THE UNIVERSITY
OF ILLINOIS
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Der Weltkrieg
von
Karl Helfferich
n. Band
t 9 t 9
Verlegt bei Ullstein & Co in Berlin
Vom Kriegsausbruch
bis ^um uneingeschränkten
U-Bootkrieg
von
Karl Helfferich
19 19
Verlegt bei Ullstein & Co in Berlin
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vorbehalten
Amerikanisches Copyright 1919 by Ullstein & Co, Berlin'
^40.9 1 ! 3
H 3 to V
Inhalt
Vorwort
Umfang und Art des Krieges
Vorbemerkung 13. Übermacht der Entente 14.
Die militärische Gestaltung des Krieges ....
Mobilmachung und erste Erfolge 15 — 17. Marneschlacht
18, 19. Die Befreiung Ostpreußens 20, 21. österreich-
ungarische Niederlagen 21. Keine Aussicht auf ein
rasches Kriegsende 21.
Der Krieg und die deutschen Finanzen
Bestrebungen des Reichsbankpräsidenten Havenstein
22, 23. Glaube des Auslandes an unsere finanzielle Unter-
^ legenheit 24, 25. Geldmarkt und Börse unter der Ein-
iJ Wirkung des Kriegsausbruchs 26 — 33. Erste Kriegs-
anleihe 33, 34.
^ Der Krieg und die deutsche Wirtschaft
^ „Wirtschaftlicher Generalstab“ fehlte 34 — 36. England
^ geht gleich zum Wirtschaftskrieg über 37 — 40. Aus-
sichten der Vergeltungspolitik 41. Neuorganisation
^ unserer Wirtschaftsverfassung 42 — 44. Ansichten über
die Dauer des Krieges 44, 45. Entstehung der Kriegs-
$ Wirtschaft 45 — ^47.
9
11—47
15 — 22
22—34
34—47
J
Inhalt
Die politische und militärische Entwicklung des
Krieges bis zum Friedensangebot 49 — 108
Vorbemerkung 51
Die Türkei als Bundesgenosse 52 — 64
Natürlicher Zwang für die Türkei zum Anschluß 52 — 54.
DardaneUensperre 55, 56. Notwendigkeit der Öffnung
des Donauweges 57 — 60. Versuch der Forcierung der
Dardanellen durch die Entente 61 — 64.
Italien 64 — 71
Neutralität Italiens 64 — 67. Bülow in Rom 67 — 71.
Italiens Forderungen 68, 69. Italienische Kriegserklä-
rung 69, 70.
Von der italienischen Kriegserklärung bis zum
Eintritt Bulgariens in den Krieg 71 — 91
Masurenschlacht 71, 72. Durchbruchsversuche der
Entente 72 — 74. Befreiung Galiziens und Eroberung
Polens 74 — 76. Diplomatisches Ringen auf dem Bal-
kan 77 — 80. „Lusitania“ versenkt 81, 82. Durch-
stoß nach der Türkei oder Ausnutzung des gahzischen
Sieges? 82 — 91.
Vom Eingreifen Bulgariens bis zum rumänischen
Krieg 91 — 108
Entente- Offensive im Westen 91 — 93. Eingreifen Bul-
gariens, Eroberung Serbiens, Besetzung Salonikis durch
die Entente, Kapitulation Montenegros 93, 94. Ver-
fehlter Angriff auf Verdun 95 — 97. österreichischer
Vorstoß gegen Asiago und Arsiero, Brussiloff-Offensive,
Somme-Offensive 1916 97 — 99. Frage des einheitlichen
Oberbefehls im Osten, Hindenbu^ Chef des Generalstabs
des Feldheeres 99 — 103. Rumäniens Kriegserklärung
104 — 106. Niederwerfung Rumäniens 106 — 108.
Inhalt
Finanzielle Kriegführung 109 — 171
Reichsschatzamt iii — 115
Übernahme des Reichsschatzamts iii — 114. Falsche
Sparsamkeit 114, 115.
Die Finanzierung kriegswichtiger Unterneh-
mungen 115 — 131
Stickstofffrage 1 1 5 — 122. Reichsstickstoffwerke 122 — 124.
Stickstoffhandelsmonopol 124 — 127. Kriegsrohstoff-
Abteilung und Reichsschatzamt 127, 128. Handels-
U-Boote 128 — 131.
Kriegskosten und Sparsamkeit 132 — 139
Entwicklung der Kriegsausgaben 132, 133. „Geld spielt
keine Rolle“ 134 — 136. Stabilität der Kriegsausgaben
vom Frühjahr 1915 bis zum Herbst 1916. Legenden-
bildung über Geldverweigerung des Reichsschatzamtes
136—139-
Die Kriegsanleihen 139 — 153
Methoden zur Aufbringung der Mittel für die Krieg-
führung 139 — 142. Der Gedanke der finanziellen Welu:-
pflicht 145. Deutsche und englische Anleihepohtik
145 — 151. Ungeheure Steigerung der Kriegsausgaben
vom Herbst 1916 an 152, 153.
Kriegssteuern 153 — 168
Kriegssteuern als Ergänzung der Anleihepolitik? Ver-
gleich mit England 153 — 159. Kriegsgewinnsteuer, Ver-
brauchs- und Verkehrssteuern im Reichstage 160 — 168.
Finanzielle Vorschüsse an unsere Verbündeten 168 — 171
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft 173 — 282
Reichsamt des Innern 175 — 183
Übernahme des Reichsamts des Innern 175 — 177. Ge-
schäftsbereich des Reichsamts des Innern, ICriegsroh-
stoffabteilung, Kriegsernährungsamt 177 — 183.
Inhalt
Deutschland als- belagerte Festung
Skagerrak, Kreuzer krieg 184, 185. Londoner Dekla-
ration, Ausdehnung des Bannwarenbegriffes 185 — 188.
Die Nordsee von England zum Kriegsgebiet erklärt,
Verhalten der Neutralen 188 — 191. Kontrolle des neu-
tralen Handels 19 1 — 196. Rohstoffbezug aus den be-
setzten Gebieten 196 — 198. Ernährungsschwierigkeiten
bei den Verbündeten 198 — 200. Ernteerträgnisse und Ver-
änderungen des Viehbestandes in Deutschland 200, 201.
Der Wirtschaftskampf um die Neutralen . . . .
Deutscher Gegendruck auf die Neutralen 202, 203. Re-
glementierung und Zentralisation der Ausfuhr und Ein-
fuhr 203, 204. Wirkungen des planlosen Einkaufs 205,
206. Zentral-Einkaufs-Gesellschaft 207 — 209. Plan-
mäßige Verbindung von Ausfuhrgenehmigungen, Einfuhr-
geschäften und Kreditabmachungen 210 — 215. Günstige
Gestaltung unserer Einfuhr 215^ — 221.
Die innere Kriegswirtschaft
Die Technik im Dienste der Kriegswirtschaft
Steigerung der wirtschaftlichen Kräfte 222, 223. Er-
satzstoffe, neue Erfindungen 224 — 227.
Umstellung der Unternehmungen und Um-
gruppierung der Arbeitskräfte
Umstellung der Produktion 227, 228. Umgruppierung
der Arbeiterschaft 228 — 231.
Verbrauchsregelung und Volksernährung . . .
Höchstpreise, Rationierung, Beschlagnahme, Bewirt-
schaftung 232 — 234. Kjriegsgetreidegesellschaft235 — 237.
Reglementierung und Syndizierung des Handels, Kriegs-
•wirtschaftliche Reichsstellen 238. Übertreibung der
Zwangswirtschaft 239, 240.
Bewirtschaftung der Rohstoffe
Beschlagnahme und Bewirtschaftung 240, 241. Kriegs-
184 — 201
202 — 221
221 — 249
222 — 227
227 — 232
232 — 240
240 — 249
Inhalt
rohstoff- Gesellschaften 241 — 243. Rationelle Ausnutzung
der Höchstleistungsbetriebe, Zeitungsgewerbe 243 — 249.
Hilfsdienstgesetz und Hindenburg - Programm 249 — 282
Munitionskrisis 249 — 254. Hindenburg-Programm, Hilfs-
dienstgesetz 254 — 259. Kriegsamt und Durchführung
des Hilfsdienstgesetzes 259 — 272. Abkehrschein 273,
274. Lohntreiberei 275, 276. Kritik des Hindenburg-
Programms und des Hilfsdienstgesetzes 276 — 278. Trans-
port- und Kohlenkrisis 278 — 281. Finanzielle Über-
spannung 281. Überschätzung der deutschen Volks- und
Wirtschaftskraft 282. , ^
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg 283 — 430
Kriegführung und Diplomatie als Mittel der Politik
285 — 288.
Die Friedensfrage
Langsame Gewöhnung an den Gedanken des Erschöp-
fungskrieges 288 — 290. Bethmann Hollwegs Kriegsziele
290 — 292. Deutschlands Friedensbereitschaft, Ver-
nichtungswille der Entente 292 — 294. Bemerkungen zur
Politik des Kanzlers 294 — 299.
Die erste Phase des U-Bootkriegs
Tirpitz über die Möglichkeit eines U-Bootkrieges 300.
Bekanntmachung des U-Boot-Handelskrieges 301, 302.
Der Kaiser über die Kriegführung 303. Schonung der
neutralen Schiffe 304. Englands Abhängigkeit vom
Schiffsverkehr 304 — 306. Proteste der Neutralen 306,
307. Deutsch-amerikanischer Notenwechsel 307 — 314.
Versenkung der „Lusitania“ 314 — 317. „Freiheit der
Meere“ 318 — 323. „Arabic“ versenkt 323 — 325.
Der verschärfte U-Bootkrieg
Lansings Vorschlag über die U-Boot- Kriegführung an die
Entente- Vertreter 325 — 328. Wiederaufnahme der
288 — 299
300—325
325—338
Inhalt
„Lusitania* '-Angelegenheit 328, 329. Stellung der mili-
tärischen Führung und des Kanzlers zum uneinge-
schränkten U-Bootkrieg 329, 330. Verschärfter U-Boot-
krieg 330, 331. Haltung Amerikas 332 — 335. For-
derung des uneingeschränkten U-Bootkrieges, Denk-
schrift des Admiralstabes 335, 336. Tirpitz’ Rücktritt
337. Reichstag und U-Bootkrieg 337, 338.
Der „Sussex“- Fall
Note Wilsons 339 — 342. Amerika oder Verdun? 343.
Deutsch-amerikanischer Notenwechsel 344 — 347. Ein-
stellung des verschärften U-Bootkriegs 347 — 349.
Die Bemühungen Bethmann Hollwegs um einen
amerikanischen Friedensschritt
Ineinandergreifen der U-Boot- und Friedensfrage 349,
350. Bemühungen bei Wilson 351 — 353. Gerards Reise
nach Amerika, Wilsons Zurückhaltung 353 — 355.
Der deutsche und der amerikanische Friedens-
schritt
Presserede Greys 355, 356. Günstige militärische Posi-
tion für einen Friedensschritt 3 56 — 3 58. Antwort an Grey
359, 360. Deutscher Friedensvorschlag an die krieg-
führenden Staaten 360 — 369. Friedensnote Wilsons an
alle Mächte 369 — 372. Zustimmende Antworten Deutsch-
lands und seiner Verbündeten, schrofi ablehnende Ant-
worten der Alliierten 372 — 379.
Der uneingeschränkte U-Bootkrieg
Keine amerikanische Bemühung zur Aufhebung der
Blockade 379 — 381. Wiederaufnahme der U-Bootfrage
381 — 383. Verhandlungen im Hauptausschuß über den
U-Bootkrieg, meine Stellungnahme gegen den U-Boot-
krieg 383 — 390. Zentrumserklärung und ihre Wirkung
auf die Stellung des Kanzlers zu den militärischen In-
stanzen 390 — 394. Gutes Ergebnis des U-Boot- Kreuzer-
338—349
349—355
355—379
379—430
Inhalt
kriegs vom Oktober 1916 an 395. Admiralstab und
Oberste Heeresleitung verlangen den uneingeschränkten
U-Bootkrieg 395 — 399. Festmahl der amerikanischen
Handelskammer 399 — 403. Neue Denkschrift des Ad-
miralstabes 403 — 408. Entscheidung für den uneinge-
schränkten U-Bootkrieg, Vorgänge in Pleß 408 — ^412.
Meine persönliche Entschließung 412, 413. Wilsons
Botschaft an den Senat 414 — 417. Wilson ersucht um
Mitteilung der deutschen Friedensbedingungen 417 — ^419.
Überreichung der deutschen U-Boot-Note, Mitteilung der
deutschen Friedensbedingungen 419 — 421. Die Auf-
fassung Bernstorffs 421 — 428. Urteil über Wilson als
Friedensstifter 428 — 430.
Vorwort
Das ungeheure Geschehen des Weltkrieges gliedert sich
dem rückwärtsschauenden Blick deutlich in zwei große
Abschnitte.
Der erste fand seinen Abschluß mit dem Verbluten der
fast fünfmonatigen Offensive unserer Feinde auf den
Schlachtfeldern der Somme, mit der Niederwerfung Ru-
mäniens und mit dem Scheitern des Friedensvorschlages
der Mittelmächte vom 12. Dezember 1916 wie des Friedens-
schrittes des Präsidenten Wilson vom 21. desselben Monats.
Die im Januar 1917 beschlossene Eröffnung des unein-
geschränkten U-Bootkrieges leitete hinüber zu dem zweiten
Hauptabschnitt, der durch den Eintritt der Vereinigten
Staaten in die Reihe der Kriegführenden sein Gepräge
erhielt.
Der Darstellung des ersten dieser beiden großen Ab-
schnitte des Krieges gilt der vorliegende Band (Band II
des Ges amt Werkes).
Der letzte Band, enthaltend die Darstellung des Krieges
bis zum Ausbruch der Revolution und zum Abschluß des
Waffenstillstandes befindet sich bereits im Druck und wird
in Bälde ausgegeben werden.
Berlin, im Juni 1919
Karl Helfferich
Umfang und Art
des Krieges
Ein ungeheures Schicksal war über das deutsche Volk
hereingebrochen. Allein mit unseren österreichisch-
ungarischen Verbündeten fanden wir uns gegenüber der
russisch-französisch-englischen Koalition, die von vorn-
herein durch Belgien, Serbien und Montenegro verstärkt
war und der sich noch im Laufe des August auch Japan
zugesellen sollte. Unser italienischer Dreibundgenosse da-
gegen lehnte es ab, den Bündnisfall als gegeben anzusehen,
und erließ eine Neutralitätserklärung, die den franzö-
sischen Ministerpräsidenten zu Worten hoher Freude und
die französische Kammer zu einer stürmischen Ovation für
die „lateinische Schwester'' veranlaß te. Auch Rumänien,
das seit vielen Jahren durch eine geheime Militärkonven-
tion mit uns verbunden war, hielt sich abseits ; König Carol
war nicht stark genug, gegen seine widerstrebenden
Minister und die ententefreundliche öffentliche Meinung die
Erfüllung der von ihm übernommenen Verpflichtungen
durchzusetzen.
13
Umfang und Art des Krieges
Die Übermacht der Feinde war erdrückend. Allein
Rußland und Frankreich vermochten eine Truppenmacht
ins Feld zu stellen, die der vereinigten deutschen und
österreichisch-ungarischen erheblich überlegen war. Allein
die britische Flotte war eine gewaltige Übermacht gegen-
über den vereinigten Flotten Deutschlands und seines
Bundesgenossen. Nicht minder war finanziell und wirt-
schaftlich das ungeheure Übergewicht auf der andern
Seite, und schon die ersten Tage des Krieges zeigten, daß
unsere Feinde, namentlich England, entschlossen waren,
dieses Übergewicht bis zum äußersten auszunutzen.
Auch das stärkste Herz mußte sich von der Sorge be-
drückt fühlen, wie das deutsche Volk sich der furchtbaren
Übermacht sollte erwehren können. Es brauchte der ganzen
Kraft, die nur das Bewußtsein der guten Sache verleiht,
um die bangen Zweifel zu verscheuchen und die mutige
Zuversicht zu schaffen, mit der das deutsche Volk in den
Kampf um sein Dasein und seine Zukunft ging.
Die Straßen hallten wider von dem festen Tritte der
Jungmannschaften und der Landwehrmänner, die, blumen-
geschmückt und vaterländische Lieder singend, aus-
marschierten. Die Hoffnungen und die heißen Wünsche
des ganzen deutschen Volkes begleiteten sie. Der Ab-
schiedsschmerz und die Sorge um das Wiedersehen gingen
unter in der Hingabe an das bedrohte Vaterland. Alles
schien klein geworden, was bisher das Leben ausgefüllt
hatte; es gab nur noch eines: die Verteidigung des
14
Übermacht der Entente
deutschen Bodens und der deutschen Volksgemeinschaft.
In diesem Gedanken fand sich ganz Deutschland in er-
hebender Einheit zusammen, alle Stämme, alle Klassen,
alle Parteien. Und diese Einheit, aus der höchsten Not des
Vaterlandes geboren, erschien als Gewähr des Sieges.
Die militärische Gestaltung des Krieges
Die Mobilmachung und der Aufmarsch unserer Truppen
vollzogen sich mit der größten Ordnung und Präzision.
Der Kriegsminister hat mir gegen Abschluß der Mobili-
sationsperiode erzählt, daß nicht eine einzige Rückfrage
der Generalkommandos bei der Zentraljnstanz erforderlich
gewesen sei. Am i6. August, nach Vollendung des Auf-
marsches, begab sich der Kaiser mit dem Großen Haupt-
quartier in aller Stille von Berlin nach Coblenz.
Inzwischen harrte das deutsche Volk mit atemloser
Spannung der ersten Nachrichten von den Kriegsschau-
plätzen.
Mit besonderer Sorge blickte mancher nach der Nordsee
in der Erwartung, daß die dort versammelte britische
Flotte, das gewaltigste Geschwader, das je die Welt ge-
sehen hatte, ohne Zögern zu dem so oft angekündigten
Vernichtungsschlage gegen unsere junge Marine ausholen
werde. Aber der erwartete Angriff erfolgte nicht. Die
britischen Kriegsschiffe begnügten sich mit der Jagd auf
wehrlose deutsche Handelsschiffe und dem Anhalten
15
Umfang und Art des Krieges
neutraler Fahrzeuge, von denen sie im Widerspruch zu
allem Völkerrecht deutsche Passagiere und deutsches Gut
herunterholten. Dagegen lösten einige kühne Taten unserer
Marine großen Jubel aus, so gleich in den ersten Tagen des
Krieges der Durchbruch der ,,Goeben“ und der ,, Breslau'*
durch ein starkes feindliches Geschwader bei Sizilien und
ihr Einlaufen in die Dardanellen, vor allem aber die Ver-
senkung der drei englischen Kreuzer durch das U-Boot
des Kapitänleutnants Weddigen.
Von den Kriegsschauplätzen zu Lande kam die erste
wichtige Nachricht am Morgen des 7. August: ein von
einer kleinen Truppe unternommener Handstreich auf
Lüttich sei nicht geglückt. Um so freudiger wurde am
Abend desselben Tages die Nachricht aufgenommen, daß
die Festung Lüttich in unseren Händen sei. Das war
der erste große Erfolg. Er war zu verdanken dem vor
nichts zurück^hreckenden Draufgängertum des damaligen
Generalmajors Ludendorff 'und der alle bisherigen Be-
griffe übersteigenden Wirkung unserer 42-cm-Geschütze,
die mit ihren Geschossen auf große Entfernungen die
stärksten Panzertürme wie irdene Töpfe zerschlugen.
Nun war die erste Bresche gelegt. Es folgte der un-
aufhaltsame Vormarsch unserer Truppen durch Belgien,
die Besetzung von Brüssel, die Einnahme von Namur und
die Schlachten bei Mons, Charleroi, Dinant, Neufchätean
und Longwy, in denen unsere Armeen sich den Weg
nach Frankreich bahnten; dann die wuchtigen Schläge,
16
Erste Erfolge
die das britische Hilfskorps in viertägiger Schlacht von
le Cateau und Landrecies über Cambrai und St. Quentin
warf und großenteils vernichtete. Inzwischen hatte die
Armee des bayrischen Kronprinzen die in das ‘deutsche
Lothringen eingedrungenen Franzosen zwischen Metz und
den Vogesen gefaßt und in einer großen Schlacht ge-
schlagen. Kleinere Mißerfolge, wie die Schlacht von Mül-
hausen, in der die geplante Abschnürung der französischen
Truppen nicht gelang, taten dem erfreulichen Gesamtbilde
keinen Eintrag. Unauflialtsam schienen sich die gewaltigen
deutschen Heeresmassen vorv\'’ärts zu wälzen und jeden
Widerstand vor sich zu zerbrechen. A^m 4. September
konnte der Kaiser in Luxemburg, wohin inzwischen daS
Große Hauptquartier verlegt worden war, zu mir sagen:
,,Wir haben heute den fünfunddreißigsten Mobilmachungs-
tag. Reims ist von unsern Truppen besetzt, die franzö-
sische Regierung hat ihren Sitz nach Bordeaux verlegt,
unsere Kavalleriespitzen stehen 50 Kilometer vor Paris!“
Freilich, als ich am Abend desselben Tages, vor meiner
Rückreise in die Heimat, den Chef des Generalstabs des
Feldheeres besuchte, erhielt das glänzende Bild, das ich
mir aus den Berichten über die Siege und den Vormarsch
unserer Truppen gemacht hatte, einen ernsten Schatten.
Ich fand den Generalobersten von Moltke keineswegs in
froher Siegesstimmung, sondern ernst und bedrückt. Er
bestätigte mir, daß unsere Vortruppen 50 Kilometer vor
Paris standen; ,,aber — fügte er hinzu — wir haben in
2 H el ff er ich, .Weltkrieg IT
17
Umfang und Art des Krieges
der Armee kaum mehr ein Pferd, das noch eine andere
Gangart als Schritt gehen kann.“ Nach einer kurzen
Pause fuhr er fort: ,,Wir wollen uns nichts vormachen.
Wir haben Erfolge gehabt, aber wir haben noch nicht
gesiegt. Sieg heißt Vernichtung der Widerstandskraft des
Feindes. Wenn sich Millionenheere gegenüberstehen, dann
hat der Sieger Gefangene. Wo sind unsere Gefangenen?
Einige zwanzigtausend in der Lothringer Schlacht, da
noch zehntausend und dort vielleicht noch zwanzig-
tausend. Auch die verhältnismäßig geringe Zahl der er-
beuteten Geschütze zeigt mir, daß die Franzosen sich-
planmäßig und in Ordnung zurückgezogen haben. Das
Schwerste steht uns noch bevor!“ .
Die folgenden Tage brachten die große französische
Gegenbewegung, die man sich gewöhnt hat, als die „Marne-
schlacht“ zu bezeichnen. Trotz taktischer Erfolge unseres
schwer angegriffenen rechten Flügels endigten die Kämpfe
mit einem strategischen Rückzuge. Unsere Generalstabs-
berichte zeigten in den kritischen Tagen eine Zurück-
haltung, die unserm Volk den Ernst der Lage nicht zum
Bewußtsein kommen ließ. Die damals bei uns noch nicht
veröffentlichten französischen und englischen Heeres-
berichte der zweiten Septemberwoche strömten über von
Siegesjubel. Namentlich die französischen Berichte ließen
unsere Armeen in voller Auflösung und in unaufhalt-
samer Flucht erscheinen. Auch die privaten Nachrichten,
die von der Front ihren Weg nach der Heimat fanden.
i8
Marneschlacht und Stellungskrieg
lauteten nicht ermutigend. Es waren für den Wissenden
sorgenvolle Tage und schlaflose Nächte.
Allmählich klärte sich die Lage. Unsere Armeen hatten
eine stark befestigte Verteidigungsstellung zwischen Noyon,
nördlich Reims und Verdun bezogen, an der sich der
französische Gegenstoß endgültig brach. Französisch-eng-
lische Versuche, uns durch Überflügelung in der rechten
Flanke zu fassen, wurden abgewiesen, wiederholten sich
aber immer wieder, und zwar fortschreitend in nördlicher
Richtung. Alle Versuche des Feindes, durchzubrechen und
unsere rückwärtigen Verbindungen zu bedrohen, wurden
in heftigen Kämpfen, so bei Bapaume und Albert, ab-
gewiesen.
Mit der Einnahme von Antwerpen am 9. Oktober und
der bald darauf folgenden Besetzung von Ostende war
für unsern rechten Flügel eine starke Anlehnung an die
Nordsee gewonnen. Aber unserem Versuche, mit dem Ein-
satz unserer besten Kraft an der Yser und bei Ypern
die feindliche Front zu zerbrechen, die Heere der Ver-
bündeten vom Meere abzudrängen und sie endgültig zu
überflügeln, blieb, trotz des beispiellosen Heldenmutes
unserer Freiwilligen -Regimenter und aller unsagbaren
Opfer, der Erfolg versagt. Nachdem der Feind zur Unter-
stützung seiner erlahmenden Widerstandskraft das Meer
ins Land hereingelassen und den größten Teil des Kgtmpf-
geländes in Sumpf und See verwandelt hatte, flaute im
November nach einer letzten gigantischen Anstrengung
2*
19
Umfang und Art des Krieges
bei Ypem das furchtbare Ringen ab. Auch hier erstarrte
der Kampf zum Stellungskrieg. Ebenso blieben unsere
Versuche, auf unserm linken Flügel die Sperrfortkette
Verdun-Toul zu sprengen, trotz einzelner Erfolge im
ganzen fruchtlos. Der Feldzug auf dem westlichen Kriegs-
schauplätze war im November auf der ganzen Linie
zum Stehen gekommen. Die Hoffnungen auf eine schnelle
Entscheidung und ein baldiges Ende des Krieges mußten
begraben werden.
Auch im Osten war inzwischen schwer gekämpft worden.
Gleich nach Ausbruch der Feindseligkeiten hatte es sich
gezeigt, wie weit die russische Mobilmachung an unsern
Grenzen bereits vorgeschritten war. Unsere in Ostpreußen
stehenden schwachen Kräfte wurden alsbald von einer
großen Armee angegriffen und mußten, trotz heldenhafter
Gegenwehr, wertvolle Teile der Provinz dem Feinde preis-
geben. Sengend und brennend, plündernd und mordend
ergossen sich die russischen Horden über das blühende
Land. Das über Erwarten rasche Vordringen des Feindes,
die verzweifelten Hilferufe der Einwohner und die Ent-
rüstung über die russische Barbarei bestimmten unsere
Oberste Heeresleitung, früher als ursprünglich geplant
eine Gegenaktion in die Wege zu leiten. Der General
von Hindenburg, der kurz vor dem Kriege seinen Ab-
schied genommen hatte, wurde zum Führer der neu-
zubildenden Ostarmee ausersehen, der Generalmajor
Ludendorff wurde zu seinem Stabschef ernannt. Dem
20
Kämpfe im Osten
Genie der beiden sich gegenseitig auf das Glücklichste
ergänzenden Feldherren gelang es, in den Schlachten bei
Tannenberg und an den Masurischen Seen die gewaltige
russische Übermacht vernichtend zu schlagen und unsere
Ostmark vom Feinde zu befreien. Der Jubel in ganz
Deutschland war grenzenlos. Die Namen Hindenburg und
Ludendorff waren in aller Munde; ihre mit einem Schlage
gewonnene Volkstümlichkeit ist während des ganzen
Krieges von keinem andern Feldherrn oder Staatsmann
auch nur annähernd erreicht worden.
Aber auch die ostpreußischen Schlachten führten, so
groß der Erfolg war, keine Entscheidung herbei. Unsere
österreichisch-ungarischen Bundesgenossen hatten im süd-
lichen Polen und in Galizien schwere Niederlagen erlitten.
Die Bukowina und der größte Teil von Galizien mußten
preisgegeben werden, und die Russen schickten sich an,
über den Karpathenkamm nach Ungarn einzudringen.
Ein kraftvoller Vorstoß Hindenburgs gegen Warschau
und der Österreicher gegen Iwangorod mußten abgebrochen
werden. Schlesien erschien auf das Äußerste bedroht,
und Ostpreußen erlebte einen zweiten Russeneinfall.
Wenn es auch gelang, Ostpreußen zum zweitenmal zu
befreien, die Gefahr für Schlesien abzuwenden und den
Krieg erneut nach Polen zu tragen, so gestattete gegen
die Wende des Jahres 1914 die Lage auf dem östlichen
Kriegsschauplatz keine Täuschung darüber, daß auch
von hier keine schnelle Entscheidung und kein baldiges
21
Umfang und Art des Krieges
Kriegsende zu erwarten war. Was im ersten jähen Ansturm
in West und Ost nicht geglückt war, den Feind vernich-
tend zu schlagen und ihn zu einem unser und unserer
Verbündeten Dasein sichernden Frieden bereit zu machen,
das konnte jetzt nur noch von zähem Kampf und ent-
schlossenem Durchhalten erwartet werden. Vielen wurde
es jetzt erst bewmßt, vor welche Schicksalsprobe unser
Volk gestellt war.
Der Krieg und die deutschen Finanzen
Während das Heer unsere Grenzen schützte und den
Krieg in Feindesland trug, spannte auch die Heimat
alle Kräfte an, um den Erfordernissen des Krieges gerecht
zu werden. Mehr denn jemals zuvor war dieser Krieg
von seinem Anbeginn an nicht nur ein Krieg der Waffen,
sondern auch ein Krieg der Finanzen und der Wirtschaft
aller beteiligten Völker.
Meine Stellung in der Direktion des größten deutschen
Finanzinstituts gab mir Gelegenheit, auf diesem Felde
mitzuarbeiten.
Schon in den Jahren vor dem Kriege hatte ich die
Bestrebungen des Reichsbankpräsidenten Havenstein, das
deutsche Geld- und Kreditwesen auf eine möglichst solide,
auch gegenüber schweren Erschütterungen wirtschaftlicher
22
Bestrebungen des Reichsbankpräsidenten Havenstein
und politischer Art widerstandsfähige Grundlage zu
stellen, in meinem Wirkungskreise nach Kräften unter-
stützt. Meine Kollegen in der Direktion der Deutschen
Bank setzten in guter alter Tradition ihren Stolz nicht
nur in die Ausdehnung der Geschäfte der Bank, sondern
mehr noch in die Aufrechterhaltung und Verbesserung
der Liquidität ihres Standes ; hier wurde die Berechtigung
der Havensteinschen Bestrebungen nicht nur theoretisch
anerkannt, sondern auch praktisch betätigt. Die seit dem
Jahre 1905 sich überstürzenden politischen Krisen zeigten,
wie notwendig es war, das gesamte deutsche Kreditwesen,
das durch die ungestüme wirtschaftliche Entwicklung
Deutschlands auf das Stärkste angespannt war, krisenfest
zu machen. In dieser Richtung lag die Verstärkung des
Goldbestandes der Reichsbank als unserer nationalen
Goldreserve, die Verbesserung der Zahlungssitten durch
die Ausdehnung des Scheck- und Giroverkehrs, die Ein-
schränkung der Festlegung der Bankdepositen in lang-
fristigen und immobilen Krediten, die Beseitigung der
Abhängigkeit des deutschen Geldmarktes von kurz-
fristigen Auslandskrediten, die innere Konsolidierung der
großen Unternehmungen durch eine vorsichtige Divi-
denden- und Reservenpolitik.
Schon die Marokkokrisis von 1911 hatte gezeigt, daß
diese Bemühungen nicht vergeblich gewesen waren. Das
deutsche Geld- und Kreditwesen zeigte damals schon,
im Vergleich mit Frankreich und selbst England, eine
23
Umfang und Art des Krieges
erfreuliche Widerstandsfähigkeit. Die namentlich im
Ausland, aber auch in Deutschland selbst verbreitete Auf-
fassung, das deutsche Wirtschaftsgebäude sei ein Koloß
auf tönernen Füßen, das deutsche Kreditsystem sei ein
Kartenhaus, das beim ersten scharfen Windstoß zusammen-
brechen müsse, hatte sich damals schon als überholt erwiesen.
Freilich, unsere Gegner, namentlich die Franzosen, haben
das nicht wahr haben wollen. Obwohl die Börse und
der Geldmarkt in Paris und sogar in London, wie sich
an den Kursen der Wertpapiere und den Geldsätzen ohne
weiteres ablesen ließ, durch die Erschütterung der Marokko-
krisis stärker in ^Mitleidenschaft gezogen wurden als bei
uns, blieb nicht nur die öffentliche Meinung, sondern —
von wenigen Ausnahmen abgesehen — auch der engere
Kreis der Fachleute in Frankreich bei der vorgefaßten
Meinung von unserer unbedingten finanziellen Unter-
legenheit; ja es bildete sich die Legende, die Gefahr des
finanziellen Zusammenbruchs habe es für Deutschland
unmöglich gemacht, es auf einen Krieg ankommen zu
lassen. Ich habe diesen Glauben an unsere finanzielle
Unzulänglichkeit, der mir in ausländischen Kreisen immer
wieder entgegentrat, stets als eine Verstärkung der
dem Weltfrieden ohnehin schon drohenden Gefahren an-
gesehen; denn dieser Glaube konnte in kritischen Situa-
tionen leicht dazu führen, unsere Gegner zu einer Über-
spannung ihrer Ansprüche und Zumutungen zu verleiten.
Ich habe mich deshalb für verpflichtet gehalten, diesen
24
Glaube des Auslandes an unsere finanzielle Unterlegenheit
irrigen Vorstellungen entgegenzutreten, insbesondere
dann, wenn sie, was vorkam, von Deutschland aus Nah-
rung erhielten. Noch kurz vor Ausbruch des Weltkrieges,
im Juni 1914, habe ich im Vorwort zur vierten Auflage
meines Büchleins über „Deutschlands Volkswohlstand“
ausgeführt :
,,Es ist geradezu ein Weltinteresse, daß die Illusion
verschwindet, durch Mittel der finanziellen Politik könne
erreicht werden, was bisher weder durch militärische Macht
noch durch Allianzen und Ententen zu erreichen war:
die Niederkämpfung Deutschlands.“
Nun brach der Sturm des Krieges über die Welt herein
und erschütterte den wirtschaftlichen Aufbau aller be-
teiligten Völker in seinen Grundfesten.
Schon seit dem Attentat von Serajewo lag ein dumpfes
Unbehagen über den finanziellen Märkten der Welt. Das
österreichisch-ungarische Ultimatum an Serbien und die
ungenügende Antwort der serbischen Regierung, dazu die
Stellungnahme Rußlands, das erklärte, ,, nicht indifferent
bleiben zu können“, brachten das Ungewitter zum Aus-
bruch. Alles, was bisher an Werten als fest und sicher
galt, geriet ins Schwanken. Bares Geld, womöglich
blankes Gold, erschien als der einzige feste Pol in der
Erscheinungen Flucht. Die Börsen wurden von allen
Seiten mit Verkaufsaufträgen überschüttet; die Geld-
institute wurden mit Kreditanträgen und Wechselein-
reichungen bestürmt ; Kredite wurden gekündigt ; bei den
25
Umfang und Art des Krieges
Banken und Sparkassen drängte sich die Kundschaft,
um Guthaben und Einlagen zurückzuziehen.
Es galt, alle Kraft einzusetzen, um die Sturmflut der
Panik einzudämmen und der Besonnenheit wieder zu
ihrem Rechte zu verhelfen. Jetzt hatte sich zu bewähren,
was Deutschland in den letzten Jahrzehnten an echter
finanzieller Kraft gewonnen und an vdrksamer finanzieller
Organisation aufgebaut hatte. Die großen Berliner Banken
und Bankiers, die sich seit Jahren in der sogenannten
,, Stempel Vereinigung“ zusammengeschlossen und dort an
ein einheitliches Handeln in allen Fragen von allgemeinem
Interesse ihres Berufes gewöhnt hatten, vereinigten sich
alsbald zu einem gemeinschaftlichen Vorgehen, um in
engster Fühlung mit der Reichsbank und der Seehandlung
durch eine Intervention auf den Effektenmärkten, durch
Aufrechterhaltung der Kredite und Schaffung erweiterter
Kreditmöghchkeiten für Beruhigung zu sorgen und die
Weiterführung einer geordneten wirtschaftlichen Tätig-
keit zu ermöglichen. Jeden Vormittag versammelten sich
in jener kritischen Zeit die Vertreter der an die ,, Stempel-
vereinigung“ angeschlossenen Finanzinstitute im Sitzungs-
saal der Deutschen Bank, um über die Lage und die ge-
meinschaftlich zu ergreifenden Maßnahmen zu beraten.
Wir aUe w^aren durchdrungen von der Überzeugung,
daß in jener schw’eren Lage jede Angsthchkeit und
Engherzigkeit der in der deutschen. Finanzwirtschaft
führenden Stehen verhängnisvoU wirken müsse; daß nur
26
Glänzende Haltung der deutschen Großbanken
ein großzügiges und weitherziges Verhalten gegenüber den
Erfordernissen der Stunde die Lage retten könne; daß
schließlich den deutschen Banken ihr in langer Arbeit und
in ernster Selbstbeschränkung gefestigter Stand es gestatte,
jetzt in den Zeiten der Not vor den Riß zu treten und im
Interesse des Ganzen große Risiken zu übernehmen. Die
strengen Normen in ruhigen Zeiten haben ihren Zweck
in der Sicherung der Bereitschaft für den kritischen Augen-
blick. Wenn das Pferd über den Graben soll, heißt es die
Zügel locker lassen.
Der Erfolg der zweckmäßigen Organisation und des
planmäßigen Eingreifens blieb nicht aus. Die finanziellen
Grundmauern der deutschen Wirtschaft zeigten sich dem
Sturm der Kriegspanik gewachsen; unsere finanzielle
Widerstandskraft hielt jeden Vergleich aus mit derjenigen
unserer Feinde, die sich auf einen viel älteren Reichtum
stützen konnten und sich uns gegenüber bisher als die un-
bestritten Überlegenen gefühlt hatten.
Unsere Effektenmärkte zeigten in dem Kurssturz, der
über alle Plätze bis hinüber nach Amerika mit elementarer
Wucht hereinbrach, immerhin eine bessere Haltung als
diejenigen Frankreichs und Englands. In der Zeit vom
17. bis 28. Juli 1914 — in den folgenden Tagen kamen an
den meisten Plätzen keine ordnungsmäßigen Notierungen
mehr zustande — stellte sich die Kursbewegung der maß-
gebenden Staatsanleihen Deutschlands, Frankreichs und
Englands wie folgt:
27
Umfang und Art des Krieges
Kurs vom also
17. Juli 28. Juli Rückgang
3%ige deutsche Reichsanleihe . . 76,50 73,75 2,75
3%ige französische Rente .... 82,62 77,25 5,37
2V2%ige englische Konsols . . , 75,81 71,75 4,06
Der Kursrückgang in jenen kritischen Tagen war also
bei den deutschen Staatspapieren erheblich geringer als
bei den englischen und namentlich den französischen An-
leihen. Dabei gaben die amtlichen Pariser Kurse das
wahre Bild nicht annähernd richtig wieder. Der ,,Temps“
berichtete über den Verlauf der Pariser Börse vom 25. Juli,
daß die Kammer der Kursmiakler sich angesichts des star-
ken Angebots von 3%iger Rente genötigt gesehen habe,
die Notierung eines niedrigeren Kurses als 78 zu verbieten,
obwohl Angebote zu 74 Vorlagen.
Was hier in den kritischen Tagen unmittelbar vor Kriegs-
ausbruch in Erscheinung trat, war nicht etwa nur ein
Augenblickserfolg der deutschen Finanzen. Bis zum Früh-
jahr 1915 ging die 3%ige französische Rente um weitere
12 — 15% zurück, die deutsche 3%ige Reichsanleihe nur
um 5^/2%- Während im Durchschnitt des Jahres 1910 die
3%ige französische Rente auf 98, die 3%ige deutsche
Reichsanleihe nur auf 84 gestanden hatte, sank jetzt das
französische Standardpapier unter den Kurs der mit
gleicher Verzinsung ausgestatteten deutschen Staatswerte.
Auch der Rückgang der englischen Konsols war bis zum
Frühjahr 1915 mit 7% stärker als der Rückgang der deut-
schen Reichsanleihe, obwohl die britische Regierung
28
Europäische Kursbewegungen
Mindestkurse dekretiert hatte, die damals im freien Ver-
kehr um 3 — 4% unterschritten worden sein sollen.
Ebenso wie der Markt der Staatsanleihen, dessen Ver-
halten typisch war für das Verhalten der fest verzinslichen
Werte überhaupt, zeigte auch der Markt der Dividenden-
werte in Deutschland eine verhältnismäßig gute Wider-
standskraft. So sanken, um nur ein Beispiel zu geben,
die Aktien des ersten französischen privaten Bank-
instituts, des Credit Lyonnais, vom i8. — 20. Juli 1914 von
1535 auf 1350 Franken, also um 12% ihres Kurswertes
vom 18. Juli; in der gleichen Zeit sanken die Aktien der
Deutschen Bank von 231,60% auf 218%, diejenigen der
Diskontogesellschaft von 180,80% auf 170%, beide also
um nicht ganz 6% des Kurses vom 18. Juli.
Stärker noch als in den Kursen kam die große Wider-
standskraft des deutschen Kapitalmarktes in andern Er-»
scheinungen zum Ausdruck. Die Pariser Börse war in der
letzten Juhwoche genötigt, zur Vermeidung eines völligen
Zusammenbruchs die Ultimoliquidation zwangsweise zu
suspendieren. Ein ähnliches Börsenmoratorium wurde in
London notwendig. In Berlin dagegen blieb die Börse,
wenn auch unter Beschränkung auf den Kassahandel,
bis zur Proklamation des Kriegszustandes in Tätigkeit,
und die Juliliquidation wurde, im Gegensatz zu London
und Paris, nicht hinausgeschoben, sondern dank der von
den Banken gewährten Erleichterungen ohne nennens-
werte Störung abgewickelt.
29
Umfang und Art des Krieges
Auch dem gewaltigen Andrang nach baren Zahlungs-
mitteln hat das deutsche Bankwesen — abgesehen von
einem vorübergehenden Mangel an Kleingeld — zu er-
träglichen Bedingungen genügen können. Die Reichsbank,
unterstützt von den für den Kriegsfall vorgesehenen und
alsbald in Wirksamkeit tretenden Darlehnskassen, zeigte
sich allen Ansprüchen gewachsen. In den beiden Wochen
vom 23. Juli bis 7. August 1914 stellte sie dem Verkehr
für mehr als 2 Milliarden Mark Zahlungsmittel der ver-
schiedensten Kategorien zur Verfügung, ohne mit ihrem
Diskontsatz stärker als von 4% auf 6% in die Höhe zu
gehen. In Frankreich und England dagegen sahen sich
die Zentralbanken genötigt) empfindliche Restriktionen
in der Diskontierung von Wechseln eintreten zu lassen.
Die Bank von England mußte ihren Diskontsatz in den
drei Tagen vom 23. zum 25. JuH sprungweise von 3% auf
10% hinaufsetzen. Während die Privatbanken in Deutsch-
land, gestützt auf den Rückhalt, den ihnen die Reichsbank
bot, anstandslos alle von ihnen verlangten Auszahlungen
leisten, ihre Kredite aufrechterhalten und erweitern konn-
ten, sahen sie sich in Frankreich und England alsbald vor
ernsthaften Schwierigkeiten. In Frankreich Heßen sich
die Banken und Sparkassen die gesetzhche Ermächtigung
geben, auf die bei ihnen stehenden Guthaben nur beschei-
dene Teilbeträge auszuzahlen. In England wußte man
sich nicht anders zu helfen, als daß der auf den ersten
Montag im August fallende ,, Bankfeiertag“ auch auf die
30
Kein deutsches Moratorium
folgenden drei Tage ausgedehnt wurde, was praktisch einer
Sperre der Bankschalter während der stürmischsten Tage
gleichkam. Außerdem sah man sich in allen kriegführenden
Ländern, außer Deutschland, und in zahlreichen neutralen
europäischen und überseeischen Ländern genötigt, Mo-
ratorien einzuführen, teils für den Wechselverkehr, teils
für den gesamten Bankverkehr, teils für alle Zahlungs-
verpflichtungen unter Privaten. In Deutschland dagegen
kam man in eingehenden Beratungen aller beteiligten In-
stanzen zu dem Entschluß, von dem Erlaß eines Mora-
toriums abzusehen. Man begnügte sich mit Gegenmaß-
nahmen, die die deutsche Geschäftswelt vor der Wirkung
der im Ausland erlassenen Moratorien schützten. Außer-
dem wurde die Möglichkeit geschaffen, im Einzelfall beim
Vorliegen eines wirklichen Notstandes die Zahlungsfristen
durch gerichtliches Urteil hinauszuschieben. Im übrigen
wurde die Zahlungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft
durch eine Reihe positiver Maßnahmen und Einrichtungen
aufrechterhalten, die das Zusammenwirken der Reichs-
bank, der Darlehnskassen, der Genossenschaften und Spar-
kassen in wirksamer Weise ergänzten; so insbesondere
durch die in freiwilligem Zusammenschluß der beteiligten
Kreise geschaffenen Kriegskreditbanken und die Verein-
barungen der Bodenkreditinstitute über die Bevorschussung
von Hypotheken.
Durch dieses ruhige, sichere und planmäßige Vorgehen
gelang es, in wenigen Tagen der Erregung des Publikums
31
Umfang und Art des Krieges
und der Kopflosigkeiten, wie sie in solchen Zeiten immer
Vorkommen, Herr zu werden und in der deutschen Ge-
schäftswelt das Vertrauen in die finanziellen Grundlagen
unserer Wirtschaft wiederherzustellen.
Ein Vorfall, der sich in den Tagen der ersten großen Auf-
regung bei der' Deutschen Bank abspielte, zeigt, daß in
solchen Lagen auf das große Publikum nichts beruhigender
wirkt als ein festes und zuversichtliches Verhalten der
Stellen, auf die sich die verängstigten Augen richten. Aus
der Hauptdepositenkasse wurde nach der Direktion ge-
meldet, der Andrang des Publikums zu den Auszahlungs-
schaltern sei ungeheuer und geradezu lebensgefährlich;
es müsse etwas geschehen, um für die Aufrechterhaltung
der Ordnung zu sorgen. Der Bescheid, der gegeben wurde,
ging dahin, es seien alsbald zwei weitere Schalter für die
Auszahlung zu öffnen und das dem Publikum bekanntzu-
machen. Die Wirkung war durchschlagend. Viele gingen
beruhigt nach Hause, weil ihnen die Öffnung neuer Aus-
zahlungsschalter die Sicherheit gegeben hatte, daß die
Bank imstande und gewillt sei, jede x\uszahlung zu leisten.
Schon vor der Beendigung der Mobilmachung und vor
den ersten Siegesnachrichten fing das Publikum an, die
in den Tagen der Panik abgehobenen Gelder wieder zu den
Banken und den Sparkassen zurückzubringen. Auch die
gewaltigen Geldsummen, die das Kriegsministerium im
Laufe der Mobilmachung für die Beschaffung von Heeres-
gerät und Heeresausrüstung aller Art verausgabte, fanden
32
Vorübergehende Panik. Die erste Kriegsanleihe
bald ihren Weg zurück zu den großen Sammelbecken des
Geldverkehrs. An die Stelle der Geldklemme der ersten
Wochen trat bald eine große Geldflüssigkeit, die es mög-
lich machte, die Begebung einer ersten Kriegsanleihe schon
für den Monat September ins Auge zu fassen.
In der Tat trat Deutschland als der erste unter allen
kriegführenden Staaten mit einer Kriegsanleihe an den
Markt. Es fehlte nicht an warnenden Stimmen, die einen
Mißerfolg voraussagten. Das klägliche Ergebnis der im
Jahre 1870 vom Norddeutschen Bund ausgeschriebenen
Kriegsanleihe schwebte manchem als übler Vorgang vor
Augen. Noch mehr Bedenken erregte der kühne Vorschlag
des Reichsbankpräsidenten, die Kriegsanleihe in unbe-
schränktem Betrag aufzulegen, damit jedem Zeichner von
vornherein die Zuteilung des vollen gezeichneten Betrages
in Aussicht zu stellen und so auf jeden Anreiz zu spekula-
tiven Zeichnungen und auf jeden Scheinerfolg, wie er in
der Überzeichnung einer in limitiertem Betrag aufgelegten
Anleihe leicht zu erzielen ist, bewußt und absichtlich zu
verzichten. Ich hatte Gelegenheit, mit dem Reichsbank-
präsidenten das Aktionsprogramm durchzusprechen und
ihn gegenüber den Stimmen der Bedenklichen in seinen
Absichten zu bestärken. Der Erfolg hat der Kühnheit
recht gegeben. Das Zeichnungsergebnis war rund 4^/2 Mil-
liarden Mark. Das war fast das Doppelte der bisher größten
Anleiheaktion der Geschichte, der französischen Anleihe
vom Juli 1872, die 2400 Millionen Mark erbracht hatte.
3 Helfferich, Weltkrieg 11
33
Umfang und Art des Krieges
t
Dabei hatte sich die Einzahlungsfrist der französischen
Anleihe vom Juli 1872 bis zum Herbst 1873, also auf
etwa 15 Monate erstreckt, während der fast doppelt so
große Betrag der ersten deutschen Kriegsanleihe nach
den Zeichnungsbedingungen in zwei Monaten einzuzahlen
war. Ferner war die große französische Anleiheaktion
erst nach Abschluß des Friedens durchgeführt worden,
die deutsche Anleihe dagegen wurde zu Anfang eines
unabsehbaren Krieges gezeichnet. Und schließlich waren
die Zeichnungen auf die französische Anleihe zu einem
großen Teil auf fremden Märkten, namentlich auf dem
Londoner Markte, erfolgt, während die 4 V2 Milliarden der
ersten deutschen Kriegsanleihe so gut wie ausschließlich
eine Leistung des auf sich selbst gestellten deutschen
Volkes waren.
Die Sicherung der finanziellen Grundlagen unserer Wirt-
schaft und die Beschaffung der für den Krieg erforderlichen
Geldmittel war so in den ersten Wochen des Krieges auf
das beste eingeleitet.
Der Krieg und die deutsche Wirtschaft
Die finanzielle Mobilmachung war in Friedenszeiten
gründlich vorbedacht und vorbereitet worden. Abgesehen
von der planmäßigen Verbesserung und Kräftigung unserer
Geld- und Kredit Verfassung, die sich jetzt so reichlich
34
Keine wirtschaftliche Kriegsvorbereitung
lohnte, lag der Organisationsplan bereit, nach dem unser
Finanzwesen den Kriegsbedürfnissen angepaßt werden
sollte. Auf dem Gebiete der Gütererzeugung und des
Warenhandels waren ähnliche Vorkehrungen für den
Kriegsfall nicht getroffen worden. Wohl hatte unsere
Wirtschaftspolitik in ähnlicher Weise unsere gesamte Volks-
wirtschaft erstarken lassen und für den Kriegsfall tüchtig
gemacht, wie unsere Geld- und Bankpolitik die finanziellen
Grundlagen unseres Wirtschaftslebens. Vor allem war es
vermöge unserer Wirtschaftspolitik gelungen, unsere land-
wirtschaftliche Erzeugung in den letzten Jahrzehnten vor
dem Krieg in noch stärkerem Maße zu heben, als unsere
Bevölkerung gewachsen war. Ebenso war die eigene Ge-
winnung der für den Krieg wichtigsten industriellen Roh-
stoffe, der Kohle und des Eisens, in einem Maße gesteigert
und auch technisch vervollkommnet worden, daß eine Grund-
lage für die technisch-industrielle Durchführung des Krieges
gesichert war. Auch hatten wichtige Erfindungen und neue
Verfahren unsere national wirtschaftliche Selbständigkeit,
die für das Durchhalten eines großen Krieges von beson-
derer Bedeutung ist, in einigen nicht unwesentlichen Punkten
verbessert. Schließlich waren auf dem Gebiet der sozialen
Organisation, insbesondere der Ausgestaltung der Arbeits-
nachweise, Fortschritte erzielt worden, die für die An-
passung unserer Wirtschaft an die durch den Krieg von
Grund aus geänderten Verhältnisse eine Erleichterung be-
deuteten. Aber ein eigentlicher Organisationsplan für die
3'
35
Umfang und Art des Krieges
Bereithaltung, Beschaffung und Verteilung der für das
Leben der Bevölkerung und die Durchführung des Krieges
erforderlichen Nahrungsmittel und Rohstoffe, für die. Um-
stellung unserer gewerblichen und kommerziellen Tätigkeit
und für die Umgruppierung der Arbeitskräfte, wie sie der
Krieg erforderlich machen mußte, war nicht vorhanden.
Aus den Kreisen des praktischen Wirtschaf stlebens heraus
war in den Jahren vor dem Ausbruch des Krieges wieder-
holt auf diese Lücke in unserer Bereitschaft hingewiesen
und u. a. die Einrichtung eines ,, wirtschaftlichen General-
stabs“ zur Bearbeitung dieser organisatorischen Aufgaben
verlangt worden. Es war aber nichts Durchgreifendes ge-
schehen. Ich habe den Eindruck, daß man sich bei unseren
amtlichen Stellen, denen die Bearbeitung unserer wirt-
schaftlichen Angelegenheiten an vertraut war, einmal über
die seit Jahren über uns schwebende Kriegsgefahr ebenso-
wenig Rechenschaft gab wie im allgemeinen in unserer
öffentlichen Meinung; daß man ferner sich von den wirt-
schaftlichen Verhältnissen und Anforderungen eines mo-
dernen Krieges kein hinreichend greifbares Bild machen
konnte, um danach organisatorische Vorbereitungen ein-
zurichten; schließlich, daß man weder mit einem langen
Kriege, noch auch mit einem ausgesprochenen Wirtschafts-
kriege ernstlich rechnete.
Nun war der Krieg da; und die Maßnahmen unserer
Feinde, namentlich Englands, zeigten alsbald, daß dieser
Krieg gegen eine gewaltige, uns fast von allen Seiten
36
England geht sofort zum Wirtschaftskrieg über
umfassende Koalition kein bloßer Krieg der bewaffneten
Streitkräfte, sondern auch ein Krieg der Volkswirtschaften,
ja der ganzen Volksgemeinschaften sein werde.
Schon bei dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen
lehnte es die britische Regierung ab, den Schutz, den nach
der Haager Landkriegsakte das private Eigentum und
die privaten Forderungen zu beanspruchen hatten, un-
zweideutig und uneingeschränkt anzuerkennen. Alsbald
nach Kriegsausbruch erließ sie Verfügungen, die nach dem
alten britischen Recht alle Zahlungen an die Bewohner der
mit England im Kriege liegenden Länder unter Strafe
stellten. Das Verbot wurde bald auf den gesamten Ver-
kehr mit dem Keinde ausgedehnt. Ebenfalls schon in den
ersten Tagen des Krieges wurden die Filialen deutscher
Banken in London unter Staatsaufsicht gestellt, der bald
die Anordnung der Zwangsliquidation unter Sequestration
des Liquidationserlöses folgte. Im weiteren Verlauf wur-
den Zwangs Verwaltung, Sequestration und Zwangsliqui-
dation auch auf alle anderen Unternehmungen im Ver-
einigten Königreich, den Dominions und Kolonien, die
Deutschen gehörten oder an denen deutsches Kapital
in nennenswertem Umfange beteiligt war, ausgedehnt
und namentlich in den überseeischen Gebieten in der
rigorosesten Weise durchgeführt. Dazu kam die Auf-
hebung von Verträgen mit feindlichen Staatsangehörigen
und der feindlichen Staatsangehörigen zustehenden
Patentrechte.
37
Umfang und Art des Krieges
Noch einschneidender waren die britischen Maßnahmen
auf dem Gebiet des Seekrieges. Ohne sich durch die völker-
rechtlichen Satzungen irgendwie beirren zu lassen, unter-
warf England den gesamten Seeverkehr auch der Neu-
tralen seiner Kontrolle in der Absicht, jede auch indirekte
Zufuhr für Deutschland zu verhindern. Darüber hinaus
zwang es den Neutralen in ihren eigenen Ländern eine
Handelskontrolle auf, die in ihrer Wirkung die Blockade
bis an die Landgrenzen Deutschlands tragen sollte.
Ganz offenkundig und ganz rücksichtslos ging England,
von seinen Verbündeten unterstützt, von Anbeginn des
Krieges an darauf hinaus, die Kriegführung der Land- und
Seestreitkräfte zu ergänzen und zu unterstützen durch eine
wirtschaftliche Erdrosselung des deutschen Volkes. Durch
die Abschnürung der Zufuhr kriegswichtiger Rohstoffe
sollte Deutschland wehrlos gemacht, durch die Abschnürung
der Zufuhr von Nahrungsmitteln sollte Deutschland aus-
gehungert und zur Übergabe gezwungen werden. Dabei
handelte es sich für England von allem Anfang an nicht nur
um ein Kriegsmittel, sondern klar erkennbar um einen
wesentlichen Kriegszweck: Deutschland sollte durch den
wirtschaftlichen Druck nicht nur — unabhängig von den
militärischen Operationen — zur Kapitulation gezwungen,
sondern Deutschlands Stellung in der Weltwirtschaft,
die England so unbequem geworden war, sollte den töd-
lichen Streich erhalten. Die Verfolgung und Vernichtung
jeder deutschen geschäftlichen Betätigung, jeder deutschen
38
Der englische Wirtschaftskrieg
Wirtschafts- und Kulturarbeit in allen den Gebieten,
die für den britischen Arm überhaupt erreichbar waren,
gibt davon beredtes Zeugnis. Der britische Vernichtungs-
wille kannte keine Schranke, weder in geschriebenen
Satzungen, noch in der ungeschriebenen Völkermoral,
weder im menschlichen, noch im göttlichen Recht. Alles
was in den Bestrebungen der edelsten Geister der Mensch-
heit bisher erreicht worden war, um die Kriegführung auf
die bewaffneten Streitkräfte zu beschränken und die Leiden
des Krieges von der nichtkämpfenden Bevölkerung fern-
zuhalten, erwies sich vor Englands Gewaltpolitik als eitel
Schall und Rauch.
War schon der Krieg gegen eine rein militärisch so starke
Koalition für Deutschland und seinen Verbündeten eine
in diesem Ausmaß in der Geschichte aller Zeiten und Völker
bisher unerreichte Kraftprobe, so wurde die Gefahr der
Zermalmung durch die brutale Übertragung des Krieges
auf das wirtschaftliche Gebiet ins Ungeheuerliche gesteigert.
Deutschland war, wie kein zweites Land außer England
selbst, in die Weltwirtschaft verwachsen. Es hatte im
letzten Friedensjahr eine Einfuhr von 10,7 Milliarden Mark
gehabt, hauptsächlich Rohstoffe und Nahrungsmittel;
seine Ausfuhr, hauptsächlich aus Fabrikaten bestehend,
hatte den Wert von 10,1 Milliarden Mark erreicht. Wenn
wir auch infolge der glücklichen Entwicklung unseres
Ackerbaues nur eines verhältnismäßig geringen Zuschusses
an Brotgetreide aus dem Ausland bedurften, so war doch
39
Umfang und Art des Krieges
unsere Viehwirtschaft, und damit die Versorgung unserer
Bevölkerung mit Fleisch und Fett, in erheblichem Umfange
auf fremde Zufuhren an Futtermitteln angewiesen. Von
unseren großen Gewerbezweigen war die Textilindustrie, bis
auf die geringe einheimische Erzeugung von Wolle und Flachs,
von der Rohstoffzufuhr aus dem Auslande abhängig. Ähnlich,
wenn auch nicht ganz so schlimm, stand es mit der Leder-
industrie. Kohle und Eisen hatten wir im eigenen Land;
aber andere wichtige Metalle kamen vorwiegend, wie das
Kupfer, oder ausschließlich, wie das Nickel, aus dem Aus-
land. Unsere Ausfuhr gab einem großen Teil unserer ar-
beitenden Bevölkerung lohnende Arbeit. Die Ernährung,
Bekleidung und Beschäftigung eines großen Teiles unserer
Bevölkerung, darüber hinaus die Ausstattung unserer
Streitkräfte zu Land und zu Wasser mit Kriegsgerät,
Munition und Proviant wurde durch die Unterbindung
unseres Außenhandels auf das emsthchste in Frage gestellt.
Die gewaltigen wirtschafthchen Schwierigkeiten, die auch
ein auf das rein Militärische beschränkter Krieg hätte mit
sich bringen müssen, wurden ins Unendliche gesteigert.
Nahezu alles, was zur Überwindung dieser Schwderig-
keiten und Gefahren zu geschehen hatte, mußte impro-
visiert werden.
Die Aussichten einer reinen Vergeltungspolitik waren
schlecht. Wir konnten die Beschlagnahme deutscher Ver-
mögensw'erte, die Zwangs Verwaltung und Zwangsliqui-
dation deutscher Unternehmungen und die anderen gegen
40
Aussichten einer Vergeltungspolitik
deutsches Privat vermögen und deutsche Privatrechte ge-
richteten Maßnahmen mit den entsprechenden Gegenmaß-
nahmen beantworten und taten das auch. Aber was an
feindlichem Privatvermögen und Privatrechten unserem
Zugriff unterlag, war dem Werte nach nur ein Bruchteil
dessen, was bei der weitverzweigten deutschen Betätigung
in dem Machtbereich unserer Feinde der Willkür von
Engländern, Franzosen und Russen ausgesetzt war. Der
völkerrechtswidrigen Unterbindung unserer ausländischen
Zufuhren konnten wir, da England die See beherrschte,
zunächst nichts gegenüberstellen als unseren wiederholten
eindringlichen Appell an die an der Aufrechterhaltung des
Völkerrechts mit uns interessierten Neutralen: die U-Boot-
waffe, deren Anwendung wegen ihrer Rückwirkung auf
die Neutralen, besonders auf die Vereinigten Staaten,
von Anfang an als zweischneidig angesehen werden mußte,
kam als Mittel für eine Gegenblockade erst im weiteren
Verlauf des Krieges ernsthaft in Betracht. Auch auf die sich
dem britischen Druck so gefügig zeigenden uns benachbarten
Neutralen konnten wir nur in sehr beschränktem Umfang
einen Gegendruck ausüDen. Ihre Abhängigkeit von unserer
Kohle und unserem Eisen war nicht entfernt so groß und so
empfindlich wie ihre Abhängigkeit von den unter Englands
Kontrolle stehenden Zufuhren von Nahrungs- und Futter-
mitteln und an wichtigen überseeischen Rohstoffen. Immer-
hin gaben die uns zur Verfügung stehenden Mittel des Gegen-
drucks auf diesem Gebiet uns wenigstens einigen Spielraum.
Umfang und Art des Krieges
Es kam darauf an, die bescheidenen Vorteile und Druck-
mittel, die uns zur Verfügung standen, in geschickten Trans-
aktionen und Kombinationen nach jeder Möghchkeit aus-
zunutzen, um die Erdrosselungsabsichten unserer Feinde
zu vereiteln. Es kam weiter darauf an, einen Überblick
über die im Inland vorhandenen Bestände der für das Durch-
halten der Bevölkerung und der Kriegführung wichtigsten
Nahrungsmittel und Rohstoffe zu gewinnen, die Erzeu-
gungsmöglichkeiten dieser Stoffe oder geeigneter Ersatz-
stoffe nach Möglichkeit zu fördern, ihren Verbrauch zu
kontrollieren und zu rationieren und auf die Preisbildung
der für den Lebensunterhalt der Bevölkerung wesentlichen
Waren einen Einfluß zu gewinnen. Das bedeutete nicht nur
eine den besonderen Verhältnissen und Bedürfnissen anzu-
passende Umstellung der wirtschaftlichen Tätigkeit, sondern
eine Neuorganisation unserer Wirtschaftsverfassung im
Sinne des Überganges von dem individualistischen System
der freien wirtschaftlichen Betätigung und Initiative, das
sich in der hinter uns hegenden Friedenszeit von selbst regu-
liert hatte, zu dem Versuch einer einheithchen und plan-
mäßigen Leitung der Gütererzeugung und Güterverteilung.
Die Aufgabe war ihrer Art nach völlig neu. Es gab keine
Möglichkeit, sich an bereits erprobte Vorbilder und Me-
thoden anzulehnen; alles mußte gewissermaßen aus dem
Nichts heraus geschaffen werden.
Die Aufgabe wurde auch keineswegs in ihrem Umfange
von Anfang an erkannt. Ich glaube, es gibt niemanden in
42
Die Neuorganisation unserer Wirtschafts Verfassung
Deutschland, der von sich sagen kann, er habe von Anfang
an mit einem so langen Kriege und einer so strengen, sich
im Laufe des Krieges immer mehr verschärfenden Abschnü-
rung Deutschlands von auswärtigen Zufuhren gerechnet.
Die Ansicht, daß ein moderner Krieg nur von kurzer Dauer
sein könne, wog in militärischen wie in wirtschaftlichen Krei-
sen vor. Dafür sprach die furchtbare Zerstörungskraft der
modernen Kriegswaffen, die rasche entscheidende Schläge
in Aussicht zu stellen schien; ferner die ungeheuerliche
Entziehung von Arbeitskräften durch die auf der all-
gemeinen Dienstpflicht beruhenden Volksheere, eine Ent-
ziehung, die in ihrer Wirkung auf die Volkswirtschaft mit
einem Generalstreik verglichen worden ist; dann die alle
Summen, mit denen Finanzleute und Volkswirtschaftler
bisher zu rechnen gewohnt waren, weit hinter sich lassenden
Kosten; schließlich die Spekulation auf die menschliche
Vernunft, die es nicht zulassen werde, daß die Völker
Europas bis zur letzten Erschöpfung ihrer physischen
und moralischen Kräfte, bis zur letzten Zerstörung ihrer
wirtschaftlichen und kulturellen Werte sich gegenseitig
vernichten würden.
Gerade von sehr maßgebender militärischer Stelle habe
ich, während der Krieg bereits im Gange war, wiederholt
die Meinung vertreten hören, daß das Kriegsende in nicht
allzu ferner Zeit zu erwarten sei. Als ich im Monat No-
vember 1914 im Großen Hauptquartier zu Charleville im
Einverständnis mit dem Auswärtigen Amt den Vorschlag
43
Umfang und Art des Krieges
machte, im Interesse unserer Kriegführung im Orient —
die Türkei war in den letzten Oktobertagen an unserer
Seite in den Krieg eingetreten — die an der Verbindung
mit Syrien und Mesopotamien noch fehlenden Gebirgs-
strecken der Bagdadbahn im Taurus und Amanus alsbald
mit allen Mitteln auszubauen, erhielt ich die Antwort:
Da die Fertigstellung dieser Strecken erst nach Jahr und
Tag zu erwarten sei, liege kein militärisches Interesse an
dem Projekte vor. Die Möglichkeit, daß wir uns Ende
1915 noch im Kriege befinden könnten, wurde nach den
Eindrücken, die ich damals empfangen habe, überhaupt
nicht ernstlich in Betracht gezogen. Einer ähnlichen opti-
mistischen Auffassung begegnete ich noch im April 1915,
als ich als Reichsschatzsekretär im Großen Hauptquartier
weilte. Man setzte damals große Hoffnungen auf gewisse
gerade eingeleitete militärische Operationen, und ich hörte
die Hoffnung aussprechen, daß, wenn alles gut gehe, der
Krieg in wenigen Monaten zu Ende sein könne.
Ebensowenig wie mit einem mehr als vierjährigen Krieg
hat man die Nachhaltigkeit und Wirksamkeit unserer Ab-
sperrung vom Ausland vorausgesehen. Auch wer England
jede Art von Völkerrechtsbruch, namentlich in der See-
kriegführung, zu traute, hat in den Anfängen des Krieges
noch hoffen können, daß die Maschen des Wirtschafts-
krieges weit genug bleiben würden, um uns zu gestatten,
auf dem Weg über die uns benachbarten Neutralen uns
wichtige Zufuhren zu verschaffen. Das Selbstinteresse der
44
Kriegsdauer. '3 Entstehung der Kriegswirtschaft
Neutralen, namentlich der Vereinigten Staaten, erschien
als ein Faktor, der in unsere Rechnung eingestellt werden
konnte. In der Tat hat in den ersten Kriegsmonaten Eng-
land auf dieses Selbstinteresse Amerikas einige Rücksicht
genommen. Noch in einer Note vom 7. Januar 1915, mit
der die britische Regierung eine Beschwerde der Regierung
der Vereinigten Staaten beantwortete, betonte die britische
Regierung, sie habe z. B. Baumwolle nicht auf die Konter-
bandeliste gesetzt und bei jeder Gelegenheit ihre Absicht
festgestellt, bei dieser Praxis zu bleiben. In der Tat ist
Baumwolle erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1915
von der britischen Regierung als Konterbande erklärt
worden.
So entwickelte sich im Laufe des Krieges erst allmählich
der ganze Ernst der Lage und damit die Erkenntnis der
ganzen Größe der zu bewältigenden Aufgabe. Unsere
Kriegswirtschaft ist nicht entstanden aus einem von vorn-
herein die Aufgabe in ihrer Gesamtheit umfassenden ein-
heitlichen Plan; sie ist allmählich herausgewachsen aus
tastenden Versuchen und aus oft unzulänglichen, oft
über das Ziel hinausschießenden Notmaßnahmen, mit
denen die wirtschaftlichen Berufskreise und die staatlichen
Gewalten den immer schwerer und dringender werdenden
Anforderungen der Zeit gerecht zu werden suchten. An
ihrem Anfänge stand der unmittelbar nach dem Kriegs-
ausbruch einsetzende Zusammenschluß großer an dem
Bezug ausländischer Rohstoffe interessierter Kreise des
45
Umfang und Art des Krieges
Gewerbes und Handels zur gemeinsamen Überwindung
der sich auftürmenden gewaltigen Schwierigkeiten durch
einheitliches Vorgehen und gemeinsames Tragen der mit
einem Schlage so enorm gestiegenen Risiken (Zentral-
einkaufsgesellschaft, Kriegsausschuß für öle und Fette,
Kautschukabrechnungsstelle u. a. m.) ; ferner die Errich-
tung der Kriegsrohstoffabteilung im Kriegsministerium
zum Zweck der Sicherung und Beschaffung der kriegs-
notwendigen Rohstoffe; dann gewisse Notmaßnahmen auf
dem Gebiete der Emährungspolitik, wie die — übrigens
von der Vertretung der Landwirtschaft selbst angeregte —
Festsetzung von Höchstpreisen für Brotgetreide, die Aus-
mahlungsvorschriften, die Schaffung eines einheitlichen
Kriegsbrotes, die Verwendungsbeschränkung (Verbot der
Verfütterung von Brotgetreide) und ähnliche Maßnahmen
mehr. Von diesen Anfängen ausgehend, erstreckte sich
die Kriegswirtschaft auf immer weitere Gebiete unserer
ganzen Wirtschaft. Zu dem einen sich immer weiter aus-
dehnenden Kreis von Waren erfassenden System der Höchst-
preise, Richtpreise und Preisprüfung kamen immer weiter-
gehende Verwendungsbeschränkungen, Beschlagnahmen,
Enteignungen,Ablieferungsverpflichtungen,Rationierungen
des Verbrauchs durch Karten, Bezugsscheine und Vertei-
lungsschlüssel, eine fortschreitende Zentralisation der Be-
schaffung und Be\\drtschaftung von wichtigen Nahrungs-
mitteln, Rohstoffen und Fabrikaten; weiterhin staatliche
Eingriffe in den Aufbau einzelner Gewerbezweige im Wege
Entstehung der Kriegswirtschaft
zwangsweisen Zusammenschlusses, verbunden mit Still-
legungen und Produktionsregulierungen; schließlich der
Versuch einer staatlichen Regulierung der wirtschaftlichen
Arbeit durch das Hilfsdienstgesetz. Ergänzt wurde diese
Entwicklung der kriegswirtschaftlichen Organisation durch
die Mitwirkung der wirtschaftlichen Verbände des Unter-
nehmertums und der Arbeiterschaft, durch die mit be-
wundernswerter Tatkraft und erstaunlichem Erfolg
durchgeführte Anpassung der Gütererzeugung in Land-
wirtschaft und Gewerbe an die neuen Verhältnisse und an
die gewaltigen Anforderungen des Krieges, durch die im
Zusammenwirken von Wissenschaft, Technik und wirt-
schaftlicher Tatkraft erzielten Fortschritte im Produk-
tionsverfahren, die zu einer ungeahnten Steigerung der
wirksamen Ausnutzung von Stoffen und Kräften führten
und teilweise ganz neue Wege von bleibender Bedeutung
erschlossen.
Ich werde im weiteren Verlaufe meiner Darstellung
Gelegenheit haben, auf einzelne Teile der Entwicklung
unserer Kriegswirtschaft, an denen ich persönlich mitzu-
arbeiten berufen war, des näheren einzugehen.
D i e
politische und militärische
Entwicklung des Krieges
b i s 2 u m
Friedensangebot
Die großen militärischen Entscheidungen der ersten
Kriegsmonate hatten uns in die Verteidigung gebracht.
Im Westen in einer festen, weit in das Feindesland aus-
holenden Linie, die im Stellungskrieg gehalten werden
mußte. Im Osten in einem weiten freien Raum, der eine
offensive Verteidigung im Bewegungskrieg gestattete.
Starke feindliche Übermacht hier wie dort, dazu eine Über-
macht, die — wenigstens soweit Rußland und das britische
Imperium in Betracht kamen — durch vermehrten Kräfte-
einsatz noch einer wesentlichen Steigerung fähig war.
Und diese feindliche Übermacht konnte aus ihrer freien
Berührung mit der gesamten Welt Ergänzung und Ent-
lastung finden, während die Mittelmächte auf sich selbst
gestellt waren.
Wir standen, wie am ersten Tage des Krieges, so nach
den ersten gewaltigen Kraftproben vor der Gefahr, trotz
allen Heldentums und aller Heldentaten erdrosselt und
zermalmt zu werden. In dieser Lage hieß es, nach jeder
möglichen Hilfe ausschauen, die uns aus der furchtbaren
Umklammerung befreien konnte.
4*
51
Entwicklung des Krieges
Die Türkei als Bundesgenosse
Während unser italienischer und unser rumänischer Bun-
desgenosse sich von Anfang an der Erfüllung ihrer Bundes-
pflicht enthielten, während Japan seine zunächst erklärte
Neutralität schon am 19. August durch sein an uns gerichtetes
Ultimatum aufgab und sich der Koalition unserer Feinde
anschloß, während die Neutralen ab wartend und zumeist
mit für uns recht kühlen Gefühlen beiseite standen, stellte
sich die uns seit langem befreundete, aber niemals ver-
bündete Türkei als ein willkommener und wichtiger
Mitkämpfer ein.
Ich habe im ersten Teil dieses Buches die Belastungs-
proben skizziert, denen die deutsch-türkische Freundschaft
seit der jungtürkischen Revolution ausgesetzt war, und
denen sie sich gewachsen gezeigt hat. Deutschlands
territoriale Uninteressiertheit an den Fragen des näheren
Orients, sein positives Interesse an der Aufrechterhaltung
der Unversehrtheit, der Unabhängigkeit, der wirtschaft-
lichen, militärischen und politischen Erstarkung der Türkei
war so offenkundig und trat in so konkludenten Handlun-
gen zutage, daß auch die westmächtlich voreingenommenen
jungtürkischen Politiker, sobald sie an der Macht und Ver-
antwortung waren, sich wohl oder übel zu Deutschland
hingedrängt sahen. Selbst das Vorgehen unseres öster-
reichisch-ungarischen Bundesgenossen in der bosnischen
52
Natürliche Bundesgenossenschaft
Frage und die tripolitanische Brutalität Italiens hatten
die aus den wahren Interessen der Türkei erwachsende
Wiederannäherung an Deutschland nicht hindern können.
Als der Krieg ausbrach, konnte in Stambul kein Staats-
mann darüber im unklaren sein, daß im Falle eines Sieges
der Entente Rußland nach Konstantinopel greifen und
daß niemand ihm das verwehren werde. Zu oft und zu
deutlich war in den letzten Jahren von Rußland her pro-
klamiert worden, daß der Weg nach Konstantinopel über
Berlin und Wien führe. Der Krieg war also von Anfang an,
ob die Türkei beiseite stand oder ob sie eingriff, ein Krieg
um die Existenz des türkischen Reiches. Die Türkei hatte
die Wahl, ob sie durch ein Eingreifen an der Seite der
Mittelmächte das ihrige zur Abwendung der Vernichtung
tun oder ob sie in willenlosem Geschehenlassen ihr
Schicksal hinnehmen wollte.
Die britische Politik versäumte nicht, der türkischen
Regierung sofort mit Eindringlichkeit zu zeigen, wo ihr
Platz in diesem yölkerringen sei. Schon am 2. August 19.14
beschlagnahmte sie zwei von der Türkei auf Drängen des
britischen Botschafters in England in Bestellung gegebene
und im voraus bezahlte Kriegsschiffe.
Schon in jenen Tagen wurde zwischen dem deutschen
Botschafter Freiherrn von Wangenheim und der türkischen
Regierung ein Bündnisvertrag vereinbart, für dessen Zu-
standekommen sich auf türkischer Seite vor allem der
Kriegsminister Enver Pascha einsetzte.
53
Entwicklung des Krieges
Am Abend des lo. August erschienen die beiden deut-
schen Kriegsschiffe ,,Göben“ und „Breslau“, die im Mittel-
meer der feindlichen Übermacht glücklich entronnen waren,
vor den Dardanellen. Sie erhielten die Erlaubnis zur Ein-
fahrt ; denn die türkische Regierung hatte die beiden Schiffe
in Erwartung ihrer glücklichen Ankunft von der deutschen
Regierung gekauft. Entrüsteter Protest der Ententemächte.
Zusammenziehung eines Ententegeschwaders vor den Dar-
danellen. Darauf am 28. September Sperre der Dardanellen.
Für die deutsche Kriegspolitik war schon mit dieser
Etappe ein wichtiger Erfolg erzielt. Die Verbindung der
Westmächte mit Rußland durch die Ostsee war durch den
Krieg zerschnitten. Wenn jetzt auch der Großhandels weg
durch die Dardanellen gesperrt war, so blieb nur noch
der für umfangreiche Transporte infolge des Mangels an
Eisenbahnen in Nordrußland nicht praktikable Weg über
Archangelsk. Die Dardanellensperre machte die Unter-
stützung der Entente auf dem westlichen Kriegsschauplatz
durch russische Mannschaften für lange Zeit unmöglich,
sie schränkte die Möglichkeit der Versorgung Rußlands mit
westmächtlichem Kriegsmaterial erheblich ein, und sie
unterband die Belieferung Frankreichs und Englands mit
russischem Getreide.
Es konnte fraglich erscheinen, ob es im deutschen In-
teresse lag, die durch drei Kriege geschwächte Türkei zu
veranlassen, weiter zu gehen und aktiv in den Krieg ein-
zugreifen. Die Möglichkeit, auf dem Wege über die Türkei
54
Dardanellensperre
und mit Hilfe der Türkei das britische Reich an lebens-
wichtigen Punkten anzugreifen, etwa am Suezkanal oder
gar über den Persischen Golf in Indien, hatte zwar in der
englischen Agitation gegen die Bagdadbahn und leider auch
in gewissen leichtfertigen deutschen Veröffentlichungen
eine Rolle gespielt ; aber bei nüchterner und sachkundiger
Beurteilung mußte man die Durchführbarkeit und die
Aussichten auch nur einer Aktion gegen den Suezkanal
so lange als äußerst zweifelhaft betrachten, als einmal ein
ungehinderter Verkehr zwischen den Mittelmächten und
der Türkei nicht gesichert war und als ferner die Eisen-
bahnverbindung zwischen Konstantinopel und Syrien im
Taurus- und Amanusgebirge noch die empfindlichen Lücken
aufwies. Im übrigen bot die Türkei sowohl im südlichen
Mesopotamien den Engländern als auch in Nordost-
anatolien den Russen wegen des Fehlens jeder Eisenbahn-
verbindungen gefährliche Angriffsflächen; ja, es war nicht
einmal als unbedingt sicher zu betrachten, ob die Darda-
nellen, trotz der in den letzten Jahren durchgeführten
Modernisierung ihrer inneren Befestigungsanlagen, einem
energischen und nachhaltigen Angriff würden standhalten
können. Auf den ,, Heiligen Krieg“, von dem manche die
Revolutionierung Ägyptens und Indiens erwarteten, habe
ich nach meiner Kenntnis des stumpf und unfanatisch
gewordenen Islam niemals große Hoffnungen gesetzt,
solange wir nicht selbst die Bewegung in jene Länder
tragen konnten.
55
Entwicklung des Krieges
Diese Ansichten wurden auch in unserem Auswärtigen
Amt geteilt, und man hat es deshalb wohl vermieden, die
Türken zum Eintritt in den Krieg allzu eifrig zu drängen.
Aber die Dinge drängten von selbst in dieser Richtung.
Es zeigte sich bald, daß die Ententemächte sich mit der
Sperrung der Dardanellen nicht abfinden und der Türkei
nur die Wahl lassen würden, sich klipp und klar zu ent-
scheiden. Die Wahl der türkischen Staatslenker war im
voraus getroffen. VergebHch bot die Entente der Türkei
die Garantie ihres Besitzstandes; die Türkei hatte mit
solchen Garantien zu schlechte Erfahrungen gemacht. Der
Druck der Ententemächte verstärkte sich. Ende Oktober
kam es bei der Einmündung des Bosporus in das Schwarze
Meer, wo russische Kriegsfahrzeuge Minen legten, zu einem
Zusammenstoß zwischen türkischen und russischen See-
streitkräften : die Kriegserklärung erfolgte aus dem Munde
der Schiffsgeschütze.
Deutschland hatte einen politischen Sieg erfochten; es
hatte zu einer Zeit, in der es in West und Ost in die schwer-
sten Kämpfe gegen eine erdrückende Übermacht verstrickt
war, einen Bundesgenossen gewonnen, dessen nicht zu
unterschätzendes Gewicht auf der Wage des Völkerschick-
sals vielleicht den entscheidenden Ausschlag geben konnte.
Nun hieß es, das Gewicht des neuen Bundesgenossen in
Wirkung setzen.
Der neue Bundesgenosse stand, von uns getrennt, auf
einem ebenso wichtigen wie bedrohten Außenposten. Wenn
56
Räumliche Trennung der Verbündeten
dieser Außenposten gesichert und die militärische wie die
wirtschaftliche Kraft der Türkei für uns nutzbar gemacht
werden sollte, dann mußten alsbald die Brücken zu dem
neuen Mitkämpfer geschlagen werden. Der Weg zur Türkei
führte, solange der Engländer das Mittelmeer, der Russe
das Schwarze Meer beherrschte, in jedem Fall über
Bulgarien, außerdem entweder über Rümänien oder über
Serbien. Bulgarien stand uns mit wohlwollender Neutralität
gegenüber. Aber Serbien stand mit noch ungebrochener
Kraft gegen uns im Feld, und Rumänien nahm trotz seines
Bündnisvertrages mit uns damals schon in so ungenierter
Weise für die Entente Partei, daß es auch den völkerrecht-
lich durchaus einwandfreien Durchfuhren von uns zur Tür-
kei und von der Türkei zu uns die unerhörtesten Schwierig-
keiten in den Weg legte. Da ohne Krieg mit Rumänien
die Überwindung des rumänischen Hindernisses unmöghch
erschien und da niemand bei uns das Bedürfnis nach
einem weiteren Kriegsgegner hatte, da ferner der serbische
Landesteil, der den Donauweg zwischen Ungarn und Bul-
garien blockierte, der sogenannte Negotiner Zipfel, eine
Tiefenausdehnung von nur 50 — 60 Kilometern hatte, er-
schien der Weg vorgezeichnet: die Forcierung des unter-
halb des Eisernen Tores gelegenen serbischen Donau-
kreises.
Für diese Lösung setzten sich Kanzler und Auswärtiges
Amt bei der Obersten Heeresleitung, an deren Spitze
damals bereits in Vertretung des schwer erkrankten
57
Entwicklung des Krieges
Generalobersten von Moltke der General von Falkenhayn
stand, mit allem Nachdruck ein; es wurde jedoch stets die
militärische Unmöglichkeit der Erfüllung dieser Forderung
geltend gemacht. Als die Türkei, die damals schon an Muni-
tionsmangel litt, immer stärker drängte, machte das Aus-
wärtige Amt einen erneuten Versuch, zu dem auch meine
Mitwirkung auf Grund meiner Kenntnis der Verhältnisse des
näheren Orients herangeholt wurde. In Brüssel, wohin ich
gerade von einem Besuch im Großen Hauptquartier zurück-
gekehrt war, erhielt ich am 28. November ein Telegramm
des Unterstaatssekretärs Zimmermann, das mich ersuchte,
beim Reichskanzler, beim Generalstabschef und nötigen-
falls beim Kaiser selbst mit den stärksten Argumenten für
eine sofortige Aktion zur Besetzung des Negotiner Kreises
und Freimachung des Donau weges einzutreten. Ich ent-
schloß mich, sofort wieder nach Charleville zu fahren. Als
ich am Abend des 29. November dort ankam, stellte sich
heraus, daß am Vormittag der Reichskanzler nach Berlin,
der Kaiser und General von Falkenhayn nach dem öst-
lichen Kriegsschauplatz abgereist waren. Ich wandte mich
an den General Wild von Hohenborn, der damals den
Generalquartiermeister vertrat. Er sagte mir, daß beim
Generalstab wenig Neigung für die serbische Operation
bestehe, da auf den Hauptkriegsschauplätzen jeder Mann
gebraucht würde. Aus diesem Grund habe sich der Ge-
neral von Falkenhayn bisher gegenüber den Wünschen des
Auswärtigen Amts ablehnend verhalten und zunächst nur
58
Keine Öffnung des Donauweges
einmal den Obersten Hentsch zur Prüfung der Verhältnisse
an Ort und Stelle nach dem Eisernen Tor geschickt. Aus
den Darlegungen des Generals von Wild entnahm ich, daß
man in den leitenden militärischen Kreisen die Voraus-
setzungen, unter denen allein die Türkei überhaupt erst aus
einem stark exponierten Angriffspunkt zu einem wertvollen
Verbündeten gemacht werden und außerdem Bulgarien für
den Anschluß an uns gewonnen werden könne, nicht ge-
nügend würdigte. General von Wild versprach mir, meine
Gesichtspunkte alsbald an den General von Falkenhayn zu
telegraphieren. Es blieb aber bei der Ablehnung.
Es war für mich schmerzlich, zu sehen, wie statt dieser so
dringlichen Öffnung des Donauweges, der uns in der Folge-
zeit viel schwere Sorgen erspart und unserer Gesamtaktion
eine so viel wuchtigere Schlagkraft gegeben hätte, die öster-
reichisch-ungarischen Truppen mit starkem Kräfteeinsatz
Serbien am andern Ende anpackten. Von Bosnien aus
rückte gegen Ende November eine starke Armee in Ser-
bien ein und erzielte in heftigen Kämpfen gute Fortschritte.
Am 2. Dezember, dem 66. Jahrestag der Thronbesteigung
des Kaisers Franz Joseph, wurde Belgrad angegriffen und
genommen. Aber bald stießen die österreichisch-ungari-
schen Truppen in dem unwegsamen westserbischen Ge-
birgsland auf große Schwierigkeiten. Schon am 9. Dezem-
ber waren sie gezwungen, den Rückzug unter Preisgabe
vielen Materials und zabJreicher Gefangener anzutreten.
Am 15. Dezember mußte auch Belgrad wieder geräumt
59
Entwicklung des Krieges
werden. Ich kann als Laie die Frage nicht entscheiden,
ob nicht der gleiche Kraftaufwand, der hier nutzlos ver-
pufft wurde, am Negotiner Donaubogen eingesetzt ge-
nügt hätte, um die Verbindung mit Bulgarien und der
Türkei damals schon herzustellen und zu sichern. Zunächst
war durch den österreichischen Mißerfolg diese Möglich-
keit auf absehbare Zeit verschlossen. Erst zehn Monate
später ist die damals schon so dringend empfohlene Ak-
tion in Angriff genommen und durchgeführt worden.
In der Zwischenzeit mußte sich die Türkei, so gut es
ging, behelfen, ohne uns über die Sperrung der Dardanellen
hinaus einen wesentlichen Vorteil bringen zu können.
