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Full text of "Vom kriegsausbruch bis zum uneingeschränkten U-bootkrieg"

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THE  UNIVERSITY 


OF  ILLINOIS 
LIBRARY 

0^0.0113 

H 361^ 


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in  2017  . with  funding  from 

University  of  Illinois  Urbana-Champaign  Alternates 


https://archive.org/details/vomkriegsausbrucOOhelf 


Der  Weltkrieg 


von 

Karl  Helfferich 


n.  Band 


t 9 t 9 


Verlegt  bei  Ullstein  & Co  in  Berlin 


Vom  Kriegsausbruch 
bis  ^um  uneingeschränkten 
U-Bootkrieg 

von 

Karl  Helfferich 


19  19 


Verlegt  bei  Ullstein  & Co  in  Berlin 


Alle  Rechte,  insbesondere  das  Recht  der  Übersetzung,  Vorbehalten 
Amerikanisches  Copyright  1919  by  Ullstein  & Co,  Berlin' 


^40.9 1 ! 3 

H 3 to  V 


Inhalt 


Vorwort 

Umfang  und  Art  des  Krieges 

Vorbemerkung  13.  Übermacht  der  Entente  14. 

Die  militärische  Gestaltung  des  Krieges  .... 
Mobilmachung  und  erste  Erfolge  15 — 17.  Marneschlacht 
18,  19.  Die  Befreiung  Ostpreußens  20,  21.  österreich- 
ungarische Niederlagen  21.  Keine  Aussicht  auf  ein 
rasches  Kriegsende  21. 

Der  Krieg  und  die  deutschen  Finanzen 

Bestrebungen  des  Reichsbankpräsidenten  Havenstein 
22,  23.  Glaube  des  Auslandes  an  unsere  finanzielle  Unter- 
^ legenheit  24,  25.  Geldmarkt  und  Börse  unter  der  Ein- 
iJ  Wirkung  des  Kriegsausbruchs  26 — 33.  Erste  Kriegs- 
anleihe  33,  34. 

^ Der  Krieg  und  die  deutsche  Wirtschaft 

^ „Wirtschaftlicher  Generalstab“  fehlte  34 — 36.  England 
^ geht  gleich  zum  Wirtschaftskrieg  über  37 — 40.  Aus- 
sichten  der  Vergeltungspolitik  41.  Neuorganisation 
^ unserer  Wirtschaftsverfassung  42 — 44.  Ansichten  über 

die  Dauer  des  Krieges  44,  45.  Entstehung  der  Kriegs- 
$ Wirtschaft  45 — ^47. 


9 

11—47 

15 — 22 


22—34 


34—47 


J 


Inhalt 


Die  politische  und  militärische  Entwicklung  des 


Krieges  bis  zum  Friedensangebot 49 — 108 

Vorbemerkung 51 

Die  Türkei  als  Bundesgenosse 52 — 64 


Natürlicher  Zwang  für  die  Türkei  zum  Anschluß  52 — 54. 
DardaneUensperre  55,  56.  Notwendigkeit  der  Öffnung 
des  Donauweges  57 — 60.  Versuch  der  Forcierung  der 
Dardanellen  durch  die  Entente  61 — 64. 

Italien 64 — 71 

Neutralität  Italiens  64 — 67.  Bülow  in  Rom  67 — 71. 

Italiens  Forderungen  68,  69.  Italienische  Kriegserklä- 
rung 69,  70. 

Von  der  italienischen  Kriegserklärung  bis  zum 

Eintritt  Bulgariens  in  den  Krieg 71 — 91 

Masurenschlacht  71,  72.  Durchbruchsversuche  der 
Entente  72 — 74.  Befreiung  Galiziens  und  Eroberung 
Polens  74 — 76.  Diplomatisches  Ringen  auf  dem  Bal- 
kan 77 — 80.  „Lusitania“  versenkt  81,  82.  Durch- 
stoß nach  der  Türkei  oder  Ausnutzung  des  gahzischen 
Sieges?  82 — 91. 

Vom  Eingreifen  Bulgariens  bis  zum  rumänischen 

Krieg 91 — 108 

Entente- Offensive  im  Westen  91 — 93.  Eingreifen  Bul- 
gariens, Eroberung  Serbiens,  Besetzung  Salonikis  durch 
die  Entente,  Kapitulation  Montenegros  93,  94.  Ver- 
fehlter Angriff  auf  Verdun  95 — 97.  österreichischer 
Vorstoß  gegen  Asiago  und  Arsiero,  Brussiloff-Offensive, 
Somme-Offensive  1916  97 — 99.  Frage  des  einheitlichen 
Oberbefehls  im  Osten,  Hindenbu^  Chef  des  Generalstabs 
des  Feldheeres  99 — 103.  Rumäniens  Kriegserklärung 
104 — 106.  Niederwerfung  Rumäniens  106 — 108. 


Inhalt 


Finanzielle  Kriegführung 109 — 171 

Reichsschatzamt iii — 115 

Übernahme  des  Reichsschatzamts  iii — 114.  Falsche 
Sparsamkeit  114,  115. 

Die  Finanzierung  kriegswichtiger  Unterneh- 
mungen   115 — 131 

Stickstofffrage  1 1 5 — 122.  Reichsstickstoffwerke  122 — 124. 
Stickstoffhandelsmonopol  124 — 127.  Kriegsrohstoff- 
Abteilung  und  Reichsschatzamt  127,  128.  Handels- 
U-Boote 128 — 131. 

Kriegskosten  und  Sparsamkeit 132 — 139 

Entwicklung  der  Kriegsausgaben  132,  133.  „Geld  spielt 
keine  Rolle“  134 — 136.  Stabilität  der  Kriegsausgaben 
vom  Frühjahr  1915  bis  zum  Herbst  1916.  Legenden- 
bildung über  Geldverweigerung  des  Reichsschatzamtes 

136—139- 

Die  Kriegsanleihen 139 — 153 

Methoden  zur  Aufbringung  der  Mittel  für  die  Krieg- 
führung 139 — 142.  Der  Gedanke  der  finanziellen  Welu:- 
pflicht  145.  Deutsche  und  englische  Anleihepohtik 
145 — 151.  Ungeheure  Steigerung  der  Kriegsausgaben 
vom  Herbst  1916  an  152,  153. 

Kriegssteuern 153 — 168 

Kriegssteuern  als  Ergänzung  der  Anleihepolitik?  Ver- 
gleich mit  England  153 — 159.  Kriegsgewinnsteuer,  Ver- 
brauchs- und  Verkehrssteuern  im  Reichstage  160 — 168. 

Finanzielle  Vorschüsse  an  unsere  Verbündeten  168 — 171 

Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 173 — 282 

Reichsamt  des  Innern  175 — 183 

Übernahme  des  Reichsamts  des  Innern  175 — 177.  Ge- 
schäftsbereich des  Reichsamts  des  Innern,  ICriegsroh- 
stoffabteilung,  Kriegsernährungsamt  177 — 183. 


Inhalt 


Deutschland  als- belagerte  Festung 

Skagerrak,  Kreuzer  krieg  184,  185.  Londoner  Dekla- 
ration, Ausdehnung  des  Bannwarenbegriffes  185 — 188. 
Die  Nordsee  von  England  zum  Kriegsgebiet  erklärt, 
Verhalten  der  Neutralen  188 — 191.  Kontrolle  des  neu- 
tralen Handels  19 1 — 196.  Rohstoffbezug  aus  den  be- 
setzten Gebieten  196 — 198.  Ernährungsschwierigkeiten 
bei  den  Verbündeten  198 — 200.  Ernteerträgnisse  und  Ver- 
änderungen des  Viehbestandes  in  Deutschland  200,  201. 

Der  Wirtschaftskampf  um  die  Neutralen  . . . . 
Deutscher  Gegendruck  auf  die  Neutralen  202,  203.  Re- 
glementierung und  Zentralisation  der  Ausfuhr  und  Ein- 
fuhr 203,  204.  Wirkungen  des  planlosen  Einkaufs  205, 
206.  Zentral-Einkaufs-Gesellschaft  207 — 209.  Plan- 
mäßige Verbindung  von  Ausfuhrgenehmigungen,  Einfuhr- 
geschäften und  Kreditabmachungen  210 — 215.  Günstige 
Gestaltung  unserer  Einfuhr  215^ — 221. 

Die  innere  Kriegswirtschaft 

Die  Technik  im  Dienste  der  Kriegswirtschaft 
Steigerung  der  wirtschaftlichen  Kräfte  222,  223.  Er- 
satzstoffe, neue  Erfindungen  224 — 227. 

Umstellung  der  Unternehmungen  und  Um- 
gruppierung der  Arbeitskräfte 

Umstellung  der  Produktion  227,  228.  Umgruppierung 
der  Arbeiterschaft  228 — 231. 

Verbrauchsregelung  und  Volksernährung  . . . 
Höchstpreise,  Rationierung,  Beschlagnahme,  Bewirt- 
schaftung 232 — 234.  Kjriegsgetreidegesellschaft235 — 237. 
Reglementierung  und  Syndizierung  des  Handels,  Kriegs- 
•wirtschaftliche  Reichsstellen  238.  Übertreibung  der 
Zwangswirtschaft  239,  240. 

Bewirtschaftung  der  Rohstoffe 

Beschlagnahme  und  Bewirtschaftung  240,  241.  Kriegs- 


184 — 201 


202 — 221 


221 —  249 

222 —  227 


227 — 232 

232 — 240 


240 — 249 


Inhalt 


rohstoff- Gesellschaften  241 — 243.  Rationelle  Ausnutzung 
der  Höchstleistungsbetriebe,  Zeitungsgewerbe  243 — 249. 

Hilfsdienstgesetz  und  Hindenburg  - Programm  249 — 282 
Munitionskrisis  249 — 254.  Hindenburg-Programm,  Hilfs- 
dienstgesetz 254 — 259.  Kriegsamt  und  Durchführung 
des  Hilfsdienstgesetzes  259 — 272.  Abkehrschein  273, 

274.  Lohntreiberei  275,  276.  Kritik  des  Hindenburg- 
Programms  und  des  Hilfsdienstgesetzes  276 — 278.  Trans- 
port- und  Kohlenkrisis  278 — 281.  Finanzielle  Über- 
spannung 281.  Überschätzung  der  deutschen  Volks- und 
Wirtschaftskraft  282.  , ^ 

Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 283 — 430 

Kriegführung  und  Diplomatie  als  Mittel  der  Politik 
285 — 288. 

Die  Friedensfrage 

Langsame  Gewöhnung  an  den  Gedanken  des  Erschöp- 
fungskrieges 288 — 290.  Bethmann  Hollwegs  Kriegsziele 
290 — 292.  Deutschlands  Friedensbereitschaft,  Ver- 
nichtungswille der  Entente  292 — 294.  Bemerkungen  zur 
Politik  des  Kanzlers  294 — 299. 

Die  erste  Phase  des  U-Bootkriegs 

Tirpitz  über  die  Möglichkeit  eines  U-Bootkrieges  300. 
Bekanntmachung  des  U-Boot-Handelskrieges  301,  302. 

Der  Kaiser  über  die  Kriegführung  303.  Schonung  der 
neutralen  Schiffe  304.  Englands  Abhängigkeit  vom 
Schiffsverkehr  304 — 306.  Proteste  der  Neutralen  306, 

307.  Deutsch-amerikanischer  Notenwechsel  307 — 314. 

Versenkung  der  „Lusitania“  314 — 317.  „Freiheit  der 
Meere“  318 — 323.  „Arabic“  versenkt  323 — 325. 

Der  verschärfte  U-Bootkrieg 

Lansings  Vorschlag  über  die  U-Boot- Kriegführung  an  die 
Entente- Vertreter  325 — 328.  Wiederaufnahme  der 


288 — 299 


300—325 


325—338 


Inhalt 


„Lusitania* '-Angelegenheit  328,  329.  Stellung  der  mili- 
tärischen Führung  und  des  Kanzlers  zum  uneinge- 
schränkten U-Bootkrieg  329,  330.  Verschärfter  U-Boot- 
krieg  330,  331.  Haltung  Amerikas  332 — 335.  For- 
derung des  uneingeschränkten  U-Bootkrieges,  Denk- 
schrift des  Admiralstabes  335,  336.  Tirpitz’  Rücktritt 
337.  Reichstag  und  U-Bootkrieg  337,  338. 

Der  „Sussex“- Fall 

Note  Wilsons  339 — 342.  Amerika  oder  Verdun?  343. 
Deutsch-amerikanischer  Notenwechsel  344 — 347.  Ein- 
stellung des  verschärften  U-Bootkriegs  347 — 349. 

Die  Bemühungen  Bethmann  Hollwegs  um  einen 

amerikanischen  Friedensschritt 

Ineinandergreifen  der  U-Boot-  und  Friedensfrage  349, 
350.  Bemühungen  bei  Wilson  351 — 353.  Gerards  Reise 
nach  Amerika,  Wilsons  Zurückhaltung  353 — 355. 

Der  deutsche  und  der  amerikanische  Friedens- 
schritt   

Presserede  Greys  355,  356.  Günstige  militärische  Posi- 
tion für  einen  Friedensschritt  3 56 — 3 58.  Antwort  an  Grey 
359,  360.  Deutscher  Friedensvorschlag  an  die  krieg- 
führenden  Staaten  360 — 369.  Friedensnote  Wilsons  an 
alle  Mächte  369 — 372.  Zustimmende  Antworten  Deutsch- 
lands und  seiner  Verbündeten,  schrofi  ablehnende  Ant- 
worten der  Alliierten  372 — 379. 

Der  uneingeschränkte  U-Bootkrieg 

Keine  amerikanische  Bemühung  zur  Aufhebung  der 
Blockade  379 — 381.  Wiederaufnahme  der  U-Bootfrage 
381 — 383.  Verhandlungen  im  Hauptausschuß  über  den 
U-Bootkrieg,  meine  Stellungnahme  gegen  den  U-Boot- 
krieg 383 — 390.  Zentrumserklärung  und  ihre  Wirkung 
auf  die  Stellung  des  Kanzlers  zu  den  militärischen  In- 
stanzen 390 — 394.  Gutes  Ergebnis  des  U-Boot- Kreuzer- 


338—349 


349—355 


355—379 


379—430 


Inhalt 


kriegs  vom  Oktober  1916  an  395.  Admiralstab  und 
Oberste  Heeresleitung  verlangen  den  uneingeschränkten 
U-Bootkrieg  395 — 399.  Festmahl  der  amerikanischen 
Handelskammer  399 — 403.  Neue  Denkschrift  des  Ad- 
miralstabes 403 — 408.  Entscheidung  für  den  uneinge- 
schränkten U-Bootkrieg,  Vorgänge  in  Pleß  408 — ^412. 
Meine  persönliche  Entschließung  412,  413.  Wilsons 
Botschaft  an  den  Senat  414 — 417.  Wilson  ersucht  um 
Mitteilung  der  deutschen  Friedensbedingungen  417 — ^419. 
Überreichung  der  deutschen  U-Boot-Note,  Mitteilung  der 
deutschen  Friedensbedingungen  419 — 421.  Die  Auf- 
fassung Bernstorffs  421 — 428.  Urteil  über  Wilson  als 
Friedensstifter  428 — 430. 


Vorwort 


Das  ungeheure  Geschehen  des  Weltkrieges  gliedert  sich 
dem  rückwärtsschauenden  Blick  deutlich  in  zwei  große 
Abschnitte. 

Der  erste  fand  seinen  Abschluß  mit  dem  Verbluten  der 
fast  fünfmonatigen  Offensive  unserer  Feinde  auf  den 
Schlachtfeldern  der  Somme,  mit  der  Niederwerfung  Ru- 
mäniens und  mit  dem  Scheitern  des  Friedensvorschlages 
der  Mittelmächte  vom  12.  Dezember  1916  wie  des  Friedens- 
schrittes des  Präsidenten  Wilson  vom  21.  desselben  Monats. 

Die  im  Januar  1917  beschlossene  Eröffnung  des  unein- 
geschränkten U-Bootkrieges  leitete  hinüber  zu  dem  zweiten 
Hauptabschnitt,  der  durch  den  Eintritt  der  Vereinigten 
Staaten  in  die  Reihe  der  Kriegführenden  sein  Gepräge 
erhielt. 

Der  Darstellung  des  ersten  dieser  beiden  großen  Ab- 
schnitte des  Krieges  gilt  der  vorliegende  Band  (Band  II 
des  Ges  amt  Werkes). 

Der  letzte  Band,  enthaltend  die  Darstellung  des  Krieges 
bis  zum  Ausbruch  der  Revolution  und  zum  Abschluß  des 
Waffenstillstandes  befindet  sich  bereits  im  Druck  und  wird 
in  Bälde  ausgegeben  werden. 

Berlin,  im  Juni  1919 


Karl  Helfferich 


Umfang  und  Art 
des  Krieges 


Ein  ungeheures  Schicksal  war  über  das  deutsche  Volk 
hereingebrochen.  Allein  mit  unseren  österreichisch- 
ungarischen Verbündeten  fanden  wir  uns  gegenüber  der 
russisch-französisch-englischen  Koalition,  die  von  vorn- 
herein durch  Belgien,  Serbien  und  Montenegro  verstärkt 
war  und  der  sich  noch  im  Laufe  des  August  auch  Japan 
zugesellen  sollte.  Unser  italienischer  Dreibundgenosse  da- 
gegen lehnte  es  ab,  den  Bündnisfall  als  gegeben  anzusehen, 
und  erließ  eine  Neutralitätserklärung,  die  den  franzö- 
sischen Ministerpräsidenten  zu  Worten  hoher  Freude  und 
die  französische  Kammer  zu  einer  stürmischen  Ovation  für 
die  „lateinische  Schwester''  veranlaß te.  Auch  Rumänien, 
das  seit  vielen  Jahren  durch  eine  geheime  Militärkonven- 
tion mit  uns  verbunden  war,  hielt  sich  abseits ; König  Carol 
war  nicht  stark  genug,  gegen  seine  widerstrebenden 
Minister  und  die  ententefreundliche  öffentliche  Meinung  die 
Erfüllung  der  von  ihm  übernommenen  Verpflichtungen 
durchzusetzen. 


13 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


Die  Übermacht  der  Feinde  war  erdrückend.  Allein 
Rußland  und  Frankreich  vermochten  eine  Truppenmacht 
ins  Feld  zu  stellen,  die  der  vereinigten  deutschen  und 
österreichisch-ungarischen  erheblich  überlegen  war.  Allein 
die  britische  Flotte  war  eine  gewaltige  Übermacht  gegen- 
über den  vereinigten  Flotten  Deutschlands  und  seines 
Bundesgenossen.  Nicht  minder  war  finanziell  und  wirt- 
schaftlich das  ungeheure  Übergewicht  auf  der  andern 
Seite,  und  schon  die  ersten  Tage  des  Krieges  zeigten,  daß 
unsere  Feinde,  namentlich  England,  entschlossen  waren, 
dieses  Übergewicht  bis  zum  äußersten  auszunutzen. 

Auch  das  stärkste  Herz  mußte  sich  von  der  Sorge  be- 
drückt fühlen,  wie  das  deutsche  Volk  sich  der  furchtbaren 
Übermacht  sollte  erwehren  können.  Es  brauchte  der  ganzen 
Kraft,  die  nur  das  Bewußtsein  der  guten  Sache  verleiht, 
um  die  bangen  Zweifel  zu  verscheuchen  und  die  mutige 
Zuversicht  zu  schaffen,  mit  der  das  deutsche  Volk  in  den 
Kampf  um  sein  Dasein  und  seine  Zukunft  ging. 

Die  Straßen  hallten  wider  von  dem  festen  Tritte  der 
Jungmannschaften  und  der  Landwehrmänner,  die,  blumen- 
geschmückt und  vaterländische  Lieder  singend,  aus- 
marschierten. Die  Hoffnungen  und  die  heißen  Wünsche 
des  ganzen  deutschen  Volkes  begleiteten  sie.  Der  Ab- 
schiedsschmerz und  die  Sorge  um  das  Wiedersehen  gingen 
unter  in  der  Hingabe  an  das  bedrohte  Vaterland.  Alles 
schien  klein  geworden,  was  bisher  das  Leben  ausgefüllt 
hatte;  es  gab  nur  noch  eines:  die  Verteidigung  des 


14 


Übermacht  der  Entente 


deutschen  Bodens  und  der  deutschen  Volksgemeinschaft. 
In  diesem  Gedanken  fand  sich  ganz  Deutschland  in  er- 
hebender Einheit  zusammen,  alle  Stämme,  alle  Klassen, 
alle  Parteien.  Und  diese  Einheit,  aus  der  höchsten  Not  des 
Vaterlandes  geboren,  erschien  als  Gewähr  des  Sieges. 

Die  militärische  Gestaltung  des  Krieges 

Die  Mobilmachung  und  der  Aufmarsch  unserer  Truppen 
vollzogen  sich  mit  der  größten  Ordnung  und  Präzision. 
Der  Kriegsminister  hat  mir  gegen  Abschluß  der  Mobili- 
sationsperiode erzählt,  daß  nicht  eine  einzige  Rückfrage 
der  Generalkommandos  bei  der  Zentraljnstanz  erforderlich 
gewesen  sei.  Am  i6.  August,  nach  Vollendung  des  Auf- 
marsches, begab  sich  der  Kaiser  mit  dem  Großen  Haupt- 
quartier in  aller  Stille  von  Berlin  nach  Coblenz. 

Inzwischen  harrte  das  deutsche  Volk  mit  atemloser 
Spannung  der  ersten  Nachrichten  von  den  Kriegsschau- 
plätzen. 

Mit  besonderer  Sorge  blickte  mancher  nach  der  Nordsee 
in  der  Erwartung,  daß  die  dort  versammelte  britische 
Flotte,  das  gewaltigste  Geschwader,  das  je  die  Welt  ge- 
sehen hatte,  ohne  Zögern  zu  dem  so  oft  angekündigten 
Vernichtungsschlage  gegen  unsere  junge  Marine  ausholen 
werde.  Aber  der  erwartete  Angriff  erfolgte  nicht.  Die 
britischen  Kriegsschiffe  begnügten  sich  mit  der  Jagd  auf 
wehrlose  deutsche  Handelsschiffe  und  dem  Anhalten 


15 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


neutraler  Fahrzeuge,  von  denen  sie  im  Widerspruch  zu 
allem  Völkerrecht  deutsche  Passagiere  und  deutsches  Gut 
herunterholten.  Dagegen  lösten  einige  kühne  Taten  unserer 
Marine  großen  Jubel  aus,  so  gleich  in  den  ersten  Tagen  des 
Krieges  der  Durchbruch  der  ,,Goeben“  und  der  ,, Breslau'* 
durch  ein  starkes  feindliches  Geschwader  bei  Sizilien  und 
ihr  Einlaufen  in  die  Dardanellen,  vor  allem  aber  die  Ver- 
senkung der  drei  englischen  Kreuzer  durch  das  U-Boot 
des  Kapitänleutnants  Weddigen. 

Von  den  Kriegsschauplätzen  zu  Lande  kam  die  erste 
wichtige  Nachricht  am  Morgen  des  7.  August:  ein  von 
einer  kleinen  Truppe  unternommener  Handstreich  auf 
Lüttich  sei  nicht  geglückt.  Um  so  freudiger  wurde  am 
Abend  desselben  Tages  die  Nachricht  aufgenommen,  daß 
die  Festung  Lüttich  in  unseren  Händen  sei.  Das  war 
der  erste  große  Erfolg.  Er  war  zu  verdanken  dem  vor 
nichts  zurück^hreckenden  Draufgängertum  des  damaligen 
Generalmajors  Ludendorff  'und  der  alle  bisherigen  Be- 
griffe übersteigenden  Wirkung  unserer  42-cm-Geschütze, 
die  mit  ihren  Geschossen  auf  große  Entfernungen  die 
stärksten  Panzertürme  wie  irdene  Töpfe  zerschlugen. 

Nun  war  die  erste  Bresche  gelegt.  Es  folgte  der  un- 
aufhaltsame Vormarsch  unserer  Truppen  durch  Belgien, 
die  Besetzung  von  Brüssel,  die  Einnahme  von  Namur  und 
die  Schlachten  bei  Mons,  Charleroi,  Dinant,  Neufchätean 
und  Longwy,  in  denen  unsere  Armeen  sich  den  Weg 
nach  Frankreich  bahnten;  dann  die  wuchtigen  Schläge, 


16 


Erste  Erfolge 


die  das  britische  Hilfskorps  in  viertägiger  Schlacht  von 
le  Cateau  und  Landrecies  über  Cambrai  und  St.  Quentin 
warf  und  großenteils  vernichtete.  Inzwischen  hatte  die 
Armee  des  bayrischen  Kronprinzen  die  in  das  ‘deutsche 
Lothringen  eingedrungenen  Franzosen  zwischen  Metz  und 
den  Vogesen  gefaßt  und  in  einer  großen  Schlacht  ge- 
schlagen. Kleinere  Mißerfolge,  wie  die  Schlacht  von  Mül- 
hausen, in  der  die  geplante  Abschnürung  der  französischen 
Truppen  nicht  gelang,  taten  dem  erfreulichen  Gesamtbilde 
keinen  Eintrag.  Unauflialtsam  schienen  sich  die  gewaltigen 
deutschen  Heeresmassen  vorv\'’ärts  zu  wälzen  und  jeden 
Widerstand  vor  sich  zu  zerbrechen.  A^m  4.  September 
konnte  der  Kaiser  in  Luxemburg,  wohin  inzwischen  daS 
Große  Hauptquartier  verlegt  worden  war,  zu  mir  sagen: 
,,Wir  haben  heute  den  fünfunddreißigsten  Mobilmachungs- 
tag. Reims  ist  von  unsern  Truppen  besetzt,  die  franzö- 
sische Regierung  hat  ihren  Sitz  nach  Bordeaux  verlegt, 
unsere  Kavalleriespitzen  stehen  50  Kilometer  vor  Paris!“ 
Freilich,  als  ich  am  Abend  desselben  Tages,  vor  meiner 
Rückreise  in  die  Heimat,  den  Chef  des  Generalstabs  des 
Feldheeres  besuchte,  erhielt  das  glänzende  Bild,  das  ich 
mir  aus  den  Berichten  über  die  Siege  und  den  Vormarsch 
unserer  Truppen  gemacht  hatte,  einen  ernsten  Schatten. 
Ich  fand  den  Generalobersten  von  Moltke  keineswegs  in 
froher  Siegesstimmung,  sondern  ernst  und  bedrückt.  Er 
bestätigte  mir,  daß  unsere  Vortruppen  50  Kilometer  vor 
Paris  standen;  ,,aber  — fügte  er  hinzu  — wir  haben  in 


2 H el  ff  er  ich,  .Weltkrieg  IT 


17 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


der  Armee  kaum  mehr  ein  Pferd,  das  noch  eine  andere 
Gangart  als  Schritt  gehen  kann.“  Nach  einer  kurzen 
Pause  fuhr  er  fort:  ,,Wir  wollen  uns  nichts  vormachen. 
Wir  haben  Erfolge  gehabt,  aber  wir  haben  noch  nicht 
gesiegt.  Sieg  heißt  Vernichtung  der  Widerstandskraft  des 
Feindes.  Wenn  sich  Millionenheere  gegenüberstehen,  dann 
hat  der  Sieger  Gefangene.  Wo  sind  unsere  Gefangenen? 
Einige  zwanzigtausend  in  der  Lothringer  Schlacht,  da 
noch  zehntausend  und  dort  vielleicht  noch  zwanzig- 
tausend. Auch  die  verhältnismäßig  geringe  Zahl  der  er- 
beuteten Geschütze  zeigt  mir,  daß  die  Franzosen  sich- 
planmäßig  und  in  Ordnung  zurückgezogen  haben.  Das 
Schwerste  steht  uns  noch  bevor!“  . 

Die  folgenden  Tage  brachten  die  große  französische 
Gegenbewegung,  die  man  sich  gewöhnt  hat,  als  die  „Marne- 
schlacht“ zu  bezeichnen.  Trotz  taktischer  Erfolge  unseres 
schwer  angegriffenen  rechten  Flügels  endigten  die  Kämpfe 
mit  einem  strategischen  Rückzuge.  Unsere  Generalstabs- 
berichte zeigten  in  den  kritischen  Tagen  eine  Zurück- 
haltung, die  unserm  Volk  den  Ernst  der  Lage  nicht  zum 
Bewußtsein  kommen  ließ.  Die  damals  bei  uns  noch  nicht 
veröffentlichten  französischen  und  englischen  Heeres- 
berichte der  zweiten  Septemberwoche  strömten  über  von 
Siegesjubel.  Namentlich  die  französischen  Berichte  ließen 
unsere  Armeen  in  voller  Auflösung  und  in  unaufhalt- 
samer Flucht  erscheinen.  Auch  die  privaten  Nachrichten, 
die  von  der  Front  ihren  Weg  nach  der  Heimat  fanden. 


i8 


Marneschlacht  und  Stellungskrieg 


lauteten  nicht  ermutigend.  Es  waren  für  den  Wissenden 
sorgenvolle  Tage  und  schlaflose  Nächte. 

Allmählich  klärte  sich  die  Lage.  Unsere  Armeen  hatten 
eine  stark  befestigte  Verteidigungsstellung  zwischen  Noyon, 
nördlich  Reims  und  Verdun  bezogen,  an  der  sich  der 
französische  Gegenstoß  endgültig  brach.  Französisch-eng- 
lische Versuche,  uns  durch  Überflügelung  in  der  rechten 
Flanke  zu  fassen,  wurden  abgewiesen,  wiederholten  sich 
aber  immer  wieder,  und  zwar  fortschreitend  in  nördlicher 
Richtung.  Alle  Versuche  des  Feindes,  durchzubrechen  und 
unsere  rückwärtigen  Verbindungen  zu  bedrohen,  wurden 
in  heftigen  Kämpfen,  so  bei  Bapaume  und  Albert,  ab- 
gewiesen. 

Mit  der  Einnahme  von  Antwerpen  am  9.  Oktober  und 
der  bald  darauf  folgenden  Besetzung  von  Ostende  war 
für  unsern  rechten  Flügel  eine  starke  Anlehnung  an  die 
Nordsee  gewonnen.  Aber  unserem  Versuche,  mit  dem  Ein- 
satz unserer  besten  Kraft  an  der  Yser  und  bei  Ypern 
die  feindliche  Front  zu  zerbrechen,  die  Heere  der  Ver- 
bündeten vom  Meere  abzudrängen  und  sie  endgültig  zu 
überflügeln,  blieb,  trotz  des  beispiellosen  Heldenmutes 
unserer  Freiwilligen -Regimenter  und  aller  unsagbaren 
Opfer,  der  Erfolg  versagt.  Nachdem  der  Feind  zur  Unter- 
stützung seiner  erlahmenden  Widerstandskraft  das  Meer 
ins  Land  hereingelassen  und  den  größten  Teil  des  Kgtmpf- 
geländes  in  Sumpf  und  See  verwandelt  hatte,  flaute  im 
November  nach  einer  letzten  gigantischen  Anstrengung 


2* 


19 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


bei  Ypem  das  furchtbare  Ringen  ab.  Auch  hier  erstarrte 
der  Kampf  zum  Stellungskrieg.  Ebenso  blieben  unsere 
Versuche,  auf  unserm  linken  Flügel  die  Sperrfortkette 
Verdun-Toul  zu  sprengen,  trotz  einzelner  Erfolge  im 
ganzen  fruchtlos.  Der  Feldzug  auf  dem  westlichen  Kriegs- 
schauplätze war  im  November  auf  der  ganzen  Linie 
zum  Stehen  gekommen.  Die  Hoffnungen  auf  eine  schnelle 
Entscheidung  und  ein  baldiges  Ende  des  Krieges  mußten 
begraben  werden. 

Auch  im  Osten  war  inzwischen  schwer  gekämpft  worden. 
Gleich  nach  Ausbruch  der  Feindseligkeiten  hatte  es  sich 
gezeigt,  wie  weit  die  russische  Mobilmachung  an  unsern 
Grenzen  bereits  vorgeschritten  war.  Unsere  in  Ostpreußen 
stehenden  schwachen  Kräfte  wurden  alsbald  von  einer 
großen  Armee  angegriffen  und  mußten,  trotz  heldenhafter 
Gegenwehr,  wertvolle  Teile  der  Provinz  dem  Feinde  preis- 
geben. Sengend  und  brennend,  plündernd  und  mordend 
ergossen  sich  die  russischen  Horden  über  das  blühende 
Land.  Das  über  Erwarten  rasche  Vordringen  des  Feindes, 
die  verzweifelten  Hilferufe  der  Einwohner  und  die  Ent- 
rüstung über  die  russische  Barbarei  bestimmten  unsere 
Oberste  Heeresleitung,  früher  als  ursprünglich  geplant 
eine  Gegenaktion  in  die  Wege  zu  leiten.  Der  General 
von  Hindenburg,  der  kurz  vor  dem  Kriege  seinen  Ab- 
schied genommen  hatte,  wurde  zum  Führer  der  neu- 
zubildenden Ostarmee  ausersehen,  der  Generalmajor 
Ludendorff  wurde  zu  seinem  Stabschef  ernannt.  Dem 


20 


Kämpfe  im  Osten 


Genie  der  beiden  sich  gegenseitig  auf  das  Glücklichste 
ergänzenden  Feldherren  gelang  es,  in  den  Schlachten  bei 
Tannenberg  und  an  den  Masurischen  Seen  die  gewaltige 
russische  Übermacht  vernichtend  zu  schlagen  und  unsere 
Ostmark  vom  Feinde  zu  befreien.  Der  Jubel  in  ganz 
Deutschland  war  grenzenlos.  Die  Namen  Hindenburg  und 
Ludendorff  waren  in  aller  Munde;  ihre  mit  einem  Schlage 
gewonnene  Volkstümlichkeit  ist  während  des  ganzen 
Krieges  von  keinem  andern  Feldherrn  oder  Staatsmann 
auch  nur  annähernd  erreicht  worden. 

Aber  auch  die  ostpreußischen  Schlachten  führten,  so 
groß  der  Erfolg  war,  keine  Entscheidung  herbei.  Unsere 
österreichisch-ungarischen  Bundesgenossen  hatten  im  süd- 
lichen Polen  und  in  Galizien  schwere  Niederlagen  erlitten. 
Die  Bukowina  und  der  größte  Teil  von  Galizien  mußten 
preisgegeben  werden,  und  die  Russen  schickten  sich  an, 
über  den  Karpathenkamm  nach  Ungarn  einzudringen. 
Ein  kraftvoller  Vorstoß  Hindenburgs  gegen  Warschau 
und  der  Österreicher  gegen  Iwangorod  mußten  abgebrochen 
werden.  Schlesien  erschien  auf  das  Äußerste  bedroht, 
und  Ostpreußen  erlebte  einen  zweiten  Russeneinfall. 
Wenn  es  auch  gelang,  Ostpreußen  zum  zweitenmal  zu 
befreien,  die  Gefahr  für  Schlesien  abzuwenden  und  den 
Krieg  erneut  nach  Polen  zu  tragen,  so  gestattete  gegen 
die  Wende  des  Jahres  1914  die  Lage  auf  dem  östlichen 
Kriegsschauplatz  keine  Täuschung  darüber,  daß  auch 
von  hier  keine  schnelle  Entscheidung  und  kein  baldiges 


21 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


Kriegsende  zu  erwarten  war.  Was  im  ersten  jähen  Ansturm 
in  West  und  Ost  nicht  geglückt  war,  den  Feind  vernich- 
tend zu  schlagen  und  ihn  zu  einem  unser  und  unserer 
Verbündeten  Dasein  sichernden  Frieden  bereit  zu  machen, 
das  konnte  jetzt  nur  noch  von  zähem  Kampf  und  ent- 
schlossenem Durchhalten  erwartet  werden.  Vielen  wurde 
es  jetzt  erst  bewmßt,  vor  welche  Schicksalsprobe  unser 
Volk  gestellt  war. 


Der  Krieg  und  die  deutschen  Finanzen 

Während  das  Heer  unsere  Grenzen  schützte  und  den 
Krieg  in  Feindesland  trug,  spannte  auch  die  Heimat 
alle  Kräfte  an,  um  den  Erfordernissen  des  Krieges  gerecht 
zu  werden.  Mehr  denn  jemals  zuvor  war  dieser  Krieg 
von  seinem  Anbeginn  an  nicht  nur  ein  Krieg  der  Waffen, 
sondern  auch  ein  Krieg  der  Finanzen  und  der  Wirtschaft 
aller  beteiligten  Völker. 

Meine  Stellung  in  der  Direktion  des  größten  deutschen 
Finanzinstituts  gab  mir  Gelegenheit,  auf  diesem  Felde 
mitzuarbeiten. 

Schon  in  den  Jahren  vor  dem  Kriege  hatte  ich  die 
Bestrebungen  des  Reichsbankpräsidenten  Havenstein,  das 
deutsche  Geld-  und  Kreditwesen  auf  eine  möglichst  solide, 
auch  gegenüber  schweren  Erschütterungen  wirtschaftlicher 


22 


Bestrebungen  des  Reichsbankpräsidenten  Havenstein 


und  politischer  Art  widerstandsfähige  Grundlage  zu 
stellen,  in  meinem  Wirkungskreise  nach  Kräften  unter- 
stützt. Meine  Kollegen  in  der  Direktion  der  Deutschen 
Bank  setzten  in  guter  alter  Tradition  ihren  Stolz  nicht 
nur  in  die  Ausdehnung  der  Geschäfte  der  Bank,  sondern 
mehr  noch  in  die  Aufrechterhaltung  und  Verbesserung 
der  Liquidität  ihres  Standes ; hier  wurde  die  Berechtigung 
der  Havensteinschen  Bestrebungen  nicht  nur  theoretisch 
anerkannt,  sondern  auch  praktisch  betätigt.  Die  seit  dem 
Jahre  1905  sich  überstürzenden  politischen  Krisen  zeigten, 
wie  notwendig  es  war,  das  gesamte  deutsche  Kreditwesen, 
das  durch  die  ungestüme  wirtschaftliche  Entwicklung 
Deutschlands  auf  das  Stärkste  angespannt  war,  krisenfest 
zu  machen.  In  dieser  Richtung  lag  die  Verstärkung  des 
Goldbestandes  der  Reichsbank  als  unserer  nationalen 
Goldreserve,  die  Verbesserung  der  Zahlungssitten  durch 
die  Ausdehnung  des  Scheck-  und  Giroverkehrs,  die  Ein- 
schränkung der  Festlegung  der  Bankdepositen  in  lang- 
fristigen und  immobilen  Krediten,  die  Beseitigung  der 
Abhängigkeit  des  deutschen  Geldmarktes  von  kurz- 
fristigen Auslandskrediten,  die  innere  Konsolidierung  der 
großen  Unternehmungen  durch  eine  vorsichtige  Divi- 
denden- und  Reservenpolitik. 

Schon  die  Marokkokrisis  von  1911  hatte  gezeigt,  daß 
diese  Bemühungen  nicht  vergeblich  gewesen  waren.  Das 
deutsche  Geld-  und  Kreditwesen  zeigte  damals  schon, 
im  Vergleich  mit  Frankreich  und  selbst  England,  eine 


23 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


erfreuliche  Widerstandsfähigkeit.  Die  namentlich  im 
Ausland,  aber  auch  in  Deutschland  selbst  verbreitete  Auf- 
fassung, das  deutsche  Wirtschaftsgebäude  sei  ein  Koloß 
auf  tönernen  Füßen,  das  deutsche  Kreditsystem  sei  ein 
Kartenhaus,  das  beim  ersten  scharfen  Windstoß  zusammen- 
brechen müsse,  hatte  sich  damals  schon  als  überholt  erwiesen. 
Freilich,  unsere  Gegner,  namentlich  die  Franzosen,  haben 
das  nicht  wahr  haben  wollen.  Obwohl  die  Börse  und 
der  Geldmarkt  in  Paris  und  sogar  in  London,  wie  sich 
an  den  Kursen  der  Wertpapiere  und  den  Geldsätzen  ohne 
weiteres  ablesen  ließ,  durch  die  Erschütterung  der  Marokko- 
krisis stärker  in  ^Mitleidenschaft  gezogen  wurden  als  bei 
uns,  blieb  nicht  nur  die  öffentliche  Meinung,  sondern  — 
von  wenigen  Ausnahmen  abgesehen  — auch  der  engere 
Kreis  der  Fachleute  in  Frankreich  bei  der  vorgefaßten 
Meinung  von  unserer  unbedingten  finanziellen  Unter- 
legenheit; ja  es  bildete  sich  die  Legende,  die  Gefahr  des 
finanziellen  Zusammenbruchs  habe  es  für  Deutschland 
unmöglich  gemacht,  es  auf  einen  Krieg  ankommen  zu 
lassen.  Ich  habe  diesen  Glauben  an  unsere  finanzielle 
Unzulänglichkeit,  der  mir  in  ausländischen  Kreisen  immer 
wieder  entgegentrat,  stets  als  eine  Verstärkung  der 
dem  Weltfrieden  ohnehin  schon  drohenden  Gefahren  an- 
gesehen; denn  dieser  Glaube  konnte  in  kritischen  Situa- 
tionen leicht  dazu  führen,  unsere  Gegner  zu  einer  Über- 
spannung ihrer  Ansprüche  und  Zumutungen  zu  verleiten. 
Ich  habe  mich  deshalb  für  verpflichtet  gehalten,  diesen 


24 


Glaube  des  Auslandes  an  unsere  finanzielle  Unterlegenheit 


irrigen  Vorstellungen  entgegenzutreten,  insbesondere 
dann,  wenn  sie,  was  vorkam,  von  Deutschland  aus  Nah- 
rung erhielten.  Noch  kurz  vor  Ausbruch  des  Weltkrieges, 
im  Juni  1914,  habe  ich  im  Vorwort  zur  vierten  Auflage 
meines  Büchleins  über  „Deutschlands  Volkswohlstand“ 
ausgeführt : 

,,Es  ist  geradezu  ein  Weltinteresse,  daß  die  Illusion 
verschwindet,  durch  Mittel  der  finanziellen  Politik  könne 
erreicht  werden,  was  bisher  weder  durch  militärische  Macht 
noch  durch  Allianzen  und  Ententen  zu  erreichen  war: 
die  Niederkämpfung  Deutschlands.“ 

Nun  brach  der  Sturm  des  Krieges  über  die  Welt  herein 
und  erschütterte  den  wirtschaftlichen  Aufbau  aller  be- 
teiligten Völker  in  seinen  Grundfesten. 

Schon  seit  dem  Attentat  von  Serajewo  lag  ein  dumpfes 
Unbehagen  über  den  finanziellen  Märkten  der  Welt.  Das 
österreichisch-ungarische  Ultimatum  an  Serbien  und  die 
ungenügende  Antwort  der  serbischen  Regierung,  dazu  die 
Stellungnahme  Rußlands,  das  erklärte,  ,, nicht  indifferent 
bleiben  zu  können“,  brachten  das  Ungewitter  zum  Aus- 
bruch. Alles,  was  bisher  an  Werten  als  fest  und  sicher 
galt,  geriet  ins  Schwanken.  Bares  Geld,  womöglich 
blankes  Gold,  erschien  als  der  einzige  feste  Pol  in  der 
Erscheinungen  Flucht.  Die  Börsen  wurden  von  allen 
Seiten  mit  Verkaufsaufträgen  überschüttet;  die  Geld- 
institute wurden  mit  Kreditanträgen  und  Wechselein- 
reichungen bestürmt ; Kredite  wurden  gekündigt ; bei  den 


25 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


Banken  und  Sparkassen  drängte  sich  die  Kundschaft, 
um  Guthaben  und  Einlagen  zurückzuziehen. 

Es  galt,  alle  Kraft  einzusetzen,  um  die  Sturmflut  der 
Panik  einzudämmen  und  der  Besonnenheit  wieder  zu 
ihrem  Rechte  zu  verhelfen.  Jetzt  hatte  sich  zu  bewähren, 
was  Deutschland  in  den  letzten  Jahrzehnten  an  echter 
finanzieller  Kraft  gewonnen  und  an  vdrksamer  finanzieller 
Organisation  aufgebaut  hatte.  Die  großen  Berliner  Banken 
und  Bankiers,  die  sich  seit  Jahren  in  der  sogenannten 
,,  Stempel  Vereinigung“  zusammengeschlossen  und  dort  an 
ein  einheitliches  Handeln  in  allen  Fragen  von  allgemeinem 
Interesse  ihres  Berufes  gewöhnt  hatten,  vereinigten  sich 
alsbald  zu  einem  gemeinschaftlichen  Vorgehen,  um  in 
engster  Fühlung  mit  der  Reichsbank  und  der  Seehandlung 
durch  eine  Intervention  auf  den  Effektenmärkten,  durch 
Aufrechterhaltung  der  Kredite  und  Schaffung  erweiterter 
Kreditmöghchkeiten  für  Beruhigung  zu  sorgen  und  die 
Weiterführung  einer  geordneten  wirtschaftlichen  Tätig- 
keit zu  ermöglichen.  Jeden  Vormittag  versammelten  sich 
in  jener  kritischen  Zeit  die  Vertreter  der  an  die  ,, Stempel- 
vereinigung“ angeschlossenen  Finanzinstitute  im  Sitzungs- 
saal der  Deutschen  Bank,  um  über  die  Lage  und  die  ge- 
meinschaftlich zu  ergreifenden  Maßnahmen  zu  beraten. 
Wir  aUe  w^aren  durchdrungen  von  der  Überzeugung, 
daß  in  jener  schw’eren  Lage  jede  Angsthchkeit  und 
Engherzigkeit  der  in  der  deutschen.  Finanzwirtschaft 
führenden  Stehen  verhängnisvoU  wirken  müsse;  daß  nur 


26 


Glänzende  Haltung  der  deutschen  Großbanken 


ein  großzügiges  und  weitherziges  Verhalten  gegenüber  den 
Erfordernissen  der  Stunde  die  Lage  retten  könne;  daß 
schließlich  den  deutschen  Banken  ihr  in  langer  Arbeit  und 
in  ernster  Selbstbeschränkung  gefestigter  Stand  es  gestatte, 
jetzt  in  den  Zeiten  der  Not  vor  den  Riß  zu  treten  und  im 
Interesse  des  Ganzen  große  Risiken  zu  übernehmen.  Die 
strengen  Normen  in  ruhigen  Zeiten  haben  ihren  Zweck 
in  der  Sicherung  der  Bereitschaft  für  den  kritischen  Augen- 
blick. Wenn  das  Pferd  über  den  Graben  soll,  heißt  es  die 
Zügel  locker  lassen. 

Der  Erfolg  der  zweckmäßigen  Organisation  und  des 
planmäßigen  Eingreifens  blieb  nicht  aus.  Die  finanziellen 
Grundmauern  der  deutschen  Wirtschaft  zeigten  sich  dem 
Sturm  der  Kriegspanik  gewachsen;  unsere  finanzielle 
Widerstandskraft  hielt  jeden  Vergleich  aus  mit  derjenigen 
unserer  Feinde,  die  sich  auf  einen  viel  älteren  Reichtum 
stützen  konnten  und  sich  uns  gegenüber  bisher  als  die  un- 
bestritten Überlegenen  gefühlt  hatten. 

Unsere  Effektenmärkte  zeigten  in  dem  Kurssturz,  der 
über  alle  Plätze  bis  hinüber  nach  Amerika  mit  elementarer 
Wucht  hereinbrach,  immerhin  eine  bessere  Haltung  als 
diejenigen  Frankreichs  und  Englands.  In  der  Zeit  vom 
17.  bis  28.  Juli  1914  — in  den  folgenden  Tagen  kamen  an 
den  meisten  Plätzen  keine  ordnungsmäßigen  Notierungen 
mehr  zustande  — stellte  sich  die  Kursbewegung  der  maß- 
gebenden Staatsanleihen  Deutschlands,  Frankreichs  und 
Englands  wie  folgt: 


27 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


Kurs  vom  also 

17.  Juli  28.  Juli  Rückgang 

3%ige  deutsche  Reichsanleihe  . . 76,50  73,75  2,75 

3%ige  französische  Rente ....  82,62  77,25  5,37 

2V2%ige  englische  Konsols  . . , 75,81  71,75  4,06 

Der  Kursrückgang  in  jenen  kritischen  Tagen  war  also 
bei  den  deutschen  Staatspapieren  erheblich  geringer  als 
bei  den  englischen  und  namentlich  den  französischen  An- 
leihen. Dabei  gaben  die  amtlichen  Pariser  Kurse  das 
wahre  Bild  nicht  annähernd  richtig  wieder.  Der  ,,Temps“ 
berichtete  über  den  Verlauf  der  Pariser  Börse  vom  25.  Juli, 
daß  die  Kammer  der  Kursmiakler  sich  angesichts  des  star- 
ken Angebots  von  3%iger  Rente  genötigt  gesehen  habe, 
die  Notierung  eines  niedrigeren  Kurses  als  78  zu  verbieten, 
obwohl  Angebote  zu  74  Vorlagen. 

Was  hier  in  den  kritischen  Tagen  unmittelbar  vor  Kriegs- 
ausbruch in  Erscheinung  trat,  war  nicht  etwa  nur  ein 
Augenblickserfolg  der  deutschen  Finanzen.  Bis  zum  Früh- 
jahr 1915  ging  die  3%ige  französische  Rente  um  weitere 
12 — 15%  zurück,  die  deutsche  3%ige  Reichsanleihe  nur 
um  5^/2%-  Während  im  Durchschnitt  des  Jahres  1910  die 
3%ige  französische  Rente  auf  98,  die  3%ige  deutsche 
Reichsanleihe  nur  auf  84  gestanden  hatte,  sank  jetzt  das 
französische  Standardpapier  unter  den  Kurs  der  mit 
gleicher  Verzinsung  ausgestatteten  deutschen  Staatswerte. 
Auch  der  Rückgang  der  englischen  Konsols  war  bis  zum 
Frühjahr  1915  mit  7%  stärker  als  der  Rückgang  der  deut- 
schen Reichsanleihe,  obwohl  die  britische  Regierung 


28 


Europäische  Kursbewegungen 


Mindestkurse  dekretiert  hatte,  die  damals  im  freien  Ver- 
kehr um  3 — 4%  unterschritten  worden  sein  sollen. 

Ebenso  wie  der  Markt  der  Staatsanleihen,  dessen  Ver- 
halten typisch  war  für  das  Verhalten  der  fest  verzinslichen 
Werte  überhaupt,  zeigte  auch  der  Markt  der  Dividenden- 
werte in  Deutschland  eine  verhältnismäßig  gute  Wider- 
standskraft. So  sanken,  um  nur  ein  Beispiel  zu  geben, 
die  Aktien  des  ersten  französischen  privaten  Bank- 
instituts, des  Credit  Lyonnais,  vom  i8. — 20.  Juli  1914  von 
1535  auf  1350  Franken,  also  um  12%  ihres  Kurswertes 
vom  18.  Juli;  in  der  gleichen  Zeit  sanken  die  Aktien  der 
Deutschen  Bank  von  231,60%  auf  218%,  diejenigen  der 
Diskontogesellschaft  von  180,80%  auf  170%,  beide  also 
um  nicht  ganz  6%  des  Kurses  vom  18.  Juli. 

Stärker  noch  als  in  den  Kursen  kam  die  große  Wider- 
standskraft des  deutschen  Kapitalmarktes  in  andern  Er-» 
scheinungen  zum  Ausdruck.  Die  Pariser  Börse  war  in  der 
letzten  Juhwoche  genötigt,  zur  Vermeidung  eines  völligen 
Zusammenbruchs  die  Ultimoliquidation  zwangsweise  zu 
suspendieren.  Ein  ähnliches  Börsenmoratorium  wurde  in 
London  notwendig.  In  Berlin  dagegen  blieb  die  Börse, 
wenn  auch  unter  Beschränkung  auf  den  Kassahandel, 
bis  zur  Proklamation  des  Kriegszustandes  in  Tätigkeit, 
und  die  Juliliquidation  wurde,  im  Gegensatz  zu  London 
und  Paris,  nicht  hinausgeschoben,  sondern  dank  der  von 
den  Banken  gewährten  Erleichterungen  ohne  nennens- 
werte Störung  abgewickelt. 


29 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


Auch  dem  gewaltigen  Andrang  nach  baren  Zahlungs- 
mitteln hat  das  deutsche  Bankwesen  — abgesehen  von 
einem  vorübergehenden  Mangel  an  Kleingeld  — zu  er- 
träglichen Bedingungen  genügen  können.  Die  Reichsbank, 
unterstützt  von  den  für  den  Kriegsfall  vorgesehenen  und 
alsbald  in  Wirksamkeit  tretenden  Darlehnskassen,  zeigte 
sich  allen  Ansprüchen  gewachsen.  In  den  beiden  Wochen 
vom  23.  Juli  bis  7.  August  1914  stellte  sie  dem  Verkehr 
für  mehr  als  2 Milliarden  Mark  Zahlungsmittel  der  ver- 
schiedensten Kategorien  zur  Verfügung,  ohne  mit  ihrem 
Diskontsatz  stärker  als  von  4%  auf  6%  in  die  Höhe  zu 
gehen.  In  Frankreich  und  England  dagegen  sahen  sich 
die  Zentralbanken  genötigt)  empfindliche  Restriktionen 
in  der  Diskontierung  von  Wechseln  eintreten  zu  lassen. 
Die  Bank  von  England  mußte  ihren  Diskontsatz  in  den 
drei  Tagen  vom  23.  zum  25.  JuH  sprungweise  von  3%  auf 
10%  hinaufsetzen.  Während  die  Privatbanken  in  Deutsch- 
land, gestützt  auf  den  Rückhalt,  den  ihnen  die  Reichsbank 
bot,  anstandslos  alle  von  ihnen  verlangten  Auszahlungen 
leisten,  ihre  Kredite  aufrechterhalten  und  erweitern  konn- 
ten, sahen  sie  sich  in  Frankreich  und  England  alsbald  vor 
ernsthaften  Schwierigkeiten.  In  Frankreich  Heßen  sich 
die  Banken  und  Sparkassen  die  gesetzhche  Ermächtigung 
geben,  auf  die  bei  ihnen  stehenden  Guthaben  nur  beschei- 
dene Teilbeträge  auszuzahlen.  In  England  wußte  man 
sich  nicht  anders  zu  helfen,  als  daß  der  auf  den  ersten 
Montag  im  August  fallende  ,, Bankfeiertag“  auch  auf  die 


30 


Kein  deutsches  Moratorium 


folgenden  drei  Tage  ausgedehnt  wurde,  was  praktisch  einer 
Sperre  der  Bankschalter  während  der  stürmischsten  Tage 
gleichkam.  Außerdem  sah  man  sich  in  allen  kriegführenden 
Ländern,  außer  Deutschland,  und  in  zahlreichen  neutralen 
europäischen  und  überseeischen  Ländern  genötigt,  Mo- 
ratorien einzuführen,  teils  für  den  Wechselverkehr,  teils 
für  den  gesamten  Bankverkehr,  teils  für  alle  Zahlungs- 
verpflichtungen unter  Privaten.  In  Deutschland  dagegen 
kam  man  in  eingehenden  Beratungen  aller  beteiligten  In- 
stanzen zu  dem  Entschluß,  von  dem  Erlaß  eines  Mora- 
toriums abzusehen.  Man  begnügte  sich  mit  Gegenmaß- 
nahmen, die  die  deutsche  Geschäftswelt  vor  der  Wirkung 
der  im  Ausland  erlassenen  Moratorien  schützten.  Außer- 
dem wurde  die  Möglichkeit  geschaffen,  im  Einzelfall  beim 
Vorliegen  eines  wirklichen  Notstandes  die  Zahlungsfristen 
durch  gerichtliches  Urteil  hinauszuschieben.  Im  übrigen 
wurde  die  Zahlungsfähigkeit  der  deutschen  Wirtschaft 
durch  eine  Reihe  positiver  Maßnahmen  und  Einrichtungen 
aufrechterhalten,  die  das  Zusammenwirken  der  Reichs- 
bank, der  Darlehnskassen,  der  Genossenschaften  und  Spar- 
kassen in  wirksamer  Weise  ergänzten;  so  insbesondere 
durch  die  in  freiwilligem  Zusammenschluß  der  beteiligten 
Kreise  geschaffenen  Kriegskreditbanken  und  die  Verein- 
barungen der  Bodenkreditinstitute  über  die  Bevorschussung 
von  Hypotheken. 

Durch  dieses  ruhige,  sichere  und  planmäßige  Vorgehen 
gelang  es,  in  wenigen  Tagen  der  Erregung  des  Publikums 

31 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


und  der  Kopflosigkeiten,  wie  sie  in  solchen  Zeiten  immer 
Vorkommen,  Herr  zu  werden  und  in  der  deutschen  Ge- 
schäftswelt das  Vertrauen  in  die  finanziellen  Grundlagen 
unserer  Wirtschaft  wiederherzustellen. 

Ein  Vorfall,  der  sich  in  den  Tagen  der  ersten  großen  Auf- 
regung bei  der'  Deutschen  Bank  abspielte,  zeigt,  daß  in 
solchen  Lagen  auf  das  große  Publikum  nichts  beruhigender 
wirkt  als  ein  festes  und  zuversichtliches  Verhalten  der 
Stellen,  auf  die  sich  die  verängstigten  Augen  richten.  Aus 
der  Hauptdepositenkasse  wurde  nach  der  Direktion  ge- 
meldet, der  Andrang  des  Publikums  zu  den  Auszahlungs- 
schaltern sei  ungeheuer  und  geradezu  lebensgefährlich; 
es  müsse  etwas  geschehen,  um  für  die  Aufrechterhaltung 
der  Ordnung  zu  sorgen.  Der  Bescheid,  der  gegeben  wurde, 
ging  dahin,  es  seien  alsbald  zwei  weitere  Schalter  für  die 
Auszahlung  zu  öffnen  und  das  dem  Publikum  bekanntzu- 
machen. Die  Wirkung  war  durchschlagend.  Viele  gingen 
beruhigt  nach  Hause,  weil  ihnen  die  Öffnung  neuer  Aus- 
zahlungsschalter die  Sicherheit  gegeben  hatte,  daß  die 
Bank  imstande  und  gewillt  sei,  jede  x\uszahlung  zu  leisten. 

Schon  vor  der  Beendigung  der  Mobilmachung  und  vor 
den  ersten  Siegesnachrichten  fing  das  Publikum  an,  die 
in  den  Tagen  der  Panik  abgehobenen  Gelder  wieder  zu  den 
Banken  und  den  Sparkassen  zurückzubringen.  Auch  die 
gewaltigen  Geldsummen,  die  das  Kriegsministerium  im 
Laufe  der  Mobilmachung  für  die  Beschaffung  von  Heeres- 
gerät und  Heeresausrüstung  aller  Art  verausgabte,  fanden 


32 


Vorübergehende  Panik.  Die  erste  Kriegsanleihe 


bald  ihren  Weg  zurück  zu  den  großen  Sammelbecken  des 
Geldverkehrs.  An  die  Stelle  der  Geldklemme  der  ersten 
Wochen  trat  bald  eine  große  Geldflüssigkeit,  die  es  mög- 
lich machte,  die  Begebung  einer  ersten  Kriegsanleihe  schon 
für  den  Monat  September  ins  Auge  zu  fassen. 

In  der  Tat  trat  Deutschland  als  der  erste  unter  allen 
kriegführenden  Staaten  mit  einer  Kriegsanleihe  an  den 
Markt.  Es  fehlte  nicht  an  warnenden  Stimmen,  die  einen 
Mißerfolg  voraussagten.  Das  klägliche  Ergebnis  der  im 
Jahre  1870  vom  Norddeutschen  Bund  ausgeschriebenen 
Kriegsanleihe  schwebte  manchem  als  übler  Vorgang  vor 
Augen.  Noch  mehr  Bedenken  erregte  der  kühne  Vorschlag 
des  Reichsbankpräsidenten,  die  Kriegsanleihe  in  unbe- 
schränktem Betrag  aufzulegen,  damit  jedem  Zeichner  von 
vornherein  die  Zuteilung  des  vollen  gezeichneten  Betrages 
in  Aussicht  zu  stellen  und  so  auf  jeden  Anreiz  zu  spekula- 
tiven Zeichnungen  und  auf  jeden  Scheinerfolg,  wie  er  in 
der  Überzeichnung  einer  in  limitiertem  Betrag  aufgelegten 
Anleihe  leicht  zu  erzielen  ist,  bewußt  und  absichtlich  zu 
verzichten.  Ich  hatte  Gelegenheit,  mit  dem  Reichsbank- 
präsidenten das  Aktionsprogramm  durchzusprechen  und 
ihn  gegenüber  den  Stimmen  der  Bedenklichen  in  seinen 
Absichten  zu  bestärken.  Der  Erfolg  hat  der  Kühnheit 
recht  gegeben.  Das  Zeichnungsergebnis  war  rund  4^/2  Mil- 
liarden Mark.  Das  war  fast  das  Doppelte  der  bisher  größten 
Anleiheaktion  der  Geschichte,  der  französischen  Anleihe 
vom  Juli  1872,  die  2400  Millionen  Mark  erbracht  hatte. 


3 Helfferich,  Weltkrieg  11 


33 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


t 


Dabei  hatte  sich  die  Einzahlungsfrist  der  französischen 
Anleihe  vom  Juli  1872  bis  zum  Herbst  1873,  also  auf 
etwa  15  Monate  erstreckt,  während  der  fast  doppelt  so 
große  Betrag  der  ersten  deutschen  Kriegsanleihe  nach 
den  Zeichnungsbedingungen  in  zwei  Monaten  einzuzahlen 
war.  Ferner  war  die  große  französische  Anleiheaktion 
erst  nach  Abschluß  des  Friedens  durchgeführt  worden, 
die  deutsche  Anleihe  dagegen  wurde  zu  Anfang  eines 
unabsehbaren  Krieges  gezeichnet.  Und  schließlich  waren 
die  Zeichnungen  auf  die  französische  Anleihe  zu  einem 
großen  Teil  auf  fremden  Märkten,  namentlich  auf  dem 
Londoner  Markte,  erfolgt,  während  die  4 V2  Milliarden  der 
ersten  deutschen  Kriegsanleihe  so  gut  wie  ausschließlich 
eine  Leistung  des  auf  sich  selbst  gestellten  deutschen 
Volkes  waren. 

Die  Sicherung  der  finanziellen  Grundlagen  unserer  Wirt- 
schaft und  die  Beschaffung  der  für  den  Krieg  erforderlichen 
Geldmittel  war  so  in  den  ersten  Wochen  des  Krieges  auf 
das  beste  eingeleitet. 


Der  Krieg  und  die  deutsche  Wirtschaft 

Die  finanzielle  Mobilmachung  war  in  Friedenszeiten 
gründlich  vorbedacht  und  vorbereitet  worden.  Abgesehen 
von  der  planmäßigen  Verbesserung  und  Kräftigung  unserer 
Geld-  und  Kredit  Verfassung,  die  sich  jetzt  so  reichlich 


34 


Keine  wirtschaftliche  Kriegsvorbereitung 


lohnte,  lag  der  Organisationsplan  bereit,  nach  dem  unser 
Finanzwesen  den  Kriegsbedürfnissen  angepaßt  werden 
sollte.  Auf  dem  Gebiete  der  Gütererzeugung  und  des 
Warenhandels  waren  ähnliche  Vorkehrungen  für  den 
Kriegsfall  nicht  getroffen  worden.  Wohl  hatte  unsere 
Wirtschaftspolitik  in  ähnlicher  Weise  unsere  gesamte  Volks- 
wirtschaft erstarken  lassen  und  für  den  Kriegsfall  tüchtig 
gemacht,  wie  unsere  Geld-  und  Bankpolitik  die  finanziellen 
Grundlagen  unseres  Wirtschaftslebens.  Vor  allem  war  es 
vermöge  unserer  Wirtschaftspolitik  gelungen,  unsere  land- 
wirtschaftliche Erzeugung  in  den  letzten  Jahrzehnten  vor 
dem  Krieg  in  noch  stärkerem  Maße  zu  heben,  als  unsere 
Bevölkerung  gewachsen  war.  Ebenso  war  die  eigene  Ge- 
winnung der  für  den  Krieg  wichtigsten  industriellen  Roh- 
stoffe, der  Kohle  und  des  Eisens,  in  einem  Maße  gesteigert 
und  auch  technisch  vervollkommnet  worden,  daß  eine  Grund- 
lage für  die  technisch-industrielle  Durchführung  des  Krieges 
gesichert  war.  Auch  hatten  wichtige  Erfindungen  und  neue 
Verfahren  unsere  national  wirtschaftliche  Selbständigkeit, 
die  für  das  Durchhalten  eines  großen  Krieges  von  beson- 
derer Bedeutung  ist,  in  einigen  nicht  unwesentlichen  Punkten 
verbessert.  Schließlich  waren  auf  dem  Gebiet  der  sozialen 
Organisation,  insbesondere  der  Ausgestaltung  der  Arbeits- 
nachweise, Fortschritte  erzielt  worden,  die  für  die  An- 
passung unserer  Wirtschaft  an  die  durch  den  Krieg  von 
Grund  aus  geänderten  Verhältnisse  eine  Erleichterung  be- 
deuteten. Aber  ein  eigentlicher  Organisationsplan  für  die 


3' 


35 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


Bereithaltung,  Beschaffung  und  Verteilung  der  für  das 
Leben  der  Bevölkerung  und  die  Durchführung  des  Krieges 
erforderlichen  Nahrungsmittel  und  Rohstoffe,  für  die. Um- 
stellung unserer  gewerblichen  und  kommerziellen  Tätigkeit 
und  für  die  Umgruppierung  der  Arbeitskräfte,  wie  sie  der 
Krieg  erforderlich  machen  mußte,  war  nicht  vorhanden. 

Aus  den  Kreisen  des  praktischen  Wirtschaf  stlebens  heraus 
war  in  den  Jahren  vor  dem  Ausbruch  des  Krieges  wieder- 
holt auf  diese  Lücke  in  unserer  Bereitschaft  hingewiesen 
und  u.  a.  die  Einrichtung  eines  ,, wirtschaftlichen  General- 
stabs“ zur  Bearbeitung  dieser  organisatorischen  Aufgaben 
verlangt  worden.  Es  war  aber  nichts  Durchgreifendes  ge- 
schehen. Ich  habe  den  Eindruck,  daß  man  sich  bei  unseren 
amtlichen  Stellen,  denen  die  Bearbeitung  unserer  wirt- 
schaftlichen Angelegenheiten  an  vertraut  war,  einmal  über 
die  seit  Jahren  über  uns  schwebende  Kriegsgefahr  ebenso- 
wenig Rechenschaft  gab  wie  im  allgemeinen  in  unserer 
öffentlichen  Meinung;  daß  man  ferner  sich  von  den  wirt- 
schaftlichen Verhältnissen  und  Anforderungen  eines  mo- 
dernen Krieges  kein  hinreichend  greifbares  Bild  machen 
konnte,  um  danach  organisatorische  Vorbereitungen  ein- 
zurichten; schließlich,  daß  man  weder  mit  einem  langen 
Kriege,  noch  auch  mit  einem  ausgesprochenen  Wirtschafts- 
kriege ernstlich  rechnete. 

Nun  war  der  Krieg  da;  und  die  Maßnahmen  unserer 
Feinde,  namentlich  Englands,  zeigten  alsbald,  daß  dieser 
Krieg  gegen  eine  gewaltige,  uns  fast  von  allen  Seiten 


36 


England  geht  sofort  zum  Wirtschaftskrieg  über 


umfassende  Koalition  kein  bloßer  Krieg  der  bewaffneten 
Streitkräfte,  sondern  auch  ein  Krieg  der  Volkswirtschaften, 
ja  der  ganzen  Volksgemeinschaften  sein  werde. 

Schon  bei  dem  Abbruch  der  diplomatischen  Beziehungen 
lehnte  es  die  britische  Regierung  ab,  den  Schutz,  den  nach 
der  Haager  Landkriegsakte  das  private  Eigentum  und 
die  privaten  Forderungen  zu  beanspruchen  hatten,  un- 
zweideutig und  uneingeschränkt  anzuerkennen.  Alsbald 
nach  Kriegsausbruch  erließ  sie  Verfügungen,  die  nach  dem 
alten  britischen  Recht  alle  Zahlungen  an  die  Bewohner  der 
mit  England  im  Kriege  liegenden  Länder  unter  Strafe 
stellten.  Das  Verbot  wurde  bald  auf  den  gesamten  Ver- 
kehr mit  dem  Keinde  ausgedehnt.  Ebenfalls  schon  in  den 
ersten  Tagen  des  Krieges  wurden  die  Filialen  deutscher 
Banken  in  London  unter  Staatsaufsicht  gestellt,  der  bald 
die  Anordnung  der  Zwangsliquidation  unter  Sequestration 
des  Liquidationserlöses  folgte.  Im  weiteren  Verlauf  wur- 
den Zwangs  Verwaltung,  Sequestration  und  Zwangsliqui- 
dation auch  auf  alle  anderen  Unternehmungen  im  Ver- 
einigten Königreich,  den  Dominions  und  Kolonien,  die 
Deutschen  gehörten  oder  an  denen  deutsches  Kapital 
in  nennenswertem  Umfange  beteiligt  war,  ausgedehnt 
und  namentlich  in  den  überseeischen  Gebieten  in  der 
rigorosesten  Weise  durchgeführt.  Dazu  kam  die  Auf- 
hebung von  Verträgen  mit  feindlichen  Staatsangehörigen 
und  der  feindlichen  Staatsangehörigen  zustehenden 
Patentrechte. 


37 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


Noch  einschneidender  waren  die  britischen  Maßnahmen 
auf  dem  Gebiet  des  Seekrieges.  Ohne  sich  durch  die  völker- 
rechtlichen Satzungen  irgendwie  beirren  zu  lassen,  unter- 
warf England  den  gesamten  Seeverkehr  auch  der  Neu- 
tralen seiner  Kontrolle  in  der  Absicht,  jede  auch  indirekte 
Zufuhr  für  Deutschland  zu  verhindern.  Darüber  hinaus 
zwang  es  den  Neutralen  in  ihren  eigenen  Ländern  eine 
Handelskontrolle  auf,  die  in  ihrer  Wirkung  die  Blockade 
bis  an  die  Landgrenzen  Deutschlands  tragen  sollte. 

Ganz  offenkundig  und  ganz  rücksichtslos  ging  England, 
von  seinen  Verbündeten  unterstützt,  von  Anbeginn  des 
Krieges  an  darauf  hinaus,  die  Kriegführung  der  Land-  und 
Seestreitkräfte  zu  ergänzen  und  zu  unterstützen  durch  eine 
wirtschaftliche  Erdrosselung  des  deutschen  Volkes.  Durch 
die  Abschnürung  der  Zufuhr  kriegswichtiger  Rohstoffe 
sollte  Deutschland  wehrlos  gemacht,  durch  die  Abschnürung 
der  Zufuhr  von  Nahrungsmitteln  sollte  Deutschland  aus- 
gehungert und  zur  Übergabe  gezwungen  werden.  Dabei 
handelte  es  sich  für  England  von  allem  Anfang  an  nicht  nur 
um  ein  Kriegsmittel,  sondern  klar  erkennbar  um  einen 
wesentlichen  Kriegszweck:  Deutschland  sollte  durch  den 
wirtschaftlichen  Druck  nicht  nur  — unabhängig  von  den 
militärischen  Operationen  — zur  Kapitulation  gezwungen, 
sondern  Deutschlands  Stellung  in  der  Weltwirtschaft, 
die  England  so  unbequem  geworden  war,  sollte  den  töd- 
lichen Streich  erhalten.  Die  Verfolgung  und  Vernichtung 
jeder  deutschen  geschäftlichen  Betätigung,  jeder  deutschen 


38 


Der  englische  Wirtschaftskrieg 


Wirtschafts-  und  Kulturarbeit  in  allen  den  Gebieten, 
die  für  den  britischen  Arm  überhaupt  erreichbar  waren, 
gibt  davon  beredtes  Zeugnis.  Der  britische  Vernichtungs- 
wille kannte  keine  Schranke,  weder  in  geschriebenen 
Satzungen,  noch  in  der  ungeschriebenen  Völkermoral, 
weder  im  menschlichen,  noch  im  göttlichen  Recht.  Alles 
was  in  den  Bestrebungen  der  edelsten  Geister  der  Mensch- 
heit bisher  erreicht  worden  war,  um  die  Kriegführung  auf 
die  bewaffneten  Streitkräfte  zu  beschränken  und  die  Leiden 
des  Krieges  von  der  nichtkämpfenden  Bevölkerung  fern- 
zuhalten, erwies  sich  vor  Englands  Gewaltpolitik  als  eitel 
Schall  und  Rauch. 

War  schon  der  Krieg  gegen  eine  rein  militärisch  so  starke 
Koalition  für  Deutschland  und  seinen  Verbündeten  eine 
in  diesem  Ausmaß  in  der  Geschichte  aller  Zeiten  und  Völker 
bisher  unerreichte  Kraftprobe,  so  wurde  die  Gefahr  der 
Zermalmung  durch  die  brutale  Übertragung  des  Krieges 
auf  das  wirtschaftliche  Gebiet  ins  Ungeheuerliche  gesteigert. 
Deutschland  war,  wie  kein  zweites  Land  außer  England 
selbst,  in  die  Weltwirtschaft  verwachsen.  Es  hatte  im 
letzten  Friedensjahr  eine  Einfuhr  von  10,7  Milliarden  Mark 
gehabt,  hauptsächlich  Rohstoffe  und  Nahrungsmittel; 
seine  Ausfuhr,  hauptsächlich  aus  Fabrikaten  bestehend, 
hatte  den  Wert  von  10,1  Milliarden  Mark  erreicht.  Wenn 
wir  auch  infolge  der  glücklichen  Entwicklung  unseres 
Ackerbaues  nur  eines  verhältnismäßig  geringen  Zuschusses 
an  Brotgetreide  aus  dem  Ausland  bedurften,  so  war  doch 


39 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


unsere  Viehwirtschaft,  und  damit  die  Versorgung  unserer 
Bevölkerung  mit  Fleisch  und  Fett,  in  erheblichem  Umfange 
auf  fremde  Zufuhren  an  Futtermitteln  angewiesen.  Von 
unseren  großen  Gewerbezweigen  war  die  Textilindustrie,  bis 
auf  die  geringe  einheimische  Erzeugung  von  Wolle  und  Flachs, 
von  der  Rohstoffzufuhr  aus  dem  Auslande  abhängig.  Ähnlich, 
wenn  auch  nicht  ganz  so  schlimm,  stand  es  mit  der  Leder- 
industrie. Kohle  und  Eisen  hatten  wir  im  eigenen  Land; 
aber  andere  wichtige  Metalle  kamen  vorwiegend,  wie  das 
Kupfer,  oder  ausschließlich,  wie  das  Nickel,  aus  dem  Aus- 
land. Unsere  Ausfuhr  gab  einem  großen  Teil  unserer  ar- 
beitenden Bevölkerung  lohnende  Arbeit.  Die  Ernährung, 
Bekleidung  und  Beschäftigung  eines  großen  Teiles  unserer 
Bevölkerung,  darüber  hinaus  die  Ausstattung  unserer 
Streitkräfte  zu  Land  und  zu  Wasser  mit  Kriegsgerät, 
Munition  und  Proviant  wurde  durch  die  Unterbindung 
unseres  Außenhandels  auf  das  emsthchste  in  Frage  gestellt. 
Die  gewaltigen  wirtschafthchen  Schwierigkeiten,  die  auch 
ein  auf  das  rein  Militärische  beschränkter  Krieg  hätte  mit 
sich  bringen  müssen,  wurden  ins  Unendliche  gesteigert. 

Nahezu  alles,  was  zur  Überwindung  dieser  Schwderig- 
keiten  und  Gefahren  zu  geschehen  hatte,  mußte  impro- 
visiert werden. 

Die  Aussichten  einer  reinen  Vergeltungspolitik  waren 
schlecht.  Wir  konnten  die  Beschlagnahme  deutscher  Ver- 
mögensw'erte,  die  Zwangs  Verwaltung  und  Zwangsliqui- 
dation deutscher  Unternehmungen  und  die  anderen  gegen 


40 


Aussichten  einer  Vergeltungspolitik 


deutsches  Privat  vermögen  und  deutsche  Privatrechte  ge- 
richteten Maßnahmen  mit  den  entsprechenden  Gegenmaß- 
nahmen beantworten  und  taten  das  auch.  Aber  was  an 
feindlichem  Privatvermögen  und  Privatrechten  unserem 
Zugriff  unterlag,  war  dem  Werte  nach  nur  ein  Bruchteil 
dessen,  was  bei  der  weitverzweigten  deutschen  Betätigung 
in  dem  Machtbereich  unserer  Feinde  der  Willkür  von 
Engländern,  Franzosen  und  Russen  ausgesetzt  war.  Der 
völkerrechtswidrigen  Unterbindung  unserer  ausländischen 
Zufuhren  konnten  wir,  da  England  die  See  beherrschte, 
zunächst  nichts  gegenüberstellen  als  unseren  wiederholten 
eindringlichen  Appell  an  die  an  der  Aufrechterhaltung  des 
Völkerrechts  mit  uns  interessierten  Neutralen:  die  U-Boot- 
waffe,  deren  Anwendung  wegen  ihrer  Rückwirkung  auf 
die  Neutralen,  besonders  auf  die  Vereinigten  Staaten, 
von  Anfang  an  als  zweischneidig  angesehen  werden  mußte, 
kam  als  Mittel  für  eine  Gegenblockade  erst  im  weiteren 
Verlauf  des  Krieges  ernsthaft  in  Betracht.  Auch  auf  die  sich 
dem  britischen  Druck  so  gefügig  zeigenden  uns  benachbarten 
Neutralen  konnten  wir  nur  in  sehr  beschränktem  Umfang 
einen  Gegendruck  ausüDen.  Ihre  Abhängigkeit  von  unserer 
Kohle  und  unserem  Eisen  war  nicht  entfernt  so  groß  und  so 
empfindlich  wie  ihre  Abhängigkeit  von  den  unter  Englands 
Kontrolle  stehenden  Zufuhren  von  Nahrungs-  und  Futter- 
mitteln und  an  wichtigen  überseeischen  Rohstoffen.  Immer- 
hin gaben  die  uns  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  des  Gegen- 
drucks auf  diesem  Gebiet  uns  wenigstens  einigen  Spielraum. 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


Es  kam  darauf  an,  die  bescheidenen  Vorteile  und  Druck- 
mittel, die  uns  zur  Verfügung  standen,  in  geschickten  Trans- 
aktionen und  Kombinationen  nach  jeder  Möghchkeit  aus- 
zunutzen, um  die  Erdrosselungsabsichten  unserer  Feinde 
zu  vereiteln.  Es  kam  weiter  darauf  an,  einen  Überblick 
über  die  im  Inland  vorhandenen  Bestände  der  für  das  Durch- 
halten der  Bevölkerung  und  der  Kriegführung  wichtigsten 
Nahrungsmittel  und  Rohstoffe  zu  gewinnen,  die  Erzeu- 
gungsmöglichkeiten dieser  Stoffe  oder  geeigneter  Ersatz- 
stoffe nach  Möglichkeit  zu  fördern,  ihren  Verbrauch  zu 
kontrollieren  und  zu  rationieren  und  auf  die  Preisbildung 
der  für  den  Lebensunterhalt  der  Bevölkerung  wesentlichen 
Waren  einen  Einfluß  zu  gewinnen.  Das  bedeutete  nicht  nur 
eine  den  besonderen  Verhältnissen  und  Bedürfnissen  anzu- 
passende Umstellung  der  wirtschaftlichen  Tätigkeit,  sondern 
eine  Neuorganisation  unserer  Wirtschaftsverfassung  im 
Sinne  des  Überganges  von  dem  individualistischen  System 
der  freien  wirtschaftlichen  Betätigung  und  Initiative,  das 
sich  in  der  hinter  uns  hegenden  Friedenszeit  von  selbst  regu- 
liert hatte,  zu  dem  Versuch  einer  einheithchen  und  plan- 
mäßigen Leitung  der  Gütererzeugung  und  Güterverteilung. 

Die  Aufgabe  war  ihrer  Art  nach  völlig  neu.  Es  gab  keine 
Möglichkeit,  sich  an  bereits  erprobte  Vorbilder  und  Me- 
thoden anzulehnen;  alles  mußte  gewissermaßen  aus  dem 
Nichts  heraus  geschaffen  werden. 

Die  Aufgabe  wurde  auch  keineswegs  in  ihrem  Umfange 
von  Anfang  an  erkannt.  Ich  glaube,  es  gibt  niemanden  in 


42 


Die  Neuorganisation  unserer  Wirtschafts  Verfassung 


Deutschland,  der  von  sich  sagen  kann,  er  habe  von  Anfang 
an  mit  einem  so  langen  Kriege  und  einer  so  strengen,  sich 
im  Laufe  des  Krieges  immer  mehr  verschärfenden  Abschnü- 
rung Deutschlands  von  auswärtigen  Zufuhren  gerechnet. 
Die  Ansicht,  daß  ein  moderner  Krieg  nur  von  kurzer  Dauer 
sein  könne,  wog  in  militärischen  wie  in  wirtschaftlichen  Krei- 
sen vor.  Dafür  sprach  die  furchtbare  Zerstörungskraft  der 
modernen  Kriegswaffen,  die  rasche  entscheidende  Schläge 
in  Aussicht  zu  stellen  schien;  ferner  die  ungeheuerliche 
Entziehung  von  Arbeitskräften  durch  die  auf  der  all- 
gemeinen Dienstpflicht  beruhenden  Volksheere,  eine  Ent- 
ziehung, die  in  ihrer  Wirkung  auf  die  Volkswirtschaft  mit 
einem  Generalstreik  verglichen  worden  ist;  dann  die  alle 
Summen,  mit  denen  Finanzleute  und  Volkswirtschaftler 
bisher  zu  rechnen  gewohnt  waren,  weit  hinter  sich  lassenden 
Kosten;  schließlich  die  Spekulation  auf  die  menschliche 
Vernunft,  die  es  nicht  zulassen  werde,  daß  die  Völker 
Europas  bis  zur  letzten  Erschöpfung  ihrer  physischen 
und  moralischen  Kräfte,  bis  zur  letzten  Zerstörung  ihrer 
wirtschaftlichen  und  kulturellen  Werte  sich  gegenseitig 
vernichten  würden. 

Gerade  von  sehr  maßgebender  militärischer  Stelle  habe 
ich,  während  der  Krieg  bereits  im  Gange  war,  wiederholt 
die  Meinung  vertreten  hören,  daß  das  Kriegsende  in  nicht 
allzu  ferner  Zeit  zu  erwarten  sei.  Als  ich  im  Monat  No- 
vember 1914  im  Großen  Hauptquartier  zu  Charleville  im 
Einverständnis  mit  dem  Auswärtigen  Amt  den  Vorschlag 


43 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


machte,  im  Interesse  unserer  Kriegführung  im  Orient  — 
die  Türkei  war  in  den  letzten  Oktobertagen  an  unserer 
Seite  in  den  Krieg  eingetreten  — die  an  der  Verbindung 
mit  Syrien  und  Mesopotamien  noch  fehlenden  Gebirgs- 
strecken  der  Bagdadbahn  im  Taurus  und  Amanus  alsbald 
mit  allen  Mitteln  auszubauen,  erhielt  ich  die  Antwort: 
Da  die  Fertigstellung  dieser  Strecken  erst  nach  Jahr  und 
Tag  zu  erwarten  sei,  liege  kein  militärisches  Interesse  an 
dem  Projekte  vor.  Die  Möglichkeit,  daß  wir  uns  Ende 
1915  noch  im  Kriege  befinden  könnten,  wurde  nach  den 
Eindrücken,  die  ich  damals  empfangen  habe,  überhaupt 
nicht  ernstlich  in  Betracht  gezogen.  Einer  ähnlichen  opti- 
mistischen Auffassung  begegnete  ich  noch  im  April  1915, 
als  ich  als  Reichsschatzsekretär  im  Großen  Hauptquartier 
weilte.  Man  setzte  damals  große  Hoffnungen  auf  gewisse 
gerade  eingeleitete  militärische  Operationen,  und  ich  hörte 
die  Hoffnung  aussprechen,  daß,  wenn  alles  gut  gehe,  der 
Krieg  in  wenigen  Monaten  zu  Ende  sein  könne. 

Ebensowenig  wie  mit  einem  mehr  als  vierjährigen  Krieg 
hat  man  die  Nachhaltigkeit  und  Wirksamkeit  unserer  Ab- 
sperrung vom  Ausland  vorausgesehen.  Auch  wer  England 
jede  Art  von  Völkerrechtsbruch,  namentlich  in  der  See- 
kriegführung, zu  traute,  hat  in  den  Anfängen  des  Krieges 
noch  hoffen  können,  daß  die  Maschen  des  Wirtschafts- 
krieges weit  genug  bleiben  würden,  um  uns  zu  gestatten, 
auf  dem  Weg  über  die  uns  benachbarten  Neutralen  uns 
wichtige  Zufuhren  zu  verschaffen.  Das  Selbstinteresse  der 


44 


Kriegsdauer.  '3  Entstehung  der  Kriegswirtschaft 


Neutralen,  namentlich  der  Vereinigten  Staaten,  erschien 
als  ein  Faktor,  der  in  unsere  Rechnung  eingestellt  werden 
konnte.  In  der  Tat  hat  in  den  ersten  Kriegsmonaten  Eng- 
land auf  dieses  Selbstinteresse  Amerikas  einige  Rücksicht 
genommen.  Noch  in  einer  Note  vom  7.  Januar  1915,  mit 
der  die  britische  Regierung  eine  Beschwerde  der  Regierung 
der  Vereinigten  Staaten  beantwortete,  betonte  die  britische 
Regierung,  sie  habe  z.  B.  Baumwolle  nicht  auf  die  Konter- 
bandeliste gesetzt  und  bei  jeder  Gelegenheit  ihre  Absicht 
festgestellt,  bei  dieser  Praxis  zu  bleiben.  In  der  Tat  ist 
Baumwolle  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1915 
von  der  britischen  Regierung  als  Konterbande  erklärt 
worden. 

So  entwickelte  sich  im  Laufe  des  Krieges  erst  allmählich 
der  ganze  Ernst  der  Lage  und  damit  die  Erkenntnis  der 
ganzen  Größe  der  zu  bewältigenden  Aufgabe.  Unsere 
Kriegswirtschaft  ist  nicht  entstanden  aus  einem  von  vorn- 
herein die  Aufgabe  in  ihrer  Gesamtheit  umfassenden  ein- 
heitlichen Plan;  sie  ist  allmählich  herausgewachsen  aus 
tastenden  Versuchen  und  aus  oft  unzulänglichen,  oft 
über  das  Ziel  hinausschießenden  Notmaßnahmen,  mit 
denen  die  wirtschaftlichen  Berufskreise  und  die  staatlichen 
Gewalten  den  immer  schwerer  und  dringender  werdenden 
Anforderungen  der  Zeit  gerecht  zu  werden  suchten.  An 
ihrem  Anfänge  stand  der  unmittelbar  nach  dem  Kriegs- 
ausbruch einsetzende  Zusammenschluß  großer  an  dem 
Bezug  ausländischer  Rohstoffe  interessierter  Kreise  des 


45 


Umfang  und  Art  des  Krieges 


Gewerbes  und  Handels  zur  gemeinsamen  Überwindung 
der  sich  auftürmenden  gewaltigen  Schwierigkeiten  durch 
einheitliches  Vorgehen  und  gemeinsames  Tragen  der  mit 
einem  Schlage  so  enorm  gestiegenen  Risiken  (Zentral- 
einkaufsgesellschaft, Kriegsausschuß  für  öle  und  Fette, 
Kautschukabrechnungsstelle  u.  a.  m.) ; ferner  die  Errich- 
tung der  Kriegsrohstoffabteilung  im  Kriegsministerium 
zum  Zweck  der  Sicherung  und  Beschaffung  der  kriegs- 
notwendigen Rohstoffe;  dann  gewisse  Notmaßnahmen  auf 
dem  Gebiete  der  Emährungspolitik,  wie  die  — übrigens 
von  der  Vertretung  der  Landwirtschaft  selbst  angeregte  — 
Festsetzung  von  Höchstpreisen  für  Brotgetreide,  die  Aus- 
mahlungsvorschriften, die  Schaffung  eines  einheitlichen 
Kriegsbrotes,  die  Verwendungsbeschränkung  (Verbot  der 
Verfütterung  von  Brotgetreide)  und  ähnliche  Maßnahmen 
mehr.  Von  diesen  Anfängen  ausgehend,  erstreckte  sich 
die  Kriegswirtschaft  auf  immer  weitere  Gebiete  unserer 
ganzen  Wirtschaft.  Zu  dem  einen  sich  immer  weiter  aus- 
dehnenden Kreis  von  Waren  erfassenden  System  der  Höchst- 
preise, Richtpreise  und  Preisprüfung  kamen  immer  weiter- 
gehende Verwendungsbeschränkungen,  Beschlagnahmen, 
Enteignungen,Ablieferungsverpflichtungen,Rationierungen 
des  Verbrauchs  durch  Karten,  Bezugsscheine  und  Vertei- 
lungsschlüssel, eine  fortschreitende  Zentralisation  der  Be- 
schaffung und  Be\\drtschaftung  von  wichtigen  Nahrungs- 
mitteln, Rohstoffen  und  Fabrikaten;  weiterhin  staatliche 
Eingriffe  in  den  Aufbau  einzelner  Gewerbezweige  im  Wege 


Entstehung  der  Kriegswirtschaft 


zwangsweisen  Zusammenschlusses,  verbunden  mit  Still- 
legungen und  Produktionsregulierungen;  schließlich  der 
Versuch  einer  staatlichen  Regulierung  der  wirtschaftlichen 
Arbeit  durch  das  Hilfsdienstgesetz.  Ergänzt  wurde  diese 
Entwicklung  der  kriegswirtschaftlichen  Organisation  durch 
die  Mitwirkung  der  wirtschaftlichen  Verbände  des  Unter- 
nehmertums und  der  Arbeiterschaft,  durch  die  mit  be- 
wundernswerter Tatkraft  und  erstaunlichem  Erfolg 
durchgeführte  Anpassung  der  Gütererzeugung  in  Land- 
wirtschaft und  Gewerbe  an  die  neuen  Verhältnisse  und  an 
die  gewaltigen  Anforderungen  des  Krieges,  durch  die  im 
Zusammenwirken  von  Wissenschaft,  Technik  und  wirt- 
schaftlicher Tatkraft  erzielten  Fortschritte  im  Produk- 
tionsverfahren, die  zu  einer  ungeahnten  Steigerung  der 
wirksamen  Ausnutzung  von  Stoffen  und  Kräften  führten 
und  teilweise  ganz  neue  Wege  von  bleibender  Bedeutung 
erschlossen. 

Ich  werde  im  weiteren  Verlaufe  meiner  Darstellung 
Gelegenheit  haben,  auf  einzelne  Teile  der  Entwicklung 
unserer  Kriegswirtschaft,  an  denen  ich  persönlich  mitzu- 
arbeiten berufen  war,  des  näheren  einzugehen. 


D i e 

politische  und  militärische 
Entwicklung  des  Krieges 
b i s 2 u m 

Friedensangebot 


Die  großen  militärischen  Entscheidungen  der  ersten 
Kriegsmonate  hatten  uns  in  die  Verteidigung  gebracht. 
Im  Westen  in  einer  festen,  weit  in  das  Feindesland  aus- 
holenden Linie,  die  im  Stellungskrieg  gehalten  werden 
mußte.  Im  Osten  in  einem  weiten  freien  Raum,  der  eine 
offensive  Verteidigung  im  Bewegungskrieg  gestattete. 
Starke  feindliche  Übermacht  hier  wie  dort,  dazu  eine  Über- 
macht, die  — wenigstens  soweit  Rußland  und  das  britische 
Imperium  in  Betracht  kamen  — durch  vermehrten  Kräfte- 
einsatz noch  einer  wesentlichen  Steigerung  fähig  war. 
Und  diese  feindliche  Übermacht  konnte  aus  ihrer  freien 
Berührung  mit  der  gesamten  Welt  Ergänzung  und  Ent- 
lastung finden,  während  die  Mittelmächte  auf  sich  selbst 
gestellt  waren. 

Wir  standen,  wie  am  ersten  Tage  des  Krieges,  so  nach 
den  ersten  gewaltigen  Kraftproben  vor  der  Gefahr,  trotz 
allen  Heldentums  und  aller  Heldentaten  erdrosselt  und 
zermalmt  zu  werden.  In  dieser  Lage  hieß  es,  nach  jeder 
möglichen  Hilfe  ausschauen,  die  uns  aus  der  furchtbaren 
Umklammerung  befreien  konnte. 


4* 


51 


Entwicklung  des  Krieges 


Die  Türkei  als  Bundesgenosse 

Während  unser  italienischer  und  unser  rumänischer  Bun- 
desgenosse sich  von  Anfang  an  der  Erfüllung  ihrer  Bundes- 
pflicht enthielten,  während  Japan  seine  zunächst  erklärte 
Neutralität  schon  am  19.  August  durch  sein  an  uns  gerichtetes 
Ultimatum  aufgab  und  sich  der  Koalition  unserer  Feinde 
anschloß,  während  die  Neutralen  ab  wartend  und  zumeist 
mit  für  uns  recht  kühlen  Gefühlen  beiseite  standen,  stellte 
sich  die  uns  seit  langem  befreundete,  aber  niemals  ver- 
bündete Türkei  als  ein  willkommener  und  wichtiger 
Mitkämpfer  ein. 

Ich  habe  im  ersten  Teil  dieses  Buches  die  Belastungs- 
proben skizziert,  denen  die  deutsch-türkische  Freundschaft 
seit  der  jungtürkischen  Revolution  ausgesetzt  war,  und 
denen  sie  sich  gewachsen  gezeigt  hat.  Deutschlands 
territoriale  Uninteressiertheit  an  den  Fragen  des  näheren 
Orients,  sein  positives  Interesse  an  der  Aufrechterhaltung 
der  Unversehrtheit,  der  Unabhängigkeit,  der  wirtschaft- 
lichen, militärischen  und  politischen  Erstarkung  der  Türkei 
war  so  offenkundig  und  trat  in  so  konkludenten  Handlun- 
gen zutage,  daß  auch  die  westmächtlich  voreingenommenen 
jungtürkischen  Politiker,  sobald  sie  an  der  Macht  und  Ver- 
antwortung waren,  sich  wohl  oder  übel  zu  Deutschland 
hingedrängt  sahen.  Selbst  das  Vorgehen  unseres  öster- 
reichisch-ungarischen Bundesgenossen  in  der  bosnischen 


52 


Natürliche  Bundesgenossenschaft 


Frage  und  die  tripolitanische  Brutalität  Italiens  hatten 
die  aus  den  wahren  Interessen  der  Türkei  erwachsende 
Wiederannäherung  an  Deutschland  nicht  hindern  können. 

Als  der  Krieg  ausbrach,  konnte  in  Stambul  kein  Staats- 
mann darüber  im  unklaren  sein,  daß  im  Falle  eines  Sieges 
der  Entente  Rußland  nach  Konstantinopel  greifen  und 
daß  niemand  ihm  das  verwehren  werde.  Zu  oft  und  zu 
deutlich  war  in  den  letzten  Jahren  von  Rußland  her  pro- 
klamiert worden,  daß  der  Weg  nach  Konstantinopel  über 
Berlin  und  Wien  führe.  Der  Krieg  war  also  von  Anfang  an, 
ob  die  Türkei  beiseite  stand  oder  ob  sie  eingriff,  ein  Krieg 
um  die  Existenz  des  türkischen  Reiches.  Die  Türkei  hatte 
die  Wahl,  ob  sie  durch  ein  Eingreifen  an  der  Seite  der 
Mittelmächte  das  ihrige  zur  Abwendung  der  Vernichtung 
tun  oder  ob  sie  in  willenlosem  Geschehenlassen  ihr 
Schicksal  hinnehmen  wollte. 

Die  britische  Politik  versäumte  nicht,  der  türkischen 
Regierung  sofort  mit  Eindringlichkeit  zu  zeigen,  wo  ihr 
Platz  in  diesem  yölkerringen  sei.  Schon  am  2.  August  19.14 
beschlagnahmte  sie  zwei  von  der  Türkei  auf  Drängen  des 
britischen  Botschafters  in  England  in  Bestellung  gegebene 
und  im  voraus  bezahlte  Kriegsschiffe. 

Schon  in  jenen  Tagen  wurde  zwischen  dem  deutschen 
Botschafter  Freiherrn  von  Wangenheim  und  der  türkischen 
Regierung  ein  Bündnisvertrag  vereinbart,  für  dessen  Zu- 
standekommen sich  auf  türkischer  Seite  vor  allem  der 
Kriegsminister  Enver  Pascha  einsetzte. 


53 


Entwicklung  des  Krieges 


Am  Abend  des  lo.  August  erschienen  die  beiden  deut- 
schen Kriegsschiffe  ,,Göben“  und  „Breslau“,  die  im  Mittel- 
meer der  feindlichen  Übermacht  glücklich  entronnen  waren, 
vor  den  Dardanellen.  Sie  erhielten  die  Erlaubnis  zur  Ein- 
fahrt ; denn  die  türkische  Regierung  hatte  die  beiden  Schiffe 
in  Erwartung  ihrer  glücklichen  Ankunft  von  der  deutschen 
Regierung  gekauft.  Entrüsteter  Protest  der  Ententemächte. 
Zusammenziehung  eines  Ententegeschwaders  vor  den  Dar- 
danellen. Darauf  am  28.  September  Sperre  der  Dardanellen. 

Für  die  deutsche  Kriegspolitik  war  schon  mit  dieser 
Etappe  ein  wichtiger  Erfolg  erzielt.  Die  Verbindung  der 
Westmächte  mit  Rußland  durch  die  Ostsee  war  durch  den 
Krieg  zerschnitten.  Wenn  jetzt  auch  der  Großhandels  weg 
durch  die  Dardanellen  gesperrt  war,  so  blieb  nur  noch 
der  für  umfangreiche  Transporte  infolge  des  Mangels  an 
Eisenbahnen  in  Nordrußland  nicht  praktikable  Weg  über 
Archangelsk.  Die  Dardanellensperre  machte  die  Unter- 
stützung der  Entente  auf  dem  westlichen  Kriegsschauplatz 
durch  russische  Mannschaften  für  lange  Zeit  unmöglich, 
sie  schränkte  die  Möglichkeit  der  Versorgung  Rußlands  mit 
westmächtlichem  Kriegsmaterial  erheblich  ein,  und  sie 
unterband  die  Belieferung  Frankreichs  und  Englands  mit 
russischem  Getreide. 

Es  konnte  fraglich  erscheinen,  ob  es  im  deutschen  In- 
teresse lag,  die  durch  drei  Kriege  geschwächte  Türkei  zu 
veranlassen,  weiter  zu  gehen  und  aktiv  in  den  Krieg  ein- 
zugreifen. Die  Möglichkeit,  auf  dem  Wege  über  die  Türkei 


54 


Dardanellensperre 


und  mit  Hilfe  der  Türkei  das  britische  Reich  an  lebens- 
wichtigen Punkten  anzugreifen,  etwa  am  Suezkanal  oder 
gar  über  den  Persischen  Golf  in  Indien,  hatte  zwar  in  der 
englischen  Agitation  gegen  die  Bagdadbahn  und  leider  auch 
in  gewissen  leichtfertigen  deutschen  Veröffentlichungen 
eine  Rolle  gespielt ; aber  bei  nüchterner  und  sachkundiger 
Beurteilung  mußte  man  die  Durchführbarkeit  und  die 
Aussichten  auch  nur  einer  Aktion  gegen  den  Suezkanal 
so  lange  als  äußerst  zweifelhaft  betrachten,  als  einmal  ein 
ungehinderter  Verkehr  zwischen  den  Mittelmächten  und 
der  Türkei  nicht  gesichert  war  und  als  ferner  die  Eisen- 
bahnverbindung zwischen  Konstantinopel  und  Syrien  im 
Taurus-  und  Amanusgebirge  noch  die  empfindlichen  Lücken 
aufwies.  Im  übrigen  bot  die  Türkei  sowohl  im  südlichen 
Mesopotamien  den  Engländern  als  auch  in  Nordost- 
anatolien den  Russen  wegen  des  Fehlens  jeder  Eisenbahn- 
verbindungen gefährliche  Angriffsflächen;  ja,  es  war  nicht 
einmal  als  unbedingt  sicher  zu  betrachten,  ob  die  Darda- 
nellen, trotz  der  in  den  letzten  Jahren  durchgeführten 
Modernisierung  ihrer  inneren  Befestigungsanlagen,  einem 
energischen  und  nachhaltigen  Angriff  würden  standhalten 
können.  Auf  den  ,, Heiligen  Krieg“,  von  dem  manche  die 
Revolutionierung  Ägyptens  und  Indiens  erwarteten,  habe 
ich  nach  meiner  Kenntnis  des  stumpf  und  unfanatisch 
gewordenen  Islam  niemals  große  Hoffnungen  gesetzt, 
solange  wir  nicht  selbst  die  Bewegung  in  jene  Länder 
tragen  konnten. 


55 


Entwicklung  des  Krieges 


Diese  Ansichten  wurden  auch  in  unserem  Auswärtigen 
Amt  geteilt,  und  man  hat  es  deshalb  wohl  vermieden,  die 
Türken  zum  Eintritt  in  den  Krieg  allzu  eifrig  zu  drängen. 
Aber  die  Dinge  drängten  von  selbst  in  dieser  Richtung. 
Es  zeigte  sich  bald,  daß  die  Ententemächte  sich  mit  der 
Sperrung  der  Dardanellen  nicht  abfinden  und  der  Türkei 
nur  die  Wahl  lassen  würden,  sich  klipp  und  klar  zu  ent- 
scheiden. Die  Wahl  der  türkischen  Staatslenker  war  im 
voraus  getroffen.  VergebHch  bot  die  Entente  der  Türkei 
die  Garantie  ihres  Besitzstandes;  die  Türkei  hatte  mit 
solchen  Garantien  zu  schlechte  Erfahrungen  gemacht.  Der 
Druck  der  Ententemächte  verstärkte  sich.  Ende  Oktober 
kam  es  bei  der  Einmündung  des  Bosporus  in  das  Schwarze 
Meer,  wo  russische  Kriegsfahrzeuge  Minen  legten,  zu  einem 
Zusammenstoß  zwischen  türkischen  und  russischen  See- 
streitkräften : die  Kriegserklärung  erfolgte  aus  dem  Munde 
der  Schiffsgeschütze. 

Deutschland  hatte  einen  politischen  Sieg  erfochten;  es 
hatte  zu  einer  Zeit,  in  der  es  in  West  und  Ost  in  die  schwer- 
sten Kämpfe  gegen  eine  erdrückende  Übermacht  verstrickt 
war,  einen  Bundesgenossen  gewonnen,  dessen  nicht  zu 
unterschätzendes  Gewicht  auf  der  Wage  des  Völkerschick- 
sals vielleicht  den  entscheidenden  Ausschlag  geben  konnte. 

Nun  hieß  es,  das  Gewicht  des  neuen  Bundesgenossen  in 
Wirkung  setzen. 

Der  neue  Bundesgenosse  stand,  von  uns  getrennt,  auf 
einem  ebenso  wichtigen  wie  bedrohten  Außenposten.  Wenn 

56 


Räumliche  Trennung  der  Verbündeten 


dieser  Außenposten  gesichert  und  die  militärische  wie  die 
wirtschaftliche  Kraft  der  Türkei  für  uns  nutzbar  gemacht 
werden  sollte,  dann  mußten  alsbald  die  Brücken  zu  dem 
neuen  Mitkämpfer  geschlagen  werden.  Der  Weg  zur  Türkei 
führte,  solange  der  Engländer  das  Mittelmeer,  der  Russe 
das  Schwarze  Meer  beherrschte,  in  jedem  Fall  über 
Bulgarien,  außerdem  entweder  über  Rümänien  oder  über 
Serbien.  Bulgarien  stand  uns  mit  wohlwollender  Neutralität 
gegenüber.  Aber  Serbien  stand  mit  noch  ungebrochener 
Kraft  gegen  uns  im  Feld,  und  Rumänien  nahm  trotz  seines 
Bündnisvertrages  mit  uns  damals  schon  in  so  ungenierter 
Weise  für  die  Entente  Partei,  daß  es  auch  den  völkerrecht- 
lich durchaus  einwandfreien  Durchfuhren  von  uns  zur  Tür- 
kei und  von  der  Türkei  zu  uns  die  unerhörtesten  Schwierig- 
keiten in  den  Weg  legte.  Da  ohne  Krieg  mit  Rumänien 
die  Überwindung  des  rumänischen  Hindernisses  unmöghch 
erschien  und  da  niemand  bei  uns  das  Bedürfnis  nach 
einem  weiteren  Kriegsgegner  hatte,  da  ferner  der  serbische 
Landesteil,  der  den  Donauweg  zwischen  Ungarn  und  Bul- 
garien blockierte,  der  sogenannte  Negotiner  Zipfel,  eine 
Tiefenausdehnung  von  nur  50 — 60  Kilometern  hatte,  er- 
schien der  Weg  vorgezeichnet:  die  Forcierung  des  unter- 
halb des  Eisernen  Tores  gelegenen  serbischen  Donau- 
kreises. 

Für  diese  Lösung  setzten  sich  Kanzler  und  Auswärtiges 
Amt  bei  der  Obersten  Heeresleitung,  an  deren  Spitze 
damals  bereits  in  Vertretung  des  schwer  erkrankten 


57 


Entwicklung  des  Krieges 


Generalobersten  von  Moltke  der  General  von  Falkenhayn 
stand,  mit  allem  Nachdruck  ein;  es  wurde  jedoch  stets  die 
militärische  Unmöglichkeit  der  Erfüllung  dieser  Forderung 
geltend  gemacht.  Als  die  Türkei,  die  damals  schon  an  Muni- 
tionsmangel litt,  immer  stärker  drängte,  machte  das  Aus- 
wärtige Amt  einen  erneuten  Versuch,  zu  dem  auch  meine 
Mitwirkung  auf  Grund  meiner  Kenntnis  der  Verhältnisse  des 
näheren  Orients  herangeholt  wurde.  In  Brüssel,  wohin  ich 
gerade  von  einem  Besuch  im  Großen  Hauptquartier  zurück- 
gekehrt war,  erhielt  ich  am  28.  November  ein  Telegramm 
des  Unterstaatssekretärs  Zimmermann,  das  mich  ersuchte, 
beim  Reichskanzler,  beim  Generalstabschef  und  nötigen- 
falls beim  Kaiser  selbst  mit  den  stärksten  Argumenten  für 
eine  sofortige  Aktion  zur  Besetzung  des  Negotiner  Kreises 
und  Freimachung  des  Donau weges  einzutreten.  Ich  ent- 
schloß mich,  sofort  wieder  nach  Charleville  zu  fahren.  Als 
ich  am  Abend  des  29.  November  dort  ankam,  stellte  sich 
heraus,  daß  am  Vormittag  der  Reichskanzler  nach  Berlin, 
der  Kaiser  und  General  von  Falkenhayn  nach  dem  öst- 
lichen Kriegsschauplatz  abgereist  waren.  Ich  wandte  mich 
an  den  General  Wild  von  Hohenborn,  der  damals  den 
Generalquartiermeister  vertrat.  Er  sagte  mir,  daß  beim 
Generalstab  wenig  Neigung  für  die  serbische  Operation 
bestehe,  da  auf  den  Hauptkriegsschauplätzen  jeder  Mann 
gebraucht  würde.  Aus  diesem  Grund  habe  sich  der  Ge- 
neral von  Falkenhayn  bisher  gegenüber  den  Wünschen  des 
Auswärtigen  Amts  ablehnend  verhalten  und  zunächst  nur 


58 


Keine  Öffnung  des  Donauweges 


einmal  den  Obersten  Hentsch  zur  Prüfung  der  Verhältnisse 
an  Ort  und  Stelle  nach  dem  Eisernen  Tor  geschickt.  Aus 
den  Darlegungen  des  Generals  von  Wild  entnahm  ich,  daß 
man  in  den  leitenden  militärischen  Kreisen  die  Voraus- 
setzungen, unter  denen  allein  die  Türkei  überhaupt  erst  aus 
einem  stark  exponierten  Angriffspunkt  zu  einem  wertvollen 
Verbündeten  gemacht  werden  und  außerdem  Bulgarien  für 
den  Anschluß  an  uns  gewonnen  werden  könne,  nicht  ge- 
nügend würdigte.  General  von  Wild  versprach  mir,  meine 
Gesichtspunkte  alsbald  an  den  General  von  Falkenhayn  zu 
telegraphieren.  Es  blieb  aber  bei  der  Ablehnung. 

Es  war  für  mich  schmerzlich,  zu  sehen,  wie  statt  dieser  so 
dringlichen  Öffnung  des  Donauweges,  der  uns  in  der  Folge- 
zeit viel  schwere  Sorgen  erspart  und  unserer  Gesamtaktion 
eine  so  viel  wuchtigere  Schlagkraft  gegeben  hätte,  die  öster- 
reichisch-ungarischen Truppen  mit  starkem  Kräfteeinsatz 
Serbien  am  andern  Ende  anpackten.  Von  Bosnien  aus 
rückte  gegen  Ende  November  eine  starke  Armee  in  Ser- 
bien ein  und  erzielte  in  heftigen  Kämpfen  gute  Fortschritte. 
Am  2.  Dezember,  dem  66.  Jahrestag  der  Thronbesteigung 
des  Kaisers  Franz  Joseph,  wurde  Belgrad  angegriffen  und 
genommen.  Aber  bald  stießen  die  österreichisch-ungari- 
schen Truppen  in  dem  unwegsamen  westserbischen  Ge- 
birgsland  auf  große  Schwierigkeiten.  Schon  am  9.  Dezem- 
ber waren  sie  gezwungen,  den  Rückzug  unter  Preisgabe 
vielen  Materials  und  zabJreicher  Gefangener  anzutreten. 
Am  15.  Dezember  mußte  auch  Belgrad  wieder  geräumt 


59 


Entwicklung  des  Krieges 


werden.  Ich  kann  als  Laie  die  Frage  nicht  entscheiden, 
ob  nicht  der  gleiche  Kraftaufwand,  der  hier  nutzlos  ver- 
pufft wurde,  am  Negotiner  Donaubogen  eingesetzt  ge- 
nügt hätte,  um  die  Verbindung  mit  Bulgarien  und  der 
Türkei  damals  schon  herzustellen  und  zu  sichern.  Zunächst 
war  durch  den  österreichischen  Mißerfolg  diese  Möglich- 
keit auf  absehbare  Zeit  verschlossen.  Erst  zehn  Monate 
später  ist  die  damals  schon  so  dringend  empfohlene  Ak- 
tion in  Angriff  genommen  und  durchgeführt  worden. 

In  der  Zwischenzeit  mußte  sich  die  Türkei,  so  gut  es 
ging,  behelfen,  ohne  uns  über  die  Sperrung  der  Dardanellen 
hinaus  einen  wesentlichen  Vorteil  bringen  zu  können. 

Ein  Versuch  Envers,  im  armenischen  Hochland  gegen 
das  russische  Kaukasusgebiet  vorzustoßen,  blieb  mangels 
genügender  rückwärtiger  Verbindungen  in  den  Anfängen 
stecken  und  führte  schließlich  infolge  der  feindlichen  Haltung 
der  armenischen  Bevölkerung  zu  schweren  Rückschlägen. 
An  dem  türkischen  Ufer  des  Persischen  Golfs  setzten  sich 
die  Engländer  mit  indischen  Truppen  fest  und  bereiteten 
eine  Operationsbasis  für  die  Eroberung  Mesopotamiens  vor, 
ohne  daß  die  Türken  sie  aus  einer  durch  keine  Eisenbahn 
überbrückten  Entfernung  von  mehr  als  tausend  Kilo- 
metern ernstlich  daran  hindern  konnten.  Ägypten  wurde 
im  Dezember  1914  zum  britischen  Protektorat  erklärt, 
nachdem  schon  vor  dem  Eintritt  des  Kriegszustandes 
zwischen  England  und  der  Türkei  die  britische  Regiemng 
die  ägyptische  Regierung  gezwungen  hatte,  den 


60 


Türkische  Kriegsschauplätze 


Kriegszustand  gegenüber  den  Mittelmächten  zu  pro- 
klamieren. Mehr  als  gelegentliche  Patrouillen-  und  Banden- 
vorstöße gegen  den  Suezkanal,  die  keinerlei  nachhaltigen 
Erfolg  hatten,,  vermochten  die  Türken  im  Winter  1914/15 
nicht  zu  unternehmen. 

Dagegen  machten  die  Verbündeten  vom  Februar  1915 
an  außerordentliche  Anstrengungen,  die  Dardanellen  zu 
bezwingen  und  so  einen  entscheidenden  Stoß  zu  führen, 
der  sowohl  die  Türkei  ins  Herz  treffen,  wie  auch  die  unter- 
brochene Verbindung  zwischen  Rußland  und  den  West- 
mächten wiederherstellen  sollte.  Letzteres  erschien  um  so 
notwendiger,  als  die  Russen  gerade  damals  in  der  ,, Winter- 
schlacht in  den  Masuren“  eine  Niederlage  erlitten,  in  der 
ihre  Verluste  an  Menschen  und  namentlich  Material  so 
gewaltige  waren,  daß  es  in  Frage  gestellt  schien,  ob  die 
russische  ,, Dampfwalze“  sich  ohne  ausgiebige  Nachhilfe 
von  außen  werde  wiederherstellen  lassen. 

