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L
VÖLKERKUNDE
VON
'>:h*^ "^*'
"Ji ' "Ü ,1 tJ u i ,
OSCAR PESCHEL.
LEIPZIG,
VERLAG VON DUNCKER & HUMBLOT
1874.
• •
Das Recht der Uebersetzung wie alle anderen Rechte vorbehalten.
Die Verlagshandlung.
4^\
f.^&X.'jf^-^
V.
ORWORT.
Andere Antriebe als der innere Drang müssen wirksam sein,
wenn sich ein Schriftsteller entschliesst , etwas zu veröffentlichen,
was auch nur annähernd einem Handbuche gleicht, denn an eine
solche wenig erquickende Arbeit \vird immer die Forderung der
Vollständigkeit gestellt werden müssen. Handelt es sich dabei
um eine Völkerkunde, so sieht sich der Verfasser gez^vungen, auch
solche Gebiete zu betreten, deren Anbau nur dem strengen Fach-
mann gestattet ist. Er hat dann nicht mehr eigene Gedanken
vorzutragen, sondern nur die Erkenntnisse maassgebender Ge-
lehrten zu wiederholen, und es verlässt ihn dabei nie das drückende
Gefühl , als pflücke er Rosen in fremden Gärten, Nie wäre es
dem Unterzeichneten in den Sinn gekommen, ein Lehrgebäude
der Völkerkunde neu aufzurichten, wenn er nicht am Beginn
des Jahres 1869 von dem damaligen Kriegsminister General
A. V. ' Roon aufgefordert worden wäre , dessen „Völkerkunde
als Propädeutik der politischen Geographie" in vierter Auflage
verjüngt herauszugeben. Der Wunsch eines Mannes, dessen
Name eng an die Schöpfung unsers Heerwesens geknüpft ist,
wurde zur Pflicht für einen Deutschen, dem die errungene Stärke
seines Volkes Dankespflichten für ihre grossen Urheber aufer-
legte. Nach rasch erfolgtei brieflicher Verständigung sollte auf
dem Titel das neue Werk als ein gemeinsames des Herrn
V. Roon und des Verfassers bezeichnet, dem ersteren aber die
Arbeit zur Billigung vorgelegt werden.
Als aber nach beinahe fünf Jahren ein Theil des fertigen
Druckes im letzten Herbste abgehen konnte, ergab sich, dass Se.
Excellenz, der Herr Feldmarschall Graf Roon, wegen seiner er-
schütterten Gesundheit sich vorläufig nicht über den Inhalt der
O
97930
VI Vorwort.
„Völkerkunde** zu unterridhten vermochte, dass er zwar nach Ein-
tritt der Genesung es zu thun gedächte, dass er indessen, wenn
ein derartiger Aufschub Nachtheile für den Verfasser und Verleger
befürchten Hesse , eine alsbaldige Veröffentlichung ihrem Er-
messen anheim stellte, dann aber eine Erwähnung seines Namens
auf dem Titel ausgeschlossen bleiben müsste. Ein längerer Auf-
schub war in der That nicht rathsam, denn wie rasch bei der
heutigen wissenschaftlichen Thätigkeit, namentlich auf dem Gebiete
der Völkerkunde, die Arbeiten altern, wurde dem Verfasser während
des Druckes empfindlich nahe gerückt durch das Erscheinen
mancher neuen Untersuchung, die sich nicht mehr benutzen Hess.
So ist auch in den früheren Abschnitten des Buches das Reich
der Mohammedaner in Talifu als bestehend und erblühend be-
zeichnet worden, während nach den letzten Nachrichten die Chi-
nesen es 1872 zerstört haben.
Der ursprüngliche Zweck des Unternehmens, nämlich A. von
Roon's „Völkerkunde als Propädeutik der politischen Geographie**
für die heutigen wissenschaftHchen Ansprüche neu zu erwecken^
ist demnach zur Bekümmerniss des Verfassers verfehlt worden.
Leipzig, 10. Januar 1874.
Oscar Peschel.
Inhalt.
Einleitung.
1. Stellung des Menschen in der Schöpfung. Uebereinstimmun-
gen und Verschiedenheiten zwischen ^lenschen und Affen. S. i — 6.
2. Arteneinheit oder Artenraehrheit des Menschenge-
schlechtes. Morphologischer und physiologischer Artenbegriff. Frucht-
barkeit der Racenraischlinge. Darwin's natürliche Zuchtwahl und geschlecht-
liche Auswahl. Psychisches Einerlei des Menschengeschlechtes. S. 7 — 27.
3. Schöpfungsherd des Menschengeschlechtes. Nicht auf
Inseln. Nicht in Australien. Nicht in Amerika. Lemurien. S. 28 — 36.
4 Alter des Menschengeschlechtes. Abbeviller Kieselgeräthe.
Höhlenfunde. Französische Renthierzeit. Schussenried. Kjokkenmöddinger.
Pfahlbauten. Funde in Nilablagerungen. S. 37 — 47.
Die Körpermerkmale.
1. Grössenverhältnisse des Gehirnschädels. Kreuzköpfe. Ge-
schlechtsunterschied. Breitenindex. Höhenindex. S. 49- -63,
2. Das menschliche Gehirn. Gewicht bei Menschen und Thieren.
Mikrocephalen. Racengewichte. Gehirnvolufnen. Himgestalt und Hirnge-
wicht. S. 63—73,
3. Der Gesichtsschädel. Kieferstellung. Jochbogen. Nasensattel,
S. 74—80.
4. Grössenverhältnisse des Beckens und der Gliedmassen.
Beckenformen. Körpergrösse. Proportionen der obern und untern Glied-
massen, S. 80 — 91.
5. Haut und Haar. Farbzellen. Farbe der Neugebornen. Geruch.
Entstehung der Hautfarbe. Haarfarben. Querschnitt des Haares. Verfilzung.
Leibhaare. S. 91 — 102.
Die Sprachmerkmale.
1. Entwicklungsgeschichte der menschlichen Sprache. Thier-
sprache. Unabhängigkeit von Laut und Sinn. Onomatopoesie. Interjectionen.
Betonung. Geberde. Taubstumme. Kindersprache. Wortreichthum. S.
103—117.
2. Bau der menschlichen Sprache. Einsylbigkeit. Sinnbegrenzung.
Uralaltaischer Typus. L.iutharmonie. Einverleibung. Präfixsprachen Südafri-
ka*s. Grammatisches Geschlecht. Semitismus. Indoeuropäischer Typus,
3. Die Sprache als Classificationsmittel. S. 133 — 136.
VIII Inhalt.
Die technisciien, bärgerlichen und religiösen Entwioklungsstufea.
1. Die Urzustände. Keine thierischen Zustände nachweisbar. Feuer-
finäung. Feuerbohrer. Buschmänner. Vedda. Mincopie. Feuerländer. Bo-
tocuden. Ursachen des Aussterbens roher Völker. S. 137 — 158.
2. Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung. Wildwachsende
Nährpflanzen. Pantophagie. Menschenfresserei. Alkoholische und narcoti-
sche Genussmittel. Steinkocher. Thongeschirr. Gabeln, l-öffel. Salz.
S. 158—176.
3.. Bekleidung und Obdach. Schamgefühl. Bekleidungsstoffe.
Fussbekleidung. Laubschirme. Blätterhütten. Steinbauten. Bogenwölbung.
S. 176—188.
4. Bewaffnung. Bogen und Pfqil. Blasrohr. Pf^ilgift. Schleuder.
Waffen von Ackerbauvölkern. S. 188 — 202.
5. Fahrzeuge und Seetüchtigkeit. Ströme und Binnenseen.
Phönicier und Araber. Fjord bewohner. Inselbewohner. S. 202 — 216.
6. Einfluss des Handels auf die räumliche Verbreitung der
Völker. Edle Metalle. Kabeljaufang. Pelzthiere. Gewürze. Farbhölzer.
Sklavenhandel. Zinn. Bernstein. S. 217 — 227.
7. Ehe und väterliche Gewalt. Heirathsalter. Unkeuschheit. Po-
lygamie. Polyandrie. Blutschande. Frauenraub. Brautkauf. Hetärismus.
Verwandtschaftsnamen. Gynäkokratie. Neffenerbrecht. Kuss. S. 227—247.
8. Keime der bürgerlichen Gesellschaft. Blutrache. Wergeid.
Eigenthumsbegriffe. Häuptlingswürde. Sklaverei. Kaste. AdeL S. 247 — 255.
9. Religiöse Regungen bei unentwickelten Völkern. Das
menschliche Causalitätsbfedürfniss. Steindienst. Baumdienst. Thierdienst.
Verehrung des Wassers, der Sonne, der Naturkräfte. Unsterblichkeitsidee.
Ahnendienst. Heroencultus. S. 255 — 274.
10. Schamanismus. Priestertrachten. Zauber als Todesursache. Hexen-
processe. Gottesgerichte. Gebet. -Opfer. Brahma und die Brahmanen.
S. 274—283.
11. Buddhalehre. Vedäntä und Sänkhja. Leben des Religionsstifters.
Nirväna. Sittenlehre. Heutige Verbreitung. S. 283 — 291.
12. Dualistische Religionen. Gute und schaden stiftende Mächte.
Zoroaster. Ormazd und Ariman. Auferweckung der Todten. Sittenlehre
S. 291 — 299.
13. Israelitischer Monotheismus. Polytheistische Anfänge. Vor-
malige Rohheit der Gottesidee. Auftreten der Propheten. Sittliche Welt-
ordnung. Verachtung des Opfers. Erhabenheit der Gottesidee. Läuterung
im Exil. S. 299—308.
14. Christliche Lehre. Prä existenzlehre im Alten Testament. Gütige
Vorsehung. Vaterunser. Sittenlehre. Christenthum und Buddhismus. S.
308-316.
15. Islam. Mohammad. Qorän. Monotheistischer Purismus. Sittengesetz.
Lehre von der Gnadenwahl. Heutige Ausbreitung. S. 316 — 324.
16. Zone der Religion s Stifter. Schreckmittel der Natur. Einfluss
der Nahrung. Einfluss der Wüste. S. 324—336.
.„..i .\M
Dia Mensshenraoen.
1) Australier. 2) Papuanen. 3I Mongolen. 4) Dtavida. 5) Hottenlolteii
xnd BuEchnnänner. 6) Neger. 7) Jlillelländische Völker. S. JJ?— 338.
I. Australier,
eckmale. Sprache Wohnraum. Geiälhe. Gebl es gaben. Sitii-n.
Körpennetkmale. Australische und asiatische Gruppe (Alfuren, NegriM.
Jlincopie, Semangl. Geistige Begabung. GerSlhe und Sitten. Fidschiinsu-
laner. S. 358 — 368.
ni. -Mongolenalinllche Volker.
1, Der raalayische Stamm. Geogr. Verbreitung der Polynesier. Gt-
täthe, Sitten und Gcistesgabtn <!er polynesischen Malayen. Asiatische M.l-
l.iyen (Tagalen, Bisaya, eigentliche Malayen, Sund.inesen, Javanen, Batt^,
Dajaken, Macassaren, Buginesen). Mikronesier. Bewohner Madagaskars und
Formosa's. Körpermerkmale. S. 369 — 382.
2. Südostasiateo mit einsylbigen Sprachen. Tübet^ner imi
Himalayastämme, Birmanen. Thai oder Siamesen. Laos. Annaniiten. Ctii-
nesen. Chinesische Cullur. Confulse. Laolse. S. 382 — 400.
3, Koreaner und Japanesen. Sprach merk male. S. 400 — 401.
4. Mongolenähnliche Völker im Norden der alten Welt. Ut.il-
altaiischer Stamm, 'n) lungusischer AsI, i] mongolischer Ast (Ostmongolen,
Kalmükeo, Burjäten, Haiareh), 1:) türkischer Ast (Uiguren, Oeibegen, Do-
mänen, Jakuten, Turkmauen, Nogaier, Basianen, Kuniüken, Karak:ilpaken,
Kirgisen), rf) finnischer Ast, Ugrischer Zweig (Ostjaken, AVogulen, Magyaren),
Bulgarischer Zweig, Permischer Zweig, eigentlich finnischer Zweig iSuomi,
Lappen), e) samojedischer Ast. S. 401—413.
i. Nordasiaten von unbestimmter Stellung. Jenissei-Ostjaken.
Jukagiren. Aioo. S. 413 — 41;.
6. Beringsvölker, Körpermeikraale. a) Kamtschad.ilen, b] Korjaken
und Tschuktschen, c) Namollo und Eskimo, rfj Aleulen, «■) Thlinkiten umi
Vancouverstämme. S. 415 — 418,
7. Amerikanische Urbevölkerung. Wanderung von Asiaten Lim
die Beringsenge. Mongolische Racenmerkmale. Beziehung der Sprache iui;i
altaischen Typus, Mongolische Sitten. Vergleich der neuen und alten Weil.
a] Die Jägerslämme im nördlichen Festlande (Kenai und Athapj-
ken, Algonkinen, Irokesen, Daeula, südöstliche und südwestliche Gruppe.
b) Südamerikanische Jä^erstamme. Tupi, Guaycuru, Ggs, Cren, Arü-
waken, Cariben. Vergleich der nördlichen und südlichen Jägerstätonn
Moundbuäders. Kupferbergbau. De Soto's Kriegszug. i:) Die Cultur-
völker Nordamerika's. Sonori^che Sprachen. Qbola. Pueblos. Nahuai-
laken, Maya, Quichi. Die Cnlturvälker Südamerika's. Chibcha. Qui-
X Inhalt.
chua. Yunca. Araucanier. Patagonier. Einheimischer Ursprung der ameri-
kanischen Cultur. Vergleich der Gesittungen im nördlichen und südlichen
Festland. S. 428—482.
IV. Dravidabevölkerung Vorderindiens.
Körpermerkmale, i) Mundavölker oder Dscheagelstämme. 2) Eigentlich-
Dravida (Brahui, Tulu, Tamulen, Telugu, Canaresen, Tuda). 3) Singhalesen
Typus der Dravidasprachen. S. 483 — 487.
V. Hottentotten nnd Buaoliin&nner.
Körpermerkmale. Zwergvölker. Hottentottensprache. Sittenschilderun;»
der Hottentotten. S. 488 — 496.
VI. Neger.
Körpermerkmale. 1) Bantuneger. Suaheli. Betschuanen. Kaürn. Bin-
nenstämme. Bundavölker, Kongoneger. Nordwestliche Küstenstämme. 2) Su-
danneger. Ibo. Nuffi. Ewhe. Odschi. Zahn- und Pfefferküste. Mandingo.
Joloffer. Sererer. Fulbe. Sonrhay. Hansa. Kanuri. T6da (Tibbu) keine Neger.
Bagrimma. Maba. Nilstämme. Fundj. Nobah. Afrika als Wohnraum. Ge-
sittung der Bantu- und Sudanneger. S. 497 — 516.
VII. Die mittelländische Raoe.
Körpermerkmale, i. Hamiten. a) Berber, Guanchen, Schellah, Tuareg»
T6da); ö) Altägypter; c) Ostafrikanische Hamiten (Berabra, Bedscha, Schu-
kurieh, Kababisch, Hassanieh, Dankali, Galla, Somali, Wakuafi, Masai); Alt-
ägyptische Gesittung. S. 517 — 529.
2. Semiten; Körpermerkmale. Ethnographie der Bibel, a) Nord-
semiten (Aramäer, Hebräer, Kanaanäer, Assyrier und Babylonier). Stellung
der Akkadier oder Sumerier. b) Südsemiten (a. Nordaraber, ß. Südaraber,
Abessinier). Chaldäische Gesittung. Religion der Semiten. S. 530 — 538.
3) Europäische Stämme von unbestimmter Stellung, a) Ban-
ken, b) kaukasische Bevölkerungen (Daghestäner, Tschetschenzen, Abchasen,
Tscherkessen, Lazen, Suanen, Mingrelier, Georgier). S. 538 — 540.
4. Der indoeuropäische Stamm, a) Asiaten, Sanskritvölker (Neu-
indische Sprachen. Siaposch. Zigeuner). Er&nier. (Perser, Kurden, Armenier,
Osseten, Tadschik). Awghanen. b) Europäer, a. Nordeuropäer, Lcttoslavcn
(Letten, Slaven), Germanen (Skandinavier, Gothen, Germanen), ß. Südeuro-
päer. Griechen. Albanesen. Lateiner (Portugiesen, Spanier, Catalonier, Proven-
9alen, Nordfranzosen, Alpenmundarten, Furlaner, Rumänen). Kelten. Ur>ii/-
der Indoeuropäer. Europa als Wohnort. S. 540 — 557.
Appendix A. Welcker'sche Schädelmessungen. S. 558.
Appendix B. Bamard Davis* Schädelmessungen. S. 560.
Namen- und Sachregister. S. 562.
EINLEITUNG.
I.
DIE STELLUNG DES JIENSCHEN IN DER SCHÖPFUNG.
Schon bei dem ersten Versuche die belebte Schöpfung zu
classificiren, vereinigte Linn^, ohne einen Anstoss zu erregen inner-
halb der Säugethierclasse , die Menschen und die Affen zu einer
Ordnung, welche er als die Primaten bezeichnete. In unsern
Tagen hat sich jedoch ein wissenschaftlicher Streit entsponnen, ob
das Menschengeschlecht von den Affen durch den Rang einer Ord-
nung oder nur durch den einer Unterordnung getrennt werden
solle. Da es sidh hier darum handelt, welchen Werth man den
Begriffen Ordnung oder Unterordnung innerhalb eines systema-
tischen Baues beizulegen gesonnen ist, so hat die Völkerkunde
keinen Beruf sich in diese Verhandlungen zu mischen. Richard
Owen glaubte sich überzeugt zu haben, dass bei dem Menschen
allein das kleine Gehirn vollständig vom grossen überragt werde
und uns dadurch ein entschieden höherer Rang selbst über die am
günstigsten gebauten Affenarten gesichert sei. Dass aber diese
Behauptung nur auf irrigen Beobachtungen beruhte, ist allgemein
anerkannt worden, selbst von solchen Naturforschern, die wie Gra-
tiolet, gegen die Lehre der historisch erfolgenden Antenumwand-
lungen sich erklärt haben.
Auch die Unterscheidung des Menschen und der Affen als Zwei-
händer und als Vierhänder Ist durch neuere Untersuchungen be-
seitigt worden. Die Fusswurzelknochen des Gorilla gleichen in allen
wichtigen Beziehungen der Zahl, Anordnung und Form denen des
Menschen. Nur sind bei diesem Thiere die Mittelfussknochen und
Finger verhältnissmässig länger und schlanker, während die grosse
Pesckel, Völkerkunde. I
2 Stellung des Menschen in der Schöpfung.
Zehe nicht bloss vergleichsweise kürzer und schwächer, sondern
durch ein beweglicheres Gelenk mit ihren Metatarsalknochen an die
Fusswurzel gelenkt ist ^). Ferner besitzt der Greiffuss der Affen
die drei Muskeln (M. peronaeus longus, flexor brevis, extensor
brevis), welche der Hand fehlen ^), wenn auch die Befestigung der
Zehenbeuger beim Menschen fuss etwas verschieden sein mag. Wenn
aber auch die hintern Gliedmassen des Gorilla als echte Füsse
anerkannt werden müssen, so sind doch ihre Verrichtungen andere
als die unseres Fusses und durch sie allein erhöht sich schon der
morphologische Rang des Menschen weit über die am höchsten
gestellten Affen. Als höher gilt uns nämlich derjenige Körperbau,
der besondere Verrichtungen auf besondere Werkzeuge beschränkt.
Niedriger stehen uns dagegen solche Geschöpfe, die mit den-
selben Gliedmassen eine Mehrzahl von Thätigkeiten vollziehen
müssen, wie etwa Vögel ihre Kiefern, die uns nur zur Zermal-
mung der Nahrung dienen, zum Ergreifen, bisweilen selbst zum
Klettern also zur Ortsbewegung benützen müssen. Die vordem und
die hintern Gliedmassen der Affen verrichten die nämlichen Dienste,
nämlich sie greifen und sie klettern, wobei noch zu erwägen ist,
dass gerade im Klettern die wichtigste Ortsbewegung jener Ge-
schöpfe besteht. Wohl versuchen auch die menschenähnlichen
Affen sich zum aufrechten Gange zu erheben, doch legen sie nur
kurze Strecken und diese nicht ohne Anstrengung zurück. Im
maläyischen Indien gehen die Hylobatesarten , die sonst dem
Menschen viel ferner stehen als die drei andern höchsten Affen,
wiewohl mit gebogenen Knien stets aufrecht, dabei berühren sie
jedoch mit ihren langen bis auf die Erde herabreichenden Finger-
spitzen, um sich im Gleichgewicht zu erhalten, bald rechts bald
links den Boden ^). Andrerseits muss zugegeben werden, dass bei
manchen Menschenstämmen der Fuss zum Ergreifen benutzt wird,
namentlich sind es Nubier, die sich mit der grossen Zehe im Schiffs-
tauwerk festhalten '') oder Eingeborene der Philippinen, die mit ihren
Zehen kleine Geldstücke vom Boden aufheben, ja selbst im Schoosse
i) Huxley , Stellung des Menschen in der Natur. Braunschweig 1863. S. 105.
2) Claus, Grundzüge der Zoologie. Marburg 1873. S. I125.
3) Dr. Mohnike. Die Affen der indischen Welt. Ausland Bd. 45.
1872. No. 30. S. 714.
4) G. Pouchet, Plurality of the Human Race. London 1864. p. 39.
Stellung des Menschen in der Schöpfung. ^
europäischer Gesittung ist es vorgekommen, dass wegen Körper-
mängel Schönschreiber und geschätzte Maler Feder und Pinsel mit
ihren Zehen geführt haben *). Doch verengern solche kleine An-
näherungen nur wenig die breite Kluft zwischen uns und den Affen,
die sich zunächst auf die Arbeitstheilung zwischen den vorderen
und hinteren Gliedmassen begründet. Sobald das Kind aufhört
die Hände zur Ortsbewegung zu benützen, hat es sich schon
seinen hohen Rang in der Schöpfung erworben. Wenn auch am
Fusse des Gorilla nur der Unterschied haftet, dass die grosse Zehe
den andern Zehen entgegen gestellt werden kann, so wird er doch
eben dadurch zu einem Greiforgan und zum Gehen ungeeignet.
Die Affen treten überhaupt entweder mit den äusseren Rändern
ihrer Sohlen oder wie Orang und Schimpanse mit dem Rücken
ihrer gebognen Fingerglieder auf^). Der Mensch im Gegensatz
zum Affen steht, geht, läuft, springt, tanzt, klettert, schwimmt,
reitet, sitzt und kann lange in der Rückenlage verweilen.
Der aufrechte Gang hat die Verkürzung der vorderen Gliedmassen
zur Folge gehabt und wie Carl Vogt bemerkt, auch die Schüssel-
form des Beckens zum Tragen der Eingeweide ^). Unser verhält-
nissmässig so geräumiger Schädel schwebt im Gleichgewicht auf
den Stützpunkten die ihm die Wirbelsäule gewährt und treten
wie beim Neger die Kiefern stark nagh vorn, so verlängert sich
zur Beseitigung der Störung zugleich das Hinterhaupt. Die vor-
deren Gliedmassen erlöst von den Verrichtungen der Ortsbewegung,
dienen nur noch zum Ergreifen und sie sind bisher noch 'immer
geschickt gefunden worden um alles auszuführen, was der mensch-
liche Verstand ersinnen mochte "*).
Naturforscher, wie Pruner Bey, haben die Behauptung in Umlauf
gesetzt, dass der Bau der Stimmwerkzeuge bei den Affen un-
geeignet sei zum Hervorrufen gegliederter Laute, allein dieser
i) Mohnike a. a. O. No. 36. S. 847. Waitz, Anthropologie I, 117.
2) Darwin, Abstammung des Menschen I, 120.
3) Vorlesungen über den Menschen, Bd. i. S. 172.
4) Steinthal (Psychologie und Sprachwissenschaft. Berlin 1871. Bd. i.
S. 342 § 453) will behaupten, dass unser Auge durch die Arme bei Erkennt-
niss der Raumverhältnisse unterstützt werde und dass deshalb die räumlichen
Anschauungen des Menschen entwickelter seien als die des Thiercs. Allein
den Affen leisten ihre Arme die nämlichen Dienste, dem Hlephanten sein
Rüssel, den Insecten ihre Fühlhörner vielleicht noch bessere Dienste.
Stellung des Menschen in der Schöpfung.
Satz ist von Darwin widerlegt worden, der als Beispiel an-
führt, dass ein Affe in Paraguay ') bei innerer Atifregung sechs
verschiedene Töne ausstösst, welche bei seinen Genossen ähnliche
Stimmungen veranlassen. Wenn auch das Getiiss lies Menschen
und der Affen in der alten Welt übereinstimmt, so entwickelt sich
doch bei uns der dauernde Spitzzahn vor den letzten Backzähnen
und unter diesen die vorderen vor den hinteren, beim Affen da-
gegen bildet die Entwicklung der dauernden Spitzzähne den Schluss
der Ziihnbildung, auch tritt der zweite hintere Backzahn früher hervor
als die zwei vorderen Backzähne. Endlich ist noch das frühere
Verschwinden des Zwischen kieferknochens bei der menschlichen
Leibesfrucht als Unterscheidung vom Affen anzufüliren.
Uurch die letzten Thatsachen werden wir noch gemahnt einen
Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Menschen zu werfen, die
so wii^htig geworden ist, seit 1812 Johann Friedrich Meckel in Halle
OS aussprach, dass jedes Thier im unreifen Zustande, und dieser
dauert von der Befruchtung des Eies bis zu den ersten Geschlechts-
thätigkeiten, alle Formen durchläuft, welche den tief und tiefer
unter ihm stehenden Thieren während des ganzen Lebens zu-
kommen. Zur Zeit der Geburt ist die Kluft zwischen dem
Kindi.' und dem Affenjungen noch immer sehr schmal. Neu-
linge könnten in Verlegenheit gerathen, wenn sie Schädel von
Kindern oder jungen Tschimpansen unterscheiden sollten. An
Grösse kommen sich die Hirne der Kinder und der Affen-
junf;cTi sehr nahe, von allen Theilen des Kopfes aber wächst
das i;ehim des Affen am wenigsten. Wenn daher auch das Ge-
hirn des menschenähnlichen Affen alle Haupttheile des mensch-
lichen Gehirns enthält, so verfolgt doch seine Entwicklung eine
gan^ andere Richtung. Das Junge des Orang oder Tschimpanse,
unscTa Kindern im Betragen so ähnlich, verliert im Laufe des
Wachsthums mehr und mehr die Anklänge an die menschliche
iiilduiijj. Ehe noch der Zahnwechsel sich einstellt, hat das Gehirn
des Affen in der Regel seine Vollendung erreicht, während beim
Kinde die eigentliche Ausbildung dann erst recht beginnt. Um-
gekehrt wächst beim Affen der Gesichtsschädel in thierischer Rich-
tung, so dass schliesslich der grösste Affe ein Kindergehirn mit
dem Gebiss eines Ochsen vereinigt. Daraus ergibt sich, dass
1) Cebus Azarae, Darwin, Ursprung des Menschen 1, 45.
Stellung des Menschen in der Schöpfung. c
durch fortschreitende Entwicklung der Affen nie ein Mensch ent-
stehen kann, denn ihre Ausbildung ist nach anderen Zielen ge-
richtet, und je länger sie sich nach diesen bewegen, desto mehr
erweitern sich zwischen ihnen die Abstände. Gerade bei den nied-
rigsten, in ihrer Entwicklung gleichsam verzögerten Affenarten, bei
den Uistiti des östlichen Brasiliens behält das Knochengerüst des
Kopfes eine höhere Menschenähnlichkeit, als bei den menschen-
ähnlichen Arten *). Es ist nur ein volksthümliches Missverständniss
gewesen, dass der Mensch nach dem Dogma der Arten wandelung
von einem der vier höchsten Affen abstammen solle. Weder
Darwin noch irgend einer seiner Anhänger haben jemals so etwas
behauptet, sondern vielmehr, dass die Vorfahren der Menschen sich
abzweigten von längst ausgestorbenen Arten ,der Katarrhinengruppe
im ersten oder frühesten Abschnitt der Tertiärzeit*). Sollte diese
Vermuthung jemals von der Wissenschaft anerkannt werden, so
müssten Zwischenformen und Übergänge von jenen Affen der
eocänen Zeit zu den heutigen Menschen irgendwo entdeckt
werden. An dem Tage wo diess geschähe, wo die einzelnen
Glieder in der Kette des Gestalten wechseis sichtbar vor uns lägen,
bliebe keinem denkenden Menschen ein Zweifel über den Vorgan«;
übrig. Bis dahin jedoch behält jede andere Hypothese die gleiche
Berechtigung und die bisherigen geologischen Funde gewähren noch
nicht die geringste Ermuthigung, dass jene Lücken früher oder
später ausgefüllt werden müssten.
Wir können diese Betrachtungen nicht schliessen, ohne einen
Vorwurf zurückzuweisen, der im Stillen sich -vielleicht regen möchte,
als ob wir nämlich die Verstandesthätigkeiten des Menschen un-
beachtet lassen wollten. So mag denn sogleich wiederholt werden,
was bereits Darwin ausgesprochen hat, dass Gewissensregungen
verknüpft mit der Empfindung von Reue, dass Pflichtgefühle als
die bedeutungsvollsten Unterschiede uns vom Thiere trennen, dass
bei diesem letzteren keine Möglichkeit vorhanden ist zur Lösung
einer mathematischen Aufgabe noch bei ihm die Rede sein kann
von Bewunderung eines Naturgemäldes oder einer Kraftäusserung,
dass auch kein Nachdenke« statthaben kann über eine Verkettung
i) Virchow, Menschen- und Affenschädel. Berlin 1870. S. 25 — 26.
2) Darwin, Ursprung des Menschen 1, 171. H a eck el, Natürliche Schöpf
ungsgeschichte. 2. Aufl. S. 574.
6 . Stellung des Menschen in der Schöpfung.
der Erscheinungen und noch weniger die Annahme eines Urhebers
oder eines göttlichen Willens '). Die höchsten Unterschiede zwi-
schen Menschen und Thieren werden erst bei der Untersuchung
über die Entwicklungsgeschichte unsrer Sprache von selbst hervor-
treten und ebenso enthält die Sittengeschichte der Völker still-
schweigend die beste Begründung einer höheren Würde der Mensch-
heit, Doch zählen alle diese Thatsachen nicht mit, wenn es sich
darum handelt, dem Menschen innerhalb des Thierreicltes seine
Stelle anzuweisen , gerade so .wenig als die Klugheit des Elephanten
nicht seinen Platz in einem zoologischen Lehrgebäude zu verriit;ken
vermag. Dem Menschen gebührt nur derjenige Rang in einem
morphologischen Systeme, den ihm in künftigen Erdaltem ein
denkendes Geschöpf innerhalb einer wissenschaftlichen Ordnung
des Thierreiches anweisen würde, wenn nichts mehr von unserm
Geschlechte vorhanden sein sollte, als eine ausreichende Anzahl
versteinerter Knochenreste. Nach den Grundsätzen der verglei-
chenden Anatomie und nach dem systematischen Bedürfniss allein
würde er dann als Ordnung oder als Unterordnung von den Affen
der geologischen Gegenwart getrennt werden.
i) Darwin, Ursprung des Menschen. Bd. i. S. 28. S. S9. S. 76. S. 90.
Der Versuch alle sich am besten gleichenden Geschiipic unli-r
einen Namen zu vereinigen, ist genau so alt wie die Stnii' ilt-r
Sprachentwicklung, auf welcher diese Vereinigung durch ein Wort
vollzogen wurde. Bei niedrig geMiebenen \ olkcrn finden wir Aus-
drücke für verschiedne Arten der Eiche, aber keinen für die Eii.hen-
gattung, ja nicht einmal einen für Baum. Die unterscheid oridfii
Merkmale wurden daher früher erfasst als die übereinstirnmLndcn
Eigenschaften. Aus einem Bedurfniss der Verständigung ülit-r dir
Aussenwelt sind Namen für Hnnd, Wolf und Fuchs entstandtu tunl
damit war bereits eine Classification vollzogen. \Vissenscli:ililii.li
gerechtfertigt wurden solche Sprachbildungen aber erst von l.iiJin'.
Der Artenbegriff ist also vor noch nicht anderthalb Jahrhuruli rti ii
aufgestellt worden und zwar dachte Linnc sich die Arten l.iim s-
wegs schon als von Anfang her starr begrenzt, sondern er j:[jiilit.-,
dass neue Species aus den Blendlingen ungleicher Vertreter dir
Gattungen hervorgehen könnten. Goethe wiederum durfti* ncnjli
immer behaupten, dass die Natur blos Ein zeige schöpfe konn' . die
Arten daher nur in den Lehrbüchern vorhanden seien.
Als man für die typischen Verschiedenheiten des Meii-ilun-
geschlechtes ebenfalls Schlagwörter ersinnen wollte, erhob siili su-
gleich der Streit, oh die Völker der Erde in verschiedne Arli.ii
oder nur in verschiedne Spielarten zerfallen. So sind es tilt dii-
höchsten und dunkelsten Aufgaben, die Unvorbereitete am stirlisLii
anziehen und dann zu verfrühten, also gänzlich wertblosen l.ni-
scheidungen fortreissen. Nicht einmal mit Unbefangenheit ir.uuu
die älteren Anthropologen an die Lösung des schwierigen R.nli- I-.
denn die einen bemühten sich das Schlussergebniss in Ci" Ein-
stimmung zu setzen mit der hebräischen Sage von der Schii[ifu(ii^
(
8 Arteneinheit des Menschengeschlechtes.
eines ersten Menschenpaares, die andern suchten die Vielheit der
Arten zu begründen, um dem Neger das Mitgefühl milder Ge-
müther zu entziehen und die . Stimme des Gewissens über die Ent-
würdigung des Menschen zum Lastthier in der tropischen Land-
wirthschaft zu besänftigen. Seltsam! dass man sich über Einheit
oder Vielheit erhitzen konnte, ehe eine einzige Begriffsbestimmung
der Art allseitige oder nur vielseitige Anerkennung gefunden hatte!
,, Diejenigen belebten Wesen*', sagte Blumenbach, „zählen wir zu
einer und derselben Art, die in Gestalt und Tracht mit einander
so genau übereinstimmen, dass ihre Unterscheidungsmerkmale nur
aus der Abartung entsprungen sein können. Als getrennte Arten
aber betrachten wir solche, deren Verschiedenheiten so wesentlich
sind, dass sie aus den bekannten Einflüssen der Abartung, wenn
man dieses Wort entschuldigen will, sich nicht erklären lassen ')."
Wie mag es • dem sonst scharfsifinigen Blumenbach entgangen sein,
dass bei diesem Spiel mit Worten alles wieder im Ungewissen
bleibt, indem er den Begriff der Abartung als bekannt voraussetzt
und daher völlig unbegrenzt lässt? Denken wir uns übrigens, dass
durch ein Wunder vom Planeten Mars ein Geschöpf zu uns herab-
gelangte, welches im Körperbau wie in seinen geistigen Verrich-
tungen uns völlig gleich wäre, so würde es Blumenbach als Arten-
genosse uns beigezählt haben müssen. Diess hätte auch nach der
Ansicht Cuviers geschehen sollen, denn „die Art", sagt er, „ist
die Vereinigung aller belebten Wesen, die von einander oder von
gemeinsamen Voreltern abstammen mit denjenigen, die ihnen
durch Ähnlichkeit ebenso nahe stehen als sie unter einander sich
gleichen *).** Cuvier und Blumenbach verlangten also noch nicht,
dass alle Artgenossen gemeinsame Vorfahren besitzen sollten.
Eine gemeinsame Abstammung forderte jedoch schon der
ältere Decandolle. „Die Art", so lautet seine Begriffsbestimmung,
,,ist die Vereinigung aller Einzelwesen, die sich gegenseitig besser
gleichen als anderen und aus deren Begattung fruchtbare Nach-
kommen hervorgehen, die sich ebenfalls wieder durch Geschlechts-
^olge erneuern, so dass auf ihre ehemalige Abstammung von einem
einzigen Wesen geschlossen werden darf^).**
1) De generis humani varietate nativa. Ed. 3. Götlingen 1795. p. 66.
2) Quatrefages, Rapport sur lesprogres de 1* Anthropologie. Paris 1867. p. 56.
3) Quatrefages, Rapport, p. 104.
4V.>.-
Arteneinheit des Mcnschengeschlechles,
Hier schien endlich die Art scharf und glücklich begrenzt ko
sein. So oft zwischen belebten Wesen, mochte ihre Tradit und
Gestalt noch so auffällige Unterschiede wahrnehmen lassen, Nacli-
kommen erzeugt wurden, die und deren Nachkommen wiederum
fruchtbare Begattungen vollzogen, wurden sie zu einer Art ler-
einigt. Unfruchtbarkeit, wenn sie bei Nachkommen oder aiicli bei
Enkeln sich einstellte, entschied das Gegentheil, Ah diesem Er-
kennungszeichen hielt auch Flourens fest, „Die Fruchtbar-
keit", sagte er, „begründet die Beharrlichkeit der Artenmerkmalc,
Die verschiednen Arten erzeugen Mischlinge von nur beschränkter
Fruchtbarkeit ')." Noch enger zieht Herr von Qnatrefages de-u Be-
griff in den Worten: „Die Art vereinigt alle mehr oder weniger
sich gleichenden Einzelwesen, die von einem einzigen Urelternpaare
durch eine ununterbrochene Familienfolge abstammen oder als ab-
stammend gedacht werden können ")."
Ehe wir uns über den Werth dieser Artenbestimmun- ent-
scheiden, wollen wir zuvor untersuchen, ob das Merkmal der i'rui.ht-
barkeit den Bastarden verschiedener Menschenra^en zukommt. IJass
arische Hindu mit Drawida, Chinesen mit Europäerinnen, Araber
mit Negerfrauen Mischlinge und diese Mischlinge wiederum Nauli-
kommen erzeugen, ist wohl nie bestritten worden, sehr olt wird
dagegen behauptet, dass die Mulatten in den spätem Geschieehts-
folgen aussterben, auch gelten die Frauen gemischten Ulmes in
Mittelamerika- gewöhnlich als unfruchtbar. Die Ursache dieser
allerdings häufigen Erscheinung ist hier jedoch keine physiologische,
sondern ein unsittlicher Lebenswandel ^), Die Thatsache, dass iiui der
Insel Cuba und auf Haiti halbblütige Bevölkerungen bis zu Ilmulert-
tausenden angewachsen sind, bestätigt wenigstens, dass dio Ab-
kömmlinge von südeuropäischen Creolen und Negern fruchtbar
sind. Völlige Unfruchtbarkeit angelsächsischer Mulatten :iiif Ja-
t) Ftourens, Kxanieii du Uvie de I'Jr. Darwin sur l'origine do.^
Paris 1864. p, 21.
2) Unit* de l'espÄce humiiine. Paris iSöi, p. 54.
3) Der Verfasser hat über diese äuich slienge Beobachtungen 1
schlichtende Streitfrage deutsche Kaullcute, die lange Zeit auf Culi
hatten, befragt und stets die Antwort erhalten, dass Mulattinnen vi
denkbaren Fruchtbarkeit nicht ungewöhnlich seien, und dass sie dc^n I
Mangel an Kindersegen bei andern Mischlingen nur frühieitipen Au
fungen zuschreiben müssteo.
lO Arteneinhett des Mensch enge schlechtes.
maica ist nur von einem einzigen Beobachter behauptet worden
unii nicht ohne Widerspruch geblieben '). In Amerika sind ferner
als Mischvolk die Zambos, Abkömmlinge von Negern und Frauen
der sogenannten rothen Urbewohner entsprungen. ') Unter den
Crct-k Indianern der Union werden sie häufig getroffen^), ebenso
in Wittelamerika und schon jetzt trägt die Bevölkerung an den
KQsttn des Ystmo und Neugranadas deutlich die Wahrzeichen
halbafrikani sehen Blutes. Nach Millionen zählen in den ehemaligen
spanischen Tßchterstaaten die Mischlinge von Kuropäern und ein-
gt'bornon Amerikanerinnen, Ladinos in Mexico, Cholos in Ecuadori
Peru und Chile, sonst gemeinsam Mestizen gehcissen. Wenn in
Australien die Mischlinge zu den Seltenheiten gehören, so rührt
diess nur daher, dass wie durch gerichtliche Untersuchungen es
sich btstaligt hat, die Eingebornen selbst die Racenblendlinge zu
tödten pflegen ■*). Auch tasmanischc Frauen haben zahlreiche
MiscliUnge geboren und James Bonwick *) kannte und nennt uns
eine jMutter von dreizehn halbblütigen Kindern. Paul Broca war
also falsch unterrichtet, als er das Dasein von Halbaustraliem und
HalbtLi^maniern läugncte*) und damit sinken zugleich die gewagten
Schlüssig die er mit ungerechtfertigter Sicherheit ausgesprochen
hatte, Npch wichtiger aber ist es, dass aus den Vereinigungen
üwischi-n Europäern und Hottentotten Halbblütige entspringen,
denn wenn irgend ein Menschenschlag Anspruch hätte, als ge-
sonderte Art aufgefasst zu werden, so sind es gewiss jene Urbe-
wohner der Caplande '). Endlich haben auf abgelegnen Inseln, wie
Tristan d'Acunha mehrfache Kreuzungen von Briten, Holländern,
i| ?. Broca, Hybridily in Ihe Genus Homo. London 1864. S. 36.
2) Fülle, dtus Negerinnen mit eingebornen Männern Amerikas Verbin-
'liini;cn eingehen, sind aus einer bekannten prosaischen Ursache sehr selten.
3) Xiich dem Second annual reporl of the Board of Indian Comnüssioners.
Washiiinlon 1871 in Zeilsehrift für Ethnologie. Berlin 1871. Bd. 3. S. 412.
4) Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen. Bd. i. S. 194,
Ehun'o Kdward John £yre, Central Aastraüa. London 1843. ^ol. II, p, 324.
i) Ihe last of the Tasmanians. London 1870. p. 316.
f.) Bioca, a. a. O. S. 47.
7) Diese Mischlinge weiden theils ,3as(arde" theüs Griquas in ihrer Hei- ,
math ):(:nBniit, die letztere Bezeichnung ist jedoch so missbraucht worden,
ilas<^ F^ii' keinen strengeren anthropologischen BegrifT mehr deckt. Frilsch,
Dil- Kincebornen Südarrihas. S. 376 flg.
Arteneinbeit des Menschengeschlechtes. n
7.
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'■•"?
.^ j
%
Mulatten und Negerinnen stattgefunden '). Nach den Erfahrungen
aus dem Pflanzenreiche zu schliessen, bemerkt Darwin, würden drei-
fache Kreuzungen zwischen Negern, Indianern und Europäern, wie
sie in Amerika vorkommen, die schärfste Probe für wechselseitige
Fruchtbarkeit der elterlichen Formen darbieten*). .'"■*
Selbst wenn nicht länger mehr gestritten würde, dass alle noch 'l.
so verschiedenen Völkerstämme fruchtbare Mischlinge erzeugen
könnten, so würden wir doch der Entscheidung über die Einheit
oder Vielheit der Menschenarten nicht näher gerückt sein. Die neuere
Wissenschaft erkennt nämlich an, dass Thiere, welche vormals in
der Freiheit sich geschlechtlich gemieden haben, doch zur gänz-
lichen Mischung ihres Blutes und ihrer Artenmerkmale gebracht
werden konnten. Wir denken dabei weniger an die gewöhnlich
aufgezählten Bastarderzeugungen des Hundes mit Wolf und Fuchs,
der Ziege mit dem Schafe, des Kaninchens mit dem Hasen, denn
theils gelang es nicht die Mischgestalten zu befestigen, theils über-
dauerte die Fruchtbarkeit der Blendlinge nicht mehrere Geschlechts-
folgen. Erinnern wollen wir wenigstens an die neue Erfahrung,
welche wir Mr. Buxton, einem englischen Parlamentsabgeordneten ver-
danken, der in Südengland zwei Cacaduarten eingebürgert hat,
welche in seinem Park alljährlich Junge ausbrüten, sich im Freien
auch gekreuzt und eine Bastardart erzeugt haben, die von einer
purpurrothen Haube geziert wird, wie keine der beiden Elternarten,
so dass hier die Schöpfung um eine neue Species bereichert er-
scheint^). Jedenfalls sind unsere Hunderacen das Ergebniss einer
Artenmischung gewesen. Die Eskimohunde nähern sich in Tracht
und Gestalt dem arctischen, die Indianerhunde dem Prairienwolfe,
der nubische Haushund und seine Mumien bezeugen deutlich ihre
Abkunft vom Schakal *), auch trat der eigenthümliche Geruch dieser
letzteren Thiere bei Hunden ein, die von Geoflfroy St. Hilaire
längere Zeit mit rohem Fleisch gefüttert wurden. Ferner sind
unsre heutigen Rinderschläge hervorgegangen aus zwei getrennten
i) Quatrefages, Rapport, p. 477.
2) Darwin, Die Abstammung des Menschen. Bd. i. S. 198.
3) Sem per im Anthropol. Correspondenzblatt. Octbr. 1871. S. 73.
4) Herr J ei t tele s, der sich geraume Zeit mit diesen Fragen beschäftigt und
Thierschädel fleissig gesammelt hat, behauptet, die völlige Übereinstimmung
zwischen dem sogenannten Torfhunde und dem algierischen Schakal (Canis
Sacalius). Alterthümer der Stadt Olmütz. Wien 1872. S. 79.
12 Arteneinheit des Menschengeschlechtes.
europäischen Arten (Bos primigenius zu Cäsars Zeiten noch wild
und Bos longifrons oder brachyceros der schweizerischen Pfahl-
bauten) '). So lange sie in der Freiheit neben einander vorkamen,
bewahrten sie ihre Artenmerkmale in aller Reinheit, während jetzt
durch Querkreuzungen ihre Gestalt und Tracht völlig sich ver-
mischt haben. Ja selbst mit dem Zebu (B. indicus) oder d^m
indischen Buckelochsen kann das europäische Rind fruchtbare
Bastarde erzeugen. Ferner sind unsere Hausschweine Mischlinge
aus dem Eber oder Sus scrofa und dem nicht mehr wild vorkom-
menden Sus indica. Wir verdanken diesen Satz den Schädelunter-
suchungen des Herrn v. Nathusius, der sonst unte;^ die erklärten
Gegner der Darwinischen Schule gehört. Gilt das letztere be-
kanntlich auch von Agassiz, so legen wir doppeltes Gewicht da-
rauf, dass auch er den Versuch, die fruchtbare Begattung zur
Artenbegrenzung zu benutzen für eine Irrlehre erklärt hat *). Ist
diess der Fall, dann besteht kein Hinderniss länger etliche Men-
schenracen als verschiedne Menschenarten aufzufassen, wenn sich
bei ihnen erfüllt, was Grisebach für die Begründung einer Art noth-
wendig hält, nämlich der Mangel von Übergängen 3), die nicht auf
Kreuzungen beruhen. Wirklich Ikssen sich bisweilen scharfe Grenzen
ziehen wie zwischen den Hottentotten und den Kafirstämmen, den
Papuanen Neu-Guineas und den reinen Polynesien!. Solche That-
sachen haben die pluralistische Anthropologen schule zu der Be-
hauptung einer Mehrheit der Mensche^arten ermuthigt. In den
Vereinigten Staaten Nordamerikas, wo sie vormals ihre heissesten
Vertreter fand, entstand die Lehre, dass die verschiednen Bewohner
der Erde in den Welttheilen geschaffen wurden, die sie jetzt be-
wohnen, auch dass sie nicht von einzelnen Elternpaaren abstammen,
sondern durch einen Saatwurf des Schöpfers sogleich in Horden
i) Rütimeyer gelangte zu dem Schlüsse, dass die Rinder des Chillingham-
Parkes Abkömmlinge des gezähmten Ur (B. primigenius) seien, sowie dass
die Trochoceros- und Frontosus-Form ebenfalls vom Ur abstaivmen, dagegen
B. brachyceros eine eigne sogenannte Species vertrete. Art und Race des
europäischen Rindes im Archiv für Anthropologie. Bd. i. Braunschweig
i866. S. 240—247.
2) A complete fallacy. Essai on Classification. London 1849. p. 250.
3) Die Vegetation der Erde Bd. i. S. 8. „Darin besteht die Methode
des Systematikers Varietäten und Arten zu unterscheiden, dass er bei jenen
Zwischenformen nachweisen kann, bei diesen nicht.*'
Arteneinheit des Menschengesjchlechtes. I^
die Erde bevölkerten und bereits theilweise im Besitze ihrer heu-
tigen Wortschätze sich befanden, denn in ihrem Eifer nahm jene
Schule sogar eine Artenmehrheit innerhalb der sprachverbundenen
arischen Völkerfamilie an. Diese wunderlichen Ansichten stützten
sich zunächst auf die Behauptung, dass die Merkmale der Arten-
verschiedenheit sich unverändert in der historischen Zeit erhalten
haben, namentlich bei Juden ^) und brahmanischen Indiern. Beide
Beispiele vermögen aber ernste Zweifler nicht zu bekehren, denn
wir wissen von Juden und brahmanischen Hindu, dass sie seit Jahr-
tausenden streng unter sich geheirathet haben. Dass sich aber dann
nothwendig Racenmerkmale befestigen müssen, lehren uns die Er-
fahrungen der Thierzüchter. Selbst in unsern heutigen Gesell-
schaften, wo durch Kastenvorschriften Heirathen in dem nämlichen
Stande vorgeschrieben werden, tritt bisweilen kenntlich ein aristo-
kratischer Typus hervor und bei den Habsburgern wie bei den
Bourbonen sind in vergleichsweise kurzer Zeit physiognomische Be-
sonderheiten innerhalb zweier Familien erblich geworden.
Das hohe Alter und die Beharrlichkeit des Typischen in den
verschiedenen Menschenarten sollen uns ferner die Racenbilder der
Denkmäler am Nil bezeugen. Allerdings herrscht Einstimmigkeit
bei allen Aegyptologen, dass man in den heutigen Fellahin des Nil-
landes noch scharf und deutlich das Volk der Pharaonen wieder
erkenne, und wenn auch stark verzerrt sind neben ihnen die Neger
des Sudan in den Wandgemälden so deutlich wieder gegeben, dass
jeder Verwechselung vorgebeugt ist. Bedenklich bleibt indessen,
dass die altägyptischen Künstler ihre Menschen ijach starren Vor-
bildern naturwidrig entstellten; die Gesichter nämlich zeichneten sie
stets im Profil, das Auge stets en face, und die Hände immer als
zwei rechte. Staunen muss man daher über die Kühnheit der
Pluralisten, welche aus den Bildnissen der Könige und Königinnen
sogar die Mischung mit semitischem oder europäischem Blute bei
den Pharaonen herauslesen wollten. Von der Gemahlin des Grün-
ders der 17. Dynastie Amunoph I., der in das Jahr 1671 v. Chr.
i) Anfanger in der Völkerkunde möchten wir vor Missverständnissen be-
züglich der „schwarzen Juden" in Cochin warnen, die früher als Beispiel miss-
braucht wurden, dass die indische Sonne die Hautfarbe zu ändern vermöi^e.
Die schwarzen Juden sind indische Eingebome, die von den rechten weissen
Juden als Sklaven gekauft und dann nach Erfüllung der mosaischen Gebräuclio
in die Judengemeinde aufgenommen wurden.
I_i Arteneinheit des Menschengeschlechtes.
gesetzt wird, heisst es, sie trage am stärksten die Wahrzeichen heb-
räischen Blutes und es wird daraus sogleich der Beweis abgeleitet,
,,dass der chaldäische Typus schon vor der Ankunft Abrahams in
Aegypten nachgewiesen worden sei ^).** .Der Kopf des grossen
Ramses wird als hoch europäisch und napoleonsähnlich gepriesen ').
Wirklich mahnt auch bei Rosellini das Ramsesbild .lebhaft an den
ersten Kaiser der Franzosen, allein diese Nachbildung war ent-
weder nicht glücklich getroffen oder absichtlich mit bonapartischen
Zügen ausgestattet worden, wie es sich aus einer genauem von
Robert Hartmann veröffentlichten Zeichnung ergeben hat ^). Dar\vin
erzählt uns, dass bei einem Besuche des britischen Museums ihm
und zwei Beamten jener Anstalt, die er als urtheilsfahige Richter
bezeichnet, die stark ausgesprochne Negerform der Statue Amu-
noph 111. auffiel. Dennoch wird sie von Nott und Gliddon als
,, Bastard ohne Beimischung von Negerblut" beschrieben ^). Robert
Hartmann endlich konnte sich nicht überzeugen, dass der ägyp-
tische Typus Änderungen durch asiatische Mischungen erlitten habe,
viel eher solche, die sich aus nubischen Eroberungszügen erklären
lassen 5). Beweisen die Denkmäler Aegyptens einerseits, dass nach
4000 Jahren noch die Bewohner des Nillandes ihren Voreltern
gleichen, so lehren sie andrerseits, dass schon damals die soge-
nannten Typen durch Mischungen ineinanderflössen. Niemand fühlt
dagegen besser die Sch>Väche der Ansicht von der Unveränderlichkeit
der Racenmerkmale als derjenige, welcher versucht hat, die Völker
zu beschreiben, denn nicht ein einziges Kennzeichen ist strenges
Alleingut irgend ^iner Menschenrace, sondern verliert sich durch un-
merkliche Abstufungen. Wäre es leicht die Grenzen zwischen ver-
schiednen Racen zu ziehen, so würden die Anthropologen in ihren
Annahmen nicht in dem Masse von einander sich entfernen, dass der
eine die Menschheit in zwei, ein andrer sie in hundertundfünfzig Arten,
Racen oder Familien sondern zu müssen glaubte^). Das Ver-
fahren bei solchen Trennungen läuft gewöhnlich auf eine Täuschung
>
i) Morton, Types of Mankind. p. 163. Fig. 33.
2) 1. c. p. 148.
3) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin I869. S. 153.
4) Darwin, Abstammung des Menschen I, 191.
5) Zeitschrift für Ethnologie. Berhn 1869. S. 147.
6) Quatrefages, Unite. p. 366. Nach Darwin, (Ursprung des Men-
schen I, 199) nahm Virey 2, Jacquinot 3, Kant 4, Blumenbach 5, BüfTon 6,
Arli^nEinheit des Menschengeschlecht«!. |e
hinaus, denn nicht die Häufigkeit bestimmter Merkmale wird fest-
gestellt, sondern als \ertreter eines Typus, wird unter sehr Vielen
derjenige herausgesucht, welcher am schärfsten sich von den Glie-
dern anderer Menschenslämme absondert. So trägt der deutsche
Reisende, ehe er die Alpen überschreitet, eine bestimmte Vorstel-
lung vom italienischen Gesichtsschnitt und Körperwuchs in sich.
Er erwartet in Neapel überall Männern zu begegnen, denen er nur
eine phrygische Jlütze aufzusetzen braucht, um in ihnen bekannte
Operngestalten wieder zu erkennen oder er denkt einem jeden
Mädchen dürfe man nur einen silbernen Teller mit einem abge-
schlagnen Männerhaupt in den Arm geben, um sie in eine Judith
zu verwandein. Die Enttäuschung läs.st nicht warten und zuletzt
gestellt sich der Hintergangene, dass das, was er als italienischen
Typus sich vorgebildet hatte, nur an der spanischen Treppe in Rom
herumlagert, wo die unter Tausenden herausgemusterten Modelle
sich dem Künstler feilbieten. In der Heimath geht es nicht besser.
Sehen wir ein Kind mit zarter Haut und Rosen Schimmer, hellblonden
Flechten und blauen verschämten Augen, so (reuen wir uns über
eine solche echt deutsche Jungfrau ohne zu bedenken, dass wir
neben ihr tausend andere damit ftir unecht, das heisst für racelos
erklären.
In unsern Tagen ist die bisher giltige N'orstellung von der
Beharrlichkeit der Artenmerkmale tief erschüttert worden durch
Charles Darwin. Widerlegt waren schon vor ihm die Träumereien
der älteren Geologen, dass die AltersaUschnitte der Erdrinde, welche
die Lehrbücher der Verständigung wegen aufzustellen genöthigt
sind, mit einer gänzlichen Vernichtung der belebten Schöpfung ge-
endigt hätten und dann durch einen Werderuf an ihre Stelle eine
neue Schöpfung getreten sei. Lautlos haben sich, so lange unser
Planet organisches Leben beherbergt, einzelne neue Trachten der
belebten Wesen unter die alten gemischt, lautlos sind andre ver-
schwunden, bis nach Ablauf gewisser Zeiträume andre, von den
älteren abweichende Arten sich zusammen fanden. Die Zeitfolge,
in welcher sich die verschiednen Trachten und Gestalten ablösten,
HuDler 7, AcüssIk S, Pickcring tt, Bory St, Viacent IJ, DesmouLns l6,
Morton 22, Ctawfurd 60 und Burke 63 Arten oder Racen an. Haeckel (Na-
türliche Schöpfungsgeschichte 2. Aufl. S. 604) und Friedr. Müller {Anlhro-
pol. ThI. III der Niivara Reise I. Karte) begnügen sich mit zwölf Arien
und wir selbst sind zu sieben Abtheilungen geführt M-oiden.
l6 Arteneinheit des Menschengeschlechtes.
war keine willkürliche, sondern sie stellt eine morphologische Kette
dar; ein Ring hält hier den andern, jede Neuerung knüpft ge-
horsam dem Gesetze alles Werdens an das früher Bestehende an.
Eh gibt vit'Ueicht unter den Sachkundigen Europas nicht einen
einzigen, der nicht anerkennen würde, dass die jetzige Schöpfung
mit strenger Nothwendigkeit voraussetze, dass ihr eine tertiäre
vorausgegangen sei, denn auf das engste schiiesst sich die Thter-
welt Australiens und Südamerikas , sowie andrer gegen Artenaus-
tatisch gut gesicherter Erdräume, an die Örtlich ausgestorbne
Fauna an. Bestände das Dogma Darwins daher nur in dem Satze,
dass die Reihenfolge der Arten mit der Vergangenheit durch irgend
eine Ursache verknüpft sei, so würden alle Geologen, Botaniker
und Zoologen zur Schule des grossen Briten gehören. Er begnügt
sich aber nicht mit diesem Ausspruch, sondern er glaubt den Vor-
gang selbst und seine Nothwendigkeit uns enthüllen zu können.
Nach seiner Lehre werden Eltern oder geschlechtliche Doppelwesen
alle ihre Merkmale bis auf kleine Verschiedenheiten vererben, so
dass die Nachkommen ihren Erzeugern zwar gleichen, aber auch
um einen verschwindend kleinen Betrag in einer nützlichen, gjeich-
giltigen oder scliadlichen Richtung sich von ihnen entfernen. Die
schädlichen Abirrungen würden zum frühen Untergange ihres Trä-
gers führen, die gleich giltigen hätten wiederum keine Aussicht auf
dauernde Erhaltung, die nützlichen allein sollen die Umgestaltung
der Geschöpfe bewirken. Durch eine fortgesetzte Anhäufung kann
aber das verschwindend Kleine in achtunggebietenden Zeiträumen
allmählich bis zum Arten unterschiede heranwachsen. Bei dieser Aus-
bildung neuer Formen übt die Schöpfung zugleich eine Art Kritik
unbewussl gegen sich aus, denn da jedes Einzelwesen oder jedes
Elternpaar weit mehr Nachkommen zu erzeugen pflegt , als auf
Erden gedeihen können '}, so entspinnt sich zwischen den Nach-
kommen einer Art, wie zwischen allen Vertretern der verschiednen
Arten ein Kampf um das Dasein, in welchem die lebensfähigeren
Streiter die minder günstig ausgestatteten unterdrücken. Durch
I) So bemerkie kürzlich Dr. Botggreve, Prüf, an der Forstakademie z\x
Münden, dass eine Birke von etwa 0,3 Aleler Slammesdurchmesser in einem Jahie
über 30 Milliuiten Samenkörner uusstreul, die bei trocknen Herbstslürmen bis
Bof jede in Deiitstliland vertrelne Enlfernung verweht werden könnten. Ab-
hnndlnnBen des nalurwissensch.iftlichen Vereines la Bremen. 3, Bd. 3. Heft.
Bremen iB;;. S. :33.
Arteneinheit des Menschengeschlechtes.
m
fortgesetztes Ausscheiden der lebensschwachen Artgenossen und
durch beständiges Vererben der neuerworbnen günstigen Abände-
rungen tritt unbemerkt ein Wechsel der Gestalten ein. Der Kern
und die Neuheit des Darwinschen Dogmas besteht nur in der eben
geschilderten Zuchtwahl, welche in der Natur ausgeübt werden
soll. Mit Recht ist daher dieser Vorgang der Artenumwandlung
von Nägeli als ein Nützlichkeitsverfahren bezeichnet worden. Als
die Begeisterung für den neuen kühnen Gedanken einer kühleren
Ueberlegung gewichen war, ergab sich mehr und mehr, dass eine
Zuchtwahl nach den Nützlichkeitsgrundsätzen nicht immer statt-
gefunden haben könne. Die Ausbildung neuer oder die Umbil-
dung älterer Organe hätte sicherlich lange Zeiträume erfordert,
während deren die unfertige Neuerung, wenn nicht geradezu
schädlich wirken, doch jedenfalls gleichgiltig im Kampfe um das
Dasein bleiben musste. Es ergab sich weiter, dass Organe früher
vorhanden sein können, ehe aus ihnen Nutzen gezogen wird.
Unter den Angehörigen der verschiedensten Menschenstämme be-
sitzt eine Mehrzahl Stimmwerkzeuge, die sich zum Gesänge treff-
lich eignen, ohne dass sie musikalisch gebraucht würden*). Die
natürliche Zuchtwahl erklärt uns auch nicht, dass die Formen und
Trachten der belebten Schöpfung den empfindenden Menschen in
künstlerische Stimmungen versetzen. Nicht blos das Schöne, Zier-
liche oder Anmuthige, sondern auch das Widerliche, Unheimliche,
Lächerliche und Dämonische gewahren wir durch Thiere oder
Pflanzen vertreten. Darwin hat diese Schwierigkeit in dem Buch
über die Abstanmiung des Menschen durch einen neuen Glaubens-
satz, nämlich durch die geschlechtliche Auswahl zu überwinden ge-»
sucht, indem die Weibchen der Thiere dasjenige Männchen be-
vorzugen sollen, welches ihre Sinne am lebhaftesten reizt. Nun
sind aber bei Schmetterlingen, namentlich bei Sphingiden, die
Unterflügel besonders lebhaft bemalt und mit bunten Augen ge-
giert, obgleich das Thier im Sitzen den eignen Schmuck bedeckt,
beim Fluge aber durch seine raschen Bewegungen jede Wahr-
nehmung von Zeichnung und Farbe verhindert ^). Manche schön-
1) Es wird diess von Darwin selbst zugestanden. NAbstammung des Men-
schen II, 293.
2) Darwin, der nie etwas verschweigt, was ihn beunruhigt, theilt uns
(Abstammung des Menschen I, 354) eine Reihe von Fällen mit, wo die Unter-
Peschel, Völkerkunde. 2
l8 Arteneinheit des MenschengescWetbles.
gestaltete Menschen in Amerika und Afrika pflegen sich durch
Scheiben und Pflocke in Lippen und Wangen zu entstellen, und
beweisen uns dadurch, dass ihr Geschmack noch unausgebiidet ge-
blieben ist, so dass ihre sonstigen Körperreize gewiss nicht einer
glücklichen Wahl zu verdanken sind. Endlich finden wir Schon-
heilen auch bei Thieren, 'die sich selbst tiefruchten, und sogar im
stillen Reiclie der Gewächse. Der Anblick einer Eiche im Sturm,
der elegische Ausdruck im Bau einer Deodara-Ceder, die Farben-
muster mancher lilumenkronen, die anmuthigen Linien kletternder
Reben, der Bau eines Rosenkelches vermögen uns künstlerische
Befriedigungen zu gewähren und dennoch ist jeder Gedanke an
eine geschlechtliche Auswahl bei diesen Gegenstanden streng aus-
geschlossen.
Noch weniger iässt sich mit einer zweckmässigen Zuchtwahl
die Vererbung schädlicher Merkmale vereinigen. Zwar berufi sich
Darwin auf die Wechselbeziehungen aller Bestandtbeile eines thie-
rischen Leibes, in Folge deren Aenderungen an der einen Stelle
von Aenderungen in abgelegnen Körperräumen begleitet werden,
aber da wir die Noth wendigkeit dieses Zusammentreffens nicht
nachweisen, nfcht einmal ahnen können, so bleibt auch diese Aus-
rede unbegründet. Nach der Darwinschen Lehre dürfen wir for-
dern, dass der Vorgänger des modernen Menschen ein behaartes
Geschöpf und gegen Wärmewechsel durch einen Pelz ■ geschützt
gewesen sei. Der Verlust des letzteren konnte in dem Kampfe
um das Dasein aber nur nacbtheilig wirken '). Das Gleiche gilt
bei Vögeln von der grellen Befiederung, welche die Nachstellungen
der Feinde begünstigt, von den kahnartigen Auswüchsen ihrer
Schnäbel, sowie den schleppenden Schweifen, welche den Flug und
fläche der Flügel von Nachtschmelterlüigen glänzend gefäibt oder mit präch-
tigen Aagenflecken geziert ist. Im Sitzen bleiben diese Schönheiten stets
verborgen.
1) Übericugle Schüler Darwins erinnern daran, dass IComer fressende
Thiere , wie Pferde , wenn sie zur Fleischnahmng übergehen , die Haaie ver-
lieren. Seligmann, Fortschritte der Raceolehre. Geogr. Jahrbach. Gotha
IS7Z. Band 4. S. zSS. Die Gespenstaffen (Tarsius) sind indessen Raub-
thiere, Carl Semper war selbst Zeuge, wie ein solches Geschöpf eine Maas
durch seinen Biss lödtete und verzehrte. (Allgem. Zig. 1S73. S. 239.) Den-
noch gewahren wir nicht, dasE sie sich dorch diese Nahrungsmittel Kahlheit
zugezogen hiiltcn.
Arteneinheit des Menschengeschlechtes. ig
das Bebrüten erschweren. So steht denn gerade der neue Kern
der Darwinschen Lehre, nämlich die Zuchtwahl, noch unbeglaubigt
uns gegenüber, ja der Meister selbst hat, wahrheitliebend, wie er
sich stets zeigt, in Bezug auf die Einwürfe Nägelis und Brocas
offen gestanden, dass er in den früheren Auggaben seiner Ent-
stehung der Arten, wahrscheinlich der Wirkung der natürlichen
Zuchtwahl oder dem Überleben der Passendsten zu viel zuge-
schrieben habe ^). V«rstattet sei es uns noch hinzuzufügen, dass
die ältere Geschichte der belebten Schöpfung Pralle kennt, wo das
Aussterben von Thierfamilien durch eine tiefgreifende Änderung
ihres Baues eingeleitet wird, die, so weit überhaupt bei fossilen
Erscheinungen solche Schlüsse berechtigt sind, ihnen schädlich ge-
wesen sein muss. Die Ammoniten, die in der Kreidezeit aus-
sterben sollten, b^eginnen vorher in sogenannte Krüppelformen über-
zugehen. Ihre ursprünglich zur Spirale in einer Ebene einge-
wickelten Gehäuse winden sich später spiralig im Räume, strecken
sich gradlinig, krümmen sich bogen-, haken- oder krumstabähnlich
oder ziehen sich wenigstens so auseinander, dass ihre emzelnen
Umgänge sich nicht -mehr berühren *). Auf dieses Verlassen des
alten Typus erfolgte aber das gänzliche Aussterben dieser Familie.
Das Darwinsche Dogma gilt uns gleichwohl zwar nicht als ein
gelungner, immerhin aber als der beste Versuch, den Zusammen-
hang der älteren mit der neueren Schöpfung zu erklären und es
wird sich nur durch eine befriedigendere Lösung wieder verdrängen
lassen. Es ist nicht recht verständlich wie fromme Gemüther durch
diese Lehre beunruhigt werden konnten, denn die Schöpfung ge-
winnt an Würde und Bedeutung, wenn sie die Kraft der Erneuerung
und der Entwicklung des Vollkommeneren in sich selbst trägt.
Gläubige Christen wollen wir an die Gefahr erinnern, deren sie
sich bei Schmähung eines so hoch geachteten Forschers wie Darwin
aussetzen. Als Copernicüs mit seiner noch schwach begründeten
Lehre von der Planeteneigeftschaft der Erde auftrat, ja selbst später
als das Fernrohr in der Sichelgestalt der Venus, sowie in der Ju-
piterswelt die sinnliche Ueberzeugung, und Kepler durch seine Ge-
setze die strengen Beweise von der Wahrheit der copernicanischen
Anschauung gewährt hatten, wurde dennoch nicht blos von der
1) Abstammung des Menschen. Bd. i. S. 132.
2) Credner, Elemente der Geologie, i. Aufl. S. 435.
2»
20 Arteneinheil des Menschengeschlechtes.
römischen Curie, sondern auch von protestantischen Eiferern die
neue Wahrheit verdammt. Der wahre Schöpfer wurd^, weil er bei
seinen Werken nicht ptolemäisch, sondern copernicanisch verfahren
war, in der Persou derer, die seine Wahrheiten verkündigten, auf
den Index gesetzt, und als Ketzer diejenigen verfolgt, auf die
(jott, wie Kepler von sich selbst schreibt, sechstausend Jahre ge-
wartet hatte, damit sie seine Werke erkennen sollten '). Auch
jetzt stehen wieder zwei Schöpfer vor uns, der Schopfer, wie ihn
Cuvier sich dachte, der seine Werke vernichtet, weil er bessere
ersonnen hat, und der Schöpfer, wie ihn Darwin sich denkt, der
das lielebte verändedich geschaffen, die Richtung dieses Gestalten-
wechsels aber vorausgesehen hat, und nun die Uhr ablaufen lässt
ohne ihren Gang zu stören. Ein einziger fossiler Fund, den wir
übrigens weder herbei sehnen noch voraus ankündigen wollen,
könnte morgen schon bekräftigen, dass der wahre Schöpfer der
Darwinschen Vorstellung näher stehe als der von Cuvier, und die
unbesonnenen Eiferer würden dann wie die Verfolger Galileis sich
anzuklagen haben, dass sie den wahren Gott zu Gunsten eines
wissenschaftlichen Phantoms verfolgt hätten. Kennt doch gerade
die Geschichte der Umwandlungslehi-e bereits den Fall einer glän-
zenden Widerlegung. Cuvier brachte den Vorgänger Darwins, La-
marck, damit zum Schweigen, dass er ihm auferlegte, eine Mittel-
form zwischen dem Paläotherium und dem jetztigen Pferd aufzu-
finden, wenn eine Artenumwandelung aus jenem älteren in das neuere
Geschöpf stattgefunden haben soile, Cuvier, wenn er noch lebte,
müsste beschämt bekennen, sobald er in irgend einem unsrer Mu-
seen das zierliche Hipparion der Vorwelt mit den zwei After-
hufen erblickte, dass seine Forderung streng erfüllt worden sei').
Obgleich Darwin seine Lehre von der Arten wandelung nicht
streng begründen konnte, hat er doch die Glaubwürdigkeit des
gegen th eiligen Dogmas von der UnveränderlichKeit der Arterimerk-
male tief geschwächt und dadurch im Gebiete der Völkerkunde
die Vermuthung bekräftigt, dass alle Racen einer Urform entsprungen
und durch die Anhäufung kleiner durch ungestörte Vererbung be-
harrlich gewordner Unterschiede sich zu Spielarten ausgebildet haben.
I) C. G. Reiisclile, Kepler und die Aslronomie. Frankf. 1870. S. 127.
1} Richard Owen, Analomy of Vertcbrates. London 1868. lom. III.
p. 791-
Arteneinheit des Menschengeschlechtes. 21
Sehr günstig ist dieser Ansicht eine Reihe von Thatsachen, die
auf ein sehr hohes Alter unseres Geschlechtes schliessen lassen,
sowie die Fähigkeit des Menschen sich den grössten Witterungs-
gegensätzen' auf unsrer Erdoberfläche anzupassen.
So weit als bisher auf den Festlanden die Menschen polwärts
vorgedrungen sind, hat man Spuren von Bewohnern entdeckt, denn
kurz bevor der Matrose Morton und der Eskimo Hans am 24. Juni
1854 Cap Constitution der Westküste Grönlands unter 81 ° 22' N. B. er-
reichten, hatten sie die Trümmer eines Schlittens bemerkt'). , Er
bezeugte die frühere Anwesenheit von Eskimos, die wir, homerisch
gesprochen, als die äussersten Menschen ßa%a%oi avSqSiv)
zu preisen haben. Auch entdecken wir neben dem Menschen die
Fährte wenigstens eines Hausthieres: der Hund ist stets sein Be-
gleiter gewesen. Noch soll der Erdraum gefunden werden, der
nicht von irgend welchem Volke bewohnt oder wenigstens besucht
werden könnte. Die .Übergänge aus verschiednen Climaten dürfen
allerdings nicht plötzlich erfolgen. Selbst Isländer, die nach Kopen-
hagen übersiedeln, erliegen dort der Schwindsucht ^) , obgleich sie
doch mit den Dänen eine gemeinsame* Abkunft besitzen und vor
800 Jahren noch eine gemeinsame Sprache redeten. Während die
Spanier sich in der Neuen Welt wie auf den Philippinen dem tro-
pischen Lebensraum angepasst haben ^) , ist es weder den Briten
gelungen Vorderindien, noch den Holländern die Sundainseln mit
Abkömmlingen von Europäern zu bevölkern. Alle Kinder eng-
lischer Eltern die in Indien geboren werden, kränkeln und sterben,
wenn sie ein Alter von etwa 10 Jahren überschreiten. Daher senden
die Briten ihre Kinder beim Herannahen des gefährlichen Zeit-
punkts nach Europa, und ein gleiches geschieht von den Hollän-
dern. Eine Europäerin in Niederländisch-lndien bedenkt sich sehr
reiflich ehe sie in eine Ehe willigt, denn das erste Kindbett kostet
gewöhnlich der Mutter das Leben. Diesem Schicksale erliegen
sogar portugiesische Frauen im südafrikanischen Tete am Zambesi,
wie es kürzlich der englische Missionär Rowley bestätigt hat. Er-
folgen aber die Uebergänge zu andern Climaten stufenweise und
in grossen Zeitzwischenräumen, so herrscht allerdings kein Zweifel,
1) Kane, Arctic Exploraüons. Philadelphia 1856. I, 297.
2) Waitz, Anthropologie. Bd.'i. S. 145.
3) Ja gor, Reisen in den Philippinen. Berlin 1873. S. 29.
22 Arleneinlieit des Menschengeschlechtes.
dass derselbe Menschenschlag jede Zone der Erde bevölkern kann,
denn niemand bestreitet, dass der Hindu hoher Kaste, sei es in
Bengalen, sei es in Madras oder im Sind, oder an irgendeiner
heissen Stelle seiner Heimath, arischer Abkunft sei, wie die alt-
nordischen Bewohner Islands, und dass die unbekannten Urvor-
fahren beider eine gemeinsame Heimath bewohnt haben müssen.
Auch wird niemand Lust haben zu behaupten, dass die gothischen
Eroberer jenseits der Pyrenäen nicht lange Zeit die Reinheit ihres
„blauen Blutes" bewahrt, also Kinder ihres Stammes, Spanier in
Spanien erzeugt haben. Aus der spanischen Halbinsel stammten
wiederum die Ansiedler auf Madeira und den Canarien, die von
dort nach Ausbruch der Traubenkrankheit schaarenweise vor zwei
Jahrzehnten nach Trinidad und dem britischen Guayana aus-
gewandert sind. Alle Voikerk und igen sind einig darüber^ dass die
Eingebornen Amerikas höchstens mit Ausnahme der Eskimo eine
einzige Race bilden und dieser einzigen Race gelang es sich auf
beiden Halbkugcln vom nordiichen Polarkreis bis zum Aequalor
und wiederum bis über den 50. Breitegrad allen Witterungs Ver-
hältnissen anzupassen. Die Chinesen treffen wir in Maimatschin
(Kiachtal an der sibirischen Grenze, wo die Mitteltemperatur noch
unter dem Gefrierpunkt liegt und das Thermometer bis auf — 40° R.
im Winter sinkt, und zugleich auf der Insel Singapur, die fast vom
Aequalor berührt wird '). Türkische Völker , wie die Jakuten,
sitzen an der Lena, wo sie Kennan bei — 32° R. nur, mit einem
Hemd und I'elz bekleidet im Freien plaudernd antraf), weiden
wie die Kirgisen auf der vielleicht höchsten Steppe der Erde, auf
dem Pamir-I'lateau, und wohnen als Herrscher im heissen Süd-
ägypten ^), sowie in dem verrufenen Hassaua am rothen Meere.
Dei der Musterung der Racen merk male wird es sich am
besten zeigen, wie wenig ihre grossen Schwankungen feste Grenzen
zu ziehen erlauben, vorläufig aber sei es uns verstattet an einer
Reihe von Thatsachen zu zeigen, dass die abgelegensten Völker
und die äusserlich am wenigsten sich nahe stehenden Menschen-
racen in ihren geistigen Regungen sich auf eine so überraschende
^Veise begegnen, dass wenigstens in Bezug auf das Denkvermögen
1) Pumpclly, Across America and Asia. London 1870. p. 256.
2) Tenl.Ufe in Siberia, p. 118.
J) Laiham, Varieües of Man. p, 77,
Arteneinlieit des Menschengeschleclites. 23
die Einheit und Gleichheit der Menschenart nicht bezweifelt werden
kann. So werden wir später noch davon zu reden haben, dass
die Zeichen- und Gebärdensprache europäischer Taubstummer
zusammentrifft mit den gleichen Verständigungsmitteln der nord-
amerikanischen Rothhäute. Alle Völker mit wenigen Ausnahmen
sind zum einfachen oder doppelten Decimalsystem gelangt, weil
sie die Finger beim Zählen zu Hilfe genommen haben. Haut-
malerei und Tätowirungen kehren in allen Welttheilen wieder. Das
Ausschlagen der Vorderzähne ist nicht blos ein Negerbrauch, son-
dern kommt auch in Australien vor. Spitz gefeilt wiederum werden
sie sowohl in Brasilien *) als im westlichen Afrika von den Otando-,
Apono-, Ischogo- und Aschangostämmen *). Erwähnt schon Hippo-
krates ^) oder wer sonst der Verfasser des Buches über Luft, Wasser
und Ortsbeschaffenheit sein mag, dass unter der Steppenbevölkerung
Südrusslands die Schädel der freigebornen Kinder zwischen Bretter
geschnürt werden, um ihnen eine steilere Gestalt zu geben, so be-
gegnen wir der nämlichen Mode bei den Conivos am Ucayali in
Südamerika*), bemerkt wurde sie von Ch. Bell und Berthold
Seeman in Mosquitia bei den Smu^), eigen ist sie auf dem nörd-
lichen Festlande namentlich den Tschinuk Britisch Columbiens,
überhaupt allen sogenannten Flachköpfen, die wiederum das Pressen
des Schädels nur bei Kindern von Freigebornen verstatten ^). Ge-
sundheitsrücksichten haben viele Völker bewogen die Beschneidung
einzuführen. Herodot 7) hielt die Aegypter und Aethiopier für die
Erfinder dieses Vorbeugungsmittels, das ihnen von Phöniciern und
Syriern erst abgelauscht worden sei. Bei der Eroberung fanden
die Spanier beschnittne Völker in Mittelamerika®), am Amazonen-
strome aber huldigen die Tecuna- und Manaoshorden noch jetzt
diesem Gebrauche 9). In der Südsee ist er bei drei verschiednen
Racen angetroffen worden. Auf dem australischen Festlande näm-
i) V. Martius, Ethnographie I, 536.
2) Du Chaillu, Equatorial Africa p. 74 und Ashango-I^nd p. 431.
3) Cap. 80.
4) Grandidier, P^rou et Bolivie. p. 129.
5) Journal R. Geogr. Soc XXXII, 256 und 'Seemann, Nicaragua,
Panama and Mosquitia. London 1869. p. 308.
6) Paul Kane, Indians of North America, p. 181.
7) H, 104.
8) Herrera, Historia general. Dec. IV. Llbr. 9. Cap. 7.
9) V. Martius, Ethnographie I, 582.
24
Arteneinlieit des Mensche ngescblechl es
lieh beschneiden sich zwar nicht alle, doch eine Mehrzahl von
Stammen, Von papuanischen Völkern halten an dieser Sitte die
Neu-Caledonier und die Bewohner der Neuen Hebriden fest ').
, Cook Tand sIl' auf seiner dritten Reise bei den polynesischen Be-
wohnern der Freundschaftinseln, genauer auf Tongatabu ') und der
jüngere Pritchard bezeugt ihre Ausübung auf der Samoa- und
Fidschigruppe ^). Eine andre mosaische Satzung verlangte, dass
der Jude der \Vittwe seines Bruders Nachkommenschaft zu erwecken
suche *). Diese Auffassung von Geschwisterpflicht traf Plan Carpin,
der Botschafter Ludwigs des Heiligen, bei den Mongolen *), Mar-
tius '') bei den brasilianischen Tupinambastämmen und ebenso herrscht
sie bei den Koluschen im Nordwesten Amerikas'), sowie bei den
Osljaken im nordlichen Russland*). Ja es fehlt sogar nicht an
einem Falle, dass wir auf zwei mosaische Satzungen, nämlich die
Beschneidung und die eben erwähnte Schwagerpflicht bei einer Be-
völkerung stosscn, die ganz sicherlich keiner Beziehungen zum Juden-
thum verdächtig werden kann, nämlich bei den Papuanen Neu-
Caledoniens Die seltsame Gewohnheit sich durch Reiben der
Nasen zu begrussen, ist nicht blos sämmtlichen Eskimo bis nach
Grönland eigen '"), sondern wird auch den Australiern zuge-
schneben ' ' Darwin beobachtete sie bei den Maori Neu-See-
lands"j, Lamont gedenkt ihrer bei den Polynesiern der Penrhyn
und Marqnesas Inseln'*), Wallace, dem sie unter seiner Schiffs-
mannschaft beim Abschied von Mangkassar auffiel, nennt sie den Ma-
layenknss '*), und Linn^ begegnete ihr wieder in Lappland '^),
I) Cook, Voyage dans l'Hteiiipliire austral, tom. Ilt, 137,
1) Cook and King, tom, I, p. 384.
3) Polyncsinn Remimscences, p. 393.
4) Deuter. XXV, 5—10,
Sl Recueil de Voyages, lom, IV, 613,
6) Ethao^apliie I, 153,
7) Waiti, Anthropologie III, 328.
8) Caslrin, Ethnolog. Vorlesungen. S, 119.
91 Rach]i5, Nouv. Calidonie, p, 232.
10) Barrow, Arclic Voyages, p. 30,
n) Waitz (Gerland), Anlhmpologie. Bd, 6. S, 749.
i;l Naturw. Reisen II, 198,
13) Wild Life amoog the Pacific-lslajiders, p, 18. p, 269.
14| Malay Archipelago II, 165,
15) Tylor, Urgeschichte der Menschheit. S. 66.
Arteneinheit des Menschengeschlechtes. 25
Durch Hawkesworth und der beiden Forster Beschreibungen von
Cooks erster und zweiter Fahrt kennen wir die polynesische Sitte
einen Freundschaftsbünd durch Namensaustausch zu besiegeln. Der
gleiche Brauch herrschte bei den Mohawk in Nordamerika*) und
in Südafrika wurde in Gegenwart Livingstone's *) auf diese Art
Brüderschaft zwischen einem Makololo uud einem Zulukafirn ge-
schlossen. Jede Möglichkeit einer gegenseitigen Entlehnung fällt
hinweg, wenn ferner bei den Feuerländern in Südamerika und bei
den Bewohnern der Andamaninseln im bengalischen Golfe, die
Wittwen den Schädel ihres verstorbenen Gatten an einer Schnur
um den Hals tragen müssen ^).
Auf den Hochebenen von Peru und Bolivien gewahrt man auf
den Bergspitzen sogenannte Apachetas oder Steinhaufen, an denen
kein Maulthiertreiber vorüberzieht ohne ein neues Stück zu dem
Denkmal hinzuzufügen ^), Dieser Gebrauch geht durch die ganze
Welt. Capitän Speke beobachtete ihn in der Landschaft Usui süd-
lich von Karagwe und südwestlich vom Ukerewe See^). Der un-
genannte Verfasser eines wegen seiner ethnographischen Schilde-
rungen geschätzten Romans^) beschreibt die nämliche Sitte im
Mahrattengebiete Indiens, Adolf Bastian sah solche Steinpyramiden
auf Passhöhen in Birma und bei den Kayan in Borneo ^)y die
Brüder Schlagintweit in Tübet^), Michie auf seiner Reise von
Peking durch die mongolischen Steppen^), Ebers auf der Sinai-
Halbinsel *°). In der Schweiz werden Steine über den Gräbern
Verunglückter aufgethürmt ") und genau die nämliche Bedeutung
und Entstehung haben diese Male im heutigen Venezuela * *).
Spenser St. John erzählt, dass solche Steinhaufen von den Dayaken
i) Tylor, Urgeschichte der Menschheit. S. 161.
2) Zambesi, p. 149.
3) Frederic Mouat, Andaman Islanders. p. 327.
4) Grandidier, P6rou et Bolivie, p. 235. Genaueres bei J. J. v. Tschudi,
Reisen durch Südamerika. Leipzig 1869. £d. 5. S. 52.
5) Source of the Nile, p. 193. •
6) Tara, a Mahratta tale, I, 144.
7) Völker des östlichen Asiens. Bd. 2. S. 483. Bd. 5. S. 47.
8) Indien und Hochasien. Bd. 2. S. 330.
9) Siberian Overland-Route, p. 136.
IG) Georg Kbers, Durch Gosen zum Sinai. S. 188.
11) Carl Vogt, Vorlesungen über den Menschen II, 119.
12) Dr. Ernst, im Globus. Bd. XXI, No. 8. Febr. 1872. S. 124.
25 Arlcneinheil des Mensühenge schlechtes.
Borneo's üur ewigen Schmach eines Mannes errichtet würden, der
sich einer schamlosen Lüge oder eines Wortbruches schuldig ge-
macht habe ').
Ein scheinbar ganz sinnloser Brauch ist es endlich, daas der
Mann, wenn ihm ein Kind geboren wird, sich auf das Lager streckt
und wie eine Wiichnerin gebärdet. Diodor kennt eine solche Sitte
in Corsika . Strabo beschreibt sie unter den spanischen Basken ')
und bei ihnen hat sie sich unter der Bezeichnung couvade noch
bis auf die Gegenwart erhalten 3). Marco Polo schreibt diese Ge-
wohnheil der Bevölkerung von Zardandam oder den „Leuten mit
den goldenen Zähnen" zu, die wir nach Pauthier's Erläuterungen
westlich vom chinesischen Yünnan am obern Mekong suchen
müssen*), und nicht allzuweit entfernt davon, nämlich auf Bomeo
darf noch jetzt bei den Dayaken der Vater des Neugebornen acht
Tage lang nur Reis essen, muss sicii hüten in die Sonne zu gehen
und vier Tage lang auf jedes Bad verzichten '), In Südamerika,
östlich von den Cordilleren, ist die Sitte des väterlichen Wochen-
bettes von Martins bei den Mundrucus und Manaos am Amazonen-
atrom beobachtet worden, sie erstreckt sich auch auf die Cariben *)
und auf die Macui^chi Guayanas, bei denen sie der jüngere Schom-
burgk vorfand '), sovrie auf die Jivaro am Napö nach James Orton *).
Damit ist übrigens noch nicht die Aufzählung aller Völker erschöpft,
die sich dieser Sitte anbequemten ') , doch wollen wir nur hinzu-
fügen, dass sie am Beginn des vorigen Jahrhunderts von dem
Missionär Zucchelli auch bei Negern in Cassange angetroffen wurde "^.
Flüchtige Reisende haben nicht versäumt diesen Gebrauch als eine
1) Lire in Ihe Far Easl. London 1S62. lom. I. p. 76.
2) Gcogr. lib. III, cap. 4, Taacho. ed. I, 26$.
3) Lubbock, Prchisloric Times, p. 580.
4) Marco Polo, lib. 11, cap. 41 oder cap. CXIX.
5} Spcnser Sl. John 1. c. I, 160.
6) !?pix und Marlius, Reise in Brasilien Bd. j, S.I339 undHartius,
KÜinogrjphie S. 392, S. 588. •
7) Reisen, Bd. 2. S, 314.
5) Tbe Andes and (he Amazon. London 1870. p. 17:.
9) Seitdem d;is <lbige ßedruckt wurde (Ausland 1867. S. 1108} hat
Dr. Ploss eine Abhandlung „über das MänneckindbctI " im 10. Johresbeiichl
des Leipziger Vereins für Erdkunde. Leipzig 1871. S. 33 — 48 mit einem
noch grossem KeichthuiQ an Belegstücken drucken lassen.
10) Antonio Zucchelli, Missione di Congo. Veneziu 1712. VU, 15 p. I18.
Arteneinheit des Menschengeschlechtes. 27
Albernheit zu schmähen oder zu verspotten, gründliche Kenner
dagegen haben uns belehrt, dass nur ein ängstlicher Wahn dieser
Sitte zu Grunde liegt. DobrizhofFer , der sie bei den Abiponen
beschreibt, belehrt uns, dass die Väter nur deswegen den Luftzug ver-
meiden und streng fasten, weil sie voraussetzen, es bestehe noch
ein leibliches Band mit dem Neugebornen, so dass ihre Unmässig-
keiten oder Erkältungen auf das Kind sich übertragen möchten.
Stirbt der Sprössling in den ersten Tagen, so verfehlen die Frauen
niemajs dem Erzeuger lieblosen Leichtsinn vorzuwerfen ^). Auf den
Antillen durfte der Vater, der Nachkommen zu erwarten hatte, kein
Schildkröten- und kein Manatifleisch essen, denn im ersten. Falle
war Taubheit und Gehirnmangel, im andern eine Entstellung durch
kleine runde Augen für das Kind zu befürchten *). Ganz ähnlich legen
sich bei den Indianern des britischen Guayana nach einem Schlangen-
biss die Eltern und Geschwister des Verwundeten etliche Tage
Fasten und Entbehrungen auf^). Auf dieselben Gedanken oder
auf dieselben Wahnbilder sind also die Bewohner von vier Welt-
theilen gerathen und wir können dieses Zusammentreffen nur auf
eine doppelte Weise erklären, denn entweder entstanden jene Ver-
irrungen schon als die sämmtlichen Spielarten unsres Geschlechtes
noch eine enge Heimath bewohnten, oder sie haben sich selbst-
ständig erst entwickelt nach der Zerstreuung über den ganzen Erd-
kreis. Ist das Letztere wahrscheinlicl^ dann gleicht das Denkver-
mögen aller Menschenstämme sich bis auf seine seltsamsten Sprünge
und Irrfahrten.
i) Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 273.
2) E. B. Tylor, Urgeschichte der Menschheit. S. 372.
3) C. F. Appun im Ausland 1872. No. 31. S. 440. ^ ^ ^ j
DER SCHOPFUNGSHERD DES MENSCHENGESCHLECHTES.
Alle oceanischen Inseln, ä. b. solche die in beträchtlichem
Abstand vom nächsten Festland liegen, sind, mit wenigen Aus-
nahmen, von europäischen Seefahrern unbewohnt gefunden worden.
Dass Barcnt 1596 auf der Bäreninsel und Spitzbergen keine Be-
wohner entdeckte, wird uns wegen ihrer unwirthKchen Lage nicht be-
fremden, wohl aber, dass diess ehemals der Fall war mit Island, da doch
das gegenüberliegende Ostgronland von Eskimo bis zum 75" N. B. be-
wohnt wird. Die ersten Ansiedler Islands scheinen celtische Christen
um das Jahr 795 gewesen zu sein, denn als Normannen zuerst das
Eisland betraten, fanden sie auf einem Inselchen der Südküste,
noch jetzt die Pfaffeninsel yehei.ssen, Krümmstabe, Glocken und
irische Bücher, wie es in den Sagas heisst. Unbewohnt waren im
atlantischen Meer, die von Korallen erbaute Bermudasgruppe, die
vulcanischen Azoren, die vulcanische Madeiragruppe, die vulcanischen
Inseln des grünen Vorgebirges, die vulcanischen Insein im Meer-
busen von Guinea '), die einsamen Inselvulcane Fernando Noronha,
Trinidad mit den Martin Vaz-Klippen, St, Helena, Ascension, Tri-
stan d'Acunha, ja selbst der geräumige Falklandsarchipel , zu
schweigen von allen was in das antarktische Poiarme^ fällt. Auch
die Vulcaninseln der Marion-, Crozet- und Kerguelengruppe oder
was südlicher liegt, und die beiden Inselvulcane St. Paul und Amster-
dam, ja selbst die Mascarcnen, nämlich die beiden vulkanischen
Zuckerinseln Mauritius und Bourbon und die ihnen beigezählte
Granitinsel Rodriguez waren menschenleere Stätten. Selbst das
stattliche Neu-Seeland ist erst in neuester Zeit bevölkert worden
denn nach den freilich unzuverlässigen Angaben der Maori landeten
I) Sie wurden von den Porlugiesen in der Zeit von 1470 bis i486 ent-
deckt iGhiUany, Marlin Beh»iin S. 8(1) und waren unbewohnl.
Schöpfungsherd des Menschengeschlechtes. 20
ihre Vorväter etwa um 1300 n. Chr. auf der Nordinsel, während
die östlich liegende vulkanische Chathamgruppe wiederum von Neu-
seeländern erst seit dem vorigen Jahrhundert besiedelt worden ist,
und die südlich liegenden' vulcänischen Aucklandinseln , berühmt
durch einige moderne Robinsonaden, bis jetzt noch auf den ersten
Besitzergreifer harren.
Auf den bisher durchmusterten Meeresräumen waren nur die
canarischen Inseln bewohnt, nämlich von den ausgestorbenen Guan-
chen, die zur Zeit ihrer Entdeckung nichts mehr davon wussten,
dass in der Nähe ein Festland lag, denn auf das Befragen der
spanischen Missionäre wie sie nach ihrem Archipel gekommen seien,
gaben sie die naive Antwort: „Gott hat uns auf diese Inseln ge-
setzt, dann verlassen und vergessen." Reste ihrer Sprache haben
indessen erlaubt sie als versprengte Bruchtheile der Berberfamilie
zu erkennen. Auch wissen wir, dass sie ihre Todten in Mumien
zu verwandeln pflegten, sowie dass sie bei ihrer ersten Besiedelung
Ziegen mit nach den Inseln brachten.
Ebenso sind die Eilande im Stillen Meere westlich von Süd-
amerika unbewohnt gefunden worden, und wir nennen hier: Juan
Fernandez, den Schauplatz von Selkirks Abenteuern, mit Masafuera,
S. Feliz und Ambrosio, nicht minder Sala y Gomez, ferner die vul-
cänischen Galapagos, welche die Buccanier zu ihren Schlupfwinkeln
wählten, die Cocosinsel und die Revillagigedo-Gruppe. Ja selbst
solche Inseln sind unbewohnt geblieben, welche geräumig und dem
Festlande nahe lagen, wie die Bering-Insel , traurig berühipt durch
den Schiffbruch des Entdeckers, dessen Namen sie trägt.
Von diesen geschichtlichen Erfahrungen ermuthigt, dürfen wir
wohl aussprechen, dass die ersten Menschen Bewohner eines Fest-
landes gewesen sein müssen. Als eine einzige, aber nur scheinbare
Ausnahme könnte die Verbreitung der malayischen Völker gelten
zu denen ausser den eigentlichen Malayen Sumatra's und Malaka's,
sowie den Javanen, auch die braunen Stämme mit schlichtem Haar
gehören, die unter dem Namen Polynesier über alle tropischen oder
subtropischen Inseln der Südsee sich zerstreut haben. Seit Wilhelm
V. Humboldts Forschungen über die Kawi-Sprache wissen wir, was
vorher noch bestritten wurde, dass auch die herrschende Race
auf Madagaskar zur malayischen Familie gehöre. ^ Es hat sich
dieser Menschenschlag von den Comoren, denn auch auf ihnen ist
die Sprache malayisch, bis zur Osterinsel, vom 61. bis zum 268.
3Q Sthiipfungslierd des Menschengeschlechtes.
Längengrade, also auf */» eines Breitenkreises ausgedehnt. Trotzdem
ist es von vornherein nicht sehr glaubhaft, dass der Mutterstatnin
der malayischen Völkerfamilie zuerst auf Inseln aufgetreten sei.
Die Übereinstimmung ihrer Sprachen beweist uns, dass die weit
entfernten Glieder dieser Familie vor ihrer Ausstreuung eine ge-
meinsame Heimath bewohnt haben müssen. Diese darf aber nur
dort gesucht werden, wo die malayischen Völker jetzt noch am
dichtesten auftreten. Der Ausstrahlungspunkt jener Horden lag
daher irgendwo zwischen Sumatra, Java und der Halbinsel Malaka,
Wir dürfen sogar noch etwas weiter gehen und ihn auf dem süd-
asiatischen Festlande suchen, denn nach ihren körperlichen Merk-
malen gewürdigt zählen die Malayen zur grossen mongolischen Race.
Die Ausbreitung lies malayischen Menschenstammes über mehr
als die halbe Länge eines Erdumfanges genügt uns als Beispiel,
wie weit die Wanderungsbegierde einen Menschenstamm aus-
einander treiben kann, sobald er sich einmal Verkehrs Werkzeuge
zur Bewegung auf dem Meer geschaffen hat. Allein auch auf den
Festlanden erstreckten sich die Wanderungen der frühesten Men-
schenstämme in die grössten Fernen. Auf Australien herrschen
von Ost nach West verwandte Mundarten!^ und nur im Norden
scheint eine Mischung mit papuanischen Sprachen stattgefunden
zu haben. Ganz Südafrika bis zum Aequator erfüllt nur eine
grosse mundartlich schattirte Sprache, so dass der Suaheli der Ost-
kuste immer noch den Afrikanern im äquatorialen Westafrika am
Gabun nicht ganz unverständlich bleibt. Wir selbst gehören un-
serer Sprache nach dem grossen arischen Völkerkreise an, zu dem
die Gelten Galliens und Britanniens, alle Germanen, die Italiener,
die Griechen und Albanesen, sämmtliche Slaven, die Armenier,
die Osseten des Kaukasus, die Kurden, die Perser und die. brah-
mani sehen Hindu zählen.
Nicht das gleiche aber ein ähnliches Schauspiel gewährt uns
Amerika. Wenn wir absehen von den Eskimo und etlichen Stämmen
des weiland russischen Amerika, so gehören nach dem überein-
stimmenden Zeugniss aller Anthropologen die sämmtlichen Be-
wohner der neuen Welt einem Menschenstamm an, so dass uns
nichts hindern würde sie von einem Elternpaar entsprungen zu
denken. Ihre Sprachen freilich zeigen im Wortschatze ein kau-
kasisches Gewirr, dagegen ist der Satzbau oder vielmehr die Wort-
bildung so eigenthumlich und gleichartig, dass spanische Missionäre
Schopfungsherd des Menschengeschlechtes. 21
*
in Südamerika vorgezogen haben das Evangelium theils in der
peruanischen Quichuasprache , theils in der brasilianischen Tupi-
sprache oder dem Guarani zu verkündigen, weil die dortigen In-
dianer mit Leichtigkeit int den Geist dieser Sprachen eindringen,
während das Spanische oder Portugiesische ihrem Verständniss
widerstrebt.
Freilich ist eine Familienähnlichkeit, ja selbst eine nähere
Uebereinstimmung in der Sprache kein untrüglicher Beweis eines
gemeinsamen leiblichen Stammbaumes, denn sonst müssten die
vormals slavisch, jetzt deutsch redenden Völkerschaften östlich der
Elbe von jeher Germanen, es müssten die englisch sprechenden
Neger der Vereinigten Staaten Angelsachsen, die spanisch redenden
Indianer Mittel- und Südamerika's Blutsverwandte Calderons sein.
Die Einheit oder Familienähnlichkeit der Sprache beweist aber
streng, dass vormals alle Völkerschaften, die sie umfasst, ein ge-
sellschaftliches Band vereinigt haben musste. Wir dürfen also
schliessen, dass die sämmtlichen Australier, dass die Südafrikaner,
dass die arischen Völker, dass die Amerikaner vor der Trennung
ihrer Sprachen eine Heimath, einen Ursitz inne hatten, von dem
aus sie durch Wanderung sich verbreiteten. Konnte aber die neue
Welt von irgend einem Ausgangspunkt nach und nach bevölkert
werden, sq ist es nur eine Frage der Zeit, dass alle Festlande
ebenfalls von einem Punkte aus bevölkert wurden.
Wir haben aber bisher nur gezeigt, dass unser Geschlecht
von einem irdischen Revier ausgehend allmählich alle Festlande
durchwandert und bevölkert haben kann. Das Mögliche ist noch
nicht das Wahrscheinliche, geschweige etwas nothwendiges. Glück-
licherweise bietet uns die Geologie und die Thiergeographie die
Mittel den Raum sehr eng einzuschränken, wo allein der Ursitz des
Menschengeschlechts gesucht werden darf. Die Geologie lehrt uns,
dass die Stockwerke der Erdrinde in chronologischer Reihenfolge ge-
schichtet liegen, und zwar da, wo nicht absonderliche Störungen
eintraten, das jüngste zu öberst, das älteste zu unterst. Wenn wir
nun vom obersten Stockwerk abwärts steigen, ändern sich die
Trachten der Schöpfung, sie werden in unmerklichen Uebergängen
den jetzigen fremder und fremder. Das moderne finden wir oben,
das alterthümliche unten, denn die Geschichte der Schöpfungen
gleicht der Geschichte der Moden. Zugleich bemerken wir, dass
nicht immer aber im grossen Durchschnitte die höher gegliederten
32 Schöpfungslierd des MenscbenEss'^*''sctiles.
Geschöpfe die neueren, die unvollkommener gegliederten die älteren
sind. Aber die zoologischen Moden haben sich nicht überall mit
gleicher rieschwindigkeit geändert. Sie haben sich am hastigsten in der
alten Welt umgestaltet, minder rasch jn Nordamerika, sie sind
aiemlich weit zurückgeblieben in Südamerika, am alterthümlichsten
in Australien. Je kleiner und je abgesonderter ein Erdraum lag,
desto langsamer legte er seine Trachten ab oder behielt sie wohl
gänalich bei,
Australiens Thierwelt bewahrt die Trachten jener Zeit als noch
die Känguruh Mode waren, denn tjei uns finden wir Beutelthiere
nur noch als Versteinerungen der tertiären Zeit, auch in der neuen
Welt sind sie bis auf wenige kleinere Arten über dem Erdboden
\'611ig verschwunden. Australien fehlen alle Affen, alle Raubthiere,
alle Hufthierc, alle Zahnlücker. Von seinen 132 Säugethierarten
sind I02 Beutelthiere und der Rest besteht aus Nagern, Fleder-
mäusen und seltsamen Monotrematen oder Cloakenthieren. Allerdings
ist in diese Schiipfung auch der Mensch hineingeratben und in
seiner Begleitung — denn gleich und gleich gesellt sich gern —
ein reissendes Thier, der Dingo oder neu holländische Hund, Allein,
dass sie als Fremdlinge diese zoologische Provinj betraten '), fühlt
ein jeder der den Thatsachen der Thiergeographie ihre geschicht-
lichen Lehren abgewonnen hat.
Das gleiche gilt von Südamerika, welches ein eigenes streng
gesondertes Säugethierreich beherbergt, als dessen Charaktergestalten
die Zabnlücker gelten. Alle seine Arten, die Mehrzahl der Gat-
tungen, ja selbst der Familien sind verschieden von denen der
alten Welt. \Vichtig für unsere Beweisführung ist noch die Be-
merkung Andreas Wagners, dass die heutigen Säugethiere Austra-
liens und Südamcrika's viel näher den fossilen Trachten der ter-
tiären Zeit stehen als die unsrigen '), dass also auf beiden Gebieten
die Moden viel langsamer gewechselt haben. War doch Süd-
amerika eine Insel noch in einer kurzen geologischen Vergangen-
heit, bevor die Landenge von Panama die beiden Festlande zu-
sammenschloss. Südamerika also, das aiterthümliclf gebliebene, ist
l) Dieüs gesteht Mlbst Agassiz im Essay on Classification. London l349. p. 60,
2] Abhandlun(!en der mathem. physik. Glosse der k. bayr, Akademie der
iKsenschaßen. München 1846. IV. Bd, 1, Ablh. S. iS.
Schöpfungsherd des Menschenge schlechtes. 31
nicht die schickliche Säuge thier-Provinz wo das modernste aller
Geschöpfe ursprüogiich aufgetreten sein sollte.
Eher Hesse sich vermuthen, dass in Nordamerika die Wiege
der Menschheit gestanden haben könnte. Nordamerika hat in
seiner Thier- und Pflanzenwelt manches U eberein stimmen de und
viel Aehnliches mit Asien und Europa. Die Physiognomie setner
Schöpfung ändert sich erst in Mittelamerika völlig, etwa, wenn auch
nicht ganz genau, an der Aequatorialgrcnze der Nadelhölzer, die
bekanntlich Südamerika fehlen.
Dennoch ist Amerika alterthümlicher geblieben gerade in der
" zweit höchsten Ordnung der Säugethiere. Die fälschlich sogenannten
Vierhänder Amerika's sind so verschieden von den unsrigen, dass
sie eine Familie für sich bilden, die im System „Affen der neuen
Welt", also geographisch benannt werden konnten. Die amerika-
nische Familie unterscheidet sich durch den Zahnbau, durch seit-
liche Stellung der Nasenlöcher, durch Mangel von Gesässschwielen
und Backentaschen, auch findet sich in ganz Amerika k«n unge-
schwänzter Atfe. Da aber, wo die höchsten Thiere, wo der
Tschimpanse, Gorilla und Orang auftreten, werden wir auch die
Menschen suchen müssen.
Alle diese Schlüsse sind unabhängig von dem Schicksal des
Darwinschen Dogmas, sie stehen oder fallen dagegen mit der Lehre
von der Einheit des Schöpfungsherdes für die Arten des Thier- und
Pflanzenreiches. Auch diese Lehre stösst noch vereinzelt auf hart-
näckigen Widerspruch, weil sie noch nicht alle Thatsacben zu er-
klären vermag. Die grösste Schwierigkeit jedoch, nämüch das \'or-
kommen von fünfzig nordischen Gewächsarten im Feuerlande ist
durch den Scharfsinn .und die Gelehrsamkeit eines deutschen Bo-
tanikers besiegt worden '), Die Abstammung der Urbewohner Ame-
rikas aus Nordasien wird der Abschnitt zu beweisen suchen, der
ihnen gewidmet ist. Im Voraus wollen wir nur bemerken, dass je
roher also auch je genügsamer und abgehärteter ein Volk sei, desto
leichter es seine Wohnsitze ändere, so dass alle Völkerstämme auf
ihren niedrigsten Entwicklungsstufen völlig befähigt waren die Wan-
derungen auszuführen, die wir ihnen zugemuthet haben. Die Schwie-
rigkeiten sind überhaupt nur in der Einbildungskraft des verwöhnten
Culturmenschen vorhanden. Im Innern Australiens, wo europäische
I) Giisebach, Vegetation der Erde. Bd. II, S. 496-
Piickil. Välketkunde. 3
I* Schöpfung shetd des Menschengeschlechtes.
Entdecker , vor Hunger ermatteten, ziehen Horden sorgenfreier
Schwarzer umher, und wenn uns bei dem Gedanken schaudert,,
dass vor JahttausenLlen ?chon asiatische Stämme zur Bevölkerung
Amerika's über das Beringsmeer gezogen sein sollen, so vergessen
wir vollständig, dass noch heutigen Tags im Feuerland," wo doch
die Gletscher bis zum und bis ins Meer herabreichen, ein nacktes
l^ischervolk haust.
Wir zeigten also, dass das erste Auftreten des Menschen ein
continentales gewesen sein müsse, wir bewiesen aus wirklich statt-
gefundenen Wanderungen, dass die Ausbreitung unseres Geschlechtes
von einem Ausgangspunkt über die ganze Erde nur eine Frage der
Zeit sein könne, wir haben nach den Lehren der Thiergeographie
uns überzeugt, dass weder Australien noch Südamerika, ja selbst
Nordamerika nicht ein schicklicher Platz für die Wiege der Mensch-
heit gewesen sei, folglich müssen wir sie in der alten Welt suchen.
Dort wiederum dürfen wir das sibirische Tiefland getrost beseitigen,
weit es noch in einer geologisch ziemlich nahen Vergangenheit vom
Meer bedeckt gewesen ist. Dieses Hinderniss wäre für Europa nicht
vorhanden, allein wenn Europa der Ausgangspunkt gewesen sein
sollte, so hätten wir sicher schon den sogenannten - fossilen Men-
schen bei uns gefunden, so gut wie man zwei tertiäre, sehr hoch
organisirte Affen, einen in Griechenland, einen in der Schweiz,
entdeckt hat.
Lassen wir auch Europa fallen, so bleibt uns nur Südasien
oder Afrika übrig, wo «ir die ältesten Spuren unseres Geschlechtes
noch mit Aussicht auf Krfolg zu finden hoffen dürfen. Das bri-
tische Indien ist von diesen -Räumen geologisch noch am besten
durchforscht, und da man dort schon viele vorausgehende Typen
iler heutigen Säugetliiere angetroffen hat, noch nicht aber den ter-
tiären Mensulien, so sind die Aussichten für die dortige Orts-
befestigung des ältesten Menschen immerhin schon geschmälert.
Es ist jedoch denkbar, dass weder in Südasien noch in Afrika
das erste Auftreten staltfand, sondern im indischen Ocean selbst.
Dort lag vor Zeiten ein grosses Festland, dem Madagaskar und
vielleicht Stücke von t'stafrika, dem die Malediven und Lakadiven,
ferner die Insel Ceylon, die nie mit Indien zusammenhing, vielleicht
sogar im fernen Osten die Insel Celebes, die eine befremdende
Thierwelt mit halbalrikanischen Gesichtszügen besitzt, angehört
haben. Dieses Festland, welches dem indischen Aethiopien des
Schöpfuiigsherd des Jlenschengeschlethtes. ;-
Claudius Ptolemäus entsprechen würde, hat der britische '/.no\nt;
Sclater Lemuria genannt, weil es den Verbreitungs bezirk der Jlalb-
affen unischliessen würde. Ein solches Festland aber ist deswi^jt-n
ein anthropologisches Bedürfniss, weil wir dann die niedrig stelu'iuli ii
Bevölkerungen Australiens, Indiens, sowie die Papuanen der l:iini r-
indifchen Inseln, endlich auch die Neger fast trockenen Fu^ms in
ihre heutigen Wohnstätten einziehen lassen könnten. Klim.niviJi
würde sich ein solcher Welltheil geeignet haben, weil er \» ilii?
Zone fallt wo wir jetzt die menschenähnlichen Affen antreffen '\.
Auch ist die Wahl jenes Schauplatzes weit orthodoxer :ih is
auf den ersten ßlick erscheinen könnte, denn wir befinden un^ .lort
in der Nähe der vier räthselhaften Flüsse des biblischen iJuii
in der Nähe des Nil, des Euphrat, Tigris und des Indus. Auch
wäre durch das allmähliche Untertauchen Lemuriens die Austreiluni^'
aus dem Paradies unerbittlich vollzogen worden. Dazu käme- iiipuli,
dass ahe Schriftsteller der Kirche, wie Lactantius =), Beda der l.lir-
würdige ^), Hrabanus Maurus'), Kosmas Indicopleustes ^), fennT drr
ungenannte Geograph von Ravenna*) das biblische Paradies in iIils
südöstliche Asien, zum Theil ausdrücklich auf einen abgetri ntUfri
Continent verlegt haben, und uns die naiven Weltkarten des JMiiirl-
alters das ertte Elternpaar in einem vor Indien gelegenen uu-or-
umflossenen Land zeigen. Daher erklärt sich auch, dass Chri^tuv.J
Colon nach Entdeckung Südamerika's, weil er es für einen in^il-
c-ontinent südöstlich von der Gangesmündung gelegen hielt, ii.llIi
Spanien schreiben konnte: „Grosse Anzeichen deuten hier am dk-
Nähe des irdischen Paradieses, denn es entspricht nicht nur dit;
mathematische Lage den Ansichten der heiligen und gelrlirion
Theologen, sondern es treffen auch alle sonstige« Merkmal' zu-
sammen ')".
t) Das Obige wurde geschrieben und abgedruckt im Jahre 18Ö7.
land 1867. No. 47 vom 19. Nvbr. S. 1113. und in veiänderter Form,
land 1869- S. 1105.
2) Div, Instit. II, 13.
3( De mundi conslil. p. 326.
4) De Universo XJI, 3.
5) cd. Montfaucon, lom. II. p. 188.
6) Geogr. lib. I, cap. 6,
7) Navarrete, Coleccion de los viages y descubrimicntos. -M
1815, lom. I, p. 259.
-lg üchöprungsherd des Mensche ngeschlecbles.
Uebrigcns ist das Vorgetragene nur eine Hypothese, die nie-
manden beunruhigen darf, der sich lieber das Paradies dort denkt,
wo tue Lotosblumen blühen, oder der sich vielleicht nach den mit
Papyrus Stauden umsäumten Ufern der frischentdeckten Nilseen sehnt,
oder der es noch näher dem biblischen Morgenlande rücken möchte.
Der VVcrth der Hypothese liegt darin, dass sie eine Herausforderug
enthält, eine Herausforderung zu geologischen Untersuchungen Ma-
dagaskar^! Ctylons, der Insel Rodriguez, sowie zu Seetiefeomessungen
im mdischen Oceanf ob noch Hühenüberreste des verschwundenen
Lemuricn \orhandcn sein möchten. Unerlässlich bleibt nur die
Ethduptung eines einzigen Ausgangsortes sämmtlicher Mensch en-
r-iien m Gegensatz zur Anthropologenschule unter den Ameri-
kanern, dit m neuester Zeit über hundert Menschenarten, nicht
Menschenracen, überhaupt so viele geschaffen hat, als V'ölker-
typcn sich aufstellen lassen, und die sie durch einen grossen Saat-
wutf des Schöpfers sogleich in Mehrzahl wie Bienenschwärme dort
ausgestreut sich denkt, wo sie noch jetzt sitzen.
Eine solche Hypothese beantwortet uns nicht, warum die In-
seln bei jenem Snatwurf leer ausgingen, warum die einzelnen Welt-
t heile durch ihre Thier- und Pflanzenwelten als Provinzen sich
Charakter) siren lassen. Sie verzichtet überhaupt auf jede Erklä-
rung der Gegenwart aus der Vergangenheit, während es doch tief
begründet Hegt in der menschlichen Natur, nicht eher sich mit den
beobachteten Thatsachen auszusöhnen als bis wir sie irgend einer
Causalilät untergeordnet haben. . . _ j t a t/
IV.
UEBER DAS ALTER DES MENSCHENGESCHLECHTES.
Wer sich für die Entwicklung der verschicdncn Racen aus
einer einzigen Menschenart erklärt, die zuerst innerhalb eines be-
schränkten Gebietes aufgetreten, allmählich sich über die ganze
Erde verbreitet habe, der muss sich eingestehen, dass solche Vor-
gänge ungemein lange Zeiträume erforderten und es fällt ihm die
Last des Beweises zu, dass auch wirklich bis In grosse vorhistori-
sche Fernen sich die Spuren unsres Geschlechtes verfolgen lassen.
Diese Bedenken würde die Entdeckung des Abb6 Bourgeois er-
ledigen, der in der Nähe von Tenay (Loir et Cher) aus Schichten
von unzweifelhaftem miocänen Alter, Messer und Aexte aus Stein
sammelte, welche uns bezeugen würden, dass Frankreich bereits in
der Mitte der Tertiärzeit bewohnt gewesen wäre. Allein auf dem
Brüsseler Congress der Alterthumser forscher im Jahre 1872, ent-
schieden sich die besten Kenner solcher Fundstücke gegen den
künstlichen Ursprung der vorgelegten angeblich menschlichen Hinter-
lassenschaften aus miocäner Zeit. Die .höchste Wahrscheinlichkeit
menschlichen Ursprungs muss dagegen den Kieselgeräthen beigemessen
werden, die zuerst von Boucher de Perthes 1847 im Thale der
Somme zwischen Abbeville und Amiens, namentlich bei Menche-
court in kalkhaltigem Lehm untermischt mit Resten des Mammuth,
des wollhaarigen Nashorn , einer ausgestorbnen Art des Pferdes,
des europäischen Hippopotamus und andrer Geschöpfe der Dilu-
viatzeit entdeckt wurden und deren Fundstätten von den besten
Geologen der Gegenwart besucht worden sind. Menschliche Ueber-
reste selbst sind bis jetzt vergeblich gesucht worden, denn der
Fund eines Unterkiefers unweit Moulin-Quignon hat den Verdacht
einer betrügerischen Einschaltung auf sich gezogen. Die Abwesen-
heit von Knochenresten des Menschen darf unsern Argwohn jedoch
nicht allzusehr erregen, denn auch nach Austrocknung des Har-
■^8 Dos AliHi- des Menschengeschi et Lies.
Jemer Meeres wurden nur spärliche SchifFslrümmer aber keine
inenschlidien Gebeine gefimcien, obgleicli doch auf diesem ehe-
maligen Cülfe Fahrzeuge verunglückten und Seeschlachten ge-
schlagen wurden. Nach der scharfsinnigen Vermuthung von Prest-
wich können wir uns vorstellen, dass in der Gletscherzeit am Schluss
des Tertiüt alters die Bewohner der I'icardie wie die heutigen Es-
kimo das Eis der Somme aufgehauen und an den frelgehaltnen
Oeffnungen Fische mit ihren Geschossen harpunirt haben. Die
Steinklingen, die bei einem misglückten Wurfe auf das Bett des
Flusses fielen, wurden dann von Diluvialschutt eingehüllt und sie
Buid es, die jetzt die Museen schmücken und das üerz der Alter-
thumskenner erfreuen. Wirklich gibt es unter diesen Kostbar-
keiten einige von so regelmässigen Umrissen und solcher genauer
Zuschärfung, dass an ihrem künstlichen Ursprung nicht gezweifelt
werden darf. Wiclitig wäre es nur zu erfahren, ob sie aus Hun-
derten oder 'J'ausenden ähnlicher, aber roher Geschiebe in ihrer
Nachbarschaft herausgesucht worden wären. In Ländern, wo Feuer-
steinknollen an der Oberfläche gefunden werden und wo sie unter
starker Besoniiung leicht bersten, zerspringen sie gern zu Spänen
und Klingen, ans denen sich um die Mühe des Aufliebens eine
artige Sammlung von Steingeräthen zusammenstellen Hesse. Unter
den Stein werkzeugeil, die üoucher de Perthes dem Museum von
St. Germain einverleibt hatte, bemerkte Virchow sehr viele Dinge,
die ihm aus seiner pommerächen Heimath als Naturspiele ganz
geläufig waren ').
Glücklicherweise gibt es eine Fülle unverdächtiger Zeugnisse,
die genau das nämliche bestätigen, wie jene Kieselgeräthe
des Somme thales. Schon in den Jahren 1833 — 40 wurden
von ■ Dr. Schmerling Funde menschhcher Ueberreste vereinigt
mit den Knochen diluvialer Säugethiere in belgischen Hohlen
entdeckt, blieben aber lange Zeit misachtet aus Scheu vor dem
Ansehen Cuviers, der den Menschen nicht vor den Thieren der
heutigen Stlii'iifung hatte auftreten lassen. Jene Funde wurden
gewaltsam misdiutet, indem man annahm, die menschlichen Gebeine
1) Vgl, Virchuw in der Zeilschr. für Ethnologie 1871, S. 51 in Bezug 1
Pommern, dessen Angaben Wetislein für das südhche Syrien ergänzen koaa
«1^ auf der dici Tagereise langen Strecke 'Ardh e'- Samln der Boden 1
JfWwrsicmspliUera bedeckt isi.
Das Alter des Menschengeschleclites. jg
seien von Raubthieren verschleppt oder von Bachen in dit H ililen
hinabgefülirt und unter die Diluvialrcste gespult worden, ^iiidmi
aber dio Alterthumserforscher die neuen |\Valirheitcn willij, aiitr-
kannt liatlen, folgten sich ausserhalb Belgiens rasch du hnt-
deckungen solcher Knochen höhlen. Bisweilen wurden dit. Lcbir-
reste der diluvialen Erdbewohner erst unter einem Estrich von Kalk-
sinter und unzweifelhafte Kunstgeräthe aus Feuerstein tintiT der
Schicht mit Knochen vorweltlicber Thiere hervorgezogen. Dit- l."ntcr-
suchung einer solchen Hijhle bei Brixham durch einen so vertr;uiens-
würdigen Geologen wie Dr. Fal coner erweckte schon 1858 in (irüis-
britannien bei allen Sachverständigen die Ueberzeugung, da>s der
Mensch ein Zeilgenosse des Mammufh, des wollhaarigcn Nu^liorn,
des Holilenbären, der Höhlenhyäne, des HÖhtenlowen, alMi von
* Säugethieren der nächsten geologischen Vorzeit gewesen sei.
Zu diesen ebengenannlcn Geschöpfen gesellte sich auLli das
Renthier, welches, wie ja bekannt, nicht zu den ausgeslorbnen,
sondern nur zu den verdrängten Arten gehört. Es streifte vuniials
im westlichen Frankreich, wo seine Spuren im Thalc der Vczijic
bedeutsam geworden sind. Dort nämlich, wo die Esenbalin /.ti-
schen Orleans und Agen die Landschaft P^rigord im Depaii' mcnt
Dordogne durchzieht, sind nach und nach sechs Hohlen aulfi I iiulrn
worden. Sie enthalten in ihrem Schutt Reste künstlich bearlti iii'ter
Rengeweihe, aber auch Steingoräthe, In einem dieser eheni.iligen
Schlupfwinkel bei Cro-Magnon wurden auch die Schädel unl Ske-
lette von zwei Männern und zwei Frauen nel)en Resten des 1 1. hl.-n-
tigers (Felis spelaea), eines riesenhaften Bären, des AurochscL. >kinn
hoch nordischer Thiere wie des Ziesel (Spermophilus erytlir-Li-iuis^
und des Steinbocks gefunden. Diese Höhlenfranzosen ernlilirten
sich vom Jagdbetriebe und vorzüglich wurde dem Rosse als \\ ild-
pret nachgestellt. Da die Knochen der Thiere keine Brandjpurcn
zeigen, so wurde das Fleisch entweder roh genossen, oder viel-
leicht in wasserdicht geflochtnen Korben gesotten, wie es noch
jetzt von Stämmen in Nordamerika geschieht, welche keim' inine
Geschirre kennen und in hölzernen Gefässen das Wasser durch
Einschütten glühender Steine erhitzen. In der That nämlicli fniJet
man bei den Aschenresten der Cro-Magnon-Höhle Geschieb' , die
einen derartigen Gebrauch errathen lassen.
Die alten Bewohner der Dordogne versuchten bereits durch
Schnitzereien in Hörn und auf dem Elfenbein von Mammuth-
^O ^3s Alter des MenscbengescMechtes.
zahnen Gegenstände der Aussenwelt Fische, Rene, Menschen ab-
zubilden mit einer Deutlichkeit und Lebensbewegung, die uns An-
erkennung abnothigt '). Unter den Geräthen aus Hörn , meist
Ahlen und Pfeilspitzen ' mit oder ohne Widerhaken , erregt unsre
Aufmerksamkeit auch das Vorkommen von Nadeln, mit denen jene
Höhlenbewohner ohne Zweifel Thierfelle zusammennähten. Ein
weicher rother Otker, der sich unter den Resten befand, lässt uns
schliessen, dass sie ihre Haut bemalten. Ihre Putzsucht verräth
uns ferner der Fund von Malsbündem aus durchbohrten Thier-
zähnen und Muscheln. Lelztre stammen obendrein von dem weit
entfernten adantischen Strande, können also nur durch Tausch in
ihren Besitz gelangt sein, ebenso wie vorgefundene Bergkrystalle,
die in grossem Unikreise um die Fundstätten nicht vorkommen.
Selbst Hörner der Saigaantilope, deren nächstes Verbreitungsgebiet
erst in Polen erreicht wird, gehörten zu der Habe jener alten
Jäger und dienen als Urkunde, dass durch den Handel schon
damals geschätzte Waaren in grosse Fernen verbreitet wurden.
Nach den Knochenresten zu schliessen, waren die Jäger der Dor-
dogne nicht wie die belgischen Höhlenbewohner ein kleiner Men-
schenschlag, sondern von stattlicher Grösse und gewaltigem Körper-
bau. Die Schädel gehörten der längeren Form (Dolichocephalen)
an, und ihr knöchernes Antlitz, abgesehen von einer massigen
Neigung zum Prognathismus, überrasclit durch die Schönheit seiner
eUiptischen Umrisse. Auch würde die Geräumigkeit einer männ-
lichen (isgo Kubikcentimeter) und einer weiblichen Gehirnkapsel
(1450 Kubikcentimeter}') auf hohe geistige Begabung hindeuten,
wenn überhaupt ein solcher Sehluss zuverlässig wäre. Hier, als an
einem schicklichen Ort. wollen wir sogleich des Schädelbruch Stückes
i) Sir John Lubback hat in seinen Prehisloric Times 2. ed. London
1869 das Bild eines Mammulli anf Knochen gerilzl aus der Höhle la Made-
lainc im Pärigotd vc raffen tlichl. Kjilischc Bettachter haben aber wahrnehmen
wollen, dass arcbäologische Phantasie an der Ausführung der Umrisse jenes
ThicrEemildes das Beste beigetragen habe. Wir folgen im Teile selbst dem,
soviel wir wissen, nocli immer unvolleudcicn Werke von Eduard Lartel und
Henry Christy, Heliquiae Aquitanicae. London 1865 — 69. Einen Auszug
aus diesem Werk mit einem Theil der OriginalhoUscbtiilte hat Alei. Etker
im Archiv für Anthropologie, Braunschw. 1347, Bd. 4, S, 109 flg. veröffendichl.
2| A, Ecket im Archiv für Anthropologie Bd. 4, S. 116. Der männ-
liche Schädel liess sich wirklicli messen, die Geräumigkeil des weiblichen da-
gegen wegeu Beschädigungen nur abschätzen.
Das Alter des Menschengeschlechtes. 41
gedenken, welches in einer Höhle des Neanderthales im August
1856 unweit Düsseldorf gefunden und anfangs wegen seiner ge-
waltigen Augenbrauenbogen und flachen Schädeldecke als eine Ur-
kunde zur Beglaubigung für das Aufsteigen unsres Geschlechtes aus
dem Thierreich gepriesen wurde. Bald ergab sich jedoch, dass
seine Maassverhältnisse den heutigen Mitteln der Europäer ziem-
lich nahe stehen. Im gegenwärtigen Zustande umfasst nämlich jene
Hirnschale einen Raum von 63 KubikzoUen, der nach einer Schätzung
Schaaffhausens auf 75 Cubikzolle steigen würde, wenn sie uns un-
versehrt erhalten geblieben wäre '). Europäische Schädel schwanken
aber zwischen 55 und 114 C. Z. Deswegen durfte auch Charles
Darwin den Neanderthalschädel „sehr gut entwickelt und geräumig
nennen" *), Endlich hat Virchovv vor der Berliner anthropologischen
Gesellschaft am 27. April 1872 geäussert, dass jener Schädel von
einem alten, mit Rhachitis behafteten Manne herrühre, als Racen-
schädel zu verwerfen sei, auch seiner Grösse nach „innerhalb ganz
erträglicher Grenzen sich bewege" und •in Bezug auf die Kau-
muskeln nicht die Zeichen von thierischer Rohheit, wie bei Eskimo
und Australiern zur Schau traget). Damit ist der Werth dieses
Fundstückes auf ein sehr alltägliches Mass herabgesetzt worden.
Auch in unserm Vaterlande fehlt es nicht an Resten von
Höhlenbewohnern, wie die seit 1871 untersuchten im Hohlefels bei
Schelklingen unweit Blaubeuren. Zu der Thierwelt im damaligen
Thaie der Blau gehörten nicht blos Mammuthe und Elephanten,
sondern ein stattlicher Löwe (Felis spelaea), drei ausgestorbne Bären-
arten (Ursus spelaeus, U. priscus und U. tarandi Fraas) und das
Renthier, dessen Geweihe zu Geräthen verarbeitet wurden. Unter
die dortigen Culturreste mischen sich auch Scherben von Thon-
geschirren, die ihrer flachen Form wegen zum Rösten und Braten
gedient haben müssen'*).
Alle bisherigen Funde verstatten uns nur das Alter unsres
Geschlechtes in die Zeit der ausgestorbnen Höhlenfauna hinauf-
zurücken. Dagegen berechtigt uns nicht die Verbreitung des Ren
1) Fuhlrott, der fossile Mensch aus dem Neanderthale. Duisburg
1865. S. 69.
2) Abstammung des Menschen I, 126.
3) Verhandlungen der Gesellschaft für Anthropologie. 1872. S. 157 — 161.
4) S. Oscar Fraas, Über die Ausgrabungen im Hohlefels in den
Würtemberg. naturw. Jahresheften. 1872. i. Heft. S. 25.
A-p Das Aller ües McnEchenge schlechtes.
Über das mittltro Frankreich ausehnliche Veränderangen des Klimas
vorauszusetzen, denn selbst wer Sich sträuben wollte in Cäsars Be-
schrL-ibung ') des Rhcuo den Cervus tarandus wieder zu erkennen '),
der wird doch eingestehen müssea, dass das Ren nicht streng unter die
PoJarthiere gehöre, da das Caribu, sein \'ertreter in Amerika zur
Zeit der ersten Besiedclung an den Ostküsten der Vereinigten
Staaten noch unter dem 4,;, Breitegrade, also unter dem Parallel
von Toulon angctroflen, bei dem Begegnen mit den Europäern aber
rasch nach dem hohen Norden verscheucht wurde. Obendrein
sind in einer belgischen Höhle (Frontal) neben dem Ren auch
Knochen des Schafes und der Ziege gefunden worden, so dass die
dortigen^ Höhlen menschen friedliche Hirten gewesen sein müssen 3).
Das Verschwinden der Höhlenfauna in Europa, die theils aus schäd-
lichen Raubthieren, theiis aus grossen Dickhäutern bestand, welche
letztere örtlich immer nur durch eine spärliche Zahl von Einzel-
wesen vertreten sind, könnte sich in vergleichsweise rascher Zeit
vollzogen haben, sobald nur unser Welttheü dichter besiedelt wurde
und die Bewohner wirksamere Waffen mit grösserem Jagdgeschick
vereinigten. Das jähe Verschwinden vieler Thierarten innerhalb der
letzten Jahrhunderte, wie des flügellösen Alk aus Nordeuropa, der
Stcller'schen Seekuh im Beringsmeer, der Dronte auf Mauritius, der
Moaarten auf Neu-Seeland entmuthigt uns für das Verschwinden
der Diluvialartcn hohe Zeiträume zu begehren.
Glücklicherweise besitzen wir aber Wahrzeichen, dass das
schwäbische Land bereits bewohnt wurde zur Zeit, wo mächtige
Gletscher das Reinthal und dea Bodensee ausfüllten. Unweit der
alten Abtei Schussenried wurde im__Sommer 1866 bei Erdarbeiten
an der Quelle der Schüssen, eines bescheidnen Gewässers, das un-
weit Langenargen in den Bodensee fallt, eine ungestörte Boden-
schicht aufgedeckt, in welcher sich bearbeitete Rengeweihe, Pfriemen
mit aus geschlitztem Oehr, eine hölzerne glattgeschabte Nadel, Haken
Eum Angeln, Janzett- und sägeb!attförmige Feuersteine, rothe
Farbenknollen zur Ilautmalerci , Asche und Kohlenreste vereinigt
I) De Bello GalJ. VI, 21 u. 26,
1) Herr Charlc!< Gard sprich) in seinen „Skizzen aus dem Kisass"
(Ausland 1871 S, i2lä) sehr zuverstcbllich aus, dass das Ren auf den Inseln
im Rheiu noch bis zur Regietuag des Augustus sein Dasein gefristet habe.
3) O. Fraas im Archiv Tiir Anthropologie. Braunschweig 1872, Bd. 5.
ä. 480,
Das Alter des Menschengeschlechtes. az
fanden '). Wollte man auch weniger Gewicht darauf legen , dass
die Culturreste zwischen Schichten von Gletscherlehm eingeschlossen
sind, so genügt es doch für die Altersbestimmung, dass sich den
menschlichen Geräthen auch die Knochen des Eisfuchbcs und zwar
im Bau übereinstimmend mit einer Art, die jetzt bei Nain in Labrador
haust, sowie des Fiolfrasses (Gulo .borealis), endlich die Reste
zweier Moose beigesellen, wovon das eine (Hypnum sarmentosum)
sonst nur in Lappland, in Norwegen an der Grenze des aus-
dauernden Schnees, sowie auf den höchsten Bergen der Sudeten
und TyrolSj.das andere (Hypnum fluitans var. tenuissima) gegen-
wärtig auf sumpfigen Wiesen der Alpen und im arctischen Amerika
vorkommt *). Hier liegen also Thatsachen vor uns, die jeden geo-
logisch Gebildeten fest davon überzeugen, dass der Mensch bereits
zur Eiszeit Schwaben bewohnt habe. Die frühere Vergletscherung
jener Landstriche darf aber weder dadurch erklärt werden, dass
das Sonnensystem kältere, vom Sternenlicht minder durchwärmte
Himmelsräume durchzogen habe, noch etwa durch Verlängerung
der Winterzeit in Folge des Vorrückens der Nachtgleichen während
eines Zeitraumes gesteigerter Excentricität der Erdbahn, denn in
beiden Fällen müsste sich die Eiszeit glelchmässig über alle Theile
der nördlichen Halbkugel erstreckt haben, während ihre Spuren
im Kaukasus sehr schwach sind, im Altai gänzlich fehlen ^). Wohl
aber vermögen wir die ehemalige Eisbedeckung der Schweiz und
der angrenzenden Gebiete sehr leicht durch eine andre Vertheilung
von Land und Wasser in Europa zu erklären. Da aber die Aen-
derung der Umrisse von Festlanden Zeiträume von äusserst langer
Dauer erfordert, so genügt die Gegenwart des Menschen zur Eis-
zeit in Schwaben vollständig, um ein sehr hohes Alter für das erste
Auftreten unseres Geschlechtes zu beanspruchen.
Viel jünger sind die Urkunden, welche vormalige baltische Küsten-
bevölkerungen aus den Schalen essbarer Muscheln am Strande
Jütlands und der dänischen Inseln wallartig angehäuft und die
vo^ den Alterthumskundigen die angemessne Bezeichnung von
i) Oscar Fraas im Archiv für Anthropologie. Bd. 2. S. 38, 39, 42, 44.
2) O. Fraas, Die neuesten Erfunde an der Schussenquelle. Würtemb.
naturwissensch. Jahreshefte. 1867. Heft 1. S. 7 — 24. Im Archiv für An-
thropologie Bd. II, S. 33 führt Fraas unter den Funden noch ein drittes jetzt
boreales Moos Hypnum aduncum var. groenlandica Hedw. auf.
3) B. V. Cotta, Der Altai. Leipzig 1871. S. 65.
11 Das Aller des Mensch enge schlechtes.
Kuchenabfallen {KjÖkkenmöddingern) erhalten haben. Unter diesen
Nahrungsreslen wurden Steingeräthe mit rohen Bruchflächen, sel-
tener geschliffne, dann Scherben von irdnem Geschirr, die Reste.
des Hundes als Hausthier, endlich sogar ein Spinnwirtel , dagegen
keine Spuren von ausgestorbnen T'hieren des Diluvium gefunden.
Zur Zeit ihrer Anhäufungen übten daher jene Muschelesser noch
nicht die Kunst oder fingen erst an den Feuerstein zu glätten.
Einen bessern Begriff von dem Alterthum jener Muschelbänke er-
weckt der Umstand, dass damals Jiitland und die dänischen Inseln
mit Fichtenwäldern bedeckt waren. Zur Zeit als die Einwohner
Bronzegeräthe sich verschafft hatten, verschwanden die Nadelhölzer
und Eichen herrschten an ihrer Stelle. Seit der Bronzezeit aber ,
sind auch die Eichenwälder nach und nach durch die Buche ver-
drängt worden, deren Waldbestände jetzt fast ausschliesslich jenes
Gebiet bedecken. Die Küchenreste enthalten aber Knochen des
Auerhahnes, der sich von Fichtensprossen nährt und die Gegen-
wart von Kadelholiiern voraussetzt. Es hat also jener Erdraum seit
der Zeit der muscheiess enden Strand be wohner zweimal seine Pflanzen-
trachl verändert, wozu gewiss jedesmal Jahrtausende gehörten ').
Diess bestätigt auch das Vorkommen von Austerschalen in den
dänischen Küchenabfällen , denn die Auster gedeiht jetzt in der
Ostsee nicht mehr, wegen des geringen Salzgehaltes dieses Golfes.
Folglich mussten damals Strö^nuiigen der nördlichen Oceane durch
viel grössere Pforten als die gegenwärtigen Sunde bis zu den dä-
nischen Inseln gelangt sein.
Zu den jüngsten Resten des vorgeschichtlichen Alterthums ge-
hören die Ortschaften an Aipenseen, die wie dermaleinst Venedig, wie
noch jetzt die Wohnungen der Eingebornen am Maracaibogolfe,
wie die Stadt Bruni auf Bornoo, wie die Hütten der Papuanen
an der Nordküste von Neu-Guinea auf einem Rost von Pfählen im
Wasser errichtet wurden '). Die Gewohnheit auf solchen im Wasser
1) Sir Charles Lyell, Antiquily of Man. London 1863. p. 9 — 17.
1) Der Golf van Maiaeaibo wurde von den erslen Entdeckern Golf von
Venedig genannt, weil ein indianisch«; Pfahldorf am Eingange zuvor den
NamenVenciuela empfangen halte. (S. Peschel,Zeitaller der Entdeckungen S.313.)
Noch bis auf den heuligen Tag wcr^len Wohnungen auf Plahlen mitten im
Maracaibocolfe errichlel. (Ramon Pacz , Wild Scenes in South America
|), 3Q2.) L'eber die papuanischen Pfahldorfer vgl. Wallace, der malayiscbe
ibipEl. BiauDschweig 1S69, Bd. 2, S. 2S2. und über Bruni s. Spenser
" ■ in ihe Far Easl. London 1862. tom. I, p, 89.
Das Alter des Menschengeschlechtes. ^^
errichteten Bühnen Hütten zu bauen, muss sich durch lange Zeiten
erhalten haben, denn in den älteren Pfahlbauten finden sich wohl
geschliffne, aber nicht durchbohrte, das heisst zur Aufnahme eines
Stieles vorbereitete Steinklingen, an jüngeren Fundstätten dagegen
sind die geschärften Steine durchbohrt und in den neuesten mi-
schen sich unter sie bereits Geräthe aus Bronze. Wenn eine Mehr-
zahl von Pfahlbauten durch Feuersbrünste zerstört wurden, so
braucht rnan nicht immer an feindliche Uoberfälle zu denken, denn
wir werden später Menschenstämme kennen lernen, die aus einem
schamanistischen Aberglauben ihre eignen Behausungen anzünden,
wenn sie zur Wanderung sich anschicken. Nichts hindert uns bis
jetzt die schweizerischen Pfahlbauern für einen arischen Volksstamm
zu halten, Sq gehört der Schädel, welcher bei Meilen gefunden
wurde einem etwa 13jährigen Kinde und wie der Schädel bei Au-
vernier aus der Bronzezeit dem sogenannten Siontypus an, welcher
die keltischen Helvetier vertreten soll '). Die schweizerischen See-
bewohner trieben Ackerbau und assen Brod, pflanzten Obstbäume
und dörrten Aepfel. Rinder, Schafe und Ziegen bewohnten gemein-
schaftlich mit ihnen die Pfahlbauten und für ihre Fütterung zur
Winterszeit musste also gesorgt werden, ja auch Katzen und Hunde
waren bereits zu Gesellschaftern herangezogen worden. Nur das
Schwein befand sich wenigstens zur Zeit der ältesten Ansiedelungen
noch im wilden Zustande und der Ur, der Bison und das Elen-
thier gehörten noch immer, wenn auch selten, zur Jagdbeute. Ab-
gesehen von diesen in den historischen Zeilen vertilgten Geschöpfen
erlitt die Thierwett keine Verluste und innerhalb des Pflanzen-
reiches beschränkt sich alles auf das Verschwinden einer Nadel-
holzart und zweier Wasserpflanzen, die sich aus den Ebnen hin-
weggezogen haben °), Solche Pfahlbauten sind theils unter Torf-
schichten begraben, theils durch Verschüttungen der Seen vom
Ufer landeinwärts gerückt worden o^ier es lagen die Steingerüthe
unter den Schuttkegeln von Wildwassern wie im Delta der Ti-
nifere bei Villeneuve am Genfer See. Aus der Mächtigkeit oder
der Ausdehnung solcher Neubildungen wurde versucht das Alter
der Hinterlassenschaften um 5 — 7000 Jahre zurückzuverlegen.
I) His «. Riitimeyer, Crania helvetica. p. 36 — 37,
I) Rütimeyer, Die Fauna der Pfahlbauten in der Schweii.
I. S. 8. S, 218—29.
«6 Das Aller .Ics Menscheng «schlechtes.
Aller Scharfsinn der Untersucher scheiterte aber an dem Uebelstande,
dass weder das Wachsthum des Torfes, noch die Absätze von Ge-
birgsschutt so stotifj fortschreiten wie das Abrinnen des Sandes in
einem Stundenglase, sondern dass bei solchen Bildungen Zeiträume
der Ruhe mit Zeiträumen einer hastigen Thätigkeit wechseln. Gegen-
wärtig fehlt es also an jeder zwingenden Thatsache, um irgend
einen Rest der Pfahlbauerzeit für aller zu halten als die Pyramiden
am Nil, ja nicht einmal derjenige könnte streng widerlegt werden,
der die Hinterlassenschaft der schweizerischen Steinzeit in das
zweite Jahrtausend vor Chr. versetzen wollte.
Selbst in Aegyplen ist es nicht völlig geglückt einen verlässigen
Zeitausdruck für sehr alte Zeugnisse von der Gegenwart des Men-
schen zu finden. Unter der Leitung eines äusserst vorsichtigen
Geologen, Leonhard Homer wurden von einem trefflichen Inge-
nieur Hekekyan 13ey, einem armenischen Katholiken, in den Jahren
1851— -1854 nicht weniger als 96 Bohrlöcher in vier Reihen vom
Nil senkrecht bis, zu Abständen von acht eng). Meilen abgeteuft.
Die meisten dieser Ausgrabungen lieferten auf verschicdnen Tiefen
Reste von Haustliieren, Trümmer von Backsteinen und von Ge-
schirren. Nicht immer verstatteten solche Reliquien eine befriedi-
gende Zeitbestimmung, weil die durchstochenen Schichten oft von
Sandiagcrn durchsetzt wurden, die dem Wüstenwinde ihre Ent-
stehung verdankten. In unmiflelbarer Nähe des Steinbildes von
Ramtes II. bei Memphis wurde jedoch unter Schichten reinen Nil-
schlammes, die nicht vom \\'üstensande iiberweht worden waren
aus 39' (fect) Tiefe ein rotli gebrannter Thonscherbcn hervor-
gezogen. Seit das Ramsesbild errichtet wurde, nämlich seit 1361
v. Chr. etwa, hatte sich um dieses eine Nilschicht von 9 Fuss
4 Zoll, ungerechnet eine Sandschicht von 8 Zoll Mächtigkeit, an-
gehäuft und der Masstab der Alluvialbildung an jener Stelle hat
seit 1361 V. Chr. demnach 3 '/j Zoll im Jahrhundert betragen. Wäre
also in gleicher Geschwindigkeit jener Töpferscherben vom Nil-
schlamm eingchülh worden, dann müssten schon 11,646 Jahre vor
unsrer Zeitrechnung Gefasse aus Thon am Nil gebrannt worden
sein '). Gegen diese Berechnung sind viele unbegründete Ein-
wände erhoben worden. Die einen vermutheten , dass der Nil
i rhilosophical Transactions. London 1S59.
Das Alter des Menschengeschlechtes.
47
in Vorzeiten unter der' Ramsesstatue geflossen, andere, dass jener
Scherben aus einem ehemaligen Brunnen oder einem ehemaligen
Teiche hervorgezogen worden sei, als ob es sich um ein vereinzeltes
Fundstück, nicht blos um das am tiefsten gelegne unter unzähligen
andern handele. Oder man sagt, dass durch Wässerbauten an einem
beliebigen Punkte in kurzer Zeit sich Sedimente von grosser Mäch-
tigkeit anhäufen lassen, übersieht aber dabei gänzlich, dass dieses
Verfahren dann auf dem Gebiete aller vier Reihen von Bohrlöchern
stattgefunden haben müsse, so wie, dass die Sohle der Ramsesstatue
nur 78' 3" über dem Meeresspiegel liegt *), der Scherben also nur
auf 39' 3" absoluter Höhe gefunden wurde. Selbst das Bedenken
Sir Charles Lyells, dass die alten Aegypter nach Herodot ihre
Tempel und Denkmäler mit einem Walle gegen den Andrang der
Nilfluthen zu schützen pflegten^), erscheint nicht stichhaltig, denn
wurden diese Schutzwehren einmal durchbrochen, dann wuchsen
die Niederschläge in der Bodensenkung um so rascher und der
Strom konnte in wenig Jahren einholen, woran er im letzten Jahr-
tausend verhindert worden war. Wohl aber ist gegen die obige
Berechnung einzuwenden, dass uns die Mächtigkeit des Nilschlammes
seit 136 1 vor Chr. deswegen nicht als zuverlässiger Massstab dienen
kann, weil die Stromgefilde keineswegs in einer glatten Ebene
liegen. Homer selbst bemerkt, dass wenn der Nil das 24. Ellen-,
zeichen am Pegel auf der Insel Rhoda erreicht, er bald Tiefen von
20', bald nur von weniger als einem Zoll bilde, so gross seien die
Unebenheiten des Bodens ^). Daraus folgt , dass die Schlamm-
schichten in den Vertiefungen viel rascher wachsen müssen als an
den erhöhten Stellen, und dass wenn die Aegypter ihren steinernen
Ramses, wie fast vermuthet werden darf, auf einer Anschwellung
errichteten, die sich rasch neben einer Vertiefung abgesetzt hatte,
der spätere Zuwachs an Nilschlamm nur langsam den Boden er-
höhte. Wer hätte aber trotzdem den Muth noch zu bestreiten,
dass jener Scherben aus 39 Fuss Tiefe mindestens um 4000 Jahre
älter sein müsse, als das Denkmal des grossen Ramses?
^
1) Homer 1. c. p. 56.
2) Sir Charles Lyell, Antiquity. p. 38.
3) Homer 1. c. p. 56.
DIE KOERPERMERKMALE DER
MENSCHENRACEN.
I. Die Grössenvcrhältnisse des Gehirnschädels.
Niemand läugnet, dass Hausthiere bei strenger Zuchtwahl
auf ihre Nachkommen alle elterlichen Besonderheiten vererben.
Ebenso war eine wenig zahlreiche Menschenhorde, die sich in der
Vorzeit durch Wanderung von der übrigen Menschheit absonderte
und in einem abgelegenen Erdraume Jahrtausende verharrte, durch
die Umstände gleichsam zur Reinzucht gezwungen und musste die
Familienzüge 'der ersten Auswandrer zu Racenmerkmalen befestigen.
Die Reinheit des erworbnen Typus erhielt sich aber nur so lange,
als die Absonderung dauerte, denn da die Unfruchtbarkeit der
menschlichen Spielarten unter einander nicht bewiesen werden kann,
die einzelnen Horden und Stämme vor und selbst nach dem Ueber-
gang zum Ackerbau beständig auf Wanderungen begriffen waren,
und eine Spielart unter die andre wieder hineindrang, so musste
auch durch Kreuzung ein Theil der Sondermerkmale immer wieder
verwischt werden. So dürfen wir denn höchstens nur dort, wo
eine Abtrennung von andern Spielarten entweder durch Abgelegen-
heit der Wohnorte oder durch Kastenvorschriften während langer
Zeiträume aufrecht erhalten wurde, einigermassen gut begrenzte
Racen anzutreffen hoffen, überall anderwärts werden sie in einander
überfiiessen. Vielleicht wird sich ergeben, dass auch nicht ein ein-
ziges Körpermerkmal einer Race ausschliesslich angehöre, sondern
in Uebergängen auch bei andern angetroffen werde. Daher kann
sich die Völkerbeschreibung nur auf eine Mehrzahl von Erkennungs-
zeichen stützen und sie darf kein einziges verschmähen, so sehr
es auch in seinem Betrage schwanken mag.
Merkmale am menschlichen Körper, die zur Unterscheidung
der Racen dienen könnten, wird ein jeder unwillkürlich zuerst in
Peschel Völkerkunde. . 4
CO Die GrÜBsen Verhältnisse des Gehimschädels.
den Formen des Hauptes suchen, dem Sitze unsrer höchsten Thä-
tigkciten. Fleiss und Scharfsinn der neueren Anatomen haben
daher einen jungen Wissenszweig gepflegt, der sich mit dem
knöchernen Schädel beschäftigt. Was die Volkssprache einen
Todtenkopf nennt, ist ein kunstvoll geordnetes Gehäuse, enger und
kleiner am Kinderkopfe, geräumiger beim Erwachsenen. Es ist
also bis zu einem gewissen Alter in der Ausdehnung begriffen und
gelangt erst in reifen Jahren zum Stillstand. Meistens bleiben die
einzelnen Knochen der Gehirnschale, wo sie an ihren Grenzen
zusammepstossen durch Nähte mit eingreifenden Zacken nur zu-
sammengefügt, so dass dem fortgesetzten Wachsthum kein unbe-
siegiiches Hinderniss entgegentritt. Ein verfrühtes Verschmelzen
der Schädel platten muss dagegen die völlige Ausbildung des Ge-
hirnes verhindern und wird daher eine Verwischung der Nähte
bei jugendlichen Schädeln bemerkt, so gehören solche Köpfe
gleichsam zu den missrathenen Bildungen. Da nun die Wissen-
schaft nur die gesunden Erscheinungen vergleichen darf, so folgt
daraus, dass von den Messungen alle Schädel au s zu sc hh essen sind,
deren Nähte frühzeitig verschwinden oder was dasselbe bedeutet,
verwachsen (Obliteration, Synostose). Eine der Deckplatten des
Gehimschädels, nämlich das Stirnhein, besteht anfänglich aus zwei
Hälften, einer rechten und einer linken, die hei dem Affenjurigen
nach der Geburl, bei Kindern im 2, Jahre völlig verwachsen. Bei
einer Anzahl von Menarhen dagegen schliessen sie sich nie und
da die Stimnaht dann als eine \'erlängerung der Pfeilnaht recht-
winkelig die Kronennaht durchsetzt, so bildet der Verlauf der Nähte
ein Kreuz, weshalb Schädel mit offner Stirnnaht KreuzkÖpfe genannt
werden. Auch sie müssen bei den Schädelmessungen völlig aus-
geschieden werden wie die Vertreter einer eignen, nur unter sich
nicht mit andern vergleichbaren Menschenart, Das Offenbleiben
der Stirnnaht hindert nichts an den gesunden Verrichtungen des
Gehirns, ja da es dessen Wachsthum nach vorn noch bis in ein
späteres Alter verslallet, vereinigen die Kreuzköpfe grossere Stimbreite
mit grösserer Geräumigkeit, so dass sogar vermuthet worden ist, die
mittleren Leistungen des menschlichen Denkvermögens müsslen merk-
lich gesteigert werden, wenn das Offenbleiben jener Naht ein statisti-
sches Uebergewicht erreiche oder sogar zum herrschenden Merkmale
des gesunden Schädels werde. Ueljer die Häufigkeit der Kreuzköpfe
hat tins Hermann Welcker nachfolgendes Zifferngemälde geliefert:
Die Grössenverhältnisse des Gehirnschädels.
51
Schädel
on Völkerschaften
mit
ohne
Verhältniss der Kreuz-
offne
Stirnnaht
t
1
köpfe
zu gewöhnlichen
Schädeln
Deutsche aus Halle
70
497
I : 7»i
Petersburger
70
I02ß
l ' Hft
Andre Kaukasier
14
129
i: 9,a
Mongolen
7
96
i: 13.»
Malayen
5
87
1 : 17»*
Neger
I
52
1:52
Amerikaner
I
53
1:53
Andre Beobachter wollen sich überzeugt haben, dass Schädel,
welche der Zeit des Diluvium angehören, seltner dieses günstige
Merkmal an sich tragen ^). Bleibt die Stirn offen, so schliesst sich
auch die Pfeilnaht gewöhnlich später und nicht ganz unberechtigt
dürfen wir das Raumsuchen des Gehirns als Ursache dieser Er-
scheinung uns denken *), nur sollten wir nicht vergessen , dass die
Kreuzköpfe bisweilen auch bei Blödsinnigen vorkommen ^). Um-
gekehrt kann aber auch durch ein vorzeitiges Verwachsen der
Knochen, wenn es mit Überwältigung des Gegendruckes vorwärts
schreitet, die volle Entwicklung des Gehirns gehemmt werden*),
und es ist gewiss sehr wichtig, in welcher Reihenfolge die ein-
zelnen Knochen des menschlichen Schädels sich schliessen und das
Wachsthmn der innern Theile beendigen. Bei den minder be-
gabten Menschenstämmen sollen die vorderen, bei höher begabten
die hinteren Nähte früher verwischt werden^). Bei Negerschädeln
wollte Pruner Bey einen frühzeitigen Zusammenschluss der Stirn-
naht wahrgenommen haben, gefolgt von einem Verwachsen der
Kronnaht am mittlem Theil und der Pfeilnaht, während die Lambda-
naht um den Gipfel sich am längsten offen erhielt. Bisweilen ver-
schmilzt nicht einmal gänzlich die Basilosphenoidal-Naht und selbst
bei Erwachsenen sei noch die Incisivnaht zu unterscheiden 6). Der
Werth solcher Wahrnehmungen lässt sich aber nur durch die sta-
1) Canestrini bei Darwin, Abstammung des Menschen. Bd. i. S. 107.
2) Hermann Welcker, Wachsthum und Bau des menschlichen Schä-
dels. Leipzig 1862. S. 97. S. 102.
3) Virchow, Entwickelung des Schädelgrundes. Berlin 1857. S. 87.
4) Virchow, 1. c. S. 113.
5) Gratiolet bei Quatrefages, Rapport, p. 302.
6) Pruner Bey, Memoire sur les N6gres. 1861. p. 328 — 329.
52
Die Grösse nvcrhällnisse des Gehiinschädels.
tistischen Mittel aus einer grossen Zahl von Beobachtungen fest-
stellen und grosse Zahlen werden erst durch fortgesetztes Sammeln
erworben werden. Vorläufig ergibt sich nur, dass Schade! mit vor-
zeitig oder nicht rechtzeitig verschmolzenen Nähten bei den Mes-
sungen ausgeschieden und nicht mit den übrigen verglichen werden
sollten.
In grössere Verlegenheit versetzt uns die Geschiechtsbeslim-
mung der Schädel. Weicker hatte sich überzeugt, dass bei den
deutschen Schädeln, deren Geschlecht bekannt war, die weiblichen
zwischen die kindlichen und männlichen in allen messbaren Verhält- ,
nissen sich einschalten lassen. Unsre Anatomen haben sich daher
angestrengt, Wahrzeichen aufzufinden, nach welchen sich das Ge-
schlecht des Schädels bestimmen lasse. Die craniologische Sta-
tistik hat bis jetzt wenigstens so viel ermittelt, dass bei den hoch-
gesitteten Völkerschaften alle Oeschlechtsunterschiede zweiter Ord-
nung viel stärker entwickelt sind , als bei den roh gebliebenen
Menschen Stämmen. Bei ersteren ist der männliche Hirnschädel
merklich geräumiger als der weibliche. Ungewiss dagegen bleibt
vorläufig, ob sich der letztere mehr als der männliche zur Schmal-
heit neige. Fand Weicker die Frauenschädet bei fast allen Racen
dolichocephaler als die männlichen, so hat Weisbach für osterreichi-
■ sehe Frauen einen mittleren Breitenindex von 82,, erhalten und bei
ihnen eher eine Hinneigung zu Bracliycephalie wahrgenommen'). Die
geringere Höhe des Schädels beim weiblichen Geschlecht ist andrerseits
von Alexander Ecker betont worden, der auch daran den Frauenschä-
del erkennen will, dass der flache Scheitel ziemlich plötzlich in die
senkrechte Stirnlinie übergehe '). Grössere Zartheit der Knochen-
vorsprünge, verminderte Gesichtslänge bei gross er n Augenhöhlen, ge-
ringere Unterkieferbreite sollen ebenfalls den weiblichen Schädel aus-
zeichnen. Doch sind wir noch weit entfernt das Geschlecht eines un-
bekannten Schädels mit Sicherheit bestimmen zu können. Der britische
Craniolog Barnani Davis schrieb vor etlichen Jahren an A. Ecker.
dass er einen Schädel aus Bengalen nach den angenommenen Ge-
schlechtsmerkmalen für männlich hätte erklären müssen und doch
wisse er genau, dass er von einer Frau abstamme^). Bei Schä-
1) Atcbiv für Anlhropologie. Braun scliweig 1H6S. Bd. 3. S. 61.
2) Archiv fiir Anthropologie 1866. Bd. I. S. 85.
31 Archiv für Anthropologie 1867. Bd. 2. S. 35,
Die GrÜssenverhiltiiisse des Gehiniscliä,iel>. 53
delrt aus alten Gräbern wird daher das Geschlecht aus dL'Ui Bau
des Kopfes nicht sicher zu erralhcii sein. Daher sagte auch Vir-
chow in seiner Arbeit über altnordische Schädel in Kopenhagen:
flieh fühle mich nicht im Stande überall mit Bestimmtheil die
Grenzen zwischen männlichen und weiblichen Schädeln zu ziehen,
und ich habe daher lieber auf eine solche Untersuchung verzichtet,
um nicht willkürliche und zweifelhafte Trennungen vorzunehmen" ').
In gleichem Sinne bemerken His und Rütimeyer: „Eine Scheidung
der Schildel nach dem Geschlecht haben wir nicht durchgeführt.
Die Gcschlechtibestimmung nach dem blossen Aussehen führt all-
zuieicht zu WillkürUchkeilen, als dass man sich auf sie verlassen
könnte"^). Der eben erwähnte Barnard Davis endlich äussert in
Bezug auf das Vcrzeichniss seiner Schädelsammlung; „Das Ge-
schlecht wurde nur durch den Eindruck auf den Ueschauer be-
stimmt, welcher keinen untrüglichen Gesetzen gehorcht; daher auch
leicht Fehler vorgekommen sein mögen" ^). Die strenge Wissenschaft
wird indess die Forderung nicht fallen lassen, dass die Schädel
dem Geschlecht nach völlig getrennt und die getrennten so wenig
unter einander verglichen werden sollen, als gehorten sie zwei völlig
verschiednen Arten an. Künftige Sammler sollten daher alles auf-
bieten, das Geschlecht des Schädels am Fundort zu ermitteln.
Werden alte Schädel, bei dewen die Geschlechter ungeschieden
bleiben, zusammengeworfen, dann kann es geschehen, dass zwei
Typen oder Mittelformen aus den Messungen hervorgehen, die
nicht zwei Völkerschaften, sondern nur die Geschlechter einer ein-
zigen Völkerschaft vertreten. Ferner besteht die Gefahr, dass
wenn wir für Raceiischädel das Mittel aus der Summe beider Ge-
schlechter erhalten, die mittleren Unterschiede einen viel geringern
Betrag zeigen werden, als wenn nur Männer mit Männern ver-
glichen würden."
Die Grössen Verhältnisse des menschlichen Schädels sind in
neuerer Zeit bis in die feinsten Einzelnheiten bestimmt worden, so
dass die Zahl der gemessenen Werthe an einem einzigen Schädel
bis auf ijg gestiegen ist'). Bei diesem Fleiss und Eifer darf man
1) Archiv- für Anlhropolueie. Bd. 4. S. 61.
2) Crania hcWcIica. Basel 1S64. S. 8.
3) Thesaurus Ctariorum. London 1867. p. XV.
4) Man s. die drei Tabellen für 10 Schädel von Zieeunem, die Tsidor
Küjieinicki dem Archiv Tut Anlhropologie Bd. 5, S. 320 Kclicfi-rl hat.
. 54
Die Grössenverhältnisse des Gehirn schiidels.
noch die Hoffnung nähren, dass es dem Scharfblick eines Be-
obachters früher oder später gelingen möge in scheinbar gleich-
giltigen Grilssenverlältnissen den Schlüssel zum Verständnisse der
übrigen zu entdecken. Vielleicht wird noch genau festgestellt, durch
welches Wachsthuiii der einzelnen Knochen die Form des Kopfes
bedingt werde ') und deshalb muss vorzüglich iJie Länge der ein-
zelnen Nähte zum Erwerb eines statistischen Schatzes festgestellt
werden. Mit diesen Votarbeiten zu künftigen Erkenntnissen kann
sich aber die heutige Völkerkunde nicht beschäftigen, sondern muss
sich mit den bereits festgestellten Unterschieden l^gnügen.
Leider gibt es kein übereinstimmendes Mess verfahren. ]n Eng-
land geht man anders zu Werke als in Frankreich, und in Deutsch-
land befolgen kaum zwei Craniotogen die gleichen Vorschriften.
„'Dem einfachen, sowohl als dem wissenschaftlichen Beobachter",
bemerkt Virchow '), „liegt daran, einen bestimmten Zusammenhang
zwischen Schädelform, Gesichtsbildung und Gehirnbau zu finden",
je nachdem der eine da oder dort diesen Zusammenhang zu er-
kennen hofft, wird er seine Messungen einrichten. Ehe aber ein
solcher Zusammenhang wklich entdeckt worden ist, müssen wir
uns allein au die Itaumverhältnisse haken. Retzius war der erste,
der uns aus dem Vergleiche des Längen- und B reiten durchroessers
Lang- und BreitFchüdel (DolLchocephalen und Brachycephalen) unter-
scheiden lehrte, wenn er auch noch keine scharfen Grenzen zwi-
schen diesen Formen zog. Schon beim Aufsuchen der Schädel-
durchmesser werden aber verschiedene Wege eingeschlagen. Die
Dicke der Hirnschadelknochen ist nämlich eine sehr schwankende.
Wenn wir einen Massstab an die Wände eines senkrechten Schädel-
quersctinittes anlegen , so finden wir meistens zwei bis fünf Milli-
meter für die Mächtigkeit der Knochenplatten. Diese Schwan-
kungen würden bei den Messungen keine Störung hervorrufen, da
sie gleichmüssig die Längs- wie die Querdurchmesser steigern
oder herabsetzen können. An andern Stellen aber und gerade da,
wo wir die grösste Axe des Schädels zu suchen haben, klafft das
Stirnbein in eine doppelte, eine äussere und innere Knochentafel
auseinander um beträchtliche Hohlräume einzuschliessen. Am
Hinterhaupt wiederum wird die innere und äussere Knochenschicht
i) Virchow, Die Znlwiddung des Schädelgrundes. Berlin 1857. S. Gl.
-I Virchow, L c S.'g.
Die GrüssenvethälmisEc des Gehirn schäJtU. i^c
in der Mitte durch schwammartige Blasen riiunif auseinander ge-
trieben und der Schädel erreicht dann in dem einen und andern
FaUe Mächtigkeiten von 20 und 15 Millimetern oder darüber. Da
nun diese inneren Aufblähungen dc-r Knochen sicherlich in iteiner
Beziehung zu den Verrichtungen des Gehirns stehen und Liei den
Angehörigen desselben Stammes sehr schwanken, auch mit dem
Lebensalter sich steigern, so schien es unangemessen bei Bestim-
mung des Längsdurchmessers die Zirkelspitzen yerade über diesen
Knochenan schwel lim gen anzusetzen. Bamard Uavis misst daher
von der Stimglatze {glabella) nach dem am meisten hervorragenden
Punkt des Hinterhauptes. Welcker wieiJertim setzt die eine Spitze
des Tastercirkels ebenfalls an der Stirnglatze ein, die andre aber
etwa einen Zoll über dein Hinterhauptstachel. Beide vermeidL-n
also die Stellen, wo sich die Knochen der Hirnschale am stärksti-n
verdicken. Vielleicht wäre das scheinbar roheste Verfahren, näm-
lich die grossie Achse da zu suchen, wo man sie findet, die rich-
tigste gewesen, denn die Entwicklung der Stirnhöhlen, so unwesent-
lich sie sonst sein mag, trügt doch ohne Zweifel (lä£u bd, den
Schädel ku verlängern und der Betrag dieser Verlängerung soll ja
mit Hilfe des Cirkels gefunden werden. Da sich aber ein jedes
Messverfahren rechtfertigen lässt, keines bis jetzt durch allgemeine
Zustimmung zur Herrschaft gelangt ist, so müssen wir heutigen
Tages denjenigen Schädclkennem folgen, welche die grösste Zahl
von Messungen geliefert haben, die einen Vergleich unter sich zu-
lassen. Es sind diejs Barnard Davis und Hermann Welcker '),
Wenn wir die Ergebnisse dieses Letzteren vorzugsweise beachten, so
muss noch ein Vorbehalt hinzugefügt werden. Die Breite des
Schädels wird jetzt übereinstimmend an keiner anatomisch streng
befestigten Stelle gemessen, sondern überhaupt die Stelle auf-
gesucht, wo der Schädel am breitesten ist. Welcker dagegen misst
die Breite an einer Kbene, die durch die Hinterhauptöffnung ge-
richtet, den Schädel in eine vordere und hintere Hälfte zerlegt. Da
sich nun alle nicht genau elliptischen Schädel, also die überwäl-
tigende MehrBahl hinter dieser Theilungsebne verbreitern, so lassen
Welckers Messungen alle Schädel durchschnittlich um etwa zwei
Procenl länglicher erscheinen, als sie sich dem Auge darbieten.
Man pflegt nämlich den Lüngendurchmesser 100 gleichzusetzen
I) Vgl. Apptndix A. und B.
jö Die Grosse nverhällnisse des Gehirnschädels.
und den Querdurchmesser in Procenlen jener Einheit auszudrücken.
Der Pvocentsatz selbst wird der Breitenindex genannt. Völlig runde
Schädel, also solche, bei denen der Breitenindex loo und sogar
über loo beträgt, kommen theüs in Nordamerika, theils bei den
Peruanern und den Chibcha in Neugranada vor, verdanken jedoch
ihre Gestalt einer künstlichen Zusammen pressung des Schädels, und
müssen daher von allen Vergleichen ausgeschlossen bleiben. Sonst
nähert sich einer völligen Rundung am meisten der Schädel eines
Bewohners der „TaUrei" mit 97,,, dem Huxley einen Schädel aus
Keu-Seeland mit 62, als Breitenindex als den schmälsten aller be-
kannten Schädel gegeniibersteUt '). Doch besitzt Barnard Davis
Eittreme Schädeiformen nach Huiley. Nornia verticalis.
Fig. I. Schädel eiiWE Bewohners Fig. 2. Schädel eines
der „Talarei". Neuseeländers,
einen angeblichen Keltenschädel, der bei einer Längenachse von
8,j Zoll und einer Breite von nur 4,^ Zoll bis zu einem Index von
58 sich erniedrigt'). Zwischen 58 und 98 bewegen sich also die
Breiten indices, wenn wir die äussersten Fälle berücksichtigen. Die
mitticren Zahlen schwanken aber um vieles weniger, denn sie gehen
nur von 67 bis etwa 85, In diese Claviatur mit ig Tasten lassen
sich alle mittleren Breitenproportionen der menschlichen Schädel
einschalten.
Wie Welcker sich überzeugt hat^}, schwankt der Breitenindex
1) Huiley über zwei exlreme Formen des menschlichen Schädels, Ar-
chiv für Anthropologie. Braunschwelg lSä6. Bd. 1. S, J46.
i) Thesaurus Craniorum, p. 63,
j) Nämlich in seinen Craniologischen Miltheilungen im Archiv (iir Aiv-
iropologie. Braunschweig 1S66. Bd. 1. S. Ij6.
Die (icossenvcTliältnisse des Gehirnschädels.
57
bei den Völkern, welche der Zahl nach die Hälfte der Menschheit
umfassen von 74 bis 78 und diese nennt er Rechtschädel (Ortho-
cephaien), wofür mit Broca aber besser Mittel schade! (Mesocephalen)
gesagt wird. Sinkt der Index unter 74, so sprechen wir von Schmal-
oder Langschädeln (Dolichocephalen), und erreicht er 7g oder mehr,
von ISreit- oder Kurzschädeln. Statistisch hat sich nun ergeben,
dass die Mehrzahl der Bewohner eines bestimmten Gebietes sich
um eine mittlere Schädellorm schaare, sowie dass, je weiter die
Abirrungsstufen sich von der mittleren Form entfernen, sie durch
eine sich rasch vermindernde Schädelzahl vertreten werden. Das
ist nun genau dasjenige, was jeder erwarten wird, der Arten- und
Racenmerkmale als etwas flüssiges betrachtet, der in der belebten
Schöpfung nur Einzelwesen erkennt, und der mit Goethe annimmt,
dass die Arten nur im Lehrhuche der Systematiker existiren. Selbst
die Mittel der Schädel Proportionen schwanken innerhalb der ein-
zelnen Racen. Ueberraschend sind namentlich die Ziffern , welche
Welcker für den Stamm der malayischen Völker gefunden hat. Be-
achten wir dabei zunächst nur den Breitenindex und beseitigen wir
die stark dolichocephalen Schädel (68) der Carolinenbewohner, weil
sie als Mikronesier von dem Verdacht einer Blutmischung nicht
frei sind, so erhalten wir, noch an der Gränze der Dolichocephalie,
mil einen) Breitenindex von 73 die Maori Neu-Seelands. Es folgen
dann in der Indexscala aufwärts steigend als Mesocephalen die
Schädel der Marquesasinsutaner (74), der Tahitier (75), der Chatham-
insulaner (76), der Kanaken auf dem Sandwicharchipel (77). Auf
den grossen Inseln zwischen Australien und Asien finden wir die
Dayaken Borneo's mit 75, die Balinesen mit 76, die Amboinesen
mit 77, Schädel Sumatra's mit 77 und Mankassaren mit 78 ange-
geben. An diese Mesocephalen schliessen sich noch als Breit-
schädel an: die Javanen und die Buginesen mit 79, die Mena-
daresen mit 80 und die Maduresen mit 82.
Von den 19 Theilstrichen der Breiten Verhältnisse nehmen nun,
wie wir eben sahen, die Schädel der Malayenfamilie nicht weniger
als neun ein, von 73 bis 8z. Man kann hier nicht sagen, dass die
malayischen Schädel etwa Mischformen darstellen, denn rings um-
geben von Schmalschädeln konnten sie nie ihre hohe Brachycephalie
der Kreuzung verdanken. Wären sie aber ursprünglich brachyce-
phal gewesen, so müsste sich diess vorzugsweise bei den Dayaken
zeigen, da wir sie als die reinsten Vertreter des alten Maiayen-
eß Die Grössen Verhältnisse des Gehimschädels,
typus betrachten dürfen. Die Messungsergebnisse nöthigen uns
vielmehr als Thatsache anzuerkennen, dass die Grössenverhältnisse
der Schädel innerhalb der nämlichen Race beträchtlich schwanken.
Ais begründet gilt jetzt, dass sämmtüche Polynesier über die Südsee
nach drei Himmelsrichtungen von der Samoa- oder Navigatoren-
gruppe sich verbreitet haben. Diese Wanderungen begannen min-
destens schon vor, 3000 Jahren. Die Samoaner selbst sind frei-
gebiieben von jeder fremden Mischung, und die Inseln, welche die
Auswanderer aufsuchten, waren völlig unbewohnt. Hier liegen also
Thatsachen vor, die als anthropologisches Experiment nicht gün-
stiger hätten angeordnet werden können. Hier können wir durch
Messungen streng ermitteln, welche Aenderungen jn den Schädel-
proportionen im Laufe von 3000 Jahren durch Auswanderung und
Isolirung vor sich gegangen sind. Wohl haben wir bereits aus
Wclckers Messungsergebnissen einiges mitgetheilt. Die Anzahl der
Schädel aber, die ihm zur Verfügung stand, ist doch nicht ausreichend
zur Feststellung guter Mittel werthe, auch fehlen von den beiden wichtig-
sten lnselgrup[jen die Indices. Am wichtigsten wären nämlich sa-
moaner- sowie tonganer Schädel, weil sie die Original maasse des
polynesischen Typus vertreten könnten, dann aber die Schädel aus
Paumotu oder von der Wolke der niedrigen Inseln. Die letztere
KJrallen kette war nämlich ein höchst ungünstiger Lebensraum, so
dass auf ihren Atollen der poiynesische Menschenschlag von seiner
gesellsch altlichen Höhe zur Zeit der Auswanderung beträchtlich
abwärts steigen musste. Man wird daher die Spannung begreiflich
finden, mit der Anthropologen Schädelsendungen und Schädel-
messungen in Bezug auf Paumotuaner entgegensehen. Barnard Davis,
der über eine grössere Zahl polynesischer Schade! verfügte, ist zu ähn-
lichen Ergebnissen wenn auch minder grossen Schwankungen gelangt.
Auch bei ihm neigen die Maori mit einem Index von 75 am
meisten zur Dolichocephalie , während die Javanen {Index : 82)
noch brach ycephaler erscheinen als die Maduresen (8t),
Die Erfahrungen im eigenen Vaterland endlich sind höchst
eigenthümlicher Art gewesen, bestätigten aber was wir über das
Vertialten in der malayischen Menschenrace schon angeführt haben.
Retzius zählte die Deutschen noch unter die Schraalschädei, wenn
er auch später sich überzeugte, dass in Süddeutschland andere
Grössenverhältnisse die Oberhand hätten. Er war zu seiner An-
schauung gelangt, weil er hauptsächlich die nördlichen Vertreter
EenverhähniE;« lies Geliirnschädels.
59
des teutonischen Stammes unter den Augen hatte. Es lauten
aber die Ziffern des Breitenindex bei Schweden 75,^, bei Hollitn-
dem 75,j, und nach einer andern holländischen Serie 75,;,, bei
Engländern 76,0, endlich bei Dänen tind Isländern 76,,. Da die
Mesocephalie bei einem Breitenindex von 74 beginnt, und bei einem
solchen von "jq aufhört, so stehen die Teutonen Nordeuropa's der
Dolichocephaiie näher als der Brachycephalie.
Bei deutschen Schüdeln finden wir dagegen folgende Ziffern:
in Hannover 76, ^ , in der Umgegend von Jena 76, ^ , in Holstein
77,,, bei Bonn nnd Köln 77,^, in Hessen 7g,,, in Schwaben 79,^ '),
in Bayern 79,9, in Unterfranken 80,^ , im Breisgau 80,,. Der
nächste Gedanke diese Unterschiede zu erklären, möchte vielleicht
dahin führen, einer Mischung mit Kelten den wachsenden Breiten-
indeK in Süddeutschland zuzuschreiben, allein die Kelten neigen
nicht sehr slark znr Brachycephalie, die Franzosen werden z. B.
nur mit yq.j, und die Iriänder sogar nur mit 73,^ aufgeführt. Eine
Mischung von Teutonen und Kelten sollten wir -in Schottland finden,
der dortige Index aber lautet nur 75,,.
Müssen wir die Kelten aufgeben, so denken wir zunächst an
die Slaven. Bei ihnen finden wir sehr achtungswerthe Indices wie
78.8 bei Serben, 79,, bei Kleinrussen, 79,^ bei Polen, So,^ bei Ru-
mänen, 8o„ bei Grossrussen. 80, ^ bei Kuthenen, 81,0 bei Slovaken,
82,5 bei Croaten, und 82,, bei Tschechen. Die letzteren sind also
unter den Slaven die grössten Breitköpfe. Nun würde eine Mi-
schung mit Slaven die Brachycephalie wohl in Thüringen erklären,
nicht aber im südwesdichen Deutschland, und vor allem gar nicht
bei den teutonischen Schweizern, wo sich der Index auf 81,^ em-
porschwingt '}. Ausserdem müsslen die De utschüsl erreich er, welche
doch mitten unter Slaven sitzen, brachycep haier erscheinen als die
Deutschen. Das Indexmittel der Deutschen lautot aber 78,^ , und
das der Deutsch -O es terreicher 78,5 ^), folglich ist tler Unterschied
1) Schilleis Schädel besitzt einen Bteitenindtx von 82.
2) Weisbach fand den Breitenindex der Deutschösterreicher lu 81,1, den
der Ciechen £u 83^. Da er den Schädel a.n der breiteslen Stelle miSBl, su
erklären sich seine von Welcker abweichenden Ziffern esiüE^"*'- Archiv für
Anlhropoloßie. Ed. 2. S. 293.
3) His gibt sogar dem olemannischen Schweiierschädel (Disenlislypus]
einen Breitenindex von 86j , einen Höhenindex von 8ia, Hip nnd Rüli-
meyer, Crania helvelica. Basel 1864. S. 11.
b
60 ßie Gro'senveriiältnisse des Gehlrnscliädels,
viel kleiner als die Fehlergränzen der Messungen. Wir gelangen
vielmehr zu dem F.r^ebtiiss, dass der Teutonenschädel im Mittel sehr
beträchtlich schwankt, und dass er in Deutsehland von Nord nach Sud.
und namentlich nach Südwest merklich nach Brachycephalie strebe.
Wollen wir weitere Fortschritte in der Craniologie gewinnen,
so müssen zunächst die Indices europäischer Uevöikerungen durch
grosse Ziffern festgestellt werden. Eine solche Arbeit in Bezug auT
Italien verdanken wir Luigi Calori in Bologna. Er bezeichnet
Schädel mit ÜreiteninJices von 74 bis 80 als Ortho cephalen, wofür
wir jedoch Mesocephalen sagen woUen, die mit- höheren Ziffern als
Breitschädel und diejenigen unter 74 als Schmalschädel, Mit Aus-
schluss der weiblichen Exemplare untersuchte er nicht weniger als
244z italienische Schädel und fand darunter 1665 brach ycephal, im
Mittel mit einem Index von 84. Die andern 777 dagegen ge-
währten im Mitte! einen Index von 77, Wie in Deutschland mi-
schen sich auch in Italien örtlich breite und lange Schädel durch-
einander. Von 100 bologneser Schädeln beiderlei Geschlechtes
waren 7g Breit-, 16 Mittel- und nur 5 Schmalschädel. Von 852
Köpfen aus der Emilia gehörten 733 zu den Breit-, iio zu den
Mittel- und q zu den Seh mal Schädeln. Ebenso zeigten unter 254
Köpfen aus dem Vcneti an i sehen, der Lombardei und dem italieni-
schen Tyrol 230 die breite , 23 die mittlere , ein einziger die
schmale Form. In den adriatischen Küstenstrichen südlich von
■ Bologna fallen von 377 Schädeln 265 unter die breiten, 105 auf die
mittleren und 7 auf die schmalen. Begeben wir uns über den
Apennin, so sind dagegen von 213 toskanischen Schädeln nur 134
brachy-, 59 dagegi-n ineso- und 20 dolichocephal. In dem ehe-
maligen Kirchenstaat gehörten von 200 Schädeln nur 52 zu den
Brachy-, dagegen 100 zu den Meso- und 48 zu den Dolichoee-
pbalen. Endlich zählten von 363 NeapoüUnern 131 zu den Breit-,
169 zu den Mittel- und 63 zu den Schmalschädeln. Daraus ergibt
sich, dass die Norditaliener zu den stark brachy cephalen Völkern
gehören, dass aber mit dem Fortschreiten nach Süden auf der
Halbinsel der .Schädel sich etwas verlängert und die Mittelform
schliesslich zur Herrschaft gelangt '). Auch hier offenbart sich also
bei örtlichen Veränderungen ein Sehwanken der Indices. Dürfen
I) Joum&l of the Anthropological Institute, London 1S7Z. lom. I.
p. IIO fi.
Die Grössenverhiltnisse des Gehirnschädels. 6l
wir aber etwas anderes erwarten? Predigen uns nicht alle neueren
Untersuchungen , dass alle' physischen Merkmale grossen Schwan-
kungen ausgesetzt sind, dass überhaupt die belebten Geschöpfe
nicht nach starren Urformen sich entwickeln, sondern beständige
Umbildungen erleiden? Darf man überhaupt Beharrlichkeit des
Typus innerhalb der Menschenart erwarten, da die meisten Racen
sich fruchtbar kreuzen können? Wenn diess aber der Fall ist,
dann darf es weder beunruhigen, noch in Verwunderung setzen,
dass es in Göttingen eine Sammlung deutscher, sogenannter ana-
tomischer Schädel gibt, welche die EigenthnmHchkeiten der ver-
schiedenen Menscheriracen vertreten sollen.
Kaum bedarf es wohl noch der Warnung, dass niemals aus
dem Breitenindex irgend eines unbekannten Schädels auf seine
Racenabkunft geschlossen werden könne. Der schmälste Slaven-
schädel (72,g) könnte noch für einen Negerschädel seinem Index
nach gehalten werden, denn einzelne Negerschädel gehen noch bis
77,8 , aber Negerschädel unter 72 können nicht m(=hr mit Slaven-
schädeln \'erwechselt werden. Unter 237 deutschen Schädeln findet
sich ein einziger, dessen Index auf 69,,, also auf das Mittel von
66 Negern sinkt, Negerschädel unter 69 werden aber niemals
mdir für deutsche Schädel erklärt werden können.
Die statistischen Mittel, wenn sie mit kritischer Vorsicht ge-
braucht werden, haben auch bisher immer noch bestätigt, was auf
anderm Wege bekannt geworden war. Alle Aegyptologen sind
einstimmig, dass sich der alte Menschenlypus der Denkmäler in
den Fellahin und Kopten erhalten habe. Ihr Breitenindex (71,^)
stimmt genau zu dem der ägyptischen Mumien. Wenn man auch
Falimerayers extreme Ansichten nicht billigt, so wird man doch
den Neugriechen immer als stark gemischt mit slavischem Blut
betrachten, und der Index lehrt uns, dass die Neuheüenen mit 77,,
gegen die Altgriechen mit 75,5, beträchtlich brachyc'ephaler ge-
worden sind. Das gleiche war zu erwarten in Italien, wo wir die
Altrömer mit 74,0 angegeben finden,
Zur Warnung, dass man sich nicht auf Schädel merkmale allein
verlassen darf, wollen wir mittheilen, dass der hochverdiente Bar-
nard Davis geglaubt hat, die Eskimo in drei Racen sondern zu
müssen, je nachdem bei ihnen die pyramidale Gestalt der Schädel
mehr oder weniger scharf ausgebildet war. Als die reinsten be-
zeichnet er die grönländischen, die Mitte halten d;e ostamerikani-
Ö2 Die Gro^senverhältnisse des GehirnschädeU.
sehen und völlig entfremdet der Musterform sind die westameri-
kanischen. „Dass die Eskimo des Polarkreises", fährt er fort, „ein
und dasselbe Volk sein sollen, ist eine unzulässige Ansicht, mögen
sie auch noch so oft von Reisenden verwechselt oder Beweise in
ihrer Sprache gefunden worden sein. Ihre Körpereigenthümlich-
keiten sind zweifellos verschiedne ') ". Nun hat ein grosser Kenner
nordischer Alterthümer jüngst gezeigt, dass die Eskimo erst seit
der Mitte des 14, Jahrhunderts sich über Grönland verbreitet haben '),
und ferner hätte der britische Craniolög schon aus Capt. Hall's
Beschreibungen sich unterrichten können, dass die Eskimomütter
den Schiiiel der Neugebornen seitlich pressen und ihm eine eng-
schliessende Lederkappe überziehen, um die gewünschte pyramidale
Gestalt künstlich zu erzeugen ^).
Was den bisherigen Ergebnissen der Schädeimessungen noch
mangelt, ist die dürftige Anzahl der Beobachtungen, die nur durch
eine fortgesetzte Bereicherung unsres Schatzes an Racenschädeln
sich vergfiJssern lässt. Die höchste Eile ist hier dringeild zu em-
pfehlen, da so viele bunte Menschenracen unter unsern Augen
zusammenschmelzen.
Von gleicher Wichtigkeit wie die Verhältnisse des Breitendurch-
messers ist die Höhe der Schädel. Bei ihrer Bestimmung setzte
Welcker die eine Schenkelspitze des Tastercirkels an den vorderen
Rand der HinterhauptÖiTnung, die andere aber gleichsam auf den
Zenilhpunkt des Hauptes, da wo sich die Ebenen kreuzen, welche
den Schädel in eine rechte und linke, sowie in eine vordere und
hintere Hälfte scheiden *). Auch hier wird das Messungsergebniss
in Hunde rttheiien des Längendurchmessers ausgedrückt und der
Höhenindex genannt. Durch eine lehrreiche Anordnung bei Welcker')
erkennen wir, dass im Durchschnitt die Höhe im umgekehrten
1) Thesaurus Craniorum. p. 224.
3) Koiirud Maurer in der Zweilen deutschen Nord polarfahrt. Leipiig
187J. Bd. 1. S. 234.
3) Life wiih (he Eequimaux. London 1S65. p. 5Z0.
4) Alex. Kcker niisst dagegen zuerst vom vorderen Rande und sodann
vom hinteren Rande des Hinterhau plloches nach der höchslen Erhebung de»
Hinlerhauplts. Crania Germaniae merid. p. 3. Das Mittel aus beiden Mes-
sungen ist wohl diejenige „Höhe", welche der Völkerkunde für Classification 3-
z wecke die wünschenswettheste wäre.
5) CrLiniolugische Mittheilungen. 5. 154.
Das menschliche Gehirn. 63
Verhältniss zur Breite wächst, dass schmale Schädel im Allgemeinen
hoch, breite Schädel flach sind, dass mit andern Worten der Höhen-
index bei Dolichöcephalen den Breitenindex übersteigt, bei Brachy-
cephalen hinter ihm zurückbleibt, so dass also eine geringere Aus-
dehnung in die Breite durch ein gesteigertes Hohenwachslhum aus-
geglichen wird. Doch ist dieses Verhalten weder ein strenges noch
ein ebenmässiges. Das Schwanken der Höhenindices ist viel ge-
ringer als bei der Breite, es bewegt sich zwischen 70,, und 82,_|,
denn der Höhenindox von 86,g bei Altperuanem ist nicht ohne
Verdacht eines künstlichen Ursprunges. Wir kennen ausserdem
Völkerschaften, die für ihren Breitenindex eine viel zu geringe
Höhe besitzen, wie die Hottentotten, die als Schmalschädel {69,,)
es doch nur zu einem Höhenmdex von 70,, bringen, während er
um mindestens drei volle Indexziffern höher steigen sollte. Um-
gekehrt vereinigen die Bewohner der Insel Madura, eine der höch-
sten Schädel breiten (82,5) mit dem grössten Höhenindex, nämlich
82., , während wir bei ihnen einen solchen von 75 etwa erwarten
sollten. Solche Fälle gewähren nun gerade der Völkerkunde für
die Beschreibung vortreffliche Schlag^vorte, so dass wir die Hotten-
totten als flache Schmalschädel (Platystenocephalen), die malayischen
Bewohner Maduras als hohe Breitschädel (Hypsibrachycephalen) be-
zeichnen können. Der Breitenindex gibt uns einen Ersatz für die
Gestalt des Schädels bei einer Betrachtung der Hirnschale von
oben, wenn das Auge senkrecht den Mittelpunkt der Langenaxe
trifft {Norma verticalis). Der Höhenindex wiederum bietet einen
Ersatz für die Ansicht des Schädels' von der Rückseite (Norma
occipitalis). Freilich können bei gleichlautenden Indices die Um-
risse bald eckig bald abgerundet sein, die grössten Breiten bald in
der Mitte bald weiter nach rückwärts auflreten. Der Vergleich der
gemessenen Ziffern untereinander ist indessen das einzige Verfahren,
welches bisher der Wissenschaft zu Gebote stand, während die Aus-
wahl von Typen nach dem Augenmasse zu künstlerischer Willkür
verleiden würde,
2. Das menschliche Gehirn,
Wenn wir einen durchschnittncn Todlenkopf auseinanderlegen,
müssen wir uns gestehen, dass wir nichts weiter in der Hand halten,
als gleichsam die Hülse einer abgcschossnen Patrone oder den
(jA Das mensch liclie Gehirn.
Larvenmantel, dem das geflügelte Geschöpf entschlüpft ist. Daran
knüpft sich die Erkenntniss , dass alle Schädelformen nur einen
künstlerischen Werth besitzen, und uns vorläufig' keinen Aufschluss
gewähren, über etwaige Stufen des menschlichen Denkvermögens
unter einem dolichocephalen oder einem brachycephalen Knochen-
helm, Künstliche Verunstaltung des Schädeldaches durch Zu-
sammenschnüren des Kinderkopfes, wie es bei Völkern des Alter-
thums geschah, wie es noch jetzt vorkommt bei unzähligen Be-
wohnern Amerikas, wie es selbst in Nord f rankreich der Brauch
unvorsichtiger Mütter ist'), mögen zwar nicht völlig unschädlich
sein, haben aber doch die gesunden Verrichtungen der künstlich
umgeformten Denkwerkzeuge nicht wahrnehmbar gehindert.
Was nun das edelste unsrer Organe, nämlich das Gehirn und
zwar sein Gewicht betrifft, so schwankt es von 2, 3 bis zu 4 Pfund
während wir beim Elephanten 8 — 10, beim Walfisch 4 — 5, bei
einem 18 Fuss langen Narwal noch 2 Pfd. 30 Loth , bei einem
7 Fuss langen Delphin a'/j Pfd. Gehimmasse antreffen, „Wer
aber möchte wagen", bemerkt ein berühmter iranzösischer Physiolog,
„aus der Masse des Gehirnes auf das Wesen und die Kraft eines
menschlichen oder nur eines thierischen Geschöpfes zu schliessen,"
Wer wollte, konnten wir hinzusetzen, nach dem Gewichte ent-
scheiden, ob eine Thurmuhi; oder ein Taschenchronometer schärfere
Zeitein theilungen gewähren? und doch sind beides nur Kunstwerke
unsrer Hände, Die Schwere des Gehirns in Bezug auf das Ge-
sammtgewicht des Körpers nimmt ebenfalls bei dem Menschen
nicht die höchste Stelle ein , denn wenn auch das Hirn des Wal
nur einem 3300stel, das des Elephanten einem soostel, des Hundes
einem 250stel, das_ des Menschen einem 37Siel bis 35stel des
Körpergewichtes entspricht, so werden wir doch übertroffen von
den Singvögeln, bei denen das Gewicht des Gehirns '/i?' von der
Blaumeise, bei der es '/.ai ^"o* Sperling, bei dem es '/j, und von
amerikanischeh Affen, bei denen es '/,9 bis '/ij <1^S Körperge-
wichts erreicht").
Wenn daher dem hohem Range des Menschen in der Schöpfung
1) S. AuEbnd 1S66. S. 1095 die Abbildungen von künstlichen Schädel-
2) Th. Bi^choff in den Naturwissenschaftlichen Vortiä^en Münchenei
r.elehrleTi. München 1858. S. 319.
Das i^enschliche Gehirn. (^c
auch ein hoher- Rang seines Gehirns entsprechen soll, so müssen
wir die Unterschiede des letzteren in anderen Beziehungen suchen
als in dem Gewichte. Das menschliche Grosshirn, welches allein
als Sitz und Werkzeug des Denkvermögens betrachtet werden darf,
besteht aus einer inneren weissen von zarten Fasern durchzogenen
Masse, die als eine Leitungsvorrichtung und als Sammelplatz der
Nerventhätigkeiten betrachtet wird, so wie aus einer äusseren grauen
Rinde, die Körnchen, kugelförmige Gebilde und Bläschen erkennen
lässt und \yenn^ nicht als Urheber , doch wenigstens als Sitz
der psychischen Thätigkeiten gilt. Je reicher nun die Oberfläche
gewunden, je tiefer gefurcht sie erscheint, desto mehr gewinnt
die Rinde oder graue Substanz an Oberfläche. Wir wissen zugleich,
dass eine mehr oder weniger ausgebreitete Erkrankung dieser
Schicht die höheren Geistesthätigkeiten, zumal das geordnete Denken
vernichten kann. Es lag daher sehr nahe, im Windungsreichthum
eine Bürgschaft für den höheren Rang des Gehirns erkennen zu
dürfen, zumal das klügste, aller Thiere, der Elephant, ein Gehirn
von tiefgezogenen Furchen und vielgestalteten Windungen dem er-
freuten Beschauer darbietet. Die früheste Anlage der Furchen,
bemerkt A. Ecker, scheine im Allgemeinen eine mehr symmetrische
zu sein und die Assymetrie nehme erst mit dem Auftreten der
Nebenfurchen überhand, so dass grössere Symmetrie der Furchen
und Windungen um so mehr für einen Ausdruck einer Bildungs-
hemmung betrachtet werden dürfe, als das" Gehirn Blödsinniger
dieses Merkmal zeige*). Andrerseits hatte Rudolph Wagner daran
erinnert, dass das Gehirn des Hundes im Vergleich zu dem ver-
wickelten Windungssystem des geistesarmen Schafes, eine ausser-
ordentliche Armuth verrathe und dass die Gehirne bei unsern
grossen Mathematikern Gauss und Dirichlet zwar in Bezug auf
Tiefe und Vielgestalt der Furchen, vorzüglich in den Stirngegenden,
zu den am höchsten ausgestatteten gehören, die er gesehen habe,
eigenthümliche Krümmungen aber auch ihnen fehlen*).
Wenn nun Huxley' in den Oehirnschädel einer geistes-
gesunden Frau 55,^ Cubikzoll Wasser, in den geräumigsten Gorilla-
schädel aber 34^2 Cubikzoll Wasser einzugiesen vermochte 5), so
1) Arch. für Anthrop. Bd. 3. S. 221.
2) Wagner, Windungen der Hemisphären. S. 6. S. 7. S. 24.
3) Er rechnet 252,* Gian Hirn = i Cubikzoll Wasser. Stellung des
Menschen in der Natur. S. 87. Genauer bestimmt Carl Vogt (Archiv für
Feschel, Völkerkunde. c
^
56 1^3s meoschtiebc Gehirn.
sollten wir schon im Klaren sein , ob Menschen- und Allengehirn
überhaupt so genau übereinstimmen, dass ihr Rauminhalt verglichen
werden darf. Leider sind die Untersuchungen über das embryo-
nale Affengehirn noch sehr spärliche'). Als seine Ueberzeugung
hat jedoch Th. v. Bischoff ausgesprochen, dass zwar das mensch-
liche Gehirn keine Haupt furche und keine Hauptwindung be-
sitze, die nicht beim Orang vertreten wäre, dennoch aber das
menschliche Geiiirn keineswegs blos einen Fortschritt, das Gehirn
des Orangs eine Verzögerung des Wachsthums darstelle, sondern
dass beide einen andern Entwicklungsgang einschlagen, nach an-
deren Richtungen sich entfalten und zu keiner Zeit mit einander
übereinstimmen'). Vorläufig ist dies zwar nur die Ueberzeugung
eines von seinen Fachgenossen hochgestellten Gelehrten , es ent-
spricht aber zugleich unsern Erwartungen. Wiederholte Erfahrungen
liegen vor, dass Krankheiten , die bei den Eltern zur Zeit der Er-
zeugung noch schlummerten und viel später erst hervorbrachen,
dennoch auf ihre Kinder übertragen "wurden, um auch bei ihnen
erst im reifen Alter aufzutreten. Wenn also die Ursachen künftiger
Störungen schon erblich sind, so muss dies noch um vieles mehr
von den Arten-, Gattungs- und Ordnungsunterschieden gelten.
Somit können wir uns der Vorstellung nicht entziehen, dass schon
bei der ersten Lebenserregung die morphologischen Ziele dem
Keun des Menschen wie dem des Affen vorgezeichnet sind, Ihre
Entwicklung lässt sich vergleichen mit zwei Schienenspuren, die
vom Abgangsorte auf einem geraeinsamen Bahnkörper lange neben
einander laufen, um sich schliesslich in gefälligen Krümmungen
nach rechts und links zu .verlieren. BischofT gesteht übrigens zu,
dass es der genauesten Untersuchungen bedürfe, um bei der grossen
morphologischen Nahe noch Unterschiede zwischen den Gehirnen
Anthropologie, Bd. 2, S. l86) die minieren Werthe des Schädelinnenraums bei
den höheren Affen.
