Skip to main content

Full text of "Vorlesungen über neutestamentliche Theologie"

See other formats


>'/'■':?  i 


«  *>',■•  *-^- 


•\OROHTO 


**  « 


O^'^-  /O  !  I 


VOßLESUNGEN 


ÜBEB 


EUTESTAMEmiCHE  THEOLOGIE 


Dr.  FERDINAND  CHRISTIAN  BAUR, 

Weil,    ordextl.    professob   dee    Theologie 
an  deb  universität  tübinoen. 


SEBAUSaEQEBEM 


\r^ 


FERD.  FRIED.  BAUR, 

DR.  PHIL.,    PROFESSOR  AM  QTMNASIUM  ZU  TÜBINGEN. 


LEIPZIG, 

F  ü  E  S  's    VERLAG    {jL.    W.    R  E  1  S  L  A  N  d). 
1864. 


^. 


Gedruckt  bei  L.  Fr.  Fues  In  TUblngeu. 


Vorwort  des  Herausgebers. 


Indem  ich  die  von  meinem  verewigten  Vater  in  den 
Jahren  1852—1860  an  der  hiesigen  Universität  gehaltenen 
Vorlesungen  über  neutestamentliche  Theologie  hiemit  der 
Öffentlichkeit  übergebe,  darf  ich  vielleicht  hoffen,  einem 
in  weiteren  Kreisen  gehegten  Wunsche  entgegenzu- 
kommen. 

Auch  bin  ich  mir  bewusst,  bei  der  Herausgabe 
dieser  Vorlesungen  insofern  im  Sinne  des  Verfassers 
selbst  zu  handeln,  als  dieser  noch  in  der  letzten  Zeit 
seines  Lebens  damit  umgieng,  sein  im  Jahre  1845  er- 
schienenes Buch  „Paulus,  der  Apostel  Jesu  Christi"  in 
zweiter,  theilweise  wesentlich  umgearbeiteter,  Auflage  er- 
scheinen zu  lassen.  Diese  hat  auch  derselbe  nahezu 
fertig  im  Manuscript  hinterlassen. 

Zu  den  für  sie  bestimmten  und  vollständig  neu  aus- 
gearbeiteten grösseren  Abschnitten  gehört  namentlich  die 
Darstellung  des  paulinischen  Lehrbegriffs,  welche  der 
Verewigte  zuvor  schon  seiner,  letztmals  im  Sommer  1860 
gehaltenen,  Vorlesung  über  neutestamentliche  Theologie 
einverleibt  hatte,  und  um  welcher  willen  hauptsächlich 
er  seinen  „Paulus"  nochmals  erscheinen  lassen  zu  können 
wünschte. 


A2 


IV  Vorwort  des  Herausgebers. 

Da  nun,  obwohl  das  Buch  längst  vergriffen  und 
aus  dem  Buchhandel  verschwunden  ist,  die,  nach  des 
Verfassers  Tod  auch  von  mir  eine  Zeit  lang  beabsichtigte, 
Veranstaltung  dieser  neuen  Auflage  an  äusseren  Hinder- 
nissen scheiterte,  so  wollte  ich  um  so  weniger  säumen, 
die  vorliegenden,  von  meinem  Vater  aufs  genaueste 
mehrmals  durchgearbeiteten  und  von  ihm  noch  in  der 
letzten  Zeit  seines  akademischen  Wirkens  gehaltenen 
Vorlesungen  über  die  gesummte  neutestamentliche  Theo- 
logie zu  veröffentlichen. 

Ihre  Herausgabe  erfüllt  einen  doppelten  Zweck :  sie 
bringt  die  Resultate  der  Forschungen  und  Arbeiten  des 
Verfassers  im  Gebiete  des  neuen  Testaments  in  zusam- 
menfassender, übersichtlicher  Darstellung  zur  Kenntniss 
des  Publicums,  und  lässt  auch  das  Wesentlichste  von 
dem,  was  der  umgearbeitete  „Paulus"  Neues  enthalten 
haben  würde,  nunmehr  in  derjenigen  Umgebung  und  als 
Theil  des  Ganzen,  wofür  es  der  Verewigte  zunächst 
bestimmt  und  ausgearbeitet  hatte,  vor  die  Öffentlichkeil 
treten. 

Tübingen,  im  Juni  1864. 

Der  Herausgeber. 


Inhalt. 


Seite 
Einleitung.     Begriff,  Gesuhichte  und  Eintheilung  der  neu- 
testamentlichen  Theologie         ,         ,         .         .         .         .  1  —  44 
Wesen  der  biblischen  Theologie     ......         1 

Geschichte.     Melanchthon  und  Calvin 12 

Seb.  Schmidt.     Hülsemann.     Baier.     Weissmann.     Büsching  2  —  4 

Zachai'iä  .  .  .         .  ,  ,  ,  .  ,  .  4  —  6 

Hufnagel.     Ammon.     Storr.     Gabler       .         ...         .         .         6  —  8 

Lorenz  Bauer  .         .         .         .         .         .         .         .         .8 —  10 

Kaiser.     De  Wette  .         .         .         •        ,.         .         .         .10  —  14 

Baumgarten- Crusius 14—16 

von  Colin 16—19 

Strauss  und  die  neuere  Kritik 20  —  26 

Neander 26       27 

Die    Gestaltung    der    neutestamentlichen    Theologie    auf   dem 

jetzigen  Standpunkt  der  Wissenschaft      .         .         .         .       27.  —  33 

Schmid.     Hahn.     Einheit   und  Verschiedenheit    der    neutesta- 
mentlichen Lehrbegriffe  .         .         .         .         ,         .33  —  35 

Messner.     Lechler  .         .         .         ...         .         .35  —  38 

Eintheilung  der  neutestamentlichen  Theologie.    Ihre  drei  Perio- 
den.    Jul.  Köstlin 38  —  44 

Erster    Abschnitt. 

Die  Eiehre  Jean  45—121 

Einleitung 45       46 

Verhältniss  Jesu  zum  alten  Testament  und  Gesetz          .         .  46  —  60 

Die  sittliche  Grundanschauung  Jesu 60  —  65 

Die  8txato<Tu'v»j 65  —  69 

Die  Lehre  Jesu  vom  Reiche  Gottes 69  —  75 

Die    Lehre    Jesu    von    seiner   Person    und   Messianität.     Der 

Menschen-  und  Gottessohn 75  —  84 

Aussprüche    Jesu    über    seine    Person     in    den    synoptischen 

Evangelien       .         .         .         .         .         .         .         .         .85  —  93 


VI 


Inhalt. 


Matth.  7,  21 

Matth.  9,  1—8      . 

Matth.  10,  5  f.     . 

Matth.  11,  2  f,      . 

Matth.   12,  1—8 

Matth.  16,  13 
Messiasbewusstsein  Jesu 

Voraussagungen  Jesu  über  Tod  und  Auferstehung 
Äusserungen  über  Zweck  und  Wii-kung  seines  Todes 
Worte  Jesu  bei  der  Einsetzung  des  Abendmahls     . 
Aussprüche  Jesu  über  sein  Kommen  zum  Weltgericht  und  sein 

Richteramt        .... 
Sohnesbewusstsein  Jesu       "     . 
Die  Idee  Gottes  als  des  Vaters 
Jesus  über  seinen  messianischen  Beruf 

Zweiter   Abschnitt. 
Die  lielire  der  Apostel 


Seite 
85  —  87 


87 
88 
89 
90 
92 


88 
89 
90 
•92 
93 


93  —  95 

95  —  99 

99—101 

101  —  105 

105—112 
113—115 
115—118 
118—121 


122—407 


Erste   Periode. 

Die  Lehrbegriffe  des  Apostels  Paulus  und  des  Apokalyptikers    122-230 

Übergang  von  der  Lehre  Jesu  zu  der  der  Apostel  .         .     122  — 126 


Die  Auferstehung  Jesu  ..... 

1)  Der  Lehrbegriff  des  Apostels  Paulus 

Judenthum  und  Christenthum  .... 

Die  Bedeutung  des  Todes  Jesu  .  .  .  . 
Der  Begriff  der  Stxatoauvn]  ..... 
Unmöglichkeit  der  Rechtfertigung  durch  Gesetzeswerke 

1)  Empirischer  Beweis     ..... 

2)  Religionsgeschichtliche  Betrachtung    . 

3)  Anthropologischer  Beweis    .... 

Begriff  der  aap?,  der  <!^^y}i,  des  voiJc,  ;:v£U(Aa 

Die  paulinische  und  die  augustinisch- kirchliche  Lehre 

SotpS  und  vö[xo;         .  .  .  . 

Gesetz  und  Sünde   ....... 

Die  SixaiOCTiIvrj  ix  7i((jt£w?  ..... 

Der  Begriff  des  Glaubens        ..... 

1)  Thatsächlicher  Gesichtspunkt,  der  Tod  Christi.    Genug 
thuung  und  Stellvertretung 

2)  Anthropologischer  Gesichtspunkt,  der  Tod  Christi  und 
die  <7ap^     Tod  und  Auferstehung 


126  127 

128  —  207 

128  129 
129—132 
132—134 

135—137 
137—141 
141—153 
142—147 
147—149 
149  150 
150—153 
153—186 
154  155 

156  —  160 

160  —  163 


Inhalt. 


VII 


3)  Religionsgeschichtlicher  Standpunkt,   Gesetz  und  Ver- 
heissung,  der  vöjxo;  TcatSaywYo; ,  die  axotyst«  toü  xöa(xou, 
Gesetz  und  Freiheit 
Der  Process  des  StxatoSaOai  ^x  jctaTew?    . 
Glaube  und  Liebe  .... 

Der  Glaube  und  die  Werke     . 
Der  Glaube  und  die  Prädestination 
Die  paulinische  Christologie    . 
Christus  als  7:v£3[Jia  und  avOpwno?  I?  oöpavou 
Sein  ojjLOiwjjia  aapxb;  a[iapTia; 
Der  irdische  und  der  himmlische  Mensch 
Präexistenz  Christi  .... 

Die  Geschichte  der  Person  Christi  als  Entwicklungsgeschichte 

der  Menschheit,  Tod  und  Auferstehung,  Adam  und  Christus 
Der  auferstandene  Christus    und  die  Christen    als  Glieder  des 

Leibs  Christi   ......... 

Taufe  und  Abendmahl    .         .         .         .         .         .         .         . 

Die  Parusie  Christi  und  die  Eschatologie        .         .         .         . 

Die  Lehre  von  Gott        ........ 


Seita 


163—173 
174—176 
176  177 
177—182 
182—186 
186—194 
187—189 
189  —  191 
191  192 
192—194 

195—198 

198—200 
200—202 
202—205 
205—207 


2)  Der  Lehrbegriff  der  Apokalypse       .         .         .  207  —  230 

Das  Kommen  des  Herrn  und  das  himmlische  Jerusalem        .  207 — 209 

Das  Reich  Christi 209—211 

Die  Gemeinde  des  neuen  Jerusalems.    Judenthum  und  Heiden- 

thum 211  —  214 

Die   Lehre   von    der   Person    Christi.     Der    Jehovahname   des 

Messias.     Jesus  als   Xö^o;  tou  öeou  und   ap)(^r)  tt)?  xTtueto;  214 — 219 

Der  Tod  Christi .         .219     220 

Der  auferstandene  Christus  als  Herr  der  Gemeinde         .         .  220—222 

Alttestamentliche  Messias  -  Prädicate.  Das  Lamm  .  .  222  223 
Das    Verhältniss    des    Menschen    zu  Gott   und    Christus.     Die 

Furcht  Gottes,  Ipya  und  TCt'irris 223—226 

Die  Lehre  von  Gott.     Die  vier   ^wa  und  die  vierundzwanzig 

Ältesten.     Der  Satan 226—230 

Zweite  Periode. 

Die  Lehrbegriffe  des  Hebräerbriefs,  der  kleineren  paalinischen 

Briefe  u.  s.  w 230—338 

1)  Der  Lehrbegriff  des  Hebräerbriefs            .         .  230—256 

Die  Stellung  des  Christenthums  zum  Judenthum    .         .         .  230—232 

1)  Der  Unterschied    des   Christenthums    vom   Judenthum  232—238 

Die  Idee  des  Priesterthums 232     233 


VIII 


Inhalt. 


Das  Gesetz  und  die  Opfer 

Das  Christenthum  als  TeXsiwdt?        ...... 

Die  Christologie.     Die  Begriffe  Sohn  und  Logos    . 

2)  Die  Ausgleichung  des  Unterschieds  zwischen  Christen- 
thum und  Judenthum.    Das  alte  Testament  als  Vorbild 
des  neuen.     Melchisedek  und  Christus 
Der  den  Gegensatz  aufliebende  Process  in  der  Person  Christi. 

Grund  und  Zweck  der  Menschwerdung 
Die  versöhnende  Thätigkeit  Christi 
Der  afwv  jAe'XXtov  und  der  a?cjv  oSto? 
Die  Parusie  und  das  Weltende 
Die  Lehre  vom  Glauben  .... 

Die  Transcendenz  dieses  Lehrbegriffs 

2)  Der    Lehrbegriff   der    kleineren    paulinischen 
Briefe,  mit  Ausnahme  der  Pastoralbri  efe  . 

Die  Christologie  des  Epheser-  und  Colosser-Briefs.  Das 
Pleroma  ......... 

Das  Verhältniss  Christi  zur  Kirche  als  seinem  Leibe 

Die  allgemeine  Idee  der  Christologie  dieser  Briefe 

Die  Versöhnung  durch  den  Tod  Christi  .... 

Die  Thatsachen  der  Geschichte  Christi  als  Momente  der  sich 
realisirenden  Idee     ........ 

Die  Christologie  des  Philipperbriefs 

Die  Lehre  dieser  Briefe  vom  Glauben ,  der  Rechtfertigung  und 
der  Beseligung . 

Das  Christenthum  Sache  des  Wissens 

Das  Verhältniss  des  Christenthums  zu  Judenthum  und  Heiden- 
thura.  Polemik  gegen  Engelcultus  und  die  axot/^eia  toü 
XÖOjAOU       .......... 

Die  Idee  des  uw[i.a  XptoToü  und  der  Einheit  der  Kirche 

3)  Der  Lehrbegriff  des  Briefs  Jacobi  undder  petri- 
nischen Briefe 

Die  Opposition  des   Jäcobusbriefs   gegen  die  paulinische 

Lehre  von  der  Rechtfertigung  durch  den  Glauben  . 
Der  Glaube  und  die  Werke  bei  Jacobus         .         .         .         • 
Der  Gesetzesstandpunkt,  der  vü(aoj  T^etoj  t^?  IXsuöepia? 
Die  Lehre  von  der  Freiheit  und  der  Sünde    . 
Der  Lehrbegriff  der  petrinischen  Briefe 
Die  paulinische  Grundlage,     Der  Glaube 
Die  Lehre  von  dem  Tode  Christi   . 
Die  Idee  der  Höllenfahrt  Christi     . 


Seite 

233  234 

234  235 
235—238 


238  —  243 

243—245 
245—247 
248  249 

250  251 

251  —  254 
254—256 

256—277 

256—258 
258—260 
260  261 
261—263 

263  264 
265—269 

269—272 
272  273 


273—276 

276  277 

277—297 

277  —  280 
280—284 
284—286 

286  287 

287  —  297 
287  288 
288—291 
291—293 


Inhalt. 


IX 

Seft« 


Der  Unterschied    vom  Paulinismns    und  der  zwischen  diesem 
und    dem  Judaismus    vermittelnde  Charakter    des    ersten 

Briefs 293—295 

Die  Lehre  vom  Glauben,  den  Werken,  der  Wiedergeburt      .  295 — 297 

Der  zweite  petrinische  Brief .  297 

4)  Die  Lehrbegriffe  der  syn  optischen  Evangelien 

und  der  Apostelgeschichte      .....  297 — 338 

Verhältniss  zur  Lehre  Jesu 297     298 

Die  Lehre  von  der  Person  Jesu  als  des  Messias.    Übernatür- 
liche Geburt  und  die  Genealogien             ....  298 — 300 
Die  Taufe  und  Versuchung  Jesu     ......  300 — 302 

Die  Wundererzählungen 302  —  304 

Die  Verklärungsgeschichte       .......  304     305 

Tod  und  Auferstehung  Jesu    .......  305 — 308 

Himmelfahrt  und  Sitzen  zur  Rechten  Gottes   ....  308 — 311 

Parusie    und  Weissagungen  Jesu    über    die   Zerstörung  Jeru- 
salems        311  —  321 

Die  Lehre  vom  heiligen  Geist  bei  den  Synoptikern  und  in  der 

Apostelgeschichte.     Das  XaXstv  yXcoadOi;  .         .  .  321  —  327 

Der  paulinisirende  LehrbegriflF  des  Lucas -Evangeliums  .         .  327 — 331 

Der  Paulinismas  der  Apostelgeschichte  ....  331 — 338 

Dritte    Periode. 

Die  Lehrbegriffe  der  Pastoralbriefe  and  der  Jobanneischen 

Schriften 338-407 

1)  Der  Lehr  begriff  der  Pas  toral  br  i  efe  ,        .         .  338 — 351 

Die  paulinische  Grundlage  desselben       .....  339 — 341 

Seine  polemische  Seite,  die  Bestreitung  der  Häretiker   .         .341     342 

Die  Lehre  von  der  Kirche       .......  342 — 344 

Das  praktische  C'hristenthum.     Die  Lehre  von  der  Inspiration  344     345 

Die  Einwirkungen  der  Gnosis  in  der  Lehre  von  Gott    .         .  345—  349 

Dieselben  in  der  Lehre  von  der  Person  Christi       .         .         .  349 — 351 


2)  Der  johanneische  Lehrbegriff  ....  351 — 407 

Die  Idee  des  Logos  im  Prolog  des  Evangeliums    .         .         .  351 — 354 
Das    Wesen  Gottes,    als    reine  Geistigkeit   und    als    absolute 

Thätigkeit 354—356 

Der  Logos  als  das  göttliche  Offenbarungsorgan      .         .         .  356—359 
Der  Gegensatz  des  Lichts  und  der  Finstemiss        .         .         .  359 — 361 
Verhältniss  der  johanneischen  Lehre  zum  gnostischen  Dualis- 
mus             361     362 

Baur,  neutest.  Theol.  "  " 


Inhalt. 


Seite 

Die  Fleischwerduug  des  Logos 362 — 364 

Die  aap?  des  Logos  und  die  menschliche  Natur  Christi  .         .  364—367 

Der  synoptische  und  johanneische  Christus     ....  367     368 

Die  Lehre  von  der  Erlösung 368—389 

Der  Glaube  und  die  Selbstdarstellung  Jesu    ....  368     369 

1)  Die  Werke  Jesu,  epya  und  ar)[jL^a       ....  369  —  372 

2)  Die  Lehre  und  die  Reden  Jesu  .  .  .  .  .  372—378 
Die  Rede  Jesu  Cap.  5  über  das  ^woTtoietv  des  Sohns  .  .  373—375 
Die  Rede  Cap.  6  über  Jesus  als  das  Lebensbrod  .  .  .  375  376 
Jesus  als  das  Licht  der  Welt,  der  Weg  u.  s.  w.  .  .  .  376  377 
Das  Gebot  der  Liebe 377     378 

3)  Der  Tod  Jesu     ........  378—381 

Die  Auferstehung  Jesu  und  sein  Kommen  in  den  Abschieds- 
reden                 ..  381     382 

Die  Erscheinungen  des  Auferstandenen 382     383 

Die  Mittheilung  des  Geistes,  der  Paraklet      ....  384—386 

Seine  Wirksamkeit  bei  den  Jüngern  und  den  Glaubenden      .  386 — 389 
Verhältniss  des  Evangeliums  zum  alten  Testament  und  Juden- 

thum,     Jesus  als  Passahlamm 389—393 

Verhältniss  zum  Paulinismus 393 — 395 

Glaube  und  Liebe 395—397 

Die  Liebe  des  Vaters  zum  Sohn  und  Gottes  zur  Welt   .         .  397—400 

Die  Bedeutung  des  Todes  Jesu 400     401 

Die  Idealität  des  Lehrbegriffs.     Die   Mittheilung   des    ewigen 

Lebens  und  des  wahren  Gottesbewusstseins     .         .         .  *01  —  403 

Das  ewige  Leben  als  Gegenwart  und  Zukunft        .         .         .  403     404 

Die  Eschatologie.     Auferstehung  und  Gericht  •         .         •  404—406 

Die  Parusie .         .         .  406 

Die  Vermittlung  der  Gegensätze 406     407 


Einleitung. 


Begriff,  Geschichte  und  Eintheilung  der  neutestamentlichen 

Theologie. 

Die  neutestamentliche  Theologie  macht  mit  der  alttesta- 
mentlichen  die  biblische  Theologie  aus,  welche  durch  den  Un- 
terschied des  alten  und  neuen  Testaments  von  selbst  in  diese 
beiden  Haupttheile  zerfällt.  Theologie  nannte  man  diese  theo- 
logische Wissenschaft,  um  sie  mit  diesem  allgemeinen  und  un- 
bestimmten Namen  von  der  Dogmatik  als  der  systematischen 
Theologie  zu  unterscheiden.  Im  Unterschied  von  der  Dogmatik 
und  allem  demjenigen,  was  zum  Begriff  derselben  gehört,  sollte 
die  biblische  Theologie  eine  rein  geschichtliche  Wissenschaft 
sein.  In  ihr  hat  sich  die  reine  Lehre  der  Schrift  aus  den  Fes- 
seln des  Abhängigkeits-Verhältnisses,  in  das  sie  zum  dogma- 
tischen System  der  Kirche  gekommen  war,  losgemacht  und  von 
demselben  mehr  und  mehr  emancipirt.  Um  sie  in  diesem  eigen- 
thümlichen  Charakter  aufzufassen,  muss  man  auf  die  Geschichte 
ihrer  Entstehung  und  Ausbildung  zurückgehen.  Sie  zeigt,  dass 
sie  von  Anfang  an  darauf  angelegt  war,  das  Geschichtliche,  das 
ihr  wesentliches  Element  ist,  so  rein  als  möglich  in  sich  dar- 
zustellen. 

Nach  dem  Grundprincip  des  Protestantismus  soll  die  Dog- 
matik der  protestantischen  Kirche  nichts  anderes  sein  als  die 

Darstellung  der  in  der  Schrift  enthaltenen  Lehre.   Dieser  For- 

•I 

Baur,  Beutest.  Theol.  ' 


^  Einleitung. 

derung  entsprachen  die  ursprünglichen  Darstellungen  der  evan- 
gelischen Glaubenslehre  weit  mehr  als  die  spätem.  Sie  sollten 
nur  die  wissenschaftliche  Reproduction  des  in  der  Schrift  aus- 
gesprochenen evangelischen  Bewusstseins  sein.  So  schlössen 
sich  Melanchthon's  fjoci  Ihenloyicl,  wie  sie  aus  dessen  Vor- 
lesungen über  den  Römerbrief  hervorgiengen,  nach  Form  und 
Inhalt  an  diesen  Brief  an,  als  an  diejenige  Schrift  des  neuen  Te- 
staments, in  welcher  die  evangelische  Lehre  am  meisten  in  dem 
organischen  Zusammenhang  ihrer  Hauptmomente  entwickelt  ist. 
Auch  in  Calvin's  InstUntio  chrisfiaiiae  religionis  ist  das  Ver- 
hältniss  von  Schrift  und  Dogmatik  noch  ein  reineres  und  un- 
mittelbareres. Die  Schrift  ist  das  Grundlegende,  Maassgebende, 
Bestimmende,  die  Dogmatik  das  aus  ihr  als  der  Erkenntniss- 
quelle Abgeleitete  und  durch  sie  Begründete.  In  der  Folge 
wurde  das  Verhältniss  das  gerade  umgekehrte.  Je  mehr  das 
System  sich  ausbildete,  nach  dem  hergebrachten  dogmatischen 
Formalismus  construirt  wurde  und  auf  der  Grundlage  des  dog- 
matischen Gegensatzes,  aus  welchem  es  hervorgegangen  war, 
seinen  specifischen  Charakter  erhielt,  um  so  mehr  wurde  der 
vorherrschende  Gesichtspunkt  das  rein  Dogmatische.  Die  Schrift 
war  jetzt,  wenn  auch  dem  Namen*  nach,  doch  nicht  der  Sache 
nach  das  Primäre,  sondern  das  Secundäre,  sofern  alles,  was 
man  aus  ihr  nahm,  vor  allem  darauf  angesehen  wurde,  wie 
man  es  zur  Construction  des  Systems  gebrauchen  könne,  um 
den  genügenden  Beweis  für  die  Hauptsätze  des  Systems  zu 
führen  und  die  Antithesen  der  Gegner  zu  widerlegen.  Die 
Exegese  kam  auf  diese  Weise  ganz  in  den  Dienst  der  Dogmatik, 
man  kannte  keine  andere  Auffassung  der  Schriftlehre,  als  die 
von  der  Dogmatik  ausgehende  und  von  ihr  beherrschte. 

Das  Erste,  worin  sich  das  der  biblischen  Theologie  zu 
Grunde  liegende  Interesse  geltend  machte,  war  daher,  dass  man 
den  Schriftinhalt  von  dem  eigentlich  Dogmatischen  zu  unter- 
scheiden anfieng  und  beides  wenigstens  soweit  auseinanderhielt. 


Geschichte  der  neutestamentl.  Theologie.  3 

um  die  zur  dogmatischen  Beweisführung  dienenden  Stellen  für 
sich  in's  Auge  zu  fassen.  Es  geschah  diess  in  den  Schriften, 
die  den  Zweck  hatten,  die  sog.  dicta  probantia  der  heiligen 
Schrift  zu  erörtern.  Man  nannte  sie  Colleyia  biblica,  wie  z.  B. 
Seb.  Schmidt,  seine  Schrift,  eine  der  ältesten  dieser  Art,  so 
nannte:  Collegium  biblicum,  in  quo  dicta  V.  et  N.  Testamenti 
jxixta  serietn  loconnn  communinm  theotogicorum  explicantur. 
Strassburg  1671.  Ebendahin  gehören  Job.  Hülsemann's  Vin- 
diciae  s.  s.  per  loca  dassica  systematis  theol.  Leipzig  1679. 
Bai  er,  Analysis  et  vindicatio  illustrium  scripfurae  dictorum 
sinceram  fidei  docfrinam  asserentium.  1716.  Weissmann,  In- 
stitutiones  theologiae  exegetico  -dogmaticae.  Tübingen  1739. 
Der  Unterschied  dieser  Werke  und  der  eigentlich  dogmatischen 
war  nur,  dass  man  das  Exegetische  oder  Biblische  voranstellte; 
im  Übrigen  war  die  Behandlung,  wie  auch  schon  die  Ord- 
nung, in  welcher  man  die  classischen  Schriflstellen  an  einander 
reihte,  rein  dogmatisch.  Um  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts tritt  die  biblische  Theologie  unter  diesem  Namen  schon 
mehr  als  eigene  selbstsländige  Wissenschaft  auf.  In  den  Schrif- 
ten von  A.  F.  Büschin g:  Diss.  inaug.  exhibens  epitomen  theo- 
logiae e  solis  literis  sacris  concinnatae  Göttingen  1756.  Epi- 
tome  theologiae  e  solis  literis  s.  concinnatae^  tina  ctim  speci- 
mine  theologiae  problematicae  Qd.  h.  der  in  Frage  stehenden 
biblischen  Theologie).  1757.  Gedanken  von  der  Beschaffenheit 
und  dem  Vorzug  der  biblisch-dogmatischen  Theologie  vor  der 
scholastischen,  1758,  ist,  wie  schon  aus  dem  Titel  dieser  Schrif- 
ten zu  schliessen  ist,  die  biblische  Theologie  unter  diesen  Ge- 
sichtspunkt gestellt.  Die  biblische  Theologie  sollte  somit  nicht 
blos  zur  Erläuterung  und  Beweisführung  dienen,  sie  wollte  auch 
etwas  für  sich  sein,  nach  der  Idee,  die  ihr  zu  Grunde  liegt,  ein 
Ganzes  für  sich,  sofern  die  sämmtlichen  Lehren  nur  aus  der 
Schrift  zusammengestellt  werden.  Schon  ist  auch  wenigstens 
von  einem  Vorzug  der  biblischen  Theologie  vor  der  scholasti- 

1* 


4  Einleitung. 

sehen  die  Rede.  Als  sodann  in  der  zweiten  Hälfte  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  der  Geist  der  Zeit  sich  mehr  und  mehr 
von  dem  kirchlichen  System  hinwegwandte  und  sich  in  Oppo- 
sition zu  demselben  setzte,  war  es  hauptsächlich  die  biblische 
Theologie,  auf  die  man  sich  stützte,  um  die  veraltete  Dogmatik 
ihrem  eigenen  Princip  zufolge  durch  ihren  Widerspruch  mit 
der  Schrift  zu  bekämpfen,  wie  diess  von  den  damaligen  Auf- 
klärungstheologen, in  den  Schriften  eines  Bahrdt,  Teller  und 
Anderer  auf  eine  grösstentheils  sehr  einseitige  und  oberfläch- 
liche Weise  geschehen  ist.  Die  Semler 'sehe  Kritik  arbeitete 
gleichfalls  darauf  hin,  die  biblische  Theologie  von  dem  Zusam- 
menhang mit  der  kirchlichen  Dogmatik  loszureissen. 

Das  bedeutendste  Werk  aus  dieser  ersten  Periode  der  bib- 
lischen Theologie  und  dasjenige,  an  welchem  sich  die  damals 
erreichte  Stufe  ihrer  Ausbildung  am  besten  fixiren  lässt,  ist 
unstreitig  des  Göttinger  Theologen  Zachariä  biblische  Theo- 
logie, oder  Untersuchung  des  biblischen  Grundes  der  vornehm- 
sten theologischen  Lehren.  Sie  erschien  zuerst  im  Jahre  1772, 
und  nachher  noch  in  einer  zweiten  und  dritten  Ausgabe  in  vier 
Bänden,  zu  welchem  noch  ein  fünfter,  herausgegeben  von  Voll- 
bor th,  kam.  Der  zweite  Titel  bezeichnet  den  Gesichtspunkt, 
aus  welchem  Zachariä  die  biblische  Theologie  in  dieser  aus- 
führlichen Bearbeitung  auflasste.  Sie  sollte  eine  Kritik  des  kirch- 
lichen Systems  sein,  oder,  wie  Zachariä  selbst  seine  Aufgabe 
bestimmte,  dazu  dienen,  die  systematischen  und  biblischen  Ideen 
unter  einander  zu  vergleichen  und  genau  zu  untersuchen,  was 
bei  den  angenommenen  systematischen  Ideen,  welche  jederzeit 
ihre  Quelle  in  gewissen  biblischen  Ausdrücken  haben,  richtig 
oder  unrichtig  sei,  um  endlich,  wie  es  die  Natur  aller  mensch- 
lichen Wissenschaften  erfordere,  den  Weg  zu  einer  deutlichen 
und  genauer  bestimmten  Theologie  zu  bahnen,  welche  von  Allen 
durch  die  Vergleichung  ihrer  bisherigen  Begriffe  mit  den  auf- 
geklärten biblischen  Begriffen  als  völlig  richtig  erkannt  werden 


Gesohichte  der  nentestamentl.  Theologie.  .^ 

könne.  Damit  diese  Vergleichung,  die  bei  der  Abweichung 
unserer  Art  zu  denken  und  zu  reden  von  der  der  Bibel  keine 
sehr  leichte  sei,  um  so  gründlicher  geschehe,  sollte  sich  das 
Werk  auf  den  gesammten  biblischen  Grund  der  theologischen 
Lehrsätze  erstrecken  und  dieser  Einrichtung  gemäss  biblische 
Theologie  heissen.  Bei  der  Richtigkeit  theologischer  Lehren  be- 
ruhe ja  alles  auf  der  Richtigkeit  ihrer  Beweise  aus  der  heiligen 
Schrift.  Vergesse  man  folglich  auf  eine  Zeitlang  das  System 
unserer  Kirche  und  suche  durch  eigenes  sorgfältiges  Erforschen 
der  ganzen  Schrift  die  in  ihr  befindlichen  theologischen  Lehren 
selbst  zu  bestimmen ,  so  werde  man  eine  von  Neuem  aus  der- 
selben herausgesuchte  Theologie  erhalten,  welche  man  mit  Recht 
die  eigentlich  biblische  Theologie  nennen  und  mit  den  bekann- 
ten theologischen  Lehren,  welche  als  in  der  Schrift  gegründet 
in  unserer  Kirche  behauptet  werden,  vergleichen  könne,  um 
sich  von  ihrer  Richtigkeit  zu  überzeugen,  oder,  wenn  man  sie 
nicht  in  der  Schrift  gegründet  finde,  die  eigentliche  Lehre  der 
heiligen  Schrift  genau  einzusehen.  Denn  bei  solchen  ünter-^ 
suchungen  würde  man  parteiisch  handeln,  wenn  man  selbst  die 
wichtigsten  Lehren  unserer  Kirche  als  ausgemacht  voraussetzen 
und  blos  Beweise  dazu  suchen  wollte.  Hier  müsse  man  alle 
erlernte  Wahrheit  gleichsam  vergessen,  um  unparteiisch  genug 
zu  sein,  blos  was  die  heilige  Schrift  lehrt  ohne  Rücksicht  auf 
das,  was  diese  oder  jene^Partei,  dieser  oder  jener  Gottesge- 
lehrte für  wahr  und  richtig  halte,  dafür  zu  erkennen  und  aus- 
zugeben. 

Die  kritische  Tendenz,  die  die  biblische  Theologie  dem 
kirchlichen  System  gegenüber  sehr  natürlich  haben  musste,  tritt 
hier  sehr  bestimmt  hervor;  aber  bei  aller  Anerkennung,  die 
sie  verdient,  ist  sie  doch  nur  als  eine  noch  mangelhafte  Stufe 
ihrer  wissenschaftlichen  Ausbildung  anzusehen.  Solange  sich 
die  biblische  Theologie  nur  die  Aufgabe  setzt,  das  kirchliche 
System  zu  kritisiren,  hat  sie  noch  keine  selbstständige  Bedeu- 


0  Einleitung. 

tung,  sie  hat  ihren  Zweck  nicht  in  sich  selbst,  sondern  ausser 
sich,  in  einem  Gebiet  der  Theologie ,  durch  welches  ihre  Exi- 
stenz wesentlich  bedingt  ist.  Es  ist  auch  so  noch  ein  durchaus 
dogmatischer  Gesichtspunkt,  aus  welchem  die  biblische  Theo- 
logie behandelt  wird.  Und  so  sehr  es  auf  eine  Kritik  des  kirch- 
lichen Systems  abgesehen  war,  so  war  es  doch  auch  damit  nicht 
so  ernstlich  gemeint.  Man  setzte  doch  immer  wieder  voraus, 
dass  die  biblische  Theologie  in  ihren  Resultaten  mit  der  kirch- 
lichen Lehre  vollkommen  übereinstimme.  Die  letztere  werde, 
versichert  auch  Zachariä,  durch  seine  neue  Untersuchung  so 
wenig  leiden,  dass  sie  vielmehr  nur  in  einem  neuen  Lichte  sich 
darstellen  werde.  Sie  sollte  ja  nur  die  Beweisgründe  aus  der 
heiligen  Schrift  für  die  Lehrsätze  des  kirchlichen  Systems  lie- 
fern. Nur  darin  gab  sich  auch  bei  solchen  Theologen,  wie  Za- 
chariä, eine  rationalisirende  Tendenz  zu  erkennen,  dass  man 
sehr  geneigt  war,  biblische  Vorstellungen,  wie  von  der  Ewig- 
keit der  Strafen  und  dem  Opfertod  Christi,  für  blosse  Bilder  und 
Redensarten  zu  halten.  Im  Allgemeinen  aber  wurde  alles,  was 
man  unter  biblischer  Theologie  verstand,  als  eine  blosse  Vor- 
arbeit für  die  Dogmatik  betrachtet,  oder  sie  wurde  selbst  zur 
biblischen  Dogmatik. 

Auf  dieser  Stufe  stehen  neben  Zachariä's  Werk  die  Schrif- 
ten von  Hufnagel,  Ammon,  Storr.  Hufnagel 's  nicht  einmal  zur 
Hälfte  vollendetes  und  im  Grunde  nur  aus  fragmentarischen 
Materialien  über  die  biblischen  Beweisstellen  der  Dogmatik  be- 
stehendes Handbuch  der  biblischen  Theologie  vom  Jahre  1785 
verdient  kaum  erwähnt  zu  werden.  Wichtiger  ist  A  m  m  o  n  's 
Entwurf  einer  reinen  biblischen  Theologie  vom  Jahre  1792  und 
noch  mehr  seine  biblische  Theologie  vom  Jahre  1801  in  drei 
Bänden.  Ammon  ist  es  hauptsächlich,  welcher  die  biblische 
Theologie  als  blosse  Vorarbeit  und  Hülfswissenschaft  der  Dog- 
matik auffasste.  Sie  soll,  sagte  er,  eine  genaue  Kenntniss  der 
reinen,  d.  h.  von  aller  Eigenheit  des  Vortrags  abgesonderten 


Geschichte  der  neutestamen tl.  Theologie.  T 

Resultate  derjenigen  Schriftstellen  enthalten,  aus  welchen  die 
Lehrsätze  der  biblischen  Dogmatik  abgeleitet  werden.  Die  bib- 
lische Theologie  liefere  nur  Materialien,  Grundbegriffe  und  Re- 
sultate der  Bibel,  ohne  sich  um  den  Zusammenhang  derselben 
zu  bekümmern,  oder  sie  in  ein  künstliches  System  zu  winden. 
Dieses  Geschäft  bleibe  allein  dem  Dogmatiker  vorbehalten,  der 
diese  Resultate  an  einander  kette.  Wenn  aber  die  biblische 
Theologie  die  wesentlichen  Materialien  der  Dogmatik,  die  schrift- 
gemässe  Grundlage  derselben  zu  liefern  hat,  so  ist  es  ein  blos 
formeller  Unterschied  zwischen  einer  solchen  Materialiensamm- 
lung und  einer  Anordnung  dieser  Materialien  zu  einem  dog- 
matischen System.  Das  letztere  hat  Storr  gethan  in  seiner  bib- 
lischen Dogmatik  unter  dem  Titel:  Doctrinae  christianae  pars 
theorefica  e  sacris  titeris  repefita.  1793.  Von  dem  kirchlichen 
System  ist  hier  blos  die  systematische  Form  entlehnt,  um  die 
aus  der  Bibel  abgeleiteten  Lehren  in  einem  wissenschaftlichen 
Zusammenhang  darzustellen.  Die  Absicht  ist  nicht,  die  bib- 
lischen Lehren  rein  geschichtlich  zu  entwickeln,  sondern  es 
verbindet  sich  mit  dem  Geschichtlichen  das  dogmatische  Inter- 
esse, diese  Lehren  als  Glaubenssätze  aufzustellen,  deren  dog- 
matische Auctorität  schlechthin  anzuerkennen  ist. 

Das  Charakteristische  dieser  ersten  Periode  ist  so  über- 
haupt das  durchaus  vorherrschende  dogmatische  Interesse,  mit 
welchem  die  biblische  Theologie  behandelt  wurde.  Es  fehlte 
noch  der  geschichtliche  Begriff  ihrer  Aufgabe.  Wenn  auch  z.  B. 
bei  Ammon  davon  die  Rede  ist,  dass  die  Schriftstellen  nicht  wie 
vormals  unter  einander  geworfen,  sondern  chronologisch  ge- 
ordnet werden  sollen,  um  das  Stufenweise  in  den  Offenbarun- 
gen Gottes  bemerken  zu  können,  und  dass  man  die  Eigenheiten 
der  h.  Schriftsteller  und  des  Volks  und  Zeitalters,  für  welches 
sie  schrieben,  nicht  aus  den  Augen  verlieren  dürfe,  um  in  den 
Sinn  dieser  Schriften  einzudringen,  so  ist  diess  doch  nur  eine 
flüchtige  Bemerkung,  und  die  in  ihr  angedeutete  historische  Be- 


^  Einleitung. 

trachtungsweise  hat  keinen  weiteren  Einfluss  auf  die  Behand- 
lung des  Ganzen  gehabt.  Ein  weiterer  Fortschritt  in  der  Fort- 
bildung der  biblischen  Theologie  konnte  daher  nur  dadurch 
geschehen,  dass  die  eigentlich  geschichtliche  Aufgabe  derselben 
zum  bestimmteren  Bewusstsein  kam.  Das  Verdienst,  dieses  Be- 
wusstsein  zuerst  ausgesprochen  zu  haben,  gebührt  dem  Altdorfer 
Theologen,  J.  Ph.  Gabler.  Seine  akademische  Rede  vom  Jahre 
1787  de  jnsto  discrimine  theologine  biblicae  et  dogmaficae  re- 
gundisqne  utrmsqve  finibus  (kleine  theologische  Schriften  1831, 
2.  S.  179  f.;  vgl.  Journal  für  auserl.  theol.  Literatur  1.  S.  554. 
5.  S.  361  f.  594  f.D  hatte  den  Zweck,  den  Unterschied  der  bib- 
lischen und  der  dogmatischen  oder  systematischen  Theologie 
dadurch  zu  bestimmen,  dass  der  erstem  ein  rein  historischer, 
der  letztern  ein  wissenschaftlicher  Charakter  zuerkannt  wurde. 
Dieser  Unterscheidung  zufolge  hat  die  Dogmatik,  sofern  sie  auf 
der  Bibel  beruht,  das  Allgemeingültige  aus  den  biblischen  Leh- 
ren zu  erheben,  sie  muss  es  mit  Hülfe  der  Philosophie  aus  dem 
blos  Lokalen,  Temporellen  und  Individuellen  herausfinden,  wis- 
senschaftlich begründen  und  verknüpfen.  Die  biblische  Theo- 
logie dagegen  hat  es  lediglich  mit  der  factischen  Ermittlung  der 
in  den  biblischen  Schriften  enthaltenen  Religionsbegriffe  zu  thun, 
sie  muss  daher  auch  das  blos  Lokale,  Temporelle  und  In- 
dividuelle aufnehmen,  weil  es  gerade  am  meisten  charakteri- 
stisch ist  für  die  religiöse  Denkart  einer  Zeit  und  der  einzelnen 
Personen.  Um  diesen  historischen  Charakter  streng  zu  behaup- 
ten, vor  allem  aber  das  Successive  in  dem  Entwicklungsgang 
der  biblischen  Religionsbegriffe  anschaulich  machen  zu  können, 
ist  sowohl  die  chronologische  Folge,  als  auch  der  Unterschied 
der  verschiedenen  Schriftsteller  genau  zu  beachten. 

Nach  diesen  richtigem  Grundsätzen  bearbeitete  G.  Lorenz 
Bauer,  Professor  der  Theologie  in  Altdorf,  die  biblische  Theo- 
logie in  einer  Reihe  dieselbe  betreffender  Schriften,  namentlich 
in  der  biblischen  Theologie  des  netien  Testaments  in  vier  Bän- 


Geschichte  der  neutestamentl.  Theologie.  9 

den,  1800—4802,  zu  welchen  noch  ein  fünfler  milden  Reli- 
gionsbegriffen des  Briefs  Jacobi  und  des  Hebräerbriefs  kommen 
solUe.  Den  Begriff  der  biblischen  Theologie  bestimmte  er  so: 
sie  sei  eine  reine  und  von  allen  fremdartigen  Vorstellungen 
gesäuberte  Entwicklung  der  Religionstheorie  der  Juden  vor 
Christus  und  Jesu  und  der  Apostel,  nach  den  verschiedenen 
Zeitaltern  und  nach  den  verschiedenen  Kenntnissen  und  An- 
sichten der  h.  Schriftsteller  aus  ihren  Schriften  hergeleitet.  Der 
historische  Charakter,  welchen  die  Darstellung  an  sich  tragen 
soll,  ist  dadurch  deutlich  bezeichnet,  er  ist  aber  nicht  streng 
festgehalten,  da  Bauer  in  seine  Aufgabe  auch  das  mit  aufnahm, 
zu  untersuchen  und  zu  bestimmen,  was  allgemein  gültige  Wahr- 
heil für  alle  Zeiten  und  Orte,  allgemein  gültiges  Christenthum 
sei,  und  sich  dabei  zu  dem  Accommodatiorisgrundsatz  bekannte, 
welchem  zufolge  alles,  was  in  der  Lehre  Jesu  und  der  Apostel 
den  Principien  der  Erfahrung  und  gesunden  Vernunft  wider- 
streitet, nur  Anbequemung  an  irrige  Volksbegriffe  sein  sollte. 
Doch  sollten  solche  Accommodationen  nur  in  unwesentlichen 
Punkten  der  Religion  und  Moral  stattgefunden  haben.  Hiemit 
wurde  demnach  doch  wieder  ein  dogmatisches  Interesse  in  die 
geschichtliche  Methode  eingemischt.  Dogmatisch  war  aber  auch 
schon  der  allgemeine  Standpunkt,  auf  welchen  Bauer  sich  stellte, 
wenn  er  durch  seine  biblische  Theologie  zur  Entscheidung  der 
grossen  Frage,  die  viele  tausend  gutgesinnte  Menschen  inter- 
essire,  beitragen  wollte,  ob  das  Christenthum  eine  vernünftige 
und  göttliche  Religion  sei.  Wenn  man  auch  zunächst  nur  ganz 
unparteiisch  untersuchen  will,  was  denn  eigentlich  die  christ- 
liche Religionstheorie  sei,  wofür  Jesus  wolle  gehalten  werden, 
aus  welchen  Gründen  er  verlange,  dass  man  ihm  glaube,  so 
wird  doch  der  rein  historische  Gesichtspunkt  sogleich  verrückt, 
sobald  man  die  Hauptfrage  so  stellt,  ob  das  Christenthum  eine 
vernünftige  und  göttliche  Religion  sei.  Da  diese  Frage,  wie  sich 
von  selbst  versteht,   nur  bejahend  beantwortet  werden  kann, 


'  10  Einleitung. 

SO  steht  voraus  fest,  was  das  Christenthum  zu  seinem  Inhalt 
haben  muss.  Um  nun  aber  das,  was  man  voraussagt,  auch  wirk- 
lich in  ihm  zu  finden,  trägt  man  seine  eigene  Ansicht  vom  Ver- 
nünftigen und  Göttlichen  in  die  Geschichte  hinein  und  macht 
an  die  biblischen  Schriftsteller  die  Forderung,  dass  sie  das,  was 
man  nach  seinen  Begriffen  nicht  für  vernünftig  und  göttlich 
halten  kann,  auch  nicht  dafür  gehalten  oder  in  einem  solchen 
Falle  sich  blos  zu  Zeitbegriffen  accommodirt  haben.  In  dem 
Accommodationsgrundsatz  spricht  sich  immer  das  subjective  In- 
teresse aus,  nur  das  als  die  eigentliche  Meinung  der  biblischen 
Schriftsteller  anzusehen ,  worin  man  selbst  mit  ihnen  einver- 
standen sein  kann.  Man  macht  also  nur  seine  eigene  subjec- 
tive Ansicht  zum  Kriterium  der  objectiven  geschichtlichen  Wahr- 
heit. Es  ist  diess  mit  Einem  Worte  die  rein  rationalistische 
Ansicht.  Dem  Rationalismus  fehlt  es  an  aller  lebendigen  Ge- 
schichtsanschauung, an  der  Fähigkeit,  sich  aus  seiner  subjec- 
tiven  Vernunft  heraus  in  die  Objectivität  der  Geschichte  zu  ver- 
setzen. Während  diese  Ansicht  auf  der  einen  Seite*  sich  zu 
abstract  nur  an  das  Allgemeine  hielt,  Hess  sie  auf  der  andern 
alles,  was  sie  nicht  zu  dem  allgemein  gültigen  Inhalt  rechnete, 
zu  sehr  in  das  Einzelne,  Zufällige,  Zusammenhangslose  ausein- 
?  .  andergehen.  Es  war  ganz  richtig,  dass  man  nicht  nur  die  Theo- 
\^h'^'''  /  -^  logie  des  neuen  Testaments  von  der  des  alten  Testaments  streng 
lk.\<?t'^^  sonderte,   sondern   auch  die  verschiedenen   Schriftsteller   des 

neuen  Testaments  unterschied  und  nach  ihnen  die  Theologie 
des  neuen  Testaments  eintheilte;  die  verschiedenen  Schriftsteller 
selbst  aber  standen  noch  gar  zu  äusserlich  und  isolirt  neben 
einander.  Zwischen  dem  Allgemeinen  und  Speciellen  fehlte 
noch  zu  sehr  der  vermittelnde  Zusammenhang  der  concreten 
geschichtlichen  Wirklichkeit. 

^  Es  kam  demnach  erst  fioch  darauf  an,  die  grundsätzlich 
anerkannte  geschichtliche  Methode  auch  praclisch  zur  Ausführ- 
ung zu  bringen,  die  Subjectivität  des  Rationalismus  dadurch  zu 


Geaohichte  der  n  e  Utes  ta  ine  n  1 1.  Theologie.  || 

Überwinden,  dass  man  von  ihr  zur  objectiven  Geschichtsbetrach- 
tung fortschritt.  Diess  erforderte  noch  längere  Zeit.  Nach  einer 
Zwischenperiode,  in  welcher  für  die  biblische  Theologie  nur 
sehr  wenig  geschehen  war,  machten  zuerst  Kaiser  und  de  Wette 
einen  neuen  Versuch  ihrer  Bearbeitung.  Kaiser  nannte  sein 
Werk:  Die  biblische  Theologie,  oder  Judaismus  und  Christia- 
nismus  nach  der  grammatisch- historischen  Interpret afions- 
methode  und  nach  einer  freimiithigen  Stellung  in  die  kritisch 
vergleichende  Universalgeschichte  der  Religionen  und  in  die 
universale  Religion;  de  Wette:  Biblische  Dogmatik  des  Alten 
utid  \euen  Testaments,  oder  kritische  Darstellung  der  Religions- 
lehre des  Hebraismus,  desJndenthuws  und  des  Ur Christ enthums. 
Beide  Werke  erschienen  zu  gleicher  Zeit  im  Jahre  1813.  Das 
Kaiser 'sehe  Werk  verfolgt  die  geschichtliche  Tendenz  im  wei- 
testen Umfang.  Es  stellt  die  biblische  Religion  in  den  Zusammen- 
hang der  allgemeinen  Religionsgeschichte  hinein,  fasst  sie  als 
einen  Theil  derselben  auf  und  vergleicht  die  biblischen  Lehren 
mit  den  Vorstellungen  anderer  Religionen.  Je  weiter  aber  von 
diesem  Standpunkt  aus  der  Kreis  der  Darstellung  gezogen  wurde, 
um  so  mehr  trat  die  biblische  Religion  als  eigentlicher  Gegen- 
stand der  geschichtlichen  Betrachtung  gegen  das  Allgemeine 
zurück.  Das  Kaiser'sche  Werk  ist  nicht  sowohl  eine  biblische 
Theologie  als  vielmehr  eine  Darstellung  der  Religion  überhaupt 
nach  ihren  verschiedenen  geschichtlichen  Formen  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  Judaismus  und  Christianismus.  Auch  war  damals 
der  Charakter  und  Inhalt  der  ausserbiblischen  Religionen  noch 
nicht  so  erforscht,  dass  eine  solche  Vergleichung  grössere  Be- 
deutung hätte  haben  können.  Es  sind  daher  mehr  nur  Einzeln- 
heiten, die  hier  aus  den  verschiedenartigsten  Gebieten  zusammen- 
gestellt sind.  Das  Werk  hält  aber  ungeachtet  seiner  geschicht- 
lichen Anlage  nicht  einmal  den  reingeschichtlichen  Gesichtspunkt 
fest.  Es  vergleicht  nicht  nur  die  biblischen  Ideen  mit  den  Vor- 
stellungen anderer  Religionen,  sondern  es  will  auf  diesem  Wege 


)f9  Einleitung. 

auch  das,  was  Bestandtheil  der  allgemeingültigen  Religion  sein 
kann,  kritisch  bestimmen.  Die  parallelisirende  Universalbe- 
schreibung der  Hauptmomente  der  Religion  soll  das  theologische 
Räthsel  des  Judaismus  und  Christianismus  durch  die  Stellung 
beider  in  die  Universalgeschichte  beantvi^orten  und  reine  Resul- 
tate für  die  ewige  ideale  Religion  gewinnen.  Das  Princip  dieses 
Universalismus  ist,  dass  von  der  wahren  Religion  alles  Locale 
und  Temporelle,  alles  Individuelle  und  Particuläre  ausgeschlossen 
sein  müsse,  dass  ebendarum  die  Idee  einer  positiven  Religion 
und  Offenbarung  verwerflich  sei,  weil  das  historisch  Gegebene 
immer  nur  national,  individuell  und  zufällig  bleiben  müsse,  und 
nur  dann  in  die  universelle  Religion  aufgenommen  werden 
könne,  wenn  es  mit  der  allgemeinen  Ofl^enbarung  Gottes  durch 
Natur  und  Vernunft  zusammenstimme.  Mit  der  geschichtlichen 
Darstellung  verbindet  sich  daher  der  dogmatische  Zweck,  aus 
dem  concreten  Inhalt  der  einzelnen  Religionen  das  Allgemeine 
als  das  an  sich  Wahre  und  Wesentliche  zu  abstrahiren.  Solange 
man  aber  den  Gegenstand  der  geschichtlichen  Darstellung  vor 
allem  nur  darauf  ansieht,  was  an  ihm  das  an  sich  Wahre  und 
mit  unserer  Überzeugung  Übereinstimmende  ist,  fehlt  es  noch 
immer  an  einer  reinen  und  unbefangenen  Auffassung  des  ge- 
schichtlich Gegebenen. 

•«r'  Auf  diesen  Standpunkt  hat  sich  aber  auch  de  Wette  nicht 
erhoben  und  nicht  ohne  Grund  hat  er  seine  Bearbeitung  der 
biblischen  Theologie  eine  biblische  Dogmatik  genannt:  das  Dog- 
matische greift  in  der  Form  der  Religionsphilosophie  sehr  be- 
stimmend in  die  geschichtliche  Darstellung  ein.  Als  Hauptaufgabe 
der  biblischen  Dogmatik  betrachtet  de  Wette,  das  Wesentliche 
und  Unwesentliche  oder  Form  und  Inhalt  durch  die  religions- 
philosophische Reflexion  zu  scheiden,  um  den  reinen  Gehalt  der 
religiösen  Vorstellungen  hervorzuheben.  Er  wollte  auf  dem 
Gebiet  des  von  der  Geschichte  überlieferten  Stoffs  die  rein  reli- 
giösen Elemente   von   den   fremdartigen  Bestandtheilen  durch 


Geschichte  der  neu  tes  tamentl.  Theologie.  13 

Vergleichung  jenes  Stoffs  mit  den  Aussprüchen  und  Gesetzen 
des  idealen  Vernunftglaubens  und  des  religiösen  Gefühls  aus- 
scheiden und  alles  in  seiner  Beziehung  zu  der  religiösen  Ge- 
fühlsstiminung  betrachten,  um  so  das  Wesen  der  Religion  als 
solcher  aufzufassen,  welches  in  dem  durch  Symbole  und  Dogmen 
und  zuletzt  durch  die  innere  Überzeugung  vermittelten  Glauben 
und  Gefühl  gefunden  werde.  Durch  eine  solche  Scheidung  des 
wahren  Wesens  von  dem  Fremdartigen,  namentlich  auch  dem- 
jenigen, was  über  die  Grenzen  des  Vernunftglaubens  in  ein 
falsches  Wissen  überschreitet,  oder  eine  Gefühlsanschauung  in 
sinnlicher  Anschauung  oder  in  wissenschaftlichem  Begriff  dar- 
stellt, meint  de  Wette,  könne  die  christliche  Religion  vor  den 
Zweifeln  des  denkenden  Zeitalters  und  der  Verachtung  der  Ge- 
bildeten gesichert  werden.  Für  dieses  Scheidungsverfahren 
beruft  er  sich  darauf,  dass  die  geschichtliche  Offenbarung  nichts 
sei  als  die  hervorgetretene  innere  Offenbarung;  diese  beiden 
aber  müssen  zusammenfallen  und  das  Bewusstsein  dessen,  was 
zur  Religion  gehört,  müsse  zwar  durch  die  geschichtliche  Offen- 
barung geweckt  und  gebildet  werden,  aber  nicht  mit  bindender 
Hingabe  des  Urtheils  an  die  geschichtliche  Überlieferung.  Hier- 
aus erhellt  deutlich ,  welchen  überwiegenden  Einfluss  auch  bei 
de  Wette  das  religiöse  und  dogmatische  Interesse  auf  die  ge- 
schichtliche Darstellung  hat.  Der  leitende  Gesichtspunkt,  von 
welchem  aus  der  geschichtliche  Stoff  behandelt  wird,  ist  der 
Gedanke,  dass  die  biblischen  Schriften  die  Quelle  unseres  eigenen 
religiösen  Glaubens  sind,  und  an  die  Stelle  der  rein  geschicht- 
lichen Betrachtung,  welche  das  geschichtlich  Gegebene  ganz 
als  das  nimmt,  was  es  in  seiner  concreten  Wirklichkeit  ist,  tritt 
das  Interesse,  in  ihm  das  bestätigt  zu  finden,  was  wir  selbst  für 
das  an  sich  Wahre  und  Vernünftige  des  religiösen  Glaubens 
halten.  Das  historische  wird  so  dem  religiösen  und  dogmatischen 
Interesse  untergeordnet,  und  an  das  geschichtlich  Gegebene  ein 
Maasstab  der  Beurtheilung  angelegt,  welchen  wir  nicht  aus  der 


14  Einleitung.  iilairfoBT 

Gescliichte,  sondern  nur  aus  uns  selbst  nehmen.  Statt  also  rein 
und  unbefangen  an  die  geschichtliche  Objectivität  sich  hinzu- 
geben, macht  man  nur  seine  eigene  Subjectivilät  gegen  sie 
geltend.  Abgesehen  davon  aber  ist  anzuerkennen,  dass  die  ge- 
schichtliche Behandlung  der  biblischen  Theologie  durch  de  Wette 
einen  Fortschritt  gemacht  hat.  Er  erklärte  es  für  eine  Forderung 
der  historischen  Genauigkeit,  dass  man  sich  nicht  mit  Allgemeinem 
begnüge,  sondern  in  das  Besondere  der  Eigenthümiichkeit  ein- 
gehe, das  alte  und  neue  Testament  genau  scheide,  jedoch  auch 
wieder  mit  einander  vergleiche,  dass  man  verschiedene  Perioden 
und  Individuen  trenne,  aber  nur  nach  festen  grossen  Unter- 
schieden, ohne  Kleinlichkeit  und  ohne  neben  dem  Besondern 
das  Gemeinsame  aus  dem  Auge  zu  verlieren,  dass  man  die  Ideen 
in  ihrer  historischen  Gestalt  und  in  der  Ordnung,  wie  sie  in  den 
Gemüthern  ihrer  Urheber  und  Inhaber  liegen,  aufführe.  Er 
stellt  daher  nicht  nur  die  Religion  des  alten  und  die  des  neuen 
Testaments  abgesondert  dar,  sondern  unterscheidet  auch  in  der 
erstem  den  Hebraismus  und  das  Judenthum,  in  der  letztern  die 
Lehre  Jesu  und  der  Apostel  und  sucht  den  Grundcharakter  der 
einen  wie  der  andern  auszumitteln.  Der  wesentliche  Fortschritt, 
welchen  die  historische  Methode  durch  de  Wette  machte,  ist 
somit  überhaupt  der  von  ihm  zuerst  gemachte  Versuch,  das 
Ganze  der  biblischen  Theologie  nicht  blos  nach  den  verschiede- 
nen Schriftstellern,  wie  von  Bauer  und  Andern  geschah,  sondern 
nach  charakteristisch  verschiedenen  Perioden  anzuordnen. 

^s  Und  doch  wurde  gerade  dieser  Fortschritt  von  dem  nächsten 
bedeutenderen  Bearbeiter  der  biblischen  Theologie  wieder  ver- 
lassen, von  Baumgar ten-Crusius,  in  dessen  Grnndzflgen 
der  biblischen  Theologie  vom  Jahr  1828  die  biblische  Religion 
ohne  die  Unterscheidung  der  beiden  Testamente  als  ein  zusam- 
menhängendes Ganze  dargestellt  ist.  Baumgarten-Crusius  unter- 
scheidet nur  einen  allgemeinen  und  einen  speciellen  Theil  der 
biblischen  Theologie  und  den  letztern  theilt  er  in  die  drei  Ab- 


Geschichte  der  neutestamentl.  Theologie.  15 

schnitte,  die  biblische  Lehre  von  Gott,  vom  Menschen  und  vom 
Heil  des  Menschen.  Zwar  ist  auch  diese  zusammenfassende 
Behandlung  des  ganzen  Inhalts  der  biblischen  Theologie  bei  dem 
engen  Zusammenhang  des  alten  und  neuen  Testaments  nicht 
ohne  Berechtigung,  und  je  länger  der  Weg  ist,  welchen  die 
einzelnen  Religionslehren  durchlaufen  haben,  um  so  mehr  hat 
es  auch  ein  Interesse,  die  ganze  Reihe  ihrer  Entwicklungs- 
momente zu  überblicken,  ünhistorisch  aber  ist  es ,  das  Allge- 
meine gegen  das  Besondere  so  sehr  zurückzustellen,  und  eine 
so  durchgreifende  Epoche,  wie  die  des  neuen  Testaments  und 
des  Christenthums  im  Unterschied  vom  alten  Testament  und  dem 
Judenthum  nicht  so  zu  fixiren,  dass  das  Princip  in  seiner  ganzen 
Eigenthümlichkeit  hervortritt.  Ein  blosser  Nachhall  von  jüdi- 
schen Begriffen  soll  zwar  das  Urchristenthum  kefneswegs  gewesen 
sein,  aber  die  allgemeine  Idee,  von  welcher  Jesus  und  die 
Apostel  geleitet  wurden,  soll  nur  der  Universalismus  ihrer  Lehre 
und  Anstalt  gewesen  sein,  und  auch  innerhalb  des  neuen  Testa- 
ments selbst  will  Baumgarten -Crusius  keinen  wesentlichen 
Unterschied  anerkennen.  Eine  Verschiedenheit  bestehe  nur 
hinsichtlich  der  Lehrformen,  Stimmungen  und  Ansichten  der 
einzelnen  Schriftsteller,  sowie  hinsichtlich  des  Sprachgebrauches 
und  der  Art  zu  beweisen.  Aber  auch  in  dieser  Hinsicht  könne 
man  nur  von  einem  Charakter  Einzelner  nicht  verschiedener 
Classen  reden.  Die  Unterscheidung  zwischen  einer  jüdisch  ge- 
sinnten und  einer  freieren  Partei  der  Apostel  sei  ohne  Grund. 
Ebenso  wenig  lasse  sich  eine  periodische  Entwicklung,  ein 
Fortschreiten  in  Hinsicht  der  Lehre  im  neuen  Testament  nach- 
weisen, weder  im  Allgemeinen,  noch  bei  den  einzelnen  Schrift- 
stellern. Auch  ein  Unterschied  zwischen  der  Lehre  Jesu  und 
der  der  Apostel  sei  nur  in  sehr  beschränktem  Maasse  anzuer- 
kennen, sofern  von  den  allgemeinen  Grundsätzen  der  Religion 
und  Sittenlehre  Jesu  sich  kein  Apostel  entferne,  auch  sich 
nirgends  ein  eigentliches  Missverständniss  der  Lehre  Jesu  von 


^{9  Einleitung. 

Seiten  der  Apostel  nachweisen  lasse,  alle  Schriften  vielmehr 
ohne  Unterschied  als  Hauptgedanken  den  von  der  Stiftung  des 
göttlichen  Reichs  anerkennen,  den  sie  nur  verschieden  auffassen 
und  darstellen.  In  dieser  Darstellung  der  neutestanientlichen 
Theologie  herrscht  zu  sehr  das  Streben  vor,  das  Einzelne  und 
Besondere  dem  Allgemeinen  und  Gemeinsamen  unterzuordnen, 
während  die  Geschichte  vor  allem  die  Aufgabe  hat,  die  Unter- 
schiede, die  auf  keinem  grösseren  geschichtlichen  Gebiet  fehlen 
können,  in  ihrer  ganzen  Schärfe  hervorzuheben.  Wenn  der 
einzige  wirkliche  Unterschied  zwischen  der  Lehre  Jesu  und  der 
der  Apostel  hauptsächlich  darin  bestehen  soll,  dass  in  den 
Lehren  Jesu  nicht  sowohl  seine  Person  als  seine  Sache,  sein 
Werk  dargestellt  werde,  so  ist  diess  unstreitig  mehr  als  ein 
blosser  Unterschied  der  Lehrform  und  der  Lehrart,  wofür  es 
Baumgarten-Crusius  gehalten  wissen  will. 