Ein Versuch Envers, im armenischen Hochland gegen
das russische Kaukasusgebiet vorzustoßen, blieb mangels
genügender rückwärtiger Verbindungen in den Anfängen
stecken und führte schließlich infolge der feindlichen Haltung
der armenischen Bevölkerung zu schweren Rückschlägen.
An dem türkischen Ufer des Persischen Golfs setzten sich
die Engländer mit indischen Truppen fest und bereiteten
eine Operationsbasis für die Eroberung Mesopotamiens vor,
ohne daß die Türken sie aus einer durch keine Eisenbahn
überbrückten Entfernung von mehr als tausend Kilo-
metern ernstlich daran hindern konnten. Ägypten wurde
im Dezember 1914 zum britischen Protektorat erklärt,
nachdem schon vor dem Eintritt des Kriegszustandes
zwischen England und der Türkei die britische Regiemng
die ägyptische Regierung gezwungen hatte, den
60
Türkische Kriegsschauplätze
Kriegszustand gegenüber den Mittelmächten zu pro-
klamieren. Mehr als gelegentliche Patrouillen- und Banden-
vorstöße gegen den Suezkanal, die keinerlei nachhaltigen
Erfolg hatten,, vermochten die Türken im Winter 1914/15
nicht zu unternehmen.
Dagegen machten die Verbündeten vom Februar 1915
an außerordentliche Anstrengungen, die Dardanellen zu
bezwingen und so einen entscheidenden Stoß zu führen,
der sowohl die Türkei ins Herz treffen, wie auch die unter-
brochene Verbindung zwischen Rußland und den West-
mächten wiederherstellen sollte. Letzteres erschien um so
notwendiger, als die Russen gerade damals in der ,, Winter-
schlacht in den Masuren“ eine Niederlage erlitten, in der
ihre Verluste an Menschen und namentlich Material so
gewaltige waren, daß es in Frage gestellt schien, ob die
russische ,, Dampfwalze“ sich ohne ausgiebige Nachhilfe
von außen werde wiederherstellen lassen.
In England waren die Meinungen über die Zweckmäßig-
keit des Dardanellenunternehmens geteilt. Churchill setzte
es gegen allen Widerspruch durch, insbesondere auch
gegen den Widerspruch des Lord John Fisher, des Ersten
Lords der Admiralität.
Am 19. Februar begann eine mächtige Schlachtflotte
die Außenforts der Dardanellen zu bombardieren. Damit
war das Signal zu dem gewaltigsten Ringen gegeben, das
diese seit dem Trojanischen Krieg so viel und heiß um-
strittenen Meerengen je gesehen hatten. Die veralteten und
61
Entwicklung des Krieges
schwachen Forts am Dardanelieneingang wurden nieder-
gelegt, und Anfang März konnte der Versuch, die starken
Innenforts zu bezwingen, ins; Werk gesetzt werden. Der
Versuch scheiterte. Am i8. März büßten die Angreifer
drei Schlachtschiffe ein, zwei englische und ein franzö-
sisches. Man sah ein, daß ohne ein starkes Landungskorps
nicht vorwärts zu kommen sei.
Ein solches mußte erst zusammengestellt und herbei-
geholt werden; denn die wenigen Bataillone Senegalesen
und Zuaven, mit denen man anfänglich auszukommen ge-
hofft hatte, genügten nicht entfernt, und die griechische
Hilfe, die man erwartete, blieb aus. Man griff auf die in
Ägypten versammelten Truppen, hauptsächlich Australier
und Neuseeländer, zurück. Am 25. April 1915 erfolgte die
erste Landung auf der Halbinsel Gallipoh.
Die auf Gallipoli zusammengezogene türkische Armee
leistete den Angreifern, die ihre Forts und Feldbefestigun-
gen Tag und Nacht mit einem Eisenhagel aus Land- und
Schiffsgeschützen aller Kaliber überschütteten, den zähe-
sten Widerstand. Eine unerwartete aber wirksame Unter-
stützung erhielt sie durch deutsche U-Boote, die plötzlich
vor den Dardanellen erschienen, vom 25. bis 27. Mai
die drei britischen Panzerschiffe ,, Triumph“, ,,Majestic“
und „Agamemnon“ torpedierten und durch die beständige
Bedrohung die großen Sclilachtschiffe von der Halbinsel
fernhielten. Aber eine schwere Sorge lastete auf den
braven Verteidigern: der Munitionsmangel. Der tägliche
62
Dardanellenoffensive
Verbrauch war bei aller Sparsamkeit enorm; Rumänien
ließ keine Munition durch; Serbien hielt immer noch den
Negotiner Donaubogen; unsere U-Boote konnten bei ihrem
beschränkten Tonnengehalt höchstens Zünder und ähnliche
Dinge, aber keine Granaten heranschaffen. Der Energie
und Geschicklichkeit eines deutschen Seeoffiziers gelang
es, in Konstantinopel eine behelfsmäßig ausgestattete Muni-
tionsfabrik gewissermaßen aus dem Boden zu stampfen;
aber deren Leistungsfähigkeit konnte nicht entfernt auf
die Höhe des Bedarfs der Gallipoli- Armee gesteigert werden.
Die Telegramme unseres Botschafters verlangten immer
dringender die Öffnung eines Weges für ausreichende
Munitionszufuhr. Wiederholt schien die letzte Stunde ge-
schlagen zu haben. Mehr als einmal war nach heftigen An-
griffen der Vorrat der Artilleriemunition so vollständig er-
schöpft, daß einem erneuten Angriff des Feindes der
Erfolg sicher gewesen wäre. Churchill sprach damals das
Wort: ,,Nur wenige Meilen trennen uns vom Ziel und vom
endgültigen Sieg.“ Er wußte selbst nicht, wie nahe er oft
an Ziel und Sieg war.
Endlich kam die Erlösung. Im Oktober 1915 reichten
wir uns über Serbien hinaus mit Bulgarien die Hände, der
Donauweg war frei, die Dardanellen und Konstantinopel
waren gerettet. Die Entente mußte sich von der Aussichts-
losigkeit weiterer Versuche überzeugen. Schon am 2. No-
vember 1915 nannte der britische Premierminister im Unter-
haus das Dardanellenunternehmen ,,a disappointment
£ntwickluug des Krieges
and failure“. Im Januar 1916 wurden bei Nacht und
Nebel die letzten Reste des Landungskorps eingeschifft.
Die Gräber von vielen Zehntausenden sind, wie die Tumuli
von Troja, das Denkmal des gewaltigen Ringens.
Itali cn
Während uns in der Türkei ein neuer Bundesgenosse
entstand, der das Kräfteverhältnis zwischen uns und der
übermächtigen feindlichen Koalition immerhin zu unsern
Gunsten verbesserte und uns einige Aussicht bot, aus der
eisernen Umklammerung den Weg ins Freie zu gewinnen,
rückte unser italienischer Dreibundgenosse, der mehr als
drei Jahrzehnte hindurch die gute Zeit mit uns geteilt,
sich dabei wohl befunden hatte und zu neuer Blüte er-
starkt war, immer deutlicher von uns nach dem Lager der
Entente hinüber.
Aus den Gründen, die ich im ersten Band dieses Werkes
entwickelt habe, mußten die Mittelmächte für den Ernst-
fall eines Krieges mit einer England einschließenden Koah-
tion damit rechnen, daß Italien sich auch bei einem un-
zweifelhaften Vorliegen des Casus foederis der Verpflichtung
zur Waffenhilfe entziehen würde. Erwarten durfte man
auf Grund der mehr als dreißigjährigen Gemeinschaft eine
unzweideutige und wohlwollende Neutralität. Auch Bis-
marck hatte damit gerechnet, daß im Kriegsfall der Drei-
bundvertrag Italien zum mindesten abhalten werde, sich
64
Italiens Neutralität
ZU unseren Feinden zu schlagen, daß er ferner Österreich-
Ungarn gestatten werde, seine italienische Grenze zu ent-
blößen, und daß er andererseits einige französische Armee-
korps an den Seealpen binden werde.
Italien erklärte in der Tat eine freundschaftliche Neu-
tralität. Aber seine Handlungen standen mit dieser Er-
klärung von Anfang an nicht in Einklang.
Die Mitteilung der Neutralität an Frankreich erfolgte
in Formen, die dort einen Begeisterungssturm erregten
und der französischen Regierung die Gewißheit gaben, daß
sie ohne Gefahr den letzten Mann von der Alpengrenze ab-
ziehen und gegen die deutsche Armee ins Feld stellen
könne. Dagegen holte Italien gegenüber den Mittelmächten
den Artikel 7 des Dreibundvertrags hervor, der ihm für
den Fall einer Machterweiterung Österreich-Ungarns auf
dem Balkan eine Kompensation in Aussicht stellte. In-
dem Italien sich seiner Verpflichtung aus dem Dreibund-
vertrag entzog, machte es aus dem gleichen Vertrag
Rechte geltend. Die Mittelmächte erkannten den Anspruch
Italiens ausdrücklich an für den Fall, daß die im Bündnis-
vertrag vorgesehene Voraussetzung der Erweiterung der
österreichisch-ungarischen Machtsphäre auf dem Balkan,
die nach den Erklärungen des Wiener Kabinetts nicht in
dessen Absicht lag, tatsächlich eintreten sollte. Gebessert
wurde durch diese Anerkennung nichts.
Auch wirtschaftlich ließ Italien uns im Stich. Es
erschwerte und verhinderte die Durchfuhr wichtiger
5 Helfferich, Weltkrieg II 6^
Entwicklung des Krieges
Stapelartikel nach Deutschland, ja sogar den Abtransport
der bei Ausbruch des Krieges in italienischen Häfen mit
Bestimmung für Deutschland bereits lagernden Güter. Die
Aussicht, auf dem Wege über das verbündete, aber in die-
sem Krieg neutral bleibende Italien die gegen uns geplante
Wirtschaftsblockade vereiteln zu können, mußte von vorn-
herein aufgegeben werden.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier zu schildern,
wie eine raffinierte Bearbeitung der italienischen Presse und
Straße das Land für den Verrat an dem alten Bundes-
genossen reif machte. Ich beschränke mich auf die Fest-
stellung des Ergebnisses.
Bereits im Oktober 1914, als der plötzliche Tod San
Giulianos, der noch im Jahre 1912 die Erneuerung des
Dreibundvertrages unterzeichnet hatte, die Neubildung
des italienischen Kabinetts nötig machte, trat die Abkehr
von den Mittelmächten un verhüllt in Erscheinung. Nach-
folger San Giulianos wurde Sidney Sonnino, ein Mann, von
dem ein italienisches Wort sagt, er sei ,,mezzo Ebreo, mezzo
Inglese“ — halb Jude und halb Engländer — und dessen
Parteinahme für England allbekannt war. Am 3. Dezem-
ber sprach Salandra, der das Präsidium auch des neuen
Kabinetts behalten hatte, in der italienischen Kammer die
bedenklichen Worte von der ,, tätigen und wachsamen Neu-
tralität“, der ,, stark gewappneten Neutralität“ und „den
gerechten Ansprüchen“, die Italien zu verwirklichen habe.
Diese Worte deuteten an und verhüllten zu gleicher Zeit,
66
Italiens Abkehr vom Dreibund
was sich in den geheimen diplomatischen Verhandlungen
abspielte : Das neue itahenische Kabinett, umworben
von Versprechungen und bedrückt von Drohungen der
Entente, getrieben von dem sich immer mehr erhitzenden
Nationalismus und Irredentismus der Straße, dabei dem Zug
des eigenen Herzens folgend und fast mehr schiebend als
geschoben, verlangte von Österreich-Ungarn die im Drei-
bundvertrag vorgesehene Kompensation unabhängig von
dem tatsächlichen Eintritt der zu kompensierenden öster-
reichisch-ungarischen Machterweiterung auf dem Balkan,
lediglich auf Grund der damals von der österreichisch-
ungarischen Armee eingeleiteten und dann so unglücklich
verlaufenen neuen Operation gegen Serbien ; es verlangte
die Kompensation nicht, wie es dem Sinn des Vertrages ent-
sprach, auf dem Balkan, sondern es richtete seine begehr-
lichen Augen auf Trient und Triest ; es forderte schließ-
lich nicht eine Kompensation für später, sondern sofortige
Auslieferung der verlangten Gebietsteile.
Eine Gefühlspolitik hätte diese Zumutungen auf jede
Gefahr hin mit Entrüstung zurückgewiesen. Aber Gefühls-
politik verbot sich für die Mittelmächte bei der ernsten
Lage, in der sie sich befanden, von selbst. Es galt, Figuren
zu opfern, um nicht mit Sicherheit das Spiel um die eigene
Existenz zu verlieren.
Die deutsche Regierung schickte den Fürsten Bülow, der
sich zur Verfügung gestellt hatte, als außerordentlichen
Botschafter nach Rom, damit er als bester Kenner der
5*
67
Entwicklung des Krieges
italienischen Personen und Verhältnisse mit seinem ganzen
Ansehen und seiner ganzen diplomatischen Geschicklich-
keit helfe, das Äußerste zu vermeiden.
Es bedurfte eines starken Druckes auf unseren öster-
reichisch-ungarischen Bundesgenossen, um überhaupt die
Grundlage für Verhandlungen zu schaffen und späterhin
den Abbruch infolge der immer maßloser werdenden ita-
lienischen Ansprüche zu verhüten. Noch Ende Januar
1915 sagte der damalige Erzherzog-Thronfolger, der spätere
Kaiser Karl, bei einem Besuch im Großen Hauptquartier
unserem Kaiser, wie schwer es dem Kaiser Franz Joseph
werde, sich vor den italienischen Zumutungen zu beugen.
Kaiser Wilhelm hat mir Anfang Februar gesagt, er könne
es als Souverän und Verbündeter nicht übers Herz bringen,
auf den alten Kaiser in dieser furchtbaren Sache zu
drücken. Er sei dem Baron Burian, der vor kurzem seinen
Antrittsbesuch als neuemannter Minister des Auswärtigen
gemacht habe, dankbar für den Takt, mit dem dieser es
unterlassen habe, ihn auf die Trentinofrage anzusprechen.
Die Aufgabe, Österreich-Ungarn zu den unvermeidlichen
Zugeständnissen zu bewegen, müsse ihm von seinen Staats-
männern abgenommen werden.
Nur mit dem äußersten Widerstreben und bis aufs
äußerste zögernd fand die Wiener Regierung sich bereit,
die italienischen Forderungen zu diskutieren und schließ-
lich in der Hauptsache zuzugestehen. Am 18. Mai 1915
hat der Reichskanzler von Bethmann Hollweg im
68
Die italienischen Forderungen. Kriegserklärung
Reichstag die österreichischen Konzessionen mitgeteilt,
deren Hauptpunkte waren:
1. Der von Italienern bewohnte Teil von Tirol wird an
Italien abgetreten.
2. Ebenso das Westufer des Isonzo, soweit die Bevöl-
kerung rein italienisch ist, sowie die Stadt Gradisca.
3. Triest soll zur freien Kaiserlichen Stadt gemacht
werden, eine den itahenischen Charakter der Stadt sichernde
Stadtverwaltung und eine italienische Universität er-
halten.
4. Die italienische Souveränität über Valona und die
dazugehörige Interessensphäre wird anerkannt.
5. Österreich-Ungarn erklärt seine politische Uninter-
essiertheit an Albanien.
Das Deutsche Reich hatte dem römischen Kabinett gegen-
über im Einverständnis mit der österreichisch-ungarischen
Regierung die volle Garantie für die loyale Ausführung
dieser Anerbietungen übernommen.
Aber Sonnino hatte sich schon im April der Entente
gegenüber gebunden. Der volle Umfang der österreichi-
schen Zugeständnisse wurde dem italienischen Volke und
seiner Vertretung vorenthalten. Die beiden Kammern
des italienischen Parlaments, deren Mehrheit friedens-
freundlich war, ließen sich durch die bis zum Weißglühen
erhitzte Straße einschüchtern und stimmten der Kriegs-
erklärung zu, die von dem italienischen Botschafter am
Pfingstsonntag, dem 23. Mai 1915, in Wien überreicht
69
Entwicklung des Krieges
wurde. ,,Die Erfüllung der nationalen Aspirationen gegen
jede gegenwärtige und , künftige Bedrohung*' wurde in
diesem Dokument als der Kriegsgrund bezeichnet!
Deutschland gegenüber wurde eine Kriegserklärung
nicht abgegeben. Auch Deutschland sah zunächst von
einer Kriegserklärung ab und beschränkte sich auf den
Abbruch der diplomatischen Beziehungen.
Auch der Fürst Bülow hatte den Eintritt Italiens in
den Krieg nicht mehr verhindern können. Ob es ihm ge-
lungen wäre, wenn die Wiener Regierung eine größere
Entschlußfähigkeit betätigt und rascher mit ihren Zu-
geständnissen hervorgetreten wäre, ist nachträglich wohl
kaum zu entscheiden. Persönlich bin ich der Ansicht,
daß die italienische Regierung, nachdem sie einmal den
Weg des Verrats und der Erpressung betreten hatte,
durch das Mißtrauen des Verräters und Erpressers zwangs-
läufig in den Krieg getrieben worden ist, und daß von
jenem Augenblick an keine Diplomatie und kein Ent-
gegenkommen den Krieg noch verhindern konnte. Auch
nach allem, was mir Fürst Bülow über seine römische
Mission erzählt hat, ist dieser Eindruck bei mir bestehen
geblieben.
War so die Sendung des Fürsten Bülow zum Scheitern
verurteilt, so hat der Fürst doch einen in seiner Tragweite
kaum hoch genug zu veranschlagenden Erfolg erzielt:
er hat es verstanden, die Entscheidung hinauszuschieben
bis zu einem Zeitpunkt, in dem die Gestaltung der
70
Fürst Bülows Sendung
militärischen Ereignisse unserem Bundesgenossen die Mög-
lichkeit gab, dem italienischen Angriff eine Verteidigung
entgegenzustellen. Noch in der letzten April woche 1915
hat mir der General von Falkenhayn auf meine Frage
geantwortet, daß weder die Österreicher noch wir in der
Lage seien, einem italienischen Angriff nennenswerte
Kräfte entgegenzu werfen. Die am 2. Mai einsetzende
Schlacht bei Gorlice befreite Österreich-Ungarn von der
russischen Gefahr und machte ihm rechtzeitig die Hände
frei für die Abwehr des italienischen Überfalls.
Von der italienischen Kriegs erklär ung
bis zum Eintritt Bulgariens''in den Krieg
Die Mittelmächte waren am Ende des Jahres 1914, wie
wir gesehen haben, in die Verteidigung gedrängt, in
eine feste Verteidigung im Westen, eine bewegliche im
Osten. Es handelte sich für die Leiter ihrer Operationen
darum, auch in dieser schwierigen Lage die Initiative zu
behalten. Wie die Dinge lagen, konnte sich die Initiative
nur im Osten entfalten.
Dort setzte sie bald nach Beginn des Jahres 1915 auf
den breiten Flügeln der in gewaltigem Bogen von den
Masurischen Seen über das westliche Polen und die
Karpathen bis zur ungarisch-rumänischen Grenze ge-
schwungenen Kampffront ein.
71
Entwicklung des Krieges
An der Karpathenfront gelang es, den Russen Czemo-
witz wieder abzunehmen und sie in schweren Winter-
kämpfen über die verschneiten Pässe zurückzu werfen. Aber
die Kraft der dort kämpfenden österreichisch-ungarischen
Armee und der sie verstärkenden deutschen Truppen reichte
nicht aus, um den Ausgang aus dem Gebirge zu erzwingen
und das belagerte Przemysl zu entsetzen. In der zweiten
Februarhälfte kam die Angriffsbewegung ins Stocken.
Dagegen führte die Umfassungsschlacht, die Hinden-
burg am 7. Februar gegen den rechten Flügel der russi-
schen Front einleitete, zu einem vernichtenden Schlag,
dessen Wucht selbst Tannenberg übertraf. Acht Tage
nach dem Beginn des Ringens war die russische Armee
im Raume von Augustow — Suwalki eingekreist , und
wenige Tage darauf erreichte die ,,Winterschlacht in
Masuren** mit der Vernichtung der russischen Nordarmee
ihren Abschluß.
Ostpreußen war jetzt endgültig von den Russen befreit
und vor neuen Einbrüchen gesichert. Die Offensivkraft
der russischen Gesamtarmee war durch die Zerschmette-
rung ihres rechten Flügels und den Verlust seines gesamten
Kriegsmaterials auf das schwerste erschüttert. Bis in die
Karpathen hinein empfanden die Armeen der Mittelmächte
die Entlastung. Ihre Führer sahen den Weg zu einer um-
fassenden und entscheidenden Offensive geöffnet.
Inzwischen rüttelten an der Westfront Franzosen, Eng-
länder und Belgier mit ihren farbigen Hilfsvölkern
72
Masurenschlacht. Durchbruchsversuch im Westen
unausgesetzt an den deutschen Stellungen, bald in Flandern,
im Artois und in der Picardie, bald an der Aisne und in
der Champagne, bald vor Verdun und in den Vogesen.
Alle diese Vorstöße vermochten das deutsche Stellungs-
system wohl da und dort leicht einzubeulen, aber nicht
zu erschüttern, geschweige denn zu durchbrechen. Ja, die
deutschen Truppen zeigten sich trotz der starken zahlen-
mäßigen Überlegenheit der Feinde zu kräftigen Gegen-
stößen fähig. Als sie gegen die Mitte des Januar 1915 in
wuchtigem Gegenangriff die Franzosen von den Soissons
beherrschenden Höhenstellungen herunterfegten, erzitterte
Paris in Panik, und die Feldherren wie die Staatsmänner
der Entente mußten sich Rechenschaft geben, daß die
Träume vom September ausgeträumt waren, daß nur eine
riesenhafte Anstrengung den deutschen Stellungsring würde
sprengen können.
Eine solche Anstrengung versuchte der Marschall Joffre
um die Mitte des Februar 1915. In breit angelegter Durch-
bruchsschlacht versuchte er die deutschen Linien in der
Champagne zu zerreißen, zum mindesten aber dem in
der Masurenschlacht schwer bedrängten russischen Ver-
bündeten eine Entlastung zu verschaffen. Weder das
weitere, noch auch das engere Ziel wurde erreicht. Nach
drei Wochen fast ununterbrochenen Ansturmes mußte das
Unternehmen aufgegeben werden.
In den folgenden Monaten lag der Schwerpunkt der
Kämpfe bei dem nordwestlichen Frontteil. Am 23. April
73
Entwicklung des Krieges
begannen unsere Truppen einen umfassenden Angriff auf
die britischen Stellungen in der Gegend von Ypern. Jetzt,
n der besser gewordenen Jahreszeit, wollte unsere Heeres-
leitung noch einmal den im Spätherbst mißlungenen Ver-
such machen, hier die feindliche Stellung aus den Angeln
zu heben. Die Anfangserfolge waren vielversprechend.
Es schien, als ob es gelingen sollte, die Ypernstellung in
eine eiserne Zange zu nehmen. Aber auch diesmal blieb
dem Heldenmut unserer Truppen der entscheidende Er-
folg versagt. Dagegen setzten vom lo. Mai an Franzosen
und Engländer mit schweren Angriffen gegen unsere
Stellungen auf und an der Lorettohöhe ein. Abermals
und dringender denn je brauchte das russische Heer
eine Entlastung.
Denn am 2. Mai hatte mit der Schlacht bei Gorlice die
gewaltige Aktion der verbündeten Armeen eingesetzt,
für die die Karpathenkämpfe im Januar und Februar
und auch die Winterschlacht in Masuren, trotz ihrer
gewaltigen Dimensionen, nur eigentlich die Einleitung ge-
wesen waren. Die russischen Linien in Westgalizien von
der ungarischen Grenze bis zur Mündung des Dunajec
in die Weichsel wurden im ersten Anprall an zahlreichen
Stellen durchbrochen. Die westgalizische Front war zer-
schmettert, die südlich anschließende Karpathenfront kam
ins Weichen, ebenso die im Weichselbogen stehenden
russischen Linien. Vierzehn Tage nach Beginn der Offen-
sive war der San erreicht und an mehreren Stellen
74
Befreiung Galiziens und Eroberung Polens
Überschritten. Am 3. Juni wurde das nach langer Be-
lagerung am 22. März gefallene Przemysl wiedererobert.
Am 22. Juni wurde Lemberg den Russen entrissen.
Im Juli rückte der Schwerpunkt des Ringens nach
Polen. Westlich der Weichsel wie zwischen Weichsel und
Bug drängten unsere siegreichen Armeen gegen Norden.
Gleichzeitig begann unsere Nordarmee, die inzwischen mit
schwachen detachierten Kräften den größten Teil von
Kurland erobert hatte, einen zermalmenden Druck von
der Südgrenze Ostpreußens gegen die Narewlinie. Im
August war die Frucht reif. Fast gleichzeitig fielen am
4. und 5. August Iwangorod im Süden und Warschau im
Norden. Am 19. August folgte Kowno, am 20. Nowo-
Georgiewsk mit einer unerhörten Beute an Artillerie und son-
stigem Material. Am 26. August war Brest-Litowsk, der ge-
waltige Waffenplatz am Bug, in unserer Hand. Drei Wochen
später waren unsere Truppen 180 Kilometer weiter öst-
lich in Pinsk angelangt ; das russische Heer war vor ihnen
in den Prip jetsümpfen verschwunden. Die wolhynischen
Festungen Luck und Dubno wurden eine leichte Beute.
Im Norden wurde am 3. September das stark befestigte
Grodno gestürmt. Am 18. September fiel Wilna. Aber
leider blieb einem großartigen Umfassungsversuch Hinden-
burgs in Richtung auf Minsk der Erfolg versagt. Ende
September 1915 hielten wir in einer Linie, die aus der
Gegend Dünaburg in fast genau südlicher Richtung über
Pinsk nach der Ostgrenze Galiziens führte. Hier war die
75
Entwicklung des Krieges
große, Anfang Mai eingeleitete Operation zum Abschluß
gekommen.
Gewaltiges war in den fünf Monaten erreicht worden.
Das Anfang Mai bis auf einen kleinen Rest von den Russen
besetzte Galizien und der östliche Rand von Ostpreußen
waren befreit, ganz Polen, Litauen und Kurland, dazu
große Teile von Wolhynien und Weißrußland mit ihren
starken Festungen waren erobert. Die große russische
Armee, die größte, die wohl je die Welt gesehen, war ge-
schlagen und auseinandergesprengt, große Teile von ihr
waren vollkommen vernichtet. Mehr als eine Million Ge-
fangene waren in unseren Händen geblieben. Die Ver-
luste der Russen an Kriegsmaterial waren ungeheuer.
Und doch war Rußland nicht bezwaingen. Seine Armee
als Ganzes war zwar stark geschwächt, aber nicht ver-
nichtet ; sein Kriegswille war nicht gebrochen. Hinter der
langgestreckten neuen Front begann es, aus seinem fast un-
erschöpflichen Menschenreservoir und mit der finanziellen
und industriellen Hilfe seiner Verbündeten wie der neutralen
Amerikaner sich ein neues Kriegswerkzeug zu formen,
das es später bei den weiteren Entscheidungen mit Wucht
in die Wagschale warf.
Während wir mit klopfendem Herzen dem Siegeslauf
unserer Armeen folgten, stürmten schwere politische
Sorgen auf uns ein.
76
Rumänien und Bulgarien
Die Entente war nicht imstande, den wuchtigen Schlag,
den wir militärisch gegen Rußland führten, durch einen
Gegenschlag zu parieren. Die Loretto-Offensive brachte
ihr zwar einigen nicht unwichtigen Geländegewinn; aber
sie vermochte ebensowenig, wie im Februar und März die
Champagne-Offensive, unsere Stellungen zu durchbrechen
oder uns zu zwingen, die russische Armee freizugeben.
Dafür suchte die Entente Entlastung auf diplomatischem
Gebiete. Rumänien und Bulgarien wurden gleichzeitig in
Bearbeitung genommen. Das Ziel war, einen neuen Balkan-
bund herzustellen, die Türkei endgültig von uns zu trennen,
Konstantinopel und die Dardanellen durch eine vom Lande
her mit der Ententeflotte und dem Landungskorps von
Gallipoli zusammenwirkende Armee zu forcieren und
gleichzeitig vom Osten und Südosten her einen umfassenden
Angriff der vereinigten Balkanstaaten auf Österreich-
Ungarn anzusetzen, der unserer Offensive gegen Rußland
ein Ende setzen sollte. Zusammen mit dem vom Süden und
Südosten zu führenden Einmarsch der italienischen Ar-
meen sollte diese Aktion den Zusammenbruch der Donau-
monarchie und das Ende des Krieges bringen. Mit allen
Mitteln wurde darauf hingearbeitet, die beiden Balkan-
staaten diesem Plane dienstbar zu machen. Geld wurde
ebensowenig gespart wie Versprechungen.
Unsere Gegenaktion war besonders schwierig in Ru-
mänien, wo mit dem Tode des Königs Carol die letzte
Stütze der Mittelmächte gefallen war und der Hof, die
77
Entwicklung des Krieges
Regierung, die Armee und das Volk aus der Geneigtheit,
im geeigneten Zeitpunkt mit der Entente zu gehen, über-
haupt keinen Hehl mehr machten. Den Versprechungen
der Entente, die den Rumänen Siebenbürgen und Ungarn
bis zur Theiß in Aussicht stellte, vermochten wir nichts
annähernd Gleichwertiges gegenüberzustellen. Auch wenn
es gelang, die ungarische Regierung zu erheblichen Zu-
geständnissen an die ungarländischen Rumänen zu be-
wegen, auch wenn man die Rumänen auf Bessarabien
himvies, selbst wenn man ihnen die Bukowina anbot,
was wollte dies besagen gegenüber der von der Entente
eröffneten Aussicht auf ein im Umfang und der Bevölke-
rung verdoppeltes Großrumänien! Zwar feüschte man um
Kleinigkeiten, so um das Banat, auf das auch Serbien An-
sprüche erhob; aber diese Differenzen waren nicht das
retardierende Element in den Entschlüssen der Bratianu
und Take Jonescu, sondern einzig und allein die mangelnde
Sicherheit des unbedingten Erfolges. Man wollte einer
starken russischen Hilfe für die Moldau, einer Deckung
gegen Bulgarien für die Walachei vergewissert sein, ehe
man sich entschloß, einzugreifen. Demgegenüber gab es für
die Mittelmächte nur ein Mittel, Rumänien draußen zuhalten
oder gar es auf ihre Seite zu bringen: wir mußten als die
Stärkeren erscheinen und in der Lage sein, auf Rumänien
einen unmittelbaren mihtärischen Druck auszuüben.
Auch in Bulgarien lagen die Verhältnisse für unsere
Diplomatie nicht leicht. Zwar war der Haß gegen Serbien
78
Diplomatisches Ringen auf dem Balkan
und Rumänien groß. Serbien hatte sich im zweiten
Balkankrieg den in den ursprünglichen Abmachungen Bul-
garien zuerkannten Hauptteil von Mazedonien angeeignet.
Die bulgarischen Mazedonier aber waren seit langem die
eifrigsten und tätigsten bulgarischen Nationalisten und
spielten in Sofia eine große und einflußreiche Rolle. Die
Rumänen hatten durch ihre Intervention das Schicksal
Bulgariens im zweiten Balkankrieg entschieden und den
Bulgaren die südliche Dobrudscha abgenommen. Aber auch
mit Griechenland, das die Mittelmächte neutral zu halten
wünschten und bisher mit dem König und gegen Venizelos
neutral gehalten hatten, und mit der Türkei, die an unserer
Seite kämpfte, hatten die Bulgaren Rechnungen zu be-
gleichen. Griechenland hatte sich nicht nur in dem auch
von den Bulgaren begehrten Saloniki festgesetzt, sondern
den Bulgaren im zweiten Balkankriege die wertvollen
Gebiete von Serres, Drama und Cavalla abgenommen.
Die Türkei, die nach dem ersten Balkankrieg auf die Linie
Enos-Midia zurückgedrängt war, hatte den zweiten Balkan-
krieg benutzt, um sich Adrianopel sowie einen bis an die
Maritza heran- und über die Maritza hinausreichenden Ge-
ländestreifen wiederzuholen. Auch das war eine noch nicht
vernarbte Wunde. Die Entente bot den Bulgaren Maze-
donien und Thrazien an, war aber hinsichtlich Mazedoniens
durch serbischen und griechischen Widerstand, hinsichtlich
einer allzu starken Annäherung an Konstantinopel durch
russische Empfindlichkeiten behindert.
79
Entwicklung des Krieges
Spiel und Gegenspiel auf dem Balkan war in vollem
Gange und schien der Entscheidung zuzudrängen, als
Italien am Pfingstsonntag 1915 an Österreich-Ungarn den
Krieg erklärte. Aus zuverlässiger Quelle hatten wir vorher
Nachrichten über Abmachungen zwischen Italien und
Rumänien erhalten, nach denen die beiden Staaten sich
dahin verständigt hatten, gemeinschaftlich einzugreifen.
Aber schon in den Wochen vor der italienischen Kriegs-
erklärung war es klar, daß Rumänien noch zögerte. Es
war wohl in erster Linie unser Sieg von Gorlice und seine
Auswirkung, die Rumänien noch zur Zurückhaltung ver-
anlaß ten; aber die Lage Rumänien gegenüber blieb
prekär.
Die Bulgaren zeigten sich zurückhaltend und warteten
offenbar auf Anerbietungen, die wir ihnen in Rücksicht
auf die Türkei nicht machen konnten. Auch die auf
Kosten Griechenlands gehenden Wünsche konnten wir
nicht erfüllen. In Athen kämpfte König Konstantin mit
Venizelos einen schweren Kampf um die griechische Neu-
tralität. Hätten wir Bulgarien 38.mals die griechischen
Provinzen an der Bucht von Cavalla versprochen, so
hätten wir uns die bulgarische Unterstützung mit der
Kriegserklärung Griechenlands erkauft. Wir drückten auf
die Türkei, die Entente drückte auf Serbien und Griechen-
land, um die Voraussetzungen für ein Gewinnen Bul-
gariens zu schaffen. Oft schien die Entscheidung auf des
Messers Schneide zu stehen. Aber auch hinsichtlich
80
Diplomatisches Ringen auf dem Balkan
Bulgariens hatte ich den Eindruck, daß den Ausschlag nur
ausreichende militärische Garantien für den Erfolg seines
Losschlagens geben würden. Nur wenn wir uns fähig und
bereit zeigten, sofort mit der bulgarischen Armee wirksam
zu kooperieren, konnten wir hoffen, den unerträglich wer-
denden Schwebezustand zu unsem Gunsten zu beendigen.
Die immer dringender werdenden Hilferufe von den
Dardanellen erinnerten fast täglich an das, was auf dem
Spiele stand.
Nach der Landung der Entente truppen auf Gallipoh
war eine Aktion gegen den Negotiner Kreis erneut in
Erwägung gezogen worden. Angesichts des guten Ver-
laufs der Offensive in Westgalizien war die Oberste Heeres-
leitung mehr als bisher geneigt, die Aktion in Angriff zu
nehmen. Die Kriegserklärung Italiens an Österreich
machte den Plan abermals zunichte; denn jetzt mußte
jeder anderswo entbehrliche Mann zur Abwehr des italie-
nischen Angriffs herangezogen werden. Auch diese Aus-
sicht auf eine Lösung mußte also vertagt werden.
Wenn die Lage überhaupt noch eine Verschärfung
erfahren konnte, so durch die ernste Spannung unseres
Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten infolge der
Torpedierung der „Lusitania**. Das Schiff war am 7. Mai ver-
senkt worden; am 17. Mai, sechs Tage vor der italienischen
Kriegserklärung, übergab Herr Gerard die Note, die im
ernstesten Ton Genugtuung und Sicherheiten gegen die
Wiederholung eines solchen Falles verlangte. Seit jenen
6 Helfferich, Weltkrieg II
81
Entwicklung des Krieges
Tagen lag der schwere Schatten des Bruchs mit Amerika
über unserm Schicksal.
Den Abend des 22. Mai, den Vorabend des Pfingstfestes,
verbrachte ich bis spät in die Nacht hinein beim Kanzler.
Wir waren allein auf dem großen Gartenbalkon. Eine^
wundervolle Mondnacht lag über dem Park. Der Kanzler
schloß sich auf und sprach über seine Sorgen. Vom Fürsten
Bülow waren Telegramme aus Rom gekommen; der Fürst
hatte noch eine letzte, ganz schwache Hoffnung, aber das
Gefühl sagte uns, daß der italienische Krieg unabwendbar
sei. Wir konnten jetzt hoffen, daß es gelingen werde, den
italienischen Angriff am Isonzo und an der Alpenfront auf-
zuhalten. Aber die Rückwirkung auf den Balkan? Wie
lange würde in Rumänien das Schwanken, das seit unserer
Gorlice-Offensive bemerkbar war, Vorhalten? Wie lange
noch würden die Türken ohne ausgiebige Munitionszufuhr
die Dardanellen halten können? Welche Mittel gab es,
Rumänien unter Druck zu halten und die Verbindung mit
der Türkei herzustellen? Unser Angriff in Galizien hatte
den San und damit einen gewissen Abschluß erreicht.
Weiter östlich hatten die österreichisch-ungarischen Trup-
pen überall die Karpathenausgänge erkämpft und standen
in der Bukowina, am Pruth und an der rumänischen Grenze.
Die Frage lag nahe, ob jetzt nicht die Möglichkeit gegeben
sei, einen Teil unserer Ostarmeen heranzuziehen, um die Lage
auf dem Balkan in unserm Sinne zu entscheiden. Der Kanzler
sagte mir, daß General Falkenhayn eine Erneuerung der
82
Notwendigkeit der Öffnung des Donauweges
Offensive in Galizien vorbereite und dafür seine Truppen
brauche. Ich fragte nach dem strategischen und poli-
tischen Ziel; die Säuberung Ostgaliziens und die Befreiung
Lembergs ständen nach meiner Ansicht politisch und
schließlich auch militärisch doch weit hinter einer end-
gültigen Eingliederung des Balkans in unser politisch-
strategisches System zurück. Der Kanzler entgegnete,
nach Falkenhayns Ansicht sei die russische Armee furcht-
bar mitgenommen; der jetzt beginnende neue Angriff solle
das Werk vollenden; beim Durchhalten dieses Programms
hoffe die Oberste Heeresleitung in wenigen Wochen die
russische Offensivkraft, zum mindesten für den Rest des
Sommers, endgültig zu brechen ; es sei für ihn, den Kanzler,
auch wenn er weniger zuversichtlich denke als Falkenhayn,
sehr schwer, dem siegreichen Feldherrn in den Arm zu
fallen.
Am nächsten Vormittag sprach ich mit dem Unter-
staatssekretär Zimmermann und einigen meiner Freunde
vom Auswärtigen Amt über dieselbe Frage. Die italie-
nische Kriegserklärung war inzwischen sicher geworden,
und der Kanzler hatte sich entschlossen, am nächsten
Abend mit Herrn von Jagow nach dem Großen Haupt-
quartier zu reisen. Mir schien von dem richtigen Entschluß
in dieser kritischen Lage für den Ausgang des ganzen Krie-
ges so viel abzuhängen, daß ich für meine Person nichts
versäumen wollte. Ich übergab deshalb dem Kanzler vor
seiner Abreise die nachstehende Niederschrift:
6*
83
Entwicklung des Krieges
„Unsere Feinde werden, nachdem die Verführung
Itahens zum Treubruch gelungen ist, alles daransetzen,
um die Balkanstaaten, insbesondere Rumänien und
Bulgarien, zum Eingreifen gegen uns zu bringen und da-
durch gleichzeitig der Türkei das Ausharren an unserer
Seite unmöglich zu machen. Das Gelingen dieser Be-
mühungen würde sofort die militärische Aufgabe aufs
äußerste erschweren : das österreichisch-ungarische
Staatsgebiet wäre nicht nur im Norden gegen die Russen
und im Südwesten gegen die Italiener, sondern im weiten
Bogen auch im Osten und Süden gegen die neuen
Balkanarmeen zu verteidigen, während gleichzeitig die
Öffnung der Dardanellen gestatten würde, den Russen
und Rumänen Kriegsmaterial und eventuell Hilfstruppen
in unbeschränkten Mengen zuzuführen.
„Es ist also nicht nur ein politisches, sondern auch
ein militärisches Lebensinteresse, daß der Übertritt
Rumäniens und Bulgariens in das Lager unserer Feinde
verhindert wird.
„Ein solches Verhindern ist heute durch das Mittel
bloßer Versprechungen oder auch sofortiger effektiver Zu-
geständnisse nicht mehr möglich. Versprechungen sind
nach dem Treubruche Italiens noch stärker im Kurs
gesunken, als sie es bereits waren ; außerdem sind unsere
Gegner in der Lage, aUe unsere und Österreich-Ungarns
Versprechungen zu übertrumpfen. Sofortige effektive
Zugeständnisse könnten nur gegenüber Rumänien in
84
Expose über die Lage auf dem Balkan
Betracht kommen (Bukowina, Siebenbürgen) ; aber der
Appetit der Rumänen geht heute bereits so weit, daß
er nicht befriedigt werden kann ; irgendwelche Anerbie-
tungen würden also nur eine Einladung zur Chantage
sein und als Zeichen der Schwäche aufgefaßt werden
und so die zu vermeidende Entwicklung vielleicht noch
beschleunigen.
,, Sowohl Rumänien wie auch Bulgarien werden sich
unter diesen Umständen in ihrem Verhalten nur durch
positive Ereignisse und Handlungen bestimmen lassen.
Dabei wird das Verhalten der beiden Balkanstaaten sich
gegenseitig beeinflussen: ein Vorgehen Rumäniens gegen
uns wird der russenfreundlichen Partei in Sofia Oberwasser
geben, während umgekehrt die Furcht vor einem Vor-
gehen Bulgariens an unserer Seite die Russenfreund-
schaft und Kriegslust Rumäniens dämpfen würde.
„Frage: Was hat zu geschehen:
1. um Rumänien von dem Eingreifen uns gegenüber
zurückzuhalten ?
2. um Bulgarien zu einem Eingreifen an unserer
Seite zu veranlassen?
„ad I. Bei dem nahezu sicheren Versagen aller Ver-
sprechungen und Zugeständnisse bleibt uns — außer
der unter 2. zu besprechenden Sicherung über Bul-
garien — nur der militärische Druck; wenn wir in der
Lage sind, den Rumänen zu sagen : sobald ihr euch rührt,
schlagen wir zu, ist die Situation gewonnen. Erscheinen
85
Entwicklung des Krieges
wir den Rumänen gegenüber als die Stärkeren und For-
dernden statt als die Schwachen und Bittenden, so wird
der Mut der Rumähen sich verflüchtigen; und selbst,
wenn wir dann zum Losschlagen gegen Rumänien ge-
zwungen sein sollten, können wir als Angreifer mit
großer Sicherheit auf ein Mitgehen Bulgariens rechnen,
während wir als schwache Angegriffene auch Bulgarien
auf der andern Seite sehen würden.
,,Die Frage ad i kommt also darauf hinaus : Können
unsere Armeen in Galizien und der Bukowina jetzt schon
eine den sofortigen Einmarsch in die Moldau gestattende
Gruppierung erfahren?
,,ad 2: Auch Bulgarien gegenüber wird mit Ver-
sprechungen allein (Mazedonien, Dobrudscha usw.)
nichts auszurichten sein. Immerhin kann Bulgarien
vielleicht stark beeindruckt werden durch den Hinweis
auf die großen, vom Dreiverband den Rumänen ge-
machten Versprechungen (Ungarn bis zur Theiß), wo-
durch Rumänien endgültig die Vorherrschaft auf dem
Balkan gewinnen würde. Sichere Wirkung ist aber auch
bei den Bulgaren nur durch Handlungen zu erreichen.
In erster Linie steht hier der Angriff auf den Negotiner
Donauzipfel; hier ist die geographische Entfernung am
kürzesten, und ein Losschlagen gegen Serbien würde
den Bulgaren wegen Mazedonien eher liegen als ein
Losschlagen gegen Rumänien im Falle unseres Einrückens
in der Moldau. Eine Aktion gegen den Negotiner Zipfel
86
Expose über die Lage auf dem Balkan
v^ürde freilich die Bulgaren nur dann mit Sicherheit
zum Losschlagen an unsere Seite bringen, wenn unsere
Aktion raschen Erfolg aufweisen oder wenigstens von
vornherein durch das Einsetzen ausreichend starker
Kräfte den Erfolg sichern würde.
,,Als wirksamstes Mittel, eine gegen uns gerichtete
Balkankombination im Keim zu zerstören und Bul-
garien zum Eingreifen an unserer Seite zu veranlassen,
erscheint also nach wie vor eine ausreichend starke
Aktion gegen den Negotiner Zipfel.
,,An zweiter Stelle steht eine Gruppierung unserer
Truppen in Galizien und der Bukowina, die in der
kürzesten Zeit uns gestatten würde, einen starken Druck
auf Rumänien auszuüben, nicht nur nach der negativen
Seite des Stillhaltens hin, sondern auch nach der posi-
tiven Seite des Durchlassens von Munition usw. nach
Bulgarien und der Türkei.
,, Geschieht nicht in der allernächsten Zeit entw’eder
das eine oder das andere, dann ist zu befürchten, daß
trotz des schönsten Fortgangs unserer Operationen in
Galizien der ganze Balkan gegen uns geht und die Türkei
zur Kapitulation gezwungen wird. Dann wären die
Früchte des galizischen Sieges verloren und alle die
großen Opfer umsonst gebracht.
,,Es ist also zwingend notwendig, auf das gewissen-
hafteste und sorgfältigste zu überlegen, wie der Fort-
gang der galizischen Operation — und natürlich auch
87
Entwicklung des Krieges
die Verteidigung gegen den italienischen Angriff — mit
den unter i und 2 angeführten Aktionen in Einklang
gebracht werden kann. Diese zwingende Notwendig-
keit ist nicht nur eine politische; denn die politischen
Entwicklungen von heute setzen sich morgen in mili-
tärische Zwangslagen um*.''
Der Kanzler schloß sich meiner Auffassung an. Im
Großen Hauptquartier jedoch stellte man die Ausnutzung
des galizischen Sieges bis zur äußersten Möglichkeit über
alle andern Erwägungen.
Während unsere Armeen in Galizien neue Siege errangen,
Lemberg befreiten und weiter gegen Osten vordrangen,
blieb die Balkanlage im Schwebezustand. Bulgarien suchte
sich mit der Türkei direkt zu verständigen; aber die Son-
dierung, ob die Türkei bereit sei, den Bulgaren Adrianopel
und die Grenze Enos-Midia zuzugestehen, stieß in Kon-
stantinopel, trotz der bedrängten Lage der Dardanellen,
auf entrüstete Ablehnung. Insbesondere Enver Pascha,
der Wiedereroberer Adrianopels, konnte sich mit der
Herausgabe dieser Festung nicht abfinden. Djavid Bey,
mit dem ich in jener Zeit über die Deckung des türkischen
* Auch Graf Czemin, damals noch österreichisch-ungarischer Gesandter in Bukarest,
sah in jener Zeit eine Aussicht, Rumänien zu gewinnen. In einer Rede, die er am 11. Dezember
1918 in Wien gehalten hat, führte er aus, daß Majorescu, der Führer der rumänischen Kon-
servativen, damals nicht abgeneigt gewesen sei, sich auf unsere Seite zu stellen; die rumä-
nische Armee, die nach Bessarabien vorgestoßen wäre, wäre weit in den Rücken der zurück-
flutenden russischen Armee gekommen imd hätte nach menschlicher Berechmmg in Rußland
ein Debacle herbeiführen müssen. Damals, wo es noch kein „Amerika" am Horizont gab,
hätte man nach einem solchen Erfolg vielleicht den Krieg beendigen können. Allerdings hätten
damals die Rumänen als Preis für ihre Kooperation eine ungarische Grenzrektifikation ver-
langt, die von Ungarn glatt refOsiert worden sei.
88
Feldzug in Polen
Geldbedarfs verhandelte, sagte mir am i. Juli, die Heraus-
gabe von Adrianopel sei gänzlich ausgeschlossen, deutete
aber an, daß die Maritza als Grenze möglich sei. Das war
eine Grundlage für die diplomatische Verständigung; aber
gleichzeitig wurde auch immer deutlicher, daß ohne eine
militärische Aktion unsererseits auf dem Balkan Bulgarien
nicht zum Marschieren zu bringen war.
Wieder trat in jener Zeit eine Pause auf dem galizischen
Kriegstheater ein. Die Offensive nach Osten hatte sich
ausgewirkt. ,,Die Lage ist unverändert“ lautete fast Tag
für Tag der Heeresbericht über den südöstlichen Kriegs-
schauplatz. Aber auch jetzt konnte sich die Oberste
Heeresleitung nicht entschließen, sich dem Balkan zu-
zuwenden. Das große Kesseltreiben gegen Polen von
Norden und Süden her war bereits in Vorbereitung.
Falkenhayn vertröstete den Kanzler auf die Beendigung
dieser Aktion.
p: j Der glänzende Feldzug in Polen füllte den Juli und
August. Mit Hängen und Würgen' hielten die Türken die
Dardanellen, während in Sofia der Herzog Johann Albrecht
von Mecklenburg, unterstützt von dem Gesandten Grafen
Oberndorff und Herrn von Rosenberg vom Auswärtigen
Amt, mit König Ferdinand und seiner Regierung, im Großen
Hauptquartier der General von Falkenhayn mit den bul-
garischen Militärs über die politischen und mihtärischen
Bedingungen des Zusammenschlusses verhandelten, nach-
dem unter unserer Mitwirkung eine Einigung zwischen
89
Entwicklung des Krieges
Bulgarien und der Türkei zustandegekommen war, die
den Türken Adrianopel beließ, den Bulgaren aber die
Maritza mit einem Geländestreifen auf dem östlichen Ufer
zurückgab.
Den Bulgaren wurde ferner das bulgarische Mazedonien
sowie das östliche Serbien bis zur Morawa zugesagt. Ihre
Ansprüche auf das griechische Gebiet von Drama, Serres
und Cavalla sollten nur dann praktisch werden, wenn
Griechenland von seiner Neutrahtät zu Kriegshandlungen
gegen unsem Verband übergehen soUte. Dafür behielten
sich die Türken vor, im Falle einer bulgarischen Gebiets-
erweiterung auf Kosten Griechenlands die jetzt von
ihnen abzutretenden Gebiete von Bulgarien zurückzu-
verlangen.
Die Entente hat nicht vermocht, so lange wir ihr auch
notgedrungen Zeit lassen mußten und so sehr sie alle
diplomatischen Künste spielen ließ, den Anschluß Bul-
gariens an die Mittelmächte zu verhindern. Zwar war der
griechische Ministerpräsident bereit, der Entente über den
Kopf seines Königs hinaus einen großen Trumpf in die
Hand zu geben, indem er zugunsten Bulgariens auf Serres,
Drama und Cavalla gegen Entschädigung durch Smyrna
und andere von Griechen bevölkerte Teile Kleinasiens ver-
zichten wollte. Aber Serbien sperrte sich gegen die Aus-
dehnung der von den Westmächten in Mazedonien ge-
wünschten Konzessionen; und den großen Trumpf, Kon-
stantinopel, der bei den Bulgaren sicher gestochen hätte,
90
Anschluß Bulgariens an die Mittelmächte
wagte man in Rücksicht auf Rußland nicht auszuspielen.
So gewannen die Mittelmächte das Übergewicht.
Am 7. September konnten in Sofia alle Verträge unter-
zeichnet werden. Die Vorbereitungen für die gemeinschaft-
liche Aktion gegen Serbien wurden sofort eingeleitet.
Vom Eingreifen Bulgariens bis zum
rumänischen Krieg
Am 20. September donnerten zum ersten Male wieder
seit langer Zeit an der serbischen Donau die Kanonen.
Belgrad und Semendria wurden aus österreichischen und
deutschen Geschützen beschossen. Es war nur ein Auf-
takt. Der wirkliche Angriff begann erst am 6. Oktober.
Vorher aber machte die Entente einen heroischen Ver-
such, auf der Westfront die Entscheidung des Krieges zu
erzwingen.
Am 25. September 1915 meldete der deutsche Heeres-
bericht :
,,Auf der ganzen Front vom Meere bis zu den Vogesen
nahm das feindliche Feuer an Stärke zu und steigerte sich
östlich von Ypern zwischen dem Kanal von La Bassöe
und Arras sowie in der Champagne von Prosnes bis zu den
Argonnen zu äußerster Heftigkeit. Die nach der zum
Teil 15 ständigen stärksten Feuer Vorbereitung zu er-
wartenden Angriffe haben begonnen.“
91
Entwicklung des Krieges
Was mit dieser Generaloffensive erreicht werden sollte,
besagte ein Armeebefehl des Generals Joffre vom 14. Sep-
tember, in dem es hieß:
„Auf dem französischen Kriegsschauplatz zum Angriff
zu schreiten, ist für uns eine Notwendigkeit, um die Deut-
schen aus Frankreich zu verjagen. Wir werden sowohJ
unsere seit zwölf Monaten unterjochten Volksgenossen
befreien, als auch dem Feinde den wertvollen Besitz
unserer besetzten Gebiete entreißen. Außerdem wird ein
glänzender Sieg über die Deutschen die neutralen Völker
.bestimmen, sich zu unsem Gunsten zu entscheiden, und
den Feind zwingen, sein Vorgehen gegen ' die -' russische
Armee zu verlangsamen ... Der gegenwärtige Zeitpunkt
ist für einen allgemeinen Angriff besonders ' günstig.
Einerseits haben die Kitchener-Armeen ihre Landung in
Frankreich beendet, und andererseits haben die Deutschen
noch im letzten Monat von unserer Front Kräfte weg-
gezogen, um sie an der russischen Front zu ver-
wenden. Die Deutschen haben nur sehr dürftige Re-
serven hinter der dünnen Linie ihrer Grabenstellung . . .
Es wird sich für alle Tnippen, die angreifen, nicht nur
darum handeln, die ersten feindlichen Gräben wegzu-
nehmen, sondern ohne Ruhe Tag und Nacht durchzu-
stoßen über die zweite und dritte Linie bis in das freie
Gelände. Die ganze Kavallerie wird an diesen Angriffen
teilnehmen, um den Erfolg mit weitem Abstand vor der
Infanterie auszunutzen.“
92
Entente- Offensive. Landung in Saloniki
Südwestlich von Lille, in der Gegend von Loos, erzielten
die Engländer, in der Champagne die Franzosen an-
sehnliche Anfangserfolge. In der Champagne : ^verloren
wir die ganzen ersten Stellungen des III. Armeekorps,
viele Gefangene und viele Geschütze. Aber weder im
Artois noch in der Champagne erreichten die Feinde
den Durchbruch. Es gelang uns, ausreichende Reserven
heranzuführen und die Einbruchsstellen abzuriegeln. Die
schweren Angriffe dauerten mit kurzen Unterbrechungen
bis in die zweite Oktoberhälfte hinein, ohne unsern Fein-
den mehr zu bringen als unbedeutende lokale Gelände-
gewinne.
Während Engländer, Belgier und Franzosen in diesen
gewaltigen Anstürmen ihre Kräfte nutzlos erschöpften,
kamen auf dem Balkan die Ereignisse ins Rollen.
Bulgarien mobilisierte. Rußland, unterstützt von Frank-
reich, stellte am 4. Oktober ein Ultimatum. Am 7. Ok-
tober war der Abbruch der diplomatischen Beziehungen
zwischen Bulgarien und den Ententemächten vollzogen.
In den Tagen des letzten und stärksten Druckes auf
Bulgarien bemächtigte sich die Entente des Hafens von
Saloniki als Operationsbasis. Am 5. Oktober landete sie
dort Truppen, angeblich auf Grund einer Aufforderung des
Ministerpräsidenten Venizelos. Am gleichen Tage gab
Venizelos seine Entlassung, nachdem ihm der für die
unbedingte Aufrechterhaltung der Neutralität eintretende
König erklärt hatte, „er könne der Politik seines Kabinetts
93
Entwicklung des Krieges
nicht bis zu Ende folgen“. Die Besetzung von Saloniki
wurde von der Entente durchgeführt und aufrecht-
erhalten gegen den formellen Protest der griechischen
Regierung.
Am 6. Oktober überschritten deutsche und öster-
reichisch-ungarische Truppen an verschiedenen Stellen
die serbischen Grenzflüsse Drina, Sawe und Donau. Zwei
Tage später wurde Belgrad genommen. Semendria folgte.
Der Vormarsch ins Innere Serbiens begann. Am 15. Ok-
tober griff Bulgarien ein. Zehn Tage später war an der
Donau die Verbindung zwischen den Truppen der Mittel-
mächte und Bulgariens hergestellt ; der Donau weg war end-
lich frei. Am 6. November fiel die serbische Festung
Nisch; die Eroberung des alten Serbien war damit abge-
schlossen. Vier Wochen darauf wurde Monastir genommen.
Mitte Dezember war Alt- und Neuserbien in den Händen
der deutschen, österreichischen und bulgarischen Truppen.
Mitte Januar 1916 besetzten die Österreicher die monte-
negrinische Hauptstadt. Wenige Tage später streckte
Montenegro die Waffen. Der Abzug der Ententetruppen
von den Dardanellen setzte das Siegel unter diese Er-
eignisse.
Aber es bÜeb die Ententebasis in Saloniki als Pfahl im
Fleisch, und nördlich der Donau verharrte Rumänien in
dauerndem Abwarten.
Ich halte es für einen der schwersten und verhängnis-
vollsten Fehler, die von unserer Seite während des Krieges
94
Durchstoß nach Bulgarien. Verdun
gemacht worden sind, daß wir, ehe wir auf dem Balkan
ganze Arbeit getan hatten, uns mit unserer Hauptmacht
wieder dem westlichen Kriegsschauplatz zu wendeten, um
dort den Versuch zu machen, mit Verdun den wich-
tigsten Schulterpunkt des feindlichen Stellungssystems
zu brechen.
Über die Gründe für diesen Entschluß und über die Art
und Weise, wie er zustandegekommen ist, habe ich nie-
mals volle Klarheit bekommen können. Die Vorberei-
tungen der Aktion gegen Verdun wurden mit solcher
Heimlichkeit betrieben, daß es im Februar, kurz vor Be-
ginn unserer Operationen, zu einer heftigen Auseinander-
setzung zwischen dem General von Falkenhayn und dem
Reichskanzler von Bethmann Hollweg gekommen ist, weil
letzterer außer dem Staatssekretär des Auswärtigen Amts
auch mich in den Plan eingeweiht hatte.
Ich selbst hatte am Neujahrstag 1916 Gelegenheit zu
einer längeren Unterhaltung mit dem General von Falken-
hayn in seinem Amtszimmer im Berliner Kriegsministe-
rium. Von Verdun und einer größeren Offensive in Frank-
reich erwähnte er nichts ; Hauptgegenstand unserer Unter-
haltung war vielmehr die Aufnahme des uneingeschränkten
U-Bootkrieges, von der Falkenhayn, gestützt auf das
Urteil des Admiralstabs, ein baldiges Ende des Krieges
erwartete, während ich Zweifel gegen die Berechnung des
Admiralstabs geltend machte. Meinerseits wies ich darauf
hin, daß die Balkansituation einer weiteren Klärung
95
Entwicklung des Krieges
bedürfe. Insbesondere müßten wir uns vergewissern, wie
wir mit Rumänien daran seien. „Nur wenn Sie der Donna
Rumania den Arm fest um die Taille legen, wird sie sich
entschließen, mit uns zu tanzen.“ Falkenhayn antwortete:
„Sie gehören wohl auch zu den Leuten, die meinen, ich
müßte nach Kiew marschieren Ich antwortete, daß
Kiew mir Hekuba sei, daß es mir vielmehr einzig und
allein auf Rumänien ankomme, das wir nicht als ganz
unsicheren Kantonisten im Rücken behalten dürften.
Am 23. Februar 1916 begannen, infolge des für die Ar-
tillerievorbereitung unmöglichen Wetters einige Tage
später, als ursprünglich geplant, unsere Operationen gegen
Verdun. Bereits zwei Tage später nahmen unsere Truppen
das hochgelegene Fort Douaumont, den wichtigen Nord-
pfeiler der Außenbefestigungen von Verdun. Wir schienen
den Erfolg in den Händen zu haben. Bei den Franzosen
herrschte die schwerste Besorgnis; die Befehle zur Räu-
mung der Stadt und des rechten Maasufers sollen damals
gegeben, aber gleich darauf widerrufen worden sein.
Während wir mit unserer schweren Artillerie nur langsam
vorwärts kamen, verstärkte sich der französische Wider-
stand. Monatelang wogte der Kampf auf den Höhen und
in den Schluchten rechts und links der Maas hin und her,
ohne eine Entscheidung zu bringen. Die Verluste auf
beiden Seiten waren gewaltig. Unsere Heeresleitung
suchte sich und andere damit zu trösten, daß die fran-
zösischen Verluste noch erheblich größer seien als die
96
Verdun. Russische Offensive
unsrigen, ja daß dieses „Ausbluten der Franzosen im Sack
von Verdun'* wichtiger sei als der Besitz der Festung
selbst. Niemandem war bei diesem Tröste wohl.
Gegen die Mitte des Jahres lief sich die Verdun-Offensive
tot. Andere Kampfhandlungen von riesenhaftem Aus-
maß, für die unsere Gegner die Initiative ergriffen, über-
tönten den verhallenden Kanonendonner an der Maas.
Mitte Mai hatten die Österreicher nach großen Vor-
bereitungen in Südtirol gegen die Italiener, die in den
zwölf Monaten seit ihrer Kriegserklärung so gut wie nichts
erreicht hatten, eine Offensive begonnen. Der Angriff
entwickelte sich gut. Ende Mai waren die wichtigen be-
festigten Plätze Asiago und Arsiero in den Händen der
Österreicher. Der Austritt in die Po-Ebene schien ge-
sichert.
Da führte das russische Heer vom 5. Juni an auf der
ganzen Front zwischen dem Pruth und dem S tyrknie
wuchtige Stöße gegen die nicht sehr starken österrei-
chischen Linien. Sie schlugen eine weite und tiefe Bresche.
Die wolhynischen Festungen fielen. Czernowitz und die
Bukowina wurden wieder preisgegeben. Hundertt ausende
von Gefangenen und ungezähltes Material geriet in die
Hand der Russen, die über die Leichtigkeit, mit der sie
diesen großen Erfolg errangen, vielleicht selbst am meisten
erstaunt waren.
Die Österreicher waren gezwungen, die wankende Front
mit allen Mitteln zu stützen. Die so vielversprechende
7 Helfferich, Weltkrieg II
97
Entwicklung des Krieges
Offensive gegen Italien wurde aufgegeben, um Truppen
für den bedrohten Osten freizubekommen. Die Italiener
konnten zu Gegenangriffen übergehen. Gegen Ende Juni
mußten die Österreicher ihre Südtiroler Front zurückneh-
men; am Isonzo mußten sie vor den erneut einsetzenden
Offensivstößen der Italiener sich auf die Höhen östlich
des Flusses zurückziehen und Görz preisgeben. Auch vom
nördlichen Teil der russischen Front, den Hindenburg
kommandierte, wurden Verstärkungen auf Verstärkungen
nach dem Süden abgegeben, obwohl auch im Norden
russische Angriffe begannen. Ja es wurden einige tür-
kische Divisionen an der galizischen Front eingesetzt.
Die schweren Kämpfe an der Ostfront waren noch in
vollem Gange, als die Ententeheere am i. Juli im Westen
zu einem alle bisherigen Offensivstöße weit übertreffenden
Angriff ansetzten. ,,In einer Breite von 40 Kilometern,“ so
berichtete unser Großes Hauptquartier am 2. Juli, „be-
gann gestern der seit vielen Monaten mit unbeschränkten
Mitteln vorbereitete englisch-französische Massenangriff
nach siebentägiger stärkster Artillerie- und Gasvorberei-
tung auf beiden Ufern der Somme sowie des Ancrebaches.“
Von diesem Tage an waren unsere Truppen fünf volle
Monate hindurch den wütenden Anstürmen der Eng-
länder und Franzosen ohne Unterbrechung ausgesetzt.
Der Feind hatte die starke Überlegenheit in der Zahl der
Kämpfenden. Er hatte eine noch weit größere Überlegen-
heit im. Material aller Art; denn die Industrie nahezu der
Somme-Offensive 1916. Lage im Osten
ganzen Welt arbeitete für ihn. Es ist eine kaum faßliche
Leistung unserer Feldgrauen, daß sie, unaufhörlich über-
schüttet vom dichtesten Eisenhagel, in kaum aussetzenden
Nahkämpfen mit der in unerschöpflichen Wellen anstür-
menden weißen und farbigen Übermacht die eiserne Kette
hielten und nur Schritt für Schritt dem ungeheuren Druck
Raum gaben. Es ging fast über menschliche Kraft, aber
es wurde durchgehalten.
In der Zeit der schärfsten Zuspitzung der militärischen
Lage, als zu dem russischen Vorstoß die französisch-eng-
lischen Angriffe hinzukamen, weilte ich bei dem Feld-
marschall von Hindenburg in Kowno. Ich hatte Gelegen-
heit, mit Hindenburg und seinen Offizieren die poli-
tische und militärische Lage eingehend zu besprechen.
Der Eindruck, den ich gewann, war erschütternd. Hinden-
burg sagte mir am Abend des 3. Juli: „Wir haben hier
oben im Norden überhaupt nur noch eine durchsichtige
Kattunschürze. Ich habe, um das Loch bei den Öster-
reichern zuzustopfen, alles weggegeben, was ich entbehren
kann, und mehr als das. Es blieb mir nichts anderes
übrig. Aber was ich weggegeben habe, sehe ich nicht
wieder. Nun greift der Russe hier oben bei uns an, ich
weiß nicht, was werden soll.“ Seine Mitarbeiter wurden
deutlicher. Die verhängnisvollen Nachteile des Mangels
eines einheitlichen Oberbefehls über die Ostfront mußte
auch dem Laien einleuchten. Meine Zweifel an der Richtig-
keit der im Osten befolgten Strategie, die ich seit den
7*
99
Entwicklung des Krieges
Monaten Mai und Juni mit mir herumtrug, fand ich be-
stärkt. Wir standen vom Rigaer Busen bis zur rumänischen
Grenze in einer weit auseinandergezogenen, wohl mehr
als zwölfhundert Kilometer langen Front, die in ihren über-
wiegenden Teilen eines jeden natürlichen Schutzes ent-
behrte und gegen energische Offensivstöße einer an einem
beliebigen Punkt zusammengeballten Macht kaum zu
halten war. Im Westen hatten wir unsere beste Kraft
in der Verdun-Offensive eingesetzt; nicht nur war es uns
nicht gelungen, die große Schulterfestung zu bezwingen,
auch der angebliche Erfolg des Ausblutens der Franzosen
wurde durch die jetzt beginnende Somme-Offensive als
Täuschung erwiesen. Dazu im Hintergrund die rumäni-
sche Gefahr, die durch den Zusammenbruch des Rumänien
zunächst gelegenen österreichischen Frontt eiles nahezu
automatisch ausgelöst werden mußte.
Das dringendste Erfordernis der Stunde erschien mir
die Vereinheitlichung des Oberbefehls über die gesamte
Ostfront. In diesem Sinne telephonierte ich noch vom
Osten aus am 4. Juli mit dem Reichskanzler.
Als ich am Sonntag, 9. Juli, nach Berlin zurückkehrte,
schilderte ich dem Kanzler mündlich auf das Eindring-
lichste meine Wahrnehmungen und Eindrücke. Der Kanzler
hatte, wie mir bekannt war, schon in einem früheren
Stadium des Krieges und auch späterhin wiederholt die
Frage des Oberbefehls aus dem Zweifel heraus, ob der
General von Falkenhayn der richtige Mann an diesem
100
Vereinheitlichung des Oberbefehls im Osten
Platze sei, zur Sprache gebracht. Die militärischen Be-
rater des Kaisers hatten jedoch damals mit Entschieden-
heit an General von Falkenhayn festgehalten. Der Kanzler
erzählte mir jetzt, daß der Kronprinz von Bayern neuer-
dings an den Grafen Lerchenfeld, der diesen kurz zuvor im
Gefolge des Königs von Bayern in seinem Hauptquartier be-
sucht hatte, einen Brief mit den heftigsten Vorwürfen gegen
die Oberste Heeresleitung geschrieben habe. Audi andere
hohe Offiziere seien jetzt zu der Ansicht gekommen, daß
die Oberste Heeresleitung in ihrer derzeitigen Zusammen-
setzung den Schwierigkeiten der Lage nicht gewachsen sei.
Der Kanzler hatte inzwischen bereits die Übertragung des
Oberbefehls über die gesamte Ostfront einschließlich der
österreichisch-ungarischen Truppen an den Feldmarschall
von Hindenburg verlangt. Der Chef des Generalstabs der
österreichisch-ungarischen Armee Conrad von Hötzendorff
war alsbald mit dem Antrag befaßt worden, hatte aber
zunächst abgelehnt. Einige Tage später hörte ich, daß der
ungarische Ministerpräsident Graf Tisza sich entschieden
für die Übertragung des Oberbefehls an Hindenburg aus-
gesprochen habe. Am i8. Juli waren die Generale Conrad
von Hötzendorff, von Falkenhayn und Ludendorff zur
Besprechung der Angelegenheit in Berlin; eine Einigung
kam nicht zustande.
Ich war in den folgenden Tagen in München und Stutt-
gart. Sowohl der König von Bayern wie der König von
Württemberg sprachen sich mir gegenüber aus eigener
Entwicklung des Krieges
Initiative dafür aus, daß in der ungemein ernsten Lage
auf den Feldmarschall von Hindenburg zurückgegriffen
werden müsse. Der württembergische Ministerpräsident
von Weizsäcker, dessen ruhiges und klares Urteil ich immer
besonders schätzte, flehte mich geradezu an, der Kanzler
müsse dem Kaiser die Augen öffnen. Weder Kaiser noch
Reich könnten einen ernsten Rückschlag ertragen, wenn
Hindenburgs Genie und Ansehen nicht voll in Wirksamkeit
gesetzt werde.
Als ich nach Berlin zurückkam, lagen dort geradezu ver-
zweifelte Berichte aus Wien vor. Auch Graf Andrassy, der
gerade in Berlin anwesend war, erkannte an, daß die Zeit
der Eitelkeiten und Rivalitäten vorbei sei und nur der
einheitliche Oberbefehl Hindenburgs die Lage retten
könne. Dazu kamen Nachrichten aus Rumänien, die
darauf schließen ließen, daß Bratianu sich der Entente
gegenüber zum Eingreifen unter gewissen Bedingungen
verpflichtet habe, und daß der König zu schwach sei,
um Widerstand zu leisten. Der «Kanzler bestand tele-
graphisch auf der schleunigen Übertragung des Oberbefehls
über die gesamte Ostfront an Hindenburg und reiste am
25. Juli selbst nach dem Großen Hauptquartier, um die
Sache unter allen Umständen in Ordnung zu bringen. Am
2. August wurde denn auch amtlich publiziert: ,, Unter
Generalfeldmarschall von Hindenburg wurden mehrere
Heeresgruppen der Verbündeten zu einheitlicher Verwen-
dung nach Vereinbarung der beiden Obersten Heeres-
102
Hindenburg Oberbefehlshaber im Osten
leitungen zusammengefaßt.“ Hindenburg hatte, wie mir
der Kanzler nach seiner Rückkehr aus dem Hauptquartier
erzählte, mit dieser Lösung, die ihm den Oberbefehl über
die Ostfront von Kurland bis zu den Karpathen, einschließ-
lich der österreichisch-ungarischen Armee gab, sich befrie-
digt und weiteres als zur Zeit unerwünscht erklärt.
Es kam jedoch bald zu ernsten Reibungen zwischen dem
neuen Obersten Befehlshaber der Ostarmee und dem Chef
des Generalstabs des Feldheeres, die sich auf die Frage
„Falkenhayn oder Hindenburg ?'* zuspitzten. Der Kanzler
trat in Konsequenz seiner früheren Stellungnahme mit
großer Entschiedenheit für die Ersetzung Falkenhayns durch
Hindenburg ein, während die militärische Umgebung des
Kaisers auch jetzt noch an Falkenhayn festhielt. Allerdings
gehörte der Kanzler nicht zu den unbedingten Bewunderern
des von dem Feldmarschall untrennbaren Generals Luden-
dorff. Ludendorff sei geneigt, seinem Temperament zu
unterliegen und in ernsten Situationen übereilt zu handeln ;
so auch jetzt wieder, wo er, ohne den unpäßlichen Hin-
denburg zu fragen, ein Abschiedsgesuch abgeschickt habe,
um es dann wieder anzuhalten. Auch in der Beurteilung
der militärischen Lage in seinem Befehlsbereich habe er,
der Kanzler, an Ludendorff mehrfach das Schwergewicht
der inneren Ruhe und Sicherheit vermißt; er sei ihm zu
sehr ,, himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“. Die Lage
ließ jedoch auch nach seiner Ansicht keine andere Wahl als
die Ersetzung Falkenhayns durch Hindenburg-Ludendorff.
103
Entwicklung des Krieges
Inzwischen erfuhren die Dinge eine weitere Zuspitzung.
Seit der zweiten Augusthälfte lauteten die Nachrichten aus
Bukarest zwar unklar und widerspruchsvoll ; aber im Zu-
sammenhang mit der Gesamtlage hatte ich aus dem, was mir
bekannt wurde, den Eindruck, daß Rum.änien im Begriff
sei, gegen uns loszuschlagen. Ich ließ mich in dieser Be-
urteilung, aus der heraus ich schon seit längerer Zeit auf
den schleunigen Abtransport des von Deutschland gekauften
nunänischen Getreides hingewirkt hatte, auch durch die
lügnerischen Versicherungen des Ministerpräsidenten Bra-
tianu und des rumänischen Königs nicht irremachen. Als
mir am Sonntag, 27. August, der Kanzler gegen ii Uhr
durchs Telephon sagte — in Dingen, die nicht für aUe
Ohren bestimmt waren, pflegten wir französisch zu tele-
phonieren — : ,,LTtaHe nous a declare la guerre,“ ant-
wortete ich: ,,Et la Roumanie suivra sur-le-champ.“ Im
Auswärtigen Amt hatte man noch Zweifel. Abends um
II Uhr teilte mir der Kanzler mit, daß die rumänische
Kriegserklärung in Wien überreicht worden sei. Bei der
ernsten Lage auf allen Kampffronten nahm der Kanzler
die Nachricht sehr schwer. Es bheb uns natürlich keine
Wahl, als die rumänische Kriegserklärung an Österreich-
Ungarn sofort mit imserer Kriegserklärung an Rumänien
zu beantworten. Noch in der Nacht wurde an die sämt-
hchen Bundesregierungen telegraphiert. Ich schlug vor,
sofort auch mit den Parteiführern wegen Einberufung
des Reichstags in Verbindung zu treten. Bei diesen regten
104
Rumänische Kriegserklärung. Hindenburg Chef des Generalstabs
sich Bedenken, ob die nötige Geschlossenheit gewahrt
werden könne, und die Einberufung unterblieb.
Die Telegramme aus dem Hauptquartier über die Mög-
lichkeit der Gegenwirkung gegen den von den Rumänen
seit Wochen und Monaten vorbereiteten Überfall lauteten
wenig trostvoll. Es stand nur wenig Infanterie dort und
fast gar keine Artillerie ! Weder in Pleß noch in Teschen
scheint man geglaubt zu haben, daß Rumänien doch noch
losschlagen würde. Die Bulgaren hatten sich seit dem
20. August in eine Offensive gegen die Ententearmee vor
Saloniki verbissen; in welchem Umfange und in welcher
Zeit Truppen zur Verwendung gegen Rumänien heraus-
gezogen werden konnten, war ungewiß. Zum Glück hatte
sich die im Juni angesetzte russische Offensive gegen die
galizische und wolhynische Front ausgelaufen und ver-
blutet. Hätte Rumäniens Angriff einige wenige Wochen
früher eingesetzt, zu der Zeit, als die österreichisch-unga-
rische Front im Zusammenbrechen war, dann hätte wohl
nichts die Katastrophe aufhalten können.
Die rumänische Kriegserklärung und die dadurch ge-
schaffene Erschwerung der militärischen Lage veranlaßte
den Kaiser, den Generalfeldmarschall von Hindenburg
nach Pleß zu berufen. Der General von Falkenhayn erhob
gegen diese ohne sein Befragen erfolgte Berufung Ein-
spruch, worauf der Kaiser ihm anheimstellte, seine Ent-
lassung einzureichen. Als der Kanzler am Vormittag des
29. August im Großen Hauptquartier eintraf, war die
105
Entwicklung des Krieges
Ernennung Hindenburgs zum Chef des Generalstabs des
Feldheeres und Ludendorffs zum Ersten Generalquartier-
meister bereits vollzogen.
Ich reiste mit dem Staatssekretär v. Jagow am 30. August
gleichfalls nach Pleß. Obwohl Bulgariens Haltung gegen-
über der neuen Situation noch nicht geklärt war — Bul-
garien hat an Rumänien erst am i. September den Krieg
erklärt — fanden wir eine zuversichtliche Auffassung
der Lage. Vier deutsche Divisionen rollten bereits von
der Westfront nach Siebenbürgen, weitere Verstärkungen
wurden vorbereitet. Man werde zwar den Rumänen für
ihre Operationen zunächst freie Hand lassen müssen, sie
dann aber fassen und schlagen. Hindenburgs unerschütter-
liche Ruhe und Ludendorffs rasch zugreifende Bestimmt-
heit gaben den Besprechungen die Signatur. Wir aUe
verließen Pleß mit einem Gefühl der Erleichterung und
Beruhigung.
Die Rumänen brachen, fast ohne Widerstand zu finden,
tief in Siebenbürgen ein. Im Westen erneuerten Engländer
und Franzosen mit einer alles bisher Dagewesene über-
treffenden Wucht ihre Angriffe an der Somme, um uns
das Abziehen von Truppen für Rumänien unmöglich zu
- machen. Aber trotzdem sie gegen Mitte September bis
über die Straße Bapaume — P6ronne hinaus vorstießen,
ließen sich Hindenburg und Ludendorff, die sich in-
zwischen an Ort und Stelle vom Stand der Dinge über-
zeugt hatten, in ihren Dispositionen für den rumänischen
106
Niederwerfung Rumäniens
Feldzug nicht beirren. Während die Rumänen in Ungarn
vordrangen, faßte sie der erste Stoß dort, wo sie ihn
augenscheinlich am wenigsten erwarteten, zwischen der
Donau und dem Schwarzen Meer in der Dobrudscha, und
warf sie auf den Traj answall zurück. Gegen Ende Sep-
tember war unser Aufmarsch auch in Ungarn vollendet.
Am 29. September wurden die Rumänen bei Hermannstadt
geschlagen, am 8. Oktober wurde Kronstadt wieder genom-
men, und in den folgenden Wochen wurden die rumä-
nischen Truppen auf die Karpathengrenze zurückgedrängt.
Die Operationen in der Dobrudscha, an denen außer bulga-
rischen und deutschen auch türkische Truppen teilnahmen,
fanden ihre Krönung in der Einnahme des rumänischen
Hafens Constanza (23. Oktober) und der am Eisenbahnüber-
gang über die Donau gelegenen Stadt Cernavoda (25. Ok-
tober). Schon in diesem Zeitpunkte war der Feldzug für
Rumänien verloren, den Alliierten war der Trumpf aus der
Hand geschlagen, der die Entscheidung des Krieges hatte
bringen sollen.
In der ersten Novemberhälfte erkämpften sich die
deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen die Aus-
gänge aus den Karpathen in die Wallachei. Am 25. No-
vember erzwangen sich deutsche und bulgarische Truppen
von Süden her den Donau-Übergang. In der dreitägigen
Schlacht am Argesfluß griffen die beiden Armeen von
Norden, Westen und Süden das rumänische Fleer um-
fassend an und brachten ihm die entscheidende Niederlage
Entwicklung des Krieges
bei. Als Frucht des Sieges fiel die Landeshauptstadt
Bukarest am 6. Dezember in die Hand der Verbündeten.
Wenig mehr als drei Monate hatten genügt, Rumänien
niederzuschlagen und für uns die Lage wiederherzustellen.
Auch die schweren Angriffe, die von der ersten November-
hälfte an die Saloniki-Armee der Entente ausführte und
die am i8. November die Bulgaren nötigten, Monastir
wieder aufzugeben, vermochten das Schicksal Rumäniens
ebensowenig zu wenden, wie die fortgesetzten heftigen
Offensivstöße an der Somme.
Der Krieg war an einem großen Haltepunkte angelangt,
der Freund und Feind nötigen mußte, sich auf sich selbst
zu besinnen und Umschau zu halten, ob nicht vor der Ein-
leitung neuer Kämpfe die Möglichkeit bestehe, die schwer
leidenden Völker aus Blut und Tränen heraus zu • dem
ersehnten Frieden zu führen.
Finanzielle Kriegführung
Reichsschat;2amt
Es war mir nicht beschieden, mit der Waffe für das
Vaterland zu kämpfen. Infolge eines Unfalles hatte
ich seit dem Jahre 1893, also bei Kriegsausbruch seit
21 Jahren, keine militärische Übung mehr gemacht und
im Jahre 1899 als dauernd untauglich meine Entlassung
als Reserveoffizier erhalten. Unter diesen Umständen
mußte ich mich damit bescheiden, in dem Krieg, der von
Anfang an nicht nur ein Krieg der Waffen, sondern auch
ein Kampf der Finanzen und Volkswirtschaften war,
auf dem Platze, auf den mich mein Lebensweg geführt
hatte, mein Bestes zu tun.
Es waren keine kleinen Anforderungen, die der Krieg,
namentlich in seinen ersten Wochen, an die Banken
und ihre Leitungen stellte. Es hieß den Kopf oben be-
halten und mit äußerster Anspannung der Nerven und der
Arbeitskraft die Vorkehrungen und Verfügungen treffen,
die nicht nur für die Erhaltung des Kredits und der Zah-
lungsfähigkeit des eigenen Instituts, sondern auch für die
IIT
Finanzielle Kriegführung
Erhaltung der finanziellen Grundlagen unserer gesamten
Volkswirtschaft erforderlich waren. Es hieß gleichzeitig
mitwirken an der Schaffung der Grundlagen unserer
finanziellen Kriegführung und an dem Aufbau der
Einrichtungen und Organisationen, die für die Mobil-
machung unserer gesamten Volkswirtschaft und die
Einstellung unseres Wirtschaftslebens auf den Krieg
erforderlich waren.
Auch über meinen unmittelbaren Pflichtenkreis hinaus
wurde ich von der Regierung und Obersten Heeresleitung
herangezogen. So wurde ich alsbald nach der Besetzung
Brüssels in das Große Hauptquartier gerufen und von dort
nach Belgien gesandt, um dem zum Generalgouverneur
ernannten Generalfeldmarschall von der Goltz und dem
ihm als Chef der Zivilverwaltung beigegebenen Regierungs-
präsidenten von Sandt bei der Einrichtung der Okkupa-
tionsverwaltung, insbesondere bei der Ordnung der finan-
ziellen Angelegenheiten (Bankenkontrolle, Kontributions-
frage usw.) behilflich zu sein.
Im Dezember 1914 stellte mich der Reichskanzler von
Bethmann Hollweg vor die Frage, ob ich bereit sei, die
Leitung des Reichsschatzamtes zu übernehmen. Er brauche
an der Spitze der Reichsfinanzverwaltung einen Mann, der
nicht nur mit dem deutschen Wirtschaftsleben, sondern
auch mit den Finanzen und der Wirtschaft unserer Ver-
bündeten, unserer Feinde und des neutralen Auslandes
vertraut sei und außerdem über eine ungebrochene
112
Übernahme des Amtes als Reichsschatzsekretäf
Arbeitskraft verfüge. Er schätze die Person und dieVerdienste
des Reichsschatzsekretärs Kühn sehr hoch ; aber Herr Kühn
habe selbst wiederholt angedeutet, daß sein Alter und seine
Gesundheit den durch den Krieg gewaltig gesteigerten
und von Grund aus veränderten Anforderungen seines
Amtes nicht mehr gewachsen seien. '
Das Angebot des Kanzlers kam mir völlig überraschend.
Der Gedanke widerstrebte mir, meine in mehr als acht-
jähriger Tätigkeit mir liebgewordene, mich ausfüllende
und mich befriedigende Wirksamkeit in der Leitung der
Deutschen Bank mit einer neuen, in wichtigen Teilen mir
bisher recht fernliegenden Aufgabe .zu vertauschen und
meine freie Stellung gegen ein von Kanzler und Par-
lament abhängiges Staatsamt aufzugeben. Ich brachte
andere Persönlichkeiten in Vorschlag, von denen ich an-
nehmen durfte, daß sie der Aüfgabe ebensogut und besser
gewachsen sein würden als ich. Der Kanzler hatte gegen
jeden meiner Vorschläge eine Einwendung, wollte auch
alle die von mir genannten Namen mit seinen Beratern,
insbesondere dem Reichsbankpräsidenten Havenstein,
bereits diskutiert haben. Der einzige, der außer mir in
Frage käme und den auch ich in erster Linie vorschlug,
der Reichsbankpräsident selbst, habe in Rücksicht auf
seinen geschwächten Gesundheitszustand auf das be-
stimmteste abgelehnt; er, der Kanzler, müsse von mir das
Opfer verlangen. „Betrachten Sie das Reichsschatzamt
als Ihren Schützengraben!''
113
8 Helfferich, Weltla'ieg II
Finanzielle Kriegführung
Nach kurzer Bedenkzeit erklärte ich mich bereit, dem
Wunsche des Kanzlers zu entsprechen. Am i. Februar
1915 trat ich das neue Amt an.
Was mir an meiner neuen Behörde — in Erinnerung an
die Erfahrungen aus meiner früheren Tätigkeit in der
Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes — am wenig-
sten sympathisch war, das war der stark ausgeprägte Geist
der Negation. Die für eine staatliche Finanzverwaltung
bequemste Sparsamkeit, aber auch die zweischneidigste
Sparsamkeit, ist der wahllose Widerstand gegen neue Aus-
gaben. Diese Art Sparsamkeit war mir in wenig an-
genehmem Gedächtnis. Große Unterlassungssünden, na-
mentlich auf dem Gebiete des kolonialen Eisenbahnbaues
und des militärischen Schutzes, die sich späterhin auch
finanziell bitter rächten, hatten ihre Wurzel darin, daß die
Bewilligungsscheu des Reichstages im Reichsschatzamt
einen stillen, aber wirksamen Verbündeten besaß. Daß
auch der Krieg die alte Tradition nicht ohne weiteres fort-
geschwemmt hatte, davon konnte ich mich bald über-
zeugen. In den ersten Tagen meiner Amtstätigkeit wurde
mir ein Schreiben an eine andere Behörde vorgelegt, in
dem die Bewilligung der Gelder für einen mir durchaus
vernünftig und notwendig erscheinenden Zweck kurzer-
hand abgelehnt wurde. Ich bat den Herrn, der die Sache
bearbeitet hatte, um eine Begründung seines ablehnen-
den Standpunktes und erhielt die klassische Antwort:
,,Wir lehnen solche neuen Anträge grundsätzlich zunächst
Falsche Sparsamkeit
einmal ab. Ist die Angelegenheit wirklich dringend, dann
kommt die betreffende Behörde schon auf die Sache zu-
rück, und dann kann man sich’s überlegen.'*
Ich suchte von Anfang an den Rahmen für die Tätig-
keit des Reichsschatzamtes weiter zu spannen, als es der
Überlieferung entsprach, und die im Kriege doppelt not-
wendige Sparsamkeit nicht so sehr in der grundsätzlichen
Beschneidung der Anträge der anderen Ressorts, als viel-
mehr in der positiven Mitarbeit an der finanziell und wirt-
schaftlich zweckmäßigen Gestaltung des Notwendigen zu
verwirklichen.
Die Finanzierung kriegswichtiger
Unternehmungen
Schon in den Tagen meiner Vorbereitung für das neue
Amt erhielt ich Gelegenheit, diese Auffassung meiner Auf-
gabe in einer Angelegenheit von außerordentlicher Be-
deutung für Kriegführung und Volksernährung zu be-
tätigen: in der Stickstoffrage.
Gewaltige Mengen von Stickstoffverbindungen wurden
benötigt, einmal für Pulver und sonstige Sprengstoffe aller
Art, ferner als unentbehrliches Düngemittel für die Er-
haltung eines einigermaßen ausreichenden Ertrages unseres
heimischen Bodens.
