der 
Pfahlwerke  immer  noch  Bogen  und  Pfeil  beibehalten  haben.  Allein 
in  allen  diesen  Fällen  tritt  das  nämliche  Werkzeug  nicht  mehr  als 
ein  W ai d man nsge wehr  auf,  sondern  wir  möchten  fast  sagen  als  eine 
gelehrte  Waffe.  Jene  alten  Denkmäler  aus  dem  Bereich  der  bib- 
lisclien  \'ülker  zeigen  uns  sämmtlich  die  Krieger  geordnet.  Die 
Theilung  der  Arbeit  hat  schon  begonnen,  und  der  Krieg  wird  ent- 
weder von  eingeübten  Milizen  oder  von  einer  Kaste  geführt,  nicht 
mit  dem  Handwerkszeug  des  täglichen  Erwerbs,  sondern  mit  spe- 
ciaiisirten  Watten.  So  wie  aber  der  Krieg  methodisch  eingeübt 
wird,  muss  der  Einfluss  der  Ortsbeschaffenheit  auf  die  Bewaffnung 
mehr  und  mehr  schwinden,  ja  bei  modernen  Culturvolkern  kann 
von  ihm  kaum  noch  gesprochen  werden.  Immerhin  wird  selbst 
heutigen  Tages  niemand  die  Bevölkerung  der  Kosakensteppen  oder, 
der  ungarischen  Pussten  mit  Vorliebe  au  Scharfschützen  ausbilden, 
ebenso  wenig  als  wir  in  den  Bewohnern  unserer  Hochgebirge  einen 
bevorzugten  Stoff  für  leichte  Reiterei  erblicken  wertlen. 


5.     Fahrzeuge    und    Seetüchtigkeit. 

Wenn  auch  die  Seetüchtigkeit  der  Völker  am  spätesten  zu 
reifen  pflegt,  so  hat  sie  doch  auf  die  Geschichte  der  menschlichen 
Gesellschaft  die  höchsten  Folgen  geübt,  denn  wie  hoch  man  auch 


Fahrzeuge  und  Seetüchtigkeit.  203 

die  Schöpfungen  eines  Volkes  auf  dem  Gebiet  der  Kunst,  wie  hoch 
man  seine  wissenschaftlichen  Erkenntnisse,  oder  seine  Religions- 
satzungen stellen  mag,  die  That  eines  einzigen  kühnen  und  be- 
harrlichen Seemanns  verdunkelt,  wenn  wir  nur  an  die  physische 
Geschichte  unserer  Erdvesten  denken,  alles  andere  an  Wirksamkeit. 
Wenn  wir  von  einer  fremdartigen  Natur  und  fremden  Welten  auf 
unserm  Erdball  reden,  so  meinen  wir  nichts  anderes  als  die  fremd- 
artigen Gewächse  und  fremdartigen  Thiergestalten  die  ihnen  eigen- 
thümlich  sind.  Wären  aber  der  Verbreitung'  von  Thieren  und 
Pflanzen  keine  räumlichen  Hindernisse  in  den  Weg  getreten,  so 
würden  alle  klimatischen  Gürtel  der  Erde  die  nämlichen  Formen 
belebter  Wesen  zeigen.  Die  Meere  sind  die  wirksamsten  Hinder- 
nisse gewesen,  aber  der  Seemann,  der  die  Alte  Welt  mit  der  Neuen 
verknüpfte,  hob  diese  Hindernisse,  und  vernichtete  an  Amerika  die 
Eigenschaft  eines  gesonderten  Erdraumes.  Amerika  ist  seit  der 
Entdeckung  nicht  bloss  von  Europäern,  sondern  zugleich  von 
allen  europäischen  Culturgewächsen  und  Hausthieren,  von  Weizen, 
Korn,  Hafer,  Gerste,  von  Rind,  Ross  und  Schaf  betreten  worden, 
und  diese  einwandernden  Pflanzen  und  Thiere  waren  so  mächtig, 
dass  sie  in  kurzer  Zeit  den  landschaftlichen  Anblick  grosser  Erd- 
räume, ja  sogar  ihr  Klima  umgestalteten,  indem  sie  aus  einer 
schattigen  Wildniss  ein  sonniges  Getreideland  schufen.  Um  so 
lebhafter  muss  aber  unsere  Wissbegierde  zu  der  Untersuchung  an- 
geregt werden,  ob  nicht  auch  Aussicht  vorhanden  gewesen  sei, 
dass  von  andern  Theilen  unserer  Erdveste  Amerika,  oder  ob  nicht 
von  den  Amerikanern  selbst  die  Alte  Welt  hätte  gefunden  werden 
können,  und  wie  gross  die  Keime  im  jenseitigen  Welttheil  waren, 
die  zu  einer  solchen  Hoffnung  hätten  ermuthigen  können.  Diess 
alles  lässt  sich  allein  auf  dem  Wege  geschichtlicher  Vergleiche 
finden,  und  wir  müssen  daher  diejenigen  Erdräume  aufsuchen,  wo 
sich  seetüchtige  Völker  am  höchsten  entwickelt  haben. 

In  der  alten  Welt  haben  grosse  Ströme  die  nautischen  Fertig- 
keiten bei  den  Uferbewohnern  nicht  ausgebildet  und  das  gleiche 
gilt  auch  von  Amerika.  Wenn  der  Anblick  der  Stromgebiete  des 
Mississippi,  des  Amazonas  und  der  La  Plataströme  auf  einem 
Länderbilde  uns  gegenwärtig  mit  der  Ahnung  einer  unberechen- 
baren Culturgrösse  berauscht,  wenn  wir  im  Geiste  ihre  Wasser  mit 
belasteten  Schiffen  bedeckt ,  ihre  Ufer  mit  Städten  besäumt  und 
dicht  bevölkert  erblicken,  so  sagt  uns  doch  schon  unsere  heimische 


204 


yahrzeugc  und  Seetüthtigkeil 


Geschichte-,  dass  Ströme  erst  im  Mittelalter  die  Städtebegründung 
forderten  und  als  grossartige  Verkehrsmittel  erst  nach  Benutzung 
der  Darapfkräfte  ihre  heutige  Geltung  erlangten.  Wohl  sind  auch 
im  Alterthum  grosse  CulturschÖpfungen  durch  Ströme  hervorgerufen 
worden,  wie  durch  den  Nil  und  die  Geschwisterfiüsse  Mesopo- 
tamiens. Ailfin  in  beiden  Fällen  dienten  sie  hauptsächlich  nur  zur 
Benetzung  von  Fluren  in  trockenen  Ländern.  Eine  günstige 
Regenzeit  hätte  den  Euphrat  und  Tigris  entbehren  lassen,  und 
selbst  das  Nilwasser,  wenn  auch  nicht  den  Nilschlamm,  zu  ersetzen 
vermocht.  Die  Eingebornen  Amerika's  waren  aber  noch  weit  ent- 
fernt ,  dass  ihre  grossartigen  Stromnetze  als  Cultur Verbreiter  sich 
\virksam  hätten  zeigen  können.  Breite  und  tiefe  Flüsse  sind  bei 
den  jugendlichen  Anfängen  der  Gesellschaft  eher  Schranken  und 
Hindernisse,  wie  ja  noch  zu  Cäsars  Zeiten  der  Rhein  die  Deutschen 
und  die  Kelten  schied  und  trennte.  Dem  Jäger,  der  in  dem 
Rindenkahne  sich  be\vegt,  sind  kleine  und  stille  Flussläufe  will- 
kommener, ja  als  Fischwasser  bieten  sie  ihm  sogar  die  grosse  Be- 
quemlichkeit, dass  er  sich  durch  ihre  Vergiftung  seiner  Beute 
rascher  zu  bemächtigen  vermag.  Daher  kommt  es,  dass  die  Nähe 
des  Mississippi  sich  gar  nicht  und  die  des  Amazonas  nur  durch 
sehr  geringe  Fortschritte  in  der  Gesittung  der  wilden  Stamme  ver- 
kündigt. 

Das  gleiche  gilt  von  der  grossen  Kette  Binnenseen  in  Nord- 
amerika, denn  die  Jägerstämme,  welche  ihre  Ufer  bewohnten, 
standen  durchaus  nicht  hoher  i-^s  die  übrigen.  Nautische  Ge- 
schicklichkeit dürfen  wir  auch  anderwärts  nicht  auf  Binnen- 
gewässern suchen.  In  Asien  haben  der  Balchasch-,  Baikal-  und 
Aral-See,  ja  nicht  einmal  das  kaspische  Meer  anregend  auf  die 
Ausbildung  der  Uferbewohner  zur  SchifTfahrl  gewirkt.  Fand  man 
doch  noch  vor  kurzem  und  findet  man  noch  jetzt,  wo  die  Eng- 
länder aus  Liebhaberei  bessere  Muster  nicht  eingeführt  haben,  auf 
allen  Seen  der  Alpen  nur  Fahrzeuge  von  der  niedrigsten  und  zweck- 
widrigsten Bauart,  die  seit  Jahrtausenden  jeder  Verbesserung  ge- 
trotzt haben.  Nicht  an  Flüssen  und  noch  weniger  an  Binnenseen, 
sondern  nur  an  den  Küsten  dürfen  wir  uns  nach  den  Völkern 
umsehen ,  die  Länder  mit  Ländern  verknüpfen ,  wie  denn  in  der 
Cult Urgeschichte  mehr  als  anderswo  der  Sinnspruch  bei  den  eleu- 
sinischen  Geheimfeiern  gilt;     Ans  Meer,  ihr  Mysten! 

Von    den    Völkern    die   im    Alterthum   durch  ihre  Unterneh- 


Fahrzeuge  und  Seetüchtigkeit.  205 

mungen  zur  See  glänzten,  nennen  wir  vorläufig  zwei :  die  Phönicier 
und  die  Bewohner  der  Südküsten  Arabiens.  Die  Nähe  dankbarer 
überseeischer  Ziele  wirkt  vor  allem  anregend  zu  den  ersten  Ver- 
suchen die  Küste  zu  verlassen.  Den  PhÖniciern  winkte  als  leicht 
erreichbarer  Gegenstand  die  Kupferinsel  (Cypern),  den  Arabern 
das  nahe  gelegene  Afrika.  Die  Küste  Syriens  wie  die  des  ara- 
bischen Yemen,  Hadhramauts  und  Omans  erstrecken  sich  mehr 
oder  weniger  in  gerader  Richtung.  Hinter  einem  schmalen  Küsten- 
saume erhebt  sich  das  Land,  und  hinter  der  Erhebung  breiten 
sich  sogenannte  Wüsten  aus.  An  solchen  Küsten  ist  nicht  nur 
der  Weg  zu  Wasser  gewöhnlich  der  kürzeste,  oft  der  einzige 
zwischen  den  bewohnten  Orten,  sondern  es  bürgt  auch  die  Regel- 
mässigkeit der  Land-  und  Seewinde  zugleich  für  bequeme  Fahrten. 
So  wie  sich  die  Bevölkerung  des  engen  Küstensaumes  verdichtet, 
muss  der  Fischfang  mehr  und  mehr  zur  Ernährung  beitragen,  imd 
wenn  auch  er  nicht  ausreicht,  ein  Theil  des  Volkszuwachses  über 
das  Meer  hinausstreben.  Wie  auf  diese  Art  Phönicier  nach  Cypern, 
von  Cypern  nach  Kreta,  von  Kreta  nach  Carthago,  Spanien  und 
bis  zum  Senegal  gelangt  sind,  darf  als  bekannt  gelten.  In  gleicher 
Lage  wie  sie  befuhren  die  Bewohner  Südarabiens  die  Ostküste 
Afrika's  (Adschan  jetzt,  Azanien  von  den  Griechen  genannt),  in 
älterer  Zeit  wahrscheinlich  bis  Kilwa  am  Eingang  der  Mozambique- 
strasse  und  Rhedern  aus  Aden  verdankte  Claudius  Ptolemäus  seine 
Kenntnisse  nicht  nur  jener  Küste,  sondern  auch  der  grossen  Nil- 
seen, die  damals  wie  jetzt  vom  heutigen  Sansibar  aus  durch  ara- 
bische Kaufleute  besucht  worden  sind^).  Später  erstreckten  sich 
Pflanzstädte  der  Araber  von  Hadhramaut  und  Oman  am  Gestade 
Afrika's  bis  Sofala,  was  für  einen  Küstenfahrer  just  so  weit  war 
wie  aus  einem  phönicischen  Hafen  bis  zu  den  Säulen  des  Her- 
cules*). 

Spähen  wir  in  der  neuen  Welt  nach  Küsten  ähnlicher  Bildung, 
mit  schmalem  Ufersaume,  begränzt  von  aufsteigenden  Gebirgen 
und  verhältnissmässig  dicht  bevölkert,  so  dürfen  wir  nur  am  West- 
rande Südamerikas,  von  der  chilenischen  Gränze  angefangen, 
gegen  Norden  bis  zum  Gestade  von  Ecuador  die  Phönicier  Ameri- 


1)  Ptolemaeus,  Geogr.  lib.  i.  cap.  17.  ed.  Wilb.  p.  57. 

2)  Peschel,  Geschichte  der  Erdkunde.  S.  iii. 


ao6  Fahrzeuge  und  Seetüchligkeil. 

kas  suchen.  Auf  dem  grössten  Theile  dieses  Gestades  fallt  be- 
Itanntiich  kein  Tropfen  Regen,  sondern  es  herrschen  während  der 
feuchten  Jahreszeit  nur  Nebel  die  auf  dem  Sand  und  den  wan- 
dernden Dünen  einen  vergänglichen  Hauch  von  Pflanzen  hervor- 
rufen. Nur  längs  der  kleinen  Küstenflüsse,  die  von  den  Cor- 
düleren  herabeilen,  vermag  der  Ackerbau  die  Bevölkerung  zu  er- 
nähren. Man  ist  daher  ku  der  Erwartung  berechtigt,  dass  sich 
dort  Fischerei  und  Küsten schifl"fahrt  hätten  entwickeln  sollen.  Leider 
ist  das  Festland  völlig  entblösst  von  Inseln  die  zu  Fahrten  auf  die 
hohe  See  hätten  verlocken  können,  denn  die  GalÄpagos  liegen  vom 
nächsten  Küstenpunkte  weiter  entfernt  als  vom  Cap  St.  Vincent 
die  Insel  Madeira,  von  der  es  nicht  streng  erwiesen  ist,  dass  sie 
im  Alterthum  besucht  wurde  und  mit  der  wir  daher  genauer  erst 
seit  dem  14.  Jahrhundert  bekannt  geworden  sind.  Ausserdem  fehlt 
es  den  Ufern  des  ehemaligen  incaperuanischen  Reiches  an  Baum- 
stämmen  die  sich  hätten  zu  Fahrzeugen  aushöhlen  lassen. 

Dennoch  herrschte  gerade  längs  jener  Küste  ein  Seehandel 
wie  er  sich  in  der  neuen  Welt  vor  der  Entdeckung  nur  noch  an 
wenigen  Stellen  wiederfindet.  Als  Francisco  Pizarro  1526  von 
Panama  her  unter  der  Fährung  des  Piloten  Bartolomeo  Ruiz  an 
der  Küste  des  heutigen  Ecuador  die  Bucht  San  Mateo  nördlich 
und  östlich  vom  Cap  San  Francisco  erreicht  hatte,  fielen  ihm  in- 
caperuanische  Kauffahrer  in  die  Hände,  die  aus  Tumbez  Llama- 
wollentücher  und  Juwelierarbeiten  brachten.  Es  war  kein  Schiff, 
sondern  nur  ein  Floss  auf  dem  sie  eine  Küstenfahrt  von  go  deut- 
schen Weilen  zurückgelegt  hatten.  Nicht  Mangel  an  Fertigkeiten 
oder  Erfindungsgabe,  sondern  Mangel  an  Scbiflfsbauholz ')  allein 
zwang  die  Küstenbewohncr  zur  Erbauung  so  roher  Verkehrswerk- 
zeuge;  mit  denen  sie  übrigens  noch  heutigen  Tages  Fahrten  von 
Guayaquil  bis  nach  Lima  (Callao),  180  deutsche  Meilen  weit,  unter- 
nehmen. Gegenwärtig  dienen  an  der  Wüste  Atacama,  wo  die 
Baumstämme  noch  seltener  sind,  nicht  einmal  Flösse,  sondern 
Stangen  mit  aufgeblasenen  Schläuchen  den  Eingeborne»  zum  Be- 
trieb ihrer  Fischerei').    Das  Floss  aus  Tumbez,  welches  die  Spanier 


)  d'Orbigoy,  l'Homme  amiricain.  Paris  1839.  p.  135. 
i)  J.    J.    V.    Tschudi,    Reisen    durch    Süd- Amerika.    '. 
on,  Voj-ape  autowr  du  monde.  Paris  1839. 'lom.  I.  p.  $t 


Fahrzeuge  und  Seetüchtigkeit.  207 

aufgriffen,  wurde  aber  bewegt  durch  ein  Segel  und  gelenkt  durch 
ein  Steuerruder.  Zur  Zeit  der  Entdeckungen  wurde  die  Segelkraft 
von  den  Eingebe rnen  Amerikas  nur  spärlich  angewendet,  und  dess- 
halb  gehören  auch  jene  Fortschritte  der  Peruaner  zu  den  höchsten 
nautischen  Leistungen  in  der  neuen  Welt'). 
\  Auf  unserer  Erdveste  begegnen  wir  aber  nicht  bloss  an  Küsten 

vom  Charakter  Syriens  oder  Südarabiens  schifffahrtskundigen  Be- 
völkerungen, sondern  die  verwegensten  Seefahrei;  hat  jedenfalls 
Norwegen  erzogen,  denn  sie  gingen  im  9.,  10.  und  11.  Jahrhundert 
ohne  Bekanntschaft  mit  der  Nordweisung  der  Magnetnadel  nach 
Island,  Grönland,  Labrador  und  bis  zu  den  heutigen  Neu-England- 
staaten  Nord-Amerikas.  Norwegen  gehört  in  das  Klima,  wo  die 
rauhe  Witterung  die  Küsten  in  Inseln  und  Fjorde  zu  zertrümmern 
vermag^).  Keine  Schule  erzieht  bessere  Seeleute  als  eine  ver- 
witterte Steilküste  und  ein  so  rauhes  aber  auch  ergiebiges  Meer 
wie  die  Nordsee.  Fand  doch  schon  zu  Plinius'  Zeiten  eine  Schiff- 
fahrt zwischen  Norwegen  und  der  Shetlandsgruppe  statt  3),  wozu 
eine  längere  Ueberfahrt  nöthig  war  als  von  irgend  einer  Mittel- 
meerinsel bis  zur  nächsten  Uferstelle.  Küsten  mit  Fjorden  und 
einem  Inselsaume  dürfen  wir  daher  als  treffliche  Erziehungsmittel 
zur  nautischen  Geschicklichkeit  ansehen,  und  wenn  wir  wiederum 
suchend  unsern  Blick  nach  der  Neuen  Welt  kehren,  so  finden  wir 
ähnliche  Uferbildungen  zwar  nur  am  stillen  Ocean,  dort  aber  so- 
wohl an  dem  inselreichen  Gestade  des  britischen  und  des  früher 
russischen  Nord-Amerikas  von  der  Vancouverinsel  bis  zum  Berings- 
meer,  als  auch  im  Süden  von  der  chilenischen  Gränze  bis  zum 
Feuerlande. 

Auf  dem  letztgenannten  Schauplatz  bewährt  sich  eine  War- 
nung, die  wir  anderwärts  schon  ausgesprochen  haben,  dass  näm- 
lich den  physischen  Begünstigungen  des  Wohnortes  nicht  unbedingt 
die  Leistungen  der  Bevölkerungen  entsprechen  werden,*  sondern 
dass  die  Bewohner  selbst  Anlagen  besitzen    müssen,    um  aus  den 


i)  Der  sonst  sehr  genaue  Prescott  (Conquest  of  Peru,  I,  65)  bezeichnet 
die  peruanischen  Segelflosse  als  the  only  instance  of  this  higher  kind  of  navi- 
gation  among  the  American  Indians,  Wir  werden  sehen  mit  welchem 
Rechte. 

2)  Peschel,  Neue  Probleme.  S.  9. 

3)  Hist.  nat.  lib.  IV.  cap.  30. 


2oS  Fahrzeuge  und  Seelüchtigkeit. 

dargebotenen  \' ort  heilen  den  höchsten  Nutzen  zu  ziehen.  Das 
Südhorn  Amerikas  nach  allen  Richtungen  zerklüftet  und  gespalten 
in  Inseln  und  schluchtenähnliche  Sunde,  wo  die  Gletscher  herab- 
reichen bis  zum  Meeresspiegel  und  gleichwohl  Papagaien  fliegen, 
ja  Colibri  sogar  die  Schneegestober  nicht  fürchten,  die  Heimath 
immergrüner  Fuchsien  und  undurchdringlicher  Wälder  konnte' denk- 
barer Weise  überhaupt  nur  \'on  seekundigen  Stämmen  bewohnt 
werden.  Was  die  Abstammung  der  heutigen  Bewohner  des  Feuer- 
landcs  betrifft,  so  wiederholen  unsere  Ethnographen  nur  d'Orbigny's 
Worte'),  dass  nämlich  ihre  Sprache  dem  Kiange  nach  der  pata- 
gonischen  und  puelchischen,  dem  Bau  nach  der  araucanischen  sich 
nähere.  Für  unsere  Untersuchungen  ist  es  ganz  gleichgültig,  ob 
man  die  Bewohner  des  Feuerlandes  und  der  magelhaesschen  Insel- 
welt von  dem  patagonischeii  oder  araucanischen  Volkerzweige  ab- 
leitet, zumal  beide  sich  wiederum  sehr  nahe  stehen,  und  es  unter 
den  Feuerländern  sogar  nachweisbar  echte  Patagonier  gibt.  Die 
Patagonier  sind  Jäger,  und  so  wenig  mit  dem  Wasserleben  ver- 
traut, dass  sie  nicht  das  armseligste  Floss  besitzen,  um  auch  nur 
einen  Fluss  zu  überschreiten.  Die  Araucaner  sind  ebenfalls  Jäger, 
nur  dass  sie  nicht  Grasfluren,  sondern  Gebirge  bewohnen.  Auch 
auf  den  grossen  Strömen  der  Pampas  oder  Steppen  suchen  wir 
vergebens  nach  Rindenkähnen,  In  alter  Zeit  wurde  eine  Ochsen- 
haut an  ihren  Rändern  aufgeklappt  und  in  den  Ecken  mit  Riemen 
zusammengebunden,  so  dass  sie  einem  flachen,  offnen  Kasten  glich. 
Einer  Pelota,  wie  die  eben  geschilderten  Lederflosse  hiessen,  wurden 
so  oft  ein  Strom  überschritten  werden  sollte,  die  Habseligkeiten 
anvertraut.  Der  Sohn  der  Steppe  spannte  sich  mit  einem  Riemen 
vor  die  Ochsenhaut  und  zog  sie  schwimmend  von  Ufer  zu  Ufer"). 
Vom  La  Plata  angefangen  bis  zum  Cap  Hörn  und  vom  Cap  Hörn 
längs  der  Westküste  Südamerikas  bis  fast  zur  Landenge  von  Pa- 
nama gab  es  zur  Zeit  der  Entdeckung  keinen  Volksstamm  der 
auf  den  Einfall  gerathen  wäre,  andere  Fahrzeuge  zu  verfertigen  als 
Flösse,  folglich  musste  die  Erbauung  von  Kähnen  in  den  magal- 
haesschen  Gewässern  von  neuem  erfunden  werden  und  die  Erfinder 
waren  die  Pescheräh  des  Bougainvüle  oder  die  Feuerländer  in  der 
jetzigen     Sprache     der     \"ölkerkunde.       Immerhin     hat    also     die 

II  L'hommi:  .imiriciiii.  p.  iSS, 

2)  Dobrizhuffi-T,   Gesdiithte  der  Abiponer.  Bd.  2.  S.  150. 


Fahrzeuge  und  Seetüchtigkeit.  209 

« 

Küstengestaltung  hier  gewisse  Lebensgewohnheiten  und  Fertigkeiten 
hervorgerufen.  Bei  den  Chonos-Inseln  sind  nur  rohe  Flösse^  in 
Gebrauch,  und  die  Feuerländer,  mit  denen  Capitän  Wilkes  ver- 
kehrte, besassen  ebenfalls  nur  Kähne  aus  Baumrinden,  die  über 
ein  Gestell  gespannt  und  zusammengenäht  waren,  des  Ausschopfens 
aber  fortwährend  bedurften.  Anderwärts  sind  jedoch  bessere  Fahr- 
zeuge gesehen  worden,  C6rdova  rühmt  sogar  ihre  Kalfaterung  und 
beschreibt  bei  Cap  Providence  Kähne,  die  aus  Baumstämmen  ge- 
schnitten worden  waren.  Wenn  wir  bei  den  Feuerländern  nur 
solche  schwache  Versuche  antreffen,  so  müssen  wir  bedenken,  dass 
^  sie  erst  Anfänger  im  Seemannshandwerk  waren,  denn  dass  Sie  früher 
auf  dem  Festland  wie  Araucaner  oder  Patagonier  von  der  Jagd 
gelebt  haben,  dürfen  wir  mit  grosser  Sicherheit  daraus  schliessen, 
dass  sich  in  ihren  Händen  eine  Waffe  befindet,  die  sonst  nirgends 
bei  maritimen  Stämmen  angetroffen  wird  und  ihnen  auch  wenig 
Dienste  leisten  kann,  nämlich  die  Schleuder.  Doch  treiben  die 
Feuerländer  auch  noch  jetzt  ein  wenig  Jagd,  da  sich  Guanaco- 
heerden  auch  auf  den  magalhaesschen  Inseln  (auf  Navarin  unter 
andern)  aufhalten.  Wir  werden  also  nicht  fehl  schliessen,  wenn 
wir  in  den  Feuerländern  eine  ehemalige  schwache  Horde  von 
Jägern  erkennen,  die  durch  stärkere  Nachbarn  von  ihren  Revieren 
verdrängt,  schliesslich  zu  dem  Wagniss  einer  Ueberfahrt  nach  der 
nächsten  Küsteninsel  und  zur  Jagd  auf  Seethiere  genöthigt  wurde. 
Ehemals  waren  im  Feuerlande  die  Seehunde  an  Arten  wie  an 
Häuptern  ausserordentlich  zahlreich,  seit  den  Verheerungen  uner- 
bittlicher Robbenschläger  müssen  aber  die  Feuerländer  sich  mit 
Schalthieren  und  Fischen  begnügen,  gehen  auch,  wie  so  viele 
andere  Stämme,  einem  raschen  Ende  entgegen. 

Zeigt  uns  die  Welt  der  patagonischen  Fjorde  und  Scheeren 
nur  schwache  Anfänge  des  Seegewerbes,  so  können  wir  dafür  im 
Norden  von  der  Vancouverinsel  bis  zu  den  Aleuten  eine  Reihe 
kleiner  sprachlich  gesonderter  Stämme  von  Rothhäuten  mustern, 
die  wir  als  die  Normannen  der  Neuen  Welt  bezeichnen  dürfen, 
insofern  sie  eine  Küste  von  gleichartiger  Bildung  wie  Norwegen 
bewohnen  und  in  ihrer  Welt  als  kühne  Seeleute  nicht  leicht  zu 
übertreffen  waren.  Die  schlanke  Bauart  und  der  scharfe  echt 
nautische  Schnitt    der  Fahrzeuge  im  Nutka-Sund    der    Vancouver- 


^)  United  States  Exploring  Expedition,  tom.  I.  p.  124. 
Peschel,  Völkerkunde.     '  H 


2IO  Fahrzenge  unil  Seetüchtigkeit. 

iflsel,  ist  erst  kürzlich  wieder  vom  Maler  CaÜin  bewandert  worden, 
uad  iwar  findet  man  dort  Fahrzeage  von  53  Fiias  Länge  und  ge- 
räumig für  100  Menschen ').  Nicht  übersehen  darf  es  werden,  dass 
südlich  von  der  De  Fuca-Strasse,  wo  die  Küste  ihren  Fjordcha- 
rakter verliert,  bis  zu  den  Gränzen  des  alten  Peru  bei  allen  Ein- 
gebornen  nur  die  rohesten  Muster  von  Fahrzeugen  sich  gefunden 
haben,  während  umgekehrt^  von  Nutka-Sund  nordwärts,  und  je 
mehr,  man  sich  dem  asiatischen  Festlande  nähert,  die  Bauart  der 
Kähne  immer  kunstvoller,  ihre  Führung  immer  bewundernswerther 
wird.  Bei  den  Inseln  des  ehemals  russischen  Amerika,  die  von 
Thlinkiten  bewohnt  werden,  begegnen  wir  bereits  dem  echten  Es- 
kimoschnitt der  Jagdboote,  dort  Baidaren  genannt,  nur  für  einen 
Einzelnen  eingerichtet  mit  geschlossenen  Verdecken,  so  dass  nur 
ein  Sitzranm  übrig  bleibt ,  den  obendrein  der  Bootsmann  mit  sei- 
nem Schurz  dicht  liedeckt,  Einrichtungen  die,  so  weit  es  anging, 
in  Europa  nachgeahmt  worden  pind.  Alle  Küstenstämme  von  der 
De  Fuca-Ptrasse  bis  zu  den  Aleüten  unterscheiden  sich  sehr  scharf 
von  den  sogenannten  rothen  Jägerslämmen  östlich  der  Felsen- 
gebirge, und  man  hat  sogar  die  Wahl,  sie  entweder  in  Jüngern 
Zeiten  aus  Nordasien  sich  eingewandert  zu  denken  oder  anzu- 
nehmen, dass  sie  ihre  nautischen  Geschicklichkeiten  ihren  asia- 
ti.schen  Nachbarn  abgelauscht  und  sie  bis  nach  der  Vancouverinsel 
verbreitet  haben.  Eddes  erscheint  zulässig,  aber  in  dem  einen 
wie  in  dem  andern  Falle  erstreckte  sich  die  günstige  Wirkung  nicht 
über  die  Gränze  der  Fjorde  hinaus. 

Für  die  gegenwärtige  Untersuchung  ist  es  nicht  wesentlich, 
ob  asiatische  Völker  oder  nur  asiatische  Cultur  an  der  Nordwest- 
küste  Amerikas  bis  zur  De  Fuca-Strasse  sich  verbreiteten,  denn 
beides  ward  erleichtert  durch  eine  bedeutungsvolle  Gliederung  des 
amerikanischen  Nordens.  Bei  Australien  war  es  die  Carpentaria- 
(Cap  Vork-J  Halbinsel,  welche,  nach  Neu-Guinea  sich  erstreckend, 
noch  die  Möglichkeit  eines  Verkehrs  mit  der  alten  Welt  aufrecht 
erhielt,  und  es  gelingt  uns  vielldcht  noch  die  Freunde  der  Völker- 
kunde zu  überzeugen,  dass  jene  Continental  zu  nge  das  geographische 
Organ  gewesen  sei,  welches  eine  Hebung  der  gesellschaftlichen 
Zustände  unter  den  Eingebornen  Australiens  hervorbrachte.  Der 
Nordwesten  Amerikas  besitzt  eine  ähnliche  Gliederung  in  der  Halb- 

1)  Waili,  Anlhiapologie.  Bd.  3.  S.  JJI.  • 


*  Fahrzeuge  und  Seetüchtigkeit.  211 

insel  Aljaska,  die  wie  ein  Arm  nach  Nordasien  sich  hinüber- 
streckt, ja  an  dem  ausgebreiteten  Arm  schwebt  noch  wie  eine 
Schnur  Perlen  die  Inselkette  der  Aleuten,  welche  einen,  wenn  auch 
lückenhaften  Uebergang  nach  Kamtschatka  vermittelt  Diess  war, 
wenn  man  von  Prädestination  reden  dürfte,  der  vorausbeschiedene 
Pfad  einer  Culturvereinigung  zwischen  der  alten  Welt  und  der 
neuen  Welt,  und  wenn  nicht  schon  im  Jahre  1492  Amerika  unter 
spanischer  Flagge  entdeckt  worden  wäre,  sondern  wenn  Europa 
die  Reife  des  Jahres  1492  erst  ein  halbes  Jahrtausend  später  er- 
reicht hätte,  so  wären  uns  asiatische  Culturvölker,  nämlich  die 
Japanesen,  mit  der  Entdeckung  Amerikas  auf  dem  östlichen  See- 
wege zuvorgekommen.  Wir  denken  dabei  an  nichts  weniger,  als 
dass  japanische  Seefahrer  über  den  Stillen  Ocean  verweht  worden 
sind  wie  1832  und  1833  nach  den  Sandwichinseln  und  nach  Ame- 
rika selbst  in  die  Nähe  der  De  Fuca-Strasse,  denn  die  Geschichte 
kennt  keinen  Fall,  dass  durch  Entdeckungen  verschlagener  oder 
schiffbrüchiger  Seeleute  irgend  eine  folgenschwere  Verbindung  mit 
fremden  Erdräumen  eingeleitet  worden  wäre*).  Wir  beziehen  uns 
vielmehr  darauf,  dass  schon  vor  den  Russen  die  Japanesen  die 
Kurilen  besuchten,  ja  die  südlichen  Inseln  bereits  besetzt  hatten, 
und  drei  Mal  1697,  17 10  und  1729  Kunde  nach  Russland  gelangte, 
dass  japanesische  HandelsschijBfe  bis  nach  Kamtschatka  vorgedrungen 
waren,  so  dass,*  wenn  ihnen  die  Russen  nicht  zuvorgekommen 
wären,  sie  gerade  so  wie  diese  im  Laufe  der  Jahrhunderte  durch 
den  Pelzhandel  von  den  Kurilen  nach  den  Aleuten  und  von  dort 
nach  Amerika  geführt  worden  wären. 

Nichts    begünstigt    die  Ausbildung    der   Seetüchtigkeit    besser 
als  Inseln,  die  einer  Küste  nahe  liegen.     So    hat   die  Nähe  Elbas 


i)  Allerdings  könnte  man  vielkicht  an  die  Fahrt  von  Bjame  Herjulfsson 
denken,  der  im  Jahre  looo  Grönland  aufsuchen  wollte  und  durch  einen  ver- 
fehlten SchifFslauf  Amerika,  wahrscheinlich  Labrador,  entdeckte.  Allein  dieses 
zufallige  Bekanntwerden  der  Normannen  mit  Amerika  ist  ohne  einen  cultür- 
geschichtlichen  Erfolg  geblieben.  Dann  möchte  vielleicht  auch  des  Portu- 
giesen Cabral  gedacht  werden,  der  auf  der  zweiten  Fahrt  nach  dem  asia- 
tischen Indien  begriffen,  Brasilien  entdeckte.  Es  war  jedoch  kein  Zufall, 
sondern  wegen  der  im  atlantischen  Meer  herrschenden  Passate  eine  physische 
Nothwendigkeit,  dass  die  Nachfolger  Vasco  da  Gamas  auf  ihren  Fahrten  nach 
dem  Cap  der  guten  Hoffnung  früher  oder  später  in  Sicht  von  Südamerika  ge- 
rathen  mussten. 

14* 


r 


JII2  ^Fahrzeuge  und  Seetüchtigkeit. 

und  von  Elba  aus  die  Nähe  Corsicas  die  Etrusker  viel  zeitiger  als 
die  Römer  hinausgezogen  in  das  Mittelmeer.  Oesterreich  bemannt 
seine  Kriegsflotte  noch  jetzt  mit  den  trefl'lichen  Matrosen,  die  ihm 
die  inselreichen  Küsten  Dalmatiens  hefern,  und  Genuas  ehemalige 
Grösse  beruht  nicht  bloss  auf  der  Geräumigkeit  seines  natürlichen 
Hafens,  sondern  auch  auf  dem  Umstand,  dass  bei  klarem  Wetter 
von  der  Riviera  aus  Corsica  sichtbar  ist,  das  erste  Ziel  einer  län- 
geren Seefahrt  für  ügurische  Fi  scher  barken.  Die  britischen  Inseln 
haben  in  früheren  Jahrhunderten  nach  und  nach  Bevölkerungen 
an  sich  gezogen,  die  sich  an  Seetüchtigkeit  überboten.  Vor  den 
Normannen,  Dänen  und  Sachsen  haben  sich  schon  die  Kelten  in 
atlantische  Fernen  gewagt,  denn  wir  wissen,  dass  die  ersten  Nor- 
mannen, die  auf  Island  landeten,  dort  irische  AJterlhümcr  ans  der 
christlichen  Zeit  vorfanden,  die  eine  vorausgehende  Besiedlung 
durch  fromme  keltische  Einsiedler  bezeugten. 

Werden  daher  irgendwo  durch  die  Senkung  von  Landennassen 
grosse  Stücke  von  Festlanden  abgetrennt,  so  entstehen  aus  den 
Bruchstücken  Inselgesellschaften  auf  seichten  Meeren ').  In  der 
alten  Welt  begegnet  uns  diese  Erscheinung  zwischen  Südasien  und 
Australien,  die  ehemals  fest  verbunden  waren,  bis  sich  ihr  Zu- 
sammenhang in  die  Sunda-,  Banda-  und  Molukkeninseln  auflöste. 
Von  dort  aus  hat  eine  Menschenrace  von  ungewöhnlicher  See- 
tüchtigkeit, die  Malayen  die  Oceane  durchschwärmt  auf  mehr  als 
eine  halbe  Aequatorlänge ,  sie  hat  sich  im  stillen  Meer  gegen 
Norden  bis  zu  der  Havai-  oder  Sandwichgruppe,  gegen  Osten  bis 
zu  der  Osterinsel,  gegen  Süden  bis  Ncu-Seeland ,  im  indischen 
Ocean  aber  bis  nach  Madagascar  ausgebreitet,  -Da  wo  sich  durch 
Annäherung  Asiens  und  Europas  das  Mitte! meerbecken  zu  den 
Dardanellen  verengt,  ist  als  Rest  eines  ehemaligen  Zusammen- 
hangs beider  Welttheüe  die  griechische  Inselwelt  übrig  geblieben, 
die  nach  den  Phüniciern  das  seekundigste  Volk  des  Alterthums 
ausbildete,  das  mit  der  Zeit  seine  Tochterstädte  und  Handelsplätze 
über  beide  Lecken  des  Mittelmeeres ,  im  Pontus  bis  zur  Mündung 
des  Don,  auf  dem  Wege  durch  das  rothe  Meer  bis  nach  Ostindien 
.  ausdehnte.  Im  Kleinen  finden  wir  eine  solche  Inselauflösung  noch 
z\vischen  dem  norddeutschen  und  dem  skandinavischen  Festlande, 
wo  die  Dänen  erwuchsen,   denen  ein  Mischungstheil  am  britischen 

1}  I'esLiiel,  Neue  Probleme  der  vergleichenden  Erdkunde.  S.  ii(. 


Fahrzeuge  und  Seetüchtigkeit.  213 

Blute  zukommt,  und  die  daher  auch  Antheil  haben  an  dem  nau- 
tischen Ruhm  der  grÖssten  europäischen  Seemacht.  Endlich  be- 
wohnen die  Holländer  ebenfalls  ein  Inselgebiet,  welches  durch  eine 
Senkung  entstanden  ist,  und  nicht  vorhanden  war,  als  die  britischen 
Inseln  noch  dem  nordeuropäischen  Festlande  angehörten. 

Wir  dürfen  also  auf  denjenigen  Räumen  der  neuen  Welt,  die 
einem  gleichen  Ursprung  ihre  Gestaltung  verdanken,  auch  eine 
gleiche  Entwicklung  ihrer  Bewohner  erwarten.  Aus  anderwärts 
mitgetheilten  physischen  Vergleichen  ergab  sich  aber,  dass  auch 
die  Inselwelt  der  sogenannten  nordwestlichen  Durchfahrt  als  Trümmer 
eines  ehemaligen  Zusammenhanges  zwischen  dem  kleinen  Welttheil 
Grönland  und  dem  Festlande  Nord-Amerikas  angesehen  werden 
muss,  und  ferner,  dass  da,  wo  sich  Nord-  und  Südamerika  nähern, 
am  atlantischen  Rande  der  seichten  caribischen  und  mexicanischen 
Golfe,  als  Reste  eines  ehemaligen  Zusammenhanges  die  Antillen 
stehen  geblieben  sind.  Ist  also  die  Entwicklung  der  menschlichen 
Gesittung  abhängig  von  der  Gunst  örtlicher  Gestaltungen,  so 
müssten  wir  im  amerikanischen  Polarmeere  und  in  den  beiden 
central-amerikanischen  Golfen,  die  der  neuen* Welt  einen  Ersatz 
für  unser  einst  so  beglücktes  Mittelmeer  gewährten,  die  höchsten 
Blüthen  der  SchifTfahrtskunde  antreffen.  Und  irt  der  That  werden 
unsere  Erwartungen  nicht  völlig  getäuscht. 

Inselwelten  haben  jedoch  auch  vielfach  als  letzte  Asyle  für 
schwache  oder  veraltete  Schöpfungsgestalten  gedient,  denen  auf 
dem  Festlande  der  Kampf  um  das  Dasein  zu  heiss  geworden  war, 
und  die  nur  dort  noch  länger  bestehen  konnten,  wo  das  Meer  sie 
vor  ihren  rüstigen  Bedrängern  schützte.  Die  kleinen  und  grossen 
Antillen ,  so  wie  die  Bahamä-Gruppe  waren  vor  1492  von  einem 
sanften  aber  höchst  unkriegerischen  Menschenschlag  bewohnt,  den 
Herr  v.  Martins  Taini  genannt  hat.  Die  wenigen  erhaltenen  Reste 
ihrer  Sprache,  meistens  Ortsnamen,  verstatten  keine  feste  Begrün- 
dung ihrer  Abkunft,  doch  nimmt  man  in  neuester  Zeit  an,  dass 
sie  in  Verwandtschaft  standen  mit  den  Arowaken  Südamerikas,  die 
noch  gegenwärtig  die  Guayanas  bewohnen.  Sie  unternahmen 
keine  weiten  Seereisen,  höchstens  dass  die  Bewohner  im  Süden 
Haiti's  sich  gelegentlich  nach  Jamaica  oder  die  von  Jamaica  nach 
Haiti  wagten  ^).     Von  ihren  Inseln  aber  waren  sie  schon  1492  theil- 

i)  Auf  Jamaica  wurden  die  grössten  Fahrzeuge  der  Antillen  bis  zu  96  Fuss 
Länge  und  8  Fuss  Breite  erbaut.     Bernaldez,  Reyes  Catöl.  cap.  124.  p.  310. 


214  Fahrzeuge  und  Seetüchtigkeit. 

weise  durch  einen  ausserordentlich  begabten,  physisch  und  gdstjg 
geadelten  Menschenstamtn ,  durch  die  Cariben ,  verdrängt  worden, 
denen  wie  ihre  vollige  Nacktheit,  den  Hang  zum  Seeraub,  das 
Gelüste  nach  Menschenfleisch  und  das  Salben  ihrer  Pfeile  mit  Gift 
nicht  allzulioch  anrechnen  dürfen,  Die  Inselcariben,  deren  Sprache 
'  sich  nur  als  Hundart  von  dem  Caribischen  des  Festlandes  unter- 
schied, hatten  bereits  die  sogenannten  kleinen  Antillen  erobert, 
die  östliche  Hälfte  von  Puertorico' besetzt,  und  erstreckten  ihren 
Menschenraub  sogar  bis  nach  Haiti,  wo  einzelne  ihrer  Abenteurer 
Reiche  gegründet  und  ältere  Ankömmlinge  sich  der  Landschaften 
am  Ostrande  bemächtigt  hatten.  Ihre  Kriegsschiffe  oder  Piroguen, 
40  Fuss  lang,  und  so  breit,  dass  ein  spanisches  Fass  (pipa)  über 
quer  darin  Platz  hatte,  trugen  50  Seeleute,  und  wurden  entweder 
mit  Baumwollen  segeln  oder  durch  Ruder  nach  dem  Tacte  eines 
Vorsingers  bewegt.  Dass  sie  Seeräuber  waren,  darf  niemanden 
anstössig  erscheinen,  er  müsste  sonst  bei  Thucydides  nachlesen, 
wie  die  Hellenen  durch  das  gleiche  Gewerbe  zur  Seemacht  ge- 
worden sind.  Das  Piratenhanihverk  gehört  in  der^That  zu  den 
Entwicklungskrankhtiten  des  \'öiker Verkehres.  Daher  sind  auch 
bis  auf  unser  Jahrhundert  die  Seegebräuche  noch  äusserst  roh 
geblieben.  Viele  der  gefeierten  britischen  Weltumsegler  und  Ent- 
decker des  16.  und  17.  Jahrhunderts  waren  zugleich  Seeräuber, 
ja  die  westindische  Handelsgesellschaft  der  Holländer  konnte  nur 
deswegen  ihren  Theiinebmern  fabelhafte  Gewinne  bezaTilen,  wdl 
ihre  .Schiffe  die  spanischen  Siiberflotten  abfingen.  Der  damalige 
Kriegsgebranch  adelte  freilich  den  .Seeraub. 

Wie  sich  an  der  Berührungsstelle  der  Antillen  und  des  süd- 
amerikanischen Festlandes  die  fariben  für  ihre  Piratenzüge  aus- 
bildeten, so  begegnen  wir  da,  wo  Cuba  sich  dem  mittel  amerika- 
nischen Gestade  nähert,  den  Vucateken,  einem  sehr  hohen  Cultur- 
volk.  \"on  Seeraub  ist  hier  schon  nicht  mehr  die  Rede,  wohl 
aber  stiess  ColAn,  der  Entdecker  Amerikas,  auf  seiner  vierten  Reise, 
als  er  von  der  Fichteninsel  Guanaja  (Bay  Islands)  nach  der  Küste 
von  Honduras  steuerte,  auf  ein  yucatekisches  Marktschiff,  welches, 
wenn  es  der  Küste  entlang  fuhr,  mindestens  90  deutsche  Meilen 
zurücklegen  musste,  ehe  es  den  nächsten^  nationalen  Hafen  er- 
reichte. Es  war  8  Fuss  breit  und  so  gross  „wie  eine  Galeere", 
auch  mit  einem  Palm  blätterdach  versehen  zum  Schutz  der  Waaren, 
tlie    in    Zeugen    und    K!eid\ingsstücken,    hölzernen    Schwertern    mit 


Fahrzeuge  und  Seetüchtigkeit        .  215 

Obsidianklingen,  Geräthen  aus  Erz  und  Thongeschirren,  also  Ge- 
werbserzeugnissen  bestanden,  für  welche  die  Kauffahrer  als  Rück- 
Tracht Cacao  eingetauscht  hatten.  Eifrig  sah  man  sie  nach  jeder 
herabgefallenen  Bohne  sich  bücken,  denn  schon  damals  vertraten 
diese  Samen  oder  „Mandeln",  wie  sie  die  Entdecker  nannten,  die 
Stelle  der  Scheidemünze  in  Mexico  wie  Yucatan,  nach  welchem 
letztern  Lande  sie  lebhaft  aus  Honduras  eingeführt  wurden^). 
Auch  Cuba  müssen  die  Yucateken  zuweilen  besucht  haben,  denn 
am  I.  und  29.  November  1492  bemerkt  Col6n  in  seinem  Schiffs- 
buche: dass  er  ein  Stück  Silber  und  einen  Kuchen  Bienenwachs 
bei  den  dortigen  Eingebomen  fand,  beides  Gegenstände,  die  zu- 
nächst nur  aus  Yucatan  dorthin  gelangt  sein  konnten.  Ob  die 
Segelkraft  bereits  von  den  Mayastämmen  angewendet  wurde,  lässt 
sich  leider  nicht  mit  Sicherheit  behaupten^). 

Die  Inselwelt  zwischen  Nordamerika  und  Grönland  würde  zur 
Ausbildung  von  maritimer  Tüchtigkeit  sich  unvergleichlich  eignen, 
wenn  ihre  Gewässer,  nicht  vom  arktischen  Winter  gefesselt,  nur 
wenige  Wochen  lang  offene  Wasserstreifen  zeigten.  Dennoch  hat 
sich  gerade  dort  eine  der  seekundigsten  Völkerschaften,  nämlich 
die  Eskimo,  verbreitet,  über  deren  Leistungen  das  genauere  noch 
an  einer  späteren  Stelle  mitgetheilt  werden  soll. 

Wir  haben  unsere  Aufgabe  gelöst,  wenn  es  uns  gelungen  sein 
sollte  zu  überzeugen,  dass  dieselben  Küstengestalten  in  der  alten 
•wie  in  der  neuen  Welt  auf  ähnliche  Weise  tiie  nautischen  Lei- 
stungen  ihrer  Bewohner  gefordert  haben,  und  dass  wir  in  Amerika 
nur  auf  sehr  begränzten  und  besonders  begünstigten  Strecken  die 
ersten  Keime  der  Schifffahrt  antreffen.    Wer  die  Fahrten  im  Stillen 


i)  Oviedo,  Historia  de  las  Indias.     Madrid  1853.  tom.  III.  p.  253. 

2)  Bei  der  Beschreibung  der  yucatekischen  Galeere  an  der  Küste  von 
Honduras  erwähnt  Don  Fernando  Colon  in  der  Lebensbeschreibung  seines 
Vaters  (Vida  del  Almirante,  cap.  89)  nicht  das  Vorhandensein  eines  Segels. 
Dagegen  erzählt  Bernal  Diaz,  also  ein  Augenzeuge,  dass  im  Jahre  1517,  als 
Francicco  Feniandez  de  Cördova  Yucatan  bei  der  Punta  de  Catoche  zuerst 
entdeckte,  fünf  grosse  Kähne,  40 — 50  Personen  fassend,  sich  mit  Rudern 
und  Segeln  (ä  ramo  y  vela)  näherten  (Histor.  verdadera,  c.  2).  Bei  Herrera, 
Dec.  II.  Üb.  II,  17,  lauten  die  Worte  aber  cinco  canoas  con  gentCt  que  ihan 
al  remo  —  also  mit  Ruderkraft.  Auch  bei  Oviedo  und  Peter  Martyr  suchen 
wir  vergebens  nach  einer  Bestätigung  von  Bemal  Diaz'  Angabe. 


2[6  Fahrzeuge  und  Seetüchtigkeit 

Heer  seit  Scheuten  und  Le  Maire's  'Zeiten  bis  auf  Wilkes  oder 
noch  spätere  Entdecker  kennt,  der  ist  gewöhnt  als  unentbehrliche 
Staffage  der  dortigen  Wasserräume  die  europäischen  Schiffe  um- 
schwärmt zu  sehen  von  Fahrzeugen  mit  neugierigen  und  zudring- 
lichen Eingebnmen,  ja  an  gewissen  günstigen  Stellen  der  Südsee 
sieht  man  sogar  dort,  wo  Land  noch  nicht  in  Sicht  ist,  in  der 
Ferne  die  Mattensegel  polynesischer  Seefahrer  vorüberziehen.  In 
den  Berichten  der  Entdecker  Amerikas  sind  dagegen  die  Fälle 
äusserst  selten ,  wo  Europäer  Eingebornen  auf  der  See  selbst  jn 
der  Nähe  der  Küsio  begegnen,  und  die  merkwürdigsten  Fä!le  haben 
wir  selbst  angeführt.  Die  vergleichsweise  geringen  Leistungen  der 
Amerikaner  in  der  Schifffahrt  darf  man  vielleicht  dem  Mangel  eines 
Mittclmeeres  oder  einer  Ländergestalfung  wie  an  unserer  Nordsee 
zuschreiben.  Doch  hat  sich  überhaupt  in  Amerika  das  Menschen- 
geschlecht viel  langsamer  entwickelt  als  in  der  alten  Welt.  Wenn 
wir  die  technischen  Leistungen  der  grossen  amerikanischen  Cultur- 
volker,  der  Mexicaner  und  Incaperuaner ,  zusammenfassen,  als 
wären  sie  neben,  nicht,  getrennt  von  einander  angetroffen  worden, 
so  würde  selbst  ibre  Summe  uns  noch  nicht  das  Bild  einer  Civili- 
sation  gewähren,  wie  sie  in  Aegypten  bestand  zur  Zeit  der  vierten  ■ 
Dynastie,  der  ältesten  von  der  wir  Denkmäler  besitzen.  Mit  andern 
Worten,  die  amerikanisclie  Menschheit  hatte  selbst  an  ihren  höch- 
sten Blüthcn ständen  im  Jahre  14Q2  noch  nicht  jene  Reife  erreicht, 
wie  die  örlhdi  höchste  Menschengesittung  der  alten  Welt  drei 
Jahrtausende  vor  Christus.  Denken  wir  uns  aber,  dass  im  Jahre 
3000  V.  Chr.  aus  Amerika  y.uf  gedeckten  Segelschiffen  Entdecker 
mit  dem  Coropass  in  der  Hand  nach  Europa  gekommen  wären, 
schwerlich  würden  sie  die  Gewässer  am  Nordrande  unseres  Welt- 
theiles  durch  bessere  Seeleute  bevölkert  gesehen  haben  als  etwa 
die  Eskimo  und  die  Koloschen  oder  Thünkiten  in  Nordamerika, 
im  Mittelmeer  aber  hätten  sie  wohl  noch  nicht  phönicische  Thar- 
sisschifi'e  angetroffen,  sondern  vielleicht  solche  Galeeren  mit  Kauf- 
fahrern wie  die  Vucateken  sie  nach  Honduras  schickten,  oder 
caribische  Segelpiroguen  mit  den  kleinasiatischen  Piraten  im  ersten 
buche  des  Thucydides. 


EinEuss  des  Handels  auf  die  räumliche  Verbreitung  der  Völker.      217 


6.     Einfluss  des  Handels  auf  die  räumliche  Verbreitung 

der  Völker. 

Es  ist  nicht  leicht  den  Segen  zu  ffberschätzen ,  der  sich  an 
den  Austausch  der  örtlichen  Erzeugnisse  knüpft  Mit  den  Waaren 
und  ihren  Verkäufern  werden  auch  Kunstmuster,  Erfindungen, 
Erkenntnisse,  Sitten,  Gewohnheiten,  dichterische  Schöpfungen  ver- 
breitet und  den  Fussstapfen  des  Kaufmannes  folgt  gewöhnlich  der 
Missionär.  Doch  soll  von  allen  diesen  Wahrheiten  hier  nicht 
weiter  die  Rede  sein,  sondern  statt  dessen  gezeigt  werden,  in 
wie  fern  hochgeschätzte  Erzeugnisse  der  Erdräume  die  Verbrei- 
tung von  Völkern  und  Sprachen  beherrscht  haben.  Zuvor  wollen 
wir  nur  erinnern,  dass  der  Handel  schon  zu  den  Zeiten  vorhanden 
war,  bis  zu  denen  wir  die  ältesten  Spuren  unsers  Geschlechtes  zu 
verfolgen  vermögen.  Durch  Tausch  allein  können  die  Bewohner 
der  Höhlen  des  P6rigord  zur  Renthierzeit  in  den  Besitz  von  Berg- 
krystallen,  atlantischen  Muscheln  und  von  Hörnern  der  polnischen 
Saigaantilope  gelangt  sein^).  Werfn  in  alten  Gräbern  östlich  vom 
Mississippi  Obsidianscherben  hin  und  wieder  angetroffen  werden, 
so  gelangten  sie  an  den  Fundort  durch  Tausch  entweder  aus 
Mexico  ode^  vom  Snake  River,  einem  Nebengewässer  des  Colum- 
bia, westlich  von  den  Felsengebirgen*).  Es  wäre  ganz  irrig,  woll- 
ten wir  denken,  dass  der  einzige  Verkehr  zwischen  den  sogenannten 
Rothhäuten  der  Union  in  blutigen  Fehden  bestanden  hätte. 
Handelsfahrzeuge  befuhren  die  grossen  Ströme  und  Durchgangs- 
abgaben wurden  von  den  Häuptlingen  erhoben^).  In  Südamerika 
bildete  das  Pfeilgift  oder  Curare  dessen  Zubereitung  nur  wenige 
Horden  verstanden,  einen  kostbaren  Handelsgegenstand  unter  den 
Amazonasindianern  und  die  Anwohner  des  Nap6  mussten  drei- 
monatliche Bootfahrten  unternehmen,  um  es  sich  zu  verschaffen^). 
Selbst  wo  nicht  zünftige  Hausirer  die  Länder  durchzogen,  wurde 
von  Horde  zu  Horde  Ueberfluss  gegen  Ueberfluss  ausgetauscht 
und    es    konnte    dann    die  Kette    dieses  Verkehres   einen  ganzen 


i)  S.  oben  S.  40. 

2)  Carl  Rau  im  Archiv  für  Anthropologie.    Braunschweig  1871.  Heft  i. 
S.  10. 

3)  Lafitau,  Moeurs  dessauvages  am6riquains.  Paris  1724.  tom.  II.  p.  224. 

4)  V.  Martins,  Ethnographie.  Bd.  i.  S.  504.  u.  oben  S.  193.  n.  5. 


2t8      Einfluss  des  Handels  auf  die  raumliche  Verbreilung  der  Völker. 

Welttheil  umspannen.     Englische  Waaren,  die  in  Mombas,  also  an 

[der  Ostseite  Südafrikas  abgesetzt  worden  waren,  sind  in  Mogador, 
also  an  der  Westküste  N'ordafrJkas  wieder  erkannt  worden ').  Dürfen 
wir  daher  den  Satz  vertreten,  dass  zu  allen  Zeiten  und  von  allen 
Bewohnern  der  Erde  HaiHJel  getrieben  worden  ist,  so  erhalten 
neuere  Weltbegebenh eilen  auch  Werth  für  die  dunkeln  Zeiten  der 
Völkerkunde. 
Als  im  jähre  1492  drei  spanische  Segel  atlantischen  Fernen 
westwärts  e ntgegen strebte n ,  fand  am  7.  Oct.  eine  Art  Kriegsrath 
zwischen  den  beiden  Häuptern  des  Unternehmens,  Christoval  Colon 
und  Martin  Alonso  Pinzon,  an  Bord  der  Santa  Maria  statt.  Bis 
daiiin  war  ein  streng  westlicher  Curs  eingehalten  worden,  das 
Geschwader  befand  sich  zwischen  dem  25  und  26°  n.  Breite,  und 
in  vier  oder  fünf  Tagen  musste  es  der  Passatwind  entweder  nach 
der  nördlichsten  Bahama-lnsel  oder  nach  Florida  tragen.  Der 
ältere  Pinzon  bestand  jedoch  darauf  den  Curs  nach  Südwesten  zu 
richten,  wofür  er  keine  andern  Gründe  vorbringen  konnte  als  eine 
Eingebung  seines  Herzens  fd  corazon  me-daj.  Aus  Friedfertigkeit, 
nicht  aus  Ueberzeugung,  liess  nun  wirklich  der  Entdecker  der  neuen 
I  Welt   die  Richtung   mn   ein  Kreisachtel   auf  einige  Tage   ändern, 

und  so  geschah  es,  dass  am  11,  Octobcr,  einem  Freitag,  die  lio- 
ralleninsel    Guanahani    in    Sicht    kam.      Nun    hat    unser    grosser 
Alexander  v.  Humboldt  geäussert,  dass,  wenn    jene  Cursänderung 
W  nicht  stattgehabt    hatte,   die   Schüfe    nach    Florida    gelangt    wären, 

\  und    die    Spanier    nicht    Mittelamerika ,     sondern    die    Vereinigten 

Staaten  bevölkert  haben  würden,  so  dass  ohne  jene  Herzensein- 
gebung des  Pitizon  die  neue  Welt  heute  andere  ethnographische 
Gesichtszüge  uns  darbieten  würde'). 

Und  dennocD  war  es  ganz  glei ch giltig ,  an  welcher  Stelle 
Amerika  zuerst  gesehen  werden  sollte,  denn  die  Ausbreitung  der 
spanischen  Ansiedler  war  schon  vor  der  Entdeckung  ziemlich  streng 
t>cgrenzt  durch  die  Vcrtheilung  der  edlen  Metalle,  Kaum  nämlich 
gewahrte  Colin  den  goldenen  Ohr-  und  Nasenschmuck  der  harm- 
losen Lucayer,  als  er  durch  Gebärden  zu  erforschen  suchte,  wo 
sich  die  Fundstätte  des  edlen  Metalles  befinden  möge.  Von  Insel 
zu  Insel  tastete  er  sich  bis  nach  Cuba,  ging  anfangs    nach  Nord- 

1)  Waili,  Anlhropcilogie.  Bd.   2.  S.  lOI. 

2)  Kusmos.  Slullijail  1847.  Bd.  2.  S.  301, 


Einfluss  des  Handels  auf  die  räumliche  Verbreitung  der  Völker.      2IQ 

Westen  hinauf,  und  kehrte,  als  ihn  diese  Richtung  nicht  befriedigte, 
nach  Südosten  um,  bis  er  endlich  Haiti  erreichte.  Von  dorther 
hatte  sich  das  Gold  über  die  Antillen  verbreitet,  und  dort  be- 
gründete er  die  erste  Niederlassung.  Ueber  den  Golddurst  der 
Spanier  ist  viel  erbauliches  schon  geschrieben  worden,  allein  wenn» 
sie  den  Spuren  des  Goldes  nicht  nachgegangen  wären,  niemals 
hätten  schon  am  Schluss  des  15.  Jahrhunderts  überatluntische  An- 
siedelungen entstehen  können.  Alle  Ackerbaucolonien,  welche 
Franzosen  und  Engländer  an  der  Küste  der  Vereinigten  Staaten 
im  16.  Jahrhundert  zu  gründen  versuchten,  sind  buchstäblich  am 
Hunger  zu  Grunde  gegangen.  Abgeschnitten  von  der  Heimath, 
wo  bereits  eine  Theilung  der  Arbeit  durchgeführt  worden  war, 
mussten  die  Ansiedler,  nachdem  sie  die  mitgebrachte  Aussteuer  aus 
der  alten  Welt  verzehrt  hatten,  nothwendig  zurücksinken  auf  die 
Gesittungsstufe  der  rothen  Eingebornen,  wenn  ihnen  nicht  jmmer 
wieder  frisclie  Vorräthe  von  Gewerbserzeugnissen  aus  der  alten 
Welt  zugeführt  wurden.  Solche  Zufuhren  verlangten  aber  eine 
hohe  Bezahlung,  da  die  Ueberfahrt  nach  der  Neuen  Welt  noch  mit 
schweren  Gefahren  verknüpft  war.  Mit  Brodfrüchten  liessen  sich 
damals  die  Sendungen  nicht  decken,  denn  sie  waren  die  Kosten 
der  über:>eei9chen  Verfrachtung  noch  nicht  werth.  Daher  kam  es 
denn  auch,  dass  die  älteste  reine  Ackerbau -Colonie  der  Neuen 
Welt,  nämlich  Virginien,  am  Beginn  des  17.  Jahrhunderts  erst  auf- 
blühen konnte,  als  eine  frachtwürdige  Rimesse  nach  Europa  in  dem 
Tabak  gefunden  worden  war.  Dem  Tabak  also  und  dem  Pelz- 
handel vielleicht  verdafikt  es  Nordamerika  zunächst,  dass  seine 
heutige  Gesellschaft  angelsächsischen  Ursprungs  ist.  Wenn  Canada 
vormals  rein  .französisch,  jetzt  noch  halbfranzösisch  war  und  ist, 
so  trägt  dafür  ein  anderes  Naturerzeugniss  die  Verantwortung. 
An  und  um  Neufundland  liegen  unglaublich  reiche  Gründe  für  den 
Kabliaufang,  der  Stockfisch  aber  lohnte  schon  am  Beginn  des 
16.  Jahrhunderts  eine  atlantische  Ueberfahrt,  da  er  schon  im 
Mittelalter  von  Island  geholt  werden  musste.  Nord  französische 
Fischer,  die  dem  Cap  Breton  ihren  Namen  gegeben  haben,  be- 
suchten alljährlich  Neufundland  schon  seit  1503.  Von  jenen  gut 
gekannten  Gewässern  aus  entdeckte  Jacques  Cartier  dann  den 
Lorenzostrom,  und  in  seinem  Kielwasser  sind  die  Franzosen  nach 
Canada  gekommen.  Dass  die  erste  Niederlassung  keime,  dazu 
bedarf  es  einer  werthvollen  Rimesse,  hat  sie   aber   einmal  Wurzel 


220      i-influss  des  Handels  auf  die  täwniiche  Verbreitung  der  Völker. 

geschlagen,  dann  wächst  sie  wie  das  Senftorn  in  den  Evangelien. 
Die  Spanier  haben  den  Andedlungen  der  Franzosen  und  Eng- 
liuiütr  in  den  \tTciiiigliii  Staaten  kein  Hinderniss  in  den  Weg 
gelegt,  so  lange  sie  sich  nicht  in  allzu  bedrohliche  Nähe  ihrer  süd- 
lichen Besitzungen  wagten.  Warum  hätten  sie  auch  die  frommen 
Puritaner  stören  sollen?  Trugen  doch  die  heutigen  Gebiete  der 
Vereinigten  Staaten  auf  den  Seekarten  der  alten  spanischen  Ent- 
decker die  Legende:  u-erllilose  Gebiete  (lierras  de  ningun prcvecho), 
eben  weil  sie  kein  Gokl  liervorbrachlen.  Daran  erkennt  wohl  ein 
jeder  mit  uns,  dass  es  gMz  gleichgilttg  für  die  Geschichte  der 
Gesittung  war,  ob  ;im  7.  OLtober  1492  die  spanischen  Schiffe  von 
Westen  nach  Südwtsten  nbl)Ogen  oder  nicht.  Die  Spanier  gingen 
dem  Golde  uach,  und  wenn  sie  einem  Landstrich  seine  Schätze 
fc  entrissen  hatten,  verliessen  sie  ihn  wieder,  wie  die  Landenge  von 

&  Darien,   währerd  Pflanzercolonien    auf  tropischen  Inseln    erst  auf- 

■  wuchsen  als  durch   die  Ki\li  r^klaverei   der  Zuckerbau  Gewinn    ab- 
1^  warf.     Man  wird  nichts    i  uwenden    dürfen,    wenn    wir    behaupten, 

dass  Amerika   spanisch   ;^n  -.irirden    und    spanisch    geblieben    ist,   so 

weil  die  Verbreitung    von  i;old   und  Silber,  reicht,  und  dass    sich 

^k  nur  spätere  Ansiedelungen  auch  auf  solche  Räume  erstreckten,  wo 

■  tropische  Pflanzer wirthschalt  oder  wo  ergiebige  Viehzucht  getrieben 
werden  konnten. 

Seltsames    Vc-rlii'mgni?'^!      Das    reichste    Goldland    der    neuen 
Welt  kannten  die  Spanier  ^chon  250  Jahre  lang  ohne  seine  Schätze 

Izu  ahnen.     Califoniien  gehiirte  ihnen,  dort  predigten  ihre  Heiden- 
bekehrer,    dort  überwaclitLii  in    Castellen  (Presidios)    ihre  Soldaten 
I  die  raubgierigen  ComaiHscian  und  Apatschen,  dass  sie  aber  mitten 

in  dem  viel  und  vergeblicli  gesuchten  Lande  des  Doiado  sich  be- 
fänden, ahnte  keiner  von  ihnen.     Doch  können  sie    sich    mit   den 
.  Russen    trüsten,    die    ja    auch  Californien    eine    Zeitlang    gehalten 

■  haben    und    die   es  wenige   Jahre   zuvor    räumten,    als    der    Name 
I  dieses  Landes    wie  Posaun  tu  schall    alle   Abenteurer    beider  Welten 

■  an  den  Sacramento  zog.  Wäre  das  Gold  Californiens  schon  am 
Schluss  des  \b.  Jahrhundert.;  entdeckt  worden,  dann  allerdings  wäre 
der  Gang  der  Weltgeschichte  vielleicht  einer  andern  Strömung  ge- 

1  folgt.      Californien    und    Australien    sind    zwei    Kamen,    die    dem 

L jetzigen  Geschlecht  laut  unsern  Satz  predigen,  dass  die    räumliche 
Ausbreitung  der  Völker  von    der  Vertheilung    hoher  Lockmittel   an 


Einfluss  des  Handels  auf  die  räuiriHche  Verbreitung  der  Völker.      22 1 

und  in  der  Erde  abhängt.     Gold  und  Gold  waren  die  Fingerzeige 
zu  den  Völkerwanderungen  nach  dem  Stillen  Meere. 

Mit  Australien  ist  es  ähnlich  gegangen  wie  mit  Californien 
Eine  alte  Karte  im  Britischen  Museum,  die  kürzlich  aufgefunden 
worden  ist,  hat  die  überraschende  Enthüllung  gebracht,  dass  die 
Portugiesen  im  Jahr  1601 '  einen  nördlichen  Punkt  jenes  Festlandes 
besucht  hatten  ^).  4  Nach  ihnen  gelangten  Niederländer  häufig  an 
die  West-  und  Nord-,  sowie  zu  zwei'  verschiedenenmalen  an  die 
Südküste,  daher  noch  jetzt  vielfach  nach  ihnen  jener  Erdtheil  Neu- 
HoUand  genannt  wird.  Doch  waren  für  sie  jene  Länderräume  das 
nämliche,  was  den  Spaniern  im  16.  Jahrhundert  die  Vereinigten 
Staaten  gewesen  sind:  werthlose  Gebiete  —  tierras  de  ningun 
provecho.  Mit  dem  gleichen  Auge  betrachteten  die  Engländer  ihre 
Entdeckungen  an  der  Ostküste  Australiens,  als  sie  am  Schluss  des 
vorigen  Jahrhunderts  sie'  zu  einem  Verbannungsort  für  Sträflinge 
erhoben.  So  blieb  Australien  vernachlässigt  von  Portugiesen,  Hol- 
ländern und  Briten,  bis  der  Ruf  Gold  erschallte,  und  flugs  eine 
neue  Zeit  der  Völkereinwanderung  anbrach. 

Vor  etwa  fünf  Jahren  hörten  wir,  dass  die  Russen  unter  dem 
Namen  Aliaska  ihren  Antheil  an  der  Neuen  Welt  der  grossen 
Union  verkauft  hätten.  Wie  kamen  aber  die  Russen  nach  Aliaska? 
Liefen  sie  etwa  aus  der  Ostsee  oder  dem  weissen  Meer  um  das 
Cap  Hörn  oder  um  das  Cap  der  guten  Hoffnung?  Gewiss  nicht! 
Sie  stiegen  vielmehr  im  Jahre  1577  über  den  Ural  nach  dem  Ob 
hinab,  nicht  etwa,  weil  es  damals  schon  zu  eng  geworden  wäre  in 
ihrer  Heimath,  sondern  weil  sie  die  Aussicht  auf  raschen  Gewinn 
in  die  Niederungen  trieb.  Wie  die  Spanier  den  Caziken  der  neuen 
Welt  ihre  goldenen  Ringe  und  Spangen  von  den  Knöcheln  ab- 
streiften, so  fanden  die  Kosaken,  wie  die  Conquistadoren  Sibiriens 
genannt  werden,  bei  den  Häuptlingen  der  nordasiatischen  Jäger- 
stämme Vorräthe  an  edlen  Rauchwaaren.  Die  Beutelust  trieb  sie 
mit  unglaublicher  Geschwindigkeit  gegen  Osten,  und  wir  sehen  sie 
um  1639  schon  das  ochotskische  Gestade  erreichen.  Im  Berings-Meer 
fanden  sie  das  geschätzteste  aller  Pelzwerke,  die  Seeotter,  zu 
Stellers  Zeiten  noch  äusserst  zahlreich,  jetzt  im  Aussterben  be- 
griffen oder  ausgestorben.     Natürlich   mussten    immer   neue  jung- 


1 
i)  R.  H.  Major,   Discovery    of  Australia    by    the   Portuguees  in    1601. 

London  1861. 


222      Einflu^s  dts  Handels  auf  die  rämntiche  Verbreitung  <ler  Völker. 

frauliche  Reviere  aufgesucht  werden,  und  so  gelangten  russische 
Pelzhändler  auch  nach  der  neuen  Welt,  wo  sie  Neu-Archangel  auf 
Sitcha  gründeten.  Bis  zu  dem  kürzlichen  Vordringen  der  Russen 
über  die  Kirgisenstoppe  kann  man  sagen,  dass  ihre  Macbterweite- 
rung  über  Nordasien  genau  durch  die  Verbreitung  der  Pelzthiere 
bestimmt  war, 

Ueberzeugtcn  wir  uns  bisher,  dass  das  Verhängniss  grosser 
Erdräume  und  grosser  Volker  durch  die  Vertheilung  kostbarer 
Güter  aus  dem  Stein-  und  Thierrejch  bestimmt  wurde,  so  haben 
auch  manche  I'flanzenerzeugnisse  einen  ähnlichen  Zauber  ausgeübt, 
zumal  in  früheren  Zeiten,  wo  noch  nicht  die  Geschickhcbkeit  im 
Uebersiedeln  von  Gewächsen  wie  gegenwärtig  erworben  worden 
war.  Die  Begierde  nach  den  Schätzen  des  indischen  Morgenlandes 
war  es,  welche  die  Portugiesen  am  atlantischen  Gestade  Afrikas 
zuerst  nach  Süden  gelührt  hat.  Indien,  worunter  die  Sprache  der 
damaligen  Erdkunde  ganz  Südasien  sammt  China  und  Japan  ver- 
stand, galt  irrlhümlicherweise  für  ein  metallreiches  Land,  während 
es  an  Silber  untf  Gold  doch  noch  viel  ärmer  ist  als  selbst  Afrika. 
Nur  die  Edelsteine  Ceylons,  sowie  des  spätem  Golconda,  die  Perlen- 
bänke im  IManaargolfe,  im  persischen  Meerbusen  und  im  Rothen 
Meere  waren  keine  Erdichttmgen  der  Abendländer.  Zu  ihnen  ge- 
sellten sich  etliche  kostliche  Gewürze  und  geschätzte  Droguen. 
Aeusserst  folgenreich  wirkte  nun  die  Thatsache  der  Pflanzen- 
geschichte, dass  gerade  Gewürze,  Arzneimittel  und  Wohlgerüche 
ein  sehr  beschränktes  Verbreitungsgebiet  besassen.  Der  Pfeffer,  im 
kaufmännischen  Range  damals  das  vornehmste  Gewürz,  war  nur 
von  der  Maiabarküste  in  Indien  oder  von  der  Insel  Sumatra  2U 
holen.  Die  Muskatnüsse  und  ihre  Blüthen  blieben  noch  auf  die 
Inseln  der  Handa-See  beschränkt,  und  die  Gewürznelken  fanden 
sich  sogar  nur  auf  fünf  kleinen  Inselvulcanen  vor  der  Insel  Gilolo, 
den  eigentlichen  Molakken,  Ferner  wurde  und  wird  noch  jetzt 
der  echte  Kampher  auf  zwei  beschränkten  Revieren,  dem  einen 
auf  Sumatra,  dem  andern  aui  Borneo  gewonnen.  Bis  an  das  Ende 
des  damaligen  Erdkreises  mussten  also  die  Portugiesen  segeln, 
b(*V0T  sie  die  Ursprungsorte  jener  vegetabilischen  Seltenheiten  er- 
reichten. Es  mag  beschämend  erscheinen,  dass  es  solcher  Lock- 
mittel bedurfte,  damit  auf  die  Portugiesen  die  Holläsder,  auf  die 
Holländer  Franzosen  und  Briten  nach  Sudasien  gezogen  wurden, 
allein    immerhin    war    es    für    die   Verbreitung    der   Cultur    höchst 


Einflttss  des  Handels  auf  die  räumliche  Verbreitung  der  Völker.     223 

günstig,  dass  jene  Schätze  so  eigensinnig  vertheilt,  so  spärlich  vor- 
handen waren,  denn  ohne  sie  wären  die  Europäer  nicht  oder  noch 
nicht  allgegenwärtig  auf  dem  Erdball  geworden.  Die  Portugiesen 
finden  wir  überall  an  den  UrspTungsstätten  der  Gewürze,  also  auf 
der  Westküste,  nicht  auf  der  Ostküste  Hindostans,  auf  den  grossen 
Marktplätzen  der  Malayen  und  auf  den  Aromateninseln  des  äusser- 
sten  asiatischen  Ostens  verbreitet. 

Den  Beweggrund  zu  ihrer  Besiedelung  Brasiliens  erzählt  der 
Name  dieses  Reiches  selbst.  Der  Papst  hatte  1493  den  Erdball 
getheilt  zwischen  Spanien  und  Portugal  und  unter  die  westliche 
Grenze  des  letztem  oder  unter  „den  ersten  Mittagskreis**,  wie  man 
damals  sagte,  fiel  noch  ein  mächtiges  Stück  südamerikanischen 
Gebietes?  welches  nach  der  Entdeckung  und  lange  Zeit  nachher  das 
LMid  des  heiligen  Kreuzes  hiess.  Brasilien  aber  oder  das  Land  des 
Rothfärberholzes  wurde  es  genannt  nach  der  wichtigsten  und  ersten 
Rimesse,  die  es  heimsenden  konnte,  denn  dass  hinter  dem  Küsten- 
gebirge Gold  und  Diamanten  zu  erbeuten  seien,  ahnte  lange  Zeit 
niemand. 

Afrika  hat  nach  Australien  immer  als  ein  Stiefkind  der  Ge- 
sittungsgeschichte gegolten.  Karl  Ritter  erklärte  die  niedrige  Stufe 
seiner  Bewohner  aus  der  geringen  Entwicklung  der  Küsten  im 
Verhältniss  zu  dem  äusserlichen  Umfang.  Wirklich  ist  es  auf- 
fallend roh  gegliedert,  insofern  ihm  Halbinseln  fehlen,  und  seine 
Golfe  nur  so  schwächlich  angedeutet  sind  wie  die  Syrten  oder  nur 
aus  einspringenden  Winkeln  bestehen  wie  der  Meerbusen  von 
Guinea  oder  die  Gestade  des  rothen  Meeres  mit  der  Somaliküste. 
Aber  selbst  das  rothe  Meer  ist  der  SegelschifFfahrt  so  schwer  zu- 
gänglich, dass  es  unter  den  Verkehrsmitteln  seiner  Art  auf  einer 
sehr  tiefen  Stufe  steht.  Würden  grosse  Ströme  wie  in  Amerika 
der  Mississippi  oder  der  Amazonas  oder  die  La  Platageschwister, 
Afrika  aufgeschlossen  haben,  so  hätte  die  Civilisation  rascher  in 
das  Innere  vordringen  können,  wie  ja  der  Nil  es  beweist,  dessen 
Gestade  verklärt  sind  durch  eine  höchst  reife,  ja,  wie  wir 
noch  immer  vermuthen  dürfen,  eine  älteste  Gesittung.  Zu  allen 
aufgezählten  Hindernissen  gesellte  sich  aber  noch  der  Umstand, 
dass  es  fast  völlig  entblösst  war  an  den  wirksamen  Lockmitteln  für 
fremde  Besiedelung.  Gold  findet  sich  nur  in  den  Quellengebieten 
des  Senegal  und  Niger,  sowie  in  etlichen  Küstenflüssen  des  Meer- 
busens  von  Guinea,  sonst  aber   in  Ostafrika    ehemals   bei   Sofala, 


224      ^nfluss  des  Handels  auf  die  läumliche  Vetbreilung  der  Volker. 

sowie  jetzt  auf  Gebieten  des  Kafirlandes,  allenthalben  jedoch  nur 
in  sehr  spärlichen  Menden,  so  dass  Afrika  ohne  goldenes  VUess 
niemals  Argonauten  an  sich  gezogen  hat,  denn  vergebens  würden 
wir  uns  dort  umsehen  nach  Ländern,  die  sich  an  Metallreichthum 
mit  i'eru,  Mexico,  Californien  oder  nur  mit  den  Minas  Geraes 
messen  konnten.  Daher  sind  auch  bis  heutigen  Tags  alle  euro- 
päischen Niederlassungen  der  Pojtayiesen,  Franzosen,  Briten  und 
der  Niederländer  in  Afrika  dürftig  und  bedeutungslos  geblieben,  im 
Vergleich  zu  dem,  was  im  benachbarten  Südamerika  sich  zuge- 
tragen hat.  Nur  die  Caplande,  zuerst  als  Zwischenplatz  für  die 
Indienfahrer,  dann  als  Ackerbaucolonien,  haben  sich  seit  der  Zeit 
der  überseeischen  Völkerwanderung  günstig  entwickelt.  Ohne  Me- 
talle, ohne  Gewürze,  ohne  Droguen,  ohne  irgendeine  vegetabilische 
Seltenheit  blieb  Afrika  verschont  von  Conquistadoren ,  aber  .  auch 
u'ngeleckt  von  der  Cullur  und  musste  europäischen  Tand  und 
europäische  Eerauschungsmittel  drei  Jahrhunderte  lang,  traurig 
yenug,  mit  seinen  eigenen  Kindern  bezahlen.  Der  Sklavenhandel 
wird  daher  zwar  nicht  yerechtfertjgt,  doch  einigermassen  erklärt 
durch  den  Mangel  einer  grossen  Rimesse.  Allein  der  Sklaven- 
handel führt  wohl  von  dem  Innern  an  die  Küste,  er  führt  aber 
nicht  eine  höhere  Gesittung  von  der  Küste  nach  dem  Innern. 
Endlich  nach  langen  Zeiträumen  ist  in  unsern  Tagen  selbst  für 
Afrika  ein  Lockmittel  gefunden  worden,  welches  in  berechenbarer 
Zeit  jenem  Festlande  seine  lange  bewahrten  Geheimnisse  völlig 
entreissen  wird.  Es  ist  diess  weder  ein  Erzeugniss  des  Stein-  nocli 
des  Pflanzen  reich  et,  sondern  es  sind  die  Stossiäbne  der  Elephanten. 
Elfenbeinjäger  durchs ch wärmen  auf  den  Spuren  Livingstones  Süd- 
afrika nach  allen  Richtungent  und  ilinen  folgen  dann  Missionare, 
Handelsleute  und  die  ersten  Ansiedler.  Ferner  ist  alles  was  west- 
lich und  östlich  liegt  vom  weissen  Nil  entdeckt  worden,  und  wird 
alljährlich  durchstreift  von  italienischen  Elfenbeinjägern,  die  jedes 
Jahr  immer  tiefer  vordringen  müssen,  weil  sie  hinter  sich  ausge- 
leerte Reviere  zurücklassen. 

Wurden  unsere  bisherigen  Beispiele  aus  der  neueren  Ge- 
schichte geschupft,  so  könnten  wir  aus-  der  alten  noch  anführen 
das  frühe  Auftreten  der  Phönicier  oder  ihrer  Abkömmlinge,  der 
Carthaginienser  in  Spanien,  wo  sie  durch  die  Ausbeutung  der 
Silbererze  festgehalten  wurden.  IMehr  noch  als  das  Silber  hat  in 
früheren    Entwicklungsstufen    das   Zinn    die    menschliche  Gesittung 


Einfluss  des  Handels  auf  die  räumliche  Verbreitung  der  Völker.       225 

gefordert,  denn  ohne  Zinn  lässt  sich  die  Bronze  nicht  darstellen. 
Die  Fundorte  des  Zinns  sind  aber  nicht  häufig,  und  im  Alterthum 
blieben  viele  der  jetzigen  völlig  unbekannt.  Geschichtlich  fest- 
gestellt ist  es,  dass  das  Zinn  des  Erzgebirges  erst  im  Mittelalter 
gewonnen  wurde,  und  zweifelhaft  erscheint  es  noch  jetzt,  ob  das 
Zinn  auf  Kreta,  sowie  das  transkaukasische  in  Georgien  zu  den 
alten  Mittelmeervölkern  gelangte.  Spanisches  Zinn  aus  Galicien 
befand  sich  jedoch  zu  Plinius'  x  Zeit  im  römischen  Handel.  In 
Gallien  wuide  an  der  Aurence  Zinn  gewaschen,  ebenso  hat  man 
alte  Zinngruben  im  Limousin,  im  Departement  Loire  Inferieure  und 
im  Morbihan  entdeckt').  So  kundig  waren  die  alten  Kelten  in  Me- 
tallarbeiten, dass  erst  die  Römer  von  ihnen  das  Verzinnen  der 
Geschirre  erlernten.  Keltische  Bergleute  schürften  auf  den  wich- 
tigsten der  alten  Fundstätten,  auf  den  Sorlingischen  Inseln  und  in 
Cornwallis.  Es  ist  eine  gänzlich  unbegründete  Vermuthung,  dass 
phönicische  Seefahrer  den  alten  Einwohnern  Grossbritanniens  ihre 
Erfahrungen  beim  Bergbau  oder  bei  der  Verhüttung  mitgetheilt 
oder  gar  die  Lager  der  Zinnerze  entdeckt  haben  sollten.  Nie  sind 
vor  Abel  Tasmans  Zeiten  Entdeckungsreisen  nach  unbekannten 
Erdräumen  auf  das  Gerade  wohl  ausgeführt  worden.  Immer  hatten 
die  Seefahrer  irgend  ein  Ziel  vor  Augen,  immer  trachteten  sie 
die  Märkte  oder  den  Ursprungsort  hochgeschätzter  Handelsgüter 
zu  erreichen.  Gelangten  also  jemals  carthaginiensische  oder  phö- 
nicische Schiffe  bis  an  die  Westküste  von  Frankreich  oder  bis  in  den 
Canal,  so  konnten  sie  nur  bereits  entdeckte  Ursprungsstätten  des 
Zinnes  aufgesucht  haben,  folglich  musste  dieses  Metall  zuvor  abgebaut 
worden  sein,  und  nicht  bloss  abgebaut,  sondern  es  musste  auch 
durch  den  Handel  über  Land  schon  das  Mittelmeer  erreicht  haben. 
Dass  es  einen  solchen  Landhandel  gab,  beweist  die  frühe  Grün- 
dung und  das  Aufblühen  von  Marseille,  übrigens  konnten  ja  die 
Klumpen  metallischen  Zinnes,  die  unter  den  schweizerischen  ,Alter- 
thümefn  aus  der  Bronzezeit  gefunden  worden  sind,  nur  durch  einen 
Binnenverkehr  nach  Helvetien  gelangt  sein,  und  eben  so  leicht  wie 
sie  Helvetien  erreichten,  konnten  sie  auch  ihren  Weg  nach  Mar- 
seille gefunden  haben.  Dem  Zinne  müssen  wir  es  auch  theilweise 
zum  Verdienste  anrechnen,    dass  die  Kelten  in  Gallien   und  Bri- 


) 

i)  F.  V.  Rougemont,  Die  Bronzezeit.  Gütersloh  1869.  S.  85. 

Peschel»  Völkerkunde.  15 


f 


SS  des  Handeiä  auf  die  rrmmlic}ie  Verbreitung  der  Völker. 

I  eine  vM  höhere  gesellschaftliche  Entwicklung  aufwiesen  als 
unsere  eigenen  Vorfahren  zu  Cäsars  Zeiten.  Die  Römer  fanden 
bei  den  alten  Briten  schon  eine  sehr  durchgebildete  Landwirth- 
schaft,  bei  welcher  ^iir  Steigerung  der  Felderträge  bereits  ein  mi- 
neralisches Düngemittel,  nämlich  der  Mergel,  mit'Nutzen  ange- 
wendet wurde,  auch  bedienten  sich  die  Britannier  im  Gefechte 
künstlicher  Kriegswerkzeuge  eigener  Erfindung,  nämlich  der  Sichel- 
wagen. Der  Besitz  einer  so  unersetzlichen  und  so  gesuchten  Ri- 
messe, wie  das  Zinn  in  iler  Bronzezeit  es  war,  an  sich  schon  ein 
Förderungs mittel  der  Gesittung,  näherte  sie  dnrch  den  Handel 
frühzeitig  den  Mittelmeervölkern  und  trug  zur  beschleunigten  Reife 
ihrer  Zustände  bei. 

Etwas  ähnliches  besassen  die  Uferbewohner  der  Nordsee  und 
nocli  mehr  der  Ostsee  in  dem  Bernstein.  Der  Bernstein  muss 
frühzeitig  die  Ufer  des  Mittelmeeres  erreicht  haben,  wenn  er  auch 
anfänglich  nur  von  Horde  zu  Horde  ausgelauscht  wurde.  Hätten 
die  Römer  sich  nicht  als  Eroberer  schon  an  den  Mündungen  der 
Weser  und  Ems  gezeigt,  und  hätte  nicht  Driisus  schon  seine  Schiffe 
bis  zur  Nordspitze  von  Jutland  vordringen  lassen,  gewiss  würde  der 
Bernslein  alTcin  die  Mittelmeercuitur  nach  dem  Norden  zu  ziehen 
vermocht  haben,  unternahm  doch  zu  Nero's  Zeiten  (56  n.  Chr.)  ein 
römischer  Ritter  als  Festlandsenidetker  eine  Reise  über  die  Kar- 
pathen  bis  zu  den  Bernstein  lim  dem  Ostpreussens',  und  kehrte  mit 
einer  Ladung  jener  geschätzten  Fosihen  nach  der  Hauptstadt  des 
Erdkreises  zurück.  Dem  Bernstein  verdanken  wir  tanz  sicherlich 
die  Wahrzeichen  einer  vorzeitigen  Cultur  an  dem  Gestade  der 
Ostsee,  denn  in  Beziehung  zu  ihm  stehen  die  zahlreichen  Funde 
von  griechischen  und  römischen  Münzen,  sowie  von  Bronzearbeiten 
an  den  baltischen  Küsten,  und  jene  Metallgeräthe  dienten  wahr- 
scheinlich den  einheimisclien  Künstlern  als  Vorbilder  und  Muster, 
Ml  dass  es  dem  Bernstein  vielleiiht  zugeschrieben  werden  darf, 
dass  im  Norden  Europas  das  Bronze^lter  eine  erfreuliche  Reife  zeigt 

Wir  lernen  also  als  Verbreit ungsmittet  der  menschlichen  Ge- 
sittung und  als  Lockmittel  für  Viilkenvanderungen  die  Seltenheiten 
und  Kostbarkeiten  der  drei  Reiche  verehren,  und  wir'  gewahren, 
dass  diejenigen  I-änderräume,  die  durch  den  Besitz  solcher  Schätze 
begünstigt  waren,  früher  als  andere  in  den  Kreis  einer  höheren 
Gesittung  hineingezogen  wurden,  so  dass  der  Ortsbewegung  der 
Cultur  dadurch  vielfach  ihre  Bahnen   vorgeschrieben   worden    sind. 


Ehe  und  väterliche  Gewalt. 


227 


An  welche  Gesetze  die  Verbreitung  der  mineralischen  Schätze  ge- 
bunden ist,  davon  wissen  wir  noch  sehr  wenig,  die  Kostbarkeiten 
der  Thier-  und  Pflanzenwelt  dagegen  sind  zwar  auf  klimatisch 
begrenzte  Zonen  beschränkt,  aber  ihre  örtliche  Häufigkeit,  Selten- 
heit oder  gänzliche  Abwesenheit  innerhalb  der  Zonen  ihres  mög- 
lichen Auftretens  ist  nicht  sowohl  etwas  gesetzmässiges  als  etwas 
geschichtliches,  in  sofern  sie  abhängig  erscheinen  von  dem  Ort  des 
ersten  Auftretens  der  Arten,  sowie  von  dem  Wanderungsvermögen 
der  letzteren  und  den  geographischen  Hindernissen ,  welche  ihrer 
Ausbreitung  entgegentraten. 


7.  Ehe  und  väterliche  Gewalt. 

Der  nächste  und  höchste  Zweck  der  Ehe,  nämlich  die  Er- 
zeugung eines  Nachwuchses  kann  nur  nach  dem  Eintritt  der 
Geschlechtsreife  erfüllt  werden,  die  bei  dem  weiblichen  Geschlecht 
etwas  früher  als  beim  männliphen,  in  Nordeuropa  etwa  im  14.  und 
17.  Lebensjahre,  in  Südeuropa  etwas  beschleunigter  erreicht  wh-d.  In 
heissen  Erdstrichen  stellen  sich  die  bekannten  Merkmale  noch  zef- 
tiger  ein,  in  Aegypten  bei  Knaben  von  12  bis  15,  bei  Mädchen 
von  II  bis  14  Jahren  *).  Klunzinger,  '  der  kürzlich  die  Hoch- 
zeit eines  solchen  Kinderpaares  in  Oberägypten  beschrieben  hat*), 
lässt  daselbst  Knaben  von  15  bis  18  Jahren,  Mädchen  von  12  bis 
14  Jahren  heirathen  und  fügt  bedeutsam  hinzu,  dass  solche  in 
unsern  Augen  verfrühte  Ehen  doch  in  Bezug  auf  Kindersegen  keine 
üblen  Wirkungen  wahrnehmen  lassen.  Im  nördlichen  Persien  treten 
beim  weiblichen  Geschlechte  die  Wahrzeichen  der  Fruchtbarkeit 
mit  dem  13.,  im  südlichen  Persien  schon  zwischen  dem  9.  und  10. 
Jahre  ein^).  Auf  den  Philippinen  werden  12  Jahre  als  das  gesetz- 
liche Alter  für  das  weibliche  Geschlecht  vorgeschrieben,  im  Kirchen- 
buche von  Polangui  fand  jedoch  Jagor*)  die  Trauung  eines  Mäd- 
chens  von  9  Jahren   und    10   Monaten    eingetragen.      Unter    den 


i)  Hartmann,  Nilländer.  S.  215. 

2)  Ausland  1871.  No.  40.  S.  952. 

3)  Polak,  Persien   Bd.  i.  S.  202. 

4)  Reisen  in  den  Philippinen.  Berlin  1873.  S.  129. 


15» 


228  Ehe  und  välerliche  Gewalt. 

Negern  Afrikas  wird  ebenfalls  frühzeitig-  zur  Ehe  geschritten,  nur 
lassen  sich  dort  die  Aiterstufen  schwer  bestimmen,  weil  die  sorg- 
losen Bewohner  ihre  Lebensdauer  durch  Zeitbeobachtnngen  nicht 
genau  festzusetzen  pflegen.  Bei  den  Hottentotten  sah  Kolbe  Mütter 
von  13  Jahren').  Die  Australier  liefern  ihre  Tochter  mit  dem 
12.  Jahre,  oft  noch  früher  ihren  Männern  aus').  Es  ist  jedoch  erst 
noch  strenger  festzustellen,  ob  Jas,  was  für  uns  den  Anstrich  einer 
Hochzeit  besitzt,  nicht  eine  vorausgehende  feierliche  Verlobung  sei, 
der  erst  später  die  Vollziehung  der  Ehe  nachfolge^),    ■ 

Die  bisherigen  Thatsachen,  meist  schon  anderwärts  mitgetheilt, 
werden  keinen  Sachkundigen  überraschen.  Ebenso  wenig  durfte 
es  neu  sein,  dass  aucli  Polarviilker  frühzeitig  das  Vermögen  der 
Geschlechtserneuerung  erwerben.  Bisher  wurde  diess  hauptsäch- 
lich bei  den  Esiiimo  beobaclitet,  aber  Adolf  Erman  hat  neuerdings 
wieder  daran  erinnert,  dass  auf  der  alüutischen  Insel  Aicha  der 
Kiiabe,  sobald  er  die  Baidare  lenken,  das  ßlädchen,  sobald  es 
fertig  nähen  kann,  beide  gewöhnlich  mit  dem  10.  Lebensjahre  zur 
Ehe  schreiten*).  Eine  physiologische  Erklärung,  warum  bei  grösserer 
Annäherung  an  den  Aequator  und  an  den  nördlichen  Polarkreis 
der  Zeitraum  der  Unreife  sich  verkürze,  ist-  noch  nicht  gegeben 
worden.  Wahrscheinlich  hat  die  Polhöhe  des  Wohnorts  zu  dieser 
Erscheinung  gar  keine  Beziehung,  viel  näher  liegt  es  an  die  Dun- 
kelung  der  Haut  zu  denken,  denn  auch'  bei  anderen  nord- 
amerikanischen Stämmen  heirathen  die  Mädchen  ipi  12.  bis  14.,  ja 
bisweilen  schon  im  11.  Jahre^).  Anders  halten  es  im  Süden  die 
Patagonier,  welche  erst  eine  Reife  von  16  Jahren  abwarten^). 

Wo  sich  der  Trieb  der  Natur  zeitig  regt,  da  welken  auch 
früher  die  Reize  und  erlischt  mit  30  oft  mit  25  Jahren  schon  jeder 
Segen  des  weiblichen  Körpers.  Tacitus  spricht  sicherlich  eine 
richtige  Erfahrung  aus,  wenn  er  die  lange  Jugenddauer  bei  unsern 


1)  Vorgebirge  der  Guten  Hoffnung.  S.  424. 

2)  Eyre,  Ceatral  Auslraüa.  loni,  II,  p.  319. 

3)  lieber  ans  lleirathsaher  bei  verscbiednCD  Menschenstämmen  vgl  die 
erSLhiipfcnde  Arbeit  von  Dr.  Ploss  in  dem  Jahresbericht  des  Leipz,  Vereins 
für  Erdkunde  1872. 

4)  Zeitschrift  för  Ethnologie.  B«lin  1871.  Heft  3.  S.  162. 
51  Catlin,  Die  Indianer  Nordamerikas,  cap.  17.  S.  89- 
fj)  Musters,  Unter  den  Palagudern.     Jena  1873.  S.  190. 


Ehe  und  väterliche  Gewalt,  220 

Vorfahren  ihren  späten  Eheschliessungen  zuschreibt^).  Wo  also 
durch  Gewohnheit  oder  Satzung  eine  Verspätung  des  Heirathsalters 
gefordert  wird,  da  müssen  wir  einen  grossen  Fortschritt  in  der 
Selbsterziehung,  der  Völker  anerkennen.  Im  alten  Peru  wurde  den 
Männern  erst  im  24.,  den  Frauen  im  18.  Lebensjahr  die  Begrün- 
dung eines  Hausstandes  gestattet*).  Die  sittenstrengen  Abiponen, 
welche  die  südliche  Hälfte  des  Gran  Chaco"  am  Paraguaystrome 
innehatten,    duldeten   ebenfalls  Ehen   nur   in   reifem  Alter. 

Es  darf  an  dieser  Stelle  nicht  verschwiegen  werden,  dass  sehr 
vielj  Menschenstämme  grosse  Gleichgiltigkeit  gegen  jugendliche 
Unkeuschheit  zeigen  und  erst  mit  der  Ehe  den  Frauen  strengen 
Wandel  auflegen.  Als  unberechtigt  müssen  wir  es  aber  bezeichnen, 
wenn  man  aus  Mangel  eines  sprachlichen  Ausdruckes,  durch  wel- 
chen Jungfrau  und  Frau  unterschieden  werden,  auf  eine  Gleich- 
giltigkeit gegen  geschlechtliche  Reinheit  geschlossen  hat,  wie  es  von 
Lichtenstein  ^)  in  Bezug  auf  die  Buschmänner  gewagt  wurde,  während 
Chapman  gerade  ihre  Sittsamkeit  rühmt  und  hinzufügt,  dass  bei 
ihnen  Ehen  nur  aus  Neigung  geschlossen  werden.  Auch  die  Abi- 
poijen  besitzen  kein  eignes  Wort  für  das  jungfräuliche  Weib^)  und 
doch  rühmt  Dobrizhoffer  beständig  ihre  Sittenstrenge  und  Unver- 
dorbenheit.  Eher  lässt  sich  der  gleiche  sprachliche  Mangel  un- 
günstig  bei  den   Comantschen    deuten,  da  sie   Gastfreunden    ihre 

m 

Frauen  überlassen  5).  Diesen  schnöden  Gebrauch  treffen  wir  in 
Nordamerika  noch  bei  den  Aleuten.^),  die  auch  sonst  durch  ihre 
widernatürlichen  Ausschweifungen  berüchtigt  sind,  dann  bei  Eskimo, 
und  endlich  erzählt  Adolf  Erman,  dass  er  bei  seinen  Wanderungen 
durch  Kamtschatka  auf  die  nämliche  Sitte  gestossen  sei  7).  Sucht 
man  nach  einem  Fall,  der  die  tiefste  Verworfenheit  in  dieser  Rich- 


1)  Sera  juvenum  Venus,   eoque    inexhausta  pubertas,  nee  virgines  festi- 
nantur.  Germ.  cap.  20. 

2)  Prescott,  Conquest  of  Peru.  tom.  L  p.  113. 

3)  Reisen  im  südlichen  Afrika.  Bd.  2.  S.  81. 

4)  Dobrizhoffer,  Geschichte  der  Abiponcr.  Bd.  2.  S.  218. 
5}  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  4.  S.  216. 

6)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  3.  S.  314. 

7)  Marco  Polo  I,  cap.  37.  berichtet  dasselbe  von  der  Oase  Kamul 
(Hamil)  in  der  Gobi.  Dort  wie  in  der  ebenfalls  von  Karawanen  berührten 
Oase  Fezzan  beruht  jedoch  diese  Sittenlosigkeit  auf  einer  gewerbsmässigen 
Prostitution.     A.  Erman,  Reise  um  die  Erde.     Bd.  3.  S.  426. 


Jä(>i  Ehe  und  vüleiliche  Gewalt. 

tung  bezeichnen  könnte,  so  braucht  man  nur  auf  die  sogenannten 
Dreivierteliieirathen  zu  vens-eisen,  die  im  nubischen  Afrika  unter 
den  Hassan iyeh-Arabern  vorkommen,  bei  denen  nämUch  die  Ehe- 
frau jeden  vierten  Tag  frei  über  sich  verfügen  kann').  Die  Ge- 
schichte ertheilt  uns  übrigens  die  Lehre,  dass  alle  hochgestiegenen 
Völker  die  eheliche  und  überhaupt  die  geschlechtliche  Reinheit 
streng  gehütet  haben,  soivie  dass  jeder  Lockerung  der  Sitten  die 
Zerrüttung  der  Gesellschaft  auf  der  Ferse  folgte. 

Polygam  oder  polyandrisch  werden  bekanntlich  die  Ehen  ge- 
nannt, je  nachdem  der  Mann  seinen  Hausstand  mit  mehreren 
Frauen  theilt  oder  die  Frau  mehreren  Männern  gleichzeitig  an- 
yiehört,  Vielweiberei  ist  über  ganz  Afrika  verbreitet,  sie  war 
ebenfalls  fast  allen  asiatischen  Völkern  verstattet,  in  Amerika  da- 
gegen auffallend  selten  anzutreffen.  Nun  halien  bisher  alle  Volks- 
zählungen uns  belehrt,  dass  die  Ziffern  beider  Geschlechter  im 
Gleichgewicht  stehen,  und  der  Ueberschuss  des  einen  über  das 
andere  meist  nur  ein  geringer  ist.  Der  grösste  der  beglaubigten 
Zahlenunterschiede  trifft  auf  die  europäischen  Juden"),  bei  denen 
die  männlichen  Geburten  stark  überwiegen.  Wenn  nach  den  «Be- 
hauptungen von  Reisenden  unter  den  Ladinos  oder  Mischlingen 
von  Europäern  mit  den  Ureinwohnern 'des  spanischen  Amerika  die 
Zahl  der  Mädchen  die  der  Knaben  um  die  Hälfte,  nach  Stephens 
in  Yucatan  sie  um  das  Doppelte  üttertreffen,  in  Cochabamba  sogar 
das  Fünffache  betragen  soIPj,  so  begründen  sich  solche  Angaben 
nicht  auf  stattgefundene  Zählungen,  sind  also  für  die  Wissenschaft 
wenig  brauchbar.  Ein  cfurchaus  glaubwürdiger  Beobachter,  näm- 
lich Campbell  konnte  dagegen  bezeugen,  dass  in  den  siamesischen 
Harem  Knaben  und  Mädchen  in  gleicher  Anzahl  geboren  werden*). 


i)  Ausland  1870.  S.  1058. 

2)  Nach  Waitz  I,  117  und  Darwin,  Abslammung  des  Menschen  I,  267: 
Geburten  in  jüdischen  Familien 
Knaben     MSdchen 


in  PreusEc 

T13      :      10. 

„   Breslau 

11+      :      10. 

.,   Berlin 

loSl?)  :      10. 

„    Livorno 

iw      i      10. 

„   Livlond 

120      :      io< 

Vnlhropoloeie.  Bd. 

I.  S,  117- 

Abstammung  des 

Menschen.  Bd. 

Ehe  und  väterliche  Gewalt.  231 

Diess  widerlegt  den  oft  geäusserten  Satz,  dass  bei  Polygamie  die 
weiblichen,  bei  Polyandrie  die  männlichen  Geburten  vorwalten 
sollen  und  die  Natur  sich  gleichsam  den.  örtlich  herrschenden  ehe- 
lichen Satzungen  anbequeme.  Auch  di^  Erfahrungen  der  Thier- 
Züchter  sind  dieser  Verrauthung  nicht  günstig,  denn  bei  Rennpferden, 
Windspielen  und  Cochinchinahühnern  bleibt  das  Zahlengleichgewicht 
der  Geburten  ungestört,  obgleich  die  strengste  Polygamie  herrscht^), 
Gut  bezeugt  durch  die  Statistik  in  Deutschland  ist  dagegen  das 
Ueberwiegeh  von  Knaben  bei  Erstgeburten'). 

Als  gesellschaftliche  Geschöpfe  unterliegen  wir  aber  auch  einer 
sittlichen  Ordnung  und  diese  ist  der  polygamen  Ehe  entschieden 
abhold.  Die  Geschichte  morgenländischer  Königshäuser  lehrt  uns, 
dass  die  geringe  Dauer  der  dortigen  Herrschergeschlechter  immer 
auf  4ie  Ränke  ehrgeiziger  Gemahlinnen  zurückzuführen  ist,  und 
dass  dort  gänzlich  das  veredelnde  Gefühl  der  Geschwisterliebe 
fehlt,  jeder  Fürstensohn  vielmehr  im  Halbbruder  seinen  grimmigsten 
Gegner  hasst.  Selbst  in  bürgerlichen. Familien  entfremdet  Neid  und 
Eifersucht  die  Abkömmlinge  verschiedener  Mütter. 

Spärlicher  verbreitet  ist  die  Polyandrie,  welche  jedoch  nicht 
verwechselt  werden  darf  mit  der  Frauengemeinschaft  von  Krieger- 
k^sten,  denen  Ehelosigkeit  als  Ordensgelübde  vorgeschrieben  war, 
wie  den  Najern^)  im  malabarischen  Indien  und  ehemals  den  sapo- 
ragischen  Kosaken^).  Echter  Vielmännerei  begegnen  wir  dagegen 
unter  den  Völkern,  welche  den  Uebergang  bilden  zwischen  Asiaten 


i)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen.  Bd.  i.  S.  272: 

Geburten 
männl.        weibl. 
Zahl  der  Fälle 

25,560  Rennpferde     99,7  100 

6,878  Windspiele     no,i  100 

Unter  I00£  ausgeschlüpften  Cochinchinahühnern  befanden  sich  487  Hähne  und 
514  Hennen. 

2)  Welcker,  Bau  und  Wachsthum  des  Schädels  S.  69.  Nach  den 
Halle*schen  Entbindungsprotocollen  fanden  sich  unter  871  Erstgeburten  auf  je 
100  Mädchen  114  Knaben  und  nach  dem  genealog.  Taschenkalender  in  fürst- 
lichen deutschen  Häusern  bei  Erstgeburten  116  männliche  auf  100  weibliche, 
während  die  Zahlenverhältnisse  bei  sämmtlichen  Geburten  in  Deutschland 
nur  106  :  100  lauten. 

3)  Graul,  Ostindien.  Bd.  3.  S.  230.  S.  338—340. 

4)  C.  V.  Kessel,  im  Ausland.  1872.  No.  37.  S.  865. 


212  Ehe  und  väletUche  Gewall. 

und  Arnerikanern,  nümlich  bei  den  Eskimo,  den  Aleuten,  Konjaken 
und  Koluschcn '),  bei  denen  auch  andere  geschlechtliche  VerIrrungen 
nicht  mangein.  Sonst  werden  in  Amerika  die  IrolTesen  und  etliche 
Stämme  am  Orinoco  der  Vielmännerei  von  Sir  John  Lubbock  be- 
schuldigt. In  der  Südsee  soll  sie  bei  den  Maori  Neu-Seelands  und 
auf  etlichen  kleinen  Inseln  angetroffen  worden  sein.  Häufiger  kommt 
sie  im  südlichen  Indien  unter  einzelnen  Stammen  der  Keilgherri- 
gebirge  vor,  'bei  welchen  letzteren  die  Sitte  verstattet,  dass  alle 
Lrfider,  wenn  sie  erwachsen,  die  Manner  der  Frau  des  ältesten 
Bruders^),  und  umgekehrt  die  jüngeren  Schwestern  der  Gemahlin 
die  Frauen  der  Ehegenossenschaft  werden.'  Fast  genau  so  hielten 
es  auch  die  alten  Bewohner  Britanniens  zu  Cäsar's  Zeiten*).  Auf 
Brüder  und  andere  Verwandte  beschränkt  sich  die  Frauengemein- 
schafi  in  Tübet,  und  dort  sind  es  Sparsamkeitsrücksichten,  welche 
diese  Widernatürlichkeit  uns  erklären-*).  ,\uch  bei  den  Herero  in 
Südafrika  verursacht  es  Armuth,  dass  Vielmännerei  bisweilen  vor- 
kommt'). 

Zu  den  dunkelsten  aber  auch  lehrreichsten  Fragen  der  Völker- 
kunde gehört  es,  wie  es  Brauch  geworden  sei,  Ehen  zwischen  Blut- 
verwandten  zu  vermeiden.  Wohl  dürfen  wir  auf  neije  Erkenntnisse 
gestützt,  die  Schädlichkeit  solcher  Mischungen  vermuthen,  denn 
wenn  beide  Gatten  unter  demselben  körperlichen  Mangel  leiden, 
so  werden  sie  ihn  gesteigert  ihren  Nachkommen  vererben.  Taubheit, 
Augenschwächc,  Unfruchtbarkeit,  Blödsinn  und  Geistesstörungen 
müssen  sieb  bei  Kindern  von  Eltern,  welche  die  Keime  zu  diesen 
Störungen  geerbt  haben,   früh  einstelien  oder  heftiger  ausbrechen'). 

i)  WailK,  Anthropologie.  Bd.  3.  S.  308.  S.  313. 

2)  Öaierlein,  Nach  und  aus  Indien.  .S,  249.  • 

31  De  beUa  gallico,  lib    V.  cap.  14. 

4)  V.  Schlagintweit,  Indien.  Bd.  2.  S.  47. 

5)  G.  Frilsch,  Die  EinEcbornen  Südafrikas.  S.  lij. 

6)  Selbst  diese  Vermuihung  ist  nicht  vur  allen  Zweifeln  eesjchett.  In  der 
Gemeinde  Bat/  (3300  Einwohner],  nördlich  von  der  Loitemündung  auf  einer 
Halbinsel  gelegen  und  auf  die  Ausbeulung  natürlicher  Salipfennen  angewiesen, 
gehörten  von  jeher  Htjralhen  iwisclien  Bluls verwandten  zu  den  hergebrachten 
Dingen.  So  musslen  im  Jahre  [S65  nicht  weniger  als  15  Kirchendispense  für 
Heimtheu  von  Geschwisterkindern  erwirkt  werden.  Dennoch  fand  Voisin,  der 
e  nen  ganien  W  na  dort  labrachle,  bei  40  Ehen  unter  Blutsverwandten,  deren 
V  lle  '^  mmtafeln  er  sammelte,  nicht  einen  einzigen  Fall  der  Uebel,  mit  denen 
he  komm]  h  Iche  Vermählungen  bedroht  werden.  Anthropological  Review. 
London  1868       n     Vt,  p.  231—23;. 


Ehe  und  väterliche  Gewalt. 


233 


Allein  solche  Erfahrungen,  die  langwierige  Beobachtung  voraus- 
setzen, konnten  unstäte  und  kindlich  sorglose  Menschenstämme 
nicht  gewinnen  und  gerade  bei  ihnen  ist  der  Abscheu  vor  Blut- 
schande am  schärfsten  entwickelt.  Gewiss  sollten  wir  in  diesem 
Smne  nichts  strenger  vermeiden  als  die  Ehe  mit  der  Schwester, 
die  uns,  was  die  Blutmischung  anbetrifft,  ganz  gleich  und  noch 
einmal  so  nahe  steht,  als  Mutter  oder  Tochter,  mit  denen  unser 
Organismus,  seiner  Ableitung  nach,  doch  nur  zur  Hälfte  über- 
einstimmt. Dennoch  war  gerade  diese  Ehe  dem  Inca  im 
peruanischen  Reiche  vorgeschrieben^),  und  ebenso  konnte'  der 
Pharao  in  Aegypten  keine  schicklichere  Gemahlin  erwählen,  als 
seine  Schwester*).  Bei  den  Altpersern  war  die  Ehe  mit  der 
Schwester  oder  der  Mutter  nicht  nur  erlaubt^),  sondern  die  Hei- 
rathen  unter  Verwandten  wurden  sogar  als  ein  verdienstliches  Werk 
angesehen'^),  endlich  ist  es  ja  bekannt,  dass  die  Hellenen  die  Ver- 
mählung von  Halbgeschwistern  zuliessen,  wenn  auch  nicht  billigten. 
Während  diese  hochgestiegenen  Völker  vor  solchen  Verbindungen 
nicht  zurückschauderten,  empfanden  gerade  die  zurückgebliebenen 
eine  wahrscheinlich  heilsame  Furcht  und  es  ist  geradezu  auffallend» 
wenn  ausnahmsweise  die  Vedda  auf  Ceylon  dem  Bruder  verstatten, 
seine  jüngere  Schwester  zu  ehelichen^).  Viel  weniger  befremdet 
eSj  dass  bei  den  Aleuten  und  Konjaken  wahrscheinlich  auch  bei 
andern  Anwohnern  des  Beringsmeeres  jegliche  Blutschande  als  er- 
laubt gilt^),  da  alle  diese  Völkerschaften  durch  ihre  Ausschweifungen 
berüchtigt  sind. 

Die  Australier  dagegen  hielten  streng  an  dem  Verbot,  dass 
kein  Mann  eine  Frau  heirathen  durfte,  die  mit  ihm  auch  nur  den 
gleichen  Familiennamen  führte'').  Ehen  unter  Leuten  von  gleichen 
Geschlechtsnamen  wurden  ebenso  bei  Samojeden  und  Ostjaken 
streng  vermieden 8).     Die  Huronen  und  Irokesen    duldeten    gleich- 


1)  Garcilasso,  Commentarios  reales,  tom  I.  libro  IV,  cap.  9.  p.  86b.  Nur 
in  Ermangelung  einer  Schwester  kamen  die  nächsten  weiblichen  Verwandten 
an  die  Reihe. 

2)  Ebers,  Von  Gosen  zum  Sinai.  S.  82. 

3)  Duncker,  Gesch.  d.  Alterthums.  Bd.  2,  S.  356. 

4)  Martin  Haug  in  der  Beil.  zur  AUgem.  Ztg.  1872.  No.  364.  S.  5573. 

5)  Tylor,  Anfänge  der  Cultur.  Bd.  I.  S.  51. 

6)  V.  Langsdorff,  Reise  um  die  Welt.  Bd.  2.  S.  58. 

7)  Capt.  Gray  bei  Eyre,  Central  Australia.  tom.  II,  p.  330. 

8)  Castr^n,  Vorlesungen.  S.  107. 


I 


m 


vaterliche  Gewall. 


falls  keine  Ehen  zwischen  Verwandten"),     Die  Koluschen,    die    in 

die  beiden  Zweige  des  Raben  und  des  Wolfes  sich  theilen,  verbieten 
alle  Heirathen  von  Mitgliedern  desselben  Stammes*).  Ganz  im 
gleichen  Sinne  verstauen  die  Arowaken  in  Südamerika  keine  Ver- 
mählungen innerhalb  ihrer  Clanschaften-'),  und  zwar  gih  bei  ihren 
sorgfaltig  geführten  Stammbäumen  die  Regel,  dass  die  Kinder  der 
Mutter  in  Bezug  auf  ihre  S tarn mesgenossen schall  folgen.  Um  auch 
einige  Beispiele  aus  Afrika  anzuführen,  bestrafen  die  Hottentotten 
Blutschande  mit  dem  Tode^),  und  ihre  Nachbarn,  die  Kafirn  be- 
drohen mit  Vermögens  Verlust  die  Heirath  zwischen  den  entfernte- 
sten Verwandten,  verstatten  übrigens  die  Doppelehe  mit  Schwe- 
stern'). Die  fanneger  endlicli  im  westlichen  Aequatorialafrika, 
berüchtigte  Menschenfresser,  betrachten  Ehen  bei  der  geringsten 
Blutnähe  als  Frevel  und  holen  ihre  Frauen  stets  aus  einem  andern 
Stamm^).  Andere,  ebenfalls  anthropophage  Stämme,  die  Batta 
auf  Sumatra,  bestrafen  die  Ehe  zwischen  Angehörigen  der- 
selben Horde  mit  dorn  Tode  an  beiden  schuldigen  Theilen').  Bei 
den  Hindu  erstreckt  sich  das  \' erbot  bis  auf  die  sechste  Stufe  der 
Verwandtschaft,  ja  die  Gleiclibeit  des  Namens  wird  auch  tei  ihnen 
als  ausreichendes  EhehinUerniss  angesehen*).  Das  letztere  gilt  endlich 
von  den  Chinesen^),  welche  sich  als  Nation  Pih-sing,  die  hundert 
Familien  nennen.  Gleichwohl  gibt  es  in  neuerer  Zeit  400  Fa- 
miliennamen, welche  letztere  nicht  von  der  Mutter,  sondern  wie 
in  Europa  vom  Vater  ererbt  werden.  Ein  amerikanischer  Missionär 
Namens  Talmadge  kannte  ein  Dorf,  dessen  5000  Bewohner  bis 
auf  wenige  Ausnahmen  denselben  Familiennamen  führten  und  die 
deswegen  unter  sich  keine  Ehen  schiiessen  durften").  Reste  sol- 
cher weiten  Begriffe  vom  Incesl  haben  sich  bei  solchen  Völkern 
erhalten,  die  dem  Frauenraub  huldigen,  denn  da  Feindschaft  ge- 
il Charlcvois,  Nouv.  France,  lom.  III,  p.  JS*. 
I)  Waiti,  Anlliropologic.  Bd.  J.  S.  329. 
31  Morliiis,  Ethnographie.  Bd.  t.  S.  690. 

4)  Kolbe,  Vorgebirge  der  Guten  Hoflniiag.  S.  457, 

5)  Ausland  1859.  S.  631. 

6)  Du  Chaillu,  Ashangü-Lnnd,  p.  427. 

7)  Tylor,  Urgeschichte.   S.  359, 

8)  Coiebruoke,  Essays  □□  the  rel^ion  and  phUosophy  o[  the  Hindus. 
London  1S58.  p.  142. 

9)  Huc,  Das  chineeische  Reich,  Bd.  2.  S.  16B. 

la)  Morgan,  .Systems  or  Consangoinity.  Waihington  1871.  p.  41S. 


Ehe  und  väterliche  Gewalt.  2  55 

wohnlich  die  fremden  Horden  trennte,  konnte  nur  eine  gewaltsame 
Entführung  die  Ehe  begründen.   Sehr  schwache  Kenntnisse  verrathen 
uns  daher  solche  Ethnographen,  welche  den  Australiern  diese  Sitte 
als  Rohheit  anrechnen,  zumal  ihre  Frauen  den  Vollzug  des  alten  Brau- 
ches nicht  als  Misshandlung,  sondern  als  eine  Huldigung  betrachten, 
und  er  zu  den  beliebten  Jugendspielen  zwischen  Knaben  und  Mäd- 
chen gehört').     Die  gleiche  Sitte  herrschte  bei  den  ausgestorbenen 
Tasmaniern ^) ,   sowie  bei    den   Papuanen   Neu-Guineas^)  und    der 
Fidschiinseln  ^),  ferner  bei  den  Ainos  auf  den  Kurilen  s)  und  bei  den 
Feuerländern ^).     Jeder  Ostjake  und  Samojede^»  j^'der  Lappe  8)  noch 
heutigen  Tages  ,^  wie    in  Vorzeiten   die  Finnen   (Suomi)  muss  sich 
mit    List   oder    Gewalt  eines    Mädchens  aus   fremdem    Stamm   be- 
mächtigen.    Kein    Völkerkundiger    wird   uns    wohl    widersprechen, 
wenn  wir   die  Erzählung    des  Livius   vom   Raub   der   Sabinerinnen 
als  die  verdunkelte  Erinnerung  einer  alten  römischen  Sitte  deuten, 
welche    auch    bei    ihnen    die  Heirathen    innerhalb    der  Stammes- 
gemeinde verbot.     In  späteren  bequemeren  Zeiten  wurde  der  Raul» 
nur  noch  als  eine  Hochzeitsposse  beibehalten.     Campbell  sah  eines 
Abends  in  Khondistan  einen  Burschen,  auf  der  Schulter  eine  Last 
in  Scharlachtuch  gehüllt,  davon  tragen,  verfolgt  von  einem  Haufen 
Frauen  und  Dirnen,  die  ihm  Steine,  Bambustücke  und  andere  Ge- 
schosse nachschleuderten.     Es  ergab  sich    dann    später,   dass    der 
Dulder,  auf  der  Hochzeitsreise   begriffen,   in    dem  Scharlachzeuge 
sein  junges  Weib    trug,   und    das  Ganze   als  Schaustück  die  Ver- 
folgung eines  Frauenräubers   bedeutete^).     Zuletzt  wird    aus   dem 
Raub   nur   ein  Fangspiel   zwischen    Braut   und    Bräutigam,    dessen 
Ausgang  stets  im  Voraus  verabredet  wird,  doch  soll  bei  den  Maori 
Neu-Seelands  ein  Mädchen,  die  bei   einer   solchen  Gelegenheit  zu 
entschlüpfen  den  ernsten  Willen  hat,    einem   unwillkommenen  Bc- 

1)  Dumont  d'Urville,  Voyage  de  TAstrolabe.  Paris  1830.  vol.  i.  p.  411- 

2)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie.  Bd.  6.  S.  813. 

3)  1.  c.  S.  633. 

4)  Williams  im  Ausland.  1859    S.  113. 

5)  Mitlheilungen   der  Wiener  geogr.   Gesellschaft.   1872.  No.  12.  Bd.  15. 
(Neue  Folge.)  S.  561. 

6)  W.  Parker  Snow,  Off  Tierra  del  Fuego.  vol.  II,  p.  359. 

7)  Castr^n  1.  c.  S.  10. 

8)  J.  A.^Frijs,   Wanderungen   in  den  drei  Lappländern.   Globus  X872. 
Bd.. XXII.  No.  I.  S.  S2. 

9)  Campbell,  Khondistan.  p.  44. 


236  Ehe  und  väterliche  Gewalt. 

Werber  sich  entziehen  dürfen ').  Kennan ,  der  einem  ähnlichen 
Hochzeitsspiele  bei  den  Korjaken  beiwohnte,  überzeugt  uns,  dass 
die  Braut  immer  im  Stillen  in  ihre  Besiegung  einwilligen  muss. 
Auch  in  Europa  wird  noch  vielfach  als  Hochzeitsfeier  ein  drama- 
tischer Ueberfall  ausgeführt,  bei  den  Slovenen  zogen  sogar  der 
Bräutigam  und  seine  Genossen  bewaffnet  gegen  das  Haus  der 
Braut,  welches  wie  zu  einer  Belagerung  verschlossen  wurde').  In 
Ahbayern  lebt  die  Sitte  der  Entführung  noch  in  einem  Hochzeits- 
spiele fort,  welches  Brautlauf  heisst  und  wofür  im  Altnordischen 
Qliänfang  (Frauenfang)  gesagt  wurde^).  Bei  den  Patagoniern,  unter 
denen  Husters  verweilte,  wird  den  Eltern  heimlich  ein  Kaufpreis 
entrichtet,  die  Braut  selbst  aber  plötzlich  geraubt^). 

Wo  alliugrosse  Blutnähe  nicht  gescheut  und  der  Raub  nicht 
gefordert  wurde,  liiusste  der  Werber  die  Braut  den  Litern  abkaufen. 
Das  Weib  geht  hier  in  das  Eigenthum  des  Wannes  über  und  kann 
von  ihm  auf  einen  Rechtsnachfolger  übertragen  werden.  Bei  den 
Cariben  Venezuelas*},  wie  im  äquatorialem  Westafrika  erbt  der 
älteste  Sohn  alle  Erauen  seines  abgeschiedenen  Vaters,  mit  ein- 
ziger Ausnahme  der  leiblichen  Mutter^).  Das  Gleiche  berichtet 
O.  Schweinfurth  von  Hunsa,  dem  Könige  des  merkwürdigen  Neger- 
reiches Monbuiiu  am  Utile').  An  der  Goldküste  gelangte  sogar 
derjenige  unter  den  Prinzen  auf  den  erledigten  Thron ,  der  sich 
vor  den  andern  Brüdern  in  den  Besitz  des  väterlichen  Harems 
setzte*).  Diess  erläutert  uns  zugleich  einige  Vorgänge  aus  der  alt- 
testamentlichen  Geschichte,  Wenn  Abshalom  im  Angesicht  von 
ganz  Jerusalem  sich  der  Frauen  seines  Vaters  bemächtigte,  so  sollte 
damit  allem  Volke  kund  werden,  dass  er  David  vom  Thron  ge- 
stossen  habe*).  Im  gleichen  Geiste  befiehlt  Salomo  den  Adonija 
hinzurichten,  weil  er  Abisag,  Davids  letzte  Favoritin  als  Gemahlin 
sich  erbeten  und  damit  geheime  Thron  an  Sprüche  verrathen  hatte'°). 


t)  Waiti.  Anthropologie.  Bd.  i.  S.  360. 

2)  Klun,  Die  Slovenen,  im  Ausland  1872.  No.  23,  S.  545. 

3)  Sepp,  Die  Schimmelkirchen,  Beil.  zur  AUg.  Ztg.  1873.  S.  1154 

4)  Ausland.  1872.  No.  9.  S.  iq6. 

%)  GumilU,  £1  Orinoco  ilusttado.  Madrid  1741.  P.  I,  cap.  14.  p. 

6)  Du  Chaillu,  Ashangoland.  p.  4:7- 

7)  Zeilschrift  für  Ethnologie.  Berlin  1873.  Bd,  5.  S,  12, 

8)  Bosman,  Guinese  Goud-Tand-en  Slivekust,  Tom,  II.  p.  1:5. 
91  2.  Regum,  XVI,  21—12. 

lo|  3.  Regum,  II,  19  —  25, 


Ehe  und  väterliche  Gewalt.  237 

Wo  der  Kauf  der  Braut  noch  ein  ernstes  Geschäft  ist,  werden 
vergleichsweise  hoheWerthe  entrichtet,  wie  bei  den  Kafirn*),  und  dann 
befragt  man  die  Neigung  der  Erwählten  gar  nicht.  Bei  edleren  Völkern, 
wie  bei  den  Abiponen  und  noch  jetzt  bei  den  Patagoniern,  wird  der 
Verkauf  dagegen  ungiltig  oder  rückgängig,  wenn  das  Mädchen  nicht 
einwilligt*).  Auch  bei  den  Deutschen  war  die  Ehe  ursprünglich 
ein  Kauf  und  zwar  entrichtete  der  Freier  einen  Preis  demjenigen, 
in  dessen  Gewalt  sich  die  Jungfrau  oder  Wittwe  befand,  also  dem 
Vater,  Bruder  oder  Tutor ^),  Da  die  Frau  dadurch  unter  die 
Vormundschaft  des  Mannes  gerieth,  nannte  man  auch  diesen 
Rechtsact  einen  Mundkauf.  In  Island  und  Norwegen  wurde  die 
Frau  ebenfalls  erkauft "*),  wie  bei  den  Angelsachsen,  ja  selbst  das 
englische  Eheritual,  welches  bis  1549  in  Kraft  blieb,  enthielt  noch 
Anklänge  an  die  alte  Rechtsgewohnheit 5).  Wir  erinnern  nur  an 
längst  Bekanntes,  wenn  wir  noch  hinzufügen,  dass  die  feierliche 
Form  der  Eheschliessung  (confarreatio)  im  alten  Rom  nur  bei 
Patriciern  gebräuchlich  war,  die  Plebejer  dagegen  ihre  Ehen  durch 
einen  Scheinkauf  (coemtio)  abschlössen.  Wo  der  Islam  herrscht, 
muss  noch  heutigen  Tages  die  Frau  gekauft  werden^).  Eine  hohe 
Verfeinerung  und  Milderung  der  Sitten  verräth  es,  wenn  schon 
durch  Manus  Gesetz  im  alten  Indien,  die  ehemalige  Brautgabe,  ein 
Joch  Ochsen  nämlich,  streng  abgeschafft  wurde?).  Der  Bräutigam 
wird  vielmehr  am  Tage  der  Vermählung  vom  Schwiegervater  als 
Gast  willkommen  geheissen  und  empfängt  die  Braut  unter  der  bei  allen 
feierlichen  Schenkungen  gebräuchlichen  Form 8).  Scheidungen  sind 
überall,  wo  Polygamie  herrscht,  der  Willkür  des  Ehemanns  überlassen. 


1)  Gustav  Fritsch,  Die  Eingebomen  Südafrikas.  S.  112. 

2)  Dobriz hoffer,  Gesch.  der  Abiponer.  Bd.  2.  S.  257.  Musters, 
Unter  den  Patagoniern.     Jena  1873.     S.  190. 

3)  J.  Grimm,  Deutsche  Rechtsalterthümer.  Göttingen  1854.  S.  420» 

4)  Paul  Labaud  in  der  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie.  Berlin  1865. 
Bd.  3.  S.  152. 

5)  Friedberg,  Das  Recht  der  Eheschliessung.  S.  33,  S.  38.  Auch  in  den 
Niederlanden,  in  Spanien  nach  Westgothenrechte,  im  longobardischen  Rechte 
sind  Reste  des  Brautkaufes  noch  vorhanden.  1.  c  S.  66.  S.  71.  S.  75. 

6)  Warnkönig,  Juristische  Encyclopädie.  S.  167. 

7)  Duncker,  Geschichte  des  Alterthums.  Bd.  2.  S.  134. 

8)  Colebrooke,  Essais  on  the  religion  and  philosophy  of  the  Hindus. 
London  1858.  p.  141— 142. 


238  Ehe  und  väterliche  Gewalt. 

Sir  John  Lubbock  hat  zu  behaupten  gewagt,  dass  die  Men- 
schen in  dem  Urzustände  eheliches  Zusammenleben  nicht  gepflogen 
haben,  sondern  dass  die  Frauen  einer  Horde  Gemeingut  aller 
Männer  gewesen  sein  sollen.  Für  diesen  hässlichen  Gedanken  hat 
er  auch  das  hässliche  Wort  gefunden,  denn  er  bezeichnet  solche 
Zustände  als  Hetärismus.  Reste  davon  will  er  noch  in  Austra- 
lien wieder  erkennen ,  indem  er  sich  auf  Aeusserungen  John 
Eyre's  bezieht ').  Allerdings  könnte  ein  besserer  Gewährsmann 
kaum  gefunden  werden,  denn  beseelt  von  Theilnahme  für  jene 
aussterbenden  Menschenstämme  würde  er  gewiss  nicht  aus  Ge- 
hässigkeit oder  Leichtsinn  ungiinstige  Thatsachen  über  sie  berichtet 
haben.  John  Eyre  überzeugt  uns  wirklich,  dass  die  Australier, 
mit  welchen  er  bekannt  geworden  war,  auf  die  eheliche  Treue 
ihrer  Frauen  keinen  Werth  legten.  Was  er  aber  mittheilt,  bezieht 
sich  doch  nur  auf  Stämme  in  der  Nähe  des  Murrayflusses,  die 
mit  europäischen  Ansiedlern  schon  vielfach  verkehrten.  Ein  sol- 
cher Verkehr  hat  aber  fast  allerorten  die  besten  Sitten  der  Ein- 
gebornen  verdorben.  Ausserdem  steht,  in  Widerspruch  mit  den 
angeblich  hetäristischen  Gewohnheiten,  dass  nach  Eyre*s  eignen 
Worten  *)  die  väterliche  Gewalt  eine  ganz  unbeschränkte  sein  soll, 
sowie  andrerseits  die  von  ihm  mitgetheilten  Züge  leidenschaftlicher 
Zärtlichkeit  von  Vätern  für  ihre  Kinder.  Von  andern  Beobach- 
tern werden  gerade  die  australischen  Männer  der  Eifersucht  ge- 
ziehen und  behauptet,  dass  sie  sich  am  Ehebrecher  blutig  räch- 
ten ^).  Neumayer  endlich,  der  oft  unter  Eingebornen  übernachtete, 
will  nie  eine  Verletzung  des  Anstandes  oder  besserer  Sitten  wahr- 
genommen haben  ^).  Erinnern  wir  uns  ferner,  dass  die  Australier 
aus  Scheu  vor  Blutnähe  nur  Frauen  mit  einem  andern  Familien- 
namen ehelichen,  so  werden  hetäristische  Zustände  sehr  unwahr- 
scheinlich und  wir  dürfen  die  von  Eyre  mitgetheilten  Thatsachen 
als  eine  örtliche  Sittenverwilderung  betrachten,  die  nur  dem  Süden 
des  Welttheiles  angehört,  denn  dort  giebt  es  wirklich  Stämme, 
unter  denen  die  Brüder  des  Mannes  der  Ehefrau  den  gleichen 
Namen  geben  ^). 

1)  Central  Australia.    London  1845.  ^^m.  II,  p.  320. 

2)  1.  c.  tom.  II,  p.  307. 

3)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie.     Bd.  6.  S.  774. 

4)  Zeitschrift  fiir  Ethnologie.     Berlin  1871.  S.  71. 

5)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie.  Bd.  6.  S.  774. 


Ehe  und  väterliche  Gewalt.  239 

» 

•  Sehr  unglaubwürdig  wird  die  Annahme  eheloser  \'orzeiten 
des  Menschengeschlechtes,  insofern  wir  schon  bei  Thieren  eine 
strenge  Paarung  finden,  nämlich  bei  Aflfen  *) ,  bei  Raubthieren, 
Hufthieren,  Wiederkäuern,  bei  Sing-,  Hühner-  und  Raubvögeln. 
Auch  Charles  Darwin  hat  die  Wahrscheinlichkeit  einer  Frauen- 
gemeinschaft bei  den  vorgeschichtlichen  Menschen  aus  dem  Grunde 
bestritten,  dass  die  Männchen  vieler  Säugethiere  sehr  eifersüchtig 
und  mit  Waffen  zum  Kampfe  um  die  Weibchen  ausgerüstet  sind. 
Gerade  die  Vedda  auf  Ceylon,  bei  denen  wir  noch  die  meisten 
Reste  der  Urzeit  anzutreffen  hoffen  dürften,  führen,  wie  wir  sahen, 
das  schöne  Sprüchwort  im  Munde,  nur  der  Tod  vermöge  Mann 
und  Weib  zu  scheiden  %  Da  ferner  die  Jagd,  die  ursprünglichste 
Art  des  Nahrungservverbes ,  nur  ausnahmsweise  von  Frauen  be- 
trieben wird  ^),  so  lag  darin  ein  Zwang,  dass  die  Aufzucht  von 
Kindern  nur  glückte,  wo  Vater  und  Alutter  sie  in  den  zarten 
Jahren  ernährten.  Ist  es  doch  eine  bekannte  statistische  Thatsache, 
dass  auch  in  der  modernen  Gesellschaft  die  Sterblichkeit  unehe- 
licher Kinder,  für  welche  nur  eine  Mutter  und  diese  nicht  genü- 
gend sorgen  kann,  eine  vielfach  vergrösserte  ist,  als.  die  der  ehe- 
lichen, welche  in  einem  Elternhiiuse  auferzogen  werden. 

Neuerdings  hat  indessen  ein  transatlantischer  Gelehrter  Lewis 
Morgan  eine  höchst  verdienstvolle  Arbeit  über  die  Verwandt- 
schaftsbestimmungen bei  verschiedenen  \"ölkern  veröffentlicht,  die 
sich  auf  den  Thatbestand  aus  nicht  weniger  als  139  Sprachen 
meistens  amerikanischer,  aber  auch  asiatischer,  malayischer  und 
europäischer,  stützt  ^).  Durch  diese  neuen  Hilfsmittel  der  Wissen- 
schaft glaubt  Morgan  auch  den  Schleier  von  dem  Geschlechtsleben 
in  der  grauen  Vorzeit  ein  wenig  heben  zu  können.  Bei 
allen    mongolen  -  ähnlichen    Völkern    Asiens,    bei   den   Dravida   in 


i)  Lieutn.  C.  de  Crespigny  stiess  zwischen  dem  Padass  und  Papar  im 
nördlichen  Bomeo  auf  eine  Familie  von  Mias  (Orang  utang),  bestehend  aus 
dem  Männchen,  dem  Weibchen,  einem  grösseren  und  einem  kleinen  Jungen. 
Ihr  Bündniss  musste  also  schon  längere  Zeit  bestanden  haben.  Proceedings 
of  the  R.  Geogr.  Soc.  22.  Jan.  1872.  vol.  XVI.  No.  3.  S,  177. 

2)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen.  Bd.  2.  S.  318 — 319. 

'3)  z.  B.  von  den  Koluschen  an  der  Küste  des  ehemals  russischen  Ame- 
rika.    V.  Langsdorff,  Reise  um  die  Welt.  Bd.  2.  S.  113. 

4)  Systems  of  Consanguinity  and  Affini ty  in  the  Human  Family.  Was- 
hington. I87I. 


240 


Ehe  und  väterliche  Gewalt. 


Indien,  bei  den  Eingebornen  Amerikas  und  bei  Völkern  der 
malaylschen  Familie  finden  wir  nämlich  eine  völlig  von  der  unsri- 
gen  abweichende  Bezeichnung  der.  Blutsverwandten.  Die  Abkömm- 
linge eines  gemeinsamen  Ahnherrn  oder  einer  gemeinsamen  Ahn- 
mutter  geben  sich,  wenn  sie  derselben  Geschlechtsfolge  angehören, 
den  Namen  Bruder  oder  Schwester,  sie  nennen  sämmtliche  Zu- 
gehörige der  nächst  frühern  Geschlechtsfolge  Väter  und  die  der 
nächstfolgenden  Söhne.  Es  wird  also  ein  Mann  Bruder  nennen: 
nicht  blos  alle  Söhne  seines  Vaters,  sondern  auch  die  Söhne  des 
Vaterbruders  und  alle  Enkel  seines  Grossonkels.  Er  wird  ferner 
als  Sohn  nicht  blos  anreden  den  eignen  Leibeserben,  sondern  alle 
Söhne  seiner  Brüder,  alle  Enkel  des  Vatersbruders,  alle  Gross- 
enkel des  Grossonkels.  Die  Kinder  seiner  Schwester  dagegen  be- 
grüsst  er  als  Neffen  oder  Nichten,  die  Brüder  der  Mutter  als 
Onkel.  Umgekehrt  wird  eine  Frau  nicht  blos  ihre  Erzeugerin, 
sondern  auch  deren  Schwestern ,  sowie  die  Töchter  der  gross- 
mütterlichen Schwester  als  Mutter  anreden.  Alle  Kinder  ihrer 
Schwestern,  alle  Enkel  ihrer  Mutterschwester,  alle  Grossenkel  der 
grossmütterlichen  Schwester  nennt  sie  ihre  Kinder,  die  leiblichen 
Nachkommen  der  Brüder  dagegen  ihre  Nichten  oder  Neffen  *). 
Uebersehen  dürfen  wir  aber  nicht,  dass  in  allen  diesen  Sprachen 
keine  Sonderbezeichnungen  für  Bruder  oder  Schwester  vorhanden 
sind,  sondern  eigne  Worte  für  den  älteren  und  jüngeren  Bruder, 
für  die  ältere  und  jüngere  Schwester  gebraucht  werden  müssen. 
Selbst  das  Ungarische  hat  keine  Sondernamen  für  Bruder  und 
Schwester,  sondern  muss  sich  mit  Umschreibungen  helfen  *). 

Die  unendliche  Mehrheit  der  Völker  unterschied  also  sprach- 
lich weniger  die  Blutnähe  als  die  verschiedenen  Geschlechterstufen 
und  innerhalb  dieser  wieder  den  Vorrang  der  älteren  von  den' jüngeren 
Gliedern.  Diese  einfachste  Gestalt  der  Dinge,  wie  sie  bei  Irokesen 
und  Seneca  sowie  bei  den  Tamulen  herrscht,  war  verschiedener  Ver- 
feinerungen und  Abänderungen  fähig,  so  dass  unser  Wissenszweig 
durch  Morgan's  Tafeln  neue  Einblicke   über  die  Geistesverwandt- 


1)  Schon  Lafitau  (Moeurs  des  sauvages  am^riquains.  Paris  1724.  tom.  I. 
p.  552—553)  hat  b^i  den  Irokesen  und  Huronen  dieses  System  genau  be- 
schrieben. 

2)  Steinthal  in  der  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie.  Berlin  1868. 
Bd.  5.  S.  97- 


Ehe  und  väterliche  Gewalt. 


24  E 


Schaft  der  einzelnen  Volksstämme  gewonnen  hat.  Bedauern 
müssen  wir  nur,  dass  der  amerikanische  Gelehrte  in  dieser  uns 
fremdartigen  Auffassung  der  Verwandtschaftsgrade  die  Reste  einer 
ehelosen  Vorzeit  zu  erkennen  glaubt^).  Auch  er  vermuthet,  dass 
anfänglich  die  Begattung  durch  zufallige  Begegnung,  also  in  hetä- 
ristischer  Art  erfolgte.  Später  seL  ein  Zustand  eingetreten,  wo 
die  Söhne  einer  Mutter  mit  allen  ihren  Schwestern  gemeinsam 
lebten.  Als  Erbtheil  jener  Vorzeit  Hesse  ^ich  vielleicht  die  Schwager- 
pfiicht  betrachten,  welche  dem  Hebräer  auferlegte,  der  Wittwe 
seines  Bruders  Nachkommen  zu  erwecken,  eine  Satzung,  die  wir 
bei  unendlich  vielen  Völkern  schon  angetroffen  haben  ^)  und  zu 
denen  wir  auch  noch  die  Neger  der  Goldküste  hinzufügen  müssen  3). 
Andrerseits  könnte  man  noch  erinnern,  dass  der  Erzvater  Jacob 
nach  einander  zwei  Schwestern  heimführt.  Noch  wichtiger  ist  es, 
dass,  wie  wir  selbst  mitgetheilt  haben  %  im  südlichen  Indien  Ehen 
von  einer  Brüderzahl  mit  mehreren  Schwestern  geschfossen  werden. 
Ferner  herrschte  ehemals  bei  den  Kanaken  der  Havaiinseln  unter 
dem  Namen  Pinalua  die  Sitte,  dass  Brüder  gemeinsam  ihre 
Frauen,  Schwestern  gemeinsam  ihre  Männer  besassen^).  Sehr  ge- 
wagt bleibt  es  vorläufig,  diese  vereinzelten  Bräuche,  welche  eben- 
sogut als  örtliche  Verirrungen  sich  auffassen  lassen,  als  noth- 
wendige  Vorstufen  zur  strengen  Ehe  zu  bezeichnen.  Dass  jemals 
irgendwo  längere  Zeit  di^  Kinder  einer  Mutter  geschlechtlich  sich 
vermehrt  haben  sollten,  klingt  gerade  in  neuester  Zeit  höchst  un- 
glaubwürdig, seitdem  es  feststeht,  dass  selbst  bei  blüthenlosen 
Pflanzen  die  gegenseitige  Befruchtung  von  Nachkommen  derselben 
Eltern  möglichst  verhindert  wird.  Die  eigen thümlichen  Verwandt- 
schaftsstufen ,"  welche  malayische ,  asiatische  und  amerikanische 
Mongolenvölker,  sowie  die  indischen  Dravida  und  etliche  Neger 
sprachlich  unterscheiden,  begünstigen  keineswegs  jene  Auffassung, 
denn  unmöglich  kann  auf  eine  geschlechtliche  Erzeugung  ange- 
spielt werden,  wenn  jemand  den  Grossenkel  seines  Grossonkels 
Sohn,    oder    wenn   eine  Frau    die    Grossenkelin    ihrer   Grosstante 


1)  Systems  of  consanguinity,  p.  480. 

2)  S.  oben  S.  24. 

3)  Bosman,  Guinese  Goudkust.     Utrecht  1704,  tom.  I.  p.  201. 

4)  S.  oben  S.  232. 

5)  Morgan,  Systems  of  consanguinity.  p.  453. 

Peschel,  Völkerkunde.  l6 


212  Elle  und  väterliche  Gewalt. 

Tochter  nennt.  Fügen  wir  hinzu,  dass  bei  den  80  amerikanischen 
Sprachen,  die  Morgan  untersucht  hat,  mit  nur  zwei  Ausnahmen 
Sonderausdrücke  vorhanden  sind,  mit  denen  die  Frau  den  Bruder 
ihres  Mannes  und    den  Gemahl   ihrer  Schwester  als  Schwager  be- 

t 

zeichnet  *),  folglich  zwischen  Brüdern  keine  Frauengemeinschaft^ 
zwischen  Schwestern  keine  Gattengemeinschaft  bestand.  Gerade 
bei  Völkerschaften  mit  urzeitlichen  Zuständen  haben  wir  eine 
ausserordentlich  entwickelte  Scheu  vor  blutschänderischen  Ehen 
bemerkt.  Ferner  konnte  Frauengemeinschaft  oder  Vielmännerei 
unter  solchen  Menschenstämmen  nicht  bestehen,  bei  denen  das  männ- 
liche Kindbett*)  vorgeschrieben  wurde.  Erwägen  wir  ferner,  dass 
sämmtliche  Sprachen,  in  denen  die  Anrede  Vater,  Bruder,  Sohn, 
Familiengliedern  zukommt,  je  nachdem  sie  von  einem  gemein- 
samen Ahnherrn  in  einem  höheren,  gleichen  oder  ferneren  Grade 
abstammen ,  mit  Sondernamen  den  altern  und  Jüngern  Bruder 
oder  Vatersbruder,  die  ältere  oder  jüngere  Schwester  oder  Mutter- 
schwester unterscheiden,  so  muss  es  uns  klar  werden,  dass  nicht 
die  Grade  der  Blutnähe,  sondern  die  Zeitfolge  der  Geschlechter 
und  der  Rang  innerhalb  der  Familie  bezeichnet  werden  sollten, 
weil  sich  an  diese  Stufen  wichtige  Folgen  für  den  häuslichen  Um- 
gang, nämlich  das.  höhere  Ansehen  der  Aelteren  und  was  noch 
wahrscheinlicher  ist,  strengere  oder  schwächere  Pflichten  der  Blut- 
rache knüpften.  Es  ist  obendrein  bekannt,  dass  die  Eingebornen 
der  heutigen  nordamerikanischen  Union  blutige  Kriege  führten  und 
feierliche  Verträge  zu  dem  Zwecke  schlössen,  welche  Nation  der 
andern  die  Anrede  Grossväter,  Onkel,  jüngere  Brüder  zu  ertheilen 
habe.  Anderwärts  bildeten  die  Abkömmlinge  eines  gemeinsamen 
Ahnherrn  oder  einer  gemeinsamen  Ahnmutter  eine  Rechtsgenossen- 
schaft mit  gegenseitiger  Haftbarkeit.  Wurde  bei  den  Negern  der 
Goldküste  einem  Verurtheilten  eine  Geldbusse  auferlegt,  und  konnte 
er  sie  nicht  erschwingen,  so  wurde  der  Vater  und  der  Onkel  oder 
andre  Verwandte  in  Mitleidenschaft  gezogen,  erforderlichen  Falls 
als  Sklaven  verkauft -J).  Aehnlich  hatte  auf  den  Palau-Inseln  jedes 
älteste  Familienhau{)t  für  die  Seinigen  einzutreten*). 


1)  Morgan,  Systems,  p.  378. 

2)  S.  oben  S.  26. 

3)  Bosman,    Guinesc    Goud-Tand-en-  Slavekust.    Utrecht  1704.    tom.    I. 
195  u.  Winwood  Reade,  Savage  Africa.  London  1863.  p.  135. 

4)  C.  Sem  per,  Palau-Inseln.  S.  i8t. 


Ehe  und  väterliche  Gewalt.  2±Z 

Gegenwärtig  gebührt  fast  allerorten  dem  Erzeuger   die  väter- 
liche Gewalt  über  seine^  Nachkommen ,   auch  übt   er   bei    roheren 
Völkern  fast  stets  über  die  Frau  die  Rechte  eines  Leibherrn  aus. 
Dennoch  gibt  es  eine  Mehrzahl  von  Völkerschaften,  bei  denen  alle 
Familienrechte  von  der  Mutter  abgeleitet  werden.    Wie  Bosman  von 
der  Goldküste  berichtet,  folgen  der  Mutter  alle  Kinder  in  dem  gleichen 
Stand,  wer  auch  immer  der  Vater  sei.    Sie  werden  für  frei  erachtet, 
w^nn  ihre  Mutter  frei,  und  für  Sklaven,  wenn  sie  eine  Sklavin  war*). 
Dasselbe  Recht  galt  bei  den    alten  Lyciern,    die  sieb    auch   nicht 
nach  ihrem  Vater,  sondern  nach  ihrer  Mutter  nannten ').     Ebenso 
vererben  in  Australien  die  Familiennamen  immer  von  mütterlicher 
Seite  sammt    der  Kaste  ^).|j^  Nicht   anders   halten    es   die  Fidschi^), 
die  Maori  Neu-Seelands,  sowie  die  Mikronesier  des  Marshall-Archipels, 
bei  denen  Adel  oder  Rang  von  der  Mutter  ererbt  wird  ^).    Aehnliche 
Rechtsanschauungen  gelten  dort,  wo  der  junge  Ehemann  das  Haus 
seiner  Schwiegereltern  bezieht  und  in  ihre  Familie  übertritt.  Dies  ge- 
schieht   bei  den  Dayaken  Borneos    und   recht    bezeichnend    ist  es, 
dass  dort  der  Schwiegervater  höher  geehrt  wird  als  der  eigne  Er- 
zeuger^).   Bei  den  Itelmen  Kamtschatkas  gehörte  ebenfalls  der  Gatte 
zum  Ostrog  seiner  Frau  7).     Solche  Familiensatzungen  waren  auch 
weit  verbreitet  in  Amerika.     In  Guayana  folgte  das  Kind  in  allen 
bürgerlichen  Beziehungen    der   Mutter,    so    dass   die   Nachkommen 
einer   Macuschi-lndianerin  und  eines  Wapischiana   zur    Horde    der 
Macuschi,   nicht   zu    dem    väterlichen    Stamm,  gerechnet  würden»). 
Noch  schärfer  gestalteten  sich  diese  Rechtsanschauungen  unter  den 
nordamerikanischen  [Irokesen  und  Huronen.     Die  Verwandtschaft 
zum  Vater   wurde   als    sehr    schwach   angesehen,   und   die  Kinder 
blieben  von  der  Mutter  abhängig  9).     Dieser  allein  stand  das  Recht 


1)  Guinese  Goud-Tand-en  Slave-kust.  Utrecht  1704.  p.  184. 

2)  Herodot,  lib.  I.  cap.  173. 

3)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie.  Bd.  6.  S.  788.    Einige  andere  Beispiele 
dieser  Art  finden  sich  bei  A.  Bastian,  Rechtsverhältnisse.   Berlin  1872.  S.  171 

4)  Ausland.  1859.  S.  89  nach  Williams. 

5)  D.  G.  Monrad,  Das  alte  Neuseeland.     Bremen  1871.   S:  24.     Journal 
des  Museum  Godeffroy.     Hamburg  1873.    Heft  i.  S.  36. 

6)  Spenser  St.  John,  Life  in  the  forests  of  theFarEast.  London  1862. 

vol.  L  p.  50^51. 

7)  G.  Stell  er,  Kamtschatka.  S.  346.  ■ 

8)  Appun  im  Ausland.  1872.  S.  683. 

o)  Charlevoix,  Nouvelle  France,  tom.  HL  p.  287. 

16* 


244 


Ehe  und  väterliche  Gewalt. 


der  Adoption  zu,  um  die  Lücke  eines  erschlagnen  Sohnes  im  Hause 
wieder  auszaftillen.  Daher  entschieden  die  Frauen,  ob  die  Kriegs- 
gefangenen am  Marterpfahle  enden  oder  in  den  Stamm  aufge- 
nommen werden  sollten').  Zur  Huldigung  wurde  ihnen  sogar  die 
Entscheidung  über  Krieg  oder  Frieden  eingeräumt,  da  ja  der 
erstere  Gelegenheit  zum  Erwerb  von  Kriegsgefangenen  bieten  konnte. 
Doch  wurde  es  damit  nicht  ernst  genommen,  denn  in  Wahrheit 
erhielten  sie  gar  keine  Kenntni^s  von  wichtigen  politischen  Unter- 
nehmungen'). War  auch  der  junge  Gatte  in  den  ersten  Jahren 
seinen  Schwiegereltern  Dienstleistungen  schuldig,  so  wurde  doch 
andrerseits  wiederum  die  Ehefrau  verpflichtet,  auf  den  Feldern  ihrer 
Schwiegereltern  zu  arbeiten  und  deren  Haushalt  mit  Holz  zu  ver- 
sorgen^). Es  trübt  daher  die  klare  Auffassung  dieser  Verhält- 
nisse, dass  solche  Familiensatzungen  von  dem  Jesuiten  Lafitau  mit 
einem  straboniscben  Worte''),  nämlich  mit  Gynäkokratie  bezeichnet 
worden  sind,  als  hätten  jemals  irgendwo  in  der  rauhen  Vorzeit  die 
Frauen  im  Haus  geherrscht  und  die  Männer  unter  ihrer  Gewalt 
gestanden.  In  einem  umfangreichen  Werke  hat  J.  J.  Bachofen  so- 
gar die  wenig  glaubwürdige  Ansicht  zu  verbreiten  getrachtet,  dass 
in  den  Anfängen  der  menschlichen  Geseilschaft  die  Mütter  als  Fa- 
milienhäupter gegolten  hätten,  als  ob  von  den  sogenannten  Natur- 
menschen nicht  das  Recht  des  Stärkeren,  sondern  das  Recht  des 
Schwächeren  anerkannt  worden  wäre.  Auch  hat  Bachofen  seine  Be- 
hauptung nicht  anders  beglaubigen  können;  als  durch  Mythen  des 
Alterthums ,  denen  er  eine  erzwungene  Deutung  widerfahren  lässt. 
Ihm  genügt  schon,  dass  die  Männer  in  Altägypten  am  Webstuhl 
Sassen,  als  Beweis  einer  Weibefherrschaft'),  ja  den  erschöpfenden 
Untersuchungen  von  Martins  gegenüber,  fährt  er  noch  immer  fort  zu 
behaupten,  dass  es  in  Südamerika  nicht  blos  in  der  erhitzten  Phan- 
tasie spanischer  Entdecker,  sondern  in  Wirklichkeit  Amazonen- 
gemeinden gegeben  habe*). 

Die  Satzung,  dass  die  Kinder  in  allen  bürgerlichen  Beziehungen 


1)  Charlevoix,  Nouvelle  France,  tom,  III.  p.  244—245. 

2)  1.  c.  p.  269. 

3)  Lafitau,  nioeuis  def  sauvages.  Paris  1724.  tom.  I.  p.  561.  p.  577. 

4)  Strabo,  Geogr.  Üb.  HI,  cap.  IV.  ed.  Tauchn.  I,  266. 

5)  J.  j.  Bachofen,  Dcis  Mutletrecht.  Stuttgart  1861.  g.  53.  i>.  102. 

6)  :^.  a.   O.  §.  62.   S.  1-7. 


Ehe  und  väterliche  Gewalt. 


245 


der  Mutter  angehören,  deutet  nicht  nothwendig  darauf,   dass  die' 
Vaterschaft  als  etwas  unsicheres  angesehen   wurde,   sondern  dass 
die  leiblichen.  Beziehungen  zur  Mutter  als  ungleich   stärker   galten, 
wie  denn  selbst  noch  bis  in   die   neuen  Zeiten    herein  Physiologen 
an  der  Ansicht  festhielten,  dass  die  Thätigkeit  des  Vaters  bei  der 
Erzeugung    der  Kinder    als  eine    ganz    untergeordnete    betrachtet 
werden    müsse.      Welche    seKsame   Vorstellungen    der    sogenannte 
Wilde  von  der  Zeugung  hat,  lehrt  uns  der  Aberglaube  der  Saliva- 
indianer  am  Orinoco,  dass  nämlich  eine  Frau  die  Zwillinge  gebärt 
nothwendig  Ehebruch  begangen   haben   müsse').     Aus    o/ger  Auf- 
fassung   erklärt    sich   das   Vorkommen    des  Neffenerbrechtes,    das 
heisst    des   Rechtes,    den  Bruder    der  Mutter    mit  Ausschluss   von 
dessen  Nachkommen   zu   beerben.      So   wird   bei   den  Tuareg   die 
Häuptlingswürde    stets    auf  die  Schwestersöhne  übertragen*).     An 
der  Goldküste    beerbte    der   Sohn    den   Bruder    der  Mutter,    die 
Tochter  die  Schwester  der  Mutter  3)  und  noch  heutigen  Tages  geht 
der  Thron   im   Königreich    der  Aschanti    nicht  auf  den  nächsten 
Leibeserben,    sondern   auf  den  Bruder  oder  Schwestersohn  über*). 
Ein    Neffenerbrecht    fand   Livingstone    auch    bei    den   Kebrabasa- 
Negern  am  Sambesi  5).     Auf  den  Antillen  schlössen  wenigstens  die 
Schwesterkinder   die   Bruderkinder   als  näherstehend  von    der  Erb- 
folge aus 6).     Sonst  finden  wir  das  Neffenerbrecht  in  Amerika  bei  den 
Koluschen  und  andern  Küstenstämmen  im  Nordwesten  7),    bei   den 
Montagnais   in  Labrador s),  sowie  bei  den  Huronen  und  Irokesen  9). 
Uebrigens  ist  diese  Familiensatzung  gewiss  noch  viel  weiter  verbreitet 
gewesen  und  mag  bei  allen  Völkerschaften  gegolten  haben,  bei  denen 
die  Kinder  dem  Stamm  der  Mutter  folgten.     Wurde  von  Europäern 
nach  der  Ursache  dieser  Familieneinrichtung  geforscht,  so'  lautete 
in  Afrika  wie   in  Amerika   stets  die  Antwort,   dass   über    die  Ver- 
wandtschaft mit  den  Schwesterkindern  nie  ein  Zweifel  bestehen  könne^ 


1)  Jos.  Gumilla,  El  Orinoco  ilustrado.  Madrid  1741.  P.  I.  cap.  13.  p.  127. 

2)  Bulletin  de  la  Soc.  de  G6ogr.  Paris  1863.  Fevr.  p.  123. 

3)  Bosman,  Guinese  Goud-kust.  Utrecht  1704.  tom.  I.  p.  193 — 194. 

4)  Winwood  Reade,  Savage  Africa.  London.  1863    p.  43- 

5)  Zambesi.  p.  162. 

6)  Oviedo,  Historia  general.  lib.  V.  cap.  3. 

7)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  3.  S.  328.   S.  340. 

8)  Youle  Hind,  Labrador.  London  1863.  tom.  IL  p'.  17. 

9)  Charlevoix,  Nouv.  France,  tom.  IIL  p.  267. 