Zu  einem  bestimmteren  Eingehen  in  das  concrete  Leben  der 
Geschichte  hat  es  die  Periode  der  rationalistischen  Geschichts- 
anschauung nicht  gebracht,  so  nachdrücklich  auch  immer  wieder 
darauf  gedrungen  wurde,  dass  keine  andere  Behandlung  der 
neutestamentlichen  Theologie  gelten  könne,  als  die  rein  ge- 
schichtliche. Derselben  Periode  gehört  auch  noch  das  ausführ- 
lichste Werk  dieser  Art  an,  die  biblische  Theologie  des  D.  Dan. 
V.  Colin,  herausgegeben  von  D.  Schulz  in  2  Bdn.  1836.  Die 
Bearbeitung  dieser  Wissenschaft  aus  dem  rein  historischen  Ge- 
sichtspunkt und  die  Durchführung  desselben  in  seiner  ganzen 
Strenge  und  Lauterkeit  soll  der  eigenthümliche  Vorzug  dieser 
neuen  Darstellung  sein,  im  Unterschied  von  dem  falschen  Streben 
nach  einer  practischen  oder  populären  Behandlungsweise  und 
der  unrichtigen  Vorstellung  von  dem  Verhältniss  der  biblischen 
Theologie  zum  theologischen  System,  zur  allgemeinen  Religions- 
geschichte oder  auch  zur  Religionsphilosophie,  wodurch  die 
Vorgänger  den  wahren  Gesichtspunkt  verrückt  haben.  Als 
geschichtliche  Darstellung  müsse  sich  die  biblische  Theologie  in 


Geschichte  der  neu testamentl.  Theologie.  17 

ihrem  Vortrag  von  historischen  Principien  leiten  lassen.  Aus 
dieser  Forderung  gehen  folgende  wesentliche  Bestimmungen  für 
den  Vortrag  hervor:  1)  Sorgfältige  Unterscheidung  der  Zeiten 
und  Lehrer,  sowie  der  mittelbaren  und  unmittelbaren  Darstellung 
und  Lehre.  2)  Strenges  Festhalten  der  Ansicht  und  Denkart 
der  biblischen  Lehrer  und  Schriftsteller  bei  der  Auffassung  und 
Stellung  ihrer  Religionsbegriffe ,  d.  h.  Unabhängigkeit  vom 
kirchlichen  System  und  jedem  philosophischen  Partei-Interesse. 
3)  Darlegung  und  Erläuterung  der  symbolisch-mythischen  Ein- 
kleidungsformen und  des  Verhältnisses  derselben  zu  den  reineren 
Begriffen  sowohl  als  auch  zu  der  Überzeugung  des  Lehrers. 
Die  Anordnung  des  Ganzen  theilt  sich  in  die  beiden  von  ein- 
ander abgesonderten  Haupttheile  der  Theologie  des  alten  und 
neuen  Testaments,  und  die  letztere  zerfällt  wieder  in  die  Lehre 
Jesu  und  die  der  Apostel,  deren  Darstellung  sowohl  aus  einem 
allgemeinen  als  einem  besondern  Theil  besteht.  Der  besondere 
stellt  die  einzelnen  Religionsbegriffe  dar,  wobei  hier  besonders 
in  Betracht  kommt  die  Unterscheidung  einer  symbolischen  und 
unsymbolischen  Religionslehre.  Zu  der  letztern  wird  gerechnet 
die  Lehre  vom  göttlichen  Wesen  und  seinem  Verhällniss  zur 
Welt,  und  die  Lehre  von  den  erschaffenen  Geistern  und  ihrem 
Verhältniss  zum  göttlichen  Wesen,  wobei  das  Hauptstück  die 
Lehre  vom  Menschen  ist.  Zur  symbolischen  Lehre  gehört  die 
ganze  Lehre  vom  Reich  Christi.  Dabei  fällt  aber  sogleich  in  die 
Augen,  wie  unmotivirt  diese  ganze  Unterscheidung  ist,  wenn 
alle  das  Reich  Gottes  betreffenden  Lehren  blos  aus  dem  Grunde, 
weil  die  allgemeine  Idee,  auf  die  sie  sich  beziehen,  das  Reich 
Gottes,  oder  die  Theokratie  ist,  unter  den  symbolischen  Ge- 
sichtspunkt gestellt  werden  sollen.  Was  hat  denn  die  ganze 
Lehre  von  der  Person  und  dem  Werke  Christi  an  sich  Symboli- 
sches, und  wie  weit  müsste,  wenn  solche  Lehren  symbolisch  sein 
sollen,  der  Begriff  des  Symbolischen  ausgedehnt  werden?  Was 
Colin  dabei  im  Auge  hat,  ist  der  Unterschied  des  Begrifflichen 

Baur,  ueutest.  Theol.  ^ 


18  Einleitnng. 

vom  Bildlichen  im  Symbol  und  Mylhus.  Zur  vollständigen 
Kenntniss  der  Denkart  der  biblischen  Schriftsteller  scheint  ihm 
auch  diess  zu  gehören,  dass  gezeigt  werde,  in  welchem  Ver- 
hältniss  die  eigene  Überzeugung  der  Verfasser  zu  den  Sym- 
bolen und  Mythen  gestanden  habe,  oder  ob  diese  Formen  ihnen 
als  solche  bewusst  gewesen  seien  oder  nicht.  Hiemit  wird  aber 
eine  Unterscheidung  in  die  Schriften  des  neuen  Testaments 
hineingetragen,  welche  die  Schriftsteller  selbst  nicht  gemacht 
haben,  und  es  zeigt  sich  auch  hier  wieder  die  Unfähigkeit  des 
Rationalisten,  sich  aus  sich  heraus  in  andere  Formen  des  Be- 
wusstseins  hineinzudenken.  Ehe  man  fragen  kann,  ob  sich" die 
Schriftsteller  des  mythischen  Charakters  ihrer  Erzählungen  be- 
wusst gewesen  sind,  muss  man  vor  allem  darüber  im  Reinen 
sein,  ob  die  Erzählungen  wirklich  als  Mythen  anzusehen  sind. 
Ist  nun  diess  jetzt  noch  immer  eine  so  grosse  Streitfrage,  wie 
kann  man  erwarten ,  dass  die  Schriftsteller  selbst  ein  bestimm- 
teres Bewusstsein  des  hier  in  Frage  stehenden  Unterschieds  ge- 
habt haben?  Wie  man  sie  auch  darauf  ansehen  mag,  sie  werden 
uns  nie  gestehen,  dass  sie  blosse  Mythen  erzählen.  Die  ganze 
Unterscheidung,  die  hier  gemacht  wird,  ist  daher  unbrauchbar 
und  unhistorisch.  Auch  sonst  leidet  die  Cölln'sche  Darstellung 
noch  sehr  an  den  Mängeln  eines  allgemeinen  Schematismus.  Die 
biblische  Theologie  hat  sich  immer  noch  nicht  ihrer  Abhängig- 
keit von  der  Dogmatik  entschlagen,  wenn  der  dogmalische 
Formalismus  das  Eintheilungsprincip  für  die  Darstellung  des 
Einzelnen  ist.  Trennt  man  mit  Recht  die  Lehre  der  Apostel  von 
der  Lehre  Jesu,  so  thue  man  auch  den  weitern  Schritt  und 
unterscheide  in  der  Lehre  der  Apostel  selbst  die  verschiedenen 
LehrbegrifFe ,  die  nach  der  Verschiedenheit  der  neutestament- 
lichen  Schriftsteller  ein  mehr  oder  minder  individuelles  Gepräge 
an  sich  tragen.  Je  schärfer  man  aber  diese  Individualitäten  in's 
Auge  fasst,  um  so  weniger  wird  man  den  hergebrachten  dog- 
matischen Formalismus  beibehalten  können.    Schon  de  Wette 


Geschichte  der  nentestamentl.  Theologie.  19 

hat  zwar  in  seiner  Darstellung  der  Lehre  der  Apostel  das  Juden- 
chrislenthum ,  die  Lehre  des  Hebräerbriefs,  das  paulinische 
Christenthum  und  die  Lehre  des  Johannes,  jedoch  ohne  alle 
Charakteristik,  schlechthin  neben  einander  gestellt,  und  sodann 
Colin  als  die  drei  verschiedenen  Grundformen  des  apostolischen 
Vortrags  bestimmter  den  palästinensischen,  alexandrinischen 
und  paulinischen  Lehrtypus  unterschieden  und  eine  allgemeine 
Charakteristik  derselben  nach  ihren  unterscheidenden  Zügen 
der  Entwicklung  der  einzelnen  Lehrsätze  vorangeschickt.  Allein 
auf  die  Darstellung  selbst  hat  diess  keinen  bestimmteren  Einfluss 
gehabt  und  es  ist  schon  aus  der  gegebenen  Charakteristik  deut- 
lich genug  zu  sehen,  welche  geringe  Bedeutung  diese  Unter- 
scheidung von  LehrbegrifTen  hätte,  wenn  sie  nichts  weiter  wäre, 
als  sie  nach  dieser  Auffassung  sein  soll.  Ausdrücklich  behauptet 
daher  auch  Colin,  die  sämmtlichen  Apostel  stimmen  in  ihren 
religiösen  Grundsätzen  sosehr  überein,  dass  ihre  Lehre  als  eine 
zusammenhängende  dargestellt  werden  könne.  Sie  haben  zwar 
die  überlieferte  Lehre  weiter  ausgebildet,  unbestimmt  gelassene. 
Lehrpunkte  genauer  festgestellt,  und  besonders  sich  eine  eigen- 
thümliche  Ansicht  von  der  Person  Jesu  Christi  gebildet;  so  haben 
allerdings,  da  jeder  seinen  eigenen  Weg  verfolgte,  Verschieden- 
heiten entstehen  müssen;  indess  betreffen  sie  mehr  die  Lehrart 
als  die  Lehre,  mehr  die  Stellung,  welche  man  einzelnen  Lehr- 
sätzen gab,  und  die  Wichtigkeil,  welche  man  ihnen  beilegte, 
als  ihren  Inhalt,  und  sie  haben  ihren  Grund  vornehmlich  darin, 
dass  man  sich  das  Verhältniss  nicht  sogleich  klar  machen  konnte, 
in  welches  die  neue  Religionsanstalt  zu  der  altern  treten  sollte. 
Diess  heisst  kurz:  wenn  auch  in  der  Lehre  der  Apostel  grosse 
Lehrdifferenzen  stattfinden ,  so  sind  sie  doch  nur  formeller  Art, 
in  Ansehung  der  Sache  selbst  ist  det  Lehrbegriff  der  sämmtlichen 
Apostel  völlig  übereinstimmend,  und  daher  nirgends  eine  reelle 
Verschiedenheit  vorauszusetzen. 

Auf  diesem  Punkte  stand  die  Behandlung  der  neutestament- 

2* 


550  .igoioorf'i*    ■      Einleitung. 

liehen  Theologie,  als  die  neuem  kritischen  Untersuchungen,  wie 
sie  besonders  seit  dem  Strauss'schen  Leben  Jesu  ihren  Auf- 
schwung nahmen,  auch  in  sie  eingriffen  und  auf  ihre  weitere 
Entwicklung  den  wichtigsten  Eintluss  hatten.  Strauss  hatte  die 
Glaubwürdigkeit  der  evangelischen  Geschichte  im  Ganzen  haupt- 
sächlich dadurch  in  Frage  gestellt,  dass  er  auf  den  Mangel  an 
Übereinstimmung  und  die  vielfachen  Widersprüche  aufmerk- 
sam machte,  die  sich  in  den  verschiedenen  Darstellungen  der 
evangelischen  Geschichte  nachweisen  lassen,  woraus  nur  die 
Folgerung  gezogen  werden  konnte,  dass  unsere  Evangelien- 
schriften nicht  von  den  apostolischen  Augenzeugen  herrühren, 
welche  die  Verfasser  derselben  sein  sollen.  Die  Resultate  der 
Strauss'schen  Kritik  schienen  nur  dadurch  widerlegt  werden  zu 
können,  dass  man  den  die  evangelische  Geschichte  enthaltenden 
Schriften  die  apostolische  Glaubwürdigkeit  sii^her  stellte,  in  deren 
factischem  Besitz  sie  bisher  waren.  Je  mehr  man  sich  aber  diess 
zur  Aufgabe  machte,  und  je  schärfer  man  die  in  Frage  stehen- 
den Punkte  in's  Auge  fasste ,  um  so  grösser  waren  die  Schwie- 
rigkeiten, auf  welche  man  stiess.  Man  konnte  aus  allem  zusam- 
men nur  die  Überzeugung  gewinnen,  dass  man  die  Quellen  der 
evangelischen  Geschichte  bisher  überhaupt  noch  nicht  mit  dem 
historisch  kritischen,  oder  dem  rein  geschichtlichen  Sinn  auf- 
gefasst  habe ,  welcher  allein  den  Schlüssel  ihres  richtigen  Ver- 
ständnisses geben  kann.  Je  schärfer  man  die  Schriften  darauf 
ansah,  was  sie  selbst  über  ihre  Herkunft  uns  sagen,  um  so 
deutlichere  Merkmale  einer  späteren  Zeit  ihrer  Entstehung  ent- 
deckte man,  und  je  genauer  man  sie  unter  einander  verglich, 
eine  um  so  grössere  Verschiedenheit  stellte  sich  unter  den  Ver- 
fassern der  einzelnen  Schriften  heraus.  Da  die  grösste  Verschie- 
denheit sich  in  allem  demjenigen  zeigt,  was  die  Person  Jesu 
und  das  Verhältniss  des  Christenthums  zum  Judenthum,  über- 
haupt die  Auffassung  des  christlichen  Princips  betrifft,  so  er- 
hellt schon  hieraus ,  in  welchem  engen  Zusammenhang  die  For- 


i 


Geschichte  der   nc  utes  tamentl.  Theologie.  !2J 

schungen  der  neutestamentlichen  Kritik  mit  der  Fortbildung  der 
neutestamentlichen  Theologie  stehen,  und  wie  die  Resultate  der 
einen  immer  wieder  durch  die  der  andern  bestätigt  werden. 

Fassen  wir  diess  näher  in's  Auge,  so  kommen  dabei  haupt- 
sächlich zwei  Momente  in  Betracht.  Das  erste  betrifft  die  Dar- 
stellung der  Lehre  Jesu,  Da  wir  die  Lehre  Jesu  nicht  aus  einer 
unmittelbaren  Ouelle,  sondern  nur  mittelbar  aus  der  Darstel- 
lung der  neutestamentlichen  Schriftsteller  kennen,  so  fällt  von 
selbst  in  die  Augen,  welcher  grosse  tief  eingreifende  Unter- 
schied es  ist,  ob  man  annimmt,  die  Verfasser  der  Quellenschrif- 
ten der  Lehre  Jesu  seien  als  Augen-  und  Ohrenzeugen  dem 
Gegenstand  ihrer  Darstellung  so  nahe  gewesen,  dass  wir  den 
Inhalt  ihrer  Schriften  als  eine  einfache,  rein  historische  Rela- 
tion anzusehen  haben,  bei  welcher  alles,  was  sie  als  Ausspruch 
und  Lehre  Jesu  geben,  ganz  so  wieder  gegeben  ist,  wie  sie  es 
selbst  unmittelbar  oder  mittelbar  aus  dem  Munde  Jesu  empfan- 
gen haben,  oder  ob  man  sie  von  der  Zeit,  die  sie  beschreiben, 
durch  einen  Zwischenraum  trennen  muss,  in  welchem  so  Vieles 
dazwischen  liegen  kann,  wodurch  der  ursprüngliche  Thatbe- 
stand  mehr  oder  minder  verändert  worden  ist.  Jeder,  der  dem 
Gang  der  neuern  kritischen  Untersuchungen  ohne  dogmatische 
Vorurtheile  und  Voraussetzungen  gefolgt  ist,  kann  sich  nur  auf 
die  letztere  Seite  stellen.  Es  ist  schlechthin  unmöglich ,  wenn 
man  nicht  jedes  wissenschaftlich  kritische  Bewusstsein  verläug- 
nen  und  alle  Resultate  der  Kritik  schlechthin  negiren  will,  die 
Verfasser  der  Evangelien  für  blosse  Referenten  der  Lehre  uhd 
Geschichte  Jesu  zu  halten.  Man  denke  nur  an  die  in  dieser  Be- 
ziehung wichtigste  Frage  über  das  Verhältniss  des  johanneischen 
Evangeliums  zu  den  synoptischen.  Wie  ist  es  möglich,  zwei  so 
verschiedene  und  ihrer  ganzen  Richtung  nach  so  weit  ausein- 
ander gehende  Darstellungen  der  evangelischen  Geschichte  so 
einander  gleichzustellen,  dass  die  eine  wie  die  andere  als  eine 
gleich  lautere  Quelle  d^r  Lehre  und  Geschichte  Jesu  anzusehen 


99  Einleitung. 

wäre?  Man  muss  sich  daher  entscheiden;  hat  man  sich  aber 
bisher  gewöhnlich  nur  zum  Nachtheil  der  synoptischen  Evan- 
gelien entschieden  und  das  johanneische  vorzugsweise  als  den 
unmittelbarsten  und  urkundlichsten  Ausdruck  der  reinen  Lehre 
Jesu  betrachtet,  so  kann  man  jetzt  nach  allem,  was  bisher  noch 
immer  das  unwiderlegte  und  wohl  auch  unwiderlegliche  Ergeb- 
niss  der  neuesten  Untersuchungen  ist,  nur  der  entgegengesetz- 
ten Ansicht  sein.  Man  kann  aus  dem  Dilemma,  dass  die  Wahr- 
heit der  evangelischen  Geschichte  nur  entweder  auf  der  Seile 
der  Synoptiker  oder  nur  auf  der  Seite  des  Johannes  zu  suchen 
sei,  nur  dadurch  herauskommen,  dass  man  sich  überzeugt,  das 
johanneische  Evangelium  sei  überhaupt  ein  Evangelium  ganz 
anderer  Art,  als  die  synoptischen ,  es  sei  von  Anfang  an  auf 
eine  Darstellung  angelegt,  die  mit  einem  streng  geschichtlichen 
Charakter  nicht  vereinbar  ist.  Wo  man  daher  nach  der  bisher 
gewöhnlichen  Ansicht  in  den  ebenso  zahlreichen  als  ausführ- 
lichen und  inhaltsreichen  Reden  Jesu  bei  Johannes  die  reichste 
Quelle  für  unsere  Kenntniss  der  eigentlichen  Lehre  Jesu  zu 
haben  glaubte,  schliesst  sich  uns  zwar  auch  ein  sehr  eigen- 
thümlicher  Lehrbegriff  auf,  wir  sind  aber  nicht  berechtigt ,  ihn 
für  die  Lehre  Jesu  selbst  zu  halten,  wir  können  in  ihm  nur  die 
Auffassungsweise  des  Evangelisten  erblicken,  und  je  höher  die 
Entwicklungsstufe  des  christlichen  Bewusstseins  ist,  welcher 
ein  so  ausgebildeter  Lehrbegriff  angehört ,  um  so  grösser  muss 
auch  der  Zeitunterschied  gewesen  sein,  welcher  ihn  von  der 
Person  Jesu  trennte.  Aber  auch  die  Verfasser  der  synoptischen 
Evangelien  kann  man  sich  in  keinem  so  nahen  Zeitverhältniss 
zu  dem  Gegenstand  ihrer  Darstellung  denken,  wie  man  gewöhn- 
lich annimmt.  Den  ersten  Anspruch  auf  den  Charakter  einer 
historisch-treuen  und  authentischen  Darstellung  der  evangeli- 
schen Geschichte  macht  noch  immer  mit  Recht  das  Matthäus- 
evangelium, obgleich  das  griechische  Matthäusevangelium  in 
der  Form,  in  welcher  es  im  Kanon  steht,  nicht  für  das  Ursprung- 


Geschichte    der  ne  utestamentl.  Theologie.  S3 

liehe  gehalten  werden  kann.  Welche  Ansicht  man  auch  von 
dem  alten  Hebräerevangelium  und  von  der  in  sehr  natürlichem 
Zusammenhang  damit  stehenden  Nachricht  haben  mag,  dass 
Matthäus  sein  Evangelium  in  hebräischer  Sprache  geschrieben 
habe,  so  viel  scheint  aus  den  neuesten  Untersuchungen  mit 
gutem  Grunde  als  gemeinsames  Resultat  hervorzugehen,  dass 
in  unserem  kanonischen  Matthäusevangelium  zwischen  einer 
Grundschrift  und  einer  spätem  Bearbeitung  zu  unterscheiden 
ist.  Der  Grundschrift  gehören*  die  judaisirenden  Bestandtheile 
des  Evangeliums  an,  der  Überarbeitung  die  freieren  und  univer- 
selleren. Hat  nun  das  Evangelium  seinen  Namen  nicht  ohne 
Grund  von  Matthäus,  so  muss  er  der  Verfasser  der  Grundschrift 
sein,  oder  wenigstens  einen  sehr  nahen  Antheil  an  ihr  gehabt 
haben.  Wie  aber  in  dem  Evangehum  zwischen  der  Grundschrift 
und  der  Überarbeitung  zu  scheiden  ist,  was  der  einen  oder  der 
andern  angehört,  diess  bleibt  für  die  specielle  Forschung,  die 
hier  allein  entscheiden  kann,  eine  so  offene  Frage,  dass  dadurch 
in  jedem  Fall  der  apostolische  Charakter  des  Evangeliums  eine 
sehr  bedeutende  Einschränkung  erleidet.  Auch  bei  den  judai- 
sirenden Bestandtheilen  des  Evangeliums  ist  sehr  darauf  zu 
sehen,  dass  man  nicht  zur  ursprünglichen  Lehre  Jesu  rechne, 
was  nur  das  Gepräge  des  erst  nach  dem  Tode  Jesu  sich  bestimm- 
ter gestaltenden  Judaismus  an  sich  trägt.  Da  das  Lucasevange- 
lium das  Matthäusevangelium  und  zwar  nicht  blos  in  der  Grund- 
schrift, sondern  auch  in  einer  seiner  Bearbeitungen  zur  Vor- 
aussetzung hat,  so  kann  es  gleichfalls  in  keine  sehr  frühe  Zeit 
gesetzt  werden ;  dazu  kommt  aber  noch  ganz  besonders ,  dass 
es  als  ein  so  entschieden  paulinisirendes  Evangelium  schon 
unter  den  Gesichtspunkt  eines  über  das  Urchristenthum  hinaus- 
liegenden Gegensatzes  zu  stellen  ist.  Das  Marcusevangelium 
kann  ohnediess  wegen  des  Abhängigkeitsverhältnisses,  in  wel- 
chem es  nach  der  Ansicht,  die  immer  noch  die  weit  überwie- 
gende Wahrscheinlichkeit  für  sich  hat,  zu  den  beiden  andern 


PI  .jiauiuyrfT  Einleitung. 

Evangelien  steht,  nicht  als  selbstständige  Ouelle  in  Betracht 
kommen.  Indem  auf  diese  Weise  das  Verhällniss  der  drei  syn- 
optischen Evangelien  zu  den  Thatsachen  der  evangelischen  Ge- 
schichte ein  mehr  oder  minder  durch  Zwischenglieder  vermit- 
teltes wird,  können  sie  auch  nicht  die  volle  Bedeutung  einer 
authentischen  Quelle  der  Lehre  Jesu  haben.  Wo  man  dieselbe 
in  ihrer  Unmittelbarkeit  zu  haben  glaubt,  sieht  man  sie  viel- 
mehr in  eine  Ferne  entrückt,  welcher  gegenüber  man  nur  an- 
näherungsweise bestimmen  kanh,  was  ihr  wahrer  Inhalt  gewe- 
sen sein  mag,  da  es  ja  immer  nur  der  Reflex  der  Subjectivität 
der  Schriftsteller  ist,  durch  deren  Darstellung  sie  für  uns  ver- 
mittelt wird.  Je  weniger  wir  die  Verfasser  der  vier  Evangelien, 
so  betrachtet,  für  blosse  Referenten  halten  können,  um  so  mehr 
erhalten  sie  dagegen  die  Bedeutung  von  Schriftstellern,  deren 
Schriften  selbst  wieder  eine  Quelle  der  neutestamentlichen  Theo- 
logie sind.  In  jedem  der  vier  Evangelien  stellt  sich  das  Be- 
wusstsein  d.er  Zeit,  welcher  sie  angehören,  in  einer  neuen 
eigenthümlichen  Gestalt  dar,  und  je  weiter  wir  sie  nach  der 
Verschiedenheit  der  Zeit  ihrer  Entstehung  und  der  Individua- 
lität ihrer  Verfasser  auseinanderhalten  müssen,  um  so  wichtigere 
Urkunden  werden  sie  für  die  Entwicklungsgeschichte  der  neu- 
testamentlichen  Theologie.  Was  aber  die  Lehre  Jesu  selbst  be- 
trifft, so  kann  auf  dem  jetzigen  Standpunkt  der  neutestament- 
lichen Kritik  nur  eine  solche  Darstellung  für  die  principiell 
richtige  gehalten  werden,  welche  nicht  das  johanneische  Evan- 
gelium, sondern  die  synoptischen  zu  ihrer  Grundlage  macht.  So 
sehr  wir  auch  bei  den  letztern  alle  Ursache  zur  Vorsicht  haben, 
so  enthalten  doch  sie  allein  die  relativ  zuverlässigsten  Data,  aus 
welchen  die  Lehren  und  Grundsätze  Jesu  zu  eiitnehmen  sind. 
Eine  Darstellung  der.  Lehre  Jesu,  welche,  wie  die  Neander'sche, 
in  dem  Leben  Jesu  nur  den  apologetischen  Zweck  hat,  im  Ge- 
gensatz gegen  die  Strauss'sche  Kritik  die  johanneische  Ghrislo- 
logie  in  ihrer  unbedingten  Auctorität  aufrecht  zu  erhalten,  ist 


Gesohiohte  der  nentestamentl.  Theologie.  2ö 

von  vorn  herein  eine  so  sehr  verfehlte^  dass  es  gar  nicht  mög- 
lich ist,  von  einer  solchen  Grundlage  aus  dem  geschichtlichen 
Entwicklungsgang  der  neutestamentlichen  Theologie  zu  folgen. 
Hier,  wenn  irgendwo,  gilt  es,  die  Grundsätze  der  historischen 
Kritik  in  ihrer  ganzen  Strenge  zur  Anwendung  zu  bringen. 

Das  Zweite,  woran  hier  noch  zu  erinnern  ist,  betrifft  die 
Lehre  der  Apostel.  Von  selbst  versteht  sich,  dass  von  der  An- 
sicht, die  man  von  der  Lehre  Jesu  hat,  auch  das  Verhältniss 
abhängt,  in  das  man  die  Lehre  der  Apostel  zu  der  Lehre  Jesu 
setzt.  Je  strenger  zwischen  der  Subjectivität  der  darstellenden 
Schriftsteller  und  der  Objectivität  des  Gegenstandes  ihrer  Dar- 
stellung unterschieden  wird,  um  so  grösser  wird  die  Beschrän- 
kung sein,  welche  das  Gebiet  der  Lehre  Jesu  an  Umfang  und 
Inhalt  erleidet,  und  je  mehr  diess  der  Fall  ist,  um  so  mehr  wird 
in  demselben  Verhältniss  das  Gebiet  der  Lehre  der  Apostel  sich 
erweitern.  Aber  welche  ganz  andere  Vorstellung  muss  man 
sich  überhaupt  von  der  Lehre  der  Apostel  machen,  wenn  man 
nicht  mehr,  wie  diess  bisher  die  gewöhnliche  Meinung  war, 
jeden  den  Namen  eines  Apostels  führenden  Brief  des  Kanon  als 
solchen  auch  für  eine  acht  apostolische  Schrift  halten  kann, 
wenn  man  selbst  in  der  Reihe  der  paulinischen  Briefe  zwischen 
ächten  und  unächten  unterscheiden  muss,  sich  überhaupt  in 
einem  bedeutenden  Theil  der  kanonischen  Briefe  aus  dem  apo- 
stolischen Zeitalter  in  das  nachapostolische  versetzt  sieht,  und 
selbst  von  der  apostolischen  Zeit  nicht  die  Meinung  haben  kann, 
dass  in  ihr  nur  Einheit  und  Harmonie  geherrscht  habe  und  an 
keine  Verschiedenheit  der  Lehre  und  Ansicht  zu  denken  sei? 
Je  mehr  auf  diese  Weise  schon  der  Zeitraum,  welchen  die  neu- 
testamentliche  Theologie  in  sich  begreift,  an  Ausdehnung  ge- 
winnt, um  so  mehr  kann  sie  auch  innerhalb  desselben  sich  in 
der  ganzen  Mannigfaltigkeit  ihrer  Formen  entwickeln.  Es  be- 
ginnt so  schon  auf  dem  Boden  der  kanonischen  Schriften  der- 
selbe Process  einer  geschichtlichen  Entwicklung  des  christlichen 


4MI  Einleitung. 

Dogma,  dessen  unmittelbare  Fortsetzung  sodann  die  christliche 
Dogmengeschichte  ist.  Die  neutestamentliche  Theologie  ist  so 
erst  in  der  Lage,  den  rein  geschichtlichen  Begriff,  der  wesent- 
lich zu  ihr  gehört,  zu  seiner  vollen  Geltung  kommen  zu  lassen. 
Hat  das  dogmatische  Vorurtheil,  dass  nicht  nur  die  Lehre  Jesu 
und  die  der  Apostel  ein  schlechthin  mit  sich  identisches  Ganzes 
bilden,  sondern  auch  die  apostolischen  Lehrbegriffe  vollkom- 
men unter  sich  zusammenstimmen,  bisher  noch  immer  zu  sehr 
eingewirkt,  glaubte  man  immer  wieder,  wenn  man  auch  die 
sich  von  selbst  herausstellenden  Unterschiede  nicht  ganz  über- 
sehen und  verkennen  konnte,  sie  nur  als  verschwindende,  sich 
von  selbst  in  die  Einheit  des  Ganzen  auflösende  Momente  be- 
trachten zu  können,  so  findet  jetzt  vielmehr  das  entgegenge- 
setzte Interesse  statt. 

Man  erwäge  in  dieser  Beziehung  nur,  wie  illusorisch  auch 
noch  in  der  Ne  an  der 'sehen  Darstellung  der  apostolischen 
Lehre,  in  dem  zweiten  Theil  der  Geschichte  der  Pflanzung  und 
Leitung  der  christlichen  Kirche  durch  die  Apostel  die  Unter- 
scheidung mehrerer  apostolischer  Lehrbegriffe  ist.  Neander  thut 
sich  zwar  viel  darauf  zu  gut,  in  dem  Entwicklungsgang  der 
ursprünglichen  christlichen  Lehre  besonders  drei  eigenthümliche 
Grundrichtungen  zu  unterscheiden,  die  paulinische,  die  jako- 
bische, zwischen  welchen  die  petrinische  als  vermittelndes  Glied 
erscheine,  und  die  johanneische.  Diese  Verschiedenheit  habe  eben 
dazu  dienen  sollen,  dass  sich  offenbarte  wie  die  lebendige  Ein- 
heit, der  Reichthum  und  die  Tiefe  des  christlichen  Geistes  in 
der  Mannigfaltigkeit  der  ohne  Absicht  einander  gegenseitig  er- 
gänzenden und^  erläuternden  menschlichen  Auffassungsformen, 
so  die  Bestimmung  und  Fähigkeit  des  Christenthums,  die  ver- 
schiedensten Richtungen  menschlicher  Eigenthümlichkeit  sich 
anzubilden,  sie  zu  verklären  und  durch  eine  höhere  Einheit  mit 
einander  zu  verbinden  u.  s.  w.  Was  ist  aber  diese  Neander'sche 
Einheit  und  Mannigfaltigkeit  des  christlichen  Geistes  anders  als 


i 


GeBchichte  der  neutestamentl.  Theologie.  ^7 

eine  höchst  unklare  und  vage  Vorstellung?  Der  ganze  Unter- 
schied zwischen  Paulus  und  Johannes  soll  nur  darin  bestehen, 
dass  der  eine  dialectischer  ist  als  der  andere;  die  Lehrform  des 
Jakobus  ist  zwar  der  des  Paulus  am  meisten  entgegengesetzt, 
aber  sie  lässt  sich  doch  auf  die  Einheit  desselben  Geistes  zu- 
rückführen, und  die  Gegensätze  lösen  sich  auf,  wenn  man  nur 
die  verschiedenen  Beziehungen,  in  welchen  das  Eine  und  das 
Andere  gesagt  ist,  wohl  unterscheidet.  Wie  wenn  diess  nicht 
am  Ende  von  allen  Gegensätzen  der  christlichen  Lehre  mehr 
oder  minder  gesagt  werden  könnte!  Ehe  man  aber  nach  der 
Einheit  des  christlichen  Geistes  fragt,  will  man  vor  allem  wis- 
sen, wie  es  sich  mit  dem  Unterschied  verhält.  Hier  bleibt  bei 
aller  Mannigfaltigkeit  und  Verschiedenheit  alles  immer  wieder 
dasselbe.  Man  will  es  zu  keinem  realen  Unterschied  kommen 
lassen,  weil  man  fürchtet,  es  möchten  sich  auch  Gegensätze  her- 
ausstellen, bei  welchen  man  sich  gestehen  muss,  dass  auch  in 
der  apostolischen  Kirche  nicht  alles  so  rein  und  lauter  gewesen 
sei,  wie  man  sich  einbildet,  dass  es  gewesen  sein  müsse.  Die 
wahrhaft  geschichtliche  Betrachtung  hat  kein  solches  Interesse, 
es  ist  ihr  nur  darum  zu  thun,  das  Leben  der  Geschichte  in 
seiner  concreten  Wirklichkeit  so  erscheinen  zu  lassen,  wie  es 
objectiv  ist  mit  allen  seinen  Unterschieden  und  Gegensätzen. 

Je  reiner  die  neutestamentliche  Theologie  in  allen  diesen 
Beziehungen  ihren  geschichtlichen  Charakter  in  sich  darstellt, 
um  so  mehr  ist  es  denn  auch  an  der  Zeit,  den  abstracten  For- 
malismus, welcher  ihr  von  ihrem  Zusammenhang  mit  der  Dog- 
matik  noch  anhängt,  vollends  von  ihr  abzustreifen.  Wozu  die 
Eintheilung  in  eine  Offenbarungslehre,  allgemeine  Glaubens- 
lehre, Heilslehre  und  sodann  weiter  in  die  Lehre  von  Gott, 
seinem  Wesen  an  sich,  seinem  Verhältniss  zur  Welt,  seiner 
Dreieinigkeit,  von  den  Engeln  und  Dämonen,  dem  Menschen 
u.  s.  w.,  wozu  überhaupt  der  ganze  Schematismus,  wie  er  noch 
der  De  Wette'schen  und  Cölln'schen   Darstellung  zu   Grunde 


IK  Einleitung. 

liegt?  Alles  diess  dient  nur  dazu,  der  neutestainentlichen  Theo- 
logie» in  der  ganzen  Reihe  ihrer  Erscheinungen  eine  Gleich- 
förmigkeit aufzudringen,  die  ihr  fremd  ist.  Vom  geschichtlichen 
Standpunkt  aus  stellen  sich  uns  die  verschiedenen  Lehrbegriffe 
als  ebenso  viele  individuelle  Gestaltungen  dar,  deren  jede  auf 
einer  eigenthümlichen  Grundanschauung  beruht,  von  welcher 
aus  der  ganze  Inbegriff  der  zusammengehörenden  Vorstellun- 
gen in  seinem  natürlichen  Zusammenhang  sich  entw^ickeln  lässt. 
Je  bestimmter  der  Grundcharakter  jedes  Lehrbegriffs  sich  zu 
erkennen  gibt,  um  so  klarer  wird  dadurch  auch,  wie  der  eine 
durch  den  andern  bedingt  ist,  man  sieht  um  so  tiefer  in  den 
Zusammenhang  des  Ganzen  hinein,  die  neutestamentliche  Theo- 
logie erscheint  als  ein  lebendiger  Organismus,  in  welchem  jeder 
Unterschied  zu  seinem  Recht  kommt,  jede  Individualität  an  ihrer 
Stelle  ist,  und  je  schärfer  die  Gegensätze  sind,  die  ganze  Ent- 
wicklung nur  um  so  inhaltsreicher  ist.  Die  neutestamentliche 
Theologie  ist  daher  überhaupt  derjenige  Theil  der  geschicht- 
lichen Theologie,  welcher  sowohl  die  Lehre  Jesu  als  die  auf 
ihr  beruhenden  Lehrbegriffe  in  dem  Zusammenhang  ihrer  ge- 
schichtlichen Entwicklung  und  nach  dem  eigenthümlichen  Cha- 
rakter, mit  welchem  sie  sich  von  einander  unterscheiden,  so- 
weit darzustellen  hat,  als  diess  auf  der  Grundlage  der  neutesta- 
mentlichen  Schriften  geschehen  kann. 

Es  sind  hiemit  die  Grundsätze  entwickelt,  nach  welchen 
die  neutestamentliche  Theologie  zu  behandeln  ist,  wenn  ihre 
Darstellung  den  wissenschaftlichen  Anforderungen  genügen  soll, 
die  auf  dem  jetzigen  Standpunkt  der  Theologie  gemacht  werden 
müssen.  Da  aber  die  Grundsätze  der  neuesten  Kritik  überhaupt 
noch  den  Gegenstand  einer  sehr  controversen  Principienfrage  bil- 
den, so  kann  man  sich  nicht  wundern,  dass  die  neuesten  Bearbei- 
tungen der  neutestamentlichen  Theologie  der  hier  aufgestellten 
Idee  noch  sehr  fremd  geblieben  sind,  und  beinahe  durchaus 
noch   den   unkritischen   Charakter   der   früheren  Zeil  an  sich 


Geschichte  der  neutest amentl.  Theologie.  jJ9 

tragen.  Es  versteht  sich  von  selbst,  wie  wesentlich  anders  das 
Ganze  sich  gestalten  muss,  wenn,  wie  noch  immer  geschieht, 
nicht  nur  der  Lehre  Jesu  das  johanneische  Gepräge  aufgedrückt 
wird,  sondern  auch  unter  Voraussetzung  der  Ächtheit  des  Briefs 
Jacobi  und  der  petrinischen  Briefe  die  apostolischen  Lehrbe- 
griffe eines  Jacobus  und  Petrus  an  die  Spitze  der  apostolischen 
Lehrentwicklung  gestellt  und  selbst  mit  dem  auf  sie  folgenden 
paulinischen  im  besten  Einverständniss  gedacht  werden.  Je 
unkritischer  man  verfährt,  um  so  leichter  weiss  man  immer 
wieder  alles  auszugleichen  und  über  jeden  Unterschied  hinweg- 
zusehen. Ja  es  soll  diess  gerade  die  tiefere  Auffassung  sein, 
deren  man  sich  der  modernen  Kritik  gegenüber  rühmt.  Denn 
selbst  bei  dem  Verhältniss  zwischen  Johannes  und  den  Synop- 
tikern soll  es  sich  zeigen,  „wie  ungeachtet  alles  Unterschieds 
im  Wesentlichen  die  Einheit  in  der  Tiefe  ruhe,  wenn  man  sich 
nicht  durch  die  Form  täuschen  lasse,  und  auch  die  Form  erkläre 
sich  in  ihrer  Mannigfaltigkeit  wieder  von  selbst."  Es  ist  somit 
nur  eine  Täuschung,  wenn  man  in  dem  Verhältniss  der  neute- 
stamentlichen  Lehrbegriffe  zu  einander  einen  realen  Unterschied 
zu  finden  glaubt,  wornach  schon  zu  ermessen  ist,  wie  wenig 
es  zu  bedeuten  hat,  wenn  auch  bei  dieser  Behandlung  der  neu- 
testamentlichen  Theologie  von  charakteristisch  unterschiedenen 
Lehrtropen  die  Rede  ist.  Der  maassgebende  Typus  dieser  vagen 
Anschauungsweise  bleibt  immer  die  Neander'sche  Einheit  und 
Mannigfaltigkeit. 

Wie  sehr  es  an  wissenschaftlicher  Schärfe  und  Präcision 
fehlt,  sieht  man  auch  schon  aus  der  Bestimmung  des  Begriffs. 
Schmid,  biblische  Theologie  des  neuen  Tesfamenfs,  1853,  l.Th. 
S.  3,  definirt  die  biblische  Theologie  des  neuen  Testaments  als 
die  wissenschaftliche  historisch -genetische  Darstellung  des  in 
den  Schriften  des  neuen  Testaments  enthaltenen  Christenthums. 
Diese  Erweiterung  des  Begriffs  auf  das  Christenthum  überhaupt 
ist  ebenso  gegen  den  hergebrachten  Sprachgebrauch  als  gegen 


90  Einleitung. 

die  Natur  der  Sache.  Man  will  in  der  neutestamentlichen  Theo- 
logie nicht  wissen,  wie  es  sich  mit  der  Geburt  Jesu,  seiner 
Wirksamkeit,  seinen  Wundern  u.  s.  w.  verhält,  ebenso  wenig, 
was  die  Apostel  gethan  haben,  sondern  nur,  worin  ihre  Lehre 
bestand.  Soll  das  Christenthum,  d.  h.  seine  Entstehung  und 
Begründung  in  der  Welt  historisch-genetisch  dargestellt  wer- 
den, so  kann  man  sich  der  Natur  der  Sache  nach  nicht  blos 
auf  die  Schriften  des  neuen  Testaments  beschränken,  es  gehört, 
um  eine  solche  Erscheinung  geschichtlich  zu  begreifen,  noch 
so  Vieles  dazu,  was  über  die  Schriften  des  neuen  Testaments 
hinausliegt;  nur  die  Lehre,  die  diese  Schriften  enthalten,  ist 
so  für  sich  abgegrenzt,  dass  ihre  Kenntniss  aus  keiner  andern 
Quelle  als  eben  nur  aus  diesen  Schriften  geschöpft  werden  kann. 
Der  historische  Charakter  der  neutestamentlichen  Theologie, 
sagt  Schmid  S.  5,  setze  sie  in  ein  Verwandtschaftsverhältniss 
zur  geschichtlichen  Theologie  überhaupt,  sie  unterscheide  sich 
aber  von  der  Kirchengeschichte,  weil  ihr  Gegenstand  die  Grün- 
dung der  Kirche  sei  und  das  Normirende  für  die  ganze  Folge- 
zeit. Allein  aus  dem  geschichtlichen  Charakter  der  neutesta- 
mentlichen Theologie  folgt  keineswegs  eine  solche  Beziehung 
zur  Kirchengeschichte,  sondern  es  erhellt  vielmehr  gerade  dar- 
aus das  Unrichtige  der  aufgestellten  Definition.  Hat  man  das 
geschichtliche  Gebiet  der  Theologie  mit  Recht  in  die  beiden 
Zweige  der  Kirchengeschichte  und  der  Dogmengeschichte  ge- 
theilt,  so  ist  es  nicht  die  erstere,  sondern  nur  die  letztere,  zu 
welcher  die  neutestamentliche  Theologie  in  einem  ihrem  Begriff 
entsprechenden  natürlichen  Verwandtschafts-Verhältniss  steht. 
In  demselben  Sinne  wird  ferner  ein  grosser  Nachdruck  dar- 
auf gelegt,  das  Christenthum  sei  nicht  blos  Lehre,  sondern  auch 
Leben,  ja  durchaus  Leben,  nemlich  das  neue  göttliche  Leben  in 
Christo,  also  theils  das  göttliche  Leben  in  der  Person  Jesu  von 
Nazaret,  des  Christs,  als  die  Offenbarung  des  Vaters  in  dem  Sohn 
auf  Erden,  theils  das  von  demselben  ausgegangene  göttliche  Le- 


Begriff  der  neatestamentl.  Theologie.  31 

ben  in  den  an  ihn  Glaubenden,  als  die  Offenbarung  des  Vaters 
durch  den  Sohn  in  dem  heiligen  Geist  und  zwar  in  der  ursprüng- 
lichen apostolischen  Kirche.  Wenn  sein  Leben  ebensowohl  wie 
seine  Lehre  zur  Offenbarung  des  Vaters  durch  ihn  zu  seinem  Erlö- 
sungswerk gehöre,  warum  die  Theologie  des  neuen  Testaments 
sein  Leben  nicht  ebenso  wie  seine  Lehre  als  einen  integrirenden 
Bestandtheil  in  sich  aufnehmen  wolle?  Es  liegt  auch  hier  eine 
sehr  unklare  Vorstellung  zu  Grunde.  Wie  ist  es  überhaupt  zu 
verstehen,  wenn  vom  Christenthum  gesagt  wird,  es  sei  durch- 
aus und  wesentlich  Leben?  Soll  damit  gesagt  werden,  das  Chri- 
stenthum sei  nichts  durch  Begriffe  Vennitteltes,  sondern  Gegen- 
stand der  unmittelbaren  Lebenserfahrung,  thatsächliche  Wirk- 
lichkeit, so  kann  diess  wenigstens  nicht  vom  Urchristenthura 
gelten,  dessen  Kenntniss  für  uns  durch  so  Vieles,  das  dazwi- 
schen liegt,  vermittelt  wird.  Leben,  nicht  blos  Lehre  ist  freilich 
das  Christenthum,  sofern  es  aufThatsachen  beruht,  durch  welche 
eine  neue  religiöse  Lebensgemeinschaft  begründet  worden  ist; 
soll  aber  dadurch  die  gegebene  Definition  motivirt  werden ,  so 
kommt  diess  nur  wieder  auf  die  unrichtige  Behauptung  zurück, 
dass  es  die  neutestamentliche  Theologie  nicht  blos  mit  der  Lehre 
Jesu  und  der  Apostel,  sondern  mit  dem  Ursprung  des  Christen- 
thums  überhaupt  zu  thun  habe.  Mit  dem  Ausdruck  Leben  glaubt 
man  so  zwar  etwas  sehr  Tiefes  und  Bedeutungsvolles  zu  sagen, 
sobald  man  aber  die  Sache  näher  betrachtet,  ist  es  nur  ent- 
weder etwas  sehr  Gewöhnliches  oder  etwas  sehr  Schiefes. 

Auf  ähnliche  Weise  verhält  es  sich  mit  dem  Ausdruck  Be- 
wusslsein,  wie  er  gleichfalls  zur  Bestimmung  des  Begriffs  der 
neutestamentlichen  Theologie  gebraucht  worden  ist.  Hahn,  Theo- 
logie des  neuen  Testaments,  1854.  1.  Band  S.  1,  deflnirt  die 
Theologie  des  neuen  Testaments  als  die  treue  und  wissenschaft- 
liche Beschreibung  des  religiös-sittlichen  Bewusstseins  der  christ- 
lichen Kirche  im  apostolischen  Zeitalter,  wie  dasselbe  aus  den 
Schriften  des  neuen  Testaments  erkennbar  sei,  oder  die  Be- 


du»  Einleitung. 

Schreibung  des  christlichen  Bewusstseins,  wie  dieses  sich  im 
Kreise  der  Apostel  und  Apostelschüler  gestaltete  im  Gegensatz 
zu  allen  spätem  Gestaltungen  desselben.  Gegenstand  der  neu- 
lestamentlichen  Theologie  ist  so  zwar  nicht  das  Urchristenthum 
überhaupt,  sondern  nur  das  in  den  Schriften  des  neuen  Testa- 
ments ausgesprochene  christliche  Bewusstsein;  ist  aber  nicht 
auch  diess  ein  zu  weiter  und  vager  Begriff,  gehört  zum  christ- 
lichen Bewusstsein  der  apostolischen  Kirche  nicht  auch  Man- 
ches, wornach  in  der  Theologie  des  neuen  Testaments  nicht  ge- 
fragt werden  darf,  wie  z.  B.  was  sich  auf  die  Ascese,  das  sociale 
Leben  der  ersten  Christen,  die  Verfassung  der  Kirche  bezieht? 
Offenbar  wird  der  Ausdruck  Bewusstsein  aus  dem  Grunde  ge- 
braucht, um  in  ihm  das  in  den  Hintergrund  zurücktreten  zu 
lassen,  was  für  die  neutestamentliche  Theologie  ihrem  Begriff 
nach  gerade  die  Hauptsache  sein  muss,  die  reale  Verschiedenheit 
der  Lehrbegriffe.  Man  spricht  von  dem  Bewusstsein  der  apo- 
stolischen Kirche,  um  das  Hauptgewicht  sogleich  nicht  auf  den 
Unterschied,  sondern  auf  die  Einheit  zu  legen,  und  von  der 
Voraussetzung  der  Einheit  geht  man  aus,  weil  man  sonst  den 
Inhalt  der  Schriften  des  neuen  Testaments  nicht  als  eine  über- 
natürlich geoffenbarte  Lehre  behandeln  könnte,  zu  welcher  man 
sich  nur  glaubig  zu  verhalten  hat.  Dass  diess  der  Standpunkt 
der  Hahn'schen  Theologie  des  neuen  Testaments  ist,  erhellt  aus 
ihrer  Bestimmung  des  Verhältnisses,  in  das  sie  die  neutesta- 
mentliche Theologie  zur  Dogmengeschichte  setzt.  Die  Theologie 
des  neuen  Testaments,  wird  gesagt  S.  7,  entwickle  eine  religiös- 
sittliche  Anschauung,  die  ihrem  ganzen  Umfang  nach  Product 
göttlicher  Offenbarung  sei,  die  Dogmengeschichte  habe  es  mit 
einer  Entwicklung  zu  thun,  die  zwar  im  Christenthum  ihren 
Anstoss  erhalte  und  in  ihm  ihren  steten  Impuls  habe,  nicht  aber, 
wie  jene,  auf  einem  schon  geebneten  und  durch  Gott  in  ausser- 
ordentlicher Weise  zubereiteten,  sondern  auf  völlig  wildem  Bo- 
den erwachse,  der  vorher  in  keiner  Weise  für  das  Christenthum 


Begriff  der  neatestamentl.  Theologie.  33 

unmittelbar  bearbeitet  gewesen  sei.  Daher  habe  denn  auch  jene 
eine  Anschauung  zu  entwickeln,  die  ihrem  ganzen  Umfang  nach 
die  wahre  sei,  diese  habe  es  mit  einer  Entwicklung  zu  thun,  die 
durch  mannigfache  Irrungen  hindurch  die  im  neuen  Testament 
ungetrübt  enthaltene  Wahrheit  erst  allmählig  zu  erringen  suche. 
Das  Falsche  dieses  Standpunkts  liegt  hier  klar  vor  Augen. 
Statt  dass  nach  dieser  Auffassung  neutestamentliche  Theologie 
und  Dogmengeschichte  in  Hinsicht  ihres  Gegenstandes  sich  zu 
einander  verhalten  wie  die  reine  absolute  Wahrheit  und  die 
durch  Irrthum  getrübte,  muss  man  vielmehr  sagen,  die  neute- 
stamentliche Theologie  sei  auch  schon  Dogmengeschichte,  die 
christliche  Dogmengeschichte  in  ihrem  Verlauf  innerhalb  des 
neuen  Testaments.  Wie  man  bei  der  Dogmengeschichte  nicht 
fragt,  ob  das,  was  sie  darzustellen  hat,  auch  an  sich  wahr  ist 
und  von  uns  selbst  zum  Gegenstand  des  Glaubens  gemacht  wer- 
den muss,  sondern  nur,  was  überhaupt  gelehrt  worden  ist,  nicht 
was  wir  selbst  glauben  sollen,  sondern  nur,  was  Andere  für 
wahr  gehalten  und  geglaubt  haben,  so  verhält  es  sich  auch  mit 
der  neutestamentlichen  Theologie.  Man  will  nur  wissen,  was 
die  Schriften  des  neuen  Testaments  als  Lehre  enthalten,  und 
welche  Formen  in  ihrem  Lehrinhalt  durch  ihre  charakteristische 
Eigenthümlichkeit  sich  unterscheiden.  Geht  man  nicht  von  die- 
sem Gesichtspunkt  aus,  so  ist  die  erste  Forderung,  die  man  an 
die  neutestamentliche  Theologie  machen  muss,  rein  illusorisch. 
Wie  ist  eine  geschichtliche  Behandlung  möglich,  wenn  man  in 
der  Geschichte  nur  das  finden  will,  was  man  zu  glauben  hat, 
und  der  Geschichte  voraus  vorschreibt,  was  sie  enthalten  soll. 
Diess  geschieht,  wenn  man  von  der  Voraussetzung  ausgehl, 
die  sämmllichen  Schriften  des  neuen  Testaments  enthalten  von 
Anfang  bis  zu  Ende  nichts  als  reine  OfFenbarungslehre,  sie 
unterscheiden  sich  dadurch  von  allen  andern  Schriften,  dass  ihr 
Inhalt  vermöge  ihres  Offenbarungscharakters  reine  ungetrübte 
Wahrheit  ist.   Wo  Wahrheit  ist,  muss  auch  Einheit  und  Ober- 

Q 

Banr,  neut«8t.  Theol.  ** 


34  Einleitung. 

cinstimmung  sein;  stiiiimt  also  in  dem  gesainmlen  Inhalt  der 
neutestamentlichen  Schriften  alles  so  mit  sich  zusammen,  dass 
der  Lehrinhalt  aller  dieser  Schriften  nur  Ein  Ganzes  bildet,  so 
kann  es  auch  keine  Verschiedenheit  von  Lehrbegriffen  geben, 
weil  eine  solche  nicht  möglich  ist,  ohne  dass  möglicher  Weise 
auch  Gegensätze  und  Widersprüche  stattfinden,  welche  die  Ein- 
heit des  Ganzen  aufheben.  Dazu  darf  es  demnach  eine  vom 
Offenbarungscharakter  der  Schrift  ausgehende  Behandlungsweise 
der  neutestamentlichen  Theologie  nicht  kommen  lassen,  sie  muss 
vielmehr  immer  darauf  bedacht  sein,  jeden  Unterschied,  der 
sich  ihr  in  der  Auffassung  des  Lehrinhalts  der  Schrift  heraus- 
stellt, nicht  als  einen  reellen,  sondern  als  einen  blos  schein- 
baren zu  betrachten,  als  einen  solchen,  der  in  der  Einheit  des 
Ganzen  zuletzt  immer  wieder  verschwinden  muss.  Diess  ist  der 
unhistorische  Charakter  der  Hahn'schen  Theologie  des  neuen 
Testaments.  Zwar  hebt  auch  Hahn  als  Haupteigenschafl  der 
neutestamentlichen  Theologie  hervor,  dass  sie  eine  rein  histori- 
sche Wissenschaft  sei:  sie  wolle  blos  darstellen,  gehe  nicht 
von  vorn  herein  von  einer  bestimmten  Anschauung  aus,  es  sei 
ihr  alles  erst  Gegenstand  der  Untersuchung.  Welche  grössere 
Voraussetzung  kann  es  aber  geben,  als  diese,  dass  der  Inhalt 
der  Schrift  schlechthinige  Offenbarungslehre  ist?  Geht  man 
davon  aus,  so  hört  ebendamit  jede  geschichtliche  Betrachtung 
auf.  Man  hat  nur  einen  Inbegriff  von  Lehren  vor  sich,  in  wel- 
chem alles  und  jedes  dieselbe  Geltung  und  Bedeutung  hat,  es 
ist  völlig  gleichgültig,  aus  welchen  Schriften  und  Schriftstellen 
das  Ganze  zusammengesetzt  wird.  Auch  nach  dieser  Ansicht 
soll  zwar  nicht  blos  Einheit,  sondern  auch  Mannigfaltigkeit  und 
Verschiedenheit  sein.  Die  Theologie  des  neuen  Testaments  habe 
es,  wird  gesagt,  mit  einem  Dreifachen  zu  thun:  i.  mit  der 
Darstellung  des  dem  ganzen  neuen  Testamente  zu  Grunde  lie- 
genden Begriffsystems;  2.  mit  der  Darstellung  der  Art  und  Weise, 
in  der  sich  bei  der  wesentlich  Einen   Grundanschauung  doch 


Begriff  der  n  eu testamentl.  Theologie.  35 

verschiedene  Lehrbegriffe  haben  ausbilden  können,  oder  mit  der 
Darstellung  der  Entwicklung  der  religiös-sittlichen  Anschauung 
im  apostolischen  Zeitalter,  so  weit  das  neue  Testament  darüber 
Aufschluss  ertheilt;  3.  mit  der  Darstellung  der  einzelnen  Lehr- 
begriffe, als  der  Bewusstseinsgestalten,  welche  aus  dieser  Ent- 
wicklung hervorgegangen  sind.  Welches  Interesse  kann  es  aber 
haben,  noch  von  verschiedenen  Lehrbegriffen  zu  reden,  wenn 
ein  Begriffsystem  vorangestellt  wird,  in  welchem  nach  der  Reihe 
der  dogmatischen  Lehrartikel  die  Lehre  von  Gott,  der  Welt, 
den  Engeln,  dem  Menschen  u.  s.  w.  abgehandelt  und  bei  jedem 
derselben  alles  eingereiht  wird,  was  die  betreffenden  Schrift- 
steller vom  ersten  der  neutestamentlichen  Bücher  bis  zum  letz- 
ten darbieten  ?  Mag  man  auch  die  neutestamentlichen  Schriften 
nach  dem  Grade  ihrer  Verwandtschaft  classificiren  und  nach 
Maassgabe  dieser  Classification  mehrere  Lehrbegriffe  unterschei- 
den, einen  paulinischen,  johanneischen,  populären,  hellenisti- 
schen: es  lehrt  jeder  immer  wieder  dasselbe,  weil  alle  zusam- 
men dasselbe  System  bilden;  die  Christologie  des  Paulus  ist 
keine  andere  als  die  des  Johannes,  die  des  Paulus  und  Johannes 
keine  andere,  als  die  des  Jacobus  und  Petrus;  wozu  also  noch 
diese  Unterscheidung?  Die  Einheit  ist  in  jedem  Fall  so  über- 
wiegend, dass  die  Verschiedenheit  in  ihr  verschwindet,  es  sind 
nur  verschiedene  Namen  für  dieselbe  Sache.  Macht  doch  Hahn 
selbst  der  Schmid'schen  Theologie  des  neuen  Testaments  den 
Vorwurf,  dass  in  ihr  die  Einheit  der  durch  das  neue  Testament 
hindurchgehenden,  bei  allen  einzelnen  Schriftstellern  sich  wie- 
derfindenden Grundanschauung  gar  nicht  zu  ihrem  Rechte  komme ! 
Wie  deutlich  ist  hieraus  zu  sehen,  dass  diese  unkritische  Be- 
handlungsweise  statt  fortzuschreiten,  nur  Rückschritte  machen 
kann! 

Auch  die  beiden  neuesten  Werke  über  neutestamentliche 
Theologie,  Messner,  die  Lehre  der  Apostel,  1856,  und  Lech- 
ler, das  apostolischf  und  das  nachaposfolische  Zeitalter  mit 

3* 


3^  Einleitung. 

Rücksicht  auf  Unterschied  uud  Einheit  in  Lehre  und  Leben, 
1857,  gehören  ganz  einem  Standpunkt  an,  auf  welchem  es  bei 
allem  Gerede  über  die  Mannigfaltigkeit  und  Verschiedenheit  der 
apostolischen    Lehrbegriffe  doch  nie  zur  Anerkennung  eines 
wahren  und  wirklichen  Unterschieds  kommt.   Es  steht  ja  voraus 
fest,  dass  es  nur  Unterschiede  aber   keine   Gegensätze  geben 
darf.    Die  Unterschiede  innerhalb  der  apostolischen  Lehre,  sagt 
Messner  S.  31 ,  bestehen  keineswegs  blos  in  der  Verschieden- 
heit der  einzelnen  Begriffe  und  Ideen,  sondern  sie  haben  vor 
allem  ihren  Grund  darin,  dass  die  einzelnen  Apostel  die  ganze 
Erscheinung  und  das  Werk  Christi  unter  einem  verschiedenen 
Gesichtspunkt  auffassen.   —   Die  Erkenntniss  von   einer   Ver- 
schiedenheit apostolischer  Lehrarten  im  neuen  Testament  zeigt 
uns,  dass  auf  demselben  Glaubensgrunde   verschiedene  Lehr- 
bildungcn  möglich  sind,  welche  sich  gegenseitig  zu  ergänzen 
bestimmt  sind.    Es   ist  dadurch   einer  durch   die  menschliche 
Eigenthümlichkeit  und  den  Bildungsgang  bedingten  Verschie- 
denheit in  der  Auffassung  und  Darstellung  der  göttlichen  Wahr- 
heit ihr  Recht  gesichert,  so  lange  nur  die  auf  diese  Weise  ent- 
stehenden Verschiedenheiten  nicht  zu  einander  ausschliessenden 
Gegensätzen  werden,  S.  38.  —  Woher  weiss  man  aber  voraus 
schon,  dass  es  innerhalb  einer  solchen  Entwicklung  zu  keinen 
Gegensätzen  kommen  kann?   Um  das  Verhältniss,  in  welchem 
die  verschiedenen  Lehrbegriffe  zu  einander  stehen,  näher  zu 
bestimmen,  sagt  Messner  S.  55,  eine  Verschiedenheit  zwischen 
den  apostolischen  Lehrtropen,  mit  welcher  an  Tiefe  und  Um- 
fang keine  andere  verglichen  werden  könne,  sei  dadurch  be- 
dingt, dass  die  einen  das  Verhältniss  zwischen  den  beiden  Bünd- 
nissen vorzugsweise  von  Seiten   der  Einheit  beider  auffassen, 
den  Unterschied  zwischen  denselben  zwar  keineswegs  verken- 
nen, aber  doch  nicht  mit  derselben  Vorliebe  hervorheben,  wäh- 
rend die  Andern  allerdings  die  Einheit  beider  Offenbarungen 
voraussetzen,  aber  mit  Vorliebe  sich  doch  der  Seite  des  Unter- 


Begriff  der  neutestament  1.  Theologie.  ST"" 

schieds  zwischen  denselben  zuwenden  und  diese  zum  Gegen- 
stand ihrer  Darstellung  dor  christlichen  Wahrheit  machen,  d.  h. 
es  handelt  sich  auf  beiden  immer  nur  um  ein  Plus  und  Minus. 
Ist  es  aber  auch  nur  der  Unterschied  eines  Plus  und  Minus, 
wenn  die  Einen  die  jüdische  Beschneidung  für  nothwendig  zur 
Seligkeit  erklären,  die  Andern  darin  eine  Vefläugnung  des 
Christenlhums  sehen?  Entweder  niuss  man  also  diese  Thatsache 
läugnen  oder  jene  Bestimmung  des  Unterschieds  für  unrichtig 
halten.  Da  man  sich  zu  dem  Letztern  nicht  entschliessen  kann 
und  keinen  andern  als  einen  blos  relativen  Unterschied  zugeben 
zu  können  glaubt,  so  erhellt  hieraus,  wie  wenig  auf  diesem 
Standpunkt  die  geschichtliche  Wirklichkeit  zu  ihrem  Rechte 
kommt.  Ob  man  sodann  die  Lehrbegriffe  des  Jacobus  und  Pe- 
trus mit  Messner  dem  paulinischen  voranstellt,  oder  mit  Lechler 
dem  letztern  folgen  lässt,  ist  völlig  gleichgültig,  da  es  in  dem 
einen  Fall  so  wenig  als  in  dem  andern  zu  einer  wahren  Ent- 
wicklung kommt.  Das  Schwanken  dieser  Theologen  über  die 
Aufeinanderfolge  der  LehrbegriflFe  hat  ebendann  seinen  Grund^ 
dass  sich  bei  ihrem  Verfahren  nirgends  klare  und  feste  Unter- 
schiede herausstellen  können.  Überall  ist  es  hier  nur  darauf 
abgesehen,  jeden  Unterschied  abzuschwächen  und  alles  glatt 
und  eben  zu  machen.  Messner  lässt  doch  wenigstens  dahin- 
gestellt, ob  neben  dem  für  johanneisch  gehaltenen  Evangelium 
auch  die  Apokalypse  johanneisch  ist,  für  Lechler  ist  auch  die 
Identität  des  LehrbegrifFs  der  Apokalypse  mit  dem  des  Evan- 
geliums ausser  Zweifel.  Lechler  sieht  überhaupt  in  den  neueren 
Forschungen  und  Ansichten  nicht  blos  die  geschichtliche  Wahr- 
heit verkehrt,  sondern  auch  die  Ehre  Gottes,  die  Würde  des 
Erlösers,  die  Einheit  des  heiligen  Geistes  angetastet  und  das 
Interesse  des  Glaubens  beeinträchtigt  CS.  4).  Wer  so  urtheilt, 
sollte  wenigstens  nicht  von  einer  freien  Forschung  reden,  die 
zuletzt  die  Wahrheit  an's  Licht  bringen  werde.  Was  ist  denn 
noch  frei  für  die  Forschung,  wenn  alles  voraus  schon  so  ent- 


3S  Einleitung. 

schieden  und  an 's  Licht  gebracht  ist,  dass  man  sich  über  die 
abweichenden  Ansichten  Anderer,  wie  wenn  nicht  auch  sie 
auf  wissenschaftlichem  Wege  die  Wahrheit  erforschen  wollten, 
die  absprechendsten  Urtheile  erlauben  darf.  Unkritischer,  be- 
schränkter, oberflächlicher  ist  die  neutestamentliche  Theologie 
nicht  leicht  behandelt  worden,  als  von  Lechler  in  der  genannten 
Schrift,  bei  aller  Prätension,  die  das  Werk  macht. 