Männchen. Weibchen.
Cubikcentimeler.
beim Orang und Pongo 448 378
,', Tschimpanse und Tscbego 417 370
,. Gorilla 500 423
1) Ad. Pin seh konnte das fötale Hirn eines Ccbus apella und die
zweier neugebonien Atlen beschreiben. Über die typische Anordnung der
Fuichea und Windungen im Archiv für Anthropologie. Bd. 3. S. 239.
2) Die Grosshirnirindungen des Menschen. München 1868. S. 96.
Das menschliche Gehirn. g^
des Menschen, Orang, Tschimpanse und Gorili zu erkennen 'J. Auf
Rolleston's Messungen gestützt findet Bischoff, dass die Halbkugeln
des menschlichen Grosshirns von denen der Affen sich besonders
durch ihre Hohe auszeichnen"). Wenn übrigens auf Unters t-hie dt
in der Quantität meist wenig Gewii-ht gelegt wird, so übersieht
man, dass bei chemischen Mischungen von den Quantitäten auch
die Qualitäten der Stoffverbindungen abhängen, dass durch Zutritt
eines einzigen Atoms Sauerstoffes Schwefelsäure aus schwcfeliger
Säure entsteht, dass eine numerische Steigerung der Schwingungs-
frequenz dunkle in leuchtende, das heisst die Sehnerven erregende
Wärme verwandelt und dass selbst bei Zahlengrössen geringe \'er-
änderungen in der Quantität zu innerlichen Unterschieden von
höchster [Wirksamkeit führen^). Bei dem Dunkel aber, welches
über den Beziehungen der einzelnen Gehirntheile zu den Verrich-
tungen des Denkvermögens ruht, bleibt die Vermuthung noch ver-
stattet, dass die höheren geistigen Thätigkeiten vielleicht an einen
äusserlich geringfügigen Zuwachs des Gehirns geknüpft sind.
Auch darf es als herrschende Ansicht bezeichnet werden, dass
ein ungestörtes menschliches Denkvermögen nur dort vorhanden
sei, wo das Hirngewicht eine untere Grenze überschreitet, die thoils
nach den Geschlechtern, theils nach den Menschenracen Schwan-
kungen erfährt, Quatrefages wollte bei Europäern die GewiL-hts-
menge des männlichen Gehirns auf 1I13, des weiblichen auf 575
Grammes festsetzen*). Carl Vogt fordert im ersten Falle nur 1000,
im andern nur goo Grammes*). H, v. Luschka erklärte wiederum
kürzlich 64 Loth oder 1000 Grammes als das geringste Ge-
wicht eines Gehirns von ungestörter Thätigkeit*). Im frischen Zu-
I) a. a. O. S. loi.
3) a. a. O, S. 98-99.
^) Der Untenchied der Quantität zwischen d«n Grössen
0.99999999
ist ein relaüv sehr schwacher, dennoch besitzt die erste Zahl die Eigcnschart
durch forlgeseizte Potenzirung sich bis ins Unendliche verkleinern, die
dritte auf dem gleichen Wege sich bis ins Unendliche vergrüsscrn zu lassen,
während die mittlere bei jeder Poleniirung ihre Unveränderljchkeit bewahrl.
4) Kapport 3ur les progiis de I'Anlhropologie, p. 324.
5) Vorlesungen über den Menschen. Bd. 1. S. 103.
6) Dritte Versammlung der Deutschen anlhrop. Gesollsch, S. 17.
(,g Das menschliche Gehirn.
Stande gewogen, fand er das Geliirn eines weiblichen Mikrocephalen
nur 30 und das eines männlichen sogar nur 20 Loth schwer. Bei
diesen unglücklichen Geschöpfen lässt sich ausser einer verlängerten
Form der Gehirnsciiale und einem starken Vorspringen der Kiefern
an dem Schädel nichts Thierisches wahrnehmen, denn Virchow hat
entschieden der -Behauptung Carl Vogts widersprochen, dass die
Stellung der Hinterhauptsöffnung eine regelwidrige sei. Das gleiche
gelte von den Verhältnissen des Grundbeines, die natürlich bei
erwachsenen Mikrocephalen und erwachsenen Affen, bei jungen
Mikrocephalen und jungen Affen und zwar hohen Affen, nicht bei
erwachsenen Mikrocephalen und jungen Affen verglichen werden
müssen"). C'ari Vogt hatte nun gewagt, die Schädel von solchen
verkümmerten Menschen mit Affenschädcln su vergleichen. Nach
seinen Befunden betrug die Geiäumigkeit der Hirnschale bei einem
Ulüdsinnigen 62z, bei einem andern 460 Cubikcenlimeter, während
ein männlicher (jnrill 500 Cubikcentimelet erreichte'). Gestützt
auf diese Untersuchungen wollte er in jenen menschlichen Miss-
bitdungen einen KüLkschlag oder in der Sprache der Uarwinischen
Lelire einen Atavismus wahrnehmen, der durch Wiederkehr von
Ahnen merkmalen aus weit entlegener Vorzeil uns über die thierische
Abkunft unserer Voreltern eine Beglaubigung gewähren sollte^).
Allein auf der dritten Versammlung der deutscheu anthropolo-
gischen Gesellschaft erhoben sich alle Fachkenner gegen diese
Deutung der Thatsachen. Fast mit denselben Ausdrücken wurden
die Mikrocephalen als menschliche Geschöpte anerkann^t, die durch
krankhafte Hemmung sich nicht entwickeln konnten und durchaus
nicht etwa als vermittelnde Glieder die Kluft füllen, welche den
Menschen von den ihm ähnlichsten Geschöpfen der Thierwelt
trennt. Schon dass den Blödsinnigen die Geschlechtskrait fehlt,
zeigt uns, dass die Vorfahren der Menschen nie, auf einer
Mikrocepbalenstufe gestanden haben, dass nie irgend ein Erdraum
in der Vorzeit von Cretinen bevölkert gewesen war*).
So gelangen wir zu dem Satze, dass nur das menschliche
1 Menschen- und AHenschädel. S. 31.
) Memoire sur Ics Microciphatcs in Mfm. de rinslilut naüonal gen
IX. Gentvc 1867. p 54;
I 1. c. p, ly?.
I Vgl. die Reden v. Luschka'^, Vircliow's, Ecker's, S^liariiDiiiii.^ciri
•> Das menschliche Gcbim. 69
Gehirn mit andern" menschlichen Gehirnen verglichen werden darf.
Dies geschieht bei Racenschädeln annähernd dadurch, dass die
Geräumigkeit der Gehirnschale gemessen wird, Wasser pflegt
man dabei nicht anzuwenden, weil die vielen Oeffnungen der
Knochen verklebt werden müssten. Die Ausfüllung mit Leim
oder Gyps kann iu|r nach erfolgten Querschnitten, also bei zer-
störten Schädeln stattfinden, gewährt auch keine streng vergleich-
baren Ergebnisse, weil verschiednen Sorten des Ausfüllungsstoffes
auch verschiednes specifisches Gewicht zukommt und ist selbst von
denen aufgegeben worden, die sie ehemals empfahlen'). Jetzt
wird die Gehirnkapsel entweder mit Hirsekornern oder mit feinem
Schrot, ausnahmsweise und minder glucklich , mit Sand angefüllt
»nd der Inhalt hierauf in ein metrisch geaichtes Gefäss ausge-
schüttet. Auf diese Art haben wir die Geräumigkeit der Gehirn-
kapsel bei verschiedenen Racen kennen gelernt. Lucae's Messungeii
würden lehren , dass der weiteste Negerschäde! noch nicht das
Mittel bei Deutschen, der beste Australierschädel noch nicht das
Mittel des Negers erreiche, sowie dass die individuellen Schwan-
kangen mit den absoluten Ziffern immer grösser werden'). Fast
wie eine Bestätigung klingen die Ergebnisse Broca's, der den, mitt-
leren Schädelinnenraum bei dem Australier 100 gleich setzt und bei
dem Neger iii,^. bei dem Teutonen 124,^ finden wollte^). Nicht
so ungünstig für die von ■ uns als niedrig angesehenen Menschen-
racen lauten die, allerdings bedenklich hohen, Mittelwerthe, zu denen,
gestützt auf die reichste aller Sammlungen, Barnard Davis gelangt
ist*). Er fand nämlich eine Geräumigkeit des Hirnschädels
Jäger's in dem Bericht über die dritte Versamml. der D. onthropol. Gesell-
schaft, S. 16—25, femer H, Schule im Archiv fiir Anthropoloßie, Braunschw.
1872, Bd. 5. S. 444—446.
I) Lucae, Morphologie derRacenschädel. Heft 3. (I«64.) S. 45-
2} Lucae, Morphologie der RacenschädeL ilefi 2. U864.] S, 45, geTnesseii
mit Hirse;
Zahl der Schädel.
Minim.
Maiim.
Mittel.
Cubikcentimt
:ler.
tj Deut&che
1300
172s
I53i.t
6 Chinesen
1400
'575
■482,>
-5 ^-eger
1190
1S05
'344
5 Australier
"15
1300
1186.
a, bei QualrefaRes Rapport
, p- 306.
-Q Daf menschliche Gehirn. -
engl. Cubikioll Cubikcenüm.
bei Europäern 92,j 1835
„ Amerikanern 89 1774
„ Asiaten 88,, 1768
„ Afrikanern 86„ ' 1718
„ Au=lraliern 81,7 1628
Neben diesen IMitteln aus zahlreichen Einzelwqjthen ist es rathsam,
auch auf die Schwankungen einen Blick zu werfen. So stiess
Morton unter allen Racenschädeln auf einen kleinsten von 63 und
auf einen grossten von 114 Cubützoll (engl.) Rauminhalt'). Barnard
Davis aber besitzt einen allrömischen Schädel mil nur 62 Cubikzoll
und einen irischen mit (21.5. Ein andrer irischer Schädel im
Museum Bateman erreicht sogar 124,, CubikzoU'). Selbst innerhalb
eines Volkstarames können die grössten Sprünge vorkommen, da
toskanische Schädel noch tief an Rauminhalt hinter dem engsten
Australierschäde! zuriickbleiben. Bei einem 23jährigen Florentiner
Dienstmädchen traf Paolo Mantegazza nur 1046 Cub. Cm., bei
einem erwachsenen Florentiner aber 1727 Cub. Cm. und bei einem
angebüi'h etruskischen Krieger sogar 1750 Cub, Cm.^)
Sollte die geringe mildere Geräumigkeit des Schädels in einem
ursächlichen Zusammenhang stehen mit einer verzögerten geistigen
J.ntwicklung, so durften wir erwarten , dass auch die Schädel der
Alleuropäer geringere Maaasc wie die ihrer Nachkommen aufweisen
würden. An dazu ermulhigenden Thatsachen ist kein Mangel.
Broca will eine zunehmende Geräumigkeit der heutigen Pariser
Schädel {1462 — 1484 Cuh. Cm.) gegen solche aus dem I2. Jahr-
hundert (1426 Cub. Cm.) gefunden haben^). Schädel von Altgriechen,
nämlich der einer wohlhabenden Dame Namens Glykera aus der
makedonischen Zeit mit nur 1150 Cub. Cm., sowie eines Mannes
mit 1280 Cub. Cm., die kürzlich in Athen ausgegraben wurden,
begünstigen diese Ansicht*). Umgekehrt haben His und Rütimeyer
für ihren Disentis- oder alemannischen Typus, dem drei Viertel der
heutigen Schweizer angehören, im Mittel 1377 Cub. Cm-, für den
Hohbergtjpus, angeblich AltrÖmer, 1437 Cub. Cm. und für den
ij Huxlej', Stellung des Menschen in der Natur. S. 87.
21 Thesaurus craniotum, p. 360, p. 65.
31 Archivio per l'antropologia. Flrenze 1871. vol. I. p. 53 sq.
4) Nach Broca bei Carl Vogt, Vorlesungen über den Menschen, Bd. i,
S. 105—108.
5) Siehe darüber Virthow's Bericht in den Verhandl. der Berliner
jutliropol. Gesellschaft. 1872. S. 174 ff.
Das menschliche Gehirn.
71
Sionkopf, der mit Pfahlbauschädeln übereinstimmt, 1558 Cub. Cm.
\M~ — 8 ) &^^^"^^"' Somit hätte die schweizerische Bevölkerung
an Schädelgeräumigkeit beträchtlich verloren').
Das Ergründen dieser Raumgrössen geschieht offenbar , um
wenigstens annäherungsweise auf die Mächtigkeit des Gehirns
schliessen zu können, lieber das Gewicht dieses Organes besassen
wir lange Zeit nur eine bahnbrechende Arbeit von Rudolf Wagner.
Leider stammte die Mehrzahl der 964 untersuchten Gehirne von
Geisteskranken , die also von Vergleichen hätten ausgeschlossen
bleiben sollen. Die Gewichtsbestimmungen rührten ausserdem von
verschiedenen Anatomen her, die nicht ein gleiches Verfahren inne
gehalten zu haben scheinen. Auch war es zu beklagen, dass die
Körpergrösse der untersuchten Leichen nur hin und wieder ange-
geben war. Da nun bei Cuvier ein Gewicht von 1861 Grammes,
bei Lord Byron, freilich auf zweideutige Angaben hin, ein solches
von 1807 Grammes ermittelt worden war, so schien ein hohes Ge-
wicht von hoher geistiger Begabung begleitet zu werden. Allein
bei Göttinger Gelehrten, wie Dirichlet (1520 Gr.), wie dem grossen
Gauss (1492 Gr.), dem Pathologen Fuchs (1499 Gr.), dem Philo-
logen Hermann (1358 Gr.) und dem Mineralogerl Haussmann
{1226 Gr.) sanken die Werthe bis zum sonstigen Mittel, ja sogar
tief unter dieses herab ^). Als einzig dauernder Gewinn dieses
ersten Versuches lässt sich anführen, dass Wagner im Mittel das
weibliche (iehirn leichter fand, als das männliche. Diese That-
sache konnte später W^eisbach bei den deutschen und slavischon
Bevölkerungen Oesterreichs streng bestätigen. Ferner hat Calori,
gestützt auf eine gfrosse Zahl von Gewichtsbestimmungen bei Italiern
das weibliche Gehirn um 150 — ^200 Grammes leichter gefunden.
Die Geräumigkeit der Schädel ist ebenfalls bei den Geschlechtern
verschieden nach folgender von Weisbach "5) entworfenen Statistik:
•
i) Crania Helveüca. Basel 1864. p. 44.
2) Rudolf Wagner, Die Windungen der Hemisphären u. das Hirage-
wicht. Göttingen 1860. S. 32 — 33. In einem offnen Schreiben an Bamard
Davis on the skull of Dante p. 13 hat jedoch Welcker aus den Wagner'schen
und andern Wägungen gezeigt, dass die Gehirne von 26 Männern hohen
geistigen, Ranges zusammen um 14 Proc. das Mittel der ihnen zukommenden
Himgewichte überschritten. Dante's Gehirn (1420 Gr.) steht übrigens sehr
wenig über dem Mittel von 1390 Gr.
3) Der deutsche Weiberschädel, im Archiv für Anthropologie. Braunschw.
1868. Bd. 3. S. 63.
Das menschliche Gehirn.
cit des weiblichen
Hiraschädels im Ver
der letztere = locx
gesetzt
Beobachter.
hei Nceen,
984
B. Davis.
„ Hindu
944
„ Negern
932
Tiedemann.
„ Malayen
9J3
„ Holländern
919
„ Irländem
912
B. Davis.
„ Kaniken
906
„ Slaven
90J
Weisbach.
„ Marquesas-Insul
902
B. Davis.
„ Deutschen
897
Welcher.
„ HoUMndtrn
883
B. Davis.
„ Deutschen
■878
Weisbach.
„ Javanen
874
B. Davis.
„ Deutschen
864
Tiedemann.
„ Engländern
860
B. Davis.
., Deutschen
8J8
Huschke.
Lehrreich ist an diesen Werthen vorzüglicli, dass bei den hochge-
sitteten Völkern , wie sicli dies auch bei andern Körpermerkmalen
wiederholt, die Geschlechts Verschiedenheiten stärker hervortreten.
Auch andere überraschende Aufschlüsse über die Gewichts-
verhältnisse erhielten wir durch die Untersuchungen A. Weisbachs,
die sich zwar nur über 429 Gehirne von Bewohnern Oesterreichs
erstreckten, dagegen aber ausschliesslich geistesgesunden Personen
angehört hatten'). Stets wurde zunächst das Gesammtge wicht,
dann aber wiederum das Gewicht des grossen sowie des kleinen
Hirns und der Brücke besonders festgestellt. Belehrend war vor
allem die Thatsache, dass das Gehirn zwischen dem 20. und .^o.
Lebensjahre sein höchstes Gewicht erreicht und dann bis' zum 80. Jahre
einen Verlust erleidet, der bis zu 10 Proc. anwächst. Dieser Verlust er-
streckt sich gleichzeitig auf alle Abschnitte des Gehirns mit Ausnahme
der Brücke, die noch bis in das 50. Lebensjahr zunimmt'). Daraus
muss die Lehre gezogen werden , dass nur das Gewicht der Ge-
hirne bei gleichem Lebensalter verglichen werden darf. Ferner
sind die Untersuchungen einer älteren Vermuthung günstig gewesen,
dass nämlich die sperifische Schwere der Gehirne verscliieden sei.
I) Die GewichlBverhältuisse der Gehirne österreichischer Völker, im Archiv
r Anthropologie, Brauiischw, l8£6. Bd. I. S. 190.
2} a. a. O. S. 199.
Das menschliche Gehirn. ^3
denn die geräumigeren Schädel der Deutschen zeigten eiii geringeres
Hiiaigewicht, wie andre engere Schädel, nämlich'):
Geräumigkeit des Gewicht des
Männer: Schädels. Gehirns.
Cub. Cm. Grammes.
Deutsche iSOi»«6 I3H>»
Magyaren I42i,6e 1322,«
Slaven 1484»*» 1325,1
Demnach würde die Geräumigkeit der Schädel für die Völkerkunde
lehrreicher sein, als das Hirngewicht. Hinzufügen wollen" wir noch,
dass bei den männlichen deutschen Gehirnen ein Minimum von
986,^ Gr. mit einem Alter von 65 Jahren, bei den weiblichen ein
solches von 889,1 ^^i^ ^^^ Alter von 83 Jahren verknüpft war.
• Eine andere Aufklärung verdanken wir Calori in Bologna, der
schon einmal durch seine zahlreichen Messungen der Wissenschaft
dankenswerthe Dienste geleistet hatte. Er gibt uns das Hirngewicht
von 421 Italienern beiderlei Geschlechtes, trennt aber die Fälle je
nach der Form der Schädel.
Himgewicht in Grammes.
Zahl der Fälle.
Gesammtgewicht Grossgehirn
bei brachycephalen Schädeln.
201
Männer
1305 1145
72
Frauen
1150 1004
bei Schädeln mit einem Breiten-
index unter 80.
104
Männer
1282 1122
44
Frauen
1136 992
Hier wiederholt sich nicht blos die Erfahrung, dass das weibliche
Gehirn das leichtere sei, sondern es scheint sich weiter zu ergeben
dass bei beiden Geschlechtern, die Breitschädel ein höheres Ge-
wicht besitzen wie die Schmalschädel. Das leichteste Gehirn bei
einem Manne von 22 Jahren mit einem Breitschädel wog 1024 Gramm,
bei einem 34jährigen Schmalschädel 1088 Gramm, während die
geringsten Werthe bei den breit- und schmalschädeligen Frauen
909 und 918 Gramm lauten*).
i) a. a. O. S. 314.
2) Journal of the Anthropological Institute. London 1872. vol. i. p. 117.
Der Gesichts 5chä<3el.
3) Der GesichtBschädel.
An dem senkrecht durchschnittenen Schädel erkennt auch das
ungeübte Auge sogleich den Bereich der Gehirnkapsel und des
Gesichtsschädels. Dieser letztere beansprucht im Vergleich zn
ersterer beim Menschen einen viel kleineren Raum, denn er ist
nicht halb so lang, nicht halb so hoch und immer schmäler als
der andere. Bei den Affen , selbst bei den höchsten , überwiegt
dagegen das Wachsthum des Gesichtsschädels und hauptsächlich
beruht auf dem Hervordrängen der Kiefern zur Schnauzenform
der thicrische Ausdruck di^s Kopfes, Anklänge an diese Gesichts-
bildung bei Menschenstämmen nennen wir Prognathismus. Peter
Camper war der erste, welcher es versuchte, durch den sogenannten
Gesichtswinkel den Betrag jener Wachsth ums Verhältnisse zu ermit-
teln'). Er zog nämlich eine Linie vom äussern Gehörgang nach
der Nasen sc hei de wand und Hess sie durchschneiden durch eine
Linie vom Schluss der Zähne nach dem am meisten hervortreten-
den Theil der Stirn, In der Grosse des Winkels fand er den
Maassstab für den edleren Gesichtsausdruck, Virchow hat schon
richtig eingewendet, dass jener Winkel bei alten Leuten sowohl
durch die Entwicklung der Stirnhöhlen wie durch das Zurücktreten
der Zahnfortsätze geringer werden müsse'). Noch viel misslicher
aber war es, dass Camper die Nasenscheidewand und die Gehör-
gänge erwählte, um durch sie eine sogenannte Horizontalebene des
Schädels zu legen. Nach einer solchen Ebene ist von Craniologen
so eifrig gesucht worden, wie von den Alchymisten nach den
Grundbestand theil en des Goldes. Man dachte sich diese Ebene
parallel zum Horizont durch den Kopf gelegt, sobald dieser auf
seinem Schwerpunkt bei der geringsten Nachhilfe von Muskeln
schwebe. Der Verlauf der Jochbogen schien in diese Ebene zu
fallen und der Schädel wurde dem entsprechend aufgestellt. Es
ergab sich aber bald, dass diese Ebene bei Racenschädeln einen
ganz verschiedenen Verlauf nahm, dass man nicht immer den
Jochbogen folgen, sondern den Schädel bald vorn, bald hinten ein
0 Peter Camper, über den natürlichen UnlerscMed der Gesichtszüge.
Berlin 1792. XV, 17. :i— 12.
2) Schadelgnind. S. ng.
Der Gesichtsschädel. yc
wenig heben müsse *). Bei einem solchen Verfahren verliess sich der
Untersuchende auf sein künstlerisches Gefühl, das aber zeitenweise
wechseln kann. Es ist einem Anatomen begegnet, der sich auf
diesen schlüpfrigen Pfad wagte, dass Messungen an denselben
Schädeln, die er nach drei Jahren wiederholte, Unterschiede ergaben,
die über 50 Procent stiegen, wie H. v. Ihering nachgewiesen hat^).
Solche Winkel lassen sich übrigens nur bestimmen auf gezeichneten
Schädelumrissen. In Folge dessen ist die Wissenschaft wenigstens
mit dem Verfahren der sogenannten geometrischen, vielleicht . rich-
tiger orthographischen Projection des Schädels bereichert worden.
Lucae, ihr Erfinder, gibt nämlich auf einer festen Unterlage dem
Schädel die erforderliche Stellung. Parallel mit der Unterlage ruht
über dem Schädel eine Glasplatte, auf welcher ein dioptrisches
Instrument mit einem Fadenkreuz dermassen fortbewegt wird, dass
seine optische Axe stets die Umrisse des Schädels berührt. Dem
Kreuzungspunkt der Fäden folgt dann" auf der Glasplatte eine
Feder, um den durchlaufenen .Weg mit Tinte einzutragen 3). Auf
diese Weise erhalten wir ein Bild des Schädels, wie er von uns
aus unendlicher Ferne gesehen werden würde, etwa wie dies an-
nähernd bei unserem Monde von der Erde aus der Fall ist und
solche Gemälde sind nicht blos befreit von allen Mängeln des
perspectivischen Sehens, sondern sie verstatten auch, Maasse mit
dem Cirkel zu nehmen.
Noch weniger Einklang wie bei den Grössenbestimmungen
der Gehirnkapsel, herrscht bei den Winkelmessungen am Gesichts-
schädel. Ein jeder Anatom betrat seinen eignen neuen Weg ohne
Rücksicht auf seine Vorgänger, ja gebrauchte sehr oft dieselben
Benennungen für Winkel, die ein andrer früher an andern Punkten
gesucht hatte. Die Ergebnisse der verschiedenen Messungsarten
lassen sich also nicht unter einander vergleichen und der folternde
Anblick dieses lichtlosen Reiches von Widersprüchen hat der
Craniologie eine vielleicht nicht gänzlich unverdiente Missachtung
zugezogen, denn oft genug war es weniger das Bestreben, der
Völkerkunde brauchbare Zahlenausdrücke zu liefern, als vielmehr
1) Lucae, Morphologie der Racenschädel. 1861. Heft i. S. 42. Heft 2,
(1864.) S. 31.
2) Archiv für Anthropologie. Bd. 5. Braunschweig 1872. S. 396.
3) Morphologie der Racenschädel. Heft i. S. 10 — 11.
76
Der GesichtBscliädel.
in den Racenschädeln Bestätigungen für morphologische Theorien
zu finden, welches zu immer künstlicheren Messungsversuchen an-
gereizt hat.
Bei dieser Lage der Dinge kann die Anthropologie nur dem-
jenigen Anatomen folgen, welcher die grösste Zahl der Schädel
gemessen hat, nämlich Welcker, und glücklicher Weise ist gerade
sein Verfahren , wenn auch , wie er das selbst sich eingestanden
hat, nicht vollkommen und keiner Verbesserung mehr bedürftig,
doch dasjenige, welches noch am meisten die Erwartungen be-
friedigt. \\'elcker sucht keine Horizontalebene , sondern bestimmt
nur die Lage von Punkten am Gesichtsschädel und zwar ohne
Rücksicht auf die Stirnknochen.
Der thierische Ausdruck des menschhchen Antlitzes wird durch
das Vortreten der Kieferbeine erweckt und der Betrag dieses Vor-
tretens lässt sich am günstigsten durch Winkelmessungen bestimmen.
Schon Virchow hatte vor Welcker den Gedanken ausgesjjrochen,
däss der Prognathismus oder die Schnauzen form des Gesichts-
achädels abhängig sei von der Gestalt des Schädejgrundes,
wenn er sich auch diese Abhängigkeit anders dachte, als sie sich
aus Weickers Messungen ergibt. Dieser letztere überzeugte sich
vielmehr, dass das Vorspringen der Kiefern mit der Grösse des
Sattelwinkels wächst. Die Grösse des Winkels beim 'lurkensattel
lässt sich durch ein Dreieck bestimmen, dessen eine Seite (Fig. ^ne)
der Entfernung der Nasenwurzel zum Sattel , dessen zweite {ei)
dem Abstand dc-s Sattels vom vordem Rande des Hinterhaupt-
loches, dessen dritte (_i>n) der Linie von letzterem zurück zur
Nasenwurzel gleich ist. Dieser sogenannte Sattelwinkel übertrifft
schon bei dem Menschen einen rechten, bei den Thieren aber
erweitert er sich viel beträchtlicher. Beim Kinde und beim Affen-
jnngen ist seine Grösse oder der Betrag der Einknickung des
Schädelgrundes nur wenig verschieden, nämlich 141° im ersten und
155° im andern Falle, mit dem Alter aber verschärft sich beim
erwaclisenen Menschen diese Einknickung bis zu 134°, beim Affeu
dagegen flacht sie sich bis zu 174° ab, und Welcker erkennt in
dieser veränderten Wachslhumsrichtung einen tiefen Unterschied
zwischen Mensch und Thier'}, Jener Sattelwinkel ist jedoch an
einem geschlossenen Schädel weder sichtbar noch messbar und be-
) Biiu uiid W'acbslhum des Schadeis. S. 1
Der Gesiclilsschädel.
■s*
sitzt daher lür unsere Zwecke nur einen theoretischen Werth, inso-
fern ein andrer Winkel des Gesichts zu ihm in Wechsel abhängig-
keit steht. Dieser Winke] liegt an der Nasenwurzel («) und lässt
sich an allen Schädeln messen mit Hilfe eines Dreiecks, dessen
Seiten entsprechen den Abständen von der Nasenwurzel bis zum
vorderen Rande der Hinterhauptsöffnung (h), von dieser bis zu dem
Ansatz der Zahnfächer (a;), und endlich von diesem zurück nach
der Nasenwurzel, Offenbar ist es der Winkel an dem Beginn der
Zahnrächer, welcher den Gesichtsausdruck beherrscht und mit dessen
Grösse sich in unsern Augen das Antlitz veredelt. Weisbach fand
ihn bei Amboinesen, javanen, Uanjaresen, Chinesen und Bugincsen
Fiß. 3. Durch seh niti des menscHichen Schädels in der Rithtuag dei* Pfeiliinhl.
11 Nasenwurzel, e Türliensatlel . 6 vorderer Rand de« Hinlerhauptloches,
a: Stelle am Oberkiefer über den Zaiin fächern,
von 70 bis zu 72° im Mittel sich erheben, bei 50 deutschen Mannern
erreichte er 73°, bei Norditalienem 75", bei 24 deutschen Frauen
76°, bei 28 Czechen 77°. ") Welcker hat indessen vorgezogen, die
Kieferstellung mittelbar durch den Winkel an der Nasenwurzel
{bnx) zu bestimmen, weil dieser letztere einerseits mit dem Sattel-
winkel zu wachsen pflegt, andrerseits der Winkel an den Zahn-
fächern (bxn) sich umgekehrt verhält, nämlich abnimmt, wenn jene
anderen wachsen. Der Winkel an der Nasenwurzel schwankt bei
I) Weisbach, der deutsche Weibcrschädel , im Archiv (ür Anlhropo-
logie. Bd. 3. Btaunschwcig 1868. S, 78. Sein Gesichtswinkel ist nahezu der
Winkel öx„ bei Welcker,
78 Der GesichtsschäJel.
Racenschädeln von 60° bis zu 72°. Als prognath bezeichnet
Welcker einen Sdiädel, wenn jener Winkel 68° und mehr beträgt,
als opistOj^nath , wenn er unter 65° bleibt, Schädel dagegen von
65° bis nicht ganz 68° nennt er orthognath, wofür wir aber meso-
gnath sagen wollen. Eine Musterung der Schädel formen lässt uns
wahrnehmen, dass im Allgemeinen Prognathismus vorzugsweise bei
Schmal Schädeln auftritt, während die Mittel- und Breitschädel meist
mesognath, bisweilen opistognath sind. Doch ist auch dieses Zu-
sammentreffen kein strenges, denn Eskimo, Mexicaner, Hottentotten
und Hochscbottcn gehören nach Welcker zu den mesognathen
Dolichocephalen, wie umgekehrt die Sumatraoer und Baschkiren
einen Breilenlndes von 8o„ und 02,^ mit einem Prognathismus im
Betrage von bg"^ und 67°6 vereinigen. Es konnte nun befremden,
warum bei Bestimmung der Kieferrichtung die Zirkelspitze über den
Zahnfächern und nicht sogleich an dem untern Zahnfächerrande,
oder wohl gar an den Schneidezähnen angesetzt wurde, da an
diesen Punkten das Vorspringen des Gesichtsschädels am meisten
sich steigert. Sehr viele Schädel sind aber gerade an jenen Stellen
- verletzt, sie müsstcn deshalb als unbrauchbar ausgeschieden werden.
Aber wichtiger ist es noch, dass derjenige Prognathismus, der durch
die schräge Stellung der Zahnfächer erzeugt wird, auf unwesentliche
Wachsthumsrichtuiigen sich begründet.
Der prognathe Gesichtstypus kann, wie Virchow auseinander-
gesetzt hat'), das Gehirn in seiner vollen Entwickelnng hemmen.
Es ist daher von tiefgehender Bedeutung, dass wir jene ungünstige
Kieferstellung fast ausschliessUch nur bei solchen Völkern finden,
deren Gesittung noch ziemlich unreif erscheint. Allein auch hier
muss wieder erinnert werden, dass innerhalb der nämlichen Volker
abweichende Gestaltungen neben einander vorkommen. Fälle von
Prognathismus sind bei Engländern und Franzosen nicht unerhört,
in Paris sollen sie ziemlich häufig auftreten*), ferner werden die
Chinesen von manchen Craniologen unter die prognathen Völker
gerechnet und in Welcker's Statistik begegnen wir den Holländern
sogar mit einem Winkel an der Nasenwurzel, der 67° 8 lautet. Bei
so grosser Veränderlichkeit belehren uns die Mittelzahlen nur über
die Häufigkeit einer bestimmten Form des Gesichtsschädels, während
i) Schädelgrund, S. 121.
;1 Quatiefages, Rapport, p. JII.
Der Gesichtsschädel.
79
die individuellen Schwankungen hinüberführen zu einem höheren
oder zu einem niederen Typus.
Sehr stark wird der Ausdruck des menschlichen Antlitzes
durch das Hervortreten der Jochbogen beherrscht. Beharrlich ist
auch dieses Merkmal nicht, gleichwohl leistet es dort, wo es in der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle auftritt, der Völkerbeschreibung
nicht zu verschmähende Dienste. Bringt man einen Schädel in
die Lage, dass der Blick des Beschauers oben, senkrecht die Mitte
der grossen Achse trifft (Norma verticalis), so kann das Auge mit
Sicherheit entscheiden, ob die Jochbogen wie zwei Henkel die Um-
risse der Gehirnschale überragen (phanerozyge) oder ob sie hinter
ihnen verdeckt bleiben (kryptozyge Schädel), und im ersteren Falle
werden wir sagen können, dass die Backenknochen stark hervor-
springen. In neuester Zeit hat man auch der Gestalt der Augen-
höhlen am knöchernen Gesicht Aufmerksamkeit geschenkt, doch
haben die bisherigen Messungen Merkmale, welche für die Völker-
kunde brauchbar wären, nicht erkennen lassen. Ganz unabhängig
von den knöchernen Gebilden scheint die schiefe Stellung der
Augenschlitze zu sein^), die als Kennzeichen aller mongolenähn-
lichen t'ölker zwar nicht ganz verlässig ist, doch aber bei der Be-
schreibung nicht völlig vergessen werden darf. Auch die Form
der Nase war bei den älteren Völkerschilderungen nicht übergangen
worden. Am jüdischen Typus seiner Nase ist der Papuane, an
ihrer Plattdrückung suid die nordasiatischen Mongolen zu erkennen.
Bei den Bewohnern Tübets soll der Nasensattel so flach sein, dass
er- in der Profilansicht nur wenig über die Wölbung des Auges
hervortritt oder bei kräftigen Personen wohl völlig hinter ihr ver-
schwindet*).
Das Unterkieferbein ist früher von den Schädelkennern vernach-
lässigt und erst in neuerer Zeit beobachtet worden. Je nachdem es sich
zuspitzt oder abflacht, bekommt das Gesicht bald ovale, bald eckige,
bald quadratische Umrisse. Wenn wir uns aber umschauen in unsrer
täglichen Umgebung, entdecken wir auch hier so viele Typen, so viele
Uebergänge neben und durch einander, dass eine sehr stattliche
Zahl von Messungen dazu gehören würde, um nur sagen zu können,
welche unter den mancherlei Bildungen an Häufigkeit überwiege.
i) V. Schlagintweit, Indien und Hochasien. Bd. 2. S. 51.
2) V. Schlagintweit, 1. c. Bd. 2, S. 48.
8o Die GrÖssenverhällnisse des Beckens nnd der Gliedmassen.
Der Mund gehört ebenfalls zu den Gegenständen, Bei welchen die
Racenbeschreibung gern verweilt. Es sind namentlich die wulstigen
Lippen der Mittel- und Südafrikaner, welche gegen unsern Schon-
heitsbegriff Verstössen. Die schmalen Lippen der- Europäer u^d
' ihrer Abkömmlinge in Amerika sind indessen ein Merkmal, welches
sie den Affen wieder nähert. Selbst unter Negern aber schwankt
dieser Theü der Gesichtsbildung beträchtlich und wenn ihnen im
.Allgemeinen eine starke Lippen an seh wellung zugeschrieben wird,
so soll damit nichts weiter gesagt werden, als dasa. bei ihnen die
Form des europäischen Mundes nicht häufiger vorkommt al? bei
uns die negerhafte. Bei den Juden, die doch strenge Inzucht seit
Jahrtausenden gepflogen haben, finden wir .beide Gegensätze, den
fein geschnittenen Mund und die aufgequollenen Lippen hart
neben einander.
4. Die Grössen Verhältnisse des Beckens und der
Gliedmassen.
Werfen wir vom Kopf noch einen Blick abwärts, so leuchtet von
selbst ein, dass zwischen dem Schädel und dem weiblichen Becken
eine Uebe rein Stimmung der Maassverhältnisse bestehen sollte. War
aber die Zahl der Racenschädel noch zu klein , um uns in allen
Fällen ein unerschütterliches Vertrauen in die gefundenen Mitte!-
werthe der Messungen einzuflössen, so erreicht der Schatz an Racen-
becken kaum den hundertsten Theil der Schädel. Dennoch hatte es
M. J. Weber schon gewagt, ein europäisches oder ovales, ein ameri-
kanisches oder rundes, ein mongolisches oder viereckiges, ein afrika-
nisches oder keilförmiges Becken unterscheiden zu wollen. Joulin da-
gegen behauptete wieder eine völlige üebereinstimmung des mongo-
lischen, richtiger des javanischen oder papuanischen mit dem Neger-
becken, Pruner Bey endlich wollte sich überzeugt hat>en, dass es
keine Race gebe, deren Frauen nicht Kinder von einem europäischen
oder irgend welchem Vater gebären können, dass überhaupt aus
dem nämlichen Schoos Kinder von abweichender Schädclform aus-
treten, wenn auch die Geburt nach Beobachtungen bei Javanerinnen
und Nordamerikanerinnen leichter erfolgt, sobald das Kind der
reinen Race angehört und nicht ein Mischling ist"). In neuester
fetudes sur Ic bassin. Paris 1865. p. 13,
Die GrössenverhSltnisse des Beckens und der Gliedmassen. 8[
Zeit hat Frilsch eine vergleichsweise reiche Anzahl von Becken
südafrikanischer Völker nach 'Europa gebracht, aber bei der ge-
ringen Beharrlichkeit der Merkmale es nicht gewagt, Typen auf-
zustellen. Er ist dabei auf einen Umstand gestossen, der wohl
geeignet ist, uns zu ernstem Nachdenken anzuregen. Unter den
europäischen Skeletten wird Weib und Mann an der Geräumigkeit
und Gestalt des Beckens mit ziemlicher Sicherheit erkannt. Das
Becken gehört daher unter die Geschlechtsmerkmale zweiter Ord-
nung. Bei Becken von Buschmännern dagegen könnte das weib-
liche mit einem männlichen verwechselt werden, und das Gleiche
gilt von den Hottentotten und Kafim '). Sollte diese Erscheinung
in andern Welttheilen sich bestätigen, so würden wir zu dem Satze
gelangen, dass die gänzliche Durchbildung der Geschlechtsunter-
schiede erst unter dem Schutze der höheren Gesittungen sich
vollziehe.
Die zahlreichsten Messungen , freilich nur weiblicher Becken,
verdanken wir Carl Martin, der längere Zeit in Brasilien als Arzt
thätig war und dort Negerinnen sowie eingeborne Frauen und
Mischlinge behandelte. Er hat die Maasse von 8 papuanischen,
2 uramerikanischen, i8 malayischen, 4 b u sc hmänni sehen imd 15
Negerfrauen mit den Mitteln aus den europäischen Befunden ver-
glichen. So weit aus diesem Schatz von anatomischen Urkunden
ein Ergebniss gezogen werden konnte , würden die Becken zer-
fallen in solche mit rundem Eingang bei Eingebornen Amerika's,
bei Malayen und Papuanen, und in solche mil querovalem Ein-
gang bei afrikanischen und europäischen Frauen. Rund heisst der
Eingan , wenn die Conjugata so gross oder fast so gross ist, wie
die andern Durchmesser, queroval dagegen, wenn sie um mehr
als zehn Procent von den queren und schrägen Durchmessern
übertroffen wird. Genauer lässt sich noch sagen, dass das Becken
der Europäerinnen die grösste Geräumigkeit und Breite mit wesent-
lich querovalem Eingange vereinige, das Becken der Negerin zwar
am Eingang gleich gestaltet, sonst aber kleiner und schmaler sei.
Entsprechend ihrer geringen Körpergrösse besitzen die Buschmann-
frauen das kleinste Becken unter alfen Kacen mit einem Eingang,
der manchmal stehend oval wird. Die 'malayischen Becken sind
schmal, der Eingang rund, nicht selten stehend oval. Die Becken
I) Frilsch, Eineeborne Südiifrlliü5. S. 39. S. 299, S. 415.
§2 I^ie Grössenverhältnisse des Beckens und der Gliedmassen.
der eingebornen Amerikanerinnen kommen an Grosse den euro-
«
päischen ziemlich nahe, unterscheiden sich jedoch durch einen
runden Eingang. Die papuanischen Becken endlich sind zwar
noch ziemlich rund, stehen aber an der Grenze zur querovalen
Form').
Wenden wir uns nun zur Körpergrösse, so wird wohl von vorn
herein erwartet werden, dass sie kein sicheres Erkennungszeichen für
die Menschenstämme zu gewähren vermöge. Die grösste Sumpae der
hierher gehörigen Beobachtungen wurde bisher in den Vereinigten
Staaten während des letzten Bürgerkrieges gewonnen. Es erstreckten
sich dort die Messungen über 1,104,841 Männer. Erst aus diesen
hohen Ziffern hat sich ergeben, dass das Wachsthum bei allen
denen, die zum Waffendienst in der nordamerikanischen Union
herbeigezogen wurden, sich mit dem 20. Lebensjahre sichtlich ver-
minderte, immerhin aber noch langsam bis zum 24. fortdauerte,
ja für geborene Amerikaner erst mit dem 30. Jahre völlig still-
stand*). Ueberraschend war dabei die Thatsache, dass die Be-
wohner der westlichen Unionsstaaten sowie Kentucky's und Ten-
nessee's an Körpergrösse die Eingebornen im Osten, noch mehr
aber die Canadier, die Schotten, Iren, Engländer und Deutschen
übertrafen ^).
Mittel der Körpergrösse.
centim.
Kentucky und Tennessee 176,« 9
Ohio und Indiana I75«i»
Michigan, Illinois u. Wisconsin 174)» 1
Neu-£ngland 173,4»
New- York, Pennsylvanien, New-JersÄy i73»oo
Es bleibt dabei im Dunkeln, ob die harte, den Körper besser ent-
wickelnde Arbeit auf jungfräulichen Erdräumen die Ursache sei^
oder ob nicht überhaupt Männer von hohem Wuchs und grösserer
physischer Kraft zur Auswanderung sich häufiger entschliessen,
schwächliche dagegen lieber in der Heimath zurückbleiben und
diese Art der Ausmusterung in den Mitteln der grossen Ziffern sich
abspiegele. Da aber die gebornen Amerikaner an Körpergrösse
1) Monatsschrift für Gebürtskunde. 1866. Bd. XXVIII. Heft i. S. 23—58.
2) Gould, Investigations in the military and anthropological statistics oC
American Soldiers. New-York. 1869. p. 108.
3) Gould, 1. c. p. 125.
Die Grössenverhäl Inisse des Beckens und der Gliedmassen. 85
die zugewanderten Schotten, Iren, Engländer und Deutschen über-
ragen, so kann kein Zweifel vorhanden sein, dass die Nachkommen
der ausgewanderten Europäer innerhalb kurzer Zeit in den Ver-
einigten Staaten merkhch , an Leibeshöhe zugenommen haben. Dass
dem Ortswechsel diese Wirkung zugemessen werden darf, wird uns
dadurch glaubhafter, dass die Ureinwohner ebenfalls durch Körper-
grosse sich auszeichnen und auch bei ihnen erst mit dem 30. Le-
bensjahre der Stillstand des Wachsthums eintritt, wenigstens waren
die Irokesen, deren mehr als 500 gemessen wurden, im Mittel noch
ein wenig grösser wie die Unionsamerikaner in den gleichen Werbe-
bezirken ■). Dass bessere und reichliche Nahrung die Körpergrösse
befördert, bezeugen uns die durcbgehends stattlicheren Gestalten
der polynesischen Häuptlinge auf den Südseeinseln *), In gleicher
Weise zeigten sechs Männer einer Häuptlings familie unter Kafirn
ein Mittel von 1830 Mm., oder iio Mm. mehr, als sonst bei süd-
afrikanischen Bantunegem angetroffen wurden^. Die auffallende
Kleinheit der Buschmänner am Südrande der Kalahari kann eben-
falls der schlechten Ernährung beigemessen werden, weil Chapman
im Norden bei grösserem Reichthum an Wild ihren Körperwuchs
BtatÜicher fand und die ihnen leiblich verschwisterten Koi-koin oder
Hottentotten vielleicht nur, weil sie Hirten und nicht Jäger sind
wie die Buschleute, diese an Hohe des Wuchses übertreffen. Doch
erklärt die Ernährung und die Beschaffenheit des Wohnorts durch-
aus nicht alle Unterschiede, sonst könnten nicht wiederum die
Kafim die Hottentotten überragen, während doch beide in den-
selben Erdräumen auf gleiche Art sich ernähren. Gustav Fritsch^)
bestimmte nämlich folgende Mittel:
Köipergrösse.
Männer Mm.
55 Bantun^er 171 8
10 Koi-koin 1604
6 Biascliinänner 1444
Bis zu einem gewissen Betrage darf also die Verschiedenheit der
Leibeshöhe der Abstammung zugeschrieben und in diesem Sinne
kann die Körpergrösse als Merkmal bei der Völkerbeschreibung
1) Gould, Invesligations. p. 151—152.
2) Darwin, Abstammung des Menschen. I. 99.
3} Gustav Fritsch, Eingebome Südafrikas. S. 17.
4) Eingeborne Südafrita's. S. 17. S. 177. S. 397.
84
Die Grössenverhältnisse des Beckens und der Gliedmassen.
»>
»
benutzt werden. Doch sind wir noch weit entfernt, Mittel aus zahl-
reichen Grössenbestimmungen zu besitzen, es weichen vielmehr bei
dem nämlichen Volksstamm die Messungen stark von einander ab.
Für die Maori Neu -Seelands finden wir beispielsweise folgende
Angaben ^) :
Beobachter.
Thomson
Scherzer und Schwarz
Garnot und Lesson
Wilkes
Wahrscheinlich verdienen hier die Mittel von Thomson , die aus
147 Messungen gewonnen wurden, das meiste Vertrauen^). Inner-
halb derselben Völkerfamilie können durch vieltausendjährige Tren-
nung, Wanderung, nach grossen Fernen und veränderte Lebens-
gewohnheiten auch die Mittel werthe der Körpergrösse steigen oder
fallen, denn trotz aller Schwankungen der Ziffern ist doch nicht
zu verkennen, dass die asiatischen Malayen unter die kleinen Völker
gehören, die polynesischen Malayen durch ihre Körpergrösse her-
vorragen ^).
Körpergrösse.
1695,4 Mm.
1757»«
1813,0
1904,.
,'■'
Beobachter.
Körpergrösse.
Mm.
Asiat
ische Malayen.
Crawfurd
Javanen
1549,4
Scherzer und Schwarz
»»
1679,0
Keppel /
Dayaken
1574,8
Müller
Timoresen
1586,»
Scherzer und Schwarz
^aduresen
1625,0
1»
Sundanesen
1646,0
M
Buginesen
1653,»
Polynesische Malayen.
Wilkes
Sandwichinsulaner
1676,4
Gaimard
n
I755,»
Wükes
Marquesasinsulaner
1689,0
Marchand
>»
1786^.
Batare
i>
1800,0
Gamot und Lesson
Tahitier
1786,0
Wilkes
»)
i8o3,j
La P^rouse
Schifferinsulaner
1895,0
Wilkes
>»
1930,4
i) Bei Weisbach, Anthropol. Thei, der Novara-Reise. 2. Abthl. Wien
1867. S. 217.
2) Gould, Investigations. p. 146.
3) Weisbach, a. a. O.
Die Grössenverhältnisse des Beckens und der Gliedmassen. 85
Innerhalb jedes Menschenstammes wird der Volksnaund Leute von
ungewöhnlichem Wuchs als Riesen bezeichnen. Angaben über
solche äusserste Fälle haben jedoch keinen Werth für die Völker-
kunde^). Wichtiger war es, dass das alte, von Pigafetta, Magalhäes'
Begleiter, verbreitete anthropologische Märchen von der über-
menschlichen Grösse der Patagonier fast jedem neuen Erdumsegler
einen Widerspruch entlockt hat. WoHl gehören jene südamerika-
nischen Stämme jedenfalls zu den Völkern von stattlichem Körper-
wuchs, wie die nachfolgenden Messungen bezeugen:
Körpergrösse der Patagonier.
r Beobachter Mm.
d'Orbigny 1730
1780
d'UrviUe 1732
^ Wilson 1803,4
doch Stehen ihnen die Polynesier an heldenhafter Gestalt durchaus
nicht nach. Die hohen vulkanischen Südseeinseln und die beiden
Festlande von Amerika sind vielmehr diejenigen Lebensräume,
wo örtlich das Menschengeschlecht den höchsten Körperwuchs
erreicht hat*).
Das niedrigste Höhenmaass bei Männern kann in vereinzelten
Fällen auf überraschende Werthe herabsinken, denn Zwerge von
920, ja 750 Mm. werden uns noch als völlig wohlgebildet bezeichnet^).
Aber auch hier ist der Völkerkunde nur mit den Mitteln aus
grossen Ziffern zu dienen. Als die kleinsten unter den Menschen
galten bisher immer die Buschmänner Südafrikas, deren Grösse
Barrow nur zu 1300 Mm. angibt, während durch ihre Messungen
Knox zu 1372 und der gewissenhafte Fritsch zu 1444 Mm. ge-
l) Nach Gould, Investigations p. 153 finden sich unter je einer Million
der für den Kriegsdienst gemessenen Männer
je 47 über 2007 ^^a.
„ II „ 2657 „
„ 7 „ 2083 „
„ 6 „ 2108 „
» 2 „ 2134 „
2)* Unter den 500 Irokesen bei Gould, Investigations, p. 152, erreichten
159 Männer von 31 Jahren und darüber eine Höhe von 68,« Zoll.
3) Gould, 1. c. p. 153.
86 Die Grösse nverbäUnisse des Beckens und der Gliedmassen.
langten'). Von gleicher Zwergenhaft igkeit fand Du Chaillu') im
aequatorialen Afrika die Obongo, wdche auch in sonstigen Merk-
malen den Buschmann'ern nahe stehen und es gleichen ihnen femer
die Acka des Reisenden Schweinfurth im Gebiete des Gazellenntts.
die aber immerhin schon auf 1500 Mm, sich erheben ^J. Nicht un-
bedeutsam ist es, dass sich an diese tropischen Menschenstäuime
die Polarvölker der alten und neuen Welt anschliessen. Zwar sind
lue Angaben von Pauw, nämlich 1300 Mm. als Mittelwerth der
Kürper^TÖsse bei Eskimo völlig unglaubwürdig, da andre Messungen
vorliegen, nämlich :
Körgergrössc der Eskimo,
lisobaebter. Ort der Beobachlung. Mm.
Beechey Melville Insel 1659
,. Boothia Sund 1689
. Kolzebue Sund _ 1714
Chappel Savage Insel 1676
auch sind 1380 Mm. für die Lappländer als Mittelzahl*) sicherlich
2u wenig, dennoch werden beide Bevölkerungen übereinstimmend
von den Reisenden unter die kleinen Menschen gerechnet. Jeden-
falls können wir den Satz vertreten, dai>s unter jedem Breitegrade
sich Menschtnstämme ünden, die durch ihre Kleinheit auffallen.
Hatten wir bisher nur die Grösse der Männer in Betracht ge-
zogen, so gilt es jetzt, die Thatsache auszusprechen, dass eine
geringere Leibeshöhe zu den secundären Merkmalen des weiblichen
Geschlechtes gehört. Bei diesem schwanken die Mittel der Körper-
grösse innerhalb viel engerer Grenzen , nämlich nur von 1395 bis
1662 Mm. ^). Auch ergab sich aus den bisherigen Messungen, dass
die Grössen unterschiede der Geschlechter bei kleinen Völkern fast
verschwinden'). So erhielt Fritsch als Mittel von 5 Buschmann-
frauen 1448 Mm, oder 4 Mm. mehr als er bei Männern gefunden
halte und ein ähnliches Ergebniss gewinnen wir auch aus den
I) Weisbach, I. c. S. 116. Fritsch, Eingeborne Südafiikas. S. 397.
2| Ashan^o Land, p. 319. Das Mittel der Kärpecgrüsse bei 6 Frauen
lautete 56'/, Zoll (jnches) oder 1410 Mm,
31 Pciermttnn'B Geogr. Mitlheiluneen. 1871. S. 139. S. 150.
11 Nach Tenon bei Gould, Investigations. p. 144 und Weisbach 1. c
Die Grössenverhältnisse des Beckens und der Gliedmassen. 87
Angaben Weisbachs. Demnach ist es vorwiegend das männliche
Geschlecht, an welches gedacht wird , wenn wir von grossen oder
kleinen Völkern reden'). Die mittlere Körpergrösse des männ-
lichen Geschlechtes wollen wir aber auf 1600 bis 1700 Mm., die
mittlere Grösse des weiblichen Geschlechtes auf 1525 bis 1575 be-
stimmen und danach kleine, mittlere und hochgewachsene Völker-
stämme unterscheiden.
Dürfen wir wagen, über die Ursachen des Schwankens der
Körpergrösse einige Vermuthungen zu äussern, so hat sich aus den
grossen Ziffern der Rekruten-Messungen während des Union skrieges
offenbart, dass beträchtliche Körpergrösse verknüpft ist niit einer
verlängerten Wachsthumszeit. Diese letztere aber denken wir uns
verkürzt bei den Frauen, weil ihre Geschlechtsreife früher eintritt,
als bei uns. Ebenso ist es wahrscheinlich, dass frühzeitige Ehen,
die namentlich, wie sich noch zeigen soll, bei Polarvölkern und bei
den Buschmännern vorkommen, die volle Ausbildung des Körper-
wuchses- zu hemmen pflegen.
Nur zahlreiche Messungen vermögen uns über die örtlich
herrschenden Grössenverhältnisse der einzelnen Abschnitte und
Glieder des menschlichen Körpers Aufklärung zu gewähren. Quetelet
wollte sich überzeugt haben, dass der menschliche Typus in Bel-
gien übereinstimme mit den Werthen, welche aus Messungen an
Kunstwerken griechischer Bildhauer abgeleitet worden waren*). In-
dessen hat sich doch ergeben, dass die Künstler des Alterthums
nicht blind einer Richtschnur folgten, dass auch später grosse
Meister, wie Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer in ihren For-
derungen des sogenannten Ebenmasses nicht übereinstimmten. Ein
Brüsseler Maler wird sich ferner stets an den grossen Vorbildern
des Alterthums im Zeichnen üben, bis^zuletzt ihre Maassverhältnisse
i) Beechey bei Weisbach 1. c. gibt folgende Maasse für
Eskimo:
Männer. Frauen.
Mm. Mm.
Melville Insel 1^59 1536,«
Savage Insel 1676 I549,s
Bootbiasund 1689 I57l»s
2) Anthropomitrie. Bruxelles 1870. p. 86.
SS T>ie Grössen Verhältnisse des Beckens und der GliedmasEen.
als die streng giltigen sich ihm fest einprägen. Er wird demnach
ein weibliches Modell für Naturstudien entweder miethen oder ver-
werfen, je nachdem es sich dem gesuchten Ideale nähert oder sich
von ihm allzuweit entfernt. Wenn daher die Mittel der Grössen-
verhältnisse einzelner Körperabschnitte bei zehn weiblichen Modellen
Brüsseler Bildhauer oder Maler den gleichen Mitteln bei Statuen
dc-s Alterthums recht nahe kamen, so hätte Quetelet nicht sowohl
auf eine Ue berein Stimmung der belgischen und altgriechischen Typen
sc'hliessen, sondern er hätte nur das Augenmaass Brüsseler Künstler
bewundem dürfen, welche unter den Bewerberinnen um jenes
Rollenfach diejenigen mit sicherem Blick ausgesondert hatten,
welche von den anerkannten Idealen sich zu weit entfernten. Die
Höhe des Kopfes, welche für viele Künstler die Majsseinheit bildet,
schwankt, wie wir noch beisetzen wollen, mit der KürpergrÖsse.
Letztere beträgt bei Neugebornen das 5,^, bei 8jährigen Knaben das
8, , bei kleinen Männern das u,^, bei miUelgrossen das 12,,, bei
grossen das 13,, fache der senkrechten Höhe des Gehirn Schädels
nach Wclcker's'l BestiminurLgen, so dass also grosse Leute verhält-
nissmässig die kleinsten Küpfe haben.
Die Maassverhältnisse der menschhchen Glieder können nur
ausgedrückt werden, wenn die Körpergrösse als Einheit gesetzt
wird. Auf der Reise der Fregatte Novara haben v. Scherzer und
Scliwarz ihre Messungen an den lebenden Menschen bis zu den
grössten Einzelheiten ausgedehnt. Als das wichtigste muss immer
die Länge der untern wie der obern Gliedmassen erscheinen. Bei
dem Verhältniss des Unterschenkels zum Oberschenkel tritt ge-
wöhnlich der Fall ein, dass grosse Kürze des einen durch Länge
des andern Knochens ergänzt wird. Stets ist der Unterschenkel
länger als der Oberschenkel. Wird nun der letztere gleich lOOO
gesetzt, so finden wir, dass bei einem Stewartsinsulaner der Unter-
schenkel bis zu 1238 steigt, hei Neuseeländern ausnahmsweise untfr
lOOO, ja sogar bis 965 sinken kann. Dabei ^eigt sich jedoch, dass
der Stewartsinsulaner, wenn die Körpergrosse gleich 1000 gesetzt
wird, einen sehr kurzen Oberschenkel von 198 Mm., der Neusee-
länder einen sehr langen vcui 229 Mm. besass"). Die Länge des
Beines schwankt ebenfalls beträchüich. Sie kann bei Chinesen auf
und Wach^ihum des Schädels. S. jr.
islijch, Rtise det Fregatte Novjri. Anthropologie. Thl. l(. S. 255.
Die Grössenverhältnisse des Beckens und der Gliedraassen. 8q
das o,^^^ fache der Korpergrösse sinken imd bei Buschmännern
auf das o,^,^ fache sich erheben.
Weit bedeutsamer aber sind die Grössenverhältnisse der obern
Gliedmassen, da ihre Verkürzung ein Merkmal ist, welches den
Manschen von den ihm zunächst stehenden Thieren scheidet. Carl
Vogt hat dieses Verhältniss dadurch ausgedrückt, dass der Orang
bei aufrechter Stellung mit den Fingerspitzen seine Knöchel, der
Gorill die Mitte seiner Unterschenkel, der Tschimpanse die Kniee
berühren, der Mensch nur über die Mitte der Oberschenkel reichen
kann ^). Bei den Rekruten im Unionskrieg wurde auf diesen Aus-
druck der menschlichen Grössenverliältnisse besondere Rücksicht
genommen und der Abstand des Mittelfingers bei soldatisch straffer
Stellung vom obern Rande der Kniescheibe gemessen. Bei weissen
Amerikanern und Europäern betrug das Mittel 5"036 *), bei Negern
der Freistaaten etwas mehr (3"298) als bei Negern der Sklaven-
staaten (2"832), ja bei diesen waren die^ Schwankungen so beträcht-
lich, dass in einzelnen Fällen die Fingerspitzen sogar den Rand
der Kniescheibe überragten 3).
Abstand der Fingerspitzen vom obern
Rand der Kniescheibe.
Zahl der Messungen. Mittel. Minimum. Maximum.
2020 Vollneger 2"88 — o"5 7"6
863 Mischlinge 4"i3 -f o"2 7^2
Ueberrascht werden wir zugleich von der Thatsache, dass die
Lebensgewohnheiten diese Schwankungen hervorrufen können, denn
bei 1146 Matrosen war der Zwischenraum im Mittel etwas grösser
als bei der Bevölkerung des flachen Landes*).
Abstand der Fingerspitzen vom obern Rand der Kniescheibe.
Neu-England. N.-York, N.-Jersey, England. Irland.
Pennsylvanien.
Soldaten 4"93 4"92 4"90 S"o»
^Matrosen _$*'$? 6"o6 s"SS 6''07
Unterschied &'6^ i"i4 ' 0^65 o"99
£s waren nämlich die Arme der Matrosen kürzer, ilire Beine aber
länger als bei den Rekruten, die sich zum Felddienste stellten. Die
1) Vorlesungen über den Menschen. Bd. i. S. 193.
2) Gould, Investigations. p. 279.
3) Gould, 1. c. p. 298. p. 299.
4) Gould, 1. c. p: 287.
go
Die GrössenverhällnisBe des Beckens und der Gliedmassen,
Länge des Armes schwankte bei weissen Amerikanern und Euro-
päern je nach deo Mittein der einzelnen Staaten von 0,^,^ der
Korpergrösse (Michigan, Wisconsin, Illinois) bis zu o^, (Sltandi-
navien"). VoUoeger der SklavensWaten (o,,,,) zeigten einen ver-
hältnisa massig längeren Arm als Neger der Freistaaten (o,^^j) *),
ein Verhältniss, welches sich in gleicher Weise bei Mulatten {o,,,j
und o,,6o) wiederholte. Der Werth von Mitteln aus grossen Zahlen
wird uns abermals fühlbar, denn wir gewahren hier viel geringere
Schwankungen, als andre Racenm essungen sie erwarten liessen,
Bei Weisbach^) finden wir den Arm der Deutschen zu 0,^5^, der
Slaven zu o,,^,, der Romanen zu o,,j, , bei einem Stewartsinsu-
Laner zu o,^,, und bej einem von Wilkes gemessenen Sulumalayen
zu 0,^pg der KörpergrÖsse berechnet. Solange wir also bei einem
solchen Uetrage der individuellen Schwankungen nicht für die ver-
schiednen Menschenstämme Messungen besitzen, die den jetzigen
Schatz um das hundertfache übertreffen, lassen sich aus den vor-
handnen Angaben keine verlässigen Merkmale für die Völkerbe-
schreibung gewinnen.
Endlich ist auch noch das Längen verhältniss des Vorderarmes
zum Oberarn bei den Körpermessungen auf der Erdumsegelung
der Fregatte Novara statistisch ermittelt worden. Für den Orang
ergab sich e.n Verhältniss von 877 : lOOO. Genau die nämlichen
Werthe wurden bei den Maduresen angetroffen, bei den Romanen
erreicht der Vorderarm sogar eine relative Länge von 883, bei den
Slaven wenigstens eine von 868. Dem Orang stehen im Maassver-
hältnisse auch die Australier, Sundanesen' und Neger noch nahe,
am weitesten entfernen sich die deutschen Männer (835} und bei
den deutschen Frauen sinkt das Verhältniss sogar auf 82z *}. Auch
hier, müssen wir zunächst über die dürftige Zahl der Messungen
klagen. Ge«riss aber ergibt sich aus den bisherigen Erfahrungen
der Satz, dass auch die Grössen Verhältnisse der menschlichen Glied-
raassen innerhalb der Völkerschaften einer Race und individuell
wieder innerhalb der Völkerschaften höchst beträchtlich schwanken,
I) Gonld, Invesügalions. p. 337—339-
1) 1. c. p. 351-
3) Weisbach, a. a. O. S. 151.
4) Weisbach, a. a. O. S. 241—143-
Haut und 'Haar des Menschen.
91
dass selbst Lebensgewohnheiten Einfluss auf das Wachsthum üben
können und daher auch die GrÖssenunterschiede beim Gliederbau
als flüssige erklärt werden müssen.
5. Haut und Haar des Menschen.
Die Geographen des Alterthums glaubten sich überzeugt zu
haben, dass die Dunkelung der Haut mit der Annäherung an den
Aequator zunehme und dass sogar aus der Farbe der Menschen
auf die Polhöhe ihres Wohnortes geschlossen werden könne*).
Innerhalb des damals bekannten Erdkreises widersprachen die Er-
fahrungen nicht dieser Lehrmeinung. Im Norden sassen blonde,
in Südeuropa und Nordafrika leicht gebräunte Völker, am obern
Nil Negei* und in Indien schwärzliche Menschen. Zu besseren
Anschauungen gelangte man erst, als die Spanier in der Neuen
Welt unter allen Breitengraden auf Menschen mit brauner Färbung
stiessen, bald heller bald dunkler, je nach der O ertlichkeit , aber
ohne Beziehung auf die Polhöhe. Bei den Abiponen am Paraguay,
namentlich den Frauen , ' war die Haut so licht , dass sie in euro-
päischer Tracht mit Europäerinnen hätten verwechselt werden
können, während die Puelchen und Aucas, deren Gebiete um zehn
Breitengrade dem Aequator ferner lagen, viel dunkler gefärbt
waren ^). Dazu gesellte sich noch die Wahrnehmung, dass gerade
im hohen Norden der alten Welt auf die blondhaarigen Völker
wieder die gebräunten Lappen, Wogulen, Ostjaken folgten.
Die mikroskopische Untersuchung lehrte bisher nur, dass die
menschliche Haut aus zwei Schichten bestehe, wovon die äussere
als Oberhaut (epidermis), die innere als Unter- oder Lederhaut
(cutis) bezeichnet wird. Die Oberhaut wieder bestand aus zwei
Abtheilungen, nämlich der oberen durchsichtigen Hornschicht (Stra-
tum comeum) und der tiefei: liegenden Schleimschicht (Stratum
mucosum) oder dem malpighischen Netz (rete Malpighi). Die
Lederhaut (cutis) sowohl wie die äussere Lage der Oberhaut
wurden bei alle)i Völkerstammen als gleichartig erkannt und nur
in der von ihnen eingeschlossenen Schleii^schicht • zeigten sich
Zellen, erfüllt mit einem feinkörnigen Farbstoff. Je nachdem diese
1) Plin. VI, 22.
2) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Wien 1783. Bd. 2. S. 18.
gz Haut und Haar des Menschen.
Farbzellen sich nur auf die Grundfläche der Schleimschicht be-
schränkten oder mehr und mehr anhäuften, in seltenen Fällen sogar
bis in die Hornhaut aufwärts sich erstreckten, wuchs die Tiefe der
Hautfarbe. Einzelne Korperstellen sind selbst bei allen Menschen-
racen gefärbt, wie der Warzenhof, welcher obendrein während der
Schwangerschaft noch dunkler wird'). Auch die Sommerflecken,
die Muttermale und Bräunungen an andern Körperstellen verhalten
sich genau wie- die Negerhaut').
Bei der Geburt ist das Negerkind nicht schwarz, sondern dem
europäischen, beinahe ähnlich. Pruner Bey beschreibt die Farbe
als röthlich, gemengt mit Nussbraun, und fügt hinzu, dass im Sudan
die volle Färbung schon mit dem ersten, in Unterägypten erst mit
dem dritten Jahre sich einstelle*). Auch Camper sah ein Neger-
kind röthlich geboren werden, sich zuerst an den Rändern der
Nägel, am dritten Tage an den Geschlechtsth eilen, am fünften und
sechsten allmählich am ganzen Körper färben*). Die Augen der
Negerkinder sind anfangs blau, das Haar kastanienbraun und nur
an den Spitzen gekräuselt^). Auch bei den Pimos oder Pirnas im
nordwestlichen Mexico, sowie bei den Australiern werden die Kinder
hellfarbig oder schmutzig gelb geboren, ihren Eltern aber an Dun-
kelung der Haut in wenigen Tagen ähnlich*). Prinz zu Neuwied
erfuhr, dass die Botocudenkinder gelb geboren werden und sich
rasch bräunen'), im Widerspruch mit dieser Angabe rühmt er aber
wieder die Helligkeit der Erwachsenen. Kinder von Mulatten und
Mulattinnen sollen schwarze Flecke zur Welt bringen, namentlich
in der Gegend der Fortpflanzungswerkzeuge*). Von der Farbe
l) Blunienbach et^ähll von einer jungen Frau, die während der Schwanger-
Schaft so schwarz wurde, wie eine Negetin. Ein ähnlicher Fall von Melanis-
niu» wurde von Dr. Guyfitanl beobachtet, Quattefages, Unit* de l'espice
huraaine. Paris 1861, p. 65.
Z) Flourens bei Watlz, Anthropologie I, llj.
3) Pruner Bey, Mämoire sur les Nigres. p, 327.
4] Waid, Bd. 1. S. [[4.
5) Darwin, Ursprung des Menschen, H, 278,
6) Waiti, Anthropologie. IV, 202, VI. 713. Bei Lalham (Varieties
p. 199) ttiidei. man dagegen die Behauptung, dass aaf Hawai (Sandwich-
inseln) die Kinder der Polynesier völlig schwarz geljor"» werden.
71 Reise nach Brasilien. Bd. 2, S. 65—66. Der Jesuit Lafitau sagt sehr be-
stimmt, dass die Kinder der nord amerikanischen Rothhäute „weiss geboren wer-
den, wie die litisrigen". Moeurs des sau vages amiriquains. Paris 1724. tom I. p, 104.
8| Qiialrefages, Rapport, p. 455.
Haut und Haar der Menschen.
93
der Haut ist auch der Geruch der Ausdünstung abhängig. Be-
sonders widerlich sind die stark aramoniakalischen, ranzigen, bock-
ähnlichen Aushauchungen des Negers*), die von den Luftströmungen
über den Ocean getragen, in früheren Zeiten schon von Weitem
die Annäherung eines Sklavenschiffes verkündigten. Auch wir sind
an den Gasen kenntlich, die wir verbreiten, denn der Hund ver-
möchte sonst nicht die Spuren seines Herrn zu verfolgen. Die
Eingebornen der neuen Welt unterscheiden auch den Europäer am
Gerüche und wiederum gibt es besondere Ausdrücke der Creolen
sowohl für die schwachen Ausdünstungen der Amerikaner (catinca)
wie für den ausnahmsweise starken und widerlichen Geruch (soreno)
der Araucaner^).
Hätten wir andre und strengere Merkmale zur Unterscheidung
der Menschenstämme, gewiss würde es Niemand wagen, die Farbe
der Haut in solcher Absicht herbeizuziehen, da sie sowohl an
Dunkelung wie in den Tönen selbst bei jedem Volksstamm, ja
oft bei den Angehörigen einer einzelnen Horde schwankt. In
Europa selbst begegnen wir Menschen von blondem 'und von
brünettem Teint. Der erstere ist häufiger im Norden, der andre .
häufiger im Süden. Unter Italiener, Spanier und Portugiesen
mischen sich eine Anzahl blonder Menschen, wie umgekehrt die
brünetten Erscheinungen in England nicht zu den Seltenheiten
gehören. Die Kelten Galliens werden in der römischen Kaiserzeit
von den alten Erdbeschreibern als ein blonder Menschenstamm
geschildert und da auf die heutigen Franzosen ein solches Schlag-
wort nicht mehr passt, so sind wir zu dem Schlüsse berechtigt,
dass derartige Merkmale sich in vergleichsweise kurzer Zeit ver-
ändern. Bei den Wakilema im äquatorialen Ostafrika trafen
deutsche Reisende theils eine lichte Negerfarbe mit einem Stich
ins Bläuliche, gleichzeitig aber auch Leute, die an Helligkeit die
Mulatten übertrafen 3), ohne dass der Verdacht einer Mischung
irgendwie begründet worden ist.
1) Burmeister, Reise nach Brasilien. Berlin 1853. S. 89. Auch die
Araber sollen aus Afrika einen üblen Hautgeruch mit in ihre Heimath bringen,
der sich erst mit der Zeit verliert und bei wohlbeleibten Südeuropäern soll
sich bei Fieberzuständen eine fast negerartige Ausdünstung entwickeln. Selig-
mann im Geogr. Jahrbuch. Bd. i. S. 433.
2) Waitz, Anthropologie. Bd. i. S. 114. S. 118.
3) Otto Kersten, v. d. Deckens Reisen in Ostafrika. Bd. i. S. 273.
94
Haut und Haac des Menschen.
Dass die Polhöhe auf eine noch unerforschte Weise die
Färbung der Haut bis zu einem massigen Betrage beherrscht, darf
nicht gänzlich verneint werden. Die tiefste Schwärze treffen wir
nnr in der Nähe des Aequators in Afrilca, in Indien und in Neu-
guine^a. Die Emgübornen in der Nähe der Horetonbay Australiens
waren so dunkel wie irgend ein Neger, während zehn Grad süd-
licher kupferne Färimngen häufiger wurden')- Unter den Gliedern
der mittelländischen Race sind die Abessinier stark, unter den
Indoeuropäern die Zigeuner und brahmanischen Hindu am meisten
gedunkelt. Bei den letzteren könnte an eine Mischung mit der
Urbevölkerung gedacht werden, immerhin vermochte ein Beobachter
wie Graul, den Mann hoher Kaste, also den Indier arischen Ur-
sprungs, unter den schwarzen Tamulen an der beinahe europäischen
Helligkeit der Haut noch zu unterscheiden'). Dass nicht die
Sonnenstrahlen die X>unkelung hervorrufen, ergibt sich schon daraus,
dass die bedeckten Körpertheüe bei farbigen Menschen kdne
Unterschiede zeigen. Wäre aber die höhere Temperatur die
Ursache, dann müssten wir in Tiefländern überall grössere Dun-
kelung finden, als auf Hochebenen. In der That wird diese Vor-
aussetzung zwar bestätigt durch einen Vergleich zwischen den Be-
wohnern Bengalens und den weit helleren Gebirgsvölkem des
Himalaya, und das nämliche gilt im abessinischen Afrika von den
Bewohnern der Hochebnen Enarea's und KafTa's^. Allein andre
Beobachter haben in denselben Erdräumen gerade die Thalbe-
wohner lichter angetroffen*) und ebenso bemerkt Munzinger, dass
das heisse Ufer des rothen Meeres von hellen Menschen bewohnt
werde, die Bergluft aber dunkele^). Noch entschiedener spricht
die Thatsache, dass von allen Eingebornen Amerikas, bei denen der
Verdacht von Blutmischung völlig ausgeschlossen bleibt, gerade die
Aymara, welche doch Hochebenen von gleicher Erhebung wie die
Gipfel des Berner Oberlandes bevölkern, durch ihre schwarzbraune
Farbe aufTitUen, die gerade in den kältesten Strichen am tickten
erscheinf"). Andere Beobachter dachten sich die Dunkelung der
1) Wailz, Anihropologie. Bd. i. S. 52.
2) Reise nach Ostindien. Leipzig 1855. Bd. 4. S. 151—151.
3) Waiti, Anthropologie. Bd. i. S. 49— So.
4) Abbndie bei QuatreTages, Rapport, p. 15;.
5) Au5hnd. i86n. S, 954.
b) V. Tschudi, Reisen durch Südamerika. Bd. 5. S. 212.
Haut und Haar der Menschen. q^
Haut dort am stärksten, wo sich zu den heissen Temperaturen
eine hohe Sättigung der Luft mit Wasserdämpfen gesellt. Hitze
und Feuchtigkeit sollen nach der Ansicht Livingstones in Südafrika
die tieferen Färbungen hervorrufen'). Auch gegen diese Ver-
muthung können die dunklen Aymara im trockenkalten Peru und
Bolivien sowie umgekehrt die Yuracara, deren Name schon eine
bleiche Gesichtsfarbe andeutet, als Widerlegung dienen, denn sie,
die letzteren, bewohnen die von beständigen Niederschlägen trie-
fenden Ostabhänge der südamerikanischen Cordilleren ^.
Trotzdem dürfen wir nie ausser Acht lassen, dass der Euro-
päer bei einem dauernden Aufenthalt im indischen Morgenlande
einer Aenderung in seinen bisherigen physiologischen Verrichtungen
sich anbequemen muss. Die Farbenunterschiede zwischen dem
Blut der Arterien und der Venen werden unter den Tropen
auffallend bei Europäern vermindert, weil der Sauerstoffverbrauch
bei schwächerem Verbrennungsprocess geringer geworden ist^).
Umgekehrt werden die Absonderungen von Galle lebhafter in
heissen Erdstrichen. So kommt es, dass durch Ueberarbeitung
derjenigen Organe, die vergleichsweise zur Ruhe bestimmt sind,
nämlich der Leber bei dem Bewohner höherer Breiten, der Lunge
bei dem Bewohner der Tropen, der eine in den ihm fremdartigen
heissen Clima den Gallenfiebern, der andere nach kalten Erd-
strichen versetzt, der Auszehrung häufig erliegt*). Der Europäer,
der den Wechsel überstanden hat, verliert unter den Tropen seine
rosige Gesichtsfarbe. Wir haben sogar das Beispiel eines britischen
Edelmanns Namens Macnaughten, der lange Zeit im Dschengel-
lande Südindiens nach Art der Eingebornen lebte und dessen
Haut auch an den bekleideten Theilen sich bräunte, wie die eines
Brahmanen^). Ein Negerknabe aus Bagirmi, den Gerhard Rebifs
nach Deutschland brachte, veränderte hier nach zweijährigem Aufent-
halte seine Farbe „vom tiefen Schwarz in helles Braun" ^). Hat eine
gesteigerte Gallenabsonderung Einfluss auf die Anhäufung von Farb-
1) Missionsreisen in Südafrika. Bd. i. S. 378.
2) Darwin, Abstammung des Menschen. Bd. II, 305.
3) J. R- Mayer, Die Mechanik der Wärme. Stuttgart 1867. S. 97.
4) Bastian in Zeitschrift für Ethnologie. 1869. Heft i.
5) Pruner Bey, Questions relatives ä T Anthropologie. Paris 1864, p. 5.
6) Zeitschr. f. Ethnologie. 18 71. S. 255. Andre Beispiele vom Hellerwerden
der Neger nach Blumenbach bei W a i t z , A nthrop. I, 60.
q5 Haut und Haar des Menschen.
stoffBellen in der Schleim schiebt der Unterhaut, so kann die Dunkelung
der Lappen und Finnen ihrer Unsauberkeit, der unreinen Luft ihrer
Behausung und der ungesunden Nahrung zugeschrieben werden,
insofern auch sie auf die Gallenabsonderun gen Einfluss ausüben").
Längst hatte man erkannt, dass Negerstämme im äquatorialen
Afrika sich völliger Gesundheit erfreuen, während Küstenfieber
rasch die Europäer hinwegraffen. Das gelbe Fieber verschont in
Amerika die Neger, selbst die Mulatten. Sollte nun ein ursäch-
licher Zusammenhang zwischen der Hautdunkelung und dem
Schutze vor örtlichen Krankheiten sich erkennen lassen, so würden
bei der ersten liesiedelung von Fiebergebieten einerseits alle die-
jenigen Leute, welche schon gebräunt waren oder sich bräunten,
besser die Gefahren des Aufenthaltes überstanden haben, andrer-
seits die bleicheren unter ihnen früher hinweggerafft worden sein
und in Folge dieser Ausmusterung hätte eine Hautdunkelung all-
mählich erblich werden können "), Damit wird freilich nur eine
Vermuthung ausgesprochen, welche der strengeren Beglaubigung
entbehrt und nur den Vorzug besitzt, dass sie bis jetzt den ein-
zigen Versuch einer Erklärung enthält. Doch muss sogleich hin-
zugefügt werden, dass Dr. Nachtigal nach den Ueberschwemmungen
in K-uka die schwarzen Eingebornen des Sudan den Sumpffiebern
eben so rascli erliegen sah, als die zugewanderten Fremden^).
' Eu den strenger vererbten Körpermerkmalen des Menschen'
gebort seine Hairbekleidung, Schwankend ist freilich die Farbe
des Haares, öle von einem Pigment herrührt, dessen Verschwinden
im Alter das W'eisswerden nach sich zieht. Rothe Haare kommen
mit Ausnahme Amerikas fast in allen Welttheilen vor, selbst unter
Australiern will sie Dumont d'Urville') bemerkt haben. Sie sind
nicht ungewöhnlich bei finnischen Völkern, so wie unter den Berbern
Nordafrikas. Unter diesen gibt es auch helläugige und blond-
haarige in Marokko^} und schon Skylax kennt blonde Libyer, die
1] Rithard Owen, .\natoiny of vertebrates.- London iSöS. tom. III,
p. 615.
3) Aus einem Vortrage des Dr. Wells vor der Royal Society im Jahre
1813; bei Darwin, Knl^tebung der Arten, ü. 3 und Abslammung des Men-
schen, Bd. 1. S. 2H.
3) Zeitsclirifl lür Erdkunde, BerUn 1871. Bd. 6. Heft 4. S. 335,
41 Vuy.ige de l'Aslrolabe, toni. I. p. 404.
j} G. Rohlfs. Erster Aufenthalt in Marokko. Bremen 1S73. S. 60.
Haut und Haar des Menschen.
97
Gyzanten , an der kleinen Syrte ^). Nach Manetho zeichnete
sich auch die ägyptische Königin Nitokris, welche der VI. Dynastie
angehört, durch helle Hautfarbe,- rosige Wangen und blondes
Haupthaar aus*). Das letztere ist auch an den Mumien der
Guanchen oder der ausgestorbenen Bewohner des cariarischen
Archipels, die einem Zweige der Berbern angehörten, erkannt
worden^). Selbst unter den Monbuttu am Uelle sah Georg Schwein-
furth graublonde Neger auffallend häufig '^). Unter den Unionssol-
daten während des letzten Bürgerkrieges wurden von Spaniern
und Portugiesen 5 Proc, von Skandinaviern laber 51 Proc. mit
blonden, rothen, überhaupt hellen Haaren gezählt 5). Diese letz-
teren Haarfarben treten hin und wieder auch bei Armeniern, syri-
schen Semiten und Juden auf und zeigen sich bei Mischlingen von
Europäern und Eingebornen Perus um Moyobamba^). Dürfen wir
daher die Haarfarbe bei der Völkerbeschreibung auch nicht völlig
übergehen, so gehört sie doch sicherlich zu den wenig beharrlichen
Merkmalen.
Weit wichtiger ist die Gestalt des Haares. Auch bei ihr fehlt
es zwar an strengen Grenzen, dennoch lassen sich bisweilen mit
ihrer Hilfe benachbarte Völkerstämme leicht von einander trennen.
Unter den Eingebornen Amerikas finden wir ohne Ausnahme nur
straffes grobes Haar und durch seine Haarkrone unterscheidet sich
der Papuane Neu-Guineas von dem Australier, dessen Haar sich
zwar kräuselt, aber nicht in Büscheln sich vereinigt. Der Wuchs
der Haare und vorzugsweise der Kopfhaare lässt sich bezeichnen
als ein schlichter oder straffer, als ein lockiger oder anmuthig ge-
ringelter, dann als ein gekräuselter und endlich als ein büschel-
förmiger. Die Ursachen der Krümmung und Drehung sind sehr
mannigfache. Schon in der Grösse des Durchmessers ist eine solche
gegeben, denn je feiner das Haar, desto williger wird es sich den
Krümmungsursächen fügen. Kein menschliches Haar erreicht die
Zartheit der Schafwolle, daher echte thierische Wolle nirgends bei
i) Scylax, Periplus cap. 110. Geogr. Graeci minores ed. Müller I, p. 88.
2) Lauth, Aegyptische Reisebriefe. AUgem. Zeitung. 1873. S. 1335.
3) Peschel, Zeitalter der Entdeckungen. S. 54.
4) Zeitschr. für Ethnologie. Berlin 1873. Bd. 5. S. 15.
5) Gould, Investigations in military and anthropological statistics. p. 193.
6) Nach Raymondi's Geografia del Peru im Globus. Bd. XXI. No. 19.
1872. S. 300.
Peschel, Völkerkunde. 7
ng Haut und Haar des Menschen-
Menschen • angetroffen wird. Wichtiger ist aber für unsre Zwecke
die Gestalt des Querschnittes, der bisweilen kreisrund, bisweilen
elliptisch plattgedrückt sich zeigt, so dass das Haar von der Walzen-
form bis zu der, eines doppeltconvexen Bandes sich verändern kann.
Obgleich nun bei den einzelnen Vertretern einer Race beträchtliche
Schwankungen vorkommen, so hoffte doch ein Anthropolog wie
Pruner Bey, durch mittlere Grossen bestimmun gen ein brauchbares
Mittel zur Classification der, Menschenstämme zu erwerben. Wird
der grosse Dütchmesser des Haarquerschnittes gleich hundert ge-
setzt, so drückt das Sinken der Ziffer für den kleineren Durch-
messer ein Fortschreiten der Abflachung aus. Der reinsten Walzen-
form mit 95 als Werth für den kleinen Durchmesser begegnen wir
bei Südamerikaner:i; auch die Mumien der Aymara in Peru zeigen
noch 89. Es schliessen sich aber in Bezug auf den ' Querschnitt
des Haares an die Bewohner der Neuen Welt zunächst die Mon-,
golen an, bei denen die Abplattung zwischen 81 bis gi schwankt.
Am meisten verkürzt ist der kleine Durchmesser bei dem Haar der
Papuanen Ntu-Cuineas, nämlich bis zu 2Ö und 56 in .äussersten
Fällen, bis zu 34 im Durchschnitt. Auch hier unterscheiden sich
die Australier mit einem Index von 67 und 75 noch deutlich von
den Papuanen. Auch ist es von nicht unbeträchtlichem Werthe,
dass mit den Papuanen die Hottentotten nahe übereinstimmen,
denn bei ihnen sinkt der kleine Durchmesser auf 55 und 50').
Scharfe Begrenzungen lassen sich aber auch auf diesem Wege
nicht gewinnen, sondern nur die Erfahrung, dass mit der grösseren
Flachheit des Haares, zumal mit ihr auch eine grossere Feinheit
sich zu vereinigen pflegt, die Anlage zu dem Lockigwerden und
der Kräuselung beträchtlich wächst.
Verschieden von der Kräuselung ist die bündelweise Ver-
einigung von Haaren zu gesonderten Strängen, die nicht unglück-
lich mit den Ohrqliasten bei echten Pudeln verglichen worden ist.
Diese gruppenweise Vereinigung wird unterstützt durch äusserlich
hinzutretende Bindemittel, nämlich durch Ausscheidung von Fett
und Talg'). Das büschelförmige Wachsthum der Kopfhaare ist
1) Pruner Bey, De la chevelure. Paris i86j. p, IJ. Goetle (das Haar
des Buschweibes, Tübingen 1867, S. 43) fand dagegen bei der Afandy nur
eini:n kleinen Durchmesser von 73,
2) Goetle, Das Haar des Buschweilies. Tübingen 1867, S. 34 ff.
Haut und Haar des Menschen.
99
es, welches uns verstattet, die einzelnen Glieder der papuanischen
Race von den malayischen und australischen Bevölkerungen streng
zu sondern. Weit weniger zuverlässig ist dieses Merkmal in Süd-
afrika. Dort ist das büschelartige Wachsthum der Haare am
deutlichsten ausgeprägt bei den Hottentotten, den ihnen körperlich
nahe stehenden Buschmännern, sowie einigen vereinzelt auftreten-
den Horden im Innern- Afrikas bis in die Nähe des Aequators.
Die Vereinigung der Haare zu eirfzelnen Gruppen ist auch bei
kurz geschornen Köpfen noch deutlich sichtbar und letztere gleichen
dann,' um einen prosaischen aber zutreffenden Ausdruck Barrows
zu wiederholen, dem Ansehen und dem Gefühl nach einer abge-
nutzten Schuhbürste. Von der Gleichstellung mit Schafwolle ist
jedoch auch dieses Haar schon durch seine gröbere Beschaffenheit
geschützt. Leider ist auch in diesem Falle das Merkmal nicht
streng auf eine Völkerfamilie beschränkt, denn nach den Unter-
suchungen von Gustav Fritsch verfilzt sich, wenn auch in ge-
ringerem Grade, der Haarwuchs der südafrikanischen Bantuneger
ebenfalls zu kleinen Zöpfchen*). Da diess aber nicht blos von
den Ama^^osa Kafirn gilt, die einer Blutmischung verdächtigt werden
könnten, weil sie sich einige Schnalzlaute der Hottentottensprache
angeeignet haben, sondern auch bei den tiefer binnenwärts
sitzenden Betschuanen *) oft recht deutlich noch sich wahrnehmen
lässt, nie gänzlich verschwindet, so entzieht auch dieses Merkmal
durch allmählige Uebergänge uns die Möglichkeit einer scharfen
Racenbegrenzung.
Krauses Haar, welches die Neger Afrikas und die Australier
auszeichnet, unterscheidet sich von dem büschelförmigen durch den
Wegfall der Verfilzung, von dem lockigen durch seine grössere Kürze,
seine starke spiralartige Drehung und eine Spaltung der Länge nach,
welche das Haar in zwei platte Bänder zerlegt"*). Fällt der letztere
Umstand hinweg, wird das Haar gröber und walzenförmiger, so be-
ginnt eine schwächere Krümmung von Haargruppen zu Locken,
wie bei den Europäern und Semiten. Das gröbste und rundlichste
Haar endlich ist ein beharrliches Merkmal der Amerikaner und
ihrer physischen Geschwister in Nord- und Ostasien. Wo eine
1) Fritsch, Die tingebornen Siidafrika's. S. 275. 276. S. 15 — 16.
2) Fritsch, Eingeborne Südafrikas. Atlas. Tafel 'XI bis XX.
3) Goette, a. a. O. S. 23.
• 7*
IQO Plaut und Haar des Menschen.
Mischung zwischen kraushaarigen Afrikanern und den grob- und
schlicht haarigen Amerikanern stattgefunden hat, da behält das Haar
die Kräuselung /war bei, nimmt aber an Länge und Sprödigkeit zu.
Bei den Cafusos, wie solche Mischling^ in Brasilien genannt werden,
entwickelt sich eine üppige vom Haupt abstehende Haarkrone, die
ihnen eine trügerische Aehnlichkeit mit den Papuanen verleiht '}.
Diese letztcien stehen in Bezug auf die Dichtheit des Wuchses
wahrscheinlich unter allen Volkern am höchsten. An Länge des
Haupthaares dagegen werden die Jägerstämme Nordamerikas
nicht übertroffen. IJei den Mannern der Schwarzfüsse und der
Siüux oder Uacota reicht es fasst bis zu den Fersen'), ja ein
KräbenhäüptUng brachte es sogar bis zu einem Längenwachsthum
von lo Kuss 7 Zoll engl,^)
Die Haarbckleidiing andrer Körpertheile als der Kopfhaut ist
mehr oder minder reichlich vorhanden oder fehlt oft gänzlich bei
beiden Geschlechtern. Am seltensten verschwindet die Bedeckung in
den Sexualgegend t*n. Ihre Spärlichkeit oder ihr gänzlicher Mangel
bei nordasiatisclien Mongolen, bei amerikanischen und malayischen
Stämmen sowie bei Hottentotten und Buschmännern gehört zu den
beharrlichsten und bewährtesten Racenkennz eichen, nur muss hinzu-
gefügt werden , das^ die natürliche Kahlheit des Körpers noch
durch sorgsames Auszupfen vereinzelter Haare künstlich gesteigert
zu werden pflegt. Auch der Bartwuchs mangelt oder ist auf das
äusserste beschränkt bei allen Völkern mit straffem groben Haar,
also bei Amerikanern, Nord- und Ostasiaten, sowie bei Malayen.
Kümmerlich entwickelt ist er bei den Hottentotten, reichlicher und
häufiger kommt er bei mittel- wie südafrikanischen Negern vor.
Bei allen diesen Measchenstämmen iet obendrein der Backenbart
nicht oder nur als Sehenheit anzutreffen. Durch einen massigen
Bartwuchs können die Australier, durch reichlichen Bartwuchs die
Papuanen leicht von ihren malayo-polynesischen Nachbarn unter-
schieden werden. Eine üppige Haarbekleidung des Körpers gehört
zu den Kennzeichen der Semiten wie der indoeuropäischen Volker-
1) Ueber den Ursprung des NamcDB Cafuz s. MartiuE, Ethnographie. 1,150.
In Guayana werden sie Cabocie» oder Capucres genannt. Appun im Aus-
land. 1871. S. 967.
2) l'runcr Bey, Chevelore. p. 4.
3) Callin, Indianer Nordamerika's. 2. Ausgabe. 1851. S. 34.
•>«:
.< ♦."
* •■
•»
i
Haut und Haar des Menschen. loi
i) Der bekannten Tänzerin Pastrana, welche fast unter die dicht behaarten
Geschöpfe gehörte, soll auch ein wenig die berüchtigte Lola Montez geglichen
haben. Ausland. 1861. .S. 503.
2) Laperouse (Voyage autour du monde. Paris 1798. tom. HI, p. 125.)
begnügt sich indessen, von den Bewohnern Saghaliens an der Crillon-Bai zu
behaupten, dass Bärtigkeit und Behaarung von Armen, Nacken, wie sie bei
Europäern zu den Seltenheiten gehöre, bei ihnen die Regel sei.
3) H. Heine, China, Japan und Ochotzk. Bd. 2. S. 223. Wie H. Heine
äusserte sich auch H. v. Brandt, deutscher Consul in Japan, am 16. Decbr.
187 1 in der Sitzung der Berliner anthropologischen Gesellschaft (vgl. deren
Verhandlungen, Berlin 1872, S. 27). Bei Francis L. Hawks (Narrative of the
expedition under Comm. M. C. Perry. Washington, 1856. tom. li p. 454.) wird
nur von dem starken Bartwuchs und der reichUchen Haarbedeckung der
Beine bei Ainos in der Nachbarschaft von Hakodadi gesprochen.
4) Gould, Investigations. New- York. 1869. p. 568 — 569.
;^;H
familie. Bei Südeuropäern, namentlich Portugiesen und Spaniern,
soll dieses Merkmal am stärksten sich entwickeln*). Von allen
Völkern der Erde standen aber die Aino, die Bewohner von Jezo
Saghalien und den Kurilen, seit dem Besuche Lap6rouse*s, in dem
Rufe, eine Art thierischer Behaarung am Oberkörper zu besitzen*).
Neuere Beobachter haben diese Uebertreibung beträchtlich gemil-
dert, so dass die Aino nicht einmal völlig den Vergleich mit euro-
päischen Matrosen bestanden. Heinrich Heine fand die Barte der
Aino nur 5 — 6 Zoll lang, Brust und Nacken waren kahl und nur £
bei einer einzigen Person zeigten sich an den genannten Körper-
stellen etliche Haarbüschel). Immerhin wird selbst dieser massige
Grad einer zottigen Haut in der Nachbarschaft so bartarmer
Völker, wie der Japanen und Chinesen uns in Verlegenheit setzen,
wenn wir den Aino in unsrer Raceneintheilung einen schicklichen
Platz anweisen wollen, denn das Auftreten der Leibhaare sind wir
genöthigt, zu den beharrlichsten Kennzeichen der Menschenracen
zu zählen. Wenn nun bei 2129 Mulatten und Negern des
25. Armeecorps, die zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges
beim Baden von Aerzten beobachtet wurden, nur 9 als ganz
kahl sich zeigten, 21 dagegen beinahe die höchste Stufe, zwei
Drittel aber die mittlere Häufigkeit der Behaarung wie bei weissen
Soldaten wahrnehmen Hessen*), so dürfen wir doch nicht daraus
schliessen, dass eine Vertauschung des afrikanischen Wohnortes
mit der neuen Welt das Hervorsprossen des Leibhaares bei den
Negern veranlasst habe. Es ist hier vielmehr der Ort, den Irrthum
102 Haut und Haar des Menschen.
Ell widerlegen, als gehörten die Neger zu den Völkern mit glatter
Haut. \\'ohl ist ihr Bartwuchs nicht so reich entwickelt wie bei
den mittelländischen Völkern , aber besser wie bei den Koi-koin
(Hottentotten) und ungleich mehr als bei allen mongolenähnlichen
Stämmen der allen und der neuen Welt. Selbst der Backenbart
fehlt niclit gänzlich, wie i-iele haben behaupten wollen und die
Brust der Männer ist bei einigen Stämmen bisweilen, bei anderen
durchgehends bewachsen').
Werfen wir jetzt noch einen Blick rückwärts, so werden wir
uns eingestehen müssen, dass weder die Form des Schädels, noch
andre Abschnitte des Skelettes scharfe Abgrenzungen der Menschen-
racen veistatteten . dass auch die Hautfarbe nur verschieden ab-
gestufte Dunkeluns zeigt und dass allein das Haar, aber auch
dieses nicht immer und niemals scharf genug unseren systemati-
schen Bestrebungen nu Hilfe kommt. Wer sollte also den Huth
besitzen, von der Un Veränderlichkeit des Racentypus zu reden?
Auf das Haar allein, wie Ernst Haeckel es gethan hat, eine Glie-
derung des Menschengeschlechts zu begründen, war von vornherein
ein Wagniss und mus^te enden, wie alle künstlichen Systeme ge-
endet haben. Bei der Scheidung der Koi-koin von den Bantu-
negern hat dieses Verfahren zu Missgriffen geführt und die Ver-
einigung der Australier, als angeblich straffhaariger Menschen, mit
den Mongolen beruht auf Unkenntniss der Thatsachen.
i| Vj^l. den Barulong-Neget bei Fritsch, Eingebome Südafrikas. Atlas.
Taf. XVI, und die BeschreibunE der Kissamaneger von Hamilton im Journal
of Ihe Anlhropül. Ine-litute. London 1872. lom. I. p. 187.
DIE SPRACHMERKMALE.
1. Die Entwickelungsge schichte der menschlichen Sprache.
Versteht man unter Sprache das Mittel, anderen Geschöpfen
Erregungen oder Absichten mitzutheüen , so besitzen sogar die
wirbellosen Thiere solche Fähigkeiten.^ Insecten, die in sogenannten
Staaten beisammen leben, wie die Ameisen, sehen wir wie auf
Verabredung planvolle Kriegsunternehmungen und Ueberfalle aus^
führen. Wenn ein Scarabäus den Düngerball, der das Ei ein-
schliesst, beim Rollen in eine Bodenvertiefung gerathen lässt und
die Anstrengungen des Käfers nicht ausreichen, ihn wieder auf
eine glatte Bahn zu bringen, so fliegt er fort, um nach einiger
Zeit mit etlichen Helfern wieder zu kehren, die nun gemeinsam die
Kugel an den Wänden des Abhangs hinaufwälzen. Ohne Zweifel
müssen also diese Geschöpfe Mittel besitzen, sich über eine Ver-
einigung zu einer solchen Leistung zu verständigen. Bei unsern
Singvögeln können wir nach kurzer Beobachtungszeit schon die
verschiedenen Töne unterscheiden, welche sie ausstossen, wenn sie
die Jungen vor einer Gefahr warnen, zum Futter herbeirufen oder
sich gegenseitig zur Paarung locken wollen. Diese Thiere verfügen
also für eine kleine Anzahl von Lebensbedürfnissen über eine
gleiche Anzahl von Signalen , welche ihre erforderliche Wirkung
nicht versagen und diese Signale sind, wie wir vorläufig nicht
anders vermuthen könnnen, von ihnen wie die Instinkte erworben
und vererbt worden. Die Bedürfnisse der Mittheilung sind be
keinem Thiere mannigfacher und dringender als beim Hunde. Wir
verstehen vollständig sein Bellen, ob es Freude, Missbehagen, War-
nung vor Gefahr, einen bestimmten Wunsch oder eine Kriegs-
erklärung bedeuten soll. Der Hund beschränkt sich nicht blos auf
104 ^'^ Entwicketungsgeschichle ä,ei menschlichen Sprache.
seine Stimme, sondern er scharrt oder fletscht die Zähne, bedient
sich also auch einer Art von Gebärdensprache. Mit gewisser Be-
rechtigung hat man daher das Bellen des Hundes als den ersten
Sprechversuch eines Thieres bezeichnet'). Diese Fertigkeit erwarb
jedoch dieses Thier durch seinen Umgang mit dem gesprächigen
Menschen, denn europäische Hunde, die auf einsamen Inseln aus-
gesetzt wurden, entwöhnten sich des Bellens und erzeugten eine
stumme Nachkommenschaft, die erst durch erneuten Umgang mit
dem Menschen zu dem verlornen Gebrauch der Stimmwerkzeuge
zurückkehrte.
Die menschliche Sprache aber unterscheidet sich von den
Verständigungslauten der Thiere nicht etwa blos durch einen
grösseren Spielraum der Rlittheilungen, sondern dadurch, dass sie
etwas zu verkündigen vc-miag, was jenseits des thierischen Denkver-
mögens liegt, nämlich nicht blos Wahrnehmungen, sondern Er-
kenntnisse. Ist das Bellen des Hundes der erste Sprechversucii,
so können wir auch hinzusetzen, dass der Versuch bisher noch
immer misslungen sei. Nicht einmal so weit gelangte das Thier,
dass es einen Lockruf für eine bestimmte Person sich aneignen
konnte. Wenn das Kind so weit gereift ist, dass es zum ersten
Mal bewusst Vater oder l\[utter ruft, so ist ihm der erste Sprech-
versuch völlig geglückt. Ein Thier wird niemals solche einfache
Erkenntnisse rnittheilen, wie sie in den Worten hell, warm, süss,
hart, spitz, blau, roth enthalten sind.
Da nun die Geschichte und die täglichen Erfahrungen uns
lehren , dass die Sprachen sich ändern und dass sie zugleich an
Umfang wachsen, ihre Bildung also nie stillsteht, und die Umbil-
dungen und Neubildungen jedenfalls von uns selbst herrühren , so
sollte eigentlich nie ein Streit sich erhöhen haben, dass der Mensch
der Schöpfer seiner Sprache gewesen sei. Dennoch hat man die
ersten Anfange einem übernatürlichen Vorgange zuschreiben wollen.
Wenn aber gerade in der menschlichen Sprache der einzige sprung-
artige Unterschied zu suchen ist, der uns innerhalb der Thierwelt
von unsern Mitgeschijpfen absondert, so erniedrigen diejenigen
unsre geistigen Fähigkeiten und schmälern jene Kluft, welche be-
haupten, der Mensch habe nicht aus sich selbst seine höchste Aus-
zeichnung erworben, (lieschieht diese Verneinung aus krankhafter
] L. Geiger, Ursprung der Sprache. StuUgsrt 1869. S. 190,
Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. 105
Frömmelei, so braucht man nur daran zu erinnern, dass unsre
heilige Schrift selbst entschieden die Sprache als eine Schöpfung
des Menschen bezeichnet (Gen. II, 19 — 20).
Wer aber über die ersten Anfänge der menschlichen Sprache
zur Klarheit gelangen will, der muss zunächst gewarnt werden,
dass ihn dabei alle Vergleiche aus den jetzt vorhandenen Wort-
schätzen in die Irre führen müssen. Wenn wir die früheren For-
men unsrer Ortsnamen nur wenige Jahrhunderte zurückverfolgen,
finden wir, dass sie mit der 2jeit bis zu trügerischer Unkenntlich-
keit entstellt wurden, Wildenschwerdt ist aus Wilhelmswerda, Wald-
see (Württemberg) aus Walchsee, Oehringen aus Oringau, Welzheim
aus Walenzin, Holzbach aus Heroldsbach entstanden, wie A. Bac-
melster uns belehrt hat. Martin Luther durfte vor 300 Jahren
noch schreiben: Gott thue nichts als schlechtes und das Evangelium
sei eine kindische Lehre ^). Damals bedeutete also wie noch heute
in unsrer Redensart recht und schlecht, das Schlechte etwas
Schlichtes, das Kindische etwas Kindliches. Im Süden Deutschlands
wird jedes männliche Kind ohne Arg ein Bube genannt, im Norden
bezeichnet dieser Ausdruck nur noch einen verworfenen Menschen,
gerade so wie die entsprechenden Laute des Englischen für Knabe
fknave) diesen üblen Sinn {knavery, Büberei) sich zugezogen haben.
Wir gewinnen damit die wichtige Erfahrung, dass der Sinn durch-
aus nicht fest an einer Lautgruppe haftet, sondern sich ihr inner-
halb derselben Sprachgenossenschaft unmerklich entzieht und sogar
auf andre Lautgruppen übergeht.
Diese Unabhängigkeit des Gedankens von seinem Schallaus-
druck widerlegt die oft gehörte Behauptung, dass wir nur in
innerlich gesprochner Rede denken sollen. Sprachloses Denken
begleitet vielmehr fast alle unsre häuslichen Verrichtungen. Ferner
baut der Musiker seine Schöpfungen aus einer rhythmischen Ton-
folge auf, der Maler wählt die Farbe zum Ausdruck seiner Stim-
mungen oder Gedanken, der Bildhauer die menschliche Gestalt, .der
Baumeister Linien und Flächen, der Geometer Begrenzungen des
Raumes, der Mathematiker Ausdrücke der Quantität. Wäre die
Sprache dagegen eine strenge und nothwendige Lautverkörperung
I) L. Geiger a. a. O. S. 64. S. 72.
lo6 I^ic Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
des Gedankens, so müsste dieser überall durch dieselben Schall-
erregungen sich uns offenbaren*).
So müssen wir also das Begegnen eines gewissen Sinnes mit
einer gewissen Lautgruppe nur als etwas flüchtiges betrachten.
Sprachforscher, welche die Entwickelung der indoeuropäischen
Sprachen rückwärts so weit verfolgt haben, als überhaupt Urkunden
es verstatteten, konnten schliesslich einen Schatz von Wurzeln zu-
sammenlesen, den wir als den ältesten erreichbaren Stoff der Sprach-
forschung betrachten müssen. Gleichwohl haben wir keine Ge-
wissheit, dass diese Wurzeln das Uranfangliche gewesen seien, wir
dürfen wohl eher annehmen, dass auch sie schon lautliche Um-
wandlungen erlitten, ehe sie auf uns gelangten. Zwar haben
mahche Völker die Gabe, die Lautgruppe länger und schärfer
festzuhalten, während andre viel unstäter mit dem Werkzeuge des
Gedankenausdruckes wechseln, dennoch lässt sich wohl als allge-
mein giltig behaupten, dass die Befestigung einer Sprache mit der
Zahl der Sprechenden und zugleich mit der strengeren Gliederung
der Gesellschaft wächst. Die ausserordentliche Vielheit der Sprachen
in Amerika hängt genau zusammen mit der unstäten Lebensweise
wandernder Jägerstämme. Wo dagegen wohlgeordnete Gesell-
schaften bestanden wie im alten Peru, da konnte auch die herr-
schende Ketschuasprache sich über mehr als zwanzig Breitengrade
erstrecken.
Es ist von früheren Schriftstellern bereits erläutert worden,
dass der Glaube an eine Fortdauer nach dem Tode die Umbil-
dung der Sprache beschleunigt hat. Die Namen der Abgeschie-
denen werden nicht mehr genannt aus Furcht, das Gespenst des
Gerufenen herbeizuziehen. Viele Volker wagen nicht einmal, den
wahren Namen ihrer Gottheit auszusprechen und etwas Aehnliches
wenigstens verordnet das zweite sinaitische Gebot. Als unter den
Dayaken Borneo's die schwarzen Blattern ausbrachen, floh Alles
erschreckt in die Waldeinsamkeiten. Die Krankheit wagte man
nicht mehr beim Namen zu nennen , sondern man hiess sie
Dschengelblatt oder Datu (Häuptling) oder sagte schlechtweg: ist
er abgezogen^). Da nun die Eigennamen bei der Mehrzahl der
2) Steinlhal, Psychologie u. Sprachwissenschaft. Berlin 1871. Bd. i.
S. 54. S. 361. Whitney, Language and the study of language. London
1867. p. 413—420.
2) Spenser St. John. Far East. London. 1862. tom. L p, 61 — 62.
Die Entwickelungsgescliiclite der meo schlichen Sprache.
107
halbentwickelten Völker aus Worten des täglichen Gebrauchs zu-
sammengesetzt werden, so müssen für diese letzteren neue Aus-
drücke ersonnen werden. Als König Pomare auf Tahiti gestorben
war, verschwand des Wort po (Nacht) aus der Sprache. Den
nämlichen Gebrauch huldigen oder huldigten die Papuanen Neu-
Guinea's, die Australier, die Tasmanier, die ostafrikanischen Wasai,
die Samojeden und die Feuerländer. Doch darf man die Trag-
weite dieser Gewohnheit bei Umwandlung der Sprache nicht über-
schätzen, denn wenn ein neues Geschlecht, welches den Verstor-
benen nicht mehr kannte oder nicht- mehr fürchtete, heranwuchs'),
kehrte es wohi zu dem alten Worte zurück, oder wo das Verbot
sich nur über eine Horde erstreckte und das verpönte Wort in einer
andern Horde fortlebte, konnte es ebenfalls durch Zwischen he irathen
wieder eingeschleppt werden. Auch darf man nicht denken, dass
neue Lautgruppen ersonnen wurden, sondern man fügte aus den
Bestandtheilen des Sprachschatzes nur neue Worte zusammen. Bei
den Abiponen am westlichen Ufer des Paraguay Stromes Südamerika's
war den alten Frauen das Geschäft anvertraut, die neuen Benen-
nungen festzustellen. Der Name des Tigers (Jaguars) wurde wegen
eingetretner Todesfälle drei Mal in sieben Jahren von ihnen abgeän-
dert, zuletzt in laprireirae oder der „Fleckige", ,, Buntscheckige'").
Weit bedenklicheren Umwandiungen ist die Sprache solcher
Menschenstämme ausgesetzt, die in Banden von weni^'cn Köpfen
oder auch wohl nur in Familien dünn bewohnte Jagdreviere durch-
streifen. Jeder Angehörige einer grossen Gesellschaft wird durch
das tägliche Bedürfniss streng zu einer deutlichen Aussprache ge-
(11 .-Mlfi] viT^Laiiklcii ivi-rciu. ^-chlecht erzogene
. Lautgruppen, die eine Zeitlang innerhalb de-*
und die sich für ii
Wrkehr 5i;c nicht wie
iJic Kinilei
festsetzen würden,
:bi.'kannlc Münzeii
zur Mannesge-
^ehie Stämme nicht
ihren ehemaligen
^n bei denen aus
79J. t<im IV. p. 1011
1 Verstoibtnm :iii-
e1 oder Grcjssenkel
Lif^jefrischl werde.
Io8 ^ic Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
Eii^ensinn jeder an seiner Sonderaussprache festhält. Der Reisende
Martins klagte daher, dass unter seinen Begleitern, obgleich sie
der nämlichen Horde angehörten, ein jeder kleine dialektische Ver-
schiedenheiten in Betonung und Lautumwandlung festhielt. Seine
Genossen verstanden ihn, wie er seine Genossen verstand"). Bei
einem solchen Hange verändern sich natürlich die Lautgruppen in
der kürzesten Zeit
<
Wenig Mühe kostet es unserm Nachdenken , sich das all-
mähliche Wachsthum der Sprachen auszumalen, sobald nur aer
erste grosse Sprung ausgeführt war, dass durch irgend einen be-
stimmten Schallausdruck die Mittheilung eines Gedankens oder nur
eines Bedürfnisses von dem Sprechenden beabsichtigt und von
einem Mitgeschöpfe erkannt worden war. Dieser erste Sprung
bleibt aber noch immer von tiefem Dunkel umhüllt, denn die An-
knüpfung irgend eines Gedankens mit einem Laute der mensch-
lichen Stimme beruht auf einem Vertrage des Sprechers und des
Hörers, und wie Hess sich der erste Vertrag oder die erste Ver-
ständigung über das erste Wort schliessen, wenn es eben noch
keine Verständigungsmittel gab? Nach der ältesten Vermuthung
hätte sich der Vorgang auf dem Wege der Tonmalerei vollzogen
und durch die Wahl der nachahmenden Laute sei die Aufmerk-
samkeit des Zuhörers auf irgend einen Gegenstand von Sinnes-
wahrnehmungen gelenkt worden. Da nun alle Sprachen reich sind
an Lautbildungen, die uns, was sie ausdrücken sollen, gleichsam
musikalisch schildern, so dachte man sich den ersten Anfang als
einen onomatopoetischen Versuch. Es wurde indessen in Folge
der raschen Lautveränderungen den Gegnern dieser Ansicht sehr
leicht, sie dadurch zu widerlegen, dass den älteren Formen der
gegenwärtigen Nachahmungsworte jede Absicht einer Tonschilde-
rung mangelt. Wie leicht lassen wir uns täuschen, dass unser
Wort rollen^ besonders wenn wir dabei an den rollenden Donner
denken , aus dem Versuche einer Geräuschschilderung ent-
sprungen sei? Dennoch fiel es L. Geiger*) nicht schwer, dieses
Zeitwort von dem französischen rouler, dieses vom lateinischen
rotulare und das letztere endlich von rota (Rad) abzuleiten, bei
dem die Schallnachahmung völlig erlischt. Allein jener geist-
reiche Sprachzergliederer übersah gerade hier einen wichtigen Um-
1) Ausland 1869. S. 891. Nach einer mündlichen Mittheilung des Reisenden.
2) Ursprung der Sprache. S. 27.
Die Ent Wickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. lOQ
stand, denn aus rouler hätte beim Uebergang in unsre Sprache
ein Wort entstehen müssen, welches etwa ruhlen lautete. Dass
nun aus ruhlen rollen gebildet wurde, verräth uns ein Bemühen,
dem Worte durch eine Lautveränderung onomatopoetische Kraft
und damit eine grössere Verständlichkeit zu geben. Wie die
Geologen aber nun schliessen, dass die gegenwärtig an und in
unsern Planeten sich vollziehenden Gestaltenwechsel von Anfang an
in gleicher Art sich vollzogen haben, so können auch wir aus der
bis in die Neuzeit unverminderten Lust zur Lautschilderung mit
Recht vermuthen, dass derselbe Hang auch bei den ersten Anfangen
der Sprachbilduug sich geregt haben müsse. Diese Erklärung hat
Max Müller auf schnippische Weise abzufertigen gesucht, indem
er sie eine Bau-wau-Theorie nannte, weil bei den ersten Sprach-
schöpfungen die Kuh Muh und der Hund etwa Bauwau in Nach-
ahmung ihres BrüUens und Bellens genannt worden seien. Er
selbst aber sucht den Vorgang ins Mystische hinüberzuspielen. Jeder
Körper, meint er, habe seinen besondern Klang, wie Glas und
Glocken und so habe auch der Gedanke die Sprach Werkzeuge
gleichsam zu den angemessenen Schwingungen genöthigt. Mit
Anspielung auf den Glockenton ist daher Max Müllers Erklärung
als Bimbaumtheorie (ding-dong) von anderen wieder verspottet
worden. In neuerer Zeit neigt man sich der älteren Auffassung
mit Vorliebe zu. Als der Sprachforscher A. Pott über die
örtlich verschiednen Ausdrücke für Donner eine linguistische Heer-
schau in allen Welttheilen hielt, ergab sit:h am Schlüsse, dass die
Mehrheit der Völker den Eindruck jener Schallerscheinung durch
einen Nachhall im Ausdruck wieder zu geben versuche'). An
andern Beispielen hat Tylor gezeigt, dass Menschenstämme in weit
abgelegenen Erdräumen dieselben Lautgruppen für geräuschvolle
Bewegungen gebrauchen. Das Hervorbrechen stark gespannter
Luftarten, alles was heflig geblasen wird, bezeichnen Malayen,
Australier, Afrikaner, Asiaten und Europäer mit Lauten, die pu
und puf sehr nahe kommen. Auch der Name für das Rind
§ovq^ bos, bou, bo findet sich bei Hottentotten und Chinesen wieder*).
Ferner darf nicht übersehen werden, dass unsre Kinder bei ihren
ersten Sprechversuchen einen gehörten Schal^ mit ihren Stimm-
i) Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Berlin 1865.
Bd. 3. S. 359.
2) Anfänge der Cultur. Bd. i. S. 202 — 210.
HO Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
Werkzeugen nachzuahmen und Thiere fast ausschliesslich mit den
Thierlauten zu bezeichnen pflegen. Der Kreis der Wahrnehmun-
gen, die sich durch Tonmalerei ausdrücken lassen, ist aber be-
schränkt auf diejenigen Vorgänge, welche mit Schallerregungen
verknüpft sind, denn es gibt ja keine Tonmalerei für das, was
wir durch das Gesicht oder den Tastsinn wahrnehmen.
Erleichtert dachte man sich die ersten Anfänge der Sprach-
bildung durch die unwillkürlichen Thätigkeiten unsrer Stimmwerk-
zeuge bei starker innerer Erregung. Der Schrei der Freude und
des Entsetzens ist noch jetzt Eigenthum selbst der gebildeten
Völker. Wir bringen den Schrei bei der Geburt mit auf die
Welt, denn das erste Lebenszeichen eines Kindes besteht in einer
Thätigkeit seiner Stimmwerkzeuge. Der Schrei ist uns allen ver-
ständlich, obgleich nie Unterricht oder Uebung stattfindet, ja das
Schreien genügt in den ersten Monaten des Lebens vollständig
zur Ankündigung der verschiedenen Bedürfnisse. Ohne dass eine
Absicht des Sprechens vorhanden ist, wird doch das Schreien ver-
standen und Kinder bedienen sich noch eine Zeit lang, ja noch
lange Zeit, sehr bald mit Bewüsstsein und Absichtlichkeit des
Schreiens zur Verständigung. Ebenso mag das Schreien der Er-
wachsenen in den ersten Anfängen der Sprachbildung noch lange
Zeit das Sprechen vertreten haben und Schreilaute haben sich als
Ausrufungen noch bis in die Gegenwart erhalten. Nur muss auch
hier wieder gewarnt werden, dass wir unser Ach! und Weh! nicht
ableiten dürfen aus der Zeit der ersten Sprachursprünge, denn es
ist unzählige Male schon gelungen, solche Rufe, die scheinbar
unwillkürlich sich dem gepressten Herzen entringen, als abge-
kürzte Worte, ja Redensarten zu entlarven. Das englische zounds
entsprang aus by GocTs woundsl und alas aus Oh me lassoH)
Der westafrikanische Neger ruft vor Furcht oder Staunen mämd
mdmd, der Indianer Neucalifomiens and! Beides bedeutet Mutter
und wie unerwachsene Kinder rufen sie also die Schützeria ihrer
Jugend zu Hilfe ^). Bedeutsam ist nur, dass solche Lautausbrüche
noch in keiner gebildeten Sprache völlig entbehrt werden können.
Die Sprache der Thiere ist aus Nichts zusammengesetzt als aus
i) Whitney, Language and the study of language. London 1867, p. 277.
2) Tylor, Anfange der Cultur. I, 176 — 77.
Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. m
solchen hervorbrechenden Lauten der Stimmwerkzeuge und dass
der Mensch zu allen Zeiten seine inneren Bewegungen, Schmerz,
Freude, Schreck, Ueberraschung, Abscheu durch solche Signale
ausgedrückt habe, bedarf nur des Nachdenkens, nicht des Be-
weises ').
Dazu gesellt sich als wichtiges Hilfsmittel die Betonung. Unser
Ja und unser Nein verstatten eine Stufenleiter der Aussprache, aus
welcher der Fragende oder Bittende deutlich heraushören kann, ob
die Bewilligung oder Zustimmung eine freudige oder saure, die Ver-
neinung eine schwankende oder eine entschiedne sei, überhaupt
in welcher Stimmung beide Aeusserungen erfolgen. Der Sinn des
Rufeö P/ut\ wenn er klanglos ausgesprochen wird, dürfte jedem,
der des Deutschen nicht mächtig wäre, völlig dunkel bleiben, mit
voller Betonung des Abscheues ausgestossen, würde aber selbst
ein Feuerländer errathen können, dass diese Lautgruppe den
Gegensatz einer Billigung ausdrücken solle. Die Betonung aber,
die etwas ursprüngliches, nichts erworbenes und andrerseits nichts
beabsichtigtes, sondern etwas unwillkürlich hervorbrechendes ist,
konnte bei dem Beginn der Sprachbildang das gegenseitige Ver-
ständniss mächtig fördern. Es 'ist gewiss nichts zufalliges, dass
gerade die formlosen, einsylbigen Sprachen die Betonung noch
immer als wichtige Aushilfe zur Unterscheidung gleichlautender
Wurzeln benutzen.
Aehnüch wirkte, nicht auf das Gehör, sondern auf das Auge
das Mienenspiel und die Gebärdensprache. Die sogenannten
wilden Völker üben ungelehrt und unbewusst oder wenigstens nur
halb bewusst die Kunst, welche unsere Schauspieler durch müh-
same Uebung vor dem Spiegel sich von neuem aneignen müssen.
Die Buschmänner, bemerkt Lichtenstein, verständigen sich unter
einander mehr durch Gebärden als durch Reden *). Es gibt jedoch
eine Mehrzahl solcher Körperbewegungen, deren Sinn keineswegs
von allen Menschenstämmen übereinstimmend gedeutet wird, es
sind sogar Zweifel verstattet, ob in dem Ballen der Faust überall
auf Erden eine Drohung, im Stampfen mit dem Fusse ein Aus-
bruch des Unwillens erkannt werden sollte. Wird doch bei den
1) Steinthal (Psychologie und Sprachwissenschaft. Berlin 1871. S. 367).
hält die Interjectionen für ReflexJaute.
2) Reisen im südlichen Afrika. Berlin 1811. Bd. 2. S. 82.
112 Die EntwickeluQgsgeschichte der menschlichen Sptache.
Basutonegem ein glücklicher Volksrednei durch Zischen belohnt,
also von den Zuhörern nicht ausgezischt, sondern bezischt'). Viele
Gebärdet! haben vielmehr nur durch gegenseitige Verständigung
ihren Sinn erliallen. Unter anderm bejahen die Türken durch
Kopfschütteln und verneinen durch Nicken. Im alten Griechen-
land wurde ein Bittender durch Zurückwerfen des Hauptes (ava'
VfveivJ abgewiesen und in Süditalien winkt man heran, wenn die
Hand mit dem Rücken an die Brust gelegt wird und die Finger
nach* dem Herbeizuziehenden spielen*). Dennoch schlummert in
jedem Menschen die Gabe, sich durch Zeichen zu verständigen.
Alle Seefahrer, die ein fremdes Gestade betraten, eröffneten mit
den Eingebornen einen Verkehr durch diese Mitlei und es gelang
ihnen dann immer, Wasser oder Nahrung zu erhalten. Ueberall
auf Erden ist der Mensch auf dieselbe Gebärdenmalerei zum Aus-
druck seines Gedankens gefallen. Die Taubstummen sind die
Erfinder ihrer eignen Zeichensprache gewesen, woraus wir den
schönen Satz gewinnen, dass der Mensch auch ohne Sprechwerk-
zeuge zu einem Verständiglingsmittel gelangt wäre. Die Mehrzahl
ihrer Sprach zeich en , vor allen die Luftzeichnungen, bedürfen zum
Verständnisa keiner weiteren Erklärung, so dass man sagen durfte,
die Taubstummen bedienten sich derselben Gebärden, die im
stummen Verkehr der Indianer von der Hudsonsbai bis zum mexi-
kanischen Golfe üblich waren. Auch konnte sich schon ein taub-
stummer Engländer durch seine tagesgewohnten Zeichen mit den
Lappländern in einer Schaubude verständigen. Endlich soll sich
die unglückliche Laura Bndgman, eine blinde Taubstumme, bei
welcher jede äussere Anleitung hinwegfiel , was freilich gerechten
Zweifehl unterliegt, derselben pantomimischen Bewegungen bedient
haben, wie sie bei anderen Menschen gesehen werden ^j.
So gab es denn in der Zeit der ersten Sprachentwickelung
eine Anzahl von Hilfsmitteln zur Mittheilung des Gedankens, zu-
gleich aber, da der Mensch von allen Geschöpfen am stärksten
zur Geselligkeit sich neigt, trieb ihn das Bedürfniss, sich irgendwie
mit seinem Nächsten zu verständigen. Trotzdem ist es noch
l) CasalLs, Los BasEüutof. Paris 1859. p. 247.
1} Kleinpaol, zur Theorie der Gebärdensprache. Zeitschr. f. Völker-
psychologie. Betlio 1869. Bd. fi. S. 36a.
3) Tylor, Urgeschichie der Menschheil. S. 21. S. 44. S. 69. S. 86.
Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. n^
schwierig, sich den ersten Sprechversuch zu erklären. Eine Ab-
sicht, durch die Stimmwerkzeuge einem andern einen Gedanken
mitzutheilen, darf nicht angenommen werden, dazu hätte ja gehört,
dass der Sprechende sich bewusst gewesen wäre, dass ein Laut
überhaupt zur Gedankenmittheilung dienen könne. Selbst wenn
aber der erste Sprecher mit einem bestimmten Laut einen be-
stimmten Gedanken verknüpft haben würde, so hatte er doch, da
sich an jede Verlautbarung jeder Gedanke knüpfen lässt, gar keine
Aussicht, verstanden zu werden'). Eine Aufhellung dieses dunklen
Vorganges wäre nicht denkbar, wenn nicht ein jeder von uns selbst
einmal aus dem sprachlosen Zustande sich hätte emporarbeiten
müssen. Ein jedes Kind muss die Sprechversuche der Menschheit
wiederholen, nur dass bei seinem Entwicklungsgang durch das Ent-
gegenkommen der Erzieher eine Anzahl Mittelglieder übersprungen
werden. Das Erwachen des Sprachverständnisses und die Sprach-
schöpfung lassen sich deshalb bei jedem Kinde neu beobachten. Zu
den übereilten Behauptungen L. Geigers gehört es auch, dass keine
neuen Worte mehr erfunden werden sollen. Die jugendlichen Ame-
rikaner hätten ihn vom Gegentheil belehren können. Der Partei-
narae Locofoco, der Geheimbundname Kluklux, der Sectenname Mor-
monen sind willkürliche Erfindungen. Schurlemurle, wie ein Getränk
au« gemischtem Wein in Würzburg genannt wird und Pic-nic lassen
sich wohl schwerlich von älteren Ausdrücken ableiten. Wer aber
Kinder beobachtet hat, der wird über den Zweifel, dass Sprach-
laute nicht zu neuen Gruppen zusammengestellt werden sollten,
nur staunen können^). In Südafrika verlassen die Bewohner öder
Strecken ihre Ortschaften, in denen die Kinder unter Aufsicht
von etlichen altersschwachen Leuten zurückbleiben. Die Jugend
beginnt nun eine eigene Sprache sich zu schaffen, die lebhafteren
fügen sich dabei den minder entwickelten und im Laufe eines
einzigen Geschlechtes vermag sich auf solche Weise das Wesen
der Sprache zu ändern^). Zwei Worte, die in allen Sprachen der
Erde erklingen, sind von Kindern geschaffen worden 'und werden
1) Steinthal, Psychologie und Sprachwissenschaft. Berlin 1871. S. 84.
S. 370 ff.
2) S. einen solchen Fall bei Steinthal, Psychologie u. Sprachwissen-
schaft. Bd. I. S. 382. § 510.
3) Max Müller, Science of language, tom. II, 54.
PcscheU Völkerkunde. 8
114
■: Entwickelungsgeschichle der menschlichen Sprache.
von jedem Kinde aufs Neue wieder geschaffen, nämlich die Laute
Papa und Mama. Der anfängliche Ma- oder /"a-Laul des Kindes
ist durchaus kein Sprechversuch , sondern nur eine Uebung der
Sprach Werkzeuge, hervorgegangen aus einem inneren physischen
Drange, ohne Absicht und Bewusstsein, um nichts besser oder
höher als der Schüll ! scAü//. '-Ruf unsrer Buchfinken. Die Eltern-
Uebe hat aber, so iange Menschen auf Erden wandeln, stets in
süsser Täuschung das Kind missverstanden , als sei ein Lockruf
beabsichtigt gewesen, als verlange das Kind nach Vater oder
Mutter. Dass nun diese ersten Uebungen der Stimmwerkzeu^'e den
Laut des künftigen Wortes, die Deutung der Eltern aber den Sinn
der t^ute bestimmten, erkennen wir daraus, dass in einer Anzahl
von Sprachen der ^n-Laut für Vater, der ma-Laut für Mutter gi!t
und in einer g^eicVicn Anzahl das Umgekehrte eintritt'). Andere
Kinderl.iute für Watter sind ai/hef (gothisch) und a//a (sanskr.),
letzterer auch für die ältere Schwester giltig, Al/a sieht im Latein
und Griechischen, auch im Gothischen für Väterchen, wohin auch
iic/fi- für Grossvater in deutschen Mundarten gehört'). Das
lallende Kind hat nun verschiedne Stufen des Sprach Verständnisses
KU ersteigen, denn es muss zunächst die Erfahrung erwerben, dass
bei seinen ma- oder /'rr-Uebungen entweder die Eltern herbeikom-
men oder den gegenwärtigen Freude bereitet wird. Dann erst Äird
der Laut von dem Kinde absichtsi'oll geäussert, aber erst \iel
später und nicht ohne entgegenkommende llemühung der Ehern
ifHingt es endlich, dass der eine Laut für den Vater, der andere
für die Mutter als Lockruf angewendet werde, Monate, ja Jahre
verstreichen, ehe hierauf die Erkenntniss durchbricht, dass Jifüiiia
und Papa nicht Eigennamen sind, sondern für alle Kinder zu-
nächst die Ernährer und Erzieher bezeichnen. Erst bei einer
späteren Reife entdeckt das Kind weiter, dass jene Xamen den
Erzeugern zukommen und den wahren vollen Inhalt erfassen selbst
lue Erwachsenen erst dann, wenn sie die Freuden und Sorgen von
Vätern oder Müttern gekostet haben. Wenn auch nicht vollständig,
t.o doch annähernd gleicht der Entwicklungsgang im zarten Lebens-
alter den ersten Sprech versuchen unsros Geschlechts,
I) Eine Muslening iler Vater- und MultcrTufe aus Spr:ichen aller Welt-
theile findet sich bei d'O TliiKny, rilomme amiricain. p. 79.
3j A. BacmcLsfer in der Ailgem. Zeitung. 1871. Beilage 29. Octbr
Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache. i\^
Ueber den Reichthum der Sprache entscheidet immer nur das
Bedürfniss nach MittheUung und dieses müssen wir uns bei den
Entwicklungsanfängen unsres Geschlechts sehr gering denken. Die
Engländer rühmen sich eines Schatzes von 100,000 Wörtern, ihre
Feldarbeiter aber sollen sich angeblich nur mit 300 begnügen.
Nicht mehr will ein Geistlicher bei einem Tagelöhner seines Kirch-
spiels auf einer friesischen Insel gezählt haben. Ein Mann von
Durchschnittsbildung, so belehrt uns Kleinpaul'), verfügt über
3 — 4000, ein grosser Redner über 10,000 verschiedne Wörter und
in den Berliner Taubstummenanstalten kommen nicht weniger als
5000 Zeichen zur Anwendung. Dass mit dem Bedürfniss nacb
Ausdruck auch die Menge der Ausdrücke wachse, beweisen uns die
Zahlwörter, die gewöhnlich nicht über zwanzig bei rohen Menschen-
stämmen hinausreichen. Alex. v. Humboldt war der erste, der das
Entstehen von Zahlengruppen zu 5, 10 und 20 Einheiten auf die
Anzahl der Glieder an Händen und Füssen zurückführte, so dass
wir mit sechsfingrigen Händen zum Duodecimalsystem gelangt
wären ^). Indessen gibt es doch Ausnahmen namentlich bei einem
australischen Stamme, der nur zwei Zahlworte verwendet, so dass
gesagt wird für i netaf * für 2 naes ; für 3 naes-netat; für 4 nacs-
naes ; für 5 naes-naes-nctat ; für 6 naes ^naes" naes ^), Andere
australische Mundarten besitzen einen unabhängigen Ausdruck für
drei und in einem der dortigen Sprachgebiete reichen die Zahl-
wörter bis 15 oder 20 ^). Orton behauptet, dass die Zaparos in
Ecuador am Napöstrome nur -bis drei zählen können und höhere
Mehrheiten nur durch Aufheben der Finger ausdrücken 5), und
das nämliche versichert der Prinz zu Neuwied^) von den Bo-
tocuden. Nach näheren Untersuchungen möchten sich aber bei
den meisten der genannten Völkerstämme günstigere Thatsachen
ermitteln lassen , denn auch den Abiponen sind Zahlwörter über
drei abgestritten worden. Jn Wahrheit aber sagen sie statt vier
,,Straussenzehen", für Fünf gebrauchen sie zwei Ausdrücke, für zehn
1) Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Berlin 1869.
Bd. 6. S. 354.'
2) A. V. Humboldt's Leben, herausgegeben von Carl Bruhns. Bd. 3. S. 9.
3) Latham, Opuscula. p. 228.
4) Tylor, Anfange der Cultur. Bd. T. S. 24T.
5) James Orton, The Andcs and the Amazon. London 1870. p. 170.
6^ Reise nach Brasilien. Frankfurt 1825. Bd. 2. S. 41.
8»
Il6 Die Entwickelungsgeschichte der menschlichen Sprache.
sagen «ie „Finger zweier Hände**, für Zwanzig „Finger und Zehen
an Händen und Füssen** *). Uns selbst fehlt ein Ausdruck für
zehntausend, wie ihn die griechische Sprache, ein andrer für hun-
derttausend (Lak), oder für zehn Millionen (Kror), wie ihn die
indische Sprache besitzt, die reichste der Erde an Ausdrücken für
hohe Ziffern bis zu solchen mit 51 Stellen, weil diese bei den
Zahlenspielereien der Sankhjäphilosophen und der Buddhisten viel-
fach * zur Anwendung gelangten. Das Wort Million war den
Völkern des classischen Alterthums fremd und der Ausdruck
Milliarde ist erst in ^unserm Jahrhundert in Umlauf gesetzt worden.
Ein Vergleich der Sprachen dürftig entwickelter Menschen-
stämme lässt uns die Erfahrung gewinnen, dass die Wahrnehmung
der Arten unterschiede um vieles früher eintrat, als die Erkenn tniss
der übereinstimmenden Merkmale innerhalb der Gattung. Die
rohen Jägerstämme benennen den Biber, Wolf und Bär, sie haben
aber keinen Namen für Thier*). Den Sprachen der Australier
fehlen Ausdrücke für Baum, Fisch und Vogel, wohl aber ist an
Bezeichnungen der einzelnen Arten kein Mangel^). Das Gleiche
lässt sich von den sogenannten Rothhäuten Nordamerikas sagen,
denn in der Tschoctasprache gibt es .wohl Bezeichnungen für die
Weiss-, Roth- und Schwarzeiche, aber keine für die Eichengattung.
Wenn wir Nahrungsmittel zu uns [nehmen , sei es Suppe , Brod,
Fleisch, Gemüse oder Brei, bedienen wir uns stets des Wortes
essen, die Huronen aber wechselten den Ausdruck je nach der
Verschiedenheit des Genossenen^). Die Eskimo wieder besitzen
Sonderausdrücke für das Fischen, je nach den angewendeten Ge-
räthen^). Die Malayen unterscheiden roth, blau, grün, weiss, aber
es fehlt ihnen das Wort für Farbe. Die Tasmanier haben keine
Eigenschaftswörter, sondern statt hart sag^n sie „steingleich**, statt
rund „mondgleich**, statt hoch „mit langen Beinen**.
i) Dobrizhoffer, Gfeschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 202.
2) Auch die griechische Sprache hat insofern kein "Wort für Thier, als
(^(3ov den Menschen mit einschliesst, weswegen sich das Lied „Mensch und
Thiere schliefen feste" (freilich kein beklagenswerther Uebelsland) nicht in
das Griechische übersetzen lässt. Steinthal, Zeitschrift für Völkerpsycho-
logie. 1869. Bd. 6. S. 480.
3) Lubbock, Prehistoric Times. 2. ed. p. 437.
4) Charlevoix, Nouvelle France. Paris 1744. tom. III, p. 197.
5) La t harn, Varieties of Man, p. 376.
Der Bau der menschlichen Sprache. ny
An Lauten sind die Sprachen verschieden ausgestattet. Den
Arabern fehlen die Schnalzlaute der Hottentotten, uns selbst fehlen
wieder viele arabische Consonanten, die grÖsste Armuth aber wird
wohl in der Südsee angetroffen. Die Polynesier verfügen nämlich
nur über die zehn Consonanten f, k, 1, m, n, ng, p, s, t, v, welclie
wiederum bloss auf Fakaafo und Vaitupu rein und vollständig vor-
handen sind^), während die Bewohner der Tupuai-Gruppe südlich
von Tahiti nur acht m, n, ng, p, r, t, v und einen mit ' be-
zeichneten Kehllaut festgehalten haben*). Die gleiche Lautarmuth
auf den Sandwichinseln ist durch Verfall entstanden, nichts ursprüng-
liches und einfaches, denn andre polynesische Sprachen, die reicher
an Consonanten geblieben sind, haben sich desto mehr alterthüm-
liche Formen bewahrt. Wird damit die Thatsache verknüpft, dass die
Sprache der Buschmänner namentlich wegen ihrer Schnalzlaute zur
Verlautbarung den Sprach Werkzeugen die höchsten Anstrengungen
auferlegt, so könnte man zu dem Schluss ^verleitet werden, dass
bei den uranfanglichen Sprechversuchen ein grösserer Vorrath an
Lauten zur Verwendung gekommen sei^). Doch gibt es auch Ge-
lehrte, die das Gegentheil behaupten^), so dass eine allgemein
giltige Regel vorläufig noch nicht ausgesprochen werden darf.
2. Der Bau der menschlichen Sprache.
Die fremden Sprachen, mit welchen wir Europäer in unsern
Schuljahren uns beschäftigen, seien es ältere oder neuere, besitzen
alle mehr oder weniger grammatische Formen, mit Hilfe deren den
Wurzellauten eine bestimmte Verrichtung im Satze zugewiesen
wird. So entsteht die Täuschung, dass jede Sprache nothwendig
durch zugefügte Sylben oder Laute deutlich Hauptwort, Fürwort,
1) V. d. Gabelentz, Die melanesischen Sprachen in den Abhandl. der
phiL hist. Classe der k. sächs. Gesellschaft der Wissensch. Bd. 3. Leipzig
1861. S. 253.
2) Haie, Ethnogr. p. 142.
3) W. H. J. Bleek, Ueber den Ursprung der Sprache. Weimar 1868.
s. 53.
4) Whitney, Language and the study of I-anguage. p. 467. The ten-
dency of phonetic change is always towards the increase of the aiphabet.
IlS Der Bau der menschlichen Sprache.
Zeitwort, Präposition, Conjunction erkennen lassen müsse. Die
-erste Ueberraschung wird dem Neuling durch die semitischen
Sprachen bereitet, denen es zwar an den Formen nicht fehlt, die
sich aber ungewohnter ]Mittel zu ihren Sinnbegrenzungen bedienen.
Das Staunen wächst, wenn die Erkundigung sich über afrirkanische
und nordasiatische Sprachen erstreckt, bei denen nicht blos die
Unterscheidung eines grammatischen Geschlechtes, sondern sogar
des Zeitwortes völlig wegfällt. Dass es aber Sprachen geben sollte^
die nicht einmal bis zur Wortbildung sich erhoben haben, versetzt
uns anfangs in ungläubige Rathlosigkeit, besonders wenn hinzuge-
setzt wird, dass ein hochstehendes Culturvolk in einer solchen
Sprache Werke von tiefer Lebensweisheit und Erzählungen von
hohem künstlerischen Schliff und Feinheit abgefasst habe. Gleich-
wohl sind die besten Beweise vorhanden, dass alle Sprachen einst
aus diesen rohen Anfängen hervorgegangen seien.
Bei allen einsylbigen Sprachen mangeln jene Laut- oder Sylben--
Zusätze, durch welche anderwärts Hauptwort, Eigenschaftswort oder
Zeitwort, und noch vielmehr solche, an denen der Träger einer
Handlung von ihrem Gegenstande unterschieden wird, denn es
sind überhaupt noch keine Worte, sondern nur Wurzeln vorhanden.
Warnen möchten wir jedoch sogleich den Unvorbereiteten, dass er
nicht etwa die einsylbigen Klänge unsrer Sprache mit der wurzel-
haften Einsylbigkeit verwechsle. Wohl können wir lange Sätze bil-
den mit einsylbigen Worten, wie etwa: Der Mann ging auf die
Jagd und schoss ein Reh u. s. w., allein in diesem Beispiele ist die
Einsylbigkeit von gin-g, von Jag-d nur eine scheinbare und
die von schoss eine zufällige. Noch weit mehr als unsre Mutter-
sprache ist das Englische durch Lautverwitterung und Abschlei-
fung einem Zustande starrer Einsylbigkeit nahe gebracht worden^
allein aus seinem früheren Zustande hat es sich doch die klare
Unterscheidung der grammatischen Categorien gerettet') und nur
bei etlichen Fällen, wie butttr^ oil^ P^'PP^r^ cudgel muss der Hörer
oder Leser aus dem Sinn der Rede errathen, ob das Hauptwort
Butter, Oel, Pfeffer, Knüttel oder das Zeitwort mit Butter be-
streichen, einölen, pfeffern oder prügeln angewendet werden sollte'}.
Das Chinesische ist die Sprache, welche aller grammatischen
I) Whitney, Language and the study of langnage. p. 264,
',\ Tylor, Urgeschichte der Menschheit. S. 80.
Der Bau der inenschUclien Sprache. 119
Sinnbegrenzungen entbehrt. Ihr fehlen alle Beugungen, jede Unter-
scheidung von Hauptwort und Zeitwort, jede Wortbildung über-
haupt. Die Lautgruppe sin kann Ehrlichkeit, ehrlich; ehrlich sein,
ehrlich handeln, ja sogar trauen bedeuten. Was es in einem ^ge-
gebenen Falle bedeuten solle, entscheidet die Stellung im Satze
und der Sinn der ganzen Rede'). Durch die Berührung von Wurzel
mit Wurzel wird der Sinn begrenzt und es entsteht auf diese Weise
ein ähnliches Verständniss bei den Hörenden wie bei der Wort-
bildung. Der Deutlichkeit wegen werden auch im Englischen bis-
weilen Synonymen wie ivay-paih gehäuft, oder Classificationszusätze
wie fnaple-iree angewendet^). Auch im Deutschen sagen wir
Haifisch, Tannenbaum, Elenthier. Doch gewähren diese Beispiele
nur entfernte Analogijen, denn Wortzusammenfügungen dürfen streng
genommen nie mit Wurzelgruppirungen verglichen werden. Die
lateinische Sprache schreibt kein« Wortstellung im Satzbau vor,
oder sie überlässt die Stellung der Redetheile der künstlerischen
Absicht des Sprechers, das Chinesische dagegen folgt den strengsten
Vorschriften im Satzbau. Alle Wurzeln, die für eine nähere Be-
stimmung (Attribut) dienen sollen, sei es als Eigenschaftswort oder
Genitiv, müssen dem zu Bestimmenden, sei es nun ein Subject
oder ein Zeitwort, vorausgehen. . Alle Ergänzungen (Objecte) aber
müssen hinter dem zu ergänzenden (Zeitwort) nachfolgen. Wie
fast zu errathen, lässt die Gruppirung zweier Wurzeln in unzähl-
baren Fällen einen Doppelsinn zu. Werden ischung treu und kyün
Fürst vereinigt, so könnte ein Europäer zweifeln, ob damit Fürsten-
treue oder Unterthanentreue gemeint sei. In allen solchen Fällen
hat aber längst der Redebrauch fest entschieden, in welchem Sinne
ausschliesslich eine' solche Gruppirung statthaft ist und da der
Chinese überhaupt nur Unterthanenpflichten kennt, so bedeutet
jene Gruppe Loyalität. Die chinesischen Wurzelgruppen bestehen
oft aus mehreren Gliedern. Für nicht übereinstimmen sagt der
Chinese; ich Ost, du West ni hing wo si und für plaudern: du
fragen, ich antworten ni wen zvo ia. Gewicht heisst leicht «schwer
1) Stein thal, Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprach-
baues. Berlin 1860. S. 117. Ueberhaupt ist der obige Abschnitt, wo nicht
andere Nachweise beigebracht werden, diesem nicht hoch genug zu schätzen-
den Buche entlehnt worden.
2) Whitney, Study of Language. p. 335.
I20 I^er ßau der menschlichen Sprache.
khing tschung und Abstand fern-nahe ywan kin, Aehnliche Wortbil-
dungen in unsrer Sprache sind Helldunkel, Pianoforte, im Spani-
schen calofrio warmkalt für Fieber und altihajo hochniedrig für
einen Hieb von oben nach unten'). Da ihnen ein Wort für
Tugend fehlt, sagen die Chinesen Unterthanentreue , Ehrfurcht
gegen Eltern, Mässigung, Gerechtigkeit tschun hyau tsye /", sie zählen
also auf, was sie für die höchsten Pflichten des Chinesen halten.
Bei allen solchen Wurzelzusammenfügungen ist die Reihenfolge
stets vorgeschrieben. Wer in Wurzeln spricht, also der Chinese,
kann auch nicht einfach sagen: lesen oder essen, sondern er muss
sagen Buch lesen oder Reis essen.
Es gibt indessen selbst im Chinesischen schüchterne Aniange
zur Wortbildung. Allerdings bewahren alle Wurzeln immer ihre
Selbstständigkeit, doch gibt es einzelne, durch deren Beifügung
andere Wurzeln zu einem Hauptwort erhöht werden. Die Wurzel
thau Kopf hat diese Wirkung überall. So kann tschi je nach seiner
Stellung zeigen oder Finger bedeuten, ischi^thau aber heisst stets
Finger. Wiederum wird eine Wurzel mit der Bedeutung Sohn tsz
zu Verkleinerungen verwendet, so dass aus Schwert tau Schwert-
sohn tau-tsz mit der Bedeutung Messer gebildet wird. Beim Zählen
von Gegenständen wird stets ein Stückname hinzugefügt, wie wir
etwa auch im Deutschen sagen ein Laib Brot, ein Blatt Papier,
ein Bund Heu, eine Elle Leinwand. Handelt es sich um Götzen-
bilder, Gelehrte oder Beamte, so setzt der Chinese zur Zahl noch
die Prädicäte Ehrwürden, Würden, Kleinode bei*). Bei Thieren
wird das Geschlecht durch Beifügung zweier Wurzeln angedeutet,
die in dieser Verbindung den Sinn von Mann oder von Mutter
verleihen. Die Mehrzahl aber bilden die Chinesen durch Zusatz
der Wurzeln, die den Sinn von viel oder von allen besitzen.
Das Stellungsgesetz reicht also hin, um mit einsylbigen Wurzeln
der Rede völlige Klarheit zu geben.* Der Stolz der Chinesen kann
also sein, mit diesem einfachen Mittel die höchsten Anforderungen des
i) Tobler, psycholog. Bedeutung der Wortzusammensetzungen in Zeit-
schrift für Völkerps)'chologie. Bd. 5. Berlin 1868. S. 209.
2) Die Mexicaner und Malayen fügen dem Zahlwort immer noch Stein
hinzu, die Javanen Korn, die Niasmalayen Frucht. Man sagt also in diesen
Sprachen nicht drei Hühner, vier Kinder, fiinf Schwerter, sondern drei Steine^
Hühner, vier Kömer Kinder, fünf Früchte Schwerter. Tylor, Urgeschichte,
S. 208.
Der Bau der menschlichen Sprache. 12 1
Gedankenaustausches befriedigt zu haben. Dennoch müssen wir das
Chinesische unter allen Sprachen der Erde auf die niedrigste Ent-
wicklungsstufe stellen. Es belastet das Gedächtniss mit dem Fest-
halten einer übergrossen Anzahl von Wurzelgruppen, denen allein
der Gebrauch ihren unabänderlichen Sinn verliehen hat und 'er-
schwert dadurch unnöthig den Erwerb der Sprache selbst. Unbe-
greiflich ist es daher, dass der scharfsinnige Steinthal das Chine-
sische zu seinen Formsprachen rechnen konnte, nachdem er doch
selbst eingesteht: „Berücksichtigt man allein den morphologischen
Bau, so würde die Ordnung eine andre werden müssen. Vorzüg-
lich würde das Chinesische, welches jetzt eine so hohe Stelle ein-
nimmt, an die imterste gerückt werden müssen')". Was würde
Steinthal von einem Zoologen halten, der die hochbegabte Ameise,
weil sie durch ihre psychischen Vorzüge weit über dem Lanzett-
fischchen steht, unter die W^irbelthiere reihen wollte? Und gleicht
er nicht selbst einem solchen Systematiker?
Bei den südlichen Nachbarn der Chinesen, den Bewohnern
von Siam und Birma finden wir ebenfalls nur einsylbige Sprachen.
Doch sind sie bereits reicher als das Chinesische an Wurzeln, die
zur Sinnbegrenzung verwendet werden. Ihr Stellungsgesetz schreibt
indessen vor, dass im Siamesischen die Hilfswurzel der Hauptwurzel
stets vorausgehe, im Birmanischen ihr folge*). Durch die Beifügung
dieser Wurzeln werden nun Hauptwörter und Zeitworter, sowohl
solche, die in eine Thätigkeit, wie solche, die einen leidenden Zu-
stand ausdrücken, unterschieden. Wir dürfen wohl annehmen, dass,
wenn diese beiden Sprachen ungestört ihrer Entwicklung überlassen
werden, die Wortbildung bei der einen vorherrschend durch Wurzel-
vorsätze (Präfixe), bei der anderen durch Wurzelzusätze (Suffixe)
sich vollziehen würde.
An das Birmanische und Siamesische schliessen sich örtlich
die malayisc'hen Sprachen an, die theils die sinnbegrenzenden Laut-
gruppen der Hauptwurzel vorausschicken, theils sie ihr, jedoch
minder häufig hinzufügen. Eine grosse Kluft trennt sie bereits
von den bisher geschilderten Typen, da wir bei ihnen mehrsylbigen
Wurzeln begegnen. Noch immer aber werden keinerlei Redetheilc
streng unterschieden, so dass dieselbe Wurzel oder Wurzelgruppe
i) Typen des Sprachbaues. S. 328.
2) Steinthal, 1. c. S. 148.
122 I^cr Bau der menschlichen Sprache. '
die Verrichtung eines Hauptwortes, Eigenschaftswortes, Thätigkeits-
wortes, ja selbst einer Präposition vollziehen kann. Keinerlei Laut-
gruppen sind vorhanden, durch deren Beifügung Geschlecht, Casus,
Zahl, Zeit, Modus oder Person ausgedrückt werden könnte. Bios
Fürwörter, hinweisende Partikeln und einige Präpositionen ver-
richten bereits ihre besonderen grammatischen Aufgaben. Nur die
persönlichen Fürwörter sind durch Verbindung mit den Zahlaus-
drücken einer Art von Mehrheitsbestimmung fähig und zwar ent-
steht dadurch nicht blos ein Dual und Plural, sondern beide For-
men können einschliessend oder ausschliessend gebraucht werden,,
je nachdem der oder die Angeredeten mit einbegriffen werden
sollen oder nicht. Ein achtes Zeitwort fehlt noch gänzlich, es
treten vielmehr an seine Stelle Plauptwörter, die eine Thätigkeit
ausdrücken, etwa wie wenn wir den Gedanken: ich gehe nach
Osten, durch die Worte: mein Gang nach Osten wiedergeben
wollten. So liegt in dem Präfix ba des Dayakischen der Sinn, mit
etwas behaftet sein. Aus iiroh^ Schlaf entsteht batiroh, schlafen,
aus kahovut Decke, bakahovut^ bedeckt, also iä batiroh bakahovut^
wörtlich: er mit Schlaf mit Decke, vertritt den Gedanken: er
schläft bedeckt.
Eigenthümlich ist diesen Sprachen der häufige Gebrauch von
Wiederholungen und Verdoppelungen, die auf älteren Entwicklungs-
stufen auch sehr hoch gestiegenen Sprachen eigen gewesen sind,
wie im Lateinischen sich in quisqtiis noch ein Rest solcher Wort-
bildungen, sowie in dedii \in^ peperit ähnliche Trümmer aus der
Vorzeit erhalten haben. Die malayischen Sprachen unterscheiden
übrigens die einfache Wiederholung, bei welcher die Betonung un-
verändert bleibt, von der Verdoppelung, bei welcher das vordere
Wort die Betonung verliert. Durch die Wiederholung drücken sie
Vervielfachung, Steigerung oder Dauer, durch die Verdoppelung aber
eine Abschwächung oder Flüchtigkeit aus, so das UndäUndä oft,
Undä Undä dagegen von Zeit zu Zeit innehalten bedeutet') Diese
Spärlichkeit von sinnbegrenzenden Hilfsmitteln schliesst aber nicht
einen Reichthum an Ausdrücken aus. Im Malayischen gibt es nicht
weniger als zwanzig Lautbildungen für den Begriff schlagen, je
nachdem mit einem dünnen oder dicken Holz, sanft, von obeir
I) Steinthal, Sprachtypeii. S. 156. Whitney, Study of language, Lon*
tlon 1867. p. 338.
Der Bau der menschlichen Sprache. 123
I
nach unten, von unten nach oben, in ebner Richtung, mit der
Hand, mit der flachen Hand, mit der Faust, mit einer Keule, mit
einer scharfen Kante, mit einer Fläche, etwas gegen etwas, mit
einem Hammer geschlagen oder etwas wie ein Nagel einge-
schlagen wird.
Ueber den Norden Asiens und Europas in fünf grossen
Gruppen, der tungusischen , mongolischen, türkischen, samo-
jedischen und finnischen hingelagert , finden wir einen
Sprachbau, der sich streng auf Wurzelzusätze (Su(fixe) beschränkt.
■Mittelst dieser Zusätze wird die grammatische Verrichtung eines
Wortes im Satze schon ziemlich scharf bestimmt. Der Zusatz ~sif
bezeichnet eine Person, die m^t dem Gegenstand der vorausgehen-
4en Wurzel sich beschäftigt. Aus ati Waare bildet der Jakute
ati'sit Kaufmann, aus ayi Schöpfung ayi-sit Schöpfer. Durch An-
fügung von ~ir wird eine Thätigkeit bezeichnet und aus tial Wind
wird daher tialir wehen. Dieser Gruppirung von Wurzeln ist keine
Grenze, gesetzt, so dass, um an ein oft gebrauchtes Beispiel zu
erinnern, der Osmane den Gedanken : nicht dazu gebracht werden
können sich einander zu lieben, durch die Gruppirung sewsch^-dir-
il-eme in einem Worte aussprechen kann. Uebrigens gestatten
auch Formsprachen eine ausserordentliche Anhäufung der sinnbe-
grenzenden Lautglieder, z. B. das Englische in folgender Reihe,
true^ tru'th, truth^ful^ truth/ul-ness^ tm-iruth/ulness. Die Einfach-
heit des suffigirenden Verfahrens und die Aussicht, einen ver-
wickelten Gedanken in einer einzigen Sylbengruppe auszusprechen,
mag anfangs bestechen, dennoch sind diese Sprachen nie dahin ge-
langt, ein Zeitwort zu bilden, sondern sie begnügen sich mit Be-
nennungen der Thätigkeitsträger (Nomina verbi), etwa wie wir
sagen ^ie Mitlebenden (Nomen praesentis), die Verstorbenen (No-
men perfecti), der Gefangene, der Absender'). Im Türkischen
bedeutet
dog-mak schlagen
Jog'ur ein schlagender
dog'ur-uvi ein schlagender ich = ich schlage
dog'ur-lar schlagende (Schläger) sie == sie scWagen^).
Die Sprachen der ural-altaischen Völker bereichern uns mit
i) Steinthal, Sprachtypen. S. 193.
2) Whitney, Study of Language. London 1867. p. 319.
124 ^^^ ^^^ ^^^ menschlichen Sprache.
einem Einbhck in die Vorgänge der Wortbildung. Ihr Sprachbau
begnügt sich nämlich nur mit der Anlöthung (Agglutination) von
Lautgruppen. Etwas .ähnliches kommt selbst in solchen Sprachen
noch vor, bei denen sonst Verschmelzungen üblich sind. Treten
zwei Lautgruppen zusammen , ohne sich zu verändern und ohne
ihren selbstständigen Sinn zu verlieren, so sind sie »ur locker ge-
einigt (agglutinirt). Wenn wir solche Wörter wie muth-voll, geist^
reiche laui~arm in ihre beiden Hälften zerschneiden, können das
Hauptwort wie der sinnbegrenzende Zusatz für sich allein fortbe-
stehen. Auf solche Bildungen beschränken sich die uralaltaischen
Sprachen, überhaupt alle solche, die sich mit der Anlöthung be-
gnügen. Wurden aber längere Zeit dieselben Wurzeln vorzugsweise
nur zur Sinnbegrenzung verwendet und verloren sie durch den
Gebrauch ihre Selbstständigkeit, so dass sie nur noch zur Aus-
hilfe dienten, entschwand später ihre ursprüngliche Bedeutung
dem Bewusstsein der Sprechenden , so wurde bereits eine höhere
Gliederung des Sprachbaues erreicht. Diesen Fall vertreten Bil-
dungen in unsrer' Sprache, wie tugend^haft^ irag-bar, un^deuilichy
Die Anhängsel -äö/7, ^har ^und die Vorsatzsilbe un- können in
unsrer Sprache nicht mehr selbstständig auftreten, sondern sie
haben ihre Freiheit eingebüsst, seit ihre ursprüngliche Form und
ihre ehemalige Bedeutung dem Sprachverständniss entrückt wurden.
Endlich ist noch ein dritter Fall denkbar, dass in Folge der An-
löthung die sinnbegrenzende Wurzel eine Lautabänderung in der
Hauptwurzel voDzog und beide Gruppen derartig verschmolzen,
dass nun keine von beiden selbstständig mehr bestehen kann, wie
etwa in solchen Bildungen als hölz-ern^ lüsi-ern^ schzvier-ig^ bläu-lich.
Ein KeiiÄ zu Lautverwandlungen ist nun schon in den
uralaltaischen Sprachen vorhanden , wenn er auch nur . durch
das Bestreben nach Wohlklang (Vocalharmonie) herbeigeführt wurde.
Die acht Vocale jener Sprachen zerfallen nämlich in schwere,
leichte, harte oder weiche und nach dem Sprachgebrauch darf in
der nachfolgenden Zusatzwurzel entweder nur derselbe oder irgend
ein bestimmter andrer Vocal folgen. So besteht im Jakutischen
die Nachsatzwurzel, welche die Mehrheit ausdrückt, aus der Laut-
gruppe Ar, welcher Vocal aber zwischen / und r hineinzutreten '
habe, wird durch den Vocal der Hauptwurzel entschieden, so dass
aja4ar die Väter, o%o4or die Kinder, äsä4är die Bären gebildet
werden muss. Dieses musikalische Bestreben könnte bewirken, dass
Der Bau der menschlichen Sprache. 125
vielleicht in späterer Zeit die Verschmelzung der Begrenzungszusätze
(Suffixe) mit dem herrschenden Wort sich gänzlich vollzöge.
Lehrreich ist es daher, dass wir auf einem andern Sprachge-
biete, nämlich bei den nichtarischen Bewohnern Südindiens oder
der Dravidagruppe. ebenfalls lautharmonische Gesetze, jedoch mit
rückwärts gerichteter Wirkung antieffen. Dort nämlich tritt der
Vocal der sinnbegrenzenden Sylbe als Herrscher auf und zwingt
den Vocal der vorausgehenden Hauptwurzel, sich mit ihm in Wohl-
klang zu setzen. Die W^orte katti Messer und puli Tiger, ver-
wandeln sich durch den Begrenzungszusatz /«, der eine Mehrheit
ausdrückt, nicht in katii^lii und puli-luy sondern in kattulu die
Messer und pulalu die Tiger').
Wenn die uralaltaischen Sprachen die sinnbegrenzenden Wur-
zeln stets der Hauptwurzel nachfolgen lassen, also zu den nach-
setzenden (suffigirenden) Sprachen gehören, so finden wir in ganz
Südafrika bis zum Aequator mit einziger Ausnahme der Hotten-
totten und Buschmänner innig verwandte Sprachen, welche sämmt-
lich die sinn begrenzenden Sylben der Hauptwurzel vorausschicken,
jedoch auch Zusätze (Suffixe) nicht ausschliessen. Wenn wir bei
der Delagoabai an der Ostküste beginnen und nach Süden fort-
schreiten, stossen wir auf Flüsse mit den Namen Um-komanzi, Um-zuti,
Um-kuzi, üm-volosi, Um-hlutane, Um-lazi, Um-gababa, üm-kamazi,.
Um-tenta u. s. f.^) Daraus könnte man schliessen, dass das Präfix
Um Wasser bedeute, wie im Deutschen das Suffix -ach in Namen
wie Bacharach, Aichach, Stockach, Lörrach, Elzach. Doch finden
sich auch südafrikanische Namen für Berge und Ortsnamen, denen
die Sylbe um vorausgeht. Hordennamen werden gebildet durch
die Vorsatzsilbe wa, ^la-tebele, Ma-sai, Ma-kua, Ma-ravi, Ma-kololo,
oder durch das Doppelpräfix ö-wa, wie Ama-)(Osa, Ama-pondo,
Ama-tonga, Ama-zulu, wofür wir setzen könnten: die Leute des
Häuptlings Xosa, Pondo, Tonga, Zulu. Vielleicht gab es in einer nicht
allzugrossen Vergangenheit einen Häuptling Namens Suto, nach ihm
benannten sich die Ba-suto als Leute des Suto, der einzelne hiess ein
Ma-suto, ihr Land nannten sie Le-suto und ihre Sprache Sc-suto. Aus
diesem Beispiele erkennen wir, welche sinnbegrenzenden Wirkungen
1) Dr. Friedr. Müller, Reise der Fregatte Novara. Linguistischer
Theil. S. 81. "*
2) Bac nie ister im Ausland. 1871. No. 25. S. 577.
126 I^er Bau der menschlichen Sprache.
die Vorsatzsylben Ba-^ Ma-^ Le- und Se- nach sich ziehen. Da, wo
sich diese Präfixen in Vollständigkeit erhalten haben, finden wir'
deren i6, vielleicht 18, von denen die meisten entweder nur eine
Mehrheit oder nur die Einheit anzeigen. Nur zwei von diesen Vor-
satzsylben unterscheiden unzweideutig natürliche Unterschiede,
nämlich Mu und Ba^ beide werden für Personen, die eine für die
Einheit, die andre für die Mehrheit gesetzt und vielleicht bedeutete
ehemals Mu Person und Ba Leute *). Jedes Hauptwort und ebenso
jeder Thätigkeitsausdruck, um nicht zu sagen* jedes Zeitwort ist mit
einer vorgesetzten Sylbe versehen, so dass ein Präfix ein so uner-
lässlicher Bestandtheil eines Wortes in diesen Sprachen ist, wie ein
Suffix in den altern Zweigen der arischen Sprachenfamilie ^). Dass
die Vorsatzsylben ehemals selbstständige Worte waren, dürfen wir
vertrauensvoll aussprechen, aber ihre Bedeutung ist aus dem Be-
wusstsein der jetzigen Geschlechter entschwunden und die Sprach-
gliederung ist hier bereits so weit gediehen, dass Lautgruppen aus-
schliesslich nur zu grammatischen Leistungen verwendet .werden.
Der Gebrauch der Präfixe erfordert unter anderm, dass das Eigen-
schaftswort die nämliche Vorsatzsylbe wie das Hauptwort em-
pfängt. Wäre das Lateinische eine präfigirende Sprache, so würde
es statt vitt'-um hon-um heissen müssen um-vin um-bon. Im Zulu
bedeutet tyi Stein und bi hässlich, i ist der unbestimmte Artikel
und li das unerlässliche stellvertretende Präfix. Daher entsteht
i4i-tyi i'li'bi e'm hässlicher Stein. Ja sogar der Genitiv wird durch das
Präfix des Nominativs ausgedrückt, so heisst im Zulu i-si-iya s-o-m-
fazi die Schüssel der Frau und u^ku-dhla kw-o^n^/azi die Nahrung
der Frau, S^chm^fazi und hv-o-m-fazi sind die Genitive von u-m-fazi
Frau, die mit dem Hauptwort im Präfix zusammenklingen^).
Uebrigens verwenden die südafrikanischen Sprachen auch Suffixe zu
vielgliedrigen Wortbildungen^).
i) W. H. Bleek, Comparative Grammar of South African Languages.
London 1869. S. 95.
2) Whitney, Study of language. London 1867. p. 345. In der Suto-
sprache sagt man ba-ntu (Menschen), ba-otle (alle), ha-molemo (gute), ba-lefatse
(der Welt), ba-ratoa (die Geliebten), was so viel bedeutet, wie: in der Welt
werden alle guten Menschen geliebt. Casalis, Les Bassoutos. Paris 1859.
P. 339.
3) Bleek im Joum. of the Anthrop. Institute. London 1872. tom. I-
p. LXXI.
4) Aus bomtj sehen wird isi-bonn, Gegenstand des Sehens, isi-boniso'
Der Bau der menBchlicIien Sprache, 127
Eine neue Art des Sprachbaues treffen »ir L>ei den Völkern
Amerikas mit Ausschluss der Eskimo. Wilhelm v. Humboldt hat
ihr Verfahren das einverleibende genannt, weil dabei die Satzbildnng
völlig von der Wortbildung verdrängt werden kann. Der auicrika-
nische Eingeborne vermag nämhch einen verwickelten Gedanken in
ein -einziges Wort zusammenzumauern. In der Tschirokispraclir kann
man sagen : ivi-m-tmtt-li-ge-gi-na-U-skaiv-lung-ia-naiü-ne-ie-ii-fi-sli,
was soviel bedeutet wie : sie werden um diese Zeil zu Ende gekommen
sein mit ihren (Gunst-) Bezeugungen an dich und mich'). S.lbsl in
solchen amerikanischen Sprachen, die nur einen massigen Gebraucli
der Einverleibung verstatten, wird doch stets zwischen das SuLijt-ct
und Zeitwort das Object hineingeschoben. Obendrein werden noch
Sylben der eingeschobenen Wörter verschluckt, so dass dann die
verstümmelte Lnutgruppe nur noch im Zusammenhang verslii 11dl ich
bleibt. In der Del awaren spräche wird aus opik weiss und ,siuiiiii
Stein, opussuun, also Weissstein gebildet und damit das SüIkt be-
zeichnet^), Ist es auch nicht strenges Gesetz, dass wir bei hoch-
gesitteten Völkern auch hochentwickelte Sprachen finden, da wir
ja kurz zuvor das Gegentheil bei den Chinesen eintreten sahen
und umgekehrt das Hottentottische uns sogleich überzeugm koII,
dass einer höher entwickelten Sprache nicht immer eine Gosilliing
von gleicher Würde entspricht, so erregt gleichwohl eine hnchrnt-
wickelte Sprache die Erwartung, in ihrem Gebiete bürgerliclio Zu-
stande von höherer Reife anzutreffen. In Amerika redrif d:is
höchste Cuhurvolk, die Altraexicancr , auch die besten twicki.lte
Sprache, das Nahuall. Schon der letztere Name deutet durch die
Endlaute -// auf einen günstigen Fortschritt, Die Sprr.cljr ii aus
dem uralaltaischen Kreise waren noch gar nicht zur rechtrii Wort-
bildung gelangt, während im Altmexicanischen an dem .Ait-ilaute
-// Hauptwörter kenntlich werden. Das Wort teo'fl, Gctt verliert
bei Zusammensetzungen die angehängten Laute, wie Iri'-calli,
Gotteshaus, Tempel oder Uo-Ilallolli, Gottes Wort. Aus diesen
Beispielen gewahrt man zugleich, dass noch nicht alle nalmatla-
Vision, bon-akala, erscheinen, isi-bonatala, Erscheinung, üi'bonatnl.y
harung. Ft. Müller, Reise der Fregafte Novata. Anlhropologie.
ey, Sludy of LanRuauc
il traft bei Tyliir, L'r;;i
{
128 I^er Bau der menschlichen Sprache.
kischen Hauptwörter mit dem //-Suffix versehen sind*). Das Alt-
mexikanische bedient sich zwar wie alle amerikanischen Sprachen
der Einverleibung und schiebt das Object zwischen Subject und
Zeitwort ein, wie aus schotschi-tl^ Blume und ni-temoa^ ich suche, ni"
sckotschi'temoa, ich suche Blumen gebildet wird, doch ist daneben
auch ein andrer Satzbau im Gebrauch, dass nämlich zwischen
Subject und Zeitwort nur das Pronomen es k oder Jemand ie
oder etwas Ua eingeschaltet \yird und dann erst das Object folgt.
Aus ni ich, k es, mikiia tödten, se ein, ioiolin Huhn, bildet der
Nahuatlake den Satz ni-k^miktia se ioiolin, ich es tÖdte ein Huhn.
Auf diese Weise wurde dann wieder dem Uebermaasse der Ein-
verleibung gesteuert. Die Plurale, die nur bei belebten Dingen,
zu denen auch die Sterne gezählt werden, vorkommen^), werden
auch im Nahuatl durch Anfügung der Suffixe m^ und iin ausge-
drückt, wie lischka^il Schaf, itschka^mS Schafe, oder ta^ili Vater, ia^tin
Väter. An geistreichen Wortbildungen ist ebenfalls kein Mangel ;
aus ome, zwei und yolli, Herz entsteht omeyolloa, zweifeln; aus
nakasiliy Ohr und isaisi, schreien, nakaisaisa^il, einer dem ins Ohr
geschrieen wird, ein Tauber.
Bei den Präfixsprachen der südafrikanischen Neger bedeutet
uvi'iu einen Mann, uvi-fazi eine Frau, um^ti einen Baum. Die
nämliche Vorsatzsylbe dient also für Gegenstände, die doch als
männlich, weiblich und als geschlechtlos hätten aufgefasst werden
sollen. Wird erst das Hauptwort vom Zeitwort durch wahrnehm-
bare Lautzusätze unterschieden, so kann auch das Geschlecht der
Hauptwörter getrennt werden. Bisher handelte es sich nur um
Sprachen, welche grammatische Geschlechter nicht unterschieden^
etzt aber wenden wir uns zu denen, welche die Sexualität aus-
drücken. Wie wirksam bei der Mythenbildung dieser Sprachvor-
zug gewesen sei, kann erst später erläutert werden, Jiier wollen
wir nur andeuten, dass überhaupt die Forderung ' eines gramma-
tischen Geschlechtes zu schärferer Beobachtung der Aussendinge
i) Steinthal, Charakteristik. S. 203.
2) Auch in der Algonkinsprache wird zwischen einem belebten und un-
belebten Geschlecht unterschieden, zu ersterem aber die Sonne, der Mond, die
Sterne, Blitz und Donner, die Opfersteine, die Adlerfeder, der Kessel, die
Tabakspfeife, die Trommel und das Wampun gezählt. Tylor, Anfange der
Cultur, I, 299.
Der Bau der menschlichen Sprache. I2Q
anregte. Spuren einer Geschlechtsunterscheidung, wenigstens beim
Fürwort der dritten Person, sind im Tarawa^), der Sprache auf den
Gilbert- oder Kingsmill-liiseln anzutreffen, andre finden sich in Süd-
amerika bei den Abiponen*), den Arowaken undMaypuren^), endlich
im Khasi, der Sprache der Khasia des indischen Assam^). Durch
ein doppeltes grammatisches Geschlecht zeichnen sich in Afrika die
Sprachen der Hottentotten, der Haussa-Neger , endlich der Alt-
ägypter aus. Die Sexualität ist überhaupt der wichtigste Fortschritt
im Sprachbau dieses letzteren Culturvolkes. Sonst sind die Wurzeln
des Altägyptischen vorwiegend einsylbige und manche unter ihnen
können wie im Chinesischen als Hauptwort, Zeitwort und Eig'en-
schaftswort auftreten. Dieselbe Lautgruppe bezeichnet schreiben,
eine Schrift und einen Schreiber, dieselbe leben, lebendig und
das Leben. Andre Wurzeln jedoch dienen nur als Haupt- oder
als Zeitwort. Ein vorgesetzter Artikel, der freilich nur locker ver-
bunden ist, lässt indess das Hauptwort deutlich erkennen, eine
Declination ist aber noch nicht vorhanden , sondern wird
durch vorgesetzte Präpositionen vertreten. Bei der Bildung
des Zeitwortes werden übrigens die Fürwörter locker dem
Stamme angefügt, Zeit und Modus aber durch vorgesetzte
Hilfsworte ausgedrückt. Da aber diese pronominalen Suffixe auch
an Hauptwörter angehängt werden und dann den Besitz ausdrücken,
so wird die Trennung des Zeitwortes vom Hauptworte noch
immer nicht streng vollzogen. Ran^i kann übersetzt werden :
ich nenne, aber auch: mein Name, wörtlich bedeutet es mein Nennen^).
In manchen ihrer Wortbildungen ist diese Sprache so kahl wie
das Chinesische, ja mitunter zweideutiger als das letztere, wekhes
durch seine strengen Stellungsgesetze für Klarheit des Verständ-
nisses sorgt. Doch erhaben ist es wiederum über diese Sprache,
insofern die sinnbegrenzenden Zusatzlaute ganz unselbständig sowie
ihre ursprünglichen Formen und Bedeutungen durch Verschluckung und
i) Horatio Haie, Unit. States Explor. Expedition. Ethnography. Phila-
delphia. 1846. p. 441.
2) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 200 — 206.
3) Bleek im Journ. of the Anthropol. Institute, vol. I. p. 93.
4) Bleek, 1. c. Proceedings p. LXVII.
5) Whitney, Study of language« London 1867. p. 342.
PescheK Völkerkunde. 9
jTQ Der Bau der menschlichen Sprache.
Abschleifung meist bis auf einen einzigen Consonanten ganz • un-
kenntlich geworden sind, so dass sie also nur noch zu gramma-
tischen Zwecken dienen.
Eine breite Kluft liegt zwischen den höchst entwickelten der
niederen Sprachen und denen des semitischen und arischen Völker-
kreises. Hier sind die sinnbegrenzenden Lautbestandtheile meistens
fest zusammengeschmolzen mit dem Hauptstamme. Die Wurzel-
haftigkeit ist am Hauptwort und Zeitwort völlig verschwunden,
eine wahre Beugung und eine wahre Wandelung sind vorhanden,
nur werden sie bei den Ariern und Semiten auf ganz verschiedne
Art vollzogen. Die Sprachen Vorderasiens oder die semitischen
sind kenntlich daran, dass ihre Stämme stets drei Consonanten
zeigen, wenn auch oft genug der dritte Consonant dürftig oder
kümmerlich vertreten ist. Vor, nach oder zwischen diese Con-
sonanten werden Vocale eingeschoben, welche die Sinnbegrenzung
vollziehen. Der Consonant ist, wie Steinthal es glücklich aus-
spricht, der Stoff des Gedankens und der Vocal verleiht ihm die
Gestalt. Man könnte auch den ersteren mit dem Marmorblock
vergleichen, den andern mit dem Bildhauer. Ein oft benutztes
Beispiel wird das eben Gesagte erläutern. Für alles, was sich auf
das Vergiessen von Menschenblut bezieht, verwendet die arabische
Sprache die Dreiconsonantengruppe ^-/-/. Daraus bildet sie
qatala er tödtet
qutila er wurde getödtet
qutilu sie wurden getödtet
uqtul tödten
qatil tödtend
iqtal Tödtung verursachen
quatl Mord
qill Feind
qutl mörderisch.
Bei dem Zeitwort verleiht der mittlere Vocal eine transitive oder
intransitive Bedeutung, am Vocal der ersten Stammsylbe wird das
Activum (ö) vom Passivum («) unterschieden, und am Vocal des
letzten Consonanten der Modus, wobei u den Indicativ, a den
Conjunctiv ausdrückt, während beim Jussiv, der eine Aufforderung
enthält, der Vocal gänzlich wegfallt. Die anderen Wandlungen des
Zeitwortes werden durch Präfixe und Suffixe vollzogen, die aber
ebenfalls eine Lautwirkung auf die Vocale der Sylben, denen sie
Der Bau der menschlichen Sprache. iii
vorgesetzt oder angehän^;! werden, ausüben. Endsylben bezeichnen
Einheit oder Mehrheit, sowie die drei Casus (Nominativ» Genitiv
und Accusativ),
Wir dürfen mit Recht bewundern und staunen, wie es im Hau
der semitischen Sprachen dem menschlichen Verstand gelungen ist.
den 'Lauten der Sprach Werkzeuge eine sinnbildliche Bedeutung vtr-
liehen zu haben und dieses Werkzeug des Gedankenaustiusclies
auf das höchste zu vergeistigen. Die Entwicklungsgeschichte dicsus
Vorganges bleibt uns vorläufig völlig dunkel, da nicht einmal \"lt-
muthungen vorhanden sind über die früheren Stufen , weicht- die
Sprachbildung überstiegen hat.
Eine ebenbürtige oder, wie Viele wollen, eine höhere Stelliin-
nehmep die Sprachen ein , welche sich um das Sanskrit als ' 'nj-
schwister Schaaren , die Sprachen der Indogermanen oder der
arischen Völker. Ihr Vorrang vor der semitischen Gruppe l:i-st
sich zunächst darauf begründen, dass nicht wie bei diesen .;>vc-i,
sondern drei Geschlechter oder vielmehr geschlechtliche und L^e-
schlechtslose Dinge unterschieden werden. Dieser Vorzug ist aber
im Laufe der Zeiten zum Theil wieder verloren gegangen. Das Nlu-
engli sehe unterscheidet mit wenigen Ausnahmen die Geschleciiter nur
noch bei Menschen und Thieren, sowie die geschlechtlosen DiriLje.
Auch für die deutsche Sprache sind, wie Steinthal bemerkt, die sjln'.iiien
leiten vorüber, wo wir noch sagten, je zweene für ein Ä'aiiiii r-
paar, je zwo für ein Frauenpaar, je zwei für ein Kinderpaar iJlt
für Mann und Frau zusammen. Das Armenische endlich kninl
keine grammatische Geschlechtsunterscheidung '). Viel bedeutsLimur
ist es aber noch, dass die arischen Sprachen aliein ein ZeitMon
sein besitzen, welches selbst den semitischen Sprachen fehlt, dw
den Gedanken der Güte Gottes nicht durch die Worte ausdrÜLki-ii
können, Gott ist gütig, sondern sagen müssen, Gott der Gii(i;;e,
oder Gott, er der Gütige, in welchen Sprachen daher auch iui.ht
die Behauptung möglich war: ich denke, folglich bin ich.
Die Entwicklungsgeschichte innerhalb dieses Sprachenliroi^e.'i
ist weit durchsichtiger, als bei dem semitischen. Alle Untersuch uiiLieii
haben dahin geführt, dass unsre Ahnen in einer grauen \orKcii
, Alleem. Zig. 1871. S. 6374.
172 Der Bau der menschlichen Sprache.
mit einem massigen Schatze einsylbiger Wurzeln ihren Gedanken-
austausch vollziehen konnten und ihre Sprache auf einer Stufe stand, wie
noch jetzt das Chinesische. Doch trat die Scheidung der Wurzeln
für die Pronomina so früh ein, dass sie manchen Beobachtern
sogar als etwas ursprüngliches erscheint*). Die Ansicht Jacob
Grimms, dass der Stamm der Wurzel tu auf den Begriff gross
sein, wachsen zurückführe, so dass du eigentlich Grösse bedeutet
oder etwa heutige Prädicate, wie Euer Gnaden vertrete, wird je-
doch von Kleinpaul durch die Beobachtung gestützt, dass der
Chinese aus Höflichkeit im Gespräche sich selbst erniedrigt und
statt ich habe sich ausdrückt Diener hat, Knecht hat, Dumnikopf
hat% Im Deutschen hört man ganz ähnlich das Wort ich durch
meine Wenigkeit ersetzen. Die Wortbildung geschah ursprünglich
durch Anlöthung der sinnbegrenzenden .Wurzel am Ende, während
Präfixe nur sehr spärlich angewendet wurden, nämlich hauptsäch-
lich bei Verneinungen durch un in un-dankbar oder a in Atheis-"
mus, dann durch vortretende Präpositionen, wie jwjdehnen,
z'orschlagen, e///rfÄschauen, endlich durch das vorausgehende a oder
a des sogenannten' Augmentes bei dem ursprünglichen Tempus
der Vergangenheit •5). Die deutsche Sprache ist übrigens reich an
Präfixen, deren ursprüngliche Bedeutung dem Verständniss ent-
schwunden ist, wie ^^schreiben, <?rgründen, s^rfieischen, i'<?rkaufen
u. s. w. Die ursprüngliche Bedeutung dieser Hilfswörtchen gehört
längst der Vergessenheit an und so treten sie nur noch in Dienst-
barkeit als sinnbegrenzende Lautgruppen an oder vor die Haupt-
wurzel. In neueren Zeiten aber trat ein Verfall der Formbildungen
namentlich in den germanischen Sprachen ein. Nachd<em die
Flexionsendungen bis zur Unkenntlichkeit sich abgestumpft hatten,
griff die Sprachbildung zum Ersatz für bedeutsame Affixe und Re-
duplicationen zu einem früher nur zufallig und beiläufig angewen-
deten Mittel der Sinnbegrenzung, zu dem Vocalwandel. Sie be-
nutzte den Umlaut von a, o, u in ä, ö, ü zur Bildung theils der
Plurale theils der Conjunctive (Vater, Väter, Mutter, Mütter oder
konnte, könnte, trug, trüge) sowie den Ablaut zu verschiednen Ver-
1) Whitney, Study of language. London 1867. p. 261.
2) Zeitschrift für Völkerpsychologie. Berlin 1869. Bd. 6. S. 363.
3) Whitney, Study of language. p. 256. p. 267.
Die Sprache als Classificationsmittel der Völkerkunde. ji-i '.»,
richtungen vorzüglich zur Zeitabstufung bei Thätigkeitsausdrücken
{hebe, hob, Abhub; gebe, gab, gibst; graben, Grube). So ge-
wöhnte sich der deutsche Sprachsinn an einen Vocalwandel,
^ast wie der semitische, vielleicht dass die semitischen Sprachen
auf ähnlichen Wegen zu ihrer sinnbildlichen Vocalisirung ge-
langt sind.
3. Die Sprache als Classificationsmittel der Völkerkunde.
Um die vielgestaltigen Erscheinungen innerhalb des IMenschen-
geschlechtes zu sondern und in Gruppen zu ordnen, bedürfen wir
Merkmale, die dauernd auftreten. Wenn also die Sprachen sich
beständig ändern , nicht blos der Sinn gewisser Lautgruppen sich
in bedenklich rascher Zeit verwandelt, sondern auch der Sprachbau
selbst ein andrer werden kann, so sinkt die Hoffnung tief herab,
dass die Sprache für Classificationszwecke uns Dienste leisten
könne. Wir wissen nur zu genau, dass die Bewohner Frankreichs
vor der römischen Herrschaft eine keltische Sprache redeten, diese
aber mit einer neulateinischen vertauschten. Die Bewohner Deutsch-
lands östlich von der Elbe gehörten vor etwa tausend Jahren zur
slavischen Familie. Umgekehrt redeten die Bewohner Islands und
Norwegens noch vor acht Jahrhunderten die nämliche Sprache. In
Island hat sie sich beinahe unverändert erhalten, in Norwegen hat
sich aus ihr das Dänische entwickelt. Selbst wenn uns hier noch
der Trost bliebe, dass diese Wandlungen sich innerhalb desselben
urverwandten Sprachenkreises vollzogen haben, so dass der Ueber-
gang ausnahmsweise erleichtert war, so fällt auch diese Stütze hin-
weg, wenn die Abkömmlinge von Afrikanern, die als Sklaven nacli
den Vereinigten Staaten gebracht wurden, englisch und zahlreiche
Eingeborne Amerikas spanisch reden. Wollten wir also die Völker
nur nach den Sprachen ordnen, so müssten wir Neger mit Angel-
sachsen und reinblütige Indianer mit den Abkömmlingen roma-
nischer Europäer in die nämliche Abtheilung versetzen.
Daraus ergibt sich die Nothwendigkeit, dass, ehe wir aus der
Sprachengleichheit oder Sprachenähnlichkeit auf irgend eine Ver-
wandtschaft schliessen, geschichtlich zuvor untersucht werden muss»
ob nicht die Uebereinstimmung der Sprache nur durch einen ge-
sellschaftlichen Zwang erzeugt worden sei. Selbst wo eine solche
1^4 Die Sprache als Classiiicationsroittel der Völkerkunde.
Besorgniss fehlt, darf die Sprache nur als Merkmal zweiter Ord-
nung betrachtet werden. Sprachgemeinsamkeit zwischen Horden
und Völker Stämmen beweist nichts weiter, als dass in irgend einer
Vorzeit die Glieder einer Sprachengruppe eine gemeinsame Heimath
bewohnten und innig unter einander verkehrten. Damit ist jedoch
auch hinreichend viel bewiesen, denn da alle Menschenstämme unter
einander fruchtbare Mischlinge erzeugen, so genügt der Aufenthalt
in einer Heimath, um selbst aus physisch verschiednen Bruchtheilen
des Menschengeschlechts eine neue Mischrace zu erzeugen. Es
könnte sich aber das Bedenken auch hier wieder regen, dass eine
gemeinsame Heimath von zwei physisch getrennten Racen bewohnt
werden, beide eine herrschende Sprache vereinigen und den-
noch keine oder doch nur eine spärliche Blutmischung statt-
haben könne. Wir sehen diese Fälle in den Vereinigten Staaten
und in Indien verwirklicht, wo nur ausnahmsweise zwischen Weissen
und Farbigen, zwischen Ariern hoher und Eingebornen niedrer Kaste
Blutmischungen eintreten. Dieses Bedenken ist allerdings nicht
aus dem Auge zu verlieren, aber jene Beispiele stehen auch ver-
einzelt. Weder die Semiten, noch die Hamiten, noch unter den
Europäern Spanier, Portugiesen und Franzosen haben eine gleiche
Abneigung gegen Ehen mit Negern gezeigt, wie die Angelsachsen.
Nur sehr hochgestiegene Völker neben sehr niedrigstehenden wer-
den durch Kastenbewusstsein von einer^ Blutmischung abgehalten.
Bei jugendlichen Menschenstämmen ist nichts derartiges zu be-
fürchten. Da ferner der Sprachbau zu seiner Entwicklung lange Zeit-
räume erfordert, während dereh die Glieder einer-linguistischen Familie
im engstenGedan kenverkehr standen, so wird bei Völkerschaften, welche
eine Gemeinschaft der Wortbildung und der Redetheile verknüpft, mit
einiger Sicherheit auf eine gemeinsame Abkunft oder eine fortge-
setzte Verschwägerung geschlossen werden dürfen. Dass die so-
genannten Indoeuropäer , dass die Semiten , dass die südafrikani-
schen Bantuvölker in derselben Heimath durch innigen Verkehr
die Grundzüge ihres Wort- und Satzbaues entwickelten und sich
eines gemeinsamen Wurzelschatzes bedienten, daran zweifelt jetzt
kein Unterrichteter mehr. Niemals aber wäre es durch Verglei-
chung von Körpermerkmalen gelungen, in den Bewohnern Islands
und den Hindu hoher Kaste, in den Bewohnern Madagaskars und
der Osterinsel Abkömmlinge von Vorfahren zu erkennen, die eine
gemeinsame Heimatl^ bewohnten und unter einander heiratheten.
Die Sprache als Classificationsmittel der Völkerkunde. 13 ^
Nach Erfüllung aller kritischen Vorsichtsmassregeln die Sprache
auch dann als Classificationsraittel verschmähen oder sich über die
Ergebnisse der linguistischen Forschungen unsrer Tage hinweg-
setzen wird nur der, welcher sich über die Ausdauer der Körper-
merkmale überspannte Vorstellungen gebildet hat. Wo aber die
Sprachvergleichung sich mit den flacenmerkmalen in Widerspruch
befindet, da müssen wir nothwendig an eine Blutmischung denken.
Wir werden daher nicht zögern , die Bewohner Kaschgariens zu
den türkischen Mischvölkern zu zählen, denn nach ihrem Gesicht s-
typüs müssten sie sonst unter die Indogermanen gereiht werden.
Wir haben nämlich bei ihnen anzunehmen, dass der herrschende,
türkisch redende Völksstamm mit den unterworfnen Tadschik,
iranischer Abkunft, so stark sich vermischt habe, dass seine ur-
sprünglichen Körpermerkmale völlig sich verloren.
Die Sprachverwandtschaften, die sich auf Gemeinsamkeit der
sinnbegrenzenden Hilfssylben begründen , werden unangefochten
von allen Linguisten anerkannt. Bedenklicher sind die Fälle und
getheilter die Meinungen bei Aehnlichkeiten, die nur auf dem
übereinstimmenden Wesen des Sprachbaues beruhen. Selbst hier
aber herrscht Einmüthigkeit , wenigstens in Bezug auf die Einge-
bornen Amerikas. Noch allen Linguisten hat die Gemeinsamkeit
des einverleibenden Verfahrens genügt, um sie als Glieder einer
Menschenfamilie zu betrachten und von ihnen die Eskimo abzu-
sondern, die ihre Worte durch Suffixe bilden, zumal auch bei den
ersteren keine scharfen körperlichen Sondermerkmale zu irgend
einer tiefgreifenden Trennung ermuthigen könnten. Viel besorgter
müssen wir auf die Zusammenfassung der uralaltaischen Völker
blicken, bei denen das Gemeinschaftliche der einzelnen Gruppen
nur im Typus des Sprachbaues beruht, in ihrer Beschränkung auf
suffigirte Formelemente. Selbst bei ihnen nehmen wir noch die
Abkunft aus einer gemeinsamen Heimath an, weil wenigstens die
Besonderheit ihrer lautharmonischen Gesetze nur ihnen allein eigen
ist und wir vermuthen dürfen, dass, wenn ihre Sprachdenkmale
nicht, wie es der Fall ist, nur wenige Jahrhunderte, sondern ein
paar Jahrtausende zurückreichten, wahrscheinlich stärkere Verwandt-
schaftsmerkmale sich entdecken Hessen und endlich weil die Körpcr-
merkmale zu einer solchen Vereinigung ermuthigen. Unzulässig dünkt
uns dagegen, die uralaltaische Gruppe wieder zu einer turanischen
Familie zu erweitern und die Dravidasprachen der eingebornen
1^6 I^ie Sprache als Classificationsmittel der Völkerkunde.
Indier deswegen ihnen beizugesellen , well auch sie Wohlklangsge-
setze bei Wortbildungen beobachten. Weil aber diese Gesetze
andre sind als in den uralaltaischen Sprachen , und auch die
Körpermerkmale uns dazu zwingen, werden wir je^e südindischen
Bevölkerungen als ein getrenntes Glied der menschlichen Familie
behandeln.
DIE TECHNISCHEN, BUERGERLICHEN UND
RELIGIOESEN ENTWICKLUNGSSTUFEN.
I. Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
Als die älteren und neueren überseeischen Entdeckungen den
erstaunten Europäern die Zustände sogenannter wilder Völker nahe
gerückt hatten, fehlte es nicht an überspannten Gemüthern, welche
sich unser Geschlecht bdi seinem ersten Auftreten mit den höchsten
körperlichen, geistigen und sittlichen Vorzügen ausgestattet dachten
und ihren Mangel bei den farbigen Wald- und Inselbewohnern
einem verschuldeten Herabsinken aus jenen goldenen ^Zuständen
zuschrieben. Zur Widerlegung dieser längst unschädlich gewor-
denen Verstandesverirrung wird es heutigen Tages wohl genügen,
hier auf die Sinnesänderung eines so verdienten Fachgelehrten, wie
Hrn. V. Martins zu verweisen. Auf der Versammlung deutscher
Naturforscher zu Freiburg im Jahre 1838 konnte er noch äussern:
„Jeder Tag, den ich noch unter den Indianern Brasiliens zubrachte,
vermehrte in mir die Ueberzeugung, dass sie einstens ganz anders
gewesen und dass im Verlauf dunkler Jahrhunderte mancherlei
Katastrophen über sie hereingebrochen seien, die sie zu ihrem der-
maligen Zustand, zu einer ganz eigenthümlichen Verkümmerung
und Entartung herabgebracht haben.** Ehe noch dreissig Jahre
voll abgelaufen waren, hören wir dagegen aus seinem Munde über
die nämlichen Völkerschaften die Worte: „Es liegen bis jetzt keine
Gründe vor, dass der dermalige barbarische Zustand in diesen
Gegenden ein secundärer, dass ihm hier ein anderer von höherer
Gesittung vorausgegangen , dass dieser Tummelplatz ephemerer
unselbständiger Haufen jemals Schauplatz eines gebildeten Volkes
gewesen sei')**.
Ebenso wenig haben sich die Anschauungen der Reisenden
1^3 ^ic Urzustände des Menschengeschlechtes.
aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts bewährt, die wie Georg
Forster, erfüllt von Rousseau'schen Träumereien, die Südseebevöl-
kerungen als ein glückliches, dem Naturzustande treues, von Cultur-
verirrungen noch nicht um das Menschenideal betrogenes Ge-
schlecht beneideten. Lamanon, der Begleiter La Perouse'ai^ be-
hauptete eines Abends im Gespräche mit seinen Begleitern, dass
die Wilden viel besser seien, als wir Culturmenschen. Am andern
Tage wurde er von ihnen erschlagen*). Die oft gerühmten Kör-
perreize zwanglos einherschreitender Naturkinder werden gewöhn-
lich auf den photographischen Nachbildungen vermisst, die jetzt so
reichlich in unsere Hände gelangen. Selbst dort, wo sie wirklich
vorhanden sind und den hässlichen Bedrohunj^en entgehen, die
ein irre geleiteter Geschmack ihnen auferlegt, fehlt sehr häufig die
beste Pflege des menschlichen Körpers, nämlich die Sauberkeit.
Das Haar bleibt ungeordnet und die Zähne ungereinigt. Gewisse
Laster suchen wir nur bei hochgestiegenen und tief gesunkenen
Völkern, bei den Hellenen und im späteren Rom. Wer aber ein wenig
vertraut ist mit den älteren spanischen Berichten über amerikanische
Stämme, der weiss r.echt gut, dass sie Verfeinerungen kannten, an die
weder die Römer, als Tiberius auf Capri weilte, noch die Byzan-
tiner gedacht haben, als Theodora, die spätere Gemahlin des
Kaisers Justinian, mit Schauspielerbanden umherzogt). Fügen wir
noch hinzu, dass fast allen diesen Bevölkerungen die Gifte bekannt
waren, die den befruchteten Menschenkeim zerstören und dass sie
mit gedankenloser Leichtfertigkeit gebraucht wurden^). Aus allen
diesen Nachtseiten unmündiger Völker haben rohe und lieblose
Ansiedler in überseeischen Gebieten sich das Recht angemasst.
i) Ethnographie. Bd. i. S. 5. S. 375.
2) Schaaffhausen im Archiv für Anthropologie. Bd. i. S. 166. Genau
ebenso schrieb Helfer einen Tag, hevor ihn die Andamanen ermordeten', in
sein Tagebuch: „Das also sind die so gefürchteten Wilden! Sie sind furcht-
same Kinder der Natur, froh, wenn ihnen nichts Böses zugefügt wird". Joh.
Wilh. Helfers Reisen in Vorderasien und Indien. Leipzig 1873. Bd. 2. S. 260.
3) Vespucci, Quattuor Navigationes, passim. Geschlechtliche Verirrungen
der Aleuten hei Erman, Zeitschrift für Ethnologie. 1871. Hefl 3. S. 164; der
Tschuktschen, bei W rangell, Reise in Sibirien, Bd. 2, S. 227; der Itelmen,
bei Stell er, Kamtschatka. S. 289.
4) Eine Musterung über die Völker, bei denen dioses Verbrechen ge-
duldet wird, ist unlängst im Archiv für Anthropologie (Braunschweig 1872^
Bd, 5. S. 452) abgehalten worden.
Die Urzustände des Menschengeschlechtes. i^
die Eingebornem von ihrem Erbe hinweg zu cultiviren und den
Racenmord als einen Sieg der Gesittung zu betrachten.
Andre Schriftsteller, berauscht von Darwinischen Glaubens-
sätzen, wollten "Bevölkerungen entdecken, die einen ehemaligen
thierischen Zustand gleichsam zur Belehrung unsrer Zeit noch fest-
gehalten hätten. So sollen nach den Worten einer Schöpfungs-
geschichte im Modegeschmack unserer Tage „in güd-Asien und
Ost-Afrika Menschen in Horden beisammen leben, grösstentheils
auf Bäumen kletternd und Früchte verzehrend, die das Feuer nicht
kennen und als Waffen nur Steine und Knittel gebrauchen, wie es
auch die höheren Aifen zu thun pflegen." Diese Behauptungen
sind nachweisbar aus der Schrift eines Bonner Gelehrten über den
Zustand der wilden Völker^) geschöpft worden und beruhen dort
auf den Aussagen eines afrikanischen Sklaven von den Doko,
einem angeblich zwergartigen Volke im Süden von Schoa*), oder
sie beziehen sich auf Mittheilungen bengalischer Pflanzer •*) oder
Erlebnisse eines Jagdabenteurers, dass in Indien einmal Mutter
und Tochter, ein anderes Mal Mann und Frau in halb thierischem
Zustande angetroffen worden waren ^). Völkerschaften dagegen
oder nur Horden in affenähnlichen Zuständen ist nirgends ein
glaubwürdiger Reisender der Neuzeit begegnet. Es sind viel-
mj?hr selbst diejenigen Menschenstämme , welche nach den ersten
oberflächlichen Schilderungen tief unter unsere eigene Gesittungs-
stufe gestellt worden waren, bei genauerer Bekanntschaft den ge-
bildeten Völkern merklich wieder näher gerückt worden. Noch
soll irgend ein Bruchtheil des Menschengeschlechts entdeckt wer-
den, bei welchem nicht ein mehr oder weniger reicher Wortschatz
mit Sprachgesetzen, bei welchem nicht künstlich geschärfte W^affen
und mannigfaltige Geräthe, sowie endlich die Kenntniss der Feuer-
bereitung angetroffen worden wäre.