2a6  ^l^e  und  väterliche  Gewalt. 

wohl  aber  über  die  auf  väterlicher  Seite.     Dies  klingt   freilich,  als 
ob  keine  eheliche  Treue  beobachtet  worden  sei  und  die  lockersten 
Sitten  geherrscht  hätten,  doch  sind  wir  noch  immer  geneigt,  diese 
Auffassung  lieber  einer  verkehrten  physiologischen  Ansicht  über  die 
Vaterschaft  zuzuschreiben,    da    das  Neffenerbrecht    bei    so    vielen 
sittenstrengen  Völkern,   wie  den   eben    genannten  Koluschen   vor- 
kommt.    Winwood  Reade,  der  uns  von  den  Negern  des  westlichen 
Afrika   ungünstig  gefärbte  Schilderungen  geliefert  hat,  verschweigt 
doch   nicht,    dass    unbeschadet    des    Neffenerbrechtes    in   Dahome 
und    bei    den    Adiya    der    Insel  Fernando    Po    der   Ehebruch   so- 
gleich oder  im  Wiederholungsfall  mit  dem  Tode  bestraft   wird,   ja 
er  gesteht,  dass  in  Westafrika,  wenn  ein  Mädchen  durch  Fehltritte 
ihre  Familie  beschimpft  hat,  Ausstossung  aus  dem  Hordenverband 
erfolgt^).     Wir   begegnen   dem    Neffenerbrecht  ferner   bei  Völkern, 
wie  den  Irokesen  und  Huronen,  die  Proben   strenger  Enthaltsam- 
keit ablegten,  denn  junge  Ehegatten  mussten  ein  ganzes  Jahr  wie 
Bruder  und  Schwester  zusammenleben,  um  zu  beweisen,  dass  edlere 
Neigungen  als  die  Befriedigung  von  Sinnenlust  sie  zusammengeführt 
hätten').     So  äussert  auch'  Joseph  Gumilla^)  von  den  Indianern  des 
Orinoco :  „Alle  empfinden  schwer  die  Untreue  ihrer  Frauen,  doch  die 
Cariben  allein  bestrafen  sie  exemplarisch,  denn  die  ganze  Gemeinde 
erschlägt  die  Schuldigen  auf  dem  öffentlichen  Platze".     Ein  anderes 
Mal  aber  erzählt  er  von  einer  Indianerin,    die  sich  vergiftete,  um 
nicht  die  Ehe  zu  brechen.    Ungewissheit  über  die  Vaterschaft  kann 
auch  bei  solchen  Stämmen  nicht  zum  Neffenerbrecht  geführt  haben, 
welche  den  Brauch  des  männlichen  Kindbettes  beobachten^).     Die 
Bevorzugung    der   Schwesterkinder    vor   den   eigenen   Leibeserben, 
und   die  Verehrung   des  Mutterbruders   darf  also,   so   lange    nicht 
strenge  Beweise    beigebracht   werden,    nicht  als   ein  Merkmal*  von 
ehelicher  Sittenlosigkeit  gelten. 

Da  sich  ein  schicklicher  Platz  anderwärts  nicht  finden  dürfte, 
sei  uns  an  dieser  Stelle  der  Zusatz  verstattet,  dass  das  Küssen 
nicht  allerorten  Brauch  ist.     Darwin   hat  bereits   mitgetheilt,    dass 

1)  Savage  Africa.  London.  1863.  p.  48.  p.  61.  p.  261. 

2)  Lafitau,  moeurs  des  sauvages,  tora.   I.  p.  574-     Charlevoix,    Nou- 
velle  France,  tom.  III.  p.  286. 

3)  S.  oben  S.  26. 

4)  El  Orinoco  ilustrado.     Madrid  1741.  p.  7^-   P-  342.     Uebrigens  kamen 
auch  grobe  Verachtungen  der  ehelichen  Treue  vor.  1.  c.  p.  72. 


Die  Keime  der  bürgerlichen  Gesellschaft.  247 

in  der  Südsee  die  Maori  Neuseelands,  die  Tahitier,  die  Papuanen, 
endlich  die  Australier  diesen  Ausdruck  der  Zärtlichkeit  nicht,  in  Ame- 
rika aber  weder  Eskimo  noch  Feuerländer  ihn  kennen.  Winwood 
Reade  erregte  das  Entsetzen  eines  Negermädchens  als  er  sie  geküsst 
hatte,  denn  in  ganz  Westafrika  sind  solche  Liebkosungen  ungebräuch- 
lich*), und  ebenso  stiessBayard  Taylor  bei  den  Frauen  Lapplands  auf 
eine  entschiedene  Abneigung  gegen  jede  derartige  Berührung^). 
Sie  ist  selbstverständlich  ausgeschlossen  bei  allen- Völkern,  welche 
die  Lippen  aufschlitzen  und  kleine  Hölzer  einsetzen,  wie  es  die 
Stamme  an  den  Küsten  des  Beringsmeeres  und  ihre  Nachbarn  die 
Koluschen,  ferner  die  Botocuden  in  Brasilien  und  die  südafrikani- 
schen Nieger  thun,  deren  Frauen  das  Pelele  tragen. 


8.    Die  Keime  der  bürgerlichen  Gesellschaft. 

Die  Keime  der  bürgerlichen  Gesellschaft  liegen  eingeschlossen 
in  der  Familie.  Diesen  Verband  haben,  unter  allen  Völkern  der 
Erde  die  Chinesen  am  stärksten  befestigt,  denn  die  Verehrung  der 
Eltern  steigert  sich  bei  ihnen  fast  zu  einem  religiösen  Dienst  Zu 
den  heiligsten  Pflichten,  welche  die  Familienglieder  verknüpfte,  ge- 
hörte die  Blutrache,  eine  Satzung,  die  nicht  etwa  unsern  Abscheu 
verdient,  sondern  in  der  wir  den  ersten  Versuch  zur  Begründung 
eines  Rechtsschutzes  zu  verehren  haben.  Alle  Völker  der  Erde 
haben  in  Vorzeiten  dieses  Gebot  beobachtet,  das  in  Europa  auf 
Corsika  und  unter  den  Albanesen  sich  noch  bis  in  unsere  Tage 
behauptet  hat.  Confutse  legte  dem  Sohne  die  Pflicht  auf,  so  lange 
Waffen  zu  tragen,  bis  er  den  Mörder  seines  Vaters  erreicht  und 
erschlagen  habe.  Auch  die  ausgestorbenen  Tasmanier  beobachteten 
die  Rachepflicht*)  und  ebenso  hafteten  bei  den  ihnen  blutsverwandten 
Australiern  alle  Glieder  einer  Horde   für  jede  Blutthat,    die    einer 


i)  Auch  die  Marquesasinsulaner  (v.  Langsdorff,  Reise  um  die  Welt. 
Bd.  I.  S.  98)  und  wahrscheinlich  alle  Polynesier ,  vielleicht  alle  Völker,  bei 
denen  der  Malayenkuss  (S.  oben  S.  24)  gebräuchlich  ist,  verschmähen  diese 
Liebkosung.     Vgl.  auch  Jagor,  die  Philippinen.  S.  132. 

2)  Savage  Africa.  London  1863.  p.  193. 

3)  Nordische  Reise.  S.  135. 

4)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie.  Bd.  6.  S.  814. 


2J.8  I^ie  Keime  der  bürgerlichen  Gesellschaft. 

der  Ihrigen  begangen  hatte*).  Martins  bezeichnet  diese  Rechtssitte 
als  ein  Gemeingut  aller  Eingebornen  Brasiliens  und  gedenkt  ihrer 
auch  bei  den  Macuschi  und  Arowaken  Guayanas*).  Unter  den 
Bewohnern  der  Fidschigruppe  vererbte  die  Rache  vom  Vater  auf 
den  Sohn  und  von  diesem  auf  die  nächsten  Verwandten^).  Die 
günstigen  Wirkungen  dieser  Schutzpfiichten  äussern  sich  auch,  wenn 
der  strafende  Arm  nicht  den  Thäter  selbst  ereilt,  sondern  nur  auf 
einen  fallt,  der  mit  ihm  in  gleichem  Racheverband  steht. 

Wunderlich  mag  es  lauten,  dass  der  Völkerkundige  mit  inniger 
Freude  der  Ausbildung  dieser  Pflichtenlehre  nachforscht,  aber  eine 
Begebenheit,  deren  Schauplatz  das  nördliche  Arabien  ist,  wird  jedes 
Befremden  in  Zustimmung  verwandeln.  Im  Jahre  1863  wurde  der 
Italiener  Guarmani  vom  Kaiser  Napoleon  III.  nach  dem  Nedschd 
geschickt  um  Edelrosse  einzukaufen.  Er  zog  am  Beginn  des  März 
1864  mit  den  Beni  Ehtebe,  einer  Beduinenhorde  umher,  als  diese 
von  ihrem  Feinde  dem  Emir  Abdallah  Ihn  Feisal  ibn  Sa*ud  ange- 
griffen wurde.  Der  Kampf  währte  mehrere  Tage,  bis  zuletzt  den 
Beni  Ehtebe  ein  unerwarteter  Helfer  erschien,  mit  dem  sie  ihre 
Gegner  in  die  Flucht  trieben.  Zu  den  Hilfsvölkem  des  Emir  ge- 
hörten auch  die  Beni  Kahtan,  welche  während  der  Gefechtstage 
vom  9.  bis  14.  März  beständig  gegen  die  Beni  Ehtebe  geplänkelt, 
aber  zugleich  in  vorsichtiger  Ferne  sich  gehalten  hatten.  Als  die 
Sieger  den  Walplatz  musterten,  fanden,  sie  unter  den  Erschlagenen 
nicht  einen  einzigen  der  Kinder  Kahtan,  welche  übrigens  die  erste 
schickliche  Gelegenheit  zur  Flucht  ergriffen  hatten.  Da  das  Gesetz  der 
Blutrache  eine  genaue  Buchführung  nicht  blos  über  alle  Tödtungen, 
sondern  auch  über  die  Körperverletzungen  erfordert,  so  war  es 
bedeutsam,  dass  andererseits  keiner  der  Beni  Ehtebe  seine  Ver- 
wundung einem  der  Beni  Kahtan  zuschrieb'^).  Das  Räthsel  übrigens 
war  für  die  Beduinen  leicht  zu  lösen.  Die  Kahtan-Horde  hatte 
mit  den  Ehtebe  bisher  in  Frieden  gelebt  und  nur  gezwungen  dem 
Emir  in  den  Kampf  folgen  müssen.  Wie  auf  Verabredung  war  zwi- 
schen diesen  Stämmen  nur  zum  Schein  gefochten  worden  und  wenn 


i)  Waitz,  1.  c.  S.  744  if. 

2)  Ethnographie.  Bd.  I,  S.  127.  S.  650.  S.  693. 

3)  H.  Greffrath  in  Zeitschrift  für  Erdkunde.  Berlin  1871.  Bd.  6.  S.  543. 

4)  Guarmani,  Itin^raire  au  Neged  septentrional,  im  Bulletin  de la  Soci^t^ 
de  G6ogr.  Paris.  Septbr.  1865.  V^me  Sirie.  tom.  X.  p.  283. 


Die  Keime  der  bürgerlichen  Gesellschaft.  249 

daher  beiderseitig  kein  Blut  floss,  so  erwies  sich  gerade  das  Rache- 
gesetz als  wohlthätige  Ursache,  denn  wäre  es  auch  nur  zu  Ver- 
wundungen gekommen,  so  hätte  sich  daraus  eine  Kette  von  Ge- 
waltthaten  bis  auf  ferne  Geschlechter  vererbt.  Wir  erkennen  da- 
raus, dass  die  Blutrache  zum  Lebensschutz  ersonnen  worden  ist. 
Wer  daher  unter  Arabern  seinen  eigenen  Verwandten  umbringt, 
verfällt  keinem  Rächer,  da  er  sich  selbst  geschädigt  hat,  und  ebenso 
wenig  zieht  die  Tödtung  eines  Vogelfreien  oder  äUis  dem  Stamm- 
verband Gestossenen  irgendwelche  Folgen  nach  sich^).  Wo  die 
Rache  zur  Pflicht  wird,  trifft  Verachtung  denjenigen,  der  sie  nicht 
vollzieht*).  Eben  weil  die  Vergeltung  jsur  Ehrensache  erhoben 
wird,  stösst  aber  die  Beilegung  der  Blutfehden  auf  grosse  Schwierig- 
keiten. Am  leichtesten  gelingt  sie,  wenn  die  Zahl  der  TÖdtungen 
und  Verwundungen  auf  beiden  Seiten  eine  gleiche  Höhe  erreicht 
hat.  Der  Rest  muss  dagegen  durch  Geldeswerth  gesühnt  werden. 
Die  Aneze  Beduinen  fordern  für  das  Blut  eines  Freien  50  weibliche 
Kamele,  ein  Reitkamel,  eine  Stute,  einen  schwarzen  Sklaven,  einen 
Panzer  und  eine  Flinte ;  andere  Stämme  verlangen  Geld  iin  Werthe 
von  50  Pfd.  Sterl.,  noch  andere  nur  die  Hälfte^). 

Mildern  sich  die  Sitten,  so  wird  die  Sühnung  durch  Geldes- 
werth zur  Gewohnheit  and  es  entwickelt  sich  daraus  der  Brauch 
des  Wer-  oder  was  dasselbe  sagen  will  des  Leutgeldes.  Wo 
solche  Bussen  auferlegt  werden,  hat  vormals  überall  Blutrache  ge- 
herrscht. In  Guinea  wurde  zu  Bosmans*)  Zeiten,  also  am  Beginn 
des  i8.  Jahrhunderts  der  Todtschlag  jedes  Freien  mit  schwerem 
Gelde  gesühnt,  welche«  den  Verwandten  zufiel.  Wenig  verträglich 
mit  unserm  Rechtsgefühl  ist  es,  dass  in  Slam  auf  die  Tödtung  eines 
Greises  eine  geringere  Summe,  als  auf  die  l^dtung  von  rüstigen 
Männern  gesetzt  wird  5).     Unsere  Vorfahren  entrichteten  das  Wer- 


1)  V.  Maltzan,  Sittenschilderungen  aus  Südarabien.  Globus  1872.  Febr. 
Bd.  XXI.  S.  123. 

2)  Bei  den  Kuki,  einem  südasiatischen  Stamm  galten  die  Angehörigen  des 
von  einem  Tiger  Zerrissenen  so  lange  entehrt,  bis  sie  einen  Tiger  getödtet 
hatten.     Tylor,  Anfange  der  Cultur.  Bd.  i.  S.  282. 

3)  Burckhardt,  Notes  on  the  Bedouins.     London  1830.  p.  87. 

4)  Guinese  Goud-Tand-en  Slave-kust.  Utrecht  1704.  p.  159. 

5)  Brossard  deCorbigny»in  Revue  maritime  et  coloniale.  tom.  XXXIII. 
Aoüt  1872.  p.  73. 


250  I^ic  Keime  der  bürgerlichen  Gesellschaft. 

geld  theils  an  die  Familie  des  Erschlagenen,  theils  an  das  Gemein- 
wesen^). Unter  den  Kafirn  ist  die  Rechtsentwickelung  schon  so 
weit  fortgeschritten,  dass  die  Sühngelder  nicht  dem  Beschädigten, 
sondern  dem  Häuptling  zufallen,  gleichsam  als  sei  durch  den 
Friedensbruch  der  Gesellschaftsverband,  oder  "derjenige,  der  ihn 
vertritt,  verletzt  worden*).  Dass  die  Angehörigen  leer  ausgehen, 
rechtfertigen  sie  nait  dem  schönen  Worte:  man  könne  sein  eigen 
Blut  nicht  essen  "5).  Die  Blutrache  fordert  eine  entsprechende 
Wieder  Vergeltung,  nämlich  nach  den  Bibel  worten:  Auge  um  Auge, 
Zahn  um  Zahn,  Leben  um  Leben.  Auch  in  der  römischen  Ge- 
sellschaft hat  sich  das  Strafrecht  aus  dieser  Vorstellung  entwickelt, 
denn  zur  Zeit  der  Zwölftafelgesetze  wurde  noch  immer,  wenigstiens 
bei  schweren  Körperverletzungen  die  Wiedervergeltnng  vollstreckt, 
wenn  der  Beschädigte'  nicht  vorzog,  sich  abfinden  zu  lassen^). 

Wo  irgendwo  auf  Erden  der  Mensch  zu  Brauch  oder  Genuss 
eine  Sache  ergriffen  hatte,  da  hielt  er  sich  von  jeher  für  ihren 
Eigenthümer.  Ahnungen  von  den  Rechten  des  Besitzers  mangeln 
*  selbst  in  der  Thierwelt  nicht,  in  ßezug  auf  das  Nest  sind  sie  bei 
nistenden  Vögeln  vorhanden.  Im  Londoner  Thiergarten  .^bediente 
si^h  ein  Aife  mit  Sjchwachem  Gebiss  eines  Steines  zum  Oeffnen 
von  Nüssen,  und  verbarg  ihn  nach  jedesmaligem  Gebrauch  im  Stroh, 
liess  ihn  auch  von  keinem  andern  Affen  berühren  5).  Unser  Fuhr- 
mannsspitz bewacht  die  Güter  seines  Herrn,  und  gebärdet  sich  aufs 
deutlichste  als  Schützer  des  Eigen thums.  Ein  Beobachter,  wie 
Appun,  der  viele  Jahre  unter  den  Eingebornen  Guayanas  gelebt 
hat,  versichert,  dass  die  Habe  des  Einzelnen  von  allen  Mitbe- 
wohnern einer  Hütte  heilig  gehalten  werde  6).  Aber  selbst  Vor- 
stellungen vom  Recht  an  unbeweglichen  Sachen  entstehen  in  einer 
sehr  frühen  Zeit.     Bei  Jägern  gilt  das  Revier  immer  als  Gesammt- 


1)  Tacitus,  Germ.  cap.  12.  pars  multae  regi,  vel  civitati,  pars  ipsi',  qui 
vindicatur,  vel  propinquis  ejus  absolvitur;  vgl.  dazu  J.  Grimm,  deutsche 
Rechtsalterthümer.  2.  Ausgabe.  S.  652.  u.  G.  Geib,  Lehrbuch  des  deutschen 
Strafrechtes.  Leipzig  1861.  S.  156. 

2)  Fritsch,  Eingeborne  Südafrikas.  S.  97. 

3)  Maclean,  Kafir  Laws  and  Customs.     Mount  Coke.  1858.  p.  35.  > 

4)  Si  membrum  rupit,  ni  cum  eo  pacit,  talio  esto.  Tab.  VIII.  fr.  2. 
H.  E.  D.irksen,  Uebersicht  der  Zwölf tafel-Fragmente.  S.  517. 

5)  Darwin,  Abstammung  des  Menschen.  Bd.  i.  S.  44. 

6)  Ausland  1872.  No.  29.  S.  682. 


*"  Die  Keime  der  bürgerlichen  Gesellschaft.  25 1 

eigenthum  der  Horde.  Flüsse,  Wasserfalle,  Berge,  Felsen  und 
Bäume  werden  als  Grenzzeichen  von  den  Brasilianern  benutzt^). 
Ein  Duell  zwischen  zwei  Botocudenhorden ,  welchem  der  Prinz  zu 
Neuwied  beiwohrfte,  sollte  als  Sühne  für  einen  Einbruch  in  ein 
fremdes  Jagdrevier  dienen*).  Bei  den  Australiern,  auf  welche  die 
ältere  Völkerkunde  am  tiefsten  niederzublicken  pflegte,  wurde  das 
Eigenthum  an  Grund  und  Boden  streng  beachtet..  Benilong,  ein 
Eingeborner  von  Neu  Süd-Wales,  hatte  die  Insel'  Memel  (Goat  Is- 
land der  Engländer)  von  seinem  Vater  geerbt  undj;' gedachte  sie 
einem  Freunde  zu  hinterlassen^).  Es  kommen  sogar  Theilungen 
des  Erbes  bei  Lebzeiten  unter  ihnen  vor,  und  so  streng  wurden 
die  Rechte  [des  Eigenthümers  geachtet,  dass  Niemand  ohne  Kr- 
laubniss  auf  dessen  Gebiete  Bäume  fällen  oder  Feuer  anzünden 
durfte.  Zustände,  wo  unter  Menschen  Eigenthum  nicht  unter- 
schieden worden  wäre,  liegen  also  jenseits  der  Grenze  unsres  For- 
schens.  Wo  der  Acker  von  sesshaften  Bewohnern  bebaut  wird,  da 
sorgt  man  bereits  für  eine  scharfe  Theilung  der  Fluren.  Auf  den 
.dichtbesiedelten  nördlichen  Nicobaren  trifft  man^ Grenzsteine,  auf 
den  südlichen,  wo  noch  Raum  genug  ist,  fehlen  sie*).  Unter  den 
alten  Bewohnern  von  Cumanä  am  caribischen  [Golfe  sahen  die 
Spanier  die  Felder  mit  baumwollnen  Schnuren  abgegrenzt  und  jede 
Verletzung  dieser  Schranken  wurde  als  ein  Frevel  angesehen^).  Don 
Diebstahl  betrachteten  die  Bewohner  der  Küste  Venezuelas  und  der 
Antillen  als  das  verwerflichste  Verbrechen  und  bestraften  ihn  mit 
qualvollem  Tode^).  Zu  den  Ueberschwenglichkeiten  despotischer 
Reiche  gehört  es,  wenn  die  Krone  auch  in  so  dicht  bevölkerten 
Gebieten,  wie  im  britischen  und  im  malayischen  Indien  zum  allei- 
nigen Eigenthümer  von  Grund  und  Boden  erhoben,  das  Land  aber 
an  die  Unterthanen  nur  verpachtet  wird.  Auch  im  alten  China  be- 
stand diese  Staatseinrichtung 7).  Ebenso  war  zur  Incazeit  in  Peru 
kein  Eigenthum  denkbar,  denn  es  herrschte  dort  eine  strenge 
Gütergemeinschaft  oder  besser,  es  gab   nur  einen    einzigen  Eigen- 


1)  Martius,  Ethnographie  Bd.  i.  S.  81 — 82. 

2)  Reise  nach  Brasilien.  Frankf.  1820.  Bd.  i.  S.  370. 

3)  Dumont  d*Urville,  Voyage  de  TAstrolabe  tom.  I.  p.  469. 

4)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  i.  S.  440. 

5)  Petrus  Martyr,  De  orbe  novo.  Dec.  VIII,  cap,  6. 

6)  Gomara,  Historia  de  las  Indias.  cap.  28.  cap.  68. 

7)  Plath,  Gesetz  und  Recht  im  alten  China.  München  1865.  S.  18. 


2C2  Die  Keime  der  büigerlicHen  Gesellschaft. 

thümer,  den  Sonnensohn,  der  durch  seine  Beamten  die  Frohndienste 
den  Unterthanen  auferlegte  und  alle  Erzeugnisse  der  Arbeit  wieder 
unter  sie  vertheüen  liess.  Uebrigens  war  diese  Ordnung  der  Dinge 
nicht  auf  Peru  beschränkt,  sondern  wie  die  Inca  verfuhren  die 
Caziken  der  Antillen*)  und  die  Häuptlinge  der  Otomaken  im  heu- 
tigen Venezuela').  Wo  den  Häuptlingen  göttliche  Abkunft  zuge- 
schrieben wird  und  sie  für  höhere  Wesen  gelten,  da  kann  ihnen 
gegenüber  das  Eigenthum-nicht  streng  aufrecht  erhalten  werden. 
Bei  den  Polynesiern  und  polynesischen  Mischvölkern  wird  alles  was 
der  Fürst  betastet  oder  betritt  tabu  oder  unberührbar  für  Jeder- 
mann und  es  ist  oft-  schon  dargestellt  worden,  welchen  lästigen 
Vorsichtsmass regeln  die  Häuptlinge  sich  unterziehen  mussten,  um 
die  unerwünschten  Rechtsfolgen  zu  vermeiden,  dass  sie  beispiels- 
weise über  Fluren  hinweg  getragen  wurden,  um  deren  Tabuirung 
abzuwenden. 

Mit  der  Art  des  Nahrungserwerbes  hängt  am  innigsten  die 
Gliederung  des  Gemeinwesens  zusammen.  Wo  sich  der  Mensch 
zum  Manschen  gesellt,  da  erhebt  sich  auch  stets  eine  Obrigkeit. 
Am  lockersten  sind  alle  gesellschaftlichen  Fesseln  der  herumstrei- 
chenden Jägerhorden  Brasiliens,  die  aus  wenigen,  oft  nur  aus  einer 
einzigen  Familie  bestehen.  Aber  auch  diese  haben  ihr  Revier  zu 
beschützen  und  bedürfen  wenigstens  eines  Anführers  im  Kriege. 
Bei  allen  Jägern  und  Fischern  ist  die  Macht  der  Häuptlinge  sehr 
beschränkt,  oft  nicht  einmal  erblich.  Die  Indianer  Nordamerikas, 
die  Australier,  die  Buschmänner,  die  Eskimo  haben  ihren  Ober- 
häuptern nur  den  Schatten  von  Macht  gegönnt.  Die  Jagd  und 
der  Fischfang  sind  eben  diejenigen  Erwerbsarten,  zu  denen  der 
Einzelne  am  Wenigsten  den  Beistand  von  Mitmenschen  bedarf.  „In 
jedem  Ameisenstaat,  ruft  der  Pater  Gumilla^)  mit  Bezug  auf  die 
Indianer  am  Orinoco  aus,  herrscht  mehr  Ordnung  und  Obrigkeit, 
als  bei  den  Völkerschaften,  über  die  ich  geschrieben  habe". 
Gunstiger  urtheilt  ein  anderer  Jesuit,  Charlevok^),  über  die  Indianer 


el,  Zeitalter  der  Entdeckungca.  S.  igz. 

«.  Gumilla,   Et   Orinoco  ilustrado.   Madrid  174t. 


3)  El  Orinoco  iluslrado.     P.  I,  cap.  8.  p.  70. 

4)  NouveUe  France,  lom.  III,  p.  341. 


Die  Keime  der  bürgerlichen  Gesellschaft.  253 

Nordamerika's.  Ohne  sichtbare  Beherrscher,  sagt  er,  gemessen 
sie  alle  Vortheile  einer  wohlgeordneten  Regierung.  Hirten- 
stämme treffen  wir  meistens  unter  patriarchalischen  Häuptern, 
denn  die  Ileerden  gehören  gewöhnlich  nur  einem  Herrn,  dem  als 
Gesinde  seine  Stammesangehörigen  oder  ehemalfg  unabhängige, 
später  verarmte  Heerdenbesitzer  dienstbar  geworden  sind.  Dem 
Hirtenleben  sind  vorzugsweise,  wenn  auch  nicht  ausschliesslich  die 
grossen  Völkerbewegungen  eigen,  sowohl  im  Norden  der  Alten 
Welt  wie  in  Südafrika,  die  Geschichte  Amerikas  kennt  dagegen 
nur  Einbrüche  von  rohen  Jägerstämmen  in  die  lockenden  Gefilde 
von  Culturvölkern.  Dass  ganze  Völkerschaften  ihre  bisherigen 
Wohnstätten  abbrechen,  vorwärts  drängen  und  grosse  Erdräume 
durchwandern,  ist  überhaupt  nur  denkbar  ii;  Begleitung  von  Heer  den, 
welche  auf  dem  Marsche  die  nöthige  Nahrung  gewähren.  Die 
Viehzucht  auf  Steppen  nöthigt  ohnehin  zum  Wechsel  der  Weide- 
plätze. Mit  dem  Ses^haftwerden  und  dem  Ackerbau  regt  sich  aber 
sogleich  die  Begierde  nach  Sklavenarbeit.  Jäger,  die  nur  unter 
beständiger  Anstrengung  sich  und  ihre  Familien  ernähren^  können 
Unfreie  nicht  in  ihrem  Hausstande  ver^venden.  Anders  verhält  es 
sich  schon,  wo  Fischfang  betrieben  wird,  denn  dann  treffen  wir 
hin  und  wieder  schon  Sklaverei,  wie  an  der  Nordwestküste  Ame- 
rikas bei  den  Kodjaken  und  Koluschen,  sowie  bei  den  Aht  der 
VancouverinseP),  welche  letztere,  beiläufig  bemerkt,  ihren  Leibeigenen 
das  Haar  kurz  scheeren.  Früher  oder  später  führt  die  Sklaverei 
stets  zur  Willkürherrschaft,  denn  derjenige,  welcher  die  grÖsste  An- 
;zahl  Sklaven  besitzt,  wird  mit  ihrem  Beistande  leicht  alle  Schwächeren 
unterdrii^en.  Sklaverei  ist  die  Regel  in  ganz  Mittelafrika,  daher 
auch  dort,  wohin  wir  blicken,  nur  Despotien  auf  den  Trümmern 
von  Despotien  erwachsen  sind. 

Mit  der  Unterscheidung  von  Freien  und  Unfreien  gliedert  sich 
die  Gesellschaft  in  Stände  und  selbst  unter  Negern,  wenn  auch 
selten,  wie  an  der  Goldküste  oder  im  Congolande  entsteht  ein 
Adel^).     Das  gleiche  geschieht  dort,  wo  eine  erobernde  Race  sich 


1)  Waitz,  Anthropologie  Bd  3.  S.  313,  329  und  Sproat  im  Anthropol. 
Review.  London  1868.  tom.  VI,  p.  369.  .Selbst  bei  den  Botociiden  will  man 
kriegsgefangene  Sklaven  gesehen  haben.  Prin^  zu  Neuwied,  Reise  nach 
Brasilien.     Frankfurt  1821.     Bd.  2.  S.  45. 

2)  Antonio  Zucchelli,  Missione  di  Congo.  Venezia  1712.  IX,  7.  p.  14Ö. 


254  ^^^  Keime  der  bürgerlichen  Gesellschaft. 

einen  fremden  Volksstamm  unterwirft.  Dann  werden  die  physi- 
schen Merkmale  gewöhnlich  zu  Wahrzeichen  der  besseren  Abkunft 
erhoben,  wie  ja  der  indische  Ausdruck  für  Kaste,  varna,  soviel  wie 
Farbe'),  Hautfarbe  nämlich,  bedeutet.  Wenn  die  Könige  von 
Spanien  einen  eingebornen  Amerikaner  in  den  Adelstand  erhoben^  so 
lautete  die  Formel,  „er  möge  sich  forthin  als  einen  Weissen  be- 
trachten". Dass  auch  unter  Jägerstämmen  eine  Scheidung  nach 
vornehmer  und  niederer  Abkunft  eintreten  solle ,  ist  schwierig  zu 
^erklären.  Bei  den  Australiern  gibt  es  gleichwohl  drei  Kasten,  die 
keine  Zwischenheirathen  verstatten*),  obgleich  nirgends  beobachtet 
worden  ist,  dass  Mitglieder  einer  Horde  irgendwelche  Bevorzugung 
genossen.  Uebrigens  ist  noch  sehr  dunkel,  was  über  das  angeb- 
liche Patriciat  unter  diesen  Menschenstämmen  mitgetheilt  wird^). 
Sollte  diese  Einrichtung  nur  auf  die  Coburg-Halbinsel  im  Norden 
beschränkt  sein  ^) ,  dann  wäre  sie  einer  Einwanderung  aus  den  Inseln 
im  Nordeu  zuzuschreiben.  Unter  den  Malayen  nämlich,  sowie  bei 
den  ihnen  verschwist^rten  Polynesiern  findet  sich  ein  Adelstand, 
welcher  letzterer  sich  meistens  wieder  in  viele  Stufen  gliedert  5).  Bei 
den  Tonganern  traf  Mariner  ausser  den  Fürsten  einen  hohen  und 
niedern  Adel  und  zwei  Classen  von  Plebejern^).  Adclsvorrechte  und 
Kastenwesen  stehen  auch  bei  papuanisch-polynesischen  Misch- 
völkern, wie  bei  den  Bewohnern' der  Fidschigruppe  oder  der  Palau- 
inseln  in  üppiger  Blüthe.  Da  wir  über  die  Zustände  der  unverialschten 
Papuanen  in  Neu-Guinea  noch  lange  micht  genügend  unterrichtet 
sind,  die  Macht  der  Häuptlinge  dort  übrigens  als  sehr  schattenhaft 
geschildert  wird,  die  Neu-Caledonier  ferner,  welche  übrigens  der 
Blutmischung  nicht  unverdächtig  sind,  ausser  der  Häupd|pgswürde, 
keine  Standesunterschiede  anzuerkennen  scheinen,  so  dürfen  wir  es 
nur  polynesischem  Einflüsse  zuschreiben,  wenn  so  viele  papuanische 
Mischstämme  nach  Kasten  sich  gegliedert  haben. 

In   Amerika   treffen   wir  -den  Geburtsadel   zunächst    bei    den 


i)  Adalbert  Kuhn  in  "Webers  indischen  Studien.  Bd.  i.  S.  331. 

2)  Earl  in  Joum.  of  thc  R.  Geogr.  Soc.  vol.  XVI,  p.  240. 

3)  Reise  der  Fregatte  Novara.  Anthropologie.  Bd.  3.  S.  8. 

4)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie.  Bd.  6.  S.  789. 

5)  Beispielsweise    in    d^r    Landschaft    Holontalo    in    Nord-Celebes    nach 
Riedel  in  Zeitschr.  für  Ethnologie.  1871.  S.  255. 

6)  Tonga  Islands.  Edinburgh  1827.  tom.  II,  p.  87  sq. 


Die  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern.  255 

Koluschen  an  der  Küste  des  jetzigen  Gebietes  Alaska,  sowie  be 
ihren  Nachbarn,  den  Haidah  der  Charlotteinseln.  Hier  wie  dorti 
führen  die  Familien  ihre  Wappen,  die  aus  Thierbildern  bestehen'). 
Bei  den  südlicher  sitzenden  Stämmen  der  Nordwestküste  Amerikas 
wurde  die  adelige  Geburt  an  der  künstlichen  Abflachimg  des 
Kopfes  erkannt,  denn  diese  Auszeichnung  gebührte  nur,  wie  wir 
gesehen  haben,  den  Freigeborenen  %  Die  Irokesen  duldeten  keine 
Standesunterschiede,  die  Algonkinen  und  ihre  südlichen  Nachbarn 
dagegen  sonderten  sicK  streng  in  Edle,  Gemeine  und  Sklaven 3)^ 
In  Südamerika  gründeten  die  Sonnensöhne  Perus  in  ihrem  Reiche 
einen  doppelten  Adel,  denn  ausser  den  zahlreichen  Incas  •oder 
Abkömmlingen  des  königlichen  Blutes*),  setzten  sie  in  den  er- 
oberten Provinzen  die  Curacas  oder  Ortshäuptlinge  als  Obrigkeiten 
ein,  denen  verstattet  wurde  sich  das  Ohr  zu  durchbohren,  wie  die 
Sonnenkinder  5).  Endlich  finden  wir  bei  den  Guaranistämmen  und 
bei  den  Abiponen  am  rechten  Ufer  des  Paraguay  eine  scharfe 
Unterscheidung  zwischen  Leuten  vornehmer  und  niederer  Abkunft. 
Alte  Frauen,  berichtet  Dobrizhoffer ,  deren  Reichthum  nur  in  den 
Rifnzeln  ihrer  Gesichter  bestand,  rühmten  sich  mit  hohen  Worten, 
dass  sie  nicht-  von  gemeinen  Eltern  abstammten.  Im  Gespräche 
mit  Adeligen  wurden  allen  Zeit-  und  Hauptwörtern  die  Sylben  in 
oder  en  hinzugefügt,  je  nachdem  die  angeredete  vornehme  Person 
ein  Mann  oder  eine  Frau  war^). 


9.    Die  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern. 

Auf  allen  Gesittungsstufen  und  bei  allen  Menschenstämmen 
werden  religiöse  Empfindungen  stets  von  dem  gleichen  inner n 
Drang  erregt,  nämlich  von  dem  Bedürfniss,  für  jede  Erscheinung 
und  Begebenheit  eine  Ursache  oder   einen  Urheber  zu    erspähen. 


1)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  3.  S.  329.  Ausland  1868.  S.  957. 

2)  S.  oben  S.  23. 

3)  La  fit  au,  Moeurs  des  sauvages  amöriquains.    Paris  1724.  tom.  I,  p.  563. 

4)  Clements  Markham  vermuthet,  dass  der  Incatitel  ursprünglich  nicht 
blos  dem  Herrscherhause,  sondern  allen  Stammhäuptern  des  Incavolkes  zuge- 
kommen sei.    Journal  of  the  R.  Geogr.  Soc.  London  1871.  vol.  XCI.  p.  288. 

5)  Garcilasso,  Commentarios,  lib.  I,  cap.  21  u.  22. 

6)  Geschichte  der  Abiponer.  Wien  1783.  Bd.  2.  S.  128.  S.  236. 


256  ^ic  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern. 

Dazu  gesellt  sich  bei  den  kindlich  gebliebenen  Völkern  das  Unver- 
mögen, die  Gegenstände  der  sinnlichen  Wahrnehmungen  anders  als 
beseelt  zu  denken.  Dass  sie  selbst  Steinen  und  Felsen  Willenshand- 
lungen und  menschliche  Empfindlichkeit  zutrauen,  werden  wir 
sofort  zu  erwähnen  haben.  Nicht  blos  den  Thieren,  sondern  auch 
den  Gewächsen  schreiben  die  Dayaken  Borneos  ein  seelenhaftes 
Wespn,  semungat  oder  semungi  geheissen,  zu.  Kränkelt  eine 
Pflanze,  so  sehen  sie  darin  eine  zeitweilige  Abwesenheit  ihres  un- 
sichtbaren Ichs  und  wenn  der  Reis  verfault,  so  ist  seine  Seele  ent- 
wichen'). Als  der  Missionär  Phillips  an  einem  schwülen  Tage 
geg^n  einen  jungen  Feuerländer  über  die  Tageshitze  klagte,  rief 
der  Knabe  ängstlich:  „Sprich  nicht  die  Sonne  sei  heiss,  gleich 
verbirgt  sie  sich  und  der  Wind  weht  kalt!"^  Werden  daher  die 
Dinge  der  Aussenwelt  als  beseelt,  als  willensmächtig  und  als  leiden- 
schaftlich vorgestellt,  so  können  sie  auch  als  Anstifter  von  Unfällen 
gelten,  deren  wahre  Ursache  sich  dem  Denkvermögen  entzieht. 
Was  bei  solchen  Stimmungen  unter  unentwickelten  Menschen- 
stämmen im  Dunkel  der  Gemüther  sich  vollzieht,  wird  durch  eine 
oft  benutzte  Mittheilung  des  afrikanischen  Reisenden  Lichtenstein  3) 
hell  beleuchtet.  Der  Häuptling  einer  Kafir-Horde,  der  Ama^osa, 
hatte  von  einem  gestrandeten  Anker  ein  Stück  abbrechen  lassen. 
Bald  nachher  starb  der  Mann,  welcher  seinen  Befehl  ausgeführt 
hatte,  und  da  nun,  wie  wir  beiläufig  hinzusetzen  wollen,  eine  ganze 
Reihe  von  Völkern  aller  Erdtheile,  zu  denen  auch  die  Kafirn  ge- 
hören, jeden  Tod  eines  Menschen  übernatürlichen  Ursachen 
zuschreibt,  so  genoss  der  verletzte  Anker  von  jener  Zeit  an 
stets  die  Efirfurchtsbezeugungen  der  Amayosa.  Die  Australier  in 
Neu -Süd -Wales  halten  es  für  einen  Frevel  in  der  Nähe  von 
Felsen  zu  pfeifen,  denn,  so  erzählten  sie  Dumont  d'Urville*),  es 
hätten  einst  etliche  der  Ihrigen  am  Fusse  einer  Steinwand  gepfiffen, 
und  wären  deshalb  durch  herabstürzende  Blöcke  erschlagen  worden  5). 

1)  Spenser  St.  John,  Life  in  the  forests  of  the  Far  Easl.  London 
1862.  tom..  I.  p.  177 — 178. 

2)  Ausland  1861.  S.  lOii. 

3)  Reisen  im  südlichen  Afi-ika.  Berlin  18 ii.  Bd.  i.  S.  411. 

4)  Voyage  de  TAstrolabe,  tora.  I,  p.  463. 

5)  Sehr  merkwürdig  ist  es,  dass  auch  auf  den  Tongainseln  jedes  Pfeifen, 
als  unehrerbielig  gegen  die  Götter,  vermieden  wurde.  Mariner,  Tonga- 
Islands,  tom.  II.  p.  124. 


Die  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern.  257 

Die  Redensart,  dass  sich  schon  vom  Klange  der  Glöckchen  am  Halse 
der  Maulthiere   die  Lawinen    lösen    sollen,    beruht    ganz   sicherlich 
nicht  auf  Erfahrung,  sondern  deutet  auf  einen  alten  Aberglauben 
im  Style  des  eben  erwähnten  australischen.     Ferner  gehört  hierher, 
dass  die  papuanischen  Bergvölker   oder  Wuka   in  ^feuguinea   ihre 
Schwüre  bei  einem    hohen  Berge  ablegen,   der   sie    im  Falle    des 
Meineides  überschütten  möge').     Am  Attaranflusse  in  Pegu   sollte 
etwa  40  Jahre  vor  dem  Besuche  der  Gräfin  Nostiz^)  ein  gewaltiger 
Thinganstamm  zum  Aushöhlen  eines  Kriegsbootes  gefallt  werden. 
Beim  Umsinken  erschlug  er  unglücklicherweise  über  hundert  Men-. 
sehen.     Sogleich    wurde   die    Stelle   als   ein   Zauberort    betrachtet, 
und  auf  dem  Stumpfe  des  Baumes  eine  Kapelle  für  die  Nat  oder 
Waldgeister    errichtet.     Als    im  Jahre    1698    der    König    von    Cu- 
massie    starb,    und    ihm    bald    nachher  sein    bitterer   Feind,    der 
holländische   Oberfactor   des   Forts  Elmina,   ins    Grab   nachfolgte, 
sahen    die   Neger,   die   ihre    Abgeschiedenen    als    göttliche  Wesen 
verehren,    in    dem    Tod    des   X.etzteren    ein    Werk    ihres    voraus- 
gegangenen Fürsten  3).     Sehr   leicht  erkennen  wir  in    allen   diesen 
Fällen  eine  Schwäche   des  Denkvermögens,   als   müssten  Begeben- 
heiten, die  der  Zeit  nach  auf  einander   folgen,   in    einem  ursäch- 
liehen    Zusammenhang    stehen.     So    verehrten    auch    die    Itelmen 
Kamtschatkas   die  Bachstelzen   als   Verbreiter   des  Frühlings,   weil 
mit  ihrer  Ankunft  die  bessere  Jahreszeit  sich  einstellte*),  und  unsre 
Vorfahren  müssen  einen  ähnlichen  logischen  Fehler  begangen  haben, 
wie  uns  die  Red^sart  bezeugt,  dass  eiije  vereinzelte  Schwalbe  den 
Sommer    nicht    bringe.      Stets    also    waren    es    die    Urheber    er- 
schreckender  oder   ersehnter  Begebenheiten,    welche  die  religiöse 
Verehrung  auf  sich  zogen.     Von  dem  viel  gefeierten  König  Tez- 
cucos  Netzahualcoyotzin  versichert  uns   ei»  eingeborner  mexicani- 
scher  Geschichtschreiber,  er  habe  einen  unbekannten  Gott  yerehrt 
unter  dem  Namen  Ursache  der  Ursachen  s).     Es  ist  also  der 
Drang   nach   einem  unsichtbaren  Urheber,   der   dazu   führt,  auch 


i)  O.  Finsch,  Neu-Guinea.  S.  86. 

2)  Helfer' s  Reisen  in  Vorderasien   und   Indien.    Leipzig  1873.  Bd.   2. 

S.  155- 

3)  Bosman,  Guinese  Goud-kust.  Utrecht  1704.  tom  I.  p.  152. 

4)  Georg  Steller,  Kamtschatka.  S.  280. 

5)  Ixtlilxochitl,  Histoire  des  Chichim^ques.  tom.  I.  p.  354;  Prescott, 

Conquest  of  Mexico,  vol.  I.  p.  193. 

Pitchel,  Völkerkunde.  17 


2S&  Die  religiösen  Regungen  bei  unenl wickelten  Völkern, 

leblosen  Gegenständen,  da  sie  für  beseelt  gehalten  werden,  eüje 
göttliche  Verfügung  üöer  die  Schicksale  der  Menschen  beizumessen. 
So  erklärt  sich  ungezwungen  der  Ursprung  des  Fetisch- Wesens. 

Was  die  geisterspähenden  Blicke  des  Wilden  an  sich  zieht,  kann 
ihm  zum  Sitze  einer  Gottheit  werden.  Stücke  von  Pflanzen,  Schlangen- 
häute, Federn,  Klauen,  Muscheln,  steinerne  Pfeifen,  lebendige  Ge- 
schöpfe, ganze 'Thieratten,  kuiz  was  immer  den  rothhäutigen  In- 
dianer nach  vorausgehenden  Fasten  zuerst  als  Traumbild  zu  fesseln 
vermag,  erkennt  und  verehrt  er  fortan  als  seinen  Schutzgeist'). 
Die  Wahl  der  angebeteten  Dinge  ist  jedoch  nicht  gleichgiltig,  weil 
sie  vom  Niedrigen  zum  Erhabenen  fortschreitend  den  Fetisch- 
dienst bis  zu  dem  Glauben  an  ein  höchstes  und  sittlich  vollkom- 
menes Wesen  zu  verklären  vermag.  Unveredelt  bleibt  der  Mensch 
nur,  so  lange  sich  seine  Anbetung  tragbaren  Sachen  zuwendet,  weil 
diese  sammt  ihrer  vermeintlichen  göttlichen  Kraft  in  den  Besitz 
eines  Inhabers  übergehen  können.  Die  Dienstfenigkeit  solcher 
Schutzgeister  geniesst  dann  der  Eigenthümer.  Laban,  der  seine 
Hausgötzen  vennisst,  jagt  dem  Erzvater  Jacob  nach,  und  Rahel, 
die  sie  entwendet  hat,  weiss  auch  durch  Schlauheit  sie  dem  Nach- 
suchenden zu  verbergen.  Länge  nach  der  mosaischen  Gesetz- 
gebung, bis  zu  Davids  Zeiten  hüteten  die  Hebräer  ihre  Seraphim 
oder  Penaten  noch  im  Hanse').  Selbst  wo  die  reinsten  Gottes- 
gedanken schon  die  Gemüther  gewonnen  haben,  hängt  das  Herz 
doch  immer  noch  mit  Zähigkeit  an  dem  alten  Hausrath  seiner 
kindischen  Verehrung  fest^  und  es  soll  das  Volk  noch  gefunden 
werden,  welches  sich  völlig  vom  Aberglauben,  das  heisst  von  den 
Ueberresten  früherer  Religionsschöpfungen  gereinigt  hätte. 

Einem  Slädteerbauer  aus  der  nebelhaften  Vorzeit  Turkestans, 
Namens  Sekedschket,  brachte  seine  chinesische  Gemahlin  als  Aus- 
steuer etliche  Fetische  mit  und  in  Bochara  wurden  zu  Zeiten  Götzen- 
märkte abgehalten^).  Gehört  der  Fetisch  zum  beweglichen  Eigen- 
thum  oder  gleichsam  zum  Gesinde  des  Hausherrn,  so  wird  er  für 
seine  angebliche  Verstocktheit  oder  Bosheit  bestraft,  so  oft  er  die 
Wünsche    des    Bittenden    nicht  erhört.      Wenn    dem    Ostjaken   ein 


I]  Charl«voiz,  Nouvelle  Frimce,  lom.  III.  p.  346. 

2)  I.  Kegum,  C4ip.  19  v.  13 — 16  u.  £wald,  isnielitisclie  Geschichte.  Bd.  I 
S.  372.  Bd.  3.  S.  107. 

3)  Vimbety,  Geschichte  Bocharas,  Bd.  1.  S.  2.  S.  16. 


Die  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern.  250 

Unglück  widerfahrt,  wirft  er  seinen  Götzen  zu  Boden,  schlägt, 
misshandelt  oder  bricht  ihn  in  Stücke^).  Der  letzte  heidnische 
Lappe  in  Europa,  Namens  Rastus,  hatte  vor  etlichen  zwanzig  Jahren 
etwa,  seinem  göttlichen  Bautasteine  einmal  das  gewohnte  Brannt- 
weinopfer entzogen.  Kurz  nachher  verlor  er  durch  Blitzstrahl 
zwei  Rene.  Zornig  warf  er  die  Fleischstücke  der  zerlegten  Thiere 
dem  Götzen  zu  mit  den  Worten :  „nimm !  was  du  dir  geschlachtet 
hast!"  —  und  kehrte  ihm  den  Rücken  um  zum  Christenthum  über- 
jsutreten^;.  Vor  jedem  grossen  Unternehmen  schreitet  der  Neger 
Guineas,  wenn  kein  älterer  und  erprobter  vorhanden  ist,  zur  Wahl 
eines  neuen  Fetisch,  und  worauf  sein  Auge  beim  Heraustreten  aus 
dem  Hause  fällt,  sei  es  ein  Hund,  eine  Katze  oder  ein  anderes 
Geschöpf,  das  erwählt  er  zum  Abgott,  dem  sogleich  Opfer  gebracht 
werden.  Glückt  das  Unternehmen,  so  steigt  das  Ansehen  des 
Fetisch,  misslingt  es,  so  kehrt  er  wieder  in  den  vorigen  Stand 
zurück  ^). 

Zu  den  leblosen  Dingen,  welche  menschliche  Andacht  auf  sich 
zogen,  gehörten  allerorten  die  Steine.  Niemand  wird  überrascht 
werden,  dass  Meteoriten,  die  beim  Herabfallen  glühend  in  den 
Erdboden  einschlugen,  gern  angebetet  wurden.  Ein  Stein,  der 
bei  Chicomoztotl  oder  den  Sieben  Höhlen,  einem  wichtigen  Ort 
in  der  mythischen  Topographie  der  Alt-Mexicaner,  herabfiel,  wurde 
von  diesen  als  ein  Sohn  des  Götterpaares  Ometeuctli  und  Ome- 
cihuatl  verehrt^).  Der  schwarze  Stein,  das  grösste  Heiligthum  der 
Mohammedaneri^n  Mekka,  soll  anfangs  hell  geleuchtet,  wegen  der 
Sündhaftigkeit  des  Menschengeschlechts  sich  aber  bald  ^hwarz  ge- 
färbt haben  5).  Er  ist  ganz  sicherlich  der  Rest  eines  Fetisch-Dienstes 
der  vorislamitischen  Araber^  wie  der  Stein,  welcher  jetzt  eingemauert 
in  der  Omar-Moschee  zu  Jerusalem  den  Propheten  gen  Himmel 
getragen  und  dann  herabgefallen  sein  oder  vielmehr  noch  jetzt  in 
der  Luft  schweben  soll^).  Aus  anderen  leicht  zu  deutenden  Vor- 
stellungen werden  Steine  von  Phallusgestalt,  vielleicht  vereinzelt 
gebliebene  Säulen  eines  Basaltganges   auf  den  Fidschi-Inseln  ver- 


1)  Pallas,  Voyages.  Paris  1793.  tom.  IV.  p.  79. 

2)  Globus  1873.  Jan.  Bd.  XXIII.  No.  3.  S.  35. 

3)  Bosman,  Guinese  Goud-Tand-  en  Slave-kust.  lom.  II.  p.  153. 

4)  J.  G.  Müller,  Amerikanische  Urreligionen.  S.  5x7, 

5)  Sepp  in  der  Allgem.  Ztg.  1872.  S.  4462. 

6)  Baierlein,  Nach  und  aus  Indien.  S.  125. 

17» 


26o  I^ic  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern. 

ehrt').  Noch  kürzlich  wurde  Theodor  Kirchhoff  in  Oregon  ein 
Felsblock  gezeigt,  zu  welchem  die  Umpkwa-Indianer  wallfahren. 
Die  Propheten  in  Israel  und  die  frommen  Könige  in  Juda  eiferten 
unablässig  gegen  den  Dienst  der  Höhen,  worunter  ein  hoher 
Steinkegel,  das  Sinnbild  des  Heiligsten  zu  verstehen  ist*).  Schon 
Jacob  salbte  den  Stein  zu  Bethel,  auf  dem  er  geruht  hatte.  Im 
keltischen  Europa  begegnen  wir  den  Steinkreisen  als  Andacht- 
stätten und  den  trilithischen  Cromlech  oder  Steintischen,  die  ent- 
weder als  Opferstätten  dienten,  oder  unter  denen  der  Gläubige 
hindurchkriechen  sollte.  Noch  im  Jahre  567  musste  ein  Concil  in 
Tours  den  Kirchenbann  gegen  die  Fortsetzung  des  Steindienstes 
androhen,  ja  in  England  ergingen  solche  Verbote  im  7.  Jahrhundert 
von  Theodorich,  Erzbischof  von  Canterbury,  im  10.  von  König 
Edgar,  im  11.  noch  von  Cnut^).  Verzeihlicher  wird  in  unseren 
Augen  diese  Verirrung,  wenn  die  Andacht  sich  auf  Bergspitzen 
erstreckt.  Wir  denken  dabei  weniger  an  Heiligung  gewisser 
Gipfel,  wie  des  Olymp  als  Sitz  der  epischen  Götter  oder  wie  des 
Sinai  als  Berg  der  Gesetzgebung,  wollen  aber  nur  in  Bezug 
auf  Letzteren  erwähnen,  dass  auf  der  Höhe  des  Serbäl  ein  Stein- 
kreis sich  befindet,  den  die  Beduinen  nur  mit  abgelegten  Schuhen 
betreten*).  Das  Gleiche  ist  der  Fall  mit  dem  benachbarten 
Dschebel  Munädschät,  den  die  Araber  den  Berg  des  Zwie- 
gesprächs (nämlich  Mosers  mit  Jahve)  nennen  und  in  dessen 
Steinkreis  sie  Weihgeschenke  niederlegen  s).  Die  Verehrung  von 
Fussabdrücken ,  wie  der  des  Gottes  Tezcatlipocai)  den  die  Alt- 
Mexicaner  bei  Quauhtitlan  zeigen^),  oder  der  des  Tiitii  auf  Samoa 
in  der  Schifferinselgruppe  \  oder  endlich  der  des  Buddha  auf  dem 
Adamspic  Ceylons  gehferen  jedoch  nicht  hierher,  sondern  sind  nur 
Spielarten  der  Reliquienverehrung.  Wir  erwähnen  dagegen  den 
Schamanenstein  der  mongolischen  Buräten,  einen  Felsen  auf  der 
Halbinsel  Olehon  im  Baikal-See,  sowie  den  Berg  Tyrma  oder 
Tirmak,  bei  dem  die  Guanchen  oder  Urbewohner  der  canarischen 


1)  Williams,  Fiji  and  the  Fijians,  tom.  I.  p.  220. 

2)  Ewald,  Geschichte  des  Volkes  Israel.  3.  Aufl.  Bd.  3.  S.  418. 

3)  Sir  John  L  üb  bock,  Origin  of  civilization,  p.  209. 

4)  Rüppell,  Reise  in  Abyssinien.     Frankf.  1838.  Bd.  i.  S.  127. 

5)  G.  Ebers,  Durch  Gosen  zum  Sinai.  S.  204. 

6)  J.  G.  Müller,  Urreligionen.  S.  578. 

7)  Tylor,  Urgeschichte.  S.  147. 


Die  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern.  26 1 

Inseln  ihre  höchsten  Eide  schwuren  und  von  dem  Begeisterte  frei- 
willig als  Opfer  sich  herabstürzten^).  Wenn  Pausanias  Verehrung 
von  Steinen  bei  den  Bewohnern  Pharäs  noch  vorfand  und  ein 
andres  Mal  äussert,  in  Vorzeiten  hätten  sämmtliche  Hellenen  statt 
Bildern  Steine  verehrt^),  jedoch  hinzufügt,  dass  sie  ihnen  die 
Namen  ihrer  vergötterten  Naturkräfte  beilegten,  so  ist  es  fraglich, 
ob  wir  es  hier  mit  einem  echten  oder  auch  nur  mit  der  Hinter- 
lassenschaft eines  echten  Steindienstes  zu  thun  haben. 

Hat  die  Verehrung  von  Steinen  für  deutsches  Verständniss 
etwas  Fremdartiges,  so  regt  sich  viel  beifälliger  in  uns  das  alte 
Heidenblut,  so  oft  wir  vernehmen,  dass  Bäume  oder  Haine  als 
Gottheiten  oder  Sitze  von  Gottheiten  aufp^efasst  wurden,  denn 
noch  heute  verstehen  wir  die  Empfindungen  unserer  Voreltern, 
als  der  heilige  Bonifacius  die  Sachseneiche  fällte.  Das  Flüstern 
im  stillen,  das  Rauschen  im  erregten  Walde,  das  Brechen  oder 
Knarren  des  Holzes,  der  sichtliche  Kampf  einer  entlaubten  Krone 
mit  ihren  knorrigen,  gelenkreichen  Aesten  im  Sturme  erweckt  die 
Täuschung,  als  stehe  man  einer  belebten  Persönlichkeit  gegenüber, 
und  nur  allzu  willig  gönnen  wir  uns  den  Trug,  übersinnlichen 
Mächten  uns  physisch  nähern  zu  dürfen.  Ehemals  war  der  Baura- 
dienst  über  die  ganze  Erde  verbreitet.  Noch  jetzt  steht  am  Loch 
Siant  auf  der  schottischen  Insel  Skye  ein  Eichengehölz,  von  dem 
seiner  Heiligkeit  wegen  kein  Zweig  gebrochen  werden  darf^).  Wo 
eine  Ceder  im  Föhrenwalde  vereinzelt  aufragt  oder  wo  sieben 
Lärchen  eine  Geschwistergruppe  bilden,  naht  sich  ihnen  der  Sa- 
mojede  in  ehrfürchtiger  Stimmung,  dem  Ostjaken  wiederum  sind 
Bäume  heilig,  auf  denen  Adler^  mehrere  Jahre  nach  einander  ge- 
nistet habend).  In  den  Hainen  der  Mundakhol,  eines  drawidischen 
Volksstammes  Indiens,  darf  kein  Zweig  verletzt  werden 5).  Noch 
jetzt  trifft  man  jenseits  des  Jordans  Bäume,  von  denen  Weih- 
geschenke,  vorzüglich    Haarflechten,    herabwehen ^).     Auf   seinem 


i)  Peschel,  Zeitalter  der  Entdeckungen.  S.  54. 

2)  Pausanias  VII,  22,  ed.  Walz,  tom.  II,  p.  615 — 616. 

3)SirJohnLubbock,  Origin  of  civilization.  p.  192. 

4)  Caströn,  Ethnolog.    Vorlesungen.    S.   n5.     Pallas,  Voyages,    tom. 
IV.  p.  81. 

5)  Zeitschrift  für  Ethnologie.  Berlin  1871.  S.  333. 

6)  Wolff,  im  Ausland  1872.  S.  308. 


ztz  Die  religiösen  Regaogen  bei  unentwickelten  Völkern, 

Marsche  nach  Sardes  in  Lydien  behing  Xerxes  eine  heilige  Pla- 
tane mit  Golds chrtiMck  und  bestellte  zu  ihrem  Schutze  einen 
Hüter ').  Im  äquatorialen  [Afrika  empfangen  wiederum  die  ge- 
waltigen Affen btodbäume  oder  Adansonien  fromme  Gaben,  Adolf 
Bastian  sah  den  gleichen  Gebrauch  in  Birma'),  in  Mexico  wird 
nach  Tylor  eine  heilige  Cypresse  auf  'diese  Weise  verehrt,  am  west- 
lichen Colorado  nach  Möühausen^)  eine  Eiche,  am  Ausfluss  des 
ulicren  See's  steht  die  grosse  Esche,  wek^her  die  rothhäutigen  In- 
dianer ihre  Opfer  bringen,  wie  dem  vereinzelten  Wailitschu-Baum 
auf  den  Pampas  unweit  Patagones  (Carmen),  welchen  Charles 
Darwin*)  besuchte.  Wir  erinnern  schhesslich  an  den  Hain  von 
Doilün;t,  an  die  homerische  Platane  zu  Aulis,  von  der  Pau san las  ^)  noch 
KestP  sah,  an  die  Verehrung  der  Pipal  (Ficus  reltgiosa)  und  der  in- 
diachcn  Feige  (F.  indicaj  von  Seiten  der  brahmanischen  Hindu  und 
der  Buddhisten,  an  die  geweihte  Espe  der  Kirgisen*),  an  den  letzthin 
gelullten  Birnbaum  auf  dem  Walser-Felde,  sowie  an  die  Weltesche 
Yggdraiil  in  unsern  Mythen,  Etwas  Anderes  ist  es,  wenn  sich  die 
bäum  Verehrung  an  das  Verweilen  geheiligter  Personen  knüpft,  wie 
es  der  Kall  war  mit  dem  Hain  bei  Mambre,  weil  Abraham  dort  rastete, 
oder  mit  der  Sykomore  bei  Matarieh,  unter  deren  Schatten  die  Ma- 
donna auf  der  Flucht  nach  Aegypten  geruht  haben  soll.  Je  nach 
der  Art  der  Weihgeschenke  hatte  die  V'erehrung  der  Bäume  einen 
andern  Sinn.  Wenn  die  Araber  in  den  heidnischen  Zeiten  vor 
den  B:Lumen  opferten  und  ihre  Waffen  an  ihnen  aufhingen'),  so 
galt  ihnen  der  Baum  als  Sitz  einer  Gottheit  oder  als  Gott  selbst, 
wenn  dagegen  Mungo  Park*)  in  den  Mandingoländern  Bäume  mit 
Lfipjichen  und  ZeugfeUen  beladen  sah,  so  bemerkt  schon  Bos- 
maii'*,i,  dass  in  Guinea  die  heiligen  Haine  oder  Bäume  besonders 

1}  Herodot,  lib,  VU.  cap.  31. 

::|  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprach  Wissenschaft.  Berlin  1S6S. 
BJ.  j.  :i.  191.     Bowers,  BhaniQ-ExpedilioQ.  Berütt  1871.  S.  27,    . 

3I  Vom  Mississippi  nach  der  Südsee.  5.  3S7. 

41   lournal  of  Researches.  London  1S4J.  2d  ed.  p.  68. 

j)  Pausanias,  lib.  IX,  cap.  19  u-  Hiad.  %.  v.  307— JI6. 

ti|  ?Joschel,  Reise  in  die  Kirgisen  steppe.  Beiträge  zur  Kenntniss  des 
Kuss,  Heiches.  Bd.  18.  S.  154. 

71  L,  Krehl,  Die  Religion  der  vorislamitischen  Atabcr.Leipiig  1873,  S.  73. 

8)  Reisen  im  Innern  von  AAika.  Berlin  1799,  S.  36.  5.  59. 

ij)  Tiuinese  Goud-Tand-  en  Slave-kast.  Utrecht  1704.  tom.  I,  p.  144- 
lum,  II.  p.  155.  p.  170. 


Die  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern.  263 

ZU  Zeiten  von  Seuchen  besucht  werden.  Tylor  hat  uns  belehrt, 
dass  auch  in  Europa  der  Wahn  herrscht,  man  könne  aus  dem 
Hause  des  Kranken  sein  Uebel  mit  einem  Stück  seiner  Habe  hinweg 
und  auf  einen  andern  Gegenstand,  einen  Baum,  am  liebsten  wohl 
auf  einen  Menschen  übertragen.  In  Südeuropa  bieten  junge  Räd- 
chen dem  Reisenden  oft  Blumensträusse  feil,  die  aber  aus  dem 
Hause  eines  Kranken  stammen^).  Der  Verfasser  erinnert  sich, 
dass  man  ihn  in  der  Knabenzeit  streng  gewarnt  habe,  nie  eine 
Blume  aufzuheben,  die  auf  dem  Wege  liege,  „denn* man  könne 
nicht  wissen,  mit  welcher  Krankheit  derjenige  behaftet  gewesen 
sei,  der  sie  weggeworfen  habe".  Wohlverstanden  erstreckte  sich 
dieses  Verbot  ausschliesslich  nur  auf  Blumen.  Die  Suaheli  in  Ost- 
afrika bringen  den  Krankheitsdämonen  Opfer  in  Lebensmitteln, 
die  sie  aber  nicht  selbst  gemessen,  sondern  irgendwo  an  einem 
Fussweg  niedersetzen,  damit  ein  Vorübergehender  sie  verzehre  und 
somit  die  Seuche  sich  auflade*). 

Von  allen  Thieren  haben  die  Schlangen  am  häufigsten  Ver- 
ehrung genossen,  nirgends  aber  war  die  Schlangen anbetung  oder 
die  Naga-Religion  so  weit  verbreitet  als  in  Indien,  wovon  Orts- 
namen wie  Nagapur,  Widschanagara,  Baghanagara  Zeugniss  ab- 
legen. Noch  heutigen  Tages  empfangen  die  Cobra  oder  Brillen- 
schlangen am  Nagapanschmi-Feste  öffentliche  Verehrung  von  den 
Brahmanen.  Auch  Mose  hat  in  einer  schwachen  Stunde  die  eherne 
Schlange  anfertigen  lassen,  die  mit  den  anderen  Heiligthümern  nach 
Jerusalem  wanderte,  wo  sie  erst  der  fromme  König  Hizqia  um 
720  V.  Chr.  aus  dem  Tempel  entfernte.  Selbst  innerhalb  des 
Christenthums  treffen  wir  auf  die  Secte  der  Ophiten,  welche  den 
Schlangendienst  fortsetzten  oder  erneuerten,  wenn  nicht  das  Meiste, 
was  ihnen  aufgebürdet  wird,  auf  Verläumdung  beruht^).  Die 
Schlangenverehrung  erfreut  sich  noch  voller  Lebenskraft  im  Neger- 
reiche Dahome*)  und  hat  sich  mit  der  Sklaverei  nach  der  Neuen 
Welt  verbreitet,  wo  sie  neuerlich  auf  Haiti  wieder  üppig  aus  den 
Wurzeln  getrieben  haben  soll. 

Das  fliessende  Wasser  ist,  abgesehen  von  der  weitverbreiteten 


1)  Tylor,  Anfänge  der  Cultur.     Bd.  2.  S.  150. 

2)  Journal  of  the  Anthropological  Institute,  vol.  I.  p.  CXLVIII. 

3)  Tylor,  Anfange  der  Cultur.  Bd.  2.  S.  243. 

4)  B  OS  man,  Guinese  Goud-kust.  tom.  II,  p.  155 — 170. 


264  ^^^  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern. 

Verehrung  von  Quellen  und  namentlich  der  Gesundbrunnen,  als 
etwas  Göttliches,  hauptsächlich  von  den  Hindu,  betrachtet  worden. 
Da,  wo  Ganges  und  Dschamna  aus  Gletschern  hervorbrechen,  also 
in  grossartiger  Hochgebirgseinsamkeit ,  oder  auch  im  Flachlande 
über  dem  Weiher  mit  der  Narbada -Quelle  stehen  Heiligthümer 
und  Wallfahrtsorte').  Dem  Baden  in  den  heiligen  Strömen  wird 
eine  beseligende  Wirkung  zugeschrieben,  und  es  fehlt  nicht  an 
frommen  Hindu,  die  Ganges -Wasser  von  Benares  bis  zu  Ra- 
messeram, nahe  der  Südspitze  Indiens,  eiae  Entfernung,  um  we- 
niges kürzer  als  die  zwischen  Madrid  und  Berlin,  zu  den  Ab- 
Waschungen  der  heimathlichen  Götzenbilder  herbeitragen*).  Auch 
den  Altpersern  war  das  fliessende  Wasser  heilig,  aber  im  Gegen- 
satze zu  den  Hindu  suchten  sie  jede  Verunreinigung  von  ihm  ab- 
zuwenden, so  dass  die  Errichtung  von  Brücken,  welche  das  Durch- 
waten der  Flüsse  beseitigte,  zu  den  frommen  Werken  gehörte^). 

Wenn  selbst  die  Gottheiten  der  Meere  nicht  ganz  sicher  waren 
vor  den  Züchtigungen  des  rohen  Menschen,  wie  der  persische 
Grosskönig  den  liellespont  mit  Ruthen  peitschen  liess^),  so  ver- 
sprach es  Besseres  als  die  Menschen  den  Blick  erhoben,  um  im 
gestirnten  Himmel  die  unbekannten  Urheber  zu  suchen.  Der 
Cultus  von  Sonne,  Mond  und  Sternbildern,  bei  mongolischen  Völ- 
kern Nord-Asiens  vielfach  anzutreffen,  hat  sich  von  dort  über  beide 
Hälften  Amerikas  verbreitet.  Wenn  auch  die  religiösen  Erregungen 
viel  früher  innerhalb  der  menschlichen  Gesellschaften  auftreten  als 
die  Unterscheidung  zwischen  dem  Guten  und  Bösen,  also  durchaus 
nichts  zu  schaffen  haben  mit  etwaigen  Sittengesetzen,  so  werden 
doch,  sobald  einmal  zwischen  Gliedern  desselben  Verbandes  der 
Verkehr  durch  strenge  Gewohnheiten  geordnet  worden  ist,  die 
menschlichen  Satzungen  aus  Geboten  der  Gottheit  abgeleitet  und 
von  diesem  Wendepunkte  an  wird  die  Religion  das  wirksamste 
aller   Erziehungs-   und   Veredlungsmittel  5).     Unbewusst,    indem   er 

1)  H.  V.  Schlagintweit,  Indien  und  Hochasien.  Bd.  i.  S.  161. 

2)  K.  Graul,  Reise  nach  Ostindien.  Bd.  4.  S.  43. 

3)  Duncker,  Geschichte  des  Alterthums.  Berlin  1853.  Bd.  2.  S.  372. 
'-•  4)  Herodot,  üb.  VII,  cap.  35,  54. 

5)  Aehnlich  äussert  Fritz  Schnitze  (ller  Fetischismus.  Leipzig  1871. 
S.  123):  „Darin,  dass  der  Wilde  so  knechtisch  unter  der  Gewalt  seines  Mo- 
kisso  (Fetisch)  und  seines  Gelübdes  steht,  liegt  ein  grosses  pädagogisches 
Element  des  Feiischismus.    Der  Wilde  legt  sich  Pflichten  auf—  er  zügelt  sich". 


Die  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern.        -       265 

die  Gottheit  sittlich  zu  verherrlichen  strebt,  arbeitet  der  Religions- 
trieb an  der  Läuterung  der  menschlichen  Gesellschaft.  Erweitern 
wir  den  Begriff  des  Fetisch  auf  alle  sichtbaren  Gegenstände,  so 
verspricht  unter  allen  Fetischen  die  Sonne,  als  Sinnbild  alles  Reinen 
und  Klaren  die  Würde  des  menschlichen  Verkehrs  am  kräftigsten 
zu  heben.  Wir  denken  dabei  vorzüglich  an  die  Herrschaft  der 
peruanischen  Inca,  die  sich  eine  Abstammung  von  dem  Tages- 
gestirn beilegten  und  durch  Eroberungen  ihre  strengen  Staats- 
gesetze und  eine  achtungswürdige  Halbcultur  von  Quito  bis  nach 
Chile  ausgedehnt  haben.  Aber  schon  der  Apatsche  zeigt  auf  die 
Sonne  und  spricht  zu  dem  weissen  Manne :  „Glaubst  Du  nicht,  dass 
diese  Gottheit  sieht  was  wir  thun  und  uns  bestraft,  wenn  es  böse 
ist?"')  Eine  Huronenfrau,  die  aus  dem  Munde  eines  christlichen 
Priesters  die  Vollkommenheiten  Gottes  hatte  preisen  hören,  brach 
in  die  Worte  aus :  „Immer  hatte  ich  im  Stillen  gedacht,  dass  unser 
Areskui  (womit  sie  die  Sonne  und  den  grossen  Geist  bezeichnete) 
so  sein  sollte,  wie  Du  Gott  geschildert  hast*)**. 

Die  Sonne  ist  nicht  bloss  ein  sichtbarer  Gegenstand,  sondern 
auch  der  Sitz  von  Naturkräften  und  daher  führt  der  Sonnen- 
dienst hinüber  zur  Anbetung  von  Erscheinungen,  die  nicht  mehr 
unmittelbar  wahrgenommen,  sondern  nur  an  ihren  Wirkungen 
erkannt  werden  konnten.  Dieses  fortrücken  des  Causalitäts- 
dranges  bezeichnet  einen  grossen  und  erfreulichen  Entwicklungs- 
abschnitt bei  jedem  Volke,  das  ihn  erreichte.  Den  Verehrern 
von  Bäumen  konnte  auf  die  Dauer  nicht  die  Erfahrung  erspart 
bleiben,  dass  Alterserschöpfung  oder  vor  dieser  die  Verheerung 
durch  holzzehrende  Parasiten  oder  ein  Wetterstrahl  den  Pflanzen- 
gott vernichtete.  Im  letzteren  Falle  namentlich  musste  man  sich 
eingestehen,  dass  über  geringeren  und  vergänglichen  noch  höhere 
Mächte  walteten.  Völker,  die  Naturkräfte  verehren,  müssen  aber 
schon  desswegen  eine  grössere  geistige  Reife  erlangt  haben,  weil 
nur  solche  Erscheinungen  in  der  Körperwelt  auf  göttliche  Thätig- 
keiten  zurückgeführt  werden,  deren  natürliche  Ursachen  zu  er- 
gründen dem  menschlichen  Verstände  nicht  gelungen  war.  Es 
musste  also  der  Versuch  einer  Erklärung  vorausgegangen  sein, 
während  gedankenlose  Gemüther  überhaupt  nicht  auf  solche  Unter- 


i)  Froebel  bei  Tylor,  Anfänge  der  Cultur.  Bd.  i.  S.  286. 
2)  Lafitau,  Moeurs  des  sauvages  am^riquains.  tom.  I.  p>  127. 


266  I^ic  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern.    , 

suchungen  sich  einlassen.  Nur  bei  ackerbautreibenden  Völkern, 
wenn  auch  nicht  bei  allen,  finden  wir  eine  Verehrung  der  Natur- 
kräfte. Ihnen  waren  aber  die  Vorgänge  im  Luftkreise  die  wich- 
tigsten, weil  von  ihnen  Ueberfluss  oder  Mangel  abhing.  Die  Ver- 
götterung der  Kraft,  also  von  etwas  sinnlich  nicht. mehr  Wahrnehm- 
baren, konnte  sich  nur  innerhalb  einer  Priesterkaste  oder  als  Geheim- 
lehre rein  erhalten,  für  die  Uneingeweihten  aber,  welche  die  sinnige 
Räthselsprache  des  Naturdienstes  nicht  verstanden,  und  die  Allegorien 
als  buchstäbliche  Wirklichkeiten  auffassten,  musste  das  Unsichtbare 
Fleisch  und  Blut  annehmen.  Aus  einem  Eigenschaftsworte,  welches 
der  Kraft  beigelegt  wurde,  entstand  ein  Eigenname  dfes  Göttlichen, 
aus  dem  Namen  entsprang  wieder  die  Vorstellung  eines  Geschöpfes, 
welches  sogleich  männlich  oder  weiblich  gedacht  wurde,  je  nach 
dem  grammatischen  Geschlechte  der  üblich  gewordenen  Benennung, 
und  die  einmal  erfegte  Phantasie  träumte  nun  den  Götterronian 
weiter.  Es  zeigt  sich  dabei  sogleich,  dass  der  Typus  der  Sprache 
bei  diesen  Schöpfungen  thätig  eingriff.  Sprachen  also,  die  ein 
grammatisches  Geschlecht .  unterscheiden ,  wie  die  des  arischen, 
semitischen,  und  hamitischen  Völkerkreises,  enthalten  grosse  Ver- 
lockungen zur  Mythenbildung.  Nur  darf  man  die  Leistungen  der 
Sprache  selbst  nicht  überschätzen,  denn  wir  finden  Mythen  von 
Göttern  und  Göttinnen  bei  Völkern  mit  geschlechtsloser  Grammatik, 
wie  bei  den  Polynesiern  und  bei  den  Bewohnern  Mittel-Amerikas. 
So  ist  auch  der  geistvolle  Bleek  *)  in  den  Irrthum  gerathen,  Ahnen- 
dienst nur  bei  Völkern  zu  suchen,  die  sich  der  Präfixpronominal- 
Sprache  bedienen,  während  er  sich  doch  bei  den  Chinesen  findet, 
deren  Sprache  alle  grammatischen  Formen  entbehrt. 

Wie  aber  die  Sprache  den  Mythus  gleichsam  automatisch  aus- 
bildet, hat  Delbrück  mit  grossem  Scharfsinn  an  dem  Heroenmärchen 
Hippolyt  und  Phädra  gezeigt,  dem  ursprünglich  nichts  zu  Grunde 
lag,  als  die  Erscheinungen  am  Abendhimmel  vom  ersten  Sichtbar- 
werden der  Sichel  bis  zum  Vollwerden  der  Mondscheibe.  Es  sei 
uns  daher  erlaubt,  die  Beweisführung  kurz  zu  wiederholen.  Hip- 
polyt ist,  wie  auch  ein  schwacher  Hellenist  es  errathen  kann,  die 
Bezeichnung  für  jemand,  der  mit  gelösten  oder  ungeschirrten 
Rossen  fahrt.  In  der  Welt  der  Dichtung  thut  dies  allein  der  Son- 
nengott.    Als  Phädra  dagegen,  als    die  leuchtende   oder  glän- 


i)  Ueber  den  Ursprung  der  Sprache.  Weimar  1868.  p.  XVI. 


Die  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern.  267 

zende,  wird  der  Mond  gepriesen,  denn  die  unendliche  Mehrzahl 
der  Völker  hat  die  Sonne  immer  als  männlich,  den  Mond  imfher 
als  weiblich  gedacht  und  nur  wenig  andere,  zu  denen  die  Deut- 
schen und  Hottentotten  gehören,  die  Geschlechter  umgekehrt  ver- 
theilt.  Es  bleibt  bekanntlich  die  Mondsichel  jeden  späteren  Tag 
hinter  der  westwärts  eilenden  Sonne  um  ein  beträchliches  Bogen- 
stück  zurück.  Nach  längstens  zwölf  Tagen  geschieht  es  dann,  dass 
die  Sonne  eben  sinkt,  wenn  der  Vollmond  ihr  gegenüber  am  Ge- 
sichtskreise aufsteigt.  Der  wachsende  Mond  eilt  also  der  Sonne 
scheinbar  nach,  vermag  die  schnellere  aber  nicht  einzuholen.  In 
der  Sprache  des  aufkeimenden  Mythus  lautet  aber  die  Schilderung 
dieses  Vorganges :  Hippolyt  flieht  Phädra.  Als  nun  ein  Geschlecht 
aufwuchs,  welches  Sonne  und  Mond  mit  andern  Eigenschafts- 
wörtern bezeichnete,  dem  die  ursprüngliche  Bedeutung  von  Hip- 
polyt und  Phädra  aus  dem  Gedächtnis«  entschwunden  war,  dem 
aber  vielleicht  .ein  Sprüchwort  das  Fliehen  des  Hippolyt  vor  der 
nacheilenden  Phädra  erhalten  hatte,  dann  durfte  sich  wohl  die 
Frage  regen,  warum  mag  wohl  Hippolyt  Phädra  fliehen,  wenn  sie, 
wie  ihr  Name  es  anpreist,  in  aller  Schönheit  ihres  Geschlechtes 
leuchtet?  Bei  diesem  Stande  der  Vorstellungen  war  nun,  wie 
Delbrück  hinzufügt,  nichts  weiter  nöthig  zur  Vollendung  des  Sagen- 
gewebes als  der  Gedanke:  sollte  vielleicht  Phädra  die  Stiefmutter 
des  Hippol)^  gewesen  sein?  Einmal  in  diesem  Sinne  gestaltet, 
wurde  der  Mythus  dann  in  die  Schicksale  von  Theseus'  Haus  ver- 
flochten und  eignete  sich  ganz  vorzüglich  als  Stoff  für  ein  Trauer- 
spiel. Euripides,  Racine  und  der  Uebersetzer  des  Letzteren,  unser 
Friedrich  Schiller,  würden  aber  wahrscheinlich  tief  betroffen  gewesen 
sein,  wenn  ihre  Heldenpaare^  sich  vor  ihnen  als  Sonne  und  Mond 
entschleiert  hätten.  Etwas  willkürlich  darf  es  genannt  werden,  dass 
Hippolyt  gerade  aus  Furcht  vor  einer  Blutschande  Phädra  flieht, 
denn  näher  hätte  es  gelegen,  sich  zu  denken,  dass  er  bereits  ein 
andres  Mädchen  geliebt  habe.  Sehr  merkwürdig  ist  es  daher,  dass 
auch  in  andern  Völkerkreisen  genau  die  nämlichen  Deutungen  der 
erwähnten  Naturbegebenheit  gegeben  werden.  Die  Khasia  im  nord- 
westlichen Indien  erzählen,  dass  der  Mond  bei  jedem  neuen  Wechsel 
in  Liebe  zu  seiner  Schwiegermutter,  der  Sonne  entbrenne,  die  ihm 
aber  aus  Abscheu   Asche    ins    Gesicht    wirft,    daher    auch    seine 


268  ^ie  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern. 

Scheibe  uns  befleckt  erscheint').  Die  Eskimo  wiederum  lassen  die 
Sonne ,  die  sie  als  weiblich  denken , ,  dem  Monde ,  ihrem  Bruder, 
das  Gesicht  mit  Russ  beschmutzen,  als  er  sie  mit  seiner  Liebe  be- 
drängt. Aehnlich  behaupteten  die  Bewohner  der  Landenge  von 
Darien,  der  sogenannte  „Mann  im  Monde"  habe  Blutschande  an 
seiner  Schwester  verübt^). 

Die  Thätigkeit  der  Mythenbildung  musste  mit  der  Zeit,  na- 
mentlich solange  die  Schrift  noch  nicht  im  Gebrauch  war,  den 
ursprünglichen  Kern  eines  Naturdienstes  völlig  verdunkeln,  so  dass 
es  schliesslich  nöthig  wurde,  die  nämliche  Ksaft  unter  einem  an- 
deren Namen  zur  Göttlichkeit  zu  erheben,  um  sie  abermals  in 
menschenähnliche  Gestalt  einzukleiden.  Daher  kommt  es  wohl, 
dass  bei  den  arischen  Völkern  so  viele  Gottheiten  für  das  näm- 
liche Rollenfach  vorhanden  sind  und  namentlich  die  Thätigkeiten 
des  Luftkreises  so  vielfältig  vertreten  erscheinen.  Alle  diese  Götter- 
kreise aber  verrathen  ein  Streben  nach  einem  höchsten  Wesen, 
dem  sich  die  anderen  Mächte  früher  oder  später  unterordnen 
müssen.  Es  ist  beispielsweise  nicht  möglich,  dass  ein  geistig  sich 
entwickelndes  Volk  beim  Dienste  der  Sonne  verharren  könne,  weil 
früher  oder  später  ein  Zweifel  sich  rdgen  muss,  den  der  Inca  von 
Peru  Huayna  Capac  (f  1525  n.  Chr.)  ausgesprochen  hat^),  dass 
nämlich  das  Tagesgestirn  unmöglich  der  Schöpfer  all^r  Dinge  sein 
könne,  weil  ja  während  der  Nachtzeit  die  Entwicklung  des  Leben- 
digen ohne  Unterbrechung  fortschreite.  An  diesem  Falle  bewährt 
sich  auch  wieder  unser  Satz,  dass  alle  religiösen  Regungen  nur 
aus  dem  Drange  nach  Erkenntniss  eines  Urhebers  hervorgehen, 
und  dass  jede  Verehrung  einer  Gottheit  in  dem  'Augenblicke  er- 
lischt, wo  sie  das  Causalitätsbedürfpiss  nicht  mehr  befriedigt.  Besser 
und  länger  als  bei  der  Sonne  gelang  es,  an  der  Göttlichkeit  des 
lückenlosen,  beständig  sich  selbstbewegenden  Himmels  festzuhalten. 
Er  wurde  immer  als  männlich  gedacht  im  Gegensatz  zu  der  weib- 
lichen fruchttragenden  Erde.  Himmel  und  Erde  verehrten  die 
Huronen,  verehren  noch  jetzt  die  Chinesen,  und  Himmelsverehrung 
kommt    auch    bei   Negern    an    der   Westküste  Afrikas    vor^).     Im 


i)  Dalton  Hooker,  Himalayan  Journals.  London  1854.  vol.  II,  p.  276. 

2)  David    Cranz,    Historie    von    Grönland.     Bd.   i.    S.   295;    Petrus 
Martyr,  de  Orbe  novo.     Dec.  VII,  cap.  10. 

3)  A.  V.  Humboldt,  Ansichten  der  Natur.  3.  Aufl.  Bd.  2.  S.  385. 

4)  Tylor,  Anfänge  der  Cultur.  Bd.i.  S. 322— 323,  Bd. 2.  8.256,  S.  258—259. 


Die  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern.  269 


i)  sub  divo  oder  sub  dio  hiess  soviel  wie  unter  freiem  Himmel. 

2)  Sahagun  bei  Prescott,  Conquest  of  Mexico,  tom.  III.  p.  424. 

3)  Mariner,  Tonga  Islands,  tom.  II.  p.  iio. 


» ■»  I 


Lateinischen  gab  es  für  Gott  und  Himmel*)  dasselbe  Wort,  und 
dass  uns  Deutschen  in  der  Vorzeit  der  Himmel  und  die  höchste 
Gottheit  zusammenfielen,  daran  mahnen  uns  noch  jetzt  die  arglos 
heidnischen  Redensarten:  der  Himmel  behüte  dich,  oder:  der 
Himmel  erhalte,  dir  dieses  Kind.  Dass  bei  einer  Vielheit  der 
Götter  eine  Rangordnung  Bedürfniss  wird  und  dieses  Ordnen  un- 
willkürlich für  monotheistische  Anschauungen  empfänglich  stimmt, 
bemerken  wir  selbst  im  alten  Mexico.  In  den  berühmt  gewordenen 
Ermahnungen  einer  aztekischen  Mutter  an  ihre  Tochter  wird  auf 
einen  Gott   verwiesen,    „der  auch  im  Verborgenen  jeden  Fehltritt  /»* 

sieht" ').  Sahagun,  der  uns  dieses  sittengeschichtlich  so  merk- 
würdige Stück  erhalten  hat,  ist' zwar  verdächtigt  worden,  christ- 
liche Anschauungen  in  das  altmexicanische  Heidenthum  hinein- 
geschwärzt zu  haben,  allein  Waitz  hat  mit  Recht  die  Glaubwürdig- 
keit der  Aufzeichnung  vertreten,  weil  spanische  Geistliche  weit  eher 
bestrebt  waren,  die  vorchristlichen  Zustände  der  Amerikaner  wie 
Teufelswerke  gehässig  darzustellen  als  sie  zu  idealisiren. 

Wird  der  Werth  einer  Religion  einzig  nach  ihren  Leistungen 
als  Erziehungsmittel  abgeschätzt,  so  kann  auch  der  Dienst  der 
Naturkräfte  die  menschliche  Gesellschaft  auf  höhere  Stufen  heben. 
Bei  sittenstrengen  Völkern  finden  wir  auch  eine  sittenstrenge  Götter- 
welt und  die  Vorstellung  einer  gerechten  Weltordnung,  während 
im  andern  Falle  Lockerheit  und  Laster  aus  den  Religions- 
schöpfungen durchblicken ,  welche  letztere  sich  stets  zum  sitt- 
lichen Werthe  der  gesellschaftlichen  Zustände  verhalten,  wie  ein 
spectroskopisches  Farbenbild  mit  dunklen  Streifungen  zu  seinem 
Lichtquell.  Die  polynesischen  Tonganer  oder  Freundschaftsinsulaner 
glauben  fest  daran,  dass  ihre  Götter  einen  Tugendwandel  billigen 
und  über  Laster  zürnen,  so  wie  dass  die  Schutzgeister  nur  so 
lange  über  die  Menschen  wachen,  als  sie  sich  ehrbar  betragen, 
verworfene  aber  alsbald  verlassen  ^).  Zur  gesellschaftlichen  Er- 
ziehung der  Völker  wird  aber  eine  Verehrung  der  Naturkräfte  auf 
die  Dauer  nur  sehr  Weniges  leisten.  Hat  einmal  das  göttlich  Ge- 
dachte  menschliche  Züge  in  der  Vorstellung  gewonnen,  so  setzen 


H 


210  Die  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern. 

sich  mit  der  Mythenbildung  fast  immer  die  darstellenden  Künste  in 
Bewegung  und  es  mag  dann  der  Bildhauer  oder  Maler  noch  so 
sehr  in  der  Gottdarstellung  die  Menschengestalt  verklären,  das 
sinnliche  Abbild  wird  vor  der  verehrungsgierigen  Menge  alsbald 
zum  Abgott,  der  seine  Wunder  verrichtet,  der  als  bewegliche  Sache 
in  das  Eigenthum  einer  Gemeinde  übergeht  und  schliesslich  durch 
die  Thorheit  der  Mehrzahl  zum  Fetisch'  herabsinkt. 

Eine  andere  Richtung  schlägt  die  religiöse  Verehrung  ein, 
wenn  sie  sich  mit  dem  Glauben  an  eine  Fortdauer  nach  dem  Tode 
verknüpft.  Dieser  Glaube  ist  bei  den  amerikanischen  Urbewohnern 
fast  ausnahmslos,  dann  auch  bei  Polynesiern,  Papuanen  und 
Australiern,  bei  der  Mehrzahl  der  Asiaten,  bei  den  Bewohnern 
Europa's  im  Alterthume,  bei  allen  Hamiten  Nord-Afrika's  vom 
Nil  bis  zu  den  Canarien  angetroffen,  worden.  Wo  unmittelbare 
Zeugnisse  fehlen,  kann  aus  der  Bestattungsweise  der  Todten  auf 
den  Unsterblichkeitsglaub'en  geschlossen  werden.  Wenn  wir  über 
die  Vorstellungen  der  Aegypter  von  einem  künftigen  Leben  nicht 
besser  unterrichtet  wären,  würden  wir  doch  aus  dem  Umstände, 
dass  sie  ihre  Mumien  mit  Weizen  versahen,  um  sie  mit  dem  Saat- 
korn nach  der  Auferstehung  auszustatten,  deutlich  ihre  Erwartungen 
erkennen.  So  wird  uns  auch  die  Hoffnung '  auf  ein  Jenseits  bei 
•den  Altbabyloniern  dadurch  bestätigt,  dass  in  ihren  Gräbern  sich 
stets  Dattelkerne  vorfinden  ^)  und  das  Gleiche  gilt  von  den  An- 
wohnern des  caribischen  Golfes,  die  ihren  Todten  Maiskörner  in 
die  Hand  geben.  Die  Opfer  von  Menschen  an  den  Gräbern  von 
Häuptlingen  oder  Königen,  wie  es  die  Ada  oder  „grosse  Sitte** 
vorschreibt,  bezeugt  uns  den  Unsterblichkeitsglauben  in  Dahome 
und  das  Erdrosseln  der  Frauen  beim  Tode  eines  Fürsten  bestätigt 
uns  das  Nämliche  für  die  Fidschi -Inselgruppe.  Oder  wenn  wir 
nfchts  Näheres  über  die  Ansichten  der  geistig  so  hoch  begabten, 
irüher  so  gröblich  unterschätzten  Hottentotten  *)  wüssten,  so  würde 
es  schon  genügen,  dass  sie  den  Verstorbenen  vor  der  Beerdigung 
dieselbe  Stellung  geben,  die  sie  einst  als  Keim  im  Mutter- 
schoosse  eingenommen  hatten^  denn  die  Bedeutung  dieses  sinnigen 
Brauches  ist  es,  dass  die  Todten  einer  neuen  Geburt  im  Dunkel 
der   Erde   entgegen  reifen   sollen.     Da    unentwickelte  Völker,   wie 


1)  Rawlinson,  The  five  great  monarchies,  tom.  I.  p.  107. 

2)  Kolbe,  Vorgebirge  der  guten  Hoffnung.   S.  578. 


Die  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern.  271 

wir  sahen,  alle  Dinge  als  beseelt  betrachten,  so  erstrecken  sie  auch 
die  Fortdauer  nach  dem  Tode  nicht  blos  auf  die  Menschen.  Die 
Itelmen  Kamtschatka's  glaubten  an  eine  Erneuerung  aller  Ge- 
schöpfe „bis  auf  die  kleinste  Fliege".  Die  Jesuiten  Acosta,  La- 
fitau  und  Charlevoix  haben  bereits  ausgesprochen,  dass  die  Inca- 
peruaner*),  die  Irokesen  und  andere  Nordamerikaner  genau  nach 
Art  der  platonischen  Träumereien,  in  der  unsichtbaren  Welt  für 
alle  Seelen  irgend  einer  Art  ein  Urbild  oder  ein  Mutterwesen  vor- 
handen sein  lassen^).  Die  Fidschi-Insulaner  gehen  noch,  weiter, 
denn  sie  glauben  nicht  blos  an  ein  Paradies  für  Menschen  und 
Thiere,  sondern  sie  hoffen,  dass  dort  auch  jede  Cocosnuss  wieder 
erneuert  werde  ^). 

Nur  bei  Negern  ist  man  bisher  auf  eine  Läugnung  der  Un- 
sterblichkeit gestossen.  Kann  ein  todter  Mensch  aus  seinem  Grabe 
kommen,  wenn  man  ihn  nicht  herausscharrt?  äusserte  der  Häupt- 
ling Commoro  im  Latukalande  östlich  vom  weissen  Nil,  als  ihn 
Sir  Samuel  Baker  ^)  vergeblich  durch  Kreuzfragen  zur  Anerkennung 
einer  Fortdauer  nach  dem  Tode  nöthigen  wollte.  Traum- 
erscheinungen sind  es  wohl  immer  gewesen,  welche  den  ersten 
Gedanken  an  eine  Unsterblichkeit  wachriefen.  So  lange  ein  Neger 
von  einem  Verstorbenen  träumt,  flösst  ihm  sein  Andenken  Furcht 
ein,  der  scheinbar  Zurückgekehrte  begehrt  nach  Nahrung  und  droht 
den  Hinterlassenen  Beschädigung  an,  während  das  Andenken  an 
den  Grossvater  längst  erloschen  ist  und  keine  Unruhe  mehr  ein- 
flösse Fragt  man  im  äquatorialen  Westafrika,  sagt  du  Chaillu^), 
nach  einem  lange  Verstorbenen,  so  lautet  die  Antwort,  es  sei  aus 
mit  ihm.  Mit  dem  Tode  sei  Alles  vorbei,  gehöre  dort  zu  den 
geläufigen  Redensarten.  Vielleicht  gelang  es  im  letzten  Falle  dem 
angeführten  Gewährsmann  nur  nicht,  das  Vertrauen'  der  Neger  zu 
gewinnen.  Sproat,  ein  Völkerkundiger  ersten  Ranges,  der  beinahe 
in  ähnliche  Irrthümer  gerathen  wäre,  wie  wir  sie  bei  du  Chaillu 
vermuthen,  bemerkt  sehr  treffend :  „Ein  Reisender  muss  Jahre  lang 


1)  Clements   Markham,  on    the    tribes    forming  t^e  Empire   of  the 
Yncas,  im  Joum.  of  the  R.  Geogr.  Soc.  London.     1871.    vol.  XU  p.  291. 

2)  Lafitau,  Moeurs  des  sauvages,  p.  360.  Charlevoix,  Nouvelle  France, 
tom.  III.  p.  353,  vgl.  dazu  Tylor,  Anfänge  der  Cultur  Bd.  2.  S.  245.  S.  247. 

3)  Horatio  Haie,  United  States' Explor.  Exped.  Ethnography.  p.  55. 

4)  Der  Alhert  Nyanza.     Bd.  i.  S.  216. 

5)  Explorations  and  Adventures  in  Equatorial  Africa.  p.  336. 


272  I^ie  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern. 

unter  Wilden  wie  einer  der  ihrigen  gelebt  haben,  ehe  seine  An- 
sieht  über  ihre  geistigen  Zustände  irgend  einen  Werth  beanspruchen 
kann"*).*  Gerade  in  Mittel-  und  Südafrika  bewegt  der  Unsterb- 
lichkeitsgedanke sehr  lebhaft  die  Gemüther.  i  Die  Neger  der  Gold- 
küste opfern  Sklaven  bei  einer  Beerdigung,  damit  sie  dem  Abge- 
schiedenen im  Jenseits  dienen  %  Im  Congolande,  versichert 
Winwood  Reade^),  soll  ein  Sohn  seine  alte  Mutter  nur  deshalb 
getödtet  haben,  weil  er  erwartete,  dass  sie  ihm  als  verklärter  Geist 
mächtigeren  Beistand  leisten  könne.  So  weit-  die  Bahtusprachen 
reichen,  ,also  durch  ganz  Südafrika,  werden  die  Seelen  der  ver- 
storbenen Eltern  um  Hilfe  angerufen.  Ein  derartiges  Gebet  aus 
dem  Munde  eines  Negers  im  Dschaggalande,  also  an  der  Ostküste, 
hat  Rebmann  aufgezeichnet^),  ein  anderes  der  Kafirn  aus  Natal,. 
an  einen  abgeschiedenen  Häuptling  gerichtet,  lautet  wörtlich 
„O  Moss6,  Sohn  des  Motlanka,  wirf  Deinen  Blick  auf  uns!  Du, 
dessen  Hauch  (fumce?)  von  Jedermann  gesehen  wird,  richte  heute 
Deine  Augen  auf  uns  und  beschütze  uns,  Du  unser  Gott!"^^ 
Auch  die  Buschmänner  beteten  in  Gegenwart  Livingstone's  am 
Grabe  eines  Vorfahren  ^).  Da  in  Polynesien  den  Häuptlingen  gött- 
liche Abkunft  zugeschrieben  wird,  so  überrascht  es  gewiss  nicht, 
wenn  ihnen  nach  ihrem  Tode  Heiligthümer  errichtet  werden,  wie 
diess  Mariner  bezüglich  der  Tonganer  öfter  erwähnt.  Polynesischem 
Einflüsse  ist  es  ferner  zuzuschreiben,  wenn  auf  Tanna,  einer  Insel 
der  Neuen  Hebriden,  den  verstorbenen  Häuptlingen  als  Schutzgott- 
heiten für  den  Erntesegen  gedankt  wird  7). 

Die  dauernde  Verehrung  von  Abgeschiedenen  ist  sehr  ange- 
messen als  Ahnendienst  bezeichnet  worden.  So  erblickten  die 
Cariben  der  westindischen  Inseln  in  den  Sternbildern  ihre  fort- 
lebenden Helden  wieder.  Besonders  stark  entwickelt  hat  sich  der 
Cultus  der  Abgeschiedenen  bei  den  Chinesen,  die  den  verstorbenen 


i)  Anthropological  Review,  London  1868.  tom.  VI.  p.  370. 

2)  Bosman,    Guinese  Goud-Tand-  en  Slave-kust.    tom.  II.    p.  14,     vgl. 
auch  Tylor,  Anfänge  der  Cultur  Bd.  II.  S.  116. 

3)  Savage  Africa.    London.     1862.    p.  247. 

4)  Krapf,  Reisen  in  Ostafrika  Bd.  2.  S.  28. 

5)  Casalis,  les  Bassoutos.     Paris  1859.    p.  260. 

6)  Südafrika.     Bd.  i.  S.  200. 

7)  Aus  Turner  bei  Tylor,    Anfänge  der  Cultur.     Bd.  2.  S.  114;    vgl. 
auch  Schirren,  neuseeL  Wandersagen.    Riga  1856.     S.  90. 


Die  religiösen  Regungen  bei  unentwickelten  Völkern. 


:/.•) 


Kaisern  eigene  Tempel  errichten.  Als  Confutse,  der  Moralphilosoph, 
selig  gesprochen  worden  war,  empfing  er  194  v.  Chr.  das  erste 
Opfer  aus  der  Hand  eines  Kaisers  und  im  Jahre  57  n.  Chr.  wurden 
für  ihn  reli4;iöse  Feste  eingesetzt  und  Heiligthümer  errichtet.  Auch 
auf  Religionsstifter  erstreckt  sich  gern  der  Heroencultus  und  so 
ist  ja  nach  und  nach  der  Buddhismus  gänzlich  seiner  ursprüng- 
lichen Reinheit  entfremdet  worden  und  zu  einer  Reliquienverehrung 
ausgeartet ').  Selbst  Napoleon  III. ,  der  sich  wie  die  alten  fran- 
zösischen Könige  so  gern  als  ältester  Sohn  der  Kirche  gebärdete, 
hat  dem  Ahnendienst  gehuldigt,  wenn  anders  das  Testament  vom 
24.  April  1865 ,  welches  unlängst  veröffentlicht  wurde  J) ,  ganz  echt 
sein  sollte.  „Man  muss  sich  sagen",  schreibt  der  Kaiser,  „dass 
von  der  Himmelshöhe  herab  diejenigen,  die  wir  geliebt  haben,  auf 
uns  herabblicken  und  uns  beschützen.  Die  Seele  meines  grossen 
Oheims  war  es ,  die  mich  stets  geleitet  und  aufrecht  erhalten  hat 
So  wird  es  auch  meinem  Sohn  ergehen,  denn  er  wird  stets  seines 
Namens  würdig  sein." 

Stellen  wir  uns  jetzt  die  Frage,  ob  irgendwo  auf  Erden  ein 
Volksstamm  ohne  religiöse  Anregungen  und  Vorstellungen  jemals 
angetroffen  worden  sei,  so  darf  sie  entschieden  verneint  werden. 
Auf  jeder  Stufe  seiner  geistigen  Entwickelung  fühlt  der  Mensch 
den  Drang,  für  jede  Erscheinung  einer  Thätigkeit  und  für  jede 
Begebenheit  einen  Urheber  zu  ermitteln.  Bei  geringen  Ver- 
standeskräften befriedigt  schon  ein  Fetisch  das  Causalitätsbedürfniss, 
aber  mit  der  geistigen  Schärfe  der  Völker  verengert  sich  der  Kreis 
des  Glaubwürdigen  und  wächst  der  Gottesgedanke  an  Würde,  um 
zuletzt  das  edelste  und  höchste  Erzeugniss  menschlichen  Nach- 
sinnens zu  werden.  Ebenso  führen  die  ersten  rohen  Versuche, 
die  unbekannten  Urheber  zu  ermitteln,  so  lange  das  Denkvermögen 
noch  erstarkt,  immer  zur  Verwerfung  der  ersten  Nothhilfe  und  zu- 
letzt zu  der  Annahme  eines  höchsten  unerfasslichen  Wesens.  Allein 
die  Geschichte  und  die  Völkerkunde  kennt  ungezählte  Menschen- 
stämme, die  sich  nie  bis  zu  einer  solchen  Höhe  aufschwangen, 
ja  viele,  die  von  den  errungenen  besseren  Vorstellungen  zurück- 
sanken zu  groben  Verstandestäuschungen,  denen  sie  sich  Jahr- 
hunderte,   ja    wohl  Jahrtausende    nicht    zu    entziehen   vermochten. 


1)  Justi  im  Ausland.     1871.     S.  878. 

2)  Allg.  Zeitung.     1873.     S.  1875. 

Peschel.  Völkerkunde.  l8 


274 


Der  Schamanismus. 


Diese  Verirrungen    wollen   wir   als  Schamanismus  bezeichnen   und 
ihren  Ursprung  zn  ergründen  versuchen'). 


lO.     Der  Schamanismus. 

Wenn  wir  fernerhin  von  Schamanismus  sprechen,  so  muss 
man  sich  diesen  Begriff  stets  so  weit  ausgedehnt  denken,  dass 
er  alles  Zauber-  und  Ritualwesen  einschliesst.  Der  Name  selbst 
ist  aus  einer  Verderbung  von  (^ramana  entstanden,  wie  in 
Indien  die  buddhistischen  Einsiedler  und  Büsser  geheissen  wurden. 
Schamanen  nannte  man  indessen  bisher  nur  die  'Wunderkünstler 
bei  den  nordasiatischen  Stämmen.  Ihre  Verrichtungen  bestehen 
hauptsächlich  in  Zauberkuren,  denn  bei  allen  rohen  Völkern  der 
Gegenwart  oder  der  Vergangenheit  werden  Krankheiten  und  Todes- 
fälle nur  einer  Verhexung  zugeschrieben*),  gegen  welche  der 
Schamane  seine  Geheimmittel  aufbieten  muss. 

Herkömmlich  ist  es  in  Sibirien  wie  in  beiden  amerikanischen 
Festlanden,  dass  der  herbeigerufene  Meister  an  der  schmerzenden 
Körperstelle  des  Kranken  saugt  und  aus  dem  Munde  bald  einen 
Dorn,  bald  einen  Käfer,  bald  einen  Stein  oder  irgendeinen  un- 
erwarteten Gegenstand  hervorbringt,  den  er  als  den  ertappten  und 
besiegten  Verursacher  des  Uebels  der  ängstlich  harrenden  Menge 
zeigt.  Nicht  anders  verfahren  die  Schamanen  unter  den  Dayaken 
Borneos  ^),  wie  in  Südamerika  am  Orinoco  *),  und  eine  Priesterin 
unter  den  Fingokafirn  —  denn  es  fehlt  auch  nicht  an  weiblichen 
Künstlern  — ,  welche  eine  Anzahl  Maiskörner  trügerischerweise  aus 
dem  Leib  des  Patienten  herausgesogen  hatte,  wurde  von  der  Frau 
eines  Evangelienverkündigers  entlarvt.  Sie  hatte  nämlich  um  sich 
Brechreiz  zu  erregen  vor  dem  Possenspiel  Tabakblätter  verschluckt  5). 


i)  Der  obige  Abschnitt  erschien  abgekürzt  und  ohne  Quellenangabe  bereits 
früher  in  der  Oesterreich.  Zeitschrift  für  Kunst  und  Wissenschaft.     1872. 

2)  So  von  den  Australiern  (Latham,  Varieties,  p.  244),  von  den  Kutschin- 
oder  Loucheux-Indianern  der  Hudsonsbaygebiete  (Ausland.  1863.  S.  579), 
von  den  Hottentotten  (Kolbe,  Cap  der  guten  Hoffnung  S.  438)  vu  a.  m. 

3)  Spenser  St.  John,  Life  in  the  Far  East.  London  1862.  tom.  I. 
p.  177.  p.  201. 

4)  P.  Jos.  Gumilla,  El  Orinoco  ilustrado.     Madrid  1741.     II,  3;  p.  311. 

5)  Tylor,  Urgeschichte.     S.  355. 


Der  Schamanismus. 


275 


Ein  anderer  Erwerbszweig  der  Schamanen  beruht  auf  der 
Gabe,  in  Verkehr  mit  unsichtbaren  Mächten,  bisweilen  mit  den 
Geistern  der  Abgeschiedenen  zu  treten  und  von  ihnen  Offenbarungen 
über  Künftiges  zu  empfangen.  Der  religiöse  Künstler  weiss  sich 
dabei  in  einen  Zustand  nervöser  Aufregung  zu  versetzen,  der  sich 
bis  zum  Schäumen  des  Mundes  und  krampfhaften  Zuckungen 
steigert  *).  Die  Schamanen  alier  Welttheile  wählen  daher  mit  Vor- 
liebe ihre  Zöglinge  unter  Knaben,  die  epileptischen  Heimsuchungen 
ausgesetzt  sind  %  Zwerge  oder  Albino's  werden  von  den  Negern 
bevorzugt  ^), 

Was  von  den  sibirischen  Priestern  gesagt  wurde,  passt  wieder 
so  genau  auf  die  sogenannten  Medicinmänner  der  Rothhäute  in 
Nord-Amerika,  dass  diese  Uebereinstimmung  sogar  zu  den  Wahr- 
zeichen für  die  Annahme  einer  Bevölkerung  der  neuen  Welt  durch 
vormals  nordasiatische  Stämme  gehört.  Der  einzige  Unterschied 
zwischen  dem  sibirischen  Schamanen  und  dem  nordamerikanischen 
Medicinmann*)  besteht  nur  darin,  dass  derErstere  sich  bei  seinem 
Handwerk  einer  Zaubertrommel,  der  Andere  einer  Zauberklapper 
bedient;  phantastisch  ausgeschmückte  Mäntel  aber  sind  beiden 
eigen.  Der  nordamerikanische  Medicinmann  kehrt  in  Süd-Amerika 
unter  den  Namen  Piaje,  Piai',  Paye  wieder  und  auch  er  führt  eine 
Zauberklapper  (maracca),  die  er  sich  aus  einem  hohlen  Kürbiss 
verfertigt,  der  mit  harten  Samenkörnern  angefüllt  wird  5).  Endlich 
begegnen  wir,  durch  die  Breite  des  Atlantischen  Meeres  von  ihren 
soeben  erwähnten  Berufsgenossen  geschieden,  den  Mganga  in  Süd- 
Afrika,  die  zwar  weder  Trommel,  noch  Klapper,  wohl  aber  ein 
Zauberhorn   führen,    und   sich  obendrein  dem  Berufe  widmen,    in 


i)  S.  ein  Beispiel  unter  den  Karen  in  Birma  bei  A.Bastian,  die  Völker 
des  östlichen  Asien.  Bd.  2.  S.  415  n.  und  in  Bezug  auf  die  Kafirn  vergL 
F ritsch,  Hingeborne  Südafrika's.     S.  99. 

2)  So  unter  den  minussinskischen  Tataren  am  südlichen  Jenissei.    Globus 
1872.  Nvbr.  Bd.  XX.  No  18.  S.  278.    Andere  Beispiele  bei  Fritz  Schnitze 
der  Fetischismus.     Leipzig  1871.     S.  145. 

3)  Winwood  Reade,  Savage  Africa.     p.  363. 

4)  Catlin,  die  Indianer  Nordamerika's.     cap.  6.  S.  28. 

5)  P.  Gumilla,  El  Orinoco  iluslrado.  I,  9.  p.  9L  Dobrizhoffer, 
Geschichte  der  Abiponer.  Bd.  2.  S.  92.  S.  342.  Appunim  Ausland  1872. 
No.  29.  S.  684. 

18* 


276 


Der  Schamanismus. 


jenen    trockenen   Ländern    den    heiss   ersehnten    Regen    herbeizu- 
rufen *). 

Wird  eine  Erkrankung  der  P'ernewirkung^ eines  Zauberers  zu- 
geschrieben, so  muss  auch  der  Tod,  selbst  wenn  er  bei  Alters- 
schwäche eintreten  sollte,  nur  durch  die  Wirkung  böser  Künste 
herbeigeführt  worden  sein.  Daher  entdecken  wir  zu  unserer  Be- 
troffe»heit  überall  in  allen  Erdräumen,  wo  der  Schamanismus  sein 
Unwesen  treibt,  die  Herrschaft  des  Wahnes,  dass  der  Mensch  bis 
in  ungemessene  Zeiträume  die  Dauer  seines  leiblichen  Daseins 
verlängern  könnte,  wenn  es  ihm  nicht  durch  die  Tücke  eines 
Zauberers  verkürzt  würde.  Dieser  Wahn  beherrscht  nicht  blos 
Menschenstämme,  die  wie  die  Australier  ^)  freilich  mit  Unrecht  sehr 
tief  gestellt  werden,  sondern  selbst  die  hochstehenden  Abipouen 
versicherten  dem  Jesuiten  Dobrizhoffer  •^) ,  dass  die  Todesfälle  auf- 
hören müssten,  wenn  die  Hexenmeister  auf  ihre  traurigen  Künste 
verzichten  wollten.  Der  Patagonier  Casimiro  gestand  dem  Lieute- 
nant Musters"*),  dass  er  nach  dem  Ableben  seiner  Mutter  ein 
Weib  ermorden  Hess,  deren  bösen  Werken  er  jenen  Todesfall  zu- 
schreiben musste.  Versetzen  wir  uns  weit  hinweg  von  den  Pata- 
goniern  in  die  Südsee  auf  die  Insel  Tanna  unter  den  neuen 
Hebriden,  die  von.  Papuanen  bewohnt  werden,  einem  Menschen- 
schlage, der  körperlich  und  sprachlich  nichts  gemein  hat  mit  Nord« 
Asiaten,  Amerikanern  oder  Süd -Afrikanern.  .Auch  dort  sind  die 
Schamanen  anzutreffen,  auch  sie  beschäftigen  sich  damit,  den 
Regen  herbeizuziehen,  und  gelten  als  die  Schöpfer  von  Fliegen 
und  Stechmücken.  Anziehend  für  uns  werden  sie  aber  vorzugs- 
weise dadurch,  dass  sie  Krankheiten  und  Tod  zu  verhängen  ver- 
mögen, so  oft  sie  von  irgend  jemandem  ein  Nahak  erbeuten. 
Dieses  Wort  bedeutet  ursprünglich  so  viel  wie  Kehricht,  wird  aber 
bestimmter  angewendet  auf  vernachlässigte  Nahrungsüberreste,  die 
nämlich  nicht  weggeworfen,  sondern  sorgsam  und  heimlich  ver- 
brannt oder  verscharrt  werden  sollen.  Findet  irgendein  papuanischer 
Zauberer  eine  Bananenschale,    so  rollt  er  sie  sammt  einem  Blatte 

i)  Auch  in  Amerika  unter  den  Natchex  des  heutigen  Louisiana  be- 
schäftigten sich  die  Schamanen  mit  Wetterbeschwörungen.  Charlevoix, 
Nouv.  France  tom.  III.  p.  426. 

2)  Eyre,  Central- Australia.     London.  1845.  tom.  II.  p.  219. 

3)  Geschichte  der  Abiponer,     Bd.  2.  S.  106. 

4)  Unter  den  Patagoniern.     Jena  1873.     S,  195. 


Der  Schamanismus. 


277 


in  Baumrinde  und  wenn  die  Nacht  herabsinkt,  setzt  er  sich  an 
ein  Feuer  und  lässt  das  Nahak  langsam  verbrennen.  Ist  Alles  in 
Asche  verwandelt,  so  hat  der  Zauber  Kraft  und  der  Tod  dessen, 
von  dem  der  Fruchtabfall  herrührte,  ist  besiegelt.  Allein  die  Kunde 
von  dem  nächtlichen  Vorhaben  verbreitet  sich  rasch  und  bei  Zeiten» 
Weilt  also  in  der  Nähe  irgendwer,  dem  das  Gewissen  mit  Ver- 
nachlässigung seiner  Speisereste  belastet  ist  oder  d«r  schon  krank 
darniederliegt,  so  lässt  er  von  einem  der  Seinigen  auf  dem  Muschel- 
horn  blasen,  zum  Zeichen,  dass  dei  Schamane  mit  seinem  Ver- 
nichtungswerk innehalten  möge.  Am  nächsten  Morgen  werden 
dann  Lösegelder  für  die  Rückgabe  des  Nahak  angeboten.  Der 
Missionär  •  Turner ')  erzählt,  dass  ihm  manche  Nachtruhe  durch 
jene  unheimlichen  Muschelhorn klänge  gestört  worden  sei;  waren 
doch  bisweilen  mehrere  solcher  klagenden  Signale  gleichzeitig  aus 
verschiedenen  Richtungen  hörbar.  Dass  die  papuanischen  Scha- 
manen ernsthaft  auf  ihre  Kunst  vertrauen,  ist  desshalb  nicht  zu 
bezweifeln,  weil,  so  oft  einer  aus  der  Zunft  von  Krankheit  und 
Todesfurcht  befallen  wird,  er  seinerseits  ebenfalls  einen  Muschel- 
bläser ins  Freie  schickt.  Nur  gegen  die  Krankheiten,  welche  die 
Europäer  auf  die  Inseln  eingeschleppt  haben,  gestanden  sich  die 
Eingeborenen,  seien  alle  Gegenzauber  unwirksam  geblieben.  Die 
Nahakceremonie  kehrt  mit  kleinen  Abänderungen  auf  der  Marquesas- 
insel  Nukahiwa  wieder  *),  also  unter  reinen  Polynesiern ;  sie  findet 
sich  ferner  auf  den  Fidschiinseln  unter  dem  Titel  „ein  Vollbringen 
mit  Blättern*'^),  ja  sogar  in  Australien  wird  der  Tod  eines  Er- 
krankten mit  Sicherheit  erwartet ,  wenn  ein  feindseliger  Schamane 
das  Pringurru,  ein  heilig  gehaltenes  Stück  Bein,  welches  auch  beim 
Aderlassen  dient,  verbrannt  haben  sollte*). 

Begeben  wir  uns  von  Australien  fast  umein  Drittel  des  Erdkreises 
nach  Süd -Afrika,  so  erfahren  wir,  dass  die  Kafir- Fürsten,  bevor 
sie  zum  Krieg  ausrücken ,  vor  den  Augen  der  Ihrigen ,  um  deren* 
Muth  zu  erhöhen,  einen  Kleidungsfetzen,  einen  Speerschaft,  eine 
Tabaksdose,  kurz  irgendeinen  Gegenstand  vorzeigen,  den  sie  sich 
aus   der  Habe   ihres  Gegners  zu  verschaffen  gewusst  haben.     Der 


i)  Nineteen  Years  in  Polynesia.  p.  89 — 92. 

2)  V.  Langsdorff,  Reise  um  die  Welt.     Frankfurt  1812.     Bd.  i.  S.  135. 

3)  Nach  Williams  im  Ausland  1858.     S.  587. 

4)  Eyre,  Central- Australia.  tom.  II.  p.  360. 


2y8  Der  Schi 

Hofschamane  hält  einen  Zaubertrank  schon  in  Bereitschaft  und 
würzt  ihn  vor  der  vetsumraelten  Gemeinde  damit,  dass  er  ein 
wenig  von  dem  erbeuteten  Kleinode  hineinschabt.  Sobald  aber 
der  Häuptling  den  Trank  ausgeleert  hat,  besitzt  er  unfehlbare 
Macht  über  seinen  Geg"^''-  ^^'''  verstehen  daher,  warum  jeder 
Kafir-König,  so  oft  er  eine  neue  Hütte  bezieht,  die  alte  sorgfältig 
ausfegen  lässt;  ist  doch  sogar,  wie  Theophilas  Hahn  erzählt, 
schon  der  Fall  vorgekommen,  dass  ein  ganzer  Kraal  (Ort)  nieder- 
gebrannt wnrde,  nur  damit  die  Feinde  sich  nicht  irgendeines 
Hausgerälhes    zur  Verübung  eines  Zaubers  bemächtigen  sollten'). 

Verweilen  wir  noch  ein  wenig  bei  dieser  gewiss  seltsamen 
Uebereinstimmung  solcher  Truggebilde,  Wir  könnten  sie  viel- 
leicht erklären,  wenn  wir  uns  vorstellen,  dass  papuanische  und  ka- 
firische  Menschen  stamme  einst  eine  gemeinsame  Heimat  bewohnt 
und  dann  durch  fortgesetzte  Wanderungen  sich  von  einander  ent- 
fernt hätten.  Es  würde  uns  aber  diese  Annalime  in  Zertriiume 
zunick  versetzen ,  die  nach  Jahrtausenden  gezählt  werden  müssen, 
denn  die  Racenunterschiede  zwischen  diesen  Stämmen  gehen  sehr 
tief  und  soiche  Aenderungen  erfolgen  nur  mit  einer  Langsamkeit, 
wie  sie  etwa  bei  geologischen  Vorgängen  beobachtet  wird.  Auch 
darf  man  sich  nicht  damit  beruhigen,  dass  nur  das  ungeschätfte 
Denken  der  sogenannten  wilden  Volker  solchen  Verirrungen 
unterliege.  Wie  lange  ist  es  her,  dass  nicht  unter  uns  selbst  der 
Aberglaube  in  Blüthe  stand,  man  solle  abgeschnittene  Nage!  und 
Haare  sorgßitig  vernichten?  Eine  italienische  Gelehrte,  Caroline 
Coronedi,  hat  erst  kürzlich  gezeigt,  dass  in  Bologna  noch  heutigen 
Tages  die  ausgekämmten  Haare  sorgfiiltig  verbrannt  werden,  weil 
sich  an  ihnen  Hex'-nkünste  am  leichtesten  verüben  lassen  *). 
Tylor  schenkt  sogar  einer  Nachricht  vollen  Glauben,  dass  noch 
1860  zu  Camargo  in  Mexico  eine  Hexe  verbrannt  worden  sei  3). 
Fast  überfällt  uns' bei  diesen  übereinstimmenden  Verstandesirrungen 
die  trostlose  Vorstellung  ,  als  sei  das  menschliche  Denkvermögen 
ein  Mechanismus,  der  bei  der  Einwirkung  gleicher  Reize  immer 
2u  den  gleichen  Rösselsprüngen  genöthigt  werde. 


1)  Tlie.iphilus  Halm  im  Globus  1871.  Bd.  XX.  N'o.  1 

2)  Iiia  V.  Düriiigsfelt]  im  Ausland  1872.  No.  n-  S. 

3)  Anranke  der  tlultur,  Bd.  1.  S.  138. 


Der  Schamanismus.  27g 

Am  schwersten  leiden  unter  der  schamanistischen  Geistes- 
krankheit die  südafrikanischen  Bantu-Völker.  So  oft  ein  Todesfall 
eingetreten  ist,  wird  der  Mganga  oder  Ortsschamane  nach  dem 
Urheber  befragt.  Ihm  nämlich  wird  ein  höheres  Wissen  zuge- 
traut, wie  denn  alle  Zeichendeuterei,  alles  Orakelwesen,  auch  das 
Geisterklopfen  unserer  Tage  2um  Wahne  des  Schamanismus  ge- 
rechnet werden  müssen.  Bezeichnet  der  Seher  einen  Verdächtigen, 
so  wird  ein  gottesgerichtliches  Verfahren  eingeleitet.  Hier  begegnen 
wir  zugleich  einer  neuen  Seite  des  Zauberwesens,  denn  der  Glaube 
an  gottesgerichtliche  Wahrsprüche  beruht  auf  dem  Irrthum,  dass 
eine  unsichtbar  ordnende  Macht,  kunstgerecht  befragt,  imtrügliche 
Bescheide  ertheilen  müsse.  Das  Gottesgericht  ist  aber  noch  gegen- 
wärtig in  Indien  bei  Dravida  -  Stämmen  ')  wie  bei  brahmanischen 
Hindu  verbreitet,  ebenso,  jn  Süd  -  Arabien  ^)  und  war  auch  bei 
unseren  deutschen  Vorfahren  noch  lange  nach  der  christlichen 
Zeit,  die  W^asserprobe  bei  Hexenverfolgungen  sogar  |bis  ins  16. 
und  17.  Jahrhundert  in  Gebrauch,  ja  Jacob  Grimm  will  noch  die 
letzten  Spuren  dieses  Wahns  in  dem  modernen  Duell  erkennen  ^). 
Auch  die  Papuanen  Neu -Guineas  glauben  die  Schuld  oder  Un- 
schuld eines  Angeklagten  durch  Untertauchen  ermitteln  zu  können*) 
und  desselben  Verfahrens  bedienen  sich  die  Neger  der  Goldküste  5). 
Sonst  wird  das  Gottesgericht  in  Südafrika,  wo  es  sich  von  den  at- 
lantischen Stämmen  bis  zu  den  Masai  erstreckt,  vorzugsweise  dutch 
Ausleerung  eines  Bechers  mit  Mbundu-Saft  [vollzogen.  Erbricht 
der  Angeschuldigte  nicht  rasch  den  Gifttrank,  so  ist  seine  Schuld 
erwiesen.  Als  im  Jahre  1865  am  Rembo  in  Mäyolo  (2°  südl.  Br., 
II**  östl.  L.  Greenw.)  die  Blattern  ausbrachen,  fielen  bei  Du  Chaillu's 
Anwesenheit  durch  das  gottesgerichtliche  Verfahren  zu  den  Opfern 
der  Seuche  auch  die  Opfer  des  schamanistischen  Truges  ^). 

Gerichtsscenen  mit  Folterungen  von  Verdächtigen  unter  den 
Ama)(^osakafim  werden  bei  Maclean  7)  sehr  ergreifend  geschildert.  Der 

1)  Jellinghaus  in  der  Zeitschr.  für  Ethnologie.    Bd.  3.     Berlin.  1871. 

s.  337. 

2)  V.  Maltzan  im  Globus.     Bd.  21,  1872.  Ni).  10.  S.  139. 

3)  Deutsche  Rechtsalterthümer.     S.  925 — 927. 

4)  Bosman,  Guinese  Goud-Kust.     Utrecht.  1704.  tora  I.  p.  137. 

5)  Otto  Finsch,  Neu-Guinea.     S.  113. 

6)  Du  Chaillu,  Ashango-Land.    p.  173—177. 

7)  Kafir  laws  and  customs.     Mount  Coke.  1858.    p.  89—92. 


2So  ^ci'  Schamanismus. 

Glaube  an  die  Wirksamkeit  böser  Künste  ist  um  so  schwerer  zu 
vertilgen,  als  hin  und  wieder  Ueberführte  geständig  werden,  Zauber 
verübt  zu  haben.  Dass  solche  Versuche  wirklich  stattfinden,  darf 
nicht  bezweifelt  werden,  hat  doch  der  Reisende  Martins  ')  in  einer 
brasilianischen  Indianerhütte  eine  rachsüchtige  Sclavin  bei  ihren 
nächtlichen  Beschwörungen  auf  frischer  That  ergriffen.  Aus  diesem 
bösen  Kreis  ist  nicht  leicht  der  Ausweg  zu  erkennen,  denn  schlagen 
auch  oft  genug  die  Wunderwerke  der  Schamanen  fehl,  so  wird 
dadurcii  in  den  Augen  der  Befangenen  nicht  etwa  die  Nichtigkeit 
der  angewendeten  Mittel  bewiesen,  sondern  es  heisst  vielmehr, 
die  Arzneien  oder  Beschworungen  seien  zu  schwach  gewesen,  um 
die  schlimmen  Werke  eines  entfernten  Schamanen  zu  brechen.  Alle 
Beobachter  fremder  Menschenstämme  versichern  uns  überein- 
stimmend, daas  die  Zauberärzte  selbst  zu  den  Betrogenen  gehören 
und  fest  an  ihre  Künste  glauben  ").  Die  sibirischen  Schamanen, 
die  nordamerikanischen  Medicinraänner ,  die  brasilianischen  Piai, 
die  südafrikanischen  Mganga,  die  australischen  und  papuanischen 
Zauberer  leben  abseits  von  ihrer  Horde,  erziehen  sich  ihre  Schüler 
unter  Fasten  und  Selbstpeinigungen  und  überliefern  ihnen  dann 
erst  die  Schätze  ihres  Geheimwissens. 

Der  letzte,  unter  allen  seinen  verschiedenen  Namen  undTrachten 
immer  gleiche  Grundgedanke  des  Schamanismus  beruht  auf  dem 
Irrthum,  dass  der  Mensch  mit  unsichtbaren  Mächten  in  Verkehr 
treten  und  sie  zur  Folgsamkeit  zwingen  könne.  Beides  geschieht 
durch  die  Anwendung  von  sinnbildlichen  Gebräuchen  und  ge- 
heimen Kraflsprüchen ,  die  sich  gut  bewährt  haben ,  insoferne 
nämlich  bei  der  Schwäche  des  menschlichen  Urtheils  eine  einzige 
günstige  Erfahrung,  die  sich  unverwüstlich  dem  Gedächtniss  ein- 
prägt, neun  andere  widersprechende  Erfahrungen,  die  rasch  ver- 
gessen wurden,  vollständig  aufwiegt.  Dieser  Selbstbetrug  in  seiner 
höchsten  Verfeinerung  vernSäg  in  die  reinsten  Gemüther  sich  ein- 
zuschleichen. Er  hängt  sich  an  alles  Symbolische  und  Rituelle 
und  ist  überall  thätig,  wo  von  einer  sinnbildlichen  Handlung  eine 
bestimmte,  nicht  streng  noihwendige  Wirkung  erwartet  wird.    Wenn 


i)  Ethnographie.     Bd.  i.     S.  4. 

i)  3u  DcibiUbtittci  iti  ßtiu^  auf  dit  Abiponen  (GMcWchle  der  Abi- 
poner,  Bd.  2.  S,  91)  und  Mariner  (Tonta  Islands,  tom.  I.  p.  102)  in  Bezug 
auf  die  [lülynesisclien  Bewohner  dtt  Frcundschiftsgiuppe. 


Der  Schamanismus.  28 1 

in  protestantischen  Ländern  fromme  Gemüther  bei  Lebensbedrang- 
nissen  eine  Offenbarung  sich  erzwingen  wollen,  so  pflegen  sie  das 
Gesangbuch  aufzuschlagen  und  im  ersten  Liede  oder  Verse,  auf 
welche  ihr  Blick  fallt,  eine  Antwort  von  oben  zu  erwarten.  Un- 
bewusst  haben  sie  mit  dem  Gott  in  ihrem  Innern  den  Vertrag 
geschlossen,  dass  er,  auf  diese  gläubige  Weise  befragt,  ihnen  Rede 
zu  stehen  schuldig  sei. 

Nichts  wird  leichter  schamanistisch  missbraucht  als  das  Gebet, 
denn  es  wird  in  dem  Augenblicke  zur  Zauberformel,  sobald  man 
seinen  Worten  irgendeine  Wirkung  auf  den  göttlichen  Willen 
zuschreibt.  Ob  irgendwo  eine  solche  Verirrung  um  sich  gegriffen 
habe,  lässt  sich  leicht  daran  erkennen,  dass  das  Gebet  möglichst 
vervielfältigt  wird,  und  in  diesem  Selbstbetrug  sind  die  Buddhisten 
so  tief  gesunken,  dass  sie  ihre  Gebetrollen  ersannen,  drehbare 
Walzen,  über  welche  ein  Papier  mit  den  aufgeschriebenen  Gebeten 
gerollt  wird.  Mit  dieser  Vorrichtung  gedenkt  man  die  Gottheit 
zu  überlisten,  indem  man  ihr  zumuthet,  bei  jeder  Umdrehung  der 
Trommel  die  Gebete  als  gesprochen  in  Empfang  zu  nehmen. 
Erfinderische  Mongolen  haben  sogar  die  Gebetrollen  durch  Wijid- 
oder  Wasserräder  in  Drehung  versetzt  und  durch  solche  Mühlen- 
werke sich  Frömmigkeitsbelohnungen  zu  erwerben  getrachtet. 

Noch  schlimmer  droht  den  Menschen  der  Opferdienst  zu 
verwirren.  Die  reinsten  Beweggründe,  ein  Ueberströmen  des 
Dankes,  die  Anerkennung  eines  Fehltrittes  und  der  Wunsch  nach 
einer  Sühne  führt  die  Gläubigen  vielleicht  zu  dem  Altar.  Unmerk- 
lich, ja  fast  unausbleiblich  schleicht  aber  eine  andere  Auffassung 
des  Opfers  jeher  reinen  nach.  Die  Gottheit  erscheint  sehr  bald 
als  der  beschenkte  Theil  und  der  Geber  erwartet  eine  Gegen- 
leistung für  seine  Wohlthaten  *).  So  erinnern  homerische  Helden, 
wenn  sie  die  Hilfe  ihrer  unsichtbaren  Beschützer  anrufen,  an  die 
vielen  saftigen  Opfer ,  die  sie  ihnen  dargebracht  haben  *).  Am 
verderblichsten  aber  wirkt  die  Verirrung,  wenn  sich  zu  dem  Opfer 
noch  symbolisches  Gepränge  gesellt.  Nirgends  hat  ein  solcher 
Selbstbetrug   verständige,    ja    scharfsinnige  Denker  so  völlig  über- 


1)  Mit  Recht  erinnert  Tylor  (Anfänge  der  Cnltur,  Bd.  2.  S.  400)  daran, 
dass  Opfer  (sacrifice)  im  Englischen  (und  im  Deutschen,  dürfen  wir  hinzu- 
setzen) einen  selbstauferlegten  Verlust  bedeutet. 

2)  Ilias  I,  37  -42. 


282  Det 

wältigt  als  in  Indien,  denn  an  der  Spitze  aller  Schamanen,  me- 
tliodisch  geschult,  verfeinert  durch  Gedankentiefe,  gestützt  auf 
tausendjährige  Uefaung,  stehen  die  Bralimanen.  Ihr  höchstes 
Zaiibermitlel  ist  der  Saft  der  Soma-Pflanze  (Sarcostemma  viminalt), 
mit  dem  sie  ihre  Opfer  kräftigen.  Gleich  den  Mganga  oder  süd- 
afrikanischen Regendoctoren  bringen  sie  das  ersehnte  nasse  Wetter 
herbei,  denn  erst,  wenn  der  Donnergott  Indra  durch  ihre  heiligen 
Riten  gestärkt  worden  ist,  vermag  er  die  Wolken  zu  spalten  und 
ibnen  den  befruchtenden  Niederschlag  zu  entreissen.  Dem  Opfer 
selbst  wurde  eine  schöpferische  Kraft  beigelegt,  denn  in  ihm  sollte 
der  Brahma  allgegenwärtig  sein  ').  Nach  ihren  Lehren  verleihen 
auch  Bussübungen,  wenn  sie  in  ungemeasene  Zeiten  fortgesetzt 
werden,  wie  die  des  Wisch wfliiii tra ,  dem  Dulder  zuletzt  so  hohe 
Kraft,  dass  die  epischen  Götter  von  ilim  eine  Zerstörung  des 
Himmels  und  der  Erde  fürchten ').  Wenn  aber  nach  der  scha- 
manistischen  Hypothese  durch  Gebete  und  Hymnen,  wenn  vor 
Allem  durch  Opfer,  begleitet  von  wirksamen  sinnbildlichen  Hand- 
lungen, die  Gotter  zu  den  erwünschten  Leistungen  gezwungen 
werden  können,  so  musste  ein  folgerichtiges  Denken  zu  dem 
Satze  führen,  dass  Bussübungen,  Gebt'te  und  Opfer  über  den 
Göttern  stehen.  So  gelangten  die  Indier  :!U  dem  Begriffe  Brahma, 
der  geistigen  Macht  nämlich,  welche  in  den  ritualistischen  Geheim- 
mitteln ruhte  und  die  über  den  Göttern  schwebte.  Die  Brab- 
manen  selbst,  als  die  Wissenden,  denen  allein  der  geheime  Sinn 
und  die  Wirkungskraft  der  Bräuche  und  Sprüche  bekannt  war, 
mussten  sich  selbst  schliesslich  übermenschliche  Eigenschaften  bei- 
messen und  sich  zu  fleischgewordenen  Göttern  erbeben.  Nach 
ihren  Lehren  hing  alles  Glück  \'0n  der  richtigen  Vollziehung  der 
Opfer  ab.  Dieser  Kunst  verdankten  sie  ihren  Rang  und  ihren 
Lebensgenuss.  Die  Opfer  selbst,  anfangs  einfach,  wurden  immer 
verwickelter.  Bald  erforderten  sie  mehr  als  einen  Tag,  dann 
Wochen,  Monate  und  Jahre  und  zugleich  stieg  die  Zahl  der  dienst- 
thuenden  Priester  durch  beständige  Vervierfachung  bis  auf  vier- 
undsechzig, wie  man   liies  alles  bei  Martin  Hang  finden  wird,  der 


1)    Marlin  llaug,   in   der  Reilage  inr  Allgsm.  Zeitung   1873.   No.  156. 
^.  2390. 

:)  Martin  Haug,    Brahma  und  die  Brahmanen.     München  1871.   S.  :2. 


Der  Schamanismus.  —  Die  Lehre  des  Buddha.  283 

von    allen  Europäern    zuerst    hinter    die   letzten  Geheimnisse   der 
Brahmanen  gedrungen  ist. 

Besteht  das  Wesen  des  Schamanismus  in  der  Ausübung  irgend- 
eines Zaubers,  der  seinen  Zwang  auf  göttlich  gedachte  Mächte 
erstreckt,  ihnen  die  Erfüllung  irgendeines  Begehrens  oder  die 
Offenbarung  künftiger  Begebenheiten  abnöthigt,  so  ist  es  offenbar 
ganz  gleichgiltig ,  ob  das  angewendete  Mittel  im  Rühren  einer 
Trommel,  im  Schütteln  einer  Klapper,  in  Opfern,  in  Gebeten,  in 
Fasten  oder  Bussübungen,  im  Befragen  thierischer  Eingeweide 
oder  des  Vogelfiuges  bestehe.  Alle  Völker  sind  diesem  Wahne 
erlegen,  wenige  haben  ihn  völlig  abgestreift;  er  treibt  sein  Spiel 
noch  in  Amerika,  in  Sibirien,  im  buddhistischen  Asien,  im  brah- 
manischen  Indien,  als  Amulet  bei  den  Mohammedanern,  im  Gottes- 
gericht und  im  Regenzauber  bei  den  Afrikanern,  als  Nahak-Spuk 
bei  den  Papuanen.  Wir  selbst  sind  erst  seit  kurzer  Zeit  die 
Hexenprocesse  los  geworden,  noch  unser  grosser  Keplei  musste 
in  seine  schwäbische  Heimat  reisen  und  es  kostete  ihm  schwere 
Mühe,  seine  alte  Mutter  vor  dem  Feuertode  zu  retten,  mit  welchem 
ihr  protestantische  Schamanistenriecher  drohten.  Klar  aber  ist 
Avohl  nach  allem  Gesagten,  dass  die  sittliche  Erziehung  des 
Menschen  durch  die  Religion  nirgends  einer  grösseren  Gefahr 
begegnet  als  dem  schamanistischen  Wahn.  Man  lege  irgendeiner 
sinnbildlichen  Handlung  irgendeine  übernatürliche  Wirkung  bei  und 
der  Ritus  thront  als  Brahma  über  dem  Göttlichen  ^). 


II.     Die  Lehre    des   Buddha. 

Als  die  Arier  über  das  Fünfstromland  und  die  Gangesebenen 
sich  ausbreiteten,  geschah  es  auf  Kosten  einer  rohen  Urbevölkerung, 
der  sie  an  geistiger  Begabung  und  körperlicher  Schönheit  über- 
legen waren.  Das  Innewerden  dieser  Racenvorzüge  führte  in 
Manus  Gesetzgebung  zum  Verbot  der  Zwischenheirathen  und  zu 
der  lieblosesten  Kastenordnung.  Die  Priester  oder  die  Wissenden 
hatten  die  Kenntniss  der  schamanistischen  Gebräuche,  der  Gebete 


i)  Der  Inhalt  dieses  Abschnittes  wurde,  abgesehen  von  den  Quellen- 
angaben und  neueren  Zusätzen,  bereits  in  der  Beilage  zur  Wiener  Zeitung, 
1873.  Xo.  49  und  50,  abgedruckt. 


284  Die  Lehre  des  Buddha. 

und  der  Opfer,  wie  wir  sahen,  bis  nur  Macht  über  die  alten  Götttr 
gesteigert,  die  zur  dienenden  Roile  als  Welthüter  herabgedrückt 
wurden.  Die  geschichtlich  älteste  Bedeutung  von  Brahma  ')  war 
Gebet  und  Brahmanen  hiessen  ursprünglich  die  Betenden,  Männ- 
lich gedacht  erschien  dann  Brahma  als  Gott  des  Gebetes  und 
weiterhin  als  Weitenschöpfer.  Priesterlicher  Dialectik  wurde  nun 
die  Aut'gabe  gestellt,  in  den  Brahmana-  oder  Ritualbüchern  durch 
künsUiche  Auslegung  die  Lehren  der  Veden  bis  zur  Ueberein- 
stimmung  mit  den  Keugcburten  der  Religionspbilosophie  zu  ver- 
renken '). 

Brahma  oder  die  Allseele  wurde  als  das  einzig  Seiende,  die 
sinnlich  wahrnehmbare  Welt  dagegen  nur  ais  ein  Scheingebilde 
erklärt,  als  ein  Werk  der  Maja  oder  des  Truges,  unkörperiich  wie 
das  stille  Bild  des  ^Mondes  auf  einer  spiegelnden  Wasserfläche. 
Diese  Täuschung  zu  durchschauen,  ihr  zuzurufen,  dass  sie  nicht 
sei,  Brahma  als  das  Seiende  mit  Du  zu  begrüssen  und  sich  selbüt 
mit  ihm  als  Eins  zu  erkennen,  führte  zur  Befreiung  des  Ich  aus 
alleh  Irrsalen  der  Sinnenwelt  und  zum  Zurückfallen  in  den  Brahma. 
Aehnlich  wie  diese  Lehrt'  des  Vedänta,  suchte  auch  die  Sänkhja- 
Philosophie  eine  Erlösung  der  Seele  aus  dem  Kerker  des  mensch- 
lichen Leibes,  aucli  sie  erkannte  in  allen  Sinn  es  Wahrnehmungen 
nur  eine  Täuschung,  aber  üe  erwartete  eine  Befreiung  nicht  durch 
ein  Zerschrhelzen  in  die  Gottheit,  sondern  durch  einen  Rückzug 
der  Seele  in  sich  selbst  und  durch  ihre  Abtrennung  von  der  . 
Körperwelt,  Der  grosse  Spruch  desVSdänta  lautete:  Ich  bin  das 
Das,  ich  bin  das  Brahma ;  die  Sänkhjaschule  sagte  hin^^egen :  ich 
bin  nitht  das  I^as  (die  Natur)*). 

Die  Gemüther  durlndier  wurden  und  werden  noch  beherrscht 
von  der  Vorstellung  einer  Unzerstörbarkeit  der  Seele.  Neigung 
zum  Trübsinn  und  zum  Lebensüberdruss  hat  sie  schon  in  den 
ältesten  Zeilen  beschüchen.  Ein  endloses  Echo  von  Wanderungen 
der  Sci>!e  begleitete  sie  [als  Drohung  bei  allen  Schritten.  Wie 
äusserst  wenigen  leicht  gestimmten  Herzen  begegnen  wir  unter 
uns.  die  gern  noch  einmal  ihr  eignes  Leben  mit  seinen  Ent- 
täuschungen  und  Unstern  Stunden  von  frischem  beginnen  möchten? 

i|  J.  Muir,  Siinikril  teils.  2A.  ed.  London.  187z,  tom.  I,  p.  241. 
;)  Duncker,  Geschichte  des  Alterthums.  1.  Aufl.  Bd.  2.  S.  156. 
i)  Koppen,  Religion  des  Buddha.     Berlin  1857.     Bd.  1.  S.  69. 


Die  Religion  des  Buddha.  285 

Nach  Erlösung  seufzt  die  Creatur,  lauten  auch  die  Worte  des 
Apostels.  Auf  dem  Hindu  lastete  als  Judasqual  die  Vorstellung 
einer  rastlosen  Erneuerung,  ohne  Rettung,  dass  das  ewig  rollende 
Rad  jemals  still  stehen  könnte  und  seine  Einbildungskraft  sah, 
beunruhigt  von  unheimlichen  Zahlenausdrücken,  in  eine  Zeit  ohne 
Grenzen  hinaus,  die  mit  jedem  Schritt  vorwärts  ihren  Horizont 
ebenfalls  um  einen  Schritt  vorwärts  schob.  Wenn  nun  schon 
die  höchsten  Kasten  nach  einer  Entfesselung  [der  Seele  sich 
sehnten,  so  war  für  die  Gedrückten  das  Dasein  ohne  Absrhluss 
eine  Folter  ohne  Ruhepause. 

Da  trat  nun  nach  den  überlieferten  Angaben  im  6.  Jahr- 
hundert vor  unserer  Zeitrechnung  der  Sohn  ^uddhödana's  des 
Königs  von  Kapilavastu,  aus  dem  Stamme  Gautama  und  dem 
Hause  (^äkja  Namens  Siddhärtha  mit  einer  Hoffnung  auf  Erlösung 
unter  das  indische  Volk*).  Der  Anblick  von  körperlichen  Uebeln, 
von  Krankheit,  Alter  und  Tod  hatten  ihn  zum  Nachdenken  an- 
geregt, wie  der  Mensch  sich  wohl  dem  Elend  des  irdischen 
Daseins  entziehen  möchte.  Die  Lehren  brahmanischer  Schulen 
befriedigten  ihn  nicht.  Er  erkannte  vielmehr  die  Nichtigkeit  des 
(jebetes,  der  Opfer  und  der  Bussübungen.  Schon  diese  Ver- 
nichtung der  schamanistischen  Verirrungen  sichert  ihm  einen 
hohen  Rang  unter  den  Religionsstiftern.  Er  verkündete  ferner 
seine  Lehre  nicht  an  Geweihte  und  wie  ein  Geheimniss,  sondern 
er  wirkte  ganz  im  Gegensatze  zu  den  Brahmanen  durch  die 
öffentliche  Predigt  in  der  Volkssprache*);  er  wendete  sich  auch 
nicht  an  auserwählte  Kasten,  sondern  an  die  gesammte  Mensch- 
heit. Niemals  ist  der  Buddhismus  national  gewesen,  sondern 
weltbürgerlich  geblieben  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Laut  ver- 
kündete vielmehr  der  ^'äkjamuni,  um  diesen  Beinamen  des  neuen 
Religionsstifters  hier  einzuflechten ,  dass  seine  Lehre  ein  Gesetz 
<Jer  Gnade  für  Alle  sei^),  und  bekannt  ist  die  schöne  Legende 
von  seinem  Lieblingsschüler  Änanda,  welche  so  ähnlich  klingt, 
wie  die  Begegnung  mit  der  Samariterin  am  Brunnen  im  vierten 
Evangelium.  Er  begehrt  nämlich  von  einem  Tschändäla-Mädchen, 
das  Wasser  schöpft,  einen  Trunk,  und  als  es  zögert,  um  ihn 
nicht  durch  Berührung  zu  beflecken,  spricht  er :  „Meine  Schwester, 

i)  Chr.  Lassen,  Indische  Alterthumskunde.     Bd.  2.  S.  66. 

2)  Burnouf,  Inlroduction,  tom.  I.  p.  195. 

3)  Burnouf,  1.  c.  loni.  I.  p.  198. 


286  ^c  Religion  des  Buddha. 

ich  frage  nicht  nach  Deiner  Kaste  und  Deiner  Abkunft,  ich  bitte 
um  Wasser ,  wenn  Du  es  mir  geben  kannst" ').  Anklänge  an 
chriatliclie  Texte  enthält  auch  die  Legende  von  dem  Annen,  welcher 
den  Almosentopf  Buddha's  mit  einer  Handvoll  Blumen  füllt,  wäh- 
rend Reiche  mit  zehntausend  Scheffeln  nichts  ausrichten;  oder 
wenn  die  Lampen,  welche, Könige  und  Kanzler  zu  Ehren  des 
Buddha  angezündet  hatten ,  verlöschen,  aber  nur  die  einzige ,  die 
ein  dürftiges  Weiö  dargebracht  hat,  die  ganze  Nacht  hindurch 
brennt '). 

Der  Lebenslauf  des  Keligionsstifters ,  wie  er  uns  überliefert 
worden  ist,  verstrich  ziemlich  eintönig.  Durch  Entsagung  der 
weltlichen  Macht  und  der  sinnlichen  Genüsse,  den  Almosentopf 
im  Arm ,  gab  der  indische  I'rinz  Beweise  von  der  Aufrichtigkeit 
seiner  Pflichtenlehre.  Hochbetagt  sollte  er  noch  erleben,  dass 
der  Feind  seines  Hauses  die  Vaterstadt  KapiJavastu  verwüstete. 
E et; leitet  von  Änanda  durchwanderte  er  bei  Sternenlicht  ihre 
rauchenden  Trümmer ,  stieg  er  in  den  Gassen  über  die  Leichen 
Erschlagener  und  die  Leiber  verstümmelter  Mädchen,  Trost  den 
Sterbenden  spendend.  Von  dort  wollte  er  sich  noch  nach  Kugina- 
gara  schleppen,  erreichte  aber  die  70  Meilen  entfernte  Stadt  nicht 
völlig,  sondern  sank  unweit  davon  unter  einem  i^alabaum  mit 
Klagen  über  heftigen  Durst  nieder.  Bald  stellte  sich  der  Todes- 
kampf ein  und  bei  gebrochenen  Augen  verschied  er  mit  den 
Worten:  ,, Nichts  ist  von  Dauer"  ^). 

Die  Erlösung,  die  Buddha  ersann,  bezog  sich  nur  auf  den 
Wahn  der  Wiedergeburt;  Heilung  wird  also  in  dieser  Lehre  nur 
derjenige  finden ,  welcher  diesen  Wahn  theilt.  Die  Wiedergeburt 
entspringt  immer  aus  dt-r  Verschuldung  in  einem  früheren  Dasein, 
daher  ist  die  Sünde  der  Grund  alles  irdischen  Elends  *).  Durch 
ihr  Haften  und  ihre  Begier  am  Dasein  wird  die  Seele  beim  Tode 
zu  einem  neuen  Kreislauf  gezwungen.  Es  bleibt  nämlich  beim 
Erlöschen  des  Lebens  von  ihr  nichts  zurück  als  die  Summe  ihrer 


1)    E.  Burnoiif,    Introduction   ä  l'hbtoire  du  BuddhUme  indien.    PbHs 
1844.  tom.  I,  p.  105. 

3)  Koppen,  die  Reügion  des  Buddha.     Bd.  1.  S.  131. 

3]    O.  Palladius,   Das   Leben  Buddha's.     Arbeiten   der   russ.  Gesandt- 
schaft iu  Peking.     Berlin  1858.     Bd.  2.  S.  163— 165, 

4)  Koppen.  1,  .:,   Bi.   1.   S.   :i)0— 293, 


Die  Religion  des  Buddha.  287 

guten  und  bösen  Werke,  und  diese  letzteren  ziehen  als  eine  gesetz- 
liche Folge  eine  Neugeburt  nach  sich  *). 

Die  buddhistische  Weltanschauung,   wie  sie  (^dkjamuni  selbst 
oder  vielleicht  nur  seine  Jüngerschaft  gelehrt .  haben  mag,  hat  bei- 
nahe die  Züge  einer  Gemüthskrankheit.    Das  Leben  selbst  erscheint 
als    die   höchste   Last   und  seiner  Erneuerung  sich  zu   entziehen, 
„die  Schale    des  Eies   zu    durchstossen**,    hinauszutreten  aus  dem 
Zwang  der  ewigen  Wiedergeburten,  galt  als  die  höchste  Stufe  der 
Erlösung.     Der  Grundgedanke   des  Buddhismus  war  in  den  soge- 
nannten  vier  Wahrheiten   zusammengefasst :    dass   aus   dem    Sein 
unser  Elend  quelle,  dass  dieses  Elend  nur  durch  die  fortgesetzte 
Anhänglichkeit    an    die  Sinnenwelt    entstehe,    dass   ein  Abstreifen 
dieser  Anhänglichkeit    vom  Dasein    erlöse    und    endlich,    dass    es 
einen   Pfad    zu    einer    solchen   Erlösung    gebe.     Dieser  Pfad    zur 
Buddhahöhe    forderte  Entsagung  und  regungsloses  Versenken   in 
sich   selbst.     Nirväna   heisst  der  letzte  und  höchste  Zustand,   den 
der  Fromme  zu  erreichen  vermag,  nur  ist  immer  gestritten  worden, 
ob  Nirväna    überhaupt    ein  Zustand   genannt  werden   darf.     Zum 
Nirväna    gelangte  Buddha   selbst  stufenweise.      Zuerst  genoss   er 
das  Gefühl   der  Befreiung  von  der  Sünde ,    hierauf  vernichtete  er 
die  Befriedigung  darüber  im  Verlangen  nach  dem  höchsten  Ziele, 
dann    erlosch    ihm   auch   dieses  Verlangen  bis  zu  völliger  Gleich- 
giltigkeit,    in    welche   letztere   sich  aber  noch   ein  Behagen  über 
diese    mischte.       Auch     dieses    Behagen     musste     verschwinden, 
Freude,     Qual,    Erinnerung    in    die    Unendlichkeit    des    Raumes 
oder    das    Nichts    zerfliessen;     im    Nichts   aber    blieb    ihm    doch 
noch    dass  Bewusstsein    des  Nichts,    endlich  erstarb   auch   dieses 
in  den  Gebieten  der  völligen  Ruhe,   die  weder  durch  das  Nichts, 
noch    durch    etwas,     was    das  Nichts    nicht  wäre,    gestört   wird. 
Das   Nirväna   oder  höchste  Ziel  des  Buddhismus  über  dessen  Be- 
deutung die  verschiedenen  Secten  sich  nicht  geeinigt  haben,    war 
also  ursprünglich  und  wörtlich  ein  Verlöschen,  eine  gänzliche  Ver- 
nichtung,   welche  jede  Wiedergeburt    ausschloss.     Die  nördlichen 
oder  neugläubigen  Buddhisten  gingen  daher  so  weit,  im  Denken 
selbst     die    Wurzel     der    Unwissenheit,     durch    Zulassung     eines 
Begriffes    eine  Verfinsterung    des    Geistes    anzunehmen    und  Be- 


i)  Koppen.  1.  c.  Bd.  i.  S.  300. 


2gg  Die  KeligioD  des  Buddhi. 

IVeiung    von    Unwissenheit    darin    zu     suchen,     dass    man    nichts 
denke '). 

Die  Siltenlehro  des  Buddha  war  eine  durchaus  reine  und 
lautere  und  fällt  mit  der  christlichen  vielfach  zusammen.  Obenan 
steht  das  \*erbot,  etwas  lebendiges  zu  tödten.  Es  hat  zur  Ab- 
schaffung der  Todesstrafe  in  Indien  gefiihrt,  wenigstens  zur  Zeit, 
wo  der  Buddhismus  die  weltliche  Herrschaft  besass,  gleichzeitig 
aber  die  Vertilgimg  der  reissenden  und  der  parasitischen  Thiere 
verhindert.  Achtung  des  Eigenthums,  eheliche  Treue,  Wahr- 
haftigkeit, Vermeiden  von  Verleumdung,  Kränkung  und  Schmähung, 
Bekämpfen  aller  habsüchtigen  und  neidischen  Regungen ,  des 
Zornes  und  der  Rachsucht  w^den  allen  Bekennern  eingeschärft, 
Nächötenliebe  wie  im  Christenthum  ist  die  höchste  Pflicht  des 
Buddhisten,  nur  erstreckt  sie  sich  auf  alle  Geschöpfe,  so  dass  die 
Errichtung  oiler  Erhaltung  von  Schutzorten  und  Heilstätten  fiir 
Thiere  ebenso  zu  den  frommen  Werken  gehört,  wie  die  Stiftung 
von  Armenhäusern  für  bedürftige  Menschen.  Sich  selbst  besiegen, 
lautet  ein  alter  Sittenspruch,  sei  der  beste  aller  Siege').  Zu 
Milde,  Sanftmuth  und  Nachsicht  sollten  die  Menschen  erzogen 
werden  und  der  Buddhismus  selbst  ging  darin  mit  gutem  Bei- 
spiel voran,  dass  er  religiöse  Duldsamkeit  übte  und  beinahe 
nie  mit  \  erfolgung  von  Andersgläubigen  sich  befleckte^)  Demuth 
sollte  auch  die  Priester  zieren  ganz  im  Gegensatz  zu  der  Selbst- 
überhebung der  Brahmanen.  Keine  Worte  sind  d_aher  hoch  genug, 
um  die  günstigen  Wirkungen  des  Buddhismus  auf  die  Milderung 
der  Sitten  auszusprechen.  Man  hat  aber  auch  diese  Religion  ge- 
priesen, dass  sie  den  Menschen  erziehe,  ohne  zur  Gotlesidee, 
ohne  zum  Gebet,  ohne  zu  Verheissungen  oder  Drohungen  im 
Jenseits  ihre  Zuflucht  zu  nehmen,  und  dass  es  ihr  dennoch  gelungen 
sei,  vierhundert  Millionen  Bekenner  zu  gewinnen.  Scheinbar 
wurden  die  Buddhisten  der  Götter  los  oder  vielmehr  diese  letz- 
teren wurden  erniedrigt  zu  willigen  Gehilfen  des  Religionsstiflers, 
auf  dessen  Gedanken  schon  sie  diensteifrig  herbeieilen.  Wie  aber 
iclie  Weisheit  die  Btahmauen  über  die  Götter  stellte 


1}  Fr.  Spiegel  über  Wassiljiew's  Forschungen.     Ausland   1860.  S.  lOlJ. 

2)  Koppen.  1.  c.  Bd.  I.  S.  451. 

3)  Vgl.  die  .mf  Toleranz  bezüglichen  Felseninschriften  des  Königs  A^oka 
Mai  Müller,  Essays.     Leipzig  1869.     Bd.  I.  S.  222—113. 


Die  Religion  des  Buddha.  289 

durch  Kenntnisse  der  Gebete  und  durch  die  Kraft  der  Riten  und 

Bussübungeh,  so  erlangte  auch  Buddha  durch  seinen  tugendhaften 

Wandel     und   durch   die  Stärke   seiner  Andacht   eine   Natur   weit 
«     c 

über  den  vedischen  Göttern ,  er  verrichtete  Wunder  und  durch- 
schaute  Vergangenheit  und  Zukunft ').  Getrost  mögen  ihn  daher 
Bedrängte   anrufen;    er   wird  die  Schiffsleute  erhören  und  sie  aus 

■ 

dem  Sturm  erretten  *).  Den  Buddhismus ,  wie  er  sich  gestalten 
musste,  um  von  vierhundert  Millionen  ergriffen  zu  werden,  wird 
die  Völkerkunde  niemals  als  einen  ethischen  Atheismus  aner- 
kennen, sondern  nur  als  einen  Ahnendienst  oder  Heroencultus. 
Bald  nach  dem  Tode  des  Lehrers  begann  nicht  ohne  Anstiften 
seiner  Schüler  eine  Reliquienverehrung,'  die  als  ein  Zurücksinken 
in  den  Fetischdienst  bezeichnet  werden  darf.  Acht  Städte  erhielten 
bei  der  Theilung  die  Asche  des  Abgeschiedenen  und  über  den 
Reliquien  erhoben  sich  dann  Heiligthümer  und  Wallfahrtsorte  3). 
Da  der  Buddha  vor  seiner  Verklärung  in  früheren  Erdenläufen 
nicht  blos  als  Mensch,  sondern  auch  als  Thier  geboren  worden 
war,  so  werden  in  manchen  Tempeln  sogar  Haare,  Federn  oder 
Knochen  verehrt,  die  von  seinen  früher  verlassenen  Thierleibern 
herrühren  sollen^).  Nicht  blos  der  Religionsstifter,  sondern  ein 
Schwärm  heilig  gesprochener  Bodhisattvas  empfing  Verehrung 
und  so  sehen  wir  den  vielgepriesenen  chinesischen  Pilger  Hiuen- 
thsang  zu  den  Bildern  solcher  Schutzpatrone  wallfahrten  und  in 
andächtiger  Verzückung  auf  rituelle  Fragstellung  ihre  Orakelzeichen 
erbitten 5).  Das  Gebet,  das  heisst  der  schamanistische  Zauber- 
spruch, war  allerdings  dem  (^akjamuni  oder  Gautama  in  der  Seele 
fremd,  aber  gerade  im  Schoosse  seiner  vierhundert  Millionen  An- 
hänger sind  die  Rosenkränze  und  die  Gebettrommeln  erfunden 
worden.  Seltsam  klingt  es,  wenn  dem  Buddhismus  von  über- 
schwenglichen Verehrern  nachgerühmt  worden  ist,  dass  er  weder 
verheisse ,  noch  drohe.  Die  diesseitige  Welt  selbst  ist  ihm  ja 
schon  ein  Fegefeuer,  ein  Rad,  das  sich  von  Ewigkeit  dreht,  und 
die  Wiedergeburten   in   den  Wonneräumen    von    Göttern   oder    in 


1)  Burnouf,  Introduction.  tom.  I.  p.  134—135»  I53»  353- 

2)  Burnouf,  Introduction,  tom.  I.  p.  132. 

3)Stanislas    Julien,    Histoire    de    la    vie    de    Hiouen-thsang.      Paris. 
1853.  p.  131.     Lassen,  Ind.  Alterthümer.     Bd.  2.  S.  77. 

4)  Tylor,  Anfange  der  Cultur,  Bd.  i.  S.  408. 

5)  Stanislas  Julien,  1.  c.  p.  173. 

Peschel,  Völkerkunde.  19 


•4 


niltel  niclit  verschmäht. 