In  England  waren  die  Meinungen  über  die  Zweckmäßig- 
keit des  Dardanellenunternehmens  geteilt.  Churchill  setzte 
es  gegen  allen  Widerspruch  durch,  insbesondere  auch 
gegen  den  Widerspruch  des  Lord  John  Fisher,  des  Ersten 
Lords  der  Admiralität. 

Am  19.  Februar  begann  eine  mächtige  Schlachtflotte 
die  Außenforts  der  Dardanellen  zu  bombardieren.  Damit 
war  das  Signal  zu  dem  gewaltigsten  Ringen  gegeben,  das 
diese  seit  dem  Trojanischen  Krieg  so  viel  und  heiß  um- 
strittenen Meerengen  je  gesehen  hatten.  Die  veralteten  und 


61 


Entwicklung  des  Krieges 


schwachen  Forts  am  Dardanelieneingang  wurden  nieder- 
gelegt, und  Anfang  März  konnte  der  Versuch,  die  starken 
Innenforts  zu  bezwingen,  ins;  Werk  gesetzt  werden.  Der 
Versuch  scheiterte.  Am  i8.  März  büßten  die  Angreifer 
drei  Schlachtschiffe  ein,  zwei  englische  und  ein  franzö- 
sisches. Man  sah  ein,  daß  ohne  ein  starkes  Landungskorps 
nicht  vorwärts  zu  kommen  sei. 

Ein  solches  mußte  erst  zusammengestellt  und  herbei- 
geholt werden;  denn  die  wenigen  Bataillone  Senegalesen 
und  Zuaven,  mit  denen  man  anfänglich  auszukommen  ge- 
hofft hatte,  genügten  nicht  entfernt,  und  die  griechische 
Hilfe,  die  man  erwartete,  blieb  aus.  Man  griff  auf  die  in 
Ägypten  versammelten  Truppen,  hauptsächlich  Australier 
und  Neuseeländer,  zurück.  Am  25.  April  1915  erfolgte  die 
erste  Landung  auf  der  Halbinsel  Gallipoh. 

Die  auf  Gallipoli  zusammengezogene  türkische  Armee 
leistete  den  Angreifern,  die  ihre  Forts  und  Feldbefestigun- 
gen Tag  und  Nacht  mit  einem  Eisenhagel  aus  Land-  und 
Schiffsgeschützen  aller  Kaliber  überschütteten,  den  zähe- 
sten Widerstand.  Eine  unerwartete  aber  wirksame  Unter- 
stützung erhielt  sie  durch  deutsche  U-Boote,  die  plötzlich 
vor  den  Dardanellen  erschienen,  vom  25.  bis  27.  Mai 
die  drei  britischen  Panzerschiffe  ,, Triumph“,  ,,Majestic“ 
und  „Agamemnon“  torpedierten  und  durch  die  beständige 
Bedrohung  die  großen  Sclilachtschiffe  von  der  Halbinsel 
fernhielten.  Aber  eine  schwere  Sorge  lastete  auf  den 
braven  Verteidigern:  der  Munitionsmangel.  Der  tägliche 


62 


Dardanellenoffensive 


Verbrauch  war  bei  aller  Sparsamkeit  enorm;  Rumänien 
ließ  keine  Munition  durch;  Serbien  hielt  immer  noch  den 
Negotiner  Donaubogen;  unsere  U-Boote  konnten  bei  ihrem 
beschränkten  Tonnengehalt  höchstens  Zünder  und  ähnliche 
Dinge,  aber  keine  Granaten  heranschaffen.  Der  Energie 
und  Geschicklichkeit  eines  deutschen  Seeoffiziers  gelang 
es,  in  Konstantinopel  eine  behelfsmäßig  ausgestattete  Muni- 
tionsfabrik gewissermaßen  aus  dem  Boden  zu  stampfen; 
aber  deren  Leistungsfähigkeit  konnte  nicht  entfernt  auf 
die  Höhe  des  Bedarfs  der  Gallipoli- Armee  gesteigert  werden. 
Die  Telegramme  unseres  Botschafters  verlangten  immer 
dringender  die  Öffnung  eines  Weges  für  ausreichende 
Munitionszufuhr.  Wiederholt  schien  die  letzte  Stunde  ge- 
schlagen zu  haben.  Mehr  als  einmal  war  nach  heftigen  An- 
griffen der  Vorrat  der  Artilleriemunition  so  vollständig  er- 
schöpft, daß  einem  erneuten  Angriff  des  Feindes  der 
Erfolg  sicher  gewesen  wäre.  Churchill  sprach  damals  das 
Wort:  ,,Nur  wenige  Meilen  trennen  uns  vom  Ziel  und  vom 
endgültigen  Sieg.“  Er  wußte  selbst  nicht,  wie  nahe  er  oft 
an  Ziel  und  Sieg  war. 

Endlich  kam  die  Erlösung.  Im  Oktober  1915  reichten 
wir  uns  über  Serbien  hinaus  mit  Bulgarien  die  Hände,  der 
Donauweg  war  frei,  die  Dardanellen  und  Konstantinopel 
waren  gerettet.  Die  Entente  mußte  sich  von  der  Aussichts- 
losigkeit weiterer  Versuche  überzeugen.  Schon  am  2.  No- 
vember 1915  nannte  der  britische  Premierminister  im  Unter- 
haus das  Dardanellenunternehmen  ,,a  disappointment 


£ntwickluug  des  Krieges 


and  failure“.  Im  Januar  1916  wurden  bei  Nacht  und 
Nebel  die  letzten  Reste  des  Landungskorps  eingeschifft. 
Die  Gräber  von  vielen  Zehntausenden  sind,  wie  die  Tumuli 
von  Troja,  das  Denkmal  des  gewaltigen  Ringens. 

Itali  cn 

Während  uns  in  der  Türkei  ein  neuer  Bundesgenosse 
entstand,  der  das  Kräfteverhältnis  zwischen  uns  und  der 
übermächtigen  feindlichen  Koalition  immerhin  zu  unsern 
Gunsten  verbesserte  und  uns  einige  Aussicht  bot,  aus  der 
eisernen  Umklammerung  den  Weg  ins  Freie  zu  gewinnen, 
rückte  unser  italienischer  Dreibundgenosse,  der  mehr  als 
drei  Jahrzehnte  hindurch  die  gute  Zeit  mit  uns  geteilt, 
sich  dabei  wohl  befunden  hatte  und  zu  neuer  Blüte  er- 
starkt war,  immer  deutlicher  von  uns  nach  dem  Lager  der 
Entente  hinüber. 

Aus  den  Gründen,  die  ich  im  ersten  Band  dieses  Werkes 
entwickelt  habe,  mußten  die  Mittelmächte  für  den  Ernst- 
fall eines  Krieges  mit  einer  England  einschließenden  Koah- 
tion  damit  rechnen,  daß  Italien  sich  auch  bei  einem  un- 
zweifelhaften Vorliegen  des  Casus  foederis  der  Verpflichtung 
zur  Waffenhilfe  entziehen  würde.  Erwarten  durfte  man 
auf  Grund  der  mehr  als  dreißigjährigen  Gemeinschaft  eine 
unzweideutige  und  wohlwollende  Neutralität.  Auch  Bis- 
marck hatte  damit  gerechnet,  daß  im  Kriegsfall  der  Drei- 
bundvertrag Italien  zum  mindesten  abhalten  werde,  sich 


64 


Italiens  Neutralität 


ZU  unseren  Feinden  zu  schlagen,  daß  er  ferner  Österreich- 
Ungarn  gestatten  werde,  seine  italienische  Grenze  zu  ent- 
blößen, und  daß  er  andererseits  einige  französische  Armee- 
korps an  den  Seealpen  binden  werde. 

Italien  erklärte  in  der  Tat  eine  freundschaftliche  Neu- 
tralität. Aber  seine  Handlungen  standen  mit  dieser  Er- 
klärung von  Anfang  an  nicht  in  Einklang. 

Die  Mitteilung  der  Neutralität  an  Frankreich  erfolgte 
in  Formen,  die  dort  einen  Begeisterungssturm  erregten 
und  der  französischen  Regierung  die  Gewißheit  gaben,  daß 
sie  ohne  Gefahr  den  letzten  Mann  von  der  Alpengrenze  ab- 
ziehen  und  gegen  die  deutsche  Armee  ins  Feld  stellen 
könne.  Dagegen  holte  Italien  gegenüber  den  Mittelmächten 
den  Artikel  7 des  Dreibundvertrags  hervor,  der  ihm  für 
den  Fall  einer  Machterweiterung  Österreich-Ungarns  auf 
dem  Balkan  eine  Kompensation  in  Aussicht  stellte.  In- 
dem Italien  sich  seiner  Verpflichtung  aus  dem  Dreibund- 
vertrag entzog,  machte  es  aus  dem  gleichen  Vertrag 
Rechte  geltend.  Die  Mittelmächte  erkannten  den  Anspruch 
Italiens  ausdrücklich  an  für  den  Fall,  daß  die  im  Bündnis- 
vertrag vorgesehene  Voraussetzung  der  Erweiterung  der 
österreichisch-ungarischen  Machtsphäre  auf  dem  Balkan, 
die  nach  den  Erklärungen  des  Wiener  Kabinetts  nicht  in 
dessen  Absicht  lag,  tatsächlich  eintreten  sollte.  Gebessert 
wurde  durch  diese  Anerkennung  nichts. 

Auch  wirtschaftlich  ließ  Italien  uns  im  Stich.  Es 
erschwerte  und  verhinderte  die  Durchfuhr  wichtiger 

5 Helfferich,  Weltkrieg  II  6^ 


Entwicklung  des  Krieges 


Stapelartikel  nach  Deutschland,  ja  sogar  den  Abtransport 
der  bei  Ausbruch  des  Krieges  in  italienischen  Häfen  mit 
Bestimmung  für  Deutschland  bereits  lagernden  Güter.  Die 
Aussicht,  auf  dem  Wege  über  das  verbündete,  aber  in  die- 
sem Krieg  neutral  bleibende  Italien  die  gegen  uns  geplante 
Wirtschaftsblockade  vereiteln  zu  können,  mußte  von  vorn- 
herein aufgegeben  werden. 

Es  kann  nicht  meine  Aufgabe  sein,  hier  zu  schildern, 
wie  eine  raffinierte  Bearbeitung  der  italienischen  Presse  und 
Straße  das  Land  für  den  Verrat  an  dem  alten  Bundes- 
genossen reif  machte.  Ich  beschränke  mich  auf  die  Fest- 
stellung des  Ergebnisses. 

Bereits  im  Oktober  1914,  als  der  plötzliche  Tod  San 
Giulianos,  der  noch  im  Jahre  1912  die  Erneuerung  des 
Dreibundvertrages  unterzeichnet  hatte,  die  Neubildung 
des  italienischen  Kabinetts  nötig  machte,  trat  die  Abkehr 
von  den  Mittelmächten  un verhüllt  in  Erscheinung.  Nach- 
folger San  Giulianos  wurde  Sidney  Sonnino,  ein  Mann,  von 
dem  ein  italienisches  Wort  sagt,  er  sei  ,,mezzo  Ebreo,  mezzo 
Inglese“  — halb  Jude  und  halb  Engländer  — und  dessen 
Parteinahme  für  England  allbekannt  war.  Am  3.  Dezem- 
ber sprach  Salandra,  der  das  Präsidium  auch  des  neuen 
Kabinetts  behalten  hatte,  in  der  italienischen  Kammer  die 
bedenklichen  Worte  von  der  ,, tätigen  und  wachsamen  Neu- 
tralität“, der  ,, stark  gewappneten  Neutralität“  und  „den 
gerechten  Ansprüchen“,  die  Italien  zu  verwirklichen  habe. 
Diese  Worte  deuteten  an  und  verhüllten  zu  gleicher  Zeit, 


66 


Italiens  Abkehr  vom  Dreibund 


was  sich  in  den  geheimen  diplomatischen  Verhandlungen 
abspielte : Das  neue  itahenische  Kabinett,  umworben 
von  Versprechungen  und  bedrückt  von  Drohungen  der 
Entente,  getrieben  von  dem  sich  immer  mehr  erhitzenden 
Nationalismus  und  Irredentismus  der  Straße,  dabei  dem  Zug 
des  eigenen  Herzens  folgend  und  fast  mehr  schiebend  als 
geschoben,  verlangte  von  Österreich-Ungarn  die  im  Drei- 
bundvertrag vorgesehene  Kompensation  unabhängig  von 
dem  tatsächlichen  Eintritt  der  zu  kompensierenden  öster- 
reichisch-ungarischen Machterweiterung  auf  dem  Balkan, 
lediglich  auf  Grund  der  damals  von  der  österreichisch- 
ungarischen Armee  eingeleiteten  und  dann  so  unglücklich 
verlaufenen  neuen  Operation  gegen  Serbien ; es  verlangte 
die  Kompensation  nicht,  wie  es  dem  Sinn  des  Vertrages  ent- 
sprach, auf  dem  Balkan,  sondern  es  richtete  seine  begehr- 
lichen Augen  auf  Trient  und  Triest ; es  forderte  schließ- 
lich nicht  eine  Kompensation  für  später,  sondern  sofortige 
Auslieferung  der  verlangten  Gebietsteile. 

Eine  Gefühlspolitik  hätte  diese  Zumutungen  auf  jede 
Gefahr  hin  mit  Entrüstung  zurückgewiesen.  Aber  Gefühls- 
politik verbot  sich  für  die  Mittelmächte  bei  der  ernsten 
Lage,  in  der  sie  sich  befanden,  von  selbst.  Es  galt,  Figuren 
zu  opfern,  um  nicht  mit  Sicherheit  das  Spiel  um  die  eigene 
Existenz  zu  verlieren. 

Die  deutsche  Regierung  schickte  den  Fürsten  Bülow,  der 
sich  zur  Verfügung  gestellt  hatte,  als  außerordentlichen 
Botschafter  nach  Rom,  damit  er  als  bester  Kenner  der 


5* 


67 


Entwicklung  des  Krieges 


italienischen  Personen  und  Verhältnisse  mit  seinem  ganzen 
Ansehen  und  seiner  ganzen  diplomatischen  Geschicklich- 
keit helfe,  das  Äußerste  zu  vermeiden. 

Es  bedurfte  eines  starken  Druckes  auf  unseren  öster- 
reichisch-ungarischen Bundesgenossen,  um  überhaupt  die 
Grundlage  für  Verhandlungen  zu  schaffen  und  späterhin 
den  Abbruch  infolge  der  immer  maßloser  werdenden  ita- 
lienischen Ansprüche  zu  verhüten.  Noch  Ende  Januar 
1915  sagte  der  damalige  Erzherzog-Thronfolger,  der  spätere 
Kaiser  Karl,  bei  einem  Besuch  im  Großen  Hauptquartier 
unserem  Kaiser,  wie  schwer  es  dem  Kaiser  Franz  Joseph 
werde,  sich  vor  den  italienischen  Zumutungen  zu  beugen. 
Kaiser  Wilhelm  hat  mir  Anfang  Februar  gesagt,  er  könne 
es  als  Souverän  und  Verbündeter  nicht  übers  Herz  bringen, 
auf  den  alten  Kaiser  in  dieser  furchtbaren  Sache  zu 
drücken.  Er  sei  dem  Baron  Burian,  der  vor  kurzem  seinen 
Antrittsbesuch  als  neuemannter  Minister  des  Auswärtigen 
gemacht  habe,  dankbar  für  den  Takt,  mit  dem  dieser  es 
unterlassen  habe,  ihn  auf  die  Trentinofrage  anzusprechen. 
Die  Aufgabe,  Österreich-Ungarn  zu  den  unvermeidlichen 
Zugeständnissen  zu  bewegen,  müsse  ihm  von  seinen  Staats- 
männern abgenommen  werden. 

Nur  mit  dem  äußersten  Widerstreben  und  bis  aufs 
äußerste  zögernd  fand  die  Wiener  Regierung  sich  bereit, 
die  italienischen  Forderungen  zu  diskutieren  und  schließ- 
lich in  der  Hauptsache  zuzugestehen.  Am  18.  Mai  1915 
hat  der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg  im 


68 


Die  italienischen  Forderungen.  Kriegserklärung 


Reichstag  die  österreichischen  Konzessionen  mitgeteilt, 
deren  Hauptpunkte  waren: 

1.  Der  von  Italienern  bewohnte  Teil  von  Tirol  wird  an 
Italien  abgetreten. 

2.  Ebenso  das  Westufer  des  Isonzo,  soweit  die  Bevöl- 
kerung rein  italienisch  ist,  sowie  die  Stadt  Gradisca. 

3.  Triest  soll  zur  freien  Kaiserlichen  Stadt  gemacht 
werden,  eine  den  itahenischen  Charakter  der  Stadt  sichernde 
Stadtverwaltung  und  eine  italienische  Universität  er- 
halten. 

4.  Die  italienische  Souveränität  über  Valona  und  die 
dazugehörige  Interessensphäre  wird  anerkannt. 

5.  Österreich-Ungarn  erklärt  seine  politische  Uninter- 
essiertheit an  Albanien. 

Das  Deutsche  Reich  hatte  dem  römischen  Kabinett  gegen- 
über im  Einverständnis  mit  der  österreichisch-ungarischen 
Regierung  die  volle  Garantie  für  die  loyale  Ausführung 
dieser  Anerbietungen  übernommen. 

Aber  Sonnino  hatte  sich  schon  im  April  der  Entente 
gegenüber  gebunden.  Der  volle  Umfang  der  österreichi- 
schen Zugeständnisse  wurde  dem  italienischen  Volke  und 
seiner  Vertretung  vorenthalten.  Die  beiden  Kammern 
des  italienischen  Parlaments,  deren  Mehrheit  friedens- 
freundlich war,  ließen  sich  durch  die  bis  zum  Weißglühen 
erhitzte  Straße  einschüchtern  und  stimmten  der  Kriegs- 
erklärung zu,  die  von  dem  italienischen  Botschafter  am 
Pfingstsonntag,  dem  23.  Mai  1915,  in  Wien  überreicht 

69 


Entwicklung  des  Krieges 


wurde.  ,,Die  Erfüllung  der  nationalen  Aspirationen  gegen 
jede  gegenwärtige  und , künftige  Bedrohung*'  wurde  in 
diesem  Dokument  als  der  Kriegsgrund  bezeichnet! 

Deutschland  gegenüber  wurde  eine  Kriegserklärung 
nicht  abgegeben.  Auch  Deutschland  sah  zunächst  von 
einer  Kriegserklärung  ab  und  beschränkte  sich  auf  den 
Abbruch  der  diplomatischen  Beziehungen. 

Auch  der  Fürst  Bülow  hatte  den  Eintritt  Italiens  in 
den  Krieg  nicht  mehr  verhindern  können.  Ob  es  ihm  ge- 
lungen wäre,  wenn  die  Wiener  Regierung  eine  größere 
Entschlußfähigkeit  betätigt  und  rascher  mit  ihren  Zu- 
geständnissen hervorgetreten  wäre,  ist  nachträglich  wohl 
kaum  zu  entscheiden.  Persönlich  bin  ich  der  Ansicht, 
daß  die  italienische  Regierung,  nachdem  sie  einmal  den 
Weg  des  Verrats  und  der  Erpressung  betreten  hatte, 
durch  das  Mißtrauen  des  Verräters  und  Erpressers  zwangs- 
läufig in  den  Krieg  getrieben  worden  ist,  und  daß  von 
jenem  Augenblick  an  keine  Diplomatie  und  kein  Ent- 
gegenkommen den  Krieg  noch  verhindern  konnte.  Auch 
nach  allem,  was  mir  Fürst  Bülow  über  seine  römische 
Mission  erzählt  hat,  ist  dieser  Eindruck  bei  mir  bestehen 
geblieben. 

War  so  die  Sendung  des  Fürsten  Bülow  zum  Scheitern 
verurteilt,  so  hat  der  Fürst  doch  einen  in  seiner  Tragweite 
kaum  hoch  genug  zu  veranschlagenden  Erfolg  erzielt: 
er  hat  es  verstanden,  die  Entscheidung  hinauszuschieben 
bis  zu  einem  Zeitpunkt,  in  dem  die  Gestaltung  der 


70 


Fürst  Bülows  Sendung 


militärischen  Ereignisse  unserem  Bundesgenossen  die  Mög- 
lichkeit gab,  dem  italienischen  Angriff  eine  Verteidigung 
entgegenzustellen.  Noch  in  der  letzten  April woche  1915 
hat  mir  der  General  von  Falkenhayn  auf  meine  Frage 
geantwortet,  daß  weder  die  Österreicher  noch  wir  in  der 
Lage  seien,  einem  italienischen  Angriff  nennenswerte 
Kräfte  entgegenzu werfen.  Die  am  2.  Mai  einsetzende 
Schlacht  bei  Gorlice  befreite  Österreich-Ungarn  von  der 
russischen  Gefahr  und  machte  ihm  rechtzeitig  die  Hände 
frei  für  die  Abwehr  des  italienischen  Überfalls. 

Von  der  italienischen  Kriegs  erklär  ung 
bis  zum  Eintritt  Bulgariens''in  den  Krieg 

Die  Mittelmächte  waren  am  Ende  des  Jahres  1914,  wie 
wir  gesehen  haben,  in  die  Verteidigung  gedrängt,  in 
eine  feste  Verteidigung  im  Westen,  eine  bewegliche  im 
Osten.  Es  handelte  sich  für  die  Leiter  ihrer  Operationen 
darum,  auch  in  dieser  schwierigen  Lage  die  Initiative  zu 
behalten.  Wie  die  Dinge  lagen,  konnte  sich  die  Initiative 
nur  im  Osten  entfalten. 

Dort  setzte  sie  bald  nach  Beginn  des  Jahres  1915  auf 
den  breiten  Flügeln  der  in  gewaltigem  Bogen  von  den 
Masurischen  Seen  über  das  westliche  Polen  und  die 
Karpathen  bis  zur  ungarisch-rumänischen  Grenze  ge- 
schwungenen Kampffront  ein. 


71 


Entwicklung  des  Krieges 


An  der  Karpathenfront  gelang  es,  den  Russen  Czemo- 
witz  wieder  abzunehmen  und  sie  in  schweren  Winter- 
kämpfen über  die  verschneiten  Pässe  zurückzu  werfen.  Aber 
die  Kraft  der  dort  kämpfenden  österreichisch-ungarischen 
Armee  und  der  sie  verstärkenden  deutschen  Truppen  reichte 
nicht  aus,  um  den  Ausgang  aus  dem  Gebirge  zu  erzwingen 
und  das  belagerte  Przemysl  zu  entsetzen.  In  der  zweiten 
Februarhälfte  kam  die  Angriffsbewegung  ins  Stocken. 

Dagegen  führte  die  Umfassungsschlacht,  die  Hinden- 
burg  am  7.  Februar  gegen  den  rechten  Flügel  der  russi- 
schen Front  einleitete,  zu  einem  vernichtenden  Schlag, 
dessen  Wucht  selbst  Tannenberg  übertraf.  Acht  Tage 
nach  dem  Beginn  des  Ringens  war  die  russische  Armee 
im  Raume  von  Augustow  — Suwalki  eingekreist , und 
wenige  Tage  darauf  erreichte  die  ,,Winterschlacht  in 
Masuren**  mit  der  Vernichtung  der  russischen  Nordarmee 
ihren  Abschluß. 

Ostpreußen  war  jetzt  endgültig  von  den  Russen  befreit 
und  vor  neuen  Einbrüchen  gesichert.  Die  Offensivkraft 
der  russischen  Gesamtarmee  war  durch  die  Zerschmette- 
rung ihres  rechten  Flügels  und  den  Verlust  seines  gesamten 
Kriegsmaterials  auf  das  schwerste  erschüttert.  Bis  in  die 
Karpathen  hinein  empfanden  die  Armeen  der  Mittelmächte 
die  Entlastung.  Ihre  Führer  sahen  den  Weg  zu  einer  um- 
fassenden und  entscheidenden  Offensive  geöffnet. 

Inzwischen  rüttelten  an  der  Westfront  Franzosen,  Eng- 
länder und  Belgier  mit  ihren  farbigen  Hilfsvölkern 


72 


Masurenschlacht.  Durchbruchsversuch  im  Westen 


unausgesetzt  an  den  deutschen  Stellungen,  bald  in  Flandern, 
im  Artois  und  in  der  Picardie,  bald  an  der  Aisne  und  in 
der  Champagne,  bald  vor  Verdun  und  in  den  Vogesen. 
Alle  diese  Vorstöße  vermochten  das  deutsche  Stellungs- 
system wohl  da  und  dort  leicht  einzubeulen,  aber  nicht 
zu  erschüttern,  geschweige  denn  zu  durchbrechen.  Ja,  die 
deutschen  Truppen  zeigten  sich  trotz  der  starken  zahlen- 
mäßigen Überlegenheit  der  Feinde  zu  kräftigen  Gegen- 
stößen fähig.  Als  sie  gegen  die  Mitte  des  Januar  1915  in 
wuchtigem  Gegenangriff  die  Franzosen  von  den  Soissons 
beherrschenden  Höhenstellungen  herunterfegten,  erzitterte 
Paris  in  Panik,  und  die  Feldherren  wie  die  Staatsmänner 
der  Entente  mußten  sich  Rechenschaft  geben,  daß  die 
Träume  vom  September  ausgeträumt  waren,  daß  nur  eine 
riesenhafte  Anstrengung  den  deutschen  Stellungsring  würde 
sprengen  können. 

Eine  solche  Anstrengung  versuchte  der  Marschall  Joffre 
um  die  Mitte  des  Februar  1915.  In  breit  angelegter  Durch- 
bruchsschlacht versuchte  er  die  deutschen  Linien  in  der 
Champagne  zu  zerreißen,  zum  mindesten  aber  dem  in 
der  Masurenschlacht  schwer  bedrängten  russischen  Ver- 
bündeten eine  Entlastung  zu  verschaffen.  Weder  das 
weitere,  noch  auch  das  engere  Ziel  wurde  erreicht.  Nach 
drei  Wochen  fast  ununterbrochenen  Ansturmes  mußte  das 
Unternehmen  aufgegeben  werden. 

In  den  folgenden  Monaten  lag  der  Schwerpunkt  der 
Kämpfe  bei  dem  nordwestlichen  Frontteil.  Am  23.  April 


73 


Entwicklung  des  Krieges 


begannen  unsere  Truppen  einen  umfassenden  Angriff  auf 
die  britischen  Stellungen  in  der  Gegend  von  Ypern.  Jetzt, 
n der  besser  gewordenen  Jahreszeit,  wollte  unsere  Heeres- 
leitung noch  einmal  den  im  Spätherbst  mißlungenen  Ver- 
such machen,  hier  die  feindliche  Stellung  aus  den  Angeln 
zu  heben.  Die  Anfangserfolge  waren  vielversprechend. 
Es  schien,  als  ob  es  gelingen  sollte,  die  Ypernstellung  in 
eine  eiserne  Zange  zu  nehmen.  Aber  auch  diesmal  blieb 
dem  Heldenmut  unserer  Truppen  der  entscheidende  Er- 
folg versagt.  Dagegen  setzten  vom  lo.  Mai  an  Franzosen 
und  Engländer  mit  schweren  Angriffen  gegen  unsere 
Stellungen  auf  und  an  der  Lorettohöhe  ein.  Abermals 
und  dringender  denn  je  brauchte  das  russische  Heer 
eine  Entlastung. 

Denn  am  2.  Mai  hatte  mit  der  Schlacht  bei  Gorlice  die 
gewaltige  Aktion  der  verbündeten  Armeen  eingesetzt, 
für  die  die  Karpathenkämpfe  im  Januar  und  Februar 
und  auch  die  Winterschlacht  in  Masuren,  trotz  ihrer 
gewaltigen  Dimensionen,  nur  eigentlich  die  Einleitung  ge- 
wesen waren.  Die  russischen  Linien  in  Westgalizien  von 
der  ungarischen  Grenze  bis  zur  Mündung  des  Dunajec 
in  die  Weichsel  wurden  im  ersten  Anprall  an  zahlreichen 
Stellen  durchbrochen.  Die  westgalizische  Front  war  zer- 
schmettert, die  südlich  anschließende  Karpathenfront  kam 
ins  Weichen,  ebenso  die  im  Weichselbogen  stehenden 
russischen  Linien.  Vierzehn  Tage  nach  Beginn  der  Offen- 
sive war  der  San  erreicht  und  an  mehreren  Stellen 


74 


Befreiung  Galiziens  und  Eroberung  Polens 


Überschritten.  Am  3.  Juni  wurde  das  nach  langer  Be- 
lagerung am  22.  März  gefallene  Przemysl  wiedererobert. 
Am  22.  Juni  wurde  Lemberg  den  Russen  entrissen. 

Im  Juli  rückte  der  Schwerpunkt  des  Ringens  nach 
Polen.  Westlich  der  Weichsel  wie  zwischen  Weichsel  und 
Bug  drängten  unsere  siegreichen  Armeen  gegen  Norden. 
Gleichzeitig  begann  unsere  Nordarmee,  die  inzwischen  mit 
schwachen  detachierten  Kräften  den  größten  Teil  von 
Kurland  erobert  hatte,  einen  zermalmenden  Druck  von 
der  Südgrenze  Ostpreußens  gegen  die  Narewlinie.  Im 
August  war  die  Frucht  reif.  Fast  gleichzeitig  fielen  am 
4.  und  5.  August  Iwangorod  im  Süden  und  Warschau  im 
Norden.  Am  19.  August  folgte  Kowno,  am  20.  Nowo- 
Georgiewsk  mit  einer  unerhörten  Beute  an  Artillerie  und  son- 
stigem Material.  Am  26.  August  war  Brest-Litowsk,  der  ge- 
waltige Waffenplatz  am  Bug,  in  unserer  Hand.  Drei  Wochen 
später  waren  unsere  Truppen  180  Kilometer  weiter  öst- 
lich in  Pinsk  angelangt ; das  russische  Heer  war  vor  ihnen 
in  den  Prip jetsümpfen  verschwunden.  Die  wolhynischen 
Festungen  Luck  und  Dubno  wurden  eine  leichte  Beute. 
Im  Norden  wurde  am  3.  September  das  stark  befestigte 
Grodno  gestürmt.  Am  18.  September  fiel  Wilna.  Aber 
leider  blieb  einem  großartigen  Umfassungsversuch  Hinden- 
burgs  in  Richtung  auf  Minsk  der  Erfolg  versagt.  Ende 
September  1915  hielten  wir  in  einer  Linie,  die  aus  der 
Gegend  Dünaburg  in  fast  genau  südlicher  Richtung  über 
Pinsk  nach  der  Ostgrenze  Galiziens  führte.  Hier  war  die 


75 


Entwicklung  des  Krieges 


große,  Anfang  Mai  eingeleitete  Operation  zum  Abschluß 
gekommen. 

Gewaltiges  war  in  den  fünf  Monaten  erreicht  worden. 
Das  Anfang  Mai  bis  auf  einen  kleinen  Rest  von  den  Russen 
besetzte  Galizien  und  der  östliche  Rand  von  Ostpreußen 
waren  befreit,  ganz  Polen,  Litauen  und  Kurland,  dazu 
große  Teile  von  Wolhynien  und  Weißrußland  mit  ihren 
starken  Festungen  waren  erobert.  Die  große  russische 
Armee,  die  größte,  die  wohl  je  die  Welt  gesehen,  war  ge- 
schlagen und  auseinandergesprengt,  große  Teile  von  ihr 
waren  vollkommen  vernichtet.  Mehr  als  eine  Million  Ge- 
fangene waren  in  unseren  Händen  geblieben.  Die  Ver- 
luste der  Russen  an  Kriegsmaterial  waren  ungeheuer. 

Und  doch  war  Rußland  nicht  bezwaingen.  Seine  Armee 
als  Ganzes  war  zwar  stark  geschwächt,  aber  nicht  ver- 
nichtet ; sein  Kriegswille  war  nicht  gebrochen.  Hinter  der 
langgestreckten  neuen  Front  begann  es,  aus  seinem  fast  un- 
erschöpflichen Menschenreservoir  und  mit  der  finanziellen 
und  industriellen  Hilfe  seiner  Verbündeten  wie  der  neutralen 
Amerikaner  sich  ein  neues  Kriegswerkzeug  zu  formen, 
das  es  später  bei  den  weiteren  Entscheidungen  mit  Wucht 
in  die  Wagschale  warf. 


Während  wir  mit  klopfendem  Herzen  dem  Siegeslauf 
unserer  Armeen  folgten,  stürmten  schwere  politische 
Sorgen  auf  uns  ein. 

76 


Rumänien  und  Bulgarien 


Die  Entente  war  nicht  imstande,  den  wuchtigen  Schlag, 
den  wir  militärisch  gegen  Rußland  führten,  durch  einen 
Gegenschlag  zu  parieren.  Die  Loretto-Offensive  brachte 
ihr  zwar  einigen  nicht  unwichtigen  Geländegewinn;  aber 
sie  vermochte  ebensowenig,  wie  im  Februar  und  März  die 
Champagne-Offensive,  unsere  Stellungen  zu  durchbrechen 
oder  uns  zu  zwingen,  die  russische  Armee  freizugeben. 
Dafür  suchte  die  Entente  Entlastung  auf  diplomatischem 
Gebiete.  Rumänien  und  Bulgarien  wurden  gleichzeitig  in 
Bearbeitung  genommen.  Das  Ziel  war,  einen  neuen  Balkan- 
bund herzustellen,  die  Türkei  endgültig  von  uns  zu  trennen, 
Konstantinopel  und  die  Dardanellen  durch  eine  vom  Lande 
her  mit  der  Ententeflotte  und  dem  Landungskorps  von 
Gallipoli  zusammenwirkende  Armee  zu  forcieren  und 
gleichzeitig  vom  Osten  und  Südosten  her  einen  umfassenden 
Angriff  der  vereinigten  Balkanstaaten  auf  Österreich- 
Ungarn  anzusetzen,  der  unserer  Offensive  gegen  Rußland 
ein  Ende  setzen  sollte.  Zusammen  mit  dem  vom  Süden  und 
Südosten  zu  führenden  Einmarsch  der  italienischen  Ar- 
meen sollte  diese  Aktion  den  Zusammenbruch  der  Donau- 
monarchie und  das  Ende  des  Krieges  bringen.  Mit  allen 
Mitteln  wurde  darauf  hingearbeitet,  die  beiden  Balkan- 
staaten diesem  Plane  dienstbar  zu  machen.  Geld  wurde 
ebensowenig  gespart  wie  Versprechungen. 

Unsere  Gegenaktion  war  besonders  schwierig  in  Ru- 
mänien,  wo  mit  dem  Tode  des  Königs  Carol  die  letzte 
Stütze  der  Mittelmächte  gefallen  war  und  der  Hof,  die 


77 


Entwicklung  des  Krieges 

Regierung,  die  Armee  und  das  Volk  aus  der  Geneigtheit, 
im  geeigneten  Zeitpunkt  mit  der  Entente  zu  gehen,  über- 
haupt keinen  Hehl  mehr  machten.  Den  Versprechungen 
der  Entente,  die  den  Rumänen  Siebenbürgen  und  Ungarn 
bis  zur  Theiß  in  Aussicht  stellte,  vermochten  wir  nichts 
annähernd  Gleichwertiges  gegenüberzustellen.  Auch  wenn 
es  gelang,  die  ungarische  Regierung  zu  erheblichen  Zu- 
geständnissen an  die  ungarländischen  Rumänen  zu  be- 
wegen, auch  wenn  man  die  Rumänen  auf  Bessarabien 
himvies,  selbst  wenn  man  ihnen  die  Bukowina  anbot, 
was  wollte  dies  besagen  gegenüber  der  von  der  Entente 
eröffneten  Aussicht  auf  ein  im  Umfang  und  der  Bevölke- 
rung verdoppeltes  Großrumänien!  Zwar  feüschte  man  um 
Kleinigkeiten,  so  um  das  Banat,  auf  das  auch  Serbien  An- 
sprüche erhob;  aber  diese  Differenzen  waren  nicht  das 
retardierende  Element  in  den  Entschlüssen  der  Bratianu 
und  Take  Jonescu,  sondern  einzig  und  allein  die  mangelnde 
Sicherheit  des  unbedingten  Erfolges.  Man  wollte  einer 
starken  russischen  Hilfe  für  die  Moldau,  einer  Deckung 
gegen  Bulgarien  für  die  Walachei  vergewissert  sein,  ehe 
man  sich  entschloß,  einzugreifen.  Demgegenüber  gab  es  für 
die  Mittelmächte  nur  ein  Mittel,  Rumänien  draußen  zuhalten 
oder  gar  es  auf  ihre  Seite  zu  bringen:  wir  mußten  als  die 
Stärkeren  erscheinen  und  in  der  Lage  sein,  auf  Rumänien 
einen  unmittelbaren  mihtärischen  Druck  auszuüben. 

Auch  in  Bulgarien  lagen  die  Verhältnisse  für  unsere 
Diplomatie  nicht  leicht.  Zwar  war  der  Haß  gegen  Serbien 

78 


Diplomatisches  Ringen  auf  dem  Balkan 


und  Rumänien  groß.  Serbien  hatte  sich  im  zweiten 
Balkankrieg  den  in  den  ursprünglichen  Abmachungen  Bul- 
garien zuerkannten  Hauptteil  von  Mazedonien  angeeignet. 
Die  bulgarischen  Mazedonier  aber  waren  seit  langem  die 
eifrigsten  und  tätigsten  bulgarischen  Nationalisten  und 
spielten  in  Sofia  eine  große  und  einflußreiche  Rolle.  Die 
Rumänen  hatten  durch  ihre  Intervention  das  Schicksal 
Bulgariens  im  zweiten  Balkankrieg  entschieden  und  den 
Bulgaren  die  südliche  Dobrudscha  abgenommen.  Aber  auch 
mit  Griechenland,  das  die  Mittelmächte  neutral  zu  halten 
wünschten  und  bisher  mit  dem  König  und  gegen  Venizelos 
neutral  gehalten  hatten,  und  mit  der  Türkei,  die  an  unserer 
Seite  kämpfte,  hatten  die  Bulgaren  Rechnungen  zu  be- 
gleichen. Griechenland  hatte  sich  nicht  nur  in  dem  auch 
von  den  Bulgaren  begehrten  Saloniki  festgesetzt,  sondern 
den  Bulgaren  im  zweiten  Balkankriege  die  wertvollen 
Gebiete  von  Serres,  Drama  und  Cavalla  abgenommen. 
Die  Türkei,  die  nach  dem  ersten  Balkankrieg  auf  die  Linie 
Enos-Midia  zurückgedrängt  war,  hatte  den  zweiten  Balkan- 
krieg benutzt,  um  sich  Adrianopel  sowie  einen  bis  an  die 
Maritza  heran-  und  über  die  Maritza  hinausreichenden  Ge- 
ländestreifen wiederzuholen.  Auch  das  war  eine  noch  nicht 
vernarbte  Wunde.  Die  Entente  bot  den  Bulgaren  Maze- 
donien und  Thrazien  an,  war  aber  hinsichtlich  Mazedoniens 
durch  serbischen  und  griechischen  Widerstand,  hinsichtlich 
einer  allzu  starken  Annäherung  an  Konstantinopel  durch 
russische  Empfindlichkeiten  behindert. 


79 


Entwicklung  des  Krieges 


Spiel  und  Gegenspiel  auf  dem  Balkan  war  in  vollem 
Gange  und  schien  der  Entscheidung  zuzudrängen,  als 
Italien  am  Pfingstsonntag  1915  an  Österreich-Ungarn  den 
Krieg  erklärte.  Aus  zuverlässiger  Quelle  hatten  wir  vorher 
Nachrichten  über  Abmachungen  zwischen  Italien  und 
Rumänien  erhalten,  nach  denen  die  beiden  Staaten  sich 
dahin  verständigt  hatten,  gemeinschaftlich  einzugreifen. 
Aber  schon  in  den  Wochen  vor  der  italienischen  Kriegs- 
erklärung war  es  klar,  daß  Rumänien  noch  zögerte.  Es 
war  wohl  in  erster  Linie  unser  Sieg  von  Gorlice  und  seine 
Auswirkung,  die  Rumänien  noch  zur  Zurückhaltung  ver- 
anlaß ten;  aber  die  Lage  Rumänien  gegenüber  blieb 
prekär. 

Die  Bulgaren  zeigten  sich  zurückhaltend  und  warteten 
offenbar  auf  Anerbietungen,  die  wir  ihnen  in  Rücksicht 
auf  die  Türkei  nicht  machen  konnten.  Auch  die  auf 
Kosten  Griechenlands  gehenden  Wünsche  konnten  wir 
nicht  erfüllen.  In  Athen  kämpfte  König  Konstantin  mit 
Venizelos  einen  schweren  Kampf  um  die  griechische  Neu- 
tralität. Hätten  wir  Bulgarien  38.mals  die  griechischen 
Provinzen  an  der  Bucht  von  Cavalla  versprochen,  so 
hätten  wir  uns  die  bulgarische  Unterstützung  mit  der 
Kriegserklärung  Griechenlands  erkauft.  Wir  drückten  auf 
die  Türkei,  die  Entente  drückte  auf  Serbien  und  Griechen- 
land, um  die  Voraussetzungen  für  ein  Gewinnen  Bul- 
gariens zu  schaffen.  Oft  schien  die  Entscheidung  auf  des 
Messers  Schneide  zu  stehen.  Aber  auch  hinsichtlich 


80 


Diplomatisches  Ringen  auf  dem  Balkan 


Bulgariens  hatte  ich  den  Eindruck,  daß  den  Ausschlag  nur 
ausreichende  militärische  Garantien  für  den  Erfolg  seines 
Losschlagens  geben  würden.  Nur  wenn  wir  uns  fähig  und 
bereit  zeigten,  sofort  mit  der  bulgarischen  Armee  wirksam 
zu  kooperieren,  konnten  wir  hoffen,  den  unerträglich  wer- 
denden Schwebezustand  zu  unsem  Gunsten  zu  beendigen. 

Die  immer  dringender  werdenden  Hilferufe  von  den 
Dardanellen  erinnerten  fast  täglich  an  das,  was  auf  dem 
Spiele  stand. 

Nach  der  Landung  der  Entente  truppen  auf  Gallipoh 
war  eine  Aktion  gegen  den  Negotiner  Kreis  erneut  in 
Erwägung  gezogen  worden.  Angesichts  des  guten  Ver- 
laufs der  Offensive  in  Westgalizien  war  die  Oberste  Heeres- 
leitung mehr  als  bisher  geneigt,  die  Aktion  in  Angriff  zu 
nehmen.  Die  Kriegserklärung  Italiens  an  Österreich 
machte  den  Plan  abermals  zunichte;  denn  jetzt  mußte 
jeder  anderswo  entbehrliche  Mann  zur  Abwehr  des  italie- 
nischen Angriffs  herangezogen  werden.  Auch  diese  Aus- 
sicht auf  eine  Lösung  mußte  also  vertagt  werden. 

Wenn  die  Lage  überhaupt  noch  eine  Verschärfung 
erfahren  konnte,  so  durch  die  ernste  Spannung  unseres 
Verhältnisses  zu  den  Vereinigten  Staaten  infolge  der 
Torpedierung  der  „Lusitania**.  Das  Schiff  war  am  7.  Mai  ver- 
senkt worden;  am  17.  Mai,  sechs  Tage  vor  der  italienischen 
Kriegserklärung,  übergab  Herr  Gerard  die  Note,  die  im 
ernstesten  Ton  Genugtuung  und  Sicherheiten  gegen  die 
Wiederholung  eines  solchen  Falles  verlangte.  Seit  jenen 


6 Helfferich,  Weltkrieg  II 


81 


Entwicklung  des  Krieges 


Tagen  lag  der  schwere  Schatten  des  Bruchs  mit  Amerika 
über  unserm  Schicksal. 

Den  Abend  des  22.  Mai,  den  Vorabend  des  Pfingstfestes, 
verbrachte  ich  bis  spät  in  die  Nacht  hinein  beim  Kanzler. 
Wir  waren  allein  auf  dem  großen  Gartenbalkon.  Eine^ 
wundervolle  Mondnacht  lag  über  dem  Park.  Der  Kanzler 
schloß  sich  auf  und  sprach  über  seine  Sorgen.  Vom  Fürsten 
Bülow  waren  Telegramme  aus  Rom  gekommen;  der  Fürst 
hatte  noch  eine  letzte,  ganz  schwache  Hoffnung,  aber  das 
Gefühl  sagte  uns,  daß  der  italienische  Krieg  unabwendbar 
sei.  Wir  konnten  jetzt  hoffen,  daß  es  gelingen  werde,  den 
italienischen  Angriff  am  Isonzo  und  an  der  Alpenfront  auf- 
zuhalten. Aber  die  Rückwirkung  auf  den  Balkan?  Wie 
lange  würde  in  Rumänien  das  Schwanken,  das  seit  unserer 
Gorlice-Offensive  bemerkbar  war,  Vorhalten?  Wie  lange 
noch  würden  die  Türken  ohne  ausgiebige  Munitionszufuhr 
die  Dardanellen  halten  können?  Welche  Mittel  gab  es, 
Rumänien  unter  Druck  zu  halten  und  die  Verbindung  mit 
der  Türkei  herzustellen?  Unser  Angriff  in  Galizien  hatte 
den  San  und  damit  einen  gewissen  Abschluß  erreicht. 
Weiter  östlich  hatten  die  österreichisch-ungarischen  Trup- 
pen überall  die  Karpathenausgänge  erkämpft  und  standen 
in  der  Bukowina,  am  Pruth  und  an  der  rumänischen  Grenze. 
Die  Frage  lag  nahe,  ob  jetzt  nicht  die  Möglichkeit  gegeben 
sei,  einen  Teil  unserer  Ostarmeen  heranzuziehen,  um  die  Lage 
auf  dem  Balkan  in  unserm  Sinne  zu  entscheiden.  Der  Kanzler 
sagte  mir,  daß  General  Falkenhayn  eine  Erneuerung  der 

82 


Notwendigkeit  der  Öffnung  des  Donauweges 


Offensive  in  Galizien  vorbereite  und  dafür  seine  Truppen 
brauche.  Ich  fragte  nach  dem  strategischen  und  poli- 
tischen Ziel;  die  Säuberung  Ostgaliziens  und  die  Befreiung 
Lembergs  ständen  nach  meiner  Ansicht  politisch  und 
schließlich  auch  militärisch  doch  weit  hinter  einer  end- 
gültigen Eingliederung  des  Balkans  in  unser  politisch- 
strategisches System  zurück.  Der  Kanzler  entgegnete, 
nach  Falkenhayns  Ansicht  sei  die  russische  Armee  furcht- 
bar mitgenommen;  der  jetzt  beginnende  neue  Angriff  solle 
das  Werk  vollenden;  beim  Durchhalten  dieses  Programms 
hoffe  die  Oberste  Heeresleitung  in  wenigen  Wochen  die 
russische  Offensivkraft,  zum  mindesten  für  den  Rest  des 
Sommers,  endgültig  zu  brechen ; es  sei  für  ihn,  den  Kanzler, 
auch  wenn  er  weniger  zuversichtlich  denke  als  Falkenhayn, 
sehr  schwer,  dem  siegreichen  Feldherrn  in  den  Arm  zu 
fallen. 

Am  nächsten  Vormittag  sprach  ich  mit  dem  Unter- 
staatssekretär Zimmermann  und  einigen  meiner  Freunde 
vom  Auswärtigen  Amt  über  dieselbe  Frage.  Die  italie- 
nische Kriegserklärung  war  inzwischen  sicher  geworden, 
und  der  Kanzler  hatte  sich  entschlossen,  am  nächsten 
Abend  mit  Herrn  von  Jagow  nach  dem  Großen  Haupt- 
quartier zu  reisen.  Mir  schien  von  dem  richtigen  Entschluß 
in  dieser  kritischen  Lage  für  den  Ausgang  des  ganzen  Krie- 
ges so  viel  abzuhängen,  daß  ich  für  meine  Person  nichts 
versäumen  wollte.  Ich  übergab  deshalb  dem  Kanzler  vor 
seiner  Abreise  die  nachstehende  Niederschrift: 


6* 


83 


Entwicklung  des  Krieges 


„Unsere  Feinde  werden,  nachdem  die  Verführung 
Itahens  zum  Treubruch  gelungen  ist,  alles  daransetzen, 
um  die  Balkanstaaten,  insbesondere  Rumänien  und 
Bulgarien,  zum  Eingreifen  gegen  uns  zu  bringen  und  da- 
durch gleichzeitig  der  Türkei  das  Ausharren  an  unserer 
Seite  unmöglich  zu  machen.  Das  Gelingen  dieser  Be- 
mühungen würde  sofort  die  militärische  Aufgabe  aufs 
äußerste  erschweren : das  österreichisch-ungarische 
Staatsgebiet  wäre  nicht  nur  im  Norden  gegen  die  Russen 
und  im  Südwesten  gegen  die  Italiener,  sondern  im  weiten 
Bogen  auch  im  Osten  und  Süden  gegen  die  neuen 
Balkanarmeen  zu  verteidigen,  während  gleichzeitig  die 
Öffnung  der  Dardanellen  gestatten  würde,  den  Russen 
und  Rumänen  Kriegsmaterial  und  eventuell  Hilfstruppen 
in  unbeschränkten  Mengen  zuzuführen. 

„Es  ist  also  nicht  nur  ein  politisches,  sondern  auch 
ein  militärisches  Lebensinteresse,  daß  der  Übertritt 
Rumäniens  und  Bulgariens  in  das  Lager  unserer  Feinde 
verhindert  wird. 

„Ein  solches  Verhindern  ist  heute  durch  das  Mittel 
bloßer  Versprechungen  oder  auch  sofortiger  effektiver  Zu- 
geständnisse nicht  mehr  möglich.  Versprechungen  sind 
nach  dem  Treubruche  Italiens  noch  stärker  im  Kurs 
gesunken,  als  sie  es  bereits  waren ; außerdem  sind  unsere 
Gegner  in  der  Lage,  aUe  unsere  und  Österreich-Ungarns 
Versprechungen  zu  übertrumpfen.  Sofortige  effektive 
Zugeständnisse  könnten  nur  gegenüber  Rumänien  in 


84 


Expose  über  die  Lage  auf  dem  Balkan 


Betracht  kommen  (Bukowina,  Siebenbürgen) ; aber  der 
Appetit  der  Rumänen  geht  heute  bereits  so  weit,  daß 
er  nicht  befriedigt  werden  kann ; irgendwelche  Anerbie- 
tungen würden  also  nur  eine  Einladung  zur  Chantage 
sein  und  als  Zeichen  der  Schwäche  aufgefaßt  werden 
und  so  die  zu  vermeidende  Entwicklung  vielleicht  noch 
beschleunigen. 

,, Sowohl  Rumänien  wie  auch  Bulgarien  werden  sich 
unter  diesen  Umständen  in  ihrem  Verhalten  nur  durch 
positive  Ereignisse  und  Handlungen  bestimmen  lassen. 
Dabei  wird  das  Verhalten  der  beiden  Balkanstaaten  sich 
gegenseitig  beeinflussen:  ein  Vorgehen  Rumäniens  gegen 
uns  wird  der  russenfreundlichen  Partei  in  Sofia  Oberwasser 
geben,  während  umgekehrt  die  Furcht  vor  einem  Vor- 
gehen Bulgariens  an  unserer  Seite  die  Russenfreund- 
schaft und  Kriegslust  Rumäniens  dämpfen  würde. 
„Frage:  Was  hat  zu  geschehen: 

1.  um  Rumänien  von  dem  Eingreifen  uns  gegenüber 
zurückzuhalten  ? 

2.  um  Bulgarien  zu  einem  Eingreifen  an  unserer 
Seite  zu  veranlassen? 

„ad  I.  Bei  dem  nahezu  sicheren  Versagen  aller  Ver- 
sprechungen und  Zugeständnisse  bleibt  uns  — außer 
der  unter  2.  zu  besprechenden  Sicherung  über  Bul- 
garien — nur  der  militärische  Druck;  wenn  wir  in  der 
Lage  sind,  den  Rumänen  zu  sagen : sobald  ihr  euch  rührt, 
schlagen  wir  zu,  ist  die  Situation  gewonnen.  Erscheinen 


85 


Entwicklung  des  Krieges 


wir  den  Rumänen  gegenüber  als  die  Stärkeren  und  For- 
dernden statt  als  die  Schwachen  und  Bittenden,  so  wird 
der  Mut  der  Rumähen  sich  verflüchtigen;  und  selbst, 
wenn  wir  dann  zum  Losschlagen  gegen  Rumänien  ge- 
zwungen sein  sollten,  können  wir  als  Angreifer  mit 
großer  Sicherheit  auf  ein  Mitgehen  Bulgariens  rechnen, 
während  wir  als  schwache  Angegriffene  auch  Bulgarien 
auf  der  andern  Seite  sehen  würden. 

,,Die  Frage  ad  i kommt  also  darauf  hinaus : Können 
unsere  Armeen  in  Galizien  und  der  Bukowina  jetzt  schon 
eine  den  sofortigen  Einmarsch  in  die  Moldau  gestattende 
Gruppierung  erfahren? 

,,ad  2:  Auch  Bulgarien  gegenüber  wird  mit  Ver- 
sprechungen allein  (Mazedonien,  Dobrudscha  usw.) 
nichts  auszurichten  sein.  Immerhin  kann  Bulgarien 
vielleicht  stark  beeindruckt  werden  durch  den  Hinweis 
auf  die  großen,  vom  Dreiverband  den  Rumänen  ge- 
machten Versprechungen  (Ungarn  bis  zur  Theiß),  wo- 
durch Rumänien  endgültig  die  Vorherrschaft  auf  dem 
Balkan  gewinnen  würde.  Sichere  Wirkung  ist  aber  auch 
bei  den  Bulgaren  nur  durch  Handlungen  zu  erreichen. 
In  erster  Linie  steht  hier  der  Angriff  auf  den  Negotiner 
Donauzipfel;  hier  ist  die  geographische  Entfernung  am 
kürzesten,  und  ein  Losschlagen  gegen  Serbien  würde 
den  Bulgaren  wegen  Mazedonien  eher  liegen  als  ein 
Losschlagen  gegen  Rumänien  im  Falle  unseres  Einrückens 
in  der  Moldau.  Eine  Aktion  gegen  den  Negotiner  Zipfel 


86 


Expose  über  die  Lage  auf  dem  Balkan 


v^ürde  freilich  die  Bulgaren  nur  dann  mit  Sicherheit 
zum  Losschlagen  an  unsere  Seite  bringen,  wenn  unsere 
Aktion  raschen  Erfolg  aufweisen  oder  wenigstens  von 
vornherein  durch  das  Einsetzen  ausreichend  starker 
Kräfte  den  Erfolg  sichern  würde. 

,,Als  wirksamstes  Mittel,  eine  gegen  uns  gerichtete 
Balkankombination  im  Keim  zu  zerstören  und  Bul- 
garien zum  Eingreifen  an  unserer  Seite  zu  veranlassen, 
erscheint  also  nach  wie  vor  eine  ausreichend  starke 
Aktion  gegen  den  Negotiner  Zipfel. 

,,An  zweiter  Stelle  steht  eine  Gruppierung  unserer 
Truppen  in  Galizien  und  der  Bukowina,  die  in  der 
kürzesten  Zeit  uns  gestatten  würde,  einen  starken  Druck 
auf  Rumänien  auszuüben,  nicht  nur  nach  der  negativen 
Seite  des  Stillhaltens  hin,  sondern  auch  nach  der  posi- 
tiven Seite  des  Durchlassens  von  Munition  usw.  nach 
Bulgarien  und  der  Türkei. 

,, Geschieht  nicht  in  der  allernächsten  Zeit  entw’eder 
das  eine  oder  das  andere,  dann  ist  zu  befürchten,  daß 
trotz  des  schönsten  Fortgangs  unserer  Operationen  in 
Galizien  der  ganze  Balkan  gegen  uns  geht  und  die  Türkei 
zur  Kapitulation  gezwungen  wird.  Dann  wären  die 
Früchte  des  galizischen  Sieges  verloren  und  alle  die 
großen  Opfer  umsonst  gebracht. 

,,Es  ist  also  zwingend  notwendig,  auf  das  gewissen- 
hafteste und  sorgfältigste  zu  überlegen,  wie  der  Fort- 
gang der  galizischen  Operation  — und  natürlich  auch 

87 


Entwicklung  des  Krieges 


die  Verteidigung  gegen  den  italienischen  Angriff  — mit 
den  unter  i und  2 angeführten  Aktionen  in  Einklang 
gebracht  werden  kann.  Diese  zwingende  Notwendig- 
keit ist  nicht  nur  eine  politische;  denn  die  politischen 
Entwicklungen  von  heute  setzen  sich  morgen  in  mili- 
tärische Zwangslagen  um*.'' 

Der  Kanzler  schloß  sich  meiner  Auffassung  an.  Im 
Großen  Hauptquartier  jedoch  stellte  man  die  Ausnutzung 
des  galizischen  Sieges  bis  zur  äußersten  Möglichkeit  über 
alle  andern  Erwägungen. 

Während  unsere  Armeen  in  Galizien  neue  Siege  errangen, 
Lemberg  befreiten  und  weiter  gegen  Osten  vordrangen, 
blieb  die  Balkanlage  im  Schwebezustand.  Bulgarien  suchte 
sich  mit  der  Türkei  direkt  zu  verständigen;  aber  die  Son- 
dierung, ob  die  Türkei  bereit  sei,  den  Bulgaren  Adrianopel 
und  die  Grenze  Enos-Midia  zuzugestehen,  stieß  in  Kon- 
stantinopel, trotz  der  bedrängten  Lage  der  Dardanellen, 
auf  entrüstete  Ablehnung.  Insbesondere  Enver  Pascha, 
der  Wiedereroberer  Adrianopels,  konnte  sich  mit  der 
Herausgabe  dieser  Festung  nicht  abfinden.  Djavid  Bey, 
mit  dem  ich  in  jener  Zeit  über  die  Deckung  des  türkischen 

* Auch  Graf  Czemin,  damals  noch  österreichisch-ungarischer  Gesandter  in  Bukarest, 
sah  in  jener  Zeit  eine  Aussicht,  Rumänien  zu  gewinnen.  In  einer  Rede,  die  er  am  11.  Dezember 
1918  in  Wien  gehalten  hat,  führte  er  aus,  daß  Majorescu,  der  Führer  der  rumänischen  Kon- 
servativen, damals  nicht  abgeneigt  gewesen  sei,  sich  auf  unsere  Seite  zu  stellen;  die  rumä- 
nische Armee,  die  nach  Bessarabien  vorgestoßen  wäre,  wäre  weit  in  den  Rücken  der  zurück- 
flutenden russischen  Armee  gekommen  imd  hätte  nach  menschlicher  Berechmmg  in  Rußland 
ein  Debacle  herbeiführen  müssen.  Damals,  wo  es  noch  kein  „Amerika"  am  Horizont  gab, 
hätte  man  nach  einem  solchen  Erfolg  vielleicht  den  Krieg  beendigen  können.  Allerdings  hätten 
damals  die  Rumänen  als  Preis  für  ihre  Kooperation  eine  ungarische  Grenzrektifikation  ver- 
langt, die  von  Ungarn  glatt  refOsiert  worden  sei. 


88 


Feldzug  in  Polen 


Geldbedarfs  verhandelte,  sagte  mir  am  i.  Juli,  die  Heraus- 
gabe von  Adrianopel  sei  gänzlich  ausgeschlossen,  deutete 
aber  an,  daß  die  Maritza  als  Grenze  möglich  sei.  Das  war 
eine  Grundlage  für  die  diplomatische  Verständigung;  aber 
gleichzeitig  wurde  auch  immer  deutlicher,  daß  ohne  eine 
militärische  Aktion  unsererseits  auf  dem  Balkan  Bulgarien 
nicht  zum  Marschieren  zu  bringen  war. 

Wieder  trat  in  jener  Zeit  eine  Pause  auf  dem  galizischen 
Kriegstheater  ein.  Die  Offensive  nach  Osten  hatte  sich 
ausgewirkt.  ,,Die  Lage  ist  unverändert“  lautete  fast  Tag 
für  Tag  der  Heeresbericht  über  den  südöstlichen  Kriegs- 
schauplatz. Aber  auch  jetzt  konnte  sich  die  Oberste 
Heeresleitung  nicht  entschließen,  sich  dem  Balkan  zu- 
zuwenden. Das  große  Kesseltreiben  gegen  Polen  von 
Norden  und  Süden  her  war  bereits  in  Vorbereitung. 
Falkenhayn  vertröstete  den  Kanzler  auf  die  Beendigung 
dieser  Aktion. 

p:  j Der  glänzende  Feldzug  in  Polen  füllte  den  Juli  und 
August.  Mit  Hängen  und  Würgen'  hielten  die  Türken  die 
Dardanellen,  während  in  Sofia  der  Herzog  Johann  Albrecht 
von  Mecklenburg,  unterstützt  von  dem  Gesandten  Grafen 
Oberndorff  und  Herrn  von  Rosenberg  vom  Auswärtigen 
Amt,  mit  König  Ferdinand  und  seiner  Regierung,  im  Großen 
Hauptquartier  der  General  von  Falkenhayn  mit  den  bul- 
garischen Militärs  über  die  politischen  und  mihtärischen 
Bedingungen  des  Zusammenschlusses  verhandelten,  nach- 
dem unter  unserer  Mitwirkung  eine  Einigung  zwischen 

89 


Entwicklung  des  Krieges 


Bulgarien  und  der  Türkei  zustandegekommen  war,  die 
den  Türken  Adrianopel  beließ,  den  Bulgaren  aber  die 
Maritza  mit  einem  Geländestreifen  auf  dem  östlichen  Ufer 
zurückgab. 

Den  Bulgaren  wurde  ferner  das  bulgarische  Mazedonien 
sowie  das  östliche  Serbien  bis  zur  Morawa  zugesagt.  Ihre 
Ansprüche  auf  das  griechische  Gebiet  von  Drama,  Serres 
und  Cavalla  sollten  nur  dann  praktisch  werden,  wenn 
Griechenland  von  seiner  Neutrahtät  zu  Kriegshandlungen 
gegen  unsem  Verband  übergehen  soUte.  Dafür  behielten 
sich  die  Türken  vor,  im  Falle  einer  bulgarischen  Gebiets- 
erweiterung auf  Kosten  Griechenlands  die  jetzt  von 
ihnen  abzutretenden  Gebiete  von  Bulgarien  zurückzu- 
verlangen. 

Die  Entente  hat  nicht  vermocht,  so  lange  wir  ihr  auch 
notgedrungen  Zeit  lassen  mußten  und  so  sehr  sie  alle 
diplomatischen  Künste  spielen  ließ,  den  Anschluß  Bul- 
gariens an  die  Mittelmächte  zu  verhindern.  Zwar  war  der 
griechische  Ministerpräsident  bereit,  der  Entente  über  den 
Kopf  seines  Königs  hinaus  einen  großen  Trumpf  in  die 
Hand  zu  geben,  indem  er  zugunsten  Bulgariens  auf  Serres, 
Drama  und  Cavalla  gegen  Entschädigung  durch  Smyrna 
und  andere  von  Griechen  bevölkerte  Teile  Kleinasiens  ver- 
zichten wollte.  Aber  Serbien  sperrte  sich  gegen  die  Aus- 
dehnung der  von  den  Westmächten  in  Mazedonien  ge- 
wünschten Konzessionen;  und  den  großen  Trumpf,  Kon- 
stantinopel, der  bei  den  Bulgaren  sicher  gestochen  hätte, 


90 


Anschluß  Bulgariens  an  die  Mittelmächte 


wagte  man  in  Rücksicht  auf  Rußland  nicht  auszuspielen. 
So  gewannen  die  Mittelmächte  das  Übergewicht. 

Am  7.  September  konnten  in  Sofia  alle  Verträge  unter- 
zeichnet werden.  Die  Vorbereitungen  für  die  gemeinschaft- 
liche Aktion  gegen  Serbien  wurden  sofort  eingeleitet. 

Vom  Eingreifen  Bulgariens  bis  zum 
rumänischen  Krieg 

Am  20.  September  donnerten  zum  ersten  Male  wieder 
seit  langer  Zeit  an  der  serbischen  Donau  die  Kanonen. 
Belgrad  und  Semendria  wurden  aus  österreichischen  und 
deutschen  Geschützen  beschossen.  Es  war  nur  ein  Auf- 
takt. Der  wirkliche  Angriff  begann  erst  am  6.  Oktober. 

Vorher  aber  machte  die  Entente  einen  heroischen  Ver- 
such, auf  der  Westfront  die  Entscheidung  des  Krieges  zu 
erzwingen. 

Am  25.  September  1915  meldete  der  deutsche  Heeres- 
bericht : 

,,Auf  der  ganzen  Front  vom  Meere  bis  zu  den  Vogesen 
nahm  das  feindliche  Feuer  an  Stärke  zu  und  steigerte  sich 
östlich  von  Ypern  zwischen  dem  Kanal  von  La  Bassöe 
und  Arras  sowie  in  der  Champagne  von  Prosnes  bis  zu  den 
Argonnen  zu  äußerster  Heftigkeit.  Die  nach  der  zum 
Teil  15  ständigen  stärksten  Feuer  Vorbereitung  zu  er- 
wartenden Angriffe  haben  begonnen.“ 


91 


Entwicklung  des  Krieges 


Was  mit  dieser  Generaloffensive  erreicht  werden  sollte, 
besagte  ein  Armeebefehl  des  Generals  Joffre  vom  14.  Sep- 
tember, in  dem  es  hieß: 

„Auf  dem  französischen  Kriegsschauplatz  zum  Angriff 
zu  schreiten,  ist  für  uns  eine  Notwendigkeit,  um  die  Deut- 
schen aus  Frankreich  zu  verjagen.  Wir  werden  sowohJ 
unsere  seit  zwölf  Monaten  unterjochten  Volksgenossen 
befreien,  als  auch  dem  Feinde  den  wertvollen  Besitz 
unserer  besetzten  Gebiete  entreißen.  Außerdem  wird  ein 
glänzender  Sieg  über  die  Deutschen  die  neutralen  Völker 
.bestimmen,  sich  zu  unsem  Gunsten  zu  entscheiden,  und 
den  Feind  zwingen,  sein  Vorgehen  gegen ' die -'  russische 
Armee  zu  verlangsamen ...  Der  gegenwärtige  Zeitpunkt 
ist  für  einen  allgemeinen  Angriff  besonders ' günstig. 
Einerseits  haben  die  Kitchener-Armeen  ihre  Landung  in 
Frankreich  beendet,  und  andererseits  haben  die  Deutschen 
noch  im  letzten  Monat  von  unserer  Front  Kräfte  weg- 
gezogen, um  sie  an  der  russischen  Front  zu  ver- 
wenden. Die  Deutschen  haben  nur  sehr  dürftige  Re- 
serven hinter  der  dünnen  Linie  ihrer  Grabenstellung  . . . 
Es  wird  sich  für  alle  Tnippen,  die  angreifen,  nicht  nur 
darum  handeln,  die  ersten  feindlichen  Gräben  wegzu- 
nehmen, sondern  ohne  Ruhe  Tag  und  Nacht  durchzu- 
stoßen über  die  zweite  und  dritte  Linie  bis  in  das  freie 
Gelände.  Die  ganze  Kavallerie  wird  an  diesen  Angriffen 
teilnehmen,  um  den  Erfolg  mit  weitem  Abstand  vor  der 
Infanterie  auszunutzen.“ 


92 


Entente- Offensive.  Landung  in  Saloniki 


Südwestlich  von  Lille,  in  der  Gegend  von  Loos,  erzielten 
die  Engländer,  in  der  Champagne  die  Franzosen  an- 
sehnliche Anfangserfolge.  In  der  Champagne  : ^verloren 
wir  die  ganzen  ersten  Stellungen  des  III.  Armeekorps, 
viele  Gefangene  und  viele  Geschütze.  Aber  weder  im 
Artois  noch  in  der  Champagne  erreichten  die  Feinde 
den  Durchbruch.  Es  gelang  uns,  ausreichende  Reserven 
heranzuführen  und  die  Einbruchsstellen  abzuriegeln.  Die 
schweren  Angriffe  dauerten  mit  kurzen  Unterbrechungen 
bis  in  die  zweite  Oktoberhälfte  hinein,  ohne  unsern  Fein- 
den mehr  zu  bringen  als  unbedeutende  lokale  Gelände- 
gewinne. 

Während  Engländer,  Belgier  und  Franzosen  in  diesen 
gewaltigen  Anstürmen  ihre  Kräfte  nutzlos  erschöpften, 
kamen  auf  dem  Balkan  die  Ereignisse  ins  Rollen. 

Bulgarien  mobilisierte.  Rußland,  unterstützt  von  Frank- 
reich, stellte  am  4.  Oktober  ein  Ultimatum.  Am  7.  Ok- 
tober war  der  Abbruch  der  diplomatischen  Beziehungen 
zwischen  Bulgarien  und  den  Ententemächten  vollzogen. 

In  den  Tagen  des  letzten  und  stärksten  Druckes  auf 
Bulgarien  bemächtigte  sich  die  Entente  des  Hafens  von 
Saloniki  als  Operationsbasis.  Am  5.  Oktober  landete  sie 
dort  Truppen,  angeblich  auf  Grund  einer  Aufforderung  des 
Ministerpräsidenten  Venizelos.  Am  gleichen  Tage  gab 
Venizelos  seine  Entlassung,  nachdem  ihm  der  für  die 
unbedingte  Aufrechterhaltung  der  Neutralität  eintretende 
König  erklärt  hatte,  „er  könne  der  Politik  seines  Kabinetts 


93 


Entwicklung  des  Krieges 


nicht  bis  zu  Ende  folgen“.  Die  Besetzung  von  Saloniki 
wurde  von  der  Entente  durchgeführt  und  aufrecht- 
erhalten gegen  den  formellen  Protest  der  griechischen 
Regierung. 

Am  6.  Oktober  überschritten  deutsche  und  öster- 
reichisch-ungarische Truppen  an  verschiedenen  Stellen 
die  serbischen  Grenzflüsse  Drina,  Sawe  und  Donau.  Zwei 
Tage  später  wurde  Belgrad  genommen.  Semendria  folgte. 
Der  Vormarsch  ins  Innere  Serbiens  begann.  Am  15.  Ok- 
tober griff  Bulgarien  ein.  Zehn  Tage  später  war  an  der 
Donau  die  Verbindung  zwischen  den  Truppen  der  Mittel- 
mächte und  Bulgariens  hergestellt ; der  Donau  weg  war  end- 
lich frei.  Am  6.  November  fiel  die  serbische  Festung 
Nisch;  die  Eroberung  des  alten  Serbien  war  damit  abge- 
schlossen. Vier  Wochen  darauf  wurde  Monastir  genommen. 
Mitte  Dezember  war  Alt-  und  Neuserbien  in  den  Händen 
der  deutschen,  österreichischen  und  bulgarischen  Truppen. 
Mitte  Januar  1916  besetzten  die  Österreicher  die  monte- 
negrinische Hauptstadt.  Wenige  Tage  später  streckte 
Montenegro  die  Waffen.  Der  Abzug  der  Ententetruppen 
von  den  Dardanellen  setzte  das  Siegel  unter  diese  Er- 
eignisse. 

Aber  es  bÜeb  die  Ententebasis  in  Saloniki  als  Pfahl  im 
Fleisch,  und  nördlich  der  Donau  verharrte  Rumänien  in 
dauerndem  Abwarten. 

Ich  halte  es  für  einen  der  schwersten  und  verhängnis- 
vollsten Fehler,  die  von  unserer  Seite  während  des  Krieges 


94 


Durchstoß  nach  Bulgarien.  Verdun 


gemacht  worden  sind,  daß  wir,  ehe  wir  auf  dem  Balkan 
ganze  Arbeit  getan  hatten,  uns  mit  unserer  Hauptmacht 
wieder  dem  westlichen  Kriegsschauplatz  zu  wendeten,  um 
dort  den  Versuch  zu  machen,  mit  Verdun  den  wich- 
tigsten Schulterpunkt  des  feindlichen  Stellungssystems 
zu  brechen. 

Über  die  Gründe  für  diesen  Entschluß  und  über  die  Art 
und  Weise,  wie  er  zustandegekommen  ist,  habe  ich  nie- 
mals volle  Klarheit  bekommen  können.  Die  Vorberei- 
tungen der  Aktion  gegen  Verdun  wurden  mit  solcher 
Heimlichkeit  betrieben,  daß  es  im  Februar,  kurz  vor  Be- 
ginn unserer  Operationen,  zu  einer  heftigen  Auseinander- 
setzung zwischen  dem  General  von  Falkenhayn  und  dem 
Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg  gekommen  ist,  weil 
letzterer  außer  dem  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amts 
auch  mich  in  den  Plan  eingeweiht  hatte. 

Ich  selbst  hatte  am  Neujahrstag  1916  Gelegenheit  zu 
einer  längeren  Unterhaltung  mit  dem  General  von  Falken- 
hayn in  seinem  Amtszimmer  im  Berliner  Kriegsministe- 
rium. Von  Verdun  und  einer  größeren  Offensive  in  Frank- 
reich erwähnte  er  nichts ; Hauptgegenstand  unserer  Unter- 
haltung war  vielmehr  die  Aufnahme  des  uneingeschränkten 
U-Bootkrieges,  von  der  Falkenhayn,  gestützt  auf  das 
Urteil  des  Admiralstabs,  ein  baldiges  Ende  des  Krieges 
erwartete,  während  ich  Zweifel  gegen  die  Berechnung  des 
Admiralstabs  geltend  machte.  Meinerseits  wies  ich  darauf 
hin,  daß  die  Balkansituation  einer  weiteren  Klärung 


95 


Entwicklung  des  Krieges 


bedürfe.  Insbesondere  müßten  wir  uns  vergewissern,  wie 
wir  mit  Rumänien  daran  seien.  „Nur  wenn  Sie  der  Donna 
Rumania  den  Arm  fest  um  die  Taille  legen,  wird  sie  sich 
entschließen,  mit  uns  zu  tanzen.“  Falkenhayn  antwortete: 
„Sie  gehören  wohl  auch  zu  den  Leuten,  die  meinen,  ich 
müßte  nach  Kiew  marschieren  Ich  antwortete,  daß 
Kiew  mir  Hekuba  sei,  daß  es  mir  vielmehr  einzig  und 
allein  auf  Rumänien  ankomme,  das  wir  nicht  als  ganz 
unsicheren  Kantonisten  im  Rücken  behalten  dürften. 

Am  23.  Februar  1916  begannen,  infolge  des  für  die  Ar- 
tillerievorbereitung unmöglichen  Wetters  einige  Tage 
später,  als  ursprünglich  geplant,  unsere  Operationen  gegen 
Verdun.  Bereits  zwei  Tage  später  nahmen  unsere  Truppen 
das  hochgelegene  Fort  Douaumont,  den  wichtigen  Nord- 
pfeiler der  Außenbefestigungen  von  Verdun.  Wir  schienen 
den  Erfolg  in  den  Händen  zu  haben.  Bei  den  Franzosen 
herrschte  die  schwerste  Besorgnis;  die  Befehle  zur  Räu- 
mung der  Stadt  und  des  rechten  Maasufers  sollen  damals 
gegeben,  aber  gleich  darauf  widerrufen  worden  sein. 
Während  wir  mit  unserer  schweren  Artillerie  nur  langsam 
vorwärts  kamen,  verstärkte  sich  der  französische  Wider- 
stand. Monatelang  wogte  der  Kampf  auf  den  Höhen  und 
in  den  Schluchten  rechts  und  links  der  Maas  hin  und  her, 
ohne  eine  Entscheidung  zu  bringen.  Die  Verluste  auf 
beiden  Seiten  waren  gewaltig.  Unsere  Heeresleitung 
suchte  sich  und  andere  damit  zu  trösten,  daß  die  fran- 
zösischen Verluste  noch  erheblich  größer  seien  als  die 

96 


Verdun.  Russische  Offensive 


unsrigen,  ja  daß  dieses  „Ausbluten  der  Franzosen  im  Sack 
von  Verdun'*  wichtiger  sei  als  der  Besitz  der  Festung 
selbst.  Niemandem  war  bei  diesem  Tröste  wohl. 

Gegen  die  Mitte  des  Jahres  lief  sich  die  Verdun-Offensive 
tot.  Andere  Kampfhandlungen  von  riesenhaftem  Aus- 
maß, für  die  unsere  Gegner  die  Initiative  ergriffen,  über- 
tönten den  verhallenden  Kanonendonner  an  der  Maas. 

Mitte  Mai  hatten  die  Österreicher  nach  großen  Vor- 
bereitungen in  Südtirol  gegen  die  Italiener,  die  in  den 
zwölf  Monaten  seit  ihrer  Kriegserklärung  so  gut  wie  nichts 
erreicht  hatten,  eine  Offensive  begonnen.  Der  Angriff 
entwickelte  sich  gut.  Ende  Mai  waren  die  wichtigen  be- 
festigten Plätze  Asiago  und  Arsiero  in  den  Händen  der 
Österreicher.  Der  Austritt  in  die  Po-Ebene  schien  ge- 
sichert. 

Da  führte  das  russische  Heer  vom  5.  Juni  an  auf  der 
ganzen  Front  zwischen  dem  Pruth  und  dem  S tyrknie 
wuchtige  Stöße  gegen  die  nicht  sehr  starken  österrei- 
chischen Linien.  Sie  schlugen  eine  weite  und  tiefe  Bresche. 
Die  wolhynischen  Festungen  fielen.  Czernowitz  und  die 
Bukowina  wurden  wieder  preisgegeben.  Hundertt ausende 
von  Gefangenen  und  ungezähltes  Material  geriet  in  die 
Hand  der  Russen,  die  über  die  Leichtigkeit,  mit  der  sie 
diesen  großen  Erfolg  errangen,  vielleicht  selbst  am  meisten 
erstaunt  waren. 

Die  Österreicher  waren  gezwungen,  die  wankende  Front 
mit  allen  Mitteln  zu  stützen.  Die  so  vielversprechende 


7 Helfferich,  Weltkrieg  II 


97 


Entwicklung  des  Krieges 


Offensive  gegen  Italien  wurde  aufgegeben,  um  Truppen 
für  den  bedrohten  Osten  freizubekommen.  Die  Italiener 
konnten  zu  Gegenangriffen  übergehen.  Gegen  Ende  Juni 
mußten  die  Österreicher  ihre  Südtiroler  Front  zurückneh- 
men; am  Isonzo  mußten  sie  vor  den  erneut  einsetzenden 
Offensivstößen  der  Italiener  sich  auf  die  Höhen  östlich 
des  Flusses  zurückziehen  und  Görz  preisgeben.  Auch  vom 
nördlichen  Teil  der  russischen  Front,  den  Hindenburg 
kommandierte,  wurden  Verstärkungen  auf  Verstärkungen 
nach  dem  Süden  abgegeben,  obwohl  auch  im  Norden 
russische  Angriffe  begannen.  Ja  es  wurden  einige  tür- 
kische Divisionen  an  der  galizischen  Front  eingesetzt. 

Die  schweren  Kämpfe  an  der  Ostfront  waren  noch  in 
vollem  Gange,  als  die  Ententeheere  am  i.  Juli  im  Westen 
zu  einem  alle  bisherigen  Offensivstöße  weit  übertreffenden 
Angriff  ansetzten.  ,,In  einer  Breite  von  40  Kilometern,“  so 
berichtete  unser  Großes  Hauptquartier  am  2.  Juli,  „be- 
gann gestern  der  seit  vielen  Monaten  mit  unbeschränkten 
Mitteln  vorbereitete  englisch-französische  Massenangriff 
nach  siebentägiger  stärkster  Artillerie-  und  Gasvorberei- 
tung auf  beiden  Ufern  der  Somme  sowie  des  Ancrebaches.“ 
Von  diesem  Tage  an  waren  unsere  Truppen  fünf  volle 
Monate  hindurch  den  wütenden  Anstürmen  der  Eng- 
länder und  Franzosen  ohne  Unterbrechung  ausgesetzt. 
Der  Feind  hatte  die  starke  Überlegenheit  in  der  Zahl  der 
Kämpfenden.  Er  hatte  eine  noch  weit  größere  Überlegen- 
heit im.  Material  aller  Art;  denn  die  Industrie  nahezu  der 


Somme-Offensive  1916.  Lage  im  Osten 


ganzen  Welt  arbeitete  für  ihn.  Es  ist  eine  kaum  faßliche 
Leistung  unserer  Feldgrauen,  daß  sie,  unaufhörlich  über- 
schüttet vom  dichtesten  Eisenhagel,  in  kaum  aussetzenden 
Nahkämpfen  mit  der  in  unerschöpflichen  Wellen  anstür- 
menden weißen  und  farbigen  Übermacht  die  eiserne  Kette 
hielten  und  nur  Schritt  für  Schritt  dem  ungeheuren  Druck 
Raum  gaben.  Es  ging  fast  über  menschliche  Kraft,  aber 
es  wurde  durchgehalten. 

In  der  Zeit  der  schärfsten  Zuspitzung  der  militärischen 
Lage,  als  zu  dem  russischen  Vorstoß  die  französisch-eng- 
lischen Angriffe  hinzukamen,  weilte  ich  bei  dem  Feld- 
marschall von  Hindenburg  in  Kowno.  Ich  hatte  Gelegen- 
heit, mit  Hindenburg  und  seinen  Offizieren  die  poli- 
tische und  militärische  Lage  eingehend  zu  besprechen. 
Der  Eindruck,  den  ich  gewann,  war  erschütternd.  Hinden- 
burg sagte  mir  am  Abend  des  3.  Juli:  „Wir  haben  hier 
oben  im  Norden  überhaupt  nur  noch  eine  durchsichtige 
Kattunschürze.  Ich  habe,  um  das  Loch  bei  den  Öster- 
reichern zuzustopfen,  alles  weggegeben,  was  ich  entbehren 
kann,  und  mehr  als  das.  Es  blieb  mir  nichts  anderes 
übrig.  Aber  was  ich  weggegeben  habe,  sehe  ich  nicht 
wieder.  Nun  greift  der  Russe  hier  oben  bei  uns  an,  ich 
weiß  nicht,  was  werden  soll.“  Seine  Mitarbeiter  wurden 
deutlicher.  Die  verhängnisvollen  Nachteile  des  Mangels 
eines  einheitlichen  Oberbefehls  über  die  Ostfront  mußte 
auch  dem  Laien  einleuchten.  Meine  Zweifel  an  der  Richtig- 
keit der  im  Osten  befolgten  Strategie,  die  ich  seit  den 


7* 


99 


Entwicklung  des  Krieges 


Monaten  Mai  und  Juni  mit  mir  herumtrug,  fand  ich  be- 
stärkt. Wir  standen  vom  Rigaer  Busen  bis  zur  rumänischen 
Grenze  in  einer  weit  auseinandergezogenen,  wohl  mehr 
als  zwölfhundert  Kilometer  langen  Front,  die  in  ihren  über- 
wiegenden Teilen  eines  jeden  natürlichen  Schutzes  ent- 
behrte und  gegen  energische  Offensivstöße  einer  an  einem 
beliebigen  Punkt  zusammengeballten  Macht  kaum  zu 
halten  war.  Im  Westen  hatten  wir  unsere  beste  Kraft 
in  der  Verdun-Offensive  eingesetzt;  nicht  nur  war  es  uns 
nicht  gelungen,  die  große  Schulterfestung  zu  bezwingen, 
auch  der  angebliche  Erfolg  des  Ausblutens  der  Franzosen 
wurde  durch  die  jetzt  beginnende  Somme-Offensive  als 
Täuschung  erwiesen.  Dazu  im  Hintergrund  die  rumäni- 
sche Gefahr,  die  durch  den  Zusammenbruch  des  Rumänien 
zunächst  gelegenen  österreichischen  Frontt eiles  nahezu 
automatisch  ausgelöst  werden  mußte. 

Das  dringendste  Erfordernis  der  Stunde  erschien  mir 
die  Vereinheitlichung  des  Oberbefehls  über  die  gesamte 
Ostfront.  In  diesem  Sinne  telephonierte  ich  noch  vom 
Osten  aus  am  4.  Juli  mit  dem  Reichskanzler. 

Als  ich  am  Sonntag,  9.  Juli,  nach  Berlin  zurückkehrte, 
schilderte  ich  dem  Kanzler  mündlich  auf  das  Eindring- 
lichste meine  Wahrnehmungen  und  Eindrücke.  Der  Kanzler 
hatte,  wie  mir  bekannt  war,  schon  in  einem  früheren 
Stadium  des  Krieges  und  auch  späterhin  wiederholt  die 
Frage  des  Oberbefehls  aus  dem  Zweifel  heraus,  ob  der 
General  von  Falkenhayn  der  richtige  Mann  an  diesem 


100 


Vereinheitlichung  des  Oberbefehls  im  Osten 


Platze  sei,  zur  Sprache  gebracht.  Die  militärischen  Be- 
rater des  Kaisers  hatten  jedoch  damals  mit  Entschieden- 
heit an  General  von  Falkenhayn  festgehalten.  Der  Kanzler 
erzählte  mir  jetzt,  daß  der  Kronprinz  von  Bayern  neuer- 
dings an  den  Grafen  Lerchenfeld,  der  diesen  kurz  zuvor  im 
Gefolge  des  Königs  von  Bayern  in  seinem  Hauptquartier  be- 
sucht hatte,  einen  Brief  mit  den  heftigsten  Vorwürfen  gegen 
die  Oberste  Heeresleitung  geschrieben  habe.  Audi  andere 
hohe  Offiziere  seien  jetzt  zu  der  Ansicht  gekommen,  daß 
die  Oberste  Heeresleitung  in  ihrer  derzeitigen  Zusammen- 
setzung den  Schwierigkeiten  der  Lage  nicht  gewachsen  sei. 
Der  Kanzler  hatte  inzwischen  bereits  die  Übertragung  des 
Oberbefehls  über  die  gesamte  Ostfront  einschließlich  der 
österreichisch-ungarischen  Truppen  an  den  Feldmarschall 
von  Hindenburg  verlangt.  Der  Chef  des  Generalstabs  der 
österreichisch-ungarischen  Armee  Conrad  von  Hötzendorff 
war  alsbald  mit  dem  Antrag  befaßt  worden,  hatte  aber 
zunächst  abgelehnt.  Einige  Tage  später  hörte  ich,  daß  der 
ungarische  Ministerpräsident  Graf  Tisza  sich  entschieden 
für  die  Übertragung  des  Oberbefehls  an  Hindenburg  aus- 
gesprochen habe.  Am  i8.  Juli  waren  die  Generale  Conrad 
von  Hötzendorff,  von  Falkenhayn  und  Ludendorff  zur 
Besprechung  der  Angelegenheit  in  Berlin;  eine  Einigung 
kam  nicht  zustande. 

Ich  war  in  den  folgenden  Tagen  in  München  und  Stutt- 
gart. Sowohl  der  König  von  Bayern  wie  der  König  von 
Württemberg  sprachen  sich  mir  gegenüber  aus  eigener 


Entwicklung  des  Krieges 


Initiative  dafür  aus,  daß  in  der  ungemein  ernsten  Lage 
auf  den  Feldmarschall  von  Hindenburg  zurückgegriffen 
werden  müsse.  Der  württembergische  Ministerpräsident 
von  Weizsäcker,  dessen  ruhiges  und  klares  Urteil  ich  immer 
besonders  schätzte,  flehte  mich  geradezu  an,  der  Kanzler 
müsse  dem  Kaiser  die  Augen  öffnen.  Weder  Kaiser  noch 
Reich  könnten  einen  ernsten  Rückschlag  ertragen,  wenn 
Hindenburgs  Genie  und  Ansehen  nicht  voll  in  Wirksamkeit 
gesetzt  werde. 

Als  ich  nach  Berlin  zurückkam,  lagen  dort  geradezu  ver- 
zweifelte Berichte  aus  Wien  vor.  Auch  Graf  Andrassy,  der 
gerade  in  Berlin  anwesend  war,  erkannte  an,  daß  die  Zeit 
der  Eitelkeiten  und  Rivalitäten  vorbei  sei  und  nur  der 
einheitliche  Oberbefehl  Hindenburgs  die  Lage  retten 
könne.  Dazu  kamen  Nachrichten  aus  Rumänien,  die 
darauf  schließen  ließen,  daß  Bratianu  sich  der  Entente 
gegenüber  zum  Eingreifen  unter  gewissen  Bedingungen 
verpflichtet  habe,  und  daß  der  König  zu  schwach  sei, 
um  Widerstand  zu  leisten.  Der  «Kanzler  bestand  tele- 
graphisch auf  der  schleunigen  Übertragung  des  Oberbefehls 
über  die  gesamte  Ostfront  an  Hindenburg  und  reiste  am 
25.  Juli  selbst  nach  dem  Großen  Hauptquartier,  um  die 
Sache  unter  allen  Umständen  in  Ordnung  zu  bringen.  Am 
2.  August  wurde  denn  auch  amtlich  publiziert:  ,, Unter 
Generalfeldmarschall  von  Hindenburg  wurden  mehrere 
Heeresgruppen  der  Verbündeten  zu  einheitlicher  Verwen- 
dung nach  Vereinbarung  der  beiden  Obersten  Heeres- 


102 


Hindenburg  Oberbefehlshaber  im  Osten 


leitungen  zusammengefaßt.“  Hindenburg  hatte,  wie  mir 
der  Kanzler  nach  seiner  Rückkehr  aus  dem  Hauptquartier 
erzählte,  mit  dieser  Lösung,  die  ihm  den  Oberbefehl  über 
die  Ostfront  von  Kurland  bis  zu  den  Karpathen,  einschließ- 
lich der  österreichisch-ungarischen  Armee  gab,  sich  befrie- 
digt und  weiteres  als  zur  Zeit  unerwünscht  erklärt. 

Es  kam  jedoch  bald  zu  ernsten  Reibungen  zwischen  dem 
neuen  Obersten  Befehlshaber  der  Ostarmee  und  dem  Chef 
des  Generalstabs  des  Feldheeres,  die  sich  auf  die  Frage 
„Falkenhayn  oder  Hindenburg  ?'*  zuspitzten.  Der  Kanzler 
trat  in  Konsequenz  seiner  früheren  Stellungnahme  mit 
großer  Entschiedenheit  für  die  Ersetzung  Falkenhayns  durch 
Hindenburg  ein,  während  die  militärische  Umgebung  des 
Kaisers  auch  jetzt  noch  an  Falkenhayn  festhielt.  Allerdings 
gehörte  der  Kanzler  nicht  zu  den  unbedingten  Bewunderern 
des  von  dem  Feldmarschall  untrennbaren  Generals  Luden- 
dorff. Ludendorff  sei  geneigt,  seinem  Temperament  zu 
unterliegen  und  in  ernsten  Situationen  übereilt  zu  handeln ; 
so  auch  jetzt  wieder,  wo  er,  ohne  den  unpäßlichen  Hin- 
denburg zu  fragen,  ein  Abschiedsgesuch  abgeschickt  habe, 
um  es  dann  wieder  anzuhalten.  Auch  in  der  Beurteilung 
der  militärischen  Lage  in  seinem  Befehlsbereich  habe  er, 
der  Kanzler,  an  Ludendorff  mehrfach  das  Schwergewicht 
der  inneren  Ruhe  und  Sicherheit  vermißt;  er  sei  ihm  zu 
sehr  ,, himmelhoch  jauchzend,  zu  Tode  betrübt“.  Die  Lage 
ließ  jedoch  auch  nach  seiner  Ansicht  keine  andere  Wahl  als 
die  Ersetzung  Falkenhayns  durch  Hindenburg-Ludendorff. 


103 


Entwicklung  des  Krieges 


Inzwischen  erfuhren  die  Dinge  eine  weitere  Zuspitzung. 
Seit  der  zweiten  Augusthälfte  lauteten  die  Nachrichten  aus 
Bukarest  zwar  unklar  und  widerspruchsvoll ; aber  im  Zu- 
sammenhang mit  der  Gesamtlage  hatte  ich  aus  dem,  was  mir 
bekannt  wurde,  den  Eindruck,  daß  Rum.änien  im  Begriff 
sei,  gegen  uns  loszuschlagen.  Ich  ließ  mich  in  dieser  Be- 
urteilung, aus  der  heraus  ich  schon  seit  längerer  Zeit  auf 
den  schleunigen  Abtransport  des  von  Deutschland  gekauften 
nunänischen  Getreides  hingewirkt  hatte,  auch  durch  die 
lügnerischen  Versicherungen  des  Ministerpräsidenten  Bra- 
tianu  und  des  rumänischen  Königs  nicht  irremachen.  Als 
mir  am  Sonntag,  27.  August,  der  Kanzler  gegen  ii  Uhr 
durchs  Telephon  sagte  — in  Dingen,  die  nicht  für  aUe 
Ohren  bestimmt  waren,  pflegten  wir  französisch  zu  tele- 
phonieren — : ,,LTtaHe  nous  a declare  la  guerre,“  ant- 
wortete ich:  ,,Et  la  Roumanie  suivra  sur-le-champ.“  Im 
Auswärtigen  Amt  hatte  man  noch  Zweifel.  Abends  um 
II  Uhr  teilte  mir  der  Kanzler  mit,  daß  die  rumänische 
Kriegserklärung  in  Wien  überreicht  worden  sei.  Bei  der 
ernsten  Lage  auf  allen  Kampffronten  nahm  der  Kanzler 
die  Nachricht  sehr  schwer.  Es  bheb  uns  natürlich  keine 
Wahl,  als  die  rumänische  Kriegserklärung  an  Österreich- 
Ungarn  sofort  mit  imserer  Kriegserklärung  an  Rumänien 
zu  beantworten.  Noch  in  der  Nacht  wurde  an  die  sämt- 
hchen  Bundesregierungen  telegraphiert.  Ich  schlug  vor, 
sofort  auch  mit  den  Parteiführern  wegen  Einberufung 
des  Reichstags  in  Verbindung  zu  treten.  Bei  diesen  regten 

104 


Rumänische  Kriegserklärung.  Hindenburg  Chef  des  Generalstabs 


sich  Bedenken,  ob  die  nötige  Geschlossenheit  gewahrt 
werden  könne,  und  die  Einberufung  unterblieb. 

Die  Telegramme  aus  dem  Hauptquartier  über  die  Mög- 
lichkeit der  Gegenwirkung  gegen  den  von  den  Rumänen 
seit  Wochen  und  Monaten  vorbereiteten  Überfall  lauteten 
wenig  trostvoll.  Es  stand  nur  wenig  Infanterie  dort  und 
fast  gar  keine  Artillerie ! Weder  in  Pleß  noch  in  Teschen 
scheint  man  geglaubt  zu  haben,  daß  Rumänien  doch  noch 
losschlagen  würde.  Die  Bulgaren  hatten  sich  seit  dem 
20.  August  in  eine  Offensive  gegen  die  Ententearmee  vor 
Saloniki  verbissen;  in  welchem  Umfange  und  in  welcher 
Zeit  Truppen  zur  Verwendung  gegen  Rumänien  heraus- 
gezogen werden  konnten,  war  ungewiß.  Zum  Glück  hatte 
sich  die  im  Juni  angesetzte  russische  Offensive  gegen  die 
galizische  und  wolhynische  Front  ausgelaufen  und  ver- 
blutet. Hätte  Rumäniens  Angriff  einige  wenige  Wochen 
früher  eingesetzt,  zu  der  Zeit,  als  die  österreichisch-unga- 
rische Front  im  Zusammenbrechen  war,  dann  hätte  wohl 
nichts  die  Katastrophe  aufhalten  können. 

Die  rumänische  Kriegserklärung  und  die  dadurch  ge- 
schaffene Erschwerung  der  militärischen  Lage  veranlaßte 
den  Kaiser,  den  Generalfeldmarschall  von  Hindenburg 
nach  Pleß  zu  berufen.  Der  General  von  Falkenhayn  erhob 
gegen  diese  ohne  sein  Befragen  erfolgte  Berufung  Ein- 
spruch, worauf  der  Kaiser  ihm  anheimstellte,  seine  Ent- 
lassung einzureichen.  Als  der  Kanzler  am  Vormittag  des 
29.  August  im  Großen  Hauptquartier  eintraf,  war  die 


105 


Entwicklung  des  Krieges 


Ernennung  Hindenburgs  zum  Chef  des  Generalstabs  des 
Feldheeres  und  Ludendorffs  zum  Ersten  Generalquartier- 
meister bereits  vollzogen. 

Ich  reiste  mit  dem  Staatssekretär  v.  Jagow  am  30.  August 
gleichfalls  nach  Pleß.  Obwohl  Bulgariens  Haltung  gegen- 
über der  neuen  Situation  noch  nicht  geklärt  war  — Bul- 
garien hat  an  Rumänien  erst  am  i.  September  den  Krieg 
erklärt  — fanden  wir  eine  zuversichtliche  Auffassung 
der  Lage.  Vier  deutsche  Divisionen  rollten  bereits  von 
der  Westfront  nach  Siebenbürgen,  weitere  Verstärkungen 
wurden  vorbereitet.  Man  werde  zwar  den  Rumänen  für 
ihre  Operationen  zunächst  freie  Hand  lassen  müssen,  sie 
dann  aber  fassen  und  schlagen.  Hindenburgs  unerschütter- 
liche Ruhe  und  Ludendorffs  rasch  zugreifende  Bestimmt- 
heit gaben  den  Besprechungen  die  Signatur.  Wir  aUe 
verließen  Pleß  mit  einem  Gefühl  der  Erleichterung  und 
Beruhigung. 

Die  Rumänen  brachen,  fast  ohne  Widerstand  zu  finden, 
tief  in  Siebenbürgen  ein.  Im  Westen  erneuerten  Engländer 
und  Franzosen  mit  einer  alles  bisher  Dagewesene  über- 
treffenden Wucht  ihre  Angriffe  an  der  Somme,  um  uns 
das  Abziehen  von  Truppen  für  Rumänien  unmöglich  zu 
- machen.  Aber  trotzdem  sie  gegen  Mitte  September  bis 
über  die  Straße  Bapaume — P6ronne  hinaus  vorstießen, 
ließen  sich  Hindenburg  und  Ludendorff,  die  sich  in- 
zwischen an  Ort  und  Stelle  vom  Stand  der  Dinge  über- 
zeugt hatten,  in  ihren  Dispositionen  für  den  rumänischen 

106 


Niederwerfung  Rumäniens 


Feldzug  nicht  beirren.  Während  die  Rumänen  in  Ungarn 
vordrangen,  faßte  sie  der  erste  Stoß  dort,  wo  sie  ihn 
augenscheinlich  am  wenigsten  erwarteten,  zwischen  der 
Donau  und  dem  Schwarzen  Meer  in  der  Dobrudscha,  und 
warf  sie  auf  den  Traj answall  zurück.  Gegen  Ende  Sep- 
tember war  unser  Aufmarsch  auch  in  Ungarn  vollendet. 
Am  29.  September  wurden  die  Rumänen  bei  Hermannstadt 
geschlagen,  am  8.  Oktober  wurde  Kronstadt  wieder  genom- 
men, und  in  den  folgenden  Wochen  wurden  die  rumä- 
nischen Truppen  auf  die  Karpathengrenze  zurückgedrängt. 
Die  Operationen  in  der  Dobrudscha,  an  denen  außer  bulga- 
rischen und  deutschen  auch  türkische  Truppen  teilnahmen, 
fanden  ihre  Krönung  in  der  Einnahme  des  rumänischen 
Hafens  Constanza  (23.  Oktober)  und  der  am  Eisenbahnüber- 
gang über  die  Donau  gelegenen  Stadt  Cernavoda  (25.  Ok- 
tober). Schon  in  diesem  Zeitpunkte  war  der  Feldzug  für 
Rumänien  verloren,  den  Alliierten  war  der  Trumpf  aus  der 
Hand  geschlagen,  der  die  Entscheidung  des  Krieges  hatte 
bringen  sollen. 

In  der  ersten  Novemberhälfte  erkämpften  sich  die 
deutschen  und  österreichisch-ungarischen  Truppen  die  Aus- 
gänge aus  den  Karpathen  in  die  Wallachei.  Am  25.  No- 
vember erzwangen  sich  deutsche  und  bulgarische  Truppen 
von  Süden  her  den  Donau-Übergang.  In  der  dreitägigen 
Schlacht  am  Argesfluß  griffen  die  beiden  Armeen  von 
Norden,  Westen  und  Süden  das  rumänische  Fleer  um- 
fassend an  und  brachten  ihm  die  entscheidende  Niederlage 


Entwicklung  des  Krieges 


bei.  Als  Frucht  des  Sieges  fiel  die  Landeshauptstadt 
Bukarest  am  6.  Dezember  in  die  Hand  der  Verbündeten. 
Wenig  mehr  als  drei  Monate  hatten  genügt,  Rumänien 
niederzuschlagen  und  für  uns  die  Lage  wiederherzustellen. 
Auch  die  schweren  Angriffe,  die  von  der  ersten  November- 
hälfte an  die  Saloniki-Armee  der  Entente  ausführte  und 
die  am  i8.  November  die  Bulgaren  nötigten,  Monastir 
wieder  aufzugeben,  vermochten  das  Schicksal  Rumäniens 
ebensowenig  zu  wenden,  wie  die  fortgesetzten  heftigen 
Offensivstöße  an  der  Somme. 

Der  Krieg  war  an  einem  großen  Haltepunkte  angelangt, 
der  Freund  und  Feind  nötigen  mußte,  sich  auf  sich  selbst 
zu  besinnen  und  Umschau  zu  halten,  ob  nicht  vor  der  Ein- 
leitung neuer  Kämpfe  die  Möglichkeit  bestehe,  die  schwer 
leidenden  Völker  aus  Blut  und  Tränen  heraus  zu  • dem 
ersehnten  Frieden  zu  führen. 


Finanzielle  Kriegführung 


Reichsschat;2amt 

Es  war  mir  nicht  beschieden,  mit  der  Waffe  für  das 
Vaterland  zu  kämpfen.  Infolge  eines  Unfalles  hatte 
ich  seit  dem  Jahre  1893,  also  bei  Kriegsausbruch  seit 
21  Jahren,  keine  militärische  Übung  mehr  gemacht  und 
im  Jahre  1899  als  dauernd  untauglich  meine  Entlassung 
als  Reserveoffizier  erhalten.  Unter  diesen  Umständen 
mußte  ich  mich  damit  bescheiden,  in  dem  Krieg,  der  von 
Anfang  an  nicht  nur  ein  Krieg  der  Waffen,  sondern  auch 
ein  Kampf  der  Finanzen  und  Volkswirtschaften  war, 
auf  dem  Platze,  auf  den  mich  mein  Lebensweg  geführt 
hatte,  mein  Bestes  zu  tun. 

Es  waren  keine  kleinen  Anforderungen,  die  der  Krieg, 
namentlich  in  seinen  ersten  Wochen,  an  die  Banken 
und  ihre  Leitungen  stellte.  Es  hieß  den  Kopf  oben  be- 
halten und  mit  äußerster  Anspannung  der  Nerven  und  der 
Arbeitskraft  die  Vorkehrungen  und  Verfügungen  treffen, 
die  nicht  nur  für  die  Erhaltung  des  Kredits  und  der  Zah- 
lungsfähigkeit des  eigenen  Instituts,  sondern  auch  für  die 


IIT 


Finanzielle  Kriegführung 


Erhaltung  der  finanziellen  Grundlagen  unserer  gesamten 
Volkswirtschaft  erforderlich  waren.  Es  hieß  gleichzeitig 
mitwirken  an  der  Schaffung  der  Grundlagen  unserer 
finanziellen  Kriegführung  und  an  dem  Aufbau  der 
Einrichtungen  und  Organisationen,  die  für  die  Mobil- 
machung unserer  gesamten  Volkswirtschaft  und  die 
Einstellung  unseres  Wirtschaftslebens  auf  den  Krieg 
erforderlich  waren. 

Auch  über  meinen  unmittelbaren  Pflichtenkreis  hinaus 
wurde  ich  von  der  Regierung  und  Obersten  Heeresleitung 
herangezogen.  So  wurde  ich  alsbald  nach  der  Besetzung 
Brüssels  in  das  Große  Hauptquartier  gerufen  und  von  dort 
nach  Belgien  gesandt,  um  dem  zum  Generalgouverneur 
ernannten  Generalfeldmarschall  von  der  Goltz  und  dem 
ihm  als  Chef  der  Zivilverwaltung  beigegebenen  Regierungs- 
präsidenten von  Sandt  bei  der  Einrichtung  der  Okkupa- 
tionsverwaltung, insbesondere  bei  der  Ordnung  der  finan- 
ziellen Angelegenheiten  (Bankenkontrolle,  Kontributions- 
frage usw.)  behilflich  zu  sein. 

Im  Dezember  1914  stellte  mich  der  Reichskanzler  von 
Bethmann  Hollweg  vor  die  Frage,  ob  ich  bereit  sei,  die 
Leitung  des  Reichsschatzamtes  zu  übernehmen.  Er  brauche 
an  der  Spitze  der  Reichsfinanzverwaltung  einen  Mann,  der 
nicht  nur  mit  dem  deutschen  Wirtschaftsleben,  sondern 
auch  mit  den  Finanzen  und  der  Wirtschaft  unserer  Ver- 
bündeten, unserer  Feinde  und  des  neutralen  Auslandes 
vertraut  sei  und  außerdem  über  eine  ungebrochene 


112 


Übernahme  des  Amtes  als  Reichsschatzsekretäf 


Arbeitskraft  verfüge.  Er  schätze  die  Person  und  dieVerdienste 
des  Reichsschatzsekretärs  Kühn  sehr  hoch ; aber  Herr  Kühn 
habe  selbst  wiederholt  angedeutet,  daß  sein  Alter  und  seine 
Gesundheit  den  durch  den  Krieg  gewaltig  gesteigerten 
und  von  Grund  aus  veränderten  Anforderungen  seines 
Amtes  nicht  mehr  gewachsen  seien.  ' 

Das  Angebot  des  Kanzlers  kam  mir  völlig  überraschend. 
Der  Gedanke  widerstrebte  mir,  meine  in  mehr  als  acht- 
jähriger Tätigkeit  mir  liebgewordene,  mich  ausfüllende 
und  mich  befriedigende  Wirksamkeit  in  der  Leitung  der 
Deutschen  Bank  mit  einer  neuen,  in  wichtigen  Teilen  mir 
bisher  recht  fernliegenden  Aufgabe  .zu  vertauschen  und 
meine  freie  Stellung  gegen  ein  von  Kanzler  und  Par- 
lament abhängiges  Staatsamt  aufzugeben.  Ich  brachte 
andere  Persönlichkeiten  in  Vorschlag,  von  denen  ich  an- 
nehmen durfte,  daß  sie  der  Aüfgabe  ebensogut  und  besser 
gewachsen  sein  würden  als  ich.  Der  Kanzler  hatte  gegen 
jeden  meiner  Vorschläge  eine  Einwendung,  wollte  auch 
alle  die  von  mir  genannten  Namen  mit  seinen  Beratern, 
insbesondere  dem  Reichsbankpräsidenten  Havenstein, 
bereits  diskutiert  haben.  Der  einzige,  der  außer  mir  in 
Frage  käme  und  den  auch  ich  in  erster  Linie  vorschlug, 
der  Reichsbankpräsident  selbst,  habe  in  Rücksicht  auf 
seinen  geschwächten  Gesundheitszustand  auf  das  be- 
stimmteste abgelehnt;  er,  der  Kanzler,  müsse  von  mir  das 
Opfer  verlangen.  „Betrachten  Sie  das  Reichsschatzamt 
als  Ihren  Schützengraben!'' 

113 


8 Helfferich,  Weltla'ieg  II 


Finanzielle  Kriegführung 


Nach  kurzer  Bedenkzeit  erklärte  ich  mich  bereit,  dem 
Wunsche  des  Kanzlers  zu  entsprechen.  Am  i.  Februar 
1915  trat  ich  das  neue  Amt  an. 

Was  mir  an  meiner  neuen  Behörde  — in  Erinnerung  an 
die  Erfahrungen  aus  meiner  früheren  Tätigkeit  in  der 
Kolonialabteilung  des  Auswärtigen  Amtes  — am  wenig- 
sten sympathisch  war,  das  war  der  stark  ausgeprägte  Geist 
der  Negation.  Die  für  eine  staatliche  Finanzverwaltung 
bequemste  Sparsamkeit,  aber  auch  die  zweischneidigste 
Sparsamkeit,  ist  der  wahllose  Widerstand  gegen  neue  Aus- 
gaben. Diese  Art  Sparsamkeit  war  mir  in  wenig  an- 
genehmem Gedächtnis.  Große  Unterlassungssünden,  na- 
mentlich auf  dem  Gebiete  des  kolonialen  Eisenbahnbaues 
und  des  militärischen  Schutzes,  die  sich  späterhin  auch 
finanziell  bitter  rächten,  hatten  ihre  Wurzel  darin,  daß  die 
Bewilligungsscheu  des  Reichstages  im  Reichsschatzamt 
einen  stillen,  aber  wirksamen  Verbündeten  besaß.  Daß 
auch  der  Krieg  die  alte  Tradition  nicht  ohne  weiteres  fort- 
geschwemmt hatte,  davon  konnte  ich  mich  bald  über- 
zeugen. In  den  ersten  Tagen  meiner  Amtstätigkeit  wurde 
mir  ein  Schreiben  an  eine  andere  Behörde  vorgelegt,  in 
dem  die  Bewilligung  der  Gelder  für  einen  mir  durchaus 
vernünftig  und  notwendig  erscheinenden  Zweck  kurzer- 
hand abgelehnt  wurde.  Ich  bat  den  Herrn,  der  die  Sache 
bearbeitet  hatte,  um  eine  Begründung  seines  ablehnen- 
den Standpunktes  und  erhielt  die  klassische  Antwort: 
,,Wir  lehnen  solche  neuen  Anträge  grundsätzlich  zunächst 


Falsche  Sparsamkeit 


einmal  ab.  Ist  die  Angelegenheit  wirklich  dringend,  dann 
kommt  die  betreffende  Behörde  schon  auf  die  Sache  zu- 
rück, und  dann  kann  man  sich’s  überlegen.'* 

Ich  suchte  von  Anfang  an  den  Rahmen  für  die  Tätig- 
keit des  Reichsschatzamtes  weiter  zu  spannen,  als  es  der 
Überlieferung  entsprach,  und  die  im  Kriege  doppelt  not- 
wendige Sparsamkeit  nicht  so  sehr  in  der  grundsätzlichen 
Beschneidung  der  Anträge  der  anderen  Ressorts,  als  viel- 
mehr in  der  positiven  Mitarbeit  an  der  finanziell  und  wirt- 
schaftlich zweckmäßigen  Gestaltung  des  Notwendigen  zu 
verwirklichen. 

Die  Finanzierung  kriegswichtiger 
Unternehmungen 

Schon  in  den  Tagen  meiner  Vorbereitung  für  das  neue 
Amt  erhielt  ich  Gelegenheit,  diese  Auffassung  meiner  Auf- 
gabe in  einer  Angelegenheit  von  außerordentlicher  Be- 
deutung für  Kriegführung  und  Volksernährung  zu  be- 
tätigen: in  der  Stickstoffrage. 

Gewaltige  Mengen  von  Stickstoffverbindungen  wurden 
benötigt,  einmal  für  Pulver  und  sonstige  Sprengstoffe  aller 
Art,  ferner  als  unentbehrliches  Düngemittel  für  die  Er- 
haltung eines  einigermaßen  ausreichenden  Ertrages  unseres 
heimischen  Bodens. 

Unser  Inlandsverbrauch  an  Stickstoffverbindungen  hatte 
im  letzten  Friedensjahr  rund  1400000  Tonnen  mit  einem 


8* 


Finanzielle  Kriegführung 


Gehalt  an  reinem  Stickstoff  von  rund  240000  Tonnen  be- 
tragen; davon  wurden  etwa  200000  Tonnen  in  der  Land- 
wirtschaft und  40000  Tonnen  in  der  Industrie  verbraucht. 
Unsere  heimische  ...Erzeugung  von  Stickstoffverbindungen 
war  zwar  in  den  letzten  Jahrzehnten  gewaltig  gestiegen; 
die  Gewinnung  von  schwefelsaurem  Ammoniak  als  Neben- 
produkt der  Kokerei,  unsere  vor  dem  Kriege  weitaus 
wichtigste  Stickstoffquelle,  war  von  rund  90000  Tonnen 
im  Jahre  1893  auf  rund  500000  Tonnen  im  Jahre  1913 
gebracht  worden.  Aber  trotzdem  deckte  die  einheimische 
Erzeugung  von  Stickstoffverbindungen  auch  im  Jahre 
1913  nicht  einmal  die  Hälfte  des  Inlandsverbrauches. 

Die  größere  Hälfte  wurde  aus  dem  Ausland  bezogen,  und 
zwar  ganz  überwiegend  in  der  Form  von  Chilesalpeter. 

Der  Krieg  brachte  eine  enorme  Steigerung  unseres  Be- 
darfs und  eine  ebenso  enorme  Einschränkung  unserer  Ver- 
sorgung. Der  Stickstoffbedarf  für  militärische  Zwecke 
überstieg  sofort  um  ein  Vielfaches  die  Mengen,  die  in 
Friedenszeiten  von  der  Sprengstoffindustrie  verbraucht 
wurden.  Auf  der  anderen  Seite  kam  die  Zufuhr  von  Chile- 

« 

Salpeter, die  in  Friedenszeiten  etwa  die  Hälfte  unsres  Gesamt- 
bedarfs gedeckt  hatte,  mit  dem  Kriegsausbruch  völlig  in 
Wegfall,  und  die  heimische  Gewinnung  von  schwefelsaurem 
Ammoniak  aus  dem  Kokereiprozeß  erfuhr  mit  dem  scharfen 
Rückgang  der  Kohlenförderung  und  Eisenerzeugung,  der  mit 
Kriegsausbruch  einsetzte  und  nur  allmählich  überwunden 
werden  konnte,  gleichfalls  eine  starke  Einschränkung.  Es 

116 


Die  Stickstoffrage 


war  mit  einem  Ausfall  von  nicht  weniger  als  zwei  Dritteln 
unserer  Friedensversorgung  an  Stickstoff  zu  rechnen.  Der 
Zeitpunkt,  in  dem  die  vorhandenen  Läger  aufgebraucht 
sein  würden,  war  abzusehen;  die  heimische  Produktion 
an  Stickstoff  Verbindungen  hätte  für  die  Landwirtschaft 
so  gut  wie  nichts  übriggelassen  und  selbst  die  Deckung 
des  in  gewaltigen  Sprüngen  anwachsenden  militärischen 
Bedarfs  nicht  entfernt  ausreichend  gesichert. 