Wohl hat ein in England gefeierter Anthropolog, Sir John
Lubbock, in seinem Buche über die vorgeschichtlichen Zeiten
etlichen Bewohnern der Inseln des stillen Meeres jeden Umgang
mit dem Feuer abgesprochen, aber nicht ohne Unwillen bemerken
1) Archiv für Anthropologie. Bd. i. Braunschw. 1866. S. 166 — 68.
2) Krapf, Reisen in Ostafrika. Ed. i. S. 76 — 79.
3) G. Pouchet, The plurality of the human race. London 1864. p. 18.
4) Ausland 1860. S. 935.
laO Die Urzuslände des Menschengeschlechtes.
wir in seiner Aufzählung auch die Eingebomen von Van Diemens
Land, da Sir John nur den Bericht Abel Tasmans nachzuschlagen
gebraucht hätte'), um zu finden, dass bereits der erste Entdecker
Rauchsäulen aus dem Innern der Insel habe aufsteigen sehen.
Ganz genau so verhält es sich, wenn Lubbock den Bewohnern von
Fakaafo die Bekanntschaft mit dem Feuer abspricht. Diese Süd-
seeinsol gehört zur Unionsgruppe und hegt im Norden des Samoa-
Archipels, dessen Bewohner wegen ihrer nautischen Geschicklich-
keit und ihrer weiten Seefahrten die Kavigatorcn genannt worden
sind und welche daher längst ihren Nachbarn auf Fakaafo das
Feuer und die Feuerentzündung über bracht haben würden,
wenn es nöthig gewesen wäre, Dass in der Mundart der Fakaafo-
Leute dasselbe Wort für Feuer vorkommt, welches je nach den
verschiedenen Tonarten der Malayen-Sprache api, afi, ahi lautet,
wäre für jeden Anderen eine hinreichende Warnung gewesen').
Sir John Lubbock dagegen beruhigt sein Gewissen mit der Aus-
rede, das Wort möge, wie in der verschwisterten Maori-Sprache,
nur für Licht und Hitze stehen. Zur Begründung seiner Behaup-
tung kann er sich nur auf den bekannten amerikanischen See-
fahrer Wilkes berufen, der auf Fakaafo Feuerplälze allenthalben
vermisste und desshalb vermuthete, die Eingebornen möchten ihre "
Nahrung roh verzehren. Ein Jahr nach Veröffentlichung von
Wilkes' Entdeckerbe rieht erschien jedoch das grosse Werk seines
Begleiters Horatio Haie über die Sudseesprachen. Dieser hoch-
geschätzte Anihropolog bezeugt nicht nur, dass ein Wort für Feuer
auf jener Insel vorhanden gewesen sei, sondern bemerkt ausdrück-
lich, um Wilkes' Irrthum zu widerlegen, dass er und seine Ge-
fährten am Abend 'vor der Landung eine Rauchsäule von Fakaafo
liaben aufsteigen sehen^. Getrost vertreten wir daher den Satz,
dass auf der ganzen Erde noch der Menschenstamm gefunden
werden soll, der keinen Verkehr mit dem Feuer unterhielte.
Das I'Vuer ist aber ein gelehriger und starker Gehilfe des
1} Buiney, Discoveries, tom. III. p. 7a Uebrigens besissen die Tas-
inier eine Sage über Herabkunft des Feuers, s. Tylor, Urgeschichte. S. 301.
2) Nach dem Wörietbuche zu Mariner's Tonga Islands bedeutet lalo-afi
■11er reiben und tolonga das Rinnenholi, in dem es gerieben wird.
j) Uniled fitstes Exploring Expedition. Etbnography. Philaielphia 1846.
Die Urzustände des Menschengesclilechtes. 141
tierischen. Es ist ein unersetzliches Mittel, um solche Stoffver-
änderungen herbeizuführen, ohne welche die wichtigsten unserer
Nahrungsmittel ungeniessbar wären. Mit dem Beistande des Feuers
gelang es zuerst und gelingt es noch jetzt, Baumstämme in Fahr-
zeuge auszuhöhlen. Das Feuer allein verscheucht die grimmigen
Raubthiere des Waldes und der Wüste, den afrikanischen Löwen,
den asiatischen Tiger, den amerikanischen Jaguar. Am Feuer
härteten die Menschen der Urzeit ihre rohen Waffen, die
Spitzen ihrer hölzernen Speere. Das Feuer als Steppenbrand muss
den Jägerstämmen in Australien, Süd-Afrika, sowie in der neuen
Welt in Ermangelung abgerichteter Hunde das Wild in Schussbe-
reich treiben. Reste von verkohltem Holz und Asche sind aber sowohl
in den Höhlen des P^rigord^), als auch, was noch schwerer ins
Gewicht fällt, bei der Schussenquelle unter den Geräthen aus
Renthierhorn angetroffen worden, die noch in die nordeuropäische
Eiszeit gehören^).
Ueberlegen wir nun, auf welche Art der Mensch sich ursprüng-
lich in den Besitz des Feuers gesetzt haben möge, so wird der
erste Gedanke wohl sein, dass er es als ein Geschenk aus der
Höhe empfangen habe durch einen Blitzstrahl, der einen Baum in
Flammen setzte. Allein um das Feuer als einen brauchbaren Ge-
hilfen an sich zu fesseln , dazu hätte eine Kenntniss aller der
Leistungen gehört, zu denen es der Mensch erst abrichten muss.
Der Aufbewahrung des Feuers musste also e\n vertraulicher Um-
gang vorausgegangen sein. Wenn ein Schluss erlaubt ist aus den
Beobachtungen derer, die Völker im halben Naturzustande be-
lauscht haben, dürfen wir hinzufügen, dass der Mensch der unbe-
kannten Vorzeit mit Entsetzen sich von dem Schauspiele des auf-
lodernden Baumes abgewendet hätte, so oft etwa ein zuckender
Strahl aus der drohenden Wolke zündend herabfuhr. Das höchste
Maass innerer Wahrscheinlichkeit besitzt daher die Vermuthung,
dass in der Nachbarschaft von Lavaergüssen aus Vulcanen die
Menschen zuerst und dauernd mit den Wohlthaten des Feuers be-
kannt wurden^). Noch zwanzig Jahre nach dem Ausbruche des
JoruUo vermochte man in den Spalten seiner Hornltos oder Mi-
i) S. oben S. 39.
2) S. oben S. 42.
3) Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen. Bd. r. S. 44.
112 Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
niaturkrater Späne zu entzünden , wie Alexander v. Humboldt uns ,
berichtet'). Ein Menschenalter spendete also die Lavamasse die
Möglichkeit, immer von Neuem mit Feuer sich zu versehen. Auf
dem Boden mancher Krater, wie bei den Havai-Vulcanen oder wie
bei der sogenannten Holle von Massaya hat aber die glühende
Lavatnasse ohne Unterlass durch seculäre Zeiten gebrodelt. Ferner
fehlt es einzelnen Gegenden nicht an sogenannten Feuerquellen,
das heisst an Ürunnen, die entzündliche Luftarten, nämlich Kohlen-
wassers tolf gas aushauchen. Wir wollen an solche Erscheinungen
in den Vereinigten Staten, in China, in Italien, vor Allem aber an
die ewigen Feuer der Halbinsel Abscheron bei Baku am caspischen
Meere erinnern, welche Tag und Nacht, Winter und Sommer 15 bis
20 Fuss hoch auflodernde Gasstrahlen ausstossen') und zu denen
aus dem indischen Gudscherat und Multan fromme Parsi oder
Feueranbeter waltfahrten, um ihrer Flammengottheit ins Angesicht
zu schauen. •
Im geschichtlosen Alterthum muss jedoch eine Zeit eingetreten
sein, wo der entzündete Gasbrunnen erlosch oder der Lai'abach
erkaltete und der Mensch auf eine künstliche Feuer berejtung be-
dacht sein musste. Das Gelingen dieser Aufgabe , ein grosser
Wendepunkt in unserer Sittengeschichte, wurde später erklärt
durch den Mythus von Prometheus, der dem höchsten der Götter
das Feuer entwendete. Da d^ese Sage als ein Nationalgut bei den
Osseten oder Iron im Kaukasus fortlebt und die Sprache dieses
Bergvolkes zur indogermanischen Familie zählt, so muss sie schon
vor den späteren Trennungen der arischen Menschen stamme vor-
handen gewesen sein; da aber bereits in der Eiszeit an der Schussen-
quelle, fern von allen vulkanischen Erscheinungen, Feuer künstlich
erzeugt wurde, so dürfen wir in jenem Mythus nicht die Rettung
einer geschichtlichen Begebenheit suchen. Wir können uns dafür
sogar auf Aeschylus berufen, der im verlornen Schlussstücke seiner
Trilogie dem Tronistheus die Worte in den Mund legt: 30 Jahr-
tausende habe er in Fesäeln geschmachtet-'), so dass also auch
von ihm der Feuerraub. weit über die Grenzen menschlicher Zeit-
erinnerung zutückverlegt wird.
4 S. 334- S. 341-
Gsognosie. 2. Aufl. Bd. 1. 5. 282.
oi, Prolegomenen zu Aestbylus' Tragödien. Leipiij; 1869.
Die Urzustände des Menschengeschlechtes. I^^
Das älteste Verfahren der Feuerentzündung hat sich bei den
Polynesiern erhalten. Ein Stab wird schräg in der Rinne eines
ruhenden Holzstückes so lange hin und her gerieben, bis dieses
zu glühen beginnt. Solche Feuergeräthe traf Chamisso auf den
Sandwichinseln und der mikronesischen Radakgruppe ') , sie waren
jedoch auch unter den übrigen Polynesiern auf Tahiti, Neuseeland,
der Samoa- und Tongagruppe*), ja selbst auf Baladea oder Neu-
•Caledonien verbreitet^). Mindere Muskel anstrengung erforderte der
Feuerbohrer. Die alterthümlichste Vorrichtung dieser Art wird uns
auf den Antillen und an den Küsten des südamerikanischen Fest-
landes von Spaniern beschrieben. Zwei Hölzer wurden zusammen
geschnürt, zwischen sie ein zugespitzter Stab geklemmt und durch
quirlartige Bewegung Feuer entzündet*). Bald jedoch wurde er-
kannt, dass als Unterlage ein einziges Stück genüge, wenn vorher
in* dieses eine Vertiefung zum Einsetzen des Feuerbohrers einge-
schnitten wurde. Dieses Werkzeug, eine der ältesten Erfindungen
unsres Geschlechts, kehrt in allen Welttheilen wieder. Wir erkennen
es auf bekannten Bildwerken der Altmexicaner^), es befindet sich
noch jetzt in den Händen der Indianer Guayana's^), sowie der
Botocuden Brasiliens^), in Südafrika bedienen sich seiner die Busch-
männer *), die Kafirn und die Hottentotten '), auf Ceylon die
Vedda*°) und in Australien die dortigen Eingebornen "). Das
Gelingen der Feuerentzündung darf man sich nicht allzuleicht vor-
stellen. Die Arbeit ermüdet so stark, dass sich bei den Botocuden
am Belmonte immer mehrere beim Quirlen abzulösen' pflegten**).
i) O. V. Kotzebue's Entdeckungsreisen. Weimar 1821. Bd. 3. S. 154.
2) Tylor, Urgeschichte. S. 303.
3) Knoblauch im Ausland 1866. S. 448.
4) Oviedo, Historia general de la^ Indias. lib. VI, cap. 5. Madrid 185L
tom. I, fol. 172 u. Taf. II fig. 2.
5) Neuerlich wieder abgebildet von O. Caspari, Die Urgeschichte der
Menschheit. Leipzig 1873. Bd. 2. S. 55.
6) C. F. Appun im Ausland 1872. S. 968.
7) J* !• ^' Tschudi, Reisen durch Südamerika. Leipzig 1860, Bd. 2.
S. 278.
8) F ritsch, Eingebome Südafrikas. S. 440.
9) Kolben's Vorgeb. d. G. Hoffnung. S. 449.
10) Emerson Tennent, Ceylon, tom. II, p. 451.
11) A. Lortsch im Ausland. 1866. S. 7(X).
12) Prinz zu Neuwied, Reise nach Brasilien. Bd. 2. S. 18 — 19.
I^^ Die Uriuslände des Menschengeschlechtes.
Genau das nämliche berichtet Theophilus Hahn von den Kafirn'),
die doch sehr trockne Erdstriche bewohnen. Bei seinen Streif-
zügen im Himalaya bemerkte Hermann v, Pchlagintweit zuerst bei
den Leptsdia ein solcbes Feuerzeug, welches nur darin etwas Be-
sonderes zeigte , dass die Unterlage aus hartem , der Quirl aus
weichem Holze bestand. Auch er fügt hinzu, dass die Arbeit staik
ermüde und der Erfolg bei grösserer Sättigung der Luft mit Wasscr-
dampf unsicher sei').
Vergegenwärtigen wir uns, dass die Schwierigkeit, durch Rei-
bung Feuer zu entzünden, so gross ist, dass selbst im trockenen
Süd-Afrika in die raich tTmüdende Arbeit sich mehrere theilen,
so setzt die künstliche Feuerbereitung eine Verständigung zwischen
den Theilnehmern voraus, unJ es kann gegen die Strenge des
Schlusses wohl nichts eingewendet werden, dass die menschliche
Sprache vorhanden gewesen sein müsse, bevor ein Feuer künstlich
bereitet werden konnte, dass somit die früher erwähnten Schwaben
der Eiszeit im Genuss einer solchen Sprache sich befunden haben
müssen, also damals bereits die psychische Kluft schon vorhanden
war, die Mensch und Thier von einander trennt. Tief erregt
werden wir gleichzeitig durch die Frage, ob die künstliche Ent-
zündung des Feuers eint Erfindung oder nur eine Entdeckung ge-
wesen sei. Würde sich etwa ein gewaltiger Denker der Vorzeit
von der Vermuthung haben leiten .lassen: durch Reibung - werde
Wärme erzeugt, sollte nicht auch das Feuer durch die höchste
Steigerung der Reibungswärme gewonnen werden können? so hätte
in ihm die Wahrheit gedämmert, dass die leuchtende Wärme sich
durch nichts als ihre Quantität und ihre Wirkung auf den Seh-
nerven von der dunklen Wärme unterscheide und sein darauf be-
gründeter Entzündungsversuch durch Reibung wäre ein Ja der
Natur auf eine richtig gestellte Frage gewesen. An Schärfe des
Verstandes wäre ein solcher Prometheus der Eiszeit nicht hinter
einem Kopernikus oder Kepler, einem ChampoUion oder Grote-
fend , einem Kirchliotf oder Faraday zurückgeblieben und wir
gewännen damit den Salz, dass das höchste Waass der Denkkraft,
welches einzelnen auserwählten Menschen hin und wieder zu Theil
wird, in unsern Tagen nicht grosser sei, als es bei den Völkern
Die Urzustände des Menschengeschlechtes. l^.c
des classischen oder biblischen Alterthums, bei diesen nicht grösser
als es zur Eiszeit gewesen ist. Uebersehen darf . bei einer solchen
Erwägung nicht werden, dass in den Zeiten der mittelalterlichen
Scholastiker eine Abnahme des menschlichen Fassungsvermögens
eingestanden wurde, insofern damals die geistigen Grössen der
Griechen und Römer selbst auf dem Gebiete der strengen Wissen-
schaften als nicht mehr erreichbare Vorbilder galten. Gegenwärtig
werden die Chinesen, deren geistige Entwickelung neuerdings nur
sehr träge fortschreitet, von der Anschauung beherrscht, dass die
geistigen Kräfte der Denker ihrer Vorzeit den heutigen Maasstab
weit überschritten hatten. Die Vermuthung eines Wachsthumes
oder einer Abnahme des menschlichen Fassungsvermögens wird
daher schwanken mit dem Selbstgefühl oder dem Mangel an
Selbstgefühl der einzelnen Zeiträume, und in der Gegenwart, wo
durch die ausgebildete Gliederung der Gesellschaft jedes geistige
Licht, methodisch ernährt, viel leichter dazu gelangt, Klarheit um
sich zu verbreiten, werden wir uns zu der Annahme neigen, dass
der menschliche Scharfsinn in der Mittagshöhe schwebe.
Der goldenen Regel eingedenk, dass nur aus dem Bekannten
auf das Unbekannte geschlossen werden dürfe, müssen wir aber
eingestehen, dass die Culturanfänge unseres Geschlechtes noch viel
zu dunkel vor uns liegen, um nicht auch die Vermuthung gelten
zu lassen, dass ein gnädiger Zufall die Erzeugung leuchtender
Wärme durch Reibung offenbart habe. Wir denken dabei nicht
wie Adalbert Kuhn, dass ein dürrer Rankenschoss in einer Asi-
höhlung vom Sturme so lange gepeitscht worden wäre, bis er Feuer
gefangen habe. Wir zweifeln sogar an der physischen Möglichkeit,
dass nach Aussage der Wogulen im Ural ein umgeknickter Baum
gegen einen Nachbarstamm bis zur Entzündung gerieben werde
und Waldbrände verursachen könne. Da bei allen Völkern beider
Welten ursprünglich die nämliche Art der Feuerbereitung und das
nämliche Entzündüngsgeräth angetroffen worden sind, so musste die
zufallige Entdeckung bei einem Bohrversuche erfolgt sein und
durchbohrten Werkzeugen — freilich nur aus Hörn — begegnen
wir schon unter den Resten der Bewohner Europa's zur Eiszeit.
Nur bliebe immerhin unerklärt, da die Ermüdung des Einzelnen
früher eintreten musste, als die Entzündung, während jeder Unter-
brechung aber die Wärme wieder entwich, wesshalb der Bohrver-
such ohne Pause fortgesetzt wurde. Das Reich der Möglichkeiten
Ptsckel, Völkerkunde. lO
1^.6 Die Urzustände des Memchengeschlechtes.
ist indessen nicht zu erschöpfen, und wir müssen verzichten, genau
die Verkettung aller Vorgänge in jenen uns weit entrückten Zeiten
schon jetzt durchschauen zu wollen.
Das alte Feuerreibzeug, welches seine Dienste bisweilen ver-
sagte und zu seiner Handhabung immer wenigstens zwei Bundes-
genossen erforderte, erhielt seine höchste Vollendung durch den
glücklichen Einfali, dass der Bohrstift durch eine sich auf- und
abwickelnde Schnur in Drehung versetzt werden konnte. Diese
Erfindung hatte sich Über den Norden Amerikas verbreitet bis zu
den Sioux oder Dacota"), sowie zu den Irokesen'). Noch sinn-
reicher pflegten die .^ISuten den Drehstift mit der Spitze in das
Feuerholz einzusenken, sein oberes Ende aber in einem beinernen
Mundstück zwischen den Zähnen festzuhalten. Bei raschem An-
ziehen der Schnur sah Chamisso das Tannenholz in wenigen Se-
cunden schon Feuer geben *). Dieses nämlichen Werkzeuges haben
alle Volker des Abendlandes in der Vorzeit sich bedient. Selbst
Plinius spricht noch von Feuerreibung wie von .einer gut be-
kannten Thatsacho'), Nach den Untersuchungen Adalbert Kuhns
pflegten die brahmanischen Hindu einen Stab, Pramaniha geheissen,
eingeklemmt zwischen zwei anderen Hölzern, Namens Arani, durch
eine sicli auf- und abwickelnde Schnur in Drehung zu setzen,
Der genannte Sprachforscher überlässt uns sogar die Entschei-
dung, ob wir den Namen Prometheus von Pramätha Raub oder
von dem Drehstift Pramantha ableiten wollen und erinnert uns
zugleich, dass die Thurier vormals einen Zeus Promantheus ver-
ehrten^. Wie dem auch sei, nicht anders als die Indier zur Zeit
der Hymnen dichtungen bereiteten die alten Griechen das Feuer.
Ihre Pyreia oder Feuerzeuge bestanden ebenfalls aus zwei Stücken,
einer Unterlage aus weichem, am liebsten aus Epheuholz, Esckdra
geheissen, und dem aus Lorbeer geschnittenen Trypanon, was
füglich mit Bohrstift übersetzt werden kann^). Diese Bereitung
des Feuers hat sich in unserer Heimath noch bis in die jüngste
]] Tylor, Urgeschichte, S. Jil.
2) Wail!, Anthropologie. Bd. 3. S. 97.
31 O, V. Kolzebuc's Reisen, Weimar l8ll. Bd. 3. 5. t54.
4) Hist. nat. lib, IL cap. in. liumani ignes . . ■ stlrita inter se ligna.
5) A. Kuhn, Die HeribkODfl des Feuers. Berlin 1859. S. 15—17,
6) Theophraalus, Hist. pbrnanim V, q ed. Wimiaer. tom., I. p. i<
Die Urzustände des Menschengeschlechtes. i^j
Zeit erhalten, denn einem Feuer, auf diese ehrwürdige Weise be-
reitet, legte der Volkswahn Wunderkräfte bei. Der englische
Ausdruck wUlfire bezieht sich ebenfalls auf eine Entzündung durch
Reibhölzer. In Deutschland wurde eine Walze aus Eichenholz in
den Vertiefungen zweier eichener Pfahle durch ein auf- und ab-
rollendes Seil zur Erzeugung eines sogenannten Nothfeuers ge-
dreht, welches letztere die Seuchen abwenden sollte. Noch im
Jahre 1828 wurde beim Ausbruche der Bräune unter* dem Borsten-
vieh und des Milzbrandes unter den Kühen im Dorfe Edesse, Amt
Meinersen in Hannover, ein Nothfeuer angezündet^). Auch bei
anderen indogermanischen Geschwistervölkern musste jedes Feuer,
sollte es eine gewisse Weihe besitzen, durch Reibung angezündet
worden sein. War im Tempel der Vesta zu Rom durch Verschul-
dung einer Priesterin das Feuer erloschen, so durfte nicht durch
Stahl und Stein, die längst in Gebrauch waren, sondern nur durch
Reibung auf geweihtem Brett eine neue Gluth angezündet werden*).
Das Feuer am Beginn eines kleinen Jahrhunderts wurde von den
Altmexicanern wieder frisch gerieben und im ähnlichen Sinne
löschten die Suaheli am Tage des Neujahres ihr Feuer aus und
entzündeten ein neues durch Feuerbohren ^). Das Funken schlagen
aus spröden Steinen mit oder ohne Feuerstahl gehört in Europa
dem nachhomerischen Alterthum an und Plinius hat uns noch den
Namen eines angeblichen Erfinders aufbewahrt*).
Ist noch nie eine Bevölkerung im feuerlosen Zustande über-
rascht worden, so passt auch für keine von ihnen die Bezeichnung
als Wilde, die einer irrigen Anschauung entsprungen ist. Ebenso
wenig dürfen wir von Naturvölkern, höchstens von Halbculturvöl-
kern sprechen, denn sicherlich ist der Naturzustand des Men-
schengeschlechtes unsrer Beobachtung, ja sogar unsrer Ahnung
entrückt. Stellen wir uns lieber vor, es stiesse jemand, der noch
-nie Rosen gesehen hätte, auf eine Gesträuchgrupjje dieser Pflanze
in einem vorgerückten Zustande des Wachsthums, dann wird er
zugleich neben reifenden Früchten abwelkende Blumen, Blüthen
1) Kuhn, 1. c. S. 45.
2) Hermann Göll, Die Geheimnisse der Vesta. Ausland 1870. S. 177.
3) S teere im Joum. of the Anthropol. Institute, vol. I, p. CXLVIII.
4) Das Obige wurde zum grössten Theil, jedoch ohne Quellennachweise,
vom Verfasser in der österreichischen Zeitschrift für Kunst und Wissenschaft
1872 veröffentlicht.
IG*
1^.8 I^ic Urzustände des Menschengeschlechtes.
in jeder Stufe der Entwicklung, aufspringende und geschlossene
Knospen, Sprossen mit schwellenden Knoten und schliesslich in
in den Achselhöhlen der Blätter neue Augen entdecken. So liegt,
wenn er den allmähligen Uebergängen sorgsam nachgeht, der
Lebenslauf der Pflanze völlig aufgeschlossen vor ihm da: Ver-
gangenes, Gegenwärtiges und Künftiges folgt hier nicht nach, son-
dern nebeneinander. Behält man in diesem Falle nur die Reihen-
folge des Gestaltenwechsels im Auge, so lässt sich, wie seltsam es
auh klingen mag, behaupten, dass die Frucht jünger sei als die
Rose, und die Rose jünger als die Knospe; denn die Frucht folgte
nach der Blüthe und den Blumen ging die noch blattähnliche
Knospenanschwellung voraus, wie man auch im morphologischen
Sinne hinzusetzen darf, dass der Knabe jedenfalls eine ältere Er-
scheinung ist als der Greis. Auch im Knospenzustand werden wir
Völker nicht mehr anzutreffen erwarten dürfen, doch lässt sich
immer aussprechen, bei welchen Menschenstämmen die ältesten
oder vielmehr die alterthümlichsten Zustände sich noch jetzt be-
obachten lassen. Die niedrigsten Gesittungszustände suchte man bisher
gewöhnlich bei den Hottentotten und Buschmännern in Südafrika^
bei den Vedda auf Ceylon, bei den Mincopie auf den Andamanen,
bei den Australiern und den geschwisterlichen Tasmaniern, endlich
bei den Eskimo, sowie bei den Feuerländern und den Botocuden
Brasiliens. Mit Ausnahme der letzteren finden wir alle aufgezählten
Bevölkerungen am äussersten Rande der Festländer, vorzugsweise
an ihrer Südspitze, oder auf abgelegnen Inseln und Weltinseln, sei
es nun, dass sie als schwache Stämme bis in die Endglieder der
Ländermassen verdrängt wurden, oder dass sie sich vorzeitig von
dem andern Menschengeschlechte absonderten und von dem
wachsenden Cultursegen nicht mehr erreicht werden, ja vielleicht
erworbne Gesittungsschätze nicht länger wegen einer Verminderung
ihrer Kopfzahl festhalten konnten. Nur der MissgrijQf Unkundiger
konnte aber unter diese alterthümlich gebliebenen Menschen geistig so
hochstehende Völker wie die Hottentotten und die Eskimo mischen.
Ob die Australier sammt den Tasmaniern in das Musterbuch
der niedrigsten Menschengeschöpfe gehören, wird sich zur Genüge
aus einem späteren, ihnen gewidmeten Abschnitt ergeben. At>er
auch die übrigen vorher genannten Völker haben alle bei näherer
Bekanntschaft beträchtlich gewonnen.
Die Buschmänner oder San, um mit ihnen zu beginnen, dienten
Die Urzustände des Menschengeschlechtes, j^g
bisher dazu, um das fehlende Glied in der Kette zwischen Affen
und Menschen auszufüllen und der Verfasser bekennt gern, dass
er im Jahre 1852 zu London Buschmänner gesehen hat, die durch
ihr thierisches Aeussere wohl Jeden von dem guten Wahn geheilt
haben würden, dass alle Menschen das Ebenbild eines erhabnen
Wesens vertreten sollten. Livingstone hat aber bald darauf seine
Landsleute gewarnt, in jenen zur Schau gestellten Jammergestalten
echte Typen eines Zweiges der afrikanischen Menschheit zu er-
blicken, da nur auserlesen Hässliche zur Befriedigung der Neugierde
nach Europa gebracht werden^). Nur ^in der Kahalariwüste ver-
kümmert der Stamm der Buschmänner bis zu einem zwerghaften
Wuchs. Weiter nördlich beim Ngami-See beschrieben Livingstone*)
und Chapman^) hochgewachsene und schöne Menschen unter ihnen.
Ihre Haltung und ihr Auftreten zeigt von dem hohen Selbstgefühl,
welches allen in ungeschmälerter Freiheit lebenden Stämmen eigen
ist^). Obwohl nackt, herrscht doch unter ihnen strenge Keuschheit
und die Zartheit, wie sie um ein Mädchen freien, sowie, dass sie
Ehen nur aus Zuneigung schliessen, stellt sie hoch über unzählige
andre Völkerschaften. Chapman erzählt uns gerührt, dass ihn
Buschmänner eines Morgens mit einer Schale Wasser überraschten,
der köstlichsten Gabe in jenen durstigen Erdstrichen, aus Dank-
barkeit, weil er vorher mit ihnen seine Jagdbeute getheilt hattet).
Merkwürdig ist es, dass diese niedrigen Menschen gleichwohl Freude
an künstlerischen Versuchen finden. Mit grosser Sicherheit der
Hand haben sie vom Cap bis über den Orangefluss hinaus die
Felsen mit Thier- und Menschenbildern in rother, brauner, weisser
oder schwarzer Farbe bemalt oder auch auf dunklem Grunde hell
ausgekratzt und die Abbildungen, die wir davon besitzen, berech-
tigen den Ausspruch, dass die Umrisse naturgetreuer erscheinen,
als auf vielen ägyptischen Denkmälern^). Lichtenstein bestreitet,
dass die Buschmänner Vorstellung von einem höchsten Wesen be-
sitzen 7), allein spätere Reisende wollen den Glauben an eine männ-
1) Missionsreisen und Forschungen in Süd-Afrika. Bd. I. S. 64.
2) a. a. O. S. 99. S. 200. S. 207.
3) Travels into the Interior of South Africa. London 1868. tom. I, p. 320.
4) G. Fritsch, Drei Jahre in Süd-Afrika. S. 295.
5) Chapman, 1. c. I, 250.
6) G. Fritsch, Die Eingebomen Südafrikas. S. 426 u. Tat 50.
7) Reisen im südlichen Afrika. Berlin i8n. Bd. 2. S. 328.
jcQ Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
liehe und weibliche Gottheit*) bei ihnen wahrgenommen haben und
jedenfalls weilen unter ihnen Zauberpriester*). Da sie sprüchwört»
lieh sagen, der Tod sei nur ein Sehlaf, so ist es fast selbstver-
ständlich, dass sie auch zu den Abgeschiedenen beten, wie Living-
stone sich davon überzeugen konnte^). Unmässigkeit und Schmutz
sind die einzigen Laster, deren sie geziehen werden.
Einen anderen alterthümliehen Menschenschlag finden wir in
den ungelichteten Wäldern Ceylons. Dort leben angeblich bis auf
8000 Köpfe zusammen geschmolzen die Vedda, ein beinahe nackter
Jägerstamm, dessen Sprache ein altes, von Sanskrit und Pali unbe-
flecktes Singhalesisch sein soll. Ihre Schädel sind schmal (Breiten-
index 66 bis 78), aber stets ansehnlich hoch, erträglich mesognath
und mit wenig vorstehenden Jochbeinen versehen*). Sie treiben
mit den Nachbarn einen stummen Handel und erwerben von diesen
gegen Elfenbein und Wachs, Werkzeuge und Geräthe, die sie in
die Eisenzeit versetzen. Sie verschmähen nicht die ekelhafteste
Nahrung, wie faulendes Fleisch, binden sich aber wiederum an
Speiseverbote, berühren auch nie eine Kost, die ein Kandianer
zubereitet hat, aus Furcht, ihre Kaste zu verlieren, denn seltsamerweise
beanspruchen sie und wird ihnen von ihrenNachbarn ein höherer Racen-
adel zugestanden. Wenn sie als Teufelsanbeter bezeichnet werden,
so haben wir uns darunter zu denken, dass sie schädliche Mächte
durch ihre Verehrung zu besänftigen suchen. Ihre Jagdreviere
sind als strenges Eigenthum unter die Familien vertheilt.^). Femer
fallen die Vedda in der Umgebung von polygamischen Völkern
dadurch auf, dass sie nur ein Weib ehelichen und bei ihnen das
Sprüchwort gilt: der Tod allein könne Mann und Frau scheiden^).
Ebenso wie über die Vedda sind wir nur sehr dürftig über
die Mincopie oder die Bewohner der Andamanen unterrichtet,
obgleich die Engländer seit beinahe zwanzig Jahren nach diesem
Archipel ihre indischen Verbrecher zu verbannen pflegen. Da es
auf jenen Inseln an vierfüssigem Wild nicht mangelt, so gehört die
1) Waitz, Anthropologie. Bd. 2. S. 346.
2) Fritsch, Eingeborne. S. 427.
3) a. a. O. Bd. i. S. 200.
4) Barnard Davis, Thesaurus craniorum. p. 132 — 134.
5) Sir Emerson Tennent, Ceylon, vol. II. p. 439 — 451.
6) Tylor, Anfange der Cultur. I. S. 51. und Lubbock, Prehistoric
Times 1869. p. 424.
Die Urzustände des Menschengeschlechtes. 15 1
Jagd zu dem Nahrungserwerb der Eingebornen, welche auch als
Pfeilschützen von ihren Gegnern gefürchtet werden '). Zum Fisch-
fang verfertigen sie bewundemswerthe , Netze ^) und noch mehr
eeichnen sie sich aus durch den zierlichen Schnitt ihrer Kähne, die
sie aus Baumstämmen aushöhlen bis die Wände nicht dicker sind,
als die einer hölzernen Hutschachtel^). Mit ihnen wagen sie sich
weit auf die See hinaus, um beim Fackelglanze Fische zu Speeren.
Da ihre Sprache noch undurchforscht ist, war es höchst übereilt,
ihnen religiöse Regungen abzusprechen. Unter sich verkehren sie
freundlich und liebreich, besonders zärtlich ist die Zuneigung zwischen
Eltern und Kindern. Zu den niedrigen Menschenstämmen hat man sie
wegen ihrer Nacktheit gerechnet und wahrscheinlich auch, weil sie
sich den Landungsversuchen stets mit den Waffen widersetzt haben.
Als Schreckbilder der Menschheit sind von allen Seefahrern
die Bewohner der ewig feuchten, gleichmässig kühlen Magalhaes-
strasse beschrieben worden. Ihre nächsten ethnographischen Ver-
wandten sind die Araucanier, jedenfalls haben wir sie als eine
physisch schwache Horde zu denken, die nur in dem unwirthlichen
Feuerlande eine Rettung vor stärkeren Bedrängern fand. Zwei
Erfindungen, die ihnen ausschliesslich angehören, dürfen uns keinen
Zweifel übrig lassen, dass es auch diesen geringsten aller Menschen
nicht gänzlich an Scharfsinn fehlt. Wie wir später in dem Abschnitt
über die nautischen Leistungen der Küstenbevölkerungen zeigen
werden, sind die Feuerländer die einzigen Südamerikaner, die von
Ecuador bis zum Cap Hörn und^von Cap Hörn bis weit über den
La Plata das Meer in hohlen Baumstämmen befahren. Auf diesen
Kähnen unterhalten sie beständig ein Feuer, woher ihr Land und
sie selbst ihren Namen von Europäern empfangen haben. Beider
hohen Dampfsättigung der Luft gelingt es nämlich sehr schwer
Holz in Brand zu stecken. Der Feuerbohrer würde also seinen
Dienst wahrscheinlich versagen und daher gehören die Bewohner
der Magalhaes'schen Inselwelt zu den wenigen Menschenstämmen,
welche Fimken aus Eisenkiesen schlagen und sie in Zunder auf-
fangen*). Ferner befolgen sie bei der Vermehrung ihrer Jagdhunde
i) Frederic Mouat, the Andaman Islanders. London 1863. p. 321.
2) 1. c, p. 326.
3) 1. c. p. 316—318.
4) W. Parker Snow, OfF Tierra del Fuego. London 1857, tom. II,
p. 360. Vielleicht haben sie aber diese Erfindung erst den Patagoniem ab*
IC 2 Die Urzustände des Menschengeschlechtes.
die Regeln derRacezüchtung^). Leider todten sie aber auch bei Hungers-
nöthen die alten Frauen vor den Hunden, weil [diese, sagen sie, See-
ottern fangen, jene aber nicht *). Daran wollen wir noch die Bemer-
kung eines der besten Beobachter unsrer Tage knüpfen. „Als ich,
am Bgvd des Beagle, versichert Charles Darwin, mit den Feuer-
ländern zusammenlebte, ward ich unaufhörlich überrascht von
kleinen Charakterzügen, welche zeigten, wie ähnlich ihre geistigen
Eigenschaften den unsrigen waren" ^). Fitzroy endlich schreibt
ihnen den Glauben an eine gerechte Gottheit zu, welche Unheil
sendet, als Strafe für begangene Verbrechen*).
Unter allen Bewohnern der Erde stehen vielleicht die Boto-
cuden Brasiliens dem Urzustände noch am nächsten. Wohnen sie
auch nicht an der Südspitze eines Festlandes, so ist doch ihre
Heimath unwirthlich und am spätesten von allen Küstenstrichen
Brasiliens durch Europäer besiedelt worden. Die Botocuden leben
in gänzlicher Nacktheit und entstellen sich durch Lippen- und
Wangenhölzer, wodurch sie sich ihren Namen zugezogen haben,
der von dem portugiesischen hotoque (Stöpsel) ^abzuleiten ist, denn
unter sich heissen sie Engkeräkmung. Ihre Nahrung erwerben sie
sich mit dem Pfeil, tragen übrigens, was andere Horden versäumen,
die linke Hand mit einer Schnur umwickelt, um sie vor Verletzung
durch die zurückschnellende Sehne zu schützen. Sie leben im
Zeitalter der geschliffnen aber undurchbohrten Steingeräthe, bauen
Hütten, schlafen auf Bastmatten, kochen in Thongeschirren und
sollen im Monde den Urheber der Schöpfung verehren 5). Die
Nutzung der Jagdreviere wird nur den Eigenthümern verstattet und
Wildfrevel durch duellartige Zweikämpfe gerächt^). Auf ihren Ge-
bieten sorgen sie für Verkehrsmittel, denn sie erbauen schwebende
Seilbrücken aus Schlingreben (^ipo)^). Setzen wir noch hinzu, dass
ihre Sprache einen Ausdruck für Schamröthe besitzt*), sowie dass
gelauscht, welche sich nach europäischer Art des Feuersteines und Stahles
bedienen. Musters im Journal of the Anthropol. Institute, vol. I. p. 198.
1) Darwin, Domestication. tom. II, p. 207.
2) Darwin, Journal of Researches. London 1845. p. 214.
3) Abstammung des Menschen. Bd. i. S. 209.
4) W. P. Snow, 1. c. tom. II, p. 358.
5) Prinz zu Neuwied, Reise nach Brasilien. Bd. 2. S. 18, 21, 27, 35.
6) 1. c. Bd. I. S. 368.
7) 1. c. Bd. 2. S. 37.
>8) 1. c. Bd. 2. S. 312.
Die Urzustände des Menschengeschlechtes. icx
rA^
1) J. J. V. Tschudi, Reisen durch Südamerika. Leipzig 1860. Bd. 2.
S. 285.
2) Alexander V. Humboldt. Eine wissenschaftl. Biographie. Heraus-
gegeben von Karl Bruhns. Leipzig 1872. Bd. i. S. 379.
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sie ihre Gelage durch Gesänge beleben, die freilich roh und ge-
dankenarm sein mögen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-
derts, waren die Engkeräkmung noch so kräftig, dass sie drei
Hafenplätze zerstören und die Portugiesen völlig aus der Provinz
Porto Seguro vertreiben konnten , was ihnen doch niemals ohne ';^
ein nationales Gemeingefühl und ^ein Bündniss der verschiednen V^j
Zweige ihres Stammes gelungen wäre. Als ihre höchste Leistung ij
lässt sich noch mittheilen, dass die Nakenuk, eine ihrer Horden, ^^"l
drei Jahre nach einander genau am 6. Sptbr. bei einer brasilia-
nischen Niederlassung sich einstellte, um dort vertragsmässig mit
einem jährlichen Festschmaus bewirthet zu werden, so dass sie also
irgend eine Zeitrechnung sich angeeignet haben müssen').
Vielleicht haben wir nur Missgriffe begangen, jene eben ge-
schilderten Menschenstämme unter alle andren zu erniedrigen. *"r
Ihre Sprachen sind nur sehr unvollkommen gekannt und ehe dies
nicht der Fall ist, wird Niemand in den Kreis ihrer geistigen Vor-
stellungen eindringen können. Flüchtige Reisende sind stets die-
jenigen gewesen, welche uns die traurigsten Gemälde der soge-
nannten wilden Völker entworfen und namentlich die Beschränktheit
ihrer Sprache behauptet haben. So war es auch beispielsweise dem
Caribischen ergangen, bis Alexander v. Humboldt aussprach: „Es
verbindet Reichthum, Anmuth, Kraft und Zartheit. Es fehlt ihm
nicht an Ausdrücken für abstracte Begriffe, es kann von Zukunft,
Ewigkeit, Existenz reden und hat Zahlwörter genug, um alle mög-
lichen Combinationen unsrer Zahlzeichen anzugeben*).**
Die oben genannten Völker leben von Jagd oder Fischerei,
sie bewohnen auch meistens Inseln und werden aus allen diesen
Gründen im Kurzen dem Racentode verfallen. Damit wollen wir
nicht ausschliessen, dass nicht auch Hirtenstämme aussterben sollten,
wie es das sichere Loos der Hottentotten und sämmtlicher nord-
sibirischer Nomaden sein wird. In Nordamerika haben sich bis
jetzt auf den Gebieten der Hudsonsbaigesellschaft durch gute Schutz-
gesetze die Jäger gesund erhalten, jetzt wo die Privilegien jener
Gesellschaft erloschen sind, droht auch ihnen das Verhängniss. Die
Eröffnung der grossen Westbahnen nach Californien wird das Aus-
,H
:ä
1^4 ^ic Urzustände des Menschengeschlechtes.
Sterben der Bisonheerden und der noch übrigen Reste von India-
nern ausserordentlich beschleunigen, und das neue Jahrhundert in
den Vereinigten Staaten nicht mehr für Rothhäute anbrechen oder
es werden sich höchstens einzelne als bezähmte Merkwürdigkeiten
noch ein paar Jahre hinschleppen. Dieser paläontologische Process
sollte für uns nichts geheimnissvolles besitzen.
Vor allen Dingen ist nicht etwa an eine blutige Unterdrückung^
zu denken. Oft genug wird den Spaniern besondere Grausamkeit
vorgeworfen. Wir wollen durchaus nicht abläugnen, dass sie sich
reichlich mit Indianerblut befleckt haben, es geschah diess aber
nur aus Habsucht, nicht aus Mordlust ; die Ausrottung wurde auch
stets beklagt und durch milde, wenn auch ohnmächtige, Gesetze ihr
entgegengewirkt. Die überseeische Geschichte Spaniens kennt keinen
Fall, der sich an Verworfenheit mit dem messen könnte, dass Portugiesen
in Brasilien die Kleider von Scharlach- oder Blatterkranken auf die
Reviere der Eingebornen abgelegt haben ^), um die Pest künstlich
unter ihnen zu verbreiten, oder dass die Brunnen in den Wüsten
Utahs, welche von den Rothhäuten besucht zu werden pflegten, von
Nordamerikanern, mitStrychnin vergiftet wurden *), oder wie in Austra-
lien, wo zu Hungerszeiten die Frauen von Ansiedlern Arsenik
unter das Mehl mischten^), mit dem sie die bettelnden Eingebornen
beschenkten, oder endlich wie in Tasmanien, wo englische Ansiedler
die Eipgebornen niederschössen, wenn sie kein besseres Futter für ihre
Hunde fanden*). Doch haben nicht Grausamkeit oder Bedrückung
irgendwo einen Menschenstamm völlig ausgerottet, selbst neue Krank-
heiten, die Pocken mit eingeschlossen, haben nicht Völker vertilgt, und
noch weniger die Branntweinseuche, sondern ein viel seltsamerer
Todesengel berührt jetzt einst fröhliche und glückliche Menschen-
stämme, nämlich der Lebensüberdruss. Die unglücklichen Bewohner
der Antillen tödteten sich auf Verabredung gemeindeweise theils
durch Gift, theils/ durch den Strick^). Ein Missionär in Oaxaca
vertraute dem spanischen Historiker Zurita, dass sich Horden der
i) Prinz zu Neuwied, Reise nach Brasilien. Bd. 2. S. 64. v. Tschudi^
Reisen durch Südamerika. Bd. 2. S. 262.
2) R. Burton, The city of the Saints. London 1862, p. 576,
3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6, S. 824 und £yre, Central
Ausbalia. London 1845. tom. II, 175.
4) Bonwick, The last oft the Tasmanians. London 1870. p. 58.
5) Las Casas, Hist. de las Indias, IIb, III. cap. 81.
Die Urzustände des Menschengeschlechtes. jcc
Chontalen und Mijes verabredet hatten jedem Umgang mit ihren
Frauen zu entsagen, oder die ungeborne Leibesfrucht durch Gift zu
entfernen'). Darin liegt denn auch die wahre Ursache des Aus-
sterbens so vieler bunter Menschenracen, dass kein neues Geschlecht
mehr unter ihnen keimt. Es ist die Abnahme der Geburten auf
den Sandwich-Inseln *) und auf Tahiti, welche das Abschiednehmen
von Völkerstämmen befördert. Auf Taio-Hae, einer Insel der Men-
danagruppe, verminderten sich im Laufe von drei Jahren die Ein-
wohner von 400 auf 250 Köpfe, während in dieser Zeit nur 3 — 4
Geburten vorkamen 3).
Warum diess geschieht, darüber können uns einige missver-
standene Fälle belehren. Ein junger Botocudenknabe wurde von
einer brasilianischen Familie in Bahia erzogen, besuchte die Gym-
nasien, die Universität, erwarb sich das Doctordiplom , und prak-
ticirte eine Zeitlang als Arzt in Bahia. Eine tiefe Schwermuth war
immer der Grundzug seines Charakters gewesen. Eines Tages ver-
schwand er, und nach Jahren erhielten seine Pflegeeltern die sichere
Kunde, dass er Kleider und Erziehung abgestreift und nackt mit
seiner Horde in den Wäldern umherstreife*). Einen ähnlichen Fall
erlebte Dobrizhoffer unter den Abiponen, ja er erzählt uns oben-
drein von einer spanischen Edeldame, die mit ihren Kindern in
die Gefangenschaft jenes streitbaren Stammes gerieth und unter
ihnen blieb, bis endlich ein Lösegeld für sie eintraf. Ihr Sohn
Raimund jedoch und ihre Tochter, die unter den Rothhäuten auf-
gewachsen waren, verzichteten freiwillig auf jede Rückkehr 5). Der
verstorbene Admiral Fitzroy hatte einen Feuerländer nach England
mitgebracht, wo er Jemmy Button getauft, erzogen und eine Zeil-
lang in vornehmen Gesellschaften als Schosskind verhätschelt wurde.
Um ihn nach seiner Heimath zurückzubringen, wurde eine Expe-
dition gerüstet, auf der Charles Darwin seine Fahrt um die Erde voll-
zog, Jemmy Button, der in Europa stets Handschuh und blankgeputzte
Stiefeln getragen hatte 6), wurde, in seine Heimath zurückgekehrt,
1) Zurita, Chefs de la Nouvellc Espagne, ed. Temaux-Compans, p. 272.
2) Auf den Sandwichinseln wurden bei der ersten Volkszählung im Jahre
1832 130,315 Köpfe ermittelt, die 1853 auf 73,138 und 1872 auf 49,044 ge-
sunken waren. Globus. 1873. Juni. Bd. XXIII, S. 334.
3) Quatrefages, Rapport, p. 358.
4) J. J. V. Tschudi's Reisen in Südamerika. Bd. 2. S. 286.
5) Geschichte der Abiponer. Wien 1783. Bd. 2. S. 176.
6)CharlesDarwin, Journal of Researches. 2d. edit. London 1845. p. 207.
ijö Die Urzustände des Men sehen geBcUechtes.
sogleich ein nackter, ungewaschener und ungekämmter Feuerländer.
wie er gewesen war, und unterschied sich 1855 nicht mehr von
den Seinigen'}. Ein anderer bekannter Fall dieser Art betrifft einen
Australier, Namtn^ Bimgati, der in Sydney erzogen wurde, auf
dem Gymnasium Preise sich erwarb und ein gutes Latein sprach,
dennoch aber später aus der Civilisalion in den Busch entsprang,
und hinterdrein geäussert hat, die Erziehung habe ihin_^nichts ge-
nützt, als dass er sein Elend gewahr geworden sei'). Ganz ähnlich
erzählt der Hydrograph Neumayer, dass er, verirrt am untern
Murray 1861 von den Eingebornen zu einem nackten Schwarzen
geführt wurde, der ihm in sein Taschenbuch in fehlerlosem Eng-
lisch die Namen der wichtigsten 0 ertlichkeiten eintrug, die er zur
Rückkehr berühren sollte. Der seh reib kund ige Australier, damals
24 Jahr alt, war auf einer Missionsschule in Adelaide erzogen worden 3),
Eine lieblose Anthropologen schule hat aus sok:hen Fällen den
Beweis schöpfen wollen, dass die anders gefärbten Menschen einer
von uns verschiedenen Species angehören. Jene Beispiele beweisen
aber zunächst, dass das Maass der geistigen Fähigkeiten nicht un-
gleich vcrtheilt sei, nur bemerken wir staunend, dass der soge-
nannte wilde Mensch das Leben in der Freiheit allen Vortheilen
und Bequemlichkeiten der Gesittung vorzieht. Die Schwierigkeit,
Jägerstamme an ein sesshaftes Leben zu gewöhnen, besteht nicht
darin, dass sie nicht nach unserer Art leben konnten, sondern dass
sie nach ihrer Art leben wollen. Sie betrachten jede Arbeit als
erniedrigend und nur die Jagd als standesgemäss und mannes-
würdig'). Der schwarKe Wann arbeitet nicht, sagen die Australier,
denn er ist von edler Geburt'}. Als die britischen und holländi-
schen Ansiedler an der Ostküste der Vereinigten Staaten sich
niederjiessen , bemerkte man dann und wann einen Eingebornen
l) Philipps, the Missionar)- 0! Tierra dsl Fuego. London 1861. p. 69
5q. u. Parker Snow, OiT Tietra dcl Fuego, II, p. 27—31.
j) Bonivick, the lost of Ihe Taamaniaaa. London 1870. p. 359.
31 Neumayer in der Siliun;; der unthropologischen Geseilschaft iu Berlin
am 15. April 1871.
4I So die AlRonkinen und Irokesen nach Charlevoix, Nouvelle Franc«.
Paris 1744. tom. ItL p. 334. Grossen Fleiss /ei^en sie dagegen bei der An-
fertigung ihrer Jagd- und Fischereigeräthe.
5) White fcUows work, nol block feUow; black fellow gentleman. Haie,
UaiL Stalcs Exiiliiring Exped. tlllinoGr.iphy. p. 109.
Die Urzustände des Menschengeschlechtes. icj
der von einer Anhöhe zuschaute, wie der Neubauer hinter seinem
Pfluge herging, nicht etwa um iKto seine Geheimnisse abzulauschen,
sondern um 6rst verwundert drein zu schauen, und dann bedauer-
lich ihm den Rücken zu kehren, als habe er im Stillen gedacht
wie der lateinische Dichter, dass unmöglich das Leben mehr werth
sein könne als die Lebensreize (non propter vitam vivendi perdere
causas). Dass diess der letzte Gedanke sei, können wir auch durch
eine andere Betrachtung inne werden. Die rothen Indianerstämme
Nordamerika's denken sich das Jenseits als eine Fortdauer des
irdischen Lebens. Der grosse Geist, so hoffen sie, werde sie in
wildreiche Gefilde versetzen*). So stellen sich auch die streitbaren
Maori Neu-Seelands das Leben nach dem Tod als eine fortgesetzte
Reihe von Gefechten und Fehden vor, aus denen die Seligen immer
wieder erneuert als Sieger hervorgehen. Unsere germanischen Vor-
eltern hegten die gleichen Hoffnungen. Folglich erscheint dem
wenig cultivirten Menschen das Leben, welches er lebt, so genuss-
reich, dass er sich ein anderes nur als eine Steigerung zu denken
vermag. Fragen wir uns nun selbst, ob uns mit einem gesteigerten
Diesseits 'irgend wie gedient wäre, ob sich etwa ein Lohnarbeiter
das Leben nach dem Tode vorstellen möchte, als eine meilenlange
Garnmühle ? Oder können wir glauben, dass ein Londoner Cockney,
der jährlich nur wenigemal, manches Jahr gar keinmal, in das
Freie gelangt, das Jenseits sich vorstellen könnte als ein ver-
grössertes London ? Wir müssen also schliessen, dass das physische
Wohlbehagen auf den niedersten Gesittungsstufen viel grösser, der
Schätz ungs werth des Lebens viel geringer sei, dass der sogenannte Wilde
lieber auf das Dasein verzichtet, als die Lasten der Gesittung sich
zuzuziehen. Wäre die Heimath der alten Deutschen, wie sie Ta-
citus schildert, in Nordamerika gelegen gewesen, allem Vermuthen
nach wären sie nach der Entdeckung durch die Europäer dem
nämlichen Verhängniss verfallen, wie die Algonquinen oder die
Fünf Nationen. Der Uebergang von Jagderwerb zum strengen
Ackerbau muss durch mehrere Geschlechter sich langsam voll-
ziehen, sonst stellt sich der Racentod ein. Wir sehen daher, dass
in der neuen Welt diejenigen Eingebornen, welche schon einen
höheren Culturgrad erreicht hatten, wie die Bewohner Mexico's^
1) Charlevoix, Nouvelle France. Paris 1744. •tom. III. p. 352 — 353.
jcg Die Nabnings mittel und ihre Zubereitung.
Yucatans, Mittel amerika's, Ecuadors, Peru's und Chile's, nicht nur
nicht aussterben, sondern dass sie jetzt nach etwa 300 Jahren in
ihrer Heimath wieder die herrschenden Racen werden, freilich zu-
n^ichst mit einem Rüiischritt ihrer Gesittung.
Wenn wir Jät'erstämme mit schriftgelehrten Völkern vergleichen,
sollten wir eins nie vergessen. Wir alle sind Knechte der Ge-
sellschaft, mühsam abgerichtet von unsrer Jugend auf um den
Dienst eines RaJes im Räderwerke des bürgerlichen Lebens, oft
genug nur den einer Spindel oder Schraube zu vollziehen, Freiheit
allein geniesst der Botocude, der Australier, der Eskimo. Den
Verlust der natürlichen Freiheit fühlen wir nie, weil man nicht ver-
lieren kann, was man nie besessen hat. Damit man nicht in diesen
Worten den Ausbruch von Klagen um ein verlornes Paradies im
Geschmack von Georg Forster zu vernehmen glaube, wollen wir
gleich hinü u setze n , dass der Mensch der Culturstaaten andrerseits
eine Freiheit geniesst, um die ihn die farbigen Jäger wohl beneiden
dürften, nämlich seine geistige Freiheit, Man hat oft gefragt, ob
bei allen sogenannten Wilden religiöse Regungen gefunden werden.
Ein VÖlkerkundiger wird diese Frage nicht stellen. Er weiss, dass
mit der Annäherung an den Naturzustand immer mehr und mehr
geglaubt wird. Die Herrschaft des Unglaubwürdigen ist nirgends
stärker, als im Gemüthe des sogenannten Wilden und er zittert
durch das ganze Leben vor den Gebilden seiner eignen Imagina-
tion. So war unser Geschlecht vor die Wahl gestellt; Sklaven zu
werden innerhalb einer bürgerlichen Ordnung aber frei zu sein von
den Bedrängnissen der Einbildungskraft, oder alier geselligen Fes-
seln ledig, als einzige Freiherren Jagdreviere zu durchschreiten, aber
dafür eingeschüchtert zu werden von Jedem fratzenhaften Traum
und eine Beute zu bleiben der kindischen Gespensterfurcht.
2, Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung.
Ais man über die früheste Entwicklung des Menschenge-
schlechtes nachzudenken begann, galt es als selbstverständlich den
Schauplatz seiner ersten Ausbreitung dorthin zu verlegen, wo von
der Natur die Tagesnahrung freigebig jeder ausgestreckten Hand
■ dargeboten wurde. Nur zwischen den Wendekreisen fand man
diose Voraussetzung erfüllt und nicht anders als mit den Feder-
Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung. i^q
krönen von Palmen geschmückt, konnte man sich den gesegneten
Garten vorstellen, wo unsre Stammeltern mit Ernährungssorgen noch
nicht zu kämpfen hatten. Doch ist es noch heutigen Tages
kleinen Gemeinden vergönnt zu ernten, wo sie nicht gesäet, zu
pflücken, wo sie nicht gepflanzt haben. Im Gebiete der Sagopalme,
also in der Banda See finden Malayen und Papuanen immer Nah-
rungsvorräthe , die ihrer warten. Auf etlichen Korallengruppen
der Südsee und des indischen Oceanes bestehen die Mahlzeiten zu
jeder Tagesstunde und im Laufe des ganzen Jahres nur aus Co-
eosnüssen, höchstens dass der Fischfang gelegentlich eine Abwech-
selung gewährt. Unter den Palmen finden wir überhaupt die
willigsten Nährmütter des Menschen. Zu den Bäumen, welche die
Eingebornen des tropischen Südamerikas pflegen, gehört die Gui-
lelma speciosa^ welche die apricosen- oder eierpflaumenartigen Pu-
punhas trägt. Sie muss seit uralten Zeiten schon gezüchtet und
durch Edelreiser fortgepflanzt worden sein, da der ursprünglich
steinharte Samenkern entweder in Fasern zerschmolzen ist oder
sich gänzlich zu Fruchtfleisch aufgelöst hat^). Einem herrenlosen
Obstgarten gleichen die Wälder am Amazonenstrom, wo die bra-
silianische Kastanie (Beriholletia excelsa) ihre mandelähnlichen
Samen reift, der Cacao, die Ananas, der Breiapfel (Achras SapotaJ^
die Avagate fPerseß gratissima)^ sowie eine Anzahl beeren-, pflau-
men- und kirschenartiger Früchte wild wachsen, zu denen die Miriti
oderMoriche/^i^«r/'//'(ayff Jtrwöjoy denPalmwein und dieTageskost liefert.
Dort ist also der Tisch beständig gedeckt und für Abwechselung reich-
lich gesorgt*). Mehr als 200 orangengrosse sättigende Nüsse trägt
alljährlich in Mittelafrika der Dum- oder PfefFerkuchenbaum (Hy^
phaena thehaicaj ^ die einzige Palme, welche abtrünnig dem Fami-
lientypus ihren Stamm verzweigt 3). Neben ihr ernährt die Dattel
in den saharischen Oasen nicht bloss den» Reiter, sondern sogar
das Ross, das ihn trägt. Freilich ist sie nirgends mehr wild an-
zutreffen, erfordert sie doch sogar, damit die Ernte gesichert sei,
dass die Blüthen der männlichen Bäume mit denen der weiblichen
durch kundige Hand vermählt werden.
Von seiner Heimath auf den Molukken und Philippinen ist
1) Martins, Ethnographie I, 136.
2) Martins 1. c. S. 449—451. L. Gnmilla, Orinoco. cap. 9. p. 84.
3) Samuel Baker in Proceedings of the R. Geogr. Society 1866. p. 260.
l6o Bie Nahrungsmittel und ihre Zubeieitung.
der Brotfruchtbaum mit den Polynesiern über die Südsee vorgerückt.
Seine melonengrossen Früchte bringt er acht Monate des Jahres
hinter einandtr nur Reife, auch lassen sie sich, unter der Erde
aufbewahrt, nocli die andern vier Monate geniessbar erhalten').
Uebrigens ist das letztere gar nicht strenger Brauch, denn wie der
jüngere Pritchard') bemerkt, gelangen gerade in den sechs Mo-
naten, wo die Brotfrüchte zur Neige gehen oder fehlen, die Yams-
wurzeln zur Reite, welche letztere allerdings schon Ackerbau voraus-
setzen. Es genügen aber nach J. R. Forsters Berechnung 27 Brot-
fruchtbäume, die freilich auch einen enghschen Acker mit ihrem
Schatten bedecken würden, zur Ernährung von 10 — 12 Personen,
während der acht Monate ihres Fruchttragens J). Wüssten wir
endlich mit Sicherheit die ursprüngliche Heimath des Pisang an-
zugeben'), der dreimal im Jahre seine ya — 80 Pfund schweren
Trauben zur Reife bringt und der nach einer oft benützten Be-
rechnung A, V. Humboldts auf einem gleichen Flächenraum fünfzig
mal mehr Nahrungswerth liefert, als der Waizen, dann würden wir
am liebsten unter den malerisch zerfetzten Ruderblättern der Mu-
saceen die Voreltern unsres Geschlechtes auftreten lassen.
Doch gibt es auch ausserhalb der Tropen gesellig wachsende
Bäume, die essbare und leicht aufbewahrte Früchte für arbeits-
scheue Menschen herabschütteln. Zollhoch bedeckt sich der Boden
in den nord amerikanischen Mezquitewäldern mit den abgefallenen
Schoten, die nicht blos von Pferden und Maulthieren gierig ge-
fressen, sondern aus denen auch für den menschlichen Genuss
ein säuerliches Qelränk bereitet und deren Bohnen in Mexico ver-
mählen und zu Brod verbacken werden sollen*). Gewiss ist wenig-
stens, dass diese Samen der Algarrobia oder Prcsopis gtandulos:i
von den Mohavestämmen am westlichen Colorado, vorsichtig in
Korbe verpackt imd aufbewahrt werden um bei einem Miarathen
1) Charles Martins, von SpitzbeigcD zur Sahaia. Bd. 1. S. 33.
2) PolyncaiiiQ RcmiDiscenceii. Loodon 1866. p. 127.
3) Bem«tkuii£en auf einer Reise um die Welt Berlin 1783. S. 195.
^) GiihebAtli, Vegetation der Erde bezeichnet Bd. 3, S.16 mitR. Bro wn
Btitisch Indien als das Vaterland von Musa paradisiaca (Pisang) u.-M. sa-
pientium (Banane), hält eE aber für möglich, dass diese Gewächse schon vor
der Entdeckung Ametihas in diesen Weltlheil gelangt seien. Diese letztere
VermulitDDg muss freilich die Völkerkunde als völlig unbegründet verwerfen.
5) J. Froebel, Au5 Amerikj. Bd. 2. S. 446.
Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung. l6i
der beliebteren Früchte als Aushilfe zu dienen'). Aehnlich ge-
staltete Schoten, wie diese Acazie des trocknen westlichen Nord-
amerika bringt auf den Pampas der Laplatagebiete die Prosopis
horrida hervor. Ihre Früchte werden von den jetzigen Bewohnern
Johannisbrod (algarr6ba) genannt, äie ha|^n aber ausser dem Namen
nichts gemein mit den Schoten der südeuropäischen Ceratonia si-
Itqua, Zweimal im Jahre wurden von den Abiponen die Früchte
aufgelesen und entweder trocken genossen oder mit Wasser ver-
mengt durch Gährung in ein weinartiges Getränk verwandelt").
Gehören die bisher aufgezählten Nahrungsmittel vorzugsweise
den Ebenen an , so sind auch Gebirgsabhänge nicht gänzlich' leer
ausgegangen. In ^^n chilenischen Cordilleren tragen die Arau-
carien, welche dort unsere Nadelhölzer vertreten, in ihren menschen-
kopfgrossen kugeligen Früchten nicht weniger als 2 — 300 Nüsse,
doppelt so gross als eine Mandel und frisch geröstet vom Ge-
schmacke der Kastanien. Da 200 dieser Nüsse dem stärksten
Esser eine reichliche Tagesnahrung gewähren, so genügen ihm
18 Araucarien für einen Jahresunterhalt 3). . Wir brauchen aber
solche Beispiele nicht in den Anden von Antuco zu suchen, auch
die Pinienwälder Südeuropas könnten angeführt werden, ja selbst
in der Zirbel unsrer Hochgebirge, welche nicht gern und nur ver-
einzelt tiefer als 4000 F. herabsteigt, besitzen auch wir einen Nähr-
baum der Freiheit. Es sei uns an dieser Stelle verstattet, noch
daran zu erinnern, dass auf den Hochlanden Chile's die Kartoffel
wild gefunden worden ist und auf Montblanc-Höhe in Peru die
Kinoahirse (Chenopodium Quinoa) wächst, ohne deren Gegenwart
es gar nicht denkbar gewesen wäre, dass am Titicaca See eine
jedenfalls dichte Bevölkerung die berühmten, dem Sonnendienst
geweihten Tempel erbaut hätte.
Während noch immer vergeblich nach der Heimath unsrer
Getreidepflanzen gesucht wird, gibt es in seichten stehenden Ge-
wässern noch wild wachsende Körnerfrüchte, welche der Cultur sich
bisher entzogen haben. In Nordamerika sammelten und sammeln
noch jetzt die Eingebornen die Aehren der Surapfhirse (Zizania
1) Möllhausen, Tagebuch. S. 397.
2) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 74. S. 139.
3) Pöppig, Reisen. Bd. i. S. 400.
Peschel, Völkerkunde. IT
I
t
1^2 ^^ NAhningBinillel und ihre Zubereitung,
aquaiica)''). An den Weihern, Stauwassem und Igarapes (Neben-
armen) des brasilianischen Rio Negro wächst als Grasteppich der
wilde Reis (Oryza subnlalaj, dessen reife Körner der Ansiedier im
Vorüberfahren nur in seinen Kahn abzustreifen braucht'). Erst
kürzlich hat Georg Schweinfurth 3) eine andre Art Reis (Oryza
punclala) erwähnt, die zur Regenzeit in allen Teichen des Bongo-
landes im Gebiete des Oazellenflusses sich einstellt, von den dor-
tigen Negern zwar nicht gesammelt, wohl aber von den Baggara-
Arabern und in Darfur ais wohlschmeckendes Nahrungsmittel ge-
schätzt wird. Selbst die trocknen Ebenen der Kalahari in Sud-
afrika bringen eine Anzahl essbarer Wurzeln, Knollen, Bohnen,
saftige Früchte und die geniessbare, durch ihre Milch den Durst
stillende Maguli hervor*).
Die angegebnen licispiele erschöpfen die Zahl aller Nähr-
pflanzen der Wildniss keineswegs, sondern ein nachsichtiger Fach-
kenner wird im Stillen vieles zu ergänzen haben, mancher besser
Bewariderte sogar erstaunt sein, dass wichtige Erscheinungen tiber-
sehen wurden. Allein das Angeführte wird für den Zweck unsrer
Untersuchung völlig ausreichen. Auch sollte keineswegs bei der
Ijisherigen Aufzählung von Nahrungsmitteln der Gedanke vertreten
n-erden, als habe der Mensch auf seinen ältesten Entwicklungs-
stufen ausschliesslich das Pflanzenreich um Nahrung angesprochen
und sei wie Brahmanen und Buddhisten mit heiliger Scheu an der
Thierwelt vorübergegangen. Nur insofern mussten zuerst die Er-
zeugnisse der Gewächse erwähnt werden, als der Mensch seinem
GebisB und seinen Verdauungs Vorrichtungen nach auf vegetabilische
Kost angewiesen ist, so dass ihn nur der Hunger zur Aenderung
seiner Nahrungsweise getrieben haben möchte. Aber auch Thiere,
die nach den I-ehren der vergleichenden Anatomie unter die
Pflanzenfresser gehören, beobachten nicht streng die ihnen zu-
kommende Diät. Da die Affen der alten Welt im Zahnbau, wo-
rauf es hier zunächst ankommt, mit den Menschen völlig überein-
stimmen, so ist es für uns von Wichtigkeit, wenn auch bei ihnen
1) Der Acclimatisaüonsverein in Berlin hat sich seit 1S70 mit dem Anbau
des Indinnerreiscs, wie es scheint, mit Glück beschäfligt. Ausland 1872. S. 741.
2) V. Martius, Ethnogiaphie. Bd. I. S. 679.
i) Globus, Bd. XXn. S. 76.
4) Chapman, Travels inlo the Inteiior of South-Africa. London 1868.
Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung. 163
eine gleichsam regelwidrige Ernährung beobachtet wird. So pflücken
nach Otto Kerstens Schilderung') die Paviane Blätter und Blatt-
knospen, Blüthen und halbreife Früchte, graben Knollen und Wur-
zehi aus, stellen aber auch Thieren nach, die sie bewältigen können.
Sie drehen Steine um in der Erwartung auf der Rückseite Kerb-
thiere zu finden. Puppen von Ameisen und Schmetterlingen, Käfer-
larven, glatthäutige Raupen, Fliegen und Spinnen sind willkommene
Beute. Endlich gehören sie noch zu den schlimmsten Nesträubern,
verzehren Eier und Nestlinge aller nicht zu grosser Vögel, ja
fangen die flüggen Jungen oder greifen Mäuse um sie mit sicht-
lichem Behagen zu verspeisen. Nicht viel anders wie diese Be-
schreibung ostafrikanischerjp Hundsaffen klingt es , wenn Alfred
Lortsch von den Australiern bemerkt, sie verzehrten ausser den
Beutelthieren alle Vögel, selbst Aasgeier, Aale und Fische jeder
Art, Fledermäuse, darunter auch fliegende Hunde, Frösche, Ei-
dechsen, Schlangen und Würmer*). Einer ähnlichen Aufzählung
begegneten wir unlängst bei G. Schweinfurth, der von den Bongo-
oder Dornegern versichert, dass sie mit Ausnahme von Hund ur.d
Mensch kein thierisches Nahrungsmittel, auch nicht Ratten, Schlangen,
Aasgeier, Hyänen, fette Erdscorpione, geflügelte Termiten und
Kaupen sich entgehen lassen^). Wiederum berichtete kürzlich
•
F. Appun über die Indianer Britisch Guyana's: „Wild und
Fische bilden ihre Hauptnahrung]; doch verschmähen sie auch
Ratten, Aff'en, Alligatoren, Frösche, Würmer, Raupen, Ameisen,
Larven und Käfer nicht^)." Der Ekel vor irgend einer Kost beruht
nur auf Uebereinkommen oder auf dem „Grauen vor dem Un-
bekannten*^ Auch haben gesittete Europäer wenig Berechtigung
zu schaudern, dass Chinesen Schwalbennester und Trepang (Holo-
thurien) zu den besten Leckerbissen rechnen oder in Arabien die
Heuschreckenzüge wie ein gottgesendeter Fcstschmauss begrüsst
werden, da sie selbst weder vor den Verdauungsrückständen der
Schnepfen noch vor Hummern und Flusskrebsen zurückweichen,
welchen letzteren doch zur Reinigung ihrer W^assergcbiete das Ge-
schäft obliegt, gleichzeitig als Grab und Todtengräber zu dienen.
1) Reisen des Baron v. d. Decken in Ostafrika. Bd. I. S. 158,
2) Ausland 1866. S. 700.
3) Globus Bd. XXII. Xo. 5. S. 76.
4) Ausland. 1872. No. 27. S. 635.
if)^ Die Nflhningsniillel und ihre Zubereitung.
Wollen wir uns also ein Bild von der Ernährungsweise der
Urstämme unsres Geschlechtes vor der Erhebung zum Ackerbau,
ja vor dem IJetrieb der Jagd entwerfen, so dürfen wir nicht den-
ken, dass Pllan7.enkost allein den Hunger gestillt habe, sondern
dass vielmehr alles ergriffen wurde, was geniessbar erschien. Be-
geben wir uns zunächst an die See, so lassen sich dort von den
Watten oder vom Meeresgrund selbst nahrhafte Muscheln, sowie
Schnecken in ergiebiger Menge und zu jeder Jahreszeit auflesen.
Die Anhäufungen von Schalen und Gehäusen essbarer Weichthiere,
die sich bankartif; längs den Ufern der dänischen Inseln erstrecken
und den Archäolo^'en als Küchenabfälle (Kjökkenmöddingfr) wohl
bekannt sind, bestehen aus den Schalen von 4 Mollusken arten der
Ostsee, die in der Zeit der ungeglätteten bis zur Zeit der abge-
glätteten Steingerädie baltische Strombewohner ernährten '), Sobald
das Auge für solche Erscheinungen geschärft war, haben andre
Forscher ganz gleiche Muschelanhäufungen in Schottland, den
Vereinigten Staaten, in Brasilien und in Australien erkannt.
Erbeutung voi Fischen ohne Fischereigeräthe, also ohne Netze
oder Angelschnur gehört zum Alltagsleben in Kamtschatka. Fünf-
zehn Meilen im Innern dieser Halbinsel fand Kennan'j dir
schwachen Gewäster durch die Leiber von todten und faulenden
Lachsen verpestet. Solche Fische von 18 — 20 Zoll Länge sah er
in Bächen, die kaum ihre Rücken mit Wasser völlig bedeckten,
sich mühsam aufwärts winden, so dass sie mit Händen herausge-
hoben worden konnten. In Kambodia, wo Fischereigeräthe fehlten,
bemerkte Adolf Hastian^), dass die Elngebornen das Wasser des
Tasavai in einen Kanal leiteten, dann es abdämmten und wieder
ausschöpften, um die mittlerweile eingetretnen Fische mit den
Händen zu fangen. Ganz ähnlich verfuhr ein Chinese bei Calumpit
auf der Insel Luzon, den F. Jagor*) beobachtete. Mehr Ueber-
iegung und längere Naturbeobachtung setzt schon das Vergiften
von Fischwassern voraus, wie es vorzüglich in Südamerika betrieben
wird. Am ausführlichsten ist das Verfahren in Guayana von
F, Appan geschildert worden*), der übrigens bei den dortigen
1} S. oben. S. 44.
]) Teilt Life in Siberia. London 1871. p. loS,
3) Völker Oslasisns. Jena 1868. Bd. 4. S. 49.
4) Reisen in ilen Philippinen. Berlin 1873. S. 47.
5) Ausland 1870. S. 1139- ß. "S*".
Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung.
165
Indianern, wie in Cambodia, ebenfalls das Abdämmen und Aus-
schöpfen von Fischwassern anwenden sah.
Wie man sich längst gestanden haben wird, wäre es eine hoff-
nungslose Aufgabe, irgend emen Erdraum als denjenigen zu be-
zeichnen, der durch leichten Erwerb des Tagesbedarfs sich für die
Ileimath der frühesten, noch nicht durch Nachdenken und Uebung
erstarkten Stammeltern mehr als andre geeignet haben sollte, viel-
mehr war unser Planet an unzähligen Strecken beider Festlande
für den Empfang des Menschen vorbereitet. Dagegen können die
von uns verknüpften Thatsachen dazu dienen, uns von dem alten
Irrthum zu erlösen, dass die Ausbreitung unsres Geschlechts von
irgend einem Schöpfungsherd nach entlegenen Festlanden nur bei
reiferen Zuständen habe stattfinden können. An Nahrung hat es
wenigstens nirgends gefehlt, ja die örtlich wechselnde Fülle und
die ursprünglich engen Verbreitungsgebiete wohlschmeckender Ge-
nussmittel, die als etwas Neues von ausgeschwärmten Horden entdeckt
werden mussten, mögen viel dazu beigetragen haben, dass mensch-
liche Bewohner bis in die äussersten Winkel des Erdkreises gelockt
wurden. So weit Geschichte und Erforschung vorgeschichtlicher
Zeiten reichen, waren die Völker beständig auf der Wanderung
begriffen, ja das Verwachsen mit dem Boden gehört erst sehr vor-
gerückten gesellschaftlichen Zuständen an.
Nicht gänzlich darf an dieser Stelle eine Entartung des
Menschengeschlechts verschwiegen werden. Während es bei Thieren
selten vorkommt, dass- sie ihre eigene Art verzehren, stossen wir
auf die Anthropophagie fast in allen Welttheilen. Einige dieser
Fälle werden dadurch gemildert, dass der entsetzlichen Gewohnheit
nur der schlimme Wahn zu Grunde liegt, als könne man schätzens-
werthe Eigenschaften des Verzehrten in sich aufnehmen. Zur Zeit
des Taipingaufstandes traf ein englischer Kaufmann in Shanghai
seinen Diener auf der Strasse, der das Herz eines Rebellen nach
Hause trug und eingestand, es verzehren zu wollen, um seinen
.Muth zu stärken'). Bisweilen ist es nicht sinnliche Gier, sondern
Rachsucht, um dem erschlagnen Feinde die schimpflichste aller
Bestattungsarten zu bereiten. Manchmal wird die Gottheit selbst
zur Theilnahme herabgezogen, wenn auf das Menschenopfer der
^
,i
I) J. B. Tylor, Urgeschichte der Menschheit. S. 167.
l66 Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung.
empörende Menschen sc hinaus nachfolgt, wie im alten Mexico*).
Gänülith unzulässig ist es dagegen, die Menschenfresserei aus
einem physiologischen Zwang rechtfertigen zu wollen, als erfordere
unsre Leib es wohl fahrt dringend einen Wechsel zwischen Fleisch-
und Pflanzenkost, während doch in Indien mehr als hundert Mil-
lionen Bewohner sich ausschliesslich mit letzterer begnügen. Ge-
wöhnlich beruft man sich auf die Maori, welche in Neuseeland
kein vierfüssiges Landthier vorfanden und von einem unbezwing-
lichen Naturtrieb erfasst, zum Genuss von Menschenfleisch getrieben
worden wär^^n'). Allein die Anthropophagie ist allen andern Po-
Ij'aesiern gemeinsam. Sie ist auf den Marquesasinseln, der Hawai-
gruppe, Tahiti^) und anderwärts nachgewiesen worden, wo doch
überall Schweine und Hunde zur Fleisch erzeugung gezüchtet wur-
(ien, so dass sicherlich die Maori, ehe sie sich von den Geschwister-
slämmen trennten , schon mit dem grauenhaften Laster befleckt
waren. Dazu kommt, Uass von diesem Gräuel nicht einmal vieh-
zuchttreibende Völker, nämlich in Südafrika die Itnmithlanga , ein
Zulustamm, frei waren^) und er bei den ihnen nahe stehenden Basuto
erst von dem Häuptling Moichesch unterdrückt wurde*). Täuschung
wäre es ferner, diese Verworfenheit bei den sogenannten niederen
und minder zu rech nungsfiili igen Völkern zu suchen. Sind auch
die Australier nicht gänzlich rein zu sprechen*), so gehören sie doch
nicht unter die Gewohnhc.tscanibalen. Hottentotten und Busch-
männer sind unsres Wissi-ni noch nie verdächtigt worden, dagegen
1( PreBcoll, Conqucst of Mexico, lom. I. p. 78.
3) Das Gleiche konnte vor. den Bewohnern Rapi nui's der Osterinsel
gelten. Revue miritime et coloniale. Tome XXXV. Novbr. 1872. p. iiO,
3) Meinicke äussert (Zeilschr. für Etdkundu 1870. No. 19. S. 396) bei
Erwähnung der ThaUauhe, dass auf den wcsllichen Paumotu-Inseln die An-
thropophagie durch Tahitier unterdrückt worden sei, die Vermuthung, dass
lelilere nie jenes Lasier gekannt hätten. Uerland [Waitz, Anthropologie.
Bd. 6. S. 158! hal indessen mehrere Zeugnisse dafür beigebracht.
41 Waili, AnlhtupoloEic. Bd. 1, S. 352.
51 Casalis, Lcs Bassoulis. Paris 1851). p. II. p. 319- '^u Je" Höhlen-
canibalcn gehörten iwci Beläcliuanenhorden , die Ba-fukeng oder Ba-hukeng
und die Ma-kalla sowie zwei Kafirstämme, die Ba-makakana und die Ba-
maUapatlapa. Ihr Schlupfwinkel lag in der Nähe von Thaba-Bosigo bei den
yuellen des Caledonflusscs. Anthropological Review. April 1869. No, 25.
YOL Vn. p. 121— 1;8.
6) Pelermann's Miuhcilungen. 1870. S. 1+8.
Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung. 157
kann über die Anthropophagie derBotocuden kein Zweifel aufkommen.
Weit zahlreicher sind jedoch die Fälle, dass wir die grauenhafte Ge-
wohnheit gerade bei Völkern und Völkergruppen antreffen, die sich
durch Begabung und reifere gesellschaftliche Zustände vor ihren
Nachbarn auszeichnen, wie die Altmexicaner, deren schon gedacht
wurde. So sind auch sämmtliche Papuanen, also die Bewohner
Neu-Guineas mit seinem Zubehör an Inseln, der Salomonen, der
neuen Hebriden, Neu-Caledoniens und der Fidschigruppe Men-
schenfresser aus Lüsternheit und doch müssen wir sie als Race
geistig so hoch oder höher stellen als die Polynesier. Unter den
asiatischen Malayen sehen wir die Batta auf Sumatra so hoch ge-
stiegen, dass sie sich ein eignes Alphabet, wenn auch nach indi-
schen Mustern, erschufen*). Was ein holländischer Statthalter von
Padang dem Reisenden Bickmore*; über den angeblich späten
Ursprung des empörenden Lasters mittheilte, ist eine selbsterfundene
Sage der Batta, denn sie waren Anthropophagen bereits zu Nicolo
Conti's^), selbst schon zu Marco Polo's^) Zeiten, ja wenn die Insel
Ramni der alten arabischen Reiseberichte richtig als Sumatra er-
kannt worden ist, so würden schon vor tausend Jahren die Batta
die Würde des Menschengeschlechtes durch ihr Laster geschändet
habend). Im äquatorialen Afrika finden wir zwei eben so tief ge-
sunkene Stämme, nämlich an der Westküste die von Du Chaillu
zuerst und später von Burton beschriebenen Fan, die sich durch
ihre Eisenindustrie und einen höheren Grad von Intelligenz aus-
zeichnen^), so wie im Gebiete das Gazellen-Nils dip beträchtlich
über ihre Nachbarn an Cultur hervorragenden Niamniam oder
Sandeh, deren Anthropophagie uns nacheinander von Petherick
und Piaggia bestätigt worden ist. Endlich hat Georg Schweinfurth
1) Waitz, Anthropologie. Bd. 5. S. 114.
2) Reisen im ostindischen Archipel. Jena 1869. S. 340.
3) Seine Worte lauten nach dem «unzig richtigen Texte des Poggio den
Fr. Kunstmann neu herausgegeben hat (Indien im 15. Jahrhundert. München
1863. S. 40) In ejus itnuJae (nämlich Sumatra), quam dicunt Bathech parte
anthropophagi hahitant.
4) lib. III, cap. II.
5) Peschel, Gesch. d. Erdkunde. S. 107.
6) Winwood Reade (Savage Africa. London 1863. p. l6i) nennt die
Fan „eioen äusserst höflichen und liebenswürdigen Menschenstamm." Nach
Zucchelli (Missione di Congo XI, i. Venezia 171 2. p. 198) gehören
auch die Congoneger unter die Menschenfresser.
(
l68 *I^e Nahrungsmittel und ihre Zubereitung.
die erste Kunde von ihren südlichen Nachbarn am Uelle, den hell-
farbigen Monbuttu, nach Europa gebracht, deren Halbcultur neben
den Urzuständen der Nilbevölkerungen auf das höchste überraschen
muss und über deren Canibalenthum kein Zweifel übrig bleibt. Es
bestätigte sich auch bei ihnen eine alte Erfahrung, dass nämlich
der Genuss von Hundefleisch der erste Schritt zur Anthropophagie
/ und ihr Begleiter zu sein pflege '). Dass selbst Europäer in unserm
Jahrhundert vor Menschenfleisch nicht zurückschauderten, behauptet
H. Schaaff"hausen ^) , dem wir freilich überlassen müssen, die
Glaubwürdigkeit seiner Quelle zu vertreten. Bei der letzten' Be-
lagerung von Messina soll nämlich das Fleisch der gefangenen
Soldaten afuf der Giudecca verkauft worden sein und zwar das der
Schweizer um einen höheren Preis als das der Neapolitaner.
Aus der Summe dieser Thatsachen ergibt sich, dass mit Aus-
nahme der Papuanen und Polynesier die Anthropophagie nicht
über ganze Völkergruppen verbreitet ist, sondern nur sehr verein-
zelt in Afrika und in Amerika auftritt, in Asien beinahe gänzlich
fehlt, in Europa einer vmsichern Vorzeit angehört. Die Ansicht,
dass alle menschlichen Gesellschaften auf ihren roheren Stufen
dieses Laster einmal gekannt und überwunden haben sollten, lässt
sich daher nicht streng begründen, zumal neuerdings erkannt worden
ist, dass die Sagen von Menschenfressern sich von einem Volke
zum andern mit grosser Leichtigkeit verbreitet haben, so dass ihr
örtliches Vorkommen durchaus nicht eine Anthropophagie in der
Vorzeit andeutet. Auch wurde früher mit unberechtigter Hast
vorausgesetzt, dass, wo Menschenopfer im Gebrauche waren, ehe-
mals auch Menschenfleisch verzehrt worden sei, als habe man auf
die Altäre der Götter nur dasjenige gesteuert, dessen Genuss auch
den Darbringern schätzbar erschien. Mit den zahlreichen Menschen-
opfern in Khondistan war jedoch niemals Anthropophagie verknüpft. Sie
fielen der göttlich gedachten Erde, um die Gunst ergiebiger Ernten
zu gewinnen, wie man aus Campbell's ausführlichen Schilderungen
sich überzeugen kann. Die Opfer von Frauen und Hausgesinde
auf den Gräbern Verstorbener haben ebenfalls keinen Zusammen-
hang mit anthropophagen Gewohnheiten. So beruht die Ada oder
„grosse Sitte" in Dahöme ebenfalls auf dem Unsterblichkeitsglauben.
1) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1873. Bd. 5. S. 10.
2) Archiv für Anthropologie. Braunschweig 1870. Bd. 4. S. 247.
Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung. i6o
Am Grabe des Königs fallen dort Hunderte von Menschen dem
Wahne, dass ihre Geister als dienstbare Gehilfen dem Abgeschie-
denen nachfolgen oder ihm Botschaften über die jüngsten dies-
seitigen Begebenheiten ins Jenseits überbringen sollen^). Die Hindu
enthalten sich schon seit Jahrtausenden jeder Fleischnahrung und
dennoch haben sie sich ehemals bei den grossen Dschaggernauth-
festen, von religiöser Raserei ergriffen, zu Dutzenden unter die
Räder des grossen Götzenwagens geworfen, um sich selbst zum
Opfer zu bringen. Wenn also Abraham seinen Sohn auf den
Holzstoss bindet, so folgt daraus noch nicht, dass" die Hebräer
vor Abraham, oder wenn Plinius*) erwähnt, dass im Jahre 657 u, c.
in Rom ein Verbot der Menschenopfer erlassen worden war, dass
die Römer ehemals Canibalen gewesen sein müssten. Wir dürfen
vielmehr beruhigt annehmen, dass nur hin und wieder nicht blos
rohe-, sondern selbst hochgestiegene Menschenstämme der ent-
setzlichen Versuchung unterlagen und die Anthropophagie gewiss
* nicht zu den unerlässlichen Entwicklungskrankheiten unsres Ge-
schlechtes gehört habe.
Sehr schwierig ist es, den Einfluss der Ernährung auf die
Sittigung der einzelnen Völker nachzuweisen. Mit Zuversicht lässt
sich nur aussprechen, dass ungenügende oder ungeeignete Kost
stets eine physische und geistige Verkümmerung zur Folg© gehabt hat.
Auf den reichen Jagdgründen Australiens haben die Reisenden
nicht die dürren Missgestalten wie an der Westküste, sondern
rüstige und wohlgebildete Menschen angetroffen. Nur in den Wild-
nissen der Kalahari sind die Buschmänner klein und zu Gespenstern
abgemagert.
Was dagegen die Wahl der Kost betrifft, können wir nur
einen Satz wiederholen, der längst Gemeingut geworden ist. In
kalten Ländern werden kohlenstoffreiche Nahrungsmittel mit
grösserm Verlangen ergriffen werden, als in warmen. Der Polar-
kreis wäre für einen Hindu ohne Aenderung. seiner Speisevor-
schriften unbewohnbar, wie es andrerseits einem Eskimo schwer
fallen dürfte, nach Indien versetzt, Seehundsspeck roh in unaus-
sprechHchen Mengen zu verschlingen. Fügen wir noch die gewiss
treffende Bemerkung Moritz Wagners -5) hinzu, dass in Südasien,
I) Ausland. 1861. S. 407.
' 2) Hist. nat. XXX, 3—4.
3) Allgem. Zeitung. Beilage. 1871. S. 2887.
170 ^'E Nahrungsmittel und ihre Zubereitung.
J
sowie in Mittel- und Südamerika überall wo Fleischkost mangelt,
Leguminosenfrüchte stark verzehrt werden und wo Reis die Tages-
nahrung bildet, der Fischfang eifrig betrieben wird, so haben wir
' bereits erschüpft, was als sicher ermittelt betrachtet werden darf.
Streng erwiesen ist dagegen nicht, dass Korperstärke, physischer
Mutb oder \'erst an des schärfe bei Fasten kost nicht in gleichem
Maasse wie bei Fleischkost erwartet werden dürfen. Von allen
Polynesiern, die Bewohner einsamer Inseln abgerechnet, waren die
Rlaori Neu-Seelands die einzigen, welche weder Schweine noch
-Hunde mäsleten und wenn man nicht annehmen will, dass ihre
gelegentlichen Mahlzeiten von Menschenfleisch diesen Hangel er-
setzt haben könnten, so muss man zugeben, dass sie bei ihrer
Fisch- und Wurzelkost der kräftigste, muthigste, streitbarste und in
gesellschaftlichen Künsten am weitesten gestiegene Stamm ihres
\ ölkerkreiaes geworden sind.
Gewiss hat schon ein jeder von uns einmal die Wirkungen
alcoholischer uad narcotischer Genussmitte] an sicli erfahren und
vielleicht bemi.-rkt, dass ein massiger Genuss von Wein uns über
unser prosaisches Werkeltags-lch zu erheben vermag. Noch mäch-
tiger ist bei Vielen die Anregung durch Thee oder Kaffee, Sobald
wir uns durch sie gestärkt fühlen, ist es, als ob wir heller zu sehen
und scliärfer zu schüessen vermöchten, Gedanken, welche vorher
eifrig aber erfolglos gesucht wurden, eilen nun in raschem Fluge
herbei und neuen Wahrheiten scheinen wir bis zum Erfassen nahe
gerückt. SfclJtjn nicht also die Bewegungen, die wir in unsem
Denk Vorrichtungen hervorrufen, durch die narkotischen Gcnussmittel
beschleunigt oder ihre Schwingungsweite vergrösscrt werden? Und
sollten nicht auch die geistigen Fortschritte innerhalb der mensch-
lichen Gesellschaft seit Entdeckung dieser Zaubertränke merklich
raschere geworden sein ?
Lassen wir uns die Irrfahrten l'homas Buckle's als Warnung
dienen, der vun solchen Trugbildern verlockt, aus den chemischen
Bestandthcilen der Nahrung die geschichtlichen Verhängnisse von
Culturvülliern des höchsten Ranges erklären zu können, sich und
einer gern getäuschten Menge vorspiegelte. Die Geschwindigkeit
der geistigen Fortschritte in unsem Tagen ist zunächst nur den
Einrichtungen der modernen Gesellschaft zuzuschreiben, die der
Wissenschaft unendlich mehr Jünger und alle viel besser vorbereitet
als früher zuführt. Die grössten Erfindungen des Menschen, Bilder-
Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung.
und Lautschrift, die Theilung der Zeit, Maasse und Gewichte,
Stellenwerth der Zahlen sind älter als die Kenntniss der narco-
tischen Genussmittel und nur dem Wein könnten wir daran ein*
Verdienst zuschreiben. Der mosaische Gottesgedanke, der zoro-
astrische Dualismus, Christenthum und Islam, indische Sagenwelten
und Philosophien sind sämmtlich ohne narkotische Nachhilfe ans
Licht getreten. Der Thee war dem erfindungsreichen alten China,
also dem China der drei ersten Dynastien nicht, bekannt. Coper-
nikus hat sein System erdacht , Galilei es begründet und Kepler
es durch s'eine Gesetze bewiesen, ohne dass sie je den Kaffee
auch nur dem Namen nach gekannt hätten. Es ist daher wohl
vorsichtiger, das dunkle Gebiet der Forschung über die Erregbar-
keit unsres Denkvermögens durch geniessbare Reizmittel nicht zu
betreten.
Nicht minder wichtig als die Nahrung ist ihre Zubereitung.
Der Genuss rohen Fleisches und Speckes kommt ausnahmsweise
allenthalben, als Gewohnheit nur bei den Eskimo vor. Sonst wird
die Aschengluth oder ein hölzerner Bratspiess gewöhnlich zum
Rösten verwendet. Als Trihkgefässe dienen meistens die Rinden-
gehäuse melonenartiger Früchte, die Schalen der Nüsse oder ge-
egentlich den Buschmännern die Eier südafrikanischer Strausse.
Ihre Nachbarn, die Betschuanen und Kafirn flechten Körbe so
dicht, dass sich Flüssigkeiten darin aufbewahren lassen*). Hölzerne
Gefässe dienten aber schlecht dazu , Wasser ins Sieden zu ver-
setzen und doch half sich der menschliche Scharfsinn dadurch,
dass Steine bis zum Glühen erhitzt und dann in das Wasser des
Holzgefässes geschüttet wurden. Auf diese Weise ist das Kochen
zuerst betrieben worden. Noch einfacher ist das Verfahren eines
Stammes der Rothhäute im Norden der Prärien. Sie gruben eine
Höhlung in die Erde, kleideten sie mit dem Felle des erlegten
Wildes aus, gössen Wasser darauf und erhitzten dieses mit glühen-
den Steinen. Deshalb nannten die Odschibbewäer diese Stämme
Assinniboin oder Steinkocher*). Seitdem sie der Handel mit Thon-
geschirren und Kesseln versehen hat, wird die alferthümliche Zu-
lereituTi^ des Fleisches nur bei festlichen Gelegenheiten noch an-
-^1
-t.
1) Gas aus, Les Bassoutos. Paris 1859. p. 145. I. G. Wood, NatuAl
History of man. Africa. London 1868. p. 63.
2) Catlin, Indianer Nordamerikas. Leipzig 1851. S. 38.
172 Die Nahrungsmidel und ihre Zubereilung.
gewendet'). Jenseits der Fdsengebirge bedienen sich die Aht der
Vancouverinsel *), sowie die Tschinuk in Oregon erhitzter Steine und
Holzgefässe beim Kochen-') und die nordlicher sitzenden Koloschen
verwenden sogar, wenn es gilt, grössere Fische zu sieden, ihre
Kähne als Geschirr, Auch die Kamtschadalen kochen in ihren
hölzernen Trogen mit glühenden Steinen'). Selbst in Europa hatte
sich noch bis 1732, wie Linnö berichtet, das Kochen mit Steinen
als Rest einer grauen Vorzeit im finnischen Ostbotlande erhalten*).
Wie 1'ylor ermittelt hat, wurden in Irland noch um 1600 glühende
Steine num Erwärmen von Milch benutzt und auf den Hebriden
wurde im 16. Jahrhundert das Fleisch noch in der Haut des
Thieres gekocht^). Dieses letztere Verfahren war zu Herodots
Zeit in den hclzarmen südrussischen Steppen im Gebrauche, Seine
Skythen benuttten die Knochen als Brennstoff und die Haut des
Thieres als Gefäss, welches das Fleisch und Wasser beim Kochen
aufnahm'). Die Polynesier, welche keine Thongeschirre besassen,
bereiteten ihre Nahrung in Erdgruben, die, mit Blättern ausgefüllt,
Fleisch oder Pflanzenkost samt den glühenden Steinen aufnahmen,
dann wieder mit Blättern zugedeckt und mit Erde überschüttet
wurden. Wenn daher von einem Volke gesagt wird, dass es
mit Steinen koche oder 'dass ihm Thongeschirre fehlen-, so er-
halten wir eine klare Vorstellung von der Zubereitung seiner Kost.
Zur Erfindung der Thongeschirre können die Menschen der
Vorzeit auf verschiednen Wegen gelangt sein. Sir John Lubbock
erinnert nämlich daran, dass Capt. Cook auf Unalaachka bei den
Aleuten Steine sah, die mit einem Lehmrand umgeben waren,
doch könnte dies auch als eine Nachahmung von europäischen
Geschirren betrachtet werden, mit weichen letzteren jene Inselbe-
wohner durch russische Seefahrer damals schon bekannt geworden
I) Auch diu FalagonieT verfahren bei ihren Jagdiügen noch auf die
gleiche Weise, wenn sie auch daheim sich eiserner Töpfe bedienen, Musters
im Journal of ihe Anlhropol. Institute. London 1872, fom. 1. p. 199.
3) Ausltnd jS6S. S. 6SS.
3) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 336.
4) G. W. Sleller, Kamtschatka. Frankfurt 1774. S. 322.
• s) LinnEus bei Tylor, Urgeschichte. S. 341.
61 Tylor, Anfange der Cultur. Bd. I. S. 45.
7} Herod. üb. IV. 61.
Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung. 173
^aren. Auch dass die Australier am untern Murray Erdaushöh-
lungen mit Thon ausstreichen und darin Speisen kochen, hätte
vielleicht einen erfinderischen Kopf auf die Verfertigung von Ge-
schirren führen können. Besser erklärt uns den Vorgang jedoch der
Bericht des französischen Seefahrers Gonneville, der in dem Jahre
1504 an einer südatlantischen Küste, wahrscheinlich in Brasilien,
landete*) und bei den Eingebornen, in welchen H. d'Avezac bra-
silianische Carijö zu erkennen glaubt, hölzerne Kochgeschirre be-
schreibt, die zum Schutze gegen das Feuer mit einer Lehmschicht
umkleidet waren ^). Löste sich durph Zufall die Holzschale von
der irdenen Umkleidung ab, so blieb ein Thongeschirr übrig. Bei
Untersuchung einer alten Töpferwerkstatt der Rothhäute am Ca-
hokia, der unterhalb St. Louis in den Mississippi mündet, entdeckte
Carl Rau halbfertige Gefasse, nämlich Körbe aus Binsen oder
Weiden, die innerlich mit Thon ausgestrichen waren. Wurde das
Geschirr gebrannt, so verzehrte das Feuer von selbst das ausser-
liehe Gehäuse. In den südlichen Staaten der Union hat man an
halbfertigen Gelassen wieder wahrgenommen, dass nicht Geflechte,
sondern Kürbisschaleri innerlich mit Thon ausgekleidet wurden^).
Die Töpferkunst ist daher in Amerika selbständig erfunden worden
und ebenso in der alten Welt ah einem für uns unbekannten
Culturheerd. Sie hatte sich von ihm aus aber nicht bis in den
äussersten Nordosten Asiens und nicht über die Beringstrasse ver-
breitet, wohl aber durch ganz Afrika, mit einziger Ausnahme des
Buschmännergebietes. Dass nun auch die Europäer der Vorzeit
ursprünglich Korbgeflechte mit Thon auskleideten, lassen die Ge-
schirre der Steinzeit an ihren Verzierungen wahrnehmen, die nur
aus Reihen von Nägeleindrücken bestehen, als sollten sie die hinter-
lassnen Spuren des Korbgeflechtes vertreten*). Als nämlich ein
verwegner Kopf anfing, aus freier Hand den Thon zu formen, mag
sein irdnes Geschirr als nicht echt, oder von angeblich minderer
Güte verschmäht worden sein, weil ihm der alterthümliche Ursprung
fehlte, und so erlaubte er sich wohl zur Beruhigung der vermeint-
lichen Besorgnisse, die Rutheneindrückc mit dem Nagel zu falschen.
i) Pierre Margry, Les navigations fran9aises. Paris 1867. p. 167.
2) d'Avezac, Voyage du Capitaine de Gonneville. Paris 1869. p. 97.
3) Carl Rau im Archiv für Anthropologie. Bd. 3. S. 24.
4) G. Klemm, Allgemeine Culturgeschichte. Leipzig 1843. Bd. i. S. 188.
174 ^'^ Nahriingsinittel und ihre Zubereilung.
In Südamerika bedienen sich der Thongeschirre selbst die Boto-
cuden, überhaupt alle Eingebornen bis auf einige Horden in den
Pampas'). Sie fehlen auch nicht den Papuanen, wohl aber, um
es zu wiederholen den Polynesiern und Australiern.
Zum Zerlegen des Fleisches in grössere Stücke bedienten sich
alle Menschenstämme ihrer schneidenden Werkzeuge, rohe Völker
gewöhnlich mit anatomischer Meisterschaft. Die Gabeln die, wie
wir später sehen werden, noch vor wenigen Jahrhunderten selbst
in Nordeuropa mangelten"), hat man nur bei reifen Culturvolkern
und ausserdem bei papuanischen Fidschiinsulanern angetroffen^).
Das erste Vorbild zum Loflel gab die Muschel, die noch jetzt an
der atlantischen Küste Maroccos seine Dienste verrichten muss').
Am weissen Nil essen die Bari-Neger ihren Mehlbrei mit Holz-
löffeln und die Kitschneger mit Flussmuschelschaten^). In Süd-
afrika verfertigen die Hottentotten ihre Löffel aus Perlmutter oder
aus Schildpat"; und bei Hantunegern schnitzen Künstler diese Ge-
räthe aus Holz und schmücken sie mit Thierliguren'). Endlich
sind Essstähchen, nach chinesischer Art, und Kochlöffel bei den
Papuanen Neuguineas in Gebrauch*),
Alexander v, Humboldt bemerkt in Bezug auf die rohen Ein-
gebornen Südamerikas, dass sie' auf einerlei Pflanzenkost beschränkt,
wie die Raupen, bei Ucbersiedlung schwer an andre Nahrung sich
gewöhnen und meistens erkranken. Der Jahreszeitenwechsel in
den gemilderten Erdvicrteln, fährt er fort, reizte den Menschen
auf verschiedene Art und zwang ihn Verschiedncs verdauen zu
lernen, zugleich erwarb er aber auch dadurch grössere Freiheit in
der Wahl seiner Wohnorte^). Die Zubereitung der Nahrungsmittel
j] d'Orhicny. l'njiiime amfirieain. p, ')S.
2) Lieber den Gebrauch der Gabeln in Europa JBl noch vieles dunkel.
Wie Tylor belebt hat, waren Gabeln ia Riiysbraek's Zeilen |i2;jl sowohl
im Abendlande wie bei den Mongolen schon im GebTiiuch. Urgeschiclite, S. 22.
3) Williims, Fiji, tom. I. p, 212.
4I G erhard Ruhlf^, liistct Aufenthalt in Marokko, Bremen 1873. S. 75.
5) W. V. Harnicr'B Reise am obern Nil. S. +9-
6) Kolben's Reise an das Vorpeb. d. G. Hofftiung. S. 456.
7) Casnlis, Les Bassoutos. Paris l8)(j, p. I47-
S) Otto Finsch, Xeu.Guinea. Bremen 1865. S. 100 und Nieuw Guinea,
elhnoEiaphisch en naiuurkuiidig onderzochl, uilEegcvcn door het kon. Institut
vQor taal-, land- en voikenkunde. Amsterdam 1862. Tafel VV. lig. 2.
9) Hiinilüchriflen. Bd. IIT. UiRene Gedanken, g. 10. S, 30,
Die Nahrungsmittel und ihre Zubereitung. lyc
gewinnt dadurch für die Völkerkunde ein höheres Gewicht und wir
freuen uns über die Angabe, dass auf der Freundschaftsinsel Tonga-
tabu aus den wenigen Nahrungspflanzen doch 40 verschiedne Ge-
richte durch kunstvollen Wechsel der Zubereitung ersonnen worden
waren *). Künftige Beobachter sollten . immer genau aufzeichnen,
ob auch die Einwohner ihre Nahrungsmittel salzen. Diess geschieht
beispielsweise weder von den Papuanen^) noch von vielen Malayen-
völkern«*) und ebenso in Südafrika nicht von den Hottentotten^).
In den Negerreichen des Sudan fehlt es an Steinsalz, aber aus
der Sahara wird es von den Karawanen zugeführt und die Neger
zwischen Gambia und Niger saugen an Salzstücken mit gleicher
Begier, wie unsre Kinder an Süssigkeiten. Von reichen Leuten
sagt man dort, sie essen Salz zur Mahlzeit 5). Der Missionär
Zucchelli beschreibt an der Küste von Congo das Verfahren der
Eingebornen Seewasser abzudampfen, doch sind wir nicht sicher,
ob diese Erwerbsart' des Salzes schon vor der Niederlassung von
Portugiesen dort in Gebrauch war^). In Südamerika haben die
brasilianischen Küsten^ölker erst durch europäisches Beispiel das
neue Genussmittel sich angeeignet und seinen Werth rasch be-
griffen. Die Patagonier verzehren viel Salz, welches sie ohne Mühe
aus den natürlichen Salzweihern ihrer Heimath erwerben 7). Schon
zur Zeit der Entdeckung diente aber bei den Küstenbevölkerungen
am caribischen Golfe Salz in Ziegelform, wie es aus natürlichen
Pfannen an der Halbinsel Araya gewonnen wurde, im Verkehr als
Geld^). Am Orinoco musste salpeterreiche Pflanzenasche das fehlende
Salz ersetzen 9). P. Charlevoix bemerkt ausdrücklich, dass die von ihm
besuchten Algonkinen und Irokesenvölker ihre Kost nicht zu salzen
pflegten'^). Dagegen wurden die Indianer der heutigen Südstaaten
1) Quatrefages, Rapport, p. 390.
2) Otto Finsch, Ncu-Guinea. S. 69. S. 81. S. 100.
3) Waitz, Anthropologie. Bd. 5. S. 129.
4) Kolbe a. a. O. S. 491.
5) Mungo Park, Reisen ins Innere Afrikas. Berlin 1799. S. 250.
6) Zucchelli, Relazioni del viaggio e Missione di Congo. Venezia 1712
xni, 15. p. 136.
7) Musters in Journal of the Anthrop. Institute, I, 199.
8) Petrus Martyr, De orbe novo. Dec. I. cap. 8.
9) Gumilla, El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. I, cap. 20. p. 209.
10) Nouvelle France, tom. III, p. 364.
j-fg Bekleidung und Obdach.
in Nordamerika wahrend de Soto's abenteuerlichen Kriegszügen
von einheimischen Kaufleuten mit Saiz aus der Landschaft Cayas
versorgt").
3. Bekleidung und Obdach.
Wo europäische .Secfahrei' an frisch entdeckten Küsten die
Bewohner in nacktem Zustande gewahrten, waren sie gleich bereit
diese, auf die niedrigste Stufe menschhcher Entwicklung zu stellen.
Eine Verhüllung der kurperlichen Blossen, als erster Schritt zur
Erhebung aus der sogenannten Wildheit, wird übrigens nicht blos
von den hochgesitteten Vi'dkern gefordert. Von einem Schamanen
oder Priester aus Somosomo, also einem Fidschi Insulaner, der sich
wie seine Landsleute mit dem Masi oder^ einem dürftigen Hüften-
schurz begnügte, erzählt der Missionär Williams er habe bei einer
Schilderung der nackten Keu-Caledonier und ihrer Götzen, ver-
ächtlich ausgerufen : „nicht im Besitz eines Masi und wollen Götter
haben!" je vertrauter wir aber mit fremden Sitten durch gründ-
liche Forschungen geworden sind, desto häufiger ergab sich, dass
Nacktheit und Sittsarakeit sich durchaus nicht ausschliessen und
vor allen Dingen, dass bei verschiednen Völkern das Schamgefühl
bald diesen bald jenen Körpertheil zu verhüllen gebietet. Wenn
ein frommer Muslim aus b'erghana unsern Bällen beiwohnen, die
Entblössungen unserer trauen und Töchter, die halben Um-
armungen bei unsern kundtanze wahrnähme, so würde er im
Stillen nur die Langmuth Aüah's bewundern, der nicht schon längst
über dieses sündhafte und schamlose Geschlecht Schwefelgluthen
habe herabregnen lassen. Gleichwohl war vor dem Auftreten des
Propheten die Verschleierung der Frauen im Morgenlande nicht
gebräuchlich. Im königlichen Harem von Maskat erregte die Gräfin
Pauline Nostiz die Verlegenheit fürstlicher Damen, weil sie ohne
Drahtmaske sich ihnen näherte. Nicht einmal' die Mutter sieht
dort nach dem zwölften Jahre ihre Tochter mit unbedecktem Ge-
sicht, dagegen lassen die durchsichtigen Gewänder Leib und
Glieder deutlich erkennen 'l. Frauen die bei Basra am Euphrat
1) Carl Rau im Archiv für Anthropologie. Bd. 5. Brannschw. 1871. S. 8.
2) Joh. VVilh. Helfern Reisen in Vorderasien und Indien. Leipzig
'873. Bd. 2. S. 10— ij.
Bekleidung und Obdach. 177
und in einem Bade Constantinopels von Männern überrascht
wurden, bedeckten, wie der ehrwürdige Carpte« Niebuhr anführt,
*
nur das Gesicht'). Ebenso entblossen sich in Aegypten Fellah-
frauen vor Männern ohne" Scheu, wenn nur das Antlitz verhüllt
bleibt*). „Die Araberin", sagt Georg Ebers, „wird Fuss, Bein und
Busen ohne Verlegenheit sehen lassen, dagegen gilt die Ent-
blössung des Hinterhauptes für noch unanständiger als die des
Gesichtes, welches letztere jede ehrbare Frau sorgsam verbirgt^)."
Aehnlich dachte man in den ältesten Christengemeinden, denn der
Apostel befiehlt den Frauen bei Andachtsübungen das Haupthaar
zu verhüllen '^). Seltsamerweise tragen auch die Hottentottenfrauen
stets ein Tuch als Haube auf dem Kopfe und manche lassen sich
durch nichts bewegen, es zu entfernen *). Bei Völkern- der ma-
layischen Race stellt das Schamgefühl wieder eine andere For-
derung. Der Reisende Jagor erzählte dem Verfasser, dass, als er
auf der Philippineninsel Samar ein kleines nacktes Mädchen zeich-
nete, die Mutter scheltend dazwischen fuhr und das Kind nöthigte
ein Hemd anzilziehen, welches freilich nach unsern Anstands-
begriffen ebensogut hätte wegbleiben können^). Dennoch verhüllte
es das Nöthigste nach den Landessitten, nämlich den Nabel. Auch
bei den Bewohnern der Schifferinseln gilt es als höchste Beschä-
mung, wenn diese Körperstelle sichtbar wird^). Für eine grosse
Frechheit wird es in China angesehen, dass eine Frau einem Manne
ihren künstlich verkümmerten Fuss zeige, gilt es doch sogar für
unschicklich von ihm zu sprechen und bleibt er auch auf züch-
tigen Gemälden immer unter dem Kleide versteckt s). Longobar-
dische Frauen hielten sich ebenfalls für tödtlich beschimpft, wenn
Männer ihre Füsse bis zu den Knien sahen 9). Zu diesen wunder-
i) Reisebeschreibung nach Arabien. Kopenhagen 1774. Bd. i. S. 165.
2) Waitz, Anthropologie. Bd. i. S. 359.
3) Durch Gosen zum Sinai. Leipzig 1873. S. 45.
4) I. Corinther ii, 5—6.
5) F ritsch, Eingeborne Südafrikas. S. 311.
6) S. d. Abbildung der Kleinen in Ja gor 's Reisen in den Philippinen.
S. 192.
7) Waitz, Anthropologie. Bd. i. S. 359.
8) Wilh. Stricker im Archiv für Anthropologie. Bd. 4. Braunschweig
1870. S. 243.
9) Chron. Salernit. cap. 76. bei Pertz, Monumenta. Hannover 1839,
tom. V. fol. 505.
Pesc/icl, Völkerkunde. 12
irg Bckicidiini; Und Obdach.
liehen Sprüngen des Schamgefühls gesellt sich noch der Wider-
spruch, dass wir Entblüssungen als Zeichen der Ehrerbietung for-
dern. So ziehen wir den Hut zum Griisse auf der Strasse, in der
Kirche, überhaupt in jedem bedeckten Räume. Die britischen Be-
amten in Indien wiederum fordern aufs strengste von jedem Ein-
gebornen, welcher Kaste er auch angehöre, dass er ihre Amtszimmer
nur nach Ablegung seiner Schuhe bettete.
Brauch und Sitte entscheiden also über Verstattetes und An-
stössiges, und erst nachdem sich eine Ansicht befestigt hat, wird
irgend ein Verstoss zu einer verwerflichen Handlung. Das Scham-
gefühl hat sich noch gar nicht geregt, es herrscht also Nacktheit
beider Geschlechter bei den Australiern, bei den Andamanen, bei
etlichen Stämmen am weissen Nil, bei den rothen Negern des
Sudan und bei den Buschmännern. Auch die Guanchen oder die
alten Bewohner der Canarien, wenigstens die von Gomera und
Palma gehören auf diese Liste'). Als gänzlich nackt werden von
den ersten spanischen Entdeckern die Bewohner der Bahamainseln,
der kleinen Antillen und eine Anzahl von Küstenstämmen des
heutigen Venezuela und Guayana bezeichnet, denen vielfach mit
Unrecht der Name Cariben beigelegt wird. Zu Eschwege's und
Manius' Zeiten war die Zahl der nackten Brasilianer wie der Puris,
l'acachos, Coroados viel grösser als gegenwärtig, wo nur noch die
Botocuden keine Bekleidung an!,'e!egt haben '}.
Durchaus irrig würe die Annahme, dass sich das Schamgefühl
irüber beim weiblichen Geschlechte rege als beim männlichen, denn
die Zahl solcher Menschenstämme, bei denen die Männer allein
sich bekleiden , ist nicht unbeträchtlich. Am Orinoco versicherten
Missionäre unserm A, v. Humboldt^), dass die Weiber weit weniger
Scliamijcfühl zeigten als die Münner, Bei den Obbo Negern, öst-
lich von dem Ausflusse des grossen Baker'schen Nilsees, besteht
die Bedeckung der Frauen in einem Laubbüschel, während die
Männer einen Fellachurz trajjen'). In dem merkwürdigen
Staate der Monbuttuneger am Helle bedeckten sich die Männer
1) Kunstnuiiiii, Anika vor iIcq Entdeckungen der Forlugiesen. Mün-
chen lHs3, S. 4(j.
2) Uclier die heutige Bekkidung der, Curoados s. Burmeisler, Rcipe
nach Br..silicn. Bertin 185]. S. 246,
31 Reisen in die Acijuino:;tialgegeQden, Stuttgart 1860. Ed. j. S, 95.
4 üikrjr, Albe« Nyania, Bd. 1. S. 273.
:
Bekleidung und Obdach. l^o
mit einem Gewand aus Baumrinde, das von der Brust bis auf die
Kniee reicht, ihre Frauen dagegen befestigen blos ein handgrosses
Stück Bananenlaub an der Lendenschnur*). Ausserordentliche
Strenge in Bezug auf sittsame Kleidung fand Speke am Hofe
Mtesa's des Königs von Uganda. Waren auch die Besorgnisse
seines Freundes Rumanika unbegründet, dass man ihm und Grant
das Betreten jenes Landes verweigern werde, weil beide nur Bein-
kleider trügen, nicht lange fliessende Gewänder, wie die Araber,
so ergab sich doch später, dass der König mit dem Tode jeden
Mann bestrafte, der in seiner Gegenwart auch nur ein Zollbreit
seines Beines unbedeckt Hess, während doch gleichzeitig völlig nackte
Frauen Kammerdienste verrichten mussten^). Der arabische Rei-
sende Ibn Batuta versichert , dass sich dem König des Mandingo-
reiches von Melli Frauen, selbst Prinzessinnen nur unbekleidet
nahen durften^). In Südafrika empfing die Königin der Balonda-
neger Livingstone im Zustande völliger Nacktheit und nicht anders
erscheinen die Frauen der benachbarten Kissamaneger bei Fest-
lichkeiten'^). Bei halbgekleideten Menschenstämmen wird gewöhn-
lich die Bedeckung erst mit der Altersreife angelegt und es ist
ein Ausnahmsfall, der überdies noch einer Bestätigung bedarf, dass
bei Australierinnen die EntblÖssung der Frauen erst nach der Ehe
stattfinden solle 5).
Hellfarbige Völker empfinden viel lebhafter als dunkle das
Bedürfniss einer Umhüllung. Die Afrikaner sind sich auch der
Vorzüge ihrer dunklen Hautfarbe recht wohl bewusst^). Wir er-
innern uns bei Adolf Bastian gelesen zu haben, dass ihm beim
Baden neben braunen Asiaten, seine weisse Haut als etwas krank-
haftes erschienen sei, und als geschähe durch sie der Schönheit
Abbruch, Genau so äussert Hr. v. Maltzan: „die Nacktheit steht
bei der schwarzen Haut immer gut, bei hellhäutigen Menschen
kam sie mir stets widerwärtig vor 7)." In gleichem Sinne schildert
1) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1873. Bd. 5. S. 16.
2) Speke, Entdeckung der Nilquellen. Bd. i. S. 262. S. 283. S. 284.
S. 293.
3) Voyages d'Ibn Batoutah. Paris 1858. tora. IV. p. 418-
4) Livingstone, Missionsreisen. Bd. i. S. 315. Hamilton im Journ. of
the Anthropol. Institute, tom. I. S. 189.
5) Dumontd*Urville, Voyage de TAstrolabe. Paris 1830. tom. I. p. 47 '•
6) Darwin, Abstammung des Menschen. Bd. 2. S. 303 — 304.
7) Globus 1872. Bd. 21. S. 26.
12*
igQ Eekleutung und Obdach.
F. Jagor uns seinen Kutscher in Singapur, einen schwarzen Kling
von der indssclien Koromantlelküste, der 'nur' mit Turban und
Lemlentuch bckli;idct war, mit dem bedeutsamen Zusatz: „er sah
nicht unanständig aus, da die dunkle Farl>e den Eindruck des
Nackten fast aufhebt')." Bei der Mehrzahl der Indianer Amerikas
wird die Kleidung durch Hautmalerei ersetzt. Wo diess der Fali
ist, regt sich das Schamgefühl bei Frauen und Männern, wenn sie
unbemalt eiblickt werden. * A. v. Humboldt, dem wir diese Be-
merkung verdanken , füjft hinzu, liass man am Orinoco die grösste
Dürftigkeit mit den Worten ausdrücke: ,,der Mensch ist so elend,
dass er seinen Leib uiclit einmal zur Hälfte ' bemalen kann"').
Einen andren Ersatz für die Bekleidung gewährt die Tätowirung,
die entweder durch Einspritzung bunter Farbstoffe unter die Haut
besteht oder die durch künstliche Narbenbildung erhabne Zeich-
nungen auf dem Leib hervorruft. Dass sie wirklich bis zu einem
hohen Grade" den Eindruck der Nacktheit aufhebt, werden alle
bezeugen, welche den völlig tätowirten Albanesen zu sehen Ge-
legenheit hatten. Die Tätowirung ist mit Ausnahme Europas noch
jetzt in allen Welttheiien anzutreffen. Auf den Südseeinsdn dient
sie nicht blos zur Verzierung, sondern hat auch da, wo sie sich
über verhüllte Korperräume erstreckt und wo die einyeätzten Zeich-
nungen Sinnbilder von Gottheiten vorstellen, eine religiöse Be-
deutung.
Dass die Bekleidung oft nur zur Zier oder zum Schutz gegen
Kälte getragen wird, aeigt sich an den gut verhüllten Maorjs
Neuseelands, die von Scham haftigkeit keinen Begriff haben ^).
Das gleiche gilt von den hochgestiegnen Japane;ien, denen das
gemeinsame Baden beider Geschlechter in geschlossnen Räumen*),
sowie im Freien, erst neuerlich von den Behörden untersagt worden
ist. Die Eskimo, zu Winterszeiten bis zum Gesicht in Pelze ge-
hüllt, legen gleichwohl in Owen unterirdischen Bauten, wie Kane
es so drastisch beschrieben hat, ihre Kleidung völlig ab, wie denn
auch das Benehmen der Frau des Eskimo Hans an Bord von
Hayes' Entdeckerschiff deutlich bekundet, dass ihr jede Schall
fremd war. ja selbst die christliche, des Lesens durchweg kun-
I) Rciseski;ien. S. 14.
I) Reisen in die Aequinuclialgegenden. Bd. 3. S. 9:.
3) Waitz, Amhropulugie. Bd. i. S. 357.
4) Wilhelm Heine, Japan. Bd. I. S. 34.
Bekleidung und Obdach. l8i
dige Bevölkerung Islands ist nach den Erlebnissen G. G. Winklers*)
noch nicht bis zu der Erkenntniss gelangt, welche die biblischen
Eltern des Menschengeschlechtes (Gen. III, 7) schon im Eden
sich erwarben,
Di^se Reihe von Thatsachen sollte uns zur höchsten Vorsicht
stimmen, den sittlichen Werth irgend eines Volkes nur nach dem
Bedürfniss seiner Körperverhüllung abzuschätzen. Obgleich aber,
wie wir gezeigt haben, Keuschheit und Sittsamkeit ganz unabhängig
sind von dem Mangel oder der leichten Erregbarkeit des sexuellen
Schamgefühles, so bezexhnet doch das Erwachen des Letzteren
eine Erhebung bei jeder Völkerschaft. Bevor irgend ein Mensch
auf den Einfall gerieth sich zu bedecken, muss von ihm Schönes
und Hässliches [unterschieden worden sein. Die Bekleidung ver-
danken wir daher den ältesten ästhetischen Regungen des mensch-
hchen'^^öeschlechtes und insofern die Verehrung des Schönen
veredelnd auf uns wirkt, förderten auch jene Regungen die
Erziehung des Menschen. Umgekehrt stellte sich mit dem
Verfall strenger Sitten im alten Rom eine Missachtung der
Anstandsvorschriften ein. Das Bedürfniss sich zu kleiden er-
wacht erst mit dem Bewusstsein einer höheren- Würde und
verkündet uns das Bestreben die Scheidewand zwischen Mensch'
und Thier zu erhöhen. Nicht blos Eitelkeit ist es, die etwa den
Verlust von Jugendreizen in höherem Alter den Blicken zu ent-
ziehen sucht, sondern noch viel früher regt sich der Wunsch einen
Schleier zu werfen über alle gleichsam unverdienten Erniedrigungen,
die uns der Haushalt unsres thierischen Leibes auferlegt und vor
Andern zu erscheinen als seien wir so rein und sehenswürdig wie
die Lilien in der Sprache der Evangelien. Trotz aller oben auf-
gezählten Sonderbarkeiten des Schamgefühles, hat doch die
über\^'ältigende Mehrzahl der Völker immer genau gewusst, was
einer Hülle am meisten bedürfe. Wie leicht verletzt im alten Ly-
dien die Frauen waren, ist aus Herodots Erzählung von der Ge-
mahlin des Candaules hinlänglich bekannt*) und wie sorgsam die
Schamhaftigkeit des weiblichen Geschlechtes in Nordamerika von
den Mandanen geschützt wurde, rühmt uns der Maler Catlin^).
1) Island. S. 107— iii.
2) Lib. I, 8—12.
3) Die Indianer Nordamerikas. 2. Aufl. S. 70.
iB; Bekleidung und Obdach.
Bei den lialbpapunnischen Bewohnern der Palauinseln geniessen
die Frauen ein unbegrenztes Recht jeden Mann, der in ihre Bade-
plätze eindringt, ku schlafen, mit Geldbussen zu strafen oder, wenn
es sogleich geschehen kann, zu tödten').
Bis in die sogenannte Renthierzeit Europas können wir das
Vorkommen von Bekleidung' nachweisen, da in den Höhlen des
P^rigord beinerne Nadeln entdeckt worden sind'), ja ein gleicher
Fund in der Culturschicht an der Schüssen quelle zeigt uns, dass
die Bewohner Schwabens in der F.iszeit schon genäht haben ^}.
In beiden Fällen deutet aber das Vorkommen mennigrother Farben-
knollen gleichzeitig auf Haütmalerei.
Die Wahl der BekleidungsstofFe hing immer ab von dem Kah-
riingser\verb der Menschen stamme. Bei Jägern und Hirten sind es
daher die Felle der erlegten Thiere, welche verwendet werden.
Belehrend ist aber auch, dass die Erfindungsgabe auf weit ge-
trennten Räumen dasselbe Auskunftsniittel ersann. Die einfachste Art
einer Bedeckung besteht darin, dass, wie oben bereits gezeigt wurde,
Blätter oder Laubbüscliel in eine Lendenschnur gesteckt werden. An
eine solche Lendenschnur werden anderwärts wie diess von papuani-
schen Frauen auf Neu-Guinca, oder den Palauinseln geschieht, Schilfe
oder Binsen aufgereiht. Da in den letzteren Fällen eine allzuhäufige
Erneuerung nothig war, ersetzte man die Grashalme durch Bast-
schnüre oder Lederriemen und so entstand für das weibliche Ge-
schlecht der Fransenyürlel am Colorado Nordamerikas bei den
Mohavestämmen und ihren Nachbarn, in der Südsee bei den
Fidschi, wo er Liku heisst, so wie bei den Neucaledonietn') und
endlich in Südafrika bei den Kafirn^). Ausschliesslich den Poly-
nrsiern gehört die Tapa an, bekanntlich nichts weiter als die
weich geklopfte Kinde de? Papiermaulbeerbaums (Broussone/ia pa-
Pyrifcraj. Das Flechten von Körben und Matten führte dann, wo
Verfeinerung eintrat und höhere Ansprüche sich regten, zur We-
berei, Als die polynesischen Maori nach Neu-Seeland wanderten,
brachten sie aus der Heimath schon alle Geheimnisse der Matten-
verfertigung mit. Sie fanden an ihrem neuen Wohnorte in den Blatt-
1) Karl Semper, Die PJnuinseln. Leipzig 1873. S. G8.
2) S. üben S. 40.
3) S. oben. S. 4a.
4) Vgl. Knot.l.,uch im Ausland 1866. S. 447-
5) S. die Zulumädchen bei O. F ril seh, die Eingeborneii Südafrikas. S. 24.
Bekleidung und Obdach. 183
rosetten des Phormium tenax oder neuseeländischen Hanfes einen
vorzüglichen Faserstoff und erfanden selbständig die Kunst der
Zubereitung und die Anfertigung einer Art Leinwand. Die Nutz-
barkeit der Baumwolle . ist in beiden Welten erkannt worden, denn
die Bewohner Amerikas sind durch eignes Nachdenken, nicht durch
fremde Anleitung, dazu gekommen aus ihrem einheimischen Er-
zeugnisse Faden zu drehen und diese in Gewebe zu verwandeln.
Im alten Aegypten war die Baumwolle heimisch und wurde eben-
falls zu Zeugen verwebt*). Doch drängte die Vorliebe für Lein-
wand sie völlig in den Hintergrund. Selbst in Syrien finden wir
schon in den frühesten Zeiten die Baumwolle eingebürgert. Wenn
nämlich unser Wort Kattun zunächst vom englischen cotton abzu-
leiten ist, so stammt doch dieses wieder von keton^ was mit ge-
ringen vocalischen Abweichungen in allen semitischen Sprachen
Baumwolle bezeichnet und im Neuarabischen noch kutn lautet').
Baumwollengewebe, nicht Leinwand, brachten daher unter dem
Namen kitonet oder ke tonet phönicische Seefahrer nach griechi-
schen Häfen und von jenem Ausdruck entstanden dann Wörter
wie xvtdv und xi^cSv. Das Wort für Lein, im Griechischen und
Lateinischen ursprünglich- schwankend gebraucht, geht wenig ver-
ändert von seiner lateinischen Form durch die baskische, die kel-
tischen und die germanischen Sprachen^), scheint also von Südost-
europa nach Nord- und Westeuropa sich verbreitet zu haben.
Wenn wir übrigens dem Spinnwirtel bereits in den dänischen Mu-
schelüberresten begegneten und der Webstuhl schon auf den
Schweizer Pfahlbauten stand*), so reicht die Kunst des Spinnens
und Webens in Zeiten hinauf, wo sich nicht mehr entscheiden
lässt, welches Volk oder welcher Menschenstamm der erste Erfinder
gewesen sein mag. Der Hanf ist jedenfalls ein Culturgewinn, der
den sogenannten barbarischen Völkern verdankt wird. Schon bei
medopersischen Skythen fand Herodot^) den Hanfbau.
1) G. Ebers, Durch Gosen zum Sinai. S. 478.
2) H. Brandes, anüke Namen der Baumwolle. Fünfter Jahresbericht
des Ver. für Erdkunde in Leipzig 1866. S. 103. iio. 116.
3) V. He hn, Kulturpflanzen und Hausthiere. S. iii.
4) S. oben S. 44 und Wilhelm Baer, der vorgeschichtliche Mensch.
Leipzig 1874. S. 232.
5) Lib. IV. cap. 74.
iS^ Bekleidung und Obdach.
Hemd, Hut, Haube, Schuhe, Rock und Hosen, glaubte A. Bac-
meister behaupten zu dürfen, seien uralte Worte unsrer Sprache'),
Merkwürdig' ist, dass das Beinkleid zuerst von Nordeuropa über die
classischen Mittelmeergestade und dann über den ganzen Erdkreis
skh verbreitet hat. Doch ist auch dieser Bekleidungsschnitt an
•verschiedenen Orten erfunden worden, Hosen tragen und trugen,
so weit wir zurückdenken und zurückschliessen dürfen, alle Nord-
asiaten, Wollte man auch annehmen, dass Eskimo diese Neue-
rung aus ihrer alten westKchen Heimath bei ihrer Wanderung
nach Amerika mitgebracht hätten , . so ünden wir doch auch im
Norden der neuen \\'elt bei den sogenannten Rothhäuten diese
Tracht verbreitet, Di« amerikanischen Eingebornen haben auch
darin vor den alten Culturvölkern einen kleinen Vorzug, dass sie
bereits eine treffliche Fussbekleidung nicht etwa Sandalen, sondern
Hatbstiefeln oder Jlocassin zu verfertigen pflegten, Me;kwürdiger-
woise bedienen sich auch der lelzteren die Patagonier, im äussersten
Süden dei neuen Welt, während sie in Mittelamerika und im
übrigen Südamerika vermisst werden, Schuhe sahen die Römer
zuerst bei den Barbaren; auch bleibt bei den Götterbildern der
alten Aegyptcr der Fusü unbekleidet. Ebenso fehlten in Babylon, wo
doch nach dem walzenförmigen Petschaft des Königs Uruch (2326
V. Chr.) schon ein grosser Luxus in Kleidertrachten herrschte,
Schuhe und Sandalen noch gänzlich'). Barfüssige Volker sind
noch jetzt überall unter niedrigen Breiten anzutreffen, während da,
wo der Schnee liegen bleibt, wo es friert oder wo der Boden
wenigstens durch Ausstrahlung stark erkaltet, frühzeitig auf den
Schutz der Füsse gedacht werden muss. In Afrika wird des Ge-
brauches von Sandalen bei den Wandingonegern in Musardo^), ja
auffallend erweise bei den sonst nackten Barinegern am weissen
Ni!*), bei den Kissama in Angola'), bei den Kafirn*) sowie an-
deren Bantunegern und endlich bei den Hottentotten') gedacht,
1) Ausland. iSjr. Ü. 604. Hemd ist doch wohl von ifiäiiov abzuleiten,
z) G. RawlinEon, Great manarclües. tom. I. 105.
31 Aus Andersou's Joumey lo Musardo in den Mittheil, der Wiener
geogr. Gesellschaft. 1871. S. 363. S. 415.
1) W. V. Harnier's Reisen am obem Nil. S. 37.
5) Hamilton in Juum. of Ibe Anlhropol. Inctilute. lom. I. p. iSS.
6] G. Frilsch. Eingebome Südafrikas. S. 60. S. 2J2.
7) Kolbe, Kap der Guten Hoffnung. S. 479-
Bekleidung und Obdach. igr
Da sehr viele Thiere und zwar sogar niedrige Thiere gegen
die Unbilden der Witterung einen künstlichen Schutz sich ver-
schaffen, und kein Menschen stamm auf Erden ohne irgend ein
Obdach getroffen worden ist, so sind die ersten Regungen der
Baulust so alt, wie unser Geschlecht selbst. Den ältesten Spuren
unsrer Vorfahren sind wir in Höhlen begegnet, aber wir dürfen
darum nicht schliessen, dass solche natürliche Zufluchtstätten, die
doch nur felsigen Strichen und zwar vorzugsweise dem Kalk-
gebirge angehören, die ältesten VVohnstätten des Menschen ge-
wesen sein oder die Anregung zu den ersten künstlichen Deckungs-
mitteln gegeben haben sollten. Die Buschmänner, wenn sie
auf ihren Streifzügen ihre Höhlen verlassen, bedecken sich mit
Sand so oft sie im Freien übernachten oder flechten sich im
Dickicht aus Aesten und Reissig ein Wetterdach. In der milden
Jahreszeit schützen sich die Australier mit Windschirmen aus
Laub, sonst aber spannen sie abgelöste Baumrinden, oft u Fuss
lang und 8 — lo Fuss breit, über ein kegelförmiges Gerüst zelt-
artig aus *). Ein ähnliches Sommerzelt, aus Birkenrinde zu-
sammengenähet, genügt den Ostjaken Sibiriens ^) und nicht viel
besser beschreibt der Jesuit CharlevoLx das Obdach vieler Jäger-
stämme in Canada^).
Im äussersten Norden der alten und der neuen Welt jenseits
der Baumgrenze oder schon dort, wo die Baumstämme nicht mehr
die nöthigen Durchmesser besitzen, oder endlich auf den baum-
losen Steppen werden die Rindenwände durch Thierfelle ersetzt.
So reicht das Lederzelt von Lappland ^) durch ganz Sibirien, bis in
die Prairien der Vereinigten Staaten zum 35. Breitengrade s). Im
äquatorialen und im südlichen Amerika verschwindet es, um noch
einmal bei den Patagoniern wiederzukehren, die ein Geripp aus
Stangen mit zusammengenähten Guanacohäuten bedecken ^). Das
Zelt aus Filz, eine Erfindung der uralaltaischen Völker, gehört
1) Dumont d'Urville, Vöyage de TAstrolabe. tom. I. p. 407. Atlas
pl. 18.
2) Pallas, Voyages. Paris 1793. tom. IV. 'p. 57.
3) Nouvelle France, tom. III., p. 334.
4) Siehe die Abbildung lappländischer Sommerzelte bei J. A. Frijs im
Globus. 1873. Bd. XXIII. Nr. 3. S. 34.
5) MöUhausen, vom Mississippi nach der Südsee. S. 134.
6} Musters, im Journ. of the Anthropol. Institute, tom. I. p. 197.
igg tichleUluDg und Obdach.
ohne Zweifel einem liolien Alterthume an. Aus Innerasien hat es
sich mit dem Passatmndc und innerhalb der Pasaatzone über die
Sahara bis zu dem Waldgebiete Mittelafrikas verbreitet, aber unter-
wegs in ein luftiges Zelt aus gewebten Stoffen verwandelt und ist
im arabischen Bausfyl mit seinen Kuppeln und dünnen Säulen-
schäften, welche letztere die Zeltstangen vertreten, architectonisch
geworden.
Im tropischen Hoehwalde Amerikas schützt die wandernden
Jäger gegen den Regen ein schräges Dach aus Palmwedeln oder
raderartigen Blättern, die schuppenartig über einander gelegt
werden. Wenn Völkerschaften sich endlich festsetzen, begnügen
sie sich zunächst mit einem viereckigen oder runden Unterbau
aus Stangen, die mit Flechtwerk oder Rindenstücken verbunden
werden. Ein giebel- oder kegelförmiges Dach, das mit ßlättern,
Grasbüscheln oder Binsengarben bedeckt wird, vollendet die ein-
fache Hütte. Oft wohuen dann ganze Horden in einem einzigen
klosterartigen Bau, innerhalb welchem für jede Familie eine Zelle
abgetheilt wird. Zwei solcher Gebäude zusammen für 150 Per-
sonen beschreibt Dumont d'Urvilie t}ei den Arfaki Neu-Guineas,
und ähnliche kommen ebendaselbst am Utanatefluss vor '). Spenser
St. John traf auf Gorneo ein Gebäude der Dayaken von 534 Fuss
Länge'). Solche Zellenan reihungen sind auch bei den Ostjaken ge-
bräuchlich-'), aber die geräumigsten Holzbauten dieser Art werden
im Nordwesten Amerikas von den Haidah auf den Königin-Char-
lotte-lnseln und den Colquiith auf Vancouver bewohnt, die PlatE
für 2 — 300, ja am Nutka Sund sogar für 800 Kopfe bieten'),
Nicht so stark bevölkert aber immerhin für etliche Familien aus-
reichend sind die Rindenhütten der Indianer im Osten der heu-
tigen Union, die Charlevoix beschreibt ä). Selbst in Südamerika
fehlen solche Gemeindehäuser nicht. Wallace traf sie am Uaup^s
(Rio Negro) bei dem Stamme gleichen Namens bis zu 115' Länge
und 75' Breite*).
Die Verwendung von knetbarer. Erde zur Verdichtung der
1) Ollo Finsicli, Ncii -Guinea. S. (,o.
2) Life in ihe Far Kapt. 10m. I. p, 7.
31 Pallas. 1. c. p. 58.
4) Waili, Anthropulogie. Bd. 3. S. 332.
5) Nouvelle France, loni. III. p. 33V
f>} V. Martins. Ellinot;raphic. Bd. 1. S. S97-
Bekleidung und Obdach. iSy
geflochtnen Wände fehlt in Australien und in der Südsee gänzlich.
Der Bau mit Luftziegeln oder Adoben ist ein Eigenthum der
trocknen Hoch- und Tiefländer Neu-Mexicos, Mexicos und Mittel-
amerikas, während Mittelafrika wieder seine Thonhütten besitzt,
deren Mauern aus gestampftem Lehm bestehen, auf welchen zu-
letzt ein Strohdach aufgesetzt wird. Der Steinbau wagte sich an-
fangs nur an die niedrigsten Aufgaben, weil sich einer lothrechten
Aufthürmung von Bruchstücken zu Mauern unbesiegbare Schwie-
rigkeiten entgegensetzten. Alte Tempelbauten in Mittelamerika
wie in Mesopotamien bestanden aus Treppen pyramiden und die
ersten Versuche zu solchen Kunstwerken mögen den einfachen
Terrassen oder Morai auf den polynesischen Inseln geglichen
haben, ihre höchste Vollkommenheit erreichten sie aber in den
glatten Pyramiden Aegyptens. In trocknen waldentblössten Erd-
räumen wurden die Bewohner zuerst zu Mauerbauten angeregt,
weil dort am früliesten auf einen Ersatz für die mangelnden Balken
gedacht wurde. Daher ist die Baukunst Aegyptens fast um viertausend
Jahre älter, als die indische, die sich in den Felsentempeln zuerst
regte, deren Decken aber noch mit Eisenholzstämmen gestützt
wurden, während freistehende Steinbauten nach Fergusson's For-
schungen erst unter König A^'oka, also um die Mitte des dritten
Jahrhunderts v. Chr. aufgeführt wurden. Das Durchbrechen der
Mauern um der Luft und dem Licht sowie den Bewohnern selbst
Eingang zu gewähren, setzte den Scharfsinn auf eine neue und
harte Probe. Sie wurde dadurch gelöst, dass die Bausteine treppen-
artig nach Oben vorsprangen, bis die Mauerränder sich so weit
näherten, dass ein breiter Stein querüber als Brücke die Oeffnung
nach oben schliessen konnte. Dass die Kunst der Aegypter und
Hellenen auf dieser Stufe ehemals gestanden sein muss, bezeugen
uns ihre Tempelpforten, die an der Schwelle breiter sind als am
Gesims, in dem man selbst später, als rechteckige Zugänge längst
durch die Leistungen der Steinmetzarbeit sich herstellen Hessen,
doch aus Anhänglichkeit oder aus künstlerischer Vorliebe das
Alterthümliche beibehielt. Auf die gleiche Weise, nämlich durch
vorspringende Backsteinlagen wurden im alten Babylonien schräg
zulaufende unechte Gewölbe oder auch falsche Spitzbogen aus-
geführt ').
i) Rawlinson, Monarchies of the Eastern World, vol. I. p. 86. p. 329.
l8g Die BcwaffnunE.
Aus diesen schüchternen Versuchen erkennen wir das hohe
Verdienst einer Erfindung wie die des Steinbogens, der sich selber
trügt. Die Assyrier waren in der alten Welt wohl die ersten, die
zu diesem Hilfsmittel griffen und die Römer diejenigen, die vom
Thur- und Fensterbogen fortschritten zu Gewolb- und Kuppel-
bauten. Um jedoch sogleich diese Verirrung auf das Gebiet der
Kunstgeschichte zu rechtfertigen, wollen wir nur erinnern, dass
diese Thatsachen uns wichtig werden bei Abschätzung des gei-
stigen Ranges amerikanischer Bevölkerungen. Steinhütten und Stein-
gräber ') finden wir auf den Puna oder den Hochebnen zwischen
den Cordilleren , in dem Gebiete der ine aperuanischen Cultur.
Bei Caxamarca hat aber Humboldt im Palaste des Atahuallpa
auch BogengewBlbe abgezeichnet °) und südlich In Tiahuanaco, so-
wie am Sonnentempel in Cuzco sind Gewolbebauten und Rund-
bogen von Desjardins U7id J. J, v, Tschudi beschrieben worden ^).
Nicht gering dürfen ^vi^ es den Eskimo anrechnen, dass sie
die Zugänge zu ihren Hütten und die Hütten tunnetartig aus
Steinen wölben*). Der Gedanke dazu stellte sich leichter bei ihnen
ein, als bei den Bewohnern milderer Erdgürtel, weil sie sich früh-
zeitig üblen, Grotten in den Schnee oaer domförmige Hütten ans
Schneeblöcken aufzuthürmen *).
4. Die Bewaffnung.
Wenn wir vor Capt. Cooks Zeiten irgend einen alten spani-
schen, holländischen oder englischen Entdecker anf einer Zrdfahrt
über die Südsee begleiten, so gerathen wir in grosse Verlegenheit,
so oft wir den Inseln, die er sah, den richtigen Namen in der
Sprache der heutigen Erdkunde geben sollen. Waren auch die
Messungen der geographischen Breite bis auf einen halben Grad
1) Cl, Waithani, Proceedings of Ihe R. Geogr. Soc, 1871. Vol. XV.
No. 5. p. 371.
2) Alexander von Humboldt. Eine wissenschafUiche Biographie ed.
Karl Bnihns. I^ipiig 1873, Bd. l. S. 381.
3) F. V. Hellwald im Ausland 1871. No. 41. S, 956.
4) Wailz, AnHiTopologie. Bd. 3. S. 306.
51 Die Bcsthreibung ihre^ Verfahrens bei Charles Francis Hall.
Life u-ilh Ihe üsquiniaux. London IS65. p. 461.
Die Bewaffnung. i8q
■etwa genau, so können dagegen bei den Längenangaben die Fehler
auf das zwanzigfache anwachsen und wir müssen daher in Schwär-
men von Inseln herumsuchen, die sich obendrein sämmtlich ähn-
lich sehen, denn entweder sind es nur Korallenbauten oder die
Gerüste von jüngeren wie älteren Vulcanen. Unsere Aufgabe wäre
also hoffnungslos, wenn wir nicht die geographische Länge an
2wei Wahrzeichen ermitteln könnten. Schildert uns nämlich der
Seefahrer auf seiner Fährt gegen Westen Eingeborne 'mit Haar-
kronen , so befinden wir uns mindestens hart am iSosten Green-
wicher Mittagskreise, weil die Zwillingsinseln Hoorne und Alofa
die östlichsten Punkte sind, zu denen sich die Papuanen verbreitet
haben, denen jenes Merkmal ausschliesslich zukommt. Lesen wir
aber , dass zu Wasser oder zu Land der Seefahrer von den Ein-
gebornen mit Pfeilschüssen begrüsst worden sei, so dürfen wir mit
Sicherheit schliessen, dass wir uns bereits in der Nähe von Neu-
Guinea befinden.
Nie haben sich gegen Europäer polynesische Stämme der
Südsee des Bogens und der Pfeile als Waffe bedient, und der Grund,
wesshalb sie es nicht thaten, ist, so seltsam es auch klingen mag,
schliesslich ein geologischer. Wollte jemand diesen Umstand
damit erklären, dass die Polynesier, gleich den andern ma-
layischen Völkern, jene Schiessgeräthe nicht gekannt hätten , weil,
bevor sie aus Südostasien nach ihren Wohnplätzen in den
Stillen Ocean hinausfuhren, das Schiessen mit dem Bogen über-
haupt noch nicht erfunden gewesen wäre, so würden wir ent-
gegnen, dass es als Spielwerk für Knaben auf Nukufetau der
Ellicegruppe und noch weit im Osten selbst auf Tahiti bekannt
sei'). Es waren daher die malayischen Polynesier beim Antritt
ihrer Wanderungen mit jenem Schie^sgewehr bereits vertraut, und
es kam erst später ausser Gebrauch. Genau so verhält es sich
mit den Papuanen, in deren Urheimath, Neu-Guinea, Bogen und
Pfeil von den Männern nie aus der Hand gelegt werden, während
bei den ihnen verschwisterten Neu - Caledoniern diese Waffen
gänzlich fehlen. Dagegen brachten die Fidschi - Insulaner, ein
Stamm mit Haarkrone, wie die Papuanen Neu'Guinea's, aller-
dings Bogen und Pfeile mit auf ihre Inseln, allein sie bedienen
I) Waitz, Anthropologie der Naturvölker. Bd. 5, II. Abth. S. 131.
[go Die Btwaffnung.
sich ihrer nur noch um Brandgeschosse in eine befestigte Ortschaft
zn werfen, oder sie überlassen sie den Frauen, um damit zur Ver-
theidigung der Pfalilwerke das Ihrige beizutragen. Die Männer
dagegen führen als Lieblingsw äffen die Keule und den Speer').
Von ihren Nachbarn auf der Fidschigruppe wurden auch die Ton-
ga'ner aufs Neue wieder mit Bogen und Pfeilen t>ekannt "),
Wesshalb aber Bogen und Pfeile auf den Inseln der -Südsee
in Vergessenheit gerathen mussten, lässt sich leicht aussprechen.
Die Fuhrung dieser Waffen erfordert , eine grosse Gest:hicklichkeit
und bestandige Uebung. Wo sie bei wilden Völkern im Gebrauche
sind, berichten uns die Reisenden, dass schon die Knaben sich
mit Kindergeräthen im Schiessen üben. In der Hand des Vir-
tuosen ist aber der Bogen aul' der Jagd weit zweckmässiger als
unsere Feuerrohre, weil er mit Verschwiegenheit mordet. Ein
Pfeil der nicht trifft bleibt unbeachtet, daher der Schütze zwei bis
drei Geschosse senden kann, oline das Wild zu verscheuchen.
Wir dürfen daher nicht erstaunen, dass der Reisende Marcou in
Neu-Mexico Jäger von weisser Haut und spanischer Abkunft an-
traf, welche ihre Flinten beseitigt und dafür Indianerwaffen er-
griffen hatten, die sie für das \V'aidwerk geeigneter hielten ^). Zu
weiterer Bestätigung berichtet Reinhold Hensel von den brasilia-
nischen Coroados, dass sie es ablehnten, Bogen und Pfeile mit
Schiessgewehren zu vcriauschcn, weil letztere .wegen ihres Knalles,
ihrer Schwere, des Zeitverlustes beim Laden und der schwierigen
Beschaffung von Pulver und Blei sich schlecht für die Jagd in
tropischen Wäldern eigneten'').
Die Meisterschaft auf diesem Instrument setzt aber voraus,
dass die Uebung nie aufhöre, und zur Uebung allein werden unter
den wilden Völkern nur diejenigen veranlasst sein, die vom Ertrag
der Jagd leben. Ursprünglich dienten ja die rohen Geräthe des
Menschen allen Zwecken; der Jäger griff nach seinen Geschossen,
um einen Feind abzuwehren, und die Steinaxt des Wilden, welche
den Baum fällte, spaltele im Gefecht auch den Schädel eines Geg-
I) Thomas WilUamB, Fiji and the Fijians.
P- 75-
J| Muriner, Tonga Islands. Hdinburgh 1827.
3) Lattcl aaä Chrisly. Reliquiae A.qui
41 Zeiisdirifl fiit Elhnologic. Berlin 1869.
Die Bewaffnung. igi
ners. Die älteste, echteste und edelste Kriegswaffe ist daher das
Schwert, weil es nie amphibisch für Krieg und Handwerk gebraucht
werden kann '). Hinzufügen wollen wir gleich hier^ dass in Europa
bis jetzt die Erfindung der Schwerter nicht höher hinaufreicht als
in das .Bronzezeitalter, während wir später anderwärts einen Fall
kennen lernen werden, dass es .auch Schwerter in der Steinzeit
geben kann.
Bogen und Pfeil müssen überall dort verschwinden, wo die
Jagd nicht mehr ein Lebenserwerb ist, oder wo es Jagd überhaupt
gar nicht geben kann. Sowie wir uns aber von Neu-Guinea öst-
lich, nördlich oder süd-süd-östlich bewegen, hört die Jagd auf, weil
allen diesen Inseln die Landsäugethiere fehlen, abgesehen von den
Fledermäusen, den gezähmten Schweinen, den Hunden und Ratten.
Es erregte desshalb nicht wehig Aufsehen, als vor etlichen Jahren
Haast auf der Südinsel Neu-Seelands ein wildes Säugethier, frei-
lich wieder ein schwimmendes, nämlich eine Fischotter entdeckte.
Dass es auf jenen Inseln aber keine Säugethierwelt geb^n kann,
erklärt sich einfach aus ihrem Ursprung, denn die Koralleninseln
entstehen erst, wenn von der Flur eines früher versunkenen Fest-
landes aus seichten Untiefen Polypen mit ihren Kalkästen wall-
artige Riffe heraufbauen. Oder wir haben es mit vulcanischen
Bauwerken zu thun, die zunächst unterseeisch gebildet, und dann
allmählich durch Auswürfe über den Spiegel des Meeres aufge-
schüttet wurden. Alle jene Inseln standen nie, oder doch wenig-
stens nicht mehr seit den tertiären Zeiten, auch Neuseeland nicht,
mit irgend einem Festlande in Verbindung, so dass also alle solche
Säugethiere, die nicht zu fliegen und nicht zu schwimmen ver-
mögen, jene Inseln nicht erreichen konnten. Folglich hängt das
Verschwinden von Bogen und Pfeil mit dem geologischen Ursprung
jener Inseln zusammen.
Dass dies der wahre und letzte Grund sei, wird uns auf einem
andern Schauplatz bestätigt. In Westindien haben wir nicht kleine
und schmale Korallenbauten vor uns, sondern geräumige Körper
wie Cuba, Haiti, Jamaica und Puertorico. Aber selbst diesen ge-
räumigen Inseln fehlten, mit Ausnahme von Cuba, alle grössere
Landsäugethiere, denn zur Zeit der Ankunft der Spanier gab es
ausser den Fledermäusen überhaupt dort nur fünf Arten von kleinen
I) D. h. das Schwert der Bronzezeit, welches nur für <len Stoss geeignet war.
192
i Bewaffnung.
Nagern, von denen die grosste an Wuchs ein wenig die Ratten
übertraf. Jene Inseln, die Ueberreste grosserer Landmassen, müssen
ihren Zusammenhang, mit dem nächsten Festlande, nämlich mit
Südamerika, früh am Anbruch der Tertiärzeit schon verloren haben,
Nordamerika aber lag ihnen noch weit ferner, denn die Halbinsel
Florida ist eine ganz junge hoch unfertige Schöpfung von Korallen.
Da es auf jenen Inseln keine Jagd geben konnte, so bedienten
sich auch die Einwohner nicht der Bogen und Pfeile, obgleich alle
Stämme des ihnen so nahe liegenden Festlandes diese Geschosse
führten. Doch muss zur \'erschätfung des Gesagten hinzugefügt
werden, dass doch auf den Antillen, nämlich an dem Ostrande
Haitis, auf der östlichen Hälfte Puertorico's, sowie auf den „Inseln
über dem Winde" Völkerschaften sassen, die mit Meisterschaft jene
Waffen führten. Allein es waren frische Ankömmlinge, nämlich
Cariben, die, seetüchtig wie kein anderer Völkerstaram Amerikas,
die harmlosen Bewoiiner der Antillen heimsuchten,' die Männer er-
schlugen und die Frauen in Gefangenschaft schleppten, daher sich bei
ihnen eine gesonderte Männer- und Frauensprache ausbildete. Die
Cariben aber kamen vom Festlande, wo sie vom Ertrag der Jagd
lebten, und daher erklärt sich, dass sie bei ihrer Verbreitung über
die Antillen flogen und Pfeile noch nicht gänzUch abgelegt
hatten.
Eine andere eigenthumliche Schusswaffe ist das Blasrohr, wel-
ches von malayischen Stämmen auf Borneo, dann aber auch auf
dem asiatischen Festlande von den m al ay ochin es i sehen Laotiern am
Mekong, sowie den Orang kubit") und den Semang der Halbinsel
■ Malaka geführt wird'). \'on Malayen mögen es auch die Papuanen
auf Neu-Guinea sich angeeignet habend). Das Blasrohr ist aber nicht
bloss in Südoslasien erfunden worden, sondern wir treffen es
auch in den Händen der Indianer des Amazonas, die damit
bis auf 250 Fuss Entfernung ihres Zieles sicher sind*). Vor andern
Waffen besitzt das Blasrohr den Vorzug eines Rückladungsgewehres,
T.) Peschel, Zeitalter der Entdeckungen. S. 217.
3) Mouliot, Travels in TndD-China, Cambodja and Laos. London 1864..
lom. II, p. 14-t- F. Jagor. Singapur, Malacca, Java, Berlin 1866. S. 107.
Latham, VarielieE uf man. London 1850. p. 136.
31 W-iiti (GcrLinil), AntlitiipolöSie. Bd. 6." S. 55y-
41 V. Martius, tlhnoytjpliie. Bd. 1. S. 660.
Die Bewaffnung. IQ7
«
SO dass in einer Minute von geübter Hand mehrere Ge-
schosse abgesendet werden können. Die kleinen dünnen Bolzen
entziehen sich noch leichter als die Pfeile- den Blicken der Be-
drohten, und aus seinem Versteck Jtann der Schütze so lange seine
Geschosse entsenden bis eines trifft. Da ihre Tragkraft von den
Muskeln des Thorax herstammt, so ist ihr PercussionsvermÖgen ein
sehr geringes. Damit der Bolzen tödtlich wirke, ist daher erforder-
lich, dass er mit Gift gesalbt werde. Das Gift selbst also ist hier
die Waffe und das Geschoss nur der Ueberbringer. Auf den ma-
layischen Inseln dient dazu das Ipo oder die Milch des Upas-
baumes (Antiaris tQxicaria) ^ die zwar sehr bösartige, aber selten
tödtliche Wunden erzeugt. Wenigstens behauptet Dr. Mohnike,
dass es zur tetanischen Erstarrung alter Orangutang einer be-
trächtlichen Anzahl Pfeile bedürfe*). Andrerseits versichert Spenser
St. John, dass die Engländer 1859 in einem Gefecht gegen die
Kanowit-Dayaken auf Borneo 30 der Ihrigen an den kleinen kaum
bemerkbaren Wunden verloren*), welche die Giftbolzen hinterlassen
hatten, und Lieutn. Crespigny sah einen Eingebo^nen Borneos, der
auf solche Art in der Wade und der Schulter verwundet worden
war, in zwei Stunden sterben«'). Aehnlich wirkte eine Giftsalbe,
deren sich die streitbaren und blutgierigen Bewohner der Küsten
des caribi sehen Golfes bedienten. Nach der Schildenjng der alten
spanischen Seefahrer trat der Tod der Verwundeten unter Rase-
reien und Qualen ziemlich spät, oft erst nach 24 Stunden ein. Sie
behaupten, dass zu dem Gift die Milch des Manschinellenbaumes
(Hippomane Mancimlla) mit Zusatz von Schlangengift verwendet
worden sei*), doch ist alles sehr dunkel und zweifelhaft, was sie
darüber mittheilen.
Um so besser sind wir unterrichtet über das unheimlichste
aller Gifte, nämlich über das Urari, Curare oder Wurali der In-
dianer am Amazonasstrome 5) und in Guayana. Weder Lacon-
1) Ausland 1872. Bd. 45. No. 38. S. 894. *
2) Far East, tom. I: p. 46.
3) Proceedings of the R. Geogr. Soc. 1872. vol. XVI. p. 173— rS-
4) Oviedo, Historia general y natural de las Indias, lib. XXVII. cap. 3.
5) Am Amazonenstrome wird das giefurchtete Gift von den Stämmen be-
reitet, welche die Quellengebiete der nördlichen Nebenflüsse zwischen dem
Rio Negro und Japura bewohnen (Bat es, the Naturalist on the Amazons«
2d. edit. pag. 370). Die Indianer des Napöflusses holen das Urari von den
Peschcl, Völkerkunde. 13
läi ( J*ie BewafFnung,
damine noch Spis und TMartius haben diises Pfeilgift bereitöi
sehen; erst Alex. v. Humboldt drang am Orinoco in das Labl-
ratorium eines Giftkoches ein, und brachte Muster von Curatö
nach Europa. Der Zubereitung der Salbe wohnte aber erst der
jüngere Schomburgk in Pirarä bei'). Daa^rari, wie er es nennt,
wurde aus verschiedenen PflanzenstofTen feekocht, der eigentliche
Giftträger aber sind Rinde und Splint dev^S/rychnos loxifera. Bei
der geringsten Verwundung erfolgt der Tod kleiner warmblutiger
Thiere augenblicklich, und selbst grössere taumeln und sinken zu-
sammen, ja Humboldt versichert, dass die erdessenden Otomaken
durch Eindrücken des vergifteten Daumen nageis ihren Gegner
tödten'). Proben von Urari oder Curarö gelangten vor etwa zehn
Jahren nach Paris, und wurden dort von dem geschätzten Physio-
logen Claude Bernard^) zu Versuchen benutzt. Es ergab sich
damals, dass das Gift nur wirkt, wenn es sich mit dem Blute
mischen kann. Dann tritt zunächst die Aufhebung der Nerven-
kraft bei den willkürlichen Mnskelbewegungen ein, zuletzt aber
hört auch die Thätigkeit von Lunge und Herz auf, und der Tod
erfolgt ganz schmerzios durch den denkbar höchsten Grad der Er-
müdung, ähnlich dem Ausschwingen eines Pendels, wenn das Uhr-
werk abgelaufen ist. Ist das Gift frisch, so sinken selbst so grosse
Geschöpfe, wie Tapire, nach wenig Schritten zusammen.
Auch in Afrika ist die Vergiftung der Geschosse weit ver-
breitet. Nach den Berichten der portugiesischen Entdecker sollen
vormals in Guinea die Jolotfer, sowie die Neger am Rio Grande
ihre Pfeile vergütet haben'). So geschah es auch noch zu Mungo
Park's Zeiten von den Mandingonegem*) und geschieht es noch
heutigen Tages nach Benjamin Anderson von den Mandigo zu
Musardo*"). Am weissen Nil werden die Moro-Xeger, die etwa
unter 5° N. Br. sitzen'), sowie die Barineger, des Salbcns der
Tgcudss und brauchen 2ui Rückkehr in ihre Heimath mil den Kähnen nicht
weniger aU drei Monate, tla^ Gift w^d freilich in ihrer Heimath mit Silber
aufgewogen. James Orion, the Andes and the Amazon. London 1870. p. 197.
1) Richard Schomburgk, Reisen in Guayana. Leipzig 1847. Bd. i. S. 100.
s) Ansichten der Natur. 3. Aufl. ßd. I. S. 247-
3) Revue des deux mondes. Paris 1864. tom. LIXI. p. 164.
4) Peichcl, Zeitalter der Enldecltungen. S. 77—78.
5) Mungo Park, Reisen im Innern v. Afrika. Berlin 1799. S. 251.
61 Globus 1B71. Sptbr. Bd. XX. No. 9. S. 142-
7) Pctherick, CeniraJ-Africa. London 1869. p. 276.
Die Bewaffnung. ige
Pfeile mit Schlangen- oder Pflanzengift geziehen*). In Südafrika
bedienen sich nach Du Chaillu die Fanneger dieses verwerflichen
Mittels*). Ferner erzählt Ladislaus Magyar 3) von den südlichen
Nachbarn der Kimbunda in Bihö, dass sie ihre Speerklingen ver-
gifteten. Livingstone berichtet von einem Gifte Namens Kombi,
welches die Anwohner des Schire aus einer Strophanthus-Art be-
reiten, sowie von einer andern Pfeilsalbe, die am Nyassa-See an-
gewendet wurde, endlich, dass die Buschmänner der Kalahari aus
den Eingeweiden einer kleinen Raupe unter dem Namen Nga ein
Gift für ihre Geschosse gewinnen'*). Nach Theophüus Hahn da-
gegen sollen diese Letzteren das Gift für die Jagdpfeile aus den
Zwiebeln von Haemanthus toxtcarius, für die Kriegswaffen aber aus den
Giftdrüsen der Schlangen und dem Saft einer Wolfsmilchart (Eu-
phorbia candelabrumj bereiten 5). Bei Kolbe's Anwesenheit salbten
auch die Hottentotten ihre Pfeile mit dem Gifte der Brillen-
schlangen^). Plinius nennt uns arabische Piraten im troglody-
tischen Afrika, also am Gestade des südlichen rothen Meeres unter
den Pfeilvergiftern, zu denen wir noch einen asiatischen Stamm,
nämlich die Bhutia im himalayischen Bhutan, der Vollständigkeit
wegen anschliessen wollen 7).
Vergleichen wir die Wohnorte aller genannten Völker, so
fallen sie sämmtlich zwischen die Wendekreise oder wenigstens in
die subtropischen Gürtel. Ganz Nordamerika ist rein von diesem
Frevel, welcher nach Moriz Wagner in der neuen Welt seine
nördliche Begrenzung an der dariensischen Landenge und im
Choco am Atrato erreichen würdet). In der That ist auch uns
bisher nur eine einzige Ausnahme bekannt geworden,/ nämlich,
dass die Ceres oder Seris am californischen Meerbusen solcher
i) W. V. Harnier, Reise am obern Nil. S. 50.
2) Explorations and Adventures in Equatorial Africa. London 1861.
p. 77—78.
3) Reisen, Bd. i. S. 357.
4) Livingstone, Zambesi. p. 466 sq. Eine Abbildung der Insecten-
larve bei Wood, Natural History of man. tom. I. p. 286.
5) Th. Hahn, im Globus 1870. 2. Sem. S. 100. Gustav Fritsch, Ein-
geborne Südafrikas. S. 431.
6) Vollständ. Beschreibung des Vorgebirges der guten Hoffnung. Nürn-
berg 1719. S. 532.
7) H. V. Schlagintweit, Indien und Hochasien. Bd. 2. S. 143.
8) Naturwissenschaftliche Reisen. Stuttgart 1869. S. 314.
jg^ Die Bewaffnung.
verpönter Waffen sich bedienen'). In Südamerika wurde bereits
des Blasrohres gedacht, hier wollen ^vir nur noch erinnern, dass
auch die Chiquiten in Paraguay, wie Dobrizhoffer berichtet, ihre
Geschosse mit einem so mörderischen Gifte salbten, dass, wenn
nur Blut floss auch die geringste Verletzung den Tod nach wenig
Stunden herbeiführle.
Irrig wäre es aber, wollte man diese Wahl der Mordwerk-
zeuge nur in heissen oder warmen Erdstrichen suchen. Chine-
sische Schriftsteller gedenken im 3. jahrh. n. Chr. bei einem
Tungusenstamm und im 5. Jahrhundert bei den Mongolen der
Waffonvetgifiung '}, Sie wird noch heutigen Tages von den bär-
tigen Aino^) auf SaghaUen und den Kurilen nicht verschmäht, zu
Stellers Zeiten bedienten sich die Itelmen Kamtschatkas zu gleichem
Zwecke des Sturmhutes fAconitum NapellusJ'') und selbst die Be-
wohner der Alcuten kannten und benutzten ein Pfeilgifi*).
Auch auf dem ßoden des classischen Alterthums begegnen
wir solchen unedlen Mordgeräthen. Horaz gedenkt ihrer in einer
seiner gefeierten Oden"), Ovid beschuldigt pontische Völkerschaften
in der Nähe seines Verbannungsoites dieses Frevels'). Plinius hat
uns Gegenmittel für Giflwuiiden aufgeschrieben und dabei zugleich
einen Blick in den finslern Abgrund der menschlichen Natur geworfen,
insofern v d Scharfe des Eisens noch mit derWirkung desSchlang'en-
stiches auszustatten suchen"). Selbst die Kelten Galliens verschmähten
gelegentl ch n ht d es s Jlittel'), und das gleiche geschah sogar
noch vo den apan acl en Arabern im granadensischen Kriege 1484 '").
So ^e vahren r denn, dass jener Brauch über alle Erdräume
mit einziger Ausnahme Australiens und der polynesischen Inseln,
wo Bogen und Pfeile fehlton, sich verbreitet hatte. Wir verweilen
aber deswegen länger, ah gewöhnlich bei diesem Gegenstand, von
1) Wiiiz, Anthropologie der Nalurvölker. Bd. 4. S. 223.
2) Ales. Caslrdn, Eilinol. Votlesungen. S. 26—27.
3) Nach einem Vorlrafje iles Hrn. v. Brandt, deutschen Consuls in
Japan, vor der Berliner antlito|)ol. Gesellschaft am 10. Decbr. 1871, |Verhind-
lungen. 1872. S. 2S.I
4) Kamtschatka. Frankfurt 1774. S. 236.
51 Waiti, Anthropologie. Bd. 3. S. jrö.
6) Lib. I, 22.
7) Triiüuin lib. in, EleB- X. v. 62.
*i) Hisi. not. hb. XX, 8l. lib. XVIII, 1.
<)) Forbiger, Il.indbuch der alten Geogrjphie. Bd. 3. S. 147,
]uj Hern^iiidii Je Pulgat, Crönica, Valencia ijSa P. III. cap. 33.
Die Bewaffnung. ig 7
dem wir die erste Ueberschau gegeben haben ^), weil die Unter-
drückung dieses Frevels uns zugleich einen der seltnen Fälle ge-
währt, dass der Mensch nicht blos seinen Geselligkeitstrieb zur
sittlichen Richtschnur erhoben hat, sondern dass er über diesen
hinaus nach Veredlung strebt, denn der rohe Selbsterhaltungstrieb
würde sicherlich auch den Gebrauch vergifteter Waffen verstatten.
Dass aber die Völker anfingen sich einer solchen Wehr zu schämen
und sie unvereinbar hielten mit ihrer W^ürde, lässt uns eine Stelle
bei Homer erkennen. Odysseus will nämlich von llos in Ephyra
ein tödtliches Pfeilgift einhandeln, der es ihm jedoch aus Scheu
vor den ewigen Göttern verweigert^). Der Grund dieser Weigerung
lässt uns ahnen, woher es komme, dass wir die Giftwaflfen jetzt
nur noch xmter den Tropen oder in ihrer Nähe finden, weil eben
dort die rohesten Menschenstämme sitzen, die sich noch nicht um
den Zorn der 'ewigen Götter kümmern.
Ein anderes Wurfgeschoss , die Schleuder, kann gewiss nur
dort erfunden worden sein, wo es Steine gibt. Steine gibt es nicht
überall. Sobald der Amazonas oder seine gewaltigen Nebenströme
aus den Abhängen der Cordilleren heraustreten, durchziehen sie
eine Niederung, eben wie eine Tafel mit fast unmerklichem Ge-
fall, wo sich kein Geschiebe mehr findet, denn Modererde lagert
klaftertief über fein zermalmtem Lehm oder Thon^). Könnten wir
uns also denken, dass alle Erdvesten jenen südamerikanischen
Ebenen glichen, so hätten die Menschen nie zum Steinzeitalter
sich erheben können, sondern bei Holz und Hörn verharren
müssen. Auch werden wir uns im voraus sagen, dass in einem
amazonischen Waldland ohnehin die Schleuder nicht anwendbar
wäre. Wir finden Schleudern nicht in Nordamerika, ausser bei den
Eskimos. Sehr häufig sind sie dagegen auf den Südseeinseln, so
bei den Bewohnern der Marianen'^), auf der Samoagruppe^), auf
Tahiti und den Sandwichinseln ^). Die papuanischen Bewohner der
1) Ausland 1870. No. 19. Ueber den Einfluss der Ortsbeschaffenheit auf
einige Arten der Bewaffnung. S. 432. flg.
2) Odyss. I, 259 flg. Ephyra muss entweder in Epirus oder in einer
nsel des argolischen Meerbusens gesucht werden.
3) Ed. Pöppig, Chile, Peru und der Amazonenstrom. Bd. 2. S. 340.
4) Waitz, Anthropologie, Bd. 5. II. Abth. S, 130.
5) Fr. Müller, Reise der Fregatte*' Novara. Anthropol. Bd. 3. S. 39.
6) Heinr. Zimmermann, Reise um die Welt mit Capt. Cook. Mann-
heim 1781. S. 75.
jgg Die Sewaffnuag.
Fidschigrappe und Neu-Caledoniens .fährten sie ebenfalls*). Aaf
diesen Inseln diente sie zugleich einem lägUchen BedürfnJss, denn
es wurden die Kokosnüsse durch Steinwürfe von den Palmen herab-
geholt. Weniger klar ist es, weshalb gerade die Guanchen, ode'
die ausgestorbenen Bewohner dpr canarischen Inseln sich dieser
Waffe bedienten, rielleicht, dass sie die Schleuder aus ihrer früheren
nordafrikanischen Heimath auf den Archipel mitbrachten. Auch
die besten Schleuderer im classiöchcn Alterthum stammten von
einer Inselgruppe, den Balearen'). Im Sudan und im südlichen
Afrika kommt die Schleuder entweder gar nicht oder nur als
Seltenheit vor, um so reichlicher bei Völkern der biblischen Ge-
schichte, Uerühmt waren unter den Hebräern die Schleuderer des
. Stammes Benjamin, die mit der Rechten und Linken fochten und
mit ihren Steinwürfen das Ziel nicht um Haaresbreite fehlten^),
Auch wurde ja durch einen glücklichen Steinwurf gegen einen
riesenhaften Philistäer die Dynastie der Konige in Juda begründet.
Steinige Weidotriften, me sie in Palästina nirgends fehlen, waren
herausfordernd zur Ucbang des Schleuderns, zumal alle Hirten-
völker im Werfen geübt sind, theils zur A'ertheidigung ihrer Thiere,
theils zur Bestrafung der Hunde oder zerstreuter Heerdenstücke.
Förmlichen Uebungen im Scheiben schiessen und im Steinewerfen
wohnte Adolph v. \\'rede unter Beduinen des arabischen Hadh-
ramaut bei*). National- und Lieblingswaffe ist die Schleuder aber
in Sudamerika geworden. Während die Ebenen Östlich von den
Anden, mit Wald bedeckt, nur Jägerstämme kennen, die überall
den Bogen führen, treffen wir im Reiche der Inca oder Sonnen-
söhne, bei den Cultur volkern, den Ketschua und Aymara, auf den
baamlosen Puna oder Hochebenen zwischen den Cordilleren die
Schleuder als Jagd- und Kriegswaffe, Sämmtliche Völker in den
Anden Südamerikas führen die Schleuder bis südwärts herab zum
Cap Hom, wo sich ihrer die Feuerländer zu ihren Jagden auf
Llamas oder vielmehr Guanücos bedienen. Anthropologisch ver-
wandt mit den Völkern der Anden sind die Patagonier der Steppen
im Süden imd Westen des Silberbundes. Dort hat das Schleudern'
T) F. Knoblauch, Ausland l»66. S, +(.6.
2| Forbiger, alle GenEraphie. Bd. 3, S. loQ.
jl Judit. XX, 15— :6.
4j V. Wrede's Reisen im Hadhramaul. Herausg. von H. v. Mallmn.
Brannschweig 1870. S. 195.
Die 6^i«^nung. Iqq
und die Schleuder ihre höchste Vollkomrpenheit erreicht. Die
Steine sind nämlich gerundet, und werden ^ an einem Leder-
riemen befestigt, über dem Kopf geschwungen. So entstand
die Wurfleine mit den Kugeln oder Bolas*). Ja mit der
Zeit verwendete man sogar die Wurfleine ohne jeden Stein i und
noch jetzt schwingen die Gauchos oder halbblütigen Hirten der
Argentina ihren Lasso so meisterhaft, dass sie ihn zur Bewältigung
eines Gegners sogar dem Feuerrohr vorziehen^). Auch im alten
Aegypten war an die Stelle der gewöhnlichen. Schleuder die Leine
mit den Wurfkugeln getreten, denn unter den Jagdscenen, welche
uns die Denkmäler erhalten haben, erblicken wir einen pharaoni-
schen Waidmann, der einem Büflfel die Leine mit der ^ugel um
die hinteren Füsse wirft ^). Es ist wohl nicht zu besorgen, dass
jemand den kühnen Schluss ziehe, die Patagonier stammten von
den Altägyptern ab, oder es hätten sich Aegypter vielleicht von
der phönicischen Flotte, die unter dem Pharaoh Neku Afrika um-
schiffte, nach Südamerika verirrt. Wir stossen vielmehr hier auf
eines der unzähligen Beispiele, dass die nämlichen Geräthe von
ganz entfernten und sich ganz entfremdeten Völkern selbständig
erfunden worden sind.
Haben wir bisher nur die Technik der Waffen mit der Be-
schaffenheit der Erdräume verglichen, so wenden wir uns jetzt einer
ernsteren Seite des Gegenstandes zu. Wie die vergleichende Ana-
tomie den lateinischen Sinnspruch zur wissenschaftlichen Wahrheit
erhoben hat, dass aus der Klaue der Löwe sich erkennen lasse,
so kann die Völkerkunde aus den Waffen mit grosser Sicherheit
• auf die Gesittungsstufe eines Volkes schliessen. Die Vorbedingung
aller höheren gesellschaftlichen Zustände ist die räumliche Ver-
dichtung der Bevölkerung, weil sie eine Theilung der Arbeit ver-
stattet. Aus der Kopfzahl und dem Flächeninhalt, welchen 1825
i) Ueber die Verbreitung der Bolas bei den Ketschuavölkem in Peru,
vgl. Markham, Proceed. of the Royal Geogr. Soc. vol. XV. No. 5. Sitzung
vom 10. Juli 1871.
2) V. Tschudi, Reisen in Südamerika. Bd. 4. S. 287. Dass er von den
Alliirten im Kriege gegen die Paraguiten angewendet wurde, darüber vergl.
Ausland 1870. S. 320 und Max v. Versen, Reisen in Amerika und der
südamerikanische Krieg. Breslau 1872. S. 119.
3) Wilkinson, ancient Egyptians, tom. III, p. 15, sowie in Lepsius*
Denkmälern.
200 ^^ Bewaffnung.
die Rothhäute der Vereinigten Staaten inne hatten, ist berechnet
worden, dass Jägerstämme zu ihrem Unterhalte für jeden Kopf
i^/^ engl. Q. Meilen nöthig haben, während in einem vergleichbaren
Erdstrich, nämlich in Belgien, 320' Köpfe auf einer engl. Q. Meile
wohnen ^).
Nur eine blühende Landwirthschaft verstattet eine hohe Ver-
dichtung. Der Ackerbauer aber kann nicht Waffen führen, die
eine beständige Uebung und seltene Fertigkeiten erfordern. Um
sich gegen ferne Geschosse von Jägerstämmen zu sichern, wird er
vielmehr seinen Körper durch eine Bedeckung von Watte, wie in
Amerika, oder durch Leder, oder durch Metall schützen. Ferner
wird er das zerstreute Gefecht, welches mit Jägerart viel Aehn-
lichkeit hat, aufgeben und in Gliedern sich zusammenschliessen.
In Amerika sehen wir diese Neuerung bei allen Culturvölkern voll-
zogen. Die Mexicaner und Yukateken hatten nicht bloss Schutz-
waffen, sondern sie führten das Schwert des Steinzeitalters aus
Holz geschnitzt und mit einem Falz versehen, in welchen stück-
weise die Klinge aus scharfen Obsidi anscher ben eingefügt wurde.
Wie weit wären überhaupt sämmtliche Nahuatlvölker Mittelamerikas
zurückgeblieben, wenn sie nicht den Obsidian oder das Iztli unter
den Laven ihrer Vulcane gefunden hätten? ein Mineral, das bei
jedem geschickten Hammerschlag, wir möchten sagen, in lauter
Messerklingen zerspringt, so scharf, dass noch lange nach der Er-
oberung die Spanier sich von einheimischen Barbieren mit Obsi-
dianscherben rasiren Hessen. Bei den Incaperuanern treffen wir
hölzerne Helme, mit Watte gepolsterte Wämser, Schwerter aus
Kupfer, Streitäxte, Speere und Wurfspiesse*), sowie Fahnen, letztere«
das beste Zeugniss für eine bereits vorhandene taktische Ein-
theilung.
Die Uebergänge bedurften jedenfalls grosser Zeiträume. Hirten-
völker legten die Jagdwaffen nicht plötzlich ab, sondern nur nach
und nach. Im trojanischen Kriege begegneten sich Völker, die
halb Ackerbau, halb Viehzucht trieben. In den Reihen der Achäer
treffen wir daher nur zwei oder drei Virtuosen, die Bogen und
Pfeil führen, und in der Odyssee fordert die schlaue Penelope ihre
Freier zu einem Probeschiessen auf, wobei sich ergibt, dass sie alle
1) Sir John Lubbock, Prehistoric Times. 2d ed. p. 582. sq.
2) Prescott, Conquest of Peru. tom. I, p. 72 sq.
, Die Bewaffnung. 20I
mit dem altmodisch gewordenen Gewehre nicht mehr umgehen
können. Aehnliche Uebergänge werden jetzt in Afrika beobachtet.
Bei allen viehzuchttreibenden Negern am weissen Nil finden wir
Keulen, Lanzen und Schilder wie bei den Schilluk und den Nuer'),
oder, weil Jagd noch betrieben wird. Bogen und Pfeile wie bei den
Kitsch-, Dschur-, Moro- und Niamniamnegern *). Ausnahmsweise
traf Georg Schweinfurth bei den merkwürdigen Monbuttu am Uelle
Schild und Speer mit Bogen und Pfeilen, aber er fügt ausdrück-
lich hinzu, dass eine solche Vereinigung von Waffen in den Neger-
landen zu den Seltsamkeiten gehöre^). Die rechten Kafirn,'Sagt
Theophilus Hahn^), bedienen sich nie des Bogens und der Pfeile,
sondern sie fechten abgetheilt in Legionen zu 600 — 1000 Mann.
Der grosse Zulukönig Tschaka liess sogar die 5 — 6 Wurfspeere
der alten Bewaffnung entfernen und führte eine kurze Lanze zum
Stosse, sowie lange Schilde ein, unter deren Schutz seine Krieger
gegen ihre Feinde stürmten und ihnen mit der kurzen Waflfe zu
Leib gingen. Hottentotten und Buschmänner gehören zu einer
scharf gesonderten Familie und sind unter sich verwandt. Die
Hottentotten sind Hirten, die Buschmänner Jäger, die Hottentotten
bedienen sich mit spärlichen Ausnahmen nicht mehr des Bogens
und Pfeiles, der bei den Buschmännern die einzige Waffe ist. Die
Kelten Galliens und unsere eigenen Vorfahren zu Cäsars und
Tacitus' Zeiten waren ebenfalls keine Bogenschützen mehr 5).
Als Einwand gegen diese Auffassung könnte man, abgesehen
von den Chinesen, geltend machen, dass wir ja auf ägyptischen
Denkmälern, auf den Sculpturen von Chorsabad, Niniveh und Ba-
bylon unzähligemale Bogenschützen abgebildet finden. Warum
aber jene ehrwürdigen Culturvölker die alten Jägerwaffen führten,
darüber gewährt' uns das alte Testament willkommenen Aufschluss.
Der Sieg, den die Philistäer über König Saul gewonnen hatten,
wurde auf Rechnung ihres Schützencorps geschrieben, und David,
obgleich selbst der beste Schleuderer seines Volkes, liess zur Aus-
1) Petherick, Central Africa, L 98, 99, 100, 120, 319.
2) 1. c. I, 194, 217, 247, 248, 276, 280.
3) Zeitschrift für# Ethnologie. Berlin 1873. Bd. 5. S. 18.
4) Globus 1871. Septbr. Bd. XX* No. 11. S. 163—165.
5) Wenigstens wurde von den Kelten Galliens nur gelegentlich noch von
Bogen und Pfeil Gebrauch gemacht. Strabo, Geogr. üb. IV. cap. 4. ed.
Tauchn. I, p. 317. •
202 l^is Bewaffnung.
gleichung des Nachtheüs die Kinder Juda im Bogenschiessen wieder
einüben, und seit dieser Zeit wurde diese Kunst nicht mehr von
ihnen vernachlässigt'). Die Kriege, die damals in Vorderasien ge-
führt wurden, galten meist den Städten. Die Mauern der Städte
wurden aber bereits von Thürmen flankirt. Auch war zur Deckung
von Belage rungsarbeiten oder der Stürmeuden selbst damals ein
fernwirkendes Geschoss, wie der Pfeil, unentbehrlich. Finden wir
ja selbst in der römischen Schlachtordnung ein Schützencorps für
besondere Gefechtsaufgaben, obgleich die wahre Legionswaffe nur
das Schwert und der Wurfspiess gewesen sind"). Nicht unbeab-
sichtigt wurde oben angeführt, dass die Fidschi-Insulaner bei Be-
lagerung ihrer festen Ortschaften , sowie bei Vertheidigung der
Pfahlwerke immer noch Bogen und Pfeil beibehalten haben. Allein
in allen diesen Fällen tritt das nämliche Werkzeug nicht mehr als
ein W ai d man nsge wehr auf, sondern wir möchten fast sagen als eine
gelehrte Waffe. Jene alten Denkmäler aus dem Bereich der bib-
lisclien \'ülker zeigen uns sämmtlich die Krieger geordnet. Die
Theilung der Arbeit hat schon begonnen, und der Krieg wird ent-
weder von eingeübten Milizen oder von einer Kaste geführt, nicht
mit dem Handwerkszeug des täglichen Erwerbs, sondern mit spe-
ciaiisirten Watten. So wie aber der Krieg methodisch eingeübt
wird, muss der Einfluss der Ortsbeschaffenheit auf die Bewaffnung
mehr und mehr schwinden, ja bei modernen Culturvolkern kann
von ihm kaum noch gesprochen werden. Immerhin wird selbst
heutigen Tages niemand die Bevölkerung der Kosakensteppen oder,
der ungarischen Pussten mit Vorliebe au Scharfschützen ausbilden,
ebenso wenig als wir in den Bewohnern unserer Hochgebirge einen
bevorzugten Stoff für leichte Reiterei erblicken wertlen.
5. Fahrzeuge und Seetüchtigkeit.
Wenn auch die Seetüchtigkeit der Völker am spätesten zu
reifen pflegt, so hat sie doch auf die Geschichte der menschlichen
Gesellschaft die höchsten Folgen geübt, denn wie hoch man auch
Fahrzeuge und Seetüchtigkeit. 203
die Schöpfungen eines Volkes auf dem Gebiet der Kunst, wie hoch
man seine wissenschaftlichen Erkenntnisse, oder seine Religions-
satzungen stellen mag, die That eines einzigen kühnen und be-
harrlichen Seemanns verdunkelt, wenn wir nur an die physische
Geschichte unserer Erdvesten denken, alles andere an Wirksamkeit.
Wenn wir von einer fremdartigen Natur und fremden Welten auf
unserm Erdball reden, so meinen wir nichts anderes als die fremd-
artigen Gewächse und fremdartigen Thiergestalten die ihnen eigen-
thümlich sind. Wären aber der Verbreitung' von Thieren und
Pflanzen keine räumlichen Hindernisse in den Weg getreten, so
würden alle klimatischen Gürtel der Erde die nämlichen Formen
belebter Wesen zeigen. Die Meere sind die wirksamsten Hinder-
nisse gewesen, aber der Seemann, der die Alte Welt mit der Neuen
verknüpfte, hob diese Hindernisse, und vernichtete an Amerika die
Eigenschaft eines gesonderten Erdraumes. Amerika ist seit der
Entdeckung nicht bloss von Europäern, sondern zugleich von
allen europäischen Culturgewächsen und Hausthieren, von Weizen,
Korn, Hafer, Gerste, von Rind, Ross und Schaf betreten worden,
und diese einwandernden Pflanzen und Thiere waren so mächtig,
dass sie in kurzer Zeit den landschaftlichen Anblick grosser Erd-
räume, ja sogar ihr Klima umgestalteten, indem sie aus einer
schattigen Wildniss ein sonniges Getreideland schufen. Um so
lebhafter muss aber unsere Wissbegierde zu der Untersuchung an-
geregt werden, ob nicht auch Aussicht vorhanden gewesen sei,
dass von andern Theilen unserer Erdveste Amerika, oder ob nicht
von den Amerikanern selbst die Alte Welt hätte gefunden werden
können, und wie gross die Keime im jenseitigen Welttheil waren,
die zu einer solchen Hoffnung hätten ermuthigen können. Diess
alles lässt sich allein auf dem Wege geschichtlicher Vergleiche
finden, und wir müssen daher diejenigen Erdräume aufsuchen, wo
sich seetüchtige Völker am höchsten entwickelt haben.
In der alten Welt haben grosse Ströme die nautischen Fertig-
keiten bei den Uferbewohnern nicht ausgebildet und das gleiche
gilt auch von Amerika. Wenn der Anblick der Stromgebiete des
Mississippi, des Amazonas und der La Plataströme auf einem
Länderbilde uns gegenwärtig mit der Ahnung einer unberechen-
baren Culturgrösse berauscht, wenn wir im Geiste ihre Wasser mit
belasteten Schiffen bedeckt , ihre Ufer mit Städten besäumt und
dicht bevölkert erblicken, so sagt uns doch schon unsere heimische
204
yahrzeugc und Seetüthtigkeil
Geschichte-, dass Ströme erst im Mittelalter die Städtebegründung
forderten und als grossartige Verkehrsmittel erst nach Benutzung
der Darapfkräfte ihre heutige Geltung erlangten. Wohl sind auch
im Alterthum grosse CulturschÖpfungen durch Ströme hervorgerufen
worden, wie durch den Nil und die Geschwisterfiüsse Mesopo-
tamiens. Ailfin in beiden Fällen dienten sie hauptsächlich nur zur
Benetzung von Fluren in trockenen Ländern. Eine günstige
Regenzeit hätte den Euphrat und Tigris entbehren lassen, und
selbst das Nilwasser, wenn auch nicht den Nilschlamm, zu ersetzen
vermocht. Die Eingebornen Amerika's waren aber noch weit ent-
fernt , dass ihre grossartigen Stromnetze als Cultur Verbreiter sich
\virksam hätten zeigen können. Breite und tiefe Flüsse sind bei
den jugendlichen Anfängen der Gesellschaft eher Schranken und
Hindernisse, wie ja noch zu Cäsars Zeiten der Rhein die Deutschen
und die Kelten schied und trennte. Dem Jäger, der in dem
Rindenkahne sich be\vegt, sind kleine und stille Flussläufe will-
kommener, ja als Fischwasser bieten sie ihm sogar die grosse Be-
quemlichkeit, dass er sich durch ihre Vergiftung seiner Beute
rascher zu bemächtigen vermag. Daher kommt es, dass die Nähe
des Mississippi sich gar nicht und die des Amazonas nur durch
sehr geringe Fortschritte in der Gesittung der wilden Stamme ver-
kündigt.
Das gleiche gilt von der grossen Kette Binnenseen in Nord-
amerika, denn die Jägerstämme, welche ihre Ufer bewohnten,
standen durchaus nicht hoher i-^s die übrigen. Nautische Ge-
schicklichkeit dürfen wir auch anderwärts nicht auf Binnen-
gewässern suchen. In Asien haben der Balchasch-, Baikal- und
Aral-See, ja nicht einmal das kaspische Meer anregend auf die
Ausbildung der Uferbewohner zur SchifTfahrl gewirkt. Fand man
doch noch vor kurzem und findet man noch jetzt, wo die Eng-
länder aus Liebhaberei bessere Muster nicht eingeführt haben, auf
allen Seen der Alpen nur Fahrzeuge von der niedrigsten und zweck-
widrigsten Bauart, die seit Jahrtausenden jeder Verbesserung ge-
trotzt haben. Nicht an Flüssen und noch weniger an Binnenseen,
sondern nur an den Küsten dürfen wir uns nach den Völkern
umsehen , die Länder mit Ländern verknüpfen , wie denn in der
Cult Urgeschichte mehr als anderswo der Sinnspruch bei den eleu-
sinischen Geheimfeiern gilt; Ans Meer, ihr Mysten!
Von den Völkern die im Alterthum durch ihre Unterneh-
Fahrzeuge und Seetüchtigkeit. 205
mungen zur See glänzten, nennen wir vorläufig zwei : die Phönicier
und die Bewohner der Südküsten Arabiens. Die Nähe dankbarer
überseeischer Ziele wirkt vor allem anregend zu den ersten Ver-
suchen die Küste zu verlassen. Den PhÖniciern winkte als leicht
erreichbarer Gegenstand die Kupferinsel (Cypern), den Arabern
das nahe gelegene Afrika. Die Küste Syriens wie die des ara-
bischen Yemen, Hadhramauts und Omans erstrecken sich mehr
oder weniger in gerader Richtung. Hinter einem schmalen Küsten-
saume erhebt sich das Land, und hinter der Erhebung breiten
sich sogenannte Wüsten aus. An solchen Küsten ist nicht nur
der Weg zu Wasser gewöhnlich der kürzeste, oft der einzige
zwischen den bewohnten Orten, sondern es bürgt auch die Regel-
mässigkeit der Land- und Seewinde zugleich für bequeme Fahrten.
So wie sich die Bevölkerung des engen Küstensaumes verdichtet,
muss der Fischfang mehr und mehr zur Ernährung beitragen, imd
wenn auch er nicht ausreicht, ein Theil des Volkszuwachses über
das Meer hinausstreben. Wie auf diese Art Phönicier nach Cypern,
von Cypern nach Kreta, von Kreta nach Carthago, Spanien und
bis zum Senegal gelangt sind, darf als bekannt gelten. In gleicher
Lage wie sie befuhren die Bewohner Südarabiens die Ostküste
Afrika's (Adschan jetzt, Azanien von den Griechen genannt), in
älterer Zeit wahrscheinlich bis Kilwa am Eingang der Mozambique-
strasse und Rhedern aus Aden verdankte Claudius Ptolemäus seine
Kenntnisse nicht nur jener Küste, sondern auch der grossen Nil-
seen, die damals wie jetzt vom heutigen Sansibar aus durch ara-
bische Kaufleute besucht worden sind^). Später erstreckten sich
Pflanzstädte der Araber von Hadhramaut und Oman am Gestade
Afrika's bis Sofala, was für einen Küstenfahrer just so weit war
wie aus einem phönicischen Hafen bis zu den Säulen des Her-
cules*).
Spähen wir in der neuen Welt nach Küsten ähnlicher Bildung,
mit schmalem Ufersaume, begränzt von aufsteigenden Gebirgen
und verhältnissmässig dicht bevölkert, so dürfen wir nur am West-
rande Südamerikas, von der chilenischen Gränze angefangen,
gegen Norden bis zum Gestade von Ecuador die Phönicier Ameri-
1) Ptolemaeus, Geogr. lib. i. cap. 17. ed. Wilb. p. 57.
2) Peschel, Geschichte der Erdkunde. S. iii.
ao6 Fahrzeuge und Seetüchligkeil.
kas suchen. Auf dem grössten Theile dieses Gestades fallt be-
Itanntiich kein Tropfen Regen, sondern es herrschen während der
feuchten Jahreszeit nur Nebel die auf dem Sand und den wan-
dernden Dünen einen vergänglichen Hauch von Pflanzen hervor-
rufen. Nur längs der kleinen Küstenflüsse, die von den Cor-
düleren herabeilen, vermag der Ackerbau die Bevölkerung zu er-
nähren. Man ist daher ku der Erwartung berechtigt, dass sich
dort Fischerei und Küsten schifl"fahrt hätten entwickeln sollen. Leider
ist das Festland völlig entblösst von Inseln die zu Fahrten auf die
hohe See hätten verlocken können, denn die GalÄpagos liegen vom
nächsten Küstenpunkte weiter entfernt als vom Cap St. Vincent
die Insel Madeira, von der es nicht streng erwiesen ist, dass sie
im Alterthum besucht wurde und mit der wir daher genauer erst
seit dem 14. Jahrhundert bekannt geworden sind. Ausserdem fehlt
es den Ufern des ehemaligen incaperuanischen Reiches an Baum-
stämmen die sich hätten zu Fahrzeugen aushöhlen lassen.
Dennoch herrschte gerade längs jener Küste ein Seehandel
wie er sich in der neuen Welt vor der Entdeckung nur noch an
wenigen Stellen wiederfindet. Als Francisco Pizarro 1526 von
Panama her unter der Fährung des Piloten Bartolomeo Ruiz an
der Küste des heutigen Ecuador die Bucht San Mateo nördlich
und östlich vom Cap San Francisco erreicht hatte, fielen ihm in-
caperuanische Kauffahrer in die Hände, die aus Tumbez Llama-
wollentücher und Juwelierarbeiten brachten. Es war kein Schiff,
sondern nur ein Floss auf dem sie eine Küstenfahrt von go deut-
schen Weilen zurückgelegt hatten. Nicht Mangel an Fertigkeiten
oder Erfindungsgabe, sondern Mangel an Scbiflfsbauholz ') allein
zwang die Küstenbewohncr zur Erbauung so roher Verkehrswerk-
zeuge; mit denen sie übrigens noch heutigen Tages Fahrten von
Guayaquil bis nach Lima (Callao), 180 deutsche Meilen weit, unter-
nehmen. Gegenwärtig dienen an der Wüste Atacama, wo die
Baumstämme noch seltener sind, nicht einmal Flösse, sondern
Stangen mit aufgeblasenen Schläuchen den Eingeborne» zum Be-
trieb ihrer Fischerei'). Das Floss aus Tumbez, welches die Spanier
) d'Orbigoy, l'Homme amiricain. Paris 1839. p. 135.
i) J. J. V. Tschudi, Reisen durch Süd- Amerika. '.
on, Voj-ape autowr du monde. Paris 1839. 'lom. I. p. $t
Fahrzeuge und Seetüchtigkeit. 207
aufgriffen, wurde aber bewegt durch ein Segel und gelenkt durch
ein Steuerruder. Zur Zeit der Entdeckungen wurde die Segelkraft
von den Eingebe rnen Amerikas nur spärlich angewendet, und dess-
halb gehören auch jene Fortschritte der Peruaner zu den höchsten
nautischen Leistungen in der neuen Welt').
\ Auf unserer Erdveste begegnen wir aber nicht bloss an Küsten
vom Charakter Syriens oder Südarabiens schifffahrtskundigen Be-
völkerungen, sondern die verwegensten Seefahrei; hat jedenfalls
Norwegen erzogen, denn sie gingen im 9., 10. und 11. Jahrhundert
ohne Bekanntschaft mit der Nordweisung der Magnetnadel nach
Island, Grönland, Labrador und bis zu den heutigen Neu-England-
staaten Nord-Amerikas. Norwegen gehört in das Klima, wo die
rauhe Witterung die Küsten in Inseln und Fjorde zu zertrümmern
vermag^). Keine Schule erzieht bessere Seeleute als eine ver-
witterte Steilküste und ein so rauhes aber auch ergiebiges Meer
wie die Nordsee. Fand doch schon zu Plinius' Zeiten eine Schiff-
fahrt zwischen Norwegen und der Shetlandsgruppe statt 3), wozu
eine längere Ueberfahrt nöthig war als von irgend einer Mittel-
meerinsel bis zur nächsten Uferstelle. Küsten mit Fjorden und
einem Inselsaume dürfen wir daher als treffliche Erziehungsmittel
zur nautischen Geschicklichkeit ansehen, und wenn wir wiederum
suchend unsern Blick nach der Neuen Welt kehren, so finden wir
ähnliche Uferbildungen zwar nur am stillen Ocean, dort aber so-
wohl an dem inselreichen Gestade des britischen und des früher
russischen Nord-Amerikas von der Vancouverinsel bis zum Berings-
meer, als auch im Süden von der chilenischen Gränze bis zum
Feuerlande.