2co  Qi*  Religion  des  Buddha. 

den  Schaudern  der  Hölle,  im  unreinen  Thierleib  a^^  endlich  in 
niedcrur  wie  in  häherer  Kaste  dienten  hinlänglich;  Mximme  oder 
Sünder  zu  lucken  oder  zu  ängstigen.  Die  Furcht  vor  eineoH- 
;n  Vergeltung  hat  auch  die  Buddhalebijr  alstfZuwt- 
ve  r  schmäh  t,  ^^'t ' 

J)cr  Ijuddhismus  hat  auch  nichts  gethan,  dielq^er  von  dem 
Wahn  der  Wiedergeburten  zu  heilen,  er  hielt  rfies^Lefire  viel- 
mehr fest,  ja  hat  sie  wie  einen  Krankheitsstoff  aiicIi'iAf  .fremde 
Völker  übertragen.  Die  Kastenunlerschiede  stiess  er  nicht  um, 
sondern  liess  sie  gesellschaftlich  besteben,  wenn  er  auchmiP^**" 
,  liebe  den  Gedrückten  und  Missachteten  das  Nahen  der  ErUKung 
verhiess.  Seine  gepriesene  Duldsamkeit  anderen  Reiigio»en  gegen- 
über hat  doch  einen  zweifelhaften  Werth,  insofern  sie  nnthatig 
bKeb,  um  fremde  Gotte&gedanken  aus  ihrer  Erniedrigiing  zu  heben. 
Der  Buddhismus  behielt  den  Götterhimmel  der  Veden  bei  und 
gönnte  den  mongolischen  Stämmen  ihre  Lust  am  Schamanen  spuk'. 
Reinere  und  reifere  Vorstellungen  können  aber  nur  zur  Herrschaft 
gelangen,  indem  sie  unreinere  und  unreifere  verdrängen.  Werfen 
die  Bekenner  der  Lehre  Gautama's  auf  mehr  als  400  MiHionen 
geschätzt,  »o  rechnet  man  dazu  das  gesammte  chinesische  Volk, 
welches  dem  Dienst  von  Himmel  und  Erde,  sowie  dem  der  Abgeschie- 
denen huldigt,  Confulse  aber  noch  immer  als  den  sittlichen  Ge- 
setzgeber verehrt  und  eigentlich  vom  Buddhismus  nur  das  Buddha- 
bUd,   zu    andern  Götzen   einen  Götzen   mehr   angenommen  hat"). 

Die  Buddhalehre  wurde  nicht  einem  erwählten  Volke,  sondern 
ider  gesammten  Menschheit  verkündigt  und  me  das  Christenthum 
m  jüdischen,  so  ist  sie  auch  im  indischen  Volke,  freilich  nach  vielen 
Jahrhunderten  einer  unbestrittenen  Herrschaft,  erloschen  oder 
wenigstens  vom  Festlande  selbst  verdrängt  worden  und  nur  auf 
Ceylon  noch  anzutreffen.  In  seinem  westlichen  Verbreitungsgebiet, 
in  Kabul,  Taberistan  und  Kurdistan,  bat  den  Buddhismus  das 
Schwert  des  Islam  ausgerottet.  Früh  spaltete  er  sich  in  eine  süd- 
liche und  eine  nörUUch  Schule.  Der  südlichen  oder  älteren,  deren 
in  PaU  verfasste  Schriften  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auf  dem 
dritten  buddhistischen  Concil  im  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  festgestellt 
worden  sind,  gehört  die  Insel  Ceylon,  dann  Birma,  Slam,  überhaupt 
die  Länder  der  Malayochineseo,  an.    Auf  Java,  wo  der  Buddhismus 

1)  Mnx  .Müller.  Fssays.     Leipzig  iSfg.     Bd.  1.  S.  339. 


Die  Religion  des  Buddha.  —  Die  dualistischen  Religionen.  201 

das  Brahmanenthum  glücklich  verdrängt  hatte,  ist  er  im  15.  Jahr- 
hundert dem  Islam  erlegen.  Die  Schriften  der  nördlichen  Schule, 
obwohl  im  Sanskrit  verlasst ,.  dennoch  die  jüngeren,  erhielten  erst 
auf  dem  vierten  Concil,  etwa  um  Chr.  Geburt,  ihre  endgiltige 
Fassung.  Dem  neugläubigen  Buddbismus  folgt  Nepdl  und  andere 
Ilimalayägebiete,  Tübet,  die  mongolischen  Menschenstämme,  China 
und  Japan.  Nach  China  soll  der  erste  Missionär  schon  217  v.  Chr. 
gelangt  sein,  aber  erst  vom  Kaiser  Ming-ti  im  Jahre  65  n.  Chr. 
wurden  die  Lehren  des  Gautama  als  eine  berechtigte  Religion 
anerkannt  'j.  Die  Neugläubigen  verehren  eine  grosse  Anzahl 
Bodhisattvas ,  Wesen,  die  nur  um  eine  Stule  von  den  Buddha 
unterschieden  sind,  auch  in  das  Nirväna  eingehen  könnten,  aus 
Barmherzigkeit  aber  und  zur  Erlösung  ihrer  Mitmenschen  darauf 
verzichten,  um  frommen  Seelen,  die  sie  im  Gebet  anrufen,  zu 
helfen.  Seit  den  Mongolenkaisern  gilt  das  Oberhaupt  der  Kirche 
in  Tübet,  das  seine  Residenz  in  Läsa  hat,  als  eine  Verkörperung 
des  Bodhisattva  Padmapäni.  Sein  Titel  Dalai  Lama  oder  Welt- 
meer-Lama*) entstand  erst  im  15.  Jahrhundert,  als  sich  die  nörd- 
liche Kirche  über  den-  priesterlichen  Cölibat  spaltete.  Das  Ober- 
haupt derer,  welche  den  Geistlichen  die  Ehe  verstatten,  hat 
unter  dem  Titel  Bogda  Lama  seinen  Sitz  zu  Täschilhünpo. 
Auch  dieser  Lama  gilt  als  die  Verkörperung  eines  Bodhisattva, 
nämlich  des  Amitdbha  oder  tübetisch  Odpagmed  und  führt  den 
Titel  Pan-tschen-rin-po-tsche  ^).  Beide  Kirchenhäupter  haben  sich 
versöhnt  und  schicken  sich  in  echt  buddhistischer  Duldung  gegen- 
seitig ihren  Segen. 


12.     Die   dualistischen   Religionen. 

Alles,  was  dem  Menschen  drohend  gegenübertritt,  bezieht  er 
auf  sich  und  beseelt  daher  auch  das,  was  sein  Wohlbehagen  stöit, 
sei  es  Hitze  oder  Kälte,  seien  es  Dürre,  Hunger,  Schmerz,  Krank- 
heit oder  Tod.     Ein   unsreschärfter  Verstand   wird  nicht  leicht  cie 


1)  Max  Müller,  Essays.     Leipzig  1869.     Bd.  i.  S.  223. 

2)  Tübeüsch  bla-ma  Oberer,  von  bla  oben.     Friedrich  Müller,  Reise 
der  Fregatte  Novara.     Anthropologie.     III.  Abtheilung.     S.  180. 

3)  V.  Schlagintweit,  Indien  und  Hochasien.     Bd.  2.  S.  86. 

19* 


2^2  Die  duilUlisehen  Religionen. 

Schwierigkeiten  bewältigen  ,  die  sich  der  Vorstellung  widersetzen, 
dass  aus  einer  Hand  das  Erfreuliche  und  das  Ge/ürchtete  hervor- 
gegangen sein  solle.  Wir  stossen  -in  der  Geschichte  wie  in  der 
Schöpfung  auf  Widersprüche,  die  sich  mit  der  Annahme  einer 
gutigen  und  gerechten  Weltordnung  schwer  vereinigen  lassen. 
Derselbe  Gott,  der  das  erhabene  Firmament  mit  seinen  Licht- 
reizen, der  alle  Lieblichkeiten  der  Erde,,  die  stillen  Blumen,  den 
Thau  mit  seinen  FarbL-n blitzen,  das  Kinderauge  erschuf,  erfüllte  seine 
eigne  Welt  mit  FieLier,  mit  Gift,  mit  Ungeziefer,  mit  Krieg,  mit 
Grausamkeiten  im  Thierreich,  wo  oft  das  eine  Geschöpf  sich  nicht 
entwickeln  kann,  ohne  die  Eingeweide  eines  andern  unter  Qualen 
aufzuzehren.  Weit  und  mülisam  ist  der  Weg  zu  der  Erkenntniss 
eines  Leibnitz,  dass  die  sinnlich  erfassbare  Welt  mit  ihren  Nacht- 
seiten nicht  sowohl  nach  menschlichem  Ermessen  die  beste,  son- 
dern unter  den  rnfp^lichen  Welten  nur  die  beste  sein  möge'}. 
Menschen  mit  ungeschullcm  Denkvermögen  gelangen  nie  zur  Ein- 
sicht, dass  alles  Ungemach  doch  nui  eine  lieschränkung  der  Süssig- 
keit  des  Daseins  ist  und  unersättlich  im  Geniessen,  fragen  sie, 
weshalb  die  Lebensfreuden  überhaupt  gestört,  beschränkt  oder 
beendigt  werden  sollen.  Noch  weniger  erkennen  sie,  dass  selbst 
der  leibliche  ^;chme^!  in  einer  Mehrzahl  von  Fällen  nichts  anderes 
als  ein  freilich  unerbetener,  aber  gewissenhafter  Warner  vor. nahen- 
den Gefahren  ist,  welche  unser  Leben  oder  unsre  Gesundheit  be- 
drohen. 

Aus  der' Verlegenheit,  Wohlbehagen  und  Unbehagen  aus  einer 
Quelle  ableiten  zu  sollen,  haben  sich  alle  Völkerstämme  auf  früheren 
Stufen  der  geisli^'en  Enlwickelung  damit  geholfen,  dass  sie  die 
Gegensätze  auf  unsichtbare  Wesen  übertrugen  und  neben  freund- 
lichen lieschützern  sich  auch  von  einer  .'^chaar  von  Schaden  Stiftern 
umlauert  wähnten.  Sobald  Jiese  .'Schöpfung  der  Einbildungskraft 
vollzogen  war,  konnte  nun  die  Veredelung  des  Menschen  ver- 
schiedene Stufen  durchlaufen.  Auf  der  ersten  und  niedrigsten  wird 
eine  Versöhnung  der  unsichtbaren  Bedränger  versucht.  In  einem 
Hymnus  der  Madagassen  werden  Zamhor  und  Niang  als  Welt- 
erschaffer  angerufen  und  hinzugefügt,  dass  an  Zamhor  keine  Gebete 
gerichtet    würden,    da  ja    der  gütige   GoU  deren    nicht   bedürfe'). 


[)    Tenum, 

heodic 

Pjr 

II-  §  168.  §  194-  § 

J.   Roskuf 

.  licc 

ichtc 

des  Teufels.  Bd.  I. 

Die  dualistischen  Religionen.  293 

Einen  Dienst  des  bösen  mit  Vernachlässigung  des  guten  Geistes 
finden  wir  bei  den  Congo-Afrikanern')  und  bei  den  Hottentotten*). 
Die  Neger  der  Sklavenküste  bekennen:  Gott  sei  so  erhaben  und 
gross,  dass  er  sich  um  die  niedrige  Menschenwelt  nicht  kümmere^). 
Genau  von  denselben  Vorstellungen  lassen  sich  in  Amerika  zu- 
nächst*'die  Patagonier  beherrschen,  denn  auch  sie  verehren  nur 
tlen  schädlichen  Gualitschu'*).  Da  auch  die  Abiponen  nur  den 
finsteren  Gottheiten  dienten,  bezeichnet  sie  Dobrizhoffer  als  Teufels- 
anbeter^).  Appun^),  der  uns  die  Namen  der  guten  und  der  bösen 
Geister  bei  den  Arovvaken-,  Warrau-,  Arekuna-,  Macuschi-,  Cariben- 
und  Atorai-Stämmen  Guayana's  mittheilt,  fügt  ebenfalls  hinzu,  der 
Schöpfer  selbst  werde  als  ein  so  unendlich  erhabenes  Wesen  ge- 
dacht, dass  es  sich  um  den  P-inzelnen  nicht  kümmere.  Sonne 
und  Mond  vertreten  bei  den  Botocuden  die  beiden  Naturen  des 
Göttlichen  7).  Dualistische  Rollen  vertheilten  die  alten  Aegypter 
zwischen  Hesiri  (Osiris)  und  Set,  die  Chaldäer  unter  die  Planeten : 
Jupiter  und  Venus  waren  die  günstigen,  Saturn  und  Mars  die 
schädlichen  Gestirne,  der  wankelmüthige  Merkur  aber  schloss 
sich  stets  den  jeweiligen  Beherrschern  des  astrologischen  Himmels 
an.  Die  Verehrung  des  schrecklichen  ^iva  in  Indien  darf  eben- 
falls als  ein  Versöhnungsversuch  betrachtet  werden  und  ein  so- 
genannter Teufelsdienst  hat  sich  in  Vorderasien  bei  den  Jesidi 
noch  erhalten  können,  obgleich  rings  herum  reinere  Religionen 
zur  Herrschaft  gelangt  sind.  Gewiss  muss  im  Menschen  eine 
grosse  sittliche  Veredelung  vor  sich  gegangen  sein,  bevor  er  sich 
entschliesst,  der  gutgesinnten  Gottesmacht  seine  Verehrung  darzu- 
bringen; es  ist  dann  nicht  mehr  Furcht,  die  ihn  bewegt,  sondern 
ein  dankbarer  Drang.  Auf  dieser  Stufe  finden  wir  zu  unserer 
Ueberraschung  die  Australier  in  Neu -Süd -Wales,  die  nicht  dem 
übelgesinnten  Potoyan,    sondern   einer   gütigen   Macht   unter    dem 


1)  WinwoodReade,  Savage  Africa.     London  1863.    p.  250. 

2)  Kolbe,  Cap  der  guten  Hoffnung,  S.  414. 

3)  Bosman,  Guinese  Goud-Kust.     Utrecht  1704.    tom.  II.  p.  154- 

4)  Musters.    Unter    den   Patagoniem.     Deutsch    von    J.  K  A.  Martin. 
Jena  1873.     S.  193. 

5)  Geschichte  der  Abiponer.     Bd.  2.  S.  87. 

6)  Ausland  1872.  No.  29.  S.  683 — 684. 

7)  V.  Martins,  Ethnographie.     Bd.  i.  S.  327. 


2Q4  Bie  dualistischen  Religionen. 

Namen  Koyan  ihre  Opfer  bringen*).  Auch  von  einer  Anzahl 
Indianerstämme  des  Orinocogebietes ,  welche  einen  bösen  Geist 
annahmen  und  ihn  verschieden  benannten,  versichert  der  P.  Gu- 
milla*),  dass  sie  ihm  keine  Verehrung  gezollt  hätten.  ^ 

Wenn  auch  geistig  unreife  Menschenstämme  die  Gesinnung 
der  unsichtbaren  Mächte  als  gut  oder  bÖs  bezeichnen,  so  unter- 
scheiden sie  damit  doch  nicht  das  Sittliche  und  Unsittliche.  Das 
Gute  und  das  Böse  ist  vorläufig  nichts  weiter,  als  das  Erfreuliche 
und  das  Widerwärtige.  Zur  Genüge  bekannt  ist  wohl  die  Antwort 
des  Buschmann,  der  dem  fragenden  christlichen  Glaubensboten 
als  Beispiel  einer  bösen  That  bezeichnete,  dass  ein  anderer 
ihm  sein  Weib  raube,  und  als  Beispiel  einer  guten,  wenn  er  selbst 
das  Weib  eines  Andern  sich  gewaltsam  aneigne^).  Als  ein  ge- 
selliges Geschöpf  aber  erkennt  und  begreift  der  Mensch  sehr  früh 
.»  und  später  immer  schärfer,  dass  das  Zusammenleben  ihm  Pflichten 
^egen  seinen  Nächsten  auferlege.  Auf  der  untersten  Stufe  schon 
wird  die  Verletzung  der  socialen  Gebote  als  eine  Versündigung 
angesehen.  Die  Vorschriften  der  geselligen  Geschöpfe  sind  aber 
enthalten  in  den  Sitten  der  Horde,  des  Stammes  oder  des  Volkes. 
Die  Ausübung  der  Blutrache  ist  daher  überall  dort,  wo  sie  noch 
nicht  durch  bessere  Einrichtungen  ersetzt  worden  ist,  gewiss  eine 
sittliche  That.  Die  brasilianischen  Tupinamba  hoffen,  dass  die 
Tugendhaften  zu  ihren  Vätern  in  den  glücklichen  Gärten  des  Jen- 
seits versammelt  werden.  Unter  Tugend  aber  verstehen  sie,  tapfer 
das  Eigenthum  der  Horde  zu  vertheidigen,  viele  Feinde  zu  er- 
legen und  die  Erschlagenen  canibalisch  zu  verzehren*).  Ihre 
höchste  Vollendung  empfangen  erst  die  Sittengebote,  wenn  sie 
sich  über  die  gesammte  Menschheit  erstrecken  und  auch  an  frem- 
den Völkern  die  Menschenrechte  geachtet  und  gegen  sie  Men- 
schenpflichten erfüllt  werden.  Auf  allen  nahen  oder  entfernten 
Strecken  zu  diesem  im  Christenthum  erkannten,  aber  in  der  christ- 
lichen Welt  noch  unerreichten  Ziele,  begegnet  dem  Menschen  die 
Versuchung,    seinen    Genuss    und    Vortheil    höher    zu    schätzen, 


1)  Dumont  d'UrviUe,  Voyage  de  TAstrolabe.  tom.  I,  p.  464. 

2)  El  Oiinoco  ilustrado.     Madrid  1741.  II,  3.  p.  308. 

3)  Waitz,  Anthropologie.     Bd.  i.  S.  376. 

4)  Lery  bei  Tylor,  Anfänge  der  Cultur.     Bd.  2.  S.  80. 


Die  dualistischen  Religionen.  205 

als  das  auferlegte  gesellschaftliche  Gebot.  So  wie  aber  die  sitt- 
lichen Begriffe  die  Vorstellungen  von  der  Gottheit  erfüllen, 
wirkt  die  Religion  als  der  stärkste  Hebel  der  Veredelung;  der 
unsichtbare  X7i"heber  des  Seienden  erscheint  als  der  Gesetzgeber 
und  als  der  Richter  über  Recht  und  Unrecht.  Am  frühesten  nun 
haben  die  Eränier  in  Persien  Göttliches  und  Sittliches  innig  zu- 
sammengeschmolzen. 

Die  Erforschung  ihrer  Alterthümer  hat  übereinstimmend  dazu 
geführt,  dass  die  persischen  und  indischen  Arier  in  einer  nach 
Jahresmaassen  noch  nicht  befestigten  Vorzeit  eine  gemeinsame 
Heimath  bewohnten  und  die  nämlichen  Religionsvorstellungen 
theilten.  Sie  dachten-  sich  das  Unsichtbare  erfüllt  mit  Wesen, 
die  auf  das  Menschenschicksal  Einfluss  übten  und  die  sie  Deva 
und  Ahura  nannten.  Mag  nun  in  Folge  der  Trennung  eine 
Religionsspaltung  oder  in  Folge  der  Religionsspaltung  eine  Tren- 
nung eingetreten  sein,  später  fassten  die  Eränier  die  Ahura  als 
gütige,  die  Deva  (neupersisch  div,  englisch  devüj  als  feindliche 
Mächte  auf.  Umgekehrt  werden  bei  den  indischen  Ariern  die 
Deva  (lateinisch  deusj  zu  den  heilbringenden  und  die  eränischen 
Ahura  zu  den  verderbenbringenden  Gewalten  gerechnet*). 

Unter  den  Eränlern  gab  es  eine  geweihte  Kaste,  in  den 
ältesten  heiligen  Schriften  Soschianto  geheissen,  die  in  Vorzeiten 
mit  den  indischen  Atharva  genau  übereinstimmten:  beide  nämlich 
waren  Feuerpriester*).  Die  Magier,  deren  Name  erst  auf  den 
Inschriften  des  Darius  vorkommt,  vertreten  im  alten  Medien  die 
Verrichtungen  der  genannten  Soschianto  und  Atharva^).  Sie  trugen 
weisse  Gewänder,  enthielten  sich  der  Fleischkost  und  dienten  per- 
.sönlich  gedachten  Naturkräften  oder  den  hohen  Formen  von 
Fetischen,  der  Sonne  (Mithra),  dem  Monde,  den  Sternen,  der 
Erde,  dem  fliessenden  Wasser,  vor  allem  dem  Feuer.  Unter 
diesen  Priestern  erhob  sich  ein  Religionsstifter  Namens  Zoroaster 


i)  In  den  ältesten  Stücken  des  Rigveda  Samhitä  wird  der  Ausdruck 
Asura  noch  in  einem  guten  und  hohen  Sinne  gebraucht.  Martin  Hang, 
Religion  of  the  Parsees.     Bombay  1862.    p.  226. 

2)  Von  den  letzteren  stammt  der  Atharva  Veda,  Hang,  1.  c.  p.  250. 
Atharva  bedeutet:  mit  Feuer  versehen; 

3)  Fr.  Spiegel,  das  Leben  Zarathustra*s ,  in  den  Sitzungsberichten  der 
phÜos.- historischen  Classe  der  Münchner  Akademie.  München  1867.  S.  70 
—80. 


206  Die  dualisiischen  Religionen. 

oder  richtiger  Zarathustra ').  Er  wird  unter  den  Griechen  etwa 
um  470  V.  Chr.  von  Xanthus  dem  Lydier  zuerst  erwähnt  und 
sein  Auftreten  Jahrhunderte  oder  Jahrtausende  vor  Xerxes  gesetzt. 
Sicherlich  gehört  er  einem  sehr  hohen'  Alterthume*  an ').  Auch 
die  Ermittelung  seines  Geburtsortes  ist  auf  Schwierigkeiten  ge- 
atossen,  und  wenn  er  gewöhnlich  nach  Ragha  oder  dem  heutigen 
Rai  bei  Teheran  verlegt  wird,  so  muss  sogleich  hinzugefügt  werden» 
dass  er  später  in  Bactrien  weilte  und  dort  wahrscheinlich  seine 
Lehre  die  ersten  Wurzeln  schlugt). 

Zarathustra  verkündete  nun,  dass  es  unter  den  vielen  gütigen 
Ahura  einen  Mazdäo  oder  WeJtensch Opfer  *)  gebe,  einen  Vergelter 
des  Guten  und  Bösen.  Dieses  höchste  Wesen  vereinigte  doppel- 
seitig in  sich  einen  weissen  oder  heiligen  ffpen/o  mamyu.tj  und  einen 
dunklen  oder  finsteren  Geist  fangro  marnfusj,  sodass  also  die  Zwei- 
theilung in  Ormazd  und  Ariman  der  reinen  Lehre  Zoroaster's 
nicht  angehörte'),  sondern  nach  ihr  aus  derselben  Schöpferkraft  Böses 
wie  Gutes  hervorgegangen  war.  In  einem  alten  Liede  der  par- 
sischen  Liturgie  tritt  die  Seele  der  Natur  vor  Gott  und  klagt, 
dass  die  Erde  verwüstet  werde  durch  das  Drängen  des  Bösen, 
Zugleich  verlangt  sie  die  Schöpfung  eines  Wesens,  stark  genug, 
um  sie  für  immer  von  ihrem  Schmerze  zu  erlösen.  Gottes  Rath- 
sdiluss  war  es  aber  nicht,  die  Sterblichen  von  dem  Kampfe  mit 
dem  Bösen  zu  entheben,  damit  sie  die  ihnen  verliehene  Kraft 
des  Guten  stählen  sollten.  Auf  die  Bitte  der  Naturseele  zeigt  er 
dieser    aber    das    Urbild    Zarathustra's ,    durch    dessen    Erscheinen 


II  Der  Name  wird  verschieden  übetsetit  von  Windischmann  (Zo- 
roastrische  Studien.  Berlin  1863.  S.  46),  von  Fr.  Spiegel  (Leben  Zara- 
thustra's. S.  10)  und  von  Martin  Haag  (Religion  o(  the  Parsees.  p.  252), 
welcher  letztere  ihn  als  den  Titel  eines  Hohenpriesters  erklärt  und  dem 
Religionsstifter  den  Familiennamen  Spitama  pl"'' 

2)  MartinHaug  (Leclure  on  an  original  Speech  of  Zoroasler.  Bombay 
1865.  p.  27)  glaubt  ihn  nicht  jünger  aoselien  in  dürfen,  als  1300  Jahre  v.  Chr.; 
Rapp  (Religion  und  Sitte  der  Perser,  in  der  Zeitschrift  der  D.  moicenl. 
Gesellschari,  Leipzig  1S65.  Bd.  19.  S.  27)  dagegen  hat  viele  Gründe  herbei- 
gebracht für  die  Zeil  vom  II.  bis  rj.  Jahrhundert  v.  Chr. 

3)  Was  für  Baclra  als  Geburtsort  sptieht,  hat  wiederum  Rapp  (1.  c.  S.  ji) 
mit  grossem  Geschick  auseinandergesetzt. 

4)  Haag,  Religion  of  the  Parsees,  p.  100. 

5)  Hang,  Religion  of  Ihe  Parsees,  p.  ijS. 


Die  dualistischen  Religionen.  207 

den  Streitern  für  das  Gute  ein  solcher  Beistand  geleistet  werden 
solle,  dass  der  Sieg  des  Lichtes  für  immer  gesichert  sei'). 

Diese  tiefere  Lehre  aber  verdunkelte  sich  im  Verlaufe  der 
Zeiten.  Die  Lichtseite  und  die  Nachtseite  des  göttlichen  Willens 
trennten  sich  ab  als  doppelte  Wesen.  Die  Herren  des  Lichtes  und 
der  Finsterniss  streiten  sich  seitdem  um  den  Sieg,  der  übrigens  von 
Anbeginn  entschieden  ist.  Ormazd  allein  weiss  um  das  Dasein 
Arimans,  und  ehe  dieser  sich  regt,  hat  er  3000  Jahre  Zeit  sich  eine 
Schaar  unsterblicher  Helfer  auszubilden.  Als  Ariman  endlich  zum 
Kampfe  sich  erhebt,  stösst  er  auf  einen  wohlgerüsteten  Gegner. 
Dreitausend  Jahre  währt  das  Ringen  ohne  Entscheidung.  Erst  in 
dem  nächsten  und  letzten  dreitausendjährigen  Abschnitt  sinkt 
Ariman  zur  Machtlosigkeit  herab').  An  diesem  Streite  soll  nun 
der  sterbliche  Mensch  theilnehmen,  zwischen  Licht  und  Finsterniss 
wählen,  den  Sieg  des  Guten  durch  das  Gewicht  seiner  Werke 
herbeiführen  und  nicht  durch  böse  Thaten  die  Siegesaussicht  Ari- 
mans vergrössern.  Gewiss  konnte  nicht  leicht  etwas  heilsameres 
ersonnen  werden,'  die  besseren  Regungen  im  Menschen  wach  zu 
erhalten,  als  die  Verheisbung  von  Gott  selbst  als  Helfer  zum  Siege 
angesehen  zu  werden. 

Daran  schloss  sich  die  Lehre  von  der  Auferweckung  der 
Todten,  ein  echt  zoroastrischer  Glaubenssatz,  von  dem  die  älteste 
Kunde  am  Schluss  des  4.  Jahrhunderts  durch  Theopompus  in  das 
Abendland  gelangte^).  Die  Abgeschiedenen  dachte  man  sich  er- 
standen zu  einem  unvergänglichen,  dem  Stoffwechsel  entzogenen, 
reinen  Leben  in  Leibern,  die  keinen  Schatten  warlen  und  der 
Sättigung  nicht  bedurften.  Drei  Tage  nach  dem  letzten  Hauche 
des  Sterbenden  schwebt  die  Seele  noch  in  der  Nähe  ihrer  körper- 
lichen Hülle.  Um  die  vierte  jMorgcnröthe  aber  schleppt  sie  ein 
Todesgenius  zu  der  Brücke  des  Seelenhäschers  (Tschinwat  Peretu)^ 
und  vor  den  Richter  Sraoscha,  der  die  guten  und  bösen  Werke 
auf  der  Wage  prüft.  Dem  Frommen  tritt  mit  himmlischem  Grusse 
die  Verkörperung  seines  guten  Wandels  entgegen  in  Gestalt  eines 
Mädchens  von  strahlender  Jugend,  (schlank  und  hochbusig  mit 
weissen  Armen  und  edelem  Antlitz.     Dem  Gottlosen  erscheint  die 


1)  Ferdinand  Jnsti  im  Ausland  1871.  No.  10.  S.  221. 

2)  Windischmann,  Zoroastr.  Studien.  S.  58. 

3)  Windischmann,  1.  c.  S.   235—239. 


2q8  ^i'  dualistischen  Religionen- 

Verkörperung  seines  Wandels  in  Gestalt  einer  hässlichen  Dirne  und 
bei  ihrem  Anblick  erwacht  ihm  die  Erinnerung  an  alle  seine  Lügen 
und  Ungerechtigkeiten.  Je  nach  dem  Richtspruch  wandelt  die 
Seele  über  die  Brücke  in  die  Behausung  der  Lobgesänge  fgarS 
demänaj  oder  sie  wird  hinafagestossen  von  bösen  Geistern  in  den 
Schlund  der  Vernichtung  (drudichö  demänaj. 

Es  sei  uns  verziehen,  wenn  wir  hier  auf-kurze  Zeit  die  Erä- 
nier  verlassen,  um  einzuflechten,  dass  über  die  ganze  Erde  ähn- 
liche Vorstellungen  von  den  Prüfungen  der  Seele  nach  dem  Tode 
verbreitet  sind.  Bei  dem  Todtengericht  der  Aegypter,  als  etwas 
hinreichend  Bekanntem,  brauchen  wir  nicht  zu  verweilen.  Nach 
dem  Glauben  der  Badagas  im  tamulischen  Indien  aber  müssen  die 
Seelen  an  einer  Feuersäule  vorüber,  welche  die  Sündhaften  ver- 
zehrt, und  gelangen  erst  nach  bestandener  Gefahr  auf  einer  Faden- 
brücke in  das  Land  der  Seligen"),  Ganz  ähnlich  berichten  Jesuiten- 
predij^er,  dass  nach  dem  Glauben  der  Huronen  die  Seelen  der 
Verstorbenen  auf  einem  Baumstamm  über  den  Todesfluss  gehen 
mussten,  wobei  manche  von  dem  Wächter  der  Brücke  oder  einem 
Hunde  angegriffen  und  herabgestürzt  werden*),  Tylor,  der  eifiig 
noch  andere  Beispiele  des  Mythus  von  der  Seelenbrücke  gesam- 
melt hat,  fand  ihn  auch  in  einem  altenglischen  Leichengesang, 
wo  es  heisst:   The  brig  of  dread  no  bradtr  Ihan  a  threadi). 

Die  ergreifende  Vorstellung  der  Eränier  von  einer  sittlichen 
Weltordnung  hinderte  nicht  das  Fortbeslehen  eines  alten  Fetisch- 
wahns, der  übrigens  geschickt  mit  dem  Grundgedanken  des  Mazda- 
yasna  oder  der  Lehre  Zoroasters  versöhnt  wurde.  So  verehrte 
man  Mithra,  die  Sonne,  als  Auge  Ormaid's,  aber  von  ihm  ge- 
schaffen. Der  seh a man  istische  Haomatrank  behielt  gleichfalls  seine 
ungeschwächte  Zauberkraft,  wie  in  der  Vorzeit.  Vor  allem  aber 
wurde  und  wird  bis  auf  den  heutigen  Tag  das  Feuer  als  Ormazd- 
sohn  angebetet,  keine  Feuersbrunst  darf  daher  anders  als  mit  Erde 
erstickt,  kein  Licht  ausgeblasen  werden,  weil  jeder  Hauch  verun- 
reinigt, weshalb  auch  die  Priester  bei  heiligen  Handlungen,  und 
die  anderen  Tarsen  beim  Gebet  den  Mund  verhüllen.  Das  Feuer 
wird    durch  das   Kochen    und    durch    das   Schmiedehand  werk    be- 


ll Baierlein,  Nach  und  ans  Indien,  5.  153. 
j)  Tylor,  Anfinge  der  Cultur.  Bd.  2.  S.  92. 
J)  Urgescbichle  der  MenEcbheit.  S.  451.' 


Der  israelitische  Monotheismus. 


299 


Schmutzt,  und  auf  Reinheit  dringt  überall  das  Sittengebot  der 
Parsen.  Gleichen  Schutz  vor  Befleckung  genoss  das  fliessende 
Wasser.  Deshalb  war  es  verdienstlich  Brücken  zu  erbauen,  um 
das  Durchwaten  der  Ströme  abzuwenden.  Da  die  Todten  weder 
verbrannt  noch  ins  Wasser  geworfen,'  noch  die  ebenfalls  heilige 
Erde  durch  sie  besudelt  werden  durfte,  gab  man  die  Leichen  in 
ummauerten  ringförmigen  Plätzen,  den  Thürmen  des  Schweigens, 
den  Vögeln  preis*).  ^ 

Der  Begriff"  der  Sünde  war  bei  den  Anhängern  Zarathustra's 
ein  sehr  gemischter,  denn  sie  konnte  in  einem  Verstoss  gegen  die 
schamanistischen  Vorschriften,  also  einer  Verunreinigung  oder  in 
■einer  sittlich  verwerflichen  Handlung  bestehen.  Unter  letzteren 
galt  ihnen  das  Lügen  als  eine  schwere  Schande*),  der  Betrug  noch 
schlimmer  als  der  Raub,  der  Diebstahl  schon  deswegen  als  Ver- 
brechen, weil  er  im  Geheimen  betrieben  wird,  selbst  Geld  zu  leihen, 
schien  sträflich,  weil  es  mit  einem  Betrüge  des  Gläubigers  zu  enden 
drohte^).  Auf  Redlichkeit  und  Reinheit  drang  und  dringt  das  par- 
sische  Sittengesetz,  und  keine  Religionsstiftung  hat  wie  das  Maz- 
4ayasna  bis  auf  den  heutigen  Tag  die  Achtung  der  Andersgläubigen 
in  so  hohem  Masse  genossen.  Freundlich  gedenkt  auch  das  erste 
Evangelium  der  Magier,  die  aus  dem  Morgenlande  kamen. 


13.  Der  israelitische  Monotheismus. 

Für  die  Sittengeschichte  des  menschlichen  Geschlechtes  ist 
liichts  bedeutungsvoller  als  die  Entwicklung  des  Gottesgedankens  in 
monotheistischer  Richtung.  Das  alte  Testament  in  seinen  arglos 
und  treuherzig  gegebnen  Sagen  und  Erzählungen  lässt  uns  als 
treuer  Spiegel  das   langsame   Reifen    dieser    oft    aufs    höchste   be- 


i)  Auch  "in  Medien  wurden  nicht  eher  die  Leichen  mit  Wachs  Übergossen 
in  die  Erde  gelegt  oder  wie  in  den  Königsgrüften  bei  Persepolis  bestattet, 
als  bis  die  Knochen  vom  Fleisch  entblösst  waren.  Dass  Cyrus,  als  Feuer- 
anbeter, den  Crösus  zum  Holzstoss  verurtheilt  haben  sollte,  ist  wenig  glaub- 
haft, viel  eher  ist  zu  vermuthen,  dass  der  lydische  König  sich  seinem  Gotte 
Sandon  verbrennen  wollte.  F.  Justi  a.  a.  O.  S.  223.  Rapp  dagegen 
nimmt  an,  dass  im  westlichen  Erän  die  oben  angeführten  Bestattungs- 
gebräuche nicht  üblich  waren,  sondern  nur  dem  Osten  angehörten. 

2)  Herodot  I,  138. 

3j  Dune  leer,  Gesch.  des  Alterthums.  i.  Aufl.  Bd.  2.  S.  350 — 359. 


300  ^^'  israelilircho  Monolheisinas. 

drohten  Frucht  beobachten.  Weil  wir  alle  schon  in  der  Jugend 
die  Wahrheit  eingesogen  haben,  dass  das  Heilige  und  Ewige  nur 
ein  untheilbares  sein  könne,  übersehen  wir  die  SchwierigkeiteD, 
welchen  die  Ausbreitung  dieses  Gedankens  begegnen  musste,  als 
er  neu,  schwankend  und  unklar  von  Wenigen  getheilt,  von  der 
Mehrzahl  anderen  und  älteren  Vorstellungen  zu  lieb  zurückgewiesen 
wurde.  Ein  Volk,  welches  zum  Glauben  an  die  gottliche  Einheit 
gelangen  soll,  muss  überhaupt  vorher  lange  Zeiträume  geistiger  und 
sittlicher  Entwickelung  zurückgelegt  haben,  denn  wie  Tylor  richtig 
bemerkt'},  ist  nie  bei  einem  Stamm  sogenannter  Wilder  der  Mono- 
theismus angetroffen  worden.  Kritisches  Vertrauen  kann  jedoch 
die  biblische  Geschichte  er!>t  von  dem  Zeitpunkt  an  geniessen,  wo 
das  Volk  Israel  die  Kunst  der  Schrift  sich  angeeignet  hatte,  also 
seit  der  Zeit  des  Auszuges  aus  Aegypten,  aber  auch  nicht  viel 
früher'). 

In  ihrem  höheren  Alterthume  gebrauchten  die  Hebräer  andere 
Namen  als  Jahve  für  das  höchste  Wesen,  und  einer  darunter 
(Elohim),  trägt  bedenklich  erweise  die  Pluralform,  auch  werden  bei 
einer  feierlichen  Eidesleistung  sogar  drei  Götter  nach  einander  an- 
gerufen^). Es  wurde  auch  trüber  schon  erwähnt,  dass  Hausgötzen 
(Seraphim)  noch  unter  David'}  Verehrung  genossen.  Erst  kurz 
vor  der  babylonischen  Gefangenschaft  liess  Josia  zwei  Altäre  mit 
heiligen  Steinen  vor  den  Thoren  Jerusalems  vernichten  5).  Dass 
überhaupt  in  den  ältesten  Zeiten  die  Juden  nicht  der  reinen  Gottes- 
religion anhingen,  bezeugt  ausdrücklich  die  heilige  Schrift.  Wenn 
daher  die  Aegypter  ein  höchstes  Wesen  unter  dem  Namen  ich  bin, 
der  ich  bin,  verehrten*),  so  ist  die  Vermuthung  zwar  nicht  ganz 
verwerflich,  dass  erst  Mose,  eingeweiht  in  die  Geheimnisse  des 
ägyptischen  Gottesdienstes,  zur  monotheistischen  Auffassung  sich 
aufgeschwungen  habe;  bei  dem  Dunkel  jedoch,  weiches  über  der 
Vorgeschichte    des   Volkes  Israel  schwebt,    lasst    sich    gegenwärtig 

1)  Anfänge  der  Cullut,   Bd.  2.  S.  333. 

2)  Die  Erwähnung  von  Siegelringen  zu  Josephs  Zeit  (Gen.  38.  t.  18.  v.  25) 
würde  noch  elw»s  höher  hinauf  fuhren.   _ 

3)  Vergl.  zu  Genesis  XXXI,  53.  Ewald,  Israelilisehe  Gesthichte. 
I.  Aufl.  Bd.  I.  S.  371. 

4)  Siehe  oben  S,  358, 

51  Ewald,  Israelitische  Geschichte.  3.  Auti.  Bd.  3.  S.  757, 
6)  G.  Ebers,  Durch  Gosen  lum  Sinai.  S.  97,  S.  jiS, 


Der  israelitische  Monotheismus. 


301 


•eine  solche  Behauptung  weder  streng  begründen,  noch  streng  wider- 
legen.    Wenig  glaubwürdig  aber  erscheint  es,    dass   ein    einzelner, 
wenn  auch  noch  so  feuriger  und  hochbegabter  Geist  die  Gemüther 
eines  Volksstammes  zu    einer  völlig  neuen  Welterklärung   bekehrt 
haben  sollte,  wenn  sie  nicht  schon  für  diese  Wendung  vorbereitet 
gewesen  >  wären.     Der  Gedanke  an  den  untheilbaren  Gott  erforderte 
aber,  wie  alle  irdischen  Vorgänge,  eine  lange  Entwickelung.     Das 
aite  Testament  zeigt  uns  diesen  Gedanken  oft  dem  Erlöschen  nahe, 
verdimkelt  wie  die  Sonne  durch  vorüberziehendes  Gewölk  an  einem 
trüben  Tage.     Selbst  Mose  ist  nicht  unerschütterlich  gewesen,  sonst 
hätte    er  nimmer  die  eherne  Schlange   in    der  Wüste   zur  Abwehr 
gegen    den   Guineawurm   auf  der   sinaitischen   Halbinsel   errichten 
lassen.     Erst  unter  dem  frommen  König  Hizqia,  als  eine  viel  reinere 
und  schärfere  Auffassung  des  Gottesgedankens  zur  Geltung  gelangt 
war,  wurde   dieser  Fetisch  vernichtet.     Spuren  von  Schamanismus 
wiederum  enthält  das  gottesgerichtliche  Verfahren  bei  Anschuldigung 
des  Ehebruches.     Das   verdächtigte   Weib    soll  Wasser  trinken,    in 
welchem     ein    Papier    mit    schriftlichen    Verfluchungen    abgespült 
worden    war  ^) ,    genau    wie    mohammedanische   Priester    heutigen 
Tages   Kranke    durch    Wasser    heilen    wollen,    mit   welchem    auf- 
geschriebene   Qoränsprüche    abgewaschen     wurden*).      Dass    auch 
Frauen  sich  mit  Todtenbeschwörungen  abgaben,  bezeugt   uns    der 
heimliche  Besuch  Sauls  bei  der  Zauberpriesterin   von  Aendör,  und 
noch   zu  Josia*s  Zeiten  bestand  ein   geehrtes  Orakel  in  Jerusalem. 
Gleich  nach  Joshua*s  Tode  hatte   sich  eine   traurige  Verwilderung 
der  Gemüther  bemächtigt,  und  der  Jahvedienst  besudelte  sich  mit 
Menschenopfern,    die    noch    bis    in    die  Königszeit    fortdauerten"^). 
Auch  galt  in  den  älteren  Zeiten  Jahve  nur  als  der  ausschliessliche 
Hort  des  Hebräerstammes,  als  ein  Schutzpatron  von  grösserer  Macht 
wie  die  Gottheiten  der  feindlichen  Stämme*).     So  lässt  Jiftah  dem 
Amonäerkönig   durch    seine  Botschafter    sagen:   „Gehört   nicht  Dir 


1)  Nume;-.  V,  19  ff. 

2)  Wie  die  schamanistischen  Wahngcbilde  zur  Zeit  des  Exils  um  sich 
griffen,  ist  aus  Tob.  VI,  6—10  ersichtlich. 

3)  Keine  Sophistik  vermag  das  menschliche  Grauen  zu  mildern,  welches 
uns  bei  der  Erzählung  von  Jiftah's  Töchterlein  (Jud.  XI,  34  ff.)  ergreift.  Uebcr 
die  Menschenopfer  unter  Saul  und  David  vgl.  i.  Regum  XIV,  23 — 45.  und 
2.  Regum  XXI,  6. 

4)  Exod.  XV,  II  u.  KVrri,  II. 


302  ^c  isiaelitische  MoDotheiBmus. 

von  Rechtswegen  Alles,  was  Dein  Gott  Chamos  besitzt?  Sollte 
nicht  auch  alles,  was  unser  Golt  als  Sieger  erwarb,  zu  unsrer 
Herrscliafl  gehören?"')  Auch  wird  der  Machtbereich  Jahve's  noch 
Örtlich  beschränkt  gedacht,  denn  Gott  willigt  ein  mit  Jacob  „hinab- 
zuziehen nach  Aegypten"').  Oft  geht  die  sinnliche  Auffassung  so 
weit,  dass  die  Naturkräfle  als  Lebensäusserungen  Gottes  aufgefassl 
werden  und  der  Gottesfje danke  fast  herabsinkt  zu  einem  mono» 
theistischen  Naturdienst.  Wir  dürfen  uns  nicht  durch  die  Erhaben- 
heit der  Sprache  berauschen  lassen,  wenn  im  Donner  eine  hörbare 
Stimme,  im  Frost  und  Thauwetter  der  kühle  oder  warme  Hauch 
Jahve's  wahrgenommen  werden^).  Allerdings  nöthigen  uns  die 
Fesseln  unsres  Denkvermögens,  das  unerfassliche  Wesen  Gottes 
immer  wieder  in  Menschennatur  zu  kleiden,  selbst  die  Evangelien 
sprechen  von  väterlichen  Erregungen,  nur  ist  es  etwas  andres 
wenn  wir  uns  immer  bewusst  bleiben,  dass  wir  nur  aus  Nothbehelf 
anthropomorphosiren,  ähnlich  wie  auch  die  strengen  Wissenschaften 
nicht  immer  bildliche  Ausdrücke  vermeiden  können.  Wenn  aber 
die  Bibel  jahve  durch  den  Opfergeruch  erquickt  werden  lässt*),  so 
redet  sie  die  Sprache  Homers.  Kindlich,  aber  darum  auch  ohne 
Erhabenheit  ist  die  Vorstellung  von  Jahve,  den  Mose  auf  dem 
Sinai  an  gegebene  Versprechen  erinnern  muss  und  der  wankel- 
müthig  zurücknimmt,  was  er  gedroht  hat').  Auch  hier  fühlen  wir 
uns  gemahnt  an  Auftritte,  wie  sie  in  der  epischen  Zeit  der  Hel- 
lenen im  Olymp  spielten.  Selbst  die  Trachten  der  Priester  mit 
Putz  und  Stickereien  werden  noch  auf  göttliche  Anordnungen  zu- 
rückgeführt^), und  mit  Bedauern  müssen  wir  sogar  lesen,  dass  Jahve 
zur  Veruntreuung  geliehener  silberner  und  goldener  Gefässe  die 
Israeliten  angeleitet  haben  solle').  So  dürftig,  so  unrein,  so  mensch- 
lich schwach  waren  und  blieben  lange  die  Vorstellungen  des  höch- 
sten Wesens. 

Darin    liegt    aber    auch  die    hohe    Bedeutung  der  Geschichte 
Israels,    dass    dieses    Volk    nim    durch    das,    was   es  erleben    und 

1)  Jud.  XI,  24. 

2)  Gen.  XLVI,  4. 

3)  Job,  cap.  37  u.  38. 

4)  Levil.  I,  9. 

5)  Eiod.  XXXII,  9—14. 

6)  Eiod.  XXVIII,  33—34. 

7)  Eiod.  XI,  1. 


Der  israelitische  Monotheismus.  ^03 

dulden  sollte,  zu  einer  immer  tieferen  und  immer  reineren  Er- 
fassung des  Gottesgedankens  genöthigt  wurde.  Allein  von  allen 
Völkern  des  Alterthums  besitzen  die  Juden  eine  Geschichte,  die 
in  den  irdischen  Begebenheiten  das  Walten  einer  sittlichen  Welt- 
ordnung zu  erkennen  sich  bestrebt.  Sie  wurde  im  Exil  verfasst,') 
in  der  Stimmung  des  Elendes,  als  es  keinen  Priesterstand  mehr 
gab,  so  dass  nicht  etwa,  wie  man  die  Thatsache  hat  verdrehen 
wollen,  hierarchische  List  im  Spiele  war.  Die  vorausgehende 
Königszeit  hatte  die  Erfahrung  eingeprägt,  dass  die  religiöse  Ver- 
wilderung fast  immer  den  weltlichen  Verfall  nach  sich  zog,  aber 
die  heilige  Schrift  ist  auch  in  solchen  Fällen  der  Wahrheit  treu 
geblieben,  wo  iromme  Herrscher  ins  Unglück  geriethen  oder  ab- 
trünnigen das  Glück  bis  zu  ihrem  Ende  hold  blieb.  Aus  ihren 
Schicksalen  in  der  Königszeit  erwarben  sich  die  Juden  ihr  uner- 
schütterliches Gottvertrauen.  Mit  den  Assyriern,  lässt  die  heilige 
Schrift  den  frommen  Hizqia  ausrufen,  sind  nur  die  Sehnen  des 
Menschenarmes,  mit  uns  aber  ist  der  Herr  unser  Gott,  der  für 
uns  streitet*).  So  mahnt  auch  den  verzweifelnden  Jjob  Elisba  da- 
ran, wie  viele  Unheilstifter  und  Trübsalsäer  vor  Gottes  Hauche 
zu  Grunde  gegangen  seien  •^).  Mit  voller  Klarheit  hatten  die  Juden 
erkannt,  dass  die  Stärke  eines  Volkes  sich  nur  begründen  lasse 
auf  ein  festes  Vertrauen  zu  einer  sittlichen  Weltordnung.  Sie  hatten 
aus  ihrer  Geschichte  die  Lehre  gezogen,  dass  sie  stets  siegreich 
gewesen  waren  so  lange  Sittenstrenge  unter  ihnen  herrschte 
und  dass  sie  weggeführt  wurden  als  sie  vom  Gesetze  abfielen^). 
Welcher  Trost  und  welches  Licht  ihnen  aus  dieser  Erkenntniss 
in  den  dunkeln  Stunden  des  Lebens  sich  ergoss,  erklingt  in  den 
Versen  des  Psalters:  Ob  ich  schon  wandere  im  Unstern  Thal, 
fürchte  ich  doch  kein  Unheil,  denn  Du  bist  bei  mir. 

Wie  vor,  während  und  nach  der  Verbannung  die  religiösen 
Anschauungen  die  frühere  kindliche  Rohheit  abstreiften,  merken 
wir  an  einzelnen  Zügen.  Den  Gott  des  alten  Testamentes,  der 
nie  vergab,  der  die  Verschuldung    der  Voreltern    an    den  Enkeln 


1)  Nach  Ewald    Israelit.  Gesch.  Göttingen  1864.     Bd.  4.  S.  26  entstand 
das  Buch  der  Könige  um  die  Mitte  der  babylonischen  Verbannung. 

2)  2.  Paralipom.  XXXII,  7—8. 

3)  Job.  IV,  7—9. 

4)  Judith,  V,  15. 


ß04  ^cr  israelitische  Monotheismus. 

und  Urenkeln  rächte,  j  kennt  Hezeqiel  nicht  mehr.  Weder  soll 
der  Vater  unter  den  Verirrungen  des  Sohnes,  noch  der  Sohn 
unter  denen  des  Vaters  leiden.  Ja  der  Schuldbelastete  selbst, 
wenn  er  in  echter  Reue  sich  bessert,  soll  Vergebung  hoffen,  denn, 
lässt  der  Prophet  den  Herrn  sagen,  nicht  an  der  Vernichtung 
des  Frevlers  ist  mir  gelegen,  sondern  an  seiner  Umkehr^).  Väter- 
liches Erbarmen  verheisst  auch  allen  Gottesfürchtigen  ein  Lied*), 
welches  David  zugeschrieben  wird,  und  zu  den  vorauseilenden 
Schatten  des  Christenthums  gehört  der  Spruch  des  Sirach  3),  dass 
man  dem  Nächsten  zuvor  vergeben  müsse,  ehe  man  selbst  Ver- 
zeihung erbitte.  Den  Propheten  dankten  die  Israeliten  unter 
andren  auch  die  Beseitigung  von  schamanistischen  Verirrungen. 
War  es  uns  zuvor*)  klar  geworden,  mit  welchen  Gefahren  jedes 
Opferwesen  die  sittliche  Wendung  der  religiösen  Regungen  be- 
droht, so  sei  es  uns  verziehen,  wenn  wir  die  oft  bewunderten 
Mahnworte  aus  Jesaia  ^)  noch  einmal  wiederholen :  „Eure  Fluren, 
ruft  der  Prophet,  werden  veröden,  eure  Städte  eingeäschert  liegen, 
eure  Saaten  vor  euren  Augen  von  Fremdlingen  aufgezehrt  werden, 
nichts  wird  mehr  übrig  bleiben  von  der  Tochter  Sion  als  gleich- 
sam ein  Sonnendach  in  Weinbergen  oder  eine  Nachthütte  im 
Gurkenfelde,  oder  der  Schutt  der  Verheerung.  Wenn  uns  der 
Herr  nicht  einige  Nachkommenschaft  aufgespart  hätte,  so  würden 
wir  Sodom  gleichen  und  Gomorrha.  Höret  nun  das  Wort  des 
Herrn  ihr  Häupter  der  Sodomiter,  vernimm  den  Befehl  unsres 
Gottes  Du  Volk  von  Gomorrha^).  Was  bedarf  ich  eurer  zahllosen 
Opferthiere?  Mir  ekelt's!  Die  Schlächtereien  von  Widdern,  das 
Fett  der  Mastthiere,  das  Blut  von  Kälbern,  Lämmern  und  Böcken, 
eure    Neumondtage,    Sabbathe    und    andre    Feste    sind   mir   uner- 


1)  Ezech.  XVIII,  20  sq. 

2)  Ps.  102.  V.  13. 

3)  c.  XXVIII,  V.  2. 

4)  S.  oben  S.  281—283. 

5)  cap.  1.  V.  7.  ff. 

6)  Zu  dieser  Stelle  bemerkt  Steinthal:  Der  Uebergang  von  der  Ver- 
gleichung  des  Unglücks  zur  Gleichstellung  der  Sündhaftigkeit  Judäas  und 
Sodoms  ist  mir  immer  von  einer  so  erschütternden  Kraft  erschienen,  dass  ich 
zweifle,  ob  in  der  sämmtlichen  rhetorischen  Literatur  sich  eine  gleich  ergrei- 
fende Stelle  findet.  Zeitschr.  für  Völkerpsychol.  und  Sprachwissenschaft. 
BerHn,  1866.     Bd.  IV.  S.  228. 


Der  israelitische  Monotheismus.  ^05 

träglich  und  eure  Jubelfeiern  und  schändlichen  Gelage  bis  in  die 
Seele  verhasst.  Wenn  ihr  eure  Hände  aufhebt  kehre  ich  meine 
Blicke  ab;  mögt  ihr  eure  Gebete  noch  so  oft  wiederholen,  ich  er- 
höre sie  nicht,  denn  eure  Hände  sind  mit  Blut  befleckt.  Reiniget, 
säubert  euch,  beseitigt  eure  schuldvollen  Gedanken  vor  meinem 
Antlitz,  verabschiedet  eure  Verkehrtheiten,  übt  euch  im  Wohlthuri, 
trachtet  nach  Gerechtigkeit,  helft  den  Gedrückten,  setzt  die  Waisen 
in  das  Ihrige  und  schützt  die  Wittwen.  Dann  kommt  mich  anzu- 
rufen, spricht  der  Herr.  Und  wenn  eure  Versündigungen  dem 
Scharlach  glichen,  sollten  sie  wie  der  Schnee  leuchten,  und  wenn 
sie  wie  Purpur  glühten,  sollten  sie  wie  Vliesse  erbleichen." 

Uebrigens  werden  schon  Samuel  die  Worte  in  den  Mund  ge- 
legt, dass  Jahve  am  Gehorsam  mehr  Wohlgefallen  habe  als  am 
Opfer*).  Dass  letzteres  nicht  etwa  als  eine  Art  zweiseitigen  Ver- 
trages die  Gottheit  binde,  wurde  ausdrücklich  von  den  Propheten 
verneint  und  dem  Wahne  gesteuert,  als  konnte  durch  irgend  welchen 
Ritus  auch  der  leiseste  Zwang  auf  den  göttlichen  Willen  ausge- 
übt werden.  Sobald  die  innere  sittliche  Läuterung  und  die  Abstellung 
gesellschaftlicher  Gebrechen  als  ein  göttliches  Gebot  gefordert 
werden,  fallt  das  ethische  Gebiet  mit  dem  religiösen  zusammen.  Soll 
die  Verehrung  dem  höchsten  Wesen  durch  strengen  und  gerechten 
Wandel  bezeugt  werden,  dann  strebt  durch  Verklärung  des  Gottes- 
willens  der  Mensch,  bewusst  oder  unbewusst,  mit  der  Erfüllung 
höherer  Pflichten  nach  einem  höheren  Werthe  seines  eignen  Daseins. 

Auch  die  Vorstellungen  von  Gott  selbst  werden  mehr  und 
mehr  der  rohen  Sinnlichkeit  entrückt.  Wenn  Jahve  noch  wie  ein 
Nomad  abwärts  zieht  mit  Jacob  in  ägyptisches  Gebiet,  so  kann 
dagegen  niemand  mehr  dem  allgegenwärtigen  Gott  des  Psalmen- 
dichters entrinnen,  selbst  nicht  mit  den  Fitigeln  der  Morgenröthe*). 
Der  räumlich  unbeschränkte  Gott  wird  auch  als  ewig  anerkannt. 
Vor  der  sichtbaren  Körperwelt  wird  er  als  vorhanden  gedacht 
und  menschlichen  Zeitvorstellungen  wird  der  entrückt,  dem  ein 
Jahrtausend  wie  der  gestrige  Tag  oder  eine  Nachtwache  sind. 

So    offenbart    sich    nicht  plötzlich  wohl  aber  unvermerkt  und 


1)  I.  Reg.  XV,    22.    und   Ewald    israelit.    Geschichte    3.  Aufl.    Bd.  3. 
S,  55.  ebenso  Ps.  51.  v.  18 — 19. 

2)  Ps.  138,  V.  7.  ffe. 
Pesckel,  Völkerkunde. 


20 


3o6  I*"  israelitische  Monotheismus. 

in  leisen  Uebergängen  ein  immer  neuer  und  neuerer  Gott  rdner 
und  ethischer,  entsprechend  den  reineren  und  ethischeren  Auf- 
lassungen, £u  welchen  das  jüdische  Volk  heranreifte,  gross  gezogen 
und  geläutert  durch  harte  Prüfungen. 

Die  heilige  Schrift  liegt  für  jedermann  geöffnet,  um  noch  ein- 
mal selbst  historisch  zu  durchleben,  was  die  Hebräer  an  sich  er- 
fahren mussten.  Wenn  ihr  Monotheismus,  wie  ihn  die  Propheten 
lehrten,  ein  echter  Gewinn  gewesen  wäre,  so  musste  er  sich  be- 
währen in  der  Stunde  des  namenlosen  Elends,  als  auch  die  Be- 
wohner Judäas,  wie  von  den  Assyriern  früher  die  Zehnstämme, 
hinweggeführt  wurden  in  die  Gefangenschaft  nach  Babylonien. 
Von  Sion  und  dem  l'empel  stand  nur  noch  kahles  Gemäuer, 
eine  Besatzunj;  lag  an  dem  verödeten  Platze  um  jeden  zu  ver- 
scheuchen, der  es  wagen  sollte  vielleicht  verstohlen  auf  den  ge- 
weihten Stätten  seine  Andacht  zu  verrichten.  Die  Zukunft  war 
eine  völlig  lichtlose,  nicht  der  fernste  Schimmer  einer  Hoffnung 
glimmte  noch,  dass  das  einst  starke  und  beneidete  V^olk,  nunmehr 
versprengt  und  ausgetheilt  in  dem  weiten  babylonischen  Reiche 
sieh  jemals  sammeln  werde.  Als  sie,  mit  den  Worten  ihres  Sängers") 
zu  reden,  hinabweinten  in  die  Wasser  von  Babylon,  ihre  Harfen  an 
die  Weiden  hingen,  weil  der  Lobgesang  in  fremdem  Lande  er- 
sticken musste,  da  gaben  sich  die  geängstigten  Gemüther  auf  alle 
Fragen  an  die  Zukunft,  immer  nur  die  rauhe  Antwort:  es  ist 
Alles  vorbei  1  £3  ist  vorbei  mit  Judäa  und  Sion,  wie  das  Zehn- 
stämmereich schon  zerflossen  war  bis  auf  die  Schatten,  welche 
etwa  noch  die  Chroniken  heraufbeschworen  mochten. 

Als  die  Zeit  ihrer  Könige,  wo  sie  vom  Meere  bis  zur  Wüste 
die  Gebieter  waren  mit  ihrem  schrecklichen  Ende  wie  ein  ver- 
wehter Traum  ihnen  entfloh,  sahen  sie  sich  beim  hellen  Er- 
wachen versetzt  unter  die  asiatischen  Wunder  Babylons  vor  eine 
Tafel  voller  sinnlichen  Genüsse  und  wer  herzhaft  Zugriff,  konnte 
damals  mit  der  geniessbaren  Wirklichkeit,  mit  dem  bunten  Luxus 
und  in  der  Vergnügungssucht  der  schwelgerischen  Grossstadt  unter 
den  Dattelhainen  am  Euphrat  und  in  der  Ueppigkeit  kunstvoll  be- 
wässerter Gärten  jedes  Heimweh  nach  dem  steinigen  Palästina  er- 


)  Psalm  1)6,  V.  1. 

li  Hepworlh  Dixon,     Das  heilige  Land.    Jena,  1S70.     5.  48— 50. 


Der  itraelitische  Monotheismus, 


307 


sticken.  So  thaten  auch  die  Meisten,  sie  nützten  das  Exil  zum 
gesteigerten  Lebensgewinn  aus  und  priesen  es  wohl  als  gün- 
stige Fügung,  dass  sie  ihrem  ärmlichen  Einerlei  entrissen  worden 
waren.  Hätten  alle  in  ihre  neue  Lage  so  nüchtern  und  welter- 
fahren sich  geschickt,  so  wäre  vom  Judenthum  jetzt  nichts  mehr 
übrig,  als  ein  'Völkername  in  den  Keilschriften,  den  die  heutige 
Wissbegier  hebr  oder  ähnlich  lautend  entziffern  würde.  Ein  Name 
mehr  zu  andern  kalten  Namen. 

Der  unverdorbene  Kern  des  jüdischen  Volkes  vergass  aber 
nicht  und  vererbte  auf  das  nächste  und  zweite  Geschlecht 
die  Sehnsucht  nach  den  Orten,  wo  er  von  besseren  Regungen 
durchschauert  worden  war.  Wenn  die  Verbannten  ihre  neuen  Ge- 
bieter in  der  Nähe  besahen,  wenn  das  stärkere,  klüger  beherrschte, 
von  der  Natur  begünstigte,  durch  Geschick  und  technische  Fertig- 
keit bereicherte  Volk  dennoch  durch  die  Albernheiten  eines  Bilder- 
dienstes täglich  sich  erniedrigte,  durften  sie  sich  im  Stillen  gestehen, 
dass  sie  noch  immer  das  auserwählte  Volk  geblieben  waren.  Uns 
aber,  die  wir  den  weiteren  Gang  der  Geschichte  überschauen,  gleicht 
das  Exil  nur  der  Krümmung  einer  Parabel  um  ihren  Brennpunkt. 
Nicht  vorbei  war  es  mit  dem  Judenthum  sondern  gerade  das,  was 
ihm  den  höchsten  Werth  verliehen  hatte,  der  Gedanke  an  die 
Gotteseinheit,  sollte  nur  die  Richtung  seiner  Bahn  zu  höherer  Ver- 
klärung ändern.  Das  Unglück  verhärtete  die  Juden  nicht,  sondern 
stimmte  sie,  die  selber  ihr  Brod  mit  Thränen  assen,  nur  milder 
gegen  alles  Leiden  was  sie  um  sich  erblickten.  Jeder  Einzelne 
unter  uns  der  nach  Klarheit  gerungen  hat,  gelangt  zu  irgend  einer 
Welterklärung,  die  nicht  bloss  die  Summe  dessen  ist  was  er  durch 
eigene  Einsicht  oder  durch  die  Erfahrungen  anderer  sich  ange- 
eignet hat,  sondern  auch  alles  dessen,  was  an  ihm  vorüber  und 
über  ihn  hinweggegangen  ist.  Die  historischen  Schicksale  eines 
Volkes  fallen  mächtig  ins  Gewicht,  wenn  es  eine  eigene  Religion 
erschaffen,  eine  fremde  annehmen,  eine  angenommene  festhalten 
soll.  Ein  leider  allzufrüh  uns  entrissener  Orientalist  konnte  daher 
zeigen'),  dass  bereits  in  den  älteren  Schriften  des  Talmud  die 
Neigung  zur  Milde  und  Menschlichkeit  durchbreche,  die  das  Christen- 
thum    vorzugsweise    zu    einer    idealen   Trostlehre    der   Gedrückten 

I)  Emanuel  Deutsch  imQuarterly  Review,  tom.  CXXIII.  Octbr.  1867. 

P-  417 

20* 


-,}■ 


308  ^ic  christlichen  Lehren. 

erhob  und  aus  der  es  seit  mehr  als  i8  Jahrhunderten  seine  besten 
Kräfte  geschöpft  hat.  Jene  talmudischen  Stellen  aber  stammen 
aus  der  Zeit  der  babylonischen  Gefangenschaft,  der  Mühseligkeit 
und  Beladenheit,  und  es  war  die  läuternde  Schule  des  eigenen  Un- 
glücks, die  gerecht  und  weich,  die  zart  und  liebevoll  gegen  andere 
stimmte. 


14.     Die   christlichen    Lehren. 

Als  die  Hebräer  vor  den  Gefangenschaften  mehr  oder  weniger 
genau,  in  der  Gefangenschaft  selbst  aber  aufs  genaueste  mit  den 
Weltanschauungen  und  den  Gottesbegriffen  der  Eränier  vertraut 
geworden  waren,  konnte  diese  geistige  Berührung  und  Befruchtung 
nicht  gänzlich  ohne  Folgen  bleiben.  Ihr  müssen  wir  zunächst  zu- 
schreiben, dass  in  vereinzelten  Stücken  des  alten  Testamentes 
plötzlich  ein  verkörperter  Unheilstifter  auftritt,  wenn  auch  der 
bereits  erstarkte  Begriff  von  der  Einheit  Gottes  den  Teufel  nicht 
als  ebenbürtigen  Ariman,  sondern  nur  als  einen  Diener  des  Herrn 
und  als  ein  Werkzeug  seiner  Absichten  duldet').  Aber  weit  be- 
deutungsvoller als  der  nur  spärlich  ausgenützte  Erwerb  des  Satans 
wirkte  die  Bekanntschaft  mit  den  eränischen  Ansichten  von  der 
Unsterblichkeit  der  Seele,  sowie  mit  den  Lehren  von  der  Auf- 
erstehung der  Todten  und  eines  Gerichtes  über  ihren  Lebens- 
wandel. Diese  Vorstellungen  waren  ursprünglich  den  Israeliten  so 
fremd,  dass  noch  zu  Christus*  Zeiten  die  Sadducäer")  eine  Fort- 
dauer nach  dem  Tode  als  schriftwidrig  verwarfen.  Den  Jüngern 
aber  war  die  Lehre  so  neu,  dass  sie  bei  ihrer  ersten  Erwähnung 
betroffen    fragten:    was    soll    das    Auferstehen    von    den    Todten 


i)  Ewald,  israelit.  Geschichte.  3.  Aufl.  Bd.  3.  S.  704.  setzt  die  Ent- 
stehung des  Buches  Ijob  in  die  Zeit  der  letzten  Könige  in  Juda,  allein  Bd.  4. 
S.  237  zeigt  er,  dass  die  Bekanntschaft  mit  zarathustrischen  Lehrsätzen  schon 
seit  dem  10.  und  noch  merklicher  seit  dem  8.  Jahrhundert  auf  die  religiösen 
Vorstellungen  der  Hebräer  namentlich  in  einer  freieren  Auffassung  des  Gegen- 
satzes von  Gutem  und  Bösem  zur  Geltung  gelangte.  Ueber  die  wenigen  Stellen 
des  Alten  Testamentes  ausser  Ijob,  wo  der  Satan  auftritt,  vgl.  Roskoff, 
Geschichte  des  Teufels.     Leipzig  1869.     Bd.  i.  S.  186. 

2)  Matth.  XXII,  23. 


Die  christlichen  Lehren. 


309 


heissen  ?  ^)  Eine  Mehrzahl  von  Stellen  des  alten  Testamen f es 
vernichtet  sogar  jede  Hoffnung  auf  ein  Jenseits.  Mit  Verheissung 
eines  langen  Lebens  und  reichen  Kindersegens  wird  der  Fromme 
belohnt  oder  wohl  gar  irdischer  Ueberfluss  in  Scheune  und  Keller 
für  religiöse  Ehrfurcht  und  strengen  Gottesdienst  ihm  in  Aussicht 
gestellt*).  Was  nützt  Dir,  ruft  der  Psalmist ^)  dem  Herrn  zu, 
mein  Leib,  wenn  er  zur  Verwesung  hinabsteigt?  Wird  etwa  Staub 
und  Asche  Dich  anrufen  oder  Deine  Wahrheiten  verkündigen? 
Bei  Ijob  finden  wir  die  geradezu  hoffnungsleere  Stelle,  dass  wohl 
der  abgehauene  Baum  noch  einiital  grünen  könne,  dass  aber  den 
Erdensohn,  wenn  er  sich  niedergestreckt  hat,  nichts  mehr  aus 
seinem  Schlummer  wecken  werde*).  So  kann  auch  der  Schluss 
dieses  dramatischen  Gedichtes  uns  nicht  befriedigen.  Auf  die 
Prüfungen  des  Dulders  öffnet  sich  nicht,  wie  wir  erwarten,  der 
Blick  auf  eine  Welt  der  Verklärung,  sondern  Ijob  wird  mit  Ge- 
sundheit erfrischt,  mit  Heerden  und  Nachkommenschaft  neu  aus- 
gestattet und  stirbt  dann  lebenssatt  (plenus  dierum),  Wohl  spricht 
das  alte  Testament  wiederholt  von  einer  Behausung  der  Todten, 
die  in  der  lutherischen  Uebersetzung  zwar  eine  Holle  genannt 
wird,  aber  nicht  als  ein  Ort  der  sittlichen  Verbüssung  gedacht 
werden  darf,  sondern  wie  Ijob  es  ausmalt,  als  lichtloser  Raum, 
erfüllt  mit  ewigem  Grausen.  Ja  dieses  Sh6ol,  welches  überein- 
stimmt mit  dem  Hades  der  Griechen,  wird  nirgends  in  gesetzlichen 
Aussprüchen  des  Alten  Testamentes  erwähnt  5).  Erst  in  späteren 
Stücken  keimt  eine  andere  erhabene  Ansicht.  Es  wird  nämlich 
der  Trost  ausgesprochen,  dass  der  Mensch  ein  Gedanke  Gottes, 
also  zugleich  von  Anbeginn  vorhanden  gewesen  sei.  Da  wir 
diese  Lehre  sonst  nur  in  Schriften  von  minderem  Ansehen 
antreffen,  so  ist  es  wichtig,  dass  wir  ihr  auch  bei  Jeremja  (I,  4) 
begegnen.     Wollte   man    ferner  einen    schönen  Abschnitt  (cap.  2) 


1}  Marc.  IX,  10. 

2)  Proverb.  III,. 9— 10. 

3)  Psalm  30,  10. 

4)  Job.  XIV,  7—12. 

5)  Ewald,  israelit.  (jeschichte.  Göttingen  1845.  Bd.  2.  S.  122.  Wie 
E.  B.  Tylor  (Anfänge  der  Cultur.  Bd.  2.  S.  81)  richtig  bemerkt,  übersetzen 
die  LXX  Sh^ol  mit  Hades  und  tJlfilas  mit  Halja,  welches  letztere  in  der 
alten  Bedeutung  ein  Schattenreich  der  Todten  unter  der  Erde  war. 


[^  3IO 


Die  christlichen  Lehren. 


y. 


^ 


1. 1 


g,  im   Buche    der  Weisheit*),    wo    das  Erwarten    eines    Nirväna    als 

f^:  Lehre  der  Gottlosen    verworfen   wird,   wegen    seines  apokryphen 

P'  Ursprungs  nicht  anerkennen,  so  haben  wir  andererseits  die  Lehr^ 

ti  von   einer  Präexistenz   des  Menschen  vor  der  Geburt  als  Gottes- 

gedanke bereits  in  dem  Psalm  138  (139),  den  Ewald  dem  Zerubbabel 
zuschreibt").  In  den  Sprüchen^)  wird  dieselbe  Anschauung  in 
dichterischem  Schwung  und  zugleich  in  erhabenen  Bildern  vorge- 
tragen, die  wie  eine  Vorahnung  unserer  heutigen  kosmogonischen 
Erkenntnisse  klingen.  Gott,  heisst  es  dort,  hat  mich  besessen 
nranfanglich ;  vor  seinen  Schöpfungen  von  Ewigkeit  war  ich  vor- 
bereitet ehe  die  Erde  entstand,  ehe  die  Tiefen  einsanken,  ehe 
die  Wasser  hervorquollen ,  vor  dem  Aufsteigen  der  Gebirge ,  vor 
den  Hügeln  war  ich  schon  geboren.  Noch  gab  es  weder  Fest- 
land, noch  Ströme,  noch  stand  der  Erdkreis  nicht  in  seinen 
Angeln.  Als  er  den  Himmel  wölbte  und  in  gesetzmässigen  Curven 
die  Tiefen  faltete,  als  er  den  Aether  in  der  Höhe  festigte,  die 
Wasser  der  Brunnen  löste,  das  Meer  eingrenzte  und  dem  Flüs- 
sigen gebot,  seine  Ränder  nicht  zu  übersteigen,  da  war  ich  bei 
ihm  und  spielte  vor  seinen  Augen. 

Aus  diesen  Stellen  gewahren  wir,  dass  an  einen  wohl  be- 
rechneten Schöpferplan  geglaubt  wurde,  innerhalb  welchem  auch 
bereits  an  den  Einzelnen  gedacht  worden  war.  Als  Gottesgedanke 
aber  musste  er  auch  dann  in  alle  Ewigkeit  fortleben.  Sollen  wir 
aber  nun  in  aller  Kürze  aussprechen,  worin  die  Völkerkunde  das 
innere  Wesen  der  christlichen  Lehre  von  den  religiösen  Regungen 
anderer  Zeiten  oder  der  Hcidenwelt  zu  unterscheiden  habe,  so 
muss  zuerst  betont  werden,  dass  die  Verkörperung  der  Natur- 
kräfte in  Gott,  wie  sie  sich  noch  im  alten  Testament  findet^), 
mit  dem  Satze  beseitigt  wird,  dass  Gott  als  etwas  geistiges  auf- 
zufassen sei  5).  Wohl  legen  die  Evangelien  dem  Religionsstifter 
noch  immer  eine'  anthropomorphosirende  Sprache  in  den  Mund, 
insofern  Gott    als    ein  Vater  bezeichnet   wird,    allein    dies   recht- 


i)    £s  soll  nach  Ewald  dem  zweiten  Jahrhundert  v.   Chr.   angehören. 
Israelit.  Geschichte  Bd.  3.  S.  436. 

2)  Israelit.  Geschichte  Bd.  4.  S.  163. 

3)  Proverb.  VIII,  22—31. 

4)  Job.  cap.  37  u.  38. 

5)  Joh.  IV,  24.     rivtujxa  0  !&£oV 


Die  christlichen  Lehren. 


311 


fertigt  sich  durch  die  Schranken  des  menschlichen  Denkvermögens. 
Einen  Geist  uns  vorzustellen  sind  wir  unfähig,  denn  was  wir  so 
zu  nennen  belieben,  gleicht  immer  einem  denkenden  Geschöpf, 
wie  wir  selbst  sind,  gebunden  an  die  Arbeit  eines  Organismus. 
So  lange  wir  Menschen  bleiben,  werden  wir  immer  gezwungen, 
das  Göttliche  in  Menschenform  uns  vorzustellen,  doch  geschieht  dies 
in  den  Evangelien  mit  einer  Einschränkung  des  Sprachgebrauches. 
Darf  Gott  als  Vater  angerufen  werden,  so  spUen  wir  doch  den 
also  geheiligten  Vaternamen  nur  auf  Gott  allein  anwenden*). 

Eine  Lehre  aber  ist  es  vorzüglich,  die  im  Christenthum  zuerst 
und  einzig  nur  mit  ihm  auftritt,  nämlich  die  Annahme  einer  gü- 
tigen Vorsehung.  Es  ist,  um  mit  Leibnitz  zu  reden,  der  Plan  der 
möglichst  besten  Schöpfung  bis  auf  das  Kleinste  durchdacht,  bis 
zur  Zahl  der  Haare  auf  dem  Menschenhaupte  und  bis  auf  das 
Dasein  der  schwächsten  Geschöpfe^.  So  wie  die  Erkenntniss 
einer  solchen  Vorsehung  feststeht,  wird  die  gefahrlichste  Verirrung 
des  Menschen,  nämlich  aller  Schamanismus  beseitigt.  Ueberwindet 
auch  vielleicht  das  menschliche  Nachdenken  die  gröberen  Ver- 
suche, durch  Spruch  und  Zauber  sich  eine  vorgespiegelte  Macht 
über  den  Lauf  der  Naturvorgänge  anzumassen,  so  bleibt  doch 
noch  viel  länger  das  Vertrauen  in  die  Wirksamkeit  der  sinnbild- 
lichen Handlungen,  der  Opfer,  der  Fasten,  Bussübungen  und  Ge- 
bete zurück.  Die  indischen  Brahmanen  gelangten,  wie  wir  sahen, 
durch  scharfsinnigen  Selbstbetrug  bis  zu  dem  Wahne,  dass  sie, 
als  Inhaber  solcher  Mittel,  göttliche  Naturen  geworden  seien.  War 
in  der  Gefangenschaft  bei  den  Hebräern  das  Gebet  zuerst  zur 
Bedeutung  und  Macht  gelangt^),  so  musste  doch  schon  Zakharja^) 
gegen  das  erzwungene  Fasten  und  Trauern  warnen,  durch  welches 
man  sich  einbildete,  die  Rathschlüsse  Gottes  zu  ändern.  Der 
strenge  Christ  darf  bei  der  Annahme  einer  güti«:en  Vorsehung 
keinen  Eingriff  Gottes  in  den  gesetzlichen  Ablauf  der  Naturvor- 
gänge begehren.  Unser  Religionsstifter  hat  im  Gegentheil  be- 
stimmt verboten,   nichts  irdisches  erflehen  zu  wollen,    da,  bevor 


1)  Matth.   XXIII,  9.    Kai  TCax^pa  |xtj  xaki(n\Tt  ifiuiv  iizX  Ttj;  y^«*  «^« 
yaip  ^OTiv  0  icarfp  vijkJv,  0  ir  xoi^  cupavoi;. 

2)  Matth.  X,  29—30. 

3)  Ewald,  Israelit.  Geschichte.  Bd.  4.  S.  32. 

4)  cap.  VII,  5-6. 


l- 

|.  ßl2  Die  christlichen  Lehren. 

^'  die  Bitte    sich   noch   geregt  habe,   für  alle  wirklichen  Bedürfnisse 

des  Menschen  schon  gesorgt  sei').  Durch  diese  nothwendige 
Schlussfolgerung  aus  der  Lehre  von  einer  gütigen  Vorsehung 
unterschied  sich  das  Christenthum  von  allen  anderen  Religions- 
schöpfungen. Nicht  die  Erfüllung  des  kleinsten,  des  heissesten,, 
des  reinsten  Herzenswunsches  verspricht  das  Christenthum.  Man 
kann  sich  daher  nicht  weiter  vom  Ziele  der  ursprünglichen  und 
reinen  Religion  verirren,  als  wenn,  da  irdische  Wünsche  iiicht 
mehr  zu  dem  himmlischen  Vater  empordringen  sollen,  eine  An- 
zahl polytheistischer  Mittelwesen  zu  Fürbittern  ersonnen  werden 
und  auf  einem  Umwege  wieder  das  schamanistische  Gebet  zurück- 
kehrt. 

Die  Gebetworte,  welche  Christus  seine  Jünger  lehrte,  ent« 
halten  nichts  weiter  als  eine  Anleitung,  gleichsam  wie  in  einem 
Spiegel,  die  jeweiligen  sittlichen  und  religiösen  Zustände  unseres 
Ichs  wahrzunehmen,  sich  selbst  zu  bestärken  in  der  Heiligung 
durch  die  Gottesidee,  in  dem  Wunsche,  dass  das  Reich  der  christ- 
lichen Anschauungen  uns  durchdringen  möge,  sowie  in  der  Er- 
innerung daran,  dass  Alles,  was  uns  widerfahren  mag,  der  Wille 
einer  gütigen  Vorsehung  ist.  Es  ergeht  die  Mahnung  an  uns 
selbst,  denen  zu  vergeben,  die  sich  etwa  im  Unrecht  gegen  uns 
befinden*),  endlich  die  Bitte,  dass  der  christliche  Glaube  nicht  in 
uns  erschüttert,  sondern  die  Zweifel  mehr  und  mehr  zurück- 
gedrängt werden  mögen.  Der  einzige  irdische  Klang  in  diesem 
Gebete  ist  das  Erflehen  des  täglichen  Brodes,  wenn  wir  nicht  auch 
dabei  uns  selbst  mahnen  sollen,  dass  wir  Dank  schuldig  sind  für 
jeden  Tag,  der  uns  gegönnt  wird.  Das  Vaterunser  verlangt  die 
höchste  innre  Sammlung,  wenn  sein  Inhalt  nicht  spurlos  durch 
das  menschliche  Gemüth  ziehen  soll.  So  *  unverwüstlich  aber 
kehrten  die  schamanistischen  Gelüste  zurück,  dass  trotz  der  War- 
nung des  Religionsstifters  vor  gedankenlosen  Wiederholungen  3), 
welche  der  Mittheilung  des  Vaterunsers  hart  vorausgeht,    es  doch 


1)  Matth.  VI,  8.  Olöe  yap  o  itaTTjp  ufiuiv,  oiv  XP^^^  ^X^^e,  wpo  toü 
ufiac  CLlrriooLi  autcv. 

2)  In  gleichem  Sinne  heisst  es  bei  Jesus  Sirach  (28,  2):  Vergieb 
Deinem  Nächsten,  was  er  Dir  zu  Leide  gethan  hat,  imd  bitte  dann,  so  werden 
Dir  Deine  Sünden  auch  vergeben. 

3)  Matth.  VI,  7.  Mt|  ßaTToXoYi^cTiTe  waicep  d  tövixot*  Öoxovgt  y«P 
Ott  £v  rn  TCoXuXoY(qt  auTwv  eJaaxouaäiijovTat. 


Die  christlichen  Lehren. 


315 


als  Paternoster  in  unverständlicher  Sprache  Jahrhunderte  lang  nicht 
mehr  gebetet,  sondern  nach  Buddhistenart')  unter  Abzahlung  der 
Rosenkranzperlen  hergesagt  worden  ist. 

Der  Schwerpunkt  dieses  Gebetes  oder  dieses  Verkehres  mit 
sich  selbst  liegt  in  der  sogenannten  dritten  Bitte,  die  alles,  was 
diesseits  und  jenseits  über  den  Menschen  verfügt  werden  möge^ 
als  erwogen  in  gütiger  Vorsehung,  geduldig  und  dankbar  uns 
empfangen  heisst.  Selbst  harte  Schicksalsschläge  können  sich  zu 
innerem  Gewinn  verwandeln,  da  sie,  abgesehen  von  den  Fällen, 
wo  sie  verhärten  und  erbittern,  die  Gemüther  in  diejenige  Stim- 
mung zur  Milde  und  Vergebung  setzen,  in  welcher  sie  den  christ- 
lichen Wahrheiten  am  zugänglichsten  sind.  Nicht  für  die  gesunden 
und  starken,  sondern  für  dje  gebrochenen  Herzen  war  ja  der 
Trost  der  neuen  Lehre  bestimmt*).  Die  Selbsterziehung  des  sitt- 
lichen Menschen  aber  sollte  mit  der  Einsicht  in  die  eignen  Fehler 
beginnen.  Nachsicht  gegen  die  Mitmenschen,  Bekämpfen  der 
eigenen  Härte  und  der  Lieblosigkeit,  sind  die  immer  wiederholten 
Vorschriften  der  Evangelien.  Die  Satzungen  des  alten  Testamentes 
wurden  nicht  umgestossen,  sondern  verschärft  und  verfeinert. 
Nicht  blos  der  Mord,  sondern  jede  Gehässigkeit,  nicht  der  Ehe- 
bruch, sondern  jedes  sträfliche  Begehren  sollte  unterdrückt  werden. 
Kein  Verdienst  sei  darin  zu  suchen,  Liebe  mit  Liebe  zu  vergelten, 
denn  das  geschehe  auch  von  den  heidnischen  Völkern,  sondern 
Gott  ähnlich,  der  Gerechte  und  Ungerechte  mit  seinem  Licht  er- 
quickt, Fluch  mit  Segen,  Hass  mit  Wohlthaten,  Kränkungen  mit 
Fürbitten  zu  vergelten,  wurde  als  neue  Pflichtenlehre  den  Christen 
auferlegt^),  üeberall  wird  eine  lieber win düng  der  menschlichen 
Natur  gefordert,  ein  Anstreben  des  göttlichen  Reiches  und  eine 
Veredelung  der  irdischen  Gesellschaft  geboten.  Dem  Jüngling,  der 
seinen  Vater  noch  bestatten  möchte,  ruft  der  Religionsstifter  zu, 
er  solle  die  Todten  den  Todten  begraben  lassen  ♦),  gleichsam  als 
sei   ein  Jeder,    dem   nicht  die  eigene  Verklärung  über  alles  gehe, 


i)  Da  der  ähnlichen  Erscheinung  buddhistischer  Gebetmühlen  bereits  ge- 
dacht worden  ist,  so  wollen  wir  noch  hinzufugen,  dass  selbst  bei  den  Alt- 
eräniem  gewisse  Gebete  in  100-  und  looofacher  Wiederholung  vorgeschrieben 
wurden.    Duncker,  Gesch.  des  Alterthums.    Bd.  2.  S.  334. 

2)  Luc.  V,  31. 

3)  Matth.  V,  44—46. 

4)  L  c.  Vlir,  22. 


31.4 


Die  christlichen  Lehren. 


ein  lebendiges  Gespenst.  Die  Liebe  zu  Eltern  und  Kindern  oder 
Geschwistern,  die  im  Grunde  nichts  ist  als  eine  erweiterte  Selbst- 
liebe,  soll  sich  auf  das  ganze  Menschengeschlecht  ausdehnen*). 

Innerhalb    der   menschlichen   Gesellschaft    erzwingt    sich   das 
bürgerliche   Recht  von   selbst   seine   Beachtung.     Die  Fortschritte 
unseres  Geschlechtes   beruhen   auf  einer  so  durchgebildeten  Glie- 
derung von  Arbeiten  und  Leistungen,  dass  sie  nicht  denkbar  sind 
ohne    strenge  Beobachtung    der   Rechte  Anderer.     Wo    sich    der 
Sinn  für  Wahrheit  und  Gerechtigkeit  abstumpft,  geht  jede  Gesell- 
schaft zu  Grunde  und  die  Weltgeschichte  wird  für  sie  zum  Welt- 
gericht,    So    ist   schon  durch  diese  unerbittliche  sittliche  Ordnung 
für   die   bürgerliche  Erziehung  unseres  Geschlechts  gesorgt.     Das 
Christenthum  aber   erstrebt   noch   höheres    als   eine   Verfeinerung 
des  menschlichen  Geselligkeitstriebes.    Von  dem  Reisenden  Kennan 
wird  uns   das   milde  Herz    der  Korjaken  gerühmt:    nie  sah  er  ein 
Kind   schlagen,    nie    horte   er   ein   hartes  Wort  gegen  eine  Frau 
fallen,  aber  die  Altersschwachen  und  die  hoffnungslosen  Kranken 
werden  durch  Lanzenstiche  mit  anatomischer  Meisterschaft,  Vater 
oder  Mutter  gewöhnlich  vom  Sohne,  umgebracht,    denn  die  harte 
Nothwendigkeit    des   Hirtenlebens    verstattet    keine  Belastung   der 
wandernden    Gemeinde    mit    den   Hinfälligen,    und    der    gesellige 
Instinct  setzt  das  Wohl  der  Genossenschaft  über  das  Erbarmen  gegen 
den  Einzelnen.    Erkennen  wir,  dass  solche  Satzungen  unverträglich 
sind    piit   Christenpflichten,    so    gestehen   wir   damit,    dass   unsere 
Sittenlehre  sich    über   und    bisweilen    gegen  den  Gesellschaftstrieb 
erhebt.    Dass  wir  für  Geisteskranke  sorgen,  kann  als  eine  egoistische 
Vorsicht  betrachtet   werden,    denn  Niemand   weiss  voraus,    ob  er 
nicht    selbst    von  diesem   Schutz    der   Gesellschaft   Nutzen   ziehen 
möchte.     Wir   verpflegen    aber    auch   menschliche  Missbildungen, 
wie  die  Cretinen   und  Microcephalen.     Sicherlich  wäre  es   für   die 
Gesellschaft   viel    erspriesslicher,    solche  Geschöpfe    ihrem    Schick- 
sal   preiszugeben   und   den  Aufwand,    den   ihre    Pflege    erheischt, 
lieber    zu   nutzbringenden  Zwecken   zu  verwenden.     W>nn    wir  es 
dennoch  nicht  thun,   so  befriedigen  wir  ein  Pflichtgefühl,  das  sich 
nicht  aus  unserem  socialen  Instincte  ableiten  lässt*).    Die  Sklaverei 


1)  Matth.  X,  37;  Marc.  III,  33. 

2)  Bei  den  Altmexikanem   kommt   die  Pflege  der  Cretinen  ebenfalls  vor 
(Oviedo,  Historia  general  lib.  XXXIII,  cap.  IX,  tom.  III,  p.  307),  allein  sie 


Die  christlichen  Lehren. 


315 


der  Neger  und  viele  Leibeigenschaftssatzungen  Hessen  sich  damit 
rechtfertigen,  dass  die  Unfreien  der  Zucht,  namentlich  des  Zwanges 
zur  Arbeit  bedurften,  dass  sie  selbst  unter  dem  Drucke  viel  besser 
gediehen  und  ein  grosser  Theil  ihrer  Leistungen  nach  der  Frei- 
sprechung für  das  Gesammtwesen  verloren  ging.  Dennoch  wird  jedes 
veredelte  Herz  diese  schnöden  Vortheile  als  zu  theuer  erkauft 
halten,  weil  jeder  Zwang  ihm  gehässig  ist  Diese  Empfindsamkeit 
unseres  Gewissens  verdanken  wir  aber  den  Lehren  der  Evangelien, 
welche  uns  in  der  Jugend  eingefiösst  worden  sind. 

Werden  dem  Christenthume  seine  Ketzerverfolgungen,  seine 
Inquisitionen,  seine  Religionskriege,  überhaupt  seine  Unduldsamkeit 
zur  Last  gelegt,  so  treffen  die  Vorwürfe  doch  nur  diejenigen, 
welche  die  Lehren  der  Milde  in  ihr  Gegentheil  verwandelten.  Um 
den  sittlichen  Inhalt  des  Christenthums  hat  sich  aber  nie  Streit 
erhoben,  sondern  nur  um  die  Glaubenssätze,  wie  sie  durch  Con- 
cilienbeschlüsse  festgesetzt  wurden.  Christus  selbst  kämpfte  mit 
dem,  was  sich  das  rechtgläubige  Judenthum  hiess,  er,  der  den 
Sabbath  um  des  Menschen  willen  vorhanden  erklärte  und  ^egen 
Dogmenverfertiger  das  vernichtende  Wort  hinterlassen  hat  ^:  „Ver- 
geblich dienen  sie  mir  mit  dem  Verbreiten  ihrer  Lehrmeinungen, 
Satzungen  menschlichen  Ursprungs". 

Die  Verächter  der  evangelischen  Lehren  in  unserer  Zeit  über- 
sehen gewöhnlich,  dass  alle  menschenfreundlichen  Bestrebungen 
immer  in  der  christlichen  Lehre  ihren  stärksten  Helfer  gefunden 
haben.  Der  Abschaffung  der  Negersklaverei  wurde  bereits  gedacht, 
aber  auch  die  Bewilligung  gleicher  Rechte  im  öfifentlichen  Leben 
für  Alle  hatte  im  christlichen  Pflichtgefühl  seinen  wärmsten  Für- 
sprecher gefunden.  Dem  Gebote,  Hungrige  zu  speisen  und 
Nackte  zu  kleiden,  verdanken  wir  unsere  heutige  Armenpflege. 
Manches  andere,  was  uns  in  Evangelienlehren  befremden  mag, 
kann  vielleicht  auf  einem  Missverständniss  der  Jünger  beruhen  oder 
der  Sinn  der  syrisch  gesprochenen  Worte  hat  beim  Uebergang  in 
die    griechische  Sprache    mehr    oder    weniger    gelitten,    oder    die 


beruht  sicherlich  auf  abergläubischer  Scheu  oder  geschah  aus  Liebhaberei,  wie 
die  Häuptlinge  der  Fidschi- Inseln  zu  ihrem  Vergnügen  Krüppel  futterten. 
Waitz  (Gerland),  Anthropologie.     Bd.  6.  S.  626. 

I)    Marcus  VII,  7.    ManQv  81   a^ßcvraC  |xe,   8i8(xaxovTec  ^i^aaitaklixq, 


^l6  Die  christlichen  Lehren.  —  Der  Islam. 

Dunkelheit  der  Gleichnisse  kann  bei  besserem  Verständniss  des* 
Morgenlandes  sich  noch  in  Klarheit  verwandeln,  wie  es  mit  dem 
Bilde  vom  Kamel  und  dem  Nadelöhr  geglückt  ist*).  Nur  auf 
Entstellungen  beruht  es,  wenn  zur  Verdunkelung  des  Christen- 
thums  der  Buddhismus  ihm  vorgezogen  wird,  der  angeblich  400 
Millionen  Bekenner  gewonnen  haben  soll,  ohne  weder  eine  Be- 
lohnung guter  Werke,  noch  Bestrafung  böser  Handlungen  zu  ver- 
heissen.  Wie  es  sich  in  Wirklichkeit  verhält,  haben  wir  bereits 
dargestellt.  Der  Buddhismus  der  400  Millionen  entbehrt  weder 
eines  reich  ausgeschmückten  Himmelreiches,  noch  einer  Hölle  mit 
erfinderischen  Qualen.  Auch  in  seiner  anfanglichen  Reinheit  diente 
ihm  schon  die  Wiedergeburt  als  Schreckmittel  gegen  Uebertreter 
seiner  Gebote,  denn  Av'oka's  Sohn  erlitt  nur  deswegen  eine  grau- 
same Blendung,  weil  er  nach  buddhistischer  Deutung  in  einem 
früheren  Dasein  Hunderten  von  Gazellen  die  Augen  ausgestochen 
hatte  ^). 

15.     D  e  r    I  s  1  ä  m. 

Vor  dem  Auftreten  ihres  Propheten  lagen  die  Stämme  der 
arabischen  Halbinsel  noch  in  den  Fesseln  des  Fetisch wahnes.  Sie 
verehrten  Steine,  Felsen,  Bäume  und  Bilder,  aber  auch  die  Sonne, 
den  Mond  und  die  Gestirne^),  Mohammed  selbst  gesteht,  dass  er 
in  seiner  Jugend  die  Götter  seiner  Väter  angebetet  habe.  Der 
Meteorstein  in  der  Ka*^aba  zu  Mekka  war  schon  längst  das  Ziel 
von  Wallfahrten  gewesen,  an  die  sich  gewinnreiche  Messen  knüpften 
und  um  diese  Erwerbsquelle  seiner  Vaterstadt  nicht  zu  entziehen, 
verschmähete  der  Religionsstifter  es  nicht,  die  Steinverehrung  in  den 


i)  Die  edle  leider  zu  friih  verstorbene  Lady  Duff  Gordon  schreibt 
(Letters  from  I^gypt.  London  1865.  p.  133)  glückseligen  Herzens:  „Gestern 
habe  ich  ein  Kamel  durch  ein  Nadelöhr  schlüpfen  sehen.  So  nennt  man 
nämlich  die  niedrigen  Thore  eines  Pferches.  Das  Thier  muss  dabei  auf  den 
Knieen  rutschen  und  seinen  Kopf  beugen,  um  hindurch  zu  kommen'*.  Auch 
in  den  südalgerischen  Oasen  heissen  Nadelöhre  die  kleinen  Pförtchen  neben 
den  grossen  *  Thoren  in  den  Mauern.  F.  Desor,  Aus  Sahara  und  Atlas. 
Wiesbaden  1865.    S.  28. 

2)  Burnouf,  Introduction  ä  Thistoire  du  Buddhisme.    Paris  1844.  tom.  I, 

p.  414. 

3)  L.  Krehl,  Religion  der  vorislamischen  Araber.    Leipzig.  1863.  S.  45. 


Der  Islam.  317 

neuen  Gottesdienst  mit  hineinzuflechten.  Ausserdem  wurde  an  un- 
sichtbare nicht  menschliche  Geschöpfe,  an  Dschinnen  und  an  Engel 
geglaubt  und  ihre  Gewogenheit  durch  Verehrung  zu  erwerben  ge- 
sucht. Die  Beduinen  übrigens  erkannten  schon  in  älteren  Zeiten 
einen  Schöpfer  des  Himmels  und  einen  Weltherrscher  unter  der 
Bezeichnung  Allah,  ein  Name,  der  von  dem  Zeitwort  Idh  abge- 
leitet wird,  welches  ein  Zittern  und  ein  Leuchten  bedeutet").  Sonst 
wird  auch  seine  Verwandtschaft  mit  dem  hebräischen  El  oder  Eloah 
und  mit  Alähah,  dem  altarabischen  Namen  für  die  Sonne  vermuthet'). 
Eine  Fortdauer  nach  dem  Tode  wurde  verneint,  so  dass  gerade 
mit  seiner  Auferstehungslehre  Mohammed  bei  den  Angesehenen 
unter  seinen  Landsleuten  verstiess^). 

Der  Prophet,  eine  frühe  Waise,  in  der  Jugend  zur  erniedrigen- 
den Beschäftigung  als  Schaf-  und  Ziegenhirt  gezwungen,  verbesserte 
seine  Lebensstellung  dadurch  dass  er  24jährig  eine  mindestens  14 
Jahre  ältere  begüterte  Wittwe  heirathete.  Er  litt  Zeit  seines  Lebens 
an  hysterischen  Anfällen  und  wäre  schon  deswegen  unter  afri- 
kanischen, nordasiatischen  oder  amerikanischen  Menschenstämmen 
sicherlich  ein  mächtiger  Schamane  geworden.  Wie  diese  allerorten 
glaubte  auch  er  "  fest  daran,  dass  seine  Offenbarungen  ihm  von 
aussen  zukämen  un('  eine  höhere  Macht  aus  ihm  redete.  Als  im 
späteren  Alter  die  Begeisterung  allmählig  erkaltete  und  die  Uebung 
ihm  die  Meisterschaft  gewährte,  seine  krampfhaften  Verzückungen, 
die  sich  bis  zum  Schäumen  des  Mundes  steigerten,  beliebig  hervor- 
zurufen, veranstaltete  er  Offenbarungen  zu  den  schmählichsten 
Zwecken.  Bevor  er  seine  achte  Gemahlin  heimführte,  verlangte 
diese,  dass  ihre  Ehe  durch  ein  göttliches  Wort  befohlen  werde, 
das  auf  diese  Bestellung  nicht  ausblieb*).  Nachdem  er  einer 
andren  Gemahlin  zugeschworen  hatte,  eine  koptische  Geliebte  zu 
Verstössen  und  das  Versprechen  ihn  hinterdrein  reuete,  liess  er 
sich  von  Gott  offenbaren,  dass  solche  Eide  vor  Frauen  nicht  ver- 
bindlich sein  sollten  5).  So  wurde  aus  dem  jugendlichen  schama- 
Jiistischen    Selbstbetrogenen    in    den    dürren    Jahren    ein    schlauer 


1)  A.  Sprenger,  Das  Leben  des  Mohammad.  Bd.  i.  S.  250.  S.  291. 

2)  V.  Krem  er,  Herrschende  Ideen  des  Islam.     S.  3. 
3>  Sprenger,  Mohammad.  Bd.  i.  S.  358. 

4)  Sprenger,  Mohammad.  Bd.  3.  S.  76. 

5)  Sure  LXVI.  Wahl,  der  Qorän.    S.  609—610. 


ßl5  Der  Islam. 

Volksbetrüger.  Um  die  Wunder  der  Offenbarung  mit  der  Wirk- 
lichkeit zu  versöhnen,  wurde  angenommen,  dass  der  Wille  Gottes 
nur  dem  Sinne  nach  dem  Propheten  .kund  werde,  dieser  aber  Zeit 
behalte,  den  Inhalt  in  jene  dichterische  Prosa  umzuformen,  welche 
die  Gemüther  der  Gläubigen  bald  so  tief  erschütterte,  dass  wieder- 
holt fromme  Moslimen,  wenn  sie  unvorbereitet  die  Drohworte  eines 
Qoränverses  vernahmen  vor  Schrecken  bewusstlos  umsanken,  ja 
sogar  getödtet  worden  sein  sollen^).  Der  Prophet  durfte  daher, 
um  die  Göttlichkeit  seiner  Eingebungen  zu  beweisen,  den  Zweiflern 
zurufen,  wenn  der  Qorän  nur  von  ihm,  Mohammed  erdacht  sei, 
so  möchten  sie  es  versuchen  nur  eine  einzige  Sure  zu  verfertigen, 
die  den  seinigen  gliche*). 

Der  Qorän  selbst  enthält  114  Psalmen  oder  Suren  von  ver- 
schiedner  Ausdehnun.,  von  einem  einzigen  Vers  bis  zur  Länge 
einer  Predigt.  Wie  in  einem  ordnungslosen  Haufenwerk  sind  Er- 
zählungen von  Strafgerichten  nach  biblischen  oder  altarabischen 
Legenden,  mit  bürgerlichen  Vorschriften  und  den  eigentlichen 
göttlichen  Offenbarungen  durcheinander  gemengt.  Werden  sie 
nach  der  Zeit  ihrer  Entstehung  geordnet,  so  erlangen  wir  Ein- 
blick in  das  Wachsthum  und  die  Entwicklung  des  neuen  Glaubens, 
der  nur  eine  Umprägung  Jüdischer  und  christlicher  Gedanken  ge- 
wesen ist.  Die  Vorläufer  des  Propheten  unter  den  Arabern  waren 
die  Hanyfe,  welche  einen  Schöpfer  verehrten  und  bei  einer  künf- 
tigen Auferstehung  der  Todten  ein  sittliches  Strafgericht  erwarteten, 
Mohammed  nannte  sich  selbst  einen  Hanyfen,  und  Abraham  den 
Stifter  des  Hanyfenthum,  welches  in  seinem  Munde  einen  gerei- 
nigten Monotheismus  bedeuten  soll  und  dem  der  Name  Islam  ge- 
bührt, ein  vieldeutiges  Wort,  welches  den  scharfen  Gegensatz  gegen 
die  Gottesläugnung,  wie  gegen  die  Vielgötterei  enthält^).  Grossen 
Einfluss  auf  den  Propheten  hatten  die  Glaubenssätze  der  ebioni- 
tischen  Judenchristen  zu  Jerusalem  und  Pella,  welche  nur  das  erste 
Evangelium  als  echt  anerkannten  und  die  Lehre  von  der  Mensch- 
werdung wie  von  der  Erlösung  verwarfen*).  Mohammed  selbst 
besuchte   mehr    als    einmal    Jerusalem,    er  verehrte   Christus    und 


1)  Beispiele  bei  v.  Krem  er,  Ideen  des  Islam.  S.  80—81. 

2)  Wahl,  Qorän.  Sure  X.  S.  164. 

3)  Sprenger,  Mohammad.  Bd.  i.  S.  72. 

4)  Sprenger,  Mohammad    Bd.  i.  S.  22. 


Der  Islam. 


319 


dessen  Schwester,  für  welche  er  den  heiligen  Geist  ansah,  ja 
selbst  die  fleckenlose  Empfangniss  der  Jungfrau  Maria  gehörte  zu 
seinen  Glaubenssätzen  *).  Der  Prophet  war  anfangs  auf  dem  Wege 
eine  judenchristliche  Gemeinde  unter  den  Arabern  zu  stiften.  Da 
er  aber  wahrscheinlich  nie  lesen  konnte,  widerfuhr  es  ihm  häufige 
dass  er  sich  auf  das  alte  Testament  und  die  Evangelien  aus  Miss- 
verständniss  berief.  Als  ihm  solche  Irrthümer  vorgehalten  wurden, 
rettete  er  sich  durch  die  Ausflucht,  die  seitdem  im  Munde  aller 
Moslimen  fortlebt,  dass  die  Offenbarungen  im  alten  und  neuen 
Testament  zwar  göttlichen  Ursprungs  gewesen,  aber  aus  Eigen- 
nutz und  Lasterhaftigkeit  von  Juden  und  Christen  dermassen  ver- 
dreht und  verdorben  worden  seien,  dass  sie  nun  frisch  und  un- 
verfälscht wieder  dem  Propheten  offenbart  werden  mussten.  „Dir 
Mohammed,  heisst  es  in  der  fünften  Sure,  haben  wir  das  Buch 
der  Wahrheit  gegeben  welches  das  Gesetz  Mose's  und  das  Evan- 
gelium bestätigt.  Hätte  es  Gott  beliebt,  so  hätte  er  aus  euch,  ihr 
Völker,  ein  Volk  gemacht;  so  aber  hat  er  euch  durch  verschiedne 
Gesetze  von  einander  unterschieden,  um  eines  jeden  Gehorsam 
gegen  das  ihm  offenbarte  Gesetz  zu  prüfen^)."  Später  jedoch 
war  von  dieser  Duldung  und  Gleichberechtigung  nicht  mehr  die 
Rede.  Am  16.  Januar  624  befahl  der  Prophet  die  Qibla  oder  die 
Richtung  in  welcher  die  Gebete  gesprochen  werden  sollten  zu 
ändern,  früher  musste  das  Gesicht  gegen  Jerusalem,  jetzt  sollte  es 
gegen  Mekka  gekehrt  werden,  obgleich  der  Prophet  noch  in  der- 
selben Sure,  die  diese  Anordnung  einschärft,  wie  zur  Beruhigung 
seines  Gewissens  hinzufügt:  Ihr  mögt  euer  Gebet  richten,  wohin 
ihr  wollt:  überall  ist  Gott  da,  denn  Gott  ist  allgegenwärtig  und 
allwissend^).  Gegen  christliche  Glaubenssätze,  vorzüglich  gegen 
die  Dreieinigkeitslehre  wurde  die  112.  Sure  geschleudert,  welche 
das  Bekenntniss  der  Moslimen  erschöpft  und  bei  dem  heiligsten 
Momente  der  Pilgerfahrt,  beim  Küssen  des  schwarzen  Steines  in 
der  Ka'aba  gesprochen  werden  soll.  Sie  lautet  bekanntlich: 
„Sprich:  Gott  ist  einer!  Der  ewige  Gott!  Er  zeugt  nicht,  ist 
auch  nicht  gezeugt!     Kein  Wesen  ist  ihm  gleich!** 

Die  sittliche  Ordnung,  welche  der  Prophet  auf  seine  Sendung 


1)  Qorän,  Sure  21.  ed.  Wahl.  S.  284. 

2)  Qorän,  übersetzt  von  Wahl.     S.  91. 

3)  Qorän,  übersetzt  von  Wahl.     S.  20'*-24. 


grtiiidLie,  ist  mit  Nachahmung  der.  sinaitischen  Gesetzgebung  in 
folgeiRien  zwei  mal  fünf  Vorschriften  abgefasst: 

i)  Neben  "Gott  keine  andern  Götter  zu  erkennen;  2)  Ehr- 
furclit  den  Eltern  zu  bezeigen;  3)  Kinder  aus  Besorgmss  vor 
NahriKiosraangel  nicht  zu  tödten;  4)  Keuschheit  zu  beobachten; 
5)  D;i-.  Leben  andrer  zu  schonen  ausser  in  den  Fällen  wo  die  Ge- 
rechliiikeit  es  anders  verlangt.  Dieser  ersten  Reihe  liess  er  noch 
als  Bfichle  folgen:  6)  Unverletziichkeit  des  Vermögens  der  Waisen, 
7I  rt-dliches  Maass  und.  Gewicht;  8)  keine  Ueberbürdung  der 
fiklavt)! ;  9)  Unparteilichkeit  der  Richter;  10)  Heilighaltung  des 
Ekle^  und  des  Bundes  mit  Gott').  An  Einfachheit  ist  das  raosa- 
ischL-  i>esetz  jedenfalls  diesem  Zehngebote  überlegen.  Um  die 
liLTkfiiiimliche  Zahl  zu  erreichen  hat  der  Prophet  sichtlich  auf  der 
Folter  gelegen  und  zuletzt  noch  marktpoiizeiliche  Vorschriften 
t'ingc-:clit>ben.  Eine  Heiligung  des  Sabbaths  wurde  nicht  vorge- 
schrii'iji'n;  sie  sei  den  Juden,  behauptete  Mohammed,  nur  wegen 
ihrer  Hartnäckigkeit  aufgebürdet  worden,  weil  sie  die  Feier  des 
Sumsiags,  nicht  wie  Mose  gewollt  habe,  die  des  Freitags  durch- 
g('set/-i   hätten"). 

Die  Verstattung  von  vier  gesetzlichen  Frauen  und  einer  un- 
besLkr.inkten  Zahl  'von  Sklavinnen  zeigt  uns  die  Schwäche  des 
Prüjiliiten,  der  seiner  eignen  Genusssucht  keinen  Zügel  anlegte. 
Nur  mit  Unrecht  aber  würde  man  in  der  Polygamie  den  wesent- 
liulini  Gegensatz  zwischen  dem  Islam  und  unsrer  Religion  finden. 
Dil-  j.inzelehe  war  lange  vor  dem  Christenthum  Gesetz  bei 
vitlin  Völkern  und  ist  es  noch  jetzt  bei  heidnischen  Stämmen,  ja 
ii)  ilir.  ältesten  Zeiten  konnte  man  der  christlichen  Kirche  ange- 
hiirnj.  und  doch  mehrere  Frauen  besitzen.  Wie  alle  Völker  auf 
Iriihrr.  Ji  Entwicklungsstufen  hatten  sich  die  Araber  in  ihrer  Heiden- 
/('il  >.rlir  verwickelte  Speiseverbote  auferlegt  Der  Prophet  be- 
sijlir.iiikte  sie  auf  das  Fleisch  der  Schweine  sowie  der  gefallenen 
'Il.H'ii-  und  den  Genuss  des  ausgeflossenen  Blutes^). 

l  in  s«nen  Offenbarungen  Glauben  zu  verschaffen,  suchte  der 
l'riJiilii  !  seine  Anhänger  mit  den  Schrecken  der  Auferstehung  und 
(■im.-   uingsten  Tages  zu  ängstigen.     Hier  kam  ihm  die  Flammen- 


ijatin,  übencUI  von  Wahl.  Sure  VI,  S.  114—115- 

.  San  XVI,  ns.  Wahl,  Qorän.     S.  IIJ. 
I  sute  VI,  146.     Wahl,  gorftn.      5.  114. 


I>er  Islim.  ^^i 


vV-'« 


seiner  dichterischen  Sprache  su  statten  und  er  versäumte 
keine  Gelegenheit  an  die  bereits  vollstreckten  Strafgerichte  tabH*^ 
sdier  nnd  aitarabtscher  Legenden  zu  mahnen.  Andrerseits  ver^ 
hiess  er  in  ermüdenden  Wiederholungen  den  Glaubigen  und  den 
Gerechten  einen  Wonneaufenthalt  nach  volksthümlichem  Geschmack, 
einen  schattigen  Garten  mit  sprudelndem  Wasser,  kostlichen 
Frachten«  schwdlenden  Ruhekissen  und  einem  Frauengeschlecht, 
das  aDe  geforderten  Reize  vereinigte,  um  ewige  Begierden  ewig 
zu  stufen.  Allerdings  enthält  der  QorÄn  Stellen,  welche  jene  b<^ 
rauschenden  Schilderungen  nur  auf  Gleichnisse  für  menschliches 
A'erständniss  herabsetzen"),  andre  bezeichnen  das  Anschauen  der 
Herrlichkeit  Gottes  als  den  Lohn  des  Frommen  •>,  aber  die  un- 
heimliche Anziehungskraft  des  Isl5m  gründete  sich  auf  das  buch- 
stäbliche Verständniss  jener  sinnlichen  Verheissungen  und  die 
späteren  Ueberlieferungen  haben  nicht  gesäumt,  die  gierigen  Er- 
wartungen der  Gläubigen  mit  märchenhaften  Schilderungen  des 
Paradieses  zu  sättigen^). 

Der  bedenklichste  Inhalt  des  QorUn  betrifft  die  Läugnung 
der  menschlichen  Willensfreiheit.  Das  Schicksal  eines  jeden  Men- 
schen ist  vorher  bestimmt  und  aufgezeichnet,  so  dass  der  Lebens- 
wandel sich  zu  dieser  Schritt  verhält  wie  das  Schauspiel  zu  dem 
Texte  einer  dramatischen  Dichtung*).  Die  Verdammniss  ist  nacii 
•einem  unwiderruflichen  Rathschluss  Gottes  über  diejenigen  vor- 
hängt  die  sie  treffen  wird;  denn,  fahrt  der  Qorftn  fort,  hätte 
Allah  gewollt,  so  würden  alle  Menschen  geglaubt  haben,  ohne 
seinen  Willen  aber  gelange  keine  Seele  zum  Glauben*).  Die 
Lehre  von  der  Gnadenwahl  wurde  von  den  Rechtgläubigon 
immer  festgehalten  und  wenn  auch  die  freieren  Secten  die  Un- 
vereinbarkeit der  Schicksalsbestimmung  und  des  Strafgerichtes 
mit  der  göttlichen  Gerechtigkeit  und  Barmherzigkeit  klar  erkannten 
und    mildere    Ansichten    vertraten 6),    so    blieb    wie  anderwärts  die 


i)  Wahl,  Qorän,  Sure  II,  S.  7. 

2)  SureLXXV.  Wahl,  Qoran.  S.  649. 

3)  vgl.  die  Beschreibung  des  Paradieses  bei  M.  Wolff,  Muhammedaniiche 
Eschatologie.     Leipzig  1872.  cap.  45—49.     S.  185—207.  • 

4)  Sprenger,  Mohammad.  Bd.  2.  S.  307. 

5)  Qorän,  Sure  X,  übers,  v.  Wahl.  S.  168—169.  vgl.  auch  Sure  LXXVT» 
30  u.  V.  Kremer,  Ideen  des  Islams.  S.  9. 

6)  V.  Krem  er.  Herrschende  Ideen  des  Islams.     S.  280. 
Peschel,  Völkerkunde.  21 


^^22  ^^^  Islam. 

gedankenschwache  Masse  der  Gläubigen  an  dem  Buchstaben  hängen. 
Neben  dieser  Lehre  konnte  auch  niemals  in  der  islamitischen 
Gesellschaft  ein  Priesterstand  zur  Macht  gelangen,  da  er  nichts 
zu  binden  und  zu  lösen  hatte.  Obendrein  standen  die  Chalifen 
und  ihre  Nachfolger  immer  an  der  Spitze  der  Gläubigen. 

Ausser  dem  Qorän  hat  die  Sunna  oder  das  Herkommen  und 
die  Rechtsgewohnheit,  wo  sie  nicht  der  Offenbarung  widerspricht, 
volle  Kraft  und  enthält  Rechtssätze  in  bürgerlichen  oder  peinlichen 
Sachen,  sowie  Nahrungs-  und  Kleidungsvorschriften.  Neben  ihr 
geniesst  auch  die  Nachricht  oder  Hadyth,  das  heisst  die  lieber- 
lieferung  von  Aussprüchen  des  Propheten,  wenn  sie  durch  gute 
Zeugen  bis  auf  Mohammed  zurückreicht,  rechtsverbindliche  Kraft  *). 

In  Persien  wurden  beide  Gesetzesquellen  nicht  anerkannt  und 
daher  trat  eine  Spaltung  unter  den  Gläubigen  in  Anhänger  der 
Sunna  oder  Sunniten,  und  in  Abtrünnige  oder  SchyVten  ein. 

Kurz  nach  der  Stiftung  überfluthete  der  Islam  Aegypten  und 
Nordafrika,  überschritt  an  der  Schwelle  des  8.  Jahrhunderts  die 
Meerenge  von  Gibraltar  und  erhielt  sich  bis  zum  Falle  von  Gra- 
nada  1492  im  westlichen  Europa.  In  dem  nämlichen  Jahrhundert, 
wo  er  aus  Spanien  nach  Afrika  zurückgedrängt  wurde,  hatte  er 
Südeuropa  an  der  Östlichen  Halbinsel  siegreich  betreten  und  im 
Jahre  1453  errang  er  die  Herrschaft  über  die  Meerengen  die  un- 
sern  Welttheil  von  Kleinasien  scheiden. 

Am  Beginn  des  8.  Jahrhunderts  drangen  die  Araber  erobernd 
in  das  Indusgebiet,  aber  ihre  Fürstenthümer  Multan  und  Mansura 
fielen  bald  vom  Chalifate  ab.  Arabische  Gemeinden  gab  es 
in  allen  Küstenstädten  an  der  Malabarseite  Ostindiens,  aber  vor- 
läufig genoss  der  Islam  dort  nur  Duldung.  Erst  um  das  Jahr 
1000  n.  Chr.  unter  den  Ghazneviden  fasste  er  festen  Fuss 
in  Indien*)  und  unter  Baber,  dem  Stifter  des  grossmongolischen 
Thrones,  fiel  die  Hauptmacht  der  Halbinsel  an  mohammedanische 
Fürsten.  Auf  Sumatra  gelangte  die  Lehre  des  Propheten  erst  im 
Reiche  Atschin  1206  zur  Herrschaft  und  in  dem  Reiche  Malaka 
kurz  nach  der  Stiftung  im  Jahre  1253,  während  sie  auf  Java  erst 
nach  dem  Sturze  des  Staates  Madschapahit  im  Jahre  1478  den 
Buddhismu«  verdrängte.     Nach    Celebes    gelangte    sie    1512,    doch 


i)  Sprenger,  Mohammad.  Bd.  3.  p.  LXXVII  sq. 

2)  Reinaud,  Geographie  d'AboulfMa.  Introduction,  p.  CCCXLIII.  sq. 


Der  Islam.  ^2^ 

widerstanden  noch  um  1640  wiewohl  vergeblich,  die  Buginesen 
ihrer  dortigen  Ausbreitung.  Noch  immer  setzt  der  Islam  seine 
Wanderung  gegen  Morgen  fort.  Sein  äusserstes  östliches  Ziel  be- 
zeichnet vorläufig  eine  kleine  Moschee  auf  Dobo  unter  den  Aru- 
inseln,  einem  Zubehör  von  Neu  Guinea').  Doch  gibt  es  auf 
Neu  Guinea  selbst  unter  den  Papuanen  der  Landschaft  Namototte 
eine  Anzahl  Neubekehrter*). 

In  Afrika  hat  die  Lehre  des  Propheten  ^ich  zuerst  in  dem 
Mittelmeergebiete  eingebürgert.  Ueber  die  Wüste  drang  sie 
1086 — ^^1097  n.  Chr.  in  Bornu  ein,  am  Beginn  desselben  Jahr- 
hunderts hatte  sie  sich  aber  schon  nach  dem  grossen  Reiche 
der  Sonrhay  am  mittleren  und  am  Beginn  des  13.  Jahrhunderts 
am  oberen  Niger  unter  den  Herrschern  von  Melli  verbreitet  3). 
Nach  Wadai,  Darfur  und  Kordofan  gelangte  sie  erst  am  Beginn 
und  um  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts*).  Ob  die  Tuareg  vormals 
Christen  waren,  wie  Barth  vermuthete,  bedarf  noch  strengerer  Be- 
stäti^ung,  ebenso  ob  im  ehemaligen  Reiche  Ghana,  welches  west- 
lich von  Timbuctu  lag,  das  Christenthum  erst  1075  dem  Islam  er- 
legen sei,  wie  in  Nubien,  wo  es  nach  guten  Berichten  noch  in 
der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  herrschte  5),  Noch  gegen- 
wärtig verdrängt  der  Islam  in  Abessinien  langsam  das  Christen- 
thum. In  unseren  Zeiten  haben  ihn  die  Fellatah  weit  ins  Innere 
des  heidnischen  Afrika  bis  nach  Adamaua  hineingetragen.  Die 
Lehre  des  Propheten  legt  den  Afrikanern  keine  Aenderung  der 
Lebensgewohnheiten  auf.  Dem  Neger,  der  den  Islam  ergreift,  wird 
obendrein  verheissen,  dass  er  höher  steige  und  wegen  seiner  reinen 
Lehre  Gott  näher  stehe,  als  die  Christen.  Die  Verkündiger  der 
Prophetenlehre  in  Afrika  endlich  sind  unbesoldet  und  arm,  während 
die  christlichen  Missionäre,  obgleich  sie  Geringschätzung  des  Reich- 
thums  predigen,  mit  Ueberfluss  sich  umgeben.  Dies  sind  nach  der 
Ansicht  eines  klaren  Beobachters  die  Ursachen,  weshalb  unter  deu 


i)  Wallace,  Malay  Archipelago.  tom.  II,  p.  278. 

2)  Otto  FinsQh,  Neu  Guinea.     Bremen  1865.     S.  76. 

3)  Heinrich  Barth,  Nord-  und  Cenlralafrika.     Bd.  2.  S.  309.     Bd.  4. 
S.  417,  603,  609. 

4)  Waitz,  Anthropologie.     Bd.  2.  S.  21. 

5)  Fr.  Kunstmann,    Afrika  vor  den  Entdeckungen  der  Portupiestn. 
München  1853.    S.  28. 

21* 


ß24  ^^^  Islam,  —  Die  Zone  der  Religionsstifter. 

Negern  die  christliche  Lehre  dem  Islam  unterliegt*).  Erobernd 
tritt  diese  Lehre  neuerdings  auch  in  China  auf.  Dorthin  hatte  sie 
sich  frühzeitig  verbreitet,  theils  über  Kaschgarien  und  die  frucht- 
baren Striche  am  Südabhange  des  Thianschan,  theils  zur  See  den 
grossen  morgenländischen  Handelsstrassen  folgend  nach  den  Küsten- 
platzen»  bis  gegen  das  Ende  des  neunten  Jahrhunderts  mit  dem 
Sturze  der  Thang -Dynastie  eine  Fremdenverfolgung  und  Aus- 
rottung der  Moh^ftnmedaner  eintrat*).  Eben  jetzt  hat  sich  aber 
im  Südwesten  des  himmlischen  Reiches  in  Talifu  unter  muhamme- 
danischen  Chinesen  ein  Herrscher  aufgeworfen  und  ein  Stück  der 
Provinz  Yünnan  losgerissen.  Die  Briten,  die  über  Birma  mit 
diesem  neuen  Reiche  Handelsverbindungen  angeknüpft  haben, 
sind  bis  jetzt  voller  Lob  über  die  Redlichkeit  und  Sittenstrenge 
der  Panthay,  wie  diese  neuen  Bekenner  des  Islam  genannt  werden^). 
So  ist  im  räumlichen  Wachsthum  dieser  Lehre  noch  kein  Stillstand 
bemerkbar. 


16.     Die   Zone    der  Religionsstifter  ^). 

„Die  Kenntniss  von  dem  Naturcharakter  verschiedener  Welt- 
f«genden",  so  lautet  eine  der  tiefsten  Stellen  in  A.  v.  Humboldt's 
Physiognomik  der  Gewächse  5),  „ist  mit  der  Geschichte  des  Menschen- 
geschlechts und  mit  der  seiner  Cultur  aufs  innigste  verknüpft. 
Denn  wenn  auch  der  Anfang  dieser  Cultur  nicht  durch  physische 
Einflüsse  allein  bestimmt  wird,  so  hängt  doch  die  Richtung  der- 
selben, so  hängen  Volkscharakter,  düstere  oder  heitere  Stimmung 
der  Menschheit  grossentheils  von  klimatischen  Verhältnissen  ab. 
Wie  mächtig  hat  der  griechische  Himmel  6)  auf  seine  Bewohner 
gewirkt!  Wie  sind  nicht  in  dem  schönen  und  glücklichen  Erd- 
striche zwischen  Euphrat,   dem  Halys  und    dem   ägäischen  Meere 


1)  Gerhard  Rohlfs,  im  Ausland  1870.  S.  485. 

2)  Peschel,  Geschichte  der  Erdkunde.     S.  108. 

3)  A.  Bowers,  Bhamo-Expedition.     Berlin  1871.     S.  72. 

4)  Der  nachfolgende  Abschnitt,  abgesehen  von  Kürzungen,  Zusätzen  und 
Aenderungen,  wurde  bereits  abgedruckt  im  Ausland.     1869.     S.  409  ff. 

5)  Ansichten  der  Natur.     Bd.  2.  S.  18. 

6)  Humboldt   wollte  offenbar  schreiben:    Wie   mächtig  hat  der  Himmel 
Griechenlands  auf  dessen  Bewohner  gewirkt! 


Die  Zone  der  Religionsslifler.  ^c 

die  sich  ansiedelnden  Völker  früh  zu  sittlicher  Anmuth  und  zar- 
teren Gefühlen  erwacht!  Und  haben  nicht,  als  Europa  in  neue 
Barbarei  versank  und  religiöse  Begeisterung  plötzlich  den  heiligen 
Orient  öffnete,  unsere  Voreltern  aus  jenen  milden  Thälern  von 
neuem  mildere  Sitten  heimgebracht?  Die  Dichterwerke  der  Griechen 
und  die  rauheren  Gesänge  der  nordischen  Urvölker  verdanken 
grösstentheils  ihren  eigenthümlichen  Charakter  der  Gestalt  der 
Pflanzen  und  Thiere,  den  Gebirgsthälern ,  die  den  Dichter  um- 
gaben, und  der  Luft,  die  ihn  umwehte.  Wer  fühlt  sich  nicht,  um 
selbst  nur  an  nahe  Gegenstände  zu  erinnern,  anders  gestimmt  in 
dem  dunklen  Schatten  der  Buchen,  auf  Hügeln,  die  mit  einzeln 
stehenden  Tannen  bekränzt  sind,  oder  auf  der  Grasflur,  wo  der 
Wind  in  dem  zitternden  Laube  der  Birke  säuselt?  Melancholische, 
ernst  erhebende  und  fröhliche  Bilder  rufen  diese  vaterländischen 
Pflanzengestalten  in  uns  hervor.  Der  Einfluss  der  physischen  Welt 
auf  die  moralische,  das  geheimnissvolle  Ineinanderwirken  des  Sinn- 
lichen und  Aussersinnlichen  gibt  dem  Naturstudium,  wenn  man  es 
zu  höheren  Gesichtspunkten  erhebt,  einen  eigenen  noch  zu  wenig^ 
erkannten  Reiz.** 

Hier  liegt  also  die  verführerische  Aufgabe  vor  uns,  auf  dem 
Wege  vorsichtiger  Vergleiche  zwischen  den  grössten  Begebenheiten 
in  der  menschlichen  Gesellschaft  und  den  Schauplätzen,  auf  welcheif 
sie  sich  zutrugen,  einem  Innern  Zusammenhange  nachzuspüren. 
Bei  wem  könnten  wir  uns  aber  besser  vorbereiten  für  solche  Unter- 
suchungen als  bei  Thomas  Buckle,  der  nicht  bloss,  bei  seinen 
Landsleuten,  sondern  auch  bei  uns  eine  ungeschwächte  Beliebtheit 
noch  geniesst  und  vielen  als  ein  Born  des  klarsten  Lichtes  gilt? 
Geben  wir  ihm  Gehör,  so  wäre  nichts  einfacher  und  fasslich er^ 
als  die  Rückwirkungen  des  Wohnortes  auf  die  Erscheinungen  der 
Gemüthswelt.  Da,  wo  die  Natur  mit  grossen  Schreckmitteln  den 
Menschen  beängstigt,  wird  die  Einbildungskraft  stärker  entwickelt 
werden  als  der  Verstand,  imd  dort  wird  der  Wunderglaube  am 
üppigsten  ins  Kraut  schiessen.  Italien,  Spanien  und  Portugal,  sagt 
Buckle  *),  werden  in  Europa  unter  allen  Ländern  von  Erdbeben 
am  meisten  heimgesucht;  Erdbeben  schüchtern  das  menschliche 
Gemüth  ein,  folglich  hat  sich  bei  den  Bewohnern  Südeuropa's 
zäher  als  anderwärts  der  Glaube  an  Eingriff"e  übersinnlicher  Mächte 

I)   History  of  civüization  in  England.     Leipzig  1865.  ^^^*  ^*  P*  ^^3-  P*  ^^^* 


^jf,  Die  Zone  der  Religio ns Stifter. 

in  die  physische  Weltordnung  erhalten.  Dass  Portugal  unter  die 
erdbelii'nreiclisten  Länder  gerechnet  wicd ,  mag  die  schwere  Kata- 
strophe, welche  Lissabon  vor  mehr  als  lOO  Jahren  betraf,  einiger- 
massci)  rechtfertigen,  obgleich  sie  in  ihrer  Grossartigkeit  vereinzelt 
steht,  aber  Spanien,  obgleich  nicht  gänzlich  verschont,  gehört  doch 
nicht  unter  die  vorzugsweise  oder  nur  streng  heimgesuchten 
Länder.  Japan,  welches  so  oft  unter  dem  Dreizack  des  Poseidon 
erzittern  muss,  wird  von  einem  heilern ,  zu  Schelmerei  und  Kurz- 
weil stfts  aufgelegten  und  in  religiösen  Dingen  sorglosen  Menschen- 
schlag bewohnt.  Russland  wiederum  ist  fast  gänzlich  frei  von 
Erdbeben,  aber  von  einem  Exorcismenspuk,  wie  er  in  der  grie- 
chisclifii  Kirche  noch  vorherrscht,  ist  Italien  doch  schon  längst  ' 
gereinigt. 

Unter  den  Tropen,  fährt  Buckle  fort,  trete  die  Natur  gewalt- 
samer und  schrecklicher  dem  menschlichen  Kleinmuth  gegenüber, 
daher  habe  sich  bei  den  Bewohnern  Indiens  die  Einbildungskraft 
am  meisten  mit  Wahngeburten  bevölkert.  „Dort  waren",  behauptet 
er,  „Lebenshindernisse  jeder  Art  so  zahlreich,  so  beunruhigend 
und  scheinbar  so  unerklärlich,  dass  die  Tagesbeschwerden  nur 
durch  beständiges  Gnaden  erflehen  an  die  unmittelbare  Thätigkeit 
übernatürlicher  Kräfte  gehoben  werden  konnten".  Dort  erschaute 
Hie  beängstigte  Einbildungskraft  solche  Schaudergestalten  wie 
l,"iva  oder  seine  Gemahlin  Durga-Kali,  deren  innere  HandDächen 
von  friscliem  Blute  sich  beständig  rölheten  und  deren  Nacken 
eine  Schnur  von  Menschenschadeln  zierte. 

Da  sich  die  indische  Cultur  vorzugsweise  im  eigentlichen 
Hindoslan,  also  in  dem  Gangesgebiet  mit  Ausschluss  Bengalens, 
entwickeile,  so  hätte  nach  Buckle  die  Natur  dort  ganz  besonders 
die  Gcraüther  der  Bewohner  mit  Furcht  und  Grausen  erfüllen 
müssen.  Erdbeben  kommen  freilich  nicht  vor,  einen  Ersatz  für 
sie  sollen  wir  jedoch  in  den  furchtbaren  Orkanen  finden.  Ganz 
sicherlich  ist  auch  der  bengalische  Meerbusen  die  Brutstätte  jener 
Cyklone  oder  Wirbelstürme,  welche  im  votigen  Jahrzehnt  zweimal 
die  Stadt  Caicutta  heimsuchten.  Die  Tragweite  jener  Geissein  ist 
jedoch  nur  auf  die  Küste  beschränkt  und  ihre  Verheerungen  über- 
schreiten nie  die  Grenze  Bengalens,  Auch  der  Himalaya  soll 
nach  Buckle  einschüchternd  gewirkt  haben ,  allein  er  ist  von  den 
dicht  bewohnten  Strichen  entweder  gar  nicht  sichtbar  oder  nur  als 
eine     anmuthige    Begrenzung    des    nördlichen    Horizonts.       Wenn 


Die  Zone  der  ReligionsstiAer.  327 

Buckle  Pestilenzen  in  dem  tropischen  Asien  mit  vorzugsweise  zer- 
malmendem Tritt  einherschreiten  lässt,  so  dachte  er  dabei  doch 
nur  an  die  Cholera,  die,  just  als  er  schrieb,  in  Europa  einen  er- 
neuten Umzug  hielt.  Allein  unser  Welttheil  ist  in  vorigen  Zeiten 
von  Würgengeln  betreten  worden,  die  mit  der  ziemlich  modernen 
Brechruhr  in  Indien  sich  leicht  messen  können,  von  dem  schwarzen 
Tod  und  der  Pest,  es  wurde  also  die  gemässigte  Zone  nicht  mehr 
verschont  als  die  tropische.  Seltsamerweise  nennt  der  Schotte  gar 
nicht  Indiens  schrecklichsten  Genius,  nämlich  den  Hunger,  den 
rüstigsten  der  Todtengräber,  der  zeitweise,  wenn  die  Regen  fehlen 
oder  die  Ströme  sparsam  rinnen,  selbst  noch  heutigen  Tages 
grössere  Verheerungen  anstiftet,  als  alle  Pestilenzen  und  Wirbel- 
stürme, ja  dicht  bevölkerte  Striche  in  Einöden  verwandelt,  wie 
gleich  am  Beginn  der  britischen  Herrschaft  in  Folge  eines  Miss- 
wachses, 1770,  zehn  von  fünfundzwanzig  Millionen  Bengalesen  dahin- 
sanken.  Ueben  die  Drohungen  und  Beängstigungen ,  welche  mit 
irgend  einem  Wohnort  verknüpft  sind,  über  die  Gemüther  einer  Be- 
völkerung jene  Herrschaft  aus,  die  ihnen  Buckle  zumuthet,  so  müssten 
die  Holländer  viel  wundergläubiger  sein,  als  die  Belgier.  Ihnen 
droht  beständig  und  ganz  vorzüglich  zur  Zeit  der  Syzygien  des 
Mondes  ein  Gegner,  der  so  wenig  Erbarmen  kennt  als  das  Erd- 
beben, nämlich  das  Meer,  das  sie  als  Bewohner  unterseeischer 
Fluren  um  ein  Erbstück  geschmälert  haben.  Oft  genug  schon  hat 
sich  die  verdrängte  Macht  gerächt,  wie  damals,  als  die  Zuyder 
See  und  der  Dollart  durch  plötzliche  Einbrüche  sich  füllten  und 
alle  Ortschaften  sammt  ihren  Bewohnern  hinabschlangen.  Endlich 
sollten  in  dem  nämlichen  Volk  unter  allen  Gewerbtreibenden  den 
meisten  Aberglauben  die  Seefahrer  und  die  Bergleute  nähren,  weil 
sie  mehr  als  andere  sich  den  Launen  unberechenbarer  Natur- 
gewalten preisgeben,  und  doch  hat  niemand  behauptet,  dass  so 
etwas  in  bemerkbarer  Stärke  der  Fall  wäre. 

Wir  müssen  also  wohl  eingestehen,  dass  die  grösseren  Lebens- 
bedrohungen an  irgend  einem  Wohnorte  nicht  die  übermässige 
Entwicklung  der  Einbildungskraft  verschuldet  haben.  Selbst 
Alexander  v.  Humboldt's  schöne  Worte  von  der  Rückwirkung  des 
griechischen  Himmels  auf  die  hellenische  Gemüthsstimmung  erregen 
uns  Bedenken.  Wenn  einem  Fleck  der  Erde  vor  andern  der 
Name  eines  Paradieses  gebührt,  so  ist  es  sicherlich  Mexico  mit 
seinen    Seen,    seinem    Pflanzenschmuck,    seinem    landschaftlichen 


^28  ^^c  Zone  der  Religioosstifter. 

Hintergrund^  den  Schneevulkane  zieren,  seinem  ewig  heitern  Wetter 
^und  seiner  erquickenden  Höhenluft.  Und  dennoch  hat  unter  diesem 
Wonnehimmel  der  schwermüthige  Sinn  der  Eingebornen  Andhuacs- 
alle  Schrecken  eines  finstern,  blutigen  Götterdienstes  ausgebrütet» 
Versuchen  wir  darum  lieber  zu  ergründen,  ob  nicht  die 
übliche  Volksernährung  mit  den  Gemüthserscheinungen  in  einem 
ursächlichen  Zusammenhange  stehe.  Hindostan,  der  Heerd  der 
brahmanischen  Religion,  und  Mittelchina,  die  Heimat  des  Con- 
futse,  bescheint  beinahe  die  nämliche  Sonne  und  bedeckt  ein  ahn- 
liches  Pflanzenkleid.  Die  Natur,  müsste  Buckle  zugeben,  ist  an 
beiden  Orten  gleich  gross  und  fast  gleich  schrecklich,  von  Süd- 
china wenigstens  lässt  sich  dies  mit  grosser  Strenge  behaupten,  und 
doch  hat  die  Einbildungskraft  im  Reiche  der  Himmlischen  eineR 
ganz  andern  Flug  genommen,  wie  in  Indien,  oder  sie  hat  vielmehr 
beinahe  keinen  Flug  genommen.  Nun  sind  die  Chinesen  panto- 
phag,  das  heisst  sie  essen  alles,  selbst  Holothurien  (Trepang),  bei 
deren  Anblick  schon  den  Ungewohnten  ein  Schauder  überläuft.. 
Die  strenggläubigen  Hindu  der  höheren  Kasten  verabscheuen  da- 
gegen aufs  strengste  alle  Fleischnahrung.  Doch  hielten  sie  es 
nicht  immer  so.  In  den  Zeiten  der  Veden  war  der  Genuss  ani- 
malischer Kost  noch  nicht  verboten  und  zugleich  war  die  vedische 
Religion  noch  nicht  verdüstert  durch  die  Schöpfung  blutgieriger 
Götzen,  noch  nicht  erfüllt  mit  Schrecken  und  Grauen,  wie  in  den 
späteren  epischen  Zeiten.  Die  Belastung  der  Gemüther,  die  Nei- 
gung zum  Ungeheuerlichen  und  Grotesken,  die  Lebensübersättigung, 
das  Grauen  vor  der  endlosen  Kette  der  Wiedergeburten  begann 
sich  bei  den  Hindu  zu  entwickeln  mit  dem  gleichzeitigen  Ueber- 
gang  zur  reinen  Pflanzenkost.  Dass  unsere  geistige  Thätigkeit 
aber  von  der  Ernährung  .abhängig  sei,  kann  jedermann  an  sich 
selbst  wahrgenommen  haben,  denn  der  tiefe  erquickende  Schlaf» 
der  echte  Schlaf  ohne  Bewusstsein,  flieht  uns  bei  stark  überladenem 
Magen,  Aber  auch  der  Hunger,  die  halbe  und  ungenügende  Be- 
friedigung, erstrecken,  wie  alle  Begierden,  ihre  Herrschaft  über  die 
Einbildungskraft.  Auf  dieser  biologischen  Wahrnehmung  beruhten 
und  beruhen  noch  die  strengen  Fastenübungen,  die  von  so  ver- 
schiedenen Religionssatzungen  [vorgeschrieben  werden  und  deren 
sich  die  Schamanen  aller  Welttheile  bedienen,  wenn  sie  mit  un- 
sichtbaren Mächten  in  Verkehr  treten  wollen.  So  oft  der  Kreis- 
lauf der  gewöhnlichen  Ernährung   unterbrochen   oder   nur   gestört 


Die  Zone  der  ReligionsstifLer.  ^20 

wird,  sobald  er  kein  regelrechter  ist,  gewinnt  die  Einbildungskraft 
ungewöhnliche  Macht  und  der  Mensch  in  diesem  erschütterten  oder 
geschwächten  Zustand  ist  empfanglicher  für  alles,  was  er  über» 
sinnlichen  Wirkungen  zuschreibt. 

Hier  also  glauben  wir  endlich  den  Schlüssel  gefunden  zu 
haben,  der  uns  einen  Einblick  gewährt  in  das  Walten  physischer 
Gesetze  auf  dem  Gebiete  der  geistigen  Erscheinungen,  doch  wollen 
wir  wieder  zu  Buckle  unsere  Zuflucht  nehmen,  diesesmal  aber  soll 
er  uns  nicht  mehr  als  Rathgeber,  sondern  als  warnendes  Beispiel 
dienen.  „Was  die  Tagesnahrung  betrifft",  bemerkt  er"),  „so  sind 
die  Datteln  für  Afrika  das  nämliche,  wie  der  Reis  in  den  frucht- 
barsten Theilen  Asiens.  Die  Dattelpalme  ist  heimisch  in  allen 
Ländern  vom  Tigris  bis. zum  atlantischen  Meere,  und  sie  versorgt 
.  Millionen  menschlicher  Geschöpfe  mit  täglicher  Nahrung  in  Arabien 
und  beinahe  ganz  Nordafrika**.  Nachdem  er  noch  hinzugefügt^ 
dass  an  verschiedenen  Orten  die  Kamele  sogar  mit  Datteln  ge- 
füttert würden,  was  ausnahmsweise  auch  der  Fäll  ist,  bemerkt  er 
weiter^),  dass  der  Reis  eine  ungewöhnliche  Menge  Stärkemehl 
enthalte,  nämlich  zwischen  83,3  bis  85,^7  Proc,  und  dass  die  Dat- 
teln genau  die  nämlichen  Nährstoffe  besitzen,  mit  dem  Unter- 
schiede nur,  dass  bei  ihnen  die  Stärke  bereits  in  Zucker  umge- 
setzt sei.  Diese  Wahrnehmung  wird  für  ihn  zur  Offenbarung, 
denn  in  Indien  wie  in  Aegypten  sieht  er  das  Volk  sich  willenlos 
in  die  Knechtung  durch  Priesterkasten  fügen. 

Dass  die  Nahrungsmittel  ihre  Rückwirkung  auf  die  Denkkräfte 
der  Menschen  äussern,  dass  manche  von  ihnen  eine  entschieden 
gefärbte  Gemüthsstimmung  hervorrufen,  darf  nur  derjenige  läugnen^ 
der  noch  nicht  an  sich  oder  an  dritten  die  Wirkungen  von  Wein 
und  andrer  alkoholischer  Getränke,  von  Thee,  Kaffee  und  Tabak, 
überhaupt  der  narkotischen  Genussmittel  beobachtet  hat.  Wir  sind 
indessen  noch  weit  entfernt,  etwas  über  die  dauernde  Wirkung 
der  täglichen  Nahrung  ergründet  zu  haben,  zumal  der  mensch- 
liche Leib  in  grossem  Umfang  die  Befähigung  besitzt,  sich  ver- 
schiedenen Ernährungsweisen  anzubequemen,  so  dass  selbst  die 
narkotischen  Stoffe  mit  dem  Gebrauch  viel  von  ihrer  Wirkung 
verlieren.    Buckle  endlich  führt  sich  selbst  und  leichtgläubige  Leser 


1)  1.  c.  tom.  I.  p.  76. 

2)  1.  c.  p.  65. 


330  Die  Zone  der  Religionsstifter. 

in  die  Irre,  wenn  er  behauptet,  dass  die  alten  Aegypter  dactylo- 
phag  gewesen  seien.  Dass  sie  die  Dattelpalme  kannten  und  an- 
bauten, sind  wir  weit  entfernt  zu  bestreiten,  denn  eine  erste 
Musterung  ihrer  Denkmäler,  die  uns  wie  Bilderbücher  den  Lauf 
ihres  täglichen  Lebens  vorführen,  müsste  uns  schon  beschämen. 
Wir  läugnen  aber,  dass  die  Dattel  ein  beständiges  oder  nur  ein 
wichtiges,  wir  behaupten  vielmehr,  dass  sie  nur  ein  aushelfendes 
oder  ergänzendes  Nahrungsmittel  des  pharaonischen  Volkes  ge- 
wesen sei').  Oder  dachte  Buckle  etwa,  dass  der  biblische  Joseph 
während  der  sieben  fetten  Jahre  in  den  Speichern  des  Königs 
Datteln  aufgehäuft  hätte?  Meint  er  vielleicht,  dass  Jakob  seine 
Söhne  zur  Zeit  der  sieben  magern  Jahre  nach  Aegypten  gesendet 
hätte,  um  Datteln  zu  kaufen?  Als  in  Mose's  Tagen  göttliche 
Plagen  über  Aegypten  verhängt  wurden,  zerstörte  ein  Hagelschlag 
nicht  die  Dattelhaine,  sondern  die  Gerste  und  den  Leinen  gänz- 
lich, verschonte  aber  die  andern  Saaten,  weil  sie  noch  nicht  hoch 
standen.  Nur  in  den  Datteloasen  Arabiens,  aber  noch  weit  mehr 
in  denen  Nordafrika's ,  im  Fezzan  und  im  Süden  Algeriens,  also 
am  Rande  und  im  Schoosse  der  Sahara,  ist  die  Dattel  die  täg- 
liche Nahrung,  und  gerade  dort  zieht  sie  unabhängige  und  streit- 
bare Wüstenstämme  gross,  die  nicht  die  entfernteste  geistige 
Verwandtschaft  und  eine  völlig  veränderte  Sinnesart  wie  die  reis- 
essenden Hindu  zeigen. 

Wir  vermögen  sogar  auf  einem  Umwege  zu  ermitteln,  dass 
<lie  religiösen  Schöpfungen  in  keiner  Abhängigkeit  stehen  von  der 
Ernährungsweise  der  Bevölkerung.  Dieselben  Indier  nämlich, 
welche  durch  ihre  ungezügelte  Phantasie  die  Schaudergottheiten  in 
der  epischen  Zeit  erschufen,  waren  auch  die  grössten  Märchen- 
dichter, die  es  jemals  gegeben  hat.  Es  ist  längst  ergründet  worden, 
dass  der  Schatz  von  Erzählungen  der  unter  dem  Namen  Tausend 
und  eine  Nacht  durch  die  Araber  ins  Abendland  gekommen  ist, 
in  Indien  ersonnen  worden  sei,  und  dass  es  ausser  dieser  Samm- 
lung ganze  Reihen  von  Erzählungen  gibt,  die  bald  aus  dem  Munde 
eines  Todtengerippes,  bald  aus  dem  eines  klugen  Papageien,  bald 


i)  Erst  die  arabischen  Eroberer  haben  sich  anerkannte  Verdienste  um  die 
Hebung  und  Ausbreitung  der  Dattelcultur  in  Aegypten  erworben.  H.  Ste- 
phan, das  heutige  Aegypten.     Leipzig  1872.     S,  82. 


Die  Zone  der  Religionsstifter.  771 

aus  dem  plötzlich  belebter  Holzbilder  gesprochen  werden.  Wenn 
Buckle  in  den  Zahlenschwelgereien  der  Hindu,  mit  ihren  endlosen 
Weltaltern,  in  ihrer  Sprache  selbst,  die  einen  Ausdruck  hat  für 
Ziffern ,  die  mit  51  Stellen  geschrieben  werden ,  eine  knechtische 
Demuth  für  das  hohe  Alterthum  erkennen  will,  so  möchten  wir 
doch  viel  eher  dahinter  eine  Art  arithmetischer  Liebhaberei  suchen, 
denn  das  Volk,  welches  mit  hohen  Grössenbegriifen  so  gierig 
spielte,  hat  zugleich  der  menschlichen  Gesittung  auch  das  höchste 
Bildungsmittel  nach  Erfindung  der  Schriftzeichen  geschenkt,  näm- 
lich die  Kunst,  den  Werth  der  Zahlen  durch  ihre  Stellung  zu  be- 
zeichnen, oder  wie  wir  nachlässig  uns  auszudrücken  gewöhnt 
haben,  die  Erfindung  der  arabischen  Ziffern. 

Es  liegt  sehr  nahe  und  wird  hier  nicht  zum  erstenmale 
ausgesprochen,  dass  die  Schöpfung  der  religiösen  und  der 
profanen  Märchen  nur  als  verschiedene  Aeusserungen  derselben 
geistigen  Befähigung  zu  denken  sind.  Völker  von  epischer  und 
dramatischer  Zeugungskraft,  Völker,  die  gern  bauen,  malen  und 
meiseln,  besitzen  auch  die  Gabe  und  den  Drang,  einen  Olymp 
mit  mancherlei  Gestalten  zu  bevölkern,  mit  heiteren  oder  düsteren, 
je  nach  den  vorherrschenden  Gemüthsstimmungen.  Nun  aber 
lässt  sich  leicht  zeigen ,  *dass  die  Märchenschöpfung  nicht  ein  aus- 
schliessliches Eigenthum  von  reisessenden  Hindu  sei.  Märchen 
und  Sagen  von  ergreifender  Wirkung  werden  namentlich  in  Island 
gesammelt  unter  einer  an  Zahl  sehr  spärlichen  Bevölkerung,  In 
Island  reift  kein  Getreide  mehr  und  wächst  nur  Buschwerk,  denn 
ein  einziger  geschützt  stehender  Maulbeerbaum  in  Akreyri  wird 
von  den  Eingebornen  mit  Stolz  als  der  Baum  der  Insel  gezeigt. 
Die  Bewohner  leben  daher  nur  vom  Ertrag  der  Viehzucht  und 
der  Fischerei,  also  ausschliessend  von  Fleischkost.  Wollte  man 
auch  zugeben,  dass  viele  der  schönen  Sagen  von  den  Isländern 
nur  gehütet  und  aufbewahrt  worden  wären  und  dass  sie  aus  der 
altnordischen  Heimath  stammten,  so  lässt  sich  doch  von  einer 
Mehrzahl  nachweisen,  dass  sie  in  Island  selbst  ersonnen  worden 
sind,  und  selbst  wenn  sie  aus  Norwegen  herrühren  sollten,  so 
herrschte  auch  dort  Fischfang  und  Viehzucht  entschieden  vor,  in 
früheren  Zeiten  noch  viel  .stärker  als  jetzt.  Daraus  gewinnen  wir 
aber  die  Einsicht,  dass  die  Thätigkeit  der  Phantasie  ganz  unab- 
hängig davon  ist,  ob  die  tägliche  Nahrung  ausschliesslich  aus 
Pflanzen-  oder  Thierstoffen  bestehe. 


ji2  ^'f  Z""'  '^"  Religionsstifter. 

So  wären  wir  denn  zu  dem  Ergebniss  gelangt,  dass  sich  krin 
Zusammenhang  zeige  zwischen  der  höheren  Lebensgefährdung  an 
einem  Wohnsitze  oder  der  Vollcsnahrung  und  den  örtlichen  Reli- 
gion sschöp  fangen.  Vielleicht  finden  wir  aber  etwas  brauchbares, 
wo  wir  es  am  wenigsten  erwarten ,  bei  den  alten  arabischen  Geo- 
graphen. Schüler  der  alexandrinischen  Griechen  and  mit  der 
Gradeintheüung  des  Ptolemäus  wohl  vertraut,  zerlegten  sie  gleich- 
wohl die  Erde,  wenn  sie  populär  ihre  Wissenschaft  vortragen 
wollten,  in  Klimate,  oder  wie  wir  zu  sprechen  gewohnt  sind,  in 
JJonen.  Diese  Gürtel  besassen  nicht  immer  eine  gleiche  Breite, 
sondern  ihre  Abstände  betragen  bald  mehr,  bald  weniger  wie 
sieben  Grad,  jedem  Gürtel,  so  meinte  man,  gehörten  gewisse 
Erzeugnisse  der  drei  Reiche  in  besonderer  Vollkommenheit  an^ 
und  noch  am  Schlüsse  des  Mittelalters  wussten  es  auch  unsere 
Scholastiker  nicht  uesser,  als  dass  schwarze  Menschen  nur  dicht 
über  oder  unter  dem  Aequator  sich  finden  könnten,  und  dass 
Gold  in  Fülle  sowie  Edelsteine  sich  nicht  über  die  Grenze  des 
zweiten  Klima's  verirrten.  In  der  Sprache  dieses  methodischen  Irr- 
thums  äussert  Schemseddin'),  nach  seiner  Vaterstadt  Dimeschqi  ge- 
heissen ,  dass  die  Völker  heller  Hautfarbe  und  hoher  geistiger 
Begabung  nur  auf  das  dritte  und  vierte  Klima  oder  zwischen  den 
20°und  33  "49' n.Br.  beschränkt  wären  und  dass  unter  dieser  Zone 
alle  grossen  Religionsstifter,  Weltweisen  und  Gelehrten  (auch  unser 
Damascener)  geboren  worden  seien.  Diese  Zone  beginnt  etwas 
südlicher  als  der  Parallel  von  Mekka  (21°  2i'),  um  vieles  südlicher 
als  der  Parallel  von  Kapilavastu  (lat,  27°},  dem  Geburtsort  des 
Buddha  Gautama;  dagegen  umfasst  ihr  Nordrand  nicht  mehr  Rai 
(Raghes)  bei  Teheran  und  noch  weniger  Balch  (Bactra).  In  einer 
dieser  beiden  Städte  erblickte,  wie  wir  schon  anführten,  Zoroaster 
das  Licht  dieser  Welt.  Jedenfalls  liegt  eine  Wahrheit  in  der 
Beobachtung  des  arabischen  Geographen,  dass  die  Stifter  der 
höheren  und  jetzt  noch  bestehenden  Religionen,  Zoroaster,  Mose, 
Buddha ,  Christus  und  Mohammed ,  der  subtropischen  Zone  ange- 
hören, denn  nur  der  Gebunsort  des  jüngsten  der  Propheten  fallt 
noch  innerhalb  des  Wendekreises,  liegt  jedoch  immerhin  nur  etwa 
16  deutsche  Meilen  von  dessen  Grenze  entfernt.  Wenn  wir  Confutse 
nicht   nennen,   so   geschieht    es    nicht    wegen   der  Polhöhe  seines 

I)  Nouvelles  Annales  des  voyages.    Paris  1860.  6*""  sirie,  tom.  VI.  p.  309. 


Die  Zone  der  Religionsstifter.  727 

Geburtsortes  im  Kreise  Yentschau  der  Provinz  Schantung,  sondern 
vreü  wir  die  andern  Religionsstifter  herabsetzen  würden,  wollten 
wir  den  chinesischen  Sittenlehrer  ihnen  beizählen. 

Dass  die  Zone  der  Religionsstiftung  sich  fern  hält  von  den 
gemässigten  Erdgürteln,  könnte  darin  eine  Erklärung  finden,  dasg 
nur  wo  reifere  geistige  Zustände  bereits  bestanden,  die  Bevölke- 
rungen empfänglich  dafür  waren,  dem  menschlichen  Dasein  durch 
Unterlegung  idealer  Zwecke  eine  höhere  Würde  zu  verleihen,  und 
dass  gerade  in  den  subtropischen  Klimaten  die  ältesten  höheren 
Gesellschaftsgliederungen  entstanden.  Doch  selbst  nachdem  die 
fortschreitende  Gesittung  schon  entschieden  von  den  Wendekreisen 
sich  entfernt  hatte,  blieb  immer  noch  das  subtropische  Asien  der 
fruchtbare  Schooss  der  Religionen.  Nicht  in  dem  überfeinerten 
europäischen  Reiche  der  Römer,  sondern  in  Palästina  trat  das 
Christenthum,  nicht  in  Byzanz,  sondern  in  Arabien  trat  sechs  Jahr- 
hunderte später  der  Islim  auf.  In  der  kühlen  gemässigten  Zone 
hat  von  jeher  der  Mensch  sauer  kämpfen  müssen  um  sein  Dasein, 
weit  mehr  arbeitend  als  betend,  so  dass  ihn  die  Last  der  Tages- 
geschäfte beständig  wieder  abzog  von  einer  strengen  innerlichen 
Sammlung.  In  den  warmen  Ländern  dagegen,  wo  die  Natur 
leicht  hinweghilft  über  den  Erwerb  der  Nothdurft  und  die  heissen 
Tagesstunden  ohnehin  körperliche  Anstrengungen  verhindern,  sind 
die  Gelegenheiten  zu  innern  Vertiefungen  viel  reichlicher  gegeben. 

Der  Wohnsitz  ist  jedoch  nicht  gänzlich  entscheidungslos  für 
die  Richtung,  welche  das  religiöse  Denken  einschlägt.  Die  drei 
monotheistischen  Lehren,  Judenthum,  Christenthum  und  Islam, 
entstanden  im  Schoosse  semitischer  Völker ,  allein  der  Hang  zum 
Monotheismus  war  nicht  ausschliesslich  eine  Racenbegabung,  denn 
andere  Semiten,  wie  die  PhÖnicier,  Chaldäer  und  Assyrier,  gingen 
andere  Wege,  und  selbst  bei  den  Juden  traten  immer  Rückschläge 
iur  Vielgötterei  ein,  in  Aegypten  zumal  versanken  sie  völlig  in  den 
Bilderdienst,  Wenn  der  Monotheismus  stets  aufs  neue  sich  ver- 
jüngte, so  leistete  ihm  dabei  ein  benachbarter  Naturschauplatz 
mächtiijen  Beistand. 

Wer  immer  die  Wüste  betreten  hat,  rühmt  ihren  wohlthätigen 
Einfluss  auf  das  körperliche  Befinden.  Aloys  Sprenger  gesteht, 
dass  ihre  Luft  ihn  mehr  gestärkt  habe,  als  die  unserer  Hochalpen 
oder  die  des  Himalaya,  und  in  einem  Briefe  an  den  Verfasser  heisst 
es:  „Die  Wüste  hat  den  Arabern  ihren  merkwürdigen  welthistorischen 


334  ^^®  Zone  der  Religionsstifter. 

Charakter  aufgedrückt.  Die  Phantasie,  welche  die  Menschen  in 
ihrer  Kindheit  leitet,  wird  in  den  unbegrenzten  Ebenen  mit  ganz 
anderen  Bildern  erfüllt,  als  in  Wäldern.  Sie  sind  wenig  zahlreich^ 
aber  grossartig,  und  zwar  schafft  sich  der  Mensch  aus  seinem 
eigenen  Kraftbewusstsein  eine  kühnere  Persönlichkeit,  auf  die  er 
bei  seinen  Wanderungen  angewiesen  ist,  einen  persönlichen  Gott**» 
Im  Nomadenleben  endlich  trägt  es  sich  häufig  zu,  dass  ein  Hirt 
wochenlang  allein,  von  Hunger  und  Durst  gequält,  herumirrt. 
Dann  leidet  auch  der  Gesündeste  an  Sinnestäuschungen.  Sehr 
oft  kommt  es  in  dieser  Lage  vor,  dass  verlassene  Wanderer  sich, 
rufen  und  Stimmen  zu  sich  sprechen  hören;  daher  ist  für  solche 
Stimmen  in  der  arabischen  Sprache  ein  eigenes  Wort  Hält/  vor- 
handen. In  Afrika  wiederum  bedeutet  Ragl^  abgeleitet  von 
Radscholy  der  Mann,  menschenähnliche  Phantome,  die  sich  dem 
getäuschten  Auge  darbieten^). 

Jeder  Reisende,  der  noch  die  Wüsten  Arabiens  und  Klein- 
asiens durchzog,  spricht  begeistert  von  ihren  Schönheiten,  alle 
rühmen  sie  Luft  und  Licht,  preisen  sie  das  Gefühl  der  Erquickung 
und  eine  merkliche  Steigerung  der  geistigen  Spannkraft,  noth- 
wendig  muss  daher  zwischen  dem  gewölbten  Himmel  und  den 
unbegrenzten  Flächen  eine  monotheistische  Stimmung  die  Kinder 
der  Wüste  beschleichen.  Mose,  ein  Priester  von  Heliopolis,  vergass 
erst  das  Getümmel  des  äpyptischen  Götterkreises,  die  schönen 
Bilder  aus  Stein,  die  geheiligten  Thiere,  die  Menschengestalten  mit 
den  Hieroglyphenköpfen  und  Symbolen,  als  er  nach  dem  Sinai 
entwichen  war,  dem  ältesten  Steine,  den  die  Geologie  kennt,  den 
nach  Oscar  Fraas')  auch  nicht  der  kleinste  Fetzen  von  Bildung 
irgend  eines  späteren  Zeitalters  bedeckt,  als  ob  er  sich  nie  ins 
Meer  getaucht,  nie  sich  emporgerichtet,  niemals  gewankt  hätte. 
Dort  in  der  Wüste  musste  erst  das  alte  Judengeschlecht  mit  seinem 
ägyptischen  Heidenthum  begraben  werden,  ehe  sich  bei  einem 
neuen  unter  Wüstengedanken  und  Wüstenbildern  erwachsenen  der 
Monotheismus  verhärtete.  Auch  sonst  wird  in  der  heiligen  Schrift 
die  günstige  Wirkung  der  Wüste  bestätigt.  Der  feurige  Elia  zog 
sich  in  die  Wüste  zurück,  der  Täufer  wieder  predigte  in  der 
Jordanswüste  in  Beduinentracht,    nämlich    in    einem  Gewand   aus 


i)  A.  Sprenger,  das  Leben  des  Mohammad.    Pd.  i.  S.  216. 