Wenn  man  die  neutestamentliche  Theologie  streng  nach 
ihrem  geschichtlichen  Begriff  behandelt,  so  ist  es  nicht  genug, 
mehrere  Lehrbegriffe  zn  unterscheiden  und  sie,  wenn  auch  in 
einer  gewissen  Zeitfolge,  neben  einander  zu  stellen,  sondern  es 
muss  auch  ein  Fortschritt  der  Entwicklung  nachgewiesen  wer- 
den, welcher  um  so  bedeutender  sein  wird,  je  grösser  der  Zeit- 
raum ist,  auf  welchen  sich  die  neutestamentliche  Theologie  er- 
streckt. Da  nun  die  neutestamentliche  Theologie  ganz  auf  den 
in  den  Schriften  des  neuen  Testaments  gegebenen  Quellen  be- 
ruht, so  kann  der  Zeitraum,  welchen  sie  umfasst,  nur  nach 
der  Zeit  bestimmt  werden,  in  welche  die  Abfassung  der  sie 
betreffenden  Schriften  fällt.  Würde  es  sich  daher  mit  dem  Ur- 
sprung dieser  Schriften  ganz  so  verhalten  wie  die  gewöhnliche 
Meinung  annimmt,  so  wäre  der  Zeitraum,  welchen  sie  in  der 
Entwicklungsgeschichte  des  Christenthums  einnimmt,  dem  Um- 
fang nach  sehr  beschränkt;  es  wäre  kaum  möglich,  die  Ent- 
wicklung der  neu  testamentlichen  Theologie  in  verschiedene 
Perioden  zu  theilen,  da  die  Verfasser  der  Schriften  so  ziemlich 
zu  einer  und  derselben  Zeit  lebten,  wodurch  voraus  schon  nicht 
wahrscheinlich  wird,  dass  sich  in  dem  Verhältniss  ihrer  Lehr- 
begriffe zu  einander  sehr  bedeutende  Differenzen  hervorgethan 
haben.  Beides  steht  ja  in  einem  sehr  natürlichen  Zusammen- 
hang: je  grösser  der  Zeitraum  ist,  welchen  die  Geschichte  der 
neutestamentlichen  Theologie  in  sich  begreift,  um  so  grösser 
werden  auch  die  Unterschiede  und  Gegensätze  sein,  durch  die 
9W  bindurchgeht,  und  je  weniger  die^s  der  Fall  ist,  um  so 


Eintheilung  der  neu testamentl.  Theologie.  39 

kürzer  wird  der  Zeitraum  sein,  welchen  sie  mit  ihrem  Inhalt 
ausfüllt;  wenigstens  wird  man,  je  weniger  man  geneigt  ist, 
wirkliche  Differenzen  und  Gegensätze  anzuerkennen,  auch  um 
so  weniger  ein  Interesse  haben,  über  die  Grenzen  hinauszu- 
gehen, die  sich  die  Schriften  selbst  durch  ihre  angeblichen 
Verfasser  setzen,  und  dasselbe  Verhältniss  wird  im  umgekehr- 
ten Falle  stattfinden.  Es  hängt  somit  überhaupt  die  Periodi- 
sirung  der  Geschichte  der  neuteslamentlichen  Theologie,  abge- 
sehen von  der  Lehre  Jesu,  welche,  wie  sich  von  selbst  versteht, 
auf  der  Grundlage  der  synoptischen  Evangelien  die  erste  Periode 
bildet,  ganz  von  der  Frage  nach  dem  Ursprung  der  Quellen- 
schriften ab. 

Lechler  setzt  als  die  erste  Periode  schon  die  Zeit  vor  der 
Bekehrung  des  Apostels  Paulus.  Wie  viel  Sicheres  lässt  sich 
aber  über  eine  Periode  sagen,  deren  einzige  Quelle  eine  Schrift 
von  so  zweifelhafter  Glaubwürdigkeit  ist,  wie  die  Apostelge- 
schichte. Der  Unterschied  der  kritischen  und  unkritischen  Auf- 
fassung zeigt  sich  sclM)n  hier  in  seinem  Einfluss  auf  das  Ganze.. 
Wer  den  Charakter  der  Apostelgeschichte  kennt,  kann  auch 
schon  die  ersten  Kapitel  nicht  für  eine  einfache  Relation  dessen 
halten,  was  die  Apostel  damals  gedacht  und  gelehrt  haben,  es 
reflectirt  sich  auch  darin  die  Anschauung  des  Schriftstellers. 
Was  jene  Kapitel  enthalten,  erhält  seine  Bedeutung  erst  im  Zu- 
sammenhang mit  demjenigen,  was  sich  aus  den  Briefen  des 
Apostels  Paulus  als  Gegensalz  zu  seiner  Lehre  ergibt. 

In  die  erste  Periode  der  nach  dem  Tode  Jesu  beginnenden 
Zeit  kann  man  nur  die  paulinischen  Briefe  und  die  Apokalypse 
setzen,  aber  auch  die  paulinischen  Briefe  erleiden  hier  sogleich 
eine  kritische  Beschränkung.  Als  acht  paulinische  Briefe  kön- 
nen nur  die  vier  gelten,  die  in  jedem  Fall  die  Hauptbriefe  des 
Apostels  sind,  der  Brief  an  die  Galater,  die  beiden  Korinthier- 
briefe  und  der  Brief  an  die  Römer,  ohne  allen  Zweifel  die  älte- 
sten Schriften  des   neutestamentlichen  Kanons.     Die   kleinem 


40  Einleitung. 

paulinischen  Briefe  stehen  nicht  nur  in  allem,  was  zum  Cha- 
rakter eines  paulinischen  Briefs  gehört,  tief  unter  jenen,  die 
der  urkundlichste  Ausdruck  des  paulinischen  Geistes  sind,  und 
daher  auch  den  sichersten  Maasstab  zur  Beurtheilung  von  allem, 
was  sich  für  paulinisch  ausgibt,  an  die  Hand  geben,  sondern  sie 
unterscheiden  sich  auch  in  so  manchen  Vorstellungen  auffallend 
von  ihnen,  sie  können  daher  nicht  so  schlechthin  mit  ihnen 
zusammengenommen  werden.  Wollte  man  sie  auch  einer  spä- 
tem Lebensperiode  des  Apostels  zuweisen,  man  würde  doch 
immer  in  ihnen  das  ächte  Gepräge  seines  Geistes  vermissen 
müssen.  Da  sich  nun  überdiess  manche  Merkmale  späterer  Zeit- 
verhältnisse zu  erkennen  geben,  so  ist  man  berechtigt,  sie  in 
die  nachapostolische  Zeit  herabzusetzen.  In  jedem  Fall  kann 
die  neuteslamentliche  Theologie,  wenn  sie  den  paulinischen 
Lehrbegriff  in  seiner  ganzen  Schärfe  und  Eigenthümlichkeit 
darstellen  will,  sich  an  keine  andere  Quelle  halten,  als  die  zu- 
erst genannten  Briefe.  Aus  derselben  Periode  kann  dem  pau- 
linischen Lehrbegriff  kein  anderer  zur  Seite  gestellt  werden, 
als  der  der  Apokalypse,  welche,  da  sie  unmittelbar  vor  der 
Zerstörung  Jerusalems  im  Jahre  70  geschrieben  ist,  den  schick- 
lichsten Endpunkt  für  die  erste  Periode  gibt. 

In  die  zweite  Periode  gehören  neben  dem  Hebräerbrief  die 
kleineren  paulinischen  Briefe,  von  welchen  die  Pastoralbriefe 
getrennt  werden  müssen.  Die  Gründe,  welche  den  paulinischen 
Ursprung  aller  dieser  Briefe  mehr  oder  minder  unwahrschein- 
lich machen,  können  hier  nicht  näher  entwickelt  werden.  Die 
Frage  über  die  Ächtheit  dieser  Briefe  ist  noch  immer  ein  sehr 
controverser  Punkt  der  Kritik;  für  mich  steht  nach  wiederholter 
Prüfung  das  kritische  Resultat  fest,  dass  diese  Briefe  der  nach- 
paulinischen  Periode  angehören. .  Auch  sehe  ich  nicht,  welches 
Moment  es  haben  kann,  ob  man  etwa  einen  Brief,  wie  1  Thes- 
salonicher,  den  Brief  an  den  Philemon;  oder  auch  den  Philipper- 
brief noch  als  paulinisch  anerkennt,  die  übrigen  aber  nicht.  Alle 


Eintheilung  der  nentestamentl.  Theologie.  41 

diese  kleineren  Briefe  tragen  im  Grunde  denselben  Charakter 
an  sich,  und  wenn  man  einmal  auch  nur  mehrere  von  ihnen  für 
nicht  apostolisch  hält,  wie  schwach  ist  die  Wahrscheinlichkeit 
für  den  apostolischen  Ursprung  der  andern.  Die  neutestament- 
liche  Theologie  kann,  je  schärfer  sie  die  charakteristischen  Züge 
des  LehrbegrifFs  dieser  Briefe  hervorhebt,  nur  um  so  mehr  das 
kritische  Resultat  bestätigen.  Nach  Jahren  lässt  sich  zwar  die 
Entstehung  dieser  Briefe  nicht  bestimmen,  so  viel  aber  ist  wohl 
mit  Recht  zu  behaupten,  dass  sie  in  eine  Periode  fällt,  welche 
von  der  Zerstörung  Jerusalems  bis  in  die  ersten  Zeiten  des 
zweiten  Jahrhunderts  sich  erstreckt.  Auch  bei  den  noch  übri- 
gen neutestamentlichen  Schriften  ist  es  sehr  schwierig,  genauere 
chronologische  Bestimmungen  aufzustellen;  es  möchte  daher 
rathsamer  sein,  statt  einer  weitern  Perioden-Abtheilung  sie  nur 
so  zu  classificiren ,  dass  sie  mit  Ausnahme  der  johanneischen 
Schriften,  welche  in  jedem  Fall  die  letzte  Entwicklungsstufe 
bilden ,  alle  zusammen  in  dieselbe  Klasse  gesetzt  werden.  Zu 
den  spätesten  Schriften  des  Kanons  gehören  neben  dem  Evan- 
gelium des  Johannes  und  den  johanneischen  Briefen  unstreitig 
die  sog.  Pastoralbriefe,  welche  deutliche  Merkmale  des  gno- 
stischen  Zeitalters  an  sich  tragen,  und  der  zweite  petrinische 
Brief,  dessen  Unächtheit  so  entschieden  ist,  dass  kaum  die  streng- 
sten Vertheidiger  des  Kanon  das  Gegentheil  zu  behaupten  wa- 
gen. Dass  man  aber  auch  bei  den  übrigen  Schriften  den  Maas- 
stab für  ihr  Alter  nicht  zu  hoch  nehmen  darf,  kann  eine  neue- 
stens  auf  dem  Gebiet  des  apostolischen  und  nachapostolischen  Zeit- 
alters gemachte  Entdeckung  zeigen.  Der  erste  Brief  des  römischen 
Clemens  galt  bisher  nach  der  gewöhnlichen  Meinung  für  eine 
Schrift  des  ersten  Jahrhunderts;  man  hielt  gerade  bei  ihm  jeden 
Zweifel  gegen  sein  höheres  Alter  für  sehr  unberechtigt.  Nun  ent- 
hält aber  der  Brief  eine  Stelle,  durch  die  er  selbst  die  Zeit  seines 
Ursprungs  verräth.  Es  ist  in  ihm  zuerst  das  zu  den  Apokryphen 
des  alten  Testaments  gehörende  Buch  .ludith  citirt.    Nach  den 


412  Einleitung. 

neuesten  Untersuchungen  kann  das  Buch  Judith  nur  als  eine 
verhüllte  Darstellung  von  Begebenheiten  angesehen  werden, 
die  in  die  letzten  Jahre  der  Regierung  Trajan's  fallen  und  sich 
auf  den  damaligen  grossen  Aufstand  der  Juden  beziehen.  Der 
Clemensbrief  kann  daher  nicht  vor  dem  Jahre  118  geschrieben 
sein.  Sieht  man  hieraus,  dass  man  überhaupt  solche  Schriften 
nicht  zu  hoch  hinaufsetzen  und  keine"  zu  günstige  Meinung  von 
ihrer  Ächtheit  haben  darf,  so  kann  man  unbedenklich  auch  den 
ersten  petrinischen  Brief  für  ein  Product  derselben  Zeit  halten, 
indem  man  ja  schon  bisher  ein  Hauptkriterium  darin  erkannte, 
dass  er  uns  in  dieselbe  Situation  versetzt,  die  wir  in  dem  be- 
kannten Briefe  des  Plinius  an  den  Kaiser  Trajan  0  vor  uns 
haben.  Der  Brief  Jacobi  ist  schwerlich  viel  älter  als  der  erste 
petrinische.  In  dieselbe  Periode,  die  überhaupt  nur  als  die  def 
ersten  Decennien  des  zweiten  Jahrhunderts  zu  bezeichnen  ist, 
gehören  die  synoptischen  Evangelien  mit  der  Apostelgeschichte. 

Es  lassen  sich  demnach  drei  Perioden  mit  verschiedenen 
Lehrbegriffen  unterscheiden.  In  der  ersten  stehen  sich  die  Lehr- 
begriffe des  Apostels  Paulus  und  des  Apokalyptikers  Johannes 
gegenüber,  in  die  zweite  gehören  die  Lehrbegriffe  des  Hebräer- 
briefs, der  kleinern  paulinischen  Briefe,  des  Petrus-  und  Ja- 
cobusbriefs,  der  synoptischen  Evangelien  und  der  Apostelge- 
schichte, in  die  dritte  die  der  Pastoralbriefe  und  der  johan- 
neischen  Schriften. 

Es  erhellt  von  selbst,  welche  wichtige  Bedeutung  für  die 
neutestamentliche  Theologie  die  kritischen  Untersuchungen  über 
die  Entstehungszeit  und  die  Verfasser  der  neutestamentlichen 
Schriften  haben,  wie  jede  dieser  Disciplinen  auf  die  Resultate 
der  andern  sich  stützt.  Je  weniger  sich  eine  charakteristische 
Verschiedenheit  der  Lehrbegriffe  verkennen  lässt,  um  so  ge- 


1)  Man    sehe  dos    VertaHsurh    Gescbiclitc   der   oliiiüliiuhen    Kirche  I. 
(Christenthum  dor  drei  ersten  Jahrhunderte,   1860)  f>.  436  ff. 


Eintheilnng  der  neatestamentl.  Theologie.  43 

neigter  wird  man  sein,  auch  eine  grössere  Zeilferne  zwischen  den 
sie  betreffenden  Schriften  anzunehmen,  und  je  wahrscheinlicher 
der  spätere  Ursprung  so  mancher  Schriften  ist,  um  so  weniger 
kann  die  Verschiedenheit  der  Lehrbegrilfe  befremden.  Hierin 
liegt  der  Grund,  warum  die  Gegner  der  neuesten  Kritik  gegen 
die  Resultate  derselben  sich  schon  auf  dem  Gebiete  der  neu- 
testamentlichen  Theologie  vorsehen  zu  müssen  glauben.  Es  ist 
daher  auffallend,  wie  die  neutestamentliche  Theologie  neuestens 
darin  eher  Rückschritte  als  Fortschritte  zu  machen  scheint,  dass 
man  statt  die  anerkannte  Verschiedenheit  der  Lehrbegriffe  wei- 
ter zu  verfolgen  und  genauer  zu  bestimmen,  vielmehr  alles  auf 
eine  so  viel  möglich  gleichförmige  Einheit  zurückzuführen  sucht. 
Das  Äusserste,  was  man  auf  diesem  Standpunkt  zugeben  kann, 
bleibt  immer  die  Neander'sche  Einheit  und  Mannigfaltigkeit  der 
neutestamentlichen  Lehre.  Unter  diesem  Titel  hat  kürzlich  wie- 
der J.  Köstlin  in  den  Jahrbüchern  für  deutsche  Theologie  2, 
1857,  S.  327,  dem  auf  dem  Gebiet  der  neutestamentlichen  Kritik 
und  Theologie  drohenden  Riss  zu  begegnen  gesucht.  Es  gibt, 
keine  reelle  Verschiedenheit,  sondern  nur  eine  Mannigfaltig- 
keit, und  der  Mannigfaltigkeit  wird  die  Einheit  der  Grundan- 
schauung so  überwiegend  vorangestellt,  dass  jede  Differenz  nur 
als  eine  Modification  des  Allgemeinen  und  Gemeinsamen  zu 
betrachten  ist.  Auf  der  einen  Seite  wird  zwar  der  Unterschied 
neutestamentlicher  Lehrtypen  so  betont,  dass,  wo  von  der  An- 
erkennung desselben  Umgang  genommen  wird,  eine  neutesta- 
mentliche Theologie  gar  nicht  anerkannt  werden  soll,  auf  der 
andern  Seite  soll  aber  aus  der  Einheit  folgen,  dass  auch  die 
einzelnen  Lehren,  in  welchen  sie  sich  verschieden  ausprägte, 
nicht  in  wirkliche  Gegensätze  werden  auseinandergehen  kön- 
nen. Schon  das  Leben  und  Bewusstsein  der  judenchristlichen 
apostolischen  Gemeinde  habe  den  Grundcharakter  der  neuen 
Lebensgestaltung  gehabt,  aber  innerhalb  des  Zustandes  und  Be- 
wusstseins  derer,  die  in  ihrem  Glauben  an  Christus  als  Ver- 


44  Einleitung. 

söhnte  und  Geistbegabte  sich  wissen  und  so  der  Zukunft  des 
Herrn  freudig  entgegensehen ,  haben  sich  von  selbst  verschie- 
dene mögliche  einzelne  Richtungen  und  Gestaltungen  ergeben, 
indem  einerseits  die  Gewissheit  von  dem  Heil  als  einem  schon 
mitgetheilten,  andererseits  die  Aussicht  auf  eine  noch  künftige 
Offenbarung  und  Vollendung  des  Heils  von  Anbeginn  an  in  der 
Christenheit  vorhanden  gewesen  sei.  Die  letztere  Richtung  sei 
bei  Petrus  und  Jacobus,  die  erstere  bei  Paulus  und  Johannes 
die  vorherrschende  gewesen.  Was  hierüber  weiter  gesagt  wird, 
ist  höchst  vag  und  oberflächlich.  Wenn  man  so  sehr  das  Inter- 
esse der  Einheit  hat,  so  geht  man  sehr  natürlich  über  die  Haupt- 
punkte hinweg,  auf  deren  Bestimmung  es  vor  allem  ankommt. 
Man  kann  nicht  so  schlechthin  von  der  Einheit  ausgehen;  etwas 
Gemeinsames  bleibt  freilich  immer  als  Einheit  zurück ,  ob  aber 
eine  solche,  durch  welche  alle  Gegensätze  ausgeschlossen  wer- 
den, diess  ist  die  Frage,  die  nur  durch  die  genaueste  Unter- 
suchung der  einzelnen  Lehrbegriflfe  beantwortet  werden  kann. 
Es  ist  höchst  willkürlich,  wenn  man  meint,  es  sei  überall  nur 
Einheit  und  Übereinstimmung,  und  man  habe  daher  nur  von 
einer  Einheit  und  Grundanschauung  auszugehen,  nach  welcher 
sich  alles  Andere  richten  muss.  Überflüssig  ist  es  jedoch,  dar- 
über im  Allgemeinen  weiter  zu  reden;  wie  es  sich  wirklich  mit 
der  Einheit  und  Verschiedenheit  verhält,  kann  nur  durch  die 
Darstellung  der  Lehrbegrifffe  selbst  gezeigt  werden. 


m 


Erster  Absclinltt. 

Die    Lehre    Jesu. 


Wenn  man  die  Lehre  Jesu  als  einen  eigenen  Bestandtheil 
der  neutestamentlichen  Theologie  betrachtet,  so  ist  dabei  wohl 
zu  beachten,  dass  sie  mit  den  verschiedenen  Lehrbegriffen,  in 
welche  die  neutestamentliche  Theologie  sich  theilt,  nicht  in  Eine 
Reihe  zusammengestellt  werden  kann.  Nicht  nur  findet  in  An- 
sehung der  Quellen,  auf  welchen  unsere  Kenntniss  der  Lehre 
Jesu  beruht,  das  schon  erwähnte  Verhältniss  statt,  dass  wir  bei 
den  Schriften,  an  die  wir  gewiesen  sind,  immer  wieder  fragen 
müssen ,  wie  weit  wir  uns  auf  ihre  Treue  und  Glaubwürdigkeit 
verlassen  können,  was  wir  in  so  verschiedenen  und  in  so  manchen 
wichtigen  Punkten  von  einander  abweichenden  Darstellungen  als 
das  Wahre  und  Ursprüngliche  anzusehen  haben,  sondern  es  liegt 
auch  in  der  Natur  der  Sache  selbst  ein  sehr  wesentlicher  Unter- 
schied. Die  Lehre  Jesu  ist  das  Principielle,  zu  welchem  sich 
alles,  was  den  eigentlichen  Inhalt  der  neutestamentlichen  Theo- 
logie ausmacht,  nur  als  das  Abgeleitete  und  Secundäre  verhält, 
sie  ist  die  Grundlage  und  Voraussetzung  von  allem,  was  in  die 
Entwicklungsgeschichte  des  christlichen  Bewusstseins  gehört, 
sie  ist  ebendarum  auch  das  über  alle  zeitliche  Entwicklung  Hin- 
ausliegende, ihr  Vorangehende,  Unmittelbare  und  Ursprüng- 
liche, sie  ist  überhaupt  nicht  Theologie,  sondern  Religion.  Jesus 
ist  Stifter  einer  neuen  Religion;  was  aber  das  Wesen  einer 
Religion  an  sich  ausmacht,  ist  nicht  ein  dogmatisch  ausgebildetes 
Religionssystem,  ein  bestimmter  Lehrbegriff,  es  sind  nur  Grund- 


40  Erster  Abschnitt. 

anschauungen  und  Principien,  Grundsätze  und  Vorschriften,  als 
unmittelbare  Aussagen  des  religiösen  Bewusstseins.  Auf  dieses 
Ursprüngliche  und  Unmittelbare  müssen  wir  daher  auch  hier 
zurückgehen;  alles,  was  diesen  Charakter  an  sich  Irägt,  dürfen 
wir,  je  weniger  er  sich  verkennen  lässt,  um  so  gewisser  zur 
Lehre  Jesu  rechnen,  bei  allem  Andern  dagegen,  was  schon  die 
Gestalt  eines  bestimmten  Dogma  hat,  somit  überhaupt  nicht  so- 
wohl der  Sphäre  der  Religion  als  der  der  Theologie  angehört, 
müssen  wir  immer  wieder  fragen,  ob  nicht  sich  uns  darin  nicht  so- 
wohl die  Lehre  Jesu  als  vielmehr  die  Lehrweise  der  Apostel,  ein 
bestimmter,  schon  über  die  allgemeine  Grundform  hinausgehen- 
der, in  seiner  dogmatischen  Entwicklung  begriffener  Lehrbegriff 
zu  erkennen  gibt.  Bei  jeder  neuen  Religion  kommt  vor  allem 
das  Verhältniss  in  Betracht,  in  welches  sie  sich  zu  den  bisher 
bestehenden  Religionsformen  setzt;  sie  wäre  keine  neue  Reli- 
gion, wenn  sie  sich  nicht  auch  principiell  von  ihnen  unter- 
schiede. Diess  schliesst  jedoch  keineswegs  aus,  dass  sie  nicht 
in  ihrem  Ursprung  noch  im  engsten  Zusammenhang  mit  einer 
der  ihr  zunächst  vorangehenden  sieht  und  an  ihr  erst  ihr  eigent- 
liches Princip  zum  bestimmteren  Bewusstsein  sich  entwickelt. 
Es  ist  diess  der  Punkt,  von  welchem  man  auch  bei  der  Auf- 
fassung der  Lehre  Jesu  ausgehen  muss. 

Nach  der  evangelischen  Geschichte  des  Matthäus  hätte  Jesus 
selbst  in  der  Bergrede,  nachdem  er  die  Grundstiinmung  des 
durch  ihn  geweckten  messianischen  Bewusstseins  in  allgemeinen 
emphatischen  Sätzen  Matth.  5,  3  —  16  ausgesprochen  hat,  sich 
vor  allem  über  sein  Verhältniss  zur  alttestamentlichen  Religion 
sehr  bestimmt  erklärt.  Man  solle  nicht  glauben,  dass  er  ge- 
kommen sei,  sie  aufzuheben;  so  wenig  sei  diess  seine  Absicht, 
dass  er  im  Gegentheil  nur  gekommen  sei,  das  Gesetz  und  die 
Propheten,  d.  h.  das  alte  Testament,  seinem  ganzen  Inhalt  nach 
zu  erfüllen  V.  17.  Er  hätte  sich  demnach  ganz  auf  den  Boden 
des  alten  Testaments  gestellt,   sein  Verhältniss  zu   demselben 


Die  Lehre  Jesu.     Verbal tniss  zum  A.  T.  47 

sollte  kein  destructives,  Sündern  ein  durchaus  conservatives 
sein,  so  dass  er  sogar  V.  18  die  bestimmte  Versicherung  gibt, 
bis  dass  der  Himmel  und  die  Erde  vergangen  sein  werden,  werde 
auch  nicht  ein  Jota  oder  ein  Eckchen  vom  Gesetze  vergehen, 
sw?  av  TuavTa  ysvioTai,  d.  h.  wie  man  diese  Worte  gewöhnlich 
nimmt,  bis  alle  Bestimmungen  des  Gesetzes  wirklich  vollzogen 
und  ausgeführt  sein  werden,  wobei  demnach  als  Idee  voraus- 
gesetzt werden  müsste,  dass  das  Gesetz  solange  nicht  aufgehoben 
werden  kann,  bis  es  seinem  ganzen  Inhalt  nach  zur  thatsäch- 
lichen  Wahrheit  und  Wirklichkeit  geworden  ist,  oder,  wie  die 
Worte  auch  genommen  werden  können,  bis  alles  geschehen  ist, 
was  noch  zum  gegenwärtigen  Weltlauf  gehört.  Zur  Erläuterung 
des  Hauptsatzes  wird  V.  19  gesagt:  wenn  nun  einer  eines  dieser 
kleinsten  Gebote  aufhebt  und  lehrt  so  die  Menschen,  der  wird 
ein  Kleinster  heissen  im  Himmelreich,  wer  es  aber  thut  und 
lehrt,  wird  gross  heissen.  Der  Rangunterschied  im  Gottesreich 
ist  somit  ganz  dadurch  bedingt,  in  welchem  Umfang  das  Gesetz 
mit  allen  seinen  einzelnen  Bestimmungen  mehr  oder  weniger 
beobachtet  wird.  Der  Gegensatz  zu  Xuctv  ist  roisiv;  erfüllt  und 
verwirklicht  wird  also  das  Gesetz  dadurch,  dass  man  es  hält 
und  befolgt,  diess  setzt  aber  voraus,  dass  man  es  in  seiner  fort- 
dauernden Gültigkeit  anerkennt.  An  den  Hauptsatz  V.  17,  dass 
das  Gesetz  nicht  aufgehoben,  sondern  erfüllt  und  vollkommen 
realisirt  werden  soll  durch  genaue  Beobachtung  in  allen  seinen 
Theilen ,  schliesst  sich  V.  20  die  Aufforderung  an ,  dass  diess 
demnach  erst  noch  geschehen  muss  durch  die,  die  Mitglieder  des 
neuen  Gottesreiches  werden  wollen.  „Denn  wenn  nicht  eure 
Gerechtigkeit  vorzüglicher  ist  als  die  der  Schriftgelehrten  und 
Pharisäer,  werdet  ihr  nicht  in  das  Himmelreich  eingehen."  Im 
Folgenden  wird  sodann  an  einzelnen  Geboten  gezeigt,  wiefern 
die  Gerechtigkeit  der  Jflitger  besser  sein  müsse,  als  die  der 
Pharisäer,  oder  worin  die  Erfüllung  des  Gesetzes  bestehe.  Es 
ist  nicht  genug,    dass  man  nicht  tödtet,   man  darf  auch  dem 


48  Erster  Abschnitt. 

Bruder  nicht  zürnen  V.  21—26;  nicht  blos  der  Ehebruch  ist 
verboten,  auch  schon  die  böse  Lust  ist  dem  Ehebruch  gleich  zu 
achten  V.  27  —  30.  Auch  die  Ehescheidung  gehört  in  dieselbe 
Kategorie  einer  geschärften  Forderung,  da  die  einzig  zulässige 
Bedingung  derselben  der  Fall  des  Ehebruchs  ist  V.  31.  32.  Es 
ist  ferner  nicht  genug,  nicht  falsch  zu  schwören,  man  soll 
überhaupt  nicht  schwören  V.  33  —  37.  An  die  Stelle  des  Wie- 
dervergeltungsrechts und  der  Rachesucht  trete  aufopfernde  Nach- 
giebigkeit und  Feindesliebe  V.  38—42,  und  an  die  Stelle  der 
nur  auf  den  Nächsten  beschränkten,  mit  Feindeshass  verbun- 
denen Liebe  allgemeine  auch  die  Feinde  in  sich  begreifende 
Menschenliebe  V.  43—48. 

Durchaus  ist  es  sowohl  in  diesem  Theil  der  Bergrede  als 
auch  in  dem  weitem  Inhalt  derselben  die  Reinheit  und  Lauter- 
keit der  Gesinnung,  oder  die  nicht  blos  in  der  äussern  That, 
sondern  im  Innern  der  Gesinnung  bestehende  Sittlichkeit  und 
der  jede  willkürliche  Ausnahme  und  Beschränkung,  jeden  fal- 
schen heuchlerischen  Schein,  jede  Halbheit  und  Getheiltheit 
ausschliessende  sittliche  Ernst  der  Gesetzesbefolgung,  worauf 
Jesus  mit  allem  Nachdruck  dringt,  was  er  zum  Princip  der  Ge- 
rechtigkeit oder  des  dem  Reich  Gottes  adäquaten  Verhaltens 
macht.  Da  wir  nun  alles  dicss  als  Antithese  gegen  die  mosaisch- 
pharisäische Religiosität  und  Sittlichkeit  zu  nehmen  haben,  so 
scheint  der  oberste  Grundsatz  der  Lehre  Jesu  in  ihrem  Unter- 
schied vom  Mosaismus  nur  so  bestimmt  werden  zu  können,  dass 
allein  die  Sittlichkeit  der  Gesinnung  es  ist,  was  dem  Menschen 
seinen  absoluten  sittlichen  Werth  vor  Gott  gibt.  Der  Mosaismus 
und  die  Lehre  Jesu  verhalten  sich  daher  zu  einander,  wie  Äus- 
seres und  Inneres,  wie  Werkthäligkeit  und  Gesinnung,  oder 
wie  particuläre,  sich  selbst  eine  Schranke  setzende  Sittlichkeit, 
und  allgemeine,  auf  der  ünbedingtheit  des  sittlichen  Bewusst- 
seins  beruhende. 

Wie  verhält  sich  nun  aber,  muss  man  fragen,  zu  dieser 


Die  Lehre  JesQ.     Verhältnis s  zum  A.  T.  49 

Antithese  zum  Gesetz  die  von  Jesu  behauptete  Identität  seiner 
Lehre  mit  dem  Gesetz?  Stellt  sich  Jesus  sosehr  auf  den  Boden 
des  alten  Testaments,  dass  seine  Lehre  nicht  die  Aufhebung, 
sondern  die  Erfüllung  des  Gesetzes  ist,  wie  kann  er  der  gesetz- 
lichen Gerechtigkeit  des  alten  Testaments  ein  ganz  anderes,  nur 
auf  der  Sittlichkeit  der  Gesinnung  beruhendes  Princip  gegen- 
überstellen? Und  wenn  das  ganze  sittliche  Verhalten  nur  nach 
der  Gesinnung  zu  beurtheilen  ist,  wie  stimmt  damit  zusammen, 
dass  er  nicht  blos  das  Sittengesetz,  sondern  auch  das  Ritual- 
gesetz des  Mosaismus,  selbst  mit  allen  seinen  einzelnen  Bestim- 
mungen, aufrecht  erhalten  wissen  will?  Wie  haben  wir  bei 
den  einzelnen  Geboten,  welche  Jesus  hervorhebt,  seine  Anti- 
i  these  zu  verstehen,  gilt  sie  nur  den  Satzungen  und  Deutungen 

der  Pharisäer,  oder  auch  dem  Mosaismus  selbst? 

Auf  diese  Frage  hat  man  die  Antwort  gegeben:  Die  Ver- 
vollkommnung des  Gesetzes  durch  Jesus  stelle  sich  dar  in  der 
Erweiterung  des  Gesetzes  auf  die  Norrairung  der  Gesinnung, 
nicht  aber  in  der  Forderung  eines  innerlichen  geistigen  Ver- 
haltens gegen  das  Gesetz.  Jene  neuen  Forderungen  seien  aus- 
drücklich nur  gegen  die  beschränkte  pharisäische  Deutung  des 
Gesetzes  gerichtet  und  entfernen  sich  weder  in  der  Form  noch 
in  dem  Inhalt,  soweit  Jesu  Ansicht  und  Absicht  reiche,  von 
dem  Boden  des  Gesetzes.  Jesus  habe  seine  Deutungen  implicite 
im  Buchstaben  des  Gesetzes  enthalten  gesehen.  Bei  dieser  sich 
ganz  von  selbst  verstehenden  Idealisirung  des  Gesetzes  sei  durch 
die  neuen  Bestimmungen  Jesu  nicht  nur  die  Form,  sondern  auch 
der  materielle  Inhalt  des  Gesetzes  erhalten  worden.  Es  sei  so- 
mit eine  falsche  Ansicht,  dass  Jesus  eine  Vervollkommnung  des 
Sittengesetzes  beabsichtigt,  dagegen  sich  von  der  Anerkennung 
des  Ritualgesetzes  abgewendet  habe.  Offenbar  sei  die  letztere 
in  der  Behauptung  ausgedrückt,  dass  auch  die  geringfügigsten 
Gesetzesbestimmungen  nicht  vor  dem  Weltende  aufgehoben  wer- 
den sollen.    V.  20  sei  unter  der  ^ixaio(;uvYi  nicht  das  Resultat 

Baur,  neatest.  Theol.  .  * 


50  Erster  Abschnitt. 

des  subjectiven  Verhaltens  zum  Gesetz  zu  verstehen.  Der  Unter- 
schied zwischen  den  beiden  Formen  der  Gerechtigkeit,  der 
pharisäischen  und  der  wahren,  liege  nicht  in  der  verschiedenen 
Form  des  subjectiven  Verhaltens,  sondern  in  objectiven  materiel- 
len Bestimmungen.  Diess  wird  an  den  einzelnen  Geboten  so 
nachgewiesen:  V.  21  dehne  Jesus  das  mosaische  Verbot  des 
Tödtens  auf  jede  Art  und  jede  Äusserung  des  ÜbelwoUens  und 
Zornes  aus,  und  erkläre  die  Strafbarkeit  des  Zorns  für  ebenso 
gross,  als  nach  pharisäischer  Satzung  die  des  Todschlags  selbst 
sein  sollte.  Die  hierin  liegende  Anleitung  zu  einer  Gerechtig- 
keit, welche  grösser  sei,  als  die  pharisäische,  werde  also  nicht 
dadurch  gegeben,  dass  ein  anderes  Verhalten  gegenüber  dem 
Gebot  vorgeschrieben  werde,  sondern  dadurch,  dass  das  Gesetz 
auf  die  Normirung  der  Gesinnung  ausgedehnt  werde.  Nicht  der 
Gegensatz  von  Geist  und  Buchstaben  stelle  sich  hier  dar,  sondern 
ihre  Einheit.  Mit  dem  Grundsatz,  welcher  eirte  geistige  Ver- 
vollkommnung des  Gesetzes  mit  der  Erhaltung  der  unbedeutend- 
sten Gebote  verbinde,  sei  nur  die  Thatsache  vereinbar,  dass 
Jesus  die  Gesinnung  nicht  als  subjective  Fähigkeit  der  Gesetzes- 
erfüllung in's  Auge  fasse,  sondern  als  ein  Gebiet,  auf  dessen 
Normirung  das  von  den  Pharisäern  nur  in  beschränktem  Sinne 
verstandene  Gesetz  ausgedehnt  werden  müsse.  Ebenso  werde 
V.  43  in  deutlicher  Antithese  gegen  die  Pharisäer,  welche  aus 
dem  Gebot  der  Nächstenliebe  die  Pflicht  des  Feindeshasses  fol- 
gerten, das  mosaische  Gebot  zu  dem  Gebot  der  allgemeinen 
Liebe  auch  gegen  die  Feinde  erweitert. 

So  aufgefasst  wäre  demnach  der  ganze  Unterschied  zwi- 
schen der  Lehre  Jesu  und  dem  Gesetz  oder  dem  alten  Testament 
nur  quantitativ  nicht  qualitativ  zu  nehmen.  Es  wird  kein  neues 
Princip  aufgestellt,  sondern  es  werden  nur  die  schon  im  Gesetz 
enthaltenen  sittlichen  Bestimmungen  auf  die  ganze  Sphäre  des 


1)  Bitschi,  die  Entstehung  der  altkathol.  Kirche,  1850.  S.  34  f. 
i 


Die  Lehre  Jesu.     Verhältniss  zum  A.  T.  51 

sittlichen  Gebietes  bezogen,  das  unter  ihren  Gesichtspunkt  zu 
stellen  ist.  Aus  diesem  Grunde  werden  die  willkürlichen  Aus- 
nahmen und  Beschränkungen,  welche  die  Pharisäer  machten, 
mit  allem  Nachdruck  zurückgewiesen.  Es  wird  dem  Gesetz  nur 
zurückgegeben,  was  ihm  nie  hätte  entzogen  werden  sollen,  die 
Erweiterung  und  Verallgemeinerung,  deren  es  an  sich  fähig  ist, 
wird  ausdrücklich  auch  ausgesprochen.  Bei  dem  Ausdruck 
äp^^aioi  ist  nicht  an  die  Zeitgenossen  des  Moses  zu  denken,  son- 
dern er  ist  auf  vergangene  Generationen  überhaupt  zu  beziehen, 
welche  schon  unter  der  Obhut  pharisäischer  Satzungen  standen. 
Diese  Auffassung  der  Bergrede  wird  dadurch  unterstützt,  dass 
immer  nur  von  einzelnen  Geboten  die  Rede  ist,  um  ihnen  die 
dem  ursprünglichen  Sinn  des  Gesetzes  oder  dem  sittlichen  Be- 
wusstsein  entsprechende  Bedeutung  zu  geben.  Das  Allgemeine 
wird  so  zwar  nie  ausdrücklich  ausgesprochen,  wenn  aber  die 
einzelnen  Bestimmungen,  in  welchen  die  Erfüllung  des  Gesetzes 
besteht,  immer  wieder  darauf  zurückkommen,  dass  dem  Äussern 
das  Innere,  der  blossen  That  als  solcher  die  Gesinnung  als  das 
gegenübergestellt  wird,  was  allein  dem  Thun  des  Menschen 
seinen  wahren  sittlichen  Werth  gibt,  so  ist  diess  nichts  anderes  als 
eiq  vom  Mosaismus  wesentlich  verschiedenes  Princip.  Es  ist  ein 
neues  Princip  schon  sofern  das ,  was  das  Gesetz  zwar  auch  ent- 
hält, aber  nur  an  sich,  nun  ausdrücklich  zur  Hauptsache  ge- 
macht wird.  Man  kann  daher  nicht  sagen,  der  Fortschritt  bestehe 
blos  in  der  Erweiterung  des  Gesetzes  auf  die  Normirung  der 
Gesinnung,  die  Natur  der  Sache  bringt  es  von  selbst  mit  sich, 
dass  die  quantitative  Erweiterung  ein  qualitativer  Gegensatz  wird, 
es  wird  dem  Äussern  das  Innere,  der  Thal  die  Gesinnung,  dem 
Buchstaben  der  G^ist  entgegengesetzt.  Diess  ist  das  wesentliche 
Princip  des  Christenthums,  und  in  diesem  Dringen  auf  die  Ge- 
sinnung als  das  Eine,  worin  der  absolute  sittliche  Werth  des 
Menschen  besteht,  ist  es  ein  wesentlich  neues.  Dass  der  Gegen- 
satz nicht  ausdrücklich  ausgesprochen  ist,  dass  die  Forderung, 

4* 


gif$,  Erster  Abtclinitt. 

in  welche  die  Vollendung  des  Gesetzes  gesetzt  wird ,  immer  nur 
an  einzelnen  Geboten  gemacht  wird,  kann  uns  nicht  hindern, 
auf  die  allgemeine  sittliche  Anschauungsweise,  die  dabei  zu 
Grunde  liegt,  zurückzugehen,  und  die  in  verschiedenen  Formen 
sich  wiederholende  Forderung  in  ihrem  Princip  aufzufassen.  Ist 
aber  die  Gesinnung  das  höchste  sittliche  Princip,  so  liegt  darin 
von  selbst,  dass  nicht  nur  das  Sittliche  der  That  von  dem  Sitt- 
lichen der  Gesinnung,  sondern  auch  das  Ritualgesetz  von  dem 
Sittengesetz  unterschieden  wird.  Wo  wird  aber,  muss  man 
fragen,  diese  Unterscheidung  in  der  Bergrede  gemacht,  wenn 
Jesus,  so  hoch  er  die  sittliche  Gesinnung  stellt,  doch  zugleich 
die  bis  an  das  Ende  der  Welt  fortdauernde  Gültigkeit  aller  und 
jeder  Gesetzesbestimmungen,  somit  auch  aller  Ritualgeselze  aufs 
Bestimmteste  behauptet?  Bedenkt  man,  wie  kurze  Zeit  nachher 
.das  ganze  Ritualgesesetz  seine  Bedeutung  verlor,  und  wie 
wesentlich  dadurch  die  ganze  Entwicklung  des  Christenthums 
bedingt  war,  so  isl  klar,  dass  der  Ausspruch  seinem  wörtlichen 
Sinne  nach  auf  keine  Weise  in  Erfüllung  gieng,  vielmehr  das 
gerade  Gegentheil  stattfand.  Sollen  wir  daher  annehmen,  Jesus 
habe  damals,  als  erjenen  Ausspruch  that,  selbst  noch  kein 
klares  und  bestimmtes  Bewusstsein  des  eigentlichen  Princips 
und  Geistes  seiner  Lehre  gehabt,  oder  ist  es  möglich,  demselben 
eine  Deutung  zu  geben,  mit  welcher  sich  auch  der  principielle 
Unterschied  seiner  Lehre  vom  alten  Testament  vereinigen  lässt? 
Das  erstere  liegt  in  der  Behauptung  Ritschi 's  Qi.  A.  S.  30), 
Jesus  habe  keineswegs  die  directe  Absicht  gehabt,  das  Ritual- 
gesetz abzuschaffen,  man  dürfe  sich  ihn  nicht  in  dem  Sinn  als 
neuen  Gesetzgeber  denken,  wie  er  einer  spätem  vom  Juden- 
thum  losgerissenen  christlichen  Anschauung  erscheine,  er  habe 
sich  lediglich  in  der  dem  Begriff  des  Gesetzes  wesentlich  eigen- 
thümlichen  Vereinzelung  der  Gebote  gehalten,  und  die  beab- 
sichtigte Vollendung  des  Gesetzes  nicht  durch  allgemeine  Re- 
flexionen, sondern  durch  schlagende  Folgerungen  eingeprägt, 


I 


f 


Die  Lehre  Jesu.     Verhältniss  zum  A.  T.  53 

er  habe  überhaupt  die  einzelnen  Postulale  der  vollkommenen 
Gerechtigkeit  nicht  unter  ein  Princip  gestellt.  Diess  kann  jedoch, 
wie  schon  gezeigt  worden  ist,,  nicht  behauptet  werden;  das 
Verhältniss,  in  das  Jesus  seine  Lehre  zum  alten  Testament  setzt, 
lässt  sich  nicht  als  ein  Mos  quantitatives  auffassen,  es  wider- 
streitet diess  der  Natur  der  Sache  und  lässt  sich  auch  mit  mehre- 
ren der  Erklärungen,  welche  Jesus  über  die  Gebote  des  Mosais- 
mus  gibt,  nicht  vereinigen.  Wenn  Jesus  dem  mosaischen 
Rechtsgrundsatz  der  Wiedervergeltung  V.  38  die  Aufforderung 
zur  Nachgiebigkeit  entgegenstellt,  V.  33  nicht  blos  den  Meineid, 
sondern  den  Eid  schlechthin  verbietet,  so  ist  diess  keine  quan- 
titative Erweiterung,  sondern  das  gerade  Gegentheil.  Soll  also 
Jesus  mit  dem  Ausspruch  5,  17—19  nicht  etwas  offenbar  Un- 
richtiges und  thatsäöhlich  sich  selbst  Aufhebendes  behauptet 
haben,  so  kann  er  nicht  von  dem  Buchstaben,  sondern  nur  vom 
Geiste  des  Gesetzes  verstanden  werden.  In  diesem  Sinne  sagt 
z.  B.  de  Wette,  beziehe  man  Xusiv  V.  19  wie  xaTaXusiv  und 
irXYipöoai  auf  den  Geist  des  Gesetzes ,  und  denke  man  dieses  als 
ein  organisches  Ganzes,  in  welchem  alles  Bedeutung  habe,  so 
verschwinde  die  Schwierigkeit,  auch  dem  geringsten  der  Gebote 
müsse  sein  Recht  geschehen  und  die  Idee,  zu  deren  Darstellung 
es  gehöre,  bewahrt  und  vollkommener  verwirklicht  werden.  Es 
fragt  sich  nur,  wie  sich  diess  mit  den  Worten  Jesu  in  Einklang 
bringen  lässt.  In  dieser  Beziehung  sagt  Ritschi  2.  A.  S.  36  f.: 
es  handle  sich  V.  17  nicht  um  das  Gesetz  allein,  sondern  um 
die  Einheit  von  Gesetz  und  Propheten,  also  um  die  Fortentwick- 
lung des  Gesetzes  durch  die  Propheten,  die  darin  bestehe,  dass 
die  Propheten  durch  Aufstellung  des  Zweckes  der  Gerechtigkeit 
die  sittlichen  Gebote  aus  derjenigen  Verbindung  lösen,  in  welcher 
sie  mit  den  Ritualgesetzen  durch  den  Zweck  der  Heiligkeit  zu- 
sammengehalten waren.  Jesus  meine  also  das  Gesetz  in  seiner 
Fortbildung  und  Auslegung  durch  die  Propheten  unter  dem 
Zwecke  der  Gerechtigkeit,  worin  eben  die  Auseinandersetzung 


54  Erster  Abschnitt. 

des  sittlichen  und  des  rituellen  Inhalts  eingeschlossen  sei, 
an  den  letztern  werde  gar  nicht  gedacht.  Die  Vorhersagung 
Jesu  V.  18  könne  sich  nur  auf  den  v6[/,oi;  TuV/iptoOel?  beziehen, 
auf  das  für  das  Gottesreich  geltende  Gesetz,  wie  es  aus  den 
Händen  Jesu  hervorgegangen  sein  werde,  in  Gemässheit  seiner 
Aufgabe,  die  fortbildende  Auslegung  des  Gesetzes  durch  die 
Propheten  im  Sinne  der  Gerechtigkeit  zu  vollenden.  Unter  den 
kleinsten  Geboten  seien  gerade  die  für  das  Gottesreich  charak- 
teristischen zu  verstehen,  solche  scheinbar  unbedeutende  und 
kleinliche  Vorschriften,  von  welchen  er  nachher  in  Anknüpfung 
an  die  mosaisclien  Gebote  Proben  gebe.  Indem  Jesus  Gesetz 
und  Propheten,  sofern  sie  im  Ganzen  die  Bestimmung  der  mensch- 
lichen Gerechtigkeit  ausprägen,  als  Grundlage  des  von  ihm  zu 
entwickelnden  vollendeten  Gesetzes  anerkenne  und  bestätige, 
löse  er  doch  einzelne  ihrer  Bestimmungen  auf,  in  denen  sich 
gerade  ihre  UnvoUkommenheit  und  ihr  Bedürfniss  nach  Voll- 
endung kund  gebe.  Wenn  Jesus  Matth.7, 12  das  formale  Princip 
der  Gerechtigkeit  ausspreche,  wenn  er  ferner  Matth.  22,  40  das 
materiale  Princip  der  Gerechtigkeit  in  den  mosaischen  Geboten 
der  Liebe  zu  Gott  und  zu  dem  Nächsten  nachweise,  so  könne  er 
auch  Matth.  5,  17  nur  in  dem  Sinn,  dass  die  Bedeutung  und  der 
Werth  von  Gesetz  und  Propheten  als  Einheit  an  diesen  Geboten 
hafte,  Gesetz  und  Propheten  als  die  Grundlage  seiner  vollendeten 
Gesetzgebung  gemeint  und  in  dieselbe  eingeschlossen  haben, 
nicht  aber  sofern  das  Gesetz  eine  Summe  einzelner  Gebote  sei, 
von  welchen  manche  doch  dem  Princip  der  Gerechtigkeit  nicht 
entsprechen.  Das  organische  Verhältniss  der  Gesetzgebung  Jesu 
zu  der  des  Moses  stelle  sich  gerade  darin  am  deutlichsten  dar, 
dass  er  die  Gebote  der  Gottes-  und  Menschenliebe  aus  ihrer  Ver- 
einzelung befreie  und  zur  Geltung  als  Princip  des  Gesetzes  er- 
hoben habe;  und  wenn  er  solche  Verordnungen  erlasse,  welche 
die  entsprechenden  mosaischen  ausschliessen ,  so  sei  der  Grund 
der )  dass  diese  dem  Princip  der  Liebe  nicht  folgen ,  Jesus  aber 


Die  Lehre  Jesu.     Verhältniss  zum  A.  T.  55 

die  Folgerungen  aus  dem  Gebot  der  Liebe  zu  Gott  und  den 
Menschen  entwickele,  ohne  dieses  selbst  direct  zu  bezeichnen. 
S.  36—46.  Es  wäre  also  mit  Einem  Worte  der  Ausspruch  Jesu 
V.  17  f.  nicht  vom  Buchslaben,  sondern  nur  vom  GTeist  des  Ge- 
setzes zu  verstehen.  Allein  eine  Deutung,  welche  diess  in  den 
Worten  Jesu  selbst  finden  will,  bleibt  immer  eine  sehr  künst- 
liche und  gezwungene,  es  lässt  sich  die  Schwierigkeit  nicht 
beseitigen,  dass  gerade  das  nicht  wörtlich  genommen  werden 
soll,  was  Jesus  selbst  nach  seiner  ausdrücklichen  Erklärung  im 
wörtlichsten  Sinn  genommen  wissen  will.  Wäre  eine  solche 
Deutung  zulässig,  so  könnte  man  ebenso  gut  sagen,  der  Aus- 
spruch Jesu  sei  nicht  von  der  Beibehaltung,  sondern  von  der 
Aufhebung  des  dem  Geiste  seiner  Lehre  widerstreitenden  Ritual- 
gesetzes zu  verstehen,  und  könne  daher  nur  in  dem  seinem 
Wortlaut  gerade  entgegengesetzten  Sinn  genommen  werden. 
Da  nun  Jesus  ebenso  wenig  das  Ritualgesetz  bestätigt,  als  auf 
der  andern  Seite,  wenn  er  es  nicht  bestätigen  wollte,  sich  über 
die  forldauernde  Geltung  des  Gesetzes  auf  solche  Weise  ausge- 
sprochen haben  kann,  so  bleibt  nur  die  Annahme  übrig,  dass 
der  ihm  beigelegte  Ausspruch  erst  in  der  Relation  des  Evange- 
listen eine  judaistische  Fassung  erhalten  hat,  in  welcher  er  nicht 
aus  dem  Munde  Jesu  gekommen  ist.  Es  hängt  diess  mit  dem 
judaistischen  Charakter  des  Matthäusevangelium  zusammen.  Wie 
dieses  Evangelium  Jesum  gleich  anfangs  mit  einem  förmlichen 
Programm  seiner  öffentlichen  Thätigkeit  auftreten  lässt-,  so 
konnte  man  es  sich  nach  judaistischer  Anschauung  auch  nicht 
anders  denken,  als  dass  er  von  vorn  herein  auch  die  fortdauernde 
absolute  Geltung  des  mosaischen  Gesetzes  ausdrücklich  zuge- 
sichert habe.  Hätte  Jesus  wirklich  die  Absicht  gehabt,  sich  über 
sein  Verhältniss  zum  alten  Testament  so  principiell  auszu- 
sprechen, wie  er  bei  Matthäus  thut,  so  hätte  er  unmöglich  ein 
für  die  Zukunft  so  wichtiges  Gebot,  wie  das  der  Beschneidung, 
so  völlig  unberücksichtigt  lassen  können.    Da  darüber  nichts 


56  Erster  Abschnitt. 

sich  findet,  so  kann  man  daraus  nur  den  Schluss  ziehen,  dass 
er  überhaupt  keine  allgemeine  Erklärung  dieser  Art  gegeben 
hat.  Um  daher  zu  bestimmen,  in  welches  Verhältniss  Jesus  sich 
und  seine  i.ehre  zum  alten  Testament  gesetzt  habe,  kann  man 
sich  nur  an  die  in  der  evangelischen  Geschichte  darauf  sich  be- 
ziehenden Ausspräche  Jesu  halten. 

Die  erste  Stelle  dieser  Art  ist  Matth.  8,  1  fF.,  wo  Jesus  dem 
geheilten  Aussätzigen  befiehlt,  sich  dem  Priester  zu  zeigen  und 
das  von  Moses  verordnete  Geschenk  darzubringen.  Diese  Stelle 
betrifft  aber  im  Grunde  nur  die  Beobachtung  einer  polizeilichen 
Vorschrift.  Wichtiger  ist,  wie  er  sich  über  das  Sabbathsgebot 
äusserte,  als  es  seine  Jünger  durch  Ausraufen  von  Ähren  ver- 
letzt zu  haben  schienen  und  er  selbst  durch  Heilung  eines  Ge- 
brechlichen denselben  Vorwurf  sich  zuzog.  Matth.  12,  1  ff.  und 
9  ff.  Wenn  er  in  der  ersten  Stelle  seine  rechtfertigende  Erklä- 
rung mit  den  Worten  schloss,  dass  des  Menschen  Sohn  Herr  des 
Sabbaths  sei,  und  in  der  zweiten  es  als  eine  allgemein  zuge- 
standene Wahrheit  betrachtete,  dass  man  auch  am  Sabbath  Gutes 
thun  dürfe,  so  erhellt  hieraus,  dass  er  nicht  nur  das  Sabbaths- 
gebot für  kein  schlechthin  verbindliches  hielt,  sondern  über- 
haupt die  Beobachtung  solcher  Gebote  von  der  höhern  Frage 
abhängig  machjte,  ob  sie  der  Idee  des  sittlich  Guten  und  Zweck- 
mässigen entsprechen.  Noch  bestimmter  ist  diess  bei  Marcus 
2,  27  in. den  Worten  enthalten,  der  Sabbath  sei  um  des  Menschen 
willen  da,  nicht  der  Mensch  wegen  des  Sabbaths.  Als  die  Phari- 
säer Matth.  15,  1  f.  daran  Anstoss  nahmen,  dass  die  Jünger  die 
traditionelle  Händewaschung  vor  dem  Essen  unterliessen ,  hielt 
ihnen  Jesus  nicht  blos  entgegen,  dass  durch  die  pharisäischen 
Satzungen  die  Beobachtung  des  eigentlichen  Gesetzes  heuch- 
lerisch verkürzt  werde,  sondern  er  rief  auch  das  Volk  herbei 
und  erklärte  vor  demselben,  dass  nichts  was  von  aussen  in  den 
Menschen  eingehe,  sondern  nur  was  von  ihm  ausgehe,  ihn  ver- 
unreinige.   Hiemit  erklärte  er  überhaupt  die  Beobachtung  der 


Die  Lebre  Jesn.     Verhftitniss  znm  A.  T.  57 

mosaischen  Reinigkeitsgesetze  für  etwas  sittlich  Indifferentes; 
unrein  wird  der  Mensch  nicht  durch  das,  was  ihn  äusserlich 
berührt,  sondern  nur  innerlich,  wenn  er  in  die  Motive  seines 
Willens  etwas  aufnimmt,  was  für  ihn  die  Ursache  einer  Sünde 
wird.  Wenn  er  Matth.  19,  8.  die  mosaische  Erlaubniss  der  Ehe- 
scheidung nur  aus  einer  Nachsicht  gegen  die  Herzenshärtigkeit 
der  Juden  ableitete,  so  erklärte  er  auch  damit,  dass  das  Gesetz 
in  seinen  Augen  nur  eine  sehr  relative  Geltung  habe.  Solche 
Stellen,  wie  die  hier  angeführten,  bezeugen  es  klar,  dass  er 
dem  mosaischen  Gesetz  keine  absolut  bindende  Auctorität  zuer- 
kannte. Auf  der  andern  Seite  aber  hat  er  sich  au&h  nie  über 
die  Aufhebung  desselben  im  Ganzen  und  seine  für  den  Glauben 
an  ihn  nicht  mehr  fortbestehende  Gültigkeit  ausgesprochen. 
Wenn  er  es  auch  mit  einzelnen  Bestimmungen  nicht  sehr  genau 
nahm  und  sich  freier  über  sie  äusserte,  so  ist  man  doch  nicht 
berechtigt,  daraus  eine  auf  das  Gesetz  im  Ganzen  sich  beziehende 
Folgerung  zu  ziehen,  da  bei  solchen  Bestimmungen  immer  auch 
wieder  die  so  Vieles  zum  Gesetz  hinzusetzende  pharisäische 
Praxis  in  Betracht  kam,  mit  welcher  er  in  keinem  Fall  sich  ein- 
verstanden erklären  konnte.  Aber  auch  selbst  gegen  diese  hat 
er  sich  nicht  so  schlechthin  verneinend  ausgesprochen,  wie  man 
erwarten  sollte.  Er  hat  nicht  nur  nie  das  Volk  geradezu  aufge- 
fordert, die  pharisäischen  Satzungen  zu  verlassen  und  sich  nur 
auf  die  Beobachtung  des  Gesetzes  zu  beschränken,  sondern  sich 
bisweilen  auch  so  geäussert,  wie  wenn  es  auch  für  die  Zukunft 
bei  der  einmal  bestehenden  Praxis  verbleiben  sollte.  Matth.  6, 17 
setzt  er  das  Fasten  ganz  in  der  Weise  voraus,  wie  es  von  den 
Pharisäern  geübt  wurde ,  und  verwarf  nur  die  dabei ,  wie  beim 
Gebet  und  Almosengeben,  sich  bemerklich  machende  heuchleri- 
sche Ostentation  der  Pharisäer.  Matth.  23,  1  ff.  erklärt  er  das 
Volk  sogar  für  verpflichtet,  allen  Geboten  der  Pharisäer  Folge 
zu  leisten,  wenn  auch  nicht  ihrem  Beispiel.  In  dieser  Haupt- 
stelle seiner  Polemik  gegen  die  Pharisäer  sagt  er  gleichwohl 


fi8  Erster  Abschnitt. 

von  ihnen  und  den  Schriflgelehrten ,  dass  sie  auf  der  Kathedra 
des  Moses  sitzen,  seinem  Lehrer-  und  Gesetzgeber-Stuhl,  und 
das  Volk  und  seine  Jünger  sollen  alles,  was  sie  sagen,  dass  sie 
beobachten  sollen,  beobachten  und  thun.  V.  23  heisst  er  sie 
das  Wichtigere  des  Gesetzes,  alles,  was  sich  auf  die  Gerechtig- 
keit im  Entscheiden  über  Recht  und  Unrecht,  die  Barmherzig- 
keit und  die  Treue  und  Redlichkeit  betrifft,  thun,  aber  auch  die 
kleinlichen  Vorschriften  der  pharisäischen  Genauigkeit  und  Ge- 
setzesbeobachtung nicht  unterlassen.  Demungeachtet  bezeichnet 
er  in  derselben  Stelle  die  Satzungen  der  Pharisäer  als  schwere 
und  unerträgliche  Lasten ,  und  im  Gegensatz  gegen  die  Phari- 
säer sagt  er  Matth.  15,  13,  jede  Pflanze,  die  sein  himmlischer 
Vater  nicht  gepflanzt  habe,  werde  mit  der  Wurzel  ausgerissen 
werden,  die  Pharisäer  selbst  erklärt  er  für  Blinde,  welche  das 
blinde  Volk  in's  Verderben  führen.  Nimmt  man  alle  diese  zum 
Theil  sehr  verschieden  lautenden  Erklärungen  zusammen,  so 
kann  man  aus  ihnen  nur  den  Schluss  ziehen,  dass  er  zwar  in 
einzelne  seiner  Aussprüche  genug  hineinlegen  wollte,  was  einen 
principiellen  Gegensatz  nicht  blos  gegen  die  Satzungen  der  Pha- 
risäer, sondern  auch  gegen  die  fortdauernde  absolute  Geltung 
des  Gesetzes  begründen  konnte,  dass  er  aber,  statt  es  zu  einem 
offenen  Bruche  kommen  zu  lassen,  die  weitere  Entwicklung 
des  an  sich  und  thatsächlich  schon  vorhandenen  Gegensatzes 
dem  Geiste  seiner  Lehre  überliess,  der  von  selbst  dazu  führen 
musste. 

Es  findet  hier  der  Ausspruch  seine  Anwendung,  welchen 
Jesus  zur  Beantwortung  der  Frage  that,  die  nach  Matth.  9,  14 
die  Johannisjünger,  nach  Luc.  5,  33  die  Pharisäer  an  ihn  mach- 
ten, warum  seine  Jünger  nicht  ebenso  oft  fasten,  wie  die  Pha- 
risäer. Niemand,  sagt  er  Matth.  9,  16  f.,  setzt  einen  Flicklappen 
ungewalkten  Zeugs  auf  ein  altes  Kleid,  denn  die  Ergänzung, 
die  man  mit  dem  Flicklappen  macht,  nimmt  vom  Kleide  hinweg 
und  der  Riss  wird  nur  um  so  schlimmer,  noch  auch  giesst  man 


Die  Lehre  Jesu.    Verhftltniss  zum  A.  T.  59 

neuen  Wein  in  alte  Schläuche,  sonst  reissen  die  Schläuche,  und 
der  Wein  fliesst  aus,  und  die  Schläuche  gehen  zu  Grunde,  son- 
dern man  giesst  neuen  Wein  in  neue  Schläuche  und  so  werden 
beide  erhalten.  Der  Ausspruch  kann  nur  von  der  Unverträg- 
lichkeit des  Geistes  der  neuen  Lehre  mit  dem  der  alten  ver- 
standen werden.  Wer  die  pharisäischen  Fastenübungen  noch 
so  genau  beobachten  zu  müssen  glaubt,  und  doch  in  der  neuen 
Lehre  schon  ein  neues  Princip  in  sich  aufgenommen  hat,  wird, 
je  enger  er  beides  in  sich  zusammenhalten  will,  nur  in  einen 
um  so  grössern  Zwiespalt  mit  sich  selbst  kommen,  es  wird  in 
seinem  religiösen  Bewusstsein  ein  immer  grösserer  Riss  ent- 
stehen, er  kann  das  Alte  nicht  festhalten,  weil  das  Neue,  das 
er  schon  in  sich  hat,  es  von  selbst  von  sich  abstösst.  Wozu 
also  die  pharisäischen  Fastenübungen,  wenn  man  im  Geiste 
schon  darüber  hinaus  ist,  auf  einem  andern  Standpunkt  des 
religiösen  Bewusstseins  steht?  Der  neue  Wein  gehört  auch  in 
neue  Schläuche,  man  kann  den  Geist  der  neuen  Lehre  nicht 
in  ein  Gefäss  der  alten  niederlegen,  er  wird  von  selbst  das  alte 
Gefäss  zersprengen  und  sich  eine  neue  Form  schaffen.  Hiemit 
hätte  also  Jesus  selbst  den  principiellen  Gegensatz  seiner  neuen 
Lehre  gegen  die  alte  ausgesprochen,  und  es  wäre  aus  diesem 
Ausspruch  zu  sehen,  dass  er,  wenn  er  gleich  selbst  dasselbe 
that,  auch  den  neuen  Wein  noch  in  die  alten  Schläuche  legte, 
sofern  er  mit  dem  gesetzlichen  und  traditionellen  Judenthum 
nicht  principiell  brach,  doch  das  Bewusstsein  dieses  principiellen 
Gegensatzes  hatte,  und  wenn  gleich  er  nicht  blos  den  substan- 
ziellen  Inhalt  des  Gesetzes  unversehrt  erhalten  wissen  wollte, 
sondern  auch  so  viel  möglich  an  die  alten  traditionellen  Formen 
sich  hielt,  diess  doch  nur  mit  dem  bestimmten  Bewusstsein  that, 
dass  der  neue  Inhalt  bald  genug  die  alte  Form  zerbrechen 
werde.  Es  kommt  daher  bei  dem  öfters  missverstandenen ,  zur 
richtigen  Beurtheilung  des  ursprünglichen  Standpunkts  Jesu 
sehr  wichtigen  Ausspruch  nur  noch  darauf  an,  dass  man  oOSel? 


l 


60  ;T.<'  Erster  Abschnitt. 

im^oiXkti  u.  s.  w.  und  oüSe  ßa>.Xotj(ytv  u.  s.  w.  nicht  so  versteht, 
wie  wenn  damit  gesagt  werden  sollte,  niemand  thue  diess,  so 
dass  Jesus  damit  gesagt  hätte,  man  thue  etwas  nicht,  was  er 
doch  selbst  that,  sondern  nur,  wenn  es  jemand  thue,  wie  diess 
ja  öfters  geschieht,  und  in  so  vielen  Fällen  nicht  anders  ge- 
schehen kann,  so  werde  es  der  Natur  der  Sache  nach  und  mit 
innerer  Nothwendigkeit  nicht  anders  gehen  können,  als  Jesus 
in  diesen  Worten  sagt. 