Glücklicherweise  waren  Ersatzmöglichkeiten  für  die 
überseeischen  Zufuhren  vorhanden,  und  zwar  in  den  von 
deutschen  Gelehrten  ausgearbeiteten  Verfahren  zur  Ge- 
winnung stickstoffhaltiger  Verbindungen  aus  den  un- 
erschöpflichen Vorräten  der  Luft.  In  Betracht  kamen  ein- 
mal das  von  Geheimrat  Haber  erfundene  Verfahren  der 
synthetischen  Gewinnung  von  schwefelsaurem  Ammoniak, 
das  von  der  Badischen  Anilin-  u.  Sodafabrik  in  Ludwigs- 
hafen a.  Rh.  praktisch  erprobt  worden  war;  ferner  das 
Frank-Carosche  Verfahren  zur  Herstellung  von  Kalkstick- 
stoff, nach  dem  in  Werken  zu  Trostberg  in  Oberbayern 
und  zu  Knapsack  bei  Köln  a.  Rh.  gearbeitet  wurde.  Die 
Produktion  der  Ludwigshafener  Fabrik  an  schwefelsaurem 
Ammoniak  betrug  im  letzten  Friedensjahr  etwa  30  000 
Tonnen  mit  einem  Gehalt  an  reinem  Stickstoff  von  rund 
6000  Tonnen,  die  Produktion  des  Trostberger  und  des 
Knapsacker  Werkes  erreichte  je  25  000  Tonnen  Kalk- 
stickstoff  mit  einem  Reingehalt  von  rund  je  5000  Tonnen. 
Die  Ludwigshafener  Fabrik  hatte  noch  im  Frieden  den 


Finanzielle  Kriegführung 


Ausbau  ihres  Stickstoffwerkes  auf  eine  jährliche  Leistungs- 
fähigkeit von  150  000  Tonnen  schwefelsauren  Ammoniaks 
in  Angriff  genommen. 

Die  vitale  Bedeutung  der  Stickstoffrage  mußte  in  die 
Augen  springen.  Die  Heeresverwaltung  und  das  preußische 
Landwirtschaftsministerium  drängten  auf  den  Abschluß 
vonVereinbarungen,die  eine  sofortige  und  ausgiebige  Steige- 
rung der  einheimischen  Stickstoffgewinnung  sichern  sollten. 
Die  im  Besitz  der  Verfahren  befindlichen  Unternehmungen 
stellten  sich  zur  Verfügung  und  machten  Vorschläge  für  die 
Aufbringung  und  Sicherstellung  der  sehr  erheblichen  Kapi- 
talien, die  zum  Zweck  der  Errichtung  der  großen,  die  vor- 
handenen Stickstoffwerke  um  ein  Vielfaches  übertreffenden 
Neuanlagen  zu  investieren  waren.  Die  Verhandlungen 
stießen  auf  allerlei  Schwierigkeiten,  namentlich  in  der 
Frage  der  Gewährleistung  gegen  den  Verlust  des  in  den 
neuen  Fabriken  festzulegenden  Kapitals  bei  der  Wieder- 
kehr der  Friedensverhältnisse  und  in  der  Frage  der  Nor- 
mierung von  Höchstpreisen  für  die  Stickstoffverbindungen. 
Erst  im  Dezember  1914  kamen  Verträge  mit  Ludwigs- 
hafen und  Knapsack  zustande,  die  gegen  Gewährung  von 
Darlehen  des  Reiches  und  Preußens  eine  Erhöhung  der 
Produktion  um  45  000  Tonnen  reinen  Stickstoff  vorsahen. 
Damit  war  aber  nur  erst  der  Heeresbedarf  nach  der 
damaligen,  sich  späterhin  als  viel  zu  niedrig  erweisen- 
den Schätzung  annähernd  gesichert,  während  für  die 
durch  den  Stickstoffmangel  auf  das  Schwerste  bedrohte 

118 


Die  Stickstoffrage 


Landwirtschaft  noch  nichts  vorgesorgt  war.  Die  Ver- 
handlungen mit  den  Bayrischen  Stickstoffwerken,  in  denen 
das  Landwirtschaftsministerium  eine  Sicherung  des  Bedarfs 
an  Stickst  Offdüngemitteln  erstrebte,  waren  auf  dem  toten 
Punkt : Die  Stickstoffwerke  verlangten  für  ihre  Neu- 
produktion eine  fünfzehnjährige  Absatzgarantie  zu  einem 
wesentlich  unter  den  Friedenspreisen  liegenden  Satze,  die 
landwirtschaftlichen  Vereinigungen  waren  aus  sich  heraus 
für  die  Übernahme  einer  solchen  Absatzgarantie  nicht  stark 
genug,  und  die  Finanzverwaltungen  Preußens  und  des 
Reiches  weigerten  sich  kategorisch,  ihrerseits  eine  Absatz- 
garantie zu  übernehmen ; — sie  waren  auf  Grund  der  Kriegs- 
kredite formal  wohl  zur  Leistung  von  Ausgaben  für  Kriegs- 
zwecke, nicht  aber  zur  Übernahme  von  Garantien  befugt! 

Als  meine  Ernennung  zum  Staatssekretär  des  Reichs- 
schatzamts feststand,  besuchten  mich  der  preußische 
Landwirtschaftsminister  Freiherr  von  Schorle mer  und  der 
preußische  Finanzminister  Herr  Lentze,  um  mir  die  ge- 
radezu verzweifelte  Lage  der  Stickstoffversorgung  der  Land- 
wirtschaft darzulegen  und  sich  meiner  Unterstützung  bei  der 
Überwindung  dieses  Notstandes  zu  versichern.  Die  Situation 
war  mir  bereits  bekannt,  und  ich  war  entschlossen,  nicht 
nur  meinerseits  die  Initiative  zu  der  notwendigen  weiteren 
Steigerung  unserer  Stickstoffgewinnung  zu  nehmen,  son- 
dern auch  dem  Reich  in  diesem  neuen,  nationalwirtschaft- 
lich unschätzbar  wichtigen  und  finanziell  aussichtsreichen 
Industriezweige  eine  starke  Position  zu  schaffen.  Am  Tage 


Finanzielle  Kriegführung 


nach  meiner  Besprechung  mit  den  beiden  Ministem,  am 
23.  Januar  1915,  fand,  durch  diese  veranlaßt,  eine  Be- 
sprechung der  beteiligten  Ressortchefs  statt,  an  der  ich 
neben  meinem  noch  amtierenden  Vorgänger  teilnahm. 
Ich  entwickelte  den  Gedanken,  daß  die  Reichsfinanzver- 
waltung durch  die  Bayrischen  Stickstoffwerke  eine  große 
Kalkstickstoff-Fabrik  für  das  Reich  bauen  lassen  und  gleich- 
zeitig mit  den  Bayrischen  Stickstoffwerken  einen  Betriebs- 
vertrag abschließen  solle,  letzteren  auf  der  Grundlage,  daß 
der  gesamte  über  einen  bestimmten  Satz  für  das  Kilopro- 
zent Kalkstickstoff  hinaus  erzielte  Bruttoerlös  dem  Reich 
zufließen  und  dieses  außerdem  an  dem  verbleibenden 
Reingewinn  aus  dem  Betriebe  mit  einem  angemessenen 
Anteil  beteiligt  werden  sollte.  Dadurch  wollte  ich  der  be- 
triebführenden Firma  die  Möglichkeit  nehmen,  eine  Stei- 
gerung ihrer  Gewinne  in  hohen  Verkaufspreisen  zu  suchen, 
sie  vielmehr  darauf  hinweisen,  ihre  Gewinnaussichten 
lediglich  in  Verbilligungen  der  Produktion  zu  erblicken, 
was  ihr  einen  möglichst  starken  Anreiz  zur  technischen  Ver- 
vollkommnung ihres  Verfahrens  geben  mußte.  Ich  schlug 
ferner  vor,  durch  ein  Reichsgesetz  dem  Bundesrat  die 
Ermächtigung  zur  Einführung  eines  Stickstoff-Handels- 
monopols geben  zu  lassen,  um  die  Position  des  Reiches  in 
der  Stickstoffindustrie  zu  verstärken  und  gleichzeitig  eine 
Waffe  gegen  eine  nach  Friedensschluß  zu  erwartende  Be- 
drohung der  deutschen  Stickstoffindustrie  vom  Auslande 
her  rechtzeitig  bereitzustellen. 


120- 


Die  Ba5n*ischen  Stickstoffwerke 


Meine  Vorschläge  fanden  die  Zustimmung  der  Ressort- 
chefs. Auch  der  Reichskanzler  trat  ihnen  bei. 

Auf  dieser  Grundlage  schloß  ich  in  den  ersten  Wochen 
meiner  Amtsführung  Verträge  mit  den  Bayrischen  Stick- 
stof fwerken  ab,  in  denen  der  schleunige  Bau  zweier  Reichs- 
werke mit  einer  jährlichen  Leistungsfähigkeit  von  ins- 
gesamt 225  000  Tonnen  Kalkstickstoff  und  gleichzeitig 
die  Bedingungen  des  Betriebs  dieser  Anlagen  durch  die 
Bayrischen  Stickstoff  werke  nach  den  von  mir  vorgeschla- 
genen Grundsätzen  vereinbart  wurden.  Ferner  verpflich- 
teten sich  die  Bayrischen  Stickstoffwerke  zu  einer  Ver- 
größerung ihrer  eigenen  Fabrik  in  Trostberg.  Außerdem 
schloß  ich  mit  den  Lonzawerken  in  Waldshut  (Baden) 
einen  Vertrag  über  die  Errichtung  eines  weiteren  Kalk- 
stickstoff Werkes  ab,  und  zwar  gegen  Gewährung  eines  Dar- 
lehns  und  mit  der  Auflage  der  Überlassung  der  gesamten 
Produktion  zu  bestimmten  Preisen  an  das  Reich  oder  den 
vom  Reiche  zu  bezeichnenden  Abnehmer.  Insgesamt  sollte 
durch  diese  Verträge  die  deutsche  Stickstoffgewinnung 
eine  Erhöhung  um  300  000  Tonnen  Kalkstickstoff,  gleich 
60  000  Tonnen  reinen  Stickstoffs,  erfahren. 

Die  Ausführung  wurde  sofort  in  Angriff  genommen. 
Schon  während  die  Verhandlungen  noch  schwebten,  waren 
die  Stickstoffwerke  ermächtigt  worden,  alle  für  den  Bau 
der  neuen  Anlagen  erforderlichen  Vorbereitungen  zu  treffen. 
Trotz  der  großen  Schwierigkeiten  in  der  Beschaffung 
von  Arbeitskräften,  Maschinen,  Metallen  und  anderen 


121 


Finanzielle  Kriegführung 


Rohstoffen  gelang  es,  die  beiden  Reichswerke  in  den  Monaten 
Januar  und  Februar  des  Jahres  1916  in  Betrieb  zu  bringen. 
Da  mit  den  Bauarbeiten  erst  im  März  und  April  1915  hatte 
begonnen  werdjen  können,  hatten  also  9 bis  10  Monate  Bau- 
zeit genügt,  um  die  gewaltigen  Neuanlagen  fertigzustellen. 

Um  von  der  Größe  der  in  so  kurzer  Zeit  für  das  Reich 
geschaffenen  Werke  einen  Begriff  zu  geben: 

Das  Reichswerk  Piesteritz  bei  Wittenberg  a.  d.  Elbe, 
das  für  eine  Jahresgewinnung  von  150  000  Tonnen  Kalk- 
stickstoff vorgesehen  war,  umfaßte  nach  dem  ursprüng- 
lichen, inzwischen  noch  erheblich  vergrößerten  Ausmaß 
eine  bebaute  Fläche  von  12^/2  Hektar.  Sein  jährlicher 
Elektrizitätsverbrauch  war  auf  500  Millionen  Kilowatt- 
stunden berechnet;  das  ist  rund  doppelt  so  viel,  wie  die 
gesamte  von  den  Berliner  Elektrizitätswerken  im  Jahre 
1914/15  nutzbar  abgegebene  elektrische  Energie.  Die 
Elektrizität  wird  in  dem  Bitterfelder  Braunkohlenrevier 
erzeugt,  mit  einem  Tagesverbrauch  von  4400  Tonnen 
Braunkohle,  und  auf  einer  22  km  langen  Doppelleitung 
mit  einer  Spannung  von  80  000  Volt  zum  Piesteritzer  Werk 
geleitet,  wo  der  Strom  mit  den  größten  Transformatoren, 
die  bis  dahin  in  der  ganzen  Welt  gebaut  worden  waren, 
zunächst  auf  6000  Volt,  dann  auf  die  Betriebsspannung 
umgeformt  wird.  Die  elektrische  Energie  wurde  den  Reichs- 
werken zum  Satz  von  i Pfennig  auf  Grundlage  der  damali- 
gen Kohlenpreise  gesichert.  Dieser  Satz  ist  billiger,  als  er 
jemals  zuvor  in  Deutschland  für  aus  Kohle  gewonnene 


122 


Das  Reichsstickstoffwerk  Piesteritz 


elektrische  Energie  gezahlt  worden  ist.  Der  tägliche  Ver- 
brauch des  Werkes  an  Kalk  war  auf  300  Tonnen,  an  Koks 
auf  180  Tonnen  berechnet.  Kalk  und  Koks  werden  in 
mächtigen  Öfen  in  starkem  elektrischen  Strom  zu  Karbid 
verarbeitet.  Der  Kalkstickstoff  wird  gewonnen  durch  die 
Verbindung  des  Luftstickstoffs  mit  dem  gepulverten  Kar- 
bid. Die  Gewinnung  des  Luftstickstoffs  erfolgt  in  Piesteritz 
auf  zwei  Wegen.  Einmal  durch  Verflüssigung  von  Luft 
und  Trennung  des  Sauerstoffs  vom  Stickstoff  nach  dem 
Linde’schen  Verfahren;  dann  in  einer  Ersatzanlage,  in  der 
nach  dem  Verfahren  von  Frank-Caro  Generatorgas  mit 
Luft  verbrannt  und  das  entstehende  Gemisch  von  Kohlen- 
säure und  Stickstoff  in  seine  beiden  Bestandteile  zerlegt 
wird.  Nach  dem  ursprünglichen  Plane  lieferte  die  Linde- 
Anlage  stündlich  90  000  Liter  flüssige  Luft  und  9000  Raum- 
meter Stickstoff,  die  Frank-Caro- Anlage  stündlich  3000 
Raummeter  Stickstoff.  An  Kühlwasser  verbraucht  das 
Werk  eine  Menge,  die  dem  Wasserverbrauch  einer  Stadt 
von  1,7  Millionen  Einwohnern  entspricht. 

Die  mit  raschem  Entschluß  in  Angriff  genommene  und 
über  alle  Kriegserschwernisse  hinaus  in  so  kurzer  Zeit 
durchgeführte  Errichtung  der  Reichswerke,  deren  Pro- 
duktion schon  der  Frühjahrsbestellung  des  Jahres  1916 
zugutekam,  hat  unsere  Ernährungswirtschaft  vor  einer 
Katastrophe  bewahrt.  Aber  der  Heeresbedarf  an  Stick- 
stoff wuchs  in  solchen  Progressionen,  daß  die  Reichswerke 
alsbald  auch  für  die  Sprengstoffherstellung  herangezogen 


123 


Finanzielle  Kriegführung 


werden  mußten.  Ich  habe  in  der  ersten  Zeit  des  Krieges 
Schätzungen  gehört,  die  den  militärischen  Bedarf  an 
etwa  20%igen  Stickstoff  Verbindungen  auf  12  000  bis 
15  000  Tonnen  für  den  Monat  bezifferten.  Als  ich  in  die 
Lage  kam,  über  die  Stickstoffbeschaffung  zu  verhandeln, 
war  bereits  von  erheblich  größeren  Mengen  die  Rede.  Zu 
Beginn  des  Jahres  1916  wurde  mir  der  militärische  Monats- 
bedarf auf  etwa  40  000  Tonnen  beziffert,  und  schließlich 
sind  wohl  100  000  Tonnen  im  Monat  erreicht  und  über- 
schritten worden.  Diese  Entwicklung  zwang  mich  und 
später  meinen  Nachfolger  im  Reichsschatzamt,  den  Grafen 
Rödern,  für  immer  neue  Erweiterungen  und  Neuanlagen 
zu  sorgen,  die  leider  zum  Schaden  der  Landwirtschaft 
immer  wieder  von  den  alle  Erwartungen  weit  übertreffen- 
den Neuanmeldungen  der  militärischen  Stellen  überholt 
wurden.  Soweit  meine  Kenntnis  reicht,  ist  während  des 
Krieges  die  deutsche  Stickstoffgewinnung  auf  einen  Um- 
fang gebracht  worden,  der  die  gesamte  Vorkriegsproduktion 
von  Chilesalpeter  (2,1  Millionen  Tonnen)  übersteigt  und 
nahezu  das  Doppelte  des  normalen  deutschen  Jahres- 
verbrauches an  Stickstoffverbindungen  ausmacht. 

Im  Reichstag  fand  ich  mit  meinem  Ermächtigungs- 
gesetz für  die  Einführung  eines  Stickstoff-Handelsmonopols 
wenig  Verständnis.  Die  Kommission,  der  die  Vorlage  über- 
wiesen wurde,  ließ  sich  lange  und  interessante  Vorträge 
von  Sachverständigen  halten,  die  in  ihrer  überwiegenden 
Mehrzahl  gleichzeitig  Interessenten  und  als  solche  dem 


124 


Das  Stickstoffhandelsmonopol 


Handelsmonopol  abgeneigt  waren.  Sie  vertiefte  sic6  in 
eine  unfruchtbare  und  in  der  Hauptsache  unberechtigte 
Kritik  dessen,  was  noch  in  der  allerletzten  Stunde  getan 
worden  war,  während  eine  berechtigte  Kritik  sich  gegen 
das  hätte  richten  müssen,  was  lange  genug  versäumt  und 
unterlassen  worden  war.  Ich  wies  vergeblich  darauf  hin, 
daß  die  neue,  so  ungemein  wichtige  Industrie  durch  den 
Zusammenschluß  der  chemischen  Fabriken  und  die  von 
diesen  mit  der  Ammoniakvereinigung  unserer  Montan- 
industrie getroffenen  Vereinbarungen  auf  dem  besten 
Wege  zum  Privatmonopol  war;  ferner,  daß  unter  englischer 
Führung  eine  Vertrustung  sowohl  der  Chilesalpeter-Gewin- 
nung wie  auch  der  ausländischen  Luftstickstoff-Industrie 
drohte.  Die  Notwendigkeit,  dem  Reich  in  der  neuen 
Industrie  eine  nach  innen  und  außen  hinreichend  gesicherte 
Position  zu  schaffen,  wurde  nur  von  einer  Minderheit 
erkannt.  Die  Kommission  konnte  sich  schließlich  weder 
zu  einer  Zustimmung  noch  zu  einer  glatten  Ablehnung 
aufschwingen,  und  ich  mußte  mich  entschließen,  den  end- 
gültigen Austrag  der  Frage,  der  angesichts  der  unabsehbar 
gewordenen  Verlängerung  des  Krieges  an  Dringlichkeit 
verloren  hatte,  einer  gelegeneren  Zeit  zu  überlassen. 

Eine  ähnliche  Erfahrung  habe  ich  gemacht,  als  ich  bei 
Gelegenheit  des  Erwerbs  der  bisher  von  dem  amerikanischen 
Tabaktrust  abhängigen  deutschen  Zigarettenfabriken  durch 
ein  deutsches  Konsortium  dem  Reich  die  Option  auf  diese 
etwa  ein  Viertel  der  deutschen  Zigarettenproduktion 


125 


Finanzielle  Kriegführung 


darstellenden  Fabriken  zum  Einstandspreis  mit  einem  ge- 
ringfügigen Zuschlag  sicherte,  und  zwar  ohne  das  Reich 
für  den  Erwerb  dieser  Option  auch  nur  mit  einem  Pfennig 
zu  belasten.  Auch  hier,  wo  es  sich  darum  handelte,  das 
Reich  in  einer  für  ein  ertragreiches  Monopol  reifen  In- 
dustrie zunächst  einmal  Fuß  fassen  zu  lassen,  fand  ich 
kein  Verständnis,  mußte  mich  vielmehr  im  Hauptausschuß 
des  Reichstags  dafür  angreifen  lassen,  daß  ich  es  vor- 
gezogen hatte,  dem  Reich  die  Möglichkeit  des  billigen 
Erwerbs  dieser  Fabriken  zu  sichern,  statt  die  Fabriken 
ihrer  Konkurrenz  auszuliefern. 

Heute,  im  Bann  des  Schlagworts  ,, Sozialisierung“, 
denkt  man  anders,  bis  zur  Übertreibung  ins  entgegen- 
gesetzte Extrem.  Man  wird  wohl  gerade  auch  der  Stick- 
stoffindustrie  weit  radikaler  zu  Leibe  gehen,  als  das  in 
meinen  Plänen  lag.  Jedenfalls  aber  glaube  ich,  daß  der 
Typ  des  gemischtwirtschaftlichen  Betriebs,  wie  ich  ihn 
bei  den  Reichswerken  für  das  Zusammenwirken  von  Reich 
und  privatem  Unternehmertum  in  einem  einheitlichen 
Betrieb  geschaffen  habe,  den  Vorzug  vor  manchen  anderen 
Formen  der  ,, Sozialisierung“  verdient.  Er  sichert  dem 
Reich  die  Kontrolle  des  Betriebs  und  den  Vorteil  aus 
Preiserhöhungen,  die  in  den  Produktionskosten  nicht  be- 
gründet und  nur  infolge  der  monopolartigen  Stellung  des 
Unternehmens  oder  auf  Grund  von  Preiskonventionen 
erzielbar  sind;  er  läßt  auf  der  andern  Seite  dem  privaten 
Unternehmer  weitgehende  Freiheit  in  der  Gestaltung  des 

126 


Kriegsrohstofiabteilung  und  Reichsschatzamt 


Betriebs  und  einen  starken  Anreiz,  durch  Vervollkomm- 
nung von  Technik  und  Organisation,  die  ihm  allein  ge- 
stattet, seinen  Gewinn  zu  steigern,  die  Produktion  zu 
verbilligen. 

Ich  habe  die  Stickstoff-Angelegenheit  eingehender  dar- 
gestellt einmal  wegen  ihrer  großen  Wichtigkeit  für  die 
Kriegführung  und  die  Abwehr  der  Hungersnot,  dann 
als  Beispiel  dafür,  wie  ich  die  Aufgabe  der  Reichsfinanz- 
verwaltung auf  faßte.  In  ähnlicher  Weise  bin  ich  auf  ver- 
wandten Gebieten  vorgegangen.  Das  Betätigungsfeld,  das 
ich  vorfand,  war  allerdings  dadurch  stark  eingeengt,  daß 
in  den  fünf  Kriegsmonaten,  die  vor  dem  Beginn  meiner 
Amtsführung  lagen,  die  Zivilbehörden,  und  mehr  als  alle 
andern  das  Reichsschatzamt,  die  Initiative  auf  den  die 
Kriegführung  berührenden  wirtschaftlichen  Gebieten  der 
sehr  tatkräftigen  Kriegsrohstoffabteilung  des  Kriegs- 
ministeriums überlassen  hatten,  die  dann,  ohne  sich  viel 
um  die  Zivilressorts  zu  kümmern,  ihren  Weg  ging.  Da 
außerdem  das  Kriegsministerium,unbehindert  durch  irgend- 
welchen Widerspruch,  das  Recht  für  sich  in  Anspruch  ge- 
nommen hatte,  über  die  vom  Reichstag  für  die  Zwecke  des 
Krieges  bewilligten  Kredite  frei  zu  verfügen,  ohne  für  die 
einzelnen  Ausgaben  die  Zustimmung  derReichsfinanzverwal- 
tung  einzuholen,  so  fehlte  es  dem  Reichsschatzamt  sogar 
an  einer  vollständigen  Übersicht  über  das,  was  im  Kriegs- 
ministerium auf  diesem  für  die  deutsche  Volkswirtschaft 
und  die  Reichsfinanzen  so  wichtigen  Gebiete  unternommen 


127 


Finanzielle  Kriegführung 


wurde.  Der  Krieg,  der  rasches  Handeln  fordert,  duldet 
keine  Verzögerung  dringender  Entschlüsse  durch  das  Auf- 
werfen und  Durchkämpfen  von  Kompetenzkonflikten.  Ich 
suchte  deshalb  die  notwendige  Fühlung  und  Zusammen- 
arbeit auf  gütlichem  Wege  und  durch  die  Bereitwilligkeit 
zu  positiver  und  aktiver  Mitarbeit ‘herzustellen,  wie  sie 
meine  Behörde  in  der  Stickstoff-Angelegenheit  geleistet 
hatte.  Ich  fand  hierfür  sowohl  bei  den  Leitern  des  Kriegs- 
ministeriums wie  auch  bei  der  Kriegsrohstoffabteilung 
Verständnis.  Von  den  später  im  Einvernehmen  und 
Zusammenarbeiten  mit  der  Heeresverwaltung  in  Angriff 
genommenen  Aufgaben  erwähne  ich  die  Schaffung  einer 
großen  deutschen  Aluminiumindustrie  auf  Grund  der 
während  des  Krieges  entwickelten  neuen  Verfahren,  die 
eine  wirtschaftliche  Herstellung  von  Aluminium  auch  aus 
deutscher  Tonerde  gestatten,  während  bis  dahin  nur  das 
aus  dem  Ausland,  hauptsächlich  aus  Frankreich,  bezogene 
Bauxit  als  verwendbar  galt.  Ich  habe  den  Abschluß  der 
schwierigen  Verhandlungen  infolge  meines  Übertritts  zum 
Reichsamt  des  Innern  allerdings  meinem  Nachfolger  im 
Reichsschatzamt  überlassen  müssen. 

Erwähnen  möchte  ich  ferner  die  Mitwirkung  des  Reichs- 
schatzamts bei  der  Schaffung  der  Handels-U-Boote,  von 
denen  die  ,, Deutschland“  vor  dem  Ausbruch  des  Krieges 
mit  den  Vereinigten  Staaten  zwei  erfolgreiche  Fahrten 
nach  Amerika  gemacht  hat,  während  ihr  Schwesterschiff, 
die  „Bremen“,  auf  der  ersten  Reise  verschollen  ist. 


128 


Handels-U-Boote 


Die  enorme  Knappheit  und  Teuerung  von  Kautschuk, 
Nickel  und  einigen  anderen  Stoffen,  von  denen  für  Kriegs- 
zwecke an  sich  nicht  sehr  erhebliche  Mengen,  diese  aber 
unbedingt  erforderlich  waren,  veranlaßten  mich,  bei  der 
Marine  Erkundigungen  darüber  einzuziehen,  ob  nicht 
U-Boote  für  die  Heranführung  dieser  Stoffe  verwendet 
werden  könnten.  Ich  dachte  zunächst  an  eine  Übernahme 
der  Materialien  von  neutralen  Schiffen  auf  hoher  See. 
Dieser  Weg  erwies  sich  technisch  und  auch  in  Rücksicht 
auf  die  mit  allen  Mitteln  arbeitende  englische  Überwachung 
als  nicht  gangbar.  Der  vergrößerte  Aktionsradius  unserer 
U-Boote,  der  sich  in  Fahrten  durch  die  Straße  von  Gi- 
braltar nach  Konstantinopel  so  glänzend  bewährt  hatte, 
ließ  mich  die  Frage  aufwerfen,  ob  nicht  ein  Anlaufen 
amerikanischer  Häfen,  in  denen  Kautschuk  und  Nickel 
bereitgestellt  werden  konnten,  durch  U-Boote,  die  ad  hoc 
zu  desarmieren  gewesen  wären,  sich  ermöglichen  lassen 
würde.  Auch  dieser  Gedanke  stieß  auf  Schwierigkeiten; 
einmal  war  nicht  mit  Sicherheit  vorauszusehen,  ob  die 
Vereinigten  Staaten  ursprünglich  als  Kriegsfahrzeuge  ge- 
baute U-Boote  als  Handelsschiffe  anerkennen  und  behan- 
deln würden;  vor  allem  aber  erklärte  Herr  von  Tirpitz, 
von  den  großen  und  leistungsfähigen  U-Booten  keines 
entbehren  zu  können.  Es  blieb  also  nur  übrig,  U-Boote 
von  vornherein  als  Handelsschiffe  zu  bauen. 

Meine  Gedanken  begegneten  sich  mit  denen  des  Bremer 
Großkaufmanns  Lohmann,  der  mich  Anfang  September  1915 


9 Helfferich,  Weltkrieg  II 


129 


Finanzielle  Kriegführung 


besuchte.  Lohmann  ließ  auf  Grund  unserer  Unterhaltung 
von  der  Weserwerft  in  Bremen  Pläne  für  ein  Handelst  auch- 
boot konstruieren.  Die  Pläne  waren  Anfang  Oktober  fertig 
und  wurden  dem  Reichsmarineamt  vorgelegt,  dessen  Ein- 
verständnis wegen  der  möglichen  Konkurrenz  mit  dem  Bau 
von  Kriegstauchbooten  erforderlich  war.  Es  ergab  sich, 
daß  zu  gleicher  Zeit  auf  Veranlassung  der  Firma  Krupp  die 
Germaniawerft  in  Kiel  Pläne  für  ein  Handelstauchboot  aus- 
gearbeitet hatte.  Die  Pläne  der  Germaniawerft  sahen  eine 
größere  Tonnage  vor;  außerdem  konnte  die  Germaniawerft 
für  zunächst  zwei  Handelstauchboote  eine  Fertigstellung 
schon  für  April  und  Mai  1916  in  Aussicht  stellen. 

Risiko  und  Gewinnaussichten  des  Unternehmens  waren 
ungewöhnlich  groß.  Das  Risiko  wurde  dadurch  erleichtert, 
daß  sich  die  Firma  Krupp  bereit  erklärte,  eines  der  beiden 
U-Boote  unentgeltlich  zur  Verfügung  zu  stellen  lediglich 
unter  der  Bedingung,  daß  dieses  U-Boot  auf  seinen  zwei 
ersten  Reisen  gegen  Zahlung  einer  hoch  bemessenen  Fracht 
eine  bestimmte  Menge  Nickel,  die  für  Krupp  in  Amerika 
lagerte,  nach  Europa  befördere. 

Zur  Durchführung  des  Unternehmens  wurde  zwischen 
Herrn  Lohmann  und  mir  die  Gründung  der  „Deutsche 
Ozean-Rhederei  G.  m.  b.  H.“  vereinbart.  Das  Reich  nahm 
der  Gesellschaft  das  Risiko  ab  und  behielt  sich  anderer- 
seits die  großen  Gewinnaussichten  vor. 

Im  Juni  1916  konnte  die  „Deutschland“  in  aller 
Stille  ihre  erste  Reise  an  treten.  Das  Geheimnis  war 


130 


U-Deutschland 


vollständig  gewahrt  worden.  Die  Ankunft  der  „U-Deutsch- 
land“ in  Baltimore  am  lo.  Juli  erregte  in  der  ganzen 
Welt  Sensation.  Die  englische  Anzweifelung  des  Cha- 
rakters der  „U-Deutschland“  als  Handelsschiff  fand 
keinerlei  Handhabe.  Die  Rückreise  vollzog  sich  un- 
gestört. 

Auf  der  Ausreise  hatte  die  „U-Deutschland“  Farbstoffe 
geladen,  deren  Verkauf  in  Amerika  einen  Reingewinn  in 
der  mehrfachen  Höhe  des  Einstandspreises  des  Tauch- 
bootes erbrachte.  Auf  der  Rückfahrt  nahm  das  Tauchboot 
mehrere  hundert  Tonnen  Kautschuk  und  Nickel  mit. 
Allein  die  Differenz  zwischen  dem  Einstandspreis  des 
Kautschuks  und  dem  Preis,  der  damals  in  Deutschland 
für  Kautschuk  bezahlt  werden  mußte,  erreichte  eine 
stattliche  Anzahl  von  Millionen  und  übertraf  noch  er- 
heblich den  Gewinn  der  Ausfahrt.  Vor  allem  aber  war 
durch  die  eine  Reise  der  dringende  Heeresbedarf  an  Roh- 
gummi und  Nickel  für  eine  größere  Anzahl  von  Monaten 
gedeckt. 

Es  wurde,  noch  ehe  die  „U-Deutschland“  zurückge- 
kommen war,  der  Bau  von  weiteren  sechs  Tauchbooten  be- 
schlossen. Die  Kosten  waren  im  voraus  durch  den  Gewinn 
der  ersten  Reise  gedeckt.  Die  neuen  U-Boote  kamen  als 
Handelsschiffe  nicht  mehr  zur  Verwendung.  Vor  ihrer 
Fertigstellung  erfolgte  der  Bruch  zwischen  der  Union 
und  Deutschland.  Die  Schiffe  wurden  nun  als  Kriegs- 
tauchboote ausgebaut. 


Finanzielle  Kriegführung 


Kriegskosten  und  Sparsamkeit 

Neben  der  tätigen  Mitarbeit  an  der  Durchführung 
kriegsnotwendiger  Maßnahmen  und  Unternehmungen 
durfte  die  Sparsamkeit  in  der  Ausgabe  Wirtschaft  nicht 
vernachlässigt  werden.  Die  täglichen  Nachweisungen  über 
die  Inanspruchnahme  der  Reichshauptkasse  waren  in 
ihren  gewaltigen  Ziffern,  die  immerzu  den  Drang  nach 
oben  zeigten,  eine  immer  wiederkehrende  Mahnung. 

Als  ich  das  Reichsschatzamt  übernahm,  beliefen  sich 
die  bis  dahin  — also  in  den  ersten  sechs  Monaten  des 
Krieges  — entstandenen  Ausgaben  auf  rund  8650  Millionen 
Mark.  Der  Monat  August  hatte  infolge  der  außerordent- 
lichen Ausgaben  für  die  Mobilmachung  allein  2047  Mil- 
lionen beansprucht,  der  September  eine  Ausgabe  von 
970  Millionen  Mark,  — er  blieb  der  einzige  Kriegs- 
monat, dessen  Ausgaben  den  Betrag  einer  Milliarde  nicht 
überschritten.  Schon  der  Oktober  hatte  eine  Steigerung 
der  Kriegsausgaben  auf  1262  Millionen  Mark  gebracht. 
Die  Ausgaben  des  Januar  1915  schlossen  mit  1545  Millionen 
ab.  Für  den  Februar  war  ein  ähnlicher  Betrag,  für  den 
März  ein  bereits  erhebheh  höherer  Bedarf  angemeldet.  In 
der  Tat  haben  die  Ausgaben  des  März  den  Betrag  von  2 Mil- 
liarden Mark  noch  um  35  Millionen  überschritten  und  da- 
mit die  Kosten  des  Mobilmachungsmonats  nahezu  erreicht. 

Bei  allem  meinem  Vertrauen  in  die  finanzielle  Kraft 
Deutschlands  erfüllte  mich  diese  Steigerung  mit  ernster 


132 


Steigerung  der  Kriegsausgaben 


Sorge.  Die  erste  Kriegsanleihe  hatte  rund  4^/2  Milliarden 
erbracht.  Aber  wenn  auch  diese  Summe  das  Ergebnis  aller 
bisher  dagewesenen  Anleiheoperationen  weit  übertraf,  so 
deckte  sie  doch  nur  etwa  die  Kriegsausgaben  der  ersten  drei 
Monate  und  nur  etwas  mehr  als  das  Doppelte  der  Kriegs- 
ausgaben des  einen  Monats  März  1915.  Als  ich  am  i.  Fe- 
bruar 1915  das  Schatzamt  übernahm,  waren  an  unverzins- 
lichen Schat^anweisungen  bereits  wieder  4365  Millionen 
Mark  im  Umlauf,  und  dieser  Umlauf  stieg  bis  Ende  März 
1915  auf  7209  Millionen  Mark.  Auch  wenn  man  für  die 
im  März  1915  aufgelegte  zweite  Kriegsanleihe  ein  noch 
wesentlich  höheres  Ergebnis  erwartete,  als  es  die  erste 
Kriegsanleihe  erbracht  hatte,  mußte  man  bei  einem 
weiteren  Steigen  der  monatlichen  Kriegsausgaben  mit 
einem  für  das  finanzielle  Durchhalten  verhängnisvollen 
Anschwellen  der  Begebung  von  Schatzanweisungen  und 
damit  — da  die  Reichsbank  der  Hauptabnehmer  war 
— mit  einem  lawinenartigen  Anwachsen  des  Noten- 
umlaufs, einer  schrittweisen  Wert  Verringerung  unseres 
Geldes  und  einer  entsprechenden  Steigerung  des  allgemeinen 
Preisniveaus  rechnen.  Nur  die  peinlichste  Sparsamkeit 
konnte  einer  solchen  Entwicklung  entgegen  wirken. 

Es  war  mir  wie  aller  Welt  bekannt,  daß  in  den  ersten 
Wochen  nach  Kriegsausbruch  die  mit  der  Beschaffung 
von  Heeresbedarf  aller  Art  betrauten  Stellen  der  Heeres- 
verwaltung keineswegs  überall  sachgemäß  vorgegangen 
waren,  sondern  vielfach  geradezu  kopflos  gehandelt  hatten. 


Finanzielle  Kriegführung 


Der  dringende  Bedarf  gewaltigen  Umfangs  für  Ausrüstung 
und  Verpflegung  unserer  Truppen  scheint  in  manchen 
darauf  nicht  vorbereiteten  Bureaus  geradezu  eine  Panik 
erzeugt  zu  haben.  Unter  dem  Druck  der  Beschaffungs- 
notwendigkeit kam  es  zu  der  von  mir  späterhin  überall 
auf  das  Schärfste  bekämpften  Parole:  ,,Geld  spielt  keine 
Rolle“;  es  ist  vorgekommen,  daß  den  Lieferanten  höhere 
Preise  angeboten  worden  sind,  als  sie  ihrerseits  zu  fordern 
sich  für  berechtigt  hielte.  Unter  dem  gleichen  Drucke 
haben  manche  Beschaffungsstellen,  statt  mit  dem  Produ- 
zenten oder  dem  regulären  Handel  in  Verbindung  zu 
treten,  sich  mit  Gelegenheits-Zwischenhändlern  übelster 
Sorte,  wie  der  Krie-g  sie  gleich  Pilzen  aus  dem  Boden 
schießen  ließ,  in  Geschäfte  eingelassen,  die  das  Reich 
über  Gebühr  belasteten  und  nicht  die  erforderliche  Ge- 
währ für  eine  sachgemäße  Lieferung  boten.  Auch  die 
Organisation  der  Beschaffung  des  Heeresbedarfs  ließ 
manches  zu  wünschen  übrig ; es  kam  vor,  daß  sich  verschie- 
dene Beschaffungsstellen  gegenseitig  Konkurrenz  machten 
und  sich,  ohne  es  manchmal  selbst  zu  wissen,  die  Preise 
in  die  Höhe  boten. 

In  allen  diesen  Punkten  war  zu  Anfang  des  Jahres  1915 
bereits  vieles  besser  geworden.  Nach  der  Aufregung  und 
dem  Durcheinander  der  ersten  Mobilmachungszeit  war 
Ruhe  und  Ordnung  wieder  eingekehrt.  Die  Organisation 
der  Beschaffung  war  vervollkommnet  worden.  Nament- 
lich auf  dem  Gebiete  der  Beschaffung  von  Nahrungs-  und 


134 


„Geld  spielt  keine  Rolle“ 


Futtermitteln  für  die  Armee  hatte  die  schon  im  Laufe 
des  August  1914  ins  Leben  gerufene  Zentralstelle  für 
Heeres  Verpflegung  für  eine  sachgemäße  und  einheitliche 
Behandlung  dieses  gewaltigen  Einkaufsgeschäftes  gesorgt. 
Auch  auf  den  übrigen  Gebieten  wurden  neue  Verträge 
gründlich  geprüft  und  eine  Nachprüfung  der  alten  Verträge 
in  die  Wege  geleitet,  der  Gelegenheits-Zwischenhandel  nach 
Möglichkeit  ausgeschaltet  und  direkte  Abschlüsse  mit  den 
Produzenten  angestrebt.  Es  war  natürlich  für  die  Finanz- 
verwaltung unmöglich,  alle  die  Abschlüsse  und  Geschäfte 
der  Heeresverwaltung  im  einzelnen  mitzubearbeiten  oder 
auch  nur  zu  kontrollieren;  dazu  hätte  ein  Heer  von 
Beamten  gehört,  über  das  ich  nicht  verfügte  und  das  in 
den  Verhältnissen  des  Krieges  auch  nicht  zu  beschaffen 
war;  außerdem  hätte  der  Versuch  zu  einer  kaum  zu  ver- 
antwortenden Erschwerung  und  Verschleppung  der  meist 
dringlichen  Geschäfte  geführt.  Es  blieb  also  nur  eine 
allgemeine  Einwirkung  im  Sinne  einer  zweckmäßigen 
Organisation  und  sachgemäßen  Behandlung  der  Be- 
schaffung des  Heeresbedarfs,  sowie  die  Mitarbeit  bei 
einzelnen  wichtigen  Verträgen  und  die  Kontrolle  durch 
gelegentliche  Stichproben. 

Darüber  hinaus  betrachtete  ich  es  als  meine  Aufgabe, 
die  maßgebenden  militärischen  Stellen  von  der  zwingenden 
Notwendigkeit  einer  eisernen  Sparsamkeit  zu  überzeugen. 
Der  verhängnisvolle  Grundsatz:  ,,Geld  spielt  keine  Rolle“ 
mußte  vom  Kopfe  her  ausgebrannt  werden.  Nachdem 


135 


Finanzielle  Kriegführung 


ich  eine  hinreichende  Übersicht  über  die  Verhältnisse  ge- 
wonnen hatte,  reiste  ich  Ende  April  1915  in  das  Große 
Hauptquartier,  um  dort  mit  dem  Chef  des  Generalstabs, 
dem  Kriegsminister,  dem  Generalquartiermeister  und  dem 
Generalintendanten  des  Feldheeres  über  die  Möglich- 
keiten der  Erzielung  von  Ersparnissen  zu  beraten.  Wir 
kamen  in  mehrtägiger  Beratung  zu  dem  Ergebnis,  daß 
sowohl  bei  den  sachlichen  wie  namentlich  auch  bei  den 
persönhchen  Ausgaben  eine  strengere  Sparsamkeit  sich 
ohne  Beeinträchtigung  der  Kriegführung  durchführen 
lasse.  Insbesondere  die  offensichtlich  auf  einen  kurzen 
Krieg  zugeschnittene  Kriegsbesoldungsordnung  und  ihre 
Anwendung  bot  Spielraum  zu  geldersparenden  Korrek- 
turen. Aber  auch  in  der  Materialwirtschaft  wurde  vielfach 
noch  gar  zu  sehr  aus  dem  Vollen  geschöpft.  Ich  konnte 
in  dieser  Beziehung  aus  meinen  Besuchen  an  der  Front 
und  vor  allem  aus  einer  Besprechung  mit  dem  früheren 
Kriegsminister,  General  von  Einem,  damals  Führer  der 
Champagne-Armee,  wertvolle  Anregungen  gewinnen. 

Daß  meine  Bemühungen  nicht  ganz  ohne  Erfolg  waren, 
zeigt  die  Entwicklung  der  Kriegsausgaben.  Ich  habe  das 
Schatzamt  verwaltet  vom  i.  Februar  1915  bis  zum  i.  Juni 
1916.  Die  Ausgaben  im  März  1915  stellten  sich,  wie  ich 
bereits  erwähnte,  auf  2035,5  Millionen  Mark.  In  den 
meisten  der  folgenden  Monate  blieben  die  Ausgaben  hinter 
dem  Betrage  von  2 Milliarden  Mark  zurück.  Im  März 
1916  behefen  sie  sich  auf  2059  Millionen,  also  nur  wenig 

136 


streben  nach  sparsamerer  Wirtschaft 


höher,  als  ein  Jahr  zuvor.  Die  folgenden  Monate  April  und 
Mai  erforderten  1,884  und  2,008,5  Milliarden  Mark.  Die 
Ausgaben  sind  also  in  den  sechzehn  Monaten  meiner  Ver- 
waltung nicht  irgendwie  nennenswert  weiter  angewachsen : 
und  dieses  Ergebnis  ist  erzielt  worden  trotz  der  Ausdeh- 
nung der  Kriegsschauplätze,  trotz  der  weiteren  Vermehrung 
des  Effektivbestandes  unserer  Truppen,  trotz  der  gestie- 
genen Preise  für  Nahrungsmittel  und  Rohstoffe  und  trotz 
der  starken  Ausdehnung  der  Fabrikation  von  Kriegsgerät 
und  Munition. 

Ich  muß  dabei  hervorheben,  daß  ich  niemals  auch  nur 
in  einem  einzigen  Fall  Wünschen  oder  Absichten  des 
Kriegsministeriums  «auf  Beschaffung  von  Kriegsgerät  oder 
Munition  entgegengetreten  bin.  Die  Beurteilung  des  in 
dieser  Beziehung  für  die  erfolgreiche  Führung  des  Krieges 
Notwendigen  konnte  ich  um  so  beruhigter  der  ausschließ- 
lichen Verantwortung  der  zuständigen  militärischen  Stellen 
überlassen,  als  die  an  mich  herantretenden  Anträge  den 
Rahmen  unserer  finanziellen  und  wirtschaftlichen  Leistungs- 
fähigkeit in  jener  ersten  Phase  des  Krieges  nicht  über- 
schritten. Nur  ein  einziges  Mal  bin  ich  als  Reichsschatz- 
sekretär in  die  Lage  gekommen,  einer  unsere  militärische 
Ausrüstung  betreffenden  Absicht  Widerspruch  entgegen- 
setzen zu  müssen,  und  dieser  eine  Fall  ging  nicht  das 
Landheer  an,  sondern  die  Marine.  Im  Herbst  1915  wollte 
das  Reichsmarineamt  auf  kaiserliche  Anordnung  für  einen 
gesunkenen  Kreuzer  ein  großes  modernes  Schlachtschiff 


137 


Finanzielle  Kriegführung 


in  Auftrag  geben.  Bei  der  auf  drei  bis  vier  Jahre  ver- 
anschlagten Bauzeit  war  die  Wahrscheinlichkeit,  daß 
dieser  kostspielige  Neubau  noch  für  den  Krieg  von  Nutzen 
sein  könnte,  zum  mindesten  zweifelhaft.  Außerdem  hätte 
der  Neubau  große  Anforderungen  an  die  knappen  Arbeits- 
kräfte und  Materiahen  gestellt  und  diese  dem  für  alle 
Eventualitäten  notwendigen  U-Bootbau  entzogen.  Infolge- 
dessen verweigerte  ich  meine  Zustimmung  und  der  Neu- 
bau unterbheb.  Im  übrigen  habe  ich  den  verantwortÜchen 
mihtärischen  Behörden  für  die  Ausrüstung  des  Heeres 
mit  Kriegsgerät  und  Munition  durchaus  freien  Spielraum 
gelassen;  in  wichtigen  Fällen,  so  in  der  Frage  der  Stick- 
stoffbeschaffung und  der  Handelstauchboote,  bin  ich  aus 
eigener  Initiative,  ohne  militärische  Anträge  abzuwarten, 
mit  Maßnahmen  und  Ausgaben  vorgegangen,  die  der 
Kriegführung  wesentlich  zugutekamen. 

Ich  stelle  diesen  Sachverhalt  hier  fest,  um  einer  Le- 
gendenbildung entgegenzutreten,  die  sich  später,  zur  Zeit 
der  Beratung  des  Gesetzes  über  den  vaterländischen  Hilfs- 
dienst, herausgebildet  hat.  Damals  wurde  ausgestreut  — 
ich  habe  nicht  ermitteln  können,  von  welcher  Seite  — die 
unbefriedigenden  Zustände  in  der  Munitionserzeugung,  die 
sich  um  die  Mitte  des  Jahres  1916  herausgestellt  hatten, 
seien  auf  Geldverweigerungen  des  Reichsschatzamts  zu- 
rückzuführen. Ich  habe  damals  schon  im  Hauptausschuß 
des  Reichstags  in  Gegenwart  der  Vertreter  der  für  die 
Munitionsbeschaffung  zuständigen  militärischen  Stellen 


138 


Keine  Geldverweigerung  des  Reichsschatzamtes 


dieselbe  Feststellung  gemacht  wie  hier,  daß  in  keinem 
einzigen  Fall  die  Beschaffung  von  Kriegsgerät  und  Munition 
durch  ein  Eingreifen  des  Schatzamtes  verhindert  oder  auch 
nur  verzögert  worden  ist.  Auf  die  tatsächlichen  Zustände 
in  der  Munitionserzeugung  um  die  Mitte  des  Jahres  1916 
komme  ich  weiter  unten  im  Zusammenhang  mit  dem 
Vaterländischen  Hilfsdienst  zurück. 


Die  Kriegsanleihen 

Die  ungeheuren  Kosten  des  Krieges,  die  bisher  in  der 
Geschichte  der  Völker  auch  nicht  annähernd  ihresgleichen 
hatten  — überschritt  doch  bereits  im  Jahre  1915  die 
durchschnittliche  Monatsausgabe  Deutschlands  die  deut- 
schen Gesamtauf Wendungen  für  den  Krieg  von  1870/71 
— stellten  die  Finanzpolitik  der  kriegführenden  Völker 
vor  ganz  neue  Aufgaben  und  Probleme.  Der  gesamte 
Umlauf  an  metallischen  und  papiernen  Zahlungsmitteln 
in  Deutschland  bewegte  sich  vor  dem  Kriege  zwischen 
4 und  5 Milliarden  Mark.  Der  Krieg  machte  schon  im 
Jahre  1915  die  monatliche  Beschaffung  und  Verausgabung 
von  2 Milliarden  Mark  erforderlich,  ein  Betrag,  der  gegen 
Ende  des  Krieges  auf  nahezu  5 Milliarden  Mark  an- 
gewachsen ist.  Das  gesamte  jährliche  Volkseinkommen 
Deutschlands  hatte  vor  dem  Kriege  einen  B.etrag  von 
42  bis  45  Milliarden  Mark  erreicht.  Die  Kriegsausgaben 


139 


Finanzielle  Kriegführung 


des  Jahres  1915  stellten  sich  auf  rund  23  Milliarden  Mark, 
die  Kriegsausgaben  des  Jahres  1918  auf  50,2  Milliarden 
Mark.  Diese  Gegenüberstellung  läßt  ermessen,  was  die 
Beschaffung  und  Verausgabung  der  für  den  Krieg  er- 
forderhchen  Gelder  für  die  deutsche  Finanz  Wirtschaft  und 
Volkswirtschaft  bedeutete. 

Drei  grundsätzlich  verschiedene  Wege  standen  den 
kriegführenden  Staaten  zur  Aufbringung  der  Mittel  für 
die  Kriegführung  zur  Verfügung  und  sind  von  allen  krieg- 
führenden  Staaten  gleichzeitig  benutzt  worden,  allerdings 
in  verschiedenem  Maße  und  in  einem  sich  während  des 
Krieges  erheblich  verschiebenden  Verhältnis: 

1.  Die  Schaffung  neuer  Kaufkraft  zugunsten  des  Staates 
im  Weg  des  unmittelbaren  Druckes  von  Papiergeld  oder 
der  Begebung  von  Schatzanweisungen  gegen  die  Ausgabe 
neuer  Banknoten  oder  gegen  die  Schaffung  neuer  Guthaben. 

2.  Die  Aneignung  vorhandener  Kaufkraft  durch  den 
Staat  im  Wege  der  Begebung  von  Anleihen  gegen  vor- 
handene Zahlungsmittel. 

3.  Die  Aneignung  vorhandener  Kaufkraft  durch  den 
Staat  im  Wege  der  Erhebung  von  Steuern. 

Der  erste  Weg  ist  der  bequemere  aber  gefährlichere; 
der  zweite  und  namentlich  der  dritte  Weg  ist  schwieriger 
aber  gesunder.  Der  erstere  Weg  führt  notwendigerweise  zu 
einer  sich  fortgesetzt  steigernden  Überfüllung  des  Verkehrs 
mit  Zahlungsmitteln  (Inflation)  und  zu  einer  in  der  sich  über- 
stürzenden Steigerung  aller  Preise  zum  Ausdruck  kommenden 

140 


Methoden  der  Aufbringung  der  finanziellen  Mittel 


Entwertung  des  Geldes.  Der  zweite  Weg  vermeidet  diese 
Gefahr,  aber  er  belastet,  ebenso  wie  der  erste,  die  Zu- 
kunft. Der  dritte  Weg  schließlich,  der  sowohl  die  In- 
flation, wie  auch  die  Belastung  der  Zukunft  vermeidet, 
führt  über  solche  Widerstände  und  Hemmungen  wirtschaft- 
licher und  pohtischer  Natur,  daß  kein  kriegführender 
Staat  auf  diesem  Wege  allein  seinen  Kriegsbedarf  auch 
nur  annähernd  hat  decken  können. 

Alle  kriegführenden  Staaten  sahen  sich  zunächst  auf 
den  Weg  der  Schaffung  neuer  Kaufkraft  für  den  Kriegs- 
bedarf gedrängt.  In  der  Hauptsache  nahmen  sie  ihre 
Zentralbanken  durch  die  Diskontierung  kurzfristiger 
Schatzscheine  gegen  Noten  oder  Gutschrift  in  Anspruch. 
Sie  konnten  nicht  anders;  denn  die  gewaltigen  Zahlungen 
für  die  Mobilmachung  mußten  geleistet  werden,  während 
die  Geldmärkte  in  der  ersten  Panik  die  schwerste  Klemme 
durchmachten,  also  Bargeld  nicht  nur  nicht  abgeben 
konnten,  sondern  für  sich  selbst  benötigten. 

Hunderte  von  Millionen,  ja  Milliarden  neuen  Geldes 
ergossen  sich  also  in  den  ersten  Wochen  des  Krieges  über 
die  Volkswirtschaft.  Alles,  was  für  das  Heer  zu  liefern 
hatte,  wurde  bar  bezahlt.  Auf  dem  Wege  über  die  Arbeits- 
löhne und  die  Gebührnisse  für  Offiziere  und  Mannschaften 
drang  der  neue  Geldstrom  bis  in  die  kleinsten  Kanäle 
des  Verkehrs.  Die  Geldklemme  der  ersten  Kriegstage 
wurde  bald  durch  eine  wachsende  Geldflüssigkeit  abgelöst. 
Wenn  einer  bedenklichen  Inflation  vorgebeugt  werden 


Finanzielle  Kriegführung 


sollte,  dann  mußte  durch  eine  Änderung  der  Geldbeschaf- 
fung der  allzu  reichlich  fließende  Quell  der  papiemen 
Scheine  verstopft  und  die  Hochflut  neuer  Zahlungsmittel 
aufgesaugt  werden. 

Die  Begebung  langfristiger  Anleihen  und  die  Aus- 
schreibung neuer  Steuern  standen  zu  diesem  Zweck  zur 
Verfügung. 

Man  wählte  bei  uns  den  Weg  der  Anleihe  (September 
1914)  und  erzielte  mit  einem  Zeichnungsergebnis  von  fast 
4 1/2  Milliarden  Mark  den  bereits  geschilderten  Erfolg. 

Als  ich  das  Schatzamt  Anfang  Februar  1915  übernahm, 
war  der  Etatsentwurf  für  das  kommende  Rechnungsjahr 
im  wesentlichen  fertiggestellt.  Es  war  darin  ein  neuer 
— dritter  — Kriegskredit  von  abermals  5 Milliarden 
Mark  vorgesehen,  'den  ich  auf  10  Milliarden  Mark  er- 
höhte. Steuern  waren  nicht  vorbereitet.  Der  Reichsbank- 
präsident schlug  mir  für  den  März  die  Ausgabe  einer 
zweiten  Kriegsanleihe  vor. 

Mit  dieser  Situation  hatte  ich  mich  zunächst  abzufinden. 
Steuergesetze  lassen  sich  nicht  aus  dem  Ärmel  schütteln, 
namentlich  nicht  in  einem  Bundesstaat.  Bis  zum  Zu- 
sammentritt des  Reichstags  standen  nur  wenige  Wochen 
zur  Verfügung.  Da  der  Reichsetat  in  seinen  ordentlichen 
Einnahmen  und  Ausgaben  infolge  der  Übernahme  der 
gesamten  Ausgaben  für  Heer  und  Marine  auf  den  Kriegs- 
fonds balancierte,  ja  sogar  noch  die  Aufrechterhaltung 
der  planmäßigen  Schuldentilgung  gestattete,  konnte  die 


142 


Kriegsauleihen 


recht  schwierige  und  umstrittene  Frage  der  Kriegssteuern 
für  dieses  Mal  auf  sich  beruhen  bleiben.  Um  so  mehr 
kam  es  darauf  an,  die  Anleihe  zu  einem  vollen  Erfolge 
zu  führen. 

Der  Erfolg  unserer  ersten  Kriegsanleihe  und  ihre  Kurs- 
entwicklung nach  der  Zeichnung  — der  Kurs  stieg  alsbald 
über  den  Ausgabekurs  von  97^/2%  und  erreichte  zeitweise 
100%  — hatten  gezeigt,  daß  die  Anleihebedingungen 
richtig  gegriffen  waren.  Ein  Vergleich  mit  England,  dem 
einzigen  kriegführenden  Staat,  der  außer  uns  schon  im 
Jahre  1914  mit  einer  großen  Anleihe  an  das  Publikum 
herantrat,  mußte  diesen  Eindruck  bestätigen.  Bei  uns 
hatte  man  sich  sofort  entschlossen,  den  Kriegsverhältnissen 
durch  die  Gewährung  einer  5%igen  Verzinsung  Rechnung 
zu  tragen.  England,  das  zwei  Monate  nach  uns,  im  No- 
vember 1914,  eine  Anleihe  im  Betrage  von  350  Millionen 
Pfund  Sterling  auflegte,  gewährte  nur  eine  3V2%ig^ 
zinsung  bei  einem  Ausgabekurs  von  95%.  Die  Anleihe 
wurde  vom  Publikum  nicht  voll  genommen ; die  englischen 
Großbanken  mußten  sich  am  letzten  Zeichnungstage  unter 
dem  sanften  Druck  der  britischen  Regierung  entschließen, 
100  Millionen  für  sich  zu  übernehmen,  um  wenigstens 
den  Anschein  eines  Erfolges  zu  retten.  Der  Kurs  der 
Anleihe  ging  alsbald  unter  den  Ausgabekurs  (95%)  und 
sank  im  Frühjahr  1915  bis  87^/2%  herab.  Der  Mißerfolg 
war  eingetreten,  obwohl  die  Bank  von  England  den  Zeich- 
nern weit  größere  Erleichterungen  gewährte,  als  unsere 


143 


Finanzielle  Kriegführung 


Darlehriskassen.  Die  Bank  von  England  erklärte  sich 
bereit,  die  Kriegsanleihe  sofort  bis  zur  vollen  Höhe  des 
Ausgabekurses  zu  einem  Satz  von  i%  unter  Bankdiskont 
zu  bevorschussen,  während  unsere  Darlehnskassen  Be- 
leihungen nur  bis  zu  75%  und  zu  einem  Satz  von 
über  Bankdiskont  Vornahmen. 

Sowohl  der  eigene  Erfolg  wie  der  britische  Mißerfolg 
konnten  uns  also  nur  bestärken,  an  dem  im  September 
1914  gewählten  Anleihetyp  festzuhalten.  Das  war  auch 
die  Meinung  aller  Sachverständigen  aus  der  Bankwelt, 
den  Sparkassen  und  Genossenschaften,  mit  denen  ich 
mich  alsbald  nach  Übernahme  des  Schatzamtes  in  Ver- 
bindung setzte. 

Notwendig  erschien  aber  eine  weitere  Ausgestaltung  der 
Werbetätigkeit.  Der  Ertrag  der  ersten  Anleihe  von 
4^/2  Milliarden  Mark  mußte,  um  unsere  Kriegsfinanzen  flott- 
zuerhalten, ganz  erheblich  übertroffen  werden.  Dazu  war 
es  erforderlich,  das  deutsche  Volk  in  seiner  Gesamtheit 
für  die  Anleihe  zu  interessieren.  „Es  gilt“  — so  habe  ich 
in  meiner  Antrittsrede  im  Reichstag  ausgeführt  — „dem 
ganzen  Volk  klarzumachen,  daß  dieser  Krieg  mehr  als 
irgendein  anderer  zuvor  nicht  nur  mit  Blut  und  Eisen, 
sondern  auch  mit  Brot  und  Geld  geführt  wird.  Für  diesen 
Krieg  gibt  es  nicht  nur  eine  allgemeine  Wehrpflicht, 
sondern  eine  allgemeine  Sparpflicht  und  eine  allgemeine 
Zahlpflicht.  Der  Verschwender  notwendiger  Lebensmittel 
und  der  Mammonsknecht,  der  sich  nicht  von  seinem 


144 


Gedanke  der  finanziellen  Welirpflicht 


Gelde  trennen  kann,  ist  um  kein  Haar  besser  als  der  Deser- 
teur, der  sich  seiner  Wehrpflicht  entzieht.  Unser  Ruf, 
der  Ruf  der  finanziellen  Kriegsleitung,  geht  an  alle,  an 
Groß  und  Klein,  und  Schande  über  jeden,  der  sich  taub 
stellt 

Der  Gedanke  der  finanziellen  Wehrpflicht  mußte  hundert- 
tausendfältig den  Köpfen  eingehämmert  werden.  Das 
war  durch  einige  Ministerreden  allein  nicht  zu  erreichen, 
auch  wenn  diese  von  dem  Standort  der  größten  Publizität,, 
der  Tribüne  des  Reichstags,  gehalten  wurden.  Es  bedurfte 
vielmehr  einer  weitverzweigten,  wohlgegliederten  und  eng- 
maschigen Organisation  über  das  ganze  deutsche  Land. 
In  dieser  Beziehung  mußten  die  im  September  1914  ge- 
schaffenen Anfänge  ausgebaut  werden. 

Zunächst  wurde  der  Kreis  der  Zeichnungsstellen  erwei- 
tert; neben  den  Banken,  Sparkassen  und  Versicherungs- 
gesellschaften wurden  sämtliche  Kreditgenossenschaften 
und  Postanstalten  als  Zeichnungsstellen  aufgetan.  Dann 
wurde  im  Zusammenwirken  mit  den  Landesregierungen 
die  Aufklärungs-  und  Werbearbeit  organisiert : die  Land- 
räte, die  Gemeindevorsteher,  die  Geistlichen,  die  Lehrer, 
nicht  zum  wenigsten  die  Zeitungen  wurden  für  diese 
Arbeit  mobilgemacht.  Merkblätter,  die  alles  Wissens- 
werte über  die  Kriegsanleihen  enthielten,  wurden  in  Mil- 
lionen von  Exemplaren  verbreitet;  Musterverträge  und 
für  die  Werbearbeit  in  Betracht  kommendes  Material  wurden 
den  örtlichen  Propagandaorganisationen  überwiesen. 


10  Ml  Ifferich,  Weltkrieg  11 


145 


Finanzielle  Kriegführung 


Es  war  für  den  Reichsbankpräsidenten  und  für  mich 
eine  Freude  zu  sehen,  mit  welchem  patriotischen  Eifer 
überall  die  Werbetätigkeit  aufgenommen  wmrde,  und  wie 
sich'  allerorten  freiwillige  Mitarbeiter  zur  Verfügung 
stellten. 

Der  Erfolg  übertraf  alle  Erwartungen. 

Die  zweite  Kriegsanleihe  erbrachte  ein  Ergebnis  von 
9100  Millionen  Mark,  also  mehr  als  den  doppelten  Ertrag 
der  ersten  Kriegsanleihe. 

Die  im  September  1915  ausgegebene  dritte  Kriegs- 
anleihe erzielte  sogar  einen  noch  größeren  Erfolg:  der 
gezeichnete  Betrag  erreichte  die  Summe  von  12  160  Mil- 
lionen Mark. 

Insgesamt  wurden  also  im  Jahre  1915  rund  21  260  Mil- 
lionen Mark  auf  dem  Anleihe  weg  aufgebracht,  während 
die  Kriegskosten  des  Jahres  1915  sich  auf  22  965  Mil- 
lionen beliefen.  Die  Kriegskosten  des  Jahres  1915  wurden 
also  bis  auf  einen  nicht  erheblichen  Bruchteil  durch  den 
Ertrag  der  Anleihen  des  Jahres  1915  gedeckt.  Für  die 
zweite  Hälfte  des  Jahres  1915  war  das  Verhältnis  noch 
günstiger:  die  Kriegsausgaben  stellten  sich  auf  12 091 
Millionen,  der  Ertrag  der  Kriegsanleihe  auf  12  160  Mil- 
lionen. 

Als  die  Zeichnungsfrist  der  dritten  Kriegsanleihe  Ende 
September  1915  ablief,  waren  an  kurzfristigen  Schatz- 
anweisungen begeben  rund  10  Milliarden  Mark.  Der  Er- 
trag der  dritten  Kriegsanleihe  übertraf  diese  Summe  um 


146 


Zweite  bis  vierte  Kriegsanleihe 


rund  2 Milliarden  Mark.  Die  Belastung  des  Reiches  mit 
kurzfristigem  Kredit  war  also  durch  die  dritte  Kriegs- 
anleihe vollständig  abgebürdet. 

Die  vierte  Kriegsanleihe,  die  letzte  in  meiner  Amts- 
zeit als  Reichsschatzsekretär,  zeigte  allerdings  gegenüber 
der  dritten  einen  leichten  Rückgang : sie  ergab  lo  768  Mil- 
lionen Mark,  also  rund  i 400  Millionen  Mark  weniger  als 
die  dritte,  aber  immer  noch  i 668  Millionen  mehr  als  die 
zweite  Kriegsanleihe.  Das  Ergebnis  war  zweifellos  beein- 
trächtigt worden  durch  den  damals  heftige  Formen  an- 
nehmenden Streit  um  den  U-Bootkrieg  und  den  in  die 
Zeichnungsperiode  fallenden  Rücktritt  des  Großadmirals 
von  Tirpitz.  Dem  Ertrag  der  vierten  Kriegsanleihe  stan- 
den gegenüber  die  Kriegsausgaben  des  ersten  Halbjahrs 
1916  mit  rund  ii  750  Millionen  Mark.  Die  Kriegsausgaben 
waren  also  in  diesem  Halbjahr  um  rund  eine  Milliarde 
Mark  höher  als  der  Anleiheertrag.  Als  Ende  März  1916 
die  Zeichnungsfrist  auf  die  vierte  Kriegsanleihe  ablief, 
stellte  sich  der  Betrag  der  vom  Reich  ausgegebenen  kurz- 
fristigen Schatzanweisungen  auf  10  400  Millionen  Mark. 
Das  Zeichnungsergebnis  der  vierten  Kriegsanleihe  mit 
10  768  Millionen  Mark  deckte  also  auch  difeses  Mal  noch 
den  Betrag  der  ausstehenden  Schatzanweisungen. 

Als  ich  am  31.  Mai  1916  das  Schatzamt  verließ,  stellten 
sich  die  Kriegsausgaben  des  Reiches  auf  rund  39780  Mil- 
lionen Mark.  Davon  waren  durch  die  vier  Kriegsanleihen 
gedeckt  rund  36  Milliarden  Mark. 


IO* 


147 


Finanzielle  Kriegführung 


Kein  anderer  kriegführender  Staat  hat  eine  auch  nur 
annähernd  gleich  erfolgreiche  Anleihepohtik  durchzuführen 
vermocht. 

England  sah  sich  nach  dem  ungenügenden  Erfolg  seiner 

ersten  Kriegsanleihe  vom  November  1914  zunächst  zur 

Geldbeschaffung  im  Wege  des  kurzfristigen  Kredits  ge- 

* 

nötigt.  Im  Juni  1915  legte  es  eine  zweite  langfristige 
Anleihe  auf,  dieses  Mal  mit  einer  nominellen  Verzinsung 
von  4^/2%-  Während  man  in  Deutschland  während  des 
ganzen  Krieges  bei  der  von  Anfang  an  gewählten  5%igen 
Verzinsung  bleiben  konnte,  war  England  also  gezwungen, 
bereits  bei  der  zweiten  Kriegsanleihe  einen  um  1%  höheren 
Zinssatz  zu  gewähren  als  bei  der  ersten.  Es  hat  späterhin 
bei  der  dritten  Anleihe  im  Februar  1917  auf  5%  gehen 
und  einen  Emissionskurs  von  95%  anbieten  müssen, 
während  Deutschland  bis  zuletzt  für  seine  gleichfalls 
5%igen  Kriegsanleihen  einen  Ausgabekurs  von  98%  fest- 
halten  konnte.  Die  englische  Kriegsanleihe  vom  Juni 
1915  wurde  dem  Publikum  durch  allerlei  Reizmittel 
schmackhaft  gemacht;  so  vmrde  dem  Publikum  der  Um- 
tausch sowohl  der  ersten  3^/2%igen  Kriegsanleihe  als  auch 
der  2^/2%igen  Konsuls  zu  bestimmten  günstigen  Sätzen 
gegen  die  neue  4^/2%ige  Kriegsanleihe  unter  der  Be- 
dingung der  gleichzeitigen  Barzeichnung  auf  die  neue 
Anleihe  freigestellt;  vor  allem  aber  erhielten  die  Zeichner 
die  Berechtigung,  für  den  später  praktisch  gewordenen 
Fall  der  Ausgabe  einer  höher  verzinslichen  Anleihe  die 


148 


Anleihepolitik  der  Gegner 


4V2%igen  Stücke  ohne  weiteres  gegen  Stücke  der  neuen 
höher  verzinslichen  Anleihe  tauschen  zu  dürfen.  Trotz  aller 
dieser  Reizmittel  erreichte  die  Zeichnung,  abgesehen  von  den 
Tauschstücken,  nicht  ganz  600  Millionen  Pfund  Sterling. 
Um  dieses  Ergebnis  zu  erreichen,  mußten  die  Banken 
200  Millionen  übernehmen.  Der  Kurs  der  neuen  Anleihe 
ging  alsbald  um  einige  Prozent  unter  den  Ausgabekurs 
zurück.  Der  Markt  war  durch  die  verfehlte  Operation 
derartig  gestört  und  das  Schatzamt  war  durch  das  für 
die  Zukunft  zugestandene  Konversionsrecht  derartig  be- 
hindert, daß  bis  zum  Februar  1917  eine  neue  Anleihe- 
operation überhaupt  nicht  zustande  kam.  Ende  Mai  1916 
hatte  Deutschland  36  Milliarden  Mark,  England  nur 
19  Milliarden  Mark  durch  die  Begebung  langfristiger  An- 
leihen aufgebracht.  Und  obwohl  England,  im  Gegensatz 
zu  Deutschland,  damals  schon  die  Steuerschraube  stark 
angezogen  hatte,  stellten  sich  seine  kurzfristigen  Verbind- 
lichkeiten auf  nicht  viel  weniger  als  20  Milliarden  Mark, 
während  die  unsrigen  nur  zwischen  4 und  5 Milliarden 
betrugen. 

Frankreich  kam  erst  im  November  1916  mit  einer 
Anleihe  heraus.  Sie  war  mit  einer  5%igen  Verzinsung  aus- 
gestattet und  wurde  zum  Kurs  von  88%  begeben.  Ihr 
Ergebnis  belief  sich,  abgesehen  von  dem  auch  hier  als 
Lockmittel  zugelassenen  Umtausch  älterer  niedriger  ver- 
zinslicher Anleihen,  auf  rund  13,7  Milliarden  Franken,  also 
um  etwa  auf  12  Milliarden  Mark.  Man  kann  annehmen. 


149 


Finanzielle  Kriegführung 


daß  Frankreich  um  die  Mitte  des  Jahres  1916  etwa  zwei 
Drittel  seiner  Kriegskosten  durch  Inanspruchnahme  kurz- 
fristiger Kredite  und  Darlehen  seiner  Zentralbank  hatte 
decken  müssen. 

Dabei  waren  sowohl  England  als  auch  Frankreich  in 
einem  Punkte  wesentlich  günstiger  gestellt  als  wir:  es 
stand  ihnen  die  finanzielle  Unterstützung  der  Vereinigten 
Staaten  von  allem  Anfang  an  in  wesentlich  größerem 
Umfang  zur  Verfügung  als  uns.  Die  Sympathien  der 
amerikanischen  Finanzwelt  und  des  Publikums  waren 
ganz  vorwiegend  auf  der  Seite  der  Westmächte.  Während 
England  und  Frankreich  ohne  jede  Schwierigkeit  die 
gewäinschten  Kredite  erhalten  und  im  Herbst  1915 
sogar  eine  gemeinschaftliche  Anleihe  von  500  Millionen 
Dollar  mit  einem  amerikanischen  Finanzkonsortium  ab- 
schließen konnten,  hatten  wir  die  größten  Schwierigkeiten, 
auch  nur  die  bescheidensten  Beträge  in  Amerika  auf- 
zubringen. Gleich  nach  Beginn  des  Kriegs  hatte  die 
Reichsleitung  den  früheren  Staatssekretär  des  Reichs- 
kolonialamts, Herrn  Dernburg,  nach  Amerika  geschickt, 
in  der  Hoffnung,  durch  seine  Vermittlung  in  Amerika 
Geldquellen  erschließen  zu  können.  Aber  auch  seinen 
Bemühungen  gelang  es  nicht,  etwas  Nennenswertes  zu 
erreichen.  Bald  nach  meiner  Übernahme  des  Reichs- 
schatzamtes gelang  es  allerdings,  durch  ein  Bankhaus 
zweiten  Ranges  Schatzscheine  wenigstens  in  dem  be- 
scheidenen Betrag  von  10  Millionen  Dollar  unterzubringen. 


Amerikanische  Geldhilfe 


Aber  bald  mußte  der  größte  Teil  davon  wieder  zurück- 
gekauft werden,  um  eine  für  unsern  Kredit  bedenkliche 
Entwertung  zu  verhindern. 

Es  ist  später  gegen  unsere  Kriegsfinanzpolitik  mitunter 
der  Vorwurf  erhoben  worden,  sie  habe  versäumt,  Amerika 
rechtzeitig  finanziell  für  uns  zu  interessieren,  und  es  so 
geschehen  lassen,  daß  die  Vereinigten  Staaten  ein  ein- 
seitiges Interesse  an  unsern  Feinden  genommen  hätten. 
Der  Vorwurf  beruht  auf  einer  Verkennung  der  wahren 
Sachlage.  Als  im  März  1916  ein  Abgeordneter  im  Haupt- 
ausschuß des  Reichstags  mich  beglückwünschte,  daß  ich 
den  Geldbedarf  für  den  Krieg  im  Inland  decken  könne 
und  nicht,  wie  die  Engländerund  Franzosen,  nach  Amerika 
gehen  müsse,  da  antwortete  ich,  daß  der  Redner  meine 
tugendhafte  Enthaltsamkeit  überschätze,  und  daß  ich  gern 
von  Amerika  Geld  nehmen  würde,  wenn  ich  es  nur  be- 
kommen könnte.  Die  Amerikaner  haben  im  weiteren 
Verlauf  des  Weltkriegs  nicht  etwa  deshalb  für  die  Entente 
Partei  genommen,  weil  sie  dieser  Geld  gegeben  hatten 
und  uns  nicht,  sie  hatten  vielmehr  der  Entente  Geld 
gegeben  und  nicht  uns,  weil  sie  von  Anfang  an  in  diesem 
Völkerringen  mit  ihren  ganz  überwiegenden  Sympathien 
auf  der  Seite  der  Westmächte  standen. 

Trotzdem  wir  so  viel  stärker  auf  die  eigne  Kraft  an- 
gewiesen waren  als  unsre  Feinde,  gelang  es  uns,  mit 
unsrer  Anleihepolitik  den  geschilderten  Vorsprung  zu 
gewinnen. 


Finanzielle  Kriegführung 


Aber  auch  bei  uns  in  Deutschland  hat  sich  die  günstige 
Situation,  die  bei  meinem  Ausscheiden  aus  dem  Schatz- 
amt noch  bestand,  späterhin  stark  verändert.  Unter  der 
Einwirkung  der  seit  dem  Herbst  1916  ins  Ungemessene 
wachsenden  Kriegsausgaben  hat  sich,  trotzdem  jetzt  das 
Erträgnis  der  Kriegssteuern  hinzutrat,  das  günstige  Ver- 
hältnis zwischen  Kriegsausgaben  und  Anleihedeckung 
nicht  aufrechterhalten  lassen ; die  Reichsfinanzverwaltung 
hat  sich  vielmehr  von  Halbjahr  zu  Halbjahr  immer  weiter 
auf  den  bedenklichen  Weg  des  kurzfristigen  Kredits  und 
der  Inanspruchnahme  der  Reichsbank  abgedrängt  ge- 
sehen. Die  Kriegsausgaben,  die  noch  im  August  1916 
rund  I 980  Millionen  betragen  hatten,  überschritten  im 
Oktober  1916  erstmals  die  Summe  von  3 Milliarden.  Seit 
April  1917  sind  sie  niemals  wieder  unter  3 Milliarden  im 
Monat  hinabgegangen,  im  Oktober  1917  überschritten  sie 
den  Betrag  von  4 Milliarden  und  haben  sich  seit  jener 
Zeit  mit  einer  Tendenz  zur  weiteren  Steigerung  fast 
ständig  über  dem  Monatsbetrag  von  4 Milliarden  bewegt. 
Im  Oktober  1918  wurde  die  ungeheure  Summe  von  4,8  Mil- 
liarden Mark  erreicht.  Einem  Gesamtaufwand  für  den 
Krieg  von  23  Milliarden  Mark  im  Jahre  1915  steht  ein 
solcher  von  mehr  als  50  Milliarden  im  Jahre  1918  gegenüber. 

Mit  diesem  gewaltigen  Anwachsen  der  Kriegsausgaben 
hielt  die  Steigerung  des  Ergebnisses  der  Kriegsanleihen 
nicht  Schritt.  Den  höchsten  Ertrag  hat  die  achte  Kriegs- 
anleihe vom  März  1918  mit  15  Milliarden  Mark  erbracht ; 


152 


Anwachsen  der  Kriegsausgaben 


aber  die  durch  diese  Anleihe  zu  deckende  Halbjahres- 
ausgabe stellte  sich  auf  wesentlich  mehr  als  20  Milliarden 
Mark.  Der  Erlös  dieser  Anleihe  ließ  einen  Betrag 
von  24  Milliarden  kurzfristiger  Schatzanweisungen  unge- 
deckt, während  zwei  Jahre  zuvor  die  vierte  Kriegsanleihe 
die  damals  begebenen  Schatzanweisungen  noch  restlos 
abgedeckt  hatte.  Jetzt  hat  sich,  nach  den  Mitteilungen 
der  Reichsfinanzminister  Schiffer  und  Dernburg  in  der 
Nationalversammlung,  der  Betrag  der  ausgegebenen  Reichs- 
schatzanweisungen und  Reichswechsel  auf  den  unge- 
heuren Betrag  von  weit  mehr  als  60  Milliarden  Mark 
erhöht ! 

Vom  Herbst  1916  an  ist  also  die  Deckung  unserer 
Kriegsausgaben  auf  die  schiefe  Ebene  geraten  und  mit 
wachsender  Beschleunigung  abwärts  gerollt. 


Kriegsstcuern 

Diese  im  Herbst  1916  einsetzende  bedenkliche  Entwick- 
lung unserer  Kriegsfinanzwirtschaft  legt  die  Frage  doppelt 
nahe,  ob  nicht  früher  und  in  stärkerem  Maße,  als  es 
geschehen  ist,  neue  Steuern  zur  Deckung  der  Kriegsaus- 
gaben hätten  herangezogen  werden  sollen. 

Heute,  wo  wir  alle  vom  Rathaus  kommen,  wird  diese 
Frage  im  Brustton  der  Überzeugung  bejaht  von  Leuten, 
die  im  Rathause  selbst  noch  ganz  anderer  Meinung 


153 


Finanzielle  Kriegführung 


gewesen  sind.  Und  diese  Treppenklugheit  erfreut  sich  des 
allgemeinen  Beifalls. 

Steuern  als  Mittel  zur  Deckung  des  Kriegsbedarfs  haben 
mit  der  Aufbringung  durch  die  Ausgabe  langfristiger  An- 
leihen den  Vorteil  gemeinsam,  daß  sie  lediglich  bereits  vor- 
handene Kaufkraft  aus  den  Händen  Privater  in  die  Hände 
des  Staates  legen,  daß  also  die  Volkswirtschaft  sich  nicht 
den  Gefahren  der  Überflutung  mit  neuen  Zahlungsmitteln 
aussetzt;  daß  ferner  der  Staat  vor  dem  Damoklesschwert 
der  kurzfristigen  Verbindlichkeiten  gewaltigen  Umfangs 
bewahrt  bleibt.  Vor  dem  Anleihe  weg  hat  der  Steuerweg  den 
Vorteil  voraus,  daß  er  die  endgültige  Lösung  der  Deckungs- 
frage darstellt,  während  die  Anleihe  die  Deckungsfrage 
für  Zinsen  und  Tilgung  auf  die  Zukunft  schiebt.  Aber  wenn 
es  schon  in  normalen  Zeiten  ein  anerkannter  Grundsatz 
der  staatlichen  Finanzwirtschaft  ist,  daß  neben  der  Steuer 
auch  die  Anleihe,  also  das  Verschieben  der  Belastung  auf 
die  Zukunft,  ihre  Berechtigung  hat,  so  kann  im  Kriege 
der  Vorzug  der  endgültigen  Deckung  erst  recht  nicht  ohne 
weiteres  zugunsten  der  Steuern  den  Ausschlag  geben.  In 
der  Tat  hat  kein  kriegführendes  Land  auf  dem  Steuerweg 
allein  seinen  Kriegsbedarf  aufgebracht  oder  auch  nur  einen 
erheblichen  Teil  seiner  Kriegsausgaben  gedeckt.  Auch 
England  nicht.  Die'' britischen  Minister  haben  sich  zwar 
zu  Anfang  des  Krieges  auf  die  gute  alte  Tradition  be- 
rufen, die' Gelder  für  den  Krieg  soweit  wie  möglich  durch 
Steuern  zu  beschaffen,  was  sogar  in  den  langen  und 


154 


Anleihen  und  Kriegssteuern 


kostspieligen  napoleonischen  Kriegen  bis  zu  45  % der 
gesamten  Kriegskosten  gelungen  war.  Der  Weltkrieg  hat 
aber  so  enorme  finanzielle  Ansprüche  gestellt,  daß  auch 
England,  so  stark  es  die  Steuerschraube  anzog,  nur  einen 
sehr  bescheidenen  Bruchteil  der  Kriegskosten  durch  Kriegs- 
steuern zu  decken  vermochte.  Bis  zum  Ablauf  des  Finanz- 
jahres 1917/18  stellten  sich  die  englischen  Kriegskosten 
(ohne  die  bei  uns  in  Deutschland  auf  den  ordentlichen  Etat 
genommenen  und  durch  laufende  Einnahmen  gedeckten 
Zinsen  der  Kriegsanleihen)  auf  rund  120  Millionen  Mark, 
die  steuerliche  Deckung  auf  rund  15  Milliarden  Mark* 
gleich  I2V2%  deckenden  Kriegsausgaben.  Dabei 

kamen  von  den  15  Milliarden  Mark  rund  7^/3  Milliarden 
Mark,  also  die  Hälfte,  auf  die  Kriegsgewinnsteuer. 

Das  Beispiel  Englands  zeigt  also,  wie  bescheiden  an- 
gesichts der  enormen  Kosten  des  Weltkrieges  das  Ziel  bei 
einer  Finanzierung  eines  Teiles  der  Kriegskosten  durch 
Steuern  gesteckt  werden  mußte. 

Dabei  lagen  bei  uns  in  Deutschland  die  Verhältnisse  für 
die  Ausschreibung  von  Kriegssteuern  ungleich  ungünstiger 
als  in  England. 

Schon  die  bundesstaatliche  Verfassung  des  Reiches  be- 
deutete eine  empfindliche  Einschränkung  der  Bewegungs- 
freiheit der  Reichsfinanzverwaltung.  Die  Bundesstaaten 
beanspruchten  das  Gebiet  der  direkten  Steuern  als  ihre 
Domäne  und  setzten  einem  Hinübergreifen  des  Reiches 

♦ Siehe  Prion,  Steuer-  und  Anleihepolitik  Englands  während  des  Krieges,  S.  24. 


155 


Finanzielle  Kriegführung 


auf  dieses  Gebiet  starken  Widerstand  entgegen ; nicht  etwa 
nur  die  einzelstaatlichen  Regierungen,  sondern  auch  die 
einzelstaatlichen  Landtage.  Demgegenüber  gab  es  wohl 
Druckmittel,  aber  keine  Zwangsmittel.  Auch  die  Druck- 
mittel waren  nur  beschränkt  anwendbar;  denn  über  die 
Tatsache  war  nicht  hinwegzukommen,  daß  die  Einzel- 
staaten und  neben  ihnen  die  Kommunen  und  Kommunal- 
verbände für  die  Deckung  ihres  im  Kriege  gleichfalls  an- 
wa-chsenden  Geldbedarfs  sich  in  der  Hauptsache  auf  die 
direkten  Steuern  angewiesen  sahen.  Auf  der  andern  Seite 
hatte  die  Erfahrnng  gezeigt,  daß  im  Reichstag  indirekte 
Steuern  nur  in  Verbindung  mit  Reichssteuern  auf  Besitz 
und  Einkommen  Aussicht  auf  Annahme  hätten.  Dazu  kam 
der  doktrinäre  Standpunkt  der  Sozialdemokratie,  die  in- 
direkte Steuern  grundsätzlich  ablehnte.  Da  ohne  eine 
starke  Heranziehung  indirekter  Steuern  auf  Verbrauch  und 
Verkehr  ein  praktisch  durchführbares  Steuerprogramm 
überhaupt  nicht  denkbar  war  — auch  England  hat  im 
Krieg  seine  Verbrauchs-  und  Verkehrssteuern  stark  er- 
höht — , so  drohte  also  von  einem  Versuch  mit  Kriegssteuern 
eine  Gefährdung  des  seit  dem  4.  August  1914  behüteten 
,, Burgfriedens“.  Schließlich  war  zu  berücksichtigen,  daß  die 
Abschnürung  Deutschlands  von  der  Außenwelt  uns  eine 
Reihe  ergiebiger  Steuerquellen  verschlossen  hatte,  die  Eng- 
land nach  wie  vor  zur  Verfügung  standen.  England  konnte 
den  Einfuhrzoll  auf  Kaffee,  Tee  und  Kakao  mit  guter 
Wirkung  erhöhen;  bei  uns  gab  es  an  diesen  Genußmitteln 


156 


Vergleich  mit  England 


keine  nennenswerte  Einfuhr  mehr.  England  konnte  Bier 
und  Branntwein  mit  großen  Summen  heranziehen;  wir 
mußten  die  Herstellung  von  Trinkbranntwein  verbieten 
und  die  Bierbrauerei  auf  das  Äußerste  einschränken.  Der 
Spielraum  für  die  als  Domäne  des  Reiches  anerkannte  in- 
direkte Besteuerung  war  also  durch  den  Krieg  selbst  auf 
das  Empfindlichste  eingeschränkt.  Darüber  hinaus  war 
dem  deutschen  Volk  durch  den  britischen  Wirtschafts- 
und  Hungerkrieg  eine  so  ungleich  größere  Belastung  seines 
Lebens  und  seiner  Wirtschaft  auferlegt  als  unsern  Fein- 
den, denen  außer  den  eigenen  Hilfsquellen  die  finanzielle 
und  wirtschaftliche  Unterstützung  der  überseeischen  Welt, 
namentlich  Amerikas,  zur  Verfügung  stand,  daß  sich  die 
Frage  von  selbst  aufwarf:  Ist  es  zu  verantworten,  und  wie 
weit  ist  es  zu  verantworten,  dem  deutschen  Volk  während 
des  Krieges  selbst  im  Steuerwege  Lasten  aufzubürden,  die 
es  voraussichtlich  erheblich  leichter  nach  Wiederherstel- 
lung des  Friedens  würde  bewältigen  können? 

Aber  so  groß  diese  Bedenken  und  Schwierigkeiten  auch 
waren,  ein  unübersteigliches  Hindernis  für  jedes  Anziehen 
der  Steuerschraube  während  des  Krieges  durften  sie  nicht 
bilden.  Es  war  bei  längerer  Dauer  des  Krieges  mit  Zwangs- 
momenten zu  rechnen,  die  kaum  eine  andere  Wahl  lassen 
würden,  als  neben  den  Anleihen  auch  die  Steuern  in  An- 
spruch zu  nehmen.  Eines  dieser  Zwangsmomente  war  in 
verhältnismäßig  naher  Zeit  mit  Sicherheit  zu  erwarten: 
die  Notwendigkeit,  den  ordentlichen  Etat,  dessen  Belastung 

L57 


Finanzielle  Kriegführung 


durch  die  Zinsen  der  Kriegsanleihen  stark  zunehmen  mußte, 
im  Gleichgewicht  zu  halten.  Wenn  man  will,  ein  formaler' 
Gesichtspunkt,  wie  überhaupt  die  Ordnung  etwas  Formales 
ist.  Aber  dieser  formale  Gesichtspunkt  gab  wenigstens  einen 
bestimmten  Anhalt,  während  die  Frage,  welcher  Prozent- 
satz der  eigentlichen  Kriegsausgaben  durch  Steuern  ge- 
deckt werden  sollte,  nur  durch  einen  ganz  willkürlichen 
Griff  hätte  entschieden  werden  können.  Außerdem  konnte 
von  der  steuerlichen  Deckung  der  Anleihezinsen  noch  wäh- 
rend des  Krieges,  die  als  ein  lösbares  Problem  sich  darstellte, 
ein  immerhin  recht  wertvolles  Zehrgeld  für  die  Übergangs- 
zeit bis  zur  endgültigen  Neuordnung  der  Reichsfinanzen 
erwartet  werden,  ein  Zehrgeld,  das  um  so  nötiger  erscheinen 
mußte,  als  für  die  Friedenszeit  mit  erheblich  größeren 
Schwierigkeiten  hi  der  Aufnahme  von  Anleihen  zu 
rechnen  war  als  während  des  Krieges.  Der  Krieg  be- 
deutete für  zahlreiche  Unternehmungen  den  Ausverkauf 
ihrer  Bestände,  ohne  daß  Neuanschaffungen  möglich 
waren.  Das  für  Neuanschaffungen  nicht  verwendbare  Geld 
stand  für  die  Kriegsanleihen  zur  Verfügung.  Nach  dem 
Friedensschluß  mußte  sich  diese  Sachlage  ändern;  die 
Unternehmungen  würden  — das  war  zu  erwarten  — flüssige 
Mittel  brauchen,  um  ihre  geleerten  Bestände  an  Rohstoffen, 
Halbfabrikaten,  Fertigwaren  usw.  wieder  aufzufüllen, 
ihren  technischen  und  maschinellen  Apparat  zu  erneuern 
und  zu  ergänzen.  Mit  der  Fortsetzung  des  Kreislaufs, 
in  dem  der  größere  Teil  des  als  Kriegsausgabe  vom  Reich 


Zwangsmomente  für  Kriegssteuern 


hinausgegebenen  Geldes  als  Einzahlung  auf  Anleihen  an 
das  Reich  wieder  zurückfloß,  v/ar  also  nicht  zu  rechnen. 
Auch  konnte  niemand  erwarten,  daß  nach  Friedensschluß  die 
Anleihezeichnung  in  demselben  Maße  noch  als  patriotische 
Pflicht  aufgefaßt  werden  würde  wie  während  des  Krieges. 
Um  so  wichtiger  und  unerläßlicher  war  es,  rechtzeitig  dafür 
zu  sorgen,  daß  für  die  Übergangszeit  bereits  Neueinnahmen 
ausreichenden  Umfanges  zur  Verfügung  stehen  würden. 

Das  zweite  Zwangsmoment,  das  während  meiner  Ver- 
waltung des  Schatzamts  praktisch  noch  nicht  in  Erschei- 
nung trat,  sich  aber  später  in  bedenklichem  Umfang  ein- 
stellte, war  die  volkswirtschaftliche  Notwendigkeit,  einer 
,, Inflation''  und  ihren  verhängnisvollen  Begleiterscheinun- 
gen entgegenzu wirken.  Solange  die  Anleihebegebung  die 
Kriegskosten  annähernd  deckte,  lag  keine  Gefahr  vor. 
Wenn  aber,  was  vom  Herbst  1916  an  in  steigendem  Maße 
der  Fall  war,  der  Ertrag  der  Anleihen  hinter  den  Kriegs- 
ausgaben zurückblieb,  so  entstand  ein  Vakuum,  das  nur 
durch  Schaffung  neuer  Zahlungsmittel  seitens  des  Staates, 
also  um  den  Preis  der  Inflation,  ausgefüllt  werden  konnte 
— oder  durch  ein  starkes  Anziehen  der  Steuerschraube. 
Zum  mindesten  lag  dann  angesichts  der  zersetzenden  und 
verheerenden  Wirkungen  der  Inflation  die  Notwendigkeit 
vor,  durch  das  Mittel  der  Besteuerung  nach  Möglichkeit 
entgegenzuarbeiten . 

Nach  diesen  Erwägungen  habe  ich  während  meiner  Amts- 
zeit als  Schatzsekretär  die  Finanzpolitik  geführt. 


159 


Finanzielle  Kriegführung 


Als  ich  den  Haushaltsplan  für  1915/16  beim  Reichstag 
einbrachte,  mußte  ich  von  Kriegssteuern  absehen,  da, 
als  ich  wenige  Wochen  zuvor  das  Amt  übernahm,  nichts 
in  dieser  Richtung  vorbereitet  war ; ich  konnte  von  Kriegs- 
steuern absehen,  da  noch  keines  der  geschilderten  Zwangs- 
momente vorlag.  Ich  habe  späterhin  häufig  den  Vorwurf 
gehört,  ich  hätte  mich  damals  grundsätzlich  gegen  die  Er- 
hebung von  Kriegssteuern  ausgesprochen.  Das  ist  ein  Irr- 
tum, der  auch  durch  öfteres  Wiederholen  nicht  zur  Wahrheit 
geworden  ist.  Ich  habe  in  meiner  Etatsrede  vom  10.  März 
1915  ausdrücklich  darauf  hingewiesen,  daß  der  Voranschlag 
für  das  kommende  Rechnungsjahr  ohne  Kriegssteuern 
balanciere,  obwohl  nicht  nur  die  Verzinsung  der  bis  dahin 
aufgelaufenen  Kriegsschulden  auf  den  ordentlichen  Etat 
übernommen,  sondern  auch  die  planmäßige  Tilgung  der 
alten  Reichsschuld  aufrechterhalten  worden  war.  Ich  habe 
hinzugefügt : 

,,Der  zwingende  Anlaß,  aus  Gründen  der  rechnungs- 
mäßigen Balancierung  des  ordentlichen  Etats  zu  neuen 
Steuern  zu  greifen,  liegt  also  für  uns  nicht  vor,  j eden falls 
zur  Zeit  noch  nicht.  Unter  diesen  Umständen  haben 
die  verbündeten  Regierungen  geglaubt,  zur  Zeit  von 
der  Einbringung  von  Kriegssteuern  Abstand  nehmen  zu 
können.“ 

In  den  folgenden  Monaten  ließ  ich  in  meinem  Amt  die  in 
Betracht  kommenden  Kriegssteuern  durcharbeiten.  Für 
den  IO.  Juli  1915  hatte  ich  die  bundesstaatlichen  Finanz- 

160 


Kriegssteuervorlagen 


Minister  zu  einer  Besprechung  der  finanziellen  Lage  ein- 
geladen. Ich  stellte  auf  dieser  Versammlung  auch  die  Frage 
der  Kriegssteuern  zur  Erörterung.  Die  Finanzminister 
kamen  in  eingehender  Aussprache  zu  einem  Einverständnis 
darüber,  daß  dem  Reichstag  auch  in  der  für  den  lo.  August 
in  Aussicht  genommenen  Tagung  Kriegssteuern  nicht  vor- 
geschlagen werden  sollten.  Ich  erklärte  damals  ausdrück- 
lich, daß  ich  den  Verzicht  auf  Kriegssteuern,  der  mir  per- 
sönlich nicht  leicht  v/erde,  nur  dann  würde  durchhalten 
können,  wenn  nicht  ein  weiterer  Winterfeldzug  nötig  werde. 

Diesem  Standpunkt  getreu  habe  ich  im  Winter  1915/16 
den  Bundesrat  und  den  Reichstag  mit  einer  Anzahl  von 
Steuervorlagen  befaßt.  Die  zwingende  Notwendigkeit 
lag  jetzt  vor;  denn  trotz  der  Übernahme  der  gesamten 
laufenden  Ausgaben  für  Heer  und  Flotte  auf  den  Kriegs- 
fonds zeigte  der  ordentliche  Etat  einen  rechnungs- 
mäßigen Fehlbetrag  von  480  Millionen  Mark,  dessen  starke 
Erhöhung  im  wirklichen  Ergebnis  mit  Sicherheit  zu  er- 
warten war. 

Meine  Vorschläge  umfaßten: 

1.  Eine  Kriegsgewinnsteuer. 

2.  Eine  Anzahl  von  Verbrauchs-  und  Verkehrssteuern, 
nämlich  eine  Erhöhung  der  Tabakabgaben,  einen  Quittungs- 
stempel, einen  Frachturkundenstempel  und  Zuschläge  zu 
den  Post-  und  Telegraphengebühren. 

Die  Einbringung  des  Kriegsgewinnsteuergesetzes  ent- 
sprach den  Wünschen  aller  Parteien.  Dagegen  stieß  jeder 


II  Helfferich,  Weltkrieg  II 


161 


Finanzielle  Kriegführung 


weitere  Schritt  auf  erhebliche  Schwierigkeiten.  Schon 
innerhalb  des  Kreises  der  Reichsleitung  hatte  ich  es  nicht 
leicht.  Namentlich  die  Postzuschläge  fanden  bei  dem  Staats- 
sekretär des  Reichspostamts  den  stärksten  Widerspruch, 
der  schließlich  nur  durch  eine  Entscheidung  des  Reichs- 
kanzlers überwunden  werden  konnte.  Die  Parteien  des 
Reichstags  zeigten  sich  kühl  oder  feindlich.  Der  Führer 
der  Nationalliberalen,  Herr  Bassermann,  machte  mir  die 
eindringlichsten  Vorstellungen,  ich  solle  darauf  verzichten, 
den  Burgfrieden  der  Parteien  auf  eine  Probe  zu  stellen,  der 
er  nicht  gewachsen  sei.  Der  Reichstag  werde  unter  Um- 
ständen genötigt  sein,  über  meine  Vorlagen  einfach  zur 
Tagesordnung  überzugehen.  Ich  hielt  Herrn  Bassermann 
entgegen,  daß  ein  Burgfrieden,  der  nur  um  den  Preis  des 
Verzichts  auf  zwingende  sachliche  Notwendigkeiten  auf- 
rechterhalten werden  könne,  ein  fauler  Friede  sei,  der 
mehr  schade  als  nütze ; ich  sei  entschlossen,  meine  Steuer- 
vorlagen einzubringen  und  mit  ihnen,  bei  aller  Geneigtheit, 
über  Einzelheiten  mit  mir  reden  zu  lassen,  zu  stehen  und 
zu  fallen.  — Noch  unmittelbar  vor  Torschluß  kam  der 
Zentrumsführer  Dr.  Spahn  aus  einer  Sitzung  seiner  Frak- 
tion zu  mir,  um  mir  gleichfalls  dringend  nahezulegen,  die 
Steuervorlagen  zurückzuziehen.  Auf  meine  kategorische 
Ablehnung  richtete  er  an  mich  die  Frage:  „Sind  Sie  wenig- 
stens der  Deckung  durch  den  Kanzler  sicher?“  Ich  ant- 
wortete: ,, Seiner  Zustimmung  unbedingt.“  Herr  Spahn 
schüttelte  bedenklich  den  Kopf  und  erzählte  dann,  in 


162 


Kriegssteuervorlagen 


der  Fraktionssitzung  habe  ein  Abgeordneter  berichtet,  er 
habe  an  einer  Sitzung  beim  Reichskanzler  teilgenommen, 
in  der  die  Frage  der  Kriegssteuern  besprochen  worden  sei; 
der  Kanzler  habe  schließlich  anerkannt,  daß  die  Gefährdung 
des  Burgfriedens  durch  die  neuen  Steuern  vermieden 
werden  müsse.  Ich  antwortete:  ,,Der  Abgeordnete  heißt 
natürlich  Erzberger,  und  die  Sache  ist  Unsinn.  Ich  werde 
aber  zu  Ihrer  Beruhigung  den  Sachverhalt  sofort  beim 
Reichskanzler  selbst  fest  stellen.''  Herr  von  Bethmann 
war  über  den  Bericht  des  Herrn  Erzberger  empört.  Herr 
Erzberger  hatte  ihn  am  Vormittag  besucht  und  dabei  auch 
die  burgfriedlichen  Bedenken  gegen  die  Kriegssteuern 
vorgebracht.  Herr  von  Bethmann  hatte  ihm  geantwortet, 
das  sei  alles  überlegt  worden,  und  nach  reiflicher  Prüfung 
habe  man  sich  zur  Einbringung  der  Vorlagen  entschlossen; 
dabei  müsse  es  bleiben. 

Und  es  blieb  dabei. 

Aber  es  wurde  eine  schwere  Geburt. 

Presse  und  Parlament  zausten  in  der  grausamsten  Weise 
an  meinem  Steuerbukett  herum.  Die  ^ einen  erklärten 
Kriegssteuern  für  überflüssig  und  schädlich,  den  andern  war 
ich  zu  schüchtern.  Die  Sozialdemokraten  riefen  nach  wei- 
teren direkten  Steuern,  insbesondere  nach  einer  Erneuerung 
des  Wehrbeitrags  und  nach  einer  Reichserbschaftssteuer, 
und  lehnten  die  Verbrauchs-  und  Verkehrssteuern  trotz 
Krieg  und  Kriegsnot  nach  altem  Friedensbrauch  grund- 
sätzlich ab.  Alle  fanden,  meine  Steuern  seien  Stück-  und 


I* 


163 


Finanzielle  Kriegführung 


Flickwerk;  und  damit  hatten  sie  recht.  Unrecht  hatten 
sie  nur,  wenn  sie  von  mir  in  diesem 'Stadium  des  Krieges 
ein  „organisches  Ganzes''  und  eine  „großzügige  einheit- 
liche Reichsfinanzreform"  verlangten.  Es  wäre  Vermessen- 
heit gewesen,  im  zweiten  Kriegs]  ahr  eine  durchgrei- 
fende und  endgültige  Neuordnung  der  deutschen  Finanzen 
schaffen  zu  wollen.  Auch  mein  Nachfolger  hat  in  seinen 
Steuervorlagen  von  1917  und  1918  sich  damit  begnügen 
müssen,  zu  Notbehelfen  zu  greifen  und  die  endgültige 
Neuordnung  der  Reichsfinanzen  der  Friedenszeit  zu  über- 
lassen. 

Die  Verbrauchs-  und  Verkehrssteuem  wurden  mit 
Änderungen,  wie  sie  nun  einmal  der  Reichstag  seiner 
Würde  schuldig  zu  sein  glaubte,  im  großen  Ganzen  ange- 
nommen. Die  Änderungen,  die  der  Reichstag  an  meinen 
Sätzen  für  die  Postgebühren  vomahm,  hat  er  zwei  Jahre 
später  zum  großen  Teil  wieder  nach  rückwärts  korrigiert. 
Die  Vorlage  über  den  Quittungsstempel  erfuhr  eine  gänz- 
hche  Umgestaltung:  der  Quittungsstempel  wurde  zu 
meiner  Freude  durch  den  Umsatzstempel  ersetzt.  Ich 
hatte  im  Schatzamt  den  Entwurf  eines  Umsatzstempel- 
gesetzes in  allen  Einzelheiten  ausarbeiten  lassen,  da 
ich  den  Umsatzstempel  für  eine  sehr  entwicklungsfähige 
Steuer  hielt,  und  weü  ich  in  ihm  eine  wichtige  Er- 
gänzung unseres  Steuersystems  erblickte.  Ich  habe 
darüber  bei  der  zweiten  Lesung  der  Steuervorlagen 
ausgeführt : 


164 


Kriegssteu  er  Vorlagen 


„Das  Einkommen  wird  von  den  Einzelstaaten  und 
Kommunen  bei  seinem  Entstehen  an  seiner  Wurzel  als 
Einkommen  gefaßt.  Die  Besteuerung  und  Verwendung 
des  Einkommens  liegt  nun  in  der  Weise  beim  Reich,  daß 
derjenige  Teil,  der  verbraucht  wird,  unter  den  Umsatz- 
stempel fällt,  und  zwar  proportional  zum  Verbrauch, 
und  derjenige,  der  nicht  verbraucht  wird,  also  einen  Ver- 
mögenszuwachs bildet,  unter  die  Vermögenszuwachs- 
steuer fällt.“ 

Wenn  ich  die  Umsatzstempelvorlage  nicht  von  vornherein 
einbrachte,  so  war  für  mich  in  erster  Linie  bestimmend  die 
Befürchtung,  daß  diese  Neuerung  als  allzu  kühn  abgelehnt 
werden  würde.  Den  bereits  dreimal  vom  Reichstag  ab- 
gelehnten Quittungsstempel  schlug  ich  vor,  weil  ich  der 
Ablehnung  so  gut  wie  sicher  war  und  dann  wenigstens 
die  Aussicht  hatte,  daß  man  mir  aus  dem  Reichstag  heraus 
als  Ersatz  die  Umsatzsteuer  präsentieren  könnte. 

So  geschah’s. 

Der  Abgeordnete  Müller-Fulda  erwies  mir,  ohne  es  selbst 
zu  ahnen,  den  von  mir  erwarteten  Gefallen. 

Am  schlimmsten  verunstaltet  wurde  das  Kriegsgewinn- 
steuergesetz. 

Die  Verteilung  der  Steuergebiete  zwischen  Reich  und 
Einzelstaaten  legte  es  nahe,  die  Kriegsgewinnsteuer  als 
eine  Steuer  von  dem  während  des  Krieges  eingetretenen 
Vermögenszuwachs  zu  konstruieren.  Den  Nachteil,  daß 
bei  dieser  Konstruktion  der  Sparsame  getroffen  und  der 


Finanzielle  Kriegführung 


Verschwender  gewissermaßen  belohnt  wird,  wollte  ich 
dadurch  wenigstens  einigermaßen  ausgleichen,  daß  ich 
für  die  Bemessung  des  Steuersatzes  den  Grad  der  Ein- 
kommensteigerung während  des  Krieges  mitbestimmend 
sein  Heß.  Es  war  nicht  ganz  einfach  gewesen,  die  Bundes- 
regierungen, die  jede  Heranziehung  der  Einkommen  durch 
das  Reich  als  einen  Einbruch  in  ihre  steuerliche  Domäne 
anzusehen  geneigt  waren,  für  dieses  Zugeständnis  zu  ge- 
winnen. Die  Reichstagskommission  setzte  nun  in  ihrer 
ersten  Lesung  eine  selbständige  Steuer  vom  Mehreinkom- 
men neben  die  Steuer  auf  den  Vermögenszuw^achs,  und 
als  die  verbündeten  Regierungen  dagegen  Einspruch  er- 
hoben, schüttete  sie  das  Kind  mit  dem  Bade  aus  und  strich 
— zur  großen  Freude  der  einzelstaatlichen  Finanzminister — 
jede  Berücksichtigung  des  Mehreinkommens  aus  dem  Ge- 
setz heraus.  Denn  geändert  mußte  nun  einmal  werden, 
wenn  nicht  nach  links,  dann  nach  rechts! 

Eine  neue  große  Schwierigkeit  entstand  infolge  des 
Kommissionsbeschlusses,  gleichzeitig  mit  der  Kriegsge- 
winnsteuer einen  neuen  Wehrbeitrag  zu  erheben.  Freisin- 
nige und  Nationalhberale  hatten  sich  den  Sozialdemokraten 
angeschlossen,  während  Zentrum  und  Konservative  da- 
gegen stimmten.  Die  einzelstaatlichen  Regierungen  mel- 
deten bei  mir  den  schärfsten  Widerspruch  an.  Die  ganzen 
Steuergesetze  drohten  an  dieser  Differenz  zu  scheitern. 
Der  Abgeordnete  Schiffer  machte  nun  den  Vorschlag, 
neben  der  Kriegsgewinnsteuer  eine  einmalige  Vermögens- 


i66 


Kriegsgewinnsteuer  und  Vermögensabgabe 


abgabe  von  i°/oo  zu  erheben.  Am  ii.  Mai  fand  eine  inter- 
fraktionelle Beratung  statt,  an  der  alle  Parteien  teilnahmen, 
außer  den  Sozialdemokraten,  die  wegen  ihrer  grundsätz- 
lichen Opposition  gegen  die  indirekten  Steuern  fernblieben. 
Die  Konservativen  lehnten  den  Schiffer ’schen  Vorschlag 
strikt  ab.  Darauf  erklärte  das  Zentrum,  daß  es  bei  einem 
Kompromiß  nur  mitmachen  werde,  wenn  alle  bürgerlichen 
Parteien  einschließlich  der  Konservativen  sich  einigten. 
Wenn  diese  Einigung  nicht  gelinge,  werde  nichts  Zustande- 
kommen. Der  bayrische  Ministerpräsident  Graf  Hertling, 
der  an  jenem  Tage  in  Berlin  war,  erklärte  mir,  er  werde  im 
Bundesrat  unerbittlich  gegen  jeden  solchen  Kompromiß- 
gedanken stimmen;  er  sprach  dabei  mit  einer  Erregung, 
die  außer  Verhältnis  zur  Sache  stand,  über  Unitarismus  und 
Revolution.  Die  sächsische  Staatsregierung  beantragte  am 
gleichen  Tage  die  Befassung  des  Bundesrats  mit  den  Kom- 
promißverhandlungen. Ich  beantragte  beim  Reichskanzler, 
die  einzelstaatlichen  Ministerpräsidenten  und  Finanz- 
minister zur  Besprechung  der  Angelegenheit  auf  den  15.  Mai 
nach  Berlin  einzuladen.  In  diesen  Beratungen  setzte  ich 
den  Schiffer’schen  Vorschlag  mit  einer  Variante  durch, 
die  ihn  den  bundesstaatlichen  Regierungen  annehmbar 
erscheinen  ließ:  Die  Vermögensabgabe  sollte  sich  dadurch 
als  eine  einmalige,  den  Kriegsverhältnissen  angepaßte 
Steuer  charakterisieren,  daß  sie  — ebenso  wie  die  Kriegs- 
gewinnsteuer auf  den  Vermögenszuwachs  abgestellt  war  — 
auf  die  Vermögenseinbußen  Rücksicht  nahm,  und 


Finanzielle  Kriegführung 


zwar  in  der  Weise,  daß  sie  sich  für  jedes  Prozent  Vermögens- 
verlust  um  ein  Zehntel  ermäßigte,  also  bei  io%  Vermögens- 
verlust ganz  in  Wegfall  kam.  Bei  einer  starken  Vermögens- 
abgabe, wie  sie  jetzt  wohl  kommen  wird,  hat  dieser  Gedanke 
seine  Berechtigung  und  verdient  geprüft  zu  werden.  Bei 
einer  Vermögensabgabe  von  i°/oo  war  er  eine  Spielerei.  Aber 
diese  ,, Steuer  auf  entgangenen  Verlust“,  wie  sie  der  ba- 
dische Ministerpräsident  von  Dusch  witzig  taufte,  hatte 
den  Vorteil,  die  schmale  Brücke  zwischen  kaum  mehr 
ausgleichbar  erscheinenden  Gegensätzen  zu  bilden.  Der 
Vorschlag  wurde  sowohl  von  den  Bundesregierungen 
wie  auch  von  den  verschiedenen  bürgerlichen  Parteien 
angenommen,  und  damit  war  das  Steuerkompromiß 
perfekt. 

In  den  letzten  Tagen  meiner  Amtstätigkeit  als  Staats- 
sekretär des  Reichsschatzamts  wurden  die  Steuervorlagen 
vom  Reichstag  verabschiedet.  Ich  hatte  die  Genugtuung, 
daß  es  mir  noch  gelungen  war,  über  starke  Widerstände 
und  Schwierigkeiten  hinaus  grundsätzhch  die  notwendige 
Ergänzung  unserer  KriegsfinanzpoHtik  durch  die  Aus- 
schreibung von  Kriegssteuem  durchzusetzen. 


Vorschüsse  an  unsere  Verbündeten 

Es  wäre  hier  noch  ein  Wort  zu  sagen  über  die  finanzielle 
Unterstützung,  die  war  zu  Zwecken  der  Kriegfühnmg 
unseren  Verbündeten  haben  angedeihen  lassen. 