2)  Aus  dem  Orient.    Geolog.  Beobachtungen.     Stuttgart  1867.     S.  7—8. 


Die  Zone  der  Religionsstifter.  37c 

Kamelshaaren,  und  ernährte  sich  von  Heuschrecken  und  wildem 
Honig.  Auch  Christus  bereitete  sich  vor  zu  seiner  Laufbahn 
vierzig  Tage  und  vierzig  Nächte  in  der  Wüste.  MoKammed  end- 
lich war  zwar  ein  Stadtkind,  sog  aber  die  Milch  einer  Beduinen- 
amme ein ,  war  lange  Zeit  Hirt  und  durchzog  auf  seinen  Kara- 
wanenreisen .  die  Landstriche  zwischen  seiner  Heimat  und  Pa- 
lästina. Die  Pilgerfahrten  nach  Mekka,  obgleich  sie  weit  älter 
sind  als  der  Islam,  dienen  nicht  wenig  zur  Befestigung  des  Glau- 
bens, insofern  ihnen  eine  Wüstenreise  voranzugehen  pflegt.  Doch 
sitzen  die  Bekenner  des  Propheten  ohnedies  schon  in  der  Nähe 
von  Wüsten,  denn  die  Lehre  Mohammed*s  hat  sich  fast  nur  in  der 
Zone  des  Ostpassates  verbreitet  und  erst  sehr  spät  in  Afrika  bis 
zum  Sudan  erstreckt.  In  Indien  konnte  sie  aber  nur  eine  be- 
schränkte Verbreitung  gewinnen,  und  auch  diese  nur  durch 
politische  Nachhilfe. 

Das  ist  so  ziemlich  alles,  was  sich  streng  ermitteln  lässt 
über  die  Rückwirkung  der  Ländernatur  auf  die  Richtung  des  reli- 
giösen Sinnes  der  Bevölkerung.  Die  Wüste  ist  zur  Weckung  des 
^lonotheismus  sehr  hilfreich,  weil  sie  bei  der  Trockenheit  und 
Klarheit  der  Luft  die  Sinne  nicht  allen  jenen  reizenden  Wahn- 
bildern des  Waldlandes  aussetzt,  den  Lichtstrahlen,  wenn  sie  durch 
Lücken  der  Baumkronen  auf  zitternden  und  spiegelnden  Blättern 
spielen,  den  wunderlichen  Gestalten  knorriger  Aeste,  kriechender 
Wurzeln  und  verwitterter  Stämme,  dem  Knarren  und  Seufzen, 
dem  Flüstern  und  Rauschen,  dem  Schlüpfen  und  Rascheln,  über- 
haupt allen  jenen  Stimmen  und  Lauten  in  Busch  und  Wald,  bei 
denen  uns  so  gern  das  Truggefühl  unsichtbarer  Belebtheit  über- 
schleicht. In  den  Wüsten  schleppen  und  schleichen  auch  keine 
Nebelschweife  über  feuchten  Wiesengrund.  In  solchen  Dunst- 
gebilden,  wenn  sie  über  den  Wäldern  Neu-Guinea's  aufsteigen, 
verehren  die  Eingebornen  Doreh's  das  Sichtbarwerden  Narvoj6*s, 
ihres  guten  Geistes*).  Wohl  lässt  sich  daher  behaupten,  dass  mit 
der  Ausrottung  der  Forste  nicht  blos  das  örtliche  Klima  verändert, 
sondern  auch  Poesie  und  Heidenthum  mit  der  Axt  getroffen  worden 
seien.  Begünstigt  aber  auch  ein  sonniges  Land  die  monotheistischen 
Regungen,  so  ist  doch  zugleich  jede  Religionsschöpfung  wiederum 
ein    Ausdruck    der    Racenbegabung.      Die    Semiten    haben    keine 


i)  O.  Finsch,  Neu-Guinea.     S.  107. 


-?^6  I^ic  Zone  der  Religionsstifter. 

rechte  epische  urfd  eine  weniger  als  dürftige  dramatische  Literatur 
besessen,  da  für  solche  Erzeugnisse  ihnen  die  arische  Gestaltungs- 
kraft fehlte.  Ueberhaupt  würde  es  auf  Irrwege  führen,  wenn  man 
alle  inneren  Erzeugnisse  der  Völker  nur  aus  physischen  Vor- 
bedingungen ableiten  wollte.  Gewiss  sind  auch  sie  einem  gesetz- 
lichen Entwickelungsgang  unterworfen  und  nichts  anderes  als  der 
nothwendige  Ausdruck  einer  Kette  von  Ursachen.  Zu  diesen  Ur- 
sachen gehören  aber  auch  ganz  sicher  die  geschichtlichen  Ver- 
hängnisse der  Völker.  „Es  ist  ein  alter  Satz**,  äussert  in  diesem 
Sinne  Delbrück^),  „dass  die  Erfahrungen  des  .Lebens  jeden  Ein- 
:eelnen  seinen  Gott  finden  oder  verlieren  lassen". 


i)  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft.    Bd.  3.  S.  488. 


DIE  MENSCHENRACEN. 


In  einem  früheren  Abschnitt  gelangten  wir  zu  dem  Ergebniss, 
dass  alle  körperlichen  Merkmale,  die  Schädelform,  die  Grössen- 
verhältnisse  der  Gliedmassen,  die  Farbe  der  Haut  innerhalb  der 
nämlichen  Menschenrace  beträchtlich  schwanken,  dass  selbst  die 
Beschaffenheit  des  Haares  nicht  zu  den  beharrlichen  Wahrzeichen 
gerechnet  werden  dürfe  und  dass  daher  bei  der  Vertheilung  des 
Menschengeschlechtes  in  grössere  Gruppen  oder  Racen  alle  vor- 
herrschenden Eigenthümlichkeiten  berücksichtigt  werden  müssen. 
Die  Grenzen  solcher  Gruppen  sind  oft  leicht,  noch  öfter  sehr 
schwierig  zu  ziehen.  Unstatthaft  aber  ist  es ,  sie  dort  zu  ziehen, 
wo  die  gemeinsamen  Kennzeichen  einer  Gruppe  durch  leise  Ab- 
stufungen zu  den  gemeinsamen  Kennzeichen  einer  andern  Gruppe 
übergehen,  es  müssten  denn  solche  Abstufungen  mit  geschichtlicher 
Glaubwürdigkeit  auf  Zwischenheirathen  sich  zurückführen  lassen 
und  durch  Mischlinge  vertreten  werden. 

Wenn  wir  diesem  Grundsatze  huldigen,  werden  wir  genöthigt, 
das  Menschengeschlecht  in  sieben  Gruppen,  Racen,  Unterarten 
oder  Arten,  wie  man  sich  ausdrücken  will,  zu  sondern.  Es 
sind  dies  erstens  die  Bewohner  Australiens  und  Tasmaniens, 
zweitens  die  Papuanen  Neu-Guinea's  und  benachbarter  Inseln, 
drittens  die  mongolenähnlichen  Völker,  zu  denen  wir  nicht 
blos  Festlandsasiaten,  sondern  auch  die  Malayopolynesier  und 
die  Eingebornen  Amerika's  zählen,  viertens  die  Dravida  oder  die 
Bewohner  Vorderindiens  von  nichtarischer  Abkunft,  fünftens  die 
Hottentotten  und  Buschmänner,  sechstens  die  Neger,  siebentens 
die  mittelländischen  Völker,  welche  den  Kaukasiern  Blumenbaqh's 

Petchth  Völkerkunde.  22 


^^8  I'ie  Mensche nracen. 

entsprechen.  Die  Rechtfertigung  der  Abgrenzung  wie  der  Zu- 
sammenstellung der  sieben  Gruppen  muss  den  einzelnen  Ab- 
schnitten vorbehalten  bleiben.  Wir  betrachten  ferner  die  Ab- 
schätzung der  bürgerlichen,  sittlichen  und  geistigen  Entwickelung 
der  einzelnen  Racen  als  eine  unerlässliche  Aufgabe  der  Völker- 
kunde. Die  Reife  der  verschiedenen  menschüchen  Gesellschaften 
entspricht  jedoch  nicht  streng  der  wechselnden  Begabung  der 
Racen,  sondern  sie  steht  auch  in  Abhängigkeit  von  der  Gunst 
oder  Ungunst  des  Wohnortes,  so  dass  auch  dessen  Rückwirkung 
auf  die  Culturgeschicke  der  einzelnen  Men sehen gruppen  erwogen 
und  wo  möglich  abgewogen  werden  soll. 


I. 

DIE  AUSTRALIER. 


Die  Bewohner  des  australischen  Festlandes,  sammt  den  Küsten- 
inseln und  Tasmanien,  bilden  ihrer  Körpermerkmale  wegen  eine 
scharf  abgesonderte  Menschengruppe.  Bei  einem  mittleren  Breiten- 
index von  71  und  einem  Höhenindex  von  73  gehören  sie  zu  den 
hohen  Schmalschädeln.  Sie  sind  zugleich  prognath  un4  phanerozyg. 
Die  Nase,  an  der  Wurzel  schmal,  verbreitert  sich  stark  nach  ab- 
wärts, krümmt  sich  jedoch  nicht  wie  bei  den  Papuanen.  Der 
Mund  ist  weit  geöffnet  und  unförmlich.  Der  dritte  obere  Backzahn 
besitzt  regelmässig  drei  Wurzeln,  eine  Erscheinung,  die  unter 
Europäern  zu  den  Seltenheiten  gehört*).  Der  Körper  ist  reichlich 
behaart.  Die  schwarzen  Haare  selbst,  im  Querschnitt  stark 
eUiptisch,  bilden  abstehend  um  das  Haupt  eine  zottige  Krone,  nur 
schwächer  wie  bei  den  Papuanen,  kräuseln  sich  und  zeigen  sogar 
Anlage  zur  Verfilzung.  Wenn  an  der  Coburg -Halbinsel  auch 
schlichte  Haare  und  schief  gestellte  Augen  unter  den  Eingeborncn 
angetroffen  werden,  so  sind  diese  Wahrzeichen  einer  Mischung  mit 
Malayen  zuzuschreiben,  die  sich  dort  als  Trepangfischer  einfinden. 
Wird  doch  daselbst  von  vielen  Eingebornen  macassarisch  gesprochen  ^) 
und  bezeugen  uns  Felseninschriften  mit  buginesischen  oder  ma- 
cassarischen  Buchstaben  die  Anwesenheit  von  Malayen^).'  Die 
Farbe   der  Haut   ist  immer   dunkel,    bisweilen    schwarz,    bisweilen 


i)  Latham,  Varieties  of  man.  p.  244. 

2)  Carl,  im  Journal  of  the  R.  Geographical  Society.  London  1846. 
vol.  XVI.  p.  244.  Daraus  erklären  sich  auch  die  oben  (S.  254)  erwähnten 
unaustralischen  Adelssatzungen 

3)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie.     Bd.  6.  S.  762. 


22* 


340 


Die  Australier. 


wie  an  der  Süd-  und  Südostküste  hell  kupferroth  *).  In  allen  diesen 
Merkmalen  glichen  die  Tasmanier  den  Australiern  vollständig,  nur 
war  ihr  Haarwuchs  noch  papuanischer,  das  heisst  zum  büschel- 
förmigen Wachsthum  noch  mehr  geneigt*).  Auch  zeigen  die 
wenigen  Schädel,  die  bis  jetzt  gemessen  worden  sind,  höhere  Pro- 
cente  bei  Breite  wie  Höhe,  nämlich  beiderseitig  74^).  Wie  sie 
auf  ihre  Insel  gelangt  seien,  hat  vielen  ein  Räthsel  geschienen, 
weil  irrigerweise  die  Tasmanier  gar  keine  Fahrzeuge  besessen  haben 
sollen.  Flossartige  Kähne  waren  indessen  vorhanden  "*)  und  eine 
Einwanderung  von  Australien  her  über  die  inselreiche  Bass-Strasse 
erforderte  keine  hohen  Leistungen.  Dass  solche  Fahrten  unter- 
nommen wurden,  bezeugt  der  Umstand,  dass  die  Tasmanier  die- 
selben symmetrischen  Hautnarben  trugen,  wie  die  Australier s). 
Im  Jahre  1803  wurde  ihre  Insel  von  Europäern  besiedelt,  1869  starb 
der  letzte  Eingeborne.  Die  Geschichte  ihrer  gewissenlosen  Aus- 
rottung hat  uns  ein  Bewohner  Tasmaniens  wahrheitsgetreu  ge- 
schildert^). 

Als  Verwandte  stehen  den  Australiern  und  Tasmaniern  nicht 
etwa  die  afrikanischen  Neger,  noch  weniger  die  Urbevölkerung 
Vorderindiens,  sondern  die  Papuanen  am  nächsten.  Ausser  körper- 
lichen Verschiedenheiten  trennt  sie  aber  von  diesen  der  Bau  ihrer 
Sprachen,  denn  alle  Präfixe  fehlen  den  Australiern,  die  vielmehr 
den  Sinn  der  Wurzeln  nur  durch  nachgesetzte  Sylben  begrenzen. 
Aehnlichkeiten  zwischen  den  australischen  und  südindischen  oder 
dravidischen  Sprachen,  die  zwar  in  den  Fürwörtern,  jedoch  nur 
sehr  schwach  vorhanden  sind,  haben  Bleek'),  wenn  auch  sicher 
nicht  mit  hinreichender  Berechtigung,  eine  Sprachverwandtschaft 
zwischen  jenen  Bevölkerungen  vermuthen  lassen.  Die  Worte  in 
den  australischen  Sprachen  sind  mehrsylbig,  beginnen  mit  einem 
Consonanten   und  lauten   mit  einem    Vocal  oder   Halbvocal   aus*^). 


i)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie.    Bd.  6.  S.  711. 

2)  Lehrreiche    Abbildungen    nach    Photographien    bei    Mantegazza 
Archivio  per  TAntropologia.     Firenze  1871.  vol.  i.  Tav.  i — 3. 

3)  Barnard  Davis,  Thesaurus  craniorum.  p.  272.  p.  358. 

4)  Waitz.   1.  c.  S.  812. 

5)  Waitz.   1.  c. 

6)  James  Bonwick,  The  last  of  the  Tasmanians.     London  1870. 

7)  Journ.  of  the  Anthropol.  Institute.     London  1872.     vol.  L  p.  90, 

8)  Fr.  Müller,  Allgemeine  Ethnographie.     S.  187. 


Die  Australier. 


341 


Den  Wortschätzen  nach  zerfallen  aber  die  Sprachen  der  Australier 
in  unendlich  viele  Bruchtheile.  Um  so  merkwürdiger  ist  es,  dass 
dieselben  Familiennamen  zugleich  in  Westaustralien  und  in  Süd- 
australien, wie  auf  der  Carpentariahalbinsel  angetroffen  worden 
sind').  Wenn  viele  australische  Mundarten  arm  sind  an  Zahlen- 
ausdrücken, so  folgt  daraus  doch  nicht,  dass  die  Eingebornen 
grössere  Mehrheiten  nicht  hätten  überblicken  können ,  denn  sie 
bedienen  sich  18  verschiedener  Worte  zur  Benennung  von  Kindern, 
je  nachdem  der  erst-  bis  neuntgeborne  Knabe  oder  die  erst-  bis 
neuntgeborne  Tochter  bezeichnet  werden  solP). 

Bevor  wir  uns  mit  ihren  geistigen  und  gesellschaftlichen  Zu- 
ständen beschäftigen,  wird  es  rathsam  sein,  einen  Blick  über  ihren 
Wohnort  zu  werfen.  Nirgendwo  lässt  sich  nämlich  die  verspätete 
Entwickelung  des  Menschengeschlechtes  durch  die  missliche  Ge- 
staltung der  Erdräume  besser  rechtfertigen  als  in  Australien, 
Hinausgerückt  in  abgelegene  Planetenräume  und  doch  wiederum 
zu  klein,  um  eine  Welt  für  sich  zu  bilden,  erlitt  Australien  die 
Missachtung,  dass  sich  ihm  nie  bis  vor  kurzer  Zeit  ein  Cultur- 
pfad  genähert  hatte.  Von  allen  Festlanden  wurde  es  zuletzt  ent- 
deckt, von  allen  Entdeckungen  blieb  es  am  längsten,  nämlich 
volle  zwei  Jahrhunderte  vernachlässigt,  und  als  es  von  Europäern 
zuerst  besiedelt  wurde,  erschien  es  nur  tauglich  zur- Entfernung 
der  Unverbesserlichen  aus  der  Gesellschaft.  Seine  wagrechte  Glie- 
derung oder,  was  dasselbe  sagen  will,  seine  Küstenumrisse  nähern 
sich  unter  allen  Welttheilen,  nach  Afrika,  am  meisten  der  Kreis- 
form, bei  welcher  der  Umfang  die  geringste  Entwickelung  zum 
Flächeninhalt  besitzt.  Nur  an  zwei  Stellen  zeigt  es  den  Ansatz 
von  Gliedmassen:  es  ist  dies  die  Carpentaria-  oder  Cap-York- 
Halbinsel  und  die  Insel  Tasmanien,  welche  letztere,  wie  wir  es 
anderwärts  schon  ausgesprochen  haben,  eine  überfluthete  Zunge 
des  Festlandes  ist,  und  die  pyramidalen  Zuspitzungen  der  andern 
südlichen  Festlande,  nämlich  Südamerika's  und  Südafrika's,  als 
Homologie  kümmerlich  genug  vertritt.«  So  ungenügend  auch  die 
eben  genannten  Gliederungen  erscheinen  mögen,  so  hat  doch 
wenigstens  die  eine  ihren  Zauber  bewährt,  denn  die  Carpentaria- 
Halbinsel  blieb  bis  in  die  neuesten  Zeiten  das  einzige  Organ,  wo- 


i)  Grey  bei  Eyre,  Central- Australia.    tom.  II.  p.  329. 
2)  Journal  of  the  Anthrop.  Inst.  1.  c.  p.'  97. 


342 


Die  Australier. 


durch  Australien  sich  noch  einen,  wenn  auch  schwachen  Verkehr 
mit  höhern  Gesittungen  rettete.  Das  dortige  Cap-York  verlängert 
sich  nämlich  als  eine  Kette  hoher  felsiger  Inseln  bis  nach  Neu- 
Guinea,  und  da  wir  gezwungen  sind,  Australien  ursprünglich  als 
menschenleer,  seine  heutige  dunkle  Bevölkerung  aber  als  einge- 
wandert zu  denken,  wenn  auch  dieses  Ereigniss  in  eine  vorläufig 
unermessbare  Vergangenheit  zurücktritt,  so  ist  der  Uebergang 
über  die  Torresstrasse  der  bequemste  Weg  für  eine  Einwanderung 
wenig  seetüchtiger  Stämme.  Wir  könnten  sogar  die  Australier 
von  Neu-Guinea  aus  trocknen  Fusses  hinüberführen  in  ihre  jetzige 
Heimat,  denn  gerade  längs  jener  Inselkette  beträgt  die  Meerestiefe 
der  Torresstrasse  nirgends  über  lO  Faden  (60  Fuss)'),  und  ihre 
Sohle  kann  sich  seit  dem  Auftreten  der  Menschen  leicht  um  diesen 

.  Abstand  gesenkt  haben,  wenn  auf  Sardinien,  60  M^tres  über  dem 
Meere,  Thonscherben  mit  Seeschalthieren  und  Schlamm  fossü  ver- 
backen angetroffen  worden  sind. 

Aus  den  Wortschätzen,  die  auf  der  Erforschungsexpedition 
unter  Capt.  Blackwood  gesammelt  wurden,  ergibt  sich  ferner  deut- 
lich, dass  die  Stämme  am  Cap  York  eine  verwandte  Sprache  reden 
wie  die  Bewohner  der  Inseln  in  der  Endeavourstrasse,  dann  auf 
den  Murray-Inseln,  ferner  auf  Masid  und  auf  Errub,  lauter  Eilande 
Östlich  vom  Eingang  in  die  Torresstrasse*).  Verfolgen  wir  also 
diese  linguistische  Fährte,  so  werden  wir  hinübergeführt  bis  hart 
an  die  Küste  Neu-Guinea's.  Zwar  sind  die  Papuanen,  die  Bewohner 
jener  Insel,  von  den  Australiern  durch  so  scharfe  Racenmerkmale 
getrennt,  dass  ein  geübtes  Auge,  wie  Jardine  bemerkt  hat,  unter 
den  Australiern  am  Cap  York  die  herkulischen  Gestalten  von  ein- 
zelnen Auswanderern  Neu-Guinea's  leicht  herauskennen  wird; 
immerhin    sehen    wir    doch    aus    diesen    Wanderungen,    die    noch 

^heutigen  Tages  vorgehen,  und  aus  den  oben  angeführten  Spuren 
der  Sprachverwandtschaft,  dass  von  Neu-Guinea  herüber  die  Ver- 
bindungen mit  der  Carpentaria- Halbinsel  beständig  fortgewirkt 
haben,  und  diese  Thatsachen  sind  die  einzigen  Fingerzeige  nach 
dem  Pfade,  auf  welchem  die  ersten  Menschen  das  australische 
Festland  dermaleinst  betreten  haben  mögen.  Hier  rechtfertigt  sich 
zugleich,    dass    wir   oben    der  Carpentaria- Halbinsel    eine    cuJtur- 


i)  Jukes,  Voyage  of  H.  M.  S.  Fly.  vol.  I.  p.  153. 
2)  Latham,  Opuscula.    p.  234. 


Die  Australier. 


343 


historische  Wichtigkeit  beigemessen  haben,  da  sie  das  einzige  Organ 
war,  womit  das  australische  Festland  seine  jetzt  vielfach  zerstückte 
Verbindung  mit  der  alten  Welt  einigermassen  noch  aufrecht  zu 
erhalten  strebt.  Hat  es.  von  dorther  seine  ersten  menschlichen 
Bewohner  aufgenommen,  so  empfing  es  noch  bis  zur  Gegenwart 
auf  jenem  Weg  etliche  Schätze  einer  rohen  Civilisation.  Denn 
die  Papuanen  Neu-Guinea's  sind,  unbeschadet  ihrer  Blutgier  und 
Menschenfresserei ,  im  Vergleich  zu  den  Australiern  verfeinerte 
Völkerschaften,  deren  geräumige  Wohnungen  neben  den  Laub- 
hütten der  Australier  als  stattliche  Paläste  erscheinen ,  und  von 
denen  einige  Ueberläufer  die  Stämme  am  Cap  York  bereits  mit 
dem  Gebrauche  von  Bogen  und  Pfeil  vertraut  gemacht  haben, 
also  mit  Wurfmaschinen,  welche  die  Sicherheit  des  Treffens  be- 
trächtlich steigern.  Gleichzeitig  hat  durch  sie  ein  wesentlicher 
Aufschwung  im  Schiffbau  stattgefunden,  denn  die  alten  Rinden- 
kähne sind  jetzt  durch  lange  ausgehöhlte  Piroguen  mit  Auslegern 
nach  papuanischem  Muster  verdrängt  worden,  endlich  haben  sich 
bereits  die  ersten  Anfange  von  Feldbau,  wenn  sie  sich  auch  vor- 
läufig nur  auf  die  Anpflanzung  von  Knollen-  und  Wurzelgewächsen 
erstrecken,  von  Neu-Guinea  auf  die  Inseln  nördlich  von  Cap  York 
verbreitet*).  Wären  daher  die  Europäer  um  etwa  500  Jahre 
später  im  indischen  Ocean  erschienen  und  den  Australiern  noch 
länger  ihre  Inselruhe  gegönnt  gewesen,  so  würden  sehr  leicht  durch 
die  Einwirkung  der  papuanischen  Stämme  die  Bewohner  des  Fest- 
landes auf  eine  Stufe  gehoben  worden  sein,  die  sie  etwa  gleich- 
stellen möchte  den  edlern  Jägerstämmen  Südamerika's. 

Nach  der  Vermuthung  eines  unserer  besten  Kenner  Australiens 
würde  ein  Steigen  des  Meeresspiegels  von  wenigen  Hunderten  von 
Füssen  genügen,  um  jenes  Festland  in  Gruppen  zahlreicher  Inseln 
aufzulösen,  denn  die  Bergländer,  welche  vorzugsweise  am  Rande 
um  den  Kern  herumlagern,  sind  durch  Einsenkungen  oder  Arme 
der  Tiefländer  vielfach  getrennt*).  Doch  sollte  damit  nicht  der 
völlige  Mangel  von  inneren  Hochebenen  behauptet  werden  3). 


i)   Jardine,    Journal    of   the    R.   Geographical   Society.     London    1866. 
vol.  XLVI.  p.  76—86. 

2)  Mein  icke,    Australien.      Ergänzungshefte    zu    Petermann's    Mit- 
theilungen.    No.  29.     Gotha  1871.     S.  21. 

3)  Vergl.  die  Beobachtungen  von  Forrest  im  Innern  Westauslraliens. 
Peterm.  Mitth.  1870.  S.  151. 


344 


Die  Australier. 


So  weit  wir  bis  jetzt  Australien  kennen,  ist  die  Abwesenheit 
von  erhabenen  Gebirgsketten  und  folglich  auch  der  Mangel  grosser 
Ströme  der  auffallendste  Zug.  Es  gesellt  sich  also  zur  tellurischen 
Abgelegenheit  und  zum  Mangel  an  aus-  und  einspringenden  Um- 
rissen auch  eine  Vernachlässigung  der  plastischen  Gliederungen. 
Ja  als  hätte  Australien  uns  das  w^arnende  Beispiel  eines  verkehrt 
angelegten  Erdraumes  bieten  sollen,  finden  sich  seine  kräftigsten 
Bodenerhebungen ,  die  sogenannten  Alpen ,  mit  Gipfelhöhen  von 
7000  Fuss  gerade  wieder  an  der  am  meisten  entlegenen  Ecke  des 
Festlandes,  und  in  Folge  dessen  hat  sich  auch  sein  einziges  grosses 
Stromsystem,  auf  dem  etliche  tausend  engl.  Meilen  für  Dampfer 
schiffbar  gefunden  worden  sind,  nach  einer  von  den  Culturräumen 
der  alten  Welt  abgekehrten  Seite  des  Festlandes  entwickelt.  Die 
höhern  Gebirge  Australiens  oder  vielmehr  die  Abstürze  des  öst- 
lichen Festlandes,  eine  ähnliche  plastische  Erscheinung  wie  die 
Ghat  in  Indien,  sind  aber  geradezu  zum  Nachtheil  für  das  leewärts 
liegende  Festland  aufgestiegen,  denn  die  hoch  aufgerichteten  Ost- 
küsten fangen  den  feuchten  Passat  auf  und  zwingen  ihn,  seine 
Wasserdämpfe  an  ihren  Abhängen  fallen  zu  lassen,  so  dass  er 
beträchtlich  ausgesogen  die  Hochebenen  erreicht  und  diesen  nur 
wenig  Benetzung  zuführen  kann').  Wäre  statt  dessen,  wie  in 
Südamerika,  eine  hohe  Gebirgskette  am  Westrande  des  Festlandes 
aufgestiegen,  der  Ostrand  dagegen  flach  gewesen  oder  massig  an- 
geschwollen, so  würde  sich  ein  Strom,  wenn  auch  nicht  von  der 
Herrlichkeit  des  Amazonas,  doch  wenigstens  von  der  Mächtigkeit 
des  Orinoco  entwickelt  haben,  und  die  Eingebornen  hätten  sich 
an  seinen  Ufern  vielleicht  auf  die  Stufe  der  brasilianischen  Jäger- 
völker schwingen  können. 

Jetzt,  wo  wir  etwa  auf  zwei  Dritteln  des  Flächenraums  die 
Natur  Australiens  kennen,  ist  das  alte  Trugbild  verscheucht  worden, 
als  sei  das  Innere  völlig  von  einer  pflanzenleeren  Wüste  ausge- 
füllt. Besässe  Australien  wirklich  eine  Sahara,  so  ist  sie  jedenfalls 
nur  eingeschränkt  auf  den  Kern  der  westlichen  Ausbauschung  des 
Festlandes.     Alles    übrige  Gebiet    geniesst    eine   zwar  kurze,    aber 


l)  Die  Küstenflüsse  richten  daher  durch  ihre  Ueberschwemmungen  oft 
grosses  Verderben  an,  wie  der  Hawkesbury  1867  plötzlich  um  62'  über 
seinen  mittleren  Spiegel  stieg.  Peter m.  Mitth.  1868.  S.  347.  Oberländer 
und  Christmann,  Australien.     S.  332—339. 


Die  Australier. 


345 


heftige  Regenzeit.  Mitten  im  Continent  sah  sich  Mac  Kinlay*) 
von  Regenfluthen  gefesselt,  wenn  nicht  ernstlich  bedroht,  denn 
beinahe  auf  der  Hälfte  des  Gesichtskreises  war  nichts  als  eine 
unbegrenzte  Wasserfläche  zu'  sehen,  aus  der  nur  höhere  Bäume 
und  inselartig  etliche  Bodenerhebungen  hervorragten.  Aehnliches 
erlebte  J.  M.  Gilmore  im  äussersten  Westen  von  Queensland^). 
Auf  eine  solche  jähe  Entladung  des  Wasserdampfes  aus  den  Luft- 
strömen folgt  eine  ebenso  hastige  Verdunstung,  und  wenige 
Wochen  nach  den  Ueberfluthungen  gähnt  der  Boden  wieder  vor 
Dürre.  In  Folge  dieser  ungeregelten  Vertheilung  der  Nieder- 
schläge ist  Australien,  so  weit  wir  es  kennen 2),  vorzugsweise  ein 
Grasland  mit  parkartigem  oder  die  Flüsse  säumenden  Baumwuchs, 
wenn  es  auch  nirgends  an  grossen  Oasen  [von  Buschland  fehlt. 
Diess  wäre  an  sich  der  Entwickelung  der  menschlichen  Gesell- 
schaft nicht  hinderlich  gewesen,  wenn  sich  nicht  dazu  das  geo- 
logische Verhängniss  Australiens  gesellt  hatte. 

Soweit  die  bisherigen  Forschungen  reichen,  hat  man  bis  jetzt 
ein  Auftreten  von  tertiärem  Gebiet  nur  an  zwei  Stellen  wahrge- 
nommen^). Die  Gebirgsarten  sind  entweder  krystallinisch  oder 
ihre  Versteinerungen  gehören  den  frühesten  Erdaltern  an,  da 
sie  selten  über  die  Kohlenzeit  und  kaum  bis  zu  den  bunten  Sand- 
steinen reichen.  Mit  andern  Worten  will  dies  heissen,  dass  der 
grösste-  Theil  jener  Planetenstelle  seit  den  secundären  und  tertiären 
Zeiten  nicht  mehr  unter  das  Wasser  tauchte,  sondern  ohne  Wieder- 
geburt oder  Erholung  allen  Unbilden  des  Luftkreises  seit  dieser 
Zeit  ausgesetzt  blieb  und  darüber  mehr  und  mehr  von  seinen 
plastischen  Jugendreizen  verlor.  Denn  die  hohen  Gebirgszüge  der 
primären  und  secundären  Zeit  müssen  durch  die  lange  Dauer  der 
Verwitterung  und  Abwaschung  herabgeschleift  und  dem  Boden 
näher   gebracht   worden    sein.     Selbst    dieses  Loos  wäre   noch  er- 


1)  Journal  of  the  R.  Geogr.  Soc.    London  1863.  vol.  XXXIII.  p.  45 — 47. 

2)  Vergl.  Petermann's  Mittheil.  1872.  Tafel  22. 

3)  Ein  Schäfer  Namens  John  Ross  will  allerdings  unter  24^  30'  s.  Br. 
und  137®  östl.  L.  Greenw.  nicht  blos  reiche  Weidegründe,  sondern  auch  auf 
einer  Strecke  von  60  d.  Meilen  ausdauernde  fliessende  und  stehende  Gewässer 
entdeckt  haben,  die  sich  für  DampfschüFfahrt  eignen  sollen.  Sir.  R.  Mur- 
chison  in  Proceedings  of  the  R.  Geogr.  Soc.  22.  Mai  1871.  tom.  XV.  p.  297, 

4)  F.  V.  Hochstetter  in  Petermann's  Mittheilungen.  1859.  S.  208. 


3|6  Die  Australier. 

träglich  gewesen,  wenn  nicht  Australien  zugleich  seinen  -ehemaligen 
trockenen  Zusammenhang  mit  dem  grossen  Länderbau  der  alten 
Welt  eingebüsst  hätte.  Die  Trennung  oder  das  Selbständigwerden 
Australiens  erfolgte  aber  in  einem  unreifen  Zeitpunkte,  nämlich 
schon  damals,  als  die  Entwickelung  der  Fauna  erst  bis  zu  den 
Beutel-  und  Nagethieren,  noch  nicht  aber  bis  zu  den  Hufthieren 
fortgeschritten  war.  Während  in  der  alten  Welt  und  in  Amerika 
durch  den  fortdauernden  Kampf  um  das  Dasein  immer  höhere 
Geschöpfe  hervorgerufen  wurden,  denen  die  alterthümlichen  Mar- 
supialgestalten  beinahe  gänzlich  weichen  mussten,  bewegte  sich  in 
Australien  der  Kampf  in  einem  viel  engeren  Kreise,  und  daher 
blieb  seine  Thierschöpfung  mit  geringen  Aenderungen  auf  der 
Stufe  stehen ,  die  sie  erreicht  hatte,  als  die  Abtrennung  als  Insel 
erfolgte.  Das  älteste  Festland  der  Erde  ernährt  auch  die  ältesten 
Säugethierformen.  Vor  allem  vermissen  wir  die  reissenden  Thiere, 
denn  der  Dingo  oder  australische  Hund  wanderte  wahrscheinlich 
erst  mit  den  Menschen  ein,  wenn  er  auch  jetzt  verwildert  in  Jagd- 
genossenschaften angetroffen  wird.  Sollte  er  aber  auch,  wie  man 
aus  den  Funden  von  Dingoresten  in  alten  Knochenhöhlen*) 
schliessen  möchte,  schon  vor  den  Menschen  Australien  betreten  ha- 
ben, so  ist  dies  doch  wohl  immer  nur  in  einer,  geologisch  gesprochen, 
kurzen  Vergangenheit  geschehen.  Da  die  Raubthiere  als  grosse 
Gegner  günstig  auf  die  Erziehung  des  Menschen  einwirken,  so 
gehört  ihr  Mangel  unter  die  Nachtheile  des  Wohnortes.  Noch 
bedauerlicher  aber  erscheint  die  Abwesenheit  aller  Hufthiere,  wo- 
durch von  vornherein  für  die  Menschen  die  Möglichkeit  ausge- 
schlossen war,  sich  zu  den  höchsten  Gesittungen  zu  erheben,  denn 
mit  Ausnahme  des  Hundes  hätte  sich  wohl  kein  australisches 
Säugethier  zähmen  lassen,  da  ein  gewisses  Mass  von  Intelligenz 
nothig  scheint,  wenn  die  Thiere  als  Ernährer  oder  Gehilfen  von 
dem  Menschen  in  seine  Gesellschaft  aufgenommen  werden  sollen, 
die  Beutel  thiere  aber  wegen  ihrer  Geistesarmuth  dieses  Mass  nicht 
besitzen.  Wie  wir  alle  wissen ,  ist  Australien  zur  Zucht  von 
Schafen,  Rindern,  Pferden,  Kamelen  wie  auserlesen,  aber  alle 
diese  wichtigen  Culturgeschöpfe  konnten  das  Festland  nicht  mehr 
erreichen ,  seitdem  es  keine  Brücke  mit  der  alten  Welt  mehr  ver- 
knüpfte.    So    kann   man   denn    füglich   von   Australien    behaupten, 


\)  Pagenstecher,  in  Petermann's  Mittheilungen.   1866.  S.  133. 


Die  Australier.  ^^-j 

es  sei  eine  Insel  ohne  die  Vortheile  eines  Inselklima's,  ein  nahrungs- 
reiches Steppenland  ohne  Steppenhufthiere ,  ein  Land  der  Insel- 
ruhe oder  eines  schläfrigen  Kampfes  um  das  Dasein  und  daher 
ein  Asyl  für  die  Thier-  und  Pflanzentrachten  der  Vorzeit.  Fried- 
fertigkeit, wenn  wir  die  Vorgänge  der  belebten  Schöpfung  richtig 
verstehen,  bedeutet  aber  so  viel  wie  Erstarrung,  denn  verglichen 
mit  den  hoch  gestiegenen  Säugethieren  der  alten  Welt  erscheinen 
uns  die  australischen  wie  hüpfende  Fossilien.  War  die  Uhr  dann 
abgelaufen,  landete  das  erste  Schiff  Geschöpfe  aus  der  alten  Welt, 
hörte  mit  der  Absonderung  Australien  auf  eine  Insel  zu  sein,  gab 
es  wieder  eine  Brücke,  wenn  auch  nur  eine  fliegende,  die  es  aber- 
mals mit  der  alten  Welt  verband,  und  sollte  nun  der  allzufrüh 
abgebrochene  Kampf  um  das  Dasein  von  neuem  beginnen,  aber 
zwischen  streitgewohnten  und  streitgerüsteten  gegen  kampfent- 
wöhnte Wesen,  so  mussten  in  kurzer  Zeit  die  letzten  überlebenden 
und  überlebten  Formen  der  Vergangenheit  erliegen,  Australiens 
Fauna  in  das  paläontologische  Buch  geschrieben  werden,  und  mit 
dem  Känguruh  auch  der  Känguruhjäger  verschwinden.  So  hat  es 
von  jeher  die  neuerungssüchtige  Natur  gehalten:  ihr  gilt  nur  die 
Berechtigung  des  Stärkeren,  und  das  Stärkere  muss  immer  auch 
etwas  Neueres  sein,  denn  wäre  das  Neuere  schwächer,  so  würde 
es  unterdrückt  ehe  es  nur  aufkäme. 

Wo  immer  Australien  von  europäischen  Wanderern  betreten 
wurde,  sind  sie  den  Eingebornen  oder  ihren  Spuren  begegnet. 
Wenn  der  eine  Entdecker  vielleicht  eine  Einöde  zu  durchschreiten 
meinte,  sah  sich  der  nächste  auf  demselben  Räume  von  Schwarzen 
umschwärmt.  Wo  Sturt  einen  menschenleeren  Raum  vermuthete, 
wurde  Mac  Kinlay')  bei  seiner  Wanderung  durch  das  Festland 
1861 — 62  in  dem  merkwürdigen  Seengebiet  durch  die  Dichtigkeit 
der  Bevölkerung  überrascht,  und  wenn  er  wiederum  weiter  nörd- 
lich zwischen  26°  und  22^  südl.  Br.  auf  keine  Eingebornen 
mehr  stiess,  so  traf  Mac  Douall  Stuart'),  der  fast  gleichzeitig,  aber 
mehr  als  6  Grad  östlicher,  Australien  zum  zweitenmale  durchzog, 
am  3.  März  1862,  just  als  er  den  Wendekreis  überschritt,  wo  er 
sich  im  mathematischen  Mittelpunkte  Australiens  befand,  mit  Ein- 


i)  Journal  of  the  R.  Geogr.  Society,     London  1863.  vol.  XXXIII.  p.  21. 
2)  1.  c.  p.  282. 


^^8  ^i®  Australier. 

gebornen  zusammen.  Ebenso  sahen  Burke  und  Wills*)  am  5.  Ja* 
nuar  186 1  kurz  bevor  sie  den  Wendekreis  berührten,  frische  Spuren 
von  Eingebornen,  denen  sie  weiter  nördlich  dann  wirklich  be- 
gegneten. 

Abgesehen  von  den  Bewohnern  der  Carpentaria  -  Halb- 
insel ,  finden  wir  die  Stamme  des  übrigen  Festlandes  auf 
sehr  verschiedenen  Stufen  der  Gesittung,  wie  sie  denn  auch 
physisch  sich  wesentlich  unterscheiden.  Bisher  galten  uns  die 
Jammergestalten  am  King  George -Sund  an  der  Südwestecke  des 
Festlandes,  welche  Dumont  d'Urville  hatte  abbilden  lassen,  al& 
Muster  der  australischen  Menschen,  die  wir  uns  abgezehrt  bis  auf 
das  Knochengerüste,  mit  schmalen  Becken  selbst  bei  Frauen, 
dünnen,  schwächlichen  Gliedmassen  und  aufgeschwelltem  Unter- 
leib vorzustellen  pflegten.  Im  Innern  des  Festlandes  aber  bessert 
sich  nach  den  Aeusserungen  aller  Entdecker  der  Typus.  Mac 
Kinlay*)  fand  in  dem  Seengebiet  an  der  Nordostgrenze  Süd- 
australiens die  schönsten  Stämme,  die  er  je  auf  dem  Festland  ge- 
sehen hatte.  Landsborough  ^)  stiess  im  April  1862  unter  23®  s.  Br.  weit 
von  der  Küste  am  Thompson-River  und  Stuart*)  im  Norden  auf 
Eingeborne,  die  beide  fast  mit  denselben  Worten  als  stattliche  und 
urkräftige  Erscheinungen  schildern.  Ebenso  werden  die  Stämme  an 
den  Küsten  von  Queensland  als  gut  gebaut  und  stark  gegliedert 
von  dortigen  Ansiedlern  uns  beschrieben.  Was  aber  die  gesell- 
schaltliche  Entwickelung  betrifft,  so  nimmt  sie  sichtlich  ab,  zugleich 
von  Nord  nach  Süd,  wie  von  Ost  nach  West,  d.  h.  von  Cap  York, 
dem  Punkte,  welcher  noch  am  meisten  an  einer  Verbindung  mit 
der  alten  Welt  festgehalten  hat,  wird  die  Lebensweise,  der  sich 
die  Eingebornen  unterwerfen,  immer  niedriger.  So  besassen  vor 
Einführung  der  papuanischen  Piroguen  die  Stämme  der  Carpen- 
taria- Halbinsel  von  alter  Zeit  her  schon  Fahrzeuge,  wenn  auch 
die  besten  Muster  davon  sich  höchstens  nur  mit  den  Rindenkähnen 
der  nord amerikanischen  Rothhäute  messen  konnten.  An  der  Ost- 
küste von  Queensland  vermochten  die  Beobachter  an  Bord  der 
Fly  südlich  von  Rockingham-Bay  (18**  5'  S.   Br.)   keine  derartigen 


1)  Petermann's  Mittheilungen.  1862.  S.  74. 

2)  Journal  of  the  R.  Geogr.  Soc,     London  1863    vol.  XXXIII.  p.  30. 

3)  1.  c.  p.  113. 

4)  1.  c.  vol.  XXXII.  p..  355. 


Die  Australier. 


349 


Xähne  mehr  zu  entdecken*).  In  der  Botany-Bay  fand  Cook  die 
£ingebornen  nur  im  Besitz  von  Rindenstücken,  die  als  Fahrzeuge 
<lienen  mussten,  und  nicht  besser  waren  die  Stämme  am  Murray 
versehen*).  Roher  Flösse  bedienten  sich  die  Bewohner  in  der 
Umgebung  von  Port  Essington  an  der  Nordküste,  und  der  Bo- 
taniker Ferd.  Müller  3),  der  mit  August  Gregory  1856  von  der 
Nordküste  den  Victoriafluss  und  den  Sturts  Creek  entdeckte,  be- 
merkte bei  den  Binnenstämmen  ebenfalls  nur  Flosse  aus  zwei  oder 
drei  Stämmen ,  denen  man  sich  aus  Furcht  vor  den  Alligatoren 
aum  Ueberschreiten  von  Gewässern  anvertraute.  Endhch  wurde 
Gregory's  Schiff  Dolphin,  als  es  hinter  den  Dampier -Inseln  der 
Nordküste  lag  (1861),  von  Eiugebornen  besucht,  die  unausgehöhlte 
Baumstämme  als  Fahrzeuge  benutzten.  An  der  Südküste  sind  die  ' 
Australier  noch  nicht  zur  See  angetroffen  worden  und  von  den 
West-Australiern  am  Swan  River  versichert  James  Browne^),  dass 
ihnen  nicht  blos  alle  Fahrzeuge  fehlen,  sondern  sie  sogar  des 
Schwimmens  unkundig  sind. 

Am  King  George-Sund  besteht  das  Obdach  der  Eingebornen 
nur  aus  Lauben.  Ueber  Stäbe,  die  gebogen  und  deren  Enden  in 
die  Erde  gesenkt  werden,  breiten  sie  Blätter  als  Bedeckung  aus. 
In  Neu- Süd -Wales,  in  Queensland  und  am  Carpentariagolf  dient 
auch  die  abgelöste  Rinde  eines  Baumes,  halb  aufgerollt  auf  den 
Boden  gestellt,  einer  einzigen,  oder  etliche  Rindenstücke  über  ein  Ge- 
stell aus  Stäben  ausgebreitet  mehreren  Personen  zum  Wetterschutz. 
Der  Australier  baut  also  kein  ständiges  Obdach,  sondern  als  herum- 
streifender Jäger  lebt  er  in  einem  Zelt  aus  Blättern  oder  Rinden 
verfertigt.  Doch  finden  sich  Holzhütten  in  West -Australien  und 
geräumige  Gebäude  an  der  Coburg -Halbinsel,  sowie  solche  mit 
zwei  Stockwerken  am  Carpentariagolf^).  An  den  beiden  letzteren 
Räumen  freilich  ist  an  einen  günstigen  Einfluss  von  Malayen  und 
Papuanen  zu  denken. 

Die  Australier  befanden  sich  zur  Zeit  der  Entdeckung  im  Zeit- 
alter   der   undurchbohrten   Steingeräthe.      Ihre   Waffen    und  Jagd- 


1)  Jukes,  Voyage  of  H.  M.  S.  Fly.  vol.  II.  p.  243. 

2)  George  French  Angas,  Australia  and  New  Zealand.  vol.  I.  p.  90. 

93. 

3)  Ausland.  1859.  S.  1018. 

4)  Petermann* s  Mittheilungen.  1856.  S.  452: 

5)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie.  Bd.  6.  S.  730. 


7=0  Die  Australier. 

gewehre  sind  Wurfgeschosse,  vor.  allen  Dingen  der  Speer,  dessen 
Spitze  entweder  am  Feuer  gehärtet  zur  Jagd,  mit  eingekerbten 
Widerhaken  versehen  als  Fischharpune,  oder  mit  scharfen  Kieseln 
oder  Muscheln  bewehrt  für  das  Gefecht  dient.  Der  Bumerang  be- 
findef  sich  in  den  Händen  aller  Stämme  der  Nord-,  West-,  Süd-  und 
Ostküste,  mit  Ausnahme  der  Bewohner  der  Carpentariahalbinsel 
und  einiger  Stämme  am  untern  Murray.  Schilder  als  Schutzwaffen 
werden  bei  sämmtlichen  Stämmen  an  der  Küste  wie  im  Innern 
angetroffen  und  nur  in  Westaustralien  vermisst.  Die  Bewohner 
der  Ostküste  verfertigen  für  den  f  ischfang  Schnüre  und  Angel- 
haken, die  letzteren  aus  Vogelklauen  oder  Muschelschalen,  während 
an  der  Westküste,  wo  das  Angelgeräth  fehlt,  Netze  gebraucht 
werden ').  Ein  ästhetisches  Bedürfniss  nach  Verhüllung  des 
Körpers  ist  noch  nirgends  erwacht,  zum  Schutze  gegen  rauhe 
Witterung  aber-  werden  kragenartige  Mäntel  aus  Thierfellen 
an  der  West-,  Süd-  und  Ostküste  umgeworfen.  Sonst  gürten  sich 
viele  Stämme  die  Hüften  mit  Schnüren,  die  zur  Zeit  von  Nahrungs- 
mangel fester  zusammengezogen  werden,  um  die  Empfindimg  der 
Leerheit  zu  unterdrücken.  Spuren  von  Bekleidung  treten  erst  auf, 
wo  der  gute  Einfluss  der  Papuanen  fühlbar  wird,  nämlich  auf  der 
CarpentariahalbinseP).  Die  Kunstwerke  und  Denkmale,  welche 
die  Australier  hij;iterlassen  haben,  bestehen  fast  nur  in  Vei- 
zierungen  von  Grabstätten  oder  in  den  kahnartig  ausgehöhlten 
Särgen,  die  nicht  blos  an  der  Ostküste  vorkommen,  sondern  von 
denen  eins  mit  einer  Kinderleiche  von  Mac  Douall  Stuart  am 
12.  Mai  1861  im  Ashburton  -  Gebirge  nördlich  vom  Centrum 
des  Festlandes  wahrgenommen  und  von  ihm  als  das  höchste  bis- 
her gesehene  Meisterstück  der  Eingebornen  bezeichnet  wurde  ^)» 
Sonst  erinnern  wir  noch  an  die  Menschen-  und  Thiergestalten, 
die  mit  Kreide  und  Ocher  an  Felsen  des  Victoriaflussbettes  von 
den  Eingebornen  gezeichnet  und  von  Gregory  und  Müller^)  1856 
bemerkt  worden  waren,  sowie  an  die  noch  merkwürdigeren  zoll- 
tiefen Einritzungen  von  Felsen  an  der  Ostküste,  unter  andern  bei 


1)  Lubbock,  Prchistoric  times.     2d.  edit.  p.  430. 

2)  Waitz,  1.  c.  S.  738. 

3)  Journal  of  the  R.  Geogr.  Society,    London  1862.    vol.  XXXII.  p.  350. 

4)  Ausland.  1859.  S.  1017. 


Die  Australier. 


351 


Camp  Cove,  unweit  Sydney,  welche  in  rohen  Umrissen  Menschen- 
und  Thiergestalten  erkennen  lassen').  Endlich  zeigten  auch  die 
Frauen  der  Stämme  am  Murray  so  wie  in  Neu-Süd-Wales  grosse 
Fingerfertigkeit  im  Flechten  von  Binsenkörben. 

Bei  der  früheren  Aufzählung  der  Waffen  wurde  absichtlich 
noch  nicht  des  Wurfbrettes  gedacht,  einer  Erfindung,  die  allen 
Stämmen  ohne  Ausnahme  gemeinsam  ist  und  die  viel  grösseren 
Scharfsinn  verräth  als  der  Bumerang,  der  mehr  durch  die  Seltsam- 
keit seiner  Flugbahnen  überrascht  ^  stets  aber  ein  unsicheres  Ge- 
schoss  bleibt  und  dessen  Bekanntschaft  wahrscheinlich  nur  einem 
Zufall  verdankt  wird.  Das  Wurfbrett,  auf  der  Innenfläche  der 
Hand  befestigt  oder  mit  den  drei  letzten  Fingern  festgehalten, 
am  freien  Ende  aber  mit  einem  Querfalz  zum  Einlegen  des  Speeres 
versehen,  vermehrt  die  Schleuderkraft  des  menschlichen  Armes  um 
das  Doppelte.  Man  denke  sich,  sagt  Jukes"),  dass  einer  unserer 
Finger  an  Länge  dem  Wurfbrett  gleich  käme,  und  dass,  während 
wir  mit  dem  Daumen  und  dem  Mittelfinger  den  Speer  hielten, 
er  sich  mit  dem  äussersten  Gliede  um  das  Ende  des  Speeres 
krümmen  könnte,  so  ist  das  Geheimniss  erklärt,  um  wie  viel  durch 
das  Wurfbrett  die  Anfangsgeschwindigkeit  des  Speeres  beschleunigt 
werden  kann.  Leider  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit  entscheiden, 
ob  die  Australier  nicht  vielleicht  diese  Erfindung  entlehnt  haben, 
denn  auch  die  Neu-Caledonier  gebrauchen  wenn  auch  nicht  das 
Wurfbrett,  doch  eine  Wurfschlinge.  Wir  finden  übrigens  dieses 
Hilfsmittel  noch  anderwärts,  nämlich  bei  den  Aleuten  und  den 
ihnen  benachbarten  Eskimo,  sowie  bei  den  AltmeXicanern«'). 

Die  nicht  geringe  geistige  Begabung  der  Australier  ist  erst 
zur  Anerkennung  gelangt,  seitdem  wir  einen  Einblick  in  ihre 
Sprachen  gewonnen  haben.  Wenn  der  Reichthum  von  Formen 
zum  kurzen  Ausdruck  feiner  Beziehungen  über  den  Rang  einer 
Sprache  entscheiden  sollte,  so  müssten  uns  und  allen  Völkern 
Westeuropa's  die  beinernen  Menschenschatten  am  King  George- 
Sund  Neid  einflössen,   denn  ihre  Sprache  besitzt  nicht  blos  soviel. 


1}  G.  F.  Angas,    Auslralia  and  New  Zealand.    tom.  II.  p.  203.  p.  275. 

2)  Voyage  of  H.  M.  S.  Fly.    vol.  I.  p.  I12. 

3)  V.  Langsclorff,  Reise  um  die  Welt.  Bd.  2.  S.  40.    David  Cra*-' 
Historie    von  Grönland.    Bd.  i.  S.  194.     Tylor,    Anfänge  der  Cultur. 

S.  67. 


ßC2  Die  Australier. 

sondern  sogar  vier  Casusendungen  mehr  als  die  lateinische,  und 
ausser  Einheit  und  Mehrheit  noch  einen  Dual.  Das  Verbum,  an 
Zeiten  so  reich  wie  das  lateinische,  hat  ebenfalls  Endungen  für 
den  Dual,  ja  drei  Geschlechtsforraen  für  die  dritte  Person,  sonst 
aber  ausser  den  Activ-  und  Passiv-,  noch  Reflexiv-,  Reciprocal-, 
Determinativ-  und  Continuativformen  *).  Was  die  Gabe  der  .Sprach- 
bildung betrifft,  so  müssen  also  vor  dem  erfinderischen  Australier 
selbst  die  hochgesitteten  Polynesier,  ja  noch  mehr  ein  graues 
Culturvolk  wie  die  Chinesen  ^ich  beugen.  Wir  finden  auch  bei 
ihnen  poetische  Versuche  und  hochgefeierte  Dichternamen.  Sind 
ihre  Gesänge  auch  roh,  so  enthalten  sie  doch  Ausdrücke,  die 
nicht  mehr  im  Tagesverkehr  vorkommen*).  Sie  haben  ferner  für 
Fixsterngruppen  manche  hübsche  Bildernamen  erdacht.  In  der 
Milchstrasse  sehen  sie  eine  Abspiegelung  des  DarUngstromes ,  an 
dessen  Ufern  ihre  verklärten  Abgeschiedenen  Fischfang  treiben,  in 
den  Magalhaes' sehen  Wolken  aber  zwei  alte  Zauberinnen,  die  wegen 
ihrer  Verbrechen  an  den  Himmel  geheftet  wurden  3).  Am  meisten 
überrascht  uns,  dass  sie  Namen  für  acht  verschiedene  Windstriche 
besitzen*),  denn  mit  der  Theilung  des  Horizontes  in  Azimuthe  be- 
ginnt überhaupt  die  Theilung  des  Kreises.  Ungemein  erfinderisch 
sind  sie  in  Höflichkeitsausdrücken,  die  sie  im  Verkehr  fordern  und 
freigebig  ertheilen. 

Schon  anderwärts  haben  wir  mitgetheilt,  dass  bei  ihnen  grosse 
Scheu  vor  Blutschande,  daher  auch  Frauenraub  herrscht,  dass  sie 
die  Pflichten  der  Blutrache  heilig  halten,  Eigenthum  an  unbeweg- 
lichen Sachen  anerkennen  und  von  der  Mutter  den  Familiennamen 
erben  5).  Selbst  auf  der  Stufe  der  Australier  ist  der  gesellige  Ver- 
band schon  durch  mancherlei  Satzungen  geregelt.  Zwar  soll  den 
Sprachen  der  Australier  jeder  Ausdruck  für  Häuptling  fehlen^), 
auch  suchen  wir  vergebens,  dass  bei  den  westlichen  Stämmen 
irgend  etwas   vorkomme,    was  man  mit  starker  Dehnung  des  Be- 

1)  Reise  der  Fregatte  Novara.    Linguistischer  Theil  von  Fricdr.  Müller. 
S.  241  ff. 

2)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie.  Bd.  6.  S.  756 — 759. 

3)  Br.  Charnock  im  Journal  of  the  Anthropological  Institute.    London 
1872.    vol.  L  p.  147. 

4)  Waitz,  1.  c.  S.  763. 

5)  S.  oben  S.  233.  S.  235.  S.  243.  S.  247.  S.  251. 

6)  Wilkes,  Unit.  States  Exploring  Expedition,    tom.  IL  p.  186. 


Die  Australier.  -jc^ 

griffes  noch  einen  Priesterstand  nennen  könnte.  In  Neu-Süd-Wales 
und  in  Queensland,  also  an  den  bevorzugten  Cultur streifen  Austra- 
liens, begegnen  wir  dagegen  den  Koradschi  oder  Leuten,  welche 
den  Pöbelschauder  vor  dem  Finstern  so  weit  abgestreift  haben, 
dass  sie  auf  den  Gräbern  Verstorbener  eine  Nacht  ausharren.  Auch 
vermögen  sie  den  Kranken  durch  ihre  Schamanenkunststücke  Trost 
und  neue  Zuversicht  einzuflössen  und  wissen  dabei  rohe  Linderungs- 
mittel, unter  andern  das  Aderlassen,  anzuwenden.'  Ueberrascht  wer- 
den wir,  dass  bei  den  Menschengespenstern  der  Westküste  die  Unver- 
letzlichkeit von  Botschaftern  als  Völkerpflicht  beobachtet  wird,  solange 
eine  klaßende  Verwundung,  durch  welche  der  Abgesendete  gezeichnet 
zu  werden  pflegt,  nicht  völlig  vernarbt  ist*).  Dass  ferner  die 
heutigen  Australier  zur  Hebung  auf  die  nächsten  höheren  Zu- 
stände völlig  befähigt  waren,  beweisen  die  Erfahrungen  in  Queens- 
land und  Neu- Süd -Wales,  wo  viele  Eingeborne  rasch  und  richtig 
das  Englische  sprechen  lernten,  zu  gewandten  und  kühnen  Reitern 
sich  ausuildeten,  als  Hirten  wegen  ihrer  Brauchbarkeit  im  Busche 
den  Europäern  vorgezogen  wurden,  und  dass  man  aus  ihnen  eine 
sehr  wirksame  Sicherheitswache  für  entlegene  Weideplätze  sich 
erziehen  konnte. 

Wenn  sie  dennoch  ihre  Zustände  nicht  veredelt  haben,  so 
trägt  einen  Theil  der  Schuld  die  Abgelegenheit  ihres  Welttheiles, 
welche  eine  Berührung  mit  andern  Völkerschaften  erschwerte. 
Am  frühesten  wurden  daher  die  Bewohner  der  Carpentaiiahalbinsel 
durch  einwandernde  Papuan en  geweckt  uncf  wirkten  wieder  günstig 
auf  ihre  südlichen  Nachbarn,  wie  sich  denn  alle  neuen  Volks- 
gesänge und  alle  dabei  aufgeführten  Tänze  nach  Angas*)  an  der 
Ostküste  von  Norden  nach  Süden  fortgepflanzt  haben.  Was  aber 
de  Australier  so  tief  erniedrigt,  ist  die  Unkenntniss  eines  Acker- 
baues, ohne  dass  sie  etwa  streng  maritime  Völker  gewesen  wären, 
wie  die  Feuerländer  oder  die  Eskimo.  So  musslen  sie  sich  mit 
dem  Ertrag  der  Jagd,  an  den  Küsten  der  See  und  den  Ufern  der 
Flüsse  mit  dem  des  Fisch-  und  Muschelfanges  und  mit  den  Nähr- 
stoffen wildwachsender  Wurzeln  begnügen.  Bei  dieser  Abhängig- 
keit vom  Tagesglück  schaudert  der  Mensch  noch  nicht  vor  kaltem 


i)   Browne,  in  Petermann*s  Mittheilungen.    1856.    S.  449. 
2)  Australia  and  New  Zealand.    tom.  II.  p.  216. 
Peschel,  Völkerkunde.  23 


3^ 


Die  Auflralier. 


Gethier,  wie  Raupen,  Eidechsen,  Ameisen  und  Würmer.  Als 
Jäger  wären  sie,  ohne  Bogen  und  Pfei)  zu  führen,  selbst  mit  dem 
Wurfbrett  Zeiten  weis  grossen  Miss  erfolgen  ausgesetzt  gewesen, 
wenn  sie  nicht  das  Mittel  der  Grasbrände  reichlich  zum  Zutreiben 
des  Wildes  angewendet  hätten.  Die  Jagd  selbst  nöthigle  sie  aber 
zu  raschem  Wechsel  der  Wohnsitze.  Wenn  die  Lachen  der  letzten 
Regenzeit  zu  versiegen  begannen,  mussten  sie  ihre  Reviere  ver- 
lassen und  die  wohlbekannten  Stellen  aufsuchen,  wo  in  tiefen 
natürliclieii  Becken  noch  dauerndes  Wasser  zurückgeblieben  war. 
So  konnte  es  vielleicht  die  Steppennatur  des  Festlandes  zu  ver- 
antworten haben,  dass  die  Eingebornen  von  jedem  Gedanken 
eines  Feldbaues  aufgescheucht  worden  seien. 

Wenn  man  die  Berichte  der  neuen  Erforscher  jenes  Festlandes, 
ungehärteter  und  verdienstvoller,  aber  meistens  ungebildeter  Männer 
liest,  so  hört  man  oft  von  ihnen  die  australischen  Gramineen  als 
„Hafer-"  und  als  „Gerstengras"  bezeichnen').  Von  vornherein 
wäre  zu  vermuthen  gewesen,  dass  auf  einem  so  ausgedehnten 
sonnigen  Steppengebiet  wilde  Gelreidearten  sich  finden  sollten. 
Sie  sind  auch  wirklich  vorhanden,  und  allem  Anschein  nach  viel- 
leicht in  absolut.  Jedenfalls  in  relativ  grösserer  Mannichfaltigkeit 
als  in  Amerika.  So  fand  der  Botaniker  Ferdinand  Müller^  am 
Sturts-CVtek  und  am  Victoria  auf  Sumpfland  wilden  Reis,  den  die 
Eingebornen  zu  Mehl  zwischen  Steinen  verrieben,  ferner  essbare 
Samen  einer  wilden  Getreideart  aus  der  Gattung  Panicum,  zu  der 
auch  unsere  Hirse  zahlt ,  und  im  Kordwesten  Australiens  hin  und 
wieder  eine  Art  wüden  Hafers.  Ebenso  hat  Mac  Douall  Stuart'J) 
am  28.  April  1861  bei  seinem  zweiten  Versuch,  das  Festtand  zu 
kreuzen,  am  Tomkinson  Creek  (etwa  18°  20'  s.  Br.)  eine  Ge- 
ireideart  entdeckt ,  die  dem  Weizen  völlig  glich ,  nur  dass  die 
Körner  kleiner,  das  Stroh  aber  um  vieles  zäher  war.  Ferner  be- 
merkte Mac  Kinlay*},  als  er  im  Herbst  1861  an  dem  merkwürdigen 
.'■ecngebiet    zwischen   28°  und  26°  s.  Br.   etwas    üstÜch    vom  Me- 


I)  Landsborough,  im  Journal  of  tlie  R.  Geogr.  Sotiely.  vol.  XXXIII. 

II  Autland.  1859.  S.  1016. 

3]  J'iumal  of  Ihe  R.  Geogr.  Socielj".  London  1862.  vol.  XXXII.  p.  343. 

4)  1.  c.  London  1863.  i-ol.  XXXIII.  p.  24. 


Die  Australier. 


355 


ridian  Adelaide's  verweilte,  dass  auf  den  Fluren,  welche  die  Ueber- 
schwemmungen  der  Regenzeit  zu  bedecken  pflegen,  eine  Hülsen- 
frucht wuchs,  die  den  Wicken  glich.  D!e  Eingebornen  fegten  die 
ausgefallenen  Körner  zusammen,  reinigten  sie  durch  Worfeln,  zer- 
rieben sie  zu  Mehl  und  buken  daraus  flache  Kuchen.  Wahr- 
scheinlich ist  dies  die  nämliche  Frucht,  aus  welcher  die  Stämme 
am  Cooper  Creek  das  Nardubrod  bereiteten,  womit  sie  den  beiden 
vom  Unglück  verfolgten  ersten  Durch wanderern  des  Festlandes, 
Burke  und  Wills,  auf  der  Rückkehr  vom  Carpentariagolf  eine  Zeit- 
lang das  Leben  fristeten.  Howitt,  der  ihren  letzten  überlebenden 
Begleiter  King  dort  rettete,  beschreibt  am  i.  September  1861  am 
Cooper  Creek  wahrscheinlich  das  Muttergewächs  der  Nardukörner, 
nämlich  eine  Pflanze,  die  dem  Laub  nach  dem  Klee  gleiche,  nur 
dass  sie  mit  einem  silbernen  Flaum  überzogen  sei ,  wie  auch  die 
Samen,  so  lange  ^ie  noch  frisch  sind.  Letztere,  flach  und  beinahe 
eirund,  verdecken,  wenn  das  Kraut  abstirbt,  buchstäblich  den 
Boden  und  werden,  nachdem  sie  vom  Sand  gereinigt  worden  sind, 
von  den  Eingebornen  zermalmt  und  in  Brod  verwandelt^). 

Diese  Thatsachen  bereichern  uns  um  eine  wichtige  Erkenntniss, 
dass  nämlich  die  Mehlbereitung  und  das  Brodbacken  älter  sind 
als  der  Ackerbau.  Wie  es  aber  gekommen  sei,  dass  die  Einge- 
bornen nicht  auf  den  Gedanken  verfielen,  jene  nützlichen  Früchte 
durch  künstlichen  Anbau  zu  vervielfältigen,  sich  auf  diese  Art  Vor- 
räthe  zu  schafl'en  und  ihre  Abhängigkeit  vom  Ertrag  der  Jagd  zu 
lockern,  vom  Zwange  des  Umherziehens  sich  zu  befreien  und  zu- 
gleich eine  zahlreiche  Nachkommenschaft  aufziehen  zu  können, 
dafür  lassen  sich  verschiedene  Gründe  anführen.*  •  Australien  besitzt 
eine  grosse  Mannichfaltigkeit  von  Fruchtbäumen,  ganz  besonders 
der  tropische  Theil,  so  dass  fast  keiner  der  Erforscher  heimkehrt, 
ohne  irgendeine  neue  oder  vermeintlich  neue  Entdeckung  dieser 
Art  heimzubringen;  selbst  Bananen  werden  im  Carpentarialand  als 
wildwachsend  aufgeführt,  und  Ferdinand  Müller  stiess  im  Norden 
auf  eine  traubentragende  Rebe,  die  er  identisch  hält  mit  unserm 
Weinstock.  Im  Süden  aber  war  die  sogenannte  Hottentotten  feige, 
das  heisst  die  Frucht  einer  Mesembryanthemum-Art,  ein  Nahrungs- 
geschenk der  Natur.  Mehr  noch  als  Obst,  dessen  Geniessbarkeit 
auf   eine    kurze  Dauer  eingeschränkt  blieb ,    verzögerte    das  Vor- 

l)  Peter mann's  Mittheilungen.  1862.    S.  79 — 80. 

23* 


356 


Die  Australier. 


kommen  essbarer  Wurzeln,  die  nicht  wie  die  Cerealien  einer  müh- 
samen Aufbewahrung  bedürfen,  den  Fortschritt  der  australischen 
Menschen  zum  Ackerbau.  So  erzeugt  die  Carpentariahalbinsel 
echte  Yam  (Dioscorea  CarpentariaeJ^  der  Süden  aber  die  Wurzeln 
des  Sorrel,  einer  OxaLs-,  und  des  Grasbaumes,  einer  Xanthorrhoea- 
Art,  die  von  den  Frauen  mit  spitzigen  Hölzern  ausgegraben 
wurden  und  immer  eine  letzte  Zuflucht  gegen  Misserlolge  der  Jagd 
blieben.  Am  Swan  River  der  Westküste  ist  übrigens  die  örtliche 
Dichtigkeit  der  Känguruh  so  gross,  dass  die  Fingebornen,  als  man 
ihnen    9  Pence    (7*12   Silbergr.)    für   das   Stück   versprach^    so   viel 

einlieferten,    dass  die  Ansiedler  damit  ihr  Borstenvieh  fütterten*). 

• 

Ebenso  versicherte  ^der  unlängst  verstorbene  James  Moriil,  der 
17  Jahre  lang  unter  Küstenstämmen  Queenslands,  in  der  Nähe 
von  Cap  Bowling  Green  (19°  17'  s.  Br.)  leute,  dass  es  ihnen  an 
Nahrung  nicht  gefehlt  hätte.  Daher  Hesse  sich  mit  (}lück  der 
Satz  vertheidigen,  dass  die  australische  Ge.-.cllschatt  lür  den  lieber- 
gang  zum  Ackerbau  noch  nicht  reif  gewesen  sei,  d.  h.  noch  nicht 
die  erforderliche  Dichtigkeit  besessen  hätte,  denn  die  Bevölkerung 
ist  nicht  hoher  als  auf  200,000,  von  manchen  sogar  nur  auf 
60,000  Köpfe  geschätzt  worden,  für  welche  die  Jagdgiünde  mehr 
als  ausreichten. 

Doch  ist  das  Ausgraben  von  Wurzeln  so  mühsam  und  die 
Wurzelkost  so  wenig  nahrhaft,  dass  es  immerhin  befremden  müsste, 
warum  die  Australier,  nachdem  ihnen  doch  die  Natur  deutlich 
durch  das  gesellige  Wachsthum  der  ooen  aufgezählten  Brodfrüchte 
den  Weg  und  die  Vortheile  des  Acker oaues  zeigte,  nie  auf  den 
Gedanken  kamen,  den  Boden  mit  Saaten  zu  bestellen.  Aber  nur 
weil  uns  die  Gewohnheit  gegen  das  Ausserordentliche  abgestumpft 
hat,  übersehen  wir  meistens,  welche  ungewöhnliche  Begabung 
dazu  erforderlich  gewesen  sei,  dass  ein  JMensch  die  ersten  Samen- 
körner ahnungsvoll  ausstreute.  Den  alten  Hellenen,  welche  den 
ersten  Regungen  menschlicher  Gesittung  näher  standen  als  wir^ 
und  die  sich  die  grossen  Anfänge  noch  nicht  von  eineni  Schwärm 
kleiner  Neuigkeiten  in  den  Hintergrund  der  gemeinen  Dinge 
drängen  Hessen,  erschien  ein  planvolles  Erdenken  des  Ackerbaues 
für  menschliche  Vcrstandeskräfle  zu  unerfasslich  und  sie  schrieben 
es  daher  einer  Gottheit  zu,  gerade  so  wie  üie  Aegypter  auf  ihren 

I)  Ferdinand  Müller.     Ausland.   1859.    S.  1018. 


Die  Australier.  ^cn 

Osiris  zu  andern  Ehren  auch  noch  den  Ruhm  häuften,  die  Men- 
schen zur  Bestellung  der  Saaten  angeleitet  zu  haben.  Mit  dem 
ersten  Pflanzenbau,  selbst  wenn  er  nur  von  Wanderhorden  am 
Sommerlagerplatz  betrieben  wird,  sind  alle  künftigen  Fortschritte 
im  Keime  gegeben,  denn  der  Mensch  hört  auf,  als  Almosen- 
empfanger  in  den  Wild-  und  Wurzelgärten  der  Natur  von  der 
Laune  und  dem  Zufall  des  Tages  abzuhängen,  und  weil  die  An- 
strengung der  Jagd  seine  Kräfte  nicht  gänzlich  erschöpft,  bleibt 
ihm  noch  Zeit,  über  besseres  nachzusinnen.  Die  hohen  geistigen 
Anlagen,  die  man  bei  vielen  Jägerstämmen  antrifft,  werden  näm- 
lich durch  die  Jagd  selbst  vollständig  erschöpft,  da  sie  scharf  und 
beständig  auf  die  äusserliche  Beobachtung  der  Natur  des  Wildes 
wie  des  Reviers  gerichtet  bleiben  müssen,  auch  ermüdet  dieser 
Nahrungserwerb  den  Menschen  zugleich  körperlich.  Ehe  er  nicht 
auf  eine  andere  Ernährungsweise  verfallt,  ist  an  eine  geistige  Ent- 
wickelung,  die  stets  eine  physische  Ruhe  erfordert,  nicht  zu  denken. 


if. 

DIE  AUSTRALISCHEN  UND  ASIATISCHEN  l'APUANEN. 


Zu    den    australischen  I'apuanen  gehören  die  Bewohner  Keu- 
'  Guinea's,  der  Palau-lnselti,  Tombara's  (Neu-lrlands)  und  Bicara's, 

I  der  SalomonengTuppe ,  der  Neuen  Hebriden,  Baladea's  (Neu-Cale- 

idoniens)  mit  den  vorliegenden  Lojalitats-Inseln ,  endlicli  des  Viti- 
oder  Fidschiarchipelp.  Am  reinsten  hat  diese  Race  ihre  Werkmale 
auf  Neu -Guinea  bewahrt,  obßleich  auch  dort  schon,  namentlich 
auf  der  westlichen  Hälfte,  seit  neuerer  Zeit  Rlijchungen  mit  asia- 
tischen Malayen  sich  vollzogen  haben.  Auf  den  andern  genannten 
Inseln  sind  es  dagegen  Polynesfer,  die  sich  unter  die  ältere  Be- 
völkerung gedrängt  und  besonders  auf  Sprache,  wie  Sitten,  viel 
weniger  aber  auf  die  körperlichen  Kennzeichen  gewirkt  haben,  so 
dass  die  Bewohner  der  Palau-  und  Fidschigruppe  sowie  Baladea's 
noch  unbedenklich  zu  der  papuanischen  Race  gezählt  werden 
dürfen.  Auf  den  Carolinen  und  Marianen  hat  sich  ebenfalls  polj- 
nesisches  und  papuanisches  I?lut  gekreuzt,  aber  das  erstere  über- 
wiegt, so  dass  jene  sogenannten  Mikronesier  als  Mischvölker 
richtiger  in  die  nächste  Völkergruppe  gestellt  werden. 

Das    beste  Kennzeichen    der    australisvhen  Papuanen  besteht 
f  in  dem  stark  abgeplatteten,  üppigen,  langen  Haupthaare,   welches 

sich  zu  Büscheln  vereinigt  und  das  Haupt  per  rückenartig  als  eine 
8  Zoll  mächtige  Krone  umgibt,  wozu  allerdings  die  beständige 
Pflege  mit  Hilfe  eines  dreizinkigen  Kammes  sehr  viel  beitragen 
mag').  Die  büschelartige  Vereinigung  der  Haare  haben  die  Pa- 
puanen mit  den  Hottentotten  gemein,  deren  Haar  jedoch  nicht  so 
lang  und  reichlich  wächst,  vielleicht  anch  bei  scharfer  mikroskopischer 

'allace,  Malayiocher  Archipel.  Bd.  2.  S.  283. 


Die  australischen  und  asiatischen  Papuanen.  ^^q 

Vergleichung  andere  Ursachen  der  Yerfilzung  erkennen  lassen 
möchte.  Auch  durch  ihren  starken  Bartwuchs  und  durch  ihre 
sonstige  reichliche  Behaarung  unterscheiden  sich  die  Papuanen 
von  der  Urbevölkerung  der  Capländer^).  Die  Haut  aller  Papuanen 
ist  dunkel,  fast  schwarz  in  Baladea,  braun  oder  chocoladefarbig  auf 
Neu-Guinea,  blauschwarz  bei  den  Fidschi,  letzteres  eine  FärbuiiL;, 
welche  dem  Wachsthum  eines  hellen  Flaumes  auf  der  Haut  zu 
verdanken  ist*).  Welcker's  Messungen,  die  bei  Neu-Caledonieru 
einen  Breitenindex  von  70,  einen  Höhenindex  von  77,  bei  andern 
Papuanen  aber  die  Ziffern  73  für  den  einen,  75  für  den  andern 
ergeben,  würden  die  Schädelform  als  schmal  und  hoch  erkennen 
lassen.  Damit  stimmen  die  Ergebnisse  bei  Barnard  Davis  tiir 
die  Bewohner  der  Salomonen,  Neuen  Hebriden  und  Baladea^ 
überein,  nämlich  72  als  Breiten-,  76 — 79  als  Höhenindex.  Auch 
nach  diesen  Ziffern  gehören  die  Papuanen  unter  die  hohen  Schmal- 
schädel. Die  Kiefern  sind  prognath,  wenn  auch  nicht  in  ^o 
starkem  Grade,  als  dies  bei  Negern  in  äussersten  Fällen  vor- 
kommen kann.  Die  Lippen  sind  fleischig  und  etwas  aulj^e- 
schwoUen.  Die  breite  Nase  krümmt  sich  mit  der  Spitze  nach 
unten,  wodurch  der  Gesichtsausdruck  einen  jüdischen  Anstric:i 
erhält,  der  keinem  Beobachter  bisher  entgangen  ist.  Er  ist  dem 
Bewohner  Baladea's  so  gut  eigen,  wie  dem  Aneytum's  unter  cUu 
Neuen  Hebriden^),  ferner  den  Fidschi-Insulanern,  den  Bewohnern 
von  Errub  und  von  Darnley  Island '^),  der  Nordküste  von  Neu- 
Guinea  bei  Doreh5),  der  Südküste  am  Utanatafluss^) ,  sowie  end- 
lich der  Palau-lnseln 7).  Abgesehen  von  örtUchen  Schwankungen 
gehören  die  Papuanen  nach  den  Ausdrücken,  deren  sich  ihre  l^e- 
schreiber  bedienen,  unter  die  Völker  von  mittlerem  Wuchs*, 
jedenfalls  nicht  unter  die  grossen  Völker. 


1)  Nieuw   Guinea    ethnographisch    en    natuurkundig    onderzocht    en    bc- 
schreven.     Amsterdam  1862.    p.  118.  p.  170 — 171. 

2)  Waitz  (Gcrland),  Anthropologie.    Bd.  6.  S.  535. 

3)  Waitz  (Gerland),  1.  c.  Bd.  6.  S.  525. 

4)  Jukes,  Voyage  of  H.  M.  S.  Fly.  tom.  I.  p.  170.  tom.  II.  p.  236. 

5)  Wallace,  a.  a.  O.    Bd.  2,  S.  412. 

6)  Natuurlijke    geschiedenis    der   nederlandsche   ovefzeesche   bezittingen. 
Land  en  volkenkunde  door  Salomon  Müller,    p.  44.  PI.  6  u.  7. 

7)  Karl  Semper,  Die  Palau-Inseln.     I^ipzig  1873.   S.  362. 


mw 


■^[lu  Dio  aiiiiralisohcn  und  uEiaiischen  Papuanen. 

Während  die  Bewohner  üer  Inseln  an  der  neu  guineischen 
Küsle,  wie  Wageu  und  Misole,  ferntT  der  Aru-  und  Kei-Gruppe, 
sowie  von  Lara!  und  Timorlaut  von  W'allace  noch  zu  den  reinen 
Papuanen  gerechnet  werden"),  finden  wir  auf  den  westlicher  lie- 
genden Inseln ,  auf  der  Moiukkengruppe  mit  Halmahera ,  den 
Banda-lnseln,  der  Östlichen  Hälfte  von  Floris,  ferner  auf  Pulo 
Tschindana  und  auf  allen  Inseln ,  die  östlich  von  den  letztge- 
nannten üegen,  Reste  einer  Urbevölkerung,  stark  vermischt  mit 
malayischem  Blut,  die  der  papuanischen  Race  angehört  haiien. 
Weit  schwieriger  ist  die  Stellung  der  Urbevölkerung  auf  den  Phi- 
lippinen sowie  auf  denjenigen  Inseln  lu  bestimmen ,  die  aus  geo- 
logischen Gründen  zu  Asien  und  nicht  mehr  zu  Australien  zu 
rechneri  sind^).  Wir  bezeichnen  sie  nicht,  wie  dies  häufig  ge- 
schieht, als  Melanesier,  Alfuren.  Harafuren,  Negritqs  oder  Austrai- 
neger, denn  alle  diese  Benennungen  sind  durch  schwankenden 
Gebrauch  so  zweideutig  geworden ,  dass  die  Völkerkunde ,  wenn 
sie  sich  eine  klare  Sprache  antignen  will ,  sie  streng  verpönen 
muss.  Es  werden  uns  nämlich  auf  der  Insel  Celebes  Alfuren  be- 
schrieben-'), die  nach  den  mitgetheilten  Körpermerkmalen  deutlich 
als  Malayen  zu  erkennen  sind  und  es  hat  sich  im  niederländischen 
Indien  der  Sprachgebrauch  verbreitet,  unter  Alfuren  nur  soge- 
nannte Wilde  zu  verstehen,  auch  wenn  ^über  ihre  malayische 
Abkunft,  wie  bei  den  Batta  Pumatra's  und  bei  den  Dayaken 
Eorneo's,  gar  kein  Zweifel  besieht',).  Deshalb  nennen  wir  die 
Reste  der  Urbevölkerung  auf  jenen  Inselgebieten  asiatische  Pa- 
puanen. Zu  ihnen  gehören  die  Aijta  der  Philippinen,  die  noch 
völlig  rein  ihre  Kacenmerkmale  bewahrt  haben,  doch  gilt  dies  nur 
von  den  wenig  zahlreichen  Banden  an  der  Ostküste  des  nörd- 
ichen  Luzon,  Karl  Semper  fand  dort  die  Körpergrösse  bei  den 
Männern  durchschnittlich  4  F.  7  Zoll  (par.),  bei  den  Weibern  4' 
4".  Mit  den  australischen  Papuanen,  haben  sie  die  „glanzlose 
wollig-krause  Haarkrone",  die  Hache  unten  breite  Nase  gemein. 
Ihre  Körperfarbe  ist  nicht,  wie  der  malayische  Name  Acta  es  er- 


1)  Der  Malayisclie   Archipel.    Bd.  i.   S,  415. 

2)  Ueber  die  Naturgrenie  zwischen  Asien  und  Australien  s.  P 1 
;ue  Probleme  der  vergl.  Erdkunde.     Leipzig  1869.    S.  26. 

3)  Waili  '  Anlhiopologie.  Bd.  5.  S.  103. 
4)  Riedel,  in  der  Zeilschrifl  für  Kthnologie.    1871.    S.  364. 


Die  australischen  und  asiatischen  Papuanen.  361 

warten  lässt,  schwarz,  sondern  du nkelkupferf arbig.  Die  Lippen 
sind  ein  wenig  wulstig  und  die  Kiefern  zeigen  einen  milden 
Prognathismus.  Man  findet  bei  diesen  Jägerstämmen  Bogen  und 
Pfeil,  die  sonst  nicht  bei  Malayen  vorkommen*). 

Nach  den  angeführten  Merkmalen  können  auch  die  Negrito 
von  Mariveles  und  die  Negrito  des  nördlichen  Luzon  nach  einer 
Photographie,  welche  Jagor  abgebildet  hat*),  zu  den  Acta  ge- 
rechnet werden.  Soweit  stände  kein  Hinderniss  im  Wege,  diese 
von  Malayen  verdrängte  und  beinahe  ausgerottete  Urbevölkerung 
mit  den  australischen  Papuanen  zu  einer  Race  zu  vereinigen. 
Wenn  wir  sie  wieder  als  eine  besondere  Abtheilung  von  ihnen 
trennen,  so  geschieht  es  aus  Vorsicht,  weil  erst  künftige  genauere 
Untersuchungen  uns  volle  Klarheit  über  ihre  Racenstellung  bringen 
können.  Einige  Schädel  nämlich,  die  durch  Schetelig  unter  den 
Namen  von  Negritos  der  Insel  Luzon  nach  Berlin  gelangten, 
zeigten  nach  den  Messungen  von  Virchow  eine  relative  Breite  von 
8o,g  bis  90,5  bei  einer  relativen  Höhe  von  77,^  bis  S2,  ,  Es 
waren  also  Breitschädel  von  geringer  Höhe,  bei  denen  ausser- 
dem der  Prognathismus,  hauptsächlich  durch  die  Stellung  der 
Zahnlacher,  stark  hervortrat  und  deren  Jochbogen  weit  vorsprangen. 
Die  Schädelform  weicht  hier  zu  stark  in  brachycephaler  Richtung 
ab,  um  uns  nicht  über  die  Verwandtschaft  mit  den  australischen 
Papuanen  zu  beunruhigen.  Doch  besteht  die  Hoffnung,  dass  jene 
Kopfbildungen  nur  künstlichen  Ursprunges  seien,  wie  dies  aus- 
drücklich von  Virchow  vermuthet  wird  3).  Obendrein  behauptet 
Karl  Semper,  dass  die  fraglichen  Schädel  sämmtlich  aus  den  Ge- 
birgen von  Mariveles  in  der  Nähe  Manila's  herstammen,  deren 
Bevölkerung  längst  durch  Mischung  ihre  Reinheit  verloren  habe'*). 
Versprengte  Reste  einer  ehemaligen  papuanischen  Urbevölkerung 
sind  noch  bei  Sohoe  (Sohu)  und  Galela  auf  Halmahera  von  Wallace 
gesehen  worden.  Sie  haben  die  Haarkrone  der  Papuanen,  sind 
bärtig,  am  Leibe  behaart,  aber  dabei  so  hell  wie  die  Malayen  5). 


i)   Karl  Semper,  Die  Philippinen.     Würzburg  1869.     S.  49 — 52. 

2)  Reisen  in  den  Bhilippinen.     S.  63.  S.  376. 

3)  Virchow    im    Anhang    zu    Jagor,    Reisen    in    den    Philippinen. 

s.  374. 

4)  Die  Palau-Inseln.     S.  364. 

5)  Der  malayische  Archipel.     Bd.  2.  S.  415. 


-j62  Die  australisiiben  und  asiatischen  Papuanen. 

Endlich  stossen  wir  weit  westlich  noch  auf  die  Mincopie') 
der  Andauianinseln,  einen  kleinen  Menschen  stamm  mit  papuani- 
schem  Haarwuchs,  Da  sie  sich  den  Kopf  mit  den  Scherben  zer- 
brochner  Flaschen,  wenn  solche  an  den  Strand  gespült  werden 
oder  mit  Muscheln  ganz  glatt  scheeren,  so  darf  diese  Angabe 
emigermassen  befremden'),  doch  wurde  die  büschelförmige  Grup- 
pirung  der  Haare  an  geianjjenen  Mincopie  von  A.  Fytche  in 
Moulmein  beobachtet,  der  ausserdem  ihre  Haut  als  „russig  nicht 
tief  schwarz"  beschreibt  und  bei  ihnen  jeden  Bartwuchs  vermisst^). 
Wer  sich  ausschliesslich  nach  der  Beschaffenheit  des  Haarwuchses 
richtet,  katm  die  Mincopie  als  den  westlichen  Vorposten  der  papu- 
anischen  Race  bettachten  und  muss  annehmen,  dass  diese  letztere 
aus  dem  siid asiatischen  Festlande,  in  einer  grauen  Vorzeit  ost- 
wärts nach  dem  australischen  Oeean  sich  verbreitet  habe.  Dies 
würde  als  gut  bestätigt  gehen,  wenn  die  Semang  auf  der  Halb- 
insel Halaka,  ein  kleiner,  körperlich  und  geistig  schwach  entwickel- 
ter, im  Aussterben  begriffener  Menschenstamm ,  wegen  ihres  star- 
ken Bartwuchses  und  ihres  krausen  Haares  bei  brauner  bis  schwar- 
zer Hautfarbe  nach  Logan's  üeschreibung')  ebenfalls  zu  den  asia- 
tischen Papuanen  gezählt  werden  dürfen.  Latham,  der  ihre  Sprache 
untersucht  hat  und  sie  unter  die  Negritos  zählt,  was  bei  ihm  eine 
Verwandtschaft  mit  den  philippinischen  Acta  bedeutet,  will  fast 
gar  keine  Aehnlichkeit  mit  dem  Andamanischen  entdecken  und 
stellt  sie  unbefangen  unter  die  malayische  Gruppe*). 

Die  Sprachen  der  australischen  Papuanen  bedienen  sich  ein- 
und  mehrsylbiger  Wurzeln  und  vollziehen  die  Sinnbegrenzung  durch 
Präfixe  und  Sufüxe,  deren  ursprüngliche  Bedeutung  meist  dem 
Sprachverständniss  entschwunden  ist.  Hr.  v,  d,  Gabelenlz,  der 
zehn  papuanische  Inselsprachen  untersucht  und  verglichen  hat 
entdeckte     bei    aller    sonstigen    Verschiedenheit   der  Wurzelschätze 


i)  S.  oben  S.  150  ihre  SiHen Schilderung, 

j)  Helfer  beschreibt  indessen  In  seinem  Tagebuch  einen  Mincopie  unler 
iindem  tnil.  den  Worten:  „Sein  Haar,  zu  beiden  Seilen  abgeschoren,  bildete 
einen  krausen  wolligen  Kamm."  Gräfin  Pauline  Nostii,  J.  W,  Helfer's 
Reisen  in  Vorderasien  und  Indien.     Leipzig  1873.  Bd.  2.  S.  159. 

3)  Fytche  in  Pelennanns  Miltheilungen  1862.  S.  236. 

4I  Waiti,  AnlhropoloEic.     Bd.  5.  S.  88. 

5)  Opuscula.     Londun  1860.  p.  L92.  p.  205.  p.  218. 


Die  australischen  und  asiatischen  Papuanen.  363 

eine  Uebcreinstimmung  in  den  Hilfsmitteln  zur  Wortbildung. 
Ausserdem  zeigte  sich  überall  Verwandtschaft  mit  den  polynesi- 
schen  Sprachen,  wenigstens  stimmten  die  personlichen  Fürwörter 
überein,  ebenso  etl'che  Ortsadverbien  und  eine  Anzahl  von  Prä- 
fixen. Zu  den  letzteren  gehört  auch /aka,  welches  in  allen  papua- 
nischen  und  polynesischen  Sprachen  nur  als  Präfix  auftritt,  im 
Fidschi  dagegen  noch  als  selbstständiges  Wort,  sowie  obendrein 
als  Suffix  gebraucht  werden  kann').  Die  Untersuchung  führte 
überhaupt  zu  dem  Schluss,  dass  die  papuanischen  Sprachen  mehr 
mit  den  polynesischen  gemein  haben,  als  aus  einer  blossen  Ent- 
lehnung der  einen  aus  den  andern  hervorgehen  kann.  Diese  vor 
Zweifeln  gesicherten  1  hatsachen  enthalten  ein  grosses  Räthsel, 
denn  es  würde  durch  die  Uebereinstimmung  der  Sprachen  auf 
eine  gemeinsame  Abstammung  geschlossen  werden  müssen  zwischen 
zwei  Racen,  die  durch  Körpermerkmale  sehr  scharf  geschieden 
sind.  Doch  verstatten  die  Ergebnisse  des  Hrn.  v.  d.  Gabelentz 
noch  eine  andere  Auslegung.  Die  Sprachenschätze,  welche  er 
untersuchte  wurden  nämlich  auf  der  Fidschigruppe,  auf  den  neu- 
hebridischen  Inseln  Annatom,  Tanna,  Erromango  und  Mallikolo,  auf 
den  Loyalitätsinseln  IMare  und  Lifu,  sowie  auf  dem  benachbarten 
Baladea,  endlich  auf  Eauro  (San  Christoval)  und  Guadalcanar  der 
Salomonengruppe  gesammelt.  Auf  allen  diesen  Inseln  sind  Misch- 
ungen mit  Polynesiern  nachgewiesen  worden  und  in  Folge  dessen 
haben  die  Papuanen  auch  polynesische  Gebräuche  und  Sitten  sich 
angeeignet.  Erst  eine  genauere  Untersuchung  papuanischer  Sprachen 
auf  Neuguinea  würde  daher  genügendes  Licht  über  die  lingu- 
istische Verwandtschaft  bringen  können,  sie  fehlt  aber  unsers  Wjs- 
sens  noch  gänzlich.  ■ 

Durch  sein  lärmendes,  geschwätziges,  ausgelassnes,  wissbe- 
gieriges Wesen  und  seine  rastlose  Beweglichkeit  unterscheidet  sich 
der  Papuane  Neuguineas  scharf  von  dom  verschlossnen  und  be- 
dachtsamen asiatischen  Malayen.  Die  Papuanen  Neuguineas,  wie 
der  Fidschigruppe  und  Baladea*s  kochen  in  irdnen  Geschirren,  die 
allen  Polynesiern  fehlen.  Ihre  Erfindungsgabe  bekunden  die  Fidschi- 
leute damit,  dass  sie  ihre  Kleiderstoffe  aus  Baumrinde  (Tapa)  lär- 


i)  V.  d.  Gabelentz,  über  die  melanesiscben  Sprachen,  in  Abhandlungen 
der  philoL-histor.  Classe  der  kgl.  sächs.  Gesellsch,  der  Wissenschaften.  Leipzig 
1861.     Bd.  3.  S.  254—266. 


^^1  Die  aiislmli seilen  und  asiatischen  Papuanen. 

ben  und  wie  Kattun  mit  hölzernen,  ausgeschnitzten  Modeln  oder 
mit  Schablonen  aus  Uananenblättern  bunt  zu  mustern  verstehen. 
So  zeichneten  auch  die  Bewohner  der  Humboldtsbay  (Neu-Guinea) 
ab  ihnen  holländische  Seefahrer  Papier  und  Bleistift  gaben,  ol>- 
glcich  sie  beides  sicher  ziiin  ersten  Male  sahen,  mit  fester  Hand 
Fische  und  Vögel'),  Wallace  legt  grosses  Gewicht  darauf  dass 
der  Papuane  sein  Haus,  sein  Fahrzeug  und  seine  Geräthe  mit 
Schnilzwerk  verziert  und  daher  einen  Kunsttrieb  verräth,  den  er 
der  nialayischen  Race  fast  gänzlich  abspricht').  Allein  das 
Letztre  giU  hüclistens  nur  von  den  asiatischen  Malayen  und  kann 
auch  bei  diesen  dem  Umstände  zugeschrieben  werden,  dass  die 
Gewerbe  und  Künste  der  Haibcultur  nach  längerem  Handelsver- 
kehr mit  verfeinerten  Völkern  vernachlässigt  werden  und  erlöschen. 
Die  polynesischen  Malajen  dagegen  überbieten  durch  kunstsinnige 
Schnitzereien  und  Tälowimngen  leicht  alle  Papuanen.  Die  letz- 
teren haben  sich  wie  ihre  weite  überseeische  Verbreitung  bezeugt, 
frühzeitig  und  vielleicht  vor  den  Malayen  auf  die  See  gewagt, 
sind  aber  von  diesen  an  nautischer  Geschicklichkeit  später  weit 
überboten  worden.  Die  Werkzeuge  der  Papuanen  sind  undurch- 
bohrte  Stein  geräthe  3),  doch  hat  sich  über  den  Westen  von  Neu 
Guinea  bereits  die  Kenntniss  der  Eisenerze  und  ihrer  Ausschmel- 
zung verbreitet.  Da  bei  letzterer  der  raalayische  Blasbalg  mit 
Röhren  und  Pumpen  angewendet  wird*),  so  wissen  wir  auch,  dass 
jener  Fortschritt  aus  dem  Westen  stammt. 

Das  weibliche  Geschlecht  bedeckt  sich  nach  der  Altersreife 
stets  mit  dem  Liku  oder  t'ransengürtel,  bei  den  Männern  ist  ein 
Lendentuch  gebräuchlich,  doch  genügt  an  den  abgelegnen  Küsten 
und  Inseln  oft  ein  Stück  Bambusrohr,  ein  zusammengerolltes  Blatt, 
ein  Kürbis,  eine  Muschel  um  das  Geschlechtswerkzeug  zu  ver- 
stecken und  es  an  einer   Hüftenschnur    festzubinden  s).     Gänzliche 

i)  Nieuw  Gainea,  elhnogtaphisch  onderioocht,    Amslerdam  1862.  p:  178. 
1)  Der  Malayische  Archipel.     Bd.  2.  S.  413, 

3)  J.  G,  Wood,  Natural History  of  man.     London  1870.  tom.  IL  p.  315. 

4)  O.  Finsch,  Ncu-Guinea  S.  113. 

5)  Dieselbe  Sitte  herrschte  zur  Zeit  der  EnldeckuuE  am  caribischen  Golf 
in  Cumani  und  auf  der  Landenge  von  Darien  s.  Peschel,  Zeitaller  der  Ent- 
deckungen, S.  3JI.  S.  454.  Das  Zusammenschnüren  der  Vorhaut,  ebenfalls 
eine  papuanische  Sitte  wiederholt  sich  l>ei  den  brasilianischen  Machacaris  am 
Belmunle  sowie  bei  den  Patachos.  Frini  v,  Neuwied,  Reise  nach  Brasilien. 
Frankfurl  1820.  Bd.  i.  S.  377. 


Die  australischen  und  asiatischen  Papuanen.  365 

Nacktheit  der  Männer  gehört  zu-  den  Seltenheiten,  soll  aber  auf 
Neu-lrland  vorkommen*).  Bogen  und  Pfeile  dürfen  wir  als  Jagd- 
waffen nur  auf  und  in  nächster  Nähe  von  Ney-Guinea  suchen. 
Dort  an  der  Südküste  wurde  schon  von  Capt.  Cook  aber  nur  aus 
der  Ferne  in  den  Händen  der  Eingebornen  ein  Rohr  wahrgenom- 
men, welches  die  letzteren  wie  zum  Zielen  anlegten  und  aus  dessen 
Mündung  sie  plötzlich  eine  Wolke  hervorstiessen.  Wäre  auch  ein 
Knall  gehört  worden,  so  hätte  man  den  Papuanen  den  Besitz  von 
Feuergewehren  zuschreiben  müssen.  Nach  Salomon  Müllers  Er- 
klärung wird  aber  aus  dem  Rohr  nur  ein  feiner  Staub  heraus- 
geblasen ,  um  je  nach  der  Richtung  der  W^olke  weithin  sichtbare 
Signale  zu  geben*). 

Die  Papuanen  leben  vom  Ertrag  des  Ackerbaus  wie  der 
Baumzucht  und  zwar  findet  sich  der.  Brodfruchtbaum  in  dem  Papu- 
anengebiet  nur  in  samenlosen  Spielarten,  demnach  als  Cultur- 
geschöpf  und  entlehnt  von  fremden  Völkern'*).  Die  Felder  und 
Gärten  werden  eingezäunt;  zu  ihrer  Benetzung  erbauen  oben- 
drein die  Neu  Caledonier  auf  Baladea  Wasserleitungen  nach  weiten 
Entfernungen*).  Nur  ihnen  fehlt  das  Schwein,  neben  dem  Hund 
das  einzige,  sonst  überall  vorhandne  Hausthier  der  Papuanen. 

Durch  Menschenfresserei  die  auf  Neu-Guinea,  Baladea  und 
den  Fidschiinseln,  auch  wohl  noch  an  den  andern  Verbreitungs- 
orten herrscht,  hat  sich  diese  Race  tief  entwürdigt. 

Sonst  werden  die  Papuanen  Neu-Guineas  und  der  kleineren 
Inseln  wegen  Keuschheit  und  Sittsamkeit,  wegen  ihrer  Ehrfurcht 
vor  den  Eltern  und  ihrer  Geschwisterliebe  gerühmt  5).  Wenn  Greise 
auf  den  Neuen  Hebriden  lebendig  begraben  werden,  so  geschieht 
es  wahrscheinlich,  wie  auf  den  Fidschinseln,  auf  ihr  eignes  Ver- 
langen. Der  Glaube  an  die  Fortdauer  nach  dem  Tode  herrscht 
nämlich  unerschütterlich  und  wie  der  Mensch  das  Diesseits  ver- 
lässt,  so  denkt  man  sich  seine  jenseitige  Erneuerung,  daher  ein 
frühzeitiger    Tod    der     gänzlichen    Entkräftung    vorgezogen    wird. 


1)  P.  Lesson,  Voyage  autour  du  monde.     Paris  1839.  tom.  II.  p.  37. 

2)  Natuurlijke    Geschiedenis    der    nederlandsche    overzeesche    bezittingen, 
Land  en  Volkenkunde.     Leiden  1839 — 44.  fol.  55. 

3)  Waitz  (Gerland)  Anthropologie.     Bd.  6.  S.  521. 

4)  F.  Knoblauch  im  Ausland  1866.     S.  448. 

5)  O.  Fi n seh,  Neu-Guinea.  S,  loi. 


■■(,()  Die  australischcD  und  asiatischen  Papuänen. 

Tü'.e  Schauderscenen  die  Williams')  bei  der  lebendigen  Ueerdigung 
eines  Fidschihäuptlings  beschre'bt,  dessen  Frauen  gleichzeitig  er- 
drosselt wurden,  erklären  sich  nicht  ungünstig  aus  jenem  Wahn, 
wird  docli  auch  rührender  Weise  auf  den  Loyalitätsinseln  beim 
'I'ode  eines  geliebten  Kindes,  damit  es  n'.cht  ganz  im  Jenseits 
verlassen  sei,  die  Mutter  oder  die  Tante  getödtet'J.  Damit  verknüpft 
sich  eng  ein  Dienst  der  Abgeschiednen,  deren  Schädel  als  Hausgötzen 
aufgestellt,  um  Wahrzeichen  befragt  und  um  Unterstützung  in 
schwierigen  Unternehmungen  angeruTen  werden.  Da  diese  Sitte 
bei  den  Papuanen  Neu-Gu^neas  beobachtet  worden  ist*),  so  kann 
sie  nicht  von  den  Polyneslern  entlehnt  worden  sein.  Man  trifft 
ebendaselbst  grosse  hohe  leere  Gebäude  auf  Tlahlrostcn,  die  als 
Andachtstätten  oder  Tempel  dienen.  Die  Papuanen  huldigen  da- 
bei i  dualistischen  Aniichten .  denn  sie  schreiben  einem  bösen 
Wesen  Manuwel  alles  Unheil  zu,  verehren  und  opfern  aber  nur 
dem  guten  SchutEgeist  unter  dem  Namen  Narvojü*).  Berufsscha- 
manen fehlen  den  unvermisditen  Völkerschaften,  ein  jeder  verlegt 
sich  vielmehr  auf  das  Errathen  der  Zukunft.  Die  Unschuld  eines 
Angeklagten  wird  gottesgerichtlich,  entweder  durch  die  Probe  mit 
siedendem  Wasser  oder  durch  'langes  Untertauchen  ermittelt*). 
Auf  Neu-'juinea  und  üjerall  dort  wo  die  polynesischen  Eindring- 
linge nicht  ihre  Gebräuche  und  gesellschaftlichen  Anschauungen 
eingebürgert  haben,  herrscht  Freiheit  und  Gleichheit,  die  Macht 
der  Häuptlinge  ist  daher  schattenhaft. 

Die  höchste  geistige  und  gesellige  Entwickelung  hat  die  papu- 
anische  Kice  auf  den  Fidscliünseln  sich  erworben,  freilich  indem 
sie  durch  den  innigen  Verkehr  mit  den  Tonganern  polynesische 
Erfindungen  und  S atz ungen]gel ehrig  sich  aneignete.  Dahin  gehört 
das  Trinken  der  Vakona  oder  des  Kawa,  die  Eintheilung  in 
Zünfte  und  in  Kasten,  endlich  die  Tabusatzung,  welche  die  Häupt- 
linge zur  Mehrung  ihrer  Macht  eifrig  verbreitet  haben,  jetzt 
brauchen  sie  nur  ihr  Gewand  über  die  Fluren  schleppen  zu  lassen, 
um  alle  berührten  Fcldfriichtc  für  ihren  eignen  Genuss  zu  heiligen. 


Ij  Fiji  and  llie  Fijians.  loni.  I,  p,  193 
a)  Wailz,  (Gcrland)  Anlhiapolagie. 

3)  Finsch,  1.  c.     S.  105. 

4)  Fitisch,  1.  c.     S.  107. 

;,    !■  iu-l:!,,  1,  c.      S.   113. 


Die  australischen  und  asiatischen  Papuaneu.  ihn 

Die  Häuptlinge  von  Mbengga,  eines  Eilandes  an  der  Südküste  von 
Gross-Fidschi  führten  den  Titel  Gali-cuva^ki-lagi  oder  „nur  dem 
Himmel  unterthan".  Die  kleinen  Inseldespoten  lagen  beständig 
in  Fehde  und  ihre  Geschichte  bietet  vielen  Stoff  zu  Vergleichen 
mit  dem  peloponnesischen  Kriege.  Eine  Art  von  diplomatischem 
Corps  war  an  den  einzelnen  Höfen  vertheilt  und  verstand  sich 
auf  alle  macchiavellistischen  Künste').  Bei  Sendungen  von  Bot- 
schaften waren  zur  Nachhilfe  des  Gedächtnisses  Stäbchen  und  Netze 
im  Gebrauch,  worin  wir  einen  ersten  Versuch  zur  sinnbildlichen 
Befestigung  des  Gedankens  und  ein  Bedürfniss  nach  Schrift  er- 
blicken müssen.  Auf  den  Palau-Inseln  .  dienen  Schnüre  mit  Knoten 
und  Verschlingungen  um  sich  gegenseitig  Nachricht  zu  geben  oder 
irgend  einen  Auftrag,  den  ein  Dritter  überbringen  soll,  zu  beglau- 
bigen. Sie  heissen  in  der  Ortssprache  rusl  und  bedeutsam  ist  es, 
dass  dieses  Wort  jetzt  auch  für  die  Briefe  der  Europäer  angewen- 
det wird*).  Im  geselligen  Um^^anje  sind  die  Fidschileute  bedacht 
ihrer  Rede  gefallige  Formen  und  glatten  Schliff  zu  geben,  ihre 
Sprache  enthält  nach  der  Versicherung  von  Williams  Ausdrücke 
die  dem  Französischen  Monsieur  und  Madame  genau  entsprechen^;. 
Selbst  den  Europäern  gegenüber  haben  sie  sich  noch  immer  ein 
hohes  Nationalbewusstsein  bewahrt,  das  freilich  uns  nur  dünkel- 
haft vorkommt. 

Ausserordentlich^reich  sind  sie  an  mythologischen  Dichtungen 
die  in  gebundner  Rede  und  gereimt,  sowie  in  einer  gehobenen 
Sprache  vorgetragen  werden.  Ein  Europäer,  der  ihnen  die  Märchen 
aus  Tausend  und  einer  Nacht  erzählte,  erwarb  sich  viel  Geld  von 
den  Zuhörern'*).  Der  Glaube  an  eine  Fortdauer  nach  dem  Tode 
ist  in  ihnen  wie  in  allen  Papuanen  so  mächtig,  dass  er  zu  Selbst- 
mord und  zu  Menschenopfern  am  Grabe  der  Verstorbnen  führt. 
Selbstverständlich  herrscht  daher  auch  eine  Verehrung  der  Abge- 
schiedenen, neben  denen  aber  auch  ein  Welt-  und  Menschen- 
schöpfer Ndengei,  sinnbildlich  als  Schlange,  angebetet  wird  5). 

Zu  ihren  gewerblichen  Erfindungen  gehört  auch  ein  Netz  zum 
Schutze  gegen    die    Moskitos,    welches  wir  bei    den  benachbarten 


i)  Horatio  Haie,  Kthnography.  p.  51. 

2)  K.  Sem  per,  Die  Palau-Inseln.  Leipzig  1873.  S.  138.  S.  263.  S.  323 

3)  Williams,  Fjji  and  the  Fijians,  tom.  I.  p.  155. 

4)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie     Bd.  6.    S.  O05. 

5)  Williams,  1.  c.  tom.  I.  p.  217. 


TjjÜ  Die  auMralischen  und  asiatischen  Papuanen. 

Polynesiern  ebenso  vergL'bens  suchen  würden,  wie  irdne  Geschirre 
die  aus  rotheni  oder  blauem  Thon  von  den  Fidschi  verfertigt,  durch 
reine  und  geralUye  Umrisse  sich  auszeichnen.  Sind  sie  auch  im 
Schiffbau  Schüler  der  Polynesier,  so  zimmern  sie  doch  Fahrzeuge 
bis  zu  118'  Länge  und  24'  Breite,  versehen  sie  mit  einem  Mast 
von  68'  Hohe  und  schmüclten  sie  reichlich  mit  Schnitzwerit.  Dazu 
bedienen  sie  sich  nur  der  undurch bohrten  Steinäxte,  ferner  der 
Rattenzähne  zu  feineren  Skulpturen,  der  Pilzkorallen  und  der  Haut 
des  Stachel rochens  als  Feilen,  sowie  endlich  des  Bimssteines  zum 
Poliren. 

In  ihrer  Kriegsltunst  waren  sie  so  weit  gekommen,  dass  sie 
Canälc  oder  Wassergräben  nur  Befestigung  ihrer  Ortschaften  zogen 
und  darin  Muntivorräthe  angeblich  auf  vier  Jahre  aufspeicherten'). 
Lrider  zeigen  sie  mehr  Nt-ijung  zur  List  als  zu  heldenhaftem  Muth, 
auch  wird  ihnen  allgemcm  \  erschlage nheit,  Falschheit  und  Sucht 
zu  Argwohn  schuld  gfgeben.  Gerade  bei  diesem  gewiss  geistig 
hoch  begabten  und  strebsamen  Volke  herrschte  und  herrscht  noch 
jetzt  die  Jlcnsdienfrc  sserei  aus  Lüsternheit. 


t  (Gerland),  Anlhropologie.     Bd.  6.  S.  642- 


III. 

DIE  MONGOLEXÄHNLICHEN  VÖLKER, 


Zu  dieser  Race  zählen  die  polynesischen  und  asiatischen  Ma- 
layen,  die  Bevölkerungen  im  Südosten  und  Osten  Asiens,  die  Be- 
wohner  Tübets,  sowie  etliche  Bergvölker  des  Himalaya,  ferner 
alle  Nordasiaten  sammt  ihren  Verwandten  in  Nordeuropa,  endlich 
die  amerikanische  Urbevölkerung.  Gemeinsam  ist  allen  das  lange, 
straffe,  im  Querschnitt  walzenförmige  Haar,  Armuth  oder  gänz- 
licher Mangel  an  Bartwuchs  wie  an  Leibhaaren,  eine  Trübung 
der  Hautfarbe,  von  Ledergelb  bis  zum  tiefen  Braun,  bisweilen  ins 
Röthhche  spielend,  vorstehende  Jochbogen  begleitet  bei  den  mei- 
sten von  einer  schiefen  Stellung  der  Augen.  Für  alle  sonstigen 
Merkmale  sind  Uebergänge  vorhanden,  so  dass  die  örtlichen  Typen 
in  einander  verschmelzen,  wie  diess  bei  jeder  Gruppe  gezeigt 
werden  soll.  Die  Sprachmerkmale  allein  gewähren  die  Mittel  zur 
Aufstellung  von  Unterabtheilungen. 


I.     Der   malayische   Stamm. 

Die  malayischen  Sprachen  vereinigt  eine  Gemeinsamkeit  der 
Wurzeln^),  nicht  der  Worte.  Das  bedeutet  dass  die  Glieder  dieser 
Völker-Familie  sich  früher  trennten,  ehe  die  Sprachbildung  schon 
zu  einem  festeren  Gefüge  gelangt  war.  Die  Ursprache  selbst  ent- 
wickelte sich  selbständig  und  stand  vereinzelt  auf  der  Erde.  Ihre 
sinnbegrenzenden  Wurzeln  werden  theils  vorgesetzt,  theils  ange- 
hängt.    Die  polynesischen  Mundarten  sind  ärmer    an  Lauten  und 


i)  Ueber  das  Typische  der  Malayensprachen  S.  oben,  S.  I2i — 122. 
Peschel»  Völkerkunde.  24 


•'Q  Der  malay(sche  Stamm. 

alterlSiümlicher  geblieben,  die  westlichen  oder  asiatischen  Mund- 
arten sind  reicher  und  zugleich  werden  bei  ihnen  durch  I-aut- 
veränderungen  die  J-'orm  und  Stoffelemente  der  Wurzelgruppen 
inniger  mit  einander  verbunden").  Die  Heimat  wo  jene  Ursprache 
sich  entwickelte,  lag  im  südöstlichen  Asien,  entweder  auf  dea 
grossen  Snndainseln  oder  auf  den  Ausläufern  des  Festlandes.  Von 
diesem  Herde  aus,  scliwürmte  ein  Theil  der  seetüchtig  geworde- 
nen Familie  gegen  Osten  aus  und  bevölkerte  die  Eilande  der 
Südsee  bis  zur  Havaigruppe  gegen  Nordost  und  "der  Osterinsel 
im  äussersten  Osten.  Dieser  Uruchtheil  der  Malayen  kam  in  viel- 
fache Berührung  mit  Papuanen  und  es  entstanden  dadurch  Misch- 
linge die  wir  jetzt  als  Mikronesier  zusammenfassen. 

Die  Zeit,  wann  sich  die  polynesischen  Malayen  von  ihren 
asiatischen  Geschwistern  trennten,  lässt  sich  bis  jetzt  auch  nicht 
annäliernd  begrenzen,  Wohl  bemerkte  schon  ein  geistvoller,  vor- 
zeitig uns  entrissener  Botaniker,  Berthold  Seemann,  dass  der  Palm- 
■wein,  der  aus  den  Wunden  der  Cocosblüthenscheide  abgezapft 
wird,  Toddy  oder  'laddy  bei  den  Jlalaycn  der  Sundainseln  heisse. 
Dieses  Wort  stammt  aus  dem  Sanskrit,  folglich  haben  brahma- 
nische  Hindu  die  wichtige  Kunst  der  Palmwein  bereit  ung  erst  auf 
den  ostasiatischen  Inseln  eingebürgert').  Da  nun  die  Cocospalme 
wahrscheinlich  von  Ost  nach  West  sich  verbreitet  hat,  keiner 
tropischen  Insel  der  Süd^ee  fehlt,  ihre  Nuss  den  Bewohnern 
der  Atolle  oder  Korallengruppen  als  tägliche  Nahrung,  ja  oft  als 
das  einzige  Mittel  zur  Stillung  des  Durstes  dient,  so  ist  es  kaum 
glaublich  dass  die  Polynesier,  wenn  sie  vor  ihrer  Auswanderung 
das  Geheimniss  der  Palmwcinbereitung  gekannt  hätten,  letztere  jemals 
wieder  aufgegeben  haben  sollten.  Da  ihnen  aber  zur  Zeit  der 
ersten  europäischen  Besucher  jenes  Genussmittel  völlig  fremd  war, 
SD  muas  ihre  Auswanderung  vor  der  Ankunft  sanskritredender 
Indier  auf  Java  erfolgt  sein,  also  jedenfalls  vor  dem  Beginn  der 
Zeitrechnung  des  Saka  oder  Salivana,  die  etwa  um  das  Jahr  78 
V.  Chr.  eingeführt  wurde-').  Wir  gelangen  mit  dieser  Schluss- 
folgerung   aber    nur    zu    liner    allzukurzen    Vergangenheit.     Weit 


1}  Fr.   Müller,   Reise   du:   Fregatte  Novara.     Anthropologie.     3.  Abth. 

0.  S.  45- 

;)  Berihold  Seemann,  Dotlings  on  the  toadäide.  p.  153. 

3)  CrnwfiiTii,  Dktionjry  of  the     Indian  Islands,  p.  IJ7, 


Der  malayische  Stamm.  171 

längere  Zeit  erforderte  die  Ausbildung  der  Sprachverschiedenheiten. 
Wir  können  noch  hinzufügen,  dass  die  Kunst  Thongeschirre  zu 
fertigen  beim  Ausschwärmen  der  Polynesier  in  der  Urheimat  noch 
nicht  bekannt  war,  denn  alle  Polynesier  kochen  ihre  Nahrung 
mit  erhitzten  Steinen.  Dagegen  herrschte  im  Ursitze  bereits 
der  Brauch,  Personen  oder  Gegenstände  bis  zur  Unberührbar- 
keit  zu  heiligen,  denn  Ueberreste  der  Tabusatzungen  in  der 
Form  von  Interdicten  haben  sich  auf  der  Insel  Timor  und  unter 
den  Dayaken  Borneos  noch  erhalten*). 

Der  Ausbreitung  der  Polynesier  von  West  nach  Ost  erwuchsen 
keine  unüberwindlichen  Schwierigkeiten  durch  die  herrschenden  Ost- 
passate  und  westlich  gerichteten  Strömungen,  denn  es  fehlt  nicht 
an  gelegentlichen  Gegenwinden  und  Gegenströmungen.  Die  ältere 
Ueberschätzung  jener  Hindernisse  beseitigt  vollständig  die  von 
J.  R.  Forster  veröffentlichte,  von  Horatio  Haie  aber  zuerst  richtig 
erklärte  Karte')  eines  Polynesiers  Tupaia  der  alle  Inselgruppen 
zwischen  den  Marquesas  im  Osten  und  dem  Fidschi-Archipel  gegen 
Westen  kannte,  so  dass  also  zu  Capt.  Cooks  Zeiten  von  Tahiti 
aus  immer  noch  ein  Verkehr  bestand,  der  sich  über  vierzig 
Längengrade  erstreckte.  Obendrein  gewähren  die  Vergleiche 
polynesischer  Mundarten  und  die  Ueberlieferungen  der  Eingebor- 
nen  uns  die  jNIittel  die  Reihenfolge  der  einzelnen  Besiedelungen 
festzustellen. 

Die  L*ewohner  von  Rapa-nui  oder  der  Osterinsel  wollen  von 
Oparo  oder  Rapaiti  (27  ^35'  s.  Br.  144^20'  w.  L.  Green w.)  ab- 
stammen, und  werden  daher  auf  der  Fahrt  nach  ihrer  Heimat 
Pitcairn  berührt  aber  wieder  verlassen  haben,  weil  auf  dieser  Inse 
Reste  von  alten  Steinbauten  stehen "5).  Nach  den  Ueberlieferungen 
der  Eingebornen  landeten  sie,  an  Zahl  400,  unter  einem  Anführer 
oder  König  Tu-ku-i-u  oder  Tocuyo,  der  auch  Hotu  oder  Hota 
motua    genannt    wird^).     Seit    ihrer  Ankunft    bis    auf  unsre  Tage 


i)  Waitz  (Gerland),  Anthropologie.  Bd.  6.  S.  355.  Spenser  St.  John^ 
Life   in   the  Far  East.     London   1862.   tom.  L,  p.  175—176. 

2)  United  States  Exploring  Expedition.  Ethnography.  Philadelphia  1846. 
p.  122. 

3)  AVaitz,  Anthropologie.     Bd.  5.  S.  224. 

4)  Bericht  von  Hrn.  de  Lapelin  in  Revue  maritime  et  coloniale.  Novbr. 
1872.  tom.  XXXV.  Paris  1872.  p.  105.  u.  Palmer,  Visit  to  Easter  Island 
im  Journal  of  the  R.  Geogr.  Society.  London  1870.  vol.  XL.  p.  108. 

24* 


-•-2  Her  m.iliyisclie  Slamm. 

waren  22  Häuptlinge  zur  Herrschaft  gelangt,  so  dass  wenn  die 
mittlere  Dauer  jeder  Regierung  auf  20  Jahre  bemessen  wird,  die 
Ik'Biedelung  der  Insel  höchstens  in  das  Jahr  1400  n.  Chr.  hinauf- 
reicht. Die  Ueberlieferung  würde  an  Glaubwürdigkeit  gewinnen, 
wenn  die  drei  Holztafeln  mit  Bilderzeichen,  die  neuerlich  bei  den 
O Sterin sul aliern  gefunden  inid  von  Europäern  ihnen  entfülirt  worden 
sind,  als  rohe  Schriftversuche  die  Namenfoige  der  Konige  ent- 
hielten '). 

Die  Einwohner  haben  liohe  aber  äusserst  rohe  Steinbilder 
mit  I^Ienschengesichtern  aus  einer  leicht  zerreiblichen  Trachytlava 
zu  Hunderten  verfertigt')  und  auf  der  Insel  zerstreut  aufgestellt, 
vielleicht  zur  Erinnerung  an  Verstorbne.  Auch  erbauten  sie  grosse 
steinerne  Terrassen,  die  an  die  Morai  der  übrigen  Polynesier  er- 
innern. Endlich  fand  man  auf  der  Insel  Trümmer  ehemaliger 
geräumiger  Gebäude  au^  Steinplatten,  die  jetzt  verfallen  liegen, 
aber  noch  vor  150  Jahren  bewohnt  gewesen  sein  müssen,  denn 
an  ihren  Wanden  stellen  Bilder  mit  weisser,  rother  und  schwarzer 
Farbe  Pcliafe,  Pferde  und  Schüfe  mit  ihrem  Tackelwerk  dar^), 
RoggpWL-en  aber  war  der  erste  Seefahrer,  der  1721  einen  Verkehr 
mit  den  Bewohnern  eröffnete.  Es  hat  natürlich  nicht  au  \'er- 
rauthungen  gefehlt,  dass  vor  der  Ankunft  der  heutigen  polynesi- 
schen  Uewohnev  ein  Culturvolk  die  Osterinsel  besessen  habe  und 
dann  ausgestorben  sei.  bis  heutigen  Tages  aber  sind  sie  ohne 
Begründung  geblieben.  Die  Bewohner  Rapanui's  bestätigen  uns  im 
Gegontheil  die  Erfahrung,  dass  wenn  sich  eine  Handvoll  Jleiischen 
in  eine  oceanische  Einsamkeit  verirrt  und  dort  ohne  anregenden 
-  Verkehr  verharrt,  ihre  bei  der  Trennwig  noch  vorhandnen  Fertig- 
keiten und  Fähigkeiten  allraählig  einschlummern.  Die  übrigen 
Polynesier  errichten  zwar  heutigentags  nur  hölzerne  Gebäude, 
aber  Reste  vormaliger  Steinbaulen  sind  auf  verschiednen  Süd'see- 
inseln  aufgefunden  worden*). 


1)  Meinicke  in  der  Zeitschiifl  fiir  ErdkuaJc,  Bd.  6.  Berlin  i87r.  S.  5^8. 

3)  Nach  den  Abbildungen  in  der  Revue  maritime  et  coloniale  1.  c.  und 
nachJPliDtograpliien,  die  uns  iugekomnlen  sind,  gleichen  jene  Skulpturen  seht 
stark  den  bekannten  neuseeländischen  hölzernen  Tikibildem. 

31  Palmer.  1.  t.  p.  i;6, 

41  Eine  Aufiähiung  solch«  Alterthümer  gibt  Waitz,  Anthropologie. 
Bd.  5.     S.   21+. 


Der  malayische  Stamm.  375 

Auf  dem  Sandwicharchipel  kehren  in  Insel-  und  Ortsnamen 
wie  Havai ,  Upolu  und  Lehua  Inselnamen  der  Schiffer-  oder 
Samoagruppe  (Sevai,  Upulu,  Lefuka)  wieder.  Doch  kamen  die 
ersten  Besiedler  der  Havaiinseln  nicht  unmittelbar  von  der  Samoa- 
gruppe, wenn  auch  ihre  Vorfahren  dort  ihren  Ursitz  gehabt  haben^ 
In  ihren  alten  Gesängen  werden  nämlich  auch  Inseln  des  Mar- 
quesasarchipels  wie  Nukahiva  und  Tahuata,  ausserdem  aber  auch 
Tahiti  erwähnt').  Da  ferner  die  Mundart  der  Kanaken  oder 
Havaier  sich  eng  an  diejenige  der  Marquesaner  anschliesst,  so 
lässt  sie  deshalb  Horatio  Haie  von  letztern  abstammen,  während 
ihre  Sagen  und  Sprüchwörter  wieder  nach  Tahiti  zurückverweisen'). 
Ihre  König slisten  enthalten  67  Namen,  doch  müssen  davon  min- 
destens die  ersten  22  als  sagenhaft  wegfallen,  so  dass  nur  45 
übrig  bleiben,  die  bei  einer  durchschnittlichen  Regierungsdauer 
von  20  Jahren  die  Eesiedelung  der  Gruppe  in  die  Mitte  des 
10.  christlichen  Jahrhunderts  zu  setzen  erlauben^).  Die  wichtige 
Entdeckung,  dass  die  Brotfrüchte,  wenn  man  sie  einer  Gährung. 
überlassen  hat,  lange  Zeit  aufbewahrt  werden  können,  wie  dies 
auf  Tahiti  und  auf  den  Marquesas-Inseln  geschieht '♦),  fällt  erst  nach 
der  Auswanderung  der  Kanaken;  denn  auf  den  Sandwichinseln 
war  sie  nicht  bekannt^).  Wir  gewahren  dabei  abermals,  wie  un- 
günstig die  räumliche  Absonderung  nach  schwer  zugänglichen 
Inseln  wirkte,  weil  sie  die  Verbreitung  glücklicher  Gedanken  ver- 
zögern musste. 

Beträchtlich  früher  landeten  .die  ersten  Seefahrer  auf  der 
Marquesasgruppe ,  in  deren  Mundarten  tonganische  und  tahi- 
tische  Eigenthümlichkeiten  wiederkehren,  weshalb  auf  eine  Be- 
siedelung  sowohl  von  den  Gesellschafts-,  wie  von  den  Freund- 
schaftsinseln geschlossen  werden  darf.  Von  Vavau  oder-  einer 
Insel    der    letztern    Gruppe    leitete    der    nukahivische    Häuptling 


')  J*  J'  Jarves,  History  of  the  Hawaian  or  Sandwich  Islands.  Boston 
1844.  p.  26. 

2)  Waitz,  Anthropologie.     Bd.  5.  S.  220: 

3)  H.  Haie  (United  States  Explor.  Exped.  Ethnography  p.  129 — 136.) 
nimmt  30  Jahre  für  die  Dauer  einer  Herrschaft  an.  Wem  das  besser  gefällt, 
der  kann  danach  die  obige  Rechnung  umgestalten. 

4)  V.  Langsdorff,  Reise  um  die  Welt.     Bd.  i.  S.  107. 

5)  Tylor,  Urgeschichte.     S.  229. 


3,U 


DtT  ■mali7i5rht  SWmm. 


Gattanewa.  richtiger  KeatanuL  die  ersten  Bewohner  seiner  hei- 
matlichen Gruppe  her.  und  nicht  weniger  als  88  Herrschernamen 
konnten  noch  aufgezählt  werden").  Dies  würde  nns  in  die  ersten 
Jahriiundcne  vor  unserer  Zeitrechnung  zurückführen,  wenn  nicht  auch 
hier  am  Beginn  der  Liste  sagenhafte  Gestalten  bese.tigt  werden 
müssten. 

Keine  Ueberliefemngen  sind  über  die  Anfange  der  Besiedelung 
von  Paumotu  oder  der  Inselwolke  vorhanden,  auch  enthält  der 
dortige  Sprachschatz  ausserordentlich  viele  Besonderheiten,  dagegen 
stimmt  er  im  Satzbau  mit  der  tahitischcn  Mundart  gut  zusammen, 
sodass  also  wahrscheinlich  eine  Einwanderung  von  den  Gesellschafts- 
inseln stattfand';.  In  frischem  Schmucke  glänzen  dafür  die  Ueber- 
liefertmgen  der  Jlaori  Neu-.Seelands,  denn  sie  wollen  noch  Zahl 
und  Namen  der  Schiffe  festgehalten  haben  und  die  Küstenstellen 
kennen,  wo  ihre  Vorfahren  landeten.  Es  war  die  Nordinsel, 
welche  zuerst  und  von  Osten  her  erreicht  worden  war,  doch 
nennen  die  Maoti  ihre  Urheimat  Havaiki  und  deuten  damit  auf 
die  Samoagruppe ,  wenn  auch  später  unter  Havaiki  ein  weit  ent- 
rücktes glückliches  Land  verstanden  wurde,  wohin  die  Seelen  der 
Abgeschiedenen  heimkehrten^).  Die  Maori  brachten  die  Hausthiere 
der  Urheimat  nicht  mit  nach  ihren  neuen  Sitzen,  doch  hat  sich 
in  ihrer  Sprache  das  polynesische  Wort  für  Schwein  puaka  er- 
erhalten').  Ferner  müssen  ihre  Vorfahren  die  Cocospalrae  gekannt 
haben,  denn  das  polynesische  Wort  für  die  Nuss  hat  sich  die 
Maorisprache  bewahrt,  aber  nur  für  ein  Werkzeug  der  Wahr- 
sagung'), Die  Verzeichnisse  der  neuseeländischen  Häuptlinge  er- 
strecken sich  rückwärts  auf  i6 — 2Q  Geschlechter,  so  dass  also  kaum 
400  Jahre  seit  der  ersten  Besiedelung  verstrichen  waren.  Uebrigens 
sollen  Nachzügler    noch  vor  etwa  einem  Jahrhundert  aus  Havaiki 


1)  H,  Ilale,  1.  c.  p,  t77— i:y. 

2)  Waili   iGerlnnd),  Amhropologle.     Bd.  5,  S.  Sil. 

3)  .Schirren  (Wandcrsayen  der  Neuseeländer,  Riga  1856.  S.  98)  und 
nach  ihm  F.  v.  Hochatelter  (Neu-Seelanil .  S.  5;)  verlegen  Havniki  nach 
der  Unterwelt  und  wollen  ihm  nur  eine  sagenhafie  Bedeutung  zugestehen. 
GtrUnd  hat  jedoch  geschickt  die  ältere  Ansicht  von  H.  Haie  wieder  zn 
Khren  Eebracht.     Waiti,  Anlhropologit.     Bd.   j,  S.  205. 

I   [GerLind),  I.  L.   S,   zm. 

ofäoge  <let  Cultut.     Bd.   I,  S.  üi. 


Der  malayische  Stamm.  ^^5 

«ingetroflfen  sein  und  die  Kumara  oder  süsse  Kartoffel  nach 
Is^euseeland  eingeführt  haben '). 

Für  die  kleineren  Inselgruppen  sind  ebenfalls  frühere  oder 
•spätere  Besiedelungen  nachgewiesen  worden,  und  wenn  man  auch 
auf  obige  Zeitberechnungen  kein  grosses  Gewicht  legen  darf,  so 
ist  doch  die  Thatsache  vor  jedem  Zweifel  gesichert,  dass  die 
Inselwelt  des  stillen  Meeres  von  Samoa  oder  den  Schüferinseln 
nach  und  nach  bevölkert  wurde  und  dass  dies  nicht  in  einer  allzu 
entfernten  Zeit  geschehen  sein  kann,  da  Ueberlieferungen  von 
einer  Einwanderung  nirgends  völlig  verklungen  waren. 

Die  Polynesier  konnten  keine  Jagd  betreiben*),  wohl  aber 
Fischfang.  Sonst  lebten  sie  vom  Ertrage  der  Cocoshaine,  der 
Brotfrucht  uncf  einiger  Knollengewächse,  wie  des  Taro  und  der 
süssen  Kartoffel.  Hund  und  Schwein  waren  ihre  Hausthiere  und 
fehlten  auf  Neuseeland  wahrscheinlich  nur  deswegen,  weil  bei  der 
langen  Ueberfahrt  die  mitgeführten  Zuchtthiere  schon  an  Bord 
aufgezehrt  werden  mussten,  sonst  nämlich  wurde  die  Besiedelung 
neuer  Inseln  stets  vorbedächtig  ins  Werk  gesetzt.  Die  Vertheilung 
des  Flüssigen  und  Festen  im  Südosten  Asiens  enthielt  an  sich 
schon  den  Antrieb  zum  Aufsuchen  überseeischer  Wohnplätze,  denn 
nirgends  auf  Erden  haben  sich  ehemalige  Festlande  zunächst  in 
geräumigere,  dann  in  immer  mehr  verkleinerte  Inseln  auf- 
gelöst. Die  niedrigen  Korallenketten  sind  nur  ungenügend  gegen 
Sturm  und  Brandung  gesichert,  bald  wird  dieses,  bald  jenes  Atoll 
zerstört  und  sein  Bewohner  genöthigt,  eine  neue  Heimat  aufzu- 
suchen. Wie  alle  Malayen  sind  die  Polynesier  geschickte  See- 
fahrer und  ihrem  Scharfsinn  verdanken  sie  die  Erfindung  der 
einfachen  oder  doppelten  Ausleger,  welche  ihre  schmalen  Segel- 
fahrzeuge vor  dem  Umschlagen  bei  heranrollenden  Wogen  sichern. 

Ihre  gewerblichen  Leistungen  gehörten  der  Stufe  geschliffener 
aber  undurchbohrter  Steingeräthe  an.  Speer  und  Keule  sind  die 
gewöhnlichen  Kriegswerkzeuge.  Thongeschirre  fehlten,  daher  die 
Nahrungsmittel  mit  glühenden  Steinen  gekocht  wurden.  Die  Woh- 
nungen bestanden  aus  Pfählen  mit  einem  Blätterdache  und  die 
Kleidung  aus  der  Rinde  des  Maulbeerbaumes,  obgleich  die  Baum- 
vroUenstaude  auf  den  Inseln  heimisch  ist. 


i)  Haie,  Ethnography.    p.  14^. 
2)  S.  oben  S.  190. 


376  -D"  makyiathe  Slarani. 

Die  relijjiÖscn  Regungen  der  Polynesier  äusserten  sich  in  Ver- 
ehrung von  Naturkräften,  die  in  menschlicher  Gestalt  gedacht  und 
deren  Thaten  und  Wandel  mit  geologischen  Sagen  verwebt,  vom 
Mythus  eben  so  sinnig  und  erfinderisch  ausgeschmückt  wurden,  wie  es 
von  den  Hellenen  mit  ihrer  epischen  Gotterwelt  geschah.  Die  Maori 
Neuseelands,  sonst  so  verabscheuungs würdig  wegen  ihrer  canibali- 
schen  Laster,  besitzen  gleichwohl  nnmuthige  Schöpfungssagen,  denen 
zufolge  in  der  Urnacht  zuerst  als  Feinstes  der  Gedanke  keimte,  auf 
welchen  dann  das  Begehren  folgte,  oder  nach  einer  abgeänderten 
Erzählung  zuerst  der  Gedanke  sich  regte,  dann  der  Geist  und 
zuletzt  die  Kürperstoffe  entstanden').  Neben  den  Naturkräften 
genossen  auch  die  abgeschiedenen  Häuptlinge  göttliche  Verehrung') 
und  Orakel  befanden  sich  an  ihren  heiligen  Stätten!  Eine  Priester- 
zunfit  war  in  allen  schamanistischen  Gaukeleien  wohl  geübt,  stand 
aber  an  Ansehen  tief  unter  den  Fürsten,  die  sich  einer  göttlichen 
Abkunft  rühmten  und  einer  gottlichen  Verehrung  nach  dem  Tode 
sicher  waren.  Eng  knüpfte  sich  daran  ihre  Macht  zu  tabuiren, 
kraft  welcher  sie  durch  Berührung  Fluren  als  unbetretbar  und 
Ernten  als  ungeniessbar  zu  erklären  vermochten.  Uebrigens  konnte 
manches  Tabu  auch  von  Plebejern  verhängt  werden.  Es  diente 
ferner  zum  Schutz  des  Eigenthums  und  zur  Beobachtung  nütz- 
licher Polizeivorschriflen^).  Ein  Bruch  dieses  Hannes  war  unerhört, 
weil,zeiüiche  und  ewige  Strafen  den  Ruchlosen  bedrohten.  Die 
unbewusste  Uebertretung  dieser  Satzung  führte  zu  blutigen  Rache- 
thaten  der  Eingebornen  gegen  Europäer,  und  Capitain  Cook,  ob- 
gleich von  den  Sand wichins  ulanern  als  Gott  vor  und  nach  seiner 
Ermordung  verehrt,  fiel  zur  Sühne  für  einen  Tabubruch.  Aus 
Missverständniss  dieser  Gebr.^che  ist  lange  Zeit  auf  die  Ge- 
müthsart  der  Polynesier  ein  tiefer  Schatten  gefallen.  Ein  Maori 
^  kam    vielleicht   verdurstet    an    das    Haus    eines   europäischen    An- 

siedlers und  bat  um  einen  Trunk,    der  ihm  in  einem  Kruge  oder 
'  Glase    gereicht   wurde.     Hatte  er  sich  gelabt,  so  zertrümmerte  er 

I  entweder  das  Gefäss  oder  steckte  es  ruhig  ein,  denn  durch  seine 

Berührung    war   es    geheiligt,    also  jedem   Gebrauch    durch    einen 
andern  entzogen*),  während  der  Beraubte  seitdem  wegen  der  ver- 

1)  Waiti  (Getland),  Anlhropologie.     B.  6.  S.  147. 

2)  Mariner,  ronga  Islands.     EdinborEh  1827,    lom.  II.  p.  73.  p.  84. 
f                               3)  V.  Langsdorff,  Reise  um  <Jic  Well.     Bd,  i.  S.  114  If. 

4)    D.  G.  ilonr.iJ,  Das  alte  Neu-SecTand.      Bremen  187I.     S,  JI. 


Der  malayische  Stamm.  yjj 

• 

meintlichen  schnöden  Undankbarkeit  einen  tiefen  Groll  gegen  alle 
Neuseeländer  nährte.  Den  Störungen  im  täglichen  Verkehr, 
welche  jene  wunderliche  Einrichtung  nach  sich  ziehen  musste, 
wurde  dadurch  abgeholfen,  dass  kriegsgefangene  Sklaven  von 
Tabusatzungen  befreit  galten. 

Die  polynesische  Gesellschaft  zerfiel  in  Fürsten,  Adelige  und' 
Plebejer.  Nach  diesen  Abstufungen  richteten  sich  die  Umgangs- 
formen und  durch  strenge  Etikette  war  für  die  Befriedigung 
aristokratischer  Eitelkeit  hinreichend  gesorgt.  Auf  den  Gesell- 
schaftsinseln treffen  wir  ausserdem  den  Bund  der  Areoi,  halb 
Ordens-,  halb  Künstlerbrüderschaft  zur  Aufführung  dramatischer 
Tänze.  Zu  ihnen  gehörten,  in  sieben  Stufen  abgetheilt  und  durch 
Tätowirung  kenntlich,  Fürsten,  Adelige  und  Gemeine,  Männer  wie 
Frauen,  deren  Kinder  nach  der  Geburt  getödtet  werden  mussten. 
Die  Areoi  zogen  zur  Aufführung  ihrer  Festspiele  von  Insel  zu  Insel 
und  wurden  überall  mit  Gelagen  bewirthet.  Gewiss  wird  ihnen  mit 
Recht  nachgerühmt,  dass  sie  als  Pfleger  der  Kunst  höhere  Bildung 
und  geselligen  Schliff  verbreitet  haben  ^). 

Die  asiatischen  Malayen,  welche  den  Ursitzen  näher  blieben, 
sind  noch  auf  der  Halbinsel  Malaka  anzutreffen  oder  dorthin  zu- 
rückgewandert. Sie  bewohnen  die  grossen  Inseln ,  welche  jetzt 
unter  holländischer  Herrschaft  stehen,  ebenso  die  Philippinen,  ja 
selbst  Fprmosa.  In  Bezug  auf  letztere  Insel  war  schon  längst 
bekannt,  dass  die  gesitteten  ackerbauenden  Strandbewohner  eine 
malayische  Sprache  redeten*).  Es  gibt  aber  in  den  inneren  Ge- 
birgen einen  unbezähmten  streitbaren  Stamm,  den  die  Chinesen 
als  Chinwan  oder  „rohe  Wilde"  bezeichnen.  Man  vermuthete  bis- 
her in  ihnen  Verwandte  der  Philippinenbevölkerung.  A.  Schetelig 
der  zuerst  ihre  Sprache  untersucht  hat,  gelangte  jedoch  zu  dem 
Ergebniss,  dass  jene  Chinwan  nur  den  sechsten  Theil  ihres  Wort- 
schatzes von  ihren  malayischen  Nachbarn  entlehnt  haben,  sonst  aber 
durch  ihre  Sprache  sich  von  ihnen  trennen  und  der  Bevölkerung 
des  nahegelegenen  chinesischen  Festlandes  körperlich  sehr  nahe 
stehen  ^). 


i)  Waitz  (^Gerland),  Anthropologie.    Bd.  6.  S.  363. 

2)  La t harn,  Opnscula.     London  1860.    p.  193. 

3)  Schetelig  in  der  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  nnd  Sprachwissen- 
schaft.    Berlin  1868.     Bd.  5.  S.  436—450- 


r 


3^0  Det  malayisthe  Stamm. 

Gegen  Westen,  sollte  man  verrauthen,  halten  die  inselleeren 
Uäume  des  indischen  Oceans  dem  Wandertrieb  der  Malayen  eine 
Grenze  setzen  sollen.  Schon  Joseph  Banks,  dem  botanischen  Be- 
j^leiter  Cooks  auf  der  ersten  Reise,  iinJ  dem  Sprachforscher  Herväs  war 
jedoch  die  Aehnlichkeit  mal agassiä eher  Worte  mit  malayischen  nicht 
entgangen,  aber  erst  seit  Wilhelm  v.  Humboidt's  Untersuchungen  über 
die  Kawisprache  ist  die  Thatsache  fest  begründet  worden,  dass  Mada- 
gaskar von  Malayen  bevölkert  worden  sei"),  während  die  Inseln 
Rodriguez,  Mauritius  und  Bourbon  leer  von  europäischen  See- 
fahrern angetroffen  wurden,  Spuren  von  Tabugebräuchen  fehlen 
nicht  gänzlich,  denn  die  Fetischhiiter  vermögen  durch  ein  Kiady, 
welches  aus  einem  Grasbüschel  an  der  Spitze  einer  aufgesteckten 
Stange  besteht,  das  Betreten  geheiligter  Orte  durch  Ungeweihte  ab- 
zuwehren'). Keine  Ueberlieferung  hat  sich  bei  den  Malagassen  selbst 
erhalten  und  dennoch  gehört  ihre  Einwanderung  vielleicht  einer 
viel  näheren  Vergangenheit  an,  als  die  Abtrennung«  der  Polynesier 
■  von  ihren  asiatischen  Geschwistern,  Nach  Ellis'^)  Beschreibung 
bedienen  sich  nämlich  die  Hova  auf  Madagaskar  beim  Aus- 
schmelzen der  Eisenerze  eines  Blasebalges  aus  zwei  Bambusrohren, 
durch  welche  abwechselnd  mit  einer  Pumpenbewegung  Luft  heraus- 
gedtiickt  wird.  Diese  scharfsinnige  Erfindung  kommt  sonst  nir- 
gends anders  als  auf  den  malayischen  Inseln  vor  und  Tylor*) 
erschemt  daher  zu  dem  Schluss  berechtigt,  dass  die  Besiedelung 
I\Iadagaskara  erst  stattgefunden  habe,  nachdem  die  Eisengewerbe 
auf  den  Sunda-lnseln  bekannt  wurden.  Dazu  gesellt  sich  noch  der 
Umstand,  dass  die  Hova  das  Zebn  oder  den  indischen  Buckel- 
ochsen  züchten,  während  die  einheimischen  Rinder  Madagaskars  der 
afrikanischen  .\rt  gleichen ').  Verknüpfen  wir  damit  die  Thatsache, 
dass  der  südliche  Rand  der  Insel  Ceylon  sowie  die  Malediven 
malayisch    sprechende    Bevölkerungen    besitzen,     so    erhalten    wir 


1)  Bnoks  inHjwkuiworlli.  Discoveries in IhcSoulh-Sea,  London  1773. 
n.  in.  p.  776.  I-Ierväs,  Caliloga  de  las  lenguas.  Madrid  1800.  vol.  II. 
la  W.  V.  Hnmbuldt,  Uebei  die  Ka«ispiaclie.   Berlin  i8j0.   Bd.  2.  S.  213. 

j)  Lient,  Oiiver.  im  loum.  iif  llie  Anlhropol.  Sodeiy.  London  1868. 
11.  VL  p.  CXXIU. 

3)  Thrcc  visitE  lo  Madagascar.     London  i8j8.    p.  35;. 

41  Urg  eich  ich  tc  der  Jiensclilieil.      S.  215. 

;!  Lieut.   Oliver,   I.  t.  p.  CXXIV. 


Der  malayische  Stamm.  3yg 

■etwas  Licht  darüber,  auf  welchen  Wegen  die  Vorfahren  der  Hova 
nach  Madagaskar  gelangten. 

Es  ist  sehr  schwierig,  die  Begabung  der  asiatischen  Malayen 
für  bürgerliche  Gesittung  richtig  abzuschätzen,  denn  sie  verloren 
frühzeitig  ihre  Selbständigkeit.  Erst  brahmanische  und  später 
buddhistische  Ansiedler  brachten  indisches  Wissen,  indische  Reli- 
gionen, indische  Kunst  und  indische  Schriftzüge,  sowie  eine  Zeit- 
rechnung nach  Java');  auch  Sumatra  und  die  Halbinsel  Malaka 
blieben  von  ihrem  Einflüsse  nicht  unberührt.  Mit  dem  Erlöschen 
des  Buddhismus  sanken  auch  die  ehemaligen  Tempelbauten  auf 
den  Sunda-lnseln  in  Trümmer.  Seitdem  ergaben  sich  die  Malayen 
dem  Islam,  dessen  Vorschriften  jetzt  den  Inhalt  des  bürgerlichen 
Rechtes  bilden.  Die  ältesten  Begebenheiten  ihrer  geschriebenen 
Geschichte  gedenken  eines  Reiches  auf  Sumatra,  das  in  Menang- 
kabao  seinen  Brennpunkt  besass  und  von  wo  aus  seekundige 
Abenteurer  auszogen,  um  sich  angeblich  1160  n.  Chr.  auf  Singapur 
festzusetzen.  Seitdem  waren  es  vorzüglich  die  Araber,  welche  ihre 
Bildung  auf  die  Völker  der  Sunda-lnselwelt  übertrugen.  Unberülirt 
von  fremden  Einwirkungen  haben  sich  nur  die  Dayaken  Borneo's 
und  die  streitbaren  Batta  auf  Sumatra  erhalten.  Die  ersteren 
haben  sich  durch  eigene  Entfaltung  kaum  hoher  gehoben,  als  die 
Polynesier *).  Bei  ihnen  galt,  ehe  der  Radscha  Sir  James  Brooke 
ihr  ein  Ende  bereitete,  die  alterthümliche  Sitte  des  Schädelraubes, 
früher  wahrscheinlich  allen  asiatischen  Malayen  eigenthümlich,  denn 
sie  ist  neuerlich  von  Bechtinger  auf  Formosa  bemerkt  worden^) 
und  herrschte  noch  im  15.  Jahrhundert  bei  den  Batta  Sumatra's^). 
Der  Sinn  der  seltsamen  Sitte,  sich  irgendwoher  durch  Gewalt  oder 
List  einen  Kopf  oder  einen  Schädel  zu  verschaffen  und  ihn  wie 
ein  theures  Besitzthum  mit  in  das  Grab  zu  nehmen ,  erklärt  sich 
durch  den  Volkswahn,  dass  in  der  Behausung  der  Abgeschiedenen 
der  vormalige  Träger  des  Schädels  dem  späteren  Inhaber  Sklaven- 
dienste   leisten    werde  5).     Von    den  anthropophagen  Batta  endlich 


i)  Fried r.  Müller,  Reise  der  Fregatte  Novara.    Anthropologie.    3.  Ab- 
theilung.    S.  90. 

2)  Ueber  ihre  Sitten  S.  oben  S.  193.     S.  243.     S.  256.     S.  274. 
3) -Ausland  1872.  No.  24.  S.  559. 

4)  Kunstmann,  Indien  im  15.  Jahrhundert.     München  1863.     S.  40. 

5)  Tylor,  Anfänge  der  Cultur.     tom,  I.  p.  452. 


380  D"  miilayische  Stamm. 

haben  wir  bereits  gerühmt,  dass  sie  ein  eigenes  Alphabet,  freilich 
nur  eine  Kachbildung  indischer  Schriftzeiclien,  sich  erworben 
haben'). 

Der  asiatische  Malaye  gewährt  bei  seiner  Verschlossenheit, 
seinem  Schweigen,  seinem  Knechtssinn  gegen  Obere,  seiner  Härte 
gegen  Niedere,  seiner  Grausamkeit,  seiner  Rachsucht  und  seiner 
leichten  VerleUlichkeit  kein  freundliches  Gemälde,  doch  gewinnt 
er  wieder  durch  seine  Sanflmuth  gegen  Kinder,  seinen  wärdevollen 
Anstand  und  sein  geschlijTenes  Betragen.  Wallace,  der  lange  Zelt 
unter  Malayen  und  Papuanen  lebte,  hält  die  letzteren  für  begabtere 
Menschen. 

Die  dritte  Gruppe  von  Malayenvolkern  finden  wir  Östlich 
von  den  Philippinen,  nordlich  vom  oder  hart  am  Aequator  auf  den 
Marianen,  der  Palaugruppe,  der  Carolinenkette,  sowie  den  Ralik- 
Rattake  und  den  Gilbert-Atollen.  Neuerdings  fassl  man  sie  zu- 
sammen unter  den  Namen  Mikronesier.  Die  Bewohner  jener 
Inseln  sind  Mischliiige  von  Polynesiern  und  Papuanen;  der  Sprache, 
den  Sitten  und  den  bürgerlichen  Einrichtungen  nach  aber  gehören 
sie  zu  den  Polynesiern,  Bei  den  Üewohnern  der  Palau-Inseln 
überwiegt  jedoch  das  papuanische  Blut,  weshalb  sie  besser  nicht 
zu  dem  malayi sehen  Stamme  gezählt  werden').  Weiter  nach  Osten 
aber  wird  der  Typus  polynesischer,  immerhin  aber  unterscheiden 
sich  selbst  noch  an  den  äussersten  Grenzen  ihres  Wohngebietes 
die  Mikronesier  durch  Kräuselung  des  Haares  von  den  reinen 
Polynesiern,  während  wieder  mit  der  Annäherung  an  Japan  die- 
schiefe  Stellung  der  Augen  häufiger  wird. 

Unter  asiatischen  wie  polynesi. sehen  Malayen  sind  Schmal- 
schädel sehr  selten;  wo  sie  vorkommen,  wie  auf  den  Carolinen,  be- 
stätigen sie  nur  den  Satz,  dass  die  Mikronesier  als  Misch bevölkerung 
ungesehen  werden  müssen.  Der  Breitenindes  der  Polynesier  ist 
indessen  merklich  niederer,  als  bei  den  asiatischen  Malayen,  daher 
diese  zu  den  Brachycephalen,  jene  zu  den  Mesocephalen  gehören^). 
Bei  beiden  Abiheilungen  der  malayischen  Familie  ist  die  Höhe 
des  Schädels    ebenso_  gross  oder  auch  wohl  ein  wenig  grösser  als 


1)  Junghuhn,  die  Baltaländer.     Berlin  1847-     Ed.  2.     S.  255  ff. 

2)  Semper,  die  P.ilau-Inseln.     Leipiig  1873.     S.  361. 

3)  vgl.  die  Tafel    bei    Barnard   Davis,   Tliesaurus  Cranioram   p.  359" 
unJ  üben  S.   5;. 


Der  raalayische  Stamm.  ^8l 

die  Breite ').  Der  Prognathismus  bleibt  innerhalb  massiger  Grenzen 
und  die  Jochbogen  sind  mehr  oder  weniger  vorstehend.  Alle 
Völker  dieser  Familie  haben  eine  dunkle,  nie  völlig  schwarze,  bei 
den  asiatischen  Malayen  sogar  nur  schmutzig  gelbe  Haut.  Schwarzes, 
langes,  straffes  Haupthaar,  Spärlichkeit  des  Bartwuchses  und  des 
Leibhaares,  welches  übrigens  künstlich  entfernt  wird,  sind  die 
Merkmale,  die  sie  mit  andern  Gliedern  der  mongolischen  Race 
gemein  haben.  Je  näher  ihre  Sitze  dem  asiatischen  Festlande 
liegen,  desto  häufiger  wird  die  schiefe  Stellung  der  Augen.  Durch 
diese  Besonderheit  rücken  sie  den  Bevölkerungen  im  Osten  der 
alten  Welt  sehr  nahe.  Nicht  nur  sind  sie  ihnen  ähnlicher,  als 
irgend  andern  Menschenstämmen,  sondern  es  ist  überhaupt  gar 
keine  feste  Grenze  zwischen  ihnen  zu  ziehen,  das  Typische  fliesst 
vielmehr  in  einander  über.  Den  Bewohnern  der  Nias-  und  Batu- 
Inseln  vor  der  Westküste  von  Sumatra  ist  deswegen,  wenn  auch 
ganz  unberechtigt,  eine  chinesische  Abkunft  zugeschrieben  worden^). 
Semper  glaubt  bei  verschiedenen  Stämmen  der  Philippinen  wie 
bei  den  Iraya  chinesische  oder  japanische  Aehnlichkeiten  durch 
Blutmischung  erklären  zu  müssen ,  obgleich  er  gesteht,  dass  nur 
in  ,, einigen  wenigen  Fällen  ein  schwacher  historischer  Beleg  sich 
auffinden  lasse" ^).  Entscheidend  ist  es,  wenn  Wallach ^)  schreibt: 
,,Sehr  betroffen  war  ich,  als  mir  auf  der  Insel  Bali  chinesische 
Händler  zu  Gesichte  kamen,  welche  die  Sitten  jenes  Landes  an- 
genommen hatten  und  von  den  Malayen  nicht  unterschieden  werden 
konnten.  Andererseits  habe  ich  Eingeborne,  von  Java  gesehen, 
die  in  Bezug  auf  ihre  Physiognomie  sehr  gut  für  Chinesen  gelten 
konnten".  Latham  bezeichnet  die  Körpermerkmale  der  Malayen 
als  ,,echt  indochinesisch"  ^)  und  an  einer  andern  Stelle  sagt  er 
wieder,  bei  den  Mikronesiern  finde  sich  der  Mongolentypus  aus- 
geprägter als  bei  den  Chinesen^),  was  jedoch  nur  von  den  Be- 
wohnern   der    Marianen   zugegeben   werden    darf.      Wir    begegnen 


i)  Bei  den  Welck  er 'sehen  Messungen  tritt  dieses  Merkmal  schärfer 
hervor,  als  bei  Barnard  Davis,  aber  nur  deswegen,  weil  der  letztere  die 
„grösste  Breite"  gemessen  hat. 

2)  Waitz,  Anthropol  )gie.     Bd.  5.  S.  92—93.     . 

3)  Die  Philippinen.     S.  54—55. 

4)  Der  raalayische  Archipel.     Braunschweig  1869.     Bd.  2.  S.  419. 

5)  Man  and  his  migrations.     London  1851.     p.  188. 

6)  Varieties  of  man.     p.  186. 


■i,fi2   De<  malayisLlie  Slarnm.  —  Südoslasiilen  mit  einsylbigen   Sprachen. 

daher  iinsern  eigenen  Gedanken  in  Moritz  Wagner's  Worten,  wenn 
er  änssert:  „Schädelbildung,  Form  und  Farbe  des  Gesichtes,  wie 
überhaupt  die  ganze  Körperbeschaffenheit  der  malayischen  Race, 
sind  der  mongolischen  so  nahe  verwandt,  dass  man  bei  gleicher 
Tracht  beide  Racen  kaum  von  einander  unterscheiden  kann" '). 
Wir  werden  daher  auf  kdnen  Widerstand  stossen ,  '  wenn  wir  den 
malayischen  Stamm  unter  die  mongolenähnlichen  Völker  zählen. 
Doch  gebührt  ihm  wegen  sdner  Sprachmerkmale  eine  abgesonderte 
Steile.  Wir  trennen  ihn  weiterhin  in  mikronesische  Mischvölker 
und  dann  in  polynesische  oder  wenn  man  lieber  will  in  pacifische 
und  in  astatuschc  Malayen.  Diese  letzteren  aber  lassen  sich  am 
besten  mit  Friedrich  Älüller'j  wiederum  zergliedern  in:  i)  die  Be- 
wohner der  Philippinen,  Tagalen  und  Kisaya  genannt;  z)  die  Ma- 
laien im  engsten  Sinne,  als  Bewohner  der  Halbinsel  Malaka,  auf 
Sumatra  als  Aiachinesen ,  Pa^sumah,  Retschang  und  Lampong; 
3)  die  Sundanesen  im  westlichen,  4)  die  Javanen  im  Östlichen  Theile 
Java's;  5)  die  Batta  auf  Snmatra;  6)  die  Dayakcn  Borneo's;  7)  die 
Macassaren  und  Buginesen  auf  der  Insel  Celebes.  Als  ver- 
sprengte Glieder  endlich  gehören  zu  diesem  Stamme  die  einge- 
wanderten Ansiedler  der  Inseln  Formosa,  Ceylon  und  Madagaskar. 


2.     Südostasia  tL- n    ni;t   einsylbigen   Sprachen. 

Zu  dieser  Gruppe  gehören  zunächst  die  Bewohner  von  Hinter- 
indien, die  wir  Jlalayochinesen  nennen  wollen,  damit  endlich  der 
unpassende  Name  Indochinesen  verdrängt  werde,  ts  schliessen 
sich  an  sie  gegen  Westen  die  Bevölkerungen  vqn  Tübet  und  der 
südlichen  Abhäni^e  des  Himalaja  an  und  gegen  Norden  und  Nord- 
osten die  Chinesen.  Ihnen  allen  sind  straffes ,  schwarzes  Haar, 
Mangel  an  Bartwuchs  und  Leibeshaar,  eine  farbige,  meist  leder- 
gelbe Haut  und  schicfgestellte  Augen  eigen.  Schmalschädel  ge- 
hören unier  ihnen  zu  den  grös?ten  Seltenheiten ;  ihrem  Breitenindex 
nach  ordnen  sich  vielmehr  diese  Völker  theils  unter  die  Meso- 
ccphalen,  theiis  unter  die  Brachycephalen.  Die  Hohe  des  Kopfes 
ist    entweder    der  Breite    gleich    oder    überbietet    sie    nicht  selten. 


Südostasiaten  mit  einsylbigen  Sprachen.  783 

Prognathismus  tritt  nicht  überall  und  stets  in  massigem  Grade 
auf.  Doch  ist  die  Zahl  der  gemessenen  Schädel  ausserordentlich 
dürftig.  Selbst  Barnard  Davis  verfügte  nur  über  21  Chinesenköpfe 
beiderlei  Geschlechtes,  und  was  sind  21  Köpfe,  wenn  es  sich  darum 
handelt,  die  mittleren  Grössenverhältnisse  bei  350  Millionen  Men- 
schen, zerstreut  über  eines  der  grössten  Reiche  der  Erde,  fest- 
zustellen? 

Bei  der  guteft  Uebereinstimmung  der  wichtigsten  Racen- 
merkmale  können  diese  Völker  nur  nach  ihren  Sprachen  geschieden 
werden.  Die  Sprache  der  Bod-dschi  oder  der  Bewohner  Tübets, 
obgleich  streng  einsylbig,  besitzt  doch  Präfixe,  die  zwar  nicht  aus- 
gesprochen, wohl  aber  geschrieben  werden'),  und  bietet  daher  der 
vergleichenden  Linguistik  noch  ein  dunkles,  ungelöstes  RäthseP). 
Im  Himalaya,  vorzüglich  an  den  südlichen  Abhängen,  sitzen  eine 
Anzahl  kleiner  Stämme,  deren  Namen  aufzuzählen  hier  nicht  beab- 
sichtigt wird.  Sie  stehen  leiblich  wie  sprachlich  den  Tübetern  sehr 
nahe ,  sind  aber  nur  theilweis  rein  geblieben ,  meistens  sonst  mit 
indischem  Blute  gemischt.  Zu  den  rein  gebliebenen  gehören  die 
Leptscha,  welche  Sikkim  beherrschen«*).  Nicht  unbeachtet  darf  es 
bleiben,  dass  auch  die  nomadischen  Sifan  in  den  chinesischen  Pro- 
vinzen Schensi  und  Sse-tschuen  sprachlich  noch  zu  dem  tübetischen 
Völkerkreise  gehören. 