Unser Inlandsverbrauch an Stickstoffverbindungen hatte
im letzten Friedensjahr rund 1400000 Tonnen mit einem
8*
Finanzielle Kriegführung
Gehalt an reinem Stickstoff von rund 240000 Tonnen be-
tragen; davon wurden etwa 200000 Tonnen in der Land-
wirtschaft und 40000 Tonnen in der Industrie verbraucht.
Unsere heimische ...Erzeugung von Stickstoffverbindungen
war zwar in den letzten Jahrzehnten gewaltig gestiegen;
die Gewinnung von schwefelsaurem Ammoniak als Neben-
produkt der Kokerei, unsere vor dem Kriege weitaus
wichtigste Stickstoffquelle, war von rund 90000 Tonnen
im Jahre 1893 auf rund 500000 Tonnen im Jahre 1913
gebracht worden. Aber trotzdem deckte die einheimische
Erzeugung von Stickstoffverbindungen auch im Jahre
1913 nicht einmal die Hälfte des Inlandsverbrauches.
Die größere Hälfte wurde aus dem Ausland bezogen, und
zwar ganz überwiegend in der Form von Chilesalpeter.
Der Krieg brachte eine enorme Steigerung unseres Be-
darfs und eine ebenso enorme Einschränkung unserer Ver-
sorgung. Der Stickstoffbedarf für militärische Zwecke
überstieg sofort um ein Vielfaches die Mengen, die in
Friedenszeiten von der Sprengstoffindustrie verbraucht
wurden. Auf der anderen Seite kam die Zufuhr von Chile-
«
Salpeter, die in Friedenszeiten etwa die Hälfte unsres Gesamt-
bedarfs gedeckt hatte, mit dem Kriegsausbruch völlig in
Wegfall, und die heimische Gewinnung von schwefelsaurem
Ammoniak aus dem Kokereiprozeß erfuhr mit dem scharfen
Rückgang der Kohlenförderung und Eisenerzeugung, der mit
Kriegsausbruch einsetzte und nur allmählich überwunden
werden konnte, gleichfalls eine starke Einschränkung. Es
116
Die Stickstoffrage
war mit einem Ausfall von nicht weniger als zwei Dritteln
unserer Friedensversorgung an Stickstoff zu rechnen. Der
Zeitpunkt, in dem die vorhandenen Läger aufgebraucht
sein würden, war abzusehen; die heimische Produktion
an Stickstoff Verbindungen hätte für die Landwirtschaft
so gut wie nichts übriggelassen und selbst die Deckung
des in gewaltigen Sprüngen anwachsenden militärischen
Bedarfs nicht entfernt ausreichend gesichert.
Glücklicherweise waren Ersatzmöglichkeiten für die
überseeischen Zufuhren vorhanden, und zwar in den von
deutschen Gelehrten ausgearbeiteten Verfahren zur Ge-
winnung stickstoffhaltiger Verbindungen aus den un-
erschöpflichen Vorräten der Luft. In Betracht kamen ein-
mal das von Geheimrat Haber erfundene Verfahren der
synthetischen Gewinnung von schwefelsaurem Ammoniak,
das von der Badischen Anilin- u. Sodafabrik in Ludwigs-
hafen a. Rh. praktisch erprobt worden war; ferner das
Frank-Carosche Verfahren zur Herstellung von Kalkstick-
stoff, nach dem in Werken zu Trostberg in Oberbayern
und zu Knapsack bei Köln a. Rh. gearbeitet wurde. Die
Produktion der Ludwigshafener Fabrik an schwefelsaurem
Ammoniak betrug im letzten Friedensjahr etwa 30 000
Tonnen mit einem Gehalt an reinem Stickstoff von rund
6000 Tonnen, die Produktion des Trostberger und des
Knapsacker Werkes erreichte je 25 000 Tonnen Kalk-
stickstoff mit einem Reingehalt von rund je 5000 Tonnen.
Die Ludwigshafener Fabrik hatte noch im Frieden den
Finanzielle Kriegführung
Ausbau ihres Stickstoffwerkes auf eine jährliche Leistungs-
fähigkeit von 150 000 Tonnen schwefelsauren Ammoniaks
in Angriff genommen.
Die vitale Bedeutung der Stickstoffrage mußte in die
Augen springen. Die Heeresverwaltung und das preußische
Landwirtschaftsministerium drängten auf den Abschluß
vonVereinbarungen,die eine sofortige und ausgiebige Steige-
rung der einheimischen Stickstoffgewinnung sichern sollten.
Die im Besitz der Verfahren befindlichen Unternehmungen
stellten sich zur Verfügung und machten Vorschläge für die
Aufbringung und Sicherstellung der sehr erheblichen Kapi-
talien, die zum Zweck der Errichtung der großen, die vor-
handenen Stickstoffwerke um ein Vielfaches übertreffenden
Neuanlagen zu investieren waren. Die Verhandlungen
stießen auf allerlei Schwierigkeiten, namentlich in der
Frage der Gewährleistung gegen den Verlust des in den
neuen Fabriken festzulegenden Kapitals bei der Wieder-
kehr der Friedensverhältnisse und in der Frage der Nor-
mierung von Höchstpreisen für die Stickstoffverbindungen.
Erst im Dezember 1914 kamen Verträge mit Ludwigs-
hafen und Knapsack zustande, die gegen Gewährung von
Darlehen des Reiches und Preußens eine Erhöhung der
Produktion um 45 000 Tonnen reinen Stickstoff vorsahen.
Damit war aber nur erst der Heeresbedarf nach der
damaligen, sich späterhin als viel zu niedrig erweisen-
den Schätzung annähernd gesichert, während für die
durch den Stickstoffmangel auf das Schwerste bedrohte
118
Die Stickstoffrage
Landwirtschaft noch nichts vorgesorgt war. Die Ver-
handlungen mit den Bayrischen Stickstoffwerken, in denen
das Landwirtschaftsministerium eine Sicherung des Bedarfs
an Stickst Offdüngemitteln erstrebte, waren auf dem toten
Punkt : Die Stickstoffwerke verlangten für ihre Neu-
produktion eine fünfzehnjährige Absatzgarantie zu einem
wesentlich unter den Friedenspreisen liegenden Satze, die
landwirtschaftlichen Vereinigungen waren aus sich heraus
für die Übernahme einer solchen Absatzgarantie nicht stark
genug, und die Finanzverwaltungen Preußens und des
Reiches weigerten sich kategorisch, ihrerseits eine Absatz-
garantie zu übernehmen ; — sie waren auf Grund der Kriegs-
kredite formal wohl zur Leistung von Ausgaben für Kriegs-
zwecke, nicht aber zur Übernahme von Garantien befugt!
Als meine Ernennung zum Staatssekretär des Reichs-
schatzamts feststand, besuchten mich der preußische
Landwirtschaftsminister Freiherr von Schorle mer und der
preußische Finanzminister Herr Lentze, um mir die ge-
radezu verzweifelte Lage der Stickstoffversorgung der Land-
wirtschaft darzulegen und sich meiner Unterstützung bei der
Überwindung dieses Notstandes zu versichern. Die Situation
war mir bereits bekannt, und ich war entschlossen, nicht
nur meinerseits die Initiative zu der notwendigen weiteren
Steigerung unserer Stickstoffgewinnung zu nehmen, son-
dern auch dem Reich in diesem neuen, nationalwirtschaft-
lich unschätzbar wichtigen und finanziell aussichtsreichen
Industriezweige eine starke Position zu schaffen. Am Tage
Finanzielle Kriegführung
nach meiner Besprechung mit den beiden Ministem, am
23. Januar 1915, fand, durch diese veranlaßt, eine Be-
sprechung der beteiligten Ressortchefs statt, an der ich
neben meinem noch amtierenden Vorgänger teilnahm.
Ich entwickelte den Gedanken, daß die Reichsfinanzver-
waltung durch die Bayrischen Stickstoffwerke eine große
Kalkstickstoff-Fabrik für das Reich bauen lassen und gleich-
zeitig mit den Bayrischen Stickstoffwerken einen Betriebs-
vertrag abschließen solle, letzteren auf der Grundlage, daß
der gesamte über einen bestimmten Satz für das Kilopro-
zent Kalkstickstoff hinaus erzielte Bruttoerlös dem Reich
zufließen und dieses außerdem an dem verbleibenden
Reingewinn aus dem Betriebe mit einem angemessenen
Anteil beteiligt werden sollte. Dadurch wollte ich der be-
triebführenden Firma die Möglichkeit nehmen, eine Stei-
gerung ihrer Gewinne in hohen Verkaufspreisen zu suchen,
sie vielmehr darauf hinweisen, ihre Gewinnaussichten
lediglich in Verbilligungen der Produktion zu erblicken,
was ihr einen möglichst starken Anreiz zur technischen Ver-
vollkommnung ihres Verfahrens geben mußte. Ich schlug
ferner vor, durch ein Reichsgesetz dem Bundesrat die
Ermächtigung zur Einführung eines Stickstoff-Handels-
monopols geben zu lassen, um die Position des Reiches in
der Stickstoffindustrie zu verstärken und gleichzeitig eine
Waffe gegen eine nach Friedensschluß zu erwartende Be-
drohung der deutschen Stickstoffindustrie vom Auslande
her rechtzeitig bereitzustellen.
120-
Die Ba5n*ischen Stickstoffwerke
Meine Vorschläge fanden die Zustimmung der Ressort-
chefs. Auch der Reichskanzler trat ihnen bei.
Auf dieser Grundlage schloß ich in den ersten Wochen
meiner Amtsführung Verträge mit den Bayrischen Stick-
stof fwerken ab, in denen der schleunige Bau zweier Reichs-
werke mit einer jährlichen Leistungsfähigkeit von ins-
gesamt 225 000 Tonnen Kalkstickstoff und gleichzeitig
die Bedingungen des Betriebs dieser Anlagen durch die
Bayrischen Stickstoff werke nach den von mir vorgeschla-
genen Grundsätzen vereinbart wurden. Ferner verpflich-
teten sich die Bayrischen Stickstoffwerke zu einer Ver-
größerung ihrer eigenen Fabrik in Trostberg. Außerdem
schloß ich mit den Lonzawerken in Waldshut (Baden)
einen Vertrag über die Errichtung eines weiteren Kalk-
stickstoff Werkes ab, und zwar gegen Gewährung eines Dar-
lehns und mit der Auflage der Überlassung der gesamten
Produktion zu bestimmten Preisen an das Reich oder den
vom Reiche zu bezeichnenden Abnehmer. Insgesamt sollte
durch diese Verträge die deutsche Stickstoffgewinnung
eine Erhöhung um 300 000 Tonnen Kalkstickstoff, gleich
60 000 Tonnen reinen Stickstoffs, erfahren.
Die Ausführung wurde sofort in Angriff genommen.
Schon während die Verhandlungen noch schwebten, waren
die Stickstoffwerke ermächtigt worden, alle für den Bau
der neuen Anlagen erforderlichen Vorbereitungen zu treffen.
Trotz der großen Schwierigkeiten in der Beschaffung
von Arbeitskräften, Maschinen, Metallen und anderen
121
Finanzielle Kriegführung
Rohstoffen gelang es, die beiden Reichswerke in den Monaten
Januar und Februar des Jahres 1916 in Betrieb zu bringen.
Da mit den Bauarbeiten erst im März und April 1915 hatte
begonnen werdjen können, hatten also 9 bis 10 Monate Bau-
zeit genügt, um die gewaltigen Neuanlagen fertigzustellen.
Um von der Größe der in so kurzer Zeit für das Reich
geschaffenen Werke einen Begriff zu geben:
Das Reichswerk Piesteritz bei Wittenberg a. d. Elbe,
das für eine Jahresgewinnung von 150 000 Tonnen Kalk-
stickstoff vorgesehen war, umfaßte nach dem ursprüng-
lichen, inzwischen noch erheblich vergrößerten Ausmaß
eine bebaute Fläche von 12^/2 Hektar. Sein jährlicher
Elektrizitätsverbrauch war auf 500 Millionen Kilowatt-
stunden berechnet; das ist rund doppelt so viel, wie die
gesamte von den Berliner Elektrizitätswerken im Jahre
1914/15 nutzbar abgegebene elektrische Energie. Die
Elektrizität wird in dem Bitterfelder Braunkohlenrevier
erzeugt, mit einem Tagesverbrauch von 4400 Tonnen
Braunkohle, und auf einer 22 km langen Doppelleitung
mit einer Spannung von 80 000 Volt zum Piesteritzer Werk
geleitet, wo der Strom mit den größten Transformatoren,
die bis dahin in der ganzen Welt gebaut worden waren,
zunächst auf 6000 Volt, dann auf die Betriebsspannung
umgeformt wird. Die elektrische Energie wurde den Reichs-
werken zum Satz von i Pfennig auf Grundlage der damali-
gen Kohlenpreise gesichert. Dieser Satz ist billiger, als er
jemals zuvor in Deutschland für aus Kohle gewonnene
122
Das Reichsstickstoffwerk Piesteritz
elektrische Energie gezahlt worden ist. Der tägliche Ver-
brauch des Werkes an Kalk war auf 300 Tonnen, an Koks
auf 180 Tonnen berechnet. Kalk und Koks werden in
mächtigen Öfen in starkem elektrischen Strom zu Karbid
verarbeitet. Der Kalkstickstoff wird gewonnen durch die
Verbindung des Luftstickstoffs mit dem gepulverten Kar-
bid. Die Gewinnung des Luftstickstoffs erfolgt in Piesteritz
auf zwei Wegen. Einmal durch Verflüssigung von Luft
und Trennung des Sauerstoffs vom Stickstoff nach dem
Linde’schen Verfahren; dann in einer Ersatzanlage, in der
nach dem Verfahren von Frank-Caro Generatorgas mit
Luft verbrannt und das entstehende Gemisch von Kohlen-
säure und Stickstoff in seine beiden Bestandteile zerlegt
wird. Nach dem ursprünglichen Plane lieferte die Linde-
Anlage stündlich 90 000 Liter flüssige Luft und 9000 Raum-
meter Stickstoff, die Frank-Caro- Anlage stündlich 3000
Raummeter Stickstoff. An Kühlwasser verbraucht das
Werk eine Menge, die dem Wasserverbrauch einer Stadt
von 1,7 Millionen Einwohnern entspricht.
Die mit raschem Entschluß in Angriff genommene und
über alle Kriegserschwernisse hinaus in so kurzer Zeit
durchgeführte Errichtung der Reichswerke, deren Pro-
duktion schon der Frühjahrsbestellung des Jahres 1916
zugutekam, hat unsere Ernährungswirtschaft vor einer
Katastrophe bewahrt. Aber der Heeresbedarf an Stick-
stoff wuchs in solchen Progressionen, daß die Reichswerke
alsbald auch für die Sprengstoffherstellung herangezogen
123
Finanzielle Kriegführung
werden mußten. Ich habe in der ersten Zeit des Krieges
Schätzungen gehört, die den militärischen Bedarf an
etwa 20%igen Stickstoff Verbindungen auf 12 000 bis
15 000 Tonnen für den Monat bezifferten. Als ich in die
Lage kam, über die Stickstoffbeschaffung zu verhandeln,
war bereits von erheblich größeren Mengen die Rede. Zu
Beginn des Jahres 1916 wurde mir der militärische Monats-
bedarf auf etwa 40 000 Tonnen beziffert, und schließlich
sind wohl 100 000 Tonnen im Monat erreicht und über-
schritten worden. Diese Entwicklung zwang mich und
später meinen Nachfolger im Reichsschatzamt, den Grafen
Rödern, für immer neue Erweiterungen und Neuanlagen
zu sorgen, die leider zum Schaden der Landwirtschaft
immer wieder von den alle Erwartungen weit übertreffen-
den Neuanmeldungen der militärischen Stellen überholt
wurden. Soweit meine Kenntnis reicht, ist während des
Krieges die deutsche Stickstoffgewinnung auf einen Um-
fang gebracht worden, der die gesamte Vorkriegsproduktion
von Chilesalpeter (2,1 Millionen Tonnen) übersteigt und
nahezu das Doppelte des normalen deutschen Jahres-
verbrauches an Stickstoffverbindungen ausmacht.
Im Reichstag fand ich mit meinem Ermächtigungs-
gesetz für die Einführung eines Stickstoff-Handelsmonopols
wenig Verständnis. Die Kommission, der die Vorlage über-
wiesen wurde, ließ sich lange und interessante Vorträge
von Sachverständigen halten, die in ihrer überwiegenden
Mehrzahl gleichzeitig Interessenten und als solche dem
124
Das Stickstoffhandelsmonopol
Handelsmonopol abgeneigt waren. Sie vertiefte sic6 in
eine unfruchtbare und in der Hauptsache unberechtigte
Kritik dessen, was noch in der allerletzten Stunde getan
worden war, während eine berechtigte Kritik sich gegen
das hätte richten müssen, was lange genug versäumt und
unterlassen worden war. Ich wies vergeblich darauf hin,
daß die neue, so ungemein wichtige Industrie durch den
Zusammenschluß der chemischen Fabriken und die von
diesen mit der Ammoniakvereinigung unserer Montan-
industrie getroffenen Vereinbarungen auf dem besten
Wege zum Privatmonopol war; ferner, daß unter englischer
Führung eine Vertrustung sowohl der Chilesalpeter-Gewin-
nung wie auch der ausländischen Luftstickstoff-Industrie
drohte. Die Notwendigkeit, dem Reich in der neuen
Industrie eine nach innen und außen hinreichend gesicherte
Position zu schaffen, wurde nur von einer Minderheit
erkannt. Die Kommission konnte sich schließlich weder
zu einer Zustimmung noch zu einer glatten Ablehnung
aufschwingen, und ich mußte mich entschließen, den end-
gültigen Austrag der Frage, der angesichts der unabsehbar
gewordenen Verlängerung des Krieges an Dringlichkeit
verloren hatte, einer gelegeneren Zeit zu überlassen.
Eine ähnliche Erfahrung habe ich gemacht, als ich bei
Gelegenheit des Erwerbs der bisher von dem amerikanischen
Tabaktrust abhängigen deutschen Zigarettenfabriken durch
ein deutsches Konsortium dem Reich die Option auf diese
etwa ein Viertel der deutschen Zigarettenproduktion
125
Finanzielle Kriegführung
darstellenden Fabriken zum Einstandspreis mit einem ge-
ringfügigen Zuschlag sicherte, und zwar ohne das Reich
für den Erwerb dieser Option auch nur mit einem Pfennig
zu belasten. Auch hier, wo es sich darum handelte, das
Reich in einer für ein ertragreiches Monopol reifen In-
dustrie zunächst einmal Fuß fassen zu lassen, fand ich
kein Verständnis, mußte mich vielmehr im Hauptausschuß
des Reichstags dafür angreifen lassen, daß ich es vor-
gezogen hatte, dem Reich die Möglichkeit des billigen
Erwerbs dieser Fabriken zu sichern, statt die Fabriken
ihrer Konkurrenz auszuliefern.
Heute, im Bann des Schlagworts ,, Sozialisierung“,
denkt man anders, bis zur Übertreibung ins entgegen-
gesetzte Extrem. Man wird wohl gerade auch der Stick-
stoffindustrie weit radikaler zu Leibe gehen, als das in
meinen Plänen lag. Jedenfalls aber glaube ich, daß der
Typ des gemischtwirtschaftlichen Betriebs, wie ich ihn
bei den Reichswerken für das Zusammenwirken von Reich
und privatem Unternehmertum in einem einheitlichen
Betrieb geschaffen habe, den Vorzug vor manchen anderen
Formen der ,, Sozialisierung“ verdient. Er sichert dem
Reich die Kontrolle des Betriebs und den Vorteil aus
Preiserhöhungen, die in den Produktionskosten nicht be-
gründet und nur infolge der monopolartigen Stellung des
Unternehmens oder auf Grund von Preiskonventionen
erzielbar sind; er läßt auf der andern Seite dem privaten
Unternehmer weitgehende Freiheit in der Gestaltung des
126
Kriegsrohstofiabteilung und Reichsschatzamt
Betriebs und einen starken Anreiz, durch Vervollkomm-
nung von Technik und Organisation, die ihm allein ge-
stattet, seinen Gewinn zu steigern, die Produktion zu
verbilligen.
Ich habe die Stickstoff-Angelegenheit eingehender dar-
gestellt einmal wegen ihrer großen Wichtigkeit für die
Kriegführung und die Abwehr der Hungersnot, dann
als Beispiel dafür, wie ich die Aufgabe der Reichsfinanz-
verwaltung auf faßte. In ähnlicher Weise bin ich auf ver-
wandten Gebieten vorgegangen. Das Betätigungsfeld, das
ich vorfand, war allerdings dadurch stark eingeengt, daß
in den fünf Kriegsmonaten, die vor dem Beginn meiner
Amtsführung lagen, die Zivilbehörden, und mehr als alle
andern das Reichsschatzamt, die Initiative auf den die
Kriegführung berührenden wirtschaftlichen Gebieten der
sehr tatkräftigen Kriegsrohstoffabteilung des Kriegs-
ministeriums überlassen hatten, die dann, ohne sich viel
um die Zivilressorts zu kümmern, ihren Weg ging. Da
außerdem das Kriegsministerium,unbehindert durch irgend-
welchen Widerspruch, das Recht für sich in Anspruch ge-
nommen hatte, über die vom Reichstag für die Zwecke des
Krieges bewilligten Kredite frei zu verfügen, ohne für die
einzelnen Ausgaben die Zustimmung derReichsfinanzverwal-
tung einzuholen, so fehlte es dem Reichsschatzamt sogar
an einer vollständigen Übersicht über das, was im Kriegs-
ministerium auf diesem für die deutsche Volkswirtschaft
und die Reichsfinanzen so wichtigen Gebiete unternommen
127
Finanzielle Kriegführung
wurde. Der Krieg, der rasches Handeln fordert, duldet
keine Verzögerung dringender Entschlüsse durch das Auf-
werfen und Durchkämpfen von Kompetenzkonflikten. Ich
suchte deshalb die notwendige Fühlung und Zusammen-
arbeit auf gütlichem Wege und durch die Bereitwilligkeit
zu positiver und aktiver Mitarbeit ‘herzustellen, wie sie
meine Behörde in der Stickstoff-Angelegenheit geleistet
hatte. Ich fand hierfür sowohl bei den Leitern des Kriegs-
ministeriums wie auch bei der Kriegsrohstoffabteilung
Verständnis. Von den später im Einvernehmen und
Zusammenarbeiten mit der Heeresverwaltung in Angriff
genommenen Aufgaben erwähne ich die Schaffung einer
großen deutschen Aluminiumindustrie auf Grund der
während des Krieges entwickelten neuen Verfahren, die
eine wirtschaftliche Herstellung von Aluminium auch aus
deutscher Tonerde gestatten, während bis dahin nur das
aus dem Ausland, hauptsächlich aus Frankreich, bezogene
Bauxit als verwendbar galt. Ich habe den Abschluß der
schwierigen Verhandlungen infolge meines Übertritts zum
Reichsamt des Innern allerdings meinem Nachfolger im
Reichsschatzamt überlassen müssen.
Erwähnen möchte ich ferner die Mitwirkung des Reichs-
schatzamts bei der Schaffung der Handels-U-Boote, von
denen die ,, Deutschland“ vor dem Ausbruch des Krieges
mit den Vereinigten Staaten zwei erfolgreiche Fahrten
nach Amerika gemacht hat, während ihr Schwesterschiff,
die „Bremen“, auf der ersten Reise verschollen ist.
128
Handels-U-Boote
Die enorme Knappheit und Teuerung von Kautschuk,
Nickel und einigen anderen Stoffen, von denen für Kriegs-
zwecke an sich nicht sehr erhebliche Mengen, diese aber
unbedingt erforderlich waren, veranlaßten mich, bei der
Marine Erkundigungen darüber einzuziehen, ob nicht
U-Boote für die Heranführung dieser Stoffe verwendet
werden könnten. Ich dachte zunächst an eine Übernahme
der Materialien von neutralen Schiffen auf hoher See.
Dieser Weg erwies sich technisch und auch in Rücksicht
auf die mit allen Mitteln arbeitende englische Überwachung
als nicht gangbar. Der vergrößerte Aktionsradius unserer
U-Boote, der sich in Fahrten durch die Straße von Gi-
braltar nach Konstantinopel so glänzend bewährt hatte,
ließ mich die Frage aufwerfen, ob nicht ein Anlaufen
amerikanischer Häfen, in denen Kautschuk und Nickel
bereitgestellt werden konnten, durch U-Boote, die ad hoc
zu desarmieren gewesen wären, sich ermöglichen lassen
würde. Auch dieser Gedanke stieß auf Schwierigkeiten;
einmal war nicht mit Sicherheit vorauszusehen, ob die
Vereinigten Staaten ursprünglich als Kriegsfahrzeuge ge-
baute U-Boote als Handelsschiffe anerkennen und behan-
deln würden; vor allem aber erklärte Herr von Tirpitz,
von den großen und leistungsfähigen U-Booten keines
entbehren zu können. Es blieb also nur übrig, U-Boote
von vornherein als Handelsschiffe zu bauen.
Meine Gedanken begegneten sich mit denen des Bremer
Großkaufmanns Lohmann, der mich Anfang September 1915
9 Helfferich, Weltkrieg II
129
Finanzielle Kriegführung
besuchte. Lohmann ließ auf Grund unserer Unterhaltung
von der Weserwerft in Bremen Pläne für ein Handelst auch-
boot konstruieren. Die Pläne waren Anfang Oktober fertig
und wurden dem Reichsmarineamt vorgelegt, dessen Ein-
verständnis wegen der möglichen Konkurrenz mit dem Bau
von Kriegstauchbooten erforderlich war. Es ergab sich,
daß zu gleicher Zeit auf Veranlassung der Firma Krupp die
Germaniawerft in Kiel Pläne für ein Handelstauchboot aus-
gearbeitet hatte. Die Pläne der Germaniawerft sahen eine
größere Tonnage vor; außerdem konnte die Germaniawerft
für zunächst zwei Handelstauchboote eine Fertigstellung
schon für April und Mai 1916 in Aussicht stellen.
Risiko und Gewinnaussichten des Unternehmens waren
ungewöhnlich groß. Das Risiko wurde dadurch erleichtert,
daß sich die Firma Krupp bereit erklärte, eines der beiden
U-Boote unentgeltlich zur Verfügung zu stellen lediglich
unter der Bedingung, daß dieses U-Boot auf seinen zwei
ersten Reisen gegen Zahlung einer hoch bemessenen Fracht
eine bestimmte Menge Nickel, die für Krupp in Amerika
lagerte, nach Europa befördere.
Zur Durchführung des Unternehmens wurde zwischen
Herrn Lohmann und mir die Gründung der „Deutsche
Ozean-Rhederei G. m. b. H.“ vereinbart. Das Reich nahm
der Gesellschaft das Risiko ab und behielt sich anderer-
seits die großen Gewinnaussichten vor.
Im Juni 1916 konnte die „Deutschland“ in aller
Stille ihre erste Reise an treten. Das Geheimnis war
130
U-Deutschland
vollständig gewahrt worden. Die Ankunft der „U-Deutsch-
land“ in Baltimore am lo. Juli erregte in der ganzen
Welt Sensation. Die englische Anzweifelung des Cha-
rakters der „U-Deutschland“ als Handelsschiff fand
keinerlei Handhabe. Die Rückreise vollzog sich un-
gestört.
Auf der Ausreise hatte die „U-Deutschland“ Farbstoffe
geladen, deren Verkauf in Amerika einen Reingewinn in
der mehrfachen Höhe des Einstandspreises des Tauch-
bootes erbrachte. Auf der Rückfahrt nahm das Tauchboot
mehrere hundert Tonnen Kautschuk und Nickel mit.
Allein die Differenz zwischen dem Einstandspreis des
Kautschuks und dem Preis, der damals in Deutschland
für Kautschuk bezahlt werden mußte, erreichte eine
stattliche Anzahl von Millionen und übertraf noch er-
heblich den Gewinn der Ausfahrt. Vor allem aber war
durch die eine Reise der dringende Heeresbedarf an Roh-
gummi und Nickel für eine größere Anzahl von Monaten
gedeckt.
Es wurde, noch ehe die „U-Deutschland“ zurückge-
kommen war, der Bau von weiteren sechs Tauchbooten be-
schlossen. Die Kosten waren im voraus durch den Gewinn
der ersten Reise gedeckt. Die neuen U-Boote kamen als
Handelsschiffe nicht mehr zur Verwendung. Vor ihrer
Fertigstellung erfolgte der Bruch zwischen der Union
und Deutschland. Die Schiffe wurden nun als Kriegs-
tauchboote ausgebaut.
Finanzielle Kriegführung
Kriegskosten und Sparsamkeit
Neben der tätigen Mitarbeit an der Durchführung
kriegsnotwendiger Maßnahmen und Unternehmungen
durfte die Sparsamkeit in der Ausgabe Wirtschaft nicht
vernachlässigt werden. Die täglichen Nachweisungen über
die Inanspruchnahme der Reichshauptkasse waren in
ihren gewaltigen Ziffern, die immerzu den Drang nach
oben zeigten, eine immer wiederkehrende Mahnung.
Als ich das Reichsschatzamt übernahm, beliefen sich
die bis dahin — also in den ersten sechs Monaten des
Krieges — entstandenen Ausgaben auf rund 8650 Millionen
Mark. Der Monat August hatte infolge der außerordent-
lichen Ausgaben für die Mobilmachung allein 2047 Mil-
lionen beansprucht, der September eine Ausgabe von
970 Millionen Mark, — er blieb der einzige Kriegs-
monat, dessen Ausgaben den Betrag einer Milliarde nicht
überschritten. Schon der Oktober hatte eine Steigerung
der Kriegsausgaben auf 1262 Millionen Mark gebracht.
Die Ausgaben des Januar 1915 schlossen mit 1545 Millionen
ab. Für den Februar war ein ähnlicher Betrag, für den
März ein bereits erhebheh höherer Bedarf angemeldet. In
der Tat haben die Ausgaben des März den Betrag von 2 Mil-
liarden Mark noch um 35 Millionen überschritten und da-
mit die Kosten des Mobilmachungsmonats nahezu erreicht.
Bei allem meinem Vertrauen in die finanzielle Kraft
Deutschlands erfüllte mich diese Steigerung mit ernster
132
Steigerung der Kriegsausgaben
Sorge. Die erste Kriegsanleihe hatte rund 4^/2 Milliarden
erbracht. Aber wenn auch diese Summe das Ergebnis aller
bisher dagewesenen Anleiheoperationen weit übertraf, so
deckte sie doch nur etwa die Kriegsausgaben der ersten drei
Monate und nur etwas mehr als das Doppelte der Kriegs-
ausgaben des einen Monats März 1915. Als ich am i. Fe-
bruar 1915 das Schatzamt übernahm, waren an unverzins-
lichen Schat^anweisungen bereits wieder 4365 Millionen
Mark im Umlauf, und dieser Umlauf stieg bis Ende März
1915 auf 7209 Millionen Mark. Auch wenn man für die
im März 1915 aufgelegte zweite Kriegsanleihe ein noch
wesentlich höheres Ergebnis erwartete, als es die erste
Kriegsanleihe erbracht hatte, mußte man bei einem
weiteren Steigen der monatlichen Kriegsausgaben mit
einem für das finanzielle Durchhalten verhängnisvollen
Anschwellen der Begebung von Schatzanweisungen und
damit — da die Reichsbank der Hauptabnehmer war
— mit einem lawinenartigen Anwachsen des Noten-
umlaufs, einer schrittweisen Wert Verringerung unseres
Geldes und einer entsprechenden Steigerung des allgemeinen
Preisniveaus rechnen. Nur die peinlichste Sparsamkeit
konnte einer solchen Entwicklung entgegen wirken.
Es war mir wie aller Welt bekannt, daß in den ersten
Wochen nach Kriegsausbruch die mit der Beschaffung
von Heeresbedarf aller Art betrauten Stellen der Heeres-
verwaltung keineswegs überall sachgemäß vorgegangen
waren, sondern vielfach geradezu kopflos gehandelt hatten.
Finanzielle Kriegführung
Der dringende Bedarf gewaltigen Umfangs für Ausrüstung
und Verpflegung unserer Truppen scheint in manchen
darauf nicht vorbereiteten Bureaus geradezu eine Panik
erzeugt zu haben. Unter dem Druck der Beschaffungs-
notwendigkeit kam es zu der von mir späterhin überall
auf das Schärfste bekämpften Parole: ,,Geld spielt keine
Rolle“; es ist vorgekommen, daß den Lieferanten höhere
Preise angeboten worden sind, als sie ihrerseits zu fordern
sich für berechtigt hielte. Unter dem gleichen Drucke
haben manche Beschaffungsstellen, statt mit dem Produ-
zenten oder dem regulären Handel in Verbindung zu
treten, sich mit Gelegenheits-Zwischenhändlern übelster
Sorte, wie der Krie-g sie gleich Pilzen aus dem Boden
schießen ließ, in Geschäfte eingelassen, die das Reich
über Gebühr belasteten und nicht die erforderliche Ge-
währ für eine sachgemäße Lieferung boten. Auch die
Organisation der Beschaffung des Heeresbedarfs ließ
manches zu wünschen übrig ; es kam vor, daß sich verschie-
dene Beschaffungsstellen gegenseitig Konkurrenz machten
und sich, ohne es manchmal selbst zu wissen, die Preise
in die Höhe boten.
In allen diesen Punkten war zu Anfang des Jahres 1915
bereits vieles besser geworden. Nach der Aufregung und
dem Durcheinander der ersten Mobilmachungszeit war
Ruhe und Ordnung wieder eingekehrt. Die Organisation
der Beschaffung war vervollkommnet worden. Nament-
lich auf dem Gebiete der Beschaffung von Nahrungs- und
134
„Geld spielt keine Rolle“
Futtermitteln für die Armee hatte die schon im Laufe
des August 1914 ins Leben gerufene Zentralstelle für
Heeres Verpflegung für eine sachgemäße und einheitliche
Behandlung dieses gewaltigen Einkaufsgeschäftes gesorgt.
Auch auf den übrigen Gebieten wurden neue Verträge
gründlich geprüft und eine Nachprüfung der alten Verträge
in die Wege geleitet, der Gelegenheits-Zwischenhandel nach
Möglichkeit ausgeschaltet und direkte Abschlüsse mit den
Produzenten angestrebt. Es war natürlich für die Finanz-
verwaltung unmöglich, alle die Abschlüsse und Geschäfte
der Heeresverwaltung im einzelnen mitzubearbeiten oder
auch nur zu kontrollieren; dazu hätte ein Heer von
Beamten gehört, über das ich nicht verfügte und das in
den Verhältnissen des Krieges auch nicht zu beschaffen
war; außerdem hätte der Versuch zu einer kaum zu ver-
antwortenden Erschwerung und Verschleppung der meist
dringlichen Geschäfte geführt. Es blieb also nur eine
allgemeine Einwirkung im Sinne einer zweckmäßigen
Organisation und sachgemäßen Behandlung der Be-
schaffung des Heeresbedarfs, sowie die Mitarbeit bei
einzelnen wichtigen Verträgen und die Kontrolle durch
gelegentliche Stichproben.
Darüber hinaus betrachtete ich es als meine Aufgabe,
die maßgebenden militärischen Stellen von der zwingenden
Notwendigkeit einer eisernen Sparsamkeit zu überzeugen.
Der verhängnisvolle Grundsatz: ,,Geld spielt keine Rolle“
mußte vom Kopfe her ausgebrannt werden. Nachdem
135
Finanzielle Kriegführung
ich eine hinreichende Übersicht über die Verhältnisse ge-
wonnen hatte, reiste ich Ende April 1915 in das Große
Hauptquartier, um dort mit dem Chef des Generalstabs,
dem Kriegsminister, dem Generalquartiermeister und dem
Generalintendanten des Feldheeres über die Möglich-
keiten der Erzielung von Ersparnissen zu beraten. Wir
kamen in mehrtägiger Beratung zu dem Ergebnis, daß
sowohl bei den sachlichen wie namentlich auch bei den
persönhchen Ausgaben eine strengere Sparsamkeit sich
ohne Beeinträchtigung der Kriegführung durchführen
lasse. Insbesondere die offensichtlich auf einen kurzen
Krieg zugeschnittene Kriegsbesoldungsordnung und ihre
Anwendung bot Spielraum zu geldersparenden Korrek-
turen. Aber auch in der Materialwirtschaft wurde vielfach
noch gar zu sehr aus dem Vollen geschöpft. Ich konnte
in dieser Beziehung aus meinen Besuchen an der Front
und vor allem aus einer Besprechung mit dem früheren
Kriegsminister, General von Einem, damals Führer der
Champagne-Armee, wertvolle Anregungen gewinnen.
Daß meine Bemühungen nicht ganz ohne Erfolg waren,
zeigt die Entwicklung der Kriegsausgaben. Ich habe das
Schatzamt verwaltet vom i. Februar 1915 bis zum i. Juni
1916. Die Ausgaben im März 1915 stellten sich, wie ich
bereits erwähnte, auf 2035,5 Millionen Mark. In den
meisten der folgenden Monate blieben die Ausgaben hinter
dem Betrage von 2 Milliarden Mark zurück. Im März
1916 behefen sie sich auf 2059 Millionen, also nur wenig
136
streben nach sparsamerer Wirtschaft
höher, als ein Jahr zuvor. Die folgenden Monate April und
Mai erforderten 1,884 und 2,008,5 Milliarden Mark. Die
Ausgaben sind also in den sechzehn Monaten meiner Ver-
waltung nicht irgendwie nennenswert weiter angewachsen :
und dieses Ergebnis ist erzielt worden trotz der Ausdeh-
nung der Kriegsschauplätze, trotz der weiteren Vermehrung
des Effektivbestandes unserer Truppen, trotz der gestie-
genen Preise für Nahrungsmittel und Rohstoffe und trotz
der starken Ausdehnung der Fabrikation von Kriegsgerät
und Munition.
Ich muß dabei hervorheben, daß ich niemals auch nur
in einem einzigen Fall Wünschen oder Absichten des
Kriegsministeriums «auf Beschaffung von Kriegsgerät oder
Munition entgegengetreten bin. Die Beurteilung des in
dieser Beziehung für die erfolgreiche Führung des Krieges
Notwendigen konnte ich um so beruhigter der ausschließ-
lichen Verantwortung der zuständigen militärischen Stellen
überlassen, als die an mich herantretenden Anträge den
Rahmen unserer finanziellen und wirtschaftlichen Leistungs-
fähigkeit in jener ersten Phase des Krieges nicht über-
schritten. Nur ein einziges Mal bin ich als Reichsschatz-
sekretär in die Lage gekommen, einer unsere militärische
Ausrüstung betreffenden Absicht Widerspruch entgegen-
setzen zu müssen, und dieser eine Fall ging nicht das
Landheer an, sondern die Marine. Im Herbst 1915 wollte
das Reichsmarineamt auf kaiserliche Anordnung für einen
gesunkenen Kreuzer ein großes modernes Schlachtschiff
137
Finanzielle Kriegführung
in Auftrag geben. Bei der auf drei bis vier Jahre ver-
anschlagten Bauzeit war die Wahrscheinlichkeit, daß
dieser kostspielige Neubau noch für den Krieg von Nutzen
sein könnte, zum mindesten zweifelhaft. Außerdem hätte
der Neubau große Anforderungen an die knappen Arbeits-
kräfte und Materiahen gestellt und diese dem für alle
Eventualitäten notwendigen U-Bootbau entzogen. Infolge-
dessen verweigerte ich meine Zustimmung und der Neu-
bau unterbheb. Im übrigen habe ich den verantwortÜchen
mihtärischen Behörden für die Ausrüstung des Heeres
mit Kriegsgerät und Munition durchaus freien Spielraum
gelassen; in wichtigen Fällen, so in der Frage der Stick-
stoffbeschaffung und der Handelstauchboote, bin ich aus
eigener Initiative, ohne militärische Anträge abzuwarten,
mit Maßnahmen und Ausgaben vorgegangen, die der
Kriegführung wesentlich zugutekamen.
Ich stelle diesen Sachverhalt hier fest, um einer Le-
gendenbildung entgegenzutreten, die sich später, zur Zeit
der Beratung des Gesetzes über den vaterländischen Hilfs-
dienst, herausgebildet hat. Damals wurde ausgestreut —
ich habe nicht ermitteln können, von welcher Seite — die
unbefriedigenden Zustände in der Munitionserzeugung, die
sich um die Mitte des Jahres 1916 herausgestellt hatten,
seien auf Geldverweigerungen des Reichsschatzamts zu-
rückzuführen. Ich habe damals schon im Hauptausschuß
des Reichstags in Gegenwart der Vertreter der für die
Munitionsbeschaffung zuständigen militärischen Stellen
138
Keine Geldverweigerung des Reichsschatzamtes
dieselbe Feststellung gemacht wie hier, daß in keinem
einzigen Fall die Beschaffung von Kriegsgerät und Munition
durch ein Eingreifen des Schatzamtes verhindert oder auch
nur verzögert worden ist. Auf die tatsächlichen Zustände
in der Munitionserzeugung um die Mitte des Jahres 1916
komme ich weiter unten im Zusammenhang mit dem
Vaterländischen Hilfsdienst zurück.
Die Kriegsanleihen
Die ungeheuren Kosten des Krieges, die bisher in der
Geschichte der Völker auch nicht annähernd ihresgleichen
hatten — überschritt doch bereits im Jahre 1915 die
durchschnittliche Monatsausgabe Deutschlands die deut-
schen Gesamtauf Wendungen für den Krieg von 1870/71
— stellten die Finanzpolitik der kriegführenden Völker
vor ganz neue Aufgaben und Probleme. Der gesamte
Umlauf an metallischen und papiernen Zahlungsmitteln
in Deutschland bewegte sich vor dem Kriege zwischen
4 und 5 Milliarden Mark. Der Krieg machte schon im
Jahre 1915 die monatliche Beschaffung und Verausgabung
von 2 Milliarden Mark erforderlich, ein Betrag, der gegen
Ende des Krieges auf nahezu 5 Milliarden Mark an-
gewachsen ist. Das gesamte jährliche Volkseinkommen
Deutschlands hatte vor dem Kriege einen B.etrag von
42 bis 45 Milliarden Mark erreicht. Die Kriegsausgaben
139
Finanzielle Kriegführung
des Jahres 1915 stellten sich auf rund 23 Milliarden Mark,
die Kriegsausgaben des Jahres 1918 auf 50,2 Milliarden
Mark. Diese Gegenüberstellung läßt ermessen, was die
Beschaffung und Verausgabung der für den Krieg er-
forderhchen Gelder für die deutsche Finanz Wirtschaft und
Volkswirtschaft bedeutete.
Drei grundsätzlich verschiedene Wege standen den
kriegführenden Staaten zur Aufbringung der Mittel für
die Kriegführung zur Verfügung und sind von allen krieg-
führenden Staaten gleichzeitig benutzt worden, allerdings
in verschiedenem Maße und in einem sich während des
Krieges erheblich verschiebenden Verhältnis:
1. Die Schaffung neuer Kaufkraft zugunsten des Staates
im Weg des unmittelbaren Druckes von Papiergeld oder
der Begebung von Schatzanweisungen gegen die Ausgabe
neuer Banknoten oder gegen die Schaffung neuer Guthaben.
2. Die Aneignung vorhandener Kaufkraft durch den
Staat im Wege der Begebung von Anleihen gegen vor-
handene Zahlungsmittel.
3. Die Aneignung vorhandener Kaufkraft durch den
Staat im Wege der Erhebung von Steuern.
Der erste Weg ist der bequemere aber gefährlichere;
der zweite und namentlich der dritte Weg ist schwieriger
aber gesunder. Der erstere Weg führt notwendigerweise zu
einer sich fortgesetzt steigernden Überfüllung des Verkehrs
mit Zahlungsmitteln (Inflation) und zu einer in der sich über-
stürzenden Steigerung aller Preise zum Ausdruck kommenden
140
Methoden der Aufbringung der finanziellen Mittel
Entwertung des Geldes. Der zweite Weg vermeidet diese
Gefahr, aber er belastet, ebenso wie der erste, die Zu-
kunft. Der dritte Weg schließlich, der sowohl die In-
flation, wie auch die Belastung der Zukunft vermeidet,
führt über solche Widerstände und Hemmungen wirtschaft-
licher und pohtischer Natur, daß kein kriegführender
Staat auf diesem Wege allein seinen Kriegsbedarf auch
nur annähernd hat decken können.
Alle kriegführenden Staaten sahen sich zunächst auf
den Weg der Schaffung neuer Kaufkraft für den Kriegs-
bedarf gedrängt. In der Hauptsache nahmen sie ihre
Zentralbanken durch die Diskontierung kurzfristiger
Schatzscheine gegen Noten oder Gutschrift in Anspruch.
Sie konnten nicht anders; denn die gewaltigen Zahlungen
für die Mobilmachung mußten geleistet werden, während
die Geldmärkte in der ersten Panik die schwerste Klemme
durchmachten, also Bargeld nicht nur nicht abgeben
konnten, sondern für sich selbst benötigten.
Hunderte von Millionen, ja Milliarden neuen Geldes
ergossen sich also in den ersten Wochen des Krieges über
die Volkswirtschaft. Alles, was für das Heer zu liefern
hatte, wurde bar bezahlt. Auf dem Wege über die Arbeits-
löhne und die Gebührnisse für Offiziere und Mannschaften
drang der neue Geldstrom bis in die kleinsten Kanäle
des Verkehrs. Die Geldklemme der ersten Kriegstage
wurde bald durch eine wachsende Geldflüssigkeit abgelöst.
Wenn einer bedenklichen Inflation vorgebeugt werden
Finanzielle Kriegführung
sollte, dann mußte durch eine Änderung der Geldbeschaf-
fung der allzu reichlich fließende Quell der papiemen
Scheine verstopft und die Hochflut neuer Zahlungsmittel
aufgesaugt werden.
Die Begebung langfristiger Anleihen und die Aus-
schreibung neuer Steuern standen zu diesem Zweck zur
Verfügung.
Man wählte bei uns den Weg der Anleihe (September
1914) und erzielte mit einem Zeichnungsergebnis von fast
4 1/2 Milliarden Mark den bereits geschilderten Erfolg.
Als ich das Schatzamt Anfang Februar 1915 übernahm,
war der Etatsentwurf für das kommende Rechnungsjahr
im wesentlichen fertiggestellt. Es war darin ein neuer
— dritter — Kriegskredit von abermals 5 Milliarden
Mark vorgesehen, 'den ich auf 10 Milliarden Mark er-
höhte. Steuern waren nicht vorbereitet. Der Reichsbank-
präsident schlug mir für den März die Ausgabe einer
zweiten Kriegsanleihe vor.
Mit dieser Situation hatte ich mich zunächst abzufinden.
Steuergesetze lassen sich nicht aus dem Ärmel schütteln,
namentlich nicht in einem Bundesstaat. Bis zum Zu-
sammentritt des Reichstags standen nur wenige Wochen
zur Verfügung. Da der Reichsetat in seinen ordentlichen
Einnahmen und Ausgaben infolge der Übernahme der
gesamten Ausgaben für Heer und Marine auf den Kriegs-
fonds balancierte, ja sogar noch die Aufrechterhaltung
der planmäßigen Schuldentilgung gestattete, konnte die
142
Kriegsauleihen
recht schwierige und umstrittene Frage der Kriegssteuern
für dieses Mal auf sich beruhen bleiben. Um so mehr
kam es darauf an, die Anleihe zu einem vollen Erfolge
zu führen.
Der Erfolg unserer ersten Kriegsanleihe und ihre Kurs-
entwicklung nach der Zeichnung — der Kurs stieg alsbald
über den Ausgabekurs von 97^/2% und erreichte zeitweise
100% — hatten gezeigt, daß die Anleihebedingungen
richtig gegriffen waren. Ein Vergleich mit England, dem
einzigen kriegführenden Staat, der außer uns schon im
Jahre 1914 mit einer großen Anleihe an das Publikum
herantrat, mußte diesen Eindruck bestätigen. Bei uns
hatte man sich sofort entschlossen, den Kriegsverhältnissen
durch die Gewährung einer 5%igen Verzinsung Rechnung
zu tragen. England, das zwei Monate nach uns, im No-
vember 1914, eine Anleihe im Betrage von 350 Millionen
Pfund Sterling auflegte, gewährte nur eine 3V2%ig^
zinsung bei einem Ausgabekurs von 95%. Die Anleihe
wurde vom Publikum nicht voll genommen ; die englischen
Großbanken mußten sich am letzten Zeichnungstage unter
dem sanften Druck der britischen Regierung entschließen,
100 Millionen für sich zu übernehmen, um wenigstens
den Anschein eines Erfolges zu retten. Der Kurs der
Anleihe ging alsbald unter den Ausgabekurs (95%) und
sank im Frühjahr 1915 bis 87^/2% herab. Der Mißerfolg
war eingetreten, obwohl die Bank von England den Zeich-
nern weit größere Erleichterungen gewährte, als unsere
143
Finanzielle Kriegführung
Darlehriskassen. Die Bank von England erklärte sich
bereit, die Kriegsanleihe sofort bis zur vollen Höhe des
Ausgabekurses zu einem Satz von i% unter Bankdiskont
zu bevorschussen, während unsere Darlehnskassen Be-
leihungen nur bis zu 75% und zu einem Satz von
über Bankdiskont Vornahmen.
Sowohl der eigene Erfolg wie der britische Mißerfolg
konnten uns also nur bestärken, an dem im September
1914 gewählten Anleihetyp festzuhalten. Das war auch
die Meinung aller Sachverständigen aus der Bankwelt,
den Sparkassen und Genossenschaften, mit denen ich
mich alsbald nach Übernahme des Schatzamtes in Ver-
bindung setzte.
Notwendig erschien aber eine weitere Ausgestaltung der
Werbetätigkeit. Der Ertrag der ersten Anleihe von
4^/2 Milliarden Mark mußte, um unsere Kriegsfinanzen flott-
zuerhalten, ganz erheblich übertroffen werden. Dazu war
es erforderlich, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit
für die Anleihe zu interessieren. „Es gilt“ — so habe ich
in meiner Antrittsrede im Reichstag ausgeführt — „dem
ganzen Volk klarzumachen, daß dieser Krieg mehr als
irgendein anderer zuvor nicht nur mit Blut und Eisen,
sondern auch mit Brot und Geld geführt wird. Für diesen
Krieg gibt es nicht nur eine allgemeine Wehrpflicht,
sondern eine allgemeine Sparpflicht und eine allgemeine
Zahlpflicht. Der Verschwender notwendiger Lebensmittel
und der Mammonsknecht, der sich nicht von seinem
144
Gedanke der finanziellen Welirpflicht
Gelde trennen kann, ist um kein Haar besser als der Deser-
teur, der sich seiner Wehrpflicht entzieht. Unser Ruf,
der Ruf der finanziellen Kriegsleitung, geht an alle, an
Groß und Klein, und Schande über jeden, der sich taub
stellt
Der Gedanke der finanziellen Wehrpflicht mußte hundert-
tausendfältig den Köpfen eingehämmert werden. Das
war durch einige Ministerreden allein nicht zu erreichen,
auch wenn diese von dem Standort der größten Publizität,,
der Tribüne des Reichstags, gehalten wurden. Es bedurfte
vielmehr einer weitverzweigten, wohlgegliederten und eng-
maschigen Organisation über das ganze deutsche Land.
In dieser Beziehung mußten die im September 1914 ge-
schaffenen Anfänge ausgebaut werden.
Zunächst wurde der Kreis der Zeichnungsstellen erwei-
tert; neben den Banken, Sparkassen und Versicherungs-
gesellschaften wurden sämtliche Kreditgenossenschaften
und Postanstalten als Zeichnungsstellen aufgetan. Dann
wurde im Zusammenwirken mit den Landesregierungen
die Aufklärungs- und Werbearbeit organisiert : die Land-
räte, die Gemeindevorsteher, die Geistlichen, die Lehrer,
nicht zum wenigsten die Zeitungen wurden für diese
Arbeit mobilgemacht. Merkblätter, die alles Wissens-
werte über die Kriegsanleihen enthielten, wurden in Mil-
lionen von Exemplaren verbreitet; Musterverträge und
für die Werbearbeit in Betracht kommendes Material wurden
den örtlichen Propagandaorganisationen überwiesen.
10 Ml Ifferich, Weltkrieg 11
145
Finanzielle Kriegführung
Es war für den Reichsbankpräsidenten und für mich
eine Freude zu sehen, mit welchem patriotischen Eifer
überall die Werbetätigkeit aufgenommen wmrde, und wie
sich' allerorten freiwillige Mitarbeiter zur Verfügung
stellten.
Der Erfolg übertraf alle Erwartungen.
Die zweite Kriegsanleihe erbrachte ein Ergebnis von
9100 Millionen Mark, also mehr als den doppelten Ertrag
der ersten Kriegsanleihe.
Die im September 1915 ausgegebene dritte Kriegs-
anleihe erzielte sogar einen noch größeren Erfolg: der
gezeichnete Betrag erreichte die Summe von 12 160 Mil-
lionen Mark.
Insgesamt wurden also im Jahre 1915 rund 21 260 Mil-
lionen Mark auf dem Anleihe weg aufgebracht, während
die Kriegskosten des Jahres 1915 sich auf 22 965 Mil-
lionen beliefen. Die Kriegskosten des Jahres 1915 wurden
also bis auf einen nicht erheblichen Bruchteil durch den
Ertrag der Anleihen des Jahres 1915 gedeckt. Für die
zweite Hälfte des Jahres 1915 war das Verhältnis noch
günstiger: die Kriegsausgaben stellten sich auf 12 091
Millionen, der Ertrag der Kriegsanleihe auf 12 160 Mil-
lionen.
Als die Zeichnungsfrist der dritten Kriegsanleihe Ende
September 1915 ablief, waren an kurzfristigen Schatz-
anweisungen begeben rund 10 Milliarden Mark. Der Er-
trag der dritten Kriegsanleihe übertraf diese Summe um
146
Zweite bis vierte Kriegsanleihe
rund 2 Milliarden Mark. Die Belastung des Reiches mit
kurzfristigem Kredit war also durch die dritte Kriegs-
anleihe vollständig abgebürdet.
Die vierte Kriegsanleihe, die letzte in meiner Amts-
zeit als Reichsschatzsekretär, zeigte allerdings gegenüber
der dritten einen leichten Rückgang : sie ergab lo 768 Mil-
lionen Mark, also rund i 400 Millionen Mark weniger als
die dritte, aber immer noch i 668 Millionen mehr als die
zweite Kriegsanleihe. Das Ergebnis war zweifellos beein-
trächtigt worden durch den damals heftige Formen an-
nehmenden Streit um den U-Bootkrieg und den in die
Zeichnungsperiode fallenden Rücktritt des Großadmirals
von Tirpitz. Dem Ertrag der vierten Kriegsanleihe stan-
den gegenüber die Kriegsausgaben des ersten Halbjahrs
1916 mit rund ii 750 Millionen Mark. Die Kriegsausgaben
waren also in diesem Halbjahr um rund eine Milliarde
Mark höher als der Anleiheertrag. Als Ende März 1916
die Zeichnungsfrist auf die vierte Kriegsanleihe ablief,
stellte sich der Betrag der vom Reich ausgegebenen kurz-
fristigen Schatzanweisungen auf 10 400 Millionen Mark.
Das Zeichnungsergebnis der vierten Kriegsanleihe mit
10 768 Millionen Mark deckte also auch difeses Mal noch
den Betrag der ausstehenden Schatzanweisungen.
Als ich am 31. Mai 1916 das Schatzamt verließ, stellten
sich die Kriegsausgaben des Reiches auf rund 39780 Mil-
lionen Mark. Davon waren durch die vier Kriegsanleihen
gedeckt rund 36 Milliarden Mark.
IO*
147
Finanzielle Kriegführung
Kein anderer kriegführender Staat hat eine auch nur
annähernd gleich erfolgreiche Anleihepohtik durchzuführen
vermocht.
England sah sich nach dem ungenügenden Erfolg seiner
ersten Kriegsanleihe vom November 1914 zunächst zur
Geldbeschaffung im Wege des kurzfristigen Kredits ge-
*
nötigt. Im Juni 1915 legte es eine zweite langfristige
Anleihe auf, dieses Mal mit einer nominellen Verzinsung
von 4^/2%- Während man in Deutschland während des
ganzen Krieges bei der von Anfang an gewählten 5%igen
Verzinsung bleiben konnte, war England also gezwungen,
bereits bei der zweiten Kriegsanleihe einen um 1% höheren
Zinssatz zu gewähren als bei der ersten. Es hat späterhin
bei der dritten Anleihe im Februar 1917 auf 5% gehen
und einen Emissionskurs von 95% anbieten müssen,
während Deutschland bis zuletzt für seine gleichfalls
5%igen Kriegsanleihen einen Ausgabekurs von 98% fest-
halten konnte. Die englische Kriegsanleihe vom Juni
1915 wurde dem Publikum durch allerlei Reizmittel
schmackhaft gemacht; so vmrde dem Publikum der Um-
tausch sowohl der ersten 3^/2%igen Kriegsanleihe als auch
der 2^/2%igen Konsuls zu bestimmten günstigen Sätzen
gegen die neue 4^/2%ige Kriegsanleihe unter der Be-
dingung der gleichzeitigen Barzeichnung auf die neue
Anleihe freigestellt; vor allem aber erhielten die Zeichner
die Berechtigung, für den später praktisch gewordenen
Fall der Ausgabe einer höher verzinslichen Anleihe die
148
Anleihepolitik der Gegner
4V2%igen Stücke ohne weiteres gegen Stücke der neuen
höher verzinslichen Anleihe tauschen zu dürfen. Trotz aller
dieser Reizmittel erreichte die Zeichnung, abgesehen von den
Tauschstücken, nicht ganz 600 Millionen Pfund Sterling.
Um dieses Ergebnis zu erreichen, mußten die Banken
200 Millionen übernehmen. Der Kurs der neuen Anleihe
ging alsbald um einige Prozent unter den Ausgabekurs
zurück. Der Markt war durch die verfehlte Operation
derartig gestört und das Schatzamt war durch das für
die Zukunft zugestandene Konversionsrecht derartig be-
hindert, daß bis zum Februar 1917 eine neue Anleihe-
operation überhaupt nicht zustande kam. Ende Mai 1916
hatte Deutschland 36 Milliarden Mark, England nur
19 Milliarden Mark durch die Begebung langfristiger An-
leihen aufgebracht. Und obwohl England, im Gegensatz
zu Deutschland, damals schon die Steuerschraube stark
angezogen hatte, stellten sich seine kurzfristigen Verbind-
lichkeiten auf nicht viel weniger als 20 Milliarden Mark,
während die unsrigen nur zwischen 4 und 5 Milliarden
betrugen.
Frankreich kam erst im November 1916 mit einer
Anleihe heraus. Sie war mit einer 5%igen Verzinsung aus-
gestattet und wurde zum Kurs von 88% begeben. Ihr
Ergebnis belief sich, abgesehen von dem auch hier als
Lockmittel zugelassenen Umtausch älterer niedriger ver-
zinslicher Anleihen, auf rund 13,7 Milliarden Franken, also
um etwa auf 12 Milliarden Mark. Man kann annehmen.
149
Finanzielle Kriegführung
daß Frankreich um die Mitte des Jahres 1916 etwa zwei
Drittel seiner Kriegskosten durch Inanspruchnahme kurz-
fristiger Kredite und Darlehen seiner Zentralbank hatte
decken müssen.
Dabei waren sowohl England als auch Frankreich in
einem Punkte wesentlich günstiger gestellt als wir: es
stand ihnen die finanzielle Unterstützung der Vereinigten
Staaten von allem Anfang an in wesentlich größerem
Umfang zur Verfügung als uns. Die Sympathien der
amerikanischen Finanzwelt und des Publikums waren
ganz vorwiegend auf der Seite der Westmächte. Während
England und Frankreich ohne jede Schwierigkeit die
gewäinschten Kredite erhalten und im Herbst 1915
sogar eine gemeinschaftliche Anleihe von 500 Millionen
Dollar mit einem amerikanischen Finanzkonsortium ab-
schließen konnten, hatten wir die größten Schwierigkeiten,
auch nur die bescheidensten Beträge in Amerika auf-
zubringen. Gleich nach Beginn des Kriegs hatte die
Reichsleitung den früheren Staatssekretär des Reichs-
kolonialamts, Herrn Dernburg, nach Amerika geschickt,
in der Hoffnung, durch seine Vermittlung in Amerika
Geldquellen erschließen zu können. Aber auch seinen
Bemühungen gelang es nicht, etwas Nennenswertes zu
erreichen. Bald nach meiner Übernahme des Reichs-
schatzamtes gelang es allerdings, durch ein Bankhaus
zweiten Ranges Schatzscheine wenigstens in dem be-
scheidenen Betrag von 10 Millionen Dollar unterzubringen.
Amerikanische Geldhilfe
Aber bald mußte der größte Teil davon wieder zurück-
gekauft werden, um eine für unsern Kredit bedenkliche
Entwertung zu verhindern.
Es ist später gegen unsere Kriegsfinanzpolitik mitunter
der Vorwurf erhoben worden, sie habe versäumt, Amerika
rechtzeitig finanziell für uns zu interessieren, und es so
geschehen lassen, daß die Vereinigten Staaten ein ein-
seitiges Interesse an unsern Feinden genommen hätten.
Der Vorwurf beruht auf einer Verkennung der wahren
Sachlage. Als im März 1916 ein Abgeordneter im Haupt-
ausschuß des Reichstags mich beglückwünschte, daß ich
den Geldbedarf für den Krieg im Inland decken könne
und nicht, wie die Engländerund Franzosen, nach Amerika
gehen müsse, da antwortete ich, daß der Redner meine
tugendhafte Enthaltsamkeit überschätze, und daß ich gern
von Amerika Geld nehmen würde, wenn ich es nur be-
kommen könnte. Die Amerikaner haben im weiteren
Verlauf des Weltkriegs nicht etwa deshalb für die Entente
Partei genommen, weil sie dieser Geld gegeben hatten
und uns nicht, sie hatten vielmehr der Entente Geld
gegeben und nicht uns, weil sie von Anfang an in diesem
Völkerringen mit ihren ganz überwiegenden Sympathien
auf der Seite der Westmächte standen.
Trotzdem wir so viel stärker auf die eigne Kraft an-
gewiesen waren als unsre Feinde, gelang es uns, mit
unsrer Anleihepolitik den geschilderten Vorsprung zu
gewinnen.
Finanzielle Kriegführung
Aber auch bei uns in Deutschland hat sich die günstige
Situation, die bei meinem Ausscheiden aus dem Schatz-
amt noch bestand, späterhin stark verändert. Unter der
Einwirkung der seit dem Herbst 1916 ins Ungemessene
wachsenden Kriegsausgaben hat sich, trotzdem jetzt das
Erträgnis der Kriegssteuern hinzutrat, das günstige Ver-
hältnis zwischen Kriegsausgaben und Anleihedeckung
nicht aufrechterhalten lassen ; die Reichsfinanzverwaltung
hat sich vielmehr von Halbjahr zu Halbjahr immer weiter
auf den bedenklichen Weg des kurzfristigen Kredits und
der Inanspruchnahme der Reichsbank abgedrängt ge-
sehen. Die Kriegsausgaben, die noch im August 1916
rund I 980 Millionen betragen hatten, überschritten im
Oktober 1916 erstmals die Summe von 3 Milliarden. Seit
April 1917 sind sie niemals wieder unter 3 Milliarden im
Monat hinabgegangen, im Oktober 1917 überschritten sie
den Betrag von 4 Milliarden und haben sich seit jener
Zeit mit einer Tendenz zur weiteren Steigerung fast
ständig über dem Monatsbetrag von 4 Milliarden bewegt.
Im Oktober 1918 wurde die ungeheure Summe von 4,8 Mil-
liarden Mark erreicht. Einem Gesamtaufwand für den
Krieg von 23 Milliarden Mark im Jahre 1915 steht ein
solcher von mehr als 50 Milliarden im Jahre 1918 gegenüber.
Mit diesem gewaltigen Anwachsen der Kriegsausgaben
hielt die Steigerung des Ergebnisses der Kriegsanleihen
nicht Schritt. Den höchsten Ertrag hat die achte Kriegs-
anleihe vom März 1918 mit 15 Milliarden Mark erbracht ;
152
Anwachsen der Kriegsausgaben
aber die durch diese Anleihe zu deckende Halbjahres-
ausgabe stellte sich auf wesentlich mehr als 20 Milliarden
Mark. Der Erlös dieser Anleihe ließ einen Betrag
von 24 Milliarden kurzfristiger Schatzanweisungen unge-
deckt, während zwei Jahre zuvor die vierte Kriegsanleihe
die damals begebenen Schatzanweisungen noch restlos
abgedeckt hatte. Jetzt hat sich, nach den Mitteilungen
der Reichsfinanzminister Schiffer und Dernburg in der
Nationalversammlung, der Betrag der ausgegebenen Reichs-
schatzanweisungen und Reichswechsel auf den unge-
heuren Betrag von weit mehr als 60 Milliarden Mark
erhöht !
Vom Herbst 1916 an ist also die Deckung unserer
Kriegsausgaben auf die schiefe Ebene geraten und mit
wachsender Beschleunigung abwärts gerollt.
Kriegsstcuern
Diese im Herbst 1916 einsetzende bedenkliche Entwick-
lung unserer Kriegsfinanzwirtschaft legt die Frage doppelt
nahe, ob nicht früher und in stärkerem Maße, als es
geschehen ist, neue Steuern zur Deckung der Kriegsaus-
gaben hätten herangezogen werden sollen.
Heute, wo wir alle vom Rathaus kommen, wird diese
Frage im Brustton der Überzeugung bejaht von Leuten,
die im Rathause selbst noch ganz anderer Meinung
153
Finanzielle Kriegführung
gewesen sind. Und diese Treppenklugheit erfreut sich des
allgemeinen Beifalls.
Steuern als Mittel zur Deckung des Kriegsbedarfs haben
mit der Aufbringung durch die Ausgabe langfristiger An-
leihen den Vorteil gemeinsam, daß sie lediglich bereits vor-
handene Kaufkraft aus den Händen Privater in die Hände
des Staates legen, daß also die Volkswirtschaft sich nicht
den Gefahren der Überflutung mit neuen Zahlungsmitteln
aussetzt; daß ferner der Staat vor dem Damoklesschwert
der kurzfristigen Verbindlichkeiten gewaltigen Umfangs
bewahrt bleibt. Vor dem Anleihe weg hat der Steuerweg den
Vorteil voraus, daß er die endgültige Lösung der Deckungs-
frage darstellt, während die Anleihe die Deckungsfrage
für Zinsen und Tilgung auf die Zukunft schiebt. Aber wenn
es schon in normalen Zeiten ein anerkannter Grundsatz
der staatlichen Finanzwirtschaft ist, daß neben der Steuer
auch die Anleihe, also das Verschieben der Belastung auf
die Zukunft, ihre Berechtigung hat, so kann im Kriege
der Vorzug der endgültigen Deckung erst recht nicht ohne
weiteres zugunsten der Steuern den Ausschlag geben. In
der Tat hat kein kriegführendes Land auf dem Steuerweg
allein seinen Kriegsbedarf aufgebracht oder auch nur einen
erheblichen Teil seiner Kriegsausgaben gedeckt. Auch
England nicht. Die'' britischen Minister haben sich zwar
zu Anfang des Krieges auf die gute alte Tradition be-
rufen, die' Gelder für den Krieg soweit wie möglich durch
Steuern zu beschaffen, was sogar in den langen und
154
Anleihen und Kriegssteuern
kostspieligen napoleonischen Kriegen bis zu 45 % der
gesamten Kriegskosten gelungen war. Der Weltkrieg hat
aber so enorme finanzielle Ansprüche gestellt, daß auch
England, so stark es die Steuerschraube anzog, nur einen
sehr bescheidenen Bruchteil der Kriegskosten durch Kriegs-
steuern zu decken vermochte. Bis zum Ablauf des Finanz-
jahres 1917/18 stellten sich die englischen Kriegskosten
(ohne die bei uns in Deutschland auf den ordentlichen Etat
genommenen und durch laufende Einnahmen gedeckten
Zinsen der Kriegsanleihen) auf rund 120 Millionen Mark,
die steuerliche Deckung auf rund 15 Milliarden Mark*
gleich I2V2% deckenden Kriegsausgaben. Dabei
kamen von den 15 Milliarden Mark rund 7^/3 Milliarden
Mark, also die Hälfte, auf die Kriegsgewinnsteuer.
Das Beispiel Englands zeigt also, wie bescheiden an-
gesichts der enormen Kosten des Weltkrieges das Ziel bei
einer Finanzierung eines Teiles der Kriegskosten durch
Steuern gesteckt werden mußte.
Dabei lagen bei uns in Deutschland die Verhältnisse für
die Ausschreibung von Kriegssteuern ungleich ungünstiger
als in England.
Schon die bundesstaatliche Verfassung des Reiches be-
deutete eine empfindliche Einschränkung der Bewegungs-
freiheit der Reichsfinanzverwaltung. Die Bundesstaaten
beanspruchten das Gebiet der direkten Steuern als ihre
Domäne und setzten einem Hinübergreifen des Reiches
♦ Siehe Prion, Steuer- und Anleihepolitik Englands während des Krieges, S. 24.
155
Finanzielle Kriegführung
auf dieses Gebiet starken Widerstand entgegen ; nicht etwa
nur die einzelstaatlichen Regierungen, sondern auch die
einzelstaatlichen Landtage. Demgegenüber gab es wohl
Druckmittel, aber keine Zwangsmittel. Auch die Druck-
mittel waren nur beschränkt anwendbar; denn über die
Tatsache war nicht hinwegzukommen, daß die Einzel-
staaten und neben ihnen die Kommunen und Kommunal-
verbände für die Deckung ihres im Kriege gleichfalls an-
wa-chsenden Geldbedarfs sich in der Hauptsache auf die
direkten Steuern angewiesen sahen. Auf der andern Seite
hatte die Erfahrnng gezeigt, daß im Reichstag indirekte
Steuern nur in Verbindung mit Reichssteuern auf Besitz
und Einkommen Aussicht auf Annahme hätten. Dazu kam
der doktrinäre Standpunkt der Sozialdemokratie, die in-
direkte Steuern grundsätzlich ablehnte. Da ohne eine
starke Heranziehung indirekter Steuern auf Verbrauch und
Verkehr ein praktisch durchführbares Steuerprogramm
überhaupt nicht denkbar war — auch England hat im
Krieg seine Verbrauchs- und Verkehrssteuern stark er-
höht — , so drohte also von einem Versuch mit Kriegssteuern
eine Gefährdung des seit dem 4. August 1914 behüteten
,, Burgfriedens“. Schließlich war zu berücksichtigen, daß die
Abschnürung Deutschlands von der Außenwelt uns eine
Reihe ergiebiger Steuerquellen verschlossen hatte, die Eng-
land nach wie vor zur Verfügung standen. England konnte
den Einfuhrzoll auf Kaffee, Tee und Kakao mit guter
Wirkung erhöhen; bei uns gab es an diesen Genußmitteln
156
Vergleich mit England
keine nennenswerte Einfuhr mehr. England konnte Bier
und Branntwein mit großen Summen heranziehen; wir
mußten die Herstellung von Trinkbranntwein verbieten
und die Bierbrauerei auf das Äußerste einschränken. Der
Spielraum für die als Domäne des Reiches anerkannte in-
direkte Besteuerung war also durch den Krieg selbst auf
das Empfindlichste eingeschränkt. Darüber hinaus war
dem deutschen Volk durch den britischen Wirtschafts-
und Hungerkrieg eine so ungleich größere Belastung seines
Lebens und seiner Wirtschaft auferlegt als unsern Fein-
den, denen außer den eigenen Hilfsquellen die finanzielle
und wirtschaftliche Unterstützung der überseeischen Welt,
namentlich Amerikas, zur Verfügung stand, daß sich die
Frage von selbst aufwarf: Ist es zu verantworten, und wie
weit ist es zu verantworten, dem deutschen Volk während
des Krieges selbst im Steuerwege Lasten aufzubürden, die
es voraussichtlich erheblich leichter nach Wiederherstel-
lung des Friedens würde bewältigen können?
Aber so groß diese Bedenken und Schwierigkeiten auch
waren, ein unübersteigliches Hindernis für jedes Anziehen
der Steuerschraube während des Krieges durften sie nicht
bilden. Es war bei längerer Dauer des Krieges mit Zwangs-
momenten zu rechnen, die kaum eine andere Wahl lassen
würden, als neben den Anleihen auch die Steuern in An-
spruch zu nehmen. Eines dieser Zwangsmomente war in
verhältnismäßig naher Zeit mit Sicherheit zu erwarten:
die Notwendigkeit, den ordentlichen Etat, dessen Belastung
L57
Finanzielle Kriegführung
durch die Zinsen der Kriegsanleihen stark zunehmen mußte,
im Gleichgewicht zu halten. Wenn man will, ein formaler'
Gesichtspunkt, wie überhaupt die Ordnung etwas Formales
ist. Aber dieser formale Gesichtspunkt gab wenigstens einen
bestimmten Anhalt, während die Frage, welcher Prozent-
satz der eigentlichen Kriegsausgaben durch Steuern ge-
deckt werden sollte, nur durch einen ganz willkürlichen
Griff hätte entschieden werden können. Außerdem konnte
von der steuerlichen Deckung der Anleihezinsen noch wäh-
rend des Krieges, die als ein lösbares Problem sich darstellte,
ein immerhin recht wertvolles Zehrgeld für die Übergangs-
zeit bis zur endgültigen Neuordnung der Reichsfinanzen
erwartet werden, ein Zehrgeld, das um so nötiger erscheinen
mußte, als für die Friedenszeit mit erheblich größeren
Schwierigkeiten hi der Aufnahme von Anleihen zu
rechnen war als während des Krieges. Der Krieg be-
deutete für zahlreiche Unternehmungen den Ausverkauf
ihrer Bestände, ohne daß Neuanschaffungen möglich
waren. Das für Neuanschaffungen nicht verwendbare Geld
stand für die Kriegsanleihen zur Verfügung. Nach dem
Friedensschluß mußte sich diese Sachlage ändern; die
Unternehmungen würden — das war zu erwarten — flüssige
Mittel brauchen, um ihre geleerten Bestände an Rohstoffen,
Halbfabrikaten, Fertigwaren usw. wieder aufzufüllen,
ihren technischen und maschinellen Apparat zu erneuern
und zu ergänzen. Mit der Fortsetzung des Kreislaufs,
in dem der größere Teil des als Kriegsausgabe vom Reich
Zwangsmomente für Kriegssteuern
hinausgegebenen Geldes als Einzahlung auf Anleihen an
das Reich wieder zurückfloß, v/ar also nicht zu rechnen.
Auch konnte niemand erwarten, daß nach Friedensschluß die
Anleihezeichnung in demselben Maße noch als patriotische
Pflicht aufgefaßt werden würde wie während des Krieges.
Um so wichtiger und unerläßlicher war es, rechtzeitig dafür
zu sorgen, daß für die Übergangszeit bereits Neueinnahmen
ausreichenden Umfanges zur Verfügung stehen würden.
Das zweite Zwangsmoment, das während meiner Ver-
waltung des Schatzamts praktisch noch nicht in Erschei-
nung trat, sich aber später in bedenklichem Umfang ein-
stellte, war die volkswirtschaftliche Notwendigkeit, einer
,, Inflation'' und ihren verhängnisvollen Begleiterscheinun-
gen entgegenzu wirken. Solange die Anleihebegebung die
Kriegskosten annähernd deckte, lag keine Gefahr vor.
Wenn aber, was vom Herbst 1916 an in steigendem Maße
der Fall war, der Ertrag der Anleihen hinter den Kriegs-
ausgaben zurückblieb, so entstand ein Vakuum, das nur
durch Schaffung neuer Zahlungsmittel seitens des Staates,
also um den Preis der Inflation, ausgefüllt werden konnte
— oder durch ein starkes Anziehen der Steuerschraube.
Zum mindesten lag dann angesichts der zersetzenden und
verheerenden Wirkungen der Inflation die Notwendigkeit
vor, durch das Mittel der Besteuerung nach Möglichkeit
entgegenzuarbeiten .
Nach diesen Erwägungen habe ich während meiner Amts-
zeit als Schatzsekretär die Finanzpolitik geführt.
159
Finanzielle Kriegführung
Als ich den Haushaltsplan für 1915/16 beim Reichstag
einbrachte, mußte ich von Kriegssteuern absehen, da,
als ich wenige Wochen zuvor das Amt übernahm, nichts
in dieser Richtung vorbereitet war ; ich konnte von Kriegs-
steuern absehen, da noch keines der geschilderten Zwangs-
momente vorlag. Ich habe späterhin häufig den Vorwurf
gehört, ich hätte mich damals grundsätzlich gegen die Er-
hebung von Kriegssteuern ausgesprochen. Das ist ein Irr-
tum, der auch durch öfteres Wiederholen nicht zur Wahrheit
geworden ist. Ich habe in meiner Etatsrede vom 10. März
1915 ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der Voranschlag
für das kommende Rechnungsjahr ohne Kriegssteuern
balanciere, obwohl nicht nur die Verzinsung der bis dahin
aufgelaufenen Kriegsschulden auf den ordentlichen Etat
übernommen, sondern auch die planmäßige Tilgung der
alten Reichsschuld aufrechterhalten worden war. Ich habe
hinzugefügt :
,,Der zwingende Anlaß, aus Gründen der rechnungs-
mäßigen Balancierung des ordentlichen Etats zu neuen
Steuern zu greifen, liegt also für uns nicht vor, j eden falls
zur Zeit noch nicht. Unter diesen Umständen haben
die verbündeten Regierungen geglaubt, zur Zeit von
der Einbringung von Kriegssteuern Abstand nehmen zu
können.“
In den folgenden Monaten ließ ich in meinem Amt die in
Betracht kommenden Kriegssteuern durcharbeiten. Für
den IO. Juli 1915 hatte ich die bundesstaatlichen Finanz-
160
Kriegssteuervorlagen
Minister zu einer Besprechung der finanziellen Lage ein-
geladen. Ich stellte auf dieser Versammlung auch die Frage
der Kriegssteuern zur Erörterung. Die Finanzminister
kamen in eingehender Aussprache zu einem Einverständnis
darüber, daß dem Reichstag auch in der für den lo. August
in Aussicht genommenen Tagung Kriegssteuern nicht vor-
geschlagen werden sollten. Ich erklärte damals ausdrück-
lich, daß ich den Verzicht auf Kriegssteuern, der mir per-
sönlich nicht leicht v/erde, nur dann würde durchhalten
können, wenn nicht ein weiterer Winterfeldzug nötig werde.
Diesem Standpunkt getreu habe ich im Winter 1915/16
den Bundesrat und den Reichstag mit einer Anzahl von
Steuervorlagen befaßt. Die zwingende Notwendigkeit
lag jetzt vor; denn trotz der Übernahme der gesamten
laufenden Ausgaben für Heer und Flotte auf den Kriegs-
fonds zeigte der ordentliche Etat einen rechnungs-
mäßigen Fehlbetrag von 480 Millionen Mark, dessen starke
Erhöhung im wirklichen Ergebnis mit Sicherheit zu er-
warten war.
Meine Vorschläge umfaßten:
1. Eine Kriegsgewinnsteuer.
2. Eine Anzahl von Verbrauchs- und Verkehrssteuern,
nämlich eine Erhöhung der Tabakabgaben, einen Quittungs-
stempel, einen Frachturkundenstempel und Zuschläge zu
den Post- und Telegraphengebühren.
Die Einbringung des Kriegsgewinnsteuergesetzes ent-
sprach den Wünschen aller Parteien. Dagegen stieß jeder
II Helfferich, Weltkrieg II
161
Finanzielle Kriegführung
weitere Schritt auf erhebliche Schwierigkeiten. Schon
innerhalb des Kreises der Reichsleitung hatte ich es nicht
leicht. Namentlich die Postzuschläge fanden bei dem Staats-
sekretär des Reichspostamts den stärksten Widerspruch,
der schließlich nur durch eine Entscheidung des Reichs-
kanzlers überwunden werden konnte. Die Parteien des
Reichstags zeigten sich kühl oder feindlich. Der Führer
der Nationalliberalen, Herr Bassermann, machte mir die
eindringlichsten Vorstellungen, ich solle darauf verzichten,
den Burgfrieden der Parteien auf eine Probe zu stellen, der
er nicht gewachsen sei. Der Reichstag werde unter Um-
ständen genötigt sein, über meine Vorlagen einfach zur
Tagesordnung überzugehen. Ich hielt Herrn Bassermann
entgegen, daß ein Burgfrieden, der nur um den Preis des
Verzichts auf zwingende sachliche Notwendigkeiten auf-
rechterhalten werden könne, ein fauler Friede sei, der
mehr schade als nütze ; ich sei entschlossen, meine Steuer-
vorlagen einzubringen und mit ihnen, bei aller Geneigtheit,
über Einzelheiten mit mir reden zu lassen, zu stehen und
zu fallen. — Noch unmittelbar vor Torschluß kam der
Zentrumsführer Dr. Spahn aus einer Sitzung seiner Frak-
tion zu mir, um mir gleichfalls dringend nahezulegen, die
Steuervorlagen zurückzuziehen. Auf meine kategorische
Ablehnung richtete er an mich die Frage: „Sind Sie wenig-
stens der Deckung durch den Kanzler sicher?“ Ich ant-
wortete: ,, Seiner Zustimmung unbedingt.“ Herr Spahn
schüttelte bedenklich den Kopf und erzählte dann, in
162
Kriegssteuervorlagen
der Fraktionssitzung habe ein Abgeordneter berichtet, er
habe an einer Sitzung beim Reichskanzler teilgenommen,
in der die Frage der Kriegssteuern besprochen worden sei;
der Kanzler habe schließlich anerkannt, daß die Gefährdung
des Burgfriedens durch die neuen Steuern vermieden
werden müsse. Ich antwortete: ,,Der Abgeordnete heißt
natürlich Erzberger, und die Sache ist Unsinn. Ich werde
aber zu Ihrer Beruhigung den Sachverhalt sofort beim
Reichskanzler selbst fest stellen.'' Herr von Bethmann
war über den Bericht des Herrn Erzberger empört. Herr
Erzberger hatte ihn am Vormittag besucht und dabei auch
die burgfriedlichen Bedenken gegen die Kriegssteuern
vorgebracht. Herr von Bethmann hatte ihm geantwortet,
das sei alles überlegt worden, und nach reiflicher Prüfung
habe man sich zur Einbringung der Vorlagen entschlossen;
dabei müsse es bleiben.
Und es blieb dabei.
Aber es wurde eine schwere Geburt.
Presse und Parlament zausten in der grausamsten Weise
an meinem Steuerbukett herum. Die ^ einen erklärten
Kriegssteuern für überflüssig und schädlich, den andern war
ich zu schüchtern. Die Sozialdemokraten riefen nach wei-
teren direkten Steuern, insbesondere nach einer Erneuerung
des Wehrbeitrags und nach einer Reichserbschaftssteuer,
und lehnten die Verbrauchs- und Verkehrssteuern trotz
Krieg und Kriegsnot nach altem Friedensbrauch grund-
sätzlich ab. Alle fanden, meine Steuern seien Stück- und
I*
163
Finanzielle Kriegführung
Flickwerk; und damit hatten sie recht. Unrecht hatten
sie nur, wenn sie von mir in diesem 'Stadium des Krieges
ein „organisches Ganzes'' und eine „großzügige einheit-
liche Reichsfinanzreform" verlangten. Es wäre Vermessen-
heit gewesen, im zweiten Kriegs] ahr eine durchgrei-
fende und endgültige Neuordnung der deutschen Finanzen
schaffen zu wollen. Auch mein Nachfolger hat in seinen
Steuervorlagen von 1917 und 1918 sich damit begnügen
müssen, zu Notbehelfen zu greifen und die endgültige
Neuordnung der Reichsfinanzen der Friedenszeit zu über-
lassen.
Die Verbrauchs- und Verkehrssteuem wurden mit
Änderungen, wie sie nun einmal der Reichstag seiner
Würde schuldig zu sein glaubte, im großen Ganzen ange-
nommen. Die Änderungen, die der Reichstag an meinen
Sätzen für die Postgebühren vomahm, hat er zwei Jahre
später zum großen Teil wieder nach rückwärts korrigiert.
Die Vorlage über den Quittungsstempel erfuhr eine gänz-
hche Umgestaltung: der Quittungsstempel wurde zu
meiner Freude durch den Umsatzstempel ersetzt. Ich
hatte im Schatzamt den Entwurf eines Umsatzstempel-
gesetzes in allen Einzelheiten ausarbeiten lassen, da
ich den Umsatzstempel für eine sehr entwicklungsfähige
Steuer hielt, und weü ich in ihm eine wichtige Er-
gänzung unseres Steuersystems erblickte. Ich habe
darüber bei der zweiten Lesung der Steuervorlagen
ausgeführt :
164
Kriegssteu er Vorlagen
„Das Einkommen wird von den Einzelstaaten und
Kommunen bei seinem Entstehen an seiner Wurzel als
Einkommen gefaßt. Die Besteuerung und Verwendung
des Einkommens liegt nun in der Weise beim Reich, daß
derjenige Teil, der verbraucht wird, unter den Umsatz-
stempel fällt, und zwar proportional zum Verbrauch,
und derjenige, der nicht verbraucht wird, also einen Ver-
mögenszuwachs bildet, unter die Vermögenszuwachs-
steuer fällt.“
Wenn ich die Umsatzstempelvorlage nicht von vornherein
einbrachte, so war für mich in erster Linie bestimmend die
Befürchtung, daß diese Neuerung als allzu kühn abgelehnt
werden würde. Den bereits dreimal vom Reichstag ab-
gelehnten Quittungsstempel schlug ich vor, weil ich der
Ablehnung so gut wie sicher war und dann wenigstens
die Aussicht hatte, daß man mir aus dem Reichstag heraus
als Ersatz die Umsatzsteuer präsentieren könnte.
So geschah’s.
Der Abgeordnete Müller-Fulda erwies mir, ohne es selbst
zu ahnen, den von mir erwarteten Gefallen.
Am schlimmsten verunstaltet wurde das Kriegsgewinn-
steuergesetz.
Die Verteilung der Steuergebiete zwischen Reich und
Einzelstaaten legte es nahe, die Kriegsgewinnsteuer als
eine Steuer von dem während des Krieges eingetretenen
Vermögenszuwachs zu konstruieren. Den Nachteil, daß
bei dieser Konstruktion der Sparsame getroffen und der
Finanzielle Kriegführung
Verschwender gewissermaßen belohnt wird, wollte ich
dadurch wenigstens einigermaßen ausgleichen, daß ich
für die Bemessung des Steuersatzes den Grad der Ein-
kommensteigerung während des Krieges mitbestimmend
sein Heß. Es war nicht ganz einfach gewesen, die Bundes-
regierungen, die jede Heranziehung der Einkommen durch
das Reich als einen Einbruch in ihre steuerliche Domäne
anzusehen geneigt waren, für dieses Zugeständnis zu ge-
winnen. Die Reichstagskommission setzte nun in ihrer
ersten Lesung eine selbständige Steuer vom Mehreinkom-
men neben die Steuer auf den Vermögenszuw^achs, und
als die verbündeten Regierungen dagegen Einspruch er-
hoben, schüttete sie das Kind mit dem Bade aus und strich
— zur großen Freude der einzelstaatlichen Finanzminister —
jede Berücksichtigung des Mehreinkommens aus dem Ge-
setz heraus. Denn geändert mußte nun einmal werden,
wenn nicht nach links, dann nach rechts!
Eine neue große Schwierigkeit entstand infolge des
Kommissionsbeschlusses, gleichzeitig mit der Kriegsge-
winnsteuer einen neuen Wehrbeitrag zu erheben. Freisin-
nige und Nationalhberale hatten sich den Sozialdemokraten
angeschlossen, während Zentrum und Konservative da-
gegen stimmten. Die einzelstaatlichen Regierungen mel-
deten bei mir den schärfsten Widerspruch an. Die ganzen
Steuergesetze drohten an dieser Differenz zu scheitern.