Auf dem letztgenannten Schauplatz bewährt sich eine War-
nung, die wir anderwärts schon ausgesprochen haben, dass näm-
lich den physischen Begünstigungen des Wohnortes nicht unbedingt
die Leistungen der Bevölkerungen entsprechen werden,* sondern
dass die Bewohner selbst Anlagen besitzen müssen, um aus den
i) Der sonst sehr genaue Prescott (Conquest of Peru, I, 65) bezeichnet
die peruanischen Segelflosse als the only instance of this higher kind of navi-
gation among the American Indians, Wir werden sehen mit welchem
Rechte.
2) Peschel, Neue Probleme. S. 9.
3) Hist. nat. lib. IV. cap. 30.
2oS Fahrzeuge und Seelüchtigkeit.
dargebotenen \' ort heilen den höchsten Nutzen zu ziehen. Das
Südhorn Amerikas nach allen Richtungen zerklüftet und gespalten
in Inseln und schluchtenähnliche Sunde, wo die Gletscher herab-
reichen bis zum Meeresspiegel und gleichwohl Papagaien fliegen,
ja Colibri sogar die Schneegestober nicht fürchten, die Heimath
immergrüner Fuchsien und undurchdringlicher Wälder konnte' denk-
barer Weise überhaupt nur \'on seekundigen Stämmen bewohnt
werden. Was die Abstammung der heutigen Bewohner des Feuer-
landcs betrifft, so wiederholen unsere Ethnographen nur d'Orbigny's
Worte'), dass nämlich ihre Sprache dem Kiange nach der pata-
gonischen und puelchischen, dem Bau nach der araucanischen sich
nähere. Für unsere Untersuchungen ist es ganz gleichgültig, ob
man die Bewohner des Feuerlandes und der magelhaesschen Insel-
welt von dem patagonischeii oder araucanischen Volkerzweige ab-
leitet, zumal beide sich wiederum sehr nahe stehen, und es unter
den Feuerländern sogar nachweisbar echte Patagonier gibt. Die
Patagonier sind Jäger, und so wenig mit dem Wasserleben ver-
traut, dass sie nicht das armseligste Floss besitzen, um auch nur
einen Fluss zu überschreiten. Die Araucaner sind ebenfalls Jäger,
nur dass sie nicht Grasfluren, sondern Gebirge bewohnen. Auch
auf den grossen Strömen der Pampas oder Steppen suchen wir
vergebens nach Rindenkähnen, In alter Zeit wurde eine Ochsen-
haut an ihren Rändern aufgeklappt und in den Ecken mit Riemen
zusammengebunden, so dass sie einem flachen, offnen Kasten glich.
Einer Pelota, wie die eben geschilderten Lederflosse hiessen, wurden
so oft ein Strom überschritten werden sollte, die Habseligkeiten
anvertraut. Der Sohn der Steppe spannte sich mit einem Riemen
vor die Ochsenhaut und zog sie schwimmend von Ufer zu Ufer").
Vom La Plata angefangen bis zum Cap Hörn und vom Cap Hörn
längs der Westküste Südamerikas bis fast zur Landenge von Pa-
nama gab es zur Zeit der Entdeckung keinen Volksstamm der
auf den Einfall gerathen wäre, andere Fahrzeuge zu verfertigen als
Flösse, folglich musste die Erbauung von Kähnen in den magal-
haesschen Gewässern von neuem erfunden werden und die Erfinder
waren die Pescheräh des Bougainvüle oder die Feuerländer in der
jetzigen Sprache der \"ölkerkunde. Immerhin hat also die
II L'hommi: .imiriciiii. p. iSS,
2) Dobrizhuffi-T, Gesdiithte der Abiponer. Bd. 2. S. 150.
Fahrzeuge und Seetüchtigkeit. 209
«
Küstengestaltung hier gewisse Lebensgewohnheiten und Fertigkeiten
hervorgerufen. Bei den Chonos-Inseln sind nur rohe Flösse^ in
Gebrauch, und die Feuerländer, mit denen Capitän Wilkes ver-
kehrte, besassen ebenfalls nur Kähne aus Baumrinden, die über
ein Gestell gespannt und zusammengenäht waren, des Ausschopfens
aber fortwährend bedurften. Anderwärts sind jedoch bessere Fahr-
zeuge gesehen worden, C6rdova rühmt sogar ihre Kalfaterung und
beschreibt bei Cap Providence Kähne, die aus Baumstämmen ge-
schnitten worden waren. Wenn wir bei den Feuerländern nur
solche schwache Versuche antreffen, so müssen wir bedenken, dass
^ sie erst Anfänger im Seemannshandwerk waren, denn dass Sie früher
auf dem Festland wie Araucaner oder Patagonier von der Jagd
gelebt haben, dürfen wir mit grosser Sicherheit daraus schliessen,
dass sich in ihren Händen eine Waffe befindet, die sonst nirgends
bei maritimen Stämmen angetroffen wird und ihnen auch wenig
Dienste leisten kann, nämlich die Schleuder. Doch treiben die
Feuerländer auch noch jetzt ein wenig Jagd, da sich Guanaco-
heerden auch auf den magalhaesschen Inseln (auf Navarin unter
andern) aufhalten. Wir werden also nicht fehl schliessen, wenn
wir in den Feuerländern eine ehemalige schwache Horde von
Jägern erkennen, die durch stärkere Nachbarn von ihren Revieren
verdrängt, schliesslich zu dem Wagniss einer Ueberfahrt nach der
nächsten Küsteninsel und zur Jagd auf Seethiere genöthigt wurde.
Ehemals waren im Feuerlande die Seehunde an Arten wie an
Häuptern ausserordentlich zahlreich, seit den Verheerungen uner-
bittlicher Robbenschläger müssen aber die Feuerländer sich mit
Schalthieren und Fischen begnügen, gehen auch, wie so viele
andere Stämme, einem raschen Ende entgegen.
Zeigt uns die Welt der patagonischen Fjorde und Scheeren
nur schwache Anfänge des Seegewerbes, so können wir dafür im
Norden von der Vancouverinsel bis zu den Aleuten eine Reihe
kleiner sprachlich gesonderter Stämme von Rothhäuten mustern,
die wir als die Normannen der Neuen Welt bezeichnen dürfen,
insofern sie eine Küste von gleichartiger Bildung wie Norwegen
bewohnen und in ihrer Welt als kühne Seeleute nicht leicht zu
übertreffen waren. Die schlanke Bauart und der scharfe echt
nautische Schnitt der Fahrzeuge im Nutka-Sund der Vancouver-
^) United States Exploring Expedition, tom. I. p. 124.
Peschel, Völkerkunde. ' H
2IO Fahrzenge unil Seetüchtigkeit.
iflsel, ist erst kürzlich wieder vom Maler CaÜin bewandert worden,
uad iwar findet man dort Fahrzeage von 53 Fiias Länge und ge-
räumig für 100 Menschen '). Nicht übersehen darf es werden, dass
südlich von der De Fuca-Strasse, wo die Küste ihren Fjordcha-
rakter verliert, bis zu den Gränzen des alten Peru bei allen Ein-
gebornen nur die rohesten Muster von Fahrzeugen sich gefunden
haben, während umgekehrt^ von Nutka-Sund nordwärts, und je
mehr, man sich dem asiatischen Festlande nähert, die Bauart der
Kähne immer kunstvoller, ihre Führung immer bewundernswerther
wird. Bei den Inseln des ehemals russischen Amerika, die von
Thlinkiten bewohnt werden, begegnen wir bereits dem echten Es-
kimoschnitt der Jagdboote, dort Baidaren genannt, nur für einen
Einzelnen eingerichtet mit geschlossenen Verdecken, so dass nur
ein Sitzranm übrig bleibt , den obendrein der Bootsmann mit sei-
nem Schurz dicht liedeckt, Einrichtungen die, so weit es anging,
in Europa nachgeahmt worden pind. Alle Küstenstämme von der
De Fuca-Ptrasse bis zu den Aleüten unterscheiden sich sehr scharf
von den sogenannten rothen Jägerslämmen östlich der Felsen-
gebirge, und man hat sogar die Wahl, sie entweder in Jüngern
Zeiten aus Nordasien sich eingewandert zu denken oder anzu-
nehmen, dass sie ihre nautischen Geschicklichkeiten ihren asia-
ti.schen Nachbarn abgelauscht und sie bis nach der Vancouverinsel
verbreitet haben. Eddes erscheint zulässig, aber in dem einen
wie in dem andern Falle erstreckte sich die günstige Wirkung nicht
über die Gränze der Fjorde hinaus.
Für die gegenwärtige Untersuchung ist es nicht wesentlich,
ob asiatische Völker oder nur asiatische Cultur an der Nordwest-
küste Amerikas bis zur De Fuca-Strasse sich verbreiteten, denn
beides ward erleichtert durch eine bedeutungsvolle Gliederung des
amerikanischen Nordens. Bei Australien war es die Carpentaria-
(Cap Vork-J Halbinsel, welche, nach Neu-Guinea sich erstreckend,
noch die Möglichkeit eines Verkehrs mit der alten Welt aufrecht
erhielt, und es gelingt uns vielldcht noch die Freunde der Völker-
kunde zu überzeugen, dass jene Continental zu nge das geographische
Organ gewesen sei, welches eine Hebung der gesellschaftlichen
Zustände unter den Eingebornen Australiens hervorbrachte. Der
Nordwesten Amerikas besitzt eine ähnliche Gliederung in der Halb-
1) Waili, Anlhiapologie. Bd. 3. S. JJI. •
* Fahrzeuge und Seetüchtigkeit. 211
insel Aljaska, die wie ein Arm nach Nordasien sich hinüber-
streckt, ja an dem ausgebreiteten Arm schwebt noch wie eine
Schnur Perlen die Inselkette der Aleuten, welche einen, wenn auch
lückenhaften Uebergang nach Kamtschatka vermittelt Diess war,
wenn man von Prädestination reden dürfte, der vorausbeschiedene
Pfad einer Culturvereinigung zwischen der alten Welt und der
neuen Welt, und wenn nicht schon im Jahre 1492 Amerika unter
spanischer Flagge entdeckt worden wäre, sondern wenn Europa
die Reife des Jahres 1492 erst ein halbes Jahrtausend später er-
reicht hätte, so wären uns asiatische Culturvölker, nämlich die
Japanesen, mit der Entdeckung Amerikas auf dem östlichen See-
wege zuvorgekommen. Wir denken dabei an nichts weniger, als
dass japanische Seefahrer über den Stillen Ocean verweht worden
sind wie 1832 und 1833 nach den Sandwichinseln und nach Ame-
rika selbst in die Nähe der De Fuca-Strasse, denn die Geschichte
kennt keinen Fall, dass durch Entdeckungen verschlagener oder
schiffbrüchiger Seeleute irgend eine folgenschwere Verbindung mit
fremden Erdräumen eingeleitet worden wäre*). Wir beziehen uns
vielmehr darauf, dass schon vor den Russen die Japanesen die
Kurilen besuchten, ja die südlichen Inseln bereits besetzt hatten,
und drei Mal 1697, 17 10 und 1729 Kunde nach Russland gelangte,
dass japanesische HandelsschijBfe bis nach Kamtschatka vorgedrungen
waren, so dass,* wenn ihnen die Russen nicht zuvorgekommen
wären, sie gerade so wie diese im Laufe der Jahrhunderte durch
den Pelzhandel von den Kurilen nach den Aleuten und von dort
nach Amerika geführt worden wären.
Nichts begünstigt die Ausbildung der Seetüchtigkeit besser
als Inseln, die einer Küste nahe liegen. So hat die Nähe Elbas
i) Allerdings könnte man vielkicht an die Fahrt von Bjame Herjulfsson
denken, der im Jahre looo Grönland aufsuchen wollte und durch einen ver-
fehlten SchifFslauf Amerika, wahrscheinlich Labrador, entdeckte. Allein dieses
zufallige Bekanntwerden der Normannen mit Amerika ist ohne einen cultür-
geschichtlichen Erfolg geblieben. Dann möchte vielleicht auch des Portu-
giesen Cabral gedacht werden, der auf der zweiten Fahrt nach dem asia-
tischen Indien begriffen, Brasilien entdeckte. Es war jedoch kein Zufall,
sondern wegen der im atlantischen Meer herrschenden Passate eine physische
Nothwendigkeit, dass die Nachfolger Vasco da Gamas auf ihren Fahrten nach
dem Cap der guten Hoffnung früher oder später in Sicht von Südamerika ge-
rathen mussten.
14*
r
JII2 ^Fahrzeuge und Seetüchtigkeit.
und von Elba aus die Nähe Corsicas die Etrusker viel zeitiger als
die Römer hinausgezogen in das Mittelmeer. Oesterreich bemannt
seine Kriegsflotte noch jetzt mit den trefl'lichen Matrosen, die ihm
die inselreichen Küsten Dalmatiens hefern, und Genuas ehemalige
Grösse beruht nicht bloss auf der Geräumigkeit seines natürlichen
Hafens, sondern auch auf dem Umstand, dass bei klarem Wetter
von der Riviera aus Corsica sichtbar ist, das erste Ziel einer län-
geren Seefahrt für ügurische Fi scher barken. Die britischen Inseln
haben in früheren Jahrhunderten nach und nach Bevölkerungen
an sich gezogen, die sich an Seetüchtigkeit überboten. Vor den
Normannen, Dänen und Sachsen haben sich schon die Kelten in
atlantische Fernen gewagt, denn wir wissen, dass die ersten Nor-
mannen, die auf Island landeten, dort irische AJterlhümcr ans der
christlichen Zeit vorfanden, die eine vorausgehende Besiedlung
durch fromme keltische Einsiedler bezeugten.
Werden daher irgendwo durch die Senkung von Landennassen
grosse Stücke von Festlanden abgetrennt, so entstehen aus den
Bruchstücken Inselgesellschaften auf seichten Meeren '). In der
alten Welt begegnet uns diese Erscheinung zwischen Südasien und
Australien, die ehemals fest verbunden waren, bis sich ihr Zu-
sammenhang in die Sunda-, Banda- und Molukkeninseln auflöste.
Von dort aus hat eine Menschenrace von ungewöhnlicher See-
tüchtigkeit, die Malayen die Oceane durchschwärmt auf mehr als
eine halbe Aequatorlänge , sie hat sich im stillen Meer gegen
Norden bis zu der Havai- oder Sandwichgruppe, gegen Osten bis
zu der Osterinsel, gegen Süden bis Ncu-Seeland , im indischen
Ocean aber bis nach Madagascar ausgebreitet, -Da wo sich durch
Annäherung Asiens und Europas das Mitte! meerbecken zu den
Dardanellen verengt, ist als Rest eines ehemaligen Zusammen-
hangs beider Welttheüe die griechische Inselwelt übrig geblieben,
die nach den Phüniciern das seekundigste Volk des Alterthums
ausbildete, das mit der Zeit seine Tochterstädte und Handelsplätze
über beide Lecken des Mittelmeeres , im Pontus bis zur Mündung
des Don, auf dem Wege durch das rothe Meer bis nach Ostindien
. ausdehnte. Im Kleinen finden wir eine solche Inselauflösung noch
z\vischen dem norddeutschen und dem skandinavischen Festlande,
wo die Dänen erwuchsen, denen ein Mischungstheil am britischen
1} I'esLiiel, Neue Probleme der vergleichenden Erdkunde. S. ii(.
Fahrzeuge und Seetüchtigkeit. 213
Blute zukommt, und die daher auch Antheil haben an dem nau-
tischen Ruhm der grÖssten europäischen Seemacht. Endlich be-
wohnen die Holländer ebenfalls ein Inselgebiet, welches durch eine
Senkung entstanden ist, und nicht vorhanden war, als die britischen
Inseln noch dem nordeuropäischen Festlande angehörten.
Wir dürfen also auf denjenigen Räumen der neuen Welt, die
einem gleichen Ursprung ihre Gestaltung verdanken, auch eine
gleiche Entwicklung ihrer Bewohner erwarten. Aus anderwärts
mitgetheilten physischen Vergleichen ergab sich aber, dass auch
die Inselwelt der sogenannten nordwestlichen Durchfahrt als Trümmer
eines ehemaligen Zusammenhanges zwischen dem kleinen Welttheil
Grönland und dem Festlande Nord-Amerikas angesehen werden
muss, und ferner, dass da, wo sich Nord- und Südamerika nähern,
am atlantischen Rande der seichten caribischen und mexicanischen
Golfe, als Reste eines ehemaligen Zusammenhanges die Antillen
stehen geblieben sind. Ist also die Entwicklung der menschlichen
Gesittung abhängig von der Gunst örtlicher Gestaltungen, so
müssten wir im amerikanischen Polarmeere und in den beiden
central-amerikanischen Golfen, die der neuen* Welt einen Ersatz
für unser einst so beglücktes Mittelmeer gewährten, die höchsten
Blüthen der SchifTfahrtskunde antreffen. Und irt der That werden
unsere Erwartungen nicht völlig getäuscht.
Inselwelten haben jedoch auch vielfach als letzte Asyle für
schwache oder veraltete Schöpfungsgestalten gedient, denen auf
dem Festlande der Kampf um das Dasein zu heiss geworden war,
und die nur dort noch länger bestehen konnten, wo das Meer sie
vor ihren rüstigen Bedrängern schützte. Die kleinen und grossen
Antillen , so wie die Bahamä-Gruppe waren vor 1492 von einem
sanften aber höchst unkriegerischen Menschenschlag bewohnt, den
Herr v. Martins Taini genannt hat. Die wenigen erhaltenen Reste
ihrer Sprache, meistens Ortsnamen, verstatten keine feste Begrün-
dung ihrer Abkunft, doch nimmt man in neuester Zeit an, dass
sie in Verwandtschaft standen mit den Arowaken Südamerikas, die
noch gegenwärtig die Guayanas bewohnen. Sie unternahmen
keine weiten Seereisen, höchstens dass die Bewohner im Süden
Haiti's sich gelegentlich nach Jamaica oder die von Jamaica nach
Haiti wagten ^). Von ihren Inseln aber waren sie schon 1492 theil-
i) Auf Jamaica wurden die grössten Fahrzeuge der Antillen bis zu 96 Fuss
Länge und 8 Fuss Breite erbaut. Bernaldez, Reyes Catöl. cap. 124. p. 310.
214 Fahrzeuge und Seetüchtigkeit.
weise durch einen ausserordentlich begabten, physisch und gdstjg
geadelten Menschenstamtn , durch die Cariben , verdrängt worden,
denen wie ihre vollige Nacktheit, den Hang zum Seeraub, das
Gelüste nach Menschenfleisch und das Salben ihrer Pfeile mit Gift
nicht allzulioch anrechnen dürfen, Die Inselcariben, deren Sprache
' sich nur als Hundart von dem Caribischen des Festlandes unter-
schied, hatten bereits die sogenannten kleinen Antillen erobert,
die östliche Hälfte von Puertorico' besetzt, und erstreckten ihren
Menschenraub sogar bis nach Haiti, wo einzelne ihrer Abenteurer
Reiche gegründet und ältere Ankömmlinge sich der Landschaften
am Ostrande bemächtigt hatten. Ihre Kriegsschiffe oder Piroguen,
40 Fuss lang, und so breit, dass ein spanisches Fass (pipa) über
quer darin Platz hatte, trugen 50 Seeleute, und wurden entweder
mit Baumwollen segeln oder durch Ruder nach dem Tacte eines
Vorsingers bewegt. Dass sie Seeräuber waren, darf niemanden
anstössig erscheinen, er müsste sonst bei Thucydides nachlesen,
wie die Hellenen durch das gleiche Gewerbe zur Seemacht ge-
worden sind. Das Piratenhanihverk gehört in der^That zu den
Entwicklungskrankhtiten des \'öiker Verkehres. Daher sind auch
bis auf unser Jahrhundert die Seegebräuche noch äusserst roh
geblieben. Viele der gefeierten britischen Weltumsegler und Ent-
decker des 16. und 17. Jahrhunderts waren zugleich Seeräuber,
ja die westindische Handelsgesellschaft der Holländer konnte nur
deswegen ihren Theiinebmern fabelhafte Gewinne bezaTilen, wdl
ihre .Schiffe die spanischen Siiberflotten abfingen. Der damalige
Kriegsgebranch adelte freilich den .Seeraub.
Wie sich an der Berührungsstelle der Antillen und des süd-
amerikanischen Festlandes die fariben für ihre Piratenzüge aus-
bildeten, so begegnen wir da, wo Cuba sich dem mittel amerika-
nischen Gestade nähert, den Vucateken, einem sehr hohen Cultur-
volk. \"on Seeraub ist hier schon nicht mehr die Rede, wohl
aber stiess ColAn, der Entdecker Amerikas, auf seiner vierten Reise,
als er von der Fichteninsel Guanaja (Bay Islands) nach der Küste
von Honduras steuerte, auf ein yucatekisches Marktschiff, welches,
wenn es der Küste entlang fuhr, mindestens 90 deutsche Meilen
zurücklegen musste, ehe es den nächsten^ nationalen Hafen er-
reichte. Es war 8 Fuss breit und so gross „wie eine Galeere",
auch mit einem Palm blätterdach versehen zum Schutz der Waaren,
tlie in Zeugen und K!eid\ingsstücken, hölzernen Schwertern mit
Fahrzeuge und Seetüchtigkeit . 215
Obsidianklingen, Geräthen aus Erz und Thongeschirren, also Ge-
werbserzeugnissen bestanden, für welche die Kauffahrer als Rück-
Tracht Cacao eingetauscht hatten. Eifrig sah man sie nach jeder
herabgefallenen Bohne sich bücken, denn schon damals vertraten
diese Samen oder „Mandeln", wie sie die Entdecker nannten, die
Stelle der Scheidemünze in Mexico wie Yucatan, nach welchem
letztern Lande sie lebhaft aus Honduras eingeführt wurden^).
Auch Cuba müssen die Yucateken zuweilen besucht haben, denn
am I. und 29. November 1492 bemerkt Col6n in seinem Schiffs-
buche: dass er ein Stück Silber und einen Kuchen Bienenwachs
bei den dortigen Eingebomen fand, beides Gegenstände, die zu-
nächst nur aus Yucatan dorthin gelangt sein konnten. Ob die
Segelkraft bereits von den Mayastämmen angewendet wurde, lässt
sich leider nicht mit Sicherheit behaupten^).
Die Inselwelt zwischen Nordamerika und Grönland würde zur
Ausbildung von maritimer Tüchtigkeit sich unvergleichlich eignen,
wenn ihre Gewässer, nicht vom arktischen Winter gefesselt, nur
wenige Wochen lang offene Wasserstreifen zeigten. Dennoch hat
sich gerade dort eine der seekundigsten Völkerschaften, nämlich
die Eskimo, verbreitet, über deren Leistungen das genauere noch
an einer späteren Stelle mitgetheilt werden soll.
Wir haben unsere Aufgabe gelöst, wenn es uns gelungen sein
sollte zu überzeugen, dass dieselben Küstengestalten in der alten
•wie in der neuen Welt auf ähnliche Weise tiie nautischen Lei-
stungen ihrer Bewohner gefordert haben, und dass wir in Amerika
nur auf sehr begränzten und besonders begünstigten Strecken die
ersten Keime der Schifffahrt antreffen. Wer die Fahrten im Stillen
i) Oviedo, Historia de las Indias. Madrid 1853. tom. III. p. 253.
2) Bei der Beschreibung der yucatekischen Galeere an der Küste von
Honduras erwähnt Don Fernando Colon in der Lebensbeschreibung seines
Vaters (Vida del Almirante, cap. 89) nicht das Vorhandensein eines Segels.
Dagegen erzählt Bernal Diaz, also ein Augenzeuge, dass im Jahre 1517, als
Francicco Feniandez de Cördova Yucatan bei der Punta de Catoche zuerst
entdeckte, fünf grosse Kähne, 40 — 50 Personen fassend, sich mit Rudern
und Segeln (ä ramo y vela) näherten (Histor. verdadera, c. 2). Bei Herrera,
Dec. II. Üb. II, 17, lauten die Worte aber cinco canoas con gentCt que ihan
al remo — also mit Ruderkraft. Auch bei Oviedo und Peter Martyr suchen
wir vergebens nach einer Bestätigung von Bemal Diaz' Angabe.
2[6 Fahrzeuge und Seetüchtigkeit
Heer seit Scheuten und Le Maire's 'Zeiten bis auf Wilkes oder
noch spätere Entdecker kennt, der ist gewöhnt als unentbehrliche
Staffage der dortigen Wasserräume die europäischen Schiffe um-
schwärmt zu sehen von Fahrzeugen mit neugierigen und zudring-
lichen Eingebnmen, ja an gewissen günstigen Stellen der Südsee
sieht man sogar dort, wo Land noch nicht in Sicht ist, in der
Ferne die Mattensegel polynesischer Seefahrer vorüberziehen. In
den Berichten der Entdecker Amerikas sind dagegen die Fälle
äusserst selten , wo Europäer Eingebornen auf der See selbst jn
der Nähe der Küsio begegnen, und die merkwürdigsten Fä!le haben
wir selbst angeführt. Die vergleichsweise geringen Leistungen der
Amerikaner in der Schifffahrt darf man vielleicht dem Mangel eines
Mittclmeeres oder einer Ländergestalfung wie an unserer Nordsee
zuschreiben. Doch hat sich überhaupt in Amerika das Menschen-
geschlecht viel langsamer entwickelt als in der alten Welt. Wenn
wir die technischen Leistungen der grossen amerikanischen Cultur-
volker, der Mexicaner und Incaperuaner , zusammenfassen, als
wären sie neben, nicht, getrennt von einander angetroffen worden,
so würde selbst ibre Summe uns noch nicht das Bild einer Civili-
sation gewähren, wie sie in Aegypten bestand zur Zeit der vierten ■
Dynastie, der ältesten von der wir Denkmäler besitzen. Mit andern
Worten, die amerikanisclie Menschheit hatte selbst an ihren höch-
sten Blüthcn ständen im Jahre 14Q2 noch nicht jene Reife erreicht,
wie die örlhdi höchste Menschengesittung der alten Welt drei
Jahrtausende vor Christus. Denken wir uns aber, dass im Jahre
3000 V. Chr. aus Amerika y.uf gedeckten Segelschiffen Entdecker
mit dem Coropass in der Hand nach Europa gekommen wären,
schwerlich würden sie die Gewässer am Nordrande unseres Welt-
theiles durch bessere Seeleute bevölkert gesehen haben als etwa
die Eskimo und die Koloschen oder Thünkiten in Nordamerika,
im Mittelmeer aber hätten sie wohl noch nicht phönicische Thar-
sisschifi'e angetroffen, sondern vielleicht solche Galeeren mit Kauf-
fahrern wie die Vucateken sie nach Honduras schickten, oder
caribische Segelpiroguen mit den kleinasiatischen Piraten im ersten
buche des Thucydides.
EinEuss des Handels auf die räumliche Verbreitung der Völker. 217
6. Einfluss des Handels auf die räumliche Verbreitung
der Völker.
Es ist nicht leicht den Segen zu ffberschätzen , der sich an
den Austausch der örtlichen Erzeugnisse knüpft Mit den Waaren
und ihren Verkäufern werden auch Kunstmuster, Erfindungen,
Erkenntnisse, Sitten, Gewohnheiten, dichterische Schöpfungen ver-
breitet und den Fussstapfen des Kaufmannes folgt gewöhnlich der
Missionär. Doch soll von allen diesen Wahrheiten hier nicht
weiter die Rede sein, sondern statt dessen gezeigt werden, in
wie fern hochgeschätzte Erzeugnisse der Erdräume die Verbrei-
tung von Völkern und Sprachen beherrscht haben. Zuvor wollen
wir nur erinnern, dass der Handel schon zu den Zeiten vorhanden
war, bis zu denen wir die ältesten Spuren unsers Geschlechtes zu
verfolgen vermögen. Durch Tausch allein können die Bewohner
der Höhlen des P6rigord zur Renthierzeit in den Besitz von Berg-
krystallen, atlantischen Muscheln und von Hörnern der polnischen
Saigaantilope gelangt sein^). Werfn in alten Gräbern östlich vom
Mississippi Obsidianscherben hin und wieder angetroffen werden,
so gelangten sie an den Fundort durch Tausch entweder aus
Mexico ode^ vom Snake River, einem Nebengewässer des Colum-
bia, westlich von den Felsengebirgen*). Es wäre ganz irrig, woll-
ten wir denken, dass der einzige Verkehr zwischen den sogenannten
Rothhäuten der Union in blutigen Fehden bestanden hätte.
Handelsfahrzeuge befuhren die grossen Ströme und Durchgangs-
abgaben wurden von den Häuptlingen erhoben^). In Südamerika
bildete das Pfeilgift oder Curare dessen Zubereitung nur wenige
Horden verstanden, einen kostbaren Handelsgegenstand unter den
Amazonasindianern und die Anwohner des Nap6 mussten drei-
monatliche Bootfahrten unternehmen, um es sich zu verschaffen^).
Selbst wo nicht zünftige Hausirer die Länder durchzogen, wurde
von Horde zu Horde Ueberfluss gegen Ueberfluss ausgetauscht
und es konnte dann die Kette dieses Verkehres einen ganzen
i) S. oben S. 40.
2) Carl Rau im Archiv für Anthropologie. Braunschweig 1871. Heft i.
S. 10.
3) Lafitau, Moeurs dessauvages am6riquains. Paris 1724. tom. II. p. 224.
4) V. Martins, Ethnographie. Bd. i. S. 504. u. oben S. 193. n. 5.
2t8 Einfluss des Handels auf die raumliche Verbreilung der Völker.
Welttheil umspannen. Englische Waaren, die in Mombas, also an
[der Ostseite Südafrikas abgesetzt worden waren, sind in Mogador,
also an der Westküste N'ordafrJkas wieder erkannt worden '). Dürfen
wir daher den Satz vertreten, dass zu allen Zeiten und von allen
Bewohnern der Erde HaiHJel getrieben worden ist, so erhalten
neuere Weltbegebenh eilen auch Werth für die dunkeln Zeiten der
Völkerkunde.
Als im jähre 1492 drei spanische Segel atlantischen Fernen
westwärts e ntgegen strebte n , fand am 7. Oct. eine Art Kriegsrath
zwischen den beiden Häuptern des Unternehmens, Christoval Colon
und Martin Alonso Pinzon, an Bord der Santa Maria statt. Bis
daiiin war ein streng westlicher Curs eingehalten worden, das
Geschwader befand sich zwischen dem 25 und 26° n. Breite, und
in vier oder fünf Tagen musste es der Passatwind entweder nach
der nördlichsten Bahama-lnsel oder nach Florida tragen. Der
ältere Pinzon bestand jedoch darauf den Curs nach Südwesten zu
richten, wofür er keine andern Gründe vorbringen konnte als eine
Eingebung seines Herzens fd corazon me-daj. Aus Friedfertigkeit,
nicht aus Ueberzeugung, liess nun wirklich der Entdecker der neuen
I Welt die Richtung mn ein Kreisachtel auf einige Tage ändern,
und so geschah es, dass am 11, Octobcr, einem Freitag, die lio-
ralleninsel Guanahani in Sicht kam. Nun hat unser grosser
Alexander v. Humboldt geäussert, dass, wenn jene Cursänderung
W nicht stattgehabt hatte, die Schüfe nach Florida gelangt wären,
\ und die Spanier nicht Mittelamerika , sondern die Vereinigten
Staaten bevölkert haben würden, so dass ohne jene Herzensein-
gebung des Pitizon die neue Welt heute andere ethnographische
Gesichtszüge uns darbieten würde').
Und dennocD war es ganz glei ch giltig , an welcher Stelle
Amerika zuerst gesehen werden sollte, denn die Ausbreitung der
spanischen Ansiedler war schon vor der Entdeckung ziemlich streng
t>cgrenzt durch die Vcrtheilung der edlen Metalle, Kaum nämlich
gewahrte Colin den goldenen Ohr- und Nasenschmuck der harm-
losen Lucayer, als er durch Gebärden zu erforschen suchte, wo
sich die Fundstätte des edlen Metalles befinden möge. Von Insel
zu Insel tastete er sich bis nach Cuba, ging anfangs nach Nord-
1) Waili, Anlhropcilogie. Bd. 2. S. lOI.
2) Kusmos. Slullijail 1847. Bd. 2. S. 301,
Einfluss des Handels auf die räumliche Verbreitung der Völker. 2IQ
Westen hinauf, und kehrte, als ihn diese Richtung nicht befriedigte,
nach Südosten um, bis er endlich Haiti erreichte. Von dorther
hatte sich das Gold über die Antillen verbreitet, und dort be-
gründete er die erste Niederlassung. Ueber den Golddurst der
Spanier ist viel erbauliches schon geschrieben worden, allein wenn»
sie den Spuren des Goldes nicht nachgegangen wären, niemals
hätten schon am Schluss des 15. Jahrhunderts überatluntische An-
siedelungen entstehen können. Alle Ackerbaucolonien, welche
Franzosen und Engländer an der Küste der Vereinigten Staaten
im 16. Jahrhundert zu gründen versuchten, sind buchstäblich am
Hunger zu Grunde gegangen. Abgeschnitten von der Heimath,
wo bereits eine Theilung der Arbeit durchgeführt worden war,
mussten die Ansiedler, nachdem sie die mitgebrachte Aussteuer aus
der alten Welt verzehrt hatten, nothwendig zurücksinken auf die
Gesittungsstufe der rothen Eingebornen, wenn ihnen nicht jmmer
wieder frisclie Vorräthe von Gewerbserzeugnissen aus der alten
Welt zugeführt wurden. Solche Zufuhren verlangten aber eine
hohe Bezahlung, da die Ueberfahrt nach der Neuen Welt noch mit
schweren Gefahren verknüpft war. Mit Brodfrüchten liessen sich
damals die Sendungen nicht decken, denn sie waren die Kosten
der über:>eei9chen Verfrachtung noch nicht werth. Daher kam es
denn auch, dass die älteste reine Ackerbau -Colonie der Neuen
Welt, nämlich Virginien, am Beginn des 17. Jahrhunderts erst auf-
blühen konnte, als eine frachtwürdige Rimesse nach Europa in dem
Tabak gefunden worden war. Dem Tabak also und dem Pelz-
handel vielleicht verdafikt es Nordamerika zunächst, dass seine
heutige Gesellschaft angelsächsischen Ursprungs ist. Wenn Canada
vormals rein .französisch, jetzt noch halbfranzösisch war und ist,
so trägt dafür ein anderes Naturerzeugniss die Verantwortung.
An und um Neufundland liegen unglaublich reiche Gründe für den
Kabliaufang, der Stockfisch aber lohnte schon am Beginn des
16. Jahrhunderts eine atlantische Ueberfahrt, da er schon im
Mittelalter von Island geholt werden musste. Nord französische
Fischer, die dem Cap Breton ihren Namen gegeben haben, be-
suchten alljährlich Neufundland schon seit 1503. Von jenen gut
gekannten Gewässern aus entdeckte Jacques Cartier dann den
Lorenzostrom, und in seinem Kielwasser sind die Franzosen nach
Canada gekommen. Dass die erste Niederlassung keime, dazu
bedarf es einer werthvollen Rimesse, hat sie aber einmal Wurzel
220 i-influss des Handels auf die täwniiche Verbreitung der Völker.
geschlagen, dann wächst sie wie das Senftorn in den Evangelien.
Die Spanier haben den Andedlungen der Franzosen und Eng-
liuiütr in den \tTciiiigliii Staaten kein Hinderniss in den Weg
gelegt, so lange sie sich nicht in allzu bedrohliche Nähe ihrer süd-
lichen Besitzungen wagten. Warum hätten sie auch die frommen
Puritaner stören sollen? Trugen doch die heutigen Gebiete der
Vereinigten Staaten auf den Seekarten der alten spanischen Ent-
decker die Legende: u-erllilose Gebiete (lierras de ningun prcvecho),
eben weil sie kein Gokl liervorbrachlen. Daran erkennt wohl ein
jeder mit uns, dass es gMz gleichgilttg für die Geschichte der
Gesittung war, ob ;im 7. OLtober 1492 die spanischen Schiffe von
Westen nach Südwtsten nbl)Ogen oder nicht. Die Spanier gingen
dem Golde uach, und wenn sie einem Landstrich seine Schätze
fc entrissen hatten, verliessen sie ihn wieder, wie die Landenge von
& Darien, währerd Pflanzercolonien auf tropischen Inseln erst auf-
■ wuchsen als durch die Ki\li r^klaverei der Zuckerbau Gewinn ab-
1^ warf. Man wird nichts i uwenden dürfen, wenn wir behaupten,
dass Amerika spanisch ;^n -.irirden und spanisch geblieben ist, so
weil die Verbreitung von i;old und Silber, reicht, und dass sich
^k nur spätere Ansiedelungen auch auf solche Räume erstreckten, wo
■ tropische Pflanzer wirthschalt oder wo ergiebige Viehzucht getrieben
werden konnten.
Seltsames Vc-rlii'mgni?'^! Das reichste Goldland der neuen
Welt kannten die Spanier ^chon 250 Jahre lang ohne seine Schätze
Izu ahnen. Califoniien gehiirte ihnen, dort predigten ihre Heiden-
bekehrer, dort überwaclitLii in Castellen (Presidios) ihre Soldaten
I die raubgierigen ComaiHscian und Apatschen, dass sie aber mitten
in dem viel und vergeblicli gesuchten Lande des Doiado sich be-
fänden, ahnte keiner von ihnen. Doch können sie sich mit den
. Russen trüsten, die ja auch Californien eine Zeitlang gehalten
■ haben und die es wenige Jahre zuvor räumten, als der Name
I dieses Landes wie Posaun tu schall alle Abenteurer beider Welten
■ an den Sacramento zog. Wäre das Gold Californiens schon am
Schluss des \b. Jahrhundert.; entdeckt worden, dann allerdings wäre
der Gang der Weltgeschichte vielleicht einer andern Strömung ge-
1 folgt. Californien und Australien sind zwei Kamen, die dem
L jetzigen Geschlecht laut unsern Satz predigen, dass die räumliche
Ausbreitung der Völker von der Vertheilung hoher Lockmittel an
Einfluss des Handels auf die räuiriHche Verbreitung der Völker. 22 1
und in der Erde abhängt. Gold und Gold waren die Fingerzeige
zu den Völkerwanderungen nach dem Stillen Meere.
Mit Australien ist es ähnlich gegangen wie mit Californien
Eine alte Karte im Britischen Museum, die kürzlich aufgefunden
worden ist, hat die überraschende Enthüllung gebracht, dass die
Portugiesen im Jahr 1601 ' einen nördlichen Punkt jenes Festlandes
besucht hatten ^). 4 Nach ihnen gelangten Niederländer häufig an
die West- und Nord-, sowie zu zwei' verschiedenenmalen an die
Südküste, daher noch jetzt vielfach nach ihnen jener Erdtheil Neu-
HoUand genannt wird. Doch waren für sie jene Länderräume das
nämliche, was den Spaniern im 16. Jahrhundert die Vereinigten
Staaten gewesen sind: werthlose Gebiete — tierras de ningun
provecho. Mit dem gleichen Auge betrachteten die Engländer ihre
Entdeckungen an der Ostküste Australiens, als sie am Schluss des
vorigen Jahrhunderts sie' zu einem Verbannungsort für Sträflinge
erhoben. So blieb Australien vernachlässigt von Portugiesen, Hol-
ländern und Briten, bis der Ruf Gold erschallte, und flugs eine
neue Zeit der Völkereinwanderung anbrach.
Vor etwa fünf Jahren hörten wir, dass die Russen unter dem
Namen Aliaska ihren Antheil an der Neuen Welt der grossen
Union verkauft hätten. Wie kamen aber die Russen nach Aliaska?
Liefen sie etwa aus der Ostsee oder dem weissen Meer um das
Cap Hörn oder um das Cap der guten Hoffnung? Gewiss nicht!
Sie stiegen vielmehr im Jahre 1577 über den Ural nach dem Ob
hinab, nicht etwa, weil es damals schon zu eng geworden wäre in
ihrer Heimath, sondern weil sie die Aussicht auf raschen Gewinn
in die Niederungen trieb. Wie die Spanier den Caziken der neuen
Welt ihre goldenen Ringe und Spangen von den Knöcheln ab-
streiften, so fanden die Kosaken, wie die Conquistadoren Sibiriens
genannt werden, bei den Häuptlingen der nordasiatischen Jäger-
stämme Vorräthe an edlen Rauchwaaren. Die Beutelust trieb sie
mit unglaublicher Geschwindigkeit gegen Osten, und wir sehen sie
um 1639 schon das ochotskische Gestade erreichen. Im Berings-Meer
fanden sie das geschätzteste aller Pelzwerke, die Seeotter, zu
Stellers Zeiten noch äusserst zahlreich, jetzt im Aussterben be-
griffen oder ausgestorben. Natürlich mussten immer neue jung-
1
i) R. H. Major, Discovery of Australia by the Portuguees in 1601.
London 1861.
222 Einflu^s dts Handels auf die rämntiche Verbreitung <ler Völker.
frauliche Reviere aufgesucht werden, und so gelangten russische
Pelzhändler auch nach der neuen Welt, wo sie Neu-Archangel auf
Sitcha gründeten. Bis zu dem kürzlichen Vordringen der Russen
über die Kirgisenstoppe kann man sagen, dass ihre Macbterweite-
rung über Nordasien genau durch die Verbreitung der Pelzthiere
bestimmt war,
Ueberzeugtcn wir uns bisher, dass das Verhängniss grosser
Erdräume und grosser Volker durch die Vertheilung kostbarer
Güter aus dem Stein- und Thierrejch bestimmt wurde, so haben
auch manche I'flanzenerzeugnisse einen ähnlichen Zauber ausgeübt,
zumal in früheren Zeiten, wo noch nicht die Geschickhcbkeit im
Uebersiedeln von Gewächsen wie gegenwärtig erworben worden
war. Die Begierde nach den Schätzen des indischen Morgenlandes
war es, welche die Portugiesen am atlantischen Gestade Afrikas
zuerst nach Süden gelührt hat. Indien, worunter die Sprache der
damaligen Erdkunde ganz Südasien sammt China und Japan ver-
stand, galt irrlhümlicherweise für ein metallreiches Land, während
es an Silber untf Gold doch noch viel ärmer ist als selbst Afrika.
Nur die Edelsteine Ceylons, sowie des spätem Golconda, die Perlen-
bänke im IManaargolfe, im persischen Meerbusen und im Rothen
Meere waren keine Erdichttmgen der Abendländer. Zu ihnen ge-
sellten sich etliche kostliche Gewürze und geschätzte Droguen.
Aeusserst folgenreich wirkte nun die Thatsache der Pflanzen-
geschichte, dass gerade Gewürze, Arzneimittel und Wohlgerüche
ein sehr beschränktes Verbreitungsgebiet besassen. Der Pfeffer, im
kaufmännischen Range damals das vornehmste Gewürz, war nur
von der Maiabarküste in Indien oder von der Insel Sumatra 2U
holen. Die Muskatnüsse und ihre Blüthen blieben noch auf die
Inseln der Handa-See beschränkt, und die Gewürznelken fanden
sich sogar nur auf fünf kleinen Inselvulcanen vor der Insel Gilolo,
den eigentlichen Molakken, Ferner wurde und wird noch jetzt
der echte Kampher auf zwei beschränkten Revieren, dem einen
auf Sumatra, dem andern aui Borneo gewonnen. Bis an das Ende
des damaligen Erdkreises mussten also die Portugiesen segeln,
b(*V0T sie die Ursprungsorte jener vegetabilischen Seltenheiten er-
reichten. Es mag beschämend erscheinen, dass es solcher Lock-
mittel bedurfte, damit auf die Portugiesen die Holläsder, auf die
Holländer Franzosen und Briten nach Sudasien gezogen wurden,
allein immerhin war es für die Verbreitung der Cultur höchst
Einflttss des Handels auf die räumliche Verbreitung der Völker. 223
günstig, dass jene Schätze so eigensinnig vertheilt, so spärlich vor-
handen waren, denn ohne sie wären die Europäer nicht oder noch
nicht allgegenwärtig auf dem Erdball geworden. Die Portugiesen
finden wir überall an den UrspTungsstätten der Gewürze, also auf
der Westküste, nicht auf der Ostküste Hindostans, auf den grossen
Marktplätzen der Malayen und auf den Aromateninseln des äusser-
sten asiatischen Ostens verbreitet.
Den Beweggrund zu ihrer Besiedelung Brasiliens erzählt der
Name dieses Reiches selbst. Der Papst hatte 1493 den Erdball
getheilt zwischen Spanien und Portugal und unter die westliche
Grenze des letztem oder unter „den ersten Mittagskreis**, wie man
damals sagte, fiel noch ein mächtiges Stück südamerikanischen
Gebietes? welches nach der Entdeckung und lange Zeit nachher das
LMid des heiligen Kreuzes hiess. Brasilien aber oder das Land des
Rothfärberholzes wurde es genannt nach der wichtigsten und ersten
Rimesse, die es heimsenden konnte, denn dass hinter dem Küsten-
gebirge Gold und Diamanten zu erbeuten seien, ahnte lange Zeit
niemand.
Afrika hat nach Australien immer als ein Stiefkind der Ge-
sittungsgeschichte gegolten. Karl Ritter erklärte die niedrige Stufe
seiner Bewohner aus der geringen Entwicklung der Küsten im
Verhältniss zu dem äusserlichen Umfang. Wirklich ist es auf-
fallend roh gegliedert, insofern ihm Halbinseln fehlen, und seine
Golfe nur so schwächlich angedeutet sind wie die Syrten oder nur
aus einspringenden Winkeln bestehen wie der Meerbusen von
Guinea oder die Gestade des rothen Meeres mit der Somaliküste.
Aber selbst das rothe Meer ist der SegelschifFfahrt so schwer zu-
gänglich, dass es unter den Verkehrsmitteln seiner Art auf einer
sehr tiefen Stufe steht. Würden grosse Ströme wie in Amerika
der Mississippi oder der Amazonas oder die La Platageschwister,
Afrika aufgeschlossen haben, so hätte die Civilisation rascher in
das Innere vordringen können, wie ja der Nil es beweist, dessen
Gestade verklärt sind durch eine höchst reife, ja, wie wir
noch immer vermuthen dürfen, eine älteste Gesittung. Zu allen
aufgezählten Hindernissen gesellte sich aber noch der Umstand,
dass es fast völlig entblösst war an den wirksamen Lockmitteln für
fremde Besiedelung. Gold findet sich nur in den Quellengebieten
des Senegal und Niger, sowie in etlichen Küstenflüssen des Meer-
busens von Guinea, sonst aber in Ostafrika ehemals bei Sofala,
224 ^nfluss des Handels auf die läumliche Vetbreilung der Volker.
sowie jetzt auf Gebieten des Kafirlandes, allenthalben jedoch nur
in sehr spärlichen Menden, so dass Afrika ohne goldenes VUess
niemals Argonauten an sich gezogen hat, denn vergebens würden
wir uns dort umsehen nach Ländern, die sich an Metallreichthum
mit i'eru, Mexico, Californien oder nur mit den Minas Geraes
messen konnten. Daher sind auch bis heutigen Tags alle euro-
päischen Niederlassungen der Pojtayiesen, Franzosen, Briten und
der Niederländer in Afrika dürftig und bedeutungslos geblieben, im
Vergleich zu dem, was im benachbarten Südamerika sich zuge-
tragen hat. Nur die Caplande, zuerst als Zwischenplatz für die
Indienfahrer, dann als Ackerbaucolonien, haben sich seit der Zeit
der überseeischen Völkerwanderung günstig entwickelt. Ohne Me-
talle, ohne Gewürze, ohne Droguen, ohne irgendeine vegetabilische
Seltenheit blieb Afrika verschont von Conquistadoren , aber . auch
u'ngeleckt von der Cullur und musste europäischen Tand und
europäische Eerauschungsmittel drei Jahrhunderte lang, traurig
yenug, mit seinen eigenen Kindern bezahlen. Der Sklavenhandel
wird daher zwar nicht yerechtfertjgt, doch einigermassen erklärt
durch den Mangel einer grossen Rimesse. Allein der Sklaven-
handel führt wohl von dem Innern an die Küste, er führt aber
nicht eine höhere Gesittung von der Küste nach dem Innern.
Endlich nach langen Zeiträumen ist in unsern Tagen selbst für
Afrika ein Lockmittel gefunden worden, welches in berechenbarer
Zeit jenem Festlande seine lange bewahrten Geheimnisse völlig
entreissen wird. Es ist diess weder ein Erzeugniss des Stein- nocli
des Pflanzen reich et, sondern es sind die Stossiäbne der Elephanten.
Elfenbeinjäger durchs ch wärmen auf den Spuren Livingstones Süd-
afrika nach allen Richtungent und ilinen folgen dann Missionare,
Handelsleute und die ersten Ansiedler. Ferner ist alles was west-
lich und östlich liegt vom weissen Nil entdeckt worden, und wird
alljährlich durchstreift von italienischen Elfenbeinjägern, die jedes
Jahr immer tiefer vordringen müssen, weil sie hinter sich ausge-
leerte Reviere zurücklassen.
Wurden unsere bisherigen Beispiele aus der neueren Ge-
schichte geschupft, so könnten wir aus- der alten noch anführen
das frühe Auftreten der Phönicier oder ihrer Abkömmlinge, der
Carthaginienser in Spanien, wo sie durch die Ausbeutung der
Silbererze festgehalten wurden. IMehr noch als das Silber hat in
früheren Entwicklungsstufen das Zinn die menschliche Gesittung
Einfluss des Handels auf die räumliche Verbreitung der Völker. 225
gefordert, denn ohne Zinn lässt sich die Bronze nicht darstellen.
Die Fundorte des Zinns sind aber nicht häufig, und im Alterthum
blieben viele der jetzigen völlig unbekannt. Geschichtlich fest-
gestellt ist es, dass das Zinn des Erzgebirges erst im Mittelalter
gewonnen wurde, und zweifelhaft erscheint es noch jetzt, ob das
Zinn auf Kreta, sowie das transkaukasische in Georgien zu den
alten Mittelmeervölkern gelangte. Spanisches Zinn aus Galicien
befand sich jedoch zu Plinius' x Zeit im römischen Handel. In
Gallien wuide an der Aurence Zinn gewaschen, ebenso hat man
alte Zinngruben im Limousin, im Departement Loire Inferieure und
im Morbihan entdeckt'). So kundig waren die alten Kelten in Me-
tallarbeiten, dass erst die Römer von ihnen das Verzinnen der
Geschirre erlernten. Keltische Bergleute schürften auf den wich-
tigsten der alten Fundstätten, auf den Sorlingischen Inseln und in
Cornwallis. Es ist eine gänzlich unbegründete Vermuthung, dass
phönicische Seefahrer den alten Einwohnern Grossbritanniens ihre
Erfahrungen beim Bergbau oder bei der Verhüttung mitgetheilt
oder gar die Lager der Zinnerze entdeckt haben sollten. Nie sind
vor Abel Tasmans Zeiten Entdeckungsreisen nach unbekannten
Erdräumen auf das Gerade wohl ausgeführt worden. Immer hatten
die Seefahrer irgend ein Ziel vor Augen, immer trachteten sie
die Märkte oder den Ursprungsort hochgeschätzter Handelsgüter
zu erreichen. Gelangten also jemals carthaginiensische oder phö-
nicische Schiffe bis an die Westküste von Frankreich oder bis in den
Canal, so konnten sie nur bereits entdeckte Ursprungsstätten des
Zinnes aufgesucht haben, folglich musste dieses Metall zuvor abgebaut
worden sein, und nicht bloss abgebaut, sondern es musste auch
durch den Handel über Land schon das Mittelmeer erreicht haben.
Dass es einen solchen Landhandel gab, beweist die frühe Grün-
dung und das Aufblühen von Marseille, übrigens konnten ja die
Klumpen metallischen Zinnes, die unter den schweizerischen ,Alter-
thümefn aus der Bronzezeit gefunden worden sind, nur durch einen
Binnenverkehr nach Helvetien gelangt sein, und eben so leicht wie
sie Helvetien erreichten, konnten sie auch ihren Weg nach Mar-
seille gefunden haben. Dem Zinne müssen wir es auch theilweise
zum Verdienste anrechnen, dass die Kelten in Gallien und Bri-
)
i) F. V. Rougemont, Die Bronzezeit. Gütersloh 1869. S. 85.
Peschel» Völkerkunde. 15
f
SS des Handeiä auf die rrmmlic}ie Verbreitung der Völker.
I eine vM höhere gesellschaftliche Entwicklung aufwiesen als
unsere eigenen Vorfahren zu Cäsars Zeiten. Die Römer fanden
bei den alten Briten schon eine sehr durchgebildete Landwirth-
schaft, bei welcher ^iir Steigerung der Felderträge bereits ein mi-
neralisches Düngemittel, nämlich der Mergel, mit'Nutzen ange-
wendet wurde, auch bedienten sich die Britannier im Gefechte
künstlicher Kriegswerkzeuge eigener Erfindung, nämlich der Sichel-
wagen. Der Besitz einer so unersetzlichen und so gesuchten Ri-
messe, wie das Zinn in iler Bronzezeit es war, an sich schon ein
Förderungs mittel der Gesittung, näherte sie dnrch den Handel
frühzeitig den Mittelmeervölkern und trug zur beschleunigten Reife
ihrer Zustände bei.
Etwas ähnliches besassen die Uferbewohner der Nordsee und
nocli mehr der Ostsee in dem Bernstein. Der Bernstein muss
frühzeitig die Ufer des Mittelmeeres erreicht haben, wenn er auch
anfänglich nur von Horde zu Horde ausgelauscht wurde. Hätten
die Römer sich nicht als Eroberer schon an den Mündungen der
Weser und Ems gezeigt, und hätte nicht Driisus schon seine Schiffe
bis zur Nordspitze von Jutland vordringen lassen, gewiss würde der
Bernslein alTcin die Mittelmeercuitur nach dem Norden zu ziehen
vermocht haben, unternahm doch zu Nero's Zeiten (56 n. Chr.) ein
römischer Ritter als Festlandsenidetker eine Reise über die Kar-
pathen bis zu den Bernstein lim dem Ostpreussens', und kehrte mit
einer Ladung jener geschätzten Fosihen nach der Hauptstadt des
Erdkreises zurück. Dem Bernstein verdanken wir tanz sicherlich
die Wahrzeichen einer vorzeitigen Cultur an dem Gestade der
Ostsee, denn in Beziehung zu ihm stehen die zahlreichen Funde
von griechischen und römischen Münzen, sowie von Bronzearbeiten
an den baltischen Küsten, und jene Metallgeräthe dienten wahr-
scheinlich den einheimisclien Künstlern als Vorbilder und Muster,
Ml dass es dem Bernstein vielleiiht zugeschrieben werden darf,
dass im Norden Europas das Bronze^lter eine erfreuliche Reife zeigt
Wir lernen also als Verbreit ungsmittet der menschlichen Ge-
sittung und als Lockmittel für Viilkenvanderungen die Seltenheiten
und Kostbarkeiten der drei Reiche verehren, und wir' gewahren,
dass diejenigen I-änderräume, die durch den Besitz solcher Schätze
begünstigt waren, früher als andere in den Kreis einer höheren
Gesittung hineingezogen wurden, so dass der Ortsbewegung der
Cultur dadurch vielfach ihre Bahnen vorgeschrieben worden sind.
Ehe und väterliche Gewalt.
227
An welche Gesetze die Verbreitung der mineralischen Schätze ge-
bunden ist, davon wissen wir noch sehr wenig, die Kostbarkeiten
der Thier- und Pflanzenwelt dagegen sind zwar auf klimatisch
begrenzte Zonen beschränkt, aber ihre örtliche Häufigkeit, Selten-
heit oder gänzliche Abwesenheit innerhalb der Zonen ihres mög-
lichen Auftretens ist nicht sowohl etwas gesetzmässiges als etwas
geschichtliches, in sofern sie abhängig erscheinen von dem Ort des
ersten Auftretens der Arten, sowie von dem Wanderungsvermögen
der letzteren und den geographischen Hindernissen , welche ihrer
Ausbreitung entgegentraten.
7. Ehe und väterliche Gewalt.
Der nächste und höchste Zweck der Ehe, nämlich die Er-
zeugung eines Nachwuchses kann nur nach dem Eintritt der
Geschlechtsreife erfüllt werden, die bei dem weiblichen Geschlecht
etwas früher als beim männliphen, in Nordeuropa etwa im 14. und
17. Lebensjahre, in Südeuropa etwas beschleunigter erreicht wh-d. In
heissen Erdstrichen stellen sich die bekannten Merkmale noch zef-
tiger ein, in Aegypten bei Knaben von 12 bis 15, bei Mädchen
von II bis 14 Jahren *). Klunzinger, ' der kürzlich die Hoch-
zeit eines solchen Kinderpaares in Oberägypten beschrieben hat*),
lässt daselbst Knaben von 15 bis 18 Jahren, Mädchen von 12 bis
14 Jahren heirathen und fügt bedeutsam hinzu, dass solche in
unsern Augen verfrühte Ehen doch in Bezug auf Kindersegen keine
üblen Wirkungen wahrnehmen lassen. Im nördlichen Persien treten
beim weiblichen Geschlechte die Wahrzeichen der Fruchtbarkeit
mit dem 13., im südlichen Persien schon zwischen dem 9. und 10.
Jahre ein^). Auf den Philippinen werden 12 Jahre als das gesetz-
liche Alter für das weibliche Geschlecht vorgeschrieben, im Kirchen-
buche von Polangui fand jedoch Jagor*) die Trauung eines Mäd-
chens von 9 Jahren und 10 Monaten eingetragen. Unter den
i) Hartmann, Nilländer. S. 215.
2) Ausland 1871. No. 40. S. 952.
3) Polak, Persien Bd. i. S. 202.
4) Reisen in den Philippinen. Berlin 1873. S. 129.
15»
228 Ehe und välerliche Gewalt.
Negern Afrikas wird ebenfalls frühzeitig- zur Ehe geschritten, nur
lassen sich dort die Aiterstufen schwer bestimmen, weil die sorg-
losen Bewohner ihre Lebensdauer durch Zeitbeobachtnngen nicht
genau festzusetzen pflegen. Bei den Hottentotten sah Kolbe Mütter
von 13 Jahren'). Die Australier liefern ihre Tochter mit dem
12. Jahre, oft noch früher ihren Männern aus'). Es ist jedoch erst
noch strenger festzustellen, ob Jas, was für uns den Anstrich einer
Hochzeit besitzt, nicht eine vorausgehende feierliche Verlobung sei,
der erst später die Vollziehung der Ehe nachfolge^), ■
Die bisherigen Thatsachen, meist schon anderwärts mitgetheilt,
werden keinen Sachkundigen überraschen. Ebenso wenig durfte
es neu sein, dass aucli Polarviilker frühzeitig das Vermögen der
Geschlechtserneuerung erwerben. Bisher wurde diess hauptsäch-
lich bei den Esiiimo beobaclitet, aber Adolf Erman hat neuerdings
wieder daran erinnert, dass auf der alüutischen Insel Aicha der
Kiiabe, sobald er die Baidare lenken, das ßlädchen, sobald es
fertig nähen kann, beide gewöhnlich mit dem 10. Lebensjahre zur
Ehe schreiten*). Eine physiologische Erklärung, warum bei grösserer
Annäherung an den Aequator und an den nördlichen Polarkreis
der Zeitraum der Unreife sich verkürze, ist- noch nicht gegeben
worden. Wahrscheinlich hat die Polhöhe des Wohnorts zu dieser
Erscheinung gar keine Beziehung, viel näher liegt es an die Dun-
kelung der Haut zu denken, denn auch' bei anderen nord-
amerikanischen Stämmen heirathen die Mädchen ipi 12. bis 14., ja
bisweilen schon im 11. Jahre^). Anders halten es im Süden die
Patagonier, welche erst eine Reife von 16 Jahren abwarten^).
Wo sich der Trieb der Natur zeitig regt, da welken auch
früher die Reize und erlischt mit 30 oft mit 25 Jahren schon jeder
Segen des weiblichen Körpers. Tacitus spricht sicherlich eine
richtige Erfahrung aus, wenn er die lange Jugenddauer bei unsern
1) Vorgebirge der Guten Hoffnung. S. 424.
2) Eyre, Ceatral Auslraüa. loni, II, p. 319.
3) lieber ans lleirathsaher bei verscbiednCD Menschenstämmen vgl die
erSLhiipfcnde Arbeit von Dr. Ploss in dem Jahresbericht des Leipz, Vereins
für Erdkunde 1872.
4) Zeitschrift för Ethnologie. B«lin 1871. Heft 3. S. 162.
51 Catlin, Die Indianer Nordamerikas, cap. 17. S. 89-
fj) Musters, Unter den Palagudern. Jena 1873. S. 190.
Ehe und väterliche Gewalt, 220
Vorfahren ihren späten Eheschliessungen zuschreibt^). Wo also
durch Gewohnheit oder Satzung eine Verspätung des Heirathsalters
gefordert wird, da müssen wir einen grossen Fortschritt in der
Selbsterziehung, der Völker anerkennen. Im alten Peru wurde den
Männern erst im 24., den Frauen im 18. Lebensjahr die Begrün-
dung eines Hausstandes gestattet*). Die sittenstrengen Abiponen,
welche die südliche Hälfte des Gran Chaco" am Paraguaystrome
innehatten, duldeten ebenfalls Ehen nur in reifem Alter.
Es darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass sehr
vielj Menschenstämme grosse Gleichgiltigkeit gegen jugendliche
Unkeuschheit zeigen und erst mit der Ehe den Frauen strengen
Wandel auflegen. Als unberechtigt müssen wir es aber bezeichnen,
wenn man aus Mangel eines sprachlichen Ausdruckes, durch wel-
chen Jungfrau und Frau unterschieden werden, auf eine Gleich-
giltigkeit gegen geschlechtliche Reinheit geschlossen hat, wie es von
Lichtenstein ^) in Bezug auf die Buschmänner gewagt wurde, während
Chapman gerade ihre Sittsamkeit rühmt und hinzufügt, dass bei
ihnen Ehen nur aus Neigung geschlossen werden. Auch die Abi-
poijen besitzen kein eignes Wort für das jungfräuliche Weib^) und
doch rühmt Dobrizhoffer beständig ihre Sittenstrenge und Unver-
dorbenheit. Eher lässt sich der gleiche sprachliche Mangel un-
günstig bei den Comantschen deuten, da sie Gastfreunden ihre
m
Frauen überlassen 5). Diesen schnöden Gebrauch treffen wir in
Nordamerika noch bei den Aleuten.^), die auch sonst durch ihre
widernatürlichen Ausschweifungen berüchtigt sind, dann bei Eskimo,
und endlich erzählt Adolf Erman, dass er bei seinen Wanderungen
durch Kamtschatka auf die nämliche Sitte gestossen sei 7). Sucht
man nach einem Fall, der die tiefste Verworfenheit in dieser Rich-
1) Sera juvenum Venus, eoque inexhausta pubertas, nee virgines festi-
nantur. Germ. cap. 20.
2) Prescott, Conquest of Peru. tom. L p. 113.
3) Reisen im südlichen Afrika. Bd. 2. S. 81.
4) Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponcr. Bd. 2. S. 218.
5} Waitz, Anthropologie. Bd. 4. S. 216.
6) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 314.
7) Marco Polo I, cap. 37. berichtet dasselbe von der Oase Kamul
(Hamil) in der Gobi. Dort wie in der ebenfalls von Karawanen berührten
Oase Fezzan beruht jedoch diese Sittenlosigkeit auf einer gewerbsmässigen
Prostitution. A. Erman, Reise um die Erde. Bd. 3. S. 426.
Jä(>i Ehe und vüleiliche Gewalt.
tung bezeichnen könnte, so braucht man nur auf die sogenannten
Dreivierteliieirathen zu vens-eisen, die im nubischen Afrika unter
den Hassan iyeh-Arabern vorkommen, bei denen nämUch die Ehe-
frau jeden vierten Tag frei über sich verfügen kann'). Die Ge-
schichte ertheilt uns übrigens die Lehre, dass alle hochgestiegenen
Völker die eheliche und überhaupt die geschlechtliche Reinheit
streng gehütet haben, soivie dass jeder Lockerung der Sitten die
Zerrüttung der Gesellschaft auf der Ferse folgte.
Polygam oder polyandrisch werden bekanntlich die Ehen ge-
nannt, je nachdem der Mann seinen Hausstand mit mehreren
Frauen theilt oder die Frau mehreren Männern gleichzeitig an-
yiehört, Vielweiberei ist über ganz Afrika verbreitet, sie war
ebenfalls fast allen asiatischen Völkern verstattet, in Amerika da-
gegen auffallend selten anzutreffen. Nun halien bisher alle Volks-
zählungen uns belehrt, dass die Ziffern beider Geschlechter im
Gleichgewicht stehen, und der Ueberschuss des einen über das
andere meist nur ein geringer ist. Der grösste der beglaubigten
Zahlenunterschiede trifft auf die europäischen Juden"), bei denen
die männlichen Geburten stark überwiegen. Wenn nach den «Be-
hauptungen von Reisenden unter den Ladinos oder Mischlingen
von Europäern mit den Ureinwohnern 'des spanischen Amerika die
Zahl der Mädchen die der Knaben um die Hälfte, nach Stephens
in Yucatan sie um das Doppelte üttertreffen, in Cochabamba sogar
das Fünffache betragen soIPj, so begründen sich solche Angaben
nicht auf stattgefundene Zählungen, sind also für die Wissenschaft
wenig brauchbar. Ein cfurchaus glaubwürdiger Beobachter, näm-
lich Campbell konnte dagegen bezeugen, dass in den siamesischen
Harem Knaben und Mädchen in gleicher Anzahl geboren werden*).
i) Ausland 1870. S. 1058.
2) Nach Waitz I, 117 und Darwin, Abslammung des Menschen I, 267:
Geburten in jüdischen Familien
Knaben MSdchen
in PreusEc
T13 : 10.
„ Breslau
11+ : 10.
., Berlin
loSl?) : 10.
„ Livorno
iw i 10.
„ Livlond
120 : io<
Vnlhropoloeie. Bd.
I. S, 117-
Abstammung des
Menschen. Bd.
Ehe und väterliche Gewalt. 231
Diess widerlegt den oft geäusserten Satz, dass bei Polygamie die
weiblichen, bei Polyandrie die männlichen Geburten vorwalten
sollen und die Natur sich gleichsam den. örtlich herrschenden ehe-
lichen Satzungen anbequeme. Auch di^ Erfahrungen der Thier-
Züchter sind dieser Verrauthung nicht günstig, denn bei Rennpferden,
Windspielen und Cochinchinahühnern bleibt das Zahlengleichgewicht
der Geburten ungestört, obgleich die strengste Polygamie herrscht^),
Gut bezeugt durch die Statistik in Deutschland ist dagegen das
Ueberwiegeh von Knaben bei Erstgeburten').
Als gesellschaftliche Geschöpfe unterliegen wir aber auch einer
sittlichen Ordnung und diese ist der polygamen Ehe entschieden
abhold. Die Geschichte morgenländischer Königshäuser lehrt uns,
dass die geringe Dauer der dortigen Herrschergeschlechter immer
auf 4ie Ränke ehrgeiziger Gemahlinnen zurückzuführen ist, und
dass dort gänzlich das veredelnde Gefühl der Geschwisterliebe
fehlt, jeder Fürstensohn vielmehr im Halbbruder seinen grimmigsten
Gegner hasst. Selbst in bürgerlichen. Familien entfremdet Neid und
Eifersucht die Abkömmlinge verschiedener Mütter.
Spärlicher verbreitet ist die Polyandrie, welche jedoch nicht
verwechselt werden darf mit der Frauengemeinschaft von Krieger-
k^sten, denen Ehelosigkeit als Ordensgelübde vorgeschrieben war,
wie den Najern^) im malabarischen Indien und ehemals den sapo-
ragischen Kosaken^). Echter Vielmännerei begegnen wir dagegen
unter den Völkern, welche den Uebergang bilden zwischen Asiaten
i) Darwin, Abstammung des Menschen. Bd. i. S. 272:
Geburten
männl. weibl.
Zahl der Fälle
25,560 Rennpferde 99,7 100
6,878 Windspiele no,i 100
Unter I00£ ausgeschlüpften Cochinchinahühnern befanden sich 487 Hähne und
514 Hennen.
2) Welcker, Bau und Wachsthum des Schädels S. 69. Nach den
Halle*schen Entbindungsprotocollen fanden sich unter 871 Erstgeburten auf je
100 Mädchen 114 Knaben und nach dem genealog. Taschenkalender in fürst-
lichen deutschen Häusern bei Erstgeburten 116 männliche auf 100 weibliche,
während die Zahlenverhältnisse bei sämmtlichen Geburten in Deutschland
nur 106 : 100 lauten.
3) Graul, Ostindien. Bd. 3. S. 230. S. 338—340.
4) C. V. Kessel, im Ausland. 1872. No. 37. S. 865.
212 Ehe und väletUche Gewall.
und Arnerikanern, nümlich bei den Eskimo, den Aleuten, Konjaken
und Koluschcn '), bei denen auch andere geschlechtliche VerIrrungen
nicht mangein. Sonst werden in Amerika die IrolTesen und etliche
Stämme am Orinoco der Vielmännerei von Sir John Lubbock be-
schuldigt. In der Südsee soll sie bei den Maori Neu-Seelands und
auf etlichen kleinen Inseln angetroffen worden sein. Häufiger kommt
sie im südlichen Indien unter einzelnen Stammen der Keilgherri-
gebirge vor, 'bei welchen letzteren die Sitte verstattet, dass alle
Lrfider, wenn sie erwachsen, die Manner der Frau des ältesten
Bruders^), und umgekehrt die jüngeren Schwestern der Gemahlin
die Frauen der Ehegenossenschaft werden.' Fast genau so hielten
es auch die alten Bewohner Britanniens zu Cäsar's Zeiten*). Auf
Brüder und andere Verwandte beschränkt sich die Frauengemein-
schafi in Tübet, und dort sind es Sparsamkeitsrücksichten, welche
diese Widernatürlichkeit uns erklären-*). ,\uch bei den Herero in
Südafrika verursacht es Armuth, dass Vielmännerei bisweilen vor-
kommt').
Zu den dunkelsten aber auch lehrreichsten Fragen der Völker-
kunde gehört es, wie es Brauch geworden sei, Ehen zwischen Blut-
verwandten zu vermeiden. Wohl dürfen wir auf neije Erkenntnisse
gestützt, die Schädlichkeit solcher Mischungen vermuthen, denn
wenn beide Gatten unter demselben körperlichen Mangel leiden,
so werden sie ihn gesteigert ihren Nachkommen vererben. Taubheit,
Augenschwächc, Unfruchtbarkeit, Blödsinn und Geistesstörungen
müssen sieb bei Kindern von Eltern, welche die Keime zu diesen
Störungen geerbt haben, früh einstelien oder heftiger ausbrechen').
i) WailK, Anthropologie. Bd. 3. S. 308. S. 313.
2) Öaierlein, Nach und aus Indien. .S, 249. •
31 De beUa gallico, lib V. cap. 14.
4) V. Schlagintweit, Indien. Bd. 2. S. 47.
5) G. Frilsch, Die EinEcbornen Südafrikas. S. lij.
6) Selbst diese Vermuihung ist nicht vur allen Zweifeln eesjchett. In der
Gemeinde Bat/ (3300 Einwohner], nördlich von der Loitemündung auf einer
Halbinsel gelegen und auf die Ausbeulung natürlicher Salipfennen angewiesen,
gehörten von jeher Htjralhen iwisclien Bluls verwandten zu den hergebrachten
Dingen. So musslen im Jahre [S65 nicht weniger als 15 Kirchendispense für
Heimtheu von Geschwisterkindern erwirkt werden. Dennoch fand Voisin, der
e nen ganien W na dort labrachle, bei 40 Ehen unter Blutsverwandten, deren
V lle '^ mmtafeln er sammelte, nicht einen einzigen Fall der Uebel, mit denen
he komm] h Iche Vermählungen bedroht werden. Anthropological Review.
London 1868 n Vt, p. 231—23;.
Ehe und väterliche Gewalt.
233
Allein solche Erfahrungen, die langwierige Beobachtung voraus-
setzen, konnten unstäte und kindlich sorglose Menschenstämme
nicht gewinnen und gerade bei ihnen ist der Abscheu vor Blut-
schande am schärfsten entwickelt. Gewiss sollten wir in diesem
Smne nichts strenger vermeiden als die Ehe mit der Schwester,
die uns, was die Blutmischung anbetrifft, ganz gleich und noch
einmal so nahe steht, als Mutter oder Tochter, mit denen unser
Organismus, seiner Ableitung nach, doch nur zur Hälfte über-
einstimmt. Dennoch war gerade diese Ehe dem Inca im
peruanischen Reiche vorgeschrieben^), und ebenso konnte' der
Pharao in Aegypten keine schicklichere Gemahlin erwählen, als
seine Schwester*). Bei den Altpersern war die Ehe mit der
Schwester oder der Mutter nicht nur erlaubt^), sondern die Hei-
rathen unter Verwandten wurden sogar als ein verdienstliches Werk
angesehen'^), endlich ist es ja bekannt, dass die Hellenen die Ver-
mählung von Halbgeschwistern zuliessen, wenn auch nicht billigten.
Während diese hochgestiegenen Völker vor solchen Verbindungen
nicht zurückschauderten, empfanden gerade die zurückgebliebenen
eine wahrscheinlich heilsame Furcht und es ist geradezu auffallend»
wenn ausnahmsweise die Vedda auf Ceylon dem Bruder verstatten,
seine jüngere Schwester zu ehelichen^). Viel weniger befremdet
eSj dass bei den Aleuten und Konjaken wahrscheinlich auch bei
andern Anwohnern des Beringsmeeres jegliche Blutschande als er-
laubt gilt^), da alle diese Völkerschaften durch ihre Ausschweifungen
berüchtigt sind.
Die Australier dagegen hielten streng an dem Verbot, dass
kein Mann eine Frau heirathen durfte, die mit ihm auch nur den
gleichen Familiennamen führte''). Ehen unter Leuten von gleichen
Geschlechtsnamen wurden ebenso bei Samojeden und Ostjaken
streng vermieden 8). Die Huronen und Irokesen duldeten gleich-
1) Garcilasso, Commentarios reales, tom I. libro IV, cap. 9. p. 86b. Nur
in Ermangelung einer Schwester kamen die nächsten weiblichen Verwandten
an die Reihe.
2) Ebers, Von Gosen zum Sinai. S. 82.
3) Duncker, Gesch. d. Alterthums. Bd. 2, S. 356.
4) Martin Haug in der Beil. zur AUgem. Ztg. 1872. No. 364. S. 5573.
5) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. I. S. 51.
6) V. Langsdorff, Reise um die Welt. Bd. 2. S. 58.
7) Capt. Gray bei Eyre, Central Australia. tom. II, p. 330.
8) Castr^n, Vorlesungen. S. 107.
I
m
vaterliche Gewall.
falls keine Ehen zwischen Verwandten"), Die Koluschen, die in
die beiden Zweige des Raben und des Wolfes sich theilen, verbieten
alle Heirathen von Mitgliedern desselben Stammes*). Ganz im
gleichen Sinne verstauen die Arowaken in Südamerika keine Ver-
mählungen innerhalb ihrer Clanschaften-'), und zwar gih bei ihren
sorgfaltig geführten Stammbäumen die Regel, dass die Kinder der
Mutter in Bezug auf ihre S tarn mesgenossen schall folgen. Um auch
einige Beispiele aus Afrika anzuführen, bestrafen die Hottentotten
Blutschande mit dem Tode^), und ihre Nachbarn, die Kafirn be-
drohen mit Vermögens Verlust die Heirath zwischen den entfernte-
sten Verwandten, verstatten übrigens die Doppelehe mit Schwe-
stern'). Die fanneger endlicli im westlichen Aequatorialafrika,
berüchtigte Menschenfresser, betrachten Ehen bei der geringsten
Blutnähe als Frevel und holen ihre Frauen stets aus einem andern
Stamm^). Andere, ebenfalls anthropophage Stämme, die Batta
auf Sumatra, bestrafen die Ehe zwischen Angehörigen der-
selben Horde mit dorn Tode an beiden schuldigen Theilen'). Bei
den Hindu erstreckt sich das \' erbot bis auf die sechste Stufe der
Verwandtschaft, ja die Gleiclibeit des Namens wird auch tei ihnen
als ausreichendes EhehinUerniss angesehen*). Das letztere gilt endlich
von den Chinesen^), welche sich als Nation Pih-sing, die hundert
Familien nennen. Gleichwohl gibt es in neuerer Zeit 400 Fa-
miliennamen, welche letztere nicht von der Mutter, sondern wie
in Europa vom Vater ererbt werden. Ein amerikanischer Missionär
Namens Talmadge kannte ein Dorf, dessen 5000 Bewohner bis
auf wenige Ausnahmen denselben Familiennamen führten und die
deswegen unter sich keine Ehen schiiessen durften"). Reste sol-
cher weiten Begriffe vom Incesl haben sich bei solchen Völkern
erhalten, die dem Frauenraub huldigen, denn da Feindschaft ge-
il Charlcvois, Nouv. France, lom. III, p. JS*.
I) Waiti, Anlliropologic. Bd. J. S. 329.
31 Morliiis, Ethnographie. Bd. t. S. 690.
4) Kolbe, Vorgebirge der Guten Hoflniiag. S. 457,
5) Ausland 1859. S. 631.
6) Du Chaillu, Ashangü-Lnnd, p. 427.
7) Tylor, Urgeschichte. S. 359,
8) Coiebruoke, Essays □□ the rel^ion and phUosophy o[ the Hindus.
London 1S58. p. 142.
9) Huc, Das chineeische Reich, Bd. 2. S. 16B.
la) Morgan, .Systems or Consangoinity. Waihington 1871. p. 41S.
Ehe und väterliche Gewalt. 2 55
wohnlich die fremden Horden trennte, konnte nur eine gewaltsame
Entführung die Ehe begründen. Sehr schwache Kenntnisse verrathen
uns daher solche Ethnographen, welche den Australiern diese Sitte
als Rohheit anrechnen, zumal ihre Frauen den Vollzug des alten Brau-
ches nicht als Misshandlung, sondern als eine Huldigung betrachten,
und er zu den beliebten Jugendspielen zwischen Knaben und Mäd-
chen gehört'). Die gleiche Sitte herrschte bei den ausgestorbenen
Tasmaniern ^) , sowie bei den Papuanen Neu-Guineas^) und der
Fidschiinseln ^), ferner bei den Ainos auf den Kurilen s) und bei den
Feuerländern ^). Jeder Ostjake und Samojede^» j^'der Lappe 8) noch
heutigen Tages ,^ wie in Vorzeiten die Finnen (Suomi) muss sich
mit List oder Gewalt eines Mädchens aus fremdem Stamm be-
mächtigen. Kein Völkerkundiger wird uns wohl widersprechen,
wenn wir die Erzählung des Livius vom Raub der Sabinerinnen
als die verdunkelte Erinnerung einer alten römischen Sitte deuten,
welche auch bei ihnen die Heirathen innerhalb der Stammes-
gemeinde verbot. In späteren bequemeren Zeiten wurde der Raul»
nur noch als eine Hochzeitsposse beibehalten. Campbell sah eines
Abends in Khondistan einen Burschen, auf der Schulter eine Last
in Scharlachtuch gehüllt, davon tragen, verfolgt von einem Haufen
Frauen und Dirnen, die ihm Steine, Bambustücke und andere Ge-
schosse nachschleuderten. Es ergab sich dann später, dass der
Dulder, auf der Hochzeitsreise begriffen, in dem Scharlachzeuge
sein junges Weib trug, und das Ganze als Schaustück die Ver-
folgung eines Frauenräubers bedeutete^). Zuletzt wird aus dem
Raub nur ein Fangspiel zwischen Braut und Bräutigam, dessen
Ausgang stets im Voraus verabredet wird, doch soll bei den Maori
Neu-Seelands ein Mädchen, die bei einer solchen Gelegenheit zu
entschlüpfen den ernsten Willen hat, einem unwillkommenen Bc-
1) Dumont d'Urville, Voyage de TAstrolabe. Paris 1830. vol. i. p. 411-
2) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 813.
3) 1. c. S. 633.
4) Williams im Ausland. 1859 S. 113.
5) Mitlheilungen der Wiener geogr. Gesellschaft. 1872. No. 12. Bd. 15.
(Neue Folge.) S. 561.
6) W. Parker Snow, Off Tierra del Fuego. vol. II, p. 359.
7) Castr^n 1. c. S. 10.
8) J. A.^Frijs, Wanderungen in den drei Lappländern. Globus X872.
Bd.. XXII. No. I. S. S2.
9) Campbell, Khondistan. p. 44.
236 Ehe und väterliche Gewalt.
Werber sich entziehen dürfen '). Kennan , der einem ähnlichen
Hochzeitsspiele bei den Korjaken beiwohnte, überzeugt uns, dass
die Braut immer im Stillen in ihre Besiegung einwilligen muss.
Auch in Europa wird noch vielfach als Hochzeitsfeier ein drama-
tischer Ueberfall ausgeführt, bei den Slovenen zogen sogar der
Bräutigam und seine Genossen bewaffnet gegen das Haus der
Braut, welches wie zu einer Belagerung verschlossen wurde'). In
Ahbayern lebt die Sitte der Entführung noch in einem Hochzeits-
spiele fort, welches Brautlauf heisst und wofür im Altnordischen
Qliänfang (Frauenfang) gesagt wurde^). Bei den Patagoniern, unter
denen Husters verweilte, wird den Eltern heimlich ein Kaufpreis
entrichtet, die Braut selbst aber plötzlich geraubt^).
Wo alliugrosse Blutnähe nicht gescheut und der Raub nicht
gefordert wurde, liiusste der Werber die Braut den Litern abkaufen.
Das Weib geht hier in das Eigenthum des Wannes über und kann
von ihm auf einen Rechtsnachfolger übertragen werden. Bei den
Cariben Venezuelas*}, wie im äquatorialem Westafrika erbt der
älteste Sohn alle Erauen seines abgeschiedenen Vaters, mit ein-
ziger Ausnahme der leiblichen Mutter^). Das Gleiche berichtet
O. Schweinfurth von Hunsa, dem Könige des merkwürdigen Neger-
reiches Monbuiiu am Utile'). An der Goldküste gelangte sogar
derjenige unter den Prinzen auf den erledigten Thron , der sich
vor den andern Brüdern in den Besitz des väterlichen Harems
setzte*). Diess erläutert uns zugleich einige Vorgänge aus der alt-
testamentlichen Geschichte, Wenn Abshalom im Angesicht von
ganz Jerusalem sich der Frauen seines Vaters bemächtigte, so sollte
damit allem Volke kund werden, dass er David vom Thron ge-
stossen habe*). Im gleichen Geiste befiehlt Salomo den Adonija
hinzurichten, weil er Abisag, Davids letzte Favoritin als Gemahlin
sich erbeten und damit geheime Thron an Sprüche verrathen hatte'°).
t) Waiti. Anthropologie. Bd. i. S. 360.
2) Klun, Die Slovenen, im Ausland 1872. No. 23, S. 545.
3) Sepp, Die Schimmelkirchen, Beil. zur AUg. Ztg. 1873. S. 1154
4) Ausland. 1872. No. 9. S. iq6.
%) GumilU, £1 Orinoco ilusttado. Madrid 1741. P. I, cap. 14. p.
6) Du Chaillu, Ashangoland. p. 4:7-
7) Zeilschrift für Ethnologie. Berlin 1873. Bd, 5. S, 12,
8) Bosman, Guinese Goud-Tand-en Slivekust, Tom, II. p. 1:5.
91 2. Regum, XVI, 21—12.
lo| 3. Regum, II, 19 — 25,
Ehe und väterliche Gewalt. 237
Wo der Kauf der Braut noch ein ernstes Geschäft ist, werden
vergleichsweise hoheWerthe entrichtet, wie bei den Kafirn*), und dann
befragt man die Neigung der Erwählten gar nicht. Bei edleren Völkern,
wie bei den Abiponen und noch jetzt bei den Patagoniern, wird der
Verkauf dagegen ungiltig oder rückgängig, wenn das Mädchen nicht
einwilligt*). Auch bei den Deutschen war die Ehe ursprünglich
ein Kauf und zwar entrichtete der Freier einen Preis demjenigen,
in dessen Gewalt sich die Jungfrau oder Wittwe befand, also dem
Vater, Bruder oder Tutor ^), Da die Frau dadurch unter die
Vormundschaft des Mannes gerieth, nannte man auch diesen
Rechtsact einen Mundkauf. In Island und Norwegen wurde die
Frau ebenfalls erkauft "*), wie bei den Angelsachsen, ja selbst das
englische Eheritual, welches bis 1549 in Kraft blieb, enthielt noch
Anklänge an die alte Rechtsgewohnheit 5). Wir erinnern nur an
längst Bekanntes, wenn wir noch hinzufügen, dass die feierliche
Form der Eheschliessung (confarreatio) im alten Rom nur bei
Patriciern gebräuchlich war, die Plebejer dagegen ihre Ehen durch
einen Scheinkauf (coemtio) abschlössen. Wo der Islam herrscht,
muss noch heutigen Tages die Frau gekauft werden^). Eine hohe
Verfeinerung und Milderung der Sitten verräth es, wenn schon
durch Manus Gesetz im alten Indien, die ehemalige Brautgabe, ein
Joch Ochsen nämlich, streng abgeschafft wurde?). Der Bräutigam
wird vielmehr am Tage der Vermählung vom Schwiegervater als
Gast willkommen geheissen und empfängt die Braut unter der bei allen
feierlichen Schenkungen gebräuchlichen Form 8). Scheidungen sind
überall, wo Polygamie herrscht, der Willkür des Ehemanns überlassen.
1) Gustav Fritsch, Die Eingebomen Südafrikas. S. 112.
2) Dobriz hoffer, Gesch. der Abiponer. Bd. 2. S. 257. Musters,
Unter den Patagoniern. Jena 1873. S. 190.
3) J. Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer. Göttingen 1854. S. 420»
4) Paul Labaud in der Zeitschrift für Völkerpsychologie. Berlin 1865.
Bd. 3. S. 152.
5) Friedberg, Das Recht der Eheschliessung. S. 33, S. 38. Auch in den
Niederlanden, in Spanien nach Westgothenrechte, im longobardischen Rechte
sind Reste des Brautkaufes noch vorhanden. 1. c S. 66. S. 71. S. 75.
6) Warnkönig, Juristische Encyclopädie. S. 167.
7) Duncker, Geschichte des Alterthums. Bd. 2. S. 134.
8) Colebrooke, Essais on the religion and philosophy of the Hindus.
London 1858. p. 141— 142.
238 Ehe und väterliche Gewalt.
Sir John Lubbock hat zu behaupten gewagt, dass die Men-
schen in dem Urzustände eheliches Zusammenleben nicht gepflogen
haben, sondern dass die Frauen einer Horde Gemeingut aller
Männer gewesen sein sollen. Für diesen hässlichen Gedanken hat
er auch das hässliche Wort gefunden, denn er bezeichnet solche
Zustände als Hetärismus. Reste davon will er noch in Austra-
lien wieder erkennen , indem er sich auf Aeusserungen John
Eyre's bezieht '). Allerdings könnte ein besserer Gewährsmann
kaum gefunden werden, denn beseelt von Theilnahme für jene
aussterbenden Menschenstämme würde er gewiss nicht aus Ge-
hässigkeit oder Leichtsinn ungiinstige Thatsachen über sie berichtet
haben. John Eyre überzeugt uns wirklich, dass die Australier,
mit welchen er bekannt geworden war, auf die eheliche Treue
ihrer Frauen keinen Werth legten. Was er aber mittheilt, bezieht
sich doch nur auf Stämme in der Nähe des Murrayflusses, die
mit europäischen Ansiedlern schon vielfach verkehrten. Ein sol-
cher Verkehr hat aber fast allerorten die besten Sitten der Ein-
gebornen verdorben. Ausserdem steht, in Widerspruch mit den
angeblich hetäristischen Gewohnheiten, dass nach Eyre*s eignen
Worten *) die väterliche Gewalt eine ganz unbeschränkte sein soll,
sowie andrerseits die von ihm mitgetheilten Züge leidenschaftlicher
Zärtlichkeit von Vätern für ihre Kinder. Von andern Beobach-
tern werden gerade die australischen Männer der Eifersucht ge-
ziehen und behauptet, dass sie sich am Ehebrecher blutig räch-
ten ^). Neumayer endlich, der oft unter Eingebornen übernachtete,
will nie eine Verletzung des Anstandes oder besserer Sitten wahr-
genommen haben ^). Erinnern wir uns ferner, dass die Australier
aus Scheu vor Blutnähe nur Frauen mit einem andern Familien-
namen ehelichen, so werden hetäristische Zustände sehr unwahr-
scheinlich und wir dürfen die von Eyre mitgetheilten Thatsachen
als eine örtliche Sittenverwilderung betrachten, die nur dem Süden
des Welttheiles angehört, denn dort giebt es wirklich Stämme,
unter denen die Brüder des Mannes der Ehefrau den gleichen
Namen geben ^).
1) Central Australia. London 1845. ^^m. II, p. 320.
2) 1. c. tom. II, p. 307.
3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 774.
4) Zeitschrift fiir Ethnologie. Berlin 1871. S. 71.
5) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 774.
Ehe und väterliche Gewalt. 239
»
• Sehr unglaubwürdig wird die Annahme eheloser \'orzeiten
des Menschengeschlechtes, insofern wir schon bei Thieren eine
strenge Paarung finden, nämlich bei Aflfen *) , bei Raubthieren,
Hufthieren, Wiederkäuern, bei Sing-, Hühner- und Raubvögeln.
Auch Charles Darwin hat die Wahrscheinlichkeit einer Frauen-
gemeinschaft bei den vorgeschichtlichen Menschen aus dem Grunde
bestritten, dass die Männchen vieler Säugethiere sehr eifersüchtig
und mit Waffen zum Kampfe um die Weibchen ausgerüstet sind.
Gerade die Vedda auf Ceylon, bei denen wir noch die meisten
Reste der Urzeit anzutreffen hoffen dürften, führen, wie wir sahen,
das schöne Sprüchwort im Munde, nur der Tod vermöge Mann
und Weib zu scheiden % Da ferner die Jagd, die ursprünglichste
Art des Nahrungservverbes , nur ausnahmsweise von Frauen be-
trieben wird ^), so lag darin ein Zwang, dass die Aufzucht von
Kindern nur glückte, wo Vater und Alutter sie in den zarten
Jahren ernährten. Ist es doch eine bekannte statistische Thatsache,
dass auch in der modernen Gesellschaft die Sterblichkeit unehe-
licher Kinder, für welche nur eine Mutter und diese nicht genü-
gend sorgen kann, eine vielfach vergrösserte ist, als. die der ehe-
lichen, welche in einem Elternhiiuse auferzogen werden.
Neuerdings hat indessen ein transatlantischer Gelehrter Lewis
Morgan eine höchst verdienstvolle Arbeit über die Verwandt-
schaftsbestimmungen bei verschiedenen \"ölkern veröffentlicht, die
sich auf den Thatbestand aus nicht weniger als 139 Sprachen
meistens amerikanischer, aber auch asiatischer, malayischer und
europäischer, stützt ^). Durch diese neuen Hilfsmittel der Wissen-
schaft glaubt Morgan auch den Schleier von dem Geschlechtsleben
in der grauen Vorzeit ein wenig heben zu können. Bei
allen mongolen - ähnlichen Völkern Asiens, bei den Dravida in
i) Lieutn. C. de Crespigny stiess zwischen dem Padass und Papar im
nördlichen Bomeo auf eine Familie von Mias (Orang utang), bestehend aus
dem Männchen, dem Weibchen, einem grösseren und einem kleinen Jungen.
Ihr Bündniss musste also schon längere Zeit bestanden haben. Proceedings
of the R. Geogr. Soc. 22. Jan. 1872. vol. XVI. No. 3. S, 177.
2) Darwin, Abstammung des Menschen. Bd. 2. S. 318 — 319.
'3) z. B. von den Koluschen an der Küste des ehemals russischen Ame-
rika. V. Langsdorff, Reise um die Welt. Bd. 2. S. 113.
4) Systems of Consanguinity and Affini ty in the Human Family. Was-
hington. I87I.
240
Ehe und väterliche Gewalt.
Indien, bei den Eingebornen Amerikas und bei Völkern der
malaylschen Familie finden wir nämlich eine völlig von der unsri-
gen abweichende Bezeichnung der. Blutsverwandten. Die Abkömm-
linge eines gemeinsamen Ahnherrn oder einer gemeinsamen Ahn-
mutter geben sich, wenn sie derselben Geschlechtsfolge angehören,
den Namen Bruder oder Schwester, sie nennen sämmtliche Zu-
gehörige der nächst frühern Geschlechtsfolge Väter und die der
nächstfolgenden Söhne. Es wird also ein Mann Bruder nennen:
nicht blos alle Söhne seines Vaters, sondern auch die Söhne des
Vaterbruders und alle Enkel seines Grossonkels. Er wird ferner
als Sohn nicht blos anreden den eignen Leibeserben, sondern alle
Söhne seiner Brüder, alle Enkel des Vatersbruders, alle Gross-
enkel des Grossonkels. Die Kinder seiner Schwester dagegen be-
grüsst er als Neffen oder Nichten, die Brüder der Mutter als
Onkel. Umgekehrt wird eine Frau nicht blos ihre Erzeugerin,
sondern auch deren Schwestern , sowie die Töchter der gross-
mütterlichen Schwester als Mutter anreden. Alle Kinder ihrer
Schwestern, alle Enkel ihrer Mutterschwester, alle Grossenkel der
grossmütterlichen Schwester nennt sie ihre Kinder, die leiblichen
Nachkommen der Brüder dagegen ihre Nichten oder Neffen *).
Uebersehen dürfen wir aber nicht, dass in allen diesen Sprachen
keine Sonderbezeichnungen für Bruder oder Schwester vorhanden
sind, sondern eigne Worte für den älteren und jüngeren Bruder,
für die ältere und jüngere Schwester gebraucht werden müssen.
Selbst das Ungarische hat keine Sondernamen für Bruder und
Schwester, sondern muss sich mit Umschreibungen helfen *).
Die unendliche Mehrheit der Völker unterschied also sprach-
lich weniger die Blutnähe als die verschiedenen Geschlechterstufen
und innerhalb dieser wieder den Vorrang der älteren von den' jüngeren
Gliedern. Diese einfachste Gestalt der Dinge, wie sie bei Irokesen
und Seneca sowie bei den Tamulen herrscht, war verschiedener Ver-
feinerungen und Abänderungen fähig, so dass unser Wissenszweig
durch Morgan's Tafeln neue Einblicke über die Geistesverwandt-
1) Schon Lafitau (Moeurs des sauvages am^riquains. Paris 1724. tom. I.
p. 552—553) hat b^i den Irokesen und Huronen dieses System genau be-
schrieben.
2) Steinthal in der Zeitschrift für Völkerpsychologie. Berlin 1868.
Bd. 5. S. 97-
Ehe und väterliche Gewalt.
24 E
Schaft der einzelnen Volksstämme gewonnen hat. Bedauern
müssen wir nur, dass der amerikanische Gelehrte in dieser uns
fremdartigen Auffassung der Verwandtschaftsgrade die Reste einer
ehelosen Vorzeit zu erkennen glaubt^). Auch er vermuthet, dass
anfänglich die Begattung durch zufallige Begegnung, also in hetä-
ristischer Art erfolgte. Später seL ein Zustand eingetreten, wo
die Söhne einer Mutter mit allen ihren Schwestern gemeinsam
lebten. Als Erbtheil jener Vorzeit Hesse ^ich vielleicht die Schwager-
pfiicht betrachten, welche dem Hebräer auferlegte, der Wittwe
seines Bruders Nachkommen zu erwecken, eine Satzung, die wir
bei unendlich vielen Völkern schon angetroffen haben ^) und zu
denen wir auch noch die Neger der Goldküste hinzufügen müssen 3).
Andrerseits könnte man noch erinnern, dass der Erzvater Jacob
nach einander zwei Schwestern heimführt. Noch wichtiger ist es,
dass, wie wir selbst mitgetheilt haben % im südlichen Indien Ehen
von einer Brüderzahl mit mehreren Schwestern geschfossen werden.
Ferner herrschte ehemals bei den Kanaken der Havaiinseln unter
dem Namen Pinalua die Sitte, dass Brüder gemeinsam ihre
Frauen, Schwestern gemeinsam ihre Männer besassen^). Sehr ge-
wagt bleibt es vorläufig, diese vereinzelten Bräuche, welche eben-
sogut als örtliche Verirrungen sich auffassen lassen, als noth-
wendige Vorstufen zur strengen Ehe zu bezeichnen. Dass jemals
irgendwo längere Zeit di^ Kinder einer Mutter geschlechtlich sich
vermehrt haben sollten, klingt gerade in neuester Zeit höchst un-
glaubwürdig, seitdem es feststeht, dass selbst bei blüthenlosen
Pflanzen die gegenseitige Befruchtung von Nachkommen derselben
Eltern möglichst verhindert wird. Die eigen thümlichen Verwandt-
schaftsstufen ," welche malayische , asiatische und amerikanische
Mongolenvölker, sowie die indischen Dravida und etliche Neger
sprachlich unterscheiden, begünstigen keineswegs jene Auffassung,
denn unmöglich kann auf eine geschlechtliche Erzeugung ange-
spielt werden, wenn jemand den Grossenkel seines Grossonkels
Sohn, oder wenn eine Frau die Grossenkelin ihrer Grosstante
1) Systems of consanguinity, p. 480.
2) S. oben S. 24.
3) Bosman, Guinese Goudkust. Utrecht 1704, tom. I. p. 201.
4) S. oben S. 232.
5) Morgan, Systems of consanguinity. p. 453.
Peschel, Völkerkunde. l6
212 Elle und väterliche Gewalt.
Tochter nennt. Fügen wir hinzu, dass bei den 80 amerikanischen
Sprachen, die Morgan untersucht hat, mit nur zwei Ausnahmen
Sonderausdrücke vorhanden sind, mit denen die Frau den Bruder
ihres Mannes und den Gemahl ihrer Schwester als Schwager be-
t
zeichnet *), folglich zwischen Brüdern keine Frauengemeinschaft^
zwischen Schwestern keine Gattengemeinschaft bestand. Gerade
bei Völkerschaften mit urzeitlichen Zuständen haben wir eine
ausserordentlich entwickelte Scheu vor blutschänderischen Ehen
bemerkt. Ferner konnte Frauengemeinschaft oder Vielmännerei
unter solchen Menschenstämmen nicht bestehen, bei denen das männ-
liche Kindbett*) vorgeschrieben wurde. Erwägen wir ferner, dass
sämmtliche Sprachen, in denen die Anrede Vater, Bruder, Sohn,
Familiengliedern zukommt, je nachdem sie von einem gemein-
samen Ahnherrn in einem höheren, gleichen oder ferneren Grade
abstammen , mit Sondernamen den altern und Jüngern Bruder
oder Vatersbruder, die ältere oder jüngere Schwester oder Mutter-
schwester unterscheiden, so muss es uns klar werden, dass nicht
die Grade der Blutnähe, sondern die Zeitfolge der Geschlechter
und der Rang innerhalb der Familie bezeichnet werden sollten,
weil sich an diese Stufen wichtige Folgen für den häuslichen Um-
gang, nämlich das. höhere Ansehen der Aelteren und was noch
wahrscheinlicher ist, strengere oder schwächere Pflichten der Blut-
rache knüpften. Es ist obendrein bekannt, dass die Eingebornen
der heutigen nordamerikanischen Union blutige Kriege führten und
feierliche Verträge zu dem Zwecke schlössen, welche Nation der
andern die Anrede Grossväter, Onkel, jüngere Brüder zu ertheilen
habe. Anderwärts bildeten die Abkömmlinge eines gemeinsamen
Ahnherrn oder einer gemeinsamen Ahnmutter eine Rechtsgenossen-
schaft mit gegenseitiger Haftbarkeit. Wurde bei den Negern der
Goldküste einem Verurtheilten eine Geldbusse auferlegt, und konnte
er sie nicht erschwingen, so wurde der Vater und der Onkel oder
andre Verwandte in Mitleidenschaft gezogen, erforderlichen Falls
als Sklaven verkauft -J). Aehnlich hatte auf den Palau-Inseln jedes
älteste Familienhau{)t für die Seinigen einzutreten*).
1) Morgan, Systems, p. 378.
2) S. oben S. 26.
3) Bosman, Guinesc Goud-Tand-en- Slavekust. Utrecht 1704. tom. I.
195 u. Winwood Reade, Savage Africa. London 1863. p. 135.
4) C. Sem per, Palau-Inseln. S. i8t.
Ehe und väterliche Gewalt. 2±Z
Gegenwärtig gebührt fast allerorten dem Erzeuger die väter-
liche Gewalt über seine^ Nachkommen , auch übt er bei roheren
Völkern fast stets über die Frau die Rechte eines Leibherrn aus.
Dennoch gibt es eine Mehrzahl von Völkerschaften, bei denen alle
Familienrechte von der Mutter abgeleitet werden. Wie Bosman von
der Goldküste berichtet, folgen der Mutter alle Kinder in dem gleichen
Stand, wer auch immer der Vater sei. Sie werden für frei erachtet,
w^nn ihre Mutter frei, und für Sklaven, wenn sie eine Sklavin war*).
Dasselbe Recht galt bei den alten Lyciern, die sieb auch nicht
nach ihrem Vater, sondern nach ihrer Mutter nannten '). Ebenso
vererben in Australien die Familiennamen immer von mütterlicher
Seite sammt der Kaste ^).|j^ Nicht anders halten es die Fidschi^),
die Maori Neu-Seelands, sowie die Mikronesier des Marshall-Archipels,
bei denen Adel oder Rang von der Mutter ererbt wird ^). Aehnliche
Rechtsanschauungen gelten dort, wo der junge Ehemann das Haus
seiner Schwiegereltern bezieht und in ihre Familie übertritt. Dies ge-
schieht bei den Dayaken Borneos und recht bezeichnend ist es,
dass dort der Schwiegervater höher geehrt wird als der eigne Er-
zeuger^). Bei den Itelmen Kamtschatkas gehörte ebenfalls der Gatte
zum Ostrog seiner Frau 7). Solche Familiensatzungen waren auch
weit verbreitet in Amerika. In Guayana folgte das Kind in allen
bürgerlichen Beziehungen der Mutter, so dass die Nachkommen
einer Macuschi-lndianerin und eines Wapischiana zur Horde der
Macuschi, nicht zu dem väterlichen Stamm, gerechnet würden»).
Noch schärfer gestalteten sich diese Rechtsanschauungen unter den
nordamerikanischen [Irokesen und Huronen. Die Verwandtschaft
zum Vater wurde als sehr schwach angesehen, und die Kinder
blieben von der Mutter abhängig 9). Dieser allein stand das Recht
1) Guinese Goud-Tand-en Slave-kust. Utrecht 1704. p. 184.
2) Herodot, lib. I. cap. 173.
3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 788. Einige andere Beispiele
dieser Art finden sich bei A. Bastian, Rechtsverhältnisse. Berlin 1872. S. 171
4) Ausland. 1859. S. 89 nach Williams.
5) D. G. Monrad, Das alte Neuseeland. Bremen 1871. S: 24. Journal
des Museum Godeffroy. Hamburg 1873. Heft i. S. 36.
6) Spenser St. John, Life in the forests of theFarEast. London 1862.
vol. L p. 50^51.
7) G. Stell er, Kamtschatka. S. 346. ■
8) Appun im Ausland. 1872. S. 683.
o) Charlevoix, Nouvelle France, tom. HL p. 287.
16*
244
Ehe und väterliche Gewalt.
der Adoption zu, um die Lücke eines erschlagnen Sohnes im Hause
wieder auszaftillen. Daher entschieden die Frauen, ob die Kriegs-
gefangenen am Marterpfahle enden oder in den Stamm aufge-
nommen werden sollten'). Zur Huldigung wurde ihnen sogar die
Entscheidung über Krieg oder Frieden eingeräumt, da ja der
erstere Gelegenheit zum Erwerb von Kriegsgefangenen bieten konnte.
Doch wurde es damit nicht ernst genommen, denn in Wahrheit
erhielten sie gar keine Kenntni^s von wichtigen politischen Unter-
nehmungen'). War auch der junge Gatte in den ersten Jahren
seinen Schwiegereltern Dienstleistungen schuldig, so wurde doch
andrerseits wiederum die Ehefrau verpflichtet, auf den Feldern ihrer
Schwiegereltern zu arbeiten und deren Haushalt mit Holz zu ver-
sorgen^). Es trübt daher die klare Auffassung dieser Verhält-
nisse, dass solche Familiensatzungen von dem Jesuiten Lafitau mit
einem straboniscben Worte''), nämlich mit Gynäkokratie bezeichnet
worden sind, als hätten jemals irgendwo in der rauhen Vorzeit die
Frauen im Haus geherrscht und die Männer unter ihrer Gewalt
gestanden. In einem umfangreichen Werke hat J. J. Bachofen so-
gar die wenig glaubwürdige Ansicht zu verbreiten getrachtet, dass
in den Anfängen der menschlichen Geseilschaft die Mütter als Fa-
milienhäupter gegolten hätten, als ob von den sogenannten Natur-
menschen nicht das Recht des Stärkeren, sondern das Recht des
Schwächeren anerkannt worden wäre. Auch hat Bachofen seine Be-
hauptung nicht anders beglaubigen können; als durch Mythen des
Alterthums , denen er eine erzwungene Deutung widerfahren lässt.
Ihm genügt schon, dass die Männer in Altägypten am Webstuhl
Sassen, als Beweis einer Weibefherrschaft'), ja den erschöpfenden
Untersuchungen von Martins gegenüber, fährt er noch immer fort zu
behaupten, dass es in Südamerika nicht blos in der erhitzten Phan-
tasie spanischer Entdecker, sondern in Wirklichkeit Amazonen-
gemeinden gegeben habe*).
Die Satzung, dass die Kinder in allen bürgerlichen Beziehungen
1) Charlevoix, Nouvelle France, tom, III. p. 244—245.
2) 1. c. p. 269.
3) Lafitau, nioeuis def sauvages. Paris 1724. tom. I. p. 561. p. 577.
4) Strabo, Geogr. Üb. HI, cap. IV. ed. Tauchn. I, 266.
5) J. j. Bachofen, Dcis Mutletrecht. Stuttgart 1861. g. 53. i>. 102.
6) :^. a. O. §. 62. S. 1-7.
Ehe und väterliche Gewalt.
245
der Mutter angehören, deutet nicht nothwendig darauf, dass die'
Vaterschaft als etwas unsicheres angesehen wurde, sondern dass
die leiblichen. Beziehungen zur Mutter als ungleich stärker galten,
wie denn selbst noch bis in die neuen Zeiten herein Physiologen
an der Ansicht festhielten, dass die Thätigkeit des Vaters bei der
Erzeugung der Kinder als eine ganz untergeordnete betrachtet
werden müsse. Welche seKsame Vorstellungen der sogenannte
Wilde von der Zeugung hat, lehrt uns der Aberglaube der Saliva-
indianer am Orinoco, dass nämlich eine Frau die Zwillinge gebärt
nothwendig Ehebruch begangen haben müsse'). Aus o/ger Auf-
fassung erklärt sich das Vorkommen des Neffenerbrechtes, das
heisst des Rechtes, den Bruder der Mutter mit Ausschluss von
dessen Nachkommen zu beerben. So wird bei den Tuareg die
Häuptlingswürde stets auf die Schwestersöhne übertragen*). An
der Goldküste beerbte der Sohn den Bruder der Mutter, die
Tochter die Schwester der Mutter 3) und noch heutigen Tages geht
der Thron im Königreich der Aschanti nicht auf den nächsten
Leibeserben, sondern auf den Bruder oder Schwestersohn über*).
Ein Neffenerbrecht fand Livingstone auch bei den Kebrabasa-
Negern am Sambesi 5). Auf den Antillen schlössen wenigstens die
Schwesterkinder die Bruderkinder als näherstehend von der Erb-
folge aus 6). Sonst finden wir das Neffenerbrecht in Amerika bei den
Koluschen und andern Küstenstämmen im Nordwesten 7), bei den
Montagnais in Labrador s), sowie bei den Huronen und Irokesen 9).
Uebrigens ist diese Familiensatzung gewiss noch viel weiter verbreitet
gewesen und mag bei allen Völkerschaften gegolten haben, bei denen
die Kinder dem Stamm der Mutter folgten. Wurde von Europäern
nach der Ursache dieser Familieneinrichtung geforscht, so' lautete
in Afrika wie in Amerika stets die Antwort, dass über die Ver-
wandtschaft mit den Schwesterkindern nie ein Zweifel bestehen könne^
1) Jos. Gumilla, El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. P. I. cap. 13. p. 127.
2) Bulletin de la Soc. de G6ogr. Paris 1863. Fevr. p. 123.
3) Bosman, Guinese Goud-kust. Utrecht 1704. tom. I. p. 193 — 194.
4) Winwood Reade, Savage Africa. London. 1863 p. 43-
5) Zambesi. p. 162.
6) Oviedo, Historia general. lib. V. cap. 3.
7) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 328. S. 340.
8) Youle Hind, Labrador. London 1863. tom. IL p'. 17.
9) Charlevoix, Nouv. France, tom. IIL p. 267.
2a6 ^l^e und väterliche Gewalt.
wohl aber über die auf väterlicher Seite. Dies klingt freilich, als
ob keine eheliche Treue beobachtet worden sei und die lockersten
Sitten geherrscht hätten, doch sind wir noch immer geneigt, diese
Auffassung lieber einer verkehrten physiologischen Ansicht über die
Vaterschaft zuzuschreiben, da das Neffenerbrecht bei so vielen
sittenstrengen Völkern, wie den eben genannten Koluschen vor-
kommt. Winwood Reade, der uns von den Negern des westlichen
Afrika ungünstig gefärbte Schilderungen geliefert hat, verschweigt
doch nicht, dass unbeschadet des Neffenerbrechtes in Dahome
und bei den Adiya der Insel Fernando Po der Ehebruch so-
gleich oder im Wiederholungsfall mit dem Tode bestraft wird, ja
er gesteht, dass in Westafrika, wenn ein Mädchen durch Fehltritte
ihre Familie beschimpft hat, Ausstossung aus dem Hordenverband
erfolgt^). Wir begegnen dem Neffenerbrecht ferner bei Völkern,
wie den Irokesen und Huronen, die Proben strenger Enthaltsam-
keit ablegten, denn junge Ehegatten mussten ein ganzes Jahr wie
Bruder und Schwester zusammenleben, um zu beweisen, dass edlere
Neigungen als die Befriedigung von Sinnenlust sie zusammengeführt
hätten'). So äussert auch' Joseph Gumilla^) von den Indianern des
Orinoco : „Alle empfinden schwer die Untreue ihrer Frauen, doch die
Cariben allein bestrafen sie exemplarisch, denn die ganze Gemeinde
erschlägt die Schuldigen auf dem öffentlichen Platze". Ein anderes
Mal aber erzählt er von einer Indianerin, die sich vergiftete, um
nicht die Ehe zu brechen. Ungewissheit über die Vaterschaft kann
auch bei solchen Stämmen nicht zum Neffenerbrecht geführt haben,
welche den Brauch des männlichen Kindbettes beobachten^). Die
Bevorzugung der Schwesterkinder vor den eigenen Leibeserben,
und die Verehrung des Mutterbruders darf also, so lange nicht
strenge Beweise beigebracht werden, nicht als ein Merkmal* von
ehelicher Sittenlosigkeit gelten.
Da sich ein schicklicher Platz anderwärts nicht finden dürfte,
sei uns an dieser Stelle der Zusatz verstattet, dass das Küssen
nicht allerorten Brauch ist. Darwin hat bereits mitgetheilt, dass
1) Savage Africa. London. 1863. p. 48. p. 61. p. 261.
2) Lafitau, moeurs des sauvages, tora. I. p. 574- Charlevoix, Nou-
velle France, tom. III. p. 286.
3) S. oben S. 26.
4) El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. p. 7^- P- 342. Uebrigens kamen
auch grobe Verachtungen der ehelichen Treue vor. 1. c. p. 72.
Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft. 247
in der Südsee die Maori Neuseelands, die Tahitier, die Papuanen,
endlich die Australier diesen Ausdruck der Zärtlichkeit nicht, in Ame-
rika aber weder Eskimo noch Feuerländer ihn kennen. Winwood
Reade erregte das Entsetzen eines Negermädchens als er sie geküsst
hatte, denn in ganz Westafrika sind solche Liebkosungen ungebräuch-
lich*), und ebenso stiessBayard Taylor bei den Frauen Lapplands auf
eine entschiedene Abneigung gegen jede derartige Berührung^).
Sie ist selbstverständlich ausgeschlossen bei allen- Völkern, welche
die Lippen aufschlitzen und kleine Hölzer einsetzen, wie es die
Stamme an den Küsten des Beringsmeeres und ihre Nachbarn die
Koluschen, ferner die Botocuden in Brasilien und die südafrikani-
schen Nieger thun, deren Frauen das Pelele tragen.
8. Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft liegen eingeschlossen
in der Familie. Diesen Verband haben, unter allen Völkern der
Erde die Chinesen am stärksten befestigt, denn die Verehrung der
Eltern steigert sich bei ihnen fast zu einem religiösen Dienst Zu
den heiligsten Pflichten, welche die Familienglieder verknüpfte, ge-
hörte die Blutrache, eine Satzung, die nicht etwa unsern Abscheu
verdient, sondern in der wir den ersten Versuch zur Begründung
eines Rechtsschutzes zu verehren haben. Alle Völker der Erde
haben in Vorzeiten dieses Gebot beobachtet, das in Europa auf
Corsika und unter den Albanesen sich noch bis in unsere Tage
behauptet hat. Confutse legte dem Sohne die Pflicht auf, so lange
Waffen zu tragen, bis er den Mörder seines Vaters erreicht und
erschlagen habe. Auch die ausgestorbenen Tasmanier beobachteten
die Rachepflicht*) und ebenso hafteten bei den ihnen blutsverwandten
Australiern alle Glieder einer Horde für jede Blutthat, die einer
i) Auch die Marquesasinsulaner (v. Langsdorff, Reise um die Welt.
Bd. I. S. 98) und wahrscheinlich alle Polynesier , vielleicht alle Völker, bei
denen der Malayenkuss (S. oben S. 24) gebräuchlich ist, verschmähen diese
Liebkosung. Vgl. auch Jagor, die Philippinen. S. 132.
2) Savage Africa. London 1863. p. 193.
3) Nordische Reise. S. 135.
4) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 814.
2J.8 I^ie Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
der Ihrigen begangen hatte*). Martins bezeichnet diese Rechtssitte
als ein Gemeingut aller Eingebornen Brasiliens und gedenkt ihrer
auch bei den Macuschi und Arowaken Guayanas*). Unter den
Bewohnern der Fidschigruppe vererbte die Rache vom Vater auf
den Sohn und von diesem auf die nächsten Verwandten^). Die
günstigen Wirkungen dieser Schutzpfiichten äussern sich auch, wenn
der strafende Arm nicht den Thäter selbst ereilt, sondern nur auf
einen fallt, der mit ihm in gleichem Racheverband steht.
Wunderlich mag es lauten, dass der Völkerkundige mit inniger
Freude der Ausbildung dieser Pflichtenlehre nachforscht, aber eine
Begebenheit, deren Schauplatz das nördliche Arabien ist, wird jedes
Befremden in Zustimmung verwandeln. Im Jahre 1863 wurde der
Italiener Guarmani vom Kaiser Napoleon III. nach dem Nedschd
geschickt um Edelrosse einzukaufen. Er zog am Beginn des März
1864 mit den Beni Ehtebe, einer Beduinenhorde umher, als diese
von ihrem Feinde dem Emir Abdallah Ihn Feisal ibn Sa*ud ange-
griffen wurde. Der Kampf währte mehrere Tage, bis zuletzt den
Beni Ehtebe ein unerwarteter Helfer erschien, mit dem sie ihre
Gegner in die Flucht trieben. Zu den Hilfsvölkem des Emir ge-
hörten auch die Beni Kahtan, welche während der Gefechtstage
vom 9. bis 14. März beständig gegen die Beni Ehtebe geplänkelt,
aber zugleich in vorsichtiger Ferne sich gehalten hatten. Als die
Sieger den Walplatz musterten, fanden, sie unter den Erschlagenen
nicht einen einzigen der Kinder Kahtan, welche übrigens die erste
schickliche Gelegenheit zur Flucht ergriffen hatten. Da das Gesetz der
Blutrache eine genaue Buchführung nicht blos über alle Tödtungen,
sondern auch über die Körperverletzungen erfordert, so war es
bedeutsam, dass andererseits keiner der Beni Ehtebe seine Ver-
wundung einem der Beni Kahtan zuschrieb'^). Das Räthsel übrigens
war für die Beduinen leicht zu lösen. Die Kahtan-Horde hatte
mit den Ehtebe bisher in Frieden gelebt und nur gezwungen dem
Emir in den Kampf folgen müssen. Wie auf Verabredung war zwi-
schen diesen Stämmen nur zum Schein gefochten worden und wenn
i) Waitz, 1. c. S. 744 if.
2) Ethnographie. Bd. I, S. 127. S. 650. S. 693.
3) H. Greffrath in Zeitschrift für Erdkunde. Berlin 1871. Bd. 6. S. 543.
4) Guarmani, Itin^raire au Neged septentrional, im Bulletin de la Soci^t^
de G6ogr. Paris. Septbr. 1865. V^me Sirie. tom. X. p. 283.
Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft. 249
daher beiderseitig kein Blut floss, so erwies sich gerade das Rache-
gesetz als wohlthätige Ursache, denn wäre es auch nur zu Ver-
wundungen gekommen, so hätte sich daraus eine Kette von Ge-
waltthaten bis auf ferne Geschlechter vererbt. Wir erkennen da-
raus, dass die Blutrache zum Lebensschutz ersonnen worden ist.
Wer daher unter Arabern seinen eigenen Verwandten umbringt,
verfällt keinem Rächer, da er sich selbst geschädigt hat, und ebenso
wenig zieht die Tödtung eines Vogelfreien oder äUis dem Stamm-
verband Gestossenen irgendwelche Folgen nach sich^). Wo die
Rache zur Pflicht wird, trifft Verachtung denjenigen, der sie nicht
vollzieht*). Eben weil die Vergeltung jsur Ehrensache erhoben
wird, stösst aber die Beilegung der Blutfehden auf grosse Schwierig-
keiten. Am leichtesten gelingt sie, wenn die Zahl der TÖdtungen
und Verwundungen auf beiden Seiten eine gleiche Höhe erreicht
hat. Der Rest muss dagegen durch Geldeswerth gesühnt werden.
Die Aneze Beduinen fordern für das Blut eines Freien 50 weibliche
Kamele, ein Reitkamel, eine Stute, einen schwarzen Sklaven, einen
Panzer und eine Flinte ; andere Stämme verlangen Geld iin Werthe
von 50 Pfd. Sterl., noch andere nur die Hälfte^).
Mildern sich die Sitten, so wird die Sühnung durch Geldes-
werth zur Gewohnheit and es entwickelt sich daraus der Brauch
des Wer- oder was dasselbe sagen will des Leutgeldes. Wo
solche Bussen auferlegt werden, hat vormals überall Blutrache ge-
herrscht. In Guinea wurde zu Bosmans*) Zeiten, also am Beginn
des i8. Jahrhunderts der Todtschlag jedes Freien mit schwerem
Gelde gesühnt, welche« den Verwandten zufiel. Wenig verträglich
mit unserm Rechtsgefühl ist es, dass in Slam auf die Tödtung eines
Greises eine geringere Summe, als auf die l^dtung von rüstigen
Männern gesetzt wird 5). Unsere Vorfahren entrichteten das Wer-
1) V. Maltzan, Sittenschilderungen aus Südarabien. Globus 1872. Febr.
Bd. XXI. S. 123.
2) Bei den Kuki, einem südasiatischen Stamm galten die Angehörigen des
von einem Tiger Zerrissenen so lange entehrt, bis sie einen Tiger getödtet
hatten. Tylor, Anfange der Cultur. Bd. i. S. 282.
3) Burckhardt, Notes on the Bedouins. London 1830. p. 87.
4) Guinese Goud-Tand-en Slave-kust. Utrecht 1704. p. 159.
5) Brossard deCorbigny»in Revue maritime et coloniale. tom. XXXIII.
Aoüt 1872. p. 73.
250 I^ic Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
geld theils an die Familie des Erschlagenen, theils an das Gemein-
wesen^). Unter den Kafirn ist die Rechtsentwickelung schon so
weit fortgeschritten, dass die Sühngelder nicht dem Beschädigten,
sondern dem Häuptling zufallen, gleichsam als sei durch den
Friedensbruch der Gesellschaftsverband, oder "derjenige, der ihn
vertritt, verletzt worden*). Dass die Angehörigen leer ausgehen,
rechtfertigen sie nait dem schönen Worte: man könne sein eigen
Blut nicht essen "5). Die Blutrache fordert eine entsprechende
Wieder Vergeltung, nämlich nach den Bibel worten: Auge um Auge,
Zahn um Zahn, Leben um Leben. Auch in der römischen Ge-
sellschaft hat sich das Strafrecht aus dieser Vorstellung entwickelt,
denn zur Zeit der Zwölftafelgesetze wurde noch immer, wenigstiens
bei schweren Körperverletzungen die Wiedervergeltnng vollstreckt,
wenn der Beschädigte' nicht vorzog, sich abfinden zu lassen^).
Wo irgendwo auf Erden der Mensch zu Brauch oder Genuss
eine Sache ergriffen hatte, da hielt er sich von jeher für ihren
Eigenthümer. Ahnungen von den Rechten des Besitzers mangeln
* selbst in der Thierwelt nicht, in ßezug auf das Nest sind sie bei
nistenden Vögeln vorhanden. Im Londoner Thiergarten .^bediente
si^h ein Aife mit Sjchwachem Gebiss eines Steines zum Oeffnen
von Nüssen, und verbarg ihn nach jedesmaligem Gebrauch im Stroh,
liess ihn auch von keinem andern Affen berühren 5). Unser Fuhr-
mannsspitz bewacht die Güter seines Herrn, und gebärdet sich aufs
deutlichste als Schützer des Eigen thums. Ein Beobachter, wie
Appun, der viele Jahre unter den Eingebornen Guayanas gelebt
hat, versichert, dass die Habe des Einzelnen von allen Mitbe-
wohnern einer Hütte heilig gehalten werde 6). Aber selbst Vor-
stellungen vom Recht an unbeweglichen Sachen entstehen in einer
sehr frühen Zeit. Bei Jägern gilt das Revier immer als Gesammt-
1) Tacitus, Germ. cap. 12. pars multae regi, vel civitati, pars ipsi', qui
vindicatur, vel propinquis ejus absolvitur; vgl. dazu J. Grimm, deutsche
Rechtsalterthümer. 2. Ausgabe. S. 652. u. G. Geib, Lehrbuch des deutschen
Strafrechtes. Leipzig 1861. S. 156.
2) Fritsch, Eingeborne Südafrikas. S. 97.
3) Maclean, Kafir Laws and Customs. Mount Coke. 1858. p. 35. >
4) Si membrum rupit, ni cum eo pacit, talio esto. Tab. VIII. fr. 2.
H. E. D.irksen, Uebersicht der Zwölf tafel-Fragmente. S. 517.
5) Darwin, Abstammung des Menschen. Bd. i. S. 44.
6) Ausland 1872. No. 29. S. 682.
*" Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft. 25 1
eigenthum der Horde. Flüsse, Wasserfalle, Berge, Felsen und
Bäume werden als Grenzzeichen von den Brasilianern benutzt^).
Ein Duell zwischen zwei Botocudenhorden , welchem der Prinz zu
Neuwied beiwohrfte, sollte als Sühne für einen Einbruch in ein
fremdes Jagdrevier dienen*). Bei den Australiern, auf welche die
ältere Völkerkunde am tiefsten niederzublicken pflegte, wurde das
Eigenthum an Grund und Boden streng beachtet.. Benilong, ein
Eingeborner von Neu Süd-Wales, hatte die Insel' Memel (Goat Is-
land der Engländer) von seinem Vater geerbt undj;' gedachte sie
einem Freunde zu hinterlassen^). Es kommen sogar Theilungen
des Erbes bei Lebzeiten unter ihnen vor, und so streng wurden
die Rechte [des Eigenthümers geachtet, dass Niemand ohne Kr-
laubniss auf dessen Gebiete Bäume fällen oder Feuer anzünden
durfte. Zustände, wo unter Menschen Eigenthum nicht unter-
schieden worden wäre, liegen also jenseits der Grenze unsres For-
schens. Wo der Acker von sesshaften Bewohnern bebaut wird, da
sorgt man bereits für eine scharfe Theilung der Fluren. Auf den
.dichtbesiedelten nördlichen Nicobaren trifft man^ Grenzsteine, auf
den südlichen, wo noch Raum genug ist, fehlen sie*). Unter den
alten Bewohnern von Cumanä am caribischen [Golfe sahen die
Spanier die Felder mit baumwollnen Schnuren abgegrenzt und jede
Verletzung dieser Schranken wurde als ein Frevel angesehen^). Don
Diebstahl betrachteten die Bewohner der Küste Venezuelas und der
Antillen als das verwerflichste Verbrechen und bestraften ihn mit
qualvollem Tode^). Zu den Ueberschwenglichkeiten despotischer
Reiche gehört es, wenn die Krone auch in so dicht bevölkerten
Gebieten, wie im britischen und im malayischen Indien zum allei-
nigen Eigenthümer von Grund und Boden erhoben, das Land aber
an die Unterthanen nur verpachtet wird. Auch im alten China be-
stand diese Staatseinrichtung 7). Ebenso war zur Incazeit in Peru
kein Eigenthum denkbar, denn es herrschte dort eine strenge
Gütergemeinschaft oder besser, es gab nur einen einzigen Eigen-
1) Martius, Ethnographie Bd. i. S. 81 — 82.
2) Reise nach Brasilien. Frankf. 1820. Bd. i. S. 370.
3) Dumont d*Urville, Voyage de TAstrolabe tom. I. p. 469.
4) Waitz, Anthropologie. Bd. i. S. 440.
5) Petrus Martyr, De orbe novo. Dec. VIII, cap, 6.
6) Gomara, Historia de las Indias. cap. 28. cap. 68.
7) Plath, Gesetz und Recht im alten China. München 1865. S. 18.
2C2 Die Keime der büigerlicHen Gesellschaft.
thümer, den Sonnensohn, der durch seine Beamten die Frohndienste
den Unterthanen auferlegte und alle Erzeugnisse der Arbeit wieder
unter sie vertheüen liess. Uebrigens war diese Ordnung der Dinge
nicht auf Peru beschränkt, sondern wie die Inca verfuhren die
Caziken der Antillen*) und die Häuptlinge der Otomaken im heu-
tigen Venezuela'). Wo den Häuptlingen göttliche Abkunft zuge-
schrieben wird und sie für höhere Wesen gelten, da kann ihnen
gegenüber das Eigenthum-nicht streng aufrecht erhalten werden.
Bei den Polynesiern und polynesischen Mischvölkern wird alles was
der Fürst betastet oder betritt tabu oder unberührbar für Jeder-
mann und es ist oft- schon dargestellt worden, welchen lästigen
Vorsichtsmass regeln die Häuptlinge sich unterziehen mussten, um
die unerwünschten Rechtsfolgen zu vermeiden, dass sie beispiels-
weise über Fluren hinweg getragen wurden, um deren Tabuirung
abzuwenden.
Mit der Art des Nahrungserwerbes hängt am innigsten die
Gliederung des Gemeinwesens zusammen. Wo sich der Mensch
zum Manschen gesellt, da erhebt sich auch stets eine Obrigkeit.
Am lockersten sind alle gesellschaftlichen Fesseln der herumstrei-
chenden Jägerhorden Brasiliens, die aus wenigen, oft nur aus einer
einzigen Familie bestehen. Aber auch diese haben ihr Revier zu
beschützen und bedürfen wenigstens eines Anführers im Kriege.
Bei allen Jägern und Fischern ist die Macht der Häuptlinge sehr
beschränkt, oft nicht einmal erblich. Die Indianer Nordamerikas,
die Australier, die Buschmänner, die Eskimo haben ihren Ober-
häuptern nur den Schatten von Macht gegönnt. Die Jagd und
der Fischfang sind eben diejenigen Erwerbsarten, zu denen der
Einzelne am Wenigsten den Beistand von Mitmenschen bedarf. „In
jedem Ameisenstaat, ruft der Pater Gumilla^) mit Bezug auf die
Indianer am Orinoco aus, herrscht mehr Ordnung und Obrigkeit,
als bei den Völkerschaften, über die ich geschrieben habe".
Gunstiger urtheilt ein anderer Jesuit, Charlevok^), über die Indianer
el, Zeitalter der Entdeckungca. S. igz.
«. Gumilla, Et Orinoco ilustrado. Madrid 174t.
3) El Orinoco iluslrado. P. I, cap. 8. p. 70.
4) NouveUe France, lom. III, p. 341.
Die Keime der bürgerlichen Gesellschaft. 253
Nordamerika's. Ohne sichtbare Beherrscher, sagt er, gemessen
sie alle Vortheile einer wohlgeordneten Regierung. Hirten-
stämme treffen wir meistens unter patriarchalischen Häuptern,
denn die Ileerden gehören gewöhnlich nur einem Herrn, dem als
Gesinde seine Stammesangehörigen oder ehemalfg unabhängige,
später verarmte Heerdenbesitzer dienstbar geworden sind. Dem
Hirtenleben sind vorzugsweise, wenn auch nicht ausschliesslich die
grossen Völkerbewegungen eigen, sowohl im Norden der Alten
Welt wie in Südafrika, die Geschichte Amerikas kennt dagegen
nur Einbrüche von rohen Jägerstämmen in die lockenden Gefilde
von Culturvölkern. Dass ganze Völkerschaften ihre bisherigen
Wohnstätten abbrechen, vorwärts drängen und grosse Erdräume
durchwandern, ist überhaupt nur denkbar ii; Begleitung von Heer den,
welche auf dem Marsche die nöthige Nahrung gewähren. Die
Viehzucht auf Steppen nöthigt ohnehin zum Wechsel der Weide-
plätze. Mit dem Ses^haftwerden und dem Ackerbau regt sich aber
sogleich die Begierde nach Sklavenarbeit. Jäger, die nur unter
beständiger Anstrengung sich und ihre Familien ernähren^ können
Unfreie nicht in ihrem Hausstande ver^venden. Anders verhält es
sich schon, wo Fischfang betrieben wird, denn dann treffen wir
hin und wieder schon Sklaverei, wie an der Nordwestküste Ame-
rikas bei den Kodjaken und Koluschen, sowie bei den Aht der
VancouverinseP), welche letztere, beiläufig bemerkt, ihren Leibeigenen
das Haar kurz scheeren. Früher oder später führt die Sklaverei
stets zur Willkürherrschaft, denn derjenige, welcher die grÖsste An-
;zahl Sklaven besitzt, wird mit ihrem Beistande leicht alle Schwächeren
unterdrii^en. Sklaverei ist die Regel in ganz Mittelafrika, daher
auch dort, wohin wir blicken, nur Despotien auf den Trümmern
von Despotien erwachsen sind.
Mit der Unterscheidung von Freien und Unfreien gliedert sich
die Gesellschaft in Stände und selbst unter Negern, wenn auch
selten, wie an der Goldküste oder im Congolande entsteht ein
Adel^). Das gleiche geschieht dort, wo eine erobernde Race sich
1) Waitz, Anthropologie Bd 3. S. 313, 329 und Sproat im Anthropol.
Review. London 1868. tom. VI, p. 369. .Selbst bei den Botociiden will man
kriegsgefangene Sklaven gesehen haben. Prin^ zu Neuwied, Reise nach
Brasilien. Frankfurt 1821. Bd. 2. S. 45.
2) Antonio Zucchelli, Missione di Congo. Venezia 1712. IX, 7. p. 14Ö.
254 ^^^ Keime der bürgerlichen Gesellschaft.
einen fremden Volksstamm unterwirft. Dann werden die physi-
schen Merkmale gewöhnlich zu Wahrzeichen der besseren Abkunft
erhoben, wie ja der indische Ausdruck für Kaste, varna, soviel wie
Farbe'), Hautfarbe nämlich, bedeutet. Wenn die Könige von
Spanien einen eingebornen Amerikaner in den Adelstand erhoben^ so
lautete die Formel, „er möge sich forthin als einen Weissen be-
trachten". Dass auch unter Jägerstämmen eine Scheidung nach
vornehmer und niederer Abkunft eintreten solle , ist schwierig zu
^erklären. Bei den Australiern gibt es gleichwohl drei Kasten, die
keine Zwischenheirathen verstatten*), obgleich nirgends beobachtet
worden ist, dass Mitglieder einer Horde irgendwelche Bevorzugung
genossen. Uebrigens ist noch sehr dunkel, was über das angeb-
liche Patriciat unter diesen Menschenstämmen mitgetheilt wird^).
Sollte diese Einrichtung nur auf die Coburg-Halbinsel im Norden
beschränkt sein ^) , dann wäre sie einer Einwanderung aus den Inseln
im Nordeu zuzuschreiben. Unter den Malayen nämlich, sowie bei
den ihnen verschwist^rten Polynesiern findet sich ein Adelstand,
welcher letzterer sich meistens wieder in viele Stufen gliedert 5). Bei
den Tonganern traf Mariner ausser den Fürsten einen hohen und
niedern Adel und zwei Classen von Plebejern^). Adclsvorrechte und
Kastenwesen stehen auch bei papuanisch-polynesischen Misch-
völkern, wie bei den Bewohnern' der Fidschigruppe oder der Palau-
inseln in üppiger Blüthe. Da wir über die Zustände der unverialschten
Papuanen in Neu-Guinea noch lange micht genügend unterrichtet
sind, die Macht der Häuptlinge dort übrigens als sehr schattenhaft
geschildert wird, die Neu-Caledonier ferner, welche übrigens der
Blutmischung nicht unverdächtig sind, ausser der Häupd|pgswürde,
keine Standesunterschiede anzuerkennen scheinen, so dürfen wir es
nur polynesischem Einflüsse zuschreiben, wenn so viele papuanische
Mischstämme nach Kasten sich gegliedert haben.
In Amerika treffen wir -den Geburtsadel zunächst bei den
i) Adalbert Kuhn in "Webers indischen Studien. Bd. i. S. 331.
2) Earl in Joum. of thc R. Geogr. Soc. vol. XVI, p. 240.
3) Reise der Fregatte Novara. Anthropologie. Bd. 3. S. 8.
4) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 789.
5) Beispielsweise in d^r Landschaft Holontalo in Nord-Celebes nach
Riedel in Zeitschr. für Ethnologie. 1871. S. 255.
6) Tonga Islands. Edinburgh 1827. tom. II, p. 87 sq.
Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. 255
Koluschen an der Küste des jetzigen Gebietes Alaska, sowie be
ihren Nachbarn, den Haidah der Charlotteinseln. Hier wie dorti
führen die Familien ihre Wappen, die aus Thierbildern bestehen').
Bei den südlicher sitzenden Stämmen der Nordwestküste Amerikas
wurde die adelige Geburt an der künstlichen Abflachimg des
Kopfes erkannt, denn diese Auszeichnung gebührte nur, wie wir
gesehen haben, den Freigeborenen % Die Irokesen duldeten keine
Standesunterschiede, die Algonkinen und ihre südlichen Nachbarn
dagegen sonderten sicK streng in Edle, Gemeine und Sklaven 3)^
In Südamerika gründeten die Sonnensöhne Perus in ihrem Reiche
einen doppelten Adel, denn ausser den zahlreichen Incas •oder
Abkömmlingen des königlichen Blutes*), setzten sie in den er-
oberten Provinzen die Curacas oder Ortshäuptlinge als Obrigkeiten
ein, denen verstattet wurde sich das Ohr zu durchbohren, wie die
Sonnenkinder 5). Endlich finden wir bei den Guaranistämmen und
bei den Abiponen am rechten Ufer des Paraguay eine scharfe
Unterscheidung zwischen Leuten vornehmer und niederer Abkunft.
Alte Frauen, berichtet Dobrizhoffer , deren Reichthum nur in den
Rifnzeln ihrer Gesichter bestand, rühmten sich mit hohen Worten,
dass sie nicht- von gemeinen Eltern abstammten. Im Gespräche
mit Adeligen wurden allen Zeit- und Hauptwörtern die Sylben in
oder en hinzugefügt, je nachdem die angeredete vornehme Person
ein Mann oder eine Frau war^).
9. Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Auf allen Gesittungsstufen und bei allen Menschenstämmen
werden religiöse Empfindungen stets von dem gleichen inner n
Drang erregt, nämlich von dem Bedürfniss, für jede Erscheinung
und Begebenheit eine Ursache oder einen Urheber zu erspähen.
1) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 329. Ausland 1868. S. 957.
2) S. oben S. 23.
3) La fit au, Moeurs des sauvages amöriquains. Paris 1724. tom. I, p. 563.
4) Clements Markham vermuthet, dass der Incatitel ursprünglich nicht
blos dem Herrscherhause, sondern allen Stammhäuptern des Incavolkes zuge-
kommen sei. Journal of the R. Geogr. Soc. London 1871. vol. XCI. p. 288.
5) Garcilasso, Commentarios, lib. I, cap. 21 u. 22.
6) Geschichte der Abiponer. Wien 1783. Bd. 2. S. 128. S. 236.
256 ^ic religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Dazu gesellt sich bei den kindlich gebliebenen Völkern das Unver-
mögen, die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmungen anders als
beseelt zu denken. Dass sie selbst Steinen und Felsen Willenshand-
lungen und menschliche Empfindlichkeit zutrauen, werden wir
sofort zu erwähnen haben. Nicht blos den Thieren, sondern auch
den Gewächsen schreiben die Dayaken Borneos ein seelenhaftes
Wespn, semungat oder semungi geheissen, zu. Kränkelt eine
Pflanze, so sehen sie darin eine zeitweilige Abwesenheit ihres un-
sichtbaren Ichs und wenn der Reis verfault, so ist seine Seele ent-
wichen'). Als der Missionär Phillips an einem schwülen Tage
geg^n einen jungen Feuerländer über die Tageshitze klagte, rief
der Knabe ängstlich: „Sprich nicht die Sonne sei heiss, gleich
verbirgt sie sich und der Wind weht kalt!"^ Werden daher die
Dinge der Aussenwelt als beseelt, als willensmächtig und als leiden-
schaftlich vorgestellt, so können sie auch als Anstifter von Unfällen
gelten, deren wahre Ursache sich dem Denkvermögen entzieht.
Was bei solchen Stimmungen unter unentwickelten Menschen-
stämmen im Dunkel der Gemüther sich vollzieht, wird durch eine
oft benutzte Mittheilung des afrikanischen Reisenden Lichtenstein 3)
hell beleuchtet. Der Häuptling einer Kafir-Horde, der Ama^osa,
hatte von einem gestrandeten Anker ein Stück abbrechen lassen.
Bald nachher starb der Mann, welcher seinen Befehl ausgeführt
hatte, und da nun, wie wir beiläufig hinzusetzen wollen, eine ganze
Reihe von Völkern aller Erdtheile, zu denen auch die Kafirn ge-
hören, jeden Tod eines Menschen übernatürlichen Ursachen
zuschreibt, so genoss der verletzte Anker von jener Zeit an
stets die Efirfurchtsbezeugungen der Amayosa. Die Australier in
Neu -Süd -Wales halten es für einen Frevel in der Nähe von
Felsen zu pfeifen, denn, so erzählten sie Dumont d'Urville*), es
hätten einst etliche der Ihrigen am Fusse einer Steinwand gepfiffen,
und wären deshalb durch herabstürzende Blöcke erschlagen worden 5).
1) Spenser St. John, Life in the forests of the Far Easl. London
1862. tom.. I. p. 177 — 178.
2) Ausland 1861. S. lOii.
3) Reisen im südlichen Afi-ika. Berlin 18 ii. Bd. i. S. 411.
4) Voyage de TAstrolabe, tora. I, p. 463.
5) Sehr merkwürdig ist es, dass auch auf den Tongainseln jedes Pfeifen,
als unehrerbielig gegen die Götter, vermieden wurde. Mariner, Tonga-
Islands, tom. II. p. 124.
Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. 257
Die Redensart, dass sich schon vom Klange der Glöckchen am Halse
der Maulthiere die Lawinen lösen sollen, beruht ganz sicherlich
nicht auf Erfahrung, sondern deutet auf einen alten Aberglauben
im Style des eben erwähnten australischen. Ferner gehört hierher,
dass die papuanischen Bergvölker oder Wuka in ^feuguinea ihre
Schwüre bei einem hohen Berge ablegen, der sie im Falle des
Meineides überschütten möge'). Am Attaranflusse in Pegu sollte
etwa 40 Jahre vor dem Besuche der Gräfin Nostiz^) ein gewaltiger
Thinganstamm zum Aushöhlen eines Kriegsbootes gefallt werden.
Beim Umsinken erschlug er unglücklicherweise über hundert Men-.
sehen. Sogleich wurde die Stelle als ein Zauberort betrachtet,
und auf dem Stumpfe des Baumes eine Kapelle für die Nat oder
Waldgeister errichtet. Als im Jahre 1698 der König von Cu-
massie starb, und ihm bald nachher sein bitterer Feind, der
holländische Oberfactor des Forts Elmina, ins Grab nachfolgte,
sahen die Neger, die ihre Abgeschiedenen als göttliche Wesen
verehren, in dem Tod des X.etzteren ein Werk ihres voraus-
gegangenen Fürsten 3). Sehr leicht erkennen wir in allen diesen
Fällen eine Schwäche des Denkvermögens, als müssten Begeben-
heiten, die der Zeit nach auf einander folgen, in einem ursäch-
liehen Zusammenhang stehen. So verehrten auch die Itelmen
Kamtschatkas die Bachstelzen als Verbreiter des Frühlings, weil
mit ihrer Ankunft die bessere Jahreszeit sich einstellte*), und unsre
Vorfahren müssen einen ähnlichen logischen Fehler begangen haben,
wie uns die Red^sart bezeugt, dass eiije vereinzelte Schwalbe den
Sommer nicht bringe. Stets also waren es die Urheber er-
schreckender oder ersehnter Begebenheiten, welche die religiöse
Verehrung auf sich zogen. Von dem viel gefeierten König Tez-
cucos Netzahualcoyotzin versichert uns ei» eingeborner mexicani-
scher Geschichtschreiber, er habe einen unbekannten Gott yerehrt
unter dem Namen Ursache der Ursachen s). Es ist also der
Drang nach einem unsichtbaren Urheber, der dazu führt, auch
i) O. Finsch, Neu-Guinea. S. 86.
2) Helfer' s Reisen in Vorderasien und Indien. Leipzig 1873. Bd. 2.
S. 155-
3) Bosman, Guinese Goud-kust. Utrecht 1704. tom I. p. 152.
4) Georg Steller, Kamtschatka. S. 280.
5) Ixtlilxochitl, Histoire des Chichim^ques. tom. I. p. 354; Prescott,
Conquest of Mexico, vol. I. p. 193.
Pitchel, Völkerkunde. 17
2S& Die religiösen Regungen bei unenl wickelten Völkern,
leblosen Gegenständen, da sie für beseelt gehalten werden, eüje
göttliche Verfügung üöer die Schicksale der Menschen beizumessen.
So erklärt sich ungezwungen der Ursprung des Fetisch- Wesens.
Was die geisterspähenden Blicke des Wilden an sich zieht, kann
ihm zum Sitze einer Gottheit werden. Stücke von Pflanzen, Schlangen-
häute, Federn, Klauen, Muscheln, steinerne Pfeifen, lebendige Ge-
schöpfe, ganze 'Thieratten, kuiz was immer den rothhäutigen In-
dianer nach vorausgehenden Fasten zuerst als Traumbild zu fesseln
vermag, erkennt und verehrt er fortan als seinen Schutzgeist').
Die Wahl der angebeteten Dinge ist jedoch nicht gleichgiltig, weil
sie vom Niedrigen zum Erhabenen fortschreitend den Fetisch-
dienst bis zu dem Glauben an ein höchstes und sittlich vollkom-
menes Wesen zu verklären vermag. Unveredelt bleibt der Mensch
nur, so lange sich seine Anbetung tragbaren Sachen zuwendet, weil
diese sammt ihrer vermeintlichen göttlichen Kraft in den Besitz
eines Inhabers übergehen können. Die Dienstfenigkeit solcher
Schutzgeister geniesst dann der Eigenthümer. Laban, der seine
Hausgötzen vennisst, jagt dem Erzvater Jacob nach, und Rahel,
die sie entwendet hat, weiss auch durch Schlauheit sie dem Nach-
suchenden zu verbergen. Länge nach der mosaischen Gesetz-
gebung, bis zu Davids Zeiten hüteten die Hebräer ihre Seraphim
oder Penaten noch im Hanse'). Selbst wo die reinsten Gottes-
gedanken schon die Gemüther gewonnen haben, hängt das Herz
doch immer noch mit Zähigkeit an dem alten Hausrath seiner
kindischen Verehrung fest^ und es soll das Volk noch gefunden
werden, welches sich völlig vom Aberglauben, das heisst von den
Ueberresten früherer Religionsschöpfungen gereinigt hätte.
Einem Slädteerbauer aus der nebelhaften Vorzeit Turkestans,
Namens Sekedschket, brachte seine chinesische Gemahlin als Aus-
steuer etliche Fetische mit und in Bochara wurden zu Zeiten Götzen-
märkte abgehalten^). Gehört der Fetisch zum beweglichen Eigen-
thum oder gleichsam zum Gesinde des Hausherrn, so wird er für
seine angebliche Verstocktheit oder Bosheit bestraft, so oft er die
Wünsche des Bittenden nicht erhört. Wenn dem Ostjaken ein
I] Charl«voiz, Nouvelle Frimce, lom. III. p. 346.
2) I. Kegum, C4ip. 19 v. 13 — 16 u. £wald, isnielitisclie Geschichte. Bd. I
S. 372. Bd. 3. S. 107.
3) Vimbety, Geschichte Bocharas, Bd. 1. S. 2. S. 16.
Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. 250
Unglück widerfahrt, wirft er seinen Götzen zu Boden, schlägt,
misshandelt oder bricht ihn in Stücke^). Der letzte heidnische
Lappe in Europa, Namens Rastus, hatte vor etlichen zwanzig Jahren
etwa, seinem göttlichen Bautasteine einmal das gewohnte Brannt-
weinopfer entzogen. Kurz nachher verlor er durch Blitzstrahl
zwei Rene. Zornig warf er die Fleischstücke der zerlegten Thiere
dem Götzen zu mit den Worten : „nimm ! was du dir geschlachtet
hast!" — und kehrte ihm den Rücken um zum Christenthum über-
jsutreten^;. Vor jedem grossen Unternehmen schreitet der Neger
Guineas, wenn kein älterer und erprobter vorhanden ist, zur Wahl
eines neuen Fetisch, und worauf sein Auge beim Heraustreten aus
dem Hause fällt, sei es ein Hund, eine Katze oder ein anderes
Geschöpf, das erwählt er zum Abgott, dem sogleich Opfer gebracht
werden. Glückt das Unternehmen, so steigt das Ansehen des
Fetisch, misslingt es, so kehrt er wieder in den vorigen Stand
zurück ^).
Zu den leblosen Dingen, welche menschliche Andacht auf sich
zogen, gehörten allerorten die Steine. Niemand wird überrascht
werden, dass Meteoriten, die beim Herabfallen glühend in den
Erdboden einschlugen, gern angebetet wurden. Ein Stein, der
bei Chicomoztotl oder den Sieben Höhlen, einem wichtigen Ort
in der mythischen Topographie der Alt-Mexicaner, herabfiel, wurde
von diesen als ein Sohn des Götterpaares Ometeuctli und Ome-
cihuatl verehrt^). Der schwarze Stein, das grösste Heiligthum der
Mohammedaneri^n Mekka, soll anfangs hell geleuchtet, wegen der
Sündhaftigkeit des Menschengeschlechts sich aber bald ^hwarz ge-
färbt haben 5). Er ist ganz sicherlich der Rest eines Fetisch-Dienstes
der vorislamitischen Araber^ wie der Stein, welcher jetzt eingemauert
in der Omar-Moschee zu Jerusalem den Propheten gen Himmel
getragen und dann herabgefallen sein oder vielmehr noch jetzt in
der Luft schweben soll^). Aus anderen leicht zu deutenden Vor-
stellungen werden Steine von Phallusgestalt, vielleicht vereinzelt
gebliebene Säulen eines Basaltganges auf den Fidschi-Inseln ver-
1) Pallas, Voyages. Paris 1793. tom. IV. p. 79.
2) Globus 1873. Jan. Bd. XXIII. No. 3. S. 35.
3) Bosman, Guinese Goud-Tand- en Slave-kust. lom. II. p. 153.
4) J. G. Müller, Amerikanische Urreligionen. S. 5x7,
5) Sepp in der Allgem. Ztg. 1872. S. 4462.
6) Baierlein, Nach und aus Indien. S. 125.
17»
26o I^ic religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
ehrt'). Noch kürzlich wurde Theodor Kirchhoff in Oregon ein
Felsblock gezeigt, zu welchem die Umpkwa-Indianer wallfahren.
Die Propheten in Israel und die frommen Könige in Juda eiferten
unablässig gegen den Dienst der Höhen, worunter ein hoher
Steinkegel, das Sinnbild des Heiligsten zu verstehen ist*). Schon
Jacob salbte den Stein zu Bethel, auf dem er geruht hatte. Im
keltischen Europa begegnen wir den Steinkreisen als Andacht-
stätten und den trilithischen Cromlech oder Steintischen, die ent-
weder als Opferstätten dienten, oder unter denen der Gläubige
hindurchkriechen sollte. Noch im Jahre 567 musste ein Concil in
Tours den Kirchenbann gegen die Fortsetzung des Steindienstes
androhen, ja in England ergingen solche Verbote im 7. Jahrhundert
von Theodorich, Erzbischof von Canterbury, im 10. von König
Edgar, im 11. noch von Cnut^). Verzeihlicher wird in unseren
Augen diese Verirrung, wenn die Andacht sich auf Bergspitzen
erstreckt. Wir denken dabei weniger an Heiligung gewisser
Gipfel, wie des Olymp als Sitz der epischen Götter oder wie des
Sinai als Berg der Gesetzgebung, wollen aber nur in Bezug
auf Letzteren erwähnen, dass auf der Höhe des Serbäl ein Stein-
kreis sich befindet, den die Beduinen nur mit abgelegten Schuhen
betreten*). Das Gleiche ist der Fall mit dem benachbarten
Dschebel Munädschät, den die Araber den Berg des Zwie-
gesprächs (nämlich Mosers mit Jahve) nennen und in dessen
Steinkreis sie Weihgeschenke niederlegen s). Die Verehrung von
Fussabdrücken , wie der des Gottes Tezcatlipocai) den die Alt-
Mexicaner bei Quauhtitlan zeigen^), oder der des Tiitii auf Samoa
in der Schifferinselgruppe \ oder endlich der des Buddha auf dem
Adamspic Ceylons gehferen jedoch nicht hierher, sondern sind nur
Spielarten der Reliquienverehrung. Wir erwähnen dagegen den
Schamanenstein der mongolischen Buräten, einen Felsen auf der
Halbinsel Olehon im Baikal-See, sowie den Berg Tyrma oder
Tirmak, bei dem die Guanchen oder Urbewohner der canarischen
1) Williams, Fiji and the Fijians, tom. I. p. 220.
2) Ewald, Geschichte des Volkes Israel. 3. Aufl. Bd. 3. S. 418.
3) Sir John L üb bock, Origin of civilization, p. 209.
4) Rüppell, Reise in Abyssinien. Frankf. 1838. Bd. i. S. 127.
5) G. Ebers, Durch Gosen zum Sinai. S. 204.
6) J. G. Müller, Urreligionen. S. 578.
7) Tylor, Urgeschichte. S. 147.
Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. 26 1
Inseln ihre höchsten Eide schwuren und von dem Begeisterte frei-
willig als Opfer sich herabstürzten^). Wenn Pausanias Verehrung
von Steinen bei den Bewohnern Pharäs noch vorfand und ein
andres Mal äussert, in Vorzeiten hätten sämmtliche Hellenen statt
Bildern Steine verehrt^), jedoch hinzufügt, dass sie ihnen die
Namen ihrer vergötterten Naturkräfte beilegten, so ist es fraglich,
ob wir es hier mit einem echten oder auch nur mit der Hinter-
lassenschaft eines echten Steindienstes zu thun haben.
Hat die Verehrung von Steinen für deutsches Verständniss
etwas Fremdartiges, so regt sich viel beifälliger in uns das alte
Heidenblut, so oft wir vernehmen, dass Bäume oder Haine als
Gottheiten oder Sitze von Gottheiten aufp^efasst wurden, denn
noch heute verstehen wir die Empfindungen unserer Voreltern,
als der heilige Bonifacius die Sachseneiche fällte. Das Flüstern
im stillen, das Rauschen im erregten Walde, das Brechen oder
Knarren des Holzes, der sichtliche Kampf einer entlaubten Krone
mit ihren knorrigen, gelenkreichen Aesten im Sturme erweckt die
Täuschung, als stehe man einer belebten Persönlichkeit gegenüber,
und nur allzu willig gönnen wir uns den Trug, übersinnlichen
Mächten uns physisch nähern zu dürfen. Ehemals war der Baura-
dienst über die ganze Erde verbreitet. Noch jetzt steht am Loch
Siant auf der schottischen Insel Skye ein Eichengehölz, von dem
seiner Heiligkeit wegen kein Zweig gebrochen werden darf^). Wo
eine Ceder im Föhrenwalde vereinzelt aufragt oder wo sieben
Lärchen eine Geschwistergruppe bilden, naht sich ihnen der Sa-
mojede in ehrfürchtiger Stimmung, dem Ostjaken wiederum sind
Bäume heilig, auf denen Adler^ mehrere Jahre nach einander ge-
nistet habend). In den Hainen der Mundakhol, eines drawidischen
Volksstammes Indiens, darf kein Zweig verletzt werden 5). Noch
jetzt trifft man jenseits des Jordans Bäume, von denen Weih-
geschenke, vorzüglich Haarflechten, herabwehen ^). Auf seinem
i) Peschel, Zeitalter der Entdeckungen. S. 54.
2) Pausanias VII, 22, ed. Walz, tom. II, p. 615 — 616.
3)SirJohnLubbock, Origin of civilization. p. 192.
4) Caströn, Ethnolog. Vorlesungen. S. n5. Pallas, Voyages, tom.
IV. p. 81.
5) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1871. S. 333.
6) Wolff, im Ausland 1872. S. 308.
ztz Die religiösen Regaogen bei unentwickelten Völkern,
Marsche nach Sardes in Lydien behing Xerxes eine heilige Pla-
tane mit Golds chrtiMck und bestellte zu ihrem Schutze einen
Hüter '). Im äquatorialen [Afrika empfangen wiederum die ge-
waltigen Affen btodbäume oder Adansonien fromme Gaben, Adolf
Bastian sah den gleichen Gebrauch in Birma'), in Mexico wird
nach Tylor eine heilige Cypresse auf 'diese Weise verehrt, am west-
lichen Colorado nach Möühausen^) eine Eiche, am Ausfluss des
ulicren See's steht die grosse Esche, wek^her die rothhäutigen In-
dianer ihre Opfer bringen, wie dem vereinzelten Wailitschu-Baum
auf den Pampas unweit Patagones (Carmen), welchen Charles
Darwin*) besuchte. Wir erinnern schhesslich an den Hain von
Doilün;t, an die homerische Platane zu Aulis, von der Pau san las ^) noch
KestP sah, an die Verehrung der Pipal (Ficus reltgiosa) und der in-
diachcn Feige (F. indicaj von Seiten der brahmanischen Hindu und
der Buddhisten, an die geweihte Espe der Kirgisen*), an den letzthin
gelullten Birnbaum auf dem Walser-Felde, sowie an die Weltesche
Yggdraiil in unsern Mythen, Etwas Anderes ist es, wenn sich die
bäum Verehrung an das Verweilen geheiligter Personen knüpft, wie
es der Kall war mit dem Hain bei Mambre, weil Abraham dort rastete,
oder mit der Sykomore bei Matarieh, unter deren Schatten die Ma-
donna auf der Flucht nach Aegypten geruht haben soll. Je nach
der Art der Weihgeschenke hatte die V'erehrung der Bäume einen
andern Sinn. Wenn die Araber in den heidnischen Zeiten vor
den B:Lumen opferten und ihre Waffen an ihnen aufhingen'), so
galt ihnen der Baum als Sitz einer Gottheit oder als Gott selbst,
wenn dagegen Mungo Park*) in den Mandingoländern Bäume mit
Lfipjichen und ZeugfeUen beladen sah, so bemerkt schon Bos-
maii'*,i, dass in Guinea die heiligen Haine oder Bäume besonders
1} Herodot, lib, VU. cap. 31.
::| Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprach Wissenschaft. Berlin 1S6S.
BJ. j. :i. 191. Bowers, BhaniQ-ExpedilioQ. Berütt 1871. S. 27, .
3I Vom Mississippi nach der Südsee. 5. 3S7.
41 lournal of Researches. London 1S4J. 2d ed. p. 68.
j) Pausanias, lib. IX, cap. 19 u- Hiad. %. v. 307— JI6.
ti| ?Joschel, Reise in die Kirgisen steppe. Beiträge zur Kenntniss des
Kuss, Heiches. Bd. 18. S. 154.
71 L, Krehl, Die Religion der vorislamitischen Atabcr.Leipiig 1873, S. 73.
8) Reisen im Innern von AAika. Berlin 1799, S. 36. 5. 59.
ij) Tiuinese Goud-Tand- en Slave-kast. Utrecht 1704. tom. I, p. 144-
lum, II. p. 155. p. 170.
Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. 263
ZU Zeiten von Seuchen besucht werden. Tylor hat uns belehrt,
dass auch in Europa der Wahn herrscht, man könne aus dem
Hause des Kranken sein Uebel mit einem Stück seiner Habe hinweg
und auf einen andern Gegenstand, einen Baum, am liebsten wohl
auf einen Menschen übertragen. In Südeuropa bieten junge Räd-
chen dem Reisenden oft Blumensträusse feil, die aber aus dem
Hause eines Kranken stammen^). Der Verfasser erinnert sich,
dass man ihn in der Knabenzeit streng gewarnt habe, nie eine
Blume aufzuheben, die auf dem Wege liege, „denn* man könne
nicht wissen, mit welcher Krankheit derjenige behaftet gewesen
sei, der sie weggeworfen habe". Wohlverstanden erstreckte sich
dieses Verbot ausschliesslich nur auf Blumen. Die Suaheli in Ost-
afrika bringen den Krankheitsdämonen Opfer in Lebensmitteln,
die sie aber nicht selbst gemessen, sondern irgendwo an einem
Fussweg niedersetzen, damit ein Vorübergehender sie verzehre und
somit die Seuche sich auflade*).
Von allen Thieren haben die Schlangen am häufigsten Ver-
ehrung genossen, nirgends aber war die Schlangen anbetung oder
die Naga-Religion so weit verbreitet als in Indien, wovon Orts-
namen wie Nagapur, Widschanagara, Baghanagara Zeugniss ab-
legen. Noch heutigen Tages empfangen die Cobra oder Brillen-
schlangen am Nagapanschmi-Feste öffentliche Verehrung von den
Brahmanen. Auch Mose hat in einer schwachen Stunde die eherne
Schlange anfertigen lassen, die mit den anderen Heiligthümern nach
Jerusalem wanderte, wo sie erst der fromme König Hizqia um
720 V. Chr. aus dem Tempel entfernte. Selbst innerhalb des
Christenthums treffen wir auf die Secte der Ophiten, welche den
Schlangendienst fortsetzten oder erneuerten, wenn nicht das Meiste,
was ihnen aufgebürdet wird, auf Verläumdung beruht^). Die
Schlangenverehrung erfreut sich noch voller Lebenskraft im Neger-
reiche Dahome*) und hat sich mit der Sklaverei nach der Neuen
Welt verbreitet, wo sie neuerlich auf Haiti wieder üppig aus den
Wurzeln getrieben haben soll.
Das fliessende Wasser ist, abgesehen von der weitverbreiteten
1) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 150.
2) Journal of the Anthropological Institute, vol. I. p. CXLVIII.
3) Tylor, Anfange der Cultur. Bd. 2. S. 243.
4) B OS man, Guinese Goud-kust. tom. II, p. 155 — 170.
264 ^^^ religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Verehrung von Quellen und namentlich der Gesundbrunnen, als
etwas Göttliches, hauptsächlich von den Hindu, betrachtet worden.
Da, wo Ganges und Dschamna aus Gletschern hervorbrechen, also
in grossartiger Hochgebirgseinsamkeit , oder auch im Flachlande
über dem Weiher mit der Narbada -Quelle stehen Heiligthümer
und Wallfahrtsorte'). Dem Baden in den heiligen Strömen wird
eine beseligende Wirkung zugeschrieben, und es fehlt nicht an
frommen Hindu, die Ganges -Wasser von Benares bis zu Ra-
messeram, nahe der Südspitze Indiens, eiae Entfernung, um we-
niges kürzer als die zwischen Madrid und Berlin, zu den Ab-
Waschungen der heimathlichen Götzenbilder herbeitragen*). Auch
den Altpersern war das fliessende Wasser heilig, aber im Gegen-
satze zu den Hindu suchten sie jede Verunreinigung von ihm ab-
zuwenden, so dass die Errichtung von Brücken, welche das Durch-
waten der Flüsse beseitigte, zu den frommen Werken gehörte^).
Wenn selbst die Gottheiten der Meere nicht ganz sicher waren
vor den Züchtigungen des rohen Menschen, wie der persische
Grosskönig den liellespont mit Ruthen peitschen liess^), so ver-
sprach es Besseres als die Menschen den Blick erhoben, um im
gestirnten Himmel die unbekannten Urheber zu suchen. Der
Cultus von Sonne, Mond und Sternbildern, bei mongolischen Völ-
kern Nord-Asiens vielfach anzutreffen, hat sich von dort über beide
Hälften Amerikas verbreitet. Wenn auch die religiösen Erregungen
viel früher innerhalb der menschlichen Gesellschaften auftreten als
die Unterscheidung zwischen dem Guten und Bösen, also durchaus
nichts zu schaffen haben mit etwaigen Sittengesetzen, so werden
doch, sobald einmal zwischen Gliedern desselben Verbandes der
Verkehr durch strenge Gewohnheiten geordnet worden ist, die
menschlichen Satzungen aus Geboten der Gottheit abgeleitet und
von diesem Wendepunkte an wird die Religion das wirksamste
aller Erziehungs- und Veredlungsmittel 5). Unbewusst, indem er
1) H. V. Schlagintweit, Indien und Hochasien. Bd. i. S. 161.
2) K. Graul, Reise nach Ostindien. Bd. 4. S. 43.
3) Duncker, Geschichte des Alterthums. Berlin 1853. Bd. 2. S. 372.
'-• 4) Herodot, üb. VII, cap. 35, 54.
5) Aehnlich äussert Fritz Schnitze (ller Fetischismus. Leipzig 1871.
S. 123): „Darin, dass der Wilde so knechtisch unter der Gewalt seines Mo-
kisso (Fetisch) und seines Gelübdes steht, liegt ein grosses pädagogisches
Element des Feiischismus. Der Wilde legt sich Pflichten auf— er zügelt sich".
Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. - 265
die Gottheit sittlich zu verherrlichen strebt, arbeitet der Religions-
trieb an der Läuterung der menschlichen Gesellschaft. Erweitern
wir den Begriff des Fetisch auf alle sichtbaren Gegenstände, so
verspricht unter allen Fetischen die Sonne, als Sinnbild alles Reinen
und Klaren die Würde des menschlichen Verkehrs am kräftigsten
zu heben. Wir denken dabei vorzüglich an die Herrschaft der
peruanischen Inca, die sich eine Abstammung von dem Tages-
gestirn beilegten und durch Eroberungen ihre strengen Staats-
gesetze und eine achtungswürdige Halbcultur von Quito bis nach
Chile ausgedehnt haben. Aber schon der Apatsche zeigt auf die
Sonne und spricht zu dem weissen Manne : „Glaubst Du nicht, dass
diese Gottheit sieht was wir thun und uns bestraft, wenn es böse
ist?"') Eine Huronenfrau, die aus dem Munde eines christlichen
Priesters die Vollkommenheiten Gottes hatte preisen hören, brach
in die Worte aus : „Immer hatte ich im Stillen gedacht, dass unser
Areskui (womit sie die Sonne und den grossen Geist bezeichnete)
so sein sollte, wie Du Gott geschildert hast*)**.
Die Sonne ist nicht bloss ein sichtbarer Gegenstand, sondern
auch der Sitz von Naturkräften und daher führt der Sonnen-
dienst hinüber zur Anbetung von Erscheinungen, die nicht mehr
unmittelbar wahrgenommen, sondern nur an ihren Wirkungen
erkannt werden konnten. Dieses fortrücken des Causalitäts-
dranges bezeichnet einen grossen und erfreulichen Entwicklungs-
abschnitt bei jedem Volke, das ihn erreichte. Den Verehrern
von Bäumen konnte auf die Dauer nicht die Erfahrung erspart
bleiben, dass Alterserschöpfung oder vor dieser die Verheerung
durch holzzehrende Parasiten oder ein Wetterstrahl den Pflanzen-
gott vernichtete. Im letzteren Falle namentlich musste man sich
eingestehen, dass über geringeren und vergänglichen noch höhere
Mächte walteten. Völker, die Naturkräfte verehren, müssen aber
schon desswegen eine grössere geistige Reife erlangt haben, weil
nur solche Erscheinungen in der Körperwelt auf göttliche Thätig-
keiten zurückgeführt werden, deren natürliche Ursachen zu er-
gründen dem menschlichen Verstände nicht gelungen war. Es
musste also der Versuch einer Erklärung vorausgegangen sein,
während gedankenlose Gemüther überhaupt nicht auf solche Unter-
i) Froebel bei Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. i. S. 286.
2) Lafitau, Moeurs des sauvages am^riquains. tom. I. p> 127.
266 I^ic religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. ,
suchungen sich einlassen. Nur bei ackerbautreibenden Völkern,
wenn auch nicht bei allen, finden wir eine Verehrung der Natur-
kräfte. Ihnen waren aber die Vorgänge im Luftkreise die wich-
tigsten, weil von ihnen Ueberfluss oder Mangel abhing. Die Ver-
götterung der Kraft, also von etwas sinnlich nicht. mehr Wahrnehm-
baren, konnte sich nur innerhalb einer Priesterkaste oder als Geheim-
lehre rein erhalten, für die Uneingeweihten aber, welche die sinnige
Räthselsprache des Naturdienstes nicht verstanden, und die Allegorien
als buchstäbliche Wirklichkeiten auffassten, musste das Unsichtbare
Fleisch und Blut annehmen. Aus einem Eigenschaftsworte, welches
der Kraft beigelegt wurde, entstand ein Eigenname dfes Göttlichen,
aus dem Namen entsprang wieder die Vorstellung eines Geschöpfes,
welches sogleich männlich oder weiblich gedacht wurde, je nach
dem grammatischen Geschlechte der üblich gewordenen Benennung,
und die einmal erfegte Phantasie träumte nun den Götterronian
weiter. Es zeigt sich dabei sogleich, dass der Typus der Sprache
bei diesen Schöpfungen thätig eingriff. Sprachen also, die ein
grammatisches Geschlecht . unterscheiden , wie die des arischen,
semitischen, und hamitischen Völkerkreises, enthalten grosse Ver-
lockungen zur Mythenbildung. Nur darf man die Leistungen der
Sprache selbst nicht überschätzen, denn wir finden Mythen von
Göttern und Göttinnen bei Völkern mit geschlechtsloser Grammatik,
wie bei den Polynesiern und bei den Bewohnern Mittel-Amerikas.
So ist auch der geistvolle Bleek *) in den Irrthum gerathen, Ahnen-
dienst nur bei Völkern zu suchen, die sich der Präfixpronominal-
Sprache bedienen, während er sich doch bei den Chinesen findet,
deren Sprache alle grammatischen Formen entbehrt.
Wie aber die Sprache den Mythus gleichsam automatisch aus-
bildet, hat Delbrück mit grossem Scharfsinn an dem Heroenmärchen
Hippolyt und Phädra gezeigt, dem ursprünglich nichts zu Grunde
lag, als die Erscheinungen am Abendhimmel vom ersten Sichtbar-
werden der Sichel bis zum Vollwerden der Mondscheibe. Es sei
uns daher erlaubt, die Beweisführung kurz zu wiederholen. Hip-
polyt ist, wie auch ein schwacher Hellenist es errathen kann, die
Bezeichnung für jemand, der mit gelösten oder ungeschirrten
Rossen fahrt. In der Welt der Dichtung thut dies allein der Son-
nengott. Als Phädra dagegen, als die leuchtende oder glän-
i) Ueber den Ursprung der Sprache. Weimar 1868. p. XVI.
Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. 267
zende, wird der Mond gepriesen, denn die unendliche Mehrzahl
der Völker hat die Sonne immer als männlich, den Mond imfher
als weiblich gedacht und nur wenig andere, zu denen die Deut-
schen und Hottentotten gehören, die Geschlechter umgekehrt ver-
theilt. Es bleibt bekanntlich die Mondsichel jeden späteren Tag
hinter der westwärts eilenden Sonne um ein beträchliches Bogen-
stück zurück. Nach längstens zwölf Tagen geschieht es dann, dass
die Sonne eben sinkt, wenn der Vollmond ihr gegenüber am Ge-
sichtskreise aufsteigt. Der wachsende Mond eilt also der Sonne
scheinbar nach, vermag die schnellere aber nicht einzuholen. In
der Sprache des aufkeimenden Mythus lautet aber die Schilderung
dieses Vorganges : Hippolyt flieht Phädra. Als nun ein Geschlecht
aufwuchs, welches Sonne und Mond mit andern Eigenschafts-
wörtern bezeichnete, dem die ursprüngliche Bedeutung von Hip-
polyt und Phädra aus dem Gedächtnis« entschwunden war, dem
aber vielleicht .ein Sprüchwort das Fliehen des Hippolyt vor der
nacheilenden Phädra erhalten hatte, dann durfte sich wohl die
Frage regen, warum mag wohl Hippolyt Phädra fliehen, wenn sie,
wie ihr Name es anpreist, in aller Schönheit ihres Geschlechtes
leuchtet? Bei diesem Stande der Vorstellungen war nun, wie
Delbrück hinzufügt, nichts weiter nöthig zur Vollendung des Sagen-
gewebes als der Gedanke: sollte vielleicht Phädra die Stiefmutter
des Hippol)^ gewesen sein? Einmal in diesem Sinne gestaltet,
wurde der Mythus dann in die Schicksale von Theseus' Haus ver-
flochten und eignete sich ganz vorzüglich als Stoff für ein Trauer-
spiel. Euripides, Racine und der Uebersetzer des Letzteren, unser
Friedrich Schiller, würden aber wahrscheinlich tief betroffen gewesen
sein, wenn ihre Heldenpaare^ sich vor ihnen als Sonne und Mond
entschleiert hätten. Etwas willkürlich darf es genannt werden, dass
Hippolyt gerade aus Furcht vor einer Blutschande Phädra flieht,
denn näher hätte es gelegen, sich zu denken, dass er bereits ein
andres Mädchen geliebt habe. Sehr merkwürdig ist es daher, dass
auch in andern Völkerkreisen genau die nämlichen Deutungen der
erwähnten Naturbegebenheit gegeben werden. Die Khasia im nord-
westlichen Indien erzählen, dass der Mond bei jedem neuen Wechsel
in Liebe zu seiner Schwiegermutter, der Sonne entbrenne, die ihm
aber aus Abscheu Asche ins Gesicht wirft, daher auch seine
268 ^ie religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Scheibe uns befleckt erscheint'). Die Eskimo wiederum lassen die
Sonne , die sie als weiblich denken , , dem Monde , ihrem Bruder,
das Gesicht mit Russ beschmutzen, als er sie mit seiner Liebe be-
drängt. Aehnlich behaupteten die Bewohner der Landenge von
Darien, der sogenannte „Mann im Monde" habe Blutschande an
seiner Schwester verübt^).
Die Thätigkeit der Mythenbildung musste mit der Zeit, na-
mentlich solange die Schrift noch nicht im Gebrauch war, den
ursprünglichen Kern eines Naturdienstes völlig verdunkeln, so dass
es schliesslich nöthig wurde, die nämliche Ksaft unter einem an-
deren Namen zur Göttlichkeit zu erheben, um sie abermals in
menschenähnliche Gestalt einzukleiden. Daher kommt es wohl,
dass bei den arischen Völkern so viele Gottheiten für das näm-
liche Rollenfach vorhanden sind und namentlich die Thätigkeiten
des Luftkreises so vielfältig vertreten erscheinen. Alle diese Götter-
kreise aber verrathen ein Streben nach einem höchsten Wesen,
dem sich die anderen Mächte früher oder später unterordnen
müssen. Es ist beispielsweise nicht möglich, dass ein geistig sich
entwickelndes Volk beim Dienste der Sonne verharren könne, weil
früher oder später ein Zweifel sich rdgen muss, den der Inca von
Peru Huayna Capac (f 1525 n. Chr.) ausgesprochen hat^), dass
nämlich das Tagesgestirn unmöglich der Schöpfer all^r Dinge sein
könne, weil ja während der Nachtzeit die Entwicklung des Leben-
digen ohne Unterbrechung fortschreite. An diesem Falle bewährt
sich auch wieder unser Satz, dass alle religiösen Regungen nur
aus dem Drange nach Erkenntniss eines Urhebers hervorgehen,
und dass jede Verehrung einer Gottheit in dem 'Augenblicke er-
lischt, wo sie das Causalitätsbedürfpiss nicht mehr befriedigt. Besser
und länger als bei der Sonne gelang es, an der Göttlichkeit des
lückenlosen, beständig sich selbstbewegenden Himmels festzuhalten.
Er wurde immer als männlich gedacht im Gegensatz zu der weib-
lichen fruchttragenden Erde. Himmel und Erde verehrten die
Huronen, verehren noch jetzt die Chinesen, und Himmelsverehrung
kommt auch bei Negern an der Westküste Afrikas vor^). Im
i) Dalton Hooker, Himalayan Journals. London 1854. vol. II, p. 276.
2) David Cranz, Historie von Grönland. Bd. i. S. 295; Petrus
Martyr, de Orbe novo. Dec. VII, cap. 10.
3) A. V. Humboldt, Ansichten der Natur. 3. Aufl. Bd. 2. S. 385.
4) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd.i. S. 322— 323, Bd. 2. 8.256, S. 258—259.
Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. 269
i) sub divo oder sub dio hiess soviel wie unter freiem Himmel.
2) Sahagun bei Prescott, Conquest of Mexico, tom. III. p. 424.
3) Mariner, Tonga Islands, tom. II. p. iio.
» ■» I
Lateinischen gab es für Gott und Himmel*) dasselbe Wort, und
dass uns Deutschen in der Vorzeit der Himmel und die höchste
Gottheit zusammenfielen, daran mahnen uns noch jetzt die arglos
heidnischen Redensarten: der Himmel behüte dich, oder: der
Himmel erhalte, dir dieses Kind. Dass bei einer Vielheit der
Götter eine Rangordnung Bedürfniss wird und dieses Ordnen un-
willkürlich für monotheistische Anschauungen empfänglich stimmt,
bemerken wir selbst im alten Mexico. In den berühmt gewordenen
Ermahnungen einer aztekischen Mutter an ihre Tochter wird auf
einen Gott verwiesen, „der auch im Verborgenen jeden Fehltritt /»*
sieht" '). Sahagun, der uns dieses sittengeschichtlich so merk-
würdige Stück erhalten hat, ist' zwar verdächtigt worden, christ-
liche Anschauungen in das altmexicanische Heidenthum hinein-
geschwärzt zu haben, allein Waitz hat mit Recht die Glaubwürdig-
keit der Aufzeichnung vertreten, weil spanische Geistliche weit eher
bestrebt waren, die vorchristlichen Zustände der Amerikaner wie
Teufelswerke gehässig darzustellen als sie zu idealisiren.
Wird der Werth einer Religion einzig nach ihren Leistungen
als Erziehungsmittel abgeschätzt, so kann auch der Dienst der
Naturkräfte die menschliche Gesellschaft auf höhere Stufen heben.
Bei sittenstrengen Völkern finden wir auch eine sittenstrenge Götter-
welt und die Vorstellung einer gerechten Weltordnung, während
im andern Falle Lockerheit und Laster aus den Religions-
schöpfungen durchblicken , welche letztere sich stets zum sitt-
lichen Werthe der gesellschaftlichen Zustände verhalten, wie ein
spectroskopisches Farbenbild mit dunklen Streifungen zu seinem
Lichtquell. Die polynesischen Tonganer oder Freundschaftsinsulaner
glauben fest daran, dass ihre Götter einen Tugendwandel billigen
und über Laster zürnen, so wie dass die Schutzgeister nur so
lange über die Menschen wachen, als sie sich ehrbar betragen,
verworfene aber alsbald verlassen ^). Zur gesellschaftlichen Er-
ziehung der Völker wird aber eine Verehrung der Naturkräfte auf
die Dauer nur sehr Weniges leisten. Hat einmal das göttlich Ge-
dachte menschliche Züge in der Vorstellung gewonnen, so setzen
H
210 Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
sich mit der Mythenbildung fast immer die darstellenden Künste in
Bewegung und es mag dann der Bildhauer oder Maler noch so
sehr in der Gottdarstellung die Menschengestalt verklären, das
sinnliche Abbild wird vor der verehrungsgierigen Menge alsbald
zum Abgott, der seine Wunder verrichtet, der als bewegliche Sache
in das Eigenthum einer Gemeinde übergeht und schliesslich durch
die Thorheit der Mehrzahl zum Fetisch' herabsinkt.
Eine andere Richtung schlägt die religiöse Verehrung ein,
wenn sie sich mit dem Glauben an eine Fortdauer nach dem Tode
verknüpft. Dieser Glaube ist bei den amerikanischen Urbewohnern
fast ausnahmslos, dann auch bei Polynesiern, Papuanen und
Australiern, bei der Mehrzahl der Asiaten, bei den Bewohnern
Europa's im Alterthume, bei allen Hamiten Nord-Afrika's vom
Nil bis zu den Canarien angetroffen, worden. Wo unmittelbare
Zeugnisse fehlen, kann aus der Bestattungsweise der Todten auf
den Unsterblichkeitsglaub'en geschlossen werden. Wenn wir über
die Vorstellungen der Aegypter von einem künftigen Leben nicht
besser unterrichtet wären, würden wir doch aus dem Umstände,
dass sie ihre Mumien mit Weizen versahen, um sie mit dem Saat-
korn nach der Auferstehung auszustatten, deutlich ihre Erwartungen
erkennen. So wird uns auch die Hoffnung ' auf ein Jenseits bei
•den Altbabyloniern dadurch bestätigt, dass in ihren Gräbern sich
stets Dattelkerne vorfinden ^) und das Gleiche gilt von den An-
wohnern des caribischen Golfes, die ihren Todten Maiskörner in
die Hand geben. Die Opfer von Menschen an den Gräbern von
Häuptlingen oder Königen, wie es die Ada oder „grosse Sitte**
vorschreibt, bezeugt uns den Unsterblichkeitsglauben in Dahome
und das Erdrosseln der Frauen beim Tode eines Fürsten bestätigt
uns das Nämliche für die Fidschi -Inselgruppe. Oder wenn wir
nfchts Näheres über die Ansichten der geistig so hoch begabten,
irüher so gröblich unterschätzten Hottentotten *) wüssten, so würde
es schon genügen, dass sie den Verstorbenen vor der Beerdigung
dieselbe Stellung geben, die sie einst als Keim im Mutter-
schoosse eingenommen hatten^ denn die Bedeutung dieses sinnigen
Brauches ist es, dass die Todten einer neuen Geburt im Dunkel
der Erde entgegen reifen sollen. Da unentwickelte Völker, wie
1) Rawlinson, The five great monarchies, tom. I. p. 107.
2) Kolbe, Vorgebirge der guten Hoffnung. S. 578.
Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. 271
wir sahen, alle Dinge als beseelt betrachten, so erstrecken sie auch
die Fortdauer nach dem Tode nicht blos auf die Menschen. Die
Itelmen Kamtschatka's glaubten an eine Erneuerung aller Ge-
schöpfe „bis auf die kleinste Fliege". Die Jesuiten Acosta, La-
fitau und Charlevoix haben bereits ausgesprochen, dass die Inca-
peruaner*), die Irokesen und andere Nordamerikaner genau nach
Art der platonischen Träumereien, in der unsichtbaren Welt für
alle Seelen irgend einer Art ein Urbild oder ein Mutterwesen vor-
handen sein lassen^). Die Fidschi-Insulaner gehen noch, weiter,
denn sie glauben nicht blos an ein Paradies für Menschen und
Thiere, sondern sie hoffen, dass dort auch jede Cocosnuss wieder
erneuert werde ^).
Nur bei Negern ist man bisher auf eine Läugnung der Un-
sterblichkeit gestossen. Kann ein todter Mensch aus seinem Grabe
kommen, wenn man ihn nicht herausscharrt? äusserte der Häupt-
ling Commoro im Latukalande östlich vom weissen Nil, als ihn
Sir Samuel Baker ^) vergeblich durch Kreuzfragen zur Anerkennung
einer Fortdauer nach dem Tode nöthigen wollte. Traum-
erscheinungen sind es wohl immer gewesen, welche den ersten
Gedanken an eine Unsterblichkeit wachriefen. So lange ein Neger
von einem Verstorbenen träumt, flösst ihm sein Andenken Furcht
ein, der scheinbar Zurückgekehrte begehrt nach Nahrung und droht
den Hinterlassenen Beschädigung an, während das Andenken an
den Grossvater längst erloschen ist und keine Unruhe mehr ein-
flösse Fragt man im äquatorialen Westafrika, sagt du Chaillu^),
nach einem lange Verstorbenen, so lautet die Antwort, es sei aus
mit ihm. Mit dem Tode sei Alles vorbei, gehöre dort zu den
geläufigen Redensarten. Vielleicht gelang es im letzten Falle dem
angeführten Gewährsmann nur nicht, das Vertrauen' der Neger zu
gewinnen. Sproat, ein Völkerkundiger ersten Ranges, der beinahe
in ähnliche Irrthümer gerathen wäre, wie wir sie bei du Chaillu
vermuthen, bemerkt sehr treffend : „Ein Reisender muss Jahre lang
1) Clements Markham, on the tribes forming t^e Empire of the
Yncas, im Joum. of the R. Geogr. Soc. London. 1871. vol. XU p. 291.
2) Lafitau, Moeurs des sauvages, p. 360. Charlevoix, Nouvelle France,
tom. III. p. 353, vgl. dazu Tylor, Anfänge der Cultur Bd. 2. S. 245. S. 247.
3) Horatio Haie, United States' Explor. Exped. Ethnography. p. 55.
4) Der Alhert Nyanza. Bd. i. S. 216.
5) Explorations and Adventures in Equatorial Africa. p. 336.
272 I^ie religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
unter Wilden wie einer der ihrigen gelebt haben, ehe seine An-
sieht über ihre geistigen Zustände irgend einen Werth beanspruchen
kann"*).* Gerade in Mittel- und Südafrika bewegt der Unsterb-
lichkeitsgedanke sehr lebhaft die Gemüther. i Die Neger der Gold-
küste opfern Sklaven bei einer Beerdigung, damit sie dem Abge-
schiedenen im Jenseits dienen % Im Congolande, versichert
Winwood Reade^), soll ein Sohn seine alte Mutter nur deshalb
getödtet haben, weil er erwartete, dass sie ihm als verklärter Geist
mächtigeren Beistand leisten könne. So weit- die Bahtusprachen
reichen, ,also durch ganz Südafrika, werden die Seelen der ver-
storbenen Eltern um Hilfe angerufen. Ein derartiges Gebet aus
dem Munde eines Negers im Dschaggalande, also an der Ostküste,
hat Rebmann aufgezeichnet^), ein anderes der Kafirn aus Natal,.
an einen abgeschiedenen Häuptling gerichtet, lautet wörtlich
„O Moss6, Sohn des Motlanka, wirf Deinen Blick auf uns! Du,
dessen Hauch (fumce?) von Jedermann gesehen wird, richte heute
Deine Augen auf uns und beschütze uns, Du unser Gott!"^^
Auch die Buschmänner beteten in Gegenwart Livingstone's am
Grabe eines Vorfahren ^). Da in Polynesien den Häuptlingen gött-
liche Abkunft zugeschrieben wird, so überrascht es gewiss nicht,
wenn ihnen nach ihrem Tode Heiligthümer errichtet werden, wie
diess Mariner bezüglich der Tonganer öfter erwähnt. Polynesischem
Einflüsse ist es ferner zuzuschreiben, wenn auf Tanna, einer Insel
der Neuen Hebriden, den verstorbenen Häuptlingen als Schutzgott-
heiten für den Erntesegen gedankt wird 7).
Die dauernde Verehrung von Abgeschiedenen ist sehr ange-
messen als Ahnendienst bezeichnet worden. So erblickten die
Cariben der westindischen Inseln in den Sternbildern ihre fort-
lebenden Helden wieder. Besonders stark entwickelt hat sich der
Cultus der Abgeschiedenen bei den Chinesen, die den verstorbenen
i) Anthropological Review, London 1868. tom. VI. p. 370.
2) Bosman, Guinese Goud-Tand- en Slave-kust. tom. II. p. 14, vgl.
auch Tylor, Anfänge der Cultur Bd. II. S. 116.
3) Savage Africa. London. 1862. p. 247.
4) Krapf, Reisen in Ostafrika Bd. 2. S. 28.
5) Casalis, les Bassoutos. Paris 1859. p. 260.
6) Südafrika. Bd. i. S. 200.
7) Aus Turner bei Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 114; vgl.
auch Schirren, neuseeL Wandersagen. Riga 1856. S. 90.
Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
:/.•)
Kaisern eigene Tempel errichten. Als Confutse, der Moralphilosoph,
selig gesprochen worden war, empfing er 194 v. Chr. das erste
Opfer aus der Hand eines Kaisers und im Jahre 57 n. Chr. wurden
für ihn reli4;iöse Feste eingesetzt und Heiligthümer errichtet. Auch
auf Religionsstifter erstreckt sich gern der Heroencultus und so
ist ja nach und nach der Buddhismus gänzlich seiner ursprüng-
lichen Reinheit entfremdet worden und zu einer Reliquienverehrung
ausgeartet '). Selbst Napoleon III. , der sich wie die alten fran-
zösischen Könige so gern als ältester Sohn der Kirche gebärdete,
hat dem Ahnendienst gehuldigt, wenn anders das Testament vom
24. April 1865 , welches unlängst veröffentlicht wurde J) , ganz echt
sein sollte. „Man muss sich sagen", schreibt der Kaiser, „dass
von der Himmelshöhe herab diejenigen, die wir geliebt haben, auf
uns herabblicken und uns beschützen. Die Seele meines grossen
Oheims war es , die mich stets geleitet und aufrecht erhalten hat
So wird es auch meinem Sohn ergehen, denn er wird stets seines
Namens würdig sein."
Stellen wir uns jetzt die Frage, ob irgendwo auf Erden ein
Volksstamm ohne religiöse Anregungen und Vorstellungen jemals
angetroffen worden sei, so darf sie entschieden verneint werden.
Auf jeder Stufe seiner geistigen Entwickelung fühlt der Mensch
den Drang, für jede Erscheinung einer Thätigkeit und für jede
Begebenheit einen Urheber zu ermitteln. Bei geringen Ver-
standeskräften befriedigt schon ein Fetisch das Causalitätsbedürfniss,
aber mit der geistigen Schärfe der Völker verengert sich der Kreis
des Glaubwürdigen und wächst der Gottesgedanke an Würde, um
zuletzt das edelste und höchste Erzeugniss menschlichen Nach-
sinnens zu werden. Ebenso führen die ersten rohen Versuche,
die unbekannten Urheber zu ermitteln, so lange das Denkvermögen
noch erstarkt, immer zur Verwerfung der ersten Nothhilfe und zu-
letzt zu der Annahme eines höchsten unerfasslichen Wesens. Allein
die Geschichte und die Völkerkunde kennt ungezählte Menschen-
stämme, die sich nie bis zu einer solchen Höhe aufschwangen,
ja viele, die von den errungenen besseren Vorstellungen zurück-
sanken zu groben Verstandestäuschungen, denen sie sich Jahr-
hunderte, ja wohl Jahrtausende nicht zu entziehen vermochten.
1) Justi im Ausland. 1871. S. 878.
2) Allg. Zeitung. 1873. S. 1875.
Peschel. Völkerkunde. l8
274
Der Schamanismus.
Diese Verirrungen wollen wir als Schamanismus bezeichnen und
ihren Ursprung zn ergründen versuchen').
lO. Der Schamanismus.
Wenn wir fernerhin von Schamanismus sprechen, so muss
man sich diesen Begriff stets so weit ausgedehnt denken, dass
er alles Zauber- und Ritualwesen einschliesst. Der Name selbst
ist aus einer Verderbung von (^ramana entstanden, wie in
Indien die buddhistischen Einsiedler und Büsser geheissen wurden.
Schamanen nannte man indessen bisher nur die 'Wunderkünstler
bei den nordasiatischen Stämmen. Ihre Verrichtungen bestehen
hauptsächlich in Zauberkuren, denn bei allen rohen Völkern der
Gegenwart oder der Vergangenheit werden Krankheiten und Todes-
fälle nur einer Verhexung zugeschrieben*), gegen welche der
Schamane seine Geheimmittel aufbieten muss.
Herkömmlich ist es in Sibirien wie in beiden amerikanischen
Festlanden, dass der herbeigerufene Meister an der schmerzenden
Körperstelle des Kranken saugt und aus dem Munde bald einen
Dorn, bald einen Käfer, bald einen Stein oder irgendeinen un-
erwarteten Gegenstand hervorbringt, den er als den ertappten und
besiegten Verursacher des Uebels der ängstlich harrenden Menge
zeigt. Nicht anders verfahren die Schamanen unter den Dayaken
Borneos ^), wie in Südamerika am Orinoco *), und eine Priesterin
unter den Fingokafirn — denn es fehlt auch nicht an weiblichen
Künstlern — , welche eine Anzahl Maiskörner trügerischerweise aus
dem Leib des Patienten herausgesogen hatte, wurde von der Frau
eines Evangelienverkündigers entlarvt. Sie hatte nämlich um sich
Brechreiz zu erregen vor dem Possenspiel Tabakblätter verschluckt 5).
i) Der obige Abschnitt erschien abgekürzt und ohne Quellenangabe bereits
früher in der Oesterreich. Zeitschrift für Kunst und Wissenschaft. 1872.
2) So von den Australiern (Latham, Varieties, p. 244), von den Kutschin-
oder Loucheux-Indianern der Hudsonsbaygebiete (Ausland. 1863. S. 579),
von den Hottentotten (Kolbe, Cap der guten Hoffnung S. 438) vu a. m.
3) Spenser St. John, Life in the Far East. London 1862. tom. I.
p. 177. p. 201.
4) P. Jos. Gumilla, El Orinoco ilustrado. Madrid 1741. II, 3; p. 311.
5) Tylor, Urgeschichte. S. 355.
Der Schamanismus.
275
Ein anderer Erwerbszweig der Schamanen beruht auf der
Gabe, in Verkehr mit unsichtbaren Mächten, bisweilen mit den
Geistern der Abgeschiedenen zu treten und von ihnen Offenbarungen
über Künftiges zu empfangen. Der religiöse Künstler weiss sich
dabei in einen Zustand nervöser Aufregung zu versetzen, der sich
bis zum Schäumen des Mundes und krampfhaften Zuckungen
steigert *). Die Schamanen alier Welttheile wählen daher mit Vor-
liebe ihre Zöglinge unter Knaben, die epileptischen Heimsuchungen
ausgesetzt sind % Zwerge oder Albino's werden von den Negern
bevorzugt ^),
Was von den sibirischen Priestern gesagt wurde, passt wieder
so genau auf die sogenannten Medicinmänner der Rothhäute in
Nord-Amerika, dass diese Uebereinstimmung sogar zu den Wahr-
zeichen für die Annahme einer Bevölkerung der neuen Welt durch
vormals nordasiatische Stämme gehört. Der einzige Unterschied
zwischen dem sibirischen Schamanen und dem nordamerikanischen
Medicinmann*) besteht nur darin, dass derErstere sich bei seinem
Handwerk einer Zaubertrommel, der Andere einer Zauberklapper
bedient; phantastisch ausgeschmückte Mäntel aber sind beiden
eigen. Der nordamerikanische Medicinmann kehrt in Süd-Amerika
unter den Namen Piaje, Piai', Paye wieder und auch er führt eine
Zauberklapper (maracca), die er sich aus einem hohlen Kürbiss
verfertigt, der mit harten Samenkörnern angefüllt wird 5). Endlich
begegnen wir, durch die Breite des Atlantischen Meeres von ihren
soeben erwähnten Berufsgenossen geschieden, den Mganga in Süd-
Afrika, die zwar weder Trommel, noch Klapper, wohl aber ein
Zauberhorn führen, und sich obendrein dem Berufe widmen, in
i) S. ein Beispiel unter den Karen in Birma bei A.Bastian, die Völker
des östlichen Asien. Bd. 2. S. 415 n. und in Bezug auf die Kafirn vergL
F ritsch, Hingeborne Südafrika's. S. 99.
2) So unter den minussinskischen Tataren am südlichen Jenissei. Globus
1872. Nvbr. Bd. XX. No 18. S. 278. Andere Beispiele bei Fritz Schnitze
der Fetischismus. Leipzig 1871. S. 145.
3) Winwood Reade, Savage Africa. p. 363.
4) Catlin, die Indianer Nordamerika's. cap. 6. S. 28.
5) P. Gumilla, El Orinoco iluslrado. I, 9. p. 9L Dobrizhoffer,
Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 92. S. 342. Appunim Ausland 1872.
No. 29. S. 684.
18*
276
Der Schamanismus.
jenen trockenen Ländern den heiss ersehnten Regen herbeizu-
rufen *).
Wird eine Erkrankung der P'ernewirkung^ eines Zauberers zu-
geschrieben, so muss auch der Tod, selbst wenn er bei Alters-
schwäche eintreten sollte, nur durch die Wirkung böser Künste
herbeigeführt worden sein. Daher entdecken wir zu unserer Be-
troffe»heit überall in allen Erdräumen, wo der Schamanismus sein
Unwesen treibt, die Herrschaft des Wahnes, dass der Mensch bis
in ungemessene Zeiträume die Dauer seines leiblichen Daseins
verlängern könnte, wenn es ihm nicht durch die Tücke eines
Zauberers verkürzt würde. Dieser Wahn beherrscht nicht blos
Menschenstämme, die wie die Australier ^) freilich mit Unrecht sehr
tief gestellt werden, sondern selbst die hochstehenden Abipouen
versicherten dem Jesuiten Dobrizhoffer •^) , dass die Todesfälle auf-
hören müssten, wenn die Hexenmeister auf ihre traurigen Künste
verzichten wollten. Der Patagonier Casimiro gestand dem Lieute-
nant Musters"*), dass er nach dem Ableben seiner Mutter ein
Weib ermorden Hess, deren bösen Werken er jenen Todesfall zu-
schreiben musste. Versetzen wir uns weit hinweg von den Pata-
goniern in die Südsee auf die Insel Tanna unter den neuen
Hebriden, die von. Papuanen bewohnt werden, einem Menschen-
schlage, der körperlich und sprachlich nichts gemein hat mit Nord«
Asiaten, Amerikanern oder Süd -Afrikanern. .Auch dort sind die
Schamanen anzutreffen, auch sie beschäftigen sich damit, den
Regen herbeizuziehen, und gelten als die Schöpfer von Fliegen
und Stechmücken. Anziehend für uns werden sie aber vorzugs-
weise dadurch, dass sie Krankheiten und Tod zu verhängen ver-
mögen, so oft sie von irgend jemandem ein Nahak erbeuten.
Dieses Wort bedeutet ursprünglich so viel wie Kehricht, wird aber
bestimmter angewendet auf vernachlässigte Nahrungsüberreste, die
nämlich nicht weggeworfen, sondern sorgsam und heimlich ver-
brannt oder verscharrt werden sollen. Findet irgendein papuanischer
Zauberer eine Bananenschale, so rollt er sie sammt einem Blatte
i) Auch in Amerika unter den Natchex des heutigen Louisiana be-
schäftigten sich die Schamanen mit Wetterbeschwörungen. Charlevoix,
Nouv. France tom. III. p. 426.