Eine  andere  Gruppe  von  Völkern  schaart  sich  um  die  Bir- 
manen, deren  Sprachtypus  uns  schon  beschäftigt  hat"^).  Ver- 
schwistert  mit  ihnen  sind  die  Bewohner  Arakans,  die  Khyeng,  in 
dem  Grenzgebirge  zwischen  Arakan  und  der  Irawadi  und  die 
kleinen  Stämme  zwischen  Irawadi  und  Brahmaputra.  Eine  andere 
Abtheilung  bilden  die  Thai  oder  Siamesen,  von  denen  die  Laos- 
völker im  Innern  Slams  nur  durch  mundartliche  Verschiedenheiten 
getrennt  werden.  Die  roh  gebliebenen  Miaotse  oder  Miautsi  in 
den  hochgelegenen  Theilen  der  Südhälfte  des  chinesischen  Reiches, 
welche  dort  als  Urbewohner  gelten,  sollen  ebenfalls  zur  Thaigruppe 


i)  Die  Städtenamen  Thashilhünpo  und  Tassisudon  werden  beispielsweise 
geschrieben  b  Kras  shis  Ihiin po  und  b  Kras  shis  chhos  krong.  v.  SchJajjint- 
weit,  Indien  und  Hochasien.     Bd.  2.  S.  44. 

2)  "Whitney,  Language  and  the  study  of  languafje.     p.  337. 

3)  V.  Schlagintweit ,  1.  c.  S.  46. 

4)  S.  oben  S.  121. 


tR±  SüdüslaaJAteii  mit  einsylbigen  Sprachen. 

gehören ').  Vereinzelt  stehen  dagegen  die  Annamiten  in  Tongking 
und  Cochinchina. 

Ausserdem  lassen  sich  noch  nicht  irgend  einer  der  vorigen 
Gruppen  anschliessen  die  Karan  in  Pegu  und  im  südlichen  Birma, 
die  Mon  im  Delta  der  Irawadi,  die  Khomen  oder  Urbewohner  von 
Cambodscha,  die  Tschampa  an  der  Küste  östlich  von  den  Mekong- 
mündungen, die  KU  IMarco  Polo's  Zeiten  ein  Königreich  errichtet 
hatten,  die  Kwanlo,  Urbcwoliner  von  Tongking  und  verschieden 
von  den  Annamiten,  die  Moi  öder  Mjong  in  den  Gebirgen,  welche 
dep  Mekong  von  Tonking  trennen').  Die  Khösprache  in  Cam- 
bodscha  und  die  Mönsprachc  in  Pegu  sollen  sich  übrigens  viel  näher 
stehen,  als  die  zwischen  ihnen  ausgebreitete  Thaisprache  3).  Diese 
kleineren  Stämme  üben  auf  den  Völkerkundigen  wenig  Anziehung 
aus.  Sie  stehen  nicht  mehr  auf  alterthümlichen  Stufen,  was  sie 
aber  an  Gesittung  sich  angeeignet  haben,  ist  fremden  Ursprunges, 
ein  Edelreis  auf  wildem  Stamme.  Dies  gilt  sogar  von  den  grösseren 
Reichen  Birma,  Slam  und  Tongking.  Sind  auch  in  allen  drei 
Ländern  ansehnliche  Rc-sle  grossarliger,-  jetzt  meist  verfallener 
Bauten  entdeckt  worden,  so  tragen  sie  doch  sämmtlich  das  Ge- 
präge indischer  Herkunft  und  indischen  Geschmackes,  welcher 
letztere  mit  dem  Buddhismus  sich  eingebürgert  hatte.  Uebrigens 
gehören  sie  sämmtlich  der  nachchrisdichcn  Zeit,  überhaupt  keinem 
sehr  hohen  Alterthume  an.  Tongking  hat  dagegen  seine  Cultur- 
schätze  vorzugsweise  aus  China  empfangen,  wie  denn  auch  Siam 
zu  den  indischen  Bildun^-s  mittein  in  neuerer  Zeit'  chinesische 
aufgeiioinmen  hat.  Dürfen  wir  also  rasch  von  den  Malayochinesen 
hinwegeilen,  so  müssen  wir  imi  so  länger  bei  dem  grössten  Cultur- 
volke  der  mongolischen  Race,  bei  den  Chinesen  verweilen,  über 
deren  Sprache   bereits  das  Nöthigste  mitgetheilt  wurde'). 

Bei  einer  bedauerlichen  Mehrheit  unserer  Landsleute  beschränkt 
sich  das  Wissen  vom  himmlischen  Reich  auf  den  Zopf,  den  die 
Chinesen  doch  erst  seit  1644  tragen,  und  ablegen  werden,  sobald 
die  Mand8chu-D)nastie  fällt,  sowie  auf  die  grosse  Mauer,  wc-lclie 


1)  Fi.  Müller,  Allgemeine  Ethnographie.     S,  361. 

2)  Friedrich   Müller,    Reise    der    Fregatte    Novar 
Bd.  3.  S.  149  ff- 

31  Lalham,  Man  anil  liis  inigrations.     p.  195. 
41  S.  oben  S.  118  iT. 


Südostasiaten  mit  einsylbigcn  •Sprachen.  ^gc 

gegenwärtig  weder  bewacht  noch  ausgebessert  wird,  und  von  der 
man  .sprüchwörtlich,  aber  falschlich  behauptet,  sie  sei  von  den 
Chinesen  als  eine  Art  spanischer  Wand  zur  Abwehr  gegen  abend- 
ländische Belehrungen  errichtet  worden.  Seit  Jahrhunderten,  sagen 
die  Bescheidenen,  seit  Jahrtausenden  die  Dreisteren,  sei  China 
China  geblieben,  ohne  sich  vorwärts  oder  rückwärts  zu  bewegen, 
so  dass  zur  Widerlegung  dieses  Irrthums  bei  der  späteren  Auf- 
zählung von  Neuerungen,  die  im  himmlischen  Reiche  so  wenig 
ausgeblieben  sind  als  anderwärts,  stets  Zeitangaben  beigefügt 
werden  sollen,  aus  denen  sich  stillschweigend  ergeben  wird,  dass 
die  Bewohner  des  himmlischen  Reiches  fort  und  fort,  theils  durch 

eigenes  Nachdenken,   theils   durch  Aufnahme   fremder   Gedanken, 

§ 

ihre  Zustände  verbessert  haben. 

Wohl  haben  uns  die  Chinesen  bis  zur  Eroberung  Pekings 
„Barbaren"  und  „Teufel"  geheissen.  Ob  wir  aber  als  Chinesen 
nicht  das  nämliche  gethan  und  mit  Recht  gethan  hätten,  soll  ein 
jeder  entscheiden,  nachdem  er  sich  von  einem  gerecht  und  mensch- 
lich fühlenden  Gelehrten  der  Vereinigten  Staaten  über  die  Roh- 
heiten der  Europäer  in  China  hat  unterrichten  lassen.  Ein  auf- 
gefrischter Dampfer,  erzählt  Pumpelly*),  sollte  von  Schanghai  aus 
seine  erste  Probe  bestehen,  und  was  sich  in  der  Stadt  an  ange- 
sehenen Namen  befand,  wurde  zu  der  Spazierfahrt  eingeladen. 
Zu  den  Geladenen  gehörte  auch  unser  amerikanischer  Gewährs- 
mann. Der  Dampfer  ging  den  Wusangfiuss  hinauf  und  fegte  mit 
voller  Kraft  durchs  Wasser,  al§  oberhalb  ein  chinesisches  Fahrzeug 
bemerkt  wurde,  bis  zum  Bord  mit  Backsteinen  beladen,  so  dass 
es  den  Rudern  der  vier  einheimischen  Schiffsknechte  schwer  ge- 
horchte. Da  das  Fahrwasser  sehr  schmal  war,  trachteten  die 
Chinesen  seitwärts  auszuweichen  und  arbeiteten  aus  Leibeskräften. 
Trotzdem  wich  das  bleierne  Fahrzeug  nicht  völlig  bei  Seite.  Der 
Lootse  fragte  daher:  „Soll  \ier  Dampfer  halten?"  „Nein",  schrie 
der  Capitän,  „vorwärts!"  Athemlos  harrte  Pumpelly  der  Dinge. 
Die  Spitze  des  Schiffes  stiess  an  das  Ziegelboot  und  der  Stoss 
drehte  letzteres  so  heftig,  dass  es  gegen  den  Radkasten  geschleudert 
wurde.  Der  Dampfer  bebte  beim  Zusammenstoss,  fuhr  aber  lustig 
weiter»  Als  Pumpelly  auf  dem  Hintertheil  über  Bord  schaute, 
sah  er   von   Schiff  und  Schiffern   nichts   mehr   als  einen  einzigen 


i)  AcTOss  America  and  Asia.     London  1870.    p.  206. 
Petcktl,  Völkerkunde. 


25 


4Ä^  SüdosUsiaten  mit  einsylbigen  Sprachen. 

Chinesen  anscheinend  bewegungslos  im  Wasser.  Das  Vergnügen 
der  Spazi  erfahrenden  litt  übrigens  nicht  das  rgindeste  unter  diesem 
Zwischenfalle,  besonders  nachdem  die  OfBciere  mit  gutem  Ergebniss 
untersucht  hatten,  ob  etwa  der  Radkasten  erheblich  beschädigt 
worden  sei. 

Als  Gegenstück  wollen  wir  hier  ein  anderes  Erlebniss  ein- 
schalten'}. Wir  belinden  uns  mit  Pumpelly  im  Norden  auf  der 
Heimkehr  aus  den  Gebieten  des  Steinkohlenbergbaues.  Dort  gab 
ihm  und  seinem  Gefährten  Murray  von  der  britbchen  Gesandt- 
schaft, einem  meisterhaften  .'Sinologen,  der  Strassenpöbel  von  Ta- 
hwei-tschang  das  Geleite.  Pöbel  bleibt  Pobel!  Der  chinesische  er- 
götzte sicli  durch  Witze  an  den  fremden  Gestalten,  geradeso  wie  eng- 
lischer und  amerikanischer  Pöbel  an  bezopften  Chinesen  sich 
ergötzt  haben  würde.  Nach  dem  Lachen  aber  wurde  die  Stimmung 
saurer,  denn  die  Himmlischen  warfen  allerlei  widerwärtige  Pro- 
jectile  yegen  die  fremden  Teufel,  unbekümmeit  dass  diese  unter 
der  Obhut  dreier  Mandarinen  reisten.  Da  kehrte  Murray  sein 
Koss  um,  erhob  die  Hand  um  der  Menge  Schweigen  zu  gebieten, 
und  begann  in  trefflichem  Chinesisch  ;  ,,0,  Volk  von  Ta-hwei-tschang,-- 
übst  du  so  die  Gastlichkeit?  Befolgst  du  so  die  Vorschriften 
deiner  Philosophen,  dass  man  den  Fremdling  in  den  Mauern  sanft 
behandeln  solle?  Hast  du  den  Spruch  deines  grossen  Meisters 
Confutse  vergessen :  Was  ich  nicht  will  dass  ein  anderer  mir  zu- 
füge, das  soll  auch  ich  ihra  nicht  thun?"  Im  Nu  änderte  sich 
der  Auftritt,  die  alten  Chinesen  schüttelten  wohlgelällig  den  Kopf, 
die  Buben  aber  bemühten  sich  durch  Gefälligkeit  den  Eindruck 
ihrer  früheren  Unarten  wieder  zu  verwischen.  Nun  frage  sich  ein 
jeder,  was  hätte  eine  amerikanische  oder  englische  Strassenbevöl- 
kerung  getlian,  wenn  ein  Chinese,  um  sich  gröblichen  Belästig- 
ungen zu  entziehen,  ihr  einen  Satz  aus  der  Bergpredigt  vorge- 
halten hätte? 

In  der  alten  Welt  sind  vorzugsweise  die  Chinesen  dasjenige 
Volk,  von  welchem  mit  Sicherheit  sich  behaupten  lässt,  dass  es 
äeiue  Erkenntnisse  beinahe  vollständig  aus  sich  selbst  geschöpft 
habe.  Abgesehen  von  den  undeutlichen  Nachrichten  bei  den  Ge- 
schichtsschreibern und  Geographen  des  Alterthums  über  ein  Volk 
im  fernen  Worgenlande   welches   Seidenzeuge   webte,   besitzen  wir 

1)  Purupcll)-.  1.  t.  p.  agg. 


Südostasiaten  mit  einsylbigen  Sprachen.  3S7 

in  den  Berichten  arabischer  Reisenden  aus  den  letzten  Zeiten  der 
Abbasiden  die  ersten  Beobachtungen  der  gesellschaftlichen  Zustände 
China's,  welche  Staunen  zugleich  und  Bewunderung  der  Zeitgenossen 
erregten.  Etwa  ein  halbes  Jahrtausend  später  kehrten  die  Poli 
aus  China  nach  Venedig  zurück,  und  ihre  Mittheilungen  von  der 
Bevölkerungsdichtigkeit  und  den  Riesenstädten  des  himmlischen 
Reiches  klangen  so  unglaubwürdig,  dass  man  den  jüngsten  der 
Reisenden,  Marco,  als  einen  Millionenschwätzer  (Messer  Milione) 
verspottete.  Jetzt  ist  es  längst  entschieden,  dass  der  Venetianer 
ein  treuer  und  genauer  Berichterstatter  dessen  gewesen  ist  was  er 
gesehen  oder  gehört  hatte.  An  der  Schwelle  des  14.  Jahrhunderts, 
als  Marco  Polo  die  Wunder  der  ostasiatischen  Gesellschaft  be- 
schrieb, hatte  Europa  in  der  That  das  chinesische  Reich  noch  um 
vieles,  China  in  Bezug  auf  bürgerliche  Ordnung  und  technische 
Leistungen  Europa  noch  um  weniges  zu  beneiden. 

Ihre  Seidenzeuge,  welche  bereits  der  Prophet  Hezeqier)  er- 
wähnt, zogen  den  Chinesen  den  ersten  Völkernamen  zu,  und  das 
Wort  für  Seide  in  den  Sprachen  des  Abendlandes  stammt,  wie 
Klaproth*)  längst  gezeigt  hat,  aus  dem  Chinesischen.  Irdenes 
Geschirr  kannten  die  Bewohner  des  himmlischen  Reiches  nach 
ihrer  freilich  künstlichen  und  darum  unzuverlässigen  Chronologie 
schon  im  Jahre  2698  v.  Chr.,  aber  die  Porcellanbäckerei  entwickelte 
sich  nach  Stanislas  Julien  erst  in  der  Zeit  von  185 — 87  v.  Chr.  Wenn 
im  Schuking  schon  unter  Thai-kang  oder  2188  —  59  v.  Chr.  von 
süssem  ,,Wein"  gesprochen  wird,  so  muss  zunächst  daran  erinnert 
werden,  dass  erst  ein  chinesischer  Feldherr,  Tschang-khien,  im 
'Jahre  130  v.  Chr.  den  Rebstock  und  die  Rebenzucht  ins  Reich 
der  Mitte  einführte"^),  dass  aber  heutigen  Tages  die  Himmlischen 
die  Trauben  wohl  essen,  aber  nicht  keltern.  Der  süsse  Wein  des 
Schuking  ist  daher  nichts  anderes  als  das  Gährungserzeugniss  aus 
Reis  unter  Zusatz  eines  Sauerteigs  aus  Weizen,  während  die 
Branntweinbrennerei  erst  unter  den  Mongolenhenschern  sich  aus- 
breitete^).    Auch    der    Thee    wurde   im    alten    China,    also    unter 


1)  Cap.  XVI,  V.  13  u.  Fr.  Spiegel  im  Ausland.  1867.  S.  1023. 

2)  Tableaux  historiques  de  l'Asie.     Paris  1826.  p.  58. 

3)  Plath,    im   Ausland    1869.     S.  1213.     Ucber    den    wilden  Weinstock 
(F/V/j  flWMr<?wj'«-J  in  Nordchina  vgl,  Peter manns  Mittheilungen.  1869.  S.  304. 

4)  Huc,  Chinesisches  Reich.  Bd    2.  S.  20f>  ff. 


25* 


,g8  Siidoslasiaten  mil  emsylbigen  Sprachen. 

den  drei  ersten  Dynastien,  schon  desawegen  nicht  gebaut  und 
nicht  getrunken,  weil  sich  die  Reicbsgränzen  noch  nicht  über  die 
botanische  Heimat  des  Tsc  ha  Strauches,  nämlich  über  den  Süden 
erstreckte.  Auch  soll  das  Theetrinken  erst  durch  buddhistische 
Mönche  aufgebracht  worden  sein  und  ist  vielleicht  nicht  älter  als 
unsere  Zeitrechnung.  Ebenso  gehört  das  Papier  in  China  unter  die 
Neuerungen,  denn  seine  erste  Verbreitung  fällt  um  das  Jahr  153  n. 
Chr.,  während  vorlicr  Bambutafeln  seine  Dienste  ersetzen  mussten. 
Die  Tusche  wird  noch  jetzt  am  vorzüglichsten  in  China  zubereitet, 
wenn  auch  ihre  Güte  in  neuerer  Zeit,  seitdem  Büffel-  anstatt  Hirsch- 
hornlcim  zum  Bindemittel  des  Fettrusses  verwendet  wird,  gesunken  ist. 
Ihre  erste  Erfindung  gehört  der  Zeit  von  220 — 419  n.  Chr.  an.  Der 
Druck  mit  geschnittenen  Holztafeln  wurde  in  China  593  oder  583 
n.  Chr.  erfunden,  und  bereits  im  Jahre  1310  in  Raschid  eddin's 
.JDschemma  et  tewarikh"  beschrieben.  Wir  werden  sogar  von  Stanislaa 
Julien  und  Paul  Champion  unterrichtet,  dass  in  der  Periode  King-li 
{1041 — 49  n.  Chr.)  die  Kunst  mit  beweglichen  Lettern  zu  drucken 
erfunden  worden  sei').  Natürlich  handelte  es  sich  dabei  nicht  um 
Buchstaben,  sondern  es  waren  die  abgekürzten  Sylbenbildei  der 
chinesisclien  Schrift,  die  auf  beweglichen  Stücken  aus  Porcellan 
zusammengesetzt  wurden.  Diese  Kunst  musstc  wieder  in  Verfall 
gerathen,  weil  der  Letterndruck  doch  nur  bei  Buchstabenschrift 
mit  grossem  Erfolge  sich  anwenden  lässt.  Bei  einer  einsylbigen 
Sprache,  wie  das  Chinesische  ist,  war  es  zwar  leicht  für  jede 
Wurzel  eine  Hieroglyphe  zu  ersinnen,  aber  man  kam  auch,  eben 
weil  in  der  Sprache  selbst  kein  Zwang  vorlag,  nicht  Idazn  die 
Wurzel  in  ihre  einzelnen  Laute  zu  zerlegen,  und  den  Laut  zh 
symbolisiren.  Von  allen  Völkern  der  Erde  sind  die.  Chinesen  das 
einzige,  welches  liest,  schreibt  und  druckt  ohne  das  Buchstabiren 
erfunden  zu  haben. 

Die  Nordweisung  der  frei  schwebenden  Magnetnadel  war  den 
Chinesen  schon  seit  121  n.  Chr,  bekannt'),  «nd  Brillengläser  haben 
sie  sicherlich  früher  geschliffen  als  die  Abendländer.  Das  Pulver 
kannten  sie  ebenfalls  längst  vor  den  Europäern,  wenn  sie  es  auch 
nur   zu    Feuerwerken    verwendeten.      Geldmünzen,    d.   h.  geprägte 


I)  Slaniilas   Julien   el    Pai;l   Champion,   Industries   anciennes   et 
modernes  de  l'empire  chinois.     Paris  1870.  p.  153.  sq. 

3)  Klaprolh,  Lettre  sur  rinvenüon  de  la  boussole.     Paris  l834-  P-  6*- 


Südostasiaten  mit  einsylbigen  Sprachen.  389 

Stücke  aus  edlem  Metall,  gebrauchen  die  Chinesen  noch  heutigen 
Tages  nicht,  sondern  Wage  und  Gewicht  entscheiden  allein  im 
Handelsverkehr,  Papiergeld  dagegen  haben  sie  schon  seit  119  v. 
Chr.  in  Umlauf  gesetzt.  An  der  Assignatenwirthschaft  sind  die 
letzte  und  vorletzte,  die  Ming-  und  die  Mongolen  -  Dynastie 
zu  Grunde  gegangen,  und  wenn  uns  die  Pekinger  Staatszeitung 
jemals  die  Nachricht  bringen  sollte,  dass  auch  die  Mandschu  Schatz- 
scheine auszugeben  begonnen  hätten,  dann  dürfen  wir  sicher  an- 
nehmen, dass  in  ihrem  Stundenglase  die  letzten  Körner  abrinnen^). 
Mit  Zahlen  wissen  die  Chinesen  geschickt  umzugehen.  Sie  sind 
nicht  nur  die  Erfinder  des  Rechnenbrettes,  sondern  nach  Angaben 
Sir  John  Bowrings  verwenden  sie  beim  Rechnen  im  Kopfe  die 
Glieder  an  den  Fingern  der  linken  Hand  als  Ziffern  bis  zu  einer 
Grösse  von  99,999,  und  zwar  so  dass  jeder  Finger  vom  kleinen 
angefangen  einen  höheren  decimalen  Stellenwerth  besitzt  als  der 
nächste^.  Das  sogenannte  Macadamisiren  der  Strassen  ist  eine 
uralte  Erfindung  der  Chinesen,  (^' ^  wir  ihnen  erst  seit  1820  nach- 
geahmt haben  ^).  Wenn  wir  im  .  iarcusevangelium  die  Abendmahls- 
feier nachlesen,  so  lässt  uns  der  griechische  Ausdruck  keinen 
Augenblick  im  Zweifel,  dass  Christus  und  ^eine  Jünger  mit  den 
Fingern  assen.  Von  den  Chinesen  erfahren  wir,  dass  sie  sich  be- 
reits unter  der  zweiten  Dynastie,  also  im  zweiten  Jahrtausend 
vor  unserer  Zeitrechnung  der  Essstäbchen  aus  Bambu  und  bald 
nachher  aus  Elfenbein  bedienten^)« 

Werden  wir  endlich  nach  dem  Alter  der  chinesischen  Cultur 
befragt,  so  müssen  wir  damit  beginnen,  die  Chinesen  als  treue  und 
eifrige  Geschichtschreiber  zu  preisen.  Ihre  beglaubigte  Geschichte 
reicht  zurück  bis  auf  Yao  oder  nach  der  herkömmlichen  Zeitrech- 
nung bis  zum  Jahre  2357.  Die  letztere  Ziffer  bedarf  jedoch  einer 
kritischen  Abkürzung.  Bis  zum  Jahre  826  v.  Chr.  ist  nach  Legge 
in  der  chinesischen  Chronologie  alles  in  strengster  Ordnung;  Plath, 
von   dem   man  Uebereilungen  nicht  zu  befürchten  hat,  geht  sogar 


i)  Klaproth,    sur  Torigine    du    papier-tnonnaie ,   im   Journal    asiatique. 
Paris  1822.  tom.  I,  p.  259 — 259. 

2)  Ausland  1868.     S.  719. 

3)  Schmoller,    Geschichte    der   deutschen    Kleingewerbe.    Halle  1870« 
S.  167. 

4)  Plath,  im  Ausland.  1869.     S.  1214. 


3QO  SiidosUsiaten  mit  einsylbigen  Sprachen. 

bis  zum  Jahre  841  zuriick.  Schon  beim  Auftreten  äer  dritten  Dy- 
nastie schwankt!!  aber  die  Zeitangat>en  um  11  Jahre,  nämlich  entweder 
müssen  wir  diese  Begebenheit  in  das  J.  1122  oder  iiii  v.  Chr.  ver- 
setzen. Die  Zeiten  der  ersten  Dynastie  endlich,  sowie  der  Regie- 
rungen Yao's  oder  Schün's  können  die  Sinologen  genauer  nicht 
befestigen,  als  dass  die  letzteren  in  das  ig.  oder  das  20.  Jahrhun- 
dert") V,  Chr.  gehören.  Jahreszahlen  also,  die  noch  in  das  dritte 
Jahrtausend  zurückgehen,  sind  kritisch  zu  verwerfen. 

Das  chinesische  Reich  hat  gleichwohl  eine  Dauer  von  beinahe 
4000  Jahren  genossen,  innerhalb  welcher  Zeit  eine  Art  Entwicklungs- 
krankheit genau  wie  sie  das  deutsche  Reich  im  Mittelalter  erlitt, 
nämlich  ein  Zerfall  der  kaiserlichen  Gewalt  und  das  Emporkommen  ' 
von  kleinen  SoTiUer-  und  Raubstanten  überstanden  werden  ftiusste, 
bis  unter  den  Thsin  die  künigliclie  Gewalt  stärker  denn  je  wieder 
aufgerichtet  wurde.  Neben  dieser  Zeitdauer,  erscheinen  die  Staats- 
scht'ipfungen  der  mittelländischen  Sacen,  erscheint  das  Chaldäerreich, 
die  Herrschaft  der  Assyrier,  das  nc'  Babylon  und  die  Monarchie  der 
Achaemeniden,  erscheint  selbst  da,  .  Ömische  Reich  als  eine  vergäng- 
liche Gestaltung,  nur  Aegypten  allein  mit  seinen  bis  ins  3g.  Jahr- 
hundert V,  Chr.  noch  zu  verfolgenden  Kon igsgeschl echtem  gewährt 
uns  noch  einen  würdigeren  Gegenstand  für  unsere  Ehrfurcht.  Wie 
aber  im  Nilthale  vor  Wenes  schon  Völker  in  gesellschaftlicher 
Ordnung  lange  Zeiträume  hindurch  gelebt  haben  müssen,  so  beginnt 
auch  die  chinesische  Reichschronik  mit  geordneten  Zuständen. 
Unter  Vü,  dem  Stifter  der  ersten  Dynastie  werden  bereits  Canäle 
ausgestochen,  im  Käthe  der  Krone  geniesst  der  Minister-  der 
cjifentiichcn  Arbeilen  eine  bevorzugte  Stellung  und  das  Ackerland 
wird  nach  Bonilätsklassen  besteuert").  Es  gab  im  alten  China 
schon  eine  geschäftige  Pohzei,  Passwesen  und  Thorschreiber,  Jagd- 
verbote   zur  Brut-    oder  Werfezeit,  Schutz  der  Eier  im  Neste  der 


I)  Legge.  Chinese  cla^sics.  Pari  m.  Prolofomena  p.  loj.  Joho  Cbalmers 
hat  Eüieiel,  dass  für  China  in  der  leil  von  1154  bis  1718  v.  Chr.  nicht 
weniger  als  16  VerfinsleranKcn  der  Sonne  in  dem  Zeichen  des  Scorpions 
lichtbar  waren,  und  es  ist  daher  ganz  willkürhch,  welche  von  diesen  Vertin- 
tterungen  als  diejenige  gellen  soll  die  sich  zur  Regierungszeit  von  Tschudg-kang 

I)  J.  H.  Plalh,  VerrasEung  und  Verwaltang  Chin»i  anter  den  drei 
etsicti  Dynaslien.     München  1865,     S.  32.  S.  37.  tf. 


Südostasiaten  mit  einsylbigen  Sprachen.  igi 

Singvögel  vor  räuberischen  Händen,  Verbote  gegen  das  Tragen 
von  Waffen  oder  das  scharfe  Reiten  durch  die  Gassen  der  Städte, 
Wollten  wir  einer  Angabe  aus  dem  Jahre  282  n.  Chr.  folgen,  so 
hätte  schon  zu  Yü's  Zeiten  China  eine  Bevölkerung  von  13,553,923 
Köpfen  besessen,  allein  James  Legge  hält  alle  VolksziiFern  aus  dem 
alten  Reiche  [nur  für  müssige  Rechnungsübungen  späterer  chinesi- 
schen Gelehrten ').  Das  Gebiet  des  ersten  Herrscherhauses  hatte 
noch  Raum  in  dem  grossen  Ellenbogen  den  der  Hoangho  in  der 
Provinz  Schaiisi  bildet  und  lange  Zeiträume  verstrichen,  ehe  es 
sich  bis  zum  Yangtsekiang  erstreckte.  Erst  537  v.  Chr.  wurde 
Tschekiang  einverleibt  und  Südchina,  das  heisst  Fokien,  Kuang- 
tung,  Kuangsi,  Kueitscheu  im  Süden  der  Nanlingkette  durch 
Colonisten  seit  214  v.  Chr.  erworben,  ebenso  friedlich  oder  viel- 
mehr friedlicher  als  die  Unionsstaaten  unter  unsern  Augen  über 
den  Mississippi  in  den  fernen  Westen  hinausgewachsen  sind.  An 
Ausbreitung  hat  China  noch  1255  n.  Chr,  gewonnen,  als  die  Mon- 
golen Yünnan  ihm  hinzufügten,  ja  die  Insel  Formosa  ist  erst  1683 
in  den  ßej^itz  des  Reiches  gekommen*).  Wenn  dagegen  seit  den 
letzten  zwanzig  Jahren  nicht  bloss  das  transamurische  Gebiet, 
sondern  grosse  Bruchstücke  Mandschuriens  an  Russland  abgetreten 
wurden,  wenn  Kaschgarien  durch  eine  Empörung  verloren  ging 
und  im  Süden  Yünnans  ein  mohammedanisches  Reich  entstanden 
ist,  so  muss  man  erwägen,  dass  diese  Verluste  in  eine  Zeit  innerer 
Zerrüttung  .fallen.  Die  Mandschu  sind  offenbar  entkräftet  worden 
und  China  reift  einem  Dynastienwechsel  entgegen,  einer  gesell- 
schaftlichen Krankheit  wie  es  deren  schon  manche  erlitten  und 
überstanden  hat,  um  stets  wieder  unter  einem  neuen  Herrscher- 
geschlechte  frisch  zu  erblühen. 

Ehe  wir    zur  Untersuchung    schreiten,  inwiefern  die  Länder- 
beschaffenheii  den  Entwicklungsgang  der  chinesischen  Gesellschaft 

« 

gefördert  habe,  müssen  wir  zuvor  über  die  körperlichen  und  gei- 
stigen Befähigungen,  sowie  über  die  Gemüthsart  des  Volkes  uns 
unterrichten.  Es  ist  zunächst  aii  die  Biegsamkeit  des  chinesischen 
Menschenschlages  zu  erinnern,  der,  allen  Gegensätzen  der  Luft- 
erwärmung zum  Trotz,  in    Kiachta  oder    genauer   in  Maimatschin 


1)  Chinese  Classics.  vol.  III,  part.  i.  p.  77 — 79. 

2)  J.  H.   Plath,    Verfassung    und    Verwaltung    China's    unter  den   drei 
ersten  Dynastien.     München  1865.  S.  8. 


jQ2  Südoslasiaten  mit  eiDsylbigeii  Sprachen. 

an  der  sibirischen  Grenze,  wo  das  Quecksilber  jeden  Winter  in 
d(.-r  Tliermometerrübre  gefriert,  ebenso  unangefochten  gedeiht  wie 
n  der  Treibhauswärme  Singapurs,  wo  die  Muskatnuss  vor  dem 
Ausbruch  der  letzten  Seuche  als  Handelsgewächs  gebaut  wurde. 
Der  Chinese  vereinigt  sodann  alles  in  sich  was  bei  ruhigem  Ge- 
währenlasseti  zur  raschen  Uebervölkerung  führen  müsste:  er  ist 
ein  zärtlicher  Vater  der  seine  höchste  Freude  im  Kindersegen 
sucht,  genügsam  bis  zum  Uebermass,  von  musterhafter  Sparsam- 
keit, ein  nie  ermüdeter  Arbeiter,  der  jede  Sabbathruhe  verschmäht 
im  Handel  aber  pfiffiger  als  ein  Grieche.  Schon  die  Kinder  be- 
sorgen Marktgeschäfte;  Keuschen  und  auf  Pfander  leihen  sind  ihre 
beliebten  Spiele'), 

Der  Chinese  hängt  noch  fest  und  zäh  an  der  ersten  Stufe, 
auf  welcher  sich  die  menschliche  Gesellschaft  zu  gliedern  beginnt 
tin  jeder  Befehl  in  China  kommt  aus  väterlichem  Munde,  Ge-  - 
horsam  ist  die  erste  heilige  Kindespflicht,  und  Todesstrafe  droht 
jedem  der  sich  an  seinen  Eltern  vergreifen  wollte.  Die  unbe- 
dingte Macht  der  Monarchen  gründet  sich  auf  den  Rechtssatz, 
dass  sie  die  \'äter  der  chinesischen  Gesellschaft  sind.  Die  Macht- 
fälle der  bürgerlichen  Oürigkeit  aber  beruht  wesentlich  auf  dem 
moralischen  Ansehen,  denn  China  hat  als  stehendes  Heer  nur 
seine  acht  Banner  Mandschu-Soldaten,  jedes  von  10,000  Mann, 
die  sich  in  dem  weiten  Reiche  vollständig  verlieren.  Die  Diener 
der  öffentlichen  Sicherheit  siad  an  Zahl  ebenfalls  verschwindend 
klein,  so  dass  der  IMandarin  feiner  Provinz  oder  Stadt  von  physi- 
schen Zwangsmitteln  viillig  entblosst  ist.  Wohl  darf  es  unsere 
Bewunderung,  fast  unseren  ;Neid  erregen,  dass  350  Millionen 
Menschen  mit  einem  geradezu  geringfügigen  Aufwand  von  Staats- 
söldnern ohne  Stijrung  ihren  Beruf  verfolgen.  So  etwas  ist  nur 
denkbar  innerhall)  einer  GeselUchaft  die  seit  Jahrtausenden  bereits 
den  Schulzwang  eingeführt  hai,  welche  kein  Amt  verleiht  ohne 
günstig  bestandene  Prüfung,  wo  jedes  Verdienst  erworben  sein 
will,  und  wo  es  keinen  erblichen,  sondern  nur  einen  persönlichen 
Adel  gibt.  Freilich  müssen  wir  auch  der  Schattenseiten  gedenken 
welche  diese  Sparsamkeit  am  Verwaltungsaufwand  mit  sich  bringt. 
Der  Amerikaner  Pumpelly  geiieth  mehrmals  durch  die  gänzliche 
Machtlosigkeit  der  Mandarinen   bei  einer    Aufregung    des   Städte- 

3)  Huc,  U..S  chinesische  Reich.     Bd.  2.  S.  g\. 


Südostasiaten  mit  einsylbigen  Sprachen.  ^q^ 

pöbeis  in  ernste  Gefahren.  Leben  und  Eigenthum  geniessen  in 
China  nur  eine  mangelhafte  Sicherheit,  die  Küstengewässer  werden 
ohne  Unterlass  von  Piraten  beunruhigt,  und  es  hat  fast  nie  eine 
Zeit  gegeben  wo  in  dem  grossen  Reiche  nicht  irgend  ein  Aufruhr 
geherrscht  hätte.  Der  Hang  zu  geheimen  Gesellschaften,  den  die 
Chinesen  auch  als  Auswanderer  überall  mitbringen,  trägt  das 
meiste  dazu  bei,  dass  die  Fackel  des  Bürgerkriegs  bald  da,  bald 
dort  auflodert. 

In  China  reichen  die  Familiennamen  hinauf  in  ein  ehrwür- 
diges Alterthum.  Während  in  Europa  selbst  Dynastien  ihre 
Stifter  urkundlich  höchstens  ein  Jahrtausend  zurückverfolgen  kön- 
nen, leben  in  China  noch  Nachkommen  des  Confutse,  die  nicht 
bloss  ihren  Stammbaum  bis  auf  diesen  Weltweisen  zurückführen, 
sondern  sich  auch  rühmen  dürfen  dass  ihr  Ahnherr  selbst  wieder 
seinen  Familiennamen  schon  1121  v.  Chr.  nachweisen  konnte.  So 
erklärt 'sich  der  Sinn  der  spöttischen  Frage  welche  die  Chinesen 
an  die  europäischen  Fremdlinge  richten:  „Habt  ihr  auch  Fami- 
liennamen?" nämlich  so  altbegiaubigte  wie  wir*). 

Es  wurde  schon  früher  bemerkt,  dass  Confutse,  keine  Religion 
gestiftet  habe.  Er  hielt  sich  an  die  Verehrung  von  Himmel  und 
Erde,  wie  er  sie  in  den  sogenannten  classischen  Büchern  aus 
dem  alten  Reiche  fand.  China  war  zur  Zeit  seiner  Geburt  (551 
V.  Chr.)  in  13  grössere  Fürstenthümer  und  eine  Anzahl  Raub- 
staaten zerfallen.  In  einem  der  ersteren  stieg  der  Weltweise  zum 
Bürgermeister,  dann  zum  Justizminister  auf,  verliess  aber  «den 
Staatsdienst  aus  Verdruss  über  die  herrschende  Maitressenwirth- 
schaft  und  beschäftigte  sich  als  Staatspensionär  des  Herzogthums 
Wei  mit  schriftstellerischen  Arbeiten  über  die  Alterthümer  seines 
Volkes.  Er  lebte  in  Fülle,  wenn  auch  ohne  Verschwendung  und 
reiste  stets  im  eignen  Wagen.  Hoch  betagt  starb  er  478  v.  Chr. 
gefasst  aber  ohne  Gebet,  nicht  getröstet  von  Weib  und  Kind, 
enttäuscht  über  die  geringe  Wirksamkeit  seiner  Lehren  und  ohne 
Hoffnung  auf  bessere  Zeiten.  Als  ihn  einer  seiner  Schüler  über 
die  Fortdauer  nach  dem  Tode  befragte,  verweigerte  er  ein  auf- 
richtiges Bekenntniss.  „Würde  ich  sagen,  äusserte  er  dabei,  dass 
die  Abgeschiednen  Bewusstsein  hätten,  so  möchten  fromme  Söhne 


i)  James  Legge,  Life  of  Confucius.     London  1867.  p.  55. 


inj  Südostasialen  mit  einsylbigen  SpTBcheo. 

ihr  Vennögen  in  Todtenfeiern  zerrütten,  und  würde  ich  jenes 
Bewusstsein  läugnen,  so  meierten  herzlose  Söhne  ihre  Eltern  un- 
beerdigt  lassen')."  Seine  Sittenlehren  hatten  immer  den  bürger- 
lichen Nutzen  zum  höchsten  Zweck  und  daher  stehen  sie  tief 
unter  den  buddhistischen.  Auf  die  Frage  eines  Jüngers  ob  sich 
nicht  in  einem  Worte  die  Menschen  pflichten  zusammen  fassen 
lieasen,  gab  er  die  Antwort:  „Ist  nicht  Vergeltung  ein  solches? 
Was  du  nicht  willst,  das  andre  dir  zufügen,  das  thue  ihnen  auch 
nicht")."  Als  ein  andrer  Schüler  zu  wissen  begehrte,  ob  nicht 
Unrecht  mit  Wohlwollen  vergolten  werden  solle,  antwortete  der 
Meister:  „Womit  willst  du  dann  Wohlwollen  vergelten?  Vergilt 
Unrecht  mit  Gerechtigkeit  und  Wohlwoilen  mit  Wohlwollen^)." 
Ganz  in  diesem  Sinne  schärfte  er,  wie  wir  bereits  gesehen  haben, 
die  Pflichten  der  Blutrache  ein.  Um  lästige  Besucher  abzuhahen, 
gab  er  sich  oft  mit  Verletzung  der  Wahrheit  für  krank  aus  und 
einstmals  brach  er  gelassen  ein  feierliches  Versprechen.  Als  er 
darüber  aur  Rede  gesetzt  wurde,  äusserte  er  kühl:  Es  war  ein 
erzwungner  Eid  und  die  Geister  hören  solche  Eide  nicht. 

Von  minderem  Einfluss  wie  Confutse  war  sein  Zeitgenosse  Laotse, 
derein  höchstes  logosartiges  Wesen  als  Schöpfer  der  Körpcrwelt lehrte 
in  einer  Sprache,  ..von  platonischer  Hoheit  und  Unverständlich- 
keit^)"  wie  Ri^musat  sich  ausdrückt.  Der  Taoteking,  das  Glaubens- 
buch Laotse's  und  seiner  Anhänger,  der  Taosse  leidet  in  der 
That  so  sehr  an  Dunkelheiten,  dass  schon  der  Name  Tao  oder  der 
des  höchsten  Wesens  eine  Menge  Deutungen  zulasst*).  Die  Sitten- 
lehre des  Weltweisen  war  sonst  eine  durchaus  reine,  sie  predigte 
Sanftmuth  und  Duldung  wie  die  buddhistische.  Seine  Schüler 
und  Nachfolger  aber  die  sich  Doctoren  der  Vernunft  nannten, 
brachten  sich  und  die  Taolehre  durch  verächtlichen  Schamanisten- 
betrug  bald  in  Missachtung  und  sind  seitdem  zur  Zielscheibe  des 
öffentlichen  Spottes  geworden''). 


0  I'^EE^i  Life  of  Confucius.    London  1S67.  p.  loi. 

2)  Legge,  Confncius.     Anal.  XV.  c.  23.  p.  112. 

3)  1.  c.  p.  113. 

4)  Abel  Remu^at,  in  den.MilanBes  asialiques,  tom.  I,  p.  91,  bei  Huc 

5)  Lao-lse    Tao-le-Uing  ed.    R.  v.  Plaenckoer.    Leipzig.  1870.  p.  VII. 
61  GälzlaiC,  Gesthithle  des  chinesischen  Reiches.   Slutleart  1847.  S.  75. 


Südostasiaten  mit  einsylbigen  Sprachen.  ^nc 

Betrachten  wir  nun  den  Schauplatz  dieser  eigenthümlichen 
Gesittung,  so  ergibt  sich  schon  nach  einem  hastigen  Blick,  dass 
die  Gliederung  der  wagerechten  Umrisse  nichts  bessern  und 
nichts  verschulden  konnte.  Die  Küste  und  die  Küstengewässer 
sind  zur  SchifFfahrt  nicht  verlockend.  Wenn  aber  bis  auf  den  heutigen 
Tag  die  Chinesen  ebenso  traurige  Matrosen  wie  Schiffsbauer  ge- 
blieben sind,  so  darf  nicht  übersehen  werden,  dass  sie  ursprünglich 
ein  Binnenvolk  waren  und  dass  sich  ihr  Reich  erst  spät  bis  an  das 
Meer  und  längs  dem  Meere  ausbreitete.  Nicht  mit  chinesischen, 
sondern  mit  indischen  und  javanischen  Fahrzeugen  reiste  der 
Buddhist  Fabian  am  Beginn  des  5.  Jahrhunderts  n.  Chr.  von 
Ceylon  über  Java  nach  China  zurück.  Erst  in  den  Jahren  630 
n.  Chr.  kamen  Muscatfrüchte,  Kampher,  Aloeholz,  Kardamomen 
und  Nelken  durch  den  Seeverkehr  nach  China').  Bis  Sumatra 
erstreckten  sich  die  Kenntnisse  der  Chinesen  erst  um  950  n.  Chr. 
Aus  diesem  ,und  aus  dem  nächsten  Jahrhundert  stammen  ihre 
Blechmünzen  die  auf  Singapur  gefunden  werden*).  Wenn  be- 
hauptet worden  ist,  dass  die  Chinesen  nie  über  Malaka  ihre  Schiff- 
fahrt erstreckt  hätten,  so  haben  wir  ja  bei  den  arabischen  Rei- 
senden die  beste  Widerlegung.  Wir  wissen  ferner  aus  Marco 
Polo,  dass  sie  unter  Kublai  Chan  bereits  an  Unternehmungen 
gegen  Madagaskar  dachten,  und  aus  Makrisi's  Angaben,  dass  so- 
gar 1429  n.  Chr.  ein  chinesisches  Schiff  welches  in  Aden  keinen 
Absatz  für  seine  Waaren  fand,  ins  Rothe  Meer  hinauflief  bis  zum 
Hafen  Dschidda*^).  Da  aber  längst  vor  diesen  nautischen  Regungen 
China  im  vollen  Culturglanze  gestanden  »war,  dürfen  wir  behaupten 
dass  die  Ufergestaltung  erst  spät  und  nie  entscheidend  die  Ge- 
sittung des  himmlischen  Reiches  gefördert  habe. 

Weit  bedeutungsvoller  ist  die  Thatsache,  dass  das  Gebiet 
der  Chinesen  der  alten  Welt  angehört,  so  dass  innerhalb  seiner 
Grenzen  die  besten  Culturgewächse  und  die  wichtigsten  Haus- 
thiere  entweder  einheimisch  vorhanden  waren  oder  sich  dahin  von 
Volk  zu  Volk  verbreiten  konnten.  In  dieser  Beziehung  war  für 
die  Cultur  in  China  weit  besser  gesorgt  als  in  Amerika,  von  Au- 
stralien gar  nicht  zu  reden.     Unter  den  Bodenschätzen  des  Landes 


1)  Plath,  im  Ausland.  1869.     S.  1213. 

2)  Waitz,  Anthropologie.     Bd.  5.  S.  119. 

3)  Et.  Quatremere,  Memoires  sur  1'  Egypte,  tom.  II,  p.  291. 


j4cj5  Südostasiaten  mit  einsylbigen  Sprachen. 

müssen  wir  seiner  Kupfer-  und  vor  allen  seiner  Zinnerze  gedenken. 
Die  Lagerstätten  des  letztereTi  Metalls  sind  nämlich  in  weiten  Ab- 
standen auf  der  Erde  zerstreut,  ohne  Zinn  aber  lässt  sich  keine 
BronüC  darstellen,  die  der  Bekanntschaft  mit  dem  Eisen  überall 
vorausging  und  mit  deren  Anwendung  stets  ein  neuer  Culturab- 
sclmitt  begonnen  hat.  Da  aber  im  Lande  selbst  die  erforder- 
lichen Erze  brachen,  so  erregt  es  keine  kritischen  Bedenken,  wenn 
die  Chinesen  die  Bearbeitung  der  Metalle  in  die  mythische  Zeit 
zurückversetzen. 

Es  lag  femer  der  anfängliehe  Kern  der  chinesischen  Gesell- 
schaft auf  einem  fruchtbaren  Niederland  welches  gegen  Norden 
der  Absturz  der  Gobi  umrahmt.  Dem  Rande  dieses  Absturzes 
entlang  läuft  bekanntlich  die  grosse  Mauer.  „Sie  bezeichnet» 
äussert  A.  v.  Humboldt')  in  einer  Bemerkung  zu  Bungf's  Reisen, 
im  eigentlichsten  Verstände  eine  natürliche  Grenze,  und  eine 
trefflichere  Wahl  des  Ortes  als  politische  Grenze  war  nicht  zu 
treffen.  Alles  war  todt  in  der  Steppe,  und  nur  einen  Schritt  mehr, 
so  stand  der  Reisende  an  dem  jähen  Abstürze  Hochasiens,  wo 
ihm  das  üppigste  Leben  entgegen  lächelte."  So  weit  Pumpelly  der 
grossen  Mauer  gegen  ^Vesten  folgen  konnte,  zeigte  der  Absturz 
Vorsprünge  und  Golfe  genau  als  ob  die  See  einstmals  ein  steiles 
Ufer  ausgenagt  habe.  Die  östlichen  Provinzen  China's  sind  daher 
ein  junges  aufgeschwemmtes  Tiefland  und  ihr  Boden  wird  durch- 
schnittlich als  höchst  fruchtbar  angesehen. 

Zu  diesen  Vorzügen  der  Boden  beschaffenheit  gesellte  sich 
aber  noch  eine  seltene  meteorologische  Begünstigung,  nämlich 
während  des  Vorsommers  der  regelmässige  Krguss  reichlicher 
Mousunregen,  die  dem  warmen  und  trockenen  Frühling  folgen, 
wodurch  die  Pflanzenweh  in  der  Wachsthumsperiode  belebt  und 
gleichsam  mit  einer  Gabe  der  Tropenzone  ausgestattet  wird'). 
Ihr  verdankt  es  China,  dass  auch  die  Bambusen,  deren  Schilfe 
für  den  Haushah  so  mannichfaltigc  Dienste  gewähren,  in  China 
bis  zu  ungewöhnlichen  PolhÖhen  sich  zu  erheben  vermögen.  Die 
Canäle  welche  das  Tiefland  durchziehen,  bezeugen  ferner,  dass 
sich  das  Land  ohne  grosse  Schwierigkeiten  bewässern  liess.  An 
Mehlfruchtarten    wird    es    in    China    nie    gefehlt    haben,    oder    sie 

1)  Briefwechsel  mit  Berghaus,     Bd.  1.  S.  30. 

2)  Grisebach,  die  VeBCtalion  der  lirJe.     Bd.  1,  S.  4H9.  ff. 


Südostasiaten  mit  einsylbigen  Sprachen.  207, 

konnten  sich'  als  Culturgewächse  ungehindert  dahin  verbreiten. 
Flath  0  nennt  als  Hauptgetreide  im  alten  Reiche  zwei  hirseähnliche 
Gräser  wie  Müium  globosum,  Panicum  verticilatum^  dann  Holcus  sorghum 
und  vor  allem  den  Weizen.  Der  Reis  wird  erst  in  der  südlichen 
Hälfte  die  herrschende  Feldfrucht,  gelangte  obendrein  spät  nach 
China.  Nur  im  Süden,  etwa  mit  dem  30.  Breitegrad,  beginnt 
auch  der  Theebau  und  die  Seidenzucht.  Dass  übrigens  die  Chi- 
nesen nicht  hartnäckig  Gaben  aus  fremder  Hand  zurückweisen, 
dafür  zeugt  dass  sie  Roggen,  Hafer  und  Buchweizen  durch  Ver- 
mittlung mongolischer  oder  wahrscheinlicher  türkischer  Stämme, 
und  seit  der  Entdeckung  Amerika's  auch  den  Mais  bei  sich  ein- 
geführt haben.  Sonst  fanden  sich  im  alten  Reiche  noch  Erbsen 
und  Bohnen,  Gurken  und  Melonen,  Zwiebeln  und  Lauch.  Auch 
die  wichtigsten  Hausthiere  der  alten  Welt  waren  vorhanden,  das 
Rind,  das  Schaf,  das  Pferd,  das  Schwein,  das  Huhn  und  der  Hund* 
Vermisst  werden  in  dieser  Liste  das  Kamel,  der  Esel  und  die 
Ziege.  Vielleicht  aus  buddhistischen  Sknipeln  wird  das  Rind  selten 
genossen,  und  auflfallenderweise  gibt  es  in  China  keine  Milchwirth- 
schaft.  Den  Grundbestandtheil  der  Fleischnahrung  muss  in  China 
das  Schwein  liefern,  welches,  wie  wir  erinnern  möchten,  einer 
andern  wilden  Art  fSus  indtcus,  Pallas)  als  das  europäische  Zucht- 
schwein entsprungen  ist*),  also  von  den  Chinesen  ohne  Zweifel 
selbständig  gezähmt  wurde. 

Zuchtwürdige  Thiere  und  nahrungspendende  Pflanzen  waren 
also  vorhanden  oder  konnten  sich  frühzeitig  in  China  einstellen. 
Diess  aber,  sowie  die  oben  geschilderte  Begünstigung  des  Acker- 
baues und  die  vorhandenen  Schätze  an  Erzen  sind  alles  was  der 
Lebensraum  zur  Entfaltung  der  chinesischen  Cultur  freiwillig  bei- 
getragen hat.  Die  tellurische  Lage  des  Reiches  war  aber  nur  in- 
soweit vortheilhaft,  als  den  Chinesen  Jahrtausende  ruhiger  innerer 
Entwicklung  vergönnt  blieben  ehe  sie  von  überlegenen  Völkern 
Störungen  zu  befürchten  hatten.  Sie  waren  rings  umgeben  von 
Nachbarn  gleicher  Abstammung,  die  sie  frühzeitig  durch  ihre  Ge- 
sittung überragten.  Die  Einfalle  von  Wanderhorden  unterbrachen  nur 
auf  kurze  Zeit  das  stetige  Wachsthum,  denn  der  siegreiche  Fremd- 
ling auf  dem  Thron  fügte  sich  bald  der  geistigen  Ueberlegenheit 


i)  Nahrungsweise  der  alten  Chinesen,    Ausland  1869.    S.  1212. 
2)  V.  Nathusius,  der  Schweineschädel.     S.  175. 


2g8  Südostasialen  mit  einsylbigen  Sprachen. 

der  De  herrschten.  Mongolen  und  Mandschu  mochten  Dj'nastien 
stiften,  geändert  wurde  aber  in  China  damit  nichts  als  der  Name 
des  Herrscherhauses. 

Arbeitsamkeit  und  Treude  am  Kindersegen,  haben  die  Chine- 
sen zu  einem  Volke  von  mehr  als  350  Millionen  Köpfen  anschwellen 
lassen.  Mit  dieser  Verdichtung  war  zugleich  die  sociale  Zucht 
geboten.  Jede  Vermehrung  der  Bevölkerung  auf  einer  gegebenen 
Fläche  legt  dem  l\ren?chen  den  Zwang  auf  seine  gesellschaftlichen 
Instincte  weiter  auszubilden.  Ohne  Schutz  des  Lebens  und  Eigen- 
thums,  olme  Beobachtung  e'helicher  Treue,  ohne  strenge  Wahr- 
haftigkeit vor  Gericht  konnte  eine  zahlreiche  Gesellschaft  gar 
nicht  gedeihen,  sondern  müsste  an  innerer  Zerrüttung  zu  Grande 
gehen.  Jn  den  Bevölkerungsziffern  liegt  an  sich  schon  die  Gewähr 
ges eil scbaflU eher  Verfeinerungen.  Gleichzeitig  sind  mit  ihnen  auch 
die  technischen  Fortschritte  ganz  unausbleiblich.  Wo  wir  es  mit 
Jahrtausenden  und  Millionen  Menschen  zu  thun  haben,  spielt  der 
Zufall  als  Vater  der  Erfindungen  gewiss  eine  grosse  Rolle.  Er 
wird  zum  Lehrmeister  der  K.unstgrifVc,  und  er  vermehrt  beständig 
den  Schatz  der  Erfahrungen.  So  war  es  unvermeidlich  dass  die 
Chinesen,  die  schon  z.wei  Jahrtausende  vor  Christus  nach  Millionen 
zählten,  ihre  Gewerbe  auf  eine  noch  jetzt  iheilweise  staun enswerthe 
Hohe  empor  heben  konnten. 

Dabei  blieb  es  aber.  Ueberall  bemerken  wir  dass  die  Chinesen 
nicht  über  eine  gewisse  Höhe  y^istiger  Entwicklung  hinaus  ge^ 
laugen.  Sie  haben  selbständig  eine  eigne  Schrift,  aber  nur  Sj-lben- 
zeichen,  nicht  Lautzeichen  erfimden;  sie  hatten  den  Platiendruck 
längst  gekannt,  aber  die  früh  benutzten  beweglichen  Typen  wiedf  r 
aufgegeben.  Sie  hatten  die  Nordweisung  der  Magnetnadel  ent- 
deckt, aber  benutzten  sie  nie  als  Compass,  sie  kannten  das  Pulver, 
aber  nie  die  Feuerrohre"),  sie  haben  das  Rechnenbrett,  aber  nicht 
den  Stellenwerth  der  Zahlen  erfunden,  astronomische  Vorgänge 
seit  Jahrtausenden  beobachtet,  aber  die  Thierkreistheilung  von 
auswärts  sich  zuführen  lassen. 

Carl  Ritler  hat  sieh  vielfach  mit  dem  Gedanken  beschäftigt, 
dass  der  Gang  der  Culturge schichte  ein  anderer  geworden  wäre 
wenn  das  chinesischf  und    das    riimische    Kaiserreich  sich    inniger 

1)  Der  cliinesisehe  Ausdruck  für  Kanone  iu  ein  Fremdwort  aus  dem 
Ahendlaiide.     Hut,  tljs  diinesische  Rcn;h.     Bd.   j.    s.  78. 


Südostasiaten  mit  einsylbigen  Sprachen.  ^qq 

hätten  berühren  können.  Der  Orientalist  Reinaud,  lange  Zeit 
Vorsitzender  der  asiatischen  Gesellschaft  in  Paris,  hat  in  seinem 
letzten  Werke  uns  überreden  woUen,  dass  man  in  Rom  schon 
unter  den  ersten  Kaisern  von  der  bevorstehenden  Annäherung  an 
China  gesprochen  habe,  wie  etwa  gegenwärtig  über  den  Zusam- 
jnenstoss  der  britischen  und  russischen  Macht  im  Innern  Asiens 
viel  überflüssige  Schriften  gedruckt  werden.  Vielleicht  hat  man 
sich  die  FoJgen  eines  Culturaustausches  der  römisch -chinesischen 
Kaiserreiche  allzu  grossartig  vorgestellt.  Sie  würden  für  Europa 
wohl  nur  darin  bestanden  haben,  dass  die  Seidenwürmerzucht  um 
ein  paar  Jahrhunderte  früher  in  Gebrauch  gekommen  wäre. 

Erspriesslicher  hätte  eine  solche  Berührung  auf  China  zurück- 
wirken können.  Seine  ostasiatische  Abgeschiedenheit,  so  günstig 
sie  für  eine  friedliche  Vermehrung  in  der  Vergangenheit  gewesen 
war,  hat  sich  zu  einem  drohenden  Verhängniss  für  die  Zukunft 
umgewandelt.  Fast  wörtlich  passt  auch  hier,  was  Adolf  Bacmeister 
in  Bezug  auf  südafrikanische  Völker  geäussert  hat:  „Für  die  Auf- 
rollung des  ursprünglichen  Wesens  eines  Volkes  in  der  Geschichte 
ist  es  ein  gewaltiger  Unterschied  ob  es  nur  oder  beinahe  nur  mit 
den  Völkern  seines  Gleichen  sich  trifft  und  reibt  und  messen 
lernt,  oder  ob  es  ihm  die  Geschichte  vergönnt  und  geboten  hat 
sich  mit  fremden  Mächten  in  der  Arena  zu  tummeln,  und  im  er- 
frischenden Kampfe  mit  immer  neuen  Gewalten  sein  Dasein  zu 
gründen,  zu  erweitern,  zu  vertiefen,  vielleicht  auch  ruhmvoll  zu 
verlieren  ').** 

Die  Achtung  vor  den  Culturleistungen  der  Chinesen  kann 
kaum  grösser  sein  als  beim  Verfasser.  Sie  unter  allen  hochge- 
stiegenen Völkern  verdanken  am  wenigsten  fremden  Anregungen, 
wir,  das  heisst  die  Europäer,  und  vorzugsweise  die  Nordeuropäer 
verdankten  bis  etwa  um  das  13.  Jahrhundert  fast  alles,  mit  Aus- 
nahme unserer  Sprache,  der  Belehrung  fremder  Völker.  Wir  sind 
Zöglinge  geschichtlich  begrabener  Nationen,  die  Chinesen  sind 
Autodidacten.  Vergleichen  wir  aber  unsern  Entwicklungsgang  mit 
dem  ihrigen,  so  werden  wir  uns  bewusst  was  ihnen  fehlt  und 
worauf  unsere  Grösse  beruht. 

Seit    unserem    geistigen    Erwachen,    seit    wir  als  Mehrer  der 


I)  Ausland  18  71.  S.  580. 


^OO  Koreaner  und  Japanesen. 

Culturschätze  aufgetreten  sind,  haben  wir  unverdrossen  mit  den 
Schweissperlen  auf  der  Stirn  nur  nach  einem  Ding  gesucht,  von 
dessen  Dasein  die  Chinesen  keine  Ahnung  haben,  und  für  das 
sie  auch  schwerlich  eine  Schüssel  Reis  geben  würden.  Dieses 
eine  unsichtbare  Ding  nennen  wir  Causalität.  An  den  Chinesen 
haben  wir  eine  ungezählte  Menge  von  Erfindungen  bewundert,, 
und  von  ihnen  uns  angeeignet,  aber  wir  verdanken  ihnen  nicht 
eine  einzige  Theorie,  nicht  einen  einzigen  tieferen  Blick  in  den 
Zusammenbang  und  die  nächsteh  Ursachen  der.  Erscheinungen. 


3.    Koreaner    und    Japanesen. 

Die  Bewohner  der  Halbinsel  Korea  und  des  japanischen 
Archipels  theilen  mit  den  Völkern  des  vorigen  Abschnittes  die 
Merkmale  der  mongolischen  Race.  Die  Japanesen  gehören  mit 
einem  Breitenindex  von  76  unter  die  Mesocephalen  und  die  Höhe 
ihres  Schädels  ist  fast  so  gross  wie  die  Breite.  Nur  ihre  mehr- 
sylbigen  Sprachen  verhindern  es,  dass  sie  in  die  nämliche  Gruppe 
wie  die  Chinesen  und  Malayochinesen  gestellt  werden.  Näher 
stehen  sie  linguistisch  dem  altaischen  Typus,  mit  dem  sie  die 
lockre  Zusammenfügung  der  Formelemente  und  andre  Regeln  des 
Wortbaues  gemein  haben.  In  solchen  ^  Grundzügen  stimmt  das 
Japanische  mit  dem  Koreanischen  so  weit  überein,  dass  beide 
Sprachen  eine  gemeinsame  Herkunft  besessen  haben  könnten, 
doch  ist  bis  jetzt  keine  Thatsache  dafür  entdeckt  worden,  dass  sie 
eine  gemeinsame  Herkunft  besessen  haben  müssten'). 

Die  Japanesen  sind  in  ihre  heutigen  Wohnsitze  vom  Fest- 
lande eingewandert  und  haben  dann  weiter  gegen  Süden  auch 
die  L!u-kiu  Inseln  bevölkert.  Auf  Nippon  und  den  südlichen 
Inseln  verdrängten  sie  ältere  Urbewohner,  mit  höchster  Wahr- 
scheinlichkeit Aino,  die  sich  jetzt  nur  noch  auf  Jezo  und  auf  den 
Kurilen  behaupten.  Auch  mit  den  Japanesen  kann  sich  die 
Völkerkunde  nicht  lange  beschäftigen.  Wohl  sind  sie  ein  geistig 
hoch  begabtes  Volk,  welches  sich  rasch  fremde  Culturvorzüge 
aneignet.     Fuhr    doch    schon    im  Januar    1860  ein    Dampfer   nur 


i)  Whitney,  Langnage  and  the  study  of  language.  p.  329. 


Die  mongolenähnlichen  Völker  im  Norden  der  alten  Welt.  4.01 

mit  Japanesen  bemannt  und  von  ihnen  befehligt ,  über  das  Stille 
Meer  nach  San  Francisco  und  zurück.  Allein  ihre  einigermassen 
glaubwürdige  Geschichte  reicht  nur  bis  Zinmu  oder  in  das  7.  Jahr- 
hundert V.  Chr.*)  hinauf  und  ihre  Gesittung  entlehnten  sie  bisher 
immer  aus  China.  Doch  haben  sie  das  Empfangene  selbständig 
weiter  gebildet.  So  erfanden  sie  ein  Lautalphabet  von  47  Buchstaben, 
behielten  aber  daneben  die  chinesischen  Sylbenbilder  bei.  Viele 
ursprünglich  chinesische  Gewerbszweige  haben  sie  eigenartig  weiter 
entsvickelt,  wie  die  Porzellanbäckerei  und  die  Stahlerzeugung.  Ihr 
Humor  und  ihre  Schalkhaftigkeit  drückt  sich  in  ihren  Caricaturen 
aus,  die  bei  hoher  Lebendigkeit  und  glücklicher  Beobachtung  der 
Natur  nur  an  Verzeichnungen  leiden.  Unter  allen  Asiaten  sind 
sie  die  einzigen,  bei  denen  wir  ritterliches  Ehrgefühl  von  hoher 
Reizbarkeit,  nach  Art  des  spanischen  Pundonor,  antreffen.  Auch 
sonst  sind  sie  von  den  mongolenähnlichen  Völkern  diejenigen, 
welche  an  Sinnesart  den  Abendländern  am  nächsten  sich  an- 
schliessen  und  durch  ihren. Reinlichkeitstrieb  wieder  am  günstigsten 
von  den  Chinesen  abstechen. 

Die  Bewohner  Korea's  verdanken  ebenfalls  ihre  heutigen 
bürgerlichen  Zustände  den  Chinesen;  über  ihre  ältere  Gesittung 
sind  wir  aber  nicht  unterrichtet. 


4.      Die    mongolenähnlichen   Völker    im    Norden    der 

alten   Welt. 

Vom  ochotskischen  Meerbusen  bis  nach  dem  europäischen 
Lappland  sitzen,  abgesehen  von  den  ostwärts  vorgedrungenen 
Russen,  Bevölkerungen,  die  von  Jagd,  Fischfang  und  Viehzucht 
leben,  beständig,  seitdem  sie  geschichtlich  beobachtet  werden 
konnten,  ihre  Wohnsitze  verändert  und  sich  durch  einander  ge- 
schoben haben.  Wiederholt  traten  unter  ihnen  Eroberer  auf, 
welche  die  herrenlosen  Horden  zu  einer  gemeinsam  handelnden 
Masse  zusammenschmolzen.  Ob  ehemals  jenes  geräumige  Gebiet 
von  Menschen  verschiedener  Race  bewohnt  war,  lässt  sich  gegen- 
wärtig weder  verneinen  noch  bejahen.  Jedenfalls  hat  die  be- 
ständige Mischung  des  Blutes  frühere  Unterschiede  verwischt,  und 
so  finden  wir  daher  in  den  Körpermerkmalen  alle  Uebergänge  von 

1)  E.  Kämpfer,  Geschichte  von  Japan.     Bd.  i.  S.  173. 
Pescheh  Völkerkunde.  26 


402  I^i®  mongolenähnlichen  Völker  im  Norden  der  alten  Welt. 

den  streng  mongolischen  Erkennungszeichen  bis  zur  gänzlichen 
Uebereinstimmung  mit  den  gesitteten  Bewohnern  des  Abend- 
landes. Diese  V^ölkergruppe,  welche  Castren  Altaier  genannt  hat, 
schliesst  sich  eng  an  die  Ost-  und  Südostasiaten  an.  Die  Haut- 
farbe ist  eine  gelbe  oder  gelbbraune;  das  Kopfhaar  walzenförmig, 
straff  und  schwarz;  der  Bartwuchs  und  das  Haarkleid  des  Leibes 
sprosst  nur  spärlich  oder  fehlt  ganz ;  die  Augen  sind  meistens 
schief  gestellt,  die  Jochbeine  stark  vorspringend,  die  Nase  platt, 
der  Schädel  sehr  breit  und  auffallend  niedrig.  Je  weiter  wir  aber 
den  Nordasiaten  nach  Westen  folgen,  desto  mehr  leidet  die  Rein- 
heit der  mongolischen  Merkmale.  Während  die  Samojeden  in 
ihrer  Gesichtsbildung  mit  den  Tungusen  übereinstimmen,  gleichen 
die  Ostjaken  den  Finnen  und  den  Russen*). 

Unter  diesen  Umständen  bleibt  nichts  übrig,  als  diese  Gruppe 
des  Menschengeschlechtes  der  Sprache  nach  in  fünf  grosse  Aeste 
zu  theilen,  wie  es  von  Alexander  Castren  geschehen  ist,  nämlich 
in  Tungusen ,  in  wahre  Mongolen ,  in  Türken,  in  Finnen  und  in 
Samojeden.  Glücklicherweise  ist  der  Sprachbau  aller  dieser  Volker 
in  den  Hauptzü  en  völlig  übereinstimmend.  Die  Sinnbegrenzung 
der  Wurzeln  erfolgt  dadurch,  dass  eine  zweite  Wurzel  nachgesetzt 
wird,  also  stets  durch  Suffixe.  Niemals  wird  ein  Präfix  geduldet. 
Dazu  gesellen  sich  eine  Anzahl  von  gemeinsamen  Wurzeln ,  die 
jedoch  nicht  zahlreich  genug«  sind,  um  als  Beweise  für  eine  Ur- 
sprache zu  gelten,  die  vielmehr  ebenso  gut  durch  Entlehnung  er- 
worben worden  sein  können.  Ferner  sind  diesen  Sprachen  mehr 
oder  weniger  strenge  Wohllautgesetze  eigenthümlich.  Im  Mokscha 
jedoch  ist  die  Vocalharmonie  nicht  so  vollständig,  wie  im  Tür- 
kischen oder  Finnischen  ausgebildet  oder  wahrscheinlich  durch 
fremden  Einfiuss  verloren  gegangen.  Doch  haben  sich  immer 
noch  deutliche  Spuren  jener  Lautgesetze  erhalten').  Zwei  Con- 
sonanten  dürfen  nie  ein  Wort  beginnen  oder  beschliessen  und  der 
Stammvocal  bestimmt  den  EndungsvocaP).  Auch  diese  gewiss 
auffallenden  Uebereinstimmungen  könnten  vielleicht  erst  später  sich 
entwickelt    haben,    doch    fällt    demjenigen,    der  diese  Ansicht  be- 


1)  Pallas,  Voyages.     Paris  1793.     tom.  IV.  p.  90. 

2)  A.  Ahlquist,  Mokscha- mordwinische  Grammatik.     Petersburg   1861. 

§  14.  S.  3. 

3)  A.  Castr6n,   ethnologische  Vorlesungen  über  die  altaischen  Völker, 
herausgegeben  von  Anton  Schiefner.     Petersburg  1857.     S.  18. 


Die  mongolenähnlichen  Völker  im  Norden  der  alten  Welt.  403 

haupten  wollte,  die  Beweislast  zu.  Die  gemeinsame  Abkunft  aller 
dieser  Sprachen  steht  nicht  so  fest,  als  etwa  die  des  arischen 
Sprachenkreises,  und  bedeftklich  erschien  Einigen  namentlich  die  Kluft 
zwischen  dem  Mongolischen  und  den  Mandschu-Sprachen  *).  Andrer- 
seits dürfen  wir  nicht  übersehen,  dass  alle  diese  Völker  keine  alte 
Literatur  besitzen.  Könnten  wir  die  Sprachen  in  ihrer  ehemaligen 
Gestalt  vergleichen,  so  würden  wir  leicht  ins  Klare  kommen,  ob 
wir  sie  als  ein  Ganzes  zusammenzufassen  berechtigt  waren  oder 
nicht. 

Zu  dem  tungusischen  Aste  dieser  Völkergruppe  gehören  zu- 
nächst die  Mandschu,  welche  seit  1644  als  Eroberer  dem  chine- 
sischen Reiche  ein  Herrscherhaus  aufgedrängt  haben.  Den  ge- 
schwisterlichen Tungusenstämmen  haben  sie  den  Namen  Orotschonen 
gegeben,  was  soviel  bedeutet  wie  Renthierhirten.  Etliche  Tungusen 
nennen  sich  selbst  Boje  oder  Menschen,  andere  wieder  Donki  oder 
Leute.  Lamuten  heissen  die  tungusischen  Bewohner  an  den 
ochotskischen  Gestaden,  von  lamu  das  Meer.  .  Am  weitesten  von 
allen  Tungusen  nach  Westen,  nämlich  zwischen  Jenissei  und  Tun- 
guska,  sind  die  Tschapogiren  und  am  weitesten  nördlich,  nämlich 
bis  an  die  Chatangabucht  des  Eismeeres,  andere  Tungusenhorden 
vorgedrungen.  Verdienste  um  die  Gesittung  unseres  Geschlechts 
lassen  sich  diesen  Völkern  nicht  nachweisen,  doch  ist  es  sehr  wahr- 
scheinlich,  dass  die  Chinesen  manches  von  den  Tungusen  gelernt 
haben  mögen,  was  wir  ihrem  Erfindungsgeiste  jetzt  zuschreiben. 

Der  zweite  Ast  der  Nordasiaten  sind  die  Mongolen.  Bis- 
weilen werden  sie  Tataren,  oder  wohl  gar  nach  einem  Wortspiel 
Ludwigs  des  Heiligen  Tartaren  genannt.  Diese  Bezeichnung  muss 
aus  der  Völkerkunde  gestrichen  werden,  da  sie  so  oft  missbraucht 
und  so  vieldeutig  geworden  ist,  dass  wir  im^ner  erst  aus  Neben- 
umständen schliessen,  oft  auch  nur  errathen  müssen,  ob  wir  unter 
Tataren  türkische  oder  mongolische  Völkerschaften  uns  zu  denken 
haben.  Auch  der  mongolische  Name  blieb  im  Sprachgebrauch 
der  Völkerkunde  lange  Zeit  sehr  schwankend,  denn  wir  besitzen 
ein  Verzeichniss    der  Horden,    die    ursprünglich    und    die    später 


i)    Whitney,    Language.    p.  315.     vgl.    dagegen  W.  Schott,    in  Ab- 
handlungen der  Berliner  Akademie.     1869.     S.  267.  S.  285. 

26* 


404         ^^^  mongolenähnlichen  Völker  im  Norden  der  alten  Welt. 

missbräuchlich  Mongolen  genannt  wurden*).  Die  Geschichte  gab 
diesen  Namen  den  Schaaren,  die  unter  Tschingischan  und  seinen 
Nachfolgern  in  das  Abendland  hereinbrachen,  unter  denen  aber 
die  Mehrzahl  türkisch  redeten. 

Die  heutige  Völkerkunde  rechnet  zu  den  eigentlichen  Mon- 
golen mir  vier  Zweige :  Die  Ostmongolen,  die  Kalmüken,  die  Bur- 
jäten und  die  Hazareh  oder  Aimaq.  Die  Ostmongolen  sind 
diejenigen,  welche  ursprünglich  von  Chinesen  den  Spottnamen 
Tata  empfingen,  später,  nämlich  seit  dem  8.  Jahrhundert,  Mungku 
(Mongolen)  genannt  wurden^).  Sie  bewohnen  die  östliche  Hälfte 
der  Gobi  und  theilen  sich  in  zwei  Horden ,  die  südlich  sitzenden 
Schara  und  ihre  nördlichen  Nachbarn,  die  Kalka.  Als  geschichts- 
losen  Völkern  können  wir  ihnen  keine  Verdienste  um  die  Gesittung 
nachweisen.  Der  zweite  Zweig,  die  Kalmüken-»),  nennt  sich 
selbst  Oelöt,  die  Abgesonderten,  oder  Durban  oirad,  die  vier  Ver- 
bundenen. Die  Namen  dieser  vier  Horden  lauten:  Dschungar, 
Turgut,  Choschod ,  Turbet.  Ein  Kalmükenreich  wurde  1671  ge- 
stiftet, bestand  aber  kein  volles  Jahrhundert,  sondern  verfiel  der 
chinesischen  Herrschaft.  Die  Kalmüken  »haben  noch  bis  in  die 
neuesten  Zeiten  ihre  Wanderungen  fortgesetzt.  Nach  dem  euro- 
päischen Russland  kamen  sie  erst  1616  und  wanderten  theilweise 
von  dort  unter  namenlosen  Gefahren  und  Drangsalen  1771  nach 
dem  chinesischen  Reiche  zurück.  Etliche  Horden  sind  auch  über 
den  Südrand  der  Gobi  ausgeschwärmt^). 

Nur  sprachlich  von  ihnen  unterschieden  sind  die  Burjäten, 
die  schon  unter  Tschingischan  am  Baikal -See  und  in  dessen 
Umgebung  sassen  und  ohne  grossen  Widerstand  1644  sich  den 
Kpsaken  unterwarfen.    Alle  diese  drei  mongolischen  Zweige  haben 


1)  F.  V.  Erdmann,  Temudschin  der  Unerschütterliche.  Leipzig  1862. 
S.  168. 

2)  Castr^n,  Vorlesungen.     S.  37. 

3)  Dieser  Name  wird  bald  abgeleitet  von  dem  türkischen  "Wort  Khali- 
mak  die  Zurückgebliebenen,  bald  voi  dem  mongolischen  Gholaimak  Feuer- 
horde, bald  endlich  von  Kalmuck,  feurige  Leute.  Liadoff  im  Jonm.  of  the 
Anthrop.  Institute,     tom.  I.  p.  401. 

4)  Es  geschah  nach  dem  Sturze  der  Yuen  -  Dynastie,  dass  ein  Schwärm 
Kalmüken,  gemischt  aus  Ds(;hungaren ,  Turgutcn  und  Choschoden,  nach  dem 
Koko-ncor  auszog.  Howorth,  im  Journal  of  the  Anthropol.  Institute, 
tom.  I.  p    232. 


Die  mongolenähnlichen  Völker  im  Norden  der  alten  "Welt.  405 

den  Buddhismus  angenommen,  ohne  jemals  ihren  schamanistischen 
Gaukeleien  zu  entsagen.  Es  sind  durchgängig  phlegmatische,  aber 
gutartige  Menschenstämme.  Um  so  ausserordentlicher  war  die 
Erscheinung  eines  Tschingischans  unter  ihnen,  der  sich  doch  aus 
so  unscheinbaren  Anfängen  bis  Eum  Welteroberer  aufschwingen 
sollte. 

Weit  versprengt  von  den  andern  mongolischen  Geschwistern 
sind  die  Hazareh,  welche  zwischen  Herat  und  Kabul  als  Hirten 
wandern  und  noch  zu  Sultan  Babers  Zeit  mongolisch  sprachen*). 
Auch  tragen  ihre  Gesichtszüge  so  scharf  den  mongolischen  Typus, 
dass  die  Reisenden  nie  über  ihre  ethnographische  Stellung  in 
Zwiespalt  gerathen  sind.  Die  Hazareh  zerfallen  in  westliche 
und  östliche  Stämme,  von  denen  die  ersteren  Sunniten,  die 
anderen  Schiiten  sind.  Bisweilen  werden  die  westlichen  Ha- 
zareh Aimaq  genannt,  doch  bedeutet  dieses  Wort  soviel  wie  Horde  *), 
und  da  es  auch  andern  als  mongolischen  Stämmen  beigelegt 
worden  ist,  müssen  wir  vor  seinem  ferneren  Gebrauche  in  der 
Völkerkunde  warnen. 

Tungusen  und  Mongolen  sind  wenig  zahlreich  und  viele  ihrer 
Zweige  im  Aussterben  begriffen.  Ganz  anders  verhält  es  sich  mit 
dem  dritten  Aste  der  nordasiatischen  Gruppe,  mit  den  Türken. 
Nach  alten  morgenländischen  Ueberlieferungen  hiess  einer  von 
den  acht  Söhnen  Japheth's  Turk.  Er  sass  am  lli  und  Issikol,  und 
von  einem  seiner  Nachkommen  stammen  die  Zwillinge  Tatar  und 
Mongol.  Solche  Sagen  haben  wir  als  Versuche  einer  ethno- 
graphischen Classification  anzusehen  und  sie  deuten  uns  an,  wie 
nahe  verwandt  sich  selbst  die  Centralasiaten  hielten.  Die  west- 
lichen Türken  sind  so  stark  mit  arischem  und  semitischem  Blute 
gemischt,  dass  ihre  ursprünglichen  Körpermerkmale  bis  auf  die 
letzten  Spuren  verloren  worden  sind  und  nur  die  Sprache  noch 
ihre  ehemalige  Abkunft  bezeugt.  Turkmanen,  Oezbegen,  Nogaier 
und  Kirgisen  nähern  sich  schon  beträchtlich  den  Mongolen;  bei 
den  Buruten  und  Kiptschaken  ist  höchstens  die  Gesichtsfarbe  ein 
wenig  verschieden.  So  äussert  sich  Vdmb^ry,  doch  setzt  er  hinzu, 
dass    die   mongolische    Sprache    in    der  Grammatik    mit   der   tür- 


1)  Fr.  Spiegel,  Eränische  Alterthümer.     Bd.  i.  S.  344. 

2)  Castrin,  Vorlesungen.     S.'  42. 


j.o6  I^ie  mongolenähnlichen  Völker  im  Norden  der  alten  Welt. 

kischen    keineswegs    völlig   übereinstimme,    wenn    sie   auch  deren 
Wortschatz  sich  bis  zu  drei  Vierteln  angeeignet  habe'). 

Heutigen  Tages  unterscheiden  wir  unter  den  Türken  folgende 
Völkerschaften:  Uiguren,  Oezbegen,  Osmanen,  Jakuten,  Turk- 
manen,  Nogaier,  Basiaiien,  Kumüken,  Karakalpaken  und  Kir- 
8:isen.  Ein  türkischer  Chacan,  von  den  Byzantinern  Dissabulos, 
von  den  Chinesen  Ti-theu-pu-li  geheissen,  der  in  Talas,  einem 
wichtigen  Handelsplatz  des  Mittelalters,  auf  dem  heutigen  Buruten- 
gebiete  sein  Hof  lager  aufgeschlagen  hatte,  ist  uns  durch  die  Reiae 
des  griechischen  Botschafters  Zemarch  im  Jahre  569  n.  Chr.  be- 
kannt geworden*).  Dieses  ältere  türkische  Reich  zerstörten  die 
Uiguren,  von  den  Chinesen  Kaotsche  geheissen,  ein  ehrwürdiges 
Culturvolk,  bei  dem  Spuren  der  zoroastrischen  Lehre  sich  erhalten 
haben,  das  aber  später  dem  Buddhismus  3),  endlich  dem  Islam  hul- 
digte, im  5.  Jahrhundert  n.  Chr.  schon  eine  eigene  Schrift  und 
Literatur  besass  und  beide  Abhänge  des  Thianschan  bewohnte 
und  theilweise  noch  jetzt  bewohnt.  Zu  westlichen  Nachbarn  in 
Kaschgarien  hat  es  jetzt  die  Oezbegen,  einen  Türkenstamm,  der 
sich  nach  Oezbeg,  einem  Beherrscher  der  goldnen  Horde  (1312 
bis  1342),  benennt,  nicht  ohne  Beimischung  mongolischen  Blutes 
geblieben  ist,  bei  seinem  geschichtlichen  Auftauchen  am  Nordrtde 
des  kaspischen  Meeres  weilte,  unter  den  späteren  Timuriden 
am  Sir  Darja  sich  ausbreitete^),  seit  dem  16.  Jahrhundert  sich 
Turkistan  unterwarf  und  noch  gegenwärtig  in  den  Chanaten  Chiwa, 
Bochara  und  Kokand,  sowie  in  Kaschgarien  den  herrschenden 
Volksstamm  bildet.  Aus  dem  gleichen  Gebiete  stammen  auch 
die  Seldschuken,  welche  noch  um  1030  n.  Chr.  die  heutige  turk- 
manische  Wüste  bewohnten,  bevor  sie  nach  dem  Abendlande  auf- 
brachen und  zuletzt  als  Osmanen  erobernd  ihren  Fuss  auf  drei 
Welttheile  setzten. 

Ein  Osmane  aus  Constantinopel ,  heisst  es  wohl  etwas  über- 
schwenglich, könne  sich  mit  einem  Jakuten  an  der  Lena  leicht 
verständigen.  Gewiss  ist  wenigstens,  dass  die  türkischen  Sprach- 
zweige in  dieser  ungeheuren  Entfernung  weniger  Verschiedenheiten 


i)   Geschichte  Bochara*s.     Bd.  i.  S.  130. 

2)  Menandri  excerpta  de  legat.    Corpus  Script.    Hist.  Byzant.  ed.  Nie 
buhr.     P.  L  p.  295—302.  p.  380—384. 

3)  Stanislas  Julien,  im  Journal  asiatique.     Paris  1847.     p.  58. 

4)  Vdnib^ry,  Geschichte  Bochara's.     Bd.  2.  S.  35 — ^36. 


Die  raongolenähnlichen  Völker  im  Norden  der  alten  Welt.  j.07 

bieten,  als  wir  erwarten  sollten.  Von  der  Abhärtung  der  Jakuten 
war  bereits*)  die  Rede  gewesen.  Der  amerikanische  Reisende 
Kennan  schildert  sie  nicht  nur  als  arbeitsame  Leute,  sondern  er 
fügt  noch  hinzu,  dass  von  allen  Urbewohnern  Sibiriens  sie  die 
einzigen  sind,  welche  nicht  zusammenschmelzen,  sondern  vielmehr 
an  Kopfzahl  wachsen.  Auch  war  ihre  Sprache ,  als  Erman  *)  in 
Sibirien  weilte,  von  Irkutsk  bis  Ochotsk  und  vom  Eismeer  bis  zur 
chinesischen  Grenze  die  allgemeine  Umgangssprache  für  Reisende 
und  Kaufleute,  für  Russen,  Tungusen  und  Burjäten  geworden. 

Der  fünfte  oben  aufgezählte  Zweig  sind  die  Turkmanen  in 
den  Steppen  und  Wüsten  Östlich  vom  kaspischen  Meere  und  süd- 
lich vom  Aral-See,  gefürchtete  Menschenräuber,  die,  gut  beritten, 
chorassanische  Ortschaften  zu  überfallen,  vordem  auch  auf  Piraten- 
booten die  Bewohner  der  Gestade  von  Mazenderan  heimzusuchen 
pflegten,  bis  die  Russen  diesen  schändlichen  Erwerbszweig  unter- 
drückten. Sie  versorgten  die  Sklavenmärkte  in  Chiwa,  Bochara 
und  Kokand  und  förderten  dadurch  eine  fortgesetzte  Kreuzung 
des  türkischen  mit  eränischem  Blute.  Diese  hat  wohl  seit  den 
ältesten  Zeiten  stattgefunden,  denn  als  die  türkischen  Stämme  sich 
Kaschgarien ,  Fergana  und  Charezm  unterwarfen,  fanden  sie  dort 
eine  altpersische  StädtebevÖlkerun^ ,  die  Tadschik  der  heutigen 
Völkerkunde,  die  von  früheren  Reisenden  auch  Sarten  geheissen 
wurden,  während  Robert  Shaw  vor  einer  solchen  Verwechselung 
gewarnt  hat.  Die  Sarten  in  Kaschgarien  besitzen  zwar  alle  Körper- 
merkmale einer  eränischen  Abkunft,  aber  sie  reden  türkisch. 
Schon  früher  und  ganz  unabhängig  von  Shaw  hatte  der  deutsche 
Reisende  H.  v.  Schlagintweit  in  den  kaschgarischen  Städtebewohnern 
das  Gepräge  der  arischen  Abkunft  erkannt^).  Solche  Fälle,  dass 
nämlich  Menschenstämme  ihrer  Sprache  nach  in  eine  andere  Stellung 
gehören,  als  nach  den  Kennzeichen  der  Race,  setzen  die  Völker- 
kunde in  die  nämliche  Lage,  in  der  sich  die  Mineralogie  den 
pseudomorphischen  Erscheinungen  gegenüber  befindet.  Wird  näm- 
lieh  ein  Krystall  von  Sickerwasser  aufgelöst  und  mitten  aus  dem 
Muttergestein  hin  weggeführt,   so  kann  sich  ein  anderes  Mineral  in 


1)  S.  oben  S.  22. 

2)  Reise  um  die  Erde.     Berlin  1848.     Bd.  3.  S.  51. 

3)  H.  V.  Schlagintweit,    Indien    und  Hochasien.    Bd.  2.    S.  40.    und 
R.  Shaw,  Reise  nach  der  hohen  Tatarei.     Jena  1872.     S.  17. 


AoS         I^ie  mongolenähnlichen  Völker  im  Norden  der  alten  Welt. 

den  Hohlraum  eindrängen,  ihn  ausfüllen  und  nun  als  Trugkrystall 
auftreten.  So  geschieht  es  auch,  dass  Völker  in  dem  Sprachen- 
kreis einer  fremden  Race  heimisch  werden,  oder  umgekehrt  die 
Sprache  unverändert  in  einem  Ländergebiete  herrschend  bleibt, 
während  sich  langsam  durch  Blutmischung  die  Race  verändert. 

Die  Völkerstrahlen,  welche  Centralasien  von  Zeit  zu  Zeit 
gegen  das  Abendland  hinaussendete,  hinterliessen  hin  und  wieder 
Bruchstücke  von  Bevölkerungen,  denen  der  Kaukasus  mit  seinen 
Hochthälern  und  Tafelbergen  vor  Ausrottung  Schutz  gewährte. 
Zu  solchen  Ueberresten  aus  der  türkischen  Gruppe  gehören  die 
Nogaier  am  linken  Uier  des  Kuban  und  auf  der  Insel  Krim,  dan^ 
die  Basianen  Östlich  und  westlich  vom  Elbrus ,  für  deren  Schick- 
sale Freshfield,  der  erste  Ersteiger  des  Elbrus,  unsere  Theilnahme 
zu  gewinnen  gesucht  hat,  endlich  die  Kumüken  am  untern  Laufe 
und  rechten  Ufer  des  Terek,  sowie  an  der  Küste  des  kaspischen 
Meeres.  Ein  anderer  türkischer  Völkerstamm,  die  Karakalpaken 
oder  Schwarzmützen,  ist  aus  einem  früheren  Wohnsitze  an  der 
Wolga  zu  dem  unteren  Lauf  des  Sir  Darja  herabgezogen.  Die 
Kirgisen  endlich,  das  heisst  die  drei  Horden  zwischen  Ural  und 
dem  Balchaschsee,  einschliesslich  der  Buruten,  stehen  von  allen 
Türken  an  Körpermerkmalen  den  Mongolen  am  nächsten  und 
ihre  Geschlechternamen,  wie  Kyptschak,  Argyn,  Naiman,  bezeugen 
sogar  mongolische  Herkunft  oder  wenigstens  Mischung  mit  Mon- 
golen*). Nach  einer  Deutung  Radioff 's  ist  ihr  Name  dadurch  ent- 
standen, dass  eine  ihrer  Horden  Kyrk,  die  Vierzig,  eine  andere 
yiis  (Dschiis),  die  Hundert,  hiess^).  Sie  selbst  nennen  sich  Ka- 
saken  oder  Reiter. 

Es  ist  schwer,  den  türkisch  -  mongolischen  Völkern  ihren  gei- 
stigen Rang  in  der  Gesittungsgeschichte  anzuweisen.  Gewiss  ist, 
dass  viele  dieser  Stämme  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  wan- 
dernde Hirten  geblieben  sind  und  wahrscheinlich  verschwinden 
werden,  ohne  jemals  sesshaft  geworden  zu  sein.  Die  achtungs- 
werthe  Bildung  der  Oezbegen  in  Kaschgarien  und  Turkistan,  end- 
lich der  europäischen  Osmanen  könnte  ihrer  Blutmischung  mit 
arischen    und    theil weise   semitischen  Bevölkerungen  zugeschrieben 


i)    W.  Radioff,    Türkische  Volksliteratur   in   Südsibirien.     Bd.  3.     St. 
Petersburg  1870.     p.  XIV. 

2)  Zeitschrift  für  Erdkunde,  Bd.  6.     Berlin  1871.     S.  505. 


Die  mongolenähnlichen  Völker  im  Norden  der  alten  Welt.  409 

werden.  Allein  die  frühe  Gesittung  der  alten  Uiguren  und  die 
bürgerliche  Tüchtigkeit  der  Jakuten  zwingt  uns  zur  Anerkennung, 
dass  auch  in  den  rein  gebliebenen  türkischen  Stämmen  früh  alle 
nothwendigen  Anlagen  zu  den  höheren  Gesellschaftsformen  vor- 
handen waren.  Die  Erfindung  des  Lederzeltes  und  der  Filz- 
bereitung, die  Zucht  der  Rosse  als  Milchthiere,  die  Zähmung  der 
Schafe  mit  Fettschwänzen  und  vielleicht  des  bactrischen  Kamels 
sind  Leistungen ,  die  wir  wahrscheinlich  nach  Centralasien  und 
zugleich  in  ein  hohes  Alterthum  zu  verlegen  haben.  Nur  ist  es 
schwer  zu  sagen,  welchem  Zweige  unter  den  Nordasiaten  diese 
Verbesserungen  des  menschlichen  Haushaltes  zum  Verdienst  an- 
zurechnen sind. 

Die  vierte  Abtheilung,  mit  der  wir  uns  jetzt  zu  beFchäftigen 
haben,  sind  die  Völker  der  gliederreichen  finnischen  Gruppe,  die 
sich  wieder  in  vier  Zweige,  nämlich  in  den  ugrischen,  bulgarischen, 
permischen  und  im  engern  Sinne  finnischen  gliedert.  Ihre  Ursitze 
lagen  zum  Theil  östlicher  und  südlicher  als  gegenwärtig  im  Ural 
und  im  Altai,  weshalb  auch  der  gesammte  Stamm  vielfach  als 
Ural -Altaier  bezeichnet  wird*).  Als  Ugrier  vereinigte  Castr^n  die 
Ostjaken  am  rechten  Ufer  des  Ob,  die  Wogulen  am  Ostabhang 
des  nördlichen  Ural  und  die  Magyaren.  Dass  die  letzteren  zur 
finnischen  Familie  gehören,  wurde  schon  von  Sajnovics,  einem 
Reisebegleiter  des  P.  Hell,  vor  hundert  Jahren  nachgewiesen  *)  und 
über  die  Stellung  ihrer  Sprache  hat  kürzlich  wieder  eine  ver- 
gleichende Grammatik  nähere  Aufschlüsse  gegeben^).  Zu  dem 
bulgarischen  Zweig  sind  nicht  mehr  die  Bulgaren  an  der  Donau 
zu  rechnen,  denn  sie  gehören  der  Sprache  und  den  körperlichen 
Wahrzeichen  nach  zur  slavischen  Familie,  haben  auch  völlig  die 
Reste  der  ehemaligen  Bulgaren  des  Mittelalters  in  sich  aufgesogen. 
Während  nämlich  die  Wolgabulgaren  ihren  Staat  bis  zum  13.  Jahr- 
hundert und  ihre  Nationalität  bis  zur  bleibenden  Unter\Verfung 
unter    die  Czaren    von  Moskau    behaupteten,    büssten  die  Donau- 


1)  Vgl.    die    Wanderkarten    bei    Ujfalvy,     Migrations    des    peuples 
touraniens.     Paris  1873.     p.  120.  p.  130. 

2)  Saijnovics   schrieb  1770    ein  Buch  unter  dem  Titel:    Idioma  Unga« 
rorum  et  Lapponum  idem  esse. 

3)  Michael  Weske,    Untersuchungen    zur   vergleichenden    Grammatik 
des  finnischen  Sprachstammes.    Leipzig  1872. 


^.lo  Die  moDEcleDälinlidlieii  Völker  im  Norden  der  allen  Welt. 

bulgaren  ihre  Sprache  schon  im  zehnten  Jahrhundert,  ihre  Selbst- 
ständigkeit am  Anfang:  des  elften  ein').  Andere  Bruchtheile  des 
Bulgaren  t hu mes  sind  die  inselartig  an  der  Wolga  von  Russen  ein- 
geschlossenen Gebiete  der  Tscheremissen  ,  Mordwinen  und  Tschu- 
waschen. Der  Name  der  Tscheremissen  bedeutet  in  der  Mordwa- 
sprache  die  Oestlichen,  Die  Mordwinen  selbst  nennen  sich  wieder 
im  Osten  Mokschanen  und  im  Westen  Ersanen.  Ruysbroek  hat 
sie  Mbxel,  Merdas  und  Jferduas,  Herbersteio  Mordva  genannt. 
Bei  ihnen  wird  noch  je  tat  ein  mehr  oder  weniger  verstecktes 
Heidenthum  angetroffen"),  und  wegen  dieser  AlterthümUchkeiten 
sind  sie  ein  anziehender  Gegenstand  für  den  Völkerkundigen 
geblieben, 

Der  permische  Zweig  hat  seinen  Namen  von  den  Permiern 
erhalten,  die  an  den  Gewässern  der  Kama,  im  Bjarmaland,  nach 
altscandinavischer  Sprechweise  wohnten.  Als  Geschwister  gehören 
zu  ihnen  die  Sirjänen,  weiter  nördlich  dem  Eismeere  zu,  und  die 
Wotjaken  am  Norduler  der  Wjatka,  welche  letztere  sich  aber  selbst 
Udy  oder  Ut-murt  nennen. 

Der  vierte  oder  eigentlich  finnische  Zweig  hatte  sich  über  die 
nördlichen  und  östlichen  Gestade  des  baltischen  Meeres  verbreitet 
und  von  deutschen  Naclibarn  seinen  europäischen  Namen  erhalten, 
der  mit  Veen  oder  Torf  und  Hochmoor  zusammenhängt 3).  Nennen 
sie  doch  ihre  Heimath  Suomi  oder  Sumpf-  und  Seenland ,  sich 
selbst  aber  Suomalaisia'').  Es  unterliegt  keinem  Zweifel  mehr, 
dass  Tacitus  und  Ptolemäus  jene  Völkerschaften  unter  den  Namen 
Fenni  und  Phinni  ungeiähr  in  ihren  heutigen  Wohnsitzen  gekannt 
haben'),  Ihren  Jlundarten  nach  zerfallen  sie  in  die  Suomi  am 
finnischen  und  bolhnisclien  Meerbusen,  die  nachbarlichen  Karelen, 
die  Wepsen  oder  Nordlsdiuden  am  Südwestufer  des  Ladogasees, 
die  Woien  oder  Südtschnden  nordöstlich  von  der  Stadt  Nanva, 
bAde  im  Aussterben  begriffen,  die  seit  1846  in  Kurland  erloschenen 

i)   Roben  Roesler,  Romanische  Studien.     Ixipzig  1871.     S.  239. 

2)  V.  HEKlhausen,  Studien  über  Russland,     Bd.  2.  S,  if. 

3)  H.  Gulhe,  die  Lande  Braunschweig  und  Hannover,     S.  62. 

41  Prof.  Hjelt  in  den  Verhandlungen  der  Berliner  Gesellschaft  für  An- 
thropologie, 1871.  S,  117.  Neuerdings  isl  diese  Ableitung  von  Sjögren  bc- 
striuen  und  der  Eigenname  der  Finnen  als  vorläufig  uneiklärl  hingestellt 
worden. 

51  Forbiger,  Alte  Gtoeraphie.     Bd.  3.  S.  III4. 


Die  mongolenähnlichen  Völker  im  Norden  der  alten  Welt.  411 

Krewinen,  die  auf  2000  Köpfe  zusammengeschmolzenen  Liven, 
ebenfalls  in  Kurland  am  Gestade  des  Meerbusens  von  Riga,  und 
die  noch  zahlreichen  und  geschlossen  sitzenden  Ehsten.  Ver- 
schwistert  dem  Blute  nach  mit  diesen  Stämmen  sind  die  Lappen 
oder  Kwänen  Scandinaviens  und  Russlands ,  deren  Sprache  nach 
dem  Urtheile  Castr^n's  noch  vor  2000  Jahren  dieselbe  war, 
wie  die  der  Suomi.  Erst  sehr  spät  sind  sie  in  ihre  jetzigen  Wohn- 
sitze eingewandert*). 

Die  Blutsverwandtschaft  der  finnischen  Gruppe  mit  den  Vol- 
kern des  mongolischen  Astes  ist  bei  den  Wogulen  am  deutlichsten 
zu  erkennen,  denn  sie  nähern  sich  weit  mehr  als  die  Ostjaken 
den  Kalmüken*).  Selbst  unter  den  Lappen  Norwegens  erkannte 
aber  Carl  Vogt  in  den  schmal  geschlitzten,  jedoch  horizontal  ge- 
stellten Augen ,  den  breiten  Backenknochen ,  dem  weiten  Mund^ 
der  abgestumpften  Nase  und  der  gelblichen  Gesichtsfarbe  die 
Wahrzeichen  der  mongolischen  Race  wieder^).  Von  den  teuto- 
nischen und  slavischen  Nachbarn  haben  die  Ostseefinnen  eine  An- 
zahl Wörter  für  Culturwerkzeuge  und  mit  den  Worten  auch  die 
Gegenstände  selbst  entlehnt.  Daraus  lässt  sich  ein  Bild  von  ihren 
Zuständen  vor  Empfang  jener  Hilfsmittel  entwerfen.  Als  Haus- 
thiere  züchteten  sie  nur  den  Hund,  das  Ross  und  das  Rind;  von 
Getreidearten  bauten  sie  nur  die  Gerste.  Im  Sommer  lebten  sie 
in  Lederzelten,  im  Winter  in  halbunterirdischen  Jurten,  wie  alle 
Polarvölker  der  alten  Welt.  Demnach  können  die  heutigen  Ost- 
jaken und  Wogulen  uns  noch  jetzt  ein  Gemälde  gewähren,  wie 
die  Zustände  ihrer  westlichen  Geschwister  in  der  Vorzeit  beschaffen 
waren ^).  Leider  reichen  die  ältesten  Sprachdenkmäler  der  Ostsee- 
finnen nicht  über  das  Jahr  1542.  Ihre  epischen  Dichtungen  aber, 
die  im  Kalevala  gesammelt  vorliegen,  gehören  sicherlich,  wenigstens 
in  der  jetzigen  Fassung,  einer  sehr  nahen  Vergangenheit  an. 
Während  die  mongolischen  und  tungusischen  Sprachen  reiner  aber 
auch  dürftiger  geblieben  sind ,  das  Mandschu  sogar  sich  wenig 
von  einsylbiger  Steifheit  entfernt,    haben  sich  unter  der  ugrischen 


1)  Uj  falvy,  Migrations  des  peuples  toiiraniens.     p.  118 — 120. 

2)  Castr^n,   Vorlesungen.     S.  128. 

3)  C.  Vogt,  Nord-Fahrt.     Frankfurt  1863.     S.  166. 

4)  Prof.  Ahlquist  über  die  Culturwörter  in  den  westfinnischen  Sprachen. 
Ausland  1871.  No.  3L  S.  741  ff. 


112  I^iL'  niangolenähnlichen  Völker  im  Norden  iler  allen  Welt, 

Gruppe  liiis  Magyarische  und  das  Ostseefinnische  bis  zu  einer 
solclien  Il.ihe  aufgeschwungen,  dass  sie  beinahe  Anspruch  haben, 
■/,\x  tlen  fli.'ctirenden  gerechnet  zu  werden'), 

Nücli  bleibt  zu  erinnern  übrig,  dass  wir  unter  den  Namen 
Baschkiren,  Meschtscherjäken  und  Teptiären  auf  dem  europäischen 
Abliun^'  des  mittleren  und  südlichen  Ural  Bevölkerungen  antreffen, 
die  türkijL'he  Sprachen  reden,  ihrer  Körpefmerkmale  wegen  aber 
au  dem  finnischen  Aste  gerechnet,  also  für  türkisch  -  finnische 
WisdivrilkiT  gehalten  werden  müssen. 

Plt  fünfte  Ast  der  sogenannten  aitai sehen  VÖlkergruppe, 
Jen  dif  Hiissen  Samojeden  genannt  haben,  hatte  seinen  Ursitz  im 
»iijanijchiii  Gebirge,  sowie  im  Quellengebiet  des  Jenissei  und  des 
Ob.  Dort  finden  wir  noch  die  samojedischen  Sojoten,  dann  am 
Nurdabliang  der  sajanischen  Kette  die  Karagassen  und  Kamas- 
siiizcn,  nstlich  vom  Jenissei  die  Koibalen').  Von  diesen  südlichen 
(jpscbwi  Stern  haben  sich  die  Samojeden  als  Renthierzüchter  nach 
den  nüniUchsn  Tundren  des  Festlandes  verbreitet,  vom  Weissen 
IMecre  au.^efangen  bis  zur  Chatangabucht.  Im  alten  Jugrien  zu 
beiden  SL'iten  des  Obischen  Meerbusens  sitzt  der  Stamm  der  Jurak, 
weiter  uBtlich  hausen  die  Tawgi.  Da  unter  diesen  nördlichen  Sa- 
mojeden dieselben  Familiennamen  vorkommen ,  wie  bei  den  süd- 
lidien  Kamassinzen ,  so  muss  die  Auswanderung  den  Jenissei 
entlang  abwärts  erlolgt  sein.  Der  Sprache  nach  haben  die  Sa- 
mojeden ilire  nächsten  Verwandten  unter  den  Völkern  des  finnischen 
Astes  zu  suchen,  und  zwar  stehen  sie  dem  bulgarischen  Zweige 
näher  als  einem  andern.  Die  Samojeden  schliessen  ferner  aus 
Furcht  vor  Blutschande  keine-Ehe  mit  den  Ostjaken,  wenn  die 
Ge^uhk'ditsnamen  die  nämlichen  sind,  was  vorkommen  kann  und 
aul  eini'  nahe  Verwandtschaft  deutet^).  Leicht  möglich  ist  es, 
das5  bi'i  L'iner  künftigen  Ordnung  der  Völker  die  Samojeden  nicht 
aU  ein  getrennter  Ast  des  altaischen  Stammes,  sondern  nur  als 
ein  Zwv^  der  finnischen  Gruppe  ihre  Stellung  finden  werden. 
Die  Ueneichnung  als  Altaier  stammt,  wie  bemerkt  wurde,  aus 
Ciislrt'n's  IVIunde,  und  die  Vermuthung,  dass  selbst  die  Finnen 
den  Altai    ehemals    bewohnt    haben    sollen,    gründet    sich  auf  die 


ilney,  Language  and  the  study  of  language. 

'as.  Voyages.     tom.  IV.  p.  433. 

Irin,  Vorlesungen.     S.  82.  S.  84-  S.  107. 


Nordasiaten  von  unbestimmter  systematischer  Stellung.  ^.i^ 

Thatsache,  dass  Namen  von  Gewässern  im  Jenisseigebiete ,  wie 
Oja,  Joga,  Kolba,  sich  aus  dem  Finnischen  und  Lappischen  als 
Bach,  Wasser  und  Fischwasser  erklären,  sowie  dass  der  Jenissel 
selbst  im  oberen  Laufe  Kem  heisst,  was  in  keiner  andern  Sprache 
als    der  finnischen  in  der  Form  Kemi  oder*Kvmi  Strom  bedeutet» 


5.      Nordasiaten     von     unbestimmter     systematischer 

Stellung. 

Es  handelt  sich  in  diesem  Abschnitt  nicht  um  die  Schilderung 
einer  neuen  Gruppe  innerhalb  der  mongolischen  Menschenstämme, 
sondern  vielmehr  nur  um  das  offene  Bekenntniss,  dass  unser  Lehr- 
gebäude in  unfertigem  Zustande  übergeben  werden  muss,  insofern 
wir  drei  vereinzelte  Völkerschaften  nicht  einer  der  grösseren  Ab- 
theilungen anzuschliessen  vermögen.  Es  gilt  dies  zunächst  von  den 
Jenissei-Ostjaken,  die  mit  den  Ostjaken  am  Obi  jedoch  nichts 
gemein  haben,  als  ihren  unglücklich  gewählten  Namen.  Sie  wohnen 
am  obern  Laufe  des  Jenissei  bis  zur  Mündung  der  untern  Tun- 
guska,  anfangs  nur  auf  dem  linken,  später  auch  auf  dem  rechten 
Ufer.  Ihre  Sprache ,  die  mit  der  uralaltaischen  keine  typische  Ge- 
meinschaft besitzt,  zerlallt  in  sechs  Mundarten,  von  denen  wir  nur 
das  Assan,  Arinzi  und  das  Kottische  nennen  wollen,  letzteres  zu 
Castr^n's  Zeiten  nur  noch  von  fünf  Personen  gesprochen,  wie  denn 
überhaupt  dieser  Bruchtheil  sibirischer  Stämme  bis  auf  1000  Köpfe 
zusammengeschmolzen  ist  und  einem  gänzlichen  Erlöschen  ent- 
gegengehen muss,  schon  weil  Jagd  und  Fischfang  seinen  einzigen 
Nahrungserwerb  bilden^).  Durch  Leibesbeschaffenheit  sind  übrigens 
die  Jenissei-Ostjaken  keineswegs  von  ihren  sibirischen  Nachbarn 
zu  trennen,  so  dass  sie  jedenfalls  zu  der  mongolischen  Race  ge- 
hören, innerhalb  dieser  aber  eine  selbständige  Stellung  einnehmen. 

Beides  gilt  auch  von  den  Jukagiren,  die  jetzt  die  Tundren 
am  sibirischen  Eismeer  von  der  Jana  ostwärts  bewohnen.  Heden- 
ström  fand  im  Jahre  1809  auf  den  neusibirischen  Inseln  Spuren 
von  ehemaligen,    damals  aber  schon  ausgestorbenen  jukagirischen 


I)  Latham,  Varieties.  p.  268.     Castr^n,  Vorlesungen.  S.  87—88. 


1  j<  NorJasixten  von  unbestimmtcT  Eysteraatischer  Stellung. 

Ansiedlern ').  Ihre  Sprache  ist  gänzlich  verschieden  von  denen  der 
uTalaltaiBchen  Gruppe').     Sich  selbst  nennen  sie  Andon  domni. 

Weit  scliwieriger  lässt  sich  die  Stellung  des  dritten  Volks- 
Btamines  bestimmen ,  der  sich  den  Namen  Aino  oder  Ainu ,  das 
heisst  die  Menschen,"  gegeben  hat,  Sie  waren,  wie  wir  bereits 
bemerkten,  die  ältesten  Bewohner  der  japanischen  Inseln,  sind  aber 
jetzt  nur  noch  auf  jezo  anzutreffen.  Zu  ihnen  zählen  auch  die 
Bewohner  des  südlichen  Saghahens,  der  Kurilengruppe  und  die 
Giljaken  am  untern  Amur^),  so  wie  im  nördlichen  Saghalien*). 
Ihre  Sprache  hat  man  mit  der  japanischen  verwandt  erklären 
wollen,  jedoch  ohne  hinreichende  Berechtigung'). 

In  der  Sitzung  der  BerUner  anthropologischen  Gesellschaft 
am  16.  December  1871 , überreichte  Hr.  v.  Brandt,  deutscher  Con- 
sul  in  Japan,  Photographien  von  Aino,  die  nach  dem  Gesichts 
ausdruck  viel  Aehnlichkeit  mit  Japanern  verriethen.  Die  Bewohner 
der  Insel  Paramuschir,  nahe  an  der  Südspitze  Kamtschatka's ,  die 
t'ine  kurilische  Mundart  reden,  haben  „schiefgeschnittene  Augen", 
besitzen  also  eines  der  Merkmale,  an  welchen  die  Mongolenrace 
leicht  erkannt  wird^).  Die  Schädel  dieses  Volksstammes  zeigen 
fast  den  nämlichen  Breitenindex,  76,, — 78,9,  wie  die  japanischen, 
sind  aber  bei  einem  Höhenindex  von  69  —  76  merklich  niederer, 
doch  wurde  dieser  Unterschied  nicht  allzuschwer  ins  Gewicht 
fallen').  Weit  mehr  setzt  uns  in  Verlegenheit  ihr  üppiger  Bart- 
wuchs, das  buschige,  lockige  Haupthaar  und  das  reichliche  Haar- 
kleid am  Leibe*),  welches  letztere,  wenn  auch  nicht  stärker  als  bei 


1)  F.  V.  Wrangell,  Reisen  längs  der  Nordküsle  von  Sibirien.  Berlin 
1839.     Bd.  1,  S.  100. 

2)  Whilnty,  Study  of  language.     p.  330. 

3]  Pelermanti's  Mitiheilungen.     1857.     S.  305.    1860.    S.  qg. 

4)  I.  c  1869.  S.  433.  Wenjukoff  versichert  dagegen,  dass  die  Sprache 
der  Giljaken  sowohl  vom  Tungnsischen  wie  vom  Kurilisclien,  welches  die 
Aino  reden,  verschieden  seL  Journal  o(  the  R.  Ceogi.  Society.  London 
1872.     vol.  XLn.  p.  jSs. 

51  Whilnty,  Study  of  language.     p.  329. 

6)  Nach  russischen  Quellen  in  der  Zeitschriß  der  Wiener  geogr.  Gesell- 
schaft.     1872.     Bd^  XV.  Heft  11.  S.  538. 

7)  Vcrhundlungen  der  Berl,  Gesellsch.  Tür  Anthropologie.     1871.     S.  27 

8]  S.  oben  S,  loi  und  Blakiston,  Joumey  in  Yezo,  im  Journal  of  ihe 
R,  Geographien!  Society.     London  1872.     vol.  XLII.  p.  80. 


Die  Beringsvölker.  ajs 

Europäern,  doch  mitten  unter  Völkern  von  glatter  Haut  höchst 
bedeutsam  wird.  Dieses  Sondermerkmal  würde  allein  genügen, 
die  Aino  als  eine  eigene  Race  völlig  von  den  andern  Asiaten  ab- 
2utVennen,  wenn  nicht  alles,  was  wir  von  ihnen  wissen,  auf  so 
spärlichen  und  flüchtigen  Angaben  beruhte,  dass  erst  spätere  besser 
unterrichtete  Völkerkundige  über  ihre  Stellung  entscheiden  können. 
Nicht  völlig  undenkbar  wäre  es  auch,  dass  sie  zu  den  Aeta  der 
Philippinen  in  Verwandtschaftsbeziehungen  stehen  könnten,  wenn 
sich  nämlich  die  asiatischen  Papuanen  über  die  Liu  -  kiu  -  Inseln 
bis  zu  den  Kurilen  ehemals  ausgebreitet  hätten.  Wir  sprechen 
diese  Vermuthung  jedoch  ohne  grosse  Zuversicht  und  nur  zu  dem 
Zwecke  aus,  dass  die  Mundarten  der  Aeta  mit  den  Ainosprachen 
verglichen  werden  mögen.  Erst  wenn  diese  Untersuchung  zu 
irgend  einem  Ergebniss,  sei  es  bejahend  oder  verneinend,  geführt 
hätte,  könnte  den  Aino  ihr  Platz  in  einem  Lehrgebäude  mit 
grösserer  Beruhigung  angewiesen  werden. 


6.     Die   Beringsvölker, 


Unter  diesen  Namen  vereinigen  wir  eine  Anzahl  nordasiatischer 
und  amerikanischer  Volksstämme,  die  meistens  entweder  die  Ufer 
des  Beringsmeeres  bewohnen  oder  sich  von  diesen  Ufern  durch 
Wanderung  wie  die  Eskimo  bis  nach  Grönland  verbreitet  haben. 
Der  Name  hyperboreische  Mongolen,  den  Latham  gebraucht,  ist 
für  unsere  Gruppe  nicht  angemessen,  da  wir  auch  Völkerschaften 
bis  zur  Juan- de -Fuca- Strasse  ihr  beizählen  wollen.  Ein  gemein- 
samer Sprachtypus  verbindet  nur  einzelne  dieser  Stämme ,  aber 
nicht  die  Gesammtheit.  Besser  dagegen  steht  es  mit  den  Körper- 
merkmalen, die  einen  Uebergang  bilden  von  den  mongolenähnlichen 
Sibiriern  zu  den  Eingebornen  Amerika's.  Dieser  Uebergang  recht- 
fertigt zugleich  unser  Vorhaben,  die  Amerikaner  selbst  nicht  als 
eine  getrennte  Race  zu  vereinzeln ,  sondern  sie  den  mongolischen 
Asiaten  anzuschliessen.  Bei  allen  obigen  Völkern  finden  wir  eine 
röthliche  oder  bräunliche  Dunkelung  der  Haut,  straffes,  walzen- 
förmiges Haupthaar,  mit  einer  einzigen  Ausnahme  Mangel  an 
Bartwuchs  und  eine  beinahe  gänzliche  Kahlheit  am  übrigen 
Leibe. 


4i6  I^ie  Beringsvölker, 

a.    Itelmen  oder  Kamtschadalen. 

Diese  Merkmale  im  Verein  mit  den  schmalgeschlitzten  Augen 
bewogen  Georg  Steller,  den  Itelmen  oder  Kamtschadalen  eine 
entschiedene  Mongolenähnlichkeit  zuzuschreiben*).  Die  Worte  in 
ihrer  Sprache  entstehen  durch  lose  Zusammenfügung  von  Wurzeln, 
und  wenn  richtig  ist,  was  Kennan  behauptet,  dass  sie  sich  der 
Präfixe  bedienen,  so  trennen  sie  sich  damit  sowohl  von  den 
Ural-Altaiern,  wie  von  den  Eskimo*).  Der  Fischfang  ist  ihr  haupt- 
sächlicher Nahrungserwerb,  und  der  Hund,  den  sie  vor  den 
Schlitten  spannen,  ihr  Hausthier.  Im  Vergleich  zu  den  andern 
Beringsvölkern  ist  ihre  Seetüchtigkeit  eine  sehr  mittelmässige.  Ihre 
gesellschaftliche  Entwickelung  ging  nicht  weiter,  als  dass  sich  die 
Pflichten  der  Blutrache  über  die  Bewohner  eines  Ostrog  erstreckten. 
Der  Ehemann  gehörte  zur  Familie  der  Schwiegereltern.  Schama- 
nistische Künste  wurden  eifrig  betrieben,  doch  gab  es  keine  eigent- 
liche Kaste  von  Zauberern,  sondern  ein  jeder  versuchte  die  Geister 
auf  eigene  Gefahr.  Der  Glaube  an  die  Fortdauer  nach  dem  Tode 
führte  häufig  zum  Selbstmord ;  Väter  Hessen  sich  von  ihren  Kindern 
erdrosseln  oder  den  Hunden  vorwerfen.  Im  Jenseits  dachte  man 
sich  die  Armen  für  ihre  diesseitigen  Leiden  durch  Ueberfluss 
belohnt^).  Die  musikalische  Begabung  der  Itelmen  müssen  wir 
sehr  'hoch  schätzen,  denn  sie  haben  sogar  mehrstimmige  Lieder 
componirf*).  Ausserdem  fand  Steller  bei  Ihnen  Tänze  und  dra- 
matische Vorstellungen,  die  gewöhnlich  in  komischen  Nachahmungen 
der  fremden  Gäste  bestanden  5).  Adolf  Erman^)  rühmt  ihre  Recht- 
lichkeit, Sanftmuth  und  „angeborne  Feinheit  der  Sitte".-  Rührend 
ist  vieles,  was  er  uns  über  ihre  aufopfernde  Gastfreundschaft  mit- 
theilt, die  auch  Kennan  neuerdings  wieder  zu  erproben  Gelegen- 
heit hatte.  Wasser  war  zu  Steller's  Zeiten  ihr  einziges  Getränk,  so 
dass  der  Genuss  von  Fliegenschwamm  sich  erst  später  verbreitet  hat. 


i)  Steller,  Kamtschatka.     S.  298. 

2)  Latham,  Varieties.  p.  274.  behauptet  ohne  es  näher  zu  begründen, 
dass  die  kamtschatkische  Sprache  mit  der  koreanischen  und  japanischen  Ge- 
meinschaft  im  Wortschatz  habe.  Wahrscheinlich  sind  es  nur  Culturwörter, 
die  im  Verkehr  entlehnt  wurden. 

3)  Stell  er,  Kamtschatka.     S.  277.  S.  294.  S.  270.  S.  271. 

4)  a.  a.  O.    S.  332. 

5)  a.  a.  O.    S.  341. 

6)  Reise  um  die  Erde.     Bd.  3.  S.  422. 


Die  Beringsvölker.  aij 


b.    Korjaken   und  Tschuktschen. 

Von  den  Korjaken,  welche  am  Ochotskischen  Meere  sitzen 
und  sich  bis  in  die  nördlichen  Theile  von  Kamtschatka  verbreiten, 
behauptet  Georg  Steller,  sie  seien  an  Körpergrösse,  Gesicht,  Haar- 
wuchs, der  Aussprache  aus  vollem  Halse  den  Itelmen  „so  ähnlich, 
wie  ein  Ei  dem  andern"  *).  Wir  dürfen  dies  nur  von  der  Fischer- 
bevölkerung  an  der  Küste  gelten  lassen,  denn  die  Korjaken  des 
Binnenlandes,  die  vom  Ertrag  ihrer  Renthierheerden  unter  Zelten 
in  patriarchalischer  Gliederung  leben,  werden  als  Leute  von  mehr 
als  mittlerem  Wuchs  beschrieben ;  sie  sind  also  stattlicher  als  die 
Itelmen,  denen  sie  sonst  an  Gastfreiheit  sowie  an  dienstfertiger  und 
gutherziger  Behandlung  von  Fremden  nicht  nachstehen.  Kennan 
nennt  sie  wegen  ihrer  physischen  Merkmale  Stämme  von  nord- 
amerikanischem Typus'*).  Von  allen  Beringsvölkern  sind  sie  un- 
befleckt von  erotischen  Lastern  und  zugleich  eifersüchtige  Gatten. 
Leider  berauschen  sie  sich  nur  allzugern  mit  dem  Absud  aus 
Fliegenschwamm,  der  ihnen  trotz  der  scharfen  russischen  Verbote 
von  gewissenlosen  Kaufleuten  zugeführt  wird.  Auch  bei  ihnen 
und  bei  den  sogleich  zu  nennenden  Tschuktschen-^)  lassen  sich 
die  alten  Leute  von  den  eigenen  Kindern  durch  Lanzenstiche 
tödten,  vermuthlich  in  dem  Wahn,  dass  der  Mensch  auf  gleicher 
Altersstufe  erneuert  werde,  wie  er  die  Erde  verlasse,  und  dass  es 
daher  besser  sei,  den  Becher  nicht  bis  zur  Hefe  zu  leeren. 

Sprachlich  mit  ihnen  so  eng  verwandt,  wie  Spanier  und  Por- 
tugiesen, sind  die  Tuski  oder  Tschuktschen,  welche  die  asiatischen 
Küsten  an  dem  Beringsmeer  noch  in  beinahe  völliger  Freiheit 
als  Renthierzüchter,  die  Gestade  des  Eismeeres  aber  als  Fischer 
bewohnen.  Sie  werden  bisweilen  als  Renthiertschuktschen  von 
den  NamoUo  unterschieden,  mit  denen  sie  in  älterer  Zeit  zusammen- 
geworfen wurden.  Es  sind  starke  Männer,  die  unter  Lasten  von 
200  Pfund  noch  leichten  Ganges  dahinschreiten.    Ein  Tschuktschen- 


i)  Kamtschatka.     S.  251. 

2)  Tent-life  in  Siberia.    p.  117.  p.  218. 

3)  Whymper,  Alaska.     Braunschweig  1869.     S.  98. 

Peschel,  Völkerkunde.  27 


i]S  Die  Beringsvülker. 

bursche,  erzählt  Whymper,  den  Obrist  Bulkley  von  der  Ploverbay 
nach  San  Frandsco  mitnahm,  wurde  dort  stets  für  einen  Chinesen 
gehalten  und  mit  zwei  Matrosen,  yeöornen  Aleuten,  trugen  sich 
öfter  ähnliche  Missverständnisse  in  einer'  Stadt  zu,  wo  man  doch 
auf  jeder  Strasse  Chinesen  und  Japanern  begegnet").  Fügen  wir 
noch  zum  Schiuss  hinzu,  dass  die  Tuslti  das  Beringsmeer  in  Leder- 
booten mit  einem  Geripp  aus  Walfischknochen  befahren  und  sich 
dabei  auch  eines  Segels  beäieneo,  wahrscheinlich  in  Nachahmung 
europäischer  Schiffe.  Sie  binden  zugleich  aufgeblasene  Seehunds- 
häute an  die  äusseren  Wände  der  Fahrzeuge,  damit  sie  wie 
die  polynesischen  Ausleger  das  Umschlagen  verhüten. 


c.    Die   Numollo   und   die   Eskimo. 

Ganz  in  der  äussersten  Nordostecke  Asiens,  an  der  Bering- 
strasse und  längs  dem  Eismeer,  grenzen  an  die  Tschuktschen  die 
früher  mit  ihnen  verwechselten  NamoUo.  Durch  Sitten  und  Lebens- 
gewohnheiten unterscheiden  sie  sich  nur  wenig  von  ihren  Nac'h- 
barn.  Lütke')  fand  bei  ihnen  ausgeprägte  mongolische  Gesichts- 
züge ,  vorstehende  Backenknochen ,  kleine  Nasen  und  viell'ach 
schiefgestellte  Augen.  Wir  wissen  fetner,  dass  die  Sprache  der 
Namollo  mit  der  Eskimosprache  versciiwlstert  ist^).  Chamisso,  der 
Namollo  in  der  St.  Lorenzbuciit  und  Eskimo  am  Kotzebuesunde 
vergleichen  konnte,  bemerkt,  dass  die  Bevölkerung  der  Kordost- 
spilze Asiens,  sowie  alle  Amerikaner  von  der  Beringstrasse  bis 
zu  den  Eskimo  der  Baffinsbay,  „demselben  Menschenschlag  von 
ausgezeichnet  mongolischer  Gesichtsüildung  angehören"*).  Die 
Eskimo,  deren  Name  vun  Esquimantsic  aus  der  Abenaki-  oder  von 
Ascbkimeg  aus  der  Odschibwä^prachc  stammt  und  in  beiden  Fällen 
Rohileischesser  bedeutet^),  nennen  sich  selbst  In-nu-it,  eine  Plural- 
form von  iii-nu  der  Jlenseh.  Die  Wortbildung  in  ihrer  Sprache 
geschieht    immer    auf    dem   Wege    der   Suffigirung';   und    insofern 

1)  Whymper,  Alaska.     S.  273. 

2)  Voynge  .lulour  du  monde.      Paris  1835.     chap.  XI.  lom.  II.  p.  264. 

3)  Waitz,  AolhtopolQgie.     Bd.  3.   S,  301. 

4)  Otto  V,  Kotiebuc's  Entdetkungsreise.  Weimar  1821.  Bd,  3. 
S.  176. 

5)  Charlevoix,  NouveUe  Frjnce.  Igm.  III.  p.  17B. 

6)  SIeinthal,  Typen  de«  Spraclibaues.     S.  220. 


Die  Beringsvölker.  aiq 

hätte  sie  Aehnlichkeit  mit  dem  Verfahren  innerhalb  der  uralaltai- 
schen  Gruppe,  deren  wichtigstes  Merkmal  aber,  nämlich  die  Laut- 
harmonie, bei  den  Innuit  fehlt.  Zwar  kennt  die  Eskimosprache 
nicht  die  strenge  Einverleibung,  gleichwohl  wird  sich  bald  zeigen, 
dass  sie  einen  Uebergang  zwischen  dem  uralaltaischen  und  dem 
amerikanischen  Typus  darstellt.  Die  Innuit  sassen  zur  Zeit  der 
Normannenbesuche  Amerikas  also  um  looo  n.  Chr.  noch  ziemlich 
südlich  an  der  atlantischen  Küste  und  Hessen  sich  am  Anfang 
des  vorigen  Jahrhunderts  noch  gelegentlich  auf  Neufundland  sehen  ^. 
Nach  Grönland  sind  sie  erst  in  der  Mitte  des  14.  Jahrhunderts 
eingewandert  *).  Barnard  Davis  gibt  als  Schädel indices  den  grön- 
ländischen Eskimo  eine  Breite  von  71  und  eine  Hohe  von  75, 
den  Eskimo  im  östlichen  Nordamerika  70  und  75  für  die  obigen 
Verhältnisse.  Allein  diese  Merkmale  sind  werthlos,  weil  der 
Schädel  künstlich  geformt  wird^).  Die  westlichen  Innuit  aber, 
gegen  welche  ein  gleicher  Verdacht  bis  jetzt  noch  nicht  vorliegt 
und  die  uns  daher  die  ungestörte  Schädelform  darbieten,  haben 
75  zum  Breiten-,  77  zum  Höhenindex.  Es  sind  also  Mittelschädel 
von  grösserer  Höhe  als  Breite^).  Sonst  stimmen  sie  in  den  mass- 
gebenden Körpermerkmalen  mit  den  nordasiatischen  Bevölkerungen 
völlig  überein,  namentlich  was  Haut  und  Haar  betrifft.  Die  schiefe 
Stellung  der  geschlitzten  Augen,  die  flachen  breiten  Gesichter  sind 
selbst  noch  bei  den  Eskimo  Grönlands  zu  erkennen  s),  obgleich 
dort  Mischungen  mit  germanischem  Blut  vielfach  stattgefunden 
haben.  Die  Namollo  und  Eskimo  gehören  zwar  nicht  unter  die 
hochgewachsnen  Völker,  aber  widerlegt  wurden  bereits  die  älteren 
irrigen  Angaben  über  ihre  Zwergenhaftigkeit^).  Ihre  Frauen  sind 
nicht  fruchtbar  7)  oder  vielmehr  der  Kindersegen  gilt  als  uner- 
wünscht, daher  auch  dieser  Volksstamm  dem  Erlöschen  nicht  mehr 
entgehen  wird. 


i)  Charlevoix  L  c. 

2)  S.  oben  S.  62.  und  David  Cranz,  Historie  von  Grönland.    Buch  4, 
I.  Abschn.  §  8.     Barby  1770.    Bd.  L  S.  333  ff. 

3)  S.  oben  S.  62. 

4)  Barnard  Davis,  Thesaurus  craniorum,  p.  219 — 224. 

5)  Die  zweite  deutsche  Nordpolarfahrt.     Leipzig  1873.     Bd.  i,     S.  135. 

6)  S.  oben  S    86. 

7)  D.  Cranz,  Historie  von  Grönland.     Buch  IH,  2  §.  14-  Bd    i.  S.  212. 

27* 


^20  Die  BeiingSTÖlker, 

\\"ir  treffen  bei  ihnen  unter  den  Namen  Angekok  echte  nord- 
asiiitii^clie  Schamanen,  die  sich  zu  den  herkömmlichen  Zaubercnren 
und  Geisterbeschwörungen  in  Einsamkeit  und  unter  Fasten  so 
lanjjp  vo'bereiten  „bis  ihre  Einbildungskraft,  wie  Cranz  treuherzig 
bemerkt,  in  Unordnung  geräth')."  Sie  verehren  einen  gutigen 
Schilpfi-r  Torngarsuk  oder  Anguta ')  geheissen.  Wenn  sie  aus 
dem  Munde  der  Heidenbe kehrer  einen  allmächtigen  Gott  preisen 
hören,  so  denken  manche,  dass  ihr  Torngarsuk  gemeint  sei*). 
Ihm  g-fgenüber  steht  eine  schadenstiftende  weibliche  angeblich 
namenlos;  Gottheit,  Nicht  nur  an  eine  Fortdauer  nach  dem 
Tode,  sondern  auch  an  eine  jenseitige  Bestrafung  der  Verbrecher 
und  der  Lieblosen  wird  geglaubt*).  Die  Innuit  haben  sich  in 
ihren  Sagen  ein  arctisches  Paradies  Namens  Akillnek  geschaffen 
und  besitzen  Erzählungen  von  Reiseabenteuern,  bei  denen  der 
orientalische  Vogel  Roch  durch  RiesenmÖven  ersetzt  wird.  Auch 
hat  man  unter  ihnen  das  Märchen  von  den  badenden  Jungfrauen 
angetroffen,  die  sich  bei  ihnen  —  da  der  Schwan  fehlt  —  in 
Enten  verwandeln^).  HaH  der  so  lange  unter  ihnen  weilte,  nennt 
sie  dns  gutherzigste  Volk  auf  dem  Erdlioden,  Für  ihren  scharfen 
Verstand  spricht  die  Thatsache,  dass  sie  sehr  rasch  Domino-  und 
Bretsjiide,  unter  letzteren  auch  das  Schach  erlernten*).  Als  Leo- 
pold V.  Buch  im  arktischen  Norwegen  reiste,  überzeugte  er  sich 
dass  ilie  menschliche  Gesellschaft  von  den  dortigen  Bewohnern 
keine  geistige  Bereicherung  beanspruchen  dürfe,  denn  die  volle 
Kraft  des  Menschen  werde  gänzlich  aufgezehrt  durch  den  Kampf 
mit  einer  strengen  Natur  um  die  kümmerliche  Nothdurft  des  Lebens. 
Noch  viel  mehr  aber  wie  von  Norwegen,  muss  dasselbe  im  polaren 
.Amerika  gelten."  Die  Eskimo  haben  freilich  aus  gewissen  Störungen 
des  I\Iond!aufes  nicht  die  Abplattung  der  Erde  berechnet,  sie  haben 
auch  nicht  das  Wasser  in  seine  beiden  Luftarten  zerlegt,  ebensowenig 


T  I,  c.  Buch  nr,  cap.  5,  §,  41,  Bd.  I.  S.  »68. 

2)  So  nennt  ihn  Hall,  Life  wilh  the  Estjuimaux.  p.  524. 

j)  David  Cranz,  Historie  von  Grönland.  Buch  j,  cap.  5.  §.  39.  Bd.  i 

■i)  Hall,  1.  c. 

.;:  11.  Rink.  Eskimoisk  Diglekonst,  in  For  Ide  og  Virkelighed.  Kjoben 
l-n.  Jlarts.  1870.  p.  212.  flg. 
6)  Hall,  p.  52J. 


Die  Berings Völker.  a21 

eine  Weltregion  gestiftet,  aber  sie  haben  dafür  zuerst  durch  eigene 
Kraft  und  Kunst  sich  Wege  gebahnt  nach  Gürteln  der  Erde,  wo 
Tag  und  Nacht  über  die  Dauer  von  Jahreszeiten  sich  erstrecken, 
sie  haben  bewiesen,  dass  der  Mensch  sich  noch  behaupten  kann 
wo  ein  neunmonatlicher  Winter  das  Land  versteinert,  wo  kein 
Baum  mehr  wächst,  ja  wo  nicht  so  viel  Holz  angeschwemmt  wird, 
um  nur  als  Schaft  zu  einem  Speer  zu  dienen.  Sie  haben  sich 
bemüht  aus  den  Knochen  arktischer  Säugethiere,  ihrer  Jagdbeute, 
durch  Aneinandei  stücken  Schlitten  zu  erbauen  und  Lanzen  zusam- 
menzufügen, die,  mit  Thiersehnen  festgeschnürt,  Dauerhaftigkeit 
genug  besitzen  dass  ein  unerschrockener  Jäger  im  Handgemenge  den 
weissen  Bären  zu  erlegen  vermag.  Sie  haben  es  ersonnen  wie 
man  aus  Schnee  ebenso  rasch  Hütten  bauen  kann,  wie  tropische 
Völker  aus  Zweigen  und  Blättern,  ja  sie  haben  aus  Steinen  Bogen- 
gewölbe  ausgeführt,  woran  keines  der  Culturvölker  Mexico*s  ge- 
dacht hat.  Sie  verstanden  auch  ihre  Hütten  durch  Thranlampen 
zu  erwärmen,  über  ihnen  Schnee  und  Eis  zum  Fliessen  zu  bringen, 
damit  sie  ihren  Durst  löschen  konnten.  Sie  besassen,  was  in 
ganz  Amerika  nirgends  sonst  der  Fall  war,  ein  Verkehrswerkzeug 
auf  festem  Grunde,  den  Schlitten,  und  sie  hatten  zu  seiner  Bewe- 
gung Thiere,  nämlich  Hunde,  vorgespannt,  während  die  höchste 
Stufe  solcher  technischen  Fortschritte  in  Amerika  nur  noch  bei 
den  Incaperuanern  angetroflfen  wurde,  welche  die  Llama  zwar  nicht 
zum  Ziehen,  aber  doch  wenigstens  zum  Tragen  abrichteten.  So 
ist  es  denn  an  sich  schon  eine  culturgeschichtliche  Leistung  den 
hohen  Norden  der  Erde  bevölkert  zu  haben,  und  zwar  lösten  die 
Eskimo  diese  unbeneidete  Aufgabe  als  sie  selbst  noch  im  Zeitalter 
der  Steingeräthe  sich  befanden.  Jetzt  freilich  erhandeln  sie  von 
den  Dänen  Eisen  zu  Lanzen  und  Harpunenspitzen,  allein  Nord- 
grönland wurde  längst  von  ihnen  bewohnt  ehe  sich  Europäer  in 
ihre  Nähe  wagten.  Das  erste  Schiff  welches  1616  unter  Capt.  By- 
lot  in  die  Baffinsbai  drang,  knüpfte  dort  einen  Verkehr  mit  den 
Eingebornen  an.  Erst  1818  zeigte  sich  der  ältere  Ross  als  zweiter 
Seefahrer  unter  jenen  Breiten,  und  auf  seinen  Spuren  folgten  dann 
die  Waljäger,  welche  das  erste  Eisen  brachten.  Die  Eskimohorde 
aber  welche  jenseits  'des  Smithsundes  wohnt,  sitzt  dort  sicherlich 
seit  etlichen  Menschenaltern,  vielleicht  seit  Jahrhunderten. 

Nicht  geringe  Verdienste    haben   sich  aber    um   die  Vermeh- 
rung   europäischer    Wissenschaft    die    Eskimo   dadurch   erworben, 


A22  Dis  Beringswölker. 

dass  sie  den  altern  und  neuern  Seefahrern  auf  dem  Schauplatz 
der  nordwestlichen  Durchfahrt  ihre  Dienste  liehen.  Einer  merk- 
würdigen Eskimofrau,  lligliuk,  verdankte  Sir  Edward  William  Parry 
eine  Landkarte,  die  ihm  den  We^  zeigte  zur  Entdeckung  der 
Fury-  und  Heclastrasse ').  Der  Eskimo  Hans,  der  den  unvergess- 
lichen  Kane  und  seinen  Nachfolger  Hayes  twgleitete,  fährte  den 
Matrosen  Morton  bis  über  den  8i.  Breitengrad  zu  dem  nördlichsten 
Punkte  der  je  an  der  Küste  Grönlands  erreicht  wurde.  Wenn  wir 
den  Berichten  der  älteren  und  neueren  Seefahrer  auf  dem  Gebiet 
der  nordwestlichen  Durchfahrt  folgen,  und  wir  sehen  ihre  Schiffe 
vor  uns  in  der  Gefangenschaft  des  winterlichen  Eises,  es  senkt 
sich  dann  auf  siedle  arktische  Nacht  herab,  die  drei  oder  vier  Monate 
dauern  soll,  so  beschleicht  uns  jedesmal  die  Bangigkeit,  dass  selbst 
der  Europäer  mit  aller  seiner  Herrschaft  über  Stoff  und  Kraft 
doch  jener  strengen  Natur  nicht  gewachsen  sei  und  sein  Leben 
und  seine  Freiheit  abhänge  von  der  Laune  der  künftigen  Jahres- 
zeit, Wenn  dann  am  Bord  der  Ruf  ertönt:  die  Eskimo  sind  an- 
gekommen! so  ist  es  uns  als  «-ürden  von  befreundeter  Hand  die 
Thüren  des  arktischen  Kerkers  geöffnet.  Wie  die  Helfer  im 
Dunkeln  erscheinen  Wesen  unseres  Geschlechtes,  denen  weder  die 
Kälte  noch  die  Nacht  ihre  Lebensheiterkeit  rauben,  und  die  ver- 
gnügt noch  wandern  und  umherziehen,  wo  die  Natur  mit  allen 
Schaudern  eines  Dante'schen  Höllenringes')  gepanzert  erscheint. 

Von  ihren  nautischen  Geschicklichkeiten  brauchen  wir  nicht 
lange  zu  reden.  Sie  besitzen  bekanntlich  zwei  Arten  von  Fahr- 
zeugen: grosse  und  geräumige,  die  sogenannten  Frauenboote 
(Umiak),  worin  die  Familien  ihre  Wanderungen  antreten,  und  die 
Männerboote  (Kayaken),  mit  denen  der  einzelne  Jäger  die  See- 
thiere  aufsucht.  Was  den  Bau  und  die  Führung  von  Booten  be- 
trifft, so  giebt  es  keine  grösseren  Kenner  als  die  Briten  und  die 
Amerikaner  der  Vereinigten  Staaten.  Beide  aber  reden  mit  Be- 
wunderung, mit  Neid  sogar  von  dem  Eskimo,  der  mit  seinem 
Doppelruder  und  den  Gleichgewichtskünsten  eines  Seiltänzers  seine 
Kayake  über  die  rauhen  Wogenkämme  hüpfen  lässt. 


1)  Capt.  Lyon,  Private  Jouma].  p.  160.  p.  ii6.  Hall  hat  zwei  Eakiroo- 
karten  abbilden  lassen,  die  kaum  von  Europäern  nalurgelreuer  hallen  gezeich- 
net werden  können. 

2)  Inferno,  XXXII,  v.  21—30. 


Die  Beringsvölker.  423 

Ihre  Sprachähnlichkeit  mit  den  Namollo,  ihre  nautische  Ge- 
schicklichkeit, ihre  Bezähmung  des  Hundes,  ihr  Gebrauch  des 
Schlittens,  ihre  mongolische  Gesichtsbildung,  ihre  Anlagen  zu 
höherer  Gesittung  lassen  die  Frage,  ob  hier  eine  Wanderung  aus 
Asien  nach  Amerika  oder  umgekehrt  stattgefunden  habe,  mit 
einem  hinreichenden  Mass  von  Wahrscheinlichkeit  für  das  erstere 
entscheiden,  doch  muss  eine  solche  Wanderung  von  Asien  über 
die  Beringstrasse  viel  später  erfolgt  sein  als  die  erste  Besiedelung 
der  neuen  Welt  aus  der  alten. 

Sprach-  und  blutverwandt  mit  den  Namollo  und  Eskimo  sind 
die  Bewohner  in  dem  nördlichen  und  westlichen  Theile  des  ehe- 
mals russischen  Amerika,  die  man  wohl  auch  aliaskische  Eskimo 
genannt"  hat,  Sie  bewohnen  die  Ufer  des  Beringmeeres,  die  Halb- 
insel Aliaska  und  die  angrenzende  Küste  gegen  Osten  bis  etwa 
zum  Eliasberg.  Sie  zerfallen  in  13  Horden,  zu  denen  die  Kon- 
jaken  oder  Konäken  der  Insel  Kadjak,  die  Tschugatschen  am 
Prinz-Williamsund  und  auf  der  Kenai-Halbinsel,  sowie  elf  andere 
Horden  zählen'),  deren  Namen  sämmtlich  auf  — mjuien  oder 
— muten  endigen.  Zu  letzteren  gehören  Whymper's  Malemuten,  die 
wie  alle  übrigen  nur  durch  ihre  Mundart  von  den  Eskimo  und 
Namollo  sich  unterscheiden.  Unter  ihnen  sieht  man  Männer  -bis 
zu  6'  engl.  Leibeshöhe,  woraus  sich  ergibt,  dass  die  Körpergrösse 
innerhalb  dieses  Volksstammes  beträchtlich  schwankt.  Zwischen 
den  asiatischen  und  amerikanischen  Beringsvclkern  hat  beständig 
Handelsverkehr  geherrscht.  Die  Tschuktschen  ziehen  nach  der 
Diomedes-Insel  und  die  Malemuten  setzen  von  der  äussersten  Nord- 
westspitze Amerikas  über,  um  Renthierfelle  gegen  Pelze  umzu- 
tauschen. Der  Handel  geht  so  flott,  dass  die  Kleidungen  der 
Eingeborenen  am  Yukonstrome  einige  hundert  Meilen  (miles)  auf- 
wärts aus  asiatischen  Fellen  bestehen  die  von  den  Tschuktschen 
stammen^).  O.  v.  Kotzebue,  der  beide  Ufer  des  Beringmeeres 
befuhr,  bemerkt  dass  die  Bewohner  der  St.  Lorenz-Insel  die  näm- 
liche Sprache  reden,  wie  die  Stämme  auf  dem  amerikanischen 
Ufer  und  sie  Brüder  nennen.  „Ich  finde  überhaupt",  heisst  es 
an    einer    andern    Stelle,    „einen    so    unmerklichen    Unterschied 


i)  s.  ihre  vollen  Namen  bei  Waitz,' Anthropologie.     Bd.  3.  S.  301. 
2)  Whymper,  Alaska.     S.  149. 


^A  Die  Berings Völker. 

zwischen  diesen  beiden  Völkern,  dass  ich  sehr  geneigt  bin,  sie  von 
einem  Stamm  entsprossen  zu  halten^)."  Ganz  ähnlich  äussert  un- 
ser berühmter  Georg  Steller,  dass  die  Bewohner  der  Schumagin- 
Inseln  an  der  Südküste  von  Aliaska  den  Itelmen  Kamtschatkas 
„wie  ein  Ei  dem  andern  gleichen*)."  Alle  diese  Zeugnisse  erhärten 
die  Thatsache,  dass  Wanderungen  aus  der  alten  Welt  in  die  neue 
stattgefunden  haben,  dass  dagegen  die  Eskimo  aus  Amerika  nach 
Asien  sich  verbreitet  haben  sollten,  ist  deswegen  nicht  wahrschein- 
lich, weil  sie  von  allen  Amerikanern  die  meiste  Uebereinstimmung 
in  Bezug  auf  Racenmerkmale  mit  den  mongolenähnlichen  Völkern 
der  alten  Welt  sich  bewahrt  haben  und  ihre  Wanderungen  in  der 
geschichtlichen  Zeit  noch  immer  westwärts  gerichtet  waren. 

d.    Die    Aleuten. 

Von  der  Halbinsel  Aljaska  zieht  nach  Kamtschatka  in  einem 
schön  geschwungnen  Bogen  eine  Kette  von  Inselvulkanen,  baum- 
los und  meistens  in  Nebel  eingehüllt.  Sie  heissen  die  Aleuten, 
wie  ihre  Bewohner.  Letztre  verknüpft  mit  den  Eskimo  nur  eine 
Anzahl  gemeinsamer  Wörter  die  aber  nur  eingetauscht  sein  mögen, 
soust  stehen  sie  linguistisch  bis  jetzt  noch  vereinsamt«^).  Es  ist 
ein  mongolischer  Menschenschlag"^),  dessen  wir  schon  einmal  gedacht 
haben  in  Bezug  auf  seine  frühzeitigen  Ehebündnisse  5).  Zwar  sind 
alle  Beringsvölker  mehr  oder  weniger  seetüchtig,  doch  scheinen  die 
Aleuten  selbst  die  Eskimo  noch  durch  ihre  Fertigkeit  zu  über- 
bieten. Ihre  einluckigen  Fellbote  haben,  wie  Erman  es  erläutert, 
etwa  60  Pfund  Eigengewicht  und    bestiegen  von  einem  140  Pfund 


i)  Entdeckungsreise  in  die  Südsee.    £d.  2.'S.  105.   Bd.  i.  S.  159. 

2)  Steiler,  Kamtschatka.  S.  297. 

3)  Nach  dem  kurzen  Abriss,  den  Lütke  (Voyage  autour  du  monde, 
chap.  VI.  Paris  1835.  tom.  I,  p.  243)  mittheilt,  bedienen  sie  sich  zur  Wort- 
bildung auch  der  Präfixe,  die  völlig  der  Innuitsprache  fehlen. 

4)  Ein  deutscher  Reisender  (Allgemeine  Zeitung  1873.  S.  4300)  will  sie 
sogar  wegen  ihrer  Gesichtsbildung  von  verschlagenen  Japanern  ableiten. 

5)  S.  oben  S.  228.  Bei  ihnen  herrschen  dieselben  erotischen  I^ster 
(Langsdorff,  Reise  um  die  Welt.  Bd.  2.  S.  43.  W.  H.  Dali,  Alaska. 
Boston  1870.  p.  402.)  wie  bei  den  NamoUo  (Lütke,  I.e.  chap.  XI.  tom.  ü, 
p.  197)  oder  bei  den  Itelmen  (Steller,  Kamtschatka  S.  289.  S.  351)  oder  bei 
den  (Renthier-)  Tschuktschen  (v.  Wrangeil,  Reisen  längs  der  Nordküste 
Sibiriens.  Bd.  2.  S.  227). 


Die  Beringsvölker.  425 

schweren  Aleuten  immer  noch  einen  so  geringen  Tiefgang,  dass 
der  eingetauchte  Querschnitt  nur  0,056  Meter  Widerstandsfläche 
bietet.  Mit  einer  solchen  Baidarke  legte  ein  Eingeborner  in  27^2 
Stunde  214,®  Kilometer  oder. etwas  mehr  als  eine  deutsche  Meile 
in  der  Stunde  zurück,  während  ein  Fussgänger  eine  Last  von 
60  Pfund,  höchstens  2  3/^  deutsche  Meilen  weit  in  einem  Tage  ge- 
tragen, also  II  Tage  zu  der  obigen  Entfernung  gebraucht  haben 
würde*).  Die  Baidarke  befähigt  den  Aleuten  zu  den  Leistungen 
der  mächtigsten  Seethiere  und  die  Jagd  auf  solche  gehört  zu  seinem 
täglichen  Nahrungserwerb  *). 


e.    Die   Thlinkiten   und   Vancouvers^ämme. 

Vom  Süden  des  Eliasberges  an  der  Küste  und  an  den  Küsten- 
inseln bis  zum  Dixon-Sund  sitzen  Völker  welche  die  Russen 
Kaljuschen  oder  Koluschen,  die  sich  selbst  aber  Thlinkiten  oder 
„Menschen"  nennen.  Südwärts  von  ihnen  bewohnen  die  Haidah 
die  Königin-Charlotte  Inseln.  Am  Festland  gegenüber  vom  53° ^a 
bis  50°  N.  Br.  erstrecken  sich  die  Hailtsa  oder  Hailtsuk.  Auf 
der  Insel  Vancouver  endlich  werden  vier  verschiedene  Sprachen 
geredet.  Einige  Stämme  wie  die  Cowitschin  und  Clalam  bewohnen 
nicht  blos  Vancouver  sondern  das  Festland  am  Fraserfluss  und 
am  Puget-Sund.  Schädel  aus  dieser  Küstengegend  sind  nur 
spärlich  vorhanden,  auch  könnten  sie  uns  nur  wenig  Belehrung 
bringen,  denn  ihre  künstliche  Verunstaltung  in  der  Jugend  gehört 
auf  Vancouver  wie  in  Oregon  zur  Mode,  auch  kommt  nicht  blos 
das  Flachdrücken  sondern  auch  eine  erzwungne  Dolichocephalität 
vor  3).  Die  Hautfarbe  ist  fast  so  hell  wie  bei  Südeuropäern,  das 
Haar  dagegen  schwarz  und  straff. 

Bei    den    Thlinkiten    und    den    Haidah^)    zeigt    sich  hin  und 


i)  A.  Er  man  in    der   Zeitschrift   für   Ethnologie.   1871.    Bd.   3.    Heft  3. 
S.   167. 

2)  Eine  genaue  Zeichnung  und  Beschreibung  der  Bauart  dieser  classischen 
Fahrzeuge  hat  v.  Langsdorff,  Reise  um  die  Welt.    Bd.  2.  S.  39  gegeben. 

3)  Barnard  Davis,  Thesaurus    craniorum,    p.  231. 

4)  R.  Brown    in   Reports   of  the  British    Association  held  at  Norwich 
1868.     London  1869.  p.  133. 


J26  ^'^  Beringsvolker. 

wieder  ein  wenig  mehr  liartwuchs  als  es  bei  asiatischen  und 
amerikanischen  Mongolen  sonst  der  Fall  ist.  Starke  vorstehende 
Backenknochen,  tiefliegende  Nasenwurzel,  breite  fleischige  aufge-- 
stülpte  Nasen  herrschen  noch  immer  vor").  Die  Tschinuk,  welche 
Oregon  im  Süden  des  Pugetsundes  bewohnen  und  den  Kopf 
künstlich  abflachen,  haben  auch  noch  die  schief  geschlitzten  mon- 
golenähnlichen  Augen '),  die  den  Haidah  wiederum  fehlen  ^). 
Sprachlich  lassen  sich  die  Bewohner  der  Küste  nicht  mit  den 
Völkern  jenseits  der  Felsengebirge  vereinigen,  auch  unter  sich 
verknüpft  sie  kein  linguistisches  Band,  Da  aber  die  Körpermerk- 
male keine  Abtrennung  in  verschieflne  Racen  vei statten,  auch 
ein  Beobachter  wie  Lütke*),  ausdrücklich  bezeugt,  dass  sich  die 
Bewohner  der  Königin  Charlolteinsein  nicht  vor  den  Anwohnern 
des  Beringsmeeres  in  dieser  Hinsicht  unterscheiden,  so  er- 
scheint es  angemessen  sie  mit  den  Bewohnern  des  äussersten 
Nordostens  von  Asien  zu  vereinigen,  zumal  sie  an  Sitten  und 
Lebensgewohnheiten  ihnen  weit  mehr  gleichen  als  den  Jäger- 
stämmen über  den  Felsengebirgen.  Auch  sie-  sind  seetüchtig,  und 
verstehen  es  ihren  Fahrzeugen  gefällige  Formen  und  einen  wohl- 
überdachten Schnitt  zu  geben.  Doch  ist  es  sicherlich  die  Küsten- 
.  beschaffenheit,  welche  die  nautischen  Geschicklichkeiten  geweckt 
und  ausgebildet  hat^),  wir  dürfen  sie  daher  nicht  einer  Racen- 
anlage  zuschreiben  und  deshalb  auf  gemeinsame  Abkunft  schliessen. 
Auch  das  Durchbohren  von  Wangen  oder  Lippen  und  das  Ein- 
setzen kleiner  Pflöcke  welches  bei  der  amerikanischen  Küsten- 
bevölkerung von  dem  Kotzebue-Sund  bis  zur  Vancouver-Insel 
herrscht,  würde  höchstens  auf  gegenseitigen  innigen  Verkehr 
deuten,  welcher  eineAnsteckung  mit  dieser  Geschmacksverirrung  ver- 
ursachte. Die  amerikanischen  Beringsvölker  kannten  vor  Ankunft 
der  Russen  oder  Capt.  Cooks  Küstenbern hrungen  das  Eisen. 
Vorläufig,  ehe  gründliche  Untersuchungen  etwas  besseres  auszu- 
sprechen gestatten,  wollen  wir  vermuthen,  dass  Japanesen,  welche 


1)  So    bei    den    KolUEchen  nach  v.  Laagsdorfr,    Reise    um   die 
rrankfnrl  i8l2.  Bd,  2.  S.  96. 

I)  Waiti,  Anthropologie.     Bd.  J.  S.  324. 

3)  R.  Brown.  1.  c. 

4)  Voyage  autour  du  rnonde,  cliap.  V.  Paris  1835.  tom.  I,  p.  1S8. 

5)  S.  oben  S.  209  —  210. 


Die  Beringsvölker.  427 

vor  den  Russen  die  Kurilen  und  Kamtschatka  besuchten  Eisen 
oder  eiserne  Geräthe  nach  dem  Norden  gebracht  und  dass  letztere 
sich  dann  durch  den  Küsten  verkehr  nach  Amerika  weiter  ver- 
breitet haben.  Mit  Ausnahme  der  Koluschen,  deren  eheliche 
Sittenstrenge  v.  Langsdorff' )  uns  rühmt,  begegnen  wir  bei  sämmt- 
lichen  Beringsvölkern  selbst  bei  den  Eskimo  erotischen  Verirrungen, 
Knabenliebe  und  Frauenlastern,  Gleichgiltigkeit  gegen  eheliche 
Treue,  Bewirthung  des  Gastfreundes  durch  Preisgeben  von  Frauen 
und  Schwestern,  zugleich  mit  einem  vorzeitigen  Heirathsalter  *). 
Wenn  Georg  Steller  berechtigt  war  die  Anlage  zu  solchen  Aus- 
schweifungen der  vorherrschenden  Fischnahrung  zuzuschreiben,  so 
würde  diese  Uebereinstimmung  zwischen  den  Beringsvölkern  eben- 
falls nur  dem  Wohnort  entsprungen  sein.  Anders  verhält  es 
sich  schon,  dass  wir  bei  ihnen  allen  mehr  oder  weniger  grossen 
Kunstsinn  antreffen,  der  sich  in  Schnitzereien  äussert.  Bei  den 
Koluschen  führt  jedes  grosse  Fahrzeug  den  Namen  von  irgend 
einem  Gegenstand,  meist  einem  Thier,  dessen  hölzernes  Bild  den 
Schnabel  schmückt.  Besonders  gelungne  Verzierungen  dieser  Art 
werden  sehr  hoch  im  Werth  gehalten  und  mit  einem  Sklaven  be- 
zahlt 3).  Die  Adeligen  imter  den  Haidah  der  Charlotte  Inseln 
wiederum  tragen  kupferne  Schilder  auf  welchen  ihr  Wappen  ein- 
gegraben ist*).  Dazu  gesellt  sich  bei  allen  noch  die  Vorliebe 
zu  dramatischen  Tänzen  und  theatralischen  Vorstellungen  die 
mit  Masken  aufgeführt  werden,  wie  diess  von  den  Thlinkiten, 
ja  sogar  einigen  Stämmen  in  Oregon  s)  und  von  allen  Bewohnern 
der  Vancouverinsel  gilt^).  Die  bürgerlichen  Zustände  bei  den 
Thlinkiten  und  V^ancouverstämmen  hatten  sich  ungleich  höher  ent- 
wickelt als  jenseits  der  Felsengebirge.  Die  Wohnsitze  waren  wie 
es  der  Fischfang  vorschrieb  feste,  die  Häuser  bisweilen  casernen- 
artig.     Die  Häuptlinge    besassen    grosse    Gewalt,    eine   Scheidung 


1)  Reise  um  die  Welt.     Frankf.  1812.  S.  113. 

2)  S.  oben  S.  424.  not.  5. 

3)  Lütke,    Voyage    autour    du  monde,    chap.   V.     Paris    1835.     tom.  I, 
212.     W.  Dali,  Alaska.     Boston  1870.     p.  413.  p.  417. 

4)  R.  Brown,  1.  c. 

5)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  3.  S.  335. 

6)  Whymper,  Alaska.  S.  58. 


A2^  I^ie  amerikanische  Urbevölkerung. 

in  Adel  und  Volk  war  vollzogen  und  Sklaverei  bei  den  Koluschen, 
Haidah  und  den  Vancouverstammen  vorhanden*). 


7.     Die   amerikanische   Urbevölkerung. 

Hat  das  menschliche  Geschlecht  von    einem  Schöpfungsherde 
aus  die  Erde    bevölkert    und    dürfen  wir  in    Amerika    nicht  seine 
Wiege  suchen*),  so  muss  die  neue  aus  der  alten  Welt  ihre  ersten 
Bewohner    empfangen    haben.     Als    diese    das  westliche    Festland 
betraten,  standen  sie  sicherlich  noch  auf  einer    sehr    rohen  Stufe, 
wenn  auch    ihre  Sprache    bereits  die  Anlage    zu    ihren    künftigen 
Grundzügen    besass,    die    Feuerbereitung    ihnen    kein    Geheimniss 
mehr  war,  Bogen  und  Pfeil  sich  in  ihren  Händen  befanden.    Weite 
Seefahrten  dürfen  wir  freilich  diesen  Einwanderern  nicht  zumuthen, 
sondern  sie  höchstens  über  das  Beringsmeer  ziehen  lassen.     Nicht 
unerlaubt    wäre    sogar    die  Behauptung,    dass    die    ersten  Wande- 
rungen zu  einer  Zeit  stattfanden  als  die  Beringstrasse    noch  nicht 
eine  Meerenge  sondern  eine  Landenge   vorstellte.     Damals  würde 
auch  das  Klima  jener  nördlichen  Gestade  viel  milder  gewesen  sein 
als  heutigen  Tages,  weil   keinerlei    Strömung    aus    dem    Eismeere 
in  den  Stillen  Ocean  eindringen  konnte.     Dass   die  Absonderung 
Asiens  von  Amerika  einer  geologisch  gesprochen  sehr  nahen  Ver- 
gangenheit   angehöre,    bezeugt    die    Thatsache,    dass    sowohl    die 
Strasse  3)    wie    das   Meer    welche    Berings  Namen    führen,    ausser- 
ordentlich seicht  sind,  pflegen  doch    mitten  im    letzteren  die  Wal- 
fischianger  vor  Anker  zu  liegen^).     Doch  bleibt  es  immer  misslich 
auf  geologische  Vorgänge  sich  zu  stützen,  die  selbst  noch  strengere 
Beweise    entbehren.     Wir    setzen    daher    lieber   voraus,    dass   zur 
Zeit  des  Ueberganges  der  Asiaten  nach  Amerika  die  Beringsenge 
schon  ihre   jetzigen   Züge  besass.     Erinnern   müssen    wir  aber  an 
die    erste    Frage  welche    unser    grosser  Mathematiker  Gauss   1828 


i)  S.  oben  S.  186.  S.  253.  S.  254. 

2)  S.  oben  S.  32—33. 

3)  Lütke,  Voyage  autour  du  monde.     Paris  1835.     tom.  Ü.  p,  209. 