Finanzielle  Unterstützung  unserer  Bundesgenossen 


Während  wir  von  außen  keine  nennenswerte  Hilfe  er- 
hielten, waren  unsere  sämtlichen  Bundesgenossen  auf 
unsere  Hilfe  angewiesen. 

Österreich-Ungarn  brachte  die  Gelder  für  die  im  Innern 
zu  leistenden  Kriegsausgaben  im  Wege  einer  bemerkens- 
wert erfolgreichen  Anleihepolitik  und  auch  von  Kriegs- 
steuern aus  eigner  Kraft  auf;  von  uns  beanspruchte  es 
lediglich  sogenannte  „Valutakredite“  zur  Deckung  seiner 
nicht  unerheblichen  in  Deutschland  und  im  neutralen 
Auslande  zu  leistenden  Ausgaben.  Diese  Kredite  wurden 
ihm  in  Abmachungen,  die  regelmäßig  von  Halbjahr  zu 
Halbjahr  abgeschlossen  wurden,  durch  Vermittlung  eines 
deutschen  Bankenkonsortiums  gewährt. 

Bulgarien  benötigte  von  uns  nicht  nur  „Valutakredite“, 
sondern  darüber  hinaus  auch  einen  großen  Teil  der  Gelder 
für  seine  inländischen  Kriegsausgaben.  Ich  habe  im 
November  1915  mit  dem  bulgarischen  Finanzminister 
Tontscheff  die  Verträge  geschlossen,  auf  deren  Grundlage 
unsere  finanzielle  Hilfe  im  Verlauf  des  Krieges  gewährt 
wurde.  Die  Vorschüsse  der  deutschen  Regierung  schufen, 
soweit  sie  nicht  unmittelbar  zu  Zahlungen  in  Deutsch- 
land oder  im  neutralen  Ausland  verwendet  wurden, 
Guthaben,  die  als  Grundlage  für  die  Notenausgabe  der 
Bulgarischen  Staatsbank  dienten. 

Sehr  schwierig  und  verwickelt  gestaltete  sich  die 
Finanzierung  des  Geldbedarfs  der  Türkei;  einmal  weil  die 
Türkei  in  weit  größerem  Umfang  als  Bulgarien  auch 


Finanzielle  Kriegführung 


für  die  Beschaffung  ihres  inneren  Geldbedarfs  auf  uns 
angewiesen  war;  ferner  weil  die  Bevölkerung  im  Innern 
der  Türkei  an  papierne  Geldzeichen  nicht  gewöhnt  war, 
sondern  Hartgeld  verlangte;  schließlich  weil  das  türkische 
Noteninstitut,  die  Kaiserlich  Ottomanische  Bank,  die  von 
englischem  und  französischem  Kapital  beherrscht  war, 
passiven  Widerstand  leistete.  Der  erste  Vorschuß  an  die 
Türkei  für  ihre  inneren  Bedürfnisse,  der  ihr  unmittelbar 
nach  ihrem  Eintritt  in  den  Krieg  gewährt  wurde,  war  bares 
Gold;  es  handelte  sich  dabei  um  fünf  Millionen  türkische 
Pfund.  Dieser  Weg  war  natürlich  bei  längerer  Dauer  des 
Krieges  ungangbar;  er  hätte  den  Goldbestand  unserer 
Reichsbank  ausgepumpt.  Als  ich  das  Schatzamt  übernahm, 
suchte  ich  deshalb  nach  andern  Mitteln.  Mein  V orschlag, 
entweder  den  passiven  Widerstand  der  Ottomanischen 
Bank  zu  brechen  oder  an  ihrer  Stelle  ein  neues  Noten- 
institut unter  deutscher  Beteiligung  zu  errichten,  scheiterte 
an  dem  hartnäckigen  Widerspruch  und  am  passiven  Wider- 
stand des  Finanzministers  Djavid  Bey.  So  schlug  ich  vor, 
die  Vermittlung  der  in  der  Türkei  bei  Einheimischen  und 
Fremden  den  besten  Kredit  genießenden  internationalen 
Administration  der  türkischen  Staatsschulden  in  Anspruch 
zu  nehmen.  Die  Staatsschuldenverwaltung  gab  nun  auf 
Grund  von  in  Berlin  hinterlegten  deutschen  Reichs- 
schatzanweisungen Zertifikate  aus,  die  in  der  Türkei  den 
Charakter  als  gesetzliches  Zahlungsmittel  erhielten.  Die 
Vorschüsse  der  deutschen  Regierung  wurden  also  fortan 

170 


Geldbedarf  der  Türkei 


in  der  Hauptsache  in  der  Form  von  Schatzanweisungen 
gewährt;  nur  ausnahmsweise  und  für  besondere  Zwecke 
wurden  noch  gewisse  Beträge  in  Gold  oder  auch  in  Silber 
zur  Verfügung  gestellt. 

Insgesamt  hat  der  Betrag  unserer  Vorschüsse  an  die 
Bundesgenossen  10700  Millionen  Mark  betragen;  davon 
sind  rund  3900  Millionen  Mark  in  bar  gewährt  worden, 
6800 -Millionen  Mark  durch  Begebung  oder  Hinterlegung 
von  Schatzanweisungen. 


Wirtschaftskrieg 
und  Kriegswirtschaft 


Rcichsamt  des  Innern 

Während  ich  in  dem  ersten  großen  Abschnitt  des  Krieges 
durch  meine  Berufung  an  die  Spitze  des  Reichsschatz- 
amts unsere  Kriegführung  auf  dem  Gebiete  der  Finanzen  zu 
leiten  hatte  und  dabei  in  die  Lage  kam,  gelegentlich  auch 
an  den  großen  wirtschaftlichen  Aufgaben  mitzuarbeiten, 
brachte  mich  die  Ernennung  zum  Staatssekretär  des 
Innern  Ende  Mai  1916  an  die  Spitze  derjenigen  Verwaltung, 
der  nach  der  Friedensorganisation  der  Reichsbehörden  die 
Bearbeitung  der  wirtschaftlichen  Angelegenheiten  des 
Reichs  zustand. 

Am  6.  Mai  ließ  mir  der  Kanzler  mitteilen,  daß  der  bis- 
herige Chef  des  Reichsamts  des  Innern,  Stellvertreter  des 
Reichskanzlers  und  Vizepräsident  des  Preußischen  Staats- 
ministeriums, Staatsminister  Delbrück,  auf  seinem  schon 
öfter  bekundeten  Entschluß,  seinen  Abschied  zu  nehmen, 
nunmehr  bestehe  und  eine  baldige  Genehmigung  seines 
Abschieds  dringend  wünsche.  Delbrück  war  kurz  vor 
Ausbruch  des  Krieges  im  Begriff,  zur  Wiederherstellung 


175 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


seiner  stark  angegriffenen  Gesundheit  einen  mehr- 
monatigen Urlaub  zu  nehmen;  angesichts  des  Kriegsaus- 
bruches hatte  er  diese  Absicht  aufgegeben  und  nun  fast 
zwei  Jahre  hindurch  die  gesteigerte  Arbeitslast  getragen, 
die  der  Krieg  für  seine  Ämter  mit  sich  brachte.  Seit  dem 
Beginn  des  Jahres  hatte  sich  sein  körperlicher  Zustand 
verschlechtert.  Ich  hatte  mehrfach  bei  wichtigen  Bera- 
tungen für  ihn  eintreten  müssen.  Nunmehr  stellte  mich 
der  Kanzler  vor  die  Frage,  ob  ich  als  Stellvertreter  des 
Reichskanzlers  und  als  Staatssekretär  des  Innern  die  Nach- 
folge Delbrücks  übernehmen  wolle ; für  das  Vizepräsidium 
des  Preußischen  Staatsministeriums,  dessen  jüngstes  Mit- 
glied ich  damals  war,  richtete  er  die  gleiche  Anfrage  an 
den  Eisenbahnminister  von  Breitenbach. 

Die  Gründe,  die  mir  Herr  von  Bethmann  HoUweg  dar- 
legte, ließen  mir  keine  Wahl,  so  schwer  es  mir  auch  wurde, 
das  Reichsschatzamt  zu  verlassen  und  das  neue,  kaum 
zu  bewältigende  Amt  auf  mich  zu  nehmen.  Viel  stärker 
noch  als  bei  der  Übernahme  des  Schatzamts  hatte  ich 
das  Gefühl  des  Sprungs  ins  Dunkle. 

Für  den  Posten  des  Reichsschatzsekretärs  fiel  die  Wahl 
auf  den  Grafen  von  Rödern,  bis  dahin  Staatssekretär  in 
Elsaß-Lothringen. 

Am  22.  Mai  vollzog  der  Kaiser,  der  damals  für  kurze 
Zeit  im  Berliner  Schloß  Bellevue  residierte,  die  Ernennun- 
gen. Die  Kaiserin  sagte  mir,  sie  bewundere  meinen  Mut. 
Als  ich  antwortete : „Was  man  muß,  das  kann  man  auch,“ 


176 


Geschäftsbereich  des  Reichsamts  des  Innern 


setzte  sie,  fast  etwas  vorwurfsvoll,  hinzu;  ,,Mit  Gottes 
Hilfe 

Am  I.  Mai  trat  ich  das  neue  Amt  an. 

Zu  dem  Geschäftsbereich  des  Reichsamts  des  Innern 
gehörte  damals  die  gesamte  innere  Politik,  die  Angelegen- 
heiten des  Bundesrats,  die  gesamte  Sozialpolitik  und  die 
wirtschaftlichen  Angelegenheiten.  Letztere  mit  Einschrän- 
kungen. Schon  vor  dem  Kriege  waren  die  Angelegenheiten 
der  auswärtigen  Handelspolitik  vom  Auswärtigen  Amt, 
das  hierfür  eine  eigene  handelspolitische  Abteilung  hatte, 
mit  dem  Reichsamt  des  Innern  gemeinschaftlich  bear- 
beitet worden.  Gleich  zu  Anfang  des  Krieges  hatten  die 
Militärbehörden,  insbesondere  die  Kriegsrohstoffabteilung 
des  Kriegsministeriums,  einen  wichtigen  Teil  der  wirt- 
schaftlichen Angelegenheiten,  nämlich  ungefähr  alles, 
was  mit  der  Ausrüstung  und  Versorgung  des  Heeres  im 
Zusammenhang  stand,  an  sich  genommen.  Der  Belage- 
rungszustand und  die  Art  und  Weise,  wie  das  auf  Grund 
des  Belagerungszustandes  den  Generalkommandos  zu- 
stehende Verordnungsrecht  ausgelegt  und  gehandhabt 
wurde,  gab  den  militärischen  Stellen  die  Möglichkeit 
eines  viel  prompteren  Zugreifens,  als  das  sogenannte 
„Ermächtigungsgesetz' ' vom  4.  August  den  Zivilbehörden. 
Durch  dieses  Gesetz  war  der  Bundesrat  ermächtigt 
worden,  ,, während  der  Zeit  des  Krieges  diejenigen  gesetz- 
lichen Maßnahmen  anzuordnen,  welche  sich  zur  Abhilfe 
gegenüber  wirtschaftlichen  Schädigungen  als  notwendig 


12  Hel  fferi  ch  , Weltkrieg  II 


177 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


erweisen' Da  aber  der  Bundesrat  eine  Körperschaft  war, 
deren  Mitglieder  zu  ihrer  Abstimmung  der  Instruktion 
durch  ihre  Regierungen  bedurften,  war  dieses  Instrument 
— wenn  es  auch  gegenüber  der  Notwendigkeit,  den 
Reichstag  zu  befassen,  eine  wesentliche  Erleichterung 
bedeutete  — doch  immerhin  viel  schwerfälliger  als  das 
Verordnungsrecht  der  Militärbefehlshaber.  Im  übrigen 
hat  niemals  eine  formelle  und  scharfe  Abgrenzung  der 
Arbeitsgebiete  der  militärischen  und  zivilen  Behörden 
stattgefunden.  Vielfach  griffen  die  Militärbehörden  ein, 
wenn  aus  militärischen  Gründen  die  prompte  Erledigung 
einer  wirtschaftlichen  Frage  notwendig  war,  und  vielfach 
kamen  Angelegenheiten,  die  von  den  militärischen  Stellen 
in  Angriff  genommen  worden  waren,  zur  weiteren  Be- 
arbeitung an  das  Reichsamt  des  Innern  zurück.  Die  er- 
forderliche Einheitlichkeit  und  Kontinuität  wurden  durch 
die  wechselseitige  Beteiligung  von  Kommissaren  aufrecht- 
erhalten. 

Ein  großer  Teil  der  wirtschaftlichen  Geschäfte  des 
Reichsamts  des  Innern  wurde  jetzt  gleichzeitig  mit  dem 
Wechsel  im  Staatssekretariat  abgetrennt : die  Ernährungs- 
angelegenheiten. 

Auf  diesem  Gebiete  hatte  sich  eine  straffere  und  schlag- 
fertigere Organisation  als  notwendig  herausgestellt.  Ab- 
gesehen von  der  Notwendigkeit  der  Befassung  des  Bundes- 
rats mit  den  Einzelheiten  der  auf  diesem  weitschich- 
tigen Gebiet  erforderlichen  Verordnungen  war  an  der 

178 


Das  Kriegsernährungsamt 


Vorbereitung  und  Ausführung  der  gesetzgeberischen  Maß- 
nahmen außer  dem  Reichsamt  des  Innern  eine  große 
Anzahl  von  Reichs-  und  Landesbehörden  beteiligt.  Die  Ein- 
heitlichkeit der  Ausführung  wurde  dadurch  in  gleicher  Weise 
beeinträchtigt,  wie  die  Schnelligkeit  der  Entschließung. 
Es  erschien  deshalb  angezeigt,  die  Befugnisse  des  Reichs- 
kanzlers auf  dem  Gebiete  der  Volksernährung  erheblich 
zu  erweitern  und  ihm  für  die  Ausübung  dieser  erweiterten 
Befugnisse  eine  besondere  Zentralbehörde  zur  Verfügung 
zu  stellen.  Mit  dieser  Lösung  erklärte  ich  mich  vor  der 
Übernahme  des  Reichsamts  des  Innern  einverstanden. 
Gleichzeitig  mit  meiner  Ernennung  zum  Staatssekretär 
des  Innern,  am  22.  Mai  1916,  wurde  eine  Bekanntmachung 
des  Bundesrats  über  Kriegsmaßnahmen  zur  Sicherung  der 
Volksernährung  veröffentlicht,  die  dem  Reichskanzler  das 
volle  Verfügungsrecht  über  alle  Lebens-  und  Futtermittel 
und  die  zur  Lebensmittel-  und  Futtermittelversorgung  er- 
forderlichen Gegenstände  übertrug  und  ihn  ermächtigte, 
alle  zur  Durchführung  der  Lebensmittel-  und  Futtermittel- 
versorgung erforderlichen  Bestimmungen  zu  treffen.  Am 
selben  Tage  wurde  durch  Bekanntmachung  des  Reichs- 
kanzlers das  Kriegsernährungsamt  geschaffen  und  diesem 
die  Ausübung  der  dem  Reichskanzler  auf  dem  Gebiete  des 
Ernährungswesens  zustehenden  Befugnisse  übertragen. 
Zum  Präsidenten  des  Kriegsernährungsamts  wurde  der 
bisherige  Oberpräsident  von  Ostpreußen,  Herr  vonBatocki, 
ernannt. 


179 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Damit  schieden  die  Angelegenheiten  der  Volksernäh- 
mng  aus  dem  Geschäftskreis  des  Reichsamts  des  Innern 
aus;  beim  Reichsamt  des  Innern  blieb  nur  die  Bear- 
beitung derjenigen  Ernährungsangelegenheiten,  die  un- 
trennbar mit  den  Fragen  -unserer  Einfuhr  und  Ausfuhr 
zusammenhingen.  Denn  die  Einfuhr  von  Nahrungs- 
und Futtermitteln  aus  dem  Auslande  konnte  nur  im 
engsten  Zusammenhang  mit  allen  den  anderen  wirt- 
schaftlichen Fragen  behandelt  'werden,  die  unser  Verhält- 
nis zu  den  einzelnen  befreundeten  oder  neutralen  Staaten 
betrafen. 

Im  übrigen  wurde  mir  in  meiner  Eigenschaft  als  Stell- 
vertreter des  Reichskanzlers  eine  gewisse  Mitwirkung  auch 
bei  den  Geschäften  des  Kriegsernährungsamts  Vorbe- 
halten; da  der  Präsident  des  Kriegsernährungsamts  nicht 
zum  Stellvertreter  des  Reichskanzlers  im  Sinne  des  Stell- 
vertretungsgesetzes von  1878  ernannt  wurde,  blieb  die 
Stellvertretung  des  Reichskanzlers  in  diesem  Sinne  bei 
mir.  Angesichts  des  engen  und  unlösbaren  Zusammen- 
hanges der  Ernährungsfragen  mit  der  Gesamtheit  der  wirt- 
schaftlichen Angelegenheiten  erschien  diese  Regelung  not- 
wendig, um  die  Einheitlichkeit  in  der  Kriegswirtschafts- 
politik des  Reichs  nach  Möglichkeit  sicherzusteUen  und 
um  zu  vermeiden,  daß  die  Zusammenfassung  auf  dem 
Sondergebiet  der  Volksernährung  durch  eine  neue  Zer- 
splitterung auf  dem  Gesamtgebiet  der  Kriegswirtschaft 
erkauft  werde.  In  der  Praxis  jedoch  waren  meiner 

180 


Das  Kriegsernährungsamt 


Einwirkung  durch  einen  besonderen  Umstand  enge  Grenzen 
gezogen.  Dem  Kriegsernährungsamt  wurde  der  schon 
früher  geschaffene  Reichstagsbeirat  für  Volksernährung 
zur  Seite  gestellt,  mit  dem  alle  wichtigen  Verordnungen 
und  sonstigen  Maßnahmen  durchberaten  wurden.  Ich 
habe  anfänglich  den  Versuch  gemacht,  die  Beratungen 
des  Ernährungsbeirats  persönlich  zu  leiten  und  dadurch 
einen  unmittelbaren  Einfluß  auf  dessen  Stellungnahme 
und  Beschlußfassung  zu  gewinnen.  Bei  der  Häufigkeit 
und  Ausdehnung  der  Sitzungen  des  Ernährungsbeirats 
und  bei  der  starken  Inanspruchnahme  meiner  Zeit  und 
Arbeitskraft  durch  meine  übrigen  Dienstgeschäfte  ließ 
sich  das  aber  nicht  durchführen.  Schon  Ende  Juli  1916 
mußte  ich  mich  entschließen,  den  Vorsitz  dem  Präsidenten 
des  Kriegsernährungsamts  zu  überlassen.  Nun  kamen 
die  Verordnungen  und  Bekanntmachungen  zu  mir  zur 
Unterschrift,  nachdem  der  Ernährungsbeirat  bereits  Stel- 
lung genommen  hatte.  Beanstandungen  meinerseits  be- 
deuteten infolgedessen  die  Wiederaufnahme  eines  schwie- 
rigen und  langwierigen  Verfahrens,  oft  genug  in  Fragen, 
die  keinen  Aufschub  duldeten.  Dieser  Weg  war  natürlich 
nur  in  ganz  wichtigen  Fällen  gangbar.  Infolgedessen  mußte 
ich  mich  oft  genug  wohl  oder  übel  entschließen,  meinen 
Namen  unter  Verfügungen  zu  setzen,  die  ich  nicht  für 
zweckmäßig  halten  konnte.-  Ich  erinnere  mich  z.  B.  meiner 
Auseinandersetzungen  mit  Herrn  von  Batocki  über  die 
Zwangsbewirtschaftung  der  Eier,  die  ich  für  verfehlt  hielt 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


und  heute  noch  für  verfehlt  halte.  Aber  der  Ernährungs- 
beirat hatte  sich  festgelegt  und  Herr  von  Batocki  erklärte 
die  Herbeiführung  einer  anderen  Stellungnahme  für  ebenso 
unmöglich  wie  eine  Regelung  gegen  die  formell  nur  gut- 
achtlichen Beschlüsse  des  Ernährungsbeirats.  Solche 
Zwangslagen  waren  nicht  selten.  Die  Ausgestaltung  des 
Kriegsernährungsamts  zu  einem  Staatssekretariat  unter 
Übertragung  der  Stellvertretung  des  Reichskanzlers  auf 
den  Staatssekretär  war  die  Lösung,  die  sich  schließlich 
trotz  aller  in  der  Einheitlichkeit  der  Führung  der  Kriegs- 
wirtschaft begründeten  Bedenken  auf  drängte.  In  diesem 
Sinne  wurde  die  Frage  im  Juli  1917  bei  Gelegenheit 
des  Übergangs  der  Kanzlerschaft  an  Herrn  Michaelis 
und  des  Kriegsernährungsamts  an  Herrn  von  Waldow 
entschieden. 

Das  Geschäftsgebiet,  das  dem  Reichsamt  des  Innern 
— abgesehen  von  den  innerpolitischen  Angelegenheiten  — 
in  den  wirtschaftlichen  Dingen  verblieb,  war  auch  nach' 
der  Abtrennung  der  eigentlichen  Ernährungsfragen  von 
kaum  übersehbarer  Ausdehnung.  Seine  Bewältigung  wurde 
mit  der  Dauer  des  Krieges  und  mit  der  Verschärfung  des 
Druckes  der  Wirtschaftsblockade  von  Monat  zu  Monat 
schwieriger.  Dazu  kam,  daß  der  Personalbestand  des 
Reichsamts  des  Innern  auf  das  äußerste  eingeschränkt 
war.  Zu  Kriegsbeginn  hatte  • sich  ein  großer  Teil  der 
jüngeren  Beamten  für  den  Dienst  mit  der  Waffe  frei- 
geben lassen.  Andere  mußten  für  die  verschiedenen 


182 


Wachsende  Amtspflichten 


Kriegsorganisationen  und  für  die  Verwaltung  der  besetzten 
Gebiete  abgegeben  werden.  Ausreichend  geschulter  Ersatz 
stand  nicht  zur  Verfügung.  Die  dem  Amt  verbliebenen 
Kräfte  waren  bis  zur  Grenze  der  Leistungsfähigkeit  be- 
lastet. Dazu  kam  die  ständig  wachsende  Beanspruchung 
durch  die  parlamentarischen  Verhandlungen.  Während 
im  ersten  Halbjahr  des  Krieges  nur  3 kurze  Plenar- 
sitzungen des  Reichstags  stattfanden,  deren  steno- 
graphische Berichte  nur  23  Seiten  umfaßten,  im  zweiten 
Halbjahr  9 Sitzungen  mit  186  Seiten  Bericht,  fanden  im 
sechsten  Halbjahr  des  Krieges  (i.  Februar  bis  x.  August 
1916)  nicht  weniger  als  37  Vollsitzungen  statt,  deren 
stenographische  Berichte  auf  1280  Seiten  anschwollen. 
Noch  mehr  Zeit  und  Kraft  nahmen  die  parlamentarischen 
Kommissionen  in  Anspruch.  Ich  habe  als  Staatssekretär 
des  Innern  lange  Zeiten  hindurch  meine  eigentlichen 
Amtsgeschäfte  in  der  Zeit  vor  neun  oder  zehn  Uhr  morgens 
und  nach  sieben  oder  acht  Uhr  abends  erledigen  müssen  und 
oft  erst  spät  nach  Mitternacht  die  Arbeit  verlassen  können, 
um  am  nächsten  Morgen  zu  früher  Stunde  wieder  auf 
dem  Plan  zu  sein;  und  ähnlich  wie  mir  selbst,  erging  es 
meinen  wichtigsten  Mitarbeitern. 

Mit  diesem  überlasteten  Apparat  mußten  die  gewaltigen 
Anforderungen  bewältigt  werden,  die  der  Krieg  in  immer 
steigendem  Maße  an  die  wirtschaftliche  Zentralbehörde 
des  Reiches  stellte. 


183 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Deutschland  als  belagerte  Festung 

Schritt  für  Schritt,  mit  ebenso  unerbittlicher  Folge- 
richtigkeit wie  souveräner  Verachtung  des  Völkerrechts 
und  brutaler  Rücksichtslosigkeit  gegen  die  Neutralen, 
ergänzte  und  vervollkommnete  die  Entente  unter  Eng- 
lands Führung  die  wirtschaftliche  Einschnürung  Deutsch- 
lands. 

Die  deutsche  Handelsflagge  war  in  den  ersten  Tagen 
des  Krieges  von  den  Weltmeeren  verschwunden.  Unsere 
Flotte  genügte,  um  der  britischen  Flotte  die  Annäherung 
an  unsere  Küsten  und  die  Einfahrt  in  die  Ostsee  zu  ge- 
fahrvoll erscheinen  zu  lassen.  Die  Schlacht  am  Skagerrak 
am  31.  Mai  1916  hat  gezeigt,  daß  es  England  in  der 
Tat  auf  einen  Kampf  mit  unserer  Hochseeflotte  nicht 
ohne  das  größte  Risiko  für  seine  Flotte  und  damit  für 
seine  Existenz  ankommen  lassen  konnte.  Damit  war  eine 
nach  den  Regeln  des  Völkerrechts  durchzuführende 
Blockade  unserer  Häfen  unmöglich  gemacht.  Auf  der 
anderen  Seite  aber  war  unsere  Flotte  nicht  stark  genug, 
um  die  britische  Seemacht  vor  deren  eigenen  Stützpunkten 
zum  Kampf  zu  stellen.  So  waren  vir  in  der  Nordsee  und 
Ostsee  eingeschlossen.  England  dagegen  hatte  die  Meere 
frei,  nachdem  unsere  wenigen  zur  Zeit  des  Krieges  in  den 
überseeischen  Gewässern  stationierten  Kreuzer  nach  helden- 
hafter Gegenwehr  und  glänzenden  Waffentaten,  wie  der 
Schlacht  an  der  Coronelküste,  der  Übermacht  der  Feinde 


184 


Skagerrak.  Kreuzerkrieg  und  Blockade 


zum  Opfer  gefallen  waren.  Einzelne  Streifzüge  von  Hilfs- 
kreuzern, wie  der  „Möwe“  und  des  „Wolf“,  konnten,  so 
Hervorragendes  sie  leisteten,  an  der  Tatsache  nichts 

ändern,  daß  unsere  Kauffahrteischiffe  in  deutschen  und 

« 

neutralen  Häfen  feiern  mußten,  während  die  Schiffe  der 
Entente  bis  zum  U-Bootkrieg  ohne  wesentliche  Beun- 
ruhigung die  Meere  befahren  konnten. 

Da  aber  die  Entente  nicht  in  der  Lage  war,  eine  Blockade 
unserer  Küsten  aufzurichten  und  durchzuführen,  blieb  uns 
die  Möglichkeit  des  Handelsverkehrs  über  See  durch  die 
Vermittlung  neutraler  Schiffe,  soweit  nicht  die  völker- 
rechtlichen Satzungen  über  die  Bannware  entgegen- 
standen. 

England  hat  von  Beginn  des  Krieges  an  alles  daran- 
gesetzt, uns  diese  Handelsmöglichkeit  zu  zerstören  und  die 
Blockade  unserer  Häfen,  zu  der  es  marinetechnisch  nicht 
in  der  Lage  war,  durch  ein  System  der  Schiffahrts-  und 
Handelskontrolle  zu  ersetzen,  das  zwar  allem  Völkerrecht 
Hohn  sprach,  aber  dem  Zweck,  uns  vom  Verkehr  mit  der 
Außenwelt  abzuschnüren,  besser  angepaßt  war,  als  es  die 
wirksamste  Blockade  unserer  Küsten  hätte  sein  können. 

Das  Seekriegsrecht  hatte  auf  der  internationalen  Kon- 
ferenz, zu  der  die  britische  Regierung  im  Anschluß  an  die 
Haager  Friedenskonferenz  von  1907  eingeladen  hatte,  in 
der  sogenannten  ,, Londoner  Deklaration“  vom  26.  Fe- 
bruar 1909  eine  neue  Kodifikation  erfahren.  Die  Be- 
vollmächtigten der  Signatarmächte,  einschließlich  der 


185 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


britischen  und  französischen,  hatten  in  den  ,, Einleitenden 
Bestimmungen“  zur  Londoner  Deklaration  ausdrückhch 
festgestellt,  daß  die  Londoner  Deklaration  im  wesentlichen 
den  allgemein  anerkannten  Grundsätzen  des  internatio- 
nalen Rechtes  entspreche.  Trotzdem  hatte  die  britische 
Regierung  die  Londoner  Deldaration  bei  Kriegsausbruch 
noch  nicht  ratifiziert.  Die  Regierung  der  Vereinigten 
Staaten  richtete  wenige  Tage  nach  Kriegsausbruch  an 
die  kriegführenden  Staaten  die  Anfrage,  ob  sie  die  Lon- 
doner Deklaration  als  maßgebend  für  die  Seekriegführung 
anerkennen  wollten;  sie  fügte  hinzu,  daß  nach  ihrer  An- 
sicht die  Annahme  'der  Londoner  Deklaration  durch  die 
Kriegführenden  schweren  Mißverständnissen,  die  andern- 
falls in  den  Beziehungen  zwischen  den  Neutralen  und  den 
Kriegführenden  entstehen  könnten,  Vorbeugen  würde. 
Während  Deutschland  und  sein  österreich-ungarischer 
Bundesgenosse  alsbald  die  amerikanische  xAnfrage  be- 
jahend beantw^orteten,  erklärte  die  britische  Regierung, 
die  Londoner  Deklaration  nur  mit  gewissen  Modifikationen 
und  Ergänzungen  annehmen  zu  können.  Schon  die  da- 
mals der  amerikanischen  Regierung  mitgeteilten  „Modi- 
fikationen und  Ergänzungen“,  wie  sie  in  der  Order  in 
Council  vom  20.  August  1914  enthalten  waren,  bedeuteten 
in  wesentlichen  Punkten  einen  vollständigen  Widerspruch 
zu  den  in  der  Londoner  Deklaration  niedergelegten,  bisher 
allgemein  anerkannten  Grundsätzen  des  Seekriegsrechts. 
Insbesondere  setzte  die  britische  Regierung  eine  Reihe 


186 


Die  Londoner  Deklaration 


von  Gegenständen  auf  die  Konterbandeliste,  die  in  der 
Londoner  Deklaration  als  Nichtkonterbande  erklärt  waren 
und  die,  da  sie  entweder  überhaupt  nicht  oder  doch  nur 
sehr  mittelbar  für  kriegerische  Zwecke  w^rwendbar  sind, 
nach  den  allgemein  anerkannten  Regeln  des  Völkerrechts 
nicht  als  Konterbande  behandelt  werden  durften.  Außer- 
dem beseitigten  die  von  der  britischen  Regierung  erlas- 
senen Bestimmungen  in  ihrer  Wirkung  die  in  die  Londoner 
Erklärung  aufgenommenen  Regeln,  nach  denen  die  als 
,, relative  Konterbande“  bezeichne ten  Gegenstände  nur 
dann  als  Konterbande  behandelt  werden  sollten,  wenn 
sie  für  den  Gebrauch  der  Verwaltungsstellen  oder  der 
Streitmacht  des  feindlichen  Staates  bestimmt  sind.  Der 
für  die  Versorgung  eines  kriegführenden  Staates  bestimmte 
neutrale  Handel  mit  Gegenständen  der  relativen  Konter- 
bande, insbesondere  mit  Lebensmitteln  und  industriellen 
Rohstoffen,  wurde  damit  unterbunden,  im  Widerspruch 
nicht  nur  zur  Londoner  Deklaration,  sondern  auch  zu  dem 
vor  der  Londoner  Deklaration  von  der  britischen  Re- 
gierung selbst  anerkannten  Völkerrecht.  Die  amerikanische 
Regierung  hat  später  in  einer  ihrer  vielen  wirkungslos 
gebliebenen  Protestnoten  dem  Londoner  Kabinett  eine 
Erklärung  des  Lord  Salisbury  während  des  südafrikanischen 
Krieges  entgegengehalten,  lautend:  ,, Nahrungsmittel,  auch 
wenn  sie  feindliche  Bestimmung  haben,  können  als  Kriegs- 
konterbande nur  angesehen  werden,  wenn  sie  für  die 
Streitkräfte  bestimmt  sind.  Es  ist  nicht  genügend,  daß 


187 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


sie  geeignet  sind,  so  verwendet  zu  werden.  Es  muß 
bewiesen  werden,  daß  dies  zur  Zeit  ihrer  Beschlagnahme 
in  der  Tat  ihre  Bestimmung  war.*' 

Die  Order  in*  Council  vom  20.  August  wurde  in  der 
Folgezeit  wiederholt  verschärft,  immer  in‘  der  Absicht, 
Deutschland  von  jeder  nicht  nur  Kriegszwecken  dienenden, 
sondern  auch  für  die  Erhaltung  seiner  Bevölkerung  wich- 
tigen Versorgung  durch  die  neutrale  Schiffahrt  abzu- 
schneiden. Schließlich  wurde  durch  eine  Order  vom 
23.  April  1916  der  Unterschied  zwischen  relativer  und 
absoluter  Konterbande  überhaupt  aufgehoben.  Die  Liste 
der  Bannwaren  wurde  immer  länger,  so  daß  es  schließlich 
kaum  mehr  eine  wichtige  Warengattung  gab,  die  nicht 
auf  dieser  Liste  figurierte.  Am  7.  Juli  1916  sagten  sich 
die  britische  und  französische  Regierung  gänzlich  von 
der  inzwischen  wie  ein  Sieb  durchlöcherten  Londoner 
Deklaration  los. 

Aber  die  Ausdehnung  des  Bannwarenbegriffs  und  die 
Verschärfung  der  Behandlung  der  Bannwaren  genügten 
den  Zwecken  der  britischen  Regierung  nicht  entfernt. 
Das  Anhalten  und  die  Untersuchung  der  Schiffe  auf  hoher 
See  war  zu  lästig  und  gefahrvoll,  auf  der  anderen  Seite 
nicht  wirksam  genug. 

Anfang  November  1914  teilte  die  britische  Regierung 
den  Neutralen  mit,  daß  die  ganze  Nordsee  als  Kriegs- 
gebiet anzusehen  sei.  Es  sei  nötig  geworden,  den  Zugang 
zur  Nordsee  zwischen  Schottland  und  Norwegen  mit 


188 


England  und  die  Neutralen 


Minen  zu  belegen;  allen  Schiffen,  die  mit  Holland,  Däne- 
mark, Norwegen  und  den  Ostseeländern  verkehren  wollten, 
wurde  der  dringende  ,,Rat“  erteilt,  den  Weg  durch  den 
Kanal  und  die  Straße  von  Dover  zu  benutzen,  von  wo 
ihnen  ein  sicherer  Weg  nach  ihren  Bestimmungshäfen  an- 
gewiesen werden  sollte. 

Diese  Mitteilung  kam  in  ihrer  Wirkung  auf  eine  Blockade 
nicht  nur  der  deutschen  Küsten,  sondern  auch  der  neu- 
tralen Anlieger  der  Nord-  und  Ostsee  hinaus.  Der  hierin 
liegende  Verstoß  gegen  jedes  Völkerrecht  wurde  verschärft 
durch  eine  weitere  Erklärung  der  britischen  und  fran- 
zösischen Regierung  vom  i.  März  1915,  daß  sie  von  nun 
an  das  Recht  beanspruchten,  alle  Schiffe  anzuhalten  und 
in  einen  ihrer  Häfen  einzubringen,  die  Güter  führten, 
von  denen  vermutet  werde,  daß  sie  feindliche  Bestimmung 
hätten,  feindliches  Eigentum  oder  feindlichen  Ursprungs 
seien. 

Die  Neutralen  protestierten,  allen  voran  die  Vereinigten 
Staaten.  In  einer  Note  vom  30.  März  IQ15  machten  sie 
mit  Recht  darauf  aufmerksam,  daß  die  Alliierten  Rechte 
für  sich  beanspruchten,  die  sie  nur  bei  einer  effektiven 
Blockade,  für  die  jede  Voraussetzung  fehle,  in  Anspruch 
nehmen  könnten;  so  das  Einbringen  aller  irgendwie  ver- 
dächtigen Schiffe  statt  der  Untersuchung  auf  hoher  See; 
so  das  Vorgehen  gegen  jeglichen  Handelsverkehr  mit 
Deutschland,  insbesondere  auch  gegen  die  Ausfuhr  von 
Deutschland  nach  neutralen  Ländern.  Aber  der  Einspruch 

189 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtscliaft 


der  Vereinigten  Staaten,  der  in  einem  langwierigen  Noten- 
wechsel mit  der  britischen  Regierung  bis  zum  Ende  des 
Jahres  1915  mehrfach  wiederholt  wurde,  blieb  auf  dem 
Papier.  Ja  die  Behandlung  der  Schiffe,  die  nach  einem 
Hafen  eines  Deutschland  benachbarten  neutralen  Landes 
bestimmt  waren  oder  aus  einem  solchen  Hafen  kamen, 
wairde  später  noch  weiter  verschärft,  indem  diesen  Schiffen 
bei  Strafe  der  Beschlagnahme  auferlegt  wmrde,  sich  selbst 
in  einem  Hafen  der  Alliierten  zur  Untersuchung  zu  stellen. 

Es  ist  nicht  möghch,  hier  alle  die  einzelnen  Maßnahmen 
zu  schildern,  mit  denen  die  neutrale  Schiffahrt  davon 
abgeschreckt  wurde,  deutsche  Häfen  anzulaufen  oder 
Waren  irgendwelcher  Art  im  deutschen  Interesse  zu  be- 
fördern. Als  bezeichnend  erwähnen  will  ich  nur  noch  den 
Gebrauch,  den  England  von  seiner  Macht  als  Lieferant 
von  Bunkerkohle  machte.  Seit  Oktober  1915  durfte 
Bunkerkohle  an  neutrale  Schiffe  nur  noch  gegen  die 
Übernahme  von  Verpflichtungen  seitens  der  zu  beliefernden 
Reedereien  abgegeben  werden,  die  diese  völlig  unter  die 
Kontrolle  der  britischen  Admiralität  stellten.  Als  einige 
neutrale  Reedereien  sich  dieser  Erpressung  dadurch  zu  ent- 
ziehen suchten,  daß  sie  auf  englische  Bunkerkohle  verzich- 
teten und  dafür  deutsche  Bunkerkohle  einnahmen,  erklärte 
die  britische  Regierung,  daß  deutsche  Bunkerkohle  als 
Ware  deutschen  Ursprunges  der  Beschlagnahme  unterliege. 

Die  Neutralen  ließen  sich  den  Druck,  den  England  durch 
die  rücksichtslose  und  völkerrechtswidrige  Ausnutzung 


Verhalten  der  Neutralen 


seiner  Herrschaft  zur  See  auf  sie  ausübte,  unter  Pro- 
test gefallen.  Die  Deutschland  benachbarten  kleinen 
neutralen  Staaten,  die  durch  Englands  Vorgehen  nach 
Deutschland  am  schwersten  betroffen  wurden,  verfügten 
weder  politisch  und  militärisch,  noch  wirtschaftlich  über 
genügende  Machtmittel,  um  England  und  seinen  Ver- 
bündeten einen  wirksamen  Widerstand  entgegenzusetzen. 
Ja  sie  waren  größtenteils  in  ihrer  Volksernährung  und  in 
ihrem  ganzen  Erwerbsleben  so  sehr  von  überseeischen  Zu- 
fuhren abhängig,  daß  sie  sich  sogar  dazu  pressen  ließen, 
die  völkerrechtswidrigen  Maßnahmen  der  Alliierten  gegen 
Deutschland  auf  ihrem  eigenen  Boden  zu  dulden  oder 
gar  zu  unterstützen.  Einzig  und  allein  die  Vereinigten 
Staaten  wären  in  der  Lage  gewesen,  zugunsten  des  Völker- 
rechts und  der  Menschlichkeit,  der  die  Entwicklung  des 
Völkerrechts  in  der  Beschränkung  der  Kriegführung  auf 
die  bewaffneten  Streitkräft.e  gerecht  zu  werden  versucht 
hatte,  ein  Machtwort  zu  sprechen.  Es  hatte  einige  Male 
den  Anschein,  als  ob  die  Vereinigten  Staaten  sich  zu  einem 
energischen  Eintreten  für  die  innerhalb  bescheidener 
Grenzen  völkerrechtlich  gewährleistete  Freiheit  der  Meere 
aufraffen  wollten.  Aber  es  blieb  auch  von  dieser  Seite  bei 
papiernen  Protesten. 

Unterdessen  machte  England  Anstalten,  das  „Verbot 
des  Handels  mit  dem  Feinde“,  das  es  nach  altem  eng- 
lischem Brauch  alsbald  nach  Kriegsausbruch  für  seine 
Staatsangehörigen  und  Einwohner  erlassen  häÄe  und  dem 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


seine  Verbündeten  beigetreten  waren,  auch  den  neutralen 
Ländern  aufzuzwingen. 

Mit  diesem  Versuch  hatte  es  sogar  in  den  Vereinigten 
Staaten  einen  gewissen  Erfolg.  Schon  im  Februar  1915 
gelang  es  den  englischen  Bemühungen,  die  Ausfuhr  von 
Wolle  aus  den  Vereinigten  Staaten  nach  Deutschland  zu 
unterbinden.  Zu  diesem  Zweck  gestattete  England  die 
Belieferung  amerikanischer  Bezieher  mit  Wolle  aus  den 
britischen  Besitzungen  nur  noch  durch  die  Vermittlung 
der  Amerikanischen  Textil- Alliance,  die  sich  ihrerseits 
gegenüber  dem  britischen  Handelsamt  verpflichtete,  die 
Ausfuhr  von  Wolle  nach  Deutschland  durch  die  Auf- 
erlegung bestimmter  Bedingungen  an  ihre  Abnehmer  zu 
verhindern.  In  ähnlicher  Weise  hat  England  die  Ausfuhr 
von  Kautschuk  und  Gummiwaren  aus  den  Vereinigten 
Staaten  unter  seine  Kontrolle  gebracht.  Die  Vereinigten 
Staaten  bezogen  etwa  70%  ihres  Gummibedarfs  aus 
britischen  Besitzungen,  30%  aus  Brasilien,  dessen  Gummi- 
gewinnung und  Gummihandel  zu  einem  erheblichen  Teil 
unter  englischer  Kapitalkontrolle  stand.  Diese  Macht- 
stellung hat  England  benutzt,  um  den  amerikanischen 
Beziehern  von  Kautschuk  die  Verpflichtung  aufzuerlegen, 
Gummi  und  Gummifabrikate  nur  auf  dem  Weg  über 
England  und  nur  mit  britischer  Genehmigung  nach  Eu- 
ropa zu  liefern.  Ja  sogar  ureigene  amerikanische  Erzeug- 
nisse wurden  dieser  Kontrolle  unterworfen.  Nachdem 
England  die  Baumwolle  zur  Bannware  erklärt  hatte 

192 


Kontrolle  des  neutralen  Handels 


(August  1915),  gestattete  es  die  Lieferung  von  Baum- 
wolle an  europäische  Neutrale  nur  solchen  amerikanischen 
Händlern,  die  Mitglieder  der  Liverpooler  Baumwollbörse 
wurden  und  sich  verpflichteten,  Deutschland  auch  nicht 
mittelbar  mit  Baumwolle  zu  beliefern.  Gleiches  erreichte 
England  hinsichtlich  der  amerikanischen  Metalle,  vor  allem 
hinsichtlich  des  Kupfers.  Diese  Abmachungen  mit  dem 
amerikanischen  Handel  wurden  ergänzt  durch  Abma- 
chungen mit  den  wichtigsten  Schiffahrtsgesellschaften,  die 
sich  verpflichteten,  von  ihren  Verladern  Sicherheit  gegen 
jede  Verletzung  der  britischen  Vorschriften  zu  verlangen, 
wofür  ihnen  von  der  britischen  Regierung  Erleichterungen 
in  der  Handhabung  der  Kontrolle  zugesichert  wurden. 

Handelte  es  sich  gegenüber  den  Amerikanern  noch  um 
gütliche  Vereinbarungen  oder  höchstens  um  einen  sanften 
Druck,  so  ließ  England  die  kleinen  Neutralen  die  ganze 
Schwere  seiner  eisernen  Faust  fühlen. 

Die  überseeische  Zufuhr  der  Deutschland  benachbarten 
Neutralen  wurde  einer  scharfen  Kontingentierung  unter- 
worfen. Die  jährlichen  Kontingente  für  die  einzelnen 
Waren  wurden  durch  eine  in  Paris  tagende  Kommission 
von  Vertretern  Englands,  Frankreichs,  Italiens  und  Ruß- 
lands festgesetzt.  Die  hierdurch  bewirkte  knappe  Bedarfs- 
deckung mußte  allein  schon  eine  Einschränkung  der  Wieder- 
ausfuhr nach  Deutschland  zur  Folge  haben.  Aber  damit 
begnügte  sich  die  britische  Regierung  nicht;  sie  verlangte 
vielmehr  in  zahlreichen  Fällen  Ausfuhrverbote,  und  zwar 


13  Helfferich,  Weltkrieg  II 


193 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


nicht  nur  für  die  über  See  eingeführten  Waren,  sondern 
auch  für  einheimische  Erzeugnisse  unserer  neutralen  An- 
lieger. Vor  allem  aber  sicherte  sich  die  britische  Re- 
gierung die  nahezu  lückenlose  Kontrolle  über  den  Verbleib 
der  ganzen  überseeischen  Einfuhr  der  uns  benachbarten 
Neutralen  durch  die  Errichtung  besonderer  Kontroll- 
gesellschaften. 

Als  erste  dieser  Gesellschaften  wurde  schon  im  November 
1914  die  Nederlandsche  Overzee  Trust  Maatschappy, 
meist  NOT  genannt,  ins  Leben  gerufen.  Beteiligt  an  der 
Gründung  waren  die  großen  holländischen  Schiffahrts- 
gesellschaften und  Banken,  sowie  einige  Großhandels- 
firmen. Die  NOT  traf  Abmachungen  mit  der  britischen 
Regierung,  in  denen  diese  zusagte,  Schiffe  mit  an  die 
NOT  konsignierter  Ladung  unbeanstandet  passieren  zu 
lassen,  während  die  NOT  sich  verpflichtete,  für  den  aus- 
schließlich inländischen  Verbrauch  der  an  sie  konsignierten 
Artikel  und  der  aus  diesen  hergestellten  Waren  zu  garan- 
tieren. Die  englische  Regierung  behielt  sich  ein  weit- 
gehendes Recht  der  Nachprüfung  vor.  Die  NOT  ihrerseits 
war  verpflichtet,  von  den  Importeuren,  die  sich  ihrer 
Vermittlung  bedienten  — und  andere  als  durch  die  NOT 
vermittelte  Importe  gab  es  bald  nicht  mehr  — Sicherheit 
für  den  ausschließlich  inländischen  Verbrauch  der  Waren 
zu  verlangen;  der  Importeur  darf  die  Waren  nur  mit 
Zustimmung  der  NOT  und  nur  unter  der  Bedingung 
weiter  übertragen,  daß  der  Erwerber  gegenüber  der 


194 


Kontrollgesellschaften 


NOT  dieselben  Verpflichtungen  übernimmt  wie  der 
Veräußerer. 

In  den  Dienst  der  Kontrolle  der  Ausführung  aller  dieser 
Verpflichtungen  sind  durch  allerlei  Abmachungen  die 
Reedereien,  die  Spediteure,  die  Lagerhäuser  und  Speiche- 
reien  gestellt  worden.  Eine  Durchbrechung  dieser  Kon- 
trolle war  um  so  aussichtsloser,  als  die  holländische 
Regierung  selbst  durch  eine  Verschärfung  der  Grenzüber- 
wachung und  der  gegen  Schmuggel  gerichteten  Strafbe- 
stimmungen das  Überwachungssystem  der  NOT  ergänzte. 

Im  Herbst  1915  wurde  in  der  Schweiz  nach  langen  Ver- 
handlungen mit  England,  Frankreich  und  Italien  eine  der 
NOT  ähnliche  Kontrollgesellschaft  unter  dem  Namen 
,,Societe  Suisse  de  Surveillance  Economique“,  kurz  S.  S.  S. 
genannt,  gegründet.  In  Dänemark  übernahmen  die  Gros- 
serer Societät  und  der  Industrierat  die  Kontrollfunktionen, 
in  Schweden  die  Gesellschaft  Transite.  In  Norwegen  wurde 
die  Kontrolle  durch  ein  Zusammenwirken  der  Regierungs- 
organe mit  den  britischen  Konsulatsbehörden  hergestellt. 

Die  letzte  Ergänzung  und  Vervollständigung  erhielt 
dieses  System  der  Handelssperre  durch  die  Postkontrolle 
und  die  Schwarzen  Listen.  Die  rücksichtslos  durchgeführte 
und  systematisch  ausgenutzte  Postkontrolle,  der  gegen 
jedes  Völkerrecht  auch  neutrale  Schiffe  auf  der  Fahrt 
von  neutralem  zu  neutralem  Hafen  unterworfen  wurden, 
brachte  wertvolle  Einblicke  in  die  Handelsbeziehungen  der 
Neutralen  und  damit  neue  Kontrollmöglichkeiten.  Durch 


13’ 


195 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


die  Schwarzen  Listen  wurden  neutrale  Kaufleute,  die  mit 
Deutschland  Handel  trieben  oder  auch  nur  des  Handels 
mit  Deutschland  verdächtig  waren,  in  bezug  auf  Handels- 
verbote usw.  den  feindlichen  Ausländern  gleichgestellt, 
also  einem  Handelsboykott  unterworfen. 

Alle  diese  Maßnahmen  dienten  dem  einen  Zweck,  dem 
im  schwersten  Kampf  stehenden  deutschen  Volk  den 
Lebensatem  abzuschnüren.  Niemals  in  der  Geschichte 
aller  Zeiten  und  Völker  haben  brutale  Gewalt  und  kauf- 
männisches Raffinement  sich  zu  einem  so  gewaltigen 
Unternehmen  zusammengetan.  Die  Napoleonische  Kon- 
tinentalsperre war  in  ihrer  Anlage,  ihren  Mitteln  und  in 
ihren  Wirkungen  ein  Kinderspiel  im  Vergleich  mit  der 
Handels-  und  Hungerblockade,  durch  die  England  das 
große  Land  im  Zentrum  Europas  zu  einer  belagerten 
Festung  machte. 

Unsere  militärischen  Erfolge  vermochten  diese  Lage 
in  manchen  nicht  unwesentlichen  Beziehungen  für  uns 
zu  verbessern,  aber  nicht  von  Grund  aus  zu  ändern. 

Die  rasche  Besetzung  Belgiens  und  Nordfrankreichs 
brachte  Gebiete  in  unsere  Gewalt,  die  auch  vom  Stand- 
punkt des  Wirtschaftskrieges  aus  eine  wesentliche  Stärkung 
unserer  Position  bedeuteten;  vor  allem  eine  Stärkung 
unserer  Rohstoffposition.  Sowohl  die  Produktionsmöglich- 
keiten jener  Gebiete  wie  auch  die  großen  in  jenen  Gebieten 
lagernden  Vorräte  von  Rohstoffen,  Halbfabrikaten  und 
Fertigwaren  waren  eine  wertvolle  Ergänzung  unserer 

196 


Rohstoffbezug  in  den  besetzten  Gebieten 


eigenen  Bodenschätze  und  Warenvorräte.  Ich  erinnere 
nur  an  die  Eisenerzvorkommen  von  Longwy  und  Briey, 
an  die  belgische  Montanindustrie,  an  die  großen  Lager 
Antwerpens  an  Stapelartikeln  aller  Art,  an  die  Bestände 
der  Industriegebiete  von  Verviers  und  Roubaix-Tourcoing 
an  Wolle  und  Woll waren,  von  Gent  und  Lille  an  Baum- 
wolle, Baumwollgarnen  und  Baumwollwaren.  Im  weiteren 
Verlauf  des  Krieges  hat  die  Besetzung  der  polnischen 
Industriegebiete  uns  einen  weiteren  Zuwachs  namentlich 
an  Rohstoffen  und  Halbfabrikaten  der  Textilindustrie 
gebracht. 

Dagegen  hatte  die  Besetzung  dieser  Gebiete  im  Osten 
und  Westen  keine  nennenswerte  Erleichterung  unserer 
Ernährungssituation  zur  Folge.  Die  dichte  Bevölkerung 
Belgiens  und  Nordfrankreichs  bedurfte  selbst  eines  sehr 
erheblichen  Zuschusses  an  Nahrungsmitteln;  auch  Polens 
Landwirtschaft  hat  im  Frieden  nicht  ausgereicht,  um  die 
eigene  Bevölkerung,  die  sich  in  den  großen  Industrie- 
zentren von  Warschau,  Lodz  und  Sosnowice  stark  zu- 
sammenballt, mit  der  erforderlichen  Nahrung  zu  ver- 
sehen. Litauen  und  Kurland  vermochten  bei  der 
Rückständigkeit  ihrer  Landwirtschaft  und  ihrer  dünnen, 
durch  den  Krieg  noch  weiter  verminderten  Bevölkerung 
das  Bild  nicht  wesentlich  zu  ändern,  obwohl  unsere 
Militärverwaltung  sich  nach  besten  Kräften  und  mit  Er- 
folg bemühte,  die  Produktion  zu  heben.  Die  Sorge  um  die 
Ernährung  der  Bevölkerung  Belgiens  und  Nordfrankreichs 


197 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


ist  uns  in  der  Hauptsache  durch  die  unter  amerikanischer 
und  spanischer  Leitung  arbeitende  „Rehef-Commission“ 
abgenommen  worden.  Die  Bedingung  für  die  Versorgung 
dieser  Gebiete  mit  amerikanischen  Einfuhren  war  aller- 
dings, daß  wir  uns  verpflichteten,  nicht  nur  die  von  der 
Kommission  eingeführten  N ahrungsmi ttel  nicht  für  deutsche 
Zwecke  zu  beschlagnahmen,  sondern  auch  die  eigene 
landwirtschaftliche  Erzeugung  Belgiens  für  die  belgische 
Bevölkerung  vorzubehalten.  Auf  diese  Weise  sind  wir 
zwar  der  schweren  Wahl  enthoben  worden,  entweder  die 
dichte  Bevölkerung  der  besetzten  Gebiete  durch  Zuschüsse 
aus  unseren  eigenen  knappen  Beständen  durchzuhalten, 
oder  im  Rücken  unserer  kämpfenden  Truppen  eine  Be- 
völkerung von  vielen  Millionen  allen  Verzweiflungen  des 
Hungers  preiszugeben.  Aber  eine  irgendwie  nennenswerte 
Erleichterung  gegenüber  dem  furchtbaren  Druck  der 
Hungerblockade  haben  uns  die  besetzten  Gebiete  nicht 
gebracht. 

Auch  unsere  Bundesgenossen  waren  uns  in  diesem 
Punkte  keine  Hilfe. 

Österreich-Ungarn  hatte  schon  in  den  Jahren  vor  dem 
Kriege  aufgehört,  einen  Überschuß  an  landwirtschaft- 
lichen Produkten  über  den  stark  angewachsenen  eigenen 
Bedarf  liinaus  zu  erzeugen.  Immerhin  stand  die  Donau- 
monarchie in  der  Deckung  ihres  Nahrungsbedarfs  durch 
die  eigene  Erzeugung  wesentlich  günstiger  da  als  Deutsch- 
land. Trotzdem  stellte  sich  bald  heraus,  daß  österreich- 


198 


Ernährungsschwierigkeiten  bei  den  Verbündeten 


Ungarn  gegenüber  der  durch  die  Sperrung  der  Nahrungs- 
mittelzufuhr geschaffenen  Lage  nicht  dieselbe  Wider- 
’standskraft  aufzubringen  vermochte  wie  Deutschland. 
Die  eigene  Produktion  ging  stärker  zurück  und  wurde 
weniger  scharf  erfaßt,  der  eigene  Verbrauch  wurde  laxer 
kontrolliert  und  eingeschränkt  als  bei  uns.  In  Energie, 
Organisation  und  Disziplin  vermochte  unser  Verbündeter 
mit  uns  auch  auf  dem  Gebiet  der  Volksernährung  so  wenig 
Schritt  zu  halten,  daß  wir,  trotz  unserer  an  sich  ungünsti- 
geren eigenen  Lage,  uns  sehr  bald  gezwungen  sahen,  den 
Österreichern  gelegentlich  auszuhelfen. 

Eine  ähnliche  Erfahrung  machten  wir  später,  nach  der 
Niederwerfung  Serbiens,  mit  Bulgarien.  Auch  dieses 
Bauernland,  das  im  Frieden  stets  einen  Nahrungsüberschuß 
erzeugte,  sah  seine  landwirtschaftliche  Produktionskraft 
durch  den  Krieg  in  einer  Weise  gelähmt,  daß  es  nicht 
nur  nicht  in  der  Lage  war,  uns  auszuhelfen,  sondern 
selbst  in  große  Ernährungsschwierigkeiten  geriet,  die 
schließlich  zu  dem  Zusammenbruch  der  bulgarischen  Armee 
wesentlich  beigetragen  haben. 

Auch  die  Türkei,  die  schon  in  Friedenszeiten  infolge 
der  Rückständigkeit  ihrer  eigenen  Landwirtschaft  einen 
Getreidezuschuß  aus  Rußland  brauchte,  konnte  uns  keine 
Hilfe  sein. 

Dagegen  haben  allerdings  sowohl  Bulgarien  wie  nament- 
lich die  Türkei  uns  mit  andern  wichtigen  Artikeln  be- 
liefern können,  so  mit  ölen  und  Fetten,  mit  Tabak,  mit 


199 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Wolle,  Baumwolle  und  Seide,  mit  Metallen.  Freilich  waren 
auch  bei  diesen  Gütern  die  Mengen  beschränkt,  nicht  nur 
wegen  der  an  sich  nicht  sehr  erheblichen  Produktion, 
sondern  vor  allem  wegen  der  geringen  Leistungsfähigkeit 
der  Verkehrsmittel.  In  Friedenszeiten  haben  jene  Länder 
für  ihre  Ausfuhr  und  Einfuhr  so  gut  wie  ausschließlich 
den  Seeweg  benutzt.  J etzt  mußte, sich  der  Export  der  Türkei 
auf  die  eine  eingleisige  Eisenbahn  von  Konstantinopel 
über  Sofia  zusammendrängen,  die  zudem  für  militärische 
Zwecke  fortgesetzt  stark  in  Anspruch  genommen  war. 
Auch  der  Donauweg,  der  für  den  Verkehr  mit  Bulgarien  und 
Rumänien  in  Betracht  kam,  war  wenig  leistungsfähig  und 
mußte  während  des  Krieges  erheblich  verbessert  werden. 

So  waren  wir  für  unsere  Volksernährung  im  wesentlichen 
auf  die  eigene  landwirtschaftliche  Erzeugung  und  auf 
die  Zufuhren  gestellt,  die  wir  im  Kampf  mit  der  britischen 
Hungerblockade  doch  noch  aus  den  neutralen  Ländern 
herausholen  konnten. 

Unsere  Landwirtschaft  selbst  war  durch  den  Krieg  in 
eine  schwere  Lage  gebracht.  Die  Entziehung  der  leistungs- 
fähigsten Arbeitskräfte  durch  die  Einberufungen  zum 
Heer,  die  Verminderung  des  Pferdebestandes  durch  den 
militärischen  Bedarf,  die  infolge  der  Verwendung  der 
Stickstoffverbindungen  zur  Sprengstofffabrikation  als- 
bald einsetzende  Knappheit  an  Düngemitteln  wurden  in 
ihrer  Wirkung  noch  gesteigert  durch  ungünstige  Witte- 
rungsverhältnisse. So  kam  es,  daß  der  Emteertrag  des 


200 


Ernteerträgnisse  und  Viehbestand  in  Deutschland 


Jahres  1917  an  Roggen  und  Weizen  sich  nur  auf  9,2  Mil- 
lionen Tonnen  stellte  gegen  16^/2  Millionen  Tonnen  in 
dem  allerdings  glänzenden  Jahr  1913;  daß  in  derselben 
Zeit  die  Gerstenernte  von  3,6  auf  2,0  Millionen  Tonnen, 
die  Haferernte  von  9,5  auf  3,6  Millionen  Tonnen  zurück- 
ging. Das  Jahr  1916  brachte  ein  völliges  Versagen  der 
Kartoffelernte,  die  von  54  Millionen  Tonnen  in  den 
Jahren  1913  und  1915  auf  25  Millionen  Tonnen  zu- 
sammenklappte. Die  beiden  folgenden  Jahre  ergaben  34,4 
und  29,5  Millionen  Tonnen. 

Was  die  Viehzucht  anbelangt,  so  hielt  sich  unser  Be- 
stand an  Rindvieh  bis  in  das  Jahr  1917  hinein  der  Zahl 
nach  ungefähr  auf  der  Friedenshöhe.  Aber  die  Knappheit 
an  Futtermitteln,  namentlich  an  Kraftfuttermitteln,  führte 
zu  einem  starken  Rückgang  des  Lebendgewichtes  und  vor 
allem  der  Milchergiebigkeit.  Unser  Bestand  an  Schweinen 
stellte  sich  am  i.  Juni  1917  nur  noch  auf  12,8  Millionen 
Stück,  gegen  25,7  Millionen  am  i.  Dezember  1913.  Zu 
der  Verminderung  der  Stückzahl  kam  auch  hier  eine 
starke  Verminderung  des  Lebendgewichtes  und  damit  der 
Fetterzeugung. 

Diese  wenigen  Zahlen  mögen  genügen,  um  ein  Bild 
davon  zu  geben,  wie  schwer  und  ernst  es  um  die  belagerte 
Festung  stand  und  wieviel  darauf  ankam,  den  Druck  der 
Handels-  und  Hungerblockade  zu  lockern  und  aus  den 
neutralen  Ländern  alles,  was  immer  erreichbar  war  an 
Nahrungsmitteln  und  Rohstoffen,  hereinzuholen. 


201 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Der  Wirtschaftskampf  um  die  Neutralen 

Die  Mittel  des  Gegendruckes,  die  uns  gegenüber  dem 
Druck  Englands  auf  die  Neutralen  zur  Verfügung  standen, 
waren  bescheiden.  Die  Zeiten,  in  denen  der  Verkäufer 
im  allgemeinen  in  der  schlechteren  Lage  ist  als  der  Käufer, 
in  denen  die  Konkurrenz  des  Angebots  meist  größer  ist 
als  die  Nachfrage,  waren  mit  Kriegsausbruch  vorbei.-  Von 
jetzt  ab  beherrschte  der  Warenhunger  den  internationalen 
Handel.  Auch  für  die  Neutralen  war  jetzt  die  erste  Frage 
nicht  mehr:  ,,Was  kann  ich  dir  verkaufen?“  sondern: 
,,Was  kannst  du  mir  liefern?“ 

Der  Welthandel  ist  in  der  Hauptsache  Seehandel.  Da 
unsere  Feinde  die  See  beherrschten,  konnten  sie  den 
Neutralen  nicht  nur  die  Erzeugnisse  ihres  eigenen  Landes 
und  ihrer  weltumfassenden  überseeischen  Besitzungen  je 
nach  Belieben  liefern  oder  vorenthalten,  sondern  darüber 
hinaus  hatten  sie  es  in  der  Hand,  die  Erzeugnisse  der 
ganzen  überseeischen  Welt  den  europäischen  Neutralen 
zu  sperren.  Sie  haben  von  dieser  Möglichkeit  ohne  jede 
Rücksicht  auf  das  Völkerrecht  den  brutalsten  Gebrauch 
gemacht. 

Uns  stand  demgegenüber  nur  unsere  eigene,  durch  den 
Krieg  ebensosehr  beeinträchtigte  wie  in  Anspruch  ge- 
nommene Erzeugung  zu  Gebote.  Darunter  wichtige  Dinge, 
wie  Kohlen,  Eisen  und  Stahl,  Teerfarben,  Arzneimittel, 
Kali  und  ähnliches.  Aber  einmal  konnten  wir  auch  von 


202 


Deutscher  Gegendruck  auf  die  Neutralen 


diesen  Dingen  nur  beschränkte  Mengen  abgeben;  ferner 
waren  Kohlen  und  Eisen  immerhin  der  Konkurrenz  von 
englischer  und  auch  amerikanischer  Seite  ausgesetzt ; 
schließlich  ist  der  stärkste  Druck  immer  noch  der  Hunger, 
den  die  Entente  durch  die  Sperrung  der  Zufuhr  an  Nah- 
rungs- und  Futtermitteln  in  Wirkung  setzen  konnte.  Es 
handelte  sich  darum,  mit  den  wenigen  Trümpfen,  die  wir 
in  unserm  Spiel  hatten,  das  möglichste  an  Vorteilen 
herauszuholen. 

Dazu  war  nötig  die  planmäßige  Verfügung  über  unsere 
für  die  Ausfuhr  verfügbaren  Waren.  Schon  die  unbe- 
dingte Sicherung  des  eigenen  Bedarfs  für  Kriegs-  und 
Wirtschaftszwecke  hatte  bald  einzelne  Ausfuhrverbote 
erforderlich  gemacht.  Die  Notwendigkeit,  unsere  Ausfuhr 
als  Mittel  im  Wirtschaftskampf  um  die  Neutralen  zu  ver- 
werten, machte  es  vollends  unmöglich,  die  Ausfuhr  und 
die  Ausfuhrbedingungen  in  dem  Belieben  des  einzelnen 
Produzenten  oder  Händlers  zu  belassen. 

Nicht  minder  wurde  eine  Regelung  der  Einfuhr  not- 
wendig. 

Wir  konnten  einmal  die  ohnedies  gewaltigen  Schwierig- 
keiten der  Heranziehung  ausländischer  Zufuhren  nicht 
dadurch  ins  Ungemessene  steigen  lassen,  daß  deutsche 
Aufkäufer  auf  den  überlaufenen  neutralen  Märkten  sich 
gegenseitig  eine  schrankenlose  Konkurrenz  machten,  die 
Preise  unvernünftig  in  die  Höhe  boten  und  die  sonstigen 
Gegenforderungen  des  Auslandes  maßlos  erhöhten. 


203 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Wir  mußten  ferner  mit  unserer  beschränkten  Kaufkraft 
für  ausländische  Waren  haushalten  und  die  für  uns  be- 
schaffbaren Beträge  an  fremder  Valuta  für  den  Ankauf 
der  am  dringlichsten  benötigten  Waren  verwenden. 

Schließlich  ließ  die  Tatsache,  daß  die  Einfuhr  wichtiger 
Waren  nur  in  bestimmten  Mengen  und  nur  gegen  Zuge- 
ständnisse unsererseits  auf  dem  Gebiete  der  Ausfuhr  zu 
erreichen  war,  gar  keine  andere  Wahl  als  eine  planmäßige 
Regelung  auch  der  Einfuhr. 

Das  sind  die  z\vingenden  Gründe,  aus  denen  die  viel- 
gescholtene Reglementierung  und  Zentralisation  unserer 
Aus-  und  Einfuhr  entstand. 

Diese  zwingenden  Gründe  wurden,  wie  die  ganze  Trag- 
weite des  Wirtschaftskrieges,  nicht  von  Anfang  an  voll 
erkannt.  Aber  immerhin  zeigten  weite  und  wichtige 
Kreise  unseres  Wirtschaftslebens  schon  in  den  ersten 
Tagen  und  Wochen  des  Krieges  ein  richtiges  Gefühl  für 
die  Notwendigkeit  einheitlichen  Vorgehens  beim  Einkauf 
im  neutralen  Ausland.  Die  damals  schon  aus  der  Initiative 
unserer  industriellen  und  kommerziellen  Kreise  geschaf- 
fenen Organisationen  sind  später  ausgebaut  und  mit 
anderen,  vielfach  nach  ihrem  Vorbild  geschaffenen  Ein- 
richtungen in  den  Dienst  der  Kriegshandelspohtik  gestellt 
worden.  Vielfach  aber  fehlte  das  Verständnis  für  die 
Notwendigkeit  einer  einheitlichen  und  planmäßigen  Lei- 
tung unserer  Einkaufs-  und  Verkaufsgeschäfte  mit  den 
Neutralen  in  einem  geradezu  erstaunhchen  Maße.  Es 


204 


Reglementierung  und  Zentalisatiron  der  Aus-  und  Einfuhr 


blieb  dann  nichts  übrig,  als  mit  den  Machtmitteln,  die  der 
Reichstag  dem  Bundesrat  übertragen  hatte,  auch  gegen 
den  Willen  der  unmittelbar  beteiligten  Kreise  durch- 
zugreifen. 

Schon  als  Schatzsekretär  hatte  ich  in  wichtigen  und 
bezeichnenden  Fällen  Veranlassung,  mich  mit  diesen 
Fragen  zu  befassen. 

Die  Einkäufe  für  den  Bedarf  des  Feldheeres  auf  den 
neutralen  Märkten,  die  damals  noch  einen  verhältnis- 
mäßigen Überfluß  an  Fleisch,  Fett,  Butter  und  Käse 
hatten,  erforderten  sehr  hohe  und  fortgesetzt  steigende 
Summen.  Die  Ursache  war,  daß  die  mit  dem  Ein- 
kauf beauftragten  militärischen  Stellen  auf  diesen 
Märkten  nicht  nur  mit  dem  Ausland,  sondern  auch  mit 
deutschen  Einkäufern  der  verschiedensten  Art,  mit  Händ- 
lern, industriellen  Werken,  Kommunen,  Einkaufsgesell- 
schaften usw.,  ebenso  mit  Einkäufern  für  den  österrei- 
chischen Heeres-  und  Zivilbedarf  zu  konkurrieren  hatten. 
Man  trieb  sich  gegenseitig  die  Preise  hoch  mit  der  Wirkung, 
daß  die  Verkäufer,  je  mehr  die  Preise  stiegen,  desto  mehr 
auf  weitere  Preissteigerungen  spekulierten  und  die  Ware 
zurückhielten.  Sehr  schlimm  lagen  die  Verhältnisse  auf 
dem  dänischen  Buttermarkt.  Ich  setzte  im  Herbst 
1915  die  Zentralisation  des  Einkaufs  unter  Einbeziehung 
Österreich-Ungarns  durch  mit  dem  Erfolg,  daß  der  Butter- 
preis, der  bis  auf  275  Kronen  für  50  kg  gestiegen  war, 
in  nicht  allzu  langer  Zeit  auf  152  Kronen  zurückgebracht 


205 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


wurde  und  außerdem  die  Ankäufe  für  Deutschland  und 
Österreich-Ungarn  erheblich  gesteigert  werden  konnten. 
Für  das  Reich  wurden  monatlich  eine  ganze  Anzahl  von 
Millionen  gespart,  und  für  die  Bevölkerung  wie  für  das 
Heer  wurde  die  Butterversorgung  verbessert. 

Noch  weit  schlimmer  lagen  die  Dinge  auf  dem  rumä- 
nischen Getreidemarkte. 

Nachdem  die  überseeische  Zufuhr  von  Getreide  und 
Futtermitteln  für  uns  abgeschnitten  und  für  die  euro- 
päischen Neutralen  auf  ein  Mindestmaß  eingeschränkt 
worden  war,  blieb  uns  und  unsern  österreichisch-unga- 
rischen Verbündeten  als  einziges  Land,  aus  dem  größere 
Mengen  bezogen  werden  konnten,  das  damals  noch  neutrale 
Rumänien.  Die  Jahre  1914  und  1915  brachten  in  Rumänien 
reiche  Ernten,  für  die  infolge  der  Dardanellensperre  ein 
anderer  Absatz  als  an  die  Mittelmächte  zunächst  nicht 
in  Frage  kommen  konnte.  Außerdem  war  Rumänien  dem 
Druck  des  britischen  Wirtschaftskrieges  entrückt.  Rein 
wirtschaftlich  waren  also  die  Voraussetzungen  für  den 
Bezug  von  Getreide  und  Futtermitteln,  namentlich  Mais, 
aus  Rumänien  durchaus  günstig.  Politisch  allerdings  war 
die  Haltung  Rumäniens  von  Anfang  an  zweifelhaft,  und 
die  rumänische  Regierung  mit  ihrem  ganzen  Beamten- 
apparat, ebenso  die  rumänische  Landwirtschaft  und  der 
rumänische  Handel  waren  geneigt,  die  Notlage  der  Mittel- 
mächte nach  Kräften  auszunutzen.  Wir  erleichterten 
ihnen  dieses  Spiel.  Noch  viel  mehr  als  auf  den  dänischen 

206 


Reglementierung  und  Zentralisation  der  Aus-  und  Einfuhr 


Buttermarkt  stürzten  sich  der  reelle  und  unreelle  Handel, 
die  Einkäufer  der  Militärverwaltung,  wirtschaftlicher  Unter- 
nehmungen, von  Städten  und  Landwirtschaftskammem 
auf  die  rumänischen  Vorräte.  Die  Rumänen  verkauften 
zu  immer  höheren  Preisen  — ich  glaube  für  Mais  wurden 
schließlich  an  die  tausend  Mark  für  die  Tonne  bezahlt, 
— ließen  sich  bar  bezahlen,  legten  aber  dem  Abtransport 
solche  Schwierigkeiten  in  den  Weg,  vor  allem  indem  sie 
die  tatsächlich  vorhandenen  Transportschwierigkeiten  ins 
maßlose  übertrieben,  daß  so  gut  wie  nichts  aus  Rumänien 
herauskam.  Es  lagerten  schließlich  in  Rumänien  etwa 
700  000  Tonnen  Getreide  im  Ankaufswert  von  etwa 
200  Millionen  Mark,  die  von  uns  und  unsern  Verbündeten 
bezahlt  waren,  aber  nicht  abtransportiert  werden  konnten. 
Weitere  große  Mengen  Getreide  waren  noch  verfügbar, 
aber  die  Rumänen,  die  inzwischen  ihrerseits  den  ganzen 
Getreideverkauf  syndiziert  hatten,  verlangten  uner- 
schwingliche Preise  und  unerfüllbare  Zahlungsbedingungen. 

Auch  hier  konnte  nur  die  Zentralisation  des  Einkaufs 
helfen,  zugleich  mit  einer  einheitlichen  Disposition  über 
die  von  uns  für  den  Abtransport  zur  Verfügung  zu  stellenden 
Transportmittel. 

Auf  mein  Betreiben  wurde  in  schwierigen  Verhandlungen 
die  Zentralisation  durchgesetzt  und  das  Einkaufsgeschäft 
der  Zentraleinkaufsgesellschaft,  der  später  aus  Un- 
kenntnis und  Unverstand  so  viel  angefeindeten  Z.  E.  G., 
übertragen.  Die  Zentraleinkaufsgesellschaft  schloß  sich 


207 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


ihrerseits  mit  der  österreichischen  Kriegs-Getreide-Ver- 
kehrsanstalt  und  der  ungarischen  Kriegs-Produkten-Ak- 
tiengesellschaft  zu  einheitlichem  Vorgehen  zusammen. 

Schon  im  September  1915,  also  noch  vor  Beginn  des 
Feldzuges  gegen  Serbien,  konnte  mit  dem  Abtransport 
von  Getreide  begonnen  werden. 

Der  rasche  und  glückliche  Verlauf  des  serbischen  Feld- 
zuges hatte  einmal  die  Wirkung,  der  Ententefreundschaft 
in  Rumänien  einen  Dämpfer  aufzusetzen ; dann  aber 
machte  er  den  Donauweg  für  den  Abtransport  des  rumä- 
nischen Getreides  frei. 

Es  gelang  nun  der  Zentraleinkaufsgesellschaft,  im  De- 
zember 1915  und  im  März  1916  mit  der  rumänischen 
Regierung  Verträge  abzuschließen,  durch  die  den  Mittel- 
mächten rund  2, 7 Millionen  Tonnen  Getreide  zu  erträglichen 
Preisen  und  Zahlungsbedingungen  gesichert  wurden.  Die 
Verträge  kamen  zustande,  obwohl  die  Ententeregierungen, 
vor  allem  die  britische  Regierung,  mit  allen  Mitteln  ver- 
suchten, den  Abschluß  zu  vereiteln.  Ein  Versuch  Eng- 
lands, die  rumänischen  Getreidebestände  durch  Ankauf 
zu  hohen  Preisen  und  Einlagerung  in  Rumänien  für  die 
Mittelmächte  zu  sperren,  kam  zu  spät  und  gelang  nur  in 
bescheidenen  Grenzen. 

Die  großen  Schwierigkeiten  des  Abtransportes  wurden 
durch  ein  Zusammenwirken  der  Einkaufsgesellschaften 
mit  dem  Chef  des  deutschen  Feldeisenbahnwesens  und 
der  österreichisch -ungarischen  Zentraltransportleitung 

208 


Die  Zentraleinkaufsgesellschaft 


Überwunden.  Die  Durchfahrt  durch  das  Eiserne  Tor  wurde 
verbessert  und  zweckmäßig  organisiert.  Die  ungarischen 
Bahnen,  auf  denen  der  weitere  Abtransport  sich  zum 
großen  Teile  zu  vollziehen  hatte',  wurden  durch  Verlän- 
gerung der  Ausweichgleise  usw.  leistungsfähiger  gemacht. 
Die  Zentraleinkaufsgesellschaft  schuf  sich  in  kurzer  Zeit 
eine  ansehnliche  Donauflotte  und  sorgte  für  die  nötigen 
Umschlags-  und  Umladeeinrichtungen. 

Der  Erfolg  war,  daß  es  gelang,  bis  zum  Ausbruch 
des  Krieges  mit  Rumänien  das  angekaufte  Getreide 
abzu transportieren.  Deutschland  hat  in  dem  kritischen 
Frühjahr  und  Sommer  1916  aus  Rumänien  Getreidezu- 
fuhren von  mehreren  hunderttausend  Tonnen  monatlich 
erhalten.  — 

War  die  Zentralisation  der  Einfuhr  in  den  Händen 
weniger,  nach  kaufmännischen  Grundsätzen  arbeitender 
und  nach  einheitlichen  Direktiven  handelnder  Organi- 
sationen eine  unerläßliche  Voraussetzung  für  ein  erfolg- 
reiches Vorgehen  auf  den  neutralen  Märkten,  so  genügte 
sie  doch  für  sich  allein  keineswegs,  um  einen  Erfolg  zu 
sichern.  Die  planmäßige  Tätigkeit  unserer  Einkaufs- 
organe mußte  Hand  in  Hand  gehen  mit  der  planmäßigen 
Verfügung  über  unsere  Ausfuhr,  und  da  sich  bald  zeigte, 
daß  unsere  Ausfuhr  in  ihrem  Geldwert  weit  zurückblieb 
hinter  der  Einfuhr,  die  wir  benötigten  und  uns,  eine 
Lösung  der  Bezahlungsfrage  vorausgesetzt,  beschaffen 
konnten,  so  kam  als  Drittes  hinzu  die  Beschaffung  der  für 


14  Hel  ff  er  ich,  Weltkrieg  II 


209 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


die  Bezahlung  des  Einfuhrüberschusses  erforderlichen  aus- 
ländischen Zahlungsmittel. 

In  der  Ausnutzung  unserer  für  die  Neutralen  willkom- 
menen oder  gar  notwendigen  Ausfuhrwaren  für  die  Zwecke 
der  Sicherung  von  Zufuhren  an  für  uns  notwendigen  Roh- 
stoffen und  Lebensmitteln  konnte  nicht  nach  einer  ein- 
heitlichen Schablone  verfahren  werden.  Die  Verhältnisse 
für  ein  Operieren  mit  unsem  Ausfuhrwaren  lagen  in  einem 
jeden  der  neutralen  Länder  anders.  Der  Grad  ihrer  Ab- 
hängigkeit von  unserer  Ausfuhr  war  ebenso  verschieden 
wie  der  Grad  ihrer  Abhängigkeit  von  der  Entente;  und 
auch  in  den  einzelnen  neutralen  Ländern  erfuhr  dieses 
Verhältnis  während  des  Krieges  fortgesetzt  Verschie- 
bungen. 

In  großen  Zügen  entwickelte  sich  unser  Vorgehen  so, 
daß  in  der  ersten  Zeit  des  Krieges  vorwiegend  einzelne 
Kompensationsgeschäfte  mit  unsem  neutralen  Nachbarn 
abgeschlossen  wurden;  d.  h.  wir  machten  einzelne  wich- 
tige Ausfuhrgeschäfte  abhängig  von  bestimmten  Gegen- 
leistungen der  Neutralen  für  unsere  Versorgung.  Unab- 
hängig von  diesen  Warengeschäften,  gelegentlich  auch  in 
Verbindung  mit  ihnen,  wurde  mit  neutralen  Geldinstituten 
über  die  Eröffnung  von  Krediten  für  die  Bezahlung 
unseres  Einfuhrüberschusses  verhandelt.  Es  stellte  sich 
nun  bald  heraus,  daß  der  Weg  des  Einzelaustausches  nicht 
immer  vorteilhaft  und  nicht  immer  gangbar  für  uns  war, 
vor  allem  aber,  daß  nur  ein  bescheidener  Teil  unseres 


210 


Kompensationsgeschäfte 


Einfuhrbedarfs  durch  einzelne  Kompensationsgeschäfte 
gedeckt  werden  konnte.  Man  kam  deshalb  allmählich  zu 
umfassenderen  Abmachungen  mit  den  neutralen  Staaten, 
in  denen  man  sich  gegenseitig  eine  Berücksichtigung 
der  beiderseitigen  Interessen  bei  der  Handhabung  von 
Ausfuhrgenehmigungen  und  Ausfuhrverboten  zusicherte. 
Dabei  handelte  es  sich  für  uns  darum,  durch  ein  weit- 
herziges Entgegenkommen  in  unserer  Ausfuhrpolitik  den 
Widerstand  der  Neutralen  gegen  den  Druck  der  Entente 
zu  stärken,  vor  allem  zu  verhindern,  daß  die  Neutralen 
sich  dem  Verlangen  der  Entente  nach  dem  Erlaß  von 
Ausfuhrverboten  fügten,  oder  zu  erreichen,  daß  bereits 
erlassene  Ausfuhrverbote  dauernd  oder  wenigstens  für 
einen  bestimmten  Zeitraum  wieder  aufgehoben  würden. 
Wenn  auch  diese  Abmachungen  insofern  der  Präzision 
des  Einzelaustauschgeschäftes  ermangelten,  als  Leistung 
und  Gegenleistung  nicht  ziffernmäßig  festgelegt  war,  so 
hatten  wir  doch  eine  wirksame  Handhabe,  um  auf  eine 
sinngemäße  Ausführung  zu  dringen.  Erfüllte  ein  neutraler 
Staat  die  Erwartungen  nicht,  auf  Grund  deren  wir  uns 
entgegenkommend  gezeigt  hatten,  so  waren  wir  in  der 
Lage,  unsere  Ausfuhren  nach  diesem  Staat  entsprechend 
einzuschränken  und  damit  einen  Druck  auszuüben.  So 
hat  die  Schweiz  im  Spätsommer  1916  unter  dem  Druck 
Frankreichs  und  Englands  die  Ausfuhr  aller  Waren,  die 
von  der  Entente  zu  feannware  deklariert  worden  waren, 
nach  Deutschland  eingestellt.  Wir  gingen,  als  alle  unsere 


14' 


2II 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Vorstellungen  daran  scheiterten,  daß  die  Entente  die 
Schweiz  unter  dem  stärksten  Druck  hielt,  auch  unserer- 
seits mit  dem  stärksten  Druck  vor,  indem  wir  eine  Aus- 
fuhrsperre für  Kohle,  Eisenwaren  und  andere  für  die 
Schweiz  unentbehrlichen  Güter  in  die  Wege  leiteten.  Der 
Erfolg  war,  daß  schließlich  eine  für  uns  erträgliche  Einigung 
zustande  kam. 

Solche  Erfahrungen  führten  zu  einem  weiteren  Fort- 
schritt in  der  Gestaltung  unserer  Wirtschaftsbeziehun- 
gen zu  unsern  neutralen  Anliegern.  Die  in  ihrer  Fest- 
setzung von  Leistung  und  Gegenleistung  präzisen  Einzel- 
kompensationsgeschäfte waren  nur  beschränkt  anwendbar 
und  reichten  nicht  aus,  um  unsem  Einfuhrbedarf  zu 
decken;  die  umfassenderen  Verständigungen  über  gegen- 
seitige Berücksichtigung  bei . der  Handhabung  der  Aus- 
fuhrregelung waren  nicht  bestimmt  genug,  um  für  beide 
Teile  Lieferung  und  Bezug  auf  eine  wenigstens  für  einige 
Zeit  gesicherte  Grundlage  zu  stellen  und  plötzliche  Stö- 
rungen auszuschließen.  Es  handelte  sich  darum,  die  Vor- 
teile beider  Systeme  zu  verbinden  und  dabei,  wenn  irgend 
möglich,  auch  die  immer  schwieriger  werdende  Finanzie- 
rung unserer  Bezüge  sicherzustellen.  Zu  diesem  Zweck 
schlug  ich  vor,  den  Versuch  zu  machen,  mit  unsem 
neutralen  Nachbarn  zu  Abmachungen  zu  gelangen,  die 
sich  erstens  auf  einen  bestimmten  längeren  Zeitraum 
erstreckten,  zweitens  für  diesen  Zeitraum  bestimmte 
Leistungen  und  Gegenleistungen  an  den  für  jeden  der 


212 


Wirtschaftliche  Abmachungen  mit  den  Neutralen 


beiden  Teile  wichtigsten  Ausfuhrgütern  vorsahen,  drittens 
gleichzeitig  den  Überschuß  unserer  Einfuhr  über  die  Aus- 
fuhr durch  bestimmte  Kredit  Vereinbarungen  deckten.  Auf 
dieser  Grundlage  wurde  in  der  Folgezeit  mit  der  Schweiz, 
mit  Holland,  mit  Dänemark  und  mit  Schweden  ver- 
handelt und  abgeschlossen. 

Daß  die  .immer  straffer  durchgeführte  Reglementierung 
und  Zentralisierung  unsrer  Einfuhr  und  Ausfuhr,  zu  der 
als  notwendige  Ergänzung  noch  die  Regelung  des  Verkehrs 
in  ausländischen  Zahlungsmitteln  (Devisenordnung)  hinzu- 
trat, die  Interessen  zahlreicher  Einzelner  und  wichtiger 
Berufsstände  schädigte,  daß  bei  der  Durchführung  manche 
übertriebene  Härte,  manche  überflüssige  Umständlichkeit, 
mancher  vermeidbare  Fehler  mit  unterlief,  darüber  habe 
ich  nie  einen  Zweifel  gehabt.  Insbesondere  der  Handel, 
dessen  Vermittlertätigkeit  kaum  mehr  ein  Arbeitsfeld  fand, 
wurde  schwer  getroffen.  Die  Organisationen  zur  Durch- 
führung der  nun  einmal  durch  die  Kriegsverhältnisse  uns 
aufgezwungenen  einheitlichen  und  planmäßigen  Regelung 
unseres  Außenhandels  mußten  gewissermaßen  aus  dem 
Nichts  heraus  geschaffen  werden.  Das  notwendige  Per- 
sonal — es  waren  bei  der  Zentraleinkaufsgesellschaft 
im  Jahre  1916  weit  über  4000  Angestellte  — mußte 
aus  allen  Richtungen  der  Windrose  zusammengeholt, 
eingegliedert  und  eingearbeitet  werden.  Umsätze,  die 
bald  in  die  Hunderte  von  Millionen,  ja  in  die  Milliarden 
gingen,  waren  zu  bewältigen  — kurz,  das  größte 


213 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Warenhandelsgeschäft,  das  die  Welt  je  gesehen  hatte,  war 
aufzubauen  und  hatte  zu  arbeiten  unter  Verhältnissen 
und  nach  Methoden,  die  ohne  Vorbild  waren.  Und  über 
den  Köpfen,  die  das  alles  zu  leisten  hatten,  schwang  der 
Krieg  seine  Hetzpeitsche.  Alles  drängte.  Oft  kam  es  für 
wichtige  Entscheidungen  und  Maßnahmen  auf  Stunden 
an.  Da  hieß  es  manchmal  nach  dem  alten  militärischen 
Grundsatz  zu  handeln:  Besser  ein  falscher  Entschluß 
als  gar  keiner! 

Alle  Mängel  und  Unzuträglichkeiten,  auch  alle  Kritik 
und  alle  Angriffe  mußten  um  des  Ganzen  willen  in  Kauf 
genommen  werden.  Ja,  es  mußte  von  denjenigen,  die  vor 
der  Kritik  und  den  Angriffen  Rede  zu  stehen  hatten, 
sogar  hingenommen  werden,  daß  sie  von  der  stärksten 
Waffe  der  Rechtfertigung  und  Verteidigung,  dem  Hinweis  , 
auf  die  erzielten  Erfolge,  überhaupt  nicht  oder  nur  im 
engen  Kreise  vertraulichster  Beratungen  Gebrauch  machen 
konnten.  Denn  die  Darlegung  der  erzielten  Erfolge  hätte 
unsern  Feinden  Einblicke  in  unsere  Arbeit  gegeben,  die 
ihnen  wirksame  Gegenaktionen  ermöglicht  und  damit  die 
glücklich  gesicherten  Zufuhren  wieder  auf  das  schwerste 
gefährdet  hätten. 

Heute  läßt  sich  ohne  Gefährdung  deutscher  Interessen 
über  diese  Dinge  sprechen,  und  ich  gebe  deshalb  einige 
Tatsachen,  die  zeigen,  in  welchem  Maße  es  uns  ge- 
lungen ist,  in  dem  schweren  Kampf  mit  der  Entente 
unsere  Stellung  auf  den  Märkten  der  uns  benachbarten 


214 


Gestaltung  unseres  Außenhandels 


Neutralen  nicht  nur  zu  behaupten,  sondern  sogar  auf 
Kosten  Englands  zu  verbessern. 

Zunächst  sei  festgestellt,  daß  uns  trotz  der  Handels- 
und Hungerblockade  die  Aufrechterhaltung  unserer  Ein- 
fuhr in  weit  höherem  Maße  gelungen  ist,  als  während 
des  Krieges  wohl  von  allen  nicht  Eingeweihten  ange- 
nommen wurde. 

Unsere  Einfuhr  im  letzten  Friedensjahre,  1913,  hatte 
den  Wert  von  10,8  Milliarden  Mark  erreicht.  Unsere 
Einfuhr  im  Jahre  1915,  als  der  Handels-  und  Hungerkrieg 
bereits  im  vollen  Gange  war,  betrug  immer  noch  7,1  Mil- 
harden Mark;  im  Jahre  1916  stellt  sie  sich  auf  8,4  Milliarden, 
1917  auf  7,1  Milliarden  Mark.  Freilich  erscheint  der 
tatsächlich  eingetretene  Einfuhrrückgang  in  diesen  Ziffern 
zu  gering;  die  Preissteigerung  fast  aller  Waren,  die  auch 
im  Jahre  1915  sich  bereits  geltend  machte,  verwischt  das 
Bild  der  wirklichen  Entwicklung.  Immerhin  bleibt,  auch 
wenn  man  die  Preissteigerung  in  Rechnung  setzt,  die 
Tatsache  bestehen,  daß  uns  trotz  der  Absperrung  von  der 
überseeischen  Welt  und  trotz  des  Druckes,  den  die  Entente 
auf  die  uns  benachbarten  Neutralen  ausübte,  eine  recht 
ansehnliche  Einfuhr  verblieben  ist.  Eine  Betrachtung 
der  Einfuhrmengen  einzelner  wichtiger  Artikel  wird  dies 
bestätigen. 

Gleich  hier  möchte  ich  darauf  aufmerksam  machen, 
daß  unsere  Ausfuhr  einen  weit  stärkeren  Rückgang  er- 
fahren hat  als  unsere  Einfuhr.  Während  im  Jahre  1913 


215 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


unsere  Ausfuhr  mit  io,i  Milliarden  Mark  nur  um  rund 
700  Millionen  Mark  hinter  unserer  Einfuhr  zurückgeblieben 
war,  sank  unsere  Ausfuhr  irn  Jahre  1915  auf  3,1  Milliarden 
Mark,  ließ  also  gegenüber  der  gleichzeitigen  Einfuhr  einen 
Fehlbetrag  von  4 Milliarden  Mark.  Es  gelang  zwar,  im 
Jahre  1916,  trotz  der  schwierigen  Verhältnisse  und  des 
immer  wachsenden  eigenen  Bedarfs  für  Heer  und  Volk, 
die  Ausfuhr  auf  3,8  Milliarden  Mark  zu  steigern;  aber 
der  Abstand  gegenüber  dem  Einfuhrwert  wuchs,  da  letzterer 
noch  mehr  gestiegen  war,  auf  4^/2  Milliarden  Mark.  Im 
Jahre  1917  stand. der  Einfuhr  von  7,1  Milliarden  eine  Aus- 
fuhr von  3,4  Milliarden  gegenüber;  der  Einfuhrüberschuß 
betrug  also  3,7  Milliarden  Mark.  Die  großen  und  im  Laufe 
des  Krieges  fortgesetzt  steigenden  Schwierigkeiten  der 
Beschaffung  von.  Zahlungsmitteln  für  das  Ausland,  die 
hieraus  sich  ergebende  Steigerung  der  Wechselkurse  der 
neutralen  Länder  und  der  Druck  auf  unsere  eigene  Valuta 
finden  in  dem  jährlich  mehrere  Milliarden  betragenden 
Passivsaldo  unserer  Handelsbilanz  ihre  Erklärung. 

Wenn  unsere  Einfuhr  sich  in  dem  geschilderten  Umfang 
aufrechterhalten  konnte,  so  lag  dies  daran,  daß  die  uns 
benachbarten  Neutralen,  zu  denen  bis  Ende  August  1916 
auch  Rumänien  zu  rechnen  ist,  den  Ausfall  der  Einfuhr 
aus  den  feindlichen  Ländern  und  den  nur  auf  dem  See- 
wege zu  erreichenden  Neutralen  zu  einem  erheblichen 
Teil  wettmachten;  denn  unsere  Verbündeten,  deren  Hilfs- 
quellen für  den  eigenen  Bedarf  durch  den  Krieg  stark  in 

216 


Gestaltung  unserer  Einfuhr 


Anspruch  genommen  waren,  vermochten  uns  in  dieser 
Beziehung  keine  ziffernmäßig  ins  Gewicht  fallende  Hilfe 
zu  gewähren.  Während  unsere  Gesamteinfuhr  sich  von 
10,8  Milliarden  Mark  im  Jahre  1913  auf  7,1  Milliarden 
Mark  im  Jahre  1915  verringerte,  stieg  unsere  Einfuhr 
aus  den  uns  benachbarten  Neutralen  (einschl.  Rumäniens) 
in  derselben  Zeit  von  i,i  auf  3,5  Milliarden  Mark.  Im 
ersten  Halbjahr  1916  stellte  sich  der  Anteil  dieser  Neu- 
tralen an  unserer  Einfuhr  sogar  auf  rund  70%  gegen 
wenig  mehr  als  10%  im  Jahre  1913. 

An  einzelnen  wichtigsten  Gütern  konnten  uns  die  be- 
nachbarten Neutralen  einen  vollen  Ersatz  für  den  Weg- 
fall der  Einfuhr  aus  den  feindlichen  und  den  für  uns  ge- 
sperrten neutralen  Ländern  gewähren,  ja  sogar  darüber 
hinaus  unsere  Gesamtbelieferung  steigern.  Das  gilt  vor 
allem  für  die  Produkte  der  Viehzucht,  die  in  den  uns 
benachbarten  Neutralen,  vor  allem  in  Holland  und  Däne- 
mark, zu  hoher  Leistungsfähigkeit  entwickelt  war.  So 
ist  unsere  Einfuhr  von  Schweinefleisch,  einschließlich 
Schinken,  von  21  600  Tonnen  im  Jahre  1913  auf  98  200 
Tonnen  im  Jahre  1915  gebracht  worden.  In  derselben 
Zeit  stieg  unsere  Einfuhr  von  Butter,  an  der  vor  dem 
Kriege  Rußland  (Sibirien)  zu  mehr  als  der  Hälfte  beteiligt 
war,  trotz  des  Wegfalls  dieser  wichtigsten  Bezugsquelle,  von 
54  200  auf  68  500  Tonnen,  während  allerdings  gleichzeitig 
die  Einfuhr  von  Milch  und  Rahm  eine  starke  Verminde- 
rung erfuhr.  In  derselben  Zeit  ist  ferner  die  Einfuhr 


217 


Wirtschaftslo-ieg  und  Kriegswirtschaft 


von  Käse  von  26  300  Tonnen  auf  67  300  Tonnen, 
also  auf  mehr  als  das  2^/2  fache  der  Friedenseinfuhr 
gebracht  worden.  Die  Einfuhr  von  Salzheringen  wurde 
von  I 298  000  Faß  auf  2 883  000  Faß,  also  auf  mehr  als 
das  Doppelte,  gesteigert. 

Natürhch  waren  die  uns  benachbarten  Neutralen,  denen 
wir  diese  wichtigen  Zuschüsse  zu  unserm  Kriegshaushalt 
verdanken,  nicht  in  der  Lage,  ihre  Erzeugung  an  allen 
diesen  Dingen  von  heute  auf  morgen  in  einem  Maße  aus- 
zudehnen, das  ihnen  ohne  weiteres  eine  so  erheblich  ge- 
steigerte Belieferung  Deutschlands  gestattet  hätte.  Irgend- 
welche anderen  Abnehmer,  seien  es  die  inländischen  Ver- 
braucher, seien  es  ausländische  Bezieher,  mußten  zugunsten 
Deutschlands  verkürzt  werden. 

So  war  es  in  der  Tat.  Und  der  verkürzte  Bezieher  war 
in  der  Hauptsache  — England! 

Das  sei  an  einigen  Beispielen  illustriert. 

Die  Ausfuhr  der  Niederlande  nach  Deutschland  und 
England  an  einigen  wichtigen  Artikeln,  um  deren  Bezug 
die  beiden  Länder  während  des  Krieges  konkurrierten, 
hat  sich  folgendermaßen  entwickelt*: 

Holländische  A\isfiihr  nach 
Deutschland  England 

an  Butter  im  Jahre  1913 19  000  t 7 900  t 

„ „ 1915 36  700  „ 2 500  „ 

„ ,,  1916 31  500  „ 2 200  „ 

• Für  1917  und  1918  stehen  mir  die  Ziffern  nicht  zur  Verfügung. 


218 


Gestaltung  unserer  Einfuhr 


Holländische  Ausfuhr  nach 
Deutschland  England 

an  Käse  im  Jahre  1913 

19  100  t 

„ „ 1915  

• 63  300  „ 

8 400  ,, 

„ „ 1916  

. 76  200  „ 

6 800  ,, 

an  Schweinefleisch  im  Jahre  1913  . 

. II 000  „ 

34  000  M 

„ „ 1915  • 

• 55 100  „ 

7 600  „ 

„ „ 1916  . 

• 25 100  „ 

10  300  „ 

an  Eiern  im  Jahre  1913 

• 15  300  „ 

5 800 

„ 1915 

. 25  200  „ 

7 800  „ 

„ 1916 

• 36  400  „ 

800  „ 

Deutschland  hat  also  seine  Einfuhr  aus  den  Niederlanden 
an  diesen  für  die  Volksernährung  und  Heeresverpflegung 
so  wichtigen  Dingen  während  des  Krieges  erheblich  zu 
steigern  vermocht,  während  gleichzeitig  England  eine 
starke  Verminderung  seiner  Zufuhren  hinnehmen  mußte. 

Ähnlich  entwickelte  sich  der  Kampf  zwischen  England 
und  Deutschland  auf  dem  dänischen  Markte.  Während 
von  1913  auf  1915  die  dänische  Ausfuhr  von  Butter  nach 
England  von  85  300  auf  66  300  Tonnen  zurückging,  ver- 
mochte Deutschland  seine  Zufuhr  aus  Dänemark  von 
2 200  auf  25  200  Tonnen  in  die  Höhe  zu  bringen.  An 
Schweinefleisch  bezog  England  im  Jahre  1913  rund  9400 
Tonnen,  1915  nur  noch  1 900  Tonnen ; Deutschland  dagegen 
vermochte  seine  Bezüge  von  3 800  auf  17  900  Tonnen  zu 
steigern.  Dänemarks  Eierausfuhr  nach  England  zeigte  einen 
Rückgang  von  30000  auf  18800  Tonnen,  nach  Deutsch- 
land dagegen  eine  Zunahme  von  1 200  auf  13  000  Tonnen. 


219 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Auch  in  der  Schweiz,  in  Schweden  und  lange  Zeit 
hindurch  sogar  in  dem  England  gegenüber  gefügigen,  von 
der  Belieferung  durch  Deutschland  kaum  abhängigen 
Norwegen  wurde  unsere  Position  nicht  nur  behauptet, 
sondern  sogar  verbessert.  Das  gilt  sowohl  für  wichtige 
Produkte  der  Viehzucht  und  der  Fischerei,  wie  auch  für 
einige  Rohstoffe,  die  für  unsere  Kriegsindustrie  von 
größter  Bedeutung  waren.  So  gelang  es,  die  Zufuhr  der 
für  unsere  Stahlfabrikation  kaum  entbehrhchen  phosphor- 
armen schwedischen  Eisenerze,  sowie  die  Zufuhr  von 
Ferrosilizium  und  andern  wichtigen  Ferrolegierungen  aus 
Schweden  aufrechtzuhalten;  desgleichen  erhielten  wir 
aus  Schweden  gewisse  Quantitäten  von  Kupfer;  ferner 
große  Mengen  von  Holzstoff,  der  uns  angesichts  der  un- 
zureichenden eigenen  Gewinnung  für  die  Herstellung  von 
Nitrozellulose,  daneben  für  die  Herstellung  von  Textilose 
und  Papier  eine  wesentliche  Hilfe  war.  Norwegen  war 
das  einzige  Land,  das  uns  und  unsern  Bundesgenossen, 
während  des  Krieges  wenigstens  mit  bescheidenen  Mengen  des 
für  die  Kriegsindustrie  unentbehrlichen  Nickels  belieferte; 
daneben  erhielten  wir  von  dort  Kupfer  und  Schwefelkies 
sowie  Rohkupfer,  auch  größere  Mengen  von  Norgesalpeter. 
Die  Schweiz  half  uns  vor  allem  aus  mit  Aluminium. 

Alles  in  allem:  Wir  haben  zwar  nicht  vermocht,  die 
britische  Seesperre  zu  brechen,  wir  blieben  während  des 
ganzen  Krieges  von  allen  nur  zur  See  erreichbaren  Märkten 
abgeschnitten;  aber  Englands  Versuch,  auch  die  uns 


220 


Gestaltung  unserer  Einfulir 


benachbarten  Neutralen  in  das  System  seiner  Blockade 
einzubeziehen  und  damit  die  Blockade  bis  unmittelbar 
an  unsere  Landgrenzen  heranzu tragen,  ist  trotz  des 
beispiellosen  von  der  Entente  angewandten  Druckes  ge- 
scheitert. Das  neutrale  Vorgelände  unserer  belagerten 
Festung  haben  wir  in  dem  schweren  Wirtschaftskampf 
siegreich  behauptet. 

Allerdings  wurde  auch  dieses  Vorgelände  mehr  und  mehr 
verwüstet  und  unterhöhlt.  England  und  seine  Verbün- 
deten scheuten  sich  nicht,  den  Druck  ihrer  völkerrechts- 
widrigen Maßnahmen  auf  unsere  neutralen  Anlieger  so 
weit  zu  steigern,  daß  deren  eigene  Produktionsfähigkeit 
und  Lebenshaltung  auf  das  schwerste  beeinträchtigt 
wurde.  Namentlich  die  Leistungsfähigkeit  der  Viehzucht 
wurde  durch  die  scharfe  Rationierung  der  Zufuhr  von 
Futtermitteln  herabgedrückt;  und  wer  immer  von  den 
Neutralen  Brot  benötigte,  mußte  sich  von  dem  Hungertod 
durch  immer  weitere  Zugeständnisse  loskaufen. 

Wir  mußten  deshalb  vom  Ende  des  Jahres  1916  an  mit 
einem  kaum  aufzuhaltenden  allmählichen  Versiegen  auch 
unserer  letzten  neutralen  Bezugsquellen  ernstlich  rechnen. 

Die  innere  Kriegswirtschaft 

Die  territoriale  Erweiterung  unserer  Wirtschaftsgrund- 
lage durch  die  militärischen  Erfolge,  die  uns  die  Besetzung 
und  Verwaltung  großer  Flächen  feindlichen  Gebietes 


221 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


ermöglichten,  und  unser  erfolgreicher  Kampf  um  die  neu- 
tralen Märkte,  die  uns  erreichbar  geblieben  waren,  reichten 
nicht  entfernt  aus,  Ersatz  zu  schaffen  für  die  gewaltigen 
Zufuhren  an  Nahrungs-  und  Futtermitteln,  an  Rohstoffen, 
Halbfabrikaten  und  Fertigwaren  aller  Art,  die  uns  durch 
den  Krieg  und  durch  die  Abschnei  düng  vom  überseeischen 
Verkehr  entzogen  wurden  und  die  bisher  ein  wesentlicher 
Teil  des  Untergrundes  unserer  Produktions-  und  Ver- 
brauchswirtschaft gewesen  waren.  So  ergab  sich  die  Not- 
wendigkeit, einmal  den  uns  verbleibenden  Spielraum  für 
Produktion  und  Verbrauch  durch  die  Anwendung  neuer 
Methoden  und  die  Gewinnung  von  Ersatzstoffen  im  In- 
land, sowie  durch  die  intensive  Nutzbarmachung  der  ver- 
fügbaren Arbeitskräfte  nach  jeder  Möglichkeit  zu  erweitern; 
dann  unsere  Gütererzeugung  und  unsere  Lebenshaltung 
auf  die  plötzlich  so  viel  enger  gewordenen  Verhältnisse 
einzustellen  und  sie  gleichzeitig  den  gewaltigen  Bedürf- 
nissen des  Krieges  anzupassen. 

Die  Technik  im  Dienst  der  Kriegswirtschaft 
Wissenschaft,  angewandte  Technik  und  Unternehmungs- 
geist hatten  sich  in  Deutschland  seit  den  Zeiten  eines 
Werner  von  Siemens  zusammengefunden  und  in  gemein- 
schaftlicher, sich  ergänzender  und  fördernder  Arbeit  die 
deutsche  Volkswirtschaft  in  den  letzten  Jahrzehnten  zu 
den  von  aller  Welt  bestaunten  und  beneideten  Fort- 
schritten befähigt.  Jetzt  galt  es,  alle  diese  Kräfte  zur 


222 


Gesteigerte  Ausnutzung  von  Stoffen  und  Kräften 


äußersten  Leistung  anzuspannen,  um  eine  Aufgabe  zu 
lösen,  so  schwer,  wie  sie  niemals  in  der  Geschichte  einem 
Volke  gestellt  worden  ist:  Das  Leben  und  die  Wirtschaft 
eines  Siebzig-Millionen- Volkes,  die  bisher  auf  der  freien 
Verfügung  über  die  Naturschätze  und  Naturerzeugnisse 
des  ganzen  Erdballes  aufgebaut  waren,  unter  den  drängenden 
Anforderungen  und  gewaltigen  Erschwernissen  des  Krieges 
durch  die  denkbar  stärkste  Ausnutzung  der  nach  Art  und 
Menge  beschränkten  Hilfsquellen  des  eigenen  Landes  auf- 
rechtzuerhalten. 

Es  war,  wie  wenn  die  Not  des  Vaterlandes  die  Kräfte 
des  deutschen  Genius  vervielfacht  hätte.  Überall  mühten 
sich  die  besten  Köpfe,  um  den  Lebensspielraum,  den  uns 
der  Feind  mit  brutaler  Gewalt  bis  zur  Erdrosselung  ein- 
engte, durch  die  Macht  schöpferischen  Geistes  zu  weiten. 
Niemals  sind  in  gleich  kurzer  Zeit  neue  Erfindungen  und 
neue  Verfahren  in  ähnlicher  Fülle  ausgedacht,  ausprobiert 
und  ins  Werk  gesetzt  worden,  ist  die  Nutzwirkung  von 
Arbeit  und  Stoff  in  ähnlichem  Ausmaß  gesteigert  und  ver- 
vollkommnet worden.  Und  wenn  schließlich  trotzdem 
das  erdrückende  Übergewicht  der  Zahl  und  der  Masse 
in  diesem  Völkerringen  den  letzten  Ausschlag  gegeben 
hat,  so  bleiben  jene  Leistungen  doch  für  alle  Zeiten  ein 
unzerstörbarer  Ruhmestitel  deutschen  Geistes  und  eine 
Gewähr  für  eine  bessere  Zukunft. 

Es  ist  nicht  möglich,  hier  eine  ins  einzelne  gehende 
Darstellung,  ja  auch  nur  eine  einigermaßen  vollständige 


223 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Übersicht  des  auf  dem  weiten  Gebiete  der  Steigerung 
unserer  nationalen  Produktionskraft  Geleisteten  zu  geben. 
Nur  einige  der  wichtigsten  Fortschritte  und  Errungen- 
schaften seien  angedeutet. 

Von  der  Schaffung  gewaltiger  Anlagen  zur  Gewinnung 
von  Stickstoff  aus  der  Luft,  die  uns  überhaupt  erst  die 
Möglichkeit  gaben,  den  ungeheuren  und  ständig  wach- 
senden Bedarf  unseres  Pleeres  an  Munition  zu  decken  und 
daneben  unsere  Landwirtschaft  mit  dem  unentbehrlichen 
Stickstoffdünger  zu  versehen,  habe  ich  in  anderem  Zu- 
sammenhang bereits  gesprochen.  Ebenso  von  den  Anlagen 
zur  Gewinnung  von  Aluminium  aus  gewöhnlicher  deutscher 
Tonerde.  Ich  hätte  hier  noch  zu  erwähnen,  daß  das 
Kalziumkarbid,  das  als  Zwischenprodukt  für  den  Kalk- 
stickstoff gewonnen  wird,  auch  Verwendung  als  Ersatz 
für  fehlende  oder  knappe  Stoffe  anderer  Art  gefunden 
hat;  so  als  Beleuchtungsmittel  an  Stelle  von  Petroleum 
und  Spiritus,  ferner  als  Ersatz  für  wichtige  ausländische 
Metalle  in  der  Stahlfabrikation,  ja  sogar  als  Hilfsstoff 
für  die  Herstellung  von  künstlichem  Gummi  und  als 
Rohstoff  für  die  Herstellung  von  Spiritus.  Aluminium 
hat  als  Ersatz  für  das  immer  knapper  werdende  Kupfer, 
vor  allem  auch  bei  der  Munitionsherstellung  und  in  der 
elektrischen  Industrie  große  Dienste  geleistet.  Die  nahezu 
völlige  Unterbindung  der  Zufuhr  von  Rohgummi  wurde 
uns  erträglich  gemacht  durch  die  während  des  Krieges 
erfundenen  Verfahren  zur  Herstellung  von  künstlichem 


224 


Ersatzstoffe  und  Erfindungen 


Gummi  und  die  Vervollkommnung  der  Regeneration  von 
Altgummi.  Wenn  auch  das  künstliche  Produkt  nur  für 
Hartgummi  ein  vollständiger  Ersatz  ist,  so  ist  doch  der 
Bedarf  an  Naturgummi  durch  diese  Verfahren  auf  einen 
so  bescheidenen  Umfang  beschränkt  worden,  daß  wir 
während  des  Krieges  unser  Auskommen  gefunden  haben 
und  weiter  gefunden  hätten. 

Die  Textilindustrie,  und  mit  ihr  die  Bekleidung  der 
deutschen  Bevölkerung,  ist  vor  einem  Zusammenbruch 
bewahrt  worden  durch  die  zahlreichen  Verfahren,  die 
aus  der  Holzfaser  neue  Spinnstoffe  geschaffen  haben 
(Textilose,  Papiergarne,  Typhafaser,  Zellulosegarn).  Diese 
Verfahren  haben  ferner  die  Möglichkeit  geschaffen,  Land- 
wirtschaft und  Industrie  mit  Packmaterial  und  das  Heer 
mit  den  im  Stellungskrieg  in  so  großen  Mengen  benötigten 
Sandsäcken  zu  versorgen.  Das  neu  erfundene  Verfahren 
des  Nitrierens  von  Zellulose  hat  uns  von  der  Baumwolle 
als  Rohstoff  für  das  rauchlose  Pulver  unabhängig  ge- 
macht. 

Auf  dem  Gebiete  der  Landwirtschaft  richteten  sich  die 
Anstrengungen,  abgesehen  von  der  bereits  erwähnten 
Herstellung  von  Stickstoffdünger,  auf  die  Beschaffung  von 
Futtermitteln,  da  in  diesen  unsere  Versorgung  durch  die 
Unterbindung  der  ausländischen  Zufuhren  am  schwersten 
gefährdet  war.  Zunächst  suchte  man  durch  die  möglichste 
Ausdehnung  der  Kartoffeltrocknung  Futterstoffe  zu  er- 
halten, die  bisher  in  großem  Umfang  durch  Fäulnis 


15  Helfferich,  Weltkrieg  II 


225 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


zugrunde  gegangen  waren.  Das  Trocknungsverfahren 
wurde  im  Laufe  des  Krieges  auch  auf  zahlreiche  andere 
bisher  als  wertlose  Abfälle  behandelte  Erzeugnisse,  so  auf 
Rübenkraut,  Kartoffelkraut  und  ähnliches  mehr  mit 
großem  Erfolg  ausgedehnt.  Zu  dem  Trocknungs verfahren 
kam  bald  hinzu  die  künstliche  Herstellung  von  Kraft- 
futtermitteln, vor  allem  die  Herstellung  von  Mineral- 
hefe (als  Futterhefe  und  als  Nährhefe)  und  die  Her- 
stellung von  Strohkraftfutter  im  Wege  der  Strohauf- 
schließung,  schließlich  die  Herstellung  von  Kraftfutter  aus 
Tierkadavem,  Knochen  und  bisher  un verwerteten  Ab- 
fällen aller  Art.  In  ähnlicher  Weise  ist  unsere  auf  das 
äußerste  bedrohte  Versorgung  mit  Ölen  durch  die  spar- 
samste Ausnutzung  aller  ölhaltigen  Samen  und  Kerne  sowie 
durch  neue  Verfahren  der  Ölgewinnung  aus  animali- 
schen Stoffen  und  minerahschen  Substanzen  (Schiefer) 
nicht  unerhöbhch  aufgebessert  worden. 