'.  Wie  Jesus  in  seiner  Stellung  zum  alten  Testament  sowohl 
in  seinem  affirmativen  Verhältniss  zum  Gesetz  als  auch  in  dem 
polemischen  zum  Pharisäismus  alles,  was  dem  Menschen  seinen 
sittlich-religiösen  Werth  gibt,  einzig  in  die  Gesinnung  legt,  so 
ist  es  überhaupt  die  Gesinnung,  das  unmittelbare  in  seiner  im- 
manenten Wahrheit  sich  aussprechende  Bewusstsein  des  Men- 
schen, worauf  im  ganzen  Inhalt  der  Bergrede  alles  zurückge- 
führt wird.  Die  Gesinnung  soll  rein  und  lauter,  von  aller 
Selbstsucht  frei,  das  ganze  Bewusstsein  des  Menschen  auf  das 
Eine,  worin  er  seinen  absoluten  Inhalt  erkennt,  gerichtet  und 
über  alles  erhaben  sein,  was  ihn  nur  an  die  niedrige  Sphäre 
seiner  sinnlichen  Existenz  mit  ihren  Sorgen  und  Bedürfnissen 
knüpft.  Das  Innere  ist  es  allein,  wornach  aller  Werth  des 
Äussern  zu  beurtheilen  ist,  nur  wenn  die  Gesinnung  in  ihrer 
Wurzel  gut  ist,  kann  auch  etwas  an  sich  Gutes  als  Frucht  aus 
ihr  hervorgehen.  Besonders  bemerkenswerth  sind  die  Aus- 
sprüche Matth.  6,  19—24.  7,  12.  Wenn  er  in  der  ersten  Stelle 
Schätze  sammeln  heisst  nicht  auf  der  Erde,  sondern  im  Himmel, 
weil,  wo  der  Schatz  ist,  auch  das  Herz  ist,  und  das  Herz  nicht 
sowohl  da  als  dort  sein  kann,  indem  ja  niemand  zwei  Herrn 
dienen  kann,  Gott  und  dem  Mammon,  so  ist  in  dieser  Ungetheilt- 
heit  des  Herzens  die  Absolutheit  des  christlichen  Standpunkts 
ausgesprochen,  der  jede  Halbheit,  jede  Trennung  und  Schranke 
von  sich  ausschliesst.  Die  zweite  Stelle  enthält  den  bekannten 
Ausspruch:  Alles,  was  ihr  wollt,  dass  euch  die  Leute  thun,  das 


Die  Lehre  Jesu.     Sittl.  Gruadansohaanng.  61 

thut  ihr  ihnen  auch,  das  ist  der  Hauptinhalt  des  Gesetzes  und 
der  Propheten.  Man  hat  diesem  Ausspruch  schon  öfters  die 
Bedeutung  eines  Princips  der  christlichen  Sittenlehre  gegeben. 
Dagegen  sagt  Neander  0*.  Gewiss  habe  Christus  hier  kein 
Princip  der  Sittlichkeit  geben  wollen,  das  würde  mit  dem  gan- 
zen Geiste  und  den  leitenden  Ideen  der  Bergrede  in  Wider- 
spruch stehen,  denn  diese  weise  ja  überall  auf  den  Sitz  der  wahren 
Sittlichkeit  in  der  Gesinnung  hin.  In  dieser  Norm  aber  sei  nur 
von  dem  äusserlichen  materiellen  Handeln  die  Rede,  welches 
von  verschiedener  Gesinnung  ausgehen  könne;  es  könnte  diess 
ja  eine  Klugheitsregel  der  Selbstsucht  werden,  Andern  erwei- 
sen, was  man  von  ihnen  wieder  erwiesen  zu  haben  wünscht. 
Es  ist  diess  eine  sehr  einseitige  und  beschränkte  Auffassung 
dieses  Ausspruchs.  Er  hat  insofern  eine  principielle  Bedeutung, 
als  das  Absolute  des  christlichen  Bewusstseins  vor  allem  darauf 
beruht,  dass  man  im  Stande  ist,  von  sich,  seinem  eigenen  Selbst, 
seiner  Ichheit  zu  abstrahiren,  und  sich  mit  Andern  so  zu  iden- 
tificiren,  dass  man  jeden  als  ein  mit  sich  gleichberechtigtes  Sub- 
ject  betrachten  lernt.  Eben  diess  will  auch  das  im  Ganzen  gleich- 
bedeutende alttestamentliche  Gebot  sagen,  dass  man  den  Näch- 
sten lieben  soll,  wie  sich  selbst.  Liebt  man  den  Nächsten,  wie 
sich  selbst,  so  muss  man  auch  alles  Egoistische,  Subjective, 
Particuläre  fallen  lassen;  über  die  Vielheit  der  gleichberech- 
tigten Subjecte,  von  welchen  jedes  einzelne  der  Reflex  aller 
andern  ist,  stellt  sich  von  selbst  die  Objectivität  des  Allgemei- 
nen, in  welchem  alles  Particuläre  und  Subjective  aufgehoben 
ist,  und  dieses  Allgemeine  ist  die  Form  des  Handelns,  vermöge 
welcher  man  gegen  Andere  dasselbe  thut,  was  man  wünscht, 
dass  Andere  gegen  uns  thun,  dass  sittlich  Gute  ist  somit  das, 
was  für  alle  gleich  recht  und  gut  ist,  oder  für  alle  das  gleiche 
Object  ihres  Handelns  sein  kann.    Es  ist  diess  ein  formeller 


1)  üaa  Leben  Jesu  Christi.   1837.  S.  169  f. 


G2  gntitiiid  Erster  Abschnitt. 

Grundsatz  des  Handels,  welcher  in  der  Hauptsache  zusammen- 
fällt mit  dem  Kant'schen  Imperativ:  Handle  so,  dass  die  Maxime 
deines  Handelns  das  allgemeine  Gesetz  des  Handelns  sein  kann. 
Es  spricht  sich  also  auch  darin  die  Eigenthümlichkeit  des  christ- 
lichen Princips  aus,  sich  über  das  Äussere,  Zufällige,  Particu- 
läre  zum  Allgemeinen,  Unbedingten,  an  sich  Seienden  zu  er- 
heben und  den  sittlichen  Werth  des  Menschen  nur  in  das  zu 
setzen,  was  seinen  absoluten  Werth  und  Inhalt  in  sich  selbst 
hat.  Dieselbe  Energie  des  Bewusstseins,  dje  das  substanzielle 
Wesen  der  Sittlichkeit  nur  in  dem  innersten  Kern  der  Gesin- 
nung erfassen  kann,  gibt  sich  in  der  in  dem  genannten  Gebot 
auf  ihren  einfachsten  practischen  Ausdruck  gebrachten  Forder- 
ung kund,  das  individuelle  Ich  zum  allgemeinen,  zum  Ich  der 
ganzen  in  allen  einzelnen  Individuen  mit  sich  identischen  Mensch- 
heit aufzuheben. 

Um  das  Princip  der  Lehre  Jesu,  oder  des  christlichen  Be- 
wusstseins, wie  es  von  Jesus  selbst  ausgesprochen  worden  ist, 
in  seiner  reinsten  und  ursprünglichsten  Gestalt  aufzufassen,  darf 
man  auch  die  in  den  Makarismen  der  Bergrede  ausgedrückte 
Grundanschauung  nicht  unbeachtet  lassen.  Es  werden  hier  die 
Armen  im  Geiste,  d.  h.  die  Armen,  welchen  an  ihrer  äussern 
leiblichen  Armuth  und  im  Contrast  mit  derselben  ihr  geistiger 
Reich thum  zum  Bewusstsein  kommt,  gepriesen,  weil  ihrer  das 
Himmelreich  ist,  die  Traurigen,  weil  sie  getröstet  werden,  die 
Sanftmüthigen ,  weil  sie  die  Erde  zum  Erbtheil  erhalten,  die 
nach  der  Gerechtigkeit  Hungernden  und  Dürstenden,  weil  sie 
gesättigt  werden,  die  am  Herzen  Reinen ,  weil  sie  Gott  sehen, 
die  Friedfertigen,  weil  sie  Söhne  Gottes  heissen,  die  um  der 
Gerechtigkeit  willen  Verfolgten,  weil  ihrer  das  Himmelreich  ist. 
In  allen  diesen  Seligsprechungen  spricht  sich  ein  vom  tiefsten 
Gefühle  des  Drucks  der  Endlichkeit  und  aller  Widersprüche 
der  Gegenwart  durchdrungenes,  aber  in  diesem  Gefühl  über 
alles  Endliche  und  Beschränkte  weit  übergreifendes  religiöses 


Die  Lehre  Jeau.     Bittl.  Grondanschatiang.  63 

Bewusstsein  aus.  Der  prägnanteste  Ausdruck  dieses  ursprüng- 
lichsten Elements  des  christlichen  Bewusstseins  sind  die  mit 
Recht  an  der  Spitze  aller  Seliggepriesenen  stehenden  xtw^^^oI 
T(^  TTveuixaTi,  die  Armen,  die  nichts  haben,  und  als  die  nichts 
Habenden  doch  alles  haben.  Um  diesen  Ausdruck  richtig  zu 
verstehen ,  muss  man  die  tctwj^oI  tw  ^veu^xaTi  nicht  unmittelbar 
als  die  geistig  Armen  nehmen,  so  dass  die  tttwj^^oI  die  De- 
müthigen,  die  nach  der  Erlösung  sich  Sehnenden  wären,  die 
TTTüijf^ol  sind  wirkliche  Arme,  leiblich  Arme  Cvergl.  Luc.  6,  20), 
aber  ihre  Armuth  hat  eine  geistige  Bedeutung,  sofern  sie  an 
ihrer  Armuth  sich  des  Reichthums  bewusst  werden,  der  der 
Gegensatz  zu  der  Armuth  ist.  Sie  haben  nichts,  weil  sie  als 
leiblich  Arme  nichts  von  allem  demjenigen  haben,  was  zum 
Besitz  in  dieser  Welt  gehört,  und  alles,  was  sie  in  der  künftigen 
Welt  als  ihr  Eigenthum  betrachten  dürfen ,  für  sie  etwas  blos 
Künftiges  ist.  In  diesem  Nichtshaben  ist  das  Element  ihres  Seins 
und  Lebens  nur  die  Sehnsucht  und  das  Verlangen  nach  dem, 
was  sie  nicht  haben,  aber  in  diesem  Sehnen  und  Verlangen 
haben  sie  schon  Alles,  was  der  Gegenstand  ihrer  Sehnsucht  und 
ihres  Verlangens  ist.  So  sind  sie  als  die  nichts  Habenden  die 
alles  Habenden,  ihre  Armuth  ist  ihr  Reichthum,  das  Himmel- 
reich ist  schon  jetzt  ihr  eigenstes  Eigenthum,  weil  sie,  so  ge- 
wiss sie  hier  nichts  haben,  so  gewiss  dort  alles  haben.  In 
diesem  Contrast  des  Habens  und  Nichthabens,  der  Armuth  und 
des  Reichthums,  der  Erde  und  des  Himmels,  der  Gegenwart 
und  der  Zukunft  hat  das  christliche  Bewusstsein  seine  reinste 
Idealität,  als  die  ideale  Einheit  aller  dem  empirischen  Bewusst- 
sein sich  aufdringenden  Gegensätze.  Alles,  was  das  entwickelt- 
ste dogmatische  Bewusstsein  umfassen  kann,  ist  darin  schon 
begriffen,  und  doch  hat  es  seine  ganze  Bedeutung  nur  darin, 
dass  es  noch  die  unmittelbare  Einheit  aller  Gegensätze  ist,  die 
sich  aus  ihm  entwickelten.  Alle  jene  Makarismen,  so  ver- 
schieden sie  lauten,  sind  immer  nur  ein  anderer  Ausdruck  für 


64  Erster  Abschnitt. 

dieselbe  ursprüngliche  Grundanschauung  des  christlichen  Be- 
wusstseins.  Es  ist  das  den  Gegensatz  von  Sünde  und  Gnade 
an  sich  schon  in  sich  enthaltende,  aber  von  dem  Bevrusstsein 
desselben  noch  völlig  unberührt  gebliebene  reine  Gefühl  der 
Erlösungsbedürftigkeit,  das  als  solches  auch  schon  alle  Realität 
der  Erlösung  in  sich  hat.  Je  unmittelbarer  alle  Gegensätze 
noch  in  ihrer  Einheit  zusammengehalten  sind,  um  so  inhalts- 
reicher und  kräftiger  ist  dieses  ursprüngliche  Bewusstsein,  es 
ist  nicht  blos  das  intensivste  Selbstbewusstsein ,  sondern  auch 
das  übergreifendste  Weltbewusstsein ,  wie  es  Jesus  selbst  in 
den  unmittelbar  auf  die  Makarismen  folgenden  Worten  aus- 
spricht, wenn  er  Matth.  5,  13  f.  seine  Jünger  das  Salz  der  Erde 
nennt,  das  nie  kraftlos  werden  darf,  wenn  es  nicht  der  Welt 
an  der  sie  zusammenhaltenden  und  sie  vor  aller  Verderbniss 
bewahrenden  substanziellen  Kraft  fehlen  soll,  das  Licht  der 
Welt,  das  nicht  unter  den  Scheffel  gestellt  werden  darf,  son- 
dern vor  aller  Welt  leuchten  muss,  damit  man  die  guten  Werke 
derer,  die  ihr  Licht  leuchten  lassen,  sehe  und  den  Vater  im 
Himmel  preise. 

Es  ist  sehr  charakteristisch,  dass  alles,  was  als  der  ur- 
sprünglichste Inhalt  des  christlichen  Bewusstseins  aus  der  Berg- 
rede Jesu  hervorgehoben  werden  kann,  ein  rein  sittliches  Ele- 
ment ist.  Das  Christenthum,  wie  es  sich  in  seiner  ursprüng- 
lichsten Gestalt  als  Lehre  Jesu  darstellt,  ist  eine,  den  reinsten 
sittlichen  Geist  athmende  Religion.  Als  Affirmation  des  alttesta- 
mentlichen  Gesetzes  und  als  Gegensatz  gegen  die  pharisäische 
Gesetzlichkeit  trat  es  vor  allem  als  Kräftigung  des  sittlichen 
Bewusstseins  auf,  als  eine  sittliche  Macht,  die  in  dem  Menschen 
das  Bewusstsein  seiner  sittlichen  Selbstbestimmung,  die  Energie 
seiner  sittlichen  Freiheit  und  Autonomie  wecken  wollte.  Dieses 
sittliche  Element,  wie  es  in  den  einfachen  Sätzen  der  Bergrede 
als  der  reinste  und  lauterste  Inhalt  der  Lehre  Jesu  sich  kund 
gibt,  ist  der  eigentlich  substanzielle  Kern  des  Christenthums, 


Die  Lehre  Jesn.     Sittl.  Grundansohauang.  65 

ZU  welchem  alles  Andere,  so  grosse  Bedeutung  es  haben  mag, 
in  einem  mehr  oder  minder  secundären  und  zufälligen  Ver- 
hältniss  steht,  die  Grundlage,  auf  welche  erst  alles  Andere 
gebaut  werden  kann,  die,  so  wenig  sie  auch  noch  die  Form 
und  Farbe  des  geschichtlich  gewordenen  Christenthums  hat, 
doch  an  sich  schon  das  ganze  Ghristenthum  ist.  Mag  es  auch 
bald  genug  von  dem  aus  dem  christlichen  Bewusstsein  sich 
entwickelnden  Dogmatismus  zurückgedrängt  und  in  Schatten 
gestellt,  überbaut  und  überwuchert  worden,  ja  sogar  in  so 
vielen  Beziehungen  in  einen  unversöhnlichen  Widerstreit  zu 
demselben  gekommen  sein,  es  blieb  doch  immer  der  feste  un- 
wandelbare Punkt,  auf  welchen  man  aus  allen  Verirrungen  im 
Dogma  und  Leben  immer  wieder  zurückkommen  musste,  als 
auf  dasjenige,  worin  sich  das  wahrhaft  christliche  Bewusstsein 
in  seiner  unmittelbarsten  ürsprünglichkeit  und  in  seiner  ein- 
fachsten über  alle  Selbsttäuschungen  des  Dogmatismus  unend- 
lich erhabenen  Wahrheit  ausspricht. 

In  diesem  ursprünglichsten  Element  ist  die  Lehre  Jesu 
nicht  sowohl  Religion  als  Sittenlehre.  Gehen  wir  nun  aber  von 
dem  ethischen  Element  zu  dem  religiösen  fort,  so  ist  das  Erste 
und  Ursprünglichste,  wodurch  das  ethische  Element  die  Form 
eines  religiösen  erhält,  jene  Gerechtigkeit,  deren  Begriff  schon 
in  der  Bergrede  zum  wesentlichen  Inhalt  des  christlichen  Be- 
wusstseins  gehört.  Die  Stjcaioouvr,  steht  in  der  unmittelbarsten 
Beziehung  zu  der  i^aCkzix  tou  deoO,  sie  betrifift  nicht  blos  das 
Yerhältniss  des  Menschen  zu  sich  selbst,  wie  es  im  sittlichen 
Selbstbewusstsein  bestimmt  wird,  sondern  das  Yerhältniss  des 
Menschen  zu  Gott,  ohne  welches  es  kein  religiöses  Bewusst- 
sein gibt,  sie  ist  wesentlich  identisch  mit  jener  Vollkommenheit, 
in  welcher  die  höchste  Aufgabe  für  den  Menschen  in  der  For- 
derung gestellt  wird,  vollkommen  zu  sein,  wie  der  Vater  im 
Himmel  vollkommen  ist.  Der  Begriff  der  Si)caio<yuvTri  führt  uns 
wieder  auf  die  Stellung  Jesu  zum  Gesetz  zurück.    Sie  ist  eben 

B«nr,  nentest.  Theol.  ^ 


66  .%uttuar{         Erster  Abschnitt,  t  «•«.{•- 

jene  Vollendung  und  Erfüllung  des  Gesetzes,  zu  welcher  Jesus 
gekommen  zu  sein  versichert.  Wenn  er  sagt,  dazu  sei  er  ge- 
kommen, es  dürfe  vom  Gesetz  nicht  das  Geringste  hinwegkom- 
men, denn  wenn  ihre  Gerechtigkeit  nicht  besser  sei,  als  die 
der  Pharisäer  und  Schriftgelehrten,  so  werden  sie  nicht  in  das 
Himmelreich  kommen,  so  ist  klar,  dass  die  Gerechtigkeit  in  der 
Erfüllung  des  Gesetzes  besteht.  Ohne  Gerechtigkeit  kann  man 
nicht  in  das  Reich  Gottes  kommen.  Die  Gerechtigkeit  ist  also 
das  adäquate  Verhältniss,  vermöge  dessen  man  subjectiv  das- 
selbe ist,  was  das  Reich  Gottes  objectiv  ist.  Das  Vermittelnde 
aber  für  diese  Identität  des  Subjectiven  und  Objectiven  ist  die 
Erfüllung  des  Gesetzes.  Der  Gesichtspunkt,  unter  welchen  wir 
nun  diese  in  der  Erfüllung  des  Gesetzes  bestehende  Gerechtig- 
keit zu  stellen  haben,  ist  das  Verhältniss,  in  welchem  in  ihr 
die  Lehre  Jesu  oder  das  Urchristenthum  einerseits  zum  alten 
Testament,  andererseits  zum  Paulinismus  steht.  Sofern  die  wahre 
Gerechtigkeit  in  dem  von  Jesus  in  der  Bergrede  ausgespro- 
chenen Sinn  in  die  Erfüllung  des  Gesetzes  gesetzt  wird,  ist 
das  in  dieser  Gerechtigkeit  bestehende  ursprüngliche  Christen- 
thum  selbst  nichts  anderes. als  die  immanente  Vollendung,  die 
vollkommene  Verwirklichung  des  alten  Bundes.  Es  ist  in  ihm 
nur  der  Gegensatz  aufgehoben,  über  welchen  das  alttestament- 
liche  Bewusstsein  nie  hinwegkommen  konnte,  der  Gegensatz, 
in  weichein  der  Wille  des  Einzelnen,  der  als  solcher  auch  ein 
selbstischer  ist,  zu  dem  im  Gesetz  enthaltenen  göttlichen  steht. 
Diese  Getheiltheit  des  alttestamentlichen  Bewusstseins  macht 
die  wahre  Gerechtigkeit  unmöglich,  sein  Widerspruch  ist  der 
eigentliche  Ursprung  des  christlichen  Bewusstseins.  Die  Auf- 
hebung "dieser  Getheiltheit,  durch  welche  erst  die  subjective 
Möglichkeit  der  ^ixato<Tuv7)  gesetzt  ist,  ist  die  vollkommene  Durch- 
führung des  Gesetzes,  und  umgekehrt  die  Vollendung  des  Ge- 
setzes, in  welcher  seine  beschränkte  alttestamentliche  Form, 
wie  jene  ganze  Getheiltheit  aufgehoben  ist,  ist  als  solche  die 


Die  Lehre  Jesu.     Die  Stxaiocrüvi).  ^7' 

subjective  Möglichkeit  der  wahren  St/cai(wuvYi,  der  vollkommen 
durchgeführte  vö[xo;  ist  als  solcher  auch  der  verinnerlichte  vÖ{ao?. 
Dem  Gegensatz  gegenüber  ist  das,  was  als  das  Neue,  als  die 
vollkommene  Gerechtigkeit  verkündigt  wird,  nur  die  Aufhebung 
des  Gegensatzes.  Das  Christenthum  in  seiner  ursprünglichen 
Form  enthält  also  nichts  als  die  zunächst  liegende  objective 
Consequenz  des  alten  Bundes  in  Hinsicht  des  Verhältnisses  des 
Willens  zum  Gesetz,  die  alttestamentliche  Scheidung  des  Gött- 
lichen und  Menschlichen  ist  darin  aufgehoben,  dass  das  Ich 
mit  seinem  Willen  sich  an  Gott  hingibt.  Entäusserung  des  Men- 
schen an  Gott  ist  das  Christenthum  in  seiner  ersten  Form,  reine 
einfache  Negation  des  menschlichen  Willens,  einfache  Hingabe 
an  den  jenseitigen  göttlichen  Willen,  diess  ist  sowohl  das  Alt- 
testamentliche,  das  ihm  noch  anhängt,  als  das  Neue,  Grosse, 
das  es  zuerst  ausgesprochen  hat.  Die  beiden  Seiten,  die  hier 
unterschieden  werden  müssen,  die  objective  der  vollendeten 
Gesetzeserfüllung,  und  die  subjective  der  Aneignung  des  Heils, 
sofern  mit  dieser  Vollendung  auch  die  subjective  Möglichkeit 
der  vollkommenen  Gesetzeserfüllung  gegeben  ist,  fallen  hier 
noch  zusammen,  beide  sind  noch  ungetrennt  enthalten  in  der 
Einheit  des  Gesetzes  und  des  Evangeliums.  Die  subjective  Mög- 
lichkeit der  ^utatocuvyj,  die. Kraft  der  Versöhnung  mit  Gott,  das, 
was  für  das  entwickeltere  Bewusstsein  die  Gnade  ist,  ist  einfach 
in  das  Andere,  die  objective  Durchführung  des  vollendeten 
Gesetzes  eingeschlossen.  In  Stelleii,  wie  Matth.  5,  6,  wo  den 
nach  der  Gerechtigkeit  Hungernden  und  Dürstenden  Sättigung 
verheissen  wird,  11,  29.  30.,  wo  von  einer  Ruhe  für  die  See- 
len, van  einem  sanften  Joch  und  einer  leichten  Last  die  Rede 
ist,  ist  nichts  Anderes  ausgesprochen,  als  eben  das  Bewusstsein 
einer  durch  Jesus  gekommenen  Kraft  der  Erlösung  und  Ver- 
söhnung. Nirgends  aber  ist  es  ausdrücklich  zum  Bewusstsein 
gebracht,  dass  mit  dem,  was  Jesus  verkündige,  eine  neue  all- 
geni^4j[ie  j^raft  der  Versöhnung  mit  Gott  gegeben  sei,   so  dass 

5* 


•0g  ^xvlr«jj=Er8ter  Abschnitt. 

der  Mensch  ohne  sie,  für  sich  allein,  durch  des  blossen  Ge- 
setzes Werke  nicht  gerecht  werden  könne.  Der  Sache  nach 
ist  zwar  ausgesprochen,  dass  durch  das  blosse,  beschränkte 
alttestamentliche  Gesetz  keine  wahre  Gerechtigkeit  möglich  sei, 
und  darin  liegt  auch,  dass  es  eine  neue  und  allgemeine  Kraft 
der  Versöhnung  mit  Gott  ist,  die  durch  Jesus  gebracht  ist,  allein 
die  ganze  Richtung  des  Bewusstseins  ist  noch  eine  andere  als 
im  Paulinismus.  Das  Bewusstsein  Jesu  in  der  Bergrede  geht 
ganz  auf  die  vollkommene  Entäusserung  des  Menschen  an  Gott, 
darauf,  dass  nur  in  der  Gesetzeserfüllung,  wie  er  sie  verkün- 
dige, die  wahre  Gerechtigkeit  möglich  sei;  ebendesshalb  ist  die 
Grundidee  der  ersten  ursprünglichsten  Form  des  Christenthums 
der  vollkommen  durchgeführte  vojxo;.  Dieses  Bewusstsein  steht 
also  insofern  noch  innerhalb  der  alttestamenllichen  Anschauung, 
als  es  bei  der  jenseitigen  Objectivität  Gottes  stehen  bleibt,  und  nur 
von  einem  neuen  subjectiven  practischen  Verhalten  des  Menschen 
zu  demselben  weiss.  Es  ist  dieser  Punkt  in  der  Entwicklung 
des  Urchristenthums  genau  zu  fixiren,  um  schon  hier  das  Ver- 
hältniss  des  Paulinismus  zur  ursprünglichen  Lehre  Jesu  richtig 
zu  bestimmen.  Es  ist  also  für  die  erste  Form  des  Christenthums 
die  neue  allgemeine  Kraft  der  Versöhnung  mit  Gott,  die  sub- 
jective  Möglichkeit  der  wahren  SixaioauvTi ,  die  durch  Christus 
gegeben  ist,  nur  erst  auf  thatsächliche  Weise  im  Bewusstsein; 
der  Paulinismus  erst  ist  es,  der  sie  ausdrücklich  als  ein  neues 
-  allgemeines  Princip  von  vornherein  zum  Gegenstand  des  christ- 
lichen Bewusstseins  macht;  jene  Form  bleibt  bei  dem  alttesta- 
menllichen objectiv  gegebenen  Verhältniss  von  Gott  und  Mensch 
für  das  Bewusstsein  oder  formell  noch  ebenso  sehr  stehen,  als 
sie  an  sich  der  Sache  nach  durchbrochen  ist.  Der  Paulinismus 
hat  nichts  Anderes  gethan,  als  für  das  Bewusstsein  auszu- 
sprechen, was  an  sich,  thatsächlich  im  ürchristenthum  ge- 
setzt war. 

Die  Gerechtigkeit  in  dem  bisher  entwickelten  Sinne  ist  die 


Die  Lehre  Jesn  vom  Belobe  Gotte«.  C9 

wesentliche  Bedingung,  ohne  welche  man  nicht  in  das  Reich 
Gottes  kommen  kann.  Es  schliesst  sich  daher  hier  die  Lehre 
Jesu  vom  Reiche  Gottes  an.  Sie  ist  der  Hauptgegenstand  der 
Parabeln  Jesu  in  den  synoptischen  Evangelien.  Wir  halten  uns 
auch  hier  vorzugsweise  an  Matthäus,  da  schon  die  Parabeln  bei 
Matthäus  das  Wesentliche  enthalten  und  im  Falle  einer  Diffe- 
renz doch  nur  nach  Matthäus  entschieden  werden  kann. 

Die  ^xaCktix  toj  OsoO,  oder  nach  dem  eigenthümlichen  Aus- 
druck des  Matthäus,  töv  oupavöv,  ist  ein  ganz  aus  der  alt-^ 
testamentlichen  Religions-  und  Staatsverfassung  herübergekom- 
mener Begriff.  Es  liegt  in  dem  Ausdruck  unmittelbar  der  Be- 
griff der  alttestamentlichen  Theokratie.  Die  ßacrtXsta  toO  öeou 
ist  die  Gemeinschaft  derer,  welche  das  Volk  Gottes,  die  theo- 
kratische  Gemeinde  bilden,  als  deren  König  und  höchster  Re- 
gent nur  Gott  gedacht  werden  kann.  Dieser  Begriff  liegt  den 
Parabeln  zu  Grunde,  in  welchen  die  ßa<jiXeia  toO  öeoO  in  ihrem 
geschichtlichen  Verlauf,  nach  der  Folge  und  Verschiedenheit 
ihrer  Perioden  dargestellt  wird,  wie  z.  R.  Matth.  21,  33  f.,  wo 
ein  Hausherr  zuerst  seine  Diener  aussendet,  und  dann  andere 
Diener,  noch  mehr  als  das  erstemal,  und  zuletzt  seinen  Sohn. 
Hier  bezieht  sich  die  ßx<TiXeia  toO  9eoO  nicht  blos  auf  das  neue, 
sondern  auch  auf  das  alte  Testament.  Der  Ausdruck  bezeichnet 
die  ganze  von  Gott  gestiftete  Religionsanstalt  von  Anfang  an, 
die  theokratische  Einheit  des  alten  und  neuen  Testaments.  Von 
diesem  weitem  Begriff  ist  der  engere  zu  unterscheiden,  nach 
welchem  die  ßaffiXeia  toO  6sou  die  erst  mit  dem  neuen  Testa- 
ment beginnende  Religionsökonomie  ist,  oder  das  raessianische 
Reich  als  die  Periode  der  theokratischen  Weltentwicklung,  in 
welcher  der  göttliche  Weltplan  zu  seiner  vollkommenen  Rea- 
lisirung  gelangt  und  das  Ziel  erreicht,  auf  das  er  von  Anfang 
an  angelegt  ist.  In  diesem  Sinne  gründet  sich  der  Begriff  der 
ßaffiXeia  toO  6eoij  auf  die  Stellen  bei  dem  Propheten  Daniel  7, 
13.  14.  27.  2,  44.,  wo  nach  den  vier  den  Juden  bis  zur  Macca- 


i 


70  '*'''  Erster  Abschnitt. 

bäerzeit  bekannt  gewordenen  Weltreichen,  dem  assyrischen, 
babylonischen,  persischen,  griechischen  das  Reich  dessen  folgen 
sollte,  der  mit  den  Wolken  des  Himmels  wie  eines  Menschen 
Sohn  kommt.  Ihm  ward  Herrschaft  und  Herrlichkeit  und  König- 
thum  gegeben,  dass  alle  Völker  ihm  dienen,  seine  Herrschaft 
ist  eine  ewige,  die  nie  vergeht,  und  sein  Königthum  wird  nicht 
zerstört.  Da  nun  der  Begriff  der  ßaertXeia  toO  6eou  mit  den  be- 
kannten sinnlichen  Vorstellungen  der  Juden  vom  messianischen 
Reich  zusammenhängt,  so  fragt  sich,  ob  und  wieweit  sie  auch 
auf  die  Lehre  Jesu  von  der  ßa(nXeia  toO  0eoO  Einfluss  gehabt 
haben.  In  dieser  Hinsicht  ist  sehr  entschieden  zu  behaupten, 
dass  sich  in  der  Lehre  Jesu  nichts  von  allem  demjenigen  nach- 
weisen lässt,  was  zum  Charakteristischen  der  jüdischen  Vor- 
stellung gehört.  Der  Begriff  des  messianischen  Reichs  ist  von 
Jesu  so  vergeistigt  worden,  dass  die  ßactXeia  toO  OeoO  oder 
ToSv  oOpavöv  in  seinem  Sinne  nur  eine  auf  sittlich  -  religiösen 
Bedingungen  beruhende  Gemeinschaft  ist,  deren  letzter  End- 
zweck nicht  in  der  sinnlichen,  sondern  der  übersinnlichen  Welt 
liegt.  Diess  erhellt  vor  allem  aus  dem  ganzen  Inhalt  der  Berg- 
rede, die  in  dem  ersten  ihrer  Makarismen  die  Trrwpu;  tö  Trveu- 
(xaTt  in  die  unmittelbarste  Beziehung  zu  der  ßaciXeia  töv  oO- 
pavöv  setzt.  Auch  die  folgenden  Makarismen  drücken  den  Ge- 
danken aus,  dass  alles,  was  die  ßadiXsia  töv  oOpavöv  gewähren 
sollte,  nur  denen  zu  Theil  werden  kann,  welche  in  ihrer  sitt- 
lich-religiösen Gesinnung  die  ihr  entsprechende  Empfänglich- 
keit haben.  Ist,  wie  in  der  Bergrede  weiter  gesagt  wird,  die 
in  der  vollkommenen  Gesetzeserfüllung  bestehende  Gerechtig- 
keit die  wesentliche  Bedingung  des  Eintritts  in  die  ßa<TtXs(a  töv 
oOpavöv,  so  ist  diese  selbst  die  Sphäre  der  vollendeten  Gesetzes- 
erfüllung, in  welcher  der  Wille  Gottes  so  verwirklicht  ist,  wie 
es  der  Idee  des  göttlichen  Gesetzes  gemäss  ist.  Am  unmittel- 
barsten ist  diess  in  dem  Gebete  Matth.  6,  9  f.  ausgesprochen, 
in  den  Bitten:  Es  komme  zu  uns  dein  Reich,  dein  Wille  geschehe 


Die  Lehre  Jesu  vom  Reiche  Gottes.  71 

auf  Erden,  wie  im  Himmel.  Im  Himmel  also  ist  der  Wille  Gottes 
vollkommen  erfüllt,  und  in  dem  vollkommen  erfüllten  Willen 
Gottes  ist  das  Reich  Gottes  selbst  verwirklicht.  Was  im  Himmel 
geschieht,  ist  das  Vorbild  für  das,  was  auf  der  Erde  geschehen 
soll.  In  demselben  Verhältniss  also,  in  welchem  der  Wille  Got- 
tes auch  auf  der  Erde  erfüllt  wird,  verwirklicht  sich  das  Reich 
Gottes  auf  der  Erde,  es  kommt  zu  uns,  entwickelt  und  ver- 
breitet sich  immer  mehr  in  der  Menschheit.  Auch  als  ßxaiXsia 
Töv  oOpavöv  darf  daher  das  Reich  Gottes  nicht  blos  als  ein 
jenseitiges  gedacht  werden.  Das  Diesseitige  hängt  von  selbst 
mit  dem  Jenseitigen,  das  Irdische  mit  dem  Himmlischen,  die 
Gegenwart  mit  der  Zukunft  zusammen,  es  ist  eine  von  einem 
bestimmten  Punkte  ausgehende,  durch  die  Realisirung  derselben 
Idee  innerlich  zusammenhängende,  Erde  und  Himmel  umfas- 
sende Entwicklung.  In  welchem  Contrast  dieser  rein  sittliche 
Begriff  vom  Reich  Gottes  mit  den  gewöhnlichen  Vorstellungen 
der  Juden  und  ihren  Ansprüchen  auf  dasselbe  stand,  zeigt  der 
gegen  die  Jünger  gerichtete  Ausspruch  Jesu  Matth.  18,3:  Wenn 
ihr  nicht  umkehret  und  werdet  wie  die  Kinder,  werdet  ihr  nicht 
in  das  Himmelreich  kommen.  Nur  der  anspruchslose,  unbe- 
fangene Sinn  der  Kinder  eignet  sich  für  das  Reich  Gottes,  das 
erste  Erforderniss  ist  also,  dass  man  sich  aller  Ansprüche  ent- 
schlägt, die  nicht  auf  sittlicher  Würdigkeit  beruhen,  und  in 
seinem  sittlichen  Bewusstsein  sich  des  Mangels  an  allen  An- 
sprüchen und  der  Nothwendigkeit,  sich  von  allem  loszureissen, 
was  sich  mit  dem  Reich  Gottes  nicht  verträgt,  bewusst  wird, 
vgl.  V.  5  f.  Dass  es  bei  dem  Reich  Gottes  vor  allem  auf  die 
sittliche  Würdigkeit  ankommt,  stellt  die  Parabel  vom  Hochzeit- 
mahl Matth.  22,  2  f.  durch  das  Bild  vom  hochzeitlichen  Kleid, 
ohne  das  man  nicht  als  Gast  zugelassen  werden  kann,  und  durch 
den  Spruch  am  Schlüsse  dar,  dass  zwar  Viele  berufen,  aber 
Wenige  erwählt  sind.  Und  dass  diese  Würdigkeit  hauptsächlich 
in  der  Anspruchlosigkeit  besteht,  in  einer  solchen  Gesinnung, 


79  Erster  Abschnitt 

welche  frei  von  Lohnsucht  nicht  darauf  ausgeht,  ein  eigenes 
Verdienst  geltend  zu  machen,  überhaupt  nicht  quantitativ  nach 
dem  äussern  Umfang  der  Werkthätigkeit,  sondern  nur  qualitativ 
zu  beurtheilen  ist,  soll  die  Parabel  von  den  Arbeitern  im  Wein- 
berg Matth.  20,  1  f.  anschaulich  machen.  Die  Letzten  sind  so 
viel  als  die  Ersten  und  die  Ersten  so  viel  als  die  Letzten,  weil 
überhaupt  alles  im  Reiche  Gottes  so  sehr  ein  freies  Geschenk 
ist,  dass  man  sich  nur  empfangend  verhalten  kann.  Es  fragt 
sich  jedoch  bei  diesen  beiden  Parabeln,  ob  sie  sich  nicht  auf 
das  Verhältniss  der  Juden  und  Heiden  beziehen,,  in  welchem 
Falle  wir  sie  wohl  nicht  für  ächte  Parabeln  Jesu  halten  könn- 
ten. Eine  für  die  Lehre  Jesu  vom  Reiche  Gottes  besonders 
wichtige  Wahrheit  drückt  die  Parabel  Matth.  18,  23  f.  vom 
Knechte,  welchem  der  Herr  seine  Schuld  erlässt,  aus.  Eifte 
Haupteigenschaft  für  das  Reich  Gottes  ist  die  aus  dem  Bewusst- 
sein  des  eigenen  Bedürfnisses  der  Sündenvergebung  fliessende 
Bereitwilligkeit,  Andern  ihr  Unrecht  zu  verzeihen.  Sie  ist  die 
Veranschaulichung  des  Spruchs  Matth.  6,  15:  Wenn  ihr  den 
Menschen  ihre  Fehler  nicht  vergebet,  wird  euer  Vater  auch 
euch  eure  Fehler  nicht  vergeben,  und  der  Bitte  im  Gebet  des 
Herrn  Matth.  6,  12.  Zum  Verlangen  nach  Sündenvergebung 
gehört  von  selbst  Reue  und  Busse.  Wie  schon  der  Täufer 
mit  der  Ankündigung,  dass  die  ßa<Tt>.eta  töv  oOpavöv  da  sei, 
den  Aufruf  zur  {ASTocvota  verbunden  hat,  so  macht  auch  Jesus 
den  Eintritt  in  das  Reich  Gottes  von  der  Bedingung  der 
Busse  abhängig.  Diess  ist  der  Sinn  der  Parabel  von  den 
beiden  Söhnen  Matth.  21,  28  f.  und  des  an  sie  geknüpften 
Ausspruchs  Jesu  V.  31,  dass  die  Zöllner  und  Huren,  weil 
sie  auf  die  Predigt  des  Täufers  Busse  thaten,  eher  in  das 
Reich  Gottes  kommen,  als  die  Pharisäer,  die  keine  Busse  thun. 
Welchen  Werth  überhaupt  Busse,  Rückkehr  von  der  Sünde, 
Wiedergewinnung  der  Verlorenen  für  das  Reich  Gottes  hat, 
wie  wesentlich  es  seiner  Idee  nach  darauf  beruht,  ist  in  der 


Die  Lehre  Jesu  vom  Reiche  Gottes.  73 

kurzen  Parabel  vom  verlorenen  Schaf  Matth.  18,  12  ausgespro- 
chen. Da  das  Reich  Gottes  durchaus  sittlicher  Natur  ist,  die 
Theilnahme  an  ihm  durch  die  sittliche  Beschaffenheit  der  Men- 
schen, ihre  subjective  Empfänglichkeit  für  dasselbe  bedingt  wird, 
so  kann  es  nicht  anders  sein,  als  dass  das  Verhalten  der  Men- 
schen zum  Reich  Gottes  ein  sehr  verschiedenes  ist.  Auch  dar- 
auf bezieht  sich  der  Inhalt  so  mancher  Parabel  Jesu.  Es  gehört 
hieher  die  Parabel  vom  Sämann,  dessen  ausgestreuter  Samen 
auf  sehr  verschiedenartiges  Land  fällt,  so  dass  er  nur  bei  We- 
nigen Früchte  trägt.  Der  Samen  ist  das  Wort  Gottes ,  und  das 
Wort  Gottes  und  die  Predigt  desselben  ist  die  Grundlage  des 
Reichs  Gottes,  Matth.  13,  3  f.  Bei  dieser  Parabel  wird  voraus- 
gesetzt, dass  die,  die  das  Wort  Gottes  nicht  annehmen,  auch 
nicht  zum  Reich  Gottes  gehören.  Wenn  aber  auch  das  Reich 
Gottes  seiner  Idee  nach  nur  aus  würdigen  Mitgliedern  bestehen 
kann,  und  die  Aufnahme  eines  jeden  nur  durch  seine  sittlichen 
Eigenschaften  bedingt  ist,  so  kann  es  doch  der  Natur  der  Sache 
nach  nicht  anders  sein,  als  dass  in  ihm,  wie  es  in  seiner  zeit- 
lichen Erscheinung  und  Entwicklung  ist,  eine  Mischung  ver- 
schiedenartiger Subjecte  stattfindet.  Davon  handelt  die  Parabel 
von  dem  Unkraut  auf  dem  Acker,  Matth.  13,  24  f.  Mitten  unter 
den  guten  Samen  wird  auch  Unkraut  gesät,  vom  Teufel.  Beides 
geht  neben  einander  auf,  und  es  bleibt  nichts  übrig,  als  beides 
neben  einander  stehen  zu  lassen,  zuletzt  aber  muss  das  Eine 
von  dem  Andern  geschieden  werden.  Es  ist  daher  auch  sonst 
von  einer  am  Ende  erfolgenden  Sichtung  und  Scheidung  die 
Rede,  wie  in  der  Parabel  von  dem  Netz,  in  welchem  gute  und 
faule  Fische  unter  einander  sind,  Matth.  13,  48.  Das  Reich 
Gottes  wird  vollendet  durch  die  Scheidung  der  Guten  und  Bö- 
sen, seine  Idee  ist  realisirt,  wenn  alle  fremdartigen  Elemente, 
die  noch  mit  ihm  vermischt  waren,  ausgeschieden  sind.  Je  gei- 
stiger, wie  besonders  aus  diesen  rein  sittlichen  Begriffen  er- 
hellt, das  Reich  Gottes  aufgefasst  wird,  um  so  grösser  ist  auch 


74  ««1{oÜ  «^  Erster  Abschnitt. 

der  Werth,  welcher  ihm  zugeschrieben  werden  muss.  Das  Reich 
Gottes  ist  es  allein,  das  einen  absoluten  Werth  hat.  Darum 
wird  das  Himmelreich  mit  einem  in  einem  Acker  verborgenen 
Schatz  verglichen,  für  welchen  der,  der  ihn  findet,  alles,  was 
er  hat,  gibt,  um  den  Acker  zu  kaufen,  es  ist  die  Eine  kostbare 
Perle,  für  welche  alles  gegeben  wird,  Matth.  13,  45  f.  Als  das, 
was  allein  einen  wahrhaft  geistigen,  absoluten  Werth  hat,  ist 
es  eine  Kraft,  welche  von  ihrem  Innern  Triebe  heraus  sich  ent- 
wickelt, und  in's  Unendliche  sich  erstreckende  Wirkungen  her- 
vorbringt. Es  gleicht  einem  Sauerteig,  welcher  die  ganze  Masse 
durchdringt,  einem  Senfkorn,  das  vom  kleinsten  Anfang  aus 
zum  mächtigsten  Baum  emporwächst,  Matth.  43,  31  f.  Es  ist 
das  der  Menschheit  eingepflanzte  göttliche  Princip,  das  als  das 
Substanzielle  in  ihr  mit  einer  über  alles  übergreifenden  Macht 
in  ihr  wirkt.  In  allen  diesen  Beziehungen  erscheint  das  Reich 
Gottes  von  einer  rein  sittlichen  Seite.  In  ihm  ist  der  Mensch 
in  den  Kreis  einer  Thätigkeit  hineingestellt,  in  welchem  er  die 
Aussagen  seines  sittlichen  Bewusstseins  als  den  an  ihn  erge- 
henden göttlichen  Ruf  zu  betrachten  hat,  dessen  Befolgung  oder 
Nichtbefolgung  von  seiner  Empfänglichkeit  für  das  Göttliche 
abhängt.  Das  Verhältniss  des  Menschen  zum  Reich  Gottes  ist 
hier  noch  ein  ganz  einfaches  und  unbestimmtes,  aber  durchaus 
freies,  auf  sittlicher  Selbstbestimmung  beruhendes;  alles,  wo- 
durch es  in  der  weitern  Entwicklung  der  Lehre  des  Christen- 
thums  vermittelt  wird,  liegt  noch  ausserhalb  dieses  ursprüng- 
lichen Gesichtskreises.  Was  sonst  dabei  noch  zur  Sprache  kom- 
men könnte,  wie  namentlich  die  Frage,  ob  das  Reich  Gottes  im 
Sinne  Jesu  sich  auch  auf  die  Heiden  erstrecken  sollte,  oder  blos 
auf  die  Juden,  hängt  mit  der  Lehre  Jesu  von  seiner  Person  und 
seiner  messianischen  Bestimmung  zusammen.  Indem  wir  nun 
darauf  übergehen,  ist  als  Resultat  aus  dem  Bisherigen  festzu- 
halten, dass  Jesus  ebenso,  wie  er  in  der  Bergrede  als  seine 
.Aufgabe  die  Yergeistigung  des  Gesetzes,  die  Erhöhung  der  sitt- 


Die  Lehre  Jesu  von  Beiner  Person.  75 

liehen  Anforderungen  an  den  Menschen  und  die  Veredlung 
seines  innern  und  äussern  Lebens  aussprach,  so  auch  in  seinen 
Gleichnissreden  das  Messiasreich  niemals  im  jüdischen  Sinne, 
sondern  immer  nur  als  ein  sittlich -religiöses  Gemeinwesen 
schildert. 

Was  nun  die  Lehre  Jesu  von  seiner  Person  und  Messianilät 
betrifft,  so  ist  diess  der  schwierigste  Punkt  der  neutestament- 
lichen  Theologie.  Welcher  grosse  Unterschied  findet  gerade  in 
dieser  Beziehung  zwischen  dem  johanneischen  Evangelium  und 
den  synoptischen  Evangelien  statt,  welche  ganz  andere  Christo- 
logie  erhalten  wir,  wenn  wir  alles  dasjenige,  was  Jesus  bei 
Johannes  von  sich  und  seiner  höhern  Würde  behauptet,  als  die 
ächte  Lehre  Jesu  betrachten,  und  wenn  wir  uns  blos  an  die 
synoptischen  Evangelien  halten?  Aber  auch  bei  den  synopti- 
schen Evangelien  selbst  kommt  alles  darauf  an,  dass  nichts  zu 
der  ursprünglichen  Lehre  Jesu  gerechnet  wird,  was  nur  der 
Ansicht  der  Evangelisten  angehört,  wie  sie  sich  erst  nach  dem 
Tode  Jesu  gebildet  hat.  Wie  leicht  konnte  geschehen,  dass 
nachdem  einmal  den  Jüngern  Jesu  nach  seinem  Tode  sein  ganzes 
Leben  und  Schicksal  in  einem  höhern  Licht  erschien,  und  ihr 
messianischer  Glaube  seine  bestimmtere  Ausbildung  erhalten 
hatte,  auch  die  Evangelisten  selbst  in  die  Aussprüche  Jesu 
Manches  übertrugen,  was  nur  aus  ihrer  spätem  Anschauungs- 
weise genommen  war.  Es  kommt  daher  hier  alles  zur  Anwen- 
dung ,  was  sich  aus  der  Evangelienkritik  theils  über  das  Ver- 
hältniss  des  johanneischen  Evangeliums  zu  den  synoptischen 
Evangelien,  theils  über  die  Entstehung  der  synoptischen  Evan- 
gelien als  Resultat  ergibt. 

Es  kommen  hier  zuerst  die  beiden  Ausdrücke  zur  Bezeich- 
nung des  Messias  6  uiö?  toO  avOptoTrou  und  6  utö?  toO  OsoO  in 
Betracht,  und  es  fragt  sich ,  in  welchem  Sinne  Jesus  dieselben 
sich  beilegte.  Die  gewöhnlichste  Bezeichnung,  die  sich  Jesus 
in  den  Evangelien  gibt,  ist  6  uiö?  toö  ivGpwTtou.    Bei  Matthäus 


76  ,tiO»'i9H  tErster  AbBohnitt. 

nennt  sich  Jesus  zuerst  8,  20  so:  Die  Füchse  haben  Gruben, 
und  die  Vögel  des  Himmels  Wohnungen ,  des  Menschen  Sohn 
aber  hat  nicht,  wohin  er  sein  Haupt  legen  soll.  Es  ist  immer 
nur  Jesus  selbst,  welcher  in  seinen  Reden  sich  so  bezeichnet, 
im  neuen  Testament  kommt  sonst  dieser  Ausdruck  nur  in  der 
Rede  des  Stephanus  Apostelgesch.  7,  56  vor,  wo  Stephanus  sagt: 
Ich  sehe  den  Himmel  offen  und  des  Menschen  Sohn  zur  Rechten 
Gottes  stehend.  Hier  ist  der  zum  Himmel  erhobene  Jesus  als 
Messias  so  bezeichnet.  Über  die  Quelle,  aus  welcher  dieser 
Ausdruck  abzuleiten  ist,  gibt  den  besten  Aufschluss  die  Stelle 
Matth.  24,  30.,  wo  Jesus  in  seiner  Weissagung  über  Jerusalem 
und  in  seiner  Verkündigung  der  Parusie  sagt:  Und  dann  wird 
das  Zeichen  des  Menschensohns  am  Himmel  erscheinen,  und  alle 
Geschlechter  der  Erde  werden  klagen,  und  sie  werden  den 
Menschensohn  kommen  sehen  auf  den  Wolken  des  Himmels  mit 
grosser  Macht  und  Herrlichkeit,  Ganz  ebenso  heisst  es  Matth. 
26,64.,  wo  Jesus  vor  seinen  Richtern  sagt:  Von  jetzt  an  werdet 
ihr  sehen  den  Menschensohn  sitzen  zur  Rechten  der  Macht  und 
kommen  auf  den  Wolken  des  Himmels.  Sehr  deutlich  weisen 
diese  Stellen  auf  Dan.  7,  13  f.  zurück,  wo  der  Prophet  nach  der 
Beschreibung  der  vier  Thiere  sagt:  ich  sah  und  siehe  mit  den 
Wolken  des  Himmels  kam  wie  eines  Menschen  Sohn  C^^gt  ^issi, 
(i?  uiö?  avöptoTiou  LXX),  und  man  brachte  ihn  vor  den  Alten  der 
Tage  und  ihm  ward  Herrlichkeit  und  Königreich  gegeben.  Die 
vier  Thiere  bedeuten  die  vier  grossen  Weltreiche.  Nach  dem 
Untergang  des  letzten,  des  macedonischen,  zu  welchem  das 
syrische  gehört,  soll  das  Reich  auf  ewige  Zeiten  dem  Volke 
Gottes  gegeben  werden.  Der  mit  den  Wolken  des  Himmels  wie 
eines  Menschen  Sohn  Kommende  kann  daher  nur  der  Messias 
sein,  der  im  Volke  Gottes  der  Stifter  eines  neuen  Reiches  wer- 
den sollte.  Der  Hauptzug  aber,  mit  welchem  das  von  Daniel 
beschriebene  Wesen  als  ein  messianisches  bezeichnet  wird,  ist 
nicht  die  Vergleichung  itiit  einem  Menschen  oder  eines  Menschen 


Die  Lehre  Jesu.     Der  Menschensohn.  TT 

Sohn,  sondern  das  Kommen  in  den  Wolken  des  Himmels.  Da 
die  dem  messianischen  Reich  vorangehenden  Weltreiche  durch 
Thiergestalten  symbolisirt  sind,  so  kann  die  Bezeichnung  des 
Messias  als  Menschensohns  nur  im  Gegensatz  gegen  jene  Thiere 
genommen  werden,  sei  es  nun,  dass  dadurch  der  Gegensatz  der 
Humanität  des  zu  erwartenden  Reichs  der  Heiligen  gegen  die 
durch  Thiergestalten  versinnlichte  Inhumanität  der  früheren 
Reiche,  oder  überhaupt  nur  der  Vorzug,  der  in  der  edleren 
Form  bestehende  specifische  Unterschied  des  erstem  vor  den 
letztern  ausgedrückt  werden  soll  0-  Es  lässt  sich  wohl  an- 
nehmen ,  dass  nach  sonstiger  Analogie  6  uiö;  toO  dvOpwTcou  eine 
bei  den  Juden  nicht  ganz  ungewöhnliche  Bezeichnung  des  Mes- 
sias war.  Auch  im  Buch  Henoch,  dessen  Ursprung  nach  den 
neuesten  Untersuchungen  in  die  vorchristliche  Zeit,  in  das  zweite 
Jahrhundert  vor  Christus  zu  setzen  ist,  ist  diess  eine  sehr  ge- 
wöhnliche Bezeichnung  des  Messias.  Er  heisst  Menschensohn, 
Sohn  des  Menschgeborenen,  Sohn  des  Mannes,  Sohn  des  Weibes, 
durch  welche  Namen  alle  er  als  wahrhaftiger  Mensch  bezeichnet 
werden  soll  0-  Die  Frage  ist  nur,  ob  gerade  die  diesen  Mes- 
siasbegrifF  enthaltenden  Stellen  so  entschieden  als  vorchristlich 
anzunehmen  sind,  wie  Ewald  ^),  Dillmann  und  auch  Köst- 
lin*)  annehmen.  Dass  der  Ausdruck  auf  Daniel  zurückzuführen 


1)  Hitzig,  Proph.  Daniel  S.  116  f.  versteht  unter  dem  Menschen- 
sohn nicht  den  persönlichen  Messias.  Die  Hoffnung  des  persönlichen 
Messias  tauche  weder  in  den  ührigen  Apokryphen,  noch  in  1  Maccah. 
auf,  noch  in  den  maccabäischen  Psalmen.  Schon  dem  Ohadja  und  Ma- 
leachi  sei  sie  fremd,  dagegen  sei  Ps.  89,  39.  84,  10  vielmehr  das  Volk 
der  Messias,  der  Gesalbte  Gottes.  Der  Menschensohn  sei  das  concreto 
Bild  des  Reichs,  das  die  Heiligen  sind,  das  Reich,  sofern  es  herrscht 
über  die  Heiden.  Dieses  Reich  kommt  vom  Himmel  herab,  die  Heiden 
dagegen  stammen   aus  der  Hölle. 

2)  Vgl.  Dill  mann.  Buch  Henoch,  1853.  S.   157.      \  .,     ,,,^ 

3)  Geschichte  Christus'  (G.  d.  Volks  Isr.    V.    2.  A.)  S.'so  t 

4)  J.  Köstlin,  Einheit  und  Maimigfaltigkeit  der  neutestamentl. 
Lehre.     Jahrb.  für  deutsch.   Theol.  Jahrg.  HL  1858,  S.  90  £, 


78  .nito«!        Erster  Abschnitt. 

ist,  leidet  keinen  Zweifel;  ob  er  aber  zur  Zeit  Jesu  eine  so 
gangbare  Bezeichnung  des  Messias  war,  dass  Jesus,  wenn  er 
sich  so  nannte,  sich  damit  unmittelbar  als  Messias  bezeichnete 
und  annehmen  musste,  dass  er  auch  von  Andern  dafür  gehalten 
werde,  ist  eine  andere  Frage.  In  jedem  Fall  kommt  es  vor 
allem  darauf  an,  zu  wissen,  in  welchem  Sinn  der  Ausdruck  in 
den  betreffenden  Stellen  des  neuen  Testaments  zu  nehmen  ist. 
Je  weniger  sonst  diese  Bezeichnung  bei  den  Juden  geläufig  ge- 
wesen zu  sein  scheint,  um  so  mehr  muss  man  fragen,  warum 
sie  Jesus  gerade  vorzugsweise  wählte  und  welchen  Begriff  er 
mit  ihr  verband. 

Der  Ausdruck  kann  in  jedem  Fall  nur  so  verstanden  wer- 
den, dass  in  ihm  auf  das  Menschliche  seiner  Person  besonderes 
Gewicht  gelegt  werden  soll;  aber  in  welchem  Sinn,  etwa  so, 
dass  damit  gesagt  werden  soll,  ungeachtet  seiner  hohen,  über- 
menschlichen, göttlichen  Würde  sei  er  dennoch  Mensch?  Diess 
könnte  nach  den  johanneischen  Stellen,  in  welchen  der  Ausdruck 
gebraucht  wird,  der  Sinn  zu  sein  scheinen.  Wenn  Jesus  Joh; 
i,  52  sagt:  Von  nun  an  werdet  ihr  den  Himmel  offen  sehen, 
und  die  Engel  Gottes  hinauf  und  herabsteigen  auf  des  Menschen . 
Sohn,  so  ist  hier  des  Menschen  Sohn  der  Vermittler  des  Gött- 
lichen und  Menschlichen,  derjenige,  der  in  seiner  Person  beides 
vereinigt.  Dieselbe  Einheit  des  Göttlichen  und  Menschlichen, 
des  Himmels  und  der  Erde  soll  Joh.  3,  13  in  dem  uto?  toO  dcv- 
SpwTTou  angeschaut  werden.  Wenn  Joh.  5,  27  gesagt  wird,  der 
Vater  habe  dem  Sohn  die  Macht  gegeben,  auch  Gericht  zu  halten, 
oTt  uiö;  dcvöpwTTOu  eaxl,  so  kann  diess  nur  so  verstanden  werden,, 
dass  derselbe,  welcher  mit  dem  Vater  so  identisch  ist,  dass  er 
alles,  was  der  Vater  hat,  mit  ihm  theilt,  alles  thut,  was  der 
Vater  thut,  aber  auch  als  Sohn  die  göttliche  Thätigkeit  vermittelt 
und  als  Sohn  das  thut,  was  der  Vater  nicht  unmittelbar  thun 
kann,  auch  eine  den  Menschen  besonders  nahe  stehende  Seite  hat, 
und  so  die  Menschen  richtet,  weil  er  selbst  Mensch,  des  Menschen 


Die  Lehre  Jesu.  Der  MenschenBobn.        79 

Sohn  ist  ^).  Auch  Joh.  6,  53  kann  der  uio?  tou  ävöptüTuou  nur 
in  Beziehung  auf  das  Göttliche,  das  er  in  seiner  Person  mit  dem 
Menschlichen  vereinigt,  genommen  werden.  Das  (payeTv  ttiv 
(japxa  ist  der  prägnanteste  concretesle  Ausdruck  für  die  Auf- 
nahme des  Göttlichen  von  Seiten  des  Menschen;  wie  ist  aber 
dieses  «paysTv  ttjv  capxa  möglich,  wenn  nicht  der,  dessen  Fleisch 
gegessen  werden  soll,  als  der  mit  dem  Vater  identische  Sohn, 
auch  eine  menschliche  Seite  an  sich  hat?  Der  uiö;  toO  avÖpwTrou 
soll  also  hier  die  Möglichkeit  des  (payeiv  txv  capxa  erklären.  Im 
Gegensatz  gegen  das  Göttliche  soll  also  in  allen  diesen  Stellen 
auch  die  andere  menschliche  Seite  und  die  Einheit  des  Göttlichen 
und  Menschlichen  festgehalten  werden.  Was  berechtigt  uns  aber, 
diese  johanneische  Christologie  auch  in  den  synoptischen  Aus- 
sprüchen Jesu  von  seiner  Person  vorauszusetzen?  Es  wäre 
gewiss  eine  sehr  falsche  Auffassung,  wenn  man  den  Ausdruck 
ui6;  TOU  ävöpwTTou  bei  den  Synoptikern  so  verstehen  wollte, 
Jesus  wolle  mit  ihm  sagen,  er  sei,  ungeachtet  er  an  sich  nicht 
Mensch,  sondern  Gott  sei,  doch  zugleich  Mensch.  Aber  in 
welchem  Sinn  will  er  denn  ganz  besonders  Mensch  sein?  Ist 
er  als  uioi;  toO  dcvöpcoxou  Mensch  im  höchsten  Sinn,  Urbild  der 
Menschheit,  wie  Neander  meint  ^),  er  nenne  sich. so  als  den 
der  Menschheit  Angehörenden,  der  in  der  menschliehen  Natur 
für  dieselbe  so  Grosses  gewirkt  hat,  durch  den  dieselbe  ver- 
herrlicht wird,  welcher  in  dem  vorzüglichsten,  dem  der  Idee 
entsprechenden  Sinne  Mensch  ist,  der  das  Urbild  der  Menschheit 
verwirklicht?  Diese  Idee  könnte  man  höchstens  in  dem  Aus- 
spruch Matth.  12,  8  finden:  des  Menschen  Sohn  ist  auch  Herr 


1)  Sagt  man,  das  Richteratnt  des  Sohns  solle  motivirt  werden  darch 
Hinweisnng  auf  die  Erscheinung  des  TÖ3N  "13  beim  Weltgericht  im  Buch 
Daniel,  so  sollte  man  eher  6  utbi;  tou  av8pb>nou  erwarten.  Dass  es  schlecht- 
hin uFo;  avOptüTCou  heisst,  scheint  auch  blos  an  das  Menschliche  seiner 
Erscheinung  denken  zu  lassen. 