2) Eyre, Central- Australia. London. 1845. tom. II. p. 219.
3) Geschichte der Abiponer, Bd. 2. S. 106.
4) Unter den Patagoniern. Jena 1873. S, 195.
Der Schamanismus.
277
in Baumrinde und wenn die Nacht herabsinkt, setzt er sich an
ein Feuer und lässt das Nahak langsam verbrennen. Ist Alles in
Asche verwandelt, so hat der Zauber Kraft und der Tod dessen,
von dem der Fruchtabfall herrührte, ist besiegelt. Allein die Kunde
von dem nächtlichen Vorhaben verbreitet sich rasch und bei Zeiten»
Weilt also in der Nähe irgendwer, dem das Gewissen mit Ver-
nachlässigung seiner Speisereste belastet ist oder d«r schon krank
darniederliegt, so lässt er von einem der Seinigen auf dem Muschel-
horn blasen, zum Zeichen, dass dei Schamane mit seinem Ver-
nichtungswerk innehalten möge. Am nächsten Morgen werden
dann Lösegelder für die Rückgabe des Nahak angeboten. Der
Missionär • Turner ') erzählt, dass ihm manche Nachtruhe durch
jene unheimlichen Muschelhorn klänge gestört worden sei; waren
doch bisweilen mehrere solcher klagenden Signale gleichzeitig aus
verschiedenen Richtungen hörbar. Dass die papuanischen Scha-
manen ernsthaft auf ihre Kunst vertrauen, ist desshalb nicht zu
bezweifeln, weil, so oft einer aus der Zunft von Krankheit und
Todesfurcht befallen wird, er seinerseits ebenfalls einen Muschel-
bläser ins Freie schickt. Nur gegen die Krankheiten, welche die
Europäer auf die Inseln eingeschleppt haben, gestanden sich die
Eingeborenen, seien alle Gegenzauber unwirksam geblieben. Die
Nahakceremonie kehrt mit kleinen Abänderungen auf der Marquesas-
insel Nukahiwa wieder *), also unter reinen Polynesiern ; sie findet
sich ferner auf den Fidschiinseln unter dem Titel „ein Vollbringen
mit Blättern*'^), ja sogar in Australien wird der Tod eines Er-
krankten mit Sicherheit erwartet , wenn ein feindseliger Schamane
das Pringurru, ein heilig gehaltenes Stück Bein, welches auch beim
Aderlassen dient, verbrannt haben sollte*).
Begeben wir uns von Australien fast umein Drittel des Erdkreises
nach Süd -Afrika, so erfahren wir, dass die Kafir- Fürsten, bevor
sie zum Krieg ausrücken , vor den Augen der Ihrigen , um deren*
Muth zu erhöhen, einen Kleidungsfetzen, einen Speerschaft, eine
Tabaksdose, kurz irgendeinen Gegenstand vorzeigen, den sie sich
aus der Habe ihres Gegners zu verschaffen gewusst haben. Der
i) Nineteen Years in Polynesia. p. 89 — 92.
2) V. Langsdorff, Reise um die Welt. Frankfurt 1812. Bd. i. S. 135.
3) Nach Williams im Ausland 1858. S. 587.
4) Eyre, Central- Australia. tom. II. p. 360.
2y8 Der Schi
Hofschamane hält einen Zaubertrank schon in Bereitschaft und
würzt ihn vor der vetsumraelten Gemeinde damit, dass er ein
wenig von dem erbeuteten Kleinode hineinschabt. Sobald aber
der Häuptling den Trank ausgeleert hat, besitzt er unfehlbare
Macht über seinen Geg"^''- ^^''' verstehen daher, warum jeder
Kafir-König, so oft er eine neue Hütte bezieht, die alte sorgfältig
ausfegen lässt; ist doch sogar, wie Theophilas Hahn erzählt,
schon der Fall vorgekommen, dass ein ganzer Kraal (Ort) nieder-
gebrannt wnrde, nur damit die Feinde sich nicht irgendeines
Hausgerälhes zur Verübung eines Zaubers bemächtigen sollten').
Verweilen wir noch ein wenig bei dieser gewiss seltsamen
Uebereinstimmung solcher Truggebilde, Wir könnten sie viel-
leicht erklären, wenn wir uns vorstellen, dass papuanische und ka-
firische Menschen stamme einst eine gemeinsame Heimat bewohnt
und dann durch fortgesetzte Wanderungen sich von einander ent-
fernt hätten. Es würde uns aber diese Annalime in Zertriiume
zunick versetzen , die nach Jahrtausenden gezählt werden müssen,
denn die Racenunterschiede zwischen diesen Stämmen gehen sehr
tief und soiche Aenderungen erfolgen nur mit einer Langsamkeit,
wie sie etwa bei geologischen Vorgängen beobachtet wird. Auch
darf man sich nicht damit beruhigen, dass nur das ungeschätfte
Denken der sogenannten wilden Volker solchen Verirrungen
unterliege. Wie lange ist es her, dass nicht unter uns selbst der
Aberglaube in Blüthe stand, man solle abgeschnittene Nage! und
Haare sorgßitig vernichten? Eine italienische Gelehrte, Caroline
Coronedi, hat erst kürzlich gezeigt, dass in Bologna noch heutigen
Tages die ausgekämmten Haare sorgfiiltig verbrannt werden, weil
sich an ihnen Hex'-nkünste am leichtesten verüben lassen *).
Tylor schenkt sogar einer Nachricht vollen Glauben, dass noch
1860 zu Camargo in Mexico eine Hexe verbrannt worden sei 3).
Fast überfällt uns' bei diesen übereinstimmenden Verstandesirrungen
die trostlose Vorstellung , als sei das menschliche Denkvermögen
ein Mechanismus, der bei der Einwirkung gleicher Reize immer
2u den gleichen Rösselsprüngen genöthigt werde.
1) Tlie.iphilus Halm im Globus 1871. Bd. XX. N'o. 1
2) Iiia V. Düriiigsfelt] im Ausland 1872. No. n- S.
3) Anranke der tlultur, Bd. 1. S. 138.
Der Schamanismus. 27g
Am schwersten leiden unter der schamanistischen Geistes-
krankheit die südafrikanischen Bantu-Völker. So oft ein Todesfall
eingetreten ist, wird der Mganga oder Ortsschamane nach dem
Urheber befragt. Ihm nämlich wird ein höheres Wissen zuge-
traut, wie denn alle Zeichendeuterei, alles Orakelwesen, auch das
Geisterklopfen unserer Tage 2um Wahne des Schamanismus ge-
rechnet werden müssen. Bezeichnet der Seher einen Verdächtigen,
so wird ein gottesgerichtliches Verfahren eingeleitet. Hier begegnen
wir zugleich einer neuen Seite des Zauberwesens, denn der Glaube
an gottesgerichtliche Wahrsprüche beruht auf dem Irrthum, dass
eine unsichtbar ordnende Macht, kunstgerecht befragt, imtrügliche
Bescheide ertheilen müsse. Das Gottesgericht ist aber noch gegen-
wärtig in Indien bei Dravida - Stämmen ') wie bei brahmanischen
Hindu verbreitet, ebenso, jn Süd - Arabien ^) und war auch bei
unseren deutschen Vorfahren noch lange nach der christlichen
Zeit, die W^asserprobe bei Hexenverfolgungen sogar |bis ins 16.
und 17. Jahrhundert in Gebrauch, ja Jacob Grimm will noch die
letzten Spuren dieses Wahns in dem modernen Duell erkennen ^).
Auch die Papuanen Neu -Guineas glauben die Schuld oder Un-
schuld eines Angeklagten durch Untertauchen ermitteln zu können*)
und desselben Verfahrens bedienen sich die Neger der Goldküste 5).
Sonst wird das Gottesgericht in Südafrika, wo es sich von den at-
lantischen Stämmen bis zu den Masai erstreckt, vorzugsweise dutch
Ausleerung eines Bechers mit Mbundu-Saft [vollzogen. Erbricht
der Angeschuldigte nicht rasch den Gifttrank, so ist seine Schuld
erwiesen. Als im Jahre 1865 am Rembo in Mäyolo (2° südl. Br.,
II** östl. L. Greenw.) die Blattern ausbrachen, fielen bei Du Chaillu's
Anwesenheit durch das gottesgerichtliche Verfahren zu den Opfern
der Seuche auch die Opfer des schamanistischen Truges ^).
Gerichtsscenen mit Folterungen von Verdächtigen unter den
Ama)(^osakafim werden bei Maclean 7) sehr ergreifend geschildert. Der
1) Jellinghaus in der Zeitschr. für Ethnologie. Bd. 3. Berlin. 1871.
s. 337.
2) V. Maltzan im Globus. Bd. 21, 1872. Ni). 10. S. 139.
3) Deutsche Rechtsalterthümer. S. 925 — 927.
4) Bosman, Guinese Goud-Kust. Utrecht. 1704. tora I. p. 137.
5) Otto Finsch, Neu-Guinea. S. 113.
6) Du Chaillu, Ashango-Land. p. 173—177.
7) Kafir laws and customs. Mount Coke. 1858. p. 89—92.
2So ^ci' Schamanismus.
Glaube an die Wirksamkeit böser Künste ist um so schwerer zu
vertilgen, als hin und wieder Ueberführte geständig werden, Zauber
verübt zu haben. Dass solche Versuche wirklich stattfinden, darf
nicht bezweifelt werden, hat doch der Reisende Martins ') in einer
brasilianischen Indianerhütte eine rachsüchtige Sclavin bei ihren
nächtlichen Beschwörungen auf frischer That ergriffen. Aus diesem
bösen Kreis ist nicht leicht der Ausweg zu erkennen, denn schlagen
auch oft genug die Wunderwerke der Schamanen fehl, so wird
dadurcii in den Augen der Befangenen nicht etwa die Nichtigkeit
der angewendeten Mittel bewiesen, sondern es heisst vielmehr,
die Arzneien oder Beschworungen seien zu schwach gewesen, um
die schlimmen Werke eines entfernten Schamanen zu brechen. Alle
Beobachter fremder Menschenstämme versichern uns überein-
stimmend, daas die Zauberärzte selbst zu den Betrogenen gehören
und fest an ihre Künste glauben "). Die sibirischen Schamanen,
die nordamerikanischen Medicinraänner , die brasilianischen Piai,
die südafrikanischen Mganga, die australischen und papuanischen
Zauberer leben abseits von ihrer Horde, erziehen sich ihre Schüler
unter Fasten und Selbstpeinigungen und überliefern ihnen dann
erst die Schätze ihres Geheimwissens.
Der letzte, unter allen seinen verschiedenen Namen undTrachten
immer gleiche Grundgedanke des Schamanismus beruht auf dem
Irrthum, dass der Mensch mit unsichtbaren Mächten in Verkehr
treten und sie zur Folgsamkeit zwingen könne. Beides geschieht
durch die Anwendung von sinnbildlichen Gebräuchen und ge-
heimen Kraflsprüchen , die sich gut bewährt haben , insoferne
nämlich bei der Schwäche des menschlichen Urtheils eine einzige
günstige Erfahrung, die sich unverwüstlich dem Gedächtniss ein-
prägt, neun andere widersprechende Erfahrungen, die rasch ver-
gessen wurden, vollständig aufwiegt. Dieser Selbstbetrug in seiner
höchsten Verfeinerung vernSäg in die reinsten Gemüther sich ein-
zuschleichen. Er hängt sich an alles Symbolische und Rituelle
und ist überall thätig, wo von einer sinnbildlichen Handlung eine
bestimmte, nicht streng noihwendige Wirkung erwartet wird. Wenn
i) Ethnographie. Bd. i. S. 4.
i) 3u DcibiUbtittci iti ßtiu^ auf dit Abiponen (GMcWchle der Abi-
poner, Bd. 2. S, 91) und Mariner (Tonta Islands, tom. I. p. 102) in Bezug
auf die [lülynesisclien Bewohner dtt Frcundschiftsgiuppe.
Der Schamanismus. 28 1
in protestantischen Ländern fromme Gemüther bei Lebensbedrang-
nissen eine Offenbarung sich erzwingen wollen, so pflegen sie das
Gesangbuch aufzuschlagen und im ersten Liede oder Verse, auf
welche ihr Blick fallt, eine Antwort von oben zu erwarten. Un-
bewusst haben sie mit dem Gott in ihrem Innern den Vertrag
geschlossen, dass er, auf diese gläubige Weise befragt, ihnen Rede
zu stehen schuldig sei.
Nichts wird leichter schamanistisch missbraucht als das Gebet,
denn es wird in dem Augenblicke zur Zauberformel, sobald man
seinen Worten irgendeine Wirkung auf den göttlichen Willen
zuschreibt. Ob irgendwo eine solche Verirrung um sich gegriffen
habe, lässt sich leicht daran erkennen, dass das Gebet möglichst
vervielfältigt wird, und in diesem Selbstbetrug sind die Buddhisten
so tief gesunken, dass sie ihre Gebetrollen ersannen, drehbare
Walzen, über welche ein Papier mit den aufgeschriebenen Gebeten
gerollt wird. Mit dieser Vorrichtung gedenkt man die Gottheit
zu überlisten, indem man ihr zumuthet, bei jeder Umdrehung der
Trommel die Gebete als gesprochen in Empfang zu nehmen.
Erfinderische Mongolen haben sogar die Gebetrollen durch Wijid-
oder Wasserräder in Drehung versetzt und durch solche Mühlen-
werke sich Frömmigkeitsbelohnungen zu erwerben getrachtet.
Noch schlimmer droht den Menschen der Opferdienst zu
verwirren. Die reinsten Beweggründe, ein Ueberströmen des
Dankes, die Anerkennung eines Fehltrittes und der Wunsch nach
einer Sühne führt die Gläubigen vielleicht zu dem Altar. Unmerk-
lich, ja fast unausbleiblich schleicht aber eine andere Auffassung
des Opfers jeher reinen nach. Die Gottheit erscheint sehr bald
als der beschenkte Theil und der Geber erwartet eine Gegen-
leistung für seine Wohlthaten *). So erinnern homerische Helden,
wenn sie die Hilfe ihrer unsichtbaren Beschützer anrufen, an die
vielen saftigen Opfer , die sie ihnen dargebracht haben *). Am
verderblichsten aber wirkt die Verirrung, wenn sich zu dem Opfer
noch symbolisches Gepränge gesellt. Nirgends hat ein solcher
Selbstbetrug verständige, ja scharfsinnige Denker so völlig über-
1) Mit Recht erinnert Tylor (Anfänge der Cnltur, Bd. 2. S. 400) daran,
dass Opfer (sacrifice) im Englischen (und im Deutschen, dürfen wir hinzu-
setzen) einen selbstauferlegten Verlust bedeutet.
2) Ilias I, 37 -42.
282 Det
wältigt als in Indien, denn an der Spitze aller Schamanen, me-
tliodisch geschult, verfeinert durch Gedankentiefe, gestützt auf
tausendjährige Uefaung, stehen die Bralimanen. Ihr höchstes
Zaiibermitlel ist der Saft der Soma-Pflanze (Sarcostemma viminalt),
mit dem sie ihre Opfer kräftigen. Gleich den Mganga oder süd-
afrikanischen Regendoctoren bringen sie das ersehnte nasse Wetter
herbei, denn erst, wenn der Donnergott Indra durch ihre heiligen
Riten gestärkt worden ist, vermag er die Wolken zu spalten und
ibnen den befruchtenden Niederschlag zu entreissen. Dem Opfer
selbst wurde eine schöpferische Kraft beigelegt, denn in ihm sollte
der Brahma allgegenwärtig sein '). Nach ihren Lehren verleihen
auch Bussübungen, wenn sie in ungemeasene Zeiten fortgesetzt
werden, wie die des Wisch wfliiii tra , dem Dulder zuletzt so hohe
Kraft, dass die epischen Götter von ilim eine Zerstörung des
Himmels und der Erde fürchten '). Wenn aber nach der scha-
manistischen Hypothese durch Gebete und Hymnen, wenn vor
Allem durch Opfer, begleitet von wirksamen sinnbildlichen Hand-
lungen, die Gotter zu den erwünschten Leistungen gezwungen
werden können, so musste ein folgerichtiges Denken zu dem
Satze führen, dass Bussübungen, Gebt'te und Opfer über den
Göttern stehen. So gelangten die Indier :!U dem Begriffe Brahma,
der geistigen Macht nämlich, welche in den ritualistischen Geheim-
mitteln ruhte und die über den Göttern schwebte. Die Brab-
manen selbst, als die Wissenden, denen allein der geheime Sinn
und die Wirkungskraft der Bräuche und Sprüche bekannt war,
mussten sich selbst schliesslich übermenschliche Eigenschaften bei-
messen und sich zu fleischgewordenen Göttern erbeben. Nach
ihren Lehren hing alles Glück \'0n der richtigen Vollziehung der
Opfer ab. Dieser Kunst verdankten sie ihren Rang und ihren
Lebensgenuss. Die Opfer selbst, anfangs einfach, wurden immer
verwickelter. Bald erforderten sie mehr als einen Tag, dann
Wochen, Monate und Jahre und zugleich stieg die Zahl der dienst-
thuenden Priester durch beständige Vervierfachung bis auf vier-
undsechzig, wie man liies alles bei Martin Hang finden wird, der
1) Marlin llaug, in der Reilage inr Allgsm. Zeitung 1873. No. 156.
^. 2390.
:) Martin Haug, Brahma und die Brahmanen. München 1871. S. :2.
Der Schamanismus. — Die Lehre des Buddha. 283
von allen Europäern zuerst hinter die letzten Geheimnisse der
Brahmanen gedrungen ist.
Besteht das Wesen des Schamanismus in der Ausübung irgend-
eines Zaubers, der seinen Zwang auf göttlich gedachte Mächte
erstreckt, ihnen die Erfüllung irgendeines Begehrens oder die
Offenbarung künftiger Begebenheiten abnöthigt, so ist es offenbar
ganz gleichgiltig , ob das angewendete Mittel im Rühren einer
Trommel, im Schütteln einer Klapper, in Opfern, in Gebeten, in
Fasten oder Bussübungen, im Befragen thierischer Eingeweide
oder des Vogelfiuges bestehe. Alle Völker sind diesem Wahne
erlegen, wenige haben ihn völlig abgestreift; er treibt sein Spiel
noch in Amerika, in Sibirien, im buddhistischen Asien, im brah-
manischen Indien, als Amulet bei den Mohammedanern, im Gottes-
gericht und im Regenzauber bei den Afrikanern, als Nahak-Spuk
bei den Papuanen. Wir selbst sind erst seit kurzer Zeit die
Hexenprocesse los geworden, noch unser grosser Keplei musste
in seine schwäbische Heimat reisen und es kostete ihm schwere
Mühe, seine alte Mutter vor dem Feuertode zu retten, mit welchem
ihr protestantische Schamanistenriecher drohten. Klar aber ist
Avohl nach allem Gesagten, dass die sittliche Erziehung des
Menschen durch die Religion nirgends einer grösseren Gefahr
begegnet als dem schamanistischen Wahn. Man lege irgendeiner
sinnbildlichen Handlung irgendeine übernatürliche Wirkung bei und
der Ritus thront als Brahma über dem Göttlichen ^).
II. Die Lehre des Buddha.
Als die Arier über das Fünfstromland und die Gangesebenen
sich ausbreiteten, geschah es auf Kosten einer rohen Urbevölkerung,
der sie an geistiger Begabung und körperlicher Schönheit über-
legen waren. Das Innewerden dieser Racenvorzüge führte in
Manus Gesetzgebung zum Verbot der Zwischenheirathen und zu
der lieblosesten Kastenordnung. Die Priester oder die Wissenden
hatten die Kenntniss der schamanistischen Gebräuche, der Gebete
i) Der Inhalt dieses Abschnittes wurde, abgesehen von den Quellen-
angaben und neueren Zusätzen, bereits in der Beilage zur Wiener Zeitung,
1873. Xo. 49 und 50, abgedruckt.
284 Die Lehre des Buddha.
und der Opfer, wie wir sahen, bis nur Macht über die alten Götttr
gesteigert, die zur dienenden Roile als Welthüter herabgedrückt
wurden. Die geschichtlich älteste Bedeutung von Brahma ') war
Gebet und Brahmanen hiessen ursprünglich die Betenden, Männ-
lich gedacht erschien dann Brahma als Gott des Gebetes und
weiterhin als Weitenschöpfer. Priesterlicher Dialectik wurde nun
die Aut'gabe gestellt, in den Brahmana- oder Ritualbüchern durch
künsUiche Auslegung die Lehren der Veden bis zur Ueberein-
stimmung mit den Keugcburten der Religionspbilosophie zu ver-
renken ').
Brahma oder die Allseele wurde als das einzig Seiende, die
sinnlich wahrnehmbare Welt dagegen nur ais ein Scheingebilde
erklärt, als ein Werk der Maja oder des Truges, unkörperiich wie
das stille Bild des ^Mondes auf einer spiegelnden Wasserfläche.
Diese Täuschung zu durchschauen, ihr zuzurufen, dass sie nicht
sei, Brahma als das Seiende mit Du zu begrüssen und sich selbüt
mit ihm als Eins zu erkennen, führte zur Befreiung des Ich aus
alleh Irrsalen der Sinnenwelt und zum Zurückfallen in den Brahma.
Aehnlich wie diese Lehrt' des Vedänta, suchte auch die Sänkhja-
Philosophie eine Erlösung der Seele aus dem Kerker des mensch-
lichen Leibes, aucli sie erkannte in allen Sinn es Wahrnehmungen
nur eine Täuschung, aber üe erwartete eine Befreiung nicht durch
ein Zerschrhelzen in die Gottheit, sondern durch einen Rückzug
der Seele in sich selbst und durch ihre Abtrennung von der .
Körperwelt, Der grosse Spruch desVSdänta lautete: Ich bin das
Das, ich bin das Brahma ; die Sänkhjaschule sagte hin^^egen : ich
bin nitht das I^as (die Natur)*).
Die Gemüther durlndier wurden und werden noch beherrscht
von der Vorstellung einer Unzerstörbarkeit der Seele. Neigung
zum Trübsinn und zum Lebensüberdruss hat sie schon in den
ältesten Zeilen beschüchen. Ein endloses Echo von Wanderungen
der Sci>!e begleitete sie [als Drohung bei allen Schritten. Wie
äusserst wenigen leicht gestimmten Herzen begegnen wir unter
uns. die gern noch einmal ihr eignes Leben mit seinen Ent-
täuschungen und Unstern Stunden von frischem beginnen möchten?
i| J. Muir, Siinikril teils. 2A. ed. London. 187z, tom. I, p. 241.
;) Duncker, Geschichte des Alterthums. 1. Aufl. Bd. 2. S. 156.
i) Koppen, Religion des Buddha. Berlin 1857. Bd. 1. S. 69.
Die Religion des Buddha. 285
Nach Erlösung seufzt die Creatur, lauten auch die Worte des
Apostels. Auf dem Hindu lastete als Judasqual die Vorstellung
einer rastlosen Erneuerung, ohne Rettung, dass das ewig rollende
Rad jemals still stehen könnte und seine Einbildungskraft sah,
beunruhigt von unheimlichen Zahlenausdrücken, in eine Zeit ohne
Grenzen hinaus, die mit jedem Schritt vorwärts ihren Horizont
ebenfalls um einen Schritt vorwärts schob. Wenn nun schon
die höchsten Kasten nach einer Entfesselung [der Seele sich
sehnten, so war für die Gedrückten das Dasein ohne Absrhluss
eine Folter ohne Ruhepause.
Da trat nun nach den überlieferten Angaben im 6. Jahr-
hundert vor unserer Zeitrechnung der Sohn ^uddhödana's des
Königs von Kapilavastu, aus dem Stamme Gautama und dem
Hause (^äkja Namens Siddhärtha mit einer Hoffnung auf Erlösung
unter das indische Volk*). Der Anblick von körperlichen Uebeln,
von Krankheit, Alter und Tod hatten ihn zum Nachdenken an-
geregt, wie der Mensch sich wohl dem Elend des irdischen
Daseins entziehen möchte. Die Lehren brahmanischer Schulen
befriedigten ihn nicht. Er erkannte vielmehr die Nichtigkeit des
(jebetes, der Opfer und der Bussübungen. Schon diese Ver-
nichtung der schamanistischen Verirrungen sichert ihm einen
hohen Rang unter den Religionsstiftern. Er verkündete ferner
seine Lehre nicht an Geweihte und wie ein Geheimniss, sondern
er wirkte ganz im Gegensatze zu den Brahmanen durch die
öffentliche Predigt in der Volkssprache*); er wendete sich auch
nicht an auserwählte Kasten, sondern an die gesammte Mensch-
heit. Niemals ist der Buddhismus national gewesen, sondern
weltbürgerlich geblieben bis auf den heutigen Tag. Laut ver-
kündete vielmehr der ^'äkjamuni, um diesen Beinamen des neuen
Religionsstifters hier einzuflechten , dass seine Lehre ein Gesetz
<Jer Gnade für Alle sei^), und bekannt ist die schöne Legende
von seinem Lieblingsschüler Änanda, welche so ähnlich klingt,
wie die Begegnung mit der Samariterin am Brunnen im vierten
Evangelium. Er begehrt nämlich von einem Tschändäla-Mädchen,
das Wasser schöpft, einen Trunk, und als es zögert, um ihn
nicht durch Berührung zu beflecken, spricht er : „Meine Schwester,
i) Chr. Lassen, Indische Alterthumskunde. Bd. 2. S. 66.
2) Burnouf, Inlroduction, tom. I. p. 195.
3) Burnouf, 1. c. loni. I. p. 198.
286 ^c Religion des Buddha.
ich frage nicht nach Deiner Kaste und Deiner Abkunft, ich bitte
um Wasser , wenn Du es mir geben kannst" '). Anklänge an
chriatliclie Texte enthält auch die Legende von dem Annen, welcher
den Almosentopf Buddha's mit einer Handvoll Blumen füllt, wäh-
rend Reiche mit zehntausend Scheffeln nichts ausrichten; oder
wenn die Lampen, welche, Könige und Kanzler zu Ehren des
Buddha angezündet hatten , verlöschen, aber nur die einzige , die
ein dürftiges Weiö dargebracht hat, die ganze Nacht hindurch
brennt ').
Der Lebenslauf des Keligionsstifters , wie er uns überliefert
worden ist, verstrich ziemlich eintönig. Durch Entsagung der
weltlichen Macht und der sinnlichen Genüsse, den Almosentopf
im Arm , gab der indische I'rinz Beweise von der Aufrichtigkeit
seiner Pflichtenlehre. Hochbetagt sollte er noch erleben, dass
der Feind seines Hauses die Vaterstadt KapiJavastu verwüstete.
E et; leitet von Änanda durchwanderte er bei Sternenlicht ihre
rauchenden Trümmer , stieg er in den Gassen über die Leichen
Erschlagener und die Leiber verstümmelter Mädchen, Trost den
Sterbenden spendend. Von dort wollte er sich noch nach Kugina-
gara schleppen, erreichte aber die 70 Meilen entfernte Stadt nicht
völlig, sondern sank unweit davon unter einem i^alabaum mit
Klagen über heftigen Durst nieder. Bald stellte sich der Todes-
kampf ein und bei gebrochenen Augen verschied er mit den
Worten: ,, Nichts ist von Dauer" ^).
Die Erlösung, die Buddha ersann, bezog sich nur auf den
Wahn der Wiedergeburt; Heilung wird also in dieser Lehre nur
derjenige finden , welcher diesen Wahn theilt. Die Wiedergeburt
entspringt immer aus dt-r Verschuldung in einem früheren Dasein,
daher ist die Sünde der Grund alles irdischen Elends *). Durch
ihr Haften und ihre Begier am Dasein wird die Seele beim Tode
zu einem neuen Kreislauf gezwungen. Es bleibt nämlich beim
Erlöschen des Lebens von ihr nichts zurück als die Summe ihrer
1) E. Burnoiif, Introduction ä l'hbtoire du BuddhUme indien. PbHs
1844. tom. I, p. 105.
3) Koppen, die Reügion des Buddha. Bd. 1. S. 131.
3] O. Palladius, Das Leben Buddha's. Arbeiten der russ. Gesandt-
schaft iu Peking. Berlin 1858. Bd. 2. S. 163— 165,
4) Koppen. 1, .:, Bi. 1. S. :i)0— 293,
Die Religion des Buddha. 287
guten und bösen Werke, und diese letzteren ziehen als eine gesetz-
liche Folge eine Neugeburt nach sich *).
Die buddhistische Weltanschauung, wie sie (^dkjamuni selbst
oder vielleicht nur seine Jüngerschaft gelehrt . haben mag, hat bei-
nahe die Züge einer Gemüthskrankheit. Das Leben selbst erscheint
als die höchste Last und seiner Erneuerung sich zu entziehen,
„die Schale des Eies zu durchstossen**, hinauszutreten aus dem
Zwang der ewigen Wiedergeburten, galt als die höchste Stufe der
Erlösung. Der Grundgedanke des Buddhismus war in den soge-
nannten vier Wahrheiten zusammengefasst : dass aus dem Sein
unser Elend quelle, dass dieses Elend nur durch die fortgesetzte
Anhänglichkeit an die Sinnenwelt entstehe, dass ein Abstreifen
dieser Anhänglichkeit vom Dasein erlöse und endlich, dass es
einen Pfad zu einer solchen Erlösung gebe. Dieser Pfad zur
Buddhahöhe forderte Entsagung und regungsloses Versenken in
sich selbst. Nirväna heisst der letzte und höchste Zustand, den
der Fromme zu erreichen vermag, nur ist immer gestritten worden,
ob Nirväna überhaupt ein Zustand genannt werden darf. Zum
Nirväna gelangte Buddha selbst stufenweise. Zuerst genoss er
das Gefühl der Befreiung von der Sünde , hierauf vernichtete er
die Befriedigung darüber im Verlangen nach dem höchsten Ziele,
dann erlosch ihm auch dieses Verlangen bis zu völliger Gleich-
giltigkeit, in welche letztere sich aber noch ein Behagen über
diese mischte. Auch dieses Behagen musste verschwinden,
Freude, Qual, Erinnerung in die Unendlichkeit des Raumes
oder das Nichts zerfliessen; im Nichts aber blieb ihm doch
noch dass Bewusstsein des Nichts, endlich erstarb auch dieses
in den Gebieten der völligen Ruhe, die weder durch das Nichts,
noch durch etwas, was das Nichts nicht wäre, gestört wird.
Das Nirväna oder höchste Ziel des Buddhismus über dessen Be-
deutung die verschiedenen Secten sich nicht geeinigt haben, war
also ursprünglich und wörtlich ein Verlöschen, eine gänzliche Ver-
nichtung, welche jede Wiedergeburt ausschloss. Die nördlichen
oder neugläubigen Buddhisten gingen daher so weit, im Denken
selbst die Wurzel der Unwissenheit, durch Zulassung eines
Begriffes eine Verfinsterung des Geistes anzunehmen und Be-
i) Koppen. 1. c. Bd. i. S. 300.
2gg Die KeligioD des Buddhi.
IVeiung von Unwissenheit darin zu suchen, dass man nichts
denke ').
Die Siltenlehro des Buddha war eine durchaus reine und
lautere und fällt mit der christlichen vielfach zusammen. Obenan
steht das \*erbot, etwas lebendiges zu tödten. Es hat zur Ab-
schaffung der Todesstrafe in Indien gefiihrt, wenigstens zur Zeit,
wo der Buddhismus die weltliche Herrschaft besass, gleichzeitig
aber die Vertilgimg der reissenden und der parasitischen Thiere
verhindert. Achtung des Eigenthums, eheliche Treue, Wahr-
haftigkeit, Vermeiden von Verleumdung, Kränkung und Schmähung,
Bekämpfen aller habsüchtigen und neidischen Regungen , des
Zornes und der Rachsucht w^den allen Bekennern eingeschärft,
Nächötenliebe wie im Christenthum ist die höchste Pflicht des
Buddhisten, nur erstreckt sie sich auf alle Geschöpfe, so dass die
Errichtung oiler Erhaltung von Schutzorten und Heilstätten fiir
Thiere ebenso zu den frommen Werken gehört, wie die Stiftung
von Armenhäusern für bedürftige Menschen. Sich selbst besiegen,
lautet ein alter Sittenspruch, sei der beste aller Siege'). Zu
Milde, Sanftmuth und Nachsicht sollten die Menschen erzogen
werden und der Buddhismus selbst ging darin mit gutem Bei-
spiel voran, dass er religiöse Duldsamkeit übte und beinahe
nie mit \ erfolgung von Andersgläubigen sich befleckte^) Demuth
sollte auch die Priester zieren ganz im Gegensatz zu der Selbst-
überhebung der Brahmanen. Keine Worte sind d_aher hoch genug,
um die günstigen Wirkungen des Buddhismus auf die Milderung
der Sitten auszusprechen. Man hat aber auch diese Religion ge-
priesen, dass sie den Menschen erziehe, ohne zur Gotlesidee,
ohne zum Gebet, ohne zu Verheissungen oder Drohungen im
Jenseits ihre Zuflucht zu nehmen, und dass es ihr dennoch gelungen
sei, vierhundert Millionen Bekenner zu gewinnen. Scheinbar
wurden die Buddhisten der Götter los oder vielmehr diese letz-
teren wurden erniedrigt zu willigen Gehilfen des Religionsstiflers,
auf dessen Gedanken schon sie diensteifrig herbeieilen. Wie aber
iclie Weisheit die Btahmauen über die Götter stellte
1} Fr. Spiegel über Wassiljiew's Forschungen. Ausland 1860. S. lOlJ.
2) Koppen. 1. c. Bd. I. S. 451.
3) Vgl. die .mf Toleranz bezüglichen Felseninschriften des Königs A^oka
Mai Müller, Essays. Leipzig 1869. Bd. I. S. 222—113.
Die Religion des Buddha. 289
durch Kenntnisse der Gebete und durch die Kraft der Riten und
Bussübungeh, so erlangte auch Buddha durch seinen tugendhaften
Wandel und durch die Stärke seiner Andacht eine Natur weit
« c
über den vedischen Göttern , er verrichtete Wunder und durch-
schaute Vergangenheit und Zukunft '). Getrost mögen ihn daher
Bedrängte anrufen; er wird die Schiffsleute erhören und sie aus
■
dem Sturm erretten *). Den Buddhismus , wie er sich gestalten
musste, um von vierhundert Millionen ergriffen zu werden, wird
die Völkerkunde niemals als einen ethischen Atheismus aner-
kennen, sondern nur als einen Ahnendienst oder Heroencultus.
Bald nach dem Tode des Lehrers begann nicht ohne Anstiften
seiner Schüler eine Reliquienverehrung,' die als ein Zurücksinken
in den Fetischdienst bezeichnet werden darf. Acht Städte erhielten
bei der Theilung die Asche des Abgeschiedenen und über den
Reliquien erhoben sich dann Heiligthümer und Wallfahrtsorte 3).
Da der Buddha vor seiner Verklärung in früheren Erdenläufen
nicht blos als Mensch, sondern auch als Thier geboren worden
war, so werden in manchen Tempeln sogar Haare, Federn oder
Knochen verehrt, die von seinen früher verlassenen Thierleibern
herrühren sollen^). Nicht blos der Religionsstifter, sondern ein
Schwärm heilig gesprochener Bodhisattvas empfing Verehrung
und so sehen wir den vielgepriesenen chinesischen Pilger Hiuen-
thsang zu den Bildern solcher Schutzpatrone wallfahrten und in
andächtiger Verzückung auf rituelle Fragstellung ihre Orakelzeichen
erbitten 5). Das Gebet, das heisst der schamanistische Zauber-
spruch, war allerdings dem (^akjamuni oder Gautama in der Seele
fremd, aber gerade im Schoosse seiner vierhundert Millionen An-
hänger sind die Rosenkränze und die Gebettrommeln erfunden
worden. Seltsam klingt es, wenn dem Buddhismus von über-
schwenglichen Verehrern nachgerühmt worden ist, dass er weder
verheisse , noch drohe. Die diesseitige Welt selbst ist ihm ja
schon ein Fegefeuer, ein Rad, das sich von Ewigkeit dreht, und
die Wiedergeburten in den Wonneräumen von Göttern oder in
1) Burnouf, Introduction. tom. I. p. 134—135» I53» 353-
2) Burnouf, Introduction, tom. I. p. 132.
3)Stanislas Julien, Histoire de la vie de Hiouen-thsang. Paris.
1853. p. 131. Lassen, Ind. Alterthümer. Bd. 2. S. 77.
4) Tylor, Anfange der Cultur, Bd. i. S. 408.
5) Stanislas Julien, 1. c. p. 173.
Peschel, Völkerkunde. 19
•4
niltel niclit verschmäht.
2co Qi* Religion des Buddha.
den Schaudern der Hölle, im unreinen Thierleib a^^ endlich in
niedcrur wie in häherer Kaste dienten hinlänglich; Mximme oder
Sünder zu lucken oder zu ängstigen. Die Furcht vor eineoH-
;n Vergeltung hat auch die Buddhalebijr alstfZuwt-
ve r schmäh t, ^^'t '
J)cr Ijuddhismus hat auch nichts gethan, dielq^er von dem
Wahn der Wiedergeburten zu heilen, er hielt rfies^Lefire viel-
mehr fest, ja hat sie wie einen Krankheitsstoff aiicIi'iAf .fremde
Völker übertragen. Die Kastenunlerschiede stiess er nicht um,
sondern liess sie gesellschaftlich besteben, wenn er auchmiP^**"
, liebe den Gedrückten und Missachteten das Nahen der ErUKung
verhiess. Seine gepriesene Duldsamkeit anderen Reiigio»en gegen-
über hat doch einen zweifelhaften Werth, insofern sie nnthatig
bKeb, um fremde Gotte&gedanken aus ihrer Erniedrigiing zu heben.
Der Buddhismus behielt den Götterhimmel der Veden bei und
gönnte den mongolischen Stämmen ihre Lust am Schamanen spuk'.
Reinere und reifere Vorstellungen können aber nur zur Herrschaft
gelangen, indem sie unreinere und unreifere verdrängen. Werfen
die Bekenner der Lehre Gautama's auf mehr als 400 MiHionen
geschätzt, »o rechnet man dazu das gesammte chinesische Volk,
welches dem Dienst von Himmel und Erde, sowie dem der Abgeschie-
denen huldigt, Confulse aber noch immer als den sittlichen Ge-
setzgeber verehrt und eigentlich vom Buddhismus nur das Buddha-
bUd, zu andern Götzen einen Götzen mehr angenommen hat").
Die Buddhalehre wurde nicht einem erwählten Volke, sondern
ider gesammten Menschheit verkündigt und me das Christenthum
m jüdischen, so ist sie auch im indischen Volke, freilich nach vielen
Jahrhunderten einer unbestrittenen Herrschaft, erloschen oder
wenigstens vom Festlande selbst verdrängt worden und nur auf
Ceylon noch anzutreffen. In seinem westlichen Verbreitungsgebiet,
in Kabul, Taberistan und Kurdistan, bat den Buddhismus das
Schwert des Islam ausgerottet. Früh spaltete er sich in eine süd-
liche und eine nörUUch Schule. Der südlichen oder älteren, deren
in PaU verfasste Schriften aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem
dritten buddhistischen Concil im 3. Jahrhundert v. Chr. festgestellt
worden sind, gehört die Insel Ceylon, dann Birma, Slam, überhaupt
die Länder der Malayochineseo, an. Auf Java, wo der Buddhismus
1) Mnx .Müller. Fssays. Leipzig iSfg. Bd. 1. S. 339.
Die Religion des Buddha. — Die dualistischen Religionen. 201
das Brahmanenthum glücklich verdrängt hatte, ist er im 15. Jahr-
hundert dem Islam erlegen. Die Schriften der nördlichen Schule,
obwohl im Sanskrit verlasst ,. dennoch die jüngeren, erhielten erst
auf dem vierten Concil, etwa um Chr. Geburt, ihre endgiltige
Fassung. Dem neugläubigen Buddbismus folgt Nepdl und andere
Ilimalayägebiete, Tübet, die mongolischen Menschenstämme, China
und Japan. Nach China soll der erste Missionär schon 217 v. Chr.
gelangt sein, aber erst vom Kaiser Ming-ti im Jahre 65 n. Chr.
wurden die Lehren des Gautama als eine berechtigte Religion
anerkannt 'j. Die Neugläubigen verehren eine grosse Anzahl
Bodhisattvas , Wesen, die nur um eine Stule von den Buddha
unterschieden sind, auch in das Nirväna eingehen könnten, aus
Barmherzigkeit aber und zur Erlösung ihrer Mitmenschen darauf
verzichten, um frommen Seelen, die sie im Gebet anrufen, zu
helfen. Seit den Mongolenkaisern gilt das Oberhaupt der Kirche
in Tübet, das seine Residenz in Läsa hat, als eine Verkörperung
des Bodhisattva Padmapäni. Sein Titel Dalai Lama oder Welt-
meer-Lama*) entstand erst im 15. Jahrhundert, als sich die nörd-
liche Kirche über den- priesterlichen Cölibat spaltete. Das Ober-
haupt derer, welche den Geistlichen die Ehe verstatten, hat
unter dem Titel Bogda Lama seinen Sitz zu Täschilhünpo.
Auch dieser Lama gilt als die Verkörperung eines Bodhisattva,
nämlich des Amitdbha oder tübetisch Odpagmed und führt den
Titel Pan-tschen-rin-po-tsche ^). Beide Kirchenhäupter haben sich
versöhnt und schicken sich in echt buddhistischer Duldung gegen-
seitig ihren Segen.
12. Die dualistischen Religionen.
Alles, was dem Menschen drohend gegenübertritt, bezieht er
auf sich und beseelt daher auch das, was sein Wohlbehagen stöit,
sei es Hitze oder Kälte, seien es Dürre, Hunger, Schmerz, Krank-
heit oder Tod. Ein unsreschärfter Verstand wird nicht leicht cie
1) Max Müller, Essays. Leipzig 1869. Bd. i. S. 223.
2) Tübeüsch bla-ma Oberer, von bla oben. Friedrich Müller, Reise
der Fregatte Novara. Anthropologie. III. Abtheilung. S. 180.
3) V. Schlagintweit, Indien und Hochasien. Bd. 2. S. 86.
19*
2^2 Die duilUlisehen Religionen.
Schwierigkeiten bewältigen , die sich der Vorstellung widersetzen,
dass aus einer Hand das Erfreuliche und das Ge/ürchtete hervor-
gegangen sein solle. Wir stossen -in der Geschichte wie in der
Schöpfung auf Widersprüche, die sich mit der Annahme einer
gutigen und gerechten Weltordnung schwer vereinigen lassen.
Derselbe Gott, der das erhabene Firmament mit seinen Licht-
reizen, der alle Lieblichkeiten der Erde,, die stillen Blumen, den
Thau mit seinen FarbL-n blitzen, das Kinderauge erschuf, erfüllte seine
eigne Welt mit FieLier, mit Gift, mit Ungeziefer, mit Krieg, mit
Grausamkeiten im Thierreich, wo oft das eine Geschöpf sich nicht
entwickeln kann, ohne die Eingeweide eines andern unter Qualen
aufzuzehren. Weit und mülisam ist der Weg zu der Erkenntniss
eines Leibnitz, dass die sinnlich erfassbare Welt mit ihren Nacht-
seiten nicht sowohl nach menschlichem Ermessen die beste, son-
dern unter den rnfp^lichen Welten nur die beste sein möge'}.
Menschen mit ungeschullcm Denkvermögen gelangen nie zur Ein-
sicht, dass alles Ungemach doch nui eine lieschränkung der Süssig-
keit des Daseins ist und unersättlich im Geniessen, fragen sie,
weshalb die Lebensfreuden überhaupt gestört, beschränkt oder
beendigt werden sollen. Noch weniger erkennen sie, dass selbst
der leibliche ^;chme^! in einer Mehrzahl von Fällen nichts anderes
als ein freilich unerbetener, aber gewissenhafter Warner vor. nahen-
den Gefahren ist, welche unser Leben oder unsre Gesundheit be-
drohen.
Aus der' Verlegenheit, Wohlbehagen und Unbehagen aus einer
Quelle ableiten zu sollen, haben sich alle Völkerstämme auf früheren
Stufen der geisli^'en Enlwickelung damit geholfen, dass sie die
Gegensätze auf unsichtbare Wesen übertrugen und neben freund-
lichen lieschützern sich auch von einer .'^chaar von Schaden Stiftern
umlauert wähnten. Sobald Jiese .'Schöpfung der Einbildungskraft
vollzogen war, konnte nun die Veredelung des Menschen ver-
schiedene Stufen durchlaufen. Auf der ersten und niedrigsten wird
eine Versöhnung der unsichtbaren Bedränger versucht. In einem
Hymnus der Madagassen werden Zamhor und Niang als Welt-
erschaffer angerufen und hinzugefügt, dass an Zamhor keine Gebete
gerichtet würden, da ja der gütige GoU deren nicht bedürfe').
[) Tenum,
heodic
Pjr
II- § 168. § 194- §
J. Roskuf
. licc
ichtc
des Teufels. Bd. I.
Die dualistischen Religionen. 293
Einen Dienst des bösen mit Vernachlässigung des guten Geistes
finden wir bei den Congo-Afrikanern') und bei den Hottentotten*).
Die Neger der Sklavenküste bekennen: Gott sei so erhaben und
gross, dass er sich um die niedrige Menschenwelt nicht kümmere^).
Genau von denselben Vorstellungen lassen sich in Amerika zu-
nächst*'die Patagonier beherrschen, denn auch sie verehren nur
tlen schädlichen Gualitschu'*). Da auch die Abiponen nur den
finsteren Gottheiten dienten, bezeichnet sie Dobrizhoffer als Teufels-
anbeter^). Appun^), der uns die Namen der guten und der bösen
Geister bei den Arovvaken-, Warrau-, Arekuna-, Macuschi-, Cariben-
und Atorai-Stämmen Guayana's mittheilt, fügt ebenfalls hinzu, der
Schöpfer selbst werde als ein so unendlich erhabenes Wesen ge-
dacht, dass es sich um den P-inzelnen nicht kümmere. Sonne
und Mond vertreten bei den Botocuden die beiden Naturen des
Göttlichen 7). Dualistische Rollen vertheilten die alten Aegypter
zwischen Hesiri (Osiris) und Set, die Chaldäer unter die Planeten :
Jupiter und Venus waren die günstigen, Saturn und Mars die
schädlichen Gestirne, der wankelmüthige Merkur aber schloss
sich stets den jeweiligen Beherrschern des astrologischen Himmels
an. Die Verehrung des schrecklichen ^iva in Indien darf eben-
falls als ein Versöhnungsversuch betrachtet werden und ein so-
genannter Teufelsdienst hat sich in Vorderasien bei den Jesidi
noch erhalten können, obgleich rings herum reinere Religionen
zur Herrschaft gelangt sind. Gewiss muss im Menschen eine
grosse sittliche Veredelung vor sich gegangen sein, bevor er sich
entschliesst, der gutgesinnten Gottesmacht seine Verehrung darzu-
bringen; es ist dann nicht mehr Furcht, die ihn bewegt, sondern
ein dankbarer Drang. Auf dieser Stufe finden wir zu unserer
Ueberraschung die Australier in Neu -Süd -Wales, die nicht dem
übelgesinnten Potoyan, sondern einer gütigen Macht unter dem
1) WinwoodReade, Savage Africa. London 1863. p. 250.
2) Kolbe, Cap der guten Hoffnung, S. 414.
3) Bosman, Guinese Goud-Kust. Utrecht 1704. tom. II. p. 154-
4) Musters. Unter den Patagoniem. Deutsch von J. K A. Martin.
Jena 1873. S. 193.
5) Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 87.
6) Ausland 1872. No. 29. S. 683 — 684.
7) V. Martins, Ethnographie. Bd. i. S. 327.
2Q4 Bie dualistischen Religionen.
Namen Koyan ihre Opfer bringen*). Auch von einer Anzahl
Indianerstämme des Orinocogebietes , welche einen bösen Geist
annahmen und ihn verschieden benannten, versichert der P. Gu-
milla*), dass sie ihm keine Verehrung gezollt hätten. ^
Wenn auch geistig unreife Menschenstämme die Gesinnung
der unsichtbaren Mächte als gut oder bÖs bezeichnen, so unter-
scheiden sie damit doch nicht das Sittliche und Unsittliche. Das
Gute und das Böse ist vorläufig nichts weiter, als das Erfreuliche
und das Widerwärtige. Zur Genüge bekannt ist wohl die Antwort
des Buschmann, der dem fragenden christlichen Glaubensboten
als Beispiel einer bösen That bezeichnete, dass ein anderer
ihm sein Weib raube, und als Beispiel einer guten, wenn er selbst
das Weib eines Andern sich gewaltsam aneigne^). Als ein ge-
selliges Geschöpf aber erkennt und begreift der Mensch sehr früh
.» und später immer schärfer, dass das Zusammenleben ihm Pflichten
^egen seinen Nächsten auferlege. Auf der untersten Stufe schon
wird die Verletzung der socialen Gebote als eine Versündigung
angesehen. Die Vorschriften der geselligen Geschöpfe sind aber
enthalten in den Sitten der Horde, des Stammes oder des Volkes.
Die Ausübung der Blutrache ist daher überall dort, wo sie noch
nicht durch bessere Einrichtungen ersetzt worden ist, gewiss eine
sittliche That. Die brasilianischen Tupinamba hoffen, dass die
Tugendhaften zu ihren Vätern in den glücklichen Gärten des Jen-
seits versammelt werden. Unter Tugend aber verstehen sie, tapfer
das Eigenthum der Horde zu vertheidigen, viele Feinde zu er-
legen und die Erschlagenen canibalisch zu verzehren*). Ihre
höchste Vollendung empfangen erst die Sittengebote, wenn sie
sich über die gesammte Menschheit erstrecken und auch an frem-
den Völkern die Menschenrechte geachtet und gegen sie Men-
schenpflichten erfüllt werden. Auf allen nahen oder entfernten
Strecken zu diesem im Christenthum erkannten, aber in der christ-
lichen Welt noch unerreichten Ziele, begegnet dem Menschen die
Versuchung, seinen Genuss und Vortheil höher zu schätzen,
1) Dumont d'UrviUe, Voyage de TAstrolabe. tom. I, p. 464.
2) El Oiinoco ilustrado. Madrid 1741. II, 3. p. 308.
3) Waitz, Anthropologie. Bd. i. S. 376.
4) Lery bei Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 80.
Die dualistischen Religionen. 205
als das auferlegte gesellschaftliche Gebot. So wie aber die sitt-
lichen Begriffe die Vorstellungen von der Gottheit erfüllen,
wirkt die Religion als der stärkste Hebel der Veredelung; der
unsichtbare X7i"heber des Seienden erscheint als der Gesetzgeber
und als der Richter über Recht und Unrecht. Am frühesten nun
haben die Eränier in Persien Göttliches und Sittliches innig zu-
sammengeschmolzen.
Die Erforschung ihrer Alterthümer hat übereinstimmend dazu
geführt, dass die persischen und indischen Arier in einer nach
Jahresmaassen noch nicht befestigten Vorzeit eine gemeinsame
Heimath bewohnten und die nämlichen Religionsvorstellungen
theilten. Sie dachten- sich das Unsichtbare erfüllt mit Wesen,
die auf das Menschenschicksal Einfluss übten und die sie Deva
und Ahura nannten. Mag nun in Folge der Trennung eine
Religionsspaltung oder in Folge der Religionsspaltung eine Tren-
nung eingetreten sein, später fassten die Eränier die Ahura als
gütige, die Deva (neupersisch div, englisch devüj als feindliche
Mächte auf. Umgekehrt werden bei den indischen Ariern die
Deva (lateinisch deusj zu den heilbringenden und die eränischen
Ahura zu den verderbenbringenden Gewalten gerechnet*).
Unter den Eränlern gab es eine geweihte Kaste, in den
ältesten heiligen Schriften Soschianto geheissen, die in Vorzeiten
mit den indischen Atharva genau übereinstimmten: beide nämlich
waren Feuerpriester*). Die Magier, deren Name erst auf den
Inschriften des Darius vorkommt, vertreten im alten Medien die
Verrichtungen der genannten Soschianto und Atharva^). Sie trugen
weisse Gewänder, enthielten sich der Fleischkost und dienten per-
.sönlich gedachten Naturkräften oder den hohen Formen von
Fetischen, der Sonne (Mithra), dem Monde, den Sternen, der
Erde, dem fliessenden Wasser, vor allem dem Feuer. Unter
diesen Priestern erhob sich ein Religionsstifter Namens Zoroaster
i) In den ältesten Stücken des Rigveda Samhitä wird der Ausdruck
Asura noch in einem guten und hohen Sinne gebraucht. Martin Hang,
Religion of the Parsees. Bombay 1862. p. 226.
2) Von den letzteren stammt der Atharva Veda, Hang, 1. c. p. 250.
Atharva bedeutet: mit Feuer versehen;
3) Fr. Spiegel, das Leben Zarathustra*s , in den Sitzungsberichten der
phÜos.- historischen Classe der Münchner Akademie. München 1867. S. 70
—80.
206 Die dualisiischen Religionen.
oder richtiger Zarathustra '). Er wird unter den Griechen etwa
um 470 V. Chr. von Xanthus dem Lydier zuerst erwähnt und
sein Auftreten Jahrhunderte oder Jahrtausende vor Xerxes gesetzt.
Sicherlich gehört er einem sehr hohen' Alterthume* an '). Auch
die Ermittelung seines Geburtsortes ist auf Schwierigkeiten ge-
atossen, und wenn er gewöhnlich nach Ragha oder dem heutigen
Rai bei Teheran verlegt wird, so muss sogleich hinzugefügt werden»
dass er später in Bactrien weilte und dort wahrscheinlich seine
Lehre die ersten Wurzeln schlugt).
Zarathustra verkündete nun, dass es unter den vielen gütigen
Ahura einen Mazdäo oder WeJtensch Opfer *) gebe, einen Vergelter
des Guten und Bösen. Dieses höchste Wesen vereinigte doppel-
seitig in sich einen weissen oder heiligen ffpen/o mamyu.tj und einen
dunklen oder finsteren Geist fangro marnfusj, sodass also die Zwei-
theilung in Ormazd und Ariman der reinen Lehre Zoroaster's
nicht angehörte'), sondern nach ihr aus derselben Schöpferkraft Böses
wie Gutes hervorgegangen war. In einem alten Liede der par-
sischen Liturgie tritt die Seele der Natur vor Gott und klagt,
dass die Erde verwüstet werde durch das Drängen des Bösen,
Zugleich verlangt sie die Schöpfung eines Wesens, stark genug,
um sie für immer von ihrem Schmerze zu erlösen. Gottes Rath-
sdiluss war es aber nicht, die Sterblichen von dem Kampfe mit
dem Bösen zu entheben, damit sie die ihnen verliehene Kraft
des Guten stählen sollten. Auf die Bitte der Naturseele zeigt er
dieser aber das Urbild Zarathustra's , durch dessen Erscheinen
II Der Name wird verschieden übetsetit von Windischmann (Zo-
roastrische Studien. Berlin 1863. S. 46), von Fr. Spiegel (Leben Zara-
thustra's. S. 10) und von Martin Haag (Religion o( the Parsees. p. 252),
welcher letztere ihn als den Titel eines Hohenpriesters erklärt und dem
Religionsstifter den Familiennamen Spitama pl"''
2) MartinHaug (Leclure on an original Speech of Zoroasler. Bombay
1865. p. 27) glaubt ihn nicht jünger aoselien in dürfen, als 1300 Jahre v. Chr.;
Rapp (Religion und Sitte der Perser, in der Zeitschrift der D. moicenl.
Gesellschari, Leipzig 1S65. Bd. 19. S. 27) dagegen hat viele Gründe herbei-
gebracht für die Zeil vom II. bis rj. Jahrhundert v. Chr.
3) Was für Baclra als Geburtsort sptieht, hat wiederum Rapp (1. c. S. ji)
mit grossem Geschick auseinandergesetzt.
4) Haag, Religion of the Parsees, p. 100.
5) Hang, Religion of Ihe Parsees, p. ijS.
Die dualistischen Religionen. 207
den Streitern für das Gute ein solcher Beistand geleistet werden
solle, dass der Sieg des Lichtes für immer gesichert sei').
Diese tiefere Lehre aber verdunkelte sich im Verlaufe der
Zeiten. Die Lichtseite und die Nachtseite des göttlichen Willens
trennten sich ab als doppelte Wesen. Die Herren des Lichtes und
der Finsterniss streiten sich seitdem um den Sieg, der übrigens von
Anbeginn entschieden ist. Ormazd allein weiss um das Dasein
Arimans, und ehe dieser sich regt, hat er 3000 Jahre Zeit sich eine
Schaar unsterblicher Helfer auszubilden. Als Ariman endlich zum
Kampfe sich erhebt, stösst er auf einen wohlgerüsteten Gegner.
Dreitausend Jahre währt das Ringen ohne Entscheidung. Erst in
dem nächsten und letzten dreitausendjährigen Abschnitt sinkt
Ariman zur Machtlosigkeit herab'). An diesem Streite soll nun
der sterbliche Mensch theilnehmen, zwischen Licht und Finsterniss
wählen, den Sieg des Guten durch das Gewicht seiner Werke
herbeiführen und nicht durch böse Thaten die Siegesaussicht Ari-
mans vergrössern. Gewiss konnte nicht leicht etwas heilsameres
ersonnen werden,' die besseren Regungen im Menschen wach zu
erhalten, als die Verheisbung von Gott selbst als Helfer zum Siege
angesehen zu werden.
Daran schloss sich die Lehre von der Auferweckung der
Todten, ein echt zoroastrischer Glaubenssatz, von dem die älteste
Kunde am Schluss des 4. Jahrhunderts durch Theopompus in das
Abendland gelangte^). Die Abgeschiedenen dachte man sich er-
standen zu einem unvergänglichen, dem Stoffwechsel entzogenen,
reinen Leben in Leibern, die keinen Schatten warlen und der
Sättigung nicht bedurften. Drei Tage nach dem letzten Hauche
des Sterbenden schwebt die Seele noch in der Nähe ihrer körper-
lichen Hülle. Um die vierte jMorgcnröthe aber schleppt sie ein
Todesgenius zu der Brücke des Seelenhäschers (Tschinwat Peretu)^
und vor den Richter Sraoscha, der die guten und bösen Werke
auf der Wage prüft. Dem Frommen tritt mit himmlischem Grusse
die Verkörperung seines guten Wandels entgegen in Gestalt eines
Mädchens von strahlender Jugend, (schlank und hochbusig mit
weissen Armen und edelem Antlitz. Dem Gottlosen erscheint die
1) Ferdinand Jnsti im Ausland 1871. No. 10. S. 221.
2) Windischmann, Zoroastr. Studien. S. 58.
3) Windischmann, 1. c. S. 235—239.
2q8 ^i' dualistischen Religionen-
Verkörperung seines Wandels in Gestalt einer hässlichen Dirne und
bei ihrem Anblick erwacht ihm die Erinnerung an alle seine Lügen
und Ungerechtigkeiten. Je nach dem Richtspruch wandelt die
Seele über die Brücke in die Behausung der Lobgesänge fgarS
demänaj oder sie wird hinafagestossen von bösen Geistern in den
Schlund der Vernichtung (drudichö demänaj.
Es sei uns verziehen, wenn wir hier auf-kurze Zeit die Erä-
nier verlassen, um einzuflechten, dass über die ganze Erde ähn-
liche Vorstellungen von den Prüfungen der Seele nach dem Tode
verbreitet sind. Bei dem Todtengericht der Aegypter, als etwas
hinreichend Bekanntem, brauchen wir nicht zu verweilen. Nach
dem Glauben der Badagas im tamulischen Indien aber müssen die
Seelen an einer Feuersäule vorüber, welche die Sündhaften ver-
zehrt, und gelangen erst nach bestandener Gefahr auf einer Faden-
brücke in das Land der Seligen"), Ganz ähnlich berichten Jesuiten-
predij^er, dass nach dem Glauben der Huronen die Seelen der
Verstorbenen auf einem Baumstamm über den Todesfluss gehen
mussten, wobei manche von dem Wächter der Brücke oder einem
Hunde angegriffen und herabgestürzt werden*), Tylor, der eifiig
noch andere Beispiele des Mythus von der Seelenbrücke gesam-
melt hat, fand ihn auch in einem altenglischen Leichengesang,
wo es heisst: The brig of dread no bradtr Ihan a threadi).
Die ergreifende Vorstellung der Eränier von einer sittlichen
Weltordnung hinderte nicht das Fortbeslehen eines alten Fetisch-
wahns, der übrigens geschickt mit dem Grundgedanken des Mazda-
yasna oder der Lehre Zoroasters versöhnt wurde. So verehrte
man Mithra, die Sonne, als Auge Ormaid's, aber von ihm ge-
schaffen. Der seh a man istische Haomatrank behielt gleichfalls seine
ungeschwächte Zauberkraft, wie in der Vorzeit. Vor allem aber
wurde und wird bis auf den heutigen Tag das Feuer als Ormazd-
sohn angebetet, keine Feuersbrunst darf daher anders als mit Erde
erstickt, kein Licht ausgeblasen werden, weil jeder Hauch verun-
reinigt, weshalb auch die Priester bei heiligen Handlungen, und
die anderen Tarsen beim Gebet den Mund verhüllen. Das Feuer
wird durch das Kochen und durch das Schmiedehand werk be-
ll Baierlein, Nach und ans Indien, 5. 153.
j) Tylor, Anfinge der Cultur. Bd. 2. S. 92.
J) Urgescbichle der MenEcbheit. S. 451.'
Der israelitische Monotheismus.
299
Schmutzt, und auf Reinheit dringt überall das Sittengebot der
Parsen. Gleichen Schutz vor Befleckung genoss das fliessende
Wasser. Deshalb war es verdienstlich Brücken zu erbauen, um
das Durchwaten der Ströme abzuwenden. Da die Todten weder
verbrannt noch ins Wasser geworfen,' noch die ebenfalls heilige
Erde durch sie besudelt werden durfte, gab man die Leichen in
ummauerten ringförmigen Plätzen, den Thürmen des Schweigens,
den Vögeln preis*). ^
Der Begriff" der Sünde war bei den Anhängern Zarathustra's
ein sehr gemischter, denn sie konnte in einem Verstoss gegen die
schamanistischen Vorschriften, also einer Verunreinigung oder in
■einer sittlich verwerflichen Handlung bestehen. Unter letzteren
galt ihnen das Lügen als eine schwere Schande*), der Betrug noch
schlimmer als der Raub, der Diebstahl schon deswegen als Ver-
brechen, weil er im Geheimen betrieben wird, selbst Geld zu leihen,
schien sträflich, weil es mit einem Betrüge des Gläubigers zu enden
drohte^). Auf Redlichkeit und Reinheit drang und dringt das par-
sische Sittengesetz, und keine Religionsstiftung hat wie das Maz-
4ayasna bis auf den heutigen Tag die Achtung der Andersgläubigen
in so hohem Masse genossen. Freundlich gedenkt auch das erste
Evangelium der Magier, die aus dem Morgenlande kamen.
13. Der israelitische Monotheismus.
Für die Sittengeschichte des menschlichen Geschlechtes ist
liichts bedeutungsvoller als die Entwicklung des Gottesgedankens in
monotheistischer Richtung. Das alte Testament in seinen arglos
und treuherzig gegebnen Sagen und Erzählungen lässt uns als
treuer Spiegel das langsame Reifen dieser oft aufs höchste be-
i) Auch "in Medien wurden nicht eher die Leichen mit Wachs Übergossen
in die Erde gelegt oder wie in den Königsgrüften bei Persepolis bestattet,
als bis die Knochen vom Fleisch entblösst waren. Dass Cyrus, als Feuer-
anbeter, den Crösus zum Holzstoss verurtheilt haben sollte, ist wenig glaub-
haft, viel eher ist zu vermuthen, dass der lydische König sich seinem Gotte
Sandon verbrennen wollte. F. Justi a. a. O. S. 223. Rapp dagegen
nimmt an, dass im westlichen Erän die oben angeführten Bestattungs-
gebräuche nicht üblich waren, sondern nur dem Osten angehörten.
2) Herodot I, 138.
3j Dune leer, Gesch. des Alterthums. i. Aufl. Bd. 2. S. 350 — 359.
300 ^^' israelilircho Monolheisinas.
drohten Frucht beobachten. Weil wir alle schon in der Jugend
die Wahrheit eingesogen haben, dass das Heilige und Ewige nur
ein untheilbares sein könne, übersehen wir die SchwierigkeiteD,
welchen die Ausbreitung dieses Gedankens begegnen musste, als
er neu, schwankend und unklar von Wenigen getheilt, von der
Mehrzahl anderen und älteren Vorstellungen zu lieb zurückgewiesen
wurde. Ein Volk, welches zum Glauben an die gottliche Einheit
gelangen soll, muss überhaupt vorher lange Zeiträume geistiger und
sittlicher Entwickelung zurückgelegt haben, denn wie Tylor richtig
bemerkt'}, ist nie bei einem Stamm sogenannter Wilder der Mono-
theismus angetroffen worden. Kritisches Vertrauen kann jedoch
die biblische Geschichte er!>t von dem Zeitpunkt an geniessen, wo
das Volk Israel die Kunst der Schrift sich angeeignet hatte, also
seit der Zeit des Auszuges aus Aegypten, aber auch nicht viel
früher').
In ihrem höheren Alterthume gebrauchten die Hebräer andere
Namen als Jahve für das höchste Wesen, und einer darunter
(Elohim), trägt bedenklich erweise die Pluralform, auch werden bei
einer feierlichen Eidesleistung sogar drei Götter nach einander an-
gerufen^). Es wurde auch trüber schon erwähnt, dass Hausgötzen
(Seraphim) noch unter David'} Verehrung genossen. Erst kurz
vor der babylonischen Gefangenschaft liess Josia zwei Altäre mit
heiligen Steinen vor den Thoren Jerusalems vernichten 5). Dass
überhaupt in den ältesten Zeiten die Juden nicht der reinen Gottes-
religion anhingen, bezeugt ausdrücklich die heilige Schrift. Wenn
daher die Aegypter ein höchstes Wesen unter dem Namen ich bin,
der ich bin, verehrten*), so ist die Vermuthung zwar nicht ganz
verwerflich, dass erst Mose, eingeweiht in die Geheimnisse des
ägyptischen Gottesdienstes, zur monotheistischen Auffassung sich
aufgeschwungen habe; bei dem Dunkel jedoch, weiches über der
Vorgeschichte des Volkes Israel schwebt, lasst sich gegenwärtig
1) Anfänge der Cullut, Bd. 2. S. 333.
2) Die Erwähnung von Siegelringen zu Josephs Zeit (Gen. 38. t. 18. v. 25)
würde noch elw»s höher hinauf fuhren. _
3) Vergl. zu Genesis XXXI, 53. Ewald, Israelilisehe Gesthichte.
I. Aufl. Bd. I. S. 371.
4) Siehe oben S, 358,
51 Ewald, Israelitische Geschichte. 3. Auti. Bd. 3. S. 757,
6) G. Ebers, Durch Gosen lum Sinai. S. 97, S. jiS,
Der israelitische Monotheismus.
301
•eine solche Behauptung weder streng begründen, noch streng wider-
legen. Wenig glaubwürdig aber erscheint es, dass ein einzelner,
wenn auch noch so feuriger und hochbegabter Geist die Gemüther
eines Volksstammes zu einer völlig neuen Welterklärung bekehrt
haben sollte, wenn sie nicht schon für diese Wendung vorbereitet
gewesen > wären. Der Gedanke an den untheilbaren Gott erforderte
aber, wie alle irdischen Vorgänge, eine lange Entwickelung. Das
aite Testament zeigt uns diesen Gedanken oft dem Erlöschen nahe,
verdimkelt wie die Sonne durch vorüberziehendes Gewölk an einem
trüben Tage. Selbst Mose ist nicht unerschütterlich gewesen, sonst
hätte er nimmer die eherne Schlange in der Wüste zur Abwehr
gegen den Guineawurm auf der sinaitischen Halbinsel errichten
lassen. Erst unter dem frommen König Hizqia, als eine viel reinere
und schärfere Auffassung des Gottesgedankens zur Geltung gelangt
war, wurde dieser Fetisch vernichtet. Spuren von Schamanismus
wiederum enthält das gottesgerichtliche Verfahren bei Anschuldigung
des Ehebruches. Das verdächtigte Weib soll Wasser trinken, in
welchem ein Papier mit schriftlichen Verfluchungen abgespült
worden war ^) , genau wie mohammedanische Priester heutigen
Tages Kranke durch Wasser heilen wollen, mit welchem auf-
geschriebene Qoränsprüche abgewaschen wurden*). Dass auch
Frauen sich mit Todtenbeschwörungen abgaben, bezeugt uns der
heimliche Besuch Sauls bei der Zauberpriesterin von Aendör, und
noch zu Josia*s Zeiten bestand ein geehrtes Orakel in Jerusalem.
Gleich nach Joshua*s Tode hatte sich eine traurige Verwilderung
der Gemüther bemächtigt, und der Jahvedienst besudelte sich mit
Menschenopfern, die noch bis in die Königszeit fortdauerten"^).
Auch galt in den älteren Zeiten Jahve nur als der ausschliessliche
Hort des Hebräerstammes, als ein Schutzpatron von grösserer Macht
wie die Gottheiten der feindlichen Stämme*). So lässt Jiftah dem
Amonäerkönig durch seine Botschafter sagen: „Gehört nicht Dir
1) Nume;-. V, 19 ff.
2) Wie die schamanistischen Wahngcbilde zur Zeit des Exils um sich
griffen, ist aus Tob. VI, 6—10 ersichtlich.
3) Keine Sophistik vermag das menschliche Grauen zu mildern, welches
uns bei der Erzählung von Jiftah's Töchterlein (Jud. XI, 34 ff.) ergreift. Uebcr
die Menschenopfer unter Saul und David vgl. i. Regum XIV, 23 — 45. und
2. Regum XXI, 6.
4) Exod. XV, II u. KVrri, II.
302 ^c isiaelitische MoDotheiBmus.
von Rechtswegen Alles, was Dein Gott Chamos besitzt? Sollte
nicht auch alles, was unser Golt als Sieger erwarb, zu unsrer
Herrscliafl gehören?"') Auch wird der Machtbereich Jahve's noch
Örtlich beschränkt gedacht, denn Gott willigt ein mit Jacob „hinab-
zuziehen nach Aegypten"'). Oft geht die sinnliche Auffassung so
weit, dass die Naturkräfle als Lebensäusserungen Gottes aufgefassl
werden und der Gottesfje danke fast herabsinkt zu einem mono»
theistischen Naturdienst. Wir dürfen uns nicht durch die Erhaben-
heit der Sprache berauschen lassen, wenn im Donner eine hörbare
Stimme, im Frost und Thauwetter der kühle oder warme Hauch
Jahve's wahrgenommen werden^). Allerdings nöthigen uns die
Fesseln unsres Denkvermögens, das unerfassliche Wesen Gottes
immer wieder in Menschennatur zu kleiden, selbst die Evangelien
sprechen von väterlichen Erregungen, nur ist es etwas andres
wenn wir uns immer bewusst bleiben, dass wir nur aus Nothbehelf
anthropomorphosiren, ähnlich wie auch die strengen Wissenschaften
nicht immer bildliche Ausdrücke vermeiden können. Wenn aber
die Bibel jahve durch den Opfergeruch erquickt werden lässt*), so
redet sie die Sprache Homers. Kindlich, aber darum auch ohne
Erhabenheit ist die Vorstellung von Jahve, den Mose auf dem
Sinai an gegebene Versprechen erinnern muss und der wankel-
müthig zurücknimmt, was er gedroht hat'). Auch hier fühlen wir
uns gemahnt an Auftritte, wie sie in der epischen Zeit der Hel-
lenen im Olymp spielten. Selbst die Trachten der Priester mit
Putz und Stickereien werden noch auf göttliche Anordnungen zu-
rückgeführt^), und mit Bedauern müssen wir sogar lesen, dass Jahve
zur Veruntreuung geliehener silberner und goldener Gefässe die
Israeliten angeleitet haben solle'). So dürftig, so unrein, so mensch-
lich schwach waren und blieben lange die Vorstellungen des höch-
sten Wesens.
Darin liegt aber auch die hohe Bedeutung der Geschichte
Israels, dass dieses Volk nim durch das, was es erleben und
1) Jud. XI, 24.
2) Gen. XLVI, 4.
3) Job, cap. 37 u. 38.
4) Levil. I, 9.
5) Eiod. XXXII, 9—14.
6) Eiod. XXVIII, 33—34.
7) Eiod. XI, 1.
Der israelitische Monotheismus. ^03
dulden sollte, zu einer immer tieferen und immer reineren Er-
fassung des Gottesgedankens genöthigt wurde. Allein von allen
Völkern des Alterthums besitzen die Juden eine Geschichte, die
in den irdischen Begebenheiten das Walten einer sittlichen Welt-
ordnung zu erkennen sich bestrebt. Sie wurde im Exil verfasst,')
in der Stimmung des Elendes, als es keinen Priesterstand mehr
gab, so dass nicht etwa, wie man die Thatsache hat verdrehen
wollen, hierarchische List im Spiele war. Die vorausgehende
Königszeit hatte die Erfahrung eingeprägt, dass die religiöse Ver-
wilderung fast immer den weltlichen Verfall nach sich zog, aber
die heilige Schrift ist auch in solchen Fällen der Wahrheit treu
geblieben, wo iromme Herrscher ins Unglück geriethen oder ab-
trünnigen das Glück bis zu ihrem Ende hold blieb. Aus ihren
Schicksalen in der Königszeit erwarben sich die Juden ihr uner-
schütterliches Gottvertrauen. Mit den Assyriern, lässt die heilige
Schrift den frommen Hizqia ausrufen, sind nur die Sehnen des
Menschenarmes, mit uns aber ist der Herr unser Gott, der für
uns streitet*). So mahnt auch den verzweifelnden Jjob Elisba da-
ran, wie viele Unheilstifter und Trübsalsäer vor Gottes Hauche
zu Grunde gegangen seien •^). Mit voller Klarheit hatten die Juden
erkannt, dass die Stärke eines Volkes sich nur begründen lasse
auf ein festes Vertrauen zu einer sittlichen Weltordnung. Sie hatten
aus ihrer Geschichte die Lehre gezogen, dass sie stets siegreich
gewesen waren so lange Sittenstrenge unter ihnen herrschte
und dass sie weggeführt wurden als sie vom Gesetze abfielen^).
Welcher Trost und welches Licht ihnen aus dieser Erkenntniss
in den dunkeln Stunden des Lebens sich ergoss, erklingt in den
Versen des Psalters: Ob ich schon wandere im Unstern Thal,
fürchte ich doch kein Unheil, denn Du bist bei mir.
Wie vor, während und nach der Verbannung die religiösen
Anschauungen die frühere kindliche Rohheit abstreiften, merken
wir an einzelnen Zügen. Den Gott des alten Testamentes, der
nie vergab, der die Verschuldung der Voreltern an den Enkeln
1) Nach Ewald Israelit. Gesch. Göttingen 1864. Bd. 4. S. 26 entstand
das Buch der Könige um die Mitte der babylonischen Verbannung.
2) 2. Paralipom. XXXII, 7—8.
3) Job. IV, 7—9.
4) Judith, V, 15.
ß04 ^cr israelitische Monotheismus.
und Urenkeln rächte, j kennt Hezeqiel nicht mehr. Weder soll
der Vater unter den Verirrungen des Sohnes, noch der Sohn
unter denen des Vaters leiden. Ja der Schuldbelastete selbst,
wenn er in echter Reue sich bessert, soll Vergebung hoffen, denn,
lässt der Prophet den Herrn sagen, nicht an der Vernichtung
des Frevlers ist mir gelegen, sondern an seiner Umkehr^). Väter-
liches Erbarmen verheisst auch allen Gottesfürchtigen ein Lied*),
welches David zugeschrieben wird, und zu den vorauseilenden
Schatten des Christenthums gehört der Spruch des Sirach 3), dass
man dem Nächsten zuvor vergeben müsse, ehe man selbst Ver-
zeihung erbitte. Den Propheten dankten die Israeliten unter
andren auch die Beseitigung von schamanistischen Verirrungen.
War es uns zuvor*) klar geworden, mit welchen Gefahren jedes
Opferwesen die sittliche Wendung der religiösen Regungen be-
droht, so sei es uns verziehen, wenn wir die oft bewunderten
Mahnworte aus Jesaia ^) noch einmal wiederholen : „Eure Fluren,
ruft der Prophet, werden veröden, eure Städte eingeäschert liegen,
eure Saaten vor euren Augen von Fremdlingen aufgezehrt werden,
nichts wird mehr übrig bleiben von der Tochter Sion als gleich-
sam ein Sonnendach in Weinbergen oder eine Nachthütte im
Gurkenfelde, oder der Schutt der Verheerung. Wenn uns der
Herr nicht einige Nachkommenschaft aufgespart hätte, so würden
wir Sodom gleichen und Gomorrha. Höret nun das Wort des
Herrn ihr Häupter der Sodomiter, vernimm den Befehl unsres
Gottes Du Volk von Gomorrha^). Was bedarf ich eurer zahllosen
Opferthiere? Mir ekelt's! Die Schlächtereien von Widdern, das
Fett der Mastthiere, das Blut von Kälbern, Lämmern und Böcken,
eure Neumondtage, Sabbathe und andre Feste sind mir uner-
1) Ezech. XVIII, 20 sq.
2) Ps. 102. V. 13.
3) c. XXVIII, V. 2.
4) S. oben S. 281—283.
5) cap. 1. V. 7. ff.
6) Zu dieser Stelle bemerkt Steinthal: Der Uebergang von der Ver-
gleichung des Unglücks zur Gleichstellung der Sündhaftigkeit Judäas und
Sodoms ist mir immer von einer so erschütternden Kraft erschienen, dass ich
zweifle, ob in der sämmtlichen rhetorischen Literatur sich eine gleich ergrei-
fende Stelle findet. Zeitschr. für Völkerpsychol. und Sprachwissenschaft.
BerHn, 1866. Bd. IV. S. 228.
Der israelitische Monotheismus. ^05
träglich und eure Jubelfeiern und schändlichen Gelage bis in die
Seele verhasst. Wenn ihr eure Hände aufhebt kehre ich meine
Blicke ab; mögt ihr eure Gebete noch so oft wiederholen, ich er-
höre sie nicht, denn eure Hände sind mit Blut befleckt. Reiniget,
säubert euch, beseitigt eure schuldvollen Gedanken vor meinem
Antlitz, verabschiedet eure Verkehrtheiten, übt euch im Wohlthuri,
trachtet nach Gerechtigkeit, helft den Gedrückten, setzt die Waisen
in das Ihrige und schützt die Wittwen. Dann kommt mich anzu-
rufen, spricht der Herr. Und wenn eure Versündigungen dem
Scharlach glichen, sollten sie wie der Schnee leuchten, und wenn
sie wie Purpur glühten, sollten sie wie Vliesse erbleichen."
Uebrigens werden schon Samuel die Worte in den Mund ge-
legt, dass Jahve am Gehorsam mehr Wohlgefallen habe als am
Opfer*). Dass letzteres nicht etwa als eine Art zweiseitigen Ver-
trages die Gottheit binde, wurde ausdrücklich von den Propheten
verneint und dem Wahne gesteuert, als konnte durch irgend welchen
Ritus auch der leiseste Zwang auf den göttlichen Willen ausge-
übt werden. Sobald die innere sittliche Läuterung und die Abstellung
gesellschaftlicher Gebrechen als ein göttliches Gebot gefordert
werden, fallt das ethische Gebiet mit dem religiösen zusammen. Soll
die Verehrung dem höchsten Wesen durch strengen und gerechten
Wandel bezeugt werden, dann strebt durch Verklärung des Gottes-
willens der Mensch, bewusst oder unbewusst, mit der Erfüllung
höherer Pflichten nach einem höheren Werthe seines eignen Daseins.
Auch die Vorstellungen von Gott selbst werden mehr und
mehr der rohen Sinnlichkeit entrückt. Wenn Jahve noch wie ein
Nomad abwärts zieht mit Jacob in ägyptisches Gebiet, so kann
dagegen niemand mehr dem allgegenwärtigen Gott des Psalmen-
dichters entrinnen, selbst nicht mit den Fitigeln der Morgenröthe*).
Der räumlich unbeschränkte Gott wird auch als ewig anerkannt.
Vor der sichtbaren Körperwelt wird er als vorhanden gedacht
und menschlichen Zeitvorstellungen wird der entrückt, dem ein
Jahrtausend wie der gestrige Tag oder eine Nachtwache sind.
So offenbart sich nicht plötzlich wohl aber unvermerkt und
1) I. Reg. XV, 22. und Ewald israelit. Geschichte 3. Aufl. Bd. 3.
S, 55. ebenso Ps. 51. v. 18 — 19.
2) Ps. 138, V. 7. ffe.
Pesckel, Völkerkunde.
20
3o6 I*" israelitische Monotheismus.
in leisen Uebergängen ein immer neuer und neuerer Gott rdner
und ethischer, entsprechend den reineren und ethischeren Auf-
lassungen, £u welchen das jüdische Volk heranreifte, gross gezogen
und geläutert durch harte Prüfungen.
Die heilige Schrift liegt für jedermann geöffnet, um noch ein-
mal selbst historisch zu durchleben, was die Hebräer an sich er-
fahren mussten. Wenn ihr Monotheismus, wie ihn die Propheten
lehrten, ein echter Gewinn gewesen wäre, so musste er sich be-
währen in der Stunde des namenlosen Elends, als auch die Be-
wohner Judäas, wie von den Assyriern früher die Zehnstämme,
hinweggeführt wurden in die Gefangenschaft nach Babylonien.
Von Sion und dem l'empel stand nur noch kahles Gemäuer,
eine Besatzunj; lag an dem verödeten Platze um jeden zu ver-
scheuchen, der es wagen sollte vielleicht verstohlen auf den ge-
weihten Stätten seine Andacht zu verrichten. Die Zukunft war
eine völlig lichtlose, nicht der fernste Schimmer einer Hoffnung
glimmte noch, dass das einst starke und beneidete V^olk, nunmehr
versprengt und ausgetheilt in dem weiten babylonischen Reiche
sieh jemals sammeln werde. Als sie, mit den Worten ihres Sängers")
zu reden, hinabweinten in die Wasser von Babylon, ihre Harfen an
die Weiden hingen, weil der Lobgesang in fremdem Lande er-
sticken musste, da gaben sich die geängstigten Gemüther auf alle
Fragen an die Zukunft, immer nur die rauhe Antwort: es ist
Alles vorbei 1 £3 ist vorbei mit Judäa und Sion, wie das Zehn-
stämmereich schon zerflossen war bis auf die Schatten, welche
etwa noch die Chroniken heraufbeschworen mochten.
Als die Zeit ihrer Könige, wo sie vom Meere bis zur Wüste
die Gebieter waren mit ihrem schrecklichen Ende wie ein ver-
wehter Traum ihnen entfloh, sahen sie sich beim hellen Er-
wachen versetzt unter die asiatischen Wunder Babylons vor eine
Tafel voller sinnlichen Genüsse und wer herzhaft Zugriff, konnte
damals mit der geniessbaren Wirklichkeit, mit dem bunten Luxus
und in der Vergnügungssucht der schwelgerischen Grossstadt unter
den Dattelhainen am Euphrat und in der Ueppigkeit kunstvoll be-
wässerter Gärten jedes Heimweh nach dem steinigen Palästina er-
) Psalm 1)6, V. 1.
li Hepworlh Dixon, Das heilige Land. Jena, 1S70. 5. 48— 50.
Der itraelitische Monotheismus,
307
sticken. So thaten auch die Meisten, sie nützten das Exil zum
gesteigerten Lebensgewinn aus und priesen es wohl als gün-
stige Fügung, dass sie ihrem ärmlichen Einerlei entrissen worden
waren. Hätten alle in ihre neue Lage so nüchtern und welter-
fahren sich geschickt, so wäre vom Judenthum jetzt nichts mehr
übrig, als ein 'Völkername in den Keilschriften, den die heutige
Wissbegier hebr oder ähnlich lautend entziffern würde. Ein Name
mehr zu andern kalten Namen.
Der unverdorbene Kern des jüdischen Volkes vergass aber
nicht und vererbte auf das nächste und zweite Geschlecht
die Sehnsucht nach den Orten, wo er von besseren Regungen
durchschauert worden war. Wenn die Verbannten ihre neuen Ge-
bieter in der Nähe besahen, wenn das stärkere, klüger beherrschte,
von der Natur begünstigte, durch Geschick und technische Fertig-
keit bereicherte Volk dennoch durch die Albernheiten eines Bilder-
dienstes täglich sich erniedrigte, durften sie sich im Stillen gestehen,
dass sie noch immer das auserwählte Volk geblieben waren. Uns
aber, die wir den weiteren Gang der Geschichte überschauen, gleicht
das Exil nur der Krümmung einer Parabel um ihren Brennpunkt.
Nicht vorbei war es mit dem Judenthum sondern gerade das, was
ihm den höchsten Werth verliehen hatte, der Gedanke an die
Gotteseinheit, sollte nur die Richtung seiner Bahn zu höherer Ver-
klärung ändern. Das Unglück verhärtete die Juden nicht, sondern
stimmte sie, die selber ihr Brod mit Thränen assen, nur milder
gegen alles Leiden was sie um sich erblickten. Jeder Einzelne
unter uns der nach Klarheit gerungen hat, gelangt zu irgend einer
Welterklärung, die nicht bloss die Summe dessen ist was er durch
eigene Einsicht oder durch die Erfahrungen anderer sich ange-
eignet hat, sondern auch alles dessen, was an ihm vorüber und
über ihn hinweggegangen ist. Die historischen Schicksale eines
Volkes fallen mächtig ins Gewicht, wenn es eine eigene Religion
erschaffen, eine fremde annehmen, eine angenommene festhalten
soll. Ein leider allzufrüh uns entrissener Orientalist konnte daher
zeigen'), dass bereits in den älteren Schriften des Talmud die
Neigung zur Milde und Menschlichkeit durchbreche, die das Christen-
thum vorzugsweise zu einer idealen Trostlehre der Gedrückten
I) Emanuel Deutsch imQuarterly Review, tom. CXXIII. Octbr. 1867.
P- 417
20*
-,}■
308 ^ic christlichen Lehren.
erhob und aus der es seit mehr als i8 Jahrhunderten seine besten
Kräfte geschöpft hat. Jene talmudischen Stellen aber stammen
aus der Zeit der babylonischen Gefangenschaft, der Mühseligkeit
und Beladenheit, und es war die läuternde Schule des eigenen Un-
glücks, die gerecht und weich, die zart und liebevoll gegen andere
stimmte.
14. Die christlichen Lehren.
Als die Hebräer vor den Gefangenschaften mehr oder weniger
genau, in der Gefangenschaft selbst aber aufs genaueste mit den
Weltanschauungen und den Gottesbegriffen der Eränier vertraut
geworden waren, konnte diese geistige Berührung und Befruchtung
nicht gänzlich ohne Folgen bleiben. Ihr müssen wir zunächst zu-
schreiben, dass in vereinzelten Stücken des alten Testamentes
plötzlich ein verkörperter Unheilstifter auftritt, wenn auch der
bereits erstarkte Begriff von der Einheit Gottes den Teufel nicht
als ebenbürtigen Ariman, sondern nur als einen Diener des Herrn
und als ein Werkzeug seiner Absichten duldet'). Aber weit be-
deutungsvoller als der nur spärlich ausgenützte Erwerb des Satans
wirkte die Bekanntschaft mit den eränischen Ansichten von der
Unsterblichkeit der Seele, sowie mit den Lehren von der Auf-
erstehung der Todten und eines Gerichtes über ihren Lebens-
wandel. Diese Vorstellungen waren ursprünglich den Israeliten so
fremd, dass noch zu Christus* Zeiten die Sadducäer") eine Fort-
dauer nach dem Tode als schriftwidrig verwarfen. Den Jüngern
aber war die Lehre so neu, dass sie bei ihrer ersten Erwähnung
betroffen fragten: was soll das Auferstehen von den Todten
i) Ewald, israelit. Geschichte. 3. Aufl. Bd. 3. S. 704. setzt die Ent-
stehung des Buches Ijob in die Zeit der letzten Könige in Juda, allein Bd. 4.
S. 237 zeigt er, dass die Bekanntschaft mit zarathustrischen Lehrsätzen schon
seit dem 10. und noch merklicher seit dem 8. Jahrhundert auf die religiösen
Vorstellungen der Hebräer namentlich in einer freieren Auffassung des Gegen-
satzes von Gutem und Bösem zur Geltung gelangte. Ueber die wenigen Stellen
des Alten Testamentes ausser Ijob, wo der Satan auftritt, vgl. Roskoff,
Geschichte des Teufels. Leipzig 1869. Bd. i. S. 186.
2) Matth. XXII, 23.
Die christlichen Lehren.
309
heissen ? ^) Eine Mehrzahl von Stellen des alten Testamen f es
vernichtet sogar jede Hoffnung auf ein Jenseits. Mit Verheissung
eines langen Lebens und reichen Kindersegens wird der Fromme
belohnt oder wohl gar irdischer Ueberfluss in Scheune und Keller
für religiöse Ehrfurcht und strengen Gottesdienst ihm in Aussicht
gestellt*). Was nützt Dir, ruft der Psalmist ^) dem Herrn zu,
mein Leib, wenn er zur Verwesung hinabsteigt? Wird etwa Staub
und Asche Dich anrufen oder Deine Wahrheiten verkündigen?
Bei Ijob finden wir die geradezu hoffnungsleere Stelle, dass wohl
der abgehauene Baum noch einiital grünen könne, dass aber den
Erdensohn, wenn er sich niedergestreckt hat, nichts mehr aus
seinem Schlummer wecken werde*). So kann auch der Schluss
dieses dramatischen Gedichtes uns nicht befriedigen. Auf die
Prüfungen des Dulders öffnet sich nicht, wie wir erwarten, der
Blick auf eine Welt der Verklärung, sondern Ijob wird mit Ge-
sundheit erfrischt, mit Heerden und Nachkommenschaft neu aus-
gestattet und stirbt dann lebenssatt (plenus dierum), Wohl spricht
das alte Testament wiederholt von einer Behausung der Todten,
die in der lutherischen Uebersetzung zwar eine Holle genannt
wird, aber nicht als ein Ort der sittlichen Verbüssung gedacht
werden darf, sondern wie Ijob es ausmalt, als lichtloser Raum,
erfüllt mit ewigem Grausen. Ja dieses Sh6ol, welches überein-
stimmt mit dem Hades der Griechen, wird nirgends in gesetzlichen
Aussprüchen des Alten Testamentes erwähnt 5). Erst in späteren
Stücken keimt eine andere erhabene Ansicht. Es wird nämlich
der Trost ausgesprochen, dass der Mensch ein Gedanke Gottes,
also zugleich von Anbeginn vorhanden gewesen sei. Da wir
diese Lehre sonst nur in Schriften von minderem Ansehen
antreffen, so ist es wichtig, dass wir ihr auch bei Jeremja (I, 4)
begegnen. Wollte man ferner einen schönen Abschnitt (cap. 2)
1} Marc. IX, 10.
2) Proverb. III,. 9— 10.
3) Psalm 30, 10.
4) Job. XIV, 7—12.
5) Ewald, israelit. (jeschichte. Göttingen 1845. Bd. 2. S. 122. Wie
E. B. Tylor (Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 81) richtig bemerkt, übersetzen
die LXX Sh^ol mit Hades und tJlfilas mit Halja, welches letztere in der
alten Bedeutung ein Schattenreich der Todten unter der Erde war.
[^ 3IO
Die christlichen Lehren.
y.
^
1. 1
g, im Buche der Weisheit*), wo das Erwarten eines Nirväna als
f^: Lehre der Gottlosen verworfen wird, wegen seines apokryphen
P' Ursprungs nicht anerkennen, so haben wir andererseits die Lehr^
ti von einer Präexistenz des Menschen vor der Geburt als Gottes-
gedanke bereits in dem Psalm 138 (139), den Ewald dem Zerubbabel
zuschreibt"). In den Sprüchen^) wird dieselbe Anschauung in
dichterischem Schwung und zugleich in erhabenen Bildern vorge-
tragen, die wie eine Vorahnung unserer heutigen kosmogonischen
Erkenntnisse klingen. Gott, heisst es dort, hat mich besessen
nranfanglich ; vor seinen Schöpfungen von Ewigkeit war ich vor-
bereitet ehe die Erde entstand, ehe die Tiefen einsanken, ehe
die Wasser hervorquollen , vor dem Aufsteigen der Gebirge , vor
den Hügeln war ich schon geboren. Noch gab es weder Fest-
land, noch Ströme, noch stand der Erdkreis nicht in seinen
Angeln. Als er den Himmel wölbte und in gesetzmässigen Curven
die Tiefen faltete, als er den Aether in der Höhe festigte, die
Wasser der Brunnen löste, das Meer eingrenzte und dem Flüs-
sigen gebot, seine Ränder nicht zu übersteigen, da war ich bei
ihm und spielte vor seinen Augen.
Aus diesen Stellen gewahren wir, dass an einen wohl be-
rechneten Schöpferplan geglaubt wurde, innerhalb welchem auch
bereits an den Einzelnen gedacht worden war. Als Gottesgedanke
aber musste er auch dann in alle Ewigkeit fortleben. Sollen wir
aber nun in aller Kürze aussprechen, worin die Völkerkunde das
innere Wesen der christlichen Lehre von den religiösen Regungen
anderer Zeiten oder der Hcidenwelt zu unterscheiden habe, so
muss zuerst betont werden, dass die Verkörperung der Natur-
kräfte in Gott, wie sie sich noch im alten Testament findet^),
mit dem Satze beseitigt wird, dass Gott als etwas geistiges auf-
zufassen sei 5). Wohl legen die Evangelien dem Religionsstifter
noch immer eine' anthropomorphosirende Sprache in den Mund,
insofern Gott als ein Vater bezeichnet wird, allein dies recht-
i) £s soll nach Ewald dem zweiten Jahrhundert v. Chr. angehören.
Israelit. Geschichte Bd. 3. S. 436.
2) Israelit. Geschichte Bd. 4. S. 163.
3) Proverb. VIII, 22—31.
4) Job. cap. 37 u. 38.
5) Joh. IV, 24. rivtujxa 0 !&£oV
Die christlichen Lehren.
311
fertigt sich durch die Schranken des menschlichen Denkvermögens.
Einen Geist uns vorzustellen sind wir unfähig, denn was wir so
zu nennen belieben, gleicht immer einem denkenden Geschöpf,
wie wir selbst sind, gebunden an die Arbeit eines Organismus.
So lange wir Menschen bleiben, werden wir immer gezwungen,
das Göttliche in Menschenform uns vorzustellen, doch geschieht dies
in den Evangelien mit einer Einschränkung des Sprachgebrauches.
Darf Gott als Vater angerufen werden, so spUen wir doch den
also geheiligten Vaternamen nur auf Gott allein anwenden*).
Eine Lehre aber ist es vorzüglich, die im Christenthum zuerst
und einzig nur mit ihm auftritt, nämlich die Annahme einer gü-
tigen Vorsehung. Es ist, um mit Leibnitz zu reden, der Plan der
möglichst besten Schöpfung bis auf das Kleinste durchdacht, bis
zur Zahl der Haare auf dem Menschenhaupte und bis auf das
Dasein der schwächsten Geschöpfe^. So wie die Erkenntniss
einer solchen Vorsehung feststeht, wird die gefahrlichste Verirrung
des Menschen, nämlich aller Schamanismus beseitigt. Ueberwindet
auch vielleicht das menschliche Nachdenken die gröberen Ver-
suche, durch Spruch und Zauber sich eine vorgespiegelte Macht
über den Lauf der Naturvorgänge anzumassen, so bleibt doch
noch viel länger das Vertrauen in die Wirksamkeit der sinnbild-
lichen Handlungen, der Opfer, der Fasten, Bussübungen und Ge-
bete zurück. Die indischen Brahmanen gelangten, wie wir sahen,
durch scharfsinnigen Selbstbetrug bis zu dem Wahne, dass sie,
als Inhaber solcher Mittel, göttliche Naturen geworden seien. War
in der Gefangenschaft bei den Hebräern das Gebet zuerst zur
Bedeutung und Macht gelangt^), so musste doch schon Zakharja^)
gegen das erzwungene Fasten und Trauern warnen, durch welches
man sich einbildete, die Rathschlüsse Gottes zu ändern. Der
strenge Christ darf bei der Annahme einer güti«:en Vorsehung
keinen Eingriff Gottes in den gesetzlichen Ablauf der Naturvor-
gänge begehren. Unser Religionsstifter hat im Gegentheil be-
stimmt verboten, nichts irdisches erflehen zu wollen, da, bevor
1) Matth. XXIII, 9. Kai TCax^pa |xtj xaki(n\Tt ifiuiv iizX Ttj; y^«* «^«
yaip ^OTiv 0 icarfp vijkJv, 0 ir xoi^ cupavoi;.
2) Matth. X, 29—30.
3) Ewald, Israelit. Geschichte. Bd. 4. S. 32.
4) cap. VII, 5-6.
l-
|. ßl2 Die christlichen Lehren.
^' die Bitte sich noch geregt habe, für alle wirklichen Bedürfnisse
des Menschen schon gesorgt sei'). Durch diese nothwendige
Schlussfolgerung aus der Lehre von einer gütigen Vorsehung
unterschied sich das Christenthum von allen anderen Religions-
schöpfungen. Nicht die Erfüllung des kleinsten, des heissesten,,
des reinsten Herzenswunsches verspricht das Christenthum. Man
kann sich daher nicht weiter vom Ziele der ursprünglichen und
reinen Religion verirren, als wenn, da irdische Wünsche iiicht
mehr zu dem himmlischen Vater empordringen sollen, eine An-
zahl polytheistischer Mittelwesen zu Fürbittern ersonnen werden
und auf einem Umwege wieder das schamanistische Gebet zurück-
kehrt.
Die Gebetworte, welche Christus seine Jünger lehrte, ent«
halten nichts weiter als eine Anleitung, gleichsam wie in einem
Spiegel, die jeweiligen sittlichen und religiösen Zustände unseres
Ichs wahrzunehmen, sich selbst zu bestärken in der Heiligung
durch die Gottesidee, in dem Wunsche, dass das Reich der christ-
lichen Anschauungen uns durchdringen möge, sowie in der Er-
innerung daran, dass Alles, was uns widerfahren mag, der Wille
einer gütigen Vorsehung ist. Es ergeht die Mahnung an uns
selbst, denen zu vergeben, die sich etwa im Unrecht gegen uns
befinden*), endlich die Bitte, dass der christliche Glaube nicht in
uns erschüttert, sondern die Zweifel mehr und mehr zurück-
gedrängt werden mögen. Der einzige irdische Klang in diesem
Gebete ist das Erflehen des täglichen Brodes, wenn wir nicht auch
dabei uns selbst mahnen sollen, dass wir Dank schuldig sind für
jeden Tag, der uns gegönnt wird. Das Vaterunser verlangt die
höchste innre Sammlung, wenn sein Inhalt nicht spurlos durch
das menschliche Gemüth ziehen soll. So * unverwüstlich aber
kehrten die schamanistischen Gelüste zurück, dass trotz der War-
nung des Religionsstifters vor gedankenlosen Wiederholungen 3),
welche der Mittheilung des Vaterunsers hart vorausgeht, es doch
1) Matth. VI, 8. Olöe yap o itaTTjp ufiuiv, oiv XP^^^ ^X^^e, wpo toü
ufiac CLlrriooLi autcv.
2) In gleichem Sinne heisst es bei Jesus Sirach (28, 2): Vergieb
Deinem Nächsten, was er Dir zu Leide gethan hat, imd bitte dann, so werden
Dir Deine Sünden auch vergeben.
3) Matth. VI, 7. Mt| ßaTToXoYi^cTiTe waicep d tövixot* Öoxovgt y«P
Ott £v rn TCoXuXoY(qt auTwv eJaaxouaäiijovTat.
Die christlichen Lehren.
315
als Paternoster in unverständlicher Sprache Jahrhunderte lang nicht
mehr gebetet, sondern nach Buddhistenart') unter Abzahlung der
Rosenkranzperlen hergesagt worden ist.
Der Schwerpunkt dieses Gebetes oder dieses Verkehres mit
sich selbst liegt in der sogenannten dritten Bitte, die alles, was
diesseits und jenseits über den Menschen verfügt werden möge^
als erwogen in gütiger Vorsehung, geduldig und dankbar uns
empfangen heisst. Selbst harte Schicksalsschläge können sich zu
innerem Gewinn verwandeln, da sie, abgesehen von den Fällen,
wo sie verhärten und erbittern, die Gemüther in diejenige Stim-
mung zur Milde und Vergebung setzen, in welcher sie den christ-
lichen Wahrheiten am zugänglichsten sind. Nicht für die gesunden
und starken, sondern für dje gebrochenen Herzen war ja der
Trost der neuen Lehre bestimmt*). Die Selbsterziehung des sitt-
lichen Menschen aber sollte mit der Einsicht in die eignen Fehler
beginnen. Nachsicht gegen die Mitmenschen, Bekämpfen der
eigenen Härte und der Lieblosigkeit, sind die immer wiederholten
Vorschriften der Evangelien. Die Satzungen des alten Testamentes
wurden nicht umgestossen, sondern verschärft und verfeinert.
Nicht blos der Mord, sondern jede Gehässigkeit, nicht der Ehe-
bruch, sondern jedes sträfliche Begehren sollte unterdrückt werden.
Kein Verdienst sei darin zu suchen, Liebe mit Liebe zu vergelten,
denn das geschehe auch von den heidnischen Völkern, sondern
Gott ähnlich, der Gerechte und Ungerechte mit seinem Licht er-
quickt, Fluch mit Segen, Hass mit Wohlthaten, Kränkungen mit
Fürbitten zu vergelten, wurde als neue Pflichtenlehre den Christen
auferlegt^), üeberall wird eine lieber win düng der menschlichen
Natur gefordert, ein Anstreben des göttlichen Reiches und eine
Veredelung der irdischen Gesellschaft geboten. Dem Jüngling, der
seinen Vater noch bestatten möchte, ruft der Religionsstifter zu,
er solle die Todten den Todten begraben lassen ♦), gleichsam als
sei ein Jeder, dem nicht die eigene Verklärung über alles gehe,
i) Da der ähnlichen Erscheinung buddhistischer Gebetmühlen bereits ge-
dacht worden ist, so wollen wir noch hinzufugen, dass selbst bei den Alt-
eräniem gewisse Gebete in 100- und looofacher Wiederholung vorgeschrieben
wurden. Duncker, Gesch. des Alterthums. Bd. 2. S. 334.
2) Luc. V, 31.
3) Matth. V, 44—46.
4) L c. Vlir, 22.
31.4
Die christlichen Lehren.
ein lebendiges Gespenst. Die Liebe zu Eltern und Kindern oder
Geschwistern, die im Grunde nichts ist als eine erweiterte Selbst-
liebe, soll sich auf das ganze Menschengeschlecht ausdehnen*).
Innerhalb der menschlichen Gesellschaft erzwingt sich das
bürgerliche Recht von selbst seine Beachtung. Die Fortschritte
unseres Geschlechtes beruhen auf einer so durchgebildeten Glie-
derung von Arbeiten und Leistungen, dass sie nicht denkbar sind
ohne strenge Beobachtung der Rechte Anderer. Wo sich der
Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit abstumpft, geht jede Gesell-
schaft zu Grunde und die Weltgeschichte wird für sie zum Welt-
gericht, So ist schon durch diese unerbittliche sittliche Ordnung
für die bürgerliche Erziehung unseres Geschlechts gesorgt. Das
Christenthum aber erstrebt noch höheres als eine Verfeinerung
des menschlichen Geselligkeitstriebes. Von dem Reisenden Kennan
wird uns das milde Herz der Korjaken gerühmt: nie sah er ein
Kind schlagen, nie horte er ein hartes Wort gegen eine Frau
fallen, aber die Altersschwachen und die hoffnungslosen Kranken
werden durch Lanzenstiche mit anatomischer Meisterschaft, Vater
oder Mutter gewöhnlich vom Sohne, umgebracht, denn die harte
Nothwendigkeit des Hirtenlebens verstattet keine Belastung der
wandernden Gemeinde mit den Hinfälligen, und der gesellige
Instinct setzt das Wohl der Genossenschaft über das Erbarmen gegen
den Einzelnen. Erkennen wir, dass solche Satzungen unverträglich
sind piit Christenpflichten, so gestehen wir damit, dass unsere
Sittenlehre sich über und bisweilen gegen den Gesellschaftstrieb
erhebt. Dass wir für Geisteskranke sorgen, kann als eine egoistische
Vorsicht betrachtet werden, denn Niemand weiss voraus, ob er
nicht selbst von diesem Schutz der Gesellschaft Nutzen ziehen
möchte. Wir verpflegen aber auch menschliche Missbildungen,
wie die Cretinen und Microcephalen. Sicherlich wäre es für die
Gesellschaft viel erspriesslicher, solche Geschöpfe ihrem Schick-
sal preiszugeben und den Aufwand, den ihre Pflege erheischt,
lieber zu nutzbringenden Zwecken zu verwenden. W>nn wir es
dennoch nicht thun, so befriedigen wir ein Pflichtgefühl, das sich
nicht aus unserem socialen Instincte ableiten lässt*). Die Sklaverei
1) Matth. X, 37; Marc. III, 33.
2) Bei den Altmexikanem kommt die Pflege der Cretinen ebenfalls vor
(Oviedo, Historia general lib. XXXIII, cap. IX, tom. III, p. 307), allein sie
Die christlichen Lehren.
315
der Neger und viele Leibeigenschaftssatzungen Hessen sich damit
rechtfertigen, dass die Unfreien der Zucht, namentlich des Zwanges
zur Arbeit bedurften, dass sie selbst unter dem Drucke viel besser
gediehen und ein grosser Theil ihrer Leistungen nach der Frei-
sprechung für das Gesammtwesen verloren ging. Dennoch wird jedes
veredelte Herz diese schnöden Vortheile als zu theuer erkauft
halten, weil jeder Zwang ihm gehässig ist Diese Empfindsamkeit
unseres Gewissens verdanken wir aber den Lehren der Evangelien,
welche uns in der Jugend eingefiösst worden sind.
Werden dem Christenthume seine Ketzerverfolgungen, seine
Inquisitionen, seine Religionskriege, überhaupt seine Unduldsamkeit
zur Last gelegt, so treffen die Vorwürfe doch nur diejenigen,
welche die Lehren der Milde in ihr Gegentheil verwandelten. Um
den sittlichen Inhalt des Christenthums hat sich aber nie Streit
erhoben, sondern nur um die Glaubenssätze, wie sie durch Con-
cilienbeschlüsse festgesetzt wurden. Christus selbst kämpfte mit
dem, was sich das rechtgläubige Judenthum hiess, er, der den
Sabbath um des Menschen willen vorhanden erklärte und ^egen
Dogmenverfertiger das vernichtende Wort hinterlassen hat ^: „Ver-
geblich dienen sie mir mit dem Verbreiten ihrer Lehrmeinungen,
Satzungen menschlichen Ursprungs".
Die Verächter der evangelischen Lehren in unserer Zeit über-
sehen gewöhnlich, dass alle menschenfreundlichen Bestrebungen
immer in der christlichen Lehre ihren stärksten Helfer gefunden
haben. Der Abschaffung der Negersklaverei wurde bereits gedacht,
aber auch die Bewilligung gleicher Rechte im öfifentlichen Leben
für Alle hatte im christlichen Pflichtgefühl seinen wärmsten Für-
sprecher gefunden. Dem Gebote, Hungrige zu speisen und
Nackte zu kleiden, verdanken wir unsere heutige Armenpflege.
Manches andere, was uns in Evangelienlehren befremden mag,
kann vielleicht auf einem Missverständniss der Jünger beruhen oder
der Sinn der syrisch gesprochenen Worte hat beim Uebergang in
die griechische Sprache mehr oder weniger gelitten, oder die
beruht sicherlich auf abergläubischer Scheu oder geschah aus Liebhaberei, wie
die Häuptlinge der Fidschi- Inseln zu ihrem Vergnügen Krüppel futterten.
Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 626.
I) Marcus VII, 7. ManQv 81 a^ßcvraC |xe, 8i8(xaxovTec ^i^aaitaklixq,
^l6 Die christlichen Lehren. — Der Islam.
Dunkelheit der Gleichnisse kann bei besserem Verständniss des*
Morgenlandes sich noch in Klarheit verwandeln, wie es mit dem
Bilde vom Kamel und dem Nadelöhr geglückt ist*). Nur auf
Entstellungen beruht es, wenn zur Verdunkelung des Christen-
thums der Buddhismus ihm vorgezogen wird, der angeblich 400
Millionen Bekenner gewonnen haben soll, ohne weder eine Be-
lohnung guter Werke, noch Bestrafung böser Handlungen zu ver-
heissen. Wie es sich in Wirklichkeit verhält, haben wir bereits
dargestellt. Der Buddhismus der 400 Millionen entbehrt weder
eines reich ausgeschmückten Himmelreiches, noch einer Hölle mit
erfinderischen Qualen. Auch in seiner anfanglichen Reinheit diente
ihm schon die Wiedergeburt als Schreckmittel gegen Uebertreter
seiner Gebote, denn Av'oka's Sohn erlitt nur deswegen eine grau-
same Blendung, weil er nach buddhistischer Deutung in einem
früheren Dasein Hunderten von Gazellen die Augen ausgestochen
hatte ^).
15. D e r I s 1 ä m.
Vor dem Auftreten ihres Propheten lagen die Stämme der
arabischen Halbinsel noch in den Fesseln des Fetisch wahnes. Sie
verehrten Steine, Felsen, Bäume und Bilder, aber auch die Sonne,
den Mond und die Gestirne^), Mohammed selbst gesteht, dass er
in seiner Jugend die Götter seiner Väter angebetet habe. Der
Meteorstein in der Ka*^aba zu Mekka war schon längst das Ziel
von Wallfahrten gewesen, an die sich gewinnreiche Messen knüpften
und um diese Erwerbsquelle seiner Vaterstadt nicht zu entziehen,
verschmähete der Religionsstifter es nicht, die Steinverehrung in den
i) Die edle leider zu friih verstorbene Lady Duff Gordon schreibt
(Letters from I^gypt. London 1865. p. 133) glückseligen Herzens: „Gestern
habe ich ein Kamel durch ein Nadelöhr schlüpfen sehen. So nennt man
nämlich die niedrigen Thore eines Pferches. Das Thier muss dabei auf den
Knieen rutschen und seinen Kopf beugen, um hindurch zu kommen'*. Auch
in den südalgerischen Oasen heissen Nadelöhre die kleinen Pförtchen neben
den grossen * Thoren in den Mauern. F. Desor, Aus Sahara und Atlas.
Wiesbaden 1865. S. 28.
2) Burnouf, Introduction ä Thistoire du Buddhisme. Paris 1844. tom. I,
p. 414.
3) L. Krehl, Religion der vorislamischen Araber. Leipzig. 1863. S. 45.
Der Islam. 317
neuen Gottesdienst mit hineinzuflechten. Ausserdem wurde an un-
sichtbare nicht menschliche Geschöpfe, an Dschinnen und an Engel
geglaubt und ihre Gewogenheit durch Verehrung zu erwerben ge-
sucht. Die Beduinen übrigens erkannten schon in älteren Zeiten
einen Schöpfer des Himmels und einen Weltherrscher unter der
Bezeichnung Allah, ein Name, der von dem Zeitwort Idh abge-
leitet wird, welches ein Zittern und ein Leuchten bedeutet"). Sonst
wird auch seine Verwandtschaft mit dem hebräischen El oder Eloah
und mit Alähah, dem altarabischen Namen für die Sonne vermuthet').
Eine Fortdauer nach dem Tode wurde verneint, so dass gerade
mit seiner Auferstehungslehre Mohammed bei den Angesehenen
unter seinen Landsleuten verstiess^).
Der Prophet, eine frühe Waise, in der Jugend zur erniedrigen-
den Beschäftigung als Schaf- und Ziegenhirt gezwungen, verbesserte
seine Lebensstellung dadurch dass er 24jährig eine mindestens 14
Jahre ältere begüterte Wittwe heirathete. Er litt Zeit seines Lebens
an hysterischen Anfällen und wäre schon deswegen unter afri-
kanischen, nordasiatischen oder amerikanischen Menschenstämmen
sicherlich ein mächtiger Schamane geworden. Wie diese allerorten
glaubte auch er " fest daran, dass seine Offenbarungen ihm von
aussen zukämen un(' eine höhere Macht aus ihm redete. Als im
späteren Alter die Begeisterung allmählig erkaltete und die Uebung
ihm die Meisterschaft gewährte, seine krampfhaften Verzückungen,
die sich bis zum Schäumen des Mundes steigerten, beliebig hervor-
zurufen, veranstaltete er Offenbarungen zu den schmählichsten
Zwecken. Bevor er seine achte Gemahlin heimführte, verlangte
diese, dass ihre Ehe durch ein göttliches Wort befohlen werde,
das auf diese Bestellung nicht ausblieb*). Nachdem er einer
andren Gemahlin zugeschworen hatte, eine koptische Geliebte zu
Verstössen und das Versprechen ihn hinterdrein reuete, liess er
sich von Gott offenbaren, dass solche Eide vor Frauen nicht ver-
bindlich sein sollten 5). So wurde aus dem jugendlichen schama-
Jiistischen Selbstbetrogenen in den dürren Jahren ein schlauer
1) A. Sprenger, Das Leben des Mohammad. Bd. i. S. 250. S. 291.
2) V. Krem er, Herrschende Ideen des Islam. S. 3.
3> Sprenger, Mohammad. Bd. i. S. 358.
4) Sprenger, Mohammad. Bd. 3. S. 76.
5) Sure LXVI. Wahl, der Qorän. S. 609—610.
ßl5 Der Islam.
Volksbetrüger. Um die Wunder der Offenbarung mit der Wirk-
lichkeit zu versöhnen, wurde angenommen, dass der Wille Gottes
nur dem Sinne nach dem Propheten .kund werde, dieser aber Zeit
behalte, den Inhalt in jene dichterische Prosa umzuformen, welche
die Gemüther der Gläubigen bald so tief erschütterte, dass wieder-
holt fromme Moslimen, wenn sie unvorbereitet die Drohworte eines
Qoränverses vernahmen vor Schrecken bewusstlos umsanken, ja
sogar getödtet worden sein sollen^). Der Prophet durfte daher,
um die Göttlichkeit seiner Eingebungen zu beweisen, den Zweiflern
zurufen, wenn der Qorän nur von ihm, Mohammed erdacht sei,
so möchten sie es versuchen nur eine einzige Sure zu verfertigen,
die den seinigen gliche*).
Der Qorän selbst enthält 114 Psalmen oder Suren von ver-
schiedner Ausdehnun., von einem einzigen Vers bis zur Länge
einer Predigt. Wie in einem ordnungslosen Haufenwerk sind Er-
zählungen von Strafgerichten nach biblischen oder altarabischen
Legenden, mit bürgerlichen Vorschriften und den eigentlichen
göttlichen Offenbarungen durcheinander gemengt. Werden sie
nach der Zeit ihrer Entstehung geordnet, so erlangen wir Ein-
blick in das Wachsthum und die Entwicklung des neuen Glaubens,
der nur eine Umprägung Jüdischer und christlicher Gedanken ge-
wesen ist. Die Vorläufer des Propheten unter den Arabern waren
die Hanyfe, welche einen Schöpfer verehrten und bei einer künf-
tigen Auferstehung der Todten ein sittliches Strafgericht erwarteten,
Mohammed nannte sich selbst einen Hanyfen, und Abraham den
Stifter des Hanyfenthum, welches in seinem Munde einen gerei-
nigten Monotheismus bedeuten soll und dem der Name Islam ge-
bührt, ein vieldeutiges Wort, welches den scharfen Gegensatz gegen
die Gottesläugnung, wie gegen die Vielgötterei enthält^). Grossen
Einfluss auf den Propheten hatten die Glaubenssätze der ebioni-
tischen Judenchristen zu Jerusalem und Pella, welche nur das erste
Evangelium als echt anerkannten und die Lehre von der Mensch-
werdung wie von der Erlösung verwarfen*). Mohammed selbst
besuchte mehr als einmal Jerusalem, er verehrte Christus und
1) Beispiele bei v. Krem er, Ideen des Islam. S. 80—81.
2) Wahl, Qorän. Sure X. S. 164.
3) Sprenger, Mohammad. Bd. i. S. 72.
4) Sprenger, Mohammad Bd. i. S. 22.
Der Islam.
319
dessen Schwester, für welche er den heiligen Geist ansah, ja
selbst die fleckenlose Empfangniss der Jungfrau Maria gehörte zu
seinen Glaubenssätzen *). Der Prophet war anfangs auf dem Wege
eine judenchristliche Gemeinde unter den Arabern zu stiften. Da
er aber wahrscheinlich nie lesen konnte, widerfuhr es ihm häufige
dass er sich auf das alte Testament und die Evangelien aus Miss-
verständniss berief. Als ihm solche Irrthümer vorgehalten wurden,
rettete er sich durch die Ausflucht, die seitdem im Munde aller
Moslimen fortlebt, dass die Offenbarungen im alten und neuen
Testament zwar göttlichen Ursprungs gewesen, aber aus Eigen-
nutz und Lasterhaftigkeit von Juden und Christen dermassen ver-
dreht und verdorben worden seien, dass sie nun frisch und un-
verfälscht wieder dem Propheten offenbart werden mussten. „Dir
Mohammed, heisst es in der fünften Sure, haben wir das Buch
der Wahrheit gegeben welches das Gesetz Mose's und das Evan-
gelium bestätigt. Hätte es Gott beliebt, so hätte er aus euch, ihr
Völker, ein Volk gemacht; so aber hat er euch durch verschiedne
Gesetze von einander unterschieden, um eines jeden Gehorsam
gegen das ihm offenbarte Gesetz zu prüfen^)." Später jedoch
war von dieser Duldung und Gleichberechtigung nicht mehr die
Rede. Am 16. Januar 624 befahl der Prophet die Qibla oder die
Richtung in welcher die Gebete gesprochen werden sollten zu
ändern, früher musste das Gesicht gegen Jerusalem, jetzt sollte es
gegen Mekka gekehrt werden, obgleich der Prophet noch in der-
selben Sure, die diese Anordnung einschärft, wie zur Beruhigung
seines Gewissens hinzufügt: Ihr mögt euer Gebet richten, wohin
ihr wollt: überall ist Gott da, denn Gott ist allgegenwärtig und
allwissend^). Gegen christliche Glaubenssätze, vorzüglich gegen
die Dreieinigkeitslehre wurde die 112. Sure geschleudert, welche
das Bekenntniss der Moslimen erschöpft und bei dem heiligsten
Momente der Pilgerfahrt, beim Küssen des schwarzen Steines in
der Ka'aba gesprochen werden soll. Sie lautet bekanntlich:
„Sprich: Gott ist einer! Der ewige Gott! Er zeugt nicht, ist
auch nicht gezeugt! Kein Wesen ist ihm gleich!**
Die sittliche Ordnung, welche der Prophet auf seine Sendung
1) Qorän, Sure 21. ed. Wahl. S. 284.
2) Qorän, übersetzt von Wahl. S. 91.
3) Qorän, übersetzt von Wahl. S. 20'*-24.
grtiiidLie, ist mit Nachahmung der. sinaitischen Gesetzgebung in
folgeiRien zwei mal fünf Vorschriften abgefasst:
i) Neben "Gott keine andern Götter zu erkennen; 2) Ehr-
furclit den Eltern zu bezeigen; 3) Kinder aus Besorgmss vor
NahriKiosraangel nicht zu tödten; 4) Keuschheit zu beobachten;
5) D;i-. Leben andrer zu schonen ausser in den Fällen wo die Ge-
rechliiikeit es anders verlangt. Dieser ersten Reihe liess er noch
als Bfichle folgen: 6) Unverletziichkeit des Vermögens der Waisen,
7I rt-dliches Maass und. Gewicht; 8) keine Ueberbürdung der
fiklavt)! ; 9) Unparteilichkeit der Richter; 10) Heilighaltung des
Ekle^ und des Bundes mit Gott'). An Einfachheit ist das raosa-
ischL- i>esetz jedenfalls diesem Zehngebote überlegen. Um die
liLTkfiiiimliche Zahl zu erreichen hat der Prophet sichtlich auf der
Folter gelegen und zuletzt noch marktpoiizeiliche Vorschriften
t'ingc-:clit>ben. Eine Heiligung des Sabbaths wurde nicht vorge-
schrii'iji'n; sie sei den Juden, behauptete Mohammed, nur wegen
ihrer Hartnäckigkeit aufgebürdet worden, weil sie die Feier des
Sumsiags, nicht wie Mose gewollt habe, die des Freitags durch-
g('set/-i hätten").
Die Verstattung von vier gesetzlichen Frauen und einer un-
besLkr.inkten Zahl 'von Sklavinnen zeigt uns die Schwäche des
Prüjiliiten, der seiner eignen Genusssucht keinen Zügel anlegte.
Nur mit Unrecht aber würde man in der Polygamie den wesent-
liulini Gegensatz zwischen dem Islam und unsrer Religion finden.
Dil- j.inzelehe war lange vor dem Christenthum Gesetz bei
vitlin Völkern und ist es noch jetzt bei heidnischen Stämmen, ja
ii) ilir. ältesten Zeiten konnte man der christlichen Kirche ange-
hiirnj. und doch mehrere Frauen besitzen. Wie alle Völker auf
Iriihrr. Ji Entwicklungsstufen hatten sich die Araber in ihrer Heiden-
/('il >.rlir verwickelte Speiseverbote auferlegt Der Prophet be-
sijlir.iiikte sie auf das Fleisch der Schweine sowie der gefallenen
'Il.H'ii- und den Genuss des ausgeflossenen Blutes^).
l in s«nen Offenbarungen Glauben zu verschaffen, suchte der
l'riJiilii ! seine Anhänger mit den Schrecken der Auferstehung und
(■im.- uingsten Tages zu ängstigen. Hier kam ihm die Flammen-
ijatin, übencUI von Wahl. Sure VI, S. 114—115-
. San XVI, ns. Wahl, Qorän. S. IIJ.
I sute VI, 146. Wahl, gorftn. 5. 114.
I>er Islim. ^^i
vV-'«
seiner dichterischen Sprache su statten und er versäumte
keine Gelegenheit an die bereits vollstreckten Strafgerichte tabH*^
sdier nnd aitarabtscher Legenden zu mahnen. Andrerseits ver^
hiess er in ermüdenden Wiederholungen den Glaubigen und den
Gerechten einen Wonneaufenthalt nach volksthümlichem Geschmack,
einen schattigen Garten mit sprudelndem Wasser, kostlichen
Frachten« schwdlenden Ruhekissen und einem Frauengeschlecht,
das aDe geforderten Reize vereinigte, um ewige Begierden ewig
zu stufen. Allerdings enthält der QorÄn Stellen, welche jene b<^
rauschenden Schilderungen nur auf Gleichnisse für menschliches
A'erständniss herabsetzen"), andre bezeichnen das Anschauen der
Herrlichkeit Gottes als den Lohn des Frommen •>, aber die un-
heimliche Anziehungskraft des Isl5m gründete sich auf das buch-
stäbliche Verständniss jener sinnlichen Verheissungen und die
späteren Ueberlieferungen haben nicht gesäumt, die gierigen Er-
wartungen der Gläubigen mit märchenhaften Schilderungen des
Paradieses zu sättigen^).
Der bedenklichste Inhalt des QorUn betrifft die Läugnung
der menschlichen Willensfreiheit. Das Schicksal eines jeden Men-
schen ist vorher bestimmt und aufgezeichnet, so dass der Lebens-
wandel sich zu dieser Schritt verhält wie das Schauspiel zu dem
Texte einer dramatischen Dichtung*). Die Verdammniss ist nacii
•einem unwiderruflichen Rathschluss Gottes über diejenigen vor-
hängt die sie treffen wird; denn, fahrt der Qorftn fort, hätte
Allah gewollt, so würden alle Menschen geglaubt haben, ohne
seinen Willen aber gelange keine Seele zum Glauben*). Die
Lehre von der Gnadenwahl wurde von den Rechtgläubigon
immer festgehalten und wenn auch die freieren Secten die Un-
vereinbarkeit der Schicksalsbestimmung und des Strafgerichtes
mit der göttlichen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit klar erkannten
und mildere Ansichten vertraten 6), so blieb wie anderwärts die
i) Wahl, Qorän, Sure II, S. 7.
2) SureLXXV. Wahl, Qoran. S. 649.
3) vgl. die Beschreibung des Paradieses bei M. Wolff, Muhammedaniiche
Eschatologie. Leipzig 1872. cap. 45—49. S. 185—207. •
4) Sprenger, Mohammad. Bd. 2. S. 307.
5) Qorän, Sure X, übers, v. Wahl. S. 168—169. vgl. auch Sure LXXVT»
30 u. V. Kremer, Ideen des Islams. S. 9.
6) V. Krem er. Herrschende Ideen des Islams. S. 280.
Peschel, Völkerkunde. 21
^^22 ^^^ Islam.
gedankenschwache Masse der Gläubigen an dem Buchstaben hängen.
Neben dieser Lehre konnte auch niemals in der islamitischen
Gesellschaft ein Priesterstand zur Macht gelangen, da er nichts
zu binden und zu lösen hatte. Obendrein standen die Chalifen
und ihre Nachfolger immer an der Spitze der Gläubigen.
Ausser dem Qorän hat die Sunna oder das Herkommen und
die Rechtsgewohnheit, wo sie nicht der Offenbarung widerspricht,
volle Kraft und enthält Rechtssätze in bürgerlichen oder peinlichen
Sachen, sowie Nahrungs- und Kleidungsvorschriften. Neben ihr
geniesst auch die Nachricht oder Hadyth, das heisst die lieber-
lieferung von Aussprüchen des Propheten, wenn sie durch gute
Zeugen bis auf Mohammed zurückreicht, rechtsverbindliche Kraft *).
In Persien wurden beide Gesetzesquellen nicht anerkannt und
daher trat eine Spaltung unter den Gläubigen in Anhänger der
Sunna oder Sunniten, und in Abtrünnige oder SchyVten ein.
Kurz nach der Stiftung überfluthete der Islam Aegypten und
Nordafrika, überschritt an der Schwelle des 8. Jahrhunderts die
Meerenge von Gibraltar und erhielt sich bis zum Falle von Gra-
nada 1492 im westlichen Europa. In dem nämlichen Jahrhundert,
wo er aus Spanien nach Afrika zurückgedrängt wurde, hatte er
Südeuropa an der Östlichen Halbinsel siegreich betreten und im
Jahre 1453 errang er die Herrschaft über die Meerengen die un-
sern Welttheil von Kleinasien scheiden.
Am Beginn des 8. Jahrhunderts drangen die Araber erobernd
in das Indusgebiet, aber ihre Fürstenthümer Multan und Mansura
fielen bald vom Chalifate ab. Arabische Gemeinden gab es
in allen Küstenstädten an der Malabarseite Ostindiens, aber vor-
läufig genoss der Islam dort nur Duldung. Erst um das Jahr
1000 n. Chr. unter den Ghazneviden fasste er festen Fuss
in Indien*) und unter Baber, dem Stifter des grossmongolischen
Thrones, fiel die Hauptmacht der Halbinsel an mohammedanische
Fürsten. Auf Sumatra gelangte die Lehre des Propheten erst im
Reiche Atschin 1206 zur Herrschaft und in dem Reiche Malaka
kurz nach der Stiftung im Jahre 1253, während sie auf Java erst
nach dem Sturze des Staates Madschapahit im Jahre 1478 den
Buddhismu« verdrängte. Nach Celebes gelangte sie 1512, doch
i) Sprenger, Mohammad. Bd. 3. p. LXXVII sq.
2) Reinaud, Geographie d'AboulfMa. Introduction, p. CCCXLIII. sq.
Der Islam. ^2^
widerstanden noch um 1640 wiewohl vergeblich, die Buginesen
ihrer dortigen Ausbreitung. Noch immer setzt der Islam seine
Wanderung gegen Morgen fort. Sein äusserstes östliches Ziel be-
zeichnet vorläufig eine kleine Moschee auf Dobo unter den Aru-
inseln, einem Zubehör von Neu Guinea'). Doch gibt es auf
Neu Guinea selbst unter den Papuanen der Landschaft Namototte
eine Anzahl Neubekehrter*).
In Afrika hat die Lehre des Propheten ^ich zuerst in dem
Mittelmeergebiete eingebürgert. Ueber die Wüste drang sie
1086 — ^^1097 n. Chr. in Bornu ein, am Beginn desselben Jahr-
hunderts hatte sie sich aber schon nach dem grossen Reiche
der Sonrhay am mittleren und am Beginn des 13. Jahrhunderts
am oberen Niger unter den Herrschern von Melli verbreitet 3).
Nach Wadai, Darfur und Kordofan gelangte sie erst am Beginn
und um die Mitte des 17. Jahrhunderts*). Ob die Tuareg vormals
Christen waren, wie Barth vermuthete, bedarf noch strengerer Be-
stäti^ung, ebenso ob im ehemaligen Reiche Ghana, welches west-
lich von Timbuctu lag, das Christenthum erst 1075 dem Islam er-
legen sei, wie in Nubien, wo es nach guten Berichten noch in
der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts herrschte 5), Noch gegen-
wärtig verdrängt der Islam in Abessinien langsam das Christen-
thum. In unseren Zeiten haben ihn die Fellatah weit ins Innere
des heidnischen Afrika bis nach Adamaua hineingetragen. Die
Lehre des Propheten legt den Afrikanern keine Aenderung der
Lebensgewohnheiten auf. Dem Neger, der den Islam ergreift, wird
obendrein verheissen, dass er höher steige und wegen seiner reinen
Lehre Gott näher stehe, als die Christen. Die Verkündiger der
Prophetenlehre in Afrika endlich sind unbesoldet und arm, während
die christlichen Missionäre, obgleich sie Geringschätzung des Reich-
thums predigen, mit Ueberfluss sich umgeben. Dies sind nach der
Ansicht eines klaren Beobachters die Ursachen, weshalb unter deu
i) Wallace, Malay Archipelago. tom. II, p. 278.
2) Otto FinsQh, Neu Guinea. Bremen 1865. S. 76.
3) Heinrich Barth, Nord- und Cenlralafrika. Bd. 2. S. 309. Bd. 4.
S. 417, 603, 609.
4) Waitz, Anthropologie. Bd. 2. S. 21.
5) Fr. Kunstmann, Afrika vor den Entdeckungen der Portupiestn.
München 1853. S. 28.
21*
ß24 ^^^ Islam, — Die Zone der Religionsstifter.
Negern die christliche Lehre dem Islam unterliegt*). Erobernd
tritt diese Lehre neuerdings auch in China auf. Dorthin hatte sie
sich frühzeitig verbreitet, theils über Kaschgarien und die frucht-
baren Striche am Südabhange des Thianschan, theils zur See den
grossen morgenländischen Handelsstrassen folgend nach den Küsten-
platzen» bis gegen das Ende des neunten Jahrhunderts mit dem
Sturze der Thang -Dynastie eine Fremdenverfolgung und Aus-
rottung der Moh^ftnmedaner eintrat*). Eben jetzt hat sich aber
im Südwesten des himmlischen Reiches in Talifu unter muhamme-
danischen Chinesen ein Herrscher aufgeworfen und ein Stück der
Provinz Yünnan losgerissen. Die Briten, die über Birma mit
diesem neuen Reiche Handelsverbindungen angeknüpft haben,
sind bis jetzt voller Lob über die Redlichkeit und Sittenstrenge
der Panthay, wie diese neuen Bekenner des Islam genannt werden^).
So ist im räumlichen Wachsthum dieser Lehre noch kein Stillstand
bemerkbar.
16. Die Zone der Religionsstifter ^).
„Die Kenntniss von dem Naturcharakter verschiedener Welt-
f«genden", so lautet eine der tiefsten Stellen in A. v. Humboldt's
Physiognomik der Gewächse 5), „ist mit der Geschichte des Menschen-
geschlechts und mit der seiner Cultur aufs innigste verknüpft.
Denn wenn auch der Anfang dieser Cultur nicht durch physische
Einflüsse allein bestimmt wird, so hängt doch die Richtung der-
selben, so hängen Volkscharakter, düstere oder heitere Stimmung
der Menschheit grossentheils von klimatischen Verhältnissen ab.
Wie mächtig hat der griechische Himmel 6) auf seine Bewohner
gewirkt! Wie sind nicht in dem schönen und glücklichen Erd-
striche zwischen Euphrat, dem Halys und dem ägäischen Meere
1) Gerhard Rohlfs, im Ausland 1870. S. 485.
2) Peschel, Geschichte der Erdkunde. S. 108.
3) A. Bowers, Bhamo-Expedition. Berlin 1871. S. 72.
4) Der nachfolgende Abschnitt, abgesehen von Kürzungen, Zusätzen und
Aenderungen, wurde bereits abgedruckt im Ausland. 1869. S. 409 ff.
5) Ansichten der Natur. Bd. 2. S. 18.
6) Humboldt wollte offenbar schreiben: Wie mächtig hat der Himmel
Griechenlands auf dessen Bewohner gewirkt!
Die Zone der Religionsslifler. ^c
die sich ansiedelnden Völker früh zu sittlicher Anmuth und zar-
teren Gefühlen erwacht! Und haben nicht, als Europa in neue
Barbarei versank und religiöse Begeisterung plötzlich den heiligen
Orient öffnete, unsere Voreltern aus jenen milden Thälern von
neuem mildere Sitten heimgebracht? Die Dichterwerke der Griechen
und die rauheren Gesänge der nordischen Urvölker verdanken
grösstentheils ihren eigenthümlichen Charakter der Gestalt der
Pflanzen und Thiere, den Gebirgsthälern , die den Dichter um-
gaben, und der Luft, die ihn umwehte. Wer fühlt sich nicht, um
selbst nur an nahe Gegenstände zu erinnern, anders gestimmt in
dem dunklen Schatten der Buchen, auf Hügeln, die mit einzeln
stehenden Tannen bekränzt sind, oder auf der Grasflur, wo der
Wind in dem zitternden Laube der Birke säuselt? Melancholische,
ernst erhebende und fröhliche Bilder rufen diese vaterländischen
Pflanzengestalten in uns hervor. Der Einfluss der physischen Welt
auf die moralische, das geheimnissvolle Ineinanderwirken des Sinn-
lichen und Aussersinnlichen gibt dem Naturstudium, wenn man es
zu höheren Gesichtspunkten erhebt, einen eigenen noch zu wenig^
erkannten Reiz.**
Hier liegt also die verführerische Aufgabe vor uns, auf dem
Wege vorsichtiger Vergleiche zwischen den grössten Begebenheiten
in der menschlichen Gesellschaft und den Schauplätzen, auf welcheif
sie sich zutrugen, einem Innern Zusammenhange nachzuspüren.
Bei wem könnten wir uns aber besser vorbereiten für solche Unter-
suchungen als bei Thomas Buckle, der nicht bloss, bei seinen
Landsleuten, sondern auch bei uns eine ungeschwächte Beliebtheit
noch geniesst und vielen als ein Born des klarsten Lichtes gilt?
Geben wir ihm Gehör, so wäre nichts einfacher und fasslich er^
als die Rückwirkungen des Wohnortes auf die Erscheinungen der
Gemüthswelt. Da, wo die Natur mit grossen Schreckmitteln den
Menschen beängstigt, wird die Einbildungskraft stärker entwickelt
werden als der Verstand, imd dort wird der Wunderglaube am
üppigsten ins Kraut schiessen. Italien, Spanien und Portugal, sagt
Buckle *), werden in Europa unter allen Ländern von Erdbeben
am meisten heimgesucht; Erdbeben schüchtern das menschliche
Gemüth ein, folglich hat sich bei den Bewohnern Südeuropa's
zäher als anderwärts der Glaube an Eingriff"e übersinnlicher Mächte
I) History of civüization in England. Leipzig 1865. ^^^* ^* P* ^^3- P* ^^^*
^jf, Die Zone der Religio ns Stifter.
in die physische Weltordnung erhalten. Dass Portugal unter die
erdbelii'nreiclisten Länder gerechnet wicd , mag die schwere Kata-
strophe, welche Lissabon vor mehr als lOO Jahren betraf, einiger-
massci) rechtfertigen, obgleich sie in ihrer Grossartigkeit vereinzelt
steht, aber Spanien, obgleich nicht gänzlich verschont, gehört doch
nicht unter die vorzugsweise oder nur streng heimgesuchten
Länder. Japan, welches so oft unter dem Dreizack des Poseidon
erzittern muss, wird von einem heilern , zu Schelmerei und Kurz-
weil stfts aufgelegten und in religiösen Dingen sorglosen Menschen-
schlag bewohnt. Russland wiederum ist fast gänzlich frei von
Erdbeben, aber von einem Exorcismenspuk, wie er in der grie-
chisclifii Kirche noch vorherrscht, ist Italien doch schon längst '
gereinigt.
Unter den Tropen, fährt Buckle fort, trete die Natur gewalt-
samer und schrecklicher dem menschlichen Kleinmuth gegenüber,
daher habe sich bei den Bewohnern Indiens die Einbildungskraft
am meisten mit Wahngeburten bevölkert. „Dort waren", behauptet
er, „Lebenshindernisse jeder Art so zahlreich, so beunruhigend
und scheinbar so unerklärlich, dass die Tagesbeschwerden nur
durch beständiges Gnaden erflehen an die unmittelbare Thätigkeit
übernatürlicher Kräfte gehoben werden konnten". Dort erschaute
Hie beängstigte Einbildungskraft solche Schaudergestalten wie
l,"iva oder seine Gemahlin Durga-Kali, deren innere HandDächen
von friscliem Blute sich beständig rölheten und deren Nacken
eine Schnur von Menschenschadeln zierte.
Da sich die indische Cultur vorzugsweise im eigentlichen
Hindoslan, also in dem Gangesgebiet mit Ausschluss Bengalens,
entwickeile, so hätte nach Buckle die Natur dort ganz besonders
die Gcraüther der Bewohner mit Furcht und Grausen erfüllen
müssen. Erdbeben kommen freilich nicht vor, einen Ersatz für
sie sollen wir jedoch in den furchtbaren Orkanen finden. Ganz
sicherlich ist auch der bengalische Meerbusen die Brutstätte jener
Cyklone oder Wirbelstürme, welche im votigen Jahrzehnt zweimal
die Stadt Caicutta heimsuchten. Die Tragweite jener Geissein ist
jedoch nur auf die Küste beschränkt und ihre Verheerungen über-
schreiten nie die Grenze Bengalens, Auch der Himalaya soll
nach Buckle einschüchternd gewirkt haben , allein er ist von den
dicht bewohnten Strichen entweder gar nicht sichtbar oder nur als
eine anmuthige Begrenzung des nördlichen Horizonts. Wenn
Die Zone der ReligionsstiAer. 327
Buckle Pestilenzen in dem tropischen Asien mit vorzugsweise zer-
malmendem Tritt einherschreiten lässt, so dachte er dabei doch
nur an die Cholera, die, just als er schrieb, in Europa einen er-
neuten Umzug hielt. Allein unser Welttheil ist in vorigen Zeiten
von Würgengeln betreten worden, die mit der ziemlich modernen
Brechruhr in Indien sich leicht messen können, von dem schwarzen
Tod und der Pest, es wurde also die gemässigte Zone nicht mehr
verschont als die tropische. Seltsamerweise nennt der Schotte gar
nicht Indiens schrecklichsten Genius, nämlich den Hunger, den
rüstigsten der Todtengräber, der zeitweise, wenn die Regen fehlen
oder die Ströme sparsam rinnen, selbst noch heutigen Tages
grössere Verheerungen anstiftet, als alle Pestilenzen und Wirbel-
stürme, ja dicht bevölkerte Striche in Einöden verwandelt, wie
gleich am Beginn der britischen Herrschaft in Folge eines Miss-
wachses, 1770, zehn von fünfundzwanzig Millionen Bengalesen dahin-
sanken. Ueben die Drohungen und Beängstigungen , welche mit
irgend einem Wohnort verknüpft sind, über die Gemüther einer Be-
völkerung jene Herrschaft aus, die ihnen Buckle zumuthet, so müssten
die Holländer viel wundergläubiger sein, als die Belgier. Ihnen
droht beständig und ganz vorzüglich zur Zeit der Syzygien des
Mondes ein Gegner, der so wenig Erbarmen kennt als das Erd-
beben, nämlich das Meer, das sie als Bewohner unterseeischer
Fluren um ein Erbstück geschmälert haben. Oft genug schon hat
sich die verdrängte Macht gerächt, wie damals, als die Zuyder
See und der Dollart durch plötzliche Einbrüche sich füllten und
alle Ortschaften sammt ihren Bewohnern hinabschlangen. Endlich
sollten in dem nämlichen Volk unter allen Gewerbtreibenden den
meisten Aberglauben die Seefahrer und die Bergleute nähren, weil
sie mehr als andere sich den Launen unberechenbarer Natur-
gewalten preisgeben, und doch hat niemand behauptet, dass so
etwas in bemerkbarer Stärke der Fall wäre.
Wir müssen also wohl eingestehen, dass die grösseren Lebens-
bedrohungen an irgend einem Wohnorte nicht die übermässige
Entwicklung der Einbildungskraft verschuldet haben. Selbst
Alexander v. Humboldt's schöne Worte von der Rückwirkung des
griechischen Himmels auf die hellenische Gemüthsstimmung erregen
uns Bedenken. Wenn einem Fleck der Erde vor andern der
Name eines Paradieses gebührt, so ist es sicherlich Mexico mit
seinen Seen, seinem Pflanzenschmuck, seinem landschaftlichen
^28 ^^c Zone der Religioosstifter.
Hintergrund^ den Schneevulkane zieren, seinem ewig heitern Wetter
^und seiner erquickenden Höhenluft. Und dennoch hat unter diesem
Wonnehimmel der schwermüthige Sinn der Eingebornen Andhuacs-
alle Schrecken eines finstern, blutigen Götterdienstes ausgebrütet»
Versuchen wir darum lieber zu ergründen, ob nicht die
übliche Volksernährung mit den Gemüthserscheinungen in einem
ursächlichen Zusammenhange stehe. Hindostan, der Heerd der
brahmanischen Religion, und Mittelchina, die Heimat des Con-
futse, bescheint beinahe die nämliche Sonne und bedeckt ein ahn-
liches Pflanzenkleid. Die Natur, müsste Buckle zugeben, ist an
beiden Orten gleich gross und fast gleich schrecklich, von Süd-
china wenigstens lässt sich dies mit grosser Strenge behaupten, und
doch hat die Einbildungskraft im Reiche der Himmlischen eineR
ganz andern Flug genommen, wie in Indien, oder sie hat vielmehr
beinahe keinen Flug genommen. Nun sind die Chinesen panto-
phag, das heisst sie essen alles, selbst Holothurien (Trepang), bei
deren Anblick schon den Ungewohnten ein Schauder überläuft..
Die strenggläubigen Hindu der höheren Kasten verabscheuen da-
gegen aufs strengste alle Fleischnahrung. Doch hielten sie es
nicht immer so. In den Zeiten der Veden war der Genuss ani-
malischer Kost noch nicht verboten und zugleich war die vedische
Religion noch nicht verdüstert durch die Schöpfung blutgieriger
Götzen, noch nicht erfüllt mit Schrecken und Grauen, wie in den
späteren epischen Zeiten. Die Belastung der Gemüther, die Nei-
gung zum Ungeheuerlichen und Grotesken, die Lebensübersättigung,
das Grauen vor der endlosen Kette der Wiedergeburten begann
sich bei den Hindu zu entwickeln mit dem gleichzeitigen Ueber-
gang zur reinen Pflanzenkost. Dass unsere geistige Thätigkeit
aber von der Ernährung .abhängig sei, kann jedermann an sich
selbst wahrgenommen haben, denn der tiefe erquickende Schlaf»
der echte Schlaf ohne Bewusstsein, flieht uns bei stark überladenem
Magen, Aber auch der Hunger, die halbe und ungenügende Be-
friedigung, erstrecken, wie alle Begierden, ihre Herrschaft über die
Einbildungskraft. Auf dieser biologischen Wahrnehmung beruhten
und beruhen noch die strengen Fastenübungen, die von so ver-
schiedenen Religionssatzungen [vorgeschrieben werden und deren
sich die Schamanen aller Welttheile bedienen, wenn sie mit un-
sichtbaren Mächten in Verkehr treten wollen. So oft der Kreis-
lauf der gewöhnlichen Ernährung unterbrochen oder nur gestört
Die Zone der ReligionsstifLer. ^20
wird, sobald er kein regelrechter ist, gewinnt die Einbildungskraft
ungewöhnliche Macht und der Mensch in diesem erschütterten oder
geschwächten Zustand ist empfanglicher für alles, was er über»
sinnlichen Wirkungen zuschreibt.
Hier also glauben wir endlich den Schlüssel gefunden zu
haben, der uns einen Einblick gewährt in das Walten physischer
Gesetze auf dem Gebiete der geistigen Erscheinungen, doch wollen
wir wieder zu Buckle unsere Zuflucht nehmen, diesesmal aber soll
er uns nicht mehr als Rathgeber, sondern als warnendes Beispiel
dienen. „Was die Tagesnahrung betrifft", bemerkt er"), „so sind
die Datteln für Afrika das nämliche, wie der Reis in den frucht-
barsten Theilen Asiens. Die Dattelpalme ist heimisch in allen
Ländern vom Tigris bis. zum atlantischen Meere, und sie versorgt
. Millionen menschlicher Geschöpfe mit täglicher Nahrung in Arabien
und beinahe ganz Nordafrika**. Nachdem er noch hinzugefügt^
dass an verschiedenen Orten die Kamele sogar mit Datteln ge-
füttert würden, was ausnahmsweise auch der Fäll ist, bemerkt er
weiter^), dass der Reis eine ungewöhnliche Menge Stärkemehl
enthalte, nämlich zwischen 83,3 bis 85,^7 Proc, und dass die Dat-
teln genau die nämlichen Nährstoffe besitzen, mit dem Unter-
schiede nur, dass bei ihnen die Stärke bereits in Zucker umge-
setzt sei. Diese Wahrnehmung wird für ihn zur Offenbarung,
denn in Indien wie in Aegypten sieht er das Volk sich willenlos
in die Knechtung durch Priesterkasten fügen.
Dass die Nahrungsmittel ihre Rückwirkung auf die Denkkräfte
der Menschen äussern, dass manche von ihnen eine entschieden
gefärbte Gemüthsstimmung hervorrufen, darf nur derjenige läugnen^
der noch nicht an sich oder an dritten die Wirkungen von Wein
und andrer alkoholischer Getränke, von Thee, Kaffee und Tabak,
überhaupt der narkotischen Genussmittel beobachtet hat. Wir sind
indessen noch weit entfernt, etwas über die dauernde Wirkung
der täglichen Nahrung ergründet zu haben, zumal der mensch-
liche Leib in grossem Umfang die Befähigung besitzt, sich ver-
schiedenen Ernährungsweisen anzubequemen, so dass selbst die
narkotischen Stoffe mit dem Gebrauch viel von ihrer Wirkung
verlieren. Buckle endlich führt sich selbst und leichtgläubige Leser
1) 1. c. tom. I. p. 76.
2) 1. c. p. 65.
330 Die Zone der Religionsstifter.
in die Irre, wenn er behauptet, dass die alten Aegypter dactylo-
phag gewesen seien. Dass sie die Dattelpalme kannten und an-
bauten, sind wir weit entfernt zu bestreiten, denn eine erste
Musterung ihrer Denkmäler, die uns wie Bilderbücher den Lauf
ihres täglichen Lebens vorführen, müsste uns schon beschämen.
Wir läugnen aber, dass die Dattel ein beständiges oder nur ein
wichtiges, wir behaupten vielmehr, dass sie nur ein aushelfendes
oder ergänzendes Nahrungsmittel des pharaonischen Volkes ge-
wesen sei'). Oder dachte Buckle etwa, dass der biblische Joseph
während der sieben fetten Jahre in den Speichern des Königs
Datteln aufgehäuft hätte? Meint er vielleicht, dass Jakob seine
Söhne zur Zeit der sieben magern Jahre nach Aegypten gesendet
hätte, um Datteln zu kaufen? Als in Mose's Tagen göttliche
Plagen über Aegypten verhängt wurden, zerstörte ein Hagelschlag
nicht die Dattelhaine, sondern die Gerste und den Leinen gänz-
lich, verschonte aber die andern Saaten, weil sie noch nicht hoch
standen. Nur in den Datteloasen Arabiens, aber noch weit mehr
in denen Nordafrika's , im Fezzan und im Süden Algeriens, also
am Rande und im Schoosse der Sahara, ist die Dattel die täg-
liche Nahrung, und gerade dort zieht sie unabhängige und streit-
bare Wüstenstämme gross, die nicht die entfernteste geistige
Verwandtschaft und eine völlig veränderte Sinnesart wie die reis-
essenden Hindu zeigen.
Wir vermögen sogar auf einem Umwege zu ermitteln, dass
<lie religiösen Schöpfungen in keiner Abhängigkeit stehen von der
Ernährungsweise der Bevölkerung. Dieselben Indier nämlich,
welche durch ihre ungezügelte Phantasie die Schaudergottheiten in
der epischen Zeit erschufen, waren auch die grössten Märchen-
dichter, die es jemals gegeben hat. Es ist längst ergründet worden,
dass der Schatz von Erzählungen der unter dem Namen Tausend
und eine Nacht durch die Araber ins Abendland gekommen ist,
in Indien ersonnen worden sei, und dass es ausser dieser Samm-
lung ganze Reihen von Erzählungen gibt, die bald aus dem Munde
eines Todtengerippes, bald aus dem eines klugen Papageien, bald
i) Erst die arabischen Eroberer haben sich anerkannte Verdienste um die
Hebung und Ausbreitung der Dattelcultur in Aegypten erworben. H. Ste-
phan, das heutige Aegypten. Leipzig 1872. S, 82.
Die Zone der Religionsstifter. 771
aus dem plötzlich belebter Holzbilder gesprochen werden. Wenn
Buckle in den Zahlenschwelgereien der Hindu, mit ihren endlosen
Weltaltern, in ihrer Sprache selbst, die einen Ausdruck hat für
Ziffern , die mit 51 Stellen geschrieben werden , eine knechtische
Demuth für das hohe Alterthum erkennen will, so möchten wir
doch viel eher dahinter eine Art arithmetischer Liebhaberei suchen,
denn das Volk, welches mit hohen Grössenbegriifen so gierig
spielte, hat zugleich der menschlichen Gesittung auch das höchste
Bildungsmittel nach Erfindung der Schriftzeichen geschenkt, näm-
lich die Kunst, den Werth der Zahlen durch ihre Stellung zu be-
zeichnen, oder wie wir nachlässig uns auszudrücken gewöhnt
haben, die Erfindung der arabischen Ziffern.
Es liegt sehr nahe und wird hier nicht zum erstenmale
ausgesprochen, dass die Schöpfung der religiösen und der
profanen Märchen nur als verschiedene Aeusserungen derselben
geistigen Befähigung zu denken sind. Völker von epischer und
dramatischer Zeugungskraft, Völker, die gern bauen, malen und
meiseln, besitzen auch die Gabe und den Drang, einen Olymp
mit mancherlei Gestalten zu bevölkern, mit heiteren oder düsteren,
je nach den vorherrschenden Gemüthsstimmungen. Nun aber
lässt sich leicht zeigen , *dass die Märchenschöpfung nicht ein aus-
schliessliches Eigenthum von reisessenden Hindu sei. Märchen
und Sagen von ergreifender Wirkung werden namentlich in Island
gesammelt unter einer an Zahl sehr spärlichen Bevölkerung, In
Island reift kein Getreide mehr und wächst nur Buschwerk, denn
ein einziger geschützt stehender Maulbeerbaum in Akreyri wird
von den Eingebornen mit Stolz als der Baum der Insel gezeigt.
Die Bewohner leben daher nur vom Ertrag der Viehzucht und
der Fischerei, also ausschliessend von Fleischkost. Wollte man
auch zugeben, dass viele der schönen Sagen von den Isländern
nur gehütet und aufbewahrt worden wären und dass sie aus der
altnordischen Heimath stammten, so lässt sich doch von einer
Mehrzahl nachweisen, dass sie in Island selbst ersonnen worden
sind, und selbst wenn sie aus Norwegen herrühren sollten, so
herrschte auch dort Fischfang und Viehzucht entschieden vor, in
früheren Zeiten noch viel .stärker als jetzt. Daraus gewinnen wir
aber die Einsicht, dass die Thätigkeit der Phantasie ganz unab-
hängig davon ist, ob die tägliche Nahrung ausschliesslich aus
Pflanzen- oder Thierstoffen bestehe.
ji2 ^'f Z""' '^" Religionsstifter.
So wären wir denn zu dem Ergebniss gelangt, dass sich krin
Zusammenhang zeige zwischen der höheren Lebensgefährdung an
einem Wohnsitze oder der Vollcsnahrung und den örtlichen Reli-
gion sschöp fangen. Vielleicht finden wir aber etwas brauchbares,
wo wir es am wenigsten erwarten , bei den alten arabischen Geo-
graphen. Schüler der alexandrinischen Griechen and mit der
Gradeintheüung des Ptolemäus wohl vertraut, zerlegten sie gleich-
wohl die Erde, wenn sie populär ihre Wissenschaft vortragen
wollten, in Klimate, oder wie wir zu sprechen gewohnt sind, in
JJonen. Diese Gürtel besassen nicht immer eine gleiche Breite,
sondern ihre Abstände betragen bald mehr, bald weniger wie
sieben Grad, jedem Gürtel, so meinte man, gehörten gewisse
Erzeugnisse der drei Reiche in besonderer Vollkommenheit an^
und noch am Schlüsse des Mittelalters wussten es auch unsere
Scholastiker nicht uesser, als dass schwarze Menschen nur dicht
über oder unter dem Aequator sich finden könnten, und dass
Gold in Fülle sowie Edelsteine sich nicht über die Grenze des
zweiten Klima's verirrten. In der Sprache dieses methodischen Irr-
thums äussert Schemseddin'), nach seiner Vaterstadt Dimeschqi ge-
heissen , dass die Völker heller Hautfarbe und hoher geistiger
Begabung nur auf das dritte und vierte Klima oder zwischen den
20°und 33 "49' n.Br. beschränkt wären und dass unter dieser Zone
alle grossen Religionsstifter, Weltweisen und Gelehrten (auch unser
Damascener) geboren worden seien. Diese Zone beginnt etwas
südlicher als der Parallel von Mekka (21° 2i'), um vieles südlicher
als der Parallel von Kapilavastu (lat, 27°}, dem Geburtsort des
Buddha Gautama; dagegen umfasst ihr Nordrand nicht mehr Rai
(Raghes) bei Teheran und noch weniger Balch (Bactra). In einer
dieser beiden Städte erblickte, wie wir schon anführten, Zoroaster
das Licht dieser Welt. Jedenfalls liegt eine Wahrheit in der
Beobachtung des arabischen Geographen, dass die Stifter der
höheren und jetzt noch bestehenden Religionen, Zoroaster, Mose,
Buddha , Christus und Mohammed , der subtropischen Zone ange-
hören, denn nur der Gebunsort des jüngsten der Propheten fallt
noch innerhalb des Wendekreises, liegt jedoch immerhin nur etwa
16 deutsche Meilen von dessen Grenze entfernt. Wenn wir Confutse
nicht nennen, so geschieht es nicht wegen der Polhöhe seines
I) Nouvelles Annales des voyages. Paris 1860. 6*"" sirie, tom. VI. p. 309.
Die Zone der Religionsstifter. 727
Geburtsortes im Kreise Yentschau der Provinz Schantung, sondern
vreü wir die andern Religionsstifter herabsetzen würden, wollten
wir den chinesischen Sittenlehrer ihnen beizählen.
Dass die Zone der Religionsstiftung sich fern hält von den
gemässigten Erdgürteln, könnte darin eine Erklärung finden, dasg
nur wo reifere geistige Zustände bereits bestanden, die Bevölke-
rungen empfänglich dafür waren, dem menschlichen Dasein durch
Unterlegung idealer Zwecke eine höhere Würde zu verleihen, und
dass gerade in den subtropischen Klimaten die ältesten höheren
Gesellschaftsgliederungen entstanden. Doch selbst nachdem die
fortschreitende Gesittung schon entschieden von den Wendekreisen
sich entfernt hatte, blieb immer noch das subtropische Asien der
fruchtbare Schooss der Religionen. Nicht in dem überfeinerten
europäischen Reiche der Römer, sondern in Palästina trat das
Christenthum, nicht in Byzanz, sondern in Arabien trat sechs Jahr-
hunderte später der Islim auf. In der kühlen gemässigten Zone
hat von jeher der Mensch sauer kämpfen müssen um sein Dasein,
weit mehr arbeitend als betend, so dass ihn die Last der Tages-
geschäfte beständig wieder abzog von einer strengen innerlichen
Sammlung. In den warmen Ländern dagegen, wo die Natur
leicht hinweghilft über den Erwerb der Nothdurft und die heissen
Tagesstunden ohnehin körperliche Anstrengungen verhindern, sind
die Gelegenheiten zu innern Vertiefungen viel reichlicher gegeben.
Der Wohnsitz ist jedoch nicht gänzlich entscheidungslos für
die Richtung, welche das religiöse Denken einschlägt. Die drei
monotheistischen Lehren, Judenthum, Christenthum und Islam,
entstanden im Schoosse semitischer Völker , allein der Hang zum
Monotheismus war nicht ausschliesslich eine Racenbegabung, denn
andere Semiten, wie die PhÖnicier, Chaldäer und Assyrier, gingen
andere Wege, und selbst bei den Juden traten immer Rückschläge
iur Vielgötterei ein, in Aegypten zumal versanken sie völlig in den
Bilderdienst, Wenn der Monotheismus stets aufs neue sich ver-
jüngte, so leistete ihm dabei ein benachbarter Naturschauplatz
mächtiijen Beistand.
Wer immer die Wüste betreten hat, rühmt ihren wohlthätigen
Einfluss auf das körperliche Befinden. Aloys Sprenger gesteht,
dass ihre Luft ihn mehr gestärkt habe, als die unserer Hochalpen
oder die des Himalaya, und in einem Briefe an den Verfasser heisst
es: „Die Wüste hat den Arabern ihren merkwürdigen welthistorischen
334 ^^® Zone der Religionsstifter.
Charakter aufgedrückt. Die Phantasie, welche die Menschen in
ihrer Kindheit leitet, wird in den unbegrenzten Ebenen mit ganz
anderen Bildern erfüllt, als in Wäldern. Sie sind wenig zahlreich^
aber grossartig, und zwar schafft sich der Mensch aus seinem
eigenen Kraftbewusstsein eine kühnere Persönlichkeit, auf die er
bei seinen Wanderungen angewiesen ist, einen persönlichen Gott**»
Im Nomadenleben endlich trägt es sich häufig zu, dass ein Hirt
wochenlang allein, von Hunger und Durst gequält, herumirrt.
Dann leidet auch der Gesündeste an Sinnestäuschungen. Sehr
oft kommt es in dieser Lage vor, dass verlassene Wanderer sich,
rufen und Stimmen zu sich sprechen hören; daher ist für solche
Stimmen in der arabischen Sprache ein eigenes Wort Hält/ vor-
handen. In Afrika wiederum bedeutet Ragl^ abgeleitet von
Radscholy der Mann, menschenähnliche Phantome, die sich dem
getäuschten Auge darbieten^).
Jeder Reisende, der noch die Wüsten Arabiens und Klein-
asiens durchzog, spricht begeistert von ihren Schönheiten, alle
rühmen sie Luft und Licht, preisen sie das Gefühl der Erquickung
und eine merkliche Steigerung der geistigen Spannkraft, noth-
wendig muss daher zwischen dem gewölbten Himmel und den
unbegrenzten Flächen eine monotheistische Stimmung die Kinder
der Wüste beschleichen. Mose, ein Priester von Heliopolis, vergass
erst das Getümmel des äpyptischen Götterkreises, die schönen
Bilder aus Stein, die geheiligten Thiere, die Menschengestalten mit
den Hieroglyphenköpfen und Symbolen, als er nach dem Sinai
entwichen war, dem ältesten Steine, den die Geologie kennt, den
nach Oscar Fraas') auch nicht der kleinste Fetzen von Bildung
irgend eines späteren Zeitalters bedeckt, als ob er sich nie ins
Meer getaucht, nie sich emporgerichtet, niemals gewankt hätte.
Dort in der Wüste musste erst das alte Judengeschlecht mit seinem
ägyptischen Heidenthum begraben werden, ehe sich bei einem
neuen unter Wüstengedanken und Wüstenbildern erwachsenen der
Monotheismus verhärtete. Auch sonst wird in der heiligen Schrift
die günstige Wirkung der Wüste bestätigt. Der feurige Elia zog
sich in die Wüste zurück, der Täufer wieder predigte in der
Jordanswüste in Beduinentracht, nämlich in einem Gewand aus
i) A. Sprenger, das Leben des Mohammad. Pd. i. S. 216.
2) Aus dem Orient. Geolog. Beobachtungen. Stuttgart 1867. S. 7—8.
Die Zone der Religionsstifter. 37c
Kamelshaaren, und ernährte sich von Heuschrecken und wildem
Honig. Auch Christus bereitete sich vor zu seiner Laufbahn
vierzig Tage und vierzig Nächte in der Wüste. MoKammed end-
lich war zwar ein Stadtkind, sog aber die Milch einer Beduinen-
amme ein , war lange Zeit Hirt und durchzog auf seinen Kara-
wanenreisen . die Landstriche zwischen seiner Heimat und Pa-
lästina. Die Pilgerfahrten nach Mekka, obgleich sie weit älter
sind als der Islam, dienen nicht wenig zur Befestigung des Glau-
bens, insofern ihnen eine Wüstenreise voranzugehen pflegt. Doch
sitzen die Bekenner des Propheten ohnedies schon in der Nähe
von Wüsten, denn die Lehre Mohammed*s hat sich fast nur in der
Zone des Ostpassates verbreitet und erst sehr spät in Afrika bis
zum Sudan erstreckt. In Indien konnte sie aber nur eine be-
schränkte Verbreitung gewinnen, und auch diese nur durch
politische Nachhilfe.
Das ist so ziemlich alles, was sich streng ermitteln lässt
über die Rückwirkung der Ländernatur auf die Richtung des reli-
giösen Sinnes der Bevölkerung. Die Wüste ist zur Weckung des
^lonotheismus sehr hilfreich, weil sie bei der Trockenheit und
Klarheit der Luft die Sinne nicht allen jenen reizenden Wahn-
bildern des Waldlandes aussetzt, den Lichtstrahlen, wenn sie durch
Lücken der Baumkronen auf zitternden und spiegelnden Blättern
spielen, den wunderlichen Gestalten knorriger Aeste, kriechender
Wurzeln und verwitterter Stämme, dem Knarren und Seufzen,
dem Flüstern und Rauschen, dem Schlüpfen und Rascheln, über-
haupt allen jenen Stimmen und Lauten in Busch und Wald, bei
denen uns so gern das Truggefühl unsichtbarer Belebtheit über-
schleicht. In den Wüsten schleppen und schleichen auch keine
Nebelschweife über feuchten Wiesengrund. In solchen Dunst-
gebilden, wenn sie über den Wäldern Neu-Guinea's aufsteigen,
verehren die Eingebornen Doreh's das Sichtbarwerden Narvoj6*s,
ihres guten Geistes*). Wohl lässt sich daher behaupten, dass mit
der Ausrottung der Forste nicht blos das örtliche Klima verändert,
sondern auch Poesie und Heidenthum mit der Axt getroffen worden
seien. Begünstigt aber auch ein sonniges Land die monotheistischen
Regungen, so ist doch zugleich jede Religionsschöpfung wiederum
ein Ausdruck der Racenbegabung. Die Semiten haben keine
i) O. Finsch, Neu-Guinea. S. 107.
-?^6 I^ic Zone der Religionsstifter.
rechte epische urfd eine weniger als dürftige dramatische Literatur
besessen, da für solche Erzeugnisse ihnen die arische Gestaltungs-
kraft fehlte. Ueberhaupt würde es auf Irrwege führen, wenn man
alle inneren Erzeugnisse der Völker nur aus physischen Vor-
bedingungen ableiten wollte. Gewiss sind auch sie einem gesetz-
lichen Entwickelungsgang unterworfen und nichts anderes als der
nothwendige Ausdruck einer Kette von Ursachen. Zu diesen Ur-
sachen gehören aber auch ganz sicher die geschichtlichen Ver-
hängnisse der Völker. „Es ist ein alter Satz**, äussert in diesem
Sinne Delbrück^), „dass die Erfahrungen des .Lebens jeden Ein-
:eelnen seinen Gott finden oder verlieren lassen".
i) Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Bd. 3. S. 488.
DIE MENSCHENRACEN.
In einem früheren Abschnitt gelangten wir zu dem Ergebniss,
dass alle körperlichen Merkmale, die Schädelform, die Grössen-
verhältnisse der Gliedmassen, die Farbe der Haut innerhalb der
nämlichen Menschenrace beträchtlich schwanken, dass selbst die
Beschaffenheit des Haares nicht zu den beharrlichen Wahrzeichen
gerechnet werden dürfe und dass daher bei der Vertheilung des
Menschengeschlechtes in grössere Gruppen oder Racen alle vor-
herrschenden Eigenthümlichkeiten berücksichtigt werden müssen.
Die Grenzen solcher Gruppen sind oft leicht, noch öfter sehr
schwierig zu ziehen. Unstatthaft aber ist es , sie dort zu ziehen,
wo die gemeinsamen Kennzeichen einer Gruppe durch leise Ab-
stufungen zu den gemeinsamen Kennzeichen einer andern Gruppe
übergehen, es müssten denn solche Abstufungen mit geschichtlicher
Glaubwürdigkeit auf Zwischenheirathen sich zurückführen lassen
und durch Mischlinge vertreten werden.
Wenn wir diesem Grundsatze huldigen, werden wir genöthigt,
das Menschengeschlecht in sieben Gruppen, Racen, Unterarten
oder Arten, wie man sich ausdrücken will, zu sondern. Es
sind dies erstens die Bewohner Australiens und Tasmaniens,
zweitens die Papuanen Neu-Guinea's und benachbarter Inseln,
drittens die mongolenähnlichen Völker, zu denen wir nicht
blos Festlandsasiaten, sondern auch die Malayopolynesier und
die Eingebornen Amerika's zählen, viertens die Dravida oder die
Bewohner Vorderindiens von nichtarischer Abkunft, fünftens die
Hottentotten und Buschmänner, sechstens die Neger, siebentens
die mittelländischen Völker, welche den Kaukasiern Blumenbaqh's
Petchth Völkerkunde. 22
^^8 I'ie Mensche nracen.
entsprechen. Die Rechtfertigung der Abgrenzung wie der Zu-
sammenstellung der sieben Gruppen muss den einzelnen Ab-
schnitten vorbehalten bleiben. Wir betrachten ferner die Ab-
schätzung der bürgerlichen, sittlichen und geistigen Entwickelung
der einzelnen Racen als eine unerlässliche Aufgabe der Völker-
kunde. Die Reife der verschiedenen menschüchen Gesellschaften
entspricht jedoch nicht streng der wechselnden Begabung der
Racen, sondern sie steht auch in Abhängigkeit von der Gunst
oder Ungunst des Wohnortes, so dass auch dessen Rückwirkung
auf die Culturgeschicke der einzelnen Men sehen gruppen erwogen
und wo möglich abgewogen werden soll.
I.
DIE AUSTRALIER.
Die Bewohner des australischen Festlandes, sammt den Küsten-
inseln und Tasmanien, bilden ihrer Körpermerkmale wegen eine
scharf abgesonderte Menschengruppe. Bei einem mittleren Breiten-
index von 71 und einem Höhenindex von 73 gehören sie zu den
hohen Schmalschädeln. Sie sind zugleich prognath un4 phanerozyg.
Die Nase, an der Wurzel schmal, verbreitert sich stark nach ab-
wärts, krümmt sich jedoch nicht wie bei den Papuanen. Der
Mund ist weit geöffnet und unförmlich. Der dritte obere Backzahn
besitzt regelmässig drei Wurzeln, eine Erscheinung, die unter
Europäern zu den Seltenheiten gehört*). Der Körper ist reichlich
behaart. Die schwarzen Haare selbst, im Querschnitt stark
eUiptisch, bilden abstehend um das Haupt eine zottige Krone, nur
schwächer wie bei den Papuanen, kräuseln sich und zeigen sogar
Anlage zur Verfilzung. Wenn an der Coburg -Halbinsel auch
schlichte Haare und schief gestellte Augen unter den Eingeborncn
angetroffen werden, so sind diese Wahrzeichen einer Mischung mit
Malayen zuzuschreiben, die sich dort als Trepangfischer einfinden.
Wird doch daselbst von vielen Eingebornen macassarisch gesprochen ^)
und bezeugen uns Felseninschriften mit buginesischen oder ma-
cassarischen Buchstaben die Anwesenheit von Malayen^).' Die
Farbe der Haut ist immer dunkel, bisweilen schwarz, bisweilen
i) Latham, Varieties of man. p. 244.
2) Carl, im Journal of the R. Geographical Society. London 1846.
vol. XVI. p. 244. Daraus erklären sich auch die oben (S. 254) erwähnten
unaustralischen Adelssatzungen
3) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 762.
22*
340
Die Australier.
wie an der Süd- und Südostküste hell kupferroth *). In allen diesen
Merkmalen glichen die Tasmanier den Australiern vollständig, nur
war ihr Haarwuchs noch papuanischer, das heisst zum büschel-
förmigen Wachsthum noch mehr geneigt*). Auch zeigen die
wenigen Schädel, die bis jetzt gemessen worden sind, höhere Pro-
cente bei Breite wie Höhe, nämlich beiderseitig 74^). Wie sie
auf ihre Insel gelangt seien, hat vielen ein Räthsel geschienen,
weil irrigerweise die Tasmanier gar keine Fahrzeuge besessen haben
sollen. Flossartige Kähne waren indessen vorhanden "*) und eine
Einwanderung von Australien her über die inselreiche Bass-Strasse
erforderte keine hohen Leistungen. Dass solche Fahrten unter-
nommen wurden, bezeugt der Umstand, dass die Tasmanier die-
selben symmetrischen Hautnarben trugen, wie die Australier s).
Im Jahre 1803 wurde ihre Insel von Europäern besiedelt, 1869 starb
der letzte Eingeborne. Die Geschichte ihrer gewissenlosen Aus-
rottung hat uns ein Bewohner Tasmaniens wahrheitsgetreu ge-
schildert^).
Als Verwandte stehen den Australiern und Tasmaniern nicht
etwa die afrikanischen Neger, noch weniger die Urbevölkerung
Vorderindiens, sondern die Papuanen am nächsten. Ausser körper-
lichen Verschiedenheiten trennt sie aber von diesen der Bau ihrer
Sprachen, denn alle Präfixe fehlen den Australiern, die vielmehr
den Sinn der Wurzeln nur durch nachgesetzte Sylben begrenzen.
Aehnlichkeiten zwischen den australischen und südindischen oder
dravidischen Sprachen, die zwar in den Fürwörtern, jedoch nur
sehr schwach vorhanden sind, haben Bleek'), wenn auch sicher
nicht mit hinreichender Berechtigung, eine Sprachverwandtschaft
zwischen jenen Bevölkerungen vermuthen lassen. Die Worte in
den australischen Sprachen sind mehrsylbig, beginnen mit einem
Consonanten und lauten mit einem Vocal oder Halbvocal aus*^).
i) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 711.
2) Lehrreiche Abbildungen nach Photographien bei Mantegazza
Archivio per TAntropologia. Firenze 1871. vol. i. Tav. i — 3.
3) Barnard Davis, Thesaurus craniorum. p. 272. p. 358.
4) Waitz. 1. c. S. 812.
5) Waitz. 1. c.
6) James Bonwick, The last of the Tasmanians. London 1870.
7) Journ. of the Anthropol. Institute. London 1872. vol. L p. 90,
8) Fr. Müller, Allgemeine Ethnographie. S. 187.
Die Australier.
341
Den Wortschätzen nach zerfallen aber die Sprachen der Australier
in unendlich viele Bruchtheile. Um so merkwürdiger ist es, dass
dieselben Familiennamen zugleich in Westaustralien und in Süd-
australien, wie auf der Carpentariahalbinsel angetroffen worden
sind'). Wenn viele australische Mundarten arm sind an Zahlen-
ausdrücken, so folgt daraus doch nicht, dass die Eingebornen
grössere Mehrheiten nicht hätten überblicken können , denn sie
bedienen sich 18 verschiedener Worte zur Benennung von Kindern,
je nachdem der erst- bis neuntgeborne Knabe oder die erst- bis
neuntgeborne Tochter bezeichnet werden solP).
Bevor wir uns mit ihren geistigen und gesellschaftlichen Zu-
ständen beschäftigen, wird es rathsam sein, einen Blick über ihren
Wohnort zu werfen. Nirgendwo lässt sich nämlich die verspätete
Entwickelung des Menschengeschlechtes durch die missliche Ge-
staltung der Erdräume besser rechtfertigen als in Australien,
Hinausgerückt in abgelegene Planetenräume und doch wiederum
zu klein, um eine Welt für sich zu bilden, erlitt Australien die
Missachtung, dass sich ihm nie bis vor kurzer Zeit ein Cultur-
pfad genähert hatte. Von allen Festlanden wurde es zuletzt ent-
deckt, von allen Entdeckungen blieb es am längsten, nämlich
volle zwei Jahrhunderte vernachlässigt, und als es von Europäern
zuerst besiedelt wurde, erschien es nur tauglich zur- Entfernung
der Unverbesserlichen aus der Gesellschaft. Seine wagrechte Glie-
derung oder, was dasselbe sagen will, seine Küstenumrisse nähern
sich unter allen Welttheilen, nach Afrika, am meisten der Kreis-
form, bei welcher der Umfang die geringste Entwickelung zum
Flächeninhalt besitzt. Nur an zwei Stellen zeigt es den Ansatz
von Gliedmassen: es ist dies die Carpentaria- oder Cap-York-
Halbinsel und die Insel Tasmanien, welche letztere, wie wir es
anderwärts schon ausgesprochen haben, eine überfluthete Zunge
des Festlandes ist, und die pyramidalen Zuspitzungen der andern
südlichen Festlande, nämlich Südamerika's und Südafrika's, als
Homologie kümmerlich genug vertritt.« So ungenügend auch die
eben genannten Gliederungen erscheinen mögen, so hat doch
wenigstens die eine ihren Zauber bewährt, denn die Carpentaria-
Halbinsel blieb bis in die neuesten Zeiten das einzige Organ, wo-
i) Grey bei Eyre, Central- Australia. tom. II. p. 329.
2) Journal of the Anthrop. Inst. 1. c. p.' 97.
342
Die Australier.
durch Australien sich noch einen, wenn auch schwachen Verkehr
mit höhern Gesittungen rettete. Das dortige Cap-York verlängert
sich nämlich als eine Kette hoher felsiger Inseln bis nach Neu-
Guinea, und da wir gezwungen sind, Australien ursprünglich als
menschenleer, seine heutige dunkle Bevölkerung aber als einge-
wandert zu denken, wenn auch dieses Ereigniss in eine vorläufig
unermessbare Vergangenheit zurücktritt, so ist der Uebergang
über die Torresstrasse der bequemste Weg für eine Einwanderung
wenig seetüchtiger Stämme. Wir könnten sogar die Australier
von Neu-Guinea aus trocknen Fusses hinüberführen in ihre jetzige
Heimat, denn gerade längs jener Inselkette beträgt die Meerestiefe
der Torresstrasse nirgends über lO Faden (60 Fuss)'), und ihre
Sohle kann sich seit dem Auftreten der Menschen leicht um diesen
. Abstand gesenkt haben, wenn auf Sardinien, 60 M^tres über dem
Meere, Thonscherben mit Seeschalthieren und Schlamm fossü ver-
backen angetroffen worden sind.
Aus den Wortschätzen, die auf der Erforschungsexpedition
unter Capt. Blackwood gesammelt wurden, ergibt sich ferner deut-
lich, dass die Stämme am Cap York eine verwandte Sprache reden
wie die Bewohner der Inseln in der Endeavourstrasse, dann auf
den Murray-Inseln, ferner auf Masid und auf Errub, lauter Eilande
Östlich vom Eingang in die Torresstrasse*). Verfolgen wir also
diese linguistische Fährte, so werden wir hinübergeführt bis hart
an die Küste Neu-Guinea's. Zwar sind die Papuanen, die Bewohner
jener Insel, von den Australiern durch so scharfe Racenmerkmale
getrennt, dass ein geübtes Auge, wie Jardine bemerkt hat, unter
den Australiern am Cap York die herkulischen Gestalten von ein-
zelnen Auswanderern Neu-Guinea's leicht herauskennen wird;
immerhin sehen wir doch aus diesen Wanderungen, die noch
^heutigen Tages vorgehen, und aus den oben angeführten Spuren
der Sprachverwandtschaft, dass von Neu-Guinea herüber die Ver-
bindungen mit der Carpentaria- Halbinsel beständig fortgewirkt
haben, und diese Thatsachen sind die einzigen Fingerzeige nach
dem Pfade, auf welchem die ersten Menschen das australische
Festland dermaleinst betreten haben mögen. Hier rechtfertigt sich
zugleich, dass wir oben der Carpentaria- Halbinsel eine cuJtur-
i) Jukes, Voyage of H. M. S. Fly. vol. I. p. 153.
2) Latham, Opuscula. p. 234.
Die Australier.
343
historische Wichtigkeit beigemessen haben, da sie das einzige Organ
war, womit das australische Festland seine jetzt vielfach zerstückte
Verbindung mit der alten Welt einigermassen noch aufrecht zu
erhalten strebt. Hat es. von dorther seine ersten menschlichen
Bewohner aufgenommen, so empfing es noch bis zur Gegenwart
auf jenem Weg etliche Schätze einer rohen Civilisation. Denn
die Papuanen Neu-Guinea's sind, unbeschadet ihrer Blutgier und
Menschenfresserei , im Vergleich zu den Australiern verfeinerte
Völkerschaften, deren geräumige Wohnungen neben den Laub-
hütten der Australier als stattliche Paläste erscheinen , und von
denen einige Ueberläufer die Stämme am Cap York bereits mit
dem Gebrauche von Bogen und Pfeil vertraut gemacht haben,
also mit Wurfmaschinen, welche die Sicherheit des Treffens be-
trächtlich steigern. Gleichzeitig hat durch sie ein wesentlicher
Aufschwung im Schiffbau stattgefunden, denn die alten Rinden-
kähne sind jetzt durch lange ausgehöhlte Piroguen mit Auslegern
nach papuanischem Muster verdrängt worden, endlich haben sich
bereits die ersten Anfange von Feldbau, wenn sie sich auch vor-
läufig nur auf die Anpflanzung von Knollen- und Wurzelgewächsen
erstrecken, von Neu-Guinea auf die Inseln nördlich von Cap York
verbreitet*). Wären daher die Europäer um etwa 500 Jahre
später im indischen Ocean erschienen und den Australiern noch
länger ihre Inselruhe gegönnt gewesen, so würden sehr leicht durch
die Einwirkung der papuanischen Stämme die Bewohner des Fest-
landes auf eine Stufe gehoben worden sein, die sie etwa gleich-
stellen möchte den edlern Jägerstämmen Südamerika's.
Nach der Vermuthung eines unserer besten Kenner Australiens
würde ein Steigen des Meeresspiegels von wenigen Hunderten von
Füssen genügen, um jenes Festland in Gruppen zahlreicher Inseln
aufzulösen, denn die Bergländer, welche vorzugsweise am Rande
um den Kern herumlagern, sind durch Einsenkungen oder Arme
der Tiefländer vielfach getrennt*). Doch sollte damit nicht der
völlige Mangel von inneren Hochebenen behauptet werden 3).
i) Jardine, Journal of the R. Geographical Society. London 1866.
vol. XLVI. p. 76—86.
2) Mein icke, Australien. Ergänzungshefte zu Petermann's Mit-
theilungen. No. 29. Gotha 1871. S. 21.
3) Vergl. die Beobachtungen von Forrest im Innern Westauslraliens.
Peterm. Mitth. 1870. S. 151.
344
Die Australier.
So weit wir bis jetzt Australien kennen, ist die Abwesenheit
von erhabenen Gebirgsketten und folglich auch der Mangel grosser
Ströme der auffallendste Zug. Es gesellt sich also zur tellurischen
Abgelegenheit und zum Mangel an aus- und einspringenden Um-
rissen auch eine Vernachlässigung der plastischen Gliederungen.
Ja als hätte Australien uns das w^arnende Beispiel eines verkehrt
angelegten Erdraumes bieten sollen, finden sich seine kräftigsten
Bodenerhebungen , die sogenannten Alpen , mit Gipfelhöhen von
7000 Fuss gerade wieder an der am meisten entlegenen Ecke des
Festlandes, und in Folge dessen hat sich auch sein einziges grosses
Stromsystem, auf dem etliche tausend engl. Meilen für Dampfer
schiffbar gefunden worden sind, nach einer von den Culturräumen
der alten Welt abgekehrten Seite des Festlandes entwickelt. Die
höhern Gebirge Australiens oder vielmehr die Abstürze des öst-
lichen Festlandes, eine ähnliche plastische Erscheinung wie die
Ghat in Indien, sind aber geradezu zum Nachtheil für das leewärts
liegende Festland aufgestiegen, denn die hoch aufgerichteten Ost-
küsten fangen den feuchten Passat auf und zwingen ihn, seine
Wasserdämpfe an ihren Abhängen fallen zu lassen, so dass er
beträchtlich ausgesogen die Hochebenen erreicht und diesen nur
wenig Benetzung zuführen kann'). Wäre statt dessen, wie in
Südamerika, eine hohe Gebirgskette am Westrande des Festlandes
aufgestiegen, der Ostrand dagegen flach gewesen oder massig an-
geschwollen, so würde sich ein Strom, wenn auch nicht von der
Herrlichkeit des Amazonas, doch wenigstens von der Mächtigkeit
des Orinoco entwickelt haben, und die Eingebornen hätten sich
an seinen Ufern vielleicht auf die Stufe der brasilianischen Jäger-
völker schwingen können.
Jetzt, wo wir etwa auf zwei Dritteln des Flächenraums die
Natur Australiens kennen, ist das alte Trugbild verscheucht worden,
als sei das Innere völlig von einer pflanzenleeren Wüste ausge-
füllt. Besässe Australien wirklich eine Sahara, so ist sie jedenfalls
nur eingeschränkt auf den Kern der westlichen Ausbauschung des
Festlandes. Alles übrige Gebiet geniesst eine zwar kurze, aber
l) Die Küstenflüsse richten daher durch ihre Ueberschwemmungen oft
grosses Verderben an, wie der Hawkesbury 1867 plötzlich um 62' über
seinen mittleren Spiegel stieg. Peter m. Mitth. 1868. S. 347. Oberländer
und Christmann, Australien. S. 332—339.
Die Australier.
345
heftige Regenzeit. Mitten im Continent sah sich Mac Kinlay*)
von Regenfluthen gefesselt, wenn nicht ernstlich bedroht, denn
beinahe auf der Hälfte des Gesichtskreises war nichts als eine
unbegrenzte Wasserfläche zu' sehen, aus der nur höhere Bäume
und inselartig etliche Bodenerhebungen hervorragten. Aehnliches
erlebte J. M. Gilmore im äussersten Westen von Queensland^).
Auf eine solche jähe Entladung des Wasserdampfes aus den Luft-
strömen folgt eine ebenso hastige Verdunstung, und wenige
Wochen nach den Ueberfluthungen gähnt der Boden wieder vor
Dürre. In Folge dieser ungeregelten Vertheilung der Nieder-
schläge ist Australien, so weit wir es kennen 2), vorzugsweise ein
Grasland mit parkartigem oder die Flüsse säumenden Baumwuchs,
wenn es auch nirgends an grossen Oasen [von Buschland fehlt.
Diess wäre an sich der Entwickelung der menschlichen Gesell-
schaft nicht hinderlich gewesen, wenn sich nicht dazu das geo-
logische Verhängniss Australiens gesellt hatte.
Soweit die bisherigen Forschungen reichen, hat man bis jetzt
ein Auftreten von tertiärem Gebiet nur an zwei Stellen wahrge-
nommen^). Die Gebirgsarten sind entweder krystallinisch oder
ihre Versteinerungen gehören den frühesten Erdaltern an, da
sie selten über die Kohlenzeit und kaum bis zu den bunten Sand-
steinen reichen. Mit andern Worten will dies heissen, dass der
grösste- Theil jener Planetenstelle seit den secundären und tertiären
Zeiten nicht mehr unter das Wasser tauchte, sondern ohne Wieder-
geburt oder Erholung allen Unbilden des Luftkreises seit dieser
Zeit ausgesetzt blieb und darüber mehr und mehr von seinen
plastischen Jugendreizen verlor. Denn die hohen Gebirgszüge der
primären und secundären Zeit müssen durch die lange Dauer der
Verwitterung und Abwaschung herabgeschleift und dem Boden
näher gebracht worden sein. Selbst dieses Loos wäre noch er-
1) Journal of the R. Geogr. Soc. London 1863. vol. XXXIII. p. 45 — 47.
2) Vergl. Petermann's Mittheil. 1872. Tafel 22.
3) Ein Schäfer Namens John Ross will allerdings unter 24^ 30' s. Br.
und 137® östl. L. Greenw. nicht blos reiche Weidegründe, sondern auch auf
einer Strecke von 60 d. Meilen ausdauernde fliessende und stehende Gewässer
entdeckt haben, die sich für DampfschüFfahrt eignen sollen. Sir. R. Mur-
chison in Proceedings of the R. Geogr. Soc. 22. Mai 1871. tom. XV. p. 297,
4) F. V. Hochstetter in Petermann's Mittheilungen. 1859. S. 208.
3|6 Die Australier.
träglich gewesen, wenn nicht Australien zugleich seinen -ehemaligen
trockenen Zusammenhang mit dem grossen Länderbau der alten
Welt eingebüsst hätte. Die Trennung oder das Selbständigwerden
Australiens erfolgte aber in einem unreifen Zeitpunkte, nämlich
schon damals, als die Entwickelung der Fauna erst bis zu den
Beutel- und Nagethieren, noch nicht aber bis zu den Hufthieren
fortgeschritten war. Während in der alten Welt und in Amerika
durch den fortdauernden Kampf um das Dasein immer höhere
Geschöpfe hervorgerufen wurden, denen die alterthümlichen Mar-
supialgestalten beinahe gänzlich weichen mussten, bewegte sich in
Australien der Kampf in einem viel engeren Kreise, und daher
blieb seine Thierschöpfung mit geringen Aenderungen auf der
Stufe stehen , die sie erreicht hatte, als die Abtrennung als Insel
erfolgte. Das älteste Festland der Erde ernährt auch die ältesten
Säugethierformen. Vor allem vermissen wir die reissenden Thiere,
denn der Dingo oder australische Hund wanderte wahrscheinlich
erst mit den Menschen ein, wenn er auch jetzt verwildert in Jagd-
genossenschaften angetroffen wird. Sollte er aber auch, wie man
aus den Funden von Dingoresten in alten Knochenhöhlen*)
schliessen möchte, schon vor den Menschen Australien betreten ha-
ben, so ist dies doch wohl immer nur in einer, geologisch gesprochen,
kurzen Vergangenheit geschehen. Da die Raubthiere als grosse
Gegner günstig auf die Erziehung des Menschen einwirken, so
gehört ihr Mangel unter die Nachtheile des Wohnortes. Noch
bedauerlicher aber erscheint die Abwesenheit aller Hufthiere, wo-
durch von vornherein für die Menschen die Möglichkeit ausge-
schlossen war, sich zu den höchsten Gesittungen zu erheben, denn
mit Ausnahme des Hundes hätte sich wohl kein australisches
Säugethier zähmen lassen, da ein gewisses Mass von Intelligenz
nothig scheint, wenn die Thiere als Ernährer oder Gehilfen von
dem Menschen in seine Gesellschaft aufgenommen werden sollen,
die Beutel thiere aber wegen ihrer Geistesarmuth dieses Mass nicht
besitzen. Wie wir alle wissen , ist Australien zur Zucht von
Schafen, Rindern, Pferden, Kamelen wie auserlesen, aber alle
diese wichtigen Culturgeschöpfe konnten das Festland nicht mehr
erreichen , seitdem es keine Brücke mit der alten Welt mehr ver-
knüpfte. So kann man denn füglich von Australien behaupten,
\) Pagenstecher, in Petermann's Mittheilungen. 1866. S. 133.
Die Australier. ^^-j
es sei eine Insel ohne die Vortheile eines Inselklima's, ein nahrungs-
reiches Steppenland ohne Steppenhufthiere , ein Land der Insel-
ruhe oder eines schläfrigen Kampfes um das Dasein und daher
ein Asyl für die Thier- und Pflanzentrachten der Vorzeit. Fried-
fertigkeit, wenn wir die Vorgänge der belebten Schöpfung richtig
verstehen, bedeutet aber so viel wie Erstarrung, denn verglichen
mit den hoch gestiegenen Säugethieren der alten Welt erscheinen
uns die australischen wie hüpfende Fossilien. War die Uhr dann
abgelaufen, landete das erste Schiff Geschöpfe aus der alten Welt,
hörte mit der Absonderung Australien auf eine Insel zu sein, gab
es wieder eine Brücke, wenn auch nur eine fliegende, die es aber-
mals mit der alten Welt verband, und sollte nun der allzufrüh
abgebrochene Kampf um das Dasein von neuem beginnen, aber
zwischen streitgewohnten und streitgerüsteten gegen kampfent-
wöhnte Wesen, so mussten in kurzer Zeit die letzten überlebenden
und überlebten Formen der Vergangenheit erliegen, Australiens
Fauna in das paläontologische Buch geschrieben werden, und mit
dem Känguruh auch der Känguruhjäger verschwinden. So hat es
von jeher die neuerungssüchtige Natur gehalten: ihr gilt nur die
Berechtigung des Stärkeren, und das Stärkere muss immer auch
etwas Neueres sein, denn wäre das Neuere schwächer, so würde
es unterdrückt ehe es nur aufkäme.
Wo immer Australien von europäischen Wanderern betreten
wurde, sind sie den Eingebornen oder ihren Spuren begegnet.
Wenn der eine Entdecker vielleicht eine Einöde zu durchschreiten
meinte, sah sich der nächste auf demselben Räume von Schwarzen
umschwärmt. Wo Sturt einen menschenleeren Raum vermuthete,
wurde Mac Kinlay') bei seiner Wanderung durch das Festland
1861 — 62 in dem merkwürdigen Seengebiet durch die Dichtigkeit
der Bevölkerung überrascht, und wenn er wiederum weiter nörd-
lich zwischen 26° und 22^ südl. Br. auf keine Eingebornen
mehr stiess, so traf Mac Douall Stuart'), der fast gleichzeitig, aber
mehr als 6 Grad östlicher, Australien zum zweitenmale durchzog,
am 3. März 1862, just als er den Wendekreis überschritt, wo er
sich im mathematischen Mittelpunkte Australiens befand, mit Ein-
i) Journal of the R. Geogr. Society, London 1863. vol. XXXIII. p. 21.
2) 1. c. p. 282.
^^8 ^i® Australier.
gebornen zusammen. Ebenso sahen Burke und Wills*) am 5. Ja*
nuar 186 1 kurz bevor sie den Wendekreis berührten, frische Spuren
von Eingebornen, denen sie weiter nördlich dann wirklich be-
gegneten.
Abgesehen von den Bewohnern der Carpentaria - Halb-
insel , finden wir die Stamme des übrigen Festlandes auf
sehr verschiedenen Stufen der Gesittung, wie sie denn auch
physisch sich wesentlich unterscheiden. Bisher galten uns die
Jammergestalten am King George -Sund an der Südwestecke des
Festlandes, welche Dumont d'Urville hatte abbilden lassen, al&
Muster der australischen Menschen, die wir uns abgezehrt bis auf
das Knochengerüste, mit schmalen Becken selbst bei Frauen,
dünnen, schwächlichen Gliedmassen und aufgeschwelltem Unter-
leib vorzustellen pflegten. Im Innern des Festlandes aber bessert
sich nach den Aeusserungen aller Entdecker der Typus. Mac
Kinlay*) fand in dem Seengebiet an der Nordostgrenze Süd-
australiens die schönsten Stämme, die er je auf dem Festland ge-
sehen hatte. Landsborough ^) stiess im April 1862 unter 23® s. Br. weit
von der Küste am Thompson-River und Stuart*) im Norden auf
Eingeborne, die beide fast mit denselben Worten als stattliche und
urkräftige Erscheinungen schildern. Ebenso werden die Stämme an
den Küsten von Queensland als gut gebaut und stark gegliedert
von dortigen Ansiedlern uns beschrieben. Was aber die gesell-
schaltliche Entwickelung betrifft, so nimmt sie sichtlich ab, zugleich
von Nord nach Süd, wie von Ost nach West, d. h. von Cap York,
dem Punkte, welcher noch am meisten an einer Verbindung mit
der alten Welt festgehalten hat, wird die Lebensweise, der sich
die Eingebornen unterwerfen, immer niedriger. So besassen vor
Einführung der papuanischen Piroguen die Stämme der Carpen-
taria- Halbinsel von alter Zeit her schon Fahrzeuge, wenn auch
die besten Muster davon sich höchstens nur mit den Rindenkähnen
der nord amerikanischen Rothhäute messen konnten. An der Ost-
küste von Queensland vermochten die Beobachter an Bord der
Fly südlich von Rockingham-Bay (18** 5' S. Br.) keine derartigen
1) Petermann's Mittheilungen. 1862. S. 74.
2) Journal of the R. Geogr. Soc, London 1863 vol. XXXIII. p. 30.
3) 1. c. p. 113.
4) 1. c. vol. XXXII. p.. 355.
Die Australier.
349
Xähne mehr zu entdecken*). In der Botany-Bay fand Cook die
£ingebornen nur im Besitz von Rindenstücken, die als Fahrzeuge
<lienen mussten, und nicht besser waren die Stämme am Murray
versehen*). Roher Flösse bedienten sich die Bewohner in der
Umgebung von Port Essington an der Nordküste, und der Bo-
taniker Ferd. Müller 3), der mit August Gregory 1856 von der
Nordküste den Victoriafluss und den Sturts Creek entdeckte, be-
merkte bei den Binnenstämmen ebenfalls nur Flosse aus zwei oder
drei Stämmen , denen man sich aus Furcht vor den Alligatoren
aum Ueberschreiten von Gewässern anvertraute. Endhch wurde
Gregory's Schiff Dolphin, als es hinter den Dampier -Inseln der
Nordküste lag (1861), von Eiugebornen besucht, die unausgehöhlte
Baumstämme als Fahrzeuge benutzten. An der Südküste sind die '
Australier noch nicht zur See angetroffen worden und von den
West-Australiern am Swan River versichert James Browne^), dass
ihnen nicht blos alle Fahrzeuge fehlen, sondern sie sogar des
Schwimmens unkundig sind.
Am King George-Sund besteht das Obdach der Eingebornen
nur aus Lauben. Ueber Stäbe, die gebogen und deren Enden in
die Erde gesenkt werden, breiten sie Blätter als Bedeckung aus.
In Neu- Süd -Wales, in Queensland und am Carpentariagolf dient
auch die abgelöste Rinde eines Baumes, halb aufgerollt auf den
Boden gestellt, einer einzigen, oder etliche Rindenstücke über ein Ge-
stell aus Stäben ausgebreitet mehreren Personen zum Wetterschutz.
Der Australier baut also kein ständiges Obdach, sondern als herum-
streifender Jäger lebt er in einem Zelt aus Blättern oder Rinden
verfertigt. Doch finden sich Holzhütten in West -Australien und
geräumige Gebäude an der Coburg -Halbinsel, sowie solche mit
zwei Stockwerken am Carpentariagolf^). An den beiden letzteren
Räumen freilich ist an einen günstigen Einfluss von Malayen und
Papuanen zu denken.
Die Australier befanden sich zur Zeit der Entdeckung im Zeit-
alter der undurchbohrten Steingeräthe. Ihre Waffen und Jagd-
1) Jukes, Voyage of H. M. S. Fly. vol. II. p. 243.
2) George French Angas, Australia and New Zealand. vol. I. p. 90.
93.
3) Ausland. 1859. S. 1018.
4) Petermann* s Mittheilungen. 1856. S. 452:
5) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 730.