Auf  den  meisten  dieser  Gebiete  hatte  das  Reich,  und 
vor  allem  das  mir  anvertraute  Amt,  anregend  und  zu- 
sammenfassend, fördernd  und  organisierend  mitzuarbeiten. 
Kaum  ein  anderer  Teil  der  Geschäfte,  die  ich  als  Reichs- 
schatzsekretär und  Staatssekretär  des  Innern  zu  leiten 
hatte,  hat  mir  die  gleiche  innere  Befriedigung  gewährt, 
- wie  die  mir  leider  nur  in  engen  Grenzen  mögliche  Mit- 
arbeit an  diesen  schöpferischen  Leistungen,  als  deren 
äußersten  Kontrast  ich,  je  länger  desto  mehr,  die  endlosen 
und  größtenteils  fruchtlosen  Parlamentsdebatten  empfand. 


226 


Ersatzstoffe  und  Erfindungen 


Ich  mag  im  Reichstag  manchmal  kurz  angebunden  und 
schroff  gewesen  sein;  aber  das  war  dann  meistens  der 
Ausfluß  einer  mühsam  unterdrückten  inneren  Auflehnung 
gegen  die  Vergeudung  von  Zeit  und  Kraft  in  unfrucht- 
baren Debatten,  während  die  dringendsten  und  wich- 
tigsten Arbeiten  warten  mußten  und  zu  Schaden  kamen. 

Umstellung  der  Unternehmungen  und 
Umgruppierung  der  Arbeitskräfte 

Neben  der  Steigerung  der  technischen  Leistungsfähig- 
keit der  Gütererzeugung  ging  einher  eine  Umstellung  des 
ganzen  Produktionsapparates  auf  die  'durch  den  Krieg 
total  veränderten  Bedürfnisse.  Die  Herstellung  von  Kriegs- 
gerät aller  Art  in  gewaltigen  Mengen,  daneben  die  Sicherung 
der  Ernte  traten  mit  Kriegsbeginn  in  den  Vordergrund; 
auf  der  andern  Seite  waren  große  Zweige  der  Industrie 
und  des  Handels  alsbald  zu  empfindlichen  Einschränkun- 
gen gezwungen:  alles,  was  für  den  überseeischen  Export 
arbeitete,  und  alles,  was,  auf  überseeische  Rohstoffe  ange- 
wiesen war.  In  ganz  großem  Stil  mußten  Unternehmer, 
Angestellte  und  Arbeiter  sich  neuen  Aufgaben  und  neuen 
.Beschäftigungen  zuwenden. 

Das  Unternehmertum  vollzog  die  Umstellung  aus  eigener 
Initiative  und  im  wesentlichen  aus  eigener  Kraft  mit  einer 
erstaunlichen  Anpassungsfähigkeit  und  Energie.  Fabriken 
und  Werkstätten,  die  stets  nur  der  Herstellung  von 
Waren  des  Friedensbedarfs  gedient  hatten,  wandten  sich. 


15* 


227 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswii'tschaft 


angereizt  durch  gute  Gewinnaussichten,  der  Fabrikation 
von  Heeresgerät  und  Heeresausrüstung  zu.  Nicht  nur  Be- 
triebe der  Metallindustrie,  auch  Spinnereien  und  ähnliche 
Unternehmungen  wurden  in  Geschoßdrehereien  und  Zünder- 
fabriken umgewandelt.  Neue  industrielle  Anlagen  zur 
Fabrikation  von  Kriegsbedarf  schossen  wie  Pilze  aus 
der  Erde. 

Weit  schwieriger  war  die  Umgruppierung  der  Arbeiter- 
schaft. 

Die  nächste  Wirkung  des  Krieges,  der  unserer  Volks- 
wirtschaft Millionen  der  leistungsfähigsten  Arbeiter  ent- 
zog, war  — eine  erschreckende  Arbeitslosigkeit!  In  einer 
Lage,  in  der  alles  darauf  ankam,  jede  Arbeitskraft,  die 
der  Heeresdienst  nicht  in  Anspruch  nahm,  für  die  Güter- 
erzeugung nutzbar  zu  machen,  sahen  sich  Hunderttausende 
zum  Verlassen  ihrer  Arbeitsstellen  gezwungen,  ohne  als- 
bald neue  Arbeit  finden  zu  können.  Die  zum  großen  Teil 
unvermeidlichen,  zum  Teil  aber  auch  ohne  Not  überstürzten 
Betriebseinschränkungen  und  Betriebseinstellungen  setz- 
ten Arbeitskräfte  frei,  die  nicht  ohne  weiteres  den  Weg  zu 
neuer  Beschäftigung  fanden,  schon  deshalb  nicht,  weil  die 
technische  Umstellung  der  Industrie  eine  gewisse  Zeit 
erforderte.  In  welch  erschreckendem  Maße  der  Krieg  den 
Arbeitsmarkt  erschütterte,  davon  geben  folgende  Zahlen 
ein  Bild. 

Bei  den  Arbeitsnachweisen  kamen  auf  hundert  offene 
Stellen  bei  den  männlichen  Arbeitern  im  Juli  1914 


Umschichtung  der  Arbeitskräfte 


158  Arbeitsuchende,  im  August  1914  dagegen  nicht  weniger 
als  248;  bei  den  weiblichen  Arbeitern  kamen  im  Juli  1914 
ai^f  100  offene  Stellen  99  Arbeitsuchende,  im  August  1914 
dagegen  nicht  weniger  als  202. 

Das  Reich  griff  alsbald  nach  Kriegsausbruch  ein,  um 
sowohl  im  Interesse  der  Arbeiterschaft  wie  im  Interesse 
der  höchstmöglichen  Leistung  unserer  Produktion  die  Um- 
gruppierung der  schaffenden  Hände  zu  beschleunigen. 
Der  Weg  war  eine  den  Kriegsbedürfnissen  angepaßte 
Organisation  des  Arbeitsnachweises. 

Das  deutsche  Arbeitsnachweiswesen  vor  dem  Kriege 
litt  vor  allem  an  einer  starken  Zersplitterung.  Neben  den 
nicht  bedeutenden  gewerbsmäßig  betriebenen  Stellenver- 
mittlungen arbeiteten  ohne  ausreichenden  Zusammenhang 
nebeneinander:  die  von  öffentlichen  Körperschaften  ein- 
gerichteten Arbeitsnachweise,  die  Arbeitgebernachweise, 
die  Arbeitnehmernachweise  und  paritätische  Arbeitsnach- 
weise. Das  Reichsamt  des  Innern  gab  diesen  Organen  gleich 
nach  Kriegsausbruch  in  der  ,, Reichszentrale  für  Arbeits- 
nachweise'* eine  einheitliche  Spitze.  Die  einzelnen  Arbeits- 
nachweise übernahmen  die  Pflicht,  sowohl  die  offenen 
Stellen  wie  auch  die  überschüssigen  Arbeitsangebote  an 
die  Zentralstelle  zu  melden,  um  so  einen  Ausgleich  zu  er- 
möglichen. Schon  am  9.  August  1914  konnte  die  Reichs- 
zentrale ihre  Arbeit  auf  nehmen.  Sie  hat  sich  nicht  auf 
die  Herstellung  der  Verbindung  zwischen  den  einzelnen 
Arbeitsnachweisen  beschränkt,  sondern  in  wichtigen  Fällen 


229 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


unmittelbar  eingegrif fen ; so  vor  allem  gleich  nach  Kriegs- 
ausbruch bei  der  Beschaffung  von  Arbeitskräften  für  die 
Bergung  der  Ernte,  für  die  in  großem  Umfang  eingelei- 
teten Festungsarbeiten,  für  die  reichseigenen  Betriebe  der 
Militär-  und  Marinebehörden  und  der  von  diesen  beschäf- 
tigten Unternehmungen;  ferner  bei  der  Zuweisung  von 
Kriegsgefangenen  an  die  unter  Mangel  an  Arbeitskräften 
leidenden  Betriebe  in  Industrie  und  Landwirtschaft. 

Ergänzt  wurde  die  Tätigkeit  der  Reichszentrale  und  der 
Einzelnachweise  durch  die  Schaffung  von  Arbeitsgelegen- 
heit für  die  nicht  ohne  weiteres  unterzubringenden  Arbeits- 
losen, durch  Einschränkungen  der  Arbeitszeit,  das  Verbot 
von  Überstunden  und  von  Nachtarbeit  in  gewissen  Be- 
trieben, durch  eine  den  Arbeiterverhältnissen  angepaßte 
Verteilung  der  Heeresaufträge,  durch  eine  planmäßige 
Fürsorge  für  die  Erwerbslosen. 

Nachdem  die  erste  große  Umschichtung  der  Arbeits- 
kräfte vollzogen  war,  änderte  sich  die  Lage  und  damit  die 
zu  bewältigende  Aufgabe.  Die  Einziehung  der  Millionen 
zum  Heeresdienst  und  der  steigende  Bedarf  an  Heeresaus- 
rüstung ließ  die  Nachfrage  nach  männlichen  Arbeitskräften 
rasch  in  die  Höhe  schnellen.  Während  im  August  1914  auf 
100  offene  Stellen  248  Arbeitsuchende  gekommen  waren, 
brachte  schon  der  April  1915  mit  100  Angeboten  auf  100 
offene  Stellen  den  Ausgleich.  In  den  folgenden  Monaten 
überwog  die  Nachfrage  nach  männlichen  Arbeitskräften 
das  Angebot  immer  stärker:  auf  100  offene  Stellen  kamen 


230 


Arbeitsmarkt.  Frauenarbeit 


im  Oktober  1915  nur  noch  85,  im  Oktober  1916  nur  noch 
64  Angebote. 

Dagegen  ging  bei  den  weiblichen  Arbeitskräften  das 
Überangebot  nur  ganz  allmählich  zurück.  Hier  wirkte  dem 
Überangebot  keine  Einziehung  zum  Heeresdienst  entgegen ; 
außerdem  wurden  durch  Betriebseinschränkungen  gerade 
solche  Industriezweige  am  stärksten  betroffen,  in  denen  die 
weiblichen  Arbeitskräfte  überwiegen  (Textilindustrie).  Im 
Juli  1915,  also  ein  Jahr  nach  Kriegsausbruch,  standen 
100  offenen  Stellen  immer  noch  165  Arbeitsuchende  gegen- 
über; dann  kam  infolge  der  gerade  damals  notwendig  wer- 
denden Einschränkung  in  der  Textilindustrie  eine  weitere 
Steigerung  des  Arbeitsangebots  bis  auf  182  im  Oktober 
1915.  Die  Zahl  für  den  April  1916  war  162,  für  den  Oktober 
1916  immer  noch  135  Angebote  auf  100  offene  Stellen. 

Zunehmender  Mangel  an  männlichen  Arbeitskräften,  fort- 
dauernder Überschuß  an  weiblichen  Arbeitskräften  — das 
drängte  auf  einen  Ausgleich.  Planmäßig  wurde  überall,  wo 
es  angängig  war,  die  Männerarbeit  durch  Frauenarbeit  er- 
setzt. In  welchem  Maße  das  gelungen  ist,  zeigt  sich  darin,  daß 
nach  den  Arbeitsausweisen  der  Betriebskrankenkassen  vom 
I.  Juli  1914  zum  I.  Juli  1916  der  Anteil  der  weiblichen 
Arbeitskräfte  an  der  Gesamtzahl  der  Arbeiter  gestiegen  ist : 
in  der  Hüttenindustrie,  Metallbearbei- 
tung und  Maschinenindustrie  . . von  9 auf  19% 

in  der  chemischen  Industrie » 7 23% 

in  der  elektrischen  Industrie 24  ,,  55% 


231 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Allein  vom  i.  Juli  1915  bis  zum  i.  Juli  1916  weist  die 
Krankenkassenstatistik  eine  Vermehrung  der  weiblichen 
Arbeitskräfte  um  750  000  Arbeiterinnen  auf. 

Wie  die  Frauen,  so  mußten  auch  die  Jugendlichen  in 
verstärktem  Maße  zur  Arbeit  herangezogen  werden. 

Um  die  Arbeitskraft  der  Frauen  und  der  Jugendlichen 
für  den  Kriegszweck  voll  nutzbar  machen  zu  können,  hatte 
ein  Gesetz  vom  4.  Aügust  1914  dem  Reichskanzler  die  Be- 
fugnis erteilt,  Ausnahmen  von  den  gesetzlichen  Bestim- 
mungen über  den  Schutz  der  weiblichen  Arbeiter  und  der 
Jugendlichen  zu  gestatten.  Die  harte  Notwendigkeit 
des  Krieges  machte  in  vielen  Fällen  eine  Lockerung  dieser 
Schutzbestimmungen  erforderlich.  Es  wurde  eben  nicht 
nur  auf  den  Schlachtfeldern  gekämpft,  sondern  auch  in  den 
Arbeitsstellen  der  Heimat.  Hier  wie  dort  waren  wir  ge- 
zwungen, von  dem  wertvollen  Kapital  unserer  Volkskraft 
zu  zehren,  um  das  Volksganze  gegenüber  dem  Vernichtungs- 
willen unserer  Feinde  zu  erhalten. 

Ihre  höchste  Steigerung  hat  die  ,, Mobilmachung  der 
Arbeit“  in  dem  Gesetz  über  den  Vaterländischen  Hilfs- 
dienst gefunden,  auf  das  ich  weiter  unten  in  einem  be- 
sonderen Abschnitt  des  Näheren  eingehen  werde. 

Verbrauchs regelung  und  Volksernährung 

Die  erfolgreichen  Bemühungen,  unsere  heimische  Güter- 
erzeugung durch  technische  und  organisatorische  Ver- 
vollkommnung und  durch  die  Nutzbarmachung  aller 

232 


Höchstpreise 


Arbeitskräfte  zu  steigern,  konnten  wesentliche  Erleichte- 
rungen unserer  bedrängten  Lage  schaffen  und  das  Äußerste 
ab  wehren,  aber  sie  konnten  uns  nicht  der  Notwendigkeit 
entheben,  die  Verwendung  der  den  normalen  Bedarf  nicht 
deckenden  Nahrungsmittel  und  Rohstoffe  zu  regulieren. 

Es  war  unmöglich,  die  Regulierung  dem  freien  Spiel 
der  Kräfte  zu  überlassen.  Dann  hätte  sich  die  Regulierung 
des  Verbrauches  der  nur  in  unzureichenden  Mengen  ver- 
fügbaren Waren  im  W^ge  der  Preisgestaltung  vollzogen, 
in  der  Weise,  daß  eine  scharfe  Preissteigerung  schrittweise 
die  weniger  zahlungsfähige  Nachfrage  ausgeschaltet  hätte. 
Reichliche  Versorgung  der  Wohlhabenden,  Hunger  und 
Elend  der  breiten  Volksschichten  wären  die  unvermeidlichen 
Folgen  gewesen.  Es  kam  alles  darauf  an,  eine  solche  Ent- 
wicklung in  sozialem  Geist  und  mit  Mitteln  der  sozialen  Orga- 
nisation zu  verhindern.  Die  schwere  materielle  Bedräng- 
nis, die  der  Krieg  über  unser  Volk  brachte,  konnte  nur 
dann  ertragen  und  überwunden  werden,  wenn  alle  Volks- 
genossen mittragen  halfen  und  jeder  seinen  Anteil  an  der 
notwendigen  Einschränkung  übernahm. 

Die  Festsetzung  von  Höchstpreisen  allein  konnte  die 
Aufgabe  nicht  lösen.  Eine  gesetzliche  Preisfestsetzung 
schaltet  den  Preis  als  Regulator  von  Angebot  und  Nachfrage 
aus,  ohne  einen  andern  Regulator  an  seine  Stelle  zu  setzen. 
Ein  niedriger  Höchstpreis  veranlaßt  Erzeuger  und  Händler 
zur  Zurückhaltung,  ohne  den  Konsumenten  zu  der  ge- 
botenen Einschränkung  seines  Verbrauches  zu  nötigen. 


233 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Das  System  der  Höchstpreise,  durch  das  die  Bevölkerung 
von  einer  allzu  starken  Verteuerung  der  Lebenshaltung 
bewahrt  werden  sollte,  bedurfte  mithin  sofort,  wenn  es  das 
Zusammenbrechen  der  Versorgung  nicht  geradezu  be- 
schleunigen sollte,  der  Ergänzung  durch  weitergehende  Maß- 
nahmen. Als  solche  kamen  in  Betracht  die  Regulierung  des 
Verbrauchs  durch  Einschränkungen  der  Verwendung  und 
durch  Rationierung,  ferner  die  Erfassung  der  Bestände  und 
der  Neuproduktion  durch  Beschlagnahme  und  Enteignung. 
Die  vollständige  Übernahme  der  Bewirtschaftung  ist  die 
äußerste  Konsequenz. 

Je  elementarer  das  Lebensbedürfnis  war,  dem  eine  Ware 
zu  genügen  hatte,  je  offenkundiger  die  Knappheit  der  ver- 
fügbaren Bestände,  desto  dringender  war  das  staatliche 
Eingreifen. 

Auf  dem  Gebiet  der  Volksernährung  hat  demgemäß  die 
Reglementierung  mit  dem  Brotgetreide  begonnen  und 
hier  zur  Entwicklung  eines  Systems  geführt,  das  für  die 
Gesamtheit  der  Kriegswirtschaft  von  großem  Einfluß  ge- 
worden ist. 

Neben  den  Höchstpreisen  wurden  hier  schon  im  Oktober 
1914  bestimmte  Verwendungsbeschränkungen  eingeführt. 
Das  Verfüttern  von  Brotgetreide  wurde  verboten.  Für 
das  Ausmahlen  von  Brotgetreide  wurden  Mindestsätze 
vorgeschrieben.  Für  Weizenbrot  wurde  ein  bestimmter 
Zusatz  von  Roggenmehl,  für  Roggenbrot  ein  solcher  von 
Kartoffeln  oder  Kartoffelmehl  vorgeschrieben.  In  der 


234 


Erfassung  und  Bewirtschaftung  des  Brotgetreides 


Folgezeit  wurden  diese  Bestimmungen  verschärft  und 
ergänzt. 

Bereits  im  Januar  1915  ging  man  den  entscheidenden 
Schritt  weiter.  Es  wurde  jetzt  einmal  der  Brot-  und  Mehl- 
verbrauch pro  Kopf  und  Tag  auf  eine  bestimmte  Höchst- 
menge festgesetzt  und  zur  Durchführung  dieser  Rationierung 
die  Brot-  und  Mehlkarte  eingeführt.  Gleichzeitig  wurde  die 
Bewirtschaftung  des  in  Deutschland  vorhandenen  Brotge- 
treides der  im  November  1914  aus  privater  Initiative  gegrün- 
deten und  jetzt  weiter  ausgebauten  ,, Kriegsgetreide-Gesell- 
schaft“ übertragen.  Das  Brotgetreide  wurde  für  die  genannte 
Gesellschaft  beschlagnahmt,  und  die  Gesellschaft  wurde  be- 
auftragt, das  beschlagnahmte  Getreide  aufzunehmen,  zu 
lagern,  vermahlen  zu  lassen  und  das  Mehl  mit  Hilfe  einer 
gleichzeitig  geschaf  fenenReichsverteilungsstelle  zu  verteilen. 
Die  Verteilung  der  Mehlmerigen  über  die  Bäcker  bis  zu  den 
Konsumenten  wurde  den  Kommunal  verbänden  übertragen. 

Ihre  endgültige  Form  erhielt  die  Organisation  durch 
eine  Verordnung  vom  28.  Juni  1915.  Die  Kriegsgetreide- 
Gesellschaft  wurde  ersetzt  durch  die  ,, Reichsgetreidestelle“, 
bestehend  aus  einer  Verwaltungsabteilung  und  einer  Ge- 
schäftsabteilung; die  erstere  wurde  mit  weitgehenden  be- 
hördlichen Befugnissen  ausgestattet,  der  letzteren  wurde 
die  kaufmännische  Durchführung  übertragen.  Die  neue 
Verordnung  brachte  insofern  eine  Abweichung  gegenüber 
der  bisherigen  Regelung,  als  das  Brotgetreide  der  Ernte 
1915  nicht  für  die  Reichsgetreidestelle,  sondern  für  die 


235 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Kommunal  verbände  beschlagnahmt  wurde,  da  diese  als 
die  geeigneten  Organe  für  die  Durchführung  der  Beschlag- 
nahme und  die  örtliche  Kontrolle  erschienen.  Den  Kom- 
munalverbänden/wurde  die  Verpflichtung  zur  Lieferung 
des  Getreides  an  die  Reichsgetreidestelle  oder  an  die  von 
dieser  zu  bezeichnenden  Stellen  auferlegt. 

Hier  haben  wir  also  klar  herausgearbeitet  die  Kombina- 
tion von  Höchstpreisen  mit  strengster  Verwendungs- 
beschränkung und  Verbrauchsrationierung  einerseits,  Er- 
fassung und  Bewirtschaftung  der  Produktion  und  der 
Bestände  andererseits. 

Beim  Brotgetreide  hat  sich  diese  Organisation  alles  in 
allem  vorzüghch  bewährt.  Sie  hat  nicht  nur  eine  ausrei- 
chende und  regelmäßige  Belieferung  der  deutschen  Wehr- 
macht und  der  gesamten  deutschen  Zivilbevölkerung  mit 
dem  täglichen  Brot  sichergestellt,  sondern  sie  hat  diese  Be- 
lieferung zu  Preisen  durchgeführt,  die  bald  hinter  denjeni- 
gen in  allen  andern  Ländern,  nicht  nur  der  Kriegführenden 
sondern  auch  der  Neutralen,  nicht  nur  diesseits  sondern 
auch  jenseits  des  Ozeans  zurückblieben.  Das  ist  erreicht 
worden,  obw^ohl  Deutschland  in  Friedenszeiten  auf  Grund 
der  Agrarzölle  das  Zentrum  der  höchsten  Getreidepreise 
der  Welt  gewiesen  war,  und  obwohl  nicht  nur  die  auslän- 
dischen Zufuhren  von  Brotgetreide  in  V^egfall  kamen, 
sondern  auch  die  inländische  Produktion  infolge  einer 
w^eniger  intensiven  Bodenbearbeitung  und  geringeren  Dün- 
gung wesentlich  hinter  den  Friedensernten  zurückblieb. 


236 


Bewirtschaftung  des'  Brotgetreides 


Allerdings  lagen  beim  Brotgetreide  die  Vorbedingungen 
für  eine  staatliche  Bewirtschaftung  besonders  günstig. 
Bedarf  und  Bestände  sind  hier  verhältnismäßig  leicht  fest- 
zustellen. Die  Kontrolle  ist  verhältnismäßig  einfach.  Die 
Haltbarkeit  und  Transportfähigkeit  von  Roggen  und 
Weizen  ist  verhältnismäßig  gut.  Qualitätsunterschiede 
spielen  keine  entscheidende  Rolle.  Alles  Eigenschaften, 
die  ein  einheitliches  Disponieren  nach  einem  wohl- 
durchdachten Plan  erheblich  erleichtern , und  Eigen- 
schaften, die  bei  den  meisten  andern  Nahrungsmitteln 
fehlen  oder  mindestens  nicht  in  dem  gleichen  Maße  vor- 
handen sind. 

Man  hatte  deshalb  in  der  ersten  Zeit  des  Krieges  auch 
wenig  Neigung,  das  beim  Brotgetreide  erprobte  System 
der  Bewirtschaftung  auf  die  andern  Kategorien  von  Nah- 
rungsmitteln zu  übertragen.  Schon  bei  den  Kartoffeln 
lagen  die  Verhältnisse  für  eine  einheitliche  Bewirtschaftung 
sehr  viel  weniger  günstig.  Die  Bestände  sind  infolge  der 
Einmietung  der  Ernte  weniger  leicht  zu  übersehen.  Die 
'^Haltbarkeit  ist  geringer  und  stets  unsichef.  Die  verschie- 
denen Sorten  bilden  eine  weitere  Erschwerung.  Noch  größer 
sind  die  Schwierigkeiten  der  zentralen  Bewirtschaftung 
bei  leicht  verderblichen  Nahrungsmitteln  wie  bei  Gemüse 
und  Obst.  Ebenso  bei  Eleisch,  Milch,  Butter,  Eiern, 
Fischen. 

Man  hat  deshalb  bei  allen  diesen  Dingen,  als  sie  an- 
fingen knapp  zu  werden,  eine  gleichmäßige  Verteilung  zu 


237 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


erträglichen  Preisen  auf  andern  Wegen  zu  erreichen  ver- 
sucht : durch  Regle  me  ntierung  oder  SyndizierungdesHandels, 
durch  Abschluß  von  Lieferungs vertragen  zwischen  Kom- 
munen und  Händlern  oder  Produzenten,  durch  teilweise 
Beschlagnahmen  oder  durch  Umlage  von  Lieferungsver- 
pflichtungen auf  Provinzen  und  Kommunen,  durch  Fest- 
setzung von  variabeln  Richtpreisen,  durch  Preisprüfungs- 
steUen  und  Kriegswoicheramt.  Aber  der  mangelhafte  Er- 
folg aller  dieser  Maßnahmen  drängte  — trotz  aller  ent- 
gegenstehenden Schwierigkeiten  — immer  mehr  zu  der 
radikalen  Lösung,  wie  sie  beim  Brotgetreide  mit  so  viel 
Erfolg  verwirklicht  worden  war.  Auf  fast  allen  Gebieten 
des  Ernährungswesens  kam  man  von  Teileingriffen  zur 
zentralen  Bewirtschaftung,  die  nach  dem  Vorbild  der  Brot- 
getreide-Organisation in  die  Hand  von  Reichsstellen  mit 
Verwaltungsabteilungen  für  die  behördliche  Tätigkeit  und 
Geschäftsabteilungen  für  die  kaufmännische  Tätigkeit  ge- 
legt wurde.  So  bekamen  wir  die  Reichskartoffelstelle  und 
Reichshülsenfruchtstelle , die  Reichsstelle  für  Gemüse 
und  Obst  und  die  Reichszuckerstelle,  die  Reichsfleisch- 
stelle und  die  Reichsstelle  für  Speisefette,  die  Reichs  ver- 
teilungsstelle für  Eier  und  den  Reichskommissar  für  Fisch- 
versorgung. Viele  von  diesen  Reichsstellen  umgaben 
sich  für  die  kaufmännische  Durchführung  ihrer  Aufgaben 
mit  einem  Kranz  von  Kriegsgesellschaften  für  alle  mög- 
lichen Spezialgebiete,  für  Sauerkraut,  wie  für  Teichfische 
und  Aale. 


238 


Ausdehnung  der  Zwangswirtschaft 


Ich  habe  der  Ausdehnung  der  Zwangswirtschaft  auf  Ge- 
biete, die  sich  ihrer  Natur  nach  für  eine  staatliche  Bewirt- 
schaftung nicht  eignen,  mehrfach  Widerstand  entgegen- 
zusetzen versucht.  Ich  bin  auch  heute  noch  der  Meinung, 
daß  auf  manchen  Gebieten  die  Zwangswirtschaft  weit  mehr 
geschadet  als  genutzt  hat,  daß  sie  die  Produzenten  ver- 
wirrte und  verärgerte  und  so  die  Produktion  lähmte,  daß 
sie  große  Mengen  leicht  verderblicher  Nahrungsmittel,  die 
im  Weg  des  privaten  Handels  leicht  und  sicher  dem  Ver- 
brauch zugeführt  worden  wären,  verkommen  ließ,  sodaß 
in  der  Endwirkung  Erzeuger  und  Verbraucher  zu  kurz 
kamen.  Den  allergrößten  Nachteil  aber  sehe  ich  darin, 
daß  die  Überspannung  des  Systems  der  zentralen  Bewirt- 
schaftung den  wucherischen  Schleichhandel  geradezu  groß- 
züchtete. Wenn  auf  der  einen  Seite  die  Kontrollmöglichkeit 
gering,  auf  der  andern  infolge  der  Übertreibung  des  Sy- 
stems die  Versuchung  zu  seiner  Durchbrechung  übermäch- 
tig ist,  dann  gibt  es  kein  Halten.  Auch  nicht  durch  Strafen. 
Im  Gegenteil,  indem  die  Strafen  das  Risiko  des  Schleich- 
handels erhöhen,  steigern  sie  die  Schleichhandelspreise. 
Nach  meiner  Überzeugung  wäre  hier  weniger  mehr  ge- 
wesen. Aber  jeder  Widerstand  war  vergeblich.  Ein  ge- 
wisser Ressortfanatismus  in  den  Abteilungen  des  Kriegs- 
ernährungsamts und  den  diesem  angegliederten  Reichs- 
stellen, der,  vielleicht  unbewußt,  auf  eine  Erweiterung  der 
eigenen  Machtbefugnisse  hinausging,  wäre  an  sich  noch 
zu  bändigen  gewesen,  wenn  er  nicht  noch  geschoben  und 


239 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


gedrängt  worden  wäre  durch  den  parlamentarischen  Beirat 
des  Kriegsernährungsamtes,  in  dem  die  Anhänger  der  alles 
erfassenden  staatlichen  Bewirtschaftung  stark  überwogen. 

Bewirtschaftung  der  Rohstoffe 

Auf  dem  Gebiet  der  industriellen  Rohstoffe  führte  die 
gleich  zu  Beginn  des  Krieges  eingerichtete  Kriegsrohstoff- 
Abteilung  des  Kriegsministeriums. 

Hier  mußten  mit  raschem  Zugriff  die  vorhandenen  Be- 
stände an  nicht  beliebig  vermehrbaren  kriegswichtigen 
Rohstoffen  für  die  Heereszwecke  sichergestellt  werden. 
Es  handelte  sich  vor  allem  um  die  in  Deutschland  nicht  vor- 
kommenden oder  nur  in  beschränktem  Umfang  zu  ge- 
winnenden Mineralien,  die  sogenannten  ,, Sparmetalle“, 
und  um  die  Textilrohstoffe. 

Die  Erfassung  erfolgte  zunächst  im  Weg  der  Beschlag- 
nahme. Mit  der  Beschlagnahme,  die  noch  nicht  gleichbe- 
deutend mit  Enteignung  ist,  wird  dem  Eigentümer  das  Recht 
der  beliebigen  Veräußerung  und  Verarbeitung  des  be- 
schlagnahmten Materials  entzogen.  In  zahlreichen  Fällen 
hat  die  Kriegsrohstoff- Abteilung  von  einer  Enteignung  ab- 
gesehen und  lediglich  die  Verwendung  reguliert  und  kon- 
trolliert. In  andern  Fällen  sah  sie  sich  zu  der  Überfüh- 
rung der  Bestände  in  Staatseigentum  veranlaßt.  Die  Not- 
wendigkeit hierzu  lag  besonders  dann  vor,  wenn  nicht  nur 
auf  die  Vorräte  der  Industrie  und  des  Handels,  sondern 
auch  auf  die  bereits  in  den  Gebrauch  übergegangenen 


240 


Erfassung  der  Rohstoffe 


Bestände  von  Haushaltungen,  Betrieben  usw.  zurück- 
gegriffen werden  mußte,  wie  bei  Kupfer  und  Kupferlegie- 
rungen, Nickel,  Zinn. 

Für  die  Verteilung  und  die  Verwendungsregulierung 
waren  die  auf  Grund  der  Bestandsaufnahmen  und  Bedarfs- 
anmeldungen aufgestellten  Wirtschaftspläne  maßgebend. 
Bei  der  Aufstellung  dieser  Wirtschaftspläne  hieß  es,  sich 
nach  der  Decke  strecken,  den  angemeldeten  Bedarf  nach 
seiner  Dringlichkeit  klassifizieren,  nach  Ersatzmöglich- 
keiten suchen  und ' jedenfalls  so  zu  disponieren,  daß  in 
der  Lieferung  der  notwendigen  Heeresausrüstung  keine 
Stockung  eintreten  konnte. 

Wie  auf  dem  Gebiet  des  Ernährungswesens,  so  waren 
auch  hier  die  zu  lösenden  Aufgaben  teils  behördlicher,  teils 
kommerzieller  Natur.  Die  Anordnungen  von  Bestands- 
erhebungen, Beschlagnahmen  und  Enteignungen,  die  Fest- 
setzung der  Preise,  die  Aufstellung  der  Wirtschaftspläne 
und  der  Verteilungsschlüssel  konnten  nur  von  einer  Be- 
hörde ausgehen,  die  sich  dabei  natürlich  der  Beratung  der 
beteiligten  Industrie-  und  Handelskreise  bedienen  mußte. 
Dagegen  war  die  Abnahme  und  Bezahlung  der  zu  beschaf- 
fenden Materialien  sowohl  im  Inland,  wie  namentlich  auch 
in  den  besetzten  Gebieten,  in  den  Ländern  unserer  Bundes- 
genossen und  der  uns  zugänglichen  Neutralen,  ferner  die 
Verfrachtung,  Einlagerung,  Sortierung  ein  kaufmännisches 
Geschäft  großen  Stils,  für  dessen  Bewältigung  besondere 
Organe  aus  den  beteiligten  Wirtschaftskreisen  geschaffen 


i6  Helfferich,  Weltkrieg  II 


241 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


werden  mußten,  die  sogenannten  ,, Kriegsrohstoff-Gesell- 
schaften''. 

Schon  die  Erfassung  der  kriegswichtigen  Rohstoffe  für 
den  Heeresbedarf  griff  stark  ein  in  die  Versorgung  der 
Zivilbevölkerung.  Das  gilt  vor  allem  für  die  Erfassung  der 
Faserstoffe  und  des  Leders.  Für  die  Verteilung  des  von 
der  Heeresverwaltung  für  die  Versorgung  der  Zivilbevöl- 
kerung* freigegebenen  Leders  mußte  im  Frühjahr  1916 
eine  besondere  Organisation  geschaffen  werden.  Noch 
stärker  wurde  die  Versorgung  der  Zivilbevölkerung  in 
Mitleidenschaft  gezogen,  als  es  sich  notwendig  zeigte,  im 
Heeresinteresse  die  Hand  auch  auf  Fertigfabrikate  der 
Textilindustrie  zu  legen.  Nachdem  am  i.  Februar  1916 
die  Heeresverwaltung  die  Beschlagnahme  der  Anzug- 
stoffe, Futterstoffe,  Wäsche,  Unterkleider  usw.  verfügt 
hatte,  wurde  eine  umfassende  Regelung  der  Versorgung 
der  Zivilbevölkerung  mit  Kleidung  und  Wäsche  unauf- 
schiebbar. Zu  diesem  Zweck  wurde  die  ,, Reichsbekleidungs- 
stelle" ins  Leben  gerufen,  der  die  dornenvolle  Aufgabe  zufiel, 
die  notwendig  gewordene  Einschränkung  des  Verbrauches 
im  Wege  des  der  Lebensmittelkarte  nachgebildeten,  auf 
dem  Gebiet  der  Bekleidung  aber  viel  schwerer  anwend- 
baren Bezugsscheins  durchzuführen  und  gleichzeitig  für 
die  weitestmögliche  Nutzbarmachung  des  hier  besonders 
wichtigen  Altmaterials  an  Stoffen  und  Kleidern  zu  sorgen. 

So  entstanden,  gerade  in  der  Zeit,  in  der  ich  das  Reichs- 
amt des  Innern  übernahm,  für  die  Zivilverwaltung  auch 

242 


Reichsbekleidungsstelle.  Verteilung  der  Rohstoffe 


außerhalb  des  Gebietes  der  Volksernährung  neue  große 
Aufgaben. 

Diese  Aufgaben  wuchsen,  als  die  immer  stärker  werdende 
Knappheit  der  Rohstoffe  und  der  Arbeitskräfte  eine  Be- 
schränkung auf  die  Regelung  des  Verbrauchs  nicht  mehr 
angängig  erscheinen  ließ. 

Schon  die  Verteilung  der  allzu  knapp  gewordenen  Roh- 
stoffe auf  die  einzelnen  Betriebe  durch  die  Kriegsrohstoff- 
Abteilung  hatte  einen  starken  Einfluß  auf  die  Betriebe 
selbst  ausgeübt.  Es  waren  zwei  verschiedene  Wege  gang- 
bar: entweder  die  Verteilung  auf  sämtliche  vorhandenen 
Betriebe  nach  Maßgabe  ihrer  Leistungsfähigkeit,  was  zur 
Folge  haben  mußte,  daß  alle  Betriebe  des  betreffenden 
Industriezweiges  nur  teilweise  beschäftigt  wurden;  oder 
die  Zuweisung  des  Rohstoffs  an  einzelne  besonders  leistungs- 
fähige Betriebe  bis  zur  Vollbeschäftigung  unter  Stillegung 
der  weniger  leistungsfähigen.  Wirtschaftlich  rationeller 
ist  das  zweite  System;  denn  es  ermöglicht  die  gleiche 
Leistung  bei  geringerem  Aufwand  von  Arbeit,  Kohle  usw. 
Dagegen  sprachen  gewisse  soziale  Rücksichten  für  das 
erstere  System,  da  dieses  keinen  Betrieb  gegenüber  den 
andern  in  Nachteil  brachte  und  die  Entlassung  von  Ar- 
beitern durch  Kürzung  der  Arbeitszeit  vermeiden  ließ.- 

Solange  kein  Mangel  an  Arbeitskräften  und  keine  Knapp- 
heit an  Kohlen  bestand,  mochte  man  dem  ersteren  System 
den  Vorzug  geben.  Das  ist  in  der  Tat  in  der  ersten 
Periode  der  Kriegswirtschaft  ganz  vorwiegend  geschehen. 


16* 


243 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Vor  allem  in  der  mit  Rohstoffen  besonders  knapp  ver- 
sehenen Textilindustrie,  ebenso  in  der  Schuh  Warenindustrie 
hielt  man  auf  eine  gleichmäßige  Verteilung  der  Beschäf- 
tigung; das  bedingte  eine  wesentliche  Verkürzung  der  Ar- 
beitszeit, die  unter  Gewährung  von  Zuschüssen  aus  öffent- 
lichen Mitteln  zu  den  Arbeitslöhnen  durchgeführt  wmrde. 

Als  aber  der  wachsende  Bedarf  an  Kriegsgerät  die  Nach- 
frage nach  Arbeitskräften  immer  mehr  steigerte,  als  die 
äußerste  Sparsamkeit  mit  Kolile  und  andern  Betriebs- 
stoffen immer  dringlicher  vmrde,  ließ  sich  der  Übergang 
zu  dem  wirtschaftlich  rationellen  System  der  Vollbe- 
schäftigung der  Höchstleistungsbetriebe  und  der  Still- 
legung der  weniger  leistungsfähigen  Unternehmungen 
trotz  aller  sozialen  Bedenken  nicht  mehr  vermeiden.  Den 
entscheidenden  Umschvaing  brachte  das  sogenannte 
,,Hindenburgprogramm“  in  Verbindung  mit  dem  Hilfs- 
dienstgesetz und  die  im  Winter  1916/17  scharf  einsetzende 
Kohlenknappheit. 

i Schon  vorher  aber  erschienen  mir  Eingriffe  in  die  Struk- 
tur einzelner  Industriezweige  im  Interesse  der  Steigerung 
der  Nutz  Wirkung  aller  Kräfte  und  Stoffe  und  der  Vermei- 
dung unvdrtschaftlichen  Arbeits-,  Kapitals-  und  Material- 
aufwandes angezeigt. 

Zunächst  wurde  angesichts  des  Mangels  an  Arbeits- 
kräften im  Kalibergbau  ein  Verbot  des  Abteufens  von  neuen 
Schächten  erlassen  (8.  Juni  1916).  Dann  wurden  Neu- 
bauten und  Erweiterungsbauten  von  Zementfabriken 


244 


Rationelle  Ausnutzung  der  Höchstleistungsbetriebe 


beschränkt  (29.  Juni  1916),  um  den  angesichts  der  Nicht- 
erneuerung der  Syndikats  Verträge  zu  befürchtenden  ir- 
rationellen Arbeits-  und  Kapitalaufwand  für  den  Bau  neuer 
oder  die  Vergrößerung  bestehender  Werke  zu  verhindern. 
In  der  gleichen  Richtung  zielten  meine  Bemühungen  bei 
den  Bundesregierungen  und  Generalkommandos,  eine 
Zurückstellung  aller  nicht  kriegswichtigen  Hoch-  und  Tief- 
bauten behufs  Freisetzung  von  Arbeitskräften  und  Er- 
sparnis von  Material  zu  erreichen.  Schließlich  erwähne  ich 
die  Durchführung  des  wirtschaftlich  rationellen  Prinzips 
der  Beschäftigung  einer  Auswahl  leistungsfähiger  Fabriken 
in  der  Seifenindustrie,  die  im  Frieden  nicht  weniger  als 
2000  Betriebe  überwiegend  kleinster  Art  beschäftigt  hatte. 
Von  diesen  wurden  jetzt  nur  ganz  wenige  leistungsfähige 
Betriebe  mit  Fetten  weiter  beliefert,  während  die  stillge- 
legten Betriebe  das  Recht  erhielten,  von  den  arbeitenden 
Fabriken  Fertigprodukte  zu  Vorzugspreisen  zu  beziehen 
und  mit  ihren  eigenen  Packungen  in  Verkehr  zu  bringen 
(Verordnung  vom  21.  Juli  1916).  Eine  ähnliche  Regelung 
wurde  für  die  Schuhindustrie  in  die  Wege  geleitet. 

Bei  einem  wichtigen  Gewerbe  allerdings  mußte  ich  aus 
zwingenden  Gründen  des  öffentlichen  Wohles  im  entgegen- 
gesetzten Sinne,  zum  Zweck  der  Erhaltung  gerade  der 
kleinen  und  weniger  leistungsfähigen  Betriebe,  eingreifen: 
beim  Zeitungsgewerbe. 

Es  war  die  wachsende  Knappheit  der  Rohstoffe  der 
Papierfabrikation,  und  späterhin  auch  der  Kohle,  die  auf 


245 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


diesem  Gebiet  ein  Eingreifen  nötig  machte.  Die  Bemühun- 
gen, die  Beschaffung  und  Verarbeitung  der  Rohstoffe  in 
ausreichendem  Umfang  zu  sichern,  hatten  keinen  vollen 
Erfolg.  Es  fehlte  in  Deutschland  an  Arbeitskräften  für 
den  Einschlag  von  Papierholz;  der  Bedarf  des  Heeres  an 
Holz  für  die  Schützengräben  usw.  nahm  immer  größeren 
Umfang  an,  und  der  Bezug  von  Papierholz,  Zellstoff  und 
Druckpapier  aus  dem  Ausland  wurde  durch  Ausfuhrver- 
bote erheblich  eingeschränkt.  Um  das  Papier  konkurrier- 
ten mit  den  Zeitungen  neue  wichtige  Industrien:  einmal 
die  Fabrikation  von  Papiergarn,  von  dem  immer  wachsende 
Quantitäten  benötigt  wurden,  vor  allem  für  die  Herstellung 
von  Sandsäcken  für  die  Schützengräben;  dann  die  Ver- 
wendung von  Papier  im  Ni  tri  er  verfahren  zur  Herstellung 
von  rauchlosem  Pulver. 

Die  aus  diesen  Verhältnissen  sich  ergebende  starke  Er- 
höhung der  Rohstoffpreise  und  damit  der  Druckpapier- 
preise traf  das  Zeitungsgewerbe  um  so  schwerer,  als  seine 
finanziellen  Grundlagen  durch  den  Ausfall  von  Einnahmen 
aus  Inseraten  ohnedies  erschüttert  waren.  Um  das  Fort- 
erscheinen der  Zeitungen,  namentlich  auch  der  am  schwer- 
sten bedrohten  mittleren  und  kleineren  Zeitungen,  zu  ermög- 
lichen, entschloß  ich  mich  im  Frühjahr  1916  noch  in  meiner 
Eigenschaft  als  Reichsschatzsekretär,  Reichszuschüsse  zur 
Verbilligung  des  Druckpapierpreises  zu  bewilligen. 

Aber  damit  war  nur  der  finanzielleTeil  der  Schwierigkeiten 
überwunden,  nicht  aber  die  Knappheit  an  Druckpapier, 


246 


Das  Zeitungsgewerbe 


die  trotz  aller  Gegenmaßnahmen  so  stark  wurde,  daß 
der  Wettbewerb  um  die  verfügbaren  Mengen  einen  Teil 
der  Presse  einfach  auszuschalten  drohte.  Eine  planmäßige 
Einschränkung  des  Verbrauchs  von  Druckpapier  durch 
das  Reich  war  um  so  mehr  geboten,  als  dafür  gesorgt 
werden  mußte,  daß  die  recht  erheblichen  Reichszuschüsse 
zur  Verbilligung  des  Zeitungspapiers  ihren  Zweck  der  Er- 
haltung der  deutschen  Presse  in  ihrer  Gesamtheit  erfüllten 
und  nicht  nur  den  im  freien  Wettbewerb  um  das  Papier 
stärkeren  Zeitungsunternehmungen  zugutekämen. 

Als  Organ  für  eine  sachgemäße  Regelung  wurde  im 
April  1916  die  ,,  Kriegs  wirtschaftsstelle  für  das  deutsche 
Zeitungsgewerbe“  geschaffen  und  zunächst  mit  der  Fest- 
stellung der  tatsächlichen  Verhältnisse  von  Bedarf  und 
Versorgung  betraut.  Nachdem  ich  das  Reichsamt  des 
Innern  übernommen  hatte,  wurde  der  Kriegswirtschafts- 
stelle ein  Beirat,  bestehend  aus  Vertretern  des  Zeitungs- 
gewerbes und  der  Papierindustrie,  beigegeben.  Die  not- 
wendig gewordene  Kontingentierung  des  Papierverbrauchs 
der  einzelnen  Zeitungen  wurde  unter  Mitwirkung  des 
Beirats  durchgeführt.  Eine  gleichmäßige  Einschränkung 
aller  Zeitungen  um  einen  bestimmten  Prozentsatz  ließ 
sich  dabei  nicht  ermöglichen,  weil  die  kleinen  und  mitt- 
leren Blätter,  die  nur  in  einem  bescheidenen,  kaum  zu 
verkürzenden  Umfang  erschienen,  durch  den  notwendigen 
Abstrich  einfach  zum  Tode  verurteilt  worden  wären,  wäh- 
rend die  Zeitungen  mit  einer  Tagesausgabe  von  vielen 


247 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Druckseiten  eine  stärkere  Einschränkung  eher  ertragen 
konnten.  Die  kleine  und  mittlere  Lokalpresse  mußte  aber 
aus  naheliegenden  und  zwingenden  Gründen  unter  allen 
Umständen  am  Leben  gehalten  werden.  Die  gegebene 
und  auch  von  dem  Beirat  mit  großer  Mehrheit  gebilligte 
Lösung  war  eine  gestaffelte  Kontingentierung,  die  den  Ver- 
brauch der  in  größeren  Ausgaben  erscheinenden  Zeitungen 
stufenweise  stärker  einschränkte  als  den  Verbrauch  der 
Blätter  mit  kleiner  Ausgabe. 

Ich  bin  wegen  dieser  Regelung  späterhin,  als  infolge  der 
Kohlennot  die  Kontingentierung  schärfer  angespannt 
werden  mußte,  von  einem  Teil  der  großen  Presse  heftig  an- 
gegriffen worden;  ja  eine  Anzahl  Berliner  Organe  hat  sich 
damals  zu  einer  Art  Streik  gegen  mich  zusammengetan 
und  verabredet,  von  meiner  im  März  1917  im  Reichstag 
zum  Etat  des  Reichsamts  des  Innern  gehaltenen  Rede  über 
unsere  Kriegswirtschaft  keinerlei  Notiz  zu  nehmen.  Heute 
denkt  wohl  mancher  von  denen,  die  mich  damals  so  scharf 
befehdeten,  etwas  milder;  denn  es  ist  mir  nicht  bekannt, 
daß  nach  meinem  Ausscheiden  aus  dem  Reichsamt  des 
Innern  eine  bessere  Lösung  der  Druckpapierfrage  gefunden 
worden  wäre. 

Die  Zeitungsangelegenheit  war  ein  Sonderfall  ganz 
eigener  Art.  Die  Presse  als  Ganzes  konnte  ihre  Funktionen,  die 
im  Kriege  noch  so  viel  bedeutungsvoller  waren  als  im  Frie- 
den, nur  dann  erfüllen,  wenn  auch  ihre  über  das  ganze  Land 
verteilten  kleinen  Organe  erhalten  blieben.  Die  Erzielung 


248 


Das  Zeitungsgewerbe 


einer  stärkeren  Nutz  Wirkung  von  Kräften  und  Stoffen  im 
Wege  einer  Konzentration  der  Produktion  in  wenigen  be- 
sonders leistungsfähigen  Betrieben  verbot  sich  also  hier 
durch  die  Natur  der  von  der  Presse  zu  vollbringenden 
Leistung.  Überall  aber,  wo  solche  besonderen  Verhält- 
nisse nicht  Vorlagen,  verlangten  die  immer  gewaltiger  an- 
wachsenden Ansprüche  des  Krieges  geradezu  gebieterisch, 
daß  aus  Menschen  und  Stoffen  das  Höchstmaß  von  Nutz- 
wirkung herausgeholt  werde.  Die  Entwicklung  drängte 
also  zu  der  Verwirklichung  der  Grundsätze  hin,  die  gegen 
Ende  des  Jahres  1916  im  ,, vaterländischen  Hilfsdienst“ 
eine  gesetzliche  Formel  gefunden  haben. 

Hilfsdienstgesetz 
und  Hindenburg-Programm 

Die  aus  der  allgemeinen  Lage  sich  ergebende  Notwendig- 
keit der  äußersten  Anspannung  aller  Kräfte  wurde  in  der 
zweiten  Hälfte  des  Jahres  1916  verstärkt  durch  eine  ernste 
Krisis  der  Munitionserzeugung. 

Mit  bewundernswerter  Umsicht  und  Tatkraft  hatte  die 
deutsche  Eisenindustrie  gleich  nach  Beginn  des  Krieges 
die  gewaltige  Aufgabe  der  Versorgung  unseres  Heeres  mit 
Kriegsgerät  aller  Art  in  Angriff  genommen  und  bewältigt. 
Der  Verbrauch  an  Munition,  namentlich  an  Artillerie- 
munition, überstieg  von  Anfang  an  alle  Begriffe.  Die 
vorhandenen  Bestände  waren  rasch  aufgebraucht,  die 


249 


Wii*tschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


bestehenden  Einrichtungen  für  die  Herstellung  von  Artillerie- 
munition vermochten  mit  dem  riesenhaften  Bedarf  nicht 
entfernt  Schritt  zu  halten.  Im  September  und  Oktober 
1914  machte  die  Munitionsversorgung  des  Heeres  eine 
schwere  Krisis  durch,  die  unsere  militärischen  Operationen 
auf  das  äußerste  beeinträchtigte,  ja  verhängnisvoll  zu 
werden  drohte.  Alles,  was  in  der  deutschen  Eisenindustrie 
irgendwie  der  Herstellung  von  Granaten  dienstbar  ge- 
macht werden  konnte,  wurde  herangeholt.  Man  half  sich 
mit  Graugußgranaten,  die  zwar  gegenüber  den  Stahlgranaten 
geringwertig  sind,  aber  rasch  in  großen  Mengen  hergestellt 
werden  konnten.  Gleichzeitig  wurden  die  • Einrichtungen 
für  die  Herstellung  von  Stahlgranaten  in  einem  Maße  aus- 
gebaut, daß  nach  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  für  diese 
Fabrikation  mehr  als  go  Werke  zur  Verfügung  standen, 
gegenüber  7 bei  Kriegsausbruch.  Auch  die  Belieferung  dieser 
Werke  mit  Rohstahl  gestaltete  sich  befriedigend.  Zwar 
hatte  unsere  Eisen-  und  Stahlerzeugung  unmittelbar  nach 
Kriegsausbruch  einen  schweren  Rückgang  erfahren.  Die 
Flußstahlerzeugung  war  von  i 628  000  Tonnen  im  Juli  1914 
auf  567  000  Tonnen  im  August  herabgesunken.  Aber  den 
Anstrengungen  der  Industrie  und  dem  verständnisvollen 
Entgegenkommen  der  Heeresleitung  in  der  Freigabe  von 
Arbeitskräften  war  es  gelungen,  die  Stahlerzeugung  bald 
wieder  zu  heben;  im  Sommer  1916  erreichte  sie  etwa 
I 400  000  Tonnen  im  Monat,  also  etwa  85%  der  Friedens- 
erzeugung. Eine  besondere  Förderung  hatte  die  Herstellung 


250 


Munitionsversorgung 


der  Stahlgranaten  dadurch  erfahren,  daß  es  gelungen 
war,  als  Rohmaterial  Thomasstahl  an  Stelle  des  immer 
knapper  werdenden  Siemens-Martin-Stahls  zu  verwenden. 

Die  Klagen  über  ungenügende  Munitionsversorgung  waren 
so  allmählich  verstummt.  Lange  Zeit  hindurch  schien  die 
Munitionserzeugung  den  Bedarf  des  Feldheeres  ausreichend 
zu  decken.  Noch  im  Mai  1916  versicherte  mir  der  damalige 
Kriegsminister,  General  Wild  von  Hohenborn,  als  ich  mich 
bei  ihm  über  die  Wirkungen  des  gewaltigen  Munitions- 
verbrauches vor  Verdun  erkundigte,  daß  unsere  Munitions- 
vorräte und  unsere  Munitionserzeugung  jeder  Eventualität 
gewachsen  seien. 

Da  begann  am  i.  Juli  die  Schlacht  an  der  Somme,  die 
erste  ganz  große  Materialschlacht.  Engländer  und  Fran- 
zosen entwickelten  eine  Überlegenheit  an  Artillerie  und  Mu- 
nition, von  der  man  sich  bei  uns  offenbar  weder  bei  der 
Obersten  Heeresleitung  noch  beim  Kriegsministerium  und 
der  Feldzeugmeisterei  eine  auch  nur  aiftiähernde  Vor- 
stellung gemacht  hatte.  Wie  wenig  unsere  maßgebenden 
militärischen  Kreise  mit  einer  solchen  Steigerung  des  Muni- 
tionsbedarfes gerechnet  hatten,  ergibt  sich  daraus,  daß  die 
Feldzeugmeisterei  keinerlei  Eile  zeigte,  die  am  30.  Juni  1916 
ablaufenden  Verträge  über  die  Lieferung  von  Granaten  aus 
Thomasstahl  zu  erneuern,  obwohl  der  Vorstand  des  Vereins 
Deutscher  Eisenhüttenleute  schon  Monate  vorher  auf  den 
Ablauf  der  Verträge  hingewiesen  und  auf  rechtzeitige  Er- 
neuerung gedrängt  hatte.  Als  die  Entscheidung  ausblieb. 


251 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


richtete  der  Vorstand  des  genannten  Vereins  im  Juni  noch 
einmal  eine  dringende  Anfrage  an  die  Feldzeugmeisterei 
und  erhielt  darauf  am  2.  Juli  die  Antwort,  eine  Weiter- 
lieferung von  Thomasstahl  für  die  Granatfabrikation  sei 
nicht  beabsichtigt.  Vierzehn  Tage  später,  am  16.  Juli,  er- 
hielt der  Verein  ein  dringendes  Telegramm  des  Inhalts, 
es  hege  die  zwingende  Notwendigkeit  vor,  Geschosse  aus 
Thomasstahl  in  großen  Mengen  zu  beschaffen;  es  werde 
umgehende  Feststellung  der  Höchstmengen^  die  geliefert 
werden  könnten,  erbeten.  Drei  Tage  darauf  fand  eine  Ver- 
sa.mmlung  der  Thomaswerke  statt,  bei  der  die  Militärbe- 
hörde den  dringendsten  Monatsbedarf  an  Thomasrundstahl 
für  die  Granatenfabrikation  auf  ein  Vielfaches  dessen  be- 
zifferte, was  die  Thomaswerke  leisten  konnten.  Außerdem 
ergab  sich,  daß  es  in  den  dringenden  Bestellungen  der  Mih- 
tärbehörden  auf  die  verschiedenen  Arten  von  Stahlerzeug- 
nissen — Granaten,  Wurfminen,  Minenwerfer,  Draht  usw. 
— an  der  erforderlichen  Einheithchkeit  fehlte,  so  daß  die 
einzelnen  Stehen  sich  in  der  Nachfrage  nach  dem  Roh- 
material gegenseitig  Konkurrenz  machten. 

Die  neuen  Anforderungen  der  Heeresverwaltung  über- 
trafen in  ihrem  Umfang  bei  weitem  aUes  bisher  Dagewesene. 
Die  Stahlindustrie  zeigte  sich  sofort  bereit,  jede  andere 
Arbeit,  auch  die  Lieferungen  an  das  neutrale  Ausland,  zu- 
rückzusteUen  und  die  zur  Bewältigung  des  neuen  Munitions- 
bedarfes erforderliche  ümstehung  ihrer  Betriebe,  die  an 
Umfang  selbst  die  Umstellung  der  Industrie  zu  Anfang 


252 


Munitionskrisis 


des  Krieges  übertraf,  mit  jeder  möglichen  Beschleunigung 
durchzu führen.  Über  die  Voraussetzungen  — Freigabe 
der  erforderlichen  Facharbeiter  und  der  notwendigen  Roh- 
stoffe, einheitliche  Disposition  in  den  Bestellungen  der 
Heeresverwaltung  auf  Stahlerzeugnisse,  Zurückstellung  des 
Bedarfs  für  andere  Zwecke,  z.  B.  des  Schienenbedarfs  ^ 
des  Eisenbahn-Zentralamts  — war  für  den  i8.  August 
eine  abschließende  Besprechung  im  Kriegsministerium  ver- 
einbart. Die  Besprechung  verlief  ohne  positives  Ergebnis, 
da,  wie  mir  von  Teilnehmern  an  der  Beratung  mitgeteilt 
worden  ist,  weder  der  den  Vorsitz  führende  Vertreter  des 
Kriegsministeriums,  ein  Major,  noch  der  Vertreter  der 
Feldzeugmeisterei  und  des  Ingenieurkorps  genügend  orien- 
tiert waren. 

In  diesem  Stadium  wurde  ich  zum  erstenmal  mit  der 
Angelegenheit  durch  Vertreter  der  Industrie  befaßt.  Ich 
erteilte  den  Herren,  die  über  die  Behandlung  dieser  un- 
absehbar wichtigen  Frage  auf  das  äußerste  erregt  waren, 
den  Rat,  sich  alsbald  an  den  stellvertretenden  Kriegsmini- 
ster — der  Kriegsminister  selbst  befand  sich  im  Großen 
Hauptquartier  — zu  wenden,  in  der  Überzeugung,  daß 
dieser  sofort  durchgreifen  würde.  Ich  stieß  mit  diesem  Rat 
auf  Bedenken  und  Zweifel,  aber  die  Herren  sagten  zu, 
den  Vorschlag  alsbald  an  ihre  Verbände  weiterzugeben. 
Wenige  Tage  darauf  erhielt  ich  die  Nachricht,  man  habe 
meinen  Rat  insofern  befolgt,  als  man  den  Kriegsminister 
telegraphisch  gebeten  habe,  in  der  Munitionsangelegenheit 


253 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


alsbald  zwei  Vertreter  der  Eisen-  und  Stahlindustrie  im 
Großen  Hauptquartier  zu  empfangen.  Die  Antwort  habe 
gelautet,  der  Kriegsminister  sei  zur  Zeit  an  der  Ostfront 
festgehalten  und  gebe  anheim,  bei  dem  stellvertretenden 
Kriegsminister  in  Berlin  vorstellig  zu  werden.  Ein  er- 
neutes persönliches  Telegramm  des  Herrn  Krupp  von  Boh- 
len und  Haibach  an  den  Kriegsminister  hatte  die  erneute 
Verweisung  an  dessen  Stellvertreter  zur  Folge. 

Der  Verein  Deutscher  Eisenhüttenleute  legte  nun  seine 
Auffassung  der  Lage  und  seine  Vorschläge  in  einer  vom 
23.  August  1916  datierten  Denkschrift  nieder,  die  dem  Kriegs- 
minister und  wohl  auch  andern  maßgebenden  militärischen 
Persönhchkeiten  zugestellt  wurde.  Auch  mir  wnirde  auf 
meinen  Wunsch  ein  Exemplar  überlassen.  Schon  vorher 
hatte  ich  dem  Reichskanzler,  der  im  Begriff  war,  nach  dem 
Großen  Hauptquartier  zu  reisen,  über  die  Angelegenheit 
Vortrag  gehalten  und  ihm  anheimgestellt,  den  Chef  des 
Generalstabs  — damals  noch  General  von  Falkenhayn  — 
und  den  Kriegsminister  auf  den  Ernst  der  Lage  und 
auf  die  Notwendigkeit  einer  Reorganisation  der  Material- 
bestellung hinzu  weisen. 

Wenige  Tage  darauf  war  der  General  von  Falkenhayn 
als  Generalstabschef  durch  den  Generalfeldmarschall  von 
Hindenburg  ersetzt.  Als  der  Kanzler  am  28.  August,  noch 
ohne  Kenntnis  des  Wechsels,  abermals  nach  dem  Haupt- 
quartier fuhr,  gab  ich  ihm  die  mir  inzwischen  zugegangene 
Denkschrift  des  Vereins  Deutscher  Eisenhüttenleute  mit. 


254 


Denkschrift  des  Vereins  deutscher  Eisenhüttenleute 


Der  Kanzler  fand  den  Generalfeldmarschall  und  den  General 
Ludendorff  bereits  orientiert  und  fest  entschlossen, 
durchzugreifen.  Am  31.  August  richtete  der  Feldmarschall 
an  den  Kriegsminister  ein  Schreiben,  in  dem  er  das  stärkste 
Kraftaufgebot  zur  Steigerung  der  Munitions-  und  Waffen- 
herstellung verlangte.  Dem  Kanzler  gab  der  Feldmarschall 
eine  Abschrift. 

Ich  schrieb  darauf  an  den  General  Ludendorff  am  3.  Sep- 
tember 1916  einen  Brief,  in  dem  es  hieß: 

,,Ich  bin  über  die  auf  diesem  Gebiet  vorliegenden 
großen  Schwierigkeiten  durch  unsere  Industriellen  un- 
terrichtet. Mein  Eindruck  ist,  daß  die  volle  Leistungs- 
fähigkeit unserer  Industrie  nur  dann  ausgenutzt  werden 
kann,  wenn 

1.  die  nötigen  Facharbeiter  aus  der  Front  der  In- 
dustrie schleunigst  zur  Verfügung  gestellt  werden, 

2.  die  Vergebung  der  Aufträge  vereinheitlicht  wird, 

3.  der  zu  schaffenden  Zentralstelle  ein  Mann  ersten 
Ranges  aus  unserer  Eisenindustrie  beigegeben  wird. 

. . . Ich  empfinde  es  als  große  Erleichterung  von 
einer  drückenden  Sorge,  daß  die  Oberste  Heeresleitung 
diese  wichtige  Angelegenheit  nunmehr  in  die  Hand  ge- 
nommen hat.  Die  Oberste  Heeresleitung  ist  die  einzige 
Stelle,  die  auf  das  Kriegsministerium  in  dieser  Sache  mit 
der  Sicherheit  des  Erfolges  einwirken  kann.“ 

Etwa  ZV/ei  Wochen  später  erhielt  der  Kanzler  ein 
Schreiben  des  Feldmarschalls,  in  dem  dieser  unter 


255 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


nachdrücklichem  Hinweis  auf  den  Ernst  der  Lage  und  auf  die 
Notwendigkeit  der  Sicherung  eines  ausreichenden  Heeres- 
ersatzes wie  der  Steigerung  der  Leistungen  unserer  Kriegs- 
industrie eine  Reihe  von  Vorschlägen  zur  Erwägung  stellte, 
deren  wichtigste  waren : Ausdehnung  der  Wehrpflicht  auf 
alle  Deutschen  männlichen  Geschlechts  vom  vollendeten 
fünfzehnten  bis  zum  sechzigsten  Lebensjahr  und  Einführung 
einer  allgemeinen  Dienstpflicht  für  Frauen. 

So  sehr  ich  von  der  Überzeugung  durchdrungen  war, 
daß  eine  intensivere  Ausnutzung  der  vorhandenen  Arbeits- 
kräfte dringend  notwendig  geworden  war,  so  wenig 
konnte  ich  mich  von  der  Zweckmäßigkeit  und  Wirksam- 
keit der  von  der  Obersten  Heeresleitung  vorgeschlagenen 
Eingriffe  überzeugen.  Die  Ausdehnung  der  Wehrpflicht 
nach  unten  aus  Gründen  des  Heeresersatzes  schien  mir 
schon  deshalb  überflüssig,  weil  das  bestehende  Wehrgesetz, 
das  die  Wehrpflicht  vom  vollendeten  17.  Lebensjahre  be- 
ginnen ließ,  hinsichtlich  der  beiden  jüngsten  Jahrgänge 
überhaupt  noch  nicht  ausgenutzt  war.  Auch  von  der  Aus- 
dehnung nach  oben  — jedenfalls  von  einer  Ausdehnung 
über  das  fünfzigste  Jahr  hinaus  — eine  Ausdehnung  bis  zum 
fünfzigsten  J ahr  hielt  ich  für  diskutabel  — vermochte  ich 
mir  gleichfalls  für  den  Heeresersatz  keinen  Vorteil  zu  ver- 
sprechen, der  einigermaßen  im  Verhältnis  zu  den  Härten 
und  Nachteilen  einer  solchen  Maßnahme  gestanden  hätte. 
Wollte  man  aber  die  Ausdehnung  der  Wehrpflicht  nach 
oben  und  unten  lediglich  als  Verschleierung  einer  Arbeits- 

256 


Ausdehnung  der  Wehrpflicht.  Frauendienstpflicht 


pflicht,  SO  schien  mir  dieser  Weg  nicht  zweckmäßig;  man 
hätte  die  neuen  Wehrpflichtigen  alsbald  für  die  Arbeit  in 
die  Heimat  wieder  reklamieren  müssen,  und  die  mit  den 
Reklamierten  schon  damals  vorliegenden  Erfahrungen 
waren  nicht  gerade  ermutigend.  Die  Einführung  einer  all- 
gemeinen Dienstpflicht  für  die  Frauen  sollte  die  Möglich- 
keit geben,  männliche  Arbeit  in  weiterem  Umfange  als  bis- 
her durch  weibliche  zu  ersetzen.  Ich  hatte  den  Eindruck,  daß 
die  Oberste  Heeresleitung,  als  sie  diesen  Vorschlag  machte, 
weder  darüber  im  Bilde  war,  in  welchem  Umfang  der 
Ersatz  männlicher  durch  weibliche  Arbeitskräfte  bereits 
gelungen  war  — ich  habe  oben  dafür  einige  Zahlen  ge- 
geben — , noch  auch  darüber,  daß  immer  noch  auf  dem 
Arbeitsmarkt  ein  starker  Überschuß  des  Angebots  weib- 
licher Arbeitskräfte  über  die  Nachfrage  bestand.  Das  Pro- 
blem lautete  hier  nicht : Wie  kann  man  mehr  weibliche  Ar- 
beitskräfte verfügbar  machen?  — sondern  umgekehrt: 
Wie  kann  man  für  die  verfügbaren  weiblichen  Arbeits- 
kräfte geeignete  Arbeit  schaffen?  Auch  schien  mir  der 
Urheber  des  Vorschlages  der  Obersten  Heeresleitung  die 
wirtschaftlichen,  sozialen  und  sittlichen  Unzuträglich- 
keiten eines  Arbeitszwanges  für  das  weibliche  Geschlecht 
nicht  genügend  zu  würdigen. 

In  dem  Ziel,  die  männlichen  Arbeitskräfte  weit  stärker 
als  bisher  auf  die  kriegswichtigen  und  lebenswichtigen 
Betriebt  zu  konzentrieren  und  die  Männerarbeit  in  noch 
weiterem  Umfang  als  seither  durch  Frauenarbeit  zu 

17  Helfferich,  Weltkrieg  II 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


ersetzen,  stimmte  ich  mit  der  Obersten  Heeresleitung  über- 
ein. Aber  von  dem  vorgeschlagenen  Weg  vermochte  ich  — 
abgesehen  von  der  Frage  nach  der  Möglichkeit  seiner  ge- 
setzgeberischen Verwirklichung — bei  zweifelhaftem  Nutzen 
nur  ganz  schwerwiegende  Nachteile  und  Störungen  zu 
erwarten.  Der  Weg,  der  mir  gangbar  erschien,  war  die 
konsequente  Weiterführung  und  Verallgemeinerung  der 
bereits  für  einige  Industrien  in  Angriff  genommenen  Kon- 
zentration und  rationellen  Nutzbarmachung  der  verfüg- 
baren Arbeitskräfte,  und  zwar  unter  möglichster  Förderung 
der  weiteren  Ersetzung  von  Männerarbeit  durch  Frauen- 
arbeit im  Wege  der  Einwirkung  auf  alle  irgendwie  für  weib- 
liche Arbeitskräfte  in  Betracht  kommenden  öffentlichen  und 
privaten  Betriebe.  Auch  die  militärischen  Behörden  und 
Betriebe  sowohl  in  der  Heimat  wie  in  den  besetzten  Ge- 
bieten schienen  mir  eine  Überprüfung  nach  dieser  Richtung 
hin  sehr  wohl  zu  vertragen. 

In  diesem  Sinne  habe  ich  den  Reichskanzler  beraten, 
und  in  diesem  Sinne  hat  der  Reichskanzler  dem  General- 
feldmarschall geantwortet. 

Es  knüpfte  sich  daran  eine  weitere  Erörterung,  in  deren 
Verlauf  die  Oberste  Heeresleitung  in  einem  Schreiben  des 
Feldmarschalls  vom  lo.  Oktober,  das  General  Gröner  am 
14.  Oktober  dem  Reichskanzler  überbrachte,  einen  neuen 
Vorschlag  machte. 

In  diesem  Schreiben  setzte  der  Feldmarschalf  ausein- 
ander, daß  die  bisher  getroffenen  Maßnahmen  zur  Steigerung 

258 


Errichtung  des  Kriegsamts 


der  Leistungen  unserer  Industrie  (Einrichtung  des  Waffen- 
und  Munitionsbeschaffungsamtes  und  des  Arbeitsamtes  im 
Kriegsministerium)  nicht  zum  Ziele  führen  würden.  Er- 
folge würden  .auch  in  Zukunft  dadurch  vereitelt  werden, 
daß  diese  Ämter  nicht  die  erforderliche  Selbständigkeit 
und  Befehlsgewalt  hätten,  um  schnell  und  lediglich 
nach  großen  sachlichen  Gesichtspunkten  zu  handeln, 
die  Ausführung  zu  überwachen  und  nötigenfalls  auch 
durchsetzen  zu  können.  Auch  das  Kriegsernährungs- 
amt leide  unter  den  gleichen  Mängeln.  Die  unbedingt 
notwendige  Änderung  sei  nur  zu  erreichen,  ,,wenn  wir 
uns  zunächst  auf  Maßnahmen  beschränken,  die  lediglich 
durch  Kaiserlichen  Erlaß,  ohne  Beteiligung  der  gesetz- 
gebenden Körperschaften,  getroffen  werden  können“. 
Der  Entwurf  einer  Allerhöchsten  Kabinettsorder  war 
beigefügt. 

Dieser  Entwurf  sah  die  Einrichtung  eines  ,, Obersten 
Kriegsamtes“  vor,  dem  die  Leitung  aller  mit  der  Krieg- 
führung zusammenhängenden  Angelegenheiten  der  Be- 
schaffung, Verwendung  und  Ernährung  der  Arbeiter, 
sowie  die  Beschaffung  von  Rohstoffen,  Waffen  und  Muni- 
tion übertragen  werden  sollte.  Das  Waffen-  und  Muni- 
tionsbeschaffungsamt, das  Arbeitsamt  und  die  Kriegs- 
rohstoffabteilung des  Kriegsministeriums  sollten  dem 
,, Obersten  Kriegsamt“  unterstellt  werden.  Ferner  sollte  das 
„Oberste  Kriegsamt“  die  Maßnahmen  des  Kriegsernäh- 
rungsamts für  die  Versorgung  der  Arbeiter  überwachen. 


17* 


259 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Letztere  Regelung  war  'als  eine  vorläufige  gedacht,  die 
gänzliche  Einfügung  des  Kriegsernährungsamtes  in  das 
,, Oberste  Kriegsamt“  sollte  weiterer  Erwägung  Vorbe- 
halten bleiben. 

Mündlich  sagte  General  Gröner  bei  der  Übergabe  dieses 
Schreibens  dem  Reichskanzler:  General  Ludendorff  habe 
den  Gedanken  des  Arbeitszwanges  noch  nicht  ganz  auf- 
gegeben; er,  Gröner,  sei  für  seine  Person  dagegen,  halte 
aber  Einschränkungen  der  Freizügigkeit  der  Arbeiter,  ähn- 
lich wie  in  England,  für  nötig. 

Die  Errichtung  eines  Kriegsamts,  bei  dem  alle  Ange- 
legenheiten der  Beschaffung  von  Waffen  und  Munition, 
einschheßlich  der  Arbeiter-  und  Rohstoffragen  einheitlich 
zusammengefaßt  werden  sollten,  lag  in  der  Richtung  der 
in  meinem  Schreiben  an  den  General  Ludendorff  vom 
3.  September  gegebenen  Anregung.  Zweifelhaft  war  die 
Zweckmäßigkeit  einer  völligen  Lostrennung  des  Kriegs- 
amts vom  Kriegsministerium.  Nach  weiterer  Prüfung 
entschieden  sich  die  militärischen  Stellen  dahin,  das  Kriegs- 
amt nicht  als  „Oberstes  Kriegsamt“  selbständig  neben  das 
Kriegsministerium  zu  stellen,  sondern  es  mit  weitgehender 
Selbständigkeit  im  Verbände  des  Kriegsministeriums  zu 
belassen.  In  diesem  Sinn  wurde  am  i.  November  1916 
die  Errichtung  des  „Kriegsamts“  durch  Allerhöchste 
Order  verfügt.  Gleichzeitig  wurde  der  General  Gröner  zum 
Chef  des  Kriegsamts  ernannt  und  General  Wild  von  Hohen- 
born als  Kriegsminister  durch  General  von  Stein  ersetzt. 


260 


Kriegsamt.  Arbeitspflicht.  Hindenburg-Programm 


Noch  ehe  diese  Änderungen  veröffentlicht  waren,  am 
28.  Oktober,  teilte  General  Gröner  dem  Reichskanzler 
mit,  daß  die  Oberste  Heeresleitung  — entgegen  der  im 
Schreiben  des  Feldmarschalls  an  den  Reichskanzler  vom 
IO.  Oktober  ausgesprochenen  Absicht,  zunächst  von  Maß- 
nahmen, die  eine  Mitwirkung  der  gesetzgebenden  Körper- 
schaften nötig  machten,  abzusehen  — auf  die  früheren 
Vorschläge  in  der  Form  zurückgreifen  wollte,  daß  für  alle 
männlichen  Deutschen  vom  vollendeten  15.  bis  zum  60. 
Lebensjahr,  sowie  für  die  Frauen  eine  Arbeitspflicht  ein- 
geführt werde. 

Am  folgenden  Tage  fand  beim  Reichskanzler  unter 
Zuziehung  des  Generals  Gröner  eine  Besprechung  mit  den 
beteiligten  Ressortchefs  über  diesen  Gedanken  statt.  General 
Gröner  begründete  die  Notwendigkeit  der  Arbeitspflicht, 
gegen  die  er  sich  dem  Reichskanzler  gegenüber  noch  vier- 
zehn Tage  zuvor  für  seine  Person  ausgesprochen  hatte, 
mit  dem  gewaltigen  Bedarf  an  Arbeitskräften  zur  Durch- 
führung des  neuen  großen  Waffen-  und  Munitionspro- 
gramms, des  „Hindenburg-Programms“.  Ich  hörte  bei 
dieser  Gelegenheit  zum  erstenmal  von  den  gigantischen 
Dimensionen  dieses  Programms,  das  aufgestellt  und  mit 
der  Industrie  größtenteils  bereits  vereinbart  war,  ohne  daß 
die  militärischen  Stellen  in  dieser  so  tief  in  das  gesamte 
Wirtschaftsleben  einschneidenden  und  in  ihrer  Durchführ- 
barkeit von  schwer  zu  übersehenden  wirtschaftlichen  Vor- 
aussetzungen abhängigen  Angelegenheit  mit  mir  als  dem 

261 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Chef  des  wirtschaftlichen  Reichsressorts  in  Verbindung  ge- 
treten wären.  Es  ergab  sich,  daß  auch  der  Eisenbahn- 
minister von  Breitenbach  und  der  Handelsminister  Sydow 
zu  der  Feststellung  des  Programms  ^ nicht  herangezogen 
worden  waren,  obwohl  dessen  Durchführung,  die  enorme 
Transporte  für  Neubauten  industrieller  Anlagen  größten 
Stils  nötig  machte  und  den  Verbrauch  der  Kohle  ge- 
waltig steigern  mußte,  von  der  Leistungsfähigkeit  unserer 
Eisenbahnen  und  unserer  Kohlenproduktion  ebenso  ab- 
hängig war  wie  von  der  Möglichkeit  der  Beschaffung  aus- 
reichender Arbeitskräfte.  Beide  Minister  äußerten,  ebenso 
wie  ich,  die  ernstlichsten  Zweifel  an  der  Durchführbarkeit 
des  „Hindenburg-Programms“  und  wiesen  auf  die  ver- 
hängnisvollen Folgen  einer  solchen  Überspannung  hin. 

In  Sachen  der  Arbeitspflicht  brachte  General  Gröner  nur 
den  allgemeinen  Gedanken  und  den  dekorativen  Namen 
„Vaterländischer  Hilfsdienst“  mit.  Keine  bestimmte  For- 
mulierung und  keine  Ausgestaltung  im  einzelnen.  Die 
Aussprache  enthüllte  die  außerordentlichen  Schwierigkei- 
ten der  Verwirklichung  des  Gedankens  der  Arbeitspflicht. 
Sollten  die  Arbeitspflichtigen  wie  die  Wehrpflichtigen  in 
Stammrollen  eingetragen,  zu  Arbeiterbataillonen  formiert 
und  in  bestimmte  Betriebe  kommandiert  werden?  Jeder- 
mann sah  ein,  daß  dies  unmöglich  war.  Weitaus  der  größte 
Teil  der  künftighin  Arbeitspflichtigen  war  bereits  in  Be- 
trieben und  Beschäftigungen  tätig,  die  als  wichtig  für  die 
Kriegführung  und  Volks  Versorgung  anzusehen  waren. 


262 


Arbeitspflicht 


Es  hätte  keinen  Zweck  gehabt  und  nur  die  schwersten 
Störungen  verursacht,  wenn  man  diese  hätte  aus  ihrer 
Tätigkeit  herausreißen  wollen,  um  sie  dann  derselben 
Tätigkeit  oder  einer  anderen,  aber  nicht  wichtigeren,  wieder 
zuzuführen.  Der  Sinn  der  Arbeitspflicht  konnte  doch  nur 
sein,  diejenigen  heranzuholen,  die  bisher  entweder  über- 
haupt nicht  arbeiteten  oder  in  für  Kriegführung  und  Volks- 
versorgung unwichtigen  oder  weniger  wichtigen  Beschäf- 
tigungen tätig  waren,  oder  schließlich  in  an  sich  wichtigen, 
aber  mit  Arbeitskräften  übersetzten  Betrieben  arbeiteten. 
Dat  Erfassen  dieser  Arbeitskräfte  und  ihre  Überweisung 
an  wichtige  Arbeit  war  zu  organisieren.  Ferner  bedurfte  der 
Zwang,  eine  zugewiesene  Arbeit  anzunehmen,  zu  seiner  Er- 
gänzung einer  Kontrolle  des  Verlassens  einer  kriegswich- 
tigen Arbeit,  also  einer  Beschränkung  des  Arbeitswechsels. 
Und  diese  weitgehenden  Einschränkungen  der  persönlichen 
Freiheit  machten  ein  geordnet  es  Verfahren  und  einen  Rechts- 
schutz für  die  dadurch  betroffenen  Personen  nötig.  Voraus- 
zusehen war  ferner,  daß  bei  der  parlamentarischen  Be- 
handlung eines  Arbeitspflichtgesetzes  die  alten  sozialen 
Wünsche  nach  Arbeitsausschüssen,  Schlichtungsstellen  und 
Einigungsämtern  und  die  politische  Forderung  nach  un- 
beschränkter Koalitionsfreiheit  sich  Geltung  verschaffen 
würden. 

In  der  grundsätzlichen  Frage  konnte  ich  mich  den 
Gründen,  die  General  Gröner  für  die  Statuierung  einer 
Arbeitspflicht  darlegte,  nicht  entziehen,  obwohl  ich  den 

263 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


praktischen  Nutzeffekt  der  Arbeitspflicht  erheblich  geringer 
einschätzte  als  die  militärischen  Stellen.  Aber  angesichts 
der  schweren  Bedrängnis,  in  die  wir  geraten  waren,  konnte 
auf  keine  irgend  mögliche  Verbesserung  in  der  Nutzbar- 
machung von  Arbeitskräften  verzichtet  werden.  Die  Ar- 
beitspflicht der  Jugendlichen  von  weniger  als  17  Jahren 
und  der  Frauen  ließ  General  Gröner  angesichts  der  von 
allen  Seiten  geltend  gemachten  Einwendungen  fallen. 

Ich  übernahm  es,  einen  Entwurf  ausarbeiten  zu  lassen, 
der  als  Grundlage  für  die  weitere  Erörterung  dienen  sollte. 

Das  war  am  Sonntag,  dem  29.  Oktober.  Obwohl  ich 
damals  neben  meinen  anderen  Geschäften  durch  'die 
Reichstagsverhandlungen  über  Belagerungszustand  und 
Zensur,  durch  den  Bundesratsausschuß  für  auswärtige 
Angelegenheiten,  der  am  30.  Oktober  tagte,  und  die  da- 
mals vor  der  Entscheidung  stehende  polnische  Frage  auf 
das  äußerste  in  Anspruch  genommen  war,  konnte  ich  die 
Grundzüge  des  Entwurfs  schon  am  Donnerstag,  2.  No- 
vember, mit  General  Gröner  besprechen  und  mit  diesem 
vereinbaren,  daß  vor  weiterem  die  Angelegenheit  in  der 
folgendenWoche  vertraulich  mit  Vertretern  der  Arbeitgeber- 
und  der  Arbeitnehmer-Organisationen  durchberaten  wer- 
den sollte.  Zudem  hatte  der  Kaiser  sich  der  Auffassung  des 
Kanzlers  angeschlossen,  daß  vor  einer  öffentlichen  Behand- 
lung der  Frage  der  Arbeitspflicht  die  Wirkung  des  damals 
schon  bei  unseren  Verbündeten  angeregten  Friedensvor- 
schlags abgewartet  werden  sollte. 


264 


Das  Hilfsdienstgesetz 


Am  4.  November  war  der  Reichstag  vertagt  worden. 
Am  Vormittag  des  6.  November  schickte  mir  der  Kanzler 
ein  Telegramm  des  Vertreters  des  Auswärtigen  Amts  im 
Großen  Hauptquartier,  der  General  Ludendorff  erkläre, 
das  Hilfsdienstgesetz  dulde  keinerlei  Aufschub;  er  werde 
diesen  Standpunkt  mit  allem  Nachdruck  bei  Seiner  Maje- 
stät vertreten.  Schon  am  Nachmittag  erhielt  der  Kanzler 
ein  Telegramm  des  Kaisers,  in  dem  dieser  in  ungewöhnhch 
schroffer  Form  die  sofortige  Erledigung  des  Hilfsdienst- 
gesetzes befahl.  Auch  in  den  folgenden  Wochen,  während 
mit  Hochdruck  an  dem  Gesetz  gearbeitet  wurde  — der 
Entwurf  wurde  am  10.  November  nach  der  Beschluß- 
fassung des  Preußischen  Staatsministeriums  dem  Kaiser 
zur  Genehmigung  vorgelegt  und  alsbald  nach  Eingang  der 
Kaiserlichen  Order,  am  14.  November,  bei  dem  inzwischen 
bereits  vertraulich  orientierten  Bundesrat  eingebracht  — 
wiederholte  sich  dieses  ungestüme  Drängen  aus  dem  Gro- 
ßen Hauptquartier.  Es  ist  mir  heute  noch  unbegreiflich, 
was  für  einen  Sinn  dieses  Drängen  haben  sollte.  Die  Durch- 
führung des  Gesetzes  bedurfte  in  dem  gerade  erst  neu  er- 
richteten Kriegsamt  umfassender  Vorbereitungen,  die  un- 
beschadet der  verfassungsmäßigen  Behandlung  des  Ent- 
wurfs sofort  in  Angriff  genommen  werden  konnten  und  in 
Angriff  genommen  wurden.  Auch  bei  der  besten  und  gründ- 
lichsten Vorbereitung  konnten  die  Wirkungen  des  Gesetzes 
sich  nicht  auf  Tag  und  Stunde,  sondern  erst  im  Laufe  län- 
gerer Zeit  fühlbar  machen.  Andererseits  war  das  Gesetz 


265 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


von  solcher  Tragweite  für  unser  ganzes  Wirtschaftsleben 
und  für  die  Verhältnisse  eines  jeden  einzelnen  Staats- 
bürgers, daß  ich  für  die  Durchberatung  mit  den  in  erster 
Linie  beteiligten  Wirtschaftskreisen,  für  die  Beschlußfas- 
sung der  Verbündeten  Regierungen  und  für  die  Vorbe- 
reitung der  parlamentarischen  Behandlung  die  nötige  Zeit 
in  Anspruch  nehmen  mußte. 

Jedenfalls  war  ich  für  meine  Person  nicht  gewillt,  das 
fortgesetzte  Drängen  hinzunehmen.  Ich  erklärte  dem 
Kanzler,  daß  ich  dafür  dankte,  unter  der  Hetzpeitsche  des 
Großen  Hauptquartiers  zu  arbeiten,  und  bat  ihn,  dem  Kaiser 
mein  Entlassungsgesuch  zu  unterbreiten.  Der  Kanzler 
selbst  hatte  den  Eindruck,'  daß  die  unverkennbare  Animo- 
sität des  Großen  Hauptquartiers  sich  in  der  Hauptsache 
gegen  seine  Person  richte.  Er  reiste  nach  Pleß,  um  eine 
Aussprache  mit  dem  Kaiser  und  dem  Feldmarschall  her- 
beizuführen und  danach  seine  eigenen  Entscheidungen 
zu  treffen.  Diese  Aussprache  reinigte  für  kurze  Zeit  die 
Atmosphäre;  eine  wirkliche  Klärung  brachte  sie  nicht. 
Der  Kanzler  selbst  kehrte  aus  Pleß  zurück  mit  dem  Gefühl 
eines  von  Einzeldifferenzen  unabhängigen,  auf  die  Dauer 
unüberbrückbaren  Gegensatzes  zwischen  sich  und  der 
Obersten  Heeresleitung. 

Das  Hilfsdienstgesetz  wurde  am  21.  November  vom  Bun- 
desrat angenommen  und  dem  für  den  25.  November  wieder 
einberufenen  Reichstag  vorgelegt.  Schon  zwei  Tage  zuvor 
begann  der  Hauptausschuß  auf  Grund  der  von  mir  mit 


266 


Das  Hilfsdienstgesetz  im  Reichstage 


den  Fraktionsführern  getroffenen  Abrede  in  freier  Dis- 
kussion die  Beratung  des  Gesetzentwurfs.  In  Sitzungen, 
die  vom  frühen  Morgen  bis  zum  späten  Abend  dauerten, 
wurde  das  Gesetz  in  der  eingehendsten  Weise  durchge- 
arbeitet. Der  Reichstagsausschuß  verlangte,  wie  ich  das 
nicht  anders  erwartet  hatte,  daß  alle  die  nach  dem  Ent- 
wurf dem  Bundesrat  vorbehaltenen  Einzelbestimmungen 
über  die  zur  Durchfühmng  des  Gesetzes  zu  schaffenden 
Organe  und  Instanzen  sowie  über  den  Rechtsschutz  für  die 
Arbeitspflichtigen  — Bestimmungen,  die  in  Form  von 
,, Richtlinien“  der  Begründung  des  Entwurfs  beigefügt 
waren  — in  den  Text  des  Gesetzes  selbst  aufgenommen 
würden.  Dazu  kamen  alle  die  vorausgesehenen  und  manche 
nicht  vorausgesehenen  sozialpolitischen  und  politischen 
Anträge,  die  auf  ein  mit  dem  Zweck  des  Gesetzes  verträg- 
liches Maß  in  schwieriger  Diskussion  zurückgeführt  wer- 
den mußten.  So  erfüllte  sich  die  von  einem  Vertreter 
der  Obersten  Heeresleitung  bei  der  Besprechung  mit  den 
Gewerkschaften  ausgesprochene  Hoffnung,  der  Reichstag 
werde  das  Gesetz  als  eine  patriotische  Großtat  auffassen 
und  ohne  Diskussion  en  bloc  annehmen! 

In  Tages-  und  Nachtarbeit  wurde  der  Entwurf  so  weit 
gefördert,  daß  der  Hauptausschuß  schon  am  Abend  des 
28.  November  die  Beratung  abschließen  konnte.  In  den 
folgenden  Tagen  erledigte  das  Reichstagsplenum  die  Vor- 
lage in  Dauersitzungen.  Die  zweite  Lesung  am  30.  No- 
vember begann  um  12  Uhr  mittags  und  endigte  kurz  vor 


267 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


12  Uhr  nachts.  Am  Nachmittag  des  2.  Dezember  wurde 
das  Gesetz  in  dritter  Lesung  vom  Reichstag  mit  235  gegen 
19  Stimmen  der  Unabhängigen  Sozialdemokraten  bei 
8 Stimmenthaltungen  angenommen. 

Bis  zum  letzten  Augenblick  waren  einzelne  wichtige 
Bestimmungen  schwer  umstritten.  Meine  Stellung  war 
gegenüber  dem  Reichstag  eine  ungewöhnlich  schwierige 
infolge  des  Umstandes,  daß  zwischen  den  einzelnen  Sta- 
dien der  Reichstagsberatung  nicht  die  genügende  Zeit  lag, 
um  eine  Stellungnahme  der  Verbündeten  Regierungen  zu 
weitgehenden  Abänderungen  und  Ergänzungen  der  Vorlage 
herbeizuführen.  Dadurch  war  ich  gezvnmgen,Jn  Wahrung 
des  gesetzgeberischen  Rechtes  des  Bundesrats  auch  gegen- 
über Anträgen  Zurückhaltung  zu  zeigen,  die  ich  an  sich 
für  erträglich  hielt  und  die  ich  bei  den  Verbündeten  Re- 
gierungen gegen  manche  mir  bekannte  Widerstände  zu 
befürworten  entschlossen  war.  Ich  mußte  in  solchen  Fäl- 
len, wie  ich  es  im  Reichstag  ausdrückte,  den  Verbündeten 
Regierungen  gewissermaßen  „das  Protokoll  offen  halten“. 
Der  Reichstag  hat  für  solche  Situationen,  die  sich  aus  der 
Stellung  der  Mitglieder  der  Reichsleitung  als  Vertreter 
der  Verbündeten  Regierungen  ergaben,  stets  nur  geringes 
Verständnis  gezeigt.  Im  vorliegenden  Fall  kam  für  mich 
noch  die  besondere  Erschwening  hinzu,  daß  der  General 
Gröner,  der  als  Chef  des  Kriegsamts  mit  mir  die  Vorlage 
zu  vertreten  hatte,  in  der  nur  einem  Soldaten  gestatte- 
ten Unbefangenheit  auf  eigene  Faust  verhandelte  und 


268 


Das  Hilfsdienstgesetz  im  Reichstage 


Zugeständnisse  machte,  oft  genug  ohne  mich  auch  nur  von 
seinen  Besprechungen  und  Zusagen  zu  unterrichten.  Es  ist 
mir  in  der  Kommission  passiert,  daß  mir  ein  sozialdemokra- 
tischer Abgeordneter  unter  vier  Augen  sagte  : „Wir  verstehen 
Sie  nicht;  Sie  wehren  sich  hier  gegen  Dinge,  die  uns  der 
General  Gröner  längst  zugestanden  hat!“ 

Noch  in  der  dritten  Lesung  kam  es  zu  einer  kritischen 
Zuspitzung.  Am  Abend  vorher  wurde  mir  mitgeteilt,  daß 
die  Nationalliberalen  auf  Drängen  des  Abgeordneten  Ickler, 
der  in  den  Eisenbahner-Organisationen  eine  führende 
Rolle  spielte,  einen  Antrag  einbringen  wollten,  der  die 
Erstreckung  der  in  den  Beschlüssen  zweiter  Lesung 
vorgesehenen  Arbeiterausschüsse  und  Schlichtungsstellen 
auch  auf  die  Staatseisenbahnen  vorsah.  Der  preußische 
Eisenbahnminister  und  mit  ihm  das  gesamte  preußische 
Staatsministerium  hatten,  schon  als  in  den  Kommissions- 
beratungen dieser  Gedanke  von  sozialdemokratischer  Seite 
in  die  Erörterung  geworfen  wurde,  eine  solche  Erstreckung 
für  unannehmbar  erklärt.  Der  Widerstand  des  Eisenbahn- 
ministers richtete  sich  vor  allem  gegen  die  Schiedsstellen, 
die  für  das  Verhältnis  zwischen  Eisenbahn  Verwaltung  und 
Eisenbahnangestellten  und  Arbeitern  eine  dritte  außerhalb 
stehende  Instanz  geschaffen  hätten.  Dagegen  gelang  es 
mir,  von  Herrn  von  Breitenbach  die  Zusicherung  zu  er- 
halten, daß  die  bei  der  Eisenbahn  bereits  bestehen- 
den Arbeiterausschüsse  entsprechend  den  aus  der  Mitte 
des  Reichstags  geäußerten  und  in  einer  Resolution 

269 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


niedergelegten  Wünschen  ausgebaut  werden  sollten.  Auf 
Grund  dieser  Zusage  gelang  es,  die  Nationalliberalen  noch 
vor  Beginn  der  Sitzung  zur  Zurückziehung  des  bereits  ge- 
druckten Antrages  Ickler  zu  bestimmen.  Die  Sozialdemo- 
kraten, die  bisher  einen  solchen  Antrag  nicht  gestellt 
hatten,  erhielten  jedoch  von  dem  gleich  wieder  zurück- 
gezogenen Antrag  Ickler  Kenntnis  und  nahmen  diesen  nun 
ihrerseits  auf.  Als  bereits  der  Abgeordnete  Legien  zur  Be- 
gründung des  Antrags  sprach,  trat  der  Abgeordnete  Ickler 
zu  mir  heran  und  sagte  mir,  daß,  nachdem  die  Sozial- 
demokraten den  Antrag  gestellt  hätten,  seine  Freunde  nun 
doch  für  den  Antrag  stimmen  müßten.  Da  die  Haltung 
eines  Teiles  des  Zentrums  zum  mindesten  zweifelhaft  war, 
was  mir  der  Abgeordnete  Spahn  bestätigte,  konnte  die 
Annahme  des  Antrags,  wenn  überhaupt  noch,  dann  nur 
durch  eine  klare  Stellungnahme  meinerseits  und  einen 
Hinweis  auf  die  möglichen  Folgen  eines  solchen  irrepara- 
beln,  weil  in  der  dritten  Lesung  gefaßten  Beschlusses  ver- 
hindert werden.  Ich  nahm  deshalb  nach  Legien  das  Wort, 
teilte  zunächst  die  Zusicherung  des  preußischen  Eisenbahn- 
ministers hinsichtlich  der  Arbeiterausschüsse  mit,  ent- 
wickelte kurz  die  Gründe  gegen  eine  Ausdehnung  der  Schieds- 
stellen  auf  die  Eisenbahnen  und  fügte  hinzu : ,, Deshalb  muß 
ich  hier,  so  leid  es  mir  tut,  sagen,  daß,  wenn  der  Antrag,  wie 
er  hier  gestellt  ist,  angenommen  wird,  dann  in  der  Tat  das 
Gesetz  gefährdet  ist.  Dieses  Wort  habe  ich  bisher  noch  nicht 
ausgesprochen;  in  diesem  Punkte  muß  ich  es  leider  tun.“ 


270 


Das  Hilfsdienstgesetz  im  Reichstage 


Diese  Erklärung  trug  mir  im  Reichstag  und  in  der  Presse 
die  heftigsten  Angriffe  ein.  Sie  hatte  aber  die  Wirkung, 
daß  ein  Teil  der  Abgeordneten,  die  andernfalls  für  den 
sozialdemokratischen  Antrag  gestimmt  hätten,  vor  allem 
die  Nationalliberalen  um  Ickler  und  die  den  Arbeiter- 
organisationen nahestehenden  Zentrumsabgeordneten,  sich 
auf  die  zu  diesem  Thema  vorliegende  Resolution  zurück- 
zogen und  gegen  den  Antrag  stimmten,  der  auch  jetzt  nur 
mit  einer  Stimme  Mehrheit,  mit  139  gegen  13S  Stimmen, 
abgelehnt  wurde.  Ich  war  bei  der  Besetzung  des  Hauses 
auf  eine  Annahme  des  Antrags  gefaßt  und  hatte  bereits 
meine  Akten  gepackt,  um  sofort  zum  Kanzler  zu  fahren 
und  meine  Entlassung  zu  nehmen. 

Mir  persönlich  wäre  diese  Lösung  eine  Erleichterung  ge- 
wesen. Die  das  Maß  menschlicher  Kraft  übersteigende 
Arbeitslast,  die  sich  in  den  letzten  Wochen  ins  Unerträgliche 
gesteigert  hatte  und  durch  die  Reibungen  mit  dem  Gro- 
ßen Hauptquartier  auf  der  einen  Seite,  mit  dem  Reichstag 
auf  der  anderen  Seite,  noch  eine  besondere  Würze  erhielt, 
hatte  mir  die  Freude  an  meiner  Amtstätigkeit  zerstört 
und  mir  auch  körperlich  stark  zugesetzt.  Neue  schwere 
Reibungen  und  Konflikte  sah  ich  voraus.  Die  Erfahrungen 
bei  der  Beratung  des  Hilfsdienstgesetzes  hatten  mir  ge- 
zeigt, daß  ich  bei  einem  großen  Teil  des  Reichstags,  ins- 
besondere bei  den  Sozialdemokraten,  mit  einer  unüber- 
windlichen Voreingenommenheit  zu  kämpfen  hatte.  Man 
sah  in  mir,  zu  dessen  Geschäftsbereich  vor  allem  auch  die 


271 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Sozialpolitik  gehörte,  stets  den  früheren  Bankdirektor 
und  infolgedessen  den  Vertreter  kapitahstischer  Welt- 
anschauung und  kapitalistischer  Interessen,  ohne  mir  den 
mildernden  Umstand  zuzubilligen,  daß  auch  ich  nicht  in 
einer  goldenen  Wiege  gelegen  habe,  sondern  aus  immerhin 
bescheidenen  Verhältnissen  lediglich  durch  eigene  Arbeit 
vorwärtsgekommen  war.  Andererseits  lehnte  sich,  je 
länger  desto  mehr,  mein  in  neun  Jahren  großer  geschäft- 
licher Tätigkeit  an  praktische  Arbeit  gewohnter  Sinn  gegen 
die  Arbeitsmethoden  des  Reichstags  auf,  der  immer  wieder 
in  endlose  Debatten  und  öde  Parteipolitik  zurückfiel, 
während  draußen  Stunde  für  Stunde  um  Leben  und  Tod 
der  Nation  gerungen  wurde  und  uns  allen  die  Not  des 
Vaterlandes  auf  den  Nägeln  brannte.  Auch  in  der  Uner- 
quicklichkeit  des  Verhältnisses  zum  Großen  Hauptquartier 
sah  ich  keine  Besserung.  Über  die  wachsende  Schwierig- 
keit des  vertrauensvollen  Zusammenwirkens  konnte  es 
mich  nicht  hinwegtrösten,  daß  der  Kaiser  nach  der  Erledi- 
gung des  Hilfsdienstgesetzes  mir  sein  unvermindertes  Ver- 
trauen durch  die  Übersendung  seines  Reiterbildes  mit  einer 
anerkennenden  Widmung  zu  erkennen  gab.  Aber  in  allen 
diesen  Schwierigkeiten  überwog  doch  schließlich  das  Ge- 
fühl, daß  persönhche  Empfindungen  vor  der  harten  Pflicht 
zurücktreten  mußten,  und  daß  die  Pflicht  von  mir  verlange, 
auszuhairen  und  weiterzukämpfen. 

Die  Durchführung  des  Hilfsdienstgesetzes  wrde  durch 
das  Gesetz  selbst  dem  Kriegsamt  übertragen,  dem  ein  aus 

272 


Durchführung  des  Hilfsdieustgesetzes.  Abkehrscliein 


fünfzehn  Mitgliedern  bestehender  Ausschuß  des  Reichs- 
tags, ausgestattet  mit  weitgehenden  Befugnissen,  zur  Seite 
gestellt  wurde.  Damit  waren  meiner  unmittelbaren  Ein- 
wirkung auf  die  Durchführung  des  Gesetzes  enge  Grenzen 
gezogen. 

Von  erheblicher  Bedeutung  für  die  Durchführung  ist 
die  Fassung  geworden,  die  der  Reichstag  dem  § 9 des  Ge- 
setzes gegeben  hatte. 

Der  Paragraph  behandelt  die  als  Ergänzung  zur  Arbeits- 
pflicht erforderliche  Beschränkung  des  Arbeits Wechsels. 
Ein  Arbeitswechsel  sollte  nur  gestattet  sein  vermittels 
eines  von  dem  bisherigen  Arbeitgeber  ausgestellten  „Ab- 
kehrscheines“. Gegen  die  Verweigerung  des  Abkehrscheines 
sollte  die  Berufung  an  eine  paritätisch  zusammengesetzte 
Kommission  statthaft  sein,  die  den  Abkehrschein  bei  Vor- 
liegen eines  ,, wichtigen  Grundes“  für  das  Ausscheiden  aus- 
zustellen hatte. 

Diese  Regelung  war  bereits  in  den  der  Vorlage  beige- 
gebenen Richtlinien  enthalten.  In  der  Kommission  wurde 
ein  Zusatz  beantragt,  daß  als  ,, wichtiger  Grund“  für  das 
Ausscheiden  „insbesondere  die  Möglichkeit  der  Verbesserung 
der  Arbeitsbedingungen“  zu  gelten  habe.  Gegen  diesen  Zu- 
satz wurden  nicht  nur  von  mir  sondern  auch  aus  der  Mitte 
der  Kommission,  namentlich  auch  von  den  Abgeordneten 
von  Payer  und  Dr.  Schiffer,  starke  Bedenken  geltend 
gemacht.  Die  einseitige  Hervorhebung  der  Verbesserung 
der  Lohnverhältnisse  als  ,, wichtiger  Grund“  für  den 


iS  Helffericli,  Weltkrieg  II 


273 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Arbeitswechsel  schien  mir  mit  dem  Zweck  des  Gesetzes,  im 
Interesse  der  möglichsten  Steigerung  der  Produktion  den 
Arbeitswechsel  einzuschränken,  im  Widerspruch  zu  stehen. 
Ich  führte  damals  in  der  Kommission  aus: 

,,Nach  meiner  Ansicht  werden  durch  eine  solche  ge- 
setzliche Bestimmung  die  Leute  geradezu  mit  der  Nase 
darauf  gestoßen,  daß  sie  sich  überlegen,  w^o^  sie  bessere 
Arbeitsbedingungen  finden.  Statt  den  Arbeits Wechsel  zu 
verhindern,  fürchte  ich,  daß  durch  eine  solche  einseitige 
Definition  das  Gegenteil  erreicht  wird,  daß  Unzufrieden- 
heit in  die  große  Masse  der  Arbeiter  hineingetragen  wird, 
die  an  einen  x\rbeits Wechsel  bisher  gar  nicht  denken.“ 

' Der  Abgeordnete  von  Payer  sprach  geradezu  von  einer 
Entwertung  des  ganzen  Gesetzes  durch  eine  so  einseitige 
Hervorkehrung  der  Lohnfrage. 

Schließlich  einigte  sich  die  Mehrheit  der  Kommission 
auf  einen  Zusatz,  lautend: 

,,Bei  der  Entscheidung  der  Frage,  ob  ein  , wichtiger 
Grund*  vorliegt,  ist  auf  die  Bedürfnisse  des  vaterländischen 
Hilfsdienstes  Rücksicht  zu  nehmen.  Als  wichtiger  Grund 
soll  insbesondere  eine  angemessene  Verbesserung  der  Ar- 
beitsbedingungen im  vaterländischen  Hilfsdienst  gelten.“ 

Hier  war  wenigstens  die  Rücksicht  auf  den  Zweck  des 
Gesetzes  im  ersten  Satz  vorangestellt. 

Im  Plenum  des  Reichstags  jedoch  wurde  die  Streichung 
des  ersten  Satzes  beantragt  und  gegen  meinen  Widerspruch 
angenommen. 

274 


Lohntreiberei 


Die  seither  gemachten  Erfahrungen  haben  meine  Be- 
fürchtungen leider  gerechtfertigt.  Die  heute  allgemein, 
auch  von  den  Sozialdemokraten,  beklagte  ungesunde  Lohn- 
treiberei ist  von  der  Kriegsindustrie  ausgegangen,  und  in 
der  Kriegsindustrie  hat  ihr  der  vom  Reichstag  beschlossene 
Zusatz  geradezu  den  Boden  bereitet. 

Auf  diesem  Boden  mußte  die  Lohntreiberei  um  so 
üppiger  ins  Kraut  schießen,  als  das  Kriegsamt  mehr  und 
mehr  dazu  überging,  Lieferungsverträge  abzuschließen, 
bei  denen  die  Preisfestsetzung  offen  blieb  und  nach  Ab- 
schluß der  Lieferung  auf  Grund  der  Gestaltung  der  Ma- 
terialpreise und  Löhne  erfolgen  sollte.  Durch  Verträge 
dieser  Art  wurden  die  Unternehmer  geradezu  angereizt, 
sich  gegenseitig  in  den  Arbeitslöhnen  zu  überbieten.  Denn 
die  Lohnsteigerung  wurde  j a nun  nicht  mehr  von  ihnen  selbst 
getragen,  sondern  von  dem  geduldigen  Staat;  ja  die  Lohn- 
steigerung brachte  ihnen  geradezu  einen  Vorteil,  da  ihr 
Gewinn  im  Verhältnis  ihres  Aufwandes  für  Material  und 
Löhne  stieg.  Das  Kriegsamt  hat  später  in  einer  besonderen 
Denkschrift  über  dieses  verheerende  System  bewegliche 
und  berechtigte  Klage  geführt.  Es  hat  dabei  nur  den  einen 
nicht  ganz  unwichtigen  Umstand  übersehen,  daß  nämlich  die 
Anwendung  und  die  Abstellung  dieses  Systems  lediglich 
Sache  seiner  eigenen  Zuständigkeit  und  Verantwortung  war. 

Von  der  Lohnfrage  abgesehen  war  die  Wirkung  des  Hilfs- 
dienstgesetzes in  ganz  besonderem  Maße  davon  abhängig, 
wieweit  es  gelang,  auf  organisatorischem  Weg  durch  eine 

i8* 


275 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


rationelle  Gestaltung  der  einzelnen  Produktionszweige, 
insbesondere  durch  Zusammenlegung  und  Stillegung  von 
Betrieben,  bisher  ohne  erhebliche  Nutzwirkung  gebundene 
Arbeitskräfte  freizusetzen  und  für  wichtige  Arbeit  ver- 
fügbar zu  machen.  Darüber  ist  schon  bei  den  Verhand- 
lungen des  Hauptausschusses,  dann  in  den  Verhandlungen 
des  dem  Kriegsamt  zur  Seite  gestellten  Fünfzehneraus- 
schusses unendlich  viel  gesprochen  worden.  Die  praktische 
Arbeit  hat  mit  den  theoretischen  Worten  leider  nicht  glei- 
chen Schritt  gehalten.  Das  Reichsamt  des  Innern  war  bald 
genötigt,  diese  dem  Kriegsamt  übertragenen  Angelegen- 
heiten allmählich  wieder  in  seine  Hand  zu  nehmen. 

Ein  abschließendes  Urteil  über  die  Wirkung  des  Hilfs- 
dienstgesetzes ist  mir  heute  noch  nicht  möglich,  da  mir 
das  hierfür  erforderliche  Material  nicht  zugänglich  ist.  Mein 
Eindruck  geht  jedoch  dahin,  daß  seine  Wirkung  jeden- 
falls weit  hinter  den  Erwartungen  der  Obersten  Heeres- 
leitung zurückgeblieben  ist,  ja  daß,  alles  in  allem  genommen, 
der  Nachteil  den  Vorteil  aufgewogen  hat.  Dies  gilt  auch 
von  der  Wirkung  auf  die  Volksstimmung.  Der  große  patrio- 
tische Aufschwung,  den  die  Urheber  des  Gesetzes  von  der 
Verkündigung  der  allgemeinen  Dienstpflicht  für  das  Vater- 
land erwarteten,  ist  nicht  eingetreten ; dagegen  haben  die 
Radikalsten  der  Radikalen  das  ,, Arbeitszwangsgesetz'*  als 
zugkräftigen  Agitationsstoff  ausgenutzt.  Ein  entschiedenes, 
aber  besonnenes  Fortschreiten  auf  dem  bereits  betretenen 
Weg  der  Einschränkung  des  Arbeitsaufwandes  für  weniger 

276 


Wirkung  des  Hilfsdienstgesetzes 


wichtige  Zwecke  und  der  rationellen  Nutzbarmachung  der 
Arbeitskräfte  in  den  für  den  Krieg  und  die  Volksversorgung 
wichtigen  Zweigen  hätte  uns  wohl  weiter  geführt  als  die  große 
Aufmachung  des  „Vaterländischen  Hilfsdienstgesetzes' k 

Eines  steht  leider  fest:  Auch  mit  dem  Hilfsdienstgesetz 
ist  es  nicht  gelungen,  das  „Hindenburg-Programm"  auch 
nur  annähernd  zur  Durchführung  zu  bringen.  Es  trat 
vielmehr  ein,  was  dem  neuen  Chef  des  Kriegsamts  schon 
in  jener  ersten  Besprechung  beim  Reichskanzler  am  29.  Ok- 
tober 1916  mit  allem  Nachdruck  entgegengehalten  wor- 
den war:  das  Hindenburg-Programm  scheiterte  nicht  nur 
an  der  Arbeiterfrage,  sondern  auch  an  der  Transport-  und 
der  Kohlenfrage,  und  schlimmer  als  das:  es  brachte  nicht 
nur  unsere  Arbeitsverhältnisse,  sondern  auch  unsere  Trans- 
port- und  Kohlen  Verhältnisse  in  eine  schlimme  Verwirrung. 

Schon  Anfang  Februar  1917  sah  sich  die  Oberste  Heeres- 
leitung genötigt,  gegenüber  der  Industrie  den  Wunsch 
auszusprechen,  es  m.öchte  der  Weiterbau  aller  derjenigen 
Fabriken,  die  nicht  schon  innerhalb  der  nächsten  drei  bis 
vier  Monate  fertig  würden,  zunächst  einmal  zurückgestellt 
werden.  Die  Schwierigkeiten,  namentlich  die  Transport- 
schwierigkeiten, waren  damals  so  groß  geworden,  daß  kein 
einziger  der  40  Hochöfen,  die  vollständig  betriebsfähig, 
aber  kalt  bereitstanden,  hatte  angeblasen  werden  können. 
Eine  Entlastung  der  Werke  zugunsten  des  Eisenbahnbedarfs 
war  zur  Vermeidung  einer  Katastrophe  unabweisbar 
geworden. 


277 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


Aber  auch  die  schon  damals  vorgenommene  erhebliche 
Einschränkung  des  Programms  genügte  noch  nicht,  das 
Gleichgewicht  mit  unserer  wirtschaftlichen  Leistungsfähig- 
keit herzustellen.  Die  Transportkrisis,  verschärft  durch 
einen  ungewöhnlich  harten  Winter,  der  für  viele  Wochen 
die  Wasserstraßen  unbenutzbar  machte  und  das  Eisen- 
bahnmaterial stark  beanspruchte,  hielt  an.  Die  Kohlen- 
krisis wurde  von  Woche  zu  Woche  bedenklicher.  Wie  man 
dem  Eisenbahnbedarf  auf  Kosten  der  Munitionserzeugung 
freieren  Spielraum  geben  mußte,  so  wurden  auch  auf  dem 
Gebiet  der  Kohlenförderung  und  des  Kohlenverbrauches 
einschneidende  Maßnahmen  nötig. 