2)  Das  Leben  Jesu  Christi,  1837.  S.  130  £ 


80  i(<o««».<t  Erster  Abschnittäiitawl  uiÜ 

des  Sabbaths;  und  zwar  nach  der  Fassung  bei  Marc.  2,  27.,  wo 
noch  dabei  steht:  der  Sabbath  ist  um  des  Menschen  willen,  nicht 
der  Mensch  um  des  Sabbaths  willen.  Was  vom  Menschen  über- 
haupt gilt,  gilt  um  so  mehr  von  dem  idealen  Menschen,  dem 
Messias.  Sonst  aber  deutet  nichts  darauf  hin,  dass  der  uid; 
avSpwTTOu  gerade  in  diesem  Sinne  zu  nehmen  ist,  und  man  kann 
fragen,  ob  sich  Jesus  nicht  eher  im  entgegengesetzten  Sinne  so 
nennen  wollte,  um  sich  als  den  zu  bezeichnen,  der  Mensch  ist 
und  nur  Mensch  sein  will,  mit  allem,  was  das  menschliche  Da- 
sein Menschliches  in  sich  begreift.  In  diesem  Sinne  bemerkt 
de  Wette  zu  Matth.  8,  19:  Wir  müssen  annehmen,  dass  sich 
Jesus  den  Menschensohn  nannte,  weil  er  in  seiner  menschlichen 
unscheinbaren  Individualität  den  Messias  darstelle,  gerade  so 
wie  auch  Daniel  die  menschliche  Gestalt  desselben  bezeichnen 
will  und  so  wie  Ezechiel  sich  Gott  gegenüber  als  Menschensohn, 
d.  h.  als  schwachen  Sterblichen  darstellt,  so  dass  der  Ausdruck 
für  diejenigen,  welche  nicht  an  Dan.  7,  13  dachten,  nichts 
weiter  hiess,  als  dieser  Mensch  =  ich,  in  Beziehung  auf  jene 
Stelle  aber:  ich  dieser  unscheinbare  Mensch,  der  trotz  seiner 
Niedrigkeit  dazu  bestimmt  ist,  das  zu  sein,  was  der  Prophet 
geweissagt  hat.  Wenn  man  es  aber  so  wendet,  so  hätte  er  sich 
damit  doch  als  Messias  bezeichnet  im  Sinne  Daniels.  Um  darüber 
zu  entscheiden,  muss  man  die  Stelle  Matth.  16,  13  etwas  ge- 
nauer in's  Auge  fassen.  Jesus  fragt  hier  die  Jünger:  Wer  sagen 
die  Leute,  dass  ich  sei,  ich  der  uto?  tou  ävöpwTtou?  Sie  ant- 
worteten :  die  Einen,  Johannes  der  Täufer,  Andere  Elias,  Andere 
Jeremias,  oder  einer  der  Propheten.  Darauf  sagte  er  zu  ihnen: 
Wer  aber  sagt  ihr,  dass  ich  sei?  Wie  hätte  Jesus  so  fragen 
können,  wenn  er  mit  dem  Ausdruck  uid?  toO  avOpwTrou  unmittel- 
bar den  Begriff  des  Messias  verbunden  hätte?  Er  lässt  bei  seiner 
Frage  eine  zu  grosse  Weite  für  die  Antwort  offen,  während  er 
doch,  wenn  er  sich  mit  dem  Ausdruck  uid;  toO  av6pa>7rou  als 
Messias  bezeichnen  wollte,  nur  fragen  konnte, nicht,  für  wen 


Die  Lehre  Jesu.     Der  Menschensofan.  81 

sie  ihn  halten,  sondern  ob  sie  ihn  für  des  Menschen  Sohn  halten. 
Man  kann  daher  seine  Frage  nur  so  nehmen:  für  wen  sehet  ihr 
mich  an,  der  ich  mich  durch  den  eigenthümlichen  Ausdruck 
6  uio?  TO'j  ävöpwTTou  zu  bezeichnen  pflege.  Man  muss  daher  auf 
die  Yermuthung  kommen,  dass  Jesus  den  zwar  aus  Daniel  ge- 
nommenen, aber  doch  zur  Bezeichnung  des  Messias  nicht  so 
gewöhnlichen  und  gangbaren  Ausdruck  in  der  Absicht  für  sich 
wählte,  nicht  um  damit  so  direct  zu  sagen,  er  sei  der  Messias, 
sondern  vielmehr  um  im  Gegensatz  gegen  die  nur  Glänzendes 
vom  Messias  erwartenden  jüdischen  Vorstellungen  sich  schlecht- 
hin als  Menschen  zu  bezeichnen,  nicht  als  Menschen  im  idealen 
Sinne,  sondern  als  den,  der  alles  Menschliche  theilt,  qui  nihil 
humani  a  se  alienum  putat.  Dass  dieses  in  uiö?  ÄvöptüTrou  liegen 
kann,  sieht  man  aus  Joh.  5,  27.  Denn  wenn  es  hier  nicht  wie 
sonst  immer  6  oSo?  avOptorou,  sondern  ohne  Artikel  blos  uiö? 
avOptoTTOu  heisst,  so  kann  der  Grund  hievon  nur  sein,  dass  Jesus 
hier  nicht  das  Messianische  seiner  Person,  sondern  das  acht 
Menschliche  hervorheben  will.  Weil  er  als  uiö?  avöpcorou  Mensch 
ist,  hat  ihm  Gott  das  Gericht  übergeben.  In  diesem  Sinne  also 
hätte  sich  Jesus  zunächst  nur  uiö;  ävOpcoTuou  genannt,  ohne  sich 
so  bestimmt  als  Messias  zu  bezeichnen,  oder  so  verstanden  zu 
werden,  da  man  nicht  anzunehmen  braucht,  dass  diess  damals 
schon  eine  so  gewöhnliche  und  vulgäre  Bezeichnung  des  Messias 
war.  Damit  stimmt  gut  zusammen,  dass  Jesus  in  der  ersten 
Stelle,  in  welcher  bei  Matthäus  dieser  Ausdruck  gebraucht  ist, 
8,  19.,  auf  die  Rede  des  Schriftgelehrten:  Ich  werde  dir  folgen, 
wohin  du  auch  gehst,  die  Antwort  gibt:  Die  Füchse  haben 
Gruben  u.  s.  w.,  des  Menschen  Sohn  aber  hat  nicht,  wohin  er 
sein  Haupt  legen  kann.  Zur  Bestimmung  des  Menschensohns 
gehört  es  also,  alles  niedrig  Menschliche  zu  ertragen.  Wenn 
aber  Jesus  ursprünglich  nur  sagte  utö?  ävBpwTirou,  so  hatte  er 
auch  nur  gesagt:  ein  Menschenkind,  wie  ich,  muss  auch  das 
Niedrigste  ertragen,   was  zum  Loos  eines  Menschen  gehört. 

a 

Baur,  neutest.  Theol.  ^ 


gg  .nifp*0  ErBter  Abschnitt. 

Weil  einmal  auch  das  menschlich  Leidensvolle  dazu  gehört,  so 
wird  besonders  auch,  wenn  vom  Leiden  Jesu  die  Rede  ist,  dieser 
Ausdruck  gebraucht  Matth.  17,  12.  Nachdem  aber  einmal  Jesus 
diesen  Ausdruck  ursprünglich  nur  in  diesem  Sinne  gebraucht 
und  zu  einer  gewöhnlichen  Bezeichnung  seiner  Person  gemacht 
hatte,  nahm  man  erst  jenes  andere  Moment  aus  der  Daniel'schen 
Stelle  noch  auf,  nach  welchem  jener  Menschensohn  der  Messias, 
6  uiö;  ToO  ävOpojTTou,  der  in  den  Wolken  des  Himmels  Kommende 
ist.  Es  wurde  diess  daher  das  stehende  Prädicat  Jesu  in  der 
Schilderung  seiner  Parusie,  wie  auch  die  Apokal.  1,  13;  14, 14 
diesen  Ausdruck  mit  deutlicher  Hinweisung  auf  Daniel  ge- 
braucht 0- 
ffl-«»i»i4th  «aflll  '^  -\»A»^  mim\\r 

1)  Weisse,  die  Evangelienfrage  in  ihrem  gegenwärtigen  Stadinm, 
1856,  S.  101  f.  und  210  f.  bestreitet  als  einen  grossen  Irrthum  die  ge- 
wöhnliche, auch  von  Ewald  vertheidigte,  Meinung,  dass  das  Wort 
uVo;  Tou  ivOpwJcou,  angeblich  aus  Dan.  7,  13  abgeleitet,  schon  vor  Christus 
ein  gestempelter  Aixsdrnck  für  den  jüdischen  MessiasbegrifF  gewesen  und 
von  ihm  eben  nur  als  ein  solcher  aufgenommen  worden  sei.  Dieser 
Irrthum  werde  schon  durch  den  einfachen  Hinblick  auf  Stellen  wie  Marc. 
8,  29  und  Job.  12,  34  widerlegt.  Bei  Daniel  bezeichnen  die  Worte: 
„wie  eines  Menschen  Sohn"  nichts  anderes  als  einfach  nur  die  Menschen- 
älmlichkeit  der  Erscheinung,  welche  dort  geschildert  werden  soll.  Unter 
dieser  Erscheinung  sei  nicht  der  kommende  Messias  gemeint,  sondern 
Daniel  theile  mit  den  altern  Propheten  nur  das  ganz  xVllgemeine  der 
Erwartung  einer  idealen  Zukunft  des  israelitischen  Volkes.  Der  Menschen- 
sohn Daniels  müsste.  also  erst  nachträglich  von  den  Juden  auf  den  Mes- 
sias gedeutet  worden  sein.  Diess  könne  mau  aber  nicht  annehmen  bei 
-der  in  den  Evangelien  so  klar  vor  Augen  liegenden  Thatsache,  dass 
weder  das  Volk  noch  selbst  die  Jünger  bis  zu  der  Unterredung  Marc. 
8,  27  in  dem  Worte  Menschensohn  den  Begriff  des  Messias  geahnt  haben. 
Im  Zusammenhang  damit  erklärt  Weisse  das  Buch  Henoch  für  ein  un- 
zweifelhaftes Erzeugniss  der  christlichen  Zeit.  Wenn  auch  diese  letzteren 
Behauptungen  nicht  ganz  unberechtigt  sind  ,  so  ist  doch  die  Erklärung, 
welche  Weisse  von  dem  Ausdruck  u!o{  tou  av6ptoJtou  gibt,  so  unnatürlich 
und  geschraubt,  dass  man  ihr  auch  nicht  die  geringste  Wahrscheinlichkeit 
beilegen  kann.  Der  Begriff  des  Menschensohns  soll  in  Christus'  Munde 
das  Nämliche  sagen,  wie  der  Begriff  des  "köyoi  aapxcuOE^f  im  Munde  des 
Jüngers,  der  eben  mit  diesem  Ausdruck  sein  richtiges  Verständniss  der 
et 


Die  Lehre  Jesu.     Der  Menschen-  und  Gottessohn.      83 

Einfacher  ist  die  Bedeutung  des  parallelen  Ausdrucks  uiö? 
Toii  6soO.  Im  weitesten  Sinne  sind  uCol  toO  öeou  alle,  die  sich 
durch  ihr  sittliches  Verhalten  des  göttlichen  Wohlgefallens  wür- 


erbabenen  Lehre  des  Meisters  bewährt  habe.  Das  lou  avöptuTrou  könne 
auch  eine  blos  adjectivische  Bedeutung  haben,  und  als  Prädicat  von  utb; 
genommen  werden.  Wenn  Weisse  zu  Marc.  8,  27  bemerkt,  schon  die 
Frage,  wofür  ihn  das  Volk  und  wofür  ihn  die  Jünger  halten,  wäre  nicht 
zn  begreifen ,  wenn  Jesus  sich  schon  zuvor  einen  dem  Messiasnamen 
äquivalenten  Namen  beigelegt  hätte,  so  ist  ihm  entgegenzuhalten,  woher 
wissen  wir  denn,  dass  sich  Jesus  von  Anfang  an  so  genannt  hat,  es 
kann  diess  ja  auch  blos  der  Darstellung  der  Evangelien  angehören,  es 
lässt  sich  ja  nnnehmen,  dass  Jesus  erst  von  einem  bestimmten  Zeitpunkt 
an  dem  von  ihm  zuerst  nur  unbestimmt  gebraucliten  Ausdruck  uio?  av- 
6pa>::üu  diese  bestimmte  messianische  Bedeutung  gegeben  hat.  Daher  hat 
auch  das  Verbot  V.  30  nichts  so  unbegreifliches.  In  der  Stelle  Job. 
12,  34  meint  Weisse  die  Worte  Tt's  saxtv  u.  s.w.  sollen  nach  der  Absicht 
des  Erzählers  offenbar  die  Unbekanntschaft  der  Juden  mit  dem  Sinne  des 
Namens  ausdrücken ,  es  verrathe  sich  in  ihnen  das  Bewusstsein ,  dass  ja 
doch  „Menschensohn"  nicht  von  dem  Volk  ohne  Weiteres  als  Ausdruck  für 
den  Begriff  des  Messias  verstanden  worden  sei.  Allein  diese  Erklärung 
ist  nicht  die  richtige.  Das  Volk  nimmt  vielmehr  XptuTo?  und  utb;  av- 
Opw;rou  als  gleichbedeutend,  es  weiss,  dass  der  uld;  tou  avöptojiou  der 
Messias  ist,  es  wundert  sich  aber  darüber,  dass  Jesus  von  dem  als  uro; 
TOU  av6pc[»::ou  bezeichneten  Messias  etwas  aussagt,'  was  er  bisher  mit 
seinem  Messiasbegriff  nicht  zu  verbinden  gewohnt  war,  dass  er  nämlich 
nicht  {xe'vsi  £?s  tbv  a?t5va,  sondern  sterben  soll.  Diese  Stelle  beweist  also 
eher  das  Gegcntheil  von  Weisse's  Behauptung.  Alle  diese  Bedenklich- 
keiten heben  sich,  wenn  man  annimmt,  Jesus  habe  den  zu  seiner  Zeit 
zur  Bezeichnung  des  Messias  noch  nicht  so  gewöhnlichen  und  vulgären 
Ausdruck  zuerst  nin*  in  einem  noch  unbestimmteren  und  allgemeineren 
Sinn  gebraucht  und  erst  später  sei  damit  von  ihm  selbst  und  von  den 
Jüngern  der  bestimmtere  Begriff  des  Messias  verbunden  worden.  Es  ist 
also  zur  Erklärung  des  Ausdrucks  zweierlei  festzuhalten:  1)  dass  Jesus 
ihn  zuerst  nur  in  dem  angegebenen  unbestimmteren  und  allgemeineren ' 
Sinn  gebrauchte,  und  2)  dass  der  Ausdruck  auch  bei  den  Juden  selbst 
noch  keine  so  gewöhnliche  und  vulgäre  Bezeichnung  des  Messias  war, 
dass  man  den  Ausdruck  nicht  anders  als  vom  Messias  verstehen  konnte. 
So  kann  man  sich  also  nicht  wundem,  dass  Jesus  Matth.  16,  13  so  fragt 
und  die  Jünger  so  antworten.  [Man  vgl.  über  diesen  ganzen  Abschnitt 
des  Verfassers  Abhandlung  in  Hilgenfeld's  Zeitschr.  für  wissensch.  Theol. 
Dritter  Jahrg.    1860.    S.  274—292.] 

6» 


84        ,idoa»e»ta|[)        Erster  Abschnitt,  ,rf>J  9H1 

dig  machen.  So  werden  Matth.  5,  9  Cvgl.  45)  die  Friedfertigen, 
Luc.  6,  35  die,  welche  Gott  in  der  Feindesliebe  und  Wohlthätig- 
keit  nachahmen,  utol  öeoO,  uiol  u^|/i<jtou  genannt.  In  speciellem 
Sinne  aber  ist  der  uiö;  toO  OsoO  der  Messias.  Ausdruck  und 
Begriff  stammt  aus  dem  jüdisch-theokrätischen  Ideenkreise.  Im 
Alten  Testament  wird  sowohl  das  Volk  Israel  als  der  König 
desselben  der  Sohn  und  Erstgeborne  Gottes  genannt.  Die  classi- 
sche  Stelle  für  dieses  Verhältniss  de&  theokratischen  Königs  zu 
Gott  ist  der  Spruch  des  Propheten  Nathan  2  Sam.  7, 14  f.,  wo  Gott 
zu  David  in  Beziehung  auf  seinen  Sohn  und  Nachfolger  spricht: 
Ich  will  ihm  Vater  sein  und  er  soll  mein  Sohn  sein,  so  dass, 
wenn  er  sich  vergehet,  ich  ihn  züchtige  mit  Menschenruthen 
und  mit  Schlägen  der  Menschenkinder,  und  meine  Gnade  soll 
nicht  weichen  von  ihm,  und  dein  Thron  soll  fest  sein  auf  ewig. 
Der  Name  Sohn  soll  daher  das  besondere  und  unmittelbare  Lie- 
besverhältniss  bezeichnen,  in  welchem  Gott  als  väterlich  leiten- 
der und  züchtigender  Erzieher  zu  dem  theokratischen  König 
steht.  Zu  vergleichen  sind  hiemit  die  .Psalmstellen  Ps.  2,  wo 
der  König  der  Gesalbte  Gottes  genannt  wird:  Ich  habe  meinen 
König  gesalbt  auf  Zion,  meinem  heiligen  Berg,  und  Gott  zu  dem 
Könige  sagt:  Du  bist  mein  Sohn,  ich  habe  dich  heute  gezeuget, 
und  Ps.  HO,  wo  der  König  als  Mit-  und  Unterregent,  als  Statt- 
halter Gottes  geschildert  wird.  Wie  sich  die  Messias-Idee  über- 
haupt erst  aus  dieser  theokratischen  Anschauungsweise  ent- 
wickelte, so  lag  es  ganz  in  der  Natur  der  Sache,  dass  mit  der 
weiteren  Ausbildung  derselben  auch  jener  theokratische  Begriff 
und  Name  vorzugsweise  auf  den  Messias  übergieng.  Er  ist  der 
Sohn  Gottes,  welcher  den  Davidischen  Königsthron  herstellen 
und  zu  seinem  höchsten  Glanz  erheben  sollte.  Der  uiö?  SsoO  ist 
gleichbedeutend  mit  uJo?  Aaßi^,  XpiuTo;  oder  Meaata;  und  Ba- 
(TtXeuc  Tou  'IffpaviX  (Joh.  1,  50),  und  alle  diese  Namen  waren  zur 
Zeit  Jesu  die  gangbarsten  Bezeichnungen  des  Messias. 

Indem  wir  nun  nach  diesen  einleitenden  Bemerkungen  zur 


Die  Lehre  Jesu  von  seiner  Person.  85 

weiteren  Untersuchung  der  Lehre  Jesu  von  seiner  Person  fort- 
gehen, so  ist  hier  der  eigentliche  Fragepunkt,  um  welchen  es 
sich  handelt,  sehr  genau  festzustellen.  Nach  der  evangelischen 
Geschichte  ist  Jesus,  sobald  er  durch  seine  Taufe  feierlich  als 
Sohn  Gottes  oder  Messias  dargestellt  war,  mit  der  ihm  eigen- 
thümlichen  Würde  und  Bestimmung  aufgetreten ,  und  alle  seine 
Reden  und  Handlungen  und  besonders  die  von  ihm  verrichteten 
Wunder  waren  ebenso  viele  Beweise  seiner  höheren  Sendung. 
Es  bedurfte  von  seiner  Seite  nicht  erst  einer  bestimmten  Er- 
klärung über  die  Bedeutung  seiner  Person.  Die  Sache  selbst, 
seine  ganze  Erscheinung  bezeugte  aufs  Unzweideutigste  von 
selbst,  wer  er  war.  Dieses  Factische  kommt  jedoch  hier  für 
uns  nicht  in  Betracht,  da  es  die  Aufgabe  der  neutestamentlichen 
Theologie  nicht  sein  kann,  eine  kritische  Geschichte  des  Lebens 
Jesu  zu  geben.  Es  fragt  sich  daher  nur,  was  Jesus  selbst  über 
seine  Person  gelehrt  hat,  und  da  wir  nach  den  Grundsätzen  der 
neuesten  Kritik  das  johanneische  Evangelium  nicht  mit  den 
synoptischen  Evangelien  zusammennehmen  können,  so  be- 
schränkt sich  auch  diese  Frage  auf  die  Aussprüche  Jesu  in  den 
synoptischen  Evangelien.  Aus  ihnen  ist  daher  zu  erhebeir,  was 
Jesus  von  seiner  Person  lehrte,  ob  und  in  welchem  Sinn  er  sich 
als  Messias  betrachtete.  Dabei  dringt  sich  nun  aber  sogleich 
die  Frage  als  eine  sehr  schwierige  auf,  ob  es  möglich  ist,  die 
darauf  sich  beziehenden  Aussprüche  Jesu  von  dem  Factischen, 
mit  welchem  sie  verflochten  sind,  so  zu  trennen,  dass  die- 
selben Zweifel,  welche  das  Factische  betreffen,  nicht  auch 
auf  sie  sich  erstrecken.  Es  wird  diess  kaum  möglich  sein, 
indess  ist  doch  der  Versuch  zu  machen,  um  zu  sehen,  welches 
Resultat  sich  auf  diesem  Wege  ergibt,  und  es  sind  daher  hier 
nach  dem  Evangelium  des  Matthäus  die  Aussprüche  Jesu  über 
seine  Person  zusammenzustellen. 

Die  erste  hieher  gehörende  Stelle  ist  schon  in  der  Bergrede 
Mattb.  7,  21,  wo  Jesus  sagt:  Es  wird  nicht  jeder,  der  zu  mir 


S6  .110«'!  Erster  Abschnitt. 

sagt,  Herr,  Herr,  in  das  Himmelreich  kommen,  sondern  wer 
den  Willen  meines  Vaters  im  Himmel  thut.  Es  werden  Viele  an 
jenem  Tage  zu  mir  sagen:  Herr,  Herr,  haben  wir  nicht  in 
deinem  Namen  geweissagt?  u.  s.  w.  So  konnte  Jesus  nur 
sprechen,  wenn  er  im  Hinblick  auf  seine  Parusie  sich  als  den 
Richter  der  Welt  betrachtete.  Aber  welche  Bürgschaft  haben 
wir  dafür,  dass  Jesus  diesen  Ausspruch  wirklich  schon  damals 
gethan  hat,  da  es  bekanntlich  sehr  zweifelhaft  ist,  ob  Jesus  die 
Bergrede  als  diese  zusammenhängende  Rede,  wie  sie  Matthäus 
gibt,  gehalten  hat,  ob  alle  Aussprüche  Jesu,  die  sie  enthält, 
schon  in  eine  so  frühe  Zeit  gesetzt  werden  können,  und  ob 
nicht  Manches  erst  von  dem  spätem  Standpunkt  des  Evangelisten 
aus  diese  bestimmte  Form  erhalten  hat.  Gerade  bei  diesem  Aus- 
Spruch  ist  diese  Annahme  sehr  leicht  möglich.  Der  Zusammen- 
hang wird  nicht  im  Geringsten  unterbrochen,  wenn  man  sich 
die  Verse  21—23  aus  demselben  hinwegdenkt.  Das  so  bestimmt 
ausgesprochene  Bewusstsein  Jesu  von  seiner  weltrichterlichen 
Macht  hat  in  der  ganzen  Rede  nichts  Analoges,  nicht  einmal 
5,  17  schliesst  ein  solches  Bewusstsein  in  sich.  Auch  das  ver- 
dient beachtet  zu  werden,  dass  während  Jesus  in  der  ganzen 
Rede  seinen  Zuhörern  gegenüber  von  Gott  als  dem  7raTr,p  u(aöv 
spricht,  er  ihn  nur  hier  speciell  seinen  Vater  nennt.  Es  findet 
demnach  zwischen  diesem  Ausspruch  und  dem  übrigen  Inhalt 
der  Bergrede  der  bedeutende  Unterschied  statt,  dass  Jesus  sonst 
nur  als  Gesetzesreformator  und  als  ein  mit  dem  Ernste  der  sitt- 
lichen Auctorität  wirkender  Volkslehrer  auftritt,  hier  dagegen 
er  schon  das  specifische  Prädicat  des  Messias  in  seinem  ganzen 
Umfang  für  sich  in  Anspruch  nimmt.  Lässt  sich  auch  nicht  be- 
zweifeln, dass  er  diess  gethan  hat,  und  jener  Ausspruch  ein 
achtes  Zeugniss  seines  messianischen  Bewusstseins  enthält,  so 
ist  man  doch  zu  der  Annahme  nicht  berechtigt,  dass  er  einer  so 
frühen  Periode  seiner  öffentlichen  Thätigkeit  angehört.  In  der 
Stelle  Matth.  8, 20  konnte  sich  Jesus  den  Menschensohn  nennen, 


Die  Lehre  Jesu  von  seiner  Person.  Q^ 

ohne,  wie  schon  bemerkt  worden  ist,  in  diesen  Ausdruck  eine 
bestimmte  messianische  Bedeutung  hineinzulegen. 

Anders  aber  ist  es  Matth.  9,  1 — 8,  wo  Jesus  als  der  jiö; 
ToO  dcvöpwTcou  die  Macht  zu  haben  behauptet,  die  Sünden  zu 
vergeben.  Dass  er  sich  hiemit  als  Messias  göttliche  Macht  und 
Würde  beilegen  wollte,  beweist  der  ganze  Hergang  der  Sache. 
Die  Gegner  nahmen  sein  Wort  zu  dem  Kranken:  Deine  Sünden 
sind  dir  vergeben,  als  eine  Gotteslästerung,  da  nur  Gott  die. 
Macht  hat,  die  Sünden  zu  vergeben.  Da  ihm  aber  der  Vorwurf 
der  Gotteslästerung  oder  der  Gleichstellung  seiner  Person  mit 
Gott  nur  gemacht  werden  konnte,  wenn  er  eine  göttliche  Macht 
zu  haben  sich  anmaasste,  die  er  nicht  wirklich  hatte,  oder  etwas 
zu  sein  behauptete,  was  er  nicht  wirklich  war,  so  erwiederte 
er  seinen  Gegnern :  Ihr  dürft  nicht  meinen ,  dass  ich  mir  etwas 
angemaasst  habe,  was  mir  nicht  wirklich  zukommt.  An  sich  ist 
freilich  das  Eine  so  leicht  als  das  Andere.  Ob  ich  sage:  deine. 
Sünden  sind  dir  vergeben,  oder:  stehe  auf  und  gehe  umher,  ist 
den  Worten  nach  gleich  viel,  darauf  aber  kommt  es  an,  dass 
man  das,  was  man  sagt,  auch  durch  die  That  zu  verwirklichen 
im  Stande  ist.  Um  euch  nun  aber  zu  zeigen ,  mit  welchem  reel- 
len Grunde  ich  gesagt  habe  zu  dem  Kranken,  deine  Sünden  sind 
dir  vergeben,  füge  ich  den  factischen  Beweis  hinzu,  indem  ich 
ihn  aufstehen  und  nach  Hause  gehen  heisse.  So  gewiss  ich  also 
die  göttliche  Macht  habe,  den  Kranken  augenblicklich  durch  ein 
Wunder  zu  heilen ,  so  gewiss  habe  ich  auch  das  göttliche  Recht 
und  die  göttliche  Macht,  die  Sünden  zn  vergeben.  So  nahm 
daher  auch  das  Volk  das  geschehene  Wunder  auf,  indem  es  Gott 
darüber  pries,  dass  er  eine  solche  Macht  dem  Menschen  gegeben 
habe,  d.  h.  einen  Menschen  habe  auftreten  lassen,  der  als  ein 
Mensch  wie  Andere,  gleichwohl  mit  einer  solchen  wahrhaft 
göttlichen  Macht  ausgerüstet  sei.  So  enthält  demnach  die  Stelle 
die  unzweideutigste  und  unmittelbarste  Erklärung  Jesu  über 
seine  messianische  Würde  und  Bestimmung.    Als  uid;  tou  «v- 


8S  .uo«i  Erster  Abschnitt. 

öpwTTOu  ist  er  auch  der  Messias,  und  es  hilft  nichts,  mit  de  Wette 
zu  sagen,  der  positive  Begriff  des  Messias  wäre  hier  unpassend, 
der  uio?  ToO  äyOpconroi»  heisse  im  Gegensatz  gegen  Gott  so  viel 
als:  ich,  dieser  unscheinbare,  aber  zum  Messias  bestimmte 
Mensch.  Wie  kann  er  zum  Messias  bestimmt  sein,  wenn  er 
nicht  der  Messias  ist?  Wenn  aber  hier  Jesus  mit  derselben  Ge- 
wissheit, mit  welcher  er  den  Kranken  geheilt  hat,  die  Macht 
der  Sündenvergebung  zu  haben  behauptet,  so  ist  klar,  wie  eng 
die  Realität  seines  Ausspruches  mit  der  Realität  des  Factischen 
zusammenhängt,  und"  wir  können  daher  nur  in  dem  Falle  vor- 
aussetzen, dass  er  sich  über  seine  messianische  Würde  wirklich 
so  erklärt  hat,  wenn  wir  auch  Ursache  haben,  anzunehmen, 
dass  es  sich  mit  jener  Wunderheilung  wirklich  so  verhielt,  wie 
die  Erzählung  lautet.  Welche  Zweifel  aber  in  dieser  Beziehung 
stattfinden,  darf  hier  nicht  weiter  erörtert  werden. 

In  der  Instructionsrede  Matth.  10,  5  f.  spricht  Jesus  im 
vollen  Bewusstsein  der  geschichtlichen  Bedeutung  seiner  Lehre 
und  der  tief  eingreifenden  Wirkungen,  die  sie  in  der  Welt  her- 
vorbringen werde;  dieses  Bewusstsein  konnte  er  jedoch  haben, 
ohne  es  einzig  nur  auf  die  messianische  Idee  stützen  zu  müssen. 
Es  sind  nur  zwei  Stellen  in  dieser  Rede,  die  messianisch  lauten. 
V.  23  sagt  er  zu  seinen^ Jüngern ,  sie  werden  allgemein  gehassl 
werden,  wenn  sie  aber  ihre  Gegner  in  der  einen  Stadt  verfolgen, 
sollen  sie  in  eine  andere  fliehen ,  denn  er  sage  ihnen ,  sie  wer- 
den den  Weg  durch  die  Städte  Israels  nicht  vollenden,  bevor 
des  Menschen  Sohn  komme.  Es  kann  diess  nur  zum  Trost  der 
Jünger  gesagt  sein.  Sie  werden  dadurch  getröstet,  dass,  ehe 
sie  noch  auf  der  Flucht  Judäa  durchwandert  haben  werden,  des 
Menschen  Sohn  zu  ihrem  Heil  und  zu  ihrer  Hülfe  erscheinen 
werde.  Welches  i^iytcHon  des  Menschensohns  in  so  naher  Zeit 
könnte  gemeint  sein,  als  das  zur  Zerstörung  Jerusalems?  Wenn 
aber  Jesus  Matth.  24  seine  mit  der  Zerstörung  Jerusalems  er- 
folgende Parusie  nicht  so  geweissagt  haben  kann,  wie  er  sie 


Die  Lehre  Jesn  von  seiner  Person.  89 

nach  Matth.  24  geweissagt  haben  soll,  so  kann  er  auch  hier 
keinen  solchen  Ausspruch  gethan  haben.  Die  zweite  Stelle, 
welche  ein  messiänisches  Bewusstsein  auszudrücken  scheint,  ist 
V.  32,  wo  Jesus  sagt,  jeden,  der  ihn  vor  den  Menschen 
bekenne ,  wolle  er  vor  seinem  Vater  im  Himmel  bekennen.  Die 
Stelle  ist  analog  der  7,  21,  aber  doch  nicht  so  messianisch  wie 
diese.  Jesus  spricht  in  ihr  eigentlich  nicht  als  Weltrichter,  son- 
dern, wenn  er  die  ihn  Bekennenden  vor  Gott  bekennen  und 
die  ihn  Verläugnenden  vor  Gott  verläugnen  wird ,  so  ist  es  der 
Richterstuhl  Gottes,  vor  welchem  man  sich  ihn  mit  seinen  wah- 
ren und  falschen  Anhängern  stehend  denken  muss.  In  jedem 
Fall  hat  auch  dieser  Ausspruch,  wie  der  7,  21,  keine  für  den 
Zusammenhang  nothwendige  Stelle. 

Eine  unmittelbare  Aufforderung,  sich  über  seine  messia- 
nische  Bestimmung  zu  erklären ,  erhielt  Jesus  durch  die  Frage 
des  Täufers  Matth.  11,  2  f.  Die  Antwort,  welche  Jesus  gibt, 
schildert  die  damalige  Zeit  seiner  erst  begonnenen  Wirksamkeit 
mit  messianischen  Prädicaten ,  diese  Schilderung  selbst  aber 
kann  nur  von  dem  geistigen  Charakter  seiner  auf  dem  Wege 
einer  sittlichen  Reform  dasHeilsbedürfniss  befriedigenden  Wirk- 
samkeit verstanden  werden ,  und  in  Beziehung  auf  seine  Person 
liegt  das  Hauptmoment  nur  darin,  dass  man  an  ihm  keinen  An- 
stoss  nehmen  soll.  In  der  weitern  Rede  Jesu  wird  sowohl  die 
Wirksamkeit  des  Täufers  in  ihrem  tief  sittlichen  Ernste  und  in 
ihrer  Bedeutung  für  die  bevorstehende  grosse  Epoche  der  ßx<»- 
Xsia  Töv  oüpavöv,  an  deren  Schwelle  jedoch  nur  der  Täufer  stehe, 
für  die  er  aber  denen,  die  ihn  so  nehmen  wollen,  als  der  ver- 
heissene  messianische  Vorläufer  Elias  gelten  könne,  anerkannt, 
als  auch  die  Unempfänglichkeit  und  der  leichtfertige  Sinn  der 
Zeitgenossen  getadelt,  welchen  es  weder  der  Täufer  mit  der 
Strenge  seiner  Lebensweise  noch  der  Menschensohn  mit  seiner 
Humanität  und  seiner  Liebe  zu  den  Zöllnern  und  Sündern  recht 
machen  könne.    Man  kann  schon  fragen,  ob  nicht  auch  hier. 


90  .nocii*!  -Erster  Absohaitt. 

wenn  sich  Jesus  dem  Täufer  gegenüber,  als  dem  [j^YiTI  s<y6i<i)v  jAiore 
Tctvwv,  u'Io?  ävOpwTwOu  nennt,  in  dieser  Bezeichnung  der  Begriff 
des  Humanen  und  acht  Menschlichen  liegt.  Zuerst  kam  der  Täu- 
fer, und  dann  kam  der,  welcher  sich  einen  utö?  ävöpwirou  nennt 
und  als  solcher  isst  und  trinkt,  wie  andere  Menschen.  In  je- 
dem Falle  gibt  uns  die  ganze  Rede  von  allem  demjenigen,  was 
Jesus  als  der  moq  tou  avOpwzou,  wie  er  sich  hier  dem  Täufer 
gegenüber  sehr  bezeichnend  nennt,  für  die  ^aaiküx  töv  oupa- 
vöv  wirken  sollte,  dieselbe  geistige  Vorstellung  einer  die  sitt- 
liche Reform  des  Volks  bezweckenden  Wirksamkeit,  die  wir 
auch  aus  der  Bergrede  erhalten.  Betrachtete  er  diess  als  die  ei- 
gentliche Aufgabe  seiner  messianischen  Bestimmung,  so  tritt 
wenigstens  gegen  diese  rein  sittliche  Tendenz. das  persönlich 
Messianische ,  jeder  Anspruch  auf  eine  ihn  als  Messias  auszeich- 
nende höhere  göttliche  Würde  sehr  zurück. 

Anders  ist  es  dagegen  nicht  blos  in  dem  Abschnitt  11, 
25  —  30 ,  auf  welchen  wir  später  zurückkommen ,  sondern 
auch  in  der  Erzählung  12,  1—8,  wo  er  sich  als  des  Menschen 
Sohn  auch  den  Herrn  des  Sabbaths  nennt.  Jesus  widerlegt 
hier  die  Pharisäer ,  die  das  Ähren  -  Ausraufen  der  Jünger 
am  Sabbath  als  eine  Entheiligung  des  Sabbaths  gerügt  hatten, 
aus  dem  Gesetz.  Können  die  Priester  nach  dem  Gesetz  am 
Sabbath  ihre  Opfergeschäfte  im  Tempel  versehen,  ohne  sich 
einer  Entheiligung  des  Sabbaths  schuldig  zu  machen,  so  folgt 
daraus ,  dass  die  Sabbathsruhe  überhaupt  kein  absolutes  Ge- 
setz ist,  dass  es  auch  sonst  manche  F^lle  geben  kann,  in  wel- 
chen man  nicht  daran  gebunden  ist.  Hiemit  waren  die  Pharisäer 
zurückgewiesen  und  der  Zweck  Jesu  erreicht.  Nun  soll  er  aber 
das  eigentliche  Moment  seiner  Entgegnung  in  die  Emphase  ge- 
setzt haben ,  mit  welcher  er  sich  ihnen  als  Herr  des  Sabbaths 
entgegenstellte.  Es  muss  jedoch  sehr  bezweifelt  werden,  ob  diess 
zum  ursprünglich  Thatsächlichen  der  Erzählung  gehört;  espasst 
nicht  dazu.    Wenn  es  V.  6  heisst:  Ich  sage  euch  aber  ort  toO 


Die  Lehre  Jesn  von  seiner  Person.  91 

tepoO  {jtei^tdv  i<jTiv  wSe,  wie  kann  Jesus  V.  7  unmittelbar  so  fort- 
fahren: £i  Ss  syvto/tsiTS  —  dcvaiTiooc  ?  Es  müsste  in  jedem  Fair 
V.  8  sich  unmittelbar  an  V.  6  anschliessen ,  ohne  den  nicht  in 
diesen  Zusammenhang  passenden  V.  7.  Erklärt  man  V.  8  mit 
de  Wette  so:  denn  auch  darum  sind  meine  Jünger  unschuldig, 
weil  ich  der  Messias,  der  ich  mit  ihnen  mein  Werk  vollbringe, 
Herr  über  den  Sabbath  bin  und  sie  von  dessen  Haltung  losge- 
sprochen habe,  so  steht  auch  so  V.  7  höchst  ungeschickt  da- 
zwischen und  es  muss  sehr  nachgeholfen  werden,  um  eine  er- 
trägliche Gedankenverbindung  herauszubringen.  Bedenkt  man 
nun  aber  weiter,  dass  die  richtige  von  den  neuern  Kritikern 
nach  überwiegenden  Zeugnissen  vorgezogene  Lesart  nicht  {^.st- 
^«v,  sondern  {xsi^ov  ist,  so  verliert  die  Stelle  schon  dadurch 
ihre  unmittelbare  persönliche  Beziehung,  und  es  wird  der  Ge- 
danke sehr  nahe  gelegt,  dass  das  [xeii^ov,  das  Grössere,  das 
Jesus  zum  Vorhergehenden  noch  hinzusetzt,  als  ein  weiteres 
Moment  seiner  Argumentation,  das  V.  7  Gesagte  ist.  Die  Argu- 
mentation Jesu  hat  ihren  vollständigen  Sinn ,  wenn  er  nach  dem 
aus  dem  Gesetz  in  Betreff  des  Tempeldienstes  angeführten  Mo- 
ment hinzusetzt:  Ich  sage  euch  aber,  es  gibt  noch  etwas  Grösse- 
res als  der  Tempel  ist:  Hättet  ihr  erkannt,  was  es  heisst,  Barm- 
herzigkeit verlange  ich  und  nicht  Opfer,  so  hättet  ihr  die  Un- 
schuldigen nicht  verurtheilt.  Das  [xsi^ov  ist  eben  diess,  dass  Gott 
nicht  Opfer,  sondern  Barmherzigkeit  verlangt  und  Jesus  argu- 
mentirt  demnach  a  minori  ad  majus  so:  Wenn  es  schon  um  des 
Tempel-  und  Opfercultus  willen  nicht  absolut  nothwendig  ist, 
den  Sabbath  zu  beobachten,  es  aber  noch  etwas  Grösseres  gibt, 
als  das  ispov  oder  die  öuTia,  so  könnet  ihr  hieraus  sehen,  welche 
höhere  Rücksichten  es  gibt,  um  deren  willen  man  an  eine  Beob- 
achtung der  Sabbathsruhe,  wie  ihr  sie  verlangt,  nicht  gebunden 
ist.  Indem  man  nun  zuerst  dem  ixst^ov  eine  Beziehung  auf  die 
Person  des  Messias  gab,  und  dann  auch  {/.ei^ov  in  pt-si^tov  umän- 
derte, erklärt  sich  hieraus  von  selbst,  wie  man  der  Rede  Jesu 


9g  *:«a'>»i9*f  'Erster  Abschnitt. 

ihr  Hauptmoment  durch  den  zu  seiner  dialectischen  Widerlegung 
der  Gegner  gar  nicht  passenden  Satz:  xupioc  yap  iax:  toO  Taß- 
ßdcTOu  6  uio?  ToO  ävGpwTTou  geben  zu  müssen  glaubte.  Hätte  Jesus 
mit  dieser  Instanz  die  Gegner  schlagen  wollen ,  so  hätte  er  jene 
diabetische  Argumentation  gar  nicht  nöthig  gehabt,  in  jedem 
Fall  aber  hätte  er ,  wenn  er  die  Hauptinstanz  dialectisch  einlei- 
ten wollte,  mit  dieser  selbst  und  somit  durch  seine  ganze  Argu- 
mentation nichts  ausgerichtet ,  da  er  als  xupio;  toO  (laßßaTou  nur 
denen  gelten  konnte,  die  ihn  a\s  Messias  anerkannten;  wie  un- 
mittelbar wäre  er  ihnen  aber  hier  mit  der  Behauptung,  dass  er 
der  Messias  sei ,  entgegengetreten  ? 

Man  muss  diess  um  so  mehr  bezweifeln,  da  die  Hauptstelle 
über  das  Bekenntniss  Jesu  von  seiner  messianischen  Würde, 
Matth.  16,  13  gar  zu  deutlich  für  die  entgegengesetzte  Annahme 
spricht.  Wie  hätte  Jesus  seine  Jünger  erst  so  fragen  können, 
ob  sie  ihn  für  den  Messias  halten ,  wenn  er  sich  schon  so  offen 
und  unzweideutig  dafür  erklärt  hätte,  wie  er  nach  der  evan- 
gelischen Geschichte  gethan  haben  soll;  wie  hatten  die  Leute 
auch  nur  den  geringsten  Zweifel  darüber  haben  können ,  wenn 
er  schon  in  einer  Reihe  von  Wundern  sich  in  der  ganzen  Grösse 
seiner  messianischen  Macht  und  Würde  gezeigt  hätte;  wie  hätte 
das  Bekenntniss  des  Petrus ,  dass  er  der  Sohn  des  lebendigen 
Gottes  sei,  muss  man  mit  Strauss,  Leben  Jesu  H,  S.  544,  wei- 
ter fragen,  auf  Jesus  einen  so  starken  Eindruck  machen  kön- 
nen, dass  er  nach  Matth.  V.  17.  den  Petrus  um  desselben  willen 
selig  pries,  und  seine  Einsicht  als  eine  ihm  zu  Theil  gewordene 
göttliche  Offenbarung  darstellte,  nach  den  drei  Synoptikern 
aber  den  Jüngern,  wie  erschrocken,  die  weitere  Ausbreitung 
der  von  Petrus  ausgesprochenen  Überzeugung  verbot,  wenn 
diese  eine  im  Kreise  seiner  Jünger  längst  gehegte  Ansicht  und 
nicht  vielmehr  ein  neues ,  dem  Petrus  jetzt  eben  aufgegangenes 
und  dadurch  erst  den  Übrigen  zum  Bewusstsein  gebrachtes  Licht 
«war?  Es  bestätigt  diess  das  Resultat,  das  aus  den  bisher  erör- 


Die  Lehre  Jesu  von  seiner  Person.  93 

terten  Stellen  erhoben  worden  ist,  dass  Jesus  bis  auf  jene  Zeit 
sich  noch  nicht  entschieden  als  Messias  ausgesprochen  hat. 
Ebenso  wenig  aber  kann  diese  Stelle  irgend  einen  Zweifel  dar- 
über lassen ,  dass  er  damals  das  volle  Bewusstsein  seines  mes- 
sianischen  Berufs  in  sich  hatte.  Wie  er  hier  das  Bekenntniss 
des  Petrus  annahm  und  bekräftigte,  so  legte  er  dasselbe  Be- 
kenntniss arf  durch  die  bejahende  Antwort,  die  er  nach  seiner 
Gefangennehmung  auf  die  Frage  des  Hohepriesters  gab ,  ob  er 
Christus,  der  Sohn  Gottes  sei,  Matth.  26,  64.  ^ 

_fHi  Behauptete  Jesus  demnach  selbst  von  sich,  der  Messias  oder 
der  Sohn  Gottes  zu  sein ,  so  kann  die  weitere  Frage ,  die  hier 
in  Betracht  kommt,  um  zu  bestimmen,  was  er  selbst  von  seiner 
Person  gelehrt  habe ,  nur  die  sein,  in  welchem  Sinne  er  sich  als 
Messias  betrachtet  habe.  Die  Antwort  darauf  ist  schon  in  dem 
Bisherigen  enthalten.  Bestand  seine  Lehre  aus  allem  demjeni- 
gen, was  wir  nach  der  Bergrede  und  nach  den  Parabeln  als 
wesentlichen  Inhalt  derselben  anzusehen  haben,  so  kann  er  sei- 
nen messianischen  Beruf  nur  darin  erkannt  haben,  die  Idee  der 
ßaaiXeia  töv  oOpavöv  in  dem  Sinne  aller  jener  sittlichen  Forde- 
rungen zu  verwirklichen,  die  er  an  seine  Bekenner  machte. 
So  gewiss  er  also  in  dem  mit  seiner  Person  identificirten  Begriff 
des  Messias  sich  in  das  religiöse  Bewusstsein  seiner  Nation  hin- 
einstellte und  ihren  messianischen  Glauben  mit  ihr  theilte,  so 
gewiss  trat  er  auf  der  andern  Seite  ihr  dadurch  entgegen ,  dass 
er  nur  in  dem  geistigen  Sinne,  in  welchem  er  die  Messias-Idee 
auffasste,  der  von  der  Nation  erwartete  Messias  sein  wollte. 
Der  nationale  Messiasglaube  war  zwar  der  nothwendige  Weg, 
auf  welchem  er  allein  die  Realisirung  seiner  geistigen  Idee  der 
ßadiXeia  töv  oüpavöv  hoffen  konnte,  wenn  aber  die  Reinheit  der 
Idee  nicht  in  den  sinnlichen  Elementen  der  populären  Messias- 
Erwartungen  untergehen  sollte,  so  musste  er  sich  in  eine  fort- 
gehende Opposition  zu  denselben  setzen. 

Aus  diesem  Gegensatz  ist  es  zu  erklären,  dass  er  nur  all- 


94  •«««■»»"^ irrster  Ab8chnit«r'rfO'^'o'<3 

mälig  und  mit  einer  gewissen  Zurückhaltung  sein  messianisches 
Bewusstsein  aussprach.  Wie  er  nach  dem  Bekenntniss  des 
Petrus  den  Jüngern  befahl,  niemand  zu  sagen,  dass  er  der 
Messias  sei ,  so  wird  noch  sonst  öfter  dasselbe  bemerkt.  Nach 
der  Verklärungsscene  untersagte  er  gleichfalls  den  Jüngern, 
jemand  zu  sagen,  was  sie  gesehen  haben,  Matth.  17,  9.  Auch 
bei  Wunderheilungen  verbot  er  wiederholt,  die  Sache  weiter 
auszubreiten.  Nach  der  evangelischen  Geschichte,  welcher  zu- 
folge Jesus  von  Anfang  an  der  erklärte  Messias  war,  und  seine 
messianische  Thätigkeit  den  Charakter  der  grössten  ÖflFentlich- 
keit  hatte ,  begreift  man  nun  freilich  nicht ,  wie  Jesus  ein  als 
so  zwecklos  erscheinendes  Verbot  geben  konnte,  und  da  Mat- 
thäus 12,  16  f.  dasselbe  durch  das  jesajanisdie  Orakel  vom  ge- 
räuschlos wirkenden  Knecht  Gottes  Jesaj.  42,  1—4  motivirt,  so 
kann  man  denken,  es  gehöre  auch  diess  nur  der  Darstellung 
des  Matthäus  an,  welcher  das  Interesse  hatte,  auch  dieses  mes- 
sianische Kriterium  an  Jesu  nachzuweisen.  Sofern  aber  doch 
auf  der  andern  Seite  anzunehmen  ist,  dass  einem  so  charakte- 
ristischen Zug  etwas  geschichtlich  Wahres  zu  Grunde  liegt,  kann 
man  daraus  nur  auf  die  Vorsicht  und  Zurückhaltung  schliessen, 
mit  welcher  er  als  Messias  auftrat.  Da  er  kein  Messias  im  Sinne 
des  Volks  sein  wollte,  so  konnte  er  das  in  ihm  selbst  erst  all- 
mälig  entwickelte  messianische  Bewusstsein  erst  dann  entschie- 
dener aussprechen ,  nachdem  er  «lurch  seine  ganze  Thätigkeit 
der  reinem  Messias-Idee,  wie  er  sie  auffasste,  ihre  nöthige 
Begründung  gegeben  hatte.  In  demselben  Verhältniss  aber ,  in 
welchem  er  die  Messias-Idee  nach  Massgabe  des  sittlichen  Be- 
griffs, welchen  er  mit  der  ß««TtXeix  tüv  oüpavöv  verband,  ver- 
geistigte, musste  er  sich  auch  die  Person  des  Messias  mit  ganz 
andern  Bestimmungen  denken,  als  die  des  gewöhnlichen  Mes- 
siasbegriffs waren.  Je  grösser  der  Widersland  war,  welchen  er 
in  der  Ausführung  seines  messianischen  Planes  fand,  um  so 
weniger  konnte  er  sich  verbergen,  däss  er  selbst  das  Opfer  sei- 


Die  Lehre  Jesu  von  seiner  Person.  9d 

ner  messianischen  Bestimmung  sein  werde.  So  wenig  sich  der 
Jude  seinen  Messias  als  einen  leidenden  und  sterbenden  dachte, 
so  nothwendig  musste  sich  diese  Bestimmung  des  Messias  dem 
messianischen  Bewusstsein  Jesu  aufdringen,  und  wir  haben 
weder  die  Voraussetzung  von  Zeitideen,  die  erweislich  nicht 
vorhanden  waren,  noch  die  Auctorität  altlestamentlicher  Stellen, 
welchen  diese  Deutung  erst  hätte  gegeben  werden  müssen ,  zu 
der  Erklärung  der  Thatsache  nöthig,  dass  Jesus  in  dem  weite- 
ren Verlauf  seiner  messianischen  Thätigkeit  seinem  Leiden  und 
Tod  entgegensah.  Es  verdient  in  dieser  Hinsicht  bemerkt  zu 
werden,  dass  die  evangelische  Geschichte  des  Matthäus  in  dem- 
selben Zeitpunkt,  in  welchem  Jesus  durch  seine  Frage  an  Petrus 
und  die  Erwiederung  auf  das  Bekenntniss  desselben  keinen  Zwei- 
fel über  seine  messianische  Bestimmung  lassen  konnte,  ihn  zu- 
erst über  das  ihm  bevorstehende  Schicksal  sich  bestimmter  er- 
klären lässt,  Matth.  16,  21.  Je  bestimmter  er  also  seines  mes- 
sianischen Berufs  sich  bewusst  war,  um  so  bestimmter  musste 
ei*  voraus  schon  auf  einen  solchen  Ausgang  seines  Wirkens  sich 
gefasst  machen.  So  stellt  demnach  auch  die  evangelische  Ge- 
schichte selbst  den  Gang  der  Sache  dar. 

So  weit  enthält  die  Lehre  Jesu  von  seiner  Person  nichts, 
was  nicht  der  natürliche  Entwicklungsgang  seines  religiösen 
Bewusstseins  von  selbst  mit  sich  brachte.  Er  trat  als  Religions- 
stifter und  sittlicher  Gesetzesreformator  auf,  fasste  aber  die  Auf- 
gabe seines  Wirkens  auch  aus  dem  Gesichtspunkt  der  nationa- 
len Messias-Idee  auf,  weil  er  anders  als  auf  diesem  Wege  kei- 
nen Eingang  seiner  Wirksamkeit  finden  konnte.  Es  war  diess 
die  nothwendige  Form  für  das,  was  er  überhaupt  wirken  wollte. 
Er  konnte  aber  auch  so  nichts  sein ,  was  nicht  von  selbst  in 
dem  Begriff  der  sittlichen  Aufgabe  seiner  Wirksamkeit  lag.  Wie 
verhält  es  sich  aber  mit  allen  jenen  seine  Person  betreffenden 
Aussprüchen,  welchen  zufolge  er  nicht  blos  sterben,  sondern 
wieder  auferstehen  sollte  und  alles,  was  sich  darauf  bezog,  mit 


96  .ao8i»M  firster  Abschnitt. 

den  speciellsten  Bestimmungen  von  ihm  vorhergesehen  und 
vorher  verkündigt  worden  war?  Sehen  wir  hier  nicht  eine 
übermenschliche  Erscheinung  vor  uns ,  die  über  das  bisher  Ent- 
wickelte hinausgeht  und  uns  nöthigl,  auch  in  dem  Bisherigen 
mehr  vorauszusetzen  als  wir  angenommen  haben? 

Nach  der  schon  Matth.  9,  15  gegebenen  mystischen  An- 
deutung der  Hinwegnahme  des  Bräutigams  ist  bei  Matthäus  die 
erste  Stelle ,  in  welcher  Jesus  seinen  Tod  und  seine  Auferste- 
hung voraussagt,  12,  38  f.,  wo  er  das  Verlangen  der  Schrift- 
gelehrlen  und  Pharisäer,  ein  (r/if^eiov  von  ihm  zu  sehen,  durch 
die  Erwiederung  zurückgewiesen  haben  soll,  dass  einer  so 
schlimmen  yevea  kein  Zeichen  gegeben  werde ,  als  das  Zeichen 
des  Propheten  Jonas;  wie  nämlich  Jonas  drei  Tage  und  drei 
Nächte  dv  T?i  xoiXia  toQ  xy^tou?  gewesen  sei,  so  werde  auch  des 
Menschen  Sohn  drei  Tage  und  drei  Nächte  dv  ttj  )capSia  ty5?  yfi; 
zubringen.  Von  demselben  Zeichen  des  Propheten  Jonas  ist 
Matth.  16,  4  die  Rede.  Noch  bestimmter  lautet  die  Stelle  16, 
21,  wo  Jesus  nach  dem  Bekenntniss  des  Petrus  anfieng,  seinen 
Jüngern  zu  eröffnen,  dass  er  müsse  nach  Jerusalem  hinwegge- 
hen und  vieles  leiden  von  den  Ältesten  und  Hohepriestern  und 
Schriftgelehrten,  und  dass  er  werde  getödtet  und  am  dritten 
Tage  auferweckt  werden.  Dieselben  bestimmten  Ankündigun- 
gen wiederholt  er  17,  12.  22  f.  20,  17  f.  In  der  letztern  Stelle 
sagt  Jesus  auf  dem  Wege  nach  Jerusalem  zu  seinen  Jüngern, 
indem  er  sie  besonders  nahm ,  des  Menschen  Sohn  werde  den 
Hohepriestern  und  Schriftgelehrten  übergeben  werden,  und  sie 
werden  ihn  zum  Tode  verurtheilen ,  und  ihn  den  Heiden  über- 
geben zur  Verspottung,  Geisselung  und  Kreuzigung,  und  am 
dritten  Tage  werde  er  auferstehen.  Alle  Umstände  seiner  Ver- 
urtheilung,  wie  sie  nachher  wirklich  erfolgten ,  wären  demnach 
schon  damals  von  ihm  aufs  Bestimmteste  vorausgesagt  worden. 
W^äre  nun  diess  wirklich  so  geschehen,  wie  erzählt  wird ,  so 
würden  wir  schon  aus  diesem  Grunde  die  Erklärungen,  die  er 


Die  Lehre  Jesu  von  seiner  Person.  97 

Über  seine  Person  gab ,  wenn  er  nicht  nur  sich  selbst  den  uto? 
ToO  ävOpwTTOu  nannte,  sondern  sich  auch  den  oio?  toO  6eou 
nennen  Hess,  in  einem  höhern  Sinne  zu  nehmen  haben,  als 
diess  nach  dem  Bisherigen  nothwendig  ist.  Allein  hier  stel- 
len sich  sehr  bedeutende  Zweifel  entgegen.  An  sich  schon  ist 
die  Annahme  sehr  natürlich,  dass,  wenn  Jesus  auch  nur  dunkle 
und  unbestimmte  Andeutungen  über  sein  endliches  Schicksal 
und  die  Zukunft  seiner  Sache  gab ,  seinen  Äusserungen  in  der 
Folge  eine  bestimmlere  Bedeutung  gegeben,  und  so  Manches  in 
sie  hineingelegt  wurde ,  was  er  in  dieser  bestimmten  Form  kei- 
neswegs gesagt  hatte ,  was  man  ihn  aber  ohne  Bedenken  schon 
damals  sagen  lassen  zu  dürfen  glaubte,  weil  das  Allgemeine, 
das  er  voraussagte,  die  einzelnen  Umstände,  unter  welchen  es 
erfolgte,  von  selbst  in  sich  zu  schliessen  schien.  Auch  war  es 
der  höheren  Vorstellung  von  der  Person  Jesu ,  wie  sie  sich  erst 
in  der  Folge  bei  den  Jüngern  ausbildete,  ganz  gemäss,  dass  er 
ihnen  nichts  erduldet  zu  haben  schien ,  was  er  nicht  aufs  Be- 
stimmteste vorauswusste.  War  alles,  was  an  ihm  geschah,  sein 
Leiden,  sein  Tod,  seine  Auferstehung,  nichts  Zufälliges ,  son- 
dern eine  göttliche  Bestimmung,  war  es  als  ein  Vorherbestimm- 
tes auch  ein  Vorhergesehenes ,  so  musste  auch  er  selbst  alles, 
was  geschah ,  voraus  schon  wissen ;  und  wenn  er  es  wusste, 
warum  hätte  er  es  nicht  aufs  Genaueste,  wie  es  nachher  wirk- 
lich geschah,  voraussagen  sollen?  Dass  diess  an  sieh  sehr  wohl 
möglich  ist,  wird  auch  von  denen  zugegeben,  die  die  Vorher- 
sagungen Jesu,  um  ihre  rein  geschichtliche  Wahrheit  festzu- 
halten, aus  eiaem  übernatürlichen  Wissen  erklären.  Selbst 
Ne ander  gesteht,  es  sei  möglich,  dass  durch  die  Überliefe- 
rung die  genaue  Form,  in  welcher  Jesus  die  Andeutungen  des 
Zukünftigengegeben,  nicht  auf  uns  gekommen,  dass  man  die 
von  Jesus  absichtlich  auf  eine  unbestimmtere  und  leisere  Weise 
gegebenen  Andeutungen  nach  dem  Eintreffen  in  bestimmtere 
Züge  ausgeprägt  habe.     Gewiss  ist,   wenn  irgendwo,  hier  die 

Baur,  nentest.  Theol.  * 


98  .no'er       Erster  Abschnitt. 

traditionelle  Gestaltung  des  ursprünglich  Unbestimmten  zu  einer 
bestimmten  Form  sehr  begreiflich.  Es  ist  jedoch  nicht  blos  mög- 
lich und  wahrscheinlich,  dass  es  sich  mit  den  Vorhersagungen 
Jesu  von  seinem  Leiden ,  seinem  Tod ,  seiner  Auferstehung  auf 
diese  Weise  verhält,  es  lässt  sich  sogar  behaupten,  dass  sie  von 
ihm  in  der  bestimmten  Form,  in  welcher  sie  die  Evangelien  aus- 
geben, gar  nicht  gemacht  worden  sein  können.  Hatte  Jesus  alles, 
was  an  ihm  geschehen  sollte,  in  so  klaren  und  bestimmten  Wor- 
ten, wie  die  Synoptiker  erzählen,  seinen  Jüngern  vorherge- 
sagt, so  ist  ihr  Benehmen  nach  dem  Eintritt  des  Erfolgs,  dass 
sie  nach  seinem  wirklich  erfolgten  Tod  sogar  den  Glauben  an 
seine  Messianität  völlig  verlieren  konnten ,  nicht  zu  begreifen. 
Man  kann  daher  mit  Recht  das  Dilemma  stellen:  entweder  sind 
die  Angaben  der  Evangelisten  von  der  Überraschung  der  Jün- 
ger bei  dem  Tode  Jesu  unhistorisch  übertrieben ,  oder  es  sind 
die  bestimmten  Aussprüche  Jesu  über  den  ihm  bevorstehenden 
Tod  und  seine  darauf  folgende  Auferstehung  «rst  ex  etentn 
gemacht.  Da  man  nun  keine  Ursache  hat,  anzunehmen,  dass 
die  Evangelisten  den  Gemüthszustand,  in  welchem  sich  die  Jün- 
ger bei  dem  Tode  Jesu  befanden,  nicht  wirklich  so  sollen  ge- 
schildert haben,  wie  er  war,  so  bleibt  nur  die  letztere  Annahme 
übrig.  Hatte  er  ihnen  blos  allgemeinere  Andeutungen  über  sein 
Schicksal  und  den  endlichen  Sieg  seiner  Sache  gegeben,  so 
kann  man  es  sich  gar  wohl  denken,  wie  sie  bei  seinem  wirklich 
erfolgten  Tod  alles  für  verloren  hielten.  Schwer  aber  ist  zu  be- 
greifen, wie  sie,  wenn  sie  in  seinem  Tode  alles  so  geschehen 
sahen ,  wie  er  ihnen  wiederholt  vorausgesagt  hatte ,  nicht  auch 
denselben  Aussprüchen  zufolge  voraus  schon  die  bestimmte  Ge- 
wissheit seiner  Auferstehung  haben  mussten.  Wie  hätten  sie  sie 
nicht  mit  aller  Bestimmtheit  erwarten  sollen,  wenn  sie  doch  unter 
der  grossen  Zahl  seiner  Wunder  auch  schon  drei  durch  ihn  voll- 
brachte Todtenerweckungen  mit  eigenen  Augen  gesehen  hat- 
ten !  Dass  nach  den  Evangelien  Jesus  selbst  bei  seinen  Leidens- 


Die  Lehre  Jesu  von  seiner  Person.  99 

Verkündigungen  sich  ausdrücklich  auf  das  alte  Testament  berief, 
dessen  Weissagungen  auf  ihn  in  allen  Stücken  erfüllt  werden 
müssten,  Matth.  26,  54.  Luc.  18,  31.22,  37.  24,  25  f.,  kann  die 
Wahrscheinlichkeit,  dass  er  alles  Einzelne  so  bestimmt  vorher 
gesagt  habe,  nicht  erhöhen,  da  die  meisten  darauf  bezogenen 
Stellen  des  alten  Testaments  einen  solchen  Sinn  gar  nicht  ent- 
halten, dass  Jesus  eine  Vorandeutung  der  einzelnen  Züge  seines 
Leidens  in  ihnen  hätte  finden  können.  Je  gewaltsamer  die  Deu- 
tung dieser  Stellen  ist,  um  so  deutlicher  ist  daraus  zu  sehen, 
dass  sie  erst  in  der  Folge  zu  Hülfe  genommen  wurden,  um  das 
den  sonstigen  Vorstellungen  vom  Messias  so  sehr  widerstrei- 
tende Schicksal  Jesu  durch  die  Vermittlung  des  alten  Testa- 
ments, für  das  religiöse  Bewusstsein  zurechtzulegen. 

Wenn  wir  uns  demnach  die  Frage  zu  beantworten  suchen, 
was  Jesus  selbst  über  seine  Person  gelehrt  habe ,  so  bieten  uns 
die  in  den  Evangelien  berichteten  Vorherverkündigungen  sei- 
nes Leidens  und  Todes  und  seiner  Auferstehung  kein  besonderes 
Moment  dar,  so  dass  wir  aus  ihnen  auf  ein  höheres  übernatür- 
liches Wissen  und  vermöge  desselben  auf  eine  höhere  über  die 
Grenzen  der  menschlichen  Natur  hinausgehende  Bedeutung  sei- 
ner Person,  die  er  hiemit  sich  selbst  beigelegt  hätte,  schliessen 
müssten.  Führen  wir  sie  nach  den  Grundsätzen  der  Kritik,  nach 
welchen  überhaupt  die  evangelische  Geschichte  zu  beurtheilen 
ist,  auf  ihren  wahren  und  ursprünglichen  Gehalt  zurück,  so 
enthalten  sie  nichts ,  was  nicht  die  Beschaffenheit  der  Verhält- 
nisse, in  welchen  Jesus  sich  befand,  von  selbst  hätte  wahrschein- 
lich machen  müssen,  wie  ja  überhaupt  das  Schicksal,  mit  wel- 
chem seine  einem  solchen  Zwecke  gewidmete  öffentliche  Wirk- 
samkeit endigte,  für  die  geschichtliche  Betrachtung  nichts  Unbe- 
greifliches haben  kann.  Unter  den  gleichen  Gesichtspunkt  haben 
wir  auch  die  Äusserungen  zu  stellen,  welche  Jesus  selbst  nach 
den  Synoptikern  über  den  Zweck  und  die  Wirkungen  seines 
Leidens  und  Todes  gethan  haben  soll.    Es  fragt  sich  auch  hier, 

7* 


100  Erster  Abschnitt. 

ob  nicht  erst  in  der  Folge  mehr  in  sie  hineingelegt  worden  ist, 
als  sie  ursprünglich  enthielten.  Diess  möchte  bei  der  zunächst 
hieher  gehörenden  Stelle  Matth.  20,  28  sich  kaum  verkennen 
lassen.  Aus  Veranlassung  der  Bitte  der  Mutter  der  Söhne  des 
Zebedäus  und  dieser  selbst  um  die  ersten  Stellen  in  seinem 
Reich  gibt  Jesus  seinen  Jüngern  die  Ermahnung :  Ihr  wisset, 
dass  die  Regenten  der  Völker  über  sie  herrschen ,  und  die 
Grossen  Gewalt  über  sie  haben.  Nicht  so  wird  es  bei  euch  sein, 
sondern  wer  unter  euch  gross  werden  will ,  werde  ieuer  Diener, 
und  wer  unter  euch  der  Erste  sein  will,  werde  euer  Knecht, 
wie  des  Menschen  Sohn  nicht  gekommen  ist,  sich  bedienen  zu 
lassen ,  sondern  zu  dienen  und  zu  geben  sein  Leben  als  Löse- 
geld für  Viele.  Der  Ausdruck  SoOvai  ttiv  '\i^yr,^  Xuxpov  öcvtI 
TcoXXcov  kann  nur  von  einem  Austausch  verslanden  werden,  wie 
diess  die  Bedeutung  der  Präposition  ävti  ist,  vgl.  Hebr.  12,  16. 
Matth.  17,  27.  Man  gibt  etwas,  um  für  das,  was  man  gibt, 
etwas  Anderes  zu  erhalten.  Es  liegt  also  dabei  die  Vorstellung 
zu  Grunde,  Jesus  gebe  sein  Leben  für  Viele,  d.  h.  für  Alle, 
welche  diese  Wohlthat  sich  aneignen  wollen ,  somit  überhaupt 
für  die  Menschen  gleichsam  als  den  Preis,  um  welchen  sie  los- 
gekauft werden ,  um  sie ,  wie  Gefangene  aus  einer  Gefangen- 
schaft, die  nur  die  der  Sünde  und  des  Todes  sein  kann,  zu  be- 
freien. Wie  passt  nun  aber,  muss  man  fragen,  zu  der  voran- 
gehenden einfachen  Ermahnung  zur  Demuth  und  einem  durch 
Übernahme  von  Leiden  und  Aufopferungen  sich  erprobenden 
Sinn  eine  solche  dogmatische,  schon  einer  bestimmten  Erlösungs- 
und Versöhnungstheorie  angehörende  Vorstellung?  Wo  hat 
denn  Jesus  sonst,  abgesehen  von  der  Stelle  Matth.  26,  28,  von 
welcher  nachher  die  Rede  sein  wird ,  seinem  Tode  eine  solche 
Bedeutung  eines  Lösegelds  gegeben,  wo  findet  sich  in  seinen 
Reden  auch  nur  eine  Andeutung  darüber ,  dass  die  Strafen  der 
Sünden  nicht  ohne  ein  für  sie  gegebenes  Äquivalent  aufgehoben 
werden  können  ?  Welche  andere  der  sonstigen  Lehre  Jesu  ganz 


Die  Lehre  Jesn  von  seiner  Person.  101 

fremdartige  Begriffe  müssten  dabei  vorausgesetzt  werden?  Ent- 
weder hat  also  Jesus  den  Ausspruch  20,  28  nicht  gethan  ,  oder 
in  einer  andern  Form.  Die  vorangehende  Ermahnung  Jesu  hat 
ihren  vollständigen  Sinn  auch  ohne  einen  weitern  Zusatz.  Hat 
er  aber  seine  Ermahnung  noch  durch  die  Hinweisung  auf  das 
Beispiel  des  uid;  toO  äv6pto7roi»  motivirt,  so  kann  er  nur  gesagt 
haben,  des  Menschen  Sohn  sei  nicht  gekommen,  um  zu  herr- 
schen, sondern  um  zu  dienen,  und  aus  Liebe  zu  den  Menschen 
alle  Leiden  zu  übernehmen,  die  mit  seinem  Berufe  verbunden 
sind.  Diess  ist  aber  etwas  ganz  Anderes  als  ein  Tod,  der  ein 
XuTpov  ävTi  TuoXXöv  sein  soll.  Wenn  er  auch,  wie  mit  Recht 
anzunehmen  ist,  in  den  Worten  V.  22  Suvaaös  ttieiv  t6  -orrpiov, 
8  sYcH)  u.e>.>.o)  77iv£tv,  die  Ahnung  des  ihm  bevorstehenden  Todes 
ausdrücken  wollte,  so  sieht  man  doch  nicht,  wie  er  in  diesem 
Gedankenzusammenhang  von  einer  Bedeutung  seines  Todes 
sprechen  konnte,  welche  in  dem  Inhalt  seiner  Lehre  keinen 
weitern  Anknüpfungspunkt  hat. 