7=0 Die Australier.
gewehre sind Wurfgeschosse, vor. allen Dingen der Speer, dessen
Spitze entweder am Feuer gehärtet zur Jagd, mit eingekerbten
Widerhaken versehen als Fischharpune, oder mit scharfen Kieseln
oder Muscheln bewehrt für das Gefecht dient. Der Bumerang be-
findef sich in den Händen aller Stämme der Nord-, West-, Süd- und
Ostküste, mit Ausnahme der Bewohner der Carpentariahalbinsel
und einiger Stämme am untern Murray. Schilder als Schutzwaffen
werden bei sämmtlichen Stämmen an der Küste wie im Innern
angetroffen und nur in Westaustralien vermisst. Die Bewohner
der Ostküste verfertigen für den f ischfang Schnüre und Angel-
haken, die letzteren aus Vogelklauen oder Muschelschalen, während
an der Westküste, wo das Angelgeräth fehlt, Netze gebraucht
werden '). Ein ästhetisches Bedürfniss nach Verhüllung des
Körpers ist noch nirgends erwacht, zum Schutze gegen rauhe
Witterung aber- werden kragenartige Mäntel aus Thierfellen
an der West-, Süd- und Ostküste umgeworfen. Sonst gürten sich
viele Stämme die Hüften mit Schnüren, die zur Zeit von Nahrungs-
mangel fester zusammengezogen werden, um die Empfindimg der
Leerheit zu unterdrücken. Spuren von Bekleidung treten erst auf,
wo der gute Einfluss der Papuanen fühlbar wird, nämlich auf der
CarpentariahalbinseP). Die Kunstwerke und Denkmale, welche
die Australier hij;iterlassen haben, bestehen fast nur in Vei-
zierungen von Grabstätten oder in den kahnartig ausgehöhlten
Särgen, die nicht blos an der Ostküste vorkommen, sondern von
denen eins mit einer Kinderleiche von Mac Douall Stuart am
12. Mai 1861 im Ashburton - Gebirge nördlich vom Centrum
des Festlandes wahrgenommen und von ihm als das höchste bis-
her gesehene Meisterstück der Eingebornen bezeichnet wurde ^)»
Sonst erinnern wir noch an die Menschen- und Thiergestalten,
die mit Kreide und Ocher an Felsen des Victoriaflussbettes von
den Eingebornen gezeichnet und von Gregory und Müller^) 1856
bemerkt worden waren, sowie an die noch merkwürdigeren zoll-
tiefen Einritzungen von Felsen an der Ostküste, unter andern bei
1) Lubbock, Prchistoric times. 2d. edit. p. 430.
2) Waitz, 1. c. S. 738.
3) Journal of the R. Geogr. Society, London 1862. vol. XXXII. p. 350.
4) Ausland. 1859. S. 1017.
Die Australier.
351
Camp Cove, unweit Sydney, welche in rohen Umrissen Menschen-
und Thiergestalten erkennen lassen'). Endlich zeigten auch die
Frauen der Stämme am Murray so wie in Neu-Süd-Wales grosse
Fingerfertigkeit im Flechten von Binsenkörben.
Bei der früheren Aufzählung der Waffen wurde absichtlich
noch nicht des Wurfbrettes gedacht, einer Erfindung, die allen
Stämmen ohne Ausnahme gemeinsam ist und die viel grösseren
Scharfsinn verräth als der Bumerang, der mehr durch die Seltsam-
keit seiner Flugbahnen überrascht ^ stets aber ein unsicheres Ge-
schoss bleibt und dessen Bekanntschaft wahrscheinlich nur einem
Zufall verdankt wird. Das Wurfbrett, auf der Innenfläche der
Hand befestigt oder mit den drei letzten Fingern festgehalten,
am freien Ende aber mit einem Querfalz zum Einlegen des Speeres
versehen, vermehrt die Schleuderkraft des menschlichen Armes um
das Doppelte. Man denke sich, sagt Jukes"), dass einer unserer
Finger an Länge dem Wurfbrett gleich käme, und dass, während
wir mit dem Daumen und dem Mittelfinger den Speer hielten,
er sich mit dem äussersten Gliede um das Ende des Speeres
krümmen könnte, so ist das Geheimniss erklärt, um wie viel durch
das Wurfbrett die Anfangsgeschwindigkeit des Speeres beschleunigt
werden kann. Leider lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden,
ob die Australier nicht vielleicht diese Erfindung entlehnt haben,
denn auch die Neu-Caledonier gebrauchen wenn auch nicht das
Wurfbrett, doch eine Wurfschlinge. Wir finden übrigens dieses
Hilfsmittel noch anderwärts, nämlich bei den Aleuten und den
ihnen benachbarten Eskimo, sowie bei den AltmeXicanern«').
Die nicht geringe geistige Begabung der Australier ist erst
zur Anerkennung gelangt, seitdem wir einen Einblick in ihre
Sprachen gewonnen haben. Wenn der Reichthum von Formen
zum kurzen Ausdruck feiner Beziehungen über den Rang einer
Sprache entscheiden sollte, so müssten uns und allen Völkern
Westeuropa's die beinernen Menschenschatten am King George-
Sund Neid einflössen, denn ihre Sprache besitzt nicht blos soviel.
1} G. F. Angas, Auslralia and New Zealand. tom. II. p. 203. p. 275.
2) Voyage of H. M. S. Fly. vol. I. p. I12.
3) V. Langsclorff, Reise um die Welt. Bd. 2. S. 40. David Cra*-'
Historie von Grönland. Bd. i. S. 194. Tylor, Anfänge der Cultur.
S. 67.
ßC2 Die Australier.
sondern sogar vier Casusendungen mehr als die lateinische, und
ausser Einheit und Mehrheit noch einen Dual. Das Verbum, an
Zeiten so reich wie das lateinische, hat ebenfalls Endungen für
den Dual, ja drei Geschlechtsforraen für die dritte Person, sonst
aber ausser den Activ- und Passiv-, noch Reflexiv-, Reciprocal-,
Determinativ- und Continuativformen *). Was die Gabe der .Sprach-
bildung betrifft, so müssen also vor dem erfinderischen Australier
selbst die hochgesitteten Polynesier, ja noch mehr ein graues
Culturvolk wie die Chinesen ^ich beugen. Wir finden auch bei
ihnen poetische Versuche und hochgefeierte Dichternamen. Sind
ihre Gesänge auch roh, so enthalten sie doch Ausdrücke, die
nicht mehr im Tagesverkehr vorkommen*). Sie haben ferner für
Fixsterngruppen manche hübsche Bildernamen erdacht. In der
Milchstrasse sehen sie eine Abspiegelung des DarUngstromes , an
dessen Ufern ihre verklärten Abgeschiedenen Fischfang treiben, in
den Magalhaes' sehen Wolken aber zwei alte Zauberinnen, die wegen
ihrer Verbrechen an den Himmel geheftet wurden 3). Am meisten
überrascht uns, dass sie Namen für acht verschiedene Windstriche
besitzen*), denn mit der Theilung des Horizontes in Azimuthe be-
ginnt überhaupt die Theilung des Kreises. Ungemein erfinderisch
sind sie in Höflichkeitsausdrücken, die sie im Verkehr fordern und
freigebig ertheilen.
Schon anderwärts haben wir mitgetheilt, dass bei ihnen grosse
Scheu vor Blutschande, daher auch Frauenraub herrscht, dass sie
die Pflichten der Blutrache heilig halten, Eigenthum an unbeweg-
lichen Sachen anerkennen und von der Mutter den Familiennamen
erben 5). Selbst auf der Stufe der Australier ist der gesellige Ver-
band schon durch mancherlei Satzungen geregelt. Zwar soll den
Sprachen der Australier jeder Ausdruck für Häuptling fehlen^),
auch suchen wir vergebens, dass bei den westlichen Stämmen
irgend etwas vorkomme, was man mit starker Dehnung des Be-
1) Reise der Fregatte Novara. Linguistischer Theil von Fricdr. Müller.
S. 241 ff.
2) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 756 — 759.
3) Br. Charnock im Journal of the Anthropological Institute. London
1872. vol. L p. 147.
4) Waitz, 1. c. S. 763.
5) S. oben S. 233. S. 235. S. 243. S. 247. S. 251.
6) Wilkes, Unit. States Exploring Expedition, tom. IL p. 186.
Die Australier. -jc^
griffes noch einen Priesterstand nennen könnte. In Neu-Süd-Wales
und in Queensland, also an den bevorzugten Cultur streifen Austra-
liens, begegnen wir dagegen den Koradschi oder Leuten, welche
den Pöbelschauder vor dem Finstern so weit abgestreift haben,
dass sie auf den Gräbern Verstorbener eine Nacht ausharren. Auch
vermögen sie den Kranken durch ihre Schamanenkunststücke Trost
und neue Zuversicht einzuflössen und wissen dabei rohe Linderungs-
mittel, unter andern das Aderlassen, anzuwenden.' Ueberrascht wer-
den wir, dass bei den Menschengespenstern der Westküste die Unver-
letzlichkeit von Botschaftern als Völkerpflicht beobachtet wird, solange
eine klaßende Verwundung, durch welche der Abgesendete gezeichnet
zu werden pflegt, nicht völlig vernarbt ist*). Dass ferner die
heutigen Australier zur Hebung auf die nächsten höheren Zu-
stände völlig befähigt waren, beweisen die Erfahrungen in Queens-
land und Neu- Süd -Wales, wo viele Eingeborne rasch und richtig
das Englische sprechen lernten, zu gewandten und kühnen Reitern
sich ausuildeten, als Hirten wegen ihrer Brauchbarkeit im Busche
den Europäern vorgezogen wurden, und dass man aus ihnen eine
sehr wirksame Sicherheitswache für entlegene Weideplätze sich
erziehen konnte.
Wenn sie dennoch ihre Zustände nicht veredelt haben, so
trägt einen Theil der Schuld die Abgelegenheit ihres Welttheiles,
welche eine Berührung mit andern Völkerschaften erschwerte.
Am frühesten wurden daher die Bewohner der Carpentaiiahalbinsel
durch einwandernde Papuan en geweckt uncf wirkten wieder günstig
auf ihre südlichen Nachbarn, wie sich denn alle neuen Volks-
gesänge und alle dabei aufgeführten Tänze nach Angas*) an der
Ostküste von Norden nach Süden fortgepflanzt haben. Was aber
de Australier so tief erniedrigt, ist die Unkenntniss eines Acker-
baues, ohne dass sie etwa streng maritime Völker gewesen wären,
wie die Feuerländer oder die Eskimo. So musslen sie sich mit
dem Ertrag der Jagd, an den Küsten der See und den Ufern der
Flüsse mit dem des Fisch- und Muschelfanges und mit den Nähr-
stoffen wildwachsender Wurzeln begnügen. Bei dieser Abhängig-
keit vom Tagesglück schaudert der Mensch noch nicht vor kaltem
i) Browne, in Petermann*s Mittheilungen. 1856. S. 449.
2) Australia and New Zealand. tom. II. p. 216.
Peschel, Völkerkunde. 23
3^
Die Auflralier.
Gethier, wie Raupen, Eidechsen, Ameisen und Würmer. Als
Jäger wären sie, ohne Bogen und Pfei) zu führen, selbst mit dem
Wurfbrett Zeiten weis grossen Miss erfolgen ausgesetzt gewesen,
wenn sie nicht das Mittel der Grasbrände reichlich zum Zutreiben
des Wildes angewendet hätten. Die Jagd selbst nöthigle sie aber
zu raschem Wechsel der Wohnsitze. Wenn die Lachen der letzten
Regenzeit zu versiegen begannen, mussten sie ihre Reviere ver-
lassen und die wohlbekannten Stellen aufsuchen, wo in tiefen
natürliclieii Becken noch dauerndes Wasser zurückgeblieben war.
So konnte es vielleicht die Steppennatur des Festlandes zu ver-
antworten haben, dass die Eingebornen von jedem Gedanken
eines Feldbaues aufgescheucht worden seien.
Wenn man die Berichte der neuen Erforscher jenes Festlandes,
ungehärteter und verdienstvoller, aber meistens ungebildeter Männer
liest, so hört man oft von ihnen die australischen Gramineen als
„Hafer-" und als „Gerstengras" bezeichnen'). Von vornherein
wäre zu vermuthen gewesen, dass auf einem so ausgedehnten
sonnigen Steppengebiet wilde Gelreidearten sich finden sollten.
Sie sind auch wirklich vorhanden, und allem Anschein nach viel-
leicht in absolut. Jedenfalls in relativ grösserer Mannichfaltigkeit
als in Amerika. So fand der Botaniker Ferdinand Müller^ am
Sturts-CVtek und am Victoria auf Sumpfland wilden Reis, den die
Eingebornen zu Mehl zwischen Steinen verrieben, ferner essbare
Samen einer wilden Getreideart aus der Gattung Panicum, zu der
auch unsere Hirse zahlt , und im Kordwesten Australiens hin und
wieder eine Art wüden Hafers. Ebenso hat Mac Douall Stuart'J)
am 28. April 1861 bei seinem zweiten Versuch, das Festtand zu
kreuzen, am Tomkinson Creek (etwa 18° 20' s. Br.) eine Ge-
ireideart entdeckt , die dem Weizen völlig glich , nur dass die
Körner kleiner, das Stroh aber um vieles zäher war. Ferner be-
merkte Mac Kinlay*}, als er im Herbst 1861 an dem merkwürdigen
.'■ecngebiet zwischen 28° und 26° s. Br. etwas üstÜch vom Me-
I) Landsborough, im Journal of tlie R. Geogr. Sotiely. vol. XXXIII.
II Autland. 1859. S. 1016.
3] J'iumal of Ihe R. Geogr. Socielj". London 1862. vol. XXXII. p. 343.
4) 1. c. London 1863. i-ol. XXXIII. p. 24.
Die Australier.
355
ridian Adelaide's verweilte, dass auf den Fluren, welche die Ueber-
schwemmungen der Regenzeit zu bedecken pflegen, eine Hülsen-
frucht wuchs, die den Wicken glich. D!e Eingebornen fegten die
ausgefallenen Körner zusammen, reinigten sie durch Worfeln, zer-
rieben sie zu Mehl und buken daraus flache Kuchen. Wahr-
scheinlich ist dies die nämliche Frucht, aus welcher die Stämme
am Cooper Creek das Nardubrod bereiteten, womit sie den beiden
vom Unglück verfolgten ersten Durch wanderern des Festlandes,
Burke und Wills, auf der Rückkehr vom Carpentariagolf eine Zeit-
lang das Leben fristeten. Howitt, der ihren letzten überlebenden
Begleiter King dort rettete, beschreibt am i. September 1861 am
Cooper Creek wahrscheinlich das Muttergewächs der Nardukörner,
nämlich eine Pflanze, die dem Laub nach dem Klee gleiche, nur
dass sie mit einem silbernen Flaum überzogen sei , wie auch die
Samen, so lange ^ie noch frisch sind. Letztere, flach und beinahe
eirund, verdecken, wenn das Kraut abstirbt, buchstäblich den
Boden und werden, nachdem sie vom Sand gereinigt worden sind,
von den Eingebornen zermalmt und in Brod verwandelt^).
Diese Thatsachen bereichern uns um eine wichtige Erkenntniss,
dass nämlich die Mehlbereitung und das Brodbacken älter sind
als der Ackerbau. Wie es aber gekommen sei, dass die Einge-
bornen nicht auf den Gedanken verfielen, jene nützlichen Früchte
durch künstlichen Anbau zu vervielfältigen, sich auf diese Art Vor-
räthe zu schafl'en und ihre Abhängigkeit vom Ertrag der Jagd zu
lockern, vom Zwange des Umherziehens sich zu befreien und zu-
gleich eine zahlreiche Nachkommenschaft aufziehen zu können,
dafür lassen sich verschiedene Gründe anführen.* • Australien besitzt
eine grosse Mannichfaltigkeit von Fruchtbäumen, ganz besonders
der tropische Theil, so dass fast keiner der Erforscher heimkehrt,
ohne irgendeine neue oder vermeintlich neue Entdeckung dieser
Art heimzubringen; selbst Bananen werden im Carpentarialand als
wildwachsend aufgeführt, und Ferdinand Müller stiess im Norden
auf eine traubentragende Rebe, die er identisch hält mit unserm
Weinstock. Im Süden aber war die sogenannte Hottentotten feige,
das heisst die Frucht einer Mesembryanthemum-Art, ein Nahrungs-
geschenk der Natur. Mehr noch als Obst, dessen Geniessbarkeit
auf eine kurze Dauer eingeschränkt blieb , verzögerte das Vor-
l) Peter mann's Mittheilungen. 1862. S. 79 — 80.
23*
356
Die Australier.
kommen essbarer Wurzeln, die nicht wie die Cerealien einer müh-
samen Aufbewahrung bedürfen, den Fortschritt der australischen
Menschen zum Ackerbau. So erzeugt die Carpentariahalbinsel
echte Yam (Dioscorea CarpentariaeJ^ der Süden aber die Wurzeln
des Sorrel, einer OxaLs-, und des Grasbaumes, einer Xanthorrhoea-
Art, die von den Frauen mit spitzigen Hölzern ausgegraben
wurden und immer eine letzte Zuflucht gegen Misserlolge der Jagd
blieben. Am Swan River der Westküste ist übrigens die örtliche
Dichtigkeit der Känguruh so gross, dass die Fingebornen, als man
ihnen 9 Pence (7*12 Silbergr.) für das Stück versprach^ so viel
einlieferten, dass die Ansiedler damit ihr Borstenvieh fütterten*).
•
Ebenso versicherte ^der unlängst verstorbene James Moriil, der
17 Jahre lang unter Küstenstämmen Queenslands, in der Nähe
von Cap Bowling Green (19° 17' s. Br.) leute, dass es ihnen an
Nahrung nicht gefehlt hätte. Daher Hesse sich mit (}lück der
Satz vertheidigen, dass die australische Ge.-.cllschatt lür den lieber-
gang zum Ackerbau noch nicht reif gewesen sei, d. h. noch nicht
die erforderliche Dichtigkeit besessen hätte, denn die Bevölkerung
ist nicht hoher als auf 200,000, von manchen sogar nur auf
60,000 Köpfe geschätzt worden, für welche die Jagdgiünde mehr
als ausreichten.
Doch ist das Ausgraben von Wurzeln so mühsam und die
Wurzelkost so wenig nahrhaft, dass es immerhin befremden müsste,
warum die Australier, nachdem ihnen doch die Natur deutlich
durch das gesellige Wachsthum der ooen aufgezählten Brodfrüchte
den Weg und die Vortheile des Acker oaues zeigte, nie auf den
Gedanken kamen, den Boden mit Saaten zu bestellen. Aber nur
weil uns die Gewohnheit gegen das Ausserordentliche abgestumpft
hat, übersehen wir meistens, welche ungewöhnliche Begabung
dazu erforderlich gewesen sei, dass ein JMensch die ersten Samen-
körner ahnungsvoll ausstreute. Den alten Hellenen, welche den
ersten Regungen menschlicher Gesittung näher standen als wir^
und die sich die grossen Anfänge noch nicht von eineni Schwärm
kleiner Neuigkeiten in den Hintergrund der gemeinen Dinge
drängen Hessen, erschien ein planvolles Erdenken des Ackerbaues
für menschliche Vcrstandeskräfle zu unerfasslich und sie schrieben
es daher einer Gottheit zu, gerade so wie üie Aegypter auf ihren
I) Ferdinand Müller. Ausland. 1859. S. 1018.
Die Australier. ^cn
Osiris zu andern Ehren auch noch den Ruhm häuften, die Men-
schen zur Bestellung der Saaten angeleitet zu haben. Mit dem
ersten Pflanzenbau, selbst wenn er nur von Wanderhorden am
Sommerlagerplatz betrieben wird, sind alle künftigen Fortschritte
im Keime gegeben, denn der Mensch hört auf, als Almosen-
empfanger in den Wild- und Wurzelgärten der Natur von der
Laune und dem Zufall des Tages abzuhängen, und weil die An-
strengung der Jagd seine Kräfte nicht gänzlich erschöpft, bleibt
ihm noch Zeit, über besseres nachzusinnen. Die hohen geistigen
Anlagen, die man bei vielen Jägerstämmen antrifft, werden näm-
lich durch die Jagd selbst vollständig erschöpft, da sie scharf und
beständig auf die äusserliche Beobachtung der Natur des Wildes
wie des Reviers gerichtet bleiben müssen, auch ermüdet dieser
Nahrungserwerb den Menschen zugleich körperlich. Ehe er nicht
auf eine andere Ernährungsweise verfallt, ist an eine geistige Ent-
wickelung, die stets eine physische Ruhe erfordert, nicht zu denken.
if.
DIE AUSTRALISCHEN UND ASIATISCHEN l'APUANEN.
Zu den australischen I'apuanen gehören die Bewohner Keu-
' Guinea's, der Palau-lnselti, Tombara's (Neu-lrlands) und Bicara's,
I der SalomonengTuppe , der Neuen Hebriden, Baladea's (Neu-Cale-
idoniens) mit den vorliegenden Lojalitats-Inseln , endlicli des Viti-
oder Fidschiarchipelp. Am reinsten hat diese Race ihre Werkmale
auf Neu -Guinea bewahrt, obßleich auch dort schon, namentlich
auf der westlichen Hälfte, seit neuerer Zeit Rlijchungen mit asia-
tischen Malayen sich vollzogen haben. Auf den andern genannten
Inseln sind es dagegen Polynesfer, die sich unter die ältere Be-
völkerung gedrängt und besonders auf Sprache, wie Sitten, viel
weniger aber auf die körperlichen Kennzeichen gewirkt haben, so
dass die Bewohner der Palau- und Fidschigruppe sowie Baladea's
noch unbedenklich zu der papuanischen Race gezählt werden
dürfen. Auf den Carolinen und Marianen hat sich ebenfalls polj-
nesisches und papuanisches I?lut gekreuzt, aber das erstere über-
wiegt, so dass jene sogenannten Mikronesier als Mischvölker
richtiger in die nächste Völkergruppe gestellt werden.
Das beste Kennzeichen der australisvhen Papuanen besteht
f in dem stark abgeplatteten, üppigen, langen Haupthaare, welches
sich zu Büscheln vereinigt und das Haupt per rückenartig als eine
8 Zoll mächtige Krone umgibt, wozu allerdings die beständige
Pflege mit Hilfe eines dreizinkigen Kammes sehr viel beitragen
mag'). Die büschelartige Vereinigung der Haare haben die Pa-
puanen mit den Hottentotten gemein, deren Haar jedoch nicht so
lang und reichlich wächst, vielleicht anch bei scharfer mikroskopischer
'allace, Malayiocher Archipel. Bd. 2. S. 283.
Die australischen und asiatischen Papuanen. ^^q
Vergleichung andere Ursachen der Yerfilzung erkennen lassen
möchte. Auch durch ihren starken Bartwuchs und durch ihre
sonstige reichliche Behaarung unterscheiden sich die Papuanen
von der Urbevölkerung der Capländer^). Die Haut aller Papuanen
ist dunkel, fast schwarz in Baladea, braun oder chocoladefarbig auf
Neu-Guinea, blauschwarz bei den Fidschi, letzteres eine FärbuiiL;,
welche dem Wachsthum eines hellen Flaumes auf der Haut zu
verdanken ist*). Welcker's Messungen, die bei Neu-Caledonieru
einen Breitenindex von 70, einen Höhenindex von 77, bei andern
Papuanen aber die Ziffern 73 für den einen, 75 für den andern
ergeben, würden die Schädelform als schmal und hoch erkennen
lassen. Damit stimmen die Ergebnisse bei Barnard Davis tiir
die Bewohner der Salomonen, Neuen Hebriden und Baladea^
überein, nämlich 72 als Breiten-, 76 — 79 als Höhenindex. Auch
nach diesen Ziffern gehören die Papuanen unter die hohen Schmal-
schädel. Die Kiefern sind prognath, wenn auch nicht in ^o
starkem Grade, als dies bei Negern in äussersten Fällen vor-
kommen kann. Die Lippen sind fleischig und etwas aulj^e-
schwoUen. Die breite Nase krümmt sich mit der Spitze nach
unten, wodurch der Gesichtsausdruck einen jüdischen Anstric:i
erhält, der keinem Beobachter bisher entgangen ist. Er ist dem
Bewohner Baladea's so gut eigen, wie dem Aneytum's unter cUu
Neuen Hebriden^), ferner den Fidschi-Insulanern, den Bewohnern
von Errub und von Darnley Island '^), der Nordküste von Neu-
Guinea bei Doreh5), der Südküste am Utanatafluss^) , sowie end-
lich der Palau-lnseln 7). Abgesehen von örtUchen Schwankungen
gehören die Papuanen nach den Ausdrücken, deren sich ihre l^e-
schreiber bedienen, unter die Völker von mittlerem Wuchs*,
jedenfalls nicht unter die grossen Völker.
1) Nieuw Guinea ethnographisch en natuurkundig onderzocht en bc-
schreven. Amsterdam 1862. p. 118. p. 170 — 171.
2) Waitz (Gcrland), Anthropologie. Bd. 6. S. 535.
3) Waitz (Gerland), 1. c. Bd. 6. S. 525.
4) Jukes, Voyage of H. M. S. Fly. tom. I. p. 170. tom. II. p. 236.
5) Wallace, a. a. O. Bd. 2, S. 412.
6) Natuurlijke geschiedenis der nederlandsche ovefzeesche bezittingen.
Land en volkenkunde door Salomon Müller, p. 44. PI. 6 u. 7.
7) Karl Semper, Die Palau-Inseln. I^ipzig 1873. S. 362.
mw
■^[lu Dio aiiiiralisohcn und uEiaiischen Papuanen.
Während die Bewohner üer Inseln an der neu guineischen
Küsle, wie Wageu und Misole, ferntT der Aru- und Kei-Gruppe,
sowie von Lara! und Timorlaut von W'allace noch zu den reinen
Papuanen gerechnet werden"), finden wir auf den westlicher lie-
genden Inseln , auf der Moiukkengruppe mit Halmahera , den
Banda-lnseln, der Östlichen Hälfte von Floris, ferner auf Pulo
Tschindana und auf allen Inseln , die östlich von den letztge-
nannten üegen, Reste einer Urbevölkerung, stark vermischt mit
malayischem Blut, die der papuanischen Race angehört haiien.
Weit schwieriger ist die Stellung der Urbevölkerung auf den Phi-
lippinen sowie auf denjenigen Inseln lu bestimmen , die aus geo-
logischen Gründen zu Asien und nicht mehr zu Australien zu
rechneri sind^). Wir bezeichnen sie nicht, wie dies häufig ge-
schieht, als Melanesier, Alfuren. Harafuren, Negritqs oder Austrai-
neger, denn alle diese Benennungen sind durch schwankenden
Gebrauch so zweideutig geworden , dass die Völkerkunde , wenn
sie sich eine klare Sprache antignen will , sie streng verpönen
muss. Es werden uns nämlich auf der Insel Celebes Alfuren be-
schrieben-'), die nach den mitgetheilten Körpermerkmalen deutlich
als Malayen zu erkennen sind und es hat sich im niederländischen
Indien der Sprachgebrauch verbreitet, unter Alfuren nur soge-
nannte Wilde zu verstehen, auch wenn ^über ihre malayische
Abkunft, wie bei den Batta Pumatra's und bei den Dayaken
Eorneo's, gar kein Zweifel besieht',). Deshalb nennen wir die
Reste der Urbevölkerung auf jenen Inselgebieten asiatische Pa-
puanen. Zu ihnen gehören die Aijta der Philippinen, die noch
völlig rein ihre Kacenmerkmale bewahrt haben, doch gilt dies nur
von den wenig zahlreichen Banden an der Ostküste des nörd-
ichen Luzon, Karl Semper fand dort die Körpergrösse bei den
Männern durchschnittlich 4 F. 7 Zoll (par.), bei den Weibern 4'
4". Mit den australischen Papuanen, haben sie die „glanzlose
wollig-krause Haarkrone", die Hache unten breite Nase gemein.
Ihre Körperfarbe ist nicht, wie der malayische Name Acta es er-
1) Der Malayisclie Archipel. Bd. i. S, 415.
2) Ueber die Naturgrenie zwischen Asien und Australien s. P 1
;ue Probleme der vergl. Erdkunde. Leipzig 1869. S. 26.
3) Waili ' Anlhiopologie. Bd. 5. S. 103.
4) Riedel, in der Zeilschrifl für Kthnologie. 1871. S. 364.
Die australischen und asiatischen Papuanen. 361
warten lässt, schwarz, sondern du nkelkupferf arbig. Die Lippen
sind ein wenig wulstig und die Kiefern zeigen einen milden
Prognathismus. Man findet bei diesen Jägerstämmen Bogen und
Pfeil, die sonst nicht bei Malayen vorkommen*).
Nach den angeführten Merkmalen können auch die Negrito
von Mariveles und die Negrito des nördlichen Luzon nach einer
Photographie, welche Jagor abgebildet hat*), zu den Acta ge-
rechnet werden. Soweit stände kein Hinderniss im Wege, diese
von Malayen verdrängte und beinahe ausgerottete Urbevölkerung
mit den australischen Papuanen zu einer Race zu vereinigen.
Wenn wir sie wieder als eine besondere Abtheilung von ihnen
trennen, so geschieht es aus Vorsicht, weil erst künftige genauere
Untersuchungen uns volle Klarheit über ihre Racenstellung bringen
können. Einige Schädel nämlich, die durch Schetelig unter den
Namen von Negritos der Insel Luzon nach Berlin gelangten,
zeigten nach den Messungen von Virchow eine relative Breite von
8o,g bis 90,5 bei einer relativen Höhe von 77,^ bis S2, , Es
waren also Breitschädel von geringer Höhe, bei denen ausser-
dem der Prognathismus, hauptsächlich durch die Stellung der
Zahnlacher, stark hervortrat und deren Jochbogen weit vorsprangen.
Die Schädelform weicht hier zu stark in brachycephaler Richtung
ab, um uns nicht über die Verwandtschaft mit den australischen
Papuanen zu beunruhigen. Doch besteht die Hoffnung, dass jene
Kopfbildungen nur künstlichen Ursprunges seien, wie dies aus-
drücklich von Virchow vermuthet wird 3). Obendrein behauptet
Karl Semper, dass die fraglichen Schädel sämmtlich aus den Ge-
birgen von Mariveles in der Nähe Manila's herstammen, deren
Bevölkerung längst durch Mischung ihre Reinheit verloren habe'*).
Versprengte Reste einer ehemaligen papuanischen Urbevölkerung
sind noch bei Sohoe (Sohu) und Galela auf Halmahera von Wallace
gesehen worden. Sie haben die Haarkrone der Papuanen, sind
bärtig, am Leibe behaart, aber dabei so hell wie die Malayen 5).
i) Karl Semper, Die Philippinen. Würzburg 1869. S. 49 — 52.
2) Reisen in den Bhilippinen. S. 63. S. 376.
3) Virchow im Anhang zu Jagor, Reisen in den Philippinen.
s. 374.
4) Die Palau-Inseln. S. 364.
5) Der malayische Archipel. Bd. 2. S. 415.
-j62 Die australisiiben und asiatischen Papuanen.
Endlich stossen wir weit westlich noch auf die Mincopie')
der Andauianinseln, einen kleinen Menschen stamm mit papuani-
schem Haarwuchs, Da sie sich den Kopf mit den Scherben zer-
brochner Flaschen, wenn solche an den Strand gespült werden
oder mit Muscheln ganz glatt scheeren, so darf diese Angabe
emigermassen befremden'), doch wurde die büschelförmige Grup-
pirung der Haare an geianjjenen Mincopie von A. Fytche in
Moulmein beobachtet, der ausserdem ihre Haut als „russig nicht
tief schwarz" beschreibt und bei ihnen jeden Bartwuchs vermisst^).
Wer sich ausschliesslich nach der Beschaffenheit des Haarwuchses
richtet, katm die Mincopie als den westlichen Vorposten der papu-
anischen Race bettachten und muss annehmen, dass diese letztere
aus dem siid asiatischen Festlande, in einer grauen Vorzeit ost-
wärts nach dem australischen Oeean sich verbreitet habe. Dies
würde als gut bestätigt gehen, wenn die Semang auf der Halb-
insel Halaka, ein kleiner, körperlich und geistig schwach entwickel-
ter, im Aussterben begriffener Menschenstamm , wegen ihres star-
ken Bartwuchses und ihres krausen Haares bei brauner bis schwar-
zer Hautfarbe nach Logan's üeschreibung') ebenfalls zu den asia-
tischen Papuanen gezählt werden dürfen. Latham, der ihre Sprache
untersucht hat und sie unter die Negritos zählt, was bei ihm eine
Verwandtschaft mit den philippinischen Acta bedeutet, will fast
gar keine Aehnlichkeit mit dem Andamanischen entdecken und
stellt sie unbefangen unter die malayische Gruppe*).
Die Sprachen der australischen Papuanen bedienen sich ein-
und mehrsylbiger Wurzeln und vollziehen die Sinnbegrenzung durch
Präfixe und Sufüxe, deren ursprüngliche Bedeutung meist dem
Sprachverständniss entschwunden ist. Hr. v, d, Gabelenlz, der
zehn papuanische Inselsprachen untersucht und verglichen hat
entdeckte bei aller sonstigen Verschiedenheit der Wurzelschätze
i) S. oben S. 150 ihre SiHen Schilderung,
j) Helfer beschreibt indessen In seinem Tagebuch einen Mincopie unler
iindem tnil. den Worten: „Sein Haar, zu beiden Seilen abgeschoren, bildete
einen krausen wolligen Kamm." Gräfin Pauline Nostii, J. W, Helfer's
Reisen in Vorderasien und Indien. Leipzig 1873. Bd. 2. S. 159.
3) Fytche in Pelennanns Miltheilungen 1862. S. 236.
4I Waiti, AnlhropoloEic. Bd. 5. S. 88.
5) Opuscula. Londun 1860. p. L92. p. 205. p. 218.
Die australischen und asiatischen Papuanen. 363
eine Uebcreinstimmung in den Hilfsmitteln zur Wortbildung.
Ausserdem zeigte sich überall Verwandtschaft mit den polynesi-
schen Sprachen, wenigstens stimmten die personlichen Fürwörter
überein, ebenso etl'che Ortsadverbien und eine Anzahl von Prä-
fixen. Zu den letzteren gehört auch /aka, welches in allen papua-
nischen und polynesischen Sprachen nur als Präfix auftritt, im
Fidschi dagegen noch als selbstständiges Wort, sowie obendrein
als Suffix gebraucht werden kann'). Die Untersuchung führte
überhaupt zu dem Schluss, dass die papuanischen Sprachen mehr
mit den polynesischen gemein haben, als aus einer blossen Ent-
lehnung der einen aus den andern hervorgehen kann. Diese vor
Zweifeln gesicherten 1 hatsachen enthalten ein grosses Räthsel,
denn es würde durch die Uebereinstimmung der Sprachen auf
eine gemeinsame Abstammung geschlossen werden müssen zwischen
zwei Racen, die durch Körpermerkmale sehr scharf geschieden
sind. Doch verstatten die Ergebnisse des Hrn. v. d. Gabelentz
noch eine andere Auslegung. Die Sprachenschätze, welche er
untersuchte wurden nämlich auf der Fidschigruppe, auf den neu-
hebridischen Inseln Annatom, Tanna, Erromango und Mallikolo, auf
den Loyalitätsinseln IMare und Lifu, sowie auf dem benachbarten
Baladea, endlich auf Eauro (San Christoval) und Guadalcanar der
Salomonengruppe gesammelt. Auf allen diesen Inseln sind Misch-
ungen mit Polynesiern nachgewiesen worden und in Folge dessen
haben die Papuanen auch polynesische Gebräuche und Sitten sich
angeeignet. Erst eine genauere Untersuchung papuanischer Sprachen
auf Neuguinea würde daher genügendes Licht über die lingu-
istische Verwandtschaft bringen können, sie fehlt aber unsers Wjs-
sens noch gänzlich. ■
Durch sein lärmendes, geschwätziges, ausgelassnes, wissbe-
gieriges Wesen und seine rastlose Beweglichkeit unterscheidet sich
der Papuane Neuguineas scharf von dom verschlossnen und be-
dachtsamen asiatischen Malayen. Die Papuanen Neuguineas, wie
der Fidschigruppe und Baladea*s kochen in irdnen Geschirren, die
allen Polynesiern fehlen. Ihre Erfindungsgabe bekunden die Fidschi-
leute damit, dass sie ihre Kleiderstoffe aus Baumrinde (Tapa) lär-
i) V. d. Gabelentz, über die melanesiscben Sprachen, in Abhandlungen
der philoL-histor. Classe der kgl. sächs. Gesellsch, der Wissenschaften. Leipzig
1861. Bd. 3. S. 254—266.
^^1 Die aiislmli seilen und asiatischen Papuanen.
ben und wie Kattun mit hölzernen, ausgeschnitzten Modeln oder
mit Schablonen aus Uananenblättern bunt zu mustern verstehen.
So zeichneten auch die Bewohner der Humboldtsbay (Neu-Guinea)
ab ihnen holländische Seefahrer Papier und Bleistift gaben, ol>-
glcich sie beides sicher ziiin ersten Male sahen, mit fester Hand
Fische und Vögel'), Wallace legt grosses Gewicht darauf dass
der Papuane sein Haus, sein Fahrzeug und seine Geräthe mit
Schnilzwerk verziert und daher einen Kunsttrieb verräth, den er
der nialayischen Race fast gänzlich abspricht'). Allein das
Letztre giU hüclistens nur von den asiatischen Malayen und kann
auch bei diesen dem Umstände zugeschrieben werden, dass die
Gewerbe und Künste der Haibcultur nach längerem Handelsver-
kehr mit verfeinerten Völkern vernachlässigt werden und erlöschen.
Die polynesischen Malajen dagegen überbieten durch kunstsinnige
Schnitzereien und Tälowimngen leicht alle Papuanen. Die letz-
teren haben sich wie ihre weite überseeische Verbreitung bezeugt,
frühzeitig und vielleicht vor den Malayen auf die See gewagt,
sind aber von diesen an nautischer Geschicklichkeit später weit
überboten worden. Die Werkzeuge der Papuanen sind undurch-
bohrte Stein geräthe 3), doch hat sich über den Westen von Neu
Guinea bereits die Kenntniss der Eisenerze und ihrer Ausschmel-
zung verbreitet. Da bei letzterer der raalayische Blasbalg mit
Röhren und Pumpen angewendet wird*), so wissen wir auch, dass
jener Fortschritt aus dem Westen stammt.
Das weibliche Geschlecht bedeckt sich nach der Altersreife
stets mit dem Liku oder t'ransengürtel, bei den Männern ist ein
Lendentuch gebräuchlich, doch genügt an den abgelegnen Küsten
und Inseln oft ein Stück Bambusrohr, ein zusammengerolltes Blatt,
ein Kürbis, eine Muschel um das Geschlechtswerkzeug zu ver-
stecken und es an einer Hüftenschnur festzubinden s). Gänzliche
i) Nieuw Gainea, elhnogtaphisch onderioocht, Amslerdam 1862. p: 178.
1) Der Malayische Archipel. Bd. 2. S. 413,
3) J. G, Wood, Natural History of man. London 1870. tom. IL p. 315.
4) O. Finsch, Ncu-Guinea S. 113.
5) Dieselbe Sitte herrschte zur Zeit der EnldeckuuE am caribischen Golf
in Cumani und auf der Landenge von Darien s. Peschel, Zeitaller der Ent-
deckungen, S. 3JI. S. 454. Das Zusammenschnüren der Vorhaut, ebenfalls
eine papuanische Sitte wiederholt sich l>ei den brasilianischen Machacaris am
Belmunle sowie bei den Patachos. Frini v, Neuwied, Reise nach Brasilien.
Frankfurl 1820. Bd. i. S. 377.
Die australischen und asiatischen Papuanen. 365
Nacktheit der Männer gehört zu- den Seltenheiten, soll aber auf
Neu-lrland vorkommen*). Bogen und Pfeile dürfen wir als Jagd-
waffen nur auf und in nächster Nähe von Ney-Guinea suchen.
Dort an der Südküste wurde schon von Capt. Cook aber nur aus
der Ferne in den Händen der Eingebornen ein Rohr wahrgenom-
men, welches die letzteren wie zum Zielen anlegten und aus dessen
Mündung sie plötzlich eine Wolke hervorstiessen. Wäre auch ein
Knall gehört worden, so hätte man den Papuanen den Besitz von
Feuergewehren zuschreiben müssen. Nach Salomon Müllers Er-
klärung wird aber aus dem Rohr nur ein feiner Staub heraus-
geblasen , um je nach der Richtung der W^olke weithin sichtbare
Signale zu geben*).
Die Papuanen leben vom Ertrag des Ackerbaus wie der
Baumzucht und zwar findet sich der. Brodfruchtbaum in dem Papu-
anengebiet nur in samenlosen Spielarten, demnach als Cultur-
geschöpf und entlehnt von fremden Völkern'*). Die Felder und
Gärten werden eingezäunt; zu ihrer Benetzung erbauen oben-
drein die Neu Caledonier auf Baladea Wasserleitungen nach weiten
Entfernungen*). Nur ihnen fehlt das Schwein, neben dem Hund
das einzige, sonst überall vorhandne Hausthier der Papuanen.
Durch Menschenfresserei die auf Neu-Guinea, Baladea und
den Fidschiinseln, auch wohl noch an den andern Verbreitungs-
orten herrscht, hat sich diese Race tief entwürdigt.
Sonst werden die Papuanen Neu-Guineas und der kleineren
Inseln wegen Keuschheit und Sittsamkeit, wegen ihrer Ehrfurcht
vor den Eltern und ihrer Geschwisterliebe gerühmt 5). Wenn Greise
auf den Neuen Hebriden lebendig begraben werden, so geschieht
es wahrscheinlich, wie auf den Fidschinseln, auf ihr eignes Ver-
langen. Der Glaube an die Fortdauer nach dem Tode herrscht
nämlich unerschütterlich und wie der Mensch das Diesseits ver-
lässt, so denkt man sich seine jenseitige Erneuerung, daher ein
frühzeitiger Tod der gänzlichen Entkräftung vorgezogen wird.
1) P. Lesson, Voyage autour du monde. Paris 1839. tom. II. p. 37.
2) Natuurlijke Geschiedenis der nederlandsche overzeesche bezittingen,
Land en Volkenkunde. Leiden 1839 — 44. fol. 55.
3) Waitz (Gerland) Anthropologie. Bd. 6. S. 521.
4) F. Knoblauch im Ausland 1866. S. 448.
5) O. Fi n seh, Neu-Guinea. S, loi.
■■(,() Die australischcD und asiatischen Papuänen.
Tü'.e Schauderscenen die Williams') bei der lebendigen Ueerdigung
eines Fidschihäuptlings beschre'bt, dessen Frauen gleichzeitig er-
drosselt wurden, erklären sich nicht ungünstig aus jenem Wahn,
wird docli auch rührender Weise auf den Loyalitätsinseln beim
'I'ode eines geliebten Kindes, damit es n'.cht ganz im Jenseits
verlassen sei, die Mutter oder die Tante getödtet'J. Damit verknüpft
sich eng ein Dienst der Abgeschiednen, deren Schädel als Hausgötzen
aufgestellt, um Wahrzeichen befragt und um Unterstützung in
schwierigen Unternehmungen angeruTen werden. Da diese Sitte
bei den Papuanen Neu-Gu^neas beobachtet worden ist*), so kann
sie nicht von den Polyneslern entlehnt worden sein. Man trifft
ebendaselbst grosse hohe leere Gebäude auf Tlahlrostcn, die als
Andachtstätten oder Tempel dienen. Die Papuanen huldigen da-
bei i dualistischen Aniichten . denn sie schreiben einem bösen
Wesen Manuwel alles Unheil zu, verehren und opfern aber nur
dem guten SchutEgeist unter dem Namen Narvojü*). Berufsscha-
manen fehlen den unvermisditen Völkerschaften, ein jeder verlegt
sich vielmehr auf das Errathen der Zukunft. Die Unschuld eines
Angeklagten wird gottesgerichtlich, entweder durch die Probe mit
siedendem Wasser oder durch 'langes Untertauchen ermittelt*).
Auf Neu-'juinea und üjerall dort wo die polynesischen Eindring-
linge nicht ihre Gebräuche und gesellschaftlichen Anschauungen
eingebürgert haben, herrscht Freiheit und Gleichheit, die Macht
der Häuptlinge ist daher schattenhaft.
Die höchste geistige und gesellige Entwickelung hat die papu-
anische Kice auf den Fidscliünseln sich erworben, freilich indem
sie durch den innigen Verkehr mit den Tonganern polynesische
Erfindungen und S atz ungen]gel ehrig sich aneignete. Dahin gehört
das Trinken der Vakona oder des Kawa, die Eintheilung in
Zünfte und in Kasten, endlich die Tabusatzung, welche die Häupt-
linge zur Mehrung ihrer Macht eifrig verbreitet haben, jetzt
brauchen sie nur ihr Gewand über die Fluren schleppen zu lassen,
um alle berührten Fcldfriichtc für ihren eignen Genuss zu heiligen.
Ij Fiji and llie Fijians. loni. I, p, 193
a) Wailz, (Gcrland) Anlhiapolagie.
3) Finsch, 1. c. S. 105.
4) Fitisch, 1. c. S. 107.
;, !■ iu-l:!,, 1, c. S. 113.
Die australischen und asiatischen Papuaneu. ihn
Die Häuptlinge von Mbengga, eines Eilandes an der Südküste von
Gross-Fidschi führten den Titel Gali-cuva^ki-lagi oder „nur dem
Himmel unterthan". Die kleinen Inseldespoten lagen beständig
in Fehde und ihre Geschichte bietet vielen Stoff zu Vergleichen
mit dem peloponnesischen Kriege. Eine Art von diplomatischem
Corps war an den einzelnen Höfen vertheilt und verstand sich
auf alle macchiavellistischen Künste'). Bei Sendungen von Bot-
schaften waren zur Nachhilfe des Gedächtnisses Stäbchen und Netze
im Gebrauch, worin wir einen ersten Versuch zur sinnbildlichen
Befestigung des Gedankens und ein Bedürfniss nach Schrift er-
blicken müssen. Auf den Palau-Inseln . dienen Schnüre mit Knoten
und Verschlingungen um sich gegenseitig Nachricht zu geben oder
irgend einen Auftrag, den ein Dritter überbringen soll, zu beglau-
bigen. Sie heissen in der Ortssprache rusl und bedeutsam ist es,
dass dieses Wort jetzt auch für die Briefe der Europäer angewen-
det wird*). Im geselligen Um^^anje sind die Fidschileute bedacht
ihrer Rede gefallige Formen und glatten Schliff zu geben, ihre
Sprache enthält nach der Versicherung von Williams Ausdrücke
die dem Französischen Monsieur und Madame genau entsprechen^;.
Selbst den Europäern gegenüber haben sie sich noch immer ein
hohes Nationalbewusstsein bewahrt, das freilich uns nur dünkel-
haft vorkommt.
Ausserordentlich^reich sind sie an mythologischen Dichtungen
die in gebundner Rede und gereimt, sowie in einer gehobenen
Sprache vorgetragen werden. Ein Europäer, der ihnen die Märchen
aus Tausend und einer Nacht erzählte, erwarb sich viel Geld von
den Zuhörern'*). Der Glaube an eine Fortdauer nach dem Tode
ist in ihnen wie in allen Papuanen so mächtig, dass er zu Selbst-
mord und zu Menschenopfern am Grabe der Verstorbnen führt.
Selbstverständlich herrscht daher auch eine Verehrung der Abge-
schiedenen, neben denen aber auch ein Welt- und Menschen-
schöpfer Ndengei, sinnbildlich als Schlange, angebetet wird 5).
Zu ihren gewerblichen Erfindungen gehört auch ein Netz zum
Schutze gegen die Moskitos, welches wir bei den benachbarten
i) Horatio Haie, Kthnography. p. 51.
2) K. Sem per, Die Palau-Inseln. Leipzig 1873. S. 138. S. 263. S. 323
3) Williams, Fjji and the Fijians, tom. I. p. 155.
4) Waitz (Gerland), Anthropologie Bd. 6. S. O05.
5) Williams, 1. c. tom. I. p. 217.
TjjÜ Die auMralischen und asiatischen Papuanen.
Polynesiern ebenso vergL'bens suchen würden, wie irdne Geschirre
die aus rotheni oder blauem Thon von den Fidschi verfertigt, durch
reine und geralUye Umrisse sich auszeichnen. Sind sie auch im
Schiffbau Schüler der Polynesier, so zimmern sie doch Fahrzeuge
bis zu 118' Länge und 24' Breite, versehen sie mit einem Mast
von 68' Hohe und schmüclten sie reichlich mit Schnitzwerit. Dazu
bedienen sie sich nur der undurch bohrten Steinäxte, ferner der
Rattenzähne zu feineren Skulpturen, der Pilzkorallen und der Haut
des Stachel rochens als Feilen, sowie endlich des Bimssteines zum
Poliren.
In ihrer Kriegsltunst waren sie so weit gekommen, dass sie
Canälc oder Wassergräben nur Befestigung ihrer Ortschaften zogen
und darin Muntivorräthe angeblich auf vier Jahre aufspeicherten').
Lrider zeigen sie mehr Nt-ijung zur List als zu heldenhaftem Muth,
auch wird ihnen allgemcm \ erschlage nheit, Falschheit und Sucht
zu Argwohn schuld gfgeben. Gerade bei diesem gewiss geistig
hoch begabten und strebsamen Volke herrschte und herrscht noch
jetzt die Jlcnsdienfrc sserei aus Lüsternheit.
t (Gerland), Anlhropologie. Bd. 6. S. 642-
III.
DIE MONGOLEXÄHNLICHEN VÖLKER,
Zu dieser Race zählen die polynesischen und asiatischen Ma-
layen, die Bevölkerungen im Südosten und Osten Asiens, die Be-
wohner Tübets, sowie etliche Bergvölker des Himalaya, ferner
alle Nordasiaten sammt ihren Verwandten in Nordeuropa, endlich
die amerikanische Urbevölkerung. Gemeinsam ist allen das lange,
straffe, im Querschnitt walzenförmige Haar, Armuth oder gänz-
licher Mangel an Bartwuchs wie an Leibhaaren, eine Trübung
der Hautfarbe, von Ledergelb bis zum tiefen Braun, bisweilen ins
Röthhche spielend, vorstehende Jochbogen begleitet bei den mei-
sten von einer schiefen Stellung der Augen. Für alle sonstigen
Merkmale sind Uebergänge vorhanden, so dass die örtlichen Typen
in einander verschmelzen, wie diess bei jeder Gruppe gezeigt
werden soll. Die Sprachmerkmale allein gewähren die Mittel zur
Aufstellung von Unterabtheilungen.
I. Der malayische Stamm.
Die malayischen Sprachen vereinigt eine Gemeinsamkeit der
Wurzeln^), nicht der Worte. Das bedeutet dass die Glieder dieser
Völker-Familie sich früher trennten, ehe die Sprachbildung schon
zu einem festeren Gefüge gelangt war. Die Ursprache selbst ent-
wickelte sich selbständig und stand vereinzelt auf der Erde. Ihre
sinnbegrenzenden Wurzeln werden theils vorgesetzt, theils ange-
hängt. Die polynesischen Mundarten sind ärmer an Lauten und
i) Ueber das Typische der Malayensprachen S. oben, S. I2i — 122.
Peschel» Völkerkunde. 24
•'Q Der malay(sche Stamm.
alterlSiümlicher geblieben, die westlichen oder asiatischen Mund-
arten sind reicher und zugleich werden bei ihnen durch I-aut-
veränderungen die J-'orm und Stoffelemente der Wurzelgruppen
inniger mit einander verbunden"). Die Heimat wo jene Ursprache
sich entwickelte, lag im südöstlichen Asien, entweder auf dea
grossen Snndainseln oder auf den Ausläufern des Festlandes. Von
diesem Herde aus, scliwürmte ein Theil der seetüchtig geworde-
nen Familie gegen Osten aus und bevölkerte die Eilande der
Südsee bis zur Havaigruppe gegen Nordost und "der Osterinsel
im äussersten Osten. Dieser Uruchtheil der Malayen kam in viel-
fache Berührung mit Papuanen und es entstanden dadurch Misch-
linge die wir jetzt als Mikronesier zusammenfassen.
Die Zeit, wann sich die polynesischen Malayen von ihren
asiatischen Geschwistern trennten, lässt sich bis jetzt auch nicht
annäliernd begrenzen, Wohl bemerkte schon ein geistvoller, vor-
zeitig uns entrissener Botaniker, Berthold Seemann, dass der Palm-
■wein, der aus den Wunden der Cocosblüthenscheide abgezapft
wird, Toddy oder 'laddy bei den Jlalaycn der Sundainseln heisse.
Dieses Wort stammt aus dem Sanskrit, folglich haben brahma-
nische Hindu die wichtige Kunst der Palmwein bereit ung erst auf
den ostasiatischen Inseln eingebürgert'). Da nun die Cocospalme
wahrscheinlich von Ost nach West sich verbreitet hat, keiner
tropischen Insel der Süd^ee fehlt, ihre Nuss den Bewohnern
der Atolle oder Korallengruppen als tägliche Nahrung, ja oft als
das einzige Mittel zur Stillung des Durstes dient, so ist es kaum
glaublich dass die Polynesier, wenn sie vor ihrer Auswanderung
das Geheimniss der Palmwcinbereitung gekannt hätten, letztere jemals
wieder aufgegeben haben sollten. Da ihnen aber zur Zeit der
ersten europäischen Besucher jenes Genussmittel völlig fremd war,
SD muas ihre Auswanderung vor der Ankunft sanskritredender
Indier auf Java erfolgt sein, also jedenfalls vor dem Beginn der
Zeitrechnung des Saka oder Salivana, die etwa um das Jahr 78
V. Chr. eingeführt wurde-'). Wir gelangen mit dieser Schluss-
folgerung aber nur zu liner allzukurzen Vergangenheit. Weit
1} Fr. Müller, Reise du: Fregatte Novara. Anthropologie. 3. Abth.
0. S. 45-
;) Berihold Seemann, Dotlings on the toadäide. p. 153.
3) CrnwfiiTii, Dktionjry of the Indian Islands, p. IJ7,
Der malayische Stamm. 171
längere Zeit erforderte die Ausbildung der Sprachverschiedenheiten.
Wir können noch hinzufügen, dass die Kunst Thongeschirre zu
fertigen beim Ausschwärmen der Polynesier in der Urheimat noch
nicht bekannt war, denn alle Polynesier kochen ihre Nahrung
mit erhitzten Steinen. Dagegen herrschte im Ursitze bereits
der Brauch, Personen oder Gegenstände bis zur Unberührbar-
keit zu heiligen, denn Ueberreste der Tabusatzungen in der
Form von Interdicten haben sich auf der Insel Timor und unter
den Dayaken Borneos noch erhalten*).
Der Ausbreitung der Polynesier von West nach Ost erwuchsen
keine unüberwindlichen Schwierigkeiten durch die herrschenden Ost-
passate und westlich gerichteten Strömungen, denn es fehlt nicht
an gelegentlichen Gegenwinden und Gegenströmungen. Die ältere
Ueberschätzung jener Hindernisse beseitigt vollständig die von
J. R. Forster veröffentlichte, von Horatio Haie aber zuerst richtig
erklärte Karte') eines Polynesiers Tupaia der alle Inselgruppen
zwischen den Marquesas im Osten und dem Fidschi-Archipel gegen
Westen kannte, so dass also zu Capt. Cooks Zeiten von Tahiti
aus immer noch ein Verkehr bestand, der sich über vierzig
Längengrade erstreckte. Obendrein gewähren die Vergleiche
polynesischer Mundarten und die Ueberlieferungen der Eingebor-
nen uns die jNIittel die Reihenfolge der einzelnen Besiedelungen
festzustellen.
Die L*ewohner von Rapa-nui oder der Osterinsel wollen von
Oparo oder Rapaiti (27 ^35' s. Br. 144^20' w. L. Green w.) ab-
stammen, und werden daher auf der Fahrt nach ihrer Heimat
Pitcairn berührt aber wieder verlassen haben, weil auf dieser Inse
Reste von alten Steinbauten stehen "5). Nach den Ueberlieferungen
der Eingebornen landeten sie, an Zahl 400, unter einem Anführer
oder König Tu-ku-i-u oder Tocuyo, der auch Hotu oder Hota
motua genannt wird^). Seit ihrer Ankunft bis auf unsre Tage
i) Waitz (Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 355. Spenser St. John^
Life in the Far East. London 1862. tom. L, p. 175—176.
2) United States Exploring Expedition. Ethnography. Philadelphia 1846.
p. 122.
3) AVaitz, Anthropologie. Bd. 5. S. 224.
4) Bericht von Hrn. de Lapelin in Revue maritime et coloniale. Novbr.
1872. tom. XXXV. Paris 1872. p. 105. u. Palmer, Visit to Easter Island
im Journal of the R. Geogr. Society. London 1870. vol. XL. p. 108.
24*
-•-2 Her m.iliyisclie Slamm.
waren 22 Häuptlinge zur Herrschaft gelangt, so dass wenn die
mittlere Dauer jeder Regierung auf 20 Jahre bemessen wird, die
Ik'Biedelung der Insel höchstens in das Jahr 1400 n. Chr. hinauf-
reicht. Die Ueberlieferung würde an Glaubwürdigkeit gewinnen,
wenn die drei Holztafeln mit Bilderzeichen, die neuerlich bei den
O Sterin sul aliern gefunden inid von Europäern ihnen entfülirt worden
sind, als rohe Schriftversuche die Namenfoige der Konige ent-
hielten ').
Die Einwohner haben liohe aber äusserst rohe Steinbilder
mit I^Ienschengesichtern aus einer leicht zerreiblichen Trachytlava
zu Hunderten verfertigt') und auf der Insel zerstreut aufgestellt,
vielleicht zur Erinnerung an Verstorbne. Auch erbauten sie grosse
steinerne Terrassen, die an die Morai der übrigen Polynesier er-
innern. Endlich fand man auf der Insel Trümmer ehemaliger
geräumiger Gebäude au^ Steinplatten, die jetzt verfallen liegen,
aber noch vor 150 Jahren bewohnt gewesen sein müssen, denn
an ihren Wanden stellen Bilder mit weisser, rother und schwarzer
Farbe Pcliafe, Pferde und Schüfe mit ihrem Tackelwerk dar^),
RoggpWL-en aber war der erste Seefahrer, der 1721 einen Verkehr
mit den Bewohnern eröffnete. Es hat natürlich nicht au \'er-
rauthungen gefehlt, dass vor der Ankunft der heutigen polynesi-
schen Uewohnev ein Culturvolk die Osterinsel besessen habe und
dann ausgestorben sei. bis heutigen Tages aber sind sie ohne
Begründung geblieben. Die Bewohner Rapanui's bestätigen uns im
Gegontheil die Erfahrung, dass wenn sich eine Handvoll Jleiischen
in eine oceanische Einsamkeit verirrt und dort ohne anregenden
- Verkehr verharrt, ihre bei der Trennwig noch vorhandnen Fertig-
keiten und Fähigkeiten allraählig einschlummern. Die übrigen
Polynesier errichten zwar heutigentags nur hölzerne Gebäude,
aber Reste vormaliger Steinbaulen sind auf verschiednen Süd'see-
inseln aufgefunden worden*).
1) Meinicke in der Zeitschiifl fiir ErdkuaJc, Bd. 6. Berlin i87r. S. 5^8.
3) Nach den Abbildungen in der Revue maritime et coloniale 1. c. und
nachJPliDtograpliien, die uns iugekomnlen sind, gleichen jene Skulpturen seht
stark den bekannten neuseeländischen hölzernen Tikibildem.
31 Palmer. 1. t. p. i;6,
41 Eine Aufiähiung solch« Alterthümer gibt Waitz, Anthropologie.
Bd. 5. S. 21+.
Der malayische Stamm. 375
Auf dem Sandwicharchipel kehren in Insel- und Ortsnamen
wie Havai , Upolu und Lehua Inselnamen der Schiffer- oder
Samoagruppe (Sevai, Upulu, Lefuka) wieder. Doch kamen die
ersten Besiedler der Havaiinseln nicht unmittelbar von der Samoa-
gruppe, wenn auch ihre Vorfahren dort ihren Ursitz gehabt haben^
In ihren alten Gesängen werden nämlich auch Inseln des Mar-
quesasarchipels wie Nukahiva und Tahuata, ausserdem aber auch
Tahiti erwähnt'). Da ferner die Mundart der Kanaken oder
Havaier sich eng an diejenige der Marquesaner anschliesst, so
lässt sie deshalb Horatio Haie von letztern abstammen, während
ihre Sagen und Sprüchwörter wieder nach Tahiti zurückverweisen').
Ihre König slisten enthalten 67 Namen, doch müssen davon min-
destens die ersten 22 als sagenhaft wegfallen, so dass nur 45
übrig bleiben, die bei einer durchschnittlichen Regierungsdauer
von 20 Jahren die Eesiedelung der Gruppe in die Mitte des
10. christlichen Jahrhunderts zu setzen erlauben^). Die wichtige
Entdeckung, dass die Brotfrüchte, wenn man sie einer Gährung.
überlassen hat, lange Zeit aufbewahrt werden können, wie dies
auf Tahiti und auf den Marquesas-Inseln geschieht '♦), fällt erst nach
der Auswanderung der Kanaken; denn auf den Sandwichinseln
war sie nicht bekannt^). Wir gewahren dabei abermals, wie un-
günstig die räumliche Absonderung nach schwer zugänglichen
Inseln wirkte, weil sie die Verbreitung glücklicher Gedanken ver-
zögern musste.
Beträchtlich früher landeten .die ersten Seefahrer auf der
Marquesasgruppe , in deren Mundarten tonganische und tahi-
tische Eigenthümlichkeiten wiederkehren, weshalb auf eine Be-
siedelung sowohl von den Gesellschafts-, wie von den Freund-
schaftsinseln geschlossen werden darf. Von Vavau oder- einer
Insel der letztern Gruppe leitete der nukahivische Häuptling
') J* J' Jarves, History of the Hawaian or Sandwich Islands. Boston
1844. p. 26.
2) Waitz, Anthropologie. Bd. 5. S. 220:
3) H. Haie (United States Explor. Exped. Ethnography p. 129 — 136.)
nimmt 30 Jahre für die Dauer einer Herrschaft an. Wem das besser gefällt,
der kann danach die obige Rechnung umgestalten.
4) V. Langsdorff, Reise um die Welt. Bd. i. S. 107.
5) Tylor, Urgeschichte. S. 229.
3,U
DtT ■mali7i5rht SWmm.
Gattanewa. richtiger KeatanuL die ersten Bewohner seiner hei-
matlichen Gruppe her. und nicht weniger als 88 Herrschernamen
konnten noch aufgezählt werden"). Dies würde nns in die ersten
Jahriiundcne vor unserer Zeitrechnung zurückführen, wenn nicht auch
hier am Beginn der Liste sagenhafte Gestalten bese.tigt werden
müssten.
Keine Ueberliefemngen sind über die Anfange der Besiedelung
von Paumotu oder der Inselwolke vorhanden, auch enthält der
dortige Sprachschatz ausserordentlich viele Besonderheiten, dagegen
stimmt er im Satzbau mit der tahitischcn Mundart gut zusammen,
sodass also wahrscheinlich eine Einwanderung von den Gesellschafts-
inseln stattfand';. In frischem Schmucke glänzen dafür die Ueber-
liefertmgen der Jlaori Neu-.Seelands, denn sie wollen noch Zahl
und Namen der Schiffe festgehalten haben und die Küstenstellen
kennen, wo ihre Vorfahren landeten. Es war die Nordinsel,
welche zuerst und von Osten her erreicht worden war, doch
nennen die Maoti ihre Urheimat Havaiki und deuten damit auf
die Samoagruppe , wenn auch später unter Havaiki ein weit ent-
rücktes glückliches Land verstanden wurde, wohin die Seelen der
Abgeschiedenen heimkehrten^). Die Maori brachten die Hausthiere
der Urheimat nicht mit nach ihren neuen Sitzen, doch hat sich
in ihrer Sprache das polynesische Wort für Schwein puaka er-
erhalten'). Ferner müssen ihre Vorfahren die Cocospalrae gekannt
haben, denn das polynesische Wort für die Nuss hat sich die
Maorisprache bewahrt, aber nur für ein Werkzeug der Wahr-
sagung'), Die Verzeichnisse der neuseeländischen Häuptlinge er-
strecken sich rückwärts auf i6 — 2Q Geschlechter, so dass also kaum
400 Jahre seit der ersten Besiedelung verstrichen waren. Uebrigens
sollen Nachzügler noch vor etwa einem Jahrhundert aus Havaiki
1) H, Ilale, 1. c. p, t77— i:y.
2) Waili iGerlnnd), Amhropologle. Bd. 5, S. Sil.
3) .Schirren (Wandcrsayen der Neuseeländer, Riga 1856. S. 98) und
nach ihm F. v. Hochatelter (Neu-Seelanil . S. 5;) verlegen Havniki nach
der Unterwelt und wollen ihm nur eine sagenhafie Bedeutung zugestehen.
GtrUnd hat jedoch geschickt die ältere Ansicht von H. Haie wieder zn
Khren Eebracht. Waiti, Anlhropologit. Bd. j, S. 205.
I [GerLind), I. L. S, zm.
ofäoge <let Cultut. Bd. I, S. üi.
Der malayische Stamm. ^^5
«ingetroflfen sein und die Kumara oder süsse Kartoffel nach
Is^euseeland eingeführt haben ').
Für die kleineren Inselgruppen sind ebenfalls frühere oder
•spätere Besiedelungen nachgewiesen worden, und wenn man auch
auf obige Zeitberechnungen kein grosses Gewicht legen darf, so
ist doch die Thatsache vor jedem Zweifel gesichert, dass die
Inselwelt des stillen Meeres von Samoa oder den Schüferinseln
nach und nach bevölkert wurde und dass dies nicht in einer allzu
entfernten Zeit geschehen sein kann, da Ueberlieferungen von
einer Einwanderung nirgends völlig verklungen waren.
Die Polynesier konnten keine Jagd betreiben*), wohl aber
Fischfang. Sonst lebten sie vom Ertrage der Cocoshaine, der
Brotfrucht uncf einiger Knollengewächse, wie des Taro und der
süssen Kartoffel. Hund und Schwein waren ihre Hausthiere und
fehlten auf Neuseeland wahrscheinlich nur deswegen, weil bei der
langen Ueberfahrt die mitgeführten Zuchtthiere schon an Bord
aufgezehrt werden mussten, sonst nämlich wurde die Besiedelung
neuer Inseln stets vorbedächtig ins Werk gesetzt. Die Vertheilung
des Flüssigen und Festen im Südosten Asiens enthielt an sich
schon den Antrieb zum Aufsuchen überseeischer Wohnplätze, denn
nirgends auf Erden haben sich ehemalige Festlande zunächst in
geräumigere, dann in immer mehr verkleinerte Inseln auf-
gelöst. Die niedrigen Korallenketten sind nur ungenügend gegen
Sturm und Brandung gesichert, bald wird dieses, bald jenes Atoll
zerstört und sein Bewohner genöthigt, eine neue Heimat aufzu-
suchen. Wie alle Malayen sind die Polynesier geschickte See-
fahrer und ihrem Scharfsinn verdanken sie die Erfindung der
einfachen oder doppelten Ausleger, welche ihre schmalen Segel-
fahrzeuge vor dem Umschlagen bei heranrollenden Wogen sichern.
Ihre gewerblichen Leistungen gehörten der Stufe geschliffener
aber undurchbohrter Steingeräthe an. Speer und Keule sind die
gewöhnlichen Kriegswerkzeuge. Thongeschirre fehlten, daher die
Nahrungsmittel mit glühenden Steinen gekocht wurden. Die Woh-
nungen bestanden aus Pfählen mit einem Blätterdache und die
Kleidung aus der Rinde des Maulbeerbaumes, obgleich die Baum-
vroUenstaude auf den Inseln heimisch ist.
i) Haie, Ethnography. p. 14^.
2) S. oben S. 190.
376 -D" makyiathe Slarani.
Die relijjiÖscn Regungen der Polynesier äusserten sich in Ver-
ehrung von Naturkräften, die in menschlicher Gestalt gedacht und
deren Thaten und Wandel mit geologischen Sagen verwebt, vom
Mythus eben so sinnig und erfinderisch ausgeschmückt wurden, wie es
von den Hellenen mit ihrer epischen Gotterwelt geschah. Die Maori
Neuseelands, sonst so verabscheuungs würdig wegen ihrer canibali-
schen Laster, besitzen gleichwohl nnmuthige Schöpfungssagen, denen
zufolge in der Urnacht zuerst als Feinstes der Gedanke keimte, auf
welchen dann das Begehren folgte, oder nach einer abgeänderten
Erzählung zuerst der Gedanke sich regte, dann der Geist und
zuletzt die Kürperstoffe entstanden'). Neben den Naturkräften
genossen auch die abgeschiedenen Häuptlinge göttliche Verehrung')
und Orakel befanden sich an ihren heiligen Stätten! Eine Priester-
zunfit war in allen schamanistischen Gaukeleien wohl geübt, stand
aber an Ansehen tief unter den Fürsten, die sich einer göttlichen
Abkunft rühmten und einer gottlichen Verehrung nach dem Tode
sicher waren. Eng knüpfte sich daran ihre Macht zu tabuiren,
kraft welcher sie durch Berührung Fluren als unbetretbar und
Ernten als ungeniessbar zu erklären vermochten. Uebrigens konnte
manches Tabu auch von Plebejern verhängt werden. Es diente
ferner zum Schutz des Eigenthums und zur Beobachtung nütz-
licher Polizeivorschriflen^). Ein Bruch dieses Hannes war unerhört,
weil,zeiüiche und ewige Strafen den Ruchlosen bedrohten. Die
unbewusste Uebertretung dieser Satzung führte zu blutigen Rache-
thaten der Eingebornen gegen Europäer, und Capitain Cook, ob-
gleich von den Sand wichins ulanern als Gott vor und nach seiner
Ermordung verehrt, fiel zur Sühne für einen Tabubruch. Aus
Missverständniss dieser Gebr.^che ist lange Zeit auf die Ge-
müthsart der Polynesier ein tiefer Schatten gefallen. Ein Maori
^ kam vielleicht verdurstet an das Haus eines europäischen An-
siedlers und bat um einen Trunk, der ihm in einem Kruge oder
' Glase gereicht wurde. Hatte er sich gelabt, so zertrümmerte er
I entweder das Gefäss oder steckte es ruhig ein, denn durch seine
Berührung war es geheiligt, also jedem Gebrauch durch einen
andern entzogen*), während der Beraubte seitdem wegen der ver-
1) Waiti (Getland), Anlhropologie. B. 6. S. 147.
2) Mariner, ronga Islands. EdinborEh 1827, lom. II. p. 73. p. 84.
f 3) V. Langsdorff, Reise um <Jic Well. Bd, i. S. 114 If.
4) D. G. ilonr.iJ, Das alte Neu-SecTand. Bremen 187I. S, JI.
Der malayische Stamm. yjj
•
meintlichen schnöden Undankbarkeit einen tiefen Groll gegen alle
Neuseeländer nährte. Den Störungen im täglichen Verkehr,
welche jene wunderliche Einrichtung nach sich ziehen musste,
wurde dadurch abgeholfen, dass kriegsgefangene Sklaven von
Tabusatzungen befreit galten.
Die polynesische Gesellschaft zerfiel in Fürsten, Adelige und'
Plebejer. Nach diesen Abstufungen richteten sich die Umgangs-
formen und durch strenge Etikette war für die Befriedigung
aristokratischer Eitelkeit hinreichend gesorgt. Auf den Gesell-
schaftsinseln treffen wir ausserdem den Bund der Areoi, halb
Ordens-, halb Künstlerbrüderschaft zur Aufführung dramatischer
Tänze. Zu ihnen gehörten, in sieben Stufen abgetheilt und durch
Tätowirung kenntlich, Fürsten, Adelige und Gemeine, Männer wie
Frauen, deren Kinder nach der Geburt getödtet werden mussten.
Die Areoi zogen zur Aufführung ihrer Festspiele von Insel zu Insel
und wurden überall mit Gelagen bewirthet. Gewiss wird ihnen mit
Recht nachgerühmt, dass sie als Pfleger der Kunst höhere Bildung
und geselligen Schliff verbreitet haben ^).
Die asiatischen Malayen, welche den Ursitzen näher blieben,
sind noch auf der Halbinsel Malaka anzutreffen oder dorthin zu-
rückgewandert. Sie bewohnen die grossen Inseln , welche jetzt
unter holländischer Herrschaft stehen, ebenso die Philippinen, ja
selbst Fprmosa. In Bezug auf letztere Insel war schon längst
bekannt, dass die gesitteten ackerbauenden Strandbewohner eine
malayische Sprache redeten*). Es gibt aber in den inneren Ge-
birgen einen unbezähmten streitbaren Stamm, den die Chinesen
als Chinwan oder „rohe Wilde" bezeichnen. Man vermuthete bis-
her in ihnen Verwandte der Philippinenbevölkerung. A. Schetelig
der zuerst ihre Sprache untersucht hat, gelangte jedoch zu dem
Ergebniss, dass jene Chinwan nur den sechsten Theil ihres Wort-
schatzes von ihren malayischen Nachbarn entlehnt haben, sonst aber
durch ihre Sprache sich von ihnen trennen und der Bevölkerung
des nahegelegenen chinesischen Festlandes körperlich sehr nahe
stehen ^).
i) Waitz (^Gerland), Anthropologie. Bd. 6. S. 363.
2) La t harn, Opnscula. London 1860. p. 193.
3) Schetelig in der Zeitschrift für Völkerpsychologie nnd Sprachwissen-
schaft. Berlin 1868. Bd. 5. S. 436—450-
r
3^0 Det malayisthe Stamm.
Gegen Westen, sollte man verrauthen, halten die inselleeren
Uäume des indischen Oceans dem Wandertrieb der Malayen eine
Grenze setzen sollen. Schon Joseph Banks, dem botanischen Be-
j^leiter Cooks auf der ersten Reise, iinJ dem Sprachforscher Herväs war
jedoch die Aehnlichkeit mal agassiä eher Worte mit malayischen nicht
entgangen, aber erst seit Wilhelm v. Humboidt's Untersuchungen über
die Kawisprache ist die Thatsache fest begründet worden, dass Mada-
gaskar von Malayen bevölkert worden sei"), während die Inseln
Rodriguez, Mauritius und Bourbon leer von europäischen See-
fahrern angetroffen wurden, Spuren von Tabugebräuchen fehlen
nicht gänzlich, denn die Fetischhiiter vermögen durch ein Kiady,
welches aus einem Grasbüschel an der Spitze einer aufgesteckten
Stange besteht, das Betreten geheiligter Orte durch Ungeweihte ab-
zuwehren'). Keine Ueberlieferung hat sich bei den Malagassen selbst
erhalten und dennoch gehört ihre Einwanderung vielleicht einer
viel näheren Vergangenheit an, als die Abtrennung« der Polynesier
■ von ihren asiatischen Geschwistern, Nach Ellis'^) Beschreibung
bedienen sich nämlich die Hova auf Madagaskar beim Aus-
schmelzen der Eisenerze eines Blasebalges aus zwei Bambusrohren,
durch welche abwechselnd mit einer Pumpenbewegung Luft heraus-
gedtiickt wird. Diese scharfsinnige Erfindung kommt sonst nir-
gends anders als auf den malayischen Inseln vor und Tylor*)
erschemt daher zu dem Schluss berechtigt, dass die Besiedelung
I\Iadagaskara erst stattgefunden habe, nachdem die Eisengewerbe
auf den Sunda-lnseln bekannt wurden. Dazu gesellt sich noch der
Umstand, dass die Hova das Zebn oder den indischen Buckel-
ochsen züchten, während die einheimischen Rinder Madagaskars der
afrikanischen .\rt gleichen '). Verknüpfen wir damit die Thatsache,
dass der südliche Rand der Insel Ceylon sowie die Malediven
malayisch sprechende Bevölkerungen besitzen, so erhalten wir
1) Bnoks inHjwkuiworlli. Discoveries in IhcSoulh-Sea, London 1773.
n. in. p. 776. I-Ierväs, Caliloga de las lenguas. Madrid 1800. vol. II.
la W. V. Hnmbuldt, Uebei die Ka«ispiaclie. Berlin i8j0. Bd. 2. S. 213.
j) Lient, Oiiver. im loum. iif llie Anlhropol. Sodeiy. London 1868.
11. VL p. CXXIU.
3) Thrcc visitE lo Madagascar. London i8j8. p. 35;.
41 Urg eich ich tc der Jiensclilieil. S. 215.
;! Lieut. Oliver, I. t. p. CXXIV.
Der malayische Stamm. 3yg
■etwas Licht darüber, auf welchen Wegen die Vorfahren der Hova
nach Madagaskar gelangten.
Es ist sehr schwierig, die Begabung der asiatischen Malayen
für bürgerliche Gesittung richtig abzuschätzen, denn sie verloren
frühzeitig ihre Selbständigkeit. Erst brahmanische und später
buddhistische Ansiedler brachten indisches Wissen, indische Reli-
gionen, indische Kunst und indische Schriftzüge, sowie eine Zeit-
rechnung nach Java'); auch Sumatra und die Halbinsel Malaka
blieben von ihrem Einflüsse nicht unberührt. Mit dem Erlöschen
des Buddhismus sanken auch die ehemaligen Tempelbauten auf
den Sunda-lnseln in Trümmer. Seitdem ergaben sich die Malayen
dem Islam, dessen Vorschriften jetzt den Inhalt des bürgerlichen
Rechtes bilden. Die ältesten Begebenheiten ihrer geschriebenen
Geschichte gedenken eines Reiches auf Sumatra, das in Menang-
kabao seinen Brennpunkt besass und von wo aus seekundige
Abenteurer auszogen, um sich angeblich 1160 n. Chr. auf Singapur
festzusetzen. Seitdem waren es vorzüglich die Araber, welche ihre
Bildung auf die Völker der Sunda-lnselwelt übertrugen. Unberülirt
von fremden Einwirkungen haben sich nur die Dayaken Borneo's
und die streitbaren Batta auf Sumatra erhalten. Die ersteren
haben sich durch eigene Entfaltung kaum hoher gehoben, als die
Polynesier *). Bei ihnen galt, ehe der Radscha Sir James Brooke
ihr ein Ende bereitete, die alterthümliche Sitte des Schädelraubes,
früher wahrscheinlich allen asiatischen Malayen eigenthümlich, denn
sie ist neuerlich von Bechtinger auf Formosa bemerkt worden^)
und herrschte noch im 15. Jahrhundert bei den Batta Sumatra's^).
Der Sinn der seltsamen Sitte, sich irgendwoher durch Gewalt oder
List einen Kopf oder einen Schädel zu verschaffen und ihn wie
ein theures Besitzthum mit in das Grab zu nehmen , erklärt sich
durch den Volkswahn, dass in der Behausung der Abgeschiedenen
der vormalige Träger des Schädels dem späteren Inhaber Sklaven-
dienste leisten werde 5). Von den anthropophagen Batta endlich
i) Fried r. Müller, Reise der Fregatte Novara. Anthropologie. 3. Ab-
theilung. S. 90.
2) Ueber ihre Sitten S. oben S. 193. S. 243. S. 256. S. 274.
3) -Ausland 1872. No. 24. S. 559.
4) Kunstmann, Indien im 15. Jahrhundert. München 1863. S. 40.
5) Tylor, Anfänge der Cultur. tom, I. p. 452.
380 D" miilayische Stamm.
haben wir bereits gerühmt, dass sie ein eigenes Alphabet, freilich
nur eine Kachbildung indischer Schriftzeiclien, sich erworben
haben').
Der asiatische Malaye gewährt bei seiner Verschlossenheit,
seinem Schweigen, seinem Knechtssinn gegen Obere, seiner Härte
gegen Niedere, seiner Grausamkeit, seiner Rachsucht und seiner
leichten VerleUlichkeit kein freundliches Gemälde, doch gewinnt
er wieder durch seine Sanflmuth gegen Kinder, seinen wärdevollen
Anstand und sein geschlijTenes Betragen. Wallace, der lange Zelt
unter Malayen und Papuanen lebte, hält die letzteren für begabtere
Menschen.
Die dritte Gruppe von Malayenvolkern finden wir Östlich
von den Philippinen, nordlich vom oder hart am Aequator auf den
Marianen, der Palaugruppe, der Carolinenkette, sowie den Ralik-
Rattake und den Gilbert-Atollen. Neuerdings fassl man sie zu-
sammen unter den Namen Mikronesier. Die Bewohner jener
Inseln sind Mischliiige von Polynesiern und Papuanen; der Sprache,
den Sitten und den bürgerlichen Einrichtungen nach aber gehören
sie zu den Polynesiern, Bei den Üewohnern der Palau-Inseln
überwiegt jedoch das papuanische Blut, weshalb sie besser nicht
zu dem malayi sehen Stamme gezählt werden'). Weiter nach Osten
aber wird der Typus polynesischer, immerhin aber unterscheiden
sich selbst noch an den äussersten Grenzen ihres Wohngebietes
die Mikronesier durch Kräuselung des Haares von den reinen
Polynesiern, während wieder mit der Annäherung an Japan die-
schiefe Stellung der Augen häufiger wird.
Unter asiatischen wie polynesi. sehen Malayen sind Schmal-
schädel sehr selten; wo sie vorkommen, wie auf den Carolinen, be-
stätigen sie nur den Satz, dass die Mikronesier als Misch bevölkerung
ungesehen werden müssen. Der Breitenindes der Polynesier ist
indessen merklich niederer, als bei den asiatischen Malayen, daher
diese zu den Brachycephalen, jene zu den Mesocephalen gehören^).
Bei beiden Abiheilungen der malayischen Familie ist die Höhe
des Schädels ebenso_ gross oder auch wohl ein wenig grösser als
1) Junghuhn, die Baltaländer. Berlin 1847- Ed. 2. S. 255 ff.
2) Semper, die P.ilau-Inseln. Leipiig 1873. S. 361.
3) vgl. die Tafel bei Barnard Davis, Tliesaurus Cranioram p. 359"
unJ üben S. 5;.
Der raalayische Stamm. ^8l
die Breite '). Der Prognathismus bleibt innerhalb massiger Grenzen
und die Jochbogen sind mehr oder weniger vorstehend. Alle
Völker dieser Familie haben eine dunkle, nie völlig schwarze, bei
den asiatischen Malayen sogar nur schmutzig gelbe Haut. Schwarzes,
langes, straffes Haupthaar, Spärlichkeit des Bartwuchses und des
Leibhaares, welches übrigens künstlich entfernt wird, sind die
Merkmale, die sie mit andern Gliedern der mongolischen Race
gemein haben. Je näher ihre Sitze dem asiatischen Festlande
liegen, desto häufiger wird die schiefe Stellung der Augen. Durch
diese Besonderheit rücken sie den Bevölkerungen im Osten der
alten Welt sehr nahe. Nicht nur sind sie ihnen ähnlicher, als
irgend andern Menschenstämmen, sondern es ist überhaupt gar
keine feste Grenze zwischen ihnen zu ziehen, das Typische fliesst
vielmehr in einander über. Den Bewohnern der Nias- und Batu-
Inseln vor der Westküste von Sumatra ist deswegen, wenn auch
ganz unberechtigt, eine chinesische Abkunft zugeschrieben worden^).
Semper glaubt bei verschiedenen Stämmen der Philippinen wie
bei den Iraya chinesische oder japanische Aehnlichkeiten durch
Blutmischung erklären zu müssen , obgleich er gesteht, dass nur
in ,, einigen wenigen Fällen ein schwacher historischer Beleg sich
auffinden lasse" ^). Entscheidend ist es, wenn Wallach ^) schreibt:
,,Sehr betroffen war ich, als mir auf der Insel Bali chinesische
Händler zu Gesichte kamen, welche die Sitten jenes Landes an-
genommen hatten und von den Malayen nicht unterschieden werden
konnten. Andererseits habe ich Eingeborne, von Java gesehen,
die in Bezug auf ihre Physiognomie sehr gut für Chinesen gelten
konnten". Latham bezeichnet die Körpermerkmale der Malayen
als ,,echt indochinesisch" ^) und an einer andern Stelle sagt er
wieder, bei den Mikronesiern finde sich der Mongolentypus aus-
geprägter als bei den Chinesen^), was jedoch nur von den Be-
wohnern der Marianen zugegeben werden darf. Wir begegnen
i) Bei den Welck er 'sehen Messungen tritt dieses Merkmal schärfer
hervor, als bei Barnard Davis, aber nur deswegen, weil der letztere die
„grösste Breite" gemessen hat.
2) Waitz, Anthropol )gie. Bd. 5. S. 92—93. .
3) Die Philippinen. S. 54—55.
4) Der raalayische Archipel. Braunschweig 1869. Bd. 2. S. 419.
5) Man and his migrations. London 1851. p. 188.
6) Varieties of man. p. 186.
■i,fi2 De< malayisLlie Slarnm. — Südoslasiilen mit einsylbigen Sprachen.
daher iinsern eigenen Gedanken in Moritz Wagner's Worten, wenn
er änssert: „Schädelbildung, Form und Farbe des Gesichtes, wie
überhaupt die ganze Körperbeschaffenheit der malayischen Race,
sind der mongolischen so nahe verwandt, dass man bei gleicher
Tracht beide Racen kaum von einander unterscheiden kann" ').
Wir werden daher auf kdnen Widerstand stossen , ' wenn wir den
malayischen Stamm unter die mongolenähnlichen Völker zählen.
Doch gebührt ihm wegen sdner Sprachmerkmale eine abgesonderte
Steile. Wir trennen ihn weiterhin in mikronesische Mischvölker
und dann in polynesische oder wenn man lieber will in pacifische
und in astatuschc Malayen. Diese letzteren aber lassen sich am
besten mit Friedrich Älüller'j wiederum zergliedern in: i) die Be-
wohner der Philippinen, Tagalen und Kisaya genannt; z) die Ma-
laien im engsten Sinne, als Bewohner der Halbinsel Malaka, auf
Sumatra als Aiachinesen , Pa^sumah, Retschang und Lampong;
3) die Sundanesen im westlichen, 4) die Javanen im Östlichen Theile
Java's; 5) die Batta auf Snmatra; 6) die Dayakcn Borneo's; 7) die
Macassaren und Buginesen auf der Insel Celebes. Als ver-
sprengte Glieder endlich gehören zu diesem Stamme die einge-
wanderten Ansiedler der Inseln Formosa, Ceylon und Madagaskar.
2. Südostasia tL- n ni;t einsylbigen Sprachen.
Zu dieser Gruppe gehören zunächst die Bewohner von Hinter-
indien, die wir Jlalayochinesen nennen wollen, damit endlich der
unpassende Name Indochinesen verdrängt werde, ts schliessen
sich an sie gegen Westen die Bevölkerungen vqn Tübet und der
südlichen Abhäni^e des Himalaja an und gegen Norden und Nord-
osten die Chinesen. Ihnen allen sind straffes , schwarzes Haar,
Mangel an Bartwuchs und Leibeshaar, eine farbige, meist leder-
gelbe Haut und schicfgestellte Augen eigen. Schmalschädel ge-
hören unier ihnen zu den grös?ten Seltenheiten ; ihrem Breitenindex
nach ordnen sich vielmehr diese Völker theils unter die Meso-
ccphalen, theiis unter die Brachycephalen. Die Hohe des Kopfes
ist entweder der Breite gleich oder überbietet sie nicht selten.
Südostasiaten mit einsylbigen Sprachen. 783
Prognathismus tritt nicht überall und stets in massigem Grade
auf. Doch ist die Zahl der gemessenen Schädel ausserordentlich
dürftig. Selbst Barnard Davis verfügte nur über 21 Chinesenköpfe
beiderlei Geschlechtes, und was sind 21 Köpfe, wenn es sich darum
handelt, die mittleren Grössenverhältnisse bei 350 Millionen Men-
schen, zerstreut über eines der grössten Reiche der Erde, fest-
zustellen?
Bei der guteft Uebereinstimmung der wichtigsten Racen-
merkmale können diese Völker nur nach ihren Sprachen geschieden
werden. Die Sprache der Bod-dschi oder der Bewohner Tübets,
obgleich streng einsylbig, besitzt doch Präfixe, die zwar nicht aus-
gesprochen, wohl aber geschrieben werden'), und bietet daher der
vergleichenden Linguistik noch ein dunkles, ungelöstes RäthseP).
Im Himalaya, vorzüglich an den südlichen Abhängen, sitzen eine
Anzahl kleiner Stämme, deren Namen aufzuzählen hier nicht beab-
sichtigt wird. Sie stehen leiblich wie sprachlich den Tübetern sehr
nahe , sind aber nur theilweis rein geblieben , meistens sonst mit
indischem Blute gemischt. Zu den rein gebliebenen gehören die
Leptscha, welche Sikkim beherrschen«*). Nicht unbeachtet darf es
bleiben, dass auch die nomadischen Sifan in den chinesischen Pro-
vinzen Schensi und Sse-tschuen sprachlich noch zu dem tübetischen
Völkerkreise gehören.
Eine andere Gruppe von Völkern schaart sich um die Bir-
manen, deren Sprachtypus uns schon beschäftigt hat"^). Ver-
schwistert mit ihnen sind die Bewohner Arakans, die Khyeng, in
dem Grenzgebirge zwischen Arakan und der Irawadi und die
kleinen Stämme zwischen Irawadi und Brahmaputra. Eine andere
Abtheilung bilden die Thai oder Siamesen, von denen die Laos-
völker im Innern Slams nur durch mundartliche Verschiedenheiten
getrennt werden. Die roh gebliebenen Miaotse oder Miautsi in
den hochgelegenen Theilen der Südhälfte des chinesischen Reiches,
welche dort als Urbewohner gelten, sollen ebenfalls zur Thaigruppe
i) Die Städtenamen Thashilhünpo und Tassisudon werden beispielsweise
geschrieben b Kras shis Ihiin po und b Kras shis chhos krong. v. SchJajjint-
weit, Indien und Hochasien. Bd. 2. S. 44.
2) "Whitney, Language and the study of languafje. p. 337.
3) V. Schlagintweit , 1. c. S. 46.
4) S. oben S. 121.
tR± SüdüslaaJAteii mit einsylbigen Sprachen.
gehören '). Vereinzelt stehen dagegen die Annamiten in Tongking
und Cochinchina.
Ausserdem lassen sich noch nicht irgend einer der vorigen
Gruppen anschliessen die Karan in Pegu und im südlichen Birma,
die Mon im Delta der Irawadi, die Khomen oder Urbewohner von
Cambodscha, die Tschampa an der Küste östlich von den Mekong-
mündungen, die KU IMarco Polo's Zeiten ein Königreich errichtet
hatten, die Kwanlo, Urbcwoliner von Tongking und verschieden
von den Annamiten, die Moi öder Mjong in den Gebirgen, welche
dep Mekong von Tonking trennen'). Die Khösprache in Cam-
bodscha und die Mönsprachc in Pegu sollen sich übrigens viel näher
stehen, als die zwischen ihnen ausgebreitete Thaisprache 3). Diese
kleineren Stämme üben auf den Völkerkundigen wenig Anziehung
aus. Sie stehen nicht mehr auf alterthümlichen Stufen, was sie
aber an Gesittung sich angeeignet haben, ist fremden Ursprunges,
ein Edelreis auf wildem Stamme. Dies gilt sogar von den grösseren
Reichen Birma, Slam und Tongking. Sind auch in allen drei
Ländern ansehnliche Rc-sle grossarliger,- jetzt meist verfallener
Bauten entdeckt worden, so tragen sie doch sämmtlich das Ge-
präge indischer Herkunft und indischen Geschmackes, welcher
letztere mit dem Buddhismus sich eingebürgert hatte. Uebrigens
gehören sie sämmtlich der nachchrisdichcn Zeit, überhaupt keinem
sehr hohen Alterthume an. Tongking hat dagegen seine Cultur-
schätze vorzugsweise aus China empfangen, wie denn auch Siam
zu den indischen Bildun^-s mittein in neuerer Zeit' chinesische
aufgeiioinmen hat. Dürfen wir also rasch von den Malayochinesen
hinwegeilen, so müssen wir imi so länger bei dem grössten Cultur-
volke der mongolischen Race, bei den Chinesen verweilen, über
deren Sprache bereits das Nöthigste mitgetheilt wurde').
Bei einer bedauerlichen Mehrheit unserer Landsleute beschränkt
sich das Wissen vom himmlischen Reich auf den Zopf, den die
Chinesen doch erst seit 1644 tragen, und ablegen werden, sobald
die Mand8chu-D)nastie fällt, sowie auf die grosse Mauer, wc-lclie
1) Fi. Müller, Allgemeine Ethnographie. S, 361.
2) Friedrich Müller, Reise der Fregatte Novar
Bd. 3. S. 149 ff-
31 Lalham, Man anil liis inigrations. p. 195.
41 S. oben S. 118 iT.
Südostasiaten mit einsylbigcn •Sprachen. ^gc
gegenwärtig weder bewacht noch ausgebessert wird, und von der
man .sprüchwörtlich, aber falschlich behauptet, sie sei von den
Chinesen als eine Art spanischer Wand zur Abwehr gegen abend-
ländische Belehrungen errichtet worden. Seit Jahrhunderten, sagen
die Bescheidenen, seit Jahrtausenden die Dreisteren, sei China
China geblieben, ohne sich vorwärts oder rückwärts zu bewegen,
so dass zur Widerlegung dieses Irrthums bei der späteren Auf-
zählung von Neuerungen, die im himmlischen Reiche so wenig
ausgeblieben sind als anderwärts, stets Zeitangaben beigefügt
werden sollen, aus denen sich stillschweigend ergeben wird, dass
die Bewohner des himmlischen Reiches fort und fort, theils durch
eigenes Nachdenken, theils durch Aufnahme fremder Gedanken,
§
ihre Zustände verbessert haben.
Wohl haben uns die Chinesen bis zur Eroberung Pekings
„Barbaren" und „Teufel" geheissen. Ob wir aber als Chinesen
nicht das nämliche gethan und mit Recht gethan hätten, soll ein
jeder entscheiden, nachdem er sich von einem gerecht und mensch-
lich fühlenden Gelehrten der Vereinigten Staaten über die Roh-
heiten der Europäer in China hat unterrichten lassen. Ein auf-
gefrischter Dampfer, erzählt Pumpelly*), sollte von Schanghai aus
seine erste Probe bestehen, und was sich in der Stadt an ange-
sehenen Namen befand, wurde zu der Spazierfahrt eingeladen.
Zu den Geladenen gehörte auch unser amerikanischer Gewährs-
mann. Der Dampfer ging den Wusangfiuss hinauf und fegte mit
voller Kraft durchs Wasser, al§ oberhalb ein chinesisches Fahrzeug
bemerkt wurde, bis zum Bord mit Backsteinen beladen, so dass
es den Rudern der vier einheimischen Schiffsknechte schwer ge-
horchte. Da das Fahrwasser sehr schmal war, trachteten die
Chinesen seitwärts auszuweichen und arbeiteten aus Leibeskräften.
Trotzdem wich das bleierne Fahrzeug nicht völlig bei Seite. Der
Lootse fragte daher: „Soll \ier Dampfer halten?" „Nein", schrie
der Capitän, „vorwärts!" Athemlos harrte Pumpelly der Dinge.
Die Spitze des Schiffes stiess an das Ziegelboot und der Stoss
drehte letzteres so heftig, dass es gegen den Radkasten geschleudert
wurde. Der Dampfer bebte beim Zusammenstoss, fuhr aber lustig
weiter» Als Pumpelly auf dem Hintertheil über Bord schaute,
sah er von Schiff und Schiffern nichts mehr als einen einzigen
i) AcTOss America and Asia. London 1870. p. 206.
Petcktl, Völkerkunde.
25
4Ä^ SüdosUsiaten mit einsylbigen Sprachen.
Chinesen anscheinend bewegungslos im Wasser. Das Vergnügen
der Spazi erfahrenden litt übrigens nicht das rgindeste unter diesem
Zwischenfalle, besonders nachdem die OfBciere mit gutem Ergebniss
untersucht hatten, ob etwa der Radkasten erheblich beschädigt
worden sei.
Als Gegenstück wollen wir hier ein anderes Erlebniss ein-
schalten'}. Wir belinden uns mit Pumpelly im Norden auf der
Heimkehr aus den Gebieten des Steinkohlenbergbaues. Dort gab
ihm und seinem Gefährten Murray von der britbchen Gesandt-
schaft, einem meisterhaften .'Sinologen, der Strassenpöbel von Ta-
hwei-tschang das Geleite. Pöbel bleibt Pobel! Der chinesische er-
götzte sicli durch Witze an den fremden Gestalten, geradeso wie eng-
lischer und amerikanischer Pöbel an bezopften Chinesen sich
ergötzt haben würde. Nach dem Lachen aber wurde die Stimmung
saurer, denn die Himmlischen warfen allerlei widerwärtige Pro-
jectile yegen die fremden Teufel, unbekümmeit dass diese unter
der Obhut dreier Mandarinen reisten. Da kehrte Murray sein
Koss um, erhob die Hand um der Menge Schweigen zu gebieten,
und begann in trefflichem Chinesisch ; ,,0, Volk von Ta-hwei-tschang,--
übst du so die Gastlichkeit? Befolgst du so die Vorschriften
deiner Philosophen, dass man den Fremdling in den Mauern sanft
behandeln solle? Hast du den Spruch deines grossen Meisters
Confutse vergessen : Was ich nicht will dass ein anderer mir zu-
füge, das soll auch ich ihra nicht thun?" Im Nu änderte sich
der Auftritt, die alten Chinesen schüttelten wohlgelällig den Kopf,
die Buben aber bemühten sich durch Gefälligkeit den Eindruck
ihrer früheren Unarten wieder zu verwischen. Nun frage sich ein
jeder, was hätte eine amerikanische oder englische Strassenbevöl-
kerung getlian, wenn ein Chinese, um sich gröblichen Belästig-
ungen zu entziehen, ihr einen Satz aus der Bergpredigt vorge-
halten hätte?
In der alten Welt sind vorzugsweise die Chinesen dasjenige
Volk, von welchem mit Sicherheit sich behaupten lässt, dass es
äeiue Erkenntnisse beinahe vollständig aus sich selbst geschöpft
habe. Abgesehen von den undeutlichen Nachrichten bei den Ge-
schichtsschreibern und Geographen des Alterthums über ein Volk
im fernen Worgenlande welches Seidenzeuge webte, besitzen wir
1) Purupcll)-. 1. t. p. agg.
Südostasiaten mit einsylbigen Sprachen. 3S7
in den Berichten arabischer Reisenden aus den letzten Zeiten der
Abbasiden die ersten Beobachtungen der gesellschaftlichen Zustände
China's, welche Staunen zugleich und Bewunderung der Zeitgenossen
erregten. Etwa ein halbes Jahrtausend später kehrten die Poli
aus China nach Venedig zurück, und ihre Mittheilungen von der
Bevölkerungsdichtigkeit und den Riesenstädten des himmlischen
Reiches klangen so unglaubwürdig, dass man den jüngsten der
Reisenden, Marco, als einen Millionenschwätzer (Messer Milione)
verspottete. Jetzt ist es längst entschieden, dass der Venetianer
ein treuer und genauer Berichterstatter dessen gewesen ist was er
gesehen oder gehört hatte. An der Schwelle des 14. Jahrhunderts,
als Marco Polo die Wunder der ostasiatischen Gesellschaft be-
schrieb, hatte Europa in der That das chinesische Reich noch um
vieles, China in Bezug auf bürgerliche Ordnung und technische
Leistungen Europa noch um weniges zu beneiden.
Ihre Seidenzeuge, welche bereits der Prophet Hezeqier) er-
wähnt, zogen den Chinesen den ersten Völkernamen zu, und das
Wort für Seide in den Sprachen des Abendlandes stammt, wie
Klaproth*) längst gezeigt hat, aus dem Chinesischen. Irdenes
Geschirr kannten die Bewohner des himmlischen Reiches nach
ihrer freilich künstlichen und darum unzuverlässigen Chronologie
schon im Jahre 2698 v. Chr., aber die Porcellanbäckerei entwickelte
sich nach Stanislas Julien erst in der Zeit von 185 — 87 v. Chr. Wenn
im Schuking schon unter Thai-kang oder 2188 — 59 v. Chr. von
süssem ,,Wein" gesprochen wird, so muss zunächst daran erinnert
werden, dass erst ein chinesischer Feldherr, Tschang-khien, im
'Jahre 130 v. Chr. den Rebstock und die Rebenzucht ins Reich
der Mitte einführte"^), dass aber heutigen Tages die Himmlischen
die Trauben wohl essen, aber nicht keltern. Der süsse Wein des
Schuking ist daher nichts anderes als das Gährungserzeugniss aus
Reis unter Zusatz eines Sauerteigs aus Weizen, während die
Branntweinbrennerei erst unter den Mongolenhenschern sich aus-
breitete^). Auch der Thee wurde im alten China, also unter
1) Cap. XVI, V. 13 u. Fr. Spiegel im Ausland. 1867. S. 1023.
2) Tableaux historiques de l'Asie. Paris 1826. p. 58.
3) Plath, im Ausland 1869. S. 1213. Ucber den wilden Weinstock
(F/V/j flWMr<?wj'«-J in Nordchina vgl, Peter manns Mittheilungen. 1869. S. 304.
4) Huc, Chinesisches Reich. Bd 2. S. 20f> ff.
25*
,g8 Siidoslasiaten mil emsylbigen Sprachen.
den drei ersten Dynastien, schon desawegen nicht gebaut und
nicht getrunken, weil sich die Reicbsgränzen noch nicht über die
botanische Heimat des Tsc ha Strauches, nämlich über den Süden
erstreckte. Auch soll das Theetrinken erst durch buddhistische
Mönche aufgebracht worden sein und ist vielleicht nicht älter als
unsere Zeitrechnung. Ebenso gehört das Papier in China unter die
Neuerungen, denn seine erste Verbreitung fällt um das Jahr 153 n.
Chr., während vorlicr Bambutafeln seine Dienste ersetzen mussten.
Die Tusche wird noch jetzt am vorzüglichsten in China zubereitet,
wenn auch ihre Güte in neuerer Zeit, seitdem Büffel- anstatt Hirsch-
hornlcim zum Bindemittel des Fettrusses verwendet wird, gesunken ist.
Ihre erste Erfindung gehört der Zeit von 220 — 419 n. Chr. an. Der
Druck mit geschnittenen Holztafeln wurde in China 593 oder 583
n. Chr. erfunden, und bereits im Jahre 1310 in Raschid eddin's
.JDschemma et tewarikh" beschrieben. Wir werden sogar von Stanislaa
Julien und Paul Champion unterrichtet, dass in der Periode King-li
{1041 — 49 n. Chr.) die Kunst mit beweglichen Lettern zu drucken
erfunden worden sei'). Natürlich handelte es sich dabei nicht um
Buchstaben, sondern es waren die abgekürzten Sylbenbildei der
chinesisclien Schrift, die auf beweglichen Stücken aus Porcellan
zusammengesetzt wurden. Diese Kunst musstc wieder in Verfall
gerathen, weil der Letterndruck doch nur bei Buchstabenschrift
mit grossem Erfolge sich anwenden lässt. Bei einer einsylbigen
Sprache, wie das Chinesische ist, war es zwar leicht für jede
Wurzel eine Hieroglyphe zu ersinnen, aber man kam auch, eben
weil in der Sprache selbst kein Zwang vorlag, nicht Idazn die
Wurzel in ihre einzelnen Laute zu zerlegen, und den Laut zh
symbolisiren. Von allen Völkern der Erde sind die. Chinesen das
einzige, welches liest, schreibt und druckt ohne das Buchstabiren
erfunden zu haben.
Die Nordweisung der frei schwebenden Magnetnadel war den
Chinesen schon seit 121 n. Chr, bekannt'), «nd Brillengläser haben
sie sicherlich früher geschliffen als die Abendländer. Das Pulver
kannten sie ebenfalls längst vor den Europäern, wenn sie es auch
nur zu Feuerwerken verwendeten. Geldmünzen, d. h. geprägte
I) Slaniilas Julien el Pai;l Champion, Industries anciennes et
modernes de l'empire chinois. Paris 1870. p. 153. sq.
3) Klaprolh, Lettre sur rinvenüon de la boussole. Paris l834- P- 6*-
Südostasiaten mit einsylbigen Sprachen. 389
Stücke aus edlem Metall, gebrauchen die Chinesen noch heutigen
Tages nicht, sondern Wage und Gewicht entscheiden allein im
Handelsverkehr, Papiergeld dagegen haben sie schon seit 119 v.
Chr. in Umlauf gesetzt. An der Assignatenwirthschaft sind die
letzte und vorletzte, die Ming- und die Mongolen - Dynastie
zu Grunde gegangen, und wenn uns die Pekinger Staatszeitung
jemals die Nachricht bringen sollte, dass auch die Mandschu Schatz-
scheine auszugeben begonnen hätten, dann dürfen wir sicher an-
nehmen, dass in ihrem Stundenglase die letzten Körner abrinnen^).
Mit Zahlen wissen die Chinesen geschickt umzugehen. Sie sind
nicht nur die Erfinder des Rechnenbrettes, sondern nach Angaben
Sir John Bowrings verwenden sie beim Rechnen im Kopfe die
Glieder an den Fingern der linken Hand als Ziffern bis zu einer
Grösse von 99,999, und zwar so dass jeder Finger vom kleinen
angefangen einen höheren decimalen Stellenwerth besitzt als der
nächste^. Das sogenannte Macadamisiren der Strassen ist eine
uralte Erfindung der Chinesen, (^' ^ wir ihnen erst seit 1820 nach-
geahmt haben ^). Wenn wir im . iarcusevangelium die Abendmahls-
feier nachlesen, so lässt uns der griechische Ausdruck keinen
Augenblick im Zweifel, dass Christus und ^eine Jünger mit den
Fingern assen. Von den Chinesen erfahren wir, dass sie sich be-
reits unter der zweiten Dynastie, also im zweiten Jahrtausend
vor unserer Zeitrechnung der Essstäbchen aus Bambu und bald
nachher aus Elfenbein bedienten^)«
Werden wir endlich nach dem Alter der chinesischen Cultur
befragt, so müssen wir damit beginnen, die Chinesen als treue und
eifrige Geschichtschreiber zu preisen. Ihre beglaubigte Geschichte
reicht zurück bis auf Yao oder nach der herkömmlichen Zeitrech-
nung bis zum Jahre 2357. Die letztere Ziffer bedarf jedoch einer
kritischen Abkürzung. Bis zum Jahre 826 v. Chr. ist nach Legge
in der chinesischen Chronologie alles in strengster Ordnung; Plath,
von dem man Uebereilungen nicht zu befürchten hat, geht sogar
i) Klaproth, sur Torigine du papier-tnonnaie , im Journal asiatique.
Paris 1822. tom. I, p. 259 — 259.
2) Ausland 1868. S. 719.
3) Schmoller, Geschichte der deutschen Kleingewerbe. Halle 1870«
S. 167.
4) Plath, im Ausland. 1869. S. 1214.
3QO SiidosUsiaten mit einsylbigen Sprachen.
bis zum Jahre 841 zuriick. Schon beim Auftreten äer dritten Dy-
nastie schwankt!! aber die Zeitangat>en um 11 Jahre, nämlich entweder
müssen wir diese Begebenheit in das J. 1122 oder iiii v. Chr. ver-
setzen. Die Zeiten der ersten Dynastie endlich, sowie der Regie-
rungen Yao's oder Schün's können die Sinologen genauer nicht
befestigen, als dass die letzteren in das ig. oder das 20. Jahrhun-
dert") V, Chr. gehören. Jahreszahlen also, die noch in das dritte
Jahrtausend zurückgehen, sind kritisch zu verwerfen.
Das chinesische Reich hat gleichwohl eine Dauer von beinahe
4000 Jahren genossen, innerhalb welcher Zeit eine Art Entwicklungs-
krankheit genau wie sie das deutsche Reich im Mittelalter erlitt,
nämlich ein Zerfall der kaiserlichen Gewalt und das Emporkommen '
von kleinen SoTiUer- und Raubstanten überstanden werden ftiusste,
bis unter den Thsin die künigliclie Gewalt stärker denn je wieder
aufgerichtet wurde. Neben dieser Zeitdauer, erscheinen die Staats-
scht'ipfungen der mittelländischen Sacen, erscheint das Chaldäerreich,
die Herrschaft der Assyrier, das nc' Babylon und die Monarchie der
Achaemeniden, erscheint selbst da, . Ömische Reich als eine vergäng-
liche Gestaltung, nur Aegypten allein mit seinen bis ins 3g. Jahr-
hundert V, Chr. noch zu verfolgenden Kon igsgeschl echtem gewährt
uns noch einen würdigeren Gegenstand für unsere Ehrfurcht. Wie
aber im Nilthale vor Wenes schon Völker in gesellschaftlicher
Ordnung lange Zeiträume hindurch gelebt haben müssen, so beginnt
auch die chinesische Reichschronik mit geordneten Zuständen.
Unter Vü, dem Stifter der ersten Dynastie werden bereits Canäle
ausgestochen, im Käthe der Krone geniesst der Minister- der
cjifentiichcn Arbeilen eine bevorzugte Stellung und das Ackerland
wird nach Bonilätsklassen besteuert"). Es gab im alten China
schon eine geschäftige Pohzei, Passwesen und Thorschreiber, Jagd-
verbote zur Brut- oder Werfezeit, Schutz der Eier im Neste der
I) Legge. Chinese cla^sics. Pari m. Prolofomena p. loj. Joho Cbalmers
hat Eüieiel, dass für China in der leil von 1154 bis 1718 v. Chr. nicht
weniger als 16 VerfinsleranKcn der Sonne in dem Zeichen des Scorpions
lichtbar waren, und es ist daher ganz willkürhch, welche von diesen Vertin-
tterungen als diejenige gellen soll die sich zur Regierungszeit von Tschudg-kang
I) J. H. Plalh, VerrasEung und Verwaltang Chin»i anter den drei
etsicti Dynaslien. München 1865, S. 32. S. 37. tf.
Südostasiaten mit einsylbigen Sprachen. igi
Singvögel vor räuberischen Händen, Verbote gegen das Tragen
von Waffen oder das scharfe Reiten durch die Gassen der Städte,
Wollten wir einer Angabe aus dem Jahre 282 n. Chr. folgen, so
hätte schon zu Yü's Zeiten China eine Bevölkerung von 13,553,923
Köpfen besessen, allein James Legge hält alle VolksziiFern aus dem
alten Reiche [nur für müssige Rechnungsübungen späterer chinesi-
schen Gelehrten '). Das Gebiet des ersten Herrscherhauses hatte
noch Raum in dem grossen Ellenbogen den der Hoangho in der
Provinz Schaiisi bildet und lange Zeiträume verstrichen, ehe es
sich bis zum Yangtsekiang erstreckte. Erst 537 v. Chr. wurde
Tschekiang einverleibt und Südchina, das heisst Fokien, Kuang-
tung, Kuangsi, Kueitscheu im Süden der Nanlingkette durch
Colonisten seit 214 v. Chr. erworben, ebenso friedlich oder viel-
mehr friedlicher als die Unionsstaaten unter unsern Augen über
den Mississippi in den fernen Westen hinausgewachsen sind. An
Ausbreitung hat China noch 1255 n. Chr, gewonnen, als die Mon-
golen Yünnan ihm hinzufügten, ja die Insel Formosa ist erst 1683
in den ßej^itz des Reiches gekommen*). Wenn dagegen seit den
letzten zwanzig Jahren nicht bloss das transamurische Gebiet,
sondern grosse Bruchstücke Mandschuriens an Russland abgetreten
wurden, wenn Kaschgarien durch eine Empörung verloren ging
und im Süden Yünnans ein mohammedanisches Reich entstanden
ist, so muss man erwägen, dass diese Verluste in eine Zeit innerer
Zerrüttung .fallen. Die Mandschu sind offenbar entkräftet worden
und China reift einem Dynastienwechsel entgegen, einer gesell-
schaftlichen Krankheit wie es deren schon manche erlitten und
überstanden hat, um stets wieder unter einem neuen Herrscher-
geschlechte frisch zu erblühen.
Ehe wir zur Untersuchung schreiten, inwiefern die Länder-
beschaffenheii den Entwicklungsgang der chinesischen Gesellschaft
«
gefördert habe, müssen wir zuvor über die körperlichen und gei-
stigen Befähigungen, sowie über die Gemüthsart des Volkes uns
unterrichten. Es ist zunächst aii die Biegsamkeit des chinesischen
Menschenschlages zu erinnern, der, allen Gegensätzen der Luft-
erwärmung zum Trotz, in Kiachta oder genauer in Maimatschin
1) Chinese Classics. vol. III, part. i. p. 77 — 79.
2) J. H. Plath, Verfassung und Verwaltung China's unter den drei
ersten Dynastien. München 1865. S. 8.
jQ2 Südoslasiaten mit eiDsylbigeii Sprachen.
an der sibirischen Grenze, wo das Quecksilber jeden Winter in
d(.-r Tliermometerrübre gefriert, ebenso unangefochten gedeiht wie
n der Treibhauswärme Singapurs, wo die Muskatnuss vor dem
Ausbruch der letzten Seuche als Handelsgewächs gebaut wurde.
Der Chinese vereinigt sodann alles in sich was bei ruhigem Ge-
währenlasseti zur raschen Uebervölkerung führen müsste: er ist
ein zärtlicher Vater der seine höchste Freude im Kindersegen
sucht, genügsam bis zum Uebermass, von musterhafter Sparsam-
keit, ein nie ermüdeter Arbeiter, der jede Sabbathruhe verschmäht
im Handel aber pfiffiger als ein Grieche. Schon die Kinder be-
sorgen Marktgeschäfte; Keuschen und auf Pfander leihen sind ihre
beliebten Spiele'),
Der Chinese hängt noch fest und zäh an der ersten Stufe,
auf welcher sich die menschliche Gesellschaft zu gliedern beginnt
tin jeder Befehl in China kommt aus väterlichem Munde, Ge- -
horsam ist die erste heilige Kindespflicht, und Todesstrafe droht
jedem der sich an seinen Eltern vergreifen wollte. Die unbe-
dingte Macht der Monarchen gründet sich auf den Rechtssatz,
dass sie die \'äter der chinesischen Gesellschaft sind. Die Macht-
fälle der bürgerlichen Oürigkeit aber beruht wesentlich auf dem
moralischen Ansehen, denn China hat als stehendes Heer nur
seine acht Banner Mandschu-Soldaten, jedes von 10,000 Mann,
die sich in dem weiten Reiche vollständig verlieren. Die Diener
der öffentlichen Sicherheit siad an Zahl ebenfalls verschwindend
klein, so dass der IMandarin feiner Provinz oder Stadt von physi-
schen Zwangsmitteln viillig entblosst ist. Wohl darf es unsere
Bewunderung, fast unseren ;Neid erregen, dass 350 Millionen
Menschen mit einem geradezu geringfügigen Aufwand von Staats-
söldnern ohne Stijrung ihren Beruf verfolgen. So etwas ist nur
denkbar innerhall) einer GeselUchaft die seit Jahrtausenden bereits
den Schulzwang eingeführt hai, welche kein Amt verleiht ohne
günstig bestandene Prüfung, wo jedes Verdienst erworben sein
will, und wo es keinen erblichen, sondern nur einen persönlichen
Adel gibt. Freilich müssen wir auch der Schattenseiten gedenken
welche diese Sparsamkeit am Verwaltungsaufwand mit sich bringt.
Der Amerikaner Pumpelly geiieth mehrmals durch die gänzliche
Machtlosigkeit der Mandarinen bei einer Aufregung des Städte-
3) Huc, U..S chinesische Reich. Bd. 2. S. g\.
Südostasiaten mit einsylbigen Sprachen. ^q^
pöbeis in ernste Gefahren. Leben und Eigenthum geniessen in
China nur eine mangelhafte Sicherheit, die Küstengewässer werden
ohne Unterlass von Piraten beunruhigt, und es hat fast nie eine
Zeit gegeben wo in dem grossen Reiche nicht irgend ein Aufruhr
geherrscht hätte. Der Hang zu geheimen Gesellschaften, den die
Chinesen auch als Auswanderer überall mitbringen, trägt das
meiste dazu bei, dass die Fackel des Bürgerkriegs bald da, bald
dort auflodert.
In China reichen die Familiennamen hinauf in ein ehrwür-
diges Alterthum. Während in Europa selbst Dynastien ihre
Stifter urkundlich höchstens ein Jahrtausend zurückverfolgen kön-
nen, leben in China noch Nachkommen des Confutse, die nicht
bloss ihren Stammbaum bis auf diesen Weltweisen zurückführen,
sondern sich auch rühmen dürfen dass ihr Ahnherr selbst wieder
seinen Familiennamen schon 1121 v. Chr. nachweisen konnte. So
erklärt 'sich der Sinn der spöttischen Frage welche die Chinesen
an die europäischen Fremdlinge richten: „Habt ihr auch Fami-
liennamen?" nämlich so altbegiaubigte wie wir*).
Es wurde schon früher bemerkt, dass Confutse, keine Religion
gestiftet habe. Er hielt sich an die Verehrung von Himmel und
Erde, wie er sie in den sogenannten classischen Büchern aus
dem alten Reiche fand. China war zur Zeit seiner Geburt (551
V. Chr.) in 13 grössere Fürstenthümer und eine Anzahl Raub-
staaten zerfallen. In einem der ersteren stieg der Weltweise zum
Bürgermeister, dann zum Justizminister auf, verliess aber «den
Staatsdienst aus Verdruss über die herrschende Maitressenwirth-
schaft und beschäftigte sich als Staatspensionär des Herzogthums
Wei mit schriftstellerischen Arbeiten über die Alterthümer seines
Volkes. Er lebte in Fülle, wenn auch ohne Verschwendung und
reiste stets im eignen Wagen. Hoch betagt starb er 478 v. Chr.
gefasst aber ohne Gebet, nicht getröstet von Weib und Kind,
enttäuscht über die geringe Wirksamkeit seiner Lehren und ohne
Hoffnung auf bessere Zeiten. Als ihn einer seiner Schüler über
die Fortdauer nach dem Tode befragte, verweigerte er ein auf-
richtiges Bekenntniss. „Würde ich sagen, äusserte er dabei, dass
die Abgeschiednen Bewusstsein hätten, so möchten fromme Söhne
i) James Legge, Life of Confucius. London 1867. p. 55.
inj Südostasialen mit einsylbigen SpTBcheo.
ihr Vennögen in Todtenfeiern zerrütten, und würde ich jenes
Bewusstsein läugnen, so meierten herzlose Söhne ihre Eltern un-
beerdigt lassen')." Seine Sittenlehren hatten immer den bürger-
lichen Nutzen zum höchsten Zweck und daher stehen sie tief
unter den buddhistischen. Auf die Frage eines Jüngers ob sich
nicht in einem Worte die Menschen pflichten zusammen fassen
lieasen, gab er die Antwort: „Ist nicht Vergeltung ein solches?
Was du nicht willst, das andre dir zufügen, das thue ihnen auch
nicht")." Als ein andrer Schüler zu wissen begehrte, ob nicht
Unrecht mit Wohlwollen vergolten werden solle, antwortete der
Meister: „Womit willst du dann Wohlwollen vergelten? Vergilt
Unrecht mit Gerechtigkeit und Wohlwoilen mit Wohlwollen^)."
Ganz in diesem Sinne schärfte er, wie wir bereits gesehen haben,
die Pflichten der Blutrache ein. Um lästige Besucher abzuhahen,
gab er sich oft mit Verletzung der Wahrheit für krank aus und
einstmals brach er gelassen ein feierliches Versprechen. Als er
darüber aur Rede gesetzt wurde, äusserte er kühl: Es war ein
erzwungner Eid und die Geister hören solche Eide nicht.
Von minderem Einfluss wie Confutse war sein Zeitgenosse Laotse,
derein höchstes logosartiges Wesen als Schöpfer der Körpcrwelt lehrte
in einer Sprache, ..von platonischer Hoheit und Unverständlich-
keit^)" wie Ri^musat sich ausdrückt. Der Taoteking, das Glaubens-
buch Laotse's und seiner Anhänger, der Taosse leidet in der
That so sehr an Dunkelheiten, dass schon der Name Tao oder der
des höchsten Wesens eine Menge Deutungen zulasst*). Die Sitten-
lehre des Weltweisen war sonst eine durchaus reine, sie predigte
Sanftmuth und Duldung wie die buddhistische. Seine Schüler
und Nachfolger aber die sich Doctoren der Vernunft nannten,
brachten sich und die Taolehre durch verächtlichen Schamanisten-
betrug bald in Missachtung und sind seitdem zur Zielscheibe des
öffentlichen Spottes geworden'').
0 I'^EE^i Life of Confucius. London 1S67. p. loi.
2) Legge, Confncius. Anal. XV. c. 23. p. 112.
3) 1. c. p. 113.
4) Abel Remu^at, in den.MilanBes asialiques, tom. I, p. 91, bei Huc
5) Lao-lse Tao-le-Uing ed. R. v. Plaenckoer. Leipzig. 1870. p. VII.
61 GälzlaiC, Gesthithle des chinesischen Reiches. Slutleart 1847. S. 75.
Südostasiaten mit einsylbigen Sprachen. ^nc
Betrachten wir nun den Schauplatz dieser eigenthümlichen
Gesittung, so ergibt sich schon nach einem hastigen Blick, dass
die Gliederung der wagerechten Umrisse nichts bessern und
nichts verschulden konnte. Die Küste und die Küstengewässer
sind zur SchifFfahrt nicht verlockend. Wenn aber bis auf den heutigen
Tag die Chinesen ebenso traurige Matrosen wie Schiffsbauer ge-
blieben sind, so darf nicht übersehen werden, dass sie ursprünglich
ein Binnenvolk waren und dass sich ihr Reich erst spät bis an das
Meer und längs dem Meere ausbreitete. Nicht mit chinesischen,
sondern mit indischen und javanischen Fahrzeugen reiste der
Buddhist Fabian am Beginn des 5. Jahrhunderts n. Chr. von
Ceylon über Java nach China zurück. Erst in den Jahren 630
n. Chr. kamen Muscatfrüchte, Kampher, Aloeholz, Kardamomen
und Nelken durch den Seeverkehr nach China'). Bis Sumatra
erstreckten sich die Kenntnisse der Chinesen erst um 950 n. Chr.
Aus diesem ,und aus dem nächsten Jahrhundert stammen ihre
Blechmünzen die auf Singapur gefunden werden*). Wenn be-
hauptet worden ist, dass die Chinesen nie über Malaka ihre Schiff-
fahrt erstreckt hätten, so haben wir ja bei den arabischen Rei-
senden die beste Widerlegung. Wir wissen ferner aus Marco
Polo, dass sie unter Kublai Chan bereits an Unternehmungen
gegen Madagaskar dachten, und aus Makrisi's Angaben, dass so-
gar 1429 n. Chr. ein chinesisches Schiff welches in Aden keinen
Absatz für seine Waaren fand, ins Rothe Meer hinauflief bis zum
Hafen Dschidda*^). Da aber längst vor diesen nautischen Regungen
China im vollen Culturglanze gestanden »war, dürfen wir behaupten
dass die Ufergestaltung erst spät und nie entscheidend die Ge-
sittung des himmlischen Reiches gefördert habe.
Weit bedeutungsvoller ist die Thatsache, dass das Gebiet
der Chinesen der alten Welt angehört, so dass innerhalb seiner
Grenzen die besten Culturgewächse und die wichtigsten Haus-
thiere entweder einheimisch vorhanden waren oder sich dahin von
Volk zu Volk verbreiten konnten. In dieser Beziehung war für
die Cultur in China weit besser gesorgt als in Amerika, von Au-
stralien gar nicht zu reden. Unter den Bodenschätzen des Landes
1) Plath, im Ausland. 1869. S. 1213.
2) Waitz, Anthropologie. Bd. 5. S. 119.
3) Et. Quatremere, Memoires sur 1' Egypte, tom. II, p. 291.
j4cj5 Südostasiaten mit einsylbigen Sprachen.
müssen wir seiner Kupfer- und vor allen seiner Zinnerze gedenken.
Die Lagerstätten des letztereTi Metalls sind nämlich in weiten Ab-
standen auf der Erde zerstreut, ohne Zinn aber lässt sich keine
BronüC darstellen, die der Bekanntschaft mit dem Eisen überall
vorausging und mit deren Anwendung stets ein neuer Culturab-
sclmitt begonnen hat. Da aber im Lande selbst die erforder-
lichen Erze brachen, so erregt es keine kritischen Bedenken, wenn
die Chinesen die Bearbeitung der Metalle in die mythische Zeit
zurückversetzen.
Es lag femer der anfängliehe Kern der chinesischen Gesell-
schaft auf einem fruchtbaren Niederland welches gegen Norden
der Absturz der Gobi umrahmt. Dem Rande dieses Absturzes
entlang läuft bekanntlich die grosse Mauer. „Sie bezeichnet»
äussert A. v. Humboldt') in einer Bemerkung zu Bungf's Reisen,
im eigentlichsten Verstände eine natürliche Grenze, und eine
trefflichere Wahl des Ortes als politische Grenze war nicht zu
treffen. Alles war todt in der Steppe, und nur einen Schritt mehr,
so stand der Reisende an dem jähen Abstürze Hochasiens, wo
ihm das üppigste Leben entgegen lächelte." So weit Pumpelly der
grossen Mauer gegen ^Vesten folgen konnte, zeigte der Absturz
Vorsprünge und Golfe genau als ob die See einstmals ein steiles
Ufer ausgenagt habe. Die östlichen Provinzen China's sind daher
ein junges aufgeschwemmtes Tiefland und ihr Boden wird durch-
schnittlich als höchst fruchtbar angesehen.
Zu diesen Vorzügen der Boden beschaffenheit gesellte sich
aber noch eine seltene meteorologische Begünstigung, nämlich
während des Vorsommers der regelmässige Krguss reichlicher
Mousunregen, die dem warmen und trockenen Frühling folgen,
wodurch die Pflanzenweh in der Wachsthumsperiode belebt und
gleichsam mit einer Gabe der Tropenzone ausgestattet wird').
Ihr verdankt es China, dass auch die Bambusen, deren Schilfe
für den Haushah so mannichfaltigc Dienste gewähren, in China
bis zu ungewöhnlichen PolhÖhen sich zu erheben vermögen. Die
Canäle welche das Tiefland durchziehen, bezeugen ferner, dass
sich das Land ohne grosse Schwierigkeiten bewässern liess. An
Mehlfruchtarten wird es in China nie gefehlt haben, oder sie
1) Briefwechsel mit Berghaus, Bd. 1. S. 30.
2) Grisebach, die VeBCtalion der lirJe. Bd. 1, S. 4H9. ff.
Südostasiaten mit einsylbigen Sprachen. 207,
konnten sich' als Culturgewächse ungehindert dahin verbreiten.
Flath 0 nennt als Hauptgetreide im alten Reiche zwei hirseähnliche
Gräser wie Müium globosum, Panicum verticilatum^ dann Holcus sorghum
und vor allem den Weizen. Der Reis wird erst in der südlichen
Hälfte die herrschende Feldfrucht, gelangte obendrein spät nach
China. Nur im Süden, etwa mit dem 30. Breitegrad, beginnt
auch der Theebau und die Seidenzucht. Dass übrigens die Chi-
nesen nicht hartnäckig Gaben aus fremder Hand zurückweisen,
dafür zeugt dass sie Roggen, Hafer und Buchweizen durch Ver-
mittlung mongolischer oder wahrscheinlicher türkischer Stämme,
und seit der Entdeckung Amerika's auch den Mais bei sich ein-
geführt haben. Sonst fanden sich im alten Reiche noch Erbsen
und Bohnen, Gurken und Melonen, Zwiebeln und Lauch. Auch
die wichtigsten Hausthiere der alten Welt waren vorhanden, das
Rind, das Schaf, das Pferd, das Schwein, das Huhn und der Hund*
Vermisst werden in dieser Liste das Kamel, der Esel und die
Ziege. Vielleicht aus buddhistischen Sknipeln wird das Rind selten
genossen, und auflfallenderweise gibt es in China keine Milchwirth-
schaft. Den Grundbestandtheil der Fleischnahrung muss in China
das Schwein liefern, welches, wie wir erinnern möchten, einer
andern wilden Art fSus indtcus, Pallas) als das europäische Zucht-
schwein entsprungen ist*), also von den Chinesen ohne Zweifel
selbständig gezähmt wurde.
Zuchtwürdige Thiere und nahrungspendende Pflanzen waren
also vorhanden oder konnten sich frühzeitig in China einstellen.
Diess aber, sowie die oben geschilderte Begünstigung des Acker-
baues und die vorhandenen Schätze an Erzen sind alles was der
Lebensraum zur Entfaltung der chinesischen Cultur freiwillig bei-
getragen hat. Die tellurische Lage des Reiches war aber nur in-
soweit vortheilhaft, als den Chinesen Jahrtausende ruhiger innerer
Entwicklung vergönnt blieben ehe sie von überlegenen Völkern
Störungen zu befürchten hatten. Sie waren rings umgeben von
Nachbarn gleicher Abstammung, die sie frühzeitig durch ihre Ge-
sittung überragten. Die Einfalle von Wanderhorden unterbrachen nur
auf kurze Zeit das stetige Wachsthum, denn der siegreiche Fremd-
ling auf dem Thron fügte sich bald der geistigen Ueberlegenheit
i) Nahrungsweise der alten Chinesen, Ausland 1869. S. 1212.
2) V. Nathusius, der Schweineschädel. S. 175.
2g8 Südostasialen mit einsylbigen Sprachen.
der De herrschten. Mongolen und Mandschu mochten Dj'nastien
stiften, geändert wurde aber in China damit nichts als der Name
des Herrscherhauses.
Arbeitsamkeit und Treude am Kindersegen, haben die Chine-
sen zu einem Volke von mehr als 350 Millionen Köpfen anschwellen
lassen. Mit dieser Verdichtung war zugleich die sociale Zucht
geboten. Jede Vermehrung der Bevölkerung auf einer gegebenen
Fläche legt dem l\ren?chen den Zwang auf seine gesellschaftlichen
Instincte weiter auszubilden. Ohne Schutz des Lebens und Eigen-
thums, olme Beobachtung e'helicher Treue, ohne strenge Wahr-
haftigkeit vor Gericht konnte eine zahlreiche Gesellschaft gar
nicht gedeihen, sondern müsste an innerer Zerrüttung zu Grande
gehen. Jn den Bevölkerungsziffern liegt an sich schon die Gewähr
ges eil scbaflU eher Verfeinerungen. Gleichzeitig sind mit ihnen auch
die technischen Fortschritte ganz unausbleiblich. Wo wir es mit
Jahrtausenden und Millionen Menschen zu thun haben, spielt der
Zufall als Vater der Erfindungen gewiss eine grosse Rolle. Er
wird zum Lehrmeister der K.unstgrifVc, und er vermehrt beständig
den Schatz der Erfahrungen. So war es unvermeidlich dass die
Chinesen, die schon z.wei Jahrtausende vor Christus nach Millionen
zählten, ihre Gewerbe auf eine noch jetzt iheilweise staun enswerthe
Hohe empor heben konnten.
Dabei blieb es aber. Ueberall bemerken wir dass die Chinesen
nicht über eine gewisse Höhe y^istiger Entwicklung hinaus ge^
laugen. Sie haben selbständig eine eigne Schrift, aber nur Sj-lben-
zeichen, nicht Lautzeichen erfimden; sie hatten den Platiendruck
längst gekannt, aber die früh benutzten beweglichen Typen wiedf r
aufgegeben. Sie hatten die Nordweisung der Magnetnadel ent-
deckt, aber benutzten sie nie als Compass, sie kannten das Pulver,
aber nie die Feuerrohre"), sie haben das Rechnenbrett, aber nicht
den Stellenwerth der Zahlen erfunden, astronomische Vorgänge
seit Jahrtausenden beobachtet, aber die Thierkreistheilung von
auswärts sich zuführen lassen.
Carl Ritler hat sieh vielfach mit dem Gedanken beschäftigt,
dass der Gang der Culturge schichte ein anderer geworden wäre
wenn das chinesischf und das riimische Kaiserreich sich inniger
1) Der cliinesisehe Ausdruck für Kanone iu ein Fremdwort aus dem
Ahendlaiide. Hut, tljs diinesische Rcn;h. Bd. j. s. 78.
Südostasiaten mit einsylbigen Sprachen. ^qq
hätten berühren können. Der Orientalist Reinaud, lange Zeit
Vorsitzender der asiatischen Gesellschaft in Paris, hat in seinem
letzten Werke uns überreden woUen, dass man in Rom schon
unter den ersten Kaisern von der bevorstehenden Annäherung an
China gesprochen habe, wie etwa gegenwärtig über den Zusam-
jnenstoss der britischen und russischen Macht im Innern Asiens
viel überflüssige Schriften gedruckt werden. Vielleicht hat man
sich die FoJgen eines Culturaustausches der römisch -chinesischen
Kaiserreiche allzu grossartig vorgestellt. Sie würden für Europa
wohl nur darin bestanden haben, dass die Seidenwürmerzucht um
ein paar Jahrhunderte früher in Gebrauch gekommen wäre.
Erspriesslicher hätte eine solche Berührung auf China zurück-
wirken können. Seine ostasiatische Abgeschiedenheit, so günstig
sie für eine friedliche Vermehrung in der Vergangenheit gewesen
war, hat sich zu einem drohenden Verhängniss für die Zukunft
umgewandelt. Fast wörtlich passt auch hier, was Adolf Bacmeister
in Bezug auf südafrikanische Völker geäussert hat: „Für die Auf-
rollung des ursprünglichen Wesens eines Volkes in der Geschichte
ist es ein gewaltiger Unterschied ob es nur oder beinahe nur mit
den Völkern seines Gleichen sich trifft und reibt und messen
lernt, oder ob es ihm die Geschichte vergönnt und geboten hat
sich mit fremden Mächten in der Arena zu tummeln, und im er-
frischenden Kampfe mit immer neuen Gewalten sein Dasein zu
gründen, zu erweitern, zu vertiefen, vielleicht auch ruhmvoll zu
verlieren ').**
Die Achtung vor den Culturleistungen der Chinesen kann
kaum grösser sein als beim Verfasser. Sie unter allen hochge-
stiegenen Völkern verdanken am wenigsten fremden Anregungen,
wir, das heisst die Europäer, und vorzugsweise die Nordeuropäer
verdankten bis etwa um das 13. Jahrhundert fast alles, mit Aus-
nahme unserer Sprache, der Belehrung fremder Völker. Wir sind
Zöglinge geschichtlich begrabener Nationen, die Chinesen sind
Autodidacten. Vergleichen wir aber unsern Entwicklungsgang mit
dem ihrigen, so werden wir uns bewusst was ihnen fehlt und
worauf unsere Grösse beruht.
Seit unserem geistigen Erwachen, seit wir als Mehrer der
I) Ausland 18 71. S. 580.
^OO Koreaner und Japanesen.
Culturschätze aufgetreten sind, haben wir unverdrossen mit den
Schweissperlen auf der Stirn nur nach einem Ding gesucht, von
dessen Dasein die Chinesen keine Ahnung haben, und für das
sie auch schwerlich eine Schüssel Reis geben würden. Dieses
eine unsichtbare Ding nennen wir Causalität. An den Chinesen
haben wir eine ungezählte Menge von Erfindungen bewundert,,
und von ihnen uns angeeignet, aber wir verdanken ihnen nicht
eine einzige Theorie, nicht einen einzigen tieferen Blick in den
Zusammenbang und die nächsteh Ursachen der. Erscheinungen.
3. Koreaner und Japanesen.
Die Bewohner der Halbinsel Korea und des japanischen
Archipels theilen mit den Völkern des vorigen Abschnittes die
Merkmale der mongolischen Race. Die Japanesen gehören mit
einem Breitenindex von 76 unter die Mesocephalen und die Höhe
ihres Schädels ist fast so gross wie die Breite. Nur ihre mehr-
sylbigen Sprachen verhindern es, dass sie in die nämliche Gruppe
wie die Chinesen und Malayochinesen gestellt werden. Näher
stehen sie linguistisch dem altaischen Typus, mit dem sie die
lockre Zusammenfügung der Formelemente und andre Regeln des
Wortbaues gemein haben. In solchen ^ Grundzügen stimmt das
Japanische mit dem Koreanischen so weit überein, dass beide
Sprachen eine gemeinsame Herkunft besessen haben könnten,
doch ist bis jetzt keine Thatsache dafür entdeckt worden, dass sie
eine gemeinsame Herkunft besessen haben müssten').
Die Japanesen sind in ihre heutigen Wohnsitze vom Fest-
lande eingewandert und haben dann weiter gegen Süden auch
die L!u-kiu Inseln bevölkert. Auf Nippon und den südlichen
Inseln verdrängten sie ältere Urbewohner, mit höchster Wahr-
scheinlichkeit Aino, die sich jetzt nur noch auf Jezo und auf den
Kurilen behaupten. Auch mit den Japanesen kann sich die
Völkerkunde nicht lange beschäftigen. Wohl sind sie ein geistig
hoch begabtes Volk, welches sich rasch fremde Culturvorzüge
aneignet. Fuhr doch schon im Januar 1860 ein Dampfer nur
i) Whitney, Langnage and the study of language. p. 329.
Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt. 4.01
mit Japanesen bemannt und von ihnen befehligt , über das Stille
Meer nach San Francisco und zurück. Allein ihre einigermassen
glaubwürdige Geschichte reicht nur bis Zinmu oder in das 7. Jahr-
hundert V. Chr.*) hinauf und ihre Gesittung entlehnten sie bisher
immer aus China. Doch haben sie das Empfangene selbständig
weiter gebildet. So erfanden sie ein Lautalphabet von 47 Buchstaben,
behielten aber daneben die chinesischen Sylbenbilder bei. Viele
ursprünglich chinesische Gewerbszweige haben sie eigenartig weiter
entsvickelt, wie die Porzellanbäckerei und die Stahlerzeugung. Ihr
Humor und ihre Schalkhaftigkeit drückt sich in ihren Caricaturen
aus, die bei hoher Lebendigkeit und glücklicher Beobachtung der
Natur nur an Verzeichnungen leiden. Unter allen Asiaten sind
sie die einzigen, bei denen wir ritterliches Ehrgefühl von hoher
Reizbarkeit, nach Art des spanischen Pundonor, antreffen. Auch
sonst sind sie von den mongolenähnlichen Völkern diejenigen,
welche an Sinnesart den Abendländern am nächsten sich an-
schliessen und durch ihren. Reinlichkeitstrieb wieder am günstigsten
von den Chinesen abstechen.
Die Bewohner Korea's verdanken ebenfalls ihre heutigen
bürgerlichen Zustände den Chinesen; über ihre ältere Gesittung
sind wir aber nicht unterrichtet.
4. Die mongolenähnlichen Völker im Norden der
alten Welt.
Vom ochotskischen Meerbusen bis nach dem europäischen
Lappland sitzen, abgesehen von den ostwärts vorgedrungenen
Russen, Bevölkerungen, die von Jagd, Fischfang und Viehzucht
leben, beständig, seitdem sie geschichtlich beobachtet werden
konnten, ihre Wohnsitze verändert und sich durch einander ge-
schoben haben. Wiederholt traten unter ihnen Eroberer auf,
welche die herrenlosen Horden zu einer gemeinsam handelnden
Masse zusammenschmolzen. Ob ehemals jenes geräumige Gebiet
von Menschen verschiedener Race bewohnt war, lässt sich gegen-
wärtig weder verneinen noch bejahen. Jedenfalls hat die be-
ständige Mischung des Blutes frühere Unterschiede verwischt, und
so finden wir daher in den Körpermerkmalen alle Uebergänge von
1) E. Kämpfer, Geschichte von Japan. Bd. i. S. 173.
Pescheh Völkerkunde. 26
402 I^i® mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.
den streng mongolischen Erkennungszeichen bis zur gänzlichen
Uebereinstimmung mit den gesitteten Bewohnern des Abend-
landes. Diese V^ölkergruppe, welche Castren Altaier genannt hat,
schliesst sich eng an die Ost- und Südostasiaten an. Die Haut-
farbe ist eine gelbe oder gelbbraune; das Kopfhaar walzenförmig,
straff und schwarz; der Bartwuchs und das Haarkleid des Leibes
sprosst nur spärlich oder fehlt ganz ; die Augen sind meistens
schief gestellt, die Jochbeine stark vorspringend, die Nase platt,
der Schädel sehr breit und auffallend niedrig. Je weiter wir aber
den Nordasiaten nach Westen folgen, desto mehr leidet die Rein-
heit der mongolischen Merkmale. Während die Samojeden in
ihrer Gesichtsbildung mit den Tungusen übereinstimmen, gleichen
die Ostjaken den Finnen und den Russen*).
Unter diesen Umständen bleibt nichts übrig, als diese Gruppe
des Menschengeschlechtes der Sprache nach in fünf grosse Aeste
zu theilen, wie es von Alexander Castren geschehen ist, nämlich
in Tungusen , in wahre Mongolen , in Türken, in Finnen und in
Samojeden. Glücklicherweise ist der Sprachbau aller dieser Volker
in den Hauptzü en völlig übereinstimmend. Die Sinnbegrenzung
der Wurzeln erfolgt dadurch, dass eine zweite Wurzel nachgesetzt
wird, also stets durch Suffixe. Niemals wird ein Präfix geduldet.
Dazu gesellen sich eine Anzahl von gemeinsamen Wurzeln , die
jedoch nicht zahlreich genug« sind, um als Beweise für eine Ur-
sprache zu gelten, die vielmehr ebenso gut durch Entlehnung er-
worben worden sein können. Ferner sind diesen Sprachen mehr
oder weniger strenge Wohllautgesetze eigenthümlich. Im Mokscha
jedoch ist die Vocalharmonie nicht so vollständig, wie im Tür-
kischen oder Finnischen ausgebildet oder wahrscheinlich durch
fremden Einfiuss verloren gegangen. Doch haben sich immer
noch deutliche Spuren jener Lautgesetze erhalten'). Zwei Con-
sonanten dürfen nie ein Wort beginnen oder beschliessen und der
Stammvocal bestimmt den EndungsvocaP). Auch diese gewiss
auffallenden Uebereinstimmungen könnten vielleicht erst später sich
entwickelt haben, doch fällt demjenigen, der diese Ansicht be-
1) Pallas, Voyages. Paris 1793. tom. IV. p. 90.
2) A. Ahlquist, Mokscha- mordwinische Grammatik. Petersburg 1861.
§ 14. S. 3.
3) A. Castr6n, ethnologische Vorlesungen über die altaischen Völker,
herausgegeben von Anton Schiefner. Petersburg 1857. S. 18.
Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt. 403
haupten wollte, die Beweislast zu. Die gemeinsame Abkunft aller
dieser Sprachen steht nicht so fest, als etwa die des arischen
Sprachenkreises, und bedeftklich erschien Einigen namentlich die Kluft
zwischen dem Mongolischen und den Mandschu-Sprachen *). Andrer-
seits dürfen wir nicht übersehen, dass alle diese Völker keine alte
Literatur besitzen. Könnten wir die Sprachen in ihrer ehemaligen
Gestalt vergleichen, so würden wir leicht ins Klare kommen, ob
wir sie als ein Ganzes zusammenzufassen berechtigt waren oder
nicht.
Zu dem tungusischen Aste dieser Völkergruppe gehören zu-
nächst die Mandschu, welche seit 1644 als Eroberer dem chine-
sischen Reiche ein Herrscherhaus aufgedrängt haben. Den ge-
schwisterlichen Tungusenstämmen haben sie den Namen Orotschonen
gegeben, was soviel bedeutet wie Renthierhirten. Etliche Tungusen
nennen sich selbst Boje oder Menschen, andere wieder Donki oder
Leute. Lamuten heissen die tungusischen Bewohner an den
ochotskischen Gestaden, von lamu das Meer. . Am weitesten von
allen Tungusen nach Westen, nämlich zwischen Jenissei und Tun-
guska, sind die Tschapogiren und am weitesten nördlich, nämlich
bis an die Chatangabucht des Eismeeres, andere Tungusenhorden
vorgedrungen. Verdienste um die Gesittung unseres Geschlechts
lassen sich diesen Völkern nicht nachweisen, doch ist es sehr wahr-
scheinlich, dass die Chinesen manches von den Tungusen gelernt
haben mögen, was wir ihrem Erfindungsgeiste jetzt zuschreiben.
Der zweite Ast der Nordasiaten sind die Mongolen. Bis-
weilen werden sie Tataren, oder wohl gar nach einem Wortspiel
Ludwigs des Heiligen Tartaren genannt. Diese Bezeichnung muss
aus der Völkerkunde gestrichen werden, da sie so oft missbraucht
und so vieldeutig geworden ist, dass wir im^ner erst aus Neben-
umständen schliessen, oft auch nur errathen müssen, ob wir unter
Tataren türkische oder mongolische Völkerschaften uns zu denken
haben. Auch der mongolische Name blieb im Sprachgebrauch
der Völkerkunde lange Zeit sehr schwankend, denn wir besitzen
ein Verzeichniss der Horden, die ursprünglich und die später
i) Whitney, Language. p. 315. vgl. dagegen W. Schott, in Ab-
handlungen der Berliner Akademie. 1869. S. 267. S. 285.
26*
404 ^^^ mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.
missbräuchlich Mongolen genannt wurden*). Die Geschichte gab
diesen Namen den Schaaren, die unter Tschingischan und seinen
Nachfolgern in das Abendland hereinbrachen, unter denen aber
die Mehrzahl türkisch redeten.
Die heutige Völkerkunde rechnet zu den eigentlichen Mon-
golen mir vier Zweige : Die Ostmongolen, die Kalmüken, die Bur-
jäten und die Hazareh oder Aimaq. Die Ostmongolen sind
diejenigen, welche ursprünglich von Chinesen den Spottnamen
Tata empfingen, später, nämlich seit dem 8. Jahrhundert, Mungku
(Mongolen) genannt wurden^). Sie bewohnen die östliche Hälfte
der Gobi und theilen sich in zwei Horden , die südlich sitzenden
Schara und ihre nördlichen Nachbarn, die Kalka. Als geschichts-
losen Völkern können wir ihnen keine Verdienste um die Gesittung
nachweisen. Der zweite Zweig, die Kalmüken-»), nennt sich
selbst Oelöt, die Abgesonderten, oder Durban oirad, die vier Ver-
bundenen. Die Namen dieser vier Horden lauten: Dschungar,
Turgut, Choschod , Turbet. Ein Kalmükenreich wurde 1671 ge-
stiftet, bestand aber kein volles Jahrhundert, sondern verfiel der
chinesischen Herrschaft. Die Kalmüken »haben noch bis in die
neuesten Zeiten ihre Wanderungen fortgesetzt. Nach dem euro-
päischen Russland kamen sie erst 1616 und wanderten theilweise
von dort unter namenlosen Gefahren und Drangsalen 1771 nach
dem chinesischen Reiche zurück. Etliche Horden sind auch über
den Südrand der Gobi ausgeschwärmt^).
Nur sprachlich von ihnen unterschieden sind die Burjäten,
die schon unter Tschingischan am Baikal -See und in dessen
Umgebung sassen und ohne grossen Widerstand 1644 sich den
Kpsaken unterwarfen. Alle diese drei mongolischen Zweige haben
1) F. V. Erdmann, Temudschin der Unerschütterliche. Leipzig 1862.
S. 168.
2) Castr^n, Vorlesungen. S. 37.
3) Dieser Name wird bald abgeleitet von dem türkischen "Wort Khali-
mak die Zurückgebliebenen, bald voi dem mongolischen Gholaimak Feuer-
horde, bald endlich von Kalmuck, feurige Leute. Liadoff im Jonm. of the
Anthrop. Institute, tom. I. p. 401.
4) Es geschah nach dem Sturze der Yuen - Dynastie, dass ein Schwärm
Kalmüken, gemischt aus Ds(;hungaren , Turgutcn und Choschoden, nach dem
Koko-ncor auszog. Howorth, im Journal of the Anthropol. Institute,
tom. I. p 232.
Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten "Welt. 405
den Buddhismus angenommen, ohne jemals ihren schamanistischen
Gaukeleien zu entsagen. Es sind durchgängig phlegmatische, aber
gutartige Menschenstämme. Um so ausserordentlicher war die
Erscheinung eines Tschingischans unter ihnen, der sich doch aus
so unscheinbaren Anfängen bis Eum Welteroberer aufschwingen
sollte.
Weit versprengt von den andern mongolischen Geschwistern
sind die Hazareh, welche zwischen Herat und Kabul als Hirten
wandern und noch zu Sultan Babers Zeit mongolisch sprachen*).
Auch tragen ihre Gesichtszüge so scharf den mongolischen Typus,
dass die Reisenden nie über ihre ethnographische Stellung in
Zwiespalt gerathen sind. Die Hazareh zerfallen in westliche
und östliche Stämme, von denen die ersteren Sunniten, die
anderen Schiiten sind. Bisweilen werden die westlichen Ha-
zareh Aimaq genannt, doch bedeutet dieses Wort soviel wie Horde *),
und da es auch andern als mongolischen Stämmen beigelegt
worden ist, müssen wir vor seinem ferneren Gebrauche in der
Völkerkunde warnen.
Tungusen und Mongolen sind wenig zahlreich und viele ihrer
Zweige im Aussterben begriffen. Ganz anders verhält es sich mit
dem dritten Aste der nordasiatischen Gruppe, mit den Türken.
Nach alten morgenländischen Ueberlieferungen hiess einer von
den acht Söhnen Japheth's Turk. Er sass am lli und Issikol, und
von einem seiner Nachkommen stammen die Zwillinge Tatar und
Mongol. Solche Sagen haben wir als Versuche einer ethno-
graphischen Classification anzusehen und sie deuten uns an, wie
nahe verwandt sich selbst die Centralasiaten hielten. Die west-
lichen Türken sind so stark mit arischem und semitischem Blute
gemischt, dass ihre ursprünglichen Körpermerkmale bis auf die
letzten Spuren verloren worden sind und nur die Sprache noch
ihre ehemalige Abkunft bezeugt. Turkmanen, Oezbegen, Nogaier
und Kirgisen nähern sich schon beträchtlich den Mongolen; bei
den Buruten und Kiptschaken ist höchstens die Gesichtsfarbe ein
wenig verschieden. So äussert sich Vdmb^ry, doch setzt er hinzu,
dass die mongolische Sprache in der Grammatik mit der tür-
1) Fr. Spiegel, Eränische Alterthümer. Bd. i. S. 344.
2) Castrin, Vorlesungen. S.' 42.
j.o6 I^ie mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.
kischen keineswegs völlig übereinstimme, wenn sie auch deren
Wortschatz sich bis zu drei Vierteln angeeignet habe').
Heutigen Tages unterscheiden wir unter den Türken folgende
Völkerschaften: Uiguren, Oezbegen, Osmanen, Jakuten, Turk-
manen, Nogaier, Basiaiien, Kumüken, Karakalpaken und Kir-
8:isen. Ein türkischer Chacan, von den Byzantinern Dissabulos,
von den Chinesen Ti-theu-pu-li geheissen, der in Talas, einem
wichtigen Handelsplatz des Mittelalters, auf dem heutigen Buruten-
gebiete sein Hof lager aufgeschlagen hatte, ist uns durch die Reiae
des griechischen Botschafters Zemarch im Jahre 569 n. Chr. be-
kannt geworden*). Dieses ältere türkische Reich zerstörten die
Uiguren, von den Chinesen Kaotsche geheissen, ein ehrwürdiges
Culturvolk, bei dem Spuren der zoroastrischen Lehre sich erhalten
haben, das aber später dem Buddhismus 3), endlich dem Islam hul-
digte, im 5. Jahrhundert n. Chr. schon eine eigene Schrift und
Literatur besass und beide Abhänge des Thianschan bewohnte
und theilweise noch jetzt bewohnt. Zu westlichen Nachbarn in
Kaschgarien hat es jetzt die Oezbegen, einen Türkenstamm, der
sich nach Oezbeg, einem Beherrscher der goldnen Horde (1312
bis 1342), benennt, nicht ohne Beimischung mongolischen Blutes
geblieben ist, bei seinem geschichtlichen Auftauchen am Nordrtde
des kaspischen Meeres weilte, unter den späteren Timuriden
am Sir Darja sich ausbreitete^), seit dem 16. Jahrhundert sich
Turkistan unterwarf und noch gegenwärtig in den Chanaten Chiwa,
Bochara und Kokand, sowie in Kaschgarien den herrschenden
Volksstamm bildet. Aus dem gleichen Gebiete stammen auch
die Seldschuken, welche noch um 1030 n. Chr. die heutige turk-
manische Wüste bewohnten, bevor sie nach dem Abendlande auf-
brachen und zuletzt als Osmanen erobernd ihren Fuss auf drei
Welttheile setzten.
Ein Osmane aus Constantinopel , heisst es wohl etwas über-
schwenglich, könne sich mit einem Jakuten an der Lena leicht
verständigen. Gewiss ist wenigstens, dass die türkischen Sprach-
zweige in dieser ungeheuren Entfernung weniger Verschiedenheiten
i) Geschichte Bochara*s. Bd. i. S. 130.
2) Menandri excerpta de legat. Corpus Script. Hist. Byzant. ed. Nie
buhr. P. L p. 295—302. p. 380—384.
3) Stanislas Julien, im Journal asiatique. Paris 1847. p. 58.
4) Vdnib^ry, Geschichte Bochara's. Bd. 2. S. 35 — ^36.
Die raongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt. j.07
bieten, als wir erwarten sollten. Von der Abhärtung der Jakuten
war bereits*) die Rede gewesen. Der amerikanische Reisende
Kennan schildert sie nicht nur als arbeitsame Leute, sondern er
fügt noch hinzu, dass von allen Urbewohnern Sibiriens sie die
einzigen sind, welche nicht zusammenschmelzen, sondern vielmehr
an Kopfzahl wachsen. Auch war ihre Sprache , als Erman *) in
Sibirien weilte, von Irkutsk bis Ochotsk und vom Eismeer bis zur
chinesischen Grenze die allgemeine Umgangssprache für Reisende
und Kaufleute, für Russen, Tungusen und Burjäten geworden.
Der fünfte oben aufgezählte Zweig sind die Turkmanen in
den Steppen und Wüsten Östlich vom kaspischen Meere und süd-
lich vom Aral-See, gefürchtete Menschenräuber, die, gut beritten,
chorassanische Ortschaften zu überfallen, vordem auch auf Piraten-
booten die Bewohner der Gestade von Mazenderan heimzusuchen
pflegten, bis die Russen diesen schändlichen Erwerbszweig unter-
drückten. Sie versorgten die Sklavenmärkte in Chiwa, Bochara
und Kokand und förderten dadurch eine fortgesetzte Kreuzung
des türkischen mit eränischem Blute. Diese hat wohl seit den
ältesten Zeiten stattgefunden, denn als die türkischen Stämme sich
Kaschgarien , Fergana und Charezm unterwarfen, fanden sie dort
eine altpersische StädtebevÖlkerun^ , die Tadschik der heutigen
Völkerkunde, die von früheren Reisenden auch Sarten geheissen
wurden, während Robert Shaw vor einer solchen Verwechselung
gewarnt hat. Die Sarten in Kaschgarien besitzen zwar alle Körper-
merkmale einer eränischen Abkunft, aber sie reden türkisch.
Schon früher und ganz unabhängig von Shaw hatte der deutsche
Reisende H. v. Schlagintweit in den kaschgarischen Städtebewohnern
das Gepräge der arischen Abkunft erkannt^). Solche Fälle, dass
nämlich Menschenstämme ihrer Sprache nach in eine andere Stellung
gehören, als nach den Kennzeichen der Race, setzen die Völker-
kunde in die nämliche Lage, in der sich die Mineralogie den
pseudomorphischen Erscheinungen gegenüber befindet. Wird näm-
lieh ein Krystall von Sickerwasser aufgelöst und mitten aus dem
Muttergestein hin weggeführt, so kann sich ein anderes Mineral in
1) S. oben S. 22.
2) Reise um die Erde. Berlin 1848. Bd. 3. S. 51.
3) H. V. Schlagintweit, Indien und Hochasien. Bd. 2. S. 40. und
R. Shaw, Reise nach der hohen Tatarei. Jena 1872. S. 17.
AoS I^ie mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt.
den Hohlraum eindrängen, ihn ausfüllen und nun als Trugkrystall
auftreten. So geschieht es auch, dass Völker in dem Sprachen-
kreis einer fremden Race heimisch werden, oder umgekehrt die
Sprache unverändert in einem Ländergebiete herrschend bleibt,
während sich langsam durch Blutmischung die Race verändert.
Die Völkerstrahlen, welche Centralasien von Zeit zu Zeit
gegen das Abendland hinaussendete, hinterliessen hin und wieder
Bruchstücke von Bevölkerungen, denen der Kaukasus mit seinen
Hochthälern und Tafelbergen vor Ausrottung Schutz gewährte.
Zu solchen Ueberresten aus der türkischen Gruppe gehören die
Nogaier am linken Uier des Kuban und auf der Insel Krim, dan^
die Basianen Östlich und westlich vom Elbrus , für deren Schick-
sale Freshfield, der erste Ersteiger des Elbrus, unsere Theilnahme
zu gewinnen gesucht hat, endlich die Kumüken am untern Laufe
und rechten Ufer des Terek, sowie an der Küste des kaspischen
Meeres. Ein anderer türkischer Völkerstamm, die Karakalpaken
oder Schwarzmützen, ist aus einem früheren Wohnsitze an der
Wolga zu dem unteren Lauf des Sir Darja herabgezogen. Die
Kirgisen endlich, das heisst die drei Horden zwischen Ural und
dem Balchaschsee, einschliesslich der Buruten, stehen von allen
Türken an Körpermerkmalen den Mongolen am nächsten und
ihre Geschlechternamen, wie Kyptschak, Argyn, Naiman, bezeugen
sogar mongolische Herkunft oder wenigstens Mischung mit Mon-
golen*). Nach einer Deutung Radioff 's ist ihr Name dadurch ent-
standen, dass eine ihrer Horden Kyrk, die Vierzig, eine andere
yiis (Dschiis), die Hundert, hiess^). Sie selbst nennen sich Ka-
saken oder Reiter.
Es ist schwer, den türkisch - mongolischen Völkern ihren gei-
stigen Rang in der Gesittungsgeschichte anzuweisen. Gewiss ist,
dass viele dieser Stämme noch bis auf den heutigen Tag wan-
dernde Hirten geblieben sind und wahrscheinlich verschwinden
werden, ohne jemals sesshaft geworden zu sein. Die achtungs-
werthe Bildung der Oezbegen in Kaschgarien und Turkistan, end-
lich der europäischen Osmanen könnte ihrer Blutmischung mit
arischen und theil weise semitischen Bevölkerungen zugeschrieben
i) W. Radioff, Türkische Volksliteratur in Südsibirien. Bd. 3. St.
Petersburg 1870. p. XIV.
2) Zeitschrift für Erdkunde, Bd. 6. Berlin 1871. S. 505.
Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt. 409
werden. Allein die frühe Gesittung der alten Uiguren und die
bürgerliche Tüchtigkeit der Jakuten zwingt uns zur Anerkennung,
dass auch in den rein gebliebenen türkischen Stämmen früh alle
nothwendigen Anlagen zu den höheren Gesellschaftsformen vor-
handen waren. Die Erfindung des Lederzeltes und der Filz-
bereitung, die Zucht der Rosse als Milchthiere, die Zähmung der
Schafe mit Fettschwänzen und vielleicht des bactrischen Kamels
sind Leistungen , die wir wahrscheinlich nach Centralasien und
zugleich in ein hohes Alterthum zu verlegen haben. Nur ist es
schwer zu sagen, welchem Zweige unter den Nordasiaten diese
Verbesserungen des menschlichen Haushaltes zum Verdienst an-
zurechnen sind.
Die vierte Abtheilung, mit der wir uns jetzt zu beFchäftigen
haben, sind die Völker der gliederreichen finnischen Gruppe, die
sich wieder in vier Zweige, nämlich in den ugrischen, bulgarischen,
permischen und im engern Sinne finnischen gliedert. Ihre Ursitze
lagen zum Theil östlicher und südlicher als gegenwärtig im Ural
und im Altai, weshalb auch der gesammte Stamm vielfach als
Ural -Altaier bezeichnet wird*). Als Ugrier vereinigte Castr^n die
Ostjaken am rechten Ufer des Ob, die Wogulen am Ostabhang
des nördlichen Ural und die Magyaren. Dass die letzteren zur
finnischen Familie gehören, wurde schon von Sajnovics, einem
Reisebegleiter des P. Hell, vor hundert Jahren nachgewiesen *) und
über die Stellung ihrer Sprache hat kürzlich wieder eine ver-
gleichende Grammatik nähere Aufschlüsse gegeben^). Zu dem
bulgarischen Zweig sind nicht mehr die Bulgaren an der Donau
zu rechnen, denn sie gehören der Sprache und den körperlichen
Wahrzeichen nach zur slavischen Familie, haben auch völlig die
Reste der ehemaligen Bulgaren des Mittelalters in sich aufgesogen.
Während nämlich die Wolgabulgaren ihren Staat bis zum 13. Jahr-
hundert und ihre Nationalität bis zur bleibenden Unter\Verfung
unter die Czaren von Moskau behaupteten, büssten die Donau-
1) Vgl. die Wanderkarten bei Ujfalvy, Migrations des peuples
touraniens. Paris 1873. p. 120. p. 130.
2) Saijnovics schrieb 1770 ein Buch unter dem Titel: Idioma Unga«
rorum et Lapponum idem esse.
3) Michael Weske, Untersuchungen zur vergleichenden Grammatik
des finnischen Sprachstammes. Leipzig 1872.
^.lo Die moDEcleDälinlidlieii Völker im Norden der allen Welt.
bulgaren ihre Sprache schon im zehnten Jahrhundert, ihre Selbst-
ständigkeit am Anfang: des elften ein'). Andere Bruchtheile des
Bulgaren t hu mes sind die inselartig an der Wolga von Russen ein-
geschlossenen Gebiete der Tscheremissen , Mordwinen und Tschu-
waschen. Der Name der Tscheremissen bedeutet in der Mordwa-
sprache die Oestlichen, Die Mordwinen selbst nennen sich wieder
im Osten Mokschanen und im Westen Ersanen. Ruysbroek hat
sie Mbxel, Merdas und Jferduas, Herbersteio Mordva genannt.
Bei ihnen wird noch je tat ein mehr oder weniger verstecktes
Heidenthum angetroffen"), und wegen dieser AlterthümUchkeiten
sind sie ein anziehender Gegenstand für den Völkerkundigen
geblieben,
Der permische Zweig hat seinen Namen von den Permiern
erhalten, die an den Gewässern der Kama, im Bjarmaland, nach
altscandinavischer Sprechweise wohnten. Als Geschwister gehören
zu ihnen die Sirjänen, weiter nördlich dem Eismeere zu, und die
Wotjaken am Norduler der Wjatka, welche letztere sich aber selbst
Udy oder Ut-murt nennen.
Der vierte oder eigentlich finnische Zweig hatte sich über die
nördlichen und östlichen Gestade des baltischen Meeres verbreitet
und von deutschen Naclibarn seinen europäischen Namen erhalten,
der mit Veen oder Torf und Hochmoor zusammenhängt 3). Nennen
sie doch ihre Heimath Suomi oder Sumpf- und Seenland , sich
selbst aber Suomalaisia''). Es unterliegt keinem Zweifel mehr,
dass Tacitus und Ptolemäus jene Völkerschaften unter den Namen
Fenni und Phinni ungeiähr in ihren heutigen Wohnsitzen gekannt
haben'), Ihren Jlundarten nach zerfallen sie in die Suomi am
finnischen und bolhnisclien Meerbusen, die nachbarlichen Karelen,
die Wepsen oder Nordlsdiuden am Südwestufer des Ladogasees,
die Woien oder Südtschnden nordöstlich von der Stadt Nanva,
bAde im Aussterben begriffen, die seit 1846 in Kurland erloschenen
i) Roben Roesler, Romanische Studien. Ixipzig 1871. S. 239.
2) V. HEKlhausen, Studien über Russland, Bd. 2. S, if.
3) H. Gulhe, die Lande Braunschweig und Hannover, S. 62.
41 Prof. Hjelt in den Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für An-
thropologie, 1871. S, 117. Neuerdings isl diese Ableitung von Sjögren bc-
striuen und der Eigenname der Finnen als vorläufig uneiklärl hingestellt
worden.
51 Forbiger, Alte Gtoeraphie. Bd. 3. S. III4.
Die mongolenähnlichen Völker im Norden der alten Welt. 411
Krewinen, die auf 2000 Köpfe zusammengeschmolzenen Liven,
ebenfalls in Kurland am Gestade des Meerbusens von Riga, und
die noch zahlreichen und geschlossen sitzenden Ehsten. Ver-
schwistert dem Blute nach mit diesen Stämmen sind die Lappen
oder Kwänen Scandinaviens und Russlands , deren Sprache nach
dem Urtheile Castr^n's noch vor 2000 Jahren dieselbe war,
wie die der Suomi. Erst sehr spät sind sie in ihre jetzigen Wohn-
sitze eingewandert*).
Die Blutsverwandtschaft der finnischen Gruppe mit den Vol-
kern des mongolischen Astes ist bei den Wogulen am deutlichsten
zu erkennen, denn sie nähern sich weit mehr als die Ostjaken
den Kalmüken*). Selbst unter den Lappen Norwegens erkannte
aber Carl Vogt in den schmal geschlitzten, jedoch horizontal ge-
stellten Augen , den breiten Backenknochen , dem weiten Mund^
der abgestumpften Nase und der gelblichen Gesichtsfarbe die
Wahrzeichen der mongolischen Race wieder^). Von den teuto-
nischen und slavischen Nachbarn haben die Ostseefinnen eine An-
zahl Wörter für Culturwerkzeuge und mit den Worten auch die
Gegenstände selbst entlehnt. Daraus lässt sich ein Bild von ihren
Zuständen vor Empfang jener Hilfsmittel entwerfen. Als Haus-
thiere züchteten sie nur den Hund, das Ross und das Rind; von
Getreidearten bauten sie nur die Gerste. Im Sommer lebten sie
in Lederzelten, im Winter in halbunterirdischen Jurten, wie alle
Polarvölker der alten Welt. Demnach können die heutigen Ost-
jaken und Wogulen uns noch jetzt ein Gemälde gewähren, wie
die Zustände ihrer westlichen Geschwister in der Vorzeit beschaffen
waren ^). Leider reichen die ältesten Sprachdenkmäler der Ostsee-
finnen nicht über das Jahr 1542. Ihre epischen Dichtungen aber,
die im Kalevala gesammelt vorliegen, gehören sicherlich, wenigstens
in der jetzigen Fassung, einer sehr nahen Vergangenheit an.
Während die mongolischen und tungusischen Sprachen reiner aber
auch dürftiger geblieben sind , das Mandschu sogar sich wenig
von einsylbiger Steifheit entfernt, haben sich unter der ugrischen
1) Uj falvy, Migrations des peuples toiiraniens. p. 118 — 120.
2) Castr^n, Vorlesungen. S. 128.
3) C. Vogt, Nord-Fahrt. Frankfurt 1863. S. 166.
4) Prof. Ahlquist über die Culturwörter in den westfinnischen Sprachen.
Ausland 1871. No. 3L S. 741 ff.
112 I^iL' niangolenähnlichen Völker im Norden iler allen Welt,
Gruppe liiis Magyarische und das Ostseefinnische bis zu einer
solclien Il.ihe aufgeschwungen, dass sie beinahe Anspruch haben,
■/,\x tlen fli.'ctirenden gerechnet zu werden'),
Nücli bleibt zu erinnern übrig, dass wir unter den Namen
Baschkiren, Meschtscherjäken und Teptiären auf dem europäischen
Abliun^' des mittleren und südlichen Ural Bevölkerungen antreffen,
die türkijL'he Sprachen reden, ihrer Körpefmerkmale wegen aber
au dem finnischen Aste gerechnet, also für türkisch - finnische
WisdivrilkiT gehalten werden müssen.
Plt fünfte Ast der sogenannten aitai sehen VÖlkergruppe,
Jen dif Hiissen Samojeden genannt haben, hatte seinen Ursitz im
»iijanijchiii Gebirge, sowie im Quellengebiet des Jenissei und des
Ob. Dort finden wir noch die samojedischen Sojoten, dann am
Nurdabliang der sajanischen Kette die Karagassen und Kamas-
siiizcn, nstlich vom Jenissei die Koibalen'). Von diesen südlichen
(jpscbwi Stern haben sich die Samojeden als Renthierzüchter nach
den nüniUchsn Tundren des Festlandes verbreitet, vom Weissen
IMecre au.^efangen bis zur Chatangabucht. Im alten Jugrien zu
beiden SL'iten des Obischen Meerbusens sitzt der Stamm der Jurak,
weiter uBtlich hausen die Tawgi. Da unter diesen nördlichen Sa-
mojeden dieselben Familiennamen vorkommen , wie bei den süd-
lidien Kamassinzen , so muss die Auswanderung den Jenissei
entlang abwärts erlolgt sein. Der Sprache nach haben die Sa-
mojeden ilire nächsten Verwandten unter den Völkern des finnischen
Astes zu suchen, und zwar stehen sie dem bulgarischen Zweige
näher als einem andern. Die Samojeden schliessen ferner aus
Furcht vor Blutschande keine-Ehe mit den Ostjaken, wenn die
Ge^uhk'ditsnamen die nämlichen sind, was vorkommen kann und
aul eini' nahe Verwandtschaft deutet^). Leicht möglich ist es,
das5 bi'i L'iner künftigen Ordnung der Völker die Samojeden nicht
aU ein getrennter Ast des altaischen Stammes, sondern nur als
ein Zwv^ der finnischen Gruppe ihre Stellung finden werden.
Die Ueneichnung als Altaier stammt, wie bemerkt wurde, aus
Ciislrt'n's IVIunde, und die Vermuthung, dass selbst die Finnen
den Altai ehemals bewohnt haben sollen, gründet sich auf die
ilney, Language and the study of language.
'as. Voyages. tom. IV. p. 433.
Irin, Vorlesungen. S. 82. S. 84- S. 107.
Nordasiaten von unbestimmter systematischer Stellung. ^.i^
Thatsache, dass Namen von Gewässern im Jenisseigebiete , wie
Oja, Joga, Kolba, sich aus dem Finnischen und Lappischen als
Bach, Wasser und Fischwasser erklären, sowie dass der Jenissel
selbst im oberen Laufe Kem heisst, was in keiner andern Sprache
als der finnischen in der Form Kemi oder*Kvmi Strom bedeutet»
5. Nordasiaten von unbestimmter systematischer
Stellung.
Es handelt sich in diesem Abschnitt nicht um die Schilderung
einer neuen Gruppe innerhalb der mongolischen Menschenstämme,
sondern vielmehr nur um das offene Bekenntniss, dass unser Lehr-
gebäude in unfertigem Zustande übergeben werden muss, insofern
wir drei vereinzelte Völkerschaften nicht einer der grösseren Ab-
theilungen anzuschliessen vermögen. Es gilt dies zunächst von den
Jenissei-Ostjaken, die mit den Ostjaken am Obi jedoch nichts
gemein haben, als ihren unglücklich gewählten Namen. Sie wohnen
am obern Laufe des Jenissei bis zur Mündung der untern Tun-
guska, anfangs nur auf dem linken, später auch auf dem rechten
Ufer. Ihre Sprache , die mit der uralaltaischen keine typische Ge-
meinschaft besitzt, zerlallt in sechs Mundarten, von denen wir nur
das Assan, Arinzi und das Kottische nennen wollen, letzteres zu
Castr^n's Zeiten nur noch von fünf Personen gesprochen, wie denn
überhaupt dieser Bruchtheil sibirischer Stämme bis auf 1000 Köpfe
zusammengeschmolzen ist und einem gänzlichen Erlöschen ent-
gegengehen muss, schon weil Jagd und Fischfang seinen einzigen
Nahrungserwerb bilden^). Durch Leibesbeschaffenheit sind übrigens
die Jenissei-Ostjaken keineswegs von ihren sibirischen Nachbarn
zu trennen, so dass sie jedenfalls zu der mongolischen Race ge-
hören, innerhalb dieser aber eine selbständige Stellung einnehmen.
Beides gilt auch von den Jukagiren, die jetzt die Tundren
am sibirischen Eismeer von der Jana ostwärts bewohnen. Heden-
ström fand im Jahre 1809 auf den neusibirischen Inseln Spuren
von ehemaligen, damals aber schon ausgestorbenen jukagirischen
I) Latham, Varieties. p. 268. Castr^n, Vorlesungen. S. 87—88.
1 j< NorJasixten von unbestimmtcT Eysteraatischer Stellung.
Ansiedlern '). Ihre Sprache ist gänzlich verschieden von denen der
uTalaltaiBchen Gruppe'). Sich selbst nennen sie Andon domni.
Weit scliwieriger lässt sich die Stellung des dritten Volks-
Btamines bestimmen , der sich den Namen Aino oder Ainu , das
heisst die Menschen," gegeben hat, Sie waren, wie wir bereits
bemerkten, die ältesten Bewohner der japanischen Inseln, sind aber
jetzt nur noch auf jezo anzutreffen. Zu ihnen zählen auch die
Bewohner des südlichen Saghahens, der Kurilengruppe und die
Giljaken am untern Amur^), so wie im nördlichen Saghalien*).
Ihre Sprache hat man mit der japanischen verwandt erklären
wollen, jedoch ohne hinreichende Berechtigung').
In der Sitzung der BerUner anthropologischen Gesellschaft
am 16. December 1871 , überreichte Hr. v. Brandt, deutscher Con-
sul in Japan, Photographien von Aino, die nach dem Gesichts
ausdruck viel Aehnlichkeit mit Japanern verriethen. Die Bewohner
der Insel Paramuschir, nahe an der Südspitze Kamtschatka's , die
t'ine kurilische Mundart reden, haben „schiefgeschnittene Augen",
besitzen also eines der Merkmale, an welchen die Mongolenrace
leicht erkannt wird^). Die Schädel dieses Volksstammes zeigen
fast den nämlichen Breitenindex, 76,, — 78,9, wie die japanischen,
sind aber bei einem Höhenindex von 69 — 76 merklich niederer,
doch wurde dieser Unterschied nicht allzuschwer ins Gewicht
fallen'). Weit mehr setzt uns in Verlegenheit ihr üppiger Bart-
wuchs, das buschige, lockige Haupthaar und das reichliche Haar-
kleid am Leibe*), welches letztere, wenn auch nicht stärker als bei
1) F. V. Wrangell, Reisen längs der Nordküsle von Sibirien. Berlin
1839. Bd. 1, S. 100.
2) Whilnty, Study of language. p. 330.
3] Pelermanti's Mitiheilungen. 1857. S. 305. 1860. S. qg.
4) I. c 1869. S. 433. Wenjukoff versichert dagegen, dass die Sprache
der Giljaken sowohl vom Tungnsischen wie vom Kurilisclien, welches die
Aino reden, verschieden seL Journal o( the R. Ceogi. Society. London
1872. vol. XLn. p. jSs.
51 Whilnty, Study of language. p. 329.
6) Nach russischen Quellen in der Zeitschriß der Wiener geogr. Gesell-
schaft. 1872. Bd^ XV. Heft 11. S. 538.
7) Vcrhundlungen der Berl, Gesellsch. Tür Anthropologie. 1871. S. 27
8] S. oben S, loi und Blakiston, Joumey in Yezo, im Journal of ihe
R, Geographien! Society. London 1872. vol. XLII. p. 80.
Die Beringsvölker. ajs
Europäern, doch mitten unter Völkern von glatter Haut höchst
bedeutsam wird. Dieses Sondermerkmal würde allein genügen,
die Aino als eine eigene Race völlig von den andern Asiaten ab-
2utVennen, wenn nicht alles, was wir von ihnen wissen, auf so
spärlichen und flüchtigen Angaben beruhte, dass erst spätere besser
unterrichtete Völkerkundige über ihre Stellung entscheiden können.
Nicht völlig undenkbar wäre es auch, dass sie zu den Aeta der
Philippinen in Verwandtschaftsbeziehungen stehen könnten, wenn
sich nämlich die asiatischen Papuanen über die Liu - kiu - Inseln
bis zu den Kurilen ehemals ausgebreitet hätten. Wir sprechen
diese Vermuthung jedoch ohne grosse Zuversicht und nur zu dem
Zwecke aus, dass die Mundarten der Aeta mit den Ainosprachen
verglichen werden mögen. Erst wenn diese Untersuchung zu
irgend einem Ergebniss, sei es bejahend oder verneinend, geführt
hätte, könnte den Aino ihr Platz in einem Lehrgebäude mit
grösserer Beruhigung angewiesen werden.
6. Die Beringsvölker,
Unter diesen Namen vereinigen wir eine Anzahl nordasiatischer
und amerikanischer Volksstämme, die meistens entweder die Ufer
des Beringsmeeres bewohnen oder sich von diesen Ufern durch
Wanderung wie die Eskimo bis nach Grönland verbreitet haben.
Der Name hyperboreische Mongolen, den Latham gebraucht, ist
für unsere Gruppe nicht angemessen, da wir auch Völkerschaften
bis zur Juan- de -Fuca- Strasse ihr beizählen wollen. Ein gemein-
samer Sprachtypus verbindet nur einzelne dieser Stämme , aber
nicht die Gesammtheit. Besser dagegen steht es mit den Körper-
merkmalen, die einen Uebergang bilden von den mongolenähnlichen
Sibiriern zu den Eingebornen Amerika's. Dieser Uebergang recht-
fertigt zugleich unser Vorhaben, die Amerikaner selbst nicht als
eine getrennte Race zu vereinzeln , sondern sie den mongolischen
Asiaten anzuschliessen. Bei allen obigen Völkern finden wir eine
röthliche oder bräunliche Dunkelung der Haut, straffes, walzen-
förmiges Haupthaar, mit einer einzigen Ausnahme Mangel an
Bartwuchs und eine beinahe gänzliche Kahlheit am übrigen
Leibe.
4i6 I^ie Beringsvölker,
a. Itelmen oder Kamtschadalen.
Diese Merkmale im Verein mit den schmalgeschlitzten Augen
bewogen Georg Steller, den Itelmen oder Kamtschadalen eine
entschiedene Mongolenähnlichkeit zuzuschreiben*). Die Worte in
ihrer Sprache entstehen durch lose Zusammenfügung von Wurzeln,
und wenn richtig ist, was Kennan behauptet, dass sie sich der
Präfixe bedienen, so trennen sie sich damit sowohl von den
Ural-Altaiern, wie von den Eskimo*). Der Fischfang ist ihr haupt-
sächlicher Nahrungserwerb, und der Hund, den sie vor den
Schlitten spannen, ihr Hausthier. Im Vergleich zu den andern
Beringsvölkern ist ihre Seetüchtigkeit eine sehr mittelmässige. Ihre
gesellschaftliche Entwickelung ging nicht weiter, als dass sich die
Pflichten der Blutrache über die Bewohner eines Ostrog erstreckten.
Der Ehemann gehörte zur Familie der Schwiegereltern. Schama-
nistische Künste wurden eifrig betrieben, doch gab es keine eigent-
liche Kaste von Zauberern, sondern ein jeder versuchte die Geister
auf eigene Gefahr. Der Glaube an die Fortdauer nach dem Tode
führte häufig zum Selbstmord ; Väter Hessen sich von ihren Kindern
erdrosseln oder den Hunden vorwerfen. Im Jenseits dachte man
sich die Armen für ihre diesseitigen Leiden durch Ueberfluss
belohnt^). Die musikalische Begabung der Itelmen müssen wir
sehr 'hoch schätzen, denn sie haben sogar mehrstimmige Lieder
componirf*). Ausserdem fand Steller bei Ihnen Tänze und dra-
matische Vorstellungen, die gewöhnlich in komischen Nachahmungen
der fremden Gäste bestanden 5). Adolf Erman^) rühmt ihre Recht-
lichkeit, Sanftmuth und „angeborne Feinheit der Sitte".- Rührend
ist vieles, was er uns über ihre aufopfernde Gastfreundschaft mit-
theilt, die auch Kennan neuerdings wieder zu erproben Gelegen-
heit hatte. Wasser war zu Steller's Zeiten ihr einziges Getränk, so
dass der Genuss von Fliegenschwamm sich erst später verbreitet hat.
i) Steller, Kamtschatka. S. 298.
2) Latham, Varieties. p. 274. behauptet ohne es näher zu begründen,
dass die kamtschatkische Sprache mit der koreanischen und japanischen Ge-
meinschaft im Wortschatz habe. Wahrscheinlich sind es nur Culturwörter,
die im Verkehr entlehnt wurden.
3) Stell er, Kamtschatka. S. 277. S. 294. S. 270. S. 271.
4) a. a. O. S. 332.
5) a. a. O. S. 341.
6) Reise um die Erde. Bd. 3. S. 422.
Die Beringsvölker. aij
b. Korjaken und Tschuktschen.
Von den Korjaken, welche am Ochotskischen Meere sitzen
und sich bis in die nördlichen Theile von Kamtschatka verbreiten,
behauptet Georg Steller, sie seien an Körpergrösse, Gesicht, Haar-
wuchs, der Aussprache aus vollem Halse den Itelmen „so ähnlich,
wie ein Ei dem andern" *). Wir dürfen dies nur von der Fischer-
bevölkerung an der Küste gelten lassen, denn die Korjaken des
Binnenlandes, die vom Ertrag ihrer Renthierheerden unter Zelten
in patriarchalischer Gliederung leben, werden als Leute von mehr
als mittlerem Wuchs beschrieben ; sie sind also stattlicher als die
Itelmen, denen sie sonst an Gastfreiheit sowie an dienstfertiger und
gutherziger Behandlung von Fremden nicht nachstehen. Kennan
nennt sie wegen ihrer physischen Merkmale Stämme von nord-
amerikanischem Typus'*). Von allen Beringsvölkern sind sie un-
befleckt von erotischen Lastern und zugleich eifersüchtige Gatten.
Leider berauschen sie sich nur allzugern mit dem Absud aus
Fliegenschwamm, der ihnen trotz der scharfen russischen Verbote
von gewissenlosen Kaufleuten zugeführt wird. Auch bei ihnen
und bei den sogleich zu nennenden Tschuktschen-^) lassen sich
die alten Leute von den eigenen Kindern durch Lanzenstiche
tödten, vermuthlich in dem Wahn, dass der Mensch auf gleicher
Altersstufe erneuert werde, wie er die Erde verlasse, und dass es
daher besser sei, den Becher nicht bis zur Hefe zu leeren.
Sprachlich mit ihnen so eng verwandt, wie Spanier und Por-
tugiesen, sind die Tuski oder Tschuktschen, welche die asiatischen
Küsten an dem Beringsmeer noch in beinahe völliger Freiheit
als Renthierzüchter, die Gestade des Eismeeres aber als Fischer
bewohnen. Sie werden bisweilen als Renthiertschuktschen von
den NamoUo unterschieden, mit denen sie in älterer Zeit zusammen-
geworfen wurden. Es sind starke Männer, die unter Lasten von
200 Pfund noch leichten Ganges dahinschreiten. Ein Tschuktschen-
i) Kamtschatka. S. 251.
2) Tent-life in Siberia. p. 117. p. 218.
3) Whymper, Alaska. Braunschweig 1869. S. 98.
Peschel, Völkerkunde. 27
i]S Die Beringsvülker.
bursche, erzählt Whymper, den Obrist Bulkley von der Ploverbay
nach San Frandsco mitnahm, wurde dort stets für einen Chinesen
gehalten und mit zwei Matrosen, yeöornen Aleuten, trugen sich
öfter ähnliche Missverständnisse in einer' Stadt zu, wo man doch
auf jeder Strasse Chinesen und Japanern begegnet"). Fügen wir
noch zum Schiuss hinzu, dass die Tuslti das Beringsmeer in Leder-
booten mit einem Geripp aus Walfischknochen befahren und sich
dabei auch eines Segels beäieneo, wahrscheinlich in Nachahmung
europäischer Schiffe. Sie binden zugleich aufgeblasene Seehunds-
häute an die äusseren Wände der Fahrzeuge, damit sie wie
die polynesischen Ausleger das Umschlagen verhüten.
c. Die Numollo und die Eskimo.
Ganz in der äussersten Nordostecke Asiens, an der Bering-
strasse und längs dem Eismeer, grenzen an die Tschuktschen die
früher mit ihnen verwechselten NamoUo. Durch Sitten und Lebens-
gewohnheiten unterscheiden sie sich nur wenig von ihren Nac'h-
barn. Lütke') fand bei ihnen ausgeprägte mongolische Gesichts-
züge , vorstehende Backenknochen , kleine Nasen und viell'ach
schiefgestellte Augen. Wir wissen fetner, dass die Sprache der
Namollo mit der Eskimosprache versciiwlstert ist^). Chamisso, der
Namollo in der St. Lorenzbuciit und Eskimo am Kotzebuesunde
vergleichen konnte, bemerkt, dass die Bevölkerung der Kordost-
spilze Asiens, sowie alle Amerikaner von der Beringstrasse bis
zu den Eskimo der Baffinsbay, „demselben Menschenschlag von
ausgezeichnet mongolischer Gesichtsüildung angehören"*). Die
Eskimo, deren Name vun Esquimantsic aus der Abenaki- oder von
Ascbkimeg aus der Odschibwä^prachc stammt und in beiden Fällen
Rohileischesser bedeutet^), nennen sich selbst In-nu-it, eine Plural-
form von iii-nu der Jlenseh. Die Wortbildung in ihrer Sprache
geschieht immer auf dem Wege der Suffigirung'; und insofern
1) Whymper, Alaska. S. 273.
2) Voynge .lulour du monde. Paris 1835. chap. XI. lom. II. p. 264.
3) Waitz, AolhtopolQgie. Bd. 3. S, 301.
4) Otto V, Kotiebuc's Entdetkungsreise. Weimar 1821. Bd, 3.
S. 176.
5) Charlevoix, NouveUe Frjnce. Igm. III. p. 17B.
6) SIeinthal, Typen de« Spraclibaues. S. 220.
Die Beringsvölker. aiq
hätte sie Aehnlichkeit mit dem Verfahren innerhalb der uralaltai-
schen Gruppe, deren wichtigstes Merkmal aber, nämlich die Laut-
harmonie, bei den Innuit fehlt. Zwar kennt die Eskimosprache
nicht die strenge Einverleibung, gleichwohl wird sich bald zeigen,
dass sie einen Uebergang zwischen dem uralaltaischen und dem
amerikanischen Typus darstellt. Die Innuit sassen zur Zeit der
Normannenbesuche Amerikas also um looo n. Chr. noch ziemlich
südlich an der atlantischen Küste und Hessen sich am Anfang
des vorigen Jahrhunderts noch gelegentlich auf Neufundland sehen ^.
Nach Grönland sind sie erst in der Mitte des 14. Jahrhunderts
eingewandert *). Barnard Davis gibt als Schädel indices den grön-
ländischen Eskimo eine Breite von 71 und eine Hohe von 75,
den Eskimo im östlichen Nordamerika 70 und 75 für die obigen
Verhältnisse. Allein diese Merkmale sind werthlos, weil der
Schädel künstlich geformt wird^). Die westlichen Innuit aber,
gegen welche ein gleicher Verdacht bis jetzt noch nicht vorliegt
und die uns daher die ungestörte Schädelform darbieten, haben
75 zum Breiten-, 77 zum Höhenindex. Es sind also Mittelschädel
von grösserer Höhe als Breite^). Sonst stimmen sie in den mass-
gebenden Körpermerkmalen mit den nordasiatischen Bevölkerungen
völlig überein, namentlich was Haut und Haar betrifft. Die schiefe
Stellung der geschlitzten Augen, die flachen breiten Gesichter sind
selbst noch bei den Eskimo Grönlands zu erkennen s), obgleich
dort Mischungen mit germanischem Blut vielfach stattgefunden
haben. Die Namollo und Eskimo gehören zwar nicht unter die
hochgewachsnen Völker, aber widerlegt wurden bereits die älteren
irrigen Angaben über ihre Zwergenhaftigkeit^). Ihre Frauen sind
nicht fruchtbar 7) oder vielmehr der Kindersegen gilt als uner-
wünscht, daher auch dieser Volksstamm dem Erlöschen nicht mehr
entgehen wird.
i) Charlevoix L c.
2) S. oben S. 62. und David Cranz, Historie von Grönland. Buch 4,
I. Abschn. § 8. Barby 1770. Bd. L S. 333 ff.
3) S. oben S. 62.
4) Barnard Davis, Thesaurus craniorum, p. 219 — 224.
5) Die zweite deutsche Nordpolarfahrt. Leipzig 1873. Bd. i, S. 135.
6) S. oben S 86.
7) D. Cranz, Historie von Grönland. Buch IH, 2 §. 14- Bd i. S. 212.
27*
^20 Die BeiingSTÖlker,
\\"ir treffen bei ihnen unter den Namen Angekok echte nord-
asiiitii^clie Schamanen, die sich zu den herkömmlichen Zaubercnren
und Geisterbeschwörungen in Einsamkeit und unter Fasten so
lanjjp vo'bereiten „bis ihre Einbildungskraft, wie Cranz treuherzig
bemerkt, in Unordnung geräth')." Sie verehren einen gutigen
Schilpfi-r Torngarsuk oder Anguta ') geheissen. Wenn sie aus
dem Munde der Heidenbe kehrer einen allmächtigen Gott preisen
hören, so denken manche, dass ihr Torngarsuk gemeint sei*).
Ihm g-fgenüber steht eine schadenstiftende weibliche angeblich
namenlos; Gottheit, Nicht nur an eine Fortdauer nach dem
Tode, sondern auch an eine jenseitige Bestrafung der Verbrecher
und der Lieblosen wird geglaubt*). Die Innuit haben sich in
ihren Sagen ein arctisches Paradies Namens Akillnek geschaffen
und besitzen Erzählungen von Reiseabenteuern, bei denen der
orientalische Vogel Roch durch RiesenmÖven ersetzt wird. Auch
hat man unter ihnen das Märchen von den badenden Jungfrauen
angetroffen, die sich bei ihnen — da der Schwan fehlt — in
Enten verwandeln^). HaH der so lange unter ihnen weilte, nennt
sie dns gutherzigste Volk auf dem Erdlioden, Für ihren scharfen
Verstand spricht die Thatsache, dass sie sehr rasch Domino- und
Bretsjiide, unter letzteren auch das Schach erlernten*). Als Leo-
pold V. Buch im arktischen Norwegen reiste, überzeugte er sich
dass ilie menschliche Gesellschaft von den dortigen Bewohnern
keine geistige Bereicherung beanspruchen dürfe, denn die volle
Kraft des Menschen werde gänzlich aufgezehrt durch den Kampf
mit einer strengen Natur um die kümmerliche Nothdurft des Lebens.
Noch viel mehr aber wie von Norwegen, muss dasselbe im polaren
.Amerika gelten." Die Eskimo haben freilich aus gewissen Störungen
des I\Iond!aufes nicht die Abplattung der Erde berechnet, sie haben
auch nicht das Wasser in seine beiden Luftarten zerlegt, ebensowenig
T I, c. Buch nr, cap. 5, §, 41, Bd. I. S. »68.
2) So nennt ihn Hall, Life wilh the Estjuimaux. p. 524.
j) David Cranz, Historie von Grönland. Buch j, cap. 5. §. 39. Bd. i
■i) Hall, 1. c.
.;: 11. Rink. Eskimoisk Diglekonst, in For Ide og Virkelighed. Kjoben
l-n. Jlarts. 1870. p. 212. flg.
6) Hall, p. 52J.
Die Berings Völker. a21
eine Weltregion gestiftet, aber sie haben dafür zuerst durch eigene
Kraft und Kunst sich Wege gebahnt nach Gürteln der Erde, wo
Tag und Nacht über die Dauer von Jahreszeiten sich erstrecken,
sie haben bewiesen, dass der Mensch sich noch behaupten kann
wo ein neunmonatlicher Winter das Land versteinert, wo kein
Baum mehr wächst, ja wo nicht so viel Holz angeschwemmt wird,
um nur als Schaft zu einem Speer zu dienen. Sie haben sich
bemüht aus den Knochen arktischer Säugethiere, ihrer Jagdbeute,
durch Aneinandei stücken Schlitten zu erbauen und Lanzen zusam-
menzufügen, die, mit Thiersehnen festgeschnürt, Dauerhaftigkeit
genug besitzen dass ein unerschrockener Jäger im Handgemenge den
weissen Bären zu erlegen vermag. Sie haben es ersonnen wie
man aus Schnee ebenso rasch Hütten bauen kann, wie tropische
Völker aus Zweigen und Blättern, ja sie haben aus Steinen Bogen-
gewölbe ausgeführt, woran keines der Culturvölker Mexico*s ge-
dacht hat. Sie verstanden auch ihre Hütten durch Thranlampen
zu erwärmen, über ihnen Schnee und Eis zum Fliessen zu bringen,
damit sie ihren Durst löschen konnten. Sie besassen, was in
ganz Amerika nirgends sonst der Fall war, ein Verkehrswerkzeug
auf festem Grunde, den Schlitten, und sie hatten zu seiner Bewe-
gung Thiere, nämlich Hunde, vorgespannt, während die höchste
Stufe solcher technischen Fortschritte in Amerika nur noch bei
den Incaperuanern angetroflfen wurde, welche die Llama zwar nicht
zum Ziehen, aber doch wenigstens zum Tragen abrichteten. So
ist es denn an sich schon eine culturgeschichtliche Leistung den
hohen Norden der Erde bevölkert zu haben, und zwar lösten die
Eskimo diese unbeneidete Aufgabe als sie selbst noch im Zeitalter
der Steingeräthe sich befanden. Jetzt freilich erhandeln sie von
den Dänen Eisen zu Lanzen und Harpunenspitzen, allein Nord-
grönland wurde längst von ihnen bewohnt ehe sich Europäer in
ihre Nähe wagten. Das erste Schiff welches 1616 unter Capt. By-
lot in die Baffinsbai drang, knüpfte dort einen Verkehr mit den
Eingebornen an. Erst 1818 zeigte sich der ältere Ross als zweiter
Seefahrer unter jenen Breiten, und auf seinen Spuren folgten dann
die Waljäger, welche das erste Eisen brachten. Die Eskimohorde
aber welche jenseits 'des Smithsundes wohnt, sitzt dort sicherlich
seit etlichen Menschenaltern, vielleicht seit Jahrhunderten.
Nicht geringe Verdienste haben sich aber um die Vermeh-
rung europäischer Wissenschaft die Eskimo dadurch erworben,
A22 Dis Beringswölker.
dass sie den altern und neuern Seefahrern auf dem Schauplatz
der nordwestlichen Durchfahrt ihre Dienste liehen. Einer merk-
würdigen Eskimofrau, lligliuk, verdankte Sir Edward William Parry
eine Landkarte, die ihm den We^ zeigte zur Entdeckung der
Fury- und Heclastrasse '). Der Eskimo Hans, der den unvergess-
lichen Kane und seinen Nachfolger Hayes twgleitete, fährte den
Matrosen Morton bis über den 8i. Breitengrad zu dem nördlichsten
Punkte der je an der Küste Grönlands erreicht wurde. Wenn wir
den Berichten der älteren und neueren Seefahrer auf dem Gebiet
der nordwestlichen Durchfahrt folgen, und wir sehen ihre Schiffe
vor uns in der Gefangenschaft des winterlichen Eises, es senkt
sich dann auf siedle arktische Nacht herab, die drei oder vier Monate
dauern soll, so beschleicht uns jedesmal die Bangigkeit, dass selbst
der Europäer mit aller seiner Herrschaft über Stoff und Kraft
doch jener strengen Natur nicht gewachsen sei und sein Leben
und seine Freiheit abhänge von der Laune der künftigen Jahres-
zeit, Wenn dann am Bord der Ruf ertönt: die Eskimo sind an-
gekommen! so ist es uns als «-ürden von befreundeter Hand die
Thüren des arktischen Kerkers geöffnet. Wie die Helfer im
Dunkeln erscheinen Wesen unseres Geschlechtes, denen weder die
Kälte noch die Nacht ihre Lebensheiterkeit rauben, und die ver-
gnügt noch wandern und umherziehen, wo die Natur mit allen
Schaudern eines Dante'schen Höllenringes') gepanzert erscheint.