Der Abgeordnete Schiffer machte nun den Vorschlag,
neben der Kriegsgewinnsteuer eine einmalige Vermögens-
i66
Kriegsgewinnsteuer und Vermögensabgabe
abgabe von i°/oo zu erheben. Am ii. Mai fand eine inter-
fraktionelle Beratung statt, an der alle Parteien teilnahmen,
außer den Sozialdemokraten, die wegen ihrer grundsätz-
lichen Opposition gegen die indirekten Steuern fernblieben.
Die Konservativen lehnten den Schiffer ’schen Vorschlag
strikt ab. Darauf erklärte das Zentrum, daß es bei einem
Kompromiß nur mitmachen werde, wenn alle bürgerlichen
Parteien einschließlich der Konservativen sich einigten.
Wenn diese Einigung nicht gelinge, werde nichts Zustande-
kommen. Der bayrische Ministerpräsident Graf Hertling,
der an jenem Tage in Berlin war, erklärte mir, er werde im
Bundesrat unerbittlich gegen jeden solchen Kompromiß-
gedanken stimmen; er sprach dabei mit einer Erregung,
die außer Verhältnis zur Sache stand, über Unitarismus und
Revolution. Die sächsische Staatsregierung beantragte am
gleichen Tage die Befassung des Bundesrats mit den Kom-
promißverhandlungen. Ich beantragte beim Reichskanzler,
die einzelstaatlichen Ministerpräsidenten und Finanz-
minister zur Besprechung der Angelegenheit auf den 15. Mai
nach Berlin einzuladen. In diesen Beratungen setzte ich
den Schiffer’schen Vorschlag mit einer Variante durch,
die ihn den bundesstaatlichen Regierungen annehmbar
erscheinen ließ: Die Vermögensabgabe sollte sich dadurch
als eine einmalige, den Kriegsverhältnissen angepaßte
Steuer charakterisieren, daß sie — ebenso wie die Kriegs-
gewinnsteuer auf den Vermögenszuwachs abgestellt war —
auf die Vermögenseinbußen Rücksicht nahm, und
Finanzielle Kriegführung
zwar in der Weise, daß sie sich für jedes Prozent Vermögens-
verlust um ein Zehntel ermäßigte, also bei io% Vermögens-
verlust ganz in Wegfall kam. Bei einer starken Vermögens-
abgabe, wie sie jetzt wohl kommen wird, hat dieser Gedanke
seine Berechtigung und verdient geprüft zu werden. Bei
einer Vermögensabgabe von i°/oo war er eine Spielerei. Aber
diese ,, Steuer auf entgangenen Verlust“, wie sie der ba-
dische Ministerpräsident von Dusch witzig taufte, hatte
den Vorteil, die schmale Brücke zwischen kaum mehr
ausgleichbar erscheinenden Gegensätzen zu bilden. Der
Vorschlag wurde sowohl von den Bundesregierungen
wie auch von den verschiedenen bürgerlichen Parteien
angenommen, und damit war das Steuerkompromiß
perfekt.
In den letzten Tagen meiner Amtstätigkeit als Staats-
sekretär des Reichsschatzamts wurden die Steuervorlagen
vom Reichstag verabschiedet. Ich hatte die Genugtuung,
daß es mir noch gelungen war, über starke Widerstände
und Schwierigkeiten hinaus grundsätzhch die notwendige
Ergänzung unserer KriegsfinanzpoHtik durch die Aus-
schreibung von Kriegssteuem durchzusetzen.
Vorschüsse an unsere Verbündeten
Es wäre hier noch ein Wort zu sagen über die finanzielle
Unterstützung, die war zu Zwecken der Kriegfühnmg
unseren Verbündeten haben angedeihen lassen.
Finanzielle Unterstützung unserer Bundesgenossen
Während wir von außen keine nennenswerte Hilfe er-
hielten, waren unsere sämtlichen Bundesgenossen auf
unsere Hilfe angewiesen.
Österreich-Ungarn brachte die Gelder für die im Innern
zu leistenden Kriegsausgaben im Wege einer bemerkens-
wert erfolgreichen Anleihepolitik und auch von Kriegs-
steuern aus eigner Kraft auf; von uns beanspruchte es
lediglich sogenannte „Valutakredite“ zur Deckung seiner
nicht unerheblichen in Deutschland und im neutralen
Auslande zu leistenden Ausgaben. Diese Kredite wurden
ihm in Abmachungen, die regelmäßig von Halbjahr zu
Halbjahr abgeschlossen wurden, durch Vermittlung eines
deutschen Bankenkonsortiums gewährt.
Bulgarien benötigte von uns nicht nur „Valutakredite“,
sondern darüber hinaus auch einen großen Teil der Gelder
für seine inländischen Kriegsausgaben. Ich habe im
November 1915 mit dem bulgarischen Finanzminister
Tontscheff die Verträge geschlossen, auf deren Grundlage
unsere finanzielle Hilfe im Verlauf des Krieges gewährt
wurde. Die Vorschüsse der deutschen Regierung schufen,
soweit sie nicht unmittelbar zu Zahlungen in Deutsch-
land oder im neutralen Ausland verwendet wurden,
Guthaben, die als Grundlage für die Notenausgabe der
Bulgarischen Staatsbank dienten.
Sehr schwierig und verwickelt gestaltete sich die
Finanzierung des Geldbedarfs der Türkei; einmal weil die
Türkei in weit größerem Umfang als Bulgarien auch
Finanzielle Kriegführung
für die Beschaffung ihres inneren Geldbedarfs auf uns
angewiesen war; ferner weil die Bevölkerung im Innern
der Türkei an papierne Geldzeichen nicht gewöhnt war,
sondern Hartgeld verlangte; schließlich weil das türkische
Noteninstitut, die Kaiserlich Ottomanische Bank, die von
englischem und französischem Kapital beherrscht war,
passiven Widerstand leistete. Der erste Vorschuß an die
Türkei für ihre inneren Bedürfnisse, der ihr unmittelbar
nach ihrem Eintritt in den Krieg gewährt wurde, war bares
Gold; es handelte sich dabei um fünf Millionen türkische
Pfund. Dieser Weg war natürlich bei längerer Dauer des
Krieges ungangbar; er hätte den Goldbestand unserer
Reichsbank ausgepumpt. Als ich das Schatzamt übernahm,
suchte ich deshalb nach andern Mitteln. Mein V orschlag,
entweder den passiven Widerstand der Ottomanischen
Bank zu brechen oder an ihrer Stelle ein neues Noten-
institut unter deutscher Beteiligung zu errichten, scheiterte
an dem hartnäckigen Widerspruch und am passiven Wider-
stand des Finanzministers Djavid Bey. So schlug ich vor,
die Vermittlung der in der Türkei bei Einheimischen und
Fremden den besten Kredit genießenden internationalen
Administration der türkischen Staatsschulden in Anspruch
zu nehmen. Die Staatsschuldenverwaltung gab nun auf
Grund von in Berlin hinterlegten deutschen Reichs-
schatzanweisungen Zertifikate aus, die in der Türkei den
Charakter als gesetzliches Zahlungsmittel erhielten. Die
Vorschüsse der deutschen Regierung wurden also fortan
170
Geldbedarf der Türkei
in der Hauptsache in der Form von Schatzanweisungen
gewährt; nur ausnahmsweise und für besondere Zwecke
wurden noch gewisse Beträge in Gold oder auch in Silber
zur Verfügung gestellt.
Insgesamt hat der Betrag unserer Vorschüsse an die
Bundesgenossen 10700 Millionen Mark betragen; davon
sind rund 3900 Millionen Mark in bar gewährt worden,
6800 -Millionen Mark durch Begebung oder Hinterlegung
von Schatzanweisungen.
Wirtschaftskrieg
und Kriegswirtschaft
Rcichsamt des Innern
Während ich in dem ersten großen Abschnitt des Krieges
durch meine Berufung an die Spitze des Reichsschatz-
amts unsere Kriegführung auf dem Gebiete der Finanzen zu
leiten hatte und dabei in die Lage kam, gelegentlich auch
an den großen wirtschaftlichen Aufgaben mitzuarbeiten,
brachte mich die Ernennung zum Staatssekretär des
Innern Ende Mai 1916 an die Spitze derjenigen Verwaltung,
der nach der Friedensorganisation der Reichsbehörden die
Bearbeitung der wirtschaftlichen Angelegenheiten des
Reichs zustand.
Am 6. Mai ließ mir der Kanzler mitteilen, daß der bis-
herige Chef des Reichsamts des Innern, Stellvertreter des
Reichskanzlers und Vizepräsident des Preußischen Staats-
ministeriums, Staatsminister Delbrück, auf seinem schon
öfter bekundeten Entschluß, seinen Abschied zu nehmen,
nunmehr bestehe und eine baldige Genehmigung seines
Abschieds dringend wünsche. Delbrück war kurz vor
Ausbruch des Krieges im Begriff, zur Wiederherstellung
175
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
seiner stark angegriffenen Gesundheit einen mehr-
monatigen Urlaub zu nehmen; angesichts des Kriegsaus-
bruches hatte er diese Absicht aufgegeben und nun fast
zwei Jahre hindurch die gesteigerte Arbeitslast getragen,
die der Krieg für seine Ämter mit sich brachte. Seit dem
Beginn des Jahres hatte sich sein körperlicher Zustand
verschlechtert. Ich hatte mehrfach bei wichtigen Bera-
tungen für ihn eintreten müssen. Nunmehr stellte mich
der Kanzler vor die Frage, ob ich als Stellvertreter des
Reichskanzlers und als Staatssekretär des Innern die Nach-
folge Delbrücks übernehmen wolle ; für das Vizepräsidium
des Preußischen Staatsministeriums, dessen jüngstes Mit-
glied ich damals war, richtete er die gleiche Anfrage an
den Eisenbahnminister von Breitenbach.
Die Gründe, die mir Herr von Bethmann HoUweg dar-
legte, ließen mir keine Wahl, so schwer es mir auch wurde,
das Reichsschatzamt zu verlassen und das neue, kaum
zu bewältigende Amt auf mich zu nehmen. Viel stärker
noch als bei der Übernahme des Schatzamts hatte ich
das Gefühl des Sprungs ins Dunkle.
Für den Posten des Reichsschatzsekretärs fiel die Wahl
auf den Grafen von Rödern, bis dahin Staatssekretär in
Elsaß-Lothringen.
Am 22. Mai vollzog der Kaiser, der damals für kurze
Zeit im Berliner Schloß Bellevue residierte, die Ernennun-
gen. Die Kaiserin sagte mir, sie bewundere meinen Mut.
Als ich antwortete : „Was man muß, das kann man auch,“
176
Geschäftsbereich des Reichsamts des Innern
setzte sie, fast etwas vorwurfsvoll, hinzu; ,,Mit Gottes
Hilfe
Am I. Mai trat ich das neue Amt an.
Zu dem Geschäftsbereich des Reichsamts des Innern
gehörte damals die gesamte innere Politik, die Angelegen-
heiten des Bundesrats, die gesamte Sozialpolitik und die
wirtschaftlichen Angelegenheiten. Letztere mit Einschrän-
kungen. Schon vor dem Kriege waren die Angelegenheiten
der auswärtigen Handelspolitik vom Auswärtigen Amt,
das hierfür eine eigene handelspolitische Abteilung hatte,
mit dem Reichsamt des Innern gemeinschaftlich bear-
beitet worden. Gleich zu Anfang des Krieges hatten die
Militärbehörden, insbesondere die Kriegsrohstoffabteilung
des Kriegsministeriums, einen wichtigen Teil der wirt-
schaftlichen Angelegenheiten, nämlich ungefähr alles,
was mit der Ausrüstung und Versorgung des Heeres im
Zusammenhang stand, an sich genommen. Der Belage-
rungszustand und die Art und Weise, wie das auf Grund
des Belagerungszustandes den Generalkommandos zu-
stehende Verordnungsrecht ausgelegt und gehandhabt
wurde, gab den militärischen Stellen die Möglichkeit
eines viel prompteren Zugreifens, als das sogenannte
„Ermächtigungsgesetz' ' vom 4. August den Zivilbehörden.
Durch dieses Gesetz war der Bundesrat ermächtigt
worden, ,, während der Zeit des Krieges diejenigen gesetz-
lichen Maßnahmen anzuordnen, welche sich zur Abhilfe
gegenüber wirtschaftlichen Schädigungen als notwendig
12 Hel fferi ch , Weltkrieg II
177
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
erweisen' Da aber der Bundesrat eine Körperschaft war,
deren Mitglieder zu ihrer Abstimmung der Instruktion
durch ihre Regierungen bedurften, war dieses Instrument
— wenn es auch gegenüber der Notwendigkeit, den
Reichstag zu befassen, eine wesentliche Erleichterung
bedeutete — doch immerhin viel schwerfälliger als das
Verordnungsrecht der Militärbefehlshaber. Im übrigen
hat niemals eine formelle und scharfe Abgrenzung der
Arbeitsgebiete der militärischen und zivilen Behörden
stattgefunden. Vielfach griffen die Militärbehörden ein,
wenn aus militärischen Gründen die prompte Erledigung
einer wirtschaftlichen Frage notwendig war, und vielfach
kamen Angelegenheiten, die von den militärischen Stellen
in Angriff genommen worden waren, zur weiteren Be-
arbeitung an das Reichsamt des Innern zurück. Die er-
forderliche Einheitlichkeit und Kontinuität wurden durch
die wechselseitige Beteiligung von Kommissaren aufrecht-
erhalten.
Ein großer Teil der wirtschaftlichen Geschäfte des
Reichsamts des Innern wurde jetzt gleichzeitig mit dem
Wechsel im Staatssekretariat abgetrennt : die Ernährungs-
angelegenheiten.
Auf diesem Gebiete hatte sich eine straffere und schlag-
fertigere Organisation als notwendig herausgestellt. Ab-
gesehen von der Notwendigkeit der Befassung des Bundes-
rats mit den Einzelheiten der auf diesem weitschich-
tigen Gebiet erforderlichen Verordnungen war an der
178
Das Kriegsernährungsamt
Vorbereitung und Ausführung der gesetzgeberischen Maß-
nahmen außer dem Reichsamt des Innern eine große
Anzahl von Reichs- und Landesbehörden beteiligt. Die Ein-
heitlichkeit der Ausführung wurde dadurch in gleicher Weise
beeinträchtigt, wie die Schnelligkeit der Entschließung.
Es erschien deshalb angezeigt, die Befugnisse des Reichs-
kanzlers auf dem Gebiete der Volksernährung erheblich
zu erweitern und ihm für die Ausübung dieser erweiterten
Befugnisse eine besondere Zentralbehörde zur Verfügung
zu stellen. Mit dieser Lösung erklärte ich mich vor der
Übernahme des Reichsamts des Innern einverstanden.
Gleichzeitig mit meiner Ernennung zum Staatssekretär
des Innern, am 22. Mai 1916, wurde eine Bekanntmachung
des Bundesrats über Kriegsmaßnahmen zur Sicherung der
Volksernährung veröffentlicht, die dem Reichskanzler das
volle Verfügungsrecht über alle Lebens- und Futtermittel
und die zur Lebensmittel- und Futtermittelversorgung er-
forderlichen Gegenstände übertrug und ihn ermächtigte,
alle zur Durchführung der Lebensmittel- und Futtermittel-
versorgung erforderlichen Bestimmungen zu treffen. Am
selben Tage wurde durch Bekanntmachung des Reichs-
kanzlers das Kriegsernährungsamt geschaffen und diesem
die Ausübung der dem Reichskanzler auf dem Gebiete des
Ernährungswesens zustehenden Befugnisse übertragen.
Zum Präsidenten des Kriegsernährungsamts wurde der
bisherige Oberpräsident von Ostpreußen, Herr vonBatocki,
ernannt.
179
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Damit schieden die Angelegenheiten der Volksernäh-
mng aus dem Geschäftskreis des Reichsamts des Innern
aus; beim Reichsamt des Innern blieb nur die Bear-
beitung derjenigen Ernährungsangelegenheiten, die un-
trennbar mit den Fragen -unserer Einfuhr und Ausfuhr
zusammenhingen. Denn die Einfuhr von Nahrungs-
und Futtermitteln aus dem Auslande konnte nur im
engsten Zusammenhang mit allen den anderen wirt-
schaftlichen Fragen behandelt 'werden, die unser Verhält-
nis zu den einzelnen befreundeten oder neutralen Staaten
betrafen.
Im übrigen wurde mir in meiner Eigenschaft als Stell-
vertreter des Reichskanzlers eine gewisse Mitwirkung auch
bei den Geschäften des Kriegsernährungsamts Vorbe-
halten; da der Präsident des Kriegsernährungsamts nicht
zum Stellvertreter des Reichskanzlers im Sinne des Stell-
vertretungsgesetzes von 1878 ernannt wurde, blieb die
Stellvertretung des Reichskanzlers in diesem Sinne bei
mir. Angesichts des engen und unlösbaren Zusammen-
hanges der Ernährungsfragen mit der Gesamtheit der wirt-
schaftlichen Angelegenheiten erschien diese Regelung not-
wendig, um die Einheitlichkeit in der Kriegswirtschafts-
politik des Reichs nach Möglichkeit sicherzusteUen und
um zu vermeiden, daß die Zusammenfassung auf dem
Sondergebiet der Volksernährung durch eine neue Zer-
splitterung auf dem Gesamtgebiet der Kriegswirtschaft
erkauft werde. In der Praxis jedoch waren meiner
180
Das Kriegsernährungsamt
Einwirkung durch einen besonderen Umstand enge Grenzen
gezogen. Dem Kriegsernährungsamt wurde der schon
früher geschaffene Reichstagsbeirat für Volksernährung
zur Seite gestellt, mit dem alle wichtigen Verordnungen
und sonstigen Maßnahmen durchberaten wurden. Ich
habe anfänglich den Versuch gemacht, die Beratungen
des Ernährungsbeirats persönlich zu leiten und dadurch
einen unmittelbaren Einfluß auf dessen Stellungnahme
und Beschlußfassung zu gewinnen. Bei der Häufigkeit
und Ausdehnung der Sitzungen des Ernährungsbeirats
und bei der starken Inanspruchnahme meiner Zeit und
Arbeitskraft durch meine übrigen Dienstgeschäfte ließ
sich das aber nicht durchführen. Schon Ende Juli 1916
mußte ich mich entschließen, den Vorsitz dem Präsidenten
des Kriegsernährungsamts zu überlassen. Nun kamen
die Verordnungen und Bekanntmachungen zu mir zur
Unterschrift, nachdem der Ernährungsbeirat bereits Stel-
lung genommen hatte. Beanstandungen meinerseits be-
deuteten infolgedessen die Wiederaufnahme eines schwie-
rigen und langwierigen Verfahrens, oft genug in Fragen,
die keinen Aufschub duldeten. Dieser Weg war natürlich
nur in ganz wichtigen Fällen gangbar. Infolgedessen mußte
ich mich oft genug wohl oder übel entschließen, meinen
Namen unter Verfügungen zu setzen, die ich nicht für
zweckmäßig halten konnte.- Ich erinnere mich z. B. meiner
Auseinandersetzungen mit Herrn von Batocki über die
Zwangsbewirtschaftung der Eier, die ich für verfehlt hielt
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
und heute noch für verfehlt halte. Aber der Ernährungs-
beirat hatte sich festgelegt und Herr von Batocki erklärte
die Herbeiführung einer anderen Stellungnahme für ebenso
unmöglich wie eine Regelung gegen die formell nur gut-
achtlichen Beschlüsse des Ernährungsbeirats. Solche
Zwangslagen waren nicht selten. Die Ausgestaltung des
Kriegsernährungsamts zu einem Staatssekretariat unter
Übertragung der Stellvertretung des Reichskanzlers auf
den Staatssekretär war die Lösung, die sich schließlich
trotz aller in der Einheitlichkeit der Führung der Kriegs-
wirtschaft begründeten Bedenken auf drängte. In diesem
Sinne wurde die Frage im Juli 1917 bei Gelegenheit
des Übergangs der Kanzlerschaft an Herrn Michaelis
und des Kriegsernährungsamts an Herrn von Waldow
entschieden.
Das Geschäftsgebiet, das dem Reichsamt des Innern
— abgesehen von den innerpolitischen Angelegenheiten —
in den wirtschaftlichen Dingen verblieb, war auch nach'
der Abtrennung der eigentlichen Ernährungsfragen von
kaum übersehbarer Ausdehnung. Seine Bewältigung wurde
mit der Dauer des Krieges und mit der Verschärfung des
Druckes der Wirtschaftsblockade von Monat zu Monat
schwieriger. Dazu kam, daß der Personalbestand des
Reichsamts des Innern auf das äußerste eingeschränkt
war. Zu Kriegsbeginn hatte • sich ein großer Teil der
jüngeren Beamten für den Dienst mit der Waffe frei-
geben lassen. Andere mußten für die verschiedenen
182
Wachsende Amtspflichten
Kriegsorganisationen und für die Verwaltung der besetzten
Gebiete abgegeben werden. Ausreichend geschulter Ersatz
stand nicht zur Verfügung. Die dem Amt verbliebenen
Kräfte waren bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit be-
lastet. Dazu kam die ständig wachsende Beanspruchung
durch die parlamentarischen Verhandlungen. Während
im ersten Halbjahr des Krieges nur 3 kurze Plenar-
sitzungen des Reichstags stattfanden, deren steno-
graphische Berichte nur 23 Seiten umfaßten, im zweiten
Halbjahr 9 Sitzungen mit 186 Seiten Bericht, fanden im
sechsten Halbjahr des Krieges (i. Februar bis x. August
1916) nicht weniger als 37 Vollsitzungen statt, deren
stenographische Berichte auf 1280 Seiten anschwollen.
Noch mehr Zeit und Kraft nahmen die parlamentarischen
Kommissionen in Anspruch. Ich habe als Staatssekretär
des Innern lange Zeiten hindurch meine eigentlichen
Amtsgeschäfte in der Zeit vor neun oder zehn Uhr morgens
und nach sieben oder acht Uhr abends erledigen müssen und
oft erst spät nach Mitternacht die Arbeit verlassen können,
um am nächsten Morgen zu früher Stunde wieder auf
dem Plan zu sein; und ähnlich wie mir selbst, erging es
meinen wichtigsten Mitarbeitern.
Mit diesem überlasteten Apparat mußten die gewaltigen
Anforderungen bewältigt werden, die der Krieg in immer
steigendem Maße an die wirtschaftliche Zentralbehörde
des Reiches stellte.
183
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Deutschland als belagerte Festung
Schritt für Schritt, mit ebenso unerbittlicher Folge-
richtigkeit wie souveräner Verachtung des Völkerrechts
und brutaler Rücksichtslosigkeit gegen die Neutralen,
ergänzte und vervollkommnete die Entente unter Eng-
lands Führung die wirtschaftliche Einschnürung Deutsch-
lands.
Die deutsche Handelsflagge war in den ersten Tagen
des Krieges von den Weltmeeren verschwunden. Unsere
Flotte genügte, um der britischen Flotte die Annäherung
an unsere Küsten und die Einfahrt in die Ostsee zu ge-
fahrvoll erscheinen zu lassen. Die Schlacht am Skagerrak
am 31. Mai 1916 hat gezeigt, daß es England in der
Tat auf einen Kampf mit unserer Hochseeflotte nicht
ohne das größte Risiko für seine Flotte und damit für
seine Existenz ankommen lassen konnte. Damit war eine
nach den Regeln des Völkerrechts durchzuführende
Blockade unserer Häfen unmöglich gemacht. Auf der
anderen Seite aber war unsere Flotte nicht stark genug,
um die britische Seemacht vor deren eigenen Stützpunkten
zum Kampf zu stellen. So waren vir in der Nordsee und
Ostsee eingeschlossen. England dagegen hatte die Meere
frei, nachdem unsere wenigen zur Zeit des Krieges in den
überseeischen Gewässern stationierten Kreuzer nach helden-
hafter Gegenwehr und glänzenden Waffentaten, wie der
Schlacht an der Coronelküste, der Übermacht der Feinde
184
Skagerrak. Kreuzerkrieg und Blockade
zum Opfer gefallen waren. Einzelne Streifzüge von Hilfs-
kreuzern, wie der „Möwe“ und des „Wolf“, konnten, so
Hervorragendes sie leisteten, an der Tatsache nichts
ändern, daß unsere Kauffahrteischiffe in deutschen und
«
neutralen Häfen feiern mußten, während die Schiffe der
Entente bis zum U-Bootkrieg ohne wesentliche Beun-
ruhigung die Meere befahren konnten.
Da aber die Entente nicht in der Lage war, eine Blockade
unserer Küsten aufzurichten und durchzuführen, blieb uns
die Möglichkeit des Handelsverkehrs über See durch die
Vermittlung neutraler Schiffe, soweit nicht die völker-
rechtlichen Satzungen über die Bannware entgegen-
standen.
England hat von Beginn des Krieges an alles daran-
gesetzt, uns diese Handelsmöglichkeit zu zerstören und die
Blockade unserer Häfen, zu der es marinetechnisch nicht
in der Lage war, durch ein System der Schiffahrts- und
Handelskontrolle zu ersetzen, das zwar allem Völkerrecht
Hohn sprach, aber dem Zweck, uns vom Verkehr mit der
Außenwelt abzuschnüren, besser angepaßt war, als es die
wirksamste Blockade unserer Küsten hätte sein können.
Das Seekriegsrecht hatte auf der internationalen Kon-
ferenz, zu der die britische Regierung im Anschluß an die
Haager Friedenskonferenz von 1907 eingeladen hatte, in
der sogenannten ,, Londoner Deklaration“ vom 26. Fe-
bruar 1909 eine neue Kodifikation erfahren. Die Be-
vollmächtigten der Signatarmächte, einschließlich der
185
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
britischen und französischen, hatten in den ,, Einleitenden
Bestimmungen“ zur Londoner Deklaration ausdrückhch
festgestellt, daß die Londoner Deklaration im wesentlichen
den allgemein anerkannten Grundsätzen des internatio-
nalen Rechtes entspreche. Trotzdem hatte die britische
Regierung die Londoner Deldaration bei Kriegsausbruch
noch nicht ratifiziert. Die Regierung der Vereinigten
Staaten richtete wenige Tage nach Kriegsausbruch an
die kriegführenden Staaten die Anfrage, ob sie die Lon-
doner Deklaration als maßgebend für die Seekriegführung
anerkennen wollten; sie fügte hinzu, daß nach ihrer An-
sicht die Annahme 'der Londoner Deklaration durch die
Kriegführenden schweren Mißverständnissen, die andern-
falls in den Beziehungen zwischen den Neutralen und den
Kriegführenden entstehen könnten, Vorbeugen würde.
Während Deutschland und sein österreich-ungarischer
Bundesgenosse alsbald die amerikanische xAnfrage be-
jahend beantw^orteten, erklärte die britische Regierung,
die Londoner Deklaration nur mit gewissen Modifikationen
und Ergänzungen annehmen zu können. Schon die da-
mals der amerikanischen Regierung mitgeteilten „Modi-
fikationen und Ergänzungen“, wie sie in der Order in
Council vom 20. August 1914 enthalten waren, bedeuteten
in wesentlichen Punkten einen vollständigen Widerspruch
zu den in der Londoner Deklaration niedergelegten, bisher
allgemein anerkannten Grundsätzen des Seekriegsrechts.
Insbesondere setzte die britische Regierung eine Reihe
186
Die Londoner Deklaration
von Gegenständen auf die Konterbandeliste, die in der
Londoner Deklaration als Nichtkonterbande erklärt waren
und die, da sie entweder überhaupt nicht oder doch nur
sehr mittelbar für kriegerische Zwecke w^rwendbar sind,
nach den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts
nicht als Konterbande behandelt werden durften. Außer-
dem beseitigten die von der britischen Regierung erlas-
senen Bestimmungen in ihrer Wirkung die in die Londoner
Erklärung aufgenommenen Regeln, nach denen die als
,, relative Konterbande“ bezeichne ten Gegenstände nur
dann als Konterbande behandelt werden sollten, wenn
sie für den Gebrauch der Verwaltungsstellen oder der
Streitmacht des feindlichen Staates bestimmt sind. Der
für die Versorgung eines kriegführenden Staates bestimmte
neutrale Handel mit Gegenständen der relativen Konter-
bande, insbesondere mit Lebensmitteln und industriellen
Rohstoffen, wurde damit unterbunden, im Widerspruch
nicht nur zur Londoner Deklaration, sondern auch zu dem
vor der Londoner Deklaration von der britischen Re-
gierung selbst anerkannten Völkerrecht. Die amerikanische
Regierung hat später in einer ihrer vielen wirkungslos
gebliebenen Protestnoten dem Londoner Kabinett eine
Erklärung des Lord Salisbury während des südafrikanischen
Krieges entgegengehalten, lautend: ,, Nahrungsmittel, auch
wenn sie feindliche Bestimmung haben, können als Kriegs-
konterbande nur angesehen werden, wenn sie für die
Streitkräfte bestimmt sind. Es ist nicht genügend, daß
187
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
sie geeignet sind, so verwendet zu werden. Es muß
bewiesen werden, daß dies zur Zeit ihrer Beschlagnahme
in der Tat ihre Bestimmung war.*'
Die Order in* Council vom 20. August wurde in der
Folgezeit wiederholt verschärft, immer in‘ der Absicht,
Deutschland von jeder nicht nur Kriegszwecken dienenden,
sondern auch für die Erhaltung seiner Bevölkerung wich-
tigen Versorgung durch die neutrale Schiffahrt abzu-
schneiden. Schließlich wurde durch eine Order vom
23. April 1916 der Unterschied zwischen relativer und
absoluter Konterbande überhaupt aufgehoben. Die Liste
der Bannwaren wurde immer länger, so daß es schließlich
kaum mehr eine wichtige Warengattung gab, die nicht
auf dieser Liste figurierte. Am 7. Juli 1916 sagten sich
die britische und französische Regierung gänzlich von
der inzwischen wie ein Sieb durchlöcherten Londoner
Deklaration los.
Aber die Ausdehnung des Bannwarenbegriffs und die
Verschärfung der Behandlung der Bannwaren genügten
den Zwecken der britischen Regierung nicht entfernt.
Das Anhalten und die Untersuchung der Schiffe auf hoher
See war zu lästig und gefahrvoll, auf der anderen Seite
nicht wirksam genug.
Anfang November 1914 teilte die britische Regierung
den Neutralen mit, daß die ganze Nordsee als Kriegs-
gebiet anzusehen sei. Es sei nötig geworden, den Zugang
zur Nordsee zwischen Schottland und Norwegen mit
188
England und die Neutralen
Minen zu belegen; allen Schiffen, die mit Holland, Däne-
mark, Norwegen und den Ostseeländern verkehren wollten,
wurde der dringende ,,Rat“ erteilt, den Weg durch den
Kanal und die Straße von Dover zu benutzen, von wo
ihnen ein sicherer Weg nach ihren Bestimmungshäfen an-
gewiesen werden sollte.
Diese Mitteilung kam in ihrer Wirkung auf eine Blockade
nicht nur der deutschen Küsten, sondern auch der neu-
tralen Anlieger der Nord- und Ostsee hinaus. Der hierin
liegende Verstoß gegen jedes Völkerrecht wurde verschärft
durch eine weitere Erklärung der britischen und fran-
zösischen Regierung vom i. März 1915, daß sie von nun
an das Recht beanspruchten, alle Schiffe anzuhalten und
in einen ihrer Häfen einzubringen, die Güter führten,
von denen vermutet werde, daß sie feindliche Bestimmung
hätten, feindliches Eigentum oder feindlichen Ursprungs
seien.
Die Neutralen protestierten, allen voran die Vereinigten
Staaten. In einer Note vom 30. März IQ15 machten sie
mit Recht darauf aufmerksam, daß die Alliierten Rechte
für sich beanspruchten, die sie nur bei einer effektiven
Blockade, für die jede Voraussetzung fehle, in Anspruch
nehmen könnten; so das Einbringen aller irgendwie ver-
dächtigen Schiffe statt der Untersuchung auf hoher See;
so das Vorgehen gegen jeglichen Handelsverkehr mit
Deutschland, insbesondere auch gegen die Ausfuhr von
Deutschland nach neutralen Ländern. Aber der Einspruch
189
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtscliaft
der Vereinigten Staaten, der in einem langwierigen Noten-
wechsel mit der britischen Regierung bis zum Ende des
Jahres 1915 mehrfach wiederholt wurde, blieb auf dem
Papier. Ja die Behandlung der Schiffe, die nach einem
Hafen eines Deutschland benachbarten neutralen Landes
bestimmt waren oder aus einem solchen Hafen kamen,
wairde später noch weiter verschärft, indem diesen Schiffen
bei Strafe der Beschlagnahme auferlegt wmrde, sich selbst
in einem Hafen der Alliierten zur Untersuchung zu stellen.
Es ist nicht möghch, hier alle die einzelnen Maßnahmen
zu schildern, mit denen die neutrale Schiffahrt davon
abgeschreckt wurde, deutsche Häfen anzulaufen oder
Waren irgendwelcher Art im deutschen Interesse zu be-
fördern. Als bezeichnend erwähnen will ich nur noch den
Gebrauch, den England von seiner Macht als Lieferant
von Bunkerkohle machte. Seit Oktober 1915 durfte
Bunkerkohle an neutrale Schiffe nur noch gegen die
Übernahme von Verpflichtungen seitens der zu beliefernden
Reedereien abgegeben werden, die diese völlig unter die
Kontrolle der britischen Admiralität stellten. Als einige
neutrale Reedereien sich dieser Erpressung dadurch zu ent-
ziehen suchten, daß sie auf englische Bunkerkohle verzich-
teten und dafür deutsche Bunkerkohle einnahmen, erklärte
die britische Regierung, daß deutsche Bunkerkohle als
Ware deutschen Ursprunges der Beschlagnahme unterliege.
Die Neutralen ließen sich den Druck, den England durch
die rücksichtslose und völkerrechtswidrige Ausnutzung
Verhalten der Neutralen
seiner Herrschaft zur See auf sie ausübte, unter Pro-
test gefallen. Die Deutschland benachbarten kleinen
neutralen Staaten, die durch Englands Vorgehen nach
Deutschland am schwersten betroffen wurden, verfügten
weder politisch und militärisch, noch wirtschaftlich über
genügende Machtmittel, um England und seinen Ver-
bündeten einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen.
Ja sie waren größtenteils in ihrer Volksernährung und in
ihrem ganzen Erwerbsleben so sehr von überseeischen Zu-
fuhren abhängig, daß sie sich sogar dazu pressen ließen,
die völkerrechtswidrigen Maßnahmen der Alliierten gegen
Deutschland auf ihrem eigenen Boden zu dulden oder
gar zu unterstützen. Einzig und allein die Vereinigten
Staaten wären in der Lage gewesen, zugunsten des Völker-
rechts und der Menschlichkeit, der die Entwicklung des
Völkerrechts in der Beschränkung der Kriegführung auf
die bewaffneten Streitkräft.e gerecht zu werden versucht
hatte, ein Machtwort zu sprechen. Es hatte einige Male
den Anschein, als ob die Vereinigten Staaten sich zu einem
energischen Eintreten für die innerhalb bescheidener
Grenzen völkerrechtlich gewährleistete Freiheit der Meere
aufraffen wollten. Aber es blieb auch von dieser Seite bei
papiernen Protesten.
Unterdessen machte England Anstalten, das „Verbot
des Handels mit dem Feinde“, das es nach altem eng-
lischem Brauch alsbald nach Kriegsausbruch für seine
Staatsangehörigen und Einwohner erlassen häÄe und dem
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
seine Verbündeten beigetreten waren, auch den neutralen
Ländern aufzuzwingen.
Mit diesem Versuch hatte es sogar in den Vereinigten
Staaten einen gewissen Erfolg. Schon im Februar 1915
gelang es den englischen Bemühungen, die Ausfuhr von
Wolle aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland zu
unterbinden. Zu diesem Zweck gestattete England die
Belieferung amerikanischer Bezieher mit Wolle aus den
britischen Besitzungen nur noch durch die Vermittlung
der Amerikanischen Textil- Alliance, die sich ihrerseits
gegenüber dem britischen Handelsamt verpflichtete, die
Ausfuhr von Wolle nach Deutschland durch die Auf-
erlegung bestimmter Bedingungen an ihre Abnehmer zu
verhindern. In ähnlicher Weise hat England die Ausfuhr
von Kautschuk und Gummiwaren aus den Vereinigten
Staaten unter seine Kontrolle gebracht. Die Vereinigten
Staaten bezogen etwa 70% ihres Gummibedarfs aus
britischen Besitzungen, 30% aus Brasilien, dessen Gummi-
gewinnung und Gummihandel zu einem erheblichen Teil
unter englischer Kapitalkontrolle stand. Diese Macht-
stellung hat England benutzt, um den amerikanischen
Beziehern von Kautschuk die Verpflichtung aufzuerlegen,
Gummi und Gummifabrikate nur auf dem Weg über
England und nur mit britischer Genehmigung nach Eu-
ropa zu liefern. Ja sogar ureigene amerikanische Erzeug-
nisse wurden dieser Kontrolle unterworfen. Nachdem
England die Baumwolle zur Bannware erklärt hatte
192
Kontrolle des neutralen Handels
(August 1915), gestattete es die Lieferung von Baum-
wolle an europäische Neutrale nur solchen amerikanischen
Händlern, die Mitglieder der Liverpooler Baumwollbörse
wurden und sich verpflichteten, Deutschland auch nicht
mittelbar mit Baumwolle zu beliefern. Gleiches erreichte
England hinsichtlich der amerikanischen Metalle, vor allem
hinsichtlich des Kupfers. Diese Abmachungen mit dem
amerikanischen Handel wurden ergänzt durch Abma-
chungen mit den wichtigsten Schiffahrtsgesellschaften, die
sich verpflichteten, von ihren Verladern Sicherheit gegen
jede Verletzung der britischen Vorschriften zu verlangen,
wofür ihnen von der britischen Regierung Erleichterungen
in der Handhabung der Kontrolle zugesichert wurden.
Handelte es sich gegenüber den Amerikanern noch um
gütliche Vereinbarungen oder höchstens um einen sanften
Druck, so ließ England die kleinen Neutralen die ganze
Schwere seiner eisernen Faust fühlen.
Die überseeische Zufuhr der Deutschland benachbarten
Neutralen wurde einer scharfen Kontingentierung unter-
worfen. Die jährlichen Kontingente für die einzelnen
Waren wurden durch eine in Paris tagende Kommission
von Vertretern Englands, Frankreichs, Italiens und Ruß-
lands festgesetzt. Die hierdurch bewirkte knappe Bedarfs-
deckung mußte allein schon eine Einschränkung der Wieder-
ausfuhr nach Deutschland zur Folge haben. Aber damit
begnügte sich die britische Regierung nicht; sie verlangte
vielmehr in zahlreichen Fällen Ausfuhrverbote, und zwar
13 Helfferich, Weltkrieg II
193
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
nicht nur für die über See eingeführten Waren, sondern
auch für einheimische Erzeugnisse unserer neutralen An-
lieger. Vor allem aber sicherte sich die britische Re-
gierung die nahezu lückenlose Kontrolle über den Verbleib
der ganzen überseeischen Einfuhr der uns benachbarten
Neutralen durch die Errichtung besonderer Kontroll-
gesellschaften.
Als erste dieser Gesellschaften wurde schon im November
1914 die Nederlandsche Overzee Trust Maatschappy,
meist NOT genannt, ins Leben gerufen. Beteiligt an der
Gründung waren die großen holländischen Schiffahrts-
gesellschaften und Banken, sowie einige Großhandels-
firmen. Die NOT traf Abmachungen mit der britischen
Regierung, in denen diese zusagte, Schiffe mit an die
NOT konsignierter Ladung unbeanstandet passieren zu
lassen, während die NOT sich verpflichtete, für den aus-
schließlich inländischen Verbrauch der an sie konsignierten
Artikel und der aus diesen hergestellten Waren zu garan-
tieren. Die englische Regierung behielt sich ein weit-
gehendes Recht der Nachprüfung vor. Die NOT ihrerseits
war verpflichtet, von den Importeuren, die sich ihrer
Vermittlung bedienten — und andere als durch die NOT
vermittelte Importe gab es bald nicht mehr — Sicherheit
für den ausschließlich inländischen Verbrauch der Waren
zu verlangen; der Importeur darf die Waren nur mit
Zustimmung der NOT und nur unter der Bedingung
weiter übertragen, daß der Erwerber gegenüber der
194
Kontrollgesellschaften
NOT dieselben Verpflichtungen übernimmt wie der
Veräußerer.
In den Dienst der Kontrolle der Ausführung aller dieser
Verpflichtungen sind durch allerlei Abmachungen die
Reedereien, die Spediteure, die Lagerhäuser und Speiche-
reien gestellt worden. Eine Durchbrechung dieser Kon-
trolle war um so aussichtsloser, als die holländische
Regierung selbst durch eine Verschärfung der Grenzüber-
wachung und der gegen Schmuggel gerichteten Strafbe-
stimmungen das Überwachungssystem der NOT ergänzte.
Im Herbst 1915 wurde in der Schweiz nach langen Ver-
handlungen mit England, Frankreich und Italien eine der
NOT ähnliche Kontrollgesellschaft unter dem Namen
,,Societe Suisse de Surveillance Economique“, kurz S. S. S.
genannt, gegründet. In Dänemark übernahmen die Gros-
serer Societät und der Industrierat die Kontrollfunktionen,
in Schweden die Gesellschaft Transite. In Norwegen wurde
die Kontrolle durch ein Zusammenwirken der Regierungs-
organe mit den britischen Konsulatsbehörden hergestellt.
Die letzte Ergänzung und Vervollständigung erhielt
dieses System der Handelssperre durch die Postkontrolle
und die Schwarzen Listen. Die rücksichtslos durchgeführte
und systematisch ausgenutzte Postkontrolle, der gegen
jedes Völkerrecht auch neutrale Schiffe auf der Fahrt
von neutralem zu neutralem Hafen unterworfen wurden,
brachte wertvolle Einblicke in die Handelsbeziehungen der
Neutralen und damit neue Kontrollmöglichkeiten. Durch
13’
195
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
die Schwarzen Listen wurden neutrale Kaufleute, die mit
Deutschland Handel trieben oder auch nur des Handels
mit Deutschland verdächtig waren, in bezug auf Handels-
verbote usw. den feindlichen Ausländern gleichgestellt,
also einem Handelsboykott unterworfen.
Alle diese Maßnahmen dienten dem einen Zweck, dem
im schwersten Kampf stehenden deutschen Volk den
Lebensatem abzuschnüren. Niemals in der Geschichte
aller Zeiten und Völker haben brutale Gewalt und kauf-
männisches Raffinement sich zu einem so gewaltigen
Unternehmen zusammengetan. Die Napoleonische Kon-
tinentalsperre war in ihrer Anlage, ihren Mitteln und in
ihren Wirkungen ein Kinderspiel im Vergleich mit der
Handels- und Hungerblockade, durch die England das
große Land im Zentrum Europas zu einer belagerten
Festung machte.
Unsere militärischen Erfolge vermochten diese Lage
in manchen nicht unwesentlichen Beziehungen für uns
zu verbessern, aber nicht von Grund aus zu ändern.
Die rasche Besetzung Belgiens und Nordfrankreichs
brachte Gebiete in unsere Gewalt, die auch vom Stand-
punkt des Wirtschaftskrieges aus eine wesentliche Stärkung
unserer Position bedeuteten; vor allem eine Stärkung
unserer Rohstoffposition. Sowohl die Produktionsmöglich-
keiten jener Gebiete wie auch die großen in jenen Gebieten
lagernden Vorräte von Rohstoffen, Halbfabrikaten und
Fertigwaren waren eine wertvolle Ergänzung unserer
196
Rohstoffbezug in den besetzten Gebieten
eigenen Bodenschätze und Warenvorräte. Ich erinnere
nur an die Eisenerzvorkommen von Longwy und Briey,
an die belgische Montanindustrie, an die großen Lager
Antwerpens an Stapelartikeln aller Art, an die Bestände
der Industriegebiete von Verviers und Roubaix-Tourcoing
an Wolle und Woll waren, von Gent und Lille an Baum-
wolle, Baumwollgarnen und Baumwollwaren. Im weiteren
Verlauf des Krieges hat die Besetzung der polnischen
Industriegebiete uns einen weiteren Zuwachs namentlich
an Rohstoffen und Halbfabrikaten der Textilindustrie
gebracht.
Dagegen hatte die Besetzung dieser Gebiete im Osten
und Westen keine nennenswerte Erleichterung unserer
Ernährungssituation zur Folge. Die dichte Bevölkerung
Belgiens und Nordfrankreichs bedurfte selbst eines sehr
erheblichen Zuschusses an Nahrungsmitteln; auch Polens
Landwirtschaft hat im Frieden nicht ausgereicht, um die
eigene Bevölkerung, die sich in den großen Industrie-
zentren von Warschau, Lodz und Sosnowice stark zu-
sammenballt, mit der erforderlichen Nahrung zu ver-
sehen. Litauen und Kurland vermochten bei der
Rückständigkeit ihrer Landwirtschaft und ihrer dünnen,
durch den Krieg noch weiter verminderten Bevölkerung
das Bild nicht wesentlich zu ändern, obwohl unsere
Militärverwaltung sich nach besten Kräften und mit Er-
folg bemühte, die Produktion zu heben. Die Sorge um die
Ernährung der Bevölkerung Belgiens und Nordfrankreichs
197
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
ist uns in der Hauptsache durch die unter amerikanischer
und spanischer Leitung arbeitende „Rehef-Commission“
abgenommen worden. Die Bedingung für die Versorgung
dieser Gebiete mit amerikanischen Einfuhren war aller-
dings, daß wir uns verpflichteten, nicht nur die von der
Kommission eingeführten N ahrungsmi ttel nicht für deutsche
Zwecke zu beschlagnahmen, sondern auch die eigene
landwirtschaftliche Erzeugung Belgiens für die belgische
Bevölkerung vorzubehalten. Auf diese Weise sind wir
zwar der schweren Wahl enthoben worden, entweder die
dichte Bevölkerung der besetzten Gebiete durch Zuschüsse
aus unseren eigenen knappen Beständen durchzuhalten,
oder im Rücken unserer kämpfenden Truppen eine Be-
völkerung von vielen Millionen allen Verzweiflungen des
Hungers preiszugeben. Aber eine irgendwie nennenswerte
Erleichterung gegenüber dem furchtbaren Druck der
Hungerblockade haben uns die besetzten Gebiete nicht
gebracht.
Auch unsere Bundesgenossen waren uns in diesem
Punkte keine Hilfe.
Österreich-Ungarn hatte schon in den Jahren vor dem
Kriege aufgehört, einen Überschuß an landwirtschaft-
lichen Produkten über den stark angewachsenen eigenen
Bedarf liinaus zu erzeugen. Immerhin stand die Donau-
monarchie in der Deckung ihres Nahrungsbedarfs durch
die eigene Erzeugung wesentlich günstiger da als Deutsch-
land. Trotzdem stellte sich bald heraus, daß österreich-
198
Ernährungsschwierigkeiten bei den Verbündeten
Ungarn gegenüber der durch die Sperrung der Nahrungs-
mittelzufuhr geschaffenen Lage nicht dieselbe Wider-
’standskraft aufzubringen vermochte wie Deutschland.
Die eigene Produktion ging stärker zurück und wurde
weniger scharf erfaßt, der eigene Verbrauch wurde laxer
kontrolliert und eingeschränkt als bei uns. In Energie,
Organisation und Disziplin vermochte unser Verbündeter
mit uns auch auf dem Gebiet der Volksernährung so wenig
Schritt zu halten, daß wir, trotz unserer an sich ungünsti-
geren eigenen Lage, uns sehr bald gezwungen sahen, den
Österreichern gelegentlich auszuhelfen.
Eine ähnliche Erfahrung machten wir später, nach der
Niederwerfung Serbiens, mit Bulgarien. Auch dieses
Bauernland, das im Frieden stets einen Nahrungsüberschuß
erzeugte, sah seine landwirtschaftliche Produktionskraft
durch den Krieg in einer Weise gelähmt, daß es nicht
nur nicht in der Lage war, uns auszuhelfen, sondern
selbst in große Ernährungsschwierigkeiten geriet, die
schließlich zu dem Zusammenbruch der bulgarischen Armee
wesentlich beigetragen haben.
Auch die Türkei, die schon in Friedenszeiten infolge
der Rückständigkeit ihrer eigenen Landwirtschaft einen
Getreidezuschuß aus Rußland brauchte, konnte uns keine
Hilfe sein.
Dagegen haben allerdings sowohl Bulgarien wie nament-
lich die Türkei uns mit andern wichtigen Artikeln be-
liefern können, so mit ölen und Fetten, mit Tabak, mit
199
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Wolle, Baumwolle und Seide, mit Metallen. Freilich waren
auch bei diesen Gütern die Mengen beschränkt, nicht nur
wegen der an sich nicht sehr erheblichen Produktion,
sondern vor allem wegen der geringen Leistungsfähigkeit
der Verkehrsmittel. In Friedenszeiten haben jene Länder
für ihre Ausfuhr und Einfuhr so gut wie ausschließlich
den Seeweg benutzt. J etzt mußte, sich der Export der Türkei
auf die eine eingleisige Eisenbahn von Konstantinopel
über Sofia zusammendrängen, die zudem für militärische
Zwecke fortgesetzt stark in Anspruch genommen war.
Auch der Donauweg, der für den Verkehr mit Bulgarien und
Rumänien in Betracht kam, war wenig leistungsfähig und
mußte während des Krieges erheblich verbessert werden.
So waren wir für unsere Volksernährung im wesentlichen
auf die eigene landwirtschaftliche Erzeugung und auf
die Zufuhren gestellt, die wir im Kampf mit der britischen
Hungerblockade doch noch aus den neutralen Ländern
herausholen konnten.
Unsere Landwirtschaft selbst war durch den Krieg in
eine schwere Lage gebracht. Die Entziehung der leistungs-
fähigsten Arbeitskräfte durch die Einberufungen zum
Heer, die Verminderung des Pferdebestandes durch den
militärischen Bedarf, die infolge der Verwendung der
Stickstoffverbindungen zur Sprengstofffabrikation als-
bald einsetzende Knappheit an Düngemitteln wurden in
ihrer Wirkung noch gesteigert durch ungünstige Witte-
rungsverhältnisse. So kam es, daß der Emteertrag des
200
Ernteerträgnisse und Viehbestand in Deutschland
Jahres 1917 an Roggen und Weizen sich nur auf 9,2 Mil-
lionen Tonnen stellte gegen 16^/2 Millionen Tonnen in
dem allerdings glänzenden Jahr 1913; daß in derselben
Zeit die Gerstenernte von 3,6 auf 2,0 Millionen Tonnen,
die Haferernte von 9,5 auf 3,6 Millionen Tonnen zurück-
ging. Das Jahr 1916 brachte ein völliges Versagen der
Kartoffelernte, die von 54 Millionen Tonnen in den
Jahren 1913 und 1915 auf 25 Millionen Tonnen zu-
sammenklappte. Die beiden folgenden Jahre ergaben 34,4
und 29,5 Millionen Tonnen.
Was die Viehzucht anbelangt, so hielt sich unser Be-
stand an Rindvieh bis in das Jahr 1917 hinein der Zahl
nach ungefähr auf der Friedenshöhe. Aber die Knappheit
an Futtermitteln, namentlich an Kraftfuttermitteln, führte
zu einem starken Rückgang des Lebendgewichtes und vor
allem der Milchergiebigkeit. Unser Bestand an Schweinen
stellte sich am i. Juni 1917 nur noch auf 12,8 Millionen
Stück, gegen 25,7 Millionen am i. Dezember 1913. Zu
der Verminderung der Stückzahl kam auch hier eine
starke Verminderung des Lebendgewichtes und damit der
Fetterzeugung.
Diese wenigen Zahlen mögen genügen, um ein Bild
davon zu geben, wie schwer und ernst es um die belagerte
Festung stand und wieviel darauf ankam, den Druck der
Handels- und Hungerblockade zu lockern und aus den
neutralen Ländern alles, was immer erreichbar war an
Nahrungsmitteln und Rohstoffen, hereinzuholen.
201
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Der Wirtschaftskampf um die Neutralen
Die Mittel des Gegendruckes, die uns gegenüber dem
Druck Englands auf die Neutralen zur Verfügung standen,
waren bescheiden. Die Zeiten, in denen der Verkäufer
im allgemeinen in der schlechteren Lage ist als der Käufer,
in denen die Konkurrenz des Angebots meist größer ist
als die Nachfrage, waren mit Kriegsausbruch vorbei.- Von
jetzt ab beherrschte der Warenhunger den internationalen
Handel. Auch für die Neutralen war jetzt die erste Frage
nicht mehr: ,,Was kann ich dir verkaufen?“ sondern:
,,Was kannst du mir liefern?“
Der Welthandel ist in der Hauptsache Seehandel. Da
unsere Feinde die See beherrschten, konnten sie den
Neutralen nicht nur die Erzeugnisse ihres eigenen Landes
und ihrer weltumfassenden überseeischen Besitzungen je
nach Belieben liefern oder vorenthalten, sondern darüber
hinaus hatten sie es in der Hand, die Erzeugnisse der
ganzen überseeischen Welt den europäischen Neutralen
zu sperren. Sie haben von dieser Möglichkeit ohne jede
Rücksicht auf das Völkerrecht den brutalsten Gebrauch
gemacht.
Uns stand demgegenüber nur unsere eigene, durch den
Krieg ebensosehr beeinträchtigte wie in Anspruch ge-
nommene Erzeugung zu Gebote. Darunter wichtige Dinge,
wie Kohlen, Eisen und Stahl, Teerfarben, Arzneimittel,
Kali und ähnliches. Aber einmal konnten wir auch von
202
Deutscher Gegendruck auf die Neutralen
diesen Dingen nur beschränkte Mengen abgeben; ferner
waren Kohlen und Eisen immerhin der Konkurrenz von
englischer und auch amerikanischer Seite ausgesetzt ;
schließlich ist der stärkste Druck immer noch der Hunger,
den die Entente durch die Sperrung der Zufuhr an Nah-
rungs- und Futtermitteln in Wirkung setzen konnte. Es
handelte sich darum, mit den wenigen Trümpfen, die wir
in unserm Spiel hatten, das möglichste an Vorteilen
herauszuholen.
Dazu war nötig die planmäßige Verfügung über unsere
für die Ausfuhr verfügbaren Waren. Schon die unbe-
dingte Sicherung des eigenen Bedarfs für Kriegs- und
Wirtschaftszwecke hatte bald einzelne Ausfuhrverbote
erforderlich gemacht. Die Notwendigkeit, unsere Ausfuhr
als Mittel im Wirtschaftskampf um die Neutralen zu ver-
werten, machte es vollends unmöglich, die Ausfuhr und
die Ausfuhrbedingungen in dem Belieben des einzelnen
Produzenten oder Händlers zu belassen.
Nicht minder wurde eine Regelung der Einfuhr not-
wendig.
Wir konnten einmal die ohnedies gewaltigen Schwierig-
keiten der Heranziehung ausländischer Zufuhren nicht
dadurch ins Ungemessene steigen lassen, daß deutsche
Aufkäufer auf den überlaufenen neutralen Märkten sich
gegenseitig eine schrankenlose Konkurrenz machten, die
Preise unvernünftig in die Höhe boten und die sonstigen
Gegenforderungen des Auslandes maßlos erhöhten.
203
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Wir mußten ferner mit unserer beschränkten Kaufkraft
für ausländische Waren haushalten und die für uns be-
schaffbaren Beträge an fremder Valuta für den Ankauf
der am dringlichsten benötigten Waren verwenden.
Schließlich ließ die Tatsache, daß die Einfuhr wichtiger
Waren nur in bestimmten Mengen und nur gegen Zuge-
ständnisse unsererseits auf dem Gebiete der Ausfuhr zu
erreichen war, gar keine andere Wahl als eine planmäßige
Regelung auch der Einfuhr.
Das sind die z\vingenden Gründe, aus denen die viel-
gescholtene Reglementierung und Zentralisation unserer
Aus- und Einfuhr entstand.
Diese zwingenden Gründe wurden, wie die ganze Trag-
weite des Wirtschaftskrieges, nicht von Anfang an voll
erkannt. Aber immerhin zeigten weite und wichtige
Kreise unseres Wirtschaftslebens schon in den ersten
Tagen und Wochen des Krieges ein richtiges Gefühl für
die Notwendigkeit einheitlichen Vorgehens beim Einkauf
im neutralen Ausland. Die damals schon aus der Initiative
unserer industriellen und kommerziellen Kreise geschaf-
fenen Organisationen sind später ausgebaut und mit
anderen, vielfach nach ihrem Vorbild geschaffenen Ein-
richtungen in den Dienst der Kriegshandelspohtik gestellt
worden. Vielfach aber fehlte das Verständnis für die
Notwendigkeit einer einheitlichen und planmäßigen Lei-
tung unserer Einkaufs- und Verkaufsgeschäfte mit den
Neutralen in einem geradezu erstaunhchen Maße. Es
204
Reglementierung und Zentalisatiron der Aus- und Einfuhr
blieb dann nichts übrig, als mit den Machtmitteln, die der
Reichstag dem Bundesrat übertragen hatte, auch gegen
den Willen der unmittelbar beteiligten Kreise durch-
zugreifen.
Schon als Schatzsekretär hatte ich in wichtigen und
bezeichnenden Fällen Veranlassung, mich mit diesen
Fragen zu befassen.
Die Einkäufe für den Bedarf des Feldheeres auf den
neutralen Märkten, die damals noch einen verhältnis-
mäßigen Überfluß an Fleisch, Fett, Butter und Käse
hatten, erforderten sehr hohe und fortgesetzt steigende
Summen. Die Ursache war, daß die mit dem Ein-
kauf beauftragten militärischen Stellen auf diesen
Märkten nicht nur mit dem Ausland, sondern auch mit
deutschen Einkäufern der verschiedensten Art, mit Händ-
lern, industriellen Werken, Kommunen, Einkaufsgesell-
schaften usw., ebenso mit Einkäufern für den österrei-
chischen Heeres- und Zivilbedarf zu konkurrieren hatten.
Man trieb sich gegenseitig die Preise hoch mit der Wirkung,
daß die Verkäufer, je mehr die Preise stiegen, desto mehr
auf weitere Preissteigerungen spekulierten und die Ware
zurückhielten. Sehr schlimm lagen die Verhältnisse auf
dem dänischen Buttermarkt. Ich setzte im Herbst
1915 die Zentralisation des Einkaufs unter Einbeziehung
Österreich-Ungarns durch mit dem Erfolg, daß der Butter-
preis, der bis auf 275 Kronen für 50 kg gestiegen war,
in nicht allzu langer Zeit auf 152 Kronen zurückgebracht
205
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
wurde und außerdem die Ankäufe für Deutschland und
Österreich-Ungarn erheblich gesteigert werden konnten.
Für das Reich wurden monatlich eine ganze Anzahl von
Millionen gespart, und für die Bevölkerung wie für das
Heer wurde die Butterversorgung verbessert.
Noch weit schlimmer lagen die Dinge auf dem rumä-
nischen Getreidemarkte.
Nachdem die überseeische Zufuhr von Getreide und
Futtermitteln für uns abgeschnitten und für die euro-
päischen Neutralen auf ein Mindestmaß eingeschränkt
worden war, blieb uns und unsern österreichisch-unga-
rischen Verbündeten als einziges Land, aus dem größere
Mengen bezogen werden konnten, das damals noch neutrale
Rumänien. Die Jahre 1914 und 1915 brachten in Rumänien
reiche Ernten, für die infolge der Dardanellensperre ein
anderer Absatz als an die Mittelmächte zunächst nicht
in Frage kommen konnte. Außerdem war Rumänien dem
Druck des britischen Wirtschaftskrieges entrückt. Rein
wirtschaftlich waren also die Voraussetzungen für den
Bezug von Getreide und Futtermitteln, namentlich Mais,
aus Rumänien durchaus günstig. Politisch allerdings war
die Haltung Rumäniens von Anfang an zweifelhaft, und
die rumänische Regierung mit ihrem ganzen Beamten-
apparat, ebenso die rumänische Landwirtschaft und der
rumänische Handel waren geneigt, die Notlage der Mittel-
mächte nach Kräften auszunutzen. Wir erleichterten
ihnen dieses Spiel. Noch viel mehr als auf den dänischen
206
Reglementierung und Zentralisation der Aus- und Einfuhr
Buttermarkt stürzten sich der reelle und unreelle Handel,
die Einkäufer der Militärverwaltung, wirtschaftlicher Unter-
nehmungen, von Städten und Landwirtschaftskammem
auf die rumänischen Vorräte. Die Rumänen verkauften
zu immer höheren Preisen — ich glaube für Mais wurden
schließlich an die tausend Mark für die Tonne bezahlt,
— ließen sich bar bezahlen, legten aber dem Abtransport
solche Schwierigkeiten in den Weg, vor allem indem sie
die tatsächlich vorhandenen Transportschwierigkeiten ins
maßlose übertrieben, daß so gut wie nichts aus Rumänien
herauskam. Es lagerten schließlich in Rumänien etwa
700 000 Tonnen Getreide im Ankaufswert von etwa
200 Millionen Mark, die von uns und unsern Verbündeten
bezahlt waren, aber nicht abtransportiert werden konnten.
Weitere große Mengen Getreide waren noch verfügbar,
aber die Rumänen, die inzwischen ihrerseits den ganzen
Getreideverkauf syndiziert hatten, verlangten uner-
schwingliche Preise und unerfüllbare Zahlungsbedingungen.
Auch hier konnte nur die Zentralisation des Einkaufs
helfen, zugleich mit einer einheitlichen Disposition über
die von uns für den Abtransport zur Verfügung zu stellenden
Transportmittel.
Auf mein Betreiben wurde in schwierigen Verhandlungen
die Zentralisation durchgesetzt und das Einkaufsgeschäft
der Zentraleinkaufsgesellschaft, der später aus Un-
kenntnis und Unverstand so viel angefeindeten Z. E. G.,
übertragen. Die Zentraleinkaufsgesellschaft schloß sich
207
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
ihrerseits mit der österreichischen Kriegs-Getreide-Ver-
kehrsanstalt und der ungarischen Kriegs-Produkten-Ak-
tiengesellschaft zu einheitlichem Vorgehen zusammen.
Schon im September 1915, also noch vor Beginn des
Feldzuges gegen Serbien, konnte mit dem Abtransport
von Getreide begonnen werden.
Der rasche und glückliche Verlauf des serbischen Feld-
zuges hatte einmal die Wirkung, der Ententefreundschaft
in Rumänien einen Dämpfer aufzusetzen ; dann aber
machte er den Donauweg für den Abtransport des rumä-
nischen Getreides frei.
Es gelang nun der Zentraleinkaufsgesellschaft, im De-
zember 1915 und im März 1916 mit der rumänischen
Regierung Verträge abzuschließen, durch die den Mittel-
mächten rund 2, 7 Millionen Tonnen Getreide zu erträglichen
Preisen und Zahlungsbedingungen gesichert wurden. Die
Verträge kamen zustande, obwohl die Ententeregierungen,
vor allem die britische Regierung, mit allen Mitteln ver-
suchten, den Abschluß zu vereiteln. Ein Versuch Eng-
lands, die rumänischen Getreidebestände durch Ankauf
zu hohen Preisen und Einlagerung in Rumänien für die
Mittelmächte zu sperren, kam zu spät und gelang nur in
bescheidenen Grenzen.
Die großen Schwierigkeiten des Abtransportes wurden
durch ein Zusammenwirken der Einkaufsgesellschaften
mit dem Chef des deutschen Feldeisenbahnwesens und
der österreichisch -ungarischen Zentraltransportleitung
208
Die Zentraleinkaufsgesellschaft
Überwunden. Die Durchfahrt durch das Eiserne Tor wurde
verbessert und zweckmäßig organisiert. Die ungarischen
Bahnen, auf denen der weitere Abtransport sich zum
großen Teile zu vollziehen hatte', wurden durch Verlän-
gerung der Ausweichgleise usw. leistungsfähiger gemacht.
Die Zentraleinkaufsgesellschaft schuf sich in kurzer Zeit
eine ansehnliche Donauflotte und sorgte für die nötigen
Umschlags- und Umladeeinrichtungen.
Der Erfolg war, daß es gelang, bis zum Ausbruch
des Krieges mit Rumänien das angekaufte Getreide
abzu transportieren. Deutschland hat in dem kritischen
Frühjahr und Sommer 1916 aus Rumänien Getreidezu-
fuhren von mehreren hunderttausend Tonnen monatlich
erhalten. —
War die Zentralisation der Einfuhr in den Händen
weniger, nach kaufmännischen Grundsätzen arbeitender
und nach einheitlichen Direktiven handelnder Organi-
sationen eine unerläßliche Voraussetzung für ein erfolg-
reiches Vorgehen auf den neutralen Märkten, so genügte
sie doch für sich allein keineswegs, um einen Erfolg zu
sichern. Die planmäßige Tätigkeit unserer Einkaufs-
organe mußte Hand in Hand gehen mit der planmäßigen
Verfügung über unsere Ausfuhr, und da sich bald zeigte,
daß unsere Ausfuhr in ihrem Geldwert weit zurückblieb
hinter der Einfuhr, die wir benötigten und uns, eine
Lösung der Bezahlungsfrage vorausgesetzt, beschaffen
konnten, so kam als Drittes hinzu die Beschaffung der für
14 Hel ff er ich, Weltkrieg II
209
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
die Bezahlung des Einfuhrüberschusses erforderlichen aus-
ländischen Zahlungsmittel.
In der Ausnutzung unserer für die Neutralen willkom-
menen oder gar notwendigen Ausfuhrwaren für die Zwecke
der Sicherung von Zufuhren an für uns notwendigen Roh-
stoffen und Lebensmitteln konnte nicht nach einer ein-
heitlichen Schablone verfahren werden. Die Verhältnisse
für ein Operieren mit unsem Ausfuhrwaren lagen in einem
jeden der neutralen Länder anders. Der Grad ihrer Ab-
hängigkeit von unserer Ausfuhr war ebenso verschieden
wie der Grad ihrer Abhängigkeit von der Entente; und
auch in den einzelnen neutralen Ländern erfuhr dieses
Verhältnis während des Krieges fortgesetzt Verschie-
bungen.
In großen Zügen entwickelte sich unser Vorgehen so,
daß in der ersten Zeit des Krieges vorwiegend einzelne
Kompensationsgeschäfte mit unsem neutralen Nachbarn
abgeschlossen wurden; d. h. wir machten einzelne wich-
tige Ausfuhrgeschäfte abhängig von bestimmten Gegen-
leistungen der Neutralen für unsere Versorgung. Unab-
hängig von diesen Warengeschäften, gelegentlich auch in
Verbindung mit ihnen, wurde mit neutralen Geldinstituten
über die Eröffnung von Krediten für die Bezahlung
unseres Einfuhrüberschusses verhandelt. Es stellte sich
nun bald heraus, daß der Weg des Einzelaustausches nicht
immer vorteilhaft und nicht immer gangbar für uns war,
vor allem aber, daß nur ein bescheidener Teil unseres
210
Kompensationsgeschäfte
Einfuhrbedarfs durch einzelne Kompensationsgeschäfte
gedeckt werden konnte. Man kam deshalb allmählich zu
umfassenderen Abmachungen mit den neutralen Staaten,
in denen man sich gegenseitig eine Berücksichtigung
der beiderseitigen Interessen bei der Handhabung von
Ausfuhrgenehmigungen und Ausfuhrverboten zusicherte.
Dabei handelte es sich für uns darum, durch ein weit-
herziges Entgegenkommen in unserer Ausfuhrpolitik den
Widerstand der Neutralen gegen den Druck der Entente
zu stärken, vor allem zu verhindern, daß die Neutralen
sich dem Verlangen der Entente nach dem Erlaß von
Ausfuhrverboten fügten, oder zu erreichen, daß bereits
erlassene Ausfuhrverbote dauernd oder wenigstens für
einen bestimmten Zeitraum wieder aufgehoben würden.
Wenn auch diese Abmachungen insofern der Präzision
des Einzelaustauschgeschäftes ermangelten, als Leistung
und Gegenleistung nicht ziffernmäßig festgelegt war, so
hatten wir doch eine wirksame Handhabe, um auf eine
sinngemäße Ausführung zu dringen. Erfüllte ein neutraler
Staat die Erwartungen nicht, auf Grund deren wir uns
entgegenkommend gezeigt hatten, so waren wir in der
Lage, unsere Ausfuhren nach diesem Staat entsprechend
einzuschränken und damit einen Druck auszuüben. So
hat die Schweiz im Spätsommer 1916 unter dem Druck
Frankreichs und Englands die Ausfuhr aller Waren, die
von der Entente zu feannware deklariert worden waren,
nach Deutschland eingestellt. Wir gingen, als alle unsere
14'
2II
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Vorstellungen daran scheiterten, daß die Entente die
Schweiz unter dem stärksten Druck hielt, auch unserer-
seits mit dem stärksten Druck vor, indem wir eine Aus-
fuhrsperre für Kohle, Eisenwaren und andere für die
Schweiz unentbehrlichen Güter in die Wege leiteten. Der
Erfolg war, daß schließlich eine für uns erträgliche Einigung
zustande kam.
Solche Erfahrungen führten zu einem weiteren Fort-
schritt in der Gestaltung unserer Wirtschaftsbeziehun-
gen zu unsern neutralen Anliegern. Die in ihrer Fest-
setzung von Leistung und Gegenleistung präzisen Einzel-
kompensationsgeschäfte waren nur beschränkt anwendbar
und reichten nicht aus, um unsem Einfuhrbedarf zu
decken; die umfassenderen Verständigungen über gegen-
seitige Berücksichtigung bei . der Handhabung der Aus-
fuhrregelung waren nicht bestimmt genug, um für beide
Teile Lieferung und Bezug auf eine wenigstens für einige
Zeit gesicherte Grundlage zu stellen und plötzliche Stö-
rungen auszuschließen. Es handelte sich darum, die Vor-
teile beider Systeme zu verbinden und dabei, wenn irgend
möglich, auch die immer schwieriger werdende Finanzie-
rung unserer Bezüge sicherzustellen. Zu diesem Zweck
schlug ich vor, den Versuch zu machen, mit unsem
neutralen Nachbarn zu Abmachungen zu gelangen, die
sich erstens auf einen bestimmten längeren Zeitraum
erstreckten, zweitens für diesen Zeitraum bestimmte
Leistungen und Gegenleistungen an den für jeden der
212
Wirtschaftliche Abmachungen mit den Neutralen
beiden Teile wichtigsten Ausfuhrgütern vorsahen, drittens
gleichzeitig den Überschuß unserer Einfuhr über die Aus-
fuhr durch bestimmte Kredit Vereinbarungen deckten. Auf
dieser Grundlage wurde in der Folgezeit mit der Schweiz,
mit Holland, mit Dänemark und mit Schweden ver-
handelt und abgeschlossen.
Daß die .immer straffer durchgeführte Reglementierung
und Zentralisierung unsrer Einfuhr und Ausfuhr, zu der
als notwendige Ergänzung noch die Regelung des Verkehrs
in ausländischen Zahlungsmitteln (Devisenordnung) hinzu-
trat, die Interessen zahlreicher Einzelner und wichtiger
Berufsstände schädigte, daß bei der Durchführung manche
übertriebene Härte, manche überflüssige Umständlichkeit,
mancher vermeidbare Fehler mit unterlief, darüber habe
ich nie einen Zweifel gehabt. Insbesondere der Handel,
dessen Vermittlertätigkeit kaum mehr ein Arbeitsfeld fand,
wurde schwer getroffen. Die Organisationen zur Durch-
führung der nun einmal durch die Kriegsverhältnisse uns
aufgezwungenen einheitlichen und planmäßigen Regelung
unseres Außenhandels mußten gewissermaßen aus dem
Nichts heraus geschaffen werden. Das notwendige Per-
sonal — es waren bei der Zentraleinkaufsgesellschaft
im Jahre 1916 weit über 4000 Angestellte — mußte
aus allen Richtungen der Windrose zusammengeholt,
eingegliedert und eingearbeitet werden. Umsätze, die
bald in die Hunderte von Millionen, ja in die Milliarden
gingen, waren zu bewältigen — kurz, das größte
213
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Warenhandelsgeschäft, das die Welt je gesehen hatte, war
aufzubauen und hatte zu arbeiten unter Verhältnissen
und nach Methoden, die ohne Vorbild waren. Und über
den Köpfen, die das alles zu leisten hatten, schwang der
Krieg seine Hetzpeitsche. Alles drängte. Oft kam es für
wichtige Entscheidungen und Maßnahmen auf Stunden
an. Da hieß es manchmal nach dem alten militärischen
Grundsatz zu handeln: Besser ein falscher Entschluß
als gar keiner!
Alle Mängel und Unzuträglichkeiten, auch alle Kritik
und alle Angriffe mußten um des Ganzen willen in Kauf
genommen werden. Ja, es mußte von denjenigen, die vor
der Kritik und den Angriffen Rede zu stehen hatten,
sogar hingenommen werden, daß sie von der stärksten
Waffe der Rechtfertigung und Verteidigung, dem Hinweis ,
auf die erzielten Erfolge, überhaupt nicht oder nur im
engen Kreise vertraulichster Beratungen Gebrauch machen
konnten. Denn die Darlegung der erzielten Erfolge hätte
unsern Feinden Einblicke in unsere Arbeit gegeben, die
ihnen wirksame Gegenaktionen ermöglicht und damit die
glücklich gesicherten Zufuhren wieder auf das schwerste
gefährdet hätten.
Heute läßt sich ohne Gefährdung deutscher Interessen
über diese Dinge sprechen, und ich gebe deshalb einige
Tatsachen, die zeigen, in welchem Maße es uns ge-
lungen ist, in dem schweren Kampf mit der Entente
unsere Stellung auf den Märkten der uns benachbarten
214
Gestaltung unseres Außenhandels
Neutralen nicht nur zu behaupten, sondern sogar auf
Kosten Englands zu verbessern.
Zunächst sei festgestellt, daß uns trotz der Handels-
und Hungerblockade die Aufrechterhaltung unserer Ein-
fuhr in weit höherem Maße gelungen ist, als während
des Krieges wohl von allen nicht Eingeweihten ange-
nommen wurde.
Unsere Einfuhr im letzten Friedensjahre, 1913, hatte
den Wert von 10,8 Milliarden Mark erreicht. Unsere
Einfuhr im Jahre 1915, als der Handels- und Hungerkrieg
bereits im vollen Gange war, betrug immer noch 7,1 Mil-
harden Mark; im Jahre 1916 stellt sie sich auf 8,4 Milliarden,
1917 auf 7,1 Milliarden Mark. Freilich erscheint der
tatsächlich eingetretene Einfuhrrückgang in diesen Ziffern
zu gering; die Preissteigerung fast aller Waren, die auch
im Jahre 1915 sich bereits geltend machte, verwischt das
Bild der wirklichen Entwicklung. Immerhin bleibt, auch
wenn man die Preissteigerung in Rechnung setzt, die
Tatsache bestehen, daß uns trotz der Absperrung von der
überseeischen Welt und trotz des Druckes, den die Entente
auf die uns benachbarten Neutralen ausübte, eine recht
ansehnliche Einfuhr verblieben ist. Eine Betrachtung
der Einfuhrmengen einzelner wichtiger Artikel wird dies
bestätigen.
Gleich hier möchte ich darauf aufmerksam machen,
daß unsere Ausfuhr einen weit stärkeren Rückgang er-
fahren hat als unsere Einfuhr. Während im Jahre 1913
215
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
unsere Ausfuhr mit io,i Milliarden Mark nur um rund
700 Millionen Mark hinter unserer Einfuhr zurückgeblieben
war, sank unsere Ausfuhr irn Jahre 1915 auf 3,1 Milliarden
Mark, ließ also gegenüber der gleichzeitigen Einfuhr einen
Fehlbetrag von 4 Milliarden Mark. Es gelang zwar, im
Jahre 1916, trotz der schwierigen Verhältnisse und des
immer wachsenden eigenen Bedarfs für Heer und Volk,
die Ausfuhr auf 3,8 Milliarden Mark zu steigern; aber
der Abstand gegenüber dem Einfuhrwert wuchs, da letzterer
noch mehr gestiegen war, auf 4^/2 Milliarden Mark. Im
Jahre 1917 stand. der Einfuhr von 7,1 Milliarden eine Aus-
fuhr von 3,4 Milliarden gegenüber; der Einfuhrüberschuß
betrug also 3,7 Milliarden Mark. Die großen und im Laufe
des Krieges fortgesetzt steigenden Schwierigkeiten der
Beschaffung von. Zahlungsmitteln für das Ausland, die
hieraus sich ergebende Steigerung der Wechselkurse der
neutralen Länder und der Druck auf unsere eigene Valuta
finden in dem jährlich mehrere Milliarden betragenden
Passivsaldo unserer Handelsbilanz ihre Erklärung.
Wenn unsere Einfuhr sich in dem geschilderten Umfang
aufrechterhalten konnte, so lag dies daran, daß die uns
benachbarten Neutralen, zu denen bis Ende August 1916
auch Rumänien zu rechnen ist, den Ausfall der Einfuhr
aus den feindlichen Ländern und den nur auf dem See-
wege zu erreichenden Neutralen zu einem erheblichen
Teil wettmachten; denn unsere Verbündeten, deren Hilfs-
quellen für den eigenen Bedarf durch den Krieg stark in
216
Gestaltung unserer Einfuhr
Anspruch genommen waren, vermochten uns in dieser
Beziehung keine ziffernmäßig ins Gewicht fallende Hilfe
zu gewähren. Während unsere Gesamteinfuhr sich von
10,8 Milliarden Mark im Jahre 1913 auf 7,1 Milliarden
Mark im Jahre 1915 verringerte, stieg unsere Einfuhr
aus den uns benachbarten Neutralen (einschl. Rumäniens)
in derselben Zeit von i,i auf 3,5 Milliarden Mark. Im
ersten Halbjahr 1916 stellte sich der Anteil dieser Neu-
tralen an unserer Einfuhr sogar auf rund 70% gegen
wenig mehr als 10% im Jahre 1913.
An einzelnen wichtigsten Gütern konnten uns die be-
nachbarten Neutralen einen vollen Ersatz für den Weg-
fall der Einfuhr aus den feindlichen und den für uns ge-
sperrten neutralen Ländern gewähren, ja sogar darüber
hinaus unsere Gesamtbelieferung steigern. Das gilt vor
allem für die Produkte der Viehzucht, die in den uns
benachbarten Neutralen, vor allem in Holland und Däne-
mark, zu hoher Leistungsfähigkeit entwickelt war. So
ist unsere Einfuhr von Schweinefleisch, einschließlich
Schinken, von 21 600 Tonnen im Jahre 1913 auf 98 200
Tonnen im Jahre 1915 gebracht worden. In derselben
Zeit stieg unsere Einfuhr von Butter, an der vor dem
Kriege Rußland (Sibirien) zu mehr als der Hälfte beteiligt
war, trotz des Wegfalls dieser wichtigsten Bezugsquelle, von
54 200 auf 68 500 Tonnen, während allerdings gleichzeitig
die Einfuhr von Milch und Rahm eine starke Verminde-
rung erfuhr. In derselben Zeit ist ferner die Einfuhr
217
Wirtschaftslo-ieg und Kriegswirtschaft
von Käse von 26 300 Tonnen auf 67 300 Tonnen,
also auf mehr als das 2^/2 fache der Friedenseinfuhr
gebracht worden. Die Einfuhr von Salzheringen wurde
von I 298 000 Faß auf 2 883 000 Faß, also auf mehr als
das Doppelte, gesteigert.
Natürhch waren die uns benachbarten Neutralen, denen
wir diese wichtigen Zuschüsse zu unserm Kriegshaushalt
verdanken, nicht in der Lage, ihre Erzeugung an allen
diesen Dingen von heute auf morgen in einem Maße aus-
zudehnen, das ihnen ohne weiteres eine so erheblich ge-
steigerte Belieferung Deutschlands gestattet hätte. Irgend-
welche anderen Abnehmer, seien es die inländischen Ver-
braucher, seien es ausländische Bezieher, mußten zugunsten
Deutschlands verkürzt werden.
So war es in der Tat. Und der verkürzte Bezieher war
in der Hauptsache — England!
Das sei an einigen Beispielen illustriert.
Die Ausfuhr der Niederlande nach Deutschland und
England an einigen wichtigen Artikeln, um deren Bezug
die beiden Länder während des Krieges konkurrierten,
hat sich folgendermaßen entwickelt*:
Holländische A\isfiihr nach
Deutschland England
an Butter im Jahre 1913 19 000 t 7 900 t
„ „ 1915 36 700 „ 2 500 „
„ ,, 1916 31 500 „ 2 200 „
• Für 1917 und 1918 stehen mir die Ziffern nicht zur Verfügung.
218
Gestaltung unserer Einfuhr
Holländische Ausfuhr nach
Deutschland England
an Käse im Jahre 1913
19 100 t
„ „ 1915
• 63 300 „
8 400 ,,
„ „ 1916
. 76 200 „
6 800 ,,
an Schweinefleisch im Jahre 1913 .
. II 000 „
34 000 M
„ „ 1915 •
• 55 100 „
7 600 „
„ „ 1916 .
• 25 100 „
10 300 „
an Eiern im Jahre 1913
• 15 300 „
5 800
„ 1915
. 25 200 „
7 800 „
„ 1916
• 36 400 „
800 „
Deutschland hat also seine Einfuhr aus den Niederlanden
an diesen für die Volksernährung und Heeresverpflegung
so wichtigen Dingen während des Krieges erheblich zu
steigern vermocht, während gleichzeitig England eine
starke Verminderung seiner Zufuhren hinnehmen mußte.
Ähnlich entwickelte sich der Kampf zwischen England
und Deutschland auf dem dänischen Markte. Während
von 1913 auf 1915 die dänische Ausfuhr von Butter nach
England von 85 300 auf 66 300 Tonnen zurückging, ver-
mochte Deutschland seine Zufuhr aus Dänemark von
2 200 auf 25 200 Tonnen in die Höhe zu bringen. An
Schweinefleisch bezog England im Jahre 1913 rund 9400
Tonnen, 1915 nur noch 1 900 Tonnen ; Deutschland dagegen
vermochte seine Bezüge von 3 800 auf 17 900 Tonnen zu
steigern. Dänemarks Eierausfuhr nach England zeigte einen
Rückgang von 30000 auf 18800 Tonnen, nach Deutsch-
land dagegen eine Zunahme von 1 200 auf 13 000 Tonnen.
219
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Auch in der Schweiz, in Schweden und lange Zeit
hindurch sogar in dem England gegenüber gefügigen, von
der Belieferung durch Deutschland kaum abhängigen
Norwegen wurde unsere Position nicht nur behauptet,
sondern sogar verbessert. Das gilt sowohl für wichtige
Produkte der Viehzucht und der Fischerei, wie auch für
einige Rohstoffe, die für unsere Kriegsindustrie von
größter Bedeutung waren. So gelang es, die Zufuhr der
für unsere Stahlfabrikation kaum entbehrhchen phosphor-
armen schwedischen Eisenerze, sowie die Zufuhr von
Ferrosilizium und andern wichtigen Ferrolegierungen aus
Schweden aufrechtzuhalten; desgleichen erhielten wir
aus Schweden gewisse Quantitäten von Kupfer; ferner
große Mengen von Holzstoff, der uns angesichts der un-
zureichenden eigenen Gewinnung für die Herstellung von
Nitrozellulose, daneben für die Herstellung von Textilose
und Papier eine wesentliche Hilfe war. Norwegen war
das einzige Land, das uns und unsern Bundesgenossen,
während des Krieges wenigstens mit bescheidenen Mengen des
für die Kriegsindustrie unentbehrlichen Nickels belieferte;
daneben erhielten wir von dort Kupfer und Schwefelkies
sowie Rohkupfer, auch größere Mengen von Norgesalpeter.
Die Schweiz half uns vor allem aus mit Aluminium.
Alles in allem: Wir haben zwar nicht vermocht, die
britische Seesperre zu brechen, wir blieben während des
ganzen Krieges von allen nur zur See erreichbaren Märkten
abgeschnitten; aber Englands Versuch, auch die uns
220
Gestaltung unserer Einfulir
benachbarten Neutralen in das System seiner Blockade
einzubeziehen und damit die Blockade bis unmittelbar
an unsere Landgrenzen heranzu tragen, ist trotz des
beispiellosen von der Entente angewandten Druckes ge-
scheitert. Das neutrale Vorgelände unserer belagerten
Festung haben wir in dem schweren Wirtschaftskampf
siegreich behauptet.
Allerdings wurde auch dieses Vorgelände mehr und mehr
verwüstet und unterhöhlt. England und seine Verbün-
deten scheuten sich nicht, den Druck ihrer völkerrechts-
widrigen Maßnahmen auf unsere neutralen Anlieger so
weit zu steigern, daß deren eigene Produktionsfähigkeit
und Lebenshaltung auf das schwerste beeinträchtigt
wurde. Namentlich die Leistungsfähigkeit der Viehzucht
wurde durch die scharfe Rationierung der Zufuhr von
Futtermitteln herabgedrückt; und wer immer von den
Neutralen Brot benötigte, mußte sich von dem Hungertod
durch immer weitere Zugeständnisse loskaufen.
Wir mußten deshalb vom Ende des Jahres 1916 an mit
einem kaum aufzuhaltenden allmählichen Versiegen auch
unserer letzten neutralen Bezugsquellen ernstlich rechnen.
Die innere Kriegswirtschaft
Die territoriale Erweiterung unserer Wirtschaftsgrund-
lage durch die militärischen Erfolge, die uns die Besetzung
und Verwaltung großer Flächen feindlichen Gebietes
221
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
ermöglichten, und unser erfolgreicher Kampf um die neu-
tralen Märkte, die uns erreichbar geblieben waren, reichten
nicht entfernt aus, Ersatz zu schaffen für die gewaltigen
Zufuhren an Nahrungs- und Futtermitteln, an Rohstoffen,
Halbfabrikaten und Fertigwaren aller Art, die uns durch
den Krieg und durch die Abschnei düng vom überseeischen
Verkehr entzogen wurden und die bisher ein wesentlicher
Teil des Untergrundes unserer Produktions- und Ver-
brauchswirtschaft gewesen waren. So ergab sich die Not-
wendigkeit, einmal den uns verbleibenden Spielraum für
Produktion und Verbrauch durch die Anwendung neuer
Methoden und die Gewinnung von Ersatzstoffen im In-
land, sowie durch die intensive Nutzbarmachung der ver-
fügbaren Arbeitskräfte nach jeder Möglichkeit zu erweitern;
dann unsere Gütererzeugung und unsere Lebenshaltung
auf die plötzlich so viel enger gewordenen Verhältnisse
einzustellen und sie gleichzeitig den gewaltigen Bedürf-
nissen des Krieges anzupassen.
Die Technik im Dienst der Kriegswirtschaft
Wissenschaft, angewandte Technik und Unternehmungs-
geist hatten sich in Deutschland seit den Zeiten eines
Werner von Siemens zusammengefunden und in gemein-
schaftlicher, sich ergänzender und fördernder Arbeit die
deutsche Volkswirtschaft in den letzten Jahrzehnten zu
den von aller Welt bestaunten und beneideten Fort-
schritten befähigt. Jetzt galt es, alle diese Kräfte zur
222
Gesteigerte Ausnutzung von Stoffen und Kräften
äußersten Leistung anzuspannen, um eine Aufgabe zu
lösen, so schwer, wie sie niemals in der Geschichte einem
Volke gestellt worden ist: Das Leben und die Wirtschaft
eines Siebzig-Millionen- Volkes, die bisher auf der freien
Verfügung über die Naturschätze und Naturerzeugnisse
des ganzen Erdballes aufgebaut waren, unter den drängenden
Anforderungen und gewaltigen Erschwernissen des Krieges
durch die denkbar stärkste Ausnutzung der nach Art und
Menge beschränkten Hilfsquellen des eigenen Landes auf-
rechtzuerhalten.
Es war, wie wenn die Not des Vaterlandes die Kräfte
des deutschen Genius vervielfacht hätte. Überall mühten
sich die besten Köpfe, um den Lebensspielraum, den uns
der Feind mit brutaler Gewalt bis zur Erdrosselung ein-
engte, durch die Macht schöpferischen Geistes zu weiten.