Eine  andere  Stelle  dieser  Art  ist  Matth.  26,  28,  wo^  Jesus 
bei  der  Einsetzung  des  Abendmahls  von  dem  Kelche  sagt,  er  sei 
sein  al[ji,a,  t6  t-^?  xaivfi?  StaÖT^xr,?,  t6  xspl  ttoXXcov  sxjtjvojxsvov 
ei;  a^£<7iv  afxapTtwv.  Hier  ist  demnach  der  Tod  Jesu  sehr  be- 
stimmt als  Bundes-  und  Sühnopfer  bezeichnet.  Da  nur  Matthäus 
die  Worte  ei?  a(pe<Jiv  aixapTtöv  hat,  so  kann  man  sie  für  einen 
spätem  Zusatz  halten,  die  Vorstellung  bleibt  aber  dieselbe,  da 
auch  schon  in  dem  xitxx  repl  tcoXXöv  dx'^uvot/.evov  und  in  dem 
G&[ux  TÖ  orcep  {»[jLöv  xXwjAevov  bei  dem  Apostel  Paulus  1  Cor. 
H,  24  die  Idee  der  Versöhnung  liegt.  Man  streitet  ge- 
wöhnlich nur  darüber,  ob  Jesus  jene  eigenthümlich  bedeut- 
same Brod-  und  Weinaustheilung  nur  als  einen  Act  des 
Abschieds  von  seinen  Jüngern,  oder  ob  er  sie  iir  der  Ab- 
sicht vorgenommen  habe,  dass  sie  auch  nach  seinem  Hin- 
gang von  seinen  Anhängern  zum  Andenken  an  ihn  gefeiert 
werden  solle.    Für  die  letztere  Annahme  scheint  zwar  der  Zu- 


108  '.fro»T  Erster  Abschnitt.  l 

satz  bei  Paulus  und  Lucas  entscheidend:  toOto  izoi&Xxz  ei?  nriv 
£fA7iv  avapnntv,  welchem  zufolge  Jesus  offenbar  die  Absicht 
hatte,  ein  Gedächtnissmahl  zu  stiften,  das  nach  Paulus  die 
Christen  feiern  sollten,  a/pi;  ou  av  eXGti.  Da  nun  aber  die  beiden 
ersten  Evangelisten  diese  Zusätze  nicht  haben,  so  stützt  man 
darauf  die  Vermuthung,  sie  möchten  nicht  ursprünglich  Worte 
Jesu  gewesen  sein,  sondern  bei  der  Abendmahlsfeier  in  der 
ersten  Gemeinde  möge  der  austheilende  Vorsteher  die  Gemeinde- 
glieder aufgefordert  haben,  dieses  Mahl  auch  ferner  zum  An- 
denken Christi  zu  wiederholen  und  aus  diesem  ursprünglichen 
Ritual  seien  dann  die  Worte  zu  der  Rede  Jesu  geschlagen  wor- 
den. Lässt  sich  gegen  diese  Vermuthung  nichts  einwenden,  da 
ja  Paulus  seinen  Rericht  über  die  Einsetzung  des  Abendmahls 
nur  aus  der  Tradition  genommen  hat,  in  welcher  schon  damals 
die  ursprünglichen  Worte  eineModification  erlitten  haben  können, 
so  muss  auch  die  weitere  Vermuthung  erlaubt  sein,  ob  wohl 
Jesus  von  der  versöhnenden  Kraft  seines  Todes  selbst  schon  so 
gesprochen  hat,  wie  die  Evangelisten  ihn  davon  sprechen  lassen, 
ob  nicht  die  dem  Leib  und  Blut  Jesu  in  dem  Trepl  ttoXXöv  und 
ÜTOp  6[;.öv  gegebene  Beziehung  eine  von  einem  spätem  Gesichts- 
punkt aus  den  Worten  Jesu  gegebene  Modification  ist.  Je  leichter 
jene  Worte  als  blosse  Zusätze  genommen  werden  können,  um 
so  mehr  kann  man  auf  den  Gedanken  kommen,  dass  sie  ur- 
sprünglich nicht  zu  der  Sache  selbst  gehören.  Die  Handlung 
Jesu  hat  auch  ohne  die  Beziehung  auf  die  Versöhnungsidee  ihren 
einfachen  natürlichen  Sinn,  wenn  wir  annehmen,  in  der  ihm 
sich  aufdringenden  Ahnung  seines  nahen  Todes  habe  er  seinen 
Leib,  welcher  gewaltsam  getödtet  werden  sollte,  und  sein  zu 
vergiessendes  Blut  mit  dem  Brod,  das  er  bei  dem  Mahle  brach, 
und  mit  dem  Wein,  welchen  er  in  den  Kelch  goss,  verglichen. 
Nun  steht  freilich  noch  dabei:  das  Blut  sei  das  Blut  der  xaivr 
SiaÖTixiri.  Wie  der  alte  mosaische  Bund  durch  Opferblut  bestätigt 
iy,(irde  C2.Mos,  34,  6  f.>,  so  jsoll  ni»n  ein  neuer  Bund  gleich- 


Die  Lehre  Jesu  von  seiner  Person.  103 

falls  durch  Blut  geschlossen  werden.  Wenn  man  nun  aber  fragt, 
worin  das  Neue  dieser  x>atvr,  ^'-aO>i)t7i  bestehe,  so  kann  es  nur 
darin  erkannt  werden,  dass  der  Tod  Jesu  nicht  blos  Bundes- 
opfer, sondern  auch  Sühnopfer  ist,  dass  durch  seinen  Tod  eine 
Versöhnung  gestiftet  worden  ist,  wie  unter  dem  alten  Bund  nicht 
stattfand,  dass  man  also  nur  durch  diesen  Versöhnungstod  selig 
werden  kann,  nicht  aber  durch  das,  was  der  alte  Bund  enthielt, 
auch  nicht  durch  die  Erfüllung  des  Gesetzes.  Allein,  wie  stimmt 
diess  zu  der  Bergrede?  Wie  kann  Jesus  in  der  Bergrede  mit 
der  ausdrücklichen  Erklärung  auftreten,  er  sei  nicht  gekommen, 
um  die  alle  Religionsverfassung,  das  Gesetz,  auch  nur  im  Ge- 
ringsten aufzuheben,  wenn  er  doch  schon  damals  das  Bewusst- 
sein  in  sich  haben  musste,  dass  er  eigentlich  dazu  gekommen  sei, 
durch  seinen  Tod  der  Stifter  einer  neuen  ^laörj^r^  zu  werden, 
eines  neuen  Bundes,  durch  welchen  als  einem  vom  alten  wesent- 
lich verschiedenen  der  alte  nothwendig  aufgehoben  werden 
musste?  Sollte  man  ferner  nicht  erwarten,  dass  Jesus,  wenn 
er  seiner  eigentlichen  Bestimmung  nach  nioht  Gesetzesreforma- 
tor, sondern  Versöhner  der  Menschen  mit  Gott  durch  seinen 
Tod  und  insofern  Stifter  einer  neuen  SiaO/iX.?)  war,  eben  diese 
wesentliche  Idee,  dass  der  Mensch  nicht  auf  dem  Wege  des 
Gesetzes,  sondern  nur  durch  die  glaubige  Annahme  des  ihm 
von  Gott  im  Tode  Jesu  dargebotenen  Versöhnungsmittels  selig 
werden  könne,  zum  Gegenstand  seiner  Lehrvorträge  machte? 
Im  Johanneischen  Evangelium  thut  er  diess  zwar,  aber  wir  haben 
uns  hier  nur  an  das  Matthäusevangelium,  zu  halten.  In  dem 
letztern  findet  sich  nicht  nur  hierüber  nichts,  sondern  vielmehr 
das  gerade  Gegentheil.  Denn  wenn  hier  die  in  der  Gesetzes- 
ErfüUung  bestehende  Gerechtigkeit  als  der  Weg  aufgestellt  wird, 
auf  welchem  man  zur  ßa^iXeia  xöv  oOpavöv  gelangen  kann,  wenn 
alles  nur  darauf  ankommt,  dass  man  der  Einladung  zur  ßafftXsCa 
Töv  oüpavöv  folgt,  die  rechte  Empfänglichkeit  für  das,  was  sie 
anbietet,  hat,   das  Wort  Gottes  in  sich  aufnimmt  und  befolgt, 


4|IH  M0Ht9*^  Erster  Absobnitt. 

SO  muss  vorausgesetzt  werden,  dass  man  auch  wirklich  schon 
auf  diesem  Wöge  zur  ßacrtXsia  twv  oOpavöv  gelangt.  Das  Be- 
dürfniss  der  Vergebung  der  Sünden  wird  dadurch  keineswegs 
ausgeschlossen;  je  einfacher  aber  in  den  Reden  Jesu  darauf 
hingewiesen  wird,  um  so  weniger  ist  anzunehmen,  dass  sie 
nach  dem  wahren  Sinn  der  Lehre  Jesu  durch  einen  Versöhnungs- 
act  bedingt  ist,  wie  der  Tod  Jesu  als  Lösegeld  gewesen  wäre. 
Es  wird  einfach  vorausgesetzt,  dass  alle,  welche  ihre  Sünden 
erkennen  und  mit  wahrer  Demuth  des  Herzens  sie  bereuen,  un- 
mittelbar der  Vergebung  derselben  versichert  sein  dürfen ,  und 
wie  könnte  Jesus  den  wiederholt  geltend  gemachten  Ausspruch 
des  Propheten:  sXeov  biloi  xal  oü  Oixriav,  Matth.  9,  13.  12,  8, 
als  einen  allgemeinen  Grundsatz  aufstellen ,  nach  welchem  das 
religiöse  Verhältniss  des  Menschen  zu  Gott  zu  beurtheilen  ist, 
wenn  das  Hauptmoment,  an  welchem  alles  hängt,  in  letzter 
Beziehung  doch  wieder  in  einer  von  der  Gesinnung  unabhängigen 
Versöhnungsanstalt  läge?  Wie  man  auch  die  Sache  nehmen 
mag,  als  ein  XuTpov  avxl  7ro>.Xc3v,  als  al[xa  ix;^v6(X6vov  Oxsp  -Kok- 
Xöv  würde  sein  Tod  doch  auch  wieder  unter  den  Gesichtspunkt 
einer  Ouoria  gehören.  Es  lässt  sich  demnach  nicht  wohl  läugnen, 
dass  die  bisher  erörterten  Stellen  des  Matthäusevangeliums  An- 
deutungen einer  Versöhnungstheorie  enthalten,  welche  zur 
eigentlichen  Lehre  Jesu,  zu  den  rein  sittlichen  Forderungen, 
die  ihren  wesentlichen  Inhalt  ausmachen,  nicht  recht  passen. 
Es  ist  schon  ein  anderer  Standpunkt,  von  welchem  aus  die  auf 
der  versöhnenden  Kraft  des  Todes  Jesu  beruhende  Religions- 
anstalt als  xaiv^  ^laöi^JtTi  der  alten  gegenübergestellt  wird.  Diese 
Auffassung  des  Todes  Jesu  ist  bei  dem  Apostel  Paulus  und  in 
dem  paulinisirenden  Lucasevangelium  ganz  an  ihrer  Stelle,  in 
den  beiden  ersten  Evangelien  aber  scheint  auch  die  Unsicherheit 
der  Lesart,  die  sich  hier  zeigt,  anzudeuten,  dass  man  hier 
etwas  Fremdartiges  vermuthet  hat.  Es  ist  auffallend,  dass  nach 
den  neuesten  Kritikern  Matth.  26,  28  blos  xl^  (j.ou  Tf[;  SiaOy.jtYi; 


Die  Lehre  Jesu  von  seiner  Person.  105 

ZU  lesen  ist.  Noch  mehr  ist  die  Auslassung  von  xaivvi?  Marc. 
14,  24  bezeugt.  Auch  de  Wette  bemerkt,  /.aivx;  scheine  pau- 
linisch  zu  sein.  Der  Sinn  bleibt  zwar  auch  ohne  xaivr?  derselbe, 
denn  wenn  sein  Blut  ein  ad^.x  tti;  Siaör^/cvi;  sein  soll,  so  kann 
die  durch  sein  Blut  gestiftete  ^ia9r,/cvi  nur  eine  neue  sein ;  scheint 
aber  nicht  der  Anstoss,  welchen  man  an  der  ^ia6r,x-/;  als  einer 
neuen  nahm,  daraufhinzuweisen,  dass  die  ganze  Stelle,  soweit 
sie  die  Siaör./cri  betrifft,  für  das  Matthäusevangeliu'm  nicht  recht 
passt?  Hat  Paulus  zuerst  die  Überlieferung  vom  letzten  Mahle 
Jesu  im  Sinne  seiner  Versöhnungs-Idee  aufgefasst,  so  ist  sie  in 
dieser  Form  auch  in  die  Evangelien  übergegangen.  Ist  somit 
das,  was  Jesus  bei  seinem  letzten  Mahle  that,  wenn  auch  als 
eine  Stiftung  zum  Andenken  an  seinen  Tod,  doch  ursprünglich 
nicht  im  Sinne  der  Versöhnungsidee  aufzufassen,  so  kann  es 
nur  als  eine  symbolische  Handlung  genommen  werden,  durch 
welche  er  seinen  Jüngern  das  ihm  bevorstehende  Schicksal  vor 
Augen  stellen  und  unter  dieser  Anschauung  ihr  Andenken  an 
ihn  um  so  lebendiger  erhalten  .wollte.  Es  liegt  daher  auch  in 
dieser  Handlung  nichts,  was  eine  nähere  Beziehung  auf  die 
Lehre  von  seiner  Person  hätte.  Man  kann  nur  fragen,  wie  man 
sich  ihre  symbolische  Bedeutung  zu  denken  hat  0- 

Eine  eigene  Classe  der  die  Lehre  von  der  Person  Jesu  be- 
treffenden Aussprüche  bilden  diejenigen,  in  welchen  er  sich  als 
den  vom  Himmel  kommenden  Weltrichter  angekündigt  haben 
soll.  Und  zwar  sollte  er  nicht  in  der  fernen  Zukunft,  sondern 
schon  in  der  nächsten  Zeit  zum  Weltgericht  und  zur  Vollendung 
aller  Dinge  kommen.  Schon  Matth.  16,  27  f.  versichert  Jesus, 
der  Menschensohn  werde  kommen  in  der  Herrlichkeit  seines 
Vaters  mit  seinen  Engeln,  und  dann  werde  er  jedem  nach  seiner 
Handlungsweise  vergelten.  Unter  denen,  die  hier  stehen,  seien 
einige,  welche  den  Tod  nicht  schmecken  werden,  bis  sie  des 


1)  Hierüber  vgl.  man  die  theol.  Jabrb.  1857.  S.  538  f. 


f^QÜ  0O'ST»*f    '  ^''B^c  Abschnitt. 

Menschen  Sohn  in  seinem  Reich,  d.h.  zur  Verwirklichung  seines 
Reichs  kommen  sehen.  Dieselbe  Generation  also,  wenn  auch 
gleich  nur  in  den  wenigen  zuletzt  noch  lebenden  Genossen 
derselben,  sollte  seine  Parusie  noch  erleben.  Noch  bestimm- 
ter und  ausführlicher  lässt  Matthäus  Jesum  in  den  Reden 
K.  24  und  25  hierüber  sich  aussprechen,  welchen  zufolge 
seine  Wiederkunft  und  das  Ende  der  gegenwärtigen  Weltperiode 
unmittelbar  «nach  der  Zerstörung  des  Tempels  in  Jerusalem  er- 
folgen sollte.  Er  spricht  von  den  Vorzeichen  dieser  grossen 
Katastrophe:  Kriege  und  Kriegsgerüchte,  Kämpfe  von  Völkern 
und  Reichen  gegen  einander,  Hungersnoth,  Pest  und  Erdbeben 
da  und  dort  seien  nur  die  ersten  Anfänge  des  Elends,  welches 
der  Ankunft  des  Messias  vorangehen  werde.  Auch  sie  selbst, 
seine  Anhänger  werden  zuvor  noch  Hass  und  Verfolgung  und 
Mord  über  sich  ergehen  lassen  müssen;  Treulosigkeit,  Verrath, 
Täuschung  durch  falsche  Propheten,  Lieblosigkeit  und  allge- 
meines Sittenverderben  werde  unter  den  Menschen  einreissen; 
zugleicH  aber  müsse  die  Botschaft  vom  Messiasreich  noch  vorher 
in  der  ganzen  Welt  verkündigt  werden.  Nach  allem  diesem  erst 
könne  das  Ende  der  jetzigen  Weltperiode  eintreten,  auf  welches 
mit  Standhaftigkeit  harren  müsse,  wer  an  dem  Glücke  der  künf- 
tigen Antheil  bekommen  wolle.  Ein  näheres  Vorzeichen  schon 
von  dieser  Katastrophe  sei  die  Erfüllung  des  Daniel'schen  Orakels 
von  dem  an  heiliger  Stätte  aufzustellenden  Verwüstungsgräuel. 
Um  diese  Zeit  werden  falsche  Propheten  und  Messias  durch 
Wunder  und  Zeichen  zu  täuschen  suchen  und  da  öder  dort  den 
Messias  zu  zeigen  versprechen,  da  doch  ein  Messias,  der  irgend- 
wo verborgen  wäre  und  aufgesucht  werden  müsste,  kein  wahrer 
sein  könne,  indem  dessen  Ankunft,  wie  das  Leuchten  des 
Blitzes,  eine  plötzliche  überall  hin  dringende  Offenbarung  sei, 
deren  Mittelpunkt  Jerusalem  bilde,  das  durch  seine  Schuld  die 
Strafe  über  sich  herbeiziehe.  Unmittelbar  nach  dieser  Drang- 
salszeit werde  sich  nun  durch  Verfinsterung   von  Sonne   und 


Die  Lehre  Jesti  von  seiner  Person.  107 

Mond,  durch  Herabfallen  der  Sterne  und  Erschütterung  aller 
Kräfte  des  Himmels  die  Erscheinung  des  Messias  einleiten,  welcher 
sofort  zum  Schrecken  der  Erdenbewohner  mit  grosser  Herrlich- 
*keit  in  den  Wolken  des  Himmels  daherkommen  und  alsbald 
durch  Engel  mit  Trompetenschall  seine  ErAvählten  von  allen 
Enden  der  Erde  zusammenrufen  lassen  werde.  An  den  vorge- 
nannten Zeichen  sei  die  Nähe  der  angegebenen  Katastrophe  so 
sicher,  wie  an  dem  Ausschlagen  des  Feigenbaums  die  Nähe  des 
Sommers  zu  erkennen ;  noch  das  gegenwärtige  Zeitalter  werde 
bei  allem,  was  sicher  sei,  alles  das  erleben,  obgleich  der  ge- 
nauere Termin  nur  Gott  allein  bekannt  sei.  Wie  aber  die 
Menschen  seien,  so  werden  sie  auch  die  Ankunft  des  Messias, 
wie  einst  die  der  Sündfluth,  mit  leichtsinniger  Sicherheit  heran- 
rucken lassen ,  und  doch  werde  es  ein  äusserst  kritischer  Zeit- 
punkt sein,  der  diejenigen,  welche  in  den  nächsten  Verhält- 
nissen gestanden,  ganz  entgegengesetztem  Loose  überantworten 
werde.  Darum  sei  Wachsamkeit  noth,  wie  immer,  wenn  vor 
einem  entscheidenden  Erfolg  der  Zeitpunkt  seines  Eintreffens 
unbekannt  sei,  was  sofort  durch  das  Bild  vom  Hausherrn  und 
Dieby  vom  Knecht,  dem  der  verreisende  Herr  die  Aufsicht  über 
das  Hauswesen  anvertraut,  ferner  von  den  klugen  und  thörichten 
Jungfrauen,  endlich  von  den  Talenten  veranschaulicht  wird. 
Hierauf  folgt  eine  Beschreibung  des  feierlichen  Gerichts,  welches 
der  Messias  über  alle  Völker  halten  und  in  welchem  er  nach  der 
Rücksicht,  ob  einer  die  Pflichten  der  Menschenliebe  beobachtet 
oder  hintangesetzt  habe,  Seligkeit  oder  Verdammniss  zuerkennen 
werde. 

Die  orthodoxen  Erklärer  kommen  hier  in  grosse  Noth,  um 
der  Voraussetzung  zu  begegnen,  Jesus  habe  als  unmittelbare 
Folge  der  Zerstörung  Jerusalems  ein  Ereigniss  angekündigt,  das 
auch  seitdem  noch  nicht  eingetreten;  die  nichtorthodoxen  da- 
gegen nehmen  ohne  Bedenken  an,  dass  sich  Jesus  entweder  zu 
jüdischen  Vorstellungen  accommodirt  oder  in  seinen  Erwartun- 


108  .a()»^J)^    Erster  Abschnitt. 

gen  und  Ankündigungen  getäuscht  habe.  In  diesem  Sinne  sagt 
Strauss,  das  Allgemeine  der  Erwartung,  irgend  einmal  in  den 
Wolken  des  Himmels  zu  erscheinen,  um  die  Todten  zu  erwecken, 
Gericht  zu  halten  und  ein  ewiges  Reich  zu  begründen,  sei  Jesu 
ebenso  bald  gegeben  gewesen  als  er  sich  für  den  Messias  hielt, 
mit  Bezug  auf  Daniel ,  wo  jenes  Kommen  dem  uJöc  toO  ävGpcoTcou 
zugeschrieben  sei;  in  Betreff  der  Zeit  aber  ergebe  es  sich  als 

natürlich,  dass  er  zwischen  seiner  ersten  messianischen  Ankunft 

• 

in  der  Niedrigkeit  und  der  zweiten  in  der  Herrlichkeit  keine 
allzu  lange  Zwischenzeit  hineingedacht  haben  werde.  Während 
die  erstere  Ansicht  den  Worten  Jesu  einen  ganz  andern  ihnen 
offenbar  widerstreitenden  Sinn  aufdringen  muss,  lässt  ihn  die 
letztere  in  einer  jüdischen  Anschauungsweise  befangen  sein,  bei 
welcher  mit  Recht  die  Frage  entstehen  muss,  ob  es  nothwendig 
ist,  diess  anzunehmen.  Hätte  Jesus  über  seine  Parusie  zum 
Gericht  und  Weltende  ganz  in  der  Form  sich  ausgesprochen,  in 
welcher  er  es  bei  Matthäus  gethan  haben  soll,  so  hätte  er  sich 
als  Messias  mit  dem  Messias  der  jüdischen  Vorstellung  auf  eine 
Weise  identificirt,  die  mit  dem  Charakter  seiner  Lehre  und 
Wirksamkeit  nicht  ganz  zusammenstimmt.  Auf  dem  jetzigen 
Standpunkt  der  Evangelienkritik  muss  man  vor  allem  fragen,  ob 
es  wahrscheinlich  ist,  dass  Jesus  alle  diese  Reden  ganz  so  ge- 
halten hat,  wie  sie  ihm  zugeschrieben  werden.  Diese  Frage 
muss  aus  mehreren  Gründen  verneint  werden.  Der  Hauptpunkt 
dieser  Reden  ist  die  Zerstörung  Jerusalems.  Dass  Jesus  die- 
selbe nicht  vorausgesagt  hat,  sehen  wir  ganz  klar  aus  der  Apo- 
kalypse, deren  Verfasser  von  einer  Zerstörung  Jerusalems  nichts 
weiss,  vielmehr  ausdrücklich  sagt,  Jerusalem  werde  mit  ge- 
ringer Ausnahme  unversehrt  erhalten  werden.  Ist  der  Verfasser 
^er  Apokalypse,  wie  wir  annehmen  müssen,  der  Apostel  Jo- 
hannes, so  konnte  ihm  doch,  wenn  Jesus  wirklich  die  Zer- 
störung Jerusalems  geweissagt  hat,  diess  unmöglich  unbekannt 
sein.    Sind  nun  die  Reden  Jesu  in  diesem  Hauptpunkt  unhisto- 


Die  Lebre  Jesu  von  seiner  Person.  109 

risch,  so  verliert  auch  das  Übrige,  was  damit  zusammenhängt, 
seinen  historischen  Haltpunkt.  Dürften  wir  annehmen,  dass  wir 
hier  eine  von  Jesus  selbst  gegebene  Weissagung  haben,  so  wäre 
freilich  der  Erfolg  mit  der  Voraussagung  ganz  zusammenge- 
troffen, allein  so  specielle  Züge,  wie  diese  Reden  enthalten, 
geben  ihnen  auch  gar  zu  sehr  das  Aussehen  eines  vatic'uiinm 
post  eveutum.  Bei  näherer  Betrachtung  zeigt  sich  übrigens 
auch  noch,  dass  Matth.  K.  24  nicht  einmal  auf  die  Zerstörung 
Jerusalems  geht,  sondern  nur  auf  die  Ereignisse  des  zweiten 
jüdischen  Kriegs  unter  dem  Kaiser  Hadrian  passt,  woraus  deut- 
lich zu  sehen  ist,  wie  solche  Weissagungen,  da  die  erwartete 
Parusie  immer  wieder  nicht  erfolgte,  nach  der  Verschiedenheit 
der  Zeiten  eine  verschiedene  Gestalt  erhielten.  Endlich  ist  hier 
der  Einfluss  der  jüdischen  Zeitvorstellungen  so  deutlich  wahr- 
zunehmen ,  dass  man  auch  aus  diesem  Grunde  Bedenken  tragen 
muss,  die  Lehre  von  einer  Parusie,  wie  sie  hier  geschildert 
wird,  Jesu  zuzuschreiben.  Das  so  lebhafte  Interesse,  mit 
welchem  die  Apostel  und  ältesten  Christen  einer  schon  in  der 
nächsten  Zeit  erfolgenden  Parusie  entgegensahen,  lässt  sich  nur 
daraus  erklären,  dass  nachdem  Jesus  alle  jene  Erwartungen 
unerfüllt  gelassen  hatte,  die  man  vom  Messias  hegte ^  nun  um 
so  gewisser  seine  baldige  Wiederkunft  alles  verwirklichen  sollte, 
was  man  bisher  vergeblich  von  ihm  gehofft  hatte,  und  doch  vom 
Begriffe  des  Messias  nicht  trennen  konnte. 

Es  kommt  auch  hier  darauf  an,  den  ursprünglichen  sub- 
stanziellen  Gehalt  der  Lehre  Jesu  von  seiner  Person  von  den 
Modificationen  zu  unterscheiden,  die  ihr  erst  in  der  jüdischen 
Anschauungsweise  seiner  Jünger  gegeben  worden  sind.  Dass 
Jesus  sich  selbst  als  den  künftigen  Richter  betrachtete  und  an- 
kündigte, lässt  sich  auch  nach  dem  Evangelium  Matthäus  nicht 
in  Zweifel  ziehen.  Fasst  man  die  Lehre  und  Wirksamkeit  Jesu 
auch  nur  nach  dem  sittlichen  Gesichtspunkt  auf,  unter  welchen 
sie  der  Bergrede  und  den  Parabeln  zufolge  zu  stellen  ist,  so 


ftO  jioii'ti>M  Erster  Abschnitt.  <: 

gehört  dazu  wesentlich  auch  die  Bestimmung,  dass  sie  der  ab- 
solute Maasstab  zur  Beurtheilung  des  sittlichen  Werthes  des 
Thuns  und  Verhaltens  der  Menschen  ist.  Nach  dem  so  ver- 
schiedenen Verhalten  der  Menschen  zu  der  Lehre  Jesu,  als  dem 
Grundgesetz  der  ßadiXeia  twv  oöpavcov  theilen  sie  sich  in  zwei 
wesentlich  verschiedene  Classen,  deren  sittlicher  Werth,  auf 
seinen  absoluten  Ausdruck  gebracht,  durch  den  Gegensatz  der 
ewigen  Se%keit  und  der  ewigen  Verdammniss  ausgesprochen 
ist.  Was  aber  zunächst  von  seiner  Lehre  gilt,  gilt  auch  wieder 
von  seiner  Person,  sofern  er  der  Urheber  und  Verkündiger  der- 
selben ist.  Mit  seiner  Lehre  gehört  seine  Person  wesentlich  und 
unzertrennlich  zusammen,  er  ist  selbst  die  concrete  Anschauung 
der  in  alle  Ewigkeit  sich  erstreckenden  Bedeutung  der  absoluten 
Wahrheit  seiner  Lehre.  Ist  es  seine  Lehre,  nach  welcher  der 
sittliche  Werth  der  Menschen  für  alle  Ewigkeit  zu  beurtheilen 
ist,  so  ist  er  selbst  derjenige,  welcher  dieses  ürlheil  spricht, 
als  der  künftige  Richter  der  Menschen.  In  diesem  rein  sittlichen 
Sinne  ist  die  Idee  eines  künftigen  Gerichts  in  den  Reden  und 
Parabeln  Jesu  wiederholt  ausgesprochen,  Matth.  13,  37—43. 
49  f.  16,  27,  besonders  in  der  Rede  Matth.  25,  31-46,  in 
welcher  die  ganze  Darstellung  so  gehalten  ist,  dass  man  nicht 
weiss,  ob  sie  als  Lehrvortrag  oder  als  Parabel  zu  nehmen  ist, 
ob  sich  Jesus  nicht  blos  in  dem  bildlichen  Sinne  einer  Parabel 
als  den  künftigen  Richter  der  Menschen,  als  den  ßaaiXeu?  der 
ßacTiXsia  Tc5v  oOpavcov  darstellt.  Es  kann  diess  nur  in  bildlichem 
Sinne  genommen  werden,  wenn  er  sich  hier  als  den  bezeichnet,  an 
dessen  Person  das  sittliche  Thun  der  Menschen  in  seinem  Werth 
sich  erprobt,  und  mit  allen  denen,  an  welchen  das  sittliche 
Verhalten  in  der  Form  der  Menschenliebe  das  Object  seiner 
Thatigkeit  hat,  sich  so  identiiicirt,  dass  man  das,  was  man  an 
jenen  thut,  eigentlich  an  ihm  selbst  thut,  womit  nur  die  Wahr- 
heit ausgedrückt  sein  kann,  dass  das  sittliche  Verhalten  der 
Menschen  seinen  höchsten  Werth  erst  dadurch  erhält,  wenn  es 


Die  Lehre  Jesu  von  seiner  Person.  Hl 

durch  die  reine  Idee  des  Guten  bestimmt  wird.  Was  man  an 
ihm  selbst  thut,  ist  die  höchste  sittliche  That;  die  höchste  sitt- 
liche That  kann  aber  nur  die  sein,  die  um  der  reinen  Idee  des 
Guten  willen  geschieht.  Darum  ist  ein  wesentlicher  Zug  der 
Darstellung  Matth.  25,  31  f.,  dass  die,  die  als  die  Gesegneten 
des  Vaters  wegen  der  Handlungen  gepriesen  werden,  die  sie 
ihm  erwiesen  haben,  nicht  wissen,  dass  er  es  war,  welchem  sie 
alles  diess  thaten.  Hätten  sie  es  mit  dem  Bewusstsein  gethan, 
dass  er  es  ist,  welchem  sie  alles  diess  thun,  so  hätte  das  Motiv 
ihres  Thun's  auch  nur  ein  persönliches  und  subjectives  sein 
können,  thaten  sie  es  aber,  ohne  zu  wissen,  wem  sie  es  thun, 
ohne  alle  Rücksicht  auf  die  Person,  so  konnten  sie  es  nur  als 
das  an  sich  Gute  thun,  um  der  reinen  Idee  des  Guten  willen. 
Wie  nun  hier  Jesus  das  an  sich  Gute  an  seiner  Person  darstellt, 
sich  selbst  zur  concreten  Anschauung  des  absoluten  sittlichen 
Werths  der  menschlichen  Handlungen  macht,  so  konnte  er  auch 
seine  Person  zur  Trägerin  der  absoluten  sittlichen  Norm  machen, 
die  in  seiner  Lehre  enthalten  ist.  In  demselben  Bewusstsein,  in 
welchem  er  sich  der  absoluten  Wahrheit  seiner  Lehre  bewusst 
war,  als  der  Norm,  nach  welcher  das  Verhalten  der  Menschen 
zu  richten  ist,  wusste  er  sich  als  den  Richter  der  Welt,  alsr  den, 
der  über  das  sittliche  Thun  und  Verhalten  das  für  alle  Ewigkeit 
gültige  Urtheil  sprechen  wird.  Er  ist  der  Richter  der  Menschen, 
weil  die  Lehre,  nach  deren  Norm  die  Menschen  gerichtet  wer- 
den, seine  Lehre  ist.  -,fiBjuÄ^ö«^i»- 
Ob  nun  aber  Jesus  diesem  weltrichterlichen  Bewusstsein, 
das  er  in  sich  hatte,  durch  Aneignung  der  damals  gangbaren 
populären  Messiasvorstellungen  auch  den  concreten  sinnlichen 
Ausdruck  gegeben  hat,  mit  welchem  es  in  der  Darstellung  des 
Matthäus  erscheint,  ist  eine  ganz  andere  Frage,  die  wir  nach 
allem  Bisherigen  nicht  bejahen  können.  Unmöglich  können 
solche  Reden,  wie  die  Matth.  19,  28,  wo  er  seinen  Jüngern 
verheisst,   dass  sie  in  der   TraXiYYSvsota ,  wenn  des  Menschen 


f|A.  unr.i'jH  ^i^s^c  Abschnitt. 

Sohn  seinen  herrlichen  Thron  bestiegen  haben  werde,  selbst 
auch  auf  zwölf  Stühlen  sitzen  und  die  zwölf  Stämme  Israels 
richten  werden,  oder  wenn  er  von  einem  Essen  und  Trinken 
im  Reiche  Gottes  spricht,  was  Luc.  22,  30  mit  dem  Sitzen  auf 
den  Stühlen  verbindet,  wovon  aber  auch  bei  der  Einsetzung  des 
Abendmahls  die  Rede  ist,  Matth.  26,  29,  im  Munde  Jesu  anders 
als  bildlich  genomnien,  oder  auch  nur  für  ächte  Äusserungen 
desselben  gehalten  werden.  Wir  sehen  vielmehr  gerade  aus 
solchen  Stellen,  wie  Vieles  überhaupt  in  diesem  eschatologischen 
Vorstellungskreise  nur  bildlich  genommen  werden  kann.  Weit 
treuer  drückt  unstreitig  den  wahren  Sinn  Jesu  die  Erzählung 
Matth.  20,  20  f.  aus,  wo  er  den  Söhnen  Zebedäi  auf  ihre  Bitte, 
sie  in  seinem  Reiche  die  ersten  Sitze  einnehmen  zu  lassen,  er- 
wiedert,  sie  wissen  nicht,  um  was  sie  bitten,  und  ihnen  die 
Frage  entgegenhält,  ob  sie  im  Stande  seien,  den  Kelch  zu 
trinken,  welchen  er  trinken  werde;  seinen  Kelch  sollen  sie 
trinken,  was  aber  das  Sitzen  zu  seiner  Rechten  und  Linken 
betreffe,  so  sei  es  nicht  seine  Sache  es  zu  geben,  sondern  es 
werde  nur  denen  verliehen,  welchen  es  bereitet  sei  von  seinem 
Vater.  Man  hat  es  auffallend  gefunden,  dass  er  sich  diese 
Macht  hier  abspricht,  da  er  sich  ja  sonst  als  Weltrichter  dar- 
stelle. Hätte  er  aber  damit,  wie  de  Wette  meint,  nur  sagen 
wollen,  dass  er  zwar  über  allgemeine  Verhältnisse  im  voraus 
entscheiden  könne,  dass  aber  das,  um  was  die  Söhne  des  Ze- 
bedäus  bitten,  in  das  Besondere  und  Individuelle  gehöre,  dessen 
Bestimmung  das  Ergebniss  der  unter  Gottes  Leitung  stehenden 
Entwicklung  der  Dinge  sei,  so  wäre  damit  weit  mehr  zugegeben, 
als  mit  der  Entschiedenheit  zusammenstimmt,  mit  welcher  die 
Bitte  abgewiesen  wird.  Der  Sinn  seiner  Worte  kann  nur  sein, 
es  sei  nicht  seine  Sache,  weil  überhaupt  so  sinnliche  Bitten 
nicht  im  Reich  Gottes  erfüllt  werden  können,  und  das,  was  als 
Höchstes  gegeben  wird,  nicht  solchen  gegeben  wird,  wie  sie 
sind,  sondern  nur  denen,  welchen  es  von  Gott  bestimmt  ist. 


Die  Lehre  Jesn  von  seiner  Person.  113 

Wenn  Jesus  auch  nur  in  dem  Sinne  die  jüdischen  Messias- 
prädicate  sich  beilegte,  in  welchem  wir  diess  nach  dem  Resultat 
der  bisherigen  Untersuchung  anzunehmen  haben,   so  ist  doch 
die  Frage  immer  noch  nicht  beantwortet,  in  welchem  bestimm- 
teren Sinne  er  sich  als  Messias  und  Sohn  Gottes  betrachtet  wissen 
wollte.    Wenn  er  auch  gewöhnlich  und  vorzugsweise  sich  des 
Menschen  Sohn   nannte,   so  lehnte   er  doch  auch  den  Namen 
Sohn  Gottes  nicht  ab,  und  es  leidet  keinen  Zweifel,  dass  er  der 
Sohn  Gottes  zu  sein  behauptete.  Die  bestimmteste  und  wichtigste 
Stelle,  in  welcher  Jesus  sein  Sohnesbewusstsein  ausspricht,  ist 
Matth.  11,  25  —  30,  wo  er  den  Vater,  den  Herrn  des  Himmels 
und  der  Erde  darüber  preist,  dass  was  freilich  den  Weisen  und 
Verständigen  verborgen  bleibe,  den  Unmündigen  geoffenbart  sei, 
d.  h.  Gott  dafür  dankt,  dass  unter  so  Vielen,  welchen  in  ihrer 
weltlichen  Richtung  der  Sinn  für  das  Geistige  völlig  verschlossen 
ist,  es  doch  nicht  an  Solchen  fehlt,  welche  in  ihrem  einfachen 
kindlichen  Sinn  die  rechte  Empfänglichkeit  für  seine  Belehrun- 
gen über  die  ^xaikzi.'x.  töv  oöpavwv  haben.    Die  Rede  Jesu  schil- 
dert einen  Moment,  in  welchem  sich  .ihm  nach  der  gemachten 
freudigen  Erfahrung,  dass  er  nicht  umsonst  wirke,  der  erhebende 
Gedanke  an  seine  universelle,  weltgeschichtliche  Bestimmung 
in  seiner  ganzen  Grösse  aufdrang.    Von  diesem  Gesichtspunkt 
aus  ist  auch  das  Folgende  zu  verstehen.    Wenn  er  sagt,  alles 
sei  ihm  von  seinem  Vater  übergeben,  so  kann  er  nur  alles  das 
meinen ,  was  sich  auf  die  Realisirung  der  Idee  der  ßactXsta  töv 
•oiipavöv  bezieht,  und  er  spricht  hiemit  nur  das  Bewusstsein  aus, 
dass  er  der  Stifter  derselben  in  dem  Sinne  sei,  in  welchem  er 
diess  hauptsächlich  in  der  Bergrede  erklärt  hat.    In  diesem  Be- 
wusstsein weiss  er  sich  mit  dem  Vater  Eins,  niemand  erkennt 
den  Sohn  als  der  Vater,  und  niemand  erkennt  den  Vater,  als 
der  Sohn  und  wem  es  der  Sohn  offenbaren  will.   Vom  Sohn  geht 
alles  aus,  was  eine  neue  Offenbarung  Gottes  in  der  Menschheit 
begründet,   er  ist  der  höchste   unmittelbare  Gesandte  Gottes, 

Baar,  nentwt.  TheoL  ^ 


JI4  •'  Erster  Abschnitt. 

durch  welchen  alles  vermittelt  wird.  Der  Vater  erkennt  den 
Sohn  und  der  Sohn  den  Vater,  weil  zwischen  Beiden,  dem 
Sendenden  und  dem  Gesendeten  eine  solche  Einheit  des  Be- 
wusstseins  ist,  dass  der  Sendende  nur  den  Gesendeten  als  den 
OfTenbarer  seines  Willens  erkennt  und  nur  der  Gesendete  weiss, 
von  wem  er  gesendet  ist.  Die  Einheit  des  Vaters  und  Sohns  ist 
hier  vollständig  erklärt,  wenn  wir  sie  von  dem  in  Jesu  sich 
aussprechenden  Bewusstsein  eines  unmittelbaren  göttlichen  Ge- 
sandten verstehen,  welcher  hier  mit  derselben  Auctorität  auf- 
tritt, wie  in  der  Bergrede,  in  welcher,  wenn  auch  die  Person 
gegen  die  Sache  zurücksteht,  doch  der  ganze  Inhalt  der  Rede 
von  dem  Bewusstsein  getragen  wird,  dass  in  dem  Redenden 
eine  neue  Quelle  unmittelbarer  göttlicher  Offenbarung  eröffnet 
ist.  Wer  so  spricht,  wie  Jesus  in  der  Bergrede,  wenn  er  zwar 
nur  auf  den  Boden  der  alttestamentlichen  Gesetzgebung  sich 
stellt  und  über  denselben  nicht  hinausgehen  will,  aber  doch 
durch  alle  Belehrungen,  die  er  hier  gibt,  erst  den  wahren  Sinn 
der  alttestamentlichen  Gesetzgebung  aufschliesst,  muss  auch  das 
Bewusstsein  in  sich  haben ,  dass  er  nur  als  Gesandter  Gottes  so 
sprechen  kann.  Dasselbe  Bewusstsein  spricht  sich  hier,  Matth. 
11,  25  f.  aus,  nur  unmittelbarer  und  persönlicher.  Darum 
stimmt  dieser  Abschnitt  mit  der  Bergrede  auch  darin  ganz  über- 
ein, dass  der  Inhalt  der  Lehre,  zu  deren  Verkündigung  er  als 
der  vom  Vater  Gesendete  gekommen  ist,  derselbe  ist,  wie  in 
der  Bergrede.  In  dem  erhebenden  Bewusstsein  seiner  göttlichen 
Sendung  oder  seiner  Einheit  mit  Gott  ruft  er  alle  zu  sich,  um 
sie  das  bei  sich  finden  zu  lassen,  was  sie  in  der  pharisäischen 
Gesetzesgerechtigkeit  nicht  finden  können,  dieselbe  Ruhe  und 
Befriedigung,  die  er  in  den  Makarismen  der  Bergrede  denen 
verheisst,  welche  die  rechte  Empfänglichkeit  für  seine  Ein- 
ladung zum  Reich  Gottes  haben.  Kommet  her  zu  mir,  ruft  er, 
alle,  die  ihr  mühselig  und  beladen  seid,  d.  h.  als  die  Trrwjj^ol  tö 
TTveujxaTi  das  Bewusstsein  dessen  habt,  was  euch  fehlt,  ich  will 


Die  Lehre  Jesu  von  seiner  Person  und  Gott.         115 

euch  erquicken,  nehmet  auf  euch  mein  Joch  u.  s.  w.;  denn  mein 
Joch  ist  sanft  und  meine  Last  ist  leicht.  Sanft  ist  sein  Joch,  weil 
er  von  dem  Druck  der  pharisäischen  Satzungen  befreit,  und  an 
die  Stelle  des  äussern  Gesetzesdienstes  den  Innern  Werth  der 
sittlichen  Gesinnung  setzt.  In  der  Erweckung  dieses  rein  sitt- 
lichen Bewusstseins  besteht  die  göttliche  Sendung,  in  welcher 
er  als  Sohn  mit  dem  Vater  sieh  eins  weiss.  Wie  er  in  keiner 
andern  Stelle  sich  so  unmittelbar  als  Sohn  dem  Vater  gegen- 
überstellt, so  gibt  auch  keine  andere  einen  so  klaren  Aufschluss 
über  den  Begriff,  welchen  er  mit  dem  Ausdruck  uiö?  verband. 
War  es  zuvor  schon  gewöhnlich,  den  Messias  Sohn  Gottes  zu 
nennen,  so  wollte  auch  er  mit  dieser  Bezeichnung  seiner  Per- 
son das  Prädicat  des  Messias,  aber  nur  in  dem  Sinn,  in  welchem 
er  die  messianische  Bestimmung  auffasste,  sich  zueignen.  "  ''^ 
Wie  er  aber  das  Sohnesverhältniss  sich  dachte,  lässt  sich 
erst  aus  der  Bedeutung  erkennen,  welche  für  ihn  die  Idee  Got- 
tes als  des  Vaters  hatte.  Diese  Idee  darf  mit  Recht  als  der  ei- 
gentliche Mittelpunkt  der  Lehre  Jesu  betrachtet  werden,  als  das 
von  ihm  aufgestellte  neue  Princip  des  religiösen  Bewusstseins. 
Dass  Gott  in  dem  Verhältniss  eines  Vaters  zu  den  Menschen 
steht,  ist  erst  durch  Jesus  zum  vollen  Bewusstsein  der  Mensch- 
heit geworden.  Vater  wird  Gott  zwar  auch  schon  im  alten  Te- 
stament genannt,  aber  nur  selten,  wie  Jesaj.  63,  16.  Ps.  103, 
13;  die  Vateridee  ist  noch  nicht  die  wesentliche  Bestimmtheit 
des  religiösen  Bewusstseins.  Bei  Jesus  ist  es  die  stehende  Be- 
zeichnung Gottes,  dass  er  der  Vater  der  Menschen  ist;  „euer 
Vater,  euer  Vater  im  Himmel"  ist  das  immer  wiederkehrende 
Prädicat  Gottes  in  der  Bergrede,  mit  diesem  Namen  wird 
er  ganz  besonders  in  dem  Mustergebet  Jesu  angerufen.  Va- 
ter nennt  Jesus  Gott,  um  mit  diesem  Namen  die  Unmittelbar- 
keit des  Verhältnisses  auszudrücken,  in  welchem  der  Mensch 
zu  Gott  steht.  So  innig  und  vertrauensvoll  das  Verhältniss  ist, 
in  welchem  das  Kind  zu  dem  Vater  steht,   so  findet  dasselbe 

8* 


116  Erster  Abschnitt. 

zwischen  Gott  und  den  Menschen  statt;  es  ist  von  Seiten  Gottes 
ein  Verhältniss  der  Liebe  und  Güte,  aus  welchem  den  Menschen 
nur  Gutes  kommen  kann,  Matlh.  7,  9  f.,  von  Seiten  der  Menschen 
ein  solches  des  Vertrauens  und  einer  freien  auf  dem  Bewusst- 
sein  des  Bedürfnisses  beruhenden  Abhängigkeit.  So  unmittelbar 
aber  dieses  Verhältniss  ist,  so  allgemein  ist  es  auch.  Die  Vater- 
idee hat  den  weitesten  Umfang,  keiner,  wer  er  auch  sei,  ist  von 
dem  Verhältniss  ausgeschlossen,  das  durch  diesen  Namen  bezeich- 
net wird;  er  setzt  keine  Schranke  im  Bewusstsein,  wie  wenn 
Gott  nur  als  der  Gott  Abraham's,  Isaak's  und  Jakob's  angerufen 
wird,  sein  eigenthümlichster  Begriff  ist,  dass  er  jede  Schranke 
aufhebt,  wie  er  intensiv  dem  religiösen  Bewusstsein  die  grösste 
Innigkeit  und  Stärke  gibt,  so  auch  dasselbe  in's  Unendliche 
erweitert.  Als  Vater  ist  Gott  der  allgemeine  Vater  aller,  der 
seine  Sonne  aufgehen  lässt  über  Böse  und  Gute  und  regnen  lässt 
über  Gerechte  und  Ungerechte.  Matth.  5,  45.  Wie  Jesus  hier 
aus  der  Vateridee  Gottes,  aus  der  Allgemeinheit  des  Verhält- 
nisses, in  welchem  Gott  als  Vater  zu  den  Menschen  steht,  die 
sittliche  Folgerung  zieht,  dass  man  auch  die  Feinde  lieben,  denen 
wohlthun  soll,  die  uns  hassen,  sofern  ja  auch  Gott  alle  Men- 
schen, Gute  und  Böse,  Gerechte  und  Ungerechte  auf  gleiche 
Weise  behandle ,  so  ist  überhaupt  dieses  sittliche  den  Menschen 
mit  Gott  verknüpfende  Band  ein  weiteres  Moment  der  Vateridee 
Gottes  im  Sinne  Jesu.  Ist  Gott  Vater  der  Menschen,  so  sind  die 
Menschen  Kinder,  Söhne  Gottes.  Zur  Natur  dieses  Verhältnisses 
gehört  es  aber,  dass  der  Sohn  sich  nach  dem  Vater  richtet,  das- 
selbe, was  der  Vater  ist,  zu  werden  sucht.  In  der  Vateridee 
Gottes  liegt  daher  von  selbst  die  sittliche  Verpflichtung,  dass 
der  Mensch  Gott  in  allen  sittlichen  Vollkommenheiten,  die  über- 
haupt Gegenstand  eines  sittlichen  Strebens  sind,  ähnlich  zu 
werden  sucht.  In  dem  Gebot  Jesu  Matth.  5,  48,  vollkommen  zu 
sein,  wie  der  Vater  im  Himmel  vollkommen  ist,  ist  die  höchste 
Aufgabe    des   sittlich-religiösen   Bewusstseins   ausgesprochen. 


Die  Lehre  Jesn  von   Gott.  itT 

Kann  sich  der  Mensch  Gott  nur  als  die  höchste  sittliche  Voll- 
konmienheit  denken ,  so  miiss  er  nach  der  Vateridee  Gottes  in 
jeder  sittlichen  Vollkommenheit  auch  ein  Ideal  seines  sittlichen 
Strebens  erblicken.  Es  kommt  daher  nur  darauf  an,  sich  der 
absoluten  Vollkommenheit  Gottes  in  ihrem  ganzen  Umfang  be- 
wusst  zu  werden.  Welche  Bedeutung  aber  in  dieser  Beziehung 
die  Vateridee  Gottes  hat,  um  das  Absolute  der  Gottesidee  sich 
zum  vollen  Bewusstsein  zu  bringen ,  zeigt  Jesus  am  Gebot  der 
Nächstenliebe,  Es  widerstreitet  der  Idee  Gottes ,  als  des  Vaters 
aller  Menschen,  es  so  zu  beschränken,  wie  die  Pharisäer  Vhaten, 
welche  aus  dem  Gebot  der  Nächstenliebe  das  Gebot  des  Feindes- 
hasses folgerten.  So  schliesst  überhaupt  die  Vateridee  Gottes, 
je  reiner  sie  entwickelt  wird,  für  das  religiöse  und  sittliche  Be- 
wusstsein der  Menschen,  alles  Particularistische  und  willkürlich 
Beschränkende  aus,  und  das  ganze  Verhältniss  des  Menschen 
zu  Gott  wird  unter  den  Gesichtspunkt  einer  sittlichen  Aufgabe 
gestellt,  die  nur  dadurch  gelöst  werden  kann,  dass  der  Mensch 
in  der  Ähnlichkeit  mit  Gott  die  göttliche  Vollkommenheit  in 
sich  selbst  darstellt.  Durch  die  Idee  des  Sittlichen  wird  erst  die 
absolute  Idee  Gottes  auf  ihren  bestimmten  Begriff  und  ihren 
adäquaten  Ausdruck  gebracht.  In  den  guten  Werken ,  in  wel- 
chen sich  die  Idee  des  sittlich  Guten  verwirklicht,  reflectirt  sich 
in  jedem  Einzelnen  als  einem  sittlichen  Subject  die  absolute 
Vollkommenheit  Gottes.  Vgl.  Matth.  5,  16.  Da  in  der  Idee  des 
Sittlichen  zweierlei  enthalten  ist,  sowohl  die  Idee  an  sich  als 
die  Realisirung  derselben  auf  dem  Wege  des  sittlichen  Strebens, 
so  erhält  durch  die  Idee  des  Sittlichen,  wenn  die  Idee  Gottes 
unter  ihren  Gesichtspunkt  gestellt  wird,  auch  das  Verhältniss 
des  Vaters  und  Sohnes  seine  nähere  Bestimmung.  Ist  der  Vater 
die  sittliche  Idee  an  sich,  oder  das  sittliche  Ideal,  so  kann  der 
Solin  nur  als  die  sich  realisirende  Idee  aufgcfasst  werden  und  je 
vollkommener  die  Idee  sich  realisirt,  um  so  vollkommener  stellt 
sich  die  Einheit  des  Sohnes  mit  dem  Vater  dar.    In  diesem  rein 


iiQ      -  Erster  Abschnitt. 

sittlichen  Sinne  nimmt  Jesus  selbst  in  der  Bergrede  den  Begriff 
des  Sohns  oder  der  u£oi  ösoG.  Die  Friedfertigen  werden  V.  9 
selig  gepriesen,  weil  sie  uiol  6eou  genannt  werden.  Sie  wer- 
den so  genannt,  weil  sie  dieselbe  sittliche  Eigenschaft  in 
sich  darstellen,  die  als  eine  wesentliche  Bestimmung  der  Idee 
Gottes  betrachtet  werden  muss;  die,  welche  auch  die  Feinde 
lieben,  werden  uiol  des  Vaters  im  Himmel  werden  V.  45.  Ebenso 
werden  Luc.  6,  35  die ,  welche  in  der  Feindesliebe  und  Wohl- 
thätigkeit  Gott  nachahmen,  als  Söhne  des  Höchsten  bezeichnet. 
Wenn  nun  Jesus  selbst  sich  vorzugsweise  als  den  Sohn  Gottes 
betrachtete  und  bezeichnete,  so  kann  er  selbst  dieses  Ver- 
hältniss  aus  keinem  andern  als  dem  sittlichen  Gesichtspunkt 
aufgefasst  haben .  In  der  Tiefe  seines  sittlichen  Bewusstseins  er- 
kannte er  sich  als  den  Sohn  Gottes,  sofern  sich  ihm  in  seinem 
Bewusstsein  die  Idee  des  sittlich  Guten  in  der  Reinheit  darstellte, 
in  welcher  er  sie  besonders  in  der  Bergrede  entwickelte,  und 
sofern  er  sich  selbst  der  vollkommensten  Realisirung  dieser  Idee 
durch  sein  sittliches  Streben  bewusst  war.  Dieser  rein  sittliche 
Begriff  des  Gottessohns  ist  sowohl  von  dem  metaphysischen  des 
Johanneischen  Evangeliums  als  dem  nationalen  des  jüdischen 
uto?  Tou  ösou  wohl  zu  unterscheiden ,  und  es  ist  demnach  auch 
schon  in  dem  Namen  des  Sohns ,  mit  welchem  Jesus  den  höch- 
sten Begriff  seiner  göttlichen  Sendung  ausdrückte,  dieselbe  Ver- 
geistigung des  Messiasbegriffs  durch  die  sittliche  Idee  der  ßa- 
<jiXe(a  Töv  oupavöv  ausgesprochen,  welche  wir  überhaupt  als 
den  wesentlichen  und  ursprünglichen  Charakter  der  messiani- 
schen  Bestimmung  Jesu  anzusehen  haben. 

Je  weniger  sich  bezweifeln  lässt,  dass  die  Aussprüche  Jesu 
sowohl  über  seine  Person  als  über  seine  messianische  Bestim- 
mung überhaupt  aus  dem  bisher  entwickelten  sittlich  religiösen 
Gesichtspunkt  aufzufassen  sind,  um  so  weniger  wird  anzuneh- 
men sein,  dass  er  selbst  seinem  messianischen  Plan  eine  national 
fparticularistische  Beschränkung  gegeben  habe.  Auch  diese  Frage 


Die  Lehre  Jesu.     Sein  messian.    Beruf.  119 

ist  hier  noch  zu  berühren ,  da  sich  hierüber  besonders  bei  Mat- 
thäus Aussprüche  finden ,  die  sich  zu  widersprechen  scheinen. 
Auf  der  einen  Seite  versagt  Jesus  die  Hülfe,  um  welche  er  im 
Glauben  an  ihn  gebeten  wird ,  auch  Heiden  nicht ,  wie  er  dem 
Hauptmann  von  Capernaum  die  Bitte  um  die  Heilung  seines 
Sohns  aus  dem  Grunde  gewährt,  weil  er  selbst  in  Israel  solchen 
Glauben  nicht  gefunden  habe,  ja  er  erklärt  sogar  aus  dieser 
Veranlassung,  dass  Viele,  die  in  diesem  Zusammenhang  nur 
Heiden  sein  können,  vom  Aufgang  und  Niedergang  mit  Abra- 
ham, Isaak  und  Jakob  zu  Tische  liegen  oder  Freude  und  Selig- 
keit geniessen  werden  im  Himmelreich ,  während  die  Söhne  des 
Reichs  d.  h.  die  Juden ,  die  die  nächsten  Ansprüche  darauf  ha- 
ben oder  zu  haben  meinen,  in  die  äusserste  Finsterniss  werden 
hinausgestossen  werden  Matth.  8,  5  f.  Dieselbe  Erklärung  gibt 
er  am  Schlüsse  der  Parabel  von  den  Weingärtnern.  Ich  sage 
euch ,  hält  er  seinen  Volksgenossen  entgegen ,  darum ,  weil  ihr 
den  Eckstein  verworfen  habt,  wird  von  euch  das  Reich  Gottes 
genommen  und  einem  Volke  gegeben  werden,  das  die  desselben 
würdige  Früchte  bringt,  d.  h.  dem  hauptsächlich  aus  Heiden 
bestehenden  christlichen  Volk  Matth.  21,  43.  Dass  das  messia- 
nische  Heil  schon  nach  dem  Sinne  Jesu  auch  den  Heiden,  den 
eövT)  bestimmt  ist,  scheint  ferner  nicht  blos  aus  der  Allgemein- 
heit des  Taufbefehls  Matth.  28, 19,  sondern  auch  aus  der  Erklä- 
rung* Matth.  24,  14  zu  erhellen,  dass  das  Ende  nicht  kommen 
werde,  ehe  das  Evangelium  des  Reichs  in  der  ganzen  Welt  zum 
Zeugniss  für  alle  Völker  verkündigt  sein  werde. 

Wie  reimt  es  sich  nun  aber  mit  dem  in  diesen  Stellen  aus- 
gesprochenen üniversalismus,  dass  Jesus  Matth.  10,  5  seinen 
Jüngern  bei  ihrer  Aussendung  verbietet,  auf  den  Weg  der  Hei- 
den zu  gehen  und  sie  vielmehr  zu  den  verlornen  Schaafen  des 
Hauses  Israels  sich  wenden  heisst,  und  dass  er  selbst  ganz  in 
Gemässheit  der  den  Jüngern  gegebenen  Instruction  der  kananäi- 
schen  Frau  ihre  Bitte  um  Heilung  ihrer  kranken  Tochter  aus 


180  Erster  Abschnitt. 

dem  Grunde  nicht  gewähren  wollte,  weil  er  nur  zu  den  verlor- 
nen Schaafen  des  Hauses  Israel  gesandt  sei  Matth.  15,  24? 
Man  hat  sich  hauptsächlich  auch  auf  diese  so  widersprechend 
lautenden  Stellen  für  die  Behauptung  berufen,  dass  wir  im  Mat- 
thäusevangelium offenbar  nicht  ein  einheitliches  schriflstelleri-  - 
sches  Erzeugniss,  sondern  eine  Sammlung  heterogener  ge- 
schichtlicher Bruchstücke,  successiver  Entwicklungsformationen 
der  evangelischen  Geschichte  vor  uns  haben.  In  jedem  Fall  hat 
man  Ursache  zu  fragen,  ob  Jesus  den  Taufbefehl  in  dieser  Form 
gegeben  und  von  der  allgemeinen  Verkündigung  seines  Evan- 
geliums so  bestimmt  gesprochen  hat,  da  wenigstens  die  Weissa- 
gung Matth.  K.  24  nicht  von  ihm  gegeben  worden  sein  kann. 
Auch  in  der  so  bestimmt  lautenden  Androhung  der  Strafe  für 
die  Verwerfung  des  Ecksteins,  Matth.  21,  43,  scheint  das  spätere 
Verhalten  der  Juden  durchzublicken.  Wenn  wir  aber  auch  an- 
nehmen, dass  Jesus  selbst  sich  so  universalistisch  ausgesprochen 
habe,  wie  jene  Stellen  lauten,  so  kann  doch  aus  jenen  andern 
keine  gegründete  Einwendung  dagegen  erhoben  werden.  Auch 
wenn  er  nicht  die  Absicht  hatte,  die  Heiden  von  seinem  Plane 
auszuschliessen ,  konnte  er  es  doch  als  seine  eigentliche  Auf- 
gabe betrachten ,  die  verlorenen  Schaafe  des  Hauses  Israel  zum 
Gegenstand  seiner  persönlichen  Thätigkeit  zu  machen.  Sie  be- 
durften zuerst  seiner  Sorge,  und  wenn  er  ihr  Vertrauen  gewin- 
nen wollte,  musste  er  sich  auch  zuerst  allein  an  sie  wenden. 
Die  Härte  Jesu  gegen  die  kananäische  Frau ,  besonders  in  den 
Worten:  man  muss  das  Brod  nicht  den  Kindern  nehmen,  und 
es  den  Hunden  hinwerfen,  kann  auch  blos  den  Zweck  gehabt 
haben ,  den  Glauben  der  Frau  zu  erproben.  Wenn  er  endlich 
doch  mit  den  Worten :  Weib,  dein  Glaube  ist  gross ,  es  geschehe 
dir,  wie  du  wünschest,  ihre  Bitte  gewährte ,  so  lag  darin  die 
Erklärung,  dass  auch  die  Heiden,  wofern  nur  ihr  Glaube  gross 
genug  ist,  von  der  Theilnahme  am  messianischen  Reich  nicht 
ausgeschlossen  sein  sollen.  Das  dem  Glauben  der  Frau  ertheilte 


Die  Lehre  Jesu.     Sein  messian.  Beruf.  \9\ 

Lob  hat  dieselbe  Bedeutung  wie  bei  dem  Hauptmann  von  Ca- 
pernaum ,  welchem  Jesus  in  einer  ähnlichen  Noth  seine  Hülfe 
ohne  Weigerung  ertheilte.  Wenn  er  nun  auch  bei  jener  Frau 
zurückhaltender  verfuhr,  so  sollte  doch  auf  den  Glauben  das- 
selbe Gewicht  gelegt  werden ,  und  je  beschämender  die  heidni- 
sche Glaubensprobe  für  die  Juden  ausfiel,  eine  um  so  günstigere 
Meinung  musste  dadurch  von  der  Empfänglichkeit  der  Heiden 
für  die  Theilnahme  am  messianischen  Reich  begründet  werden. 
Wenn  es  sich  auch  zunächst  nur  um  einen  speciellen  Fall  leib- 
licher Hülfe  handelte,  so  gab  ihm  ^ch  Jesus  selbst  schon  durch 
seine  Worte  15,  24  eine  allgemeinere  messianische  Beziehung. 
Es  kann  demnach,  wenn  wir  alles  zusammennehmen,  nichts  zu 
der  Voraussetzung  berechtigen,  dass  es  in  der' Absicht  Jesu  lag, 
seinen  messianischen  Plan  auf  die  Juden  zu  beschränken.  Hat- 
ten schon  die  alten  Propheten  sich  zu  der  Hoffnung  erhoben, 
dass  in  der  messianischen  Zeit  auch  die  Heiden  zur  wahren  Re- 
ligion sich  bekehren  werden  CJes.  2,  2.  Jerem.  3,  17.  Amos  9, 
12.  Mal.  2,  11.),  .hatte  schon  der  Täufer  sich  über  die  jüdische 
Abstammung  so  hinweggesetzt,  dass  er  das  anspruchsvolle  Vor- 
urtheil  seiner  Volksgenossen  mit  den  Worten  niederschlug,  Gott 
könne  selbst  aus  den  Steinen  am  Jordan  dem  Abraham  Kinder 
erwecken,  wie  wenigstens  Matth.  3,  9  ihn  sprechen  lässt,  so 
lässt  sich  von  Jesus  unmöglich  annehmen,  dass  er  sich  auf  den 
Standpunkt  des  Particularismus  gestellt  habe.  In  welcher  Weise 
er  nun  aber  den  jüdischen  Particularismus  zum  christlichen  Uni- 
versalismus erweitert  wissen  wollte,  lässt  sich  nicht  näher  be- 
stimmen, da  die  Stelle  über  die  Taufe  Matth.  28,  19.  es  zwei- 
felhaft lässt,  ob  in  ihr  nicht  der  an  die  Stelle  der  jüdischen 
Beschneidung  tretende  christliche  Ritus  als  Befehl  Jesu  antici- 
pirt  worden  ist. 