4)  Whymper,  Alaska.     S.  94. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  •  429 

in  Berlin  an  den  Erdumsegler  Adalbert  v.  Chamisso*)  richtete,  ob 
nämlich  von  einem  Punkte  Asiens  aus  die  Küste  von  Amerika 
sichtbar  sei,  so  dass  dermaleinst  durch  ein  Dreiecknetz  beide  Welten 
verknüpft  werden  könnten.  Da  nun  Chamisso  mit  Recht  diese 
Frage  bejahen  durfte,  so  erforderte  es  also  keine  Entdeckung 
aufs  Geradewohl,  sondern  den  Asiaten  der  Beringstrasse  als  sie 
nach  Amerika  übersetzten,  lag  ihr  Ziel  sichtbar  vor  Augen.  Frei- 
lich beunruhigt  verwöhnte  Europäer  das  Bedenken,  ob  es  Völker- 
schaften, die  wir  uns  doch  entblösst  von  Schutzmitteln  denken 
müssen,  gelingen  konnte,  in  jener  strengen  Natur  auszudauern. 
Uebersehen  wird  dabei  dass  gerade  die  Polarkinder  an  rauhem 
Wetter  ein  grösseres  Behagen  empfinden,  als  am  schwülen.  „Wenn 
ich  im  Winter,  schreibt  der  unvergessliche  Georg  Steller,  unter 
meinem  Bette  und  meinen  Pelzdecken  am  Morgen  fror,  sah  ich 
dass  die  Itelmen,  sogar  ihre  kleinen  Kinder,  bis  an  die  halbe 
Brust  nackend  und  blos  in  ihrer  Kuklanka  ohne  Decken  und  Betten 
lagen  und  wärmer  anzufühlen  waren,  ale  ich."  An  einer  andern 
Stelle  fügt  er  hinzu,  dass  die  Kamtschadalen  stets  neben  ihr  Nacht- 
lager ein  grosses  Gefäss  mit  Wasser  stellen,  dieses  durch  Eisstücke 
abkühlen  und  es,  ehe  der  Morgen  anbricht  bis  zum  letzten  Tropfen 
geleert  haben*).  Noch  bessere  Beruhigung  gewähren  uns  aber  die 
Feuerländer,  denn  so  niedrig  wie  sie  müssen  wir  uns  die  ersten 
Einwandrer  in  Amerika  denken.  Horden  unter  ihnen  harren  in 
gänzlicher  Nacktheit  bei  jedem  Wetter  aus.  Darwin  der  eine 
Frau  in  dieser  Entblössung  gewahrte,  fügt  hinzu:  „Es  regnete 
heftig  und  das  süsse  Wasser  mit  dem  Gischt  des  salzigen  rann 
an  ihrem  Leibe  herunter.  In  einem  zweiten  Hafen,  nicht  weit 
von  dem  vorigen,  besuchte  eine  andre  Frau  mit  einem  kürzlich 
gebornen  Säugling  an  der  Brust  das  Schiff  und  trieb  sich  aussen 
herum  aus  lauter  Neugierde,  während  Schlössen  fielen,  und  auf 
ihrem  Busen  wie  auf  der  Haut  des  Kleinen  thauten,"  An  einer 
späteren  Stelle  heisst  es:  „Wir  alle  waren  warm  bekleidet  und 
obgleich  dem  Feuer  sehr  nahe,  doch  keineswegs  von  der  Hitze 
geplagt,  während  unsre  nackten  Wilden  obgleich  sie  viel  ferner 
sassen,  von  Schweiss  überströmten  und  eine  Art  Röstung  erlitten  ^).**^ 


i).Chamisso's  Gesammelte  Werke.     Leipzig  1836.'  Bd.  i.     S.  146. 

2)  Kamtschatka.     S.  303.  S.  325. 

3)  Darwin,  Journal  of  researches.     London  1845.  P»  2^3-  P«  220. 


^ßO  I^ie  amerikanische  Urbevölkerung. 

Das  wird  wohl  Jedermann  überzeugen,  dass  selbst  für  Menschen 
auf  der  Stufe  der  Feuerländer  das  Klima  der  Beringstrasse  eine 
Wanderung  aus  Asien  nach  Amerika  nicht  verhinderte. 

Der  Beweis  aber,  dass  die  Urbewohner  Amerikas  jene  Strasse 
zogen,  liegt  in  ihren  mongolenähnlichen  Merkmalen.  Dass  asiati- 
sche und  amerikanische  Beringsvölker  bis  zum  Verwechseln  ähn- 
lich sind,  wurde  bereits  im  vorigen  Abschnitt  gezeigt.  Selbst  An- 
hänger der  Lehre  von  der  Artenmehrheit  des  Menschengeschlechts 
in  den  Vereinigten  Staaten,  haben  doch  eingestanden,  dass  alle 
Ureinwohner  Amerika's  sich  unter  einander  so  gleichen  „wie  Voll- 
blutjuden" und  dass  die  einzige  Race  zu  der  sie  vernünftiger 
Weise  in  nähere  Verbindung  gesetzt  werden  können,  die  mongo- 
lische sei^).  Wir  berufen  uns  ferner  auf  A.  v.  Humboldt,  der  den 
Eingebornen  Mexicos  mit  einziger  Ausnahme  der  Nase  alle  Mon- 
golenmerkmale bis  auf  die  schief  gestellten  Augen  beilegt*),  welches 
letztere  Wahrzeichen  er  auch  den  Chayma  im  nordöstlichen  Vene- 
zuela zuschreibt^).  Schiefgestellte  Augen  im  Verein  mit  vortreten- 
den Jochbogen  beobachtete  Moritz  Wagner  bei  Bewohnern  Vera- 
guas  und  von  vier  Bayano  Indianern  Dariens  besassen  nach  seiner 
Schilderung  drei  strenge  Mongolenzüge,  auch  die  platten  Nasen  ^). 
Dem  Reisenden  James  Orton^)  wiederum  fielen  die  Zaparo  am 
Nap6strome  östlich  von  den  Cordilleren  Quitos  durch  ihre  Chi- 
nesenähnlichkeit auf.  Ein  Officier  des  Sharpshooter,  des  ersten 
britischen  Kriegsschiffes  welches  im  August  1866  in  den  Parästrom 
Brasiliens  einlief,  bemerkt  fast  mit  den  nämlichen  Worten  von  den 
dortigen  Indianern,  dass  sie  ihn  „lebhaft  durch  ihre  Gesichtszüge 
an  die  Chinesen  erinnert  hätten^).**  Burton  beschreibt  in  Brasilien 
die  Eingebornen  am  Cachauhyfall  mit  „dicken  runden  Kalmücken- 
köpfen, platten  .  Mongolengesichtern,  breiten  scharf  vortretenden 
Jochbeinen,  schiefen  bisweilen  geschlitzten  Chinescnaugen  und 
dünnen  Lippenbärten  7)/*     Ein  anderer  Reisender,  J.  J.  v.  Tschudi®) 


1)  Morton,  Types  af  mankind.  p.  275. 

2)  Essai  politique  sur  la  Nonv.  Espagne.     Paris  1811.  tom.  I,  p.  3S1. 

3)  Reisen  in  die  Aequinoctialgegenden.     Stuttgart  1859.    Bd.  2.  S.  13. 

4)  Naturwissenschaftliche  Reisen.    Stuttgart  1870.    Bd.  i.    S.  313.    S.  128 

5)  The  Andes  and  the  Amazon.     London  1870.  p.  170. 

6)  Nautical  Magazine.     London  1867.  vol.  XXXVI,  p.  564. 

7)  R.' Burton.     Higblands  of  Brazil.     London  1869.  tom.  IL  p,  403. 
S)  Reisen  durch  Südamerika.     Bd.  2.  S.  299. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  431 

erklärt  wörtlich,  „er  habe  Chinesen  gesehen,  die  er  auf  den  ersten 
Anblick  für  Botocuden  gehalten  habe"  und  seitdem  theile  er  die 
Ueberzeugung  „dass  die  amerikanische  Race  von  der  mongolischen 
nicht  getrennt  werden  dürfe".  Sein  Vorgänger  St.  Hilaire')  fand 
bei  den  Malali  Brasiliens  schmale  schiefgestellte  Augen  und  stumpfe 
Nasen.  Von  den  Coroados  bemerkt  wiederum  Reinhold  HenseP), 
dass  ihre  Gesichtszüge,  namentlich  durch  die  vortretenden  Joch- 
beine einen  mongolischen  Typus  erhalten,  eine  schiefe  Stellung 
der  Augen  sei  jedoch  nicht  zu  bemerken.  Wohl  sollen  aber  die 
schiefen  Augenschlitze,  die  zu  den  guten  wenn  auch  nicht  strengen 
Merkmalen  der  mongolenähnlichen  Völker  gehören  allen  Guarani- 
stämmen  in  Brasilien  eigen  sein^).  Selbst  im  äussersten  Süden 
unter  den  Huillitschen  Patagoniens  fand  King  noch  sehr  viele  mit 
schief  gestellten  Augen"*). 

Vergebens  wird  man  auch  bei  solchen  Schriftstellern  welche 
die  Amerikaner  als  besondere  Race  hinstellen  nach  Unterscheidungs- 
merkmalen suchen,  die  sie  von  den  asiatischen  Mongolen  trennen 
würden  und  allen  gemeinsam  wären.  Das  straffe,  lange,  im  Quer- 
schnitt walzenförmige  Haar  fehlt  keinem  einzigen  Stamm.  Der 
Bartwuchs  ist  stets  spärlich,  mangelt  auch  wohl  gänzlich,  wie  das 
Leibhaar  5).  Die  Hautfarbe  schwankt  beträchtlich,  wie  wir  dies 
bei  einer  Ausbreitung  über  iio  Breitegrade  nicht  anders  erwarten 
dürfen,  nämlich  von  leichter  südeuropäischer  Bräunung  bei  den 
Botocuden  bis  zur  tiefsten  Dunkelung'  bei  den  Aymara^),  oder 
bis  zu  kupferfoth  bei  dem  sonorischcfii  Völkerstamm  7).  Doch  ist 
es  Niemanden  bisher  eingefallen  wegen  solcher  Farbenstufen  Racen- 
grenzen  zu  ziehen,  zumal  jeder  nur  denkbare  Uebergang  vertreten 


1)  Voyage  au  Brasil   tom.  I.  p.  424. 

2)  Zeitschrift  für  Ethnologie.     Berlin  1869.     Bd.  3.  S.  128. 

3)  d*  Orbigny,  1'  Homme  am^ricain.  p.  62. 

4)  Latham,  Varieties.  p.  415.  * 

5)  Dies  bemerkte  schon  der  Jesuit  Charlevoix  (Nouvelle  France,  tom. 
III,  p.  311)  und  Catlin  (Indianer  Nordamerikas.  S.  323),  sowie  neuerdings 
Musters  (Unter  den  Fatagoniem.  S.  172).  Wenn  unter  den  Comantschen  bärtige 
Männer  hin  und  wider  vorkommen  (Waitz,  Anthropologie,  Bd.  4.  S.  213) 
so  wird  derjenige  gewiss  nicht  überrascht  werjlen,  welcher  weiss,  wie  viele 
Spanierinnen  diese  Raubhorden  in  die  Sklaverei  geschleppt  haben. 

6)  S:  oben  S.  94. 

7)  Waitz,  Anthropologie.     Bd.  4.  S.  2CO. 


432  I^ie  amerikanische  Urbevölkerung. 

ist.  Die  Schädel  der  Amerikaner  zeigen  nicht  selten  vorspringende 
Kiefern,  aber  wie  bei  den  asiatischen  Mongolen  hält  sich  der 
Prognathismus  immer  in  massigen  Grenzen.  Pruner  Bey  *)  äussert» 
dass  die  Gestalt  der  amerikanischen  Schädel  bedeutend  schwanke. 
„Die  Köpfe  der  Botocuden,  fahrt  er  fort,  unterscheiden  sich  nicht 
wesentlich  von  den  chinesischen,  die  des  toltekischen  Völkerkreises 
nähern  sich  den  javanischen,  und  die  der  Neuseeländer  lassen  sich 
mit  denen  der  Rothhäute  vergleichen."  Wollten  wir  uns  auf 
Weickers  Schädelmessungen  berufen,  so  würden  die  Zahlen  für  die 
mittlere  Breite  von  74  bei  Brasilianern  bis  zu  80  bei  Cariben  und 
Patagoniern  heraufsteigen.  Sie  bieten  also  Schwankungen  wie  sie 
innerhalb  der  Gruppe  der  asiatischen  Mongolen  ebenfalls  vor* 
kommen.  Doch  hat  Barnard  Davis  gar  nicht  gewagt  Breiten-  und 
Höhenverhältnisse  für  die  Urbevölkerung  Amerikas  mit  einziger 
Ausnahme  der  Araukaner*)  anzugeben,  obgleich  er  über  eine  be- 
trächtliche Anzahl  andrer  Schädel  verfügte.  Auf  beiden  Festlanden 
wurden  nämlich  die  Köpfe  der  Kinder  künstlich  umgestaltet* 
Diess  geschah  in  Nordamerika  nicht  etwa  blos  bei  den  Flachköpfen 
der  Vancouverinsel  und  Oregons  2),  sondern  kam  selbst  unter 
den  Algonkinstämmen  im  Osten  der  Vereinigten  Staaten  vor^)* 
Im  südlichen  Festlande  huldigten  dieser  Mode  alle  Culturvölker 
der  Anden  und  daher  finden  wir  bei  Schädeln  der  Muysca,  der 
alten  Bewohner  Quito's  und  Perus  Breitenindices  die  bis  zu  100 
ja  über  100  reichen.  Gegenwärtig  lässt  sich  daher  gar  nicht  an- 
geben innerhalb  welcher  Procentsätze  die  Breite  und  Höhe  unver- 
dorbner amerikanischer  Schädel  schwankt,  wo  diess  aber  aus- 
nahmsweise bei  einzelnen  Stämmen  doch  gelang,  zeigte  sich  ent- 
weder Mesocephalität  oder  Brachycephalität,  wie  es  zu  erwarten 
war,  wenn  sie  zu  der  mongolischen  Race  gehören  sollten. 

Die  schmal    geschlitzten    und    häufig    schief  gestellten  Augen 
die  in  beiden  Festlanden  bis  zum  äussersten    Süden  bei   einzelnen 


1)  Resultats  de  craniom^trie,  in  Mdm.  de  la  Soc.   d'Anthropologie,  tom. 

II,  p.  13- 

2)  Breite  80,  Höhe  80.  Thesaurus  craniorura.  p.  357. 

3)  S.  oben  S.  425. 

4)  Die  Franzosen  benannten  deshalb  Stämme  mit  künstlich  und  zwar 
ganz  nind  gestalteten  Schädel  tetes  de  boule.  Charlevoix,  Nouvelle  France, 
tom.  III,  p.  324« 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  axx 

Stämmen  beobachtet  werden,  dürfen  als  ein  mongolisches  Ahnen- 
merkmal (Atavismus)  gelten.  Wenn  sie  auch  nicht  zu  den 
strengen  Wahrzeichen  aller  nord asiatischen  Völker  gehören,  so 
sind  sie  doch  nur  innerhalb  der  mongolischen  Race  anzutreffen, 
nachdem  Fritsch  überzeugend  bewiesen  hat,  dass  sie  bei  Hotten- 
totten nicht  vorkommen  und  ihr  beschränktes  örtliches  Auftreten 
in  Australien  einer  Blutmischung  mit  Malayen  zugeschrieben  werden 
darf^).  .  Nur  durch  ein  einziges  Körpermerkmal  entfernen  sich 
manche  amerikanischen  Stämme  von  den  asiatischen  Mongolen, 
Diesen  ist  nämlich  ein  niedriger  Nasensattel  sowie  eine  kleine  auf- 
gestülpte Nase  eigen.  Bei  den  Jägerstämmen  der  Vereinigten 
Staaten,  namentlich  bei  Häuptlingen  begegnen  wir  dagegen  Nasen 
mit  hohem  Rücken.  Ferner  ist  es  ja  bekannt,  dass  die  Mexicaner 
und  andre  Culturvölker  Mittelamerikas  den  Gesichtern  ihrer  Götzen 
sehr  stark  vortretende  Nasen  verliehen,  so  dass  also  auch  unter 
ihnen  hin  und  wieder  Leute  mit  einer  solchen  bevorzugten  Bildung 
aufgetreten  sein  müssen.  Auch  in  Südamerika  bis  unter  hohe 
Breiten  kommt  diese  Abweichung  von  dem  Mongolentypus  vor^ 
denn  sowohl  unter  den  ausgestorbnen  Abiponen  wie  unter  den 
gegenwärtigen  Patagoniern  gehörten  und  gehören  sogenannte 
Adlernasen  nicht  zu  den  Seltenheiten^).  Doch  kann  eine  nuf 
örtlich  auftretende  Besonderheit  nicht  als  Racenmerkmal  gelten, 
sonst  müsste  sie  allen  Eingebornen  der  neuen  Welt  zukommen. 

Eine  völlige  Abtrennung  der  amerikanischen  von  den  asiati- 
schen Mongolen  könnte  sich  höchstens  auf  die  innere  Verschieden- 
heit der  Sprachen  stützen.  Die  grossen  Abschnitte  in  unserm 
Lehrgebäude  sind  jedoch  nur  auf  Unterschiede  der  Körpermerk- 
male begründet  worden.  Auch  drängt  es  uns  jetzt  zu  fragen,  ob 
nicht  der  Sprachtypus  der  Amerikaner  gerade  darauf  hindeute, 
dass  sie  vor  ihrer  Einwanderung  in  die  neue  Welt  mit  uralaltaischen 
Völkern  auf  einer  gemeinsamen  Entwicklungsstufe  gestanden  sind, 
Eigenthümlich  ist  den  amerikanischen  Sprachen  wie  wir  sahen  ^), 
dass.  bei   ihnen    die    Satzbildung  in    der  Wortgestalt  aufgeht,  wes- 


i)   S.  oben  S.  339. 

2)"  Dobrizhoffer,  Geschichte  der  Abiponer.    Bd.  2.  S.  24.     Musters, 
Unter  den  Patagoniern.    Leipzig  1873.     S.  172. 
3)  S.  oben  S.  127. 
Pesckel,  Völkerkunde.  ^g 


A^A  Die  amerikanische  Urbevölkerung. 

• 
halb  man  sie  auch  poly synthetische  genannt  hat.     Ist  das   richtig, 

so  beging  man  bisher  einen  grossen  Fehler  der  Sprache  der 
Innuit  eine  ganz  vereinsamte  Stellung  anzuweisen.  Wie  die 
uralaltaischen  Sprachen  bedient  sie  sich  zur  Sinnbe^renzung  nur 
der  Suffixe,  zugleich  aber  ist  sie  befähigt  einen  vielgliedrigen  Satz 
in  ein  einziges  Wort  zusammenzufassen,  also  polysynthetisch  zu  ver- 
fahren. Der  Grönländer  bildet  ein  einziges  Wort,  wenn  er  den  Ge- 
danken ausdrücken  will:  Er  sagt  dass  auch  Du  eilig  hingehen 
wollest,  um  Dir  ein  schönes  Messer  zu  kaufen  ^).  Nicht  rasch  genug 
können  wir  jedoch  hinzusetzen,  dass  die' lockere  Zusammenfügung 
von  Wurzeln  noch  nicht  der  echten  Einverleibung  gleiche,  da  in 
den  amerikanischen  Sprachen  die  zusammengefügten  Sylben  stets 
um  etliche  Laute  verkürzt  werden.  Die  höchste  Ausbildung  der 
Einverleibung  schreibt  Steinthal  wie  wir  sahen*)  dem  Nahuatl  in 
Mexico  zu,  welches  das  Object  zwischen  Subject  und  Thatwort 
einschiebt  und  alle  drei  zu  einem  Ganzen  zusammenschmilzt. 
Dieses  Verfahren  ist  aber  nicht  den  amerikanischen  Sprachen  aus- 
schliesslich eigen,  sondern  kommt  auch  in  der  uralaltaischen  Familie 
und  zwar  bei  den  ugrischen  und  bulgarischen  Gruppen  im  Magyari- 
schen, Ostjakischen,  Wogulischen  und  im  Mordwinischen  vor. 
•In  der  letztgenannten  Sprache  und  zumal  in  der  IVIokscha  Mund- 
art sind  die  Verbalflexionen  und  objectiven  Personalpronomina 
völlig  nach  mexicanischem  Muster  auf  das  dichteste  verwebt^). 
Diese  Thatsache  belehrt  uns,  dass  im  Schoosse  von  streng  suffi- 
girenden  Sprachen  etliche  zur  Einverleibung  fortschritten  und  dies§ 
zeigt  uns  eine  innere  Verwandtschaft  der  amerikanischen  mit  den 
uralaltaischen  Sprachen. 

Ausserdem  fehlt  es  nicht  an  einer  Fülle  von  Erfindungen,  Ge- 
bräuchen und  Mythen  welche  die  Nordasiaten  mit  den  Eingebor- 
nen  Amerikas    theilen.     Wir    wollen   jedoch  keinen  Werth  darauf 


i)  Nämlich: 
Messer   schön    kaufen    hingehen    eilen    wollen    ebenfalls    Du    auch  er  sagt: 
sauig'        ik-        stnt'       ariartok'    asuar-    omar-         y-         otit-     tog-       og, 
David  Cranz,  Historie  von  Grönland.  Buch  III,  cap.  6.  §  44.  Bd.  i.  S.  286. 

2)  S.  oben  S.  128. 

3)  Im  Mokscha  heisst  palasamak  du  küssest  mich,  und  palaftärämak, 
wenn  du  mich  nicht  geküsst  haben  würdest.  Ahlquist,  Mokscha-  mord- 
winische Grammatik.     Petersburg  1861.     S.  60. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  ^^c 

legen,  dass  das  Lederzelt  auf  beiden  Festlanden  wiederkehrt,  weil 
zu  einer  solchen  Erfindung  wenig  Nachdenken  gehört.  Auch  dass 
der  sibirische  Schamane  dem  nordamerikanischen  Medicinmann  in 
allen  Zügen  gleicht,  hat  wenig  Gewicht,  weil  auch  die  Schamanen 
andrer  Welttheile  ihnen  ähnlich  sind.  Ernster  stimmt  uns  schon 
der  Umstand,  dass  die  Waffentänze  und  Schamanenbräuche  der 
Ostjaken  sich  bis  auf  die  kleinsten  Besonderheiten  bei  den  Kolu- 
schen  wiederholen*).  An  Märchen  der  alten  Welt,  die  sich  nach 
der  neuen  verirrt  haben  ist  kein  Mangel.  Unter  andern  tritt  die 
Erzählung  von  einem  Abenteurer  der  an  einem  hohen  Baum  bis 
in  den  Himmel  klettert  und  sich  wiederum  bald  an  einem  Riemen, 
bald  an  einem  Strohseil,  bald  an  Haarflechten,  wohl  auch  an  der 
Rauchsäule  einer  Hütte  auf  die  Erde  niederlässt,  bei  ugrischen 
Volksstämmen*)  und  bei  den  athabaskischen  Hundsrippen-Indianern 
im  äussersten  Norden  der  neuen  Welt  auf^).  Märchen  werden 
indessen  wie  geflügelte  Samen  oft  über  weite  Strecken  verweht 
und  zählen  wenig  wenn  es  sich  um  Beweise  gemeinsamer  Abkunft 
handelt.  Immerhin  deuten  sie  auf  einen  alten  Verkehr.  Weit 
weniger  wahrscheinlich  ist  es  aber,  dass  abergläubische  Vorschriften 
eingetauscht  worden  seien.  Nun  halten  es  die  Itelmen  Kamtschatkas 
für  eine  grosse  Sünde  ein  brennendes  Holzscheit  anders  anzu- 
fassen, als  mit  den  Fingern,  namentlich  nicht  mit  der  Messer- 
spitze*) und  ebenso  ist  den  Sioux  richtiger  den  Dacota  verboten 
glühende  Brände  oder  Kohlen  mit  einer  Ahle  oder  einem  Messer 
aus  der  Gluth  zu  nehmen^).  Die  Stämme  an  der  Hudsonsbai, 
berichtet  Charlevoix  ^),  erweisen  den  Bären  grosse  Ehrfurcht. 
Haben  sie  ein  solches  Thier  getödtet,  so  wird  sein  Kopf  unter 
Feierlichkeiten  bemalt  und  dem  Erlegten  durch  Absingen  von 
Lobliedern .  gehuldigt.  In  ganz  Sibirien  finden  wir  die  Verehrung 
des  Bären  so  bei  den  Giljaken    am  Amur  7),    bei    den  Aino*),  bei 


i)  Adolf  Erman,  Reise  um  die  Erde.    Berlin  1833.    Bd.  i.   S.  675. 

2)  Ahlquist,  1.  c.  p.  109. 

3)  Tylor,  Urgeschichte.   S.  443. 

4)  Stell  er,  Kamtschatka.     S.  274. 

5)  Tylor,  Urgeschichte.     S.  354. 

6)  Nouvelle  France,  tom.  III,  p.  300. 

7)  Petermann's  Geograph,  Mittheilungen.  1857.     S.  305. 

8)  Fr.  Müller,  Allgemeine  Ethnographie.    S.  195. 

28» 


436  Dio  amerikanische  Urbevölkerung. 

den  Jenissei  -  Ostjaken '),  endlich  bei  den  echten  Ostjaken,  die 
sein  Fell  an  einen  Baum  hängen,  ihm  'alle  erdenklichen  Huldig- 
ungen erweisen  und  das  Thier  um  Verzeihung  bitten,  dass  sie  es 
getödtet  haben.  Auch  schwören  sie  beim  Bären  ihre  Eide'), 
Wollte  man  auch  diese  Ue  berein  Stimmung  nur  einem  alten  Verkehr 
zuschreiben,  so  wäre  es  doch  im  höchsten  Grade  bedenklich,  dass 
durch  einen  aolchen  Verkehr  sich  nicht  auch  nützliche  Erfindungen 
verbreitet  hätten,  wie  die  Anfertigung  des  Thongeschirres,  während 
doch  die  llelmen  Kamtschatkas,  die  Altuten  und  die  Koluschen, 
theilweise  auch  noch  die  Assiniboin  zur  Zeit  der  ersten  euro- 
päischen Besuche  nur  mit  Steinen  kochten^). 

Dass  der  amerikanische  Mensch  seinen  körperlichen  Merk- 
malen zufolge  einer  einzifjen  Race  angehöre,  darüber  hat  sich 
glücklicherweise  kein  Streit  erhoben,  doch  lassen  sich  bei  den  Be- 
wohnern beider  Festlandshälften  auch  manche  Gemeinsamkeiten 
in  den  geistigen  FamQienzügen  nachweisen.  Der  Ue  berein  Stimmung 
der  nord amerikanischen  Medicinraänner  mit  den  brasilianischen 
Schamanen  wurde  bereits  gedacht').  Die  merkwürdigen  Masken- 
spiele denen  Spix  und  Martius,  sowie  neuerdings  Bates  bei  den 
Tecunastämmen  am  Amazonas  beigewohnt  haben  ^),  trafen  wir 
schon  bei  den  Koluschen*),  sie  finden  sich  wieder  bei  den  Aht 
der  Vancouverinsel')  und  bei  den  Moqui Indianern  der  „sieben 
DBrfer"8),  Geschlechtlichen  Verirrungen  hassens würdiger  Art,  näm- 
lich verbunden  mit  dem  Auftreten  von  Männern  in  Frauen  kl  ei  düng, 
begegnete  Hr.  v.  Martins  bei  den  Guaycuru  in  den  Laplata- 
staaten  ^),  die  ersten  spanischen  Entdecker  bei  den  Volke rschaflet» 


1)  Caslrfn,  EthnotogiscliG  Vorlesungen.     5,  SS. 

2)  Pallas,  Voj-apes  tom.  IV,  p.  75.  p.  85.     A.  Erman,  (Rei- 
Erde.     Berlin  1833.     Bd.  i.  S.  5;o.l  berichtet  gani  AcbnlJches. 

i)  S.  oben  S.  171. 
4]  S.  oben  S.  275. 

5)  Martius,  Ethnographie.  Bd.  i.  S.  445.    Bates.   Am  Ama/oi 
Leipzig  [866.     S.  409. 

6)  S.  oben  S.  427. 

71  Whymper,  A]i.ska,     p.  58. 
8)  Waili.  Anthropologie,    Bd.  4.     S.  208. 
,        9)  Eihnogrophie,  B.l.  i.  S.  75. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  ^yj 

auf  der  Landenge  von  Darien*)  und  Cabeza  de  Vaca*)  bei  den 
Stämmen  in  Louisiana  und  Texas,  wobei  übrigens  wieder  zu  er- 
innern ist,  dass  wir  auf  diese  Laster  bei  allen  Beringsvölkern, 
selbst  bei  den  Tschuktschen  an  dem  sibirischen  Eismeere,  genau 
in  der  nämlichen  Art  gestossen  sind  3).  Auch  unter  den  Jäger- 
stämmen der  Vereinigten  Staaten  kommen  Beispiele  von  Männern 
in  Frauenkleidung  vor  und  zwar  sehr  merkwürdiger  Weise  bei  den 
alten  lllmois,  die  nach  ihren  Ueberlieferungen  von  Westen  her 
in  ihre  späteren  Sitze  eingewandert  sein  wollen^).  Zu  den  Eigen- 
thümlichkeiten  der  Indianer  gehören  die  vorschriftlichen  Anreden 
der  Völker  untereinander,  wie  sich  die  Delawaren  von  ihren  Nach- 
barn durch  Verträge  den  Titel  Grossväter  hatten  zusichern  lassen 
und  die  Irokesen  den  besiegten  Huronen  die  Bedingung  auferlegten, 
künftig  als  jüngere  Brüder  angesprochen  zu  werden  5),  In  Brasilien 
begegnen  wir  den  näjnlichen  Bräuchen,  denn  auch  dort  reden  sich 
die  Horden  als  Grossväter  oder  als  Oheime  an.  Bei  den 
Mexicanern  und  den  Bewohnern  der  Antillen  kommen  Sagen  vor, 
dass  die  belebten  Geschöpfe  aus  Höhlen  hervorgegangen  seien 
und  die  nämliche  Rolle  spielen  die  Höhlen  wieder  in  den  Schöpf- 
ungssagen der  Tehueltschen^).  Diese  Beispiele  würden  schon  ge- 
nügen um  eine  Geistesverwandtschaft  zwischen  den  Bewohnern 
der  beiden  Festlande  nachzuweisen,  ausserdem  aber  haben  wir 
noch  die  Aehnlichkeit  im  Bau  der  Sprachen,  die  auf  eine  gemein- 
same Abstammung  hindeutet. 

Es  sei  ims  nun  verstattet  zunächst  einen  Blick  auf  die  Erd- 
räume zu  werfen,  welche  die  Amerikaner  inne  haben.  Wenn 
die  Bewohner  der  alten  Welt  zu  einer  viel  grösseren  Beherrschung 
der  Natur  gelangt  waren,  als  die  Bewohner  der  neuen  zur  Zeit 
wo  beide  in  Berührung  traten,    so  schrieb  man  dies  bisher  aus- 


i)  Gomara,    Hist.  de  las  Indias,  cap.  68.    Petrus   Martyr,  De  orbe 
novo.    Dec.  III,  cap.  i. 

2)  Ramusio,  Navigation!  et  Viaggi.     Venetia  i6o6.  tom.  III.    fol.  270. 
verso. 

3)  S.  oben  S.  424.  not.  5.  S.  427. 

4)  Charlevoix,  Nouvelle  France,  tom.  III,  p.  303. 

5)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  3.  S.  22. 

6)  Musters,  Unter  den  Patagoniern.     Jena  1873.     S.  99. 


.^8  Die  amerikanische  Urbevölkerung. 

schliesslich  der  sichtbar  reicheren  Gliederung  und  der  mannigfal- 
tigen Individualisirung  des  Abendlandes  zu.  Diese  Begünstigung 
war  jedoch  nur  auf  zwei  Räume  der  alten  Welt  beschränkt,  näm- 
lich auf  Europa  sammt  den  asiatischen  und  afrikanischen  Mittel- 
meergesladen  und  auf  den  Südosten,  da  wo  sich  Asien  und  Australien 
durch  Halbinseln  und  Inselketten  zu  nähern  suchen,  ohne  dass 
diese  letzteren  Räume  jemals  eine  besonders  hervorleuchtende  Ge- 
sittung beglückt  hätte.  Man  darf  sich  sogar  bedenken  ob  nicht, 
als  Ganze  verglichen,  die  neue  Weit  günstiger  gegliedert  erscheine 
als  die  alte.  An  Zierlichkeit  der  Umrisse  und  an  anmuthiger 
Schlankheit  erweckt  der  Anblick  des  Landes  auf  der  sogenannten 
westlichen  Halbkugel  eine  viel  grössere  ästhetische  Befriedigung 
als  die  etwas  unbehilflichen  Ländermassen  der  alten  Welt.  Wenn 
wir  aber  auch  in  dem  senkrechten  Bau  und  der  wagerechten 
Gliederung  Euiopa's  einen  genügenden  Aufschluss  finden  wesshalb 
die  abendländische  Gesittung  so  beträchtlich  alles  überragte  was 
sich  in  Amerika,  an  Cultur  im  Jahre  1492  vorfand,  so  passt  diese 
Erklärung  gar  nicht  zu  der  Thatsache  dass  auch  eine  fast  ebenso 
beträchtliche  Ueberlegenheit  in  China  sich  entwickeln  konnte,  wo 
die  Vortheile  einer  glücklichen  Gliederung  nicht  vorhanden  waren 
oder  erst  zur  Geltung  kamen  als  die  dortige  Cultur  längst  schon 
höher  stand  als  etwa  die  Gesittung  im  mexicanischen  Anähuac  oder 
im  Reiche  der  peruanischen  Inca. 

Es  müssen  daher  den  verschiedenen  Gebieten  der  alten  Welt 
andere  Vorzüge  gemeinsam  sein,  weiche  die  Erziehung  der  Menschen 
weit  mächtiger  förderten  als  diess  in  den  beiden  Amerika  der  Fall 
gewesen  ist.  Befremden  muss  es  aber  wohl  jeden  dass  noch  nie- 
mand die  Ursache  der  Ueberlegenheit  darin  gesucht  und  gefunden 
hat  worin  sie  doch  am  sichtbarsten  vor  uns  Hegt,  nämlich  in  der 
grösseren  Geräumigkeit.  Asien  allein  ist  ein  wehig  grösser  als  die 
neue  Welt,  und  da  Europa  und  Afrika  zusammen  fast  so  gross 
sind  als  Asien,  so  folgt  daraus,  dass  die  neue  haln  so  geräumig 
ist  als  die  alte  Welt.  Um  die  Werthe  genauer  übersehen  zu  lassen, 
benützen  wir  die  Ziffern  in  E.  Behms  geographischem  Jahrbuche"). 
Dort  finden  wir  für  die: 


Die  arocrikanische  Urbevölkerung.  42g 

Alte  Welt:  Neue  Welt: 

Europa  178,150  Q.  M.  Nord-Amerika    416,450  Q.  M. 

Afrika  543.570       „  Süd-Amerika      327,369      „ 

Zusammen    721,720  Q.  M.  Zusammen     743,819  Q.  M. 

Asien  814,995  Q.  M. 

Zusammen  1,536,7 15  Q.  M. 

Indem  wir  vorläufig  noch  die  Augen  schliessen  in  welchem 
Sinne  der  doppelt  grössere  Raum  der  alten  Welt  anders  als  in 
der  neuen  vertheilt  sei,  wollen  wir  uns  zuvor  über  die  nächsten 
Folgen  der  grösseren  Geräumigkeit  klar  werden.  Vor  allen  Dingen 
dürfen  wir  vermuthen  dass  aflf  dem  doppelt  grösseren  Raum  die 
doppelt  grössere  Anzahl  von  Pflanzenarten  und  von  Thierarten 
vorhanden  sein  möge.  Bei  dem  gegenwärtigen  unfertigen  Zustand 
der  botanischen  Statistik  musste  leider  ihr  bester  Kenner,  der 
jüngere  Decandolle,  ausdrücklich  erklären  dass  sich  jetzt  noch 
nicht  die  Zahl  der  Gewächsarten  in  der  alten  und  in  der  neuen 
Welt  vergleichen  liesse,  doch  hätten  die  Botaniker  das  berech- 
tigte Vorgefühl,  als  ob  sich"  schliesslich  ergeben  werde,  dass 
Amerika  wegen  der  vorherrschenden  Richtung  seiner  Gebirge  von 
Nord  nach  Süd  im  Verglei-ch  zu  seiner  Grösse  etwas  reicher 
an  Pflanzenarten  sein  möchte  als  die  alte  Welt.  Dieses  Vorgefühl 
würde  uns  also  auf  die  Erkenntniss  vorbereiten  dass  Amerika,  ob- 
gleich um  die  Hälfte  an  Raum  kleiner,  doch  nicht  um  die  Hälfte 
an  Pflanzenarten  ärmer  sei  als  die  alte  Welt.  Immerhin  aber 
bleibt  die  alte  Welt  reicher. 

Ist  aber  diese  reicher  an  wilden  Arten,  so  wird  sie  wohl, 
schliessen  wir  weiter,  auch  reicher  sein  an  Culturgewächsen.  Bis- 
weilen hört  man  behaupten  die  neue  Welt  habe  an  bezähmten 
Pflanzen  und  Thieren  der  alten  nichts  zugeführt  als  den  Mais, 
die  Kartoffel,  den  Truthahn,  das  Meerschweinchen  und  die  Moschus- 
ente. Wir  werden  uns  jedoch  rasch  überzeugen,  dass  die  Armuth 
der  neuen  Welt  nicht  so  gross  sei  als  man  sie  darzustellen  liebt. 
Wenn  wir  uns  nämlich  nur  an  die  wichtigsten  Culturpflanzen 
halten,  so  fallen  auf 


die  Alte  Welt. 

die  Neue  Welt. 

Mehl-Hülsenfrüchte  u.  a. 

Weizen 

Mais 

Roggen 

Mandiocca 

Gerste 

Kartoffel 

Hafer 

Chenopodium  Quinoa 

440 


Die  amerikanische  Urbevölkerung. 


die  Alte  Welt :                                                die  Neue  Welt : 

Hirse 

Batate 

Buchweizen 

Negerhirse 
Reis 

Linsen 

Erbsen 
Wicken 

Mezquitebaum. 

Bohnen 

Igname 
Banane 

Igname  (?) 
Banane  (?) 

Obstsorten  der  gemässigten  Zone. 

Rebstock 

Catawbatraube 

Aepfel 
Birnen 

Pflaumen 

Kirschen 

Aprikosen 
Pfirsiche 

'Orangenarten 

Feigen 

Datteln. 

• 

Pflanzen  mit  Faserstoff. 

Baumwolle 

Baumwolle 

Flachs 

Agave  americana 

Hanf 

Maulbeerbaum 

mit  dem  Seidenwurm. 

Gewürze. 

Pfeffer 

Vanille 

Ingwer 
Zimmet 

Span.  Pfeffer  {Capsicum  annuum) 

Muscatnuss 

Gewürznelken 

Zuckerrohr. 

Narcotische  Genussmittel. 

Thee  Paraguaythee 

Kaffee  Cacao 

Mohn  (Opium)  Tabak 

Hanf  (Hadschisch)  Coca; 

Auf  beiden  Seiten  ist  die  Liste  lückenhaft,  allein  wenn  wir 
auch  das  minder  wichtige  aufzuzählen  fortfahren  wollten,  so  würde 
sich  doch  immer  wieder  der  nämliche  Eindruck  erneuern,  nämlich 
dass  die  alte  Welt  der  menschlichen  Gesellschaft  durch  ihre 
Culturgewächse    weit    mehr    Dienste    geleistet    hat    als    die    neue. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  441 

Obendrein  haben  wir  die  Igname  der  neuen  Welt  ebenfalls  gut 
geschrieben,  obgleich  wahrscheinlicher  Hinterindien  ihr  Vaterland 
ist,  und  ebenso  gönnten  wir  ihr  die  wichtige  Banane,  weil  es 
immer  noch  Botaniker  gibt  die  sich  nicht  von  der  Ansicht  trennen 
können  als  sei  wenigstens  eine  Abart,  die  sie  als  Musa  paradisiaca 
unterscheiden  wollen,  ein  Geschöpf  der  neuen  Welt.  Wir  haben 
aus  Schonung  für  den  Leser  die  tropischen  Obstsorten  der  alten 
und  der  neuen  Welt  nicht  verglichen  und  überlassen  es  andern 
ZM  entscheiden,  ob  durch  ihren  gegenseitigen  Austausch  die  neue 
oder  die  alte  Welt  mehr  gewonnen  habe.  Wenn  wir  dagegen  in 
unsern  Obstrevieren  uns  umschauen,  begegnen  wir  nicht  einem 
einzigen  Geschenk  Amerika's.  Diess  beweist  jedoch  keineswegs 
dass  die  neue  Welt  in  dieser  Beziehung  kümmerlicher  von  der 
Natur  ausgestattet  sein  sollte  als  die  Östlichen  Festlande,  denn 
alle  unsere  Obstbäume  sind  in  ihrer  jetzigen  Gestalt  Gewerbs- 
erzeugnisse, die  durch  lange  Pflege,  sorgfaltige  Zuchtwahl  und 
künstliche  Vermehrung  veredelt  worden  sind.  Wer  wollte  also- 
verneinen,  dass  sich  nicht  auch  im  gemässigten  Amerika  Bäume 
und  Gesträucher  finden  möchten,  aus  deren  unschmackhaften 
wilden  Früchten  durch  geduldige  Zucht  sich  ein  geniessbares  Obst 
erziehen  Hesse? 

Bei  einjährigen  Pflanzen  die  sich  durch  Samen  vermehren, 
ist  aber  die  menschliche  Cultur  meistens  machtlos  gewesen.  Zu 
ihnen  gehören  unsere  Getreide-Arten,  von  denen  wir  eine  ganze 
Reihe  besitzen,  während  Amerika  allein  nur  den  Mais  hervor- 
gebracht hat  Da  sie  nach  ihren  gemeinsamen  Familienzügen  zu 
den  Gräsern  gehören,  so  ist  es  nicht  unwichtig,  dass  nach  Decan- 
doUe's  statistischen  Musterungen  die  alte  Welt,  vorzüglich  Asien, 
an  Gramineen  vergleichsweise  reicher  ist  als  die  neue,  denn  wäh- 
rend sie  dort  in  den  einzelnen  Pflanzengebieten  selten  10  Procent, 
gewöhnlich  nur  9,  ja  bisweilen  nur  7  Procent  aller  blühenden 
Arten  umfassen,  erheben  sie  sich  in  den  östlichen  Festlanden  ge- 
wöhnlich zu  10,  häufig  zu  12  Proc.  Unter  den  Grasarten  liebt 
das  Getreide  vorzugsweise  sonnige  Standorte,  die  neue  Welt  da- 
gegen ist  vergleichsweise  auf  viel  grösseren  Räumen  von  Waldland 
beschattet  als  die  alte. 

Ungleicher  noch  ist  der  diesseitige  und  jenseitige  Artenreich- 
thum  bei  den  Thieren.  Wenn  wir  in  einer  Uebersicht  nur  die 
beiderseitigen  Haustliiere  vereinigen,  d.  h.  Thiere  die  wirklich  ge- 


442  I^ic  amerikanische  Urbevölkerung. 

zähmt  worden  sind,  und  solche  von  denen  man  vermuthen  darf^ 
dass  sie  hätten  gezähmt  werden  können,  so  muss  die  Armuth  der 
neuen  Welt  jedem  dem  sie  neu  sein  sollte,  einen  tiefen  Eindruck 
hinterlassen.     Es  finden  sich  nämlich  in  der 

Alten  Welt:  Neuen  Welt: 

Renthier  Renthier 

Rinderarten  Bison 

Kamel        )  (  Llama 


Dromedar  )  (  Vicuna 

_  ,      .  (  Nabelschwein 

Schwem  j   ,Tr  i.      • 

(   Wasserschwein 

Elephant  Tapir 

Hund  Stummer  Hund 

Katze 

Schaf 

Ziege, 

Ross 

Esel 


Haushuhn 


(  Truthahn 


Hoccoshühner 


Gans 
Ente  Moschusente. 

Nicht  übersehen  sollte  man,  dass  bei  obigem  Vergleiche  von 
den  Culturtbieren  der  neuen  Welt  das  Renthier,  der  Bison,  der 
Truthahn  und  die  Moschusente  ausschliesslich  Nordamerika  ange-» 
hören;  ferner  dass  den  Hausthieren  der  alten  Welt  durch  ihren 
vielseitigen  wirthschaftlichen  Nutzen  ein  höherer  Rang  gebührt. 
Abgesehen  nämlich  dass  sie  alle  mehr  oder  weniger  wegen  ihres 
Fleisches  gezüchtet  werden,  finden  sich  darunter  als  Milcherzeuger 
das  Renthier,  das  Kamel,  das  Ross,  die  Ziege  und  das  Rind.  Wir 
könnten  selbst  das  Schaf  und  den  Esel  noch  hinzufügen,  wenn 
nicht  bei  ihnen  die  Milch  nur  einen  Nebengewinn  gewährte.  Mit 
WoUthieren  ist  Amerika  durch  seine  Llama -Arten  gut  versorgt; 
wir  haben  jedoch  das  Schaf,  die  Ziege,  das  Kamel,  das  Dromedar. 
Von  Last-  und  Arbeitsthieren  besass  die  neue  Welt  nur  das  Llama 
sowie  das  Renthier  und  den  Bison ,  wenn  die  beiden  letztern  be- 
zähmt worden  wären,  wir  dagegen  ausser  dem  Rind  und  dem 
Renthier  die  Kamele,  den  Esel,  das  Ross  und  den  Elephanten, 
vom  Hund  zu  schweigen,  den  die  Eskimo  wenigstens  als  Zugthier 
benutzt  haben.  Der  Mangel  an  Zugthieren  bedeutet  aber  dieAb* 
Wesenheit  des  Pfluges,    des  Schlittens   und  des  Wagens.     Da  nun 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  aax 

alle  oben  aufgezählten  Thiere  nicht  den  Wald,  sondern  Grasfluren 
bis  an  und  in  die  Wüste  bewohnen,  und  wir  die  neue  Welt  vor- 
zugsweise als  ein  Wald-  und  die  alte  vorzugsweise  als  ein  Steppen- 
land kennen  gelernt  haben,  so  ist  auch  erklärlich,  warum  ein 
grösserer  Artenieichthum  an  grasfressenden  Säugethieren  bei  uns 
sich  finden  konnte,  unter  denen  das  scharfe,  nach  seinem  Vortheil 
spähende  Auge  des  Menschen  bald  diejenigen  auswählte,  die  ihn 
nähren,  kleiden,  seine  Lasten  tragen  oder  seine  Arbeiten  verrich- 
ten konnten. 

Allen  denjenigen  die  sich  seit  Zimmermann  mit  der  Ortskunde 
der  Thiere  beschäftigt  haben,  ist  es  aufgefallen,  dass  die  alte  Welt 
an  grossen  und  an  kräftigen  Gestalten  unter  den  Säugethieren 
viel  reicher  sei  als  Amerika.  Das  grösste  Thier  Südamerika's  ist 
der  Tapir,  das  gewaltigste  des  nördlichen  Festlandes  der  graue 
Bär.  Es  fehlen  daher  der  neuen  Welt  unsere  grossen  Thierge- 
stalten,  der  Elephant,  das  Nashorn,  das  Nilpferd,  die  Giraffe,  das 
Kamel.  Nicht  minder  bezeichnend  ist  es  aber  wie  sich  andere 
Thiere  gegenüberstehen,  nämlich  in  der 

Alten  Welt:  Neuen  Welt: 

Löwe  Puma 

Tiger  Unze 

Krokodil  Alligator  • 

Katarrhine    Aflfen,    darunter  menschen-      platyrrhine  Affen  mit   Roll-  und 
ähnliche  nngeschwänzte  Greifschwänzen. 

Neben  unserm  Löwen  würde  der  feige  Puma  wie  eine  Jam- 
mergestalt erscheinen.  Wie  hätten  auch  so  kleine  Festlande  als 
Nord-  oder  Südamerika  sind  einen  so  fürstlichen  Waidmann  her- 
vorbringen können?  Wenn  unser  Dichter  den  Löwen  einen  Wüsten- 
könig nennt,  so  hat  er  uns  zu  einem  glücklichen  Worte  geholfen. 
Dem  Monarchen  gebührt  aber  auch  ein  königliches  Revier,  welches 
selbst  jetzt  noch,  vielfach  geschmälert,  durch  ganz  Afrika  und 
Vorderasien  reicht,  ehemals  aber  auch  europäische  Gebiete  mit 
einschloss.  Ebenso  hat  der  Tiger,  oder  der  Königstiger,  wie  man 
die  schauerlich  schöne  Thiergestalt  mit  Recht  nennt,  einen  halben 
Welttheil  zum  Revier,  denn  vom  kaspischen  Meer  streift  er  bis 
an  den  Amur,  wo  die  Russen  bei  ihrem  Vordringen  im  vorletzten 
Jahrzehnt  wahrnahmen,  dass  sein  Gebiet  bis  an  und  theilweise 
über  die  Grenzen  der  Pelzthiere  reiche,  südwärts  aber  ist  er  bis 
zur  äussersten  Spitze  Asiens  in  der  Halbinsel  Malaka  vorgedrungen, 


AAA  ^ie  amerikanische  Urbevölkerung. 

ja  er  durchschwimmt  sogar  einen  Meeresarm  um  auf  der  Insel 
Singapur  alljährlich  Hunderte  von  Menschen  zu  morden.  Was 
ihm  die  neue  Welt  entgegenzusetzen  vermag,  ist  die  kleinere, 
blutgierige,  aber  viel  minder  beherzte  Unze,  die  nur  aus  Noth- 
wehr  den  Menschen  anzugreifen  pflegt. 

,  Auch  sind  diese  Gegensätze    schon  längst    erkannt  und  klar 
in    dem    Satze    ausgesprochen    worden,    dass    die  neue  Welt  dem 
Pflanzen-,  die  alte  dem  Thierleben    günstiger  sei.     Der  Hochwald 
der    gemässigten     Zone    wie    der    tropische    sogenannte    Urwald 
schliessen    die    Entwicklung    einer    reichen    Fauna   aus,  oder  ver- 
statten nur  eine  solche  die  sich  zum    KUettern    oder    zum   Leben 
in  den  Wipfeln    entschliesst.     In    den    dichten    Forsten  am  West- 
abhang der  Felsengebirge    herrscht    nach  Viscount   Miltons  Schil- 
derung eine  tiefe  Stille,  die  nie  ein  Thierlaut  unterbricht.     Umge- 
kehrt  finden   wir   auf   den    Grasländern,    besonders    dort  wo  der 
Wald  nur  inselartig  noch  auftritt  oder    sich    parkartig  lichtet,  wie 
auf  den  Prairien  Nordamerika*s,  die  grossen  Bisonheerden,  in  Afrika 
Geschwader  von    Antilopen  und    Gazellen.     Der    grössere    Reich- 
thum  an  Steppen  in  der  alten  Welt  würde  uns  nun  wohl  erklären 
dass  das  Thierreich  auf  der  östlichen  Erdveste  an  Zahl  der  Arten 
und  der  Einzelwesen  das  amerikanische  übertreffe,  noch  nicht  aber 
dass  auch  die  grössten,  die  stärksten  und  die  klügsten  Thierarten 
sich  bei  uns  zusammengefunden  haben.     Und  doch  ist    auch  hier 
wiederum  die    grössere    Geräumigkeit    die  entscheidende  Ursache 
insofern  sie  einen    lebhafteren    Kampf  um  das  ^Dasein    zur  Folge 
hat.     Dieser  Kampf  sollte  uns  aber    nicht    sowohl    als    ein    noth- 
wendiges  Uebel,  sondern  weit    eher    als    ein    nothwendiger    Segen 
erscheinen,  weil  er  es  ist  der  die  Geschöpfe    stählt  und   schwäch- 
lich gewordene  Individuen  oder  Arten    zwingt  den    Schauplatz  für 
bessere  Erscheinungen  zu  räumen,  dass  er    überhaupt  genau    das 
in  der  Natur  vertritt,  was  wir  innerhalb  der    bürgerlichen    Gesell- 
schaft den  freien  Mitbewerb  nennen,  der  dem  vorwärts  Drängenden 
alle  Glücksgüter  zuwirft,  den  Zurückbleibenden  ohne  Mitleid  unter- 
drückt.    Für  unsere  Aufgabe  jedoch  ist  es  eine  besonders  wichtige 
Wahrnehmung,  dass  auf  kleinen  abgeschlossenen  Räumen,   wie  es 
die  Inseln  sind,  der  Kampf  um  das  Dasein  bald  erlischt  und  das 
Gleichgewicht  sich  so^lange  ungestört  erhält  bis  ein  neuer  Streiter 
auf  dem  Walplatz    erscheint.      Wir    dürfen    diesen  Satz    auch    so 
ausdrücken,  dass  die  Heftigkeit  des  Kampfes  um    das  Dasein  mit 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  445 

der  Grösse  der  Räume  wachse,  dass  er  also  auch  viel  nachdrück- 
licher auf  der  alten  wie  auf  der  neuen  Welt  geführt  worden  sei, 
dass  eben  als  eine  Folge  dieses  fortgesetzten  Vorwärtsdrängens 
und  einer  rascheren  Modernisirung  der  organischen  Gestalten  die 
grössten,  stärksten  und  klügsten  Geschöpfe  in  der  alten  Welt  sich 
finden  mussten.  Dass  auf  einem  grösseren  Räume  seltener  und 
nur  auf  kurze  Zeit  ein  Stillstand  des  Kampfes  eintreten  kann, 
lässt  sich  leicht  einsehen.  Lange  vor  Charles  Darwin  hatte  Leop. 
V.  Buch')  schon  bemerkt:  „Die  Einzelnwesen  der  Arten  auf  Fest- 
landen breiten  sich  aus  und  bilden  mit  der  wachsenden  Entfernung 
und  der  Aenderung  des  Standortes  Abarten  welche  in  den  grossen 
Abstand  den  sie  gewonnen  haben,  nicht  mehr  mit  den  andern  Ab- 
arten gekreuzt  und  zu  dem  Hauptypus  zurückgeführt,  endlich  zu 
dauernden  Eigenarten  werden,  die  auf  andern  Wegen  vielleicht 
neuerdings  wieder  andern  ebenfalls  veränderten  Abarten  begeg- 
nen, beide  als  sehr  verschiedene  und  nicht  mehr  sich  mischende 
Arten.  .  .  .     Nicht  so  auf  Inseln." 

Wenn  also  auf  einem  grösseren  Länderraum  der  Kampf  um 
das  Dasein  heftiger  entbrennt,  weil  jeder  Abart  rasch  eine  andere 
auf  der  Ferse  folgt,  so  besitzen  wir  darin  die  einfachste  Erklärung 
weshalb  die  Geschöpfe  der  alten  denen  der  neuen  Welt  einen  Vor- 
sprung abgewonnen  haben,  denn  nicht  allein  dass  die  Quadrat- 
meilenzahl der  Ländermassen  auf  unserer  Seite  doppelt  so  gross 
ist,  muss  man  auch  beachten  dass  Amerika  in  zwei  völlig  getrennte 
Schlachtfelder,  in  zwei  Festlande  mit  gesonderten  Naturreichen, 
zerfallt,  und  dass  jedes  dieser  Festlande  wiederum  mehr  von 
Norden  nach  Süden  sich  ausdehnt,  anstatt  wie  die  Ländermassen 
in  der  alten  Welt  von  West  nach  Ost  zu  streben.  Beim  Bau  der 
neuen  Welt  herrscht  die  Neigung  möglichst  viele  Breitengrade  in 
beiden  Halbkugeln  zu  bedecken,  in  der  alten  Welt  das  Bestreben 
möglichst  viel  Längengrade  unter  gleichen  Polhöhen  zu  durchlaufen. 
Da  nun  die  meisten  Arten  und  Gattungen  der  beiden  Reiche 
zwischen  Polar-  und  Aeqöatorialgrenzen  (richtiger  zwischen  isother- 
mischen Maximal-  und  Minimalgrenzen)  eingefangen  bleiben,  so 
wird  auf  der  alten  Welt  jeder  Einzelart  offenbar  ein  viel  grösserer 
Spielraum  ^eröffnet  als  in  der  neuen.  Wie  beträchtlich  die  Ge- 
räumigkeit   des  Kampfplatzes   in   der   alten  Welt  zunimmt  wegen 


I)  Physikal.  Beschreibung  der  canarischen  Inseln.  Berlin  1825.  Bd.  i.  S.  133. 


725 

d. 

S- 

Meilen. 

575 

» 

450 

» 

I450 

if 

l620 

n 

1690 

•1 

^^6  I^ie  amerikanische  Urbevölkerung. 

der    ostwestlichen    Erstreckung    der    grossen   Axe    gewahrt    man 

aus  nachstehendem  Vergleiche  der  Grössenverhältnisse  unter  gleichen 

Breiten.     Es  beträgt  die  Ausdehnung  von  West  noch  Ost: 

in  Nordamerika 
unter  50*  n.  Br.  Parallel    der   Vancouverinsel    und    Neu- 
fundlands 
„     40*      „      Parallel  von  Philadelphia 
I»     30*      ,i      Parallel  von  Xew-Orleans 

in  der  alten  Welt 
„     50*      f,      Parallel  der  Südwestsspitze  Englands 
„     40*      ,f      Parallel  von  Neapel  und  Peking 
I»     30*      »      Parallel  von  Kairo 

Wäre  es  aber  begründet  dass  auf  grösseren  Räumen  der 
Kampf  um  das  Dasein  mit  grösserer  Erbitterung  geführt  werde, 
so  müssten  auch  die  Sieger  auf  dem  geräumigen  Walplatz  den 
Siegern  auf  dem  engeren  Räume  überlegen  sein.  Sollten  also 
beispielsweise  Gewächse  der  alten  Welt  heimlich  in  der  neuen 
landen,  oder  sollten  sie  dort  aus  der  Aufsicht  des  Menschen,  das 
heisst  aus  Gärten  ins  Freie  entspringen,  so  müssten  sie  viel  rüstiger 
die  amerikanischen  Arten  verdrängen  als  umgekehrt  amerikanische 
Arten  auf  der  östlichen  Erdveste  unsere  Gewächse;  mit  andern 
Worten:  wiide  oder  verwilderte  Gewächse  Europa's  sollten  in 
Amerika  viel  rascher  sich  verbreiten  als  amerikanische  in  Europa 
oder  überhaupt  in  der  alten  Welt.  Und  wirklich  bestätigt  auch 
die  Erfahrung  alle  Forderungen  des  Lehrsatzes,  haben  doch  selbst 
transatlantische  Botaniker  Amerika  den  Garten  für  europäisches 
Unkraut  genannt.  Von  Buenos-Ayres,  ihrem  Landungsplatze,  aus 
haben  wilde  Gewächse  Europa's,  wie  der  Schneckenklee,  die  Marien- 
distel, die  Kardonen-Artischoke  meilenweit  die  Steppen  bekleidet, 
und  die  einheimischen  Gräser  müssten  dort  vor  unsern  Raigras- 
arten  (Lolium  perenne  und  Z.  multiflorunt)  sowie  vor  Hordeum  maxi- 
mum  und  Ä  pratense  zurückweichen.  In  Nordamerika  aber  hat 
einige  Küstenstreifen  das  kleinblumige  Wollkraut  und  die  gemeine 
Brunelle  siegreich  besetzt.  Ueberhaupt  sind  seit  1492  in  Amerika 
138  Arten  aus  Europa  und  8  aus  anderen  Welttheilen  eingedrungen, 
in  Europa  aus  allen  Welttheilen  nur  38  Gewächse. 

Im  Stillen  wird  bereits  jeder  geneigte  Leser  auch  in  der  un- 
widerstehlichen Ausbreitung  der  Racen  unserer  Erdveste  über  die 
neue  Welt  nur  eine  Wiederholung  des  siegreichen  Auftretens 
unserer    sogenannten  Unkräuter    gefunden    haben.     Recht    lebhaft 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  447 

entbrannte  der  Kampf  um  das  Dasein  bei  den  grossen  Wande- 
rungen, wie  sie  sich  nur  auf  der  östlichen  Erdveste  zutragen 
konnten.  Gewöhnlich  werden  allerdings  die  Einbrüche  roher  Völker- 
horden in  die  Gebiete  gesitteter  Völker  als  grosse  Drangsale  der 
Menschheit  angesehen.  Vielleicht  genügt  aber  ein  wenig  Nach- 
denken zu  der  Ueberzeugung,  dass  die  meisten,  wenn  nicht  alle, 
erspriesslich  gewesen  sind.  Einstweilen  erinnern  wir  nur  an  die 
vorletzte  dieser  grossartigen  Erscheinungen,  nämlich  an  den  Ein- 
bruch der  Mongolen,  die  sich  von  ihrer  Heimat  am  Onon  und 
Kerulün  im  sibirischen  Daurien  in  unglaublich  rascher  Zeit  bis  an 
die  Donau  ergossen,  und  deren  Auftreten  für  Europa  wenn  nicht 
in  gleichem  Maasse  doch  in  ähnlichem  Sinne  günstig  wirkte,  wie 
die  plötzliche  Ausbreitung  der  Araber,  Wo  solche  Kämpfe  um 
das  Dasein  sich  entzünden,  wird  unser  Geschlecht  ruckweise  einer 
höheren  Entwickelung  näher  gebracht,  sie  mögen  endigen  wie  sie 
wollen,  denn  entweder  gelingt  es  den  älteren  Culturvölkern ,  dem 
Vordringen  der  neuen  Völkerfluth  eine  Mauer  zu  ziehen ,  und  sie 
erstarken  während  der  Bewältigung,  oder  es  gilt,  wenn  sie  aus 
Schwäche  unterliegen,  die  Regel,  dass  der  Verdrängende  rüstiger 
gewesen  sein  müsse,  als  der  Verdrängte.  Stürzt  selbst  eine  edle 
Cultur  in  Trümmer,  werden  ihre  Herrlichkeiten  vom  Erdreich 
bedeckt,  und  geht  zuletzt  der  Pflug  über  das  verschüttete  Mosaik- 
getäfel, eins  hatte  jedenfalls  der  siegreiche  Barbar  vor  dem  be- 
drängten Römer  voraus,  nämlich  seine  Jugend  und  die  Anwartschaft 
auf  eine  höhere  Zukunft*). 

a.    Die  Jägerstäinme  im   nördlichen  Festlande. 

Da  alle  Eingebornen  Amerika's  einen  einzigen  Stamm  inner- 
halb der ,  mongolischen  Race  bilden ,  so  geschieht  es  nur  zur 
besseren  Uebersicht,  wenn  die  Bewohner  der  nördlichen  von  der 
südlichen  Hälfte  getrennt  werden  und  wiederum  eine  Scheidung 
in  sogenannte  Jägerstämme  'und  CulturvÖlker  eintritt.  Innerhalb 
dieser  Gruppen  kann  nur  nach  der  Sprache  eine  letzte  Theilung 
vollzogen  werden.  Von  vornherein  müssen  wir  aber  auf  eine 
grosse  Anzahl  von  Sprachen  gefasst  sein,  denn  die  Jagd  bedingte 
an  sich  eine  weite  Ausbreitung  in  kleine  Horden,  die  mit  ihrer 
Absonderung    und  Zerstreuung,    wie    dies    schon   gezeigt  wurde'). 


1)  Das  obige  von  S.  337 — 347  wurde  abgedruckt  aus  dem  Ausland.  1867.  S.  937. 

2)  S.  oben  S.  107. 


aaR  Die  amerikanische  Urbevölkerung. 

erst  mundartlich,  dann  bis  zur  völligen  Unähnlichkeit  ihre  Sprache 
umgestalteten.  Doch  bedurfte  es  nur  ernster  Forschungen,  um 
wiederum  für  eine  Mehrzahl  von  Sprachen  eine  gemeinsame  Her- 
kunft zu  ermitteln.  Dies  ist  bis  jetzt  in  Nordamerika  besonders 
durch  die  Arbeiten  Buschmann's  gelungen,  auf  welche  Waitz  seine 
Eintheüung  gründete,  die  wiederum  auf  einer  Karte  von  Otto 
Deutsch  dargestellt  worden  ist.  Wir  brauchen  uns  daher  nicht 
mehr  mit  einer  Aufzählung  todter  Namen  zu  belästigen,  sondern 
es  wird  genügen,  die  grossen  Gruppen  anzugeben. 

Begrenzt  von  den  Eskimo  und  den  anderen  Beringsvölkern 
der  Nordwestküste,  stossen  wir  zunächst  auf  die  Gruppe  der  Kenai 
und  Athabasken,  die  trotz  ihrer  starken  Entfremdung  immer  noch  eine 
ehemalige  Sprachverwandtschaft  verrathen.  Die  Kenai,  unter  denen 
die  Yellow-Knife  oder  die  Ahtna-Horde^)  am  besten  bekannt  ist, 
wohnen  hauptsächlich  am  Yukonstrome.  Die  Athabasken  dagegen 
sitzen  östlich  von  ihnen  und  erfüllen  den  Raum  zwischen  der 
Hudsonsbai  und  den  Felsengebirgen,  soweit  etwa  die  britischen 
Grenzen  reichen.  Bekanntere  Horden  sind  die  Tschepewyan- 
(verschieden  von  den  Odschibwä),  die  Kupferminen-,  Hundsrippen- 
und  Biberindianer.  Aus  ihrer  Urheimat  im  Norden  haben  sich 
ausserdem  durch  Wanderungen  bis  nach  Oregon  nahe  der  Meeres- 
küste die  TIatskanai,  Umpkwa  und  Hupah  verloren.  Noch  weiter 
nach  Süden,  östlich  vom  Colorado,  in  das  Hochland  Neu-Mexico*s 
wanderten  die  athabaskischen  Navajos,  ja  selbst  die  gefürchteten 
Apatschen,  die  vom  westlichen  Colorado  bis  nach  den  mexicanischen 
Provinzen  Chihuahua  und  Coahuila  streifen,  gehören  noch  zu  dieser 
Gruppe.  Endlich  entdecken  wir  nördlich  von  der  Mündung,  des 
Rio  grande  del  Norte  eine  Athabaskenhorde ,  die  Lipani,  so  dass 
also  das  Verbreitungsgebiet  dieser  Völkerstämme  jenseits  des 
Polarkreises  beginnt  und  bis  an  den  mexicanischen  Golf  reicht. 

Von  den  Felsengebirgen  angefangen,  im  Quellengebiete  des 
Missouri  bis  zum  atlantischen  Meere,  besonders  aber  in  den  nörd- 
lichen Staaten  der  Union  vom  Mississippi  gegen  Osten  sitzen  oder 
sassen    vielmehr    zur  Zeit    der  Entdeckung    die  Algonkinen.     Der 


I)  Eigentlich  Ah-tend;  tend  oder  tinneh  bedeutet  nämlich  „Leute",  und 
mit  diesem  Suffix  werden  die  Hordennamen  stets  bekleidet,  daher  die  Kenai- 
besser  Tendstämme  genannt  würden.  W.  Dali,  Alaska  and  its  resources. 
Boston  1870.     p.  428. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  aaq 

äus^erste  Westen  ihres  Verbreitungsgebietes  wird  von  den  Schwarz- 
Füssen  eingenommen,  die  Gestade  um  den  obern  See  von  den 
Odschibwäern,  die  Räume  südlich  und  westlich  von  der  Hudsonsbay 
von  den  Knistino  oder  Kri.  Oestlich  vom  Mississippi  gehörten  zu 
den  Algonkinen  die  Leni  Lenape,  die  den  Fünfvölkerbund  der 
Delawaren  bildeten,  der  auch  die  Mohikaner  einschloss.  Ihrer 
Sprache  verdankt  die  Länderkunde  unter  andern  Namen,  wie 
Massachusetts,  Connecticut,  Alleghany,  Savannah,  Mississippi. 
Andere  bekannte  algonkinische  Horden  sind  die  Susquehannoc, 
Pamptico,  Schawano  oder  Schawnie,  Illinois,  Sank,  Musquakkie 
oder  Füchse,   Menomennie  oder  Wildreisleute. 

Inselartig  wurde  von  den  Algonkinen  eine  dritte  Gruppe,  die  • 
Irokesen  Canada's,    eingeschlossen.     Um    das  Jahr   1700    bildeten 
die  Horden  der  Senekä,  Cayuga,  Onondago^  Oneida  und  Mohawk 
den  Fünfvölkerbund,    dem   1712   als   sechstes  Glied  die  Tuscarora 

■ 

beitraten.  Die  Huronen  oder  Wyandot,  die  sprachlich  ihnen  ver- 
schwistert  waren,  lebten  gleichwohl  mit  dem  Irokesenvölkerbunde 
beständig  im  Kriege.  Früher  genossen  sie  von  den  geschwisterlichen 
Horden  die  Ehrenbezeichnung  „Väter",  besiegt  aber  mussten  sie 
einwilligen,  die  anderen  Irokesen  als  „ältere  Brüder**  anzureden. 
Die  Irokesen  gestanden  auch  den  Delawaren,  die  von  den  übrigen 
Stämmen  al^  Grossväter  begrüsst  wurden,  durch  einen  Vertrag 
vom  Jahre  1591  nur  den  Titel  Onkel  zu. 

Die  vierte  Gruppe  bilden  die  Dacota  oder  die  „sieben  Rath« 
feuer",  besser  gekannt  mit  ihrem  Spottnamen  Sioux.  Sie  be- 
wohnen auf  dem  Gebiete  der  Vereinigten  Staaten  die  Grasfluren 
zwischen  den  Felsengebirgen  und  dem  Mississippi,  bis  südwärts  an 
den  Arkansas.  Zu  ihnen  gehören  die  Assiniboin,  die  Winebago 
oder  Winipeg,  die  Eiowä  (Jowa),  Omaha,  Osagen,  Kansas,  Arkansas, 
Menitärri,  die  Krähen  oder  Upsaroka,  endlich  die  Mandaner. 

Vereinzelt  -  stehen  die  Pawnie  und  Riccara  in  und  an  den 
Felsengebirgen  zwischen  den  Oberläufen  des  nördlichen  Platte  und 
Arkansas.  Im  Südosten  der  Vereinigten  Staaten  waren  die  Tschocta 
und  Tschikasa  der  Sprache  nach  verwandt  den  Muskogie  oder 
dem  Bunde  der  Krikstämme,  zu  dem  die  edlen  Seminolen,  deren 
Name  Flüchtlinge  bedeutet,  ehemals  als  ältestes  Glied  gehörten. 
Süd-  und  Nordcarolina  wiederum  wurden  früher  von  den  Tscheroki- 
stämmen bewohnt,  die  ihrer  Sprache  nach  ganz  einsam  stehen« 
Ebenso  haben  sich  die  ehemaligen  Bewohner  von  Texas  weder  zu 

Pfsckel,  Völkerkunde.  29 


45'"J 


Die  amerikanisclie  Urbevölkcnin;;. 


tintr  gemeinsamen  Gruppe  vereinigen,  noch  andern  Gruppen  an- 
schliessen  lassen.  Dort  finden  wir  die  Keiowäh,  die  Paduca,  die 
r'aildo  oder  Cadodaquiu,  zu  denen  die  Tejas  oder  Texas  ge- 
]i>',ri-.'n,  endäch   die  merkwürdigen  Natchei;  am  untern  Mississippi. 

b.    Die  Jägerstämme   in   Südamerika, 

Höhere  Gesittungen  dürfen  wir  im  südlichen  FesÜande  nur  auf 
uml  a:i  den  Anden  suchen.  ]n  Brasilien,  den  Guyanagebieten  und 
in  \cnezuela  sitzen  dagegen  lauter  sogenannte  J äger stamm e ,  die 
zum  Theil  noch  auf  den  niedrigsten  Stufen  der  geselligen  und 
!;u^ügen  Entwicklung  verharren.  Ihre  Sprachen  sind  noch  mehr 
zirspli^tert  als  in  Nordamerika,  doch  hat  bis  jetzt  noch  kein 
Konner  ernstlich  versucht,  in  dieses  Getümmei  einige  Ordnung  zu 
iirin^'ei,  Aeltere  Sprachenkarten  haben  den  Irrthum  genährt,  als 
hf  rräche  in  ganz  Brasilien  nur  eine  einzige,  die  allgemeine  Indianer- 
spradie  (Imgoa  geral)  oder  das  Guarani.  Hr.  v.  Martius  zeigte 
tla.L;t'sen  zuerst,  dass  diese  Sprache  der  Tupi  zwar  von  Einzelnen 
in  ji'der  brasilianischen  Horde  verstanden  wird,  aber  nur  auf  zwei 
wr-.i  von  einander  entlegenen  Gebieten  wirkl:ch  herrscht,  nämlich 
zwi-clien  den  Nebenflüssen  des  Amazonas  Tapajos  und  Xingu 
iiiiil  in  der  Provinz  Chiquitos.  Sonst  finden  wir  eine  dichtere 
'i  uiiibevolkerung  noch  in  Paraguay,  auf  einer  Strecke  am  rechten 
1_ "1^  r  des  mittleren  Paran4.  Einzelne  Tnpihorden  wiederum  sind 
bi,^  zur  aüantischen  Küste  geschwärmt,  wie  überhaupt  nur  in  we- 
lii^rn  Provinzen  Brasiliens  ihre  Spuren  vermisst  werden.  Nordlich 
viJiii  Amazonas  fehlen  sie  dagegen  völlig. 

Ausserdem  vereinigt  Martius  zu  einer  Gruppe  die  Lenguas 
oder  Zungenindianer,  so  geheissen,  weil  sie  die  Unterlippe  durch- 
bohren, Sie  führen  bei  den  Tupi  den  Namen  Guaycuru  oder 
."^L-linelUäufer,  bewohnen  die  westlichen  Ufer  des  Paranä  und  Pa- 
raguay und  sind  durch  ihre  Rohhe^t  berüchtigt  Anderen  Stämmen 
zvi-chen  dem  Quellengebiete  des  Paranä  und  des  Madeira  gibt 
.M.rtlus  den  Sammelnamen  Parexis  oder  Poragi,  .was  Oberländer 
bi'li'ulet.  Das  ungeheuere  VVassergebiet  des  TocantJns  erfüllen 
(iii  G';s,  auch  Cräns,  das  heisst  „Häupter"  oder  „Söhne"  ge- 
hi' -seil.  Sie  unterscheiden  sich  von  den  Tupi  dadurch,  dass  sie 
iii';ht  wie  diese  in  einer  Hängematte,  sondern  stets  auf  einem 
nifilcron    Gestell    schlafen.      Ihnen    nahe    stehen    die    Cren    oder 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  ^^I 

Gueren,  zwischen  Parahiba  und  Rio  das  Contas  ausgestreut.  Crcn 
bedeutet  wie  Cran  „die  Häupter".  Zu  den  Cren  gehören  die 
Botocuden,  die  Coroados,  Puris  und  Malalis.  Im  Innern  der  Pro- 
vinzen Bahia,  Pernambuco  und  Piauhy  fasst  Martins  etliche  Indianer- 
stämme als  Guck-  oder  Cocohorden  zusammen,  weil  sie  sämmtlich 
mit  diesen  Worten  den  Mutterbruder  bezeichnen.  Zu  ihnen  ge- 
hören am  Amazonas  Indianer,  die  sich  Ore  Manoas,  das  heisst 
wir  die  Manoas^  nennen,  in  Guayana  und  Venezuela  die  Macusi 
und  die  Maypures.  Hatten  wir  in  Nordamerika  doch  wenigstens 
etliche  Völkernamen  gefunden,  so  stossen  wir  in  Brasilien  nur  auf 
Hordennamen,  deren  Hr.  v.  Martins  allein  am  Rio  Negro  nicht 
weniger  als  io6  sammelte.  Das  Bewusstsein,  einem  Volke  anzu- 
gehören ,  setzt  bereits  eine  höhere  gesellschaftliche  Entwickelung 
und  gemeinsame  geschichtliche  Thaten  voraus,  die  dort  fehlen. 
Nur  wenig  bessern  sich  die  Zustände  am  Amazonas.  Dort  finden 
wir  die  kriegerischen  Mandrucu,  als  Mischlinge  den  Tupi  verwandt, 
die  sich  durch  strenge  Mannszucht ,  durch  den  Gebrauch  von 
Trompeten  Signalen  im  Gefechte  und  einen  geordneten  Vorposten- 
dienst in  Kriegszeiten  auszeichnen.  Am  Rio  Negro  sitzen  die 
Miranhas,  ehemals  Menschenfresser,  sonst  bekannt  als  Verfertiger 
hochgeschätzter  Hängematten,  von  denen  jede  sechs  Wochen  Arbeit 
kostet.  Da  wo  der  Amazonas  der  peruanischen  Grenze  sich 
nähert,  stossen  wir  auf  die  Tecuna,  deren  Maskenspiele  uns  bereits 
wichtig  geworden  sind,  und  an  der  venezuelanischen  Grenze  auf 
die  Uapes,  deren  geräumige  Bauten  wir  gerühmt  haben").  In 
Guayana  durcheinander  gestreut  wohnen  hauptsächlich  zwei  Völker, 
die  Arowaken  oder  „Mehlleute**,  so  geheissen,  weil  wir  in  ihnen 
die  Erfinder  der  Tapiocabereitung  zu  verehren  haben,  und  die 
Cariben,  missbräuchlich  seit  dem  17.  Jahrhundert  Caraiben  ge- 
nannt, denen  die  Spanier  alles  Hassenswürdige  zugeschrieben 
haben  und  die  wegen  ihrer  Rohheit  verrufen  blieben,  bis  sie  seit 
A.  V.  Humboldt's  und  der  Brüder  Schomburgk  Reiseerfahrungen 
als  ein  unverdorbener  Volksstamm  voll  besserer  Regungen  erkannt 
wurden*). 


i)   S.  oben  S.  186. 

2)  Wie  Richard  Schomburgk  bemerkt,  vergiften  sie  ihre  Pfeile 
nicht,  obgleich  auf  ihrem  Gebiete  die  Curarepflanze  [Strychnos  toxi f er a)  vor- 
kommt.    Reisen  in  Britisch-Guiana.     Leipzig  1848.     Bd.  2.  S.  429. 


29* 


Aii2  I^ic  amerikanische  Urbevölkerung. 

Das  nördliche  und  südliche  Festland  von  Amerika  gleichen 
sich  in  vielen  grossen  Zügen ,  von  vornherein  schon  in  den  Um- 
rissen, denn  beide  sind  grosse  Dreiecke,  mit  den -Spitzen  nach 
Süden  gerichtet.  Aber  auch  ihr  senkrechter  Bau  stimmt  darin 
überein,  dass  am  Westrande  vom  Stillen  Meer  aus  die  Cordilleren 
aufsteigen  und  zwischen  ihren  Kämmen  Hochebenen  eingeschaltet 
liegen.  Als  nothwendige  Folge  dieses  gleichförmigen  Baues  finden 
wir  östlich  von  den  Abhängen  der  Felsengebirge  und  der  Cor- 
dilleren oder  in  ihrem  „Regenschatten"  keinen  Wald,  sondern 
offene  Steppen,  in  Nordamerika  Brairien,  in, Mittelamerika  Savanen, 
in  Venezuela  Llanos,  am  Silberstrom  Pampas  geheissen.  Erst  auf 
die  Steppen  gegen  O^ten  folgen  dann  grosse  Waldgebiete^  welche 
im  Norden  und  Süden  die  atlantischen  Hälften  beider  Welttheile 
bedecken.  Auf  den  Grasebenen  im  Süden  wie  im  Norden  Amerika's 
suchen  wir  vergeblich  nach  den  gesellschaftlichen  Erscheinungen, 
die  in  der  alten  Welt  auf  den  entsprechenden  Länderräumen 
allenthalben  hervorgerufen  werden.  Wir  vermissen  dort  Völker, 
welche  die  Berberstämme  Nordafrika's ,  die  Beduinen  Arabiens, 
die  Türken  in  Turkistan,  die  Mongolen  in  der  Gobi,  die  Lappen 
und  Samojeden  auf  den  Tundern  des  hohen  Nordens  in  Amerika 
vertreten  möchten.  Wenn  man  es  sehr  häufig  als  einen  Mangel 
der  amerikanischen  Menschheit  bezeichnen  hört,  dass  sie  die  Vieh- 
zucht vernachlässigt  habe,  so  ist  diese  Behauptung  ungenau,  denn 
streng  genommen  fehlte  ihr  nur  die  Milchwirthschaft  gänzlich^ 
Wie  Hr.  v.  Martins*)  uns  belehrt  hat,  gibt  es  in  der  Tupisprache 
oder  Lingoa  geral  Brasiliens  für  Bezähmung  einen  eigenen  Aus- 
druck mit  dem  Sinne,  dass  die  Thiere  zur  Ablegung  ihrer  Wildhei^ 
gebracht  werden  sollen.  Die  meisten  Eingebomen  Brasiliens  zeigen 
Freude  am  Umgang  mit  Thieren;  sie  wissen  Afien  und  Papageien 
an  sich  zu  fesseln,  und  rufen  unter  anderen  durch  Ernährung  mit 
Fischen  bei  grünen  Papageien  rothe  und  gelbe  Federn  hervor"), 
auch  gleichen  ihre  Hütten  oft  einer  Menagerie.  Culturgeschichtlich 
gewinnt  jedoch  die  Thierzucht  erst  dann  eine  höhere  Bedeutung, 
wenn  der  Mensch  vorsorglich  durch  sie  seinen  Unterhalt  erwirbt 
und  sich  abgewöhnt,  von  den  Gnadengeschenken  der  Natur  aus 
der  Hand  in  den  Mund  zu  leben.    Am  Amazonas  könnte  die  Jagd 


i)   Ethnographie.    Bd.  i.  S.  672. 

2)  Charles  Darwin,  Domestication.     tom.  II.  p.  280. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  453 

auf  Schildkröten  den  Uferbewohnern  Nahrung  für  das  ganze  Jahr 
liefern,  allein  ihr  Fang  ist  nur  auf  die  trockene  Zeit  beschränkt, 
wo  sich  die  Thiere  ans  Land  begeben.  Desshalb  besitzt  fast  jede 
Familie  neben  ihrer  Behausung  einen  geschlossenen  Weiher,  um 
eine  Anzahl  lebendiger  Thiere  für  die  nasse  Zeit  aufzusparen*), 
häusliche  Vorkehrungen,  welche  Orellana,  der  Entdecker  des 
Amazonenstromes,  bereits  bei  den  Eingebornen *)  antraf.  Ausser- 
dem wurden  ehemals  und  werden  noch  jetzt  Hoccoshühner  (Crax)  von 
vielen  brasilianischen  Stämmen  wegen  ihres  schmackhaften  Fleisches 
gezüchtet.  An  der  venezuelani^hen  Küste  bei  den  Eingebornen 
Curianas  sahen  die  spanischen  Seefahrer  Hausthiere,  die  sie  als 
Kaninchen,  Gänse  und  Tauben  bezeichneten  3).  Auf  den  Antillen 
wurden  der  stumme  Hund  und  auf  Haiti  das  Meerschweinchen 
als  Hausthiere  gezogen.  Nabelschweine  und  Tapire  gewöhnen 
sich  sehr  leicht  an  die  Nähe  des  Menschen,  wurden  und  werden 
auch  noch  jetzt  bezähmt  bei  den  Brasilianern  angetroffen,  allein 
sie  vermehren  sich  nicht  in  der  Gefangenschaft^). 

Dagegen  fehlen  uns  glaubhafte  Berichte,  dass  die  Stämme 
des  nördlichen  Festlandes  östlich  der  Felsengebirge,  immer  mit 
Ausnahme  der  Eskimo,  vor  der  Entdeckung  Thiere  zum  häus- 
liehen  Nutzen  gezüchtet  hätten.  Gerade  Nordamerika  war  aber 
vor  dem  südlichen  Festland  durch  ein  gesellig  lebendes  Thier 
bevorzugt,  welches  zur  Entwickelung  eines  Hirtenlebens  völlig  ge- 
nügen konnte.  Wir  meinen  den  Büffel  oder  Bison,  der  mit  Aus- 
nahme eines  ganz  kleinen  Reviers  auf  dem  westlichen  Abhang 
der  Felsengebirge  nicht  vorkommt  und  ebenso  gegen  Osten  vom 
Mississippi  sich  nicht  allzu  weit  entfernt.  Jung  eingefangen,  lässt 
sich  der  Bison  zähmen  und  abrichten  und  hat  auch  mit  dem 
europäischen  Rinde  eine  brauchbare  Mischrace  geliefert.  Wenn 
er  dennoch  von  den  Eingebornen  weder  gezüchtet,  ja  nicht  einmal 
gehegt  worden  ist,  so  hat  es  offenbar  den  Rothhäuten  an  der 
Neigung  oder  an  der  Geduld  zur  Thierbezähmung  gefehlt.  Auch 
die  einheimische  wilde  Ente  wurde  von  ihnen  nicht,  wohl  aber 
von    den    europäischen    Ansiedlern   gezähmt;    der    Truthahn,    in 


i)   Bat  es,  Amazons,     p.  321. 

2)  Oviedo,  Historia  general.     Üb.  L.  cap.  24.  tom.  IV.  p.  553. 

3)  Gomara,  Historia  de  las  Indias.     cap.  75. 

4)  Darwin,  Domestication.     tom.  II,  p.  153. 


454  ^^®  amerikanische  Urbevölkerung. 

Mexico  ein  Hausthier,  wurde  nur  wild  auf  dem  Gebiet  der  Ver- 
einigten Staaten  angetroffen.  Im  Norden  des  Festlandes  streift 
das  Renthier  (Caribu),  welches  in  der  alten  Welt  allenthalben,  in 
der  neuen  aber  von  den  Canadiern  nicht  gezähmt  worden  ist. 
Allerdings  trifft  man  bei  den  Stämmen  der  Hudsonbaigebiete  den 
Hund  als  Hausthier  und  zur  Jagd  abgerichtet,  doch  möchten  wir 
fast  vermuthen,  dass  die  Zähmung  dieses  Geschöpfes  erst  nach  der 
Einwanderung  der  Eskimo,  die  .den  Hund  als  Zugthier  in  ihrer 
asiatischen  Heimat  gekannt  hatten,  sich  verbreitet  habe.  War 
aber  bei  den  Rothhäuten  des  nördlichen  Festlandes  die  I^eigung 
zur  Thierzucht  ohnehin  sehr  schwach,  so  ist  nicht  leicht  denkbar, 
was  sie  hätte  in  Versuchung  führen  sollen,  den  Bison  zu  zähmen, 
da  ihnen  die  Jagd  so  viel  Fleisch  und  so  viel  Häute  lieferte,  als 
sie  je  bedurften.  An  den  Genuss  thierischer  Milch  aber  hat  kein 
Volk  in  Amerika  gedacht.  Die  Milchwirthschaft  gehört  überhaupt 
einer  sehr  späten  und  hohen  Entwicklungsstufe  des  Hirtenlebens 
an.  Ncch  heutigen  Tages  liefern  die  grossen  Rinderh^erden  auf 
den  Pampas  und  Llanos  nichts  als  Fleisch  und  Häute,  wie  denn 
die  reichliche  Absonderung  von  Milch  bei  dem  Heerdenvieh  erst 
in  Folge  einer  langen  Bezähmung  eintritt.  Während  in  England 
eine  Kuh  täglich  40  Finten  Milch  liefert^),  erhalten  die  Damara 
in  Südafrika,  also  ein  Hirtenvolk,  höchstens  zwei  bis  drei  Finten 
von  ihren  Thieren,  und  ihre  Kühe  verweigern  sogleich  die  Milch, 
sowie  man  ihnen  das  Kalb  nimmt  ^).  Daraus  dürfen  wir  folgern, 
dass  die  Völker,  welche  zuerst  Thiere  in  Heerden  versammelten, 
zunächst  nur  an  den  Fleischertrag  dachten  und  die  Ausbeutung 
der  Milch  erst  nach  langer  Zeit  und  in  Folge  kunstvoller  Zucht- 
wahl eintrat!  So  finden  wir  denn  in  der  neuen  Welt  die  Steppen 
so  gut  wie  das  Waldland  nur  von  Stämmen  bewohnt,  die  Jagd 
und  Feldbau  als  Ernährungszweige  betrieben. 

Baureste  mangeln  in  Südamerika  östlich  von  den  Anden 
gänzlich,  in  Nordamerika  dagegen  bestehen  sie  in  kegelförmigen 
Grabhügeln,  in  runden,  oben  flachen  Erdaufwürfen  (mounds)  und 
in  kreisrunden  Verschanzungen,  zum  Theil  mit  Gräben  und  ge- 
deckten Wegen,      Sie    siift    sehr   spärlich    in    den  Neu-England- 


i)  Darwin,  Domestication.    tom.  II.  p.  300. 

2)  Andersson,  Südwestafrika.     Bd.  2.  S.  54.    B a r r o w  (South  Africa , 
tom.  I.  p.  315)  rechnet  zwei  Quart  Milch  auf  eine  südafrikanische  Kuh. 


I 

Die  amerikanisclie  Urbevölkerung.  acc 

Staaten  und  selten  im  Westen  des  Mississippi,  erstrecken  sich 
aber  vom  Oberlaufe  des  Missouri  und  den  grossen  Seen  nach 
Süden  auf  beiden  Abhängen  der  Alleghanies  bis  nach  Florida. 
Am  allerdichtesten  finden  sich  solche  Reste  am  Ohio.  Die  Mehr- 
zahl der  Alterthumskenner  schrieb  sie  früher  und  schreibt  sie 
t'.och  jetzt  einem  ausgestorbenen  Volke  von  Hügelbauern  fmound" 
tuildersj  zu,  das  sie  entweder  von  Mexico  nach  dem  Nordosten 
oder  vom  Nordosten  nach  Mexico  wandern  lassen.  Wären  jene 
Baudenkmäler  nichts  anderes  als  ein  Culturstrahl  der  nahuatla- 
kiachen  Gesittung  gewesen,  so  müssten  die  Verschanzungen  immer 
häufiger  werden,  je  "mehr  man  sich  dem  Hochlande  von  Andhuac 
näherte,  aber  gerade  in  Texas  verlieren  sich  ihre  Spuren,  und 
dort  wie  im  mexicanischen  Chihuahua  sassen  auch  nach  Cabeza 
de  Vaca's^)  Mittheilungen  äusserst  rohe  und  halb  verhungerte 
Stämme,  die  sich  von  Fischen,  Wurzeln  und  den  Früchten  der 
Feigendisteln  (Opuntia  tuna)  ernährten.  Die  Beschreibungen  der 
Spanier  von  den  verschanzten  Ortschaften  der  Indianer  iji  den 
ehemaligen  Sklavenstaaten  und  das  Bild,  welches  uns  Jacques 
Cartier*)  von  der  Irokesenstadt  Hochelaga,  jetzt  Montreal  in  Ca- 
nada,  entworfen  hat,  entsprechen  genügend  den  Vorstellungen 
von  jenen  Erdwerken,  wie  wir  sie  aus  den  zahlreichen  Grund- 
rissen und  Querschnitten  in  Schoolcraft's  umfangreichem  Werke 
über  die  Alterthümer  der  Vereinigten  Staaten  uns  bilden  können. 
Wir  theilen  deshalb  vollständig  die  Ansicht  Samuel  F.  Haven's^), 
der  in  den  Vorfahren  der  jetzigen  Indianer  die  Urheber  jener 
Baureste  vermuthet  und  der  uns  nachgewiesen  hat,  dass  noch 
im  Jahre  1800  ein  Schutthügel  fmoundj  über  der  Leiche  eines 
Omahahäuptlings  errichtet  wurde,  sowie  dass  am  obern  Missouri  von 
Lewis  und  Clarke  eine  ganze  Reihe  frischer  Schanzwerke  ange- 
troffen worden  sind.  Wohl  haben  Europäer  nicht  mehr  beobachtet, 
dass  die  rothen  Jäger  Bauten  errichteten,  wie  den  walled  lake,  eine 
künstliche  Anspannung  von  Wasser  zu  Berieselungszwecken,  in 
der    Grafschaft  Wight    (Jowa)  ^) ;    allein  Charlevoix  5)    unterrichtet 


i)  Ramusio,  Navigationi  et  viaggi.  Venetia  1606.  tom.  III.  fol.  266.  verso. 

2)  Relation  originale  de  Jacques  Cartier.  (Zweite  Reise.)    ed.  d'Avezac. 
Paris  1863.     p.  23  sq. 

3)  Archaeology  of  the  United  States,     s.  1.  1855.     p.  157. 
•4)  Kapp,  Vergleichende  Erdkunde.     2.  Aufl.    S.  615. 

5)  Nouvelle  France,     tom.  III.  p.  335. 


r 


^^6  *  ^ic  amerikanische  Urbevölkerung. 

uns  andrerseits,  dass  die  Irokesen  vor  seiner  Zeit  viel  geräumigere 
Wohnungen  sich  erbauten ,  also  auch  sie ,  wie  unzählige  andere 
halbentwickelte  Menschenstämme ,  nach  der  Berührung  mit  Euro- 
päern ihre  alten  Künste  vernachlässigten.  Die  Hügel-  und 
Schanzenerbauer  waren  also  die  Voreltern  jener  Rothhäute,  welche 
von  den  europäischen  Ansiedlern  verdrängt  wurden  i  sie  lebtei 
wie  diese  von  der  Jagd  und  mögen  in  den  nämlichen  Zustände! 
schon  vor  der  Ankunft  der  Entdecker  eine  Reihe  von  Jahr- 
hunderten verharrt  haben'). 

Die  Jagd  ist  aber  unverträglich  mit  dem  Aufschwung  zu 
einem  erhöhten  Culturleben,  denn  die  sittliche  Entwickelung  der 
Völker  steht  in  strenger  Abhängigkeit  von  ihrer  Ernährungsweise. 
Nur  dort  finden  wir  die  frühesten  und  lange  Zeit  vereinsamten 
Lichtpunkte  der  menschlichen  Gesellschaft,  wo  sich  die  Bevölkerung 
mit  Leichtigkeit  verdichten  konnte,  wie  am  Nil  und  in  China; 
denn  erst  nach  Eintritt  eines  engeren  Zusammenrückens  der  Be- 
völkerung vollzieht  sich  eine  Theilung  der  Arbeit,  die  bei  sehr 
vielen  Culturanfangen  durch  eine  Abscheidung  in  Kasten  sich 
ausgedrückt  hat.  Die  Jagd  auf  einem  Gebiet  von  gewissem  Wild- 
reichthum  kann  dagegen  nur  eine  genau  und  karg  bemessene 
Bevölkerung  ernähren.  Mehrt  sich  ein  Stamm  über  den  Fleisch- 
ertrag seiner  Reviere  hinaus ,  so  werden  die  Männer  theils  vom 
Mangel,  theils  vom  Bewusstsein  ihrer  überlegenen  Zahl  getrieben, 
die  Jagdgründe  ihrer  Nachbarn  betreten.  Die  unausbleibliche 
Folge  sind  dann  Fehden,  wo  der  stärkere  Stamm  den  schwächeren 
entweder  aufreibt  oder  verdrängt,  in  welchem  letzteren  Falle  dieser 
wiederum  verdrängen  oder  ausrotten  muss.  Starke  Jägerstämme 
können  sich  daher  wohl  ausbreiten,  nicht  aber  sich  verdichten. 

Ein  VVachsthum  der  Gesittung,  wenn  es  nicht  durch  Ankunft 
der  Europäer  unterbrochen  worden  wäre,  konnte  in  Amerika  nur 
dann  stattfinden,  wenn  die  Ernährung  durch  Feldfrüchte  mehr 
und  mehr  die  Ernährung  durch  Jagdbeute  ersetzt  hätte.  So  weit 
die  Polargrenze  des  Mais  in  Nordamerika  reicht,  nämlich  bis  zum 
und   über   den  Lorenzostrom  und  den  grossen  Seen,    ja  nördlich 


i)  Das  Obige  wurde  bereits  veröffentlicht  im  Ausland.  1868.  S.  291. 
Wichtig  ist  es,  dass  seitdem  ein  so  zuverlässiger  Beobachter  wie  Tylor  (Anfinge 
der  Cultur.    Bd.  i.  S.  57)  zu  dem  nämlichen  Ergebniss  gelangt  ist 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  4^y 

von    diesen  wenigstens   auf  dem   Gebiete  der  Huronen*),   finden 
wir    auch    hoffnungsreiche  Anfange    von  Ackerbau  bei  den  Jäger- 
völkern.     Gänzlich    mangelt    der  Feldbau   nur  auf  den  Hudsons- 
baigebieten   östlich   von    den  Felsengebirgen   bei   den  meisten  At- 
habaskenstämmen ,  die  aber  auch  an  Rohheit  tief  unter  den  süd- 
licher wohnenden  Völkern  stehen.  Die  Natur  gewährte  auch  auf  dem 
Waldgebiete    einige    frei\villige    Nahrungsmittel,     nämlich    ausser 
Beeren   und  Wurzeln    den  Wasserreis    (Zizania  aquatica)    an   den 
canadischen  Seen   und  am  obern  Mississippi ,    den  Zuckersaft  der 
Ahornbäume   im   Frühjahr,    endlich   die  Früchte   wilder  Pflaumen 
und  wilder  Reben.     Mais,    Bohnen,  Kürbisse  und  Tabak  werden 
ausdrücklich  von  Cartier  *)  als  Ackerfrüchte  canadischer  Irokesen 
bei  Montreal  erwähnt,  und  im  allgemeinen  lässt  sich  aussprechen, 
dass    beim  Fortschreiten    von    höheren  nach  niederen  Breiten  der 
Ackerbau  in  Nordamerika  immer  vorwiegender  die  Bedürfnisse  der 
Eingebornen   deckte.      Auf  der   Stufe  aber,    wo   Ackerbau,   Jagd 
und  Fischfang    sich  gegenseitig  ergänzen,    sind  die  Rothhäute  so 
lange   stehen   geblieben,    als  Zeit    verstrichen    sein    mag   von   der 
Errichtung    der    ältesten    Schanzwerke    bis    auf  die   Ankunft   der 
Europäer.    Dass  sie  noch  nicht  zum  reinen  Ackerbau  sich  erhoben 
hatten,   darf  uns   nicht   verleiten,    ihnen   jede  Anlage   zu  höherer 
Gesittung   abzusprechen.      Man    übersieht    nur    allzuhäufig,    dass 
auch   die  Jagd   die  geistigen  Kräfte  der    Völker    entwickelt,    aber 
zugleich    aufzehrt.         Zur    Meisterschaft    im    Waidmannsgewerbe 
gehört  eine  genaue  Kenntniss  des  Wildes  und  seiner  Sitten.    Der 
rothe  Mann    besass    die    innigste  Bekanntschaft   mit  seinen  Jagd- 
gründen   und    ihrem  Wildstand,    es    gelang  ihm  leicht,    auch  die 
schlauesten  Thiere  noch  zu  überlisten ,    und  durch  seine  scharfen 
Beobachtungen,  wie  durch  seine  glücklichen  Deutungen  der  kleinsten 
Lebenszeichen  in  der  fireien  Natur  hat  er  noch  immer  die  sinnes- 
stumpfen   Kinder    der    Civilisation    in    tiefes    Erstaunen    gesetzt. 
Aus    unbedeutenden  Spuren  den  Zusammenhang  und  die  Einzeln- 
heiten   irgendeiner  Begebenheit  der  W^ildniss  zu  enträthseln,    dazu 
hat  es  ihm  nie  an  Scharfsinn  gefehlt,  aber  aller  Scharfsinn  wurde 
auch    nur    zur  Verfolgung    eines  Wildes    oder    eines  Feindes  ver- 


1)  Rau  im  Archiv  für  Anthropologie.     Braunschweig  1870.     Bd.  4.  8.8. 

2)  Voyage   de  Jacques  Cartier   au  Canada   en  1534,     (Erste  Reise.) 
ed.  Michelant  et  Ram^.     Paris  1867.    p.  39. 


458  ^ie  amerikanische  Urbevölkerung. 

wendet.  Sicherlich  sind  auch  bei  jenen  Völkern  so  häufig  wie  bei 
uns  Männer  von  ungewöhnlicher  Begabung  aufgetreten,  allein  es 
wurden  daraus  weder  Religionsstifter,  noch  Weltweise,  noch  Ordner 
der  Gesellschaft,  sondern  immer  wieder  nur  gefeierte  Jäger,  glück- 
liche Anführer  oder  geschätzte  Redner  bei  Volksversammlungen. 
Dazu  gesellt  sich  noch,  dass  die  Erbeutung  von  Wild  mit  einem 
hohen  Lebensgenuss  verbunden  ist,  und  für  die  Aufregungen  und 
Reize  der  Jagd  der  Ackerbau  keine  Entschädigung  zu  bieten  hat. 

Suchen  wir  nun  nach  dem  ursächlichen  Zusammenhang  zwischen 
den  Ländergestalten  und  den  Gesittungsstufen,  so  müssen  wir  die 
Frage  lösen,  warum  wir  bei  den  Bewohnern  der  Steppen  und 
Wälder  Nordamerika's  eine  grössere  Reife  der  Gesellschaft  wahr- 
nehmen, als  in  Südamerika.  Allerdings  betrieben  auch  dort  alle 
Stämme  der  Steppen  und  der  Wälder  mit  äusserst  spärlichen  Aus- 
nahmen, wie  etwa  die  Muras  am  Amazonenstrom,  neben  Jagd 
und  Fischfang  auch  den  Ackerbau.  Ihre  angebauten  Feldfrüchte 
waren  sogar  mannichfaltiger  als  im  Norden,  denn  zum  Mais  gesellt 
sich  noch  die  Maniocwurzel ,  die  eine  sorgfaltige  Auspressung  des 
grftigen  Saftes  verlangt,  ehe  sie  geniessbar  wird.  Ausserdem 
müssen  wir  der  einheimischen  Palmenzucht  gedenken.  Da  nun 
die  Palmen  viel  später  Früchte  tragen,  als  ein-  oder  zweijährige 
Gewächse,  so  zeigt  ihr  Anbau  eine  Vorsorge  für  ferne  Zeiten 
und  zugleich  einen  Verzicht  auf  das  Wanderleben.  Obendrein  hat 
sich  ergeben,  dass  die  Pupunhabäume  (Guilelma  speciosaj  auf 
einigen  Gebieten  nur  kernlose  Früchte  trugen,  folglich  musste 
diese  Palme  schon  seit  einem  hohen  Alter  unter  der  Zucht  des 
Menschen  gestanden  und  die  kernlose  Spielart  nicht  anders  als 
durch  Wurzelschösslinge  vermehrt  worden  sein.  Wenn  also  die 
südamerikanischen  Jägerstämme  in  Bezug  auf  den  Ackerbau  den 
Nordamerikanern  nicht  nachstanden,  durch  ihre  Baum-  und  Haus- 
thierzucht  sich  sogar  über  sie  erhoben,  so  blieben  sie  doch  in 
andern  Leistungen  weit  hinter  jenen  zurück. 

Die  rohesten  Stämme  der  Hudsonsbai-Gebiete  stehen  immer 
noch  weit  höher,  als  etwa  die  Botokuden  Brasiliens,  die.  in  der 
neuen  Welt  auf  dem  niedrigsten  Theilstrich  der  Gesittung  haften 
geblieben  sind.  In  ganz  Südamerika  (natürlich  immer  die  Cordilleren- 
vülker  ausgenommen)  war  eine,  starke  oder  auch  gänzliche  Ent- 
blössung  bald  des  einen,  bald  des  andern)  bald  beider  Geschlechter 
die  Regel,    in  Nordamerika    ist    sie  nur  Ausnahme.     Auch  ist  es 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  450 

kein  Vorzug  für  die  Südamerikaner,  dass  wir  bei  ihnen  Gespinnste 
und  Gewebe  aus  Baumwolle  antreffen,  denn  erstens  trugen  zu 
De  Soto's  Zeiten  die  Frauen  der  Eingebornen  Georgiens  weisse 
Gewänder,  verfertigt  aus  dem  Bast  Von  Maulbeerbäumen*),  wie 
die  Spanier  meinten,  dann  aber  war  von  jeher  die  dortige  Zu- 
bereitung des  Leders  eine  meisterhafte  und  seine  Verarbeitung  zu 
Kleidern,  die  mit  Federn  reich  geschmückt  waren,  weiss  man 
sogar  noch  jetzt  zu  schätzen.  Auch  darin  unterscheiden  sich  die 
Nordamerikaner  nicht  nur  von  allen  Stämmen  ihres  Gleichen, 
sondern  von  vielen  Cülturvölkern ,  dass  sie  eine  Fussbekleidung, 
nämlich  ihre  Mocassin  oder  Halbstiefeln,  trugen*).  Der  Gebrauch 
von  Schneeschuhen  dagegen  ist  vielleicht  nicht  älter,  als  das  Auf- 
treten der  Eskimo,  die  wahrscheinlich  zuerst  diese  Erfindung  aus 
Asien  nach  der  neuen  Welt  gebracht  haben. 

Bei  den  Jägerstämmen  in  Südamerika  hat  man  keine  Spur 
von  Bergbau  getroffen.  Dagegen  fanden  die  ersten  Entdecker  bei 
den  Eingebornen  der  Vereinigten  Staaten  eine  Menge  kupferner  ' 
Zienathen  und  Geräthe.  Kupfer  wurde  östlich  vom  Mississippi 
an  verschiedenen  Orten  gebaut,  wie  in  Alabama^),  allein  die 
wichtigsten  Gruben  lagen  am  Erie-See.  Einige  Alterthumsfreunde 
haben  etwas  vorschnell  geschlossen,  dass  dort  ein  uraltes  Cultur- 
volk,  völlig  verschieden  vor  den  Jägerstämmen  der  modernen 
Zeit,  gesessen  haben  solle.  Doch  unterschätzte  man  beständig 
die  Leistungen  der  alten  Nc  damerikaner.  Selbst  die  rohen  Atha- 
baskenstämme  haben  auf  Kupfer  gegraben,  denn  im  i8ten  Jahr- 
hundert pflegten  sie  solche  Erze  nach  Fort  Churchill,  dem  äusser- 
sten  westlichen  Posten  der  Hudsonsbaigesellschaft,  zu  bringen, 
und  hauptsächlich  um  die  Lagerstätte  dieses  Metalls  aufzuspüren, 
unternahm  Samuel  Hearne*)  1770  seine  Wanderungen,  die  zur 
Entdeckung  des  Kupfergruben -Flusses  und  seiner  Ausmündung 
ins  Eismeer  führten.  Der  Eigenthümer  der  Grubengebiete  am 
Erie-See  war  ein  Häuptling  der  Fond  du  Lac -Horde,    und  nach 


1)  Oviedo,  Historia  general.     lib.  XVII.  cap.  25.  tom.  I.  p.  556. 

2)  Die    Patagonier    bedienen    sich    indessen    ebenfalls    des  Schuhwerkes. 
Musters,  Unter  den  Patagoniem.  S.  174.  Catlin,  Rambles.  p.  259 

3)  Herrera,    Historia    de    las    Indias    occidentoles.      Dec.  VII.    lib.  2. 
cap.  I. 

4)  Reise  zum  Eismeer.     Berlin  1797.     S.  4.  S,  14. 


460  I^ie  amerikanische  Urbevölkerung. 

der  Zahl  seiner  Ahnherren,  die  er  namhaft  machen  konnte,  reichte 
sein  Stammbaum  bis  zum  Anfang  des  12  ten  Jahrhunderts  zurück '). 
Ein    deutscher    Bergmann,    der    eine    der    dortigen  Gruben- 
bauten   als  Director  geleitet  hatte ,    belehrt  uns  *) ,    dass  die  alten 
Rothhäute    durch    Feuersetzen    und    Besprengen    mit  Wasser    das 
Gestein  mürbe  machten,  von  den  Blöcken  des  gediegenen  Metalls 
aber  Stücke  mit  Steinhämmern  lösten  und  ihnen  durch  Beschneiden 
mit    Feuersteinmessern    und-  mit    Hammerschlägen    ihre    Formen 
gaben,    denn    „ein  Schmelzverfahren    hatten    die  Alten    nicht  ge- 
kannt".    Wenigstens    war    dies    nicht  am  Obern  See  nachweisbar, 
denn  andererseits  wird  behauptet,  dass  gelegentlich  auch  gegossene 
Kupfergeräthe    entdeckt    worden    sein    sollen-^).     Es    besteht    also 
nicht  die  mindeste  Nöthigung,  den  alten  Irokesen,  auf  deren  Ge- 
biet   die    berühmten    Kupfergruben    lagen,   jene    bergmännischen 
Leistungen    abzusprechen    und    sie    mit    den  Azteken  Mexico's    in 
einen    abenteuerlichen    Zusammenhang    zu    verweben.      Wohl    ist 
uns    nicht    unbekannt,    dass    Klingen    aus    Obsidian    in   Gräbern 
östlich  vom  Mississippi  und  sogar  am  Ontario-See  gefunden  worden 
sind,    und   jenes    Mineral    dorthin    nur    aus  IMexico    gelangt    seui 
kann.     Allein  jene  Obsidianstücke  beweisen  so  wenig  eine  Wande- 
rung   der  Azteken,    als  man  aus  dem  Fund  von  Münzen  mit  ku- 
fischer Schrift  einen  Besuch  Islands  durch  die  Araber  geschlossen 
hat.     Sind    doch    selbst   zur  Renthierzeit    schon    bei  Schussenried 
Nephritgegenstände  getroffen  worden,  die  aus  grosser  Entfernung 
stammten  und  uns  beweisen,  dass  der  Handel  schon  damals  seine 
Hand  weit  ausstreckte.    Wollte  man  aus  dem  Funde  von  Obsidian- 
klingen    in  den  Vereinigten  Staaten  auf  innigere  Beziehungen  mit 
aztekischer  Cultur   schliessen,    so    Hesse  sich  mit  gleicher  Berech- 
tigung  ein  Einfluss    der    alten  Bevölkerung  Polens    auf   die  Fran- 
zosen   der  Renthierzeit    behaupten,    weil  man  in  den  Höhlen  der 
letzteren  Hörner  der  Saiga-Antilope  ausgegraben  hat"*). 

Die  Ueberlegenheit  der  Gesittung  bei  den  Jägerstämmen  des 


1)  Schoolcraft,  Indian  Tribes.     Part.  I.  fol.  95. 

2)  Ausland.  1866.     S.  424. 

3)  Doch  hat  Rau  (Archiv  für  Anthropologie.  Braunschweig  1871.  Bd.  5. 
S.  3 — 7)  neuerdings  wieder  sich  verbürgt,  dass  die  alten  Bewohner  der 
Vereinigten  Staaten  die  Kunst  des  Kupfergusses  nicht  gekannjt  haben. 

4)  vgl.  oben  S.  40.  S.  217. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  ^51 

nördlichen  Festlandes  im  Vergleich  zu  denen  im  südlichen  zeigt 
sich  am  stärksten  durch  ihre  gesellschaftlichen  Gliederungen.  Im 
Norden  ist  es  den  Ethnographen  geglückt,  durch  Sprachenvergleiche 
die  Stämme  zu  Völkern  zu  vereinigen  und  die  Sitze  dieser  Völker 
abzugrenzen.  In  Brasilien,  Guayana  und  Venezuela  lässt  sich 
eine  solche  Aufgabe  gar  nicht  streng  lösen,  weil  wir  Völkern  dort 
überhaupt  nicht  begegnen,  sondern  nur  Banden,  und  erst  künst- 
liche Namen  geschaffen  werden  müssen,  um  sprachverwandte 
Horden  als  Gruppen  zu  bezeichnen.  In  Nordamerika  dagegen 
wohnten  in  geschlossenen  Gebieten  die  Algonkinvölker,  iij  die  sich 
die  Irokesen  am  Westabhange  der  Alleghany  hineingeschoben 
haben.  Geschichtlich  treten  solche  Völkerschaften  bereits  zu  Con- 
föderationen  vereinigt  auf,  die  Krieg  und  Frieden,  sowie  Staats- 
verträge schliessen;  ja  bisweilen  gelingt  es,  wenn  auch  nur  auf 
kurze  Zeit,  sämmtliche  Jägerstämme  zu  einem  grossen  Bündniss 
gegen  die  europäischen  Bedränger  aufzubieten.  Auch  wurden  von 
allen  Stammen  gewisse  völkerrechtliche  Satzungen  beobachtet,  wie 
z.  B.  dass  ewiger  Frieden  auf  dem  geheiligten  Gebiet  der  Brüche 
des  rothen  Pfeifensteines  herrschen  sollte.  Endlich,  und  dies  ist 
in  unsern  Augen  das  höchste,  bemerken  wir  bei  den  Nordameri- 
kanern Anfange  von  Gedankenmittheilung  durch  eine  Bilderschrift. 
Lesbar  waren  diese  Aufzeichnungen  freilich  nur  für  diejenigen, 
denen  der'  Sinn  der  Bilder  und  ihre  Beziehungen  auf  eine  be- 
stimmte Begebenheit  bekannt  war.  Immerhin  dienten  solche  Ur- 
kunden zur  Auffrischung  des  Gedächtnisses.  Von  ähnlichen  An- 
fangen gewahren  wir  aber  in  Südamerika,  östlich  von  den 
Cordilleren,  nicht  das  mindeste,  und  es  lässt  sich  daher  nicht  be- 
streiten, dass  die  Bewohner  des  nördlichen  Festlandes  (abgesehen 
von  ihren  Culturvölkern ,  für  die  übrigens  das  nämliche  gilt)  eine 
weit  höhere  Gesittung  sich  errungen  hatten,  als  die  Bewohner 
Südamerika's.  Somit  erwächst  uns  die  Aufgabe,  zu  ermitteln,  in 
wiefern  etwa  die  Ländergestalt  auf  die  ungleiche  Vertheilung  der 
Gesittung  Einfiuss  geübt  habe. 

Darin  aber  erkennen  wir  die  grösste  Bevorzugung  Nord- 
amerika's,  dass  es  der  alten  Welt  näher  liegt  als  Südamerika,  so 
dass  Pflanzen,  Thiere  und  Menschen,  die  über  die  Beringstrasse 
wanderten,  zunächst  im  nördlichen  Festlande  sich  ausbreiten 
mussten,  wenn  sie  das  südliche  erreichen  sollten.  So  gut  wie  die 
Eskimo  aus  Asien  in  einer  späteren  Zeit  einwanderten  und  so  gut 


^.62  ^ie  amerikanische  Urbevölkerung. 

wie  nautische  Fertigkeiten  von  Kamtschatka  aus  über  die  Aleuten 
an  der  Westküste  von  Nordamerika  sich  verbreiteten,  ebenso  sind 
eine  Anzahl  anderer  Erkenntnisse  und  Erfindungen  aus  Asien  zu 
den  Stämmen  des  nördlichen  Festlandes  gelangt.  Im  Sinne  unserer 
Lehre,  dass  Amerika  von  Asien  aus  über  die  Beringstrasse  be- 
völkert wurde,  erscheint  das  nördliche  Festland  als  die  ältere 
Heimath  der  Amerikaner,  von  der  aus  Südamerika  gleichsam  als 
eine  neue  Welt  erst  entdeckt  werden  sollte,  und  zwar  muss  dies 
so  gedacht  werden,  dass  es  durch  schwächere  Horden  geschah,  die  von 
stärkern  aus  der  nördlichen  Hälfte  verdrängt  wurden.  Auch  war 
das  nördliche  Festland,  als  das  früher  bewohnte,  weit  dichter  be- 
völkert als  das  südliche. 

Im  Osten  der  Anden  des  südlichen  und  der  Cordilleren  des 
nördlichen  Festlandes  haben  Wald  und  Steppe  keine  sehr  merk- 
lichen Unterschiede  zwischen  ihren  Bewohnern  ausgebildet.  Höch- 
stens lässt  sich  behaupten,  dass  die  Dacota  oder  Sioux  der  Prai- 
rien  Nordamerika's ,  deren  Wohnsitze  mit  dem  Verbreitungsgebiet 
des  Bison  fast  genau  zusammenfallen,  viel  roher  erscheinen  als 
ihre  Nachbarn  [östlich  vom  Mississippi,  und  ganz  deutlich  ergibt 
sich  aus  Cabeza  de  Vaca's  Erlebnissen,  dass  die  Urbewohner  von 
Texas,  sowie  von  Chihuahua,  bis  zur  pacifischen  Wasserscheide 
ungleich  tiefer  standen,  als  selbst  die  Dacota. 

Vergleichen  wir  aber  die  gesellschaftliche  Entwickelung  der 
Jägervölker  im  südlichen  und  nördlichen  Festland  unter  einander, 
so  wird  auf  beiden  Gebieten  eine  Besserung  fühlbar,  je  mehr  wir 
uns  den  Ufern  der  mexicanischen  und  caribischen  Golfe  nähern, 
oder  mit  andern  Worten:  in  Südamerika  sind  die  Völker,  die 
nördlicher  wohnen,  in  Nordamerika  die  Völker,  die  südlicher 
wohnen,  durchschnittlich  gesitteter.  Die  rohesten  Stämme  Süd- 
amerika's ,  wie  die  Botocuden,  Coroados,  Puris,  Lenguas,  gehören 
sämmtlich  Südbrasilien  an,  am  Amazonas  dagegen  stiessen  Spix 
und  Martins  auf  \vichtige  Fortschritte  in  den  gesellschaftlichen  Zu- 
ständen; ja  wenn  wir  Berichten  der  ersten  Entdecker  unter  Orellana 
volles  Vertrauen  schenken  dürften,  war  der  obere  Lauf  des  grossen 
Stromes  mit  volkreichen  Ortschaften  besäumt,  es  waren  dort 
Tempel  und  in  den  Tempeln  Götzenbilder,  die  sich  auf  Rädern 
bewegten,  zu  sehen.  Von  solchen  Dingen  haben  spätere  Besucher 
freilich  nichts  wahrgenommen ,  und  selbst  wenn  sie  vorhanden 
waren,  ist  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  dass  sie  Stämmen 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  ^^63 

angehörten,  die  aus  dem  Culturreiche  der  Inca  vertrieben  worden 
waren.  Nördlich  vom  Amazonas  sitzen  die  sanften  Arowaken,  bei 
denen  das  Weib  bereits  im  Haus  eine  würdevolle  Stelle  einnimmt  *) 
und  deren  Priester  die  Geschichte  der  Stämme  zum  Unterricht 
der  Jugend  aufbewahren.  Neben  und  unter  ihnen  bis  zu  dem 
nach  ihnen  benannten  Golf  hatten  sich  die  Cariben  ausgebreitet, 
die  ihre  Felder  mit  Hilfe  künstlicher  Wasserleitungen  benetzten, 
ihre  Pflanzungen  mit  Baumwollenschnüren  abgrenzten  und  Märkte 
hielten ,  '  auf  denen  das  Salz  die  Stelle  des  Geldes  vertrat.  So 
bessern  sich  dort  beständig  in  der  Richtung,  von  Süd  nach  Nord 
die  äusserlichen  Zustände  der  menschlichen  Gesellschaften. 

Umgekehrt  folgen  im  nördlichen  Festland  von  Nord  nach 
Süd  auf  die  rohen  Athabaskenstämme  der  Hudsonsbaigebiete  zu- 
nächst die  ackerbauenden  Blgonkinvölker ,  von  denen  wiederum 
die  südlicher  sitzenden  Irokesen  durch  ihre  Bergbauten  am  Erie- 
See,  sowie  in  Michigan  und  Indiana  durch  die  sorgsame  Anlage 
ihrer  Felder,  von  den  Archäologen  als  Gartenbeete  (gardenheds) 
bezeichnet,  sich  günstig  erheben,  auch  werden  auf  ihrem  Gebiet 
bereits  die  Spuren  verschanzter  Dörfer  angetroffen ,  die  besonders 
dicht  und  zahlreich  am  Ohio  werden.  Gegen  Süden  hatten  die 
Irokesen  als  Nachbarn  die  sogenannten  appalachischen  Völker- 
schaften ,  von  deren  Zuständen  wir  durch  Hernando  de  Soto's 
Freibeuterzug  das  älteste  Gemälde  erhalten  haben.  Bei  ihnen 
stiessen  die  Spanier  auf  Tempel,  die  etwas  besseres  gewesen  zu 
sein  scheinen,  als  die  sogenannten  „Medicinhütten"  der  nördlichen 
Rothhäute.  Ihre  Häuptlinge  genossen  ein  weit  grösseres  Ansehen, 
als  bei  den  übrigen  Jägerstämmen,  und  in  Süd -Carolina  oder 
Georgia  herrschte  sogar  eine  Frau,  mit  der  die  Spanier  wie  mit 
eint;  Monarchin  verkehrten,  ein  Umstand,  der  uns  klar  beweist, 
dass  die  Häuptlingswürde  in  den  Familien  erblich  geworden  war 
und  die  Frauen  bereits  nicht  mehr  zu  häuslichen  Lastthieren 
niedergedrückt  wurden.  Bei  den  Seminolen  der  Halbinsel  Florida 
fanden  die  Spanier  befestigte  Flösse,  die  als  Brücken  zur  Ueber- 
schreitung  der  Lagunen  dienten,  und  wirkliche  Brücken*)  werden 
im  Lande  Appalache,  also  in  Georgien  oder  Süd-Carolina,  erwähnt. 


i]   Richard  Schomburgk,   Reisen  in  Britisch  Guiana.    Leipzig  1848« 
Bd.  I.  S.  227.  Bd.  2.  S.  514. 

2)  Herrera,  Indias  occidentales.    Dec.  VII.  libro  I.  cap.  12. 


464  I^ie  amerikanische  Urbevölkerung. 

Es  hat  also  nichts  überraschendes  für  uns,   wenn  in  Florida  auch 
Reste  alter  Strassen  entdeckt  worden  sind ,  denn  wo  Brücken  an- 
getroffen   werden ,    muss    schon    ein    starker    Verkehr    das    LandP 
belebt  haben. 

Weiter   westlich  am  Ohio  liegen  die  Reste  alter  ringförmiger 
Umwallungen    der  Indianerortschaften    oft    sehr    dicht  neben  ein- 
ander.   Etwas  übereilt  hat  man  daraus  geschlossen,  dass  ehemals 
das  Ohiothal    sehr    stark  von  Ackerbauern  bevölkert  gewesen  sein 
müsste,  die  vor  der  Entdeckung  durch  wilde  Jägerstamme  vertilgt 
worden    sein    sollten.      Doch  haben  andere  Alterthumsforscher  zu 
bedenken  gegeben,  wie  oft  kfndliche  Völkerschaften  ihre  Wohnsitze 
theils    aus    Gespensterfurcht,    theils    wegen    des    Ausbruchs    einer 
Krankheit    aufzugeben    pflegten^.      Wurden    also    sicherlich    alle 
bereits    aufgefundenen    alten    Schanzdörfer  auch  nicht  gleichzeitig 
bewohnt,    so    ergibt  sich  immerhin,  dass  die  heutigen  Südstaaten 
der    nordamerikanischen    Union    ehemals     viel     dichter    bevölkert 
waren,    als  zur  Zeit,   wo  die  europäischen  Einwanderer  von  jenen 
Gebieten  Besitz   ergriffen,    nämlich   so  dicht  als  die  Spanier  etwa 
um  1540  unter  Hernando  de  Soto  das  Land  bevölkert  sahen.    Es 
gab   nämlich  damals  nicht  blos  Dörfer,    sondern  wirkliche  Städte. 
Die  grösste  darunter  scheint  Mavila,   das  heutige  Mobile,  gewesen 
zu    sein.      Es    war    von    einer   hölzernen  mit   Lehm   beworfenen 
Mauer    umgürtet    und    von    Thürmen,    wahrscheinlich    nur    Ge- 
rüsten mit  Brustwehren,  geschützt.     Innerhalb  der  Mauer  standen 
80    grosse   Häuser    oder    vielmehr   Casernenbauten ,    die    je    1000 
Köpfen   Obdach    gewährt    haben    sollen,    und    von  deren  flachen 
Dächern    oder  Söllern    herab    die  Spanier  mit  Geschossen  über- 
schüttet wurden.     Hernando  de  Soto  hatte  dort  mit  seiner  Vorhut 
ein   neunstündiges  Gefecht   zu   bestehen   und  die  Schlacht   wurde 
erst  entschieden,  nachdem  das  Hauptheer,  damals  noch  600  Streiter 
stark,  eingetroffen  war.  Die  Berichte  der  Spanier  sprechen  von  11,000 
Feinden,   die    durch  Schwert   und  Feuer   umkamen,  während  die 
]£roberer  45  Rosse  und  83  Soldaten  theils  sogleich,  theils  in  Folge 
der  Verwundungen   verloren.      Wo   bereits  solche   volkreiche  Ort- 
schaften wie  Mavila  erwachsen  waren,  kann  von  einem  Jägerleben 
nicht   mehr    die  Rede  sein,   denn  Jägerstämme   haben  nie  Städte 
gebaut. 


I)  P.  Gumilla,  £1  Orinoco  ilustrado.  tom.  I.  p;i4f  P-  U3> 


Die  amerikanische  Urbevölkeninsr. 


*•• 


4^5 

Konnten  wir  uns  also  überzeugen,  das.s  nach  den  Rändern 
des  amerikanischen  Mittelmeeres,  d.  h.  des  mexicanisch-caribischen 
Doppelgolfes,  zu,  die  Bevölkerung  auf  beiden  Festlanden  sich 
verdichtete  und  dem  Jägerleben  halb  und  halb  entsagt  hatte,  so 
ist  es  die  Begünstigung  des  Ackerbaues  durch  ein  milderes  Klima, 
zugleich  mit  der  Nähe  der  See,  welche  jenen  wichtigen  Ueber- 
gang  zu  höheren  Zuständen  erleichterte.  Wäre  daher  die  An- 
kunft der  Europäer  in  der  neuen  Welt  um  ein  oder  zwei  Jahr- 
tausende verzögert  worden,  so  möchten  die  Culturvölker  Mexico's 
und  Yucatans  mit  den  appalachischen  und  caribischen  Nationen 
in  Verkehr  getreten  sein ,  und  sich  vielleicht  auch  in  der  neuen 
Welt  Gesittungen  entfaltet  haben,  die  mit  denen  an  unserem 
Mittelmeer  etwa  zu  Herodots  Zeiten  hätten  verglichen  werden 
dürfen. 


c.      Die    Culturvölker    Nordamerika's    und    ihre    Stammes- 
angehörigen. 

Bei  dem  Ueberblick  über  die  Jägervölker  Nordamerika *s 
blieben  die  Stämme  Oregons',  Californiens,  Neu-Mexico's  und 
Mexico's  unberücksichtigt.  Eine  Aufzählung  trockener  Namen, 
die  viel  besser  auf  einer  Völkerkarte  eingesehen  werden,  beab- 
sichtigen wir  auch  dieses  Mal  nicht.  Wohl  aber  müssen  wir  eines 
wichtigen  Ergebnisses  gedenken,  zu  welchem  Buschmann  durch 
seine  FcJrschungen  gelangt  ist.  Er  vereinigte  nämlich  eine 
grosse  Anzahl  von  Sprachen  Neu-Mexico's  und  Nord-Mexico*s  zu 
einer  von  ihm  sonorisch  genannten  Familie,  Besonders  unter- 
suchte er  die  Lautsysteme,  die  Zahlwörter  und  die  Grammatik  des 
Tarahumara,  Tepeguana,  Cora  und  Cahita').  Alle  diese  Sprachen 
zeigen  gemeinsame  Familienzüge,  alle  haben  mehr  oder  weniger 
einen  Wortschatz  aus  dem  Nahuatl  oder  dem  Altmexicanischen 
aufgenommen.  Dies  gilt  auch  von  der  Sprache  der  Moqui,  welche 
sechs  von  den  berühmten  „sieben  Städten"  (Dörfern)  nordwestlich 
von  Zuni  bewohnen.  Sprachverwandt  sind  der  sonorischen  Fa- 
milie die  Utah,  Pah  Utah,  die  Digger  Californiens  jund  die  Scho- 
schonen  oder  Schlangenindianer,    welche  letztere  vormals,  ehe  sie 


I)    Abhandlungen    der    Berliner    Akademie    der    Wissenschaften;      Berlin 
1865.  S.  369.     1867.  S.  23.     1869.  S.  66  u.  S.  131  ff. 

Pesckel^  Völkerkunde.  -^ 


^55  Die  amerikanische  Urbevölkerung. 

von    den  Schwarzfüssen    verdrängt    wurden ,    diesseits    der  Felsen- 
gebirge sassen,  jetzt  jenseits  an  dem  nach  ihnen  benannten  Snake 
River    hausen.     Fügen    wir    hinzu ,    dass    in  die  nämliche  Gruppe 
die  Comantschen  gehören ,   jetzt  gefürchtete  Räuberstämnie  Nord- 
Mexico's.    Nach  Maillard  beobachten  sie  eine  Jahrestheilung  von  18 
Monaten    zu    20    Tagen;    sie    befinden    sich    also    im   Besitze   des 
mexicanischen   Calenders.      Ob    wir  in  den  sonorischen  Sprachen, 
die   übrigens   unter  sich  wieder  weit  auseinander  gehen,    die  fort- 
entwickelten   Zweige    eines    gemeinsamen  Stammes,    einer    nahu- 
atlakischen  Ursprache,  zu  erkennen  haben,  lässt  Buschmann  noch 
unentschieden,    aber    sicher    ist    es,    dass    sie    alle  Spuren    eines 
innigen  Verkehres   mit   den  Altmexicanern   zeigen.     Das  Nahuatl, 
die  Sprache    der  letzteren,    trat  unvermischt  nur  in  dem  und  um 
das  Seengebiet    des  Hochlandes    von  Mexico  auf.     Wie    aber    die 
aztekischen  Ortsnamen    bezeugen ,    waren    nahuatlakische  Sprach- 
inseln   ausserordentlich    weit   ausgestreut.     Sie    ziehen  sich  in  der 
Nähe    der  Südsee    durch  Guatemala,    sie    treten  auf  zugleich  mit 
alten  Tempelruinen  mexicanischen  Styles  in  Honduras  und  reichen 
südwärts    bis    an    und  in  den  Nicaragua-See.     Sie  hören  dagegen 
gänzlich    auf   in  Costarica.     Nach  Norden    zu   sind   sie  verbreitet 
über  das  heutige   mexicanische  Reich ,  jedoch  mit  Ausnahme  von 
Cohahuila,     Sie   treten  aber  wieder  auf  in  Texas  und  endigen  in 
Neucalifornien    unter    dem    37.®  n.  Br.'),  abgesehen  davon,    dass 
versprengte  Namen  selbst  noch  unter  den  50.  Parallel  sich  verirrt 
haben.     Sogleich  wollen   wir    hier    bemerken ,    dass    weit    binnen- 
wärts  unter  dem  35.°  n.  Br.   beim  heutigen  Zuni  in  Neu -Mexico, 
Cibola    oder    das    „Land  der   sieben  Gemeinden"    gesucht    wer- 
den   muss,     das     von     einem    Mönche    Fra    Marco    aiis    Nizza 
entdeckt,    kurz    nachher    im    Jahr  1540    von    dem  Spanier  Fran- 
cisco   Vasquez    de    Coronado    besucht    und    beschrieben    worden 
ist.     Er    fand    dort    kleine    Ortschaften    mit    steinernen   Häusern, 
zwei    oder    drei    Stockwerke    hoch,    festungsartig    ohne    Eingang 
erbaut,    so    dass    die  Söller  auf  beweglichen  hölzernen  Sprossen- 
leitern   erstiegen    werden    mussten.     Die  Einwohner    bauten    Mais 
und  Bohnen,  züchteten  Truthühner,  kleideten  sich  in  Zeuge,  deren 
Fäden    aus    einer    andern  Pflanzenfaser  als  Baumwolle  gesponnen 
waren,   und  trugen    eine  Kopfbedeckung  genau  wie  die  Azteken 


1)  Buschmann,  Aztekische  Ortsnamen.     Berlin  1853.     S.  11. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  ^5? 

in  Mexico*).  Die  nämliche  Bauart  hat  sich  noch  heute  bei  den 
sogenannten  Pueblos-lndianern  erhalten  und  ist  zuletzt  von  Möll- 
hausen*;  beschrieben  und  abgebildet  worden.  Die  Sprache  der 
Pueblos-Indianer  steht  jedoch  in  keinem  näheren  oder  entfernteren 
Zusammenhang  mit  dem  Nahuatl.  Aehnlich  wie  diese  Gebäude 
waren  wohl  die  südwärts  gelegenen  sogenannten  Casas  grandes 
in  der  Nähe  des  Gila  und  in  Chihuahua,  über  deren  Bewohner 
so  viel  geschrieben  worden  ist,  weil  wir  noch  nichts  von  ihnen 
wissen.  Es  sassen  also  Culturvölker  im  Norden  des  heutigen 
Mexico  bis  zum  35.  Parallel. 

Die  theilweise  Gemeinschaft  des  Sprachschatzes  der  Nahu- 
atlaken  und  der  heutigen  Schlangenindianer  verlockt  zu  der  An- 
nahme, dass  die  ersteren  vorzeitlich  den  Schoschonen  geglichen 
haben  mögen,  denn  entweder  haben  sich  die  Schoschonen  nach 
ihrer  Berührung  mit  den  Nahuatlaken  in  südlichen  Räumen  nach 
Norden  gewendet,  oder  die  Nahuatlaken  sassen  mit  den  Scho- 
schonen ursprünglich  im  Norden,  bevor  sie  nach  Mexico  aus- 
wanderten. Für  die  letztere  Annahme  spricht  wenigstens,  dass 
wir  von  einigen  nahuatlakischen  Stämmen  mit  Sicherheit  wissen, 
dass  sie  aus  dem  Norden  kamen.  Als  die  Macht  der  Ihnen  ver- 
schwisterten  Tolteken  zerfallen  war,  brachen  beständig  Barbaren- 
horden vom  Uten  bis  zum  I4ten  christlichen  Jahrhundert  nach 
Mexico  herein.  Unter  diesen  befanden  sich  auch  die  nahuatlaki- 
schen llasdalteken  und  die  nahuatlakischen  Azteken.  Beide 
kamen  vom  Norden,  d.  h.  nicht  etwa  aus  dem  Norden  des  Fest- 
landes ,  sondern  zunächst  nur  aus  dem  Norden  des  heutigen 
Mexico,  doch  genügt  es  schon,  dass  ihre  Wanderung  südwärts 
gerichtet  war.  Bei  ihrem  ersten  Auftreten  in  Mexico  sollen  sie 
noch  im  Vergleich  zu  den  verfeinerten  Tolteken  sehr  roh  gewesen 
sein,  doch  beweist  dies  nur,  dass  jene  Nahuatlaken  nicht  aus  ihrer 
nördlichen  Heimat  schon  ihre  höchste  Gesittung  mitgebracht  haben, 
sondern  sie  erst  im  Süden  entfalteten,  obgleich  sie  schon  beim 
Einbrüche  eine  Culturstufe  erreicht  haben  konnten,  wie  etwa  die 
Bewohner  der  Casas  grandes  am  Gila  oder  die  Stadtindianer  von 
Cibola  im  Jahr  1540. 


1)  Coronado  in  Ramusio's  Navigation!  et  viaggi.     tom.  III.  fol.  302. 

2)  Moll  hausen,  Reise  nach  der  Südsee.     S.  215. 

30* 


^.68  .  I^ic  amerikanische  UrbevÖlkerang^ 

Ks  lässt  sich  dagegen  nicht  entscheiden,  ab  die  Tolteken  im 
heutigen  Mexico,  oder  in  Guatemala,  oder  in  Honduras,  oder  in 
Nicaragua  zuerst  ihre  Sitze  aufgeschlagen  haben.  Doch  ist  für 
Nicaragua  wohl  noch  niemand  eingetreten,  da  die  dortigen  azte- 
kischen Ortsnamen  wahrscheinlich  von  einer  späteren  Colonisation 
herrühren,  was  auch  voil  Honduras  gelten  mag.  In  Guatemala, 
wo  einer  der  äjtesten  Brennpunkte  zu  suchen  ist,  finden  wir 
neben  den  aztekischen  Ortsnamen  und  Sprachinseln  ein  anderes 
Culturvolk,  die  Quiche,  welche  wiederum  sprachverwandt  sind  mit 
ihren  Nachbarn  auf  der  Halbinsel  Yucatan,  den  Maya.  Die  ge- 
sellschaftliche Entwickelung  der  Yucateken  und  der  Quiche  zu 
Zeiten  der  Entdeckung  stand  auf  der  nämlichen  Höhe,  wie 
in  Mexico.  Die  Quich^  und  die  Maya  mochten  auch,  als  die 
'J'olteken  sie  mit  ihrer  Cultur  berührten,  sich  selbständig  schoa 
uiif  eine  höhere  Stufe  der  Gesittung  erhoben  haben.  Auf  die 
Xahuatlaken ,  wenn  sie  von  Norden  kamen,  muss  daher  die  Be- 
rührung mit  so'  gesitteten  Völkern,  wie  die  Maya  und  Quiche 
jedenfalls  gewesen  sind,  befruchtend  gewirkt  haben.  Bemerken 
wir  nebenbei,  dass  aztekische  Ortsnamen  in  Yucatan  vollständig 
fehlen,  woraus  sich  mit  einiger  Sicherheit  ergibt,  dass  die  Maya- 
volker  beinahe  ebenbürtig  in  Cülturfortschritten  den  Nahuatlaken 
gewesen  sein  müssen,  denn  Ansiedlungen  werden  immer  mit  Vor- 
liebe unter  niedriger  stehenden   Völkern  begründet  werden. 

Im  Reiche  Mexico  selbst  wurden  neben  dem  Nahuatl  völlig" 
verschiedene  Sprachen  von  den  Otomi,  den  Mixteken  und  Zapo- 
teken,  den  Matlazinken  und  Tarasken  gesprochen^). 

In  Südamerika  sitzen  alle  CulturvÖlker  entweder  auf  den 
Hochebenen  zwischen  den  Cordillerenketten  oder  am  Gestade  des 
Stillen  Meeres.  So  entwickelte  sich  auf  dem  Hochlande  von 
Bogota  am  rechten  Ufer  des  Magdalenenstromes  der  Staat  der 
Muysca  oder  richtiger  der  Chibcha.  Weiter  nach  Süden,  immer 
auf  den  Rücken  der  Hochebenen  bis  nach  Chile,  sassen  Völker 
die  verwandte  Sprachen  redeten,  nämlich  in  Quito  und  Peru    die 


1)  Orozco  vBerra  hat  iSii  seiner  Geografia  de  las  lenguas  de  Mexico 
(Mexico  1864)  eine  Sprachenkarte  Älexico's  entworfen,  das  einzige  Verdienst 
des  C'^nzen  Buches,  dessen  Verfasser  offen  bekennt,  die  Sprachen  linguistisch 
nicht  untersucht  zu  haben ,  der  uuch  unbekannt  ist  mit  den  Forschungen 
Buschtnann's  und  längst  widerlegte   Irrthümcr  von  neuem  wieder  verbreitet. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  460 

sogenannten  Quichuastämme,  und  um  den  Titicaca-See  die  Colla, 
heutigen  Tages  besser  gekannt  unter  dem  Namen  Aymara,  der  ihnen 
irrthümlich  beigelegt  worden  ist').  Vormals  wurden  diese  letzteren 
als  das  älteste  Culturvolk  angesehen,  ihre  Sprache  sollte  die  so- 
genannte Hofsprache  der  Kaiser  in  Peru^)  und  die  Sonnen- 
tempel  am  Titicaca-See  die  frühesten  Bauwerke  der  Culturstämme 
t>üdamerika's  gewesen  sein.  Jetzt  jedoch  müssen  wir  den  .Ursitz 
in  Cuzco  selbst  suchen.  Die  Cara  oder  Bewohner  von  Quito, 
die  ebenfalls  eine  Quichua-Mundart  redeten,  waren  angeblich  den 
Rio  Esmeraldas  heraufgestiegen  und  hatten  sich  der  Hochebene 
bemächtigt^).  Sie  verfertigten  künstliche  gegossene  Arbeiten  aus 
Gold**),  aber  auch  Werkzeuge  aus  Bronze,  und  beobachteten  deu 
Eintritt  der  Sonnenwenden  wie  die  Peruaner  an  weithin  sichtbaren 
Steinsäulen  5).  Völlig  verschieden  von  den  ^Quichuavölkern  sind 
die  Yuncastämme,  welche  die  Küstenfiüsse  am  Westabhang  der 
Anden  bewohnten,  sich  aber  landschaftlich  in  getrennte  Staaten 
absonderten.  Sie  haben  unzählige  geräumige  Baureste  von  ver- 
gleichsweise hohem  Kunstwerth  hinterlassen  und  hatten  mit  Meister- 
schaft ihr  Land  bewässert^.).  Sicherlich  haben  die  Incaperuaner 
ebenso  viel  von  ihnen  erlernt,  als  sie  ihnen  mitzutheilen  hatten 7). 
Der  Rio  Maule  bildete  zu  den  Kaiserzeiten  die  Grenze  zwischen 
Peru  und  Chile^  Von  ihm  angefangen  gegen  Süden  sassen  die 
Araucaner  und  die  ihnen  nahe  stehenden  Patagonier.  Im  heutigen 
Chile  nannten  sich  diese  Völker  Pehuentschen  oder  die  „West- 
lichen", von  Valdivia  bis  zum  P'euerland^)  Huillitschen  oder  die 
„Südlichen",  in  Patagonien  Tehueltschen,  endlich  auf  den  Pampa 


i)  Clements  Markham  im  Journal  of  the  Royal  Geogr.  Society.  1871. 
vol.  XLI.  p.  330—331- 

2)  Gründlich  widerlegt  von  Markham,  1.  c.  p.  312 — 313. 

3^  Velasco,  Histoire  du  royaume  de  Quito.  Paris  1840.  tom.  I.  p.  U). 
p.  184—185. 

4)  Benzoni,  Mondo  nuovo.  Venetia.  1565.    lib.  III,  cap.  i.p.  168 — 169. 

5)  Joseph  de  Acosta,  Hi?toria  natural  y  moral  de  las  Indias.  Üb.  VT. 
cap.  3.     Madrid  1792.     tom.  IL  p.  96. 

6)  Markham,  1.  c.  p.  321—324. 

7)  Alte  Regentenlisten  von  Yuncaherrschern  und  einen  Abriss  ihrer 
Geschichte  gibt  Miguel  Cavello  Baiboa.  (Histoire  du  P^rou,  ed.  Ternaux- 
Compans.    Paris  1840.     p.  86—9$.) 

8)  Ueber  die  Feuerländer  selbst  s.  oben   S.  15 r. 


470 


Die  amerikanische  Urbevölkerung. 


«>• 


zwischen  dem  Rio  Negro  und  La  Plata  Pehueltschen  oder  die 
„Oestlichen".  An  Sinnesart  und  Sitten  mit  ihnen  aufs  engste 
verwandt  waren  die  alten  Abiponen  und  die  heutigen  Bewohner 
des  Gran  Chaco  oder  der  Wildniss  westlich  vom  Paraguaystrom. 
Araucaner  und  Patagonier  haben  noch  von  dem  Segen  der  inca- 
peruanischen  Gesittung  einigen  Antheil  genossen');  jedenfalls 
stehen  sie  den  Bewohnern  der  Hochebenen  zwischen  den  Cor- 
dilleren  viel  näher,  als  den  Jägerstämmen  Brasiliens,  wenn  sie 
auch  nicht  zu  den  Culturvölkern  selbst  gezählt  werden  dürfen. 

Betroffen  über  die  Höhe  der  gesellschaftlichen  Zustände  im 
alten  Mexico  und  im  Reiche  der  peruanischen  Inca,  haben  gar 
manche,  weil  sie  die  Anlagen  des  sogenannten  rothen  IMannes 
unterschätzten ,  als  Ausflucht  angenommen :  es  seien  die  besten 
Keime  der  Gesittung  aus  der  alten  in  die  neue  Welt  auf  den 
Flügeln  des  Zufalls  getragen  worden.  Bald  Hess  man  Aegypter 
aus  der  platonischen  Insel  Atlantis  oder  zur  Zeit  der  Umschiffung 
Afrika's  unter  Neku,  bald  Carthaglnienser  aus  den  Pflanzstädten 
an  der  Küste  des  heutigen  Marocco  nach  Ikasilien,  bald  Nor- 
mannen auf  ihren  Entdeckerfahrten  nach  dem  ,, guten  Weinland" 
(V^irginien)  bis  nach  Mittelamerika  vordringen,  und  glaubte  schon 
in  V'otan,  einem  Heros-  oder  Götzennamen  der  Chiapaneken, 
einen  altnordischen  Wodan  entlarvt  zu  haben;  bald  mussten  ma- 
layische  Polynesier,  über  die  Südsee  verschlagen,  ihren  Fuss  an 
das  westliche  Gestade  Amerika*s  setzen;  bald  schmeichelte  man 
sich,  in  chinesischen  Berichten  von  einem  oestlichen  Lande, 
Namens  Fiisang,  eine  Schilderung  von  Theilen  der  neuen  Welt 
zu  erkennen.  Alle  diese  flüchtigen  Vermuthungen  waren  nur  so 
schwach  zu  begründen,  dass  sie,  leicht  widerlegt,  nie  zu  ernster 
Geltung  gelangt  sind.  Die  Möglichkeit  übrigens,  das?  aus  der 
alten  Welt  Seefahrer  bis  nach  Amerika  verschlagen  werden  konnten, 
darf  nicht  bestritten  werden,  weil  wir  wenigstens  einen  Fall  dieser 
Art  wirklich  kennen.  Im  Deccmber  1731  gelangte  nämlich  nach 
Trinidad,  bemannt  mit  fünf  oder  sechs  Köpfen,  eine  Barke,  die 
mit  einer  Weinladung  auf  der  Fahrt  von  Teneriffa  nach  einer 
westlichen  Canarieninsel  von  einem  Sturm  ergriffen  und  schliesslich 


0    Bis    zu    den  Pehueltschen    haben    sich  Ausdrücke    für  höhere  Zahlen 
aus  der  (Juichuasprache  verbreitet.     d'Orbigny,  L'horame  amer.     p.  218. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung. 


471 


vom  Passatwind  nach  VVestindien  getragen  wurde  ^).  Nur  ein 
selbstgefälliger  Wahn  ist  es  aber,  dass  irgendein  Einzelner  oder 
Einzelne  die  Cultur  ihrer  Heimat  als  Fracht  im  Hohlräume  eines 
Fahrzeuges  nach  fernen  Welten  führen  können.  Wenn  wir  Euro- 
päer uns  mit  dem  Australier  vergleichen,  dünken  wir  uns  Halb- 
götter neben  Halbthieren,  Ein  jeder  von  uns  träumt  wohl  gern, 
dass  er,  unter  einen  Stamm  solcher  Wilden  geworfen,  diesen  einen 
Antheil  am  Segen  unserer  Gesittung  zubringen  werde,  dass  ihn 
die  Beglückten  dermaleinst  als  ihrpn  Wohlthäter  und  Erlöser  ver- 
ehren, ja  dass  das  Auftreten  des  ,, bärtigen  Mannes"  als  religiöse 
Sage  unter  ihnen  fortleben  und  von  seiner  zweiten  Rückkehr  der 
Anbruch  eines  neuen  beglückenden  Weltalters  erwartet  werden 
möchte,  wie  die  Azteken  von  dem  Wiedererscheinen  Quetzalcoatls 
eine  Verjüngung  und  Verklärung  ihrer  Zustände  sich  versprachen. 
Was  aber  in  einem  solchen  Falle  sich  wirklich  zuträgt,  das  lehren 
uns  mit  Genauii^keit  die  Schicksale  James  Morills,  eines  verun- 
glückten Matrosen ,  der  17  Jahre  unter  australischen  Stämmen 
lebte  ^).  Nach  Ablauf  dieser  17  Jahre  führten  die  Eingebornen 
genau  das  nämliche  Leben  wie  vorher,  Morill  aber  ass  wie  sie 
Muscheln,  schlief  wie  sie  unter  einer  lockern  Laubhütte,  hatte  die 
Kleidung  abgeworfen,  fast  gänzlich  seine  Muttersprache  vergessen, 
und  er,  der  Halbgott,  war  zum  Australier  herabgesunken.  Auch 
sollte  man  sich  nicht  damit  trösten,  dass,  wenn  auch  der  Einzelne 
diesem  Schicksal  erliegen  musste,  doch  eine  Mehrheit,  die  Mann- 
schaft eine^  Fahrzeuges  beispielsweise,  das  nach  der  neuen  Welt 
verschlagen  worden  wäre,  grössere  Erfolge  errungen  hätte.  Denn 
auch  dagegen  sprechen  geschichtliche  Beispiele.  C61on  (Columbus) 
Hess  auf  seiner  ersten  Fahrt  40  Spanier,  wohl  ausgerüstet,*  in 
einer  kleinen  Burg  unter  einer  gutmüthigen,  fast  unbewehrten  Be- 
völkerung auf  Haiti  zurück,  und  als  er  nach  wenigen  Monaten 
wieder  kam,  fand  er  nichts  als  Leichen  und  die  Trümmer  einer 
Feuersbrunst.  Noch  belehrender  ist  das  Schicksal  Hemando  de 
Soto*s  und  seiner  Gefährten  auf  ihren  Querzügen  im  Süden  der 
Vereinigten  Staaten.  Sie  landeten  1540  wohlausgerüstet,  erhielten 
aber  nie  Zufuhren  aus  der  Heimat.  Ihre  Rosse  fielen,  ihie  Feuer- 
rohre wurden  nutzlos,  weil  es  an  Pulver  fehlte,  ihre  Degen  rosteten 


1)  P.  Gumilla,  El  Orinoco  ilustraio.     Madrid  1741.     IT.  cap.  6;  p.  327. 

2)  Vgl.  Ausland.  1866.     S.  237. 


1-9  I^ie  amerikanische  Urbevölkerung. 

und  zerbrachen,  ihre  Kleider  und  Schuhe  zerrissen,  und  zuletzt 
sehen  wir  sie  wie  Indianer  gekleidet  und  bewaffnet  marschiren  und 
fechten.  Auch  ist  es  leicht  auszusprechen ,  warum  sich  höhere 
Gesittung  nicht  durch  wenige  übertragen  lässt,  denn  die  Fort- 
schritte der  Cultur  entstehen  nur  unter  einer  verdichteten  Be- 
völkerung durch  eine  fortgeführte  Theilung  der  Arbeit,  die  jeden 
Einzelnen  hineinfügt  in  eine  höchst  verwickelte,  aber  äusserst 
wirksame  Gliederung.  Wird  aus  diesem  Ganzen  der  eine  oder 
der  andere  abgesondert,  so  erscheint  er  noch  viel  hilfloser  als  der 
Naturmensch,  ja  er  ist  nicht  mehr  werth,  als  etwa  zur  Theilung 
der  Zeit  das  weggeworfene  Rad  einer  zertrümmerten  Uhr. 

Die  Culturerscheinungen  Amerika's  sind  also  unabhängig  aus 
eigener  Kraft  entsprossen,  ja,  was  noch  viel  schyi^erer  wiegt,  die 
Gesittungen  des  nördlichen  und  des  südlichen  Festlandes  haben 
sidi  völlig  ohne  gegenseitige  Berührung  und  Befruchtung  ent- 
wickelt,  denn  die  Mexicaner  wussten  so  wenig  etwas  vom  Reiche 
der  Inca ,  als  die  Peruaner  von  den  Herrlichkeiten  Tenochtitlans 
oder  Palenque's.  Bis  zum  Nicaragua  -  See ,  aber  nicht  weiter, 
erstreckte  sich  die  Ortskunde  der  Azteken,  bis  dorthin  reichte 
auch  noch  ihre  Sprache  oder  waren  einzelne  Ansiedlerschwärme 
gedrungen,  welche  das  Nahuatl  redeten.  Andererseits  soll  der 
Inca  Huayna  Capac ,  nach  einer  jedoch  schwach  beglaubigten 
Nachricht,  Kunde  von  dem  Erscheinen  bärtiger  Fremdlinge  (unter 
Baiboa  1513)  am  pacifischen  Gestade  der  Landenge  Dariens  em- 
pfangen haben.  Erwägt  man  jedoch,  dass  kurz  vor  der  Entdeckung 
Amerika's  die  peruanischen  Inca  das  Reich  Quito  erobert  hatten 
(1487),  und  ihrer  fortgesetzten  Ausbreitung  keine  sonderlichen 
Schwierigkeiten  entgegenstanden ,  so  hätte  vielleicht ,  ohne  das 
Zwischentreten  der  Europäer  im  i6ten  oder  ijten  Jahrhundert, 
eine  Berührung  der  süd-  und  der  mittelamerikanischen  Culturvölker 
und  ein  Austausch  ihrer  Hilfsmittel  sich  zutragen  können.  Be- 
läuft sich  der  Abstand  Mexico's  von  Cuzco  auf  630  deutsche 
Meilen,  während  Babylon,  Ninive,  Athen,  Sidon  und  Tyrus  von 
Memphis  am  Nil  nur  70  —  170  Meilen  entfernt  lagen,  so  werden 
wir  an  dieser  ungleich  grossen  räumlichen  Trennung  der  beiden 
Brennpunkte  amerikanischer  Gesittung  inne,  dass  für  die  Be- 
schleunigung der  Culturfortschritte  selbst  bei  gleichen  Begabungen 
der  Bewohner  die  neue  Welt  in  Folge  ihrer  Absonderung  in  zwei 
Fesdande  weit  ungünstiger  gestaltet  war,  als  die  östliche  Erdveste. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  ^.y^ 

Eine    eigene  Anziehungskraft    haben    in    der    neuen  Welt    die 
Landseen    und    vor    allen  die  Hochlandseen'  auf  ihre  Culturvölker 
geübt.     Am  Titicaca-See  hat  man  früher,    doch  mit  Unrecht,  die 
ältesten  Sitze  der  Quichuacultur  gesucht,  wohl  aber  befanden  sich 
unter  den  späteren  Inca    dort    die    berühmten  Webereien,   welche 
das  Cumbi  oder  die  feinsten  der  Llamatücher  lieferten').     In  den 
Seen  Andhuacs  spiegelten  sich  die  Tempel pyramiden  der  Tolteken, 
am  Guatavita-See  befanden  sich  Heiligthümer  der  Chibchastämme,* 
und  an  seine  Gestade  knüpft  sich  die  Sage  vom  goldenen  Herrn 
fei  dorado)^    der    sich  den  Metallpuder  beim  Baden  in  seinen  Ge- 
wässern  abwusch.     Die  Inseln   im  Peten-See  Guatemala's   wurden 
nach    der  Zerstörung    des    Reiches   Mayapan    im  Jahre  1420    von 
den    südwärts    wandernden  Itzaes  als  Wohnsitz  erwählt*),  und  am 
Nicaragua-See  hatte  sich  vor  der  Entdeckung  eine  verfeinerte  Be- 
völkerung   ausserordentlich     verdichtet.       Bei     einer    anfänglichen 
flüchtigen  Untersuchung  verspürt  man  daher  eine  grosse  Neigung, 
den  Landseen    eine    besondere  Beförderung    der  gesellschaftlichen 
Zustände  zuzutrauen.     Doch  bald  gelangt  man  dahin,    ihren  Ein- 
fluss    wieder    einzuschränken.      Die    neue  Welt  südwärts  vom  40. 
nördlichen  Breitenkreise  ist  auffallend  arm  an  Binnenseen,  nament- 
lich gilt  dies  von  Südamerika,  verglichen  mit  dem  geschwisterlich 
so    ähnlichen  Afrika.     Es    ist    daher    denkbar,    dass  vom  Anblick 
solcher  Spiegel    im  Binnenland    manche    auf    der  Wanderung  be- 
griffene Culturstämme    gefesselt    stehen    blieben.      Ein  kleiner  Ge- 
birgsweiher    auf   dem    berühmten  Andenpass  von  V^alparaiso  naoh 
dem    zerstörten  Mendoza,    dessen    eriiabene  Natur  nie  besser  ge- 
schildert   worden    ist    als    von  Pöppig,    heisst  bei  den  Bewohnern 
,,das  Auge    des  Inca",    und    dieser  Ausdruck    scheint    uns   anzu- 
deuten,   dass    der    sogenannte    rothe  Mann  nicht  völlig  unberührt 
blieb  von  den  Eindrücken  landschaftlicher  Reizmittel^).     Seen  auf 
Hochebenen    füllen    meistens    flache  Einsenkungen  aus,    an  ihren 
Rändern  werden  daher  Fluren  sanft  aufsteigen,    die  zum  Feldbau 
sich    vorzugsweise    eignen.     Die  Seen  selbst  bieten  zugleich  Nah- 
rung, in    ihren  Fischen,    die   mexicanischen    beherbergen  sogar  in 


i)    J.   A Costa,   Hist.  natural  y  moral.     libr.  IV.  cap.  41.     Madrid  1792. 
lom.  II.  p.  284. 

2)  Morelet,  Reisen  in  Central- Amerika.     Jena  1872.     S.  162. 

3)  Pöppig,  Reise  in  Chile,  Peru  u.  s.  w.     X^ipzig  1835.    ^d.  i.  S.  242. 


iji  Die  amerikanische  Urbevölkerung. 

ihren  Schilfsäumen  Millionen  essbarer  und  schmackhafter  Insecten- 
eier  von  Corixa  viercenariay  die  sich  zu  Kuchen  verbacken  lassen. 
So   mögen    daher  an  den  Gestaden  solcher  Binnengewässer  etwas 
leichter    als    anderwärts  die  Bevölkerungen  sich  verdichten,    doch 
wäre    es  völlig  verkehrt,    ihnen  einen  entscheidenden  Einfluss  auf 
die  Entwlckelung    der    amerikanischen  Menschheit    zuzuschreiben. 
Das  spätere  rasche  Wachsthum  des  Incareiches  aus  geringen 
Anfängen    im  Laufe    von    höchstens  fünf,    vielleicht  nur  von  drei 
Jahrhunderten   hat  Squ'.er*)   sehr    befriedigend  erklärt.     Der  Keim 
des   peruanischen  Staates   entwickelte  sich  nämlich  auf  dem  Puno 
oder  den  kahlen,  lO  bis  16,000  Fuss  hohen  Hochebenen  zwischen 
den  doppelten  oder  dreifachen  Ketten  der  Anden.    Zwischen  dem 
westlichen  Abhänge  dieser  Gebirge  und  dem  Stillen  Meere  erstreckt 
sich     ein     schmaler    Küstensaum,    auf   dem    fast    nie    oder    sehr 
selten  Regen  fällt,  und  der  höchstens  während  sechs  Monaten   im 
Jahr  von  Nebeln  befeuchtet  wird.    Nur  wo  von  den  Anden  Küsten- 
flüsse   der  Südsee    zuströmen,    ist  Feldbau    und  Baumzucht  über- 
haupt   möglich.     Die  Küstenflüsse    folgen    jedoch    auf  einander  in 
grossen  Entfernungen    und    in  dem  Zwischenraum  herrscht  völlige 
Einöde.     So  konnten  sich  entlang  jenen  Gewässern  wohl  einzelne 
Stämme    lange  Zeit    getrennt    und    unabhängig   von    einander  be- 
haupten, sowie  aber  auf  den  Hochebenen  der  erste  kräftige  Staat 
erstand,   wurden  die  Bevölkerungen  der  Küstenflüsse,  getrennt  und 
schwach    wie  sie  waren,    der  Reihe    nach  unterworfen  und  durch 
.ihren  Zuwachs    die  Macht    des  Reiches  auf  den  Hochebenen  ver- 
mehrt.     Da    wo    im  Süden    der    regenlose  Küstensaum    aufhörte, 
nämlich    bei    dem    heutigen  Chile,    erreichte   auch  die  Herrschaft 
der  Inca    die  Grenze    ihrer  Ausbreitung.      Ebenso    wenig  hat    sie 
sich  binnenwärts  an  den  Ostabhang  der  Anden  durch  den  Wald- 
gürtel   zu    den    Ebenen    des  Amazonas    herabzusenken    vermocht, 
wo    noch   jetzt    rohe    Jägerstämme    in    ungestörter   Wildheit    um- 
herstreifen. 