Von ihren nautischen Geschicklichkeiten brauchen wir nicht
lange zu reden. Sie besitzen bekanntlich zwei Arten von Fahr-
zeugen: grosse und geräumige, die sogenannten Frauenboote
(Umiak), worin die Familien ihre Wanderungen antreten, und die
Männerboote (Kayaken), mit denen der einzelne Jäger die See-
thiere aufsucht. Was den Bau und die Führung von Booten be-
trifft, so giebt es keine grösseren Kenner als die Briten und die
Amerikaner der Vereinigten Staaten. Beide aber reden mit Be-
wunderung, mit Neid sogar von dem Eskimo, der mit seinem
Doppelruder und den Gleichgewichtskünsten eines Seiltänzers seine
Kayake über die rauhen Wogenkämme hüpfen lässt.
1) Capt. Lyon, Private Jouma]. p. 160. p. ii6. Hall hat zwei Eakiroo-
karten abbilden lassen, die kaum von Europäern nalurgelreuer hallen gezeich-
net werden können.
2) Inferno, XXXII, v. 21—30.
Die Beringsvölker. 423
Ihre Sprachähnlichkeit mit den Namollo, ihre nautische Ge-
schicklichkeit, ihre Bezähmung des Hundes, ihr Gebrauch des
Schlittens, ihre mongolische Gesichtsbildung, ihre Anlagen zu
höherer Gesittung lassen die Frage, ob hier eine Wanderung aus
Asien nach Amerika oder umgekehrt stattgefunden habe, mit
einem hinreichenden Mass von Wahrscheinlichkeit für das erstere
entscheiden, doch muss eine solche Wanderung von Asien über
die Beringstrasse viel später erfolgt sein als die erste Besiedelung
der neuen Welt aus der alten.
Sprach- und blutverwandt mit den Namollo und Eskimo sind
die Bewohner in dem nördlichen und westlichen Theile des ehe-
mals russischen Amerika, die man wohl auch aliaskische Eskimo
genannt" hat, Sie bewohnen die Ufer des Beringmeeres, die Halb-
insel Aliaska und die angrenzende Küste gegen Osten bis etwa
zum Eliasberg. Sie zerfallen in 13 Horden, zu denen die Kon-
jaken oder Konäken der Insel Kadjak, die Tschugatschen am
Prinz-Williamsund und auf der Kenai-Halbinsel, sowie elf andere
Horden zählen'), deren Namen sämmtlich auf — mjuien oder
— muten endigen. Zu letzteren gehören Whymper's Malemuten, die
wie alle übrigen nur durch ihre Mundart von den Eskimo und
Namollo sich unterscheiden. Unter ihnen sieht man Männer -bis
zu 6' engl. Leibeshöhe, woraus sich ergibt, dass die Körpergrösse
innerhalb dieses Volksstammes beträchtlich schwankt. Zwischen
den asiatischen und amerikanischen Beringsvclkern hat beständig
Handelsverkehr geherrscht. Die Tschuktschen ziehen nach der
Diomedes-Insel und die Malemuten setzen von der äussersten Nord-
westspitze Amerikas über, um Renthierfelle gegen Pelze umzu-
tauschen. Der Handel geht so flott, dass die Kleidungen der
Eingeborenen am Yukonstrome einige hundert Meilen (miles) auf-
wärts aus asiatischen Fellen bestehen die von den Tschuktschen
stammen^). O. v. Kotzebue, der beide Ufer des Beringmeeres
befuhr, bemerkt dass die Bewohner der St. Lorenz-Insel die näm-
liche Sprache reden, wie die Stämme auf dem amerikanischen
Ufer und sie Brüder nennen. „Ich finde überhaupt", heisst es
an einer andern Stelle, „einen so unmerklichen Unterschied
i) s. ihre vollen Namen bei Waitz,' Anthropologie. Bd. 3. S. 301.
2) Whymper, Alaska. S. 149.
^A Die Berings Völker.
zwischen diesen beiden Völkern, dass ich sehr geneigt bin, sie von
einem Stamm entsprossen zu halten^)." Ganz ähnlich äussert un-
ser berühmter Georg Steller, dass die Bewohner der Schumagin-
Inseln an der Südküste von Aliaska den Itelmen Kamtschatkas
„wie ein Ei dem andern gleichen*)." Alle diese Zeugnisse erhärten
die Thatsache, dass Wanderungen aus der alten Welt in die neue
stattgefunden haben, dass dagegen die Eskimo aus Amerika nach
Asien sich verbreitet haben sollten, ist deswegen nicht wahrschein-
lich, weil sie von allen Amerikanern die meiste Uebereinstimmung
in Bezug auf Racenmerkmale mit den mongolenähnlichen Völkern
der alten Welt sich bewahrt haben und ihre Wanderungen in der
geschichtlichen Zeit noch immer westwärts gerichtet waren.
d. Die Aleuten.
Von der Halbinsel Aljaska zieht nach Kamtschatka in einem
schön geschwungnen Bogen eine Kette von Inselvulkanen, baum-
los und meistens in Nebel eingehüllt. Sie heissen die Aleuten,
wie ihre Bewohner. Letztre verknüpft mit den Eskimo nur eine
Anzahl gemeinsamer Wörter die aber nur eingetauscht sein mögen,
soust stehen sie linguistisch bis jetzt noch vereinsamt«^). Es ist
ein mongolischer Menschenschlag"^), dessen wir schon einmal gedacht
haben in Bezug auf seine frühzeitigen Ehebündnisse 5). Zwar sind
alle Beringsvölker mehr oder weniger seetüchtig, doch scheinen die
Aleuten selbst die Eskimo noch durch ihre Fertigkeit zu über-
bieten. Ihre einluckigen Fellbote haben, wie Erman es erläutert,
etwa 60 Pfund Eigengewicht und bestiegen von einem 140 Pfund
i) Entdeckungsreise in die Südsee. £d. 2.'S. 105. Bd. i. S. 159.
2) Steiler, Kamtschatka. S. 297.
3) Nach dem kurzen Abriss, den Lütke (Voyage autour du monde,
chap. VI. Paris 1835. tom. I, p. 243) mittheilt, bedienen sie sich zur Wort-
bildung auch der Präfixe, die völlig der Innuitsprache fehlen.
4) Ein deutscher Reisender (Allgemeine Zeitung 1873. S. 4300) will sie
sogar wegen ihrer Gesichtsbildung von verschlagenen Japanern ableiten.
5) S. oben S. 228. Bei ihnen herrschen dieselben erotischen I^ster
(Langsdorff, Reise um die Welt. Bd. 2. S. 43. W. H. Dali, Alaska.
Boston 1870. p. 402.) wie bei den NamoUo (Lütke, I.e. chap. XI. tom. ü,
p. 197) oder bei den Itelmen (Steller, Kamtschatka S. 289. S. 351) oder bei
den (Renthier-) Tschuktschen (v. Wrangeil, Reisen längs der Nordküste
Sibiriens. Bd. 2. S. 227).
Die Beringsvölker. 425
schweren Aleuten immer noch einen so geringen Tiefgang, dass
der eingetauchte Querschnitt nur 0,056 Meter Widerstandsfläche
bietet. Mit einer solchen Baidarke legte ein Eingeborner in 27^2
Stunde 214,® Kilometer oder. etwas mehr als eine deutsche Meile
in der Stunde zurück, während ein Fussgänger eine Last von
60 Pfund, höchstens 2 3/^ deutsche Meilen weit in einem Tage ge-
tragen, also II Tage zu der obigen Entfernung gebraucht haben
würde*). Die Baidarke befähigt den Aleuten zu den Leistungen
der mächtigsten Seethiere und die Jagd auf solche gehört zu seinem
täglichen Nahrungserwerb *).
e. Die Thlinkiten und Vancouvers^ämme.
Vom Süden des Eliasberges an der Küste und an den Küsten-
inseln bis zum Dixon-Sund sitzen Völker welche die Russen
Kaljuschen oder Koluschen, die sich selbst aber Thlinkiten oder
„Menschen" nennen. Südwärts von ihnen bewohnen die Haidah
die Königin-Charlotte Inseln. Am Festland gegenüber vom 53° ^a
bis 50° N. Br. erstrecken sich die Hailtsa oder Hailtsuk. Auf
der Insel Vancouver endlich werden vier verschiedene Sprachen
geredet. Einige Stämme wie die Cowitschin und Clalam bewohnen
nicht blos Vancouver sondern das Festland am Fraserfluss und
am Puget-Sund. Schädel aus dieser Küstengegend sind nur
spärlich vorhanden, auch könnten sie uns nur wenig Belehrung
bringen, denn ihre künstliche Verunstaltung in der Jugend gehört
auf Vancouver wie in Oregon zur Mode, auch kommt nicht blos
das Flachdrücken sondern auch eine erzwungne Dolichocephalität
vor 3). Die Hautfarbe ist fast so hell wie bei Südeuropäern, das
Haar dagegen schwarz und straff.
Bei den Thlinkiten und den Haidah^) zeigt sich hin und
i) A. Er man in der Zeitschrift für Ethnologie. 1871. Bd. 3. Heft 3.
S. 167.
2) Eine genaue Zeichnung und Beschreibung der Bauart dieser classischen
Fahrzeuge hat v. Langsdorff, Reise um die Welt. Bd. 2. S. 39 gegeben.
3) Barnard Davis, Thesaurus craniorum, p. 231.
4) R. Brown in Reports of the British Association held at Norwich
1868. London 1869. p. 133.
J26 ^'^ Beringsvolker.
wieder ein wenig mehr liartwuchs als es bei asiatischen und
amerikanischen Mongolen sonst der Fall ist. Starke vorstehende
Backenknochen, tiefliegende Nasenwurzel, breite fleischige aufge--
stülpte Nasen herrschen noch immer vor"). Die Tschinuk, welche
Oregon im Süden des Pugetsundes bewohnen und den Kopf
künstlich abflachen, haben auch noch die schief geschlitzten mon-
golenähnlichen Augen '), die den Haidah wiederum fehlen ^).
Sprachlich lassen sich die Bewohner der Küste nicht mit den
Völkern jenseits der Felsengebirge vereinigen, auch unter sich
verknüpft sie kein linguistisches Band, Da aber die Körpermerk-
male keine Abtrennung in verschieflne Racen vei statten, auch
ein Beobachter wie Lütke*), ausdrücklich bezeugt, dass sich die
Bewohner der Königin Charlolteinsein nicht vor den Anwohnern
des Beringsmeeres in dieser Hinsicht unterscheiden, so er-
scheint es angemessen sie mit den Bewohnern des äussersten
Nordostens von Asien zu vereinigen, zumal sie an Sitten und
Lebensgewohnheiten ihnen weit mehr gleichen als den Jäger-
stämmen über den Felsengebirgen. Auch sie- sind seetüchtig, und
verstehen es ihren Fahrzeugen gefällige Formen und einen wohl-
überdachten Schnitt zu geben. Doch ist es sicherlich die Küsten-
. beschaffenheit, welche die nautischen Geschicklichkeiten geweckt
und ausgebildet hat^), wir dürfen sie daher nicht einer Racen-
anlage zuschreiben und deshalb auf gemeinsame Abkunft schliessen.
Auch das Durchbohren von Wangen oder Lippen und das Ein-
setzen kleiner Pflöcke welches bei der amerikanischen Küsten-
bevölkerung von dem Kotzebue-Sund bis zur Vancouver-Insel
herrscht, würde höchstens auf gegenseitigen innigen Verkehr
deuten, welcher eineAnsteckung mit dieser Geschmacksverirrung ver-
ursachte. Die amerikanischen Beringsvölker kannten vor Ankunft
der Russen oder Capt. Cooks Küstenbern hrungen das Eisen.
Vorläufig, ehe gründliche Untersuchungen etwas besseres auszu-
sprechen gestatten, wollen wir vermuthen, dass Japanesen, welche
1) So bei den KolUEchen nach v. Laagsdorfr, Reise um die
rrankfnrl i8l2. Bd, 2. S. 96.
I) Waiti, Anthropologie. Bd. J. S. 324.
3) R. Brown. 1. c.
4) Voyage autour du rnonde, cliap. V. Paris 1835. tom. I, p. 1S8.
5) S. oben S. 209 — 210.
Die Beringsvölker. 427
vor den Russen die Kurilen und Kamtschatka besuchten Eisen
oder eiserne Geräthe nach dem Norden gebracht und dass letztere
sich dann durch den Küsten verkehr nach Amerika weiter ver-
breitet haben. Mit Ausnahme der Koluschen, deren eheliche
Sittenstrenge v. Langsdorff' ) uns rühmt, begegnen wir bei sämmt-
lichen Beringsvölkern selbst bei den Eskimo erotischen Verirrungen,
Knabenliebe und Frauenlastern, Gleichgiltigkeit gegen eheliche
Treue, Bewirthung des Gastfreundes durch Preisgeben von Frauen
und Schwestern, zugleich mit einem vorzeitigen Heirathsalter *).
Wenn Georg Steller berechtigt war die Anlage zu solchen Aus-
schweifungen der vorherrschenden Fischnahrung zuzuschreiben, so
würde diese Uebereinstimmung zwischen den Beringsvölkern eben-
falls nur dem Wohnort entsprungen sein. Anders verhält es
sich schon, dass wir bei ihnen allen mehr oder weniger grossen
Kunstsinn antreffen, der sich in Schnitzereien äussert. Bei den
Koluschen führt jedes grosse Fahrzeug den Namen von irgend
einem Gegenstand, meist einem Thier, dessen hölzernes Bild den
Schnabel schmückt. Besonders gelungne Verzierungen dieser Art
werden sehr hoch im Werth gehalten und mit einem Sklaven be-
zahlt 3). Die Adeligen imter den Haidah der Charlotte Inseln
wiederum tragen kupferne Schilder auf welchen ihr Wappen ein-
gegraben ist*). Dazu gesellt sich bei allen noch die Vorliebe
zu dramatischen Tänzen und theatralischen Vorstellungen die
mit Masken aufgeführt werden, wie diess von den Thlinkiten,
ja sogar einigen Stämmen in Oregon s) und von allen Bewohnern
der Vancouverinsel gilt^). Die bürgerlichen Zustände bei den
Thlinkiten und V^ancouverstämmen hatten sich ungleich höher ent-
wickelt als jenseits der Felsengebirge. Die Wohnsitze waren wie
es der Fischfang vorschrieb feste, die Häuser bisweilen casernen-
artig. Die Häuptlinge besassen grosse Gewalt, eine Scheidung
1) Reise um die Welt. Frankf. 1812. S. 113.
2) S. oben S. 424. not. 5.
3) Lütke, Voyage autour du monde, chap. V. Paris 1835. tom. I,
212. W. Dali, Alaska. Boston 1870. p. 413. p. 417.
4) R. Brown, 1. c.
5) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 335.
6) Whymper, Alaska. S. 58.
A2^ I^ie amerikanische Urbevölkerung.
in Adel und Volk war vollzogen und Sklaverei bei den Koluschen,
Haidah und den Vancouverstammen vorhanden*).
7. Die amerikanische Urbevölkerung.
Hat das menschliche Geschlecht von einem Schöpfungsherde
aus die Erde bevölkert und dürfen wir in Amerika nicht seine
Wiege suchen*), so muss die neue aus der alten Welt ihre ersten
Bewohner empfangen haben. Als diese das westliche Festland
betraten, standen sie sicherlich noch auf einer sehr rohen Stufe,
wenn auch ihre Sprache bereits die Anlage zu ihren künftigen
Grundzügen besass, die Feuerbereitung ihnen kein Geheimniss
mehr war, Bogen und Pfeil sich in ihren Händen befanden. Weite
Seefahrten dürfen wir freilich diesen Einwanderern nicht zumuthen,
sondern sie höchstens über das Beringsmeer ziehen lassen. Nicht
unerlaubt wäre sogar die Behauptung, dass die ersten Wande-
rungen zu einer Zeit stattfanden als die Beringstrasse noch nicht
eine Meerenge sondern eine Landenge vorstellte. Damals würde
auch das Klima jener nördlichen Gestade viel milder gewesen sein
als heutigen Tages, weil keinerlei Strömung aus dem Eismeere
in den Stillen Ocean eindringen konnte. Dass die Absonderung
Asiens von Amerika einer geologisch gesprochen sehr nahen Ver-
gangenheit angehöre, bezeugt die Thatsache, dass sowohl die
Strasse 3) wie das Meer welche Berings Namen führen, ausser-
ordentlich seicht sind, pflegen doch mitten im letzteren die Wal-
fischianger vor Anker zu liegen^). Doch bleibt es immer misslich
auf geologische Vorgänge sich zu stützen, die selbst noch strengere
Beweise entbehren. Wir setzen daher lieber voraus, dass zur
Zeit des Ueberganges der Asiaten nach Amerika die Beringsenge
schon ihre jetzigen Züge besass. Erinnern müssen wir aber an
die erste Frage welche unser grosser Mathematiker Gauss 1828
i) S. oben S. 186. S. 253. S. 254.
2) S. oben S. 32—33.
3) Lütke, Voyage autour du monde. Paris 1835. tom. Ü. p, 209.
4) Whymper, Alaska. S. 94.
Die amerikanische Urbevölkerung. • 429
in Berlin an den Erdumsegler Adalbert v. Chamisso*) richtete, ob
nämlich von einem Punkte Asiens aus die Küste von Amerika
sichtbar sei, so dass dermaleinst durch ein Dreiecknetz beide Welten
verknüpft werden könnten. Da nun Chamisso mit Recht diese
Frage bejahen durfte, so erforderte es also keine Entdeckung
aufs Geradewohl, sondern den Asiaten der Beringstrasse als sie
nach Amerika übersetzten, lag ihr Ziel sichtbar vor Augen. Frei-
lich beunruhigt verwöhnte Europäer das Bedenken, ob es Völker-
schaften, die wir uns doch entblösst von Schutzmitteln denken
müssen, gelingen konnte, in jener strengen Natur auszudauern.
Uebersehen wird dabei dass gerade die Polarkinder an rauhem
Wetter ein grösseres Behagen empfinden, als am schwülen. „Wenn
ich im Winter, schreibt der unvergessliche Georg Steller, unter
meinem Bette und meinen Pelzdecken am Morgen fror, sah ich
dass die Itelmen, sogar ihre kleinen Kinder, bis an die halbe
Brust nackend und blos in ihrer Kuklanka ohne Decken und Betten
lagen und wärmer anzufühlen waren, ale ich." An einer andern
Stelle fügt er hinzu, dass die Kamtschadalen stets neben ihr Nacht-
lager ein grosses Gefäss mit Wasser stellen, dieses durch Eisstücke
abkühlen und es, ehe der Morgen anbricht bis zum letzten Tropfen
geleert haben*). Noch bessere Beruhigung gewähren uns aber die
Feuerländer, denn so niedrig wie sie müssen wir uns die ersten
Einwandrer in Amerika denken. Horden unter ihnen harren in
gänzlicher Nacktheit bei jedem Wetter aus. Darwin der eine
Frau in dieser Entblössung gewahrte, fügt hinzu: „Es regnete
heftig und das süsse Wasser mit dem Gischt des salzigen rann
an ihrem Leibe herunter. In einem zweiten Hafen, nicht weit
von dem vorigen, besuchte eine andre Frau mit einem kürzlich
gebornen Säugling an der Brust das Schiff und trieb sich aussen
herum aus lauter Neugierde, während Schlössen fielen, und auf
ihrem Busen wie auf der Haut des Kleinen thauten," An einer
späteren Stelle heisst es: „Wir alle waren warm bekleidet und
obgleich dem Feuer sehr nahe, doch keineswegs von der Hitze
geplagt, während unsre nackten Wilden obgleich sie viel ferner
sassen, von Schweiss überströmten und eine Art Röstung erlitten ^).**^
i).Chamisso's Gesammelte Werke. Leipzig 1836.' Bd. i. S. 146.
2) Kamtschatka. S. 303. S. 325.
3) Darwin, Journal of researches. London 1845. P» 2^3- P« 220.
^ßO I^ie amerikanische Urbevölkerung.
Das wird wohl Jedermann überzeugen, dass selbst für Menschen
auf der Stufe der Feuerländer das Klima der Beringstrasse eine
Wanderung aus Asien nach Amerika nicht verhinderte.
Der Beweis aber, dass die Urbewohner Amerikas jene Strasse
zogen, liegt in ihren mongolenähnlichen Merkmalen. Dass asiati-
sche und amerikanische Beringsvölker bis zum Verwechseln ähn-
lich sind, wurde bereits im vorigen Abschnitt gezeigt. Selbst An-
hänger der Lehre von der Artenmehrheit des Menschengeschlechts
in den Vereinigten Staaten, haben doch eingestanden, dass alle
Ureinwohner Amerika's sich unter einander so gleichen „wie Voll-
blutjuden" und dass die einzige Race zu der sie vernünftiger
Weise in nähere Verbindung gesetzt werden können, die mongo-
lische sei^). Wir berufen uns ferner auf A. v. Humboldt, der den
Eingebornen Mexicos mit einziger Ausnahme der Nase alle Mon-
golenmerkmale bis auf die schief gestellten Augen beilegt*), welches
letztere Wahrzeichen er auch den Chayma im nordöstlichen Vene-
zuela zuschreibt^). Schiefgestellte Augen im Verein mit vortreten-
den Jochbogen beobachtete Moritz Wagner bei Bewohnern Vera-
guas und von vier Bayano Indianern Dariens besassen nach seiner
Schilderung drei strenge Mongolenzüge, auch die platten Nasen ^).
Dem Reisenden James Orton^) wiederum fielen die Zaparo am
Nap6strome östlich von den Cordilleren Quitos durch ihre Chi-
nesenähnlichkeit auf. Ein Officier des Sharpshooter, des ersten
britischen Kriegsschiffes welches im August 1866 in den Parästrom
Brasiliens einlief, bemerkt fast mit den nämlichen Worten von den
dortigen Indianern, dass sie ihn „lebhaft durch ihre Gesichtszüge
an die Chinesen erinnert hätten^).** Burton beschreibt in Brasilien
die Eingebornen am Cachauhyfall mit „dicken runden Kalmücken-
köpfen, platten . Mongolengesichtern, breiten scharf vortretenden
Jochbeinen, schiefen bisweilen geschlitzten Chinescnaugen und
dünnen Lippenbärten 7)/* Ein anderer Reisender, J. J. v. Tschudi®)
1) Morton, Types af mankind. p. 275.
2) Essai politique sur la Nonv. Espagne. Paris 1811. tom. I, p. 3S1.
3) Reisen in die Aequinoctialgegenden. Stuttgart 1859. Bd. 2. S. 13.
4) Naturwissenschaftliche Reisen. Stuttgart 1870. Bd. i. S. 313. S. 128
5) The Andes and the Amazon. London 1870. p. 170.
6) Nautical Magazine. London 1867. vol. XXXVI, p. 564.
7) R.' Burton. Higblands of Brazil. London 1869. tom. IL p, 403.
S) Reisen durch Südamerika. Bd. 2. S. 299.
Die amerikanische Urbevölkerung. 431
erklärt wörtlich, „er habe Chinesen gesehen, die er auf den ersten
Anblick für Botocuden gehalten habe" und seitdem theile er die
Ueberzeugung „dass die amerikanische Race von der mongolischen
nicht getrennt werden dürfe". Sein Vorgänger St. Hilaire') fand
bei den Malali Brasiliens schmale schiefgestellte Augen und stumpfe
Nasen. Von den Coroados bemerkt wiederum Reinhold HenseP),
dass ihre Gesichtszüge, namentlich durch die vortretenden Joch-
beine einen mongolischen Typus erhalten, eine schiefe Stellung
der Augen sei jedoch nicht zu bemerken. Wohl sollen aber die
schiefen Augenschlitze, die zu den guten wenn auch nicht strengen
Merkmalen der mongolenähnlichen Völker gehören allen Guarani-
stämmen in Brasilien eigen sein^). Selbst im äussersten Süden
unter den Huillitschen Patagoniens fand King noch sehr viele mit
schief gestellten Augen"*).
Vergebens wird man auch bei solchen Schriftstellern welche
die Amerikaner als besondere Race hinstellen nach Unterscheidungs-
merkmalen suchen, die sie von den asiatischen Mongolen trennen
würden und allen gemeinsam wären. Das straffe, lange, im Quer-
schnitt walzenförmige Haar fehlt keinem einzigen Stamm. Der
Bartwuchs ist stets spärlich, mangelt auch wohl gänzlich, wie das
Leibhaar 5). Die Hautfarbe schwankt beträchtlich, wie wir dies
bei einer Ausbreitung über iio Breitegrade nicht anders erwarten
dürfen, nämlich von leichter südeuropäischer Bräunung bei den
Botocuden bis zur tiefsten Dunkelung' bei den Aymara^), oder
bis zu kupferfoth bei dem sonorischcfii Völkerstamm 7). Doch ist
es Niemanden bisher eingefallen wegen solcher Farbenstufen Racen-
grenzen zu ziehen, zumal jeder nur denkbare Uebergang vertreten
1) Voyage au Brasil tom. I. p. 424.
2) Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1869. Bd. 3. S. 128.
3) d* Orbigny, 1' Homme am^ricain. p. 62.
4) Latham, Varieties. p. 415. *
5) Dies bemerkte schon der Jesuit Charlevoix (Nouvelle France, tom.
III, p. 311) und Catlin (Indianer Nordamerikas. S. 323), sowie neuerdings
Musters (Unter den Fatagoniem. S. 172). Wenn unter den Comantschen bärtige
Männer hin und wider vorkommen (Waitz, Anthropologie, Bd. 4. S. 213)
so wird derjenige gewiss nicht überrascht werjlen, welcher weiss, wie viele
Spanierinnen diese Raubhorden in die Sklaverei geschleppt haben.
6) S: oben S. 94.
7) Waitz, Anthropologie. Bd. 4. S. 2CO.
432 I^ie amerikanische Urbevölkerung.
ist. Die Schädel der Amerikaner zeigen nicht selten vorspringende
Kiefern, aber wie bei den asiatischen Mongolen hält sich der
Prognathismus immer in massigen Grenzen. Pruner Bey *) äussert»
dass die Gestalt der amerikanischen Schädel bedeutend schwanke.
„Die Köpfe der Botocuden, fahrt er fort, unterscheiden sich nicht
wesentlich von den chinesischen, die des toltekischen Völkerkreises
nähern sich den javanischen, und die der Neuseeländer lassen sich
mit denen der Rothhäute vergleichen." Wollten wir uns auf
Weickers Schädelmessungen berufen, so würden die Zahlen für die
mittlere Breite von 74 bei Brasilianern bis zu 80 bei Cariben und
Patagoniern heraufsteigen. Sie bieten also Schwankungen wie sie
innerhalb der Gruppe der asiatischen Mongolen ebenfalls vor*
kommen. Doch hat Barnard Davis gar nicht gewagt Breiten- und
Höhenverhältnisse für die Urbevölkerung Amerikas mit einziger
Ausnahme der Araukaner*) anzugeben, obgleich er über eine be-
trächtliche Anzahl andrer Schädel verfügte. Auf beiden Festlanden
wurden nämlich die Köpfe der Kinder künstlich umgestaltet*
Diess geschah in Nordamerika nicht etwa blos bei den Flachköpfen
der Vancouverinsel und Oregons 2), sondern kam selbst unter
den Algonkinstämmen im Osten der Vereinigten Staaten vor^)*
Im südlichen Festlande huldigten dieser Mode alle Culturvölker
der Anden und daher finden wir bei Schädeln der Muysca, der
alten Bewohner Quito's und Perus Breitenindices die bis zu 100
ja über 100 reichen. Gegenwärtig lässt sich daher gar nicht an-
geben innerhalb welcher Procentsätze die Breite und Höhe unver-
dorbner amerikanischer Schädel schwankt, wo diess aber aus-
nahmsweise bei einzelnen Stämmen doch gelang, zeigte sich ent-
weder Mesocephalität oder Brachycephalität, wie es zu erwarten
war, wenn sie zu der mongolischen Race gehören sollten.
Die schmal geschlitzten und häufig schief gestellten Augen
die in beiden Festlanden bis zum äussersten Süden bei einzelnen
1) Resultats de craniom^trie, in Mdm. de la Soc. d'Anthropologie, tom.
II, p. 13-
2) Breite 80, Höhe 80. Thesaurus craniorura. p. 357.
3) S. oben S. 425.
4) Die Franzosen benannten deshalb Stämme mit künstlich und zwar
ganz nind gestalteten Schädel tetes de boule. Charlevoix, Nouvelle France,
tom. III, p. 324«
Die amerikanische Urbevölkerung. axx
Stämmen beobachtet werden, dürfen als ein mongolisches Ahnen-
merkmal (Atavismus) gelten. Wenn sie auch nicht zu den
strengen Wahrzeichen aller nord asiatischen Völker gehören, so
sind sie doch nur innerhalb der mongolischen Race anzutreffen,
nachdem Fritsch überzeugend bewiesen hat, dass sie bei Hotten-
totten nicht vorkommen und ihr beschränktes örtliches Auftreten
in Australien einer Blutmischung mit Malayen zugeschrieben werden
darf^). . Nur durch ein einziges Körpermerkmal entfernen sich
manche amerikanischen Stämme von den asiatischen Mongolen,
Diesen ist nämlich ein niedriger Nasensattel sowie eine kleine auf-
gestülpte Nase eigen. Bei den Jägerstämmen der Vereinigten
Staaten, namentlich bei Häuptlingen begegnen wir dagegen Nasen
mit hohem Rücken. Ferner ist es ja bekannt, dass die Mexicaner
und andre Culturvölker Mittelamerikas den Gesichtern ihrer Götzen
sehr stark vortretende Nasen verliehen, so dass also auch unter
ihnen hin und wieder Leute mit einer solchen bevorzugten Bildung
aufgetreten sein müssen. Auch in Südamerika bis unter hohe
Breiten kommt diese Abweichung von dem Mongolentypus vor^
denn sowohl unter den ausgestorbnen Abiponen wie unter den
gegenwärtigen Patagoniern gehörten und gehören sogenannte
Adlernasen nicht zu den Seltenheiten^). Doch kann eine nuf
örtlich auftretende Besonderheit nicht als Racenmerkmal gelten,
sonst müsste sie allen Eingebornen der neuen Welt zukommen.
Eine völlige Abtrennung der amerikanischen von den asiati-
schen Mongolen könnte sich höchstens auf die innere Verschieden-
heit der Sprachen stützen. Die grossen Abschnitte in unserm
Lehrgebäude sind jedoch nur auf Unterschiede der Körpermerk-
male begründet worden. Auch drängt es uns jetzt zu fragen, ob
nicht der Sprachtypus der Amerikaner gerade darauf hindeute,
dass sie vor ihrer Einwanderung in die neue Welt mit uralaltaischen
Völkern auf einer gemeinsamen Entwicklungsstufe gestanden sind,
Eigenthümlich ist den amerikanischen Sprachen wie wir sahen ^),
dass. bei ihnen die Satzbildung in der Wortgestalt aufgeht, wes-
i) S. oben S. 339.
2)" Dobrizhoffer, Geschichte der Abiponer. Bd. 2. S. 24. Musters,
Unter den Patagoniern. Leipzig 1873. S. 172.
3) S. oben S. 127.
Pesckel, Völkerkunde. ^g
A^A Die amerikanische Urbevölkerung.
•
halb man sie auch poly synthetische genannt hat. Ist das richtig,
so beging man bisher einen grossen Fehler der Sprache der
Innuit eine ganz vereinsamte Stellung anzuweisen. Wie die
uralaltaischen Sprachen bedient sie sich zur Sinnbe^renzung nur
der Suffixe, zugleich aber ist sie befähigt einen vielgliedrigen Satz
in ein einziges Wort zusammenzufassen, also polysynthetisch zu ver-
fahren. Der Grönländer bildet ein einziges Wort, wenn er den Ge-
danken ausdrücken will: Er sagt dass auch Du eilig hingehen
wollest, um Dir ein schönes Messer zu kaufen ^). Nicht rasch genug
können wir jedoch hinzusetzen, dass die' lockere Zusammenfügung
von Wurzeln noch nicht der echten Einverleibung gleiche, da in
den amerikanischen Sprachen die zusammengefügten Sylben stets
um etliche Laute verkürzt werden. Die höchste Ausbildung der
Einverleibung schreibt Steinthal wie wir sahen*) dem Nahuatl in
Mexico zu, welches das Object zwischen Subject und Thatwort
einschiebt und alle drei zu einem Ganzen zusammenschmilzt.
Dieses Verfahren ist aber nicht den amerikanischen Sprachen aus-
schliesslich eigen, sondern kommt auch in der uralaltaischen Familie
und zwar bei den ugrischen und bulgarischen Gruppen im Magyari-
schen, Ostjakischen, Wogulischen und im Mordwinischen vor.
•In der letztgenannten Sprache und zumal in der IVIokscha Mund-
art sind die Verbalflexionen und objectiven Personalpronomina
völlig nach mexicanischem Muster auf das dichteste verwebt^).
Diese Thatsache belehrt uns, dass im Schoosse von streng suffi-
girenden Sprachen etliche zur Einverleibung fortschritten und dies§
zeigt uns eine innere Verwandtschaft der amerikanischen mit den
uralaltaischen Sprachen.
Ausserdem fehlt es nicht an einer Fülle von Erfindungen, Ge-
bräuchen und Mythen welche die Nordasiaten mit den Eingebor-
nen Amerikas theilen. Wir wollen jedoch keinen Werth darauf
i) Nämlich:
Messer schön kaufen hingehen eilen wollen ebenfalls Du auch er sagt:
sauig' ik- stnt' ariartok' asuar- omar- y- otit- tog- og,
David Cranz, Historie von Grönland. Buch III, cap. 6. § 44. Bd. i. S. 286.
2) S. oben S. 128.
3) Im Mokscha heisst palasamak du küssest mich, und palaftärämak,
wenn du mich nicht geküsst haben würdest. Ahlquist, Mokscha- mord-
winische Grammatik. Petersburg 1861. S. 60.
Die amerikanische Urbevölkerung. ^^c
legen, dass das Lederzelt auf beiden Festlanden wiederkehrt, weil
zu einer solchen Erfindung wenig Nachdenken gehört. Auch dass
der sibirische Schamane dem nordamerikanischen Medicinmann in
allen Zügen gleicht, hat wenig Gewicht, weil auch die Schamanen
andrer Welttheile ihnen ähnlich sind. Ernster stimmt uns schon
der Umstand, dass die Waffentänze und Schamanenbräuche der
Ostjaken sich bis auf die kleinsten Besonderheiten bei den Kolu-
schen wiederholen*). An Märchen der alten Welt, die sich nach
der neuen verirrt haben ist kein Mangel. Unter andern tritt die
Erzählung von einem Abenteurer der an einem hohen Baum bis
in den Himmel klettert und sich wiederum bald an einem Riemen,
bald an einem Strohseil, bald an Haarflechten, wohl auch an der
Rauchsäule einer Hütte auf die Erde niederlässt, bei ugrischen
Volksstämmen*) und bei den athabaskischen Hundsrippen-Indianern
im äussersten Norden der neuen Welt auf^). Märchen werden
indessen wie geflügelte Samen oft über weite Strecken verweht
und zählen wenig wenn es sich um Beweise gemeinsamer Abkunft
handelt. Immerhin deuten sie auf einen alten Verkehr. Weit
weniger wahrscheinlich ist es aber, dass abergläubische Vorschriften
eingetauscht worden seien. Nun halten es die Itelmen Kamtschatkas
für eine grosse Sünde ein brennendes Holzscheit anders anzu-
fassen, als mit den Fingern, namentlich nicht mit der Messer-
spitze*) und ebenso ist den Sioux richtiger den Dacota verboten
glühende Brände oder Kohlen mit einer Ahle oder einem Messer
aus der Gluth zu nehmen^). Die Stämme an der Hudsonsbai,
berichtet Charlevoix ^), erweisen den Bären grosse Ehrfurcht.
Haben sie ein solches Thier getödtet, so wird sein Kopf unter
Feierlichkeiten bemalt und dem Erlegten durch Absingen von
Lobliedern . gehuldigt. In ganz Sibirien finden wir die Verehrung
des Bären so bei den Giljaken am Amur 7), bei den Aino*), bei
i) Adolf Erman, Reise um die Erde. Berlin 1833. Bd. i. S. 675.
2) Ahlquist, 1. c. p. 109.
3) Tylor, Urgeschichte. S. 443.
4) Stell er, Kamtschatka. S. 274.
5) Tylor, Urgeschichte. S. 354.
6) Nouvelle France, tom. III, p. 300.
7) Petermann's Geograph, Mittheilungen. 1857. S. 305.
8) Fr. Müller, Allgemeine Ethnographie. S. 195.
28»
436 Dio amerikanische Urbevölkerung.
den Jenissei - Ostjaken '), endlich bei den echten Ostjaken, die
sein Fell an einen Baum hängen, ihm 'alle erdenklichen Huldig-
ungen erweisen und das Thier um Verzeihung bitten, dass sie es
getödtet haben. Auch schwören sie beim Bären ihre Eide'),
Wollte man auch diese Ue berein Stimmung nur einem alten Verkehr
zuschreiben, so wäre es doch im höchsten Grade bedenklich, dass
durch einen aolchen Verkehr sich nicht auch nützliche Erfindungen
verbreitet hätten, wie die Anfertigung des Thongeschirres, während
doch die llelmen Kamtschatkas, die Altuten und die Koluschen,
theilweise auch noch die Assiniboin zur Zeit der ersten euro-
päischen Besuche nur mit Steinen kochten^).
Dass der amerikanische Mensch seinen körperlichen Merk-
malen zufolge einer einzifjen Race angehöre, darüber hat sich
glücklicherweise kein Streit erhoben, doch lassen sich bei den Be-
wohnern beider Festlandshälften auch manche Gemeinsamkeiten
in den geistigen FamQienzügen nachweisen. Der Ue berein Stimmung
der nord amerikanischen Medicinraänner mit den brasilianischen
Schamanen wurde bereits gedacht'). Die merkwürdigen Masken-
spiele denen Spix und Martius, sowie neuerdings Bates bei den
Tecunastämmen am Amazonas beigewohnt haben ^), trafen wir
schon bei den Koluschen*), sie finden sich wieder bei den Aht
der Vancouverinsel') und bei den Moqui Indianern der „sieben
DBrfer"8), Geschlechtlichen Verirrungen hassens würdiger Art, näm-
lich verbunden mit dem Auftreten von Männern in Frauen kl ei düng,
begegnete Hr. v. Martins bei den Guaycuru in den Laplata-
staaten ^), die ersten spanischen Entdecker bei den Volke rschaflet»
1) Caslrfn, EthnotogiscliG Vorlesungen. 5, SS.
2) Pallas, Voj-apes tom. IV, p. 75. p. 85. A. Erman, (Rei-
Erde. Berlin 1833. Bd. i. S. 5;o.l berichtet gani AcbnlJches.
i) S. oben S. 171.
4] S. oben S. 275.
5) Martius, Ethnographie. Bd. i. S. 445. Bates. Am Ama/oi
Leipzig [866. S. 409.
6) S. oben S. 427.
71 Whymper, A]i.ska, p. 58.
8) Waili. Anthropologie, Bd. 4. S. 208.
, 9) Eihnogrophie, B.l. i. S. 75.
Die amerikanische Urbevölkerung. ^yj
auf der Landenge von Darien*) und Cabeza de Vaca*) bei den
Stämmen in Louisiana und Texas, wobei übrigens wieder zu er-
innern ist, dass wir auf diese Laster bei allen Beringsvölkern,
selbst bei den Tschuktschen an dem sibirischen Eismeere, genau
in der nämlichen Art gestossen sind 3). Auch unter den Jäger-
stämmen der Vereinigten Staaten kommen Beispiele von Männern
in Frauenkleidung vor und zwar sehr merkwürdiger Weise bei den
alten lllmois, die nach ihren Ueberlieferungen von Westen her
in ihre späteren Sitze eingewandert sein wollen^). Zu den Eigen-
thümlichkeiten der Indianer gehören die vorschriftlichen Anreden
der Völker untereinander, wie sich die Delawaren von ihren Nach-
barn durch Verträge den Titel Grossväter hatten zusichern lassen
und die Irokesen den besiegten Huronen die Bedingung auferlegten,
künftig als jüngere Brüder angesprochen zu werden 5), In Brasilien
begegnen wir den näjnlichen Bräuchen, denn auch dort reden sich
die Horden als Grossväter oder als Oheime an. Bei den
Mexicanern und den Bewohnern der Antillen kommen Sagen vor,
dass die belebten Geschöpfe aus Höhlen hervorgegangen seien
und die nämliche Rolle spielen die Höhlen wieder in den Schöpf-
ungssagen der Tehueltschen^). Diese Beispiele würden schon ge-
nügen um eine Geistesverwandtschaft zwischen den Bewohnern
der beiden Festlande nachzuweisen, ausserdem aber haben wir
noch die Aehnlichkeit im Bau der Sprachen, die auf eine gemein-
same Abstammung hindeutet.
Es sei ims nun verstattet zunächst einen Blick auf die Erd-
räume zu werfen, welche die Amerikaner inne haben. Wenn
die Bewohner der alten Welt zu einer viel grösseren Beherrschung
der Natur gelangt waren, als die Bewohner der neuen zur Zeit
wo beide in Berührung traten, so schrieb man dies bisher aus-
i) Gomara, Hist. de las Indias, cap. 68. Petrus Martyr, De orbe
novo. Dec. III, cap. i.
2) Ramusio, Navigation! et Viaggi. Venetia i6o6. tom. III. fol. 270.
verso.
3) S. oben S. 424. not. 5. S. 427.
4) Charlevoix, Nouvelle France, tom. III, p. 303.
5) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. S. 22.
6) Musters, Unter den Patagoniern. Jena 1873. S. 99.
.^8 Die amerikanische Urbevölkerung.
schliesslich der sichtbar reicheren Gliederung und der mannigfal-
tigen Individualisirung des Abendlandes zu. Diese Begünstigung
war jedoch nur auf zwei Räume der alten Welt beschränkt, näm-
lich auf Europa sammt den asiatischen und afrikanischen Mittel-
meergesladen und auf den Südosten, da wo sich Asien und Australien
durch Halbinseln und Inselketten zu nähern suchen, ohne dass
diese letzteren Räume jemals eine besonders hervorleuchtende Ge-
sittung beglückt hätte. Man darf sich sogar bedenken ob nicht,
als Ganze verglichen, die neue Weit günstiger gegliedert erscheine
als die alte. An Zierlichkeit der Umrisse und an anmuthiger
Schlankheit erweckt der Anblick des Landes auf der sogenannten
westlichen Halbkugel eine viel grössere ästhetische Befriedigung
als die etwas unbehilflichen Ländermassen der alten Welt. Wenn
wir aber auch in dem senkrechten Bau und der wagerechten
Gliederung Euiopa's einen genügenden Aufschluss finden wesshalb
die abendländische Gesittung so beträchtlich alles überragte was
sich in Amerika, an Cultur im Jahre 1492 vorfand, so passt diese
Erklärung gar nicht zu der Thatsache dass auch eine fast ebenso
beträchtliche Ueberlegenheit in China sich entwickeln konnte, wo
die Vortheile einer glücklichen Gliederung nicht vorhanden waren
oder erst zur Geltung kamen als die dortige Cultur längst schon
höher stand als etwa die Gesittung im mexicanischen Anähuac oder
im Reiche der peruanischen Inca.
Es müssen daher den verschiedenen Gebieten der alten Welt
andere Vorzüge gemeinsam sein, weiche die Erziehung der Menschen
weit mächtiger förderten als diess in den beiden Amerika der Fall
gewesen ist. Befremden muss es aber wohl jeden dass noch nie-
mand die Ursache der Ueberlegenheit darin gesucht und gefunden
hat worin sie doch am sichtbarsten vor uns Hegt, nämlich in der
grösseren Geräumigkeit. Asien allein ist ein wehig grösser als die
neue Welt, und da Europa und Afrika zusammen fast so gross
sind als Asien, so folgt daraus, dass die neue haln so geräumig
ist als die alte Welt. Um die Werthe genauer übersehen zu lassen,
benützen wir die Ziffern in E. Behms geographischem Jahrbuche").
Dort finden wir für die:
Die arocrikanische Urbevölkerung. 42g
Alte Welt: Neue Welt:
Europa 178,150 Q. M. Nord-Amerika 416,450 Q. M.
Afrika 543.570 „ Süd-Amerika 327,369 „
Zusammen 721,720 Q. M. Zusammen 743,819 Q. M.
Asien 814,995 Q. M.
Zusammen 1,536,7 15 Q. M.
Indem wir vorläufig noch die Augen schliessen in welchem
Sinne der doppelt grössere Raum der alten Welt anders als in
der neuen vertheilt sei, wollen wir uns zuvor über die nächsten
Folgen der grösseren Geräumigkeit klar werden. Vor allen Dingen
dürfen wir vermuthen dass aflf dem doppelt grösseren Raum die
doppelt grössere Anzahl von Pflanzenarten und von Thierarten
vorhanden sein möge. Bei dem gegenwärtigen unfertigen Zustand
der botanischen Statistik musste leider ihr bester Kenner, der
jüngere Decandolle, ausdrücklich erklären dass sich jetzt noch
nicht die Zahl der Gewächsarten in der alten und in der neuen
Welt vergleichen liesse, doch hätten die Botaniker das berech-
tigte Vorgefühl, als ob sich" schliesslich ergeben werde, dass
Amerika wegen der vorherrschenden Richtung seiner Gebirge von
Nord nach Süd im Verglei-ch zu seiner Grösse etwas reicher
an Pflanzenarten sein möchte als die alte Welt. Dieses Vorgefühl
würde uns also auf die Erkenntniss vorbereiten dass Amerika, ob-
gleich um die Hälfte an Raum kleiner, doch nicht um die Hälfte
an Pflanzenarten ärmer sei als die alte Welt. Immerhin aber
bleibt die alte Welt reicher.
Ist aber diese reicher an wilden Arten, so wird sie wohl,
schliessen wir weiter, auch reicher sein an Culturgewächsen. Bis-
weilen hört man behaupten die neue Welt habe an bezähmten
Pflanzen und Thieren der alten nichts zugeführt als den Mais,
die Kartoffel, den Truthahn, das Meerschweinchen und die Moschus-
ente. Wir werden uns jedoch rasch überzeugen, dass die Armuth
der neuen Welt nicht so gross sei als man sie darzustellen liebt.
Wenn wir uns nämlich nur an die wichtigsten Culturpflanzen
halten, so fallen auf
die Alte Welt.
die Neue Welt.
Mehl-Hülsenfrüchte u. a.
Weizen
Mais
Roggen
Mandiocca
Gerste
Kartoffel
Hafer
Chenopodium Quinoa
440
Die amerikanische Urbevölkerung.
die Alte Welt : die Neue Welt :
Hirse
Batate
Buchweizen
Negerhirse
Reis
Linsen
Erbsen
Wicken
Mezquitebaum.
Bohnen
Igname
Banane
Igname (?)
Banane (?)
Obstsorten der gemässigten Zone.
Rebstock
Catawbatraube
Aepfel
Birnen
Pflaumen
Kirschen
Aprikosen
Pfirsiche
'Orangenarten
Feigen
Datteln.
•
Pflanzen mit Faserstoff.
Baumwolle
Baumwolle
Flachs
Agave americana
Hanf
Maulbeerbaum
mit dem Seidenwurm.
Gewürze.
Pfeffer
Vanille
Ingwer
Zimmet
Span. Pfeffer {Capsicum annuum)
Muscatnuss
Gewürznelken
Zuckerrohr.
Narcotische Genussmittel.
Thee Paraguaythee
Kaffee Cacao
Mohn (Opium) Tabak
Hanf (Hadschisch) Coca;
Auf beiden Seiten ist die Liste lückenhaft, allein wenn wir
auch das minder wichtige aufzuzählen fortfahren wollten, so würde
sich doch immer wieder der nämliche Eindruck erneuern, nämlich
dass die alte Welt der menschlichen Gesellschaft durch ihre
Culturgewächse weit mehr Dienste geleistet hat als die neue.
Die amerikanische Urbevölkerung. 441
Obendrein haben wir die Igname der neuen Welt ebenfalls gut
geschrieben, obgleich wahrscheinlicher Hinterindien ihr Vaterland
ist, und ebenso gönnten wir ihr die wichtige Banane, weil es
immer noch Botaniker gibt die sich nicht von der Ansicht trennen
können als sei wenigstens eine Abart, die sie als Musa paradisiaca
unterscheiden wollen, ein Geschöpf der neuen Welt. Wir haben
aus Schonung für den Leser die tropischen Obstsorten der alten
und der neuen Welt nicht verglichen und überlassen es andern
ZM entscheiden, ob durch ihren gegenseitigen Austausch die neue
oder die alte Welt mehr gewonnen habe. Wenn wir dagegen in
unsern Obstrevieren uns umschauen, begegnen wir nicht einem
einzigen Geschenk Amerika's. Diess beweist jedoch keineswegs
dass die neue Welt in dieser Beziehung kümmerlicher von der
Natur ausgestattet sein sollte als die Östlichen Festlande, denn
alle unsere Obstbäume sind in ihrer jetzigen Gestalt Gewerbs-
erzeugnisse, die durch lange Pflege, sorgfaltige Zuchtwahl und
künstliche Vermehrung veredelt worden sind. Wer wollte also-
verneinen, dass sich nicht auch im gemässigten Amerika Bäume
und Gesträucher finden möchten, aus deren unschmackhaften
wilden Früchten durch geduldige Zucht sich ein geniessbares Obst
erziehen Hesse?
Bei einjährigen Pflanzen die sich durch Samen vermehren,
ist aber die menschliche Cultur meistens machtlos gewesen. Zu
ihnen gehören unsere Getreide-Arten, von denen wir eine ganze
Reihe besitzen, während Amerika allein nur den Mais hervor-
gebracht hat Da sie nach ihren gemeinsamen Familienzügen zu
den Gräsern gehören, so ist es nicht unwichtig, dass nach Decan-
doUe's statistischen Musterungen die alte Welt, vorzüglich Asien,
an Gramineen vergleichsweise reicher ist als die neue, denn wäh-
rend sie dort in den einzelnen Pflanzengebieten selten 10 Procent,
gewöhnlich nur 9, ja bisweilen nur 7 Procent aller blühenden
Arten umfassen, erheben sie sich in den östlichen Festlanden ge-
wöhnlich zu 10, häufig zu 12 Proc. Unter den Grasarten liebt
das Getreide vorzugsweise sonnige Standorte, die neue Welt da-
gegen ist vergleichsweise auf viel grösseren Räumen von Waldland
beschattet als die alte.
Ungleicher noch ist der diesseitige und jenseitige Artenreich-
thum bei den Thieren. Wenn wir in einer Uebersicht nur die
beiderseitigen Haustliiere vereinigen, d. h. Thiere die wirklich ge-
442 I^ic amerikanische Urbevölkerung.
zähmt worden sind, und solche von denen man vermuthen darf^
dass sie hätten gezähmt werden können, so muss die Armuth der
neuen Welt jedem dem sie neu sein sollte, einen tiefen Eindruck
hinterlassen. Es finden sich nämlich in der
Alten Welt: Neuen Welt:
Renthier Renthier
Rinderarten Bison
Kamel ) ( Llama
Dromedar ) ( Vicuna
_ , . ( Nabelschwein
Schwem j ,Tr i. •
( Wasserschwein
Elephant Tapir
Hund Stummer Hund
Katze
Schaf
Ziege,
Ross
Esel
Haushuhn
( Truthahn
Hoccoshühner
Gans
Ente Moschusente.
Nicht übersehen sollte man, dass bei obigem Vergleiche von
den Culturtbieren der neuen Welt das Renthier, der Bison, der
Truthahn und die Moschusente ausschliesslich Nordamerika ange-»
hören; ferner dass den Hausthieren der alten Welt durch ihren
vielseitigen wirthschaftlichen Nutzen ein höherer Rang gebührt.
Abgesehen nämlich dass sie alle mehr oder weniger wegen ihres
Fleisches gezüchtet werden, finden sich darunter als Milcherzeuger
das Renthier, das Kamel, das Ross, die Ziege und das Rind. Wir
könnten selbst das Schaf und den Esel noch hinzufügen, wenn
nicht bei ihnen die Milch nur einen Nebengewinn gewährte. Mit
WoUthieren ist Amerika durch seine Llama -Arten gut versorgt;
wir haben jedoch das Schaf, die Ziege, das Kamel, das Dromedar.
Von Last- und Arbeitsthieren besass die neue Welt nur das Llama
sowie das Renthier und den Bison , wenn die beiden letztern be-
zähmt worden wären, wir dagegen ausser dem Rind und dem
Renthier die Kamele, den Esel, das Ross und den Elephanten,
vom Hund zu schweigen, den die Eskimo wenigstens als Zugthier
benutzt haben. Der Mangel an Zugthieren bedeutet aber dieAb*
Wesenheit des Pfluges, des Schlittens und des Wagens. Da nun
Die amerikanische Urbevölkerung. aax
alle oben aufgezählten Thiere nicht den Wald, sondern Grasfluren
bis an und in die Wüste bewohnen, und wir die neue Welt vor-
zugsweise als ein Wald- und die alte vorzugsweise als ein Steppen-
land kennen gelernt haben, so ist auch erklärlich, warum ein
grösserer Artenieichthum an grasfressenden Säugethieren bei uns
sich finden konnte, unter denen das scharfe, nach seinem Vortheil
spähende Auge des Menschen bald diejenigen auswählte, die ihn
nähren, kleiden, seine Lasten tragen oder seine Arbeiten verrich-
ten konnten.
Allen denjenigen die sich seit Zimmermann mit der Ortskunde
der Thiere beschäftigt haben, ist es aufgefallen, dass die alte Welt
an grossen und an kräftigen Gestalten unter den Säugethieren
viel reicher sei als Amerika. Das grösste Thier Südamerika's ist
der Tapir, das gewaltigste des nördlichen Festlandes der graue
Bär. Es fehlen daher der neuen Welt unsere grossen Thierge-
stalten, der Elephant, das Nashorn, das Nilpferd, die Giraffe, das
Kamel. Nicht minder bezeichnend ist es aber wie sich andere
Thiere gegenüberstehen, nämlich in der
Alten Welt: Neuen Welt:
Löwe Puma
Tiger Unze
Krokodil Alligator •
Katarrhine Aflfen, darunter menschen- platyrrhine Affen mit Roll- und
ähnliche nngeschwänzte Greifschwänzen.
Neben unserm Löwen würde der feige Puma wie eine Jam-
mergestalt erscheinen. Wie hätten auch so kleine Festlande als
Nord- oder Südamerika sind einen so fürstlichen Waidmann her-
vorbringen können? Wenn unser Dichter den Löwen einen Wüsten-
könig nennt, so hat er uns zu einem glücklichen Worte geholfen.
Dem Monarchen gebührt aber auch ein königliches Revier, welches
selbst jetzt noch, vielfach geschmälert, durch ganz Afrika und
Vorderasien reicht, ehemals aber auch europäische Gebiete mit
einschloss. Ebenso hat der Tiger, oder der Königstiger, wie man
die schauerlich schöne Thiergestalt mit Recht nennt, einen halben
Welttheil zum Revier, denn vom kaspischen Meer streift er bis
an den Amur, wo die Russen bei ihrem Vordringen im vorletzten
Jahrzehnt wahrnahmen, dass sein Gebiet bis an und theilweise
über die Grenzen der Pelzthiere reiche, südwärts aber ist er bis
zur äussersten Spitze Asiens in der Halbinsel Malaka vorgedrungen,
AAA ^ie amerikanische Urbevölkerung.
ja er durchschwimmt sogar einen Meeresarm um auf der Insel
Singapur alljährlich Hunderte von Menschen zu morden. Was
ihm die neue Welt entgegenzusetzen vermag, ist die kleinere,
blutgierige, aber viel minder beherzte Unze, die nur aus Noth-
wehr den Menschen anzugreifen pflegt.
, Auch sind diese Gegensätze schon längst erkannt und klar
in dem Satze ausgesprochen worden, dass die neue Welt dem
Pflanzen-, die alte dem Thierleben günstiger sei. Der Hochwald
der gemässigten Zone wie der tropische sogenannte Urwald
schliessen die Entwicklung einer reichen Fauna aus, oder ver-
statten nur eine solche die sich zum KUettern oder zum Leben
in den Wipfeln entschliesst. In den dichten Forsten am West-
abhang der Felsengebirge herrscht nach Viscount Miltons Schil-
derung eine tiefe Stille, die nie ein Thierlaut unterbricht. Umge-
kehrt finden wir auf den Grasländern, besonders dort wo der
Wald nur inselartig noch auftritt oder sich parkartig lichtet, wie
auf den Prairien Nordamerika*s, die grossen Bisonheerden, in Afrika
Geschwader von Antilopen und Gazellen. Der grössere Reich-
thum an Steppen in der alten Welt würde uns nun wohl erklären
dass das Thierreich auf der östlichen Erdveste an Zahl der Arten
und der Einzelwesen das amerikanische übertreffe, noch nicht aber
dass auch die grössten, die stärksten und die klügsten Thierarten
sich bei uns zusammengefunden haben. Und doch ist auch hier
wiederum die grössere Geräumigkeit die entscheidende Ursache
insofern sie einen lebhafteren Kampf um das ^Dasein zur Folge
hat. Dieser Kampf sollte uns aber nicht sowohl als ein noth-
wendiges Uebel, sondern weit eher als ein nothwendiger Segen
erscheinen, weil er es ist der die Geschöpfe stählt und schwäch-
lich gewordene Individuen oder Arten zwingt den Schauplatz für
bessere Erscheinungen zu räumen, dass er überhaupt genau das
in der Natur vertritt, was wir innerhalb der bürgerlichen Gesell-
schaft den freien Mitbewerb nennen, der dem vorwärts Drängenden
alle Glücksgüter zuwirft, den Zurückbleibenden ohne Mitleid unter-
drückt. Für unsere Aufgabe jedoch ist es eine besonders wichtige
Wahrnehmung, dass auf kleinen abgeschlossenen Räumen, wie es
die Inseln sind, der Kampf um das Dasein bald erlischt und das
Gleichgewicht sich so^lange ungestört erhält bis ein neuer Streiter
auf dem Walplatz erscheint. Wir dürfen diesen Satz auch so
ausdrücken, dass die Heftigkeit des Kampfes um das Dasein mit
Die amerikanische Urbevölkerung. 445
der Grösse der Räume wachse, dass er also auch viel nachdrück-
licher auf der alten wie auf der neuen Welt geführt worden sei,
dass eben als eine Folge dieses fortgesetzten Vorwärtsdrängens
und einer rascheren Modernisirung der organischen Gestalten die
grössten, stärksten und klügsten Geschöpfe in der alten Welt sich
finden mussten. Dass auf einem grösseren Räume seltener und
nur auf kurze Zeit ein Stillstand des Kampfes eintreten kann,
lässt sich leicht einsehen. Lange vor Charles Darwin hatte Leop.
V. Buch') schon bemerkt: „Die Einzelnwesen der Arten auf Fest-
landen breiten sich aus und bilden mit der wachsenden Entfernung
und der Aenderung des Standortes Abarten welche in den grossen
Abstand den sie gewonnen haben, nicht mehr mit den andern Ab-
arten gekreuzt und zu dem Hauptypus zurückgeführt, endlich zu
dauernden Eigenarten werden, die auf andern Wegen vielleicht
neuerdings wieder andern ebenfalls veränderten Abarten begeg-
nen, beide als sehr verschiedene und nicht mehr sich mischende
Arten. . . . Nicht so auf Inseln."
Wenn also auf einem grösseren Länderraum der Kampf um
das Dasein heftiger entbrennt, weil jeder Abart rasch eine andere
auf der Ferse folgt, so besitzen wir darin die einfachste Erklärung
weshalb die Geschöpfe der alten denen der neuen Welt einen Vor-
sprung abgewonnen haben, denn nicht allein dass die Quadrat-
meilenzahl der Ländermassen auf unserer Seite doppelt so gross
ist, muss man auch beachten dass Amerika in zwei völlig getrennte
Schlachtfelder, in zwei Festlande mit gesonderten Naturreichen,
zerfallt, und dass jedes dieser Festlande wiederum mehr von
Norden nach Süden sich ausdehnt, anstatt wie die Ländermassen
in der alten Welt von West nach Ost zu streben. Beim Bau der
neuen Welt herrscht die Neigung möglichst viele Breitengrade in
beiden Halbkugeln zu bedecken, in der alten Welt das Bestreben
möglichst viel Längengrade unter gleichen Polhöhen zu durchlaufen.
Da nun die meisten Arten und Gattungen der beiden Reiche
zwischen Polar- und Aeqöatorialgrenzen (richtiger zwischen isother-
mischen Maximal- und Minimalgrenzen) eingefangen bleiben, so
wird auf der alten Welt jeder Einzelart offenbar ein viel grösserer
Spielraum ^eröffnet als in der neuen. Wie beträchtlich die Ge-
räumigkeit des Kampfplatzes in der alten Welt zunimmt wegen
I) Physikal. Beschreibung der canarischen Inseln. Berlin 1825. Bd. i. S. 133.
725
d.
S-
Meilen.
575
»
450
»
I450
if
l620
n
1690
•1
^^6 I^ie amerikanische Urbevölkerung.
der ostwestlichen Erstreckung der grossen Axe gewahrt man
aus nachstehendem Vergleiche der Grössenverhältnisse unter gleichen
Breiten. Es beträgt die Ausdehnung von West noch Ost:
in Nordamerika
unter 50* n. Br. Parallel der Vancouverinsel und Neu-
fundlands
„ 40* „ Parallel von Philadelphia
I» 30* ,i Parallel von Xew-Orleans
in der alten Welt
„ 50* f, Parallel der Südwestsspitze Englands
„ 40* ,f Parallel von Neapel und Peking
I» 30* » Parallel von Kairo
Wäre es aber begründet dass auf grösseren Räumen der
Kampf um das Dasein mit grösserer Erbitterung geführt werde,
so müssten auch die Sieger auf dem geräumigen Walplatz den
Siegern auf dem engeren Räume überlegen sein. Sollten also
beispielsweise Gewächse der alten Welt heimlich in der neuen
landen, oder sollten sie dort aus der Aufsicht des Menschen, das
heisst aus Gärten ins Freie entspringen, so müssten sie viel rüstiger
die amerikanischen Arten verdrängen als umgekehrt amerikanische
Arten auf der östlichen Erdveste unsere Gewächse; mit andern
Worten: wiide oder verwilderte Gewächse Europa's sollten in
Amerika viel rascher sich verbreiten als amerikanische in Europa
oder überhaupt in der alten Welt. Und wirklich bestätigt auch
die Erfahrung alle Forderungen des Lehrsatzes, haben doch selbst
transatlantische Botaniker Amerika den Garten für europäisches
Unkraut genannt. Von Buenos-Ayres, ihrem Landungsplatze, aus
haben wilde Gewächse Europa's, wie der Schneckenklee, die Marien-
distel, die Kardonen-Artischoke meilenweit die Steppen bekleidet,
und die einheimischen Gräser müssten dort vor unsern Raigras-
arten (Lolium perenne und Z. multiflorunt) sowie vor Hordeum maxi-
mum und Ä pratense zurückweichen. In Nordamerika aber hat
einige Küstenstreifen das kleinblumige Wollkraut und die gemeine
Brunelle siegreich besetzt. Ueberhaupt sind seit 1492 in Amerika
138 Arten aus Europa und 8 aus anderen Welttheilen eingedrungen,
in Europa aus allen Welttheilen nur 38 Gewächse.
Im Stillen wird bereits jeder geneigte Leser auch in der un-
widerstehlichen Ausbreitung der Racen unserer Erdveste über die
neue Welt nur eine Wiederholung des siegreichen Auftretens
unserer sogenannten Unkräuter gefunden haben. Recht lebhaft
Die amerikanische Urbevölkerung. 447
entbrannte der Kampf um das Dasein bei den grossen Wande-
rungen, wie sie sich nur auf der östlichen Erdveste zutragen
konnten. Gewöhnlich werden allerdings die Einbrüche roher Völker-
horden in die Gebiete gesitteter Völker als grosse Drangsale der
Menschheit angesehen. Vielleicht genügt aber ein wenig Nach-
denken zu der Ueberzeugung, dass die meisten, wenn nicht alle,
erspriesslich gewesen sind. Einstweilen erinnern wir nur an die
vorletzte dieser grossartigen Erscheinungen, nämlich an den Ein-
bruch der Mongolen, die sich von ihrer Heimat am Onon und
Kerulün im sibirischen Daurien in unglaublich rascher Zeit bis an
die Donau ergossen, und deren Auftreten für Europa wenn nicht
in gleichem Maasse doch in ähnlichem Sinne günstig wirkte, wie
die plötzliche Ausbreitung der Araber, Wo solche Kämpfe um
das Dasein sich entzünden, wird unser Geschlecht ruckweise einer
höheren Entwickelung näher gebracht, sie mögen endigen wie sie
wollen, denn entweder gelingt es den älteren Culturvölkern , dem
Vordringen der neuen Völkerfluth eine Mauer zu ziehen , und sie
erstarken während der Bewältigung, oder es gilt, wenn sie aus
Schwäche unterliegen, die Regel, dass der Verdrängende rüstiger
gewesen sein müsse, als der Verdrängte. Stürzt selbst eine edle
Cultur in Trümmer, werden ihre Herrlichkeiten vom Erdreich
bedeckt, und geht zuletzt der Pflug über das verschüttete Mosaik-
getäfel, eins hatte jedenfalls der siegreiche Barbar vor dem be-
drängten Römer voraus, nämlich seine Jugend und die Anwartschaft
auf eine höhere Zukunft*).
a. Die Jägerstäinme im nördlichen Festlande.
Da alle Eingebornen Amerika's einen einzigen Stamm inner-
halb der , mongolischen Race bilden , so geschieht es nur zur
besseren Uebersicht, wenn die Bewohner der nördlichen von der
südlichen Hälfte getrennt werden und wiederum eine Scheidung
in sogenannte Jägerstämme 'und CulturvÖlker eintritt. Innerhalb
dieser Gruppen kann nur nach der Sprache eine letzte Theilung
vollzogen werden. Von vornherein müssen wir aber auf eine
grosse Anzahl von Sprachen gefasst sein, denn die Jagd bedingte
an sich eine weite Ausbreitung in kleine Horden, die mit ihrer
Absonderung und Zerstreuung, wie dies schon gezeigt wurde').
1) Das obige von S. 337 — 347 wurde abgedruckt aus dem Ausland. 1867. S. 937.
2) S. oben S. 107.
aaR Die amerikanische Urbevölkerung.
erst mundartlich, dann bis zur völligen Unähnlichkeit ihre Sprache
umgestalteten. Doch bedurfte es nur ernster Forschungen, um
wiederum für eine Mehrzahl von Sprachen eine gemeinsame Her-
kunft zu ermitteln. Dies ist bis jetzt in Nordamerika besonders
durch die Arbeiten Buschmann's gelungen, auf welche Waitz seine
Eintheüung gründete, die wiederum auf einer Karte von Otto
Deutsch dargestellt worden ist. Wir brauchen uns daher nicht
mehr mit einer Aufzählung todter Namen zu belästigen, sondern
es wird genügen, die grossen Gruppen anzugeben.
Begrenzt von den Eskimo und den anderen Beringsvölkern
der Nordwestküste, stossen wir zunächst auf die Gruppe der Kenai
und Athabasken, die trotz ihrer starken Entfremdung immer noch eine
ehemalige Sprachverwandtschaft verrathen. Die Kenai, unter denen
die Yellow-Knife oder die Ahtna-Horde^) am besten bekannt ist,
wohnen hauptsächlich am Yukonstrome. Die Athabasken dagegen
sitzen östlich von ihnen und erfüllen den Raum zwischen der
Hudsonsbai und den Felsengebirgen, soweit etwa die britischen
Grenzen reichen. Bekanntere Horden sind die Tschepewyan-
(verschieden von den Odschibwä), die Kupferminen-, Hundsrippen-
und Biberindianer. Aus ihrer Urheimat im Norden haben sich
ausserdem durch Wanderungen bis nach Oregon nahe der Meeres-
küste die TIatskanai, Umpkwa und Hupah verloren. Noch weiter
nach Süden, östlich vom Colorado, in das Hochland Neu-Mexico*s
wanderten die athabaskischen Navajos, ja selbst die gefürchteten
Apatschen, die vom westlichen Colorado bis nach den mexicanischen
Provinzen Chihuahua und Coahuila streifen, gehören noch zu dieser
Gruppe. Endlich entdecken wir nördlich von der Mündung, des
Rio grande del Norte eine Athabaskenhorde , die Lipani, so dass
also das Verbreitungsgebiet dieser Völkerstämme jenseits des
Polarkreises beginnt und bis an den mexicanischen Golf reicht.
Von den Felsengebirgen angefangen, im Quellengebiete des
Missouri bis zum atlantischen Meere, besonders aber in den nörd-
lichen Staaten der Union vom Mississippi gegen Osten sitzen oder
sassen vielmehr zur Zeit der Entdeckung die Algonkinen. Der
I) Eigentlich Ah-tend; tend oder tinneh bedeutet nämlich „Leute", und
mit diesem Suffix werden die Hordennamen stets bekleidet, daher die Kenai-
besser Tendstämme genannt würden. W. Dali, Alaska and its resources.
Boston 1870. p. 428.
Die amerikanische Urbevölkerung. aaq
äus^erste Westen ihres Verbreitungsgebietes wird von den Schwarz-
Füssen eingenommen, die Gestade um den obern See von den
Odschibwäern, die Räume südlich und westlich von der Hudsonsbay
von den Knistino oder Kri. Oestlich vom Mississippi gehörten zu
den Algonkinen die Leni Lenape, die den Fünfvölkerbund der
Delawaren bildeten, der auch die Mohikaner einschloss. Ihrer
Sprache verdankt die Länderkunde unter andern Namen, wie
Massachusetts, Connecticut, Alleghany, Savannah, Mississippi.
Andere bekannte algonkinische Horden sind die Susquehannoc,
Pamptico, Schawano oder Schawnie, Illinois, Sank, Musquakkie
oder Füchse, Menomennie oder Wildreisleute.
Inselartig wurde von den Algonkinen eine dritte Gruppe, die •
Irokesen Canada's, eingeschlossen. Um das Jahr 1700 bildeten
die Horden der Senekä, Cayuga, Onondago^ Oneida und Mohawk
den Fünfvölkerbund, dem 1712 als sechstes Glied die Tuscarora
■
beitraten. Die Huronen oder Wyandot, die sprachlich ihnen ver-
schwistert waren, lebten gleichwohl mit dem Irokesenvölkerbunde
beständig im Kriege. Früher genossen sie von den geschwisterlichen
Horden die Ehrenbezeichnung „Väter", besiegt aber mussten sie
einwilligen, die anderen Irokesen als „ältere Brüder** anzureden.
Die Irokesen gestanden auch den Delawaren, die von den übrigen
Stämmen al^ Grossväter begrüsst wurden, durch einen Vertrag
vom Jahre 1591 nur den Titel Onkel zu.
Die vierte Gruppe bilden die Dacota oder die „sieben Rath«
feuer", besser gekannt mit ihrem Spottnamen Sioux. Sie be-
wohnen auf dem Gebiete der Vereinigten Staaten die Grasfluren
zwischen den Felsengebirgen und dem Mississippi, bis südwärts an
den Arkansas. Zu ihnen gehören die Assiniboin, die Winebago
oder Winipeg, die Eiowä (Jowa), Omaha, Osagen, Kansas, Arkansas,
Menitärri, die Krähen oder Upsaroka, endlich die Mandaner.
Vereinzelt - stehen die Pawnie und Riccara in und an den
Felsengebirgen zwischen den Oberläufen des nördlichen Platte und
Arkansas. Im Südosten der Vereinigten Staaten waren die Tschocta
und Tschikasa der Sprache nach verwandt den Muskogie oder
dem Bunde der Krikstämme, zu dem die edlen Seminolen, deren
Name Flüchtlinge bedeutet, ehemals als ältestes Glied gehörten.
Süd- und Nordcarolina wiederum wurden früher von den Tscheroki-
stämmen bewohnt, die ihrer Sprache nach ganz einsam stehen«
Ebenso haben sich die ehemaligen Bewohner von Texas weder zu
Pfsckel, Völkerkunde. 29
45'"J
Die amerikanisclie Urbevölkcnin;;.
tintr gemeinsamen Gruppe vereinigen, noch andern Gruppen an-
schliessen lassen. Dort finden wir die Keiowäh, die Paduca, die
r'aildo oder Cadodaquiu, zu denen die Tejas oder Texas ge-
]i>',ri-.'n, endäch die merkwürdigen Natchei; am untern Mississippi.
b. Die Jägerstämme in Südamerika,
Höhere Gesittungen dürfen wir im südlichen FesÜande nur auf
uml a:i den Anden suchen. ]n Brasilien, den Guyanagebieten und
in \cnezuela sitzen dagegen lauter sogenannte J äger stamm e , die
zum Theil noch auf den niedrigsten Stufen der geselligen und
!;u^ügen Entwicklung verharren. Ihre Sprachen sind noch mehr
zirspli^tert als in Nordamerika, doch hat bis jetzt noch kein
Konner ernstlich versucht, in dieses Getümmei einige Ordnung zu
iirin^'ei, Aeltere Sprachenkarten haben den Irrthum genährt, als
hf rräche in ganz Brasilien nur eine einzige, die allgemeine Indianer-
spradie (Imgoa geral) oder das Guarani. Hr. v. Martius zeigte
tla.L;t'sen zuerst, dass diese Sprache der Tupi zwar von Einzelnen
in ji'der brasilianischen Horde verstanden wird, aber nur auf zwei
wr-.i von einander entlegenen Gebieten wirkl:ch herrscht, nämlich
zwi-clien den Nebenflüssen des Amazonas Tapajos und Xingu
iiiiil in der Provinz Chiquitos. Sonst finden wir eine dichtere
'i uiiibevolkerung noch in Paraguay, auf einer Strecke am rechten
1_ "1^ r des mittleren Paran4. Einzelne Tnpihorden wiederum sind
bi,^ zur aüantischen Küste geschwärmt, wie überhaupt nur in we-
lii^rn Provinzen Brasiliens ihre Spuren vermisst werden. Nordlich
viJiii Amazonas fehlen sie dagegen völlig.
Ausserdem vereinigt Martius zu einer Gruppe die Lenguas
oder Zungenindianer, so geheissen, weil sie die Unterlippe durch-
bohren, Sie führen bei den Tupi den Namen Guaycuru oder
."^L-linelUäufer, bewohnen die westlichen Ufer des Paranä und Pa-
raguay und sind durch ihre Rohhe^t berüchtigt Anderen Stämmen
zvi-chen dem Quellengebiete des Paranä und des Madeira gibt
.M.rtlus den Sammelnamen Parexis oder Poragi, .was Oberländer
bi'li'ulet. Das ungeheuere VVassergebiet des TocantJns erfüllen
(iii G';s, auch Cräns, das heisst „Häupter" oder „Söhne" ge-
hi' -seil. Sie unterscheiden sich von den Tupi dadurch, dass sie
iii';ht wie diese in einer Hängematte, sondern stets auf einem
nifilcron Gestell schlafen. Ihnen nahe stehen die Cren oder
Die amerikanische Urbevölkerung. ^^I
Gueren, zwischen Parahiba und Rio das Contas ausgestreut. Crcn
bedeutet wie Cran „die Häupter". Zu den Cren gehören die
Botocuden, die Coroados, Puris und Malalis. Im Innern der Pro-
vinzen Bahia, Pernambuco und Piauhy fasst Martins etliche Indianer-
stämme als Guck- oder Cocohorden zusammen, weil sie sämmtlich
mit diesen Worten den Mutterbruder bezeichnen. Zu ihnen ge-
hören am Amazonas Indianer, die sich Ore Manoas, das heisst
wir die Manoas^ nennen, in Guayana und Venezuela die Macusi
und die Maypures. Hatten wir in Nordamerika doch wenigstens
etliche Völkernamen gefunden, so stossen wir in Brasilien nur auf
Hordennamen, deren Hr. v. Martins allein am Rio Negro nicht
weniger als io6 sammelte. Das Bewusstsein, einem Volke anzu-
gehören , setzt bereits eine höhere gesellschaftliche Entwickelung
und gemeinsame geschichtliche Thaten voraus, die dort fehlen.
Nur wenig bessern sich die Zustände am Amazonas. Dort finden
wir die kriegerischen Mandrucu, als Mischlinge den Tupi verwandt,
die sich durch strenge Mannszucht , durch den Gebrauch von
Trompeten Signalen im Gefechte und einen geordneten Vorposten-
dienst in Kriegszeiten auszeichnen. Am Rio Negro sitzen die
Miranhas, ehemals Menschenfresser, sonst bekannt als Verfertiger
hochgeschätzter Hängematten, von denen jede sechs Wochen Arbeit
kostet. Da wo der Amazonas der peruanischen Grenze sich
nähert, stossen wir auf die Tecuna, deren Maskenspiele uns bereits
wichtig geworden sind, und an der venezuelanischen Grenze auf
die Uapes, deren geräumige Bauten wir gerühmt haben"). In
Guayana durcheinander gestreut wohnen hauptsächlich zwei Völker,
die Arowaken oder „Mehlleute**, so geheissen, weil wir in ihnen
die Erfinder der Tapiocabereitung zu verehren haben, und die
Cariben, missbräuchlich seit dem 17. Jahrhundert Caraiben ge-
nannt, denen die Spanier alles Hassenswürdige zugeschrieben
haben und die wegen ihrer Rohheit verrufen blieben, bis sie seit
A. V. Humboldt's und der Brüder Schomburgk Reiseerfahrungen
als ein unverdorbener Volksstamm voll besserer Regungen erkannt
wurden*).
i) S. oben S. 186.
2) Wie Richard Schomburgk bemerkt, vergiften sie ihre Pfeile
nicht, obgleich auf ihrem Gebiete die Curarepflanze [Strychnos toxi f er a) vor-
kommt. Reisen in Britisch-Guiana. Leipzig 1848. Bd. 2. S. 429.
29*
Aii2 I^ic amerikanische Urbevölkerung.
Das nördliche und südliche Festland von Amerika gleichen
sich in vielen grossen Zügen , von vornherein schon in den Um-
rissen, denn beide sind grosse Dreiecke, mit den -Spitzen nach
Süden gerichtet. Aber auch ihr senkrechter Bau stimmt darin
überein, dass am Westrande vom Stillen Meer aus die Cordilleren
aufsteigen und zwischen ihren Kämmen Hochebenen eingeschaltet
liegen. Als nothwendige Folge dieses gleichförmigen Baues finden
wir östlich von den Abhängen der Felsengebirge und der Cor-
dilleren oder in ihrem „Regenschatten" keinen Wald, sondern
offene Steppen, in Nordamerika Brairien, in, Mittelamerika Savanen,
in Venezuela Llanos, am Silberstrom Pampas geheissen. Erst auf
die Steppen gegen O^ten folgen dann grosse Waldgebiete^ welche
im Norden und Süden die atlantischen Hälften beider Welttheile
bedecken. Auf den Grasebenen im Süden wie im Norden Amerika's
suchen wir vergeblich nach den gesellschaftlichen Erscheinungen,
die in der alten Welt auf den entsprechenden Länderräumen
allenthalben hervorgerufen werden. Wir vermissen dort Völker,
welche die Berberstämme Nordafrika's , die Beduinen Arabiens,
die Türken in Turkistan, die Mongolen in der Gobi, die Lappen
und Samojeden auf den Tundern des hohen Nordens in Amerika
vertreten möchten. Wenn man es sehr häufig als einen Mangel
der amerikanischen Menschheit bezeichnen hört, dass sie die Vieh-
zucht vernachlässigt habe, so ist diese Behauptung ungenau, denn
streng genommen fehlte ihr nur die Milchwirthschaft gänzlich^
Wie Hr. v. Martins*) uns belehrt hat, gibt es in der Tupisprache
oder Lingoa geral Brasiliens für Bezähmung einen eigenen Aus-
druck mit dem Sinne, dass die Thiere zur Ablegung ihrer Wildhei^
gebracht werden sollen. Die meisten Eingebomen Brasiliens zeigen
Freude am Umgang mit Thieren; sie wissen Afien und Papageien
an sich zu fesseln, und rufen unter anderen durch Ernährung mit
Fischen bei grünen Papageien rothe und gelbe Federn hervor"),
auch gleichen ihre Hütten oft einer Menagerie. Culturgeschichtlich
gewinnt jedoch die Thierzucht erst dann eine höhere Bedeutung,
wenn der Mensch vorsorglich durch sie seinen Unterhalt erwirbt
und sich abgewöhnt, von den Gnadengeschenken der Natur aus
der Hand in den Mund zu leben. Am Amazonas könnte die Jagd
i) Ethnographie. Bd. i. S. 672.
2) Charles Darwin, Domestication. tom. II. p. 280.
Die amerikanische Urbevölkerung. 453
auf Schildkröten den Uferbewohnern Nahrung für das ganze Jahr
liefern, allein ihr Fang ist nur auf die trockene Zeit beschränkt,
wo sich die Thiere ans Land begeben. Desshalb besitzt fast jede
Familie neben ihrer Behausung einen geschlossenen Weiher, um
eine Anzahl lebendiger Thiere für die nasse Zeit aufzusparen*),
häusliche Vorkehrungen, welche Orellana, der Entdecker des
Amazonenstromes, bereits bei den Eingebornen *) antraf. Ausser-
dem wurden ehemals und werden noch jetzt Hoccoshühner (Crax) von
vielen brasilianischen Stämmen wegen ihres schmackhaften Fleisches
gezüchtet. An der venezuelani^hen Küste bei den Eingebornen
Curianas sahen die spanischen Seefahrer Hausthiere, die sie als
Kaninchen, Gänse und Tauben bezeichneten 3). Auf den Antillen
wurden der stumme Hund und auf Haiti das Meerschweinchen
als Hausthiere gezogen. Nabelschweine und Tapire gewöhnen
sich sehr leicht an die Nähe des Menschen, wurden und werden
auch noch jetzt bezähmt bei den Brasilianern angetroffen, allein
sie vermehren sich nicht in der Gefangenschaft^).
Dagegen fehlen uns glaubhafte Berichte, dass die Stämme
des nördlichen Festlandes östlich der Felsengebirge, immer mit
Ausnahme der Eskimo, vor der Entdeckung Thiere zum häus-
liehen Nutzen gezüchtet hätten. Gerade Nordamerika war aber
vor dem südlichen Festland durch ein gesellig lebendes Thier
bevorzugt, welches zur Entwickelung eines Hirtenlebens völlig ge-
nügen konnte. Wir meinen den Büffel oder Bison, der mit Aus-
nahme eines ganz kleinen Reviers auf dem westlichen Abhang
der Felsengebirge nicht vorkommt und ebenso gegen Osten vom
Mississippi sich nicht allzu weit entfernt. Jung eingefangen, lässt
sich der Bison zähmen und abrichten und hat auch mit dem
europäischen Rinde eine brauchbare Mischrace geliefert. Wenn
er dennoch von den Eingebornen weder gezüchtet, ja nicht einmal
gehegt worden ist, so hat es offenbar den Rothhäuten an der
Neigung oder an der Geduld zur Thierbezähmung gefehlt. Auch
die einheimische wilde Ente wurde von ihnen nicht, wohl aber
von den europäischen Ansiedlern gezähmt; der Truthahn, in
i) Bat es, Amazons, p. 321.
2) Oviedo, Historia general. Üb. L. cap. 24. tom. IV. p. 553.
3) Gomara, Historia de las Indias. cap. 75.
4) Darwin, Domestication. tom. II, p. 153.
454 ^^® amerikanische Urbevölkerung.
Mexico ein Hausthier, wurde nur wild auf dem Gebiet der Ver-
einigten Staaten angetroffen. Im Norden des Festlandes streift
das Renthier (Caribu), welches in der alten Welt allenthalben, in
der neuen aber von den Canadiern nicht gezähmt worden ist.
Allerdings trifft man bei den Stämmen der Hudsonbaigebiete den
Hund als Hausthier und zur Jagd abgerichtet, doch möchten wir
fast vermuthen, dass die Zähmung dieses Geschöpfes erst nach der
Einwanderung der Eskimo, die .den Hund als Zugthier in ihrer
asiatischen Heimat gekannt hatten, sich verbreitet habe. War
aber bei den Rothhäuten des nördlichen Festlandes die I^eigung
zur Thierzucht ohnehin sehr schwach, so ist nicht leicht denkbar,
was sie hätte in Versuchung führen sollen, den Bison zu zähmen,
da ihnen die Jagd so viel Fleisch und so viel Häute lieferte, als
sie je bedurften. An den Genuss thierischer Milch aber hat kein
Volk in Amerika gedacht. Die Milchwirthschaft gehört überhaupt
einer sehr späten und hohen Entwicklungsstufe des Hirtenlebens
an. Ncch heutigen Tages liefern die grossen Rinderh^erden auf
den Pampas und Llanos nichts als Fleisch und Häute, wie denn
die reichliche Absonderung von Milch bei dem Heerdenvieh erst
in Folge einer langen Bezähmung eintritt. Während in England
eine Kuh täglich 40 Finten Milch liefert^), erhalten die Damara
in Südafrika, also ein Hirtenvolk, höchstens zwei bis drei Finten
von ihren Thieren, und ihre Kühe verweigern sogleich die Milch,
sowie man ihnen das Kalb nimmt ^). Daraus dürfen wir folgern,
dass die Völker, welche zuerst Thiere in Heerden versammelten,
zunächst nur an den Fleischertrag dachten und die Ausbeutung
der Milch erst nach langer Zeit und in Folge kunstvoller Zucht-
wahl eintrat! So finden wir denn in der neuen Welt die Steppen
so gut wie das Waldland nur von Stämmen bewohnt, die Jagd
und Feldbau als Ernährungszweige betrieben.
Baureste mangeln in Südamerika östlich von den Anden
gänzlich, in Nordamerika dagegen bestehen sie in kegelförmigen
Grabhügeln, in runden, oben flachen Erdaufwürfen (mounds) und
in kreisrunden Verschanzungen, zum Theil mit Gräben und ge-
deckten Wegen, Sie siift sehr spärlich in den Neu-England-
i) Darwin, Domestication. tom. II. p. 300.
2) Andersson, Südwestafrika. Bd. 2. S. 54. B a r r o w (South Africa ,
tom. I. p. 315) rechnet zwei Quart Milch auf eine südafrikanische Kuh.
I
Die amerikanisclie Urbevölkerung. acc
Staaten und selten im Westen des Mississippi, erstrecken sich
aber vom Oberlaufe des Missouri und den grossen Seen nach
Süden auf beiden Abhängen der Alleghanies bis nach Florida.
Am allerdichtesten finden sich solche Reste am Ohio. Die Mehr-
zahl der Alterthumskenner schrieb sie früher und schreibt sie
t'.och jetzt einem ausgestorbenen Volke von Hügelbauern fmound"
tuildersj zu, das sie entweder von Mexico nach dem Nordosten
oder vom Nordosten nach Mexico wandern lassen. Wären jene
Baudenkmäler nichts anderes als ein Culturstrahl der nahuatla-
kiachen Gesittung gewesen, so müssten die Verschanzungen immer
häufiger werden, je "mehr man sich dem Hochlande von Andhuac
näherte, aber gerade in Texas verlieren sich ihre Spuren, und
dort wie im mexicanischen Chihuahua sassen auch nach Cabeza
de Vaca's^) Mittheilungen äusserst rohe und halb verhungerte
Stämme, die sich von Fischen, Wurzeln und den Früchten der
Feigendisteln (Opuntia tuna) ernährten. Die Beschreibungen der
Spanier von den verschanzten Ortschaften der Indianer iji den
ehemaligen Sklavenstaaten und das Bild, welches uns Jacques
Cartier*) von der Irokesenstadt Hochelaga, jetzt Montreal in Ca-
nada, entworfen hat, entsprechen genügend den Vorstellungen
von jenen Erdwerken, wie wir sie aus den zahlreichen Grund-
rissen und Querschnitten in Schoolcraft's umfangreichem Werke
über die Alterthümer der Vereinigten Staaten uns bilden können.
Wir theilen deshalb vollständig die Ansicht Samuel F. Haven's^),
der in den Vorfahren der jetzigen Indianer die Urheber jener
Baureste vermuthet und der uns nachgewiesen hat, dass noch
im Jahre 1800 ein Schutthügel fmoundj über der Leiche eines
Omahahäuptlings errichtet wurde, sowie dass am obern Missouri von
Lewis und Clarke eine ganze Reihe frischer Schanzwerke ange-
troffen worden sind. Wohl haben Europäer nicht mehr beobachtet,
dass die rothen Jäger Bauten errichteten, wie den walled lake, eine
künstliche Anspannung von Wasser zu Berieselungszwecken, in
der Grafschaft Wight (Jowa) ^) ; allein Charlevoix 5) unterrichtet
i) Ramusio, Navigationi et viaggi. Venetia 1606. tom. III. fol. 266. verso.
2) Relation originale de Jacques Cartier. (Zweite Reise.) ed. d'Avezac.
Paris 1863. p. 23 sq.
3) Archaeology of the United States, s. 1. 1855. p. 157.
•4) Kapp, Vergleichende Erdkunde. 2. Aufl. S. 615.
5) Nouvelle France, tom. III. p. 335.
r
^^6 * ^ic amerikanische Urbevölkerung.
uns andrerseits, dass die Irokesen vor seiner Zeit viel geräumigere
Wohnungen sich erbauten , also auch sie , wie unzählige andere
halbentwickelte Menschenstämme , nach der Berührung mit Euro-
päern ihre alten Künste vernachlässigten. Die Hügel- und
Schanzenerbauer waren also die Voreltern jener Rothhäute, welche
von den europäischen Ansiedlern verdrängt wurden i sie lebtei
wie diese von der Jagd und mögen in den nämlichen Zustände!
schon vor der Ankunft der Entdecker eine Reihe von Jahr-
hunderten verharrt haben').
Die Jagd ist aber unverträglich mit dem Aufschwung zu
einem erhöhten Culturleben, denn die sittliche Entwickelung der
Völker steht in strenger Abhängigkeit von ihrer Ernährungsweise.
Nur dort finden wir die frühesten und lange Zeit vereinsamten
Lichtpunkte der menschlichen Gesellschaft, wo sich die Bevölkerung
mit Leichtigkeit verdichten konnte, wie am Nil und in China;
denn erst nach Eintritt eines engeren Zusammenrückens der Be-
völkerung vollzieht sich eine Theilung der Arbeit, die bei sehr
vielen Culturanfangen durch eine Abscheidung in Kasten sich
ausgedrückt hat. Die Jagd auf einem Gebiet von gewissem Wild-
reichthum kann dagegen nur eine genau und karg bemessene
Bevölkerung ernähren. Mehrt sich ein Stamm über den Fleisch-
ertrag seiner Reviere hinaus , so werden die Männer theils vom
Mangel, theils vom Bewusstsein ihrer überlegenen Zahl getrieben,
die Jagdgründe ihrer Nachbarn betreten. Die unausbleibliche
Folge sind dann Fehden, wo der stärkere Stamm den schwächeren
entweder aufreibt oder verdrängt, in welchem letzteren Falle dieser
wiederum verdrängen oder ausrotten muss. Starke Jägerstämme
können sich daher wohl ausbreiten, nicht aber sich verdichten.
Ein VVachsthum der Gesittung, wenn es nicht durch Ankunft
der Europäer unterbrochen worden wäre, konnte in Amerika nur
dann stattfinden, wenn die Ernährung durch Feldfrüchte mehr
und mehr die Ernährung durch Jagdbeute ersetzt hätte. So weit
die Polargrenze des Mais in Nordamerika reicht, nämlich bis zum
und über den Lorenzostrom und den grossen Seen, ja nördlich
i) Das Obige wurde bereits veröffentlicht im Ausland. 1868. S. 291.
Wichtig ist es, dass seitdem ein so zuverlässiger Beobachter wie Tylor (Anfinge
der Cultur. Bd. i. S. 57) zu dem nämlichen Ergebniss gelangt ist
Die amerikanische Urbevölkerung. 4^y
von diesen wenigstens auf dem Gebiete der Huronen*), finden
wir auch hoffnungsreiche Anfange von Ackerbau bei den Jäger-
völkern. Gänzlich mangelt der Feldbau nur auf den Hudsons-
baigebieten östlich von den Felsengebirgen bei den meisten At-
habaskenstämmen , die aber auch an Rohheit tief unter den süd-
licher wohnenden Völkern stehen. Die Natur gewährte auch auf dem
Waldgebiete einige frei\villige Nahrungsmittel, nämlich ausser
Beeren und Wurzeln den Wasserreis (Zizania aquatica) an den
canadischen Seen und am obern Mississippi , den Zuckersaft der
Ahornbäume im Frühjahr, endlich die Früchte wilder Pflaumen
und wilder Reben. Mais, Bohnen, Kürbisse und Tabak werden
ausdrücklich von Cartier *) als Ackerfrüchte canadischer Irokesen
bei Montreal erwähnt, und im allgemeinen lässt sich aussprechen,
dass beim Fortschreiten von höheren nach niederen Breiten der
Ackerbau in Nordamerika immer vorwiegender die Bedürfnisse der
Eingebornen deckte. Auf der Stufe aber, wo Ackerbau, Jagd
und Fischfang sich gegenseitig ergänzen, sind die Rothhäute so
lange stehen geblieben, als Zeit verstrichen sein mag von der
Errichtung der ältesten Schanzwerke bis auf die Ankunft der
Europäer. Dass sie noch nicht zum reinen Ackerbau sich erhoben
hatten, darf uns nicht verleiten, ihnen jede Anlage zu höherer
Gesittung abzusprechen. Man übersieht nur allzuhäufig, dass
auch die Jagd die geistigen Kräfte der Völker entwickelt, aber
zugleich aufzehrt. Zur Meisterschaft im Waidmannsgewerbe
gehört eine genaue Kenntniss des Wildes und seiner Sitten. Der
rothe Mann besass die innigste Bekanntschaft mit seinen Jagd-
gründen und ihrem Wildstand, es gelang ihm leicht, auch die
schlauesten Thiere noch zu überlisten , und durch seine scharfen
Beobachtungen, wie durch seine glücklichen Deutungen der kleinsten
Lebenszeichen in der fireien Natur hat er noch immer die sinnes-
stumpfen Kinder der Civilisation in tiefes Erstaunen gesetzt.
Aus unbedeutenden Spuren den Zusammenhang und die Einzeln-
heiten irgendeiner Begebenheit der W^ildniss zu enträthseln, dazu
hat es ihm nie an Scharfsinn gefehlt, aber aller Scharfsinn wurde
auch nur zur Verfolgung eines Wildes oder eines Feindes ver-
1) Rau im Archiv für Anthropologie. Braunschweig 1870. Bd. 4. 8.8.
2) Voyage de Jacques Cartier au Canada en 1534, (Erste Reise.)
ed. Michelant et Ram^. Paris 1867. p. 39.
458 ^ie amerikanische Urbevölkerung.
wendet. Sicherlich sind auch bei jenen Völkern so häufig wie bei
uns Männer von ungewöhnlicher Begabung aufgetreten, allein es
wurden daraus weder Religionsstifter, noch Weltweise, noch Ordner
der Gesellschaft, sondern immer wieder nur gefeierte Jäger, glück-
liche Anführer oder geschätzte Redner bei Volksversammlungen.
Dazu gesellt sich noch, dass die Erbeutung von Wild mit einem
hohen Lebensgenuss verbunden ist, und für die Aufregungen und
Reize der Jagd der Ackerbau keine Entschädigung zu bieten hat.
Suchen wir nun nach dem ursächlichen Zusammenhang zwischen
den Ländergestalten und den Gesittungsstufen, so müssen wir die
Frage lösen, warum wir bei den Bewohnern der Steppen und
Wälder Nordamerika's eine grössere Reife der Gesellschaft wahr-
nehmen, als in Südamerika. Allerdings betrieben auch dort alle
Stämme der Steppen und der Wälder mit äusserst spärlichen Aus-
nahmen, wie etwa die Muras am Amazonenstrom, neben Jagd
und Fischfang auch den Ackerbau. Ihre angebauten Feldfrüchte
waren sogar mannichfaltiger als im Norden, denn zum Mais gesellt
sich noch die Maniocwurzel , die eine sorgfaltige Auspressung des
grftigen Saftes verlangt, ehe sie geniessbar wird. Ausserdem
müssen wir der einheimischen Palmenzucht gedenken. Da nun
die Palmen viel später Früchte tragen, als ein- oder zweijährige
Gewächse, so zeigt ihr Anbau eine Vorsorge für ferne Zeiten
und zugleich einen Verzicht auf das Wanderleben. Obendrein hat
sich ergeben, dass die Pupunhabäume (Guilelma speciosaj auf
einigen Gebieten nur kernlose Früchte trugen, folglich musste
diese Palme schon seit einem hohen Alter unter der Zucht des
Menschen gestanden und die kernlose Spielart nicht anders als
durch Wurzelschösslinge vermehrt worden sein. Wenn also die
südamerikanischen Jägerstämme in Bezug auf den Ackerbau den
Nordamerikanern nicht nachstanden, durch ihre Baum- und Haus-
thierzucht sich sogar über sie erhoben, so blieben sie doch in
andern Leistungen weit hinter jenen zurück.
Die rohesten Stämme der Hudsonsbai-Gebiete stehen immer
noch weit höher, als etwa die Botokuden Brasiliens, die. in der
neuen Welt auf dem niedrigsten Theilstrich der Gesittung haften
geblieben sind. In ganz Südamerika (natürlich immer die Cordilleren-
vülker ausgenommen) war eine, starke oder auch gänzliche Ent-
blössung bald des einen, bald des andern) bald beider Geschlechter
die Regel, in Nordamerika ist sie nur Ausnahme. Auch ist es
Die amerikanische Urbevölkerung. 450
kein Vorzug für die Südamerikaner, dass wir bei ihnen Gespinnste
und Gewebe aus Baumwolle antreffen, denn erstens trugen zu
De Soto's Zeiten die Frauen der Eingebornen Georgiens weisse
Gewänder, verfertigt aus dem Bast Von Maulbeerbäumen*), wie
die Spanier meinten, dann aber war von jeher die dortige Zu-
bereitung des Leders eine meisterhafte und seine Verarbeitung zu
Kleidern, die mit Federn reich geschmückt waren, weiss man
sogar noch jetzt zu schätzen. Auch darin unterscheiden sich die
Nordamerikaner nicht nur von allen Stämmen ihres Gleichen,
sondern von vielen Cülturvölkern , dass sie eine Fussbekleidung,
nämlich ihre Mocassin oder Halbstiefeln, trugen*). Der Gebrauch
von Schneeschuhen dagegen ist vielleicht nicht älter, als das Auf-
treten der Eskimo, die wahrscheinlich zuerst diese Erfindung aus
Asien nach der neuen Welt gebracht haben.
Bei den Jägerstämmen in Südamerika hat man keine Spur
von Bergbau getroffen. Dagegen fanden die ersten Entdecker bei
den Eingebornen der Vereinigten Staaten eine Menge kupferner '
Zienathen und Geräthe. Kupfer wurde östlich vom Mississippi
an verschiedenen Orten gebaut, wie in Alabama^), allein die
wichtigsten Gruben lagen am Erie-See. Einige Alterthumsfreunde
haben etwas vorschnell geschlossen, dass dort ein uraltes Cultur-
volk, völlig verschieden vor den Jägerstämmen der modernen
Zeit, gesessen haben solle. Doch unterschätzte man beständig
die Leistungen der alten Nc damerikaner. Selbst die rohen Atha-
baskenstämme haben auf Kupfer gegraben, denn im i8ten Jahr-
hundert pflegten sie solche Erze nach Fort Churchill, dem äusser-
sten westlichen Posten der Hudsonsbaigesellschaft, zu bringen,
und hauptsächlich um die Lagerstätte dieses Metalls aufzuspüren,
unternahm Samuel Hearne*) 1770 seine Wanderungen, die zur
Entdeckung des Kupfergruben -Flusses und seiner Ausmündung
ins Eismeer führten. Der Eigenthümer der Grubengebiete am
Erie-See war ein Häuptling der Fond du Lac -Horde, und nach
1) Oviedo, Historia general. lib. XVII. cap. 25. tom. I. p. 556.
2) Die Patagonier bedienen sich indessen ebenfalls des Schuhwerkes.
Musters, Unter den Patagoniem. S. 174. Catlin, Rambles. p. 259
3) Herrera, Historia de las Indias occidentoles. Dec. VII. lib. 2.
cap. I.
4) Reise zum Eismeer. Berlin 1797. S. 4. S, 14.
460 I^ie amerikanische Urbevölkerung.
der Zahl seiner Ahnherren, die er namhaft machen konnte, reichte
sein Stammbaum bis zum Anfang des 12 ten Jahrhunderts zurück ').
Ein deutscher Bergmann, der eine der dortigen Gruben-
bauten als Director geleitet hatte , belehrt uns *) , dass die alten
Rothhäute durch Feuersetzen und Besprengen mit Wasser das
Gestein mürbe machten, von den Blöcken des gediegenen Metalls
aber Stücke mit Steinhämmern lösten und ihnen durch Beschneiden
mit Feuersteinmessern und- mit Hammerschlägen ihre Formen
gaben, denn „ein Schmelzverfahren hatten die Alten nicht ge-
kannt". Wenigstens war dies nicht am Obern See nachweisbar,
denn andererseits wird behauptet, dass gelegentlich auch gegossene
Kupfergeräthe entdeckt worden sein sollen-^). Es besteht also
nicht die mindeste Nöthigung, den alten Irokesen, auf deren Ge-
biet die berühmten Kupfergruben lagen, jene bergmännischen
Leistungen abzusprechen und sie mit den Azteken Mexico's in
einen abenteuerlichen Zusammenhang zu verweben. Wohl ist
uns nicht unbekannt, dass Klingen aus Obsidian in Gräbern
östlich vom Mississippi und sogar am Ontario-See gefunden worden
sind, und jenes Mineral dorthin nur aus IMexico gelangt seui
kann. Allein jene Obsidianstücke beweisen so wenig eine Wande-
rung der Azteken, als man aus dem Fund von Münzen mit ku-
fischer Schrift einen Besuch Islands durch die Araber geschlossen
hat. Sind doch selbst zur Renthierzeit schon bei Schussenried
Nephritgegenstände getroffen worden, die aus grosser Entfernung
stammten und uns beweisen, dass der Handel schon damals seine
Hand weit ausstreckte. Wollte man aus dem Funde von Obsidian-
klingen in den Vereinigten Staaten auf innigere Beziehungen mit
aztekischer Cultur schliessen, so Hesse sich mit gleicher Berech-
tigung ein Einfluss der alten Bevölkerung Polens auf die Fran-
zosen der Renthierzeit behaupten, weil man in den Höhlen der
letzteren Hörner der Saiga-Antilope ausgegraben hat"*).
Die Ueberlegenheit der Gesittung bei den Jägerstämmen des
1) Schoolcraft, Indian Tribes. Part. I. fol. 95.
2) Ausland. 1866. S. 424.
3) Doch hat Rau (Archiv für Anthropologie. Braunschweig 1871. Bd. 5.
S. 3 — 7) neuerdings wieder sich verbürgt, dass die alten Bewohner der
Vereinigten Staaten die Kunst des Kupfergusses nicht gekannjt haben.
4) vgl. oben S. 40. S. 217.
Die amerikanische Urbevölkerung. ^51
nördlichen Festlandes im Vergleich zu denen im südlichen zeigt
sich am stärksten durch ihre gesellschaftlichen Gliederungen. Im
Norden ist es den Ethnographen geglückt, durch Sprachenvergleiche
die Stämme zu Völkern zu vereinigen und die Sitze dieser Völker
abzugrenzen. In Brasilien, Guayana und Venezuela lässt sich
eine solche Aufgabe gar nicht streng lösen, weil wir Völkern dort
überhaupt nicht begegnen, sondern nur Banden, und erst künst-
liche Namen geschaffen werden müssen, um sprachverwandte
Horden als Gruppen zu bezeichnen. In Nordamerika dagegen
wohnten in geschlossenen Gebieten die Algonkinvölker, iij die sich
die Irokesen am Westabhange der Alleghany hineingeschoben
haben. Geschichtlich treten solche Völkerschaften bereits zu Con-
föderationen vereinigt auf, die Krieg und Frieden, sowie Staats-
verträge schliessen; ja bisweilen gelingt es, wenn auch nur auf
kurze Zeit, sämmtliche Jägerstämme zu einem grossen Bündniss
gegen die europäischen Bedränger aufzubieten. Auch wurden von
allen Stammen gewisse völkerrechtliche Satzungen beobachtet, wie
z. B. dass ewiger Frieden auf dem geheiligten Gebiet der Brüche
des rothen Pfeifensteines herrschen sollte. Endlich, und dies ist
in unsern Augen das höchste, bemerken wir bei den Nordameri-
kanern Anfange von Gedankenmittheilung durch eine Bilderschrift.
Lesbar waren diese Aufzeichnungen freilich nur für diejenigen,
denen der' Sinn der Bilder und ihre Beziehungen auf eine be-
stimmte Begebenheit bekannt war. Immerhin dienten solche Ur-
kunden zur Auffrischung des Gedächtnisses. Von ähnlichen An-
fangen gewahren wir aber in Südamerika, östlich von den
Cordilleren, nicht das mindeste, und es lässt sich daher nicht be-
streiten, dass die Bewohner des nördlichen Festlandes (abgesehen
von ihren Culturvölkern , für die übrigens das nämliche gilt) eine
weit höhere Gesittung sich errungen hatten, als die Bewohner
Südamerika's. Somit erwächst uns die Aufgabe, zu ermitteln, in
wiefern etwa die Ländergestalt auf die ungleiche Vertheilung der
Gesittung Einfiuss geübt habe.
Darin aber erkennen wir die grösste Bevorzugung Nord-
amerika's, dass es der alten Welt näher liegt als Südamerika, so
dass Pflanzen, Thiere und Menschen, die über die Beringstrasse
wanderten, zunächst im nördlichen Festlande sich ausbreiten
mussten, wenn sie das südliche erreichen sollten. So gut wie die
Eskimo aus Asien in einer späteren Zeit einwanderten und so gut
^.62 ^ie amerikanische Urbevölkerung.
wie nautische Fertigkeiten von Kamtschatka aus über die Aleuten
an der Westküste von Nordamerika sich verbreiteten, ebenso sind
eine Anzahl anderer Erkenntnisse und Erfindungen aus Asien zu
den Stämmen des nördlichen Festlandes gelangt. Im Sinne unserer
Lehre, dass Amerika von Asien aus über die Beringstrasse be-
völkert wurde, erscheint das nördliche Festland als die ältere
Heimath der Amerikaner, von der aus Südamerika gleichsam als
eine neue Welt erst entdeckt werden sollte, und zwar muss dies
so gedacht werden, dass es durch schwächere Horden geschah, die von
stärkern aus der nördlichen Hälfte verdrängt wurden. Auch war
das nördliche Festland, als das früher bewohnte, weit dichter be-
völkert als das südliche.
Im Osten der Anden des südlichen und der Cordilleren des
nördlichen Festlandes haben Wald und Steppe keine sehr merk-
lichen Unterschiede zwischen ihren Bewohnern ausgebildet. Höch-
stens lässt sich behaupten, dass die Dacota oder Sioux der Prai-
rien Nordamerika's , deren Wohnsitze mit dem Verbreitungsgebiet
des Bison fast genau zusammenfallen, viel roher erscheinen als
ihre Nachbarn [östlich vom Mississippi, und ganz deutlich ergibt
sich aus Cabeza de Vaca's Erlebnissen, dass die Urbewohner von
Texas, sowie von Chihuahua, bis zur pacifischen Wasserscheide
ungleich tiefer standen, als selbst die Dacota.
Vergleichen wir aber die gesellschaftliche Entwickelung der
Jägervölker im südlichen und nördlichen Festland unter einander,
so wird auf beiden Gebieten eine Besserung fühlbar, je mehr wir
uns den Ufern der mexicanischen und caribischen Golfe nähern,
oder mit andern Worten: in Südamerika sind die Völker, die
nördlicher wohnen, in Nordamerika die Völker, die südlicher
wohnen, durchschnittlich gesitteter. Die rohesten Stämme Süd-
amerika's , wie die Botocuden, Coroados, Puris, Lenguas, gehören
sämmtlich Südbrasilien an, am Amazonas dagegen stiessen Spix
und Martins auf \vichtige Fortschritte in den gesellschaftlichen Zu-
ständen; ja wenn wir Berichten der ersten Entdecker unter Orellana
volles Vertrauen schenken dürften, war der obere Lauf des grossen
Stromes mit volkreichen Ortschaften besäumt, es waren dort
Tempel und in den Tempeln Götzenbilder, die sich auf Rädern
bewegten, zu sehen. Von solchen Dingen haben spätere Besucher
freilich nichts wahrgenommen , und selbst wenn sie vorhanden
waren, ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass sie Stämmen
Die amerikanische Urbevölkerung. ^^63
angehörten, die aus dem Culturreiche der Inca vertrieben worden
waren. Nördlich vom Amazonas sitzen die sanften Arowaken, bei
denen das Weib bereits im Haus eine würdevolle Stelle einnimmt *)
und deren Priester die Geschichte der Stämme zum Unterricht
der Jugend aufbewahren. Neben und unter ihnen bis zu dem
nach ihnen benannten Golf hatten sich die Cariben ausgebreitet,
die ihre Felder mit Hilfe künstlicher Wasserleitungen benetzten,
ihre Pflanzungen mit Baumwollenschnüren abgrenzten und Märkte
hielten , ' auf denen das Salz die Stelle des Geldes vertrat. So
bessern sich dort beständig in der Richtung, von Süd nach Nord
die äusserlichen Zustände der menschlichen Gesellschaften.
Umgekehrt folgen im nördlichen Festland von Nord nach
Süd auf die rohen Athabaskenstämme der Hudsonsbaigebiete zu-
nächst die ackerbauenden Blgonkinvölker , von denen wiederum
die südlicher sitzenden Irokesen durch ihre Bergbauten am Erie-
See, sowie in Michigan und Indiana durch die sorgsame Anlage
ihrer Felder, von den Archäologen als Gartenbeete (gardenheds)
bezeichnet, sich günstig erheben, auch werden auf ihrem Gebiet
bereits die Spuren verschanzter Dörfer angetroffen , die besonders
dicht und zahlreich am Ohio werden. Gegen Süden hatten die
Irokesen als Nachbarn die sogenannten appalachischen Völker-
schaften , von deren Zuständen wir durch Hernando de Soto's
Freibeuterzug das älteste Gemälde erhalten haben. Bei ihnen
stiessen die Spanier auf Tempel, die etwas besseres gewesen zu
sein scheinen, als die sogenannten „Medicinhütten" der nördlichen
Rothhäute. Ihre Häuptlinge genossen ein weit grösseres Ansehen,
als bei den übrigen Jägerstämmen, und in Süd -Carolina oder
Georgia herrschte sogar eine Frau, mit der die Spanier wie mit
eint; Monarchin verkehrten, ein Umstand, der uns klar beweist,
dass die Häuptlingswürde in den Familien erblich geworden war
und die Frauen bereits nicht mehr zu häuslichen Lastthieren
niedergedrückt wurden. Bei den Seminolen der Halbinsel Florida
fanden die Spanier befestigte Flösse, die als Brücken zur Ueber-
schreitung der Lagunen dienten, und wirkliche Brücken*) werden
im Lande Appalache, also in Georgien oder Süd-Carolina, erwähnt.
i] Richard Schomburgk, Reisen in Britisch Guiana. Leipzig 1848«
Bd. I. S. 227. Bd. 2. S. 514.
2) Herrera, Indias occidentales. Dec. VII. libro I. cap. 12.
464 I^ie amerikanische Urbevölkerung.
Es hat also nichts überraschendes für uns, wenn in Florida auch
Reste alter Strassen entdeckt worden sind , denn wo Brücken an-
getroffen werden , muss schon ein starker Verkehr das LandP
belebt haben.
Weiter westlich am Ohio liegen die Reste alter ringförmiger
Umwallungen der Indianerortschaften oft sehr dicht neben ein-
ander. Etwas übereilt hat man daraus geschlossen, dass ehemals
das Ohiothal sehr stark von Ackerbauern bevölkert gewesen sein
müsste, die vor der Entdeckung durch wilde Jägerstamme vertilgt
worden sein sollten. Doch haben andere Alterthumsforscher zu
bedenken gegeben, wie oft kfndliche Völkerschaften ihre Wohnsitze
theils aus Gespensterfurcht, theils wegen des Ausbruchs einer
Krankheit aufzugeben pflegten^. Wurden also sicherlich alle
bereits aufgefundenen alten Schanzdörfer auch nicht gleichzeitig
bewohnt, so ergibt sich immerhin, dass die heutigen Südstaaten
der nordamerikanischen Union ehemals viel dichter bevölkert
waren, als zur Zeit, wo die europäischen Einwanderer von jenen
Gebieten Besitz ergriffen, nämlich so dicht als die Spanier etwa
um 1540 unter Hernando de Soto das Land bevölkert sahen. Es
gab nämlich damals nicht blos Dörfer, sondern wirkliche Städte.
Die grösste darunter scheint Mavila, das heutige Mobile, gewesen
zu sein. Es war von einer hölzernen mit Lehm beworfenen
Mauer umgürtet und von Thürmen, wahrscheinlich nur Ge-
rüsten mit Brustwehren, geschützt. Innerhalb der Mauer standen
80 grosse Häuser oder vielmehr Casernenbauten , die je 1000
Köpfen Obdach gewährt haben sollen, und von deren flachen
Dächern oder Söllern herab die Spanier mit Geschossen über-
schüttet wurden. Hernando de Soto hatte dort mit seiner Vorhut
ein neunstündiges Gefecht zu bestehen und die Schlacht wurde
erst entschieden, nachdem das Hauptheer, damals noch 600 Streiter
stark, eingetroffen war. Die Berichte der Spanier sprechen von 11,000
Feinden, die durch Schwert und Feuer umkamen, während die
]£roberer 45 Rosse und 83 Soldaten theils sogleich, theils in Folge
der Verwundungen verloren. Wo bereits solche volkreiche Ort-
schaften wie Mavila erwachsen waren, kann von einem Jägerleben
nicht mehr die Rede sein, denn Jägerstämme haben nie Städte
gebaut.
I) P. Gumilla, £1 Orinoco ilustrado. tom. I. p;i4f P- U3>
Die amerikanische Urbevölkeninsr.
*••
4^5
Konnten wir uns also überzeugen, das.s nach den Rändern
des amerikanischen Mittelmeeres, d. h. des mexicanisch-caribischen
Doppelgolfes, zu, die Bevölkerung auf beiden Festlanden sich
verdichtete und dem Jägerleben halb und halb entsagt hatte, so
ist es die Begünstigung des Ackerbaues durch ein milderes Klima,
zugleich mit der Nähe der See, welche jenen wichtigen Ueber-
gang zu höheren Zuständen erleichterte. Wäre daher die An-
kunft der Europäer in der neuen Welt um ein oder zwei Jahr-
tausende verzögert worden, so möchten die Culturvölker Mexico's
und Yucatans mit den appalachischen und caribischen Nationen
in Verkehr getreten sein , und sich vielleicht auch in der neuen
Welt Gesittungen entfaltet haben, die mit denen an unserem
Mittelmeer etwa zu Herodots Zeiten hätten verglichen werden
dürfen.
c. Die Culturvölker Nordamerika's und ihre Stammes-
angehörigen.
Bei dem Ueberblick über die Jägervölker Nordamerika *s
blieben die Stämme Oregons', Californiens, Neu-Mexico's und
Mexico's unberücksichtigt. Eine Aufzählung trockener Namen,
die viel besser auf einer Völkerkarte eingesehen werden, beab-
sichtigen wir auch dieses Mal nicht. Wohl aber müssen wir eines
wichtigen Ergebnisses gedenken, zu welchem Buschmann durch
seine FcJrschungen gelangt ist. Er vereinigte nämlich eine
grosse Anzahl von Sprachen Neu-Mexico's und Nord-Mexico*s zu
einer von ihm sonorisch genannten Familie, Besonders unter-
suchte er die Lautsysteme, die Zahlwörter und die Grammatik des
Tarahumara, Tepeguana, Cora und Cahita'). Alle diese Sprachen
zeigen gemeinsame Familienzüge, alle haben mehr oder weniger
einen Wortschatz aus dem Nahuatl oder dem Altmexicanischen
aufgenommen. Dies gilt auch von der Sprache der Moqui, welche
sechs von den berühmten „sieben Städten" (Dörfern) nordwestlich
von Zuni bewohnen. Sprachverwandt sind der sonorischen Fa-
milie die Utah, Pah Utah, die Digger Californiens jund die Scho-
schonen oder Schlangenindianer, welche letztere vormals, ehe sie
I) Abhandlungen der Berliner Akademie der Wissenschaften; Berlin
1865. S. 369. 1867. S. 23. 1869. S. 66 u. S. 131 ff.
Pesckel^ Völkerkunde. -^
^55 Die amerikanische Urbevölkerung.
von den Schwarzfüssen verdrängt wurden , diesseits der Felsen-
gebirge sassen, jetzt jenseits an dem nach ihnen benannten Snake
River hausen. Fügen wir hinzu , dass in die nämliche Gruppe
die Comantschen gehören , jetzt gefürchtete Räuberstämnie Nord-
Mexico's. Nach Maillard beobachten sie eine Jahrestheilung von 18
Monaten zu 20 Tagen; sie befinden sich also im Besitze des
mexicanischen Calenders. Ob wir in den sonorischen Sprachen,
die übrigens unter sich wieder weit auseinander gehen, die fort-
entwickelten Zweige eines gemeinsamen Stammes, einer nahu-
atlakischen Ursprache, zu erkennen haben, lässt Buschmann noch
unentschieden, aber sicher ist es, dass sie alle Spuren eines
innigen Verkehres mit den Altmexicanern zeigen. Das Nahuatl,
die Sprache der letzteren, trat unvermischt nur in dem und um
das Seengebiet des Hochlandes von Mexico auf. Wie aber die
aztekischen Ortsnamen bezeugen , waren nahuatlakische Sprach-
inseln ausserordentlich weit ausgestreut. Sie ziehen sich in der
Nähe der Südsee durch Guatemala, sie treten auf zugleich mit
alten Tempelruinen mexicanischen Styles in Honduras und reichen
südwärts bis an und in den Nicaragua-See. Sie hören dagegen
gänzlich auf in Costarica. Nach Norden zu sind sie verbreitet
über das heutige mexicanische Reich , jedoch mit Ausnahme von
Cohahuila, Sie treten aber wieder auf in Texas und endigen in
Neucalifornien unter dem 37.® n. Br.'), abgesehen davon, dass
versprengte Namen selbst noch unter den 50. Parallel sich verirrt
haben. Sogleich wollen wir hier bemerken , dass weit binnen-
wärts unter dem 35.° n. Br. beim heutigen Zuni in Neu -Mexico,
Cibola oder das „Land der sieben Gemeinden" gesucht wer-
den muss, das von einem Mönche Fra Marco aiis Nizza
entdeckt, kurz nachher im Jahr 1540 von dem Spanier Fran-
cisco Vasquez de Coronado besucht und beschrieben worden
ist. Er fand dort kleine Ortschaften mit steinernen Häusern,
zwei oder drei Stockwerke hoch, festungsartig ohne Eingang
erbaut, so dass die Söller auf beweglichen hölzernen Sprossen-
leitern erstiegen werden mussten. Die Einwohner bauten Mais
und Bohnen, züchteten Truthühner, kleideten sich in Zeuge, deren
Fäden aus einer andern Pflanzenfaser als Baumwolle gesponnen
waren, und trugen eine Kopfbedeckung genau wie die Azteken
1) Buschmann, Aztekische Ortsnamen. Berlin 1853. S. 11.
Die amerikanische Urbevölkerung. ^5?
in Mexico*). Die nämliche Bauart hat sich noch heute bei den
sogenannten Pueblos-lndianern erhalten und ist zuletzt von Möll-
hausen*; beschrieben und abgebildet worden. Die Sprache der
Pueblos-Indianer steht jedoch in keinem näheren oder entfernteren
Zusammenhang mit dem Nahuatl. Aehnlich wie diese Gebäude
waren wohl die südwärts gelegenen sogenannten Casas grandes
in der Nähe des Gila und in Chihuahua, über deren Bewohner
so viel geschrieben worden ist, weil wir noch nichts von ihnen
wissen. Es sassen also Culturvölker im Norden des heutigen
Mexico bis zum 35. Parallel.
Die theilweise Gemeinschaft des Sprachschatzes der Nahu-
atlaken und der heutigen Schlangenindianer verlockt zu der An-
nahme, dass die ersteren vorzeitlich den Schoschonen geglichen
haben mögen, denn entweder haben sich die Schoschonen nach
ihrer Berührung mit den Nahuatlaken in südlichen Räumen nach
Norden gewendet, oder die Nahuatlaken sassen mit den Scho-
schonen ursprünglich im Norden, bevor sie nach Mexico aus-
wanderten. Für die letztere Annahme spricht wenigstens, dass
wir von einigen nahuatlakischen Stämmen mit Sicherheit wissen,
dass sie aus dem Norden kamen. Als die Macht der Ihnen ver-
schwisterten Tolteken zerfallen war, brachen beständig Barbaren-
horden vom Uten bis zum I4ten christlichen Jahrhundert nach
Mexico herein. Unter diesen befanden sich auch die nahuatlaki-
schen llasdalteken und die nahuatlakischen Azteken. Beide
kamen vom Norden, d. h. nicht etwa aus dem Norden des Fest-
landes , sondern zunächst nur aus dem Norden des heutigen
Mexico, doch genügt es schon, dass ihre Wanderung südwärts
gerichtet war. Bei ihrem ersten Auftreten in Mexico sollen sie
noch im Vergleich zu den verfeinerten Tolteken sehr roh gewesen
sein, doch beweist dies nur, dass jene Nahuatlaken nicht aus ihrer
nördlichen Heimat schon ihre höchste Gesittung mitgebracht haben,
sondern sie erst im Süden entfalteten, obgleich sie schon beim
Einbrüche eine Culturstufe erreicht haben konnten, wie etwa die
Bewohner der Casas grandes am Gila oder die Stadtindianer von
Cibola im Jahr 1540.
1) Coronado in Ramusio's Navigation! et viaggi. tom. III. fol. 302.
2) Moll hausen, Reise nach der Südsee. S. 215.
30*
^.68 . I^ic amerikanische UrbevÖlkerang^
Ks lässt sich dagegen nicht entscheiden, ab die Tolteken im
heutigen Mexico, oder in Guatemala, oder in Honduras, oder in
Nicaragua zuerst ihre Sitze aufgeschlagen haben. Doch ist für
Nicaragua wohl noch niemand eingetreten, da die dortigen azte-
kischen Ortsnamen wahrscheinlich von einer späteren Colonisation
herrühren, was auch voil Honduras gelten mag. In Guatemala,
wo einer der äjtesten Brennpunkte zu suchen ist, finden wir
neben den aztekischen Ortsnamen und Sprachinseln ein anderes
Culturvolk, die Quiche, welche wiederum sprachverwandt sind mit
ihren Nachbarn auf der Halbinsel Yucatan, den Maya. Die ge-
sellschaftliche Entwickelung der Yucateken und der Quiche zu
Zeiten der Entdeckung stand auf der nämlichen Höhe, wie
in Mexico. Die Quich^ und die Maya mochten auch, als die
'J'olteken sie mit ihrer Cultur berührten, sich selbständig schoa
uiif eine höhere Stufe der Gesittung erhoben haben. Auf die
Xahuatlaken , wenn sie von Norden kamen, muss daher die Be-
rührung mit so' gesitteten Völkern, wie die Maya und Quiche
jedenfalls gewesen sind, befruchtend gewirkt haben. Bemerken
wir nebenbei, dass aztekische Ortsnamen in Yucatan vollständig
fehlen, woraus sich mit einiger Sicherheit ergibt, dass die Maya-
volker beinahe ebenbürtig in Cülturfortschritten den Nahuatlaken
gewesen sein müssen, denn Ansiedlungen werden immer mit Vor-
liebe unter niedriger stehenden Völkern begründet werden.
Im Reiche Mexico selbst wurden neben dem Nahuatl völlig"
verschiedene Sprachen von den Otomi, den Mixteken und Zapo-
teken, den Matlazinken und Tarasken gesprochen^).
In Südamerika sitzen alle CulturvÖlker entweder auf den
Hochebenen zwischen den Cordillerenketten oder am Gestade des
Stillen Meeres. So entwickelte sich auf dem Hochlande von
Bogota am rechten Ufer des Magdalenenstromes der Staat der
Muysca oder richtiger der Chibcha. Weiter nach Süden, immer
auf den Rücken der Hochebenen bis nach Chile, sassen Völker
die verwandte Sprachen redeten, nämlich in Quito und Peru die
1) Orozco vBerra hat iSii seiner Geografia de las lenguas de Mexico
(Mexico 1864) eine Sprachenkarte Älexico's entworfen, das einzige Verdienst
des C'^nzen Buches, dessen Verfasser offen bekennt, die Sprachen linguistisch
nicht untersucht zu haben , der uuch unbekannt ist mit den Forschungen
Buschtnann's und längst widerlegte Irrthümcr von neuem wieder verbreitet.
Die amerikanische Urbevölkerung. 460
sogenannten Quichuastämme, und um den Titicaca-See die Colla,
heutigen Tages besser gekannt unter dem Namen Aymara, der ihnen
irrthümlich beigelegt worden ist'). Vormals wurden diese letzteren
als das älteste Culturvolk angesehen, ihre Sprache sollte die so-
genannte Hofsprache der Kaiser in Peru^) und die Sonnen-
tempel am Titicaca-See die frühesten Bauwerke der Culturstämme
t>üdamerika's gewesen sein. Jetzt jedoch müssen wir den .Ursitz
in Cuzco selbst suchen. Die Cara oder Bewohner von Quito,
die ebenfalls eine Quichua-Mundart redeten, waren angeblich den
Rio Esmeraldas heraufgestiegen und hatten sich der Hochebene
bemächtigt^). Sie verfertigten künstliche gegossene Arbeiten aus
Gold**), aber auch Werkzeuge aus Bronze, und beobachteten deu
Eintritt der Sonnenwenden wie die Peruaner an weithin sichtbaren
Steinsäulen 5). Völlig verschieden von den ^Quichuavölkern sind
die Yuncastämme, welche die Küstenfiüsse am Westabhang der
Anden bewohnten, sich aber landschaftlich in getrennte Staaten
absonderten. Sie haben unzählige geräumige Baureste von ver-
gleichsweise hohem Kunstwerth hinterlassen und hatten mit Meister-
schaft ihr Land bewässert^.). Sicherlich haben die Incaperuaner
ebenso viel von ihnen erlernt, als sie ihnen mitzutheilen hatten 7).
Der Rio Maule bildete zu den Kaiserzeiten die Grenze zwischen
Peru und Chile^ Von ihm angefangen gegen Süden sassen die
Araucaner und die ihnen nahe stehenden Patagonier. Im heutigen
Chile nannten sich diese Völker Pehuentschen oder die „West-
lichen", von Valdivia bis zum P'euerland^) Huillitschen oder die
„Südlichen", in Patagonien Tehueltschen, endlich auf den Pampa
i) Clements Markham im Journal of the Royal Geogr. Society. 1871.
vol. XLI. p. 330—331-
2) Gründlich widerlegt von Markham, 1. c. p. 312 — 313.
3^ Velasco, Histoire du royaume de Quito. Paris 1840. tom. I. p. U).
p. 184—185.
4) Benzoni, Mondo nuovo. Venetia. 1565. lib. III, cap. i.p. 168 — 169.
5) Joseph de Acosta, Hi?toria natural y moral de las Indias. Üb. VT.
cap. 3. Madrid 1792. tom. IL p. 96.
6) Markham, 1. c. p. 321—324.
7) Alte Regentenlisten von Yuncaherrschern und einen Abriss ihrer
Geschichte gibt Miguel Cavello Baiboa. (Histoire du P^rou, ed. Ternaux-
Compans. Paris 1840. p. 86—9$.)
8) Ueber die Feuerländer selbst s. oben S. 15 r.
470
Die amerikanische Urbevölkerung.
«>•
zwischen dem Rio Negro und La Plata Pehueltschen oder die
„Oestlichen". An Sinnesart und Sitten mit ihnen aufs engste
verwandt waren die alten Abiponen und die heutigen Bewohner
des Gran Chaco oder der Wildniss westlich vom Paraguaystrom.
Araucaner und Patagonier haben noch von dem Segen der inca-
peruanischen Gesittung einigen Antheil genossen'); jedenfalls
stehen sie den Bewohnern der Hochebenen zwischen den Cor-
dilleren viel näher, als den Jägerstämmen Brasiliens, wenn sie
auch nicht zu den Culturvölkern selbst gezählt werden dürfen.
Betroffen über die Höhe der gesellschaftlichen Zustände im
alten Mexico und im Reiche der peruanischen Inca, haben gar
manche, weil sie die Anlagen des sogenannten rothen IMannes
unterschätzten , als Ausflucht angenommen : es seien die besten
Keime der Gesittung aus der alten in die neue Welt auf den
Flügeln des Zufalls getragen worden. Bald Hess man Aegypter
aus der platonischen Insel Atlantis oder zur Zeit der Umschiffung
Afrika's unter Neku, bald Carthaglnienser aus den Pflanzstädten
an der Küste des heutigen Marocco nach Ikasilien, bald Nor-
mannen auf ihren Entdeckerfahrten nach dem ,, guten Weinland"
(V^irginien) bis nach Mittelamerika vordringen, und glaubte schon
in V'otan, einem Heros- oder Götzennamen der Chiapaneken,
einen altnordischen Wodan entlarvt zu haben; bald mussten ma-
layische Polynesier, über die Südsee verschlagen, ihren Fuss an
das westliche Gestade Amerika*s setzen; bald schmeichelte man
sich, in chinesischen Berichten von einem oestlichen Lande,
Namens Fiisang, eine Schilderung von Theilen der neuen Welt
zu erkennen. Alle diese flüchtigen Vermuthungen waren nur so
schwach zu begründen, dass sie, leicht widerlegt, nie zu ernster
Geltung gelangt sind. Die Möglichkeit übrigens, das? aus der
alten Welt Seefahrer bis nach Amerika verschlagen werden konnten,
darf nicht bestritten werden, weil wir wenigstens einen Fall dieser
Art wirklich kennen. Im Deccmber 1731 gelangte nämlich nach
Trinidad, bemannt mit fünf oder sechs Köpfen, eine Barke, die
mit einer Weinladung auf der Fahrt von Teneriffa nach einer
westlichen Canarieninsel von einem Sturm ergriffen und schliesslich
0 Bis zu den Pehueltschen haben sich Ausdrücke für höhere Zahlen
aus der (Juichuasprache verbreitet. d'Orbigny, L'horame amer. p. 218.
Die amerikanische Urbevölkerung.
471
vom Passatwind nach VVestindien getragen wurde ^). Nur ein
selbstgefälliger Wahn ist es aber, dass irgendein Einzelner oder
Einzelne die Cultur ihrer Heimat als Fracht im Hohlräume eines
Fahrzeuges nach fernen Welten führen können. Wenn wir Euro-
päer uns mit dem Australier vergleichen, dünken wir uns Halb-
götter neben Halbthieren, Ein jeder von uns träumt wohl gern,
dass er, unter einen Stamm solcher Wilden geworfen, diesen einen
Antheil am Segen unserer Gesittung zubringen werde, dass ihn
die Beglückten dermaleinst als ihrpn Wohlthäter und Erlöser ver-
ehren, ja dass das Auftreten des ,, bärtigen Mannes" als religiöse
Sage unter ihnen fortleben und von seiner zweiten Rückkehr der
Anbruch eines neuen beglückenden Weltalters erwartet werden
möchte, wie die Azteken von dem Wiedererscheinen Quetzalcoatls
eine Verjüngung und Verklärung ihrer Zustände sich versprachen.
Was aber in einem solchen Falle sich wirklich zuträgt, das lehren
uns mit Genauii^keit die Schicksale James Morills, eines verun-
glückten Matrosen , der 17 Jahre unter australischen Stämmen
lebte ^). Nach Ablauf dieser 17 Jahre führten die Eingebornen
genau das nämliche Leben wie vorher, Morill aber ass wie sie
Muscheln, schlief wie sie unter einer lockern Laubhütte, hatte die
Kleidung abgeworfen, fast gänzlich seine Muttersprache vergessen,
und er, der Halbgott, war zum Australier herabgesunken. Auch
sollte man sich nicht damit trösten, dass, wenn auch der Einzelne
diesem Schicksal erliegen musste, doch eine Mehrheit, die Mann-
schaft eine^ Fahrzeuges beispielsweise, das nach der neuen Welt
verschlagen worden wäre, grössere Erfolge errungen hätte. Denn
auch dagegen sprechen geschichtliche Beispiele. C61on (Columbus)
Hess auf seiner ersten Fahrt 40 Spanier, wohl ausgerüstet,* in
einer kleinen Burg unter einer gutmüthigen, fast unbewehrten Be-
völkerung auf Haiti zurück, und als er nach wenigen Monaten
wieder kam, fand er nichts als Leichen und die Trümmer einer
Feuersbrunst. Noch belehrender ist das Schicksal Hemando de
Soto*s und seiner Gefährten auf ihren Querzügen im Süden der
Vereinigten Staaten. Sie landeten 1540 wohlausgerüstet, erhielten
aber nie Zufuhren aus der Heimat. Ihre Rosse fielen, ihie Feuer-
rohre wurden nutzlos, weil es an Pulver fehlte, ihre Degen rosteten
1) P. Gumilla, El Orinoco ilustraio. Madrid 1741. IT. cap. 6; p. 327.
2) Vgl. Ausland. 1866. S. 237.
1-9 I^ie amerikanische Urbevölkerung.
und zerbrachen, ihre Kleider und Schuhe zerrissen, und zuletzt
sehen wir sie wie Indianer gekleidet und bewaffnet marschiren und
fechten. Auch ist es leicht auszusprechen , warum sich höhere
Gesittung nicht durch wenige übertragen lässt, denn die Fort-
schritte der Cultur entstehen nur unter einer verdichteten Be-
völkerung durch eine fortgeführte Theilung der Arbeit, die jeden
Einzelnen hineinfügt in eine höchst verwickelte, aber äusserst
wirksame Gliederung. Wird aus diesem Ganzen der eine oder
der andere abgesondert, so erscheint er noch viel hilfloser als der
Naturmensch, ja er ist nicht mehr werth, als etwa zur Theilung
der Zeit das weggeworfene Rad einer zertrümmerten Uhr.
Die Culturerscheinungen Amerika's sind also unabhängig aus
eigener Kraft entsprossen, ja, was noch viel schyi^erer wiegt, die
Gesittungen des nördlichen und des südlichen Festlandes haben
sidi völlig ohne gegenseitige Berührung und Befruchtung ent-
wickelt, denn die Mexicaner wussten so wenig etwas vom Reiche
der Inca , als die Peruaner von den Herrlichkeiten Tenochtitlans
oder Palenque's. Bis zum Nicaragua - See , aber nicht weiter,
erstreckte sich die Ortskunde der Azteken, bis dorthin reichte
auch noch ihre Sprache oder waren einzelne Ansiedlerschwärme
gedrungen, welche das Nahuatl redeten. Andererseits soll der
Inca Huayna Capac , nach einer jedoch schwach beglaubigten
Nachricht, Kunde von dem Erscheinen bärtiger Fremdlinge (unter
Baiboa 1513) am pacifischen Gestade der Landenge Dariens em-
pfangen haben. Erwägt man jedoch, dass kurz vor der Entdeckung
Amerika's die peruanischen Inca das Reich Quito erobert hatten
(1487), und ihrer fortgesetzten Ausbreitung keine sonderlichen
Schwierigkeiten entgegenstanden , so hätte vielleicht , ohne das
Zwischentreten der Europäer im i6ten oder ijten Jahrhundert,
eine Berührung der süd- und der mittelamerikanischen Culturvölker
und ein Austausch ihrer Hilfsmittel sich zutragen können. Be-
läuft sich der Abstand Mexico's von Cuzco auf 630 deutsche
Meilen, während Babylon, Ninive, Athen, Sidon und Tyrus von
Memphis am Nil nur 70 — 170 Meilen entfernt lagen, so werden
wir an dieser ungleich grossen räumlichen Trennung der beiden
Brennpunkte amerikanischer Gesittung inne, dass für die Be-
schleunigung der Culturfortschritte selbst bei gleichen Begabungen
der Bewohner die neue Welt in Folge ihrer Absonderung in zwei
Fesdande weit ungünstiger gestaltet war, als die östliche Erdveste.
Die amerikanische Urbevölkerung. ^.y^
Eine eigene Anziehungskraft haben in der neuen Welt die
Landseen und vor allen die Hochlandseen' auf ihre Culturvölker
geübt. Am Titicaca-See hat man früher, doch mit Unrecht, die
ältesten Sitze der Quichuacultur gesucht, wohl aber befanden sich
unter den späteren Inca dort die berühmten Webereien, welche
das Cumbi oder die feinsten der Llamatücher lieferten'). In den
Seen Andhuacs spiegelten sich die Tempel pyramiden der Tolteken,
am Guatavita-See befanden sich Heiligthümer der Chibchastämme,*
und an seine Gestade knüpft sich die Sage vom goldenen Herrn
fei dorado)^ der sich den Metallpuder beim Baden in seinen Ge-
wässern abwusch. Die Inseln im Peten-See Guatemala's wurden
nach der Zerstörung des Reiches Mayapan im Jahre 1420 von
den südwärts wandernden Itzaes als Wohnsitz erwählt*), und am
Nicaragua-See hatte sich vor der Entdeckung eine verfeinerte Be-
völkerung ausserordentlich verdichtet. Bei einer anfänglichen
flüchtigen Untersuchung verspürt man daher eine grosse Neigung,
den Landseen eine besondere Beförderung der gesellschaftlichen
Zustände zuzutrauen. Doch bald gelangt man dahin, ihren Ein-
fluss wieder einzuschränken. Die neue Welt südwärts vom 40.
nördlichen Breitenkreise ist auffallend arm an Binnenseen, nament-
lich gilt dies von Südamerika, verglichen mit dem geschwisterlich
so ähnlichen Afrika. Es ist daher denkbar, dass vom Anblick
solcher Spiegel im Binnenland manche auf der Wanderung be-
griffene Culturstämme gefesselt stehen blieben. Ein kleiner Ge-
birgsweiher auf dem berühmten Andenpass von V^alparaiso naoh
dem zerstörten Mendoza, dessen eriiabene Natur nie besser ge-
schildert worden ist als von Pöppig, heisst bei den Bewohnern
,,das Auge des Inca", und dieser Ausdruck scheint uns anzu-
deuten, dass der sogenannte rothe Mann nicht völlig unberührt
blieb von den Eindrücken landschaftlicher Reizmittel^). Seen auf
Hochebenen füllen meistens flache Einsenkungen aus, an ihren
Rändern werden daher Fluren sanft aufsteigen, die zum Feldbau
sich vorzugsweise eignen. Die Seen selbst bieten zugleich Nah-
rung, in ihren Fischen, die mexicanischen beherbergen sogar in
i) J. A Costa, Hist. natural y moral. libr. IV. cap. 41. Madrid 1792.
lom. II. p. 284.
2) Morelet, Reisen in Central- Amerika. Jena 1872. S. 162.
3) Pöppig, Reise in Chile, Peru u. s. w. X^ipzig 1835. ^d. i. S. 242.
iji Die amerikanische Urbevölkerung.
ihren Schilfsäumen Millionen essbarer und schmackhafter Insecten-
eier von Corixa viercenariay die sich zu Kuchen verbacken lassen.
So mögen daher an den Gestaden solcher Binnengewässer etwas
leichter als anderwärts die Bevölkerungen sich verdichten, doch
wäre es völlig verkehrt, ihnen einen entscheidenden Einfluss auf
die Entwlckelung der amerikanischen Menschheit zuzuschreiben.
Das spätere rasche Wachsthum des Incareiches aus geringen
Anfängen im Laufe von höchstens fünf, vielleicht nur von drei
Jahrhunderten hat Squ'.er*) sehr befriedigend erklärt. Der Keim
des peruanischen Staates entwickelte sich nämlich auf dem Puno
oder den kahlen, lO bis 16,000 Fuss hohen Hochebenen zwischen
den doppelten oder dreifachen Ketten der Anden. Zwischen dem
westlichen Abhänge dieser Gebirge und dem Stillen Meere erstreckt
sich ein schmaler Küstensaum, auf dem fast nie oder sehr
selten Regen fällt, und der höchstens während sechs Monaten im
Jahr von Nebeln befeuchtet wird. Nur wo von den Anden Küsten-
flüsse der Südsee zuströmen, ist Feldbau und Baumzucht über-
haupt möglich. Die Küstenflüsse folgen jedoch auf einander in
grossen Entfernungen und in dem Zwischenraum herrscht völlige
Einöde. So konnten sich entlang jenen Gewässern wohl einzelne
Stämme lange Zeit getrennt und unabhängig von einander be-
haupten, sowie aber auf den Hochebenen der erste kräftige Staat
erstand, wurden die Bevölkerungen der Küstenflüsse, getrennt und
schwach wie sie waren, der Reihe nach unterworfen und durch
.ihren Zuwachs die Macht des Reiches auf den Hochebenen ver-
mehrt. Da wo im Süden der regenlose Küstensaum aufhörte,
nämlich bei dem heutigen Chile, erreichte auch die Herrschaft
der Inca die Grenze ihrer Ausbreitung. Ebenso wenig hat sie
sich binnenwärts an den Ostabhang der Anden durch den Wald-
gürtel zu den Ebenen des Amazonas herabzusenken vermocht,
wo noch jetzt rohe Jägerstämme in ungestörter Wildheit um-
herstreifen.
Alle südamerikanische Cultur, auch die nichtperuanische der
Chibcha auf den Hochebenen von Bogota und Tunja am rechten
Cfer des Magdalenenstromes, stand daher in strenger Abhängigkeit
von beträchtlichen senkrechten Erhebungen, und ähnliches wieder-
holt sich, wenn auch nicht mit gleicher Genauigkeit, im nördlichen
«
I) Bulletin de la Soc. de G^ogr. Paris 1868. p. 7 Fq.
Die amerikanische Urbevölkerung. ^-^e
Amerika. Nun ist es leicht verständlich, namentlich für uns, die
wir in der gemässigten Zone leben und die heissen Erdstriche
fliehen, den Hochlanden unter den Tropen einen günstigen Ein-
fluss auf den Gang der Gesittung zuzuschreiben. Ihre ^^wohner,
sagen wir uns, waren der erschlaffenden Luftwärme in den heissen
Niederungen entzogen , sie mussten sich zugleich gegen rauhe
Witterung durch Kleidung und Obdach schützen, sie waren, um
nieht zu verhungern, frühzeitig genöthigt, das Feld zu bestellen
und Vorräthe anzuhäufen, ja sie mussten sich auch bald zu-
sammenschaaren und bürgerliche Gliederungen begründen, um
leichter den höheren Anforderungen ihres Wohnortes genügen zu
können. So wahr dies alles klingt, löst es doch nicht das grössere
Räthsel , warum Völker freiwillig Erdräume aufgesucht haben , wo
sie auf erhöhte Schwierigkeiten der Ernährung stiessen? Auch
folgte in der alten Welt die Cultur stets den Niederungen. Wir
treffen sie bei äusserst geringen Meereshöhen an grossen Strömen,
wie der Nil, der Tigris, der Euphrat. Auch die Chinesen be-
haupten, dass ihre Gesittung sich erst entfaltet habe, als sie zu
dem Jangtse und dem Hoangho herabgestiegen waren. Die brah-
manischen Arier haben sich, als sie Indien betraten, zunächst in
den Gangesebenen ausgebreitet, sie erhoben sich nicht an den
Abhängen des Himalaya, wohl aber verdrängten sie die älteren
Ureinwohner in die Vindhyagebirge , sowie in die Dschengel der
Hochebene des Dekhan, wo sie noch jetzt in unzugänglichen Ein-
öden unverändert in ihrer Lebensweise seit vielleicht drei Jahr-
tausenden sich forterzeugen. Ueberall bewährt sich in der alten
Welt demnach die Regel, dass die Culturvölker, als die stärkeren
die bequemeren Niederungen aufsuchen und die schwächeren Ur-
sassen in die Gebirge vertreiben. Diess gilt selbst noch für alle
Inseln und Halbinseln Südostasiens, wo die Malayen stets die
Küsten in Besitz genommen haben , während in das innere Ge-
birgsland die rohen Papuanen sich flüchten mussten. Gebirge treten
auch sonst immer als Hindernisse der Civilisation entgegen. Sie
verstatten nicht wie die Ebenen ein engeres Zusammenrücken der
Bewohner, sie verbieten oder erschweren einen regen Verkehr der
versprengten Gemeinden, und steigt man in ihren engen Thälern
hinauf bis zum Centralkamm , so ist es , als näherte man sich
zwar nicht dem Ende der Welt, doch dem Saalbande der höheren
Gesittung. Günstiger wie Kettengebirge sind zwar die Hoch-
M^6 ^ic amerikanische Urbevölkerung.
ebenen gestaltet, immerhin aber sollten wir erwarten, dass sie nur
von denjenigen Völkern erstiegen worden seien, die von stärkeren
aus den bequemeren Niederungen verjagt wurden. Man könnte
sich nun wohl dabei beruhigen, dass auch ein schwacher Stamm
iti den höheren Luftschichten und in der strengen Natur wieder
erstarkt sei, allein nirgends in der Geschichte der alten Welt
lässt sich nachweisen, dass die Cultur von den Höhen herab-
gestiegen sei auf die Ebenen. Es müssen also in Südamerika
absonderliche Verhältnisse die Cultur nach den Hochebenen ge-
zogen haben.
Drei Naturproducten der peruanischen Hochlande verdanken
wir die Erziehung der südamerikanischen Culturvölker, nämlich
dem Vorkommen der Llama-Arten, der Kartoffel und der Kinoa-
hirse (Chenopodium Quinoa), Der Inca Garcilasso'), der uns die
Gesittungsstufe im alten Peru so ausführlich beschrieben hat, be-
merkt wiederholt, dass ein ausserordentlicher Mangel an Fleisch-
nahrung dort herrschte. Nur bei den grossen Treibjagden, welche
die Inca veranstalten Hessen, erhielt das unterworfene Volk^Llama-
fleisch, wahrscheinlich weil es ausserdem verdorben wäre; an
sonstigen Festtagen wurde als Leckerbissen von ihnen ein kleines
Säugethier , nach Garcilasso's Angabe ein Kaninchen , verzehrt,
welches sie sorgsam hegten, das auch nach Spanien frühzeitig
ausgeführt, dort aber wegen seiner Unschmackhaftigkeit der Auf-
züchtung nicht werth gehalten wurde. Auf dem regenlosen
Küstensaume vollends bestand die Fleischkost nur in dem, was
der Fischfang gewährte. Dadurch gewinnen wir die Beruhigung,
dass es nicht nothwendig schwächliche Bewohner gewesen sein
müssen, die, von stärkeren Stämmen verdrängt, auf die Punos
von Peru oder Quito flüchteten, sondern dass vielmehr kühne und
beherzte Männer zuerst die Cordillerenkette erstiegen haben
mögen, um auf den Hochebenen die flüchtigen Llama-Arten zu
jagen und zu zähmen. Doch hätten sie niemals auf jenen luf-
tigen Ebenen Wohnsitze zu gründen und auf den Inseln des
Titicaca-Sees der Sonne ehrwürdige Tempel zu erbauen vermocht^
da der Mais dort nur an wenigen geschützten Stellen reift, wenn
i.icht die Kartoffel und die Kinoahirse selbst auf Höhen gediehen,
wie unsere höchsten Berggipfel. Dass übrigens nicht von der
i) Commentarios Reales, libro VI. cap. 6. Lisboa 1609. totn. I. p. 134..
Die amerikanische Urbcvölkerütig. 4J7
atlantischen Seite her brasüianiscl^e Jägerstämme nach dem Hoch-
lande von Peru gekommen sind, sondern umgekehrt vom paci-
fischen Küstensaume aus der Puno erstiegen wurde , dürfen wir
deswegen voraussetzen, weil wir in den Händen der Andes-
bewohner bis hinab zum Feuerlande eine ungewöhnliche Waffe
finden, die kein waldbewohnender Jägerstamm jemals erfunden
hat, die wir dagegen vorzugsweise bei Hirten antreffen, nämlich
die Schleuder und ihre Spielarten, den Lasso und die Bolas,
oder die Wurf leine ').
Sollen wir nun entscheiden, welchem von den vier selbst-
ständigen Culturkreisen, dem toltekisch-mexicanischen, dem yuca-
tekischen, dem inca-peruanischen oder dem der Chibcha Cundina-
marca's, der höhere Rang gebühre, so müssen wir zunächst
anführen , dass allen der Maisbau gemeinsam war , in Mexico
kam dazu noch die Cultur der Maguey und des Cacao., in Peru
und Bogota wieder die der Kartoffel, der Kinoahirse und des
Cocastrauches. Künstliche Bewässerungen finden wir überall, die
Guanodüngung dagegen nur in Peru. Die Mexicaner haben den
IVuthahn gezüchtet, die Peruaner das Llama zum Lastthier ab-
gerichtet. Brücken und Kunststrassen wurden von allen oben-
genannten Völkern erbaut, doch gebührt den mit Steinplatten
bedeckten sowie von Baumalleen beschatteten^) Heerstrassen der
Peruaner weitaus der höhere Preis -5). Ein Postdienst war in
Mexico wie im Incareiche eingerichtet worden*). Steinbauten
fehlen in keinem der vier Culturkreise , aber Bogen wölbten nur
die Peruaner 5). Die Chibcha lebten noch im Zeitalter der un-
durchbohrten Steingeräthe. Dies darf man sogar noch von den
Yucateken und Mexicanern behaupten, denn wenn sie auch
Kupfer und Bronze kannten, so war doch der Gebrauch me-
1) S. oben S. 198.
2) Francisco deXerez, Conquista del Peru, bei Barcia, Hiätoriadores*
tom. III, fol 191.
3) vgl. die Schilderung der Kaiserstrasse von Cuzco nach Quito bei
(parate, Historia del Peru, libro I. cap. 10.
4) Die Tschaski oder Schnellläufer brachten in die kaiserliche Küche
zu Cuzco Seefische innerhalb 48 Stunden, eine Entfernung von etwa 70 d-
Meilen. Acost.t, Hist. natural y moral. libro VI. cap. 17.
5^ Rivcro y TschuJi. Anti.tjued.ides peruanus, Vienji 1851. p. 241.
q.j8 Die •amerikanische Urbevölkerung.
tallener Geräthe noch ein sehr sparsamer, allerdings weil die
i^dasscharfen Späne und Messerklingen aus Obsidian ihre Dienste
hinreichend ersetzten. Die Waflfen waren bei allen vier Cultur-
völkern die nämlichen, nur fehlten den Peruanern die Holz-
schwerter der drei anderen Völker, wogegen wiederum nur sie
^Morgensterne und Lanzen mit Bronzeklingen führten. Bei den
nördlichen Völkern dienten Goldstaub in Federkielen, Zinn- und
Kupferbarren, endlich die Cacaobohnen als Geld. Die Inca-
peruaner kannten dafür Waage und Gewichte und die Chibcha
behützten obendrein goldene Scheiben als Tauschmittel. Würden
wir die Musterung nicht weiter fortsetzen, so möchte das Ergebniss
dahin lauten, dass die Peruaner den Chibcha um viele, den nörd-
lichen Culturvölkern um manche Fortschritte vorausgewesen seien.
Allein die letzteren besassen eine Kalenderrechnung von 36574
Tagen , während die Peruaner sich nur mit der Beobachtung der
Aufgangsorte (Azimuthe) des Tagesgestirnes zur Zeit der Sonnen-
wenden durch Steinpfeiler begnügten. Die Mexicaner verfertigten
r.andkarten, aus denen die spanischen Eroberer wichtige Be-
lehrungen schöpften, die Peruaner nur Stadtpläne in erhabener
Arbeit. Weit ärmer aber waren die Peruaner darin., dass sie
ausser einer Bilderschrift*) nur eine Quippu- oder Knotenschrift
besassen, wie in Vorzeiten die Chinesen^) oder wie wir sie bei
Papuanen schon angetroffen haben ^), wie sie selbst bei den Jager-
stämmen am Orinoco vorkam, denn dort hinterliess der Ehemann
beim Antritt einer Reise seinem Weib eine Schnur mit so vielen
Knoten, als er Tage wegbleiben wollte, und sie löste jeden Abend
einen von ihnen auf. Oder eine solche Schnur mit Knoten diente
dort als Schuldbekenntniss und der Gläubiger knüpfte bei jedem
zurückgezahlten Stück des Darlehens einen Knoten wieder auf^)^
Die Quippuschrift ist aber wenig geeignet zur Aufbewahrung von
Begebenheiten und Namen , weswegen auch die Glaubwürdigkeit
der Geschichte des inca-peruanischen Reiches beträchtlichen Zwei-
1) A Costa, Historia natural y moral. libro VI. cap. 8. Ein Muster
solcher Urkunden hat J. J. v. Tschudi (Reisen durch Südamerika. Bd. 5.
S. 284) mitgetheilt.
2) Whitney, Language p. 450.
3) S. oben S. 367.
4) G um lila, £1 Orinoco ilustrado. tom, 11. 23. p. 505.
Die stmerikanische Urbevölkerung. a^q
fein ausgesetzt ist. Die Mexicaner dagegen besassen theils Schrift-
zeichen, die rebusartig Sylben ausdrücken sollten , theils einen
Vorrath von Sinnbildern, die einen Gedanken vertraten. Noch
höher waren die Maya Yucatans gestiegen. Hatten sie auch
ihren Kalender aus Mexico entlohnt, so schufen sie dafür eine
Lautschrift, bestehend aus 27 zum kleinsten l'heil homophonen
Buchstaben und- etlichen Sylbenzeichen ').
Die örtliche Vertheilung der Gesittuugsanfange in der neuen
Welt führt uns nun mit Leichtigkeit zu etlichen wichtigen Ergeb-
nissen. Es zeigt sich mit strenger Regelmässigkeit in Süd- wie
in Nordamerika, dass die atlantische Hälfte den rohen Jägervölkern,
die Stirnseite nach der Südsee den Culturvölkern gehörte. Aus den
abenteuerlichen Wanderungen des Spaniers Cabeza de Vaca wird
sich wohl mancher erinnern, dass, sowie er, von Texas aus west-
lich wandernd, die atlantische Wasserscheide überschreitet, er das
unbeneidete Elend der Rothhäute hinter sich lässt, und unter
freundliche , wohlgenährte Ackerbauvölker geräth , bei denen seine
schliessliche Rettung gesichert ist. Man könnte höchstens ein-
wenden, dass in Yucatan ein Culturgebiet , der Regel zum Trotz,
einer Ostküste des Festlands, und geographisch dem atlantischen
Rand angehöre , allein den wahren Ostsaum der neuen W'elt in
Mittelamerika bilden doch wohl die Antillen, und es ist völlig er-
laubt, die caribischen und die mexicanischen Golfe als zwei Mittel-
meere anzusehen, deren gänzliches Zusammenströmen eben durch
das Zwischentreten von Yucatan verhindert wird — eine Gliederung,
welche an sich ausreichte, jene Halbinsel zu einem erwählten Erd-
raum für eine beschleunigte Gesittung zu erheben. Der physische
Grund aber, weshalb die Westhälfte Amerika's ausschliesslich den
Culturvölkern gehörte, ist in ihrer vergleichsweise grösseren Trocken-
heit zu suchen. Ein Uebermaass von Regen ergiesst sich auf die
Westküsten der beiden Festlande nur unter hohen Breiten, und
vom reichlichen Regen wird immer die Bildung geschlossener
Waldungen abhängen. Alle grossen zusammenhängenden Wälder
füllten dagegen die Räume des Ostens aus, in Brasilien so gut
wie in den Vereinigten Staaten.
1) Diego de Landa, Relation des choses de Yucatan. Paris 1864.
p^ ^16 — 322. V. Hellwald im Ausland. 1871. S. 243.
i8o I^ic amerikanische Urbevölkerung.
Auf dem paciüschen Abhang Amerika's lässt sich ferner beob-
achten, dass die Zustände der Bewohner bei Annäherung und
l'eberschreitung der Wendekreise sich merklich bessern, was sich
selbst bei den Jägerstämmen noch bewährt und übereinstimmt mit
den geschichtlichen Erfahrungen in der alten Welt Warme Länder
l)ei ausreichender Bewässerung werden immer den Feldbau am
reichsten belohnen , und nur bei einer grösseren Fülle leicht er-
worbener Nahrungsmittel werden die Bewohner dicht auf engen
Räumen zusammenzurücken vermögen. Erst wenn unter niederen
Breiten schon eine gewisse Beherrschung über die Natur durch
menschlichen Scharfsinn und gesellschaftliche Gliederung gewonnen
worden ist, vermag die Cultur auch in rauhere Erdstriche vorzu-
dringen. Wichtig war es auch, dass Mexico dort liegt, wo sich das
nördliche Festland sehr rasch nach einem Isthmus zu verengert.
Da sich die Völker selbst im reifen und noch mehr im Jugend-
zustand der Cultur zur Aenderung ihrer Wohnsitze leicht ent-
schliessen, so mussten, da vom nördlichen Festlande nach Süden
zu kein anderer Raum offen stand als jene Verschmälerung des
Festlandes, dort viel häufiger als anderwärts die Völker aufeinander
drängen. So fehlte es in Mexico nie an Zuströmen von frischem
}>lute, wie ja auch eine Verjüngung der gealterten Toltekenherr-
schaft durch die Wanderungen jugendlicher Nahuatlvölk^r von
Norden her erfolgte.
Die senkrechte Gliederung Nordamerika's begünstigte aber
ganz ungemein Wanderzüge in der Richtung der Mittagskreise.
Die Verbreitung der menschlichen Cultur zeigt so manche Ueber-
einstimmungen mit der Wanderung der Thier- und Pflanzenarten,
dass wir auch in der neuen Welt auf eine Aehnlichkeit stossen.
Die Hochlande und Cordilleren Nordamerika's haben es Ge-
wächsen und Thieren der kälteren Erdstriche erlaubt, sich weit
nach Süden zu erstrecken. Sie führten in höheren und kühleren
Luftschichten als Brücken über den Wendekreis hinüber. Süd-
amerika besitzt keine Tannen oder Fichten, wohl aber haben sich
von Nordamerika aus auf dem Rücken der Gebirge die Nadel-
hölzer bis zur mittelamerikanischen Landende verbreiten können
und Andreas Wagner') lässt daher die Thierwelt Nordamerika's
i) Abhandlungen der bayerischen Akademie der Wissenschaften. München
1840. Bd. 4. S. 7h.
Die amerikanische Urberolkerung. . 481
dort endigen, wo Schouw die Südgrenze der Kiefernarten bestimmt
hatte. Ganz ähnlich konnten auch Bevölkerungen des Nordens
ihre Wohnsitze wechseln und rasch den Wendekreis überschreiten,
ohne dass sie gezwungen waren , nach dem heissen Fiebersaum
an der Küste hinabzusteigen, der für sie erst nach längerer Ge-
wöhnung und einer Reihenfolge von Geschlechtern bewohnbar ge-
wesen wäre.
Ein begünstigter Erdraum wird aber nicht bloss die geistige
Entwicklung seiner Bewohner beschleunigen, sondern er wird auch
ötets früher oder später den fähigsten Völkern zur Beute fallen,
denn auf den Fähigkeiten beruht zum grossen Theile die ge-
schichtliche Stärke. Warum aber die Nahuatlakenvölker auf ihren
Wanderungen das Hochland von Mexico als Sitz allen übrigen
Gebieten vorzogen, ^darüber gibt uns ihre Landwirthschaft Auf-
schluss. Sie bauten, wje alle Amerikaner, die einzige Halmfrucht
der neuen W^elt, den Mais, der zwar äusserst reiche Ernten in
Mexico trägt, doch aber auch vielfach anderwärts mit gleichem
Erfolge gewonnen werden konnte. Dagegen gesellt sich zum
Mais auf «den dortigen Hochebenen die Maguey f Agave mexicanaj^ aus
deren Blüthenknospen in staunenswerthen Mengen ein Saft ge-
zapft wird, den die alten Mexicaner in ihr Lieblingsgetränk, das
Metl (Pulque) verwandelten/'). Ausserdem lag hart zu ihren
Füssen der heisse Küstenstrich, der sie mit allen Früchten der
Tropen versah, unter anderen mit dem Cacao, den sie bereits
mit den Schoten der Vanille zu mischen verstanden.
So iöt es uns also erklärlich, warum auch von den vielen
Stämmen, die jemals nach einander Mittelamerika durchzogen
haben, die begabtesten sich das Hochland von Mexico erwählten,
wo sie zugleich in günstige Berührung traten mit den Maya und
den Quiche der Halbinsel Yucatan und Guatemala's. Die Orts-
i) Decandolle betrachtet Mexico als die botani&che Heimat jener
Agave. Die Verbote des Trinkens von Pulque und die harten Strafen, die
auf Trunkenheit im spätem Aztekenreich erfolgten, beweisen besser als alles
andere, wie verführerisch dieses Getränk gewesen sein mag. (Prescott,
Mexico, tom. I. p. 137. p. 157.) Vielleicht ist es ein übermässiger Genuss des
Metl gewesen, welcher die Kraft der alten Tolteken zerrüttete.
Peschel, Völkerkunde. ,j
A^ Die amerikanische Urbevolkeiung.
läge der jugendlichen Culturen in beiden amerikanischen Welt-
theilen war also keine zufallige, sondern sie war durch die senk-
rechte wie wagrechte Gestaltnng und Stellung der Länder, sowie
durch die von ihnen abhängige Verbreitung von Thieren und
Pflanzen gegeben und bis zu emem gewissen Maasse ein unab-
änderliches Verhängniss, als die ersten Asiaten den Nord w^ten
der Neuen Welt erreichten.
Ml T
IV.
DIE DRAVIDA ODER URBEWOHNER VORDERINDIENS.
Vorderindien und Belutschistan wurde vor dem Einfall der
brahmanischen Arier von einer Race bewohnt, die jetzt allgemein
Dravida genannt wird. Ihre Haut ist meistens stark gedunkelt, oft
geradezu schwarz. Darin würden sie den Negern gleichen, doch
fehlt ihnen der widerliche Qeruch der Letzteren. Vor allem aber
haben. sie langes schwarzes, niemals büschelförmiges, auch nicht
straffes, sondern krauses oder gelocktes Haar. Dadurch lassen
sie sich leicht von den mongolenähnlichen Völkern trennen,
zumal bei ihnen auch das Bart- und Leibhaar reichlich sprosst.
Grobe wie feine, edlere und unedlere Gesichtsbildungen kommen
untermischt vor. Die wulstigen Lippen erinnern bisweilen an die
Neger, aber die Kiefern sind nie vorspringend *). Alle Kenner des
indischen Alterthums sind einig, dass wenn auch die Kasten-
gliederüng in der Zeit der Hymnendichtung schon bestand^), doch
erst später die Zwischenheirathen streng verboten wurden. Mischun-
gen mit der Urbevölkerung müssen vorher vielfach Stattgefunden
haben und finden zwischen männlichen Brahmanen und Sudra-
frauen noch jetzt im südlichen Indien reichlich statt. 'Daher unter-
scheiden sich auch die hohen Kasten, bei denen wir das arische Blut
noch am reinsten suchen müssen , durch keine strengen Merkmale
von der Urbevölkerung. Der Brahmanenschädel, bemerkt Barnard
Davis ^) gestützt aufzahlreiche Messungen, zeigt keine Verschieden-
i) H. V. Schlagintweit, Indien u. Hochasien. Bd. i. S. 546.
2) Martin Hang, Brahma und die Brahmanen. München 1871. S. 13. S. 22.
3) Thesaurus Craniorum. London 1867. p. 149.
31*
Ag\ Die Dravida oder Urbewohner Vorderindiens.
heit von den übrigen Hinduschädeln. Zu dem nämlichen Ergeb-
nisse gelangte Welcker*), der für hohe wie niedere Kasten einen
Breitenindex von 73 ermittelte, während Davis 75 fand, eine seltene
Uebereinstimmung, da der Unterschied um 2 Procent nur eine
Folge des verschiedenen Messungsverfahrens ist. Die Hohe der
Schädel übertrifft die Breite nicht immer, oder höchstens nur um
wenige Procente. Die Indier gehören also noch unter die Schmal-
schädel von mittlerer Plöhe. Neuerdings hat auch Isidor Kopernicki^)
die Maasse von 83 Hindu- mit 15 Zigeunerköpfen verglichen und
uns Ziffern vorgelegt, die mit den obigen übereinstimmen. Die
Bewohner Indiens gehören also jetzt einer einzigen Race an und
die Abtrennung der Bevölkerungen zwischen dem Himalaya und
Vindhiagebirgen von den Dravida des Dekan gründet sich nur darauf,
dass erstere Töchter- oder Enkelsprachen des Sanskrit reden.
Die nicht arischen Bewohner der Halbinsel und Belutschistans
zerfallen sprachlich in die Dravida im engern Sinne und in die
• Bevölkerungen des inneren Kerns der. Halbinsel vom Ganga süd-
wärts bis etwa zum 18. Breitegrade, welche letztere wir, um nicht
abermals einen neuen Namen zu ersinnen, mit Friedrich Müller
den Munda-Stamm nennen und unter diesem Namen die Horden
der Kolh, der Santal, Bhilla sowie kleinere Stämme zusammenfassen
wollen. Ihre Abtrennung rechtfertigt sich dadurch , dass ihre
Sprachen, unter sich verwandt "5), einer ganz anderen Gruppe wie
der dravidischen angehören^). Diese sogenannten Dschengelstämme
nähren sich vom Ertrage der Jagd und des Ackerbaues und
bedienen sich noch vielfach der Steingeräthe. In Sinbonga ver-
ehren sie einen gütigen Schöpfer, opfern aber auch bösen Mächten.
Ausserdem glauben sie an Zauberei, daher auch Hexenprocesse
imd gottesgerichtliches Verfahren bei ihnen im Brauch sind.
Obendrein hat sich auch noch der ^ivadienst eingeschlichen^).
Zu den Dravida im engeren Sinne gehören die Brahui in
i) Kraniologische Mittheilungen S. 157. Vgl. Appendix A.
2) Archiv für Anthropologie. Braunschweig 1872. Bd. 5. S. 285.
3) Jellinghaus (Zeitschrift für Ethnologie. Bd. 3. Berlin 1871. S. 328)
bemerkt, dass die Sprache der Santal und die der Munda Khol sich noch
näher stehen, wie das Hoch- und das Plattdeutsch.
4) W. D. Whitney, Language and the study of lar>gu»^ge. p. 327.
5) Jellinghaus a. a. O. S. 329. S. 335. S, 337.
Die Dravida oder Urbewohner Vorderindiens. 485
Belutschistan, während die Belutschen .selbst zu den Eräniern
zählen ^). Die Sprache der ersteren, welche schon längst von Chr.
Lassen den Dravida beigezählt wurde ^), reicht von Shal im Norden
bis nach Jalavän im Süden und von Kohak im Westen bis Harrand
im Osten. Die Brahui sind ein roher, abgehärteter und unver-
dorbener Stamm, dabei gastfreundlich und von unerschütter-
licher Treue. Von ihnen räumlich weit geschieden ganz im
Süden der vorderindischen Halbinsel entwickelten sich fünf dra-
vidische Cultursprachen, nämlich am Saume der Westküste das
Tulu oder Tulwa, welches nur noch um Mangalore von etwa
150,000 Bewohnern gesprochen wird, dann angrenzend auf einem
schmalen Küstenstrich bis zur Südspitze das Malayalam oder Ma-
labarische, drittens von Cap Comorin bis über die Polhöhe von
Madras und von dem Kamm der westlichen Ghat bis zum ben-
galischen Golf das Tamil, die Sprache der Tamulen, welcher auch
ncch die Nordhälfte von Ceylon angehört^). Sie wird von 10
Millionen gesprochen und besitzt eine reiche alte Literatur, wurde
dorh schon nicht lange nach Beginn unserer Zeitrechnung in Ma-
dura unter' einem Kenige des Pandja Reiches eine tamulische
Akademie gestiftet"*). Das Auftreten Tiruvalluvers , des Dichter-
königs der Tamulen fällt dagegen in die Zeit von 200 bis 800
n. Chr. Sein Hauptwerk, der Kural oder „Kurzzeiler" mit vicr-
und dreifüssigen Strophen , Anfangsreimen und Alliterationen in
der Mitte, ist ein gnomonisches Gedicht, mit Sprüchen über die
sittlichen Ziele des Älenschen, voll zarter und wahrer Gedanken,
aber krankend an "dem Wahn der 'Wiedergeburt, von der ailf
buddhistischem Wege eine Erlösung erstrebt werden soll 5).
Die vierte dravidische Cultursprache, das Telugu, von dtn
Briten Gentoo oder Heidensprache genannt, wird von 14 Millionen
gesprochen und behauptet sich längs der Ostküste vom 14. bis ig.
Breitegrad, von dem es sich binnenwärt« bis etwa zum Mittags-
kreise des Cap Comorin erstreckt. Von diesem angefangen gegen
i) Fr. Spiegel, Eränische Alterthumskunde. Bd. i. S. 333.
2) Zeitschrift für Kunde des Morgenlandes. Bd. 5. S. 408.
3) vgl, die Sprachenkarte in Berghaus, Physikal. Atlas. 2. Aufl. Üthnogr.
Blatt 14.
4) K. Graul, im Ausland. 1855. S. 1160.
5) K. Graul, Eibliotheca Tamulica. Leipzig 1856. tom. III. p. XIII.
1
^86 I^ie Dravida oder Urbewohner Vorderindiens.
Westen hat sich die fünfte Dravidasprache, das Kannadi oder ca-
naresische, die Sprache Karnatas über 5 Millionen Köpfe ausge-
breitet. Nur mundartlich von ihm verschieden ist die Sprache der
Tuda, eines kleinen Stammes in den Nilagirigebirgen unter dem
II. Breitegrade. Ferner gehören noch zu den Dravidavölkern die
Gond in Gondwana und die Khond in Khondistan. Letztere waren
traurig berühmt wegen der Menschenopfer, die sie jährlich der
göttlich gedachten Erde darbrachten. Einem britischen Officier,
Capitain Campbell, gelang es jedoch, in der Zeit von 1837 — 1852
durch feierliche Verträge einen Stamm nach dem andern zur Ent-
sagung dieses grauenvollen Gottesdienstes zu vermögen*).
Endlich schliessen sich noch an die Vorigen in Bengalen
südlich vom Ganga in dem Gebirgszuge bei Radschmahal die
Paharia an.
Alle diese Sprachen und Mundarten stehen sich geschwister-
lich nahe, während das Singhalesische oder Elu, welches auf
der südlichen Hälfte der Insel Ceylon im Innern herrscht, ihnen
fremdartig gegenüber tritt. Es hat nämlich weder die Fürwörter
noch die Flexionselemente mit den Dravidasprachen gemeinsam und
behauptet somit eine vereinzelte Stellung, wenn auch der Sprach-
typus sich nicht ändert, die Verbindung der einzelnen Satzglieder
vielmehr ganz ähnlich wie in jenen erfolgt*). Somit besteht, zu-
mal sich die Körpermerkmale nicht ändern, keine Nöthigung, die
Singhalesen Ceylons zu einer besonderen Race zu erheben.
Die Dravidasprachen begrenzen den Sinn der Wurzel durch
angehängte Lautgruppen und beobachten dabei Gesetze der Laut-
harmonie ^), die von den Vocalen des Suffixes auf den Vocal der
Stammwurzel zurückwirkt, also umgekehrt sich äussert, wie in den
altaischen Sprachen. Wenn trotzdem wegen der übereinstimmen-
den Verfahrungsweise bei der Wortgestaltung die Dravidavölker
unter die Glieder einer ;,turanischen" Familie haben gezählt wer-
1) Er selbst erzählt uns alle Vorgänge in einem umfangreichen Werke,
Thirteen years Service amongst thewild tribes of Khondistan by John Camp-
bell, London 1864. Was er über den Frauenraub unter den Khond berichtet,
wurde bereits oben S. 235 mitgetheilt.
2) Fr. Müller, Reise der Fregatte Novara. Anthropologiscl er Theil.
Bd. 2. S. 218.
3) S. oben. -S. 125.
Die Dravida oder Urbewohner Vorderindiens. aSj
den sollen, so ist dieser gewagte Schritt schon von Sprachkennern *)
gemissbilligt worden, eine Völkerkunde aber, welche den Körper-
merkmalen das entscheidende Gewicht beilegt, kann nur vor diesem
Irrthum warnen. In den Dravidasprachen stossen wir bereits auf
Keime zur Unterscheidung eines grammatischen Geschlechtes, in-
sofern nämlich die Hauptwörter in solche einer „hohen" und in solche
einer „niedern Kaste" zerfallen. Alle Wörter, die höhere Wesen,
Menschen, Götter oder Geister bezeichnen, gehören in die hohe,
alle anderen, die Thiere, sonstige sichtbare Gegenstände und Be-
griffe ausdrücken, in die niedere Kaste*).
Die männliche Form wird durch die Endsylbe <f», oH, 6n zu-
sammengezogen aus avan dieser, die weibliche durch die Endsylben
<f/, al zusammengezogen aus aval^ diese, gebildet, es heisst daher
magan^ der Sohn, magal die Tochter, Ulan der Hausherr, illäl die
Hausfrau^).
1) Whitney, Language and the study of language. p. 327.
2) K. Graul, Tamil Grammar § ii. Biblioth. Tamulica. tom. IL p. 17.
3) Fr. Müller l. c. S. 85.
V.
HOTTENTOTTEN UND BUSCHMÄNNER,
In den südlichen Theilen Afrika's, der atlantischen Küste nahe,
vom indischen Ocean nach Westen verdrängt, zum Theil in Horden
verstreut, sitzt eine Menschenrace , die in zwei Abtheilungen zer-
fällt, in die Hottentotten und in die Buschmänner. Der eine
Name bedeutet Stotterer und wurde ersteren wegen ihrer Schnalz-
laute zum Spott von den Holländern gegeben. Gegenwärtig
ersetzt man ihn durch Koikoin, was die Menschen heisst, und
womit die Hottentotten sich selbst bezeichnen. Der Ursprung des
Namens Buschmänner ist noch völlig dunkel, von den Hottentotten
werden sie San (Plural von Sab) geheissen. Gemeinsam ist beiden
Abtheilungen der büschelförmige Haarwuchs, der aber auch bei
den anderen Südafrikanern, wenn auch minder scharf ausgeprägt,
auftritt. Von diesen trennt sie zunächst die ledergelbe oder leder-
braune Farbe der Haut, welche letztere durch frühe und starke
Runzelung auffällt. Auch sind ihre Fingernägel nie hell gefärbt
wie bei den Bantunegern ^).
Die Frauen dieser beiden Abtheilungen zeichnen sich durch
Steatopygic aus*), eine Eigenthümlichkeit , die darin besteht, dass
die Fettpolster des Gesässes oben treppenartig vorspringen , dann
aber allmälig in den Schenkel übergehen, also umgekehrt^), wie bei
allen übrigen Menschenracen gestaltet sind. Ein weniger gutes
i) G. F ritsch, Eingeborene Südafrika's. S. 264. S. 279.
2)Theophilus Hahn erzählt jedoch, dass auch bei Männern im
Jugendalter diese Fettbildung auftritt. Globus 1867. Bd. XII., Nr. ii. S. 332.
3) Nach dem Sectionsbefund der Afandy, die 1866 als Leiche nach Tü-
bingen gelangte. Archiv für Anthropologie. Bd. 3. S. 307.
Hottentotten und Buschmänner. ^^S i)
Merkmal ist die Verlängerung der /adia minora und des praeputiuvi
clitoridis (Hottentottenschürze) bei Frauen, da ähnliche Abweichungen
nicht blos in Afrika, sondern auch in Amerika vorkommen'). Der
Bart keimt nur spärlich und die andere Haarbekleidung des Körpeis
grenzt an Kahlheit. Nach den Welcker'schen Messungen beträgt
das Breitenverhältniss der Köpfe nur 69, da sich aber der Schädel
nach rückwärts sehr stark verbreitert, so würde der Index, wenn
man an der breitesten Stelle den Tasterzirkel einsetzen wollte,
noch um ein paar Procente höher steigen. Noch schärfer aber
unterscheiden sich die Schädel bei der Betrachtung des Hinter-
hauptes, weil die Höhe selbst noch hinter der so geringen Breite
zurückbleibt, so dass also diese Völker zu den niederen
Schmalschädeln gehören. Die Kiefern drängen in der Regel nach
vorwärts, doch hält sich der Prognathismus innerhalb massiger
Grenzen. Auch die Jochbogen treten seitlich hervor. Die Lippen
sind zwar sehr voll, aber nie so wulstig wie bei südafrikanischen
Negern. In der Gegend der Nasenwurzel heben sich öfters die
Nasenknochen f^t gar nicht über ihre Umgebung hervor, so dass
die aufgestülpte Nase erst kurz über dem Munde hervortritt. Die
Augen sind schmal geschlitzt, aber nicht schief gestellt, wie
Barrow^) behauptet hat, der sich wahrscheinlich dadurch täuschen
Hess, dass die Koi-koin zum Schutze gegen das blendende Sonnen-
licht^) ihre Brauen zusammengezogen halten. Die. Buschmänner,
die alle diese Merkmale mit den Koi-koin gemein haben, unter-
scheiden sich von diesen wieder durch Besonderheiten zweiter
Ordnung. Ihre Grösse ist beträchtlich geringer als die der Koi-
koin"^), doch werden die Horden westlich vom Ngami See als
stattlicher beschrieben. Künftigen Reisenden bleibt es überlassen,
zu untersuchen, ob nicht die Obongo — schmutzig gelbe, kleine,
4' 4" bis 5' hohe Menschen mit büschelförmig wachsenden Haaren,
aber nicht kahler, sondern mit Flaum stark bedeckter Haut, die
i) Dr. Ploss in der Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1871. Bd. 3. S. 381.
2) Travels into the interior of Southern Africa. London 1801. tom i. p. 157.
3) Fritsch, Eingeborene Südafrika's. S. 289.
4) Barrow gibt als Maxima der Leibeshöhe unter einer Horde Busch-
männer nahe am Orange River 4' 9" engl, für die Männer und 4' 4" für die
Frauen an. Travels into the interior of South Africa. tom. I. p. 277.
4QO Hottentotten und Buschraämier.
Du Chaillu im äquatorialen Westafrika') als scheue Waldbewohner
antral", ferner die zwergenhaften Acka oder Ticki-Ticki, deren
Sitze in den Süden des UeUe, also nicht mehr in das Nilgebiet
von Dr. Schweinfurth verlegt werden"} und endlich die kleinen
Doko iin Süden von Kaffa, über welche Krapf freilich aus einem
nicht allzu glaubwürdigen Munde Erkundigungen einzogt), die zu-
siimmengeschmolzenen letzten Reste einer ehemals weitverbreiteten
Urbeifilkerung seien, die den Buschmännern sehr nahe stehe*).
f'if letzteren unterscheiden sich auch darin von den Hotten-
totten, dass die Geschlechtsmerkmale zweiter Ordnung bei ihnen
mit einziger Ausnahme der Steatopygie völlig fehlen. Die Männer
überra^'L-n nicht durch ihre Grösse die Frauen und die beider-
seitigen Becken sind zum Verwechseln ähnlich, ja selbst die
übrigens schwache Entwicklung der Brustdrüsen gleicht sich bej
beiden 'leschlechtern der Buschmänner in auffallender Weise^.
Buschmänner und Koi-koin bilden eine gemeinsame Race, sie
sind, wie Theophilus Hahn bemerkt, Geschwister einer Mutter.
-Sjirachlich allerdings haben sie nur die Schnalzlaute gemein, die
durch oin Anlegen der Zunge an die Zähne oder an verschiedene
Stellen des Gaumens und durch ein rasches Zurückschnellen her-
vorgebracht werden. Einen dieser Schnalzlaute gebrauchen Euro-
päer, um ihren Verdruss auszudrücken, einen anderen hören wir
bei Fuhrleuten, die ihre Rosse ermuntern. Ausser den Schnalz-
lauten besteht zwischen den Sprachen der San und Koi-koin^) keine
Aehnlichkeit, abgesehen von wenigen Worten, die beiderseitig aus-
getauscht worden sind'). Die Mundarten der Buschmänner weichen
wie bei allen Jägervölkern stark auseinander, doch bleibt eine ge-
wlific ^'crwandtschaft noch immer kenntlich*); auf welche Art sie
il Ashango-Laod, p. 316—330.
:) Pctermann'E Mittbeilnng. 1871. pag. 138.
ii J. L. Krapf, Reisen in Oslafrika, Komthal 1858. Bd. i. S. 76—79.
4) üehrn über das Buschmännergebiel in Felercaann's Miltheilangen.
L838. S. 21II; über die ZwergTÖlker in Ardka ebendaselbEl. 1871. S. 139 ff.
51 Fritsch, Eingebome Südafrika's. S. 407. S. 415-
h\ Thcophilns Hahn, im Globus 1870. 3. Sem. S. 84-
71 Fritsch, drei Jahre in Südafrika. S. 253— 2S4-
«] Iheaphilus Hahn, VI. u. VII. Jahresbericht des Dresdener Verein»
für lirdl^unde. S. 71.
HoltentoUen und Buschmänner. 4QI
aber bei der Wortgestaltung verfahren, darüber fehlt uns noch jede
Belehrung').
Die Sprache der Koi-koin ist dagegen eine grosse Merk-
würdigkeit der Völkerkunde. Der Missionär Moffat war der erste,
welcher entdeckte, dass sie Aehnlichkeit mit der altägypti sehen
zeige. Dies war auch die Ansicht 'von Lepsius*), der wieder
Pruner Bey huldigte^). Selbst Max Müller hat diese Behauptung
verfochten^) und sogar Whitney sie wiederholt 5). Bleek endlich
gibt zwar zu, dass die Hottentottensprache in den Lautzeichen für
die Geschlechter mit dem Altägyptischen und Koptischen inniger
übereinstimme, als mit anderen Sprachen, dass sich aber auch
wieder Anklänge an semitische Forftien finden^). Gegen die Ver-
wandtschaft haben sich v. d. Gabelentz, Pott, Friedr. Müller und
Theophilus Hahn ausgesprochen und wir wären nicht zu dieser
erledigten Streitfrage zurückgekehrt, wenn sich nicht deutlich aus
ihr ergeben würde, dass die Mundarten der Koi-koin eine sehr
hohe Entwicklung haben müssen und zwar eine so hohe, dass ein
Sprachforscher wie Martin Haug ihre höheren und feineren Be-
standtheile „nur durch Berührung mit einem civilisirten Volke"
«ich erworben denken kann. Ob dieses Volk das altägyptische
gewesen sei, müsse vorläufig unbeantwortet bleiben 7). Für eine
solche Berührung spricht jedoch bis jetzt keine einzige Thatsache.
Ehe daher nicht strenge Beweise für solche Vermuthungen beige-
bracht werden, müssen wir vielmehr darauf bestehen, dass Sprachen
auch durch solche Völker verfeinert werden können, welche ohne
i) Eine Sittenschilderung der Buschmänner wurde schon auf S. 148 fl.
gegeben.^
2) S. G. Morton, Types of mankind. Philadelphia 1854. p. 233.
3) L'origine de Tancienne race 6gyptienne. Memoire lue ä la Soc. d'An-
throp. I. aoüt 1871. p. 430. (Nach einem Separatabdruck wahrscheinlich aus
de-m Bulletin der Pariser anthropoL Gesellschaft.)
4) Science of Language. London 1864. tom. II. p. ii.
5) Language and the science of language. London 1867. p. 341.
6) Reineke Fuchs in Afrika. Weimar 1870. p. XXVIII. Bleek hielt
bis zu seinem Tode an der gemeinsamen Abkunft der Hottentotten- und der semito-
haraitischen Sprachen fest. Journ. Anthrop. Inst. tom. I., p. LXXIX.
7) Anthropologisches Correspondenzblatt 1872. S. 31.
:r.v,
492
Hottentotten und Buschmänner.
Berechtigung Wilde genannt worden sind. Die gesellschaftliche»
Zustände unsrer Vorfahren zu Tacitus* Zeiten waren nur wenig
besser als die der Koi-koin und dennoch besass ihre Sprache
schon damals arische Hoheit.
Das Nama und die anderen Mundarten der Koi-koin befestigen
die starkabgeschliffenen Formlaute am Ende der Wurzel. Aus koi
Mensch wird koi-b Mann, ^ot-s Weib, koi-gu Männer, koi-ti Weiber.
koi'i Person, koi-n Leute. Wir wählen dieses Beispiel, um hinzuzu-
fügen, dass aus kot Mensch koi^si freundlich, koi-si-ö Menschen-
freund und kot'Si'S Menschlichkeit entsteht^). Da sehr viele lieb-
lose Anthropologen den alterthümlichen Volksstämmen vorgeworfen
haben, dass sich in ihren Sprachen keine Ausdrücke für Abstrac-
tionen, oder kein Wort für Gott oder Moral finde, so wollen wir
daran mahnen, dass die Hottentotten einst auf die tiefste Stufe
gestellt, das obige Wort für Humanität besitzen.
Da sie seit etlichen Jahrhunderten schon mit Europäern und
Mischlingen verkehren, so müssen wir uns über ihre Sitten und
Gewohnheiten durch die älteren Schilderungen unterrichten lassen
und unter diesen ist die beste jedenfalls die von Kolbe aus den
ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts.
Die Hottentotten waren|^Rindcrhirten zur Zeit, als sie die
Portugiesen zuerst zu Gesicht bekamen*), betrieben aber keinen
Ackerbau, sondern begnügten sich mit den wild wachsenden
Früchten und Wurzeln, welche letztere nicht eher ausgegraben
werden durfteft, als nachdem die reifen Samen ausgefallen waren ^).
Als Obdach diente ihnen ein niedriges, halbkugelförmiges Gestell aus
Stäben, die in die Erde gesenkt, gebogen, zusammengebunden und mit
Binsenmatten gedeckt wurden. Lederne Schürzen und Mäntel bildeten
die Bekleidung, auch gehörten die Hottentotten zu den Sandalen-
trägern und es bedeckten sich beide GeFchlechter, die Frauen aus
Schamhaftigkeit den Kopf mit einer Fellmütze. Speere, Wurfstecke
(Ki'n) und Fechterstäbe zum Pariren waren ihre Waffen und da sie
i) Xama Grammatik von Th. Hahn, in dem VI. und VII. Jahres-
bericht des Dresdner Vereins für Erdkunde. S. 32.
2) Die Angra dos Vaqueiros oder der Landungspunkt des Bartho-
lomeu Dias (Barros, Da Asia, Dec. I., livro III., cap. 4) war die heutige
Algoabni. Peschel, Zeitalter der Entdeckungen. S. 94.
3) Kolbe, Vorgebirge der guten Hoffnung. S. 460.
Hottentotten und Buschmänner. 4g3
jagten , führten sie auch Bogen und Pfeile , welche letztere ver-
giftet wurden. Wie alle Afrikaner verstanden sie Eisenerze aus-
zuschmelzen und das Metall zu verarbeiten. Ebenso war das Ab-
richten der Reitochsen von Alters her bei ihnen gebräuchlich.
Gekocht wurde in Thongeschirren. Aus Honig bereiteten sie ein
berauschendes Getränk, wie denn \hr starker Hang zu solchen
Genussmitteln das Branntweintrinken später bis zu einem natio-
nalen Laster hat ausarten ' lassen. Dazu gesellte sich schon seit
Janger Zeit das schädliche Rauchen von Dacha oder Hanf, welches
sie mit den B^ntunegern gemein haben. Durch ihre Unreinlich-
keit haben sie sich wohl am meisten die Geringschätzung der
Europäer zugezogen. Der unglaublich klingende Gebrauch, dass
beim Abschluss einer Heirath der Schamane das Brautpaar mit
seinem Urin besudelt, soll wirklich bei dep Namastamme noch
jetzt fortdauern*). Vergessen wir jedoch nicht, dass die Neapoli-
taner und Iren, sowie die Zigeuner trotz ihrer Unsauberkeiten zu
den Gliedern der arischen Völkerfamilie gehören, sowie dass dem
brahmanischen Hindu als Reinigung von allerhand Sünden das
Trinken von Rinderharn vorgeschrieben worden war. Rachsucht,
geringe Ehrfurcht vor den Eltern und das Aussetzen der Alters^
schwachen in Einöden sind ebenfalls Flecken im Charakter der
Hottentotten. Ihr Hang zur Freiheit oder deutlicher gesprochen
zum Müssiggang hat ihre Kopfzahl stark vermindert und ihr gänz-
liches Aussterben wird sich schwerlich abwenden lassen. Sie lebten
in Horden unter Häuptlingen, die ihr Ansehen mit den Aeltesten
einer Gemeinde theilten. Bisweilen haben wohl auch die einzelnen
Horden Bündnisse zur Abwehr gemeinsamer Feinde geschlossen.
Noch jetzt nennen sich die Kei-j^^hous oder das „rothc Volk"
einen königlichen Stamm*), woraus vielleicht geschlossen werden
darf, dass ehemals die Koi-koin wenn auch nur kurze Zeit zu
einer Nation von einem begabten Herrscher vereinigt waren. Die.
Vielweiberei ist verstattet, aber selten. Kolbe rühmt, dass nie
eine Frau misshandelt werde ^), doch bestätigen neuere Beobachter
nicht das Gleiche; vielleicht, dass die besseren alten Sitten durch
i) Kolbe S. 453. Theophilus Hahn, VII. Jahresbericht der Dresd-
ner Geogr. Ges. S. 9.
2) Fritsch, Eingeborne. S. 361.
3) 1. c. S. 552.
494
Hottentotten und Buschmänner.
das schlechte Beispiel der Boeren verdorben worden sind. Wie
die benachbarten Bantuneger zeigen sich die Koi-koin bei öffent-
lichen Gerichtsverhandlungen in allen forensischen Künsten be-
wandert. Die Pflichten der Blutrache sind nicht völlig erloschen,
doch begnügt man sich meistens mit Entrichtung von Wergeldern.
Ueber die Religionsschöpfungen dieser merkwürdigen Be-
völkerung herrscht noch grosse Dunkelheit. Gewiss ist nur, dass die
Koi-koin den männlich gedachten Mond verehren. Ihren Glauben
an eine Fortdauer der Entschlafnen bezeugt die Sitte, dass sie
den Leichen bei der Beerdigung eine Stellung wie im Mutter-
schoosse geben, auch brechen sie ihren Kraal sogleich nach jedem
Todesfall ab, um sich aus der Nähe des Grabes z\i entfernen.
Ahnendienst ist streng nachgewiesen worden bei der Koranahorde,
welche im Tsui-^pab einen grossen Häuptling früherer Zeiten ver-
ehrt *). Weit schwieriger ist es zu entscheiden , ob der hotten-
tottische Heitsi -Eibib ein geschichtlicher Held gewesen sei. Zu
seinem Andenken häufen sie Steine auf Steine zu Grabhügeln
und ihm zu Ehren werden Tänze aufgeführt, sodass die Namaqua
von Stammesgenossen sagen „sie tanzen noch'* oder „sie tanzen
nicht mehr**, je nachdem sie ein Verharren im Heidenthum oder
eine Bekehrung zum Christenthume ausdrücken wollen.' Wenig
Aufschluss gewähren die Fabeln, welche über Tod und Thaten
dieses räthselhaften Wesens erzählt werden*). Mehr als einmal soll
er gestorben und wieder geboren worden sein, so dass Viele ihn
mit der Mondgottheit für eins halten^). Unter den Hottentotten,
gab es auch Schamanen, die über Regen und Sonnenschein Ge-
walt ausübten und die Geister der Krankheiten austrieben. Natür-
lich fand sich auch der Glaube an Zaubermittel vor, doch stiftete
die Hexenverfolgung lange nicht soviel Unheil an, wie bei den
Bantunegern.
Wer die hohe Entwicklung ihrer Sprache zu würdigen ver-
steht, wer ausserdem zu schätzen weiss, dass die Hottentotten
fremde Sprachen leicht erlernen und tadellos sprechen, wer nach
den Mustern im Reineke Fuchs von Bleek ihre Gabe bewundert.
1) Fiitsch, Eingeborne. S. 338.
2) Bleek, Reineke Fuchs. S. 59—64.
3) Theophilus Hahn, Die Nama-Hottentotten. Globus 1867. Bd. 12.
S. 276.
Hottentotten und Buschmänner.
495
Thierfabeln fremden Ursprungs für afrikanisches Verständniss um-
zugestalten, der wird nicht länger dulden, dass die Koi-koin zu
den niedrigsten Menschenracen gezählt werden, ja er wird ihnen
sogar unter den Ilalbculturvölkern eine möglichst hohe Stellung
zuerkennen. Gewiss besassen sie für gesellschaftliche Verbesserungen
alle Anlagen, aber die Wasserarmuth Südafrika's, welche seine
Bewohner zwingt, immer wieder zu wandern, hat ihr Sesshaft-
werden verhindert und damit war auch eine grössere Verdichtung
der Bevölkerung ausgeschlossen.
Ehe wir diesen kurzen Abriss schliessen, möchten wir noch
auf ein merkwürdiges Zusammentreffen absonderlicher Aehnlich-
keiten zwischen den Koi-koin und den Fidschipapuanen aufmerk-
sam machen. Nicht nur ist der büschelförmige Haarwuchs und
die schmale Schädelform beiden gemeinsam, sondern es ist auch
innerhalb der papuanischen Race bei Frauen Neigung zur Steato-
pygie vorhanden '). Weniger Gewicht dürfen wir darauf legen, dass
bei beiden Menschenstämmen Männer und Frauen getrennt speisen,
denn dieser Brauch kehrtauch häufig anderwärts wieder. Merkwürdiger
ist es schon, dass die Fidschi-Frauen zur Trauer über Todte sich
Fingerglieder abschneiden und dass diese Verstümmelung auch bei
den Koi-koin vorkommt und zwar in der Regel vorzugsweise beim
weiblichen, seltener beim männlichen Geschlecht. Seltsam ist aber
geradezu das Zusammentreffen der Sagen über die Sterblichkeit
des Menschengeschlechtes. Zwei Götter, erzählen die Fidschi,
stritten darüber, ob nicht den Menschen ein ewiges Leben zu-
kommen solle. Ra-Vula, der Mond, wollte uns einen Tod gönnen,
wie den eignen, das heisst, wir sollten eine Zeit lang verschwinden,
und dann erneuert wiederkehren. Ra-kalavo, die Ratte jedoch
verwarf den Vorschlag. Die Menschen sollten vielmehr sterben,
wie die Ratten sterben und Ra-kalavo behielt Recht ^). Die Koi-
koin dagegen haben nach Andersson^) die Sage folgendermaassen
gestaltet. Der Mond trug dem Hasen die Botschaft an den Menschen
auf: wie ich sterbe und wieder erneuert werde, so sollt auch ihr
i) Wenigstens Lei den Anwohnern des Utanataflusses in Neuguinea.
Natuurlijke Geschiedenis der nederlandsche overzeesche bezittingen. Land- en
Volkenkunde door Salomon Müller, fol. 45.
2) Williams, Fiji and the Fijians. tom. I. p. 205.
3) Lake Ngarai. London 1856. p. 342.
|(i() Hottentotten und Buschmänner.
sterben und wieder lebendig werden. Der Hase richtete die Bot-
schaft jedoch verkehrt aus, denn er gebrauchte die Worte: wie ich
sterbe und nicht wieder geboren werde. Als er dem Monde
seinen Missgriff gestanden hatte, schleuderte dieser ergrimmt einen
Stecken nach dem Hasen, der diesem die Lippen aufschlitzte.
Auch ergriff der ungetreue Bote die Flucht und streift noch heute
flüchtig auf der Erde*).
Wie verführerisch ist es nun, das Zusammentreffen entscheiden-
der Körpermerkmale, sonderbarer Sitten und sogar einer eigen-
thümlichen Sage entweder dadurch zu erklären, dass die Koi-koin
und papuanischen Fidschi von gemeinsamen Voreltern der Urzeit
abstammen oder wenigstens, dass sie ehemals so nahe neben ein-
ander sassen, um Sitten und Sagen auszutauschen. Dennoch ist
weder das eine noch das andere glaubwürdig. Bei schärferer Unter-
suchung unterscheiden sich die Koi-koin durch die Farbe der
Haut, durch den Mangel an Leibhaaren, durch die geringe Höhe
ihrer Schädel hinreichend von den Fidschi. Das Abschneiden der
Fingerglieder wird bei den Koi-koin in der Jugend vollzogen und
scheint irgend ein abergläubisches Schutzmittel gewähren zu sollen *),
kommt übrigens auch bei Polynesiern und auf den Nikobaren vor ^).