»»■^ 


Zureiter  Abschnitt. 


Die  Lehre  der  Apostel. 


Erste  Periode. 

Die  Lebrbegriffe  des  Apostels  Paulus  und  des 
Apokalyplikers. 

Übergang. 

Die  erste  Periode,  die  der  Lehre  Jesu,  ist  eigentlich  die 
Urperiode,  die  noch  über  die  Sphäre  der  geschichtlichen  Ent- 
wicklung hinausliegt.  Man  hat  hier  noch  nichts  Unmittelbares 
vor  sich,  alles  ist  durch  eine  Darstellung  vermittelt,  von  wel- 
cher man  nicht  weiss,  welchen  Einfluss  sie  auf  die  Sache  selbst 
gehabt  hat,  wie  Vieles  durch  sie  hinzu  oder  hinweggekommen 
ist.  Auf  so  manchen  Punkten  kann  man  sich  nur  an  das  Allge- 
meine hallen,  weil  das  Speciellere  und  Individuellere  schon  die 
Farbe  einer  spätem  Zeit  an  sich  zu  tragen  scheint.  Die  Lehre 
Jesu  steht  daher  in  einer  geschichtlichen  Ferne  vor  uns,  in 
welcher  sie  sich  der  Schärfe  der  geschichtlichen  Betrachtung 
entzieht,  und  mehr  nur  das  Ganze  als  das  Einzelne  in's  Auge 
gefasst  werden  kann.  Schon  die  Beschaffenheit  der  Quellen 
macht  es  nicht  möglich,  eine  specieller  durchgeführte  Darstel- 
lung der  Lehre  Jesu  zu  geben.  Aber  auch  die  Natur  der  Sache 
brachte  es  von  selbst  mit  sich,  dass  die  ursprüngliche  Form, 
in  welcher  das  Christenthum  als  eine  neue  Religion  hervortrat, 
wenn  sie  auch  in  ihrer  principiellen  Bedeutung  sich  deutlich 
genug  zu  erkennen  gab,  doch  von  einem  dogmatisch  entwickel- 
ten Lehrbegriff  noch  sehr  verschieden  war.    Dazu  gehörte  der 


Zweiter  Abschnitt.     Einleitung.  1S3 

ganze  geschichtliche  Entwicklungsgang,  welchen  das  Christen- 
tbum  erst  mit  dem  Tode  Jesu  nahm. 

Wenn  wir  mit  der  Lehre  Jesu  die  Lehre  des  Apostels  Paulus 
zusammenhalten,  so  fällt  sogleich  der. grosse  Unterschied  in  die 
Augen,  welcher  hier  stattfindet  zwischen  einer  noch-  in  der 
Form  eines  allgemeinen  Princips  sich  aussprechenden  Lehre  und 
einem  schon  zur  Bestimmtheit  des  Dogma's  gestalteten  Lehrbe- 
griff; aber  wie  vieles  liegt  auch  dazwischen ,  was  die  nothwen- 
dige  Voraussetzung  ist,  ohne  welche  dieser  Fortschritt  nicht 
möglich  gewesen  wäre.  Es  ist  vor  allem  der  Tod  Jesu  mit  allem, 
was  mit  ihm  zusammengehört,  das  wichtigste  Moment  des  Ent- 
wicklungsprocesses ,  durch  welchen  das  Christenthum  eine  von 
seiner  ursprünglichen  Form  wesentlich  verschiedene  Gestalt  er- 
hielt. Durch  ihn  erst  gewann  die  Person  Jesu  die  hohe  Bedeu- 
tung, die  sie  für  das  christliche  Bewusstsein  hat.  Wenn  auch 
auf  dem  Standpunkt  der  LeTire  Jesu  alles,  was  er  lehrte,  seine 
bestimmte  Bedeutung  erst  dadurch  erhielt,  dass  er  es  war,  der 
es  lehrte,  so  machte  er  doch,  wenigstens  nach  der  Auffassung 
der  evangelischen  Geschichte,  von  welcher  wir  hier  ausgehen 
müssen,  nie  seine  Person  zum  unmittelbaren  Gegenstand  seiner 
Lehre,  es  ist  nicht  sowohl  die  Bedeutung  seiner  Person  als  viel- 
mehr die  Wahrheit  seiner  Lehre,  woran  alles  hängt.  Er  ist 
nur  dazu  gekommen,  um  durch  die  sittlichen  Forderungen,  die 
er  an  die  Menschen  machte,  die  ßaciXsia  töv  oüpavöv  einzuleiten, 
sie  zum  Eintritt  in  dieselbe  einzuladen,  und  dadurch  sie  selbst 
zu  eröffnen.  Das  suotyYeXcov  als  solches,  die  Ankündigung  der 
ßafftXsia  TtSv  oupavöv  als  einer  auf  der  Lehre  Jesu  beruhenden 
sittlich  religiösen  Gemeinschaft  macht  hier  noch  alles  aus.  Auf- 
dem  Standpunkt  der  Apostel  dagegen  fällt  der  eigentliche 
Schwerpunkt  des  christlichen  Bewusstseins,  der  substanzielle 
Mittelpunkt,  auf  welchem  alles  beruht,  nicht  in  die  Lehre  Jesu, 
sondern  in  seine  Person,  alles  wird  in  die  absolute  Bedeutung 
seiner  Person  gelegt;  die  Hauptfrage  ist  nicht,  was  Jesus  gelehrt 


1^4  Zweiter  Abschnitt.     Einleitung. 

hat,  um  durch  seine  Lehre  die  Menschen  zur  Seligkeit  zu  führen, 
sondern  was  er  gethan  und  gelitten  hat,  um  ihr  Erlöser  zu 
werden.  Dadurch  ist  nun  erst  der  einfache  sittlich  religiöse 
Inhalt  der  Lehre  Jesu  zu -einem  theologisch  gestalteten  und  aus- 
gebildeten Lehrbegriff  geworden.  Die  Hauptthatsachen  der  Ge- 
schichte Jesu,  sein  Tod,  seine  Auferstehung,  seine  Erhöhung 
und  überirdische  Wirksamkeit  sind  der  Inhalt  ebenso  vieler 
Dogmen,  an  welche  als  die  substanziellen  Elemente  alles  Übrige 
sich  angeschlossen  hat.  In  allen  diesen  Dogmen  ist  die  absolute 
Bedeutung  seiner  Person  in  ihrem  bestimmten  Begriff  fixirt  und 
ausgesprochen,  und  wie  sie  der  objective  Inhalt  des  christlichen 
Bewusstseins  ist,  so  steht  ihr  auf  der  andern  subjectiven  Seite 
der  Glaube  an  seine  Person  gegenüber,  welcher  nicht  mehr,  wie 
in  den  synoptischen  Evangelien,  der  Glaube  an  die  Wahrheit 
seiner  Lehre  mit  der  Willigkeit  ihrer  Befolgung  ist,  sondern 
unmittelbar  seine  Person  selbst,  als  das  absolute  Princip  alles 
Heils,  zu  seinem  Gegenstand  hat.  <^"'*  i><*iMa'tt»-^4t  9l«»(9ö«j»il 
Die  Frage  ist  nun  aber,  ob  wir  auch  alle  diese  Dogmen, 
welche  erst  durch  die  Apostel  zu  der  ursprünglichen  Lehre  Jesu 
hinzugekommen  sind,  demungeachtet  als  einen  gleich  wesent- 
lichen Bestandtheil  derselben  anzusehen  haben,  ob  der  Stand- 
punkt, auf  welchen  uns  die  Apostel  stellen,  mit  dem  Standpunkt 
Jesu  selbst  so  sehr  identisch  ist,  dass  die  Lehre  Beider  nur  die 
Einheit  eines  und  desselben  Ganzen  ist.  Es  ist  hier  der  Punkt, 
auf  welchem  zwei  völlig  divergirende  Ansichten  sich  von  ein- 
ander trennen,  und  die  neutestamentliche  Theologie  hat  in  die 
Untersuchung  dieser  Frage  wenigstens  so  weit  einzugehen,  dass 
sie  sie  in  ihrer  vollen  Wichtigkeit  in's  Auge  fasst.  Nach  der 
einen  dieser  beiden  Ansichten  sind  alle  jene  Dogmen  schon  in 
der  Lehre  Jesu  an  sich  so  enthalten,  dass  wir  sie  nur  als  die 
natürliche  Entwicklung  derselben  betrachten  können.  Sie  treten 
nur  darum  in  der  Lehre  Jesu  selbst  noch  nicht  in  ihrer  bestimm- 
ten Gestalt  hervor,  weil  die  Thatsachen,  auf  welche  sie  sich 


Übergang  von  der  Lehre  Jesn  zn  der  der  Apostel.      1185 

beziehen,  noch  nicht  zur  geschichtlichen  Wirklichkeit  geworden 
waren.  Sobald  daher  der  Tod  Jesu,  seine  Auferstehung  und 
Erhöhung  als  vollendete  Thatsachen  vor  dem  christlichen  Be- 
wusstsein  standen,  konnte  es  nicht  anders  sein,  als  dass  sie  so, 
wie  von  den  Aposteln  geschah ,  aufgefasst  und  in  das  in  jenen 
Dogmen  ausgesprochene  Verhältniss  zu  der  Lehre  Jesu  gesetzt 
wurden.  Sie.  enthalten  demnach  nichts,  was  nicht  ideell,  an 
sich,  schon  in  der  Lehre  Jesu  selbst  enthalten  war.  So  gewiss 
alle  jene  Tbatsachen  nur  die  wesentlichen  Momente  des  ganzen 
geschichtlichen  Verlaufs  sind,  welcher  sich  uns  in  der  Person 
Jesu  darstellt,  so  gewiss  sind  auch  die  auf  sie  sich  beziehenden 
Dogmen  nur  der  explicirte  Inhalt  der  ursprünglichen.  Lehre 
Jesu ,  die  von  Anfang  an  in  seinem  Geiste  nicht  oline  diese  Be- 
stimmungen gedacht  werden  konnte.  Aber  eben  diess  ist  nun 
die  Frage,  um  welche  es  sich  hier  handelt,  ob  die  Lehre  Jesu 
nicht  auch  ohne  jene  erst  durch  die  Lehre  der  Apostel  hinzuge- 
kommenen Bestimmungen  für  sich  schon  eine  solche  Einheit  ist, 
dass  sie  einer  solchen  Ergänzung  nicht  erst  bedarf,  ob  das  That- 
sächliche,  worauf  die  Lehre  der  Apostel  beruht,  für  sich  so 
feststeht,  dass  es  nicht  anders  als  von  den  Aposteln  geschehen 
ist,  aufgefasst  werden  kann,  oder  ob  wir  nicht  Ursache  haben, 
das  objectiv  Thatsächliche,  wie  es  an  sich  ist,  von  der  sub- 
jectiven  Bedeutung,  welche  es  erst  im  Bewusstsein  der  Apostel 
und  in  der  ihnen  eigenthümlichen  Anschauungsweise  erhalten 
hat,  genau  zu  unterscheiden.  Der  Tod  Jesu  steht  als  geschicht- 
liche Thatsache  fest;  wenn  aber  Jesus  selbst  über  die  Bedeutung 
seines  Todes  sich  nicht  näher  und  bestimmter,  oder  im  Grunde 
gar  nicht  erklärt  hat,  wenn  der  seligmachende  Eintritt  in  die 
ßa(;iXeia  t(3v  oupav&v,  und  die  Möglichkeit  der  Erfüllung  der 
sittlichen  Forderungen,  die  er  an  den  Menschen  macht,  nach 
seiner  Lehre  nicht  bedingt  ist  durch  den  Glauben  an  die  ver- 
söhnende Kraft  seines  Todes,  woher  wissen  wir,  welche  reli- 
giöse und  dogmatische  Bedeutung  sein  Tod  hat,  als  eben  nur 


126  Zweiter  Abschnitt.     Einleitung.  gtadU 

durch  die  Apostel,  und  zwar  vorzugsweise  denjenigen  Apostel, 
der  nicht  einmal  sein  unmittelbarer  Jünger  war,  und  dessen 
Lehrbegriff  selbst  nur  eine  bestimmte  individuelle  Form  der 
Lehre  der  Apostel  ist? 

'^'"■"Noch  schwieriger  ist  bei  der  Auferstehung  Jesu  die  Frage 
zu  beantworten,  was  das  objectiv  Thatsächliche  und  das  blos 
subjectiv  Vorgestellte  ist.  Alle,  welche  an  kein  wirkliches  ma- 
terielles Wunder  glauben,  können  nur  annehmen,  dass  der 
Glaube  an  die  Auferstehung  aus  dem  ganzen  geistigen  Process 
hervorgegangen  ist,  welcher  nach  dem  Tode  Jesu  im  Geiste  der 
Jünger  erfolgte.  Nach  dem  ganzen  Eindruck,  welchen  das 
Leben  Jesu  und  seine  letzten  Schicksale  auf  sie  gemacht  hatten, 
war  es  für  sie  eine  schlechthinige  Unmöglichkeit  zu  denken, 
dass  alles,  was  im  Glauben  an  Jesus  nun  schon  als  absolute 
Wahrheit  für  ihr  Bewusstsein  feststand,  in  seinem  Tode  mit 
Einem  Male  zu  Grabe  gegangen  sei.  Auch  in  seinem  Tode 
konnten  sie  sich  ihn  nur  als  den  Lebenden  denken :  er  musste 
als  der  Gestorbene  leben,  weil  an  ihm,  an  seiner  Person  alles 
für  sie  hieng,  was  sie  glaubten  und  hofften.  Wie  die  Jünger 
nach  dem  Tode  Jesu  in  die  Nothwendigkeit  seiner  Auferstehung 
sich  hineindachten,  sehen  wir  aus  der  Art  und  Weise,  wie  sie 
durch  Anwendung  alttestamentlicher  Stellen  sein  ganzes  Schick- 
sal für  ihr  religiöses  Bewusstsein  sich  zurechtzulegen  suchten. 
Er  musste  sterben,  aber  er  musste  auch  auferstehen,  weil  der 
Tod  keine  Gewalt  über  ihn  haben  konnte.  Vgl.  Apg.  2,  24. 
Gott  hat  ihn  auferweckt,  indem  er  die  Schmerzen  des  Todes 
löste,  weil  es  nicht  möglich  war,  dass  er  von  ihm  überwältigt 
werde.  Vgl.  Luc.  24,  26.  Überzeugte  man  sich  aus  dem  alten 
Testament,  dass  es  Christus  vorausbestimmt  war,  zu  leiden  und 
zu  sterben,  so  war  in  der  Nothwendigkeit  seines  Todes  auch 
die  innere  Nothwendigkeit  seiner  Auferstehung  enthalten.  Stellt 
man  sich  nun  vor,  wie  diese  innere  Nothwendigkeit  in  ihrer 
ganzen  Bedeutung  vor  dem  Geiste  der  Jünger  stand,  und  be- 


Die  Lehre  der  Apostel.     Auferstehung  Jesu.        i^7 

denkt  man  noch  dazu,  wie  überhaupt  das  religiöse  Bewusstsein 
jener  Urperiode  des  Christenthums  sehr  ekstatischer  Art  war, 
wer  könnte  es  für  psychologisch  unmöglich  halten,  dass  die 
Gedanken ,  mit  welchen  sich  die  Jünger  in  ihrem  Geiste  so  leb- 
haft beschäftigten,  sich  ihnen  zu  Visionen  gestalteten,  die  ihnen 
als  Erscheinungen  des  Auferstandenen  galten  ?  Was  auf  diese 
Weise  in  dem  Glauben  an  den  Auferstandenen  dem  Bewusstsein 
der  Jünger  sich  aufdrang,  ist  die  an  der  Person  Jesu  in  der 
Form  einer  gegebenen  Anschauung  ihnen  sich  darstellende  Ge- 
wissheit, dass  die  Sache  der  Wahrheit,  als  die  Sache  Gottes, 
nicht  unterliegen  könne.  Man  kann  daher  sagen,  wenn  Christus 
nicht  leiblich  auferstand,  so  musste  er  geistig  auferstehen  in 
dem  Glauben  der  Jünger,  in  welchem  der  Gedanke  an  seine  Er- 
habenheit über  den  Tod  und  die  über  alles  siegende  Macht  der 
Wahrheit,  für  die  er  gestorben  war,  durch  die  innere  Noth- 
wendigkeit  der  Sache  selbst  zur  Gewissheit  der  thatsächlichen 
Wirklichkeit  seiner  Auferstehung  werden  musste.  Welche  An- 
sicht man  nun  aber  auch  von  der  Auferstehung  Jesu  haben  mag, 
der  feste  Punkt,  welchen  die  neutestamentliche  Theologie  in 
ihrem  Übergang  von  der  Lehre  Jesu  zu  der  Lehre  der  Apostel 
vor  allem  zu  fixiren  hat,  ist  die  absolute  Bedeutung,  zu  welcher 
die  Person  Jesu  in  dem  Glauben  der  Jünger  an  seine  Auferstehung 
erhoben  worden  ist.  Wie  ohne  diesen  Glauben  und  die  Vorstel- 
lung von  der  Person  Jesu,  auf  welcher  er  beruht,  das  Christen- 
thum  zu  seiner  geschichtlichen  Bedeutung  nicht  hätte  gelangen 
können,  so  ist  er  auch  die  absolute  Voraussetzung,  von  welcher 
aus  das  System  der  neutestamentlichen  Theologie  in  den  ver- 
schiedenen LehrbegrifFen ,  die  zu  unterscheiden  sind,  sich  ent- 
wickelte. Die  Lehre  von  der  Person  Jesu  ist  das  Grunddogma, 
auf  welchem  alles  beruht,  und  von  welchem  aus  nun  auch  der 
principielle  Unterschied  des  Christenthums  vom  allen  Testament, 
welcher  in  der  Lehre  Jesu  noch  zurücktritt,  in  seinem  ganzen 
Umfang  sich  herausstellt.- 


188  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

1.   Der  Lehrbegriff  des  Apostels  Paulus. 

Der  paulinische  Lehrbegriff  ist  das  bedeutendste  Moment 
in  der  Entwicklungsgeschichte  des  Urchristenthums.  Stellt  sich 
uns  in  der  ursprünglichen  Lehre  Jesu,  wie  sie  in  dem  ihren 
wesentlichen  Geist  und  Inhalt  bezeichnenden  Ausspruch  Jesu 
enthalten  ist,  dass  er  nicht  gekommen  sei,  das  Gesetz  und  die 
Propheten  aufzuheben,  sondern  zu  erfüllen,  der  innere  Zusam- 
menhang und  die  wesentliche  Identität  des  Christenthums  mit 
der  altleslamentlichen  Religion  dar,  so  ist  dagegen  der  Paulinis- 
mus der  entschiedenste  Bruch  des  christlichen  Bewusstseins  mit 
dem  Gesetz  und  dem  ganzen  auf  dem  alten  Testament  beruhen- 
den Judenthum.  In  dem  Apostel  Paulus  war  zuerst  der  wesent- 
liche Unterschied  des  Christenthums  vom  Judenthum,  die  Un- 
möglichkeit, auf  der  Grundlage  des  Judenthums  das  von  Christus 
erworbene  Heil  sich  zuzueignen,  zum  bestimmten  Bewusstsein 
gekommen.  Dass  daher  für  den  im  Glauben  an  Christus  seines 
chrisllichen  Heils  sich  bewusst  gewordenen  Christen  das  Juden- 
thum mit  allem,  was  zu  ihm  gehört,  seine  Bedeutung  völlig  ver- 
loren habe,  ist  die  in  allen  Briefen  des  Apostels  ausgesprochene 
Überzeugung.  -Ist  nun  das  Christenthum  das,  was  es  seinem 
wahren  Wesen  nach  ist,  erst  im  Unterschied  vom  Judenthum, 
in  dem  bestimmten  Bewusstsein  seines  vom  Judenthum  verschie- 
denen Princips,  so  ist  es  erst  durch  den  Apostel  Paulus  zu  dieser 
selbstständigen  absoluten  Bedeutung  erhoben  worden;  nur  hat 
er  blos  für  das  Bewusstsein  ausgesprochen,  was  an  sich,  prin- 
cipiell  und  thatsächlich,  oder  implicile  schon  in  der  Lehre  Jesu 
enthalten  war.  Wie  man  sich  nun  auch  das  Verhältniss  des 
Paulinismus  zur  ursprünglichen  Lehre  Jesu  näher  erklären  mag, 
gewiss  ist  in  jedem  Fall,  wenn  man  den  Apostel  Paulus  in  seinem 
Verhältniss  zu  den  altern  Aposteln  betrachtet,  dass  nur  er  es 
war,  der  sich  auf  diesen  Standpunkt  erhob,  während  die  altern 
Apostel  ihm  noch  sehr  fern  blieben.     Aus  den  Berichten  der 


Paulin,  Lehrbegriff.     Jndenth/ und  Christenth.       tSf9 

Apostelgeschichte  sehen  wir  wenigstens  so  viel,  dass  sie  sich 
fortgehend  als  Glieder  der  jüdischen  Religionsgemeinschaft  be- 
trachteten, sich  an  den  jüdischen  Religionscultus  hielten,  und 
überhaupt  noch  keine  Ahnung  davon  hatten,  welcher  Keim  eines 
tiefgehenden  Zwiespalls  mit  dem  Judenthum  in  ihrem  Glauben 
an  Christus  verborgen  lag.  Den  deutlichsten  Beweis  ihrer  zähen 
Anhänglichkeit  an  das  Judenthum  gibt  uns  jedoch  der  Galater- 
brief.  Der  Hauptpunkt,  an  welchem  die  Frage  über  das  Ver- 
hältniss  des  Christenthums  zum  Judenthum  in  ihrer  ganzen 
Schärfe  zur  Sprache  kommen  musste,  war  die  Beschneidung. 
.Sobald  man  sein  volles  Heilvertrauen  auf  Christus  setzte,  konnte 
man  nicht  zugleich  die  Beschneidung  als  die  nothwendige  Be- 
dingung der  Seligkeit  geltend  machen.  Diess  war  dem  Apostel 
Paulus  zur  entschiedensten  Gewissheit  geworden;  den  altern 
Aposteln  aber  war  diess  noch  so  wenig  klar,  dass  sie  selbst 
vierzehn  Jahre  nach  der  Bekehrung  des  Apostels  Paulus  den 
Grundsatz  der  Nothwendigkeit  der  Beschneidung  nur  so  weit 
fallen  Hessen,  als  es  nach  Maassgabe  der  damaligen  Verhältnisse 
nicht  anders  sein  konnte.  Das  Judenthum  behauptete  für  sie 
noch  sein  absolutes  Recht,  sie  konnten  sich  von  dem  Grundsatz 
noch  nicht  trennen,  dass  man  nur  durch  das  Judenthum  selig 
werde.  Wie  in  dem  Apostel  Paulus  die  entgegengesetzte  An- 
sicht, der  principielle  Gegensatz  des  Christenthums  zum  Juden- 
thum zu  einer  Thatsache  seines  Bewusstseins  wurde,  können 
wir  nicht  weiter  geschichtlich  verfolgen.  Das  aber  verdient 
beachtet  zu  werden,  dass  so  rasch  seine  Bekehrung  erfolgte,  so 
radical  auch  sein  Bruch  mit  dem  Judenthum  war.  Die  absolute 
Bedeutung  des  Judenthums,  für  die  er  kaum  noch  als  Christen- 
verfolger aufgetreten  war,  war  für  ihn  mit  Einem  Male  erloschen. 
Das  bedeutendste  Moment,  in  welchem  der  ebenso  plötz- 
liche als  liefgeliende  Umschwung  seines  religiösen  Bewusstseins 
erfolgte,  war  ohne  Zweifel  der  Tod  Jesu.  War  für  ihn  bisher 
nach   seiner  jüdischen    Messiasvorslellung   der  Tod  Jesu   der 

Banr,  neutest.  Theol,  •» 


f so  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

Gegenstand  des  grössten  Anstosses,  der  augenscheinlichste  Be- 
weis dafür,  dass  Jesus  nicht  der  Messias  sein  könne,  so  kam 
ihm  nun  mit  Einem  Male  der  Gedanke:  wie,  wenn  doch  beides 
zusammen  bestehen  könnte,  wie,  wenn  es  doch  die  Bestimmung 
des  Messias  wäre,  zu  sterben,  und  sein  Tod  als  eine  von  Gott 
getroffene  Veranstaltung  auch  eine  ganz  besondere  religiöse 
Bedeutung  hätte!  Welche  andere  Bedeutung  konnte  er  aber 
haben,  als  diese,  ein  Opfertod  für  die  Sünden  der  Menschen  zu 
sein?  Sobald  aber  der  Tod  Jesu  aus  dem  Gesichtspunkt  eines 
Opfertodes  betrachtet  wurde,  so  schloss  diess  die  Voraussetzung 
in  sich,  dass  durch  ihn  erst  bewirkt  werden  sollte,  was  die 
ganze  alttestamentliche  Religionsanstalt  nicht  bewirkt  hatte,  und 
nicht  bewirken  konnte.  Je  mehr  so  die  ganze  Bedeutung  der 
Messianität  Jesu  nur  in  seinen  Tod  gelegt  werden  konnte,  um 
so  mehr  musste  dieser  neuen  Veranstaltung  Gottes  gegenüber 
die  ganze  alttestamentliche  Religionsanstalt  in  ihrer  Unvoll- 
kommenheit  und  Unzulänglichkeit  zur  Sündenvergebung,  zur 
Rechtfertigung  und  Beseligung  des  Menschen  erscheinen,  und 
es  kam  nun  darauf  an,  dieses  Verhältniss  des  Todes  Jesu  zum 
alten  Testament  oder  zum  Gesetz,  als  dem  wesentlichen  Charakter 
des  alten  Testaments,  in  dem  Zusammenhang  seiner  Momente 
dialektisch  so  zu  entwickeln,  dass  es  sich  als  ein  auf  der  innern 
Nolhwendigkeit  der  Sache  selbst  beruhendes  darstellte. 

Dass  diess  im  Allgemeinen  der  innere  geistige  Process  war, 
in  welchem  dem  Apostel  seine  eigenthümliche  Ansicht  sich  bil- 
dete und  der  principiclle  Gegensatz  zum  Gesetz  der  Mittelpunkt 
seines  religiösen  Bewnsstseins  wurde,  lässt  sich  wenigstens 
durch  zwei  unter  diesen  Gesichtspunkt  gehörende  Momente  be- 
gründen. Wenn  der  ApoStel  2  Cor.  5,  16  im  Zusammenhang 
einer  Stelle,  in  welcher  er  von  der  Bedeutung  des  Todes  Christi 
spricht,  sagt,  dass  er,  seitdem  er  dem  für  ihn,  wie  für  alle, 
gestorbenen  und  auferstandenen  Christus  zu  leben  angefangen 
habe,  von  keinem  Christus  xxTa  ddcpxa  mehr  wisse,  wenn  er 


Panlin,  Lehrbegriff.     Jndenth.  und  Christenth.      131 

auch  zuvor  von  einem  solchen  gewusst  habe,  so  lässt  er  uns 
hiemit  in  diesen  Umschwung  seines  religiösen  Bewusstseins  hin- 
einsehen.   Der  Wendepunkt  war  das  ouxsTt  xaToc  (japjca  XpicTÖv 
Yivw(jxsiv.    Kaxa  capxa  erkannte  er  Christus,  solange  er  nur 
die  nationaljüdische  Vorstellung  vom  Messias  hatte,    und  das 
Wesentliche  dieser  Vorstellung  war,   dass  der  Messias  keines 
solchen  Todes  sterben  sollte,  wie  der  Tod  Jesu  war.    Die  Mei- 
nung, dass  der  Messias  keines  solchen  Todes  sterben  dürfe,  war 
ihm  ein  xara  «jdtpxa  XpwTov  ytvcotjxeiv,  der  jüdische  Messias  war 
ihm  selbst  nur  ein  fleischlicher  Messias,  weil  er  als  ein  nicht 
durch  den  Tod  hindurchgegangener  Messias  noch  alles  Fleisch- 
liche an  sich  hatte,  was  erst  der  Tod  als  die  Vernichtung  des 
Fleisches  aufheben  kann.    In  dem  Tode  Jesu  erkannte  er  daher 
die  Läuterung  der  Messiasidee  von  allen  ihr  im  Judenthum  an- 
hängenden sinnlichen  Elementen,  ihre  Erhebung  in  das  wahr- 
haft geistige  Bewusstsein.    Mit  dem  Tode  Jesu  war  dem  Apostel 
alles  aufgehoben,  was  der  Messias  als  jüdischer  Messias  war, 
durch  seinen  Tod  war  Jesus  selbst  als  Messias  dem  Judenthum 
abgestorben,    aus   seinem    nationalen   Zusammenhang   in   eine 
freiere,  universelle,  rein  geistige  Sphäre  hinausgerückt,  in  wel- 
cher die  bis  dahin  geltende  absolute  Bedeutung  des  Judenthums 
mit  Einem  Male  erloschen  war.    Damit  hängt  auf's  engste  zu- 
sammen, was  hier  noch  als  ein  zweites  Moment  zu  bemerken 
ist,  dass  der  Apostel  unmittelbar  mit  seiner  Bekehrung  sich  zum 
Heidenapostel  berufen  glaubte.     Dass   es  Gott  gefiel,   wie  er 
Gal.  1,  16  sagt,  ä7roKa>>u4'at  töv  uJöv  auToO  in  ihm,   geschah 
dazu,  i'va  sOay-^j'sXi^oifAai  auTOv  £v  toi?  sSvsci.    Es  ist  diess  eine 
vom  Apostel  selbst  bezeugte  Thatsache,  die  wir  uns  nur  aus 
dem  in  seinem  religiösen  Bewusstsein  geschehenen  Umschwung 
erklären  können.     Nur    im  Gegensatz   gegen    das  Judenthum 
konnte  der  Apostel  der  absoluten  Bedeutung  des  Christenthums 
sich  bewusst  sein.  Alles  Particuläre  des  Judentluims  verschwand 
ihm  im  Universalismus  desChrislenlliums.   Daher  konnte  er  sich 

9* 


f9H  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

Juden  und  Heiden  nur  in  dem  gleichen  Verhältniss  zu  der  grossen 
Thatsache  des  Todes  Jesu  denken,  durch  welche  überhaupt  der 
Menschheit  ein  ganz  neues  Bewusstsein  über  ihr  Verhältniss  zu 
Gott  aufgieng.  H  .Mi^*^^'} 

r  War  diess  der  Gang  der  Sache,  durch  welchen  der  Apostel 
auf  seinen  eigenthümlichen  christlichen  Standpunkt  gestellt 
wurde,  so  kann  es  nicht  anders  sein,  als  dass  das  wesentliche 
Element  seines  Lehrbegriffs  die  Antithese  gegen  das  Judenthum 
ist,  die  Ausführung  und  Begründung  des  Satzes,  dass  was  das 
Judenthum  nicht  zu  leisten  im  Stande  sei,  erst  vom  Christenthum 
geleistet  werde,  das  Judenthum  demnach  in  einem  durchaus 
negativen  Verhältniss  zum  Christenthum  stehe. 
f  Vf  Wenn  Judenthum  und  Christenthum  in  dieser  abstracten 
Weise  einander  gegenübergestellt  werden,  so  ist  der  höhere 
Begriff,  unter  welchen  beide  zu  stellen  sind,  die  Idee  der  Reli- 
gion. Es  würde  sich  daher  vor  allem  fragen ,  wie  der  Apostel 
das  Wesen  der  Religion  bestimmt.  Nur  wenn  man  weiss,  was 
er  überhaupt  unter  Religion  versteht,  lässt  sich  begreifen,  wie 
er  beide  in  ein  solches  Verhältniss  zu  einander  setzt,  dass,  was 
auf  der  einen  Seite  nicht  stattfindet,  um  so  gewisser  auf  der 
andern  sieh  zu  erkennen  gibt.  Der  allgemeinste  Begriffj  mit 
welchem  der  Apostel  die  Aufgabe  und  Bestimmung  der  Religion 
bezeichnet,  ist  die  Six.aio<7uv/i.  Alle  auf  diesen  Begriff  sich  be- 
ziehenden Ausdrücke,  wenn  von  einer  SixaioTÜvv)  6eoO  die  Rede 
ist,  von  einer  Si5taio<juv')ri  i^  spytov,  £•/,  7c£(jTetd?,  oder  in  demselben 
Sinne  von  einem  SixatouGOai,  setzen  die  Sixato(TuvTri  als  den  Grund- 
begriff des  Verhältnisses  voraus,  in  welchem  der  Mensch  zu 
Gott  stehen  soll.  Ist  nun  Gerechtigkeit,  wenn  von  der  Beziehung 
der  Menschen  zu  einander  die  Rede  ist,  ein  Verhältniss,  in 
welchem  jeder  dem  Andern  das  wirklich  zu  Theil  werden  lässt, 
was  er  als  das  ihm  an  siclj  Zukommende  anzusehen  hat,  so  dass 
denniach,  wenn  der  Eine  dem  Andern  gegenübersteht,  beide  in 
dem  der  Nutur  der  Sache  entsprechenden  Verhältniss  zu  einander 


Paulin.  Lehrbegriff.     Aixatoauvrj.  133 

Stehen,  so  kann,  was  das  Verhältniss  des  Menschen  zu  Gott 
betrifft,  der  Grundbegriff  der  (iiKcciorrWr,  nichts  anderes  sein,  als 
das  sittlich  Adäquate  dieses  Verhältnisses.  Der  Mensch  ist 
^ixaio?  Gott  gegenüber,  wenn  er  so  isl,  wie  er  sein  soll,  oder  wie 
Gott  will,  dass  er  ist,  also  in  dem  dem  Willen  Gottes  adäquaten, 
somit  harmonischen  Verhältniss  zu  ihm  sieht.  Die  Sijcaioduvvi  ist 
daher  für  jede  Religion  der  höchste  Begriff,  da  sie  die  noth- 
wendige  Voraussetzung  ist,  unter  welcher  allein  der  Mensch 
wahrhaft  mit  Gott  Eins  sein  kann.  Nur  wenn  der  Mensch  so  ist, 
wie  Gott  will,  dass  er  ist,  kann  zwischen  Gott  und  dem  Menschen 
ein  Verhältniss  der  Einheit  bestehen.  Da  aber  die  St/taiocuvr 
nicht  das  an  sich  schon  Seiende  ist,  sondern  erst  durch  die 
Religion  realisirt  werden  soll,  so  ist  die  eigentliche  Aufgabe 
der  Religion  das  SixatoOcöai ,  der  Mensch  muss  erst  Sijtaio;  wer- 
den, zu  dem  adäquaten  Verhältniss  zu  Gott,  das  der  Begriff  der 
Si)tato(juvy)  ist,  gelangen;  das,  wodurch  er  dazu  gelangt,  ist  das 
Äutaiou<yOai.  Da  jede  Religion  die  Aufgabe  hat,  den  Menschen 
zur  Einheit  mit  Gott  zu  bringen,  was  nur  durch  das  SixaiouaGai 
geschehen  kann,  so  ist  diess  der  Begriff,  in  welchem  auch 
Judenthum  und  Christenthum  noch  ganz  auf  demselben  Boden 
mit  einander  stehen.  Sofern  das  Sixaioucöai  etwas  erst  Werden- 
des ist,  ist  es  noch  ganz  das  Gemeinsame  des  Judenthums  und 
Christenlhums.  Um  so  mehr  aber  fragt  sich,  auf  welchem  Wege 
beide  zu  dem  Ziele  des  SixaioOcOat,  zu  der  Sixaiocruwi  führen, 
wie  die  heiden  hier  sogleich  auseinandergehenden  und  in  das 
^i^catoOcöat  ic  spytov  vofxoi»  und  das  SutatoucÖai  iv,  Tuiixstö;  sich 
trennenden  Wege  sich  zu  einander  verhalten ,  welcher  Art  die 
Vermittlung  ist,  die  auf  der  einen  Seite  durch  die  spya,  auf  der 
andern  durch  die  togti?  stattfinden  soll.  Die  bestimmte  Behaup- 
tung des  Apostels  ist  es  nun ,  dass  der  Mensch  oO  ^ixaiouTai  ii:, 
spywv  voaou,  dass  es  auf  diesem  Wege  nicht  möglich  ist,  zu  dem 
zu  gelangen,  was  das  Ziel  und  Object  des  ^aaioOsOat  ist,  zu  der 
^i)taio<iuvyi.    Gibt  es  also  eine  den  Menschen  in  das  adäquate 


194  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

Verhältniss  zu  Gott  setzende  St>caio(Tuvr, ,  so  ist  sie  nicht  im  Ju- 
denthum  sondern  nur  im  Chrislenthum  zu  finden,  sie  ist  nicht 
eine  Sixaio^TuvYi  i!c,  epyojv,  sondern  nur  die  Si;taioT'jv7i  ex  ttictswc, 
oder,  wie  der  Apostel  sie  nennt,  die  Sixaio<pjvin  öeoO.  Vgl.  Rom. 
1,  17;  3,  21.  22;  10,  3.  2  Cor.  5,  21.  Den  Genitiv  eeoO  könnte 
man  als  Genitiv  des  Objects  nehmen,  die  Si)caio<p>vin  ÖsoO  wäre 
so  die  im  Wesen  Gottes  objectiv  begründete  Sixaio(Tuv'/; ,  oder 
die  vor  Gott  geltende,  wie  ja  auch  der  Apostel  von  einem 
^txaioOfföai  evcoTciov  ÖeoO,  wapa  Se^  spricht,  Rom.  3,  20.  2,  13. 
Gal.  3,  11,  sofern  vor  Gott  nichts  gelten  kann,  was  nicht  seinen 
objectiven  Grund  im  Wesen  Gottes  selbst  hat.  Das  Richtige  ist 
jedoch,  ÖeoO  als  den  Genitiv  des  Subjects  zu  nehmen.  Da  die 
^ixaio<Juvr,  e^  spywv  als  wirkliche  Sixaiocuvr,  gar  nicht  existirt, 
bei  der  Sixato<TuvYi  ix  TTtcfTew?  aber  das  thätige  Subject  nicht  der 
Mensch,  sondern  Gott  ist,  so  fällt  auf  dem  nach  Rom.  1,  17 
von  Gott  geofFenbarten  Wege  alles  Positive  sosehr  nur  der 
absoluten  Causalität  Gottes  zu,  dass  dieser  Hauptbegriff  am 
natürlichsten  auch  durch  ^ixato(rjvvi  6eou  ausgedrückt  ist.  Man 
kann  daher  die  ^ixouoauvy)  6eoO  nicht  als  den  Judenthum  und 
Christenthum  umfassenden  Gattungsbegriff  nehmen,  so  dass 
sich  derselbe  in  die  Sixaiocuvm  e^  epYwv  und  die  ex  TricrTew; 
theilt,  sondern  der  Mensch  verhält  sich  nur  negativ  zu  Gott, 
und  der  Sixaioouvyi  ÖeoO,  der  Gerechtigkeit  Gottes  steht  nur 
die  Ungerechtigkeit  der  Menschen  gegenüber.  Gerechtigkeit 
Gottes  aber  ist  in  diesem  Zusammenhang  die  von  Gott  als  der 
Ursache  ausgehende  oder  durch  Gott  bewirkte  Gerechtigkeit, 
d.  h.  die  Art  und  Weise,  wie  Gott  den  Menschen  in  das  ad- 
äquate Verhältniss  zu  sich  setzt,  der  hiezu  von  Gott  eröffnete 
Weg,  oder  eigentlich  die  neue  von  Gott  aufgestellte  Rechtferti- 
gungstheorie. 

Es  kommt  somit  auf  den  Beweis  des  Satzes  an,  dass  der 
Mensch  oO  SixatoOrai  i^  Ipytov  v6(ji,ou.  Wie  beweist  der  Apostel 
seine  Behauptung  als  Antithese  gegen  die  These  des  Judenthums? 


Panlin.  Lohrbegriff.     Sünde  und  Gesetz.  |35 

Er  beweist  sie  auf  dreifache  Weise:  1)  rein  empirisch,  2)  reli- 
gionsgeschichllich ,  3)  anthropologisch. 

Der  empirische  Beweis  besteht  darin,  dass  der  Apostel  die 
Ungerechtigkeit  der  Menschen  als  notorische  geschichtliche 
Thatsache  nachweist.  Es  gehören  hieher  die  beiden  ersten  Ka- 
pitel des  Römerbriefs,  in  welchen  der  Apostel  das  unter  Heiden 
und  Juden  herrschende  sittliche  Verderben  schildert.  Man  darf 
diess  aber  nicht  so  nehmen,  wie  wenn  der  Apostel  hier  nur 
überhaupt  die  allgemeine  menschliche  Sündhaftigkeit  ausein- 
andersetzen und  als  dogmatische  Behauptung  aufstellen  wollte. 
Da  es  sich  um  den  Beweis  seines  negativen  Hauptsatzes  handelt, 
dass  der  Mensch  oO  Sixaiourai  it,  spytov  v6{aou,  so  hat  er  hier 
durchaus  vorzugsweise  das  Judenthum  im  Auge  und  es  zielt 
alles  auf  die  Widerlegung  der  ihm  gegenüberstehenden  These 
des  Judenthums  hin,  dass  der  Mensch  oü  SucatoOTat  e^  eoywv  vojaou. 
Er  geht  daher  zwar  von  der  Gottlosigkeit  und  ünsittlichkeit  der 
Heiden  aus,  stellt  die  Abgötterei  und  den  ganzen  Sündengräuel 
der  heidnischen  Welt  in  den  stärksten  Zügen  vor  Augen ,  aber 
nur  um  an  der  von  selbst  sich  verstehenden  allgemein,  auch  von 
Juden  anerkannten  Thatsache  den  Juden  ihre  eigene  Strafwür- 
digkeit um  so  evidenter  vor  Augen  zu  stellen,  an  der  Unge- 
rechtigkeit der  Heiden  ihre  eigene  ihnen  um  so  unabweislicher 
zum  Bewusstsein  zu  bringen.  Daher  setzt  er  das  Strafwürdige 
der  von  ihm  geschilderten  heidnischen  Sünden  und  Laster  nicht 
sowohl  in  das  Materielle  solcher  Handlungen,  als  vielmehr  das 
Formelle,  dass  die  Heiden  trotz  des  bessern  Wissens  eben  das 
thun,  wovon  sie  wissen,  dass  sie  es  nicht  thun  können,  ohne 
sich  des  Todes  würdig  zu  machen.  Er  fasst  1,  32  die  zuvor 
gegebene  sittliche  Charakteristik  der  Heiden  in  dem  allgemeinen 
Moment  zusammen,  dass  sie  alle  diese  Sünden  und  Laster  als 
solche  begangen  haben,  die  wohl  wissen,  welche  Strafe  nach 
dem  gerechten  Urtheil  Gottes  die  zu  erwarten  haben,  die  solches 
thun.     In  derselben  Beziehung  hat  er  auch  zuvor  schon  das 


186  Zwei ter  Abschnitt.     Erste  Pe riode. 

Hauptgewicht  darauf  gelegt,  dass  es  auch  den  Heiden  nicht  an 
der  Offenbarung  Gottes  und  der  Erkenntniss  gefehlt  habe,  die 
die  nothwendige  Voraussetzung  der  sittlichen  Zurechnungsfähig- 
keit ist.  Auch  bei  ihnen  war  das  Unentschuldbare,  das  eigent- 
lich Strafbare  ihrer  unsittlichen  Handlungen,  dass  sie  sie  wider 
ihr  eigenes  besseres  Wissen  und  Gewissen  begiengen.  So  straf- 
bar sie  aber  so  betrachtet  sind,  so  ist  doch  das,  was  die  Heiden 
so  strafbar  macht,  ganz  dasselbe,  was  auch  bei  den  Juden  statt- 
findet, sie  selbst  sind  um  nichts  besser,  indem  ja  auch  sie  so 
Vieles  thun,  wovon  sie  selbst  wissen,  dass  sie  es  nicht  thun 
können,  ohne  dem  göttlichen  Gericht  anheimzufallen.  Findet 
ein  Unterschied  statt,  so  kann  er  nur  in  dem  Grade  des  Be- 
wusstseins  liegen,  mit  welchem  man  das  thut,  was  man  nicht 
thun  sollte,  oder  darin,  ob  man  ävopo;  oder  iv  v6[jm  sündigt, 
aber  auch  dieser  Unterschied  fällt  nur  zum  Nachtheil  der  Juden 
aus.  Schlechthin  ohne  Gesetz  sind  zwar  auch  die  Heiden  nicht, 
auch  sie  haben  ein  Gesetz,  das  Gesetz  ihres  Gewissens,  das 
ihnen  sagt,  was  sie  thun  und  nicht  thun  sollen,  und  da^  auch 
der  Maasstab  sein  wird,  nach  welchem  auch  bei  ihnen  Gott  am 
Tage  des  Gerichts  das  Verborgene  an's  Licht  bringen  wird.  Be- 
steht aber  der  höchste  Vorzug  des  Gesetzes  darin,  dass  man  den 
göttlichen  Willen  kennt,  und  durch  die  Belehrung,  die  man 
aus  dem  Gesetz  erhält,  das  prüft,  was  recht  oder  unrecht  ist, 
so  ist  der  Jude  nur  um  so  strafwürdiger,  je  klarer  und  voll- 
ständiger er  aus  dem  Gesetze  weiss,  was  er  zu  thun  hat,  und 
dem  ungeachtet  das  gerade  Gegentheil  thut.  Indem  also  der 
wahre  sittliche  Werth  des  Menschen  nur  im  Thun  besteht,  darin, 
dass  man  das  thut,  wovon  man  das  Bewusstsein  hat,  dass  man 
es  thun  soll,  hebt  sich  in  diesem  Einen  der  Unterschied  des 
Heidenthums  und  Judenthums  auf,  Vorhaut  ist  wie  Beschneidung 
und  Beschneidung  wie  Vorhaut,  es  kommt  nicht  auf  das  an, 
was  der  Jude  äusserlich  ist,  sondern  nur  auf  das,  was  er  inner- 
lich, im  Herzen  vor  Gott  ist.    Der  Jude  hat  vor  dem  Heiden 


Paulin.  Lehrbegriff.     Sünde  und  Gesetz.  1H7 

nichts  voraus,  es  bleibt  bei  der  erhobenen  Anklage,  dass  Juden 
und  Heiden  unter  der  Sünde  sind,  wie  diess  ja  auch  die  Schrift 
selbst  bezeugt,  und  da  die  Schrift  oder  das  Gesetz  das,  was  er 
sagt,  zu  denen  sagt,  die  unter  dem  Gesetze  stehen,  so  gellen 
alle  das  Verderben  der  Menschen  beklagende  Stellen  der  Schrift 
vorzugsweise  den  Juden,  und  es  geht  somit  aus  allem  hervor, 
dass  durch  Werke  des  Gesetzes  niemand  vor  Gott  gerecht  wer- 
den kann;  das  Gesetz  macht  so  wenig  gerecht,  dass  man  viel- 
mehr durch  dasselbe  nur  zur  Erkenntniss  der  Sünde  konnnl. 
Rom.  i,  18-3,  20. 

Es  ist  hiemit  nur  das  nach  der  allgemeinen  Erfahrung  und 
dem  Zeugniss  der  Schrift  thatsächlich  Bestehende  ausgespro- 
chen.  Der  Apostel  geht  aber  weiter  und  behauptet      »i  V»*»iei? 

2.  dass  es  auch  vom  religionsgeschichtlichen  Standpunkt 
aus  betrachtet  nicht  anders  sein  könne.  Die  Entwicklungsge- 
schichte der  Menschheit  ist  von  Adam  an  darauf  angelegt,  in 
Sünde  und  Tod  auszulaufen,  so  dass  sich  als  Resultat  der  gan- 
zen Periode  der  Gesetzesherrschaft  nichts  anderes  herausstellt, 
als  eben  der  Satz,  dass  der  Mensch  oü  Si/taiouTai  ic  £pYo)v  vofxou. 
Diess  ist  der  Inhalt  der  classischen  Stelle  über  die  Lehre  von 
der  Sünde  Rom.  5,  12  f.  Der  Hauptgedanke  ist  die  Gegenüber- 
stellung von  Adam  und  Christus.  Daher  sollte  dem  wTTTsp  Si' 
evo?  äv6po)7wou  r,  ajxapTta  u.  s.  w.  in  dem  Nachsatz  am  Schlüsse 
V.  14  entsprechen :  ouTto  xal  Si'  svo?  ivOpwTrou  o  Sixaio<Tuv/i  >cal 
SiÄT^?  SixaiooTuvTii;  -n  ^wto;  dafür  ist  die  V.  12  mit  tooTcep  angefan- 
gene Construction  zu  einem  Anakoluthon  geworden,  indem  das, 
was  im  Nachsatz  hätte  gesagt  werden  sollen ,  nur  in  dem  an 
'A^i^i/.  V.  14  angeknüpften  Satz:  o?  e<TTi  tuto;  toO  asXXovTo; 
enthalten  ist.  Für  die  richtige  Auffassung  der  Stelle  kommt  es 
vor  allem  auf  die  Bestimmung  des  Satzes:  i<f  ^)JcavTs;  -/iWaTov 
an.  Es  scheint  sehr  nahe  zu  liegen,  an  die  Sünde  im  subjecti- 
ven  Sinn  zu  denken,  allein  es  ist  nicht  zu  übersehen,  dass  der 
Apostel  zwischen  ä[xapTwt  und  Tcapaßam;  unterscheidet ;  wenn 


138  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode." 

er  V.  14.  von  einem  \t.r,  ä(;-apTaveiv  im  to5  ö[/,otto[j!,aTt  rfl?  Trapa- 
ßa<7£o>;  'ASöc(a  spricht,  so  gibt  es  eine  aj^apTta,  die  keine  Tcapa- 
ßa«7t?  ist.  Da  xapaß3c<Ti<;  als  Übertretung  eines  positiven  Gebots 
nur  die  bewusste  Thatsünde  sein  kann,  so  ist  zwischen  a(;.apTia 
und  Tirapaßact;  wie  zwischen  Sünde  im  objectiven  und  subjecti- 
ven  Sinn  zu  unterscheiden.  Der  Zusammenhang  erfordert  da- 
her, vi[y.apTov  V.  12  von  der  objectiven  Sünde,  dem  in  Allen 
herrschenden  Princip  der  ajjüxpTta  zu  verstehen.  Der  Sinn  der 
ganzen  Stelle  ist:  Durch  Einen  Menschen  ist  die  Sünde  in  die 
Welt  gekommen  und  durch  die  Sünde  der  Tod  und  so,  d.  h.  in 
diesem  Zusammenhang  beider  ist  der  Tod  zu  allen  Menschen 
hindurch  gedrungen,  auf  Grund  dessen,  dass  alle  Sünder  sind, 
darauf  hin,  dass,  wenn  sie  nicht  Sünder  wären,  der  Tod  auch 
nicht  zu  ihnen  hätte  hindurchdringen  können,  der  Tod  also  die 
ä[;.apTia  zu  seiner  Voraussetzung  hat.  Sünde  und  Tod  sind  so 
correlate  Begriffe ,  dass  aus  dem  Dasein  des  Einen  auf  das  Da- 
sein des  Andern  geschlossen  werden  kann.  So  allgemein  also 
der  Tod  ist,  so  allgemein  ist  die  Sünde. 

Man  könnte  gegen  die  Behauptung  der  Allgemeinheit  der 
Sünde  einwenden ,  dass  es  in  der  Periode  von  Adam  bis  Moses 
noch  keine  zuzurechnende  Sünde ,  oder  noch  keine  Trapaßaaei? 
gab,  weil  es  noch  kein  Gesetz  gab,  dass  also  Sünde  nur  da 
sein  kann,  wo  auch  ein  Gesetz  als  Gegenstand  der  Übertretung 
ist;  allein  auch  in  dieser  Periode  herrschte  ja  der  Tod,  somit 
war,  da,  wo  der  Tod  ist,  auch  die  Sünde,  die  Voraussetzung 
des  Todes,  nicht  fehlen  kann,  auch  schon  vor  dem  Gesetz  Sünde 
in  der  Welt.  Was  in  der  Periode  von  Adam  bis  Christus  die 
äfxapxia  und  der  QavaTo;  sind,  sind  in  der  mit  Christus  be- 
ginnenden die  ^ixaio'TuvTi  und  die  (^to>^.  Der  Apostel  setzt  aber 
auch  der  xapxKoy;  des  Einen  die  (i-Kx>t.or,  des  Andern  und  dem 
•/taTa>cptp.a  auf  der  einen,  das  ^Dcatwfxa  auf  der  andern  Seite 
entgegen.  Wenn  auch  Adam  an  sich  schon  in  seiner  Natur  das 
»Princip  der  Sünde  hatte,  so  trat  sie  doch  erst  durch  seine  Über- 


Panlin.  Lehrbegriff.     Sünde  und  Gesetz.  139 

Iretung  in  die  Wirklichkeit  ein.  Da  er  sich  gegen  ein  bestimni- 
les  positives  Gebot  verfehlte,  es  fibertrat,  so  war  seine  Sünde 
eine  Tcapatiaai;  oder  ein  xapaTCxtoaa.  Ein  solches  Gebot  hatten 
die  Menschen  nach  ihm  bis  zum  Gesetz  nicht,  da  aber  auch  in 
dieser  Periode  der  Tod  herrschte ,  so  erhellt  hieraus ,  dass  in 
der  Übertretung  Adam's  ein  über  der  einzelnen  Thatsünde  ste- 
hendes, nicht  erst  durch  sie  bestimmtes,  sondern  vielmehr  sie 
selbst  bestimmendes  allgemeines  Princip  nur  zu  seiner  Äusse- 
rung kam,  und  seitdem  als  geschichtliche  Erscheinung  zu  einer 
in  der  Menschheit  herrschenden  Macht  wurde.  Das  Allgemeine 
steht  so  zwar  über  dem  Besondern  und  Einzelnen,  da  es  aber 
in  diesem  erst  zur  concreten  Wirklichkeit  wird,  so  ist  der 
Punkt,  in  welchem  diess  geschieht,  der  principielle  Anfang, 
und  es  hängt  somit  wie  in  Christus  so  auch  in  Adam  alles  an 
einem  eine  ganze  Reihe  von  Erscheinungen  bestimmenden  Ein- 
heitspunkt, so  dass ,  was  von  dem  ersten  Gliede  dieser  Reihe 
gilt,  auch  von  allen  mit  ihm  zusammengehörenden  gilt.  Es 
liegt  hierin  nicht  blos  die  Allgemeinheit,  sondern  auch  die  Ob- 
jectivität  des  Princips  der  Sünde.  Sünde  und  Tod  sind  so  sehr 
die  allgemein  herrschenden  Mächte,  dass  die  Vermittlung  mit 
dem  Allgemeinen  durch  die  eigene  Subjectivität  des  Einzelnen 
im  Grunde  gar  nicht  mehr  in  Betracht  kommt.  Auch  abgesehen 
von  allem,  was  der  Einzelne  ist  oder  thut,  sind  alle  demselben 
Princip  der  Sünde  und  des  Todes  unterworfen.  Das  sittliche 
Urtheil  über  die  ganze  Periode  von  Adam  bis  Christus  ist  daher 
in  dem  Satze  ausgesprochen :  Sia  Tfi<;  Trapa/tofi?  toO  evö?  dcvöpcd- 
Tro'j  aixapTü)>wOl  xaT£<JTa6r,(Tav  oi  ro>.>.ol  V.  19,  und  dieser  Satz 
selbst  gibt  nur  den  Beweis  für  den  Hauptsatz  des  Apostels,  dass 
es  unmöglich  ist,  durch  Werke  des  Gesetzes  gerechtfertigt  zu 
werden.  it,li*«*t'»^ 

Die  Wahrheit  dieses  Satzes  wird  durch  die  ganze  Periode 
von  Adam  bis  Christus  bestätigt,  auch  das  Gesetz  macht  in  die- 
ser Periode  keinen  Unterschied,  die  Sünde  herrscht  nach  dem 


1^:0  ZTveiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

Gesetz  wie  vor  demselben ,  ja  das  Gesetz  hat  so  wenig  das  zur 
Folge  gehabt,  was  wesentlich  zum  StxaioOoOai  gehört,  die  Auf- 
hebung der  Sünde  und  die  Befreiung  des  Menschen  von  der 
Macht  derselben,  dass  vielmehr  durch  das  Gesetz  der  Sünde  nur 
noch  mehr  wurde.  Diess  ist  die  ausdrückliche  Behauptung  des 
Apostels  5,  20:  vojjlo;  wapswiiXOsv ,  Iva  TrXeovaay;  tö  -apaTTTtofxa, 
das  Gesetz  trat  ein,  kam  neben  der  Sünde  hinzu,  damit  viel  werde 
die  Übertretung.  Übertretungen  kann  es  erst  da  geben,  wo 
ein  Gesetz  ist,  das  nicht  übertreten,  sondern  befolgt  werden 
soll.  Mit  dem  Gesetz  kam  also  erst  die  Übertretung,  und  je 
grösser  die  Zahl  der  Vorschriften  und  Gebote  ist,  die  das  Ge- 
setz enthält  und  je  genauer  seine  Bestimmungen  sind,  um  so 
grösser  musste  auch  die  Zahl  der  Gesetzes-Übertretungen  sein. 
Auch  Gal.  3,  19  sagt  der  Apostel,  dass  das  Gesetz  töv  Trapsxßa- 
<ie(j)v  x^P'''  T^pofysTsOv).  Der  nächste,  natürlichste  Sinn  dieser  Worte 
scheint  zwar  zu  sein ,  das  Gesetz  soll  den  überhand  nehmenden 
Übertretungen  wehren,  eine  Schranke,  ein  Zaum  für  die  Sünde 
sein,  oder  man  könnte  die  Worte  auch  so  nehmen,  durch  das 
Gesetz,  als  die  Norm  des  Handelns,  sollen  die  Übertretungen 
als  das,  was  sie  sind,  erkannt  und  ebendadurch  verhütet  wer- 
den; allein  die  parallele  Stelle  Rom.  5,  20  ist  dagegen,  auch 
nach  dem  Zusammenhang  der  Stelle  Gal.  3,  19  selbst  kann  sie 
nur  das  Gegentheil  sagen,  dass  die  Trapaßaaet?  durch  das  Gesetz 
nicht  vermindert,  sondern  vermehrt  werden  sollen.  Das  Gesetz 
ist  um  der  Tcapaßacei;  willen  da ,  gleichsam  zu  Gunsten  dersel- 
ben, damit  sie  zu  ihrem  Recht  kommen,  damit,  da  es  ohne 
Gesetz  auch  keine  Übertretung  gibt,  am  Gesetz  die  Übertre- 
tungen in  ihrem  ganzen  Umfang  hervortreten,  und  in  ihnen  die 
Sünde  zu  ihrer  vollen  Erscheinung  komme.  Ehe  es  eine  Ver- 
gebung der  Sünde  gibt,  muss  zuvor  die  Sünde  zu  ihrer  that- 
sächlichen  Existenz  und  Realität  kommen  in  der  ganzen  Menge 
ihrer  einzelnen  Fälle.  Dazu  ist  das  Gesetz  nothwendig.  Hiemit 
«oll  nicht  die  Nothwendigkeit  der  Sünde   behauptet,   sondern 


Panlln.  Lehrbegriff.     Sflnde  und  Gesetz.  141 

nur  gesagt  werden,  dass,  weil  einmal  die  Sünde  da  ist,  sie 
sich  auch  in  ihrem  ganzen  Umfang  verwirklichen  muss.  Daher 
darf  man  sich  auch  an  dem  teleologischen  Iva  Rom.  5,  20  so 
wenig  als  an  dem  j^apiv  Gal.  3,  19  stossen.  Gott  ist  nicht  un- 
mittelbarer Urheber  der  Sünde,  sondern  seine  Absicht  ist  nur, 
die  einmal  vorhandene  Sünde  so  ihren  Verlauf  nehmen  zu  las- 
sen, dass  sie  als  überwundenes  Moment  der  Gnade  gegenüber- 
gestellt werden  kann.  Das  Gesetz  ist  nicht  die  Ursache  der 
Sünde,  sondern  nur  ein  soUicitirendes  Moment,  es  reizt  die 
Sünde  gleichsam  aus  sich  herauszugehen ,  um  sich  am  Gesetz 
in  ihrem  wahren  Wesen  zu  zeigen.  Schon  in  dieser  quantita- 
tiven Hinsicht  hat  das  Gesetz  das  Gegentheil  des  StxaioOcrÖai  zur 
Folge ,  es  mehrt  nur  die  Sünde ;  dieselbe  Wirkung  hat  es  aber 
auch  qualitativ,  die  Sünde  erhält  erst  durch  das  Gesetz  ihre 
intensive  Bedeutung.  Der  prägnanteste  Ausdruck  für  diese 
Behauptung  .des  Apostels  ist  der  Satz:  -h  Suvaat?  t-^?  ay-apTia?  ö 
v6ao;  1  Cor.  15,  56.  Was  der  Sünde  ihre  Bedeutung  und  Rea- 
lität gibt ,  was  sie  selbst  wesentlich  zu  dem  macht ,  was  sie  ist, 
was  sie  also  selbst  erst  zur  Sünde  macht,  ist  das  Gesetz.  Die- 
ser Satz  kann  hier  nicht  weiter  entwickelt  werden ,  ohne  dass 
sich  hier  sogleich 

3.  der  anthropologische  Beweis  anschliesst,  welchen  der 
Apostel  für  seinen  Hauptsatz  führt. 

Die  auch  unter  den  Juden ,  wie  unter  den  Heiden ,  herr- 
schende Sündhaftigkeit,  die  nicht  abzuläugnende  Thatsache, 
dass  man  das  thut,  wovon  man  selbst  das  Bewusstsein  hat,  dass 
man  es  nicht  thun  solle,  die  durch  die  Schrift  bezeugte  und 
aus  ihr  zu  erkennende  Allgemeinheit  der  Sünde  beweist  vor 
allem,  dass  das  Judenthum  durch  seine  Werke  des  Gesetzes 
den  Menschen  nicht  in  das  Yerhältniss  zu  Gott  setzt,  in  das  er 
durch  das  ^i/.aio0<76ai  kommen  soll.  Denselben  Beweis  gibt  so- 
dann die  religionsgeschichtliche  Betrachtung,  welche  in  der 
ganzen  Periode  von  Adam  bis  Moses  und  von  Moses  bis  Christus 


148  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

die  Herrschaft  der  Sünde  und  des  Todes  vor  Augen  stellt  und 
zeigt,  dass  eben  das  Gesetz,  durch  dessen  Werke  der  Mensch, 
gerechtfertigt  werden  soll,  nicht  die  Aufhebung,  sondern  nur 
die  Vennehrung  der  Sünde  zur  Folge  gehabt,  und  dem  Princip 
derselben  seine  volle  sowohl  extensive  als  intensive  Bedeutung 
gegeben  hat.  So  gewiss  ist  es  also,  dass  der  Mensch  oü  Si- 
jtaiouTai  e^  spy^v  votxou.  Um  aber  die  schon  durch  das  bishe- 
rige nachgewiesene  und  bestätigte  Wahrheit  dieses  Satzes  in 
ihrem  tiefern  Grunde  zu  erkennen,  muss  man  auf  die  Natur  des 
Menschen  selbst  zurückgehen  und  sie  darauf  ansehen,  wie  sie 
sich  nach  der  Beschaffenheit  ihrer  verschiedenen  Bestandtheile 
zu  der  Möglichkeit  verhält,  s^  spytov  v6[aou  StxaioOcOai. 