Alle  südamerikanische  Cultur,  auch  die  nichtperuanische  der 
Chibcha  auf  den  Hochebenen  von  Bogota  und  Tunja  am  rechten 
Cfer  des  Magdalenenstromes,  stand  daher  in  strenger  Abhängigkeit 
von  beträchtlichen  senkrechten  Erhebungen,  und  ähnliches  wieder- 
holt sich,  wenn  auch  nicht  mit  gleicher  Genauigkeit,  im  nördlichen 

« 

I)  Bulletin  de  la  Soc.  de  G^ogr.     Paris  1868.     p.  7  Fq. 


Die  amerikanische  Urbevölkerung.  ^-^e 

Amerika.  Nun  ist  es  leicht  verständlich,  namentlich  für  uns,  die 
wir  in  der  gemässigten  Zone  leben  und  die  heissen  Erdstriche 
fliehen,  den  Hochlanden  unter  den  Tropen  einen  günstigen  Ein- 
fluss  auf  den  Gang  der  Gesittung  zuzuschreiben.  Ihre  ^^wohner, 
sagen  wir  uns,  waren  der  erschlaffenden  Luftwärme  in  den  heissen 
Niederungen  entzogen ,  sie  mussten  sich  zugleich  gegen  rauhe 
Witterung  durch  Kleidung  und  Obdach  schützen,  sie  waren,  um 
nieht  zu  verhungern,  frühzeitig  genöthigt,  das  Feld  zu  bestellen 
und  Vorräthe  anzuhäufen,  ja  sie  mussten  sich  auch  bald  zu- 
sammenschaaren  und  bürgerliche  Gliederungen  begründen,  um 
leichter  den  höheren  Anforderungen  ihres  Wohnortes  genügen  zu 
können.  So  wahr  dies  alles  klingt,  löst  es  doch  nicht  das  grössere 
Räthsel ,  warum  Völker  freiwillig  Erdräume  aufgesucht  haben ,  wo 
sie  auf  erhöhte  Schwierigkeiten  der  Ernährung  stiessen?  Auch 
folgte  in  der  alten  Welt  die  Cultur  stets  den  Niederungen.  Wir 
treffen  sie  bei  äusserst  geringen  Meereshöhen  an  grossen  Strömen, 
wie  der  Nil,  der  Tigris,  der  Euphrat.  Auch  die  Chinesen  be- 
haupten, dass  ihre  Gesittung  sich  erst  entfaltet  habe,  als  sie  zu 
dem  Jangtse  und  dem  Hoangho  herabgestiegen  waren.  Die  brah- 
manischen  Arier  haben  sich,  als  sie  Indien  betraten,  zunächst  in 
den  Gangesebenen  ausgebreitet,  sie  erhoben  sich  nicht  an  den 
Abhängen  des  Himalaya,  wohl  aber  verdrängten  sie  die  älteren 
Ureinwohner  in  die  Vindhyagebirge ,  sowie  in  die  Dschengel  der 
Hochebene  des  Dekhan,  wo  sie  noch  jetzt  in  unzugänglichen  Ein- 
öden unverändert  in  ihrer  Lebensweise  seit  vielleicht  drei  Jahr- 
tausenden sich  forterzeugen.  Ueberall  bewährt  sich  in  der  alten 
Welt  demnach  die  Regel,  dass  die  Culturvölker,  als  die  stärkeren 
die  bequemeren  Niederungen  aufsuchen  und  die  schwächeren  Ur- 
sassen  in  die  Gebirge  vertreiben.  Diess  gilt  selbst  noch  für  alle 
Inseln  und  Halbinseln  Südostasiens,  wo  die  Malayen  stets  die 
Küsten  in  Besitz  genommen  haben ,  während  in  das  innere  Ge- 
birgsland  die  rohen  Papuanen  sich  flüchten  mussten.  Gebirge  treten 
auch  sonst  immer  als  Hindernisse  der  Civilisation  entgegen.  Sie 
verstatten  nicht  wie  die  Ebenen  ein  engeres  Zusammenrücken  der 
Bewohner,  sie  verbieten  oder  erschweren  einen  regen  Verkehr  der 
versprengten  Gemeinden,  und  steigt  man  in  ihren  engen  Thälern 
hinauf  bis  zum  Centralkamm ,  so  ist  es ,  als  näherte  man  sich 
zwar  nicht  dem  Ende  der  Welt,  doch  dem  Saalbande  der  höheren 
Gesittung.     Günstiger    wie    Kettengebirge    sind    zwar    die    Hoch- 


M^6  ^ic  amerikanische  Urbevölkerung. 

ebenen  gestaltet,  immerhin  aber  sollten  wir  erwarten,  dass  sie  nur 
von  denjenigen  Völkern  erstiegen  worden  seien,  die  von  stärkeren 
aus  den  bequemeren  Niederungen  verjagt  wurden.  Man  könnte 
sich  nun  wohl  dabei  beruhigen,  dass  auch  ein  schwacher  Stamm 
iti  den  höheren  Luftschichten  und  in  der  strengen  Natur  wieder 
erstarkt  sei,  allein  nirgends  in  der  Geschichte  der  alten  Welt 
lässt  sich  nachweisen,  dass  die  Cultur  von  den  Höhen  herab- 
gestiegen sei  auf  die  Ebenen.  Es  müssen  also  in  Südamerika 
absonderliche  Verhältnisse  die  Cultur  nach  den  Hochebenen  ge- 
zogen haben. 

Drei  Naturproducten  der  peruanischen  Hochlande  verdanken 
wir  die  Erziehung  der  südamerikanischen  Culturvölker,  nämlich 
dem  Vorkommen  der  Llama-Arten,  der  Kartoffel  und  der  Kinoa- 
hirse  (Chenopodium  Quinoa),  Der  Inca  Garcilasso'),  der  uns  die 
Gesittungsstufe  im  alten  Peru  so  ausführlich  beschrieben  hat,  be- 
merkt wiederholt,  dass  ein  ausserordentlicher  Mangel  an  Fleisch- 
nahrung dort  herrschte.  Nur  bei  den  grossen  Treibjagden,  welche 
die  Inca  veranstalten  Hessen,  erhielt  das  unterworfene  Volk^Llama- 
fleisch,  wahrscheinlich  weil  es  ausserdem  verdorben  wäre;  an 
sonstigen  Festtagen  wurde  als  Leckerbissen  von  ihnen  ein  kleines 
Säugethier ,  nach  Garcilasso's  Angabe  ein  Kaninchen ,  verzehrt, 
welches  sie  sorgsam  hegten,  das  auch  nach  Spanien  frühzeitig 
ausgeführt,  dort  aber  wegen  seiner  Unschmackhaftigkeit  der  Auf- 
züchtung nicht  werth  gehalten  wurde.  Auf  dem  regenlosen 
Küstensaume  vollends  bestand  die  Fleischkost  nur  in  dem,  was 
der  Fischfang  gewährte.  Dadurch  gewinnen  wir  die  Beruhigung, 
dass  es  nicht  nothwendig  schwächliche  Bewohner  gewesen  sein 
müssen,  die,  von  stärkeren  Stämmen  verdrängt,  auf  die  Punos 
von  Peru  oder  Quito  flüchteten,  sondern  dass  vielmehr  kühne  und 
beherzte  Männer  zuerst  die  Cordillerenkette  erstiegen  haben 
mögen,  um  auf  den  Hochebenen  die  flüchtigen  Llama-Arten  zu 
jagen  und  zu  zähmen.  Doch  hätten  sie  niemals  auf  jenen  luf- 
tigen Ebenen  Wohnsitze  zu  gründen  und  auf  den  Inseln  des 
Titicaca-Sees  der  Sonne  ehrwürdige  Tempel  zu  erbauen  vermocht^ 
da  der  Mais  dort  nur  an  wenigen  geschützten  Stellen  reift,  wenn 
i.icht  die  Kartoffel  und  die  Kinoahirse  selbst  auf  Höhen  gediehen, 
wie    unsere    höchsten  Berggipfel.     Dass    übrigens    nicht    von  der 

i)  Commentarios  Reales,  libro    VI.  cap.  6.     Lisboa  1609.     totn.  I.  p.  134.. 


Die  amerikanische  Urbcvölkerütig.  4J7 

atlantischen  Seite  her  brasüianiscl^e  Jägerstämme  nach  dem  Hoch- 
lande von  Peru  gekommen  sind,  sondern  umgekehrt  vom  paci- 
fischen  Küstensaume  aus  der  Puno  erstiegen  wurde ,  dürfen  wir 
deswegen  voraussetzen,  weil  wir  in  den  Händen  der  Andes- 
bewohner  bis  hinab  zum  Feuerlande  eine  ungewöhnliche  Waffe 
finden,  die  kein  waldbewohnender  Jägerstamm  jemals  erfunden 
hat,  die  wir  dagegen  vorzugsweise  bei  Hirten  antreffen,  nämlich 
die  Schleuder  und  ihre  Spielarten,  den  Lasso  und  die  Bolas, 
oder  die  Wurf  leine '). 

Sollen  wir  nun  entscheiden,  welchem  von  den  vier  selbst- 
ständigen Culturkreisen,  dem  toltekisch-mexicanischen,  dem  yuca- 
tekischen,  dem  inca-peruanischen  oder  dem  der  Chibcha  Cundina- 
marca's,  der  höhere  Rang  gebühre,  so  müssen  wir  zunächst 
anführen ,  dass  allen  der  Maisbau  gemeinsam  war ,  in  Mexico 
kam  dazu  noch  die  Cultur  der  Maguey  und  des  Cacao.,  in  Peru 
und  Bogota  wieder  die  der  Kartoffel,  der  Kinoahirse  und  des 
Cocastrauches.  Künstliche  Bewässerungen  finden  wir  überall,  die 
Guanodüngung  dagegen  nur  in  Peru.  Die  Mexicaner  haben  den 
IVuthahn  gezüchtet,  die  Peruaner  das  Llama  zum  Lastthier  ab- 
gerichtet. Brücken  und  Kunststrassen  wurden  von  allen  oben- 
genannten Völkern  erbaut,  doch  gebührt  den  mit  Steinplatten 
bedeckten  sowie  von  Baumalleen  beschatteten^)  Heerstrassen  der 
Peruaner  weitaus  der  höhere  Preis -5).  Ein  Postdienst  war  in 
Mexico  wie  im  Incareiche  eingerichtet  worden*).  Steinbauten 
fehlen  in  keinem  der  vier  Culturkreise ,  aber  Bogen  wölbten  nur 
die  Peruaner  5).  Die  Chibcha  lebten  noch  im  Zeitalter  der  un- 
durchbohrten  Steingeräthe.  Dies  darf  man  sogar  noch  von  den 
Yucateken  und  Mexicanern  behaupten,  denn  wenn  sie  auch 
Kupfer    und   Bronze    kannten,  so    war    doch    der  Gebrauch    me- 


1)  S.  oben  S.  198. 

2)  Francisco  deXerez,  Conquista  del  Peru,  bei  Barcia,  Hiätoriadores* 
tom.  III,  fol  191. 

3)  vgl.  die  Schilderung  der  Kaiserstrasse  von  Cuzco  nach  Quito  bei 
(parate,  Historia  del  Peru,  libro  I.  cap.  10. 

4)  Die  Tschaski  oder  Schnellläufer  brachten  in  die  kaiserliche  Küche 
zu  Cuzco  Seefische  innerhalb  48  Stunden,  eine  Entfernung  von  etwa  70  d- 
Meilen.     Acost.t,  Hist.  natural  y  moral.     libro  VI.  cap.  17. 

5^  Rivcro  y  TschuJi.    Anti.tjued.ides  peruanus,     Vienji  1851.     p.   241. 


q.j8  Die  •amerikanische  Urbevölkerung. 

tallener  Geräthe  noch  ein  sehr  sparsamer,  allerdings  weil  die 
i^dasscharfen  Späne  und  Messerklingen  aus  Obsidian  ihre  Dienste 
hinreichend  ersetzten.  Die  Waflfen  waren  bei  allen  vier  Cultur- 
völkern  die  nämlichen,  nur  fehlten  den  Peruanern  die  Holz- 
schwerter der  drei  anderen  Völker,  wogegen  wiederum  nur  sie 
^Morgensterne  und  Lanzen  mit  Bronzeklingen  führten.  Bei  den 
nördlichen  Völkern  dienten  Goldstaub  in  Federkielen,  Zinn-  und 
Kupferbarren,  endlich  die  Cacaobohnen  als  Geld.  Die  Inca- 
peruaner  kannten  dafür  Waage  und  Gewichte  und  die  Chibcha 
behützten  obendrein  goldene  Scheiben  als  Tauschmittel.  Würden 
wir  die  Musterung  nicht  weiter  fortsetzen,  so  möchte  das  Ergebniss 
dahin  lauten,  dass  die  Peruaner  den  Chibcha  um  viele,  den  nörd- 
lichen Culturvölkern  um  manche  Fortschritte  vorausgewesen  seien. 
Allein  die  letzteren  besassen  eine  Kalenderrechnung  von  36574 
Tagen ,  während  die  Peruaner  sich  nur  mit  der  Beobachtung  der 
Aufgangsorte  (Azimuthe)  des  Tagesgestirnes  zur  Zeit  der  Sonnen- 
wenden durch  Steinpfeiler  begnügten.  Die  Mexicaner  verfertigten 
r.andkarten,  aus  denen  die  spanischen  Eroberer  wichtige  Be- 
lehrungen schöpften,  die  Peruaner  nur  Stadtpläne  in  erhabener 
Arbeit.  Weit  ärmer  aber  waren  die  Peruaner  darin.,  dass  sie 
ausser  einer  Bilderschrift*)  nur  eine  Quippu-  oder  Knotenschrift 
besassen,  wie  in  Vorzeiten  die  Chinesen^)  oder  wie  wir  sie  bei 
Papuanen  schon  angetroffen  haben  ^),  wie  sie  selbst  bei  den  Jager- 
stämmen am  Orinoco  vorkam,  denn  dort  hinterliess  der  Ehemann 
beim  Antritt  einer  Reise  seinem  Weib  eine  Schnur  mit  so  vielen 
Knoten,  als  er  Tage  wegbleiben  wollte,  und  sie  löste  jeden  Abend 
einen  von  ihnen  auf.  Oder  eine  solche  Schnur  mit  Knoten  diente 
dort  als  Schuldbekenntniss  und  der  Gläubiger  knüpfte  bei  jedem 
zurückgezahlten  Stück  des  Darlehens  einen  Knoten  wieder  auf^)^ 
Die  Quippuschrift  ist  aber  wenig  geeignet  zur  Aufbewahrung  von 
Begebenheiten  und  Namen ,  weswegen  auch  die  Glaubwürdigkeit 
der  Geschichte  des  inca-peruanischen  Reiches  beträchtlichen  Zwei- 


1)  A Costa,  Historia  natural  y  moral.  libro  VI.  cap.  8.  Ein  Muster 
solcher  Urkunden  hat  J.  J.  v.  Tschudi  (Reisen  durch  Südamerika.  Bd.  5. 
S.  284)  mitgetheilt. 

2)  Whitney,  Language    p.  450. 

3)  S.  oben  S.  367. 

4)  G  um  lila,  £1  Orinoco  ilustrado.     tom,  11.  23.  p.  505. 


Die  stmerikanische  Urbevölkerung.  a^q 

fein  ausgesetzt  ist.  Die  Mexicaner  dagegen  besassen  theils  Schrift- 
zeichen,  die  rebusartig  Sylben  ausdrücken  sollten ,  theils  einen 
Vorrath  von  Sinnbildern,  die  einen  Gedanken  vertraten.  Noch 
höher  waren  die  Maya  Yucatans  gestiegen.  Hatten  sie  auch 
ihren  Kalender  aus  Mexico  entlohnt,  so  schufen  sie  dafür  eine 
Lautschrift,  bestehend  aus  27  zum  kleinsten  l'heil  homophonen 
Buchstaben  und- etlichen  Sylbenzeichen '). 

Die  örtliche  Vertheilung  der  Gesittuugsanfange  in  der  neuen 
Welt  führt  uns  nun  mit  Leichtigkeit  zu  etlichen  wichtigen  Ergeb- 
nissen. Es  zeigt  sich  mit  strenger  Regelmässigkeit  in  Süd-  wie 
in  Nordamerika,  dass  die  atlantische  Hälfte  den  rohen  Jägervölkern, 
die  Stirnseite  nach  der  Südsee  den  Culturvölkern  gehörte.  Aus  den 
abenteuerlichen  Wanderungen  des  Spaniers  Cabeza  de  Vaca  wird 
sich  wohl  mancher  erinnern,  dass,  sowie  er,  von  Texas  aus  west- 
lich wandernd,  die  atlantische  Wasserscheide  überschreitet,  er  das 
unbeneidete  Elend  der  Rothhäute  hinter  sich  lässt,  und  unter 
freundliche ,  wohlgenährte  Ackerbauvölker  geräth ,  bei  denen  seine 
schliessliche  Rettung  gesichert  ist.  Man  könnte  höchstens  ein- 
wenden, dass  in  Yucatan  ein  Culturgebiet ,  der  Regel  zum  Trotz, 
einer  Ostküste  des  Festlands,  und  geographisch  dem  atlantischen 
Rand  angehöre ,  allein  den  wahren  Ostsaum  der  neuen  W'elt  in 
Mittelamerika  bilden  doch  wohl  die  Antillen,  und  es  ist  völlig  er- 
laubt, die  caribischen  und  die  mexicanischen  Golfe  als  zwei  Mittel- 
meere anzusehen,  deren  gänzliches  Zusammenströmen  eben  durch 
das  Zwischentreten  von  Yucatan  verhindert  wird  —  eine  Gliederung, 
welche  an  sich  ausreichte,  jene  Halbinsel  zu  einem  erwählten  Erd- 
raum für  eine  beschleunigte  Gesittung  zu  erheben.  Der  physische 
Grund  aber,  weshalb  die  Westhälfte  Amerika's  ausschliesslich  den 
Culturvölkern  gehörte,  ist  in  ihrer  vergleichsweise  grösseren  Trocken- 
heit zu  suchen.  Ein  Uebermaass  von  Regen  ergiesst  sich  auf  die 
Westküsten  der  beiden  Festlande  nur  unter  hohen  Breiten,  und 
vom  reichlichen  Regen  wird  immer  die  Bildung  geschlossener 
Waldungen  abhängen.  Alle  grossen  zusammenhängenden  Wälder 
füllten  dagegen  die  Räume  des  Ostens  aus,  in  Brasilien  so  gut 
wie  in  den  Vereinigten  Staaten. 


1)  Diego    de    Landa,    Relation    des    choses    de  Yucatan.     Paris  1864. 
p^  ^16 — 322.     V.  Hellwald  im  Ausland.  1871.    S.  243. 


i8o  I^ic  amerikanische  Urbevölkerung. 

Auf  dem  paciüschen  Abhang  Amerika's  lässt  sich  ferner  beob- 
achten, dass  die  Zustände  der  Bewohner  bei  Annäherung  und 
l'eberschreitung  der  Wendekreise  sich  merklich  bessern,  was  sich 
selbst  bei  den  Jägerstämmen  noch  bewährt  und  übereinstimmt  mit 
den  geschichtlichen  Erfahrungen  in  der  alten  Welt  Warme  Länder 
l)ei  ausreichender  Bewässerung  werden  immer  den  Feldbau  am 
reichsten  belohnen ,  und  nur  bei  einer  grösseren  Fülle  leicht  er- 
worbener Nahrungsmittel  werden  die  Bewohner  dicht  auf  engen 
Räumen  zusammenzurücken  vermögen.  Erst  wenn  unter  niederen 
Breiten  schon  eine  gewisse  Beherrschung  über  die  Natur  durch 
menschlichen  Scharfsinn  und  gesellschaftliche  Gliederung  gewonnen 
worden  ist,  vermag  die  Cultur  auch  in  rauhere  Erdstriche  vorzu- 
dringen. Wichtig  war  es  auch,  dass  Mexico  dort  liegt,  wo  sich  das 
nördliche  Festland  sehr  rasch  nach  einem  Isthmus  zu  verengert. 
Da  sich  die  Völker  selbst  im  reifen  und  noch  mehr  im  Jugend- 
zustand der  Cultur  zur  Aenderung  ihrer  Wohnsitze  leicht  ent- 
schliessen,  so  mussten,  da  vom  nördlichen  Festlande  nach  Süden 
zu  kein  anderer  Raum  offen  stand  als  jene  Verschmälerung  des 
Festlandes,  dort  viel  häufiger  als  anderwärts  die  Völker  aufeinander 
drängen.  So  fehlte  es  in  Mexico  nie  an  Zuströmen  von  frischem 
}>lute,  wie  ja  auch  eine  Verjüngung  der  gealterten  Toltekenherr- 
schaft  durch  die  Wanderungen  jugendlicher  Nahuatlvölk^r  von 
Norden  her  erfolgte. 

Die  senkrechte  Gliederung  Nordamerika's  begünstigte  aber 
ganz  ungemein  Wanderzüge  in  der  Richtung  der  Mittagskreise. 
Die  Verbreitung  der  menschlichen  Cultur  zeigt  so  manche  Ueber- 
einstimmungen  mit  der  Wanderung  der  Thier-  und  Pflanzenarten, 
dass  wir  auch  in  der  neuen  Welt  auf  eine  Aehnlichkeit  stossen. 
Die  Hochlande  und  Cordilleren  Nordamerika's  haben  es  Ge- 
wächsen und  Thieren  der  kälteren  Erdstriche  erlaubt,  sich  weit 
nach  Süden  zu  erstrecken.  Sie  führten  in  höheren  und  kühleren 
Luftschichten  als  Brücken  über  den  Wendekreis  hinüber.  Süd- 
amerika besitzt  keine  Tannen  oder  Fichten,  wohl  aber  haben  sich 
von  Nordamerika  aus  auf  dem  Rücken  der  Gebirge  die  Nadel- 
hölzer bis  zur  mittelamerikanischen  Landende  verbreiten  können 
und  Andreas  Wagner')    lässt    daher    die  Thierwelt  Nordamerika's 

i)  Abhandlungen  der  bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften.  München 

1840.     Bd.    4.     S.    7h. 


Die  amerikanische  Urberolkerung.     .  481 

dort  endigen,  wo  Schouw  die  Südgrenze  der  Kiefernarten  bestimmt 
hatte.  Ganz  ähnlich  konnten  auch  Bevölkerungen  des  Nordens 
ihre  Wohnsitze  wechseln  und  rasch  den  Wendekreis  überschreiten, 
ohne  dass  sie  gezwungen  waren ,  nach  dem  heissen  Fiebersaum 
an  der  Küste  hinabzusteigen,  der  für  sie  erst  nach  längerer  Ge- 
wöhnung und  einer  Reihenfolge  von  Geschlechtern  bewohnbar  ge- 
wesen wäre. 

Ein  begünstigter  Erdraum  wird  aber  nicht  bloss  die  geistige 
Entwicklung  seiner  Bewohner  beschleunigen,  sondern  er  wird  auch 
ötets  früher  oder  später  den  fähigsten  Völkern  zur  Beute  fallen, 
denn  auf  den  Fähigkeiten  beruht  zum  grossen  Theile  die  ge- 
schichtliche Stärke.  Warum  aber  die  Nahuatlakenvölker  auf  ihren 
Wanderungen  das  Hochland  von  Mexico  als  Sitz  allen  übrigen 
Gebieten  vorzogen,  ^darüber  gibt  uns  ihre  Landwirthschaft  Auf- 
schluss.  Sie  bauten,  wje  alle  Amerikaner,  die  einzige  Halmfrucht 
der  neuen  W^elt,  den  Mais,  der  zwar  äusserst  reiche  Ernten  in 
Mexico  trägt,  doch  aber  auch  vielfach  anderwärts  mit  gleichem 
Erfolge  gewonnen  werden  konnte.  Dagegen  gesellt  sich  zum 
Mais  auf  «den  dortigen  Hochebenen  die  Maguey  f Agave  mexicanaj^  aus 
deren  Blüthenknospen  in  staunenswerthen  Mengen  ein  Saft  ge- 
zapft wird,  den  die  alten  Mexicaner  in  ihr  Lieblingsgetränk,  das 
Metl  (Pulque)  verwandelten/').  Ausserdem  lag  hart  zu  ihren 
Füssen  der  heisse  Küstenstrich,  der  sie  mit  allen  Früchten  der 
Tropen  versah,  unter  anderen  mit  dem  Cacao,  den  sie  bereits 
mit  den  Schoten  der  Vanille  zu  mischen  verstanden. 

So  iöt  es  uns  also  erklärlich,  warum  auch  von  den  vielen 
Stämmen,  die  jemals  nach  einander  Mittelamerika  durchzogen 
haben,  die  begabtesten  sich  das  Hochland  von  Mexico  erwählten, 
wo  sie  zugleich  in  günstige  Berührung  traten  mit  den  Maya  und 
den  Quiche    der  Halbinsel  Yucatan   und  Guatemala's.     Die  Orts- 


i)  Decandolle  betrachtet  Mexico  als  die  botani&che  Heimat  jener 
Agave.  Die  Verbote  des  Trinkens  von  Pulque  und  die  harten  Strafen,  die 
auf  Trunkenheit  im  spätem  Aztekenreich  erfolgten,  beweisen  besser  als  alles 
andere,  wie  verführerisch  dieses  Getränk  gewesen  sein  mag.  (Prescott, 
Mexico,  tom.  I.  p.  137.  p.  157.)  Vielleicht  ist  es  ein  übermässiger  Genuss  des 
Metl  gewesen,  welcher  die  Kraft  der  alten  Tolteken  zerrüttete. 

Peschel,  Völkerkunde.  ,j 


A^  Die  amerikanische  Urbevolkeiung. 

läge  der  jugendlichen  Culturen  in  beiden  amerikanischen  Welt- 
theilen  war  also  keine  zufallige,  sondern  sie  war  durch  die  senk- 
rechte wie  wagrechte  Gestaltnng  und  Stellung  der  Länder,  sowie 
durch  die  von  ihnen  abhängige  Verbreitung  von  Thieren  und 
Pflanzen  gegeben  und  bis  zu  emem  gewissen  Maasse  ein  unab- 
änderliches Verhängniss,  als  die  ersten  Asiaten  den  Nord w^ten 
der  Neuen  Welt  erreichten. 


Ml  T 


IV. 

DIE  DRAVIDA  ODER  URBEWOHNER  VORDERINDIENS. 


Vorderindien  und  Belutschistan  wurde  vor  dem  Einfall  der 
brahmanischen  Arier  von  einer  Race  bewohnt,  die  jetzt  allgemein 
Dravida  genannt  wird.  Ihre  Haut  ist  meistens  stark  gedunkelt,  oft 
geradezu  schwarz.  Darin  würden  sie  den  Negern  gleichen,  doch 
fehlt  ihnen  der  widerliche  Qeruch  der  Letzteren.  Vor  allem  aber 
haben. sie  langes  schwarzes,  niemals  büschelförmiges,  auch  nicht 
straffes,  sondern  krauses  oder  gelocktes  Haar.  Dadurch  lassen 
sie  sich  leicht  von  den  mongolenähnlichen  Völkern  trennen, 
zumal  bei  ihnen  auch  das  Bart-  und  Leibhaar  reichlich  sprosst. 
Grobe  wie  feine,  edlere  und  unedlere  Gesichtsbildungen  kommen 
untermischt  vor.  Die  wulstigen  Lippen  erinnern  bisweilen  an  die 
Neger,  aber  die  Kiefern  sind  nie  vorspringend  *).  Alle  Kenner  des 
indischen  Alterthums  sind  einig,  dass  wenn  auch  die  Kasten- 
gliederüng  in  der  Zeit  der  Hymnendichtung  schon  bestand^),  doch 
erst  später  die  Zwischenheirathen  streng  verboten  wurden.  Mischun- 
gen mit  der  Urbevölkerung  müssen  vorher  vielfach  Stattgefunden 
haben  und  finden  zwischen  männlichen  Brahmanen  und  Sudra- 
frauen  noch  jetzt  im  südlichen  Indien  reichlich  statt.  'Daher  unter- 
scheiden sich  auch  die  hohen  Kasten,  bei  denen  wir  das  arische  Blut 
noch  am  reinsten  suchen  müssen ,  durch  keine  strengen  Merkmale 
von  der  Urbevölkerung.  Der  Brahmanenschädel,  bemerkt  Barnard 
Davis  ^)  gestützt  aufzahlreiche  Messungen,  zeigt  keine  Verschieden- 


i)  H.  V.  Schlagintweit,  Indien  u.  Hochasien.  Bd.  i.  S.  546. 

2)  Martin  Hang,  Brahma  und  die  Brahmanen.  München  1871.  S.  13.  S.  22. 

3)  Thesaurus  Craniorum.   London  1867.     p.  149. 


31* 


Ag\  Die  Dravida  oder  Urbewohner  Vorderindiens. 

heit  von  den  übrigen  Hinduschädeln.  Zu  dem  nämlichen  Ergeb- 
nisse gelangte  Welcker*),  der  für  hohe  wie  niedere  Kasten  einen 
Breitenindex  von  73  ermittelte,  während  Davis  75  fand,  eine  seltene 
Uebereinstimmung,  da  der  Unterschied  um  2  Procent  nur  eine 
Folge  des  verschiedenen  Messungsverfahrens  ist.  Die  Hohe  der 
Schädel  übertrifft  die  Breite  nicht  immer,  oder  höchstens  nur  um 
wenige  Procente.  Die  Indier  gehören  also  noch  unter  die  Schmal- 
schädel von  mittlerer  Plöhe.  Neuerdings  hat  auch  Isidor  Kopernicki^) 
die  Maasse  von  83  Hindu-  mit  15  Zigeunerköpfen  verglichen  und 
uns  Ziffern  vorgelegt,  die  mit  den  obigen  übereinstimmen.  Die 
Bewohner  Indiens  gehören  also  jetzt  einer  einzigen  Race  an  und 
die  Abtrennung  der  Bevölkerungen  zwischen  dem  Himalaya  und 
Vindhiagebirgen  von  den  Dravida  des  Dekan  gründet  sich  nur  darauf, 
dass  erstere  Töchter-  oder  Enkelsprachen  des  Sanskrit  reden. 

Die  nicht  arischen  Bewohner  der  Halbinsel  und  Belutschistans 
zerfallen  sprachlich  in  die  Dravida  im  engern  Sinne  und  in  die 
•  Bevölkerungen  des  inneren  Kerns  der.  Halbinsel  vom  Ganga  süd- 
wärts bis  etwa  zum  18.  Breitegrade,  welche  letztere  wir,  um  nicht 
abermals  einen  neuen  Namen  zu  ersinnen,  mit  Friedrich  Müller 
den  Munda-Stamm  nennen  und  unter  diesem  Namen  die  Horden 
der  Kolh,  der  Santal,  Bhilla  sowie  kleinere  Stämme  zusammenfassen 
wollen.  Ihre  Abtrennung  rechtfertigt  sich  dadurch ,  dass  ihre 
Sprachen,  unter  sich  verwandt "5),  einer  ganz  anderen  Gruppe  wie 
der  dravidischen  angehören^).  Diese  sogenannten  Dschengelstämme 
nähren  sich  vom  Ertrage  der  Jagd  und  des  Ackerbaues  und 
bedienen  sich  noch  vielfach  der  Steingeräthe.  In  Sinbonga  ver- 
ehren sie  einen  gütigen  Schöpfer,  opfern  aber  auch  bösen  Mächten. 
Ausserdem  glauben  sie  an  Zauberei,  daher  auch  Hexenprocesse 
imd  gottesgerichtliches  Verfahren  bei  ihnen  im  Brauch  sind. 
Obendrein  hat  sich  auch  noch  der  ^ivadienst  eingeschlichen^). 
Zu  den  Dravida    im    engeren  Sinne    gehören    die  Brahui    in 


i)  Kraniologische  Mittheilungen  S.  157.  Vgl.  Appendix  A. 

2)  Archiv  für  Anthropologie.     Braunschweig  1872.  Bd.  5.  S.  285. 

3)  Jellinghaus  (Zeitschrift  für  Ethnologie.  Bd.  3.  Berlin  1871.  S.  328) 
bemerkt,  dass  die  Sprache  der  Santal  und  die  der  Munda  Khol  sich  noch 
näher  stehen,  wie  das  Hoch-  und  das  Plattdeutsch. 

4)  W.  D.  Whitney,  Language  and  the  study  of  lar>gu»^ge.  p.  327. 

5)  Jellinghaus  a.  a.  O.    S.  329.    S.  335.    S,  337. 


Die  Dravida  oder  Urbewohner  Vorderindiens.  485 

Belutschistan,  während  die  Belutschen  .selbst  zu  den  Eräniern 
zählen  ^).  Die  Sprache  der  ersteren,  welche  schon  längst  von  Chr. 
Lassen  den  Dravida  beigezählt  wurde  ^),  reicht  von  Shal  im  Norden 
bis  nach  Jalavän  im  Süden  und  von  Kohak  im  Westen  bis  Harrand 
im  Osten.  Die  Brahui  sind  ein  roher,  abgehärteter  und  unver- 
dorbener Stamm,  dabei  gastfreundlich  und  von  unerschütter- 
licher Treue.  Von  ihnen  räumlich  weit  geschieden  ganz  im 
Süden  der  vorderindischen  Halbinsel  entwickelten  sich  fünf  dra- 
vidische  Cultursprachen,  nämlich  am  Saume  der  Westküste  das 
Tulu  oder  Tulwa,  welches  nur  noch  um  Mangalore  von  etwa 
150,000  Bewohnern  gesprochen  wird,  dann  angrenzend  auf  einem 
schmalen  Küstenstrich  bis  zur  Südspitze  das  Malayalam  oder  Ma- 
labarische,  drittens  von  Cap  Comorin  bis  über  die  Polhöhe  von 
Madras  und  von  dem  Kamm  der  westlichen  Ghat  bis  zum  ben- 
galischen Golf  das  Tamil,  die  Sprache  der  Tamulen,  welcher  auch 
ncch  die  Nordhälfte  von  Ceylon  angehört^).  Sie  wird  von  10 
Millionen  gesprochen  und  besitzt  eine  reiche  alte  Literatur,  wurde 
dorh  schon  nicht  lange  nach  Beginn  unserer  Zeitrechnung  in  Ma- 
dura  unter'  einem  Kenige  des  Pandja  Reiches  eine  tamulische 
Akademie  gestiftet"*).  Das  Auftreten  Tiruvalluvers ,  des  Dichter- 
königs der  Tamulen  fällt  dagegen  in  die  Zeit  von  200  bis  800 
n.  Chr.  Sein  Hauptwerk,  der  Kural  oder  „Kurzzeiler"  mit  vicr- 
und  dreifüssigen  Strophen ,  Anfangsreimen  und  Alliterationen  in 
der  Mitte,  ist  ein  gnomonisches  Gedicht,  mit  Sprüchen  über  die 
sittlichen  Ziele  des  Älenschen,  voll  zarter  und  wahrer  Gedanken, 
aber  krankend  an  "dem  Wahn  der 'Wiedergeburt,  von  der  ailf 
buddhistischem  Wege  eine  Erlösung  erstrebt  werden  soll  5). 

Die  vierte  dravidische  Cultursprache,  das  Telugu,  von  dtn 
Briten  Gentoo  oder  Heidensprache  genannt,  wird  von  14  Millionen 
gesprochen  und  behauptet  sich  längs  der  Ostküste  vom  14.  bis  ig. 
Breitegrad,  von  dem  es  sich  binnenwärt«  bis  etwa  zum  Mittags- 
kreise des  Cap  Comorin  erstreckt.     Von   diesem  angefangen  gegen 


i)  Fr.  Spiegel,  Eränische  Alterthumskunde.    Bd.  i.    S.  333. 

2)  Zeitschrift  für  Kunde  des  Morgenlandes.  Bd.  5.  S.  408. 

3)  vgl,  die  Sprachenkarte  in  Berghaus,  Physikal.  Atlas.  2.  Aufl.  Üthnogr. 
Blatt  14. 

4)  K.  Graul,  im  Ausland.  1855.    S.  1160. 

5)  K.  Graul,  Eibliotheca  Tamulica.  Leipzig  1856.  tom.  III.  p.  XIII. 


1 


^86  I^ie  Dravida  oder  Urbewohner  Vorderindiens. 

Westen  hat  sich  die  fünfte  Dravidasprache,  das  Kannadi  oder  ca- 
naresische,  die  Sprache  Karnatas  über  5  Millionen  Köpfe  ausge- 
breitet. Nur  mundartlich  von  ihm  verschieden  ist  die  Sprache  der 
Tuda,  eines  kleinen  Stammes  in  den  Nilagirigebirgen  unter  dem 
II.  Breitegrade.  Ferner  gehören  noch  zu  den  Dravidavölkern  die 
Gond  in  Gondwana  und  die  Khond  in  Khondistan.  Letztere  waren 
traurig  berühmt  wegen  der  Menschenopfer,  die  sie  jährlich  der 
göttlich  gedachten  Erde  darbrachten.  Einem  britischen  Officier, 
Capitain  Campbell,  gelang  es  jedoch,  in  der  Zeit  von  1837 — 1852 
durch  feierliche  Verträge  einen  Stamm  nach  dem  andern  zur  Ent- 
sagung dieses  grauenvollen  Gottesdienstes  zu  vermögen*). 

Endlich  schliessen  sich  noch  an  die  Vorigen  in  Bengalen 
südlich  vom  Ganga  in  dem  Gebirgszuge  bei  Radschmahal  die 
Paharia  an. 

Alle  diese  Sprachen  und  Mundarten  stehen  sich  geschwister- 
lich nahe,  während  das  Singhalesische  oder  Elu,  welches  auf 
der  südlichen  Hälfte  der  Insel  Ceylon  im  Innern  herrscht,  ihnen 
fremdartig  gegenüber  tritt.  Es  hat  nämlich  weder  die  Fürwörter 
noch  die  Flexionselemente  mit  den  Dravidasprachen  gemeinsam  und 
behauptet  somit  eine  vereinzelte  Stellung,  wenn  auch  der  Sprach- 
typus sich  nicht  ändert,  die  Verbindung  der  einzelnen  Satzglieder 
vielmehr  ganz  ähnlich  wie  in  jenen  erfolgt*).  Somit  besteht,  zu- 
mal sich  die  Körpermerkmale  nicht  ändern,  keine  Nöthigung,  die 
Singhalesen  Ceylons  zu  einer  besonderen  Race  zu  erheben. 

Die  Dravidasprachen  begrenzen  den  Sinn  der  Wurzel  durch 
angehängte  Lautgruppen  und  beobachten  dabei  Gesetze  der  Laut- 
harmonie ^),  die  von  den  Vocalen  des  Suffixes  auf  den  Vocal  der 
Stammwurzel  zurückwirkt,  also  umgekehrt  sich  äussert,  wie  in  den 
altaischen  Sprachen.  Wenn  trotzdem  wegen  der  übereinstimmen- 
den Verfahrungsweise  bei  der  Wortgestaltung  die  Dravidavölker 
unter  die  Glieder  einer  ;,turanischen"  Familie  haben  gezählt  wer- 


1)  Er  selbst  erzählt  uns  alle  Vorgänge  in  einem  umfangreichen  Werke, 
Thirteen  years  Service  amongst  thewild  tribes  of  Khondistan  by  John  Camp- 
bell, London  1864.  Was  er  über  den  Frauenraub  unter  den  Khond  berichtet, 
wurde  bereits  oben  S.  235  mitgetheilt. 

2)  Fr.   Müller,  Reise  der  Fregatte    Novara.    Anthropologiscl er  Theil. 
Bd.  2.    S.  218. 

3)  S.  oben.  -S.  125. 


Die  Dravida  oder  Urbewohner  Vorderindiens.  aSj 

den  sollen,  so  ist  dieser  gewagte  Schritt  schon  von  Sprachkennern  *) 

gemissbilligt  worden,  eine  Völkerkunde  aber,  welche  den  Körper- 
merkmalen das  entscheidende  Gewicht  beilegt,  kann  nur  vor  diesem 
Irrthum  warnen.  In  den  Dravidasprachen  stossen  wir  bereits  auf 
Keime  zur  Unterscheidung  eines  grammatischen  Geschlechtes,  in- 
sofern nämlich  die  Hauptwörter  in  solche  einer  „hohen"  und  in  solche 
einer  „niedern  Kaste"  zerfallen.  Alle  Wörter,  die  höhere  Wesen, 
Menschen,  Götter  oder  Geister  bezeichnen,  gehören  in  die  hohe, 
alle  anderen,  die  Thiere,  sonstige  sichtbare  Gegenstände  und  Be- 
griffe ausdrücken,  in  die  niedere  Kaste*). 

Die  männliche  Form  wird  durch  die  Endsylbe  <f»,  oH,  6n  zu- 
sammengezogen aus  avan  dieser,  die  weibliche  durch  die  Endsylben 
<f/,  al  zusammengezogen  aus  aval^  diese,  gebildet,  es  heisst  daher 
magan^  der  Sohn,  magal  die  Tochter,  Ulan  der  Hausherr,  illäl  die 
Hausfrau^). 


1)  Whitney,  Language  and  the  study  of  language.    p.  327. 

2)  K.  Graul,  Tamil  Grammar  §  ii.    Biblioth.   Tamulica.  tom.  IL  p.  17. 

3)  Fr.  Müller  l.  c.    S.  85. 


V. 

HOTTENTOTTEN  UND  BUSCHMÄNNER, 


In  den  südlichen  Theilen  Afrika's,  der  atlantischen  Küste  nahe, 
vom  indischen  Ocean  nach  Westen  verdrängt,  zum  Theil  in  Horden 
verstreut,  sitzt  eine  Menschenrace ,  die  in  zwei  Abtheilungen  zer- 
fällt, in  die  Hottentotten  und  in  die  Buschmänner.  Der  eine 
Name  bedeutet  Stotterer  und  wurde  ersteren  wegen  ihrer  Schnalz- 
laute zum  Spott  von  den  Holländern  gegeben.  Gegenwärtig 
ersetzt  man  ihn  durch  Koikoin,  was  die  Menschen  heisst,  und 
womit  die  Hottentotten  sich  selbst  bezeichnen.  Der  Ursprung  des 
Namens  Buschmänner  ist  noch  völlig  dunkel,  von  den  Hottentotten 
werden  sie  San  (Plural  von  Sab)  geheissen.  Gemeinsam  ist  beiden 
Abtheilungen  der  büschelförmige  Haarwuchs,  der  aber  auch  bei 
den  anderen  Südafrikanern,  wenn  auch  minder  scharf  ausgeprägt, 
auftritt.  Von  diesen  trennt  sie  zunächst  die  ledergelbe  oder  leder- 
braune Farbe  der  Haut,  welche  letztere  durch  frühe  und  starke 
Runzelung  auffällt.  Auch  sind  ihre  Fingernägel  nie  hell  gefärbt 
wie  bei  den  Bantunegern  ^). 

Die  Frauen  dieser  beiden  Abtheilungen  zeichnen  sich  durch 
Steatopygic  aus*),  eine  Eigenthümlichkeit ,  die  darin  besteht,  dass 
die  Fettpolster  des  Gesässes  oben  treppenartig  vorspringen ,  dann 
aber  allmälig  in  den  Schenkel  übergehen,  also  umgekehrt^),  wie  bei 
allen    übrigen  Menschenracen    gestaltet  sind.     Ein    weniger    gutes 


i)  G.  F ritsch,  Eingeborene  Südafrika's.  S.  264.    S.  279. 

2)Theophilus  Hahn  erzählt  jedoch,  dass  auch  bei  Männern  im 
Jugendalter  diese  Fettbildung  auftritt.  Globus  1867.  Bd.  XII.,  Nr.  ii.  S.  332. 

3)  Nach  dem  Sectionsbefund  der  Afandy,  die  1866  als  Leiche  nach  Tü- 
bingen gelangte.     Archiv  für  Anthropologie.  Bd.  3.  S.  307. 


Hottentotten  und  Buschmänner.  ^^S  i) 

Merkmal  ist  die  Verlängerung  der  /adia  minora  und  des  praeputiuvi 
clitoridis  (Hottentottenschürze)  bei  Frauen,  da  ähnliche  Abweichungen 
nicht  blos  in  Afrika,  sondern  auch  in  Amerika  vorkommen').  Der 
Bart  keimt  nur  spärlich  und  die  andere  Haarbekleidung  des  Körpeis 
grenzt  an  Kahlheit.  Nach  den  Welcker'schen  Messungen  beträgt 
das  Breitenverhältniss  der  Köpfe  nur  69,  da  sich  aber  der  Schädel 
nach  rückwärts  sehr  stark  verbreitert,  so  würde  der  Index,  wenn 
man  an  der  breitesten  Stelle  den  Tasterzirkel  einsetzen  wollte, 
noch  um  ein  paar  Procente  höher  steigen.  Noch  schärfer  aber 
unterscheiden  sich  die  Schädel  bei  der  Betrachtung  des  Hinter- 
hauptes, weil  die  Höhe  selbst  noch  hinter  der  so  geringen  Breite 
zurückbleibt,  so  dass  also  diese  Völker  zu  den  niederen 
Schmalschädeln  gehören.  Die  Kiefern  drängen  in  der  Regel  nach 
vorwärts,  doch  hält  sich  der  Prognathismus  innerhalb  massiger 
Grenzen.  Auch  die  Jochbogen  treten  seitlich  hervor.  Die  Lippen 
sind  zwar  sehr  voll,  aber  nie  so  wulstig  wie  bei  südafrikanischen 
Negern.  In  der  Gegend  der  Nasenwurzel  heben  sich  öfters  die 
Nasenknochen  f^t  gar  nicht  über  ihre  Umgebung  hervor,  so  dass 
die  aufgestülpte  Nase  erst  kurz  über  dem  Munde  hervortritt.  Die 
Augen  sind  schmal  geschlitzt,  aber  nicht  schief  gestellt,  wie 
Barrow^)  behauptet  hat,  der  sich  wahrscheinlich  dadurch  täuschen 
Hess,  dass  die  Koi-koin  zum  Schutze  gegen  das  blendende  Sonnen- 
licht^) ihre  Brauen  zusammengezogen  halten.  Die.  Buschmänner, 
die  alle  diese  Merkmale  mit  den  Koi-koin  gemein  haben,  unter- 
scheiden sich  von  diesen  wieder  durch  Besonderheiten  zweiter 
Ordnung.  Ihre  Grösse  ist  beträchtlich  geringer  als  die  der  Koi- 
koin"^),  doch  werden  die  Horden  westlich  vom  Ngami  See  als 
stattlicher  beschrieben.  Künftigen  Reisenden  bleibt  es  überlassen, 
zu  untersuchen,  ob  nicht  die  Obongo  —  schmutzig  gelbe,  kleine, 
4'  4"  bis  5'  hohe  Menschen  mit  büschelförmig  wachsenden  Haaren, 
aber  nicht  kahler,  sondern  mit  Flaum   stark    bedeckter  Haut,   die 


i)  Dr.  Ploss  in  der  Zeitschrift  für  Ethnologie.  Berlin  1871.  Bd.  3.  S.  381. 

2)  Travels  into  the  interior  of  Southern  Africa.  London  1801.  tom  i.  p.  157. 

3)  Fritsch,  Eingeborene  Südafrika's.    S.  289. 

4)  Barrow  gibt  als  Maxima  der  Leibeshöhe  unter  einer  Horde  Busch- 
männer nahe  am  Orange  River  4'  9"  engl,  für  die  Männer  und  4'  4"  für  die 
Frauen  an.  Travels  into  the  interior  of  South  Africa.  tom.  I.  p.  277. 


4QO  Hottentotten  und  Buschraämier. 

Du  Chaillu  im  äquatorialen  Westafrika')  als  scheue  Waldbewohner 
antral",  ferner  die  zwergenhaften  Acka  oder  Ticki-Ticki,  deren 
Sitze  in  den  Süden  des  UeUe,  also  nicht  mehr  in  das  Nilgebiet 
von  Dr.  Schweinfurth  verlegt  werden"}  und  endlich  die  kleinen 
Doko  iin  Süden  von  Kaffa,  über  welche  Krapf  freilich  aus  einem 
nicht  allzu  glaubwürdigen  Munde  Erkundigungen  einzogt),  die  zu- 
siimmengeschmolzenen  letzten  Reste  einer  ehemals  weitverbreiteten 
Urbeifilkerung  seien,  die  den  Buschmännern  sehr  nahe  stehe*). 

f'if  letzteren  unterscheiden  sich  auch  darin  von  den  Hotten- 
totten, dass  die  Geschlechtsmerkmale  zweiter  Ordnung  bei  ihnen 
mit  einziger  Ausnahme  der  Steatopygie  völlig  fehlen.  Die  Männer 
überra^'L-n  nicht  durch  ihre  Grösse  die  Frauen  und  die  beider- 
seitigen Becken  sind  zum  Verwechseln  ähnlich,  ja  selbst  die 
übrigens  schwache  Entwicklung  der  Brustdrüsen  gleicht  sich  bej 
beiden   'leschlechtern  der  Buschmänner  in  auffallender  Weise^. 

Buschmänner  und  Koi-koin  bilden  eine  gemeinsame  Race,  sie 
sind,  wie  Theophilus  Hahn  bemerkt,  Geschwister  einer  Mutter. 
-Sjirachlich  allerdings  haben  sie  nur  die  Schnalzlaute  gemein,  die 
durch  oin  Anlegen  der  Zunge  an  die  Zähne  oder  an  verschiedene 
Stellen  des  Gaumens  und  durch  ein  rasches  Zurückschnellen  her- 
vorgebracht werden.  Einen  dieser  Schnalzlaute  gebrauchen  Euro- 
päer, um  ihren  Verdruss  auszudrücken,  einen  anderen  hören  wir 
bei  Fuhrleuten,  die  ihre  Rosse  ermuntern.  Ausser  den  Schnalz- 
lauten besteht  zwischen  den  Sprachen  der  San  und  Koi-koin^)  keine 
Aehnlichkeit,  abgesehen  von  wenigen  Worten,  die  beiderseitig  aus- 
getauscht worden  sind').  Die  Mundarten  der  Buschmänner  weichen 
wie  bei  allen  Jägervölkern  stark  auseinander,  doch  bleibt  eine  ge- 
wlific  ^'crwandtschaft  noch  immer  kenntlich*);    auf  welche  Art  sie 


il  Ashango-Laod,  p.  316—330. 

:)  Pctermann'E  Mittbeilnng.  1871.  pag.  138. 

ii  J.  L.  Krapf,  Reisen  in  Oslafrika,  Komthal  1858.  Bd.  i.  S.  76—79. 

4)  üehrn  über  das  Buschmännergebiel  in  Felercaann's  Miltheilangen. 
L838.  S.  21II;  über  die  ZwergTÖlker  in  Ardka  ebendaselbEl.  1871.    S.  139  ff. 

51  Fritsch,  Eingebome  Südafrika's.  S.  407.  S.  415- 

h\  Thcophilns  Hahn,  im  Globus  1870.    3.  Sem.  S.  84- 

71  Fritsch,  drei  Jahre  in  Südafrika.     S.  253— 2S4- 

«]  Iheaphilus  Hahn,  VI.  u.  VII.  Jahresbericht  des  Dresdener  Verein» 
für  lirdl^unde.     S.  71. 


HoltentoUen  und  Buschmänner.  4QI 

aber  bei  der  Wortgestaltung  verfahren,  darüber  fehlt  uns  noch  jede 
Belehrung'). 

Die  Sprache  der  Koi-koin  ist  dagegen  eine  grosse  Merk- 
würdigkeit der  Völkerkunde.  Der  Missionär  Moffat  war  der  erste, 
welcher  entdeckte,  dass  sie  Aehnlichkeit  mit  der  altägypti sehen 
zeige.  Dies  war  auch  die  Ansicht  'von  Lepsius*),  der  wieder 
Pruner  Bey  huldigte^).  Selbst  Max  Müller  hat  diese  Behauptung 
verfochten^)  und  sogar  Whitney  sie  wiederholt 5).  Bleek  endlich 
gibt  zwar  zu,  dass  die  Hottentottensprache  in  den  Lautzeichen  für 
die  Geschlechter  mit  dem  Altägyptischen  und  Koptischen  inniger 
übereinstimme,  als  mit  anderen  Sprachen,  dass  sich  aber  auch 
wieder  Anklänge  an  semitische  Forftien  finden^).  Gegen  die  Ver- 
wandtschaft haben  sich  v.  d.  Gabelentz,  Pott,  Friedr.  Müller  und 
Theophilus  Hahn  ausgesprochen  und  wir  wären  nicht  zu  dieser 
erledigten  Streitfrage  zurückgekehrt,  wenn  sich  nicht  deutlich  aus 
ihr  ergeben  würde,  dass  die  Mundarten  der  Koi-koin  eine  sehr 
hohe  Entwicklung  haben  müssen  und  zwar  eine  so  hohe,  dass  ein 
Sprachforscher  wie  Martin  Haug  ihre  höheren  und  feineren  Be- 
standtheile  „nur  durch  Berührung  mit  einem  civilisirten  Volke" 
«ich  erworben  denken  kann.  Ob  dieses  Volk  das  altägyptische 
gewesen  sei,  müsse  vorläufig  unbeantwortet  bleiben 7).  Für  eine 
solche  Berührung  spricht  jedoch  bis  jetzt  keine  einzige  Thatsache. 
Ehe  daher  nicht  strenge  Beweise  für  solche  Vermuthungen  beige- 
bracht werden,  müssen  wir  vielmehr  darauf  bestehen,  dass  Sprachen 
auch  durch  solche  Völker  verfeinert  werden  können,  welche  ohne 


i)  Eine  Sittenschilderung  der  Buschmänner  wurde    schon    auf   S.   148  fl. 
gegeben.^ 

2)  S.  G.  Morton,    Types  of  mankind.  Philadelphia  1854.  p.  233. 

3)  L'origine  de  Tancienne  race  6gyptienne.  Memoire  lue  ä  la  Soc.  d'An- 
throp.  I.  aoüt  1871.  p.  430.     (Nach  einem  Separatabdruck  wahrscheinlich    aus 

de-m  Bulletin  der  Pariser  anthropoL  Gesellschaft.) 

4)  Science  of  Language.     London  1864.  tom.  II.  p.  ii. 

5)  Language  and  the  science  of  language.  London  1867.  p.  341. 

6)  Reineke  Fuchs  in  Afrika.  Weimar  1870.  p.  XXVIII.  Bleek  hielt 
bis  zu  seinem  Tode  an  der  gemeinsamen  Abkunft  der  Hottentotten-  und  der  semito- 
haraitischen  Sprachen  fest.    Journ.  Anthrop.  Inst.  tom.  I.,  p.  LXXIX. 

7)  Anthropologisches  Correspondenzblatt  1872.  S.  31. 


:r.v, 


492 


Hottentotten  und  Buschmänner. 


Berechtigung  Wilde  genannt  worden  sind.  Die  gesellschaftliche» 
Zustände  unsrer  Vorfahren  zu  Tacitus*  Zeiten  waren  nur  wenig 
besser  als  die  der  Koi-koin  und  dennoch  besass  ihre  Sprache 
schon  damals  arische  Hoheit. 

Das  Nama  und  die  anderen  Mundarten  der  Koi-koin  befestigen 
die  starkabgeschliffenen  Formlaute  am  Ende  der  Wurzel.  Aus  koi 
Mensch  wird  koi-b  Mann,  ^ot-s  Weib,  koi-gu  Männer,  koi-ti  Weiber. 
koi'i  Person,  koi-n  Leute.  Wir  wählen  dieses  Beispiel,  um  hinzuzu- 
fügen, dass  aus  kot  Mensch  koi^si  freundlich,  koi-si-ö  Menschen- 
freund und  kot'Si'S  Menschlichkeit  entsteht^).  Da  sehr  viele  lieb- 
lose Anthropologen  den  alterthümlichen  Volksstämmen  vorgeworfen 
haben,  dass  sich  in  ihren  Sprachen  keine  Ausdrücke  für  Abstrac- 
tionen,  oder  kein  Wort  für  Gott  oder  Moral  finde,  so  wollen  wir 
daran  mahnen,  dass  die  Hottentotten  einst  auf  die  tiefste  Stufe 
gestellt,  das  obige  Wort  für  Humanität  besitzen. 

Da  sie  seit  etlichen  Jahrhunderten  schon  mit  Europäern  und 
Mischlingen  verkehren,  so  müssen  wir  uns  über  ihre  Sitten  und 
Gewohnheiten  durch  die  älteren  Schilderungen  unterrichten  lassen 
und  unter  diesen  ist  die  beste  jedenfalls  die  von  Kolbe  aus  den 
ersten  Jahrzehnten  des  vorigen  Jahrhunderts. 

Die  Hottentotten  waren|^Rindcrhirten  zur  Zeit,  als  sie  die 
Portugiesen  zuerst  zu  Gesicht  bekamen*),  betrieben  aber  keinen 
Ackerbau,  sondern  begnügten  sich  mit  den  wild  wachsenden 
Früchten  und  Wurzeln,  welche  letztere  nicht  eher  ausgegraben 
werden  durfteft,  als  nachdem  die  reifen  Samen  ausgefallen  waren  ^). 
Als  Obdach  diente  ihnen  ein  niedriges,  halbkugelförmiges  Gestell  aus 
Stäben,  die  in  die  Erde  gesenkt,  gebogen,  zusammengebunden  und  mit 
Binsenmatten  gedeckt  wurden.  Lederne  Schürzen  und  Mäntel  bildeten 
die  Bekleidung,  auch  gehörten  die  Hottentotten  zu  den  Sandalen- 
trägern und  es  bedeckten  sich  beide  GeFchlechter,  die  Frauen  aus 
Schamhaftigkeit  den  Kopf  mit  einer  Fellmütze.  Speere,  Wurfstecke 
(Ki'n)  und  Fechterstäbe  zum  Pariren  waren  ihre  Waffen  und  da  sie 


i)  Xama  Grammatik  von  Th.  Hahn,  in  dem  VI.  und  VII.  Jahres- 
bericht des  Dresdner  Vereins  für  Erdkunde.    S.  32. 

2)  Die  Angra  dos  Vaqueiros  oder  der  Landungspunkt  des  Bartho- 
lomeu  Dias  (Barros,  Da  Asia,  Dec.  I.,  livro  III.,  cap.  4)  war  die  heutige 
Algoabni.     Peschel,   Zeitalter  der  Entdeckungen.  S.  94. 

3)  Kolbe,  Vorgebirge  der  guten  Hoffnung.  S.  460. 


Hottentotten  und  Buschmänner.  4g3 

jagten ,  führten  sie  auch  Bogen  und  Pfeile ,  welche  letztere  ver- 
giftet wurden.  Wie  alle  Afrikaner  verstanden  sie  Eisenerze  aus- 
zuschmelzen  und  das  Metall  zu  verarbeiten.  Ebenso  war  das  Ab- 
richten der  Reitochsen  von  Alters  her  bei  ihnen  gebräuchlich. 
Gekocht  wurde  in  Thongeschirren.  Aus  Honig  bereiteten  sie  ein 
berauschendes  Getränk,  wie  denn  \hr  starker  Hang  zu  solchen 
Genussmitteln  das  Branntweintrinken  später  bis  zu  einem  natio- 
nalen Laster  hat  ausarten '  lassen.  Dazu  gesellte  sich  schon  seit 
Janger  Zeit  das  schädliche  Rauchen  von  Dacha  oder  Hanf,  welches 
sie  mit  den  B^ntunegern  gemein  haben.  Durch  ihre  Unreinlich- 
keit  haben  sie  sich  wohl  am  meisten  die  Geringschätzung  der 
Europäer  zugezogen.  Der  unglaublich  klingende  Gebrauch,  dass 
beim  Abschluss  einer  Heirath  der  Schamane  das  Brautpaar  mit 
seinem  Urin  besudelt,  soll  wirklich  bei  dep  Namastamme  noch 
jetzt  fortdauern*).  Vergessen  wir  jedoch  nicht,  dass  die  Neapoli- 
taner und  Iren,  sowie  die  Zigeuner  trotz  ihrer  Unsauberkeiten  zu 
den  Gliedern  der  arischen  Völkerfamilie  gehören,  sowie  dass  dem 
brahmanischen  Hindu  als  Reinigung  von  allerhand  Sünden  das 
Trinken  von  Rinderharn  vorgeschrieben  worden  war.  Rachsucht, 
geringe  Ehrfurcht  vor  den  Eltern  und  das  Aussetzen  der  Alters^ 
schwachen  in  Einöden  sind  ebenfalls  Flecken  im  Charakter  der 
Hottentotten.  Ihr  Hang  zur  Freiheit  oder  deutlicher  gesprochen 
zum  Müssiggang  hat  ihre  Kopfzahl  stark  vermindert  und  ihr  gänz- 
liches Aussterben  wird  sich  schwerlich  abwenden  lassen.  Sie  lebten 
in  Horden  unter  Häuptlingen,  die  ihr  Ansehen  mit  den  Aeltesten 
einer  Gemeinde  theilten.  Bisweilen  haben  wohl  auch  die  einzelnen 
Horden  Bündnisse  zur  Abwehr  gemeinsamer  Feinde  geschlossen. 
Noch  jetzt  nennen  sich  die  Kei-j^^hous  oder  das  „rothc  Volk" 
einen  königlichen  Stamm*),  woraus  vielleicht  geschlossen  werden 
darf,  dass  ehemals  die  Koi-koin  wenn  auch  nur  kurze  Zeit  zu 
einer  Nation  von  einem  begabten  Herrscher  vereinigt  waren.  Die. 
Vielweiberei  ist  verstattet,  aber  selten.  Kolbe  rühmt,  dass  nie 
eine  Frau  misshandelt  werde  ^),  doch  bestätigen  neuere  Beobachter 
nicht  das  Gleiche;  vielleicht,  dass  die  besseren  alten  Sitten  durch 


i)  Kolbe    S.  453.    Theophilus  Hahn,    VII.  Jahresbericht  der  Dresd- 
ner Geogr.  Ges.  S.  9. 

2)  Fritsch,  Eingeborne.  S.  361. 

3)  1.  c.  S.  552. 


494 


Hottentotten  und  Buschmänner. 


das  schlechte  Beispiel  der  Boeren  verdorben  worden  sind.  Wie 
die  benachbarten  Bantuneger  zeigen  sich  die  Koi-koin  bei  öffent- 
lichen Gerichtsverhandlungen  in  allen  forensischen  Künsten  be- 
wandert.  Die  Pflichten  der  Blutrache  sind  nicht  völlig  erloschen, 
doch  begnügt  man  sich  meistens  mit  Entrichtung  von  Wergeldern. 

Ueber  die  Religionsschöpfungen  dieser  merkwürdigen  Be- 
völkerung herrscht  noch  grosse  Dunkelheit.  Gewiss  ist  nur,  dass  die 
Koi-koin  den  männlich  gedachten  Mond  verehren.  Ihren  Glauben 
an  eine  Fortdauer  der  Entschlafnen  bezeugt  die  Sitte,  dass  sie 
den  Leichen  bei  der  Beerdigung  eine  Stellung  wie  im  Mutter- 
schoosse  geben,  auch  brechen  sie  ihren  Kraal  sogleich  nach  jedem 
Todesfall  ab,  um  sich  aus  der  Nähe  des  Grabes  z\i  entfernen. 
Ahnendienst  ist  streng  nachgewiesen  worden  bei  der  Koranahorde, 
welche  im  Tsui-^pab  einen  grossen  Häuptling  früherer  Zeiten  ver- 
ehrt *).  Weit  schwieriger  ist  es  zu  entscheiden ,  ob  der  hotten- 
tottische Heitsi  -Eibib  ein  geschichtlicher  Held  gewesen  sei.  Zu 
seinem  Andenken  häufen  sie  Steine  auf  Steine  zu  Grabhügeln 
und  ihm  zu  Ehren  werden  Tänze  aufgeführt,  sodass  die  Namaqua 
von  Stammesgenossen  sagen  „sie  tanzen  noch'*  oder  „sie  tanzen 
nicht  mehr**,  je  nachdem  sie  ein  Verharren  im  Heidenthum  oder 
eine  Bekehrung  zum  Christenthume  ausdrücken  wollen.'  Wenig 
Aufschluss  gewähren  die  Fabeln,  welche  über  Tod  und  Thaten 
dieses  räthselhaften  Wesens  erzählt  werden*).  Mehr  als  einmal  soll 
er  gestorben  und  wieder  geboren  worden  sein,  so  dass  Viele  ihn 
mit  der  Mondgottheit  für  eins  halten^).  Unter  den  Hottentotten, 
gab  es  auch  Schamanen,  die  über  Regen  und  Sonnenschein  Ge- 
walt ausübten  und  die  Geister  der  Krankheiten  austrieben.  Natür- 
lich fand  sich  auch  der  Glaube  an  Zaubermittel  vor,  doch  stiftete 
die  Hexenverfolgung  lange  nicht  soviel  Unheil  an,  wie  bei  den 
Bantunegern. 

Wer  die  hohe  Entwicklung  ihrer  Sprache  zu  würdigen  ver- 
steht, wer  ausserdem  zu  schätzen  weiss,  dass  die  Hottentotten 
fremde  Sprachen  leicht  erlernen  und  tadellos  sprechen,  wer  nach 
den  Mustern  im  Reineke  Fuchs  von  Bleek    ihre  Gabe  bewundert. 


1)  Fiitsch,  Eingeborne.  S.  338. 

2)  Bleek,  Reineke  Fuchs.     S.  59—64. 

3)  Theophilus  Hahn,    Die  Nama-Hottentotten.     Globus  1867.    Bd.  12. 
S.  276. 


Hottentotten  und  Buschmänner. 


495 


Thierfabeln  fremden  Ursprungs  für  afrikanisches  Verständniss  um- 
zugestalten, der  wird  nicht  länger  dulden,  dass  die  Koi-koin  zu 
den  niedrigsten  Menschenracen  gezählt  werden,  ja  er  wird  ihnen 
sogar  unter  den  Ilalbculturvölkern  eine  möglichst  hohe  Stellung 
zuerkennen.  Gewiss  besassen  sie  für  gesellschaftliche  Verbesserungen 
alle  Anlagen,  aber  die  Wasserarmuth  Südafrika's,  welche  seine 
Bewohner  zwingt,  immer  wieder  zu  wandern,  hat  ihr  Sesshaft- 
werden  verhindert  und  damit  war  auch  eine  grössere  Verdichtung 
der  Bevölkerung  ausgeschlossen. 

Ehe  wir  diesen  kurzen  Abriss  schliessen,  möchten  wir  noch 
auf  ein  merkwürdiges  Zusammentreffen  absonderlicher  Aehnlich- 
keiten  zwischen  den  Koi-koin  und  den  Fidschipapuanen  aufmerk- 
sam machen.  Nicht  nur  ist  der  büschelförmige  Haarwuchs  und 
die  schmale  Schädelform  beiden  gemeinsam,  sondern  es  ist  auch 
innerhalb  der  papuanischen  Race  bei  Frauen  Neigung  zur  Steato- 
pygie  vorhanden ').  Weniger  Gewicht  dürfen  wir  darauf  legen,  dass 
bei  beiden  Menschenstämmen  Männer  und  Frauen  getrennt  speisen, 
denn  dieser  Brauch  kehrtauch  häufig  anderwärts  wieder.  Merkwürdiger 
ist  es  schon,  dass  die  Fidschi-Frauen  zur  Trauer  über  Todte  sich 
Fingerglieder  abschneiden  und  dass  diese  Verstümmelung  auch  bei 
den  Koi-koin  vorkommt  und  zwar  in  der  Regel  vorzugsweise  beim 
weiblichen,  seltener  beim  männlichen  Geschlecht.  Seltsam  ist  aber 
geradezu  das  Zusammentreffen  der  Sagen  über  die  Sterblichkeit 
des  Menschengeschlechtes.  Zwei  Götter,  erzählen  die  Fidschi, 
stritten  darüber,  ob  nicht  den  Menschen  ein  ewiges  Leben  zu- 
kommen solle.  Ra-Vula,  der  Mond,  wollte  uns  einen  Tod  gönnen, 
wie  den  eignen,  das  heisst,  wir  sollten  eine  Zeit  lang  verschwinden, 
und  dann  erneuert  wiederkehren.  Ra-kalavo,  die  Ratte  jedoch 
verwarf  den  Vorschlag.  Die  Menschen  sollten  vielmehr  sterben, 
wie  die  Ratten  sterben  und  Ra-kalavo  behielt  Recht ^).  Die  Koi- 
koin  dagegen  haben  nach  Andersson^)  die  Sage  folgendermaassen 
gestaltet.  Der  Mond  trug  dem  Hasen  die  Botschaft  an  den  Menschen 
auf:  wie  ich  sterbe  und  wieder  erneuert  werde,    so   sollt  auch  ihr 


i)  Wenigstens  Lei  den  Anwohnern  des  Utanataflusses  in  Neuguinea. 
Natuurlijke  Geschiedenis  der  nederlandsche  overzeesche  bezittingen.  Land-  en 
Volkenkunde  door  Salomon  Müller,  fol.  45. 

2)  Williams,  Fiji  and  the  Fijians.  tom.  I.  p.  205. 

3)  Lake  Ngarai.  London  1856.  p.  342. 


|(i()  Hottentotten  und  Buschmänner. 

sterben  und  wieder  lebendig  werden.  Der  Hase  richtete  die  Bot- 
schaft jedoch  verkehrt  aus,  denn  er  gebrauchte  die  Worte:  wie  ich 
sterbe  und  nicht  wieder  geboren  werde.  Als  er  dem  Monde 
seinen  Missgriff  gestanden  hatte,  schleuderte  dieser  ergrimmt  einen 
Stecken  nach  dem  Hasen,  der  diesem  die  Lippen  aufschlitzte. 
Auch  ergriff  der  ungetreue  Bote  die  Flucht  und  streift  noch  heute 
flüchtig  auf  der  Erde*). 

Wie  verführerisch  ist  es  nun,  das  Zusammentreffen  entscheiden- 
der Körpermerkmale,  sonderbarer  Sitten  und  sogar  einer  eigen- 
thümlichen  Sage  entweder  dadurch  zu  erklären,  dass  die  Koi-koin 
und  papuanischen  Fidschi  von  gemeinsamen  Voreltern  der  Urzeit 
abstammen  oder  wenigstens,  dass  sie  ehemals  so  nahe  neben  ein- 
ander sassen,  um  Sitten  und  Sagen  auszutauschen.  Dennoch  ist 
weder  das  eine  noch  das  andere  glaubwürdig.  Bei  schärferer  Unter- 
suchung unterscheiden  sich  die  Koi-koin  durch  die  Farbe  der 
Haut,  durch  den  Mangel  an  Leibhaaren,  durch  die  geringe  Höhe 
ihrer  Schädel  hinreichend  von  den  Fidschi.  Das  Abschneiden  der 
Fingerglieder  wird  bei  den  Koi-koin  in  der  Jugend  vollzogen  und 
scheint  irgend  ein  abergläubisches  Schutzmittel  gewähren  zu  sollen  *), 
kommt  übrigens  auch  bei  Polynesiern  und  auf  den  Nikobaren  vor  ^). 
Somit  bleibt  nur  die  übereinstimmende  Verknüpfung  des  Mondes  mit 
der  Unsterblichkeitshoffnung  übrig.  Allein  sie  bestätigt  blos  den 
alten  Satz,  dass  derselbe  Gedanke  bei  den  verschiedenen  Spielarten 
unsers  Geschlechtes  in  verschiedenen  Räumen  und  zu  verschiedenen 
Zeiten  durch  die  nämlichen  Gegenstände  angeregt  worden  sei.  Das 
psychische  Einerlei  der  Menschennatur  sollte  also  fernerhin  nicht 
mehr  bestritten  werden. 

1)  Eine  andere  Wendung  des  UnsterbUchkeitsmythus  findet  sich  bei  den 
Bantiinegern.     Casalis,  Les  Bagsoutos.  Paris  1859.  p.  255. 

2)  Bei  Maclean,  Kafir  laws  and  customs,  p.  93,  wird  derselbe  Gebrauch 
von  Kafim  berichtet.  Auch  die  Buschmänner  sollen  die  vorderen  Glieder  der 
Finger  vom  kleinen  an  der  linken  Hand  angefangen  bei  Erkrankungen  opfern 
in  der  Meinung,  dass  mit  dem  abrinnenden  Blute  die  Krankheit  sich  ent- 
fernen werde.  Barrow,  Travels,    tom.  I.,  p.  289. 

3)  Tylor,  Anfange  der  Cultur.  Bd.  2.  S.  402. 


VI. 

DIE  NEGER. 

Die  Neger  bewohnen  Afrika  vom  Südrande  der  Sahara  an- 
gefangen bis  in  die  andere  Halbkugel  zu  dem  Gebiete  der  Hotten-  * 
totten  und  Buschmänner,  sowie  vom  atlantischen  Meere  bis  zum 
indischen  Ocean,  nur  dass  d^r  äusserste  Osten  ihres  Welttheiles 
von  eingedrungenen  Hamiten  und  Semiten  ihnen  abgerungen 
worden  ist.  Die  meisten  Neger  tragen  hohe  und  schmale  Schädel. 
Die  mittleren  Procentsätze  der  Breite  beginnen  nach  Welcker  bei 
68  und  erheben  sich  bis  71,  sinken  in  einzelnen  Fällen  unter  63 
und  steigen  in  anderen  bis  78  herauf.-  Die  Schwankungen  ge- 
niessen  einen  solchen  Spielraum,  dass  Barnard  Davis')  unter  18 
Köpfen  des  äquatorialen  Afrika  nicht  weniger  als  vier  Breitschädd 
fand.  Bei  der  Mehrzahl  gesellt  sich  dazu  ein  Vortreten  des  Ober- 
kiefers und  eine  schiefe  Stellung  der  Zähne,  doch  gibt  es  wiederum 
ganze  Völkerschaften,  die  völlig  mesognath  sind.  Einer  gehässigen 
Schule  von  Völkerkundigen  war  der  Neger  zum  Inbegriff  alles 
Rohen  und  Thierartigen  geworden.  Jede  Entwicklungsfähigkeit 
suchte  sie  ihm  abzustreiten,  ja  seine  Menschenähnlichkeit  in  Zweifel 
zu  ziehen.  Der  Neger,  wie  ihn  das  Lehrbuch  erforderte,  vereinigte 
mit  einem  eirunden  Schädel,  einer  flache-  Stirn  und  einer  Schnauzen- 
form wulstige  Lippen,  eine  breitgequetschte  Nase,  kurzes  ge- 
kräuseltes Haar,  falschlich  Wolle  genannt,  schwärzliche  oder 
schwarze  Hautfarbe,  lange  Arme,  dünne  Ober-,  wadenlose  Unter- 
schenkel, allzu  stark  verlängerte  Fersenbeine  und  Plattfüsse.  Den 
vollen  Zubehör  dieser  Hässlichkeit  besitzt  wohl  kein  einziger 
afrikanischer    Stamm*).      Die    Hautfarbe    durchläuft    vielmehr    alle 

1)  Thesaurus  crapiorum.   p.  210. 

2)  Der  typische  Neger,  sagt  Winwood  Reade  (Savage  Africa,  p.  516)  ist 
selbst  unter  Negern  eine  seltene  Spielart. 

Peschel,  Völkerkunde.  32 


498  i^ie  Neger. 

Stufen  von  Ebenholzschwärze  wie  bei  den  Joloffern  bis  zur  hellen 
Mulatienfarbe  bei  den  Wakilema,  während  Barth  ^)  sogar  kupfer- 
rothe  Neger  in  Marghi  beschreiben  kann.  Am  Schädel  ver- 
schwinden bei  vielen  Stämmen  wie  bei  den  erwähnten  Joloffern  die 
vorstehenden  Kiefern  sammt  den  wulstigen  Lippen^).  Die  Nasen 
sind  bei  manchen  Horden  zugespitzt^),  gerade  oder  gebogen'*), 
man  spricht  sogar  von  „griechischen  Profilen"  und  Reisende  äussern 
betroffen,  dass  sie  unter  Negern  „nichts  vom  sogenannten  Neger- 
typus" wahrnehmen  körinen^). 

Nach  den  Untersuchungen  Paul  Broca's^)  sind  die  oberen  Glied- 
massen des  Negers  verglichen  mit  den  unteren  viel  kürzer,  demnach 
minder  affenartig  als  beim  Europäer  und  wenn  auch  der  Neger  durch 
die  Länge  der  Speiche  sich  den  Affenverhältnissen  mehr  nähert,  so  ent- 
fernt er  sich  von  diesen  wieder  durch  die  Kürze  des  Oberarmbeines 
mehr  als  der  Europäer.  Vorherrschend  ist  bei  den  Negern  aller- 
dings der  schmale  mehr  oder  weniger  hohe  Schädel.  Als  be- 
harrliches, allen  gemeinsames  Merkmal  aber  lässt  sich  nur  eine 
mehr  oder  weniger  starke  Dunkelung  der  Haut,  nämlich,  gelb, 
kupferroth,  olivenfarbig,  dunkelbraun  bis  ebenholzschwarz  angeben. 
Immer  übersteigt  die  Farbe  eine  südeuropäische  Bräunung.  Dazu 
gesellt  sich  das  meistens  kurze  Haar,  elliptisch  im  Querschnitt, 
häufig  der  Länge  nach  gespalten  und  stark  gekräuselt.  Bei  den 
Negern  Südafrika's,  besonders  bei  Kafirn  und  Betschuanen  verfilzt 
es  sich  büschelförmig,  wenn  auch  nicht  so  stark  wie  bei  den 
Hottentotten 7).  Das  Haar  ist  schwarz,  im  Alter  weiss,  doch  gibt 
es  auch  Neger  mit  rothen  Haaren ,  rothen  Brauen  und  rothen 
Wimpern*),  ja  Schweinfurth  hat  sogar  graublonde  Neger  unter  den 


i)  Nord-  und  Centralafrika.  Bd.  2.  S.  465. 

2)  Mungo  Park,  Reisen.  Berlin  1799.  S.  14. 

3)  Bei  den  Batonga  zwischen  den  Camerunbergen  u.  dem  Gabun.   Win- 
woüd  Reade,  Savage  Afrika,    p.  515. 

4)  Bei    den    Quissamanegern    in   Angola.     Hamilton,   Journal    of  the 
Anthropol.  Institute.   London  1872.   tom.  I.,  p.  187. 

5)  z.  B.  Hugo  Hahn  bei  den  Ovakuengama  und  Ovambo.    Petermann's 
MiitheDungen  1867.    S.  291. 

6)  Anthropological  Review.    London  1869.    tom,  VH,  p.  199 — 200. 

7)  S.  oben  S.  99. 

8)  z.  B.  am  Gabun,  vgl.  Walker  im  Journal  of  the  Anthropological  So- 
ciety. London  1868.    vol.  VI,  p.  LXII. 


Die  Neger.  ^gg 

Monbuttu  am  Uelle  entdeckt').  Leibhaar  und  Bartwuchs  sind  vor- 
handen, wenn  auch  nicht  reichlich,  Backenbärte  selten,  wenn  auch 
nicht  ganz  unerhört*). 

Die  Neger  bilden  nur  eine  einzige  Race,  denn  die  vorherrschen- 
den  wie  die  beharrlichen  Merkmale  kehren  in  gleicher  Weise  in 
Südafrika  so  gut  wieder  wie  in  Mittelafrika,  es  war  daher  ein 
Missgriff,  die  Bantuneger  als  eine  besondere  Race  abzutrennen, 
Wohl  aber  kann  -  man  der  Sprache  nach  die  Südafrikaner  sehr 
streng  als  eine  grosse  Familie  von  den  Sudannegern  absondern. 


I)  Bantuneger. 

Ihnen  gehört  Südafrika,  soweit  es  überhaupt  bekannt  ist,  vom 
Aequator  angefangen,  ja  ihre  Sitze  reichen  sogar  noch  bis  in  die 
nördliche  Erdhälfte  bis  etwa  zum  5.  Breitegrade  hinauf.  Ihre 
Sprachen  kennen  wir  bereits^)  an  ihren  eigenthümlichen  sinnbe- 
grenzenden Präfixen,  ausserdem  aber  ist  ihnen  allen  eine  grosse 
Anzahl  von  Wurzeln  gemeinsam.  Zur  bessern  Uebersicht  kann 
man  sie  in "  Ost-,  West-  und  Binnenstämme  eintheilen  *).  Die  Ost- 
stämme zerfallen  wieder  in  sansibarische,  zu  denen  die  Suaheli 
gehören,  in  Mosambique-Völker  von  der  Küste  bis  zum  Nyassa- 
See,  in  die  Betschuanen  weiter  im  Innern,  endlich  in  die  soge- 
nannten Kafirn.  Zu  den  Binnenstämmen  werden  die  noch  wenig 
bekannten  Horden  der  Ba-yeiye,  Ba-lojazi,  Ba-toka,  Barotse 
u.  s.  w.  gezählt.  Gliederreicher  sind  die  Weststämme  in  den 
atlantischen  Gebieten.  Sie  zerfallen  erstens  in  die  Bundavölker,  zu 
denen  die  Herero^)  (fälschlich  Damara  genannt),  die  Ovambo  und 
ihre  Verwandten,  die  Nano  oder  Ba-nguela  in  Benguela,  die 
A-ngola  in  Angola,  zählen.  Das  zweite  Glied  der  westlichen 
Gruppe  vertreten  die  Kongoneger,  nämlich  die  eigentlichen  Kongo 
und  die  Mpongwe.     Endlich    gehören   zu  einer  dritten  Abtheilung 


1)  S.  oben  S.  97. 

2)  S.    oben    S.    loi — 102.    Gerhard  Rohlfs.     Keise    von   Kuka    nach 
Lagos.     Petermann's  Mittheilungen.     Ergänzungsheft  Nr.  34.     S.  15. 

3)  S.  oben  S.  125  ff. 

4)  vgl.  A.  Bacmeister  im  Ausland  1871.    S.  580. 

5)  Ihre  Sprache  dient  im  Verkehr  auch  vielen  anderen  Stämmen.    Hugo 
Hahn,  Petermanns  Mittheilungen  1867.    S.  290. 

32* 


500 


Die  Negei. 


eine  Anzahl  Nordwestsprachen,  wie  die  der  Ba-kele  im  Di-kete,  der 
Benga  am  Gabun,  der  Dualla  in  den  Camerun bergen,  der  Isubu 
und  der  neu  eingewanderten  ganz  nackten  Adiya  der  Insel  Fer- 
nando I'o').  Endlich  sind  hier  auch  noch  die  merkwürdigen  Ba- 
fan  oder  Fanneger  zu  erwähnen,  welche  vor  nicht  langer  Zeit  aus 
dem  Inoern  nach  der  Küste  wanderten  und  sonderbar  gezackte 
Wurfeisen'),  wie  fiie  Sandeh  oder  Niamniam  sowie  hamitische 
Stämme-  in  Nubien  verfertigen. 


2.    Die   Sudanneger. 

Wir  beginnen  ihre  Aufzählung  am  Niger  und  schreiten  nach 
Westen  fort,  um  uns  dann  hufeisenförmig  nach  dem  Gebiet  des 
weissen  Nils  zurück  zu  wenden.  Im  unteren  Laufe  des  Niger 
wird  die  Ibo-,  vom  Benue  aufwärts  die  Nuffisprache  geredet,  die 
Licide  noch  nicht  untersucht  sind.  Westwärts  folgt  die  Ewlie- 
sprachc,  die  als  Mundarten  das  Joruba,  das  Dahome  und  das 
binneiiM'ärts  von  diesem  auftretende  Mahi  umfasst.  Linguistisch 
verwandt  sind  den  vorigen  die  Sprachen  der  Neger  an  der  Gold- 
küste,  \velche  das  Odschi  reden  wie  die  Aschanti,  Akim,  Akwa- 
pim,  Akwambu,  sowie  die  Akra.  An  der  Zahn-  und  PfefTerküste 
sitzen  eine  Menge  Horden,  unter  denen  die  Kru  wegen  ihrer 
heroischen  KörpergrÖsse  und  ihrer  Seetüchtigkeit  am  bekanntesten 
sind.  Sprachlich  stehen  sie  den  Aschanti  und  Fanti  näher  als  den 
Mandini^'o,  von  denen  sie  indessen  viele  Worte  entlehnt  haben. 
Das  Miinde  oder  die  Sprache  der  Letztern  zerialit  in  eine  Menge 
Mundarten.  Zu  diesen  gehört  die  der  schriftkundigen  Vei^),  so 
«ie  das  Soso    und   Bambara.     Diese    letzteren    Sprachen    gestalten 


gefunden.     Die  Adiya  dagegen  stammen  aus 

dem  Gsbungebiel,    von    wo   sie 

durch  diid  Mpongwe  vetiirängt  wurden.     Wi 

nwood  Rcade,  Savage  Africa. 

]i.  6j.  Dui   Marne  Adiya  soll  indessen  nur  Dorfbewohner  bedeulcn.     Bastian, 

San  SaK.idiir.    Bremen  1859.    S.    317. 

ZJ  Utj  ChaiHu.  Euploralions    and  advc 

nlures,    London  1861.  p.  79.     Es 

ist  mÖEii.h,    dass  ihnen    der  Name  Ba-fan   r 

ur  von  ihren  Nachbarn  gegeben 

worden  isl,   dann  aber  würden  sie  vielleichl 

in  eine  gani  andere  Gruppe  ge- 

stellt  neiden  müssen. 

31  S.  -«-.  Koelle,  Outline-  of  a  Gram 

nar  of  tlie  \"ei  Language.     Lon- 

Die  Neger.  501 

das  Wort  durch  Wurzelansätze  und  zwar  treten  ihre  Suffixe  zum 
Theil  noch  selbstständig  auf,  so  dass  sich  aus  ihrem  Gebrauch 
die  Bedeutung  ihrer  Sinnbegrenzung  erklären .  lässt ').  Die  Mande- 
neger  haben  sich  etwa  zwischen  dem  10.  u.  15.  Breitegrade 
von  der  Küste  bis  an  den  Oberlauf  des  Niger  verbreitet.  Zwischen 
Gambia  und  Senegal,  welcher  letztere  Strom  wie  in  Vorzeiten 
Neger  und  Berber  scheidet,  sitzen  die  Joloffer,  die  schönsten 
Negerstämme,  deren  Sprache  noch  vereinzelt  steht.  Auf  dem  kleinen 
Raum  zwischen  dem  Gambiastrom  und  Scherboro  sind  die  glieder- 
reichen Sprachen  der  Sererer  oder  Sdrar-  und  Fulupfamilie  zu- 
sammengedrängt, bei  denen  Präfixe  ähnlich  wie  bei  den  Bantu- 
negern  auftreten*). 

Begeben  wir  uns  nun  binnenwärts  in  die  Länder,  die  zum 
Gebiete  des  Nigerstromes  gehören,  so  stossen  wir  sogleich  auf 
einen  räthselhaften  Volksstamm,  der  erobernd  bis  tief  in  das  Innere 
vorgedrungen  ist.  Es  sind  die  Fulbe  (Singular  Pulo),  von  den 
Mandingo  Fulah,  von  den  Haussaua  Fellani,  von  den  Kanuri 
Fellata  genannt.  Der  Name  Fulbe  bedeutet  die  „Gelben"  oder 
„Braunen"  und  sollte  den  Gegensatz  zu  schwarzen  Negern  aus- 
drücken^). Mungo  Park^),  der  sie  im  Westen  sah,  rühmt  ihre 
helle  Farbe  und  ihr  seidenglänzendes  Haar.  Eine  wohlgebildete 
Nase  und  kleine  Lippen  werden  ihnen  allgemein  zugeschrieben, 
aber  derartige  Besonderheiten  kommen  auch  bei  anderen  Negern 
vor  und  wechseln  zu  stark,  um  für  eine  Racenbestimmung  zu  ge- 
nügen. Obendrein  bemerkt  Barth  5),  dass  schon  im  Alter  von  20 
Jahren  „ein  affenartiger  Ausdruck  ihre  kaukasischen  Gesichtszüge 
verwische**.  Durch  Würde,  Schliff,  strenge  Achtung  des  Eigen- 
thums,  sowie  Kunstgeschmack  unterscheiden  sich  die  Fulbe  sehr 
günstig  von  den  übrigen  Afrikanern.  Ihr  Typus  hat  übrigens 
durch  Mischung  mit  Negerfrauen  seine  Reinheit  längst  eingebüsst. 
Imifierhin  fand  Rohlfs^)  im  mittleren  Theile  des  Reiches  Sokoto, 
also  tief  im  Innern  unter  den  Fulbe  noch  etliche  von  gelber,  fast 


r)  Ste-inthal,    Die  Mandenegersprachen.     Berlin  1867.    §.  129.   S.  67. 

2)  Koelle,  Polyglotta  africana.    London  r854.    foL  r. 

3)  Koelle,  Polyglotta  africana.    fol.  18. 
4]  Reisen  im  Innern  von  Afrika.    S.  14. 

5)  Nord-  und  Centralafrika.     Bd.  2.    S.  544. 

6)  Ergänzungsheft  Nr.  34  zu  Petermann's  Mittheilungen    1872.    S.  45. 


502  I^i«  Neger.  * 

weisser  Farbe  und  „europäischer  Gesichtsbildung**.  Nur  das  Haar 
war  „glänzend  schwarz  und  kraus***).  Wenn  wir  also  allein  von 
der  Beschaflfenheit  des  Haares  uns  leiten  lassen  wollten,  müssten 
wir  diese  Fulbe  zu  den  Negern  zählen.  Rohlfs  erwartet  übrigens 
nur  von  den  Spracherforschungen  Aufschluss  über  die  Stellung 
dieses  Stammes  m  einem  Lehrgebäude  der  Völkerkunde.  Ihre 
Sprache  hat  aber  nach  Barth's*)  Ausspruch  zwar  viel  Gemeinsames 
mit  dem  Hausa,  allein  dies  beruhe  auf  späteren  Entlehnungen. 
Ferner  sind  in  den  Zahlwörtern  wieder  Anklänge  zu  den  Präfix- 
sprachen in  Südafrika  zu  erkennen  und  endlich  besteht  eine  jwirk- 
liche  Verwandtschaft  zu  der  Sprache  der  Joloffer,  die  echte  Neger 
sind,  'so  wie  mit  dem  Kadschaga,  der  Sprache  des  ehemaligen 
Reiches  Ghana,  welche  gänzlich  vereinsamt  steht.  Am  Senegal 
waren  die  Fulbe  nicht  heimisch ,  sondern  sie  lebten  als  Viehzüchter 
und  Jäger  im  7.  Jahrh.  nach  Chr.  noch  in  den  Oasen  von  Tauat 
und  südlich  von  Marokko,  empfingen  auch  Erziehungsmittel,  wie 
den  Anbau  von  Reis  und  der  Baumwolle  aus  den  Händen  der 
Kadschaga.  Entweder  stellen  sie  also  eine  extreme  Abweichung 
der  Negerrace  oder  ein  frühzeitiges  Mischlingsvolk  von  halb  ber- 
berischem, halb  sudanischem  Blute  dar.  Eine  eigene  Race  aus 
ihnen  zu  bilden  oder  in  grauen  Vorzeiten  eine  Einwanderung 
aus  Asien  ihnen  zuzumuthen,  muss  anderen  mit  Einbildungskraft 
besser  ausgestatteten  Völkerkundigen  überlassen  werden. 

Am  mittleren  Laufe  des  Niger  sitzen  die  Sonrhay,  deren 
Sprache  gänzlich  isolirt  steht.  Zu  bemerken  ist  jedoch,  dass  nach 
Barth's  Ansichten  die  Sprachen  der  Völker,  die  dem  Südrande  der 
Sahara  zunächst  sitzen,  ihre  grammatische  Ausbildung  erst  durch 
Berührung  mit  Berbern  und  Arabern  empfingen.  Vor  dieser  Zeit 
„besassen  sie  weder  Declination  noch  Conjugation,  sondern  knüpften 
die  Infinitive  oder  Substantive  Verbalwurzel  einfach  an  einen  Gegen- 
stand oder  eine  Person  an**.  Das  Berberische  wirkte  übrigens  in 
diesem  Sinne  ungleich .  mächtiger  als  das  Arabische  3). 

Zwischen  dem  Niger  und  Bornu  wird  das  wohlklingende  und 
formenreiche  Hausa  gesprochen.     Es  besitzt  einige  Verwandtschaft 

i)  Cailli6  (Voyage  ä  Tembouctou.    Paris  1830.  tora.  I,  p.  328)  sagt  das 
nämliche  von  den  Fulbe  in  Futa-Djalon. 

2)  Petermann's  Mittheilungen  1863.  S.  373. 

3)  Heinr.  Barth.    Centralafrikanische  Vocabularien.     Gotha  1862.    pag. 
XXV ITI  sq. 


i.- 


Die  Neger.  ^03 

in  den  Zahlwörtern  mit  dem  Altägyptischen  und  wird  von  Lepsius') 
sogar  zu  den  libyschen  Sprachen  gezählt,  doch  beruhen  diese  Aehn- 
lichkeiten    wohl    nur    auf  Entlehnung.     Merkwürdig    ist    es,    dass 
Herodot  die  Hausa   unter   dem  Namen  Ataranten   schon   in   ihren 
heutigen  Sitzen  kannte").     In  Logone    wird   eine  Sprache  geredet, 
die    zur  Masagruppe    gehört.     Das  Wandala    oder  Mandara    fand 
Barth  mit  dem  Hausa  verwandt,  Rohlfs  hingegen  mit  dem  Kanuri^). 
Letzteres,    die  Sprache  im  Reiche  Bornu,    hat  Aehnlichkeiten  mit 
dem  T6da,  die  „bis  in  das  innerste  Wesen  der  Wortbildung  hinab- 
reichen" ^).     Die  T6da,  Tebu  oder  Tibbu  sitzen  bekanntlich  west- 
lich von  der  libyschen  Wüste,  haben  die  Salzgruben  von  Bilma  im 
Besitz  sowie  die  Oase  Fesan,    wo    ihre  Vertreter    den  Negertypus 
zeigen^).     Da    sie    Barth    mit    den    Garamanten    der    alten    Geo- 
graphen   vereinigt,    so    hätten    wir  also  den  linguistischen  Beweis, 
dass  ein  Glied  der  Negerrace    durch    die  Wüste   bis    in  die  Nähe 
des  Mittelmeeres  sich  verbreitet  habe.  Barth  hat  jedoch  den  Thatbe- 
stand  wahrscheinlich  falsch  gedeutet.     Der  Negertypus  der  Fesaner 
lässt  sich  nämlich   auf  Blutmischungen    mit  Sudanerinnen    zurück- 
führen.     G.    Nachtigal,    der    die    T^da    weit    gründlicher    kennen 
lernte,    fand  nichts  negerartiges  in  ihren  Gesichtszügen^),  während 
die  Kanuri   dem  Hässlichkeitsideal   der  Race    recht    gut  genügen. 
Die  Sprachverwandtschaft    der  Letzteren    erklärt    aber  Nachtigal  7) 
dadurch,   dass  das  Kanuri  sich  durch  Aufnahme  von  Tedaformen 
entwickelte.    Die  Teda  gehören  demnach  nicht  unter  die  Neger. 

Besondere  Sprachen  weiter  nach  Osten  sind  das  Bagrimma 
in  Baghirmi  und  eine  Sprachenfamilie  in  Wadai,  die  Maba  ge- 
nannt wird  8).     In    den   Städten    von   Darfur    und   Kordofan    wird 


i)  Zeitschrift  für  ägypt.  Sprache  und  Alterthumskunde.  Juli-Septbr.  1870. 
S.  92. 

2)  Barth,  Vocabularien  p.  C.  leitet  «TotpavTe;  bei  Herodot  (IV.  184)  ab 
von  a-tara  die  Versammelten  (Eidgenossen),  tara  nämlich  bedeutet  im  Hausa 
versammeln. 

3)  Ergänzungsheft  zu  Petermann*s  Mittheilungen.  Nr.  34.  S.  21. 

4)  Barth,  Vocabularien.  p.  LXVI  — p.  XCIV. 

5)  V.  Maltzan,  Tunis  u.  Tripolis.     Leipzig  1870.   Bd.  3.    S.  325. 

6)  Petermann*s  Mittheilungen  1870.     S.  280. 

7)  Zeitschrift  für  Erdkunde.     Berlin  1871.    Bd.  6.    S.  344. 

8)  Dr.  Nachtigal  in  Petermann's  Mittheilungen  1871.  S.  328. 


504  ^^^  Neger. 

theils  arabisch,  theils  barabrisch  gesprochen,  während  über  die 
linguistische  Stellung  der  Landbewohner  nichts  bekannt  ist.  Im 
Gebiet  des  weissen  Nils  sitzen  die  niedrigsten  aller  Negerstämme. 
Vom  II.  Breitegrade  angefangen  gegen  Süden  finden  wir  die 
Schilluk,  die  Nuehr,  die  Dinka ,  weiter  westwärts  von  diesen  die 
Luoh  (Djur),  die  Bongo  (Dohr),  die  Sandeh  (Niamniam) ^).  Auf 
Sprachverwandtschaft  ist  noch  nicht  geprüft  worden,  nur  sovie^ 
weiss  man,  dass  die  Luoh  (Djur)  und  die  Bellanda  ausgeschwärmte 
Schülukstämme  sind^).  Die  Bongo-  (Dohr-)  Sprache  endlich  soll 
einestheils  Verwandtschaft  mit  dem  Maba  in  Wadai  und  dem  Bag- 
rimma  andererseits  mit  dem  Nuba  zeigen^).  Unclassifizirt  sind 
die  Sprachen  der  EUiab-,  Bohr-  und  Baristämme,  sowie  der  merk- 
würdigen Monbuttu'*),  die,  auf  eine  Million  Köpfe  geschätzt,  sehr 
dicht  ein  Gebiet  von  250  Qu.-Meilen  a^  Uelle  bewohnen. 

Die  Dinka-  und  Schillukneger  gleichen  ihren  körperlichen 
Merkmalen  nach  völlig  den  Fundjnegern  am  blauen  Nil,  die  im 
16.  Jahrhundert  das  Reich  Sennär  stifteten,  welches  eine  drei- 
hundertjährige Dauer  genoss.  Die  Fundj  sind  Mesocephalen,  aber 
stark  prognath,  ihr  Haar  erreicht  die  Länge  etlicher  Zolle  und 
kräuselt  sich,  die  stark  riechende  Haut  ist  braun  bis  bläulich 
schwarz  mit  Ausnahme  der  fleischrothen  Hand-  und  Fussteller, 
auch  erscheinen  die  Fingernägel  achatbraun.  Die  Lippen  sind  nur 
fleischig,  nicht  wulstig,  die  Nase  gerade  oder  leicht  gebogen  wie 
bei  vielen  Negern  West-  und  Südafrika's^). 

Man  hat  die  Fundj  als  eigne  Race  von  den  Negern  absondern 
wollen  und  zwar  als  nubische  Race.  Unglücklicher  konnte  ein 
Name  wohl  nicht  gewählt  werden,  denn  Nuba  oder  Nöbah  heissen 
die  Bewohner  der  Gebirgsgegenden  und  des  flachen  Landes  in 
Kordofan,    die    sich    in    allen    obigen  Merkmalen    den  Fundj   an- 


i)  Wir  folgen  der  Sprachenkarte  von  G.  Schwein furth  und  seinen 
Bemerkungen  im  Globus  1872.  Bd.  XXII.  Nr.  5.  S.  75.  Die  eingeklammer- 
ten Namen  sind  der  Dinkasprache  entlehnt. 

2)  G.  Schwein  furth,  Zeitschrift  für  Ethnologie.  Berlin  1872.  Bd.  4. 
Supplement  S.  61. 

3)  Hart  mann,  Nilländer.    S.  210. 

4)  Nach  der  Ansicht  von  Reinisch  soll  ihre  Sprache  der  nubisch-liby- 
schen  Gruppe  angehören.  Zeitschrift  für  Ethnologie.  Berlin  1873.   Bd.  5.   S.  16. 

5)  Hiirtmann,  Nilländer.    S.  273. 


Die  Neger.  ^05 

schliessen,  nur  dass  sie  noch  negerhafter  als  Dolichocephalen  mit 
sehr  stark  gekräuseltem  Haare  sich  darstellen').  Gänzlich  un- 
verständlich bleibt  es  aber,  dass  sie  mit  den  Fulbe  in  Westafrika 
in  Verbindung  gesetzt  werden  konnten.  Unmittelbar  durch  körper- 
liche Merkmale,  Sprache  und  Sitten  reihen  sich  die  Berthätneger 
an  die  Fundjstämme  an*). 

Es  möchte  manchem  verfrüht  erscheinen ,  jetzt  schon  zu 
untersuchen,  in  welchem  Maasse  die  wagrechte  und  senkrechte 
Gliederung  Afrika's  seinen  Bevölkerungen  zum  Segen  oder  zum 
Verhängniss  gereicht  habe,  da  jener  Welttheil  immer  noch  grosse 
Räume  uns  verbirgt,  über  die  uns  alle  Kenntnisse  fehlen, 
Allmählig  ist  indessen  das  völlig  unbekannte  Afrika  auf  einen 
etwa  kreisförmigen  Raum  zusammengeschrumpft  mit  dem  Aequator 
als  Durchmesser,  der  sich,  je  nachdem  man  streng  oder  milde 
rechnet,  auf  ein  Gebiet  von  66,000  oder  56,000  deutschen  Quadr» 
Äleilen  beschränkt.  Australien  mit  den  Küsteninseln  erstreckt  sich 
über  eine  Fläche  von  138,529  Quadr.-Meilen,  so  dass  also  die  afri- 
kanische terra  incogniia  dem  Räume  nach  noch  nicht  der  Hälfte 
jenes  Weltheils  gleichkommt.  Afrika  selbst  wird  mit  543,570  Quadr.- 
Meilen  berechnet,  wovon  11,000  für  die  zugehörigen  Inseln  abzu- 
ziehen sind,  der  unbekannte  Kern  bildet  also  etwas  mehr  als  l\^ 
oder  \q  des  Festlandes,  je  nachdem  zuvor  reichlich  oder  knapp 
gemessen  worden  war.  Dieser  Hohlraum  unserer  Kenntnisse  ver- 
mag des  Unerwarteten  noch  vieles  einzuschliessen ,  hohe  Tafel- 
länder vielleicht  oder  Schneegebirge,  Seen  bis  zur  Grösse  des 
kaspischen  Meeres,  oder  Ströme,  die  ein  geschlossenes  Binnen- 
system bilden.  Es  kann  dort  zu  den  bereits  bekannten  afrikanischen 
Racen  noch  eine  neue  entdeckt  werden,  die  entweder  gar  nichts 
mit  den  übrigen  gemeinsam  hätte,  oder  die  vielleicht  als  ein  ver^ 
sprengtes  anthropologisches  Bruchstück  sei  es  mit  Nordafrikanern, 
sei  es  mit  der  südlichen  Hottentottenfamilie  eine  gemeinsame  Ab- 
kunft verriethe.  Endlich  wäre  es  nicht  ausgeschlossen,  dass  in 
jenem  verschleierten  Innern  auf  einem  Hochlande  sich  eine  afri- 
kanische Cultur    entwickelt    hätte    von    gleichem  gesellschaftlichen 


1)  Hartmann,    Nilländer.    S.    291.     E.    Rüppell,    Reisen    in  Nubien. 
Frankfurt  1829.    S.  153. 

2)  Hartmann  a.  a.  O.    S.  283. 


506  Die  Neger. 

Werthe  wie  die  toltekische  in  Mittelamerika,  oder  die  incaperqa- 
nische  auf  den  Hochebenen  zwischen  den  Andenketten.  Uebrigens 
erwarten  wir  selbst  keine  der  angeführten  grossen  Ueber raschungen, 
mit  Ausnahme  der  Entdeckung  neuer  Seen  und  grösserer  Strom- 
gebiete im  Bereiche  des  Aequators,  weil  dort  die  echt  tropischen 
Regen  nicht  fehlen  können,  und  im  Innern  geschlossene  Becken 
einen  TKeil  dieser  Niederschläge  zurückhalten  müssen,  denn  sonst 
würden  reichere  Flüsse  als  die  bereits  gekannten  die  Küsten  er- 
reichen. 

Unwegsamkeit  ist  der  Grundzug  des  afrikanischen  Welttheils. 
So  ungelenk  sind  seine  wagrechten  Umrisse  zugeschnitten ,  dass 
es  nicht  blos  gänzlich  an  Halbinseln,  sondern  auch  an  ein-  und 
ausspringenden  Winkeln  fehlt.  Das  Hörn  der  Ostküste  bei  Dschard- 
liafun,  das  Vorgebirge  der  Gewürze,  wie  es  in  der  -alten  Erd- 
kunde heisst,  ist  die  einzige  Halbinsel,  der  offene  Meerbusen  von 
fxuinea  das  einzige,  was  man  einen  oceanischen  Golf  nennen 
könnte,  und  die  beiden  flachen  Syrten  die  einzigen  grossen  Küsten- 
einschnitte Afrika's. 

Sind  die  oceanischen  Umrisse  schon  ungünstig,  s'o  fehlt  es 
auch  an  aufschliessenden  Strömen  wie  etwa  der  Amazonas.  Als 
X'erkehrsmittel  haben  alle  Ströme  Afrika's  einen  sehr  niedrigen 
Rang,  selbst  den  Nil  nicht  ausgenommen.  Der  Niger  durchströmt 
dichtbewohnte  Gebiete,  und  dennoch  belebt  ihn  keine  nur  redens- 
werthe  SchifFfahrt. '  In  Bezug  auf  nautische  Leistungen  stehen  aber 
auch  die  Bewohner  keines  anderen  Welttheils  so  tief  als  die  Afri- 
kaner. Die  Kru-Neger  an  der  Körnerküste  sind  die  einzigen  see- 
tüchtigen Schwarzen,  die  sich  willig  als  Matrosen  auf  europäische 
Schiffe  verdingen.  Ein  Strom  zweiten  Ranges  genügt  schon  in 
Südafrika,  um  vor  feindlichen  Bedrängern  sich  zu  sichern.  Die 
Horden  des  grossen  Eroberers  Mosilikatse  dehnen  ihre  Streifzüge 
imr  bis  zum  rechten  oder  südlichen  Ufer  des  Zambesi  aus,  weil 
sie  an  die  Uebersch reitung  eines  solchen  Flusses  nicht  zu  denken 
wagen.  Da  in  allen  Strömen  Afrika's,  mit  Ausnahme  des  Nordens 
und  des  äussersten  Südens,  Krokodile  hausen,  so  sollte  man  ver- 
muthen,  an  allen  volkreicheren  Ortschaften  Fährboote  anzutreffen. 
Diese  Erwartung  wird  jedoch  vielfach  getäuscht,  um  so  häufiger 
hat  sich  der  Afrikaner  zum  Bau  von  Brücken  bequemt.  Ob  es 
zu.  Cäsars  oder  Tacitus'  Zeiten  Brücken  nicht-römischen  Ursprungs 
in  unserer  Heimath  gegeben  habe,    möchten    wir    fast    bezweifeln. 


Die  Neger.  ^oj 

In  Afrika  sind  sie  eine  gemeine  Erscheinung.  Dass  Livingstone 
ihrer  wiederholt  auf  seinen  Märschen  gedenkt,  darf  uns  nicht  in 
Verwunderung  setzen,  da  er  das  Gebiet  ziemlich  begabter  Volker- 
stämme durchzog,  allein  wir  finden  selbst  bei  Negerstämmen  an 
den  westlichen  Seitenarmen  des  weissen  Nil,  also  schon  auf  der 
tiefsten  Stufe  der  afrikanischen  Entwickelung ,  hölzerne  Brücken 
von  „fabelhafter  Länge"  ^). 

Zu  der  nautischen  Verschlossenheit  Afrika's  gesellt  sich  noch 
als  Verschärfung  die  Unwegsamkeit  grosser  Binnenräume.  Der 
Wüstengürtel ,  der  sich  vom  atlantischen  Meer  quer  durch  den 
Norden  des  Festlandes  selbst  über  den  Nil  hinweg  bis  zum  arabi- 
schen Golf  verbreitet,  scheidet  den  Welttheil  für  die  Gesittungs- 
geschichte in  zwei  streng  gesonderte  Hälften ,  denn  während  der 
nördliche  Saum  für  alle  Segnungen  des  mediterraneischen  Bildungs- 
ganges empfanglich  war,  blieb  die  südliche  Hälfte  mehr  auf  sich 
selbst  angewiesen.  Zur  Zeit  der  römischen  Ansiedlungen  über- 
schritt eine  einzige  geographische  Unternehmung  die  Sahara  und 
Zweifel  sind  noch  jetzt  jedermann  verstattet,  ob  sie  bis  zum  Sudan 
selbst  oder  nur  bis  zu  einer  der  grossen  Oasen  vordrang*).  Die 
Schwierigkeiten  einer  Ueberschreitung  der  Sahara  waren  ehemals 
viel  grösser,  da  erst  nach  Beginn  unsrer  Zeitrechnung  das  Kamel 
als  Lastthier  in  den  Berberlanden  eingeführt  wurde  —  eine  denk- 
würdige Neuerung  und  für  das  grosse  Festland  so  folgenschwer 
wie  für  uns  der  Beginn  des  Eisen bahnbaues.  Selbst  die  Gewächse 
werden  von  Wüsten  in  ihren  Wanderungen  viel  wirksamer  zurück- 
gehalten als  von  schmalen  Meeresarmen,  denn  während  die  Floren 
des  nördlichen  Afrika  und  der  Mittelmeerränder  Südeuropa's  aufs 
innigste  übereinstimmen,  tritt  jenseits  der  Sahara  eine  neue  der 
nordafrikanischen  entfremdete  Pflanzenwelt  auf.  Diesen  Schwierig- 
keiten und  Schranken  begegnete  auch  die  Gesittung,  wenn  wir 
darunter  alle  durch  menschliches  Nachsinnen  der  Natur  abgerunge-  ^ 
nen  Vortheile,  die  Veredelung  ihrer  Gaben,  den  leichteren  Erwerb 
und  die  Verbesserung  der  Nährstoffe,  die  Erfindungen  zur  Abkürzung 


1)  Petherik,  Central- Africa,  tora  I.  p.  236. 

2)  Vivien  de  Saint-M artin  (Le  Nord  d*Afriqu6,  p.  222).  Doch  er- 
wähnt P  tolemäus  (Geogr.  lib.  I,  cap.  8)  das  Nashorn  in  Agisymba,  daher 
dieses  Land    schon  dem  Sudan  angehört  haben  muss. 


508  I^ie  Neger. 

der  Arbeit,  die  Einrichtungen  zu  einem  geordneten  Beisammen- 
leben,  endlich  die  höchsten  Güter  des  Menschen,  die  Erkenntniss 
unserer  selbst,  das  Streben  nach  höherer  Würde,  nach  idealen 
Vorbildern,  mit  einem  Worte  die  Religion,  zusammenfassen.  An- 
dererseits aber  nöthigt  uns  auch  eine  richtige  Schätzung  gerade 
jener  absondernden  Gewalt  der  Wüsten,  dass  wir  sehr  viele,  wenn 
auch  nicht  alle  günstigen  bürgerlichen  und  sittlichen  Erscheinungen*, 
deren  neuere  Reisende  im  Sudan  gedenken,  als  eigene  Schöpfungen 
der  dortigen  Afrikaner  gelten  lassen,  und  .danachs,  wie  diess  von 
Gerhard  Rohlfs  geschehen  ist,  unser  Urtheil  über  die  Entwicklungs- 
fähigkeit der  Negerstämme  gerechter  als  bisher  bemessen. 

Der  Werth  eines  Welttheiles  als  Schauplatz  menschlicher  Ge- 
sittung richtet  sich  aber  nicht  bloss  nach  seiner  eigenen  Gestaltung 
sondern  er  steigt  und  fällt  mit  seiner  Nähe  oder  seiner  Entfernung 
von  andern  besonders  bevorzugten  Erdräumen.  Afrika  ist  in  diesem 
Sinne  eine  Halbinsel  der  östlichen  Erdvest^.  Dürften  wir  uns  vor- 
stellen, dass  die  Landenge  von  Suez  eine  Meerenge  wäre  und  dass 
ganz  Afrika  um  etwa  zehn  Grad  südlicher  und  westlicher  in  den 
Ocean  hinausgerückt  läge,  so  dass  es  als  Inselwelttheil  seines  Zu- 
sammenhanges mit  der  alten  Welt  beraubt  gewesen  wäre,  so 
würden  dort  Zustände  herrschen  müssen,  die  noch  viel  unerquick- 
licher wären  als  die  jetzigen,  viel  näher  denen,  die  uns  Australieri 
zur  Zeit  seiner  Entdeckung  gewahren  Hess.  Durch  seine  trockene 
Verknüpfung  mit  Kleinasien ,  seine  ^Annäherung  an  Arabien  wie 
an  Südeuropa  genoss  Afrika  Vorzüge,  die  der  amerikanischen 
Menschheit  gänzlich  versagt  blieben.  Es  stand  wenigstens  durch 
seinen  Nordrand  und  seine  östlichen  Gestade  einer  günstigen  Ein- 
wirkung asiatischer  Gesittung  offen. 

Als  eine  Wirkung  dieser  bevorzugten  terrestrischen  Lage 
dürfen  wir  es  betrachten,  dass  durch  den  ganzen  Welttheil  hin- 
durch die  Kenntniss  vom  Ausschmelzen  der  Eisenerze  und  ihrer 
Verarbeitung  zu  Werkzeugen  und  Waffen  sich  verbreitet  hat.  Wo 
immer  Reisende  in's  Innere  gedrungen  sind,  haben  sie  die  Afri- 
kaner mitten  im  sogenannten  Eisenzeitalter  angetroffen.  Keinem 
der  Stämme,  auf  deren  Gebiete  Eisenerze  brechen,  ist  die  Erfindung 
fremd,  durch  einen  einströmenden  Luftstrom  eine  Kohlengluth  bis 
zur  Hitze  der  Löthrohrflammen  zu  steigern.  Der  afrikanische 
Blasebalg  besteht  aus  einem  Paar  ausgehöhlter  Holztrommeln  oben 
mit  ledernen  Beuteln  geschlossen,   unten   in  eine  thönerne  Röhre 


Die  Neger.  ^09 

tndigend,  aus  welcher  die  Luft  durch  abwechselndes  Emporziehen 
und  Einstossen  der  Beutel  herausgepresst  wird.  Das  Metall,  im 
Holzkohlenfeuer  ausgeschmolzen,  ist  von  vorzüglicher  Güte,  so  dass 
sehr  viele  Neger  mit  Recht  ihre  eigenen  trefflichen  Eisengeräthe 
den  englischen  Einfuhren  aus  unreinem  Metall  vorziehen. 

Da  wo  die  Natur  einem  frühen  Reifen  der  menschlichen  Ge- 
sellschaft hilfreich  entgegenkam,  sehen  wir  auch  die  ältesten 
Culturheerde  entstehen.  Für  die  alte  Welt  lag  ein  solcher  Brenn- 
punkt in  der  wie  durch  gütige  Vorsicht  angelegten  Planetenstelle 
zwischen  den  geschwisterlichen  Strömen  Mesopotamiens  und  dem 
Nil.  Mit  der  Entfernung  von  dieser  Lichtquelle  hätten  sich  in 
Afrika  die  Zustände  verschlimmern  sollen  und  die  wirklich  beobachte- 
ten Erscheinungen  bestätigen  auch  diese  Voraussetzung  im  Grossen, 
denn  am  Nil  bis  zu  den  ersten  Naturhindernissen  treffen  wir  in 
ältesten  Zeiten  die  höchsten  Verfeinerungen,  an  der  Südspitze  des 
Festlandes  die  niedrigsten  Stufen  menschlicher  Gesellschaft. 

.  So  lange  die  Weltmeere  nicht  durch  gesteigerte  Seetüchtig- 
keit überwältigt  worden  waren,  was  doch  erst  seit  wenigen  Jahr- 
hunderten als  völlig  gelungen  betrachtet  werden  darf,  sassen  die 
alten  Bewohner  der  atlantischen  Ränder  Afrika's  ohne  Nachbarn 
im  Rücken  am  Ende  der  Welt,  oder  wenigstens  an  der  Grenze 
des  Unbetretbaren.  Im  Allgemeinen  bewährt  es  sich  .daher,  dass 
im  Innern  Afrika's  weit  bessere  Zustände  gedeihen  als  an  der  at- 
lantischen Küste.  Erst  seit  etwa  zwei  Ja^hrhunderten  haben  stärkere 
und  begabtere  Binnenstämme  sich  nach  dem  Meere  vorgedrängt. 
Die  Portugiesen  fanden  in  ganz  Guinea  nur  sehr  rohe  Horden, 
während  binnen wärts  am  Niger  bereits  grosse  Reiche  zertrümmert 
worden  und  auf  ihren  Trümmern  verjüngte  entstanden  waren. 
Noch  jetzt  gilt  für  die  atlantische  Seite  Afrika's  durchschnittlich  der 
Satz,  dass  der  Binnenafrikaner  höher  steht  als  der  Küstenafrikaner. 
Bezüglich  des  Sudan  brauchen  wir  nur  an  Rohlfs'  lebendige  Schil- 
derungen zu  erinnern^),  aber  auch  in  Südafrika  wiederholt  sich 
die  gleiche  Erscheinung.  Die  Negerreiche  der  Makololo,  von  Lunda, 
des  Mosilikatse,  des  Cazembe  liegen  alle 'weit  binnenwärts,  auch 
erscheinen  in  Speke's  und  Grant's  Berichten  die  Negerstaaten  von 
Karagwe  und  Uganda  weit  geordneter  und  günstiger  als  alles  was 
auf  dem  Wege   dorthin  und  auf  der  Heimkehr  beobachtet  wurde. 

i)  Petermann's  geogr.  MUtheilungen.  Ergänzungsheft  Xr.  25.     S.  60. 


51 0  I>ie  Neger. 

Gehen  Reisende  den  Nil  aufwärts  und  liegt  Charlum  ihnen  im 
Rücken  ,  dann  bewegt  sich  ihr  Fahrzeug  nur  durch  nackte  und 
rohe  Negerstämme  an  beiden  Ufern.  Man  sollte  nun  erwarten, 
dass  mit  dem  weiteren  Vordringen  nach  Süden  und  nach  Westen, 
also  besser  in's  Innere,  die  Zustände  die  nämlichen  bleiben  würden, 
allein  Spuren  vom  Gegentheil  fehlen  nicht  gänzlich.  Die  Niamniam 
z.  £.,  das  äusserste  Vo^k  im  Südwesten ,  welches  wir  kennen ,  ist 
den  Stämmen  am  weissen  Nil,  den  Schilluk,  Dinka,  Nuehr,  Kitsch 
und  wie  sie  sonst  heissen,  weit  überlegen  durch  reichliche  Bekleidung^ 
kunstvolle  Eisenarbeiten,  bessere  Bauwerke  und  strengere  gesell- 
schaftliche Gliederung.  Sind  sie  nur  die  Vorposten  anderer  höher 
entwickelter  Negerstämme,  so  schimmert  uns  die  Hoffnung,  ^i im 
Süden  von  Darfur  noch  einige  grössere  afrikanische  Reiche  anzu- 
treffen '). 

Vergleichen  wir  das  transsaharische  Afrika  mit  den  beiden 
amerikanischen  Festlanden  vor  Ankunft  der  Europäer,  so  entdecken 
wir  eine  Reihe  grosser  Verschiedenheiten  zwischen  ihren  Gesittungen^ 
In  beiden  amerikanischen  Welttheilen  stossen  wir  auf  eine  Mehrzahl 
von  Horden,  die  ausschliesslich  von  der  Jagd  oder  vom  Fischfang 
leben,  dann  auf  Stämme,  die  neben  der  Jagd  Ackerbau  treiben, 
endlich  auf  reine  Ackerbauvölker  in  Mexico,  Yucatan,  den  Isth- 
musstaaten, in  Peru  und  auf  der  Hochebene  von  Bogota,  So 
niedrig  stehenden  Beispielen  der  Menschheit,  wie  einige  Athabas- 
kahorden  in  den  Hudsoiisbaigebieten  oder  in  Südamerika  die 
Botocuden,  Coroados,  Purls  oder  die  Feuerländer,  begegnen  wir 
in  Afrika  nicht.  Andererseits  aber  hat  sich  weder  ein  Neger- 
noch  ein  Kaiir*  oder  noch  weniger  ein  Hottentotten-Stamm  auf 
eine  gleiche  Höhe  gehoben  wie  die  Nahuatlvölker  Mexico's,  die 
Yucateken,  die  Peruaner.  Wir  begegnen  bei  ihnen  keinen  selbst- 
ständigen Versuchen,  das  gesprochene  Wort  durch  Bilder  oder 
Lautzeichen  zu  befestigen.  Im  Sudan  suchen  wir  vergebens  nach 
Denkmalen,  die  sich  auch  nur  entfernt  messen  könnten  mit  der 
Treppenpyramide  von  Cholula,  den  überschwenglich  verzierten 
Bauwerken  in  Yucatan,  den  steinernen 'Strassen  der  Incas  oder 
den    Ruinen    der    Sonnentempel    am    Titicaca-See.     An    geistigen 


i)  Das  Obige  wurde  schon  gedruckt  im  Ausland  1870.    S.  508.     Seitdem 
hat  G.  Schwein furth  uns  mit  dem  Monbuttureiche  bekannt  gemacht. 


Die  Neger.  cu 

Anlagen  ist  die  mongolenähnliche  Race  der  neuen  Welt  den 
transsaharischen  Afrikanern  weit  überlegen  gewesen,  zumal  alle 
Culturleistungen .  in  Amerika  von  dem  Verdacht  fremder  Anleitung 
völlig  befreit  sind. 

Dafür  war  in  Afrika  die  Entwicklung  viel  gleichförmiger,  denn 
überall  treffen  wir  dort  Ackerbau  und  Viehzucht,  ja  nicht  bloss 
Viehzucht,  sondern  recht  eigentliche  Milchwirthschait.  Als  Halb- 
insel der  alten  Welt  war  Afrika  auch  für  diese  Fortschritte  in  der 
Ernährungsweise  vor  Amerika  begünstigt.  Dieses  besitzt  als  einzige 
Getreideart  den  Mais,  in  Afrika  finden  wir  dafür  zwei,  die  Neger- 
hirse oder  Dochn  (Panicum  oder  Penniseium  distichum  und  P,  dy^ 
phoideumj  und  das  Kafirkorn  (Holcus  sorghum  oder  Sorghum 
vulgare).  Leider  versagt  die  Pfianzengeographie  noch  immer  uns 
ihren  Beistand,  um  entscheiden  zu  können,  ob  jene  jetzt  durch 
und  durch  afrikanischen  Getreidearten  in  Afrika  selbst  zu  Cultur- 
pflanzen  veredelt  oder  nur  eingeführt  worden  sind.  Das  tropische 
Amerika  hat  ferner  an  essbaren  Wurzeln  die  Mandioca,  und  in 
den  kühleren  Theilen  die  Kartoffel,  zu  welcher  sich  auf  den  höch- 
sten Hochlanden  als  Getreideart  noch  die  Quinoahirse  gesellt. 
Afrika  besitzt  dafür  die  „Brodwurzeln"  (sp.?),  von  denen  Barth 
uns  mittheilt,  dass  sie  in  einigen  Landschaften  Adamauas  zur 
Tagesnahrung  dienen,  ausserdem  die  Erdmandeln.  Leider  wissen 
wir  auch  in  Bezug  auf  letztere  (Arachis  hypogaeaj  nicht  genau,  ob 
sie  in  Afrika  zuerst  angebaut  worden  sind.  In  Bezug  auf -die 
Fruchtbäume  halten  sich  beide  Theile  das  Gleichgewicht,  wenn 
nicht  Amerika  für  bevorzugt  gelten  darf.  Doch  gehören  Afrika 
die  Dum-  und  Oelpalmen,  sowie  der  Butterbaum  (Bassia  ParknJ, 
Sollten  auch  die  Neger  keine  ihrer  einheimischen  Getreidearten 
zuerst  veredelt  haben,  so  griffen  sie  doch  bereitwillig  nach  allen 
Culturgeschenken,  die  Fremde  ihnen  boten.  Mögen  sie  aus  Ae- 
gypten  oder  Abessinien  die  erste  Aussaat  empfangen  haben,  rasch 
ist  sie  durch  den  ganzen  Welttheil  gewandert,  gerade  so  wie  jetzt 
der  Mais,  die  Maniocwurzel '),  der  Weizen,  die  Gerste,  das  Zucker- 
rohr u.  a.  sich  oft  weit  in's  Innere  schon  verbreitet  haben.    Selbst 


i)  Selbst  bei  den  Bongonegem  westlich  vom  weissen  Nil  sah  Schwein- 
fnrth  (Globus  1872.  Bd.  XXII.  Nr.  5.  S.  76)  Maisfelder  und  bei  den  Mon- 
buttu  am  Uelle  den  Anbau  von  Jatropha  Manihot,  (Zeitschrift  für  Kthnologie. 
1873.    Heft  I.    S.  5.) 


^12  Die  Neger. 

dort  wo  Europäer  zuvor  noch  nicht  gesehen  worden  waren,  am 
-Zambesi,  gewahrte  Chapman*),  dass  die  Eingebornen  auf  wilde 
Obstbäume  Edelreiser  gepfropft  hatten. 

Von  Viehzucht  gab  es  in  der  neuen  Welt  nur  dürftige  An- 
fänge, durch  ganz  Afrika  finden  wir  dagegen  Ziegen,  Schafe  und 
Rinder  verbreitet.  Gewiss  sind  sie  dort  nicht  bezähmt,  sondern 
schon  als  Hausthiere  den  Negern  übergeben  worden,  so  dass  also 
auch  hier  wieder  die  Begünstigung  Afrika's  durch  seine  Halbinsel- 
verbindung mit  der  alten  Welt  fühlbar  wird.  Mit  Unrecht  hat  man 
dagegen  den  Afrikanern  vorgeworfen,  dass  sie  den  Elephanten 
nicht  abgerichtet  haben  wie  die  Hindu,  denn  der  afrikanische  Ele- 
phant  ist  eine  andere  Art  als  die  asiatische  und  vermuthlich  nicht 
50  leicht  zu  bemeistern  wie  diese*). 

Die  Ernährungsweise  im  Sudan  und  in  Südafrika  entspricht 
ziemlich  genau  dem,  was  die  Landesnatur  erwarten  lässt.  Das 
Sudan,  von  der  senkrechten  Sonne  beschienen  und  von  den  tropi- 
schen Regen  bewässert,  ist  ein  Wald-  und  Kornland,  dort  herrscht 
also  vorwiegend  Feldbau  und  wenig  Viehzucht,  die  Bevölkerung 
vermag  sich  beträchtlich  zu  verdichten  und  die  Form  der  Re- 
gierung ist  eine  strenge  Alleinherrschaft.  Grosse  Reiche  und 
grosse  Städte  entstehen  und  vergehen  wieder  in  jähem  Wechsel, 
weil  jeder  Despotismus  nur  so  lange  währt  als  die  Tüchtigkeit  der 
Despoten,  diese  aber  sich  nicht  inftner  auf  das  nächste,  höchst 
selten  auf  das  dritte  Glied  vererbt.  Ausserdem  bedroht  die  Viel- 
weiberei die  Sicherheit  der  Thronnachfolge  und  erzeugt  beständig 
Prätendentenkriege.  Unter  allen  echten  Negern  treffen  wir  ent- 
weder einen  rohen  Thier-  und  Fetischdienst  oder  den  Islam. 

Südafrika,  soweit  es  bisher  erforscht  worden  ist,  lässt  sich  als 
ein  Hochland  schildern  mit  Rändern,  die  nach  beiden  Oceanen  zu 
aufgerichtet  sind.  Es  fallt^  in  die  Zone  der  Passatwinde  mit  un- 
sicheren Regenzeiten,  hat  daher  wenig  geschlossene  Wälder,  son- 
dern parkartige  Steppen.  Dort  herrscht  daher  vorzugsweise  Vieh- 
zucht und  weniger  Ackerbau.  In  Folge  dessen  sind  seine  Be- 
völkerungen'  nicht  streng  gegliedert,    sondern,    wie  alle  Nomaden, 


i)  Travels  into  the  interior  of  South-Africa,  tom.  II.,  pag.  202. 

2)  Livingstone  will  aus  römischen  Münzen  schliessen,  dass  vormals  der" 
afrikanische  Elephant  gezähmt  worden  sei,    ob    sich    aber    deutlich  die  Merk- 
male der  afrikanischen  Spielart  erkennen  lassen,  erregt  einige  Zweifel. 


Die  Neger,  e£^ 

locker  zusammengefügt;  der  Kraal  vertritt  dort  häufig  das  Dorf 
mit  Pfahlwerk  oder  die  Städte,  wie  sie  dem  Sudan  eigen  sind.  An 
Despoten  von  grosser  räumlicher  Macht  aber  kurzer  Regierungs- 
dauer fehlt  es  zwar  nicht-,  dennoch  entbehrt  Südafrika  einer  fort- 
laufenden Geschichte,  wie  sich  die  Negerreiche  im  Süden  der  Sa- 
hara einer  solchen  rühmen  dürfen. 

Das  Fetischwesen  in  Mittelafrika,  der  Vorfahrendienst  der 
Bantuneger,  das  Treiben  ihrer  Schamanen  und  ihre  Gottesgerichte 
haben  uns  schon  an  früheren  Stellen  beschäftigt*).  Ebenso  hatten 
wir  schon  Gelegenheit,  von  den  Kafirn  zu  rühmen,  dass  sie  das 
Wergeid  an  ihre  Häuptlinge  entrichten.  Hier  müssen  wir  noch 
hinzufügen,  dass  von  allen  Halbculturstämmen  die  Neger  am  eif- 
rigsten das  bürgerliche  Recht  ausgebildet  haben.  Afrikanische 
Gerichtsverhandlungen  ziehen  obendrein  die  Neugierigen  eben  so 
mächtig  an  als  bei  uns  ein  Theaterstück  und  an  dramatischer 
Spannung  sowie  an  Aufwand  von  Beredsamkeit  oder  von  Schlau- 
heit ist  bei  den  streitenden  Parteien  kein  MangeP).  Meisterhaft 
verstehen  die  Bantu  durch  Kreuz-  und  Querfragen  einen  Gegner 
in  \'erwirrung  zu  setzen  •5).  Hat  doch  Bischof  Colenso  in  Natal 
versichert,  dass  er  erst  durch  die  Einwände  seiner  Kafirzöglinge 
zum  Zweifler  an  der  mosaischen  Schöpfungsgeschichte  geworden 
sei.  In  bürgerlichen  Streitigkeiten  kann  gegen  die  Entscheidung 
des  Dorfrichters  der  Rechtsfall  zunächst  an  den  Districthäuptling 
und  von  diesem  wieder  an  das  Oberhaupt  gebracht  werden*). 
Die  Urtel  werden  gefallt  durch  einen  Rath  alter  rechtskundiger 
Männer  nach  dem  Herkommen  und  nach  den  Grundsätzen,  die 
bei  früheren  Sprüchen  beobachtet  wurden.  Gleicht  der  Fall  keinem 
älteren,  so  wendet  man  sich  um  Belehrung  an  die  Rechtskundigen 
in  andern  Stämmen.  Es  hat  sich  sogar  zugetragen,  dass  bei  einer 
schwierigen  Rechtsfrage  auch  die  fremden  Richter  keinen  Präcedenz- 
fall  kannten  und  es  wurde  schliesslich  der  Urtelsspruch  gänzlich 
versagt ,  um  nicht  einen  neuen  vielleicht  irrigen  Grundsatz  zur 
Geltung    zu    bringen  5).      Ein     geschärftes    Rechtsverständniss    der 

i^  S.  oben  S.  259.    S.  272.    S.  279. 

2)  Casalis,    Les  Bassoutos.     Paris  1859.     p.  242—243, 

3)  Ausland.  1863.     S.  1044. 

4)  Macleaii,    Kafir  L«ws    and  Customs.     Mouot  Coke    1858.     p.  143. 

5)  Fried r.  Müller,  Reise  der  Fregatte  Novara.    Anthropologie.  3.  Ab- 
theilung.   S.  108. 

Fesckel,  Völkerkunde.  33 


514  ^ic  Neger. 

Bantuneger  offenbart  sich  darin,  dass  sie  die  Abtreibung  der 
Leibesfrucht')  für  strafbar  halten  und  auch  den  Arzt,  der  dabei 
behilflich  war,  mit  einer  Busse  bedrohen.  Bei  Verläumdungen 
muss  dem  Verletzten  eine  Entschädigung  gezahlt  werden,  denn 
„guter  Ruf  gehöre  zum  Vermögen""). 

Rührend  ist  bei  Negerkind^rn  ihre  Elternliebe,  die  sich  je-  _ 
doch  nur  wenig  dem  Vater  zukehrt.  Die  Herero  (Damara)  schwören 
„bei  den«  Thränen  ihrer  Mütter**  3).  Aus  dem  Munde  eines  Man- 
dingoburschen  hörte  Mungo  Park*)  die  Worte:  Schlage  mich, 
wenn  Du  willst,  nur  schmähe  meine  Mutter  nicht.  Auch  verdienen,, 
fährt  der  genannte  Reisende  fort,  Mandingomütter  diese  Liebe, 
denn  sie  sorgen  streng  für  das  sittliche  Gedeihen  ihrer  Kinder. 
Der  höchste  Preis  aus  dem  Munde  einer  solchen  Mutter  lautet: 
Niemals  hat  mein  Sohn  gelogen!  Ihre  Dichter  und  Barden 
brauchen  nie  zu  hungern,  denn  die  Mandingo  beschenken  sie 
reichlich  für  Gesänge ,  in  denen  sie  die  Thaten  des  Volkes  ver- 
herrlichen^). An  Sprichwörtern  voll  goldner  Lebens  reg  ein  ist  bei 
Sudan-  und  Bantunegern  kein  Mangel.  Im  Joruba  sagt  man  zur 
Bezeichnung  eines  Schwachkopfes:  er  weiss  nicht,  wie  viel  neun 
mal  neun  ist^).'  Der  Mandingo  ersehnt  nichts  heisser,  als  dort  zu 
sterben,  wo  er  geboren  wurde.  Kein  Wasser  dünkt  ihm  so  süss, 
wie  daheim,  kein  Schatten  so  erquicklich  als  der  des  Tabbabaumes 
in  seinem  Dorfe.  Stirbt  ein  Neger  der  Goldküste  auswärts,  so 
trachtet  man  danach,  seine  Leiche  am  Geburtsort  zu  beerdigen  7). 
Wenn  auch  einige  oder  mehrere  Stämme  durch  Trägheit  unser 
Missfallen  erwecken,  so  führt  Otto  Kersten^)  Beispiele  von  ost- 
afrikanischen Negern  an,  um  zu  zeigen,  dass  sie  freiwillig  durch 
Fleiss  ihre  Zustände  zu  bessern  suchen.  Ihre  Geduld  und  ihre 
Geschicklichkeit  zeigen  die  Bewohner  der  Goldküste  bei  Anfertigung 


1)  Maclean,  I.  c.  p.  iii. 

2)  Ausland.  1863.  S.  1069. 

3)  Andersson,  Reisen  in  Südwestafrika.  Bd.  i.    S.  247. 

4)  Reisen  im  Innern  von  Afrika.    Berlin  1799.  S.  237.  ^ 

5)  Mungo  Park  1.  c.    S.  249. 

6)  Tylor,  Anfänge  der  Cultur.    Bd.  i.    S.  240. 

7)  Mungo  Park  1.  c.  S.  261.     Bosman,    Guinese  Goud-kust    tom.  II. 
pag.  15. 

8)  V.  d.  Decken*s  Reisen  in  Ostafrika.    Bd.  2.  S.  302—303. 


Die  Neger.  ^I^ 

von  Ketten  aus  dem  feinsten  Golddratb,  die  wie  Bosman^)  richtig 
bemerkt,  kaum  in  Europa  nachgeahmt  werden  können.  Stählerne 
Ketten  der  Monbuttu  erklärt  wiederum  Schweinfurth  ebenbürtig 
allen  dergleichen  Erzeugnissen  in  Europa*).  Im  Sosolande,  einem  süd- 
lichen Gebiete  des  Reiches  Sokoto  pflastern  die  Neger  das  Innere  ihrer 
Höfe  mosaikartig^).  Wenn  Ladislas  Magyar  von  Stein  Schlossgewehren 
spricht,  die  in  Bih6  von  den  Eingebornen  verfertigt  werden,  so  hat 
Hamilton*)  bei  den  Quissama-Negern  ebenfalls  Flinten  gesehen, 
die  nach  portugiesischen  Mustern  gearbeitet  worden  waren,  während 
in  Bambara,  in  Bambuk  und  in  Bornu  die  Neger  Schiesspulver 
erzeugen  und  sich  den  Salpeter  dazu  im  Lande  zu  verschaffen 
wissen 5).  Fügen  wir  noch  hinzu,  dass  die  Hausa  und  Fulbe  in 
Sokoto,  sowie  die  Joloflfer  aus  einem  Absud  von  Erdnüssen  ge- 
mischt mit  einer  Lauge  aus  Holzasche,  brauchbare  Seife  erzeugen^). 
Die  scharfsinnigste  That  irgend  eines  Negers  ist  aber  die  Schöpfung 
einer  eigenen  Schrift  durch  einen  Vei,  theils  aus  Sylben-,  theils  aus 
einfachen  Lautzeichen  bestehend.  Der  Erfinder  wurde  zwar  in 
seiner  Jugend  von  Europäern  erzogen  und  konnte  lesen,  immerhin 
blieb  ihm  doch  übrig,  seine  eigene  Sprache  zunächst  alphabetisch 
zu  zergliedern.,  ehe  er  die  Schriftzeichen  erdenken  konnte 7). 

Die  Neger  besitzen  im  hohen  Grade  die  Gabe  und  Neigung, 
sich  fremde  Gesittungsschätze  anzueignen.  Dagegen  sind  sie 
äusserst  arm  an  eignen  Erfindungen.  Während  Reisende  in  an- 
dern Welttheilen  viel  von  fremdartigen  Werkzeugen  zu  berichten 
wissen,  sind  sie  in  Afrika  sehr  schweigsam.  Alle  Geräthe  im 
Haushalt  der  Neger  kommen  auch  anderwärts  vor.  Wir  wüssten 
zum  Beleg  der  Erfindungsgabe  bei  Negern  nichts  anderes  aufzu- 
zählen als  die  Marimba,  ein  Musikwerkzeug  aus  hohlen  Kürbissen, 


i)  Guinese  Goud-Tand-en  Slave-kust.   tom  I.  p.  123. 

2)  Zeitschrift  für  Ethnologie.  Bd.  5.    S.  19. 

3)  Gerhard  Rohlfs  in  Petermann's  Miltheilungen.  Ergänzungsheft  Nr. 

34.   S.  72. 

4)  Journal  of  the  Anthropologicai  Institute.    London  1872.  p.  191. 

5)  Waitz,  Anthropologie.  Bd.  2.  S.  97.  Barth,  Nord-  und  Central- 
afrika.  Bd.  3.    S.  245. 

6)  Gerhard  Rohlfs  1.  c.  S.  56,     Mungo  Park,  1.  c.  S.  305. 

7)  Die  Kenntniss  dieser  merkwürdigen  Thatsachen  verdanken  wir  dem 
Lieutn.  F.  E.  Forbes,  cf.  S.  W.  Koelle,  Gramraar  of  the  Vei-Language. 
London  1854.   p-  V. 

33* 


^l6  Die  Neger. 

die  abgestuft  nach  der  Grösse  auf  einem  Reifen  befestigt  werden, 
den  der  Künstler  an  einem  Riemen  trägt.  Mit  Hammerschlägen 
setzt  er  die  Schalen  in  Schwingung  und  entlockt,  wie  man  schon 
errathen  haben  wird,  den  grösseren  Holzbechem  tiefere,  den 
kleineren  höhere  Töne').  Selbst  die  Abrichtung  der  Ochsen  zum 
Reiten  ist  nicht  noth wendig  eine  Erfindung  der  Neger,  sondern 
viel  eher  den  Galla  oder  andern  Völkern  hamitischer  Abkunft  am 
Nil  zuzuschreiben. 

Nach  allem  Mitgetheilten  den  Neger  einer  Erhebung  auf 
höhere  Zustände  für  unfähig  zu  erklären,  wäre  bare  Willkür,  allein 
für  die  niedrigen  Stufen  der  bis  jetzt  vorhandenen  Gesittung  einzig 
nur  die  Natur  des  Festlandes  anzuschuldigen,  hiesse  gänzlich  die 
Verschiedenheit  in  der  Begabung  der  Menschenracen  verkennen. 
Afrika's  Vorzüge  bestanden,  wie  wir  sahen,  darin,  dass  es  von  der 
alten  Welt  aus,  wenn  auch  mühsam,  erreichbar  blieb.  Von  dort 
aus  haben  die  Neger  fast  alles  bezogen,  was  ihre  Zustände  besserte. 
Könnten  wir  uns  denken,  dass  diese  Menschenstämme  in  Australien 
aufgetreten  wären,  schwerlich  hätten  sie  dort,  sich  selbst  überlassen, 
über  die  Zustände  australischer  Eingeborner  sich  erhoben.  Daher 
müssen  wir  sie  bei  Abschätzung  der  Anlagen  weit  tiefer  stellen 
als  die  Urbewohner  Amerika's,  die  völlig  aus  sich  selbst  zu  grosser 
geistiger  Reife  gelangten.  Wäre  dagegen  Afrika  zierlicher  gestaltet, 
wäre  es  so  aufgeschlossen  gewesen  wie  Europa,  so  würden  auch 
die  Neger  viel  früher  sich  gehoben  haben  und  möchten  jetzt  viel- 
leicht gesellschaftliche  Verbesserungen  geniessen,  wie  etwa  die 
M  alay  och  inesen . 

I)  Livingstonp,  Reisen  in  Südafrika.    Bd.  i.  S.  332. 


VII. 

X  DIE  MITTELLiENDlSCHE  RACE. 


Elumenbach  hatte  den  Völkern,  mit  denen  sich  vorzugsweise 
die  alte  und  die  neuere  Gesittungsgeschichte  des  Abendlandes 
beschäftigt,  den  Namen  Kaukasier  ertheilt,  der  aber  wieder  auf- 
gegeben werden  musste ,  weil  er  zu  Miss  Verständnissen  verleitete. 
Da  für  Blumenbach's  Kaukasier*  gegenwärtig  die  Bezeichnung 
mittelländische  Völker  Anklang  gefunden  hat,  so  wollen  auch  wir 
sie  beibehalten.  Zur  mittelländischen  Race  gehören  alle  Europäer, 
soweit  sie  nicht  mongolenähnlich  sind,  alle  Nordafrikaner  und  alle 
Vorderasiaten,  endlich  sind  als  Mischvölker  wegen  ihrer  Sprache 
die  Hindu  im  nördlichen  Indien  noch  mitzuzählen. 

Die  vorherrschenden  Schädelformen  sind  die  mesocephale  und 
die  brachycephale,  doch  überschreiten  die  mittleren  Breitenindices 
nach  dem  Welcker'schen  Messverfahren  nur  in  einem  vereinzelten 
Falle  82.  Die  Höhe  des  Schädels  sinkt  gewöhnlich  mit  der 
wachsenden  Breite.  Prognathismus  gehört  ebensosehr  zu  den 
Seltenheiten,  wie  das  Vortreten  der  Backenknochen.  Die  Farbe 
der  Haut  ist  bei  den  nördlichen  Völkern  ganz  hell,  trübt  sich  in 
Südeuropa,  wird  gelb,  roth  und  braun  in  Nordafrika  und  Arabien 
sowie  bei  den  Zigeunern.  Das  Kopfhaar  ist  nie  so  lang  und  so 
walzenförmig ,  wie  bei  den  mongolenähnlichen  Völkern ,  nie  so 
elliptisch  im  Querschnitt  und  so  kurz  wie  bei  den  Negern,  sondern 
meistens  gelockt.  Innerhalb  dieser  Racen  finden  sich  die  bärtigsten 
und  am  besten  behaarten  Völker,  nur  die  Nordafrikaner  sind 
schwächer  mit  Bart-  und  Leibhaar  ausgestattet.  Die  Nase  hat  stets 
einen  hohen  Rücken  und  wird  nie  platt-  oder  breitgequetscht  wie 
bei  Negern  oder  Mongolen.  Die  Lippen  sind  gewöhnlich  schmal, 
nie  wulstig.     In  keiner  andern  Race  kommen   feine  und  edle  Ge- 


ci8  Die  mittelländische  Race. 

Sichtszüge  so  häufig  vor,  nirgends  wird  so  oft  wie  in  dieser  das 
Schönheitsideal  erreicht,  welches  übrigens  auch  bei  anderen  Racen 
das  nämliche  ist,  denn  Rohlfs  *)  bemerkt  sehr  bedeutsam,  dass  auch 
unter  den  Negern  des  Sudan  eine  Frau  mit  sogenannten  kaukasi- 
schen Gesichtszügen  als  eine  Schönheit  gefeiert  wird.  Mit  wenigen 
Ausnahmen  sind  die  Sprachen  aller  mittelländischen  Völker  durch 
grammatische  Geschlechter  und  einen  hochentwickelten  Formen- 
bau ausgezeichnet.  Die  Race  selbst  zerfallt  wieder  in  den  hami- 
tischen,  den  semitischen  und  den  indoeuropäischen  Stamm.  Ver- 
einsamt stehen  die  Basken  und  unbestimmt  bleiben  noch  etliche 
Völker  im  und  am  Kaukasus. 

I.    Die  Hamiten. 

Dieser  Stamm  erfüllt  ganz  Nordafrika  bis  zum  Sudan,  so  wie 
die  Küstengebiete  Ostafrika'-s  nördlich  vom  Aequator.  Er  theüt 
sich  in  drei  Aeste,  nämlich  in  die  Berber,  die  Altägypter  und  die 
Ostafrikaner.  Zu  den  Berbern  gehören  abgesehen  von  den  aus- 
gestorbenen Guanchen  oder  Urbewohnern  der  Canarien  die  Libyer, 
Mauren,  Numidier  und  Gaetulier  der  alten  Geographen,  welche 
letztere  bereits  den  rechten  Eigennamen  aller  dieser  Völker,  näm- 
lich Amaziken  oder  Maziken  kannten,  Amazigh  oder  Amazirgh 
bedeutet  nämlich  in  den  berberischen  Sprachen  die  Freien  oder 
Unabhängigen*).  Nordafrika  hat  zwar  viele  andere  Völker,  vor- 
züglich semitische,  aber  auch  nordeuropäische  Eroberer  aufge- 
nommen, dennoch  konnte  sich  auf  dem  flachen  Lande  allenthalben 
der  alte  berberische  Menschenschlag  in  voller  Reinheit  erhalten. 
Jn  Marocco  nennen  sich  idie  von  arabischem  Blut  un vermischt 
gebliebenen  Berber  noch  immer  Mas  lg,  ihre  Sprache  aber  das 
Schellah  oder  Tamasight^).  Zu  ihnen  gehören  zunächst  dieSan- 
hadscha  der  westlichen  Sahara,  die  Azanaguen  der  portugiesischen 
Entdecker.  Das  Mittelgebiet  der  grossen  afrikanischen  Wüste  be- 
haupten dagegen  die  Tuareg,  die  sidh  selbst  Imoschagh,  ihre 
Sprache  das  Ta-Masheg  (Mazikensprache)  oder  Ta-Mashigt  nennen. 
In   Algerien    gehören    zu    den    reinen    Berbern    die    Kabylen    der 


1)  Ergänzungshefl  Nr.  34  zu  Petermann's  Mittheilungen.    S.  48. 

2)  Movers,  Das  phönizische  Alterthum.    2.  Thl.    S.  390 — 395. 

3)  Rohlfs,    Krster  Aufenthalt  in  Marokko.  S.  56.  S.  62. 


Die  mittelländische  Race. 


519 


Franzosen,  eine  Wortverstümmelung  aus  qabäil,  was  die  „Stämme" 
bedeutet.  In  Tunis  führen  die  Berber  den  Namen  Suawua,  zu 
denen  auch  noch  im  Südosten  dieses  Gebietes  die  Stämme  hinzu- 
zuzählen sind ,  welche  Dschebaliya  heissen '}.  Berberischer 
Abkunft  sind  fern^  die  Bewohner  von  Siwah,  der  Jupiter-Ammons- 
oase,  also  die  Garamanten  der  alten  Erdkunde.  Endlich  werden 
•wir  ihnen  auch  noch  Idie  T6da  oder  Tibbu  der  östlichen  Sahara 
beizuzählen  haben').  Alle  diese  libyschen  Völker  führen  auf  den 
hieroglypbischen  Inschriften  den  Namen  Temhu  und  sind  auf  den 
äg)'ptischen  Denkmälern  kenntlich  an  Tätowirungen  in  Form  eines 
Kreuzes,  die  noch  jetzt  bei  Kabylenfrauen  gebräuchlich  sein  sollen^). 

Die  Altägypter,  hieroglyphisch  Retu  genannt,  werden  noch 
jetzt  mehr  oder  weniger  rein  von  der  Bauernbevölkerung  am  un- 
tern Nil,  den  Fellähln,  am  reinsten  von  den  städtebewohnenden 
christlichen  Kopten  vertreten*). 

Von  den  ostafrikanischen  HamitenJ  nähern  sich  den  Alt- 
ägyptern am  meisten  die  Bewohner  der  nubischen  Nilländer,  die 
sich  Beräbra  also  Berbern  nennen^).  Sie  waren  vormals  Christen 
bis  zum  Falle  des  berberischen  Nilreiches  Dongola  im  Jahre  1320. 
Zwischen  dem  nubischen  Nil  und  dem  rothen  Meere  sitzen  Stämme, 
die  von  den  alten  Geographen  Blemmyer^),  von  den  axumitischen 
Inschriften  und  arabischen  Geographen  Bedscha  geheissen  werden. 
Am  reinsten  vertreten  werden  sie  von  den  Bischarin,  Hadendoa 
und  theilweis  den  Beni  Amer,  die  neben  einem  verdorbenen  Ara- 
bisch noch  eine  ältere  hamitische  Sprache  mit  drei  grammatischen  Ge- 
schlechtsformen,  das  Tobedauie,  reden  7).  Zwischen  dem  blauen 
Nil  und  dem  Atbara  bis  nach  Sennär  nomadisiren  die  Awläd  Abu 
Simbil  und  die  Schukuri^h,  welche  letztere,  obgleich  sie  ein  ver- 
derbtes Arabisch  reden,  nicht  von  Arabern  abstammen*.)   Zwischen 


1)  V.  Maltzan,  Tunis  und  Tripolis.    Leipzig,  1870.    Bd.  i.    S.  106. 

2)  S.  oben  S.  503. 

3)  Recherches    sur   Torigine    des    Kabyles.    Le    Globe.    Genöve.    1871. 
tom    X,  p.  48. 

4)  R.  Hartmann,  Nilländer.  S.  215.  S.  235. 

5)  Hartmann,  1.  c.  S.  238. 

6)  Lepsius /Standard  Alphabet.  2.  ed.  p.  203. 

7/  Werner  Munzinger,    Ostafrikantsche  Studien.     Schalfliausen.  1864. 
S.  341.    S.  344. 

8)  Hart  mann,  1.  c.   S.  263  ff. 


520 


Die  mittelländische  Race. 


dem  Nil  und  Kordofan  wohnen  als  Hirten  die  Kababisch  und  auf 
beiden  Ufern  des  weissen  Flusses  oberhalb  der  Mündung  des 
blauen  sitzen  die  Hassanieh.  Beide  werden  für  Araber  erklärt, 
dennoch  gehören  sie  ihrem  Typus  nach  noch  zu  den  ostafrik»ni« 
sehen  Hamiten.  Die  Niamniam  oder  Sandeh  haben  langes  schlichtes 
Haar  und  sind  kupferfarbig*).  Vielleicht  werden  künftige  Völker- 
kundige auch  sie  zu  den  Hamiten  rechnen.  Ferner  gehören  noch 
in  die  ostafrikänische  Gruppe  die  Dankali  (Sing.  Danakil),  welche 
die  südlichsten  Gestade  des  Rothen  Meeres  auf  der  afrikanischen 
Seite  bis  zum  Bab  el  Mandeb  bewohnen.  Es  folgen  dann  theils 
versprengt  in  Abessinien,  theils  geschlossen  im  Östlichen  Binnenafrika^ 
von  S^  nördlicher  bis  3°  s.  Breite  die  Galla.  Dieser  Name,  der 
soviel  wie  Eingewanderte  bedeuten  soll,  ist  ihnen  selbst  völlig  fremd, 
sie  nennen  sich  vielmehr  Orma  oder  Öroma,  das'  heisst  „starke 
tapfre  Männer'**).  Mit  Ausnahme  der  südlichen  Stämme  treten 
sie,  auch  ihre  Frauen,  sei  es  auf  Rossen  sei  es  auf  Ochsen,  stets 
beritten  auf.  Mit  den  Negern  haben  sie  nur  die  Farbe  der  Haut  ge* 
mein,  doch  fehlt  letzterer  jeder  widerliche  Geruch^).  Auch  lockt  sich  ihr 
langes  Haar,  der  Bart  wächst  ihnen  ziemlich  üppig,  die  Gesichts« 
Züge  sind  regelmässig  und  gefällig,  nicht  selten  scharf  geschnitten, 
eher  europäisch  als  semitisch*).  Die  Galla  sind. ein  streitbares, 
männliches,  kraftbewusstes,  sittenstrenges  und  edles  Volk. 

Unsichrer  ist  die  Stellung  der  Somali,  die  das  Osthorn  Afri- 
ka's  beinahe  vom  Bab  el  Mandeb  bis  zum  Dschub  am  indischen 
Meere  einnehmen  und  die  Gallagegen  Westen  verdrängen.  Ganz  über- 
einstimmend wie  Guillain^)  die  medschertinischen  beschreibt  uns  Otto 
Kersten^)  die  Somali  Bardera's,  als  hohe  Gestalten  (Männer  -i  m. 
70,  Frauen  i  m.  60)  mit  länglichen  mageren  Gesichtern,  bartlosem 
Kinn,  stechenden  Augen  und  „einer  6 — 8  Zoll  langen  Wollperücke 
von  dichtem  steifen  Haar",  welches  stets  kraus  sein  soll.  Guillain 
fügt  hinzu,  dass  ein  lockiges  Haupt  unter  den  Somali  stets  auf 
eine  Kreuzung  mit  arabischem  Blute  deute.      Einige    Stämme  der 


1)  G.  Seh  wein  furth  im  Globus.  Bd.  21.  Nr.  9.  S.  131.  S.  133. 

2)  Krapf,  Reisen  in  Ostafrika.     Bd.  i.   S.  94. 

3)  Otto  Kersten,  v.  d.  Deckens  Reisen  in  Ostafrika.  Bd.  a.   S.  374. 

4)  Richard  Brenner  in  Petennann's  Mittheilungen  1868.   S.  462. 

5)  L'Afrique  Orientale.  Paris,  s.  a.    II  Partie,  tom.  I.  p.  412—413. 

6)  1.  c.  Bd.  2.  S.  318—325. 


Die  Tnittelländische  Race.  52 1 

Somali  wollen  von  Koreischiten  in  Mekka,  andere  von  den  Ansari 
aus  Medina  abstammen.  Somit  ist  leicht  möglich,  dass  bei  stren- 
geren Untersuchungen,  die  Somali  gänzlich  ihre  Stellung  als  ha- 
mitischc.  Völker  verlieren  und  künftig  als  Bastarde  zwischen  Negern 
und  Semiten  betrachtet  werden  möchten.  Es  ist  wichtig,  dass 
Kersten  uns  ihren  edlen  und  männlichen  Characler  rühmt,  obgleich 
gerade  die  Unternehmung  des  Baron  v.  d.  Decken  blutig  unter 
ihnen  enden  sollte.  Sehr  dunkel  ist  ferner  die  Stellung  der  Eloikob 
oder  Wakuafi,  sowie  der  Masai,  welche  beiden  Völker  durch  ihre 
Kriegszüge  und  ihren  Menschenraub  der  Schrecken  aller  Neger- 
stämme im  äquatorialen  Ostafrika  geworden  sind. 

Beklagen  müssen  wir  den  Mangel  an  Schädelmessungen  inner- 
halb des  hamitischen  Stammes.  Aegyptische  Mumien-  und  Kaby- 
lenköpfe  zeigen  nach  Welcker  eine  Höhe  von  75  und  .eine  Breite 
von  74  bis  75.  Sie  stehen  also  auf  der  Grenze  zwischen  Dolicho- 
und  Mesocephalie.  Schon  bei  den  Aegyptern  treten  die  Kiefern 
ein  wenig  vor,  der  Prognathismus  wächst  aber,  je  weiter  wir  nil- 
aufwärts  uns  bewegen.  Die  waizengelbe  Hautfarbe  dunkelt  all- 
mälig  mit  abnehmender  Breite  zu  rothbraun,  tiefer  Bronze  oder 
dunkelem  Braun.  Das  Haar  wird  gleichfalls  mit  Annäherung  an 
den  Aequator  kürzer  und  der  Bartwuchs  spärlicher.  Wie  Robert 
Hartmann  es  gewiss  richtig  darstellt,  findet  daher  eine  Annähe- 
rung an  den  Negertypus  statt,  je  weiter  wir  uns  von  den  Mittel- 
meergestaden entfernen.  „Bei  genauer  Beobachtung,  äussert 
Munzinger*),  weiss  der  aufrichtige  Reisende  nicht  mehr,  wo  der 
eigentliche  Neger  anfangt  und  der  Glaube  an  die  absolute  Racen- 
trennung  schwindet  mehr  und  mehr.**  Vorläufig  empfiehlt  es  sich 
indessen,  diese  Uebergänge  der  Vermischung  mit  Negersclavinnen 
zuzuschreiben  und  weitere  Aufklärungen  von  einer  künftigen 
strengen  Sprachvergleichung  zu  erwarten.  Versuchen  wir  es  lieber 
die  Frage  zu  lösen,  warum  unter  den  Gliedern  der  mittelländischen 
Race  gerade  der  hamitische  Stamm  am  frühesten  eine  hohe  Ge-  ' 
sittung  sich  erwerben  und  zum  Lehrmeister  aller  Nachbarvölker 
werden  sollte. 

Blättern  wir  zunächst  in  den  Denkmälern  von  Rosellini  und 
Lepsius,  oder  lassen  wir  diese  Werke  wegen  ihres  ungeniessbaren 
Formats  besser  bei  Seite  und  greifen  wir  nach  Wilkinson,  so  kön- 

1)  Ostafrikanischc  Studien.    Schaffhausen  1864.    S,  540. 


522 


Die  mittelländische  Race« 


nen  wir  noch  immer  die  Altägypter  bei  ihren  Tagewerken  belau* 
sehen.  Die  Backsteine  werden,  wie  noch  heutigen  Tages  in  For« 
men  gestrichen,  in  die  Mauern  Thüren  eingesetzt,  die  sich  in  senk- 
rechten Angeln  drehen  und  mit  Riegeln  verschlossen  werden.  Im 
Innern  der  Wohngebäude  erkennen  wir  alte  Bekannte  in  den 
Hausgeräthen  wieder,  den  grossväterlichen  Lehnstuhl,  sowie  den 
Feldstuhl  der  sich  in  Form  eines  griechischen  Kreuzes  auseinan- 
der klappen  lässt.  Dort  drehen  die  Frauen  die  Spindel,  ander- 
wärts wird  ihr  Gespinnst  zu  gestreiftem  oder  gewürfeltem  Zeuge 
verwebt.  Treten  wir  in  eine  Schreinerwerkstatt,  so  führen 
Meister  und  Gesellen  Beile,  Holzhämmer,  Handsägen,  Meisel, 
Glätteisen  und  Drillbohrer*).  Was  dort  zusammengesetzt  wird, 
bestreicht  mit  Fimiss  ein  andrer  Handwerksmann  und  in  seiner 
Hand  erkennen  wir  den  breiten  Pinsel,  wie  ihn  noch  jetzt  unsere 
Bürstenbinder  feil  halten.  Gehen  wir  weiter  zu  einem  Goldschmied, 
so  finden  wir  bei  ihm  nicht  blos  Feilen  und  Zangen  von  allen 
Sorten,  sondern  auch  mit  Erstaunen  das  Löthrohr*),  nur  der 
Blasbalg,  der  mit  Füssen  getreten  wird,  ist  der  Verbesserung  sehr 
bedürftig.  Steigen  wir  in  die  Keller  hinab,  so  gewahren  wir,  wie 
Küfer,  bekannt  mit  der  Heberbewegung  durch  gebogene  Röhren 
Flüssigkeiten  aus  einem  Gefässe  in  das  andere  abrinnen  lassen^). 
Ohne  Zweifel  handelt  es  sich  um  Wein,  denn  der  Rebstock  wurde 
im  alten  Reiche  eingeführt,  im  neuen  fleissig  gebaut  und  hielt 
sich  selbst  nach  dem  Eindringen  des  Islam  noch  im  Fayüm,  wo 
er  erst  unlängst  in  Folge  der  Traubenseuche  verschwand*).  Wir  be- 
lauschen weiter  im  Frauengemach  ägyptische  Damen,  die  vor 
einem  Metallspiegel  ihr  Haar  mit  einem  hölzernen  Kamm  ord- 
nen, bemerken  auch,  dass  schon  für  Perrücken  und  falschen 
Haarschmuck  gesorgt  ist.  Am  Nil  selbst  gewahren  wir  Fischer, 
die  ihre  Schleppnetze  auswerfen,  genau  so  wie  wir  es  daheim  ge- 
sehen haben.  Ist  das  Glück  uns  günstig,  so  kommen  wir  gerade 
rechtzeitig  zu  einem  Fest,  bei  dem   sich  die  Fischer   mit   Stangen 


1)  Brugsch,   Gräberwelt.     S.  24. 