Niemals sind in gleich kurzer Zeit neue Erfindungen und
neue Verfahren in ähnlicher Fülle ausgedacht, ausprobiert
und ins Werk gesetzt worden, ist die Nutzwirkung von
Arbeit und Stoff in ähnlichem Ausmaß gesteigert und ver-
vollkommnet worden. Und wenn schließlich trotzdem
das erdrückende Übergewicht der Zahl und der Masse
in diesem Völkerringen den letzten Ausschlag gegeben
hat, so bleiben jene Leistungen doch für alle Zeiten ein
unzerstörbarer Ruhmestitel deutschen Geistes und eine
Gewähr für eine bessere Zukunft.
Es ist nicht möglich, hier eine ins einzelne gehende
Darstellung, ja auch nur eine einigermaßen vollständige
223
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Übersicht des auf dem weiten Gebiete der Steigerung
unserer nationalen Produktionskraft Geleisteten zu geben.
Nur einige der wichtigsten Fortschritte und Errungen-
schaften seien angedeutet.
Von der Schaffung gewaltiger Anlagen zur Gewinnung
von Stickstoff aus der Luft, die uns überhaupt erst die
Möglichkeit gaben, den ungeheuren und ständig wach-
senden Bedarf unseres Pleeres an Munition zu decken und
daneben unsere Landwirtschaft mit dem unentbehrlichen
Stickstoffdünger zu versehen, habe ich in anderem Zu-
sammenhang bereits gesprochen. Ebenso von den Anlagen
zur Gewinnung von Aluminium aus gewöhnlicher deutscher
Tonerde. Ich hätte hier noch zu erwähnen, daß das
Kalziumkarbid, das als Zwischenprodukt für den Kalk-
stickstoff gewonnen wird, auch Verwendung als Ersatz
für fehlende oder knappe Stoffe anderer Art gefunden
hat; so als Beleuchtungsmittel an Stelle von Petroleum
und Spiritus, ferner als Ersatz für wichtige ausländische
Metalle in der Stahlfabrikation, ja sogar als Hilfsstoff
für die Herstellung von künstlichem Gummi und als
Rohstoff für die Herstellung von Spiritus. Aluminium
hat als Ersatz für das immer knapper werdende Kupfer,
vor allem auch bei der Munitionsherstellung und in der
elektrischen Industrie große Dienste geleistet. Die nahezu
völlige Unterbindung der Zufuhr von Rohgummi wurde
uns erträglich gemacht durch die während des Krieges
erfundenen Verfahren zur Herstellung von künstlichem
224
Ersatzstoffe und Erfindungen
Gummi und die Vervollkommnung der Regeneration von
Altgummi. Wenn auch das künstliche Produkt nur für
Hartgummi ein vollständiger Ersatz ist, so ist doch der
Bedarf an Naturgummi durch diese Verfahren auf einen
so bescheidenen Umfang beschränkt worden, daß wir
während des Krieges unser Auskommen gefunden haben
und weiter gefunden hätten.
Die Textilindustrie, und mit ihr die Bekleidung der
deutschen Bevölkerung, ist vor einem Zusammenbruch
bewahrt worden durch die zahlreichen Verfahren, die
aus der Holzfaser neue Spinnstoffe geschaffen haben
(Textilose, Papiergarne, Typhafaser, Zellulosegarn). Diese
Verfahren haben ferner die Möglichkeit geschaffen, Land-
wirtschaft und Industrie mit Packmaterial und das Heer
mit den im Stellungskrieg in so großen Mengen benötigten
Sandsäcken zu versorgen. Das neu erfundene Verfahren
des Nitrierens von Zellulose hat uns von der Baumwolle
als Rohstoff für das rauchlose Pulver unabhängig ge-
macht.
Auf dem Gebiete der Landwirtschaft richteten sich die
Anstrengungen, abgesehen von der bereits erwähnten
Herstellung von Stickstoffdünger, auf die Beschaffung von
Futtermitteln, da in diesen unsere Versorgung durch die
Unterbindung der ausländischen Zufuhren am schwersten
gefährdet war. Zunächst suchte man durch die möglichste
Ausdehnung der Kartoffeltrocknung Futterstoffe zu er-
halten, die bisher in großem Umfang durch Fäulnis
15 Helfferich, Weltkrieg II
225
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
zugrunde gegangen waren. Das Trocknungsverfahren
wurde im Laufe des Krieges auch auf zahlreiche andere
bisher als wertlose Abfälle behandelte Erzeugnisse, so auf
Rübenkraut, Kartoffelkraut und ähnliches mehr mit
großem Erfolg ausgedehnt. Zu dem Trocknungs verfahren
kam bald hinzu die künstliche Herstellung von Kraft-
futtermitteln, vor allem die Herstellung von Mineral-
hefe (als Futterhefe und als Nährhefe) und die Her-
stellung von Strohkraftfutter im Wege der Strohauf-
schließung, schließlich die Herstellung von Kraftfutter aus
Tierkadavem, Knochen und bisher un verwerteten Ab-
fällen aller Art. In ähnlicher Weise ist unsere auf das
äußerste bedrohte Versorgung mit Ölen durch die spar-
samste Ausnutzung aller ölhaltigen Samen und Kerne sowie
durch neue Verfahren der Ölgewinnung aus animali-
schen Stoffen und minerahschen Substanzen (Schiefer)
nicht unerhöbhch aufgebessert worden.
Auf den meisten dieser Gebiete hatte das Reich, und
vor allem das mir anvertraute Amt, anregend und zu-
sammenfassend, fördernd und organisierend mitzuarbeiten.
Kaum ein anderer Teil der Geschäfte, die ich als Reichs-
schatzsekretär und Staatssekretär des Innern zu leiten
hatte, hat mir die gleiche innere Befriedigung gewährt,
- wie die mir leider nur in engen Grenzen mögliche Mit-
arbeit an diesen schöpferischen Leistungen, als deren
äußersten Kontrast ich, je länger desto mehr, die endlosen
und größtenteils fruchtlosen Parlamentsdebatten empfand.
226
Ersatzstoffe und Erfindungen
Ich mag im Reichstag manchmal kurz angebunden und
schroff gewesen sein; aber das war dann meistens der
Ausfluß einer mühsam unterdrückten inneren Auflehnung
gegen die Vergeudung von Zeit und Kraft in unfrucht-
baren Debatten, während die dringendsten und wich-
tigsten Arbeiten warten mußten und zu Schaden kamen.
Umstellung der Unternehmungen und
Umgruppierung der Arbeitskräfte
Neben der Steigerung der technischen Leistungsfähig-
keit der Gütererzeugung ging einher eine Umstellung des
ganzen Produktionsapparates auf die 'durch den Krieg
total veränderten Bedürfnisse. Die Herstellung von Kriegs-
gerät aller Art in gewaltigen Mengen, daneben die Sicherung
der Ernte traten mit Kriegsbeginn in den Vordergrund;
auf der andern Seite waren große Zweige der Industrie
und des Handels alsbald zu empfindlichen Einschränkun-
gen gezwungen: alles, was für den überseeischen Export
arbeitete, und alles, was, auf überseeische Rohstoffe ange-
wiesen war. In ganz großem Stil mußten Unternehmer,
Angestellte und Arbeiter sich neuen Aufgaben und neuen
.Beschäftigungen zuwenden.
Das Unternehmertum vollzog die Umstellung aus eigener
Initiative und im wesentlichen aus eigener Kraft mit einer
erstaunlichen Anpassungsfähigkeit und Energie. Fabriken
und Werkstätten, die stets nur der Herstellung von
Waren des Friedensbedarfs gedient hatten, wandten sich.
15*
227
Wirtschaftskrieg und Kriegswii'tschaft
angereizt durch gute Gewinnaussichten, der Fabrikation
von Heeresgerät und Heeresausrüstung zu. Nicht nur Be-
triebe der Metallindustrie, auch Spinnereien und ähnliche
Unternehmungen wurden in Geschoßdrehereien und Zünder-
fabriken umgewandelt. Neue industrielle Anlagen zur
Fabrikation von Kriegsbedarf schossen wie Pilze aus
der Erde.
Weit schwieriger war die Umgruppierung der Arbeiter-
schaft.
Die nächste Wirkung des Krieges, der unserer Volks-
wirtschaft Millionen der leistungsfähigsten Arbeiter ent-
zog, war — eine erschreckende Arbeitslosigkeit! In einer
Lage, in der alles darauf ankam, jede Arbeitskraft, die
der Heeresdienst nicht in Anspruch nahm, für die Güter-
erzeugung nutzbar zu machen, sahen sich Hunderttausende
zum Verlassen ihrer Arbeitsstellen gezwungen, ohne als-
bald neue Arbeit finden zu können. Die zum großen Teil
unvermeidlichen, zum Teil aber auch ohne Not überstürzten
Betriebseinschränkungen und Betriebseinstellungen setz-
ten Arbeitskräfte frei, die nicht ohne weiteres den Weg zu
neuer Beschäftigung fanden, schon deshalb nicht, weil die
technische Umstellung der Industrie eine gewisse Zeit
erforderte. In welch erschreckendem Maße der Krieg den
Arbeitsmarkt erschütterte, davon geben folgende Zahlen
ein Bild.
Bei den Arbeitsnachweisen kamen auf hundert offene
Stellen bei den männlichen Arbeitern im Juli 1914
Umschichtung der Arbeitskräfte
158 Arbeitsuchende, im August 1914 dagegen nicht weniger
als 248; bei den weiblichen Arbeitern kamen im Juli 1914
ai^f 100 offene Stellen 99 Arbeitsuchende, im August 1914
dagegen nicht weniger als 202.
Das Reich griff alsbald nach Kriegsausbruch ein, um
sowohl im Interesse der Arbeiterschaft wie im Interesse
der höchstmöglichen Leistung unserer Produktion die Um-
gruppierung der schaffenden Hände zu beschleunigen.
Der Weg war eine den Kriegsbedürfnissen angepaßte
Organisation des Arbeitsnachweises.
Das deutsche Arbeitsnachweiswesen vor dem Kriege
litt vor allem an einer starken Zersplitterung. Neben den
nicht bedeutenden gewerbsmäßig betriebenen Stellenver-
mittlungen arbeiteten ohne ausreichenden Zusammenhang
nebeneinander: die von öffentlichen Körperschaften ein-
gerichteten Arbeitsnachweise, die Arbeitgebernachweise,
die Arbeitnehmernachweise und paritätische Arbeitsnach-
weise. Das Reichsamt des Innern gab diesen Organen gleich
nach Kriegsausbruch in der ,, Reichszentrale für Arbeits-
nachweise'* eine einheitliche Spitze. Die einzelnen Arbeits-
nachweise übernahmen die Pflicht, sowohl die offenen
Stellen wie auch die überschüssigen Arbeitsangebote an
die Zentralstelle zu melden, um so einen Ausgleich zu er-
möglichen. Schon am 9. August 1914 konnte die Reichs-
zentrale ihre Arbeit auf nehmen. Sie hat sich nicht auf
die Herstellung der Verbindung zwischen den einzelnen
Arbeitsnachweisen beschränkt, sondern in wichtigen Fällen
229
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
unmittelbar eingegrif fen ; so vor allem gleich nach Kriegs-
ausbruch bei der Beschaffung von Arbeitskräften für die
Bergung der Ernte, für die in großem Umfang eingelei-
teten Festungsarbeiten, für die reichseigenen Betriebe der
Militär- und Marinebehörden und der von diesen beschäf-
tigten Unternehmungen; ferner bei der Zuweisung von
Kriegsgefangenen an die unter Mangel an Arbeitskräften
leidenden Betriebe in Industrie und Landwirtschaft.
Ergänzt wurde die Tätigkeit der Reichszentrale und der
Einzelnachweise durch die Schaffung von Arbeitsgelegen-
heit für die nicht ohne weiteres unterzubringenden Arbeits-
losen, durch Einschränkungen der Arbeitszeit, das Verbot
von Überstunden und von Nachtarbeit in gewissen Be-
trieben, durch eine den Arbeiterverhältnissen angepaßte
Verteilung der Heeresaufträge, durch eine planmäßige
Fürsorge für die Erwerbslosen.
Nachdem die erste große Umschichtung der Arbeits-
kräfte vollzogen war, änderte sich die Lage und damit die
zu bewältigende Aufgabe. Die Einziehung der Millionen
zum Heeresdienst und der steigende Bedarf an Heeresaus-
rüstung ließ die Nachfrage nach männlichen Arbeitskräften
rasch in die Höhe schnellen. Während im August 1914 auf
100 offene Stellen 248 Arbeitsuchende gekommen waren,
brachte schon der April 1915 mit 100 Angeboten auf 100
offene Stellen den Ausgleich. In den folgenden Monaten
überwog die Nachfrage nach männlichen Arbeitskräften
das Angebot immer stärker: auf 100 offene Stellen kamen
230
Arbeitsmarkt. Frauenarbeit
im Oktober 1915 nur noch 85, im Oktober 1916 nur noch
64 Angebote.
Dagegen ging bei den weiblichen Arbeitskräften das
Überangebot nur ganz allmählich zurück. Hier wirkte dem
Überangebot keine Einziehung zum Heeresdienst entgegen ;
außerdem wurden durch Betriebseinschränkungen gerade
solche Industriezweige am stärksten betroffen, in denen die
weiblichen Arbeitskräfte überwiegen (Textilindustrie). Im
Juli 1915, also ein Jahr nach Kriegsausbruch, standen
100 offenen Stellen immer noch 165 Arbeitsuchende gegen-
über; dann kam infolge der gerade damals notwendig wer-
denden Einschränkung in der Textilindustrie eine weitere
Steigerung des Arbeitsangebots bis auf 182 im Oktober
1915. Die Zahl für den April 1916 war 162, für den Oktober
1916 immer noch 135 Angebote auf 100 offene Stellen.
Zunehmender Mangel an männlichen Arbeitskräften, fort-
dauernder Überschuß an weiblichen Arbeitskräften — das
drängte auf einen Ausgleich. Planmäßig wurde überall, wo
es angängig war, die Männerarbeit durch Frauenarbeit er-
setzt. In welchem Maße das gelungen ist, zeigt sich darin, daß
nach den Arbeitsausweisen der Betriebskrankenkassen vom
I. Juli 1914 zum I. Juli 1916 der Anteil der weiblichen
Arbeitskräfte an der Gesamtzahl der Arbeiter gestiegen ist :
in der Hüttenindustrie, Metallbearbei-
tung und Maschinenindustrie . . von 9 auf 19%
in der chemischen Industrie » 7 23%
in der elektrischen Industrie 24 ,, 55%
231
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Allein vom i. Juli 1915 bis zum i. Juli 1916 weist die
Krankenkassenstatistik eine Vermehrung der weiblichen
Arbeitskräfte um 750 000 Arbeiterinnen auf.
Wie die Frauen, so mußten auch die Jugendlichen in
verstärktem Maße zur Arbeit herangezogen werden.
Um die Arbeitskraft der Frauen und der Jugendlichen
für den Kriegszweck voll nutzbar machen zu können, hatte
ein Gesetz vom 4. Aügust 1914 dem Reichskanzler die Be-
fugnis erteilt, Ausnahmen von den gesetzlichen Bestim-
mungen über den Schutz der weiblichen Arbeiter und der
Jugendlichen zu gestatten. Die harte Notwendigkeit
des Krieges machte in vielen Fällen eine Lockerung dieser
Schutzbestimmungen erforderlich. Es wurde eben nicht
nur auf den Schlachtfeldern gekämpft, sondern auch in den
Arbeitsstellen der Heimat. Hier wie dort waren wir ge-
zwungen, von dem wertvollen Kapital unserer Volkskraft
zu zehren, um das Volksganze gegenüber dem Vernichtungs-
willen unserer Feinde zu erhalten.
Ihre höchste Steigerung hat die ,, Mobilmachung der
Arbeit“ in dem Gesetz über den Vaterländischen Hilfs-
dienst gefunden, auf das ich weiter unten in einem be-
sonderen Abschnitt des Näheren eingehen werde.
Verbrauchs regelung und Volksernährung
Die erfolgreichen Bemühungen, unsere heimische Güter-
erzeugung durch technische und organisatorische Ver-
vollkommnung und durch die Nutzbarmachung aller
232
Höchstpreise
Arbeitskräfte zu steigern, konnten wesentliche Erleichte-
rungen unserer bedrängten Lage schaffen und das Äußerste
ab wehren, aber sie konnten uns nicht der Notwendigkeit
entheben, die Verwendung der den normalen Bedarf nicht
deckenden Nahrungsmittel und Rohstoffe zu regulieren.
Es war unmöglich, die Regulierung dem freien Spiel
der Kräfte zu überlassen. Dann hätte sich die Regulierung
des Verbrauches der nur in unzureichenden Mengen ver-
fügbaren Waren im W^ge der Preisgestaltung vollzogen,
in der Weise, daß eine scharfe Preissteigerung schrittweise
die weniger zahlungsfähige Nachfrage ausgeschaltet hätte.
Reichliche Versorgung der Wohlhabenden, Hunger und
Elend der breiten Volksschichten wären die unvermeidlichen
Folgen gewesen. Es kam alles darauf an, eine solche Ent-
wicklung in sozialem Geist und mit Mitteln der sozialen Orga-
nisation zu verhindern. Die schwere materielle Bedräng-
nis, die der Krieg über unser Volk brachte, konnte nur
dann ertragen und überwunden werden, wenn alle Volks-
genossen mittragen halfen und jeder seinen Anteil an der
notwendigen Einschränkung übernahm.
Die Festsetzung von Höchstpreisen allein konnte die
Aufgabe nicht lösen. Eine gesetzliche Preisfestsetzung
schaltet den Preis als Regulator von Angebot und Nachfrage
aus, ohne einen andern Regulator an seine Stelle zu setzen.
Ein niedriger Höchstpreis veranlaßt Erzeuger und Händler
zur Zurückhaltung, ohne den Konsumenten zu der ge-
botenen Einschränkung seines Verbrauches zu nötigen.
233
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Das System der Höchstpreise, durch das die Bevölkerung
von einer allzu starken Verteuerung der Lebenshaltung
bewahrt werden sollte, bedurfte mithin sofort, wenn es das
Zusammenbrechen der Versorgung nicht geradezu be-
schleunigen sollte, der Ergänzung durch weitergehende Maß-
nahmen. Als solche kamen in Betracht die Regulierung des
Verbrauchs durch Einschränkungen der Verwendung und
durch Rationierung, ferner die Erfassung der Bestände und
der Neuproduktion durch Beschlagnahme und Enteignung.
Die vollständige Übernahme der Bewirtschaftung ist die
äußerste Konsequenz.
Je elementarer das Lebensbedürfnis war, dem eine Ware
zu genügen hatte, je offenkundiger die Knappheit der ver-
fügbaren Bestände, desto dringender war das staatliche
Eingreifen.
Auf dem Gebiet der Volksernährung hat demgemäß die
Reglementierung mit dem Brotgetreide begonnen und
hier zur Entwicklung eines Systems geführt, das für die
Gesamtheit der Kriegswirtschaft von großem Einfluß ge-
worden ist.
Neben den Höchstpreisen wurden hier schon im Oktober
1914 bestimmte Verwendungsbeschränkungen eingeführt.
Das Verfüttern von Brotgetreide wurde verboten. Für
das Ausmahlen von Brotgetreide wurden Mindestsätze
vorgeschrieben. Für Weizenbrot wurde ein bestimmter
Zusatz von Roggenmehl, für Roggenbrot ein solcher von
Kartoffeln oder Kartoffelmehl vorgeschrieben. In der
234
Erfassung und Bewirtschaftung des Brotgetreides
Folgezeit wurden diese Bestimmungen verschärft und
ergänzt.
Bereits im Januar 1915 ging man den entscheidenden
Schritt weiter. Es wurde jetzt einmal der Brot- und Mehl-
verbrauch pro Kopf und Tag auf eine bestimmte Höchst-
menge festgesetzt und zur Durchführung dieser Rationierung
die Brot- und Mehlkarte eingeführt. Gleichzeitig wurde die
Bewirtschaftung des in Deutschland vorhandenen Brotge-
treides der im November 1914 aus privater Initiative gegrün-
deten und jetzt weiter ausgebauten ,, Kriegsgetreide-Gesell-
schaft“ übertragen. Das Brotgetreide wurde für die genannte
Gesellschaft beschlagnahmt, und die Gesellschaft wurde be-
auftragt, das beschlagnahmte Getreide aufzunehmen, zu
lagern, vermahlen zu lassen und das Mehl mit Hilfe einer
gleichzeitig geschaf fenenReichsverteilungsstelle zu verteilen.
Die Verteilung der Mehlmerigen über die Bäcker bis zu den
Konsumenten wurde den Kommunal verbänden übertragen.
Ihre endgültige Form erhielt die Organisation durch
eine Verordnung vom 28. Juni 1915. Die Kriegsgetreide-
Gesellschaft wurde ersetzt durch die ,, Reichsgetreidestelle“,
bestehend aus einer Verwaltungsabteilung und einer Ge-
schäftsabteilung; die erstere wurde mit weitgehenden be-
hördlichen Befugnissen ausgestattet, der letzteren wurde
die kaufmännische Durchführung übertragen. Die neue
Verordnung brachte insofern eine Abweichung gegenüber
der bisherigen Regelung, als das Brotgetreide der Ernte
1915 nicht für die Reichsgetreidestelle, sondern für die
235
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Kommunal verbände beschlagnahmt wurde, da diese als
die geeigneten Organe für die Durchführung der Beschlag-
nahme und die örtliche Kontrolle erschienen. Den Kom-
munalverbänden/wurde die Verpflichtung zur Lieferung
des Getreides an die Reichsgetreidestelle oder an die von
dieser zu bezeichnenden Stellen auferlegt.
Hier haben wir also klar herausgearbeitet die Kombina-
tion von Höchstpreisen mit strengster Verwendungs-
beschränkung und Verbrauchsrationierung einerseits, Er-
fassung und Bewirtschaftung der Produktion und der
Bestände andererseits.
Beim Brotgetreide hat sich diese Organisation alles in
allem vorzüghch bewährt. Sie hat nicht nur eine ausrei-
chende und regelmäßige Belieferung der deutschen Wehr-
macht und der gesamten deutschen Zivilbevölkerung mit
dem täglichen Brot sichergestellt, sondern sie hat diese Be-
lieferung zu Preisen durchgeführt, die bald hinter denjeni-
gen in allen andern Ländern, nicht nur der Kriegführenden
sondern auch der Neutralen, nicht nur diesseits sondern
auch jenseits des Ozeans zurückblieben. Das ist erreicht
worden, obw^ohl Deutschland in Friedenszeiten auf Grund
der Agrarzölle das Zentrum der höchsten Getreidepreise
der Welt gewiesen war, und obwohl nicht nur die auslän-
dischen Zufuhren von Brotgetreide in V^egfall kamen,
sondern auch die inländische Produktion infolge einer
w^eniger intensiven Bodenbearbeitung und geringeren Dün-
gung wesentlich hinter den Friedensernten zurückblieb.
236
Bewirtschaftung des' Brotgetreides
Allerdings lagen beim Brotgetreide die Vorbedingungen
für eine staatliche Bewirtschaftung besonders günstig.
Bedarf und Bestände sind hier verhältnismäßig leicht fest-
zustellen. Die Kontrolle ist verhältnismäßig einfach. Die
Haltbarkeit und Transportfähigkeit von Roggen und
Weizen ist verhältnismäßig gut. Qualitätsunterschiede
spielen keine entscheidende Rolle. Alles Eigenschaften,
die ein einheitliches Disponieren nach einem wohl-
durchdachten Plan erheblich erleichtern , und Eigen-
schaften, die bei den meisten andern Nahrungsmitteln
fehlen oder mindestens nicht in dem gleichen Maße vor-
handen sind.
Man hatte deshalb in der ersten Zeit des Krieges auch
wenig Neigung, das beim Brotgetreide erprobte System
der Bewirtschaftung auf die andern Kategorien von Nah-
rungsmitteln zu übertragen. Schon bei den Kartoffeln
lagen die Verhältnisse für eine einheitliche Bewirtschaftung
sehr viel weniger günstig. Die Bestände sind infolge der
Einmietung der Ernte weniger leicht zu übersehen. Die
'^Haltbarkeit ist geringer und stets unsichef. Die verschie-
denen Sorten bilden eine weitere Erschwerung. Noch größer
sind die Schwierigkeiten der zentralen Bewirtschaftung
bei leicht verderblichen Nahrungsmitteln wie bei Gemüse
und Obst. Ebenso bei Eleisch, Milch, Butter, Eiern,
Fischen.
Man hat deshalb bei allen diesen Dingen, als sie an-
fingen knapp zu werden, eine gleichmäßige Verteilung zu
237
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
erträglichen Preisen auf andern Wegen zu erreichen ver-
sucht : durch Regle me ntierung oder SyndizierungdesHandels,
durch Abschluß von Lieferungs vertragen zwischen Kom-
munen und Händlern oder Produzenten, durch teilweise
Beschlagnahmen oder durch Umlage von Lieferungsver-
pflichtungen auf Provinzen und Kommunen, durch Fest-
setzung von variabeln Richtpreisen, durch Preisprüfungs-
steUen und Kriegswoicheramt. Aber der mangelhafte Er-
folg aller dieser Maßnahmen drängte — trotz aller ent-
gegenstehenden Schwierigkeiten — immer mehr zu der
radikalen Lösung, wie sie beim Brotgetreide mit so viel
Erfolg verwirklicht worden war. Auf fast allen Gebieten
des Ernährungswesens kam man von Teileingriffen zur
zentralen Bewirtschaftung, die nach dem Vorbild der Brot-
getreide-Organisation in die Hand von Reichsstellen mit
Verwaltungsabteilungen für die behördliche Tätigkeit und
Geschäftsabteilungen für die kaufmännische Tätigkeit ge-
legt wurde. So bekamen wir die Reichskartoffelstelle und
Reichshülsenfruchtstelle , die Reichsstelle für Gemüse
und Obst und die Reichszuckerstelle, die Reichsfleisch-
stelle und die Reichsstelle für Speisefette, die Reichs ver-
teilungsstelle für Eier und den Reichskommissar für Fisch-
versorgung. Viele von diesen Reichsstellen umgaben
sich für die kaufmännische Durchführung ihrer Aufgaben
mit einem Kranz von Kriegsgesellschaften für alle mög-
lichen Spezialgebiete, für Sauerkraut, wie für Teichfische
und Aale.
238
Ausdehnung der Zwangswirtschaft
Ich habe der Ausdehnung der Zwangswirtschaft auf Ge-
biete, die sich ihrer Natur nach für eine staatliche Bewirt-
schaftung nicht eignen, mehrfach Widerstand entgegen-
zusetzen versucht. Ich bin auch heute noch der Meinung,
daß auf manchen Gebieten die Zwangswirtschaft weit mehr
geschadet als genutzt hat, daß sie die Produzenten ver-
wirrte und verärgerte und so die Produktion lähmte, daß
sie große Mengen leicht verderblicher Nahrungsmittel, die
im Weg des privaten Handels leicht und sicher dem Ver-
brauch zugeführt worden wären, verkommen ließ, sodaß
in der Endwirkung Erzeuger und Verbraucher zu kurz
kamen. Den allergrößten Nachteil aber sehe ich darin,
daß die Überspannung des Systems der zentralen Bewirt-
schaftung den wucherischen Schleichhandel geradezu groß-
züchtete. Wenn auf der einen Seite die Kontrollmöglichkeit
gering, auf der andern infolge der Übertreibung des Sy-
stems die Versuchung zu seiner Durchbrechung übermäch-
tig ist, dann gibt es kein Halten. Auch nicht durch Strafen.
Im Gegenteil, indem die Strafen das Risiko des Schleich-
handels erhöhen, steigern sie die Schleichhandelspreise.
Nach meiner Überzeugung wäre hier weniger mehr ge-
wesen. Aber jeder Widerstand war vergeblich. Ein ge-
wisser Ressortfanatismus in den Abteilungen des Kriegs-
ernährungsamts und den diesem angegliederten Reichs-
stellen, der, vielleicht unbewußt, auf eine Erweiterung der
eigenen Machtbefugnisse hinausging, wäre an sich noch
zu bändigen gewesen, wenn er nicht noch geschoben und
239
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
gedrängt worden wäre durch den parlamentarischen Beirat
des Kriegsernährungsamtes, in dem die Anhänger der alles
erfassenden staatlichen Bewirtschaftung stark überwogen.
Bewirtschaftung der Rohstoffe
Auf dem Gebiet der industriellen Rohstoffe führte die
gleich zu Beginn des Krieges eingerichtete Kriegsrohstoff-
Abteilung des Kriegsministeriums.
Hier mußten mit raschem Zugriff die vorhandenen Be-
stände an nicht beliebig vermehrbaren kriegswichtigen
Rohstoffen für die Heereszwecke sichergestellt werden.
Es handelte sich vor allem um die in Deutschland nicht vor-
kommenden oder nur in beschränktem Umfang zu ge-
winnenden Mineralien, die sogenannten ,, Sparmetalle“,
und um die Textilrohstoffe.
Die Erfassung erfolgte zunächst im Weg der Beschlag-
nahme. Mit der Beschlagnahme, die noch nicht gleichbe-
deutend mit Enteignung ist, wird dem Eigentümer das Recht
der beliebigen Veräußerung und Verarbeitung des be-
schlagnahmten Materials entzogen. In zahlreichen Fällen
hat die Kriegsrohstoff- Abteilung von einer Enteignung ab-
gesehen und lediglich die Verwendung reguliert und kon-
trolliert. In andern Fällen sah sie sich zu der Überfüh-
rung der Bestände in Staatseigentum veranlaßt. Die Not-
wendigkeit hierzu lag besonders dann vor, wenn nicht nur
auf die Vorräte der Industrie und des Handels, sondern
auch auf die bereits in den Gebrauch übergegangenen
240
Erfassung der Rohstoffe
Bestände von Haushaltungen, Betrieben usw. zurück-
gegriffen werden mußte, wie bei Kupfer und Kupferlegie-
rungen, Nickel, Zinn.
Für die Verteilung und die Verwendungsregulierung
waren die auf Grund der Bestandsaufnahmen und Bedarfs-
anmeldungen aufgestellten Wirtschaftspläne maßgebend.
Bei der Aufstellung dieser Wirtschaftspläne hieß es, sich
nach der Decke strecken, den angemeldeten Bedarf nach
seiner Dringlichkeit klassifizieren, nach Ersatzmöglich-
keiten suchen und ' jedenfalls so zu disponieren, daß in
der Lieferung der notwendigen Heeresausrüstung keine
Stockung eintreten konnte.
Wie auf dem Gebiet des Ernährungswesens, so waren
auch hier die zu lösenden Aufgaben teils behördlicher, teils
kommerzieller Natur. Die Anordnungen von Bestands-
erhebungen, Beschlagnahmen und Enteignungen, die Fest-
setzung der Preise, die Aufstellung der Wirtschaftspläne
und der Verteilungsschlüssel konnten nur von einer Be-
hörde ausgehen, die sich dabei natürlich der Beratung der
beteiligten Industrie- und Handelskreise bedienen mußte.
Dagegen war die Abnahme und Bezahlung der zu beschaf-
fenden Materialien sowohl im Inland, wie namentlich auch
in den besetzten Gebieten, in den Ländern unserer Bundes-
genossen und der uns zugänglichen Neutralen, ferner die
Verfrachtung, Einlagerung, Sortierung ein kaufmännisches
Geschäft großen Stils, für dessen Bewältigung besondere
Organe aus den beteiligten Wirtschaftskreisen geschaffen
i6 Helfferich, Weltkrieg II
241
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
werden mußten, die sogenannten ,, Kriegsrohstoff-Gesell-
schaften''.
Schon die Erfassung der kriegswichtigen Rohstoffe für
den Heeresbedarf griff stark ein in die Versorgung der
Zivilbevölkerung. Das gilt vor allem für die Erfassung der
Faserstoffe und des Leders. Für die Verteilung des von
der Heeresverwaltung für die Versorgung der Zivilbevöl-
kerung* freigegebenen Leders mußte im Frühjahr 1916
eine besondere Organisation geschaffen werden. Noch
stärker wurde die Versorgung der Zivilbevölkerung in
Mitleidenschaft gezogen, als es sich notwendig zeigte, im
Heeresinteresse die Hand auch auf Fertigfabrikate der
Textilindustrie zu legen. Nachdem am i. Februar 1916
die Heeresverwaltung die Beschlagnahme der Anzug-
stoffe, Futterstoffe, Wäsche, Unterkleider usw. verfügt
hatte, wurde eine umfassende Regelung der Versorgung
der Zivilbevölkerung mit Kleidung und Wäsche unauf-
schiebbar. Zu diesem Zweck wurde die ,, Reichsbekleidungs-
stelle" ins Leben gerufen, der die dornenvolle Aufgabe zufiel,
die notwendig gewordene Einschränkung des Verbrauches
im Wege des der Lebensmittelkarte nachgebildeten, auf
dem Gebiet der Bekleidung aber viel schwerer anwend-
baren Bezugsscheins durchzuführen und gleichzeitig für
die weitestmögliche Nutzbarmachung des hier besonders
wichtigen Altmaterials an Stoffen und Kleidern zu sorgen.
So entstanden, gerade in der Zeit, in der ich das Reichs-
amt des Innern übernahm, für die Zivilverwaltung auch
242
Reichsbekleidungsstelle. Verteilung der Rohstoffe
außerhalb des Gebietes der Volksernährung neue große
Aufgaben.
Diese Aufgaben wuchsen, als die immer stärker werdende
Knappheit der Rohstoffe und der Arbeitskräfte eine Be-
schränkung auf die Regelung des Verbrauchs nicht mehr
angängig erscheinen ließ.
Schon die Verteilung der allzu knapp gewordenen Roh-
stoffe auf die einzelnen Betriebe durch die Kriegsrohstoff-
Abteilung hatte einen starken Einfluß auf die Betriebe
selbst ausgeübt. Es waren zwei verschiedene Wege gang-
bar: entweder die Verteilung auf sämtliche vorhandenen
Betriebe nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit, was zur
Folge haben mußte, daß alle Betriebe des betreffenden
Industriezweiges nur teilweise beschäftigt wurden; oder
die Zuweisung des Rohstoffs an einzelne besonders leistungs-
fähige Betriebe bis zur Vollbeschäftigung unter Stillegung
der weniger leistungsfähigen. Wirtschaftlich rationeller
ist das zweite System; denn es ermöglicht die gleiche
Leistung bei geringerem Aufwand von Arbeit, Kohle usw.
Dagegen sprachen gewisse soziale Rücksichten für das
erstere System, da dieses keinen Betrieb gegenüber den
andern in Nachteil brachte und die Entlassung von Ar-
beitern durch Kürzung der Arbeitszeit vermeiden ließ.-
Solange kein Mangel an Arbeitskräften und keine Knapp-
heit an Kohlen bestand, mochte man dem ersteren System
den Vorzug geben. Das ist in der Tat in der ersten
Periode der Kriegswirtschaft ganz vorwiegend geschehen.
16*
243
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Vor allem in der mit Rohstoffen besonders knapp ver-
sehenen Textilindustrie, ebenso in der Schuh Warenindustrie
hielt man auf eine gleichmäßige Verteilung der Beschäf-
tigung; das bedingte eine wesentliche Verkürzung der Ar-
beitszeit, die unter Gewährung von Zuschüssen aus öffent-
lichen Mitteln zu den Arbeitslöhnen durchgeführt wmrde.
Als aber der wachsende Bedarf an Kriegsgerät die Nach-
frage nach Arbeitskräften immer mehr steigerte, als die
äußerste Sparsamkeit mit Kolile und andern Betriebs-
stoffen immer dringlicher vmrde, ließ sich der Übergang
zu dem wirtschaftlich rationellen System der Vollbe-
schäftigung der Höchstleistungsbetriebe und der Still-
legung der weniger leistungsfähigen Unternehmungen
trotz aller sozialen Bedenken nicht mehr vermeiden. Den
entscheidenden Umschvaing brachte das sogenannte
,,Hindenburgprogramm“ in Verbindung mit dem Hilfs-
dienstgesetz und die im Winter 1916/17 scharf einsetzende
Kohlenknappheit.
i Schon vorher aber erschienen mir Eingriffe in die Struk-
tur einzelner Industriezweige im Interesse der Steigerung
der Nutz Wirkung aller Kräfte und Stoffe und der Vermei-
dung unvdrtschaftlichen Arbeits-, Kapitals- und Material-
aufwandes angezeigt.
Zunächst wurde angesichts des Mangels an Arbeits-
kräften im Kalibergbau ein Verbot des Abteufens von neuen
Schächten erlassen (8. Juni 1916). Dann wurden Neu-
bauten und Erweiterungsbauten von Zementfabriken
244
Rationelle Ausnutzung der Höchstleistungsbetriebe
beschränkt (29. Juni 1916), um den angesichts der Nicht-
erneuerung der Syndikats Verträge zu befürchtenden ir-
rationellen Arbeits- und Kapitalaufwand für den Bau neuer
oder die Vergrößerung bestehender Werke zu verhindern.
In der gleichen Richtung zielten meine Bemühungen bei
den Bundesregierungen und Generalkommandos, eine
Zurückstellung aller nicht kriegswichtigen Hoch- und Tief-
bauten behufs Freisetzung von Arbeitskräften und Er-
sparnis von Material zu erreichen. Schließlich erwähne ich
die Durchführung des wirtschaftlich rationellen Prinzips
der Beschäftigung einer Auswahl leistungsfähiger Fabriken
in der Seifenindustrie, die im Frieden nicht weniger als
2000 Betriebe überwiegend kleinster Art beschäftigt hatte.
Von diesen wurden jetzt nur ganz wenige leistungsfähige
Betriebe mit Fetten weiter beliefert, während die stillge-
legten Betriebe das Recht erhielten, von den arbeitenden
Fabriken Fertigprodukte zu Vorzugspreisen zu beziehen
und mit ihren eigenen Packungen in Verkehr zu bringen
(Verordnung vom 21. Juli 1916). Eine ähnliche Regelung
wurde für die Schuhindustrie in die Wege geleitet.
Bei einem wichtigen Gewerbe allerdings mußte ich aus
zwingenden Gründen des öffentlichen Wohles im entgegen-
gesetzten Sinne, zum Zweck der Erhaltung gerade der
kleinen und weniger leistungsfähigen Betriebe, eingreifen:
beim Zeitungsgewerbe.
Es war die wachsende Knappheit der Rohstoffe der
Papierfabrikation, und späterhin auch der Kohle, die auf
245
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
diesem Gebiet ein Eingreifen nötig machte. Die Bemühun-
gen, die Beschaffung und Verarbeitung der Rohstoffe in
ausreichendem Umfang zu sichern, hatten keinen vollen
Erfolg. Es fehlte in Deutschland an Arbeitskräften für
den Einschlag von Papierholz; der Bedarf des Heeres an
Holz für die Schützengräben usw. nahm immer größeren
Umfang an, und der Bezug von Papierholz, Zellstoff und
Druckpapier aus dem Ausland wurde durch Ausfuhrver-
bote erheblich eingeschränkt. Um das Papier konkurrier-
ten mit den Zeitungen neue wichtige Industrien: einmal
die Fabrikation von Papiergarn, von dem immer wachsende
Quantitäten benötigt wurden, vor allem für die Herstellung
von Sandsäcken für die Schützengräben; dann die Ver-
wendung von Papier im Ni tri er verfahren zur Herstellung
von rauchlosem Pulver.
Die aus diesen Verhältnissen sich ergebende starke Er-
höhung der Rohstoffpreise und damit der Druckpapier-
preise traf das Zeitungsgewerbe um so schwerer, als seine
finanziellen Grundlagen durch den Ausfall von Einnahmen
aus Inseraten ohnedies erschüttert waren. Um das Fort-
erscheinen der Zeitungen, namentlich auch der am schwer-
sten bedrohten mittleren und kleineren Zeitungen, zu ermög-
lichen, entschloß ich mich im Frühjahr 1916 noch in meiner
Eigenschaft als Reichsschatzsekretär, Reichszuschüsse zur
Verbilligung des Druckpapierpreises zu bewilligen.
Aber damit war nur der finanzielleTeil der Schwierigkeiten
überwunden, nicht aber die Knappheit an Druckpapier,
246
Das Zeitungsgewerbe
die trotz aller Gegenmaßnahmen so stark wurde, daß
der Wettbewerb um die verfügbaren Mengen einen Teil
der Presse einfach auszuschalten drohte. Eine planmäßige
Einschränkung des Verbrauchs von Druckpapier durch
das Reich war um so mehr geboten, als dafür gesorgt
werden mußte, daß die recht erheblichen Reichszuschüsse
zur Verbilligung des Zeitungspapiers ihren Zweck der Er-
haltung der deutschen Presse in ihrer Gesamtheit erfüllten
und nicht nur den im freien Wettbewerb um das Papier
stärkeren Zeitungsunternehmungen zugutekämen.
Als Organ für eine sachgemäße Regelung wurde im
April 1916 die ,, Kriegs wirtschaftsstelle für das deutsche
Zeitungsgewerbe“ geschaffen und zunächst mit der Fest-
stellung der tatsächlichen Verhältnisse von Bedarf und
Versorgung betraut. Nachdem ich das Reichsamt des
Innern übernommen hatte, wurde der Kriegswirtschafts-
stelle ein Beirat, bestehend aus Vertretern des Zeitungs-
gewerbes und der Papierindustrie, beigegeben. Die not-
wendig gewordene Kontingentierung des Papierverbrauchs
der einzelnen Zeitungen wurde unter Mitwirkung des
Beirats durchgeführt. Eine gleichmäßige Einschränkung
aller Zeitungen um einen bestimmten Prozentsatz ließ
sich dabei nicht ermöglichen, weil die kleinen und mitt-
leren Blätter, die nur in einem bescheidenen, kaum zu
verkürzenden Umfang erschienen, durch den notwendigen
Abstrich einfach zum Tode verurteilt worden wären, wäh-
rend die Zeitungen mit einer Tagesausgabe von vielen
247
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Druckseiten eine stärkere Einschränkung eher ertragen
konnten. Die kleine und mittlere Lokalpresse mußte aber
aus naheliegenden und zwingenden Gründen unter allen
Umständen am Leben gehalten werden. Die gegebene
und auch von dem Beirat mit großer Mehrheit gebilligte
Lösung war eine gestaffelte Kontingentierung, die den Ver-
brauch der in größeren Ausgaben erscheinenden Zeitungen
stufenweise stärker einschränkte als den Verbrauch der
Blätter mit kleiner Ausgabe.
Ich bin wegen dieser Regelung späterhin, als infolge der
Kohlennot die Kontingentierung schärfer angespannt
werden mußte, von einem Teil der großen Presse heftig an-
gegriffen worden; ja eine Anzahl Berliner Organe hat sich
damals zu einer Art Streik gegen mich zusammengetan
und verabredet, von meiner im März 1917 im Reichstag
zum Etat des Reichsamts des Innern gehaltenen Rede über
unsere Kriegswirtschaft keinerlei Notiz zu nehmen. Heute
denkt wohl mancher von denen, die mich damals so scharf
befehdeten, etwas milder; denn es ist mir nicht bekannt,
daß nach meinem Ausscheiden aus dem Reichsamt des
Innern eine bessere Lösung der Druckpapierfrage gefunden
worden wäre.
Die Zeitungsangelegenheit war ein Sonderfall ganz
eigener Art. Die Presse als Ganzes konnte ihre Funktionen, die
im Kriege noch so viel bedeutungsvoller waren als im Frie-
den, nur dann erfüllen, wenn auch ihre über das ganze Land
verteilten kleinen Organe erhalten blieben. Die Erzielung
248
Das Zeitungsgewerbe
einer stärkeren Nutz Wirkung von Kräften und Stoffen im
Wege einer Konzentration der Produktion in wenigen be-
sonders leistungsfähigen Betrieben verbot sich also hier
durch die Natur der von der Presse zu vollbringenden
Leistung. Überall aber, wo solche besonderen Verhält-
nisse nicht Vorlagen, verlangten die immer gewaltiger an-
wachsenden Ansprüche des Krieges geradezu gebieterisch,
daß aus Menschen und Stoffen das Höchstmaß von Nutz-
wirkung herausgeholt werde. Die Entwicklung drängte
also zu der Verwirklichung der Grundsätze hin, die gegen
Ende des Jahres 1916 im ,, vaterländischen Hilfsdienst“
eine gesetzliche Formel gefunden haben.
Hilfsdienstgesetz
und Hindenburg-Programm
Die aus der allgemeinen Lage sich ergebende Notwendig-
keit der äußersten Anspannung aller Kräfte wurde in der
zweiten Hälfte des Jahres 1916 verstärkt durch eine ernste
Krisis der Munitionserzeugung.
Mit bewundernswerter Umsicht und Tatkraft hatte die
deutsche Eisenindustrie gleich nach Beginn des Krieges
die gewaltige Aufgabe der Versorgung unseres Heeres mit
Kriegsgerät aller Art in Angriff genommen und bewältigt.
Der Verbrauch an Munition, namentlich an Artillerie-
munition, überstieg von Anfang an alle Begriffe. Die
vorhandenen Bestände waren rasch aufgebraucht, die
249
Wii*tschaftskrieg und Kriegswirtschaft
bestehenden Einrichtungen für die Herstellung von Artillerie-
munition vermochten mit dem riesenhaften Bedarf nicht
entfernt Schritt zu halten. Im September und Oktober
1914 machte die Munitionsversorgung des Heeres eine
schwere Krisis durch, die unsere militärischen Operationen
auf das äußerste beeinträchtigte, ja verhängnisvoll zu
werden drohte. Alles, was in der deutschen Eisenindustrie
irgendwie der Herstellung von Granaten dienstbar ge-
macht werden konnte, wurde herangeholt. Man half sich
mit Graugußgranaten, die zwar gegenüber den Stahlgranaten
geringwertig sind, aber rasch in großen Mengen hergestellt
werden konnten. Gleichzeitig wurden die • Einrichtungen
für die Herstellung von Stahlgranaten in einem Maße aus-
gebaut, daß nach verhältnismäßig kurzer Zeit für diese
Fabrikation mehr als go Werke zur Verfügung standen,
gegenüber 7 bei Kriegsausbruch. Auch die Belieferung dieser
Werke mit Rohstahl gestaltete sich befriedigend. Zwar
hatte unsere Eisen- und Stahlerzeugung unmittelbar nach
Kriegsausbruch einen schweren Rückgang erfahren. Die
Flußstahlerzeugung war von i 628 000 Tonnen im Juli 1914
auf 567 000 Tonnen im August herabgesunken. Aber den
Anstrengungen der Industrie und dem verständnisvollen
Entgegenkommen der Heeresleitung in der Freigabe von
Arbeitskräften war es gelungen, die Stahlerzeugung bald
wieder zu heben; im Sommer 1916 erreichte sie etwa
I 400 000 Tonnen im Monat, also etwa 85% der Friedens-
erzeugung. Eine besondere Förderung hatte die Herstellung
250
Munitionsversorgung
der Stahlgranaten dadurch erfahren, daß es gelungen
war, als Rohmaterial Thomasstahl an Stelle des immer
knapper werdenden Siemens-Martin-Stahls zu verwenden.
Die Klagen über ungenügende Munitionsversorgung waren
so allmählich verstummt. Lange Zeit hindurch schien die
Munitionserzeugung den Bedarf des Feldheeres ausreichend
zu decken. Noch im Mai 1916 versicherte mir der damalige
Kriegsminister, General Wild von Hohenborn, als ich mich
bei ihm über die Wirkungen des gewaltigen Munitions-
verbrauches vor Verdun erkundigte, daß unsere Munitions-
vorräte und unsere Munitionserzeugung jeder Eventualität
gewachsen seien.
Da begann am i. Juli die Schlacht an der Somme, die
erste ganz große Materialschlacht. Engländer und Fran-
zosen entwickelten eine Überlegenheit an Artillerie und Mu-
nition, von der man sich bei uns offenbar weder bei der
Obersten Heeresleitung noch beim Kriegsministerium und
der Feldzeugmeisterei eine auch nur aiftiähernde Vor-
stellung gemacht hatte. Wie wenig unsere maßgebenden
militärischen Kreise mit einer solchen Steigerung des Muni-
tionsbedarfes gerechnet hatten, ergibt sich daraus, daß die
Feldzeugmeisterei keinerlei Eile zeigte, die am 30. Juni 1916
ablaufenden Verträge über die Lieferung von Granaten aus
Thomasstahl zu erneuern, obwohl der Vorstand des Vereins
Deutscher Eisenhüttenleute schon Monate vorher auf den
Ablauf der Verträge hingewiesen und auf rechtzeitige Er-
neuerung gedrängt hatte. Als die Entscheidung ausblieb.
251
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
richtete der Vorstand des genannten Vereins im Juni noch
einmal eine dringende Anfrage an die Feldzeugmeisterei
und erhielt darauf am 2. Juli die Antwort, eine Weiter-
lieferung von Thomasstahl für die Granatfabrikation sei
nicht beabsichtigt. Vierzehn Tage später, am 16. Juli, er-
hielt der Verein ein dringendes Telegramm des Inhalts,
es hege die zwingende Notwendigkeit vor, Geschosse aus
Thomasstahl in großen Mengen zu beschaffen; es werde
umgehende Feststellung der Höchstmengen^ die geliefert
werden könnten, erbeten. Drei Tage darauf fand eine Ver-
sa.mmlung der Thomaswerke statt, bei der die Militärbe-
hörde den dringendsten Monatsbedarf an Thomasrundstahl
für die Granatenfabrikation auf ein Vielfaches dessen be-
zifferte, was die Thomaswerke leisten konnten. Außerdem
ergab sich, daß es in den dringenden Bestellungen der Mih-
tärbehörden auf die verschiedenen Arten von Stahlerzeug-
nissen — Granaten, Wurfminen, Minenwerfer, Draht usw.
— an der erforderlichen Einheithchkeit fehlte, so daß die
einzelnen Stehen sich in der Nachfrage nach dem Roh-
material gegenseitig Konkurrenz machten.
Die neuen Anforderungen der Heeresverwaltung über-
trafen in ihrem Umfang bei weitem aUes bisher Dagewesene.
Die Stahlindustrie zeigte sich sofort bereit, jede andere
Arbeit, auch die Lieferungen an das neutrale Ausland, zu-
rückzusteUen und die zur Bewältigung des neuen Munitions-
bedarfes erforderliche ümstehung ihrer Betriebe, die an
Umfang selbst die Umstellung der Industrie zu Anfang
252
Munitionskrisis
des Krieges übertraf, mit jeder möglichen Beschleunigung
durchzu führen. Über die Voraussetzungen — Freigabe
der erforderlichen Facharbeiter und der notwendigen Roh-
stoffe, einheitliche Disposition in den Bestellungen der
Heeresverwaltung auf Stahlerzeugnisse, Zurückstellung des
Bedarfs für andere Zwecke, z. B. des Schienenbedarfs ^
des Eisenbahn-Zentralamts — war für den i8. August
eine abschließende Besprechung im Kriegsministerium ver-
einbart. Die Besprechung verlief ohne positives Ergebnis,
da, wie mir von Teilnehmern an der Beratung mitgeteilt
worden ist, weder der den Vorsitz führende Vertreter des
Kriegsministeriums, ein Major, noch der Vertreter der
Feldzeugmeisterei und des Ingenieurkorps genügend orien-
tiert waren.
In diesem Stadium wurde ich zum erstenmal mit der
Angelegenheit durch Vertreter der Industrie befaßt. Ich
erteilte den Herren, die über die Behandlung dieser un-
absehbar wichtigen Frage auf das äußerste erregt waren,
den Rat, sich alsbald an den stellvertretenden Kriegsmini-
ster — der Kriegsminister selbst befand sich im Großen
Hauptquartier — zu wenden, in der Überzeugung, daß
dieser sofort durchgreifen würde. Ich stieß mit diesem Rat
auf Bedenken und Zweifel, aber die Herren sagten zu,
den Vorschlag alsbald an ihre Verbände weiterzugeben.
Wenige Tage darauf erhielt ich die Nachricht, man habe
meinen Rat insofern befolgt, als man den Kriegsminister
telegraphisch gebeten habe, in der Munitionsangelegenheit
253
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
alsbald zwei Vertreter der Eisen- und Stahlindustrie im
Großen Hauptquartier zu empfangen. Die Antwort habe
gelautet, der Kriegsminister sei zur Zeit an der Ostfront
festgehalten und gebe anheim, bei dem stellvertretenden
Kriegsminister in Berlin vorstellig zu werden. Ein er-
neutes persönliches Telegramm des Herrn Krupp von Boh-
len und Haibach an den Kriegsminister hatte die erneute
Verweisung an dessen Stellvertreter zur Folge.
Der Verein Deutscher Eisenhüttenleute legte nun seine
Auffassung der Lage und seine Vorschläge in einer vom
23. August 1916 datierten Denkschrift nieder, die dem Kriegs-
minister und wohl auch andern maßgebenden militärischen
Persönhchkeiten zugestellt wurde. Auch mir wnirde auf
meinen Wunsch ein Exemplar überlassen. Schon vorher
hatte ich dem Reichskanzler, der im Begriff war, nach dem
Großen Hauptquartier zu reisen, über die Angelegenheit
Vortrag gehalten und ihm anheimgestellt, den Chef des
Generalstabs — damals noch General von Falkenhayn —
und den Kriegsminister auf den Ernst der Lage und
auf die Notwendigkeit einer Reorganisation der Material-
bestellung hinzu weisen.
Wenige Tage darauf war der General von Falkenhayn
als Generalstabschef durch den Generalfeldmarschall von
Hindenburg ersetzt. Als der Kanzler am 28. August, noch
ohne Kenntnis des Wechsels, abermals nach dem Haupt-
quartier fuhr, gab ich ihm die mir inzwischen zugegangene
Denkschrift des Vereins Deutscher Eisenhüttenleute mit.
254
Denkschrift des Vereins deutscher Eisenhüttenleute
Der Kanzler fand den Generalfeldmarschall und den General
Ludendorff bereits orientiert und fest entschlossen,
durchzugreifen. Am 31. August richtete der Feldmarschall
an den Kriegsminister ein Schreiben, in dem er das stärkste
Kraftaufgebot zur Steigerung der Munitions- und Waffen-
herstellung verlangte. Dem Kanzler gab der Feldmarschall
eine Abschrift.
Ich schrieb darauf an den General Ludendorff am 3. Sep-
tember 1916 einen Brief, in dem es hieß:
,,Ich bin über die auf diesem Gebiet vorliegenden
großen Schwierigkeiten durch unsere Industriellen un-
terrichtet. Mein Eindruck ist, daß die volle Leistungs-
fähigkeit unserer Industrie nur dann ausgenutzt werden
kann, wenn
1. die nötigen Facharbeiter aus der Front der In-
dustrie schleunigst zur Verfügung gestellt werden,
2. die Vergebung der Aufträge vereinheitlicht wird,
3. der zu schaffenden Zentralstelle ein Mann ersten
Ranges aus unserer Eisenindustrie beigegeben wird.
. . . Ich empfinde es als große Erleichterung von
einer drückenden Sorge, daß die Oberste Heeresleitung
diese wichtige Angelegenheit nunmehr in die Hand ge-
nommen hat. Die Oberste Heeresleitung ist die einzige
Stelle, die auf das Kriegsministerium in dieser Sache mit
der Sicherheit des Erfolges einwirken kann.“
Etwa ZV/ei Wochen später erhielt der Kanzler ein
Schreiben des Feldmarschalls, in dem dieser unter
255
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
nachdrücklichem Hinweis auf den Ernst der Lage und auf die
Notwendigkeit der Sicherung eines ausreichenden Heeres-
ersatzes wie der Steigerung der Leistungen unserer Kriegs-
industrie eine Reihe von Vorschlägen zur Erwägung stellte,
deren wichtigste waren : Ausdehnung der Wehrpflicht auf
alle Deutschen männlichen Geschlechts vom vollendeten
fünfzehnten bis zum sechzigsten Lebensjahr und Einführung
einer allgemeinen Dienstpflicht für Frauen.
So sehr ich von der Überzeugung durchdrungen war,
daß eine intensivere Ausnutzung der vorhandenen Arbeits-
kräfte dringend notwendig geworden war, so wenig
konnte ich mich von der Zweckmäßigkeit und Wirksam-
keit der von der Obersten Heeresleitung vorgeschlagenen
Eingriffe überzeugen. Die Ausdehnung der Wehrpflicht
nach unten aus Gründen des Heeresersatzes schien mir
schon deshalb überflüssig, weil das bestehende Wehrgesetz,
das die Wehrpflicht vom vollendeten 17. Lebensjahre be-
ginnen ließ, hinsichtlich der beiden jüngsten Jahrgänge
überhaupt noch nicht ausgenutzt war. Auch von der Aus-
dehnung nach oben — jedenfalls von einer Ausdehnung
über das fünfzigste Jahr hinaus — eine Ausdehnung bis zum
fünfzigsten J ahr hielt ich für diskutabel — vermochte ich
mir gleichfalls für den Heeresersatz keinen Vorteil zu ver-
sprechen, der einigermaßen im Verhältnis zu den Härten
und Nachteilen einer solchen Maßnahme gestanden hätte.
Wollte man aber die Ausdehnung der Wehrpflicht nach
oben und unten lediglich als Verschleierung einer Arbeits-
256
Ausdehnung der Wehrpflicht. Frauendienstpflicht
pflicht, SO schien mir dieser Weg nicht zweckmäßig; man
hätte die neuen Wehrpflichtigen alsbald für die Arbeit in
die Heimat wieder reklamieren müssen, und die mit den
Reklamierten schon damals vorliegenden Erfahrungen
waren nicht gerade ermutigend. Die Einführung einer all-
gemeinen Dienstpflicht für die Frauen sollte die Möglich-
keit geben, männliche Arbeit in weiterem Umfange als bis-
her durch weibliche zu ersetzen. Ich hatte den Eindruck, daß
die Oberste Heeresleitung, als sie diesen Vorschlag machte,
weder darüber im Bilde war, in welchem Umfang der
Ersatz männlicher durch weibliche Arbeitskräfte bereits
gelungen war — ich habe oben dafür einige Zahlen ge-
geben — , noch auch darüber, daß immer noch auf dem
Arbeitsmarkt ein starker Überschuß des Angebots weib-
licher Arbeitskräfte über die Nachfrage bestand. Das Pro-
blem lautete hier nicht : Wie kann man mehr weibliche Ar-
beitskräfte verfügbar machen? — sondern umgekehrt:
Wie kann man für die verfügbaren weiblichen Arbeits-
kräfte geeignete Arbeit schaffen? Auch schien mir der
Urheber des Vorschlages der Obersten Heeresleitung die
wirtschaftlichen, sozialen und sittlichen Unzuträglich-
keiten eines Arbeitszwanges für das weibliche Geschlecht
nicht genügend zu würdigen.
In dem Ziel, die männlichen Arbeitskräfte weit stärker
als bisher auf die kriegswichtigen und lebenswichtigen
Betriebt zu konzentrieren und die Männerarbeit in noch
weiterem Umfang als seither durch Frauenarbeit zu
17 Helfferich, Weltkrieg II
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
ersetzen, stimmte ich mit der Obersten Heeresleitung über-
ein. Aber von dem vorgeschlagenen Weg vermochte ich —
abgesehen von der Frage nach der Möglichkeit seiner ge-
setzgeberischen Verwirklichung — bei zweifelhaftem Nutzen
nur ganz schwerwiegende Nachteile und Störungen zu
erwarten. Der Weg, der mir gangbar erschien, war die
konsequente Weiterführung und Verallgemeinerung der
bereits für einige Industrien in Angriff genommenen Kon-
zentration und rationellen Nutzbarmachung der verfüg-
baren Arbeitskräfte, und zwar unter möglichster Förderung
der weiteren Ersetzung von Männerarbeit durch Frauen-
arbeit im Wege der Einwirkung auf alle irgendwie für weib-
liche Arbeitskräfte in Betracht kommenden öffentlichen und
privaten Betriebe. Auch die militärischen Behörden und
Betriebe sowohl in der Heimat wie in den besetzten Ge-
bieten schienen mir eine Überprüfung nach dieser Richtung
hin sehr wohl zu vertragen.
In diesem Sinne habe ich den Reichskanzler beraten,
und in diesem Sinne hat der Reichskanzler dem General-
feldmarschall geantwortet.
Es knüpfte sich daran eine weitere Erörterung, in deren
Verlauf die Oberste Heeresleitung in einem Schreiben des
Feldmarschalls vom lo. Oktober, das General Gröner am
14. Oktober dem Reichskanzler überbrachte, einen neuen
Vorschlag machte.
In diesem Schreiben setzte der Feldmarschalf ausein-
ander, daß die bisher getroffenen Maßnahmen zur Steigerung
258
Errichtung des Kriegsamts
der Leistungen unserer Industrie (Einrichtung des Waffen-
und Munitionsbeschaffungsamtes und des Arbeitsamtes im
Kriegsministerium) nicht zum Ziele führen würden. Er-
folge würden .auch in Zukunft dadurch vereitelt werden,
daß diese Ämter nicht die erforderliche Selbständigkeit
und Befehlsgewalt hätten, um schnell und lediglich
nach großen sachlichen Gesichtspunkten zu handeln,
die Ausführung zu überwachen und nötigenfalls auch
durchsetzen zu können. Auch das Kriegsernährungs-
amt leide unter den gleichen Mängeln. Die unbedingt
notwendige Änderung sei nur zu erreichen, ,,wenn wir
uns zunächst auf Maßnahmen beschränken, die lediglich
durch Kaiserlichen Erlaß, ohne Beteiligung der gesetz-
gebenden Körperschaften, getroffen werden können“.
Der Entwurf einer Allerhöchsten Kabinettsorder war
beigefügt.
Dieser Entwurf sah die Einrichtung eines ,, Obersten
Kriegsamtes“ vor, dem die Leitung aller mit der Krieg-
führung zusammenhängenden Angelegenheiten der Be-
schaffung, Verwendung und Ernährung der Arbeiter,
sowie die Beschaffung von Rohstoffen, Waffen und Muni-
tion übertragen werden sollte. Das Waffen- und Muni-
tionsbeschaffungsamt, das Arbeitsamt und die Kriegs-
rohstoffabteilung des Kriegsministeriums sollten dem
,, Obersten Kriegsamt“ unterstellt werden. Ferner sollte das
„Oberste Kriegsamt“ die Maßnahmen des Kriegsernäh-
rungsamts für die Versorgung der Arbeiter überwachen.
17*
259
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Letztere Regelung war 'als eine vorläufige gedacht, die
gänzliche Einfügung des Kriegsernährungsamtes in das
,, Oberste Kriegsamt“ sollte weiterer Erwägung Vorbe-
halten bleiben.
Mündlich sagte General Gröner bei der Übergabe dieses
Schreibens dem Reichskanzler: General Ludendorff habe
den Gedanken des Arbeitszwanges noch nicht ganz auf-
gegeben; er, Gröner, sei für seine Person dagegen, halte
aber Einschränkungen der Freizügigkeit der Arbeiter, ähn-
lich wie in England, für nötig.
Die Errichtung eines Kriegsamts, bei dem alle Ange-
legenheiten der Beschaffung von Waffen und Munition,
einschheßlich der Arbeiter- und Rohstoffragen einheitlich
zusammengefaßt werden sollten, lag in der Richtung der
in meinem Schreiben an den General Ludendorff vom
3. September gegebenen Anregung. Zweifelhaft war die
Zweckmäßigkeit einer völligen Lostrennung des Kriegs-
amts vom Kriegsministerium. Nach weiterer Prüfung
entschieden sich die militärischen Stellen dahin, das Kriegs-
amt nicht als „Oberstes Kriegsamt“ selbständig neben das
Kriegsministerium zu stellen, sondern es mit weitgehender
Selbständigkeit im Verbände des Kriegsministeriums zu
belassen. In diesem Sinn wurde am i. November 1916
die Errichtung des „Kriegsamts“ durch Allerhöchste
Order verfügt. Gleichzeitig wurde der General Gröner zum
Chef des Kriegsamts ernannt und General Wild von Hohen-
born als Kriegsminister durch General von Stein ersetzt.
260
Kriegsamt. Arbeitspflicht. Hindenburg-Programm
Noch ehe diese Änderungen veröffentlicht waren, am
28. Oktober, teilte General Gröner dem Reichskanzler
mit, daß die Oberste Heeresleitung — entgegen der im
Schreiben des Feldmarschalls an den Reichskanzler vom
IO. Oktober ausgesprochenen Absicht, zunächst von Maß-
nahmen, die eine Mitwirkung der gesetzgebenden Körper-
schaften nötig machten, abzusehen — auf die früheren
Vorschläge in der Form zurückgreifen wollte, daß für alle
männlichen Deutschen vom vollendeten 15. bis zum 60.
Lebensjahr, sowie für die Frauen eine Arbeitspflicht ein-
geführt werde.
Am folgenden Tage fand beim Reichskanzler unter
Zuziehung des Generals Gröner eine Besprechung mit den
beteiligten Ressortchefs über diesen Gedanken statt. General
Gröner begründete die Notwendigkeit der Arbeitspflicht,
gegen die er sich dem Reichskanzler gegenüber noch vier-
zehn Tage zuvor für seine Person ausgesprochen hatte,
mit dem gewaltigen Bedarf an Arbeitskräften zur Durch-
führung des neuen großen Waffen- und Munitionspro-
gramms, des „Hindenburg-Programms“. Ich hörte bei
dieser Gelegenheit zum erstenmal von den gigantischen
Dimensionen dieses Programms, das aufgestellt und mit
der Industrie größtenteils bereits vereinbart war, ohne daß
die militärischen Stellen in dieser so tief in das gesamte
Wirtschaftsleben einschneidenden und in ihrer Durchführ-
barkeit von schwer zu übersehenden wirtschaftlichen Vor-
aussetzungen abhängigen Angelegenheit mit mir als dem
261
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Chef des wirtschaftlichen Reichsressorts in Verbindung ge-
treten wären. Es ergab sich, daß auch der Eisenbahn-
minister von Breitenbach und der Handelsminister Sydow
zu der Feststellung des Programms ^ nicht herangezogen
worden waren, obwohl dessen Durchführung, die enorme
Transporte für Neubauten industrieller Anlagen größten
Stils nötig machte und den Verbrauch der Kohle ge-
waltig steigern mußte, von der Leistungsfähigkeit unserer
Eisenbahnen und unserer Kohlenproduktion ebenso ab-
hängig war wie von der Möglichkeit der Beschaffung aus-
reichender Arbeitskräfte. Beide Minister äußerten, ebenso
wie ich, die ernstlichsten Zweifel an der Durchführbarkeit
des „Hindenburg-Programms“ und wiesen auf die ver-
hängnisvollen Folgen einer solchen Überspannung hin.
In Sachen der Arbeitspflicht brachte General Gröner nur
den allgemeinen Gedanken und den dekorativen Namen
„Vaterländischer Hilfsdienst“ mit. Keine bestimmte For-
mulierung und keine Ausgestaltung im einzelnen. Die
Aussprache enthüllte die außerordentlichen Schwierigkei-
ten der Verwirklichung des Gedankens der Arbeitspflicht.
Sollten die Arbeitspflichtigen wie die Wehrpflichtigen in
Stammrollen eingetragen, zu Arbeiterbataillonen formiert
und in bestimmte Betriebe kommandiert werden? Jeder-
mann sah ein, daß dies unmöglich war. Weitaus der größte
Teil der künftighin Arbeitspflichtigen war bereits in Be-
trieben und Beschäftigungen tätig, die als wichtig für die
Kriegführung und Volks Versorgung anzusehen waren.
262
Arbeitspflicht
Es hätte keinen Zweck gehabt und nur die schwersten
Störungen verursacht, wenn man diese hätte aus ihrer
Tätigkeit herausreißen wollen, um sie dann derselben
Tätigkeit oder einer anderen, aber nicht wichtigeren, wieder
zuzuführen. Der Sinn der Arbeitspflicht konnte doch nur
sein, diejenigen heranzuholen, die bisher entweder über-
haupt nicht arbeiteten oder in für Kriegführung und Volks-
versorgung unwichtigen oder weniger wichtigen Beschäf-
tigungen tätig waren, oder schließlich in an sich wichtigen,
aber mit Arbeitskräften übersetzten Betrieben arbeiteten.
Dat Erfassen dieser Arbeitskräfte und ihre Überweisung
an wichtige Arbeit war zu organisieren. Ferner bedurfte der
Zwang, eine zugewiesene Arbeit anzunehmen, zu seiner Er-
gänzung einer Kontrolle des Verlassens einer kriegswich-
tigen Arbeit, also einer Beschränkung des Arbeitswechsels.
Und diese weitgehenden Einschränkungen der persönlichen
Freiheit machten ein geordnet es Verfahren und einen Rechts-
schutz für die dadurch betroffenen Personen nötig. Voraus-
zusehen war ferner, daß bei der parlamentarischen Be-
handlung eines Arbeitspflichtgesetzes die alten sozialen
Wünsche nach Arbeitsausschüssen, Schlichtungsstellen und
Einigungsämtern und die politische Forderung nach un-
beschränkter Koalitionsfreiheit sich Geltung verschaffen
würden.
In der grundsätzlichen Frage konnte ich mich den
Gründen, die General Gröner für die Statuierung einer
Arbeitspflicht darlegte, nicht entziehen, obwohl ich den
263
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
praktischen Nutzeffekt der Arbeitspflicht erheblich geringer
einschätzte als die militärischen Stellen. Aber angesichts
der schweren Bedrängnis, in die wir geraten waren, konnte
auf keine irgend mögliche Verbesserung in der Nutzbar-
machung von Arbeitskräften verzichtet werden. Die Ar-
beitspflicht der Jugendlichen von weniger als 17 Jahren
und der Frauen ließ General Gröner angesichts der von
allen Seiten geltend gemachten Einwendungen fallen.
Ich übernahm es, einen Entwurf ausarbeiten zu lassen,
der als Grundlage für die weitere Erörterung dienen sollte.
Das war am Sonntag, dem 29. Oktober. Obwohl ich
damals neben meinen anderen Geschäften durch 'die
Reichstagsverhandlungen über Belagerungszustand und
Zensur, durch den Bundesratsausschuß für auswärtige
Angelegenheiten, der am 30. Oktober tagte, und die da-
mals vor der Entscheidung stehende polnische Frage auf
das äußerste in Anspruch genommen war, konnte ich die
Grundzüge des Entwurfs schon am Donnerstag, 2. No-
vember, mit General Gröner besprechen und mit diesem
vereinbaren, daß vor weiterem die Angelegenheit in der
folgendenWoche vertraulich mit Vertretern der Arbeitgeber-
und der Arbeitnehmer-Organisationen durchberaten wer-
den sollte. Zudem hatte der Kaiser sich der Auffassung des
Kanzlers angeschlossen, daß vor einer öffentlichen Behand-
lung der Frage der Arbeitspflicht die Wirkung des damals
schon bei unseren Verbündeten angeregten Friedensvor-
schlags abgewartet werden sollte.
264
Das Hilfsdienstgesetz
Am 4. November war der Reichstag vertagt worden.
Am Vormittag des 6. November schickte mir der Kanzler
ein Telegramm des Vertreters des Auswärtigen Amts im
Großen Hauptquartier, der General Ludendorff erkläre,
das Hilfsdienstgesetz dulde keinerlei Aufschub; er werde
diesen Standpunkt mit allem Nachdruck bei Seiner Maje-
stät vertreten. Schon am Nachmittag erhielt der Kanzler
ein Telegramm des Kaisers, in dem dieser in ungewöhnhch
schroffer Form die sofortige Erledigung des Hilfsdienst-
gesetzes befahl. Auch in den folgenden Wochen, während
mit Hochdruck an dem Gesetz gearbeitet wurde — der
Entwurf wurde am 10. November nach der Beschluß-
fassung des Preußischen Staatsministeriums dem Kaiser
zur Genehmigung vorgelegt und alsbald nach Eingang der
Kaiserlichen Order, am 14. November, bei dem inzwischen
bereits vertraulich orientierten Bundesrat eingebracht —
wiederholte sich dieses ungestüme Drängen aus dem Gro-
ßen Hauptquartier. Es ist mir heute noch unbegreiflich,
was für einen Sinn dieses Drängen haben sollte. Die Durch-
führung des Gesetzes bedurfte in dem gerade erst neu er-
richteten Kriegsamt umfassender Vorbereitungen, die un-
beschadet der verfassungsmäßigen Behandlung des Ent-
wurfs sofort in Angriff genommen werden konnten und in
Angriff genommen wurden. Auch bei der besten und gründ-
lichsten Vorbereitung konnten die Wirkungen des Gesetzes
sich nicht auf Tag und Stunde, sondern erst im Laufe län-
gerer Zeit fühlbar machen. Andererseits war das Gesetz
265
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
von solcher Tragweite für unser ganzes Wirtschaftsleben
und für die Verhältnisse eines jeden einzelnen Staats-
bürgers, daß ich für die Durchberatung mit den in erster
Linie beteiligten Wirtschaftskreisen, für die Beschlußfas-
sung der Verbündeten Regierungen und für die Vorbe-
reitung der parlamentarischen Behandlung die nötige Zeit
in Anspruch nehmen mußte.
Jedenfalls war ich für meine Person nicht gewillt, das
fortgesetzte Drängen hinzunehmen. Ich erklärte dem
Kanzler, daß ich dafür dankte, unter der Hetzpeitsche des
Großen Hauptquartiers zu arbeiten, und bat ihn, dem Kaiser
mein Entlassungsgesuch zu unterbreiten. Der Kanzler
selbst hatte den Eindruck,' daß die unverkennbare Animo-
sität des Großen Hauptquartiers sich in der Hauptsache
gegen seine Person richte. Er reiste nach Pleß, um eine
Aussprache mit dem Kaiser und dem Feldmarschall her-
beizuführen und danach seine eigenen Entscheidungen
zu treffen. Diese Aussprache reinigte für kurze Zeit die
Atmosphäre; eine wirkliche Klärung brachte sie nicht.
Der Kanzler selbst kehrte aus Pleß zurück mit dem Gefühl
eines von Einzeldifferenzen unabhängigen, auf die Dauer
unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen sich und der
Obersten Heeresleitung.
Das Hilfsdienstgesetz wurde am 21. November vom Bun-
desrat angenommen und dem für den 25. November wieder
einberufenen Reichstag vorgelegt. Schon zwei Tage zuvor
begann der Hauptausschuß auf Grund der von mir mit
266
Das Hilfsdienstgesetz im Reichstage
den Fraktionsführern getroffenen Abrede in freier Dis-
kussion die Beratung des Gesetzentwurfs. In Sitzungen,
die vom frühen Morgen bis zum späten Abend dauerten,
wurde das Gesetz in der eingehendsten Weise durchge-
arbeitet. Der Reichstagsausschuß verlangte, wie ich das
nicht anders erwartet hatte, daß alle die nach dem Ent-
wurf dem Bundesrat vorbehaltenen Einzelbestimmungen
über die zur Durchfühmng des Gesetzes zu schaffenden
Organe und Instanzen sowie über den Rechtsschutz für die
Arbeitspflichtigen — Bestimmungen, die in Form von
,, Richtlinien“ der Begründung des Entwurfs beigefügt
waren — in den Text des Gesetzes selbst aufgenommen
würden. Dazu kamen alle die vorausgesehenen und manche
nicht vorausgesehenen sozialpolitischen und politischen
Anträge, die auf ein mit dem Zweck des Gesetzes verträg-
liches Maß in schwieriger Diskussion zurückgeführt wer-
den mußten. So erfüllte sich die von einem Vertreter
der Obersten Heeresleitung bei der Besprechung mit den
Gewerkschaften ausgesprochene Hoffnung, der Reichstag
werde das Gesetz als eine patriotische Großtat auffassen
und ohne Diskussion en bloc annehmen!
In Tages- und Nachtarbeit wurde der Entwurf so weit
gefördert, daß der Hauptausschuß schon am Abend des
28. November die Beratung abschließen konnte. In den
folgenden Tagen erledigte das Reichstagsplenum die Vor-
lage in Dauersitzungen. Die zweite Lesung am 30. No-
vember begann um 12 Uhr mittags und endigte kurz vor
267
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
12 Uhr nachts. Am Nachmittag des 2. Dezember wurde
das Gesetz in dritter Lesung vom Reichstag mit 235 gegen
19 Stimmen der Unabhängigen Sozialdemokraten bei
8 Stimmenthaltungen angenommen.
Bis zum letzten Augenblick waren einzelne wichtige
Bestimmungen schwer umstritten. Meine Stellung war
gegenüber dem Reichstag eine ungewöhnlich schwierige
infolge des Umstandes, daß zwischen den einzelnen Sta-
dien der Reichstagsberatung nicht die genügende Zeit lag,
um eine Stellungnahme der Verbündeten Regierungen zu
weitgehenden Abänderungen und Ergänzungen der Vorlage
herbeizuführen. Dadurch war ich gezvnmgen,Jn Wahrung
des gesetzgeberischen Rechtes des Bundesrats auch gegen-
über Anträgen Zurückhaltung zu zeigen, die ich an sich
für erträglich hielt und die ich bei den Verbündeten Re-
gierungen gegen manche mir bekannte Widerstände zu
befürworten entschlossen war. Ich mußte in solchen Fäl-
len, wie ich es im Reichstag ausdrückte, den Verbündeten
Regierungen gewissermaßen „das Protokoll offen halten“.
Der Reichstag hat für solche Situationen, die sich aus der
Stellung der Mitglieder der Reichsleitung als Vertreter
der Verbündeten Regierungen ergaben, stets nur geringes
Verständnis gezeigt. Im vorliegenden Fall kam für mich
noch die besondere Erschwening hinzu, daß der General
Gröner, der als Chef des Kriegsamts mit mir die Vorlage
zu vertreten hatte, in der nur einem Soldaten gestatte-
ten Unbefangenheit auf eigene Faust verhandelte und
268
Das Hilfsdienstgesetz im Reichstage
Zugeständnisse machte, oft genug ohne mich auch nur von
seinen Besprechungen und Zusagen zu unterrichten. Es ist
mir in der Kommission passiert, daß mir ein sozialdemokra-
tischer Abgeordneter unter vier Augen sagte : „Wir verstehen
Sie nicht; Sie wehren sich hier gegen Dinge, die uns der
General Gröner längst zugestanden hat!“
Noch in der dritten Lesung kam es zu einer kritischen
Zuspitzung. Am Abend vorher wurde mir mitgeteilt, daß
die Nationalliberalen auf Drängen des Abgeordneten Ickler,
der in den Eisenbahner-Organisationen eine führende
Rolle spielte, einen Antrag einbringen wollten, der die
Erstreckung der in den Beschlüssen zweiter Lesung
vorgesehenen Arbeiterausschüsse und Schlichtungsstellen
auch auf die Staatseisenbahnen vorsah. Der preußische
Eisenbahnminister und mit ihm das gesamte preußische
Staatsministerium hatten, schon als in den Kommissions-
beratungen dieser Gedanke von sozialdemokratischer Seite
in die Erörterung geworfen wurde, eine solche Erstreckung
für unannehmbar erklärt. Der Widerstand des Eisenbahn-
ministers richtete sich vor allem gegen die Schiedsstellen,
die für das Verhältnis zwischen Eisenbahn Verwaltung und
Eisenbahnangestellten und Arbeitern eine dritte außerhalb
stehende Instanz geschaffen hätten. Dagegen gelang es
mir, von Herrn von Breitenbach die Zusicherung zu er-
halten, daß die bei der Eisenbahn bereits bestehen-
den Arbeiterausschüsse entsprechend den aus der Mitte
des Reichstags geäußerten und in einer Resolution
269
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
niedergelegten Wünschen ausgebaut werden sollten. Auf
Grund dieser Zusage gelang es, die Nationalliberalen noch
vor Beginn der Sitzung zur Zurückziehung des bereits ge-
druckten Antrages Ickler zu bestimmen. Die Sozialdemo-
kraten, die bisher einen solchen Antrag nicht gestellt
hatten, erhielten jedoch von dem gleich wieder zurück-
gezogenen Antrag Ickler Kenntnis und nahmen diesen nun
ihrerseits auf. Als bereits der Abgeordnete Legien zur Be-
gründung des Antrags sprach, trat der Abgeordnete Ickler
zu mir heran und sagte mir, daß, nachdem die Sozial-
demokraten den Antrag gestellt hätten, seine Freunde nun
doch für den Antrag stimmen müßten. Da die Haltung
eines Teiles des Zentrums zum mindesten zweifelhaft war,
was mir der Abgeordnete Spahn bestätigte, konnte die
Annahme des Antrags, wenn überhaupt noch, dann nur
durch eine klare Stellungnahme meinerseits und einen
Hinweis auf die möglichen Folgen eines solchen irrepara-
beln, weil in der dritten Lesung gefaßten Beschlusses ver-
hindert werden. Ich nahm deshalb nach Legien das Wort,
teilte zunächst die Zusicherung des preußischen Eisenbahn-
ministers hinsichtlich der Arbeiterausschüsse mit, ent-
wickelte kurz die Gründe gegen eine Ausdehnung der Schieds-
stellen auf die Eisenbahnen und fügte hinzu : ,, Deshalb muß
ich hier, so leid es mir tut, sagen, daß, wenn der Antrag, wie
er hier gestellt ist, angenommen wird, dann in der Tat das
Gesetz gefährdet ist. Dieses Wort habe ich bisher noch nicht
ausgesprochen; in diesem Punkte muß ich es leider tun.“
270
Das Hilfsdienstgesetz im Reichstage
Diese Erklärung trug mir im Reichstag und in der Presse
die heftigsten Angriffe ein. Sie hatte aber die Wirkung,
daß ein Teil der Abgeordneten, die andernfalls für den
sozialdemokratischen Antrag gestimmt hätten, vor allem
die Nationalliberalen um Ickler und die den Arbeiter-
organisationen nahestehenden Zentrumsabgeordneten, sich
auf die zu diesem Thema vorliegende Resolution zurück-
zogen und gegen den Antrag stimmten, der auch jetzt nur
mit einer Stimme Mehrheit, mit 139 gegen 13S Stimmen,
abgelehnt wurde. Ich war bei der Besetzung des Hauses
auf eine Annahme des Antrags gefaßt und hatte bereits
meine Akten gepackt, um sofort zum Kanzler zu fahren
und meine Entlassung zu nehmen.
Mir persönlich wäre diese Lösung eine Erleichterung ge-
wesen. Die das Maß menschlicher Kraft übersteigende
Arbeitslast, die sich in den letzten Wochen ins Unerträgliche
gesteigert hatte und durch die Reibungen mit dem Gro-
ßen Hauptquartier auf der einen Seite, mit dem Reichstag
auf der anderen Seite, noch eine besondere Würze erhielt,
hatte mir die Freude an meiner Amtstätigkeit zerstört
und mir auch körperlich stark zugesetzt. Neue schwere
Reibungen und Konflikte sah ich voraus. Die Erfahrungen
bei der Beratung des Hilfsdienstgesetzes hatten mir ge-
zeigt, daß ich bei einem großen Teil des Reichstags, ins-
besondere bei den Sozialdemokraten, mit einer unüber-
windlichen Voreingenommenheit zu kämpfen hatte. Man
sah in mir, zu dessen Geschäftsbereich vor allem auch die
271
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Sozialpolitik gehörte, stets den früheren Bankdirektor
und infolgedessen den Vertreter kapitahstischer Welt-
anschauung und kapitalistischer Interessen, ohne mir den
mildernden Umstand zuzubilligen, daß auch ich nicht in
einer goldenen Wiege gelegen habe, sondern aus immerhin
bescheidenen Verhältnissen lediglich durch eigene Arbeit
vorwärtsgekommen war. Andererseits lehnte sich, je
länger desto mehr, mein in neun Jahren großer geschäft-
licher Tätigkeit an praktische Arbeit gewohnter Sinn gegen
die Arbeitsmethoden des Reichstags auf, der immer wieder
in endlose Debatten und öde Parteipolitik zurückfiel,
während draußen Stunde für Stunde um Leben und Tod
der Nation gerungen wurde und uns allen die Not des
Vaterlandes auf den Nägeln brannte. Auch in der Uner-
quicklichkeit des Verhältnisses zum Großen Hauptquartier
sah ich keine Besserung. Über die wachsende Schwierig-
keit des vertrauensvollen Zusammenwirkens konnte es
mich nicht hinwegtrösten, daß der Kaiser nach der Erledi-
gung des Hilfsdienstgesetzes mir sein unvermindertes Ver-
trauen durch die Übersendung seines Reiterbildes mit einer
anerkennenden Widmung zu erkennen gab. Aber in allen
diesen Schwierigkeiten überwog doch schließlich das Ge-
fühl, daß persönhche Empfindungen vor der harten Pflicht
zurücktreten mußten, und daß die Pflicht von mir verlange,
auszuhairen und weiterzukämpfen.
Die Durchführung des Hilfsdienstgesetzes wrde durch
das Gesetz selbst dem Kriegsamt übertragen, dem ein aus
272
Durchführung des Hilfsdieustgesetzes. Abkehrscliein
fünfzehn Mitgliedern bestehender Ausschuß des Reichs-
tags, ausgestattet mit weitgehenden Befugnissen, zur Seite
gestellt wurde. Damit waren meiner unmittelbaren Ein-
wirkung auf die Durchführung des Gesetzes enge Grenzen
gezogen.
Von erheblicher Bedeutung für die Durchführung ist
die Fassung geworden, die der Reichstag dem § 9 des Ge-
setzes gegeben hatte.
Der Paragraph behandelt die als Ergänzung zur Arbeits-
pflicht erforderliche Beschränkung des Arbeits Wechsels.
Ein Arbeitswechsel sollte nur gestattet sein vermittels
eines von dem bisherigen Arbeitgeber ausgestellten „Ab-
kehrscheines“. Gegen die Verweigerung des Abkehrscheines
sollte die Berufung an eine paritätisch zusammengesetzte
Kommission statthaft sein, die den Abkehrschein bei Vor-
liegen eines ,, wichtigen Grundes“ für das Ausscheiden aus-
zustellen hatte.
Diese Regelung war bereits in den der Vorlage beige-
gebenen Richtlinien enthalten. In der Kommission wurde
ein Zusatz beantragt, daß als ,, wichtiger Grund“ für das
Ausscheiden „insbesondere die Möglichkeit der Verbesserung
der Arbeitsbedingungen“ zu gelten habe. Gegen diesen Zu-
satz wurden nicht nur von mir sondern auch aus der Mitte
der Kommission, namentlich auch von den Abgeordneten
von Payer und Dr. Schiffer, starke Bedenken geltend
gemacht. Die einseitige Hervorhebung der Verbesserung
der Lohnverhältnisse als ,, wichtiger Grund“ für den
iS Helffericli, Weltkrieg II
273
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Arbeitswechsel schien mir mit dem Zweck des Gesetzes, im
Interesse der möglichsten Steigerung der Produktion den
Arbeitswechsel einzuschränken, im Widerspruch zu stehen.
Ich führte damals in der Kommission aus:
,,Nach meiner Ansicht werden durch eine solche ge-
setzliche Bestimmung die Leute geradezu mit der Nase
darauf gestoßen, daß sie sich überlegen, w^o^ sie bessere
Arbeitsbedingungen finden. Statt den Arbeits Wechsel zu
verhindern, fürchte ich, daß durch eine solche einseitige
Definition das Gegenteil erreicht wird, daß Unzufrieden-
heit in die große Masse der Arbeiter hineingetragen wird,
die an einen x\rbeits Wechsel bisher gar nicht denken.“
' Der Abgeordnete von Payer sprach geradezu von einer
Entwertung des ganzen Gesetzes durch eine so einseitige
Hervorkehrung der Lohnfrage.
Schließlich einigte sich die Mehrheit der Kommission
auf einen Zusatz, lautend:
,,Bei der Entscheidung der Frage, ob ein , wichtiger
Grund* vorliegt, ist auf die Bedürfnisse des vaterländischen
Hilfsdienstes Rücksicht zu nehmen. Als wichtiger Grund
soll insbesondere eine angemessene Verbesserung der Ar-
beitsbedingungen im vaterländischen Hilfsdienst gelten.“
Hier war wenigstens die Rücksicht auf den Zweck des
Gesetzes im ersten Satz vorangestellt.