Die  Sorge  für  die  Kohle  hatte  zunächst  das  Kriegsamt 
an  sich  genommen.  Der  „Kohlenausgleich*'  des  Kriegs- 
amts, der  zu  einer  großen  Organisation  ausgebaut  wor- 
den war,  stand  im  Februar  igi6  vor  der  Unmöghchkeit, 
seine  Aufgabe  zu  bewältigen.  General  Gröner  wandte  sich 
an  den  preußischen  Handelsminister  und  an  mich,  um 
mit  uns  über  die  zu  ergreifenden  Maßnahmen  zu  beraten. 
Es  wurde  ein  Reichskommissar  für  Kohle  eingesetzt  und 
mit  selbständigen  und  weitgehenden  Befugnissen  ausge- 
stattet, vor  allem  mit  der  Befugnis  der  Beschlagnahme  der 
Kohle  und  der  Zuteüung  an  bestimmte  Empfänger.  Zur 
Aufrechterhaltung  der  unbedingt  notwendigen  engen  Füh- 
lung mit  den  militärischen  Stellen  wurde  der  Kohlen- 
kommissar dem  Kriegsamt  ,, angegliedert**,  blieb  jedoch 
der  Aufsicht  des  Reichskanzlers  unterstellt.  - 


278 


Transport-  und  Kohlen krisis 


Es  stellte  sich  bald  heraus,  daß  die  Aufgabe  des  Kohlen- 
kommissars, für  eine  ausreichende  Deckung  des  Kohlen- 
bedarfs, vor  allem  des  dringlichen  Kohlenbedarfs,  zu  sor- 
gen, bei  den  damals  obwaltenden  Verhältnissen  unlösbar 
war.  Zwar  war  die  Kohlenförderung  nach  dem  Rückschlag 
zu  Beginn  des  Krieges  bald  wieder  in  die  Höhe  gebracht 
worden.  Die  Steinkohlenförderung  stand  nicht  mehr  weit 
hinter  der  Friedensproduktion  zurück,  und  die  Braun- 
kohlenförderung hatte  die  Friedensproduktion  sogar  über- 
schritten. Aber  abgesehen  von  der  schlechteren  Qualität 
der  mangelhaft  aufbereiteten  Kohle  waren  die  Eisen- 
bahnen bis  in  das  Frühjahr  1917  hinein  nicht  in  der  Lage, 
die  geförderten  Mengen  abzu transportieren ; Hundert- 
tausende von  Tonnen  mußten  auf  die  Halde  gestürzt 
werden.  Und  auch  später,  als  die  Wagengestellung  wieder 
ausreichte,  um  die  gesamte  Förderung  zu  bewältigen,  zeigte 
sich,  daß  allein  die  Dringlichkeitsliste  der  militärischen 
Stellen  infolge  der  enormen  Ansprüche  des  Waffen-  und 
Munitionsprogrammes  größere  Kohlenmengen  umfaßten, 
als  bei  damaligem  Stand  der  Belegschaften  überhaupt  ge- 
fördert werden  konnten.  Die  Erhebungen  des  Kohlen- 
kommissars, der  für  das  Jahr  1917  eine  Bilanz  aufzustellen 
versuchte,  ergaben  bei  einer  Steinkohlenförderung  von  rund 
160  Millionen  Tonnen  und  einem  Bedarf  von  183  Millionen 
Tonnen  einen  Fehlbetrag  von  nicht  weniger  als  23  Mil- 
lionen Tonnen.  Eine  Nachprüfung  der  Ersparnismöglich- 
keiten ergab,  daß  die  Verwendungszwecke  außerhalb 


279 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


der  Kriegsindustrie  (hauptsächlich  für  Eisenbahnen, 
Hausbrand,  Gas-,  Wasser-  und  Elektrizitätswerke,  Aus- 
fuhr auf  Grund  abgeschlossener  Kompensationsverträge) 
entweder  keine  oder  nur  eine  im  Verhältnis  zu  dem  Fehl- 
betrag geringfügige  Einschränkung  vertrugen.  Insbesondere 
habe  ich  mich  dafür  eingesetzt,  daß  der  Hausbrand,  der 
mit  14  Millionen  Tonnen  ohnedies  schon  sehr  niedrig  ver- 
anschlagt war,  unter  allen  Umständen  sichergestellt  werden 
müsse.  Wir  standen  also  vor  der  Alternative:  entweder 
weitere  Einschränkung  des  Rüstungsprogramms  oder 
Steigerung  der  Kohlenproduktion,  die  nur  durch  die 
Freigabe  einer  großen  Anzahl  von  Bergarbeitern  aus  der 
Front  erzielt  werden  konnte.  Es  handelte  sich  also  im 
wesentlichen  darum,  den  Bedarf  an  Waffen  und  Munition 
und  den  Bedarf  an  Mannschaften  gegeneinander  abzu- 
wägen. Das  war  Sache  der  Obersten  Heeresleitung,  die 
allein  darüber  entscheiden  konnte,  an  welchem  Punkt  diese 
beiden  Interessen  ihren  Ausgleich  finden  sollten.  Ich  mußte 
mich  darauf  beschränken,  den  militärischen  Stellen  die 
engen  Grenzen  der  zivilen  Ersparnismöglichkeit  und  die 
damit  unausweichliche  Alternative:  entweder  ausgiebige 
Freigabe  von  Mannschaften  für  den  Kohlenbergbau  oder 
weitere  empfindliche  Einschränkung  des  Hindenburg- 
Programms,  mit  aller  Eindringlichkeit  klarzumachen. 
Das  ist  von  mir  namenthch  auch  in  einer  eingehenden  Be- 
sprechung mit  dem  General  Ludendorff  im  Juni  1917 
geschehen. 


280 


Hindenburg-Programm  und  Kriegsausgaben 


Die  Heeresverwaltung  hat  sich  schließlich  zu  weitgehen- 
der Freigabe  von  Mannschaften  auf  der  einen  Seite,  zu 
einer  neuen  Einschränkung  des  Hindenburg-Programms  auf 
der  andern  Seite  entschlossen.  Der  ungeheure  Druck  der 
Tatsache,  daß  jede  Tonne  Steinkohle,  die  ohne  zwingende 
Notwendigkeit  verbraucht  wurde,  eine  Minderung  der  Ver- 
sorgung des  kämpfenden  Heeres  mit  Kampfmitteln  dar- 
stellte, nötigte  gleichzeitig  zu  der  äußersten  Einschränkung 
des  Kohlenverbrauches  auf  allen  übrigen  Gebieten. 

Auch  unsere  finanzielle  Kraft  wurde  durch  die  Über- 
spannung des  Waffen-  und  Munitionsprogramms  über  Ge- 
bühr in  Anspruch  genommen.  Die  monatlichen  Kriegsaus- 
gaben, die  noch  im  August  1916  sich  unter  dem  Betrag  von 
2 Milliarden  Mark  hielten,  überschritten  im  Oktober  1916 
bereits  den  Betrag  von  3 Milliarden  Mark.  Ein  Jahr  später 
wuchsen  sie  über  die  vierte  Milliarde  hinaus,  und  im  Ok- 
tober 1918  haben  sie  den  Betrag  von  4 Milliarden  800  Mil- 
lionen Mark  erreicht.  Es  ist  also  auch  nach  der  Einschrän- 
kung des  Hindenburg-Programms  nicht  mehr  gelungen, 
den  immer  stärker  anschwellenden  Strom  der  Kriegsaus- 
gaben wieder  einzudämmen. 

Der  Reichsfinanzminister  Dr.  Schiffer  hat  im  Februar  1919 
in  der  Nationalversammlung  das  Hindenburg-Programm  ein 
„Programm  der  Verzweiflung*'  genannt.  Diese  Bezeichnung 
ist  nicht  zutreffend.  Den  Herren,  in  deren  Kopf  das  Pro- 
gramm entstand,  das  sie  mit  dem  Namen  Hindenburgs  aus- 
statteten, war  die  Verzweiflung  fremd.  Ihr  Programm  war 


281 


Wirtschaftskrieg  und  Kriegswirtschaft 


ein  Programm  der  Selbstüberschätzung  und  der  Über- 
schätzung der  deutschen  Volks-  und  Wirtschaftskraft. 
Bei  ruhiger  Überlegung  des  Notwendigen  und  sachlicher 
Prüfung  des  Möglichen  hätte  es  sich  vermeiden  lassen, 
Mengen  von  wertvollem  Material  und  noch  wertvollerer 
Arbeitskraft  in  industrielle  Ruinen  zu  stecken,  die  aus 
Mangel  an  Menschen  und  Kohlen  teils  nie  vollendet,  teils 
nie  in  vollem  Umfang  in  Betrieb  genommen  worden  sind. 
Man  hätte  mit  weniger  Arbeitskräften  und  Material  er- 
hebhch  mehr  für  die  Ausrüstung  des  Heeres  geleistet  und 
unserer  Wirtschaft  Störungen  und  Erschütterungen  er- 
spart, die  letzten  Endes  an  die  Wurzeln  der  Widerstands- 
kraft unseres  Volkes  gingen. 


Friedensbemühungen 
und  U-Bootkrieg 


Das  berühmte  Wort  des  Generals  von  Clausewitz:  „Der 
Krieg  ist  eine  bloße  Fortsetzung  der  Politik  mit 
andern  Mitteln“  will  nicht  besagen,  daß  während  des 
Kriegszustandes  der  Krieg  die  Politik  ersetze.  Clausewitz 
selbst  hat  die  Auffassung  abgelehnt,  als  „ob  der  Krieg 
von  dem  Augenblick  an,  wo  er  durch  die  Politik  hervor- 
gerufen ist,  an  ihre  Stelle  treten,  als  etwas  von  ihr  ganz 
Unabhängiges  sie  verdrängen  und  nur  seinen  eigenen  Ge- 
setzen folgen“  könnte.  Er  hat  ausdrücklich  betont,  daß, 
da  der  Krieg  von  einem  politischen  Zweck  ausgeht,  dieses 
erste  Motiv,  das  ihn  ins  Leben  gerufen  hat,  auch  die  erste 
und  höchste  Rücksicht  bei  seiner  Leitung  bleiben  muß, 
daß  die  Politik  also  den  ganzen  kriegerischen  Akt  durch- 
ziehen und  einen  fortgesetzten  Einfluß  auf  ihn  ausüben 
werde,  wozu  er  allerdings  die  Einschränkung  macht: 
„soweit  es  die  Natur  der  in  ihm  explodierenden  Kräfte 
zuläßt“.  Aber  die  Politik  muß  nicht  nur  die  höchste  Rück- 
sicht bei  der  Leitung  des  Krieges  bleiben,  wie  es  dem 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Verhältnis  von  Zweck  und  Mittel  entspricht,  sondern  es  muß 
ihr  auch  freistehen,  neben  dem  außerordentlichen  Mittel 
des  Krieges,  d.  h.  der  militärischen  Gewaltanwendung, 
sich  aller  anderen  ihr  während  des  Kriegszustandes 
überhaupt  noch  zu  Gebote  stehenden  Mittel  zu  bedienen. 
Wenn  man  diese  anderen  Mittel  nichtkriegerischer  Art 
unter  dem  Namen  der  „Diplomatie*'  zusammenfaßt,  so 
heißt  das:  Die  Diplomatie  als  Mittel  der  Politik  ist  durch 
den  Kriegszustand  nur  so  weit  ausgeschaltet,  als  ihre 
praktische  Anwendung  durch  den  Kriegszustand  unmög- 
lich gemacht  ist;  im  übrigen  gehen  auch  während  des 
Kriegszustandes  die  kriegerischen  und  diplomatischen 
Aktionen  als  Mittel  der  Politik  nebeneinander  her.  Auf- 
gabe der  Staatslenker  — und  zwar  eine  meist  nur  mangel- 
haft gelöste  Aufgabe  — ist  es,  für  die  Einheitlichkeit 
und  das  planmäßige  Ineinandergreifen  der  beiden  Arten 
von  Mitteln  zu  sorgen,  die  Mittel  dem  Zweck  anzupassen 
und,  soweit  es  sich  als  nötig  herausstellt  — denn  die  Po- 
litik bleibt  die  Kunst  des  Möglichen  — den  Zweck  nach 
den  Möglichkeiten,  die  ihr  die  Mittel  bieten,  zu  modi- 
fizieren — das  was  man  kurz  die  „Einheit  von  Politik  und 
Kriegführung**  nennt. 

Der  Krieg,  der  im  Sommer  1914  über  uns  hereinbrach, 
war  für  uns  die  Fortsetzung  der  Pohtik  der  Verteidigung 
unseres  Rechtes  auf  nationale  Existenz  und  auf  friedliche 
Entfaltung  unserer  Volkskraft  gegenüber  einer  Koalition, 
die  uns  schon  vor  Kriegsausbruch  dieses  Recht  auf  dem 


286 


Kriegführung  und  Diplomatie 


Wege  der  diplomatischen  Einkreisung  zu  verkümmern 
gesucht  hatte.  Gegenüber  einer  uns  und  unsem  Ver- 
bündeten an  Menschen  und  Machtmitteln  weit  über- 
legenen Koalition.  Gerade  die  Übermacht  der  Feinde 
war  für  uns  in  besonderem  Maße  eine  Nötigung,  jedes 
für  die  Erreichung  unseres  Kriegszwecks  geeignete  Mittel 
in  Wirksamkeit  zu  setzen,  sowohl  auf  den  Gebieten  der 
eigentlichen  Kriegführung  wie  auf  dem  Gebiete  der 
Diplomatie.  Gleichzeitig  brachte  diese  Nötigung  zur 
äußersten  Anspannung  aller  Mittel  in  verstärktem  Maße 
die  Gefahr,  daß  die  Einheit  von  Politik  und  Kriegführung 
verlorengehe.  Wenn  wir  den  Krieg  nicht  nur  militärisch, 
sondern  auch  diplomatisch  zu  führen  hatten,  wenn  wir 
angesichts  der  Gefahr,  von  der  feindlichen  Übermacht 
militärisch  und  wirtschaftlich  erdrückt  zu  werden,  ge- 
nötigt waren,  mit  diplomatischen  Mitteln  Friedensmöglich- 
keiten zu  erschließen  und  einem  weiteren  bedrohlichen 
Zuwachs  für  die  feindliche  Koalition  vorzubeugen,  so 
konnten  sich  daraus  Konflikte  ergeben  mit  der  Notwendig- 
keit der  Einsetzung  aller  militärischen  Erfolg  versprechen- 
den Kriegsmittel. 

Diese  Konfliktsgefahr  ist  praktisch  geworden  in  der 
Frage  des  U-Bootkriegs. 

Seit  jenem  Tirpitz-Interview  vom  Dezember  1914  hat  die 
Hoffnung,  mit  unsern  U-Booten  England,  die  Seele  und 
den  Zusammenhalt  der  feindlichen  Mächtekoalition,  zu 
Tode  treffen  und  damit  den  Krieg  in  kurzer  Zeit  zu  einem 

287 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


guten  Ende  führen  zu  können,  immer  höhere  Flammen 
geschlagen.  Aber  schon  die  ersten  Versuche,  dieses  Kriegs- 
mittel einzusetzen,  zeigten  seine  Zweischneidigkeit ; sie 
offenbarten  die  Gefahr,  daß  die  Anwendung  dieses  Kriegs- 
mittels die  Neutralen,  vor  allem  die  Vereinigten  Staaten, 
veranlassen  könnte,  sich  auf  die  Seite  unserer  Gegner  zu 
schlagen.  Dadurch  mußten  nicht  nur  die  Aussichten, 
ohne  die  kaum  erreichbare  völlige  Niederwerfung  unserer 
Feinde  zum  Frieden  zu  kommen,  aufs  äußerste  beschränkt 
werden,  sondern  auch  die  feindliche  Koalition  eine  Ver- 
stärkung erfahren,  die  zu  unserm  Verhängnis  zu  werden 
drohte. 

So  begleitete  der  Widerstreit  von  Friedensbemühung 
und  U-Bootkrieg  vom  Ausgang  des  Jahres  1914  an  das 
gewaltige  Ringen  an  den  Fronten  und  die  aufopfernde 
Kriegsarbeit  in  der  Heimat,  er  führte  zu  den  schwersten 
Konflikten  zwischen  den  für  das  Schicksal  Deutschlands 
verantwortlichen  Männern  und  wühlte  unser  Volk  bis  in 
seine  Tiefen  auf. 

Die  Friedensfragc 

Vor  dem  Krieg  war  die  herrschende  Meinung  bei  unsern 
Militärs  und  Diplomaten,  unsern  Praktikern  und  Gelehrten 
der  Volkswirtschaft,  daß  ein  moderner  Krieg  nur  von 
kurzer  Dauer  sein  könne.  Der  Generalfeldmarschall 
Graf  von  Schlieffen  hat  im  Jahre  1909  sich  dahin 

288 


Kriegs  da  uef 


ausgesprochen,  ein  sich  hinschleppender  Krieg  sei  „zu 
einer  Zeit  unmöglich,  wo  die  Existenz  der  Nation  auf  einem 
ununterbrochenen  Fortgang  des  Handels  und  der  Industrie 
begründet  ist  und  durch  eine  rasche  Entscheidung  das 
zum  Stillstand  gebrachte  Räderwerk  wieder  in  Lauf  ge- 
bracht werden  muß.  Eine  Ermattungsstrategie  läßt  sich 
nicht  treiben,  wenn  der  Unterhalt  von  Millionen  den  Auf- 
wand von  Milliarden  erfordert.“  Schon  die  ersten  Monate 
des  Weltkriegs  haben  diese  Theorie  widerlegt.  Als  nach 
dem  ersten  gewaltigen  Zusammenprall  der  Armeen  in  West 
und  Ost  die  erwartete  Entscheidung  ausblieb,  da  brachen 
die  Wirtschaft  und  die  Finanzen  der  kriegführenden  Länder 
unter  der  Wucht  des  Krieges  nicht  zusammen,  sondern 
stellten  sich  mit  erstaunlicher  Anpassungsfähigkeit  auf 
die  außerordentlichen  Verhältnisse  des  Krieges  ein.  So- 
wenig wie  die  moderne  Waffentechnik  eine  rasche  Ent- 
scheidung herbeizuführen  vermochte,  ebensowenig  war 
für  uns  oder  unsere  Gegner  eine  wirtschaftliche  oder  finan- 
zielle Zwangslage  entstanden,  die  stark  genug  gewesen 
wäre,  um  dem  Krieg  ein  rasches  Ende  zu  diktieren.  Er- 
mattungsstrategie und  Erschöpfungskrieg  waren  greifbare 
Möglichkeiten  geworden,  die  alle  kriegführenden  Staaten 
in  ihre  Rechnung  einzustellen  hatten. 

Nur  widerstrebend  und  langsam  gewöhnte  man  sich  bei 
uns  an  diesen  Gedanken.  Als  aber  auch  die  großen  mili- 
tärischen Aktionen  des  Frühlings  1915  keine  Entscheidung 
brachten,  als  mit  Italien  eine  neue  Großmacht  gegen  die 


ig  Hel  ff  er  ich,  Weltkrieg  II 


28g 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Mittelmächte  ins  Feld  trat,  da  hatte  man  sich  endgültig 
mit  der  Wahrscheinlichkeit  einer  langen  Kriegsdauer  ab- 
zufinden. 

Die  Aussicht  auf  einen  sich  lange  hinschleppenden  Er- 
mattungskrieg war  für  uns  nichts  weniger  als  günstig. 
Je  länger  der  Krieg  dauerte,  desto  geringer  mußte  unser 
Vorteil  der  besseren  und  bereiteren  Kriegsorganisation 
werden,  desto  stärker  und  wirksamer  konnten  unsere 
Feinde  ihr  über  die  Erde  zerstreutes  und  mangelhaft  orga- 
nisiertes Übergewicht  an  Menschen  und  Machtmitteln 
gegen  uns  ins  Spiel  werfen,  desto  schwerer  mußte  schließ- 
lich für  uns  der  Nachteil  der  wirtschaftlichen  Einschnürung 
ins  Gewicht  fallen.  Wenn  also  die  militärischen  Entschei- 
dungen in  ungewisse  Ferne  rückten,  wenn  wir  auf  dem 
Felde  des  Wirtschaftskriegs  durch  unsere  geographische 
Lage  und  die  Seeherrschaft  des  Feindes  in  die  Verteidi- 
gung gebannt  waren,  wenn  wir  schließlich  das  einzige 
Mittel,  mit  dem  wir  denkbarerweise  der  feindlichen  Über- 
macht den  Lebensatem  abschnüren  konnten,  aus  Zweifeln 
an  seiner  durchschlagenden  Wirksamkeit  und  aus  Be- 
fürchtungen wegen  seiner  Rückwirkungen  auf  die  Neu- 
tralen nicht  in  Anwendung  zu  bringen  vermochten,  so  er- 
gab sich  daraus  die  stärkste  Nötigung  für  die  Leiter 
unserer  Politik,  nach  Friedensmöglichkeiten  zu  suchen. 

Der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg  und,  ich 
glaube  sagen  zu  können,  auch  der  Kaiser  haben  frühzeitig 
diese  Lage  erfaßt.  Seit  ich  durch  meine  amtliche  Stellung 


290 


feethmahn  Hollwegs  Kriegszieie 


mit  Herrn  von  Bethmann  in  nähere  Fühlung  gekommen 
war,  konnte  ich  beobachten,  wie  die  eine  Frage:  Wo  ist 
ein  Weg  zum  Frieden?  ihn  unausgesetzt  und  auf  das 
Innerlichste  beschäftigte.  Seine  große  Sorge  war,  es  könnte 
dahin  kommen,  daß  wir  erst  im  Zustand  der  Erschöpfung 
unserer  Kraft  und  unserer  Hilfsmittel  zu  Friedensverhand- 
lungen  gelangten  und  dann  gezwungen  sein  würden,  die  Be- 
dingungen unserer  Gegner  anzunehmen.  Von  dieser  Sorge 
hat  mir  der  Kanzler  zum  ersten  Male  bereits  im  April  1915 
eingehend  gesprochen,  und  er  ist  im  weiteren  Verlaufe  des 
Kriegesbei  jeder  vertrauensvollen  Aussprache  darauf  zurück- 
gekommen. Weder  unsere  militärischen  Erfolge,  die  er  hin- 
sichtlich ihrer  kriegsentscheidenden  Wirkung  immer  skep- 
tisch beurteilte,  noch  die  überraschenden  Beweise  unserer 
wirtschaftlichen  und  finanziellen  Leistungsfähigkeit  ver- 
mochten den  Druck  von  ihm  zu  nehmen.  Er  war  deshalb 
der  Ansicht,  daß  wir  es  nicht  verantworten  könnten,  eine 
Friedensmöglichkeit  an  übertriebenen  Kriegszielen  scheitern 
zu  lassen.  Das  Kriegsziel  war  für  ihn  die  Erhaltung  unseres 
territorialen  und  wirtschaftlichen  Besitzstandes.  Wenn  es  die 
Gesamtlage  beim  Eintritt  in  Friedensverhandlungen  gestat- 
tete, darüber  hinaus  Sicherungen  für  die  Zukunft  und  eine 
Stärkung  unserer  wirtschaftlichen  Position  zu  erreichen,  so 
würde  Herr  von  Bethmann  diesen  Vorteil  wahrgenommen 
haben.  Ich  bin  aber  überzeugt,  daß  er  an  keiner  einzigen 
Forderung,  die  über  die  Erhaltung  unseres  vorkriegerischen 
Besitzstandes  hinausging,  den  Frieden  hätte  scheitern  lassen. 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Von  dieser  Grundauffassung  ausgehend  hat  Herr  von 
Bethmann  unablässig  ausgespäht,  wo  sich  ein  Anknüp- 
fungspunkt biete  und  wo  bei  unsern  Feinden  eine  Geneigt- 
heit, vom  Frieden  zu  sprechen,  sich  zeige.  Die  Reden  und 
sonstigen  Kundgebungen  der  feindlichen  Staatsmänner 
sah  er  in  allererster  Linie  daraufhin  an,  was  aus  den  Worten 
und  zwischen  den  Worten  an  Bereitschaft  zu  einer  Ver- 
ständigung herauszulesen  sei.  Seine  eigenen  Kundge- 
bungen waren  darauf  eingestellt,  den  Gegnern  unsere  Be- 
reitschaft zu  Verhandlungen  zu  erkennen  zu  geben.  Den 
Eroberungs-  und  Vernichtungszielen  der  Gegner  pflegte  er 
unser  Verteidigungs-  und  Sicherungsziel  entgegenzusetzen. 
„Noch  wird  der  Vernichtungskrieg  gegen  uns  betrieben,** 
sägte  er  am  9.  Dezember  1915  in  Beantwortung  einer 
sozialdemokratischen  Friedensinterpellation  unter  Hinweis 
auf  kurz  vorher  gehaltene  Kriegsreden  der  Herren  Asquith, 
Briand  und  Ssasonoff.  „Damit  müssen  wir  rechnen. 
Mit  Theorien,  mit  Friedensäußerungen  von  unserer  Seite 
kommen  wir  nicht  vorwärts  und  nicht  zu  Ende.  Kommen 
uns  unsere  Feinde  mit  Friedensangeboten,  die  der  Würde  und 
Sicherheit  Deutschlands  entsprechen,  so  sind  wir  allezeit 
bereit,  sie  zu  diskutieren ...  Für  die  deutsche  Regierung  ist 
dieser  Kampf  geblieben,  was  er  von  Anfang  an  war  und 
was  in  allen  unsern  Kundgebungen  unverändert  festgehalten 
wurde:  der  Verteidigungskrieg  des  deutschen  Volkes.** 
Jeder  feindliche  Staatsmann,  der  diese  und  ähnliche 
Kundgebungen  des  Reichskanzlers  mit  dem  gleichen 


292 


Deutschlands  Friedensbereitschaft 


heißen  Bemühen,  einen  Weg  zum  Frieden  zu  finden,  gelesen 
hätte,  wie  die  Reden  der  feindlichen  Staatsmänner  in  Berlin 
unter  die  Lupe  genommen  wurden,  hätte  daraus  folgern 
müssen  — und  dieser  Schluß  ist  von  den  feindlichen  Staats- 
männern sicher  auch  gezogen  worden  — : Deutschland  ist  be- 
reit zu  einem  Frieden,  der  seiner  Würde  und  seiner  Sicherheit 
Genüge  tut.  Das  Hindernis  für  Friedensverhandlungen,  ja 
für  eine  deutsche  Initiative  zu  Friedensverhandlungen,  lag 
ausschließlich  in  den  Erklärungen  der  Staatsmänner  der 
Entente,  die  als  Kriegsziel  aufstellten:  die  Vernichtung  des 
sogenannten  ,, preußischen  Militarismus"',  die  Zertrümme- 
rung der  deutschen  Wirtschaftsmacht,  die  Abtrennung 
Elsaß-Lothringens  oder  gar  des  ganzen  linken  Rheinufers 
und  unserer  Ostmarken,  dazu  ähnliche  Eroberungs-  und 
Annexionswünsche  gegenüber  unsern  Verbündeten. 

Wenn  also  keine  Friedensbesprechung  zustandekam,  so 
lag  das  nicht  — die  weitere  Entwicklung  hat  das  klar  er- 
wiesen — an  der  Schwerhörigkeit  der  Entente-Staatsmänner, 
sondern  lediglich  daran,  daß  die  Entente-Staatsmänner  auf 
ihren  mit  der  Sicherheit,  dem  Bestand  und  der  Würde 
Deutschlands  nicht  zu  vereinbarenden  Kriegszielen  be- 
harrten.  Die  führenden  Staatsmänner  der  Entente  waren 
und  blieben  fest  entschlossen,  den  Krieg  bis  zur  Nieder- 
werfung Deutschlands,  bis  zu  dem  ,, knock  out  blow“ 
Lloyd  Georges  durchzuführen,  und  sie  hatten  — von 
vorübergehenden  Schwankungen  abgesehen  — von  An- 
fang bis  zum  Ende  das  feste  Zutrauen,  daß  es  ihnen 


293 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


gelingen  werde,  ihre  Vemichtungs-  und  Eroberungziele  zu 
erreichen.  Daran,  nicht  an  mangelnder  Friedensbereit- 
schaft der  deutschen  Regierung  oder  des  deutschen  Volkes, 
nicht  an  mangelnder  Deutlichkeit  in  der  Umschreibung 
unserer  Kriegsziele  und  nicht  an  dem  Unterlassen  von 
Anknüpfungsversuchen  durch  unsere  Diplomatie,  ist  das 
Zustandekommen  von  Verhandlungen  über  einen  „Ver- 
ständigungsfrieden*' gescheitert.  Daran  gescheitert  sind 
auch  alle  die  Sondierungen  und  Anknüpfungen,  die  außer- 
halb der  offiziellen  Regierungskundgebungen  versucht 
worden  sind,  durch  Staatsoberhäupter  und  Diplomaten, 
durch  Kaufleute  und  Industrielle,  durch  die  sozialistischen 
Parteien  der  kriegführenden  und  neutralen  Länder. 

Der  Reichskanzler  hatte  in  der  Friedensfrage  einen 
schweren  Stand.  Daß  die  Forderungen  der  Militärs  bei 
Friedensschlüssen  meist  weiter  gehen,  als  die  politischen 
Staatsleiter  durchsetzen  und  verantworten  können,  ist 
eine  alte  Erfahrung,  die  sich  auch  jetzt  wieder  erneuerte. 
Zu  den  „Grenzregulierungen",  die  unsere  Armeeführer 
für  notwendig  erklärten,  kamen  die  Forderungen  der  Marine 
auf  Sicherung  der  flandrischen  Küste.  Aber  der  Kampf 
um  die  Kriegsziele  blieb  nicht  auf  die  Beratungszimmer 
der  Verantwortlichen  beschränkt,  er  ergriff  und  zerriß 
mehr  und  mehr  das  ganze  Volk. 

Die  glänzenden  Waffentaten  unserer  Armeen  und  ihrer 
Führer,  die  Eroberung  und  Besetzung  weiter  Teile  feind- 
lichen Landes  in  West  und  Ost  bestärkten  Volk  und  Heer 


294 


Der  innere  Kampf  um  die  Kriegsziele 


in  ihrem  zuversichtlichen  Glauben  an  einen  siegreichen 
Ausgang  des  Krieges.  Daß  trotz  aller  der  großen  Erfolge 
auf  den  europäischen  Kriegsschauplätzen  der  Krieg  für 
uns  nicht  nur  seinem  Ursprung  nach  ein  Verteidigungskrieg 
war,  sondern  auch  in  seiner  ganzen  militärischen,  mari- 
timen und  wirtschaftlichen  Entwicklung  ein  harter,  in 
jedem  Augenblick  schwer  umstrittener  und  in  seinem  Aus- 
gang unsicherer  Verteidigungskrieg  geblieben  war,  darüber 
täuschten  sich  weite  Volkskreise  hinweg.  Die  Riesen- 
leistungen von  Heer  und  Volk  verlangten,  so  dachten  und 
sprachen  viele,  einen  entsprechend  großen  Siegespreis 
und  gestatteten  gleichzeitig,  einen  solchen  Siegespreis 
heimzubringen,  wenn  nur  nicht  nach  dem  alten  Blücher- 
wort die  Feder  verderbe,  was  das  Schwert  gewonnen  habe. 
In  der  Haltung  des  Kanzlers,  der  sich  weigerte,  sich  auf 
die  großen  Kriegsziele  festzulegen,  der  wieder  und  wieder 
zu  erkennen  gab,  daß  er  für  einen  Frieden,  der  sich  auf 
den  Zweck  des  Verteidigungskriegs  beschränke,  zu  haben 
sei,  sahen  diese  Kreise  Kleinmütigkeit,  Mangel  an  Sieges- 
willen und  eine  für  den  Ausgang  des  Kriegs  gefährliche 
Herabstimmung  der  Zuversicht  des  deutschen  Volkes. 
Die  schweren  Angriffe,  denen  Herr  von  Bethmann  Holl- 
weg in  dieser  Richtung  ausgesetzt  war,  sind  in  aller  Er- 
innerung. Von  der  andern  Seite  her  wurde  mit  der  Dauer 
des  Kriegs  ein  immer  stärkerer  Druck  auf  den  Kanzler 
ausgeübt,  klar  und  deutlich  vor  aller  Welt  festzustellen, 
daß  Deutschland  sich  mit  einem  Frieden  ohne  jede 


295 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Gebietserwerbungen  und  Entschädigungen  begnüge.  Man 
warf  ihm  vor,  daß  er  durch  die  Verweigerung  einer  solchen 
ganz  ausdrücklichen  und  bindenden  Erklärung  zur  Ver- 
längerung des  Krieges  beitrage  und  die  Stimmung  des  Vol- 
kes, das  zur  Verteidigung,  nicht  aber  zu  Eroberungen  ins 
Feld  gezogen  sei,  unterwühlen  helfe. 

Herr  von  Bethmann  selbst  hat  noch  im  Mai  1917  seine 
Stellung  zu  diesem  Ansturm  aus  zwei  entgegengesetzten 
Richtungen  folgendermaßen  um.schrieben  (Reichstags- 
sitzung vom  15.  Mai  1917) : 

,,Auch  heute  sehe  ich  bei  England  und  bei  Frankreich 
noch  nichts  von  Friedensbereitschaft,  noch  nichts  von 
Preisgabe  ihrer  ausschweifenden  Eroberungs-  und  wirt- 
schaftlichen Vernichtungsziele  . . . Glaubt  denn  bei  dieser 
Verfassung  unserer  westlichen  Feinde  jemand,  durch  ein 
Programm  des  Verzichts  und  der  Entsagung  diese  Feinde 
zum  Frieden  bringen  zu  können?  Und  darauf  kommt  es 
doch  an!  Soll  ich  diesen  unseren  westlichen  Feinden 
geradezu  eine  Versicherung  geben,  die  ihnen  gestattet, 
ohne  jede  Gefahr  eigenen  Verlustes  den  Krieg  ins  Un- 
gemessene zu  verlängern?  . . . Oder  soll  ich  das  Deutsche 
Reich  nach  allen  Richtungen  hin  einseitig  auf  eine  Formel 
festlegen,  die  von  der  Gesamtheit  der  Friedensbedingungen 
doch  nur  einen  Teil  erfaßt,  die  einseitig  die  Erfolge  preis- 
gibt, die  unsere  Söhne  und  Brüder  mit  ihrem  Blut  errungen 
haben,  und  die  alle  übrigen  Rechnungen  in  der  Schwebe 
läßt  ? Eine  solche  Politik  lehne  ich  ab  . . . Und  soll  ich 


296 


Verzicht-  oder  Eroberungsprogramm? 


etwa  umgekehrt  ein  Eroberungsprogramm  aufstellen  ? 
Auch  das  lehne  ich  ab.  Nicht  um  Eroberungen  zu  machen, 
sind  wir  in  diesen  Krieg  gezogen  und  stehen  wir  jetzt  im 
Kampf  fast  gegen  die  ganze  Welt,  sondern  ausschließlich, 
um  unser  Dasein  zu  sichern  und  die  Zukunft  der  Nation 
fest  zu  gründen.  Ebensowenig  wie  ein  Verzichtprogramm 
hilft  ein  Eroberungsprogramm  den  Sieg  gewinnen  und  den 
Krieg  beenden.  Im  Gegenteil!  Ich  würde  lediglich  das 
Spiel  der  feindlichen  Machthaber  spielen,  ich  würde  es 
ihnen  erleichtern,  ihre  kriegsmüden  Völker  weiter  zu  be- 
tören und  den  Krieg  ins  Ungemessene  zu  verlängern.*' 
Der  Reichskanzler  konnte  mit  solchen  Erklärungen 
weder  nach  rechts  noch  nach  links  befriedigen.  Und  doch 
bin  ich  auch  heute  noch  der  Meinung,  daß  seine  Haltung 
die  richtige,  ja  die  einzig  mögliche  war.  Entweder  waren 
unsere  Feinde  bereit,  auf  ihre  Eroberungs-  und  Vernich- 
tungsziele zu  verzichten,  dann  boten  die  wiederholten 
Erklärungen  des  Reichskanzlers  über  unsere  grundsätz- 
liche Bereitwilligkeit,  uns  mit  der  Erreichung  unseres 
Verteidigungszieles  zu  begnügen,  eine  hinreichende  Grund- 
lage für  die  Einleitung  von  Friedensverhandlungen.  Oder 
aber  die  Feinde  waren  — und  so  lagen  die  Dinge  iih  Wirk- 
lichkeit — nicht  bereit  zu  einem  Verzicht  auf  ihre  Er- 
oberungs- und  Vernichtungsziele,  dann  konnte  auch  eine 
Bekanntmachung  aller  Einzelheiten  unseres  Friedens- 
programms nicht  zu  Friedensverhandlungen  führen, 
sondern  nur,  wie  jede  einseitige  Festlegung,  dem  Gegner 

297 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


für  jede  weitere  Entwicklung  den  Vorteil  der  freien  Ent- 
schließung bei  begrenztem  Risiko,  uns  den  Nachteil  der 
gebundenen  Hand  bei  unbegrenztem  Risiko  geben. 

Aber  das  waren  schließlich  Fragen  der  Taktik,  über  die 
man  streiten  kann  und  leider  sehr  viel,  sehr  heftig  und  sehr 
öffentlich  gestritten  hat. 

In  der  Sache  selbst  glaube  ich  folgendes  sagen  zu  können : 

Wenn  in  irgendeinem  Zeitpunkt  des  Krieges  sich  die 
Möglichkeit  ergeben  hätte,  zu  einem  Frieden  zu  kommen, 
der  uns  in  den  großen  Linien  unseren  vorkriegerischen 
territorialen  und  wirtschaftlichen  Besitzstand  belassen 
hätte,  so  wäre  der  Friede  dagewesen;  er  wäre  an  keiner 
von  uns  geforderten  Entschädigung  und  Grenzregulie- 
rung, auch  nicht  an  irgendwelchen  deutschen  Forderungen 
in  bezug  auf  Belgien  gescheitert,  wenn  unsere  nach  diesen 
Richtungen  gehenden  Wünsche  sich  nur  um  den  Preis 
einer  Fortsetzung  des  Kriegs . hätten  durchsetzen  lassen. 
Dies  ist  meine  Überzeugung,  wenngleich  zwischen  den  an 
der  Entscheidung  beteiligten  Persönhchkeiten  das  letzte 
Wort  noch  nicht  gesprochen  war  und  ohne  die  genaue 
Kenntnis  der  Lage  im  Augenbhck  wdrldicher  Verhand- 
lungen auch  gar  nicht  gesprochen  werden  konnte.  Wer. 
jemals  große  und  jvichtige  Verhandlungen  zu  führen  gehabt 
hat,  der  weiß,  daß  die  letzten  Entschlüsse  nicht  vor, 
sondern  während  der  Verhandlungen  gefaßt  werden, 
und  zumeist  in  einem  Zeitpunkt,  der  dem  Ende  der  Ver- 
handlungen wesentlich  näher  liegt  als  ihrem  Anfang;  daß 

298 


Friedensaussichten 


die  letzten  Zugeständnisse  niemals  durch  Überredung  in 
Erörterungen  über  noch  unpraktische  Eventualitäten, 
sondern  stets  nur  unter  dem  unmittelbaren  Druck  der  Ver- 
antwortlichkeit für  das  Ja  oder  Nein  Zustandekommen, 
Ich  bin  sicher,  daß  kein  Kanzler,  weder  Bethmann  noch 
Michaelis  noch  Hertling,  unmittelbar  vor  die  Wahl 
zwischen  einem  Status-quo-Frieden  oder  einer  unabseh- 
baren Fortsetzung  des  Krieges  gestellt,  etwas  anderes 
gewählt  haben  würden  als  den  Frieden;  und  ich  bin  ebenso 
sicher,  daß  der  Kaiser  eine  solche  Entscheidung  ge- 
billigt und  durchgehalten  hätte,  auch  gegen  die  stärksten 
Widerstände  anderer  Ratgeber  und  gegen  eine  heftige 
Auflehnung  starker  politischer  Strömungen.  Denn  so 
wenig  der  Kaiser  den  Krieg  gewollt  hat,  auch  wenn  sein 
Auftreten  mitunter  einen  kriegerischen  Eindruck  machte, 
so  sehr  litt  der  Kaiser  unter  dem  Krieg  und  wünschte 
er  für  sich  und  für  das  deutsche  Volk  den  Frieden.  — 

Das  Scheitern  aller  unserer  Bemühungen,  im  Wege 
einer  Verständigung  zum  Frieden  zu  gelangen,  mußte 
unvermeidlich  einen  starken  Einfluß  auf  unsere  Krieg- 
führung ausüben,  insbesondere  auf  die  Entscheidungen 
in  der  heiß  umstrittenen  Frage  des  U-Bootkrieges.  Je 
deutlicher  die  Abgeneigtheit  unserer  Feinde  zu  Friedens- 
verhandlungen zutage  trat,  desto  mehr  Gewicht  mußte 
bei  uns  die  Forderung  gewinnen,  daß  jedes  verfügbare 
Kriegsmittel  unter  Hintanstellung  aller  anderen  Rück- 
sichten zur  Niederkämpfung  des  Feindes  eingesetzt  werde. 


299 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Die  erste  Phase  des  U-Bootkriegs 

In  der  Frühe  des  22.  September  1914  versenkte  „U  9'* 
unter  dem  Kommando  des  Kapitänleutnants  Weddigen 
im  Laufe  einer  einzigen  Stunde  die  drei  britischen  Kreuzer 
„Abukir“,  und  „Cressy*'.  Die  drei  Torpedo- 

schüsse hallten  über  die  ganze  Welt.  In  England  weckten 
sie  ernste  Besorgnis,  ja  Bestürzung.  In  Deutschland  lösten 
sie  überschwengliche  Hoffnungen  aus:  man  begann  in 
dem  U-Boot  die  Waffe  zu  sehen,  die  bestimmt  sei,  die 
britische  Seetyrannei  zu  zerschlagen. 

Diese  Hoffnungen  erhielten  einen  starken  Antrieb,  als 
der  Admiral  von  Tirpitz  am  21.  Dezember  1914  gegenüber 
einem  Vertreter  der  amerikanischen  „United  Press“  von 
der  Möglichkeit  eines  U-Bootkriegs  gegen  die  feindlichen 
Handelsschiffe  sprach,  durch  den  England  an  seiner  ver- 
wundbarsten Stelle,  der  Zufuhr  von  Nahrungsmitteln  und 
Rohstoffen,  getroffen  werden  könne.  Jedermann  sagte 
sich,  daß  die  höchste  Marineautorität  einen  solchen  öffent- 
lichen Hinweis  nur  geben  könne,  wenn  die  Wirksamkeit 
der  U-Bootwaffe  gesichert  sei  und  wenn  hinter  der  Drohung 
die  Tat  stehe.  Die  völkerrechtlichen  Bedenken  hatte  Eng- 
land in  der  deutschen  öffentlichen  Meinung  im  voraus  zer- 
stört durch  seine  völkerrechtswidrige  Handels-  und  Hun- 
gerblockade, insbesondere  durch  die  schon  am  3.  November 
1914  erfolgte  Erklärung  der  ganzen  Nordsee  zum 
Kriegsgebiet. 


300 


U-Boot-Handelskrieg 


Als  ich  am  i.  Februar  in  die  Reichsleitung  ein  trat, 
stand  die  Erklärung  des  U-Boot-Handelskrieges  unmittel- 
bar bevor.  Es  war  eine  Bekanntmachung  vorbereitet,  in 
der  die  Gewässer  um  Großbritannien  und  Irland  als  Kriegs- 
gebiet erklärt  wurden;  vom  i8.  Februar  1915  an  sollte 
jedes  in  diesem  Kriegsgebiet  angetroffene  feindliche  Kauf- 
fahrteischiff zerstört  werden.  Die  Bekanntmachung  fügte 
hinzu,  daß  es  nicht  immer  möglich  sein  werde,  die  dabei 
der  Besatzung  und  den  Passagieren  drohenden  Gefahren 
abzuwenden;  daß  ferner  auch  neutrale  Schiffe  im  Kriegs- 
gebiet Gefahr  liefen,  da  es  angesichts  des  von  der  britischen 
Regierung  am  31.  Januar  angeordneten  Mißbrauchs  neu- 
traler Flaggen  und  der  Zufälligkeiten  des  Seekrieges  nicht 
immer  vermieden  werden  könne,  daß  die  auf  feindliche 
Schiffe  berechneten  Angriffe  auch  neutrale  Schiffe  treffen. 

Neben  der  Bekanntmachung  war  eine  begründende  Denk- 
schrift vorbereitet,  die  am  4.  Februar  1915  mit  der  Be- 
kanntmachung den  neutralen  und  den  feindlichen  Mäcfiten 
zugestellt  worden  ist.  Die  Denkschrift  legte  zunächst  in 
großen  Zügen  dar,  wie  England  in  seiner  Seekriegführung 
sich  über  alles  Völkerrecht  hinaussetze,  um  durch  eine 
Lahmlegung  auch  des  legitimen  neutralen  Handels  das 
deutsche  Volk  auszuhungem;  sie  wies  dann  darauf  hin, 
daß  die  neutralen  Mächte  sich  den  völkerrechtswidrigen 
Maßnahmen  der  britischen  Regierung  im  großen  und 
ganzen  gefügt  hätten,  daß  sie  sich  mit  theoretischen 
Protesten  abzufinden  und  die  von  England  für  seine 


301 


Friedensbemühungen  und  Ü-Bootkrieg 


völkerrechtswidrige  Seekriegführung  angerufenen  britischen 
Lebensinteressen  als  eine  hinreichende  Entschuldigung  für 
jede  Art  von  Kriegführung  gelten  zu  lassen  schienen; 
solche  Lebensinteressen  müsse  nunmehr  auch  Deutsch- 
land für  sich  anrufen  und  die  britische  Kriegsgebiets- 
erklärung damit  beantworten,  daß  es  die  Gewässer  rings  um 
Großbritannien  und  Irland  als  Kriegsschauplatz  bezeichne 
und  der  feindlichen  Schiffahrt  daselbst  mit  allen  verfüg- 
baren Kriegsmitteln  entgegen  trete.  Weiter  würden  in 
der  Denkschrift  die  Neutralen  aus  den  schon  in  der  Be- 
kanntmachung angegebenen  Gründen  gewarnt,  feindlichen 
Schiffen,  die  das  Seekriegsgebiet  beführen,  Mannschaften, 
Passagiere  und  Waren  anzuvertrauen,  und  es  wurde  ihnen 
dringend  empfohlen,  auch  für  ihre  eigenen  Schiffe  das 
Einlaufen  in  das  Seekriegsgebiet  zu  vermeiden;  „denn 
wenn  auch  die  deutschen  Seestreitkräfte  Anweisung  haben, 
Gewalttätigkeiten  gegen  neutrale  Schiffe,  soweit  sie  als 
solche  erkennbar  sind,  zu  unterlassen,  so  kann  es  doch 
angesichts  des  von  der  britischen  Regierung  angeordneten 
Mißbrauches  neutraler  Flaggen  und  der  Zufälligkeiten  des 
Krieges  nicht  immer  verhütet  werden,  daß  auch  sie  einem 
auf  feindliche  Schiffe  berechneten  Angriff  zum  Opfer 
fallen.“ 

Die  letzte  Zustimmung  von  Kaiser  und  Kanzler  stand 
noch  aus.  Beiden  ist  sie  nicht  leicht  geworden.  Die  Ge- 
fahr, daß  dieser  Art  Kriegführung  friedliche  Passagiere, 
auch  Frauen  und  Kinder  zum  Opfer  fallen  könnten,  dazu 


302 


Zustimmting  von  Kaiser  und  Kanzler 


die  Aussicht  auf  Verwicklungen  mit  den  Neutralen,  ins- 
besondere mit  den  Vereinigten  Staaten,  stand  beiden  vor 
Augen.  Ein  Zufall  hatte  es  gefügt,  daß  ich  zwei  Monate 
zuvor  einen  Einblick  in  die  Auffassung  des  Kaisers  hatte 
tun  können.  Ich  war  am  Abend  des  25.  November  1914 
in  Charleville  zur  kaiserlichen  Tafel  befohlen.  Der  Kaiser 
brachte  die  Nachricht  mit,  daß  sich  der  Untergang  des  auf 
eine  deutsche  Mine  gelaufenen  britischen  Überdreadnought 
,,Audacious“  bestätige.  Bei  Tisch  bemerkte  ein  hoher 
Marineoffizier  — nicht  der  Admiral  von  Tirpitz  — , um  ein 
Haar  sei  auch  der  englische  Riesenpassagierdampfer 
„Oceanic“  auf  eine  Mine  gelaufen.  Der  Kaiser  antwortete: 
,,Gott  sei  Dank,  daß  es  nicht  dazu  gekommen  ist!“  Auf 
eine  etwas  erstaunte  Geste  des  Admirals  richtete  sich  der 
Kaiser  hoch  auf  und  sagte  mit  lauter  Stimme:  „Meine 
Herren,  denken  Sie  immer  daran:  unser  Schwert  muß 
rein  bleiben.  Wir  führen  keinen  Krieg  gegen  Frauen  und 
Kinder.  Wir  wollen  den  Krieg  anständig  führen,  einerlei, 
was  die  andern  tun.  Merken  Sie  sich  das!“ 

Ermöglicht  wurde  dem  Kanzler  wie  dem  Kaiser  die  Zu- 
stimmung zu  der  Erklärung  des  Tauchbootkrieges  in  den 
Gewässern  um  England  durch  die  Anweisung,  daß  neutrale 
Schiffe  im  Seekriegsgebiet  geschont  werden  sollten.  Man 
war  sich  klar  darüber,  daß  die  Wirkung  des  U-Bootkriegs 
dadurch  beeinträchtigt  werde;  aber  aus  Gründen  der  Hu- 
manität wie  zur  Vermeidung  schwerer  Konflikte  mit  den 
Neutralen  hielt  man  diese  Einschränkung  für  unerläßlich. 


303 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Es  ist  späterhin  mitunter  behauptet  worden,  der  Reichs- 
kanzler sei  nachträglich  der- Marine  mit  dieser  Einschrän- 
kung in  den  Arm  gefallen  und  habe  dadurch  die  von  der 
Marine  erwartete  Wirkung  jenes  ersten  U-Bootkriegs  ver- 
eitelt. Diese  Annahme  ist  unrichtig;  wie  sich  schon  aus 
dem  Text  der  Bekanntmachung  und  der  Denkschrift  vom 
4.  Februar  1915  ergibt,  war  die  Anweisung  an  die  U-Boote, 
„Gewalttätigkeiten  gegen  neutrale  Schiffe  zu  unterlassen“, 
schon  bei  der  Ankündigung  der  neuen  Seekriegführung 
gegeben. 

Die  Marine  rechnete  auf  einen  raschen  Erfolg.  Zwar 
war  die  Zahl  und  die  Leistungsfähigkeit  der  verfügbaren 
U-Boote  gering ; aber  man  hoffte  auf  eine  starke  Wirkung 
durch  Abschreckung. 

Wenn  es  gelang,  den  Schiffsverkehr  der  britischen  Inseln 
erheblich  zu  beeinträchtigen,  so  war  damit  in  der  Tat 
England  an  den  Wurzeln  seiner  Lebenskraft  gefaßt.  Denn 
noch  ungleich  viel  mehr  als  Deutschland  waren  die  bri- 
tischen Inseln  in  die  Weltwirtschaft  hineingebaut.  Nicht 
nur  die  Industrie,  sondern  auch  die  Volksernährung  des 
Vereinigten  Königreichs  war  in  weit  höherem  Maße,  als 
das  in  Deutschland  der  Fall  war,  von  reichlichen  und  un- 
gestörten überseeischen  Zufuhren  abhängig.  Deutschland 
hatte  in  seiner  Wirtschaftspolitik  der  letzten  Jahrzehnte 
die  Förderung  seines  Außenhandels  in  Einklang  gebracht 
mit  der  Erhaltung  und  der  Entwicklung  seiner  heimischen 
Urproduktion.  In  den  Gesamtwerten  unseres  Außenhandels 


304 


Englands  Außenhandel 


waren  vvar  England  nahe  gerückt;  aber  wir  hatten  gleich- 
zeitig unsere  Eigenproduktion,  insbesondere  an  den  wich- 
tigsten Nährfrüchten,  in  noch  stärkerem  Verhältnis  ge- 
steigert, als  unsere  Bevölkerung  sich  vermehrt  hatte. 

England  dagegen  hatte  im  Vertrauen  auf  seine  Seeherr- 
schaft sein  Wirtschaftsleben,  vor  allem  auch  seine  Volks- 
emährung, immer  mehr  auf  die  überseeische  Zufuhr  ein- 
gestellt und  seine  Landwirtschaft  verkümmern  lassen. 
Seinen  Bedarf  an  Brotgetreide  hatte  England  in  den 
letzten  Jahren  vor  Kriegsausbruch  zu  drei  Vierteln  bis 
vier  Fünfteln,  seinen  Bedarf  an  Butter  zu  nahezu  zwei 
Dritteln,  an  Fleisch  zu  etwa  zwei  Fünfteln  durch  über- 
seeische Zufuhren  decken  müssen.  Außerdem  war  sein 
Kohlenbergbau  auf  starke  Zufuhren  von  Grubenholz, 
seine  Eisen-  und  Stahlindustrie  auf  starke  Zufuhren  frem- 
der hochhaltiger  Eisenerze  angewiesen.  Seine  große  Textil- 
industrie war  von  ausländischen  Rohstoffen  abhängig. 
Das  für  die  Kriegfühmng  so  wichtige  Petroleum  und  die 
Pertroleumprodukte,  wie  Benzin,  mußten  über  See  zu- 
geführt werden.  Die  Gesamteinfuhr  Großbritanniens  im 
letzten  Friedens]  ahr  stellte  eine  Menge  von  mnd  57  Mil- 
lionen Tonnen  dar.  Davon  kamen  auf  Nahrungs-  und  Ge- 
nußmittel mnd  20  Millionen  Tonnen,  also  ein  starkes 
Drittel,  auf  Holz  nahezu  16  Millionen  Tonnen,  auf  Eisen- 
erz mnd  7^/2  Millionen  Tonnen,  auf  alle  andern  Waren  zu- 
sammen mnd  13I/2  Millionen  Tonnen.  Eine  erhebliche 
Einschränkung  des  Schiffsverkehrs  nach  den  britischen 


30  Helfferich,  Weltkrieg  II 


305 


t'riedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Inseln  mußte  also  diejenigen  Kategorien  treffen,  die  für 
die  Volksversorgung  und  die  Kriegführung  unentbehrlich 
waren  und  für  die  Ersatz  im  eigenen  Lande  entweder  über- 
haupt nicht  oder  nur  langsam  und  nur  innerhalb  enger 
Grenzen  beschafft  werden  konnte. 

In  der  Ausfuhr  überwogen  der  Menge  nach  die  Kohlen. 
Von  einer  Gesamtausfuhrmenge  des  Jahres  1913  in  Höhe 
von  rund  92  Millionen  Tonnen  entfielen  auf  die  Kohlen- 
ausfuhr allein  rund  78  Millionen  Tonnen,  auf  alle  andern 
Güter  nur  rund  14  Millionen.  Volkswirtschaft  und  Krieg- 
führung der  Verbündeten  Englands  waren  auf  die  bri- 
tischen Kohlen  doppelt  stark  angewiesen,  seit  Deutsch- 
land das  belgische  und  nordfranzösische  Kohlenbecken 
besetzt  hielt. 

Das  alles  waren  Momente,  die  den  U-Boot-Handelskrieg 
als  eine  wirksame  Repressalie  gegen  den  britischen  Handels- 
und Hungerkrieg  erscheinen  ließen,  immer  vorausgesetzt, 
daß  es  gelingen  würde,  den  Schiffsverkehr  von  und  nach 
den  britischen  Inseln  ausgiebig  und  in  fortgesetzt  steigendem 
Maße  abzudrosseln. 

Wie  sich  die  Neutralen  zu  dieser  neuen  Art  des  Seekriegs 
verhalten  würden,  war  allerdings  unsicher.  Durch  die  an 
die  U-Boote  gegebene  Anweisung,  neutrale  Schiffe  auch 
im  Seekriegsgebiet  nicht  anzugreifen,  hatte  man  eine 
Rücksicht  auf  die  neutralen  Interessen  gezeigt,  als  deren 
Wirkung  man  erwartete,  die  Neutralen  würden  sich 
unserm  U-Boot-Handelskriege  gegenüber  ebenso  mit 

306 


Proteste  der  Neutralen 


formellen  Protesten  begnügen,  wie  sie  das  England  gegen- 
über aus  Anlaß  der  von  diesem  begangenen,  auf  Kosten 
der  Neutralen  gehenden  Völkerrechtsverletzungen,  ins- 
besondere aus  Anlaß  der  Erklärung  der  Nordsee  zum  Kriegs- 
gebiet, getan  hatten.  Über  die  Haltung  der  Vereinigten 
Staaten  hatte  der  Unterstaatssekretär  Zimmermann  den 
Botschafter  Gerard  sondiert  und  den  Eindruck  gewonnen, 
daß  mehr  als  ein  papierner  Protest  auch  von  der  Re- 
gierung in  Washington  wohl  nicht  zu  erwarten  sei. 

Die  Proteste  kamen  in  der  Tat. 

Der  amerikanische  Einspruch,  den  Herr  Gerard  am 
12.  Eebruar  1915  überreichte,  war,  bei  aller  Höflichkeit  in 
der  äußeren  Form,  sehr  bestimmt  und  unzweideutig  in  der 
, Sache.  Die  amerikanische  Note  wies  die  Kritik  zurück, 
die  in  der  Denkschrift  der  deutschen  Regierung  vom  4.  Fe- 
bruar an  ihrer  angeblich  nicht  neu*tralen  Haltung  geübt 
worden  sei.  Sie  habe  gegenüber  allen  Übergriffen  der  an- 
dern kriegführenden  Nationen  eine  Haltung  eingenommen, 
die  ihr  das  Recht  gebe,  ,, diese  Regierungen  in  der  rich- 
tigen Weise  für  alle  eventuellen  Wirkungen  auf  die  ameri- 
kanische Schiffahrt  verantwortlich  zu  machen,  die  durch 
die  bestehenden  Grundsätze  des  Völkerrechts  nicht  ge- 
rechtfertigt sind“.  Zu  den  von  der  deutschen  Admiralität 
angekündigten  Maßnahmen  bemerkte  die  Note,  die  ameri- 
kanische Regierung  glaube  das  Recht,  ja  die  Pflicht  zu 
haben,  die  deutsche  Regierung  zu  ersuchen,  sie  möchte 
vor  einem  tatsächlichen  Vorgehen  die  kritische  Lage 


20* 


3^7 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


erwägen,  die  in  den  beiderseitigen  Beziehungen  entstehen 
könnte,  falls  irgendein  Kauffahrteischiff  der  Vereinigten 
Staaten  zerstört  oder  der  Tod  eines  amerikanischen  Staats- 
angehörigen verursacht  werde.  Die  amerikanische  Re- 
gierung würde  in  solchen  Handlungen  kaum  etwas  anderes 
als  eine  unentschuldbare  Verletzung  neutraler  Rechte  er- 
blicken können  und  sich  genötigt  sehen,  die  deutsche  Re- 
gierung für  solche  Handlungen  ihrer  Marinebehörden  streng 
verantw’ortlich  zu  machen  und  alle  Schritte  zu  tun,  die 
zum  Schutz  amerikanischen  Lebens  und  Eigentums  und 
zur  Sicherung  des  vollen  Genusses  der  amerikanischen 
Rechte  auf  hoher  See  für  die  Amerikaner  erforderlich  seien. 
Die  amerikanische  Regierung  hoffe,  daß  die  deutsche  Re- 
gierung die  Versicherung  geben  könne  und  wolle,  daß 
amerikanische  Staatsbürger  und  ihre  Schiffe  auch  in  dem 
Seekriegsgebiet  in  keiner  andern  Weise  als  im  Wege  der 
Durchsuchung  durch  deutsche  Seestreitkräfte  belästigt 
werden  sollten. 

Die  amerikanische  Regierung  stellte  sich  also  schon  in 
dieser  Note  auf  den  Standpunkt,  daß  sie  ihrer  Neutralität 
Genüge  getan  habe,  w^enn  sie  für  die  Amerikanern  aus 
Völkerrechts  Verletzungen  erwachsenden  Nachteile  die  Re- 
gierung, von  der  die  Völkerrechts  Verletzung  ausging,  „in 
der  richtigen  Weise“  verantwortlich  machte.  In  welcher 
Weise,  darüber  gestand  sie  Deutschland  keine  Kritik  zu. 
In  Wirklichkeit  hatte  sie  sich  bisher  gegenüber  England 
auf  die  Forderung  von  Schadenersatz  beschränkt, 

308 


Deutsch-amerikanischer  Notenwechsel 


jedoch  keinen  ernstlichen  Versuch  gemacht,  die  britische 
Regierung  zur  Einhaltung  der  völkerrechtlichen  Normen 
zu  bestimmen.  Deutschland  gegenüber  kündigte  sie  an, 
daß  sie  nicht  nur  die  deutsche  Regierung  für  jede  Schä- 
digung, die  sich  aus  der  Durchführung  der  am  4.  Februar 
angekündigten  Maßnahmen  ergeben  sollte,  verantwort- 
lich machen,  sondern  auch  „alle  Schritte“  zum  Schutz  des 
amerikanischen  Lebens  und  Eigentums  und  zur  Sicherung 
der  amerikanischen  Reisefreiheit  auf  den  Meeren  tun 
werde. 

Schon  damit  hatte  der  U-Bootkrieg  ein  ernsteres  Ge- 
sicht angenommen,  als  man  es  bei  der  Hinausgabe  der  Er- 
klärung vom  4.  Februar  erwartet  hatte.  Denn  für  die 
weitere  Entwicklung  des  Krieges  kam  es  weniger  darauf 
an,  ob  die  Haltung  der  Regierung  der  Vereinigten  Staaten 
gerecht  und  billig  war,  als  darauf,  welche  Haltung  diese 
praktisch  einzunehmen  entschlossen  war.  Und  nach  dieser 
Richtung  hin  eröffnete  die  amerikanische  Note  keine  allzu 
guten  Aussichten. 

Die  Reichsregierung  gab  auf  die  Note  am  16.  Februar 
eine  ausführliche  Antwort.  Sie  legte  zunächst  dar,  daß 
die  angekündigte  Maßnahme  in  keiner  Weise  gegen  den 
legitimen  Handel  und  die  legitime  Schiffahrt  der  Neutralen 
gerichtet  sei,  sondern  lediglich  eine  durch  Deutsch- 
lands Lebensinteressen  erzwungene  Gegenwehr  gegen  die 
völkerrechtswidrige  Seekriegführung  Englands  darstelle. 
Die  Neutralen  hätten  bisher  die  völkerrechtswidrige 


309 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Unterbindung  ihres  Handels  mit  Deutschland  trotz  ihrer 
Proteste  nicht  zu  verhindern  vermocht.  Dadurch  sei  der  Zu- 
stand geschaffen  worden,  daß  einerseits  Deutschland  unter 
stillschweigender  oder  protestierender  Duldung  der  Neu- 
tralen von  der  überseeischen  Zufuhr  auch  solcher  Güter, 
die  niemals  Kriegskonterbande  waren,  abgeschnitten  sei, 
während  England  unter  Duldung  der  neutralen  Regie- 
rungen sogar  mit  solchen  Waren  versorgt  werde,  die  stets 
und  unzweifelhaft  als  Konterbande  galten.  Insbesondere 
wurde  auf  die  Munitions-  und  Waffenlieferungen  aus  den 
Vereinigten  Staaten  an  die  Entente  hingewiesen.  ,,Die 
deutsche  Regierung,“  so  fuhr  die  Note  fort,  ,,gibt  sich 
wohl  Rechenschaft  darüber,  daß  die  Ausübung  von  Rech- 
ten und  die  Duldung  von  Unrecht  seitens  der  Neutralen 
formell  in  deren  Belieben  steht  und  keinen  formellen  Neu- 
tralitätsbruch  involviert;  sie  hat  infolgedessen  den  Vorwurf 
des  formellen  Neutralitätsbruchs  nicht  erhoben.  Die 
deutsche  Regierung  kann  aber  — gerade  im  Interesse  voller 
Klarheit  in  den  Beziehungen  beider  Länder  — nicht  umhin, 
hervorzuheben,  daß  sie  mit  der  gesamten  öffentlichen  Mei- 
nung Deutschlands  sich  dadurch  schwer  benachteiligt  fühlt, 
daß  die  Neutralen  in  der  Wahrung  ihrer  Rechte  auf  den 
völkerrechtlich  legitimen  Handel  mit  Deutschland  bisher 
keine  oder  nur  unbedeutende  Erfolge  erzielt  haben,  während 
sie  von  ihrem  Recht,  den  Konterbandehandel  mit  Eng- 
land und  unsern  andern  Feinden  zu  dulden,  uneingeschränk- 
ten Gebrauch  machen.  Wenn  es  das  formale  Recht  der 


310 


Deutsch-amerikanischer  N otenwechsel 


Neutralen  ist,  ihren  legitimen  Handel  mit  Deutschland 
nicht  zu  schützen,  ja  sogar  sich  von  England  zu  einer  be- 
wußten und  gewollten  Einschränkung  dieses  Handels  be- 
wegen zu  lassen,  so  ist  es  auf  der  andern  Seite  nicht  minder 
ihr  gutes,  aber  leider  nicht  angewandtes  Recht,  den  Kon- 
terbandehandel, insbesondere  den  Waffenhandel,  mit 
Deutschlands  Feinden  abzustellen*.  Bei  dieser  Sachlage 
sieht  sich  di^  deutsche  Regierung  nach  sechs  Monaten  der 
Geduld  und  des  Abwartens  genötigt,  die  mörderische  Art 
der  Seekriegführung  Englands  mit  scharfen  Gegenmaß- 
nahmen zu  erwidern.  Wenn  England  in  seinem  Kampf 
gegen  Deutschland  den  Hunger  als  Bundesgenossen  an- 
ruft, in  der  Absicht,  ein  Kulturvolk  von  70  Millionen  vor 
die  Wahl  zwischen  elendem  Verkommen  oder  Unterwer- 
fung unter  seinen  politischen  und  kommerziellen  Willen 
zu  stellen,  so  ist  heute  die  deutsche  Regierung  entschlossen, 
den  Handschuh  aufzunehmen  und  an  den  gleichen  Bundes- 
genossen zu  appellieren;  sie  vertraut  darauf,  daß  die  Neu- 
tralen, die  bisher  sich  den  für  sie  nachteiligen  Folgen  des 
englischen  Hungerkriegs  stillschweigend  oder  duldend 

*■  Die  amerikanische  Regierung  hat  später  wiederholt  behauptet,  ein  Verbot  der  Waffen- 
ausfuhr an  Kriegführende  wäre,  da  eine  Waffenlieferung  nach  Lage  der  Verhältnisse  aus- 
schheßlich  für  die  Entente  in  Betracht  komme,  ein  Verbot  also  ausschließlich  die  Entente 
schädige,  eine  unneutrale  Handlung.  Die  deutsche  Regierung  dagegen  konnte  sich  für  ihren 
Standpunkt,  daß  die  Duldung  der  Waffenausfuhr,  gerade  weil  sie  ausschheßlich  der  Entente 
zugutekomme,  ein  unneutrales  Verhalten  sei,  auf  Präsident  Wilson  berufen,  der  im  Februar 
1914  als  Begründung  des  Verbots  der  Waffenlieferung  für  die  beiden  sich  in  Mexiko  be- 
kämpfenden Parteien  erklärt  hatte:  ,,Da  Carranza  keine  Häfen  hat,  Huerta  dagegen  über 
Häfen  zur  Waffeneinfuhr  verfügt,  ist  es  unsre  Pflicht  als  Nation,  beide  auf  gleichem  Fuße  zu 
behandeln,  wenn  wir  den  wahren  Geist  der  Neutralität  beobachten  wollen  und  nicht  eine 
reine  Papierneutralität  “ 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


unterworfen  haben,  Deutschland  gegenüber  kein  geringeres 
Maß  von  Duldsamkeit  zeigen  werden,  und  zwar  auch  dann, 
wenn  die  deutschen  Maßnahmen,  in  gleicher  Weise  wie 
bisher  die  englischen,  neue  Formen  des  Seekriegs  dar- 
stellen.“ Die  Note  wiederholte  dann,  daß  die  Befehls- 
haber der  deutschen  U-Boote  angewiesen  seien,  Gewalt- 
tätigkeiten gegen  amerikanische  Handelsschiffe,  soweit  sie 
als  solche  erkennbar  seien,  zu  unterlassen,  und  machte  zur 
Vermeidung  von  Verwechslungen  den  Vorschlag,  die  ameri- 
kanische Regierung  möchte  ihre  mit  feindlicher  Ladung 
befrachteten,  den  britischen  Kriegsschauplatz  berührenden 
Schiffe  durch  Konvoyierung  kenntlich  machen,  über  deren 
Durchführung  die  deutsche  Regierung  alsbald  zu  Ver- 
handlungen bereit  sei.  Zum  Schluß  führte  die  Note  aus: 
„Sollte  es  der  amerikanischen  Regierung  vermöge  des 
Gewichts,  das  sie  in  die  Wagschale  des  Geschickes  der 
Völker  zu  legen  berechtigt  und  imstande  ist,  in  letzter 
Stunde  noch  gelingen,  die  Gründe  zu  beseitigen,  die  der 
deutschen  Regierung  ihr  Vorgehen  zur  gebieterischen 
Pflicht  machen,  sollte  die  amerikanische  Regierung  ins- 
besondere einen  Weg  finden,  die  Beachtung  der  Londoner 
Seekriegsrechts-Erklärung  auch  von  seiten  der  mit  Deutsch- 
land Krieg  führenden  Mächte  zu  erreichen  und  Deutsch- 
land dadurch  die  legitime  Zufuhr  von  Lebensmitteln  und 
industriellen  Rohstoffen  zu  ermöglichen,  so  würde  die 
deutsche  Regierung  hierin  ein  nicht  hoch  genug  zu  veran- 
schlagendes Verdienst  um  die  humanere  Gestaltung  der 


312 


Deutsch-amerikanischer  Notenwechsel 


Kriegführung  anerkennen  und  aus  der  also  geschaffenen 
neuen  Sachlage  gern  die  Folgerungen  ziehen.“ 

Diese  Note,  die  von  dem  formalen  Recht  an  den  Geist 
des  Rechtes  appellierte  und  einen  Weg  zur  Wiederher- 
stellung einer  menschlichen  Kriegführung  zeigte,  hatte 
zunächst  einen  Erfolg.  Am  22.  Februar  wandte  sich  die 
amerikanische  Regierung  in  einer  gleichlautenden  Note 
an  die  deutsche  und  an  die  britische  Regiei;ung  mit  einem 
Vorschlag,  dessen  wesentlicher  Inhalt  war:  Unterseeboote 
sollen  gegenüber  Handelsschiffen  nur  zur  Durchführung 
des  Rechtes  der  Anhaltung  und  Durchsuchung  verwendet 
werden;  neutrale  Flaggen  dürfen  von  Handelsschiffen  der 
kriegführenden  Staaten  nicht  benutzt  werden.  England 
wird  Nahrangs-  und  Genußmittel,  die  für  Deutschland  be- 
stimmt sind,  nicht  anhalten,  wenn  sie  an  Agenturen  in 
Deutschland  adressiert  sind,  die  von  den  Vereinigten 
Staaten  für  den  Empfang  und  den  Weiterverkauf  an  die 
Zivilbevölkerung  bezeichnet  sind. 

Die  deutsche  Regierung  antwortete  bereits  am  28.  Fe- 
bruar, daß  sie  in  der  amerikanischen  Anregung  eine  ge- 
eignete Grundlage  für  eine  Lösung  zu  erkennen  glaube. 
Sie  erklärte  sich  ausdrücklich  bereit,  die  Tätigkeit  der 
U-Boote  gegenüber  Handelsschiffen  auf  das  Anhalten  und 
die  Durchsuchung  zu  beschränken,  falls  der  Flaggenmiß- 
brauch abgestellt  werde  und  die  von  der  amerikanischen 
Regierung  vorgeschlagene  Regelung  der  Lebensmittel- 
zufuhr nach  Deutschland  zustandekomme,  mit  der  sie 


313 


Friedensbemüliungen  und  U-Bootkrieg 


ihrerseits  sich  einverstanden  erklärte.  Sie  schlug  lediglich 
eine  Ergänzung  vor  hinsichtlich  der  Zufuhr  von  Rohstoffen, 
die  der  friedlichen  Volkswirtschaft  dienten. 

Die  britische  Regierung  dagegen  lehnte  am  13.  März 
1915  die  amerikanische  Anregung  ab  mit  der  Motiviemng, 
daß  Deutschland  die  in  dem  amerikanischen  Vorschlag 
gleichfalls  enthaltene  Anregung  über  die  Beschränkung 
der  Anwendung  von  Seeminen  nicht  vorbehaltlos  ange- 
nommen habe,  womit  es  sich  für  die  britische  Regierung 
erübrige,  eine  weitere  Antwort  zu  geben. 

Damit  war  die  amerikanische  Vermittlungsaktion  er- 
ledigt. 

Indessen  kam  die  amerikanische  Regierung  nicht  eher 
wieder  auf  die  deutsche  U-Bootnote  vom  16.  Februar  1915 
zurück,  als  bis  praktische  Fälle  Vorlagen,  daß  amerika- 
nische Schiffe  und  das  Leben  amerikanischer  Staatsbürger 
durch  den  U-Bootkrieg  vernichtet  wurden.  Ein  erster 
solcher  Fall  ereignete  sich  am  28.  März  1915,  indem  bei 
der  Versenkung  des  enghschen  Passagierdampfers  ,, Fal- 
laba“ ein  amerikanischer  Staatsangehöriger  das  Leben 
verlor.  Am  28.  April  griff  ein  deutsches  Flugzeug  ver- 
sehentlich das  amerikanische  Schiff  ,,Cushing“  an.  Am 
I.  Mai  wurde  das  amerikanische  Schiff  ,,Gulf light“ 
versenkt,  wobei  zwei  amerikanische  Staatsbürger  ums 
Leben  kamen.  Schließlich  wurde  am  7.  Mai  der  große 
englische  Passagierdampfer  ,,Lusitania“  durch  ein  deut- 
sches U-Boot  torpediert;  mehr  als  hundert  Amerikaner, 


314 


,,Lusitania“  versenkt 


darunter  viele  Frauen  und  Kinder,  fanden  ihren  Tod  in 
den  Wellen. 

Die  Erregung  in  Amerika  war  ungeheuer.  Sie  wurde 
auch  nicht  gedämpft  dadurch,  daß  die  deutsche  Botschaft 
in  Washington  durch  eine  Anzeige  in  den  amerikanischen 
Zeitungen  ausdrücklich  vor  der  Benutzung  der  englischen 
Passagierdampfer  zu  Fahrten  in  das  Kriegsgebiet  gewarnt 
hatte.  Im  Gegenteil!  Die  amerikanische  Regierung  be- 
zeichnete  es  als  ,,eine  überraschende  Regelwidrigkeit“, 
daß  die  deutsche  Botschaft  sich  mit  einer  solchen  War- 
nung vor  der  Ausübung  eines  guten  amerikanischen 
Rechts  durch  die  amerikanische  Presse  an  die  amerika- 
nische Öffentlichkeit  gewendet  habe.  Die  Erregung  wurde 
auch  nicht  gedämpft  durch  den  deutschen  Hinweis  dar- 
auf, daß  die  ,,Lusitania“  bewaffnet  gewesen  sei  und  große 
Mengen  von  Munition  an  Bord  gehabt  habe  — diese  An- 
gaben der  deutschen  Regierung  wurden  von  der  amerikani- 
schen Regierung,  deren  Behörden  das  Schiff  ausklariert 
hatten,  bestritten. 

Die  amerikanische  Regierung  ließ  am  15.  Mai  in  Berlin 
eine  Note  übergeben,  in  der  sie  die  ernstlichsten  Vorstel- 
lungen erhob.  Über  die  vorliegenden  Einzelfälle  hinaus- 
greifend, stellte  sie  fest,  daß  der  U-Bootkrieg  gegen 
Handelsschiffe  ohne  Mißachtung  nicht  nur  des  Völkerrechts 
sondern  auch  der  Regeln  der  Billigkeit,  der  Vernunft,  der 
Gerechtigkeit  und  der  Menschlichkeit  nicht  durchführ- 
bar sei.  Sie  könne  im  übrigen  nicht  glauben,  daß  die 

3U5 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


U-Bootkommandanten  ihre  ungesetzlichen  Handlungen 
anders  als  unter  einem  Mißverständnis  der  von  der  deutschen 
Marinebehörde  gegebenen  Befehle  getan  haben  könnten. 
Sie  verlangte  von  der  deutschen  Regierung  Mißbilligung 
der  Handlungen  der  U-Bootkommandanten,  Genugtuung 
für  den  angerichteten  Schaden,  schließlich  sofortige  Maß- 
nahmen zur  Verhinderung  weiterer  ähnlicher  Vorfälle. 
„Die  Kaiserliche  Regierung,“  so  schloß  die  Note,  „wird 
nicht  erwarten,  daß  die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten 
irgendein  Wort  ungesprochen  oder  eine  Tat  ungeschehen 
lassen  wird,  die  notwendig  sein  sollten,  um  ihrer  heiligen 
Pflicht  zu  genügen,  die  Rechte  der  Vereinigten  Staaten 
und  ihrer  Bürger  zu  wahren  und  deren  Ausübung  imd  Genuß 
zu  gewährleisten.“ 

An  diese  Note  schloß  sich  eine  diplomatische  Korre- 
spondenz an,  in  der  die  amerikanische  Regierung  immer 
schärfer  ihren  Standpunkt  herausarbeitete,  daß  nur  tat- 
sächlicher Widerstand  eines  Handelsschiffes  oder  sein 
fortgesetztes  Bestreben  zu  entfliehen,  nachdem  Befehl 
zum  Anhalten  zwecks  Durchsuchung  ergangen  ist,  dem 
Kommandanten  eines  Tauchbootes  das  Recht  gebe,  das 
Leben  der  an  Bord  befindlichen  Menschen  in  Gefahr  zu 
bringen ; die  deutsche  Regierung  dagegen  nahm  den  Stand- 
punkt ein,  sie  könne  nicht  zugeben,  daß  amerikanische 
Bürger  ein  feindliches  Handelsschiff  durch  die  bloße  Tat- 
sache ihrer  Anwesenheit  an  Bord  zu  schützen  vermöchten. 
Des  weiteren  wurde  die  Frage  der  Bewaffnung  und 

316 


Erneuter  Notenwechsel 


Munitionsladung  der  „Lusitania''  erörtert.  Schließlich 
wurden  von  deutscher  Seite  Vorschläge  gemacht,  die  den 
freien  Verkehr  ausreichend  kenntlich  gemachter  und  vorher 
angesagter  amerikanischer  Passagierdampfer  mit  England 
sichern  sollten.  Dieser  letztere  Vorschlag  wurde  von  der 
amerikanischen  Regierung  in  einer  Note  vom  23.  Juli  1915 
kategorisch  zurückgewiesen,  da  er  geradezu  eine  Verein- 
barung für  die  teilweise  Aufhebung  jener  Grundsätze  ent- 
halte, auf  deren  Anerkennung  durch  Deutschland  die 
amerikanische  Regierung  bestehen  müsse.  Schärfer  als 
jemals  bisher  lehnte  es  die  amerikanische  Regierung  ab, 
ihre  Politik  gegenüber  Großbritannien  mit  der  deutschen 
Regierung  zu  diskutieren  und  dem  Verhalten  Englands 
gegenüber  Deutschland  für  die  Erörterung  zwischen  Ame- 
rika und  Deutschland  über  die  Frage  des  U-Bootkrieges 
irgendeine  Erheblichkeit  zuzubilligen.  „Wenn  ein  Krieg- 
führender  einem  Feinde  gegenüber  nicht  Vergeltung  üben 
kann,  ohne  Leben  und  Eigentum  Neutraler  zu  schädigen, 
so  sollten  sowohl  Menschlichkeit  wie  Gerechtigkeit  und  die 
angemessene  Rücksicht  auf  die  Würde  der  neutralen 
Mächte  gebieten,  daß  das  Verfahren  eingestellt  wird." 
Das  Verlangen  nach  Mißbilligung  des  Vorgehens  der  deut- 
schen Seeoffiziere  bei  der  Versenkung  der  „Lusitania**  und 
auf  Ersatz  für  den  entstandenen  Schaden  wurde  mit  Nach- 
druck wiederholt,  und  der  Schluß  der  Note  enthielt  die 
Wendung,  daß  die  amerikanische  Regierung  eine  Wieder- 
holung von  Handlungen  von  Kommandanten  deutscher 


317 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Seestreitkräfte,  die  eine  Verletzung  der  Rechte  amerika- 
nischer Bürger  darstellten,  als  ,, vorsätzlich  unfreundliche 
Handlung'^  betrachten  müßte. 

Die  scharfe  Note  der  amerikanischen  Regierung  vom 
23.  Juli  1915  enthielt  jedoch  in  Anknüpfung  an  die  in  der 
vorhergegangenen  deutschen  Note  zum  Ausdruck  ge- 
brachte Hoffnung  auf  Wiederherstellung  der  Freiheit 
der  Meere  einen  Passus,  der  zu  dem  kriegerischen  Aus- 
klang in  einem  merkwürdigen  Gegensatz  stand.  Dieser 
Passus  lautete: 

,,Die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  und  die  Kaiser- 
lich deutsche  Regierung  kämpfen  für  das  gleiche  große 
Ziel  und  sind  lange  zusammen  eingetreten  für  Anerkennung 
eben  jener  Grundsätze,  auf  denen  die  Regierung  der  Ver- 
einigten Staaten  jetzt  so  feierlich  besteht.  Sie  kämpfen 
beide  für  die  Freiheit  der  Meere.  Die  Regierung  der  Ver- 
einigten Staaten  wird  fortfahren,  für  diese  Freiheit  zu 
kämpfen,  von  welcher  Seite  auch  immer  sie  verletzt  wer- 
den möge,  ohne  Kompromiß  und  um  jeden  Preis.  Sie 
ladet  die  Kaiserlich  deutsche  Regierung  zu  praktischer 
Mitarbeit  ein,  im  jetzigen  Augenblick,  wo  diese  Mitarbeit 
am  meisten  durchsetzen  kann  und  dieses  große  Ziel  am 
schlagendsten  und  wirksamsten  erreicht  werden  kann. 
Die  Kaiserlich  deutsche  Regierung  hat  der  Hoffnung  Aus- 
druck gegeben,  daß  dieses  Ziel  in  gewissem  Grade  sogar 
vor  dem  Ende  des  gegenwärtigen  Krieges  erreicht  werden 
könnte.  Dies  kann  geschehen.  Die  Regierung  der 


318 


, Freiheit  der  Meere*^ 


Vereinigten  Staaten  fühlt  sich  nicht  nur  verpflichtet,  auf 
diesem  Ziel,  von  wem  auch  immer  es  verletzt  und  mißachtet 
werden  mag,  zum  Schutz  ihrer  eigenen  Bürger  zu  bestehen ; 
sie  ist  auch  auf  das  höchste  daran  interessiert,  dieses  Ziel 
zwischen  den  Kriegführenden  selbst  verwirklicht  zu  sehen, 
und  hält  sich  jederzeit  bereit,  als  gemeinsamer  Freund 
zu  handeln,  dem  der  Vorzug  zuteil  wird,  einen  Weg 
vorzuschlagen.“ 

Neben  die  kaum  verhüllte  Drohung  mit  dem  Abbruch 
der  Beziehungen  für  den  Fall  einer  weiteren  Schädigung 
der  von  der  amerikanischen  Regierung  für  ihre  Staats- 
angehörigen beanspruchten  Rechte  durch  unsern  U-Boot- 
krieg  war  also  die  Bereitschaft  zu  einer  Kooperation  mit 
uns  zur  Wiederherstellung  der  Freiheit  der  Meere,  und 
zwar  noch  während  des  Krieges,  gesetzt.  Damit  war 
die  deutsche  Politik  vor  eine  Entscheidung  von  größter 
Tragweite  gestellt. 

Obwohl  ich  als  Schatzsekretär  nicht  unmittelbar  an  der 
Behandlung  dieser  Fragen  beteiligt  war,  hatte  ich  doch, 
auch  abgesehen  von  gelegentlichen  Aussprachen  mit  dem 
Kanzler  und  meinen  Freunden  im  Auswärtigen  Amt, 
gewisse  Berührungspunkte  mit  dem  durch  den  U-Boot- 
krieg berührten  Fragenkomplex. 

So  war  ich  seit  einiger  Zeit  mit  der  Frage  der  Baumwoll- 
einfuhr  aus  den  Vereinigten  Staaten  befaßt  worden.  Per- 
sönlichkeiten, die  im  deutschen  Baumwollhandel  eine  große 
Rolle  spielten,  hatten  Fühlung  mit  ihren  amerikanischen 


319 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg  ~ 


Geschäftsfreunden  genommen  und  standen  mit  diesen 
in  Verhandlungen  wegen  des  Abschlusses  über  einen  sehr 
großen  Posten  zu  einem  festen  Preise.  Die  großen  und 
einflußreichen  amerikanischen  BaumwoUinteressen  waren 
durch  die  Unterbindung  des  Absatzes  nach  Deutschland 
empfindlich  geschädigt.  Für  uns  handelte  es  sich  darum, 
diese  Interessen  zu  unsern  Gunsten  mobilzumachen  und  mit 
ihrer  Hilfe  nicht  nur  eine  Belieferung  Deutschlands  mit  ame- 
rikanischer Baumwolle  durchzusetzen,  sondern  womöglich 
die  amerikanische  Politik  zu  einem  tatkräftigen  Handeln  für 
die  Wiederherstellung  der  Londoner  Deklaration  zu  be- 
wegen. Die  Finanzierung  des  Riesengeschäftes,  um  das 
es  sich  handelte,  ließ  den  deutschen  Interessenten  die 
Rückendeckung  durch  das  Reich  erforderlich  erscheinen, 
und  so  kam  die  Sache  an  mich.  Die  jetzt  von  der  amerika- 
nischen Regierung  angebotene  Zusammenarbeit  für  die 
Wiederherstellung  der  Freiheit  der  Meere  erregte  infolge- 
dessen mein  besonderes  Interesse. 

Außerdem  war  die  Gestaltung  unseres  Verhältnisses 
zu  den  Vereinigten  Staaten  von  besonderer  Wichtigkeit 
für  die  finanzielle  Kriegführung.  Auch  bisher  schon  hatten 
die  Banken  der  Vereinigten  Staaten  den  Ententeländem  — 
in  viel  bescheidenerem  Maße  auch  uns  — einige  Unter- 
stützung im  Wege  kommerzieller  Kredite  und  der  Über- 
nahme kurzfristiger  Schatzanweisungen  gewährt.  Aber 
diese  finanzielle  Hilfe  hatte  sich,  zumal  da  der  Präsident 
Wilson  zunächst  die  Aufnahme  öffentlicher  Anleihen 


320 


Deutschlands  Verhältnis  zu  Amerika 


zugunsten  eines  kriegführenden  Staates  als  neutralitäts- 
widrig erklärt  hatte,  in  engen,  weit  unterhalb  der  Lei- 
stungsfähigkeit der  Union  liegenden  Grenzen  bewegt. 
Niemand  konnte  zweifeln,  daß  ein  Hinübertreten  der  Ver- 
einigten Staaten  auf  die  Seite  unserer  Gegner  den  vollen 
Einsatz  ihrer  gerade  während  des  Krieges  gewaltig  an- 
gewachsenen Finanzkraft  zugunsten  der  Entente  bringen 
würde.  Für  die  Entente  war  daraus  eine  wesentliche  Er- 
leichterung nicht  nur  der  finanziellen,  sondern  auch  der 
wirtschaftlichen  Kriegführung,  für  uns  eine  entsprechende 
Erschwerung  zu  erwarten. 

Aber  auch  ganz  unabhängig  von  den  Interessen  meines 
speziellen  Ressorts  wollte  es  mir  als  ein  geradezu  ver- 
hängnisvoller Fehler  erscheinen,  es  wegen  des  U-Boot- 
krieges  zum  Bruch  mit  den  Vereinigten  Staaten  kommen 
zu  lassen  und  die  von  Wilson  gebotene  Hand  zur  Wieder- 
herstellung der  Freiheit  der  Meere,  „von  wem  auch  immer 
sie  verletzt  und  mißachtet  werden  mag“,  zu  übersehen 
oder  auszuschlagen.  Sowohl  wirtschaftliche  Gründe  als 
auch  die  politische  Lage,  insbesondere  die  kritische  Situa- 
tion auf  dem  Balkan,  von  deren  Entwicklung  das  Schick- 
sal der  Dardanellen  und  der  Türkei  abhing,  schienen  mir 
keinen  Zweifel  über  den  richtigen  Weg  zu  lassen,  zumal 
da  der  Erfolg  des  U-Bootkriegs  nicht  entfernt  den  Erwar- 
tungen entsprach. 

Ich  legte  dem  Kanzler  meine  Gesichtspunkte  zuerst 
mündlich  und  dann,  am  5.  August  1915,  auch  schriftlich 


21  Helfferich,  Weltkrieg  II 


321 


Friedensbemüliungen  und  U-Bootkrieg 


dar.  Mein  Vorschlag  ging  dahin,  der  amerikanischen  Re- 
gierung zu  antworten:  Wir  akzeptieren  die  angebotene 
Kooperation  zur  Wiederherstellung  der  Freiheit  der  Meere. 
In  der  Voraussetzung,  daß  die  amerikanische  Regierung 
gewillt  ist,  alsbald  wirksame  Schritte  bei  der  britischen 
Regierung  zu  unternehmen,  um  diese  zur  Aufgabe  ihrer 
völkerrechtswidrigen  Seekriegführung  < zu  veranlassen  und 
sie  zur  strikten  Beobachtung  der  Londoner  Deklaration 
zurückzuführen,  sind  die  U-Bootkommandanten  unter 
Aufrechterhaltung  unseres  grundsätzlichen  Standpunktes 
angewiesen  worden,  bis  auf  weiteres  den  U-Bootkrieg  in 
einer  der  amerikanischen  Auffassung  Rechnung  tragenden 
Weise  zu  führen;  wir  behalten  uns  alles  vor  für  den  Fall, 
daß  die  gemeinsame  Aktion  nicht  innerhalb  einer  an- 
gemessenen Zeit  den  gewünschten  Erfolg  herbeiführt. 

Dieses  Vorgehen  hätte  den  Vorteil  gehabt,  für  die 
nächste  für  die  Entscheidungen  auf  dem  Balkan  so  wich- 
tige Zeit  die  bedrohlichen  Differenzen  mit  Amerika  prak- 
tisch auszuschalten  und  dem  Präsidenten  Wilson  freie 
Hand  für  die  von  ihm  in  Aussicht  gestellte  Aktion  gegen 
England  zu  geben,  ohne  uns  für  die  Dauer  die  Hände  zu 
binden. 

Mein  Vorschlag  fand  jedoch  beim  Auswärtigen  Amt 
keine  Unterstützung,  und  der  Chef  des  Admiralstabs  nahm 
in  einem  Immediatbericht  an  den  Kaiser  mit  großer  Ent- 
schiedenheit gegen  meine  Anregung  und  deren  Begründung 
Stellung.  Der  Kaiser  stimmte  zwar  meiner  Rephk  zu,  in 


322 


„Arabic“  versenkt 


der  ich  meine  Auffassung  unter  eingehender  Begründung 
aufrechterhielt;  aber  in  der  Zwischenzeit  hatte  sich  die 
Lage  erheblich  verschärft  durch  die  am  19.  August  ohne 
Warnung  erfolgte  Torpedierung  des  auf  der  Ausfahrt  von 
England  nach  Amerika  begriffenen  Passagierdampfers 
„Arabic'';  abermals  fanden  bei  dieser  Versenkung  amerika- 
nische Staatsangehörige  den  Tod. 

Glücklicherweise  war  schon  vor  der  Torpedierung  der 
,,Arabic‘'  eine  Weisung  an  die  U-Bootkommandanten  er- 
gangen, daß  „Liners“  nur  nach  vorhergegangener  Warnung 
und  nach  Rettung  der  Nichtkombattanten  versenkt  wer- 
den sollten,  es  sei  denn,  daß  ein  Schiff  zu  fliehen  versuche 
oder  Widerstand  leiste.  Der  Kommandant  des  U-Bootes, 
das  die  „Arabic“  versenkte,  hatte  sich  in  dem  Glauben 
befunden,  daß  die  „Arabic“  Anstalten  machte,  sein 
U-Boot  zu  rammen.  Die  an  die  U-Bootkommandanten  er- 
gangene Weisung  wurde  nun  der  amerikanischen  Regie- 
rung mitgeteilt.  Im  weiteren  Verlaufe  der  Verhandlungen, 
die  hart  an  den  Krieg  heranstreiften,  bestätigte  Graf  Bern- 
storff  am  5.  Oktober  1915  dem  Staatssekretär  Lansing, 
daß  die  an  die  U-Bootkommandanten  erteilten  Befehle 
so  bestimmt  lauteten,  daß  eine  Wiederholung  ähnlicher 
Zwischenfälle  wie  des  Arabic-Falles  als  ausgeschlossen 
gelte.  Gleichzeitig  erkannte  die  deutsche  Regierung  an, 
daß  der  Angriff  auf  die  ,,Arabic“  den  erteilten  Befehlen 
nicht  entsprochen  habe,  daß  sie  den  Vorgang  nicht  billige 
und  ihn  bedaure;  dem  Kommandanten  des  U-Bootes  sei 


21* 


323 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


eine  dahingehende  Eröffnung  gemacht  worden.  Auch  zur 
Gewährung  einer  Entschädigung  erklärte  sich  die  deutsche 
Regierung  bereit.  Natürlich  konnten,  wie  sich  jetzt  die 
Lage  gestaltet  hatte,  an  diese  Mitteilung  keine  weiteren 
Bedingungen  oder  Voraussetzungen  bezüglich  der  von 
Amerika  gegenüber  England  zu  unternehmenden  Schritte 
geknüpft  werden.  Die  Gelegenheit,  in  die  von  Wilson 
gebotene  Hand  einzuschlagen  und  eine  ernsthafte  Probe 
auf  seine  Bereitwilligkeit  zu  einem  gemeinschaftlichen 
Vorgehen  gegen  Englands  Seekriegführung  zu  machen,  war 
uns  also  durch  die  Versenkung  der  „Arabic*'  aus  der  Hand 
genommen.  Eine  endgültige  Klärung  war  auch  nicht 
herbeigeführt;  insbesondere  betonte  Lansing,  daß  die 
„Lusitania“-Angelegenheit  für  die  amerikanische  Regierung 
noch  nicht  erledigt  sei.  Aber  die  unmittelbare  Gefahr 
schien  abgewendet.  Darüber  hinaus  raffte  sich  jetzt  die 
amerikanische  Regierung  zum  erstenmal  seit  langer  Zeit 
zu  einem  energischen  Schritt  gegenüber  der  Entente  auf. 
In  einer  sehr  ausführlichen  Note  vom  5.  November  1915 
legte  sie  die  Völkerrechtswidrigkeit  der  von  der  Entente 
unter  Englands  Führung  beliebten  Seekriegführung  dar 
und  erklärte,  daß  die  Vereinigten  Staaten  ohne  Zaudern 
die  Aufgabe  der  Vorkämpferschaft  für  die  Rechte  der 
Neutralen  zu  übernehmen  und  der  Erfüllung  dieser  Auf- 
gabe ihre  ganze  Energie  zu  widmen  entschlossen  seien. 

Im  eigenen  Lager  hatte  die  Frage  unseres  Verhaltens 
zu  Amerika  zu  einer  ernstlichen  Krisis  geführt.  Nachdem 


324 


Amerika  gegen  Englands  Seekriegführung 


der  Kaiser  sich  auf  den  vom  Reichskanzler  vertretenen 
Standpunkt  gestellt  hatte,  reichte  der  Admiral  von  Tirpitz 
seinen  Abschied  ein,  der  aber  vom  Kaiser  nicht  angenom- 
men wurde  (Anfang  September  1915).  Dagegen  wurde 
an  Stelle  des  Admirals  Bachmann  der  Admiral  von  Holtzen- 
dorff  zum  Chef  des  Admiralstabs  ernannt;  gleichzeitig 
wurden  durch  eine  Kaiserliche  Order  die  Kompetenzen 
zwischen  Reichsmarineamt  und  Admiralstab  neu  abge- 
grenzt. Ein  zweites  Abschiedsgesuch  des  Admirals  von 
Tirpitz  folgte,  das  abermals  abgelehnt  wurde. 

Der  ^^verschärfte  U-Bootkrieg^^ 

Am  18.  Januar  1916  machte  Herr  Lansing  den  Vertretern 
der  Ententemächte  in  Washington  einen  — später  als  inoffi- 
ziell bezeichne ten  Vorschlag  — über  die  U-Bootkrieg- 
führung,  der  im  wesentlichen  auf  folgendes  hinauskam: 

Er  erkannte  an,  daß  die  U-Boote  sich  als  wirksam  in 
der  Bekämpfung  feindlichen  Handels  erwiesen  hätten 
und  daß  infolgedessen  ihre  Benutzung  zu  diesem  Zweck 
den  Kriegführenden  nicht  ohne  weiteres  verwehrt  werden 
könne.  Es  handele  sich  also  darum,  eine  Formel  zu  fin- 
den, die  den  U-Bootkrieg,  ohne  seine  Wirksamkeit  zu  zer- 
stören, in  Einklang  mit  den  allgemeinen  Regeln  des  Völker- 
rechts und  den  Grundsätzen  der  Menschlichkeit  bringe. 
Sein  Vorschlag  sei:  Einerseits  sollten  die  U-Boote  ge- 
halten sein,  nur  in  den  Formen  des  „Kreuzerkriegs“  gegen 


325 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Kauffahrteischiffe  vorzugehen,  d.  h.  sie  nicht  zu  versenken, 
ohne  sie  zum  Halten  aufgefordert,  nach  Konterbande  durch- 
sucht und  die  Mannschaft  und  Passagiere  in  Sicherheit 
gebracht  zu  haben.  Auf  der  anderen  Seite  sollten  die 
Kauffahrteischiffe  keinerlei  Bewaffnung  führen  dürfen. 
Zur  Begründung  dieses  Vorschlags  führte  Lansing  an,  daß 
angesichts  der  Konstruktion  der  U-Boote  eine  auch  nur 
leichte  Bewaffnung  den  Handelsschiffen  eine  Überlegen- 
heit gebe;  jede  Bewaffnung  eines  Kauffahrteischiffes  habe 
unter  diesen  Umständen  den  Charakter  einer  Bewaffnung 
zu  Offensivzwecken.  Das  Schreiben  schloß:  „Ich  möchte 
hinzufügen,  daß  meine  Regierung  das  Argument  verständ- 
lich findet,  daß  ein  Kauffahrteischiff,  das  irgendeine  Be- 
waffnung trägt,  angesichts  des  Charakters  des  Tauchboot- 
kriegs und  der  Schwäche  der  U-Boote  in  der  Verteidigung, 
sowohl  von  den  Neutralen  wie  von  den  Kriegführenden  als 
Hilfskreuzer  zu  betrachten  und  zu  behandeln  ist,  und  daß 
meine  Regierung  ernstlich  erwägt,  ihre  Beamten  dem- 
entsprechend zu  instruieren.“ 

Diese  Anregung  sah  aus  wie  ein  schwerer  Vorstoß  gegen 
die  Seekriegführung  der  Entente.  Die  Entwaffnung  aller 
Handelsdampfer  und  ihre  Verpflichtung,  ohne  Gegenwehr 
auf  Anruf  anzuhalten,  sich  untersuchen  und  nach  Fest- 
stellung der  feindlichen  Nationalität  oder  des  Vorhanden- 
seins von  Kontrebande  sich  versenken  zu  lassen,  hätte 
das  Vorgehen  der  deutschen  U-Boote  gegen  den  Seehandel 
der  Ententeländer  nahezu  gefahrlos  gemacht  und  seine 


326 


Lansings  Vorschlag  an  die  Entente  Vertreter 


Wirksamkeit  bedeutend  gesteigert.  Die  Ablehnung  dieser 
Anregung  durch  die  Ententemächte  mußte  deshalb  er- 
wartet werden.  Aber  für  diesen  Fall  stand  am  Schluß  des 
Lansingschen  Schreibens  die  Drohung,  daß  die  amerika- 
nische Regierung  künftighin  bewaffnete  Handelsschiffe 
als  Hilfskreuzer  ansehen  und  behandeln  werde.  Das  hieß 
nicht  nur,  daß  die  bewaffneten  Handelsschiffe  bei  ihrem 
Aufenthalt  und  ihrem  Verkehr  in  den  Häfen  der  Ver- 
einigten Staaten  den  für  Kriegsschiffe  maßgebenden  Be- 
schränkungen unterliegen  sollten,  sondern  auch,  daß  die 
Regierung  der  Vereinigten  Staaten  sich  jedes  Einspruchs 
gegen  die  Versenkung  solcher  bewaffneten  Handelsschiffe 
durch  deutsche  U-Boote  begeben  hätte,  auch  wenn  die 
Torpedierung  ohne  Warnung  und  ohne  die  Rettung  der 
Schiffsbemannung  und  Passagiere  erfolgte. 

Die  Entente  war  also  in  der  Tat  vor  ein  schweres 
Dilemma  gestellt.  Hätte  die  Regierung  der  Vereinigten 
Staaten  den  Lansingschen  Gedanken  sich  zu  eigen  gemacht 
und  festgehalten,  so  gab  es  für  die  Entente  nur  den  einen 
Ausweg,  durch  die  Rückkehr  zur  Londoner  Deklaration 
sich  die  Beschränkung  des  U-Bootkriegs  auf  die  Methoden 
des  „Kreuzerkriegs“  zu  erkaufen.  Zielte  Lansings  Brief 
an  die  Ententevertreter  nach  dieser  Richtung?  Sollte  er 
eine  drastische  Ergänzung  der  noch  immer  unbeantwor- 
teten Note  der  amerikanischen  Regierung  vom  5.  Novem- 
ber 1915  sein,'  die  so  scharf  gegen  die  Methoden  der 
britischen  Seekriegführung  Stellung  genommen  hatte? 


327 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Ich  vermag  auf  diese  Frage  auch  heute  noch  keine  Ant- 
wort zu  geben;  denn  ich  hatte  weder  damals,  noch  habe 
ich  heute  genügend  Einblick  in  das,  was  jenseits  des  At- 
lantischen Ozeans  vorging.  Und  die  weitere  Entwicklung 
der  Dinge  selbst  gab  nicht  nur  keine  Antwort,  sondern 
stellte  uns  vor  ein  Rätsel. 

Nachdem  nämlich  Lansing  am  i8.  Januar  1916  jenen  Brief 
an  die  Entente  Vertreter  gerichtet  hatte,  nahm  er  Ende 
Januar  gegenüber  dem  Grafen  Bernstorff  die  „Lusitania“- 
Frage,  die  bei  der  Erledigung  des  „Arabic'*-Falles  ausdrück- 
lich in  Schwebe  gelassen  worden  war,  wieder  auf.  Er  verlangte 
nicht  nur  eine  Entschädigung,  sondern  auch  die  ausdrück- 
hche  Erklärung,  daß  wir  diese  Entschädigung  „in  Aner- 
kennung der  Ungesetzlichkeit  (illegality)“  der  Versenkung 
der  „Lusitania“  gewährten.  In  einem  solchen  Zugeständnis 
sah  man  bei  uns  nicht  nur  eine  uns  angesonnene  Demüti- 
gung, sondern  auch  einen  endgültigen  und  vorbehalt- 
losen Verzicht  auf  die  schärfere  Form  des  U-Bootkriegs, 
zu  dem  man  sich  um  so  weniger  entschließen  konnte,  als 
keinerlei  Sicherheiten  irgendwelcher  Art  für  eine  Zurück- 
führung des  Seekriegs  unserer  Feinde  auf  die  Normen  des 
Völkerrechts  Vorlagen.  Lansing  bestand  jedoch  mit  der 
größten  Hartnäckigkeit  und  Schärfe  auf  seiner  Forderung. 
Die  Lage  erfuhr  abermals  eine  kritische  Zuspitzung  bis 
hart  an  den  Abbruch  der  Beziehungen.  Am  5.  Februar 
1916  veröffentlichte  das  Wolffsche  Bureau  eine  Unter- 
redung des  Unterstaatssekretärs  Zimmermann  mit  dem 


328 


Wiederaufnahme  der  „Lusitania“-Frage 


Berliner  Korrespondenten  der  „Associated  Press*^  in  der 
er  u.  a.  sagte:  Er  wolle  den  Ernst  der  Lage  nicht  ver- 
hehlen. Deutschland  könne  keinesfalls  die  Ungesetzlich- 
keit der  Kriegführung  der  U-Boote  in  der  Kriegszone  an- 
erkennen. Die  ganze  Krisis  sei  auf  die  neue  Forderung 
Amerikas  zurückzuführen,  daß  Deutschland  die  Ver- 
senkung der  „Lusitania'"  als  eine  völkerrechtswidrige 
Tat  anerkennen  solle.  Deutschland  könne  die  Waffe  der 
U-Boote  nicht  aus  der  Hand  legen.  Wenn  die  Vereinigten 
Staaten  es  zum  Bruch  kommen  lassen  wollten,  könne 
Deutschland  nichts  mehr  tun,  um  dies  zu  vermeiden. 

Der  Reichskanzler  bestätigte  in  einer  Unterredung  mit 
dem  Vertreter  der  „New  York  World“  die  Zimmermann- 
schen  Erklärungen. 

Während  unser  Verhältnis  zu  den  Vereinigten  Staaten 
diese  neue  und  unerwartete  Zuspitzung  erfuhr,  kam  es 
bei  uns  im  Innern  zu  heftigen  Kämpfen  über  den 
U-Bootkrieg. 

Der  Admiralstab  nahm  unter  seinem  neuen  Chef  gegen 
Ende  1915  erneut  Stellung  zugunsten  der  Aufnahme  des 
durch  keinerlei  Einschränkungen  gehemmten  U- Boot- 
kriegs. Von  einem  rücksichtslos  durchgeführten  U-Boot- 
krieg  erwartete  er  binnen  eines  halben  Jahres  die  Nieder- 
kämpfung  Englands  und  damit  die  siegreiche  Beendigung 
des  Krieges.  Gegenüber  dieser  Aussicht  müßten  alle  andern 
Erwägungen,  auch  die  Rückwirkung  des  uneingeschränkten 
U-Bootkrieges  auf  die  Vereinigten  Staaten,  zurücktreten. 


329 


Friedensbemüliungen  und  U-Bootkrieg 


Der  Chef  des  Generalstabs,  General  von  Falkenhayn, 
war  um  die  Jahreswende  für  den  uneingeschränkten 
U-Bootkrieg  so  gut  wie  gewonnen.  Er  hoffte  auf  eine 
Niederkämpfung  Englands  in  wenigen  Monaten. 

Auch  die  politischen  Parteien  und  die  Presse  nahmen  in 
jener  Zeit  immer  schärfer  in  der  Frage  des  U-Bootkrieges 
Stellung.  Die  Marinebehörden  entfalteten  eine  starke  pro- 
pagandistische Tätigkeit  zugunsten  des  uneingeschränk- 
ten U-Bootkrieges,  die  sichtlich  Einfluß  auf  die  Mei- 
nungsbildung der  politischen  Kreise  und  des  Publikums 
gewann. 

Der  Kanzler  leistete  dem  starken  Druck  Widerstand. 
Wenn  schon  die  Differenzen  über  die  Erledigung  der 
,,Lusitania'‘-Frage  so  hart  an  den  Bruch  zwischen  Amerika 
und  uns  heranführten,  so  erschien  der  Bruch  und  ihm 
folgend  der  Krieg  sicher  für  den  Fall  der  Eröffnung  des 
uneingeschränkten  U-Bootkrieges.  Dafür  war  der  Kanzler 
nicht  geneigt,  die  Verantwortung  zu  übernehmen. 

Dagegen  einigten  sich  die  maßgebenden  Persönlichkeiten 
Anfang  Februar  1916  auf  den  sogenannten  „verschärften 
U-Bootkrieg“,  nämlich  die  Versenkung  der  bewaffneten 
feindlichen  Handelsschiffe  ohne  Warnung  und  ohne  Rück- 
sicht auf  die  Mannschaften  und  Passagiere. 

Der  deutschen  Marine  waren  auf  verschiedenen  bri- 
tischen Handelsschiffen  Instruktionen  in  die  Hand  ge- 
fallen, aus  denen  sich  ergab,  daß  die  bewaffneten  Schiffe 
nicht  etwa  die  Angriffe  deutscher  U-Boote  abwarten  und 


330 


Proklamierung  des  „verschärften  U-Bootkrieges“ 


sich  gegen  diese  verteidigen,  sondern,  wo  immer  sich  eine 
Gelegenheit  dazu  bot,  angriffsweise  gegen  die  U-Boote 
Vorgehen  sollten.  Die  deutsche  Regierung  zog  hieraus  die 
Konsequenz,  daß  die  mit  Geschützen  bewaffneten  feind- 
lichen Kauffahrteischiffe  kein  Recht  mehr  darauf  hätten, 
als  friedliche  Handelsschiffe  angesehen  zu  werden.  Sie 
teilte  diese  Auffassung  am  8.  Februar  1916  den  neutralen 
Regierungen  in  einer  Denkschrift  mit,  die  mit  der  An- 
kündigung schloß,  daß  die  deutschen  Seestreitkräfte  nach 
einer  kurzen,  den  Interessen  der  Neutralen  Rechnung  tra- 
genden Frist  den  Befehl  erhalten  würden,  solche  Schiffe 
als  Kriegführende  zu  behandeln. 

Über  die  Zweckmäßigkeit  dieses  Schrittes  konnte  man 
verschiedener  Meinung  sein;  schon  deshalb,  weil  die  Er- 
kennbarkeit der  Bewaffnung  eines  Handelsschiffes  durch 
das  Periskop  eines  U-Bootes  eine  recht  zweifelhafte  Sache 
war  und  Irrtümer  ganz  unausweichlich  erscheinen  mußten. 
Ich  konnte  den  Eindruck  nicht  loswerden,  daß  die  Herren 
von  der  Marine  ,, verschärften  U-Bootkrieg“  sagten,  aber 
den  „uneingeschränkten  U-Bootkrieg“  meinten.  Das 
konnte  nicht  gut  gehen.  Außerdem  hätte  ich  vorgezogen, 
zunächst  einmal  die  ,,Lusitania“- Angelegenheit  zu  er- 
ledigen, statt  die  so  stark  zugespitzte  Lage  durch  eine  neue 
Maßnahme  von  solcher  Tragweite  zu  komplizieren.  Ich 
war  jedoch  an  den  Verhandlungen,  die  zu  der  Proklamie- 
rung des  „verschärften  U-Bootkrieges“  geführt  hatten, 
nicht  beteiligt  worden  und  erfuhr  die  vollendete  Tatsache  — 


331 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


durch  eine  in  der  Pressekonferenz  von  dem  Marinever- 
treter gemachte  Mitteilung. 

Immerhin  war  der  „verschärfte  U-Bootkrieg*'  begründet 
in  einer  Auffassung,  die  mit  der  von  Lansing  in  seinem 
Schreiben  vom  i8.  Januar  an  die  Ententevertreter  ent- 
wickelten im  wesentlichen  übereinstimmte.  Diese  Tatsache 
war,  so  durfte  man  annehmen,  immerhin  geeignet,  den 
„verschärften  U-Bootkrieg* * auch  in  den  Augen  der  ameri- 
kanischen Regierung  als  vertretbar  erscheinen  zu  lassen. 

Diese  Hoffnung  erschien  um  so  mehr  berechtigt,  als  sich 
damals  in  den  Vereinigten  Staaten  in  der  öffentlichen  Mei- 
nung und  in  den  Kreisen  des  Kongresses  eine  Strömung 
zeigte,  die  sich  gegen  den  Gedanken  eines  Krieges  zwischen 
Amerika  und  Deutschland  auflehnte  und  zum  Zweck  der 
Verminderung  der  Kriegsgefahr  die  Forderung  auf  stellte, 
die  amerikanische  Regierung  möchte  die  amerikanischen 
Bürger  vor  der  Benutzung  bewaffneter  feindlicher  Handels- 
schiffe warnen  oder  gar  ihnen  das  Reisen  auf  bewaffneten 
feindlichen  Schiffen  verbieten.  Im  Senat  wie  im  Re- 
präsentantenhaus wurden  sogar  Anträge  in  diesem  Sinne 
eingebracht. 

Um  so  auffallender  war  es,  daß  die  amerikanische  Re- 
gierung nunmehr  gegen  die  deutsche  Auffassung  des 
Charakters  und  der  Wirkungen  der  Bewaffnung  von  Handels- 
schiffen, die  sich  so  nahe  mit  der  von  Lansing  kundgegebenen 
berührte,  mit  aller  Schärfe  Stellung  nahm.  Der  Präsi- 
dent Wilson  selbst  griff  ein,  indem  er  am  24.  Februar  1916 


332 


Amerikas  Stellungnahme 


einen  Brief  an  den  Senator  Stone,  den  Vorsitzenden  des 
Ausschusses  für  Auswärtige  Angelegenheiten,  richtete  und 
veröffentlichte,  in  dem  er  sich  auf  den  Standpunkt  stellte, 
daß  die  Ankündigung  des  verschärften  U-Bootkrieges  in 
so  offenkundigem  Widerspruch  zu  den  erst  vor  kurzem  ge- 
gebenen ausdrücklichen  Versicherungen  der  Mittelmächte 
stehe,  daß  er  erst  weitere  Erklärungen  abwarten  müsse. 
Er  fügte  hinzu:  Er  könne  keinerlei  Verkürzung  der  Rechte 
der  amerikanischen  Staatsbürger  hinnehmen;  die  Ehre 
und  Selbstachtung  der  Nation  sei  im  Spiel;  Amerika  wün- 
sche den  Frieden  und  werde  ihn  um  jeden  Preis  erhalten, 
nur  nicht  um  den  Preis  seiner  Ehre;  den  Amerikanern  die 
Ausübung  ihrer  Rechte  verbieten  aus  Furcht,  man  könne 
gezwungen  sein,  für  diese  Rechte  einzutreten,  würde  in 
der  Tat  eine  tiefe  Demütigung  sein  und  außerdem  nicht 
nur  ein  stillschweigendes,  sondern  sogar  ein  ausdrückliches 
Sichabfinden  mit  der  Verletzung  der  Rechte  der  Mensch- 
heit und  ein  bewußter  Verzicht  Amerikas  auf  seine  bisher 
stolze  Stellung  als  Wortführer  für  Gesetz  und  Recht. 
Amerika  könne  nicht  nachgeben,  ohne  seine  eigene  Ohn- 
macht als  Nation  zu  erklären  und  seine  unabhängige 
Stellung  unter  den  Nationen  der  Welt  aufzugeben. 