Somit bleibt nur die übereinstimmende Verknüpfung des Mondes mit
der Unsterblichkeitshoffnung übrig. Allein sie bestätigt blos den
alten Satz, dass derselbe Gedanke bei den verschiedenen Spielarten
unsers Geschlechtes in verschiedenen Räumen und zu verschiedenen
Zeiten durch die nämlichen Gegenstände angeregt worden sei. Das
psychische Einerlei der Menschennatur sollte also fernerhin nicht
mehr bestritten werden.
1) Eine andere Wendung des UnsterbUchkeitsmythus findet sich bei den
Bantiinegern. Casalis, Les Bagsoutos. Paris 1859. p. 255.
2) Bei Maclean, Kafir laws and customs, p. 93, wird derselbe Gebrauch
von Kafim berichtet. Auch die Buschmänner sollen die vorderen Glieder der
Finger vom kleinen an der linken Hand angefangen bei Erkrankungen opfern
in der Meinung, dass mit dem abrinnenden Blute die Krankheit sich ent-
fernen werde. Barrow, Travels, tom. I., p. 289.
3) Tylor, Anfange der Cultur. Bd. 2. S. 402.
VI.
DIE NEGER.
Die Neger bewohnen Afrika vom Südrande der Sahara an-
gefangen bis in die andere Halbkugel zu dem Gebiete der Hotten- *
totten und Buschmänner, sowie vom atlantischen Meere bis zum
indischen Ocean, nur dass d^r äusserste Osten ihres Welttheiles
von eingedrungenen Hamiten und Semiten ihnen abgerungen
worden ist. Die meisten Neger tragen hohe und schmale Schädel.
Die mittleren Procentsätze der Breite beginnen nach Welcker bei
68 und erheben sich bis 71, sinken in einzelnen Fällen unter 63
und steigen in anderen bis 78 herauf.- Die Schwankungen ge-
niessen einen solchen Spielraum, dass Barnard Davis') unter 18
Köpfen des äquatorialen Afrika nicht weniger als vier Breitschädd
fand. Bei der Mehrzahl gesellt sich dazu ein Vortreten des Ober-
kiefers und eine schiefe Stellung der Zähne, doch gibt es wiederum
ganze Völkerschaften, die völlig mesognath sind. Einer gehässigen
Schule von Völkerkundigen war der Neger zum Inbegriff alles
Rohen und Thierartigen geworden. Jede Entwicklungsfähigkeit
suchte sie ihm abzustreiten, ja seine Menschenähnlichkeit in Zweifel
zu ziehen. Der Neger, wie ihn das Lehrbuch erforderte, vereinigte
mit einem eirunden Schädel, einer flache- Stirn und einer Schnauzen-
form wulstige Lippen, eine breitgequetschte Nase, kurzes ge-
kräuseltes Haar, falschlich Wolle genannt, schwärzliche oder
schwarze Hautfarbe, lange Arme, dünne Ober-, wadenlose Unter-
schenkel, allzu stark verlängerte Fersenbeine und Plattfüsse. Den
vollen Zubehör dieser Hässlichkeit besitzt wohl kein einziger
afrikanischer Stamm*). Die Hautfarbe durchläuft vielmehr alle
1) Thesaurus crapiorum. p. 210.
2) Der typische Neger, sagt Winwood Reade (Savage Africa, p. 516) ist
selbst unter Negern eine seltene Spielart.
Peschel, Völkerkunde. 32
498 i^ie Neger.
Stufen von Ebenholzschwärze wie bei den Joloffern bis zur hellen
Mulatienfarbe bei den Wakilema, während Barth ^) sogar kupfer-
rothe Neger in Marghi beschreiben kann. Am Schädel ver-
schwinden bei vielen Stämmen wie bei den erwähnten Joloffern die
vorstehenden Kiefern sammt den wulstigen Lippen^). Die Nasen
sind bei manchen Horden zugespitzt^), gerade oder gebogen'*),
man spricht sogar von „griechischen Profilen" und Reisende äussern
betroffen, dass sie unter Negern „nichts vom sogenannten Neger-
typus" wahrnehmen körinen^).
Nach den Untersuchungen Paul Broca's^) sind die oberen Glied-
massen des Negers verglichen mit den unteren viel kürzer, demnach
minder affenartig als beim Europäer und wenn auch der Neger durch
die Länge der Speiche sich den Affenverhältnissen mehr nähert, so ent-
fernt er sich von diesen wieder durch die Kürze des Oberarmbeines
mehr als der Europäer. Vorherrschend ist bei den Negern aller-
dings der schmale mehr oder weniger hohe Schädel. Als be-
harrliches, allen gemeinsames Merkmal aber lässt sich nur eine
mehr oder weniger starke Dunkelung der Haut, nämlich, gelb,
kupferroth, olivenfarbig, dunkelbraun bis ebenholzschwarz angeben.
Immer übersteigt die Farbe eine südeuropäische Bräunung. Dazu
gesellt sich das meistens kurze Haar, elliptisch im Querschnitt,
häufig der Länge nach gespalten und stark gekräuselt. Bei den
Negern Südafrika's, besonders bei Kafirn und Betschuanen verfilzt
es sich büschelförmig, wenn auch nicht so stark wie bei den
Hottentotten 7). Das Haar ist schwarz, im Alter weiss, doch gibt
es auch Neger mit rothen Haaren , rothen Brauen und rothen
Wimpern*), ja Schweinfurth hat sogar graublonde Neger unter den
i) Nord- und Centralafrika. Bd. 2. S. 465.
2) Mungo Park, Reisen. Berlin 1799. S. 14.
3) Bei den Batonga zwischen den Camerunbergen u. dem Gabun. Win-
woüd Reade, Savage Afrika, p. 515.
4) Bei den Quissamanegern in Angola. Hamilton, Journal of the
Anthropol. Institute. London 1872. tom. I., p. 187.
5) z. B. Hugo Hahn bei den Ovakuengama und Ovambo. Petermann's
MiitheDungen 1867. S. 291.
6) Anthropological Review. London 1869. tom, VH, p. 199 — 200.
7) S. oben S. 99.
8) z. B. am Gabun, vgl. Walker im Journal of the Anthropological So-
ciety. London 1868. vol. VI, p. LXII.
Die Neger. ^gg
Monbuttu am Uelle entdeckt'). Leibhaar und Bartwuchs sind vor-
handen, wenn auch nicht reichlich, Backenbärte selten, wenn auch
nicht ganz unerhört*).
Die Neger bilden nur eine einzige Race, denn die vorherrschen-
den wie die beharrlichen Merkmale kehren in gleicher Weise in
Südafrika so gut wieder wie in Mittelafrika, es war daher ein
Missgriff, die Bantuneger als eine besondere Race abzutrennen,
Wohl aber kann - man der Sprache nach die Südafrikaner sehr
streng als eine grosse Familie von den Sudannegern absondern.
I) Bantuneger.
Ihnen gehört Südafrika, soweit es überhaupt bekannt ist, vom
Aequator angefangen, ja ihre Sitze reichen sogar noch bis in die
nördliche Erdhälfte bis etwa zum 5. Breitegrade hinauf. Ihre
Sprachen kennen wir bereits^) an ihren eigenthümlichen sinnbe-
grenzenden Präfixen, ausserdem aber ist ihnen allen eine grosse
Anzahl von Wurzeln gemeinsam. Zur bessern Uebersicht kann
man sie in " Ost-, West- und Binnenstämme eintheilen *). Die Ost-
stämme zerfallen wieder in sansibarische, zu denen die Suaheli
gehören, in Mosambique-Völker von der Küste bis zum Nyassa-
See, in die Betschuanen weiter im Innern, endlich in die soge-
nannten Kafirn. Zu den Binnenstämmen werden die noch wenig
bekannten Horden der Ba-yeiye, Ba-lojazi, Ba-toka, Barotse
u. s. w. gezählt. Gliederreicher sind die Weststämme in den
atlantischen Gebieten. Sie zerfallen erstens in die Bundavölker, zu
denen die Herero^) (fälschlich Damara genannt), die Ovambo und
ihre Verwandten, die Nano oder Ba-nguela in Benguela, die
A-ngola in Angola, zählen. Das zweite Glied der westlichen
Gruppe vertreten die Kongoneger, nämlich die eigentlichen Kongo
und die Mpongwe. Endlich gehören zu einer dritten Abtheilung
1) S. oben S. 97.
2) S. oben S. loi — 102. Gerhard Rohlfs. Keise von Kuka nach
Lagos. Petermann's Mittheilungen. Ergänzungsheft Nr. 34. S. 15.
3) S. oben S. 125 ff.
4) vgl. A. Bacmeister im Ausland 1871. S. 580.
5) Ihre Sprache dient im Verkehr auch vielen anderen Stämmen. Hugo
Hahn, Petermanns Mittheilungen 1867. S. 290.
32*
500
Die Negei.
eine Anzahl Nordwestsprachen, wie die der Ba-kele im Di-kete, der
Benga am Gabun, der Dualla in den Camerun bergen, der Isubu
und der neu eingewanderten ganz nackten Adiya der Insel Fer-
nando I'o'). Endlich sind hier auch noch die merkwürdigen Ba-
fan oder Fanneger zu erwähnen, welche vor nicht langer Zeit aus
dem Inoern nach der Küste wanderten und sonderbar gezackte
Wurfeisen'), wie fiie Sandeh oder Niamniam sowie hamitische
Stämme- in Nubien verfertigen.
2. Die Sudanneger.
Wir beginnen ihre Aufzählung am Niger und schreiten nach
Westen fort, um uns dann hufeisenförmig nach dem Gebiet des
weissen Nils zurück zu wenden. Im unteren Laufe des Niger
wird die Ibo-, vom Benue aufwärts die Nuffisprache geredet, die
Licide noch nicht untersucht sind. Westwärts folgt die Ewlie-
sprachc, die als Mundarten das Joruba, das Dahome und das
binneiiM'ärts von diesem auftretende Mahi umfasst. Linguistisch
verwandt sind den vorigen die Sprachen der Neger an der Gold-
küste, \velche das Odschi reden wie die Aschanti, Akim, Akwa-
pim, Akwambu, sowie die Akra. An der Zahn- und PfefTerküste
sitzen eine Menge Horden, unter denen die Kru wegen ihrer
heroischen KörpergrÖsse und ihrer Seetüchtigkeit am bekanntesten
sind. Sprachlich stehen sie den Aschanti und Fanti näher als den
Mandini^'o, von denen sie indessen viele Worte entlehnt haben.
Das Miinde oder die Sprache der Letztern zerialit in eine Menge
Mundarten. Zu diesen gehört die der schriftkundigen Vei^), so
«ie das Soso und Bambara. Diese letzteren Sprachen gestalten
gefunden. Die Adiya dagegen stammen aus
dem Gsbungebiel, von wo sie
durch diid Mpongwe vetiirängt wurden. Wi
nwood Rcade, Savage Africa.
]i. 6j. Dui Marne Adiya soll indessen nur Dorfbewohner bedeulcn. Bastian,
San SaK.idiir. Bremen 1859. S. 317.
ZJ Utj ChaiHu. Euploralions and advc
nlures, London 1861. p. 79. Es
ist mÖEii.h, dass ihnen der Name Ba-fan r
ur von ihren Nachbarn gegeben
worden isl, dann aber würden sie vielleichl
in eine gani andere Gruppe ge-
stellt neiden müssen.
31 S. -«-. Koelle, Outline- of a Gram
nar of tlie \"ei Language. Lon-
Die Neger. 501
das Wort durch Wurzelansätze und zwar treten ihre Suffixe zum
Theil noch selbstständig auf, so dass sich aus ihrem Gebrauch
die Bedeutung ihrer Sinnbegrenzung erklären . lässt '). Die Mande-
neger haben sich etwa zwischen dem 10. u. 15. Breitegrade
von der Küste bis an den Oberlauf des Niger verbreitet. Zwischen
Gambia und Senegal, welcher letztere Strom wie in Vorzeiten
Neger und Berber scheidet, sitzen die Joloffer, die schönsten
Negerstämme, deren Sprache noch vereinzelt steht. Auf dem kleinen
Raum zwischen dem Gambiastrom und Scherboro sind die glieder-
reichen Sprachen der Sererer oder Sdrar- und Fulupfamilie zu-
sammengedrängt, bei denen Präfixe ähnlich wie bei den Bantu-
negern auftreten*).
Begeben wir uns nun binnenwärts in die Länder, die zum
Gebiete des Nigerstromes gehören, so stossen wir sogleich auf
einen räthselhaften Volksstamm, der erobernd bis tief in das Innere
vorgedrungen ist. Es sind die Fulbe (Singular Pulo), von den
Mandingo Fulah, von den Haussaua Fellani, von den Kanuri
Fellata genannt. Der Name Fulbe bedeutet die „Gelben" oder
„Braunen" und sollte den Gegensatz zu schwarzen Negern aus-
drücken^). Mungo Park^), der sie im Westen sah, rühmt ihre
helle Farbe und ihr seidenglänzendes Haar. Eine wohlgebildete
Nase und kleine Lippen werden ihnen allgemein zugeschrieben,
aber derartige Besonderheiten kommen auch bei anderen Negern
vor und wechseln zu stark, um für eine Racenbestimmung zu ge-
nügen. Obendrein bemerkt Barth 5), dass schon im Alter von 20
Jahren „ein affenartiger Ausdruck ihre kaukasischen Gesichtszüge
verwische**. Durch Würde, Schliff, strenge Achtung des Eigen-
thums, sowie Kunstgeschmack unterscheiden sich die Fulbe sehr
günstig von den übrigen Afrikanern. Ihr Typus hat übrigens
durch Mischung mit Negerfrauen seine Reinheit längst eingebüsst.
Imifierhin fand Rohlfs^) im mittleren Theile des Reiches Sokoto,
also tief im Innern unter den Fulbe noch etliche von gelber, fast
r) Ste-inthal, Die Mandenegersprachen. Berlin 1867. §. 129. S. 67.
2) Koelle, Polyglotta africana. London r854. foL r.
3) Koelle, Polyglotta africana. fol. 18.
4] Reisen im Innern von Afrika. S. 14.
5) Nord- und Centralafrika. Bd. 2. S. 544.
6) Ergänzungsheft Nr. 34 zu Petermann's Mittheilungen 1872. S. 45.
502 I^i« Neger. *
weisser Farbe und „europäischer Gesichtsbildung**. Nur das Haar
war „glänzend schwarz und kraus***). Wenn wir also allein von
der Beschaflfenheit des Haares uns leiten lassen wollten, müssten
wir diese Fulbe zu den Negern zählen. Rohlfs erwartet übrigens
nur von den Spracherforschungen Aufschluss über die Stellung
dieses Stammes m einem Lehrgebäude der Völkerkunde. Ihre
Sprache hat aber nach Barth's*) Ausspruch zwar viel Gemeinsames
mit dem Hausa, allein dies beruhe auf späteren Entlehnungen.
Ferner sind in den Zahlwörtern wieder Anklänge zu den Präfix-
sprachen in Südafrika zu erkennen und endlich besteht eine jwirk-
liche Verwandtschaft zu der Sprache der Joloffer, die echte Neger
sind, 'so wie mit dem Kadschaga, der Sprache des ehemaligen
Reiches Ghana, welche gänzlich vereinsamt steht. Am Senegal
waren die Fulbe nicht heimisch , sondern sie lebten als Viehzüchter
und Jäger im 7. Jahrh. nach Chr. noch in den Oasen von Tauat
und südlich von Marokko, empfingen auch Erziehungsmittel, wie
den Anbau von Reis und der Baumwolle aus den Händen der
Kadschaga. Entweder stellen sie also eine extreme Abweichung
der Negerrace oder ein frühzeitiges Mischlingsvolk von halb ber-
berischem, halb sudanischem Blute dar. Eine eigene Race aus
ihnen zu bilden oder in grauen Vorzeiten eine Einwanderung
aus Asien ihnen zuzumuthen, muss anderen mit Einbildungskraft
besser ausgestatteten Völkerkundigen überlassen werden.
Am mittleren Laufe des Niger sitzen die Sonrhay, deren
Sprache gänzlich isolirt steht. Zu bemerken ist jedoch, dass nach
Barth's Ansichten die Sprachen der Völker, die dem Südrande der
Sahara zunächst sitzen, ihre grammatische Ausbildung erst durch
Berührung mit Berbern und Arabern empfingen. Vor dieser Zeit
„besassen sie weder Declination noch Conjugation, sondern knüpften
die Infinitive oder Substantive Verbalwurzel einfach an einen Gegen-
stand oder eine Person an**. Das Berberische wirkte übrigens in
diesem Sinne ungleich . mächtiger als das Arabische 3).
Zwischen dem Niger und Bornu wird das wohlklingende und
formenreiche Hausa gesprochen. Es besitzt einige Verwandtschaft
i) Cailli6 (Voyage ä Tembouctou. Paris 1830. tora. I, p. 328) sagt das
nämliche von den Fulbe in Futa-Djalon.
2) Petermann's Mittheilungen 1863. S. 373.
3) Heinr. Barth. Centralafrikanische Vocabularien. Gotha 1862. pag.
XXV ITI sq.
i.-
Die Neger. ^03
in den Zahlwörtern mit dem Altägyptischen und wird von Lepsius')
sogar zu den libyschen Sprachen gezählt, doch beruhen diese Aehn-
lichkeiten wohl nur auf Entlehnung. Merkwürdig ist es, dass
Herodot die Hausa unter dem Namen Ataranten schon in ihren
heutigen Sitzen kannte"). In Logone wird eine Sprache geredet,
die zur Masagruppe gehört. Das Wandala oder Mandara fand
Barth mit dem Hausa verwandt, Rohlfs hingegen mit dem Kanuri^).
Letzteres, die Sprache im Reiche Bornu, hat Aehnlichkeiten mit
dem T6da, die „bis in das innerste Wesen der Wortbildung hinab-
reichen" ^). Die T6da, Tebu oder Tibbu sitzen bekanntlich west-
lich von der libyschen Wüste, haben die Salzgruben von Bilma im
Besitz sowie die Oase Fesan, wo ihre Vertreter den Negertypus
zeigen^). Da sie Barth mit den Garamanten der alten Geo-
graphen vereinigt, so hätten wir also den linguistischen Beweis,
dass ein Glied der Negerrace durch die Wüste bis in die Nähe
des Mittelmeeres sich verbreitet habe. Barth hat jedoch den Thatbe-
stand wahrscheinlich falsch gedeutet. Der Negertypus der Fesaner
lässt sich nämlich auf Blutmischungen mit Sudanerinnen zurück-
führen. G. Nachtigal, der die T^da weit gründlicher kennen
lernte, fand nichts negerartiges in ihren Gesichtszügen^), während
die Kanuri dem Hässlichkeitsideal der Race recht gut genügen.
Die Sprachverwandtschaft der Letzteren erklärt aber Nachtigal 7)
dadurch, dass das Kanuri sich durch Aufnahme von Tedaformen
entwickelte. Die Teda gehören demnach nicht unter die Neger.
Besondere Sprachen weiter nach Osten sind das Bagrimma
in Baghirmi und eine Sprachenfamilie in Wadai, die Maba ge-
nannt wird 8). In den Städten von Darfur und Kordofan wird
i) Zeitschrift für ägypt. Sprache und Alterthumskunde. Juli-Septbr. 1870.
S. 92.
2) Barth, Vocabularien p. C. leitet «TotpavTe; bei Herodot (IV. 184) ab
von a-tara die Versammelten (Eidgenossen), tara nämlich bedeutet im Hausa
versammeln.
3) Ergänzungsheft zu Petermann*s Mittheilungen. Nr. 34. S. 21.
4) Barth, Vocabularien. p. LXVI — p. XCIV.
5) V. Maltzan, Tunis u. Tripolis. Leipzig 1870. Bd. 3. S. 325.
6) Petermann*s Mittheilungen 1870. S. 280.
7) Zeitschrift für Erdkunde. Berlin 1871. Bd. 6. S. 344.
8) Dr. Nachtigal in Petermann's Mittheilungen 1871. S. 328.
504 ^^^ Neger.
theils arabisch, theils barabrisch gesprochen, während über die
linguistische Stellung der Landbewohner nichts bekannt ist. Im
Gebiet des weissen Nils sitzen die niedrigsten aller Negerstämme.
Vom II. Breitegrade angefangen gegen Süden finden wir die
Schilluk, die Nuehr, die Dinka , weiter westwärts von diesen die
Luoh (Djur), die Bongo (Dohr), die Sandeh (Niamniam) ^). Auf
Sprachverwandtschaft ist noch nicht geprüft worden, nur sovie^
weiss man, dass die Luoh (Djur) und die Bellanda ausgeschwärmte
Schülukstämme sind^). Die Bongo- (Dohr-) Sprache endlich soll
einestheils Verwandtschaft mit dem Maba in Wadai und dem Bag-
rimma andererseits mit dem Nuba zeigen^). Unclassifizirt sind
die Sprachen der EUiab-, Bohr- und Baristämme, sowie der merk-
würdigen Monbuttu'*), die, auf eine Million Köpfe geschätzt, sehr
dicht ein Gebiet von 250 Qu.-Meilen a^ Uelle bewohnen.
Die Dinka- und Schillukneger gleichen ihren körperlichen
Merkmalen nach völlig den Fundjnegern am blauen Nil, die im
16. Jahrhundert das Reich Sennär stifteten, welches eine drei-
hundertjährige Dauer genoss. Die Fundj sind Mesocephalen, aber
stark prognath, ihr Haar erreicht die Länge etlicher Zolle und
kräuselt sich, die stark riechende Haut ist braun bis bläulich
schwarz mit Ausnahme der fleischrothen Hand- und Fussteller,
auch erscheinen die Fingernägel achatbraun. Die Lippen sind nur
fleischig, nicht wulstig, die Nase gerade oder leicht gebogen wie
bei vielen Negern West- und Südafrika's^).
Man hat die Fundj als eigne Race von den Negern absondern
wollen und zwar als nubische Race. Unglücklicher konnte ein
Name wohl nicht gewählt werden, denn Nuba oder Nöbah heissen
die Bewohner der Gebirgsgegenden und des flachen Landes in
Kordofan, die sich in allen obigen Merkmalen den Fundj an-
i) Wir folgen der Sprachenkarte von G. Schwein furth und seinen
Bemerkungen im Globus 1872. Bd. XXII. Nr. 5. S. 75. Die eingeklammer-
ten Namen sind der Dinkasprache entlehnt.
2) G. Schwein furth, Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1872. Bd. 4.
Supplement S. 61.
3) Hart mann, Nilländer. S. 210.
4) Nach der Ansicht von Reinisch soll ihre Sprache der nubisch-liby-
schen Gruppe angehören. Zeitschrift für Ethnologie. Berlin 1873. Bd. 5. S. 16.
5) Hiirtmann, Nilländer. S. 273.
Die Neger. ^05
schliessen, nur dass sie noch negerhafter als Dolichocephalen mit
sehr stark gekräuseltem Haare sich darstellen'). Gänzlich un-
verständlich bleibt es aber, dass sie mit den Fulbe in Westafrika
in Verbindung gesetzt werden konnten. Unmittelbar durch körper-
liche Merkmale, Sprache und Sitten reihen sich die Berthätneger
an die Fundjstämme an*).
Es möchte manchem verfrüht erscheinen , jetzt schon zu
untersuchen, in welchem Maasse die wagrechte und senkrechte
Gliederung Afrika's seinen Bevölkerungen zum Segen oder zum
Verhängniss gereicht habe, da jener Welttheil immer noch grosse
Räume uns verbirgt, über die uns alle Kenntnisse fehlen,
Allmählig ist indessen das völlig unbekannte Afrika auf einen
etwa kreisförmigen Raum zusammengeschrumpft mit dem Aequator
als Durchmesser, der sich, je nachdem man streng oder milde
rechnet, auf ein Gebiet von 66,000 oder 56,000 deutschen Quadr»
Äleilen beschränkt. Australien mit den Küsteninseln erstreckt sich
über eine Fläche von 138,529 Quadr.-Meilen, so dass also die afri-
kanische terra incogniia dem Räume nach noch nicht der Hälfte
jenes Weltheils gleichkommt. Afrika selbst wird mit 543,570 Quadr.-
Meilen berechnet, wovon 11,000 für die zugehörigen Inseln abzu-
ziehen sind, der unbekannte Kern bildet also etwas mehr als l\^
oder \q des Festlandes, je nachdem zuvor reichlich oder knapp
gemessen worden war. Dieser Hohlraum unserer Kenntnisse ver-
mag des Unerwarteten noch vieles einzuschliessen , hohe Tafel-
länder vielleicht oder Schneegebirge, Seen bis zur Grösse des
kaspischen Meeres, oder Ströme, die ein geschlossenes Binnen-
system bilden. Es kann dort zu den bereits bekannten afrikanischen
Racen noch eine neue entdeckt werden, die entweder gar nichts
mit den übrigen gemeinsam hätte, oder die vielleicht als ein ver^
sprengtes anthropologisches Bruchstück sei es mit Nordafrikanern,
sei es mit der südlichen Hottentottenfamilie eine gemeinsame Ab-
kunft verriethe. Endlich wäre es nicht ausgeschlossen, dass in
jenem verschleierten Innern auf einem Hochlande sich eine afri-
kanische Cultur entwickelt hätte von gleichem gesellschaftlichen
1) Hartmann, Nilländer. S. 291. E. Rüppell, Reisen in Nubien.
Frankfurt 1829. S. 153.
2) Hartmann a. a. O. S. 283.
506 Die Neger.
Werthe wie die toltekische in Mittelamerika, oder die incaperqa-
nische auf den Hochebenen zwischen den Andenketten. Uebrigens
erwarten wir selbst keine der angeführten grossen Ueber raschungen,
mit Ausnahme der Entdeckung neuer Seen und grösserer Strom-
gebiete im Bereiche des Aequators, weil dort die echt tropischen
Regen nicht fehlen können, und im Innern geschlossene Becken
einen TKeil dieser Niederschläge zurückhalten müssen, denn sonst
würden reichere Flüsse als die bereits gekannten die Küsten er-
reichen.
Unwegsamkeit ist der Grundzug des afrikanischen Welttheils.
So ungelenk sind seine wagrechten Umrisse zugeschnitten , dass
es nicht blos gänzlich an Halbinseln, sondern auch an ein- und
ausspringenden Winkeln fehlt. Das Hörn der Ostküste bei Dschard-
liafun, das Vorgebirge der Gewürze, wie es in der -alten Erd-
kunde heisst, ist die einzige Halbinsel, der offene Meerbusen von
fxuinea das einzige, was man einen oceanischen Golf nennen
könnte, und die beiden flachen Syrten die einzigen grossen Küsten-
einschnitte Afrika's.
Sind die oceanischen Umrisse schon ungünstig, s'o fehlt es
auch an aufschliessenden Strömen wie etwa der Amazonas. Als
X'erkehrsmittel haben alle Ströme Afrika's einen sehr niedrigen
Rang, selbst den Nil nicht ausgenommen. Der Niger durchströmt
dichtbewohnte Gebiete, und dennoch belebt ihn keine nur redens-
werthe SchifFfahrt. ' In Bezug auf nautische Leistungen stehen aber
auch die Bewohner keines anderen Welttheils so tief als die Afri-
kaner. Die Kru-Neger an der Körnerküste sind die einzigen see-
tüchtigen Schwarzen, die sich willig als Matrosen auf europäische
Schiffe verdingen. Ein Strom zweiten Ranges genügt schon in
Südafrika, um vor feindlichen Bedrängern sich zu sichern. Die
Horden des grossen Eroberers Mosilikatse dehnen ihre Streifzüge
imr bis zum rechten oder südlichen Ufer des Zambesi aus, weil
sie an die Uebersch reitung eines solchen Flusses nicht zu denken
wagen. Da in allen Strömen Afrika's, mit Ausnahme des Nordens
und des äussersten Südens, Krokodile hausen, so sollte man ver-
muthen, an allen volkreicheren Ortschaften Fährboote anzutreffen.
Diese Erwartung wird jedoch vielfach getäuscht, um so häufiger
hat sich der Afrikaner zum Bau von Brücken bequemt. Ob es
zu. Cäsars oder Tacitus' Zeiten Brücken nicht-römischen Ursprungs
in unserer Heimath gegeben habe, möchten wir fast bezweifeln.
Die Neger. ^oj
In Afrika sind sie eine gemeine Erscheinung. Dass Livingstone
ihrer wiederholt auf seinen Märschen gedenkt, darf uns nicht in
Verwunderung setzen, da er das Gebiet ziemlich begabter Volker-
stämme durchzog, allein wir finden selbst bei Negerstämmen an
den westlichen Seitenarmen des weissen Nil, also schon auf der
tiefsten Stufe der afrikanischen Entwickelung , hölzerne Brücken
von „fabelhafter Länge" ^).
Zu der nautischen Verschlossenheit Afrika's gesellt sich noch
als Verschärfung die Unwegsamkeit grosser Binnenräume. Der
Wüstengürtel , der sich vom atlantischen Meer quer durch den
Norden des Festlandes selbst über den Nil hinweg bis zum arabi-
schen Golf verbreitet, scheidet den Welttheil für die Gesittungs-
geschichte in zwei streng gesonderte Hälften , denn während der
nördliche Saum für alle Segnungen des mediterraneischen Bildungs-
ganges empfanglich war, blieb die südliche Hälfte mehr auf sich
selbst angewiesen. Zur Zeit der römischen Ansiedlungen über-
schritt eine einzige geographische Unternehmung die Sahara und
Zweifel sind noch jetzt jedermann verstattet, ob sie bis zum Sudan
selbst oder nur bis zu einer der grossen Oasen vordrang*). Die
Schwierigkeiten einer Ueberschreitung der Sahara waren ehemals
viel grösser, da erst nach Beginn unsrer Zeitrechnung das Kamel
als Lastthier in den Berberlanden eingeführt wurde — eine denk-
würdige Neuerung und für das grosse Festland so folgenschwer
wie für uns der Beginn des Eisen bahnbaues. Selbst die Gewächse
werden von Wüsten in ihren Wanderungen viel wirksamer zurück-
gehalten als von schmalen Meeresarmen, denn während die Floren
des nördlichen Afrika und der Mittelmeerränder Südeuropa's aufs
innigste übereinstimmen, tritt jenseits der Sahara eine neue der
nordafrikanischen entfremdete Pflanzenwelt auf. Diesen Schwierig-
keiten und Schranken begegnete auch die Gesittung, wenn wir
darunter alle durch menschliches Nachsinnen der Natur abgerunge- ^
nen Vortheile, die Veredelung ihrer Gaben, den leichteren Erwerb
und die Verbesserung der Nährstoffe, die Erfindungen zur Abkürzung
1) Petherik, Central- Africa, tora I. p. 236.
2) Vivien de Saint-M artin (Le Nord d*Afriqu6, p. 222). Doch er-
wähnt P tolemäus (Geogr. lib. I, cap. 8) das Nashorn in Agisymba, daher
dieses Land schon dem Sudan angehört haben muss.
508 I^ie Neger.
der Arbeit, die Einrichtungen zu einem geordneten Beisammen-
leben, endlich die höchsten Güter des Menschen, die Erkenntniss
unserer selbst, das Streben nach höherer Würde, nach idealen
Vorbildern, mit einem Worte die Religion, zusammenfassen. An-
dererseits aber nöthigt uns auch eine richtige Schätzung gerade
jener absondernden Gewalt der Wüsten, dass wir sehr viele, wenn
auch nicht alle günstigen bürgerlichen und sittlichen Erscheinungen*,
deren neuere Reisende im Sudan gedenken, als eigene Schöpfungen
der dortigen Afrikaner gelten lassen, und .danachs, wie diess von
Gerhard Rohlfs geschehen ist, unser Urtheil über die Entwicklungs-
fähigkeit der Negerstämme gerechter als bisher bemessen.
Der Werth eines Welttheiles als Schauplatz menschlicher Ge-
sittung richtet sich aber nicht bloss nach seiner eigenen Gestaltung
sondern er steigt und fällt mit seiner Nähe oder seiner Entfernung
von andern besonders bevorzugten Erdräumen. Afrika ist in diesem
Sinne eine Halbinsel der östlichen Erdvest^. Dürften wir uns vor-
stellen, dass die Landenge von Suez eine Meerenge wäre und dass
ganz Afrika um etwa zehn Grad südlicher und westlicher in den
Ocean hinausgerückt läge, so dass es als Inselwelttheil seines Zu-
sammenhanges mit der alten Welt beraubt gewesen wäre, so
würden dort Zustände herrschen müssen, die noch viel unerquick-
licher wären als die jetzigen, viel näher denen, die uns Australieri
zur Zeit seiner Entdeckung gewahren Hess. Durch seine trockene
Verknüpfung mit Kleinasien , seine ^Annäherung an Arabien wie
an Südeuropa genoss Afrika Vorzüge, die der amerikanischen
Menschheit gänzlich versagt blieben. Es stand wenigstens durch
seinen Nordrand und seine östlichen Gestade einer günstigen Ein-
wirkung asiatischer Gesittung offen.
Als eine Wirkung dieser bevorzugten terrestrischen Lage
dürfen wir es betrachten, dass durch den ganzen Welttheil hin-
durch die Kenntniss vom Ausschmelzen der Eisenerze und ihrer
Verarbeitung zu Werkzeugen und Waffen sich verbreitet hat. Wo
immer Reisende in's Innere gedrungen sind, haben sie die Afri-
kaner mitten im sogenannten Eisenzeitalter angetroffen. Keinem
der Stämme, auf deren Gebiete Eisenerze brechen, ist die Erfindung
fremd, durch einen einströmenden Luftstrom eine Kohlengluth bis
zur Hitze der Löthrohrflammen zu steigern. Der afrikanische
Blasebalg besteht aus einem Paar ausgehöhlter Holztrommeln oben
mit ledernen Beuteln geschlossen, unten in eine thönerne Röhre
Die Neger. ^09
tndigend, aus welcher die Luft durch abwechselndes Emporziehen
und Einstossen der Beutel herausgepresst wird. Das Metall, im
Holzkohlenfeuer ausgeschmolzen, ist von vorzüglicher Güte, so dass
sehr viele Neger mit Recht ihre eigenen trefflichen Eisengeräthe
den englischen Einfuhren aus unreinem Metall vorziehen.
Da wo die Natur einem frühen Reifen der menschlichen Ge-
sellschaft hilfreich entgegenkam, sehen wir auch die ältesten
Culturheerde entstehen. Für die alte Welt lag ein solcher Brenn-
punkt in der wie durch gütige Vorsicht angelegten Planetenstelle
zwischen den geschwisterlichen Strömen Mesopotamiens und dem
Nil. Mit der Entfernung von dieser Lichtquelle hätten sich in
Afrika die Zustände verschlimmern sollen und die wirklich beobachte-
ten Erscheinungen bestätigen auch diese Voraussetzung im Grossen,
denn am Nil bis zu den ersten Naturhindernissen treffen wir in
ältesten Zeiten die höchsten Verfeinerungen, an der Südspitze des
Festlandes die niedrigsten Stufen menschlicher Gesellschaft.
. So lange die Weltmeere nicht durch gesteigerte Seetüchtig-
keit überwältigt worden waren, was doch erst seit wenigen Jahr-
hunderten als völlig gelungen betrachtet werden darf, sassen die
alten Bewohner der atlantischen Ränder Afrika's ohne Nachbarn
im Rücken am Ende der Welt, oder wenigstens an der Grenze
des Unbetretbaren. Im Allgemeinen bewährt es sich .daher, dass
im Innern Afrika's weit bessere Zustände gedeihen als an der at-
lantischen Küste. Erst seit etwa zwei Ja^hrhunderten haben stärkere
und begabtere Binnenstämme sich nach dem Meere vorgedrängt.
Die Portugiesen fanden in ganz Guinea nur sehr rohe Horden,
während binnen wärts am Niger bereits grosse Reiche zertrümmert
worden und auf ihren Trümmern verjüngte entstanden waren.
Noch jetzt gilt für die atlantische Seite Afrika's durchschnittlich der
Satz, dass der Binnenafrikaner höher steht als der Küstenafrikaner.
Bezüglich des Sudan brauchen wir nur an Rohlfs' lebendige Schil-
derungen zu erinnern^), aber auch in Südafrika wiederholt sich
die gleiche Erscheinung. Die Negerreiche der Makololo, von Lunda,
des Mosilikatse, des Cazembe liegen alle 'weit binnenwärts, auch
erscheinen in Speke's und Grant's Berichten die Negerstaaten von
Karagwe und Uganda weit geordneter und günstiger als alles was
auf dem Wege dorthin und auf der Heimkehr beobachtet wurde.
i) Petermann's geogr. MUtheilungen. Ergänzungsheft Xr. 25. S. 60.
51 0 I>ie Neger.
Gehen Reisende den Nil aufwärts und liegt Charlum ihnen im
Rücken , dann bewegt sich ihr Fahrzeug nur durch nackte und
rohe Negerstämme an beiden Ufern. Man sollte nun erwarten,
dass mit dem weiteren Vordringen nach Süden und nach Westen,
also besser in's Innere, die Zustände die nämlichen bleiben würden,
allein Spuren vom Gegentheil fehlen nicht gänzlich. Die Niamniam
z. £., das äusserste Vo^k im Südwesten , welches wir kennen , ist
den Stämmen am weissen Nil, den Schilluk, Dinka, Nuehr, Kitsch
und wie sie sonst heissen, weit überlegen durch reichliche Bekleidung^
kunstvolle Eisenarbeiten, bessere Bauwerke und strengere gesell-
schaftliche Gliederung. Sind sie nur die Vorposten anderer höher
entwickelter Negerstämme, so schimmert uns die Hoffnung, ^i im
Süden von Darfur noch einige grössere afrikanische Reiche anzu-
treffen ').
Vergleichen wir das transsaharische Afrika mit den beiden
amerikanischen Festlanden vor Ankunft der Europäer, so entdecken
wir eine Reihe grosser Verschiedenheiten zwischen ihren Gesittungen^
In beiden amerikanischen Welttheilen stossen wir auf eine Mehrzahl
von Horden, die ausschliesslich von der Jagd oder vom Fischfang
leben, dann auf Stämme, die neben der Jagd Ackerbau treiben,
endlich auf reine Ackerbauvölker in Mexico, Yucatan, den Isth-
musstaaten, in Peru und auf der Hochebene von Bogota, So
niedrig stehenden Beispielen der Menschheit, wie einige Athabas-
kahorden in den Hudsoiisbaigebieten oder in Südamerika die
Botocuden, Coroados, Purls oder die Feuerländer, begegnen wir
in Afrika nicht. Andererseits aber hat sich weder ein Neger-
noch ein Kaiir* oder noch weniger ein Hottentotten-Stamm auf
eine gleiche Höhe gehoben wie die Nahuatlvölker Mexico's, die
Yucateken, die Peruaner. Wir begegnen bei ihnen keinen selbst-
ständigen Versuchen, das gesprochene Wort durch Bilder oder
Lautzeichen zu befestigen. Im Sudan suchen wir vergebens nach
Denkmalen, die sich auch nur entfernt messen könnten mit der
Treppenpyramide von Cholula, den überschwenglich verzierten
Bauwerken in Yucatan, den steinernen 'Strassen der Incas oder
den Ruinen der Sonnentempel am Titicaca-See. An geistigen
i) Das Obige wurde schon gedruckt im Ausland 1870. S. 508. Seitdem
hat G. Schwein furth uns mit dem Monbuttureiche bekannt gemacht.
Die Neger. cu
Anlagen ist die mongolenähnliche Race der neuen Welt den
transsaharischen Afrikanern weit überlegen gewesen, zumal alle
Culturleistungen . in Amerika von dem Verdacht fremder Anleitung
völlig befreit sind.
Dafür war in Afrika die Entwicklung viel gleichförmiger, denn
überall treffen wir dort Ackerbau und Viehzucht, ja nicht bloss
Viehzucht, sondern recht eigentliche Milchwirthschait. Als Halb-
insel der alten Welt war Afrika auch für diese Fortschritte in der
Ernährungsweise vor Amerika begünstigt. Dieses besitzt als einzige
Getreideart den Mais, in Afrika finden wir dafür zwei, die Neger-
hirse oder Dochn (Panicum oder Penniseium distichum und P, dy^
phoideumj und das Kafirkorn (Holcus sorghum oder Sorghum
vulgare). Leider versagt die Pfianzengeographie noch immer uns
ihren Beistand, um entscheiden zu können, ob jene jetzt durch
und durch afrikanischen Getreidearten in Afrika selbst zu Cultur-
pflanzen veredelt oder nur eingeführt worden sind. Das tropische
Amerika hat ferner an essbaren Wurzeln die Mandioca, und in
den kühleren Theilen die Kartoffel, zu welcher sich auf den höch-
sten Hochlanden als Getreideart noch die Quinoahirse gesellt.
Afrika besitzt dafür die „Brodwurzeln" (sp.?), von denen Barth
uns mittheilt, dass sie in einigen Landschaften Adamauas zur
Tagesnahrung dienen, ausserdem die Erdmandeln. Leider wissen
wir auch in Bezug auf letztere (Arachis hypogaeaj nicht genau, ob
sie in Afrika zuerst angebaut worden sind. In Bezug auf -die
Fruchtbäume halten sich beide Theile das Gleichgewicht, wenn
nicht Amerika für bevorzugt gelten darf. Doch gehören Afrika
die Dum- und Oelpalmen, sowie der Butterbaum (Bassia ParknJ,
Sollten auch die Neger keine ihrer einheimischen Getreidearten
zuerst veredelt haben, so griffen sie doch bereitwillig nach allen
Culturgeschenken, die Fremde ihnen boten. Mögen sie aus Ae-
gypten oder Abessinien die erste Aussaat empfangen haben, rasch
ist sie durch den ganzen Welttheil gewandert, gerade so wie jetzt
der Mais, die Maniocwurzel '), der Weizen, die Gerste, das Zucker-
rohr u. a. sich oft weit in's Innere schon verbreitet haben. Selbst
i) Selbst bei den Bongonegem westlich vom weissen Nil sah Schwein-
fnrth (Globus 1872. Bd. XXII. Nr. 5. S. 76) Maisfelder und bei den Mon-
buttu am Uelle den Anbau von Jatropha Manihot, (Zeitschrift für Kthnologie.
1873. Heft I. S. 5.)
^12 Die Neger.
dort wo Europäer zuvor noch nicht gesehen worden waren, am
-Zambesi, gewahrte Chapman*), dass die Eingebornen auf wilde
Obstbäume Edelreiser gepfropft hatten.
Von Viehzucht gab es in der neuen Welt nur dürftige An-
fänge, durch ganz Afrika finden wir dagegen Ziegen, Schafe und
Rinder verbreitet. Gewiss sind sie dort nicht bezähmt, sondern
schon als Hausthiere den Negern übergeben worden, so dass also
auch hier wieder die Begünstigung Afrika's durch seine Halbinsel-
verbindung mit der alten Welt fühlbar wird. Mit Unrecht hat man
dagegen den Afrikanern vorgeworfen, dass sie den Elephanten
nicht abgerichtet haben wie die Hindu, denn der afrikanische Ele-
phant ist eine andere Art als die asiatische und vermuthlich nicht
50 leicht zu bemeistern wie diese*).
Die Ernährungsweise im Sudan und in Südafrika entspricht
ziemlich genau dem, was die Landesnatur erwarten lässt. Das
Sudan, von der senkrechten Sonne beschienen und von den tropi-
schen Regen bewässert, ist ein Wald- und Kornland, dort herrscht
also vorwiegend Feldbau und wenig Viehzucht, die Bevölkerung
vermag sich beträchtlich zu verdichten und die Form der Re-
gierung ist eine strenge Alleinherrschaft. Grosse Reiche und
grosse Städte entstehen und vergehen wieder in jähem Wechsel,
weil jeder Despotismus nur so lange währt als die Tüchtigkeit der
Despoten, diese aber sich nicht inftner auf das nächste, höchst
selten auf das dritte Glied vererbt. Ausserdem bedroht die Viel-
weiberei die Sicherheit der Thronnachfolge und erzeugt beständig
Prätendentenkriege. Unter allen echten Negern treffen wir ent-
weder einen rohen Thier- und Fetischdienst oder den Islam.
Südafrika, soweit es bisher erforscht worden ist, lässt sich als
ein Hochland schildern mit Rändern, die nach beiden Oceanen zu
aufgerichtet sind. Es fallt^ in die Zone der Passatwinde mit un-
sicheren Regenzeiten, hat daher wenig geschlossene Wälder, son-
dern parkartige Steppen. Dort herrscht daher vorzugsweise Vieh-
zucht und weniger Ackerbau. In Folge dessen sind seine Be-
völkerungen' nicht streng gegliedert, sondern, wie alle Nomaden,
i) Travels into the interior of South-Africa, tom. II., pag. 202.
2) Livingstone will aus römischen Münzen schliessen, dass vormals der"
afrikanische Elephant gezähmt worden sei, ob sich aber deutlich die Merk-
male der afrikanischen Spielart erkennen lassen, erregt einige Zweifel.
Die Neger, e£^
locker zusammengefügt; der Kraal vertritt dort häufig das Dorf
mit Pfahlwerk oder die Städte, wie sie dem Sudan eigen sind. An
Despoten von grosser räumlicher Macht aber kurzer Regierungs-
dauer fehlt es zwar nicht-, dennoch entbehrt Südafrika einer fort-
laufenden Geschichte, wie sich die Negerreiche im Süden der Sa-
hara einer solchen rühmen dürfen.
Das Fetischwesen in Mittelafrika, der Vorfahrendienst der
Bantuneger, das Treiben ihrer Schamanen und ihre Gottesgerichte
haben uns schon an früheren Stellen beschäftigt*). Ebenso hatten
wir schon Gelegenheit, von den Kafirn zu rühmen, dass sie das
Wergeid an ihre Häuptlinge entrichten. Hier müssen wir noch
hinzufügen, dass von allen Halbculturstämmen die Neger am eif-
rigsten das bürgerliche Recht ausgebildet haben. Afrikanische
Gerichtsverhandlungen ziehen obendrein die Neugierigen eben so
mächtig an als bei uns ein Theaterstück und an dramatischer
Spannung sowie an Aufwand von Beredsamkeit oder von Schlau-
heit ist bei den streitenden Parteien kein MangeP). Meisterhaft
verstehen die Bantu durch Kreuz- und Querfragen einen Gegner
in \'erwirrung zu setzen •5). Hat doch Bischof Colenso in Natal
versichert, dass er erst durch die Einwände seiner Kafirzöglinge
zum Zweifler an der mosaischen Schöpfungsgeschichte geworden
sei. In bürgerlichen Streitigkeiten kann gegen die Entscheidung
des Dorfrichters der Rechtsfall zunächst an den Districthäuptling
und von diesem wieder an das Oberhaupt gebracht werden*).
Die Urtel werden gefallt durch einen Rath alter rechtskundiger
Männer nach dem Herkommen und nach den Grundsätzen, die
bei früheren Sprüchen beobachtet wurden. Gleicht der Fall keinem
älteren, so wendet man sich um Belehrung an die Rechtskundigen
in andern Stämmen. Es hat sich sogar zugetragen, dass bei einer
schwierigen Rechtsfrage auch die fremden Richter keinen Präcedenz-
fall kannten und es wurde schliesslich der Urtelsspruch gänzlich
versagt , um nicht einen neuen vielleicht irrigen Grundsatz zur
Geltung zu bringen 5). Ein geschärftes Rechtsverständniss der
i^ S. oben S. 259. S. 272. S. 279.
2) Casalis, Les Bassoutos. Paris 1859. p. 242—243,
3) Ausland. 1863. S. 1044.
4) Macleaii, Kafir L«ws and Customs. Mouot Coke 1858. p. 143.
5) Fried r. Müller, Reise der Fregatte Novara. Anthropologie. 3. Ab-
theilung. S. 108.
Fesckel, Völkerkunde. 33
514 ^ic Neger.
Bantuneger offenbart sich darin, dass sie die Abtreibung der
Leibesfrucht') für strafbar halten und auch den Arzt, der dabei
behilflich war, mit einer Busse bedrohen. Bei Verläumdungen
muss dem Verletzten eine Entschädigung gezahlt werden, denn
„guter Ruf gehöre zum Vermögen"").
Rührend ist bei Negerkind^rn ihre Elternliebe, die sich je- _
doch nur wenig dem Vater zukehrt. Die Herero (Damara) schwören
„bei den« Thränen ihrer Mütter** 3). Aus dem Munde eines Man-
dingoburschen hörte Mungo Park*) die Worte: Schlage mich,
wenn Du willst, nur schmähe meine Mutter nicht. Auch verdienen,,
fährt der genannte Reisende fort, Mandingomütter diese Liebe,
denn sie sorgen streng für das sittliche Gedeihen ihrer Kinder.
Der höchste Preis aus dem Munde einer solchen Mutter lautet:
Niemals hat mein Sohn gelogen! Ihre Dichter und Barden
brauchen nie zu hungern, denn die Mandingo beschenken sie
reichlich für Gesänge , in denen sie die Thaten des Volkes ver-
herrlichen^). An Sprichwörtern voll goldner Lebens reg ein ist bei
Sudan- und Bantunegern kein Mangel. Im Joruba sagt man zur
Bezeichnung eines Schwachkopfes: er weiss nicht, wie viel neun
mal neun ist^).' Der Mandingo ersehnt nichts heisser, als dort zu
sterben, wo er geboren wurde. Kein Wasser dünkt ihm so süss,
wie daheim, kein Schatten so erquicklich als der des Tabbabaumes
in seinem Dorfe. Stirbt ein Neger der Goldküste auswärts, so
trachtet man danach, seine Leiche am Geburtsort zu beerdigen 7).
Wenn auch einige oder mehrere Stämme durch Trägheit unser
Missfallen erwecken, so führt Otto Kersten^) Beispiele von ost-
afrikanischen Negern an, um zu zeigen, dass sie freiwillig durch
Fleiss ihre Zustände zu bessern suchen. Ihre Geduld und ihre
Geschicklichkeit zeigen die Bewohner der Goldküste bei Anfertigung
1) Maclean, I. c. p. iii.
2) Ausland. 1863. S. 1069.
3) Andersson, Reisen in Südwestafrika. Bd. i. S. 247.
4) Reisen im Innern von Afrika. Berlin 1799. S. 237. ^
5) Mungo Park 1. c. S. 249.
6) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. i. S. 240.
7) Mungo Park 1. c. S. 261. Bosman, Guinese Goud-kust tom. II.
pag. 15.
8) V. d. Decken*s Reisen in Ostafrika. Bd. 2. S. 302—303.
Die Neger. ^I^
von Ketten aus dem feinsten Golddratb, die wie Bosman^) richtig
bemerkt, kaum in Europa nachgeahmt werden können. Stählerne
Ketten der Monbuttu erklärt wiederum Schweinfurth ebenbürtig
allen dergleichen Erzeugnissen in Europa*). Im Sosolande, einem süd-
lichen Gebiete des Reiches Sokoto pflastern die Neger das Innere ihrer
Höfe mosaikartig^). Wenn Ladislas Magyar von Stein Schlossgewehren
spricht, die in Bih6 von den Eingebornen verfertigt werden, so hat
Hamilton*) bei den Quissama-Negern ebenfalls Flinten gesehen,
die nach portugiesischen Mustern gearbeitet worden waren, während
in Bambara, in Bambuk und in Bornu die Neger Schiesspulver
erzeugen und sich den Salpeter dazu im Lande zu verschaffen
wissen 5). Fügen wir noch hinzu, dass die Hausa und Fulbe in
Sokoto, sowie die Joloflfer aus einem Absud von Erdnüssen ge-
mischt mit einer Lauge aus Holzasche, brauchbare Seife erzeugen^).
Die scharfsinnigste That irgend eines Negers ist aber die Schöpfung
einer eigenen Schrift durch einen Vei, theils aus Sylben-, theils aus
einfachen Lautzeichen bestehend. Der Erfinder wurde zwar in
seiner Jugend von Europäern erzogen und konnte lesen, immerhin
blieb ihm doch übrig, seine eigene Sprache zunächst alphabetisch
zu zergliedern., ehe er die Schriftzeichen erdenken konnte 7).
Die Neger besitzen im hohen Grade die Gabe und Neigung,
sich fremde Gesittungsschätze anzueignen. Dagegen sind sie
äusserst arm an eignen Erfindungen. Während Reisende in an-
dern Welttheilen viel von fremdartigen Werkzeugen zu berichten
wissen, sind sie in Afrika sehr schweigsam. Alle Geräthe im
Haushalt der Neger kommen auch anderwärts vor. Wir wüssten
zum Beleg der Erfindungsgabe bei Negern nichts anderes aufzu-
zählen als die Marimba, ein Musikwerkzeug aus hohlen Kürbissen,
i) Guinese Goud-Tand-en Slave-kust. tom I. p. 123.
2) Zeitschrift für Ethnologie. Bd. 5. S. 19.
3) Gerhard Rohlfs in Petermann's Miltheilungen. Ergänzungsheft Nr.
34. S. 72.
4) Journal of the Anthropologicai Institute. London 1872. p. 191.
5) Waitz, Anthropologie. Bd. 2. S. 97. Barth, Nord- und Central-
afrika. Bd. 3. S. 245.
6) Gerhard Rohlfs 1. c. S. 56, Mungo Park, 1. c. S. 305.
7) Die Kenntniss dieser merkwürdigen Thatsachen verdanken wir dem
Lieutn. F. E. Forbes, cf. S. W. Koelle, Gramraar of the Vei-Language.
London 1854. p- V.
33*
^l6 Die Neger.
die abgestuft nach der Grösse auf einem Reifen befestigt werden,
den der Künstler an einem Riemen trägt. Mit Hammerschlägen
setzt er die Schalen in Schwingung und entlockt, wie man schon
errathen haben wird, den grösseren Holzbechem tiefere, den
kleineren höhere Töne'). Selbst die Abrichtung der Ochsen zum
Reiten ist nicht noth wendig eine Erfindung der Neger, sondern
viel eher den Galla oder andern Völkern hamitischer Abkunft am
Nil zuzuschreiben.
Nach allem Mitgetheilten den Neger einer Erhebung auf
höhere Zustände für unfähig zu erklären, wäre bare Willkür, allein
für die niedrigen Stufen der bis jetzt vorhandenen Gesittung einzig
nur die Natur des Festlandes anzuschuldigen, hiesse gänzlich die
Verschiedenheit in der Begabung der Menschenracen verkennen.
Afrika's Vorzüge bestanden, wie wir sahen, darin, dass es von der
alten Welt aus, wenn auch mühsam, erreichbar blieb. Von dort
aus haben die Neger fast alles bezogen, was ihre Zustände besserte.
Könnten wir uns denken, dass diese Menschenstämme in Australien
aufgetreten wären, schwerlich hätten sie dort, sich selbst überlassen,
über die Zustände australischer Eingeborner sich erhoben. Daher
müssen wir sie bei Abschätzung der Anlagen weit tiefer stellen
als die Urbewohner Amerika's, die völlig aus sich selbst zu grosser
geistiger Reife gelangten. Wäre dagegen Afrika zierlicher gestaltet,
wäre es so aufgeschlossen gewesen wie Europa, so würden auch
die Neger viel früher sich gehoben haben und möchten jetzt viel-
leicht gesellschaftliche Verbesserungen geniessen, wie etwa die
M alay och inesen .
I) Livingstonp, Reisen in Südafrika. Bd. i. S. 332.
VII.
X DIE MITTELLiENDlSCHE RACE.
Elumenbach hatte den Völkern, mit denen sich vorzugsweise
die alte und die neuere Gesittungsgeschichte des Abendlandes
beschäftigt, den Namen Kaukasier ertheilt, der aber wieder auf-
gegeben werden musste , weil er zu Miss Verständnissen verleitete.
Da für Blumenbach's Kaukasier* gegenwärtig die Bezeichnung
mittelländische Völker Anklang gefunden hat, so wollen auch wir
sie beibehalten. Zur mittelländischen Race gehören alle Europäer,
soweit sie nicht mongolenähnlich sind, alle Nordafrikaner und alle
Vorderasiaten, endlich sind als Mischvölker wegen ihrer Sprache
die Hindu im nördlichen Indien noch mitzuzählen.
Die vorherrschenden Schädelformen sind die mesocephale und
die brachycephale, doch überschreiten die mittleren Breitenindices
nach dem Welcker'schen Messverfahren nur in einem vereinzelten
Falle 82. Die Höhe des Schädels sinkt gewöhnlich mit der
wachsenden Breite. Prognathismus gehört ebensosehr zu den
Seltenheiten, wie das Vortreten der Backenknochen. Die Farbe
der Haut ist bei den nördlichen Völkern ganz hell, trübt sich in
Südeuropa, wird gelb, roth und braun in Nordafrika und Arabien
sowie bei den Zigeunern. Das Kopfhaar ist nie so lang und so
walzenförmig , wie bei den mongolenähnlichen Völkern , nie so
elliptisch im Querschnitt und so kurz wie bei den Negern, sondern
meistens gelockt. Innerhalb dieser Racen finden sich die bärtigsten
und am besten behaarten Völker, nur die Nordafrikaner sind
schwächer mit Bart- und Leibhaar ausgestattet. Die Nase hat stets
einen hohen Rücken und wird nie platt- oder breitgequetscht wie
bei Negern oder Mongolen. Die Lippen sind gewöhnlich schmal,
nie wulstig. In keiner andern Race kommen feine und edle Ge-
ci8 Die mittelländische Race.
Sichtszüge so häufig vor, nirgends wird so oft wie in dieser das
Schönheitsideal erreicht, welches übrigens auch bei anderen Racen
das nämliche ist, denn Rohlfs *) bemerkt sehr bedeutsam, dass auch
unter den Negern des Sudan eine Frau mit sogenannten kaukasi-
schen Gesichtszügen als eine Schönheit gefeiert wird. Mit wenigen
Ausnahmen sind die Sprachen aller mittelländischen Völker durch
grammatische Geschlechter und einen hochentwickelten Formen-
bau ausgezeichnet. Die Race selbst zerfallt wieder in den hami-
tischen, den semitischen und den indoeuropäischen Stamm. Ver-
einsamt stehen die Basken und unbestimmt bleiben noch etliche
Völker im und am Kaukasus.
I. Die Hamiten.
Dieser Stamm erfüllt ganz Nordafrika bis zum Sudan, so wie
die Küstengebiete Ostafrika'-s nördlich vom Aequator. Er theüt
sich in drei Aeste, nämlich in die Berber, die Altägypter und die
Ostafrikaner. Zu den Berbern gehören abgesehen von den aus-
gestorbenen Guanchen oder Urbewohnern der Canarien die Libyer,
Mauren, Numidier und Gaetulier der alten Geographen, welche
letztere bereits den rechten Eigennamen aller dieser Völker, näm-
lich Amaziken oder Maziken kannten, Amazigh oder Amazirgh
bedeutet nämlich in den berberischen Sprachen die Freien oder
Unabhängigen*). Nordafrika hat zwar viele andere Völker, vor-
züglich semitische, aber auch nordeuropäische Eroberer aufge-
nommen, dennoch konnte sich auf dem flachen Lande allenthalben
der alte berberische Menschenschlag in voller Reinheit erhalten.
Jn Marocco nennen sich idie von arabischem Blut un vermischt
gebliebenen Berber noch immer Mas lg, ihre Sprache aber das
Schellah oder Tamasight^). Zu ihnen gehören zunächst dieSan-
hadscha der westlichen Sahara, die Azanaguen der portugiesischen
Entdecker. Das Mittelgebiet der grossen afrikanischen Wüste be-
haupten dagegen die Tuareg, die sidh selbst Imoschagh, ihre
Sprache das Ta-Masheg (Mazikensprache) oder Ta-Mashigt nennen.
In Algerien gehören zu den reinen Berbern die Kabylen der
1) Ergänzungshefl Nr. 34 zu Petermann's Mittheilungen. S. 48.
2) Movers, Das phönizische Alterthum. 2. Thl. S. 390 — 395.
3) Rohlfs, Krster Aufenthalt in Marokko. S. 56. S. 62.
Die mittelländische Race.
519
Franzosen, eine Wortverstümmelung aus qabäil, was die „Stämme"
bedeutet. In Tunis führen die Berber den Namen Suawua, zu
denen auch noch im Südosten dieses Gebietes die Stämme hinzu-
zuzählen sind , welche Dschebaliya heissen '}. Berberischer
Abkunft sind fern^ die Bewohner von Siwah, der Jupiter-Ammons-
oase, also die Garamanten der alten Erdkunde. Endlich werden
•wir ihnen auch noch Idie T6da oder Tibbu der östlichen Sahara
beizuzählen haben'). Alle diese libyschen Völker führen auf den
hieroglypbischen Inschriften den Namen Temhu und sind auf den
äg)'ptischen Denkmälern kenntlich an Tätowirungen in Form eines
Kreuzes, die noch jetzt bei Kabylenfrauen gebräuchlich sein sollen^).
Die Altägypter, hieroglyphisch Retu genannt, werden noch
jetzt mehr oder weniger rein von der Bauernbevölkerung am un-
tern Nil, den Fellähln, am reinsten von den städtebewohnenden
christlichen Kopten vertreten*).
Von den ostafrikanischen HamitenJ nähern sich den Alt-
ägyptern am meisten die Bewohner der nubischen Nilländer, die
sich Beräbra also Berbern nennen^). Sie waren vormals Christen
bis zum Falle des berberischen Nilreiches Dongola im Jahre 1320.
Zwischen dem nubischen Nil und dem rothen Meere sitzen Stämme,
die von den alten Geographen Blemmyer^), von den axumitischen
Inschriften und arabischen Geographen Bedscha geheissen werden.
Am reinsten vertreten werden sie von den Bischarin, Hadendoa
und theilweis den Beni Amer, die neben einem verdorbenen Ara-
bisch noch eine ältere hamitische Sprache mit drei grammatischen Ge-
schlechtsformen, das Tobedauie, reden 7). Zwischen dem blauen
Nil und dem Atbara bis nach Sennär nomadisiren die Awläd Abu
Simbil und die Schukuri^h, welche letztere, obgleich sie ein ver-
derbtes Arabisch reden, nicht von Arabern abstammen*.) Zwischen
1) V. Maltzan, Tunis und Tripolis. Leipzig, 1870. Bd. i. S. 106.
2) S. oben S. 503.
3) Recherches sur Torigine des Kabyles. Le Globe. Genöve. 1871.
tom X, p. 48.
4) R. Hartmann, Nilländer. S. 215. S. 235.
5) Hartmann, 1. c. S. 238.
6) Lepsius /Standard Alphabet. 2. ed. p. 203.
7/ Werner Munzinger, Ostafrikantsche Studien. Schalfliausen. 1864.
S. 341. S. 344.
8) Hart mann, 1. c. S. 263 ff.
520
Die mittelländische Race.
dem Nil und Kordofan wohnen als Hirten die Kababisch und auf
beiden Ufern des weissen Flusses oberhalb der Mündung des
blauen sitzen die Hassanieh. Beide werden für Araber erklärt,
dennoch gehören sie ihrem Typus nach noch zu den ostafrik»ni«
sehen Hamiten. Die Niamniam oder Sandeh haben langes schlichtes
Haar und sind kupferfarbig*). Vielleicht werden künftige Völker-
kundige auch sie zu den Hamiten rechnen. Ferner gehören noch
in die ostafrikänische Gruppe die Dankali (Sing. Danakil), welche
die südlichsten Gestade des Rothen Meeres auf der afrikanischen
Seite bis zum Bab el Mandeb bewohnen. Es folgen dann theils
versprengt in Abessinien, theils geschlossen im Östlichen Binnenafrika^
von S^ nördlicher bis 3° s. Breite die Galla. Dieser Name, der
soviel wie Eingewanderte bedeuten soll, ist ihnen selbst völlig fremd,
sie nennen sich vielmehr Orma oder Öroma, das' heisst „starke
tapfre Männer'**). Mit Ausnahme der südlichen Stämme treten
sie, auch ihre Frauen, sei es auf Rossen sei es auf Ochsen, stets
beritten auf. Mit den Negern haben sie nur die Farbe der Haut ge*
mein, doch fehlt letzterer jeder widerliche Geruch^). Auch lockt sich ihr
langes Haar, der Bart wächst ihnen ziemlich üppig, die Gesichts«
Züge sind regelmässig und gefällig, nicht selten scharf geschnitten,
eher europäisch als semitisch*). Die Galla sind. ein streitbares,
männliches, kraftbewusstes, sittenstrenges und edles Volk.
Unsichrer ist die Stellung der Somali, die das Osthorn Afri-
ka's beinahe vom Bab el Mandeb bis zum Dschub am indischen
Meere einnehmen und die Gallagegen Westen verdrängen. Ganz über-
einstimmend wie Guillain^) die medschertinischen beschreibt uns Otto
Kersten^) die Somali Bardera's, als hohe Gestalten (Männer -i m.
70, Frauen i m. 60) mit länglichen mageren Gesichtern, bartlosem
Kinn, stechenden Augen und „einer 6 — 8 Zoll langen Wollperücke
von dichtem steifen Haar", welches stets kraus sein soll. Guillain
fügt hinzu, dass ein lockiges Haupt unter den Somali stets auf
eine Kreuzung mit arabischem Blute deute. Einige Stämme der
1) G. Seh wein furth im Globus. Bd. 21. Nr. 9. S. 131. S. 133.
2) Krapf, Reisen in Ostafrika. Bd. i. S. 94.
3) Otto Kersten, v. d. Deckens Reisen in Ostafrika. Bd. a. S. 374.
4) Richard Brenner in Petennann's Mittheilungen 1868. S. 462.
5) L'Afrique Orientale. Paris, s. a. II Partie, tom. I. p. 412—413.
6) 1. c. Bd. 2. S. 318—325.
Die Tnittelländische Race. 52 1
Somali wollen von Koreischiten in Mekka, andere von den Ansari
aus Medina abstammen. Somit ist leicht möglich, dass bei stren-
geren Untersuchungen, die Somali gänzlich ihre Stellung als ha-
mitischc. Völker verlieren und künftig als Bastarde zwischen Negern
und Semiten betrachtet werden möchten. Es ist wichtig, dass
Kersten uns ihren edlen und männlichen Characler rühmt, obgleich
gerade die Unternehmung des Baron v. d. Decken blutig unter
ihnen enden sollte. Sehr dunkel ist ferner die Stellung der Eloikob
oder Wakuafi, sowie der Masai, welche beiden Völker durch ihre
Kriegszüge und ihren Menschenraub der Schrecken aller Neger-
stämme im äquatorialen Ostafrika geworden sind.
Beklagen müssen wir den Mangel an Schädelmessungen inner-
halb des hamitischen Stammes. Aegyptische Mumien- und Kaby-
lenköpfe zeigen nach Welcker eine Höhe von 75 und .eine Breite
von 74 bis 75. Sie stehen also auf der Grenze zwischen Dolicho-
und Mesocephalie. Schon bei den Aegyptern treten die Kiefern
ein wenig vor, der Prognathismus wächst aber, je weiter wir nil-
aufwärts uns bewegen. Die waizengelbe Hautfarbe dunkelt all-
mälig mit abnehmender Breite zu rothbraun, tiefer Bronze oder
dunkelem Braun. Das Haar wird gleichfalls mit Annäherung an
den Aequator kürzer und der Bartwuchs spärlicher. Wie Robert
Hartmann es gewiss richtig darstellt, findet daher eine Annähe-
rung an den Negertypus statt, je weiter wir uns von den Mittel-
meergestaden entfernen. „Bei genauer Beobachtung, äussert
Munzinger*), weiss der aufrichtige Reisende nicht mehr, wo der
eigentliche Neger anfangt und der Glaube an die absolute Racen-
trennung schwindet mehr und mehr.** Vorläufig empfiehlt es sich
indessen, diese Uebergänge der Vermischung mit Negersclavinnen
zuzuschreiben und weitere Aufklärungen von einer künftigen
strengen Sprachvergleichung zu erwarten. Versuchen wir es lieber
die Frage zu lösen, warum unter den Gliedern der mittelländischen
Race gerade der hamitische Stamm am frühesten eine hohe Ge- '
sittung sich erwerben und zum Lehrmeister aller Nachbarvölker
werden sollte.
Blättern wir zunächst in den Denkmälern von Rosellini und
Lepsius, oder lassen wir diese Werke wegen ihres ungeniessbaren
Formats besser bei Seite und greifen wir nach Wilkinson, so kön-
1) Ostafrikanischc Studien. Schaffhausen 1864. S, 540.
522
Die mittelländische Race«
nen wir noch immer die Altägypter bei ihren Tagewerken belau*
sehen. Die Backsteine werden, wie noch heutigen Tages in For«
men gestrichen, in die Mauern Thüren eingesetzt, die sich in senk-
rechten Angeln drehen und mit Riegeln verschlossen werden. Im
Innern der Wohngebäude erkennen wir alte Bekannte in den
Hausgeräthen wieder, den grossväterlichen Lehnstuhl, sowie den
Feldstuhl der sich in Form eines griechischen Kreuzes auseinan-
der klappen lässt. Dort drehen die Frauen die Spindel, ander-
wärts wird ihr Gespinnst zu gestreiftem oder gewürfeltem Zeuge
verwebt. Treten wir in eine Schreinerwerkstatt, so führen
Meister und Gesellen Beile, Holzhämmer, Handsägen, Meisel,
Glätteisen und Drillbohrer*). Was dort zusammengesetzt wird,
bestreicht mit Fimiss ein andrer Handwerksmann und in seiner
Hand erkennen wir den breiten Pinsel, wie ihn noch jetzt unsere
Bürstenbinder feil halten. Gehen wir weiter zu einem Goldschmied,
so finden wir bei ihm nicht blos Feilen und Zangen von allen
Sorten, sondern auch mit Erstaunen das Löthrohr*), nur der
Blasbalg, der mit Füssen getreten wird, ist der Verbesserung sehr
bedürftig. Steigen wir in die Keller hinab, so gewahren wir, wie
Küfer, bekannt mit der Heberbewegung durch gebogene Röhren
Flüssigkeiten aus einem Gefässe in das andere abrinnen lassen^).
Ohne Zweifel handelt es sich um Wein, denn der Rebstock wurde
im alten Reiche eingeführt, im neuen fleissig gebaut und hielt
sich selbst nach dem Eindringen des Islam noch im Fayüm, wo
er erst unlängst in Folge der Traubenseuche verschwand*). Wir be-
lauschen weiter im Frauengemach ägyptische Damen, die vor
einem Metallspiegel ihr Haar mit einem hölzernen Kamm ord-
nen, bemerken auch, dass schon für Perrücken und falschen
Haarschmuck gesorgt ist. Am Nil selbst gewahren wir Fischer,
die ihre Schleppnetze auswerfen, genau so wie wir es daheim ge-
sehen haben. Ist das Glück uns günstig, so kommen wir gerade
rechtzeitig zu einem Fest, bei dem sich die Fischer mit Stangen
1) Brugsch, Gräberwelt. S. 24.
2) Wilkinson, Manners and customs of the ancient Egyptians. London
1837. ^oin- 11^» P- 224. flg. 375-
3) Wilkinson 1. c. p. 341. Das Denkmal gehört der Zeit voa 1450
V. Chr. an.
4) R. Roesler im Ausland 1867. S. 776.
Die mittelländische Race. ^23
von ihren Booten herabzustossen suchen. Jedenfalls heimelt uns
dieses Fischerstechen mehr an, als die Stiergefechte, die ebenfalls
veranstaltet werden; hinzufugen wollen wir bei dieser Gelegenheit
dass das Heerdenvieh bereits auf der Haut das eingebrannte
Zeichen des Eigenthümers trägt. An Zeitvertreib ist überhaupt
kein Mangel. Hier lassen sich Flöten hören, begleitet von Lauten,
Guitarren, Cithern und Harfen *). Anderswo wird Mora gespielt
oder gewürfelt oder auf einem Brett mit Damensteinen gezogen.
Selbst für die Kinderwelt ist hinlänglich gesorgt, erkennen wir
doch sogleich den Lederball wieder, zusammengenäht aus acht
Kugelsegmenten oder im Arme zärtlicher Mädchen hölzerne Puppen
oder sogar die Ziehfigur, die am Faden Arme und Beine in
die Luft schlenkert, zur Beruhigung des schreienden Kindes im
Schoosse der Wärterin. Was hier der hölzerne Mann am Faden
leistet, wird dort in Schauvorstellungen von gymnastischen Künstlern
wiederholt, bei denen die V^irtuosen unserer Messbuden in die
Lehre gegangen zu sein scheinen. Kurz, wohin wir, uns drehen
und wenden, stossen wir auf Dinge, die zu unsern ersten und
ältesten Beobachtungen in der Heimath .gehören und wenn die
erste Musterung vollendet ist, gestehen wir uns im Stillen, dass
bis zur Zeit wo bei uns Maschinen- und Dampfkräfte in Bewegung
gesetzt wurden, die Aegypter in Bezug auf. Handwerkgeräth sich
vor uns nicht zu schämen hätten, wir vielmehr die wichtigsten
Stücke unserer häuslichen Ausstattung erst von ihnen geerbt
haben.
Doch war dieser Schluss etwas zu hastig, denn auch die
Aegypter hatten gar manches ihren Nachbarn in Vorderasien un-
mittelbar oder mittelbar zu danken. Zwar belehren uns die
Denkmäler, dass Tauben und Enten bereits gezüchtet und die
Mastgänse künstfich gestopft wurden^), doch wird ein spätes Cul-
turgeschenk des Morgenlandes, nämlich das Huhn, vermisst.
welches auch Homer und Hesiod, sowie das alte Testament nicht
kennen, wenn auch schon Aristoteles und Diodor die künstlichen
Brutanstalten der Aegypter beschreiben 3). Selbst das Kamel und
1) Lauth, über altägyptische Musik. Sitzungsberichte der Münchener
Akademie. 1873. Heft IV. S. 529 flF.
2) Brugsch, Gräberwelt. S. 14.
3) V. Hehn, Kulturpflanzen und Hausthiere. Berlin 1870. S. 226.
524 I^ie mittelländischie Race.
das Schaf suchen wir vergebens auf den Denkmälern des alten
Reiches, und das Pferd fehlt sogar in den „steinernen Bilder-
büchern** vor dem Einfall der Hirtenkönige'). Das Ross bezähmt
zu haben, ist nämlich das Verdienst eines weit von Aegypten ent-
legenen Völkerkreises. Ausserhalb Aegyptens vollzog sich auch
die Erfindung des Wagens, eine hohe Verbesserung der Walzen-
bewegung, die ihrer Zeit einen ebenso entscheidenden Vortheil
gewährte, wie in unserm Jahrhundert die Eröffnung von Eisen-
bahnen. Da der aegyptische Name für Wagen semitischen Sprachen
entlehnt ist*), so wissen wir, aus welchen Händen jenes Cultur-
geräth nach dem Nil gelangte. Das Reiten der Pferde war in
Altaegypten nicht gebräuchlich, wenn auch griechische Gelehrte
dorthin den Ursprung dieser Kunst verlegen 3). Ehrfurchtvolles
Staunen erregen noch jetzt die Bauwerke des Nilvolkes, seine
Tempel, seine Sphinxalleen, seine steinernen Riesenbilder, seine
Pyramiden. Letztere betrachten wir als gute Denksteine für die
frühe Reife gesellschaftlicher Zustände, denn sie setzen einen
Ueberschuss von Arbeitskräften, Anhäufung grosser Mundvorräthe
an der Baustelle, bequeme Verkehrsmittel, Frohndgesetze und ge-
regelte Besteuerungen voraus. Dies wird mittelbar noch dadurch
bestätigt, dass im neuen Reiche der Rechtsstaat verwirklicht wurde
durch die Unabhängigkeit des Richterstandes, der eidlich gebunden
war, das Gesetz gegen Despotenlaune zu schützen*). Der Bau
der ersten Pyramiden wird dem dritten Nachfolger des Menes, des
Gründers von Memphis zugeschrieben. Sie standen noch zur
griechischen Zeit und Lepsius^) glaubt, dass ihre Schuttreste noch
immer vorhanden sind. Die schüchternste Zeitberechnung führt
Menes zurück bis auf 3892 v. Chr.^) und unter ihm waren die
1) H. Brugsch, Histoire d'Egypte. tom. i. p. 25.
2) G. Ebers, Aegypten und Mose. Bd. i. S. 222.
3) Nach dem Scholiasten zu Apollon. Rhod. 4, 272. 276. (Aigonautica
ed. Schaefer. Leipzig 1813. tom. II« p. 289.) soll König Sesonchosis zuerst
das Reiten erfunden haben.
4) G. Ebers, Durch Gosen zum Sinai. S. 543—544.
5) Zeitschrift für ägypt. Sprache u. Alterthumskunde. 1870. S. 91.
6) Nach dem Canon bei Heinrich Brugsch (Histoire d*£gypte, tom
I, p, 287 ) würde vielmehr seine, Regierungszeit in die Jahre 4455 — 4395
fallen.
Die mittelländische Race. caS
Aegypter längst schon Baumeister, Bildhauer, Maler, Mythologen,
und Gottesgelehrte.
Für ein ausserordentlich hohes Alterthum der ägyptischen
Gesittung bürgt am strengsten ihre Zeitrechnung. Sie gründete
sich auf ein bürgerliches Jahr von 12 Monaten zu je drei Wochen
von zehn Tagen, denen noch 5 Schalttage hinzugefügt wurden.
Dass diese 365 Tage nicht genau das wahre Sonnenjahr ausfüllten,
■war den Aegyptern genau bekannt, denn sie wussten, dass es
1461 Jahre bedurfte, ehe der Sirius von Memphis aus am ersten
Thoth vor Sonnenaufgang sichtbar wurde. Dieses Zusammenfallen
der Frühaufgänge führte sie zu den Sothis- oder Siriusperioden
von 1461 bürgerlichen Jahren. Einer dieser Zeitabschnitte endigte
im Jahre 1322 v. Chr., folglich fallt sein Beginn auf das Jahr
2782 und mindestens einmal vorher musste die Dauer einer solchen
Periode festgestellt worden sein. Demnach trifft die erste Beob-
achtung eines Frühaufganges des Sirius am Neujahrstage auf das
Jahr 4242 V. Chr.*)
Die Vermuthung, dass in jenen ältesten Zeiten die Aegyptei
nur der Steingeräthe sich bedienten, stützt sich hauptsächlich da-
rauf, dass die Beschneidung mit Steinmessern vollzogen wurde,
wie bei den Hebräern, welche diesen Brauch den Aegyptern ent-
lehnten. Diese Thatsache berechtigt jedoch nur zu einem andern
Schluss, nämlich dass die Beschneidung schon in der Steinzeit ein-
geführt worden war. Nicht gern werden nämlich die Werkzeuge bei
feierlichen Handlungen gewechselt, weil diese sonst die Weihe des
Alterthümlichen einbüssen würden. Feuersteinmesser verwenden
übrigens noch jetzt die Araber der Sinaihalbinsel zum Abkratzen
der Schafe nach der Schur'). Schon in frühen Gräbern findet
man Geräthe aus Bronze mit einem Gehalt von 12 bis 14 Procent
Zinn. Reines Kupfer oder Bronzemischungen bezogen die Aegypter
von semitischen Völkern, und ob sie das Zinn als reines Metall
früh gekannt haben, darf bezweifelt werden. ^) Woher das Zinn
nach Vorderasien gelangte und wer es dahin brachte, bleibt gegen-
wärtig noch völlig dunkel. Eisen und vielleicht auch Stahl, beide
i) Lepsius, Chronologie der Aegypter. i. Theil. S. 165 — 180.
2) G, Ebers, Durch Gosen zum Sinai. S. 531.
- 3) Lepsius, Die Nfetalle in den ägyptischen Inschriften Berlin 1872.
S. 105. S. 114.
C26 ^ic mittelländische Race.
ursprünglich weit kostbarer, als Bronze, kommen im alten Reiche
nicht vor, sondern erst im neuen*). Wenn man behauptet, dass
die Bildhauerarbeiten aus Granit, die schon' unter der vierten
manethonischen Dynastie ausgeführt wurden, ohne eiserne Werk-
zeuge sich nicht hätten herstellen lassen, so übersieht man gänz-
lich, dass die Incaperuaner ebenso grosse Leistungen im Behauen
und Glätten von Steinen ausgeführt haben, in völliger Unbekannt-
schaft mit dem Eisen*).
Es ist schon längt ausgesprochen worden, dass die jährlichen
Ueberschwemmungen des Nils vielfach die Feldmarken verwischten
und die Aegypter frühzeitig genöthigt Wurden, sich in der Mess-
kunde zu üben. Indessen dürfen wir uns ihre Leistungen nicht
allzu günstig vorstellen. Die Untersuchungen von Lepsius^) über
die altägyptische Elle haben erwiesen, dass die Maasseinheit nicht
streng bestimmt wurde und die Bauwerke oft grosse Ungenauig-
keiten in der Quantität wahrnehmen lassen. Gleichwohl ist es
nach einer Arbeit von Aloys Sprenger^) sehr glaubwürdig gewor-
den, dass die Aegypter etwa 700 v. Chr. einen Erdbogeh von
Syene längs dem Nil gemessen haben. Wie am Beginn unsres
Jahrhunderts deutsche Gelehrte in Paris sich die höheren Weihen
holen zu müssen glaubten, so pilgerten auch wissensdurstige Hel-
lenen nach dem Nillande. Wir wissen es von Pythagoras, Thaies
Solon, Anaxagoras, Eudoxus und Herodot, erst Democrit aus Ab-
dera überzeugte sich, dass die Griechen von ägyptischen Geometern
nichts mehr zu lernen hätten.
Aber alle aufgezählten Verdienste der Aegyptej um Kunst
und Handwerk, um bürgerliche Gesittung und Wissenschaften
treten in den Hintergrund vor einer Erfindung, welche die Reife
der Gesittung im Abendlande um Jahrtausende beschleunigen
sollte. Am Ausgang des vierten Jahrtausend v. Chr. finden wir
bereits hieroglyphische Inschriften des Königs Snefru, also beim
Uebergang von der dritten zur vierten Dynastie^). Die hierogly-
1) Lepsius, 1. c. S. 112.
2) Rivero y Tschudi, Antiguedades peruanas. p. 212. p. 231—232.
3) Die altägypüsche Elle. Berlin. 1865. S. 5. ff. .
4) Ausland 1867. S. T020.
5) Ebers, Durch Gosen zum Sinai. S. 138 — 139.
Die mittelländische Race.
527
phischen Bilder waren bereits Vertreter theils von Lautgruppen
oder Sylben, theils schon eines einzigen Lautes. Erläutert wurde
vielfach noch das geschriebene Wort durch ein beigegebenes Bild
oder Sinnbild, das sogenannte Determinativzeichen. Obgleich auch
die ältesten Urkunden bereits Lautschrift enthalten, so ist es doch
erlaubt, aus dem Auftreten jener Determin^tivzeichen zu schliessen
dass in einem Zeitraum, vor den ältesten Urkunden, die Aegypter
sich noch mit der reinen Bild- und Sinnbildschrift begnügten.
Aus der Zeit der XH. Dynastie, also vor dem Einfall der
HyksQS besitzen wir eine nach Prisse benannte Papyrusrolle mit
abgekürzter, cursiv gewordener Hieroglyphenschrift, die im 14. Jahr-
hundert V. Chr., also vor dem Auszuge der Juden ihre höchste
Vollendung erreichte. Au^ ihr entstand im 8. Jahrhundert v. Chr.
das demotische , also eine Schrift mit Buchstabenlauten , zuvor
aber hatten sich die Semiten etliche davon angeeignet, wenigstens
sind 13 wenn nicht 15 phönicische Buchstaben aus dem hieratischen
abzuleiten*).
Nun brauchen wir nur die Frage zu stellen, ob zu dieser
frühzeitigen Blüthe der Gesittung auch die Landesnatur hilfreich
beigetragen habe, so richtet sich der Blick sogleich auf den Nil,
und denkt ein Jeder an dessen rhythmische Spiegelschwankungen.
Nach den Beobachtungen von 1848 — 61 beim Nildamm an der*
Spitze des Delta*) befindet sich der Strom im Mai in seiner tief-
sten Schwäche. Die Sonne hat aber bereits seit Februar unter
3® n. Breite die Regen erweckt, welche die Betten der Gewässer
des weissen Stromes füllen, die stärksten Wasserfluthen ergiessen
sich jedoch erst vom April bis August. Im Unterlande beginnt der
Nil in der zweiten Hälfte des Juni bis zur zweiten Hälfte des Juli
erst sanft, von da ab äusserst hastig anzuschwellen. Mittlerweile
haben sich nämlich die tropischen Regen auf Habesch herab-
gesenkt und sind der blaue Nil und etwas später der Atbara
herbeigestürmt. Mitte August erreicht der Nil seinen Hochwasser-
stand und bewahrt ihn bis Ende der dritten Octoberwoche, nach-
dem im Anfang des ebengenannten Monats im Hochwasser selbst
wieder ein Maximum eingetreten und wieder verschwunden ist. Ende
i) Ebers. Aegypten und die Bücher Mosc*s. Bd. i. S. 147 — 148.
2) Heinrich Barth in der Zeitschrift für Erdkunde. Neue Folge. Bd.
XIV. Berlin 1863. S. 114 ff. u. Tafel II.
£28 ^^^ mittelländische Race.
October sinkt der Spiegel fast gleichmässig, anfangs nur wenig
rascher als später. Etwa das zwanzigfache seines Wasser-
Ergusses im Mai fasst der Nil im October oder er fasst ihn nicht mehr
zwischen den Uferdämmen, sondern sendet ihn links und rechts nach
der Wüste. Befruchtend wirkt der Nil durch die schwebenden
Bestandtheile seines Wassers. Chemisch ist sein Schlamm wieder-
holt untersucht worden^), neuerdings wieder von W. Knop*), wel-
cher letztere sehr wenig organische Stoffe vorfand, dafür aber
bei dem ägyptischen Schlamm von allen bekannten Fein-
erden die höchste Absorption (135) im Verein mit- der grossten
Menge (13,42) aufgeschlossener Silicatbasen, demnach den höch-
sten landwirthschaftlichen Nutzrang antraf. Nun wissen wir, iass
der weisse Nil, da er durch Seen hindjurchgeht, die wie ein Filter
wirken, arm an schwebenden Mineralien ist und seine grünliche
Farbe nur von Pflanzentheilen herrührt. Seine Wasser dienen also
nur zur Füllung des Bettes, sowie zur Benetzung in den trockenen
Zeiten, aber nicht zur Befruchtung. Diese bringen der blaue Nil
und der Atbara herbei«*). Auch andere Ströme überfluthen ihr
Mündungsgebiet, keiner jedoch verbreitet reicheren Seg'en, als der
Nil. Der hydraulische Mechanismus des grossen Stromes wieder-
holt sich aber nicht zum zweiten Male auf der Erde. Unter dem
Mikroskop gewährt der Nilschlamm den Anblick vollkommen gleich-
artiger Körner von V30 ^is 7xoo Millim. Durchmesser, welche bei
durchfallendem Lichte in reizenden prismatischen Farben spielen*).
Bekanntlich nimmt der Nil den Atbara als letztes Nebengewässer
auf und durchströmt 6"förmig gekrümmt 14 Breitegrade, während
Wüstenwinde begierig an seiner Oberfläche saugen. Auf dieser
Strecke ist gesorgt, dass nicht etwa ein Nebenstrom mit grobem
Gerolle die 'Feinerde aufs neue wieder verderbe. Von Assuan
oder dem letzten Cataract bis Kairo beträgt das Gefalle ii, von
Kairo abwärts nur 4 Fuss auf [oo.ooo; ja schon von Wadi-Halfa
dem zweiten Cataract bis Assuan hat sich das Gefall bereits
1) Acht verschiedne Analysen gibt Leonhard Homer, Philosophical
Transactions. vol. 145. London 1855. p. 128.
2) I^ndwirthschaflliche Versuchsstationen. Bd. 1$, 1872. S. 16 — 18.
3) S. Baker, Die Nilzuflüsse in Abyssinien. Braunschweig r868. Bd. i*
S. 48. S. 84. Bd. 2. S. 185.
4) Oscar Fraas, Aus dem Orient. S. 210—211.
Die mittelländische Race. £20
ZU 9 Zoll auf die engl. Meile vermindert daher selbst auf die.-er
Strecke nur wenig grober Sand noch vorwärts geschoben wird*).
Von der geringen Geschwindigkeit^) hängt es aber ab, dass nur
noch die kleinsten schwebenden Bestandtheile also Feinerden weiter
getragen werden. Bedenken wir jedoch dass, wenn die Geschwindig-
keit des Stromes bis auf o, ^ Fuss in der Secunde sich mindern sollte,
auch die feinsten Bestandtheile zu Boden sinken müssten, so würde
der Nil, wenn er jemals bis zu diesem Betrage ermattete, Unter-
ägypten nicht mehr chocoladebraun, sondern als klares Gewässer
erreichen. Einen solchen Zustand aber kann die Wissenschait
voraussehen. Mit der Minderung des Gefälles auf der letzten
V Strecke muss auch die Geschwindigkeit sinken. Bestände nun
das Nilbett bei den Cataracten nicht aus hartem Syenit, sondern
aus weichem Sandstein, so würde der Nil längst schon sein Bett
vertieft und sein Gefalle bis auf das äusserste Minimum einge-
schränkt haben. Die Härte der Felsarten auf der Cataracten-
strecke hat ^^n Eintritt dieses Uebelstandes verzögert. Oberhalb
Philä sieht man auch wirklich einen Nilstand 28 — 38' (f^^O ^^^^
dem jetzigen Spiegel und unter Amenemha IIP) aus der XII.
Dynastie fioss der Strom wirklich in einem um 25' höherem Bette"*).
Die Zeit der' Nilwunder ist also jedenfalls eine begrenzte.
Noch heutigen Tages wirft der Fellah vom Boot aus ohne
vorherige Arbeit die Saat in den nassen Schlamm, wenn das Was-
ser sich streifenweise von seinen Fluren zurückzieht^), doch wur-
den schon in der Pyramidenzeit die Felder g'epflügt oder mit der
Hacke gelockert^), die Saat selbst aber eingetreten. Wohl wird
in neuerer Zeit beim Bau von Handelsgewächsen stark gedüngt,
aber im Alterthum geschah es sicherlich nicht. Gegenwärtig erntet
man vom Waizen das 8. bis 20., von der Gerste das 4. bis 18.,
i) Leonh. Homer. 1. c. p. 117.
2) Die mittlere Geschwindigkeit des Nils, die freilich, weniger in Betracb
kommt, als die höchste, beträgt eine halbe deutsche Meile in der Stunde
Sir John Herschel,, Physical Geography § 196.
3) Nach Brugsch (Histoire d'Epypte, p. 289), regierte er von 2653—2611
V. Chr.
4) Lauth, Aegyptische Reisebriefe. Allgem. Ztg. 1873. S. 1334.
5) Leonh. Homer, Philosophical Transactions for 1858. vol. 148. S. 67.
A. V. Krem er, Aegypten. Leipzig 1863. Bd. i. S. 180 — 181.
6) G. Ebers, Durch Gosen zum Sinai. S. 468.
Peschel» Völkerkunde. ^^
530 -t)ie mittelländische Race.
vom Mais das 14. bis 20., von der Durrah (Sorghum vulgare) das
36. bis 48. Korn'). Das Kafirkorn wird uns unter den Feld-
früchten nicht genannt, fehlte vielleicht im Alterthum^) und würde
in diesem Falle von Negern der Cultur gewonnen worden sein.
Was man auch sagen mag, Herodot^) behält Recht, dass
nirgends als in Unterägypten die Erde um so wenige Mühe die Acker-
früchte gewährte und die Saat vielfältiger zurückgab. So war
denn dafür .gesorgt, dass sich im Delta des Nils die Bevölkerung
aufs höchste verdichten konnte. Gesorgt war aber auch anderer-
seits, dass jene Vergünstigung der Natur in würdige Hände fallen
sollte. Würde sich nämlich der nilotische Bewässerungs- und Be-
fruchtungsapparat an der Westküste von Südafrika befunden haben,
so hätte er sicherlich wohl ebenfalls Wunder, aber nicht so hohe
Wunder der Gesittung verrichtet wie in Aegypten. Der Nil nämlich
mündet hart vor der Landenge welche Asien mit Afrika verbindet.
Seine Wohlthaten konnten sich also nie lange dem menschlichen
Auge entziehen. Mochten Völkerbeweß:ungen aus Afrika nach
Asien gerichtet sein oder wurden Stämme aus dem bereits über-
füllten Vorderasien nach Afrika gedrängt, immer gelangten sie
an den Nil und zuletzt musste demjenigen Stamm v. der Besitz
des Unterlandes zufallen und verbleiben, der es zu einer raschen
Volksverdichtun^ am besten auszubeuten verstand.
2. Die Semiten.
Dieser Stamm der mittelländischen Völker bewohnt Vorder-
asien und Theile von Ostafrika. Er besitzt aDe Merkmale der
mittelländischen Völker, ist bärtiger als die Hamiten und häufiger
als diese mit ausdrucksvollen Gesichtszügen, schmalen Lippen,
hohen, meist gebogenen Nasen und scharf gezeichneten Brauen
ausgestattet. Die Hautfarbe schwankt zwischen einer leichten
Dunkelung bis zum tiefen Braun. An Schädelmessungen herrscht
grosser Mangel. Nach der Welcker*schen Scala stehen die Juden
an der Grenze der Mesocephalie, gehören aber noch unter die
niedrigen Breitschädel. Die Araber dagegen nähern sich der
i) Heinrich Stephan, Das heutige Aegypten. Leipzig 1872. S. 82.
2) F. Unger, Botanische Streifzüge. Sitzungsberichte der Wiener Aka-
demie. Wien. 1860. Bd. XXXVIII. S. 100.
3) lib. II, cap. 14.
\
Die mittelländische Race.
531
Grenze der Schmal schade), zählen aber noch zu den hohen Meso-r
cephalen, die Abessinier endlich mit einem Breitenindex von 69
und einem Höhenindex von 76^ besitzen hohe negerartige Schmal-
schädel. Wer aber bürgt uns, dass Schädel aus Habesch Ab-
kömmlingen von echten unvermischten semitischen Einwanderern
angehören ?
Kenner des Altägyptischen wie Kenner der semitischen Sprachen *)
haben längst die Vermuthung geäussert, dass in einer der Forschung
vorläufig entzogenen Vorzeit Hamiten und Semiten in gemeinsamen
Ursitzen ihre Sprachen wenigstens bis zu den Stämmen der Für-
wörter entwickelten. Das alte Testament hat uns ausserdem den
Entwurf einer Ethnographie für die mittelländischen Völker in einer
älteren und einer jüngeren Fassung') erhalten, wobei es in der
naiven Sprache der patriarchalischen Zustände Länder-, Völker-
oder Städtenamen auf künstlich geschaffene Stammväter überträgt.
So leiten ihren Stammvater Eber die Juden als Enkel von Arpha-
kschad ab, Arphakschad aber ist die Landschaft Arrhapachitis bei
Ptolemäus, in der Nähe des Ararat gelegen und jetzt noch Albak
genann^-J).
Zur Zeit, als die Völkertafel der Genesis entstand, konnte
man vielleicht - viel besser als jetzt noch Aehnlichkeiten zwischen
Volksstämmen erkennen, die sich später mehr verwischten. Wenn
daher die Kuschiten von Ham abgeleitet werden, die .Canaaniten
aber als Nachkommen des Kusch galten und die phönicische Stadt
Sidon als der älteste Sohn Canaan's bezeichnet wird, so huldigt
auch das alte Testament der Ansicht, dass semitische und hami-
tische Stämme sich in Vorzeiten sehr nahe gestanden seien. Doch
widerspricht sich der Bibeltext mehr als einmal; unter andern
^ird Havila bald zu den Kuschiten, bald wieder zu den joktani-
schen Arabern gezählt*). Hätte nun gar der Ethnograph, oder
hätten die elohistischen und jahveistischen Ethnographen der Genesis
bei ihrem Lehrgebäude sich nur von der Hautfarbe leiten lassen,
'wie diess vielfach von den Kennern biblischer Alterthümer be-
i) Ausdrücklich verwahren wir uns, dass die obigen Worte auf ein Buch
bezogen werden, welches in Gotha 1872 unter dem Titel „Die Semiten in
ihrem Verhältniss zu Chamiten und Japhetiten" erschienen ist.
2) Gen. X. I — 32. Paralip. lib. i, cap. I.
3) Fr. Spiegel im Ausland. 1872. Nr. 44. S. 1035.
4) Gen. X. V. 7 u v. 29.
34*
cy> I^i^ mittelländische Race.
hauptet Avird, so kann die heutige Wissenschaft ihren Angaben
keinen Werth beilegen, denn die ohnehin schwachen Farbenab-
stufungen wechselten sicherlich damals wie gegenwärtig vQn Land-
schaft zu Landschaft und innerhalb der nämlichen Horde musuten
ebenfalls wieder Uebergänge die äussersten Vorkommnisse ver-
mitteln.
Die heutige Völkerkunde darf sich nur an die Sprachen und
die Sprachreste halten, deren Typus schon geschildert worden ist*;.
Sie verstatten zunächst eine ziemlich strenge Scheidung in nörd-
liche und südliche Semiten. Die nördlichen Völker zerfallen wieder
in Aramäer , Hebräer und Kanaanäef , Assyrier und Babylonier^
Das Aramäische wurde im Norden Syriens und Assyriens gesprochen»
ist aber jetzt erloschen bis ^auf zwei mundartlich verschiedene
Sprachinseln. Zwischen Mosul und Diarbekr bis nordöstlich zu
den Van- und Urmia-Seen wohnen nämlich nestorlaniscflb Christen,
die sich, unberechtigt ohne Zweifel, Chaldäer nennen und ein ver-
dorbnes Aramäisch reden ^). Die zweite aramäische Sprachinsel
liegt bei Damaskus^), welches al% der alte Brennpunkt des Aramäer-
thums von der Bibel bezeichnet wird^). ^
Sprachlich standen die Hebräer den Kanaahitern, vorzüglich
den Phöniciern so nahe, dass phönicische Inschriften mit Leichtig-
keit aus dem Hebräischen sich erklären lassen s). Im Jahre 400
V. Chr. erlosch das Hebräische als Volkssprache und wurde von
dem Syrischen oder Aramäischen verdrängt, während das Samari-
tanische, eine Mischsprache aus Aramäisch und Hebräisch, noch
eine Zeitlang zwischen beiden eine Brücke bildete. Der dritte
Zweig des nordsemitischen Astes ist das assyrisch-babylonische, die
Sprache der Keilschriften „ dritter Gattung ", deren Entzifferung
seit der Entdeckung der erklärenden Täfelchen in Niniveh-Koyyun-
dschik festen Boden gewonnen hat. Jene Schrift ist nicht überall
eine Lautschrift und wo sie es ist, eine Sylbenschrift. Sie besitzt,
wie die hieroglyphische und hieratische Schriit Determinativzerchen»
1) S. oben S. 130.
2) Ritter, Erdkunde Bd.. IX, S. 679 ff. Bd. XI. S. 211 fr.,S. 390.
3) Friedr. Müller, Reise der Fregatte Novara. Anthropologie. Bd.
S. 194.
4) 2. Sam. VIII, 5 u. Knobel, Völkertafel. 'S. 226.
5) Whitney, Language and the science of language. p. 295—297.
Die mittelländische Race.
533
jedoch conventionclle, nicht bilderschreibende, endlich eine Anzahl
schwieriger, aber j^zt schon vielfach erklärter Ideogramme'), wahr-
scheinlich alte Wortbilder oder Wortsinnbilder, die dur6h Keil-
zeichen abgekürzt worden waren. Gegenwärtig sind alle Zweifel
geschwunden, dass die Assyrier und Babylon ier eine gemeinsame
Sprache redeten und diese zu den semitischen gehörte^;. Sie
stand dem Aramäischen ferner, als dem* Hebräisch-kanaanäischen und
vermittelte zugleich die nord- mit der südsemitischen Gruppe 3).
Wenn die Völkertafel der Genesis Nimrod, den Stifter von
Babel, Erech, Acad und Chalne als einen Sohn von Kusch bezeichnet,
so ist diese Stelle als ein späterer Zusatz längst erkannt worden*).
Dass sich in Babylonien einwandernde Semiten mit einer älteren
hamitischen Bevölkerung gemischt haben, stützt sich demnach allein
auf die Angaben der Genesis und erscheint daher vor Zweifeln
nicht gesichert. Die assyrischen Inschriften haben bezeugt, dass
mindestens schon um 900 v. Chr. die Bewohner Babyloniens
Kaldi (Chaldäer) hiessen-^).
Bevor aber im 18. Jahrhundert v. Chr. die semitischen Chaldäer
in Babylon ihre Herrschaft gründeten, bestand am Mündungsgebiet
des Euphrat ein Reich mit der Hauptstadt Ur, dessen Könige
nicht semitische Namen führten^). Dort wurde die älteste Gattung
der Kellschrift erfunden, welche die einen die akkadische, andre
wieder die sumerische nennen, von der jedoch ohne Streit und
Zweifel die assyrisch-babylonische Schrift erst abgeleitet worden ist.
Die Sprache jenes ehrwürdigen Volkes wurde zuerst von J. Oppert
als eine „turanische", das heisst unzweideutiger ausgedrückt, als
eine uralaltaische bezeichnet und zwar schliesst sie sich, was die
Zahlwörter und Fürwörter betrifft, dem finnischen Aste näher an
X) Eberhard Schrader, Die assyrisch -babylonischen Keilinschriften
Leipzig 1872. S. 6t. S., 83.
2) Schrader 1. c. S. 24.
3) Eberhard Schrader, in Zeitschr. der D. Morgenland. Gesellschaft.
Bd. XXVII. Leipzig. 1873. S. 406. S. 412. Ohne die Arbeit Schrader's zu
kennen, ist A. H. Sayce (An Assyrian Grammar. London. 1872. p. VII, p.
I — 15) zu dem nämlichen Ergebniss gelangt.
4) A. Knobel, Die Yölkertafel der Genesis. Giessen 1850. S. 339.
5) Schrader in der Zeitschr. der D. Mgld. Ges. 1. c. S. 398.
6) Lenormant, Etudes accadiennes. Paris 1873. tom. I, p. 3^*"^^ p. 76.
534
Die mittelländische Race.
als dem türkischen *). Während aber seltsamerweise die Wortbildung
immer sonst durch lose Verknüpfung von Suffixen, wie in dem
altaischen Sprachkreise erfolgt, gestaltet das Zeitwort seine Sinn-
begrenzungen vorzugsweise durch Präfixe*), entfremdet sich also
vollständig dem Typus nordasiatischer Sprachen. Leider ist
die Erforschung des Akkadischen oder Sumerischen völlig ab-
hängig von den Fortschritten der assyrisch-babylonischen Schrift-
kunde. Wir werden daher noch lange der völligen Klarheit ent-
behren, dann aber sicherlich Aufschluss gewinnen über das an-
ziehendste Räthsel der Völkerkunde.
Als zweiter Ast haben sich von dem gemeinsamen Stamme
die südlichen Semiten abgesondert. Sie redeten in der geschicht-
lichen Vorzeit das vorarabische^ welches sich spaltete i) in das
Arabisch der Ismaeliten, von welchem die alte Schriftsprache und
die neuarabischen Mundarten abstammen, und 2) in die Sprache
der Qahtäniten, welche letztere wieder zerfiel in das himyaritische^
von welchem da§ heutige Ehkyly in Südarabien entsprossen ist
und in das Altäthiopische, von dem das jetzt erloschne Ge*ez oder
die Reichssprache und .das noch jetzt lebendige Amharische in
Habesch abgeleitet werden^). Vor der Eroberung Aegyptens durch
die Araber hatten also bereits Südsemiten aus Jemen und Hadh-
ramaut das rothe Meer überschritten und Abessinien bevölkert.
Jedenfalls geschah diess in vorchristlichen Jahrhunderten , deren
strenge Zeitbegrenzung vorläufig sich nicht aussprechen lässt. Die
arabische Sprache hat sich jetzt, wie wir im letzten Abschnitte
bemerkten, auch nach Nubien über hamii:ische Stämme verbreitet^
die sich seitdem gern eine semitische Abkunft zuschreiben möchten*
Die einzigen, welche dazu hinreichend berechtigt erscheinen, sind
die Schua oder Schiwa'*), sowie die Djalin und Schukuri^h 5).
Wir Europäer haben wie in den hamitiscljen Aegyptern auch
in den Semiten ältere Culturvölker zu verehren , denen wir un-
1) Lenurmant, 1. c. p. 133 ff.
2) J. Oppert, Journal asiatique. Paris 1873. 7 ferne s6rie. tom. i. p.
116 sq.
3) V. Maltzan, in der Einleitung zu A, v. Wrede's Reise in Hadhra-
maut. Braunschweig 1870. S. 33.
4) Hartmann, Nilländer. S. 269,
5) W. Munzinger, Ostafrikanische Studien. S. 563. S. jedoch oben
S. 519.
Die mittelländische Race. e^e
zählige geistige Anregungen und Hilfsmittel der Gesittung bis in
die neueste Zeit verdanken. Der Einbruch der Araber verscheuchte
zuerst die mönchische Finsterniss, in welche Europa zu versinken
drohte und frische Helligkeit durchströmte unsern Welttheil,
als die Kreuzfahrer aus Palästina Erfindungen und Wissens-
schätze heimbrachten. Eines der ältesten Culturvölker Vorder-
asiens, die Chaldäer im Lande Sinear, von denen die späteren
Assyrier abstammen, gehörte nach den vorausgehenden Erläuterungen
zu den Semiten. Wie die Aegypter bewohnte es eine Wiiste, wie
diese den Nil, benutzte es die Hochwasser der mesopotamischen
Ströme, des Euphrat vorzugsweise, zu künstlichen Bewässerungen.
Im obern und mittleren Laufe besitzt dieser Strom so starke Ge-
schwindigkeiten, dass die Lederboote noch jetzt wie im Alterthum ')
nur zui* Thalfahrt benutzt, am Ziele angelangt aber auf Lastthiere
geladen und wieder zum Oberlauf zurückgetragen werden. Weiter
gegen Süden beruhigt sich der Euphrat und zieht als stiller aber
tiefer Strom dem persischen Golfe zu. Jetzt tritt er im April über
sein rechtes Ufer, um in den Bodensenkungen Lachen und Sümpfe
zu hinterlassen , aus denen speerhohe Schilfe aufsprossen. Von
Mai bis November wölbt sich über Sinear ein eherner Himmel, die
Luftwärme steigt auf 39° R., selbst hinter dicken Mauern noch
auf 30°, ohne dass, so wenig wie in Aegypten , Indien und in
Yucatan, die Denkkraft der Bewohner unter diesen Temperaturen
erschlafft wäre. Von November bis December fallen wieder leichte
Regenschauer.. Baumwuchs ist nur auf die Ufersäume beschränkt
und besteht aus Tamarisken, Acacien, Pappeln, Granatbäumen
mit ihren Feuerblüthen , sowie* aus Palmen , beladen mit Trauben
bernsteingelber Datteln. Auf grossen Strecken ist der einstmals
so frohlockende Euphrat jetzt beängstigend still. Der Wind hebt
mit seinen Fittigen Sandwolken empor, um den fetten Marsch-
boden zu ersticken, ohne dass ihm Jemand wehrte. Weit über das
flache Land hin ragen seltsam gestaltete Hügel, die bei besserer
Annäherung als ungeheure Trümmer von Backsteinen erkannt
werden. An Lehm zu Luftziegeln fehlte es nirgends, einen treff-
lichen Mörtel aber lieferten die noch jetzt fliessenden Erdpech-
I) Herodot. lib. i. cap. 194. vgl. auch Ritter, Erdkunde. Thl. XI.
S. 64.
536 I^iß mittelländische Race.
quellen bei Hit*). Jene Trümmer gehören den ältesten und ersten
Städten an, welche die Verfasser der Genesis kannten, nämlich
dem chaldäischen Ur, jetzt Mugheir, Erech jetzt Warka, Nipur oder
Calneh in der Sprache der Bibel, jetzt Kiffer, endlich Bab-il jetz^
Hillah mit Borsippa, dem „Thurm der Sprachen"*).
Diese Städte entstanden unter dem zweiten Herrscherhause
des Berosus, welches, freilich mit künstlichen Ergänzungen einer
lückenhaften Chronologie in die Zeit von 2286 " v. Chr. gesetzt
wird 3). Die grossen Bauwerke von Ur erhoben sich terrassenartig.
Ihre Mauerflächen schmückten blauer Schmelz, polirte Achate,
Alabaster, Marmorstücke, Mosaikarbeiten, Kupfernägel und Gold-
bleche.^ Balken aus Palmenholz trugen die Dächer, doch zeigten
sich frühzeitig schon Versuche von Bogenwölbungen. Steigen wir
in die Gräber hinab , so stossen wir auf Särge , das heisst
auf zwei zusammengeklappte thönerne Schalen, und neben den
Todten auf geschliffene Feuersteingeräthe, sowie Bronzewerkzeuge,
goldene Ohrringe und eherne Armspangen. Zu den ältesten Ur-
kunden aber zählt das walzenförmige Petschaft des uralten Kö-
nigs Uruch, weniger weil es die damaligen Hoftrachten '^) uns noch
aufbewahrt, sondern weil das Siegeln selbst auf das Vorhanden-
sein einer Schrift hinweist. Gehörten auch die Erfinder dieser
ältesten Schriftgattung einem nicht semitischen Völkerkreise an,
so bleiben den Chaldäern doch ihre Verdienste um die Metrologie
unbestritten. Noch jetzt verkündigt uns der Anblick jedes Ziffer-
blattes chaldäische Weisheit s). Das erste metrische Gewicht wurde
am Euphrat bestimmt, denn das babylonische Talent entspricht
genau einem babylQnischen Kubikfuss Wasser bei der mittleren
Landestemperatur ^). Die Theilung des Jahres in Monate und
Wochen, die Namen unsrer sieben Tage verdanken wir den Chaldäern.
1) Pauline v. Nostiz, Helfer's Reisen. Bd. i. S. 256.
2) J. Oppert, Inscription de Nabuchodonosor. Reims. 1866. p. 13 — 15.
3) G. Rawlinson, The five great monarchies. vol. I, p. 153.
4) S. oben S. 184. '
5) J. Brandis, Münz-, Maass- und Gewichtssystem. Berlin 1866. S. 20.
6) J. Brandis, 1. c. S. 33. ff. Nach J. Oppert, Journal asiatique.
Paris 1872. 6erae serie. tom. XX. p. 157. besass der babylonische Fuss
315 Millim. Länge.
Die mitlelländische Race. ^37
Sie sind es gewesen, die den Kreis in 360 Grade und jeden von
diesen in 60 Bruchtheile zerlegten. Ihre Ziffern reichten zwar bis
hundert, do*ch besassen sie auch besondere Zeichen für 60 oder einen
Sossüs, sowie für das Quadrat des Sossos oder den Saros. ThontäTel-
chen, die bei Senkareh gefunden worden sind, enthalten sogar die
Anleitung, Einer und Sossos durch die Stellung von rechts nach
links zu unterscheiden, also die Erfindung des Stellenwerthes der
Zahlen, ja die Chaldäer besassen sogar eine Schreibweise, die
wesentlich unsern Ausdrücken für Decimalbrüche glich. Fügen
wir noch hinzu, dass die Babylonier mitjihrer Sexagesimaltheilung
die Talente, Minen und Seckel, also die Valuta Vorderasiens ge-
schaffen haben. Freilich waren es nur [Barren [aus Silber und
Gold, die beim Verkehr abgewogen und auf Feinheit geprüft wer-
den musslen. Dem Gelde einen leicht erkennbaren Werth gege-
ben, Silber und Gold in Münzen ausgeprägt zu haben, blieb da-
gegen den kleinasiatischen Griechen vorbehalten, während die
Semiten und ihre Töchtervölker noch lange nach dieser Erfindung
beim Barrenverkehr ausharrten.
Anderen semitischen Völkern als den Chaldäern verdankt
das Abendland seine religiöse Erziehung. Haben diese Schöpfungen
bereits früher ihre Würdigung gefunden, so bleibt uns nur zu
untersuchen übrig,, welcher Antheil dem Sprachentypus an der
Begründung des Monotheismus zukomme. Die alten Arier be-
nannten Naturerscheinungen oder Naturkräfte nach den sinnlichen
Eindrücken , die sie hinterliessen und da sehr bald die radicalen
und bedeutsamen Lautbestandtheile in jenen Sprachen sich ver-
wischten, so geschah es, wie wir bereits früher zeigten*), dass der
Name unverständlich und dadurch der Keim zu endlosen Mvthen
geweckt wurde. Die Semiten dagegen gaben ihren Göttern Namen,
die sich auf abstracte Eii^enschaltcn bezogen, wie El der Starke,
Bei oder Baal der Herrscher, Belsamin Herr des Himmels, Moloch
König, Eliun der Höchste, Ram oder Rimmon der Erhabne*),
Im Typus der dreiconsonantischen Sprachen lag es, dass die ent-
scheidenden Laute unversehrt von der Abschleifung blieben und
sie mahnten daher den Semiten unaufhörlich an die Ableitung
i) S. ohen S. 266 ff.
2) Max Müller, Essay?. Leipzig 1869. Bd. i. S. 310—318.
c^g Die mitteljändische Race.
des Wortes. Dennoch wurden auch die semitischen Götternamen,
obwohl anfangs nur [Eigenschaftswörter, später persönliche Be-
nennungen, so dass die verschiednen Bezeichnungen eines Wesens
in Bezeichnungen verschiedener Wesen sich verwandelten. Hätten
die Juden die Bedeutung von El dem Allmächtigen nicht vergessen,
so würden sie Baal den Herrn nicht als eine andre Gottheit neben
ihm verehrt haben. Somit schützten selbst die semitischen Sprachen
nicht vor den Verirrungen in Vielgötterei, wenn auch bei ihnen
die Versuchung seltener sich einstellte. Dass aber von vornherein alle
Semiten ihren Göttern abstracte Namen beilegten, dazu nöthigte sie
nicht sowohl ihre Sprache als vielmehr der Trieb, alles zu ver-
geistigen.
In die ernste Untersuchung unsrer Zeit, ob nämlich vor der
strengen typischen Ausbildung ihrer Sprachen die Semiten mit den
Indoeuropäern eine engere Heimat bewohnt und einen Schatz,
einsylbiger Wurzeln gemeinsam besessen haben, darf eine Völker-
kunde heutigen Tages sich noch nicht einmischen , so heiss sie
auch ein bejahendes Ergebniss herbeisehnen mag. Selbst der
neueste Versuch dieser Art*), der sich durch eine strenge Methode
vor den früheren auszeichnet, hat noch keine Entscheidung her-
beigeführt, sondern nur die Hoffnung stärker denn je belebt, dass
der völlige Beweis einer vorzeitlichen Sprachgemeinschaft der drei
grossen , leiblich sich so nahe stehenden Stämme mittelländischer
Race früher oder später noch gelingen werde.
3) Europäische VÖlkerstäm'me von unbestimmter Stellung.
Unter den Bewohnern Europa's gehören mehrere Völker ihrer
Körpermerkmale wegen jedenfalls zu der mittelländischen Race,
müssen aber wegen ihrer Sprachen abgesondert aufgezählt werden.
Es sind diess die Basken und etliche Stämme kaukasischer Länder.
a.* Die Basken.
4.
0
So nennen wir jetzt die Bevölkerung der nordöstlichen Pro-
vinzen Spaniens und eines kleinen Winkels im Südwesten Frank-
I) Friedr. Delitzsch, Studien über indogermanisch-semitische Wuizel-
verwandtschaft. Leipzig 1873.
Die mittelländische Race. s^^q
reichs. Etwa eine halbe Million Köpfe stark, sprechen sie das
Eiiscara und nennen sich selbst Euscaldunac. Bei den Geographen
des Alterthums hiessen sie Iberier und bewohnten ganz Spanien^
sowie das südwesth'che Frankreich ^ wurden aber von den Kelten
frühzeitig gegen Westen und Süden verdrängt und bildeten ver-
mischt mit ihnen auf dem Gebiete der heutigen catalanischen
Mundart die Keltiberier. Grosser Meinungszwiespalt herrscht über
die" Grössenverhältnisse ihres Schädels. Nach Paul Broca's^) Er-
mittelungen würden die spanischen BasJ^en zu den gemischten
Halbschmalschädeln gehören, während unter den französischen
Basken die Breitschädel . das Zahlenübergewicht besässen. Das
Euscara, ihre Sprache, steht ganz vereinzelt oder hat nur Aehn-
lichkeit in der Wortgestaltung mit dem amerikanischen Typus, in-
sofern es eine Menge pränominale Beziehungen dem Zeitwort ein-
verleibt und zugleich Bruchstücke als Vertreter von Wörtern zu-
sammensetzt. Doch geht bei ihm der volle Satz nicht in einem
einzigen Worte auf, auch erleiden seine Hauptwörter eine Inflexion
die nichts mit dem amerikanischen Verfahren gemein hat^). Die
Basken müssen wir vorläufig für die ältesten Bewohner Europa's
halten.
b. Kaukasische Bevölkerungen.
Neben zerstreuten Stämmen im oder am Kaukasus, die bereits,
dem türkischen Zweige zugezählt wurden oder noch dem indo-
europäischen Stamm hinzuzufügen sind, stossen wir auf Völker
der mittelländischen Race, deren Sprachen völlig geschwisterlos bis
jetzt dastehen. So bewohnen Daghestän oder den nördlichen
Abhang des östlichen Kaukasus- die Avaren, Kasikumüken (nicht
zu verwechseln mit den türkischen Kumüken), die Akuscha, die
Kürinen und die Uden, welche sämmtlich von den Georgiern
Lekhi, von den Armeniern Leksik und von uns Lesghier ge-
nannt werden. Ihre Nachbarn gegen Westen, welche die Dag-
m
hestäner Mizdscheghen heissen, nennen sich selbst Nachtschuoi.
Zu ihnen zählen als Stamm die Tschetschenzen, welche unter dem
Emir Schamyl hartnäckig für ihre Unabhängigkeit kämpften und
i) Anthropological Review, vol. VII, London 1869. p. 382—383.
2) Whitney, Study of language. p. 354.
540
Die mittelländische Race.
nach denen von den Russen die gesammtc Gruppe benannt wird,
während sie bei den Georgiern Kisten heissen. Die westlichen
Bergvölker zerfallen in die Abchasen, welche beide Abhänge des
Kaukasus und den grössten Theil des Küstensaumes vojn Ingur
bis zum Kuban inne haben und in die Adige oder Tscherkessen,
welche ^ westlicher und nördlicher sitzen.
Zwischen Kaukasus und Antikaukasus, wie Palgrave glücklich
den nördlichen Absturz des armenischen Hochlandes genannt hat,
wohnen Völker mit verschwis teerten Sprachen, Es sind diess im
Südwesten auf türkischem Boden die Lazen, im nordwestlichen
Küstenlande die Mingrelier, dann im Längenthal des Ingur, süd-
lich von den Pässen, die zum Elbrus führen, die rohen, fast noch
unabhängigen, von Freshfield trefflich beschriebenen Suanen, e.id-
lieh als Binnenvölker im Gebiete des oberen und mittleren Kur
die Georgier, die sich selbst Karthuhli heissen, von den Russen
aber Grusen genannt werden').
4. Der indoeuropäische Stamm.
Die Sprachverwandtschaft dieser hohen Völker längst vorher
geahnt , ist zuerst von Franz Bopp bewiesen und seitdem immer
schärfer erkannt worden. Sie müssen sämmtlich eine Urheimat
bewohnt und eine gemeinsame Ursprache geredet haben. Wie
allmählig aus dem Stamm die Aeste, aus den Aesten die Zweige
ablenkten , hat August Schleicher^) durch einen Stammbaum, zur
Anschauung gebracht, der selbst heute noch nur weniger Ver-
besserungen bedarf.
Der indoeuropäische Stamm theilte sich früh in die asiatischen
und die europäischen Arier. Zu der asiatischen Hälfte gehören
als Hauptäste die brahmanischen Indier und die Eränier. Aus dem
Sanskrit der brahmanischen Hindu sind als Töchter die neuindi-
schen Sprachen , . das Bengali und Orija in Bengalen und Orissa,
das Nipali und Kaschmlri in Nepal und Kaschmir, das reine Hindi
1) Die Sprachenkarte in Berghaus, Physikal. Atlas. Ethnographie. Bl.
15. genügt noch vollständig für die heutige Völkerkunde auf kaukasischem
Gebiete.
2) Die Darwin'svhe Theorie und die Sprachwissenschaft. Weimar 1863.
Tafel I.
Die mittelländische Race.
541
sowie das mit vielen freftiden Stoffen gemischte Urdu oder
die Lagersprache der Grossmongolen, das Pendschabi und Sindhi,
lerner das Marathi oder die Mahrattensprache , hervorgegangen.
Zu diesem Aste gehören ferner die Sprache der Siaposch oder
Schwarzbekleideten in Kafiristan'), sowie die der räthselhaften
Zigeuner, die nicht vor dem Jahre 1000 n. Chr. Indien verliessen,
in Griechenland unsern VVelttheil betraten, 1322 auf Creta, 1346 auf
Corfu und um 1370 in der Walachai nachgewiesen worden sind/).
Der zweite Ast der asiatischen Arier umfasst die Völker»
welche das Zend, die Sprache des Avesta oder ,der altp^rsischen
heiligen Schrift sowie der Keilinschriften erster Gattung persischer
Grosskönige vormals geredet haben oder zu ihm in geschwister-
licher Beziehung stehen. Gemischt mit semitischen Stoffen ging
aus dem Zend das Pehlewi, aus diesem das Neupersische hervor.
Der Zendgruppe schliessen sich an die Karduchen der alten Geo-
graphen, die Kurden der neueren 3), Gebirgsvölker Vorderasiens,
dann die Armenier, deren Sprache sich dem Pehlewi nähert und
denen die Phrygier und Kappodocier verwandt gewesen sein sollen,
drittens die Iron oder Osseten des Kaukasus, welche höchst be-
deutungsvoll in der und an beiden Ausgängen der Darielschlucht
wohnen, welche letztere tief die Centralkette des Kaukasus, sowie
die nördliche Vorkette, überhaupt als einzige natürliche Strasse
das grosse Gebirge spaltet; ferner die Belutschen in Belutschistan,
endlich die Awghanen Awghanistäns, die sich Puschtaneh oder
Puchtaneh , ihre Sprache aber das Paschto oder Pachto nennen ;
nur ist zu bemerken, dass nach den neuesten Erforschungen dieses
Paschto als selbstständiger Seitenzweig aus der Gabelung des dä-
nischen und sanskritischen Astes hervorgesprosst ist. Zum Schluss
sind noch die Tadschik in l'urkistan zu nennen , die ackerbau-
treibende und der Leibeigenschafl verfallene Bevölkerung der oez-
begischen Chanate oder Emirate Chiwa, Bochara, Kokand und
Kaschgarien^).
1) Trumpp, Sprache der Kafirn in Zeitschrift der D. Mgld. Gesell-
schaft. Bd. 20. S. 391.
2) F. Miklosich, Zigeuner Europa*s. Wien. 1873. Heft III. S. ".
3) Die Namen der einzelnen Horden gibt A. Schläfli in Petermann's
Mittheilungen. 1863. S. 62.
4) S. oben S. 407.
542
Die mittelländische Race.
Die europäischen Arier theilten sich zunächst wieder in Nord-
und in Südeuropäer. Unter Nordeuropäern sind hier der letto-
slavische und der germanische Ast zu verstehen. Die Lettoslaven
verzweigten sich als Letten und Slaven, die Letten wieder in reine
Letten und in Litthauer, welchen letzteren auch die sprachlich
verschwundenen Preussen angehörten. Die Slaven wiederum
müssen als Ost- und Südslaven von den /Westslaven getrennt
werden. Unter die Ostslaven gehören die Russen, mundartlich
geschieden als Grossrussen, Weissrussen, Kleinrussen oder Ruthenen,
wie sie in Galizien heissen. Zu den Südslaven dagegen zählen
die slovenischen Bewohner der Südostalpen in Oesterreich, ferner
die Bewohner Croatiens, Serbiens und Bosniens mit der Herzego-
wina. Während geringe Sprachunterschiede diese ebengenannten
Bevölkerungen trennen , hat sich das Bulgarische der Donau-
bulgaren ihnen stärker entfremdet. Romanisirte Südslaven sind
dagegen die Bewohner der Moldau und Walachei. Sprachlich
stehen sich Südslaven und Ostslaven näher als beide den West-
slaven. Zu letzteren gehören abgesehen von den deutsch gewor-
denen Elbeslaven zunächst die Wenden, welche in der Lausitz
eine rasch abmagernde Sprachinsel bilden*), dann die Polen in
Posen, in dem ehemaligen Königreich Polen und im westlichen
Galizien, drittens die Tschechen in Böhmen und Mähren, endlich
die Slovaken in den nördlichen Grafschaften Ungarns.
Der andere Ast der Nordeuropäer , der germanische , ver-
zweigte sich als Gothen, Skandinavier und Teutonen. Die gothische
Sprache ist längst verklungen und nur bewahrt in Ulfilas Bibel-
übersetzung. Die altnordische Sprache der Skandinavier hat sich
dagegen auf Island und den Faröern noch lebendig erhalten, in
der festländischen Heimat aber das Dänisch-norwegische und das
Schwedische erzeugt. Die Sprache der Teutonen zerfällt in die
nord- oder niederdeutschen Mundarten, wie das Friesische, Sächsi-
sche, Angelsächsische, Plattdeutsche, Holländische und Vlämische
und in das Mittel- und Süddeutsche, welches seit der Reformation
als Schriftsprache in Deutschland zur Herrschaft gelangt ist
I) Das Zusammenschwinden dieser Sprache seit 1550 und 1750 hat
Richard Andrie {Das Sprachgebiet der Lausitzer Wenden. Prag 1873.)
auf einer lehrreichen Karte zur Anschauung gebracht.
Die mittelländische Race. 5^^
Gliederreicher waren die Südeuropäet. Von ihnen sonderten
sich zunächst die Altgriechen ab, deren Sprache im Neugriechisch
noch gut erhalten fortlebt. Zu nördlichen Nachbarn hatten die
Bewohner des Hellas in Thracien und lllyrien Völker, deren
Sprache jetzt verschwunden ist, bis auf einen Abkömmling im
heutigen Albanien. Dort sitzen nämlich die Schkipetaren oder
,, Bergbewohner", von den Türken Arnauten, von uns Albanesen
genannt. Ihre Sprache gehört; jedenfalls zu dem indoeuropäischen
Stamm, stellt aber ohne geschwisterliche Beziehung zu irgend
einem der üorigen Glieder völlig vereinsamt. Als dritter Ast der
Südeuropäer sind die Italier zu nennen, die früher die umbrischen,
lateinischen und ostischen Mundarten redeten. Einem neuen
Sprachforscher, Corssen, soll es geglückt sein, auch das etrus-
kische als eine altitalische Sprache entziffert zu haben, doch er-
warten wir noch immer mit Spannung die Veröffentlichung der
Beweise. Die Römer erhoben zur Sprache ihres Weltreiches das
Lateinische, als dessen Töchter das Portugiesische, Spanische, Ca-
talanische, Proven^alische , Nordfranzösische , Italienische und die
ladinschen wie romanschen Mundarten in den schweizer und tyroler
w
Alpen, ferner das stark mit keltischen Stoffen gemischte Furlanische
in Friaul und im Venetianischen, endlich in Siebenbürgen , etlichen
ungarischen Grafschaften sowie in der Walachei und Moldau
unter slavischen Bevölkerungen das Rumänische aufgeblüht ist.
Den letzten Ast der Südeuropäer vertreten die Kelten, welche
ehemals die Alper>länder und Süddeutschland bewohnten, in Frank-
reich die Basken weit zurückdrängten und die britischen Inseln
bevölkerten. Fast überall sind sie vertrieben oder theils romani-
sirt, theils germanisirt worden. Nur im äussersten Norden und
Westen ihres Gebietes hat sich in der Bretagne und in Wales die
kymrische Mundart erhalten , während in den westlichen Graf-
schaften Irlands, auf der Insel Man und in Schottland') noch Be-
völkerungen die gaelische oder gadhelische Mundart reden.
Die Indoeuropäer besitzen die Racenmerkmale der mittel-
i) Unvermischt gesprochen wird das Gaelische nur noch an der Nord-
ostecke von Schottland, vermischt mit Englisch dagegen westlich von einer
Linie, die vom Moray Firth gewölbt gegen Osten nach der Clydemündung
führt. Murray, Map of Scotland showing the present limits of the Gaeli:
language in Transactions of the Philological Society. 1870—1872.
544
Die mittelländische Race.
ländischen Völker in höchster Vollkommenheit, mit Ausnahme je-
doch der Hindu, die durch starke Blutmischungen mit Dravida
ihre Reinheit verloren haben ^). Die Gestalt des Schädels schwankt
in Europa von der Mittelform bis zu hohen Breitenindices*). Stets
ist die Höhe geringer, oft merklich geringer als der Querdurch-
messer. Bei Nordeuropäern waren blondes Haar und blaue Aut^en
sehr häufig, selbst bei den Kelten Galliens, wie sie uns noch im
Alterthufn beschrieben * werden, während ihre Nachkommen, d'.e
Franzosen, uns den Beweis liefern, wie vergänglich jene Merk-
male sind.
Die geistigen Vorzüge und die bürgerliche Entwickelung der
indoeuropäischen Völker , zu schildern, ist eine Aufgabe, welche
die Geschichtschreiber längst zu lösen begonnen haben. Uns fallt
nur die Ermittelung zu, welchen günstigen oder ungünstigen Ein-
fluss die Natur des Wohnortes und vor allem Europa's auf die
frühe Reife unsrer Gesittung ausgeübt habe. Leider können wir
bis jetzt nur errathen, wo die Ursitze der Indoeuropäer gesucht
werden sollten. Mit Unwillen muss jedoch von jedem Erdk'uhdigen
die alte Ansicht verworfen werden, nach welcher vom Hochlande
Pamir unsre Voreltern herabge^^tiegen sein sollen. Selbst jetzt
noch gehört jenes Gebiet zu den unbekanntesten Erdräumen,
jedenfalls waren unwirthliche nur der Viehzucht nutzbare Hoch-
ebenen am schlechtesten gewählt als Ursitz einer hohen Cultur
und Cultursprache.
Weit verführerischer wirkt die Wahl Turkistans hauptsächlich
Bactriens auf die Erforscher indischer und eränischer Sprachen •>)•
\Mrd nun durch eine Auscheidung der allen Gliedern gemeinsamen
Wurzeln der alte Sprachschatz der arischen Urzeit neu hergestellt,
so gewinnen wir zugleich ein Gemälde von den gesellschaftlichen
Zuständen jener Völker im höchsten Alterthume. Wir erfahren
dadurch, dass sie bereits den Acker bauten, ihn mit Rindern
pflü^^ten, Wagen mit Rädern gebrauchten, Milchwirthschaft trieben,
und ein nahes Meer mit Ruderbooten, nicht mit Segelkraft be-
i) S. oben S. 483—484.
2) S. oben S. 58—61.
3) J. Muir, Original Sanskrit Texts. Part. II, cnp. 2. sect. VII. pag.
304—322.
■■
Die mittelländische Race,
545
fuhren*). Ob sie Metalle schon ausgeschmolzen haben, ist mehr
als zweifelhaft, zumal der Name für Blasebalg') nicht aus der Ur-
heimat stammt. Da sie dort altafrikanische Hausthiere, den Esel
und die Katze ^) nicht kannten, so hatten sie mit Aegyptern noch
keine Culturschätze ausgetauscht. Dass sie ferner den Namen für
das Kamel später aus semitischen Sprachen entlehnten, spricht
entschieden gegen Ursitze in Bactrien. Da gemeinsame Worte für
Schnee und Winter vorhanden waren^ die anderen Jahreszeiten
aber spätier verschiedene Namen empfingen, so wechselten in Alt-
arien sicherlich heisse mit rauhen Monaten. In jenen Ur sitzen
hausten Bären, Wölfe und Ottern*), dagegen fehlten Löwen und
Tiger 5). Nach diesen Andeutungen können wir sehr genau die
Heimat der Indoeuropäer begrenzen. Sie lag östlich vom Nestus,
jetzt Karasu in Macedonien, wo zu Xerxes' Zeiten das Verbreitungs-
gebiet des europäischen Löwen aufhörte^). Sie lag auch nörd-
licher als Chuzistan, Irak Arabi, ja selbst als Assyrien 7), wo Löwen
noch jetzt vorkommen. Ferner konnte sie die Hochlande West-
irans und die Südgestade des kaspischen Meeres nicht umfasst
haben , weil dorthin noch die Tiger gegenwärtig ihre Raubzüge
erstrecken 8). Nach allen angeführten Thatsachen wird wohl jeder
Erdkundige sich dahin entscheiden, dass die Indoeuropäer beide
Abhänge des Kaukasus, auch die merkwürdige Darielschlucht be-
wohnten und den Pontus oder das kaspische Meer, wenn
nicht beide gleichzeitig kannten. Gegen diese Schlussfolgerung
wird gewöhnlich eingewendet, dass die europäischen Stämme
auf ihren Wanderungen sich aus dem Gebiete des Löwen
oder des Tigers entfernten und mit den Thieren auch ihre
Namen vergassen. Dies bedarf jedoch erst noch einer strengen
1) Adolphe Pictet, Les origines indo-europdennes. Paris 1859 und
1863. tom. I, p. 271. p. 333. tom. II, p. 25. p. 75. p. 94. p. 108 ff. p. 179.
2) Pictet 1. c. tom. II, p. 142.
3) Pictet, 1. c. tom. I. p. 356. p. 381.
4) Pictet, 1. c. tom. I, p. 427. p. 431. p. 443-
5) Pictet 1. c. tom. I, p. 425. p. 426.
6) Herodot. lib. VII, cap. 125— ,126.
7) Ueber die Verbreitung der Löwen in Vorderasien vgl. Layard, Ni-
neveh and its remains. 2d. ed, tom. II, p. 48*
8) Carl Ritter, über die Verbreitung des Tigers, in der Zeitschrift für
Erdkunde. Berlin 1856. Neue Folge. Bd. i. S. 99.
Pesckel, Völkerkunde" 35
546
Die mittelländisclie Race.
Begründung, denn die Maori haben den Namen für das Haus-
schwein und die Cocosnuss beibehalten, obgleich auf Neu-
seeland beide fehlten*). Hätten die Altarier in ihrer Heimat
solche heroische Raubthiere wie Tiger und Löwe gesehen und
bekämpft, sicherlich wären ihre Namen in irgend einer anderen
Bedeutung erhalten geblieben. Der Beweis aber, dass dies nicht
geschehen sei, fällt als Last auf diejenigen, welche Bactrien als
die schicklichste Heimat der -Indoeuropäer erwählt haben.
Es bleibt uns nur noch die Untersuchung übrig, ob 'Europa
als Wohnort zur Beschleunigung der Gesittung beigetragen habe
oder nicht. So ausdrucksvoll haben sich aber Land und Meer in
diesem Erdraum abgesondert, dass schon Strabo*), der doch die
nächsten Festlande noch so unvollständig kannte, Europa als
reichgegliedert {noXvüx^' (i(av) gepriesen hat. Unser Welttheil,
selbst eine halbinselartige Verlängerung Asiens, hat alle seine Um-
risse wieder halbinselartig ausgebildet, denn irn Süden tritt er mit
drei solchen Gestaltungen in das Mittelmeer, im Norden berühren
sich nahezu Scandinavien und die cimbrische Landzunge, ja selbst
die britischen Königreiche lassen uns noch erkennen, dass, bevor
der seichte Aermelcanal vom Meer ausgefurcht worden war, auch
sie als vorspringende Landmassen mit dem Hauptkörper vereinigt
waren. In Folge dieser zahlreichen rhythmischen Vorsprünge un-
seres Festlandes tritt das Meer immer mehr oder weniger golfförmig in
das Festland herein.
Meerengen, die durch Annäherung des Festen an das
Feste entstehen, sind ebenso selten als bedeutungsvoll. Miss-
achtet musste daher dasjenige Festland am längsten bleij^en, das
keine besitzt, nämlich Australien. Amerika wiederum erhielt seine
ersten Bewohner höchst wahrscheinlich über die Berings-Enge.
Europa endlich kann nicht nur sein Kattegat mit dem Sund auf-
weisen, sondern es bildet mit Afrika und Asien die Meerengen
von Gibraltar, von Sicilien, und den Hellespont sammt dem Bos-
porus, welche das Mittelmeer in drei gesonderte Becken trennen.
An jede dieser drei Zusammenschnürungen knüpfen sich zeiten-
verändernde Weltbegebenheiten. Dort, wo Sicilien sich dem Saum
von Afrika nähert, musste die grösste Seemacht des Alterthums
i) S. oben S. 374.
2) Geogr. lib. II, cap. 5. (Tauchn. cdit. tom. I, p. 201.)
Die mittelländische Race.
547
entstehen, denn von dort Hessen sich beide Becken des Mittel-
meeres um so strenger beherrschen, als in früheren Zeiten der
Schiffer aus Verzagtheit nie das Gestade aus dem Gesicht zu ver-
lieren wagte. ^ Dort an jener Stelle erstand, wuchs und fiel Car-
thago. Die andere Meerenge führt ihren heutigen Namen vom
Dschebel-Tarik, dem Tarikfelsen, weil Tank dort mit den Arabern
aus Afrika nach Spanien übersetzte, ein Unternehmen, das bei den
damaligen schwachen Leistungen der Schifffahrt nie versucht worden
wäre, wenn nicht eine Enge, sondern ein geräumiger Meeresarm die
beiden Festlande getrennt hätte. Mit den Arabern aber kam da-
mals das reifere Wissen morgenländischer Völker, ja zum Theil
auch von neuem die verschollene Gelehrsamkeit des griechischen
Alterthums nach Europa. An die dritte Meerenge knüpft sich die
Jahreszahl 1453, der Fall von Konstantinopel, der durch eine
wundersame Fügung zum Segen uns ausschlagen sollte, denn, von
den Osmanen verscheucht, brachten Byzantiner nicht blos längst
vermisste literarische Schätze der hellenischen Blüthezeit in das
mittelalterliche Europa, sondern es wurde auch durch sie die
griechische Sprache ein Gemeingut der Gelehrten und aus diesem
Quell strömte das neue Licht des 16. Jahrhunderts. Noch
jetzt drohen diese Meerengen den Bewohnern Europa*s mit neuen
Prüfungen. Im Hintergrunde der modernen Begebenheiten ist ein
ziemlich hochbegabtes Volk zum russischen Reich erstarkt und
möchte sich vorwärts drängen nach dem offenen Weltmeer, Seine
Ufer liegen aber nur an zwei Binnenmeeren, die sich mit Kammern
vergleichen lassbn, zu denen andere Völker die Schlüssel besitzen.
Im Winter gefriert die Ostsee und Schweden wird dann fest mit
den dänischen Inseln, so dass die Schifffahrt eingestellt bleibt. Der
Pontus dagegen fliesst durch ein doppeltes so enges Thal ab, dass
sich jede Stelle unter ein Kreuzfeuer von Artillerie bringen lässt.
Jedes Volk von gleichem W^uchse wie die Russen würde nach
einem offeneren Meere sich vorzuarbeiten suchen, und darum, so oft
der Gefangene ungeduldig am Gitter seines geographischen Kerkers
rüttelt, wird es den westlichen Völkern um ihren Frieden bange.
Wiegen seines Gliederreichthums besitzt unser Welttheil die
grösste Küstenlänge im Vergleich zu seiner Oberfläche. Nun ver-
dichtet sich, wie die neue schöne Karte von E. Behm') über die Ver-
i) Ergänzungsheft Nn 35. Taf. 2. zu Petermann's Mittheilungen.
35*
548
Die mittelländische Kace.
theilung der Bevölkerung Europa's es offenbart hat, in unserem Fest-
lande mit Ausnahme der Landes, der Maremmen und der „eisernen
Küste'* }ütlands stets die Bewohnerzalil am Meeresgestade im Ver-
gleich zu den rückwärts liegenden Binnenstrichen. Jene Karte lehrt
uns weiter, dass jede Bodenerhebung der Bevölkerungsdichtigkeit
entgegenwirkt oder sie gleichsam auflockert. Es ist demnach von
tiefer Bedeutung, dass von allen Welttheilen Europa wiederum die
geringste mittlere Höhe besitzt ^). Eine räumliche Annäherung der
Menschen an die Menschen ist aber die unerlässliche Vorbedingung
zur Erhöhung der JCulturstufen.
Zu unsern glücklichen Uferumrissen gesellen sich meteoro-
logische Begünstigungen, wie sie von Sachverständigen kaum besser
hätten ausbedungen werden können. Durch das tiefe Eindringen
des Meeres werden alle schroffen Gegensätze abgestumpft und die
Wärme über die Jahreszeiten so gleichmässig vertheilt, dass er-
trägliche Sommer auf milde Winter folgen, und noch im Süden
Irlands Myrten, Lorbeeren, Camellien und Orangen das ganze Jahr
im Freien ausharren. Die rasche Musterung von Weltkarten mit
Dove'schen Isanomalen genügt auch vollständig, um uns zu über-
zeugen, dass von allen Welttheilen Europa allein wärmere Sommer
und mildere Winter geniesst, als den jeweilig entsprechenden
Er d räumen unter gleicher Polhöhe zukommen. Auch einer gleich-
massigen Vertheilung der Niederschläge* ist die peninsulare Schlank-
heit und die Richtung der grossen Axe unsres Welttheils aufs
höchste förderlich. Wo sich Küsten von Süden nach Norden er-
strecken und die regenbringenden Seewinde unmittelbar an den
Abhängen hoher Gebirge wie an der Ostküste Australiens oder
an der Westküste Nordamerika's ihre Feuchtigkeit absetzen, da
folgt hinter ihren Kämmen ein regenarmer Gürtel wie in den an-
gegebenen Fällen. * Nichts derartiges kann sich in Europa zu-
tragen, wo die atlantischen Regenwolken oft zu unserm Verdruss
ganz Nordeuropa bis nach Russland einhüllen, ohne dass quer
voi liegende Bodenerhebungen die gleichmässige Vertheilung zum
Schaden der Binnenräume störten. Unsere Hauptgebirgszüge, die
Alpen mit ihren östlichen Verlängerungen, verschärfen vielmehr
die Absonderung unsres Welttheiles in zwei klimatische Hälften:
in Nordeuropa und in Südeuropa, in einen Gürtel, wo im Herbste
I) A. V. Humboldt. Kleine Schriften. Bd. i. S. 438.
Die millelländische Kace. 51^^
das Laub fällt und in einen mediterraneischen Küstensaum mit
immergrünenden Sträuchern und Gewächsen, der eine bewohnt
von Völkern, die Bier brauen und Butter bereiten, der andere von
Völkern, welche Mie Trauben keltern und^die Früchte des Oel-
baumes pressen. Erst in den Östlichen Fernen des Welttheiles,
an den Gestaden des Pontus und des kaspischen Meeres ent-
wickelt sich ein dritter Gürtel mit andern Lebensbedingungen,
nämlich die Steppe, anfangs eine schmale Zunge, später an Raum-
grösse rasch anwachsend. Solche scharfe Uebergänge zu klima-
tischen Gegensätzen mussten frühzeitig einen Völkerverkehr er-
wecken, weil die Bewohner des Nordens wie des Südens Erzeug-
nisse zu bieten hatten , welche die Begierde schon durch den
Reiz des Fremdartigen erweckten.
Die Vortheile höherer Gliederung äussern sich aber einfach
darin, dass verschieden begabte Völker bequemer das beste aus-
tauschen können, was sie erworben haben. Die besten Erzeug-
nisse des Menschen sind aber seine glücklichen und beglückenden
Gedanken, die, einmal gedacht, befruchtend oder tröstend fort-
wirken von Geschlecht zu Geschlecht durch Jahi;tausende. Zu
den beglückenden Gedanken gehören die Religionsschöpfungen,
zu den glücklichen unter andern solche Erfindungen, die über
unsern Haushalt und unsere Tagesgewohnheiten eine strenge Herr-
schaft behaupten. Was wir unter Civilisation , Cultur, Gesittung
verstehen, ist nichts anderes als eine Summe heller Gedanken,
gröstentheils von uns ererbt und asiatischen Ursprungs. Kein
Culturvolk steht hoch genug, dass es nicht irgend etwas neues
selbst von sogenannten wilden Völkern sich aneignen könnte, oder
schon angeeignet hätte. Der Gebrauch der Gabeln beim Genuss
der Speisen hat sich beispielsweise in Nordeuropa erst im 17. Jahr-
hundert verbreitet '), und wurde anfangs als eine sittenverderbliche
Neuerung angesehen. Hätten uns dieses Tischgeräth nicht schon
die Völker des Alterthums hinterlassen, oder würden wir, wie die
Chinesen, noch heutiges Tages uns der Essstäbchen bedienen, so
hätten unsere Seefahrer von den anthropophagen Fidschi-Insulanern
die Gabel als eine Neuigkeit nach Europa bringen können. Durch
den Umgang mit den Kelten Galliens war gar mancherlei für die
i) Lubbock, Prehistoric Times 2^ ed. 1869. p. 443.
550
Die mittelländische Racc.
Römer zu erlernen, denn von ihnen empfingen sie zuerst die Seife*),
und erfuhren sie, wie sich metallene Geschirre verzinnen und ver-
silbern Hessen"). Vom keltischen Adel erlernten sie die Hetz-
jagd im freien Feld und unsere deutschen Vorfahren die Falken-
beize^). Die alten Bewohner Britanniens dagegen hatten zuerst
bei der Landwirthschaft mineralische Dünger, nämlich den Mergel ,
angewendet, und zufolge einer etwas dunkeln Beschreibung bei
Plinius das Getreide schon mit Maschinen und mit Pferdekraft
geschnitten*). Umgekehrt sollten erst nach Tacitus* Zeiten die
kühnsten Seefahrer der Welt, die Normannen, mit dem Gebrauche
der Segel bekannt werden 5).
An unsere wichtigsten narkotischen Genussmittel sind wir erst
vor drei oder vier Jahrhunderten durch fremde Völker gewöhnt
worden; an den Thee durch die Chinesen und an den Kaffee
durch fromme Araber. Die erste Chocolade tranken spanische
Eroberer aus der Hofküche des mexicanischen Kaisers Mocteuzoma
oder Montezuma^) und als im Jahre 1492 spanische Kundschafter
aus dem Innern von Cuba zurückkehrten, erzählten sie dem Ent-
decker der neuen Welt, dass die harmlosen Indianer der Insel
zusammengerollte Krautblätter, welche sie Tabacos nannten, in
den Mund steckten, um von dem anderen entzündeten Ende her
den Rauch einzuschlürfeji. Waren auf den Antillen Cigarren ia
Gebrauch, so sahen Europäer bei den Rothhäuten Nordamerika's
den Tabak aus steinernen Pfeilen rauchen und im alten Peru^),
sowie anderwärts in Südamerika, ihn schnupfen.
Das Schlafen in aufgeknüpften Netzen ist eine Erfindung der
neuen Welt und unser Ausdruck Hängematte eine Uebersetzung
und zugleich Lautnachahmung des Wortes „Äö/^iara" aus der
Sprache der Urbevölkerung Haiti's, welches das Französische als
„Äawjr" noch treu bewahrt hat. Die Verwendung künstlicher
1) Ausland 1866. S. 139.
2) Mommseii, Römische Geschichte. Bd. 3. S. 217.
3) Hehn, Culturpflanzen. S. 270.
4) Plin. H. N. lib. XVII. 4, lib. XVIII. 72.
5) Germania, cap. 44. Die Suionen des Tacilus sind die Bewohner
von Schonenland.
6) Prescott, Conquest of Mexico, tom. I, p. 135. p. 155.
7) Prescott, Conquest of Peru. tom. I, p. 140.
Die mittelländische Race. eci
Insecten beim Fischfang mit der Angel und die Wahl dieser
Phantome je nach der erwünschten Fischart, der Jahreszeit oder
dem Wetter haben die Engländer zuerst den Indianern an den
Flüssen Guayana's abgelauscht und von den rohen Naturkindern
Brasiliens wurden Portugiesen in der Zubereitung der Tapioca
unterrichtet'). Das einfachste und zugleich ein ungemein maleri-
sches Männergewand, nämlich der Poncho, welcher im spanischen
Amerika heutzutage allenthalben getragen wird, war die Volks-
tracht der tapfern Araucaner*). Selbst im Bau von Fahrzeugen
konnten wir erst in unseren Tagen von fälschlich missachteten
Völkern, wie den Eskimo, etwas lernen, denn ihre Kayaken wurden
die Muster zu unsern Lustgondeln mit geschlossenen Räumen am
Schnabel und Stern.
Wenn also selbst bei unseren reifen Zuständen ein Umgang
mit jugendlichen Stämmen immer noch Nutzen trägt, wie ent-
scheidend musste es für uns gewesen sein, als unsere Lehrjahre
begannen, dass die Zugänglichkeit und Aufgeschlossenheit unseres
Welttheils den Zutritt der geistig bereicherten Völker Asiens und
Afrikas erleichterte? Ein Misskennen der Culturgeschichte aber
wäre es, wollte man schliessen, dass die Europäer, weil sie einen
reich gegliederten Welttheil bewohnten, nothwendig durch ihre
Leistungen zu allen Zeiten hätten hervorleuchten sollen. Für jene
Franzosen, welche in den Höhlen der Dordogne hausten, mit Stein-
werkzeugen das wilde Pferd um seines Fleisches willen jagten, zu
einer Zeit, wo der vorweltliche Elephant noch Nordeuropa durch-
schritt, war es völlig unerheblich, ob ihr Welttheil halbin selförmig
gestaltet, sowie mit Sunden und Golfen reich gesegnet war. Auf
den niedrigsten Stufen unserer Entwickelung, wo die Sorge für den
täglichen Unterhalt fest den ausschliesslichen Lebenszweck bildet,
wo das einzige nicht thierische Bedürfniss, merkwürdiger Weise
ein ästhetisches, vorläufig nur. darin Befriedigung sucht, dass etwa
hübsche Muscheln, an eine Schnur gereiht, den Hals oder die
Knöchel zieren sollen, haben weder wagrechte noch senkrechte
Gliederungen oder andere geographische Charakterzüge irgend
einen Werth zur Besänftigung der rohen Menschennatur besessen.
1) S. oben S. 451.
2) Waitz, Anthropologie. Bd. 3. 510.
552
Die mittelländische Race.
Bestand die Gunst der Gliederung Europa's in seiner Zu-
gänglichkeit für fremde Cultur, so sind auch seine Bewohner, so
weit unser geschichtliches Wissen zurückreicht, bis auf vier oder
fünf Jahrhunderte rückwärts noch immer der empfangende Theil
geblieben. Aus diesem Grunde war es wichtig, dass Europa als
asiatische Halbinsel der alten Welt angehörte, denn geräumige
Ländermassen sind vorzugsweise reich an solchen Thier- und
Pflanzenarten, die zu den Bewohnern in irgend eine gesellige Be-
ziehung treten können, und wirklich stammt mehr als die Hälfte
dessen^ was den Gestaden des Mittelmeeres ihre landschaftlichen
Zierden gewährt, aus dem Morgenlande. Nur der Weinstock, der
Feigenbaum, der Lorbeer des Apoll (Laurus nohilis)^ der Oleander,
werden bereits fossil in der Provence angetroffen*). Die immer-
grüne Eiche, die Myrte und die Pinie gehörten ebenfalls wohl
unter die einheimischen Gewächse. Der Oelbaum dagegen, der
auf der griechischen Insel Santorin unter einer sehr alten Lava-
schicht angetroffen wird, kam erst mit hellenischen Ansiedlern
600 V. Chr. zu Schiff nach Italien. Die Rebe, welche den süd-
lichen Feuerwein spendet, wanderte von den Südabhängen des
Kaukasus über Thracien ein, ihr folgte der Fasan von den Ufern
des Phasis und die Apricose aus Armenien. Aus Persien kam die
Platane, der Pfirsich, die Rose und die Lilie, während Melonen^
Gurken unc Kürbisse, lauter Steppen fruchte, aus Turkistan erst
spät durch die Hände der Slaven nach dem Abendlande gelangten.
Dattelpalmen sahen die Hellenen zuerst in Phönicien, als unzer-
trennliche Begleiter der Araber wanderten sie in das eroberte
Spanien und landeten mit saracenischen Piraten an dem gefeierten
Gestade zwischen Genua und Nizza. Aus dem semitischen Asien
stammt auch die Cypresse, der Paradiesapfel, Kümmel und Senf^
während Nordeuropa die Linse den Römern, die Erbse den
Griechen verdankt, /on italienischen Gärtnern lernten unsere
Vorfahren ihre wilde Schlehe durch Aufsetzen von Damascener
Reisern zur Zwetschge zu veredeln und zu dem wilden Süss-
kirschenbaum kam von Cerasus am Pontus die Weichsel. Der
Haushahn wanderte aus Indien über Persien zunächst nach
Griechenland und den Pfau brachten die hieramsalomonisrhen
i) Charles Martins in der Revue des deux Mondes, tom. LXXXV.
pag. 633.
Die mittelländische Race. ^^j
Indienfahrer aus Ophir, dem Abhira an der Indusmündung'). Es
waren also die östlichen Ländergebiete, welche ihr Füllhorn haupt*
sächlich über Südeuropa umstürzten und im Vergleich zu ihren
Gaben konnte die neue Welt nur wenig mehr hinzufügen: eine
einzige Getreideart, den Mais, eine einzige Knollenfrucht, die Kar-
toffel, als häufige Zierde südlicher Landschaften noch die Agave
und die Feigendistel.v
Aber nicht bloss Gaben der Ceres, nicht bloss die stillen
Zierden unserer Gärten oder Haine, die lockenden Früchte unserer
Obstreviere mussten erst aus dem Morgenlande nach dem Mittel-
meere wandern, auch die höchsten geistigen Schätze schlugen den-
selben Weg ein. Die Kunst, das gesprochene Wort in seine ein-
zelnen Laute zu zerlegen, und diese Laute durch Symbole sicht-
bar werden zu lassen, empfingen die Griechen zuerst aus Klein-
asien. Durch ägyptische und assyrische Muster wurden sie zuerst
angeregt, den Stein in Bild- und Bauwerken zu beseelen. Endlich
verbreiteten sich aus dem Orient, aus der Wüste zumal, wo Sonne
und Gestirne durch reine Luft beständig ungetrübt strahlen und
funkeln, fromme Begeisterung sich häufiger regt und Sehergabe leich-
ter sich entzündet, verklärtere Religionen und durch sie eine merk-
liche Müderimg der Sitten. Selbst vof wenig länger als tausend
Jahren brachten uns noch die Araber aus Indien die scharfsinnig-
ste Erfindung nach der Lautschrift, nämlich unsere neuen Zahl-
zeichen und die Kunst, ihren Rang in der Decimalordnung durch
den Stellenwerth zu bestimmen.
Während wir das Morgenland als die Mutter der höchsten
Erfindungen, aller freundlichen Verbesserungen des häuslichen Da-
seins, aller geistigen Verklärungen verehren müssen, blieben da-
gegen bis auf den heutigen Tag seine Völker auf niederen Stufen
der menschlichen Gesellschaft stehen, nämlich auf der Herrschaft
der Einzelnwillkühr, mehr oder weniger gemischt und gemildert
durch Theokratie, nie befreit von dem Unsegen der Vielweiberei,
bei welcher Geschwisterliebe nie zu keimen vermag und Harems-
umtriebe und Palastrevolutionen einen beständigen Wechsel der
Herrscherhäuser nach sich ziehen. Diesem Mangel gegenüber war
vorauszusehen, dass, wenn in einer andern Völkerfamilie, wenn
I) Näheren Aufschluss gewährt V. Hehn, die Culturpflanzen und Haus-
thicre. Berlin 1870.
254 ^^^ mittelländische Race.
bei den Ariern die Fähigkeit schlummerte, der menschlichen Ge-
sellgchaft eine bessere und würdigere Gliederung zu verleihen, früher
oder später nothwendig die höchsten Entwicklungen ihren Sitz ver-
legen mussten.
Unter allen arischen Völkern leuchteten unbedingt die Römer
durch staatsmännische Begabung am hellsten. Wie ein Gemein-
wesen durch Gesetze zu ordnen, wie ein Heer zu schulen, wie
im friedlichen Verkehr die Zweifel über Eigenthum und Leistungen
nach gesunder Auffassung des Rechten und Billigen zu schlichten
seien, verstand niemand besser wie sie. Im Orient entstanden
nur Despotien auf den Trümmern von Despotien, bei den Ariern
des Abendlandes entwickelten sich die ersten Keime einer bürger-
lichen Gesellschaft. Zum Heil für die Menschheit hatten aber
gerade die Römer auf einer mittleren Halbinsel ihre Heimath ge-
funden, denn wie schon Strabo einsah, beruhte auf der centralen
Lage Italiens die lateinische Weltherrschaft. So kam es, dass
kurz vor dem Beginn unserer Zeitrechnung zum erstenmale der
Schwerpunkt der Gesittung von den Südufern des Mittelmeeres
nach dem .nördlichen Rande, von seinem äussersten Osten nach
der Mitte und obendrein vom levantischen Becken in das abend-
ländische verlegt wurde.
Würdigen wir den Gang der Geschichte von dem entlegenen
Abstände der Erd- und Völkerkunde, so gilt uns als die höchste
Verrichtung des Römerreichs die langsame Bekämpfung Spaniens,
die rasche Eroberung Galliens sowie der britischen Inseln und das
theilweise Vordringen nach Deutschland. Unscheinbare, und all-
tägliche Leistungen der Römer sind es, die wir in diesem Sinne
am höchsten stellen müssen: sie errichteten Strassen, Meilensteine
und Posten, sie lehrten, wie unsere Sprache es bezeugt, die ersten
steinernen Häuser erbauen und vereinigten sie durch Gräben und
Brustwehr zu einem Ring. Durch ihre Städtegründungen wurden
zum erstenmal die Bewohner in eine bürgerliche und eine länd-
liche Bevölkerung geschieden und gleichzeitig die erste Anleitung
ertheilt, wie solche Gemeinden sich verwalten lassen. Bei den
gallischen und britischen Kelten war dieser Umschwung schon
vorbereitet, aber der längere Genuss der Römerherrschaft musste
dort mit dem Verluste der einheimischen Sprache gebüsst werden,
so dass sich nur in den unzugänglichen Gebirgen, in den abge-
legenen Landschaften Aquitaniens das Baskische, in der Bretagne,
Die mittelländische Race. ccc
in Wales, in Schottland und in Irland das Keltische längere Zeit
behaupten konnte. Dass die germanischen •Stämme ihre Sprache
retteten, verdankten sie der grösseren Rauheit ihres Klima's, der
Unwegsamkeit des Flachlandes, der kürzern Dauer der Römerherr-
schaft, ihrer mannhaften Gegenwehr, aber auch dem Schutze ihrer
mächtigen Gebirge, denn während in das offene und heitere, darum
auch einer zeitigeren Gesittung erschlossene Gallien das Lateinische
bequem einzog und sich ausbreitete , konnte es nicht auf dem
nächsten Wege, nämlich von Süden herauf, sondern es musste aus
dem Südwesten und aus dem Westen, also auf Umwegen, nach
Deutschland eindringen, so dass wir der Unzugänglichkeit der
deutschen Alpen es zu danken haben, wenn unsere Sprache sich
siegreich behaupten durfte.
Mit dem Wachsthum bürgerlicher Gesittung in Nordeuropa
veränderten sich allmählich Werth und Würde der geographischen
Gliederungen. Die Ströme wirkten städtebildend, Gewerbe und
Handel blühten und die nördlichen Mittelmeergestade erhielten jetzt,
was sie vorher nur schwach besassen , ein staatswirthschaftliches
Hinterland. In dieser Zeit erneuert sich die Blüthe von Marseille,
wird Barcelona ein Platz ersten Ranges, erhebt sich etwas später
Sevilla und entsteht die Seemacht von Genua, welche nach Ueber-
wältigung Pisa's die Herrschaft auf dem Mittelmeer anstrebt. Um
aber alle diese Schöpfungen zu verdunkeln und alle Nebenbuhler
zu überleben, war in unvergleichlicher Lage, nämlich in der Ver-
tiefung des adriatischen Golfes, als dessen verlängerte Axe wir das
Rothe Meer, den ältesten Seeweg nach Indien, betrachten dürfen,
Venedig gegründet worden, dem zuletzt das Uebergewicht zur See
verblieb.
Wenn damals der Südrand Europa's als die am meisten be-
vorzugte Gliederung des Erdkreises erschien, so sollten die italieni-
schen Seemächte selbst eine Wendung herbeiführen, welche die
culturgeschichtliche Bedeutung dör Umrisse Europh*s gänzlich ver-
ändern musste, ja wir können sogar die Zeit streng bezeichnen, in
welcher der Glanz der Mittelmeerufer zu erbleichen begann. Im
Jahre 1318 brachten zuerst venetianische Galeeren indische, das
heisst morgenländische Waaren auf dem Seeweg durch die Meer-
enge von Gibraltar nach dem Markte von Antwerpen. Wohl waren
einzelne Fahrzeuge früher diesen Weg gezogen, allein wegen der
See- und Piratengefahr musste bis dahin kaufmännisch die Ver-
556 I^ie mittelländische Race.
frachtung zu Lande dem Seewege vorgezogen werden. Mit jenem
nautischen Fortschritt wurden die Schiffer hinausgeführt in den
atlantischen Ocean. Fast unmittelbar erfolgte darauf die Wieder-
entdeckung der Canarien und das Auffinden^der Azoren, letztere
auf zwei Fünfteln des Weges nach Amerika gelegen. Nicht unbe-
merkt zogen Mittelmeer-Seefahrer an Portugal vorüber, welches
für oceanische Verbindungen unvergleichlich günstig gelegen war.
Lissabon erhob sich zu einem Seeplatz ersten Ranges; die anfangs
verzagten Portugiesen und Spanier übten sich an den afrikanischen
Küsten für Fahrten auf der hohen See; eine neue Welt im Westen,
ein ocean ischer Weg nach Indien wurden gefunden und während
das Mittelmeer erst langsam, dann immer rascher hinabsank zum
Charakter eines Binnensee's, genossen die höchsten geographischen
Vergünstigungen fortan diejenigen Völker, welche an den Welt-
meerufern Europa's sassen und deren nautische Anlagen nur eines
Weckers bedurft hatten, je wichtiger seitdem mit jedem Jahr-
hundert die überseeischen Gebiete, als ein verjüngtes und ver-
doppeltes Europa, wurden, desto höher stieg der Rang der oceani-
sehen Küsten.
So oft wir diese Lehren der Geschichte fest in's Auge fassen,
vermögen sie uns immer auf's neue in Staunen zu versetzen. Wir
erkannten zuvor, dass zur Renthierzeit die Umrisse unseres Welt-
theils noch todte Vergünstigungen für seine Bewohner waren, wir
überzeugten uns später, dass der älteste Aufschwung zu höherer
Gesittung sich dort zutrug, wo unweit der Berührung von Afrika
und Asien der Nil strömte, dass ferner zur Aufnahme morgen-
ländischer Cultur der Südrand Europa's durch seine geographischen
Gliedmaassen und Gefässe gleichsam vorsorglich ausgestattet wor-
den war, dass aber diese Verrichtungen aufhörten, als durch eine
Steigerung menschlicher Leistungen der Werth der gegebenen
Naturverhältnisse sich änderte. Höher demnach als alle Umrisse
von Land und Meer, als das höchste sogar, müssen wir die That
verehren.
Diese geschichtlichen Erkenntnisse predigen uns den Satz
von der Vergänglichkeit aller geographischen Vergünstigungen.
In der Kette der Gesittungsgeschichte war das Mittelmeer bloss
ein Glied, welches der stärkste Glanz nur eine begrenzte Zeit um-
floss. So wird auch Europa selbst nur vorübergehend der Schau-
platz der höchsten Leistungen des Menschengeschlechts bleiben
Die miltelländische Race.
557
können. Die alten Hellenen, als Bewohner von Inseln, scharf ge-
schnittener Halbinseln, Landengen, durch Gebirge streng abge-
schiedener Thäler und Landschaften , genossen alle Reize und
Vorzüge der politischen Klein wir thschaft, günstig für Entfaltung
geistiger Mannichfaltigkeit, hinderlich aber für grossere nationale
Leistungen. So versanken sie in geschichtliche Vergessenheit, als
ihre Zeit abgelaufen war. Ganz ähnlich ist Europa jetzt der schick-
lichste Erdraum zur Ausbildung von Völkern . mit scharf ausge-
geprägter Persönlichkeit. Es konnte kaum anders kommen, als
dass Spanien, die britischen Inseln, Skandinavien, Italien, die
illyrische Halbinsel, dass Frankreich mit natürlichen Grenzen auf
drei und Deutschland mit natürlichen Grenzen auf zwei Seiten
geschlossene Staaten oder Gesellschaften bilden sollten, selbst
das europäische Russland erscheint uns als ein leidlich abgeson-
derter Länderraum. Nur regt sich die Besorgniss, ob die Ent-
wicklung einer Mehrzahl stark individualisirter Völker nicht bald
so kleinlich erscheinen möchte wie das Sonderleben von Athen, von
Lakedämon, Korinth und Böotien erschien, als die Zeit für grössere
geschichtliche Schöpfungen eingetreten war.
Im Westen von uns in einer Welt, der eine alte und alternde
gegenübersteht, auf Gebieten zwischen zwei Oceanen gelegen, er-
füllt ein junges Völkergemisch bald den Raum eines Festlandes,
das leicht die dreifache Einwohnerzahl China's , nämlich looo
Millionen, ernähren könnte, wächst eine neue Gesellschaft auf, alle
Jahrzehnte ihre Kopfzahl um ein Drittel vermehrend, so dass sie
voraussichtlich das zwanzigste Jahrhundert mit loo Millionen an-
treten wird. Wenn dermaleinst auf jenem Schauplatz höhere
Aufgaben gelöst •werden, dann müssen die Völker Europa's aus
dem geschichtlichen Vordergrund zurücktreten. Sobald bei uns
die Sonne im Mittag steht, röthen ihre ersten Strahlen die Küsten-
landschaften der neuen Welt. So ist es auch mit der mensch-
lichen Cultur. Europa steht jetzt im Mittag ihrer Bahn und drüben
dämmert bereits der Morgen. Die Sonne aber rückt weiter, sie steht
nicht gefesselt wie auf Joshua's Geheiss, und wie die Gliederungen
unseres Welttheiles, geologisch aufgefasst, nur eine flüchtige Er-
scheinung sind, so wird auch ihr sit.tengeschichtlicher Werth dem
Loose alles Vergänglichen sich nicht entziehen können.
Appendix A.
Schädelmessungen aus Welckers Kraniologischen Mittheilungen.
Arch. für Anthropologie. Bd. i. S. 157.
Länge des Schädels 3= xoo.
I.
Carolineninsulaner
Neu-Caledonier .
Australneger
Papuas . . .
Neuseeländer
Alfurus • . .
Insel Bligh . .
Marquesasinsulaner
Nicobaren . . ,
Tahitier . . ,
Chathaminsulaner
Sandwichinsulaner
II.
Dajaks . .
Balinesen .
Amboinesen
Sumatraner
Macassaren
Javanesen .
Bu^inesen .
70,77|+ 7
70 75+ 5
73'7Ö+ 2
73 76-1- 3
7479'+ 5
74;79'+ 5
7476 + 2
7478!+ 4
75'80'-|-. 5
76 79' f 3
77 8l'-u 4
1 1 ^'
75 77;+ 2
76 77|+ 1
77,77,+^/
77,78!+ 1
,78 78Uo,*
79 80]+0,*
7980+0,*
Menadaresen . .
Maduresen . .
111.
Moravi-Neger . .
Sennaar und Darfur
Ashantis . . .
Kaffern . . .
Donko-Neger
Hottentotten , .
„Neger" . . • .
Mozambique-Neger
Sudan-Neger . .
Südguinea-Neger .
IV.
Abessinier . .
Fellahs . . .
Neuägypter
Araber . , .
Aegyptische Mumien
Cabylen . . .
«'S
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82 82_o,.
68,74,-1- 6
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Appendix A.
559
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Guanchen .
Juden . . • .
V.
Rajputs ....
Lepchas . . .
Ganges Mussalmans
„Hindus" . . ,
Thakürs . . .
Sikhs ....
Bhots aus Tibet .
Kashmiris . . .
Mittel a. 4 Hindukast.
Bhils, Gods und Kols
Nagas und Khassias
Bais . .
Singhalesen *
Gorkhas
Brahmanen
Sudras . .
Himalaya-Bhots
Zigeuner . .
VI.
'75 72
78 71
3
7
66 72+ 6
69 73-1- 4.
69 72-1- 3
70 75-f- 5
70 74+ 4
,7175+ 4
72 75 + 3
I7273+ 1
72 73 + 1
73175;+ 2
7374+ 1
7373+0,3
73 77 + 4
74 74 + 0,5
74 74 — 03,
7573— 2
'7575J— 0,4
'76 74!- 2
Sion ....
Schweden . .
Holländer . .
Urk und Marken
Engländer
Isländer . .
Dänen . .
Schweizer . .
Bündner . .
175 72
7571
75 71
7670
7673
7671,
76,71.
81 75
85 77
3
4
4
6
3
5
5
6
8
vn.
I
Hannoveraner . 77 72
Gegend von Jena 77 72,
Holsteiner . . . 77 71
Bonn und Köln . 77 72
I
Oesterreicher . • |79 75
Hessen . . . |7972
Schwaben . . . 79 73
Gegend von Halle '80 74
Baiern .... 18O74;
Franken . . . |80|73'
Breisgauer . . . 80 73
vui. I I
Letten .... |75 72
Neugriechen . . |77 74
Serben .... 7976
Kleinrussen . . 79 75
Polen . . . .' 7975,
Rumänen . . , ,8076
Grossrussen . . 80 77
Ruthenen . . . ,8077
Slowaken . . . |8176
Croaten . . . 82 78
Czechen . , . J82 76
IX. ; I
Irländer ... 7370
Altrömer ... 7471
Spanier . . » . 74 73
Altgriechen . . 75 74'
Schotten . . . 7673
I
Portugiesen . . 76 75
Italiener . . . 79 75
Franzosen ... 79 75
— 5
— 5
— 6
— 5
— 4
— 7
— 6
— 6
— 6
— 7
— 7
— 3
— 3
— 3
— 4
— 4
— 4
— 3
— 3
— 5
— 4
— 6
— 3
— 3
— 1
— 1
— 3
— 1
— 4
— 4
560
Appendix B.
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1-1
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Ehsten .
Japanesen
Chinesen
Tataren
Finnen .
Magyaren
Baschkiren
Kalmüken
Tungusen
Türken ,
|75 74— 1
i76 75— 1
7678 4- 2
77,76— 1
79 75— 4
8076— 4
8076— 4
|8li74[— 7
81i7l'— 10
l8278l— 4
Lappen ... .
Buräten . . .
XI.
Eskimos . ' . .
Brasilianer . . .
Mexicaner ...
Nordam. Indianer
Patagonier . .
Nordwestamerikaner
Cariben . . .
Altperuaner . ,
Flatheads . . .
82 73 — 9
83 76— 7
I
I
70 74+ 4
74 75+ 1
76 78+ 2
77 75— 2
80 77— 3
80 76— 4
80 74— 6
95 87— 8
100 87 — 13
Appendix B.
^ Schädelmessungen aus Barnard Davis' Thesaurus cramorum.
P- 352—359.
" ■ ■ --
•
Indices
Indices
• 0
s= xoo.
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Länge
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1
1
Alte Römer und Ro-
1
Europa.
1
mano-Britanier .
43 76 73
Alte Britahier . ,
17 79 71
Angelsachsen . .
36 76 72
Alte Britanier . .
81 79 75
1
Angelsachsen . .
1175 74
Alte Britanier . . 1
i
146; 77 75
Engländer -. . .
39 77 ' 73
Alte Schotten . . 1
7' 79 72
Irländer . . . . |
3175
71
Alte Romano-Britanier
14 76; 71
Merovinger Franken
5i74
75
Alte Römer und Ro-
1
Franzosen .. . ,
26 78 ' 73
mano-Britanier
8i
76'
70
Spanier ....
5
78
74
AppeiKfix B.
56t
Italienische Alt-Römer
Ligurier
Italiener
Lappen
Schweden
Friesen
Amsterdammer
Niederländer
Preussen
Deutsche
Finnen
Russen
Türken
Asien.
Hindu hoher Kasten
Hindu
Hindu niedrer Kasten
Hindu
Hindu '
Mohamedaner Indiens
KhondstAmme
Nepalesen
Leptschas
Bodos .
Bod-dschi
Mischmi
Thai
Chinesen
Afrika.
Berber
Guanchen
Neger
Peschel, Völkerkunde.
• • •
• • •
8 76 77
4 85 79
7 75 73
9 80 73
12 75 72
5 78 73
579.74
23 80 73
880I74
2 79 71
8 82
10 78
3:84
78
73
78
6. 75 78
3
20
27
54
22
2
6
13
75 75
76
75
75
74
78
74
76
75
73 74
76
76
77
77
121 76. 78
14
3
6
76
78
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75
79
87
79
4
22
17
73
75
73
74
74
74
Dahomeneger , .
Ibo-Xeger . . .
Jorubaneger . . .
Aequatonalstämnie
Hottentotten . . .
Zulukafim . . ,
Buschm&iner . .
Amerika.
Eskimo, ösüiclie
Eskimo, westliche .
Eskimo, grönl&ndische .
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Araukanier . . . :
12 72 73
373 77
4 69 74
17 76 70
3 76 73
472 76
4 73' 72
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i 6|72|75
475I77
10 "ji ; 75
7 80
80
Australien. |
Australier . . ,
Tasmanier . . . .
Oceanische Völker
Sumatraner . . .
Javanen ....
Maduresen . . .
Eingeborne v. Celebes
Dayaken . . . . j
Bisaya . . , . I
Negrito ....
Papuanen . . . !
Salomonen Insulaner ,
Neu-Kaledoniör . . ;
I
Eingeborne der neuenj
Hebriden . . . ,
Maori ....
Marquesas-lnsulaner
Kanaken ....
15 71 73
10 74 74
7 76 78
25 81 80
7 81 81
6 79179
14
8
3
3
3
77
80
80
79
77I77
9
7
27
77
72
70
72
75
78
77
76
79
77
80
77
ii6i80 81
36
tarnen- und Sachregister.
Abchasen 540.
Abessinier 531.
Abiponen 27. 90, 470.
Acka 86. 490.
Adige 540.
Adiya 5po. '
Aegypten, Nilablagerun-
gen 46 ; Altägypter
(Retu) 519 ; Kultur 521.
Acta 360.
Affe» Greifüiss, Stimmen-
werkzeuge , Gebiss,
Gehirn i.
Afrika 223. 505.
Agassiz 15 Anm.
Agglutination 124.
Ahnendienst 272.
Ahtna 448.
Ahura 295.
A-imaq 405.
Aino lOl. 400. 414.
Akim 500.
Akkadische Keilschrift
533.
Akra 500.
Akuscha 539.
Akwambu 500.
Akwapim 5CK).
Albanesen ( Amanten )
543.
Aleuten 424.
Alfuren 360.
Algonkinen 448.
Aliaska 221.
Allah 317.
Altftier 402. 412.
Altäthiopische Sprache
534.
Amaziken 518.
Amerika, Eingeborne 22.
428 ; Sprachen 30. 127.
433; Jägerstämme im
nördlichen Festlande
447, in Südamerika
504 , Cultur - Völker
Nordamerika*s 465.
Amharische Sprache 534.
Angekok 420.
Angolaneger 499.
Annämiten 384.
Anthropophagie 165.
Apachetas 25.
Apatschen 448.
Appalachen 463.
Araber, Seefahrer 205;
vorislamische Reli-
gion 205 ; Schädel-
bildung 530; Sprache
534.
Aramäer 532.
Araucaner 208. 469.
Areoi 377.
Arier, asiat. u. europäi-
sche 540; europäische
542; arische Sprachen
131; Urheimat 545.
Ariman 296.
Arkan^a 449.
Arm 88.
Armenier 541.
Arowaken 45 f.
Arphakschad 531
Artenbegriff 7.
Ashanti 500.
A«siniboin 449.
Assyrisch - babylonische
Sprache 532.
Atavismus 68.
Athabasken 448.
Auerhahn 44.
Auferstehungs - Lehre,
christliche 308, Wo-
hammed*& 317.
Augenschlitze 79.
Ausdünstung 92.
Ausleger 375.
Australien, Thierwelt 32;
Entdeckung 221; Au-
stralier 293. 338-
Avaren 539.
Awghanen 541.
Awläd Abu Simibil 5'^-
Aymara 431. 469.
Azteken 465.
Babylon 306; ChaltlJer
533-
Baian 500.
Bagrimma 503.
Baidarken 424.
Ba-kde soa
Bambara 500.
Banane 441.
Bantn 279. 499.
Bari 504.
Bartwuchs 100.
Baschkiren 412.
Basianen 406.
Basken 26. 539.
Bastarderzeugnngen 11.
Batta 379.
Batninseln 381.
Baukünste 185.
Baumdienst 26L
Baumwolle 183.
Bau-wau-Theoric 109.
Bedscha 519.
Behaarun«; 100.
Bekleidung 175 , Bc-
kleidungsstoffe 182.
Bellanda 504.
Belutschen 485. 541.
Benga 500.
Bengali 540.
Beni Amer 519.
•Berber 518.
Beringsstrasse 428,
-Völker 415.
Bernstein 226.
Berthät 505.
Beschneidung 23.
Besitz 250.
Betonung iii.
Betschuanen 99. 499.
Bewaffnung 188.
BhUla 484.
Biberindianer 448.
Bimbaumtheurie 109.
Birma 121.
Bisaya 382.
Bischarin 519.
Bison 453.
Blasebalg , malayischer
378.
Namen- and Sachregister.
Blasrohr 192.
Blvmenbach 8.
Blutrache 247.
Blutschande 322.
Bodhisattvas 289. 291.
Bogda-Lama 291.
Bogen 189.
Bohr 504.
Bongo 504.
Botocuden 152. 451.
Brachycephalen 54.
Brahma 282; Brahma-
nen 282. 284.
Brahui 484.
Brasilien 223.
Britannier, alte 225.
Brotfruchtbaum 160.
Buckle 325.
Buddhismus 285.
Buginesen 382.
Bulgaren 409. 542'.
Bumerang 350.
Bunda 499.
Burjäten 404.
Buschmänner 83. 148.
488.
Caddo 450.
Califomien 220.
Calori 73.
Canaaniten 531.
Canarische Inseln 29.
Cara 469.
Cariben 192. 214. 451.
Caribu 42.
Carpentaria - Halbinsel
341.
Carthager 224.
Cayuga 449.
Gelten s. Kelten.
Ceylon 378.
Chaldäer 533. 536 ; nesto-
rianische Christen 532.
Chajrma 430.
Chibcha 468.
Chinesen 22. 118. 319. 384.
Chinwan 377.
Chocolade 550.
Christenthum 308.
(Jiva 293,
Clalam 425.
Coco 4SI. •
CoUa 469.
Comantschen 46^^.
Confutse 393.
Coroados 431. 451.
Cowi&diin 425.
Crans 450.
Cren 450.
Cuvier 8. 20.
Dacota 449.
Dalai Lama 291.
Damara 454.
Dankali 52a
Darwin, Charles, Dogma
Dasein, Kampf um, t6.
Dattel 329.
Dayaken i6. 57. 3^6.
379. 382.
Delawaren 449.
Denken, sprachloses 105.
Deutsche, Schädel 58.
Deva 295.
Digger 465.
Dinge 346.
Dinka 504.
Disentisschädel 70.
Djalin 534.
Doko 490.
Dolichocephalen 40. 54.
Dravida 125. 483.
Dreiviertelheirathen 230.
Dschengel 484.
Dualistische Religionen
291.
Dualla ,500.
Dunkelung d. Haut 94.
36»
564
Namen- und Sachregister.
Ebenmaass 86.
Ebioniten 318.
Eden 35.
Ehe 227.
Ehsten 4IT.
Einv^erlelbungsverfahren
der amerik. Sprachen
127.
Eiowä 449.
Eiszeit 43.
Ehtyly 534.
Elfenbein 224.
Elliab 504.
Elobim 300.
Eloikob 521.
Ein 486.
Eng^keräkmung 153.
Erdbeben 325.
Eränier 295. 540. ,
Ernährung 169.
Eskimo 21. 61. 418; alias-
kische 423. s. Innuit.
Etruskische Sprache 543,
Euphrat 535.
Europa, Culturschätzung
546.
Europäer, Schädel 70;
europäische Völker-
stämme von unbe-
stimmter Stellung 538.
Euscaldunac , Sprache
das Euscara 539.
Ewhe 500.
Fahrzeuge 202.
Fanti 5c».
Fellähin 13. 61. 519.
Fetisch- Wesen 258.
Feuer 139.
Feuerbohrer 143.
Feuerland, nordische Ge-
wächsarten 33 ; Be-
wohner 151«
Fidschipapuanen 366.
495-
Finnen, Gliederung 409 ;
eigentliche Finnen
410; mongolische Ra-
cenmerkmale 409. 411.
Fischerei 164.
Flachköpfe 23.
Flösse 206.
Formosa 377.
Frauen , Becken 80 ;
mittlere Körpergrösse
85; Frauenraub 234.
Fruchtbarkeit, der
Menschen 9.
Fulbe 501.
Fundj 504.
Furlanische Mundart
543.
Gabeln 174.
Gaelische (gadhelisclic)
Mundart 543.
Galla 520.
Garamanten 519.
Gattanewa 374.
Gauss, Gehirn 65. 71.
Geberdensprache IIT.
Gebet 281. 312.
Ge'ez 534.
Genesis, Völkertafel 531.
Georgier (Grusen) 540.
Germanische Sprachen
132. 542.
Gehirn, Grössen Verhält-
nisse des Gehimschä-
dels 49; das mensch-
liche Gehirn 63; Ge-
hirnwindungen und
Gehirnrinde 65 j Him-
gewicht 67; Gehirn -
messungen 69; weib-
liches Gehirn 71.
Gemeindehäuser 186.
Geographen , arabische
332.
G^s 450.
Geschlechtsleben , der
Vorzeit 239.
Geschlechtsreife 227.
Geschlechtsunterscheid-
ung 128.
Gesichtsschädel, -winkcl,
74.
Gewürze 222.
Gifte 193.
Giljaken 414.
Glieder , Maassverhält-
nisse 87; obere 88.
Gnadenwahl des Islam
321.
Goethe 7.
Gold 218.
Gond 486.
Gorilla, Fusswurzel-
knochen i ; Gehirn 67.
Gothen 542.
Gottesgericht 279.
Guancben 96. 518.
Guarani 450.
Guaycuru 450.
Guck 451.
Gueren 451.
Gynäkokratie 244.
Haar, Farbe 95 ; Gestalt
97; Leibhaar 106.
Hadendoa 519.
Hadyth 322.
Hängematte 550.
Haidah 415.
Hailtsa 425.
Hamiten, Gliederung
5x8; Culturentwickcl-
ung 521.
Handel, Einfluss 217.
Hanf 183.
Hanyfe 318.
Hassanieh 520.
Hansa $02.
Namen- und Sachregister.
565
Haut , Schichten 90;
Farbe 91, Einfluss der
Polhöhe auf die Haut-
färbung 93.
Havai, Besiedler 373.
Havaiki 374.
Havila 531.
Hazareh 405.
Hebräer 532; s. Juden.
Heitsi-Eibib 494-
Hellwerden, der Haut 94.
Herero 499.
Hetärismus 238.
Hexenprocesse 283.
Himyaritische Sprache
534.
Himmelsverehnmg 268.
Hindu 13; Hindi 540.
Hipparion 20.
Hippolyt 266.
Htt, Erdpechquellen 535.
Hiuenthsang 289.
Hohbergtypus 70.
Höhlenbewohner 3q;
Höhlenfauna 41.
Holland 327.
Hosen 184.
Hottentotten, halbblütige
10; Grrösse 82; Kultur
488; Hottentotten-
schürze 489. s. Koi-
koin«
Hova 378.
Hügelbauer 455.
Huillitschen 431, 469.
Hund 103.
Hundsrippenindianer
448.
Hupah 448.
Huronen 449.
Jagd 191.
Jahve 300.
Jakuten 22. 406.
Japanesen 400.
Jayanen 387.
Ibo 500.
Jenissei-Ostjaken 413.
Igname 441.
Iliglink 422.
Illinois 449.
Inca 469.
Indien , Reichthümer
222; indische Religion
und Kultur 284. 326;
indischer Ocean 34 ;
brahmanische Indier
540.
Indoeuropäischer Stamm
5 40 ; Racenmerkmale
543; Ursitze 544.
Innuit 418. 434.
Inselgesellschaften 212,
Jochbogen, Hervortreten
als Merkmal 79.
Joloffer 501.
.Iraya 381.
Irokesen 449. 463.
Iron 541.
Islam 318.
Island , erste Ansiedler
28; Isländer 542.
Isubu 500.
Italier, Sprachen 543.
Itelmen 416.
Juden, Geburtenverhält-
nisse 230; Monotheis-
mus 299; Schädel 530;
Sprache 532; schwarze
. Juden 13. Anra.
Jukagiren 413.
Jurak 412.
Kababisch 520.
Kabylen 518.
Kadschaga 502.
Kafim, Körpergrösse 82 ;
Haarverfilzung 99 ; Ge-
biet 499.
Kaljuschen 425. ^
Kalka 404.
Kalmüken 404.
Kamassinzen 412.
Kamtschadalen 416.
Kanaken 373.
Kannadi 486.
Kansas 449.
Kant 14 Anm.
Kappadoder 541.
Karagassen 412.
Karakalpaken 406.
Kanuri ^03.
Karduchen (Kurden) 541.
Karelen 410.
Karen 384.
Karthuhli 540.
Kaschmiri 540.
Kasikumüken 539.
Kastenbewusstsein 134.
Kaukasier, unpassender
Name 517 ; Völker
zwischen Kaukasus u.
Antikaukasus ,540.
Kayaken 422.
Keilschrift , erster
Gattung 541, zweiter
533; dritter 532.
Keiowäh 450.
Kei-)(^hous 493.
Kelten 212.225. 543. 550.
Kenai 448.
Khomen 384.
Khond 486.
Khyeng 383.
Kieselgeräthe 37.
Kirgisen 406.
Kisten 540.
Knistino 449.
Knochenhöhlen 38.
Koibalen- 412.
Koi-koin 102. 488. 40T.
Koluschen 425.
Kolh 484.
Kongo 499,
Konjaken 423.
Kopten 61. 519.
Koradschi 353.
Koreaner 400.
566
Namen- und Sachregister.
Koijäken 417.
Körpergrössc, alsRacen-
merkmal 81.
Kreuzköpfe 50.
Krewinen 411.
Kri 449.
Km 5<x).
Kuangola 499.
KüchenabföUe 44. 164.
Kumüken 406.
Kupfenninenindianer
448.
Kürinen 539.
Kuschiten 531.
Küssen 246.
Kwänen 411.
Kwanto 384.
Kymrische Mundart 543.
Ladinos 10.
Lamuten 403.
Laotse 394.
Lappen 411.
Lateinische Sprache 543.
Laute, g[egliederte der
Affen 3; Lautarmuth
mancher Sprachen T17.
Lazen 540.
Lederhaut 90.
Lemuria 35.
Lenguas 450.
Leni Lenape 449.
Leptscha 383.
T^sghier (Lekhi, Leksik)
539i ,
Lettoslavischer Ast 542.
Lipani 448.
Litthauer i;42.
Liven 411.
Ix)we 443. Iß
Luoh 504. ^
/
Maba 503 J
Macassaren 382.
Macusi 451.
Madagaskar 378.
Magier 295.
Magyaren 409,
Malali 431. 4 51.
Malayalam 485.
Malayen, Verbreitung 29.
212; Körpergrosse der
asiatischen und poly-
nesischen Malayen 83;
malayische Sprachen
I2T. 369; Heimat 370 ;
Malayen im engsten
Sinne 382.
Malayochinesen , Racen-
merkmale 382.
Malayenkuss 24.
Malemuten 423.
Mandesprachen 501.
Man daner 449.
Mandingo 500.
Mandschu 403.
Manioc Wurzel 458.
Maori 374.
Marathi 541.
Märchen 330.
Marco Polo 387.
Marquesas 373.
Masai S2i-
Mavila 464.
Matlazinken 468.
Matrosen , Gliedmaas sen
88.
Mauer, chinesische 396.
Maya 468.
Maypures 451.
Medicinmänner 275.
Melanismus 91 Anm.
Menangkabao 379.
Menitärri 449,
Menomennie 449.
Mensch, Stellung in der
Schöpfung I ; Gebiss
4; Arteneinheit des
menschl. Geschlechts
7; Schöpfungsheerd d.
A^nschengeschlechtes
28; Alter d. Menschen*
geschlcchtes 37; Kör-
permcrkmale der Men-
schenracen 49 ; Sprach -
merkmale 103 ; Ent-
wicklungsstufen 137 ;
Menschenracen 337 ;
Menschenopfer 168.
Mergel, Düngemittel 550.
Meschtscherjäken 412.
Mesocephalen 57*
Mexico 327; Sprache der
Altmexicaner 127.
Mganga 275.
Miaotse 383.
Mienenspiel in.
Mikrocephalen , Gehirn
68.
Mikronesier 380.
Mincopie 150. 362.
Mingrelier 540.
Miranhas 45T.
Mithra 298.
Mittellandische Race 517.
Mixteken 468.
Mizdscheghen f;39.
Mohammed, Lehre 317-
Mohawk 449.
Mohikaner 449.
Monbnttu 504.
Mongolenrace, Merkmale
369 ; die mongolen-
ähnlichen Völker im
Norden der alten Welt
401; wahre Mongolen
402.
Monotheismus 299.
Moqui 465.
Mordwinen 410.
Morton 15 Anm,
Mose 300.
Mpongwe 499.
Mulatten , angebliches
Aussterben 9.
Munda 484.
Mundrucu 451.
Mungku 404.
Muras 458.
Namen- nnd Sachregister.
567
Müskogie 499.
Mnsqnakkie 449.
Mntterrecht 245.
Maysca 468.
Nuchr 504.
Nuffi 500.
Nahak 276.
Nahrungsmittel , Zube-
reitung 158.
Nachtschuoi 539.
NahuatI 434. 465.
Namensaastausch 25.
Namollo 418.
Nano 499.
Nase 79.
Natchez 450.
Naturkrafte, Verehnmg
266.
Navaios'448.
Neanderthalschadel 41.
Neffenerbrecht 245.
Neger , Hautfarbe 91 ;
Haarbekleidung loi ;
Sitze , Gliederung,
Kultur 497.
Negrito 361.
Neugriechen 61; Sprache
543.
Neupersische Sprache
541.
Niamniam 520.
Niasinseln 381.
Nil 527.
Nimrod 533.
Nipali 540.
Nirv&na 287.
Nogaier 406.
Nordamerika, Thier- und
Pflanzenwelt 33; Ur-
bevölkerung 428 ; Kul-
turvölker 465.
Nordasiatische Sprachen
123.
Norweger 207.
Nuba 504.
Oberhaut 9a
Oberschenkel 87.
Obongo 85. 489.
Obrigkeit 252.
Obsidian 200. 460.
Odschi 500.
Odschibwäer 449.
Oezbegen 406.
Omaha 449.
Oneida 449.
Onomatopoetica 108.
Onondago 449.
Opferdienst 281.
Orang, Auftreten 3 ; Ge-
hirn 66 ; Längenver-
hältniss des Vorder-
armes zum Oberarm 89.
Ore Manoas 451.
Orija 540.
Ormuzd 296.
Orotschonen 403.
Orthocephalen 57.
Ortsnamen, Entstellung
105.
Osagen 449.
Oskiche Sprache 543
Osmanen 406.
Osseten 541.
Osterinsel 371.
Ostjaken 409.
Ostmongolen 404.
Ostseeünnen 41t.
Otomi 468.
Ovambo 499.
Paduca 450.
Paharia 486.
Pah Utah 465.
Palaeotheriura 2(v
Palauinseln 380.
Palmen 159. 458; Palm-
weinbereitung 370.
Pamptico 449.
Panthay 324.
Papier, in China 388.
Papuanen , Verhaltniss
zu den Australiern und
Tasmaniem 340; au-,
stralische Papuanen,
Kennzeichen 358 ;
Sprachen 362; asiati-
sche Papuanen 360.
Paradies, biblisches 35 ;
Mohammed's 321.
Paramuschir 414.
Parexis 450.
Patagonier 208. 469.
Paumotuaner , Schädel
58; Sprache 374.
Pavian, Nahrung 163.
Pawnie 449.
Pehlewi 541.
Pehueltschen 470.
Pehuentschen 469.
Pelota 208.
Pelzthiere 221.
Pendschabi 541.
Permier 410.
Pfafteninsel 28.
Pfahlbauten 45.
Pfeifen 256.
Pfeile 189.
Phaedra 266.
Phönicier 205.
Phrygier 541.
Piraten 214.
Pinalua 241.
Pisang 160.
Polen 542.
Polhöhe 93.
Polyandrie 230.
Polygamie 230; der Mo-
hammedaner 320.
Polynesier , Schädel -
messungen 58. 380.
Bewaffnung 189 ; poly-
nesische Malayen 370;
568
Ausbreitung 371; Kul-
turgrad 375 ; Gesell-
schaftsstufen 377.
Poragi 450.
Praeexistenzlehre , Alter
310.
Preussen 542.
Prognathismus 74. 78.
Projection des Schädels
75;
Pueblos 467.
Puris 451.
Puschtaneh 541.
Qahtftniten 534.
Qorän 318.
Quich* 468.
Quichua 469.
Quippuschrift 478.
Ramses, Kopf 14; Ram-
sesbild 46. .
Rapa-nui 371.
Reis 162.
Reizmittel , narcotische
170.
Religion 255; Zone der
Religionsstifter 332.
Riccara 449.
Renthier 39. 41. 454-
Römer 554.
Rumänische Sprache
543.
Russen 542.
Saigaantilope 40.
Salz 175.
Samaritanische Sprache
532-
Samojeden 402. 412.
San 488.
Namen- und Sachregister.
Sandeh 504.
Sanhadscha 518.
Sänkhjaphüosophie 284.
Santal 484.
Saros 537.
Sarten 407.» *
Sattelwinkel 76.
Satzbau n9.
Sauk 449.
Scarabäus 103.
Schädel, Grössenverhält-
nisse $0; Messver-
fahren 54; Breitenin-
dex 56; Höhe 62;
Schädelraub 379.
Schamanismus 274.
Schamgefühl 176, ,
Schara 404.
Schawnie 449.
Schilluk 504.
Schimpanse, Auftreten 3.
Schkipetaren 543.
Schlangenanbetung 263.
Schleuder 197.
Schoschonen 465.
Schreilaute iio.
Schöpfungsherd des
Menschengeschlechtes
28.
Schua (Schiwa) 534.
Schuhe 184.
Schukurieh 519. 534.
Schussenried, Funde aus
der Eiszeit 42.
Schwagerpflicht 24. 241.
Schwarzfusse 419.
Schwert 191.
Schyiten 322.
Seetüchtigkeit, Einfluis
auf die Entwickeluug
der menschlichen Ge-
sellschaft 202.
Seldschuken 406.
Seminolen 449. 463.
Semiten, Sprachen 130;
Merkmale, Gliederung
u. s. w. 530.
Semang 362.
Senekä 449.
Sererer 501.
Shiol 309.
Siamesen 383; Sprache
121.
Siaposch 541.
Sidon 531.
Sinai 334.
Sindhi 541.
Sinear 535.
Singhalesen 486.
Sionkopf 71.
Sioux 449.
Sirjänen 410.
Sittlichkeitsbegriffe 294.
Skandinavier 542.
Sklaverei 253. 315; Skla-
venhandel 224.
S.aven 59. 542.
Slovaken 542.
Sojoten 412.
Somali 520.
Sonnendienst 264.
Sonorische Sprachfamilie
465.
Sonrhay 502.
Soso 500.
Speiseverbote , Moham-
meds 320.
Sprache, Entwickelungs-
geschichte 103 ; Um-
wandlungen 106 ; erster
Sprachanfang 108 ;
Reichthum d. Sprache
115 ; Sprachbau 117 ;
Sprache als Clasaiü-
kationsmittel d. Völ-
kerkunde 30. 133.
Steindienst 259.
Steinklingen, nicht durch,
bohrte 45.
Stimmwerkzeuge 17.
Stockfisch 219.
Strafrecht, römisches 230.
Suaheli 499.
Suawua 519.