Im Plenum des Reichstags jedoch wurde die Streichung
des ersten Satzes beantragt und gegen meinen Widerspruch
angenommen.
274
Lohntreiberei
Die seither gemachten Erfahrungen haben meine Be-
fürchtungen leider gerechtfertigt. Die heute allgemein,
auch von den Sozialdemokraten, beklagte ungesunde Lohn-
treiberei ist von der Kriegsindustrie ausgegangen, und in
der Kriegsindustrie hat ihr der vom Reichstag beschlossene
Zusatz geradezu den Boden bereitet.
Auf diesem Boden mußte die Lohntreiberei um so
üppiger ins Kraut schießen, als das Kriegsamt mehr und
mehr dazu überging, Lieferungsverträge abzuschließen,
bei denen die Preisfestsetzung offen blieb und nach Ab-
schluß der Lieferung auf Grund der Gestaltung der Ma-
terialpreise und Löhne erfolgen sollte. Durch Verträge
dieser Art wurden die Unternehmer geradezu angereizt,
sich gegenseitig in den Arbeitslöhnen zu überbieten. Denn
die Lohnsteigerung wurde j a nun nicht mehr von ihnen selbst
getragen, sondern von dem geduldigen Staat; ja die Lohn-
steigerung brachte ihnen geradezu einen Vorteil, da ihr
Gewinn im Verhältnis ihres Aufwandes für Material und
Löhne stieg. Das Kriegsamt hat später in einer besonderen
Denkschrift über dieses verheerende System bewegliche
und berechtigte Klage geführt. Es hat dabei nur den einen
nicht ganz unwichtigen Umstand übersehen, daß nämlich die
Anwendung und die Abstellung dieses Systems lediglich
Sache seiner eigenen Zuständigkeit und Verantwortung war.
Von der Lohnfrage abgesehen war die Wirkung des Hilfs-
dienstgesetzes in ganz besonderem Maße davon abhängig,
wieweit es gelang, auf organisatorischem Weg durch eine
i8*
275
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
rationelle Gestaltung der einzelnen Produktionszweige,
insbesondere durch Zusammenlegung und Stillegung von
Betrieben, bisher ohne erhebliche Nutzwirkung gebundene
Arbeitskräfte freizusetzen und für wichtige Arbeit ver-
fügbar zu machen. Darüber ist schon bei den Verhand-
lungen des Hauptausschusses, dann in den Verhandlungen
des dem Kriegsamt zur Seite gestellten Fünfzehneraus-
schusses unendlich viel gesprochen worden. Die praktische
Arbeit hat mit den theoretischen Worten leider nicht glei-
chen Schritt gehalten. Das Reichsamt des Innern war bald
genötigt, diese dem Kriegsamt übertragenen Angelegen-
heiten allmählich wieder in seine Hand zu nehmen.
Ein abschließendes Urteil über die Wirkung des Hilfs-
dienstgesetzes ist mir heute noch nicht möglich, da mir
das hierfür erforderliche Material nicht zugänglich ist. Mein
Eindruck geht jedoch dahin, daß seine Wirkung jeden-
falls weit hinter den Erwartungen der Obersten Heeres-
leitung zurückgeblieben ist, ja daß, alles in allem genommen,
der Nachteil den Vorteil aufgewogen hat. Dies gilt auch
von der Wirkung auf die Volksstimmung. Der große patrio-
tische Aufschwung, den die Urheber des Gesetzes von der
Verkündigung der allgemeinen Dienstpflicht für das Vater-
land erwarteten, ist nicht eingetreten ; dagegen haben die
Radikalsten der Radikalen das ,, Arbeitszwangsgesetz'* als
zugkräftigen Agitationsstoff ausgenutzt. Ein entschiedenes,
aber besonnenes Fortschreiten auf dem bereits betretenen
Weg der Einschränkung des Arbeitsaufwandes für weniger
276
Wirkung des Hilfsdienstgesetzes
wichtige Zwecke und der rationellen Nutzbarmachung der
Arbeitskräfte in den für den Krieg und die Volksversorgung
wichtigen Zweigen hätte uns wohl weiter geführt als die große
Aufmachung des „Vaterländischen Hilfsdienstgesetzes' k
Eines steht leider fest: Auch mit dem Hilfsdienstgesetz
ist es nicht gelungen, das „Hindenburg-Programm" auch
nur annähernd zur Durchführung zu bringen. Es trat
vielmehr ein, was dem neuen Chef des Kriegsamts schon
in jener ersten Besprechung beim Reichskanzler am 29. Ok-
tober 1916 mit allem Nachdruck entgegengehalten wor-
den war: das Hindenburg-Programm scheiterte nicht nur
an der Arbeiterfrage, sondern auch an der Transport- und
der Kohlenfrage, und schlimmer als das: es brachte nicht
nur unsere Arbeitsverhältnisse, sondern auch unsere Trans-
port- und Kohlen Verhältnisse in eine schlimme Verwirrung.
Schon Anfang Februar 1917 sah sich die Oberste Heeres-
leitung genötigt, gegenüber der Industrie den Wunsch
auszusprechen, es m.öchte der Weiterbau aller derjenigen
Fabriken, die nicht schon innerhalb der nächsten drei bis
vier Monate fertig würden, zunächst einmal zurückgestellt
werden. Die Schwierigkeiten, namentlich die Transport-
schwierigkeiten, waren damals so groß geworden, daß kein
einziger der 40 Hochöfen, die vollständig betriebsfähig,
aber kalt bereitstanden, hatte angeblasen werden können.
Eine Entlastung der Werke zugunsten des Eisenbahnbedarfs
war zur Vermeidung einer Katastrophe unabweisbar
geworden.
277
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
Aber auch die schon damals vorgenommene erhebliche
Einschränkung des Programms genügte noch nicht, das
Gleichgewicht mit unserer wirtschaftlichen Leistungsfähig-
keit herzustellen. Die Transportkrisis, verschärft durch
einen ungewöhnlich harten Winter, der für viele Wochen
die Wasserstraßen unbenutzbar machte und das Eisen-
bahnmaterial stark beanspruchte, hielt an. Die Kohlen-
krisis wurde von Woche zu Woche bedenklicher. Wie man
dem Eisenbahnbedarf auf Kosten der Munitionserzeugung
freieren Spielraum geben mußte, so wurden auch auf dem
Gebiet der Kohlenförderung und des Kohlenverbrauches
einschneidende Maßnahmen nötig.
Die Sorge für die Kohle hatte zunächst das Kriegsamt
an sich genommen. Der „Kohlenausgleich*' des Kriegs-
amts, der zu einer großen Organisation ausgebaut wor-
den war, stand im Februar igi6 vor der Unmöghchkeit,
seine Aufgabe zu bewältigen. General Gröner wandte sich
an den preußischen Handelsminister und an mich, um
mit uns über die zu ergreifenden Maßnahmen zu beraten.
Es wurde ein Reichskommissar für Kohle eingesetzt und
mit selbständigen und weitgehenden Befugnissen ausge-
stattet, vor allem mit der Befugnis der Beschlagnahme der
Kohle und der Zuteüung an bestimmte Empfänger. Zur
Aufrechterhaltung der unbedingt notwendigen engen Füh-
lung mit den militärischen Stellen wurde der Kohlen-
kommissar dem Kriegsamt ,, angegliedert**, blieb jedoch
der Aufsicht des Reichskanzlers unterstellt. -
278
Transport- und Kohlen krisis
Es stellte sich bald heraus, daß die Aufgabe des Kohlen-
kommissars, für eine ausreichende Deckung des Kohlen-
bedarfs, vor allem des dringlichen Kohlenbedarfs, zu sor-
gen, bei den damals obwaltenden Verhältnissen unlösbar
war. Zwar war die Kohlenförderung nach dem Rückschlag
zu Beginn des Krieges bald wieder in die Höhe gebracht
worden. Die Steinkohlenförderung stand nicht mehr weit
hinter der Friedensproduktion zurück, und die Braun-
kohlenförderung hatte die Friedensproduktion sogar über-
schritten. Aber abgesehen von der schlechteren Qualität
der mangelhaft aufbereiteten Kohle waren die Eisen-
bahnen bis in das Frühjahr 1917 hinein nicht in der Lage,
die geförderten Mengen abzu transportieren ; Hundert-
tausende von Tonnen mußten auf die Halde gestürzt
werden. Und auch später, als die Wagengestellung wieder
ausreichte, um die gesamte Förderung zu bewältigen, zeigte
sich, daß allein die Dringlichkeitsliste der militärischen
Stellen infolge der enormen Ansprüche des Waffen- und
Munitionsprogrammes größere Kohlenmengen umfaßten,
als bei damaligem Stand der Belegschaften überhaupt ge-
fördert werden konnten. Die Erhebungen des Kohlen-
kommissars, der für das Jahr 1917 eine Bilanz aufzustellen
versuchte, ergaben bei einer Steinkohlenförderung von rund
160 Millionen Tonnen und einem Bedarf von 183 Millionen
Tonnen einen Fehlbetrag von nicht weniger als 23 Mil-
lionen Tonnen. Eine Nachprüfung der Ersparnismöglich-
keiten ergab, daß die Verwendungszwecke außerhalb
279
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
der Kriegsindustrie (hauptsächlich für Eisenbahnen,
Hausbrand, Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke, Aus-
fuhr auf Grund abgeschlossener Kompensationsverträge)
entweder keine oder nur eine im Verhältnis zu dem Fehl-
betrag geringfügige Einschränkung vertrugen. Insbesondere
habe ich mich dafür eingesetzt, daß der Hausbrand, der
mit 14 Millionen Tonnen ohnedies schon sehr niedrig ver-
anschlagt war, unter allen Umständen sichergestellt werden
müsse. Wir standen also vor der Alternative: entweder
weitere Einschränkung des Rüstungsprogramms oder
Steigerung der Kohlenproduktion, die nur durch die
Freigabe einer großen Anzahl von Bergarbeitern aus der
Front erzielt werden konnte. Es handelte sich also im
wesentlichen darum, den Bedarf an Waffen und Munition
und den Bedarf an Mannschaften gegeneinander abzu-
wägen. Das war Sache der Obersten Heeresleitung, die
allein darüber entscheiden konnte, an welchem Punkt diese
beiden Interessen ihren Ausgleich finden sollten. Ich mußte
mich darauf beschränken, den militärischen Stellen die
engen Grenzen der zivilen Ersparnismöglichkeit und die
damit unausweichliche Alternative: entweder ausgiebige
Freigabe von Mannschaften für den Kohlenbergbau oder
weitere empfindliche Einschränkung des Hindenburg-
Programms, mit aller Eindringlichkeit klarzumachen.
Das ist von mir namenthch auch in einer eingehenden Be-
sprechung mit dem General Ludendorff im Juni 1917
geschehen.
280
Hindenburg-Programm und Kriegsausgaben
Die Heeresverwaltung hat sich schließlich zu weitgehen-
der Freigabe von Mannschaften auf der einen Seite, zu
einer neuen Einschränkung des Hindenburg-Programms auf
der andern Seite entschlossen. Der ungeheure Druck der
Tatsache, daß jede Tonne Steinkohle, die ohne zwingende
Notwendigkeit verbraucht wurde, eine Minderung der Ver-
sorgung des kämpfenden Heeres mit Kampfmitteln dar-
stellte, nötigte gleichzeitig zu der äußersten Einschränkung
des Kohlenverbrauches auf allen übrigen Gebieten.
Auch unsere finanzielle Kraft wurde durch die Über-
spannung des Waffen- und Munitionsprogramms über Ge-
bühr in Anspruch genommen. Die monatlichen Kriegsaus-
gaben, die noch im August 1916 sich unter dem Betrag von
2 Milliarden Mark hielten, überschritten im Oktober 1916
bereits den Betrag von 3 Milliarden Mark. Ein Jahr später
wuchsen sie über die vierte Milliarde hinaus, und im Ok-
tober 1918 haben sie den Betrag von 4 Milliarden 800 Mil-
lionen Mark erreicht. Es ist also auch nach der Einschrän-
kung des Hindenburg-Programms nicht mehr gelungen,
den immer stärker anschwellenden Strom der Kriegsaus-
gaben wieder einzudämmen.
Der Reichsfinanzminister Dr. Schiffer hat im Februar 1919
in der Nationalversammlung das Hindenburg-Programm ein
„Programm der Verzweiflung*' genannt. Diese Bezeichnung
ist nicht zutreffend. Den Herren, in deren Kopf das Pro-
gramm entstand, das sie mit dem Namen Hindenburgs aus-
statteten, war die Verzweiflung fremd. Ihr Programm war
281
Wirtschaftskrieg und Kriegswirtschaft
ein Programm der Selbstüberschätzung und der Über-
schätzung der deutschen Volks- und Wirtschaftskraft.
Bei ruhiger Überlegung des Notwendigen und sachlicher
Prüfung des Möglichen hätte es sich vermeiden lassen,
Mengen von wertvollem Material und noch wertvollerer
Arbeitskraft in industrielle Ruinen zu stecken, die aus
Mangel an Menschen und Kohlen teils nie vollendet, teils
nie in vollem Umfang in Betrieb genommen worden sind.
Man hätte mit weniger Arbeitskräften und Material er-
hebhch mehr für die Ausrüstung des Heeres geleistet und
unserer Wirtschaft Störungen und Erschütterungen er-
spart, die letzten Endes an die Wurzeln der Widerstands-
kraft unseres Volkes gingen.
Friedensbemühungen
und U-Bootkrieg
Das berühmte Wort des Generals von Clausewitz: „Der
Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit
andern Mitteln“ will nicht besagen, daß während des
Kriegszustandes der Krieg die Politik ersetze. Clausewitz
selbst hat die Auffassung abgelehnt, als „ob der Krieg
von dem Augenblick an, wo er durch die Politik hervor-
gerufen ist, an ihre Stelle treten, als etwas von ihr ganz
Unabhängiges sie verdrängen und nur seinen eigenen Ge-
setzen folgen“ könnte. Er hat ausdrücklich betont, daß,
da der Krieg von einem politischen Zweck ausgeht, dieses
erste Motiv, das ihn ins Leben gerufen hat, auch die erste
und höchste Rücksicht bei seiner Leitung bleiben muß,
daß die Politik also den ganzen kriegerischen Akt durch-
ziehen und einen fortgesetzten Einfluß auf ihn ausüben
werde, wozu er allerdings die Einschränkung macht:
„soweit es die Natur der in ihm explodierenden Kräfte
zuläßt“. Aber die Politik muß nicht nur die höchste Rück-
sicht bei der Leitung des Krieges bleiben, wie es dem
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Verhältnis von Zweck und Mittel entspricht, sondern es muß
ihr auch freistehen, neben dem außerordentlichen Mittel
des Krieges, d. h. der militärischen Gewaltanwendung,
sich aller anderen ihr während des Kriegszustandes
überhaupt noch zu Gebote stehenden Mittel zu bedienen.
Wenn man diese anderen Mittel nichtkriegerischer Art
unter dem Namen der „Diplomatie*' zusammenfaßt, so
heißt das: Die Diplomatie als Mittel der Politik ist durch
den Kriegszustand nur so weit ausgeschaltet, als ihre
praktische Anwendung durch den Kriegszustand unmög-
lich gemacht ist; im übrigen gehen auch während des
Kriegszustandes die kriegerischen und diplomatischen
Aktionen als Mittel der Politik nebeneinander her. Auf-
gabe der Staatslenker — und zwar eine meist nur mangel-
haft gelöste Aufgabe — ist es, für die Einheitlichkeit
und das planmäßige Ineinandergreifen der beiden Arten
von Mitteln zu sorgen, die Mittel dem Zweck anzupassen
und, soweit es sich als nötig herausstellt — denn die Po-
litik bleibt die Kunst des Möglichen — den Zweck nach
den Möglichkeiten, die ihr die Mittel bieten, zu modi-
fizieren — das was man kurz die „Einheit von Politik und
Kriegführung** nennt.
Der Krieg, der im Sommer 1914 über uns hereinbrach,
war für uns die Fortsetzung der Pohtik der Verteidigung
unseres Rechtes auf nationale Existenz und auf friedliche
Entfaltung unserer Volkskraft gegenüber einer Koalition,
die uns schon vor Kriegsausbruch dieses Recht auf dem
286
Kriegführung und Diplomatie
Wege der diplomatischen Einkreisung zu verkümmern
gesucht hatte. Gegenüber einer uns und unsem Ver-
bündeten an Menschen und Machtmitteln weit über-
legenen Koalition. Gerade die Übermacht der Feinde
war für uns in besonderem Maße eine Nötigung, jedes
für die Erreichung unseres Kriegszwecks geeignete Mittel
in Wirksamkeit zu setzen, sowohl auf den Gebieten der
eigentlichen Kriegführung wie auf dem Gebiete der
Diplomatie. Gleichzeitig brachte diese Nötigung zur
äußersten Anspannung aller Mittel in verstärktem Maße
die Gefahr, daß die Einheit von Politik und Kriegführung
verlorengehe. Wenn wir den Krieg nicht nur militärisch,
sondern auch diplomatisch zu führen hatten, wenn wir
angesichts der Gefahr, von der feindlichen Übermacht
militärisch und wirtschaftlich erdrückt zu werden, ge-
nötigt waren, mit diplomatischen Mitteln Friedensmöglich-
keiten zu erschließen und einem weiteren bedrohlichen
Zuwachs für die feindliche Koalition vorzubeugen, so
konnten sich daraus Konflikte ergeben mit der Notwendig-
keit der Einsetzung aller militärischen Erfolg versprechen-
den Kriegsmittel.
Diese Konfliktsgefahr ist praktisch geworden in der
Frage des U-Bootkriegs.
Seit jenem Tirpitz-Interview vom Dezember 1914 hat die
Hoffnung, mit unsern U-Booten England, die Seele und
den Zusammenhalt der feindlichen Mächtekoalition, zu
Tode treffen und damit den Krieg in kurzer Zeit zu einem
287
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
guten Ende führen zu können, immer höhere Flammen
geschlagen. Aber schon die ersten Versuche, dieses Kriegs-
mittel einzusetzen, zeigten seine Zweischneidigkeit ; sie
offenbarten die Gefahr, daß die Anwendung dieses Kriegs-
mittels die Neutralen, vor allem die Vereinigten Staaten,
veranlassen könnte, sich auf die Seite unserer Gegner zu
schlagen. Dadurch mußten nicht nur die Aussichten,
ohne die kaum erreichbare völlige Niederwerfung unserer
Feinde zum Frieden zu kommen, aufs äußerste beschränkt
werden, sondern auch die feindliche Koalition eine Ver-
stärkung erfahren, die zu unserm Verhängnis zu werden
drohte.
So begleitete der Widerstreit von Friedensbemühung
und U-Bootkrieg vom Ausgang des Jahres 1914 an das
gewaltige Ringen an den Fronten und die aufopfernde
Kriegsarbeit in der Heimat, er führte zu den schwersten
Konflikten zwischen den für das Schicksal Deutschlands
verantwortlichen Männern und wühlte unser Volk bis in
seine Tiefen auf.
Die Friedensfragc
Vor dem Krieg war die herrschende Meinung bei unsern
Militärs und Diplomaten, unsern Praktikern und Gelehrten
der Volkswirtschaft, daß ein moderner Krieg nur von
kurzer Dauer sein könne. Der Generalfeldmarschall
Graf von Schlieffen hat im Jahre 1909 sich dahin
288
Kriegs da uef
ausgesprochen, ein sich hinschleppender Krieg sei „zu
einer Zeit unmöglich, wo die Existenz der Nation auf einem
ununterbrochenen Fortgang des Handels und der Industrie
begründet ist und durch eine rasche Entscheidung das
zum Stillstand gebrachte Räderwerk wieder in Lauf ge-
bracht werden muß. Eine Ermattungsstrategie läßt sich
nicht treiben, wenn der Unterhalt von Millionen den Auf-
wand von Milliarden erfordert.“ Schon die ersten Monate
des Weltkriegs haben diese Theorie widerlegt. Als nach
dem ersten gewaltigen Zusammenprall der Armeen in West
und Ost die erwartete Entscheidung ausblieb, da brachen
die Wirtschaft und die Finanzen der kriegführenden Länder
unter der Wucht des Krieges nicht zusammen, sondern
stellten sich mit erstaunlicher Anpassungsfähigkeit auf
die außerordentlichen Verhältnisse des Krieges ein. So-
wenig wie die moderne Waffentechnik eine rasche Ent-
scheidung herbeizuführen vermochte, ebensowenig war
für uns oder unsere Gegner eine wirtschaftliche oder finan-
zielle Zwangslage entstanden, die stark genug gewesen
wäre, um dem Krieg ein rasches Ende zu diktieren. Er-
mattungsstrategie und Erschöpfungskrieg waren greifbare
Möglichkeiten geworden, die alle kriegführenden Staaten
in ihre Rechnung einzustellen hatten.
Nur widerstrebend und langsam gewöhnte man sich bei
uns an diesen Gedanken. Als aber auch die großen mili-
tärischen Aktionen des Frühlings 1915 keine Entscheidung
brachten, als mit Italien eine neue Großmacht gegen die
ig Hel ff er ich, Weltkrieg II
28g
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Mittelmächte ins Feld trat, da hatte man sich endgültig
mit der Wahrscheinlichkeit einer langen Kriegsdauer ab-
zufinden.
Die Aussicht auf einen sich lange hinschleppenden Er-
mattungskrieg war für uns nichts weniger als günstig.
Je länger der Krieg dauerte, desto geringer mußte unser
Vorteil der besseren und bereiteren Kriegsorganisation
werden, desto stärker und wirksamer konnten unsere
Feinde ihr über die Erde zerstreutes und mangelhaft orga-
nisiertes Übergewicht an Menschen und Machtmitteln
gegen uns ins Spiel werfen, desto schwerer mußte schließ-
lich für uns der Nachteil der wirtschaftlichen Einschnürung
ins Gewicht fallen. Wenn also die militärischen Entschei-
dungen in ungewisse Ferne rückten, wenn wir auf dem
Felde des Wirtschaftskriegs durch unsere geographische
Lage und die Seeherrschaft des Feindes in die Verteidi-
gung gebannt waren, wenn wir schließlich das einzige
Mittel, mit dem wir denkbarerweise der feindlichen Über-
macht den Lebensatem abschnüren konnten, aus Zweifeln
an seiner durchschlagenden Wirksamkeit und aus Be-
fürchtungen wegen seiner Rückwirkungen auf die Neu-
tralen nicht in Anwendung zu bringen vermochten, so er-
gab sich daraus die stärkste Nötigung für die Leiter
unserer Politik, nach Friedensmöglichkeiten zu suchen.
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg und, ich
glaube sagen zu können, auch der Kaiser haben frühzeitig
diese Lage erfaßt. Seit ich durch meine amtliche Stellung
290
feethmahn Hollwegs Kriegszieie
mit Herrn von Bethmann in nähere Fühlung gekommen
war, konnte ich beobachten, wie die eine Frage: Wo ist
ein Weg zum Frieden? ihn unausgesetzt und auf das
Innerlichste beschäftigte. Seine große Sorge war, es könnte
dahin kommen, daß wir erst im Zustand der Erschöpfung
unserer Kraft und unserer Hilfsmittel zu Friedensverhand-
lungen gelangten und dann gezwungen sein würden, die Be-
dingungen unserer Gegner anzunehmen. Von dieser Sorge
hat mir der Kanzler zum ersten Male bereits im April 1915
eingehend gesprochen, und er ist im weiteren Verlaufe des
Kriegesbei jeder vertrauensvollen Aussprache darauf zurück-
gekommen. Weder unsere militärischen Erfolge, die er hin-
sichtlich ihrer kriegsentscheidenden Wirkung immer skep-
tisch beurteilte, noch die überraschenden Beweise unserer
wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit ver-
mochten den Druck von ihm zu nehmen. Er war deshalb
der Ansicht, daß wir es nicht verantworten könnten, eine
Friedensmöglichkeit an übertriebenen Kriegszielen scheitern
zu lassen. Das Kriegsziel war für ihn die Erhaltung unseres
territorialen und wirtschaftlichen Besitzstandes. Wenn es die
Gesamtlage beim Eintritt in Friedensverhandlungen gestat-
tete, darüber hinaus Sicherungen für die Zukunft und eine
Stärkung unserer wirtschaftlichen Position zu erreichen, so
würde Herr von Bethmann diesen Vorteil wahrgenommen
haben. Ich bin aber überzeugt, daß er an keiner einzigen
Forderung, die über die Erhaltung unseres vorkriegerischen
Besitzstandes hinausging, den Frieden hätte scheitern lassen.
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Von dieser Grundauffassung ausgehend hat Herr von
Bethmann unablässig ausgespäht, wo sich ein Anknüp-
fungspunkt biete und wo bei unsern Feinden eine Geneigt-
heit, vom Frieden zu sprechen, sich zeige. Die Reden und
sonstigen Kundgebungen der feindlichen Staatsmänner
sah er in allererster Linie daraufhin an, was aus den Worten
und zwischen den Worten an Bereitschaft zu einer Ver-
ständigung herauszulesen sei. Seine eigenen Kundge-
bungen waren darauf eingestellt, den Gegnern unsere Be-
reitschaft zu Verhandlungen zu erkennen zu geben. Den
Eroberungs- und Vernichtungszielen der Gegner pflegte er
unser Verteidigungs- und Sicherungsziel entgegenzusetzen.
„Noch wird der Vernichtungskrieg gegen uns betrieben,**
sägte er am 9. Dezember 1915 in Beantwortung einer
sozialdemokratischen Friedensinterpellation unter Hinweis
auf kurz vorher gehaltene Kriegsreden der Herren Asquith,
Briand und Ssasonoff. „Damit müssen wir rechnen.
Mit Theorien, mit Friedensäußerungen von unserer Seite
kommen wir nicht vorwärts und nicht zu Ende. Kommen
uns unsere Feinde mit Friedensangeboten, die der Würde und
Sicherheit Deutschlands entsprechen, so sind wir allezeit
bereit, sie zu diskutieren ... Für die deutsche Regierung ist
dieser Kampf geblieben, was er von Anfang an war und
was in allen unsern Kundgebungen unverändert festgehalten
wurde: der Verteidigungskrieg des deutschen Volkes.**
Jeder feindliche Staatsmann, der diese und ähnliche
Kundgebungen des Reichskanzlers mit dem gleichen
292
Deutschlands Friedensbereitschaft
heißen Bemühen, einen Weg zum Frieden zu finden, gelesen
hätte, wie die Reden der feindlichen Staatsmänner in Berlin
unter die Lupe genommen wurden, hätte daraus folgern
müssen — und dieser Schluß ist von den feindlichen Staats-
männern sicher auch gezogen worden — : Deutschland ist be-
reit zu einem Frieden, der seiner Würde und seiner Sicherheit
Genüge tut. Das Hindernis für Friedensverhandlungen, ja
für eine deutsche Initiative zu Friedensverhandlungen, lag
ausschließlich in den Erklärungen der Staatsmänner der
Entente, die als Kriegsziel aufstellten: die Vernichtung des
sogenannten ,, preußischen Militarismus"', die Zertrümme-
rung der deutschen Wirtschaftsmacht, die Abtrennung
Elsaß-Lothringens oder gar des ganzen linken Rheinufers
und unserer Ostmarken, dazu ähnliche Eroberungs- und
Annexionswünsche gegenüber unsern Verbündeten.
Wenn also keine Friedensbesprechung zustandekam, so
lag das nicht — die weitere Entwicklung hat das klar er-
wiesen — an der Schwerhörigkeit der Entente-Staatsmänner,
sondern lediglich daran, daß die Entente-Staatsmänner auf
ihren mit der Sicherheit, dem Bestand und der Würde
Deutschlands nicht zu vereinbarenden Kriegszielen be-
harrten. Die führenden Staatsmänner der Entente waren
und blieben fest entschlossen, den Krieg bis zur Nieder-
werfung Deutschlands, bis zu dem ,, knock out blow“
Lloyd Georges durchzuführen, und sie hatten — von
vorübergehenden Schwankungen abgesehen — von An-
fang bis zum Ende das feste Zutrauen, daß es ihnen
293
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
gelingen werde, ihre Vemichtungs- und Eroberungziele zu
erreichen. Daran, nicht an mangelnder Friedensbereit-
schaft der deutschen Regierung oder des deutschen Volkes,
nicht an mangelnder Deutlichkeit in der Umschreibung
unserer Kriegsziele und nicht an dem Unterlassen von
Anknüpfungsversuchen durch unsere Diplomatie, ist das
Zustandekommen von Verhandlungen über einen „Ver-
ständigungsfrieden*' gescheitert. Daran gescheitert sind
auch alle die Sondierungen und Anknüpfungen, die außer-
halb der offiziellen Regierungskundgebungen versucht
worden sind, durch Staatsoberhäupter und Diplomaten,
durch Kaufleute und Industrielle, durch die sozialistischen
Parteien der kriegführenden und neutralen Länder.
Der Reichskanzler hatte in der Friedensfrage einen
schweren Stand. Daß die Forderungen der Militärs bei
Friedensschlüssen meist weiter gehen, als die politischen
Staatsleiter durchsetzen und verantworten können, ist
eine alte Erfahrung, die sich auch jetzt wieder erneuerte.
Zu den „Grenzregulierungen", die unsere Armeeführer
für notwendig erklärten, kamen die Forderungen der Marine
auf Sicherung der flandrischen Küste. Aber der Kampf
um die Kriegsziele blieb nicht auf die Beratungszimmer
der Verantwortlichen beschränkt, er ergriff und zerriß
mehr und mehr das ganze Volk.
Die glänzenden Waffentaten unserer Armeen und ihrer
Führer, die Eroberung und Besetzung weiter Teile feind-
lichen Landes in West und Ost bestärkten Volk und Heer
294
Der innere Kampf um die Kriegsziele
in ihrem zuversichtlichen Glauben an einen siegreichen
Ausgang des Krieges. Daß trotz aller der großen Erfolge
auf den europäischen Kriegsschauplätzen der Krieg für
uns nicht nur seinem Ursprung nach ein Verteidigungskrieg
war, sondern auch in seiner ganzen militärischen, mari-
timen und wirtschaftlichen Entwicklung ein harter, in
jedem Augenblick schwer umstrittener und in seinem Aus-
gang unsicherer Verteidigungskrieg geblieben war, darüber
täuschten sich weite Volkskreise hinweg. Die Riesen-
leistungen von Heer und Volk verlangten, so dachten und
sprachen viele, einen entsprechend großen Siegespreis
und gestatteten gleichzeitig, einen solchen Siegespreis
heimzubringen, wenn nur nicht nach dem alten Blücher-
wort die Feder verderbe, was das Schwert gewonnen habe.
In der Haltung des Kanzlers, der sich weigerte, sich auf
die großen Kriegsziele festzulegen, der wieder und wieder
zu erkennen gab, daß er für einen Frieden, der sich auf
den Zweck des Verteidigungskriegs beschränke, zu haben
sei, sahen diese Kreise Kleinmütigkeit, Mangel an Sieges-
willen und eine für den Ausgang des Kriegs gefährliche
Herabstimmung der Zuversicht des deutschen Volkes.
Die schweren Angriffe, denen Herr von Bethmann Holl-
weg in dieser Richtung ausgesetzt war, sind in aller Er-
innerung. Von der andern Seite her wurde mit der Dauer
des Kriegs ein immer stärkerer Druck auf den Kanzler
ausgeübt, klar und deutlich vor aller Welt festzustellen,
daß Deutschland sich mit einem Frieden ohne jede
295
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Gebietserwerbungen und Entschädigungen begnüge. Man
warf ihm vor, daß er durch die Verweigerung einer solchen
ganz ausdrücklichen und bindenden Erklärung zur Ver-
längerung des Krieges beitrage und die Stimmung des Vol-
kes, das zur Verteidigung, nicht aber zu Eroberungen ins
Feld gezogen sei, unterwühlen helfe.
Herr von Bethmann selbst hat noch im Mai 1917 seine
Stellung zu diesem Ansturm aus zwei entgegengesetzten
Richtungen folgendermaßen um.schrieben (Reichstags-
sitzung vom 15. Mai 1917) :
,,Auch heute sehe ich bei England und bei Frankreich
noch nichts von Friedensbereitschaft, noch nichts von
Preisgabe ihrer ausschweifenden Eroberungs- und wirt-
schaftlichen Vernichtungsziele . . . Glaubt denn bei dieser
Verfassung unserer westlichen Feinde jemand, durch ein
Programm des Verzichts und der Entsagung diese Feinde
zum Frieden bringen zu können? Und darauf kommt es
doch an! Soll ich diesen unseren westlichen Feinden
geradezu eine Versicherung geben, die ihnen gestattet,
ohne jede Gefahr eigenen Verlustes den Krieg ins Un-
gemessene zu verlängern? . . . Oder soll ich das Deutsche
Reich nach allen Richtungen hin einseitig auf eine Formel
festlegen, die von der Gesamtheit der Friedensbedingungen
doch nur einen Teil erfaßt, die einseitig die Erfolge preis-
gibt, die unsere Söhne und Brüder mit ihrem Blut errungen
haben, und die alle übrigen Rechnungen in der Schwebe
läßt ? Eine solche Politik lehne ich ab . . . Und soll ich
296
Verzicht- oder Eroberungsprogramm?
etwa umgekehrt ein Eroberungsprogramm aufstellen ?
Auch das lehne ich ab. Nicht um Eroberungen zu machen,
sind wir in diesen Krieg gezogen und stehen wir jetzt im
Kampf fast gegen die ganze Welt, sondern ausschließlich,
um unser Dasein zu sichern und die Zukunft der Nation
fest zu gründen. Ebensowenig wie ein Verzichtprogramm
hilft ein Eroberungsprogramm den Sieg gewinnen und den
Krieg beenden. Im Gegenteil! Ich würde lediglich das
Spiel der feindlichen Machthaber spielen, ich würde es
ihnen erleichtern, ihre kriegsmüden Völker weiter zu be-
tören und den Krieg ins Ungemessene zu verlängern.*'
Der Reichskanzler konnte mit solchen Erklärungen
weder nach rechts noch nach links befriedigen. Und doch
bin ich auch heute noch der Meinung, daß seine Haltung
die richtige, ja die einzig mögliche war. Entweder waren
unsere Feinde bereit, auf ihre Eroberungs- und Vernich-
tungsziele zu verzichten, dann boten die wiederholten
Erklärungen des Reichskanzlers über unsere grundsätz-
liche Bereitwilligkeit, uns mit der Erreichung unseres
Verteidigungszieles zu begnügen, eine hinreichende Grund-
lage für die Einleitung von Friedensverhandlungen. Oder
aber die Feinde waren — und so lagen die Dinge iih Wirk-
lichkeit — nicht bereit zu einem Verzicht auf ihre Er-
oberungs- und Vernichtungsziele, dann konnte auch eine
Bekanntmachung aller Einzelheiten unseres Friedens-
programms nicht zu Friedensverhandlungen führen,
sondern nur, wie jede einseitige Festlegung, dem Gegner
297
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
für jede weitere Entwicklung den Vorteil der freien Ent-
schließung bei begrenztem Risiko, uns den Nachteil der
gebundenen Hand bei unbegrenztem Risiko geben.
Aber das waren schließlich Fragen der Taktik, über die
man streiten kann und leider sehr viel, sehr heftig und sehr
öffentlich gestritten hat.
In der Sache selbst glaube ich folgendes sagen zu können :
Wenn in irgendeinem Zeitpunkt des Krieges sich die
Möglichkeit ergeben hätte, zu einem Frieden zu kommen,
der uns in den großen Linien unseren vorkriegerischen
territorialen und wirtschaftlichen Besitzstand belassen
hätte, so wäre der Friede dagewesen; er wäre an keiner
von uns geforderten Entschädigung und Grenzregulie-
rung, auch nicht an irgendwelchen deutschen Forderungen
in bezug auf Belgien gescheitert, wenn unsere nach diesen
Richtungen gehenden Wünsche sich nur um den Preis
einer Fortsetzung des Kriegs . hätten durchsetzen lassen.
Dies ist meine Überzeugung, wenngleich zwischen den an
der Entscheidung beteiligten Persönhchkeiten das letzte
Wort noch nicht gesprochen war und ohne die genaue
Kenntnis der Lage im Augenbhck wdrldicher Verhand-
lungen auch gar nicht gesprochen werden konnte. Wer.
jemals große und jvichtige Verhandlungen zu führen gehabt
hat, der weiß, daß die letzten Entschlüsse nicht vor,
sondern während der Verhandlungen gefaßt werden,
und zumeist in einem Zeitpunkt, der dem Ende der Ver-
handlungen wesentlich näher liegt als ihrem Anfang; daß
298
Friedensaussichten
die letzten Zugeständnisse niemals durch Überredung in
Erörterungen über noch unpraktische Eventualitäten,
sondern stets nur unter dem unmittelbaren Druck der Ver-
antwortlichkeit für das Ja oder Nein Zustandekommen,
Ich bin sicher, daß kein Kanzler, weder Bethmann noch
Michaelis noch Hertling, unmittelbar vor die Wahl
zwischen einem Status-quo-Frieden oder einer unabseh-
baren Fortsetzung des Krieges gestellt, etwas anderes
gewählt haben würden als den Frieden; und ich bin ebenso
sicher, daß der Kaiser eine solche Entscheidung ge-
billigt und durchgehalten hätte, auch gegen die stärksten
Widerstände anderer Ratgeber und gegen eine heftige
Auflehnung starker politischer Strömungen. Denn so
wenig der Kaiser den Krieg gewollt hat, auch wenn sein
Auftreten mitunter einen kriegerischen Eindruck machte,
so sehr litt der Kaiser unter dem Krieg und wünschte
er für sich und für das deutsche Volk den Frieden. —
Das Scheitern aller unserer Bemühungen, im Wege
einer Verständigung zum Frieden zu gelangen, mußte
unvermeidlich einen starken Einfluß auf unsere Krieg-
führung ausüben, insbesondere auf die Entscheidungen
in der heiß umstrittenen Frage des U-Bootkrieges. Je
deutlicher die Abgeneigtheit unserer Feinde zu Friedens-
verhandlungen zutage trat, desto mehr Gewicht mußte
bei uns die Forderung gewinnen, daß jedes verfügbare
Kriegsmittel unter Hintanstellung aller anderen Rück-
sichten zur Niederkämpfung des Feindes eingesetzt werde.
299
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Die erste Phase des U-Bootkriegs
In der Frühe des 22. September 1914 versenkte „U 9'*
unter dem Kommando des Kapitänleutnants Weddigen
im Laufe einer einzigen Stunde die drei britischen Kreuzer
„Abukir“, und „Cressy*'. Die drei Torpedo-
schüsse hallten über die ganze Welt. In England weckten
sie ernste Besorgnis, ja Bestürzung. In Deutschland lösten
sie überschwengliche Hoffnungen aus: man begann in
dem U-Boot die Waffe zu sehen, die bestimmt sei, die
britische Seetyrannei zu zerschlagen.
Diese Hoffnungen erhielten einen starken Antrieb, als
der Admiral von Tirpitz am 21. Dezember 1914 gegenüber
einem Vertreter der amerikanischen „United Press“ von
der Möglichkeit eines U-Bootkriegs gegen die feindlichen
Handelsschiffe sprach, durch den England an seiner ver-
wundbarsten Stelle, der Zufuhr von Nahrungsmitteln und
Rohstoffen, getroffen werden könne. Jedermann sagte
sich, daß die höchste Marineautorität einen solchen öffent-
lichen Hinweis nur geben könne, wenn die Wirksamkeit
der U-Bootwaffe gesichert sei und wenn hinter der Drohung
die Tat stehe. Die völkerrechtlichen Bedenken hatte Eng-
land in der deutschen öffentlichen Meinung im voraus zer-
stört durch seine völkerrechtswidrige Handels- und Hun-
gerblockade, insbesondere durch die schon am 3. November
1914 erfolgte Erklärung der ganzen Nordsee zum
Kriegsgebiet.
300
U-Boot-Handelskrieg
Als ich am i. Februar in die Reichsleitung ein trat,
stand die Erklärung des U-Boot-Handelskrieges unmittel-
bar bevor. Es war eine Bekanntmachung vorbereitet, in
der die Gewässer um Großbritannien und Irland als Kriegs-
gebiet erklärt wurden; vom i8. Februar 1915 an sollte
jedes in diesem Kriegsgebiet angetroffene feindliche Kauf-
fahrteischiff zerstört werden. Die Bekanntmachung fügte
hinzu, daß es nicht immer möglich sein werde, die dabei
der Besatzung und den Passagieren drohenden Gefahren
abzuwenden; daß ferner auch neutrale Schiffe im Kriegs-
gebiet Gefahr liefen, da es angesichts des von der britischen
Regierung am 31. Januar angeordneten Mißbrauchs neu-
traler Flaggen und der Zufälligkeiten des Seekrieges nicht
immer vermieden werden könne, daß die auf feindliche
Schiffe berechneten Angriffe auch neutrale Schiffe treffen.
Neben der Bekanntmachung war eine begründende Denk-
schrift vorbereitet, die am 4. Februar 1915 mit der Be-
kanntmachung den neutralen und den feindlichen Mäcfiten
zugestellt worden ist. Die Denkschrift legte zunächst in
großen Zügen dar, wie England in seiner Seekriegführung
sich über alles Völkerrecht hinaussetze, um durch eine
Lahmlegung auch des legitimen neutralen Handels das
deutsche Volk auszuhungem; sie wies dann darauf hin,
daß die neutralen Mächte sich den völkerrechtswidrigen
Maßnahmen der britischen Regierung im großen und
ganzen gefügt hätten, daß sie sich mit theoretischen
Protesten abzufinden und die von England für seine
301
Friedensbemühungen und Ü-Bootkrieg
völkerrechtswidrige Seekriegführung angerufenen britischen
Lebensinteressen als eine hinreichende Entschuldigung für
jede Art von Kriegführung gelten zu lassen schienen;
solche Lebensinteressen müsse nunmehr auch Deutsch-
land für sich anrufen und die britische Kriegsgebiets-
erklärung damit beantworten, daß es die Gewässer rings um
Großbritannien und Irland als Kriegsschauplatz bezeichne
und der feindlichen Schiffahrt daselbst mit allen verfüg-
baren Kriegsmitteln entgegen trete. Weiter würden in
der Denkschrift die Neutralen aus den schon in der Be-
kanntmachung angegebenen Gründen gewarnt, feindlichen
Schiffen, die das Seekriegsgebiet beführen, Mannschaften,
Passagiere und Waren anzuvertrauen, und es wurde ihnen
dringend empfohlen, auch für ihre eigenen Schiffe das
Einlaufen in das Seekriegsgebiet zu vermeiden; „denn
wenn auch die deutschen Seestreitkräfte Anweisung haben,
Gewalttätigkeiten gegen neutrale Schiffe, soweit sie als
solche erkennbar sind, zu unterlassen, so kann es doch
angesichts des von der britischen Regierung angeordneten
Mißbrauches neutraler Flaggen und der Zufälligkeiten des
Krieges nicht immer verhütet werden, daß auch sie einem
auf feindliche Schiffe berechneten Angriff zum Opfer
fallen.“
Die letzte Zustimmung von Kaiser und Kanzler stand
noch aus. Beiden ist sie nicht leicht geworden. Die Ge-
fahr, daß dieser Art Kriegführung friedliche Passagiere,
auch Frauen und Kinder zum Opfer fallen könnten, dazu
302
Zustimmting von Kaiser und Kanzler
die Aussicht auf Verwicklungen mit den Neutralen, ins-
besondere mit den Vereinigten Staaten, stand beiden vor
Augen. Ein Zufall hatte es gefügt, daß ich zwei Monate
zuvor einen Einblick in die Auffassung des Kaisers hatte
tun können. Ich war am Abend des 25. November 1914
in Charleville zur kaiserlichen Tafel befohlen. Der Kaiser
brachte die Nachricht mit, daß sich der Untergang des auf
eine deutsche Mine gelaufenen britischen Überdreadnought
,,Audacious“ bestätige. Bei Tisch bemerkte ein hoher
Marineoffizier — nicht der Admiral von Tirpitz — , um ein
Haar sei auch der englische Riesenpassagierdampfer
„Oceanic“ auf eine Mine gelaufen. Der Kaiser antwortete:
,,Gott sei Dank, daß es nicht dazu gekommen ist!“ Auf
eine etwas erstaunte Geste des Admirals richtete sich der
Kaiser hoch auf und sagte mit lauter Stimme: „Meine
Herren, denken Sie immer daran: unser Schwert muß
rein bleiben. Wir führen keinen Krieg gegen Frauen und
Kinder. Wir wollen den Krieg anständig führen, einerlei,
was die andern tun. Merken Sie sich das!“
Ermöglicht wurde dem Kanzler wie dem Kaiser die Zu-
stimmung zu der Erklärung des Tauchbootkrieges in den
Gewässern um England durch die Anweisung, daß neutrale
Schiffe im Seekriegsgebiet geschont werden sollten. Man
war sich klar darüber, daß die Wirkung des U-Bootkriegs
dadurch beeinträchtigt werde; aber aus Gründen der Hu-
manität wie zur Vermeidung schwerer Konflikte mit den
Neutralen hielt man diese Einschränkung für unerläßlich.
303
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Es ist späterhin mitunter behauptet worden, der Reichs-
kanzler sei nachträglich der- Marine mit dieser Einschrän-
kung in den Arm gefallen und habe dadurch die von der
Marine erwartete Wirkung jenes ersten U-Bootkriegs ver-
eitelt. Diese Annahme ist unrichtig; wie sich schon aus
dem Text der Bekanntmachung und der Denkschrift vom
4. Februar 1915 ergibt, war die Anweisung an die U-Boote,
„Gewalttätigkeiten gegen neutrale Schiffe zu unterlassen“,
schon bei der Ankündigung der neuen Seekriegführung
gegeben.
Die Marine rechnete auf einen raschen Erfolg. Zwar
war die Zahl und die Leistungsfähigkeit der verfügbaren
U-Boote gering ; aber man hoffte auf eine starke Wirkung
durch Abschreckung.
Wenn es gelang, den Schiffsverkehr der britischen Inseln
erheblich zu beeinträchtigen, so war damit in der Tat
England an den Wurzeln seiner Lebenskraft gefaßt. Denn
noch ungleich viel mehr als Deutschland waren die bri-
tischen Inseln in die Weltwirtschaft hineingebaut. Nicht
nur die Industrie, sondern auch die Volksernährung des
Vereinigten Königreichs war in weit höherem Maße, als
das in Deutschland der Fall war, von reichlichen und un-
gestörten überseeischen Zufuhren abhängig. Deutschland
hatte in seiner Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte
die Förderung seines Außenhandels in Einklang gebracht
mit der Erhaltung und der Entwicklung seiner heimischen
Urproduktion. In den Gesamtwerten unseres Außenhandels
304
Englands Außenhandel
waren vvar England nahe gerückt; aber wir hatten gleich-
zeitig unsere Eigenproduktion, insbesondere an den wich-
tigsten Nährfrüchten, in noch stärkerem Verhältnis ge-
steigert, als unsere Bevölkerung sich vermehrt hatte.
England dagegen hatte im Vertrauen auf seine Seeherr-
schaft sein Wirtschaftsleben, vor allem auch seine Volks-
emährung, immer mehr auf die überseeische Zufuhr ein-
gestellt und seine Landwirtschaft verkümmern lassen.
Seinen Bedarf an Brotgetreide hatte England in den
letzten Jahren vor Kriegsausbruch zu drei Vierteln bis
vier Fünfteln, seinen Bedarf an Butter zu nahezu zwei
Dritteln, an Fleisch zu etwa zwei Fünfteln durch über-
seeische Zufuhren decken müssen. Außerdem war sein
Kohlenbergbau auf starke Zufuhren von Grubenholz,
seine Eisen- und Stahlindustrie auf starke Zufuhren frem-
der hochhaltiger Eisenerze angewiesen. Seine große Textil-
industrie war von ausländischen Rohstoffen abhängig.
Das für die Kriegfühmng so wichtige Petroleum und die
Pertroleumprodukte, wie Benzin, mußten über See zu-
geführt werden. Die Gesamteinfuhr Großbritanniens im
letzten Friedens] ahr stellte eine Menge von mnd 57 Mil-
lionen Tonnen dar. Davon kamen auf Nahrungs- und Ge-
nußmittel mnd 20 Millionen Tonnen, also ein starkes
Drittel, auf Holz nahezu 16 Millionen Tonnen, auf Eisen-
erz mnd 7^/2 Millionen Tonnen, auf alle andern Waren zu-
sammen mnd 13I/2 Millionen Tonnen. Eine erhebliche
Einschränkung des Schiffsverkehrs nach den britischen
30 Helfferich, Weltkrieg II
305
t'riedensbemühungen und U-Bootkrieg
Inseln mußte also diejenigen Kategorien treffen, die für
die Volksversorgung und die Kriegführung unentbehrlich
waren und für die Ersatz im eigenen Lande entweder über-
haupt nicht oder nur langsam und nur innerhalb enger
Grenzen beschafft werden konnte.
In der Ausfuhr überwogen der Menge nach die Kohlen.
Von einer Gesamtausfuhrmenge des Jahres 1913 in Höhe
von rund 92 Millionen Tonnen entfielen auf die Kohlen-
ausfuhr allein rund 78 Millionen Tonnen, auf alle andern
Güter nur rund 14 Millionen. Volkswirtschaft und Krieg-
führung der Verbündeten Englands waren auf die bri-
tischen Kohlen doppelt stark angewiesen, seit Deutsch-
land das belgische und nordfranzösische Kohlenbecken
besetzt hielt.
Das alles waren Momente, die den U-Boot-Handelskrieg
als eine wirksame Repressalie gegen den britischen Handels-
und Hungerkrieg erscheinen ließen, immer vorausgesetzt,
daß es gelingen würde, den Schiffsverkehr von und nach
den britischen Inseln ausgiebig und in fortgesetzt steigendem
Maße abzudrosseln.
Wie sich die Neutralen zu dieser neuen Art des Seekriegs
verhalten würden, war allerdings unsicher. Durch die an
die U-Boote gegebene Anweisung, neutrale Schiffe auch
im Seekriegsgebiet nicht anzugreifen, hatte man eine
Rücksicht auf die neutralen Interessen gezeigt, als deren
Wirkung man erwartete, die Neutralen würden sich
unserm U-Boot-Handelskriege gegenüber ebenso mit
306
Proteste der Neutralen
formellen Protesten begnügen, wie sie das England gegen-
über aus Anlaß der von diesem begangenen, auf Kosten
der Neutralen gehenden Völkerrechtsverletzungen, ins-
besondere aus Anlaß der Erklärung der Nordsee zum Kriegs-
gebiet, getan hatten. Über die Haltung der Vereinigten
Staaten hatte der Unterstaatssekretär Zimmermann den
Botschafter Gerard sondiert und den Eindruck gewonnen,
daß mehr als ein papierner Protest auch von der Re-
gierung in Washington wohl nicht zu erwarten sei.
Die Proteste kamen in der Tat.
Der amerikanische Einspruch, den Herr Gerard am
12. Eebruar 1915 überreichte, war, bei aller Höflichkeit in
der äußeren Form, sehr bestimmt und unzweideutig in der
, Sache. Die amerikanische Note wies die Kritik zurück,
die in der Denkschrift der deutschen Regierung vom 4. Fe-
bruar an ihrer angeblich nicht neu*tralen Haltung geübt
worden sei. Sie habe gegenüber allen Übergriffen der an-
dern kriegführenden Nationen eine Haltung eingenommen,
die ihr das Recht gebe, ,, diese Regierungen in der rich-
tigen Weise für alle eventuellen Wirkungen auf die ameri-
kanische Schiffahrt verantwortlich zu machen, die durch
die bestehenden Grundsätze des Völkerrechts nicht ge-
rechtfertigt sind“. Zu den von der deutschen Admiralität
angekündigten Maßnahmen bemerkte die Note, die ameri-
kanische Regierung glaube das Recht, ja die Pflicht zu
haben, die deutsche Regierung zu ersuchen, sie möchte
vor einem tatsächlichen Vorgehen die kritische Lage
20*
3^7
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
erwägen, die in den beiderseitigen Beziehungen entstehen
könnte, falls irgendein Kauffahrteischiff der Vereinigten
Staaten zerstört oder der Tod eines amerikanischen Staats-
angehörigen verursacht werde. Die amerikanische Re-
gierung würde in solchen Handlungen kaum etwas anderes
als eine unentschuldbare Verletzung neutraler Rechte er-
blicken können und sich genötigt sehen, die deutsche Re-
gierung für solche Handlungen ihrer Marinebehörden streng
verantw’ortlich zu machen und alle Schritte zu tun, die
zum Schutz amerikanischen Lebens und Eigentums und
zur Sicherung des vollen Genusses der amerikanischen
Rechte auf hoher See für die Amerikaner erforderlich seien.
Die amerikanische Regierung hoffe, daß die deutsche Re-
gierung die Versicherung geben könne und wolle, daß
amerikanische Staatsbürger und ihre Schiffe auch in dem
Seekriegsgebiet in keiner andern Weise als im Wege der
Durchsuchung durch deutsche Seestreitkräfte belästigt
werden sollten.
Die amerikanische Regierung stellte sich also schon in
dieser Note auf den Standpunkt, daß sie ihrer Neutralität
Genüge getan habe, w^enn sie für die Amerikanern aus
Völkerrechts Verletzungen erwachsenden Nachteile die Re-
gierung, von der die Völkerrechts Verletzung ausging, „in
der richtigen Weise“ verantwortlich machte. In welcher
Weise, darüber gestand sie Deutschland keine Kritik zu.
In Wirklichkeit hatte sie sich bisher gegenüber England
auf die Forderung von Schadenersatz beschränkt,
308
Deutsch-amerikanischer Notenwechsel
jedoch keinen ernstlichen Versuch gemacht, die britische
Regierung zur Einhaltung der völkerrechtlichen Normen
zu bestimmen. Deutschland gegenüber kündigte sie an,
daß sie nicht nur die deutsche Regierung für jede Schä-
digung, die sich aus der Durchführung der am 4. Februar
angekündigten Maßnahmen ergeben sollte, verantwort-
lich machen, sondern auch „alle Schritte“ zum Schutz des
amerikanischen Lebens und Eigentums und zur Sicherung
der amerikanischen Reisefreiheit auf den Meeren tun
werde.
Schon damit hatte der U-Bootkrieg ein ernsteres Ge-
sicht angenommen, als man es bei der Hinausgabe der Er-
klärung vom 4. Februar erwartet hatte. Denn für die
weitere Entwicklung des Krieges kam es weniger darauf
an, ob die Haltung der Regierung der Vereinigten Staaten
gerecht und billig war, als darauf, welche Haltung diese
praktisch einzunehmen entschlossen war. Und nach dieser
Richtung hin eröffnete die amerikanische Note keine allzu
guten Aussichten.
Die Reichsregierung gab auf die Note am 16. Februar
eine ausführliche Antwort. Sie legte zunächst dar, daß
die angekündigte Maßnahme in keiner Weise gegen den
legitimen Handel und die legitime Schiffahrt der Neutralen
gerichtet sei, sondern lediglich eine durch Deutsch-
lands Lebensinteressen erzwungene Gegenwehr gegen die
völkerrechtswidrige Seekriegführung Englands darstelle.
Die Neutralen hätten bisher die völkerrechtswidrige
309
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Unterbindung ihres Handels mit Deutschland trotz ihrer
Proteste nicht zu verhindern vermocht. Dadurch sei der Zu-
stand geschaffen worden, daß einerseits Deutschland unter
stillschweigender oder protestierender Duldung der Neu-
tralen von der überseeischen Zufuhr auch solcher Güter,
die niemals Kriegskonterbande waren, abgeschnitten sei,
während England unter Duldung der neutralen Regie-
rungen sogar mit solchen Waren versorgt werde, die stets
und unzweifelhaft als Konterbande galten. Insbesondere
wurde auf die Munitions- und Waffenlieferungen aus den
Vereinigten Staaten an die Entente hingewiesen. ,,Die
deutsche Regierung,“ so fuhr die Note fort, ,,gibt sich
wohl Rechenschaft darüber, daß die Ausübung von Rech-
ten und die Duldung von Unrecht seitens der Neutralen
formell in deren Belieben steht und keinen formellen Neu-
tralitätsbruch involviert; sie hat infolgedessen den Vorwurf
des formellen Neutralitätsbruchs nicht erhoben. Die
deutsche Regierung kann aber — gerade im Interesse voller
Klarheit in den Beziehungen beider Länder — nicht umhin,
hervorzuheben, daß sie mit der gesamten öffentlichen Mei-
nung Deutschlands sich dadurch schwer benachteiligt fühlt,
daß die Neutralen in der Wahrung ihrer Rechte auf den
völkerrechtlich legitimen Handel mit Deutschland bisher
keine oder nur unbedeutende Erfolge erzielt haben, während
sie von ihrem Recht, den Konterbandehandel mit Eng-
land und unsern andern Feinden zu dulden, uneingeschränk-
ten Gebrauch machen. Wenn es das formale Recht der
310
Deutsch-amerikanischer N otenwechsel
Neutralen ist, ihren legitimen Handel mit Deutschland
nicht zu schützen, ja sogar sich von England zu einer be-
wußten und gewollten Einschränkung dieses Handels be-
wegen zu lassen, so ist es auf der andern Seite nicht minder
ihr gutes, aber leider nicht angewandtes Recht, den Kon-
terbandehandel, insbesondere den Waffenhandel, mit
Deutschlands Feinden abzustellen*. Bei dieser Sachlage
sieht sich di^ deutsche Regierung nach sechs Monaten der
Geduld und des Abwartens genötigt, die mörderische Art
der Seekriegführung Englands mit scharfen Gegenmaß-
nahmen zu erwidern. Wenn England in seinem Kampf
gegen Deutschland den Hunger als Bundesgenossen an-
ruft, in der Absicht, ein Kulturvolk von 70 Millionen vor
die Wahl zwischen elendem Verkommen oder Unterwer-
fung unter seinen politischen und kommerziellen Willen
zu stellen, so ist heute die deutsche Regierung entschlossen,
den Handschuh aufzunehmen und an den gleichen Bundes-
genossen zu appellieren; sie vertraut darauf, daß die Neu-
tralen, die bisher sich den für sie nachteiligen Folgen des
englischen Hungerkriegs stillschweigend oder duldend
*■ Die amerikanische Regierung hat später wiederholt behauptet, ein Verbot der Waffen-
ausfuhr an Kriegführende wäre, da eine Waffenlieferung nach Lage der Verhältnisse aus-
schheßlich für die Entente in Betracht komme, ein Verbot also ausschließlich die Entente
schädige, eine unneutrale Handlung. Die deutsche Regierung dagegen konnte sich für ihren
Standpunkt, daß die Duldung der Waffenausfuhr, gerade weil sie ausschheßlich der Entente
zugutekomme, ein unneutrales Verhalten sei, auf Präsident Wilson berufen, der im Februar
1914 als Begründung des Verbots der Waffenlieferung für die beiden sich in Mexiko be-
kämpfenden Parteien erklärt hatte: ,,Da Carranza keine Häfen hat, Huerta dagegen über
Häfen zur Waffeneinfuhr verfügt, ist es unsre Pflicht als Nation, beide auf gleichem Fuße zu
behandeln, wenn wir den wahren Geist der Neutralität beobachten wollen und nicht eine
reine Papierneutralität “
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
unterworfen haben, Deutschland gegenüber kein geringeres
Maß von Duldsamkeit zeigen werden, und zwar auch dann,
wenn die deutschen Maßnahmen, in gleicher Weise wie
bisher die englischen, neue Formen des Seekriegs dar-
stellen.“ Die Note wiederholte dann, daß die Befehls-
haber der deutschen U-Boote angewiesen seien, Gewalt-
tätigkeiten gegen amerikanische Handelsschiffe, soweit sie
als solche erkennbar seien, zu unterlassen, und machte zur
Vermeidung von Verwechslungen den Vorschlag, die ameri-
kanische Regierung möchte ihre mit feindlicher Ladung
befrachteten, den britischen Kriegsschauplatz berührenden
Schiffe durch Konvoyierung kenntlich machen, über deren
Durchführung die deutsche Regierung alsbald zu Ver-
handlungen bereit sei. Zum Schluß führte die Note aus:
„Sollte es der amerikanischen Regierung vermöge des
Gewichts, das sie in die Wagschale des Geschickes der
Völker zu legen berechtigt und imstande ist, in letzter
Stunde noch gelingen, die Gründe zu beseitigen, die der
deutschen Regierung ihr Vorgehen zur gebieterischen
Pflicht machen, sollte die amerikanische Regierung ins-
besondere einen Weg finden, die Beachtung der Londoner
Seekriegsrechts-Erklärung auch von seiten der mit Deutsch-
land Krieg führenden Mächte zu erreichen und Deutsch-
land dadurch die legitime Zufuhr von Lebensmitteln und
industriellen Rohstoffen zu ermöglichen, so würde die
deutsche Regierung hierin ein nicht hoch genug zu veran-
schlagendes Verdienst um die humanere Gestaltung der
312
Deutsch-amerikanischer Notenwechsel
Kriegführung anerkennen und aus der also geschaffenen
neuen Sachlage gern die Folgerungen ziehen.“
Diese Note, die von dem formalen Recht an den Geist
des Rechtes appellierte und einen Weg zur Wiederher-
stellung einer menschlichen Kriegführung zeigte, hatte
zunächst einen Erfolg. Am 22. Februar wandte sich die
amerikanische Regierung in einer gleichlautenden Note
an die deutsche und an die britische Regiei;ung mit einem
Vorschlag, dessen wesentlicher Inhalt war: Unterseeboote
sollen gegenüber Handelsschiffen nur zur Durchführung
des Rechtes der Anhaltung und Durchsuchung verwendet
werden; neutrale Flaggen dürfen von Handelsschiffen der
kriegführenden Staaten nicht benutzt werden. England
wird Nahrangs- und Genußmittel, die für Deutschland be-
stimmt sind, nicht anhalten, wenn sie an Agenturen in
Deutschland adressiert sind, die von den Vereinigten
Staaten für den Empfang und den Weiterverkauf an die
Zivilbevölkerung bezeichnet sind.
Die deutsche Regierung antwortete bereits am 28. Fe-
bruar, daß sie in der amerikanischen Anregung eine ge-
eignete Grundlage für eine Lösung zu erkennen glaube.
Sie erklärte sich ausdrücklich bereit, die Tätigkeit der
U-Boote gegenüber Handelsschiffen auf das Anhalten und
die Durchsuchung zu beschränken, falls der Flaggenmiß-
brauch abgestellt werde und die von der amerikanischen
Regierung vorgeschlagene Regelung der Lebensmittel-
zufuhr nach Deutschland zustandekomme, mit der sie
313
Friedensbemüliungen und U-Bootkrieg
ihrerseits sich einverstanden erklärte. Sie schlug lediglich
eine Ergänzung vor hinsichtlich der Zufuhr von Rohstoffen,
die der friedlichen Volkswirtschaft dienten.
Die britische Regierung dagegen lehnte am 13. März
1915 die amerikanische Anregung ab mit der Motiviemng,
daß Deutschland die in dem amerikanischen Vorschlag
gleichfalls enthaltene Anregung über die Beschränkung
der Anwendung von Seeminen nicht vorbehaltlos ange-
nommen habe, womit es sich für die britische Regierung
erübrige, eine weitere Antwort zu geben.
Damit war die amerikanische Vermittlungsaktion er-
ledigt.
Indessen kam die amerikanische Regierung nicht eher
wieder auf die deutsche U-Bootnote vom 16. Februar 1915
zurück, als bis praktische Fälle Vorlagen, daß amerika-
nische Schiffe und das Leben amerikanischer Staatsbürger
durch den U-Bootkrieg vernichtet wurden. Ein erster
solcher Fall ereignete sich am 28. März 1915, indem bei
der Versenkung des enghschen Passagierdampfers ,, Fal-
laba“ ein amerikanischer Staatsangehöriger das Leben
verlor. Am 28. April griff ein deutsches Flugzeug ver-
sehentlich das amerikanische Schiff ,,Cushing“ an. Am
I. Mai wurde das amerikanische Schiff ,,Gulf light“
versenkt, wobei zwei amerikanische Staatsbürger ums
Leben kamen. Schließlich wurde am 7. Mai der große
englische Passagierdampfer ,,Lusitania“ durch ein deut-
sches U-Boot torpediert; mehr als hundert Amerikaner,
314
,,Lusitania“ versenkt
darunter viele Frauen und Kinder, fanden ihren Tod in
den Wellen.
Die Erregung in Amerika war ungeheuer. Sie wurde
auch nicht gedämpft dadurch, daß die deutsche Botschaft
in Washington durch eine Anzeige in den amerikanischen
Zeitungen ausdrücklich vor der Benutzung der englischen
Passagierdampfer zu Fahrten in das Kriegsgebiet gewarnt
hatte. Im Gegenteil! Die amerikanische Regierung be-
zeichnete es als ,,eine überraschende Regelwidrigkeit“,
daß die deutsche Botschaft sich mit einer solchen War-
nung vor der Ausübung eines guten amerikanischen
Rechts durch die amerikanische Presse an die amerika-
nische Öffentlichkeit gewendet habe. Die Erregung wurde
auch nicht gedämpft durch den deutschen Hinweis dar-
auf, daß die ,,Lusitania“ bewaffnet gewesen sei und große
Mengen von Munition an Bord gehabt habe — diese An-
gaben der deutschen Regierung wurden von der amerikani-
schen Regierung, deren Behörden das Schiff ausklariert
hatten, bestritten.
Die amerikanische Regierung ließ am 15. Mai in Berlin
eine Note übergeben, in der sie die ernstlichsten Vorstel-
lungen erhob. Über die vorliegenden Einzelfälle hinaus-
greifend, stellte sie fest, daß der U-Bootkrieg gegen
Handelsschiffe ohne Mißachtung nicht nur des Völkerrechts
sondern auch der Regeln der Billigkeit, der Vernunft, der
Gerechtigkeit und der Menschlichkeit nicht durchführ-
bar sei. Sie könne im übrigen nicht glauben, daß die
3U5
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
U-Bootkommandanten ihre ungesetzlichen Handlungen
anders als unter einem Mißverständnis der von der deutschen
Marinebehörde gegebenen Befehle getan haben könnten.
Sie verlangte von der deutschen Regierung Mißbilligung
der Handlungen der U-Bootkommandanten, Genugtuung
für den angerichteten Schaden, schließlich sofortige Maß-
nahmen zur Verhinderung weiterer ähnlicher Vorfälle.
„Die Kaiserliche Regierung,“ so schloß die Note, „wird
nicht erwarten, daß die Regierung der Vereinigten Staaten
irgendein Wort ungesprochen oder eine Tat ungeschehen
lassen wird, die notwendig sein sollten, um ihrer heiligen
Pflicht zu genügen, die Rechte der Vereinigten Staaten
und ihrer Bürger zu wahren und deren Ausübung imd Genuß
zu gewährleisten.“
An diese Note schloß sich eine diplomatische Korre-
spondenz an, in der die amerikanische Regierung immer
schärfer ihren Standpunkt herausarbeitete, daß nur tat-
sächlicher Widerstand eines Handelsschiffes oder sein
fortgesetztes Bestreben zu entfliehen, nachdem Befehl
zum Anhalten zwecks Durchsuchung ergangen ist, dem
Kommandanten eines Tauchbootes das Recht gebe, das
Leben der an Bord befindlichen Menschen in Gefahr zu
bringen ; die deutsche Regierung dagegen nahm den Stand-
punkt ein, sie könne nicht zugeben, daß amerikanische
Bürger ein feindliches Handelsschiff durch die bloße Tat-
sache ihrer Anwesenheit an Bord zu schützen vermöchten.
Des weiteren wurde die Frage der Bewaffnung und
316
Erneuter Notenwechsel
Munitionsladung der „Lusitania'' erörtert. Schließlich
wurden von deutscher Seite Vorschläge gemacht, die den
freien Verkehr ausreichend kenntlich gemachter und vorher
angesagter amerikanischer Passagierdampfer mit England
sichern sollten. Dieser letztere Vorschlag wurde von der
amerikanischen Regierung in einer Note vom 23. Juli 1915
kategorisch zurückgewiesen, da er geradezu eine Verein-
barung für die teilweise Aufhebung jener Grundsätze ent-
halte, auf deren Anerkennung durch Deutschland die
amerikanische Regierung bestehen müsse. Schärfer als
jemals bisher lehnte es die amerikanische Regierung ab,
ihre Politik gegenüber Großbritannien mit der deutschen
Regierung zu diskutieren und dem Verhalten Englands
gegenüber Deutschland für die Erörterung zwischen Ame-
rika und Deutschland über die Frage des U-Bootkrieges
irgendeine Erheblichkeit zuzubilligen. „Wenn ein Krieg-
führender einem Feinde gegenüber nicht Vergeltung üben
kann, ohne Leben und Eigentum Neutraler zu schädigen,
so sollten sowohl Menschlichkeit wie Gerechtigkeit und die
angemessene Rücksicht auf die Würde der neutralen
Mächte gebieten, daß das Verfahren eingestellt wird."
Das Verlangen nach Mißbilligung des Vorgehens der deut-
schen Seeoffiziere bei der Versenkung der „Lusitania** und
auf Ersatz für den entstandenen Schaden wurde mit Nach-
druck wiederholt, und der Schluß der Note enthielt die
Wendung, daß die amerikanische Regierung eine Wieder-
holung von Handlungen von Kommandanten deutscher
317
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Seestreitkräfte, die eine Verletzung der Rechte amerika-
nischer Bürger darstellten, als ,, vorsätzlich unfreundliche
Handlung'^ betrachten müßte.
Die scharfe Note der amerikanischen Regierung vom
23. Juli 1915 enthielt jedoch in Anknüpfung an die in der
vorhergegangenen deutschen Note zum Ausdruck ge-
brachte Hoffnung auf Wiederherstellung der Freiheit
der Meere einen Passus, der zu dem kriegerischen Aus-
klang in einem merkwürdigen Gegensatz stand. Dieser
Passus lautete:
,,Die Regierung der Vereinigten Staaten und die Kaiser-
lich deutsche Regierung kämpfen für das gleiche große
Ziel und sind lange zusammen eingetreten für Anerkennung
eben jener Grundsätze, auf denen die Regierung der Ver-
einigten Staaten jetzt so feierlich besteht. Sie kämpfen
beide für die Freiheit der Meere. Die Regierung der Ver-
einigten Staaten wird fortfahren, für diese Freiheit zu
kämpfen, von welcher Seite auch immer sie verletzt wer-
den möge, ohne Kompromiß und um jeden Preis. Sie
ladet die Kaiserlich deutsche Regierung zu praktischer
Mitarbeit ein, im jetzigen Augenblick, wo diese Mitarbeit
am meisten durchsetzen kann und dieses große Ziel am
schlagendsten und wirksamsten erreicht werden kann.
Die Kaiserlich deutsche Regierung hat der Hoffnung Aus-
druck gegeben, daß dieses Ziel in gewissem Grade sogar
vor dem Ende des gegenwärtigen Krieges erreicht werden
könnte. Dies kann geschehen. Die Regierung der
318
, Freiheit der Meere*^
Vereinigten Staaten fühlt sich nicht nur verpflichtet, auf
diesem Ziel, von wem auch immer es verletzt und mißachtet
werden mag, zum Schutz ihrer eigenen Bürger zu bestehen ;
sie ist auch auf das höchste daran interessiert, dieses Ziel
zwischen den Kriegführenden selbst verwirklicht zu sehen,
und hält sich jederzeit bereit, als gemeinsamer Freund
zu handeln, dem der Vorzug zuteil wird, einen Weg
vorzuschlagen.“
Neben die kaum verhüllte Drohung mit dem Abbruch
der Beziehungen für den Fall einer weiteren Schädigung
der von der amerikanischen Regierung für ihre Staats-
angehörigen beanspruchten Rechte durch unsern U-Boot-
krieg war also die Bereitschaft zu einer Kooperation mit
uns zur Wiederherstellung der Freiheit der Meere, und
zwar noch während des Krieges, gesetzt. Damit war
die deutsche Politik vor eine Entscheidung von größter
Tragweite gestellt.
Obwohl ich als Schatzsekretär nicht unmittelbar an der
Behandlung dieser Fragen beteiligt war, hatte ich doch,
auch abgesehen von gelegentlichen Aussprachen mit dem
Kanzler und meinen Freunden im Auswärtigen Amt,
gewisse Berührungspunkte mit dem durch den U-Boot-
krieg berührten Fragenkomplex.
So war ich seit einiger Zeit mit der Frage der Baumwoll-
einfuhr aus den Vereinigten Staaten befaßt worden. Per-
sönlichkeiten, die im deutschen Baumwollhandel eine große
Rolle spielten, hatten Fühlung mit ihren amerikanischen
319
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg ~
Geschäftsfreunden genommen und standen mit diesen
in Verhandlungen wegen des Abschlusses über einen sehr
großen Posten zu einem festen Preise. Die großen und
einflußreichen amerikanischen BaumwoUinteressen waren
durch die Unterbindung des Absatzes nach Deutschland
empfindlich geschädigt. Für uns handelte es sich darum,
diese Interessen zu unsern Gunsten mobilzumachen und mit
ihrer Hilfe nicht nur eine Belieferung Deutschlands mit ame-
rikanischer Baumwolle durchzusetzen, sondern womöglich
die amerikanische Politik zu einem tatkräftigen Handeln für
die Wiederherstellung der Londoner Deklaration zu be-
wegen. Die Finanzierung des Riesengeschäftes, um das
es sich handelte, ließ den deutschen Interessenten die
Rückendeckung durch das Reich erforderlich erscheinen,
und so kam die Sache an mich. Die jetzt von der amerika-
nischen Regierung angebotene Zusammenarbeit für die
Wiederherstellung der Freiheit der Meere erregte infolge-
dessen mein besonderes Interesse.
Außerdem war die Gestaltung unseres Verhältnisses
zu den Vereinigten Staaten von besonderer Wichtigkeit
für die finanzielle Kriegführung. Auch bisher schon hatten
die Banken der Vereinigten Staaten den Ententeländem —
in viel bescheidenerem Maße auch uns — einige Unter-
stützung im Wege kommerzieller Kredite und der Über-
nahme kurzfristiger Schatzanweisungen gewährt. Aber
diese finanzielle Hilfe hatte sich, zumal da der Präsident
Wilson zunächst die Aufnahme öffentlicher Anleihen
320
Deutschlands Verhältnis zu Amerika
zugunsten eines kriegführenden Staates als neutralitäts-
widrig erklärt hatte, in engen, weit unterhalb der Lei-
stungsfähigkeit der Union liegenden Grenzen bewegt.
Niemand konnte zweifeln, daß ein Hinübertreten der Ver-
einigten Staaten auf die Seite unserer Gegner den vollen
Einsatz ihrer gerade während des Krieges gewaltig an-
gewachsenen Finanzkraft zugunsten der Entente bringen
würde. Für die Entente war daraus eine wesentliche Er-
leichterung nicht nur der finanziellen, sondern auch der
wirtschaftlichen Kriegführung, für uns eine entsprechende
Erschwerung zu erwarten.
Aber auch ganz unabhängig von den Interessen meines
speziellen Ressorts wollte es mir als ein geradezu ver-
hängnisvoller Fehler erscheinen, es wegen des U-Boot-
krieges zum Bruch mit den Vereinigten Staaten kommen
zu lassen und die von Wilson gebotene Hand zur Wieder-
herstellung der Freiheit der Meere, „von wem auch immer
sie verletzt und mißachtet werden mag“, zu übersehen
oder auszuschlagen. Sowohl wirtschaftliche Gründe als
auch die politische Lage, insbesondere die kritische Situa-
tion auf dem Balkan, von deren Entwicklung das Schick-
sal der Dardanellen und der Türkei abhing, schienen mir
keinen Zweifel über den richtigen Weg zu lassen, zumal
da der Erfolg des U-Bootkriegs nicht entfernt den Erwar-
tungen entsprach.
Ich legte dem Kanzler meine Gesichtspunkte zuerst
mündlich und dann, am 5. August 1915, auch schriftlich
21 Helfferich, Weltkrieg II
321
Friedensbemüliungen und U-Bootkrieg
dar. Mein Vorschlag ging dahin, der amerikanischen Re-
gierung zu antworten: Wir akzeptieren die angebotene
Kooperation zur Wiederherstellung der Freiheit der Meere.
In der Voraussetzung, daß die amerikanische Regierung
gewillt ist, alsbald wirksame Schritte bei der britischen
Regierung zu unternehmen, um diese zur Aufgabe ihrer
völkerrechtswidrigen Seekriegführung < zu veranlassen und
sie zur strikten Beobachtung der Londoner Deklaration
zurückzuführen, sind die U-Bootkommandanten unter
Aufrechterhaltung unseres grundsätzlichen Standpunktes
angewiesen worden, bis auf weiteres den U-Bootkrieg in
einer der amerikanischen Auffassung Rechnung tragenden
Weise zu führen; wir behalten uns alles vor für den Fall,
daß die gemeinsame Aktion nicht innerhalb einer an-
gemessenen Zeit den gewünschten Erfolg herbeiführt.
Dieses Vorgehen hätte den Vorteil gehabt, für die
nächste für die Entscheidungen auf dem Balkan so wich-
tige Zeit die bedrohlichen Differenzen mit Amerika prak-
tisch auszuschalten und dem Präsidenten Wilson freie
Hand für die von ihm in Aussicht gestellte Aktion gegen
England zu geben, ohne uns für die Dauer die Hände zu
binden.
Mein Vorschlag fand jedoch beim Auswärtigen Amt
keine Unterstützung, und der Chef des Admiralstabs nahm
in einem Immediatbericht an den Kaiser mit großer Ent-
schiedenheit gegen meine Anregung und deren Begründung
Stellung. Der Kaiser stimmte zwar meiner Rephk zu, in
322
„Arabic“ versenkt
der ich meine Auffassung unter eingehender Begründung
aufrechterhielt; aber in der Zwischenzeit hatte sich die
Lage erheblich verschärft durch die am 19. August ohne
Warnung erfolgte Torpedierung des auf der Ausfahrt von
England nach Amerika begriffenen Passagierdampfers
„Arabic''; abermals fanden bei dieser Versenkung amerika-
nische Staatsangehörige den Tod.
Glücklicherweise war schon vor der Torpedierung der
,,Arabic‘' eine Weisung an die U-Bootkommandanten er-
gangen, daß „Liners“ nur nach vorhergegangener Warnung
und nach Rettung der Nichtkombattanten versenkt wer-
den sollten, es sei denn, daß ein Schiff zu fliehen versuche
oder Widerstand leiste. Der Kommandant des U-Bootes,
das die „Arabic“ versenkte, hatte sich in dem Glauben
befunden, daß die „Arabic“ Anstalten machte, sein
U-Boot zu rammen. Die an die U-Bootkommandanten er-
gangene Weisung wurde nun der amerikanischen Regie-
rung mitgeteilt. Im weiteren Verlaufe der Verhandlungen,
die hart an den Krieg heranstreiften, bestätigte Graf Bern-
storff am 5. Oktober 1915 dem Staatssekretär Lansing,
daß die an die U-Bootkommandanten erteilten Befehle
so bestimmt lauteten, daß eine Wiederholung ähnlicher
Zwischenfälle wie des Arabic-Falles als ausgeschlossen
gelte. Gleichzeitig erkannte die deutsche Regierung an,
daß der Angriff auf die ,,Arabic“ den erteilten Befehlen
nicht entsprochen habe, daß sie den Vorgang nicht billige
und ihn bedaure; dem Kommandanten des U-Bootes sei
21*
323
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
eine dahingehende Eröffnung gemacht worden. Auch zur
Gewährung einer Entschädigung erklärte sich die deutsche
Regierung bereit. Natürlich konnten, wie sich jetzt die
Lage gestaltet hatte, an diese Mitteilung keine weiteren
Bedingungen oder Voraussetzungen bezüglich der von
Amerika gegenüber England zu unternehmenden Schritte
geknüpft werden. Die Gelegenheit, in die von Wilson
gebotene Hand einzuschlagen und eine ernsthafte Probe
auf seine Bereitwilligkeit zu einem gemeinschaftlichen
Vorgehen gegen Englands Seekriegführung zu machen, war
uns also durch die Versenkung der „Arabic*' aus der Hand
genommen. Eine endgültige Klärung war auch nicht
herbeigeführt; insbesondere betonte Lansing, daß die
„Lusitania“-Angelegenheit für die amerikanische Regierung
noch nicht erledigt sei. Aber die unmittelbare Gefahr
schien abgewendet. Darüber hinaus raffte sich jetzt die
amerikanische Regierung zum erstenmal seit langer Zeit
zu einem energischen Schritt gegenüber der Entente auf.
In einer sehr ausführlichen Note vom 5. November 1915
legte sie die Völkerrechtswidrigkeit der von der Entente
unter Englands Führung beliebten Seekriegführung dar
und erklärte, daß die Vereinigten Staaten ohne Zaudern
die Aufgabe der Vorkämpferschaft für die Rechte der
Neutralen zu übernehmen und der Erfüllung dieser Auf-
gabe ihre ganze Energie zu widmen entschlossen seien.
Im eigenen Lager hatte die Frage unseres Verhaltens
zu Amerika zu einer ernstlichen Krisis geführt. Nachdem
324
Amerika gegen Englands Seekriegführung
der Kaiser sich auf den vom Reichskanzler vertretenen
Standpunkt gestellt hatte, reichte der Admiral von Tirpitz
seinen Abschied ein, der aber vom Kaiser nicht angenom-
men wurde (Anfang September 1915). Dagegen wurde
an Stelle des Admirals Bachmann der Admiral von Holtzen-
dorff zum Chef des Admiralstabs ernannt; gleichzeitig
wurden durch eine Kaiserliche Order die Kompetenzen
zwischen Reichsmarineamt und Admiralstab neu abge-
grenzt. Ein zweites Abschiedsgesuch des Admirals von
Tirpitz folgte, das abermals abgelehnt wurde.
Der ^^verschärfte U-Bootkrieg^^
Am 18. Januar 1916 machte Herr Lansing den Vertretern
der Ententemächte in Washington einen — später als inoffi-
ziell bezeichne ten Vorschlag — über die U-Bootkrieg-
führung, der im wesentlichen auf folgendes hinauskam:
Er erkannte an, daß die U-Boote sich als wirksam in
der Bekämpfung feindlichen Handels erwiesen hätten
und daß infolgedessen ihre Benutzung zu diesem Zweck
den Kriegführenden nicht ohne weiteres verwehrt werden
könne. Es handele sich also darum, eine Formel zu fin-
den, die den U-Bootkrieg, ohne seine Wirksamkeit zu zer-
stören, in Einklang mit den allgemeinen Regeln des Völker-
rechts und den Grundsätzen der Menschlichkeit bringe.
Sein Vorschlag sei: Einerseits sollten die U-Boote ge-
halten sein, nur in den Formen des „Kreuzerkriegs“ gegen
325
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Kauffahrteischiffe vorzugehen, d. h. sie nicht zu versenken,
ohne sie zum Halten aufgefordert, nach Konterbande durch-
sucht und die Mannschaft und Passagiere in Sicherheit
gebracht zu haben. Auf der anderen Seite sollten die
Kauffahrteischiffe keinerlei Bewaffnung führen dürfen.
Zur Begründung dieses Vorschlags führte Lansing an, daß
angesichts der Konstruktion der U-Boote eine auch nur
leichte Bewaffnung den Handelsschiffen eine Überlegen-
heit gebe; jede Bewaffnung eines Kauffahrteischiffes habe
unter diesen Umständen den Charakter einer Bewaffnung
zu Offensivzwecken. Das Schreiben schloß: „Ich möchte
hinzufügen, daß meine Regierung das Argument verständ-
lich findet, daß ein Kauffahrteischiff, das irgendeine Be-
waffnung trägt, angesichts des Charakters des Tauchboot-
kriegs und der Schwäche der U-Boote in der Verteidigung,
sowohl von den Neutralen wie von den Kriegführenden als
Hilfskreuzer zu betrachten und zu behandeln ist, und daß
meine Regierung ernstlich erwägt, ihre Beamten dem-
entsprechend zu instruieren.“
Diese Anregung sah aus wie ein schwerer Vorstoß gegen
die Seekriegführung der Entente. Die Entwaffnung aller
Handelsdampfer und ihre Verpflichtung, ohne Gegenwehr
auf Anruf anzuhalten, sich untersuchen und nach Fest-
stellung der feindlichen Nationalität oder des Vorhanden-
seins von Kontrebande sich versenken zu lassen, hätte
das Vorgehen der deutschen U-Boote gegen den Seehandel
der Ententeländer nahezu gefahrlos gemacht und seine
326
Lansings Vorschlag an die Entente Vertreter
Wirksamkeit bedeutend gesteigert. Die Ablehnung dieser
Anregung durch die Ententemächte mußte deshalb er-
wartet werden. Aber für diesen Fall stand am Schluß des
Lansingschen Schreibens die Drohung, daß die amerika-
nische Regierung künftighin bewaffnete Handelsschiffe
als Hilfskreuzer ansehen und behandeln werde. Das hieß
nicht nur, daß die bewaffneten Handelsschiffe bei ihrem
Aufenthalt und ihrem Verkehr in den Häfen der Ver-
einigten Staaten den für Kriegsschiffe maßgebenden Be-
schränkungen unterliegen sollten, sondern auch, daß die
Regierung der Vereinigten Staaten sich jedes Einspruchs
gegen die Versenkung solcher bewaffneten Handelsschiffe
durch deutsche U-Boote begeben hätte, auch wenn die
Torpedierung ohne Warnung und ohne die Rettung der
Schiffsbemannung und Passagiere erfolgte.
Die Entente war also in der Tat vor ein schweres
Dilemma gestellt. Hätte die Regierung der Vereinigten
Staaten den Lansingschen Gedanken sich zu eigen gemacht
und festgehalten, so gab es für die Entente nur den einen
Ausweg, durch die Rückkehr zur Londoner Deklaration
sich die Beschränkung des U-Bootkriegs auf die Methoden
des „Kreuzerkriegs“ zu erkaufen. Zielte Lansings Brief
an die Ententevertreter nach dieser Richtung? Sollte er
eine drastische Ergänzung der noch immer unbeantwor-
teten Note der amerikanischen Regierung vom 5. Novem-
ber 1915 sein,' die so scharf gegen die Methoden der
britischen Seekriegführung Stellung genommen hatte?
327
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Ich vermag auf diese Frage auch heute noch keine Ant-
wort zu geben; denn ich hatte weder damals, noch habe
ich heute genügend Einblick in das, was jenseits des At-
lantischen Ozeans vorging. Und die weitere Entwicklung
der Dinge selbst gab nicht nur keine Antwort, sondern
stellte uns vor ein Rätsel.
Nachdem nämlich Lansing am i8. Januar 1916 jenen Brief
an die Entente Vertreter gerichtet hatte, nahm er Ende
Januar gegenüber dem Grafen Bernstorff die „Lusitania“-
Frage, die bei der Erledigung des „Arabic'*-Falles ausdrück-
lich in Schwebe gelassen worden war, wieder auf. Er verlangte
nicht nur eine Entschädigung, sondern auch die ausdrück-
hche Erklärung, daß wir diese Entschädigung „in Aner-
kennung der Ungesetzlichkeit (illegality)“ der Versenkung
der „Lusitania“ gewährten. In einem solchen Zugeständnis
sah man bei uns nicht nur eine uns angesonnene Demüti-
gung, sondern auch einen endgültigen und vorbehalt-
losen Verzicht auf die schärfere Form des U-Bootkriegs,
zu dem man sich um so weniger entschließen konnte, als
keinerlei Sicherheiten irgendwelcher Art für eine Zurück-
führung des Seekriegs unserer Feinde auf die Normen des
Völkerrechts Vorlagen. Lansing bestand jedoch mit der
größten Hartnäckigkeit und Schärfe auf seiner Forderung.