Am  3.  März  1916  beschloß  der  Senat  mit  68  gegen  14 
Stimmen  die  Erörterung  der  Resolution  Gore,  die  das 
Reisen  auf  bewaffneten  feindlichen  Handelsschiffen  für 
Amerikaner  verboten  sehen  wollte,  auf  unbestimmte  Zeit 
zu  vertagen. 


333 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Drei  Wochen  später^  am  25.  März,  veröffentlichte  die 
amerikanische  Regierung  ein  Memorandum  über  ihre 
Stellung  zur  Frage  der  Behandlung  bewaffneter  Handels- 
schiffe in  neutralen  Häfen  und  auf  hoher  See.  Das  Me- 
morandum kam  auf  Grund  sehr  kasuistischer  Deduk- 
tionen zu  dem  Schluß:  Eine  neutrale  Regierung  könne 
in  ihren  Häfen  ein  bewaffnetes  Handelsschiff  auf  Grund 
der  Präsumption  behandeln,  daß  es  zum  Angriff  bewaffnet 
sei  und  infolgedessen  den  Charakter  des  Kriegsschiffs 
habe;  dagegen  müsse  ein  Kriegführender  auf  hoher  See 
auf  Grund  der  Präsumption  Vorgehen,  daß  das  Handels- 
schiff zu  Verteidigungszwecken  bewaffnet  sei  und  infolge- 
dessen den  Charakter  als  Kauffahrteischiff  habe.  Der 
Status  eines  bewaffneten  Handelsschiffes  auf  hoher  See 
als  eines  Kriegsschiffes  könne  nur  auf  Grund  beweis- 
kräftiger Evidenz  seiner  Angriffsabsicht  festgestellt 
werden. 

Zwei  Tage  zuvor,  am  23.  März,  hatte  die  britische  Re- 
gierung die  Lansingsche  Anregung  vom  18.  Januar  als 
unvereinbar  mit  den  allgemeinen  Grundsätzen  des  Völker- 
rechts und  mit  bestimmten  Klauseln  der  Haager  Kon- 
vention abgelehnt. 

Das  merkwürdige  Zwischenspiel  des  Lansingschen  Vor- 
schlags blieb  unaufgeklärt.  Wir  hatten  jetzt  bei  der  Füh- 
rung des  verschärften  U-Bootkrieges  gegen  die  bewaff- 
neten Handelsschiffe  mit  demselben  Widerstand  Amerikas, 
ja  mit  einem  noch  ausgesprocheneren  Widerstand  zu 


334 


Denkschrift  des  Admiralstabes 


rechnen,  wie  bei  unserrn  ersten  Taiichbootkrieg.  Jeder  Tag 
konnte  mit  einem  neuen  Zwischenfall  die  Krisis  akut 
machen  und  uns  vor  die  Wahl  zwischen  dem  Krieg  mit 
Amerika  oder  der  Einschränkung  des  U-Bootkrieges  auf 
die  völkerrechtlich  einwandfreien  Formen  des  Kreuzer- 
kriegs stellen. 

In  dieser  Lage  wuchs  bei  uns  die  Forderung  nach  dem 
uneingeschränkten  U-Bootkrieg  zu  einem  wahren  Sturm 
auf  den  Reichskanzler  an.  Die  Marine,  die  den  „ver- 
schärften U-Bootkrieg“  durchgesetzt  hatte,  dachte  nicht 
daran,  sich  damit  zufriedenzugeben.  Der  Admiralstab 
hatte  eine  umfangreiche  Denkschrift  über  die  englische 
Wirtschaft  und  den  U-Bootkrieg  ausarbeiten  lassen,  die 
auf  Grund  eines  weitschichtigen  statistischen  Materials, 
aber  in  ganz  dilettantischer  Beweisführung,  den  Nach- 
weis zu  erbringen  versuchte,  daß  der  ,, uneingeschränkte 
U-Bootkrieg“  im  Laufe  längstens  eines  halben  Jahres  zu 
dem  Erfolge  führen  würde,  England  auf  dem  Wege  der 
Unterbindung  des  Seeverkehrs  zum  Frieden  zu  zwingen. 
Zu  der  Denkschrift  wurden  von  zahlreichen  hervorragenden 
Persönlichkeiten  aus  den  Kreisen  der  Industrie,  des  Han- 
dels und  der  Bankwelt  Gutachten  eingefordert,  die  bei 
der  klugen  Auswahl  der  Befragten  sich  durchweg  mit 
mehr  oder  weniger  vorsichtigen  Vorbehalten  den  Folge- 
rungen der  Denkschrift  anschlossen.  Die  Bearbeitung  der 
Presse  und  der  öffentlichen  Meinung  zugunsten  des  un- 
eingeschränkten U-Bootkrieges  war  um  so  wirksamer,  als 


335 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


es  unmöglich  war,  die  zugunsten  des  U-Bootkrieges  in 
Umlauf  gesetzten  Behauptungen  und  Beweisführungen 
zu  widerlegen,  ohne  geradezu  Landesverrat  zu  begehen. 

Ich  hatte  mich  damals  im  Aufträge  des  Reichskanzlers 
eingehend  mit  der  im  Admiralstab  ausgearbeiteten  Denk- 
schrift befaßt  und  mußte  auf  Grund  der  mit  dem  ersten 
U-Bootkrieg  gemachten  Erfahrungen,  der  noch  verhält- 
nismäßig intakten  wirtschaftlichen  Reserven  Englands, 
der  ausgezeichneten  Welternte,  namentlich  auch  der  Re- 
kordernten der  England  zunächst  gelegenen  Versorgungs- 
gebiete, des  Umfangs  des  England  noch  zur  Verfügung 
stehenden  Schiffsraumes  usw.  zu  dem  Schlüsse  kommen, 
daß  auch  bei  voller  Leistung  der  vom  Admiralstab  in  Aus- 
sicht gestellten  Versenkungen  keinerlei  Gewähr  für  eine 
Niederzwingung  Englands  innerhalb  eines  absehbaren 
Zeitraumes  gegeben  sei.  Auf  der  andern  Seite  konnte  ich 
nicht  umhin,  die  Gefahren  eines  Krieges  mit  Amerika 
wesentlich  höher  zu  veranschlagen,  als  dies  von  seiten 
der  Befürworter  des  uneingeschränkten  U-Bootkrieges 
geschah. 

In  der  ersten  Märzhälfte  kam  auf  Betreiben  der  Marine 
die  Frage  des  uneingeschränkten  U-Bootkrieges  im  Großen 
Hauptquartier  erneut  zur  Entscheidung.  Der  Reichs- 
kanzler drang  mit  seiner  Ansicht  durch.  Es  scheint,  daß 
auch  der  Chef  des  Admiralstabs  und  der  Chef  des  General- 
stabs sich  dem  Gewicht  seiner  Gründe  nicht  entziehen 
konnten.  Der  Kanzler  bestand  bei  dieser  Gelegenheit 

336 


Ü-Bootkrieg-Frage  im  Hauptquartier.  Tirpitz*  Rücktritt 


auch  auf  einer  Abstellung  der  von  der  Marine  ausgehenden  * 
Propaganda  zugunsten  des  uneingeschränkten  U-Boot- 
krieges.  Der  Kaiser  verfügte  die  Lostrennung  der  Nach- 
richtenabteilung vom  Reichsmarineamt  und  ihre  An- 
gliederung an  den  Admiralstab.  Diese  Maßnahme  gab  die 
unmittelbare  Veranlassung  zum  Rücktritt  des  Groß- 
admirals von  Tirpitz.  An  seiner  Stelle  wurde  der  Admiral 
von  Capelle,  der  in  der  U-Bootfrage  die  Auffassung  des 
Reichskanzlers  teilte,  zum  Staatssekretär  des  Reichs- 
marineamts ernannt. 

Die  Budgetkommission  des  Reichstages  beschäftigte 
sich  Ende  März  in  vertraulichen  Sitzungen  mit  der  U-Boot- 
frage. Auch  die  Konservativen  und  derjenige  Teil  der 
Nationalliberalen,  die  mit  Entschiedenheit  für  den  un- 
eingeschränkten U-Bootkrieg  eintraten,  nahmen  schließ- 
lich davon  Abstand,  eine  dahingehende  Entschließung  zu 
beantragen.  Es  kam  nach  langen  Verhandlungen  zwischen 
den  Parteien  eine  Resolution  zustande,  die  lautete: 

„Nachdem  sich  das  Unterseeboot  als  eine  wirksame 
Waffe  gegen  die  englische  auf  die  Aushungerung  Deutsch- 
lands berechnete  Kriegführung  erwiesen  hat,  gibt  der 
Reichstag  seiner  Überzeugung  Ausdruck,  daß  es  geboten 
ist,  wie  von  allen  unsern  militärischen  Machtmitteln,  so 
auch  von  den  Unterseebooten  denjenigen  Gebrauch  zu 
machen,  der  die  Erringung  eines  die  Zukunft  Deutsch- 
lands sichernden  Friedens  verbürgt,  und  bei  Verhand- 
lungen mit  auswärtigen  Staaten  die  für  die  Seegeltung 

3.?7 


33  Helfferich,  Weltkrieg  II 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Deutschlands  erforderliche  Freiheit  im  Gebrauch  dieser 
Waffe  unter  Beachtung  der  berechtigten  Interessen  der 
neutralen  Staaten  zu  wahren.“ 

Man  einigte  sich  ferner  dahin,  daß  eine  Besprechung  der 
U-Bootfrage  im  Plenum  des  Reichstages  unterbleiben  solle. 

Der  ,,Susscx^^-FaII 

Inzwischen  kam,  was  kommen  mußte. 

Die  Versenkungen  von  Schiffen  mit  Amerikanern  an  Bord 
häuften  sich.  In  der  Zeit  vom  27.  März  bis  zum  i.  April 
hatte  der  amerikanische  Botschafter  an  unser  Auswärtiges 
Amt,  in  Vorbereitung  weiterer  Schritte,  in  nicht  weniger 
als  fünf  Fällen  die  Anfrage  zu  richten,  ob  die  Versenkung 
durch  ein  deutsches  Tauchboot  erfolgt  sei.  Der  schlimmste 
dieser  Fälle  war  die  am  24.  März  1916  ohne  Warnung  er- 
folgte Torpedierung  des  unbewaffneten  Passagierdampfers 
,,Sussex“,  der  dem,  Passagierverkehr  über  den  Kanal 
diente.  Von  mehr  als  300  Passagieren  fanden  etwa  80 
ihren  Tod,  darunter  auch  eine  Anzahl  Amerikaner.  Der 
Kommandant  des  für  die  Torpedierung  in  Betracht  kom- 
menden U-Bootes  gab  an,  einen  Minenleger  der  neuen 
britischen  ,,Arabis “-Klasse  torpediert  zu  haben.  Ort  und 
Zeit  stimmte  mit  der  Torpedierung  der  ,,Sussex“  überein, 
und  die  im  Rumpf  der  ,,Sussex“  Vorgefundenen  Stücke 
eines  deutschen  Torpedos  stellten  den  Sachverhalt  außer 
allen  Zweifel. 


338 


Wilsons  Note 


Mit  dieser  Katastrophe,  deren  Umfang  nahezu  an  die 
Versenkung  der  ,,Lusitania“  heranreichte,  stand  unser 
Verhältnis  mit  Amerika  vor  dem  Biegen  oder  Brechen. 
Die  Haltung  der  Vereinigten  Staaten  ließ  darüber  keine 
Unklarheit.  Nachdem  unsere  ursprüngliche,  auf  den  An- 
gaben des  U-Bootkommandanten  beruhende  Aufstellung, 
daß  das  versenkte  Schiff  mit  der  „Sussex“  nicht  identisch 
sei,  widerlegt  war,  übergab  der  amerikanische  Botschafter 
am  20.  April  dem  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amtes 
eine  Note,  deren  Bedeutung  noch  dadurch  besonders 
unterstrichen  wurde,  daß  der  Präsident  Wilson  sie  unmittel- 
bar vor  ihrer  Übergabe  in  einer  von  ihm  persönhch  ver- 
lesenen Botschaft  dem  Kongreß  zur  Kenntnis  brachte. 

Der  wichtigste  Inhalt  der  Note  war: 

Der  tragische  Fall  der  ,,Sussex“  stehe  leider  nicht  allein; 
er  sei  nur  ein  Fall,  wenn  auch  einer  der  schwersten  und 
betrübendsten,  für  die  vorbedachte  Methode,  mit  der 
unterschiedslos  Handelsschiffe  aller  Art  und  Bestimmung 
zerstört  würden.  Die  deutsche  Regierung  habe  offenbar 
keinen  Weg  gefunden,  ihren  Tauchbooten  die  von  ihr  zu- 
gesagten Beschränkungen  aufzuerlegen.  „Immer  wieder 
hat  die  Kaiserliche  Regierung  der  Regierung  der  Vereinig- 
ten Staaten  feierlich  versichert,  daß  zum  mindesten  Passa- 
gierschiffe nicht  in  dieser  Weise  behandelt  werden  würden, 
und  gleichwohl  hat  sie  wiederholt  zugelassen,  daß  ihre 
U-Bootkommandanten  diese  Versicherung  ohne  jede  Ahn- 
dung mißachteten.  Noch  im  Februar  dieses  Jahres  machte 


22* 


339 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


sie  davon  Mitteilung,  daß  sie  alle  bewaffneten  Handels- 
schiffe in  feindlichem  Eigentum  als  Teil  der  Seestreit- 
kräfte ihrer  Gegner  betrachten  und  als  Kriegsschiffe  be- 
handeln werde,  indem  sie  sich  so,  wenigstens  implicite, 
verpflichtete,  nichtbewaffnete  Schiffe  zu  warnen  und  das 
Leben  ihrer  Passagiere  und  Besatzungen  zu  gewähr- 
leisten ; aber  sogar  diese  Beschränkung  haben  ihre  U-Boot- 
kommandanten  unbekümmert  außer  Acht  gelassen.“  Die 
Regierung  der  Vereinigten  Staaten  habe  viel  Geduld  ge- 
zeigt und  die  Hoffnung  nicht  aufgeben  wollen,  daß  es  der 
deutschen  Regierung  möglich  sein  werde,  den  U-Bootkrieg 
mit  den  im  Völkerrecht  verkörperten  Grundsätzen  der 
Menschlichkeit  in  Einklang  zu  bringen ; sie  habe  den  neuen 
Verhältnissen,  für  die  es  keine  Präzedenzfälle  gebe,  jedes 
Zugeständnis  gemacht  und  sei  gewillt  gewesen,  zu  warten, 
bis  die  Tatsachen  unmißverständlich  und  nur  einer  Aus- 
legung fähig  geworden  seien.  Dieser  Zeitpunkt  sei  jetzt 
gekommen.  Wenn  es  die  Absicht  der  deutschen  Regierung 
sei,  den  U-Bootkrieg  gegen  Handelsschiffe  fortzusetzen 
ohne  Rücksicht  auf  das,  was  die  amerikanische  Regie- 
rung als  die  heiligen  und  unbestreitbaren  Normen  des 
Völkerrechts  und  die  allgemein  anerkannten  Gebote  der 
Menschlichkeit  ansehen  müsse,  so  gebe  es  für  die  amerika- 
nische Regierung  nur  einen  Weg:  ,, Sofern  die  Kaiserliche 
Regierung  nicht  jetzt  unverzüglich  ein  Aufgeben  ihrer 
gegenwärtigen  Methoden  des  U-Bootkrieges  gegen  Passa- 
gier- und  Frachtschiffe  erklären  und  bewirken  sollte. 


340 


Wilsons  Note 


kann  die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  keine  andere 
Wahl  haben,  als  die  diplomatischen  Beziehungen  zur 
deutschen  Regierung  abzubrechen.“ 

Zur  Zeit  der  Übergabe  dieser  Note  befand  sich  der  Kanz- 
ler im  Großen  Hauptquartier.  Er  reiste  alsbald  nach  Ber- 
lin zurück,  um  die  Lage  zu  besprechen.  Am  Ostersonntag 
und  Ostermontag  (23.  und  24.  April)  fanden  ausgedehnte 
Konferenzen  statt,  in  denen  der  Staatssekretär  des  Reichs- 
marineamts, Admiral  von  Capelle,  im  Gegensatz  zum 
Chef  des  Admiralstabs,  Admiral  von  Holtzendorff,  die 
Auffassung  vertrat,  daß  die  Zurückführung  des  U-Boot- 
krieges  auf  die  Formen  des  Kreuzerkrieges  keine  allzu 
starke  Beeinträchtigung  der  Wirksamkeit  der  U-Boote 
bedeute;  der  weitaus  größte  Teil  der  Versenkungen  erfolge 
jetzt  bereits  vom  aufgetauchten  Boot  durch  Artillerie- 
feuer, und  mit  der  fortschreitenden  Vergrößerung  des 
U-Boottyps  und  der  Verstärkung  der  artilleristischen  Aus- 
rüstung der  U-Boote  werde  sich  in  Zukunft  das  Verhältnis 
zugunsten  der  Versenkungen  durch  Artillerie  noch  ver- 
stärken. Diese  Darlegungen  erleichterten  uns  den  ohnehin 
kaum  vermeidbaren  Entschluß,  den  U-Bootkrieg  min- 
destens zeitweise  auf  die  Formen  des  Kreuzerkrieges  zu 
bringen.  Ich  griff  dabei  auf  meinen  Vorschlag  vom 
August  1915  zurück,  einen  Zusammenhang  zwischen  diesem 
Zugeständnis  und  den  damals  von  Wilson  angebotenen 
Bemühungen  zur  Wiederherstellung  der  Freiheit  der 
Meere  zu  konstruieren.  Es  erschien  fraglich,  ob  dieser 


341 


Friedensbemüliungen  und  U-Bootkrieg 


Zusammenhang  in  Form  einer  ,, Bedingung“  oder  einer 
,, Voraussetzung“  für  unser  Zugeständnis  oder  in  Form 
einer  bloßen  „Erwartung“  hergestellt  werden  sollte.  Die 
Entscheidung  zugunsten  der  letzteren  Auffassung  gab  . 
schließlich  eine  vertrauliche  und  freundschaftliche  Mit- 
teilung des  spanischen  Botschafters,  der  erklärte,  die 
bestimmte  Überzeugung  gewonnen  zu  haben,  daß  ein 
an  Bedingungen  oder  Voraussetzungen  geknüpftes  Nach- 
geben von  der  amerikanischen  Regierung  als  ungenügend 
werde  angesehen  werden  und  zum  alsbaldigen  Abbruch 
der  Beziehungen,  dem  der  Krieg  folgen  werde,  führen 
müsse. 

Der  Kanzler  reiste  am  25.  April  nach  dem  Großen 
Hauptquartier  zurück,  während  das  Auswärtige  Amt  den 
Text  der  Antwortnote  in  Arbeit  nahm.  Der  amerikanische 
Botschafter  hatte  dem  Kanzler  vor  seiner  Abreise  den 
Wunsch,  oder  mindestens  in  einer  einem  Wunsch  gleich- 
kommenden Form  die  Bereitwilligkeit  ausgedrückt,  nach 
dem  Hauptquartier  zu  reisen  und  dem  Kaiser  persönhch 
Aufklärung  über  den  amerikanischen  Standpunkt  zu 
geben.  In  der  Tat  erhielt  Herr  Gerard  am  28.  April  eine 
Einladung,  nach  dem  Hauptquartier  zu  kommen.  Er 
wurde  dort  am  i.  Mai  in  Gegenwart  des  Kanzlers  vom 
Kaiser  empfangen,  der  mit  ihm  die  deutsch-amerikanischen 
Beziehungen  und  die  U-Boot  frage  durchsprach,  um  auf 
diese  Weise  ein  unmittelbares  Bild  der  amerikanischen 
Auffassung  zu  gewinnen. 


342 


Amerika  oder  Verdun? 


Die  Erledigung  der  U-Bootfrage  in  dem  in  Berlin 
besprochenen  Sinn  war  inzwischen  im  Hauptquartier  auf 
eine  große  Schwierigkeit  gestoßen:  der  General  von  Falken- 
hayn, der  noch  acht  Tage  zuvor  dem  Kanzler  gegen- 
über sich  dahin  ausgesprochen  hatte,  daß  auch  nach  seiner 
Ansicht  ein  Konflikt  mit  Amerika  vermieden  werden  müsse, 
trat  jetzt  beim  Kaiser  gegen  die  Beschränkung  des  U-Boot- 
krieges  auf  die  Formen  des  Kreuzerkrieges  ein;  er  müsse 
auf  die  Fortsetzung  der  Aktion  gegen  Verdun  verzichten, 
wenn  der  U-Bootkrieg  suspendiert  werde,  und  zwar,  weil 
selbst  ein  voller  Erfolg  der  Verdun- Aktion  die  Opfer  nicht 
lohne,  wenn  die  Suspendierung  des  U-Bootkrieges  den 
Engländern  Luft  gebe  und  den  Franzosen  die  Hoffnung 
auf  weitere  englische  Hilfe  lasse.  Der  Kaiser  war  durch 
diese  Auffassung  Falkenhayns  stark  beeindruckt  und  sagte 
am  30.  April  dem  Kanzler:  ,,Sie  haben  also  die  Wahl 
zwischen  Amerika  und  Verdun!“  Der  Kanzler  war  über 
diese  Alternative  auf  das  äußerste  erregt.  Der  Gedanke, 
vor  der  Geschichte  als  derjenige  dazustehen,  durch  dessen 
Schuld  hunderttausend  Mann  vor  Verdun  umsonst  geopfert 
worden  seien,  schien  ihm  ebenso  unerträglich,  wie  die  Ver- 
antwortung für  den  Bruch  mit  Amerika.  Er  ließ  mich  über 
die  Sachlage  telephonisch  informieren  und  bat  mich, 
sofort  nach  dem  Hauptquartier  zu  kommen. 

Ich  traf  am  nächsten  Tage,  i.  Mai,  im  Laufe  des  Nach- 
mittags in  Charleville  ein  und  fand  die  Lage  bereits 
geklärt.  Der  Chef  des  Admiralstabs  hatte  sich  den 


343 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


politischen  Gründen  des  Kanzlers  unterworfen.  Der 
Kaiser  hatte  sich  dem  Kanzler  gegenüber  dahin  geäußert, 
daß  der  Bruch  mit  Amerika  vermieden  werden  müsse, 
und  sich  mit  dem  vom  Kanzler  vorgeschlagenen  Vorgehen 
einverstanden  erklärt. 

Am  nächsten  Abend  sprach  sich  der  Kaiser  nach  Tisch 
mir  gegenüber  eingehend  über  die  U-Bootfrage  aus.  Ich 
hatte  den  Eindruck,  daß  ihm  die  Entscheidung  einen 
schweren  Stein  vom  Herzen  genommen  habe.  Er  sprach 
witzig  und  geistreich  über  seine  Unterhaltung  mit  Herrn 
Gerard.  Wenn  man  Politik  machen  woUe,  müsse  man  vor 
allem  wissen,  worauf  es  dem  anderen  ankomme;  denn 
Politik  sei  nun  einmal  ein  zweiseitiges  Geschäft.  Gerards 
Äußerungen  hätten  ihm  bestätigt,  daß  Wilson  eine 
Leiter  zu  der  neuen  Präsidentschaft  suche.  Da 
wollten  wir  ihm  lieber  die  Friedensleiter  hinstellen  als  die 
Kriegsleiter,  die  uns  schHeßHch  auf  den  eigenen  Kopf 
fallen  werde. 

Unsere  Antwortnote  wurde  am  4.  Mai  dem  amerikani- 
schen Botschafter  überreicht.  Sie  stellte  gegenüber  dem 
Appell  der  Unionsregierung  an  die  geheihgten  Grundsätze 
der  Menschhchkeit  und  des  Völkerrechtes  fest,  ,,daß  es 
nicht  die  deutsche,  sondern  die  britische  Regierung  ge- 
wesen ist,  die  diesen  furchtbaren  Krieg  unter  Mißachtung 
aller  zwischen  den  Völkern  vereinbarten  Rechtsnormen 
auf  Leben  und  Eigentum  der  Nichtkämpfer  ausgedehnt 
hat,  und  zwar  ohne  jede  'Rücksicht  auf  die  durch  diese 


344 


Deutsche  Antwort 


Art  der  Kriegführung  schwer  geschädigten  Interessen  und 
Rechte  der  Neutralen.  Bei  dieser  Sachlage  könne  die 
deutsche  Regierung  nur  erneut  ihr  Bedauern  darüber  aus- 
sprechen, daß  die  humanitären  Gefühle  der  amerikanischen 
Regierung,  die  sich  mit  so  großer  Wärme  den  bedauerns- 
werten Opfern  des  U-Bootkrieges  zuwendeten,  sich  nicht 
mit  der  gleichen  Wärme  auch  auf  die  vielen  Millionen  von 
Frauen  und  Kindern  erstreckten,  die  nach  der  erklärten 
Absicht  der  englischen  Regierung  in  den  Hungertod  ge- 
trieben werden  sollten.  Die  deutsche  Regierung,  und  mit 
ihr  das  deutsche  Volk,  hätten  für  dieses  ungleiche  Emp- 
finden um  so  weniger  Verständnis,  als  sie  zu  wiederholten 
Malen  sich  ausdrücklich  bereit  erklärt  habe,  sich  mit  der 
Anwendung  der  U-Bootwaffe  streng  an  die  vor  dem  Krieg 
anerkannten  völkerrechtlichen  Normen  zu  halten,  falls 
England  sich  dazu  bereit  finde,  diese  Normen  ebenfalls 
seiner  Kriegführung  zugrundezulegen.  Wenn  die  deutsche 
Regierung  sich  trotzdem  zu  einem  äußersten  Zugeständnis 
entschließe,  so  sei  für  sie  entscheidend  der  Gedanke 
an  das  schwere  Verhängnis,  mit  dem  eine  Ausdehnung 
und  Verlängerung  dieses  grausamen  und  blutigen  Krieges 
die  gesamte  zivilisierte  Menschheit  bedrohe.  Das  Be- 
wußtsein der  Stärke  hat  es  der  deutschen  Regierung 
erlaubt,  zweimal  im  Laufe  der  letzten  Monate  ihre 
Bereitschaft  zu  einem  Deutschlands  Lebensinteressen 
sichernden  Frieden  offen  und  vor  aller  Welt  zu  bekunden. 
Sie  hat  damit  zum  Ausdruck  gebracht,  daß  es  nicht  an 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


ihr  liegt,  wenn  den  Völkern  Europas  der  Friede  noch  länger 
vorenthalten  bleibt.  Mit  um  so  stärkerer  Berechtigung  darf 
die  deutsche  Regierung  aussprechen,  daß  es  vor  der  Mensch- 
heit und  der  Geschichte  nicht  zu  verantworten  wäre,  nach 
einundzwanzigmonatiger  Kriegsdauer  die  über  den  U-Boot- 
krieg  entstandene  Streitfrage  eine  den  Frieden  zwischen 
dem  deutschen  und  amerikanischen  Volke  ernstlich  bedro- 
hende Wendung  nehmen  zu  lassen.  Einer  solchen  Entwick- 
lung will  die  deutsche  Regierung,  soweit  es  an  ihr  liegt, 
Vorbeugen.  Sie  will  gleichzeitig  ein  letztes  dazu  beitragen, 
um  — solange  der  Krieg  noch  dauert  — die  Beschränkung 
der  Kriegführung  auf  die  kämpfenden  Streitkräfte  zu  er- 
möglichen, ein  Ziel,  das  die  Freiheit  der  Meere  einschließt, 
und  in  dem  sich  die  deutsche  Regierung  mit  der  Regie- 
rung der  Vereinigten  Staaten  auch  heute  noch  einig  glaubt. 
Von  diesem  Gedanken  geleitet,  teilt  die  deutsche  Regie- 
rung der  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  mit,  daß  Wei- 
sung an  die  deutschen  Seestreitkräfte  ergangen  ist,  in 
Beobachtung  der  allgemeinen  völkerrechtlichen  Grund- 
sätze über  Anhaltung,  Durchsuchung  und  Zerstörung  von 
Handelsschiffen  auch  innerhalb  des  Seekriegsgebietes 
Kauffahrteischiffe  nicht  ohne  Warnung  und  Rettung  der 
Menschenleben  zu  versenken,  es  sei  denn,  daß  sie  flüchten 
oder  Widerstand  leisten.“ 

Der  Schluß  der  Note  sprach  die  Erwartung  aus,  ,,daß 
die  neue  Weisung  an  die  deutschen  Seestreitkräfte  auch 
in  den  Augen  der  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  jedes 

346 


Zurückführung  des  U-Bootkrieges  auf  den  Kreuzer  krieg 


Hindernis  für  die  Verwirklichung  der  in  der  Note  vom 
23.  Juli  1915  angebotenen  Zusammenarbeit  zu  der  noch 
während  des  Krieges  zu  bewirkenden  Wiederherstellung 
der  Freiheit  der  Meere  aus  dem  Wege  räumt“;  die  deutsche 
Regierung  zweifle  nicht,  daß  die  amerikanische  Regierung 
nunmehr  bei  der  britischen  Regierung  die  Beobachtung 
der  völkerrechtlichen  Normen  der  Seekriegführung  ver- 
langen und  durchsetzen  werde.  ,, Sollten  die  Schritte  der 
Vereinigten  Staaten  nicht  zu  dem  gewollten  Erfolge  führen, 
den  Gesetzen  der  Menschlichkeit  bei  allen  kriegführenden 
Nationen  Geltung  zu  verschaffen,  so  würde  die  deutsche 
Regierung  sich  einer  neuen  Sachlage  gegenübersehen,  für 
die  sie  sich  die  volle  Freiheit  der  Entschließung  Vor- 
behalten muß.“ 

Die  Note  brachte  also  die  Zurückführung  des  U-Boot- 
krieges auf  die  völkerrechtlich  anerkannten  Formen  des 
Kreuzerkrieges.  Das  Zugeständnis  wurde  jedoch  nicht 
für  alle  Zeit  gemacht;  vielmehr  behielt  sich  die  deutsche 
Regierung  freie  Hand  vor  für  den  Fall,  daß  es  Amerika 
nicht  gelingen  sollte,  England  zu  einer  Anpassung  seiner 
Seekriegführung  an  das  Völkerrecht  zu  bewegen. 

Damit  war  bis  auf  weiteres  die  Krisis  in  unserem  Ver- 
hältnis zu  den  Vereinigten  Staaten  beigelegt. 

Mehr  war  nicht  erreicht. 

Daß  seit  dem  verflossenen  Juli  Wilsons  Bereitwillig- 
keit, mit  uns  zur  Wiederherstellung  der  Freiheit  der  Meere 
zu  kooperieren,  zum  mindesten  stark  abgeflaut  war. 


347 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


zeigte  die  amerikanische  Antwort  auf  unsere  Note.  Diese 
vom  IO.  Mai  1916  datierte  Antwort  nahm  Notiz  von 
unseren  Erklärungen  und  fügte  hinzu: 

,,Die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  hält  es  für  not- 
wendig, zu  erklären,  daß  sie  es  für  ausgemacht  ansieht, 
daß  die  Kaiserliche  Regierung  nicht  beabsichtigt,  zu  ver- 
stehen zu  geben,  daß  die  Aufrechterhaltung  der  neu  an- 
gekündigten Politik  in  irgendeiner  Weise  von  dem  Verlauf 
oder  Ergebnis  diplomatischer  Verhandlungen  zwischen 
der  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  und  irgendeiner 
anderen  kriegführend.en  Regierung  abhänge,  obwohl  einige 
Stellen  in  der  Note  der  Kaiserlichen  Regierung  vom  4.  d.  M. 
einer  solchen  Auslegung  fähig  sein  könnten.  Um  jedoch 
die  Möglichkeit  eines  Mißverständnisses  zu  vermeiden, 
teilt  die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten  der  Kaiser- 
lichen Regierung  mit,  daß  sie  keinen  Augenblick  den  Ge- 
danken in  Betracht  ziehen,  geschweige  denn  erörtern  kann, 
daß  die  Achtung  der  Rechte  amerikanischer  Bürger  auf 
hoher  See  von  seiten  der  deutschen  Marinebehörden  in 
irgendeiner  Weise  oder  im  geringsten  Grad  von  dem  Ver- 
halten irgendeiner  anderen  Regierung,  das  die  Rechte  der 
Neutralen  und  Nichtkämpf  enden  berührt,  abhängig 
gemacht  werden  sollte.  Die  Verantwortlichkeit  in  diesen 
Dingen  ist  getrennt,  nicht  gemeinsam,  absolut,  nicht 
relativ.“ 

In  welchem  Maße  die  Westmächte  von  der  deutsch- 
amerikanischen Spannung  glaubten  profitieren  zu  dürfen, 

348 


Amerikanische  Antwortnote 


ergibt  sich  daraus,  daß  die  britische  Regierung  am 
24.  April  1916  die  amerikanischen  Vorstellungen  vom 
5.  November  1915  wegen  der  Völkerrechts  Widrigkeit  der  bri- 
tischen Seekriegführung  durchweg  ablehnend  beantwortete 
und  daß  am  7.  Juli  1916  die  britische  und  französische  Re- 
gierung gemeinsam  den  neutralen  Mächten  mitteilten,  daß 
sie  sich  an  die  bisher  schon  von  ihnen  immer  weiter  durch- 
löcherte Londoner  Deklaration  nicht  mehr  für  gebunden 
hielten. 


Die  Bemühungen  Bethmann  Hollwegs 
um  einen  amerikanischen  Friedensschritt 

Im  weiteren  Verlauf  der  Dinge  griffen  U-Bootfrage  und 
Friedensfrage  ineinander  über.  Es  scheint  mir,  angesichts 
des  falschen  Bildes,  das  bei  manchen  Politikern  und  wohl 
auch  in  einem  großen  Teile  der  öffentlichen  Meinung  von 
den  wechselseitigen  Beziehungen  dieser  beiden  Fragen 
entstanden  ist,  am  Platze  zu  sein,  daß  ich  versuche,  die 
verschlungenen  Fäden,  soweit  ich  es  vermag,  zu  ent- 
wirren. 

Schon  bei  den  Berliner  Besprechungen  über  die  an  die 
amerikanischeRegierung  zu  gebendeAntwort  auf  dieU-Boot- 
note  vom  20.  April  entwickelte  der  Reichskanzler  den  Ge- 
danken, unser  kaum  mehr  zu  vermeidendes  Zugeständnis 
nicht  nur  zur  Beseitigung  der  akuten  Konfliktsgefahr, 


349 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


sondern  womöglich  zur  Anbahnung  des  Friedens  zu 
benutzen.  Die  in  der  letzten  Zeit  nach  verschiedenen 
anderen  Richtungen  hin  ausgestreckten  Fühler  hatten 
kein  Ergebnis  gehabt  oder  drohten  ergebnislos  zu  bleiben. 
Dem  Präsidenten  Wilson  traute  der  Kanzler  zu,  daß  es  ihn 
reizen  könne, die  große  weltgeschichtliche  Rolle  des  Friedens- 
stifters zu  spielen.  Auf  diesen  Gedanken  des  Kanzlers 
geht  der  oben  wiedergegebene  Hinweis  auf  unsere  wieder- 
holt gezeigte  Friedensbereitschaft  in  unserer  Note  vom 
4.  Mai  zurück.  Der  Kanzler  hat  auch  in  Unterhal- 
tungen mit  Herrn  Gerard  diesen  Punkt  berührt.  Herr 
Gerard  erzählt  in  seinem  Buch,  der  Kanzler  habe  ihm 
bei  seinem  Abschied  vom  Großen  Hauptquartier  gesagt: 
,,Ich  hoffe,  daß,  wenn  wir  jetzt  diese  Sache  in-  Ordnung 
bringen,  Ihr  Präsident  groß  genug  sein  wird,  die  Frage 
des  Friedens  aufzunehmen.“  Herr  Gerard  erzählt  weiter, 
daß  auch  späterhin  der  Kanzler  bei  verschiedenen  Ge- 
legenheiten ihm  vorgeführt  habe,  daß  Amerika  etwas  für 
den  Frieden  tun  müsse,  und  daß,  wenn  nichts  geschehe, 
die  öffentliche  Meinung  in  Deutschland  sicherlich  die 
Wiederaufnahme  des  uneingeschränkten  U - Bootkrieges 
erzwingen  werde. 

Mir  gegenüber  hat  der  Kanzler  von  einem  Schritt  bei 
Wilson,  um  diesen  zu  einer  auf  den  Frieden  gerichteten 
Aktion  zu  bestimmen,  zum  ersten  Male  gesprochen,  als 
ich  am  31.  August  1916  nach  der  Kriegserklärung  Ru- 
mäniens und  nach  der  Ernennung  Hindenburgs  zum  Chef 


350 


Anrufung  Wilsons 


des  Generalstabs  des  Feldheeres  zusammen  mit  dem  Staats- 
sekretär von  Jagow  im  Großen  Hauptquartier  eintraf. 
Der  Kanzler,  der  schon  zwei  Tage  vorher  nach  Pleß  ge- 
reist war,  entwarf  uns  ein  Bild  der  Lage,  die  er  trotz 
der  Zuversicht  Hindenburgs  und  Ludendorffs  als  außer- 
ordentlich schwer  ansah.  Wir  müßten  alles  tun,  um 
zum  Frieden  zu  kommen.  Der  einzige  Weg,  den  er  über- 
haupt noch  sehe,  führe  über  Wilson,  und  dieser  Weg 
müsse,  auch  wenn  die  Aussichten  ungewiß  seien,  beschritten 
werden.  Wilson  habe  allein  bei  unseren  Gegnern  die  große 
Position,  die  für  einen  wirksamen  Friedensschritt  nötig  sei. 
Wir  müßten  Wilson  sagen,  daß  wir  bereit  seien,  Belgien 
herauszugeben,  unter  dem  Vorbehalt,  unsere  Beziehungen 
zu  Belgien  nach  dessen  Restitution  durch  unmittelbare 
Verhandlungen  zu  ordnen. 

Der  Gedanke  wurde  zwischen  dem  Kanzler,  Herrn  von 
Jagow  und  mir  eingehend  erörtert.  Mir  schien  gegen  eine 
Anrufung  Wilsons  zu  sprechen,  daß  dieser  im  bisherigen 
Verlaufe  des  Krieges  eine  stets  wachsende  Voreingenommen- 
heit zugunsten  der  Westmächte  und  ein  geringes  Ver- 
ständnis für  unsere  deutschen  Verhältnisse  und  Lebens- 
bedürfnisse gezeigt  hatte;  sein  Verhalten  seit  dem  Beginn 
des  Jahres  1916  schien  mir  keinen  Zweifel  mehr  an  seinen 
Gesinnungen  uns  gegenüber  zu  gestatten.  Auch  fürchtete  ich, 
daß  Wilson,  wenn  wir  ihm  die  Friedens  Vermittlung  in  die 
Hand  gäben,  uns  vor  eine  internationale  Konferenz 
führen  würde,  in  der  unsere  Feinde  über  uns  zu  Gericht 


351 


Friedensbemüliungen  und  U-Bootkrieg 


säßen.  Von  der  maßlosen  Unpopularität  einer  Anrufung 
Wilsons  als  Friedens  Vermittler  sprach  ich  nicht;  ich  wußte, 
daß  der  Kanzler  sich  darüber  ganz  im  klaren  war,  daß 
aber  solche  Erwägungen  ihn  nicht  bestimmen  würden. 
Eine  Verständigung  mit  Rußland  auf  Kosten  Polens,  über 
dessen  künftigen  Status  der  Kanzler  und  Jagow  kurz  zu- 
vor in  Wien  verhandelt  hatten,  nötigenfalls  sogar  unter 
Zugeständnissen  in  dem  von  den  Russen  wieder  besetzten 
Ostgalizien,  zu  denen  sich  unser  österreichisch-ungarischer 
Verbündeter,  wenn  es  nicht  anders  gehe,  bereit  finden 
müsse,  erschien  mir  immer  noch  als  der  für  uns  günstigste 
Weg  zum  Frieden.  Der  Kanzler  glaubte  jedoch  nach  dieser 
Richtung  hin  kaum  mehr  eine  Hoffnung  zu  sehen,  nach- 
dem alle  Sondierungen  gescheitert  waren,  auch  die  im 
Einverständnis  mit  unserm  türkischen  Bundesgenossen 
gemachten  Andeutungen  einer  den  russischen  Wünschen 
entgegenkommenden  Regelung  der  Meerengenfrage.  Herr 
von  Jagow  pflichtete  dem  Kanzler  bei. 

In  der  Tat  ließ  der  Kanzler  in  der  ersten  September- 
woche an  den  Grafen  Bemstorff  nach  Washington  tele- 
graphieren, um  ihn  ganz  persönlich  um  seine  Ansicht  über 
Wilson  als  Friedensvermittler  zu  befragen.  Graf  Bem- 
storff antwortete,  daß  vor  der  Anfang  November  statt- 
findenden Präsidentenwahl  von  Wilson  nichts  zu  erwarten 
sei ; werde  er  wiedergewählt,  wofür  die  Wahrscheinlichkeit 
spreche,  dann  werde  er  wohl  die  Friedensvermittlung  in 
die  Hand  nehmen,  da  er  überzeugt  zu  sein  scheine,  Amerikas 


352 


Tastende  Schritte 


Interesse  verlange,  daß  keine  der  beiden  Mächtegruppen 
zu  Boden  geworfen  werde. 

Herr  Gerard  will  dann  im  Laufe  des  September  von 
Herrn  von  Jagow  gedrängt  worden  sein,  mit  seiner  Frau,  die 
für  kurze  Zeit  nach  Amerika  gehen  wollte,  zusammen  zu 
reisen,  um  den  Präsidenten  zu  bestimmen,  etwas  für  den 
Frieden  zu  tun.  Wie  weit  das  richtig  ist,  vermag  ich 
nicht  zu  sagen. 

Jedenfalls  war  der  Eifer  des  Präsidenten,  auf  unseren 
Wunsch  einen  Schritt  zur  Herbeiführung  des  Friedens  zu 
unternehmen,  nicht  allzu  groß,  obwohl  er  bei  den  Präsi- 
dentenwahlen für  sich  als  den  ,, Friedensmacher“  Propa- 
ganda machen  ließ.  Auch  nachdem  er  Anfang  November 
wiedergewählt  worden  war,  beeilte  er  sich  nicht,  irgend 
etwas  zugunsten  des  Friedens  zu  tun  oder  auch  nur  die 
deutsche  Regierung  in  irgendeiner  Weise  wissen  zu  lassen, 
daß  er  beabsichtige,  mit  einem  Friedensschritt  in  naher 
Zeit  hervorzutreten.  Der  amerikanische  Geschäftsträger 
in  Berlin,  Herr  Grew,  wich  jeder  Sondierung  aus,  indem 
er  die  Frage  des  zwangsweisen  Abtransports  der  belgischen 
Arbeitslosen,  bei  dem  bedauerliche  Mißgriffe  vorgekommen 
waren,  zum  Mittelpunkt  der  deutsch-amerikanischen  Be- 
ziehungen machte.  Herr  Gerard  berichtet  in  seinem 
Buche,  daß  er  den  Präsidenten  Wilson  gesprochen  habe, 
ehe  er  am  4.  Dezember  die  Rückreise  nach  Deutschland 
antrat.  Sein  Eindruck  sei  gewesen,  daß  der  Präsident  vor 
allem  anderen  wünschte,  Frieden  zu  halten  und  Frieden  zu 


23  Helfferich,  Weltkrieg  II 


353 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


machen.  ,,Natürlich/‘  so  fährt  Herr  Gerard  fort,  ,,war 
diese  Frage  des  Friedenmachens  eine  sehr  heikle.  Ein 
direktes  Angebot  von  unserer  Seite  konnte  uns  derselben 
Behandlung  aussetzen,  die  wir  Großbritannien  während 
des  Bürgerkrieges  angedeihen  ließen,  als  Großbritannien 
Eröffnungen  zum  Zweck  der  Herbeiführung  des  Friedens 
machte  und  die  Nordstaaten  eine  Antwort  gaben,  die 
darauf  hinauskam,  daß  die  britische  Regierung  sich  um 
ihre  eigenen  Angelegenheiten  kümmern  solle,  daß  sie  keine 
Einmischung  dulden  und  weitere  Eröffnungen  als  un- 
freundliche Handlungen  betrachten  würden.  Die  Deut- 
schen haben  diesen  Krieg  begonnen  ohne  irgendeine  Be- 
fragung der  Vereinigten  Staaten,  und  dann  schienen  sie 
zu  denken,  daß  sie  ein  Recht  hätten,  zu  verlangen,  die 
Vereinigten  Staaten  sollten  Frieden  für  sie  machen  zu  sol- 
chen Bedingungen  und  zu  solcher  Zeit,  wie  es  ihnen,  den 
Deutschen,  gut  scheine;  daß  ferner,  wenn  wir  das  nicht 
täten,  sie  das  Recht  hätten,  alle  Regeln  der  Kriegführung 
zu  verletzen  und  Bürger  der  Vereinigten  Staaten  auf 
hoher  See  zu  ermorden.  Nichtsdestoweniger  glaube  ich, 
daß  der  Präsident  geneigt  war,  in  der  Herbeiführung  des 
Friedens  sehr  weit  zu  gehen.“ 

Aus  diesen  Ausführungen  des  Herrn  Gerard  ergibt  sich 
das  eine  mit  Sicherheit,  daß  der  Präsident  Wilson,  als  Herr 
Gerard  am  4.  Dezember  1916  Amerika  wieder  verließ,  sich 
noch  zu  keinem  bestimmten  Schritt  zugunsten  des  Friedens 
entschlossen  hatte  und  daß  Herr  Gerard  keine  Antwort 


354 


Gerards  Reise  nach  Amerika 


auf  die  von  Herrn  von  Bethmann  und  Herrn  von  Jagow 
gemachten  Eröffnungen  mit  auf  den  Weg  bekam.  Ferner 
geben  die  Bemerkungen  des  Herrn  Gerard  einen  Einblick 
in  den  Geist,  in  dem  unsere  Anregung,  der  Präsident 
möchte  eine  Initiative  zugunsten  des  Friedens  ergreifen, 
zum  mindesten  von  Herrn  Gerard  aufgefaßt  worden  ist. 


Der  deutsche  und  der  amerikanische 
Friedensschritt 

Am  23.  Oktober  igi6  hielt  Lord  Grey  bei  einem  Presse- 
festmahl eine  auffallende  Rede.  Er  beschäftigte  sich 
zunächst  wieder  einmal  mit  den  Kriegsursachen,  wobei 
er  wiederum  alle  Schuld  auf  Deutschland  abzuwälzen 
versuchte ; dann  ging  er  mit  einer  Verbeugung  vor  Wilson 
und  Hughes,  den  beiden  amerikanischen  Präsidentschafts- 
kandidaten, über  zu  einem  Hymnus  auf  Völkerbund  und 
Schiedsgerichte  als  die  Pfeiler  des  Systems,  das  in  Zukunft 
die  Entstehung  neuer  Kriege  verhindern  müsse. 

Der  Bericht  über  die  Rede  lag  in  Berhn  am  25.  Oktober 
vor.  Der  Kanzler  war  durch  die  Rede  stark  beeindruckt. 
Er  fand  sie  sehr  geschickt  auf  die  Mentalität  der  Neutralen, 
insbesondere  der  Amerikaner,  zugeschnitten,  aber  auch 
auf  die  Stimmung  der  kriegführenden  Völker,  die  sich  aus 
dem  Zerstören  und  Morden  nach  einem  besseren  Zustand 
des  Zusammenlebens  der  Völker  sehnten.  Der  Krieg  habe 

*3*  355 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


die  Idee  eines  Völkerbundes  und  der  Schiedsgerichte  ohne 
Zweifel  mächtig  gestärkt.  Auch  nach  seiner  Ansicht  gehöre 
dieser  Idee  die  Zukunft.  Er  habe  das  Gefühl,  daß  in  dieser 
Sache  die  deutsche  Politik  nicht  beiseite  stehen  dürfe. 
Er  müsse  jedenfalls  in  diesem  Sinn  auf  die  Rede  Greys 
antworten. 

Mir  schien  die  Frage  der  Verhinderung  künftiger  Kriege 
so  lange  im  zweiten  Rang  zu  stehen,  als  die  Frage  der 
Beendigung  des  jetzigen  Krieges  noch  nicht  gelöst  sei. 
Die  beste  Antwort  auf  Grey  schien  mir  eine  solche  zu 
sein,  die  Grey  auf  diese  praktische  Frage  stellte.  Zwei 
Tage  zuvor  war  Constantza  von  unsem  Truppen  genommen 
worden;  am  Vormittag  hatte  ein  Telegramm  die  Einnahme 
von  Cernavoda  gemeldet.  Der  rumänische  Feldzug  näherte 
sich  seinem  Ende.  Unsere  Feinde  waren  im  Begriff,  aber- 
mals eine  Hoffnung  zu  verlieren.  Der  Winter,  und  damit 
der  dritte  Winterfeldzug,  stand  vor  der  Tür.  Wenn 
irgendein  Zeitpunkt  seit  Beginn  des  Krieges  die  Regierungen 
und  die  Völker  zum  Nachdenken  stimmen  mußte,  ob  es 
sich  lohne,  den  Krieg  fortzusetzen,  so  war  es  der  jetzige. 
Ich  empfahl,  zu  überlegen,  ob  die  Gesamtlage  uns  nicht 
das  Recht  und  die  Pflicht  gebe,  ein  offenes  Friedenswort 
zu  sprechen,  auf  das  unsere  Feinde  antworten  müßten; 
etwa  die  Aufforderung  an  die  Kriegführenden,  zu  einer  Be- 
sprechung über  die  Möglichkeit  eines  Friedens  zusammen- 
zutreten, der  Ehre,  Dasein  und  Entwicklungsfreiheit  aller 
wahre. 


356 


Vorbereitung  des  deutschen  Friedensvorschlages 


Der  Kanzler  erwärmte  sich  für  den  Gedanken  und  ent- 
schloß sich,  sofort  zum  Kaiser  zu  fahren,  der  damals  in 
Potsdam  weilte.  Im  Begriff  ins  Auto  zu  steigen,  erhielt 
er  die  Nachricht  von  dem  erfolgreichen  Vorstoß  der 
Franzosen  vor  Verdun  auf  das  Fort  Douaumont.  Das 
war  ein  Dämpfer  auf  die  rumänische  Freude,  aber  mit 
solchen  Zwischenfällen  muß  man  im  Kriege  immer  rechnen. 

Der  Kaiser  war  sofort  einverstanden.  Der  Kanzler  reiste 
noch  am  gleichen  Abend  nach  dem  Großen  Hauptquartier, 
um  sich  mit  dem  Generalfeldmarschall  von  Hindenburg 
zu  besprechen.  Der  Feldmarschall  wollte  sich  nicht  gegen 
die  Anregung  stellen  und  erklärte,  er  könne  jedenfalls 
keine  Aussicht  eröffnen,  daß  nach  Beendigung  des  rumä- 
nischen Feldzugs,  die  in  einigen  Wochen  zu  erwarten  sei, 
im  Winter  oder  im  nächsten  Frühjahr  ein  entscheidender, 
den  Frieden  militärisch  erzwingender  Schlag  geführt 
werden  könne. 

Nun  wurde  der  Gesandte  von  Stumm  nach  Wien  ge- 
schickt, um  das  Einverständnis  unseres  österreichisch- 
ungarischen Bundesgenossen  zu  sichern.  An  der  grund- 
sätzlichen Zustimmung  war  um  so  weniger  zu  zweifeln, 
als  Baron  Burian,  wie  mir  der  Kanzler  sagte,  selbst 
schon  bei  früheren  Gelegenheiten  ein  ähnliches  Vorgehen 
angeregt  hatte. 

Nachdem  auf  dieser  Grundlage  der  Kanzler  dem  Kaiser 
nochmals  vorgetragen  hatte,  schrieb  der  Kaiser  an  den 
Kanzler  nachstehenden  eigenhändigen  Brief: 


357 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


„Neues  Palais,  31.  10.  16. 

Mein  lieber  Bethmann! 

Unser  Gespräch  habe  ich  noch  nachher  gründlich  über- 
dacht. Es  ist  klar,  die  in  Kriegspsychose  befangenen, 
von  Lug  und  Trug  im  Wahne  des  Kampfes  und  im  Haß 
gehaltenen  Völker  unserer  Feinde  haben  keine  Männer, 
die  imstande  wären,  die  den  moralischen  Mut  besäßen, 
das  befreiende  Wort  zu  sprechen.  Den  Vorschlag  zum 
Frieden  zu  machen,  ist  eine  sittliche  Tat,  die  notwendig 
ist,  um  die  Welt  — auch  die  Neutralen  — von  dem  auf 
allen  lastenden  Druck  zu  befreien.  Zu  einer  solchen  Tat 
gehört  ein  Herrscher,  der  ein  Gewissen  hat  und  sich  Gott 
verantwortlich  fühlt,  und  ein  Herz  für  seine  und  die 
feindlichen  Menschen,  der  unbekümmert  um  die  even- 
tuellen absichtlichen  Mißdeutungen  seines  Schrittes  den 
Willen  hat,  die  Welt  von  ihren  Leiden  zu  befreien.  Ich 
habe  den  Mut  dazu,  ich  will  es  auf  Gott  wagen.  Legen 
Sie  mir  bald  die  Noten  vor  und  machen  Sie  alles  bereit. 

Wilhelm  1.  R.** 

Die  folgenden  Wochen  waren  ausgefüllt  mit  Verhand- 
lungen mit  unseren  Verbündeten  über  die  Grundlinien 
der  bei  einer  Friedensbesprechung  zu  erstrebenden  Ziele, 
über  die  Art  des  gemeinschaftlichen  Vorgehens,  über  den 
Text  der  über  unsere  Friedensbereitschaft  zu  erlassen- 
den Kundmachung  oder  der  an  die  Alliierten  zu  über- 
gebenden Note. 


358 


Antwort  auf  Greys  Presserede 


In  der  Zwischenzeit  antwortete  der  Reichskanzler  im 
Hauptausschuß  des  Reichstags  am  9.  November  1916  auf 
die  Rede  Greys.  Er  widerlegte  Greys  Darstellung  der 
Schuldfrage  und  stellte  sich  mit  viel  bemerktem  Nach- 
druck auf  den  Boden  des  Völkerbundes  und  der  Schieds- 
gerichte. Von  dem  geplanten  Vorschlag  zu  Friedens- 
verhandlungen sprach  er  noch  nicht.  Mit  unseren  Ver- 
bündeten hatte  man  sich  dahin  geeinigt,  daß  der  Friedens- 
schritt unternommen  werden  sollte,  sobald  durch  den 
in  kurzem  zu  erwartenden  Fall  von  Bukarest  die  Abwen- 
dung der  rumänischen  Gefahr  für  jedermann  offenkundig 
geworden  sei. 

Daß  irgendwelche  Rücksichten  auf  den  Präsidenten 
Wilson  ein  Hindernis  für  einen  unmittelbaren  Friedens- 
schritt sein  könnten,  ist  mir  gegenüber  in  den  vielfachen 
Besprechungen,  die  in  dieser  Angelegenheit  stattfanden, 
von  keinem  der  Herren,  die  an  der  Sondierung  Wilsons 
beteiligt  waren,  jemals  erwähnt  worden.  Bisher  war  auf 
die  schon  Anfang  Mai  von  Herrn  von  Bethmann  gegenüber 
Herrn  Gerard  gemachte  Andeutung  keinerlei  Antwort 
erfolgt.  Das  Anfang  September  an  den  Grafen  Bernstorff 
gerichtete  Telegramm  hatte  diesen  auch  nicht  etwa  be- 
auftragt, bei  Herrn  Wilson  oder  der  amerikanischen  Re- 
gierung irgendeinen  Schritt  zu  unternehmen,  der  die 
deutsche  Regierung  in  ihrer  eigenen  Bewegungsfreiheit 
hätte  binden  können,  sondern  ihn  nur  um  eine  persönliche 
Meinungsäußerung  über  Wilsons  Geneigtheit  zu  einem 


359 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


/ 


Friedensschritt  ersucht.  Die  Möglichkeit,  daß  Wilson  nach 
seiner  am  6.  November  1916  erfolgten  Neuwahl  zum 
Präsidenten  irgend  etwas  zugunsten  des  Friedens  tun 
werde,  konnte  uns,  solange  mit  uns  keine  Vereinbarungen 
darüber  getroffen  oder  uns  nicht  wenigstens  die  bestimmte 
Absicht  eines  Vorgehens  mitgeteilt  war,  nicht  das  Recht 
der  eigenen  Initiative  beschränken  noch  uns  der  Ver- 
pflichtung überheben,  nach  anderen  Wegen,  die  zum 
Frieden  führen  konnten,  Ausschau  zu  halten  und  einen 
uns  geeignet  erscheinenden  Zeitpunkt  unsererseits  für  eine 
Friedensaktion  zu  benutzen. 

In  der  Tat  geht  aus  der  oben  wiedergegebenen  Stelle  des 
Gerardschen  Buches  hervor,  daß  Herr  Wilson  am  4.  De- 
zember, also  vier  Wochen  nach  seiner  Wiederwahl,  jeden- 
falls noch  keinen  bestimmten  Schritt  zugunsten  des  Frie- 
dens ins  Auge  gefaßt  hatte  und  sich  seinerseits  uns  gegen- 
über in  der  Friedensfrage  in  keiner  Weise  gebunden 
fühlte. 

Ich  erwähne  dies  ausdrücklich,  weil  späterhin  bei  uns 
in  Deutschland  behauptet  worden  ist,  die  deutsche  Politik 
habe  dem  Präsidenten  Wilson  gegenüber  ein  doppeltes 
Spiel  gespielt,  indem  sie  ihn  zuerst  um  eine  Friedensver- 
mittlung ersucht  habe,  und  dann,  nachdem  Herr  Wilson 
sich  hierzu  bereitgefunden,  mit  einer  eigenen  Aktion  vor- 
gegangen sei. 

Persönlich  erschien  es  mir  für  die  deutsche  Regierung 
durchaus  erwünscht,  die  Initiative  zum  Frieden  in  der 


360 


Die  Frage  der  Friedens-Initiative 


eigenen  Hand  zu  behalten;  denn  ich  konnte  das  Unbe- 
hagen gegenüber  dem  Gedanken  einer  Führung  Wilsons 
in  den  Friedensangelegenheiten  nicht  überwinden.  Außer- 
dem konnte  ich  mir,  so  wenig  es  mir  lag,  im  Strom  der 
öffentlichen  Meinung  zu  schwimmen,  nicht  verhehlen, 
daß  die  Stimmung  in  Heer  und  Volk  gegen  Amerika  ein 
immer  ernstlicheres  Hindernis  für  eine  amerikanische 
Friedensaktion  geworden  war.  Es  kam  schließlich  doch 
auch  darauf  an,  daß  der  erste  Schritt  zum  Frieden  vom 
eigenen  Volk  möglichst  einmütig  unterstützt  und  nicht 
von  vornherein  aus  Gefühlen  heraus,  deren  Berechtigung 
nicht  abzustreiten  war,  einer  starken  Anfeindung  aus- 
gesetzt wurde.  Die  Tatsache,  daß  Amerikas  Verhalten 
gegenüber  dem  deutschen  Volke  in  dem  Kampf  um  sein 
Dasein  nur  eine  formelle  Neutralität,  in  der  Sache  aber 
eine  starke  Begünstigung  unserer  Gegner  war,  lag  klar 
vor  jedermanns  Augen.  Wilson  war  uns  bei  der  Ausnutzung 
unserer  U-Boot waffe  gegen  England  in  den  Weg  getreten. 
Das  war  sein  formelles  Recht;  aber  die  Ausübung  dieses 
Rechtes  uns  gegenüber  involvierte  zum  mindesten  die 
moralische  Verpflichtung,  auch  England  gegenüber  mit 
gleich  scharfen  Mitteln  auf  der  strengen  Beobachtung  des 
Völkerrechtes  zu  bestehen.  Seit  länger  als  sechs  Monaten 
hatten  wir  in  der  U-Bootfrage  nachgegeben;  aber  die 
amerikanische  Regierung  hatte  noch  keinerlei  Anstalten 
gemacht,  nun  auch  England  auf  den  Boden  des  Völker- 
rechtes zurückzuführen.  Die  Erbitterung  bei  uns  wurde 


Friedensbemüliungen  und  U-Bootkrieg 


gesteigert  durch  immerzu  wachsende  Mengen  von  Kriegs- 
gerät und  Munition,  die  Amerika  der  Entente  lieferte. 
Die  Gerechtigkeit,  die  Herr  Wilson  noch  im  Februar 
1914  dem  Mexikaner  Carranza  hatte  zuteil  werden  lassen, 
indem  er  angesichts  der  materiellen  Unmöglichkeit  der 
Waffenlieferung  an  den  von  der  Küste  abgeschnittenen 
Carranza  auch  die  Waffenlieferung  an  dessen  Gegner 
Huerta  verbot,  enthielt  er  Deutschland  und  seinen  Ver- 
bündeten vor.  Die  völkerrechtliche  Sophistik,  mit  der  die 
Regierung  der  Vereinigten  Staaten  diese  „Papiemeutrali- 
tät“  begründete,  wollte  unserem  Volke  nicht  in  den  Kopf. 
Zumal  der  Feldgraue,  den  amerikanische  Geschosse  über- 
schütteten, sah  nur  die  gewaltige  Unterstützung,  die 
Amerika  einseitig  unseren  Feinden  gewährte. 

Am  6.  Dezember  1916  fiel  Bukarest.  Damit  war  der 
Zeitpunkt  für  die  Friedensaktion  gekommen. 

Am  12.  Dezember  übergab  der  Reichskanzler  den  Ver- 
tretern der  neutralen  Mächte,  die  den  Schutz  unserer 
Interessen  in  den  uns  feindlichen  Staaten  übernommen 
hatten,  eine  Note  mit  dem  Ersuchen  um  Übermittlung 
an  die  mit  uns  im  Kriege  liegenden  Staaten.  Das  gleiche 
geschah  um  dieselbe  Zeit  in  Wien,  Konstantinopel  und 
Sofia.  Dem  Reichstag  machte  der  Reichskanzler,  nachdem 
tags  zuvor  die  Parteiführer  verständigt  worden  waren, 
alsbald  Mitteilung  von  dem  vollzogenen  Schritt.  Nach 
einem  kurzen  und  wirksamen  Überblick  über  die  Lage 
führte  er  aus: 


362 


Friedens  vor  schlag  und  Reichstag 


„Nach  der  Verfassung  lag  am  i.  August  1914  auf  Seiner 
Majestät  dem  Kaiser  persönlich  der  schwerste  Entschluß, 
den  je  ein  Deutscher  zu  fassen  gehabt  hat,  der  Befehl  der 
Mobilmachung,  der  ihm  durch  die  russische  Mobilmachung 
abgerungen  wurde.  Während  der  langen  und  schweren 
Kriegs jahre  bewegte  den  Kaiser  der  einzige  Gedanke, 
wie  einem  festgesicherten  Deutschland  nach  siegreich  ge- 
lochte nem  Kampfe  wieder  der  Friede  bereitet  werde. 
Niemand  kann  das  besser  bezeugen  als  ich,  der  ich  die 
Verantwortung  für  alle  Regierungshandlungen  trage.  Im 
tiefsten  sittlichen  und  religiösen  Pflichtgefühl  gegen  sein 
Volk  und  darüber  hinaus  gegen  die  Menschheit  hält  der 
Kaiser  jetzt  den  Zeitpunkt  für  eine  offizielle  Friedens- 
aktion für  gekommen.  Seine  Majestät  hat  deshalb  in 
vollem  Einvernehmen  und  in  Gemeinschaft  mit  seinen 
hohen  Verbündeten  den  Entschluß  gefaßt,  den  feindlichen 
Mächten  den  Eintritt  in  Friedens  Verhandlungen  vorzu- 
schlagen.** 

Der  Kanzler  verlas  nunmehr  die  Note,  die  angesichts 
ihrer  Bedeutung  für  die  Friedensfrage  hier  im  vollen 
Wortlaut  Platz  finden  möge: 

„Der  furchtbarste  Krieg,  den  je  die  Geschichte  ge- 
sehen hat,  wütet  bald  seit  zwei  und  einem  halben  Jahre 
in  einem  großen  Teil  der  Welt.  Diese  Katastrophe,  die 
das  Band  einer  gemeinsamen,  tausendjährigen  Zivili- 
sation nicht  hat  aufhalten  können,  trifft  die  Menschheit 
in  ihren  wertvollsten  Errungenschaften.  Sie  droht,  den 

363 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


geistigen  und  materiellen  Fortschritt,  der  den  Stolz 
Europas  zu  Beginn  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  bil- 
dete, in  Trümmer  zu  legen. 

,, Deutschland  und  seine  Verbündeten,  Österreich- 
Ungarn,  Bulgarien  und  die  Türkei,  haben  in  diesem 
Kampfe  ihre  unüberwindliche  Kraft  erwiesen.  Sie  haben 
über  ihre  an  Zahl  und  Kriegsmaterial  überlegenen  Gegner 
gewaltige  Erfolge  errungen.  Unerschütterlich  halten 
ihre  Linien  den  immer  wiederholten  Angriffen  der  Heere 
ihrer  Feinde  stand.  Der  jüngste  Ansturm  im  Balkan 
ist  schnell  und  siegreich  niedergeworfen  worden;  die 
letzten  Ereignisse  beweisen,  daß  auch  eine  weitere 
Fortdauer  des  Krieges  ihre  Widerstandskraft  nicht  zu 
brechen  vermag,  daß  vielmehr  die  gesamte  Lage  zur 
Erwartung  weiterer  Erfolge  berechtigt. 

,,Zur  Verteidigung  ihres  Daseins  und  ihrer  nationalen 
Entwicklungsfreiheit  wurden  die  vier  verbündeten 
Mächte  gezwungen,  zu  den  Waffen  zu  greifen.  Auch 
die  Ruhmestaten  ihrer  Heere  haben  daran  nichts  ge- 
ändert. Stets  haben  sie  an  der  Überzeugung  festgehalten, 
daß  ihre  eigenen  Rechte  und  begründeten  Ansprüche 
in  keinem  Widerspruch  zu  den  Rechten  der  anderen 
Nationen  stehen.  Sie  gehen  nicht  darauf  aus,  ihre  Gegner 
zu  zerschmettern  oder  gar  zu  vernichten. 

,, Getragen  von  dem  Bewußtsein  ihrer  militärischen 
und  wirtschaftlichen  Kraft  und  bereit,  den  ihnen  auf- 
gezwungenen Kampf  nötigenfalls  bis  zum  äußersten 

364 


Die  Friedensnote 


fortzusetzen,  zugleich  aber  von  dem  Wunsch  beseelt, 
weiteres  Blutvergießen  zu  verhüten  und  den  Greueln 
des  Krieges  ein  Ende  zu  machen,  schlagen  die  vier  ver- 
bündeten Mächte  vor,  alsbald  in  Friedensverhandlungen 
einzutreten.  Die  Vorschläge,  die  sie  zu  diesen  Verhand- 
lungen mitbringen  werden  und  die  darauf  gerichtet 
sind,  Dasein,  Ehre  und  Entwicklungsfreiheit  ihrer  Völker 
zu  sichern,  bilden  nach  ihrer  Überzeugung  eine  ge- 
eignete Grundlage  für  die  Herstellung  eines  dauerhaften 
Friedens. 

„Wenn  trotz  dieses  Anerbietens  zu  Frieden  und  Ver- 
söhnung der  Kampf  fortdauern  sollte,  so  sind  die  vier 
verbündeten  Mächte  entschlossen,  ihn  bis  zum  sieg- 
reichen Ende  zu  führen.  Sie  lehnen  aber  feierlich  jede 
Verantwortung  dafür  vor  der  Menschheit  und  der 
Geschichte  ab.‘' 

Am  gleichen  Tage  wurde  ein  Kaiserlicher  Armeebefehl 
erlassen,  der  lautete: 

„Soldaten!  In  dem  Gefühl  des  Sieges,  den  Ihr  durch 
Eure  Tapferkeit  errungen  habt,  haben  Ich  und  die 
Herrscher  der  treu  verbündeten  Staaten  dem  Feinde 
ein  Friedensangebot  gemacht.  Ob  das  damit  verbundene 
Ziel  erreicht  wird,  bleibt  dahingestellt.  Ihr  habt 
weiterhin  mit  Gottes  Hilfe  dem  Feind  standzuhalten 
und  ihn  zu  schlagen.“ 

Die  Aufnahme,  die  der  Friedensvorschlag  in  Deutsch- 
land fand,  war  nicht  einheitlich  zustimmend.  In  den 


365 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


konservativen  und  überwiegend  auch  in  den  national- 
liberalen Kreisen  fürchtete  man,  der  Vorschlag  könne  im 
Ausland  als  Schwächezeichen  ausgelegt  werden  und  die 
Wirkung  unserer  Siege  in  Rumänien  beeinträchtigen.  In 
den  Kreisen  derjenigen,  die  an  sich  den  Friedensvorschlag 
als  einen  ernsthaften  Versuch,  Deutschland  und  die  Welt 
von  dem  Elend  des  Krieges  zu  befreien,  aufrichtig  will- 
kommen hießen,  bemängelte  man  vielfach,  daß  in  dem 
Vorschlag  unsere  konkreten  Friedensbedingungen  nicht 
aufgezählt  waren. 

Beide  Ausstellungen  halte  ich  auch  heute  noch  für  un- 
berechtigt. 

Es  handelte  sich  darum,  entweder  zum  Frieden  zu  kom- 
men, oder  vor  der  ganzen  Welt,  sowohl  vor  dem  eigenen 
Volke,  wie  vor  den  Völkern  der  Neutralen  und  unserer 
Feinde  die  Verantwortlichkeit  für  die  Fortdauer  des 
Krieges  festzustellen.  Wenn  der  Krieg  weitergehen  sollte, 
dann  brauchte  vor  allem  unser  eigenes  Volk  angesichts 
des  ungeheueren  auf  ihm  lastenden  Druckes  eine  moralische 
Rückenstärkung  in  dem  Bewußtsein,  daß  es  nicht  an  uns 
lag,  wenn  Friedens  Verhandlungen  nicht  zustandekamen. 
Die  Gefahr,  daß  unsere  Feinde  unser  Angebot  als  Schwäche 
auffassen  könnten,  durfte  demgegenüber  nicht  den  Aus- 
schlag geben;  durch  die  Wahl  des  Zeitpunktes  war  zudem 
dieser  Gefahr  nach  Möglichkeit  vorgebeugt  worden. 

Eine  öffentliche  Enthüllung  unserer  einzelnen  Friedensbe- 
dingungen wäre,  solange  die  grundsätzliche  Bereitwilligkeit 


366 


Die  Aufnahme  des  Vorschlages  in  Deutschland 


unserer  Feinde,  mit  uns  über  einen  Ehre,  Dasein  und 
Entwicklungsfreiheit  unseres  Volkes  wahrenden  Frieden 
zu  sprechen,  nicht  vorlag,  das  Gegenteil  von  Zweck- 
mäßigkeit gewesen.  Wir  hätten  uns  ganz  einseitig  fest- 
gelegt, uns  dadurch  gegenüber  unseren  Gegnern  stark 
in  Nachteil  gesetzt  und  jede  Verhandlung  über  die  einmal 
öffentlich  genannten  Punkte  außerordentlich  erschwert. 
Es  ist  leicht,  über  die  „Geheimdiplomatie**  zu  schelten. 
Aber  solange  die  menschliche  Natur  sich  nicht  von  Grund 
aus  geändert  hat,  wird  der  Zweck  einer  jeden  Verhandlung, 
nämlich  die  Verständigung,  in  vertraulichen  Beratungen 
stets  leichter  zu  erreichen  sein,  als  wenn  der  Ringkampf 
der  Verhändler  sich  vor  den  Augen  der  Öffentlichkeit 
abspielt.  Wenn  unsere  Feinde  überhaupt  Neigung  hatten, 
mit  uns  über  einen  Frieden  zu  sprechen,  so  mußte  es  ihnen 
genügen,  daß  unsere  Friedensnote  klar  aussprach:  Der 
Krieg  ist  für  uns  ein  Verteidigungskrieg  geblieben;  für 
uns  kommt  es  darauf  an,  Ehre,  Dasein  und  Entwicklungs- 
freiheit unserer  Völker  zu  sichern;  unsere  Rechte  und 
Ansprüche  stehen  in  keinem  Widerspruch  zu  den  Rechten 
der  anderen  Nationen. 

Aber  die  Neigung,  mit  uns  über  den  Frieden  zu  sprechen, 
bestand  bei  unseren  Feinden  nicht.  Die  Ziele,  die  sie  ver- 
folgten und  unbeachtet  aller  Opfer  und  Rückschläge  zäh 
im  Auge  behielten,  waren  mit  der  Verteidigung  unseres 
Besitzstandes,  mit  der  Wahrung  unserer  Ehre,  unseres 
Daseins  und  unserer  Entwicklungsfreiheit  nicht  vereinbar. 

367 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Ihre  Regierungen  fürchteten,  durch  jede  Einleitung  eines 
Friedensgesprächs  den  auf  unsere  Niederwerfung  gerich- 
teten Kriegswillen  zu  schwächen,  und  deshalb  hatten 
sie  es  ungemein  eilig,  unseren  Vorschlag  schroff  zurück- 
zuweisen. 

Schon  am  Tage  nach  unserem  Friedensvorschlag,  am 
13.  Dezember  1916  erklärte  der  französische  Minister- 
präsident Briand  unsere  Aufforderung  zu  Friedensverhand- 
lungen  für  ein  Manöver,  um  unter  den  Alliierten  Uneinig- 
keit zu  säen,  die  Gewissen  zu  verwirren  und  die  Völker 
zu  demoralisieren.  Am  16.  Dezember  wies  der  neue 
russische  Minister  des  Auswärtigen,  Herr  Pokrowsky,  den 
Friedensvorschlag  der  Mittelmächte  ,,mit  Entrüstung“  ab 
und  stellte  ihm  das  Ziel  gegenüber,  ,,das  uns  allen  am  Herzen 
liegt:  die  Vernichtung  des  Feindes;“  alle  die  unzähligen 
Opfer  würden  umsonst  gebracht  sein,  wenn  man  mit 
einem  Feind,  dessen  Kräfte  zwar  geschwächt,  aber  nicht 
gebrochen  seien,  einen  ,, vorzeitigen  Frieden“  schließe. 
Am  18.  Dezember  beschwor  der  italienische  Minister  des 
Auswärtigen,  Herr  Sonnino,  die  Kammer,  nichts  zu  be- 
schließen, was  die  Vermutung  zuließe,  daß  Italien  in  der 
Aufnahme  des  von  Deutschland  gemachten  „hinter- 
listigen Schrittes“  eine  von  seinen  Verbündeten  verschie- 
dene Haltung  einnehmen  könnte.  Am  Tage  darauf  sprach 
Lloyd  George,  der  inzwischen  Herrn  Asquith  als  Minister- 
präsident ersetzt  hatte,  in  der  gewohnten  Weise  über 
den  preußischen  Militärdespotismus  und  verlangte  als 

368 


Echo  bei  den  Alliierten,  Wilsons  Friedensnote 


Voraussetzung  für  irgendwelche  Friedensgespräche  von 
Deutschland  „vollständige  Wiederherstellung,  volle 
Genugtuung  und  wirksame  Garantien“. 

Nun  erschien  auch  der  Präsident  Wilson  auf  dem  Plan. 

Am  21.  Dezember  igi6  übergab  der  amerikanische  Bot- 
schaftsrat in  Berlin  dem  Staatssekretär  Zimmermann  eine 
Note,  die  gleichlautend  auch  den  übrigen  kriegführenden 
Staaten  zugestellt  wurde. 

Die  Note  enthielt  eine  Friedensanregung.  Der  Prä- 
sident der  Vereinigten  Staaten  schlug  vor,  ,,daß  baldigst 
Gelegenheit  genommen  werde,  von  allen  jetzt  kriegführen- 
den Staaten  ihre  Ansichten  über  ihre  Bedingungen  zu 
erfahren,  unter  denen  der  Krieg  zum  Abschluß  gebracht 
werden  könnte  und  über  die  Vorkehrungen,  die  gegen  die 
Wiederholung  des  Krieges  oder  die  Entfachung  irgend- 
eines ähnlichen  Konfliktes  in  der  Zukunft  zufrieden- 
stellende Bürgschaft  leisten  könnten,  so  daß  sich  die  Mög- 
lichkeit biete,  sie  offen  zu  vergleichen.  Dem  Präsidenten, 
so  fuhr  die  Note  fort,  ist  die  Wahl  der  zur  Erreichung 
dieses  Zieles  geeigneten  Mittel  gleich.  Er  ist  gern  bereit, 
zur  Erreichung  dieses  Zweckes  in  jeder  annehmbaren 
Weise  seinerseits  dienlich  zu  sein  oder  sogar  die  Initiative 
zu  ergreifen;  er  wünscht  jedoch  nicht,  die  Art  und  Weise 
und  die  Mittel  zu  bestimmen.  Jeder  Weg  wird  ihm  ge- 
nehm sein,  wenn  nur  das  große  Ziel,  das  er  im  Auge  hat, 
erreicht  wird.“  Die  Note  wies  dann  darauf  hin,  daß  die 
allgemeinen  Ziele  der  beiden  kriegführenden  Parteien  nach 

24  Helfferich,  Wellkrieg  II 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


den  von  ihren  Staatsmännern  abgegebenen  Erklärungen 
dem  Wesen  nach  die  gleichen  seien.  Das  Interesse  der 
Vereinigten  Staaten  an  den  künftigen  Maßnahmen  zum 
Schutz  des  Völkerfriedens  sei  ebenso  groß,  wie  das  irgend- 
eines anderen  Volkes.  Das  amerikanische  Volk  und  seine 
Regierung  sehnten  sich  danach,  bei  der  Erreichung  dieses 
Zieles  mit  allen  ihnen  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  mit- 
zuwirken. Aber  erst  müsse  der  Krieg  beendet  sein.  Die 
konkreten  Ziele,  für  die  der  Krieg  geführt  werde,  seien 
niemals  endgültig  festgestellt  worden.  Der  Welt  bleibe 
es  überlassen  zu  vermuten,  ,, welche  endgültigen  Ergeb- 
nisse, welcher  tatsächliche  Austausch  von  Garantien, 
welche  politischen  oder  territorialen  Veränderungen  oder 
Verschiebungen,  ja  selbst  welches  Stadium  des  militärischen 
Erfolges  den  Krieg  zu  Ende  bringen  würde'*.  Der  Prä- 
sident schlage  keinen  Frieden  vor,  er  biete  nicht  einmal 
seine  Vermittlung  an;  er  rege  nur  an,  „daß  man  sondiere, 
damit  die  Neutralen  und  die  kriegführenden  Staaten  er- 
fahren, wie  nahe  wohl  das  Ziel  des  Friedens  sein  mag, 
nach  dem  die  ganze  Menschheit  mit  heißem  und  wachsen- 
dem Begehren  sich  sehnt". 

Dies  w’ar  der  sachliche  Kern  des  Wilsonschen  Friedens- 
schritts. 

An  der  Einkleidung  dieses  Kerns  war  bemerkenswert 
einmal  die  wiederholte  starke  Betonung  des  Interesses 
der  Vereinigten  Staaten  an  der  baldigen  Beendigung 
des  Krieges,  das  sich  schon  daraus  ergebe,  „daß  sie 


370 


Inhalt  und  Form  der  Wilsonschen  Note 


offenkundig  genötigt  wären,  Bestimmungen  über  den 
bestmöglichen  Schutz  ihrer  Interessen  zu  treffen,  falls  der 
Krieg  fortdauem  soUte“;  ferner  eine  Bemerkung  über  das 
Verhältnis  der  Wilsonschen  Anregung  zu  dem  Friedens- 
schritt der  Zentralmächte.  Der  Präsident,  so  führte  die 
Note  aus,  habe  sich  schon  lange  mit  dem  Gedanken  seines 
Vorschlages  getragen.  Er  mache  ihn  jetzt  nicht  ohne 
eine  gewisse  Verlegenheit,  weil  es  den  Anschein  haben 
könnte,  als  sei  er  angeregt  von  dem  Wunsch,  im  Zusammen- 
hajig  mit  dem  jüngsten  Vorschlag  der  Zentralmächte  eine 
Rolle  zu  spielen.  Tatsächlich  sei  der  Gedanke  des  Präsi- 
denten in  keiner  Weise  auf  diesen  Vorschlag  zurück- 
zuführen, und  der  Präsident  hätte  mit  seinem  Vorschläge 
gewartet,  bis  der  Vorschlag  der  Zentralmächte  beant- 
wortet worden  wäre,  wenn  seine  Anregung  nicht  auch 
die  Frage  des  Friedens  beträfe,  die  am  besten  mit  anderen 
dahingehenden  Vorschlägen  erörtert  werde.  Der  Präsident 
stellte  also  die  Unabhängigkeit  seiner  Anregung  von 
dem  Vorschlag  der  Zentralmächte  fest,  empfahl  aber 
eine  gemeinschaftliche  Erörterung. 

In  der  Sache  kam  die  Anregung  des  Präsidenten  Wilson 
auf  das  gleiche  Ziel  hinaus,  das  den  Mittelmächten  bei  ihrem 
Friedensschritt  vorgeschwebt  hatte : ein  gegenseitiger  Aus- 
tausch der  konkreten  Friedensbedingungen.  Dieser  Aus- 
tausch mußte,  wenn  eine  einseitige  Festlegung  des  einen 
oder  anderen  Teües  vermieden  werden  sollte,  Zug  um 
Zug  erfolgen,  nach  der  Ansicht  der  Mittelmächte  am 


24* 


371 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


besten  in  der  elastischeren  Form  eines  unmittelbaren 
und  persönlichen  Gedankenaustausches  der  kriegführenden 
Mächte. 

Dem  entsprach  die  Antwort,  die  wenige  Tage  nach 
Überreichung  der  amerikanischen  Note  von  den  Mittel- 
mächten erteilt  wurde.  Die  deutsche  Antwort  vom 
26.  Dezember  1916,  die  derjenigen  unserer  Verbündeten 
inhaltlich  entsprach,  lautete  wie  folgt: 

,,Die  Kaiserliche  Regierung  hat  die  hochherzige  An- 
regung des  Herrn  Präsidenten  der  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika,  Grundlagen  für  die  Herstellung  eines 
dauernden  Friedens  zu  schaffen,  in  dem^  freundschaftlichen 
Geiste  aufgenommen  und  erwogen,  der  in  der  Mitteilung 
des  Herrn  Präsidenten  zum  Ausdruck  kommt.  Der  Herr 
Präsident  zeigt  das  Ziel,  das  ihm  am  Herzen  liegt,  und 
läßt  die  Wahl  des  Weges  offen.  Der  Kaiserlichen  Regierung 
erscheint  ein  unmittelbarer  Gedankenaustausch  als  der 
geeignetste  Weg,  um  zu  dem  gewünschten  Ergebnis 
zu  gelangen.  Sie  beehrt  sich  daher,  im  Sinne  ihrer  Er- 
klärung vom  12.  d.  M.,  die  zu  Friedensverhandlungen 
die  Hand  bot,  den  alsbaldigen  Zusammentritt  von  Dele- 
gierten der  kriegführenden  Staaten  an  einem  neutralen 
Orte  vorzuschlagen.  Auch  die  Kaiserliche  Regierung 
ist  der  Ansicht,  daß  das  große  Werk  der  Verhütung 
künftiger  Kriege  erst  nach  Beendigung  des  gegenwär- 
tigen Völkerringens  in  Angriff  genommen  werden  kann. 
Sie  wird,  wenn  dieser  Zeitpunkt  gekommen  ist,  mit 


372 


Die  deutsche  Antwort 


Freuden  bereit  sein,  zusammen  mit  den  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika  an  dieser  erhabenen  Aufgabe 
mitzuarbeiten/* 

Auch  durch  Wilsons  Friedensanregung  ließen  sich  die 
alliierten  Regierungen  in  ihrem  Willen,  Friedensgespräche 
zurückzuweisen  und  den  Krieg  fortzusetzen,  in  keiner 
Weise  beeinträchtigen;  nur  eine  kurze  Verzögerung  in 
der  von  Herrn  Briand  voreilig  für  den  20.  Dezember  an- 
gekündigten Antwort  der  Entente  auf  unseren  Friedens- 
vorschlag ist  wohl  durch  den  in  London  und  Paris  schon 
am  19.  Dezember  bekannt  gewordenen  Friedensschritt 
Wilsons  herbeigeführt  worden.  Aber  in  dem  Inhalt  der 
Ententeantwort,  die  am  30.  Dezember  von  Herrn  Briand 
dem  amerikanischen  Botschafter  in  Paris  zur  Weitergabe 
an  die  Zentralmächte  überreicht  worden  ist,  hat  Wilsons 
Eingreifen  nichts  geändert:  schroffer  und  höhnischer  ab- 
weisend konnte  keine  Antwort  lauten.  In  tendenziöser 
Darstellung  versuchte  sie  wieder  einmal  den  Nachweis, 
daß  der  ,, Krieg  gewollt,  hervorgerufen  und  verwirklicht 
worden  sei  durch  Deutschland  und  Österreich-Ungarn“. 
Nachdem  Deutschland  seine  Verpflichtungen  verletzt  habe, 
könne  der  von  ihm  gebrochene  Friede  nicht  auf  sein  Wort 
gegründet  werden.  Eine  Anregung  ohne  Bedingungen  für  die 
Eröffnung  der  Verhandlungen  sei  kein  Friedensangebot. 
Die  durch  die  Kriegserklärung  Deutschlands  verursachten 
Verwüstungen,  die  zahlreichen  Attentate,  die  Deutsch- 
land und  seine  Verbündeten  gegen  die  Kriegführenden 


373 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


und  gegen  die  Neutralen  verübt  hätten,  verlangten 
Sühne,  Wiedergutmachung  und  Bürgschaften.  Deutsch- 
land weiche  listig  dem  einen  wie  dem  anderen  aus.  Der 
durch  die  Zentralmächte  gemachte  Vorschlag  sei  in  Wirk- 
lichkeit nichts  als  ein  Kriegsmanöver,  das  einen  deutschen 
Frieden  aufnötigen  solle  und  beabsichtige,  die  öffentliche 
Meinung  in  den  alliierten  Ländern  zu  verwirren.  „In 
voUer  Erkenntnis  der  Schwere,  aber  auch  der  Notwendig- 
keiten der  Stunde  lehnen  es  die  alliierten  Regierungen, 
die  unter  sich  eng  verbunden  und  in  voller  Überein- 
stimmung mit  ihren  Völkern  sind,  ab,  sich  mit  einem 
Vorschlag  ohne  Aufrichtigkeit  und  ohne  Bedeutung  zu 
befassen.'* 

Da  diese  Antwort,  die  an  Deutlichkeit  nichts  zu  wünschen 
übrigließ,  mehr  als  eine  Woche  nach  dem  Friedensschritt 
des  Präsidenten  Wilson  erfolgte,  mußte  nicht  nur  der 
Friedensvorschlag  der  Zentralmächte,  sondern  auch  die 
Friedensanregung  Wilsons  als  gescheitert  betrachtet  wer- 
den. Wieder  einmal  stellte  sich  heraus,  daß  die  feindliche 
Koalition  nicht  bereit  war,  über  Frieden  zu  sprechen, 
solange  sie  nicht  in  der  Lage  war,  den  Frieden  nach  ihrem 
Belieben  zu  diktieren.  Von  dem  Geist,  der  bei  den  Macht- 
habern unserer  Feinde  trotz  des  rumänischen  Rück- 
schlags herrschte,  gibt  Zeugnis  ein  Tagesbefehl  des  Zaren 
an  die  russische  Armee  und  Marine  vom  25.  Dezember 
1916,  in  dem  als  mssisches  Kriegsziel  aufgestellt  mirde 
,,der  Besitz  Konstantinopels  und  der  iMeerengen,  sowie 


374 


Die  Antwort  der  Alliierten 


die  Schaffung  eines  in  allen  seinen  drei  gegenwärtig  ge- 
trennten Teilen  freien  Polens“. 

Immerhin  konnte  man  gespannt  sein  auf  die  Antwort, 
die  unsere  Feinde  auf  die  Friedensanregung  Wilsons  geben 
würden.  Denn  hier  stand  ihnen  nicht  ein  Feind  gegen- 
über, den  sie  auf  Tod  und  Leben  zu  bekämpfen  entschlossen 
waren,  sondern  der  Repräsentant  der  stärksten  neutralen 
Macht,  dessen  Haltung  für  den  Ausgang  des  Krieges  von 
entscheidender  Bedeutung  werden  konnte. 

Es  dauerte  drei  volle  Wochen,  bis  die  Alliierten  sich 
über  eine  Antwort  an  Wilson  geeinigt  hatten;  erst  am 
10.  Januar  1917  wurde  diese  von  Herrn  Briand  dem 
amerikanischen  Botschafter  in  Paris  ausgehändigt. 

Die  Antwort  enthielt  viele  schöne  Worte  an  die  Adresse 
des  Herrn  Wilson  und  über  den  künftigen  Völker  frieden. 
In  der  Sache  aber  war  sie  gegenüber  der  Wilsonschen  An- 
regung eine  kaum  weniger  unverhüllte  Ablehnung,  wie 
die  Antwort  an  die  Zentralmächte. 

,,Die  Alliierten  empfinden,“  so  hieß  es  in  der  Note, 
„ebenso  tief  wie  die  Regierung  der  Vereinigten  Staaten 
den  Wunsch,  möglichst  bald  diesen  Krieg  beendet  zu  sehen, 
für  den  die  Mittelmächte  verantwortlich  sind  und  der  der 
Menschheit  grausame  Leiden  auferlegt;  aber  sie  sind  der 
Ansicht,  daß  es  unmöglich  ist,  heute  bereits  einen  Frieden 
zu  erzielen,  der  ihnen  die  Sühnen,  Wiedergutmachung 
und  Bürgschaften  sichert,  auf  die  sie  ein  Recht  haben 
infolge  des  Angriffs,  für  den  die  Mittelmächte  die 


375 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Verantwortung  tragen  und  der  gerade  darauf  abzielt,  / 
die  Sicherheit  Europas  zugrundezurichten.“  Nach  langen 
Beschwerden  über  die  völkerrechtswidrige  und  grausame 
Kriegführung  der  Mittelmächte,  die  zu  einem  ständigen 
Hohn  auf  Menschlichkeit  und  Zivilisation  geworden  sei, 
erklärte  die  Note,  die  den  Mittelmächten  durch  Vermitt- 
lung der  Vereinigten  Staaten  überreichte  Antwort  auf  deren 
Friede  ns  Vorschlag  vom  12.  Dezember  igi6  beantworte 
die  von  der  amerikanischen  Regierung  gestellte  Frage. 
Im  übrigen  seien  die  Kriegsziele  der  Alliierten  wohlbekannt ; 
sie  seien  mehrfach  in  Erklärungen  der  Oberhäupter  der 
verschiedenen  Regierungen  dargelegt  worden.  „Diese 
Ziele  werden  in  den  Einzelheiten  mit  allen  Kompensationen 
und  gerechtfertigten  Entschädigungen  für  den  erlittenen 
Schaden  erst  in  der  Stunde  der  Verhandlungen  auseinander- 
gesetzt werden.  Aber  die  zivilisierte  Welt  weiß,  daß  sie 
alles  Notwendige  einschließen  und  in  erster  Linie  die 
Wiederherstellung  Belgiens,  Serbiens  und  Montenegros, 
die  ihnen  geschuldeten  Entschädigungen,  die  Räumung 
der  besetzten  Gebiete  von  Prankreich,  Rußland  und 
Rumänien  mit  den  gerechten  Wiedergutmachungen,  die 
Reorganisation  Europas,  Bürgschaft  für  einen  dauerhaften 
Frieden,  die  Zurückgabe  der  Provinzen  und  Gebiete,  die 
früher  den  Alliierten  durch  Gewalt  oder  gegen  den  Willen 
der  Bevölkerung  entrissen  worden  sind,  die  Befreiung 
der  Italiener,  Slawen,  Rumänen,  Tschechen  und  Slowaken 
von  der  Fremdherrschaft,  die  Befreiung  der  Bevölkerungen, 


Die  Antwort  der  Alliierten 


die  der  blutigen  Tyrannei  der  Türken  unterworfen  sind, 
.und  die  Entfernung  des  Osmanischen  Reiches  aus  Europa, 
weil  es  zweifellos  der  westlichen  Zivilisation  fremd  ist/' 
Die  Note  fügte  hinzu,  es  sei  selbstverständlich  niemals 
die  Absicht  der  alliierten  Regierungen  gewesen,  die  ,, Ver- 
nichtung der  deutschen  Völker  und  ihr  politisches  Ver- 
schwinden“ anzustreben;  sie  wollten  nur  die  Sicherung 
des  Friedens  auf  der  Grundlage  der  Freiheit,  der  Gerechtig- 
keit und  der  unverletzlichen  Treue,  welche  die  Regierung 
der  Vereinigten  Staaten  stets  beseelt  habe. 

Eine  besondere  Verschärfung  erfuhr  die  Ablehnung 
irgendwelcher  Friedensgespräche  mit  den  Zentralmächten 
durch  die  Verwahrung  gegen  eine  Gleichstellung  mit 
diesen.  ,,Mit  Genugtuung,“  so  hieß  es  in  der  Note,  „nehmen 
die  Alliierten  zur  Kenntnis,  daß  die  amerikanische  Mit- 
teilung in  keinem  Zusammenhang  steht  mit  dem  Schritt 
der  Mittelmächte;  sie  zweifeln  nicht  an  dem  Entschluß 
der  amerikanischen  Regierung,  selbst  den  blassen  Anschein 
einer  auch  nur  moralischen  Unterstützung  der  verant- 
wortlichen Urheber  des  Krieges  zu  vermeiden.  Die  Al- 
liierten Regierungen  halten  es  für  ihre  Pflicht,  sich  in  der 
freundschaftlichsten  aber  klarsten  Weise  gegen  eine  Gleich- 
stellung auszusprechen,  welche  auf  öffentlichen  Erklärun- 
gen der  Mittelmächte  beruht  und  in  direktem  Wider- 
spruch zur  offenkundigen  Sachlage  steht,  sowohl  bezüg- 
lich der  Verantwortlichkeiten  in  der  Vergangenheit  wie 
betreffs  der  Bürgschaften  für  die  Zukunft.  Präsident 


377 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Wilson  hat  durch  ihre  Erwähnung  gewiß  nicht  beab- 
sichtigt, sich  ihnen  anzuschließen/' 

Schallender  konnte  die  Friedenstür  nicht  zugeworfen 
werden.  Wenn  sich  die  Alliierten  bei  Herrn  Wilson  ver- 
baten, von  ihm  mit  den  Mittelmächten  auf  gleichem  Fuß 
behandelt  zu  werden,  so  war  das  eine  m ihrer  Schärfe 
kaum  zu  übertreffende  Zurückweisung  aller  guten  Dienste, 
die  ein  Dritter  zur  Herbeiführung  einer  Verständigung 
zwischen  den  beiden  kriegführenden  Gruppen  überhaupt 
anbieten  konnte. 

Sachlich  bedeuteten  die  von  den  Ententeregierungen 
kurz  umrissenen  Friedensbedingungen  nichts  anderes  als 
die  völlige  Zertrümmerung  der  Türkei,  die  völlige 
Auflösung  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie, 
die  Verstümmelung  und  Erniedrigung  Deutschlands.  Die 
Alliierten  hatten  recht,  wenn  sie  feststellten,  daß  es  un- 
möglich sei,  einen  diesen  Wünschen  entsprechenden  Frieden 
jetzt  schon  zu  erzielen;  denn  nur  von  einem  völlig  nieder- 
geworfenen Gegner  konnten  sie  annehmen,  daß  er  solche 
Bedingungen  auch  nur  einen  Augenblick  zur  Diskussion 
stellen  lassen  würde. 

Der  Fall  lag  also  klar:  Die  Mittelmächte  w^aren  bereit, 
über  einen  Frieden  zu  sprechen,  der  ihr  Verteidigungs- 
ziel erfüllte  und  Ehre,  Dasein  und  Entwicklungsfreiheit 
ihrer  Völker  sicherte ; die  Entente  lehnte  eine  Verhandlung 
auf  dieser  Grundlage  mit  der  offenen  Begründung  ab, 
daß  sie  auf  der  Zertrümmerung,  Verstümmelung  und 


378 


Vernichtungswille  der  Gegner 


Erniedrigung  der  Mittelmächte  bestehe,  ein  ,,Friedenszier‘, 
für  das  auch  nach  ihrer  Auffassung  die  Mittelmächte  noch 
nicht  reif  waren. 

Wie  Herr  Wilson  sich  zu  dieser  Antwort  stellte,  werden 
wir  später  sehen. 

Der  uneingeschränkte  U-Bootkrieg 

Die  deutsche  Note  vom  4.  Mai  1916  hatte  den  U-Boot- 
krieg auf  den  Kreuzerkrieg  zurückgeführt  und  dadurch 
den  Frieden  mit  Amerika  erhalten.  Damit  war  die  äußerste 
Erschwerung  vermieden  worden  für  eine  Zeit,  die  uns 
erst  den  gewaltigen  Stoß  der  Russenoffensive  in  Wolhynien 
und  Galizien  und  die  erfolgreiche  Erneuerung  der  italie- 
nischen Offensive  am  Isonzo,  dann  die  an  Einsatz  und 
Dauer  alles  übertreffenden  Angriffe  der  Franzosen  und 
Engländer  an  der  Somme  und  schließlich  den  rumänischen 
Überfall  brachte. 

Wir  hatten  uns  Amerika  gegenüber  für  die  Führung 
des  U-Bootkrieges  freie  Hand  Vorbehalten  für  den  Fall, 
daß  unsere  Erwartung,  es  möchte  der  Regierung  der 
Vereinigten  Staaten  gelingen,  die  Beobachtung  der  völker- 
rechtlichen Normen  der  Seekriegführung  auch  bei  England 
durchzusetzen,  sich  nicht  erfüllen  sollte. 

Die  Erwartung  erfüllte  sich  nicht.  Von  irgendwelchen 
ernstlichen  Versuchen  der  amerikanischen  Regierung, 
England  und  die  übrigen  Ententemächte  zur  Aufgabe 


379 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


ihrer  völkerrechtswidrigen  Handels-  und  Hungerblockade 
zu  veranlassen,  ist  in  der  Folgezeit  nichts  bekannt 
geworden. 

Die  Propaganda  zugunsten  des  uneingeschränkten 
U-Bootkrieges  war  unter  dem  Eindruck  der  unmittelbaren 
Gefahr  des  Bruches  mit  Amerika  vorübergehend  ab- 
geflaut. Im  Laufe  des  Sommers  kam  sie  neu  in  Gang. 
Auch  die  Marine  begann,  die  Frage  des  U-Bootkrieges 
wieder  aufzunehmen,  zumal  da  der  gewaltige  Einsatz 
von  Material  in  der  Sommeschlacht  die  Erwägung  nahe- 
legte, ob  nicht  unseren  Feinden  die  Zuführung  dieses 
Materials  durch  eine  wirksamere  Gestaltung  des  U-Boot- 
krieges einigeruiaßen  verknappt  werden  könnte.  Auch 
von  dem  Admiral  von  Capelle,  der  im  Frühjahr  noch  müt 
aller  Entschiedenheit  die  Meinung  vertreten  hatte,  daß 
die  auf  den  unbeschränkten  U-Bootkrieg  gesetzten  Hoff- 
nungen seiner  Befürworter  übertrieben  seien  und  daß 
angesichts  des  zweifelhaften  Erfolges  die  politischen  Be- 
denken den  Ausschlag  geben  müßten,  hatte  ich  den  Ein- 
druck, daß  er  mehr  und  mehr  auf  den  Standpunkt  kam, 
wenn  jetzt  die  Oberste  Heeresleitung  den  unbeschränkten 
U-Bootkrieg  zur  Entlastung  der  schwer  käuipfenden 
Westfront  verlange,  dann  werde  die  Marine  ihre  Hilfe 
nicht  verweigern  können,  auch  wenn  man  diese  Hilfe 
bescheiden  veranschlage. 

Inzwischen  war  der  U-Boothandelskrieg  um  England 
herum  gänzlich  oder  fast  gänzlich  eingestellt  worden. 


380 


Wiederaufnahme  der  U-Bootfrage 


während  er  im  Mittelländischen  Meer  mit  leidlichem  Er- 
folg in  den  Formen  des  Kreuzerkrieges  fortgesetzt  wurde. 
Die  Versenkungen  gingen  nach  den  Angaben  des  Admiral- 
stabs von  225000  Tonnen  im  Monat  April  1916  auf  loiooo 
Tonnen  im  Juni  1916  zurück. 

Gegen  Ende  August  1916  nahm  der  Chef  des  Admiral- 
stabs die  U-Bootfrage  offiziell  wieder  auf.  Er  teilte  dem 
Reichskanzler  mit,  daß  er  nach  genauer  Prüfung  der  Ver- 
hältnisse die  Überzeugung  gewonnen  habe,  daß  jetzt  der 
Zeitpunkt  für  die  Aufnahme  des  uneingeschränkten 
U-Bootkriegs  gekommen  sei,  und  beantragte  eine  als- 
baldige Beratung  der  Angelegenheit. 

Diese  Beratung  fand  am  31.  August  1916  im  Großen 
Hauptquartier  zu  Pleß  statt.  Es  nahmen  an  ihr  Teil  der 
Reichskanzler,  der  neuernannte  Chef  des  Generalstabs 
Generalfeldmarschall  von  Hindenburg,  General  Ludendorff, 
der  Chef  des  Admiralstabs  Admiral  von  Holtzendorff, 
Admiral  von  Koch,  der  Kriegsminister  General  Wild  von 
Hohenborn,  der  Staatssekretär  des  Auswärtigen  Amts  von 
Jagow  und  ich  als  Staatssekretär  des  Innern  und  Stell- 
vertreter des  Reichskanzlers.  Die  gesamte  politische, 
militärische  und  wirtschaftliche  Lage  wurde  auf  das 
genaueste  durchgesprochen,  ebenso  die  technischen  Mög- 
lichkeiten und  die  militärischen  und  wirtschaftlichen 
Wirkungen  des  U-Bootkrieges.  Die  Lage  wurde  in  erster 
Linie  beherrscht  durch  die  rumänische  Kriegserklärung 
und  den  Einmarsch  starker  rumänischer  Truppen  nach 


381 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkiieg 


Siebenbürgen.  Alle  Truppen,  die  wir  irgendwo  verfügbar 
machen  konnten,  mußten  gegen  Rumänien  geworfen 
werden.  Gegenüber  Eventualitäten,  wie  sie  ein  Bruch  mit 
Amerika  und  ein  starker  kombinierter  Druck  der  Entente 
und  der  Vereinigten  Staaten  auf  die  uns  benachbarten 
Neutralen  hervorrufen  konnten,  war  nichts  vorgekehrt 
und  konnte  in  der  nächsten  Zeit  nichts  vorgekehrt  werden. 
Unter  diesen  Umständen  sprachen  sich  die  Generale  von 
Hindenburg  und  Ludendorff  dahin  aus,  daß  bis  zur  Er- 
ledigung der  rumänischen  Gefahr  die  Oberste  Heeres- 
leitung eine  Verantwortung  für  die  Einleitung  des  un- 
eingeschränkten U-Bootkrieges  nicht  übernehmen  könne. 

Der  Verlauf  der  Beratung  ließ  keinen  Zweifel  daran 
bestehen,  daß  die  beiden  Generale  an  sich  dem  uneinge- 
schränkten U-Bootkrieg  zuneigten.  Es  war  zu  erwarten, 
daß  sie  auf  die  Frage  zurückkommen  würden,  sobald  dies 
der  Verlauf  der  müitärischen  Operationen  in  Rumänien 
gestattete.  Die  öffentliche  Meinung  war  durch  die  unaus- 
gesetzte Bearbeitung  seitens  der  Befürworter  des  rmein- 
geschränkten  U-Bootkrieges  immer  mehr  für  die  Über- 
zeugung gewonnen  worden,  daß  wir  mit  den  U-Booten 
eine  Waffe  in  der  Hand  hätten,  die  uns  bei  richtiger  An- 
wendung gestatte,  binnen  weniger  Monate  England  auf 
die  Knie  zu  zwingen  und  damit  allen  den  Opfern  und 
Leiden  des  Krieges  ein  Ende  zu  machen.  Auch  in  den 
Reichstagsparteien,  die  bisher  in  der  U-Bootfrage  Zurück- 
haltung gezeigt  hatten,  so  im  Zentrum  und  bei  den 


382 


Hauptquartier  und  Reichstag  zum  U-Bootkrieg 


Freisinnigen,  blieb  die  U-Bootkrieg-Propaganda  nicht  ohne 
Wirkung. 

Dies  zeigte  sich,  als  Anfang  Oktober  1916  der  Haupt- 
ausschuß des  Reichstages  sich  erneut  mit  der  U-Boot- 
frage befaßte. 

Die  Stimmung  des  Ausschusses  war  gegenüber  dem 
Monat  März,  in  dem  die  letzte  U-Bootdiskussion  statt- 
gefunden hatte,  merkbar  verändert.  Zudem  glaubte  der 
Ausschuß  aus  der  Rede,  mit  der  Herr  von  Bethmann  die 
Erörterung  einleitete,  und  noch  mehr  aus  der  Rede  des 
Admirals  von  Capelle,  die  auf  die  Kanzle n*ede  folgte, 
eine  Verminderung  des  Widerstandes  gegen  den  unein- 
geschränkten U-Bootkrieg  herauslesen  zu  können.  Auch 
wirkten  auf  die  Urteilsbildung  der  Abgeordneten  einige 
sachliche  Momente  stark  ein,  die  zweifellos  die  Aus- 
sichten eines  Erfolges  des  uneingeschränkten  U-Bootkrieges 
verbessert  hatten,  so  die  wesentliche  Vermehrung  der 
Anzahl  und  die  erhebliche  Verbesserung  der  Leistungs- 
fähigkeit der  U-Boote  seit  Jahresbeginn,  ferner  die  Be- 
drohung der  Versorgung  Englands  mit  Brotgetreide  durch 
eine  mäßige  Ernte  im  eigenen  Lande  und  eine  maßlos 
schlechte  Ernte  in  den  Vereinigten  Staaten  und  Kanada. 
Dazu  kam  die  wachsende  Erbitterung  gegen  die  Vereinigten 
Staaten,  die  unsere  Gegner  in  immer  größerem  Umfang 
mit  Kriegsmaterial  unterstützten,  ja  ihnen  dadurch  die 
Sommeschlacht  in  ihren  ungeheuren  Abmessungen  über- 
haupt erst  möglich  machten,  und  die,  nachdem  wir  uns 


383 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


ihrem  Druck  in  der  U-Bootfrage  gefügt  hatten,  augen- 
scheinlich keinen  Finger  rührten,  um  England,  das  seinen 
Hungerkrieg  gegen  uns  und  die  uns  benachbarten  Neu- 
tralen immer  mehr  verschärfte,  auf  den  Boden  des  Völker- 
rechts zurückzuführen.  Ich  hatte  einen  schweren  Stand, 
^^egenüber  der  hierdurch  erzeugten  Stimmung  für  Be- 
sonnenheit und  Erwägung  der  uns  aus  einem  Übergang 
zum  uneingeschränkten  U-Bootkrieg  drohenden  Gefahren 
einzutreten. 

In  meinen  Erwiderungen  auf  Ausführungen  aus  der 
Mitte  der  Kommission  bemühte  ich  mich,  die  Sachlage 
mit  aller  Ruhe  und  Objektivität  darzustellen.  Ich  gab 
ohne  weiteres  zu,  daß  durch  die  Gestaltung  der  Welt- 
ernte des  Jahres  1916  die  Möglichkeit  gewachsen  sei, 
Englands  Ernährung  durch  den  U-Bootkrieg  zu  erschweren, 
vielleicht  sogar  zu  gefährden.-  Englands  eigene  Ernte  an 
Brotgetreide  hatte  im  Jahre  1916  nur  6 Millionen  Quarters, 
gegen  8,7  Millionen  Quarters  im  Vorjahre  ergeben.  Die 
Weizenemte  der  Vereinigten  Staaten  und  Kanadas  wurde 
für  1916  auf  nur  21^/2  Millionen  Tonnen  geschätzt  gegen 
37  V2  Millionen  Tonnen  im  Vorjahre.  Dabei  hatte  England 
im  abgelaufenen  Erntejahre  aus  diesen  beiden  zunächst 
gelegenen  Gebieten  nicht  weniger  als  88%  seines  Einfuhr- 
bedarfs gedeckt.  Ein  Zurückgreifen  auf  Argentinien  oder 
gar  auf  Indien  und  Australien  war  angesichts  des  fühl- 
baren Mangels  an  Frachtraum  außerordenthch  erschwert; 
denn  der  Frachtweg  aus  diesen  Gebieten  nach  England 


3S4 


Beratungen  im  Hauptausschuß  des  Reichstages 


war  zwei-  bis  dreimal  so  lang  wie  der  Frachtweg  aus  Nord- 
amerika, die  Heranführung  derselben  Gietreidemenge  er- 
forderte also  den  zwei-  bis  dreifachen  Schiffsraum.  Die 
sichtbaren  Getreidevorräte  Englands  waren  in  der  zweiten 
Septemberhälfte  1916,  nach  Einbringung  der  englischen 
Ernte,  zum  erstenmal  niedriger  als  zur  gleichen  Zeit  des 
Vorjahres;  sie  betrugen  8,6  gegen  10,6  Millionen  Quarters, 
während  sie  sich  zu  Anfang  Mai  1916  um  1,8  Millionen 
Quarters  höher  gestellt  hatten  als  Anfang  Mai  1915. 

Aber  ich  konnte  nicht  umhin,  diesem  für  den  Erfolg 
des  uneingeschränkten  U-Bootkrieges  günstiger  gewor- 
denen Moment  gewichtige  Zweifel  entgegenzustellen. 

Schon  auf  dem  Gebiet  der  Brotgetreideversorgung  Eng- 
lands durften  die  großen  amerikanischen  Bestände  aus 
der  vorjährigen  Ernte  nicht  vernachlässigt  werden.  Ob 
es  möglich  sein  würde,  die  Zufuhren  aus  diesen  Beständen 
und  der  allerdings  knappen  neuen  Ernte  im  Wege  des 
uneingeschränkten  U-Bootkrieges  so  weit  zu  verringern, 
daß  sie  zur  Ergänzung  des  in  England  liegenden,  für 
mindestens  4^/2  Monate  genügenden  Bestandes  nicht  aus- 
reichen würden,  war  zum  mindesten  eine  offene  Frage. 

Ebenso  mußte  ich  den  Berechnungen  entgegentreten, 
die  beweisen  sollten,  daß  eine  monatliche  Versenkung 
von  600  000  Tonnen  Handelsschiffsraum  genügen  werde, 
um  England  innerhalb  einer  bestimmten  Zeit  — es  wurde 
von  6 bis  8 Monaten  gesprochen  — auf  die  Knie  zu  zwingen 
oder  wenigstens  mürbe  zu  machen.  Ich  stellte  fest,  daß 


25  Helfferich,  Weltkrieg  II 


385 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


die  britische  Handelsflotte  (ohne  diejenige  der  Dominions 
und  Besitzungen)  nach  den  letzten  Ausweisen  im  Juni 
1916  noch  18  825  000  Bruttotonnen  stark  war.  Ich 
gab  zu,  daß  davon  etwa  7 Millionen  für  militärische 
Zwecke  in  Anspruch  genommen  seien  und  daß  die 
für  den  privaten  Handelsverkehr  verbleibenden  rund 
12  Millionen  im  Laufe  von  6 bis  8 Monaten  durch  den 
uneingeschränkten  U-Bootkrieg  auf  8 Millionen  Tonnen 
verringert  werden  könnten.  Aber  ich  gab  zu  bedenken, 
daß  die  britische  Handelsflotte  vor  dem  Kriege  fast  die 
Hälfte  der  gesamten  Handelsflotte  der  Welt  ausgemacht 
hatte,  daß  sie  nicht  nur  für  England,  sondern  für  die 
halbe  Welt  die  Seefrachten  besorgt  hatte,  daß  Deutsch- 
lands Handelsflotte,  nach  England  die  größte  der  Welt, 
vor  dem  Kriege  gerade  erst  über  5 Millionen  Bruttotonnen 
hinausgewachsen  war  und  daß  wir  mit  diesen  5 Millionen 
Tonnen  über  unsere  eigene  Versorgung  hinaus  uns  gleich- 
falls einen  ansehnlichen  Anteil  am  internationalen  Fracht- 
verkehr hatten  sichern  können.  Dazu  kam  für  England 
die  Möglichkeit,  im  Notfall  auf  den  für  militärische  Zwecke 
in  Anspruch  genommenen  Frachtraum  zurückzugreifen. 
Ich  zog  daraus  die  Folgerung:  ,, Niemand  in  der  ganzen 
Welt  wird  mit  Sicherheit  behaupten  können,  England 
werde  nach  sechs  oder  acht  Monaten  wegen  Frachtraum- 
mangels nicht  mehr  in  der  Lage  sein,  weiterzukämpfen.“ 
Ferner  warnte  ich  davor,  die  britische  Zähigkeit,  die 
Möglichkeit  für  die  Engländer,  sich  in  ähnlicher  Weise 


386 


Beratungen  im  Hauptausschuß  des  Reichstages 


einzuschränken,  wie  wir  es  hatten  tun  müssen,  schließlich 
die  britische  Fähigkeit,  zu  organisieren,  allzu  niedrig 
einzuschätzen. 