2)  Wilkinson,  Manners  and  customs  of  the  ancient  Egyptians.  London 

1837.  ^oin-  11^»  P-  224.  flg.  375- 

3)  Wilkinson  1.  c.    p.  341.     Das  Denkmal    gehört    der  Zeit    voa    1450 

V.  Chr.  an. 

4)  R.  Roesler  im  Ausland  1867.    S.  776. 


Die  mittelländische  Race.  ^23 

von  ihren  Booten  herabzustossen  suchen.  Jedenfalls  heimelt  uns 
dieses  Fischerstechen  mehr  an,  als  die  Stiergefechte,  die  ebenfalls 
veranstaltet  werden;  hinzufugen  wollen  wir  bei  dieser  Gelegenheit 
dass  das  Heerdenvieh  bereits  auf  der  Haut  das  eingebrannte 
Zeichen  des  Eigenthümers  trägt.  An  Zeitvertreib  ist  überhaupt 
kein  Mangel.  Hier  lassen  sich  Flöten  hören,  begleitet  von  Lauten, 
Guitarren,  Cithern  und  Harfen  *).  Anderswo  wird  Mora  gespielt 
oder  gewürfelt  oder  auf  einem  Brett  mit  Damensteinen  gezogen. 
Selbst  für  die  Kinderwelt  ist  hinlänglich  gesorgt,  erkennen  wir 
doch  sogleich  den  Lederball  wieder,  zusammengenäht  aus  acht 
Kugelsegmenten  oder  im  Arme  zärtlicher  Mädchen  hölzerne  Puppen 
oder  sogar  die  Ziehfigur,  die  am  Faden  Arme  und  Beine  in 
die  Luft  schlenkert,  zur  Beruhigung  des  schreienden  Kindes  im 
Schoosse  der  Wärterin.  Was  hier  der  hölzerne  Mann  am  Faden 
leistet,  wird  dort  in  Schauvorstellungen  von  gymnastischen  Künstlern 
wiederholt,  bei  denen  die  V^irtuosen  unserer  Messbuden  in  die 
Lehre  gegangen  zu  sein  scheinen.  Kurz,  wohin  wir,  uns  drehen 
und  wenden,  stossen  wir  auf  Dinge,  die  zu  unsern  ersten  und 
ältesten  Beobachtungen  in  der  Heimath  .gehören  und  wenn  die 
erste  Musterung  vollendet  ist,  gestehen  wir  uns  im  Stillen,  dass 
bis  zur  Zeit  wo  bei  uns  Maschinen-  und  Dampfkräfte  in  Bewegung 
gesetzt  wurden,  die  Aegypter  in  Bezug  auf.  Handwerkgeräth  sich 
vor  uns  nicht  zu  schämen  hätten,  wir  vielmehr  die  wichtigsten 
Stücke  unserer  häuslichen  Ausstattung  erst  von  ihnen  geerbt 
haben. 

Doch  war  dieser  Schluss  etwas  zu  hastig,  denn  auch  die 
Aegypter  hatten  gar  manches  ihren  Nachbarn  in  Vorderasien  un- 
mittelbar oder  mittelbar  zu  danken.  Zwar  belehren  uns  die 
Denkmäler,  dass  Tauben  und  Enten  bereits  gezüchtet  und  die 
Mastgänse  künstfich  gestopft  wurden^),  doch  wird  ein  spätes  Cul- 
turgeschenk  des  Morgenlandes,  nämlich  das  Huhn,  vermisst. 
welches  auch  Homer  und  Hesiod,  sowie  das  alte  Testament  nicht 
kennen,  wenn  auch  schon  Aristoteles  und  Diodor  die  künstlichen 
Brutanstalten  der  Aegypter  beschreiben  3).     Selbst  das  Kamel   und 


1)  Lauth,    über   altägyptische  Musik.     Sitzungsberichte    der    Münchener 
Akademie.  1873.  Heft  IV.  S.  529  flF. 

2)  Brugsch,  Gräberwelt.  S.  14. 

3)  V.  Hehn,  Kulturpflanzen  und  Hausthiere.  Berlin  1870.  S.  226. 


524  I^ie  mittelländischie  Race. 

das  Schaf  suchen  wir  vergebens  auf  den  Denkmälern  des  alten 
Reiches,  und  das  Pferd  fehlt  sogar  in  den  „steinernen  Bilder- 
büchern** vor  dem  Einfall  der  Hirtenkönige').  Das  Ross  bezähmt 
zu  haben,  ist  nämlich  das  Verdienst  eines  weit  von  Aegypten  ent- 
legenen Völkerkreises.  Ausserhalb  Aegyptens  vollzog  sich  auch 
die  Erfindung  des  Wagens,  eine  hohe  Verbesserung  der  Walzen- 
bewegung, die  ihrer  Zeit  einen  ebenso  entscheidenden  Vortheil 
gewährte,  wie  in  unserm  Jahrhundert  die  Eröffnung  von  Eisen- 
bahnen. Da  der  aegyptische  Name  für  Wagen  semitischen  Sprachen 
entlehnt  ist*),  so  wissen  wir,  aus  welchen  Händen  jenes  Cultur- 
geräth  nach  dem  Nil  gelangte.  Das  Reiten  der  Pferde  war  in 
Altaegypten  nicht  gebräuchlich,  wenn  auch  griechische  Gelehrte 
dorthin  den  Ursprung  dieser  Kunst  verlegen  3).  Ehrfurchtvolles 
Staunen  erregen  noch  jetzt  die  Bauwerke  des  Nilvolkes,  seine 
Tempel,  seine  Sphinxalleen,  seine  steinernen  Riesenbilder,  seine 
Pyramiden.  Letztere  betrachten  wir  als  gute  Denksteine  für  die 
frühe  Reife  gesellschaftlicher  Zustände,  denn  sie  setzen  einen 
Ueberschuss  von  Arbeitskräften,  Anhäufung  grosser  Mundvorräthe 
an  der  Baustelle,  bequeme  Verkehrsmittel,  Frohndgesetze  und  ge- 
regelte Besteuerungen  voraus.  Dies  wird  mittelbar  noch  dadurch 
bestätigt,  dass  im  neuen  Reiche  der  Rechtsstaat  verwirklicht  wurde 
durch  die  Unabhängigkeit  des  Richterstandes,  der  eidlich  gebunden 
war,  das  Gesetz  gegen  Despotenlaune  zu  schützen*).  Der  Bau 
der  ersten  Pyramiden  wird  dem  dritten  Nachfolger  des  Menes,  des 
Gründers  von  Memphis  zugeschrieben.  Sie  standen  noch  zur 
griechischen  Zeit  und  Lepsius^)  glaubt,  dass  ihre  Schuttreste  noch 
immer  vorhanden  sind.  Die  schüchternste  Zeitberechnung  führt 
Menes  zurück  bis   auf  3892   v.  Chr.^)   und   unter   ihm    waren    die 


1)  H.  Brugsch,  Histoire  d'Egypte.   tom.  i.  p.  25. 

2)  G.  Ebers,  Aegypten  und  Mose.    Bd.  i.  S.  222. 

3)  Nach  dem  Scholiasten  zu  Apollon.  Rhod.  4,  272.  276.  (Aigonautica 
ed.  Schaefer.  Leipzig  1813.  tom.  II«  p.  289.)  soll  König  Sesonchosis  zuerst 
das  Reiten  erfunden  haben. 

4)  G.  Ebers,  Durch  Gosen  zum  Sinai.  S.  543—544. 

5)  Zeitschrift  für  ägypt.  Sprache  u.  Alterthumskunde.  1870.    S.  91. 

6)  Nach  dem  Canon  bei  Heinrich  Brugsch  (Histoire  d*£gypte,  tom 
I,  p,  287 )  würde  vielmehr  seine,  Regierungszeit  in  die  Jahre  4455 — 4395 
fallen. 


Die  mittelländische  Race.  caS 

Aegypter  längst  schon  Baumeister,  Bildhauer,   Maler,  Mythologen, 
und  Gottesgelehrte. 

Für  ein  ausserordentlich  hohes  Alterthum  der  ägyptischen 
Gesittung  bürgt  am  strengsten  ihre  Zeitrechnung.  Sie  gründete 
sich  auf  ein  bürgerliches  Jahr  von  12  Monaten  zu  je  drei  Wochen 
von  zehn  Tagen,  denen  noch  5  Schalttage  hinzugefügt  wurden. 
Dass  diese  365  Tage  nicht  genau  das  wahre  Sonnenjahr  ausfüllten, 
■war  den  Aegyptern  genau  bekannt,  denn  sie  wussten,  dass  es 
1461  Jahre  bedurfte,  ehe  der  Sirius  von  Memphis  aus  am  ersten 
Thoth  vor  Sonnenaufgang  sichtbar  wurde.  Dieses  Zusammenfallen 
der  Frühaufgänge  führte  sie  zu  den  Sothis-  oder  Siriusperioden 
von  1461  bürgerlichen  Jahren.  Einer  dieser  Zeitabschnitte  endigte 
im  Jahre  1322  v.  Chr.,  folglich  fallt  sein  Beginn  auf  das  Jahr 
2782  und  mindestens  einmal  vorher  musste  die  Dauer  einer  solchen 
Periode  festgestellt  worden  sein.  Demnach  trifft  die  erste  Beob- 
achtung eines  Frühaufganges  des  Sirius  am  Neujahrstage  auf  das 
Jahr  4242  V.  Chr.*) 

Die  Vermuthung,  dass  in  jenen  ältesten  Zeiten  die  Aegyptei 
nur  der  Steingeräthe  sich  bedienten,  stützt  sich  hauptsächlich  da- 
rauf, dass  die  Beschneidung  mit  Steinmessern  vollzogen  wurde, 
wie  bei  den  Hebräern,  welche  diesen  Brauch  den  Aegyptern  ent- 
lehnten. Diese  Thatsache  berechtigt  jedoch  nur  zu  einem  andern 
Schluss,  nämlich  dass  die  Beschneidung  schon  in  der  Steinzeit  ein- 
geführt worden  war.  Nicht  gern  werden  nämlich  die  Werkzeuge  bei 
feierlichen  Handlungen  gewechselt,  weil  diese  sonst  die  Weihe  des 
Alterthümlichen  einbüssen  würden.  Feuersteinmesser  verwenden 
übrigens  noch  jetzt  die  Araber  der  Sinaihalbinsel  zum  Abkratzen 
der  Schafe  nach  der  Schur').  Schon  in  frühen  Gräbern  findet 
man  Geräthe  aus  Bronze  mit  einem  Gehalt  von  12  bis  14  Procent 
Zinn.  Reines  Kupfer  oder  Bronzemischungen  bezogen  die  Aegypter 
von  semitischen  Völkern,  und  ob  sie  das  Zinn  als  reines  Metall 
früh  gekannt  haben,  darf  bezweifelt  werden.  ^)  Woher  das  Zinn 
nach  Vorderasien  gelangte  und  wer  es  dahin  brachte,  bleibt  gegen- 
wärtig noch  völlig  dunkel.     Eisen  und  vielleicht  auch  Stahl,  beide 


i)  Lepsius,  Chronologie  der  Aegypter.  i.  Theil.    S.  165 — 180. 
2)  G,  Ebers,   Durch  Gosen  zum  Sinai.  S.  531. 
-   3)  Lepsius,    Die  Nfetalle    in   den  ägyptischen  Inschriften       Berlin  1872. 
S.   105.    S.  114. 


C26  ^ic  mittelländische  Race. 

ursprünglich  weit  kostbarer,  als  Bronze,  kommen  im  alten  Reiche 
nicht  vor,  sondern  erst  im  neuen*).  Wenn  man  behauptet,  dass 
die  Bildhauerarbeiten  aus  Granit,  die  schon'  unter  der  vierten 
manethonischen  Dynastie  ausgeführt  wurden,  ohne  eiserne  Werk- 
zeuge sich  nicht  hätten  herstellen  lassen,  so  übersieht  man  gänz- 
lich, dass  die  Incaperuaner  ebenso  grosse  Leistungen  im  Behauen 
und  Glätten  von  Steinen  ausgeführt  haben,  in  völliger  Unbekannt- 
schaft mit  dem  Eisen*). 

Es  ist  schon  längt  ausgesprochen  worden,  dass  die  jährlichen 
Ueberschwemmungen  des  Nils  vielfach  die  Feldmarken  verwischten 
und  die  Aegypter  frühzeitig  genöthigt  Wurden,  sich  in  der  Mess- 
kunde zu  üben.  Indessen  dürfen  wir  uns  ihre  Leistungen  nicht 
allzu  günstig  vorstellen.  Die  Untersuchungen  von  Lepsius^)  über 
die  altägyptische  Elle  haben  erwiesen,  dass  die  Maasseinheit  nicht 
streng  bestimmt  wurde  und  die  Bauwerke  oft  grosse  Ungenauig- 
keiten  in  der  Quantität  wahrnehmen  lassen.  Gleichwohl  ist  es 
nach  einer  Arbeit  von  Aloys  Sprenger^)  sehr  glaubwürdig  gewor- 
den, dass  die  Aegypter  etwa  700  v.  Chr.  einen  Erdbogeh  von 
Syene  längs  dem  Nil  gemessen  haben.  Wie  am  Beginn  unsres 
Jahrhunderts  deutsche  Gelehrte  in  Paris  sich  die  höheren  Weihen 
holen  zu  müssen  glaubten,  so  pilgerten  auch  wissensdurstige  Hel- 
lenen nach  dem  Nillande.  Wir  wissen  es  von  Pythagoras,  Thaies 
Solon,  Anaxagoras,  Eudoxus  und  Herodot,  erst  Democrit  aus  Ab- 
dera  überzeugte  sich,  dass  die  Griechen  von  ägyptischen  Geometern 
nichts  mehr  zu  lernen  hätten. 

Aber  alle  aufgezählten  Verdienste  der  Aegyptej  um  Kunst 
und  Handwerk,  um  bürgerliche  Gesittung  und  Wissenschaften 
treten  in  den  Hintergrund  vor  einer  Erfindung,  welche  die  Reife 
der  Gesittung  im  Abendlande  um  Jahrtausende  beschleunigen 
sollte.  Am  Ausgang  des  vierten  Jahrtausend  v.  Chr.  finden  wir 
bereits  hieroglyphische  Inschriften  des  Königs  Snefru,  also  beim 
Uebergang  von  der  dritten   zur  vierten  Dynastie^).     Die    hierogly- 


1)  Lepsius,  1.  c.  S.  112. 

2)  Rivero  y  Tschudi,  Antiguedades  peruanas.   p.  212.  p.  231—232. 

3)  Die  altägypüsche  Elle.    Berlin.  1865.  S.  5.  ff.  . 

4)  Ausland  1867.   S.  T020. 

5)  Ebers,  Durch  Gosen  zum  Sinai.  S.  138 — 139. 


Die  mittelländische  Race. 


527 


phischen  Bilder  waren  bereits  Vertreter  theils  von  Lautgruppen 
oder  Sylben,  theils  schon  eines  einzigen  Lautes.  Erläutert  wurde 
vielfach  noch  das  geschriebene  Wort  durch  ein  beigegebenes  Bild 
oder  Sinnbild,  das  sogenannte  Determinativzeichen.  Obgleich  auch 
die  ältesten  Urkunden  bereits  Lautschrift  enthalten,  so  ist  es  doch 
erlaubt,  aus  dem  Auftreten  jener  Determin^tivzeichen  zu  schliessen 
dass  in  einem  Zeitraum,  vor  den  ältesten  Urkunden,  die  Aegypter 
sich  noch  mit  der  reinen  Bild-  und  Sinnbildschrift  begnügten. 

Aus  der  Zeit  der  XH.  Dynastie,  also  vor  dem  Einfall  der 
HyksQS  besitzen  wir  eine  nach  Prisse  benannte  Papyrusrolle  mit 
abgekürzter,  cursiv  gewordener  Hieroglyphenschrift,  die  im  14.  Jahr- 
hundert V.  Chr.,  also  vor  dem  Auszuge  der  Juden  ihre  höchste 
Vollendung  erreichte.  Au^  ihr  entstand  im  8.  Jahrhundert  v.  Chr. 
das  demotische ,  also  eine  Schrift  mit  Buchstabenlauten ,  zuvor 
aber  hatten  sich  die  Semiten  etliche  davon  angeeignet,  wenigstens 
sind  13  wenn  nicht  15  phönicische  Buchstaben  aus  dem  hieratischen 
abzuleiten*). 

Nun  brauchen  wir  nur  die  Frage  zu  stellen,  ob  zu  dieser 
frühzeitigen  Blüthe  der  Gesittung  auch  die  Landesnatur  hilfreich 
beigetragen  habe,  so  richtet  sich  der  Blick  sogleich  auf  den  Nil, 
und  denkt  ein  Jeder  an  dessen  rhythmische  Spiegelschwankungen. 
Nach  den  Beobachtungen  von  1848 — 61  beim  Nildamm  an  der* 
Spitze  des  Delta*)  befindet  sich  der  Strom  im  Mai  in  seiner  tief- 
sten Schwäche.  Die  Sonne  hat  aber  bereits  seit  Februar  unter 
3®  n.  Breite  die  Regen  erweckt,  welche  die  Betten  der  Gewässer 
des  weissen  Stromes  füllen,  die  stärksten  Wasserfluthen  ergiessen 
sich  jedoch  erst  vom  April  bis  August.  Im  Unterlande  beginnt  der 
Nil  in  der  zweiten  Hälfte  des  Juni  bis  zur  zweiten  Hälfte  des  Juli 
erst  sanft,  von  da  ab  äusserst  hastig  anzuschwellen.  Mittlerweile 
haben  sich  nämlich  die  tropischen  Regen  auf  Habesch  herab- 
gesenkt und  sind  der  blaue  Nil  und  etwas  später  der  Atbara 
herbeigestürmt.  Mitte  August  erreicht  der  Nil  seinen  Hochwasser- 
stand und  bewahrt  ihn  bis  Ende  der  dritten  Octoberwoche,  nach- 
dem im  Anfang  des  ebengenannten  Monats  im  Hochwasser  selbst 
wieder  ein  Maximum  eingetreten  und  wieder  verschwunden  ist.  Ende 


i)  Ebers.  Aegypten  und  die  Bücher  Mosc*s.     Bd.  i.  S.  147 — 148. 
2)  Heinrich  Barth  in  der  Zeitschrift  für  Erdkunde.    Neue  Folge.    Bd. 
XIV.  Berlin  1863.     S.  114  ff.  u.  Tafel  II. 


£28  ^^^  mittelländische  Race. 

October  sinkt   der   Spiegel   fast  gleichmässig,    anfangs    nur    wenig 
rascher     als     später.      Etwa    das     zwanzigfache     seines     Wasser- 
Ergusses  im  Mai  fasst  der  Nil  im  October  oder  er  fasst  ihn  nicht  mehr 
zwischen  den  Uferdämmen,  sondern  sendet  ihn  links  und  rechts  nach 
der  Wüste.     Befruchtend    wirkt    der    Nil    durch    die   schwebenden 
Bestandtheile  seines  Wassers.     Chemisch  ist  sein  Schlamm  wieder- 
holt untersucht  worden^),  neuerdings  wieder  von  W.  Knop*),  wel- 
cher letztere    sehr    wenig    organische  Stoffe    vorfand,    dafür    aber 
bei     dem     ägyptischen     Schlamm     von     allen     bekannten     Fein- 
erden die  höchste    Absorption  (135)    im    Verein    mit-  der   grossten 
Menge  (13,42)    aufgeschlossener  Silicatbasen,    demnach    den  höch- 
sten landwirthschaftlichen  Nutzrang  antraf.     Nun  wissen  wir,  iass 
der  weisse  Nil,  da  er  durch  Seen  hindjurchgeht,  die  wie  ein  Filter 
wirken,  arm  an  schwebenden  Mineralien    ist   und    seine    grünliche 
Farbe  nur  von  Pflanzentheilen  herrührt.     Seine  Wasser  dienen  also 
nur  zur  Füllung  des  Bettes,  sowie  zur  Benetzung  in  den  trockenen 
Zeiten,  aber  nicht  zur  Befruchtung.     Diese  bringen  der  blaue  Nil 
und  der   Atbara    herbei«*).     Auch   andere    Ströme    überfluthen    ihr 
Mündungsgebiet,  keiner  jedoch  verbreitet  reicheren  Seg'en,  als  der 
Nil.     Der  hydraulische  Mechanismus  des  grossen  Stromes   wieder- 
holt sich  aber  nicht  zum  zweiten  Male  auf  der  Erde.     Unter  dem 
Mikroskop  gewährt  der  Nilschlamm  den  Anblick  vollkommen  gleich- 
artiger Körner  von    V30  ^is   7xoo  Millim.  Durchmesser,  welche  bei 
durchfallendem  Lichte  in  reizenden  prismatischen  Farben  spielen*). 
Bekanntlich  nimmt   der  Nil  den  Atbara   als  letztes  Nebengewässer 
auf  und  durchströmt  6"förmig  gekrümmt  14  Breitegrade,    während 
Wüstenwinde    begierig  an  seiner  Oberfläche    saugen.      Auf   dieser 
Strecke  ist  gesorgt,   dass  nicht  etwa  ein  Nebenstrom   mit   grobem 
Gerolle   die  'Feinerde    aufs    neue   wieder  verderbe.      Von    Assuan 
oder  dem  letzten  Cataract  bis  Kairo    beträgt    das   Gefalle  ii,   von 
Kairo  abwärts  nur  4  Fuss  auf  [oo.ooo;  ja  schon  von  Wadi-Halfa 
dem    zweiten    Cataract    bis    Assuan    hat    sich     das    Gefall    bereits 


1)  Acht  verschiedne  Analysen    gibt    Leonhard  Homer,    Philosophical 
Transactions.  vol.  145.  London  1855.  p.  128. 

2)  I^ndwirthschaflliche  Versuchsstationen.   Bd.  1$,  1872.  S.  16 — 18. 

3)  S.  Baker,  Die  Nilzuflüsse  in  Abyssinien.  Braunschweig  r868.    Bd.  i* 
S.  48.  S.  84.    Bd.  2.  S.  185. 

4)  Oscar  Fraas,  Aus  dem  Orient.    S.  210—211. 


Die  mittelländische  Race.  £20 

ZU  9  Zoll  auf  die  engl.  Meile  vermindert  daher  selbst  auf  die.-er 
Strecke  nur  wenig  grober  Sand  noch  vorwärts  geschoben  wird*). 
Von  der  geringen  Geschwindigkeit^)  hängt  es  aber  ab,  dass  nur 
noch  die  kleinsten  schwebenden  Bestandtheile  also  Feinerden  weiter 
getragen  werden.  Bedenken  wir  jedoch  dass,  wenn  die  Geschwindig- 
keit des  Stromes  bis  auf  o,  ^  Fuss  in  der  Secunde  sich  mindern  sollte, 
auch  die  feinsten  Bestandtheile  zu  Boden  sinken  müssten,  so  würde 
der  Nil,  wenn  er  jemals  bis  zu  diesem  Betrage  ermattete,  Unter- 
ägypten nicht  mehr  chocoladebraun,  sondern  als  klares  Gewässer 
erreichen.  Einen  solchen  Zustand  aber  kann  die  Wissenschait 
voraussehen.  Mit  der  Minderung  des  Gefälles  auf  der  letzten 
V  Strecke  muss  auch  die  Geschwindigkeit  sinken.  Bestände  nun 
das  Nilbett  bei  den  Cataracten  nicht  aus  hartem  Syenit,  sondern 
aus  weichem  Sandstein,  so  würde  der  Nil  längst  schon  sein  Bett 
vertieft  und  sein  Gefalle  bis  auf  das  äusserste  Minimum  einge- 
schränkt haben.  Die  Härte  der  Felsarten  auf  der  Cataracten- 
strecke  hat  ^^n  Eintritt  dieses  Uebelstandes  verzögert.  Oberhalb 
Philä  sieht  man  auch  wirklich  einen  Nilstand  28 — 38'  (f^^O  ^^^^ 
dem  jetzigen  Spiegel  und  unter  Amenemha  IIP)  aus  der  XII. 
Dynastie  fioss  der  Strom  wirklich  in  einem  um  25'  höherem  Bette"*). 
Die  Zeit  der' Nilwunder  ist  also  jedenfalls  eine  begrenzte. 

Noch  heutigen  Tages  wirft  der  Fellah  vom  Boot  aus  ohne 
vorherige  Arbeit  die  Saat  in  den  nassen  Schlamm,  wenn  das  Was- 
ser sich  streifenweise  von  seinen  Fluren  zurückzieht^),  doch  wur- 
den schon  in  der  Pyramidenzeit  die  Felder  g'epflügt  oder  mit  der 
Hacke  gelockert^),  die  Saat  selbst  aber  eingetreten.  Wohl  wird 
in  neuerer  Zeit  beim  Bau  von  Handelsgewächsen  stark  gedüngt, 
aber  im  Alterthum  geschah  es  sicherlich  nicht.  Gegenwärtig  erntet 
man  vom  Waizen    das   8.  bis  20.,   von  der  Gerste   das  4.  bis  18., 


i)  Leonh.  Homer.  1.  c.  p.  117. 

2)  Die  mittlere  Geschwindigkeit  des  Nils,  die  freilich,  weniger  in  Betracb 
kommt,  als  die  höchste,  beträgt  eine  halbe  deutsche  Meile  in  der  Stunde 
Sir  John  Herschel,,  Physical  Geography  §  196. 

3)  Nach  Brugsch  (Histoire  d'Epypte,  p.  289),  regierte  er  von  2653—2611 
V.  Chr. 

4)  Lauth,  Aegyptische  Reisebriefe.  Allgem.  Ztg.  1873.    S.  1334. 

5)  Leonh.  Homer,  Philosophical  Transactions  for  1858.  vol.  148.  S.  67. 
A.  V.  Krem  er,  Aegypten.    Leipzig  1863.    Bd.  i.    S.  180 — 181. 

6)  G.  Ebers,  Durch  Gosen  zum  Sinai.    S.  468. 

Peschel»  Völkerkunde.  ^^ 


530  -t)ie  mittelländische  Race. 

vom  Mais  das  14.  bis  20.,  von  der  Durrah  (Sorghum  vulgare)  das 
36.  bis  48.  Korn').  Das  Kafirkorn  wird  uns  unter  den  Feld- 
früchten nicht  genannt,  fehlte  vielleicht  im  Alterthum^)  und  würde 
in  diesem  Falle  von  Negern  der  Cultur  gewonnen  worden  sein. 
Was  man  auch  sagen  mag,  Herodot^)  behält  Recht,  dass 
nirgends  als  in  Unterägypten  die  Erde  um  so  wenige  Mühe  die  Acker- 
früchte gewährte  und  die  Saat  vielfältiger  zurückgab.  So  war 
denn  dafür  .gesorgt,  dass  sich  im  Delta  des  Nils  die  Bevölkerung 
aufs  höchste  verdichten  konnte.  Gesorgt  war  aber  auch  anderer- 
seits, dass  jene  Vergünstigung  der  Natur  in  würdige  Hände  fallen 
sollte.  Würde  sich  nämlich  der  nilotische  Bewässerungs-  und  Be- 
fruchtungsapparat an  der  Westküste  von  Südafrika  befunden  haben, 
so  hätte  er  sicherlich  wohl  ebenfalls  Wunder,  aber  nicht  so  hohe 
Wunder  der  Gesittung  verrichtet  wie  in  Aegypten.  Der  Nil  nämlich 
mündet  hart  vor  der  Landenge  welche  Asien  mit  Afrika  verbindet. 
Seine  Wohlthaten  konnten  sich  also  nie  lange  dem  menschlichen 
Auge  entziehen.  Mochten  Völkerbeweß:ungen  aus  Afrika  nach 
Asien  gerichtet  sein  oder  wurden  Stämme  aus  dem  bereits  über- 
füllten Vorderasien  nach  Afrika  gedrängt,  immer  gelangten  sie 
an  den  Nil  und  zuletzt  musste  demjenigen  Stamm v.  der  Besitz 
des  Unterlandes  zufallen  und  verbleiben,  der  es  zu  einer  raschen 
Volksverdichtun^  am  besten  auszubeuten  verstand. 

2.    Die  Semiten. 

Dieser  Stamm  der  mittelländischen  Völker  bewohnt  Vorder- 
asien und  Theile  von  Ostafrika.  Er  besitzt  aDe  Merkmale  der 
mittelländischen  Völker,  ist  bärtiger  als  die  Hamiten  und  häufiger 
als  diese  mit  ausdrucksvollen  Gesichtszügen,  schmalen  Lippen, 
hohen,  meist  gebogenen  Nasen  und  scharf  gezeichneten  Brauen 
ausgestattet.  Die  Hautfarbe  schwankt  zwischen  einer  leichten 
Dunkelung  bis  zum  tiefen  Braun.  An  Schädelmessungen  herrscht 
grosser  Mangel.  Nach  der  Welcker*schen  Scala  stehen  die  Juden 
an  der  Grenze  der  Mesocephalie,  gehören  aber  noch  unter  die 
niedrigen    Breitschädel.      Die    Araber    dagegen    nähern    sich    der 


i)  Heinrich  Stephan,  Das  heutige  Aegypten.     Leipzig  1872.  S.  82. 

2)  F.  Unger,    Botanische  Streifzüge.  Sitzungsberichte  der  Wiener  Aka- 
demie.   Wien.  1860.    Bd.  XXXVIII.    S.  100. 

3)  lib.  II,  cap.  14. 


\ 


Die  mittelländische  Race. 


531 


Grenze  der  Schmal  schade),  zählen  aber  noch  zu  den  hohen  Meso-r 
cephalen,  die  Abessinier  endlich  mit  einem  Breitenindex  von  69 
und  einem  Höhenindex  von  76^  besitzen  hohe  negerartige  Schmal- 
schädel. Wer  aber  bürgt  uns,  dass  Schädel  aus  Habesch  Ab- 
kömmlingen von  echten  unvermischten  semitischen  Einwanderern 
angehören  ? 

Kenner  des  Altägyptischen  wie  Kenner  der  semitischen  Sprachen  *) 
haben  längst  die  Vermuthung  geäussert,  dass  in  einer  der  Forschung 
vorläufig  entzogenen  Vorzeit  Hamiten  und  Semiten  in  gemeinsamen 
Ursitzen  ihre  Sprachen  wenigstens  bis  zu  den  Stämmen  der  Für- 
wörter entwickelten.  Das  alte  Testament  hat  uns  ausserdem  den 
Entwurf  einer  Ethnographie  für  die  mittelländischen  Völker  in  einer 
älteren  und  einer  jüngeren  Fassung')  erhalten,  wobei  es  in  der 
naiven  Sprache  der  patriarchalischen  Zustände  Länder-,  Völker- 
oder  Städtenamen  auf  künstlich  geschaffene  Stammväter  überträgt. 
So  leiten  ihren  Stammvater  Eber  die  Juden  als  Enkel  von  Arpha- 
kschad  ab,  Arphakschad  aber  ist  die  Landschaft  Arrhapachitis  bei 
Ptolemäus,  in  der  Nähe  des  Ararat  gelegen  und  jetzt  noch  Albak 
genann^-J). 

Zur  Zeit,  als  die  Völkertafel  der  Genesis  entstand,  konnte 
man  vielleicht  -  viel  besser  als  jetzt  noch  Aehnlichkeiten  zwischen 
Volksstämmen  erkennen,  die  sich  später  mehr  verwischten.  Wenn 
daher  die  Kuschiten  von  Ham  abgeleitet  werden,  die  .Canaaniten 
aber  als  Nachkommen  des  Kusch  galten  und  die  phönicische  Stadt 
Sidon  als  der  älteste  Sohn  Canaan's  bezeichnet  wird,  so  huldigt 
auch  das  alte  Testament  der  Ansicht,  dass  semitische  und  hami- 
tische  Stämme  sich  in  Vorzeiten  sehr  nahe  gestanden  seien.  Doch 
widerspricht  sich  der  Bibeltext  mehr  als  einmal;  unter  andern 
^ird  Havila  bald  zu  den  Kuschiten,  bald  wieder  zu  den  joktani- 
schen  Arabern  gezählt*).  Hätte  nun  gar  der  Ethnograph,  oder 
hätten  die  elohistischen  und  jahveistischen  Ethnographen  der  Genesis 
bei  ihrem  Lehrgebäude  sich  nur  von  der  Hautfarbe  leiten  lassen, 
'wie    diess    vielfach    von    den  Kennern    biblischer  Alterthümer   be- 


i)  Ausdrücklich  verwahren  wir  uns,  dass  die  obigen  Worte  auf  ein  Buch 
bezogen  werden,  welches  in  Gotha  1872  unter  dem  Titel  „Die  Semiten  in 
ihrem  Verhältniss  zu  Chamiten  und  Japhetiten"  erschienen  ist. 

2)  Gen.  X.  I — 32.  Paralip.  lib.  i,  cap.  I. 

3)  Fr.  Spiegel  im  Ausland.  1872.  Nr.  44.   S.  1035. 

4)  Gen.  X.  V.  7  u    v.  29. 

34* 


cy>  I^i^  mittelländische  Race. 

hauptet  Avird,  so  kann  die  heutige  Wissenschaft  ihren  Angaben 
keinen  Werth  beilegen,  denn  die  ohnehin  schwachen  Farbenab- 
stufungen wechselten  sicherlich  damals  wie  gegenwärtig  vQn  Land- 
schaft zu  Landschaft  und  innerhalb  der  nämlichen  Horde  musuten 
ebenfalls  wieder  Uebergänge  die  äussersten  Vorkommnisse  ver- 
mitteln. 

Die  heutige  Völkerkunde  darf  sich  nur  an  die  Sprachen  und 
die  Sprachreste  halten,  deren  Typus  schon  geschildert  worden  ist*;. 
Sie  verstatten  zunächst  eine  ziemlich  strenge  Scheidung  in  nörd- 
liche und  südliche  Semiten.  Die  nördlichen  Völker  zerfallen  wieder 
in  Aramäer  ,  Hebräer  und  Kanaanäef ,  Assyrier  und  Babylonier^ 
Das  Aramäische  wurde  im  Norden  Syriens  und  Assyriens  gesprochen» 
ist  aber  jetzt  erloschen  bis  ^auf  zwei  mundartlich  verschiedene 
Sprachinseln.  Zwischen  Mosul  und  Diarbekr  bis  nordöstlich  zu 
den  Van-  und  Urmia-Seen  wohnen  nämlich  nestorlaniscflb  Christen, 
die  sich,  unberechtigt  ohne  Zweifel,  Chaldäer  nennen  und  ein  ver- 
dorbnes  Aramäisch  reden ^).  Die  zweite  aramäische  Sprachinsel 
liegt  bei  Damaskus^),  welches  al%  der  alte  Brennpunkt  des  Aramäer- 
thums  von  der  Bibel  bezeichnet  wird^).  ^ 

Sprachlich  standen  die  Hebräer  den  Kanaahitern,  vorzüglich 
den  Phöniciern  so  nahe,  dass  phönicische  Inschriften  mit  Leichtig- 
keit aus  dem  Hebräischen  sich  erklären  lassen  s).  Im  Jahre  400 
V.  Chr.  erlosch  das  Hebräische  als  Volkssprache  und  wurde  von 
dem  Syrischen  oder  Aramäischen  verdrängt,  während  das  Samari- 
tanische,  eine  Mischsprache  aus  Aramäisch  und  Hebräisch,  noch 
eine  Zeitlang  zwischen  beiden  eine  Brücke  bildete.  Der  dritte 
Zweig  des  nordsemitischen  Astes  ist  das  assyrisch-babylonische,  die 
Sprache  der  Keilschriften  „  dritter  Gattung ",  deren  Entzifferung 
seit  der  Entdeckung  der  erklärenden  Täfelchen  in  Niniveh-Koyyun- 
dschik  festen  Boden  gewonnen  hat.  Jene  Schrift  ist  nicht  überall 
eine  Lautschrift  und  wo  sie  es  ist,  eine  Sylbenschrift.  Sie  besitzt, 
wie  die  hieroglyphische  und  hieratische  Schriit  Determinativzerchen» 


1)  S.  oben  S.  130. 

2)  Ritter,  Erdkunde  Bd..  IX,  S.  679  ff.    Bd.  XI.  S.  211  fr.,S.  390. 

3)  Friedr.  Müller,    Reise    der  Fregatte  Novara.     Anthropologie.    Bd. 
S.  194. 

4)  2.  Sam.  VIII,  5  u.  Knobel,  Völkertafel.  'S.  226. 

5)  Whitney,  Language  and  the  science  of  language.  p.  295—297. 


Die  mittelländische  Race. 


533 


jedoch  conventionclle,  nicht  bilderschreibende,  endlich  eine  Anzahl 
schwieriger,  aber  j^zt  schon  vielfach  erklärter  Ideogramme'),  wahr- 
scheinlich alte  Wortbilder  oder  Wortsinnbilder,  die  dur6h  Keil- 
zeichen abgekürzt  worden  waren.  Gegenwärtig  sind  alle  Zweifel 
geschwunden,  dass  die  Assyrier  und  Babylon ier  eine  gemeinsame 
Sprache  redeten  und  diese  zu  den  semitischen  gehörte^;.  Sie 
stand  dem  Aramäischen  ferner,  als  dem*  Hebräisch-kanaanäischen  und 
vermittelte  zugleich  die  nord-  mit  der  südsemitischen  Gruppe 3). 

Wenn  die  Völkertafel  der  Genesis  Nimrod,  den  Stifter  von 
Babel,  Erech,  Acad  und  Chalne  als  einen  Sohn  von  Kusch  bezeichnet, 
so  ist  diese  Stelle  als  ein  späterer  Zusatz  längst  erkannt  worden*). 
Dass  sich  in  Babylonien  einwandernde  Semiten  mit  einer  älteren 
hamitischen  Bevölkerung  gemischt  haben,  stützt  sich  demnach  allein 
auf  die  Angaben  der  Genesis  und  erscheint  daher  vor  Zweifeln 
nicht  gesichert.  Die  assyrischen  Inschriften  haben  bezeugt,  dass 
mindestens  schon  um  900  v.  Chr.  die  Bewohner  Babyloniens 
Kaldi  (Chaldäer)  hiessen-^). 

Bevor  aber  im  18.  Jahrhundert  v.  Chr.  die  semitischen  Chaldäer 
in  Babylon  ihre  Herrschaft  gründeten,  bestand  am  Mündungsgebiet 
des  Euphrat  ein  Reich  mit  der  Hauptstadt  Ur,  dessen  Könige 
nicht  semitische  Namen  führten^).  Dort  wurde  die  älteste  Gattung 
der  Kellschrift  erfunden,  welche  die  einen  die  akkadische,  andre 
wieder  die  sumerische  nennen,  von  der  jedoch  ohne  Streit  und 
Zweifel  die  assyrisch-babylonische  Schrift  erst  abgeleitet  worden  ist. 
Die  Sprache  jenes  ehrwürdigen  Volkes  wurde  zuerst  von  J.  Oppert 
als  eine  „turanische",  das  heisst  unzweideutiger  ausgedrückt,  als 
eine  uralaltaische  bezeichnet  und  zwar  schliesst  sie  sich,  was  die 
Zahlwörter  und  Fürwörter  betrifft,    dem  finnischen  Aste  näher  an 


X)  Eberhard  Schrader,  Die  assyrisch -babylonischen  Keilinschriften 
Leipzig  1872.    S.  6t.  S.,  83. 

2)  Schrader  1.  c.  S.  24. 

3)  Eberhard  Schrader,  in  Zeitschr.  der  D.  Morgenland.  Gesellschaft. 
Bd.  XXVII.  Leipzig.  1873.  S.  406.  S.  412.  Ohne  die  Arbeit  Schrader's  zu 
kennen,  ist  A.  H.  Sayce  (An  Assyrian  Grammar.  London.  1872.  p.  VII,  p. 
I — 15)  zu  dem  nämlichen  Ergebniss  gelangt. 

4)  A.  Knobel,  Die  Yölkertafel  der  Genesis.  Giessen  1850.   S.  339. 

5)  Schrader  in  der  Zeitschr.  der  D.  Mgld.  Ges.  1.  c.    S.  398. 

6)  Lenormant,  Etudes  accadiennes.  Paris  1873.   tom.  I,  p.  3^*"^^   p.  76. 


534 


Die  mittelländische  Race. 


als  dem  türkischen  *).  Während  aber  seltsamerweise  die  Wortbildung 
immer  sonst  durch  lose  Verknüpfung  von  Suffixen,  wie  in  dem 
altaischen  Sprachkreise  erfolgt,  gestaltet  das  Zeitwort  seine  Sinn- 
begrenzungen vorzugsweise  durch  Präfixe*),  entfremdet  sich  also 
vollständig  dem  Typus  nordasiatischer  Sprachen.  Leider  ist 
die  Erforschung  des  Akkadischen  oder  Sumerischen  völlig  ab- 
hängig von  den  Fortschritten  der  assyrisch-babylonischen  Schrift- 
kunde. Wir  werden  daher  noch  lange  der  völligen  Klarheit  ent- 
behren, dann  aber  sicherlich  Aufschluss  gewinnen  über  das  an- 
ziehendste Räthsel  der  Völkerkunde. 

Als  zweiter  Ast  haben  sich  von  dem  gemeinsamen  Stamme 
die  südlichen  Semiten  abgesondert.  Sie  redeten  in  der  geschicht- 
lichen Vorzeit  das  vorarabische^  welches  sich  spaltete  i)  in  das 
Arabisch  der  Ismaeliten,  von  welchem  die  alte  Schriftsprache  und 
die  neuarabischen  Mundarten  abstammen,  und  2)  in  die  Sprache 
der  Qahtäniten,  welche  letztere  wieder  zerfiel  in  das  himyaritische^ 
von  welchem  da§  heutige  Ehkyly  in  Südarabien  entsprossen  ist 
und  in  das  Altäthiopische,  von  dem  das  jetzt  erloschne  Ge*ez  oder 
die  Reichssprache  und  .das  noch  jetzt  lebendige  Amharische  in 
Habesch  abgeleitet  werden^).  Vor  der  Eroberung  Aegyptens  durch 
die  Araber  hatten  also  bereits  Südsemiten  aus  Jemen  und  Hadh- 
ramaut  das  rothe  Meer  überschritten  und  Abessinien  bevölkert. 
Jedenfalls  geschah  diess  in  vorchristlichen  Jahrhunderten ,  deren 
strenge  Zeitbegrenzung  vorläufig  sich  nicht  aussprechen  lässt.  Die 
arabische  Sprache  hat  sich  jetzt,  wie  wir  im  letzten  Abschnitte 
bemerkten,  auch  nach  Nubien  über  hamii:ische  Stämme  verbreitet^ 
die  sich  seitdem  gern  eine  semitische  Abkunft  zuschreiben  möchten* 
Die  einzigen,  welche  dazu  hinreichend  berechtigt  erscheinen,  sind 
die  Schua  oder  Schiwa'*),  sowie  die  Djalin  und  Schukuri^h  5). 

Wir  Europäer  haben  wie  in  den  hamitiscljen  Aegyptern  auch 
in    den  Semiten  ältere  Culturvölker  zu  verehren ,    denen    wir    un- 


1)  Lenurmant,  1.  c.  p.  133  ff. 

2)  J.  Oppert,    Journal    asiatique.    Paris    1873.    7  ferne  s6rie.    tom.    i.  p. 
116  sq. 

3)  V.  Maltzan,  in  der  Einleitung  zu  A,  v.  Wrede's  Reise  in  Hadhra- 
maut.     Braunschweig  1870.    S.  33. 

4)  Hartmann,  Nilländer.    S.  269, 

5)  W.  Munzinger,    Ostafrikanische  Studien.     S.  563.     S.  jedoch  oben 
S.  519. 


Die  mittelländische  Race.  e^e 

zählige  geistige  Anregungen  und  Hilfsmittel  der  Gesittung  bis  in 
die  neueste  Zeit  verdanken.  Der  Einbruch  der  Araber  verscheuchte 
zuerst  die  mönchische  Finsterniss,  in  welche  Europa  zu  versinken 
drohte  und  frische  Helligkeit  durchströmte  unsern  Welttheil, 
als  die  Kreuzfahrer  aus  Palästina  Erfindungen  und  Wissens- 
schätze heimbrachten.  Eines  der  ältesten  Culturvölker  Vorder- 
asiens, die  Chaldäer  im  Lande  Sinear,  von  denen  die  späteren 
Assyrier  abstammen,  gehörte  nach  den  vorausgehenden  Erläuterungen 
zu  den  Semiten.  Wie  die  Aegypter  bewohnte  es  eine  Wiiste,  wie 
diese  den  Nil,  benutzte  es  die  Hochwasser  der  mesopotamischen 
Ströme,  des  Euphrat  vorzugsweise,  zu  künstlichen  Bewässerungen. 
Im  obern  und  mittleren  Laufe  besitzt  dieser  Strom  so  starke  Ge- 
schwindigkeiten,  dass  die  Lederboote  noch  jetzt  wie  im  Alterthum ') 
nur  zui*  Thalfahrt  benutzt,  am  Ziele  angelangt  aber  auf  Lastthiere 
geladen  und  wieder  zum  Oberlauf  zurückgetragen  werden.  Weiter 
gegen  Süden  beruhigt  sich  der  Euphrat  und  zieht  als  stiller  aber 
tiefer  Strom  dem  persischen  Golfe  zu.  Jetzt  tritt  er  im  April  über 
sein  rechtes  Ufer,  um  in  den  Bodensenkungen  Lachen  und  Sümpfe 
zu  hinterlassen ,  aus  denen  speerhohe  Schilfe  aufsprossen.  Von 
Mai  bis  November  wölbt  sich  über  Sinear  ein  eherner  Himmel,  die 
Luftwärme  steigt  auf  39°  R.,  selbst  hinter  dicken  Mauern  noch 
auf  30°,  ohne  dass,  so  wenig  wie  in  Aegypten ,  Indien  und  in 
Yucatan,  die  Denkkraft  der  Bewohner  unter  diesen  Temperaturen 
erschlafft  wäre.  Von  November  bis  December  fallen  wieder  leichte 
Regenschauer..  Baumwuchs  ist  nur  auf  die  Ufersäume  beschränkt 
und  besteht  aus  Tamarisken,  Acacien,  Pappeln,  Granatbäumen 
mit  ihren  Feuerblüthen ,  sowie*  aus  Palmen ,  beladen  mit  Trauben 
bernsteingelber  Datteln.  Auf  grossen  Strecken  ist  der  einstmals 
so  frohlockende  Euphrat  jetzt  beängstigend  still.  Der  Wind  hebt 
mit  seinen  Fittigen  Sandwolken  empor,  um  den  fetten  Marsch- 
boden zu  ersticken,  ohne  dass  ihm  Jemand  wehrte.  Weit  über  das 
flache  Land  hin  ragen  seltsam  gestaltete  Hügel,  die  bei  besserer 
Annäherung  als  ungeheure  Trümmer  von  Backsteinen  erkannt 
werden.  An  Lehm  zu  Luftziegeln  fehlte  es  nirgends,  einen  treff- 
lichen Mörtel    aber    lieferten    die    noch   jetzt  fliessenden  Erdpech- 


I)  Herodot.    lib.  i.    cap.  194.    vgl.    auch  Ritter,   Erdkunde.    Thl.  XI. 
S.  64. 


536  I^iß  mittelländische  Race. 

quellen  bei  Hit*).  Jene  Trümmer  gehören  den  ältesten  und  ersten 
Städten  an,  welche  die  Verfasser  der  Genesis  kannten,  nämlich 
dem  chaldäischen  Ur,  jetzt  Mugheir,  Erech  jetzt  Warka,  Nipur  oder 
Calneh  in  der  Sprache  der  Bibel,  jetzt  Kiffer,  endlich  Bab-il  jetz^ 
Hillah  mit  Borsippa,  dem  „Thurm  der  Sprachen"*). 

Diese   Städte   entstanden    unter    dem  zweiten  Herrscherhause 
des  Berosus,  welches,  freilich    mit    künstlichen  Ergänzungen    einer 
lückenhaften  Chronologie    in    die    Zeit    von    2286  "  v.  Chr.    gesetzt 
wird  3).    Die  grossen  Bauwerke  von  Ur  erhoben  sich  terrassenartig. 
Ihre    Mauerflächen    schmückten    blauer    Schmelz,    polirte   Achate, 
Alabaster,    Marmorstücke,  Mosaikarbeiten,  Kupfernägel  und  Gold- 
bleche.^    Balken  aus  Palmenholz  trugen  die  Dächer,    doch  zeigten 
sich  frühzeitig  schon  Versuche  von  Bogenwölbungen.    Steigen  wir 
in    die    Gräber    hinab ,    so    stossen    wir     auf    Särge ,    das    heisst 
auf   zwei    zusammengeklappte    thönerne  Schalen,    und  neben  den 
Todten  auf  geschliffene  Feuersteingeräthe,  sowie  Bronzewerkzeuge, 
goldene  Ohrringe  und  eherne  Armspangen.     Zu   den  ältesten  Ur- 
kunden aber    zählt    das    walzenförmige  Petschaft   des  uralten  Kö- 
nigs Uruch,  weniger  weil  es  die  damaligen  Hoftrachten '^)  uns  noch 
aufbewahrt,  sondern  weil  das  Siegeln  selbst    auf    das   Vorhanden- 
sein   einer   Schrift   hinweist.      Gehörten   auch    die    Erfinder    dieser 
ältesten  Schriftgattung  einem   nicht    semitischen    Völkerkreise    an, 
so  bleiben  den  Chaldäern  doch  ihre  Verdienste  um  die  Metrologie 
unbestritten.     Noch  jetzt  verkündigt  uns  der  Anblick   jedes  Ziffer- 
blattes chaldäische  Weisheit s).     Das  erste  metrische  Gewicht  wurde 
am  Euphrat  bestimmt,    denn  das    babylonische    Talent    entspricht 
genau  einem  babylQnischen   Kubikfuss   Wasser    bei    der    mittleren 
Landestemperatur ^).      Die   Theilung    des   Jahres    in    Monate    und 
Wochen,  die  Namen  unsrer  sieben  Tage  verdanken  wir  den  Chaldäern. 


1)  Pauline  v.  Nostiz,    Helfer's  Reisen.    Bd.  i.    S.  256. 

2)  J.  Oppert,  Inscription  de  Nabuchodonosor.  Reims.  1866.  p.  13 — 15. 

3)  G.  Rawlinson,  The  five  great  monarchies.    vol.  I,  p.  153. 

4)  S.  oben  S.  184.  ' 

5)  J.  Brandis,  Münz-,  Maass-  und  Gewichtssystem.  Berlin  1866.  S.  20. 

6)  J.  Brandis,  1.  c.  S.  33.  ff.  Nach  J.  Oppert,  Journal  asiatique. 
Paris  1872.  6erae  serie.  tom.  XX.  p.  157.  besass  der  babylonische  Fuss 
315  Millim.  Länge. 


Die  mitlelländische  Race.  ^37 

Sie  sind  es  gewesen,  die  den  Kreis  in  360  Grade  und  jeden  von 
diesen  in  60  Bruchtheile  zerlegten.  Ihre  Ziffern  reichten  zwar  bis 
hundert,  do*ch  besassen  sie  auch  besondere  Zeichen  für  60  oder  einen 
Sossüs,  sowie  für  das  Quadrat  des  Sossos  oder  den  Saros.  ThontäTel- 
chen,  die  bei  Senkareh  gefunden  worden  sind,  enthalten  sogar  die 
Anleitung,  Einer  und  Sossos  durch  die  Stellung  von  rechts  nach 
links  zu  unterscheiden,  also  die  Erfindung  des  Stellenwerthes  der 
Zahlen,  ja  die  Chaldäer  besassen  sogar  eine  Schreibweise,  die 
wesentlich  unsern  Ausdrücken  für  Decimalbrüche  glich.  Fügen 
wir  noch  hinzu,  dass  die  Babylonier  mitjihrer  Sexagesimaltheilung 
die  Talente,  Minen  und  Seckel,  also  die  Valuta  Vorderasiens  ge- 
schaffen haben.  Freilich  waren  es  nur  [Barren  [aus  Silber  und 
Gold,  die  beim  Verkehr  abgewogen  und  auf  Feinheit  geprüft  wer- 
den musslen.  Dem  Gelde  einen  leicht  erkennbaren  Werth  gege- 
ben, Silber  und  Gold  in  Münzen  ausgeprägt  zu  haben,  blieb  da- 
gegen den  kleinasiatischen  Griechen  vorbehalten,  während  die 
Semiten  und  ihre  Töchtervölker  noch  lange  nach  dieser  Erfindung 
beim  Barrenverkehr  ausharrten. 

Anderen  semitischen  Völkern  als  den  Chaldäern  verdankt 
das  Abendland  seine  religiöse  Erziehung.  Haben  diese  Schöpfungen 
bereits  früher  ihre  Würdigung  gefunden,  so  bleibt  uns  nur  zu 
untersuchen  übrig,,  welcher  Antheil  dem  Sprachentypus  an  der 
Begründung  des  Monotheismus  zukomme.  Die  alten  Arier  be- 
nannten Naturerscheinungen  oder  Naturkräfte  nach  den  sinnlichen 
Eindrücken ,  die  sie  hinterliessen  und  da  sehr  bald  die  radicalen 
und  bedeutsamen  Lautbestandtheile  in  jenen  Sprachen  sich  ver- 
wischten, so  geschah  es,  wie  wir  bereits  früher  zeigten*),  dass  der 
Name  unverständlich  und  dadurch  der  Keim  zu  endlosen  Mvthen 
geweckt  wurde.  Die  Semiten  dagegen  gaben  ihren  Göttern  Namen, 
die  sich  auf  abstracte  Eii^enschaltcn  bezogen,  wie  El  der  Starke, 
Bei  oder  Baal  der  Herrscher,  Belsamin  Herr  des  Himmels,  Moloch 
König,  Eliun  der  Höchste,  Ram  oder  Rimmon  der  Erhabne*), 
Im  Typus  der  dreiconsonantischen  Sprachen  lag  es,  dass  die  ent- 
scheidenden Laute  unversehrt  von  der  Abschleifung  blieben  und 
sie    mahnten  daher    den   Semiten    unaufhörlich    an    die  Ableitung 


i)  S.  ohen  S.   266  ff. 

2)  Max  Müller,  Essay?.    Leipzig  1869.    Bd.  i.    S.  310—318. 


c^g  Die  mitteljändische  Race. 

des  Wortes.  Dennoch  wurden  auch  die  semitischen  Götternamen, 
obwohl  anfangs  nur  [Eigenschaftswörter,  später  persönliche  Be- 
nennungen, so  dass  die  verschiednen  Bezeichnungen  eines  Wesens 
in  Bezeichnungen  verschiedener  Wesen  sich  verwandelten.  Hätten 
die  Juden  die  Bedeutung  von  El  dem  Allmächtigen  nicht  vergessen, 
so  würden  sie  Baal  den  Herrn  nicht  als  eine  andre  Gottheit  neben 
ihm  verehrt  haben.  Somit  schützten  selbst  die  semitischen  Sprachen 
nicht  vor  den  Verirrungen  in  Vielgötterei,  wenn  auch  bei  ihnen 
die  Versuchung  seltener  sich  einstellte.  Dass  aber  von  vornherein  alle 
Semiten  ihren  Göttern  abstracte  Namen  beilegten,  dazu  nöthigte  sie 
nicht  sowohl  ihre  Sprache  als  vielmehr  der  Trieb,  alles  zu  ver- 
geistigen. 

In  die  ernste  Untersuchung  unsrer  Zeit,  ob  nämlich  vor  der 
strengen  typischen  Ausbildung  ihrer  Sprachen  die  Semiten  mit  den 
Indoeuropäern  eine  engere  Heimat  bewohnt  und  einen  Schatz, 
einsylbiger  Wurzeln  gemeinsam  besessen  haben,  darf  eine  Völker- 
kunde heutigen  Tages  sich  noch  nicht  einmischen ,  so  heiss  sie 
auch  ein  bejahendes  Ergebniss  herbeisehnen  mag.  Selbst  der 
neueste  Versuch  dieser  Art*),  der  sich  durch  eine  strenge  Methode 
vor  den  früheren  auszeichnet,  hat  noch  keine  Entscheidung  her- 
beigeführt, sondern  nur  die  Hoffnung  stärker  denn  je  belebt,  dass 
der  völlige  Beweis  einer  vorzeitlichen  Sprachgemeinschaft  der  drei 
grossen ,  leiblich  sich  so  nahe  stehenden  Stämme  mittelländischer 
Race  früher  oder  später  noch  gelingen  werde. 

3)  Europäische  VÖlkerstäm'me  von  unbestimmter  Stellung. 

Unter  den  Bewohnern  Europa's  gehören  mehrere  Völker  ihrer 
Körpermerkmale  wegen  jedenfalls  zu  der  mittelländischen  Race, 
müssen  aber  wegen  ihrer  Sprachen  abgesondert  aufgezählt  werden. 
Es  sind  diess  die  Basken  und  etliche  Stämme  kaukasischer  Länder. 

a.*  Die  Basken. 

4. 

0 

So  nennen  wir  jetzt  die  Bevölkerung  der  nordöstlichen  Pro- 
vinzen Spaniens   und   eines   kleinen  Winkels  im  Südwesten  Frank- 


I)  Friedr.  Delitzsch,  Studien  über  indogermanisch-semitische  Wuizel- 
verwandtschaft.     Leipzig  1873. 


Die  mittelländische  Race.  s^^q 

reichs.  Etwa  eine  halbe  Million  Köpfe  stark,  sprechen  sie  das 
Eiiscara  und  nennen  sich  selbst  Euscaldunac.  Bei  den  Geographen 
des  Alterthums  hiessen  sie  Iberier  und  bewohnten  ganz  Spanien^ 
sowie  das  südwesth'che  Frankreich  ^  wurden  aber  von  den  Kelten 
frühzeitig  gegen  Westen  und  Süden  verdrängt  und  bildeten  ver- 
mischt mit  ihnen  auf  dem  Gebiete  der  heutigen  catalanischen 
Mundart  die  Keltiberier.  Grosser  Meinungszwiespalt  herrscht  über 
die"  Grössenverhältnisse  ihres  Schädels.  Nach  Paul  Broca's^)  Er- 
mittelungen würden  die  spanischen  BasJ^en  zu  den  gemischten 
Halbschmalschädeln  gehören,  während  unter  den  französischen 
Basken  die  Breitschädel .  das  Zahlenübergewicht  besässen.  Das 
Euscara,  ihre  Sprache,  steht  ganz  vereinzelt  oder  hat  nur  Aehn- 
lichkeit  in  der  Wortgestaltung  mit  dem  amerikanischen  Typus,  in- 
sofern es  eine  Menge  pränominale  Beziehungen  dem  Zeitwort  ein- 
verleibt und  zugleich  Bruchstücke  als  Vertreter  von  Wörtern  zu- 
sammensetzt. Doch  geht  bei  ihm  der  volle  Satz  nicht  in  einem 
einzigen  Worte  auf,  auch  erleiden  seine  Hauptwörter  eine  Inflexion 
die  nichts  mit  dem  amerikanischen  Verfahren  gemein  hat^).  Die 
Basken  müssen  wir  vorläufig  für  die  ältesten  Bewohner  Europa's 
halten. 

b.    Kaukasische   Bevölkerungen. 

Neben  zerstreuten  Stämmen  im  oder  am  Kaukasus,  die  bereits, 
dem  türkischen  Zweige  zugezählt  wurden  oder  noch  dem  indo- 
europäischen Stamm  hinzuzufügen  sind,  stossen  wir  auf  Völker 
der  mittelländischen  Race,  deren  Sprachen  völlig  geschwisterlos  bis 
jetzt  dastehen.  So  bewohnen  Daghestän  oder  den  nördlichen 
Abhang  des  östlichen  Kaukasus- die  Avaren,  Kasikumüken  (nicht 
zu  verwechseln  mit  den  türkischen  Kumüken),  die  Akuscha,  die 
Kürinen  und  die  Uden,  welche  sämmtlich  von  den  Georgiern 
Lekhi,  von  den  Armeniern  Leksik  und  von  uns  Lesghier  ge- 
nannt   werden.     Ihre    Nachbarn    gegen  Westen,    welche  die  Dag- 

m 

hestäner  Mizdscheghen  heissen,  nennen  sich  selbst  Nachtschuoi. 
Zu  ihnen  zählen  als  Stamm  die  Tschetschenzen,  welche  unter  dem 
Emir  Schamyl    hartnäckig   für   ihre  Unabhängigkeit   kämpften   und 


i)  Anthropological  Review,  vol.  VII,  London  1869.   p.  382—383. 
2)   Whitney,   Study  of  language.   p.  354. 


540 


Die  mittelländische  Race. 


nach  denen  von  den  Russen  die  gesammtc  Gruppe  benannt  wird, 
während  sie  bei  den  Georgiern  Kisten  heissen.  Die  westlichen 
Bergvölker  zerfallen  in  die  Abchasen,  welche  beide  Abhänge  des 
Kaukasus  und  den  grössten  Theil  des  Küstensaumes  vojn  Ingur 
bis  zum  Kuban  inne  haben  und  in  die  Adige  oder  Tscherkessen, 
welche  ^ westlicher  und  nördlicher  sitzen. 

Zwischen  Kaukasus  und  Antikaukasus,  wie  Palgrave  glücklich 
den  nördlichen  Absturz  des  armenischen  Hochlandes  genannt  hat, 
wohnen  Völker  mit  verschwis teerten  Sprachen,  Es  sind  diess  im 
Südwesten  auf  türkischem  Boden  die  Lazen,  im  nordwestlichen 
Küstenlande  die  Mingrelier,  dann  im  Längenthal  des  Ingur,  süd- 
lich von  den  Pässen,  die  zum  Elbrus  führen,  die  rohen,  fast  noch 
unabhängigen,  von  Freshfield  trefflich  beschriebenen  Suanen,  e.id- 
lieh  als  Binnenvölker  im  Gebiete  des  oberen  und  mittleren  Kur 
die  Georgier,  die  sich  selbst  Karthuhli  heissen,  von  den  Russen 
aber  Grusen  genannt  werden'). 

4.    Der   indoeuropäische   Stamm. 

Die  Sprachverwandtschaft  dieser  hohen  Völker  längst  vorher 
geahnt ,  ist  zuerst  von  Franz  Bopp  bewiesen  und  seitdem  immer 
schärfer  erkannt  worden.  Sie  müssen  sämmtlich  eine  Urheimat 
bewohnt  und  eine  gemeinsame  Ursprache  geredet  haben.  Wie 
allmählig  aus  dem  Stamm  die  Aeste,  aus  den  Aesten  die  Zweige 
ablenkten ,  hat  August  Schleicher^)  durch  einen  Stammbaum,  zur 
Anschauung  gebracht,  der  selbst  heute  noch  nur  weniger  Ver- 
besserungen bedarf. 

Der  indoeuropäische  Stamm  theilte  sich  früh  in  die  asiatischen 
und  die  europäischen  Arier.  Zu  der  asiatischen  Hälfte  gehören 
als  Hauptäste  die  brahmanischen  Indier  und  die  Eränier.  Aus  dem 
Sanskrit  der  brahmanischen  Hindu  sind  als  Töchter  die  neuindi- 
schen Sprachen ,  .  das  Bengali  und  Orija  in  Bengalen  und  Orissa, 
das  Nipali  und  Kaschmlri  in  Nepal  und  Kaschmir,  das  reine  Hindi 


1)  Die  Sprachenkarte  in  Berghaus,  Physikal.  Atlas.  Ethnographie.  Bl. 
15.  genügt  noch  vollständig  für  die  heutige  Völkerkunde  auf  kaukasischem 
Gebiete. 

2)  Die  Darwin'svhe  Theorie  und  die  Sprachwissenschaft.  Weimar  1863. 
Tafel  I. 


Die  mittelländische  Race. 


541 


sowie  das  mit  vielen  freftiden  Stoffen  gemischte  Urdu  oder 
die  Lagersprache  der  Grossmongolen,  das  Pendschabi  und  Sindhi, 
lerner  das  Marathi  oder  die  Mahrattensprache ,  hervorgegangen. 
Zu  diesem  Aste  gehören  ferner  die  Sprache  der  Siaposch  oder 
Schwarzbekleideten  in  Kafiristan'),  sowie  die  der  räthselhaften 
Zigeuner,  die  nicht  vor  dem  Jahre  1000  n.  Chr.  Indien  verliessen, 
in  Griechenland  unsern  VVelttheil  betraten,  1322  auf  Creta,  1346  auf 
Corfu  und  um  1370  in  der  Walachai  nachgewiesen  worden  sind/). 
Der  zweite  Ast  der  asiatischen  Arier  umfasst  die  Völker» 
welche  das  Zend,  die  Sprache  des  Avesta  oder  ,der  altp^rsischen 
heiligen  Schrift  sowie  der  Keilinschriften  erster  Gattung  persischer 
Grosskönige  vormals  geredet  haben  oder  zu  ihm  in  geschwister- 
licher Beziehung  stehen.  Gemischt  mit  semitischen  Stoffen  ging 
aus  dem  Zend  das  Pehlewi,  aus  diesem  das  Neupersische  hervor. 
Der  Zendgruppe  schliessen  sich  an  die  Karduchen  der  alten  Geo- 
graphen, die  Kurden  der  neueren 3),  Gebirgsvölker  Vorderasiens, 
dann  die  Armenier,  deren  Sprache  sich  dem  Pehlewi  nähert  und 
denen  die  Phrygier  und  Kappodocier  verwandt  gewesen  sein  sollen, 
drittens  die  Iron  oder  Osseten  des  Kaukasus,  welche  höchst  be- 
deutungsvoll in  der  und  an  beiden  Ausgängen  der  Darielschlucht 
wohnen,  welche  letztere  tief  die  Centralkette  des  Kaukasus,  sowie 
die  nördliche  Vorkette,  überhaupt  als  einzige  natürliche  Strasse 
das  grosse  Gebirge  spaltet;  ferner  die  Belutschen  in  Belutschistan, 
endlich  die  Awghanen  Awghanistäns,  die  sich  Puschtaneh  oder 
Puchtaneh ,  ihre  Sprache  aber  das  Paschto  oder  Pachto  nennen ; 
nur  ist  zu  bemerken,  dass  nach  den  neuesten  Erforschungen  dieses 
Paschto  als  selbstständiger  Seitenzweig  aus  der  Gabelung  des  dä- 
nischen und  sanskritischen  Astes  hervorgesprosst  ist.  Zum  Schluss 
sind  noch  die  Tadschik  in  l'urkistan  zu  nennen ,  die  ackerbau- 
treibende und  der  Leibeigenschafl  verfallene  Bevölkerung  der  oez- 
begischen  Chanate  oder  Emirate  Chiwa,  Bochara,  Kokand  und 
Kaschgarien^). 


1)  Trumpp,    Sprache    der   Kafirn   in    Zeitschrift    der    D.   Mgld.  Gesell- 
schaft. Bd.  20.  S.  391. 

2)  F.  Miklosich,  Zigeuner  Europa*s.    Wien.    1873.    Heft  III.  S.  ". 

3)  Die  Namen    der   einzelnen  Horden  gibt  A.  Schläfli  in  Petermann's 
Mittheilungen.  1863.    S.  62. 

4)  S.  oben  S.  407. 


542 


Die  mittelländische  Race. 


Die  europäischen  Arier  theilten  sich  zunächst  wieder  in  Nord- 
und  in  Südeuropäer.  Unter  Nordeuropäern  sind  hier  der  letto- 
slavische  und  der  germanische  Ast  zu  verstehen.  Die  Lettoslaven 
verzweigten  sich  als  Letten  und  Slaven,  die  Letten  wieder  in  reine 
Letten  und  in  Litthauer,  welchen  letzteren  auch  die  sprachlich 
verschwundenen  Preussen  angehörten.  Die  Slaven  wiederum 
müssen  als  Ost-  und  Südslaven  von  den  /Westslaven  getrennt 
werden.  Unter  die  Ostslaven  gehören  die  Russen,  mundartlich 
geschieden  als  Grossrussen,  Weissrussen,  Kleinrussen  oder  Ruthenen, 
wie  sie  in  Galizien  heissen.  Zu  den  Südslaven  dagegen  zählen 
die  slovenischen  Bewohner  der  Südostalpen  in  Oesterreich,  ferner 
die  Bewohner  Croatiens,  Serbiens  und  Bosniens  mit  der  Herzego- 
wina. Während  geringe  Sprachunterschiede  diese  ebengenannten 
Bevölkerungen  trennen ,  hat  sich  das  Bulgarische  der  Donau- 
bulgaren ihnen  stärker  entfremdet.  Romanisirte  Südslaven  sind 
dagegen  die  Bewohner  der  Moldau  und  Walachei.  Sprachlich 
stehen  sich  Südslaven  und  Ostslaven  näher  als  beide  den  West- 
slaven. Zu  letzteren  gehören  abgesehen  von  den  deutsch  gewor- 
denen Elbeslaven  zunächst  die  Wenden,  welche  in  der  Lausitz 
eine  rasch  abmagernde  Sprachinsel  bilden*),  dann  die  Polen  in 
Posen,  in  dem  ehemaligen  Königreich  Polen  und  im  westlichen 
Galizien,  drittens  die  Tschechen  in  Böhmen  und  Mähren,  endlich 
die  Slovaken  in  den  nördlichen  Grafschaften  Ungarns. 

Der  andere  Ast  der  Nordeuropäer ,  der  germanische ,  ver- 
zweigte sich  als  Gothen,  Skandinavier  und  Teutonen.  Die  gothische 
Sprache  ist  längst  verklungen  und  nur  bewahrt  in  Ulfilas  Bibel- 
übersetzung. Die  altnordische  Sprache  der  Skandinavier  hat  sich 
dagegen  auf  Island  und  den  Faröern  noch  lebendig  erhalten,  in 
der  festländischen  Heimat  aber  das  Dänisch-norwegische  und  das 
Schwedische  erzeugt.  Die  Sprache  der  Teutonen  zerfällt  in  die 
nord-  oder  niederdeutschen  Mundarten,  wie  das  Friesische,  Sächsi- 
sche, Angelsächsische,  Plattdeutsche,  Holländische  und  Vlämische 
und  in  das  Mittel-  und  Süddeutsche,  welches  seit  der  Reformation 
als  Schriftsprache  in  Deutschland  zur  Herrschaft  gelangt  ist 


I)  Das  Zusammenschwinden  dieser  Sprache  seit  1550  und  1750  hat 
Richard  Andrie  {Das  Sprachgebiet  der  Lausitzer  Wenden.  Prag  1873.) 
auf  einer  lehrreichen  Karte  zur  Anschauung  gebracht. 


Die  mittelländische  Race.  5^^ 

Gliederreicher  waren  die  Südeuropäet.  Von  ihnen  sonderten 
sich  zunächst  die  Altgriechen  ab,  deren  Sprache  im  Neugriechisch 
noch  gut  erhalten  fortlebt.  Zu  nördlichen  Nachbarn  hatten  die 
Bewohner  des  Hellas  in  Thracien  und  lllyrien  Völker,  deren 
Sprache  jetzt  verschwunden  ist,  bis  auf  einen  Abkömmling  im 
heutigen  Albanien.  Dort  sitzen  nämlich  die  Schkipetaren  oder 
,, Bergbewohner",  von  den  Türken  Arnauten,  von  uns  Albanesen 
genannt.  Ihre  Sprache  gehört;  jedenfalls  zu  dem  indoeuropäischen 
Stamm,  stellt  aber  ohne  geschwisterliche  Beziehung  zu  irgend 
einem  der  üorigen  Glieder  völlig  vereinsamt.  Als  dritter  Ast  der 
Südeuropäer  sind  die  Italier  zu  nennen,  die  früher  die  umbrischen, 
lateinischen  und  ostischen  Mundarten  redeten.  Einem  neuen 
Sprachforscher,  Corssen,  soll  es  geglückt  sein,  auch  das  etrus- 
kische  als  eine  altitalische  Sprache  entziffert  zu  haben,  doch  er- 
warten wir  noch  immer  mit  Spannung  die  Veröffentlichung  der 
Beweise.  Die  Römer  erhoben  zur  Sprache  ihres  Weltreiches  das 
Lateinische,  als  dessen  Töchter  das  Portugiesische,  Spanische,  Ca- 
talanische,  Proven^alische ,  Nordfranzösische ,  Italienische  und  die 
ladinschen  wie  romanschen  Mundarten  in  den  schweizer  und  tyroler 

w 

Alpen,  ferner  das  stark  mit  keltischen  Stoffen  gemischte  Furlanische 
in  Friaul  und  im  Venetianischen,  endlich  in  Siebenbürgen ,  etlichen 
ungarischen  Grafschaften  sowie  in  der  Walachei  und  Moldau 
unter  slavischen  Bevölkerungen  das  Rumänische  aufgeblüht  ist. 
Den  letzten  Ast  der  Südeuropäer  vertreten  die  Kelten,  welche 
ehemals  die  Alper>länder  und  Süddeutschland  bewohnten,  in  Frank- 
reich die  Basken  weit  zurückdrängten  und  die  britischen  Inseln 
bevölkerten.  Fast  überall  sind  sie  vertrieben  oder  theils  romani- 
sirt,  theils  germanisirt  worden.  Nur  im  äussersten  Norden  und 
Westen  ihres  Gebietes  hat  sich  in  der  Bretagne  und  in  Wales  die 
kymrische  Mundart  erhalten ,  während  in  den  westlichen  Graf- 
schaften Irlands,  auf  der  Insel  Man  und  in  Schottland')  noch  Be- 
völkerungen die  gaelische  oder  gadhelische  Mundart  reden. 

Die    Indoeuropäer    besitzen    die    Racenmerkmale    der    mittel- 


i)  Unvermischt  gesprochen  wird  das  Gaelische  nur  noch  an  der  Nord- 
ostecke von  Schottland,  vermischt  mit  Englisch  dagegen  westlich  von  einer 
Linie,  die  vom  Moray  Firth  gewölbt  gegen  Osten  nach  der  Clydemündung 
führt.  Murray,  Map  of  Scotland  showing  the  present  limits  of  the  Gaeli: 
language  in  Transactions  of  the  Philological  Society.  1870—1872. 


544 


Die  mittelländische  Race. 


ländischen  Völker  in  höchster  Vollkommenheit,  mit  Ausnahme  je- 
doch der  Hindu,  die  durch  starke  Blutmischungen  mit  Dravida 
ihre  Reinheit  verloren  haben  ^).  Die  Gestalt  des  Schädels  schwankt 
in  Europa  von  der  Mittelform  bis  zu  hohen  Breitenindices*).  Stets 
ist  die  Höhe  geringer,  oft  merklich  geringer  als  der  Querdurch- 
messer. Bei  Nordeuropäern  waren  blondes  Haar  und  blaue  Aut^en 
sehr  häufig,  selbst  bei  den  Kelten  Galliens,  wie  sie  uns  noch  im 
Alterthufn  beschrieben  *  werden,  während  ihre  Nachkommen,  d'.e 
Franzosen,  uns  den  Beweis  liefern,  wie  vergänglich  jene  Merk- 
male sind. 

Die  geistigen  Vorzüge  und  die  bürgerliche  Entwickelung  der 
indoeuropäischen  Völker ,  zu  schildern,  ist  eine  Aufgabe,  welche 
die  Geschichtschreiber  längst  zu  lösen  begonnen  haben.  Uns  fallt 
nur  die  Ermittelung  zu,  welchen  günstigen  oder  ungünstigen  Ein- 
fluss  die  Natur  des  Wohnortes  und  vor  allem  Europa's  auf  die 
frühe  Reife  unsrer  Gesittung  ausgeübt  habe.  Leider  können  wir 
bis  jetzt  nur  errathen,  wo  die  Ursitze  der  Indoeuropäer  gesucht 
werden  sollten.  Mit  Unwillen  muss  jedoch  von  jedem  Erdk'uhdigen 
die  alte  Ansicht  verworfen  werden,  nach  welcher  vom  Hochlande 
Pamir  unsre  Voreltern  herabge^^tiegen  sein  sollen.  Selbst  jetzt 
noch  gehört  jenes  Gebiet  zu  den  unbekanntesten  Erdräumen, 
jedenfalls  waren  unwirthliche  nur  der  Viehzucht  nutzbare  Hoch- 
ebenen am  schlechtesten  gewählt  als  Ursitz  einer  hohen  Cultur 
und  Cultursprache. 

Weit  verführerischer  wirkt  die  Wahl  Turkistans  hauptsächlich 
Bactriens  auf  die  Erforscher  indischer  und  eränischer  Sprachen •>)• 
\Mrd  nun  durch  eine  Auscheidung  der  allen  Gliedern  gemeinsamen 
Wurzeln  der  alte  Sprachschatz  der  arischen  Urzeit  neu  hergestellt, 
so  gewinnen  wir  zugleich  ein  Gemälde  von  den  gesellschaftlichen 
Zuständen  jener  Völker  im  höchsten  Alterthume.  Wir  erfahren 
dadurch,  dass  sie  bereits  den  Acker  bauten,  ihn  mit  Rindern 
pflü^^ten,  Wagen  mit  Rädern  gebrauchten,  Milchwirthschaft  trieben, 
und  ein    nahes  Meer    mit  Ruderbooten,   nicht   mit   Segelkraft    be- 


i)  S.  oben  S.  483—484. 

2)  S.   oben   S.  58—61. 

3)  J.  Muir,    Original    Sanskrit  Texts.    Part.  II,    cnp.   2.  sect.  VII.    pag. 
304—322. 


■■ 


Die  mittelländische  Race, 


545 


fuhren*).     Ob   sie  Metalle  schon  ausgeschmolzen  haben,    ist  mehr 
als  zweifelhaft,  zumal  der  Name  für  Blasebalg')  nicht  aus  der  Ur- 
heimat stammt.     Da   sie   dort  altafrikanische  Hausthiere,  den  Esel 
und  die  Katze  ^)  nicht  kannten,  so  hatten  sie  mit  Aegyptern  noch 
keine  Culturschätze  ausgetauscht.    Dass  sie  ferner  den  Namen  für 
das  Kamel    später    aus    semitischen  Sprachen    entlehnten,    spricht 
entschieden  gegen  Ursitze  in  Bactrien.     Da  gemeinsame  Worte  für 
Schnee    und  Winter    vorhanden    waren^    die    anderen  Jahreszeiten 
aber  spätier  verschiedene  Namen  empfingen,  so  wechselten  in  Alt- 
arien   sicherlich    heisse    mit    rauhen  Monaten.     In   jenen  Ur sitzen 
hausten  Bären,    Wölfe  und  Ottern*),    dagegen  fehlten  Löwen  und 
Tiger 5).     Nach  diesen  Andeutungen    können    wir   sehr   genau  die 
Heimat  der  Indoeuropäer  begrenzen.     Sie  lag  östlich  vom  Nestus, 
jetzt  Karasu  in  Macedonien,  wo  zu  Xerxes'  Zeiten  das  Verbreitungs- 
gebiet des    europäischen  Löwen    aufhörte^).     Sie    lag    auch  nörd- 
licher als  Chuzistan,  Irak  Arabi,  ja  selbst  als  Assyrien 7),  wo  Löwen 
noch  jetzt  vorkommen.     Ferner  konnte  sie    die   Hochlande  West- 
irans   und   die  Südgestade    des    kaspischen  Meeres    nicht   umfasst 
haben ,    weil    dorthin    noch    die  Tiger  gegenwärtig  ihre  Raubzüge 
erstrecken  8).     Nach  allen  angeführten  Thatsachen  wird  wohl  jeder 
Erdkundige  sich  dahin  entscheiden,    dass    die  Indoeuropäer    beide 
Abhänge  des  Kaukasus,    auch  die  merkwürdige  Darielschlucht  be- 
wohnten    und     den    Pontus     oder     das    kaspische    Meer,     wenn 
nicht    beide   gleichzeitig    kannten.     Gegen     diese  Schlussfolgerung 
wird    gewöhnlich    eingewendet,     dass     die    europäischen   Stämme 
auf     ihren     Wanderungen     sich     aus     dem    Gebiete    des    Löwen 
oder    des    Tigers     entfernten    und    mit    den    Thieren    auch    ihre 
Namen  vergassen.     Dies  bedarf  jedoch  erst  noch   einer   strengen 


1)  Adolphe  Pictet,    Les    origines   indo-europdennes.     Paris    1859    und 
1863.    tom.  I,  p.  271.  p.  333.    tom.  II,  p.  25.  p.  75.  p.  94.   p.  108  ff.    p.  179. 

2)  Pictet      1.  c.  tom.  II,  p.  142. 

3)  Pictet,    1.  c.    tom.  I.    p.  356.   p.  381. 

4)  Pictet,    1.  c.  tom.  I,  p.  427.  p.  431.  p.  443- 

5)  Pictet  1.  c.  tom.  I,  p.  425.  p.  426. 

6)  Herodot.  lib.  VII,  cap.  125— ,126. 

7)  Ueber  die  Verbreitung  der  Löwen    in  Vorderasien  vgl.  Layard,    Ni- 
neveh  and  its  remains.  2d.  ed,  tom.  II,  p.  48* 

8)  Carl  Ritter,   über  die  Verbreitung  des  Tigers,  in  der  Zeitschrift  für 
Erdkunde.    Berlin  1856.    Neue  Folge.    Bd.  i.    S.  99. 

Pesckel,   Völkerkunde"  35 


546 


Die  mittelländisclie  Race. 


Begründung,  denn  die  Maori  haben  den  Namen  für  das  Haus- 
schwein und  die  Cocosnuss  beibehalten,  obgleich  auf  Neu- 
seeland beide  fehlten*).  Hätten  die  Altarier  in  ihrer  Heimat 
solche  heroische  Raubthiere  wie  Tiger  und  Löwe  gesehen  und 
bekämpft,  sicherlich  wären  ihre  Namen  in  irgend  einer  anderen 
Bedeutung  erhalten  geblieben.  Der  Beweis  aber,  dass  dies  nicht 
geschehen  sei,  fällt  als  Last  auf  diejenigen,  welche  Bactrien  als 
die  schicklichste  Heimat  der  -Indoeuropäer  erwählt  haben. 

Es  bleibt  uns  nur  noch  die  Untersuchung  übrig,  ob 'Europa 
als  Wohnort  zur  Beschleunigung  der  Gesittung  beigetragen  habe 
oder  nicht.  So  ausdrucksvoll  haben  sich  aber  Land  und  Meer  in 
diesem  Erdraum  abgesondert,  dass  schon  Strabo*),  der  doch  die 
nächsten  Festlande  noch  so  unvollständig  kannte,  Europa  als 
reichgegliedert  {noXvüx^' (i(av)  gepriesen  hat.  Unser  Welttheil, 
selbst  eine  halbinselartige  Verlängerung  Asiens,  hat  alle  seine  Um- 
risse wieder  halbinselartig  ausgebildet,  denn  irn  Süden  tritt  er  mit 
drei  solchen  Gestaltungen  in  das  Mittelmeer,  im  Norden  berühren 
sich  nahezu  Scandinavien  und  die  cimbrische  Landzunge,  ja  selbst 
die  britischen  Königreiche  lassen  uns  noch  erkennen,  dass,  bevor 
der  seichte  Aermelcanal  vom  Meer  ausgefurcht  worden  war,  auch 
sie  als  vorspringende  Landmassen  mit  dem  Hauptkörper  vereinigt 
waren.  In  Folge  dieser  zahlreichen  rhythmischen  Vorsprünge  un- 
seres Festlandes  tritt  das  Meer  immer  mehr  oder  weniger  golfförmig  in 
das  Festland  herein. 

Meerengen,  die  durch  Annäherung  des  Festen  an  das 
Feste  entstehen,  sind  ebenso  selten  als  bedeutungsvoll.  Miss- 
achtet  musste  daher  dasjenige  Festland  am  längsten  bleij^en,  das 
keine  besitzt,  nämlich  Australien.  Amerika  wiederum  erhielt  seine 
ersten  Bewohner  höchst  wahrscheinlich  über  die  Berings-Enge. 
Europa  endlich  kann  nicht  nur  sein  Kattegat  mit  dem  Sund  auf- 
weisen, sondern  es  bildet  mit  Afrika  und  Asien  die  Meerengen 
von  Gibraltar,  von  Sicilien,  und  den  Hellespont  sammt  dem  Bos- 
porus, welche  das  Mittelmeer  in  drei  gesonderte  Becken  trennen. 
An  jede  dieser  drei  Zusammenschnürungen  knüpfen  sich  zeiten- 
verändernde Weltbegebenheiten.  Dort,  wo  Sicilien  sich  dem  Saum 
von  Afrika  nähert,    musste    die    grösste  Seemacht   des  Alterthums 


i)  S.  oben  S.  374. 

2)  Geogr.  lib.  II,  cap.  5.    (Tauchn.  cdit.  tom.  I,  p.  201.) 


Die  mittelländische  Race. 


547 


entstehen,  denn  von  dort  Hessen  sich  beide  Becken  des  Mittel- 
meeres  um  so  strenger  beherrschen,  als  in  früheren  Zeiten  der 
Schiffer  aus  Verzagtheit  nie  das  Gestade  aus  dem  Gesicht  zu  ver- 
lieren wagte. ^  Dort  an  jener  Stelle  erstand,  wuchs  und  fiel  Car- 
thago.  Die  andere  Meerenge  führt  ihren  heutigen  Namen  vom 
Dschebel-Tarik,  dem  Tarikfelsen,  weil  Tank  dort  mit  den  Arabern 
aus  Afrika  nach  Spanien  übersetzte,  ein  Unternehmen,  das  bei  den 
damaligen  schwachen  Leistungen  der  Schifffahrt  nie  versucht  worden 
wäre,  wenn  nicht  eine  Enge,  sondern  ein  geräumiger  Meeresarm  die 
beiden  Festlande  getrennt  hätte.  Mit  den  Arabern  aber  kam  da- 
mals das  reifere  Wissen  morgenländischer  Völker,  ja  zum  Theil 
auch  von  neuem  die  verschollene  Gelehrsamkeit  des  griechischen 
Alterthums  nach  Europa.  An  die  dritte  Meerenge  knüpft  sich  die 
Jahreszahl  1453,  der  Fall  von  Konstantinopel,  der  durch  eine 
wundersame  Fügung  zum  Segen  uns  ausschlagen  sollte,  denn,  von 
den  Osmanen  verscheucht,  brachten  Byzantiner  nicht  blos  längst 
vermisste  literarische  Schätze  der  hellenischen  Blüthezeit  in  das 
mittelalterliche  Europa,  sondern  es  wurde  auch  durch  sie  die 
griechische  Sprache  ein  Gemeingut  der  Gelehrten  und  aus  diesem 
Quell  strömte  das  neue  Licht  des  16.  Jahrhunderts.  Noch 
jetzt  drohen  diese  Meerengen  den  Bewohnern  Europa*s  mit  neuen 
Prüfungen.  Im  Hintergrunde  der  modernen  Begebenheiten  ist  ein 
ziemlich  hochbegabtes  Volk  zum  russischen  Reich  erstarkt  und 
möchte  sich  vorwärts  drängen  nach  dem  offenen  Weltmeer,  Seine 
Ufer  liegen  aber  nur  an  zwei  Binnenmeeren,  die  sich  mit  Kammern 
vergleichen  lassbn,  zu  denen  andere  Völker  die  Schlüssel  besitzen. 
Im  Winter  gefriert  die  Ostsee  und  Schweden  wird  dann  fest  mit 
den  dänischen  Inseln,  so  dass  die  Schifffahrt  eingestellt  bleibt.  Der 
Pontus  dagegen  fliesst  durch  ein  doppeltes  so  enges  Thal  ab,  dass 
sich  jede  Stelle  unter  ein  Kreuzfeuer  von  Artillerie  bringen  lässt. 
Jedes  Volk  von  gleichem  W^uchse  wie  die  Russen  würde  nach 
einem  offeneren  Meere  sich  vorzuarbeiten  suchen,  und  darum,  so  oft 
der  Gefangene  ungeduldig  am  Gitter  seines  geographischen  Kerkers 
rüttelt,  wird  es  den  westlichen  Völkern  um  ihren  Frieden  bange. 

Wiegen  seines  Gliederreichthums  besitzt  unser  Welttheil  die 
grösste  Küstenlänge  im  Vergleich  zu  seiner  Oberfläche.  Nun  ver- 
dichtet sich,  wie  die  neue  schöne  Karte  von  E.  Behm')  über  die  Ver- 


i)  Ergänzungsheft  Nn  35.  Taf.  2.  zu  Petermann's  Mittheilungen. 


35* 


548 


Die  mittelländische  Kace. 


theilung  der  Bevölkerung  Europa's  es  offenbart  hat,  in  unserem  Fest- 
lande mit  Ausnahme  der  Landes,  der  Maremmen  und  der  „eisernen 
Küste'*  }ütlands  stets  die  Bewohnerzalil  am  Meeresgestade  im  Ver- 
gleich zu  den  rückwärts  liegenden  Binnenstrichen.  Jene  Karte  lehrt 
uns  weiter,  dass  jede  Bodenerhebung  der  Bevölkerungsdichtigkeit 
entgegenwirkt  oder  sie  gleichsam  auflockert.  Es  ist  demnach  von 
tiefer  Bedeutung,  dass  von  allen  Welttheilen  Europa  wiederum  die 
geringste  mittlere  Höhe  besitzt  ^).  Eine  räumliche  Annäherung  der 
Menschen  an  die  Menschen  ist  aber  die  unerlässliche  Vorbedingung 
zur  Erhöhung  der  JCulturstufen. 

Zu  unsern  glücklichen  Uferumrissen  gesellen  sich  meteoro- 
logische Begünstigungen,  wie  sie  von  Sachverständigen  kaum  besser 
hätten  ausbedungen  werden  können.  Durch  das  tiefe  Eindringen 
des  Meeres  werden  alle  schroffen  Gegensätze  abgestumpft  und  die 
Wärme  über  die  Jahreszeiten  so  gleichmässig  vertheilt,  dass  er- 
trägliche Sommer  auf  milde  Winter  folgen,  und  noch  im  Süden 
Irlands  Myrten,  Lorbeeren,  Camellien  und  Orangen  das  ganze  Jahr 
im  Freien  ausharren.  Die  rasche  Musterung  von  Weltkarten  mit 
Dove'schen  Isanomalen  genügt  auch  vollständig,  um  uns  zu  über- 
zeugen, dass  von  allen  Welttheilen  Europa  allein  wärmere  Sommer 
und  mildere  Winter  geniesst,  als  den  jeweilig  entsprechenden 
Er d räumen  unter  gleicher  Polhöhe  zukommen.  Auch  einer  gleich- 
massigen  Vertheilung  der  Niederschläge*  ist  die  peninsulare  Schlank- 
heit und  die  Richtung  der  grossen  Axe  unsres  Welttheils  aufs 
höchste  förderlich.  Wo  sich  Küsten  von  Süden  nach  Norden  er- 
strecken und  die  regenbringenden  Seewinde  unmittelbar  an  den 
Abhängen  hoher  Gebirge  wie  an  der  Ostküste  Australiens  oder 
an  der  Westküste  Nordamerika's  ihre  Feuchtigkeit  absetzen,  da 
folgt  hinter  ihren  Kämmen  ein  regenarmer  Gürtel  wie  in  den  an- 
gegebenen Fällen.  *  Nichts  derartiges  kann  sich  in  Europa  zu- 
tragen, wo  die  atlantischen  Regenwolken  oft  zu  unserm  Verdruss 
ganz  Nordeuropa  bis  nach  Russland  einhüllen,  ohne  dass  quer 
voi  liegende  Bodenerhebungen  die  gleichmässige  Vertheilung  zum 
Schaden  der  Binnenräume  störten.  Unsere  Hauptgebirgszüge,  die 
Alpen  mit  ihren  östlichen  Verlängerungen,  verschärfen  vielmehr 
die  Absonderung  unsres  Welttheiles  in  zwei  klimatische  Hälften: 
in  Nordeuropa  und  in  Südeuropa,  in  einen  Gürtel,  wo  im  Herbste 


I)  A.  V.  Humboldt.    Kleine  Schriften.    Bd.  i.    S.  438. 


Die  millelländische  Kace.  51^^ 

das  Laub  fällt  und  in  einen  mediterraneischen  Küstensaum  mit 
immergrünenden  Sträuchern  und  Gewächsen,  der  eine  bewohnt 
von  Völkern,  die  Bier  brauen  und  Butter  bereiten,  der  andere  von 
Völkern,  welche  Mie  Trauben  keltern  und^die  Früchte  des  Oel- 
baumes  pressen.  Erst  in  den  Östlichen  Fernen  des  Welttheiles, 
an  den  Gestaden  des  Pontus  und  des  kaspischen  Meeres  ent- 
wickelt sich  ein  dritter  Gürtel  mit  andern  Lebensbedingungen, 
nämlich  die  Steppe,  anfangs  eine  schmale  Zunge,  später  an  Raum- 
grösse  rasch  anwachsend.  Solche  scharfe  Uebergänge  zu  klima- 
tischen Gegensätzen  mussten  frühzeitig  einen  Völkerverkehr  er- 
wecken, weil  die  Bewohner  des  Nordens  wie  des  Südens  Erzeug- 
nisse zu  bieten  hatten ,  welche  die  Begierde  schon  durch  den 
Reiz  des  Fremdartigen  erweckten. 

Die  Vortheile  höherer  Gliederung  äussern  sich  aber  einfach 
darin,  dass  verschieden  begabte  Völker  bequemer  das  beste  aus- 
tauschen können,  was  sie  erworben  haben.  Die  besten  Erzeug- 
nisse des  Menschen  sind  aber  seine  glücklichen  und  beglückenden 
Gedanken,  die,  einmal  gedacht,  befruchtend  oder  tröstend  fort- 
wirken von  Geschlecht  zu  Geschlecht  durch  Jahi;tausende.  Zu 
den  beglückenden  Gedanken  gehören  die  Religionsschöpfungen, 
zu  den  glücklichen  unter  andern  solche  Erfindungen,  die  über 
unsern  Haushalt  und  unsere  Tagesgewohnheiten  eine  strenge  Herr- 
schaft behaupten.  Was  wir  unter  Civilisation ,  Cultur,  Gesittung 
verstehen,  ist  nichts  anderes  als  eine  Summe  heller  Gedanken, 
gröstentheils  von  uns  ererbt  und  asiatischen  Ursprungs.  Kein 
Culturvolk  steht  hoch  genug,  dass  es  nicht  irgend  etwas  neues 
selbst  von  sogenannten  wilden  Völkern  sich  aneignen  könnte,  oder 
schon  angeeignet  hätte.  Der  Gebrauch  der  Gabeln  beim  Genuss 
der  Speisen  hat  sich  beispielsweise  in  Nordeuropa  erst  im  17.  Jahr- 
hundert verbreitet '),  und  wurde  anfangs  als  eine  sittenverderbliche 
Neuerung  angesehen.  Hätten  uns  dieses  Tischgeräth  nicht  schon 
die  Völker  des  Alterthums  hinterlassen,  oder  würden  wir,  wie  die 
Chinesen,  noch  heutiges  Tages  uns  der  Essstäbchen  bedienen,  so 
hätten  unsere  Seefahrer  von  den  anthropophagen  Fidschi-Insulanern 
die  Gabel  als  eine  Neuigkeit  nach  Europa  bringen  können.  Durch 
den  Umgang  mit  den  Kelten  Galliens  war  gar  mancherlei  für  die 


i)  Lubbock,  Prehistoric  Times  2^  ed.    1869.  p.  443. 


550 


Die  mittelländische  Racc. 


Römer  zu  erlernen,  denn  von  ihnen  empfingen  sie  zuerst  die  Seife*), 
und  erfuhren  sie,  wie  sich  metallene  Geschirre  verzinnen  und  ver- 
silbern Hessen").  Vom  keltischen  Adel  erlernten  sie  die  Hetz- 
jagd im  freien  Feld  und  unsere  deutschen  Vorfahren  die  Falken- 
beize^). Die  alten  Bewohner  Britanniens  dagegen  hatten  zuerst 
bei  der  Landwirthschaft  mineralische  Dünger,  nämlich  den  Mergel , 
angewendet,  und  zufolge  einer  etwas  dunkeln  Beschreibung  bei 
Plinius  das  Getreide  schon  mit  Maschinen  und  mit  Pferdekraft 
geschnitten*).  Umgekehrt  sollten  erst  nach  Tacitus*  Zeiten  die 
kühnsten  Seefahrer  der  Welt,  die  Normannen,  mit  dem  Gebrauche 
der  Segel  bekannt  werden  5). 

An  unsere  wichtigsten  narkotischen  Genussmittel  sind  wir  erst 
vor  drei  oder  vier  Jahrhunderten  durch  fremde  Völker  gewöhnt 
worden;  an  den  Thee  durch  die  Chinesen  und  an  den  Kaffee 
durch  fromme  Araber.  Die  erste  Chocolade  tranken  spanische 
Eroberer  aus  der  Hofküche  des  mexicanischen  Kaisers  Mocteuzoma 
oder  Montezuma^)  und  als  im  Jahre  1492  spanische  Kundschafter 
aus  dem  Innern  von  Cuba  zurückkehrten,  erzählten  sie  dem  Ent- 
decker der  neuen  Welt,  dass  die  harmlosen  Indianer  der  Insel 
zusammengerollte  Krautblätter,  welche  sie  Tabacos  nannten,  in 
den  Mund  steckten,  um  von  dem  anderen  entzündeten  Ende  her 
den  Rauch  einzuschlürfeji.  Waren  auf  den  Antillen  Cigarren  ia 
Gebrauch,  so  sahen  Europäer  bei  den  Rothhäuten  Nordamerika's 
den  Tabak  aus  steinernen  Pfeilen  rauchen  und  im  alten  Peru^), 
sowie  anderwärts  in  Südamerika,  ihn  schnupfen. 

Das  Schlafen  in  aufgeknüpften  Netzen  ist  eine  Erfindung  der 
neuen  Welt  und  unser  Ausdruck  Hängematte  eine  Uebersetzung 
und  zugleich  Lautnachahmung  des  Wortes  „Äö/^iara"  aus  der 
Sprache  der  Urbevölkerung  Haiti's,  welches  das  Französische  als 
„Äawjr"    noch   treu   bewahrt    hat.     Die    Verwendung    künstlicher 


1)  Ausland  1866.     S.  139. 

2)  Mommseii,  Römische  Geschichte.  Bd.  3.  S.  217. 

3)  Hehn,   Culturpflanzen.    S.  270. 

4)  Plin.  H.  N.  lib.  XVII.  4,  lib.  XVIII.  72. 

5)  Germania,   cap.  44.     Die  Suionen    des  Tacilus    sind    die  Bewohner 
von  Schonenland. 

6)  Prescott,  Conquest  of  Mexico,  tom.  I,  p.  135.  p.  155. 

7)  Prescott,    Conquest  of  Peru.   tom.  I,  p.  140. 


Die  mittelländische  Race.  eci 

Insecten  beim  Fischfang  mit  der  Angel  und  die  Wahl  dieser 
Phantome  je  nach  der  erwünschten  Fischart,  der  Jahreszeit  oder 
dem  Wetter  haben  die  Engländer  zuerst  den  Indianern  an  den 
Flüssen  Guayana's  abgelauscht  und  von  den  rohen  Naturkindern 
Brasiliens  wurden  Portugiesen  in  der  Zubereitung  der  Tapioca 
unterrichtet').  Das  einfachste  und  zugleich  ein  ungemein  maleri- 
sches Männergewand,  nämlich  der  Poncho,  welcher  im  spanischen 
Amerika  heutzutage  allenthalben  getragen  wird,  war  die  Volks- 
tracht der  tapfern  Araucaner*).  Selbst  im  Bau  von  Fahrzeugen 
konnten  wir  erst  in  unseren  Tagen  von  fälschlich  missachteten 
Völkern,  wie  den  Eskimo,  etwas  lernen,  denn  ihre  Kayaken  wurden 
die  Muster  zu  unsern  Lustgondeln  mit  geschlossenen  Räumen  am 
Schnabel  und  Stern. 

Wenn  also  selbst  bei  unseren  reifen  Zuständen  ein  Umgang 
mit  jugendlichen  Stämmen  immer  noch  Nutzen  trägt,  wie  ent- 
scheidend musste  es  für  uns  gewesen  sein,  als  unsere  Lehrjahre 
begannen,  dass  die  Zugänglichkeit  und  Aufgeschlossenheit  unseres 
Welttheils  den  Zutritt  der  geistig  bereicherten  Völker  Asiens  und 
Afrikas  erleichterte?  Ein  Misskennen  der  Culturgeschichte  aber 
wäre  es,  wollte  man  schliessen,  dass  die  Europäer,  weil  sie  einen 
reich  gegliederten  Welttheil  bewohnten,  nothwendig  durch  ihre 
Leistungen  zu  allen  Zeiten  hätten  hervorleuchten  sollen.  Für  jene 
Franzosen,  welche  in  den  Höhlen  der  Dordogne  hausten,  mit  Stein- 
werkzeugen das  wilde  Pferd  um  seines  Fleisches  willen  jagten,  zu 
einer  Zeit,  wo  der  vorweltliche  Elephant  noch  Nordeuropa  durch- 
schritt, war  es  völlig  unerheblich,  ob  ihr  Welttheil  halbin selförmig 
gestaltet,  sowie  mit  Sunden  und  Golfen  reich  gesegnet  war.  Auf 
den  niedrigsten  Stufen  unserer  Entwickelung,  wo  die  Sorge  für  den 
täglichen  Unterhalt  fest  den  ausschliesslichen  Lebenszweck  bildet, 
wo  das  einzige  nicht  thierische  Bedürfniss,  merkwürdiger  Weise 
ein  ästhetisches,  vorläufig  nur.  darin  Befriedigung  sucht,  dass  etwa 
hübsche  Muscheln,  an  eine  Schnur  gereiht,  den  Hals  oder  die 
Knöchel  zieren  sollen,  haben  weder  wagrechte  noch  senkrechte 
Gliederungen  oder  andere  geographische  Charakterzüge  irgend 
einen  Werth  zur  Besänftigung  der  rohen  Menschennatur  besessen. 


1)  S.  oben  S.  451. 

2)  Waitz,  Anthropologie.    Bd.  3.  510. 


552 


Die  mittelländische  Race. 


Bestand  die  Gunst  der  Gliederung  Europa's  in  seiner  Zu- 
gänglichkeit für  fremde  Cultur,  so  sind  auch  seine  Bewohner,  so 
weit  unser  geschichtliches  Wissen  zurückreicht,  bis  auf  vier  oder 
fünf  Jahrhunderte  rückwärts  noch  immer  der  empfangende  Theil 
geblieben.  Aus  diesem  Grunde  war  es  wichtig,  dass  Europa  als 
asiatische  Halbinsel  der  alten  Welt  angehörte,  denn  geräumige 
Ländermassen  sind  vorzugsweise  reich  an  solchen  Thier-  und 
Pflanzenarten,  die  zu  den  Bewohnern  in  irgend  eine  gesellige  Be- 
ziehung treten  können,  und  wirklich  stammt  mehr  als  die  Hälfte 
dessen^  was  den  Gestaden  des  Mittelmeeres  ihre  landschaftlichen 
Zierden  gewährt,  aus  dem  Morgenlande.  Nur  der  Weinstock,  der 
Feigenbaum,  der  Lorbeer  des  Apoll  (Laurus  nohilis)^  der  Oleander, 
werden  bereits  fossil  in  der  Provence  angetroffen*).  Die  immer- 
grüne Eiche,  die  Myrte  und  die  Pinie  gehörten  ebenfalls  wohl 
unter  die  einheimischen  Gewächse.  Der  Oelbaum  dagegen,  der 
auf  der  griechischen  Insel  Santorin  unter  einer  sehr  alten  Lava- 
schicht angetroffen  wird,  kam  erst  mit  hellenischen  Ansiedlern 
600  V.  Chr.  zu  Schiff  nach  Italien.  Die  Rebe,  welche  den  süd- 
lichen Feuerwein  spendet,  wanderte  von  den  Südabhängen  des 
Kaukasus  über  Thracien  ein,  ihr  folgte  der  Fasan  von  den  Ufern 
des  Phasis  und  die  Apricose  aus  Armenien.  Aus  Persien  kam  die 
Platane,  der  Pfirsich,  die  Rose  und  die  Lilie,  während  Melonen^ 
Gurken  unc  Kürbisse,  lauter  Steppen  fruchte,  aus  Turkistan  erst 
spät  durch  die  Hände  der  Slaven  nach  dem  Abendlande  gelangten. 
Dattelpalmen  sahen  die  Hellenen  zuerst  in  Phönicien,  als  unzer- 
trennliche Begleiter  der  Araber  wanderten  sie  in  das  eroberte 
Spanien  und  landeten  mit  saracenischen  Piraten  an  dem  gefeierten 
Gestade  zwischen  Genua  und  Nizza.  Aus  dem  semitischen  Asien 
stammt  auch  die  Cypresse,  der  Paradiesapfel,  Kümmel  und  Senf^ 
während  Nordeuropa  die  Linse  den  Römern,  die  Erbse  den 
Griechen  verdankt,  /on  italienischen  Gärtnern  lernten  unsere 
Vorfahren  ihre  wilde  Schlehe  durch  Aufsetzen  von  Damascener 
Reisern  zur  Zwetschge  zu  veredeln  und  zu  dem  wilden  Süss- 
kirschenbaum  kam  von  Cerasus  am  Pontus  die  Weichsel.  Der 
Haushahn  wanderte  aus  Indien  über  Persien  zunächst  nach 
Griechenland    und    den    Pfau    brachten    die    hieramsalomonisrhen 


i)  Charles  Martins    in    der  Revue  des  deux  Mondes,    tom.  LXXXV. 
pag.  633. 


Die  mittelländische  Race.  ^^j 

Indienfahrer  aus  Ophir,  dem  Abhira  an  der  Indusmündung').  Es 
waren  also  die  östlichen  Ländergebiete,  welche  ihr  Füllhorn  haupt* 
sächlich  über  Südeuropa  umstürzten  und  im  Vergleich  zu  ihren 
Gaben  konnte  die  neue  Welt  nur  wenig  mehr  hinzufügen:  eine 
einzige  Getreideart,  den  Mais,  eine  einzige  Knollenfrucht,  die  Kar- 
toffel, als  häufige  Zierde  südlicher  Landschaften  noch  die  Agave 
und  die  Feigendistel.v 

Aber  nicht  bloss  Gaben  der  Ceres,  nicht  bloss  die  stillen 
Zierden  unserer  Gärten  oder  Haine,  die  lockenden  Früchte  unserer 
Obstreviere  mussten  erst  aus  dem  Morgenlande  nach  dem  Mittel- 
meere wandern,  auch  die  höchsten  geistigen  Schätze  schlugen  den- 
selben Weg  ein.  Die  Kunst,  das  gesprochene  Wort  in  seine  ein- 
zelnen Laute  zu  zerlegen,  und  diese  Laute  durch  Symbole  sicht- 
bar werden  zu  lassen,  empfingen  die  Griechen  zuerst  aus  Klein- 
asien. Durch  ägyptische  und  assyrische  Muster  wurden  sie  zuerst 
angeregt,  den  Stein  in  Bild-  und  Bauwerken  zu  beseelen.  Endlich 
verbreiteten  sich  aus  dem  Orient,  aus  der  Wüste  zumal,  wo  Sonne 
und  Gestirne  durch  reine  Luft  beständig  ungetrübt  strahlen  und 
funkeln,  fromme  Begeisterung  sich  häufiger  regt  und  Sehergabe  leich- 
ter sich  entzündet,  verklärtere  Religionen  und  durch  sie  eine  merk- 
liche Müderimg  der  Sitten.  Selbst  vof  wenig  länger  als  tausend 
Jahren  brachten  uns  noch  die  Araber  aus  Indien  die  scharfsinnig- 
ste Erfindung  nach  der  Lautschrift,  nämlich  unsere  neuen  Zahl- 
zeichen und  die  Kunst,  ihren  Rang  in  der  Decimalordnung  durch 
den  Stellenwerth  zu  bestimmen. 

Während  wir  das  Morgenland  als  die  Mutter  der  höchsten 
Erfindungen,  aller  freundlichen  Verbesserungen  des  häuslichen  Da- 
seins, aller  geistigen  Verklärungen  verehren  müssen,  blieben  da- 
gegen bis  auf  den  heutigen  Tag  seine  Völker  auf  niederen  Stufen 
der  menschlichen  Gesellschaft  stehen,  nämlich  auf  der  Herrschaft 
der  Einzelnwillkühr,  mehr  oder  weniger  gemischt  und  gemildert 
durch  Theokratie,  nie  befreit  von  dem  Unsegen  der  Vielweiberei, 
bei  welcher  Geschwisterliebe  nie  zu  keimen  vermag  und  Harems- 
umtriebe und  Palastrevolutionen  einen  beständigen  Wechsel  der 
Herrscherhäuser  nach  sich  ziehen.  Diesem  Mangel  gegenüber  war 
vorauszusehen,    dass,    wenn  in  einer  andern  Völkerfamilie,    wenn 

I)  Näheren  Aufschluss  gewährt  V.  Hehn,  die  Culturpflanzen  und  Haus- 
thicre.   Berlin  1870. 


254  ^^^  mittelländische  Race. 

bei  den  Ariern  die  Fähigkeit  schlummerte,  der  menschlichen  Ge- 
sellgchaft  eine  bessere  und  würdigere  Gliederung  zu  verleihen,  früher 
oder  später  nothwendig  die  höchsten  Entwicklungen  ihren  Sitz  ver- 
legen mussten. 

Unter  allen  arischen  Völkern  leuchteten  unbedingt  die  Römer 
durch  staatsmännische  Begabung  am  hellsten.  Wie  ein  Gemein- 
wesen durch  Gesetze  zu  ordnen,  wie  ein  Heer  zu  schulen,  wie 
im  friedlichen  Verkehr  die  Zweifel  über  Eigenthum  und  Leistungen 
nach  gesunder  Auffassung  des  Rechten  und  Billigen  zu  schlichten 
seien,  verstand  niemand  besser  wie  sie.  Im  Orient  entstanden 
nur  Despotien  auf  den  Trümmern  von  Despotien,  bei  den  Ariern 
des  Abendlandes  entwickelten  sich  die  ersten  Keime  einer  bürger- 
lichen Gesellschaft.  Zum  Heil  für  die  Menschheit  hatten  aber 
gerade  die  Römer  auf  einer  mittleren  Halbinsel  ihre  Heimath  ge- 
funden, denn  wie  schon  Strabo  einsah,  beruhte  auf  der  centralen 
Lage  Italiens  die  lateinische  Weltherrschaft.  So  kam  es,  dass 
kurz  vor  dem  Beginn  unserer  Zeitrechnung  zum  erstenmale  der 
Schwerpunkt  der  Gesittung  von  den  Südufern  des  Mittelmeeres 
nach  dem  .nördlichen  Rande,  von  seinem  äussersten  Osten  nach 
der  Mitte  und  obendrein  vom  levantischen  Becken  in  das  abend- 
ländische verlegt  wurde. 

Würdigen  wir  den  Gang  der  Geschichte  von  dem  entlegenen 
Abstände  der  Erd-  und  Völkerkunde,  so  gilt  uns  als  die  höchste 
Verrichtung  des  Römerreichs  die  langsame  Bekämpfung  Spaniens, 
die  rasche  Eroberung  Galliens  sowie  der  britischen  Inseln  und  das 
theilweise  Vordringen  nach  Deutschland.  Unscheinbare,  und  all- 
tägliche Leistungen  der  Römer  sind  es,  die  wir  in  diesem  Sinne 
am  höchsten  stellen  müssen:  sie  errichteten  Strassen,  Meilensteine 
und  Posten,  sie  lehrten,  wie  unsere  Sprache  es  bezeugt,  die  ersten 
steinernen  Häuser  erbauen  und  vereinigten  sie  durch  Gräben  und 
Brustwehr  zu  einem  Ring.  Durch  ihre  Städtegründungen  wurden 
zum  erstenmal  die  Bewohner  in  eine  bürgerliche  und  eine  länd- 
liche Bevölkerung  geschieden  und  gleichzeitig  die  erste  Anleitung 
ertheilt,  wie  solche  Gemeinden  sich  verwalten  lassen.  Bei  den 
gallischen  und  britischen  Kelten  war  dieser  Umschwung  schon 
vorbereitet,  aber  der  längere  Genuss  der  Römerherrschaft  musste 
dort  mit  dem  Verluste  der  einheimischen  Sprache  gebüsst  werden, 
so  dass  sich  nur  in  den  unzugänglichen  Gebirgen,  in  den  abge- 
legenen Landschaften  Aquitaniens  das  Baskische,  in  der  Bretagne, 


Die  mittelländische  Race.  ccc 

in  Wales,  in  Schottland  und  in  Irland  das  Keltische  längere  Zeit 
behaupten  konnte.  Dass  die  germanischen  •Stämme  ihre  Sprache 
retteten,  verdankten  sie  der  grösseren  Rauheit  ihres  Klima's,  der 
Unwegsamkeit  des  Flachlandes,  der  kürzern  Dauer  der  Römerherr- 
schaft, ihrer  mannhaften  Gegenwehr,  aber  auch  dem  Schutze  ihrer 
mächtigen  Gebirge,  denn  während  in  das  offene  und  heitere,  darum 
auch  einer  zeitigeren  Gesittung  erschlossene  Gallien  das  Lateinische 
bequem  einzog  und  sich  ausbreitete ,  konnte  es  nicht  auf  dem 
nächsten  Wege,  nämlich  von  Süden  herauf,  sondern  es  musste  aus 
dem  Südwesten  und  aus  dem  Westen,  also  auf  Umwegen,  nach 
Deutschland  eindringen,  so  dass  wir  der  Unzugänglichkeit  der 
deutschen  Alpen  es  zu  danken  haben,  wenn  unsere  Sprache  sich 
siegreich  behaupten  durfte. 

Mit  dem  Wachsthum  bürgerlicher  Gesittung  in  Nordeuropa 
veränderten  sich  allmählich  Werth  und  Würde  der  geographischen 
Gliederungen.  Die  Ströme  wirkten  städtebildend,  Gewerbe  und 
Handel  blühten  und  die  nördlichen  Mittelmeergestade  erhielten  jetzt, 
was  sie  vorher  nur  schwach  besassen ,  ein  staatswirthschaftliches 
Hinterland.  In  dieser  Zeit  erneuert  sich  die  Blüthe  von  Marseille, 
wird  Barcelona  ein  Platz  ersten  Ranges,  erhebt  sich  etwas  später 
Sevilla  und  entsteht  die  Seemacht  von  Genua,  welche  nach  Ueber- 
wältigung  Pisa's  die  Herrschaft  auf  dem  Mittelmeer  anstrebt.  Um 
aber  alle  diese  Schöpfungen  zu  verdunkeln  und  alle  Nebenbuhler 
zu  überleben,  war  in  unvergleichlicher  Lage,  nämlich  in  der  Ver- 
tiefung des  adriatischen  Golfes,  als  dessen  verlängerte  Axe  wir  das 
Rothe  Meer,  den  ältesten  Seeweg  nach  Indien,  betrachten  dürfen, 
Venedig  gegründet  worden,  dem  zuletzt  das  Uebergewicht  zur  See 
verblieb. 

Wenn  damals  der  Südrand  Europa's  als  die  am  meisten  be- 
vorzugte Gliederung  des  Erdkreises  erschien,  so  sollten  die  italieni- 
schen Seemächte  selbst  eine  Wendung  herbeiführen,  welche  die 
culturgeschichtliche  Bedeutung  dör  Umrisse  Europh*s  gänzlich  ver- 
ändern musste,  ja  wir  können  sogar  die  Zeit  streng  bezeichnen,  in 
welcher  der  Glanz  der  Mittelmeerufer  zu  erbleichen  begann.  Im 
Jahre  1318  brachten  zuerst  venetianische  Galeeren  indische,  das 
heisst  morgenländische  Waaren  auf  dem  Seeweg  durch  die  Meer- 
enge von  Gibraltar  nach  dem  Markte  von  Antwerpen.  Wohl  waren 
einzelne  Fahrzeuge  früher  diesen  Weg  gezogen,  allein  wegen  der 
See-  und  Piratengefahr    musste  bis    dahin    kaufmännisch  die  Ver- 


556  I^ie  mittelländische  Race. 

frachtung  zu  Lande  dem  Seewege  vorgezogen  werden.    Mit  jenem 
nautischen  Fortschritt    wurden    die  Schiffer    hinausgeführt    in   den 
atlantischen  Ocean.     Fast  unmittelbar  erfolgte  darauf  die  Wieder- 
entdeckung der  Canarien  und  das  Auffinden^der  Azoren,   letztere 
auf  zwei  Fünfteln  des  Weges  nach  Amerika  gelegen.    Nicht  unbe- 
merkt  zogen    Mittelmeer-Seefahrer   an   Portugal   vorüber,    welches 
für  oceanische  Verbindungen    unvergleichlich  günstig  gelegen  war. 
Lissabon  erhob  sich  zu  einem  Seeplatz  ersten  Ranges;  die  anfangs 
verzagten  Portugiesen  und  Spanier  übten  sich  an  den  afrikanischen 
Küsten  für  Fahrten  auf  der  hohen  See;  eine  neue  Welt  im  Westen, 
ein  ocean ischer  Weg  nach  Indien  wurden   gefunden   und  während 
das  Mittelmeer  erst  langsam,  dann  immer  rascher  hinabsank  zum 
Charakter  eines  Binnensee's,  genossen  die  höchsten  geographischen 
Vergünstigungen  fortan  diejenigen  Völker,    welche    an    den  Welt- 
meerufern Europa's  sassen  und  deren  nautische  Anlagen  nur  eines 
Weckers  bedurft  hatten,     je    wichtiger    seitdem    mit   jedem    Jahr- 
hundert   die    überseeischen    Gebiete,    als  ein  verjüngtes   und   ver- 
doppeltes Europa,  wurden,  desto  höher  stieg  der  Rang  der  oceani- 
sehen  Küsten. 

So  oft  wir  diese  Lehren  der  Geschichte  fest  in's  Auge  fassen, 
vermögen  sie  uns  immer  auf's  neue  in  Staunen  zu  versetzen.  Wir 
erkannten  zuvor,  dass  zur  Renthierzeit  die  Umrisse  unseres  Welt- 
theils  noch  todte  Vergünstigungen  für  seine  Bewohner  waren,  wir 
überzeugten  uns  später,  dass  der  älteste  Aufschwung  zu  höherer 
Gesittung  sich  dort  zutrug,  wo  unweit  der  Berührung  von  Afrika 
und  Asien  der  Nil  strömte,  dass  ferner  zur  Aufnahme  morgen- 
ländischer Cultur  der  Südrand  Europa's  durch  seine  geographischen 
Gliedmaassen  und  Gefässe  gleichsam  vorsorglich  ausgestattet  wor- 
den war,  dass  aber  diese  Verrichtungen  aufhörten,  als  durch  eine 
Steigerung  menschlicher  Leistungen  der  Werth  der  gegebenen 
Naturverhältnisse  sich  änderte.  Höher  demnach  als  alle  Umrisse 
von  Land  und  Meer,  als  das  höchste  sogar,  müssen  wir  die  That 
verehren. 

Diese  geschichtlichen  Erkenntnisse  predigen  uns  den  Satz 
von  der  Vergänglichkeit  aller  geographischen  Vergünstigungen. 
In  der  Kette  der  Gesittungsgeschichte  war  das  Mittelmeer  bloss 
ein  Glied,  welches  der  stärkste  Glanz  nur  eine  begrenzte  Zeit  um- 
floss.  So  wird  auch  Europa  selbst  nur  vorübergehend  der  Schau- 
platz   der    höchsten  Leistungen    des  Menschengeschlechts    bleiben 


Die  miltelländische  Race. 


557 


können.  Die  alten  Hellenen,  als  Bewohner  von  Inseln,  scharf  ge- 
schnittener Halbinseln,  Landengen,  durch  Gebirge  streng  abge- 
schiedener Thäler  und  Landschaften ,  genossen  alle  Reize  und 
Vorzüge  der  politischen  Klein  wir  thschaft,  günstig  für  Entfaltung 
geistiger  Mannichfaltigkeit,  hinderlich  aber  für  grossere  nationale 
Leistungen.  So  versanken  sie  in  geschichtliche  Vergessenheit,  als 
ihre  Zeit  abgelaufen  war.  Ganz  ähnlich  ist  Europa  jetzt  der  schick- 
lichste Erdraum  zur  Ausbildung  von  Völkern  .  mit  scharf  ausge- 
geprägter  Persönlichkeit.  Es  konnte  kaum  anders  kommen,  als 
dass  Spanien,  die  britischen  Inseln,  Skandinavien,  Italien,  die 
illyrische  Halbinsel,  dass  Frankreich  mit  natürlichen  Grenzen  auf 
drei  und  Deutschland  mit  natürlichen  Grenzen  auf  zwei  Seiten 
geschlossene  Staaten  oder  Gesellschaften  bilden  sollten,  selbst 
das  europäische  Russland  erscheint  uns  als  ein  leidlich  abgeson- 
derter Länderraum.  Nur  regt  sich  die  Besorgniss,  ob  die  Ent- 
wicklung einer  Mehrzahl  stark  individualisirter  Völker  nicht  bald 
so  kleinlich  erscheinen  möchte  wie  das  Sonderleben  von  Athen,  von 
Lakedämon,  Korinth  und  Böotien  erschien,  als  die  Zeit  für  grössere 
geschichtliche  Schöpfungen  eingetreten  war. 

Im  Westen  von  uns  in  einer  Welt,  der  eine  alte  und  alternde 
gegenübersteht,  auf  Gebieten  zwischen  zwei  Oceanen  gelegen,  er- 
füllt ein  junges  Völkergemisch  bald  den  Raum  eines  Festlandes, 
das  leicht  die  dreifache  Einwohnerzahl  China's ,  nämlich  looo 
Millionen,  ernähren  könnte,  wächst  eine  neue  Gesellschaft  auf,  alle 
Jahrzehnte  ihre  Kopfzahl  um  ein  Drittel  vermehrend,  so  dass  sie 
voraussichtlich  das  zwanzigste  Jahrhundert  mit  loo  Millionen  an- 
treten wird.  Wenn  dermaleinst  auf  jenem  Schauplatz  höhere 
Aufgaben  gelöst  •werden,  dann  müssen  die  Völker  Europa's  aus 
dem  geschichtlichen  Vordergrund  zurücktreten.  Sobald  bei  uns 
die  Sonne  im  Mittag  steht,  röthen  ihre  ersten  Strahlen  die  Küsten- 
landschaften der  neuen  Welt.  So  ist  es  auch  mit  der  mensch- 
lichen Cultur.  Europa  steht  jetzt  im  Mittag  ihrer  Bahn  und  drüben 
dämmert  bereits  der  Morgen.  Die  Sonne  aber  rückt  weiter,  sie  steht 
nicht  gefesselt  wie  auf  Joshua's  Geheiss,  und  wie  die  Gliederungen 
unseres  Welttheiles,  geologisch  aufgefasst,  nur  eine  flüchtige  Er- 
scheinung sind,  so  wird  auch  ihr  sit.tengeschichtlicher  Werth  dem 
Loose  alles  Vergänglichen  sich  nicht  entziehen  können. 


Appendix  A. 

Schädelmessungen  aus  Welckers  Kraniologischen  Mittheilungen. 

Arch.  für  Anthropologie.    Bd.  i.    S.  157. 
Länge  des  Schädels  3=  xoo. 


I. 

Carolineninsulaner 

Neu-Caledonier  . 
Australneger 

Papuas        .     .  . 
Neuseeländer 

Alfurus        •     .  . 

Insel  Bligh       .  . 

Marquesasinsulaner 
Nicobaren   .     .     , 
Tahitier       .     .     , 
Chathaminsulaner 
Sandwichinsulaner 

II. 

Dajaks  .  . 
Balinesen  . 
Amboinesen 
Sumatraner 
Macassaren 
Javanesen  . 
Bu^inesen   . 


70,77|+  7 

70  75+  5 
73'7Ö+  2 

73  76-1-  3 

7479'+  5 

74;79'+  5 

7476  +  2 

7478!+  4 

75'80'-|-.  5 

76  79'  f  3 

77  8l'-u  4 

1        1     ^' 


75  77;+  2 

76  77|+  1 
77,77,+^/ 
77,78!+  1 
,78  78Uo,* 
79  80]+0,* 
7980+0,* 


Menadaresen    .     . 
Maduresen       .     . 

111. 

Moravi-Neger  .     . 
Sennaar  und  Darfur 
Ashantis       .     .     . 
Kaffern        .     .     . 
Donko-Neger 
Hottentotten    ,     . 
„Neger"      .     .  •  . 
Mozambique-Neger 
Sudan-Neger    .     . 
Südguinea-Neger  . 

IV. 

Abessinier    .     . 
Fellahs   .     .     . 
Neuägypter 
Araber    .     ,     . 
Aegyptische  Mumien 
Cabylen       .     .     . 


«'S 

PQ  I  X 


82  82_o,. 


68,74,-1-  6 

68  721-j-  4 

69  75;4.  6 
69|74-1-  5 
■69|76-^-  7 
69|70-|-  1 

7073-}-  3 

70  75-i-  5 
7176+  & 
7175-j-  4 


;69  76-}-  7 

'69,76 -I-  7 

71j76-f-  5 

74,76-)-  2 


74j75 
75,75 


-1-0.  • 

4-0,« 


Appendix  A. 


559 


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Guanchen  . 
Juden     .     .     •     . 

V. 

Rajputs  .... 
Lepchas       .     .     . 
Ganges    Mussalmans 
„Hindus"    .     .     , 
Thakürs      .     .     . 
Sikhs       .... 
Bhots  aus  Tibet  . 
Kashmiris    .     .     . 
Mittel  a.  4  Hindukast. 
Bhils,  Gods  und  Kols 
Nagas  und  Khassias 
Bais        .     . 
Singhalesen  * 
Gorkhas 
Brahmanen 
Sudras    .     . 
Himalaya-Bhots 
Zigeuner      .     . 

VI. 


'75  72 
78  71 


3 
7 


66  72+  6 

69  73-1-  4. 

69  72-1-  3 

70  75-f-  5 

70  74+  4 
,7175+  4 
72  75  +  3 

I7273+  1 

72  73  +  1 
73175;+  2 
7374+  1 
7373+0,3 

73  77  +  4 

74  74  +  0,5 

74  74  —  03, 
7573—  2 

'7575J— 0,4 

'76  74!-  2 


Sion  .... 
Schweden    .     . 
Holländer   .     . 
Urk  und  Marken 
Engländer 
Isländer       .     . 
Dänen    .     . 
Schweizer    .     . 
Bündner      .     . 


175  72 
7571 
75  71 
7670 
7673 

7671, 
76,71. 
81  75 

85  77 


3 
4 
4 
6 
3 
5 
5 
6 
8 


vn. 

I 

Hannoveraner       .  77  72 

Gegend  von  Jena  77  72, 

Holsteiner  .     .     .  77  71 

Bonn  und  Köln   .  77  72 

I 

Oesterreicher  .     •  |79  75 

Hessen        .     .     .  |7972 

Schwaben    .     .     .  79  73 

Gegend  von  Halle  '80  74 

Baiern     ....  18O74; 

Franken       .     .     .  |80|73' 

Breisgauer  .     .     .  80  73 

vui.  I    I 

Letten    ....  |75  72 

Neugriechen     .     .  |77  74 

Serben    ....  7976 

Kleinrussen       .     .  79  75 

Polen      .     .     .     .'  7975, 

Rumänen     .     .     ,  ,8076 

Grossrussen      .     .  80  77 

Ruthenen    .     .     .  ,8077 

Slowaken     .     .     .  |8176 

Croaten       .     .     .  82  78 

Czechen      .     ,     .  J82  76 

IX.  ;    I 

Irländer       ...  7370 

Altrömer     ...  7471 

Spanier  .     .     »     .  74  73 

Altgriechen       .     .  75  74' 

Schotten      .     .     .  7673 

I 

Portugiesen      .     .  76  75 

Italiener      .     .     .  79  75 

Franzosen    ...  79  75 


—  5 

—  5 

—  6 

—  5 

—  4 

—  7 

—  6 

—  6 

—  6 

—  7 

—  7 

—  3 

—  3 

—  3 

—  4 

—  4 

—  4 

—  3 

—  3 

—  5 

—  4 

—  6 

—  3 

—  3 

—  1 

—  1 

—  3 

—  1 

—  4 

—  4 


560 


Appendix  B. 


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X. 


Ehsten    . 

Japanesen 

Chinesen 

Tataren 

Finnen   . 

Magyaren 

Baschkiren 

Kalmüken 

Tungusen 

Türken  , 


|75  74—  1 
i76  75—  1 

7678  4-  2 
77,76—  1 
79  75—  4 
8076—  4 
8076—  4 
|8li74[—  7 
81i7l'— 10 
l8278l—  4 


Lappen  ...     . 
Buräten       .     .     . 

XI. 
Eskimos  .  ' .  . 
Brasilianer  .  .  . 
Mexicaner  ... 
Nordam.  Indianer 
Patagonier  .  . 
Nordwestamerikaner 
Cariben  .  .  . 
Altperuaner  .  , 
Flatheads     .     .     . 


82  73  —  9 

83  76—  7 

I 

I 
70  74+  4 

74  75+  1 

76  78+  2 

77  75—  2 
80  77—  3 
80  76—  4 
80  74—  6 
95  87—  8 

100  87 — 13 


Appendix  B. 

^ Schädelmessungen  aus  Barnard  Davis'  Thesaurus  cramorum. 

P-  352—359. 


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1 
1 

Alte    Römer    und   Ro- 

1 

Europa. 

1 

mano-Britanier     . 

43  76   73 

Alte  Britahier      .     , 

17  79  71 

Angelsachsen      .     . 

36  76    72 

Alte  Britanier     .     . 

81  79  75 

1 

Angelsachsen       .     . 

1175    74 

Alte  Britanier     .     .     1 

i 

146;  77  75 

Engländer      -.     .     . 

39  77 '  73 

Alte  Schotten      .     .     1 

7'  79  72 

Irländer     .     .     .     .     | 

3175 

71 

Alte  Romano-Britanier 

14  76;  71 

Merovinger  Franken 

5i74 

75 

Alte   Römer    und   Ro- 

1 

Franzosen       ..    .     , 

26  78 '  73 

mano-Britanier 

8i 

76' 

70 

Spanier      .... 

5 

78 

74 

AppeiKfix   B. 


56t 


Italienische  Alt-Römer 

Ligurier 

Italiener 

Lappen 

Schweden 

Friesen 

Amsterdammer 

Niederländer 

Preussen 

Deutsche 

Finnen 

Russen 

Türken 

Asien. 

Hindu  hoher  Kasten 

Hindu 

Hindu   niedrer  Kasten 

Hindu 

Hindu ' 

Mohamedaner  Indiens 

KhondstAmme 

Nepalesen 

Leptschas 

Bodos   . 

Bod-dschi 

Mischmi 

Thai 

Chinesen 

Afrika. 

Berber 

Guanchen 

Neger 

Peschel,  Völkerkunde. 


•   •   • 


•   •   • 


8  76  77 

4  85  79 
7  75  73 

9  80  73 
12  75  72 

5  78  73 
579.74 

23  80  73 
880I74 
2  79  71 


8  82 

10  78 

3:84 


78 
73 

78 


6. 75  78 


3 
20 
27 
54 
22 
2 
6 
13 


75  75 


76 
75 
75 
74 


78 
74 
76 
75 


73  74 


76 
76 


77 
77 


121 76. 78 


14 


3 
6 


76 


78 
,84 
2li76 


75 

79 
87 
79 


4 
22 
17 


73 
75 
73 


74 
74 
74 


Dahomeneger  ,  . 

Ibo-Xeger       .  .  . 

Jorubaneger   .  .  . 
Aequatonalstämnie 

Hottentotten   .  .  . 

Zulukafim       .  .  , 

Buschm&iner  .  . 

Amerika. 

Eskimo,  ösüiclie 
Eskimo,  westliche    . 
Eskimo,  grönl&ndische  . 

< 

Araukanier     .     .     .     : 


12  72  73 
373  77 
4  69  74 

17  76  70 

3  76  73 
472  76 

4  73' 72 

■      I      I 
!       ! 
i    6|72|75 

475I77 

10  "ji ;  75 


7  80 


80 


Australien.         | 
Australier        .     .     , 
Tasmanier      .     .     .     . 

Oceanische   Völker 

Sumatraner    .     .     . 
Javanen     .... 
Maduresen      .     .     . 
Eingeborne  v.  Celebes 
Dayaken    .     .     .     .     j 
Bisaya       .     .     ,     .     I 
Negrito       .... 
Papuanen       .     .     .     ! 
Salomonen  Insulaner   , 

Neu-Kaledoniör  .     .     ; 

I 

Eingeborne  der  neuenj 
Hebriden  .  .  .  , 
Maori  .... 
Marquesas-lnsulaner 
Kanaken    .... 


15  71  73 
10  74  74 


7  76  78 

25  81  80 

7  81  81 

6  79179 


14 
8 
3 
3 
3 


77 
80 


80 
79 

77I77 


9 

7 

27 


77 
72 
70 

72 
75 

78 


77 
76 
79 

77 
80 
77 


ii6i80  81 


36 


tarnen-  und  Sachregister. 


Abchasen  540. 

Abessinier  531. 

Abiponen  27.  90,  470. 

Acka  86.  490. 

Adige  540. 

Adiya  5po.    ' 

Aegypten,  Nilablagerun- 
gen 46 ;  Altägypter 
(Retu)  519 ;  Kultur  521. 

Acta  360. 

Affe»  Greifüiss,  Stimmen- 
werkzeuge ,  Gebiss, 
Gehirn  i. 

Afrika  223.  505. 

Agassiz  15  Anm. 

Agglutination  124. 

Ahnendienst  272. 

Ahtna  448. 

Ahura  295. 

A-imaq  405. 

Aino  lOl.  400.  414. 

Akim  500. 

Akkadische     Keilschrift 

533. 
Akra  500. 

Akuscha  539. 

Akwambu  500. 

Akwapim   5CK). 

Albanesen     ( Amanten ) 

543. 
Aleuten  424. 

Alfuren  360. 

Algonkinen  448. 


Aliaska  221. 
Allah  317. 
Altftier  402.  412. 
Altäthiopische     Sprache 

534. 
Amaziken  518. 

Amerika,  Eingeborne  22. 
428 ;  Sprachen  30. 127. 
433;  Jägerstämme  im 
nördlichen  Festlande 
447,  in  Südamerika 
504 ,  Cultur  -  Völker 
Nordamerika*s  465. 

Amharische  Sprache  534. 

Angekok  420. 

Angolaneger  499. 

Annämiten  384. 

Anthropophagie  165. 

Apachetas  25. 

Apatschen  448. 

Appalachen  463. 

Araber,  Seefahrer  205; 
vorislamische  Reli- 
gion 205 ;  Schädel- 
bildung 530;  Sprache 

534. 

Aramäer  532. 

Araucaner  208.  469. 

Areoi  377. 

Arier,  asiat.  u.  europäi- 
sche 540;  europäische 
542;  arische  Sprachen 
131;  Urheimat  545. 


Ariman  296. 
Arkan^a   449. 
Arm  88. 
Armenier  541. 
Arowaken  45  f. 
Arphakschad  531 
Artenbegriff  7. 
Ashanti  500. 
A«siniboin  449. 
Assyrisch  -  babylonische 

Sprache  532. 
Atavismus  68. 
Athabasken  448. 
Auerhahn  44. 
Auferstehungs  -  Lehre, 

christliche    308,    Wo- 

hammed*&  317. 

Augenschlitze  79. 

Ausdünstung  92. 

Ausleger  375. 
Australien,  Thierwelt  32; 

Entdeckung  221;  Au- 
stralier 293.  338- 

Avaren  539. 

Awghanen  541. 

Awläd  Abu  Simibil  5'^- 

Aymara  431.  469. 

Azteken  465. 


Babylon   306;    ChaltlJer 
533- 


Baian  500. 
Bagrimma  503. 
Baidarken  424. 
Ba-kde  soa 
Bambara  500. 
Banane  441. 
Bantn  279.  499. 
Bari  504. 
Bartwuchs  100. 
Baschkiren  412. 
Basianen  406. 
Basken  26.  539. 
Bastarderzeugnngen  11. 
Batta  379. 
Batninseln  381. 
Baukünste  185. 
Baumdienst  26L 
Baumwolle  183. 
Bau-wau-Theoric  109. 
Bedscha  519. 
Behaarun«;  100. 
Bekleidung     175 ,       Bc- 

kleidungsstoffe  182. 
Bellanda  504. 
Belutschen  485.  541. 
Benga  500. 
Bengali  540. 
Beni  Amer  519. 
•Berber  518. 
Beringsstrasse  428, 

-Völker  415. 
Bernstein  226. 
Berthät  505. 
Beschneidung  23. 
Besitz  250. 
Betonung  iii. 
Betschuanen  99.  499. 
Bewaffnung  188. 
BhUla  484. 
Biberindianer  448. 
Bimbaumtheurie  109. 
Birma  121. 
Bisaya  382. 
Bischarin  519. 
Bison  453. 
Blasebalg ,     malayischer 

378. 


Namen-  and  Sachregister. 

Blasrohr  192. 
Blvmenbach  8. 
Blutrache  247. 
Blutschande  322. 
Bodhisattvas  289.  291. 
Bogda-Lama  291. 
Bogen  189. 
Bohr  504. 
Bongo  504. 
Botocuden  152.  451. 
Brachycephalen  54. 
Brahma    282;    Brahma- 

nen  282.  284. 
Brahui  484. 
Brasilien  223. 
Britannier,  alte  225. 
Brotfruchtbaum  160. 
Buckle  325. 
Buddhismus  285. 
Buginesen  382. 
Bulgaren  409.  542'. 
Bumerang  350. 
Bunda  499. 
Burjäten  404. 
Buschmänner    83.     148. 

488. 


Caddo  450. 
Califomien  220. 
Calori  73. 
Canaaniten  531. 
Canarische  Inseln  29. 
Cara  469. 

Cariben  192.  214.  451. 
Caribu  42. 
Carpentaria  -  Halbinsel 

341. 
Carthager  224. 
Cayuga  449. 
Gelten  s.  Kelten. 
Ceylon  378. 
Chaldäer  533. 536 ;  nesto- 

rianische  Christen  532. 
Chajrma  430. 
Chibcha  468. 


Chinesen  22. 118. 319. 384. 
Chinwan  377. 
Chocolade  550. 
Christenthum  308. 
(Jiva  293, 
Clalam  425. 
Coco  4SI.  • 

CoUa  469. 
Comantschen  46^^. 
Confutse  393. 
Coroados  431.  451. 
Cowi&diin  425. 
Crans  450. 
Cren  450. 
Cuvier  8.  20. 


Dacota  449. 
Dalai  Lama  291. 
Damara  454. 
Dankali  52a 
Darwin,  Charles,  Dogma 

Dasein,  Kampf  um,  t6. 

Dattel  329. 

Dayaken    i6.    57.    3^6. 

379.  382. 
Delawaren  449. 
Denken,  sprachloses  105. 
Deutsche,  Schädel  58. 
Deva  295. 
Digger  465. 
Dinge  346. 
Dinka  504. 
Disentisschädel  70. 
Djalin  534. 
Doko  490. 

Dolichocephalen  40.  54. 
Dravida  125.  483. 
Dreiviertelheirathen  230. 
Dschengel  484. 
Dualistische  Religionen 

291. 
Dualla  ,500. 
Dunkelung  d.  Haut  94. 

36» 


564 


Namen-  und  Sachregister. 


Ebenmaass  86. 

Ebioniten  318. 

Eden  35. 

Ehe  227. 

Ehsten  4IT. 

Einv^erlelbungsverfahren 
der  amerik.  Sprachen 
127. 

Eiowä  449. 

Eiszeit  43. 

Ehtyly  534. 

Elfenbein  224. 

Elliab  504. 

Elobim  300. 

Eloikob  521. 

Ein  486. 

Eng^keräkmung  153. 

Erdbeben  325. 

Eränier  295.  540.    , 

Ernährung  169. 

Eskimo  21.  61.  418;  alias- 
kische  423.   s.  Innuit. 

Etruskische  Sprache  543, 

Euphrat  535. 

Europa,  Culturschätzung 
546. 

Europäer,  Schädel  70; 
europäische  Völker- 
stämme von  unbe- 
stimmter Stellung  538. 

Euscaldunac ,  Sprache 
das  Euscara  539. 

Ewhe  500. 


Fahrzeuge  202. 
Fanti  5c». 
Fellähin  13.  61.  519. 
Fetisch- Wesen  258. 

Feuer  139. 

Feuerbohrer  143. 

Feuerland,  nordische  Ge- 
wächsarten 33 ;  Be- 
wohner 151« 

Fidschipapuanen  366. 

495- 


Finnen,  Gliederung  409  ; 
eigentliche  Finnen 
410;  mongolische  Ra- 
cenmerkmale  409.  411. 

Fischerei  164. 

Flachköpfe  23. 

Flösse  206. 

Formosa  377. 

Frauen ,  Becken  80 ; 
mittlere  Körpergrösse 
85;  Frauenraub  234. 

Fruchtbarkeit,    der 
Menschen  9. 

Fulbe  501. 

Fundj  504. 

Furlanische   Mundart 

543. 


Gabeln  174. 

Gaelische     (gadhelisclic) 

Mundart  543. 
Galla  520. 
Garamanten  519. 
Gattanewa  374. 
Gauss,  Gehirn  65.  71. 
Geberdensprache  IIT. 
Gebet  281.  312. 

Ge'ez  534. 

Genesis,  Völkertafel  531. 
Georgier  (Grusen)  540. 
Germanische    Sprachen 

132.  542. 

Gehirn,  Grössen  Verhält- 
nisse des  Gehimschä- 
dels  49;  das  mensch- 
liche Gehirn  63;  Ge- 
hirnwindungen und 
Gehirnrinde  65  j  Him- 
gewicht  67;  Gehirn - 
messungen  69;  weib- 
liches Gehirn  71. 

Gemeindehäuser  186. 

Geographen ,     arabische 

332. 
G^s  450. 


Geschlechtsleben ,  der 
Vorzeit  239. 

Geschlechtsreife  227. 

Geschlechtsunterscheid- 
ung 128. 

Gesichtsschädel,  -winkcl, 

74. 
Gewürze  222. 

Gifte  193. 
Giljaken  414. 
Glieder ,     Maassverhält- 
nisse 87;  obere  88. 
Gnadenwahl    des    Islam 

321. 
Goethe  7. 
Gold  218. 
Gond  486. 
Gorilla,  Fusswurzel- 

knochen  i ;  Gehirn  67. 
Gothen  542. 
Gottesgericht  279. 
Guancben  96.  518. 
Guarani  450. 
Guaycuru  450. 
Guck  451. 
Gueren  451. 
Gynäkokratie  244. 


Haar,  Farbe  95 ;  Gestalt 
97;  Leibhaar  106. 

Hadendoa  519. 

Hadyth  322. 

Hängematte  550. 

Haidah  415. 

Hailtsa  425. 

Hamiten,   Gliederung 
5x8;    Culturentwickcl- 

ung  521. 
Handel,  Einfluss  217. 
Hanf  183. 
Hanyfe  318. 
Hassanieh  520. 
Hansa  $02. 


Namen-  und  Sachregister. 


565 


Haut ,  Schichten  90; 
Farbe  91,  Einfluss  der 
Polhöhe  auf  die  Haut- 
färbung 93. 

Havai,  Besiedler  373. 

Havaiki  374. 

Havila  531. 

Hazareh  405. 

Hebräer  532;  s.  Juden. 

Heitsi-Eibib  494- 

Hellwerden,  der  Haut  94. 

Herero  499. 

Hetärismus  238. 

Hexenprocesse  283. 

Himyaritische  Sprache 

534. 
Himmelsverehnmg    268. 

Hindu  13;  Hindi  540. 

Hipparion  20. 

Hippolyt  266. 

Htt,  Erdpechquellen  535. 

Hiuenthsang  289. 

Hohbergtypus  70. 

Höhlenbewohner  3q; 
Höhlenfauna  41. 

Holland  327. 

Hosen  184. 

Hottentotten,  halbblütige 
10;  Grrösse  82;  Kultur 
488;  Hottentotten- 
schürze 489.  s.  Koi- 
koin« 

Hova  378. 

Hügelbauer  455. 

Huillitschen  431,  469. 

Hund  103. 

Hundsrippenindianer 

448. 
Hupah  448. 
Huronen  449. 


Jagd  191. 
Jahve  300. 
Jakuten  22.  406. 
Japanesen  400. 
Jayanen  387. 


Ibo  500. 

Jenissei-Ostjaken  413. 

Igname  441. 

Iliglink  422. 

Illinois  449. 

Inca  469. 

Indien ,    Reichthümer 

222;  indische  Religion 

und  Kultur  284.  326; 

indischer   Ocean    34 ; 

brahmanische     Indier 

540. 

Indoeuropäischer  Stamm 
5  40 ;  Racenmerkmale 
543;  Ursitze  544. 

Innuit  418.  434. 

Inselgesellschaften  212, 

Jochbogen,  Hervortreten 
als  Merkmal  79. 

Joloffer  501. 

.Iraya  381. 

Irokesen  449.  463. 

Iron  541. 

Islam  318. 

Island ,  erste  Ansiedler 
28;  Isländer  542. 

Isubu   500. 

Italier,  Sprachen  543. 

Itelmen  416. 

Juden,  Geburtenverhält- 
nisse 230;  Monotheis- 
mus 299;  Schädel  530; 
Sprache  532;  schwarze 

.    Juden  13.  Anra. 

Jukagiren  413. 

Jurak  412. 


Kababisch  520. 

Kabylen  518. 

Kadschaga  502. 

Kafim,  Körpergrösse  82 ; 
Haarverfilzung  99 ;  Ge- 
biet 499. 

Kaljuschen  425.      ^ 

Kalka  404. 


Kalmüken  404. 

Kamassinzen  412. 

Kamtschadalen  416. 

Kanaken  373. 

Kannadi  486. 

Kansas  449. 

Kant  14  Anm. 

Kappadoder  541. 

Karagassen  412. 

Karakalpaken  406. 

Kanuri  ^03. 

Karduchen  (Kurden)  541. 

Karelen  410. 

Karen  384. 

Karthuhli   540. 

Kaschmiri  540. 

Kasikumüken  539. 

Kastenbewusstsein  134. 

Kaukasier,  unpassender 
Name  517 ;  Völker 
zwischen  Kaukasus  u. 
Antikaukasus  ,540. 

Kayaken  422. 

Keilschrift ,     erster 
Gattung   541,    zweiter 
533;   dritter  532. 

Keiowäh  450. 

Kei-)(^hous  493. 

Kelten  212.225.  543.  550. 

Kenai  448. 

Khomen  384. 

Khond  486. 

Khyeng  383. 

Kieselgeräthe  37. 

Kirgisen  406. 

Kisten  540. 

Knistino   449. 

Knochenhöhlen  38. 

Koibalen-  412. 

Koi-koin   102.   488.  40T. 

Koluschen  425. 

Kolh  484. 

Kongo  499, 

Konjaken  423. 

Kopten  61.  519. 

Koradschi  353. 

Koreaner  400. 


566 


Namen-  und  Sachregister. 


Koijäken  417. 
Körpergrössc,  alsRacen- 

merkmal  81. 
Kreuzköpfe  50. 
Krewinen  411. 
Kri  449. 
Km  5<x). 
Kuangola  499. 
KüchenabföUe  44.   164. 
Kumüken  406. 
Kupfenninenindianer 

448. 
Kürinen   539. 

Kuschiten  531. 
Küssen  246. 
Kwänen  411. 
Kwanto  384. 
Kymrische  Mundart  543. 


Ladinos   10. 
Lamuten  403. 
Laotse  394. 
Lappen  411. 

Lateinische  Sprache  543. 
Laute,    g[egliederte    der 

Affen   3;   Lautarmuth 
mancher  Sprachen  T17. 

Lazen  540. 

Lederhaut  90. 

Lemuria  35. 

Lenguas  450. 

Leni  Lenape  449. 

Leptscha  383. 

T^sghier  (Lekhi,  Leksik) 

539i  , 

Lettoslavischer  Ast  542. 

Lipani  448. 

Litthauer  i;42. 

Liven  411. 

Ix)we  443.  Iß 

Luoh  504.  ^ 


/ 


Maba  503  J 
Macassaren  382. 
Macusi  451. 


Madagaskar  378. 

Magier  295. 

Magyaren  409, 

Malali  431.  4  51. 

Malayalam  485. 

Malayen,  Verbreitung  29. 
212;  Körpergrosse  der 
asiatischen  und  poly- 
nesischen  Malayen  83; 
malayische  Sprachen 
I2T.  369;  Heimat  370 ; 
Malayen  im  engsten 
Sinne  382. 

Malayochinesen ,  Racen- 
merkmale  382. 

Malayenkuss   24. 

Malemuten  423. 

Mandesprachen  501. 

Man  daner  449. 

Mandingo  500. 

Mandschu  403. 

Manioc Wurzel  458. 

Maori  374. 

Marathi  541. 

Märchen  330. 

Marco  Polo  387. 

Marquesas  373. 

Masai   S2i- 

Mavila  464. 

Matlazinken  468. 

Matrosen ,  Gliedmaas sen 
88. 

Mauer,  chinesische  396. 

Maya  468. 

Maypures  451. 

Medicinmänner  275. 

Melanismus  91  Anm. 

Menangkabao  379. 

Menitärri  449, 

Menomennie  449. 

Mensch,  Stellung  in  der 
Schöpfung  I ;  Gebiss 
4;  Arteneinheit  des 
menschl.  Geschlechts 
7;  Schöpfungsheerd  d. 
A^nschengeschlechtes 
28;  Alter  d.  Menschen* 


geschlcchtes  37;  Kör- 
permcrkmale  der  Men- 
schenracen  49 ;  Sprach - 
merkmale  103 ;  Ent- 
wicklungsstufen 137 ; 
Menschenracen  337 ; 
Menschenopfer  168. 

Mergel,  Düngemittel  550. 

Meschtscherjäken  412. 

Mesocephalen  57* 

Mexico  327;  Sprache  der 
Altmexicaner  127. 

Mganga  275. 

Miaotse  383. 

Mienenspiel  in. 

Mikrocephalen ,  Gehirn 
68. 

Mikronesier  380. 

Mincopie  150.  362. 

Mingrelier  540. 

Miranhas  45T. 

Mithra  298. 

Mittellandische  Race  517. 

Mixteken  468. 

Mizdscheghen  f;39. 

Mohammed,   Lehre  317- 

Mohawk  449. 

Mohikaner  449. 

Monbnttu  504. 

Mongolenrace,  Merkmale 
369 ;  die  mongolen- 
ähnlichen Völker  im 
Norden  der  alten  Welt 
401;  wahre  Mongolen 
402. 

Monotheismus  299. 

Moqui  465. 

Mordwinen  410. 

Morton  15  Anm, 

Mose  300. 

Mpongwe  499. 

Mulatten ,  angebliches 
Aussterben  9. 

Munda  484. 

Mundrucu  451. 

Mungku  404. 

Muras  458. 


Namen-  nnd  Sachregister. 


567 


Müskogie  499. 
Mnsqnakkie  449. 
Mntterrecht  245. 
Maysca  468. 


Nuchr  504. 
Nuffi  500. 


Nahak  276. 

Nahrungsmittel ,  Zube- 
reitung 158. 

Nachtschuoi  539. 

NahuatI  434.  465. 

Namensaastausch  25. 

Namollo  418. 

Nano  499. 

Nase  79. 

Natchez  450. 

Naturkrafte,  Verehnmg 
266. 

Navaios'448. 

Neanderthalschadel  41. 

Neffenerbrecht  245. 

Neger ,  Hautfarbe  91 ; 
Haarbekleidung  loi ; 
Sitze ,  Gliederung, 
Kultur  497. 

Negrito  361. 

Neugriechen  61;  Sprache 

543. 
Neupersische  Sprache 

541. 
Niamniam  520. 

Niasinseln  381. 

Nil  527. 

Nimrod  533. 

Nipali  540. 

Nirv&na  287. 

Nogaier  406. 

Nordamerika,  Thier-  und 
Pflanzenwelt  33;  Ur- 
bevölkerung 428 ;  Kul- 
turvölker 465. 

Nordasiatische  Sprachen 

123. 
Norweger  207. 
Nuba  504. 


Oberhaut  9a 

Oberschenkel  87. 

Obongo  85.  489. 

Obrigkeit  252. 

Obsidian  200.  460. 

Odschi  500. 

Odschibwäer  449. 

Oezbegen  406. 

Omaha  449. 

Oneida  449. 

Onomatopoetica  108. 

Onondago  449. 

Opferdienst  281. 

Orang,  Auftreten  3 ;  Ge- 
hirn 66 ;  Längenver- 
hältniss  des  Vorder- 
armes zum  Oberarm  89. 

Ore  Manoas  451. 

Orija    540. 

Ormuzd  296. 

Orotschonen  403. 

Orthocephalen  57. 

Ortsnamen,  Entstellung 
105. 

Osagen  449. 

Oskiche  Sprache  543 

Osmanen  406. 

Osseten  541. 

Osterinsel  371. 

Ostjaken  409. 

Ostmongolen  404. 

Ostseeünnen  41t. 

Otomi  468. 

Ovambo  499. 


Paduca  450. 
Paharia  486. 
Pah  Utah  465. 
Palaeotheriura  2(v 
Palauinseln  380. 


Palmen  159.  458;  Palm- 
weinbereitung 370. 
Pamptico  449. 
Panthay  324. 
Papier,  in  China  388. 

Papuanen ,  Verhaltniss 
zu  den  Australiern  und 
Tasmaniem  340;  au-, 
stralische  Papuanen, 
Kennzeichen  358 ; 
Sprachen  362;  asiati- 
sche Papuanen  360. 

Paradies,  biblisches  35 ; 
Mohammed's  321. 

Paramuschir  414. 

Parexis  450. 

Patagonier  208.  469. 

Paumotuaner ,     Schädel 
58;  Sprache  374. 

Pavian,  Nahrung  163. 

Pawnie  449. 

Pehlewi  541. 

Pehueltschen  470. 

Pehuentschen  469. 

Pelota  208. 

Pelzthiere  221. 

Pendschabi  541. 

Permier  410. 

Pfafteninsel  28. 

Pfahlbauten  45. 

Pfeifen  256. 

Pfeile  189. 

Phaedra  266. 

Phönicier  205. 

Phrygier  541. 

Piraten  214. 

Pinalua  241. 

Pisang  160. 

Polen  542. 

Polhöhe  93. 

Polyandrie  230. 

Polygamie  230;  der  Mo- 
hammedaner 320. 

Polynesier ,     Schädel - 
messungen     58.    380. 
Bewaffnung  189 ;  poly- 
nesische  Malayen  370; 


568 

Ausbreitung  371;  Kul- 
turgrad 375 ;  Gesell- 
schaftsstufen 377. 

Poragi  450. 

Praeexistenzlehre ,  Alter 

310. 
Preussen  542. 
Prognathismus  74.  78. 
Projection  des  Schädels 

75; 
Pueblos  467. 

Puris  451. 

Puschtaneh  541. 


Qahtftniten  534. 
Qorän  318. 
Quich*  468. 
Quichua  469. 
Quippuschrift  478. 


Ramses,  Kopf  14;  Ram- 
sesbild  46.  . 

Rapa-nui  371. 

Reis  162. 

Reizmittel ,  narcotische 
170. 

Religion  255;  Zone  der 
Religionsstifter  332. 

Riccara  449. 

Renthier  39.  41.  454- 

Römer  554. 

Rumänische   Sprache 

543. 
Russen  542. 


Saigaantilope  40. 
Salz  175. 
Samaritanische    Sprache 

532- 
Samojeden  402.  412. 

San  488. 


Namen-  und  Sachregister. 

Sandeh  504. 

Sanhadscha  518. 

Sänkhjaphüosophie  284. 

Santal  484. 

Saros  537. 

Sarten  407.»  * 

Sattelwinkel  76. 

Satzbau  n9. 

Sauk  449. 

Scarabäus  103. 

Schädel,  Grössenverhält- 
nisse  $0;  Messver- 
fahren 54;  Breitenin- 
dex 56;  Höhe  62; 
Schädelraub  379. 

Schamanismus  274. 

Schamgefühl  176,    , 

Schara  404. 

Schawnie  449. 

Schilluk  504. 

Schimpanse,  Auftreten  3. 

Schkipetaren  543. 

Schlangenanbetung  263. 

Schleuder  197. 

Schoschonen  465. 

Schreilaute  iio. 

Schöpfungsherd     des 
Menschengeschlechtes 
28. 

Schua  (Schiwa)  534. 

Schuhe  184. 

Schukurieh  519.   534. 

Schussenried,  Funde  aus 
der  Eiszeit  42. 

Schwagerpflicht  24.  241. 

Schwarzfusse  419. 

Schwert  191. 

Schyiten  322. 

Seetüchtigkeit,  Einfluis 
auf  die  Entwickeluug 
der  menschlichen  Ge- 
sellschaft 202. 

Seldschuken  406. 

Seminolen  449.  463. 

Semiten,  Sprachen  130; 
Merkmale,  Gliederung 
u.  s.  w.  530. 


Semang  362. 

Senekä  449. 

Sererer  501. 

Shiol  309. 

Siamesen  383;  Sprache 
121. 

Siaposch  541. 

Sidon  531. 

Sinai  334. 

Sindhi  541. 

Sinear  535. 

Singhalesen  486. 

Sionkopf  71. 

Sioux  449. 

Sirjänen  410. 

Sittlichkeitsbegriffe  294. 

Skandinavier  542. 

Sklaverei  253.  315;  Skla- 
venhandel 224. 

S.aven  59.  542. 

Slovaken  542. 

Sojoten  412. 

Somali  520. 

Sonnendienst  264. 

Sonorische  Sprachfamilie 
465. 

Sonrhay  502. 

Soso  500. 

Speiseverbote ,  Moham- 
meds 320. 

Sprache,  Entwickelungs- 
geschichte  103 ;  Um- 
wandlungen 106 ;  erster 
Sprachanfang  108 ; 
Reichthum  d.  Sprache 
115  ;  Sprachbau  117  ; 
Sprache  als  Clasaiü- 
kationsmittel  d.  Völ- 
kerkunde 30.  133. 

Steindienst  259. 

Steinklingen,  nicht  durch, 
bohrte   45. 

Stimmwerkzeuge  17. 

Stockfisch  219. 

Strafrecht,  römisches  230. 

Suaheli  499. 

Suawua  519.