Die Lage erfuhr abermals eine kritische Zuspitzung bis
hart an den Abbruch der Beziehungen. Am 5. Februar
1916 veröffentlichte das Wolffsche Bureau eine Unter-
redung des Unterstaatssekretärs Zimmermann mit dem
328
Wiederaufnahme der „Lusitania“-Frage
Berliner Korrespondenten der „Associated Press*^ in der
er u. a. sagte: Er wolle den Ernst der Lage nicht ver-
hehlen. Deutschland könne keinesfalls die Ungesetzlich-
keit der Kriegführung der U-Boote in der Kriegszone an-
erkennen. Die ganze Krisis sei auf die neue Forderung
Amerikas zurückzuführen, daß Deutschland die Ver-
senkung der „Lusitania'" als eine völkerrechtswidrige
Tat anerkennen solle. Deutschland könne die Waffe der
U-Boote nicht aus der Hand legen. Wenn die Vereinigten
Staaten es zum Bruch kommen lassen wollten, könne
Deutschland nichts mehr tun, um dies zu vermeiden.
Der Reichskanzler bestätigte in einer Unterredung mit
dem Vertreter der „New York World“ die Zimmermann-
schen Erklärungen.
Während unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten
diese neue und unerwartete Zuspitzung erfuhr, kam es
bei uns im Innern zu heftigen Kämpfen über den
U-Bootkrieg.
Der Admiralstab nahm unter seinem neuen Chef gegen
Ende 1915 erneut Stellung zugunsten der Aufnahme des
durch keinerlei Einschränkungen gehemmten U- Boot-
kriegs. Von einem rücksichtslos durchgeführten U-Boot-
krieg erwartete er binnen eines halben Jahres die Nieder-
kämpfung Englands und damit die siegreiche Beendigung
des Krieges. Gegenüber dieser Aussicht müßten alle andern
Erwägungen, auch die Rückwirkung des uneingeschränkten
U-Bootkrieges auf die Vereinigten Staaten, zurücktreten.
329
Friedensbemüliungen und U-Bootkrieg
Der Chef des Generalstabs, General von Falkenhayn,
war um die Jahreswende für den uneingeschränkten
U-Bootkrieg so gut wie gewonnen. Er hoffte auf eine
Niederkämpfung Englands in wenigen Monaten.
Auch die politischen Parteien und die Presse nahmen in
jener Zeit immer schärfer in der Frage des U-Bootkrieges
Stellung. Die Marinebehörden entfalteten eine starke pro-
pagandistische Tätigkeit zugunsten des uneingeschränk-
ten U-Bootkrieges, die sichtlich Einfluß auf die Mei-
nungsbildung der politischen Kreise und des Publikums
gewann.
Der Kanzler leistete dem starken Druck Widerstand.
Wenn schon die Differenzen über die Erledigung der
,,Lusitania'‘-Frage so hart an den Bruch zwischen Amerika
und uns heranführten, so erschien der Bruch und ihm
folgend der Krieg sicher für den Fall der Eröffnung des
uneingeschränkten U-Bootkrieges. Dafür war der Kanzler
nicht geneigt, die Verantwortung zu übernehmen.
Dagegen einigten sich die maßgebenden Persönlichkeiten
Anfang Februar 1916 auf den sogenannten „verschärften
U-Bootkrieg“, nämlich die Versenkung der bewaffneten
feindlichen Handelsschiffe ohne Warnung und ohne Rück-
sicht auf die Mannschaften und Passagiere.
Der deutschen Marine waren auf verschiedenen bri-
tischen Handelsschiffen Instruktionen in die Hand ge-
fallen, aus denen sich ergab, daß die bewaffneten Schiffe
nicht etwa die Angriffe deutscher U-Boote abwarten und
330
Proklamierung des „verschärften U-Bootkrieges“
sich gegen diese verteidigen, sondern, wo immer sich eine
Gelegenheit dazu bot, angriffsweise gegen die U-Boote
Vorgehen sollten. Die deutsche Regierung zog hieraus die
Konsequenz, daß die mit Geschützen bewaffneten feind-
lichen Kauffahrteischiffe kein Recht mehr darauf hätten,
als friedliche Handelsschiffe angesehen zu werden. Sie
teilte diese Auffassung am 8. Februar 1916 den neutralen
Regierungen in einer Denkschrift mit, die mit der An-
kündigung schloß, daß die deutschen Seestreitkräfte nach
einer kurzen, den Interessen der Neutralen Rechnung tra-
genden Frist den Befehl erhalten würden, solche Schiffe
als Kriegführende zu behandeln.
Über die Zweckmäßigkeit dieses Schrittes konnte man
verschiedener Meinung sein; schon deshalb, weil die Er-
kennbarkeit der Bewaffnung eines Handelsschiffes durch
das Periskop eines U-Bootes eine recht zweifelhafte Sache
war und Irrtümer ganz unausweichlich erscheinen mußten.
Ich konnte den Eindruck nicht loswerden, daß die Herren
von der Marine ,, verschärften U-Bootkrieg“ sagten, aber
den „uneingeschränkten U-Bootkrieg“ meinten. Das
konnte nicht gut gehen. Außerdem hätte ich vorgezogen,
zunächst einmal die ,,Lusitania“- Angelegenheit zu er-
ledigen, statt die so stark zugespitzte Lage durch eine neue
Maßnahme von solcher Tragweite zu komplizieren. Ich
war jedoch an den Verhandlungen, die zu der Proklamie-
rung des „verschärften U-Bootkrieges“ geführt hatten,
nicht beteiligt worden und erfuhr die vollendete Tatsache —
331
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
durch eine in der Pressekonferenz von dem Marinever-
treter gemachte Mitteilung.
Immerhin war der „verschärfte U-Bootkrieg*' begründet
in einer Auffassung, die mit der von Lansing in seinem
Schreiben vom i8. Januar an die Ententevertreter ent-
wickelten im wesentlichen übereinstimmte. Diese Tatsache
war, so durfte man annehmen, immerhin geeignet, den
„verschärften U-Bootkrieg* * auch in den Augen der ameri-
kanischen Regierung als vertretbar erscheinen zu lassen.
Diese Hoffnung erschien um so mehr berechtigt, als sich
damals in den Vereinigten Staaten in der öffentlichen Mei-
nung und in den Kreisen des Kongresses eine Strömung
zeigte, die sich gegen den Gedanken eines Krieges zwischen
Amerika und Deutschland auflehnte und zum Zweck der
Verminderung der Kriegsgefahr die Forderung auf stellte,
die amerikanische Regierung möchte die amerikanischen
Bürger vor der Benutzung bewaffneter feindlicher Handels-
schiffe warnen oder gar ihnen das Reisen auf bewaffneten
feindlichen Schiffen verbieten. Im Senat wie im Re-
präsentantenhaus wurden sogar Anträge in diesem Sinne
eingebracht.
Um so auffallender war es, daß die amerikanische Re-
gierung nunmehr gegen die deutsche Auffassung des
Charakters und der Wirkungen der Bewaffnung von Handels-
schiffen, die sich so nahe mit der von Lansing kundgegebenen
berührte, mit aller Schärfe Stellung nahm. Der Präsi-
dent Wilson selbst griff ein, indem er am 24. Februar 1916
332
Amerikas Stellungnahme
einen Brief an den Senator Stone, den Vorsitzenden des
Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, richtete und
veröffentlichte, in dem er sich auf den Standpunkt stellte,
daß die Ankündigung des verschärften U-Bootkrieges in
so offenkundigem Widerspruch zu den erst vor kurzem ge-
gebenen ausdrücklichen Versicherungen der Mittelmächte
stehe, daß er erst weitere Erklärungen abwarten müsse.
Er fügte hinzu: Er könne keinerlei Verkürzung der Rechte
der amerikanischen Staatsbürger hinnehmen; die Ehre
und Selbstachtung der Nation sei im Spiel; Amerika wün-
sche den Frieden und werde ihn um jeden Preis erhalten,
nur nicht um den Preis seiner Ehre; den Amerikanern die
Ausübung ihrer Rechte verbieten aus Furcht, man könne
gezwungen sein, für diese Rechte einzutreten, würde in
der Tat eine tiefe Demütigung sein und außerdem nicht
nur ein stillschweigendes, sondern sogar ein ausdrückliches
Sichabfinden mit der Verletzung der Rechte der Mensch-
heit und ein bewußter Verzicht Amerikas auf seine bisher
stolze Stellung als Wortführer für Gesetz und Recht.
Amerika könne nicht nachgeben, ohne seine eigene Ohn-
macht als Nation zu erklären und seine unabhängige
Stellung unter den Nationen der Welt aufzugeben.
Am 3. März 1916 beschloß der Senat mit 68 gegen 14
Stimmen die Erörterung der Resolution Gore, die das
Reisen auf bewaffneten feindlichen Handelsschiffen für
Amerikaner verboten sehen wollte, auf unbestimmte Zeit
zu vertagen.
333
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Drei Wochen später^ am 25. März, veröffentlichte die
amerikanische Regierung ein Memorandum über ihre
Stellung zur Frage der Behandlung bewaffneter Handels-
schiffe in neutralen Häfen und auf hoher See. Das Me-
morandum kam auf Grund sehr kasuistischer Deduk-
tionen zu dem Schluß: Eine neutrale Regierung könne
in ihren Häfen ein bewaffnetes Handelsschiff auf Grund
der Präsumption behandeln, daß es zum Angriff bewaffnet
sei und infolgedessen den Charakter des Kriegsschiffs
habe; dagegen müsse ein Kriegführender auf hoher See
auf Grund der Präsumption Vorgehen, daß das Handels-
schiff zu Verteidigungszwecken bewaffnet sei und infolge-
dessen den Charakter als Kauffahrteischiff habe. Der
Status eines bewaffneten Handelsschiffes auf hoher See
als eines Kriegsschiffes könne nur auf Grund beweis-
kräftiger Evidenz seiner Angriffsabsicht festgestellt
werden.
Zwei Tage zuvor, am 23. März, hatte die britische Re-
gierung die Lansingsche Anregung vom 18. Januar als
unvereinbar mit den allgemeinen Grundsätzen des Völker-
rechts und mit bestimmten Klauseln der Haager Kon-
vention abgelehnt.
Das merkwürdige Zwischenspiel des Lansingschen Vor-
schlags blieb unaufgeklärt. Wir hatten jetzt bei der Füh-
rung des verschärften U-Bootkrieges gegen die bewaff-
neten Handelsschiffe mit demselben Widerstand Amerikas,
ja mit einem noch ausgesprocheneren Widerstand zu
334
Denkschrift des Admiralstabes
rechnen, wie bei unserrn ersten Taiichbootkrieg. Jeder Tag
konnte mit einem neuen Zwischenfall die Krisis akut
machen und uns vor die Wahl zwischen dem Krieg mit
Amerika oder der Einschränkung des U-Bootkrieges auf
die völkerrechtlich einwandfreien Formen des Kreuzer-
kriegs stellen.
In dieser Lage wuchs bei uns die Forderung nach dem
uneingeschränkten U-Bootkrieg zu einem wahren Sturm
auf den Reichskanzler an. Die Marine, die den „ver-
schärften U-Bootkrieg“ durchgesetzt hatte, dachte nicht
daran, sich damit zufriedenzugeben. Der Admiralstab
hatte eine umfangreiche Denkschrift über die englische
Wirtschaft und den U-Bootkrieg ausarbeiten lassen, die
auf Grund eines weitschichtigen statistischen Materials,
aber in ganz dilettantischer Beweisführung, den Nach-
weis zu erbringen versuchte, daß der ,, uneingeschränkte
U-Bootkrieg“ im Laufe längstens eines halben Jahres zu
dem Erfolge führen würde, England auf dem Wege der
Unterbindung des Seeverkehrs zum Frieden zu zwingen.
Zu der Denkschrift wurden von zahlreichen hervorragenden
Persönlichkeiten aus den Kreisen der Industrie, des Han-
dels und der Bankwelt Gutachten eingefordert, die bei
der klugen Auswahl der Befragten sich durchweg mit
mehr oder weniger vorsichtigen Vorbehalten den Folge-
rungen der Denkschrift anschlossen. Die Bearbeitung der
Presse und der öffentlichen Meinung zugunsten des un-
eingeschränkten U-Bootkrieges war um so wirksamer, als
335
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
es unmöglich war, die zugunsten des U-Bootkrieges in
Umlauf gesetzten Behauptungen und Beweisführungen
zu widerlegen, ohne geradezu Landesverrat zu begehen.
Ich hatte mich damals im Aufträge des Reichskanzlers
eingehend mit der im Admiralstab ausgearbeiteten Denk-
schrift befaßt und mußte auf Grund der mit dem ersten
U-Bootkrieg gemachten Erfahrungen, der noch verhält-
nismäßig intakten wirtschaftlichen Reserven Englands,
der ausgezeichneten Welternte, namentlich auch der Re-
kordernten der England zunächst gelegenen Versorgungs-
gebiete, des Umfangs des England noch zur Verfügung
stehenden Schiffsraumes usw. zu dem Schlüsse kommen,
daß auch bei voller Leistung der vom Admiralstab in Aus-
sicht gestellten Versenkungen keinerlei Gewähr für eine
Niederzwingung Englands innerhalb eines absehbaren
Zeitraumes gegeben sei. Auf der andern Seite konnte ich
nicht umhin, die Gefahren eines Krieges mit Amerika
wesentlich höher zu veranschlagen, als dies von seiten
der Befürworter des uneingeschränkten U-Bootkrieges
geschah.
In der ersten Märzhälfte kam auf Betreiben der Marine
die Frage des uneingeschränkten U-Bootkrieges im Großen
Hauptquartier erneut zur Entscheidung. Der Reichs-
kanzler drang mit seiner Ansicht durch. Es scheint, daß
auch der Chef des Admiralstabs und der Chef des General-
stabs sich dem Gewicht seiner Gründe nicht entziehen
konnten. Der Kanzler bestand bei dieser Gelegenheit
336
Ü-Bootkrieg-Frage im Hauptquartier. Tirpitz* Rücktritt
auch auf einer Abstellung der von der Marine ausgehenden *
Propaganda zugunsten des uneingeschränkten U-Boot-
krieges. Der Kaiser verfügte die Lostrennung der Nach-
richtenabteilung vom Reichsmarineamt und ihre An-
gliederung an den Admiralstab. Diese Maßnahme gab die
unmittelbare Veranlassung zum Rücktritt des Groß-
admirals von Tirpitz. An seiner Stelle wurde der Admiral
von Capelle, der in der U-Bootfrage die Auffassung des
Reichskanzlers teilte, zum Staatssekretär des Reichs-
marineamts ernannt.
Die Budgetkommission des Reichstages beschäftigte
sich Ende März in vertraulichen Sitzungen mit der U-Boot-
frage. Auch die Konservativen und derjenige Teil der
Nationalliberalen, die mit Entschiedenheit für den un-
eingeschränkten U-Bootkrieg eintraten, nahmen schließ-
lich davon Abstand, eine dahingehende Entschließung zu
beantragen. Es kam nach langen Verhandlungen zwischen
den Parteien eine Resolution zustande, die lautete:
„Nachdem sich das Unterseeboot als eine wirksame
Waffe gegen die englische auf die Aushungerung Deutsch-
lands berechnete Kriegführung erwiesen hat, gibt der
Reichstag seiner Überzeugung Ausdruck, daß es geboten
ist, wie von allen unsern militärischen Machtmitteln, so
auch von den Unterseebooten denjenigen Gebrauch zu
machen, der die Erringung eines die Zukunft Deutsch-
lands sichernden Friedens verbürgt, und bei Verhand-
lungen mit auswärtigen Staaten die für die Seegeltung
3.?7
33 Helfferich, Weltkrieg II
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Deutschlands erforderliche Freiheit im Gebrauch dieser
Waffe unter Beachtung der berechtigten Interessen der
neutralen Staaten zu wahren.“
Man einigte sich ferner dahin, daß eine Besprechung der
U-Bootfrage im Plenum des Reichstages unterbleiben solle.
Der ,,Susscx^^-FaII
Inzwischen kam, was kommen mußte.
Die Versenkungen von Schiffen mit Amerikanern an Bord
häuften sich. In der Zeit vom 27. März bis zum i. April
hatte der amerikanische Botschafter an unser Auswärtiges
Amt, in Vorbereitung weiterer Schritte, in nicht weniger
als fünf Fällen die Anfrage zu richten, ob die Versenkung
durch ein deutsches Tauchboot erfolgt sei. Der schlimmste
dieser Fälle war die am 24. März 1916 ohne Warnung er-
folgte Torpedierung des unbewaffneten Passagierdampfers
,,Sussex“, der dem, Passagierverkehr über den Kanal
diente. Von mehr als 300 Passagieren fanden etwa 80
ihren Tod, darunter auch eine Anzahl Amerikaner. Der
Kommandant des für die Torpedierung in Betracht kom-
menden U-Bootes gab an, einen Minenleger der neuen
britischen ,,Arabis “-Klasse torpediert zu haben. Ort und
Zeit stimmte mit der Torpedierung der ,,Sussex“ überein,
und die im Rumpf der ,,Sussex“ Vorgefundenen Stücke
eines deutschen Torpedos stellten den Sachverhalt außer
allen Zweifel.
338
Wilsons Note
Mit dieser Katastrophe, deren Umfang nahezu an die
Versenkung der ,,Lusitania“ heranreichte, stand unser
Verhältnis mit Amerika vor dem Biegen oder Brechen.
Die Haltung der Vereinigten Staaten ließ darüber keine
Unklarheit. Nachdem unsere ursprüngliche, auf den An-
gaben des U-Bootkommandanten beruhende Aufstellung,
daß das versenkte Schiff mit der „Sussex“ nicht identisch
sei, widerlegt war, übergab der amerikanische Botschafter
am 20. April dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
eine Note, deren Bedeutung noch dadurch besonders
unterstrichen wurde, daß der Präsident Wilson sie unmittel-
bar vor ihrer Übergabe in einer von ihm persönhch ver-
lesenen Botschaft dem Kongreß zur Kenntnis brachte.
Der wichtigste Inhalt der Note war:
Der tragische Fall der ,,Sussex“ stehe leider nicht allein;
er sei nur ein Fall, wenn auch einer der schwersten und
betrübendsten, für die vorbedachte Methode, mit der
unterschiedslos Handelsschiffe aller Art und Bestimmung
zerstört würden. Die deutsche Regierung habe offenbar
keinen Weg gefunden, ihren Tauchbooten die von ihr zu-
gesagten Beschränkungen aufzuerlegen. „Immer wieder
hat die Kaiserliche Regierung der Regierung der Vereinig-
ten Staaten feierlich versichert, daß zum mindesten Passa-
gierschiffe nicht in dieser Weise behandelt werden würden,
und gleichwohl hat sie wiederholt zugelassen, daß ihre
U-Bootkommandanten diese Versicherung ohne jede Ahn-
dung mißachteten. Noch im Februar dieses Jahres machte
22*
339
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
sie davon Mitteilung, daß sie alle bewaffneten Handels-
schiffe in feindlichem Eigentum als Teil der Seestreit-
kräfte ihrer Gegner betrachten und als Kriegsschiffe be-
handeln werde, indem sie sich so, wenigstens implicite,
verpflichtete, nichtbewaffnete Schiffe zu warnen und das
Leben ihrer Passagiere und Besatzungen zu gewähr-
leisten ; aber sogar diese Beschränkung haben ihre U-Boot-
kommandanten unbekümmert außer Acht gelassen.“ Die
Regierung der Vereinigten Staaten habe viel Geduld ge-
zeigt und die Hoffnung nicht aufgeben wollen, daß es der
deutschen Regierung möglich sein werde, den U-Bootkrieg
mit den im Völkerrecht verkörperten Grundsätzen der
Menschlichkeit in Einklang zu bringen ; sie habe den neuen
Verhältnissen, für die es keine Präzedenzfälle gebe, jedes
Zugeständnis gemacht und sei gewillt gewesen, zu warten,
bis die Tatsachen unmißverständlich und nur einer Aus-
legung fähig geworden seien. Dieser Zeitpunkt sei jetzt
gekommen. Wenn es die Absicht der deutschen Regierung
sei, den U-Bootkrieg gegen Handelsschiffe fortzusetzen
ohne Rücksicht auf das, was die amerikanische Regie-
rung als die heiligen und unbestreitbaren Normen des
Völkerrechts und die allgemein anerkannten Gebote der
Menschlichkeit ansehen müsse, so gebe es für die amerika-
nische Regierung nur einen Weg: ,, Sofern die Kaiserliche
Regierung nicht jetzt unverzüglich ein Aufgeben ihrer
gegenwärtigen Methoden des U-Bootkrieges gegen Passa-
gier- und Frachtschiffe erklären und bewirken sollte.
340
Wilsons Note
kann die Regierung der Vereinigten Staaten keine andere
Wahl haben, als die diplomatischen Beziehungen zur
deutschen Regierung abzubrechen.“
Zur Zeit der Übergabe dieser Note befand sich der Kanz-
ler im Großen Hauptquartier. Er reiste alsbald nach Ber-
lin zurück, um die Lage zu besprechen. Am Ostersonntag
und Ostermontag (23. und 24. April) fanden ausgedehnte
Konferenzen statt, in denen der Staatssekretär des Reichs-
marineamts, Admiral von Capelle, im Gegensatz zum
Chef des Admiralstabs, Admiral von Holtzendorff, die
Auffassung vertrat, daß die Zurückführung des U-Boot-
krieges auf die Formen des Kreuzerkrieges keine allzu
starke Beeinträchtigung der Wirksamkeit der U-Boote
bedeute; der weitaus größte Teil der Versenkungen erfolge
jetzt bereits vom aufgetauchten Boot durch Artillerie-
feuer, und mit der fortschreitenden Vergrößerung des
U-Boottyps und der Verstärkung der artilleristischen Aus-
rüstung der U-Boote werde sich in Zukunft das Verhältnis
zugunsten der Versenkungen durch Artillerie noch ver-
stärken. Diese Darlegungen erleichterten uns den ohnehin
kaum vermeidbaren Entschluß, den U-Bootkrieg min-
destens zeitweise auf die Formen des Kreuzerkrieges zu
bringen. Ich griff dabei auf meinen Vorschlag vom
August 1915 zurück, einen Zusammenhang zwischen diesem
Zugeständnis und den damals von Wilson angebotenen
Bemühungen zur Wiederherstellung der Freiheit der
Meere zu konstruieren. Es erschien fraglich, ob dieser
341
Friedensbemüliungen und U-Bootkrieg
Zusammenhang in Form einer ,, Bedingung“ oder einer
,, Voraussetzung“ für unser Zugeständnis oder in Form
einer bloßen „Erwartung“ hergestellt werden sollte. Die
Entscheidung zugunsten der letzteren Auffassung gab .
schließlich eine vertrauliche und freundschaftliche Mit-
teilung des spanischen Botschafters, der erklärte, die
bestimmte Überzeugung gewonnen zu haben, daß ein
an Bedingungen oder Voraussetzungen geknüpftes Nach-
geben von der amerikanischen Regierung als ungenügend
werde angesehen werden und zum alsbaldigen Abbruch
der Beziehungen, dem der Krieg folgen werde, führen
müsse.
Der Kanzler reiste am 25. April nach dem Großen
Hauptquartier zurück, während das Auswärtige Amt den
Text der Antwortnote in Arbeit nahm. Der amerikanische
Botschafter hatte dem Kanzler vor seiner Abreise den
Wunsch, oder mindestens in einer einem Wunsch gleich-
kommenden Form die Bereitwilligkeit ausgedrückt, nach
dem Hauptquartier zu reisen und dem Kaiser persönhch
Aufklärung über den amerikanischen Standpunkt zu
geben. In der Tat erhielt Herr Gerard am 28. April eine
Einladung, nach dem Hauptquartier zu kommen. Er
wurde dort am i. Mai in Gegenwart des Kanzlers vom
Kaiser empfangen, der mit ihm die deutsch-amerikanischen
Beziehungen und die U-Boot frage durchsprach, um auf
diese Weise ein unmittelbares Bild der amerikanischen
Auffassung zu gewinnen.
342
Amerika oder Verdun?
Die Erledigung der U-Bootfrage in dem in Berlin
besprochenen Sinn war inzwischen im Hauptquartier auf
eine große Schwierigkeit gestoßen: der General von Falken-
hayn, der noch acht Tage zuvor dem Kanzler gegen-
über sich dahin ausgesprochen hatte, daß auch nach seiner
Ansicht ein Konflikt mit Amerika vermieden werden müsse,
trat jetzt beim Kaiser gegen die Beschränkung des U-Boot-
krieges auf die Formen des Kreuzerkrieges ein; er müsse
auf die Fortsetzung der Aktion gegen Verdun verzichten,
wenn der U-Bootkrieg suspendiert werde, und zwar, weil
selbst ein voller Erfolg der Verdun- Aktion die Opfer nicht
lohne, wenn die Suspendierung des U-Bootkrieges den
Engländern Luft gebe und den Franzosen die Hoffnung
auf weitere englische Hilfe lasse. Der Kaiser war durch
diese Auffassung Falkenhayns stark beeindruckt und sagte
am 30. April dem Kanzler: ,,Sie haben also die Wahl
zwischen Amerika und Verdun!“ Der Kanzler war über
diese Alternative auf das äußerste erregt. Der Gedanke,
vor der Geschichte als derjenige dazustehen, durch dessen
Schuld hunderttausend Mann vor Verdun umsonst geopfert
worden seien, schien ihm ebenso unerträglich, wie die Ver-
antwortung für den Bruch mit Amerika. Er ließ mich über
die Sachlage telephonisch informieren und bat mich,
sofort nach dem Hauptquartier zu kommen.
Ich traf am nächsten Tage, i. Mai, im Laufe des Nach-
mittags in Charleville ein und fand die Lage bereits
geklärt. Der Chef des Admiralstabs hatte sich den
343
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
politischen Gründen des Kanzlers unterworfen. Der
Kaiser hatte sich dem Kanzler gegenüber dahin geäußert,
daß der Bruch mit Amerika vermieden werden müsse,
und sich mit dem vom Kanzler vorgeschlagenen Vorgehen
einverstanden erklärt.
Am nächsten Abend sprach sich der Kaiser nach Tisch
mir gegenüber eingehend über die U-Bootfrage aus. Ich
hatte den Eindruck, daß ihm die Entscheidung einen
schweren Stein vom Herzen genommen habe. Er sprach
witzig und geistreich über seine Unterhaltung mit Herrn
Gerard. Wenn man Politik machen woUe, müsse man vor
allem wissen, worauf es dem anderen ankomme; denn
Politik sei nun einmal ein zweiseitiges Geschäft. Gerards
Äußerungen hätten ihm bestätigt, daß Wilson eine
Leiter zu der neuen Präsidentschaft suche. Da
wollten wir ihm lieber die Friedensleiter hinstellen als die
Kriegsleiter, die uns schHeßHch auf den eigenen Kopf
fallen werde.
Unsere Antwortnote wurde am 4. Mai dem amerikani-
schen Botschafter überreicht. Sie stellte gegenüber dem
Appell der Unionsregierung an die geheihgten Grundsätze
der Menschhchkeit und des Völkerrechtes fest, ,,daß es
nicht die deutsche, sondern die britische Regierung ge-
wesen ist, die diesen furchtbaren Krieg unter Mißachtung
aller zwischen den Völkern vereinbarten Rechtsnormen
auf Leben und Eigentum der Nichtkämpfer ausgedehnt
hat, und zwar ohne jede 'Rücksicht auf die durch diese
344
Deutsche Antwort
Art der Kriegführung schwer geschädigten Interessen und
Rechte der Neutralen. Bei dieser Sachlage könne die
deutsche Regierung nur erneut ihr Bedauern darüber aus-
sprechen, daß die humanitären Gefühle der amerikanischen
Regierung, die sich mit so großer Wärme den bedauerns-
werten Opfern des U-Bootkrieges zuwendeten, sich nicht
mit der gleichen Wärme auch auf die vielen Millionen von
Frauen und Kindern erstreckten, die nach der erklärten
Absicht der englischen Regierung in den Hungertod ge-
trieben werden sollten. Die deutsche Regierung, und mit
ihr das deutsche Volk, hätten für dieses ungleiche Emp-
finden um so weniger Verständnis, als sie zu wiederholten
Malen sich ausdrücklich bereit erklärt habe, sich mit der
Anwendung der U-Bootwaffe streng an die vor dem Krieg
anerkannten völkerrechtlichen Normen zu halten, falls
England sich dazu bereit finde, diese Normen ebenfalls
seiner Kriegführung zugrundezulegen. Wenn die deutsche
Regierung sich trotzdem zu einem äußersten Zugeständnis
entschließe, so sei für sie entscheidend der Gedanke
an das schwere Verhängnis, mit dem eine Ausdehnung
und Verlängerung dieses grausamen und blutigen Krieges
die gesamte zivilisierte Menschheit bedrohe. Das Be-
wußtsein der Stärke hat es der deutschen Regierung
erlaubt, zweimal im Laufe der letzten Monate ihre
Bereitschaft zu einem Deutschlands Lebensinteressen
sichernden Frieden offen und vor aller Welt zu bekunden.
Sie hat damit zum Ausdruck gebracht, daß es nicht an
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
ihr liegt, wenn den Völkern Europas der Friede noch länger
vorenthalten bleibt. Mit um so stärkerer Berechtigung darf
die deutsche Regierung aussprechen, daß es vor der Mensch-
heit und der Geschichte nicht zu verantworten wäre, nach
einundzwanzigmonatiger Kriegsdauer die über den U-Boot-
krieg entstandene Streitfrage eine den Frieden zwischen
dem deutschen und amerikanischen Volke ernstlich bedro-
hende Wendung nehmen zu lassen. Einer solchen Entwick-
lung will die deutsche Regierung, soweit es an ihr liegt,
Vorbeugen. Sie will gleichzeitig ein letztes dazu beitragen,
um — solange der Krieg noch dauert — die Beschränkung
der Kriegführung auf die kämpfenden Streitkräfte zu er-
möglichen, ein Ziel, das die Freiheit der Meere einschließt,
und in dem sich die deutsche Regierung mit der Regie-
rung der Vereinigten Staaten auch heute noch einig glaubt.
Von diesem Gedanken geleitet, teilt die deutsche Regie-
rung der Regierung der Vereinigten Staaten mit, daß Wei-
sung an die deutschen Seestreitkräfte ergangen ist, in
Beobachtung der allgemeinen völkerrechtlichen Grund-
sätze über Anhaltung, Durchsuchung und Zerstörung von
Handelsschiffen auch innerhalb des Seekriegsgebietes
Kauffahrteischiffe nicht ohne Warnung und Rettung der
Menschenleben zu versenken, es sei denn, daß sie flüchten
oder Widerstand leisten.“
Der Schluß der Note sprach die Erwartung aus, ,,daß
die neue Weisung an die deutschen Seestreitkräfte auch
in den Augen der Regierung der Vereinigten Staaten jedes
346
Zurückführung des U-Bootkrieges auf den Kreuzer krieg
Hindernis für die Verwirklichung der in der Note vom
23. Juli 1915 angebotenen Zusammenarbeit zu der noch
während des Krieges zu bewirkenden Wiederherstellung
der Freiheit der Meere aus dem Wege räumt“; die deutsche
Regierung zweifle nicht, daß die amerikanische Regierung
nunmehr bei der britischen Regierung die Beobachtung
der völkerrechtlichen Normen der Seekriegführung ver-
langen und durchsetzen werde. ,, Sollten die Schritte der
Vereinigten Staaten nicht zu dem gewollten Erfolge führen,
den Gesetzen der Menschlichkeit bei allen kriegführenden
Nationen Geltung zu verschaffen, so würde die deutsche
Regierung sich einer neuen Sachlage gegenübersehen, für
die sie sich die volle Freiheit der Entschließung Vor-
behalten muß.“
Die Note brachte also die Zurückführung des U-Boot-
krieges auf die völkerrechtlich anerkannten Formen des
Kreuzerkrieges. Das Zugeständnis wurde jedoch nicht
für alle Zeit gemacht; vielmehr behielt sich die deutsche
Regierung freie Hand vor für den Fall, daß es Amerika
nicht gelingen sollte, England zu einer Anpassung seiner
Seekriegführung an das Völkerrecht zu bewegen.
Damit war bis auf weiteres die Krisis in unserem Ver-
hältnis zu den Vereinigten Staaten beigelegt.
Mehr war nicht erreicht.
Daß seit dem verflossenen Juli Wilsons Bereitwillig-
keit, mit uns zur Wiederherstellung der Freiheit der Meere
zu kooperieren, zum mindesten stark abgeflaut war.
347
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
zeigte die amerikanische Antwort auf unsere Note. Diese
vom IO. Mai 1916 datierte Antwort nahm Notiz von
unseren Erklärungen und fügte hinzu:
,,Die Regierung der Vereinigten Staaten hält es für not-
wendig, zu erklären, daß sie es für ausgemacht ansieht,
daß die Kaiserliche Regierung nicht beabsichtigt, zu ver-
stehen zu geben, daß die Aufrechterhaltung der neu an-
gekündigten Politik in irgendeiner Weise von dem Verlauf
oder Ergebnis diplomatischer Verhandlungen zwischen
der Regierung der Vereinigten Staaten und irgendeiner
anderen kriegführend.en Regierung abhänge, obwohl einige
Stellen in der Note der Kaiserlichen Regierung vom 4. d. M.
einer solchen Auslegung fähig sein könnten. Um jedoch
die Möglichkeit eines Mißverständnisses zu vermeiden,
teilt die Regierung der Vereinigten Staaten der Kaiser-
lichen Regierung mit, daß sie keinen Augenblick den Ge-
danken in Betracht ziehen, geschweige denn erörtern kann,
daß die Achtung der Rechte amerikanischer Bürger auf
hoher See von seiten der deutschen Marinebehörden in
irgendeiner Weise oder im geringsten Grad von dem Ver-
halten irgendeiner anderen Regierung, das die Rechte der
Neutralen und Nichtkämpf enden berührt, abhängig
gemacht werden sollte. Die Verantwortlichkeit in diesen
Dingen ist getrennt, nicht gemeinsam, absolut, nicht
relativ.“
In welchem Maße die Westmächte von der deutsch-
amerikanischen Spannung glaubten profitieren zu dürfen,
348
Amerikanische Antwortnote
ergibt sich daraus, daß die britische Regierung am
24. April 1916 die amerikanischen Vorstellungen vom
5. November 1915 wegen der Völkerrechts Widrigkeit der bri-
tischen Seekriegführung durchweg ablehnend beantwortete
und daß am 7. Juli 1916 die britische und französische Re-
gierung gemeinsam den neutralen Mächten mitteilten, daß
sie sich an die bisher schon von ihnen immer weiter durch-
löcherte Londoner Deklaration nicht mehr für gebunden
hielten.
Die Bemühungen Bethmann Hollwegs
um einen amerikanischen Friedensschritt
Im weiteren Verlauf der Dinge griffen U-Bootfrage und
Friedensfrage ineinander über. Es scheint mir, angesichts
des falschen Bildes, das bei manchen Politikern und wohl
auch in einem großen Teile der öffentlichen Meinung von
den wechselseitigen Beziehungen dieser beiden Fragen
entstanden ist, am Platze zu sein, daß ich versuche, die
verschlungenen Fäden, soweit ich es vermag, zu ent-
wirren.
Schon bei den Berliner Besprechungen über die an die
amerikanischeRegierung zu gebendeAntwort auf dieU-Boot-
note vom 20. April entwickelte der Reichskanzler den Ge-
danken, unser kaum mehr zu vermeidendes Zugeständnis
nicht nur zur Beseitigung der akuten Konfliktsgefahr,
349
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
sondern womöglich zur Anbahnung des Friedens zu
benutzen. Die in der letzten Zeit nach verschiedenen
anderen Richtungen hin ausgestreckten Fühler hatten
kein Ergebnis gehabt oder drohten ergebnislos zu bleiben.
Dem Präsidenten Wilson traute der Kanzler zu, daß es ihn
reizen könne, die große weltgeschichtliche Rolle des Friedens-
stifters zu spielen. Auf diesen Gedanken des Kanzlers
geht der oben wiedergegebene Hinweis auf unsere wieder-
holt gezeigte Friedensbereitschaft in unserer Note vom
4. Mai zurück. Der Kanzler hat auch in Unterhal-
tungen mit Herrn Gerard diesen Punkt berührt. Herr
Gerard erzählt in seinem Buch, der Kanzler habe ihm
bei seinem Abschied vom Großen Hauptquartier gesagt:
,,Ich hoffe, daß, wenn wir jetzt diese Sache in- Ordnung
bringen, Ihr Präsident groß genug sein wird, die Frage
des Friedens aufzunehmen.“ Herr Gerard erzählt weiter,
daß auch späterhin der Kanzler bei verschiedenen Ge-
legenheiten ihm vorgeführt habe, daß Amerika etwas für
den Frieden tun müsse, und daß, wenn nichts geschehe,
die öffentliche Meinung in Deutschland sicherlich die
Wiederaufnahme des uneingeschränkten U - Bootkrieges
erzwingen werde.
Mir gegenüber hat der Kanzler von einem Schritt bei
Wilson, um diesen zu einer auf den Frieden gerichteten
Aktion zu bestimmen, zum ersten Male gesprochen, als
ich am 31. August 1916 nach der Kriegserklärung Ru-
mäniens und nach der Ernennung Hindenburgs zum Chef
350
Anrufung Wilsons
des Generalstabs des Feldheeres zusammen mit dem Staats-
sekretär von Jagow im Großen Hauptquartier eintraf.
Der Kanzler, der schon zwei Tage vorher nach Pleß ge-
reist war, entwarf uns ein Bild der Lage, die er trotz
der Zuversicht Hindenburgs und Ludendorffs als außer-
ordentlich schwer ansah. Wir müßten alles tun, um
zum Frieden zu kommen. Der einzige Weg, den er über-
haupt noch sehe, führe über Wilson, und dieser Weg
müsse, auch wenn die Aussichten ungewiß seien, beschritten
werden. Wilson habe allein bei unseren Gegnern die große
Position, die für einen wirksamen Friedensschritt nötig sei.
Wir müßten Wilson sagen, daß wir bereit seien, Belgien
herauszugeben, unter dem Vorbehalt, unsere Beziehungen
zu Belgien nach dessen Restitution durch unmittelbare
Verhandlungen zu ordnen.
Der Gedanke wurde zwischen dem Kanzler, Herrn von
Jagow und mir eingehend erörtert. Mir schien gegen eine
Anrufung Wilsons zu sprechen, daß dieser im bisherigen
Verlaufe des Krieges eine stets wachsende Voreingenommen-
heit zugunsten der Westmächte und ein geringes Ver-
ständnis für unsere deutschen Verhältnisse und Lebens-
bedürfnisse gezeigt hatte; sein Verhalten seit dem Beginn
des Jahres 1916 schien mir keinen Zweifel mehr an seinen
Gesinnungen uns gegenüber zu gestatten. Auch fürchtete ich,
daß Wilson, wenn wir ihm die Friedens Vermittlung in die
Hand gäben, uns vor eine internationale Konferenz
führen würde, in der unsere Feinde über uns zu Gericht
351
Friedensbemüliungen und U-Bootkrieg
säßen. Von der maßlosen Unpopularität einer Anrufung
Wilsons als Friedens Vermittler sprach ich nicht; ich wußte,
daß der Kanzler sich darüber ganz im klaren war, daß
aber solche Erwägungen ihn nicht bestimmen würden.
Eine Verständigung mit Rußland auf Kosten Polens, über
dessen künftigen Status der Kanzler und Jagow kurz zu-
vor in Wien verhandelt hatten, nötigenfalls sogar unter
Zugeständnissen in dem von den Russen wieder besetzten
Ostgalizien, zu denen sich unser österreichisch-ungarischer
Verbündeter, wenn es nicht anders gehe, bereit finden
müsse, erschien mir immer noch als der für uns günstigste
Weg zum Frieden. Der Kanzler glaubte jedoch nach dieser
Richtung hin kaum mehr eine Hoffnung zu sehen, nach-
dem alle Sondierungen gescheitert waren, auch die im
Einverständnis mit unserm türkischen Bundesgenossen
gemachten Andeutungen einer den russischen Wünschen
entgegenkommenden Regelung der Meerengenfrage. Herr
von Jagow pflichtete dem Kanzler bei.
In der Tat ließ der Kanzler in der ersten September-
woche an den Grafen Bemstorff nach Washington tele-
graphieren, um ihn ganz persönlich um seine Ansicht über
Wilson als Friedensvermittler zu befragen. Graf Bem-
storff antwortete, daß vor der Anfang November statt-
findenden Präsidentenwahl von Wilson nichts zu erwarten
sei ; werde er wiedergewählt, wofür die Wahrscheinlichkeit
spreche, dann werde er wohl die Friedensvermittlung in
die Hand nehmen, da er überzeugt zu sein scheine, Amerikas
352
Tastende Schritte
Interesse verlange, daß keine der beiden Mächtegruppen
zu Boden geworfen werde.
Herr Gerard will dann im Laufe des September von
Herrn von Jagow gedrängt worden sein, mit seiner Frau, die
für kurze Zeit nach Amerika gehen wollte, zusammen zu
reisen, um den Präsidenten zu bestimmen, etwas für den
Frieden zu tun. Wie weit das richtig ist, vermag ich
nicht zu sagen.
Jedenfalls war der Eifer des Präsidenten, auf unseren
Wunsch einen Schritt zur Herbeiführung des Friedens zu
unternehmen, nicht allzu groß, obwohl er bei den Präsi-
dentenwahlen für sich als den ,, Friedensmacher“ Propa-
ganda machen ließ. Auch nachdem er Anfang November
wiedergewählt worden war, beeilte er sich nicht, irgend
etwas zugunsten des Friedens zu tun oder auch nur die
deutsche Regierung in irgendeiner Weise wissen zu lassen,
daß er beabsichtige, mit einem Friedensschritt in naher
Zeit hervorzutreten. Der amerikanische Geschäftsträger
in Berlin, Herr Grew, wich jeder Sondierung aus, indem
er die Frage des zwangsweisen Abtransports der belgischen
Arbeitslosen, bei dem bedauerliche Mißgriffe vorgekommen
waren, zum Mittelpunkt der deutsch-amerikanischen Be-
ziehungen machte. Herr Gerard berichtet in seinem
Buche, daß er den Präsidenten Wilson gesprochen habe,
ehe er am 4. Dezember die Rückreise nach Deutschland
antrat. Sein Eindruck sei gewesen, daß der Präsident vor
allem anderen wünschte, Frieden zu halten und Frieden zu
23 Helfferich, Weltkrieg II
353
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
machen. ,,Natürlich/‘ so fährt Herr Gerard fort, ,,war
diese Frage des Friedenmachens eine sehr heikle. Ein
direktes Angebot von unserer Seite konnte uns derselben
Behandlung aussetzen, die wir Großbritannien während
des Bürgerkrieges angedeihen ließen, als Großbritannien
Eröffnungen zum Zweck der Herbeiführung des Friedens
machte und die Nordstaaten eine Antwort gaben, die
darauf hinauskam, daß die britische Regierung sich um
ihre eigenen Angelegenheiten kümmern solle, daß sie keine
Einmischung dulden und weitere Eröffnungen als un-
freundliche Handlungen betrachten würden. Die Deut-
schen haben diesen Krieg begonnen ohne irgendeine Be-
fragung der Vereinigten Staaten, und dann schienen sie
zu denken, daß sie ein Recht hätten, zu verlangen, die
Vereinigten Staaten sollten Frieden für sie machen zu sol-
chen Bedingungen und zu solcher Zeit, wie es ihnen, den
Deutschen, gut scheine; daß ferner, wenn wir das nicht
täten, sie das Recht hätten, alle Regeln der Kriegführung
zu verletzen und Bürger der Vereinigten Staaten auf
hoher See zu ermorden. Nichtsdestoweniger glaube ich,
daß der Präsident geneigt war, in der Herbeiführung des
Friedens sehr weit zu gehen.“
Aus diesen Ausführungen des Herrn Gerard ergibt sich
das eine mit Sicherheit, daß der Präsident Wilson, als Herr
Gerard am 4. Dezember 1916 Amerika wieder verließ, sich
noch zu keinem bestimmten Schritt zugunsten des Friedens
entschlossen hatte und daß Herr Gerard keine Antwort
354
Gerards Reise nach Amerika
auf die von Herrn von Bethmann und Herrn von Jagow
gemachten Eröffnungen mit auf den Weg bekam. Ferner
geben die Bemerkungen des Herrn Gerard einen Einblick
in den Geist, in dem unsere Anregung, der Präsident
möchte eine Initiative zugunsten des Friedens ergreifen,
zum mindesten von Herrn Gerard aufgefaßt worden ist.
Der deutsche und der amerikanische
Friedensschritt
Am 23. Oktober igi6 hielt Lord Grey bei einem Presse-
festmahl eine auffallende Rede. Er beschäftigte sich
zunächst wieder einmal mit den Kriegsursachen, wobei
er wiederum alle Schuld auf Deutschland abzuwälzen
versuchte ; dann ging er mit einer Verbeugung vor Wilson
und Hughes, den beiden amerikanischen Präsidentschafts-
kandidaten, über zu einem Hymnus auf Völkerbund und
Schiedsgerichte als die Pfeiler des Systems, das in Zukunft
die Entstehung neuer Kriege verhindern müsse.
Der Bericht über die Rede lag in Berhn am 25. Oktober
vor. Der Kanzler war durch die Rede stark beeindruckt.
Er fand sie sehr geschickt auf die Mentalität der Neutralen,
insbesondere der Amerikaner, zugeschnitten, aber auch
auf die Stimmung der kriegführenden Völker, die sich aus
dem Zerstören und Morden nach einem besseren Zustand
des Zusammenlebens der Völker sehnten. Der Krieg habe
*3* 355
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
die Idee eines Völkerbundes und der Schiedsgerichte ohne
Zweifel mächtig gestärkt. Auch nach seiner Ansicht gehöre
dieser Idee die Zukunft. Er habe das Gefühl, daß in dieser
Sache die deutsche Politik nicht beiseite stehen dürfe.
Er müsse jedenfalls in diesem Sinn auf die Rede Greys
antworten.
Mir schien die Frage der Verhinderung künftiger Kriege
so lange im zweiten Rang zu stehen, als die Frage der
Beendigung des jetzigen Krieges noch nicht gelöst sei.
Die beste Antwort auf Grey schien mir eine solche zu
sein, die Grey auf diese praktische Frage stellte. Zwei
Tage zuvor war Constantza von unsem Truppen genommen
worden; am Vormittag hatte ein Telegramm die Einnahme
von Cernavoda gemeldet. Der rumänische Feldzug näherte
sich seinem Ende. Unsere Feinde waren im Begriff, aber-
mals eine Hoffnung zu verlieren. Der Winter, und damit
der dritte Winterfeldzug, stand vor der Tür. Wenn
irgendein Zeitpunkt seit Beginn des Krieges die Regierungen
und die Völker zum Nachdenken stimmen mußte, ob es
sich lohne, den Krieg fortzusetzen, so war es der jetzige.
Ich empfahl, zu überlegen, ob die Gesamtlage uns nicht
das Recht und die Pflicht gebe, ein offenes Friedenswort
zu sprechen, auf das unsere Feinde antworten müßten;
etwa die Aufforderung an die Kriegführenden, zu einer Be-
sprechung über die Möglichkeit eines Friedens zusammen-
zutreten, der Ehre, Dasein und Entwicklungsfreiheit aller
wahre.
356
Vorbereitung des deutschen Friedensvorschlages
Der Kanzler erwärmte sich für den Gedanken und ent-
schloß sich, sofort zum Kaiser zu fahren, der damals in
Potsdam weilte. Im Begriff ins Auto zu steigen, erhielt
er die Nachricht von dem erfolgreichen Vorstoß der
Franzosen vor Verdun auf das Fort Douaumont. Das
war ein Dämpfer auf die rumänische Freude, aber mit
solchen Zwischenfällen muß man im Kriege immer rechnen.
Der Kaiser war sofort einverstanden. Der Kanzler reiste
noch am gleichen Abend nach dem Großen Hauptquartier,
um sich mit dem Generalfeldmarschall von Hindenburg
zu besprechen. Der Feldmarschall wollte sich nicht gegen
die Anregung stellen und erklärte, er könne jedenfalls
keine Aussicht eröffnen, daß nach Beendigung des rumä-
nischen Feldzugs, die in einigen Wochen zu erwarten sei,
im Winter oder im nächsten Frühjahr ein entscheidender,
den Frieden militärisch erzwingender Schlag geführt
werden könne.
Nun wurde der Gesandte von Stumm nach Wien ge-
schickt, um das Einverständnis unseres österreichisch-
ungarischen Bundesgenossen zu sichern. An der grund-
sätzlichen Zustimmung war um so weniger zu zweifeln,
als Baron Burian, wie mir der Kanzler sagte, selbst
schon bei früheren Gelegenheiten ein ähnliches Vorgehen
angeregt hatte.
Nachdem auf dieser Grundlage der Kanzler dem Kaiser
nochmals vorgetragen hatte, schrieb der Kaiser an den
Kanzler nachstehenden eigenhändigen Brief:
357
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
„Neues Palais, 31. 10. 16.
Mein lieber Bethmann!
Unser Gespräch habe ich noch nachher gründlich über-
dacht. Es ist klar, die in Kriegspsychose befangenen,
von Lug und Trug im Wahne des Kampfes und im Haß
gehaltenen Völker unserer Feinde haben keine Männer,
die imstande wären, die den moralischen Mut besäßen,
das befreiende Wort zu sprechen. Den Vorschlag zum
Frieden zu machen, ist eine sittliche Tat, die notwendig
ist, um die Welt — auch die Neutralen — von dem auf
allen lastenden Druck zu befreien. Zu einer solchen Tat
gehört ein Herrscher, der ein Gewissen hat und sich Gott
verantwortlich fühlt, und ein Herz für seine und die
feindlichen Menschen, der unbekümmert um die even-
tuellen absichtlichen Mißdeutungen seines Schrittes den
Willen hat, die Welt von ihren Leiden zu befreien. Ich
habe den Mut dazu, ich will es auf Gott wagen. Legen
Sie mir bald die Noten vor und machen Sie alles bereit.
Wilhelm 1. R.**
Die folgenden Wochen waren ausgefüllt mit Verhand-
lungen mit unseren Verbündeten über die Grundlinien
der bei einer Friedensbesprechung zu erstrebenden Ziele,
über die Art des gemeinschaftlichen Vorgehens, über den
Text der über unsere Friedensbereitschaft zu erlassen-
den Kundmachung oder der an die Alliierten zu über-
gebenden Note.
358
Antwort auf Greys Presserede
In der Zwischenzeit antwortete der Reichskanzler im
Hauptausschuß des Reichstags am 9. November 1916 auf
die Rede Greys. Er widerlegte Greys Darstellung der
Schuldfrage und stellte sich mit viel bemerktem Nach-
druck auf den Boden des Völkerbundes und der Schieds-
gerichte. Von dem geplanten Vorschlag zu Friedens-
verhandlungen sprach er noch nicht. Mit unseren Ver-
bündeten hatte man sich dahin geeinigt, daß der Friedens-
schritt unternommen werden sollte, sobald durch den
in kurzem zu erwartenden Fall von Bukarest die Abwen-
dung der rumänischen Gefahr für jedermann offenkundig
geworden sei.
Daß irgendwelche Rücksichten auf den Präsidenten
Wilson ein Hindernis für einen unmittelbaren Friedens-
schritt sein könnten, ist mir gegenüber in den vielfachen
Besprechungen, die in dieser Angelegenheit stattfanden,
von keinem der Herren, die an der Sondierung Wilsons
beteiligt waren, jemals erwähnt worden. Bisher war auf
die schon Anfang Mai von Herrn von Bethmann gegenüber
Herrn Gerard gemachte Andeutung keinerlei Antwort
erfolgt. Das Anfang September an den Grafen Bernstorff
gerichtete Telegramm hatte diesen auch nicht etwa be-
auftragt, bei Herrn Wilson oder der amerikanischen Re-
gierung irgendeinen Schritt zu unternehmen, der die
deutsche Regierung in ihrer eigenen Bewegungsfreiheit
hätte binden können, sondern ihn nur um eine persönliche
Meinungsäußerung über Wilsons Geneigtheit zu einem
359
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
/
Friedensschritt ersucht. Die Möglichkeit, daß Wilson nach
seiner am 6. November 1916 erfolgten Neuwahl zum
Präsidenten irgend etwas zugunsten des Friedens tun
werde, konnte uns, solange mit uns keine Vereinbarungen
darüber getroffen oder uns nicht wenigstens die bestimmte
Absicht eines Vorgehens mitgeteilt war, nicht das Recht
der eigenen Initiative beschränken noch uns der Ver-
pflichtung überheben, nach anderen Wegen, die zum
Frieden führen konnten, Ausschau zu halten und einen
uns geeignet erscheinenden Zeitpunkt unsererseits für eine
Friedensaktion zu benutzen.
In der Tat geht aus der oben wiedergegebenen Stelle des
Gerardschen Buches hervor, daß Herr Wilson am 4. De-
zember, also vier Wochen nach seiner Wiederwahl, jeden-
falls noch keinen bestimmten Schritt zugunsten des Frie-
dens ins Auge gefaßt hatte und sich seinerseits uns gegen-
über in der Friedensfrage in keiner Weise gebunden
fühlte.
Ich erwähne dies ausdrücklich, weil späterhin bei uns
in Deutschland behauptet worden ist, die deutsche Politik
habe dem Präsidenten Wilson gegenüber ein doppeltes
Spiel gespielt, indem sie ihn zuerst um eine Friedensver-
mittlung ersucht habe, und dann, nachdem Herr Wilson
sich hierzu bereitgefunden, mit einer eigenen Aktion vor-
gegangen sei.
Persönlich erschien es mir für die deutsche Regierung
durchaus erwünscht, die Initiative zum Frieden in der
360
Die Frage der Friedens-Initiative
eigenen Hand zu behalten; denn ich konnte das Unbe-
hagen gegenüber dem Gedanken einer Führung Wilsons
in den Friedensangelegenheiten nicht überwinden. Außer-
dem konnte ich mir, so wenig es mir lag, im Strom der
öffentlichen Meinung zu schwimmen, nicht verhehlen,
daß die Stimmung in Heer und Volk gegen Amerika ein
immer ernstlicheres Hindernis für eine amerikanische
Friedensaktion geworden war. Es kam schließlich doch
auch darauf an, daß der erste Schritt zum Frieden vom
eigenen Volk möglichst einmütig unterstützt und nicht
von vornherein aus Gefühlen heraus, deren Berechtigung
nicht abzustreiten war, einer starken Anfeindung aus-
gesetzt wurde. Die Tatsache, daß Amerikas Verhalten
gegenüber dem deutschen Volke in dem Kampf um sein
Dasein nur eine formelle Neutralität, in der Sache aber
eine starke Begünstigung unserer Gegner war, lag klar
vor jedermanns Augen. Wilson war uns bei der Ausnutzung
unserer U-Boot waffe gegen England in den Weg getreten.
Das war sein formelles Recht; aber die Ausübung dieses
Rechtes uns gegenüber involvierte zum mindesten die
moralische Verpflichtung, auch England gegenüber mit
gleich scharfen Mitteln auf der strengen Beobachtung des
Völkerrechtes zu bestehen. Seit länger als sechs Monaten
hatten wir in der U-Bootfrage nachgegeben; aber die
amerikanische Regierung hatte noch keinerlei Anstalten
gemacht, nun auch England auf den Boden des Völker-
rechtes zurückzuführen. Die Erbitterung bei uns wurde
Friedensbemüliungen und U-Bootkrieg
gesteigert durch immerzu wachsende Mengen von Kriegs-
gerät und Munition, die Amerika der Entente lieferte.
Die Gerechtigkeit, die Herr Wilson noch im Februar
1914 dem Mexikaner Carranza hatte zuteil werden lassen,
indem er angesichts der materiellen Unmöglichkeit der
Waffenlieferung an den von der Küste abgeschnittenen
Carranza auch die Waffenlieferung an dessen Gegner
Huerta verbot, enthielt er Deutschland und seinen Ver-
bündeten vor. Die völkerrechtliche Sophistik, mit der die
Regierung der Vereinigten Staaten diese „Papiemeutrali-
tät“ begründete, wollte unserem Volke nicht in den Kopf.
Zumal der Feldgraue, den amerikanische Geschosse über-
schütteten, sah nur die gewaltige Unterstützung, die
Amerika einseitig unseren Feinden gewährte.
Am 6. Dezember 1916 fiel Bukarest. Damit war der
Zeitpunkt für die Friedensaktion gekommen.
Am 12. Dezember übergab der Reichskanzler den Ver-
tretern der neutralen Mächte, die den Schutz unserer
Interessen in den uns feindlichen Staaten übernommen
hatten, eine Note mit dem Ersuchen um Übermittlung
an die mit uns im Kriege liegenden Staaten. Das gleiche
geschah um dieselbe Zeit in Wien, Konstantinopel und
Sofia. Dem Reichstag machte der Reichskanzler, nachdem
tags zuvor die Parteiführer verständigt worden waren,
alsbald Mitteilung von dem vollzogenen Schritt. Nach
einem kurzen und wirksamen Überblick über die Lage
führte er aus:
362
Friedens vor schlag und Reichstag
„Nach der Verfassung lag am i. August 1914 auf Seiner
Majestät dem Kaiser persönlich der schwerste Entschluß,
den je ein Deutscher zu fassen gehabt hat, der Befehl der
Mobilmachung, der ihm durch die russische Mobilmachung
abgerungen wurde. Während der langen und schweren
Kriegs jahre bewegte den Kaiser der einzige Gedanke,
wie einem festgesicherten Deutschland nach siegreich ge-
lochte nem Kampfe wieder der Friede bereitet werde.
Niemand kann das besser bezeugen als ich, der ich die
Verantwortung für alle Regierungshandlungen trage. Im
tiefsten sittlichen und religiösen Pflichtgefühl gegen sein
Volk und darüber hinaus gegen die Menschheit hält der
Kaiser jetzt den Zeitpunkt für eine offizielle Friedens-
aktion für gekommen. Seine Majestät hat deshalb in
vollem Einvernehmen und in Gemeinschaft mit seinen
hohen Verbündeten den Entschluß gefaßt, den feindlichen
Mächten den Eintritt in Friedens Verhandlungen vorzu-
schlagen.**
Der Kanzler verlas nunmehr die Note, die angesichts
ihrer Bedeutung für die Friedensfrage hier im vollen
Wortlaut Platz finden möge:
„Der furchtbarste Krieg, den je die Geschichte ge-
sehen hat, wütet bald seit zwei und einem halben Jahre
in einem großen Teil der Welt. Diese Katastrophe, die
das Band einer gemeinsamen, tausendjährigen Zivili-
sation nicht hat aufhalten können, trifft die Menschheit
in ihren wertvollsten Errungenschaften. Sie droht, den
363
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
geistigen und materiellen Fortschritt, der den Stolz
Europas zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bil-
dete, in Trümmer zu legen.
,, Deutschland und seine Verbündeten, Österreich-
Ungarn, Bulgarien und die Türkei, haben in diesem
Kampfe ihre unüberwindliche Kraft erwiesen. Sie haben
über ihre an Zahl und Kriegsmaterial überlegenen Gegner
gewaltige Erfolge errungen. Unerschütterlich halten
ihre Linien den immer wiederholten Angriffen der Heere
ihrer Feinde stand. Der jüngste Ansturm im Balkan
ist schnell und siegreich niedergeworfen worden; die
letzten Ereignisse beweisen, daß auch eine weitere
Fortdauer des Krieges ihre Widerstandskraft nicht zu
brechen vermag, daß vielmehr die gesamte Lage zur
Erwartung weiterer Erfolge berechtigt.
,,Zur Verteidigung ihres Daseins und ihrer nationalen
Entwicklungsfreiheit wurden die vier verbündeten
Mächte gezwungen, zu den Waffen zu greifen. Auch
die Ruhmestaten ihrer Heere haben daran nichts ge-
ändert. Stets haben sie an der Überzeugung festgehalten,
daß ihre eigenen Rechte und begründeten Ansprüche
in keinem Widerspruch zu den Rechten der anderen
Nationen stehen. Sie gehen nicht darauf aus, ihre Gegner
zu zerschmettern oder gar zu vernichten.
,, Getragen von dem Bewußtsein ihrer militärischen
und wirtschaftlichen Kraft und bereit, den ihnen auf-
gezwungenen Kampf nötigenfalls bis zum äußersten
364
Die Friedensnote
fortzusetzen, zugleich aber von dem Wunsch beseelt,
weiteres Blutvergießen zu verhüten und den Greueln
des Krieges ein Ende zu machen, schlagen die vier ver-
bündeten Mächte vor, alsbald in Friedensverhandlungen
einzutreten. Die Vorschläge, die sie zu diesen Verhand-
lungen mitbringen werden und die darauf gerichtet
sind, Dasein, Ehre und Entwicklungsfreiheit ihrer Völker
zu sichern, bilden nach ihrer Überzeugung eine ge-
eignete Grundlage für die Herstellung eines dauerhaften
Friedens.
„Wenn trotz dieses Anerbietens zu Frieden und Ver-
söhnung der Kampf fortdauern sollte, so sind die vier
verbündeten Mächte entschlossen, ihn bis zum sieg-
reichen Ende zu führen. Sie lehnen aber feierlich jede
Verantwortung dafür vor der Menschheit und der
Geschichte ab.‘'
Am gleichen Tage wurde ein Kaiserlicher Armeebefehl
erlassen, der lautete:
„Soldaten! In dem Gefühl des Sieges, den Ihr durch
Eure Tapferkeit errungen habt, haben Ich und die
Herrscher der treu verbündeten Staaten dem Feinde
ein Friedensangebot gemacht. Ob das damit verbundene
Ziel erreicht wird, bleibt dahingestellt. Ihr habt
weiterhin mit Gottes Hilfe dem Feind standzuhalten
und ihn zu schlagen.“
Die Aufnahme, die der Friedensvorschlag in Deutsch-
land fand, war nicht einheitlich zustimmend. In den
365
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
konservativen und überwiegend auch in den national-
liberalen Kreisen fürchtete man, der Vorschlag könne im
Ausland als Schwächezeichen ausgelegt werden und die
Wirkung unserer Siege in Rumänien beeinträchtigen. In
den Kreisen derjenigen, die an sich den Friedensvorschlag
als einen ernsthaften Versuch, Deutschland und die Welt
von dem Elend des Krieges zu befreien, aufrichtig will-
kommen hießen, bemängelte man vielfach, daß in dem
Vorschlag unsere konkreten Friedensbedingungen nicht
aufgezählt waren.
Beide Ausstellungen halte ich auch heute noch für un-
berechtigt.
Es handelte sich darum, entweder zum Frieden zu kom-
men, oder vor der ganzen Welt, sowohl vor dem eigenen
Volke, wie vor den Völkern der Neutralen und unserer
Feinde die Verantwortlichkeit für die Fortdauer des
Krieges festzustellen. Wenn der Krieg weitergehen sollte,
dann brauchte vor allem unser eigenes Volk angesichts
des ungeheueren auf ihm lastenden Druckes eine moralische
Rückenstärkung in dem Bewußtsein, daß es nicht an uns
lag, wenn Friedens Verhandlungen nicht zustandekamen.
Die Gefahr, daß unsere Feinde unser Angebot als Schwäche
auffassen könnten, durfte demgegenüber nicht den Aus-
schlag geben; durch die Wahl des Zeitpunktes war zudem
dieser Gefahr nach Möglichkeit vorgebeugt worden.
Eine öffentliche Enthüllung unserer einzelnen Friedensbe-
dingungen wäre, solange die grundsätzliche Bereitwilligkeit
366
Die Aufnahme des Vorschlages in Deutschland
unserer Feinde, mit uns über einen Ehre, Dasein und
Entwicklungsfreiheit unseres Volkes wahrenden Frieden
zu sprechen, nicht vorlag, das Gegenteil von Zweck-
mäßigkeit gewesen. Wir hätten uns ganz einseitig fest-
gelegt, uns dadurch gegenüber unseren Gegnern stark
in Nachteil gesetzt und jede Verhandlung über die einmal
öffentlich genannten Punkte außerordentlich erschwert.
Es ist leicht, über die „Geheimdiplomatie** zu schelten.
Aber solange die menschliche Natur sich nicht von Grund
aus geändert hat, wird der Zweck einer jeden Verhandlung,
nämlich die Verständigung, in vertraulichen Beratungen
stets leichter zu erreichen sein, als wenn der Ringkampf
der Verhändler sich vor den Augen der Öffentlichkeit
abspielt. Wenn unsere Feinde überhaupt Neigung hatten,
mit uns über einen Frieden zu sprechen, so mußte es ihnen
genügen, daß unsere Friedensnote klar aussprach: Der
Krieg ist für uns ein Verteidigungskrieg geblieben; für
uns kommt es darauf an, Ehre, Dasein und Entwicklungs-
freiheit unserer Völker zu sichern; unsere Rechte und
Ansprüche stehen in keinem Widerspruch zu den Rechten
der anderen Nationen.
Aber die Neigung, mit uns über den Frieden zu sprechen,
bestand bei unseren Feinden nicht. Die Ziele, die sie ver-
folgten und unbeachtet aller Opfer und Rückschläge zäh
im Auge behielten, waren mit der Verteidigung unseres
Besitzstandes, mit der Wahrung unserer Ehre, unseres
Daseins und unserer Entwicklungsfreiheit nicht vereinbar.
367
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Ihre Regierungen fürchteten, durch jede Einleitung eines
Friedensgesprächs den auf unsere Niederwerfung gerich-
teten Kriegswillen zu schwächen, und deshalb hatten
sie es ungemein eilig, unseren Vorschlag schroff zurück-
zuweisen.
Schon am Tage nach unserem Friedensvorschlag, am
13. Dezember 1916 erklärte der französische Minister-
präsident Briand unsere Aufforderung zu Friedensverhand-
lungen für ein Manöver, um unter den Alliierten Uneinig-
keit zu säen, die Gewissen zu verwirren und die Völker
zu demoralisieren. Am 16. Dezember wies der neue
russische Minister des Auswärtigen, Herr Pokrowsky, den
Friedensvorschlag der Mittelmächte ,,mit Entrüstung“ ab
und stellte ihm das Ziel gegenüber, ,,das uns allen am Herzen
liegt: die Vernichtung des Feindes;“ alle die unzähligen
Opfer würden umsonst gebracht sein, wenn man mit
einem Feind, dessen Kräfte zwar geschwächt, aber nicht
gebrochen seien, einen ,, vorzeitigen Frieden“ schließe.
Am 18. Dezember beschwor der italienische Minister des
Auswärtigen, Herr Sonnino, die Kammer, nichts zu be-
schließen, was die Vermutung zuließe, daß Italien in der
Aufnahme des von Deutschland gemachten „hinter-
listigen Schrittes“ eine von seinen Verbündeten verschie-
dene Haltung einnehmen könnte. Am Tage darauf sprach
Lloyd George, der inzwischen Herrn Asquith als Minister-
präsident ersetzt hatte, in der gewohnten Weise über
den preußischen Militärdespotismus und verlangte als
368
Echo bei den Alliierten, Wilsons Friedensnote
Voraussetzung für irgendwelche Friedensgespräche von
Deutschland „vollständige Wiederherstellung, volle
Genugtuung und wirksame Garantien“.
Nun erschien auch der Präsident Wilson auf dem Plan.
Am 21. Dezember igi6 übergab der amerikanische Bot-
schaftsrat in Berlin dem Staatssekretär Zimmermann eine
Note, die gleichlautend auch den übrigen kriegführenden
Staaten zugestellt wurde.
Die Note enthielt eine Friedensanregung. Der Prä-
sident der Vereinigten Staaten schlug vor, ,,daß baldigst
Gelegenheit genommen werde, von allen jetzt kriegführen-
den Staaten ihre Ansichten über ihre Bedingungen zu
erfahren, unter denen der Krieg zum Abschluß gebracht
werden könnte und über die Vorkehrungen, die gegen die
Wiederholung des Krieges oder die Entfachung irgend-
eines ähnlichen Konfliktes in der Zukunft zufrieden-
stellende Bürgschaft leisten könnten, so daß sich die Mög-
lichkeit biete, sie offen zu vergleichen. Dem Präsidenten,
so fuhr die Note fort, ist die Wahl der zur Erreichung
dieses Zieles geeigneten Mittel gleich. Er ist gern bereit,
zur Erreichung dieses Zweckes in jeder annehmbaren
Weise seinerseits dienlich zu sein oder sogar die Initiative
zu ergreifen; er wünscht jedoch nicht, die Art und Weise
und die Mittel zu bestimmen. Jeder Weg wird ihm ge-
nehm sein, wenn nur das große Ziel, das er im Auge hat,
erreicht wird.“ Die Note wies dann darauf hin, daß die
allgemeinen Ziele der beiden kriegführenden Parteien nach
24 Helfferich, Wellkrieg II
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
den von ihren Staatsmännern abgegebenen Erklärungen
dem Wesen nach die gleichen seien. Das Interesse der
Vereinigten Staaten an den künftigen Maßnahmen zum
Schutz des Völkerfriedens sei ebenso groß, wie das irgend-
eines anderen Volkes. Das amerikanische Volk und seine
Regierung sehnten sich danach, bei der Erreichung dieses
Zieles mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln mit-
zuwirken. Aber erst müsse der Krieg beendet sein. Die
konkreten Ziele, für die der Krieg geführt werde, seien
niemals endgültig festgestellt worden. Der Welt bleibe
es überlassen zu vermuten, ,, welche endgültigen Ergeb-
nisse, welcher tatsächliche Austausch von Garantien,
welche politischen oder territorialen Veränderungen oder
Verschiebungen, ja selbst welches Stadium des militärischen
Erfolges den Krieg zu Ende bringen würde'*. Der Prä-
sident schlage keinen Frieden vor, er biete nicht einmal
seine Vermittlung an; er rege nur an, „daß man sondiere,
damit die Neutralen und die kriegführenden Staaten er-
fahren, wie nahe wohl das Ziel des Friedens sein mag,
nach dem die ganze Menschheit mit heißem und wachsen-
dem Begehren sich sehnt".
Dies w’ar der sachliche Kern des Wilsonschen Friedens-
schritts.
An der Einkleidung dieses Kerns war bemerkenswert
einmal die wiederholte starke Betonung des Interesses
der Vereinigten Staaten an der baldigen Beendigung
des Krieges, das sich schon daraus ergebe, „daß sie
370
Inhalt und Form der Wilsonschen Note
offenkundig genötigt wären, Bestimmungen über den
bestmöglichen Schutz ihrer Interessen zu treffen, falls der
Krieg fortdauem soUte“; ferner eine Bemerkung über das
Verhältnis der Wilsonschen Anregung zu dem Friedens-
schritt der Zentralmächte. Der Präsident, so führte die
Note aus, habe sich schon lange mit dem Gedanken seines
Vorschlages getragen. Er mache ihn jetzt nicht ohne
eine gewisse Verlegenheit, weil es den Anschein haben
könnte, als sei er angeregt von dem Wunsch, im Zusammen-
hajig mit dem jüngsten Vorschlag der Zentralmächte eine
Rolle zu spielen. Tatsächlich sei der Gedanke des Präsi-
denten in keiner Weise auf diesen Vorschlag zurück-
zuführen, und der Präsident hätte mit seinem Vorschläge
gewartet, bis der Vorschlag der Zentralmächte beant-
wortet worden wäre, wenn seine Anregung nicht auch
die Frage des Friedens beträfe, die am besten mit anderen
dahingehenden Vorschlägen erörtert werde. Der Präsident
stellte also die Unabhängigkeit seiner Anregung von
dem Vorschlag der Zentralmächte fest, empfahl aber
eine gemeinschaftliche Erörterung.
In der Sache kam die Anregung des Präsidenten Wilson
auf das gleiche Ziel hinaus, das den Mittelmächten bei ihrem
Friedensschritt vorgeschwebt hatte : ein gegenseitiger Aus-
tausch der konkreten Friedensbedingungen. Dieser Aus-
tausch mußte, wenn eine einseitige Festlegung des einen
oder anderen Teües vermieden werden sollte, Zug um
Zug erfolgen, nach der Ansicht der Mittelmächte am
24*
371
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
besten in der elastischeren Form eines unmittelbaren
und persönlichen Gedankenaustausches der kriegführenden
Mächte.
Dem entsprach die Antwort, die wenige Tage nach
Überreichung der amerikanischen Note von den Mittel-
mächten erteilt wurde. Die deutsche Antwort vom
26. Dezember 1916, die derjenigen unserer Verbündeten
inhaltlich entsprach, lautete wie folgt:
,,Die Kaiserliche Regierung hat die hochherzige An-
regung des Herrn Präsidenten der Vereinigten Staaten
von Amerika, Grundlagen für die Herstellung eines
dauernden Friedens zu schaffen, in dem^ freundschaftlichen
Geiste aufgenommen und erwogen, der in der Mitteilung
des Herrn Präsidenten zum Ausdruck kommt. Der Herr
Präsident zeigt das Ziel, das ihm am Herzen liegt, und
läßt die Wahl des Weges offen. Der Kaiserlichen Regierung
erscheint ein unmittelbarer Gedankenaustausch als der
geeignetste Weg, um zu dem gewünschten Ergebnis
zu gelangen. Sie beehrt sich daher, im Sinne ihrer Er-
klärung vom 12. d. M., die zu Friedensverhandlungen
die Hand bot, den alsbaldigen Zusammentritt von Dele-
gierten der kriegführenden Staaten an einem neutralen
Orte vorzuschlagen. Auch die Kaiserliche Regierung
ist der Ansicht, daß das große Werk der Verhütung
künftiger Kriege erst nach Beendigung des gegenwär-
tigen Völkerringens in Angriff genommen werden kann.
Sie wird, wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, mit
372
Die deutsche Antwort
Freuden bereit sein, zusammen mit den Vereinigten
Staaten von Amerika an dieser erhabenen Aufgabe
mitzuarbeiten/*
Auch durch Wilsons Friedensanregung ließen sich die
alliierten Regierungen in ihrem Willen, Friedensgespräche
zurückzuweisen und den Krieg fortzusetzen, in keiner
Weise beeinträchtigen; nur eine kurze Verzögerung in
der von Herrn Briand voreilig für den 20. Dezember an-
gekündigten Antwort der Entente auf unseren Friedens-
vorschlag ist wohl durch den in London und Paris schon
am 19. Dezember bekannt gewordenen Friedensschritt
Wilsons herbeigeführt worden. Aber in dem Inhalt der
Ententeantwort, die am 30. Dezember von Herrn Briand
dem amerikanischen Botschafter in Paris zur Weitergabe
an die Zentralmächte überreicht worden ist, hat Wilsons
Eingreifen nichts geändert: schroffer und höhnischer ab-
weisend konnte keine Antwort lauten. In tendenziöser
Darstellung versuchte sie wieder einmal den Nachweis,
daß der ,, Krieg gewollt, hervorgerufen und verwirklicht
worden sei durch Deutschland und Österreich-Ungarn“.
Nachdem Deutschland seine Verpflichtungen verletzt habe,
könne der von ihm gebrochene Friede nicht auf sein Wort
gegründet werden. Eine Anregung ohne Bedingungen für die
Eröffnung der Verhandlungen sei kein Friedensangebot.
Die durch die Kriegserklärung Deutschlands verursachten
Verwüstungen, die zahlreichen Attentate, die Deutsch-
land und seine Verbündeten gegen die Kriegführenden
373
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
und gegen die Neutralen verübt hätten, verlangten
Sühne, Wiedergutmachung und Bürgschaften. Deutsch-
land weiche listig dem einen wie dem anderen aus. Der
durch die Zentralmächte gemachte Vorschlag sei in Wirk-
lichkeit nichts als ein Kriegsmanöver, das einen deutschen
Frieden aufnötigen solle und beabsichtige, die öffentliche
Meinung in den alliierten Ländern zu verwirren. „In
voUer Erkenntnis der Schwere, aber auch der Notwendig-
keiten der Stunde lehnen es die alliierten Regierungen,
die unter sich eng verbunden und in voller Überein-
stimmung mit ihren Völkern sind, ab, sich mit einem
Vorschlag ohne Aufrichtigkeit und ohne Bedeutung zu
befassen.'*
Da diese Antwort, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen
übrigließ, mehr als eine Woche nach dem Friedensschritt
des Präsidenten Wilson erfolgte, mußte nicht nur der
Friedensvorschlag der Zentralmächte, sondern auch die
Friedensanregung Wilsons als gescheitert betrachtet wer-
den. Wieder einmal stellte sich heraus, daß die feindliche
Koalition nicht bereit war, über Frieden zu sprechen,
solange sie nicht in der Lage war, den Frieden nach ihrem
Belieben zu diktieren. Von dem Geist, der bei den Macht-
habern unserer Feinde trotz des rumänischen Rück-
schlags herrschte, gibt Zeugnis ein Tagesbefehl des Zaren
an die russische Armee und Marine vom 25. Dezember
1916, in dem als mssisches Kriegsziel aufgestellt mirde
,,der Besitz Konstantinopels und der iMeerengen, sowie
374
Die Antwort der Alliierten
die Schaffung eines in allen seinen drei gegenwärtig ge-
trennten Teilen freien Polens“.
Immerhin konnte man gespannt sein auf die Antwort,
die unsere Feinde auf die Friedensanregung Wilsons geben
würden. Denn hier stand ihnen nicht ein Feind gegen-
über, den sie auf Tod und Leben zu bekämpfen entschlossen
waren, sondern der Repräsentant der stärksten neutralen
Macht, dessen Haltung für den Ausgang des Krieges von
entscheidender Bedeutung werden konnte.
Es dauerte drei volle Wochen, bis die Alliierten sich
über eine Antwort an Wilson geeinigt hatten; erst am
10. Januar 1917 wurde diese von Herrn Briand dem
amerikanischen Botschafter in Paris ausgehändigt.
Die Antwort enthielt viele schöne Worte an die Adresse
des Herrn Wilson und über den künftigen Völker frieden.
In der Sache aber war sie gegenüber der Wilsonschen An-
regung eine kaum weniger unverhüllte Ablehnung, wie
die Antwort an die Zentralmächte.
,,Die Alliierten empfinden,“ so hieß es in der Note,
„ebenso tief wie die Regierung der Vereinigten Staaten
den Wunsch, möglichst bald diesen Krieg beendet zu sehen,
für den die Mittelmächte verantwortlich sind und der der
Menschheit grausame Leiden auferlegt; aber sie sind der
Ansicht, daß es unmöglich ist, heute bereits einen Frieden
zu erzielen, der ihnen die Sühnen, Wiedergutmachung
und Bürgschaften sichert, auf die sie ein Recht haben
infolge des Angriffs, für den die Mittelmächte die
375
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Verantwortung tragen und der gerade darauf abzielt, /
die Sicherheit Europas zugrundezurichten.“ Nach langen
Beschwerden über die völkerrechtswidrige und grausame
Kriegführung der Mittelmächte, die zu einem ständigen
Hohn auf Menschlichkeit und Zivilisation geworden sei,
erklärte die Note, die den Mittelmächten durch Vermitt-
lung der Vereinigten Staaten überreichte Antwort auf deren
Friede ns Vorschlag vom 12. Dezember igi6 beantworte
die von der amerikanischen Regierung gestellte Frage.
Im übrigen seien die Kriegsziele der Alliierten wohlbekannt ;
sie seien mehrfach in Erklärungen der Oberhäupter der
verschiedenen Regierungen dargelegt worden. „Diese
Ziele werden in den Einzelheiten mit allen Kompensationen
und gerechtfertigten Entschädigungen für den erlittenen
Schaden erst in der Stunde der Verhandlungen auseinander-
gesetzt werden. Aber die zivilisierte Welt weiß, daß sie
alles Notwendige einschließen und in erster Linie die
Wiederherstellung Belgiens, Serbiens und Montenegros,
die ihnen geschuldeten Entschädigungen, die Räumung
der besetzten Gebiete von Prankreich, Rußland und
Rumänien mit den gerechten Wiedergutmachungen, die
Reorganisation Europas, Bürgschaft für einen dauerhaften
Frieden, die Zurückgabe der Provinzen und Gebiete, die
früher den Alliierten durch Gewalt oder gegen den Willen
der Bevölkerung entrissen worden sind, die Befreiung
der Italiener, Slawen, Rumänen, Tschechen und Slowaken
von der Fremdherrschaft, die Befreiung der Bevölkerungen,
Die Antwort der Alliierten
die der blutigen Tyrannei der Türken unterworfen sind,
.und die Entfernung des Osmanischen Reiches aus Europa,
weil es zweifellos der westlichen Zivilisation fremd ist/'
Die Note fügte hinzu, es sei selbstverständlich niemals
die Absicht der alliierten Regierungen gewesen, die ,, Ver-
nichtung der deutschen Völker und ihr politisches Ver-
schwinden“ anzustreben; sie wollten nur die Sicherung
des Friedens auf der Grundlage der Freiheit, der Gerechtig-
keit und der unverletzlichen Treue, welche die Regierung
der Vereinigten Staaten stets beseelt habe.
Eine besondere Verschärfung erfuhr die Ablehnung
irgendwelcher Friedensgespräche mit den Zentralmächten
durch die Verwahrung gegen eine Gleichstellung mit
diesen. ,,Mit Genugtuung,“ so hieß es in der Note, „nehmen
die Alliierten zur Kenntnis, daß die amerikanische Mit-
teilung in keinem Zusammenhang steht mit dem Schritt
der Mittelmächte; sie zweifeln nicht an dem Entschluß
der amerikanischen Regierung, selbst den blassen Anschein
einer auch nur moralischen Unterstützung der verant-
wortlichen Urheber des Krieges zu vermeiden. Die Al-
liierten Regierungen halten es für ihre Pflicht, sich in der
freundschaftlichsten aber klarsten Weise gegen eine Gleich-
stellung auszusprechen, welche auf öffentlichen Erklärun-
gen der Mittelmächte beruht und in direktem Wider-
spruch zur offenkundigen Sachlage steht, sowohl bezüg-
lich der Verantwortlichkeiten in der Vergangenheit wie
betreffs der Bürgschaften für die Zukunft. Präsident
377
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Wilson hat durch ihre Erwähnung gewiß nicht beab-
sichtigt, sich ihnen anzuschließen/'
Schallender konnte die Friedenstür nicht zugeworfen
werden. Wenn sich die Alliierten bei Herrn Wilson ver-
baten, von ihm mit den Mittelmächten auf gleichem Fuß
behandelt zu werden, so war das eine m ihrer Schärfe
kaum zu übertreffende Zurückweisung aller guten Dienste,
die ein Dritter zur Herbeiführung einer Verständigung
zwischen den beiden kriegführenden Gruppen überhaupt
anbieten konnte.
Sachlich bedeuteten die von den Ententeregierungen
kurz umrissenen Friedensbedingungen nichts anderes als
die völlige Zertrümmerung der Türkei, die völlige
Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie,
die Verstümmelung und Erniedrigung Deutschlands. Die
Alliierten hatten recht, wenn sie feststellten, daß es un-
möglich sei, einen diesen Wünschen entsprechenden Frieden
jetzt schon zu erzielen; denn nur von einem völlig nieder-
geworfenen Gegner konnten sie annehmen, daß er solche
Bedingungen auch nur einen Augenblick zur Diskussion
stellen lassen würde.
Der Fall lag also klar: Die Mittelmächte w^aren bereit,
über einen Frieden zu sprechen, der ihr Verteidigungs-
ziel erfüllte und Ehre, Dasein und Entwicklungsfreiheit
ihrer Völker sicherte ; die Entente lehnte eine Verhandlung
auf dieser Grundlage mit der offenen Begründung ab,
daß sie auf der Zertrümmerung, Verstümmelung und
378
Vernichtungswille der Gegner
Erniedrigung der Mittelmächte bestehe, ein ,,Friedenszier‘,
für das auch nach ihrer Auffassung die Mittelmächte noch
nicht reif waren.
Wie Herr Wilson sich zu dieser Antwort stellte, werden
wir später sehen.
Der uneingeschränkte U-Bootkrieg
Die deutsche Note vom 4. Mai 1916 hatte den U-Boot-
krieg auf den Kreuzerkrieg zurückgeführt und dadurch
den Frieden mit Amerika erhalten. Damit war die äußerste
Erschwerung vermieden worden für eine Zeit, die uns
erst den gewaltigen Stoß der Russenoffensive in Wolhynien
und Galizien und die erfolgreiche Erneuerung der italie-
nischen Offensive am Isonzo, dann die an Einsatz und
Dauer alles übertreffenden Angriffe der Franzosen und
Engländer an der Somme und schließlich den rumänischen
Überfall brachte.
Wir hatten uns Amerika gegenüber für die Führung
des U-Bootkrieges freie Hand Vorbehalten für den Fall,
daß unsere Erwartung, es möchte der Regierung der
Vereinigten Staaten gelingen, die Beobachtung der völker-
rechtlichen Normen der Seekriegführung auch bei England
durchzusetzen, sich nicht erfüllen sollte.
Die Erwartung erfüllte sich nicht. Von irgendwelchen
ernstlichen Versuchen der amerikanischen Regierung,
England und die übrigen Ententemächte zur Aufgabe
379
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
ihrer völkerrechtswidrigen Handels- und Hungerblockade
zu veranlassen, ist in der Folgezeit nichts bekannt
geworden.
Die Propaganda zugunsten des uneingeschränkten
U-Bootkrieges war unter dem Eindruck der unmittelbaren
Gefahr des Bruches mit Amerika vorübergehend ab-
geflaut. Im Laufe des Sommers kam sie neu in Gang.
Auch die Marine begann, die Frage des U-Bootkrieges
wieder aufzunehmen, zumal da der gewaltige Einsatz
von Material in der Sommeschlacht die Erwägung nahe-
legte, ob nicht unseren Feinden die Zuführung dieses
Materials durch eine wirksamere Gestaltung des U-Boot-
krieges einigeruiaßen verknappt werden könnte. Auch
von dem Admiral von Capelle, der im Frühjahr noch müt
aller Entschiedenheit die Meinung vertreten hatte, daß
die auf den unbeschränkten U-Bootkrieg gesetzten Hoff-
nungen seiner Befürworter übertrieben seien und daß
angesichts des zweifelhaften Erfolges die politischen Be-
denken den Ausschlag geben müßten, hatte ich den Ein-
druck, daß er mehr und mehr auf den Standpunkt kam,
wenn jetzt die Oberste Heeresleitung den unbeschränkten
U-Bootkrieg zur Entlastung der schwer käuipfenden
Westfront verlange, dann werde die Marine ihre Hilfe
nicht verweigern können, auch wenn man diese Hilfe
bescheiden veranschlage.
Inzwischen war der U-Boothandelskrieg um England
herum gänzlich oder fast gänzlich eingestellt worden.
380
Wiederaufnahme der U-Bootfrage
während er im Mittelländischen Meer mit leidlichem Er-
folg in den Formen des Kreuzerkrieges fortgesetzt wurde.
Die Versenkungen gingen nach den Angaben des Admiral-
stabs von 225000 Tonnen im Monat April 1916 auf loiooo
Tonnen im Juni 1916 zurück.
Gegen Ende August 1916 nahm der Chef des Admiral-
stabs die U-Bootfrage offiziell wieder auf. Er teilte dem
Reichskanzler mit, daß er nach genauer Prüfung der Ver-
hältnisse die Überzeugung gewonnen habe, daß jetzt der
Zeitpunkt für die Aufnahme des uneingeschränkten
U-Bootkriegs gekommen sei, und beantragte eine als-
baldige Beratung der Angelegenheit.
Diese Beratung fand am 31. August 1916 im Großen
Hauptquartier zu Pleß statt. Es nahmen an ihr Teil der
Reichskanzler, der neuernannte Chef des Generalstabs
Generalfeldmarschall von Hindenburg, General Ludendorff,
der Chef des Admiralstabs Admiral von Holtzendorff,
Admiral von Koch, der Kriegsminister General Wild von
Hohenborn, der Staatssekretär des Auswärtigen Amts von
Jagow und ich als Staatssekretär des Innern und Stell-
vertreter des Reichskanzlers. Die gesamte politische,
militärische und wirtschaftliche Lage wurde auf das
genaueste durchgesprochen, ebenso die technischen Mög-
lichkeiten und die militärischen und wirtschaftlichen
Wirkungen des U-Bootkrieges. Die Lage wurde in erster
Linie beherrscht durch die rumänische Kriegserklärung
und den Einmarsch starker rumänischer Truppen nach
381
Friedensbemühungen und U-Bootkiieg
Siebenbürgen. Alle Truppen, die wir irgendwo verfügbar
machen konnten, mußten gegen Rumänien geworfen
werden. Gegenüber Eventualitäten, wie sie ein Bruch mit
Amerika und ein starker kombinierter Druck der Entente
und der Vereinigten Staaten auf die uns benachbarten
Neutralen hervorrufen konnten, war nichts vorgekehrt
und konnte in der nächsten Zeit nichts vorgekehrt werden.