Vor  allem  aber  hob  ich  die  Gefahren  eines  Bruches  und 
Krieges  mit  den  Vereinigten  Staaten  hervor.  Aus  der 
Mitte  des  Ausschusses  wurde  die  Ansicht  geäußert,  daß 
Amerika  wegen  des  U-Bootkrieges  nicht  mit  uns  brechen 
oder  jedenfalls  nicht  Krieg  mit  uns  machen  werde.  Dem- 
gegenüber führte  ich  aus:  ,,Ich  habe  im  Laufe  der  Zeit 
von  allen  den  Leuten,  die  aus  Amerika  herübergekommen 
sind  und  die  ich  gesehen  habe,  nie  eine  andere  Ansicht 
gehört  als  die:  Wenn  ihr  den  rücksichtslosen  U-Bootkrieg 
anfangt,  dann  habt  ihr  den  Bruch  und  den  Krieg  mit 
Amerika.'' 

Den  immer  wieder  hervortretenden  Zweifeln,  ob  Ame- 
rika, wenn  es  uns  den  Krieg  erkläre,  der  Entente  erheblich 
mehr  nutzen  und  uns  erheblich  mehr  schaden  könne  wie 
jetzt  schon  im  Zustand  der  sogenannten  Neutralität, 
konnte  ich  nicht  beitreten.  Ich  legte  dar,  daß  die  finanzielle 
Hilfe,  die  von  den  Amerikanern  den  Ententemächten 
bisher  nur  in  verhältnismäßig  engen  Grenzen  und  zu  recht 
schweren  Bedingungen  gewährt  worden  war,  ohne  weiteres 
einer  ganz  erheblichen  Steigerung  fähig  sei;  daß  ferner 
die  amerikanische  Stahlproduktion,  die  mit  40  Millionen 
Tonnen  jährlich  fast  dreimal  so  groß  war  wie  die  unserige, 
den  Amerikanern  im  Falle  ihres  Eintritts  in  den  Krieg  eine 
gewaltige  Steigerung  ihrer  Erzeugung  von  Kriegsgerät 

387 


25* 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


nnd  Material  ermögliche;  daß  schließlich  die  Gefahr  der 
Unterstützung  der  Entente  durch  Truppensendungen  kein 
Hirngespinst  sei.  ,,Die  Schwierigkeiten,  mit  denen  wir 
zu  kämpfen  haben, so  führte  ich  aus,  ,, liegen  doch  zum 
großen  Teil  darin,  daß  die  andern  die  große  Überlegenheit 
an  Menschenmaterial  haben.  Glauben  Sie  unsere  Position 
dadurch  zu  verbessern,  wenn  Sie  ein  kultiviertes  Land  mit 
einer  starken,  kräftigen  Rasse,  mit  mehr  als  loo  Millionen 
Einwohnern  auf  die  andere  Seite  werfen?“  Auch  die  Hoff- 
nung, daß  es  unsem  U-Booten  gelingen  werde,  Munitions- 
und Mannschaftstransporte  von  Amerika  nach  dem  west- 
lichen Kriegsschauplatz  zu  verhindern,  konnte  ich  nicht 
ohne  Widerspruch  lassen,  obwohl  ich  wußte,  daß  diese 
Hoffnung  von  maßgebenden  Persönlichkeiten  in  der  Marine 
geteüt  wurde.  „Mein  Optimismus  geht  jedenfalls  nicht 
so  weit,  zu  bezweifeln,  daß  Amerika  im  Kriegsfall  beträcht- 
liche Mengen  von  Truppen  herüberschaffen  kann,  auch 
angenommen,  daß  wir  manchen  Transportdampfer  ver- 
senken. In  Saloniki  sollen  noch  400  000  Mann  und  mehr 
stehen.  Diese  ganze  Armee  ist  antr ansportiert  worden 
und  erhält  ihren  Nachschub  an  Ersatz,  Munition  und  Pro- 
viant, trotzdem  unsere  U-Boote  ihre  Tätigkeit  im  Mittel- 
meer ausüben.  Die  Truppentransportdampfer  sind  eben  auf 
ihrer  Fahrt  viel  besser  gesichert  als  andere  Dampfer.“ 
Auch  die  Wirkungen  eines  Krieges  mit  Amerika  auf 
unsern  späteren  Wiederaufbau  bat  ich  zu  berücksichtigen. 
Die  Wiederherstellung  unserer  Außenbeziehungen  nach 


388 


Beratungen  im  Hauptausschuß  des  Reichstages 


dem  Krieg  sei  viel  schwerer,  als  die  meisten  es  sich  denken. 
,,Wenn  aber  die  Neutralität  überhaupt  aufgehört  hat, 
dann  kann  dasjenige,  was  heute  die  Entente  träumt,  Wirk- 
lichkeit werden,  nämlich  der  Wirtschaftskrieg  nach  dem 
Krieg;  dann  mögen  wir  noch  für  Jahre  der  boykottierte 
Hund  sein,  dem  kein  Mensch  auf  der  ganzen  Welt  ein  Stück 
Brot  gibt.“ 

Vor  allem  aber  müßten  wir  uns  eines  vor  Augen  halten : 
,,Wenn  die  Karte  des  rücksichtslosen  U-Bootkriegs  aus- 
gespielt wird  und  sie  sticht  nicht,  dann  sind  wir  verloren, 
dann  sind  wir  auf  Jahrhunderte  hinaus  verloren.“ 

Meine  Ausführungen  machten  wohl  einigen  Eindruck, 
vermochten  aber  nicht,  einen  entscheidenden  Erfolg  zu 
erzielen.  Ich  hatte  Veranlassung,  in  der  Diskussion  mehr- 
fach auf  meine  Bedenken  zurückzukommen  und  den  eif- 
rigen Verfechtern  des  uneingeschränkten  U-Bootkriegs 
zu  sagen:  ,,Wir  wollen  doch  klar  sehen,  wir  wollen  doch 
genau  wissen,  wie  die  Dinge  liegen;  und  sollte  der  U-Boot- 
krieg gemacht  werden,  so  soll  niemand  da  sein,  der  nachher, 
wenn  die  Sache  etwa  schief  geht,  sagen  kann:  Ja,  wenn 
man  dies  und  jenes  uns  gesagt  hätte,  wenn  diejenigen, 
die  an  verantwortlicher  Stelle  stehen,  auf  dies  und  jenes 
hingewiesen  hätten.“ 

Der  Kanzler  konnte  sich  darauf  berufen,  er  befinde  sich 
in  der  Beurteilung  der  Sachlage  in  Übereinstimmung  mit 
der  Obersten  Heeresleitung.  Diesem  Umstand  war  es  mehr 
als  allen  Gründen  zu  verdanken,  daß  im  Hauptausschuß 

389 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


ein  ausdrücklicher  Mehrheitsbeschluß  zugunsten  des  un- 
eingeschränkten U-Bootkrieges  verhindert  werden  konnte. 
Aber  wenn  auch  kein  förmlicher  Beschluß  zustande  kam,  so 
konnte  doch  der  Verlauf  der  Debatte  keine  Zweifel  daran 
lassen,  wie  die  Mehrheit  der  Kommission  zu  dem  U-Bootkrieg 
stand.  Vor  allem  fiel  ins  Gewicht,  daß  die  Zentrumsfraktion, 
die  bisher  in  ihrer  großen  Mehrheit  den  Kanzler  in  seiner 
Stellungnahme  zum  U-Bootkrieg  gedeckt  hatte,  folgende 
Erklärung  am  7.  Oktober  1916  zu  den  Akten  des  Haupt- 
ausschusses  gab: 

,, Namens  sämtlicher*  Fraktionsmitglieder  der  Zen- 
trumsfraktion im  Ausschuß  für  den  Reichshaushalt  ist 
folgende  Erklärung  abgegeben  worden: 

„Für  die  politische  Entscheidung  über  die  Kriegführung 
ist  dem  Reichstag  gegenüber  der  Reichskanzler  allein  ver- 
antwortlich. Die  Entscheidung  des  Reichskanzlers  wird 
sich  dabei  wesentlich  auf  die  Entschließung  der  Obersten 
Heeresleitung  zu  stützen  haben.  Fällt  die  Entscheidung 
für  die  Führung  des  rücksichtslosen  Unterseebootkrieges 
aus,  so  darf  der  Reichskanzler  des  Einverständnisses  des 
Reichstags  sicher  sein.“ 

Diese  Erklärung  der  bei  den  Parteiverhältnissen^  des 
Reichstags  ausschlaggebenden  Fraktion  war  nicht  nur  eine 
Blankovollmacht,  sondern  geradezu  eine  Aufforderung  an 
den  Reichskanzler,  in  der  U-Bootfrage  den  Entschlie- 
ßungen der  Obersten  Heeresleitung  zu  folgen.  Die  Oberste 

• Im  amtlichen  Original  gesperrt  gedruckt. 


390 


Erklärung  der  Zentrumsfraktion 


Heeresleitung,  der  natürlich  der  Gang  der  Verhandlungen 
im  Hauptausschuß  und  die  Zentrumserklärung  nicht  ver- 
borgen blieben,  wußte  nunmehr,  daß  der  Reichskanzler, 
wenn  er  einem  Verlangen  der  Obersten  Heeresleitung  nach 
Eröffnung  des  uneingeschränkten  U-Bootkrieges  künftig- 
hin sich  widersetzen  sollte,  nicht  mehr  auf  die  Deckung 
durch  den  Reichstag  würde  rechnen  können. 

In  der  für  die  weitere  Entwicklung  des  Krieges  ent- 
scheidenden Frage  war  damit  die  Stellung  des  verantwort- 
lichen Leiters  der  deutschen  Politik  gegenüber  der  Obersten 
Heeresleitung  in  einer  geradezu  verhängnisvollen  Weise 
geschwächt. 

Jeder  Krieg  birgt  den  Keim  von  Konflikten  zwischen 
der  militärischen  Gewalt  und  der  politischen  Leitung  in 
sich.  Der  Krieg  als  ,, Mittel  der  Politik“  ist  ein  gewaltsames 
und  herrschsüchtiges  Mittel,  das,  einmal  in  Wirkung  ge- 
setzt, eigenen  Gesetzen  zu  folgen  sucht.  Es  bedarf  einer 
starken  Willenskraft  und  einer  starken  Autorität  der  po- 
litischen Leitung,  um  Herr  über  den  ungebärdigen  Diener 
zu  bleiben  und  zu  verhindern,  daß  das  Mittel  den  Platz 
des  Zweckes  usurpiert.  Wenn  die  Gefahr  solcher  Kon- 
flikte in  irgendeinem  Lande  besonders  groß  war,  dann 
in  Deutschland.  Eine  eiserne  militärische  Erziehung  hatte 
unser  Volk  aus  Zerrissenheit,  Ohnmacht  und  Elend  zu 
Einheit,  Macht  und  Wohlstand  emporgeführt,  hatte  unser 
Land,  das  Jahrhunderte  hindurch  das  Schlachtfeld  fremder 
Völker  gewesen  war,  befreit  und  gesichert,  hatte  die 


391 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Grundlagen  geschaffen,  auf  denen  unser  Volk  in  friedlicher 
Arbeit  sich  ein  wohnliches  Haus  bauen  konnte.  Die  Leidens- 
geschichte von  Jahrhunderten  war  es,  die  unsermVolk  die 
Achtung  vor  der  militärischen  Macht  und  ihren  Vertretern 
anerzogen  hatte.  Mehr  noch  als  unser  Volk  stand  die  Hohen- 
zoUerndynastie,  deren  Oberhaupt  uns  die  Reichseinheit 
verkörperte,  auf  der  militärischen  Tradition.  Auch  ein 
an  sich  durchaus  friedlich  gerichteter  Charakter  wie 
Wilhelm  II.  war  in  den  großen  militärischen  Überlieferungen 
seines  Hauses  befangen;  ja  man  kann  sagen,  je  weniger  er 
innerlich  Krieger  und  Feldherr  war,  desto  stärker  stand  er 
unter  dem  Bann  derjenigen,  die  Soldatengeist  und  Feld- 
herrn tum  kraftvoll  verkörperten. 

Die  schweren  Konflikte,  die  ein  Bismarck,  trotz  seiner 
überragenden  Persönlichkeit  und  seiner  bei  König  und 
Volk  fest  begründeten  Autorität,  im  Deutsch-Französischen 
Krieg  mit  den  militärischen  Gewalthabern  durchzukämpfen 
hatte,  sind  bekannt.  Dabei  dauerte  dieser  Krieg  knapp  neun 
Monate.  In  dem  von  Jahr  zu  Jahr  sich  hinziehenden  Welt- 
krieg verfügten  wir  über  keinen  Staatsmann,  dessen  Auto- 
rität auf  dem  festen  Fundament  politischer  Großtaten 
begründet  war  und  dessen  Persönlichkeit  auf  Volk  und 
Kaiser  eine  bismarckische  Wirkung  auszuüben  ver- 
mochte. Dagegen  erstrahlte  seit  der  Tannenberger 
Schlacht  das  militärische  Doppelgestirn  Hindenburg  und 
Ludendorff  in  vollstem  Glanz.  Das  deutsche  Volk  ist, 
trotz  all  des  Schrecklichen,  das  wir  jetzt  erleben,  im 


392 


Militärische  Gewalt*  und  politische  Leitung 


Grunde  seines  Wesens  autoritätsbedürftig.  Seine  ganze 
Hingabe  und  seine  ganze  Hoffnung  setzte  es  auf  die  beiden 
Generale,  die  gleich  zu  Anfang  des  Krieges  in  einer  Waffen- 
tat ohnegleichen  das  ostpreußische  Land  von  den  rus- 
sischen Horden  befreit  hatten  und  die  im  weiteren  Gang 
des  Krieges  mehr  als  alle  andern  Feldherrn  durch  ihre 
gewaltigen  Schläge  die  Begeisterung  des  deutschen  Volkes 
an  sich  fesselten.  Dazu  kam  der  Eindruck  der  menschlich 
großen  Persönlichkeit  des  Feldmarschalls  und  der  eisernen 
Willenskraft  wie  des  lodernden  Temperaments  des  Ge- 
nerals Ludendorff.  Als  der  Kaiser  Hindenburg  den  ,, Heros 
des  deutschen  Volkes“  nannte,  da  sprach  er  aus  aller  Herzen 
und  vor  allem  aus  seinem  eigenen.  Gegen  Ludendorff 
hatte  er  eine  gefühlsmäßige  Abneigung,  aus  der  heraus  er 
sich  ursprünglich  gegen  die  Berufung  der  beiden  an  die 
Spitze  der  Obersten  Heeresleitung  sträubte.  Auch  später- 
hin ist  er  mit  Ludendorff  nie  warm  geworden,  ja  er  hat 
mitunter  bei  vertraulichen  Unterhaltungen  in  heftiger 
Aufwallung  seinem  Unmut  über  Ludendorff  Luft  gemacht; 
aber  gleichwohl  stand  er  im  Banne  von  Ludendorffs  Wil- 
lensstärke, und  vor  allem  unterwarf  er  sich  der  Überzeu- 
gung, daß  Hindenburg  und  Ludendorff,  die  untrennbar 
waren,  in  der  Leitung  der  militärischen  Operationen  uner- 
setzlich seien. 

Es  war  eine  Wirkung  und  gleichzeitig  eine  Verstärkung 
des  Übergewichts  der  Heeresleitung  über  die  politische 
Leitung,  wenn  jetzt  die  stärkste  Fraktion  des  Reichstags 


393 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


eine  Erklärung  abgab,  die  unzweideutig  die  Entscheidung 
über  die  Schicksalsfrage  des  U-Bootkriegs  in  die  Hände 
von  Hindenburg  und  Ludendorff  legte, 
i Wer  Ludendorffs  Persönlichkeit  kannte,  der  mußte 
wissen,  daß  die  Forderung  der  Obersten  Heeresleitung  auf 
Eröffnung  des  uneingeschränkten  U-Bootkriegs  nicht 
lange  auf  sich  warten  lassen  würde.  Und  dann  wurde, 
das  stand  jetzt,  wo  der  Kanzler  auch  des  parlamenta- 
rischen Rückhaltes  beraubt  war,  für  jeden  Kenner  der 
Persönlichkeiten  und  Verhältnisse  so  gut  wie  unumstöß- 
lich fest,  der  U-Bootkrieg  gemacht.  Nichts  war  mehr  stark 
genug,  dies  zu  verhindern.  Der  ganze  Ingrimm  darüber, 
daß  wir  seit  mehr  als  zwei  Jahren  ohne  Gegenwehr  den 
schändlichen  Hungerkrieg  Englands  über  uns  hatten  er- 
gehen lassen  müssen,  während  wir  nach  den  Erklärungen 
der  höchsten  Marine-Autoritäten  über  ein  sicheres  Mittel 
verfügten,  den  Hungerkrieg  zu  brechen,  auf  einen  Schelmen 
anderthalb  zu  setzen  und  dem  Kriegsjammer  in  kurzer 
Zeit  ein  Ende  zu  machen  — der  ganze  Ingrimm  darüber, 
daß  Amerika  uns  den  Gebrauch  dieser  Waffe  verwehrte, 
während  es  den  Hungerkrieg  des  Feindes  gewähren  ließ 
und  die  Ententearmeen  zu  ihren  furchtbaren  Offensiven 
mit  Kriegsgerät  und  Munition  ausstattete  — dieser  In- 
grimm war  nicht  mehr  zu  bändigen  und  zu  halten  in  dem 
Augenblick,  wo  Hindenburg  und  Ludendorff  den  von  der 
Reichstagsmehrheit  im  voraus  gebilligten  uneingeschränk- 
ten U-Bootkrieg  vom  Kanzler  verlangten. 


394 


Gutes  Ergebnis  des  U-Boot-Kreuzerkrieges 


Es  gab  nur  einen  Ausweg,  und  das  war  die  Herbeiführung 
von  Friedensverhandlungen;  ein  Ausweg,  den  auch  — wie 
oben  dargestellt  — in  jener  Zeit  die  Entwicklung  der  ge- 
samten Kriegslage  nahelegte  und  für  den  es  gelang,  so- 
wohl die  Oberste  Heeresleitung  wie  vor  allem  auch  den 
Kaiser  zu  gewinnen. 

[/  In  der  Zwischenzeit  konnten  die  Wirkungen  des  U-Boot- 
kriegs  auch  innerhalb  der  in  den  Formen  des  Kreuzer- 
kriegs gegebenen  Beschränkung  wesentlich  gesteigert 
werden.  Der  Admiralstab  hatte  — wie  oben  erwähnt  — 
nach  dem  Abschluß  der  Verhandlungen  mit  Amerika 
über  den  Sussex-Fall  den  U-Bootkrieg  gegen  Handels- 
schiffe in  den  britischen  Gewässern  gänzlich  eingestellt 
und  die  U-Boote  in  der  Nordsee  nur  noch  zu  rein  militäri- 
schen Zwecken  verwendet.  Im  Oktober  1916.  entschloß  sich 
der  Admiralstab  trotz  der  Erschwerungen,  die  der  Kreuzer- 
krieg für  U-Boote  gerade  in  den  britischen  Gewässern  wegen 
der  vervollkommneten  Abwehrmaßnahmen  bot,  auch  dort 
den  U-Bootkrieg  gegen  Handelsschiffe  in  den  Formen  des 
Kreuzer krieges  wieder  aufzunehmen.  Der  Erfolg  war 
ansehnlich.  Die  im  U-Bootkrieg  versenkte  Tonnage  stieg 
von  loi  000  Tonnen  im  Juni  und  103  000  Tonnen  im  Juli 
auf  394  000  im  Oktober  und  416  000  im  Dezember  1916. 

Aber  der  Admiralstab  ließ  sich  mit  diesen  Erfolgen  nicht 
genügen. 

Zunächst  drängte  er  darauf,  daß  der  ,, verschärfte 
U-Bootkrieg“,  d.  i.  der  uneingeschränkte  U-Bootkrieg 


395 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


gegen  die  bewaffneten  feindlichen  Handelsschiffe  ^^neder 
aufgenommen  werde.  Er  wußte  für  diesen  Gedanken 
auch  die  Oberste  Heeresleitung  zu  gewinnen,  die  mit  ihrer 
Forderung  dringend  wmrde,  nachdem  die  leitenden  Staats- 
männer der  Entente  sich  in  ihren  unmittelbar  auf  unsem 
Friedens  Vorschlag  folgenden  Reden  scharf  ablehnend  aus- 
gesprochen hatten.  Eine  amtliche  Antwort  der  Entente- 
mächte auf  unsern  Vorschlag  lag  noch  nicht  vor;  der  Frie- 
densschritt des  Präsidenten  Wilson  war  gerade  erst  er- 
folgt. Die  elementarste  politische  Klugheit  gebot,  einst- 
weilen noch  stillzuhalten,  auch  wenn  man  sich  nach  den 
Reden  der  feindlichen  Staatsmänner  damit  abfinden  niußte, 
daß  es  nicht  zu  Friedensverhandlungen  kommen  werde. 

Am  Abend  des  28.  Dezember  1916  reiste  der  Kanzler 
mit  dem  Staatssekretär  Zimmermann  und  mir  nach  dem 
Großen  Hauptquartier.  Wir  besprachen  auf  der  Fahrt 
die  U-ßootfrage.  Die  Oberste  Heeresleitung  hatte  die 
sofortige  Absendung  einer  Note  an  die  Vereinigten  Staaten 
über  die  Eröffnung  des  uneingeschränkten  U-Bootkriegs 
gegen  die  bewaffneten  Handelsschiffe  ohne  jede  Rücksicht 
auf  irgendwelche  Friedensaktionen  verlangt.  Nun  stellte 
sich  auch  Zimmermann  auf  den  Standpunkt,  daß  ein  sol- 
cher Schritt  nicht  länger  verschoben  werden  dürfe;  er 
schlug  vor,  höchstens  bis  zum  2.  Januar  1917  zu  warten. 
Ich  setzte  mich  auf  das  entschiedenste  zur  Wehr.  Die 
Wirkung  des  vorgeschlagenen  Schrittes  auf  Amerika  mußte 
nach  allem,  was  vorangegangen  war,  dieselbe  sein,  wie 

396 


Die  U-Bootfrage  im  Großen  Hauptquartier 


diejenige  einer  Eröffnung  des  uneingeschränkten  U-Boot- 
krieges  überhaupt.  Wir  zerschlugen  mit  eigenen  Händen 
den  letzten  Rest  einer  Aussicht  unserer  eigenen  und  der 
Wilsonschen  Friedensaktion;  wir  setzten  uns  darüber 
hinaus  dem  Verdacht  aus,  daß  es  uns  mit  unserm  Frie- 
densvorschlage  gar  nicht  ernst  gewesen  sei  und  daß  wir 
einen  Erfolg  des  Wilsonschen  Schrittes  verhindern  wollten, 
wenn  wir  jetzt,  ohne  eine  Antwort  abzu warten  und  die 
Friedensaktion  sich  aus  wirken  zu  lassen,  eine  Maßnahme 
ergriffen,  von  der  wir  uns  sagen  mußten,  daß  sie  jede  Frie- 
densmöglichkeit vernichten  und  gerade  unter  diesen  Be- 
gleitumständen mit  Sicherheit  nicht  nur  den  Bruch,  sondern 
den  Krieg  mit  Amerika  herbeiführen  mußte.  Der  Kanzler 
stimmte  mir  bei,  und  auch  Zimmermann  schien  überzeugt. 

In  Pleß  fanden  wir  bei  dem  Feldmarschall  und  dem 
General  Ludendorff  — der  Kaiser  war  nicht  anwesend  — 
einen  Empfang,  der  mit  dem  Worte  ,, eiskalt“  noch  milde 
bezeichnet  ist.  Die  Differenzen  der  letzten  Zeit  — was  mich 
betrifft  vor  allem  über  die  Behandlung  des  Hilfsdienst- 
gesetzes — hatten  offenbar  eine  starke  Verstimmung 
hinterlassen.  In  der  Sache  erkannten  die  beiden  Generale 
unsern  Standpunkt  in  der  Frage  der  bewaffneten  Handels- 
schiffe nach  kurzer  Erörterung  als  berechtigt  an.  Ich  hatte 
den  Eindruck,  daß  sie  auf  dieses  Zwischenstadium  keinen 
allzu  großen  Wert  legten,  daß  es  ihnen  vielmehr  auf  die 
baldige  Eröffnung  des  uneingeschränkten  U-Bootkrieges 
ankomme.  In  dieser  Frage  erklärte  der  Kanzler,  seine 


397 


Friedensbemühungen  und  U-Eootkrieg 


Haltung  von  der  endgültigen  Stellungnahme  der  Entente  zu 
dem  Friedensschritt  der  Mittelmächte  und  Wilsons  sowie  von 
der  weiteren  Entwicklung  der  Gesamtlage  abhängig  machen 
zu  müssen.  Er  könne  sich  jetzt  noch  nicht  festlegen.  Die 
Sache  werde  im  gegebenen  Moment  zu  prüfen  sein,  und 
wenn  dann  eine  Übereinstimmung  zwischen  der  Obersten 
Heeresleitung  und  ihm  nicht  zu  erzielen  sei,  werde  der 
Kaiser  zu  entscheiden  haben.  Materiell  wurde  diese  Frage 
nicht  eingehend  behandelt.  Ich  begnügte  mich  auszuführen, 
daß  der  uneingeschränkte  U-Bootkrieg  sicherlich  England 
erheblich  schädigen  werde,  daß  aber  niemand  mit  Sicher- 
heit behaupten  könne,  daß  England  innerhalb  einer  be- 
stimmten Zeit  zum  Frieden  gezwungen  werde;  trotz  der 
schlechten  Welternte  bleibe  das  Risiko  für  uns  enorm. 

Wenige  Tage  nach  unsrer  Rückkehr  nach  Berlin  traf 
die  Antwort  der  Entente  auf  unsern  Friedens  Vorschlag 
ein.  Der  Kanzler  hatte  das  berechtigte  Gefühl,  daß  diese 
Antwort  trotz  aller  ihrer  Schroffheit  eine  vorsichtige  Be- 
handlung erfordere.  Wenn  schon  unsere  Bemühungen  um 
den  Frieden  scheiterten,  so  mußte  wenigstens  vor  aller 
Welt  klargestellt  werden,  daß  die  Verantwortung  für  die 
Fortsetzung  des  Krieges  ausschließlich  auf  die  Entente 
falle.  Ich  habe  Grund  zur  Annahme,  daß  der  neue  öster- 
reichisch-ungarische Minister  Graf  Czernin,  der  kurz  zu- 
vor Herrn  von  Burian  ersetzt  hatte  und  der  am  8.  Januar 
gleichzeitig  mit  dem  Staatssekretär  Zimmermann  im 
Großen  Hauptquartier  weilte,  derselben  Ansicht  war.  Zu 

398 


Festmahl  der  amerikanischen  Handelskammer 


kl 


einer  vorsichtigen  Behandlung  mahnte,  abgesehen  von 
allen  andern  gewichtigen  Gründen,  auch  die  Haltung  Bul- 
gariens, das  sich  wegen  einer  Differenz  mit  unserer  Ober- 
sten Heeresleitung  über  die  Dobrudscha  verstimmt  zeigte 
und  dessen  Ministerpräsident  sich  beeilt  hatte,  auf  die 
Antwort  der  Entente  in  der  Sobranje  zu  erklären,  Bul- 
gariens Ansprüche  seien  bescheiden  und  würden  von  der 
Entente  — die  Bulgarien  in  ihrer  Antwort  nicht  erwähnt 
hatte  — als  legitim  anerkannt. 

In  dieser  schwierigen  und  aufs  äußerste  gespannten  Lage 
fand  am  Abend  des  6.  Januar  1917  im  Hotel  Adlon  das 
später  vielbesprochene  Festmahl  der  amerikanischen  Han- 
delskammer zu  Berlin  zu  Ehren  des  aus  den  Vereinigten 
Staaten  zurückgekehrten  Botschafters  Gerard  statt.  Das 
Festmahl  war  seit  längerer  Zeit  angesagt,  und  der  Staats- 
sekretär Zimm.ermann  hatte  es  übernommen,  bei  dieser  Ge- 
legenheit eine  Ansprache  zu  halten.  Da  jedoch  Graf  Czernin 
mit  Zimmermann  am  Morgen  des  6.  Januar  aus  dem  Großen 
Hauptquartier  nach  Berlin  gekommen  war  und  Zimmermann 
denselben  Abend  mit  dem  Grafen  Czernin  bei  dem  öster- 
reichisch-ungarischen Botschafter  zubringen  mußte,  er- 
suchte mich  der  Reichskanzler,  an  Stelle  Zimmermanns  bei 
der  Begrüßungsfeier  der  amerikanischen  Handelskammer 
zu  sprechen.  Ich  entledigte  mich  dieser  Aufgabe  in  einer  mit 
dem  Reichskanzler  und  Zimmermann  vereinbarten  An- 
sprache, in  der  ich  nach  einigen  höflichen  Wendungen  für 
die  Bemühungen  des  Botschafters,  mit  dem  Studium  der 


399 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


deutschen  Sprache  auch  in  den  Geist  des  deutschen  Wesens 
einzudringen,  die  meist  seit  langen  J ahren  in  Deutschland 
ansässigen  Mitglieder  der  amerikanischen  Handelskammer 
als  Zeugen  dafür  anrief,  ,,daß  unser  einziger  Ehrgeiz  war, 
im  friedlichen  Wettbewerb  der  Völker  durch  Arbeit  und 
Tüchtigkeit  uns  emporzuringen,  durch  Hebung  unseres  gei- 
stigen, sittlichen  und  wirtschaftlichen  Standes  uns  unsern 
Platz  in  der  Welt  zu  gewinnen  und  zu  behaupten“.  Nach 
einigen  Worten  iittev  den  ,, Militarismus“  Deutschlands  und 
seiner  Feinde  fuhr  ich  fort: 

„Ich  hätte  noch  manches  hinzuzufügen,  was  Ihr  und 
unser  Herz  bewegt.  Aber  als  Gast  an  einem  neutralen 
Tische  will  ich  nicht  über  Dinge  reden,  die  die  Welt  ent- 
zweien. Ich  will  nicht  den  Eindruck  erwecken,  als  wollte 
ich  Ihrer  Neutralität  zu  nahe  treten,  als  wollte  ich  bei  Ihnen 
für  unsere  Sache  werben.  Sie  wissen,  wir  verlangen  von 
den  Neutralen  nichts,  keine  Hilfe,  keine  Begünstigung, 
nichts  als  Neutralität.  Freilich  eine  Neutralität,  die  beide 
Parteien  mit  gleichem  Maße  mißt,  beiden  Parteien  in 
gleichem  Maße  Achtung  erweist  angesichts  eines  Völker- 
ringens auf  Leben  und  Tod,  wie  es  die  Welt  noch  nicht 
gesehen.  Als  Kaufleute,  die  seit  langen  Jahren  unter  uns 
leben,  haben  Sie  V erständnis  für  unsere  Sinnesart  und  unsere 
Lebensnotwendigkeiten.  Sie  bilden  für  dieses  Verständ- 
nis eine  Brücke  über  den  Ozean.  Ich  bin  überzeugt,  daß 
diese  Brücke  von  Nutzen  sein  wird  jetzt  bei  der  Fort- 
dauer des  Krieges,  wie  sie  durch  die  Zurückweisung  der 


400 


Reden  beim  Festmahl 


vorgeschlagenen  Friedens  Verhandlungen  notwendig  wird, 
und  auch  späterhin,  wenn  es  gilt,  die  Fäden  des  geistigen 
und  wirtschaftlichen  Verkehrs  zwischen  unsern  Ländern 
wieder  aufzunehmen  und  fortzuspinnen.“ 

Ich  schloß  mit  dem  Wunsche,  daß  die  friedlichen  Schiffe 
des  Kaufmannes  bald  wieder  zwischen  Deutschland  und 
den  Vereinigten  Staaten  das  jetzt  gefesselte,  künftighin 
freie  Meer  befahren  möchten  zum  Wohle  der  beiden 
Länder  und  Völker. 

Auf  diese  jedenfalls  nicht  überschwengliche  Begrüßung, 
die  einen  ernsten  Hinweis  auf  die  dunkle  Wolke  enthielt, 
die  seit  langer  Zeit  über  dem  Verhältnis  zwischen  Deutsch- 
land und  Amerika  lag,  antwortete  Herr  Gerard  in  einem 
auffallend  herzlichen  und  freundschaftlichen  Tone.  Seine 
Ansprache  gipfelte  in  der  Versicherung,  daß  die  Beziehun- 
gen zwischen  den  Vereinigten  Staaten  und  Deutschland 
niemals  besser  gewesen  seien,  als  in  diesem  Augen- 
blick, und  daß  die  Fortdauer  dieser  ausgezeichneten  Be- 
ziehungen gewährleistet  sei,  solange  Männer  wie  Beth- 
mann  Hollweg,  Helfferich,  Zimmermann,  Hindenburg, 
Ludendorff  und  Holtzendorff  die  Geschicke  Deutsch- 
lands leiteten. 

Noch  am  späten  Abend  erschien  der  Staatssekretär 
Zimmermann.  In  kurzer  Rede  sprach  er  die  Überzeugung 
aus,  daß  die  freundschaftlichen  und  vertrauensvollen  Be- 
ziehungen, die  ihn  mit  dem  amerikanischen  Botschafter 
schon  vor  dessen  Reise  verbunden  hätten,  sich  weiter  so 


26  Helfferich,  Weltkrieg  II 


401 


B'riedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


freundlich  gestalten  würden,  wie  der  Botschafter  es  ausge- 
drückt habe. 

Die  Veranstaltung  und  die  bei  ihr  gehaltenen  Reden 
haben  damals  großes  Aufsehen  erregt.  Ich  bin  in  der 
Presse  und  später  auch  im  Hauptausschuß  des  Reichstags 
heftig  angegriffen  w^orden,  daß  ich  überhaupt  bei  der  Emp- 
fangsfeier für  Herrn  Gerard  erschienen  sei,  und  wenn  schon 
— daß  ich  mich  dem  Ehrengast  gegenüber  höflich  und  nicht 
wie  ein  Hausknecht  benommen  habe.  Der  politische  Un- 
verstand, der  uns  Deutsche  auszeichnet,  ist  mir  selten 
klarer  zum  Bewußtsein  gekommen  als  bei  dieser  Gelegen- 
heit. Jedermann  mußte  fühlen,  daß  es  in  jener  Zeit  um 
die  letzte  Entscheidung  darüber  ging,  ob  es  gehngen  wmrde, 
Amerika  aus  dem  Krieg  zu  halten.  Und  wenn  auch  mit 
einem  ,,after  dinner  Speech“  keine  großen  Wirkungen  er- 
zielt werden  köimen,  so  wäre  eine  so  offenkundige  Brüs- 
kierung  des  amerikanischen  Botschafters  wie  das  Fern- 
bleiben von  jener  Veranstaltung  oder  das  gegen  jede 
amerikanische  Auffassung  verstoßende  Stummbleiben 
das  sicherste  Gegenteil  der  Wahrung  unserer  Interessen 
gewiesen.  Es  kam  nur  darauf  an,  mit  der  gebotenen  Cour- 
toisie  die  Wahrung  unseres  Standpunktes  und  unserer 
Würde  zu  verbinden.  Ich  glaube,  diesem  Gebot  der  Lage 
gerecht  gew’orden  zu  sein. 

Für  die  Überschwenglichkeit  des  Herrn  Gerard  trifft 
mich  keine  Verantw'ortung.  Sie  hat  mich  an  jenem  Abend 
erstaunt.  Mein  Erstaunen  ist  gewachsen,  nachdem  ich 


402 


Reden  beim  Festmahl 


in  dem  Buch  des  Herrn  Gerard  gelesen  habe,  daß  dieser 
bereits  vor  jenem  Abend  zuverlässige  Mitteilungen  dar- 
über bekommen  haben  will,  daß  die  Wiederaufnahme  des 
uneingeschränkten  U-Bootkrieges  beschlossene  Sache  sei. 
Wenn  dies  der  Fall  war,  wenn  Herr  Gerard  infolgedessen 
zu  der  Feier  vom  6.  Januar  mit  der  Sicherheit  kam,  daß 
der  Krieg  zwischen  den  Vereinigten  Staaten  und  Deutsch- 
land bevorstehe,  wie  konnte  er  dann  von  den  Beziehungen 
zwischen  den  beiden  Völkern,  die  niemals  besser  gewesen 
seien,  in  so  hohen  Tönen  reden? 

An  jenem  Abend  war  über  die  Wiederaufnahme  des  un- 
eingeschränkten U-Bootkrieges  noch  keinerlei  Beschluß 
gefaßt.  Persönlich  hatte  ich  noch  die  Hoffnung,  daß  man 
vor  jeder  Entscheidung  die  Auswirkung  der  deutschen  und 
der  amerikanischen  Friedensaktion  ab  warten  werde. 

Aber  allerdings  — die  Entscheidung  sollte  rascher 
erfolgen,  als  ich  damals  nach  dem  Ergebnis  der  Be- 
sprechung im  Großen  Hauptquartier  vom  29.  Dezember 
erwartete. 

Am  8.  Januar  erhielt  der  Kanzler  vom  Feldmarschall 
von  Hindenburg  eine  telegraphische  Mitteilung,  die  ihn 
bat,  alsbald  nach  dem  Großen  Hauptquartier  zur  erneuten 
Besprechung  der  U-Bootfrage  zu  kommen;  die  Eröffnung 
des  uneingeschränkten  U-Bootkrieges  könne  keinesfalls 
über  den  i.  Februar  hinaus  verschoben  werden.  Kurz 
vorher  hatte  der  Chef  des  Admiralstabs  dem  Kanzler  eine 
neue  Denkschrift  übergeben,  die  er  auch  mir  mit  einem 


26* 


403 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Schreiben  vom  6.  Januar  zustellte.  Die  Denkschrift  selbst 
war  schon  vom  22.  Dezember  datiert.  Sie  bezifferte  den 
für  die  Versorgung  Englands  noch  zur  Verfügung  stehenden 
britischen  Schiffsraum  auf  höchstens  8 Millionen  Brutto- 
tonnen und  berechnete,  daß  man  neben  einer  monatlichen 
Versenkung  von  600  000  Tonnen  mit  einer  Abschreckung 
von  mindestens  zwei  Fünfteln  der  auf  England  fahrenden 
neutralen  Tonnage  mit  Sicherheit  rechnen  könne.  Dadurch 
werde  der  Seeverkehr  Englands  im  Laufe  von  fünf  Monaten 
um  39  vom  Hundert  verringert,  und  eine  solche  Verringerung 
werde  England  nicht  ertragen  können.  Der  U-Boot-Kreuzer- 
krieg  dagegen  werde  in  derselben  Zeit,  auch  wenn  die  be- 
waffneten Handelsschiffe  freigegeben  würden,  nur  18  vom 
Hundert  des  britischen  Seeverkehrs  in  Wegfall  bringen 
können,  und  das  werde  nicht  genügen,  um  England  zum 
Frieden  zu  bringen.  Zwar  sei  der  Krieg  mit  Amerika  eine  so 
ernste  Angelegenheit,  daß  alles  geschehen  müsse,  um  ihn  zu 
vermeiden ; aber  die  Scheu  vor  dem  Bruch  dürfe  nicht  dazu 
führen,  im  entscheidenden  Augenbhck  vor  dem  Gebrauch 
der  Waffe  zurückzuschrecken,  die  uns  den  Sieg  verheiße. 
Um  rechtzeitig  vor  der  neuen  Ernte  die  nötige  Wirkung 
erzielen  zu  können,  müsse  der  uneingeschränkte  U-Boot- 
krieg spätestens  am  i.  Februar  beginnen.  Ein  energisch 
und  mit  aller  Kraft  geführter  Schlag  gegen  den  englischen 
Schiffsraum  verspreche  unbedingt  sicheren  Erfolg.  Er, 
der  Chef  des  Admiralstabs,  stehe  nicht  an  zu  erklären, 
daß  wir,  wie  die  Verhältnisse  jetzt  lägen,  mit  dem 


404 


Neue  Denkschrift  des  Admiralstabes 


uneingeschränkten  U-Bootkrieg  England  in  fünf  Monaten 
zum  Frieden  zwingen  könnten. 

Der  Eindruck  dieser  Denkschrift  auf  den  Kanzler  wurde 
verstärkt  durch  Mitteilungen,  die  ihm  eine  Autorität 
ersten  Ranges  unserer  Hochseeflotte  über  ihre  absolute 
Zuversicht  auf  den  Erfolg  des  uneingeschränkten  U-Boot- 
krieges  in  diesen  gleichen  Tagen  machen  ließ. 

Der  Kanzler  entschloß  sich,  noch  am  Abend  des  8.  Ja- 
nuar nach  dem  Großen  Hauptquartier  zu  reisen.  Vor 
seiner  Abreise  besprach  er  die  Lage  mit  Zimmermann 
und  mir.  Ich  machte  starke  Ausstellungen  an  den  Be- 
rechnungen des  Admiralstabes.  Außerdem  aber  waren 
wir  alle  drei  uns  darüber  einig,  daß  vor  allem  wei- 
teren das  Auswirken  der  Friedensaktion,  zum  mindesten 
die  Antwort  der  Entente  an  Wilson,  abgewartet  werden 
müsse. 

Mir  war  klar,  daß  der  Kanzler  beim  Durchsetzen  dieses 
Standpunktes  einen  schweren  Kampf  würde  durchkämpfen 
müssen,  und  ich  machte  mir  Vorwürfe,  daß  ich  nicht  mit 
aller  Entschiedenheit  darauf  bestanden  hatte,  ihn  nach 
dem  Hauptquartier  zu  begleiten.  Die  Sache  ließ  mir  keinen 
Schlaf.  Ich  arbeitete  in  der  Nacht  noch  einmal  die  ganze 
37  gedruckte  Folioseiten  starke  Denkschrift  des  Admiral- 
stabs durch  und  schrieb  ein  ausführliches  Telegramm  an 
den  Kanzler,  in  dem  ich  die  meines  Erachtens  für  die  Be- 
urteilung des  Erfolgs  des  uneingeschränkten  U-Bootkriegs 
entscheidenden  Punkte  zusammenfaßte,  und  das  ich  am 


405 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Morgen  dem  Kanzler  durch  Fernschreiber  nach  Pleß  über- 
mitteln ließ. 

In  diesem  Telegramm  bezweifelte  ich  zunächst  die  Be- 
rechnung des  Admiralstabs,  daß  in  fünf  Monaten  der  Seever- 
kehr Englands  durch  den  uneingeschränkten  U-Bootkrieg 
um  39  vom  Hundert,  durch  den  U-Boot-Kreuzerkrieg  nur 
um  i8  vom  Hundert  eingeschränkt  werde.  Ich  wies  darauf 
hin,  daß  im  Falle  des  gerade  infolge  des  uneingeschränkten 
U-Bootkriegs  zu  befürchtenden  Eintritts  der  seefahrenden 
Neutralen  in  den  Krieg  die  abschreckende  Wirkung  des 
U-Bootkriegs  auf  die  neutrale  Schiffahrt  mindestens  zu 
einem  erheblichen  Teil  aufgehoben  werden  würde.  Ein  Be- 
weis, bei  welchem  Prozentsatz  der  Einschränkung  des  briti- 
schen Seeverkehrs  England  nicht  mehr  durchhalten  könne, 
sei  natürlich  nicht  zu  erbringen.  Die  Angaben  der  Denkschrift 
über  die  Versorgung  Englands  mit  Brotgetreide  erkannte 
ich  als  vorsichtig  an  mit  dem  Hinweis,  daß  angesichts  der 
knappen  Zufuhrmöglichkeiten  die  britischen  Bestände 
im  Laufe  des  Januar  und  Februar  unaufhaltsam  weiter 
abnehmen  würden.  Ich  gab  jedoch  zu  bedenken: 

' ,,Hat  der  uneingeschränkte  U-Bootkrieg  den  Eintritt 
Amerikas  in  den  Krieg  gegen  uns  zur  Folge,  so  ist  Amerika 
an  dem  Siege  Englands  wie  an  einer  eigenen  Sache  inter- 
essiert. Ist  eine  Niederlage  Englands  nur  durch  ausreichende 
Getreideversorgung  abzuwenden,  so  muß  und  kann  Amerika 
zu  diesem  Zweck  ein  Opfer  bringen,  an  das  es  als  neu- 
traler Staat  nicht  denkt:  die  Einschränkung  des  eigenen 


406 


Kritik  der  Denkschrift 


Getreideverbrauchs  zugunsten  Englands.  Die  Einschrän- 
kung braucht  keineswegs  durch  eine  Rationierung  des  ameri- 
kanischen Brotverbrauchs  zu  erfolgen;  es  würden  große 
Käufe  evtl.  Zwangsankäufe  der  amerikanischen  Regierung 
den  Zweck  wohl  erreichen  können.  Da  die  Union  mehr  als 
doppelt  so  viel  Einwohner  hat  wie  England,  ist  jede  Be- 
schränkung des  Getreideverbrauchs  pro  Kopf  des  Ameri- 
kaners eine  mehr  als  doppelt  so  große  Zulage  pro  Kopf 
des  Engländers.  Wenn  das  Schicksal  des  Krieges  davon 
abhängt,  halte  ich  es  nicht  für  ausgeschlossen,  daß  Amerika 
eine  zehnprozentige  Einschränkung  seines  normalen  Ver- 
brauchs zugunsten  von  England  durchführen  könnte,  wo- 
mit 1,7  Millionen  Tonnen,  gleich  einem  englischen  Bedarf 
von  drei  Monaten,  freigemacht  würden.  Auch  wenn  hier- 
von auf  dem  Weg  nach  England  die  Hälfte  versenkt  würde 
— ein  Prozentsatz,  der  weit  über  die  vom  Admiralstab 
berechneten  Möglichkeiten  hinausgeht  — , wäre  ein  solches 
Vorgehen  für  England  eine  wertvolle,  vielleicht  die  ent- 
scheidende Hilfe.  So  paradox  es  klingt,  ist  also  die  Mög- 
lichkeit nicht  ausgeschlossen,  daß  der  uneingeschränkte 
U-Bootkrieg  gegenüber  dem  U-Boot-Kreuzerkrieg  in  seiner 
Endwirkung  speziell  die  englische  Versorgung  mit  Brot- 
getreide nicht  verschlechtert,  sondern  verbessert.“ 

Ob  es  beim  uneingeschränkten  U-Bootkrieg  möglich 
sein  werde  oder  nicht,  die  Neutralen  draußen  zu  halten, 
werde  sich  in  einigen  Wochen,  wenn  die  Antwortnote  der 
Entente  an  Wilson  vorliegt,  besser  übersehen  lassen  als 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


jetzt.  Zu  überstürzten  Entschlüssen  liege  keine  Veran- 
lassung vor.  Denn  augenblicklich  arbeite  in  Sachen  der 
Versorgung  Englands  die  Zeit  nicht  gegen,  sondern  für 
uns.  Der  Januar  und  Februar  seien  aus  natürlichen  Grün- 
den der  Jahreszeit  stets  ungünstige  Monate  für  die  bri- 
tische Getreideeinfuhr.  Dieses  Mal  habe  die  Absenkung 
der  britischen  Einfuhr  infolge  der  schlechten  amerikanischen 
Ernte  sogar  schon  im  Dezember  begonnen ; trotz  der  größten 
Anstrengungen  Englands  habe  die  Getreideeinfuhr  der 
vier  Dezemberwochen  nur  1 410  000  Quarters  erreicht 
gegen  i 955  000  Quarters  im  Vorjahr.  Wenn  wir  aus  den 
oben  entwickelten  Gründen  die  Entscheidung  über  den 
uneingeschränkten  U-Bootkrieg  noch  um  einige  Wochen 
aussetzten,  so  hätten  wir  alle  Aussicht,  daß  sich  inzwischen 
die  bereits  knappen  britischen  Getreidebestände  noch  er- 
hebhch  weiter  verringerten.  Je  niedriger  der  Bestand  beim 
Beginn  eines  uneingeschränkten  U- Bootkrieges,  desto 
rascher  und  sicherer  werde  der  Erfolg  sein. 

Auch  dieser  letzte  Versuch,  wenigstens  eine  Ver- 
tagung zu  erreichen,  änderte  nichts  mehr  an  der  Ent- 
scheidung. 

Der  Kanzler  kam  unerwarteterweise  schon  in  der  Frühe 
des  IO.  Januar  aus  Pleß  zurück.  Er  schickte  mir  den  Chef 
der  Reichskanzlei,  der  mir  sagte:  ,,Der  Rubikon  ist  über- 
schritten.“ 

Ich  war  durch  diese  Mitteilung  auf  das  schwerste  er 
schüttert. 


408 


Entscheidung  für  den  uneingeschränkten  U-Bootkrieg 


Nach  kurzer  Aussprache  bat  ich  Herrn  Wahnschaffe, 
dem  Kanzler  zu  sagen,  daß  ich  bei  aller  Treue  und  Ergeben- 
heit für  seine  Person  diesen  Weg  nicht  mitgehen  könne  und 
meine  Entlassung  nehmen  würde.  Wahnschaffe  erwiderte, 
mein  Abgang  würde  für  mich  selbst  natürlich  der  be- 
quemste Ausweg  sein.  Der  Kanzler  seinerseits  habe  aus 
Gründen  zwingender  Natur  davon  Abstand  genommen, 
auf  seiner  ursprünglichen  Ansicht,  den  Abschied  zu 
nehmen,  zu  beharren.  Der  Kanzler  habe  den  Wunsch, 
sich  mit  mir  persönlich  über  alles  auszusprechen,  und 
lasse  mich  bitten,  bis  dahin  keine  Entschlüsse  zu  fassen. 

Ich  sah  den  Kanzler  an  diesem  und  an  dem  folgenden 
Tage  nicht.  Ich  ging  erst  zu  ihm,  als  er  mich  am  Abend 
des  12.  Januar  zu  sich  bitten  ließ. 

Er  schilderte  mir  die  Vorgänge  in  Pleß.  Schon  bei  der 
Ankunft  habe  ihm  der  Chef  des  Marinekabinetts,  Admiral 
von  Müller,  mitgeteilt,  der  Kaiser  habe  sich  nach  schweren 
inneren  Kämpfen  zu  der  Überzeugung  durchgerungen, 
daß  der  uneingeschränkte  U-Bootkrieg  nicht  zu  vermeiden 
sei.  In  der  Beratung  am  Vormittag  beim  Generalfeldmar- 
schall habe  dieser  mit  dem  General  Ludendorff  auf  das 
eindringlichste  verlangt,  daß  das  an  allen  Fronten  in 
schweren  Kämpfen  stehende  Landheer  moralisch  und 
materiell  durch  den  uneingeschränkten  U-Bootkrieg  Unter- 
stützung erhalte.  Im  Westen  sei  für  das  Frühjahr  mit  einer 
neuen  Offensive  der  Franzosen,  Engländer  und  Belgier 
zu  rechnen,  die  an  Wucht  sogar  die  Somme-Offensive 

409 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


des  verflossenen  Halbjahres  übertreffen  werde.  Jede  Mög- 
lichkeit der  Einschränkung  der  Zufuhr  von  Material  und 
Mannschaften  an  den  Feind  müsse  unter  allen  Umständen 
wahrgenommen  werden.  Zeit  sei  nicht  zu  verlieren.  Wenn 
der  uneingeschränkte  U-Bootkrieg  nicht  zum  i.  Februar 
eröffnet  werde,  könnten  sie,  die  beiden  Generale,  die  Ver- 
antwortung für  den  Gang  der  militärischen  Operationen 
nicht  übernehmen:  Auf  der  andern  Seite  seien  sie  bereit, 
die  Verantwortung  für  alle  militärischen  Folgen  des  un- 
eingeschränkten U-Bootkrieges  zu  tragen,  auch  für  die 
Folgen  eines  Eingreifens  der  europäischen  Neutralen  und 
Amerikas.  Dem  Eingreifen  Amerikas  legten  sie  übrigens 
keine  allzu  große  Bedeutung  bei. 

Der  Chef  des  Admiralstabs  habe  sich  mit  seinen  bekann- 
ten Argumenten  mit  der  größten  Entschiedenheit  für  die 
Eröffnung  des  uneingeschränkten  U-Bootkriegs  am  i.  Fe- 
bruar eingesetzt. 

Angesichts  der  Bestimmtheit,  mit  der  Hindenburg  und 
Ludendorff  die  Entlastung  der  Fronten  durch  den  so- 
fortigen Beginn  des  uneingeschränkten  U-Bootkriegs  als 
unerläßlich  bezeichneten  und  mit  der  sie  die  Verantwortung 
für  alle  militärischen  Folgen  des  U-Bootkriegs  auf  sich 
nahmen,  und  angesichts  der  Sicherheit,  mit  der  nicht  nur 
der  Chef  des  Admiralstabs,  sondern  auch  die  Hochsee- 
flotte und  der  früher  dem  uneingeschränkten  U-Bootkrieg 
abgeneigte  Staatssekretär  des  Reichsmarineamtes  innerhalb 
weniger  Monate  den  vollen  Erfolg  des  uneingeschränkten 


410 


Der  Kanzler  über  die  Vorgänge  in  Pleß 


U-Bootkriegs  in  Aussicht  stellten,  j a gewährleisteten,  habe  er, 
der  Kanzler,  sich  die  Frage  vorlegen  müssen,  ob  er  vor  seinem 
Gewissen  berechtigt  sei,  dem  Kaiser  zu  raten,  dem  Antrag 
der  Obersten  Heeresleitung  und  des  Admiralstabs  nicht 
zu  entsprechen.  Sein  nächster  Gedanke  sei  gewesen,  seinen 
Abschied  zu  erbitten  und  zu  der  auf  abends  6 Uhr  beim 
Kaiser  angesetzten  Besprechung  nicht  mehr  zu  erscheinen. 
Von  dieser  Absicht  habe  er  auch  dem  Chef  des  Zivilkabinetts 
Mitteilung  gemacht.  Er  habe  sich  jedoch,  so  schwer  es 
ihm  gefallen  sei,  überzeugen  müssen,  daß  er  sich  auf  diese 
Weise  nicht  der  Verantwortung  entziehen  dürfe.  Nachdem 
die  Oberste  Heeresleitung  die  Frage  so  gestellt  habe,  daß 
der  uneingeschränkte  U-Bootkrieg  unvermeidlich  geworden 
sei,  und  nachdem  er  dessen  Verhinderung,  wenn  sie  über- 
haupt noch  möglich  gewesen  wäre,  nicht  auf  seine  Verantwor- 
tung habe  nehmen  können,  sei  er  verpflichtet,  alles  zu  tun, 
um  dem  U-Bootkrieg  zum  Erfolg  zu  verhelfen.  Dazu  ge- 
höre, daß  sich  das  deutsche  Volk  und  unsere  Verbündeten 
geschlossen  hinter  den  U-Bootkrieg  stellten.  Wenn  er  wegen 
der  Eröffnung  des  uneingeschränkten  U-Bootkriegs  seinen 
Abschied  nehme,  so  werde  das  einerseits  die  Eröffnung 
des  uneingeschränkten  U-Bootkriegs  nicht  verhindern, 
andrerseits  den  inneren  Streit  über  den  U-Bootkrieg, 
der  mit  dem  endgültigen  Entschluß,  den  U-Bootkrieg  zu 
machen,  verstummen  müsse,  geradezu  auf  die  Spitze  trei- 
ben, ja  die  innere  Front  gänzlich  zertrümmern;  es  werde 
ferner  die  Zustimmung  unserer  Bundesgenossen  für  den 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


uneingeschränkten  U-Bootkrieg  und  damit  unser  Bündnis- 
system selbst  auf  das  äußerste  gefährden.  Auch  ich  müsse 
mir  die  Gewissensfrage  stellen,  ob  ich  mit  der  Einreichung 
meines  Abschieds  eine  Demonstration  machen  dürfe, 
die  an  der  bereits  für  den  i.  Februar  befohlenen  Eröffnung 
des  uneingeschränkten  U-Bootkriegs  nicht  das  mindeste 
ändere,  dafür  aber  Verwirrung  in  die  eigenen  Reihen  und 
in  die  Front  unserer  Bundesgenossen  tragen,  bei  uns  das 
Vertrauen  in  den  Erfolg  des  U-Bootkriegs  schwächen 
und  bei  unsern  Gegnern  und  den  Neutralen  von  vornherein 
Zweifel  an  unserm  Erfolg  hervorrufen  müsse ; dies  lediglich 
auf  mein  persönliches  Urteil  hin,  mit  dem  ich  nachgerade 
unter  den  kompetenten  Ratgebern  der  Krone  isoliert  sei, 
und  angesichts  der  Tatsache,  daß  doch  auch  nach  meiner 
Auffassung  die  Aussichten  eines  Erfolges  des  U-Bootkriegs 
sich  erhebhch  gebessert  hätten.  Ich  müsse  mir  diese  Ge- 
wissensfrage um  so  mehr  vorlegen,  als  es  sich  in  erster 
Linie  um  eine  Angelegenheit  der  auswärtigen  Politik  und 
der  Kriegführung  handele,  also  um  eine  Frage,  die  nicht 
in  das  Gebiet  meiner  Verantwortlichkeit  falle. 

Es  war  für  mich  die  schwerste  Entscheidung  meines  Lebens. 

Sie  wurde  mir  etwas  erleichtert  dadurch,  daß  der  Kanz- 
ler mir  die  gerade  durch  Wolff  veröffentlichte  Antwortnote 
der  Entente  an  den  Präsidenten  Wilson  zeigte,  die  durch 
die  Maßlosigkeit  der  angedeuteten  Kriegsziele  und  die 
Unverschämtheit  der  Weigerung,  sich  mit  Deutschland  auf 
gleichen  Fuß  stellen  zu  lassen,  jede  Friedensmöglichkeit 


412 


Eröffnung  des  uneingeschränkten  U-Bootkriegs 


verschüttete  und  jeden  halbwegs  unbefangenen  Beurteiler 
vonunserm  Recht  zur  äußersten  Notwehr  überzeugen  mußte. 

Sie  wurde  mir  erschwert  durch  die  Erwägung,  daß  es 
hier  nur  ein  Entweder  — Oder  gebe:  Entweder  pro- 
testieren und  gehen,  oder  bleiben,  dann  aber  die  einmal 
gefallene  Entscheidung  hinnehmen,  sich  auf  ihren  Boden 
stellen  und  auf  diesem  Boden  kämpfen,  wie  der  General 
seine  Schuldigkeit  tut,  auch  wenn  er  bei  der  Feststellung 
des  Operationsplanes  seine  Ansicht  nicht  durchgesetzt  hat. 

Ich  schied  von  dem  Kanzler  mit  der  Zusage,  daß  ich 
ihm  helfen  würde,  die  Eröffnung  des  uneingeschränkten 
U-Bootkriegs  vor  dem  Reichstag  soweit  zu  vertreten,  wie 
es  mir  nach  Lage  der  Dinge  möglich  sei. 

Der  im  Großen  Hauptquartier  gefaßte  Beschluß  war 
dahin  gegangen,  daß  in  einem  näher  umschriebenen  Sperr- 
gebiet um  die  britischen  Inseln  und  im  Mittelmeer  vom 
I.  Februar  an  der  uneingeschränkte  U-Bootkrieg  gegen 
jeglichen  Seeverkehr  geführt  werden  sollte.  Der  Beschluß 
war  bis  zum  letzten  Augenblick  geheimzuhalten.  Erst 
am  31.  Januar  sollte  der  uneingeschränkte  U-Bootkrieg 
den  Neutralen  angekündigt  werden,  jedoch  mit  der  Maß- 
gabe, daß  neutrale  Schiffe,  die  am  i.  Februar  auf  der  Fahrt 
nach  Häfen  im  Sperrgebiet  sein  sollten,  während  einer 
„angemessenen  Frist“  geschont  werden  sollten. 

Ich  fand  diese  Art  der  kurzen  Ankündigung  ebenso 
sinnlos  wie  provozierend.  Aber  die  Marine  hatte  auf 
dieser  Inszenierung  aus  „marine technischen  Gründen“ 


413 


^'riedensbem Übungen  und  U-Bootkrieg 


bestanden,  und  die  Befehle  waren,  als  ich  davon  erfuhr, 
schon  hinausgegangen. 

Mit  Spannung  wartete  ich  nun,  wie  Herr  Wilson  sich 
bis  zur  Bekanntgabe  der  Eröffnung  des  neuen  U-Boot- 
kriegs  zu  der  unerhörten  Antwort  der  Entente  auf  seine 
Friedensanregung  stellen  werde.  Hier  lag  vielleicht  noch 
ein  kleiner  Funken  von  Hoffnung. 

Am  22.  Januar  richtete  der  Präsident  Wilson  an  den 
amerikanischen  Senat  eine  Botschaft,  die  er  noch  am  selben 
Tage  den  Regierungen  der  Kriegführenden  übermitteln 
ließ.  Die  Botschaft  gewährt  in  die  Sinnesart  und  den  Ge- 
dankengang ihres  Urhebers,  in  dessen  Hände  der  Gang  der 
Geschichte  damals  das  Schicksal  des  alten  Europa  gelegt 
hatte,  einen  wichtigen  Einblick. 

Die  Botschaft  begann  mit  einer  Zensur  der  Antworten, 
die  die  beiden  kriegführenden  Gruppen  auf  die  Friedens- 
anregung des  Präsidenten  gegeben  hatten:  „Die  Mittel- 
mächte erwiderten  in  einer  Note,  die  einfach  besagte, 
daß  sie  bereit  seien,  mit  ihren  Gegnern  zu  einer  Konferenz 
zusammenzutreten,  um  die  Friedensbedingungen  zu  er- 
örtern. Die  Mächte  der  Entente  haben  viel  ausführlicher 
geantwortet  und,  wenn  auch  nur  in  allgemeinen  Umrissen, 
so  doch  mit  genügender  Bestimmtheit,  um  Einzelfragen 
einzubeziehen,  die  Vereinbarungen,  Bürgschaften  und 
Wiederherstellungen  angeben,  die  ihnen  als'die  unumgäng- 
lichen Bedingungen  einer  befriedigenden  Lösung  erscheinen. 
Wir  sind  dadurch  der  endgültigen  Erörterung  des  Friedens, 


414 


Wilsons  Botschaft  an  den  Senat 


der  den  gegenwärtigen  Krieg  beenden  soll,  um  so  viel 
nähergekommen . ‘ ' 

Dem  Präsidenten  fehlte  also  jedes  Verständnis  dafür, 
daß  die  von  den  Ententemächten  angedeuteteri  Bedin- 
gungen derart  waren,  daß  die  Entente  selbst  eine  Er- 
örterung dieser  Bedingungen  bei  dem  damaligen  Stande  des 
Krieges  für  ausgeschlossen  hielt.  Die  Ausführlichkeit, 
mit  der  die  Entente  ihr  Eroberungs-  und  Vernichtungs- 
programm entwickelt  und  eine  Friedensdiskussion  mit  den 
Mittelmächten  abgelehnt  hatte,  war  ihm  sichtlich  wertvoller 
als  die  Knappheit,  mit  der  die  Mittelmächte  sich  zur 
Erörterung  eines  Friedens,  der  lediglich  Ehre,  Dasein  und 
Entwicklungsfreiheit  ihrer  Völker  sichern  sollte,  bereit 
erklärt  hatten.  Die  Bekundung  einer  so  merkwürdigen 
Befangenheit  war  eine  Bestätigung  aller  Bedenken,  die 
bisher  gegen  eine  Wilsonsche  Friedensvermittlung  laut 
geworden  waren,  und  gleichzeitig  eine  Warnung  für  die 
Zukunft,  die  später  im  entscheidenden  Augenblick  leider 
nicht  genügend  beachtet  worden  ist. 

Im  Anschluß  an  diese  kurze,  für  die  Frage  der  Friedens- 
verhandlungen allein  unmittelbar  wichtige  Einleitung  ent- 
wickelte Wilson  ausführlich  seine  Ideen  über  das  künftige 
Zusammenleben*  der  Völker.  Dem  Frieden  müsse  eine 
Neuordnung  der  Völkergemeinschaft  folgen,  an  deren 
Aufbau  die  Vereinigten  Staaten  sich  unter  allen  Um- 
ständen beteiligen  müßten.  Die  Grundlage  für  diesen 
Neubau  werde  durch  den  Friedensschluß  gelegt,  der  dem 


415 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Völkerkrieg  ein  Ende  zu  machen  habe.  Die  Hauptfrage  sei: 
Ist  der  gegenwärtige  Krieg  ein  Kampf  um  einen  gerechten 
und  sicheren  Frieden  oder  nur  für  ein  neues  Gleich- 
gewicht der  Kräfte  ? Nicht  Gleichgewicht,  sondern  Gemein- 
samkeit der  Macht  sei  notwendig,  nicht  organisierte  Neben- 
buhlerschaft, sondern  organisierter  Gemeinfriede.  Es  müsse 
ein  Frieden  werden  ohne  Sieg.  Ein  Siegfrieden  würde  von 
dem  Unterlegenen  als  Demütigung,  als  Härte,  als  uner- 
trägliches Opfer  empfunden  werden  und  einen  Stachel, 
Rachsucht  und  bitteres  Gedenken  hinterlassen,  auf  dem 
das  Friedensgebäude  wie  auf  Flugsand  ruhen  würde.  Nur 
ein  Friede  unter  Gleichen  verspreche  Dauer.  Die  Gleich- 
‘ heit  der  Nationen  müsse  eine  Gleichheit  der  Rechte  sein, 
ohne  Unterschied  zwischen  Großen  und  Kleinen.  Das 
Recht  müsse  gegründet  sein  auf  die  gemeinsame  Kraft, 
nicht  auf  individuelle  Nationen.  „Die  Menschheit  hält 
jetzt  Ausschau  nach  der  Freiheit  des  Lebens,  nicht  nach 
dem  Gleichgewicht  der  Macht.'*  Neben  der  Gleichberech- 
tigung der  organisierten  Völker  sei  für  einen  dauernden 
Frieden  erforderlich,  daß  die  Regierungen  ihre  Macht  von 
der  Zustimmung  der  Regierten  ableiteten.  Er  halte  es 
z.  B.  für  ausgemacht,  daß  die  Staatsmänner  überall  über 
die  Herstellung  eines  einigen,  unabhängigdh,  selbständigen 
Polen  einig  seien.  Soweit  wie  möglich,  sollte  überdies 
jedes  große  Volk  eines  direkten  Ausganges  zu  den  Heer- 
straßen der  See  versichert  sein,  wenn  nicht  durch  Gebiets- 
abtretung, so  durch  Neutralisierung  der  Zugangswege. 

416 


Wilsons  Botschaft  an  den  Senat 


Die  Seewege  selbst  müßten  gleichfalls  sov/ohl  durch 
gesetzliche  Bestimmung,  wie  auch  tatsächlich  frei  sein. 
,, Freiheit  der  Meere  ist  eine  Conditio  sine  qua  non  für  den 
Frieden,  für  Gleichheit  und  Zusammenarbeit.''  Wilson 
sprach  dann  weiter  von  der  Notwendigkeit  der  Rüstungs- 
beschränkungen zu  Wasser  und  zu  Land.  Die  Rüstungs- 
frage sei  am  unmittelbarsten  und  einschneidendsten  mit 
dem  künftigen  Geschick  der  Völker  und  des  Menschen- 
geschlechtes verknüpft. 

Das  waren  Gedanken  von  einer  großen  Konzeption  und 
hohem  idealem  Flug.  Aber  ihre  Verwirklichung  war  ab- 
hängig, wie  das  Wilson  auch  selbst  ausgeführt  hat,  von 
der  Lösung  der  unmittelbar  praktischen  Frage  der  Be- 
endigung des  Weltkrieges.  Und  in  diesem  Punkte  brachte 
Wilsons  Botschaft  weniger  als  nichts;  denn  sie  enthüllte 
nur  seine  völlige  Verständnislosigkeit  für  unsere  und  unserer 
Verbündeten  Lebensrechte  und  Lebensbedürfnisse  und 
für  das  Ungeheuerliche  der  Forderungen  der  Entente, 
die  nach  deren  eigenem  Eingeständnis  nicht  durch  einen 
Frieden  ohne  Sieg,  sondern  nur  nach  völliger  Nieder- 
werfung der  Mittelmächte  erreichbar  waren. 

Allerdings  schien  es  noch  einmal,  in  allerletzter  Stunde, 
als  wolle  und  könne  Herr  Wilson  einen  Ausweg  finden. 

Am  Sonntag,  28.  Januar  1917,  ließ  mich  der  Kanzler 
noch  abends  gegen  10  Uhr  zu  sich  bitten.  Es  war  ein 
Telegramm  des  Grafen  Bernstorff  eingegangen,  das  nach 
meiner  Erinnerung  folgenden  Inhalt  hatte:  Oberst  House 


27  Helfferich,  Weltkrieg  II 


417 


f'riedensbemühungen  iii;d  Ü-Bootkrieg 


habe  ihm  im  Auftrag  des  Präsidenten  Wilson  mitgeteilt, 
der  Präsident  gebe  trotz  der  Ablehnung  der  Entente  die 
Hoffnung  nicht  auf,  den  Frieden  zustandezubringen, 
und  sei  bereit,  seine  Bemühungen  nach  dieser  Richtung 
wieder  aufzunehmen.  Diese  seine  Bemühungen  würden 
ihm  wesentlich  erleichtert  werden,  wenn  wir  uns  bereit 
fänden,  ihm  unsere  Friedensbedingungen  mitzuteilen. 
Graf  Bernstorff  bat,  unter  diesen  Umständen  die  ihm  zur 
Übergabe  am  31.  Januar  bereits  übermittelte  Note,  ent- 
haltend die  Ankündigung  des  uneingeschränkten  U-Boot- 
kriegs,  vorläufig  einbehalten  zu  dürfen,  und  empfahl, 
dem  Wunsche  des  Präsidenten  Wilson  nach  Mitteilung  der 
Friedensbedingungen  zu  entsprechen. 

Der  Kanzler,  der  hier  noch  einmal  die  Hoffnung  auf- 
leuchten  sah,  es  könne  der  Krieg  mit  Amerika  vermieden 
und  vielleicht  sogar  der  Friede  erreicht  werden,  war  in 
einer  Erregung,  wie  ich  sie  nie  an  ihm  gesehen  habe.  Er 
war  entschlossen,  Wilson  durch  Bernstorff  in  großen  Um- 
rissen die  Friedensbedingungen  mitzuteilen,  die  wir  für 
den  Fall  des  Zustandekommens  der  von  uns  vorgeschlagenen 
Friedensverhandlungen  als  unsern  Vorschlag  mitbringen 
wollten.  Schwierig  lag  die  von  Bernstorff  erbetene  Ein- 
behaltung der  U-Bootnote ; denn  die  U-Boote  waren  längst 
nach  ihren  Stationen,  die  zum  Teil  weit  im  Westen  Irlands 
lagen,  unterwegs  und  wahrscheinlich  nicht  zu  erreichen. 

Der  Kanzler  entschloß  sich,  noch  am  gleichen  Abend 
mit  dem  Staatssekretär  Zimmermann  nach  dem  Großen 

418 


Die  deutschen  Friedensbedingungen 


Hauptquartier  zu  reisen.  Dort  wurde  ein  Antworttele- 
gramm an  den  Grafen  Bemstorff  vereinbart  des  Inhalts, 
daß  wir  die  neue  Initiative  des  Präsidenten  auf  das  freu- 
digste begrüßten  und  den  Botschafter  ermächtigten,  dem 
Präsidenten  die  Grundzüge  unserer  Friedensbedingungen, 
wie  sie  bei  unserm  Friedens  Vorschlag  vom  12.  Dezember 
1916  ins  Auge  gefaßt  waren,  zu  seiner  persönlichen  In- 
formation mitzuteilen.  Dies  solle  gleichzeitig  mit  der 
Übergabe  der  U-Bootnote  geschehen.  Die  Zurückhaltung 
der  letzteren  sei  unmöglich,  da  die  Boote  mit  den  Befehlen 
sich  bereits  auf  ihren  Stationen  befänden  und  für  einen 
Gegenbefehl  größtenteils  nicht  erreichbar  seien.  Wir  seien 
jedoch  bereit,  den  neuen  U-Bootkrieg  alsbald  einzustellen, 
wenn  es  den  Bemühungen  des  Präsidenten  gelungen  sein 
würde,  eine  Erfolg  versprechende  Grundlage  für  Friedens- 
verhandlungen zu  sichern. 

Die  dem  Präsidenten  Wilson  mitgeteilten  Bedingungen, 
die  wir  zur  Grundlage  von  Friedensverhandlungen  zu 
machen  beabsichtigten,  waren  die  folgenden: 

Zurückerstattung  des  von  Frankreich  besetzten  Teiles 
von  Ober-Elsaß. 

Gewinnung  einer  Deutschland  und  Polen  gegen  Ruß- 
land strategisch  und  wirtschaftlich  sichernden  Grenze. 

Koloniale  Restitution  in  Form  einer  Verständigung, 
die  Deutschland  einen  seiner  Bevölkerungszahl  und 
der  Bedeutung  seiner  wirtschaftlichen  Interessen  ent- 
sprechenden Kolonialbesitz  sichert. 


27’ 


419 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Rückgabe  der  von  Deutschland  besetzten  franzö- 
sischen Gebiete  unter  Vorbehalt  strategischer  und 
wirtschaftlicher  Grenzberichtigungen  sowie  finanzieller 
Kompensationen. 

Wiederherstellung  Belgiens  unter  bestimmten  Garan- 
tien für  die  SicherheitDeutschlands,  welche  durchVerhand- 
lungen  mit  der  belgischen  Regierung  festzustellen  wären. 

Wirtschaftlicher  und  finanzieller  Ausgleich  auf  der 
Grundlage  des  Austausches  der  beiderseits  eroberten 
und  im  Friedensschluß  zu  restituierenden  Gebiete. 

Schadloshaltung  der  durch  den  Krieg  geschädigten 
deutschen  Unternehmungen  und  Privatpersonen. 

Verzicht  auf  alle  wirtschaftlichen  Abmachungen  und 
Maßnahmen,  welche  ein  Hindernis  für  den  normalen 
Handel  und  Verkehr  nach  Friedensschluß  bilden  würden, 
unter  Abschluß  entsprechender  Handelsverträge. 

Sicherstellung  der  Freiheit  der  Meere. 

' Die  deutsche  Regierung  erklärte  sich  ferner  bereit, 
auf  der  Basis  der  Senatsbotschaft  des  Präsidenten  Wilson 
an  der  von  ihm  nach  Beendigung  des  Krieges  angestreb- 
ten internationalen  Konferenz  teilzunehmen. 

Das  Telegramm  an  den  Grafen  Bemstorff  ist  am 
31.  Januar  1917,  unmittelbar  nach  Überreichung  der 
U-Bootnote  an  Herrn  Gerard,  den  Mitgliedern  des  Haupt- 
ausschusses des  Reichstags  in  geheimer  Sitzung  mitgeteilt 
worden.  Auch  die  Mehrheitssozialdemokraten  erkannten 
es  als  einen  Versuch  an,  die  Vereinigten  Staaten  dem  Kriege 


420 


Die  deutschen  Friedensbedingungen 


fernzuhalten  und  den  Weg  zum  Frieden  offenzuhalten. 
Die  Grundlinien  unseres  Friedensprogramms  gaben  wegen 
ihrer  Bescheidenheit  Anlaß  zur  Kritik.  Die  Sprecher  der 
beiden  konservativen  Parteien,  der  Nationalliberalen  und  des 
Zentrums,  wenn  ich  mich  recht  erinnere,  auch  der  Frei- 
sinnigen, sprachen  den  Wunsch  aus,  der  Kanzler  möge  sich, 
wenn  es  nun  doch  noch  zu  Friedens  Verhandlungen  kommen 
sollte,  nicht  an  dieses  Programm  für  gebunden  halten. 

Es  kam  nicht  zu  Friedens  Verhandlungen,  sondern  sofort 
nach  Überreichung  der  Note  zum  Abbruch  der  diploma- 
tischen Beziehungen  zwischen  den  Vereinigten  Staaten 
und  dem  Deutschen  Reiche  und  einige  Wochen  später  zur 
Kriegserklärung. 

Ich  habe  mich  bemüht,  im  Vorstehenden  die  verwickel- 
ten Zusammenhänge  zwischen  den  Friedensbemühungen, 
denjenigen  der  Reichsregierung  wie  denjenigen  Wilsons, 
und  dem  U-Bootkrieg  zu  entwirren  und  klarzulegen. 
Nach  bestem  Wissen  und  Gewissen  habe  ich  die  Vorgänge 
dargestellt,  wie  ich  sie  im  Werden  gesehen  habe.  Ich  weiß, 
daß  andere,  darunter  auch  solche  Persönlichkeiten,  die 
jene  tragische  Entwicklung  handelnd  miterlebt  haben, 
nicht  in  allen  Punkten  mit  meiner  Auffassung  der  Gescheh- 
nisse übereinstimmen,  ja  in  wesentlichen  Punkten  von 
meiner  Auffassung  ab  weichen.  Das  gilt  vor  allem  von  dem 
Grafen  Bernstorff,  der  als  Botschafter  in  den  Vereinigten 
Staaten  auf  seinem  Posten  jenseits  des  Atlantischen  Ozeans 


421 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


die  Friedensbemühungen  und  die  zum  Krieg  mit  Amerika 
führende  Entwicklung  mitgemacht  hat. 

Graf  Bernstorff  war  damals  und  ist  wohl  heute  noch 
nicht  nur  davon  überzeugt,  daß  der  Präsident  Wilson  in 
jener  Zeit  ehrlich  den  Frieden  wollte,  sondern  auch  daß 
er  den  beiden  kriegführenden  Parteien  ohne  Voreinge- 
nommenheit gegenüberstand  und  bereit  war,  einen  für 
uns  annehmbaren  und  erträghchen  Frieden  durchzusetzen. 
Die  Friedensbemühungen  des  Präsidenten  Wilson  hätten 
nach  seiner  Überzeugung  zum  Erfolg  geführt,  wenn  nicht 
wir,  die  wir  doch  selbst  den  Präsidenten  fortgesetzt  zur 
Friedens  Vermittlung  gedrängt  hätten,  in  dem  Augenblick, 
wo  der  Erfolg  reifte,  mit  dem  uneingeschränkten  U-Boot- 
krieg dem  Präsidenten  geradezu  ins  Gesicht  geschlagen, 
jede  Friedensmöghchkeit  zerstört  und  Amerika  zum  Krieg 
gegen  uns  gezwungen  hätten. 

Ich  selbst  habe  bis  zur  letzten  Möglichkeit  dafür  gekämpft, 
daß  die  Entscheidung  über  die  Eröffnung  des  uneinge- 
schränkten U-Bootkrieges  vertagt  werde,  bis  sich  die  Aus- 
wirkung unseres  Friedensschrittes  wie  desjenigen  des  Präsi- 
denten Wilson  vollkommen  übersehen  lasse.  Wenn  ich  der 
Auffassung  des  Grafen  Bernstorff  entgegentrete,  so  plädiere 
ich  also  gewiß  nicht  in  eigener  Sache,  sondern  ledighch  im 
Interesse  der  Aufklärung  und  der  geschichthchen  Wahrheit. 

Ich  will  dem  Präsidenten  Wilson  den  ehrlichen  Willen, 
einen  nach  seiner  Ansicht  gerechten  Frieden  herbei- 
zuführen, nicht  abstreiten.  Aber  ich  kann  ihm  weder 


422 


Bernstorffs  Auffassung 


zubilligen,  daß  er  in  der  Herbeiführung  des  Friedens  einen 
besonderen  Eifer  an  den  Tag  legte,  noch  daß  er  — bei  allem 
subjektiven  Bestreben  nach  Gerechtigkeit  — den  beiden 
kriegführenden  Gruppen  objektiv  dasselbe  Maß  von  Ver- 
ständnis und  Wohlwollen  entgegenbrachte. 

Anfang  Mai  1916  hat  nach  des  Botschafters  Gerard  eige- 
nem Bericht  der  Reichskanzler  von  Bethmann  Hollweg 
diesem  gegenüber  die  Hoffnung  ausgesprochen,  der  Prä- 
sident Wilson  werde  nunmehr  groß  genug  sein,  sich  der 
Sache  des  Friedens  anzunehmen.  Damals  war  es  noch 
ein  halbes  J ahr  bis  zur  Präsidentenwahl ; das  Bevorstehen 
der  Präsidentenwahl  konnte  also  noch  kein  ernstliches 
Hindernis  für  eine  Friedensaktion  sein.  Aber  der  Präsident 
tat  nichts  für  den  Frieden.  Er  steckte  unser  Zugeständnis 
der  Einstellung  des  uneingeschränkten  U-Bootkriegs  ein  und 
versuchte  nicht  einmal  irgendeinen  ernsthaften  Schritt,  um 
England  zur  Rückkehr  auf  den  Boden  der  völkerrechtlichen 
Normen  des  Seekriegsrechts  zu  veranlassen.  Die  deutsche 
Politik  ist  dabei  gewiß  nicht  frei  von  Fehlern  gewesen. 
Präsident  Wilson  hätte  sich  vielleicht  anders  verhalten, 
wenn  die  Zurückführung  des  U-Bootkriegs  auf  die  Formen 
des  Kreuzerkriegs  nicht  erst  im  Mai  1916  erfolgt  wäre, 
nachdem  die  durch  die  Versenkung  der  ,,Lusitania“  geschaf- 
fene kritische  Lage  durch  die  Torpedierung  der  ,,Arabic‘‘  und 
schließlich  der  „Sussex“  — um  nur  die  wichtigsten  Fälle 
zu  nennen  — eine  heillose  Erschwerung  erfahren  hatte, 
sondern  nach  meinem  leider  nicht  befolgten  Vorschlag  schon 


423 


Friedensbemühungen  und  .U-Bootkrieg 


im  Juli — August  1915  in  Beantwortung  des  Angebotes  des 
Präsidenten,  mit  ihm  zur  Wiederherstellung  der  Freiheit 
der  j\Ieere  noch  während  des  Krieges,  gegen  wen  es  auch 
sei,  zusanunenzu wirken.  Aber  sei  dem,  wie  ihm  wolle  — 
die  Tatsache  bleibt  bestehen,  daß  der  Präsident  Wilson 
auf  die  von  deutscher  Seite  schon  Anfang  Mai  1916 
gegebene  Anregung,  sich  der  Sache  des  Friedens  anzu- 
nehmen, viele  Monate  hindurch  nichts  tat,  nicht  ein- 
mal eine  Zusage  gab,  daß  er  etwas  tun  werde,  daß  er 
schließhch  mit  einem  Friedensschritt  erst  hervortrat,  nach- 
dem Deutschland  und  seine  Verbündeten  ihrerseits  den 
Friedens  Vorschlag  vom  12.  Dezember  1916  gemacht  hatten. 

Daß  der  Präsident  Wilson  in  Sprache,  in  Lebensauf- 
fassung und  Weltanschauung  dem  angelsächsischen  Kul- 
turkreis angehört  und  infolgedessen  innerhch  unsem 
Feinden  nähersteht  als  uns,  ist  kein  Vorwurf  gegen  Herrn 
Wilson,  war  aber  für  uns  eine  Tatsache,  die  wir  ungestraft 
nicht  übersehen  durften.  Daß  Herr  Wilson  objektiv  nicht 
mit  dem  gleichen  Maße  messen  konnte,  hatte  sich  bald  nach 
Kriegsausbruch  in  dem  ersten  Depeschenwechsel  zwischen 
dem  Kaiser  und  dem  Präsidenten  der  Vereinigten  Staaten 
gezeigt.  Seit  den  Verhandlungen  mit  dem  Präsidenten 
vom  Oktober — November  1918  über  die  Herbeiführung 
eines  Waffenstillstandes  und  die  Anbahnung  von  Friedens- 
verhandlungen sollte  auch  dem  größten  deutschen  Verehrer 
Wilsons  klar  geworden  sein,  daß  dieser  Mann  nicht  im- 
stande ist,  sich  von  Vorurteil  und  Voreingenommenheit 


424 


Bernstorffs  Auffassung 


uns  gegenüber  zu  befreien.  Was  wir  von  Herrn  Wilson  an 
gerechter  Würdigung  unserer  nationalen  Ehre  und  Lebens- 
bedürfnisse zu  gewärtigen  hatten,  war  schon  geradezu  über- 
wältigend zum  Ausdruck  gekommen  in  seiner  Botschaft 
an  den  Senat  voni  22.  Januar  1917.  In  dieser  Botschaft 
tat  er  unsere  Bekundung  der  Bereitwilligkeit  zu  einem 
Frieden,  der  unser  Verteidigungsziel  verwirklichen  und 
Ehre,  Dasein  und  Entwicklungsfreiheit  unserer  und  un- 
serer verbündeten  Völker  sichern  sollte,  kurzerhand  ab  mit 
der  Behauptung,  wir  hätten  auf  seine  Friedensanregung 
„einfach“  unsere  Bereitwilligkeit  erklärt,  mit  unsern 
Gegnern  zu  einer  Konferenz  zusammenzutreten,  während 
er  die  „viel  ausführlichere“  Antwort  unserer  Gegner,  die 
nichts  weniger  als  die  Zerstücklung  Österreich-Ungarns 
und  der  Türkei  und  die  Verstümmelung  Deutschlands  ver- 
langte, als  einen  Schritt  bezeichnete,  der  die  endgültige 
Erörterung  des  Friedens  „so  viel  näher“  gebracht  habe! 

Wenn  Graf  Bernstorff  trotz  dieser  Unzweideutigkeit 
auch  noch  in  der  letzten  Januarwoche  des  Jahres  1917 
der  Ansicht  war  und  heute  noch,  wie  es  den  Anschein  hat, 
der  Ansicht  ist,  daß  Wilson  damals  im  Begriff  gewesen  sei, 
sich  für  einen  für  uns  annehmbaren  und  erträglichen 
Frieden  einzusetzen  und  sich  dafür  mit  Erfolg  einzusetzen, 
so  ist  das  nur  erklärlich  durch  die  nachhaltige  Wirkung 
von  Suggestionen,  denen  er  seit  zwei  Jahren  ohne  das 
Gegengewicht  einer  auch  nur  einigermaßen  ausreichenden 
Fühlung  mit  der  Heimat  ausgesetzt  war.  Der  Briefverkehr 


425 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


und  jede  Art  persönlicher  Fühlung  zwischen  Berlin 
und  der  deutschen  Botschaft  in  Washington  war  völlig 
abgebunden.  Die  Benutzung  unserer  eigenen  amerika- 
nischen Stationen  für  drahtlosen  Verkehr  hatte  uns  die 
Regierung  der  Vereinigten  Staaten  bald  nach  Kriegs- 
ausbruch für  jede  Art  von  Chiffretelegrammen  unmöglich 
gemacht,  während  die  britischen  Kabel  unbeschränkt 
unsern  Feinden  zur  Verfügung  standen.  Die  Möglich- 
keit, durch  Vermittlung  der  amerikanischen  Botschaft  in 
Berlin  und  der  amerikanischen  Regierung  in  Washington 
Chiffretelegramme  an  unsem  Botschafter  gelangen  zu 
lassen,  wurde  nur  innerhalb  der  engsten  Grenzen  gewährt. 
So  ist  es  schließhch  zu  verstehen,  daß  unserer  Vertretung 
jenseits  des  großen  Wassers  der  Kontakt  mit  dem  um  seine 
Existenz  ringenden  deutschen  Volke  und  das  Augenmaß 
für  das  uns  Notwendige  und  Erträgliche  verlorenging. 

Jedenfalls  stand  für  uns  in  der  Heimat  um  die  Mitte 
des  Januar  1917  fest,  daß  sowohl  die  deutsche  wie  auch 
die  amerikanische  Friedensaktion  an  dem  unerbitthchen 
Eroberungs-  und  Vemichtungs willen  unserer  Feinde  ge- 
scheitert seien.  Den  Temperamentvolleren  genügten  zur 
Bestätigung  dieser  Überzeugung  bereits  die  Reden,  mit 
denen  die  feindlichen  Staatsmänner  in  den  unmittelbar 
auf  den  12.  Dezember  1916  folgenden  Tagen  unsern 
Friedens  Vorschlag  mit  Spott  und  Hohn  zurückwiesen,  jeden- 
falls aber  die  Antwortnote,  die  uns  die  Ententemächte 
am  31.  Dezember  1916  überreichen  ließen.  Für  die 

426 


Bernstorffs  Auffassung 


Vorsichtigeren  war  jeder  Friedens  versuch  erledigt  mit  der 
ungeheuerlichen  Antwort,  die  Herr  Briand  namens  der 
Ententeregierungen  am  lo.  Januar  1917  auf  den  Friedens- 
schritt des  Präsidenten  Wilson  dem  amerikanischen  Bot- 
schafter in  Paris  übergab.  Die  Senatsbotschaft  des  Prä- 
sidenten Wilson  vom  22.  Januar  1917  konnte  diesseits 
des  Atlantischen  Ozeans  nicht  als  eine  Fortsetzung  der 
Friedensbemühungen,  sondern  lediglich  als  eine  nur  aus  un- 
heilbarer Voreingenommenheit  erklärliche  Parteinahme  des 
Präsidenten  Wilson  zugunsten  unserer  Feinde  aufgefaßt 
werden.  Niemand  in  unseren  leitenden  Kreisen,  auch  ich 
nicht,  der  ich  mich  bis  zur  Entscheidung  und  über  die 
Entscheidung  hinaus  gegen  die  alsbaldige  Eröffnung  des 
uneingeschränkten  U-Bootkriegs  eingesetzt  hatte,  konnte 
nach  diesen  Vorgängen  noch  der  Meinung  sein,  daß  man 
jenseits  des  Atlantischen  Ozeans  die  Friedensaktion  als 
noch  nicht  erledigt  ansah  und  an  ihre  Fortsetzung  dachte. 

Erst  das  am  28.  Januar  abends  hier  eingegangene  Tele- 
gramm des  Grafen  Bemstorff  zeigte,  daß  Präsident  Wilson 
einen  erneuten  Friedensschritt  zu  machen  beabsichtigte. 
Auf  dieses  Telegramm  hin  ist,  soweit  ich  es  beurteilen 
kann,  von  deutscher  Seite  das  nach  Lage  der  Dinge  über- 
haupt noch  mögliche  geschehen,  um  dem  Präsidenten 
Wilson  freies  Feld  für  diesen  neuen  Versuch  zu  geben. 
Der  Präsident  hat  es  aber  vorgezogen,  trotz  der  Mitteilung 
der  von  uns  als  Grundlage  für  die  erste  Friedensaus- 
sprache ausgearbeiteten  Bedingungen  und  trotz  unserer 


427 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


Bereitwilligkeit,  den  uneingeschränkten  U-Bootkrieg  als- 
bald wieder  einzustellen,  wenn  es  ihm  gelungen  sei,  erfolg- 
versprechende Grundlagen  für  Friedensverhandlungen  zu 
sichern,  brüsk  jede  weitere  Verhandlung  abzuschneiden 
und  die  diplomatischen  Beziehungen  mit  uns  ohne  jede 
weitere  Begründung  abzubrechen. 

Es  mag  als  ein  müßiges  Fragen  erscheinen,  ob  es  dem 
Präsidenten  Wilson,  falls  die  Erklärung  des  uneinge- 
schränkten U-Bootkriegs  nicht  in  jenen  kritischen  Tagen 
erfolgt  wäre,  gelungen  wäre,  den  Frieden  herbeizuführen, 
oder  ob  wenigstens  die  Vereinigten  Staaten  in  diesem  Falle 
dem  Krieg  ferngeblieben  wären.  Aber  diese  Fragen  haben 
unser  ganzes  Volk  so  sehr  in  seinen  Tiefen  erregt,  daß  es 
mir  ein  Bedürfnis  ist,  auch  hierüber  ein  Wort  zu  sagen. 

Ich  halte  es  für  ausgeschlossen,  daß  die  von  Wilson 
gegen  Ende  Januar  1917  ins  Auge  gefaßte  neue  Friedens- 
aktion zu  einem  für  uns  annehmbaren  Frieden  hätte  füh- 
ren können.  Die  von  der  Entente  aufgestellten  Bedingun- 
gen, an  deren  Ernsthaftigkeit  wir  nicht  zweifeln  können, 
waren  derart,  daß  nur  ein  gänzlich  niedergebrochenes 
Deutschland  sie  annehmen  konnte.  Wer  hätte  es  damals 
in  Deutschland  wagen  können,  Elsaß-Lothringen  mit 
weiteren  Teilen  des  linken  Rheinufers  und  unsere  Ost- 
marken preiszugeben,  dem  deutschen  Volk  eine  gewal- 
tige Kriegsentschädigung  aufzuladen,  uns  für  die  Zukunft 
unter  die  Vormundschaft  der  Entente  zu  stellen,  dazu 
unsere  Bundesgenossen  in  der  schnödesten  Weise  der 

428 


Wilsons  Politik 


Zertrümmerung  preiszugeben?  Auch  nur  ein  Status-quo- 
Frieden  wäre  nur  unter  den  schwersten  inneren  Kämpfen 
durchzufechten  gewesen ; er  wäre  durchgefochten  worden, 
aber  was  darüber  hinausging,  war  schlechterdings  unmög- 
lich. Nur  wenn  der  Präsident  Wilson  bereit  gewesen  wäre, 
mit  dem  ganzen  Schwergewicht  der  amerikanischen  Macht 
auf  die  Ententemächte  zu  drücken,  um  sie  zu  einer  völligen 
Sinnesänderung  zu  zwingen,  und  nur  wenn  er  bei  einem 
solchen  Vorgehen  die  Unterstützung  des  amerikanischen 
Volkes  und  seiner  Vertretung  gefunden  hätte,  wäre  Aus- 
sicht gewesen,  zum  Frieden  zu  kommen.  Dazu  war  aber 
Wilson,  der  in  seiner  Senatsbotschaft  vom  22.  Januar  1917 
die  unerhörten  Kriegsziele  der  Entente  als  diskutabel  be- 
handelte, ganz  offensichtlich  nicht  bereit,  ebensowenig 
Volk  und  Kongreß  der  Vereinigten  Staaten.  Viel  näher 
lag  die  Wahrscheinlichkeit  eines  amerikanischen  Druckes 
auf  uns  und  unsere  Verbündeten. 

Diese  Wahrscheinlichkeit  lag  um  so  näher,  als  sich  in 
der  am  21.  Dezember  1916  in  Berlin  überreichten  Friedens- 
note der  amerikanischen  Regierung  der  Passus  fand, 
daß  die  Interessen  der  Vereinigten  Staaten  durch  den 
Krieg  „ernstlich  in  Mitleidenschaft  gezogen  seien**,  und 
daß  das  Interesse  der  Union  an  einer  baldigen  Beendigung 
des  Krieges  sich  daraus  ergebe,  daß  „sie  offenkundig  ge- 
nötigt wäre,  Bestimmungen  über  den  bestmöglichen  Schutz 
ihrer  Interessen  zu  treffen,  falls  der  Krieg  fortdauern  sollte**. 
Diese  kaum  verhüllte  Drohung  wurde  noch  deutlicher 


429 


Friedensbemühungen  und  U-Bootkrieg 


gemacht  durch  ein  Interview,  das  der  Staatssekretär 
Lansing  bald  darauf  Vertretern  der  amerikanischen  Presse 
gewährte  und  in  dem  er  mit  unzweideutigem  Hinweis  auf 
Deutschland  sagte,  Amerika  stehe  nahe  am  Krieg. 

Es  ist  also  auf  der  einen  Seite  so  gut  wie  ausgeschlossen, 
daß  der  Präsident  Wilson,  auch  wenn  wir  damals  den 
uneingeschränkten  U-Bootkrieg  nicht  gemacht  hätten, 
der  Welt  den  Frieden  gebracht  hätte.  Auf  der  andern 
Seite  ist  es  nicht  völlig  ausgeschlossen,  daß  gerade  aus 
der  Fortsetzung  der  Wilsonschen  Friedensaktion  der  Krieg 
zwischen  Amerika  und  Deutsclüand  entstanden  wäre,  der 
nun  aus  der  Veranlassung  des  U-Bootkriegs  entstanden  ist. 

Ich  bedaure  es,  daß  die  Sachlage,  die  im  Januar  1917 
zur  Klärung  drängte,  infolge  der  überstürzten  Eröffnung 
des  uneingeschränkten  U-Bootkriegs  wohl  niemals  in 
einer  den  letzten  Zweifel  ausschließenden  Weise  wird 
aufgehellt  werden  können.  Für  mich  selbst  steht  aus  dem 
Miterleben  jener  kritischen  Epoche  unerschütterlich  fest: 
Wüsons  geschichtliche  Mission,  der  Welt  zu  einem  Frieden 
unter  Gleichen  zu  verhelfen,  ist  gescheitert  an  seiner  Ver- 
ständnislosigkeit für  unsere  Lebensrechte  und  Lebensnot- 
wendigkeiten, gescheitert  nicht  erst  in  den  schwarzen 
Oktober-  und  Novemberwochen  1918,  sondern  schon  um 
die  Wende  der  Jahre  1916  und  1917. 


Diese  Ausführungen  waren  niedergeschrieben 
und  gedruckt  vor  der  Bekanntgabe  der  unter 
Wilsons  Mitwirkung  zustandegekommenen 
Friedensbedingungen  der  gegen  uns  verbün- 
deten Mächte.  Diese  Bedingungen  sind  eine 
Bestätigung  des  oben  ausgesprochenen  U rteils . 


Als  erster  Teil  dieses  Werkes  ist  erschienen 


Karl  Helfferich 

Die  Vorgeschichte 
des  Weltkrieges 

Geh.  5 Mark,  geh.  7.50  Mark 

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Ein  dritter  Band  (Schlußband) 
erscheint  demnächst 


Verlag  Ullstein  Ö Co,  Berlin 


POLITISCHE  BÜCHER 

Sozialisierung  oder  Sozialismus? 
von  Dn  August  Müller 
Preis  3 Mark 

Zwei  Forderungen  hat  unsere  revolutionäre  und  doch  so  gedankenarme 
Zeit  in  den  Vordergrund  des  politischen  Interesses  gestellt:  die  Soziali- 
siemng  und  das  Rätesystem.  Dr.  August  Müller,  dessen  Laufbahn  vom 
Handarbeiter  über  den  Journalismus  und  späteres  akademisches  Studium 
zum  Vorstandsmitglied  des  Zentralverbandes  deutscher  Konsumvereine 
und  schließlich  zum  Unterstaatssekretär  führte,  gibt  hier  aus  seiner  reichen 
Erfahrung  eine  höchst  beachtenswerte  Kritik  der  beiden  Revolutionsideale. 

4 

Die  französische  Revolution  von  1789 

Eine  Mahnung  an  die  Gegenwart 

von  Hans  Wilhelm  Hollm 
Preis  2 Mark 

Diese  Schrift  führt  von  unserer  Zeit  in  die  Epoche  der  Weltgeschichte, 
die  die  französische  Revolution  entstehen  sah.  Sie  will  warnen  vor  der 
ungeheuren  Gefahr  des  Terrors,  und  sic  zeigt  den  Weg  zu  einem 
Neuaufbau  der  in  ihren  Grundfesten  erschütterten  deutschen  Kultur. 

4 

Die  Großmächte 

Richtlinien  ihrer  Geschichte  — Maßstäbe  ihres  Wesens 
von  Martin  Spahn 
Preis  5.50  Mark 

In  allen  diesen  Fragen  der  tieferen  ursächlichen  Verankerung  des  Weltgesche- 
hens bietet  die  neueste  Schrift  des  Straßburger  Historikers  und  PolitikersMartin 
Spahn  reiche  Aufschlüsse.  Das  Werk  . . . gehört  zu  den  tiefsten  und  ge- 
haltsamsten  Erzeugnissen  der  unter  der  Einwirkung  des  Krieges  entstan- 
denen Literatur.  Kölnische  Volkszeitung. 


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Arbeiterbewegung  und  Sozialdemokratie 

von  Paul  Kampff meyer 

Süd^Tirol 

vom  Brenner  bis  zur  Salurner  Klause 
herausgegeben  von  Dr.  Karl  Grabmayr 

Englische  Staatsmänner 

von  SiLVara 

4 

Französische  Staatsmänner 

von  Max  Nordau 

4 

Russische  Köpfe 

von  Professor  Dr.  Theodor  Schiemann 

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Die  Träger  des  deutschen  Idealismus 

von  Professor  Rudolf  Eucken 

Jeder  Band  3 Mark 


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HELFFERICH 

Die  Vorgeschichte  des  Weltkrieges 

Gebunden  7.50  Mark 
Geheftet  5 Mark 

ft' 

AUS  DEM  INHALT; 

Vom  Dreibund  zum  Dreiverband  / Bismarcks  »caudiemar 
des  coalitions«  und  sein  System  der  Sicherungen  / Die 
englisch-französische  Entente  / Die  britisch-russische  Ver- 
ständigung / Unsere  Politik  der  mangelnden  Gegen- 
gewichte / Ungeschicklichkeiten  und  Schroffheiten  / Frank- 
reichs Revanchedurst  / Rußlands  Drang  nach  Kon- 
stantinopel / Italiens  Irredenta-  und  Tripoliswünsche 
Die  britische  Handelseifersucht  / Die  Bagdadbahn  / Die 
Flottenfrage  / Das  Wettrüsten  / Der  Dreibund  Ver- 
sicherungs-Gesellschaft, die  Triple -Entente  Erwerbs- Ge- 
sellschaft / Die  bosnische  Krisis  / Die  türkische-  Re- 
volution / Die  Marokkokrisis  von  19H  / Lord  Haldanes 
Mission  / Flottenfrage  / Der  Tripoliskrieg  / Die  beiden 
Balkankriege  / Der  Balkanbund  / Englands  zwiespältige 
Politik  / Die  letzten  Verständigungsversuche  / Licpiidation 
des  portugiesischen  Kolonialbesitzes  / Bagdadbahn  und 
deutsch  - englische  Beziehungen  / Die  jungtürkische  Re- 
volution / Mesopotamien  / Das  britisch-russische  Marine- 
abkommen / Der  Geist  der  britischen  Politik  / Die  Er- 
mordung des  Erzherzogs  Franz  Ferdinand  / Ultimatum 
an  Serbien  / Deutschlands  Friedenswille;  die  mangelhafte 
militärische,  diplomatische  und  wirtschaftliche  Kri  gs- Vor- 
bereitung / Rußlands  Einmischung  / Meine  Unterredung 
mit  Herrn  Davydoff  / Die  russische  Generalmobilmachung 
Die  Frage  der  belgischen  Neutralität  / Die  deutsche 
Mobilmachung  / Der  Triumph  der  britischen  Politik 


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Sortimenter-Zuschlag  vonl0®/9 


Staatsminister  Dr.  Karl 

HELP  F ERICH 

VomKriegsausbruch  bis  zum 
uneingeschränkten  U-Bootkrieg 

Gebunden  15  Mark  ^ 

Geheftet  12  Mark 

•K 

AUS  DEM  INHALT: 

Die  ersten  Kriegsmonate  / Keine  Hoffnung  auf  baldig« 
Beendigung  des  Krieges  / Glänzende  Haltung  der  deutscher 
Großbanken  / Kein  Moratorium  / Sturm  auf  die  Banken 
Der  »Wirtschaftliche  Generalstab«  fehlte  / Helfferich 
Reichsschatzsekretär  / Die  Finanzierung  kriegswichtiger 
Unternehmungen  / Stickstoffrage  / Helfferich  für  Zusam^ 
menwirken  von  Reich  und  privatem  Unternehmertum,  nicht 
für  radikale  Sozialisierung  / U^Handelsboote  / »Geld  spielt 
keine  Rolle«  / Die  Kriegsanleihen  / Kriegssteuern  / Die 
Türkei  als  Bundesgenosse  / Italienische  Kriegserklärung 
Masurenschlacht  / »Lusitania«  / Bulgariens  Eingreifen 
Angriff  auf  Verdun  ein  schwerer  Fehler  / Falkenhayn  oder 
Hindenburg^Ludendorff /Rumäniens  Kriegserklärung  / Hin« 
denburg  Chef  des  Feldheeres  / Helfferich  Staatssekretär  des 
Innern  / Kriegsrohstoff « Abteilung  / Kriegsernährungs* 
amt  / Skagerrak  / Londoner  Deklaration  / Postkontrolle/ 
Schwarze  Listen  / Der  Wirtschaftskampf  um  die  Neu« 
tralen  / Z E.G.  »aus  Unkenntnis  und  Unverstand  so  viel 
angefeindet«  / Ersatzstoffe  / Rationierung  und  Höchst« 
preise  / Kriegs«Rohstüffgesellschaften  / Hilfsdienst  / Muni« 
tionskrisis  / Entstehung  des  Kriegsamts  / »Abkehrschein« 
Hindenburg«  Programm  Programm  der  Selbstüberschätzung 
Friedensbemühungen  und  U «Bootkrieg  / Bethmann«Holl« 
wegs  Kriegsziele  / Weddigen  / Tirpitz  / Helfferich  für 
Zusammenarbeiten  mit  Wilson  / Chef  des  Admiralstabes 
gegen  Helfferich  / Der  verschärfte  U«Bootkricg  / Dilet« 
tantische  Denkschrift  des  Admiralstabes  / Tirpitz'  Rück« 
tritt  / Der  Sussex«Fall  / Deutschlands  Friedensvor« 
schlag  / Schroffe  Ablehnung  / Der  Kaiser  über  Luden« 
dorff  / Eisiger  Empfang  des  Kanzlers  in  Pless  / Fest« 
mahl  der  amerikanischen  Handelskammer  / Wilson  ersucht  ‘ 
Deutschland  um  Bekanntgabe  der  Friedensbedingungen. 


Zu  vorgenannten  Preisen  kommt  eia  Sortimenter'Zuschlag  voalO% 


Die  französische 
Revolution  von  1789 

Eine  zeitgemässe  Mahnung 

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Hans  Wilhelm  HoIIm 

Preis  2 Mark 

Diese  Sdrift  geht  hinaus  an  alle.  Von  unserer  stürmischen 
Zeit,  in  der  aus  dem  Zusammenbruch  des  Reiches  das  neue 
Deutschland  der  Nationalversammlung  errichtet  werden 
soll,  führt  sie  in  diejenige  Epoche  der  Weltgeschichte,  die 
die  französische  Revolution  entstehen  sah.  Sie  will  warnen 
vor  der  ungeheuren  Gefahr  des  Terrors,  in  dessen  blutigen 
Sumpf  damals  das  gross  und  ideal  begonnene  Werk  ver-» 
sank,  und  dem  die  Militärherrschaft  Napoleons  folgte.  Sie 
ruft  auf  zur  Einigung  aller  in  unserem  Volk,  die  für  Arbeit, 
Ordnung  und  Recht  sind,  und  sie  zeigt  den  Weg  zum  Neuauf- 
bau der  in  ihren  Grundfesten  erschütterten  deutschen  Kultur. 

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Die  Grossmächte 

Richtlinien  ihrer  Geschichte 
Maßstäbe  ihres  Wesens 
von  Martin  Spahn  * 

Preis  5.50  Mark 

In  allen  diesen  Fragen  der  tieferen  ursächlichen  Veranke- 
rung des  Weltgeschehens  bietet  die  neueste  Schrift  des 
Strassburger  Historikers  und  Politikers  Martin  Spahn 
reiche  Aufschlüsse.  Das  Werk  ist  unter  dem  Titel  „Die 
Grossmächte,  Richtlinien  ihrer  Geschichte,  Masstäbe  ihres 
Wesens"  erschienen  und  gehört  zu  den  tiefsten  und  ge- 
haltsamsten  Erzeugnissen  der  unter  der  Einwirkung  des 
Krieges  entstandenen  Literatur.  „Kölnische  Volkszeitung." 

Zu  vorgenannten  Preisen  kommt  ein  Sortimenter-Zuschlag  von  10**^ 


■Männer  und  Völker 

T 

Arbeiterbewegung  und 

Südtirol 

Sozialdemokratie 

vom  Brenner  bis  zur  SalumerKIause 

von  Paul  Kampffmeycr 

* 

* 

Russische  Köpfe 

Englische  Staatsmänner 

von 

Prof.  Dr.TheodorSchiemann 

von  Sil-Vara 

* 

* 

Die  Träger  des  deutschen 

Französische  Staatsmänner 

Idealismus 

von  Max  Nordau 

von  Professor  Rudolf  Eucken 

Jeder  Band  3 Mark 

Friedenskongresse  und 

Weltpolitik  und  Welt-- 

Friedensschlüsse 

katastrophe 

im  19.  ur.d  20.  Jahrhundert 

von  Professor  Dr.  Paul  Herre 

von 

Prof.  Eduard  v.  Wertheim er 

* 

# 

Aegypten 

Die  Verkünder  des  deutschen 

von  Prof.  Dr.G  eorgSteindprff. 

Idealismus 

« 

von  Professor  Dr,  Oscar  Bulle 

Moltke 

★ 

von  Gen.  d.  Infant.  A.  v.  Janson 

Aegypten  und  Indien 

von  Dr.  T.h.  Preyer 

* 

* 

Das  englische  Gesicht 

Amerika 

von  Professor  Dr.  F.  v.  Liszt, 
Professor  Dr.  J.  Jastrow  u.  a. 

von  C.  Bratter 

Die  Kolonialreiche  der 

Die  Welt  des  Islam 

Großmächte 

von 

von  Dr.  Alfred  Zimmermann 

Prof.  Dr.  Friedrich  Delitzsch 

Afrikanische  Köpfe 

Bismarcks  Erbe 

von  Dr.  Carl  Peters 

von  Prof. 'Dr.  Hans  Delbrück 

Jeder  Band 

1.35  Mark 

VERLAG  ULLSTEIN <S. CO,  BERLIN 

Zu  vorgenaoQten  Preisen  kommt  eia  Sortimeoter'Zuschla;  von  10°/« 


VERLAG  ULLSTEIN  & CO,  BERLIN 


Menschen 

in  Selbstzeugnissen  und  zeitgenössischen 
Berichten 

Eine  neue  Reihe  von  Biographien,  den  Bannerträgern,  Führern, 
Kämpfern,  den  Helden  der  Menschheit  gewidmet.  Nicht  be>^ 
schreibend  und  erzählend  wie  sonst  wird  die  Persönlichkeit  uns 
vor  Augen  geführt,  '^ondern  die  Quellen  selbst,  auf  die  jedes  histo^ 
rische  Erkennen  sich  stützt,  werden  uns  zugänglich  gemadit.  A 1er 
Reiz  der  Umgebung,  das  nur  ahnend  zu  Erfassende  der  Empfin^ 
düngen,  Handlungen,  Situationen,  alle  jenen  zarten  Schwingung- 
gen  der  Seele,  die  sich  letzten  Endes  doch  dem  Wort  entziehen, 
sie  gehen  nicht  verloren,  sondern  stark  und  groß  und  mit  un» 
mittelbarer  Gegenwart  drängt  sich  uns  hier  das  Mensdiliche  auf. 

In  der  Sammlung  erschienen  bisher; 

L a s s a 1 1 e 

von  Stefan  Großmann 

Kleist 

von  C.  F.  Reinhold 

M i r a b e a u 

von  Franz  Leppniann 

Jeder  Band  6 Mark 

und  10%  Teuerungszuschlag 


VERLAG  ULLSTEIN  & CO,  BERLIN 


Sozialisierung  oder  Sozialishius 

von  Dr.  August  Müller 

Aus  dem  Inhalt: 

Die  Revolution  und  die  Revolutionäre 

Die  falsdien  und  die  wahren  Revolutionäre  / Weltkrieg  und 
Kapitalismus  / Das  revolutionäre  Entwicklungsgesetz 

Die  Sozialisierung 

Der  alte  und  der  neue  Glaube  an  die  Sozialisierung  / Die 
deutsche  Volkswirtschaft  und  die  Arbeitseinstellungen  / Soziali' 
sierung,  Einkommenverteilung  und  Produktivität  der  Arbeit 
Die  technischen  Leistungen  der  Unternehmer  / Elementar» 
erfordernisse  der  Sozialisierung 

Das  Rätesystem 

Parlamentarismus  und  Rätesystem  / Unternehmertum,  Ge» 
werkschaften  und  Rätesystem  / Die  Räte  und  die  Politik 

Der  Sozialismus  * 

Preis  3 Mark 

und  lo^’/o  Sortimenterzuschlag 

★ 

Paul  Kampffmeyer 
Arbeiterbewegung  und 
Sozialdemokratie 

Paul  Kampffmeyer  übernimmt  in  diesem  knappen  und  überaus 
inhaltsreichen  Buche  die  dankenswerte  Aufgabe,  ein  Bild  der 
Entwicklung  der  sozialen  und  politischen  Kräfte  des  Arbeiter» 
Standes  zu  geben.  Die  gewerkschaftlichen  wie  die  sozial» 
demokratischen  Organisationen  sehen  wir  aus  ihren  Anfängen 
emporwachsen  zu  jener  internationalen  Bewegung,  die  im 
Begriff  ist,  aus  einem  mitbestimmenden  ein  entsojeidender 
Faktor  der  Weltpolitik  zu  werden. 

Preis  3 Mark 

und  10 'Vo  Sortimenterzuschlag 


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