Unter diesen Umständen sprachen sich die Generale von
Hindenburg und Ludendorff dahin aus, daß bis zur Er-
ledigung der rumänischen Gefahr die Oberste Heeres-
leitung eine Verantwortung für die Einleitung des un-
eingeschränkten U-Bootkrieges nicht übernehmen könne.
Der Verlauf der Beratung ließ keinen Zweifel daran
bestehen, daß die beiden Generale an sich dem uneinge-
schränkten U-Bootkrieg zuneigten. Es war zu erwarten,
daß sie auf die Frage zurückkommen würden, sobald dies
der Verlauf der müitärischen Operationen in Rumänien
gestattete. Die öffentliche Meinung war durch die unaus-
gesetzte Bearbeitung seitens der Befürworter des rmein-
geschränkten U-Bootkrieges immer mehr für die Über-
zeugung gewonnen worden, daß wir mit den U-Booten
eine Waffe in der Hand hätten, die uns bei richtiger An-
wendung gestatte, binnen weniger Monate England auf
die Knie zu zwingen und damit allen den Opfern und
Leiden des Krieges ein Ende zu machen. Auch in den
Reichstagsparteien, die bisher in der U-Bootfrage Zurück-
haltung gezeigt hatten, so im Zentrum und bei den
382
Hauptquartier und Reichstag zum U-Bootkrieg
Freisinnigen, blieb die U-Bootkrieg-Propaganda nicht ohne
Wirkung.
Dies zeigte sich, als Anfang Oktober 1916 der Haupt-
ausschuß des Reichstages sich erneut mit der U-Boot-
frage befaßte.
Die Stimmung des Ausschusses war gegenüber dem
Monat März, in dem die letzte U-Bootdiskussion statt-
gefunden hatte, merkbar verändert. Zudem glaubte der
Ausschuß aus der Rede, mit der Herr von Bethmann die
Erörterung einleitete, und noch mehr aus der Rede des
Admirals von Capelle, die auf die Kanzle n*ede folgte,
eine Verminderung des Widerstandes gegen den unein-
geschränkten U-Bootkrieg herauslesen zu können. Auch
wirkten auf die Urteilsbildung der Abgeordneten einige
sachliche Momente stark ein, die zweifellos die Aus-
sichten eines Erfolges des uneingeschränkten U-Bootkrieges
verbessert hatten, so die wesentliche Vermehrung der
Anzahl und die erhebliche Verbesserung der Leistungs-
fähigkeit der U-Boote seit Jahresbeginn, ferner die Be-
drohung der Versorgung Englands mit Brotgetreide durch
eine mäßige Ernte im eigenen Lande und eine maßlos
schlechte Ernte in den Vereinigten Staaten und Kanada.
Dazu kam die wachsende Erbitterung gegen die Vereinigten
Staaten, die unsere Gegner in immer größerem Umfang
mit Kriegsmaterial unterstützten, ja ihnen dadurch die
Sommeschlacht in ihren ungeheuren Abmessungen über-
haupt erst möglich machten, und die, nachdem wir uns
383
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
ihrem Druck in der U-Bootfrage gefügt hatten, augen-
scheinlich keinen Finger rührten, um England, das seinen
Hungerkrieg gegen uns und die uns benachbarten Neu-
tralen immer mehr verschärfte, auf den Boden des Völker-
rechts zurückzuführen. Ich hatte einen schweren Stand,
^^egenüber der hierdurch erzeugten Stimmung für Be-
sonnenheit und Erwägung der uns aus einem Übergang
zum uneingeschränkten U-Bootkrieg drohenden Gefahren
einzutreten.
In meinen Erwiderungen auf Ausführungen aus der
Mitte der Kommission bemühte ich mich, die Sachlage
mit aller Ruhe und Objektivität darzustellen. Ich gab
ohne weiteres zu, daß durch die Gestaltung der Welt-
ernte des Jahres 1916 die Möglichkeit gewachsen sei,
Englands Ernährung durch den U-Bootkrieg zu erschweren,
vielleicht sogar zu gefährden.- Englands eigene Ernte an
Brotgetreide hatte im Jahre 1916 nur 6 Millionen Quarters,
gegen 8,7 Millionen Quarters im Vorjahre ergeben. Die
Weizenemte der Vereinigten Staaten und Kanadas wurde
für 1916 auf nur 21^/2 Millionen Tonnen geschätzt gegen
37 V2 Millionen Tonnen im Vorjahre. Dabei hatte England
im abgelaufenen Erntejahre aus diesen beiden zunächst
gelegenen Gebieten nicht weniger als 88% seines Einfuhr-
bedarfs gedeckt. Ein Zurückgreifen auf Argentinien oder
gar auf Indien und Australien war angesichts des fühl-
baren Mangels an Frachtraum außerordenthch erschwert;
denn der Frachtweg aus diesen Gebieten nach England
3S4
Beratungen im Hauptausschuß des Reichstages
war zwei- bis dreimal so lang wie der Frachtweg aus Nord-
amerika, die Heranführung derselben Gietreidemenge er-
forderte also den zwei- bis dreifachen Schiffsraum. Die
sichtbaren Getreidevorräte Englands waren in der zweiten
Septemberhälfte 1916, nach Einbringung der englischen
Ernte, zum erstenmal niedriger als zur gleichen Zeit des
Vorjahres; sie betrugen 8,6 gegen 10,6 Millionen Quarters,
während sie sich zu Anfang Mai 1916 um 1,8 Millionen
Quarters höher gestellt hatten als Anfang Mai 1915.
Aber ich konnte nicht umhin, diesem für den Erfolg
des uneingeschränkten U-Bootkrieges günstiger gewor-
denen Moment gewichtige Zweifel entgegenzustellen.
Schon auf dem Gebiet der Brotgetreideversorgung Eng-
lands durften die großen amerikanischen Bestände aus
der vorjährigen Ernte nicht vernachlässigt werden. Ob
es möglich sein würde, die Zufuhren aus diesen Beständen
und der allerdings knappen neuen Ernte im Wege des
uneingeschränkten U-Bootkrieges so weit zu verringern,
daß sie zur Ergänzung des in England liegenden, für
mindestens 4^/2 Monate genügenden Bestandes nicht aus-
reichen würden, war zum mindesten eine offene Frage.
Ebenso mußte ich den Berechnungen entgegentreten,
die beweisen sollten, daß eine monatliche Versenkung
von 600 000 Tonnen Handelsschiffsraum genügen werde,
um England innerhalb einer bestimmten Zeit — es wurde
von 6 bis 8 Monaten gesprochen — auf die Knie zu zwingen
oder wenigstens mürbe zu machen. Ich stellte fest, daß
25 Helfferich, Weltkrieg II
385
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
die britische Handelsflotte (ohne diejenige der Dominions
und Besitzungen) nach den letzten Ausweisen im Juni
1916 noch 18 825 000 Bruttotonnen stark war. Ich
gab zu, daß davon etwa 7 Millionen für militärische
Zwecke in Anspruch genommen seien und daß die
für den privaten Handelsverkehr verbleibenden rund
12 Millionen im Laufe von 6 bis 8 Monaten durch den
uneingeschränkten U-Bootkrieg auf 8 Millionen Tonnen
verringert werden könnten. Aber ich gab zu bedenken,
daß die britische Handelsflotte vor dem Kriege fast die
Hälfte der gesamten Handelsflotte der Welt ausgemacht
hatte, daß sie nicht nur für England, sondern für die
halbe Welt die Seefrachten besorgt hatte, daß Deutsch-
lands Handelsflotte, nach England die größte der Welt,
vor dem Kriege gerade erst über 5 Millionen Bruttotonnen
hinausgewachsen war und daß wir mit diesen 5 Millionen
Tonnen über unsere eigene Versorgung hinaus uns gleich-
falls einen ansehnlichen Anteil am internationalen Fracht-
verkehr hatten sichern können. Dazu kam für England
die Möglichkeit, im Notfall auf den für militärische Zwecke
in Anspruch genommenen Frachtraum zurückzugreifen.
Ich zog daraus die Folgerung: ,, Niemand in der ganzen
Welt wird mit Sicherheit behaupten können, England
werde nach sechs oder acht Monaten wegen Frachtraum-
mangels nicht mehr in der Lage sein, weiterzukämpfen.“
Ferner warnte ich davor, die britische Zähigkeit, die
Möglichkeit für die Engländer, sich in ähnlicher Weise
386
Beratungen im Hauptausschuß des Reichstages
einzuschränken, wie wir es hatten tun müssen, schließlich
die britische Fähigkeit, zu organisieren, allzu niedrig
einzuschätzen.
Vor allem aber hob ich die Gefahren eines Bruches und
Krieges mit den Vereinigten Staaten hervor. Aus der
Mitte des Ausschusses wurde die Ansicht geäußert, daß
Amerika wegen des U-Bootkrieges nicht mit uns brechen
oder jedenfalls nicht Krieg mit uns machen werde. Dem-
gegenüber führte ich aus: ,,Ich habe im Laufe der Zeit
von allen den Leuten, die aus Amerika herübergekommen
sind und die ich gesehen habe, nie eine andere Ansicht
gehört als die: Wenn ihr den rücksichtslosen U-Bootkrieg
anfangt, dann habt ihr den Bruch und den Krieg mit
Amerika.''
Den immer wieder hervortretenden Zweifeln, ob Ame-
rika, wenn es uns den Krieg erkläre, der Entente erheblich
mehr nutzen und uns erheblich mehr schaden könne wie
jetzt schon im Zustand der sogenannten Neutralität,
konnte ich nicht beitreten. Ich legte dar, daß die finanzielle
Hilfe, die von den Amerikanern den Ententemächten
bisher nur in verhältnismäßig engen Grenzen und zu recht
schweren Bedingungen gewährt worden war, ohne weiteres
einer ganz erheblichen Steigerung fähig sei; daß ferner
die amerikanische Stahlproduktion, die mit 40 Millionen
Tonnen jährlich fast dreimal so groß war wie die unserige,
den Amerikanern im Falle ihres Eintritts in den Krieg eine
gewaltige Steigerung ihrer Erzeugung von Kriegsgerät
387
25*
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
nnd Material ermögliche; daß schließlich die Gefahr der
Unterstützung der Entente durch Truppensendungen kein
Hirngespinst sei. ,,Die Schwierigkeiten, mit denen wir
zu kämpfen haben, so führte ich aus, ,, liegen doch zum
großen Teil darin, daß die andern die große Überlegenheit
an Menschenmaterial haben. Glauben Sie unsere Position
dadurch zu verbessern, wenn Sie ein kultiviertes Land mit
einer starken, kräftigen Rasse, mit mehr als loo Millionen
Einwohnern auf die andere Seite werfen?“ Auch die Hoff-
nung, daß es unsem U-Booten gelingen werde, Munitions-
und Mannschaftstransporte von Amerika nach dem west-
lichen Kriegsschauplatz zu verhindern, konnte ich nicht
ohne Widerspruch lassen, obwohl ich wußte, daß diese
Hoffnung von maßgebenden Persönlichkeiten in der Marine
geteüt wurde. „Mein Optimismus geht jedenfalls nicht
so weit, zu bezweifeln, daß Amerika im Kriegsfall beträcht-
liche Mengen von Truppen herüberschaffen kann, auch
angenommen, daß wir manchen Transportdampfer ver-
senken. In Saloniki sollen noch 400 000 Mann und mehr
stehen. Diese ganze Armee ist antr ansportiert worden
und erhält ihren Nachschub an Ersatz, Munition und Pro-
viant, trotzdem unsere U-Boote ihre Tätigkeit im Mittel-
meer ausüben. Die Truppentransportdampfer sind eben auf
ihrer Fahrt viel besser gesichert als andere Dampfer.“
Auch die Wirkungen eines Krieges mit Amerika auf
unsern späteren Wiederaufbau bat ich zu berücksichtigen.
Die Wiederherstellung unserer Außenbeziehungen nach
388
Beratungen im Hauptausschuß des Reichstages
dem Krieg sei viel schwerer, als die meisten es sich denken.
,,Wenn aber die Neutralität überhaupt aufgehört hat,
dann kann dasjenige, was heute die Entente träumt, Wirk-
lichkeit werden, nämlich der Wirtschaftskrieg nach dem
Krieg; dann mögen wir noch für Jahre der boykottierte
Hund sein, dem kein Mensch auf der ganzen Welt ein Stück
Brot gibt.“
Vor allem aber müßten wir uns eines vor Augen halten :
,,Wenn die Karte des rücksichtslosen U-Bootkriegs aus-
gespielt wird und sie sticht nicht, dann sind wir verloren,
dann sind wir auf Jahrhunderte hinaus verloren.“
Meine Ausführungen machten wohl einigen Eindruck,
vermochten aber nicht, einen entscheidenden Erfolg zu
erzielen. Ich hatte Veranlassung, in der Diskussion mehr-
fach auf meine Bedenken zurückzukommen und den eif-
rigen Verfechtern des uneingeschränkten U-Bootkriegs
zu sagen: ,,Wir wollen doch klar sehen, wir wollen doch
genau wissen, wie die Dinge liegen; und sollte der U-Boot-
krieg gemacht werden, so soll niemand da sein, der nachher,
wenn die Sache etwa schief geht, sagen kann: Ja, wenn
man dies und jenes uns gesagt hätte, wenn diejenigen,
die an verantwortlicher Stelle stehen, auf dies und jenes
hingewiesen hätten.“
Der Kanzler konnte sich darauf berufen, er befinde sich
in der Beurteilung der Sachlage in Übereinstimmung mit
der Obersten Heeresleitung. Diesem Umstand war es mehr
als allen Gründen zu verdanken, daß im Hauptausschuß
389
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
ein ausdrücklicher Mehrheitsbeschluß zugunsten des un-
eingeschränkten U-Bootkrieges verhindert werden konnte.
Aber wenn auch kein förmlicher Beschluß zustande kam, so
konnte doch der Verlauf der Debatte keine Zweifel daran
lassen, wie die Mehrheit der Kommission zu dem U-Bootkrieg
stand. Vor allem fiel ins Gewicht, daß die Zentrumsfraktion,
die bisher in ihrer großen Mehrheit den Kanzler in seiner
Stellungnahme zum U-Bootkrieg gedeckt hatte, folgende
Erklärung am 7. Oktober 1916 zu den Akten des Haupt-
ausschusses gab:
,, Namens sämtlicher* Fraktionsmitglieder der Zen-
trumsfraktion im Ausschuß für den Reichshaushalt ist
folgende Erklärung abgegeben worden:
„Für die politische Entscheidung über die Kriegführung
ist dem Reichstag gegenüber der Reichskanzler allein ver-
antwortlich. Die Entscheidung des Reichskanzlers wird
sich dabei wesentlich auf die Entschließung der Obersten
Heeresleitung zu stützen haben. Fällt die Entscheidung
für die Führung des rücksichtslosen Unterseebootkrieges
aus, so darf der Reichskanzler des Einverständnisses des
Reichstags sicher sein.“
Diese Erklärung der bei den Parteiverhältnissen^ des
Reichstags ausschlaggebenden Fraktion war nicht nur eine
Blankovollmacht, sondern geradezu eine Aufforderung an
den Reichskanzler, in der U-Bootfrage den Entschlie-
ßungen der Obersten Heeresleitung zu folgen. Die Oberste
• Im amtlichen Original gesperrt gedruckt.
390
Erklärung der Zentrumsfraktion
Heeresleitung, der natürlich der Gang der Verhandlungen
im Hauptausschuß und die Zentrumserklärung nicht ver-
borgen blieben, wußte nunmehr, daß der Reichskanzler,
wenn er einem Verlangen der Obersten Heeresleitung nach
Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkrieges künftig-
hin sich widersetzen sollte, nicht mehr auf die Deckung
durch den Reichstag würde rechnen können.
In der für die weitere Entwicklung des Krieges ent-
scheidenden Frage war damit die Stellung des verantwort-
lichen Leiters der deutschen Politik gegenüber der Obersten
Heeresleitung in einer geradezu verhängnisvollen Weise
geschwächt.
Jeder Krieg birgt den Keim von Konflikten zwischen
der militärischen Gewalt und der politischen Leitung in
sich. Der Krieg als ,, Mittel der Politik“ ist ein gewaltsames
und herrschsüchtiges Mittel, das, einmal in Wirkung ge-
setzt, eigenen Gesetzen zu folgen sucht. Es bedarf einer
starken Willenskraft und einer starken Autorität der po-
litischen Leitung, um Herr über den ungebärdigen Diener
zu bleiben und zu verhindern, daß das Mittel den Platz
des Zweckes usurpiert. Wenn die Gefahr solcher Kon-
flikte in irgendeinem Lande besonders groß war, dann
in Deutschland. Eine eiserne militärische Erziehung hatte
unser Volk aus Zerrissenheit, Ohnmacht und Elend zu
Einheit, Macht und Wohlstand emporgeführt, hatte unser
Land, das Jahrhunderte hindurch das Schlachtfeld fremder
Völker gewesen war, befreit und gesichert, hatte die
391
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Grundlagen geschaffen, auf denen unser Volk in friedlicher
Arbeit sich ein wohnliches Haus bauen konnte. Die Leidens-
geschichte von Jahrhunderten war es, die unsermVolk die
Achtung vor der militärischen Macht und ihren Vertretern
anerzogen hatte. Mehr noch als unser Volk stand die Hohen-
zoUerndynastie, deren Oberhaupt uns die Reichseinheit
verkörperte, auf der militärischen Tradition. Auch ein
an sich durchaus friedlich gerichteter Charakter wie
Wilhelm II. war in den großen militärischen Überlieferungen
seines Hauses befangen; ja man kann sagen, je weniger er
innerlich Krieger und Feldherr war, desto stärker stand er
unter dem Bann derjenigen, die Soldatengeist und Feld-
herrn tum kraftvoll verkörperten.
Die schweren Konflikte, die ein Bismarck, trotz seiner
überragenden Persönlichkeit und seiner bei König und
Volk fest begründeten Autorität, im Deutsch-Französischen
Krieg mit den militärischen Gewalthabern durchzukämpfen
hatte, sind bekannt. Dabei dauerte dieser Krieg knapp neun
Monate. In dem von Jahr zu Jahr sich hinziehenden Welt-
krieg verfügten wir über keinen Staatsmann, dessen Auto-
rität auf dem festen Fundament politischer Großtaten
begründet war und dessen Persönlichkeit auf Volk und
Kaiser eine bismarckische Wirkung auszuüben ver-
mochte. Dagegen erstrahlte seit der Tannenberger
Schlacht das militärische Doppelgestirn Hindenburg und
Ludendorff in vollstem Glanz. Das deutsche Volk ist,
trotz all des Schrecklichen, das wir jetzt erleben, im
392
Militärische Gewalt* und politische Leitung
Grunde seines Wesens autoritätsbedürftig. Seine ganze
Hingabe und seine ganze Hoffnung setzte es auf die beiden
Generale, die gleich zu Anfang des Krieges in einer Waffen-
tat ohnegleichen das ostpreußische Land von den rus-
sischen Horden befreit hatten und die im weiteren Gang
des Krieges mehr als alle andern Feldherrn durch ihre
gewaltigen Schläge die Begeisterung des deutschen Volkes
an sich fesselten. Dazu kam der Eindruck der menschlich
großen Persönlichkeit des Feldmarschalls und der eisernen
Willenskraft wie des lodernden Temperaments des Ge-
nerals Ludendorff. Als der Kaiser Hindenburg den ,, Heros
des deutschen Volkes“ nannte, da sprach er aus aller Herzen
und vor allem aus seinem eigenen. Gegen Ludendorff
hatte er eine gefühlsmäßige Abneigung, aus der heraus er
sich ursprünglich gegen die Berufung der beiden an die
Spitze der Obersten Heeresleitung sträubte. Auch später-
hin ist er mit Ludendorff nie warm geworden, ja er hat
mitunter bei vertraulichen Unterhaltungen in heftiger
Aufwallung seinem Unmut über Ludendorff Luft gemacht;
aber gleichwohl stand er im Banne von Ludendorffs Wil-
lensstärke, und vor allem unterwarf er sich der Überzeu-
gung, daß Hindenburg und Ludendorff, die untrennbar
waren, in der Leitung der militärischen Operationen uner-
setzlich seien.
Es war eine Wirkung und gleichzeitig eine Verstärkung
des Übergewichts der Heeresleitung über die politische
Leitung, wenn jetzt die stärkste Fraktion des Reichstags
393
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
eine Erklärung abgab, die unzweideutig die Entscheidung
über die Schicksalsfrage des U-Bootkriegs in die Hände
von Hindenburg und Ludendorff legte,
i Wer Ludendorffs Persönlichkeit kannte, der mußte
wissen, daß die Forderung der Obersten Heeresleitung auf
Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs nicht
lange auf sich warten lassen würde. Und dann wurde,
das stand jetzt, wo der Kanzler auch des parlamenta-
rischen Rückhaltes beraubt war, für jeden Kenner der
Persönlichkeiten und Verhältnisse so gut wie unumstöß-
lich fest, der U-Bootkrieg gemacht. Nichts war mehr stark
genug, dies zu verhindern. Der ganze Ingrimm darüber,
daß wir seit mehr als zwei Jahren ohne Gegenwehr den
schändlichen Hungerkrieg Englands über uns hatten er-
gehen lassen müssen, während wir nach den Erklärungen
der höchsten Marine-Autoritäten über ein sicheres Mittel
verfügten, den Hungerkrieg zu brechen, auf einen Schelmen
anderthalb zu setzen und dem Kriegsjammer in kurzer
Zeit ein Ende zu machen — der ganze Ingrimm darüber,
daß Amerika uns den Gebrauch dieser Waffe verwehrte,
während es den Hungerkrieg des Feindes gewähren ließ
und die Ententearmeen zu ihren furchtbaren Offensiven
mit Kriegsgerät und Munition ausstattete — dieser In-
grimm war nicht mehr zu bändigen und zu halten in dem
Augenblick, wo Hindenburg und Ludendorff den von der
Reichstagsmehrheit im voraus gebilligten uneingeschränk-
ten U-Bootkrieg vom Kanzler verlangten.
394
Gutes Ergebnis des U-Boot-Kreuzerkrieges
Es gab nur einen Ausweg, und das war die Herbeiführung
von Friedensverhandlungen; ein Ausweg, den auch — wie
oben dargestellt — in jener Zeit die Entwicklung der ge-
samten Kriegslage nahelegte und für den es gelang, so-
wohl die Oberste Heeresleitung wie vor allem auch den
Kaiser zu gewinnen.
[/ In der Zwischenzeit konnten die Wirkungen des U-Boot-
kriegs auch innerhalb der in den Formen des Kreuzer-
kriegs gegebenen Beschränkung wesentlich gesteigert
werden. Der Admiralstab hatte — wie oben erwähnt —
nach dem Abschluß der Verhandlungen mit Amerika
über den Sussex-Fall den U-Bootkrieg gegen Handels-
schiffe in den britischen Gewässern gänzlich eingestellt
und die U-Boote in der Nordsee nur noch zu rein militäri-
schen Zwecken verwendet. Im Oktober 1916. entschloß sich
der Admiralstab trotz der Erschwerungen, die der Kreuzer-
krieg für U-Boote gerade in den britischen Gewässern wegen
der vervollkommneten Abwehrmaßnahmen bot, auch dort
den U-Bootkrieg gegen Handelsschiffe in den Formen des
Kreuzer krieges wieder aufzunehmen. Der Erfolg war
ansehnlich. Die im U-Bootkrieg versenkte Tonnage stieg
von loi 000 Tonnen im Juni und 103 000 Tonnen im Juli
auf 394 000 im Oktober und 416 000 im Dezember 1916.
Aber der Admiralstab ließ sich mit diesen Erfolgen nicht
genügen.
Zunächst drängte er darauf, daß der ,, verschärfte
U-Bootkrieg“, d. i. der uneingeschränkte U-Bootkrieg
395
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
gegen die bewaffneten feindlichen Handelsschiffe ^^neder
aufgenommen werde. Er wußte für diesen Gedanken
auch die Oberste Heeresleitung zu gewinnen, die mit ihrer
Forderung dringend wmrde, nachdem die leitenden Staats-
männer der Entente sich in ihren unmittelbar auf unsem
Friedens Vorschlag folgenden Reden scharf ablehnend aus-
gesprochen hatten. Eine amtliche Antwort der Entente-
mächte auf unsern Vorschlag lag noch nicht vor; der Frie-
densschritt des Präsidenten Wilson war gerade erst er-
folgt. Die elementarste politische Klugheit gebot, einst-
weilen noch stillzuhalten, auch wenn man sich nach den
Reden der feindlichen Staatsmänner damit abfinden niußte,
daß es nicht zu Friedensverhandlungen kommen werde.
Am Abend des 28. Dezember 1916 reiste der Kanzler
mit dem Staatssekretär Zimmermann und mir nach dem
Großen Hauptquartier. Wir besprachen auf der Fahrt
die U-ßootfrage. Die Oberste Heeresleitung hatte die
sofortige Absendung einer Note an die Vereinigten Staaten
über die Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs
gegen die bewaffneten Handelsschiffe ohne jede Rücksicht
auf irgendwelche Friedensaktionen verlangt. Nun stellte
sich auch Zimmermann auf den Standpunkt, daß ein sol-
cher Schritt nicht länger verschoben werden dürfe; er
schlug vor, höchstens bis zum 2. Januar 1917 zu warten.
Ich setzte mich auf das entschiedenste zur Wehr. Die
Wirkung des vorgeschlagenen Schrittes auf Amerika mußte
nach allem, was vorangegangen war, dieselbe sein, wie
396
Die U-Bootfrage im Großen Hauptquartier
diejenige einer Eröffnung des uneingeschränkten U-Boot-
krieges überhaupt. Wir zerschlugen mit eigenen Händen
den letzten Rest einer Aussicht unserer eigenen und der
Wilsonschen Friedensaktion; wir setzten uns darüber
hinaus dem Verdacht aus, daß es uns mit unserm Frie-
densvorschlage gar nicht ernst gewesen sei und daß wir
einen Erfolg des Wilsonschen Schrittes verhindern wollten,
wenn wir jetzt, ohne eine Antwort abzu warten und die
Friedensaktion sich aus wirken zu lassen, eine Maßnahme
ergriffen, von der wir uns sagen mußten, daß sie jede Frie-
densmöglichkeit vernichten und gerade unter diesen Be-
gleitumständen mit Sicherheit nicht nur den Bruch, sondern
den Krieg mit Amerika herbeiführen mußte. Der Kanzler
stimmte mir bei, und auch Zimmermann schien überzeugt.
In Pleß fanden wir bei dem Feldmarschall und dem
General Ludendorff — der Kaiser war nicht anwesend —
einen Empfang, der mit dem Worte ,, eiskalt“ noch milde
bezeichnet ist. Die Differenzen der letzten Zeit — was mich
betrifft vor allem über die Behandlung des Hilfsdienst-
gesetzes — hatten offenbar eine starke Verstimmung
hinterlassen. In der Sache erkannten die beiden Generale
unsern Standpunkt in der Frage der bewaffneten Handels-
schiffe nach kurzer Erörterung als berechtigt an. Ich hatte
den Eindruck, daß sie auf dieses Zwischenstadium keinen
allzu großen Wert legten, daß es ihnen vielmehr auf die
baldige Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkrieges
ankomme. In dieser Frage erklärte der Kanzler, seine
397
Friedensbemühungen und U-Eootkrieg
Haltung von der endgültigen Stellungnahme der Entente zu
dem Friedensschritt der Mittelmächte und Wilsons sowie von
der weiteren Entwicklung der Gesamtlage abhängig machen
zu müssen. Er könne sich jetzt noch nicht festlegen. Die
Sache werde im gegebenen Moment zu prüfen sein, und
wenn dann eine Übereinstimmung zwischen der Obersten
Heeresleitung und ihm nicht zu erzielen sei, werde der
Kaiser zu entscheiden haben. Materiell wurde diese Frage
nicht eingehend behandelt. Ich begnügte mich auszuführen,
daß der uneingeschränkte U-Bootkrieg sicherlich England
erheblich schädigen werde, daß aber niemand mit Sicher-
heit behaupten könne, daß England innerhalb einer be-
stimmten Zeit zum Frieden gezwungen werde; trotz der
schlechten Welternte bleibe das Risiko für uns enorm.
Wenige Tage nach unsrer Rückkehr nach Berlin traf
die Antwort der Entente auf unsern Friedens Vorschlag
ein. Der Kanzler hatte das berechtigte Gefühl, daß diese
Antwort trotz aller ihrer Schroffheit eine vorsichtige Be-
handlung erfordere. Wenn schon unsere Bemühungen um
den Frieden scheiterten, so mußte wenigstens vor aller
Welt klargestellt werden, daß die Verantwortung für die
Fortsetzung des Krieges ausschließlich auf die Entente
falle. Ich habe Grund zur Annahme, daß der neue öster-
reichisch-ungarische Minister Graf Czernin, der kurz zu-
vor Herrn von Burian ersetzt hatte und der am 8. Januar
gleichzeitig mit dem Staatssekretär Zimmermann im
Großen Hauptquartier weilte, derselben Ansicht war. Zu
398
Festmahl der amerikanischen Handelskammer
kl
einer vorsichtigen Behandlung mahnte, abgesehen von
allen andern gewichtigen Gründen, auch die Haltung Bul-
gariens, das sich wegen einer Differenz mit unserer Ober-
sten Heeresleitung über die Dobrudscha verstimmt zeigte
und dessen Ministerpräsident sich beeilt hatte, auf die
Antwort der Entente in der Sobranje zu erklären, Bul-
gariens Ansprüche seien bescheiden und würden von der
Entente — die Bulgarien in ihrer Antwort nicht erwähnt
hatte — als legitim anerkannt.
In dieser schwierigen und aufs äußerste gespannten Lage
fand am Abend des 6. Januar 1917 im Hotel Adlon das
später vielbesprochene Festmahl der amerikanischen Han-
delskammer zu Berlin zu Ehren des aus den Vereinigten
Staaten zurückgekehrten Botschafters Gerard statt. Das
Festmahl war seit längerer Zeit angesagt, und der Staats-
sekretär Zimm.ermann hatte es übernommen, bei dieser Ge-
legenheit eine Ansprache zu halten. Da jedoch Graf Czernin
mit Zimmermann am Morgen des 6. Januar aus dem Großen
Hauptquartier nach Berlin gekommen war und Zimmermann
denselben Abend mit dem Grafen Czernin bei dem öster-
reichisch-ungarischen Botschafter zubringen mußte, er-
suchte mich der Reichskanzler, an Stelle Zimmermanns bei
der Begrüßungsfeier der amerikanischen Handelskammer
zu sprechen. Ich entledigte mich dieser Aufgabe in einer mit
dem Reichskanzler und Zimmermann vereinbarten An-
sprache, in der ich nach einigen höflichen Wendungen für
die Bemühungen des Botschafters, mit dem Studium der
399
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
deutschen Sprache auch in den Geist des deutschen Wesens
einzudringen, die meist seit langen J ahren in Deutschland
ansässigen Mitglieder der amerikanischen Handelskammer
als Zeugen dafür anrief, ,,daß unser einziger Ehrgeiz war,
im friedlichen Wettbewerb der Völker durch Arbeit und
Tüchtigkeit uns emporzuringen, durch Hebung unseres gei-
stigen, sittlichen und wirtschaftlichen Standes uns unsern
Platz in der Welt zu gewinnen und zu behaupten“. Nach
einigen Worten iittev den ,, Militarismus“ Deutschlands und
seiner Feinde fuhr ich fort:
„Ich hätte noch manches hinzuzufügen, was Ihr und
unser Herz bewegt. Aber als Gast an einem neutralen
Tische will ich nicht über Dinge reden, die die Welt ent-
zweien. Ich will nicht den Eindruck erwecken, als wollte
ich Ihrer Neutralität zu nahe treten, als wollte ich bei Ihnen
für unsere Sache werben. Sie wissen, wir verlangen von
den Neutralen nichts, keine Hilfe, keine Begünstigung,
nichts als Neutralität. Freilich eine Neutralität, die beide
Parteien mit gleichem Maße mißt, beiden Parteien in
gleichem Maße Achtung erweist angesichts eines Völker-
ringens auf Leben und Tod, wie es die Welt noch nicht
gesehen. Als Kaufleute, die seit langen Jahren unter uns
leben, haben Sie V erständnis für unsere Sinnesart und unsere
Lebensnotwendigkeiten. Sie bilden für dieses Verständ-
nis eine Brücke über den Ozean. Ich bin überzeugt, daß
diese Brücke von Nutzen sein wird jetzt bei der Fort-
dauer des Krieges, wie sie durch die Zurückweisung der
400
Reden beim Festmahl
vorgeschlagenen Friedens Verhandlungen notwendig wird,
und auch späterhin, wenn es gilt, die Fäden des geistigen
und wirtschaftlichen Verkehrs zwischen unsern Ländern
wieder aufzunehmen und fortzuspinnen.“
Ich schloß mit dem Wunsche, daß die friedlichen Schiffe
des Kaufmannes bald wieder zwischen Deutschland und
den Vereinigten Staaten das jetzt gefesselte, künftighin
freie Meer befahren möchten zum Wohle der beiden
Länder und Völker.
Auf diese jedenfalls nicht überschwengliche Begrüßung,
die einen ernsten Hinweis auf die dunkle Wolke enthielt,
die seit langer Zeit über dem Verhältnis zwischen Deutsch-
land und Amerika lag, antwortete Herr Gerard in einem
auffallend herzlichen und freundschaftlichen Tone. Seine
Ansprache gipfelte in der Versicherung, daß die Beziehun-
gen zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland
niemals besser gewesen seien, als in diesem Augen-
blick, und daß die Fortdauer dieser ausgezeichneten Be-
ziehungen gewährleistet sei, solange Männer wie Beth-
mann Hollweg, Helfferich, Zimmermann, Hindenburg,
Ludendorff und Holtzendorff die Geschicke Deutsch-
lands leiteten.
Noch am späten Abend erschien der Staatssekretär
Zimmermann. In kurzer Rede sprach er die Überzeugung
aus, daß die freundschaftlichen und vertrauensvollen Be-
ziehungen, die ihn mit dem amerikanischen Botschafter
schon vor dessen Reise verbunden hätten, sich weiter so
26 Helfferich, Weltkrieg II
401
B'riedensbemühungen und U-Bootkrieg
freundlich gestalten würden, wie der Botschafter es ausge-
drückt habe.
Die Veranstaltung und die bei ihr gehaltenen Reden
haben damals großes Aufsehen erregt. Ich bin in der
Presse und später auch im Hauptausschuß des Reichstags
heftig angegriffen w^orden, daß ich überhaupt bei der Emp-
fangsfeier für Herrn Gerard erschienen sei, und wenn schon
— daß ich mich dem Ehrengast gegenüber höflich und nicht
wie ein Hausknecht benommen habe. Der politische Un-
verstand, der uns Deutsche auszeichnet, ist mir selten
klarer zum Bewußtsein gekommen als bei dieser Gelegen-
heit. Jedermann mußte fühlen, daß es in jener Zeit um
die letzte Entscheidung darüber ging, ob es gehngen wmrde,
Amerika aus dem Krieg zu halten. Und wenn auch mit
einem ,,after dinner Speech“ keine großen Wirkungen er-
zielt werden köimen, so wäre eine so offenkundige Brüs-
kierung des amerikanischen Botschafters wie das Fern-
bleiben von jener Veranstaltung oder das gegen jede
amerikanische Auffassung verstoßende Stummbleiben
das sicherste Gegenteil der Wahrung unserer Interessen
gewiesen. Es kam nur darauf an, mit der gebotenen Cour-
toisie die Wahrung unseres Standpunktes und unserer
Würde zu verbinden. Ich glaube, diesem Gebot der Lage
gerecht gew’orden zu sein.
Für die Überschwenglichkeit des Herrn Gerard trifft
mich keine Verantw'ortung. Sie hat mich an jenem Abend
erstaunt. Mein Erstaunen ist gewachsen, nachdem ich
402
Reden beim Festmahl
in dem Buch des Herrn Gerard gelesen habe, daß dieser
bereits vor jenem Abend zuverlässige Mitteilungen dar-
über bekommen haben will, daß die Wiederaufnahme des
uneingeschränkten U-Bootkrieges beschlossene Sache sei.
Wenn dies der Fall war, wenn Herr Gerard infolgedessen
zu der Feier vom 6. Januar mit der Sicherheit kam, daß
der Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Deutsch-
land bevorstehe, wie konnte er dann von den Beziehungen
zwischen den beiden Völkern, die niemals besser gewesen
seien, in so hohen Tönen reden?
An jenem Abend war über die Wiederaufnahme des un-
eingeschränkten U-Bootkrieges noch keinerlei Beschluß
gefaßt. Persönlich hatte ich noch die Hoffnung, daß man
vor jeder Entscheidung die Auswirkung der deutschen und
der amerikanischen Friedensaktion ab warten werde.
Aber allerdings — die Entscheidung sollte rascher
erfolgen, als ich damals nach dem Ergebnis der Be-
sprechung im Großen Hauptquartier vom 29. Dezember
erwartete.
Am 8. Januar erhielt der Kanzler vom Feldmarschall
von Hindenburg eine telegraphische Mitteilung, die ihn
bat, alsbald nach dem Großen Hauptquartier zur erneuten
Besprechung der U-Bootfrage zu kommen; die Eröffnung
des uneingeschränkten U-Bootkrieges könne keinesfalls
über den i. Februar hinaus verschoben werden. Kurz
vorher hatte der Chef des Admiralstabs dem Kanzler eine
neue Denkschrift übergeben, die er auch mir mit einem
26*
403
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Schreiben vom 6. Januar zustellte. Die Denkschrift selbst
war schon vom 22. Dezember datiert. Sie bezifferte den
für die Versorgung Englands noch zur Verfügung stehenden
britischen Schiffsraum auf höchstens 8 Millionen Brutto-
tonnen und berechnete, daß man neben einer monatlichen
Versenkung von 600 000 Tonnen mit einer Abschreckung
von mindestens zwei Fünfteln der auf England fahrenden
neutralen Tonnage mit Sicherheit rechnen könne. Dadurch
werde der Seeverkehr Englands im Laufe von fünf Monaten
um 39 vom Hundert verringert, und eine solche Verringerung
werde England nicht ertragen können. Der U-Boot-Kreuzer-
krieg dagegen werde in derselben Zeit, auch wenn die be-
waffneten Handelsschiffe freigegeben würden, nur 18 vom
Hundert des britischen Seeverkehrs in Wegfall bringen
können, und das werde nicht genügen, um England zum
Frieden zu bringen. Zwar sei der Krieg mit Amerika eine so
ernste Angelegenheit, daß alles geschehen müsse, um ihn zu
vermeiden ; aber die Scheu vor dem Bruch dürfe nicht dazu
führen, im entscheidenden Augenbhck vor dem Gebrauch
der Waffe zurückzuschrecken, die uns den Sieg verheiße.
Um rechtzeitig vor der neuen Ernte die nötige Wirkung
erzielen zu können, müsse der uneingeschränkte U-Boot-
krieg spätestens am i. Februar beginnen. Ein energisch
und mit aller Kraft geführter Schlag gegen den englischen
Schiffsraum verspreche unbedingt sicheren Erfolg. Er,
der Chef des Admiralstabs, stehe nicht an zu erklären,
daß wir, wie die Verhältnisse jetzt lägen, mit dem
404
Neue Denkschrift des Admiralstabes
uneingeschränkten U-Bootkrieg England in fünf Monaten
zum Frieden zwingen könnten.
Der Eindruck dieser Denkschrift auf den Kanzler wurde
verstärkt durch Mitteilungen, die ihm eine Autorität
ersten Ranges unserer Hochseeflotte über ihre absolute
Zuversicht auf den Erfolg des uneingeschränkten U-Boot-
krieges in diesen gleichen Tagen machen ließ.
Der Kanzler entschloß sich, noch am Abend des 8. Ja-
nuar nach dem Großen Hauptquartier zu reisen. Vor
seiner Abreise besprach er die Lage mit Zimmermann
und mir. Ich machte starke Ausstellungen an den Be-
rechnungen des Admiralstabes. Außerdem aber waren
wir alle drei uns darüber einig, daß vor allem wei-
teren das Auswirken der Friedensaktion, zum mindesten
die Antwort der Entente an Wilson, abgewartet werden
müsse.
Mir war klar, daß der Kanzler beim Durchsetzen dieses
Standpunktes einen schweren Kampf würde durchkämpfen
müssen, und ich machte mir Vorwürfe, daß ich nicht mit
aller Entschiedenheit darauf bestanden hatte, ihn nach
dem Hauptquartier zu begleiten. Die Sache ließ mir keinen
Schlaf. Ich arbeitete in der Nacht noch einmal die ganze
37 gedruckte Folioseiten starke Denkschrift des Admiral-
stabs durch und schrieb ein ausführliches Telegramm an
den Kanzler, in dem ich die meines Erachtens für die Be-
urteilung des Erfolgs des uneingeschränkten U-Bootkriegs
entscheidenden Punkte zusammenfaßte, und das ich am
405
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Morgen dem Kanzler durch Fernschreiber nach Pleß über-
mitteln ließ.
In diesem Telegramm bezweifelte ich zunächst die Be-
rechnung des Admiralstabs, daß in fünf Monaten der Seever-
kehr Englands durch den uneingeschränkten U-Bootkrieg
um 39 vom Hundert, durch den U-Boot-Kreuzerkrieg nur
um i8 vom Hundert eingeschränkt werde. Ich wies darauf
hin, daß im Falle des gerade infolge des uneingeschränkten
U-Bootkriegs zu befürchtenden Eintritts der seefahrenden
Neutralen in den Krieg die abschreckende Wirkung des
U-Bootkriegs auf die neutrale Schiffahrt mindestens zu
einem erheblichen Teil aufgehoben werden würde. Ein Be-
weis, bei welchem Prozentsatz der Einschränkung des briti-
schen Seeverkehrs England nicht mehr durchhalten könne,
sei natürlich nicht zu erbringen. Die Angaben der Denkschrift
über die Versorgung Englands mit Brotgetreide erkannte
ich als vorsichtig an mit dem Hinweis, daß angesichts der
knappen Zufuhrmöglichkeiten die britischen Bestände
im Laufe des Januar und Februar unaufhaltsam weiter
abnehmen würden. Ich gab jedoch zu bedenken:
' ,,Hat der uneingeschränkte U-Bootkrieg den Eintritt
Amerikas in den Krieg gegen uns zur Folge, so ist Amerika
an dem Siege Englands wie an einer eigenen Sache inter-
essiert. Ist eine Niederlage Englands nur durch ausreichende
Getreideversorgung abzuwenden, so muß und kann Amerika
zu diesem Zweck ein Opfer bringen, an das es als neu-
traler Staat nicht denkt: die Einschränkung des eigenen
406
Kritik der Denkschrift
Getreideverbrauchs zugunsten Englands. Die Einschrän-
kung braucht keineswegs durch eine Rationierung des ameri-
kanischen Brotverbrauchs zu erfolgen; es würden große
Käufe evtl. Zwangsankäufe der amerikanischen Regierung
den Zweck wohl erreichen können. Da die Union mehr als
doppelt so viel Einwohner hat wie England, ist jede Be-
schränkung des Getreideverbrauchs pro Kopf des Ameri-
kaners eine mehr als doppelt so große Zulage pro Kopf
des Engländers. Wenn das Schicksal des Krieges davon
abhängt, halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß Amerika
eine zehnprozentige Einschränkung seines normalen Ver-
brauchs zugunsten von England durchführen könnte, wo-
mit 1,7 Millionen Tonnen, gleich einem englischen Bedarf
von drei Monaten, freigemacht würden. Auch wenn hier-
von auf dem Weg nach England die Hälfte versenkt würde
— ein Prozentsatz, der weit über die vom Admiralstab
berechneten Möglichkeiten hinausgeht — , wäre ein solches
Vorgehen für England eine wertvolle, vielleicht die ent-
scheidende Hilfe. So paradox es klingt, ist also die Mög-
lichkeit nicht ausgeschlossen, daß der uneingeschränkte
U-Bootkrieg gegenüber dem U-Boot-Kreuzerkrieg in seiner
Endwirkung speziell die englische Versorgung mit Brot-
getreide nicht verschlechtert, sondern verbessert.“
Ob es beim uneingeschränkten U-Bootkrieg möglich
sein werde oder nicht, die Neutralen draußen zu halten,
werde sich in einigen Wochen, wenn die Antwortnote der
Entente an Wilson vorliegt, besser übersehen lassen als
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
jetzt. Zu überstürzten Entschlüssen liege keine Veran-
lassung vor. Denn augenblicklich arbeite in Sachen der
Versorgung Englands die Zeit nicht gegen, sondern für
uns. Der Januar und Februar seien aus natürlichen Grün-
den der Jahreszeit stets ungünstige Monate für die bri-
tische Getreideeinfuhr. Dieses Mal habe die Absenkung
der britischen Einfuhr infolge der schlechten amerikanischen
Ernte sogar schon im Dezember begonnen ; trotz der größten
Anstrengungen Englands habe die Getreideeinfuhr der
vier Dezemberwochen nur 1 410 000 Quarters erreicht
gegen i 955 000 Quarters im Vorjahr. Wenn wir aus den
oben entwickelten Gründen die Entscheidung über den
uneingeschränkten U-Bootkrieg noch um einige Wochen
aussetzten, so hätten wir alle Aussicht, daß sich inzwischen
die bereits knappen britischen Getreidebestände noch er-
hebhch weiter verringerten. Je niedriger der Bestand beim
Beginn eines uneingeschränkten U- Bootkrieges, desto
rascher und sicherer werde der Erfolg sein.
Auch dieser letzte Versuch, wenigstens eine Ver-
tagung zu erreichen, änderte nichts mehr an der Ent-
scheidung.
Der Kanzler kam unerwarteterweise schon in der Frühe
des IO. Januar aus Pleß zurück. Er schickte mir den Chef
der Reichskanzlei, der mir sagte: ,,Der Rubikon ist über-
schritten.“
Ich war durch diese Mitteilung auf das schwerste er
schüttert.
408
Entscheidung für den uneingeschränkten U-Bootkrieg
Nach kurzer Aussprache bat ich Herrn Wahnschaffe,
dem Kanzler zu sagen, daß ich bei aller Treue und Ergeben-
heit für seine Person diesen Weg nicht mitgehen könne und
meine Entlassung nehmen würde. Wahnschaffe erwiderte,
mein Abgang würde für mich selbst natürlich der be-
quemste Ausweg sein. Der Kanzler seinerseits habe aus
Gründen zwingender Natur davon Abstand genommen,
auf seiner ursprünglichen Ansicht, den Abschied zu
nehmen, zu beharren. Der Kanzler habe den Wunsch,
sich mit mir persönlich über alles auszusprechen, und
lasse mich bitten, bis dahin keine Entschlüsse zu fassen.
Ich sah den Kanzler an diesem und an dem folgenden
Tage nicht. Ich ging erst zu ihm, als er mich am Abend
des 12. Januar zu sich bitten ließ.
Er schilderte mir die Vorgänge in Pleß. Schon bei der
Ankunft habe ihm der Chef des Marinekabinetts, Admiral
von Müller, mitgeteilt, der Kaiser habe sich nach schweren
inneren Kämpfen zu der Überzeugung durchgerungen,
daß der uneingeschränkte U-Bootkrieg nicht zu vermeiden
sei. In der Beratung am Vormittag beim Generalfeldmar-
schall habe dieser mit dem General Ludendorff auf das
eindringlichste verlangt, daß das an allen Fronten in
schweren Kämpfen stehende Landheer moralisch und
materiell durch den uneingeschränkten U-Bootkrieg Unter-
stützung erhalte. Im Westen sei für das Frühjahr mit einer
neuen Offensive der Franzosen, Engländer und Belgier
zu rechnen, die an Wucht sogar die Somme-Offensive
409
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
des verflossenen Halbjahres übertreffen werde. Jede Mög-
lichkeit der Einschränkung der Zufuhr von Material und
Mannschaften an den Feind müsse unter allen Umständen
wahrgenommen werden. Zeit sei nicht zu verlieren. Wenn
der uneingeschränkte U-Bootkrieg nicht zum i. Februar
eröffnet werde, könnten sie, die beiden Generale, die Ver-
antwortung für den Gang der militärischen Operationen
nicht übernehmen: Auf der andern Seite seien sie bereit,
die Verantwortung für alle militärischen Folgen des un-
eingeschränkten U-Bootkrieges zu tragen, auch für die
Folgen eines Eingreifens der europäischen Neutralen und
Amerikas. Dem Eingreifen Amerikas legten sie übrigens
keine allzu große Bedeutung bei.
Der Chef des Admiralstabs habe sich mit seinen bekann-
ten Argumenten mit der größten Entschiedenheit für die
Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs am i. Fe-
bruar eingesetzt.
Angesichts der Bestimmtheit, mit der Hindenburg und
Ludendorff die Entlastung der Fronten durch den so-
fortigen Beginn des uneingeschränkten U-Bootkriegs als
unerläßlich bezeichneten und mit der sie die Verantwortung
für alle militärischen Folgen des U-Bootkriegs auf sich
nahmen, und angesichts der Sicherheit, mit der nicht nur
der Chef des Admiralstabs, sondern auch die Hochsee-
flotte und der früher dem uneingeschränkten U-Bootkrieg
abgeneigte Staatssekretär des Reichsmarineamtes innerhalb
weniger Monate den vollen Erfolg des uneingeschränkten
410
Der Kanzler über die Vorgänge in Pleß
U-Bootkriegs in Aussicht stellten, j a gewährleisteten, habe er,
der Kanzler, sich die Frage vorlegen müssen, ob er vor seinem
Gewissen berechtigt sei, dem Kaiser zu raten, dem Antrag
der Obersten Heeresleitung und des Admiralstabs nicht
zu entsprechen. Sein nächster Gedanke sei gewesen, seinen
Abschied zu erbitten und zu der auf abends 6 Uhr beim
Kaiser angesetzten Besprechung nicht mehr zu erscheinen.
Von dieser Absicht habe er auch dem Chef des Zivilkabinetts
Mitteilung gemacht. Er habe sich jedoch, so schwer es
ihm gefallen sei, überzeugen müssen, daß er sich auf diese
Weise nicht der Verantwortung entziehen dürfe. Nachdem
die Oberste Heeresleitung die Frage so gestellt habe, daß
der uneingeschränkte U-Bootkrieg unvermeidlich geworden
sei, und nachdem er dessen Verhinderung, wenn sie über-
haupt noch möglich gewesen wäre, nicht auf seine Verantwor-
tung habe nehmen können, sei er verpflichtet, alles zu tun,
um dem U-Bootkrieg zum Erfolg zu verhelfen. Dazu ge-
höre, daß sich das deutsche Volk und unsere Verbündeten
geschlossen hinter den U-Bootkrieg stellten. Wenn er wegen
der Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs seinen
Abschied nehme, so werde das einerseits die Eröffnung
des uneingeschränkten U-Bootkriegs nicht verhindern,
andrerseits den inneren Streit über den U-Bootkrieg,
der mit dem endgültigen Entschluß, den U-Bootkrieg zu
machen, verstummen müsse, geradezu auf die Spitze trei-
ben, ja die innere Front gänzlich zertrümmern; es werde
ferner die Zustimmung unserer Bundesgenossen für den
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
uneingeschränkten U-Bootkrieg und damit unser Bündnis-
system selbst auf das äußerste gefährden. Auch ich müsse
mir die Gewissensfrage stellen, ob ich mit der Einreichung
meines Abschieds eine Demonstration machen dürfe,
die an der bereits für den i. Februar befohlenen Eröffnung
des uneingeschränkten U-Bootkriegs nicht das mindeste
ändere, dafür aber Verwirrung in die eigenen Reihen und
in die Front unserer Bundesgenossen tragen, bei uns das
Vertrauen in den Erfolg des U-Bootkriegs schwächen
und bei unsern Gegnern und den Neutralen von vornherein
Zweifel an unserm Erfolg hervorrufen müsse ; dies lediglich
auf mein persönliches Urteil hin, mit dem ich nachgerade
unter den kompetenten Ratgebern der Krone isoliert sei,
und angesichts der Tatsache, daß doch auch nach meiner
Auffassung die Aussichten eines Erfolges des U-Bootkriegs
sich erhebhch gebessert hätten. Ich müsse mir diese Ge-
wissensfrage um so mehr vorlegen, als es sich in erster
Linie um eine Angelegenheit der auswärtigen Politik und
der Kriegführung handele, also um eine Frage, die nicht
in das Gebiet meiner Verantwortlichkeit falle.
Es war für mich die schwerste Entscheidung meines Lebens.
Sie wurde mir etwas erleichtert dadurch, daß der Kanz-
ler mir die gerade durch Wolff veröffentlichte Antwortnote
der Entente an den Präsidenten Wilson zeigte, die durch
die Maßlosigkeit der angedeuteten Kriegsziele und die
Unverschämtheit der Weigerung, sich mit Deutschland auf
gleichen Fuß stellen zu lassen, jede Friedensmöglichkeit
412
Eröffnung des uneingeschränkten U-Bootkriegs
verschüttete und jeden halbwegs unbefangenen Beurteiler
vonunserm Recht zur äußersten Notwehr überzeugen mußte.
Sie wurde mir erschwert durch die Erwägung, daß es
hier nur ein Entweder — Oder gebe: Entweder pro-
testieren und gehen, oder bleiben, dann aber die einmal
gefallene Entscheidung hinnehmen, sich auf ihren Boden
stellen und auf diesem Boden kämpfen, wie der General
seine Schuldigkeit tut, auch wenn er bei der Feststellung
des Operationsplanes seine Ansicht nicht durchgesetzt hat.
Ich schied von dem Kanzler mit der Zusage, daß ich
ihm helfen würde, die Eröffnung des uneingeschränkten
U-Bootkriegs vor dem Reichstag soweit zu vertreten, wie
es mir nach Lage der Dinge möglich sei.
Der im Großen Hauptquartier gefaßte Beschluß war
dahin gegangen, daß in einem näher umschriebenen Sperr-
gebiet um die britischen Inseln und im Mittelmeer vom
I. Februar an der uneingeschränkte U-Bootkrieg gegen
jeglichen Seeverkehr geführt werden sollte. Der Beschluß
war bis zum letzten Augenblick geheimzuhalten. Erst
am 31. Januar sollte der uneingeschränkte U-Bootkrieg
den Neutralen angekündigt werden, jedoch mit der Maß-
gabe, daß neutrale Schiffe, die am i. Februar auf der Fahrt
nach Häfen im Sperrgebiet sein sollten, während einer
„angemessenen Frist“ geschont werden sollten.
Ich fand diese Art der kurzen Ankündigung ebenso
sinnlos wie provozierend. Aber die Marine hatte auf
dieser Inszenierung aus „marine technischen Gründen“
413
^'riedensbem Übungen und U-Bootkrieg
bestanden, und die Befehle waren, als ich davon erfuhr,
schon hinausgegangen.
Mit Spannung wartete ich nun, wie Herr Wilson sich
bis zur Bekanntgabe der Eröffnung des neuen U-Boot-
kriegs zu der unerhörten Antwort der Entente auf seine
Friedensanregung stellen werde. Hier lag vielleicht noch
ein kleiner Funken von Hoffnung.
Am 22. Januar richtete der Präsident Wilson an den
amerikanischen Senat eine Botschaft, die er noch am selben
Tage den Regierungen der Kriegführenden übermitteln
ließ. Die Botschaft gewährt in die Sinnesart und den Ge-
dankengang ihres Urhebers, in dessen Hände der Gang der
Geschichte damals das Schicksal des alten Europa gelegt
hatte, einen wichtigen Einblick.
Die Botschaft begann mit einer Zensur der Antworten,
die die beiden kriegführenden Gruppen auf die Friedens-
anregung des Präsidenten gegeben hatten: „Die Mittel-
mächte erwiderten in einer Note, die einfach besagte,
daß sie bereit seien, mit ihren Gegnern zu einer Konferenz
zusammenzutreten, um die Friedensbedingungen zu er-
örtern. Die Mächte der Entente haben viel ausführlicher
geantwortet und, wenn auch nur in allgemeinen Umrissen,
so doch mit genügender Bestimmtheit, um Einzelfragen
einzubeziehen, die Vereinbarungen, Bürgschaften und
Wiederherstellungen angeben, die ihnen als'die unumgäng-
lichen Bedingungen einer befriedigenden Lösung erscheinen.
Wir sind dadurch der endgültigen Erörterung des Friedens,
414
Wilsons Botschaft an den Senat
der den gegenwärtigen Krieg beenden soll, um so viel
nähergekommen . ‘ '
Dem Präsidenten fehlte also jedes Verständnis dafür,
daß die von den Ententemächten angedeuteteri Bedin-
gungen derart waren, daß die Entente selbst eine Er-
örterung dieser Bedingungen bei dem damaligen Stande des
Krieges für ausgeschlossen hielt. Die Ausführlichkeit,
mit der die Entente ihr Eroberungs- und Vernichtungs-
programm entwickelt und eine Friedensdiskussion mit den
Mittelmächten abgelehnt hatte, war ihm sichtlich wertvoller
als die Knappheit, mit der die Mittelmächte sich zur
Erörterung eines Friedens, der lediglich Ehre, Dasein und
Entwicklungsfreiheit ihrer Völker sichern sollte, bereit
erklärt hatten. Die Bekundung einer so merkwürdigen
Befangenheit war eine Bestätigung aller Bedenken, die
bisher gegen eine Wilsonsche Friedensvermittlung laut
geworden waren, und gleichzeitig eine Warnung für die
Zukunft, die später im entscheidenden Augenblick leider
nicht genügend beachtet worden ist.
Im Anschluß an diese kurze, für die Frage der Friedens-
verhandlungen allein unmittelbar wichtige Einleitung ent-
wickelte Wilson ausführlich seine Ideen über das künftige
Zusammenleben* der Völker. Dem Frieden müsse eine
Neuordnung der Völkergemeinschaft folgen, an deren
Aufbau die Vereinigten Staaten sich unter allen Um-
ständen beteiligen müßten. Die Grundlage für diesen
Neubau werde durch den Friedensschluß gelegt, der dem
415
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Völkerkrieg ein Ende zu machen habe. Die Hauptfrage sei:
Ist der gegenwärtige Krieg ein Kampf um einen gerechten
und sicheren Frieden oder nur für ein neues Gleich-
gewicht der Kräfte ? Nicht Gleichgewicht, sondern Gemein-
samkeit der Macht sei notwendig, nicht organisierte Neben-
buhlerschaft, sondern organisierter Gemeinfriede. Es müsse
ein Frieden werden ohne Sieg. Ein Siegfrieden würde von
dem Unterlegenen als Demütigung, als Härte, als uner-
trägliches Opfer empfunden werden und einen Stachel,
Rachsucht und bitteres Gedenken hinterlassen, auf dem
das Friedensgebäude wie auf Flugsand ruhen würde. Nur
ein Friede unter Gleichen verspreche Dauer. Die Gleich-
‘ heit der Nationen müsse eine Gleichheit der Rechte sein,
ohne Unterschied zwischen Großen und Kleinen. Das
Recht müsse gegründet sein auf die gemeinsame Kraft,
nicht auf individuelle Nationen. „Die Menschheit hält
jetzt Ausschau nach der Freiheit des Lebens, nicht nach
dem Gleichgewicht der Macht.'* Neben der Gleichberech-
tigung der organisierten Völker sei für einen dauernden
Frieden erforderlich, daß die Regierungen ihre Macht von
der Zustimmung der Regierten ableiteten. Er halte es
z. B. für ausgemacht, daß die Staatsmänner überall über
die Herstellung eines einigen, unabhängigdh, selbständigen
Polen einig seien. Soweit wie möglich, sollte überdies
jedes große Volk eines direkten Ausganges zu den Heer-
straßen der See versichert sein, wenn nicht durch Gebiets-
abtretung, so durch Neutralisierung der Zugangswege.
416
Wilsons Botschaft an den Senat
Die Seewege selbst müßten gleichfalls sov/ohl durch
gesetzliche Bestimmung, wie auch tatsächlich frei sein.
,, Freiheit der Meere ist eine Conditio sine qua non für den
Frieden, für Gleichheit und Zusammenarbeit.'' Wilson
sprach dann weiter von der Notwendigkeit der Rüstungs-
beschränkungen zu Wasser und zu Land. Die Rüstungs-
frage sei am unmittelbarsten und einschneidendsten mit
dem künftigen Geschick der Völker und des Menschen-
geschlechtes verknüpft.
Das waren Gedanken von einer großen Konzeption und
hohem idealem Flug. Aber ihre Verwirklichung war ab-
hängig, wie das Wilson auch selbst ausgeführt hat, von
der Lösung der unmittelbar praktischen Frage der Be-
endigung des Weltkrieges. Und in diesem Punkte brachte
Wilsons Botschaft weniger als nichts; denn sie enthüllte
nur seine völlige Verständnislosigkeit für unsere und unserer
Verbündeten Lebensrechte und Lebensbedürfnisse und
für das Ungeheuerliche der Forderungen der Entente,
die nach deren eigenem Eingeständnis nicht durch einen
Frieden ohne Sieg, sondern nur nach völliger Nieder-
werfung der Mittelmächte erreichbar waren.
Allerdings schien es noch einmal, in allerletzter Stunde,
als wolle und könne Herr Wilson einen Ausweg finden.
Am Sonntag, 28. Januar 1917, ließ mich der Kanzler
noch abends gegen 10 Uhr zu sich bitten. Es war ein
Telegramm des Grafen Bernstorff eingegangen, das nach
meiner Erinnerung folgenden Inhalt hatte: Oberst House
27 Helfferich, Weltkrieg II
417
f'riedensbemühungen iii;d Ü-Bootkrieg
habe ihm im Auftrag des Präsidenten Wilson mitgeteilt,
der Präsident gebe trotz der Ablehnung der Entente die
Hoffnung nicht auf, den Frieden zustandezubringen,
und sei bereit, seine Bemühungen nach dieser Richtung
wieder aufzunehmen. Diese seine Bemühungen würden
ihm wesentlich erleichtert werden, wenn wir uns bereit
fänden, ihm unsere Friedensbedingungen mitzuteilen.
Graf Bernstorff bat, unter diesen Umständen die ihm zur
Übergabe am 31. Januar bereits übermittelte Note, ent-
haltend die Ankündigung des uneingeschränkten U-Boot-
kriegs, vorläufig einbehalten zu dürfen, und empfahl,
dem Wunsche des Präsidenten Wilson nach Mitteilung der
Friedensbedingungen zu entsprechen.
Der Kanzler, der hier noch einmal die Hoffnung auf-
leuchten sah, es könne der Krieg mit Amerika vermieden
und vielleicht sogar der Friede erreicht werden, war in
einer Erregung, wie ich sie nie an ihm gesehen habe. Er
war entschlossen, Wilson durch Bernstorff in großen Um-
rissen die Friedensbedingungen mitzuteilen, die wir für
den Fall des Zustandekommens der von uns vorgeschlagenen
Friedensverhandlungen als unsern Vorschlag mitbringen
wollten. Schwierig lag die von Bernstorff erbetene Ein-
behaltung der U-Bootnote ; denn die U-Boote waren längst
nach ihren Stationen, die zum Teil weit im Westen Irlands
lagen, unterwegs und wahrscheinlich nicht zu erreichen.
Der Kanzler entschloß sich, noch am gleichen Abend
mit dem Staatssekretär Zimmermann nach dem Großen
418
Die deutschen Friedensbedingungen
Hauptquartier zu reisen. Dort wurde ein Antworttele-
gramm an den Grafen Bemstorff vereinbart des Inhalts,
daß wir die neue Initiative des Präsidenten auf das freu-
digste begrüßten und den Botschafter ermächtigten, dem
Präsidenten die Grundzüge unserer Friedensbedingungen,
wie sie bei unserm Friedens Vorschlag vom 12. Dezember
1916 ins Auge gefaßt waren, zu seiner persönlichen In-
formation mitzuteilen. Dies solle gleichzeitig mit der
Übergabe der U-Bootnote geschehen. Die Zurückhaltung
der letzteren sei unmöglich, da die Boote mit den Befehlen
sich bereits auf ihren Stationen befänden und für einen
Gegenbefehl größtenteils nicht erreichbar seien. Wir seien
jedoch bereit, den neuen U-Bootkrieg alsbald einzustellen,
wenn es den Bemühungen des Präsidenten gelungen sein
würde, eine Erfolg versprechende Grundlage für Friedens-
verhandlungen zu sichern.
Die dem Präsidenten Wilson mitgeteilten Bedingungen,
die wir zur Grundlage von Friedensverhandlungen zu
machen beabsichtigten, waren die folgenden:
Zurückerstattung des von Frankreich besetzten Teiles
von Ober-Elsaß.
Gewinnung einer Deutschland und Polen gegen Ruß-
land strategisch und wirtschaftlich sichernden Grenze.
Koloniale Restitution in Form einer Verständigung,
die Deutschland einen seiner Bevölkerungszahl und
der Bedeutung seiner wirtschaftlichen Interessen ent-
sprechenden Kolonialbesitz sichert.
27’
419
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Rückgabe der von Deutschland besetzten franzö-
sischen Gebiete unter Vorbehalt strategischer und
wirtschaftlicher Grenzberichtigungen sowie finanzieller
Kompensationen.
Wiederherstellung Belgiens unter bestimmten Garan-
tien für die SicherheitDeutschlands, welche durchVerhand-
lungen mit der belgischen Regierung festzustellen wären.
Wirtschaftlicher und finanzieller Ausgleich auf der
Grundlage des Austausches der beiderseits eroberten
und im Friedensschluß zu restituierenden Gebiete.
Schadloshaltung der durch den Krieg geschädigten
deutschen Unternehmungen und Privatpersonen.
Verzicht auf alle wirtschaftlichen Abmachungen und
Maßnahmen, welche ein Hindernis für den normalen
Handel und Verkehr nach Friedensschluß bilden würden,
unter Abschluß entsprechender Handelsverträge.
Sicherstellung der Freiheit der Meere.
' Die deutsche Regierung erklärte sich ferner bereit,
auf der Basis der Senatsbotschaft des Präsidenten Wilson
an der von ihm nach Beendigung des Krieges angestreb-
ten internationalen Konferenz teilzunehmen.
Das Telegramm an den Grafen Bemstorff ist am
31. Januar 1917, unmittelbar nach Überreichung der
U-Bootnote an Herrn Gerard, den Mitgliedern des Haupt-
ausschusses des Reichstags in geheimer Sitzung mitgeteilt
worden. Auch die Mehrheitssozialdemokraten erkannten
es als einen Versuch an, die Vereinigten Staaten dem Kriege
420
Die deutschen Friedensbedingungen
fernzuhalten und den Weg zum Frieden offenzuhalten.
Die Grundlinien unseres Friedensprogramms gaben wegen
ihrer Bescheidenheit Anlaß zur Kritik. Die Sprecher der
beiden konservativen Parteien, der Nationalliberalen und des
Zentrums, wenn ich mich recht erinnere, auch der Frei-
sinnigen, sprachen den Wunsch aus, der Kanzler möge sich,
wenn es nun doch noch zu Friedens Verhandlungen kommen
sollte, nicht an dieses Programm für gebunden halten.
Es kam nicht zu Friedens Verhandlungen, sondern sofort
nach Überreichung der Note zum Abbruch der diploma-
tischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten
und dem Deutschen Reiche und einige Wochen später zur
Kriegserklärung.
Ich habe mich bemüht, im Vorstehenden die verwickel-
ten Zusammenhänge zwischen den Friedensbemühungen,
denjenigen der Reichsregierung wie denjenigen Wilsons,
und dem U-Bootkrieg zu entwirren und klarzulegen.
Nach bestem Wissen und Gewissen habe ich die Vorgänge
dargestellt, wie ich sie im Werden gesehen habe. Ich weiß,
daß andere, darunter auch solche Persönlichkeiten, die
jene tragische Entwicklung handelnd miterlebt haben,
nicht in allen Punkten mit meiner Auffassung der Gescheh-
nisse übereinstimmen, ja in wesentlichen Punkten von
meiner Auffassung ab weichen. Das gilt vor allem von dem
Grafen Bernstorff, der als Botschafter in den Vereinigten
Staaten auf seinem Posten jenseits des Atlantischen Ozeans
421
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
die Friedensbemühungen und die zum Krieg mit Amerika
führende Entwicklung mitgemacht hat.
Graf Bernstorff war damals und ist wohl heute noch
nicht nur davon überzeugt, daß der Präsident Wilson in
jener Zeit ehrlich den Frieden wollte, sondern auch daß
er den beiden kriegführenden Parteien ohne Voreinge-
nommenheit gegenüberstand und bereit war, einen für
uns annehmbaren und erträghchen Frieden durchzusetzen.
Die Friedensbemühungen des Präsidenten Wilson hätten
nach seiner Überzeugung zum Erfolg geführt, wenn nicht
wir, die wir doch selbst den Präsidenten fortgesetzt zur
Friedens Vermittlung gedrängt hätten, in dem Augenblick,
wo der Erfolg reifte, mit dem uneingeschränkten U-Boot-
krieg dem Präsidenten geradezu ins Gesicht geschlagen,
jede Friedensmöghchkeit zerstört und Amerika zum Krieg
gegen uns gezwungen hätten.
Ich selbst habe bis zur letzten Möglichkeit dafür gekämpft,
daß die Entscheidung über die Eröffnung des uneinge-
schränkten U-Bootkrieges vertagt werde, bis sich die Aus-
wirkung unseres Friedensschrittes wie desjenigen des Präsi-
denten Wilson vollkommen übersehen lasse. Wenn ich der
Auffassung des Grafen Bernstorff entgegentrete, so plädiere
ich also gewiß nicht in eigener Sache, sondern ledighch im
Interesse der Aufklärung und der geschichthchen Wahrheit.
Ich will dem Präsidenten Wilson den ehrlichen Willen,
einen nach seiner Ansicht gerechten Frieden herbei-
zuführen, nicht abstreiten. Aber ich kann ihm weder
422
Bernstorffs Auffassung
zubilligen, daß er in der Herbeiführung des Friedens einen
besonderen Eifer an den Tag legte, noch daß er — bei allem
subjektiven Bestreben nach Gerechtigkeit — den beiden
kriegführenden Gruppen objektiv dasselbe Maß von Ver-
ständnis und Wohlwollen entgegenbrachte.
Anfang Mai 1916 hat nach des Botschafters Gerard eige-
nem Bericht der Reichskanzler von Bethmann Hollweg
diesem gegenüber die Hoffnung ausgesprochen, der Prä-
sident Wilson werde nunmehr groß genug sein, sich der
Sache des Friedens anzunehmen. Damals war es noch
ein halbes J ahr bis zur Präsidentenwahl ; das Bevorstehen
der Präsidentenwahl konnte also noch kein ernstliches
Hindernis für eine Friedensaktion sein. Aber der Präsident
tat nichts für den Frieden. Er steckte unser Zugeständnis
der Einstellung des uneingeschränkten U-Bootkriegs ein und
versuchte nicht einmal irgendeinen ernsthaften Schritt, um
England zur Rückkehr auf den Boden der völkerrechtlichen
Normen des Seekriegsrechts zu veranlassen. Die deutsche
Politik ist dabei gewiß nicht frei von Fehlern gewesen.
Präsident Wilson hätte sich vielleicht anders verhalten,
wenn die Zurückführung des U-Bootkriegs auf die Formen
des Kreuzerkriegs nicht erst im Mai 1916 erfolgt wäre,
nachdem die durch die Versenkung der ,,Lusitania“ geschaf-
fene kritische Lage durch die Torpedierung der ,,Arabic‘‘ und
schließlich der „Sussex“ — um nur die wichtigsten Fälle
zu nennen — eine heillose Erschwerung erfahren hatte,
sondern nach meinem leider nicht befolgten Vorschlag schon
423
Friedensbemühungen und .U-Bootkrieg
im Juli — August 1915 in Beantwortung des Angebotes des
Präsidenten, mit ihm zur Wiederherstellung der Freiheit
der j\Ieere noch während des Krieges, gegen wen es auch
sei, zusanunenzu wirken. Aber sei dem, wie ihm wolle —
die Tatsache bleibt bestehen, daß der Präsident Wilson
auf die von deutscher Seite schon Anfang Mai 1916
gegebene Anregung, sich der Sache des Friedens anzu-
nehmen, viele Monate hindurch nichts tat, nicht ein-
mal eine Zusage gab, daß er etwas tun werde, daß er
schließhch mit einem Friedensschritt erst hervortrat, nach-
dem Deutschland und seine Verbündeten ihrerseits den
Friedens Vorschlag vom 12. Dezember 1916 gemacht hatten.
Daß der Präsident Wilson in Sprache, in Lebensauf-
fassung und Weltanschauung dem angelsächsischen Kul-
turkreis angehört und infolgedessen innerhch unsem
Feinden nähersteht als uns, ist kein Vorwurf gegen Herrn
Wilson, war aber für uns eine Tatsache, die wir ungestraft
nicht übersehen durften. Daß Herr Wilson objektiv nicht
mit dem gleichen Maße messen konnte, hatte sich bald nach
Kriegsausbruch in dem ersten Depeschenwechsel zwischen
dem Kaiser und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten
gezeigt. Seit den Verhandlungen mit dem Präsidenten
vom Oktober — November 1918 über die Herbeiführung
eines Waffenstillstandes und die Anbahnung von Friedens-
verhandlungen sollte auch dem größten deutschen Verehrer
Wilsons klar geworden sein, daß dieser Mann nicht im-
stande ist, sich von Vorurteil und Voreingenommenheit
424
Bernstorffs Auffassung
uns gegenüber zu befreien. Was wir von Herrn Wilson an
gerechter Würdigung unserer nationalen Ehre und Lebens-
bedürfnisse zu gewärtigen hatten, war schon geradezu über-
wältigend zum Ausdruck gekommen in seiner Botschaft
an den Senat voni 22. Januar 1917. In dieser Botschaft
tat er unsere Bekundung der Bereitwilligkeit zu einem
Frieden, der unser Verteidigungsziel verwirklichen und
Ehre, Dasein und Entwicklungsfreiheit unserer und un-
serer verbündeten Völker sichern sollte, kurzerhand ab mit
der Behauptung, wir hätten auf seine Friedensanregung
„einfach“ unsere Bereitwilligkeit erklärt, mit unsern
Gegnern zu einer Konferenz zusammenzutreten, während
er die „viel ausführlichere“ Antwort unserer Gegner, die
nichts weniger als die Zerstücklung Österreich-Ungarns
und der Türkei und die Verstümmelung Deutschlands ver-
langte, als einen Schritt bezeichnete, der die endgültige
Erörterung des Friedens „so viel näher“ gebracht habe!
Wenn Graf Bernstorff trotz dieser Unzweideutigkeit
auch noch in der letzten Januarwoche des Jahres 1917
der Ansicht war und heute noch, wie es den Anschein hat,
der Ansicht ist, daß Wilson damals im Begriff gewesen sei,
sich für einen für uns annehmbaren und erträglichen
Frieden einzusetzen und sich dafür mit Erfolg einzusetzen,
so ist das nur erklärlich durch die nachhaltige Wirkung
von Suggestionen, denen er seit zwei Jahren ohne das
Gegengewicht einer auch nur einigermaßen ausreichenden
Fühlung mit der Heimat ausgesetzt war. Der Briefverkehr
425
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
und jede Art persönlicher Fühlung zwischen Berlin
und der deutschen Botschaft in Washington war völlig
abgebunden. Die Benutzung unserer eigenen amerika-
nischen Stationen für drahtlosen Verkehr hatte uns die
Regierung der Vereinigten Staaten bald nach Kriegs-
ausbruch für jede Art von Chiffretelegrammen unmöglich
gemacht, während die britischen Kabel unbeschränkt
unsern Feinden zur Verfügung standen. Die Möglich-
keit, durch Vermittlung der amerikanischen Botschaft in
Berlin und der amerikanischen Regierung in Washington
Chiffretelegramme an unsem Botschafter gelangen zu
lassen, wurde nur innerhalb der engsten Grenzen gewährt.
So ist es schließhch zu verstehen, daß unserer Vertretung
jenseits des großen Wassers der Kontakt mit dem um seine
Existenz ringenden deutschen Volke und das Augenmaß
für das uns Notwendige und Erträgliche verlorenging.
Jedenfalls stand für uns in der Heimat um die Mitte
des Januar 1917 fest, daß sowohl die deutsche wie auch
die amerikanische Friedensaktion an dem unerbitthchen
Eroberungs- und Vemichtungs willen unserer Feinde ge-
scheitert seien. Den Temperamentvolleren genügten zur
Bestätigung dieser Überzeugung bereits die Reden, mit
denen die feindlichen Staatsmänner in den unmittelbar
auf den 12. Dezember 1916 folgenden Tagen unsern
Friedens Vorschlag mit Spott und Hohn zurückwiesen, jeden-
falls aber die Antwortnote, die uns die Ententemächte
am 31. Dezember 1916 überreichen ließen. Für die
426
Bernstorffs Auffassung
Vorsichtigeren war jeder Friedens versuch erledigt mit der
ungeheuerlichen Antwort, die Herr Briand namens der
Ententeregierungen am lo. Januar 1917 auf den Friedens-
schritt des Präsidenten Wilson dem amerikanischen Bot-
schafter in Paris übergab. Die Senatsbotschaft des Prä-
sidenten Wilson vom 22. Januar 1917 konnte diesseits
des Atlantischen Ozeans nicht als eine Fortsetzung der
Friedensbemühungen, sondern lediglich als eine nur aus un-
heilbarer Voreingenommenheit erklärliche Parteinahme des
Präsidenten Wilson zugunsten unserer Feinde aufgefaßt
werden. Niemand in unseren leitenden Kreisen, auch ich
nicht, der ich mich bis zur Entscheidung und über die
Entscheidung hinaus gegen die alsbaldige Eröffnung des
uneingeschränkten U-Bootkriegs eingesetzt hatte, konnte
nach diesen Vorgängen noch der Meinung sein, daß man
jenseits des Atlantischen Ozeans die Friedensaktion als
noch nicht erledigt ansah und an ihre Fortsetzung dachte.
Erst das am 28. Januar abends hier eingegangene Tele-
gramm des Grafen Bemstorff zeigte, daß Präsident Wilson
einen erneuten Friedensschritt zu machen beabsichtigte.
Auf dieses Telegramm hin ist, soweit ich es beurteilen
kann, von deutscher Seite das nach Lage der Dinge über-
haupt noch mögliche geschehen, um dem Präsidenten
Wilson freies Feld für diesen neuen Versuch zu geben.
Der Präsident hat es aber vorgezogen, trotz der Mitteilung
der von uns als Grundlage für die erste Friedensaus-
sprache ausgearbeiteten Bedingungen und trotz unserer
427
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
Bereitwilligkeit, den uneingeschränkten U-Bootkrieg als-
bald wieder einzustellen, wenn es ihm gelungen sei, erfolg-
versprechende Grundlagen für Friedensverhandlungen zu
sichern, brüsk jede weitere Verhandlung abzuschneiden
und die diplomatischen Beziehungen mit uns ohne jede
weitere Begründung abzubrechen.
Es mag als ein müßiges Fragen erscheinen, ob es dem
Präsidenten Wilson, falls die Erklärung des uneinge-
schränkten U-Bootkriegs nicht in jenen kritischen Tagen
erfolgt wäre, gelungen wäre, den Frieden herbeizuführen,
oder ob wenigstens die Vereinigten Staaten in diesem Falle
dem Krieg ferngeblieben wären. Aber diese Fragen haben
unser ganzes Volk so sehr in seinen Tiefen erregt, daß es
mir ein Bedürfnis ist, auch hierüber ein Wort zu sagen.
Ich halte es für ausgeschlossen, daß die von Wilson
gegen Ende Januar 1917 ins Auge gefaßte neue Friedens-
aktion zu einem für uns annehmbaren Frieden hätte füh-
ren können. Die von der Entente aufgestellten Bedingun-
gen, an deren Ernsthaftigkeit wir nicht zweifeln können,
waren derart, daß nur ein gänzlich niedergebrochenes
Deutschland sie annehmen konnte. Wer hätte es damals
in Deutschland wagen können, Elsaß-Lothringen mit
weiteren Teilen des linken Rheinufers und unsere Ost-
marken preiszugeben, dem deutschen Volk eine gewal-
tige Kriegsentschädigung aufzuladen, uns für die Zukunft
unter die Vormundschaft der Entente zu stellen, dazu
unsere Bundesgenossen in der schnödesten Weise der
428
Wilsons Politik
Zertrümmerung preiszugeben? Auch nur ein Status-quo-
Frieden wäre nur unter den schwersten inneren Kämpfen
durchzufechten gewesen ; er wäre durchgefochten worden,
aber was darüber hinausging, war schlechterdings unmög-
lich. Nur wenn der Präsident Wilson bereit gewesen wäre,
mit dem ganzen Schwergewicht der amerikanischen Macht
auf die Ententemächte zu drücken, um sie zu einer völligen
Sinnesänderung zu zwingen, und nur wenn er bei einem
solchen Vorgehen die Unterstützung des amerikanischen
Volkes und seiner Vertretung gefunden hätte, wäre Aus-
sicht gewesen, zum Frieden zu kommen. Dazu war aber
Wilson, der in seiner Senatsbotschaft vom 22. Januar 1917
die unerhörten Kriegsziele der Entente als diskutabel be-
handelte, ganz offensichtlich nicht bereit, ebensowenig
Volk und Kongreß der Vereinigten Staaten. Viel näher
lag die Wahrscheinlichkeit eines amerikanischen Druckes
auf uns und unsere Verbündeten.
Diese Wahrscheinlichkeit lag um so näher, als sich in
der am 21. Dezember 1916 in Berlin überreichten Friedens-
note der amerikanischen Regierung der Passus fand,
daß die Interessen der Vereinigten Staaten durch den
Krieg „ernstlich in Mitleidenschaft gezogen seien**, und
daß das Interesse der Union an einer baldigen Beendigung
des Krieges sich daraus ergebe, daß „sie offenkundig ge-
nötigt wäre, Bestimmungen über den bestmöglichen Schutz
ihrer Interessen zu treffen, falls der Krieg fortdauern sollte**.
Diese kaum verhüllte Drohung wurde noch deutlicher
429
Friedensbemühungen und U-Bootkrieg
gemacht durch ein Interview, das der Staatssekretär
Lansing bald darauf Vertretern der amerikanischen Presse
gewährte und in dem er mit unzweideutigem Hinweis auf
Deutschland sagte, Amerika stehe nahe am Krieg.
Es ist also auf der einen Seite so gut wie ausgeschlossen,
daß der Präsident Wilson, auch wenn wir damals den
uneingeschränkten U-Bootkrieg nicht gemacht hätten,
der Welt den Frieden gebracht hätte. Auf der andern
Seite ist es nicht völlig ausgeschlossen, daß gerade aus
der Fortsetzung der Wilsonschen Friedensaktion der Krieg
zwischen Amerika und Deutsclüand entstanden wäre, der
nun aus der Veranlassung des U-Bootkriegs entstanden ist.
Ich bedaure es, daß die Sachlage, die im Januar 1917
zur Klärung drängte, infolge der überstürzten Eröffnung
des uneingeschränkten U-Bootkriegs wohl niemals in
einer den letzten Zweifel ausschließenden Weise wird
aufgehellt werden können. Für mich selbst steht aus dem
Miterleben jener kritischen Epoche unerschütterlich fest:
Wüsons geschichtliche Mission, der Welt zu einem Frieden
unter Gleichen zu verhelfen, ist gescheitert an seiner Ver-
ständnislosigkeit für unsere Lebensrechte und Lebensnot-
wendigkeiten, gescheitert nicht erst in den schwarzen
Oktober- und Novemberwochen 1918, sondern schon um
die Wende der Jahre 1916 und 1917.
Diese Ausführungen waren niedergeschrieben
und gedruckt vor der Bekanntgabe der unter
Wilsons Mitwirkung zustandegekommenen
Friedensbedingungen der gegen uns verbün-
deten Mächte. Diese Bedingungen sind eine
Bestätigung des oben ausgesprochenen U rteils .
Als erster Teil dieses Werkes ist erschienen
Karl Helfferich
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Die britische Handelseifersucht / Die Bagdadbahn / Die
Flottenfrage / Das Wettrüsten / Der Dreibund Ver-
sicherungs-Gesellschaft, die Triple -Entente Erwerbs- Ge-
sellschaft / Die bosnische Krisis / Die türkische- Re-
volution / Die Marokkokrisis von 19H / Lord Haldanes
Mission / Flottenfrage / Der Tripoliskrieg / Die beiden
Balkankriege / Der Balkanbund / Englands zwiespältige
Politik / Die letzten Verständigungsversuche / Licpiidation
des portugiesischen Kolonialbesitzes / Bagdadbahn und
deutsch - englische Beziehungen / Die jungtürkische Re-
volution / Mesopotamien / Das britisch-russische Marine-
abkommen / Der Geist der britischen Politik / Die Er-
mordung des Erzherzogs Franz Ferdinand / Ultimatum
an Serbien / Deutschlands Friedenswille; die mangelhafte
militärische, diplomatische und wirtschaftliche Kri gs- Vor-
bereitung / Rußlands Einmischung / Meine Unterredung
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Mobilmachung / Der Triumph der britischen Politik
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AUS DEM INHALT:
Die ersten Kriegsmonate / Keine Hoffnung auf baldig«
Beendigung des Krieges / Glänzende Haltung der deutscher
Großbanken / Kein Moratorium / Sturm auf die Banken
Der »Wirtschaftliche Generalstab« fehlte / Helfferich
Reichsschatzsekretär / Die Finanzierung kriegswichtiger
Unternehmungen / Stickstoffrage / Helfferich für Zusam^
menwirken von Reich und privatem Unternehmertum, nicht
für radikale Sozialisierung / U^Handelsboote / »Geld spielt
keine Rolle« / Die Kriegsanleihen / Kriegssteuern / Die
Türkei als Bundesgenosse / Italienische Kriegserklärung
Masurenschlacht / »Lusitania« / Bulgariens Eingreifen
Angriff auf Verdun ein schwerer Fehler / Falkenhayn oder
Hindenburg^Ludendorff /Rumäniens Kriegserklärung / Hin«
denburg Chef des Feldheeres / Helfferich Staatssekretär des
Innern / Kriegsrohstoff « Abteilung / Kriegsernährungs*
amt / Skagerrak / Londoner Deklaration / Postkontrolle/
Schwarze Listen / Der Wirtschaftskampf um die Neu«
tralen / Z E.G. »aus Unkenntnis und Unverstand so viel
angefeindet« / Ersatzstoffe / Rationierung und Höchst«
preise / Kriegs«Rohstüffgesellschaften / Hilfsdienst / Muni«
tionskrisis / Entstehung des Kriegsamts / »Abkehrschein«
Hindenburg« Programm Programm der Selbstüberschätzung
Friedensbemühungen und U «Bootkrieg / Bethmann«Holl«
wegs Kriegsziele / Weddigen / Tirpitz / Helfferich für
Zusammenarbeiten mit Wilson / Chef des Admiralstabes
gegen Helfferich / Der verschärfte U«Bootkricg / Dilet«
tantische Denkschrift des Admiralstabes / Tirpitz' Rück«
tritt / Der Sussex«Fall / Deutschlands Friedensvor«
schlag / Schroffe Ablehnung / Der Kaiser über Luden«
dorff / Eisiger Empfang des Kanzlers in Pless / Fest«
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vor der ungeheuren Gefahr des Terrors, in dessen blutigen
Sumpf damals das gross und ideal begonnene Werk ver-»
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Ordnung und Recht sind, und sie zeigt den Weg zum Neuauf-
bau der in ihren Grundfesten erschütterten deutschen Kultur.
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rung des Weltgeschehens bietet die neueste Schrift des
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Wesens" erschienen und gehört zu den tiefsten und ge-
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düngen, Handlungen, Situationen, alle jenen zarten Schwingung-
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sie gehen nicht verloren, sondern stark und groß und mit un»
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Die Revolution und die Revolutionäre
Die falsdien und die wahren Revolutionäre / Weltkrieg und
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Der alte und der neue Glaube an die Sozialisierung / Die
deutsche Volkswirtschaft und die Arbeitseinstellungen / Soziali'
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