Der  Mensch  ist  schon  nach  dem  Bisherigen  als  Sünder  zu 
betrachten,  die  Frage  kann  daher  nur  sein,  wie  realisirt  sich 
in  ihm  das  Princip  der  Sünde,  wie  entwickelt  sie  sich,  welchen 
Ursprung  und  Sitz  hat  sie  in  ihm  selbst?  Die  Antwort  darauf 
liegt  in  dem  paulinischen  Begriff  der  (rapE.  Wie  ist  aber  dieser 
selbst  zu  bestimmen?  Darüber  ist  man  noch  immer  sehr  im 
Unklaren.  Man  kann  nicht  läugnen,  dass  der  Apostel  in  meh- 
reren Stellen  unter  der  <jap^  den  Leib  versteht,  und  doch  glaubt 
man  sich  in  andern  und  in  den  meisten  unter  der  aap^  nur  die 
menschliche  Natur  überhaupt  nach  ihrer  sinnlichen  Seite  denken 
zu  können.  Wiesehr  man  hierüber  noch  immer  schwankt,  kann 
man  aus  der  neuesten  Auflage  des  Tholuck 'sehen  Commen- 
tars  über  den  Römerbrief  sehen.  Tholuck  selbst  gesteht  zu 
Rom.  6,  6,  dass  er  in  den  verschiedenen  Auflagen  seines  €om- 
mentars  seine  Ansicht  mehr  als  einmal  geändert  habe,  und 
nun  in  der  fünften,  vom  Jahr  1856,  beziehungsweise  zu  seiner 
ursprünglichen  zurückkehre.  Es  sollte,  meint  Tholuck,  bei 
der  cap^  anerkannt  werden,  dass  der  Apostel,  indem  er  von 
der  menschlichen  Schwachheit  spricht,  bald  mehr  das  Moment 
der  Weltliebe,  bald  das  der  Selbstsucht,  bald  das  der  sinn- 
lichen Trägheit  oder  der  Affekte,  bald  alles  dieses  zusammen 


Panlin.  Lehrbegriff.     lap^.  14^ 

im  Auge  haben  könne,  dass  bald  die  Begriffe  uiX»,  aöiAa  und 
aap^  sich  decken  können ,  dass  häufig  aber  noch  der  letztere 
über  den  erstem  hinausgehe.  Was  nicht  zugegeben  werden 
könne,  sei  der  ausschliessliche  Gebrauch  von  aap^  in  dem  mit 
<jw|xa  identischen  Sinn.  In  der  Stelle  Rom.  6,  6  aber  könne  man 
sich  dem  Zugeständniss  nicht  entziehen,  dass  awjAx  von  dem 
Apostel  als  Sitz  oder  auch  als  Quelle,  vorzugsweise  jedoch  als 
Organ  der  Sünde  angesehen  werde. 

Alles  diess  mag  von  der  axoi,  gesagt  werden  können,  aber 
es  fragt  sich,  was  die  Grundanschauung  ist.  Sagt  man,  cap^ 
ist  wesentlich  die  menschliche  Schwachheit,  so  muss  man  auch 
wissen,  was  im  Menschen  das  eigentliche  Subject  desselben  ist, 
ob  der  Geist  oder  der  Leib.  Ist  es  der  Geist,  so  muss  auch  er- 
klärt werden,  warum  der  Apostel  das  geistige  Princip  mit  einem 
auf  den  Leib  sich  beziehenden  Ausdruck  bezeichnet,  ist  es  der 
Leib,  so  weiss  man  nicht,  wie  von  dem  Leib  so  Vieles  ausge- 
sagt wird,  was  nur  einem  geistigen  Subject  beigelegt  werden 
kann.  Und  da  der  Apostel  nicht  blos  von  der  (rap^  spricht,  son- 
dern auch  die  gleichbedeutenden  Ausdrücke  yiXyj  und  «rw^Aa 
gebraucht,  so  muss  man  doch  den  Lejb  in  genauere  Erwägung 
ziehen,  und  es  kann  auch  das  nicht  so  unbestimmt  bleiben,  ob 
der  Leib  Sitz  und  Quelle  oder  blosses  Organ  der  Sünde  ist.  Ist 
er  blosses  Organ ,  so  ist  er  auch  nicht  das  eigentliche  Subject, 
ist  er  Sitz  und  Quelle,  so  ist  er  es;  aber  die  Frage  ist  dann 
eben,  wie  er  es  ist?  Es  muss  also  erst  der  Begriff  festgestellt 
werden.  Diesen  hat  man  aber  nur,  wenn  man  als  die  Grund- 
anschauung der  Anthropologie  des  Apostels  festhält,  dass  cap^ 
der  materielle  Leib  ist.  Nur  in  diesem  Begriff  schliessen  sich 
die  verschiedenen  die  orap^  betreffenden  Bestimmungen  zur 
Einheit  zusammen.  Der  Leib  macht  also,  sofern  der  Mensch 
Gap^  ist,  das  eigentliche  substanzielle  Wesen  des  Menschen  aus. 
Wenn  man  sich  nun  hauptsächlich  daran  stosst,  dass  die  i;apE 
der  Leib  sein  soll,  obgleich  der  Apostel  von  der  cap^  als  einem 


144  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

geistigen  Subject  spricht,  so  ist  diess  sehr  natürlich  daraus  zu 
erklären ,  dass  ihm ,  was  eben  das  Charakteristische  seines  Be- 
griffs von  der  rrap^  ist,  der  Leib  keine  todte  Masse,  sondern  ein 
belebtes  und  beseeltes  Wesen  ist.  Es  kann  diess  auch  nicht 
befremden,  da  der  Apostel  auch  hierin  nur  auf  dem  Boden  der 
alterthümlichen  Anschauungsweise  steht.  Auch  die  Alten  haben 
sich  ja  die  Materie  nicht  als  etwas  Todtes  und  Lebloses,  son- 
dern als  einen  Inbegriff  lebendig  wirkender,  in  einer  bestimm- 
ten Richtung  sich  bewegender  Kräfte  gedacht.  Man  denke  in 
dieser  Beziehung  nur  an  den  platonischen  und  aristotelischen 
Begriff  von  der  Materie.  An  den  Grundbegriff  der  TapE,  als  des 
materiellen  Leibs,  schliessen  sich  unmittelbar  die  Bestimmun- 
gen an,  in  welchen  alles,  was  das  Menschliche  in  seinem  Unter- 
schied und  Gegensatz  zum  Göttlichen  ist,  als  «rapE  bezeichnet 
wird.  Was  der  Mensch  als  schwaches,  sterbliches,  endliches 
Wesen  ist,  mit  seinem  eigenen  rein  natürlichen  Wollen  und 
Streben,  das  als  solches  nur  ein  dem  Göttlichen  entgegengesetz- 
tes sein  kann,  hat  darin  seinen  Grund,  dass  er  «rap^  ist,  d.  h. 
ein  sinnliches,  materielles,  leibliches  Wesen  mit  den  dem  ma- 
teriellen Leib  inwohnenden  Trieben  und  Kräften.  Sap^  und 
av6po)7ro;  sind  in  so  manchen  ganz  gewöhnlichen  Ausdrücken, 
wie  z.  B.  wenn  jtaTa  <7apy.a  so  viel  ist  als  xara  av6ptü7rov,  ge- 
radezu identische  Begriffe. 

Wie  schon  dabei  vorausgesetzt  werden  muss,  dass  der 
Mensch,  sofern  er  schlechthin  als  cap^  bezeichnet  oder  der  Leib 
als  die  eigentliche  Substanz  seines  Wesens  betrachtet  wird, 
nicht  blos  ein  materielles,  sondern  auch  ein  geistig  belebtes 
und  beseeltes  Wesen  ist,  so  wird  nun  auch  ausdrücklich  dem 
Menschen  nicht  nur  eine  ^{/u;(tq  zugeschrieben,  sondern  auch 
diese  '\ioyri  mit  der  aap^  in  derselben  Einheit  der  Substanz  so 
zusammenbegriffen  ,  dass  ^l/u/ix6?  und  Tapscixo;  gleichbedeutende 
Begriffe  sind.  Vgl.  1  Cor.  2,  14  und  3,  1.  Wie  die  <{"jx^/;,  je 
näher  sie  mit  der  cap^  zusammengehört,  um  so  mehr  auch  die 


Paalin.  Lehrbegriff.     Sap^,  «I'U/^^,  vou;.  14d 

Triebe  und  Willensregungen  mit  ihr  theilt,  so  geht  aus  der 
4'u^  selbst,  aus  ihrem  geistigen  Element  der  vou;  hervor,  der 
sich  von  der  ^j/u/yi  als  ein  rein  theoretisches  Vermögen  unter- 
scheidet und  in  höherem  Grade,  als  diess  bei  der  ^^"/yi  möglich 
ist,  von  dem  materiellen  Naturgrunde  der  (yap^  sich  ablöst.  Der 
voG?  ist  das  Princip  des  Denkens  und  Wissens,  des  klaren  ver- 
ständigen Denkens,  des  immanenten  Selbstbewusstseins,  in  wel- 
chem der  Mensch  den  geistigen  Schwerpunkt  seines  Wesens  hat. 
Dass  mit  dem  Worte  voO;  von  Paulus  ganz  besonders  das  Ver- 
ständige, Selbstbewusste  bezeichnet  wird,  ist  am  deutlichsten 
aus  dem  Gegensatz  des  XaXstv  ^la  tou  voö?  und  des  >>aXeiv  ev 
yXcidcnri  oder  Trvsufxaxi  1  Cor.  14,  14  zu  sehen.  Im  voO?  ist  also 
der  Mensch  der  denkende  selbstbewusste  Geist,  der  voO;  ist 
selbst  der  scw  avöptoTro?,  Rom.  7,  22,  der  innere,  in  seinem 
denkenden  Selbstbewusstsein  existirende  Mensch.  Da  das  Be- 
wusstsein  alles  Mögliche  zu  seinem  Inhalt  haben  kann,  sofern 
es  sich  zu  seinem  Object  rein  theoretisch  verhält,  als  eine  blosse 
Form  erst  durch  den  Inhalt,  welchen  es  in  sich  aufnimmt,  zum 
bestimmten  concreten  Bewusstsein  wird,  so  ist  in  dem  voO;  noch 
kein  bestimmter  Gegensatz  zu  der  aapE  enthalten;  allein  das 
geistige  Element  hat  sich  von  seinem  materiellen  Naturgrund 
schon  so  weit  abgelöst,  dass  das  in  dem  voO;  seiner  geistigen 
Kraft  sich  bewusst  gewordene  Ich  sich  mit  den  Trieben  und 
Neigungen  des  materiellen  leiblichen  Lebens  nicht  mehr  eins 
wissen  kann.  Der  Apostel  selbst  hat  Rom.  7,  15  — 24  die  Natur 
seines  vou(;  so  genau  analysirt,  dass  wir  ganz  in  den  Zwiespalt 
des  Bewusslseins  hineinsehen,  in  welchem  der  vou;  sich  ebenso 
von  der  crap^  abhängig  als  im  Widerspruch  mit  ihr  begriffen 
weiss.  Wie  kann  beides  enger  in  einander  eingreifen,  als  in 
den  Worten  des  Apostels  geschieht,  wenn  er  als  der,  der  ein 
anderes  Gesetz  in  seinen  Gliedern  und  ein  anderes  in  seinem 
Geiste  hat,  im  Bewusstsein  seiner  Einheit  mit  der  cx^i,  von  sich 
sagt,  er  wisse,  dass  in  ihm  nichts  Gutes  wohne,  in  demselben 

Baur,  ueutest.  Tlieol.  l" 


146  Zweiter  Absehnitf.     Erste  Periode, 

Moment  aber  das  liiemit  von  sich  Gesagte  nur  von  seiner  <iap^ 
gesagt  wissen  will,  womit  er  demnach  sich  selbst  von  seiner 
cap^  so  unterscheidet,  dass  er  ihr  sein  eigenes  besseres  Ich 
entgegensetzt?  Der  voO;  weiss  sich  also  nicht  mehr  mit  der 
capE  eins,  sie  ist  seiner  geistigen  Natur  zu  materiell.  Wie  er 
sich  aber  mit  ihr  nicht  eins  wissen  kann,  sich  im  Unterschied 
von  ihr  einer  Dualität  von  Principien  bewusst  wird,  so  ist  auch 
sein  Wollen  ein  von  ihr  verschiedenes,  ihr  reagirendes,  V.  18. 
Er  ist  daher  nicht  blos  der  denkende  und  wissende,  sondern 
auch  der  wollende,  in  Gemässheit  seiner  Natur  sich  practisch 
bestimmende  Geist;  aber  diese  practische  Seite  des  voO;  steht  in 
einem  sehr  ungleichen  Verhältniss  zu  der  theoretischen.  Der 
voO;  will  zwar  das  Gute;  aber  es  fehlt  seinem  Wollen  an  aller 
Energie  und  Realität,  es  ist  nur  ein  unkräftiges  inhaltsleeres 
Wollen,  welches  das,  was  es  will,  nie  durch  die  That  realisiren 
kann,  was  nur  darin  seinen  Grund  hat,  dass  die  capE  auch  dem 
voO?  gegenüber  das  über  alles  übergreifende,  die  ganze  Richtung 
des  Menschen  bestimmende  Princip  ist.  Trotz  aller  Versuche, 
die  der  vou?  macht,  mit  seinen  Willensregungen  die  Macht  der 
ffap^  zu  brechen,  sich  aus  ihrer  Knechtschaft  zu  emancipiren, 
kann  er  doch  das  Band  dieser  Abhängigkeit  nie  völlig  lösen, 
und  bleibt  somit  in  letzter  Beziehung  doch  nur  ein  Accidens  an 
der  Substanz  der  oapE. 

Da  der  voO;,  so  geistig  er  im  Übrigen  seiner  Natur  nach 
ist,  es  doch  nicht  weiter  zu  bringen  vermag,  als  zu  solchen 
immer  wieder  in  sich  selbst  zurückgehenden  Velleitäten,  wie 
sie  der  Apostel  V.  18  —  21  beschreibt,  so  ist  in  ihm  schon  der 
höchste  Punkt  der  paulinischen  Anthropologie  erreicht,  und  der 
principielle  Gegensatz  zu  der  materiellen  «rap^  liegt  überhaupt 
nicht  mehr  in  der  Sphäre  des  Menschlichen,  sondern  nur  in  dem 
göttlichen  7:vsai7-a,  das  sich  auch  zu  dem  vou;  schlechthin  trans- 
cendent  verhält.  Dadurch  erst  erhält  der  Mensch  die  Fähigkeit, 
der  Macht  der  <jxpc,  zu  widerstehen,    und  alles,  was  von  ihr 


Paulin.  Lehrbegriff.     Nou?  und  nveufji«.  147* 

ausgeht,  zu  überwinden.  Psychisches  und  Pneumatisches  setzt 
daher  der  Apostel  1  Cor.  15,  45  f.  so  entschieden  einander  ent- 
gegen, dass  schon  daraus  erhellt,  wie  wenig  er  der  mensch- 
lichen Natur  ein  ihr  an  sich  immanentes  pneumatisches  Princip 
zuschreiben  kann.  Wenn  er  auch  von  einem  menschlichen 
7n>sO|jLa  spricht,  so  hat  diess  keine  weitere  Bedeutung  für  seinen 
eigentlichen  Begriff  vom  TrvsOp-a.  Dass  er  dem  Menschen  auch 
ein  zu  seiner  Natur  gehörendes  7:vsG[jt.a  zuschrieb,  ist  klar,  wenn 
er  1  Cor.  2,  4  ausdrücklich  von  dem  7rv£Q[jt,(x  avOpwTrou  spricht. 
Aber  er  nennt  es  ja  auch  nur  das  Princip  des  Wissens  und 
Selbstbewusstseins,  es  ist  somit  dasselbe,  was  er  sonst  voO? 
nennt,  hier  aber  TrveOaa,  um  das  TuvsöiAa  OeoO  mit  dem  7uv£0[Aa 
Tou  avOpwTTou  zu  parallelisiren.  Wenn  auch  der  Apostel  das  zur 
Natur  des  Menschen  gehörende  geistige  Princip  nicht  blos  ^^yyi 
und  voO;,  sondern  auch  TCveufxa  nennt,  so  schreibt  er  doch  dem 
letztern  keine  der  Wirkungen  zu ,  als  deren  Quelle  er  nur  das 
göttliche  7rveO(Aa  betrachtet.  Diess  ist  auch  Gal.  5,  17  nicht  der 
Fall,  wo-  es  so  nahe  zu  liegen  scheint,  den  Widerstreit  von 
Geist  und  Fleisch  als  einen  der  Natur  des  Menschen  an  sich  im- 
manenten Antagonismus  aufzufassen.  Statt  den  dem  Fleisch 
widerstrebenden  Geist  in  den  Menschen  selbst  zu  versetzen, 
betrachtet  der  Apostel  vielmehr  Fleisch  und  Geist  als  zwei  über 
dem  Menschen  stehende  Mächte,  die  an  ihm  in  Conflict  mit  ein- 
ander gerathen  und  in  ihrem  Widerstreit  nur  darin  eins  sind, 
den  zwischen  sie  getheilten  Menschen  das,  was  er  will,  nicht 
thun  zu  lassen,  indem  immer  die  eine  der  andern  so  entgegen- 
wirkt, dass  der  Mensch  in  der  Mitte  zwischen  beiden  bei  jedem 
Willensact  auf  einen  Widerstand  stösst,  durch  welchen  sein 
-Wollen  und  Thun  völlig  neutralisirt  wird. 

Die  richtige  Bestimmung  des  Begriffs,  welchen  der  Apostel 
mit  dem  voO?  verbindet,  ist  nicht  blos  für  seine  Anthropologie 
überhaupt,  sondern  auch  für  die  Beantwortung  der  Frage  sehr 
wichtig,   ob  ihm  die  augustinisch -kirchliche  Lehre   von   dem 

10* 


'148  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

völligen  Unvermögen  des  Menschen  zum  Guten  zugeschrieben 
werden  darf.  Es  erhellt,  wie  aus  Anderem,  so  auch  aus  seiner 
Lehre  von  der  <yap^  und  dem  voOc,  dass  er  den  Menschen  nicht 
für  sündhaft  im  augustinischen  Sinne  halten  konnte.  Wenn 
nicht  blos  die  cap^,  sondern  auch  der  voi3?  zur  Natur  des  Men- 
schen selbst  gehört,  und  die  Thätigkeit  des  voO?  auch  nur  soweit 
auf  das  Gute  geht,  als  der  Apostel  es  ihm  zuschreibt,  so  ist 
diess  eine  wesentlich  andere  Anschauung  als  die  augustinische. 
Wollte  man  die  augustinische  Lehre  von  der  Sünde  auf  die  Auc- 
torität  des  Apostels  zurückführen,  so  müsste  man  vor  allem  was 
er  Rom.  7,  14  f.  vom  vou?  sagt,  so  verstehen,  wie  wenn  es  vom 
TTveujjia  gesagt  wäre.  So  nehmen  daher  theologische  Interpreten, 
wie  die  alten  lutherischen Dogmatiker  und  neuerdings  Philippi 
CCommentar  zum  Römerbrief  1848  —  52)  die  Stelle  Rom.  7, 14  f. 
Sie  können  sich  bei  der  alten  Streitfrage,  ob  die  Stelle  vom 
Status  irregenitonim  oder  regeuitorum  zu  verstehen  sei,  nur 
auf  die  Seite  der  letztern  stellen,  weil  sie  nicht  zugeben  können, 
dass  ein  Unwiedergeborener  so  viel  Gutes  habe,  als  der  Apostel 
ihm  zuschreibt,  während  doch  noch  weit  unbegreiflicher  ist,  wie 
in  dem  Wiedergeborenen  die  Sünde  noch  mit  solcher  Macht 
herrschen  soll,  dass  alles,  was  der  Apostel  V.  17—20  von  sich 
sagt,  von  ihm  gesagt  werden  kann.  Der  Wiedergeborene  wäre 
ja  so  auch  der  Unwiedergeborene.  Wie  viele  unnöthige  Er- 
örterungen hätte  man  sich  über  Rom.  7,  14  f.  ersparen  können, 
wenn  man  den  Unterschied  genauer  beachtet  hätte,  welchen  der 
Apostel  zwischen  voO;  und  xve0{7.a  macht.  Es  ist  gewiss  mit 
gutem  Bedacht  geschehen,  dass  er  in  dem  ganzen  Abschnitt 
nicht  von  dem  7rvsö{xa,  sondern  nur  von  dem  voü?  oder  dem  scw 
dfvOpwxo;  spricht.  Auch  V.  25,  wo  allein  die  Identificirung  des 
voO?  mit  dem  7rvsa;xa  einen  Anhaltspunkt  haben  könnte,  darf  man 
sich  dadurch  nicht  irre  machen  lassen.  Der  Apostel  kann  den 
Wunsch  nach  Erlösung  V.  24  nicht  aussprechen,  ohne  auch  der 
schon  erlheilten  Wohllhat  der  Erlösung  mit  lebhaftem  Dank  zu 


Panlin.  Lehrbegriff.     Sap5  nnd  vSfxos.  149 

gedenken,  er  spricht  aber  diesen  Dank  nur  aus,  um  im  Bewusst- 
sein  desselben  mit  apa  ojv  auf  den  zuvor  geschilderten  Zustand 
noch  einmal  zurückzublicken. 

Wenn  nun  aber  auch  der  Apostel  dem  Menschen  kein  völ- 
liges Unvermögen  zum  Guten  zuschreibt,  so  geht  doch  schon 
aus  dem  Bisherigen  klar  hervor,  dass  für  den  Menschen,  wie 
er  seiner  Natur  nach  zu  betrachten  ist,  das  SucaioCJaöai  i^  spytüv 
voixou  eine  reine  Unmöglichkeit  ist.  "Epya  v6[aou  können  nur 
solche  Werke  sein,  durch  welche  das  an  sich  Gute  geschieht, 
in  der  crap^  aber  wohnt,  wie  der  Apostel  Rom.  7,  18  sagt,  nichts 
Gutes,  und  wenn  die  höchste  geistige  Kraft,  die  der  Mensch  in 
dem  voO?  hat,  so  wenig  im  Stande  ist,  der  cap^  zu  widerstehen 
und  das  Übergewicht  über  sie  zu  gewinnen,  so  kann  es  auch 
nie  zu  etwas  an  sich  Gutem,  somit  auch  zu  keinen  epya  vojxou 
kommen.  Es  gibt  kein  SixaioOoOai  ic.  spy^v  vojaou,  weil  es  über- 
haupt keine  epya  voiaou  gibt,  sondern  wo  spy^  v6[jlou  sein  sollten, 
gibt  es  nur  Ipya  (japxo?.  Welcher  Art  aber  die  spya  der  cap^ 
sind,  sagt  der  Apostel  Gal.  5,  19  f.  Allein  es  handelt  sich  ja 
um  spya  vo^aoj,  um  Werke,  deren  bestimmendes  Princip  das 
Gesetz  ist.  Wie  verhält  sich  also  der  vofAo?  zu  der  cap^?  Ist  es 
nicht  der  v6[y.0(;,  welcher  auf  die  crap^  so  bestimmend  einwirkt, 
dass  durch  ihn  die  spya  «rapxö?  zu  epya  vojxou  werden?  Diess  ist 
aber  nach  der  Lehre  des  Apostels  so  wenig  der  Fall,  dass  durch 
die  ganze  Dialektik,  die  sich  zwischen  der  aoi.oc,  und  dem  vop? 
entspinnt,  die  Unmöglichkeit  des  St5tatoO(JÖat  e^  spytöv  v6(/.ou  nur 
um  so  klarer  herausstellt;  statt  der  Sixato(yuvyi,  die  das  Sixaiou<j6at 
e^  spytdv  v6(j.ou  zu  seinem  Resultat  haben  sollte,  kommt  nur  das 
Gegentheil  derselben,  die  a[y.apTia  zum  Vorschein,  ja  das  Gesetz 
selbst  wirkt  am  meisten  dazu  mit,  der  vojao?  ist  ja,  wie  der 
Apostel  1  Cor.  15,  56  sagt,  die  SuvatjAt;  tyJ?  dfWtpTtac.  Wie  ist 
diess  möglich?  An  sich  sollte  man  erwarten,  dass  das  Gesetz 
als  die  wirkende  Ursache  der  SaatoTJvr,  sie  auch  wirklich  her- 
vorbringt.   Ei  yap,  sagt  ja  der  Apostel  Gal.  3,  21,  iSoöyj  v6p.o? 


\ 


150  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

6  ^uva(;-£vo?  ^woTJOiTiaai,  ö'vTOi;  av  sx.  vojxou  v^v  -ti  3i)tato<Juv7i.  Wenn 
im  mosaischen  Gesetz  ein  solches  Gesetz  gegeben  wäre,  das  im 
Stande  ist,  lebendig  oder  selig  zu  machen,  so  käme  wirklich 
aus  dem  Gesetz  die  Gerechtigkeit.  Hierin  liegt  das  Doppelte, 
dass  es  an  sich  möglich  ist,  auf  dem  Wege  des  Gesetzes,  durch 
Werke  des  Gesetzes  gerechtfertigt  zu  werden ,  dass  aber  in  der 
Wirklichkeit  diess  keineswegs  der  Fall  ist.  Das  Gesetz  ist  nicht 
^uva[xsvo(;  ^tüOTCOi-naat ;  liegt  aber  die  Ursache  dieses  Unvermögens 
in  ihm  selbst  oder  ausser  ihm?  In  ihm  selbst  kann  sie  nicht 
liegen,  wenn,  wie  der  Apostel  selbst  sagt,  das  Gesetz  an  sich 
geistig  und  gut  ist.  Oi§a{/.6v  yap,  Öti  6  vojao;  7rv£u[j!,aTtx6?  ioTi, 
Rom.  7,  14.  vgl.  V.  12:  wots  6  {xsv  v6[xo?  ayio?  u.  s.  w.  Ist  also 
die  Ursache  jenes  Unvermögens  nur  ausserhalb  des  Gesetzes  zu 
suchen,  so  kann  sie  nur  in  dem  inadäquaten  Yerhältniss  liegen, 
in  welchem  die  Geistigkeit  des  Gesetzes  zu  der  Natur  des  Men- 
schen steht.  Dem  vojxoi;  irvsufAaTixö?  steht  die  oap^  des  Menschen 
gegenüber.  Daher  nun,  wie  der  Apostel  8,  3  sagt,  t6  ä^uvaxov 
Tou  v6(xotj,  ev  w  Tifföevsi  ^la  t^;  (7ap)c6?.  Die  für  das  Gesetz  statt- 
findende Unmöglichkeit,  das  zu  bewirken,  was  es  an  sich  be- 
wirken könnte,  hatte  darin  ihren  Grund,  dass  das  Fleisch  es 
unkräftig  machte,  an  dem  Widerstand  des  Fleisches  brach  sich 
die  Kraft  des  Gesetzes,  es  konnte  an  ihm  nur  in  seiner  Schwäche 
und  Unmacht  sich  zeigen. 

So  unwirksam  ist  aber  das  Gesetz  doch  nicht  in  seiner  Be- 
ziehung zu  der  «rap^,  es  hat  auch  seine  reelle  Wirkung,  nur 
wirkt  es  das  nicht,  was  für  das  ^i/taioOaÖai  gewirkt  werden 
sollte,  die  Si)tatoouvyi ,  sondern  vielmehr  die  äfy.apxta,  es  macht 
erst  die  Sünde  zu  dem,  was  sie  ist,  indem  man  erst  durch  das 
Gesetz  weiss,  was  Sünde  ist,  das  Bewusstsein  der  Sünde  kommt 
erst  aus  dem  Gesetz,  wo  aber  kein  Bewusstsein  der  Sünde  ist, 
ist  eigentlich  auch  keine  Sünde,  da  ja,  wie  der  Apostel  5,  13 
sagt,  ä|xapTia  oO>t  iXXoyeixai  \j.r,  ovto;  v6(J(.o'j,  vgl.  3,  20  Sti  v6(7.ou 
STCiYvuoi;  ä;xapTia{.   Wie  diess  geschieht,  entwickelt  der  Apostel 


Paalin.  Lehrbegriff.     Gesetz  und  Sünde.  15t 

Rom.  7,  5  f.,  wo  er  zuerst  sagt:  „Solange  wir  noch  das  vom 
Fleisch  beherrschte  Leben  führten,  waren  die  zu  Sünden  führen- 
den Leidenschaften,  als  durch  das  Gesetz  aufgeregt,  in  unsern 
Gliedern  wirksam,  um  für  den  Tod  Frucht  zu  tragen",  und  dann 
V.  7  die  Frage  aufwirft:  „Was  sage  ich,  ist  das  Gesetz  Sünde? 
Gewiss  nicht,  aber  die  Sünde  kannte  ich  nicht,  ausser  durch 
das  Gesetz,  und  von  der  Begierde  wusste  ich  nichts,  wenn  nicht 
das  Gesetz  gesagt  hätte,  du  sollst  nicht  begehren.  Indem  aber 
die  Sünde  davon  Ajilass  nahm,  bewirkte  sie  durch  das  Gebot  in 
mir  die  ganze  Begierde,  denn  ohne  das  Gesetz  ist  die  Sünde 
todt.  Ich  lebte  einst  ohne  das  Gesetz,  als  aber  das  Gebot  kam, 
lebte  die  Sünde  auf,  ich  fiel  dem  Tod  anheim  und  das  zum  Leben 
gegebene  Gebot  wurde  als  zum  Tode  führend  erfunden.  Denn 
die  Sünde  hat  nach  dem  genommenen  Anlass  durch  das  Gebot 
mich  verführt,  und  durch  dasselbe  getödtet.  Das  Gesetz  zwar 
ist  heilig  und  das  Gebot  ist  heilig,  gerecht  und  gut.  Ist  nun 
das  Gute  mir  zum  Tode  geworden?  Nein,  sondern  die  Sünde, 
damit  es  sich  zeige,  dass  die  Sünde  mir  durch  das  Gute  den  Tod 
bewirkt,  damit  die  Sünde  durch  das  Gebot  so  sündhaft  als  mög- 
lich werde"  C7  — 13).  Todt  also  oder  schlummernd  imBewusst- 
sein  ist  die  Sünde,  solange  noch  nichts  geboten  und  verboten 
ist,  weil  ohne  das  Bewusstsein,  dass  man  etwas  Verbotenes 
thut,  keine  Übertretung  möglich  ist.  Sobald  man  aber  weiss, 
was  man  thun  oder  nicht  thun  darf,  regt  sich  alsbald  auch  die 
Sünde,  sie  wacht  gleichsam  aus  ihrem  Schlummer  auf,  man 
wird  sich  der  Möglichkeit  bewusst,  etwas  zu  thun,  was  man 
nicht  thun  soll,  und  mit  dem  Bewusstsein  kommt  auch  der  Reiz, 
das  Verbotene  zu  thun;  ist  aber  einmal  die  Sünde  geschehen,  so 
kann  auch  das  Bewusstsein  nicht  ausbleiben,  dass  man  durch  sie 
dem  Tode  verfallen  ist,  welchen  das  Gesetz  auf  die  Sünde  folgen 
lässt. 

Zu  diesen  beiden  Momenten,  dass  man  1)  durch  das  Gesetz 
überhaupt  erst  weiss,  was  Sünde  ist,  und  2)  am  Gesetz  die  Sünde 


158  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

durch  das  nifimur  in  vetltxim  zur  wirklichen  That  wird,  kommt 
aber  3)  noch  hinzu,  dass  sich  am  Gesetz  der  Widerstreit  zwischen 
dem,  was  man  sein  soll  und  dem  was  man  wirklich  ist,  heraus- 
stellt. Das  Gesetz  ist  die  Norm  für  das  sittliche  Verhalten,  der 
absolute  Maasstab,  an  welchem  jeder  bemessen  kann,  wie  weit 
er  der  Idee  entspricht,  deren  Verwirklichung  das  Ziel  seines 
sittlichen  Strebens  sein  soll.  Bleibt  es  nun  in  so  vielen  Fällen 
auch  bei  dem  besten  Willen  bei  dem  blossen  Wollen,  bei  einem 
Wollen,  das  nie  zur  wirklichen  That  wird,  so  kann  man  sich 
nur  der  Schwäche  und  Unkräftigkeit  seines  Willens,  oder,  da 
die  Ursache  dieses  Unvermögens  im  Fleische  liegt,  seiner  Ab- 
hängigkeit vom  Fleisch  bewusst  werden.  Aber  auch  wenn  das 
sittliche  Wollen  und  Thun  der  Norm  des  Gesetzes  entspricht,  ist 
diese  Übereinstimmung  immer  nur  eine  sehr  relative,  und  es 
wird  immer  der  Fälle  weit  mehrere  geben ,  in  welchen  sie  nicht 
stattfindet.  Da  nun,  wie  der  Apostel  Gal.  3,  10  mit  der  Stelle 
5 Mos. 27, 26  sagt:  „Verflucht  ist,  wer  nicht  bleibt  in  allem,  was 
geschrieben  ist  im  Buche  des  Gesetzes,  so  dass  er  es  thut",  bei 
dem  Gesetze  alles  darauf  ankommt,  dass  es  in  allen  seinen  Be- 
stimmungen befolgt  wird,  alles  und  jedes  durch  die  That  ge- 
schieht, was  es  befiehlt  und  vorschreibt,  so  erhellt  schon  daraus, 
dass,  wie  der  Apostel  in  derselben  Stelle  sagt,  alle  welche  il, 
spytöv  v6[jt.ou  sind,  von  den  ^pya  v6(jt.ou  ausgehen,  sie  zum  Maas- 
stab ihres  sittlichen  Verhaltens  machen,  unter  dem  Fluche  sind. 
Es  gibt  bei  jedem ,  der  sein  sittliches  Verhalten  mit  der  Norm 
des  Gesetzes  zusammenhält  und  vergleicht,  so  Vieles,  worin  es 
so  weit  unter  derselben  zurückbleibt;  noch  weit  drückender 
aber  als  dieses  quantitative  Missverhältniss  muss,  weil  ja  doch 
nach  der  allgemeinen  Erfahrung  niemand  auf  absolute  Weise  so 
sein  kann,  wie  das  Gesetz  es  verlangt,  für  jeden  der  Gedanke 
sein,  dass  selbst  im  besten  Fall  immer  noch  ein  nie  getilgter 
Rest  bleibt,  eine  unausfüllbare  Kluft  zwischen  dem,  was  jeder 
nach  der  Norm  des  Gesetzes  sein  soll,  und  dem,  was  er  wirk- 


Paulin.  Lehrbegriff.     Gesetz  und  Sünde.  1^3 

lieh  ist.  Je  lebhafter  der  Mensch  dieses  unauflöslichen  Wider- 
streits nicht  blos  zwischen  Sollen  und  Sein,  sondern  auch 
zwischen  Sollen  und  Können  sich  bewusst  wird,  um  so  mehr 
kann  er  auch  nur,  in  dem  Zustand  eines  entzweiten  unglück- 
seligen Bewusstseins  mit  dem  Apostel  Rom.  7, 24  ausrufen:  „Ich 
unglückseliger  Mensch,  wer  wird  mich  erlösen  aus  dem  Leibe 
dieses  Todes",  d.  h.  aus  einem  Leibe,  der  als  crapE  die  Ursache 
des  Todes  ist,  als  <7api  a[;-apTia?  auch  den  Tod  in  sich  schliesst. 
Es  ist  diess  der  Punkt,  in  welchem  Judenthum  und  Christenthum 
sich  am  nächsten  und  unmittelbarsten  berühren,  aber  auch  der 
äusserste  Punkt,  über  welchen  das  religiöse  Ich  des  Judenthums 
nicht  hinauskommen  kann.  Daher  ergibt  sich  aus  allem  zusam- 
men nur  das  Resultat,  das  der  Apostel  Rom.  3, 20  und  Gal.  2, 16 
mit  denselben  Worten  ausspricht:  Sioti  il,  s'pywv  vojxou  oO  ^ixaio)- 
OiQrfSTXi  TTöcora  Tap^.  Die  oapE  ist  die  Ursache,  dass  zwischen  den 
epya  vo^.ou  und  der  SixatoTuvT) ,  die  durch  das  SixatoufjOat  erreicht 
werden  soll,  ein  ewiges  Missverhältniss  bleibt,  und  das  zwischen 
dem  Menschen  und  der  Stjtatocruviri  stehende  Gesetz  ist  nur  die 
Form,  in  welcher  der  Mensch  dieses  Missverhältnisses  sich  be- 
wusst wird. 

Gibt  es  also  ein  nicht  zum  Tode,  sondern  zum  Leben  füh- 
rendes ^ixaioOcOat,  so  kann  es  nur  das  ^ty.atouTOai  iy.  TCiTTew? 
sein;  dass  es  bei  dem  ^ixatoOcOai  einzig  auf  den  Glauben  an- 
kommt, kann  der  Apostel  nicht  stark  genug  aussprechen.  Im 
Evangelium  Christi,  sagt  er  Rom.  1,  16,  wird  die  ^'aaio(Tuvyi 
6eoO  offenbar  iy.  ttittew;  et?  ttittiv,  d.  h.  als  eine  solche,  die  vom 
Glauben  zum  Glauben  geht,  am  Anfang  wie  am  Ende  auf  dem 
Glauben  beruht,  durch  und  durch  Glaube  ist.  Vgl.  Rom.  3,  22. 
Die  TüiTTt?,  die  das  Element  und  Princip  des  Siy.aiouTOat  ist,  ist 
die  TzirsTiq  'ItjtoO  XptTToO,  Gal.  2,  16,  xtUTtc  dv  Xpiarto  'IvitoO, 
Gal.  3,  26,  oder  bestimmter  Trbxi;  dv  xoi  aiaari  aÜToO,  Rom. 
3,  25,  was  der  Apostel  4,  24.  25  noch  genauer  explicirt  als  ein 
TTWTSusiv  u.  s.  w.    Was  die  spya  v6|j!.ou  nicht  bewirken  können, 


1  $4  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode.  ^ 

soll  der  Glaube  bewirken,  der  Glaube  muss  also  etwas  in  sich 
haben,  was  die  Werke  nicht  haben,  er  hat  es  aber  nicht  von 
sich ,  sondern  nur  von  dem ,  was  er  zu  seinem  Object  hat.  Was 
ist  aber  der  Glaube  selbst? 

Das  Wort  xitti;  hat  bei  Paulus  verschiedene  Bedeutungen. 
Nach  der  allgemeinsten  etymologischen  Bedeutung  ist  twittic,  von 
TTSiöeiv  abgeleitet,  1)  Fürwahrhalten,  Überzeugung  überhaupt. 
In  dieser  allgemeinen  Bedeutung  kommt  das  Wort  bei  Paulus 
nie  vor.  Wenn  aber  Gal.  3,  2  von  der  iricTi?  gesagt  wird,  sie 
komme  dE  axo^;,  so  liegt  darin,  dass  die  min?  etwas  äusserlich 
Gegebenes  zu  ihrer  Voraussetzung  hat.  Indem  das  Subject  sich 
dazu  receptiv  verhält,  ist  das  Erste,  das  bei  der  -Kiaxic  statt- 
, finden  muss,  dass  dieses  Gegebene  und  Vernommene  für  wahr 
gehalten  wird.  Auf  diesem  Wege  der  Entstehung  der  maxi; 
kann  ihr  Erstes  nur  das  Fürwahrhalten  sein,  und  das  Wort 
muss  daher  auch  diese  der  Etymologie  zunächst  entsprechende 
Bedeutung  haben.  2)  Specieller  ist  rndTi?  eine  nicht  durch  An- 
schauung erhaltene  Überzeugung,  die  Überzeugung  von  etwas 
Übersinnlichem,  das  kein  Gegenstand  der  unmittelbaren  An- 
schauung ist.  In  diesem  Sinne  ist  2  Cor.  5,  7  Sia  st^ou;  Tcepi- 
waTeTv  der  Gegensatz  zu  ^la  Tcicmtfn;  TcepiTraTsiv.  Daran  knüpft 
sich  3)  die  to<jti?  als  religiöse  Überzeugung  1  Cor.  2,  5.  2  Cor. 
1,  24  und  sonst  sehr  oft.  Die  religiöse  Überzeugung  hat  nach 
dem  Apostel  ihren  Grund  in  dem  Vertrauen  auf  die  Wahrheit 
der  göttlichen  Offenbarungen  und  Verheissungen.  Daher  4)  die 
wt(m?  als  Gottvertrauen,  wie  Rom.  4,  17  — 21.  Da  dem  neuen 
Testament  als  wirklicher  Glaube  nur  der  christliche  Glaube  gilt, 
so  ist  eine  der  häufigsten  Bedeutungen  von  rnoxi?  5)  der  christ- 
liche Glaube,  Religion  in  subjectivem  und  objectivem  Sinne,  wie 
Rom.  3,  22.  1  Cor.  15,  14.  Gal.  1,  23.  Das  Unterscheidende 
der  christlichen  Religion  ist  aber  nach  paulinischer  Lehre  das 
Vertrauen  auf  die  Gnade  Gottes  in  Christus.  Diess  ist  daher 
j63  die  eigenthümlich  paulinische  Bedeutung  der  msTi^,  wie  das 


Paulin.    Lehrbegriff.     Der  Glaube.  155 

Wort  immer  genommen  werden  muss,  wenn  von  der  Rechtferti- 
gung die  Rede  ist.  Als  Gegenstand  des  Glaubens  in  diesem 
Sinne  wird  die  Gnade  Gottes  im  Allgemeinen  bezeichnet,  Gal. 
2,  16.  3,  22,  der  Tod  Jesu  Rom.  3,  26.  Gal.  2,  20,  oder  auch 
seine  Auferstehung  Rom.  4,  24.  10,  9.  Eine  specielle  Anwen- 
dung ist  es,  wenn  Rom.  14,  1.  22  f.  maxie  gebraucht  wird,  um 
die  aus  dem  christlichen  Gottvertrauen,  dem  Besitz  des  recht- 
fertigenden Glaubens  hervorgehende  Freiheit  und  Sicherheit  des 
religiösen  Bewusstseins  zu  bezeichnen. 

Schon  aus  diesen  zum  Begriff  der  rtcrTt;  und  ihrer  Wort- 
bedeutung gehörenden  Bestimmungen  geht  hervor,  in  welchen 
entschiedenen  Gegensatz  sich  der  Apostel  zum  Judenthurn  setzt. 
Dem  Judenthum  ist  sein  religiöser  Werth  genommen,  wenn 
seine  spya  vojxod  nichts  mehr  gelten,  und  sein  v6[/.o?  alle,  die  i^ 
epywv  vofAoi»  sind,  in's  Verderben  bringt.  Es  kommt  daher  nicht 
auf  das  an,  was  der  Mensch  Ihut,  sondern  nur  auf  das,  was  er 
glaubt  und  worauf  er  vertraut,  nicht  auf  das,  was  als  sein  Werk 
ihm  zugerechnttt  wird,  sondern  nur  auf  das,  was  er  als  ein 
reines  Geschenk  der  Gnade  erhält.  Im  Glauben  verhält  er  sich 
nur  soweit  selbstthätig,  als  er  das  ihm  Dargebotene  in  sich  auf- 
nimmt und  festhält.  So  entschieden  _aber  der  Apostel  in  seinem 
Glaubensprincip  mit  dem  Judenthum  als  der  Gesetzesreligion 
gebrochen  und  sich  auf  einen  ganz  entgegengesetzten  Stand- 
punkt gestellt  hat,  so  ist  doch  dieser  Bruch  kein  so  radicaler, 
dass  nicht  die  Grundanschauung,  auf  welcher  die  neue  Recht- 
fertigungstheorie des  Apostels  beruht,  eine  wesentlicl»  jiidische 
wäre.  Nicht  nur  ist  Jesus,  als  der  im  alten  Testament  ver- 
heissene  und  in  der  jüdischen  Nation  erschienene  Messias  das 
Object  des  Glaubens,  der  Y£v6{Aevo?  i/,  (mi^^xroq  z^aui^  /taxa 
'jxpx.a  Rom.  1,  2,  das  aizi^^y.  Abrahams  Gal.  3,  16,  der  zweite 
Adam,  sondern  es  hat  auch  die  Bedeutung,  welche  die  Theorie 
des  Apostels  dem  Tode  Jesu  gibt,  ihren  Grund  in  einem  von 
dem  Judenthum  als  der  Gesetzesreligion  genommenen  Begriff. 


Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

Es  sind  aber  auch  bei  der  Hauptthese  des  Apostels,  dass  der 
Mensch  Sijcatoöxai  iy.  xittsci);,  mehrere  Gesichtspunkte  zu  unter- 
scheiden: 1)  der  thatsächliche,  2)  der  anthropologische  und 
3)  der  religionsgeschichtliche. 

1)  Der  thatsächliche  Gesichtspunkt  betrifft  den  Tod  Jesu 
als  die  Thatsache,  von  welcher  der  Apostül  ausgeht.  An  dem 
Tode  Jesu  hängt  dem  Apostel  alles,  er  ist  die  Grundanschauung, 
^ie  den  Inhalt  seines  christlichen  Bewusstseins  bildet,  die  That- 
sache, die  bei  allem  Andern  vorausgesetzt  werden  muss.  Einen 
grössern  Beweis  der  Liebe  Gottes  gibt  es  ja  nicht,  als  dass 
Christus  für  uns  gestorben  ist,  Rom.  5,  8.  Um  diesen  thatsäch- 
lichen  Charakter  des  Christenthums  recht  anschaulich  und  con- 
cret  zu  bezeichnen,  nennt  der  Apostel  das  Christenthum  geradezu 
den  (TTaupö?  toO  XpiiTToO,  oder  den  Xoyo?  toO  (jTaupoO,  1  Cor. 

'1,  17  f.  Er  kann  sich,  wie  er  selbst  sagt  1  Cor.  2,  2,  Christus 
nicht  anders  denken,  als  unter  der  Anschauung  seines  Kreuzes, 
will  von  ihm  nur  wissen ,  als  dem  i<TTaupw[j!.svO(;.  Das  Unmittel- 
barste, was  dem  Tode  Jesu  diese  hohe  Bedeutung  gibt,  ist,  dass 
durch  ihn  gerade  das  bewirkt  wurde,  was  das  Gesetz  nicht  be- 
wirken konnte.    Sind  alle,  welche  il,  spywv  v6[xou  sind,  unter 

'dem  Fluch,  so  ist  es  Christus,  welcher  uns  von  dem  Fluch  des 
Gesetzes  losgekauft  hat,  indem  er  für  uns  zum  Fluch  wurde. 
Gal.  3,  10  f.  Es  ist  hier  der  Punkt,  wo  die  beiden  einander 
gegenüberstehenden  Standpunkte  und  Theorien  am  unmittelbar- 
sten in  einander  eingreifen.  Die  eine  ist  der  Gegensatz  der 
andern  und  doch  treffen  beide  in  demselben  Begriff  zusammen. 
Warum  hat  Christus  uns  vom  Gesetz  losgekauft,  warum  den 
Fluch  auf  sich  genommen,  mit  welchem  das  Gesetz  alle  belegt, 
die  nicht  alles  und  jedes  thun,  was  es  verlangt?  Warum  ist  das, 
was  Gott  den  Menschen  zu  theil  werden  lassen  wollte,  Sünden- 

*  Vergebung  und  Leben,  ihnen  nicht  frei  und  unmittelbar  ertheilt 
worden?   Offenbar,  weil  das  Gesetz  in, seinem  Rechte  war,  seine 

•l'orderung  nicht  unbeachtet  bleiben  durfte,  dem  Begriff  der  Ge- 


\ 


Paiilin.  Lehrbegriff.     Der  Tod  Christi.  157 

rechtigkeit,  auf  welchem  das  Gesetz  beruht,  Genüge  geschehen 
musste.  Es  musste  also  doch  geschehen,  was  auch  bei  den  spy^ 
v6[y.ou  hätte  geschehen  müssen,  nur  geschah  es  auf  andere  Weise. 
Der  Fluch  dos  Gesetzes  wurde  nicht  an  denen  selbst  vollzogen, 
die  ihn  verdient,  sondern  an  ihrer  Stelle  an  Jesus.  Sein  Tod 
war  gleichsam  der  Kaufpreis,  um  welchen  sie  freigegeben  wur- 
den, ein  Äquivalent,  bei  welchem,  wie  bei  einem  Opfer,  das 
Eine  für  das  Andere  gegeben  wird;  es  findet  beides  zugleich 
statt,  Gnade  und  Gerechligkeit,  Gnade,  weil  nicht  die  Schuldi- 
gen selbst  gestraft  werden,  und  Gerechtigkeit,  weil  die  Sünde 
auch  so  nicht  ungestraft  bleibt.  In  diesem  Sinne  nennt  der 
Apostel  den  Tod  Jesu  ein  HxaTripiov  Rom.  3,  21  f.,  ein  Sühnopfer, 
und  zwar  zum  Erweis  seiner  Gerechtigkeit,  welche  auf  die 
Schuld  der  Sünde  auch  die  Strafe  der  Sünde  folgen  lässt.  Dieser 
Gerechtigkeit  Gottes  musste  dadurch  Genüge  geschehen,  dass 
die  Strafe  der  Sünde  auch  w^irklich  gebüsst  wurde.  Der  Tod  ist 
daher  eine  zur  Versöhnung  Gottes  geschehene  Genugthuung. 
Doch  ist  diess  nicht  so  zu  verstehen,  wie  wenn  Gott  an  sich 
hätte  versöhnt  werden  müssen.  Wenn  auch  das,  was  in  Be- 
ziehung auf  die  Gerechtigkeit  Gottes  durch  den  Tod  Christi  ge- 
schehen musste,  eine  Aufhebung  des  Zornes  Gottes  ist,  Rom. 
5,  9,  und  insofern  eine  Versöhnung  Gottes  mit  den  Menschen 
genannt  werden  kann,  so  ist  dabei  doch  immer  diess  festzuhalten, 
dass  nur  Gott  der  Versöhnende,  die  Versöhnung  mit  sich  durch 
Christus  bewirkende  ist,  ösö;  sv  XpioTö  xogixov  x.xTxklxacoi'^ 
sauTtS  2  Cor.  5,  19.  Wir  haben  die  Versöhnung  empfangen, 
sagt  der  Apostel  Rom.  5,  10.  11,  sind  versöhnt  worden  mit  Gott 
durch  den  Tod  seines  Sohns  als  iyP^oi  ovts?,  was  nicht  von  der 
Feindschaft  Gottes  gegen  die  Menschen,  sondern  der  Feindschaft 
der  Menschen  gegen  Gott  zu  verstehen  ist.  Die  gnädige  Gesinnung 
Gottes  gegen  die  Menschen  ist  die  Voraussetzung,  unter  welcher 
sie  allein  in  ein  anderes  Verhältniss  zu  Gott  gesetzt  werden 
können,  so  dass  es  demnach  nur  noch  Sache  der  Menschen  ist, 


IHp  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

von  ihrer  Feindschaft  gegen  Gott  abzustehen,  und  die  Gesinnung, 
welche  Gott  auch  in  seinem  Zorn  über  die  Sünden  der  Menschen 
immer  gegen  sie  hatte,  und  durch  den  Tod  Christi  thatsächlich 
beurkundet  hatte,  in  die  ihrige  übergehen  zu  lassen,  oder  nach- 
dem Gott  vermöge  seiner  gnädigen  Gesinnung  die  Welt  mit  sich 
in  Christus  versöhnt  hat,  sich  auch  wirklich  mit  ihm  versöhnen 
zu  lassen.    2  Cor.  5,  20. 

Wie  der  Tod  Christi  in  Beziehung  auf  Gott  genugthuend  ist, 
so  ist  er  in  Beziehung  auf  die  Menschen  stellvertretend.  Dass 
Christus  ÜTrep  //[xcov  gestorben  ist,  ist  der  gewöhnlichste  Aus- 
druck, mit  welchem  die  Bedeutung  seines  Todes  für  die  Menschen 
bezeichnet  wird.  Aus  der  Präposition  uTrep  kann  zwar  für  sich 
der  Begriff  der  Stellvertretung  nicht  abgeleitet  werden,  aber 
ebensowenig  ist  er  davon  auszuschliesscn.  Beide  Begriffe,  das 
für  die  Menschen  und  das  an  ihrer  Stelle  Geschehene  gehen  in 
einander  über.  Unter  so  vielen  Stellen,  in  welchen  von  Christus 
gesagt  wird ,  er  sei  ^la  xa  xapaTrrwjiaTa  löfJ^wv  gestorben ,  oder 
•jrepl  Töv  ajxapTitov  •^•/.öv,  oder  ursp  tüv  ai/,apTto>v  "^[xdiv,  Rom. 
4,  25.  5,  6.  8,  3.  Gal.  1,  4.  1  Cor.  15,  3,  enthält  2  Cor.  5,  15 
am  deutlichsten  den  Begriff  der  Stellvertretung.  Der  Apostel 
zieht  aus  dem  Satz:  el;  Oxsp  xdtvTwv  otTriöavev,  die  unmittelbare 
Folgerung:  apa  ot  xavTS?  äxeöavov.  Er  ist  nicht  blos  für  sie 
gestorben,  sondern  auch  an  ihrer  Stelle,  als  der  Eine  an  der 
Stelle  Vieler,  welche  ebendarum,  weil  er  für  sie  starb,  ihre 
Stelle  vertrat,  nicht  selbst  wirklich  gestorben  sind,  sondern  in 
ihm,  ihrem  Stellvertreter,  nur  als  gestorben  betrachtet  werden. 
Was  an  Christus  geschehen  ist,  ist  objectiv  an  allen  geschehen. 
Die  Idee  der  Stelle  ist  eine  durch  das  Princip  der  Liebe  V.  14 
vermittelte  Einheit  Christi  mit  uns,  vermöge  welcher  das,  was 
er  für  uns  gethan  hat,  ebensoviel  ist,  wie  wenn  wir  es  selbst 
gethan  hätten;  wie  er  in  seinem  Tode  sich  mit  uns  identificirt 
und  als  für  uns  sterbend  sich  an  unsere  Stelle  gesetzt  hat,  so 
müssen  auch  wir  uns  an  seine  Stelle  denken  und  als  mit  ihm 


Panlin.  Lehrbegriff.     Der  Tod  Christi.  IM 

gestorben  betrachten.  Diese  Einheit  des  Ineinanderseins,  in 
welchem  der  Eine  in  dem  Andern  lebt,  wir  mit  Christus  ge- 
kreuzigt sind,  weil  er.  für  uns  gekreuzigt  ist,  wir  in  ihm  leben, 
weil  er  in  uns  lebt,  Gal.  2,  20,  ist  der  acht  paulinische  Begriff 
der  Stellvertretung.  Diess  ist  daher  auch  die  richtige  Bedeutung 
der  Präposition  uTcip.  Es  ist  nicht  das  vage  allgemeine  Für,  das 
bei  allem  Möglichen  stehen  kann,  sondern  der  Ausdruck  des 
innigsten  unmittelbaren  Eingehens  in  den  Andern  und  des  sich 
Versetzens  in  seine  Stelle  0» 

Im  Begriff  der  Stellvertretung  liegt  zweierlei,  dass  der 
Eine,  welcher  die  Stelle  Anderer  vertreten  soll,  dasselbe  ist, 
was  sie  sind,  aber  auch  mehr  als  sie,  etwas  hat,  was  sie  nicht 
haben,  was  aber  ihn  fähig  macht,  ihre  Stelle  zu  vertreten.  Ist 
Christus  für  die  Sünden  der  Menschen  gestorben,  so  rauss  er 
selbst  ohne  Sünde  gewesen  sein,  damit  sein  Tod,  der  für  ihn 
selbst  kein  Opfer  sein  konnte,  für  die  Strafe  der  Sünden  Anderer 
gelten  konnte.  Es  ist  daher  nur  die  Entwicklung  des  Begriffs 
der  Stellvertretung,  wenn  der  Apostel  V.  24  sagt,  Gott  habe 
den,  der  von  keiner  Sünde  wusste  als  seiner  eigenen  That,  für 
uns  zur  Sünde  gemacht,  d.  h.  zu  einem  mit  der  Sünde  behafteten 
Subject,  und  somit  auch  zu  einem  solchen,  an  welchem  die 
Sünde  zu  bestrafen  ist.  Um  aber  auf  diese  Weise  die  Sünden 
der  Menschen  in  sich  zu  repräsentiren,  musste  er  selbst  ein 
Mensch  sein,  wie  die,  deren  Stelle  er  vertreten  sollte,  nur 
konnte  er  in  dem  Eineu  ihnen  nicht  gleich  sein,  das  für  sie  alle 
das  Gemeinsame  war,  in  der  Sünde.  Wenn  er  also  auch  eine 
(lap^  hatte,  so  konnte  sie  doch  keine  «rap^  a[jLapTtx<;  sein,  sondern 
nur  ein  oaottojAa  «ixpxo;  ä|xxpTia;.  Indem  Christus  wurde,  wie 
die  Menschen  waren,  eine  ajxapTia,  ein  Subject  der  Sünde, 
wurden  sie  durch  ihn  von  der  i^jx^rix  frei,  der  Strafe  der  Sünde, 
was  die  negative  Bedingung  der  ^uaioi'jvT)  9eoO  war.   So  machte 


1)  Vgl.  Zeitschr.  für  wies.  Theol.    2.  Bd.    1859.    8.  225.  '^ 


160  Zwc  iter  Abscbn  i  tt.     Erste  Periode. 

ihn  Gott  zur  äfxapxia,  damit  wir  würden  ^tx.atoauviri  OeoO  ev  aOrtS, 
Subjecle  dieser  Si)cato(juvyi.  Diess  ist  also  das  Thatsäcbliche, 
worauf  das  Suaioucöai  ex  TrtdTsw;  beruht.  Um  des  Todes  Christi 
willen  werden  die  Sünden  nicht  zugerechnet.  Das  [xti  XoYi^eiOat 
ist  die  aipsct;  ä|xapTiöv,  als  acsßy,?  wird  der  Mensch  ein  SiJtaio;, 
so  angesehen  und  behandelt,  wie  wenn  er  ohne  Sünde  wäre. 
Die  Bedingung  dieses  St/.aiouv  tov  dcaeß-^  ist  auf  der  Seite  des 
Menschen  der  Glaube,  dem  Glaubenden  >.0Yt(^STai  in  tciotk;  auToG 
et?  Si/catoouvYiv.  Im  Glauben  nimmt  der  Mensch  das  Object  des 
Glaubens  in  sich  auf,  wird  mit  ihm  eins,  was  also  Christus  ist, 
wird  in  seinem  Theil  auch  er.    Vgl.  2  Cor.  5,  19.  Rom.  4,  5. 

2)  Bei  dem  anthropologischen  Gesichtspunkt  ist  der  Haupt- 
begrifF  wieder  die  cap^.  In  Stellen,  in  welchen  der  Apostel,  wie 
namentlich  Rom.  6,  6  f.  8,  3,  die  practischen  Folgerungen  aus 
der  Thatsache  des  Todes  Jesu  zieht,  liegt  der  Nerv  seiner  Ar- 
gumentation darin,  dass  Christus  um  der  Sünde  willen  ev  aapKt 
gestorben  sei.  Die  aap^  und  die  ä.^x^xLx  werden  in  einem 
solchen  Verhältniss  zu  einander  gedacht,  dass  was  von  der  einen 
gilt,  auch  von  der  andern  gelten  muss.  Ist  also  in  dem  Tode 
Jesu  die  oap^  vernichtet,  so  ist  in  der  aap^  auch  der  Sünde  die 
Wurzel  ihrer  Existenz  abgeschnitten,  ihr  die  Basis  ihres  Daseins 
genommen.  Dabei  kommt  es  aber  ganz  darauf  an,  in  cap^  die 
Grundbedeutung  des  Leibs  festzuhalten,  ohne  sie  ist  es  nicht 
möglich,  sich  die  Anschauung  des  Apostels  klar  zu  machen. 
Tholuck  erklärt  Rom. 8, 3  so:  er  vollzog  in  derjenigen  Sphäre, 
aus  welcher  die  Schwächung  des  Gesetzes  hervorgieng,  in  der 
sündlichen  Menschennatur  auch  das  Verdammungsurtheil.  Unter 
aap^  sei  die  sündliche  Menschennatur  zu  verstehen,  welche 
Christus  auch,  obwohl  nur  xa6'  6{xoi(i>p.a  besass;  in  derselben 
Menschennatur,  welche  der  Sünde  diente,  habe  auch  die  Sünden- 
herrschaft gebrochen  werden  sollen.  Wie  soll  man  sich  aber 
diess  denken,  wenn  nicht  für  den  vagen  Ausdruck  r>die  sündliche 
Menschennatur "  sogleich  xler  klare  und  bestimmte  Begriff  des 


Paulin.  Lehrbegriff.     Der  Tod  Christi.  161 

Leibes  gesetzt  wird  ?  Daraus  ergibt  sich  unmittelbar,  dass  unter 
xaTSxptvs  nichts  anderes  verstanden  werden  kann,  als  die  Tödtung 
des  Leibs.  In  dem  Tode  Christi  widerfuhr  dem  Leib,  was  er  als 
Sitz  und  Princip  der  Sünde  verdiente,  die  Vernichtung  durch 
den  Tod,  ebendamit  ist  aber  auch,  da  der  Leib  das  Princip  der 
Sünde  ist,  die  Sünde  selbst  in  dem  Tode  Christi  principiell  ver- 
nichtet worden.  Daher  heisst  es  auch  Rom.  8,  3  xaTexptve  TYiV 
aaapxiÄV,  nicht  dv  t^  dapkl  aÜToG,  sondern  schlechthin  und  all- 
gemein £v  Tij  capxt. 

Das  auf  diese  Weise  an  dem  Leib,  als  dem  Princip  der 
Sünde,  in  dem  Tode  Christi  schlechthin  und  allgemein  oder  prin- 
cipiell Geschehene  ist  für  den  Apostel  die  Voraussetzung  aller 
Argumentationen,  in  welchen  er  das  ethische  Sollen  in  Hinsicht 
der  Sünde,  der  Pflicht,  ihr  abzusterben,  als  ein  factisches  Ge- 
storbensein und  ebendamit  als  Sache  der  unabweisbaren  Noth- 
wendigkeit  darstellt.  .Das  faclisch  Geschehene  wird  sodann  von 
dem  Apostel  unter  den  Gesichtspunkt  eines  rechtlichen  Verhält- 
nisses gestellt.  So  lange  die  aapE  lebt,  hat  sie  das  Recht,  von 
allen,  auf  die  sich  ihre  Herrschaft  erstreckt,  zu  verlangen,  dass 
sie  das  thun,  was  der  natürliche  Gegenstand  ihres  Strebens  ist, 
dass  sie  der  Sünde  dienen.  Da  nun  aber  die  cap^  in  dem  Tode 
Christi  vernichtet  worden  ist,  so  ist  mit  ihremi  Tode  auch  das 
Recht  der  mit  ihr  wesentlich  identischen  Sünde  erloschen.  'O  yap 
dtTJoOavwv  SeSixaiwrai  axo  Tri?  ä[y.apTia?,  6,  7.  Denn  wenn  einer 
einmal  gestorben  ist,  so  kann  die  Sünde  keinen  Rechtsanspruch 
mehr  an  ihn  machen.  Einen  solchen  kann  sie  nur  machen ,  so 
lange  die  orap^,  mit  welcher  sie  selbst  wesentlich  eins  ist,  exi- 
stirt.  Ist  aber  in  dem  Tode  Christi  die  capE  so  ertödtet,  dass 
sie  zu  sein  aufgehört  hat,  und  sind  in  diesem  Tode  alle,  die  an 
Christus  glauben,  als  mit  ihm  gestorben  anzusehen,  so  haben 
alle  diese  als  aTroÖavovTS?  mit  der  Sünde  schlechlhin  nichts  zu 
thun.  Mit  der  dap^  ist  für  sie  jede  Beziehung  zur  Sünde  prin- 
cipiell aufgehoben,  sie  geht  sie  schlechthin  nichts  mehr  an.   Was 

B  B  u  r ,  neutest.  Theol.  *  * 


IjBÜ  Zweiter  Absch  n  itt.     Erste  Periode. 

ist  also  klarer,  als  die  Forderung  ultoxIti  Sou>,eusiv  rp,a<;  tyS  a|ju!tp- 
Tia?  Rom.  6, 6.  Und  auf  was  anderem  beruht  diess  unmittelbarer, 
als  auf  dem  xaT-apyviBfivai  t6  Gtoy.a  r/);  a[j.apTia;,  und  dieses  selbst, 
was  kann  es  anders  zu  seiner  Voraussetzung  haben,  als  das  6,  6 
in  derselben  streng  logischen  Gedanken  folge  stehende  GuvecTau- 
pcoGy)?  Wie  die,  die  an  Christus  glauben,  mit  ihm  eins  sind, 
so  sind  sie  auch  mit  ihm  gestorben,  und  wie  er  selbst  das  xaxa- 
xpivstv  n^v  dj;-apTtav  sv  t-^  <jap/.l  nur  dadurch  vollziehen  konnte, 
dass  er  leiblich  starb,  so  sind  somit  auch  die  an  ihn  Glaubenden 
leiblich  gestorben  und  haben  in  dem  Tode  des  Leibs  die  Sünde 
principiell  in  sich  aufgehoben  oder  den  alten  Menschen,  den 
psychischen,  sarkischen,  mit  ihm  gekreuzigt.  Mit  Tholuck  sich 
hier  die  Sünde  als  einen  Gläubiger  vorzustellen,  der  an  den  alten 
Menschen  gewisse  Forderungen  macht,  von  welchen  der  neue 
befreit  ist,  ist  nicht  der  richtige  Gesichtspunkt.  Die  einfache 
Anschauung  ist  das  Recht  der  capE,  so  lange  der  mit  ihr  identische 
Leib  lebt,  der  Sitz  und  das  Princip  der  Sunde  zu  sein.  Dabei 
fragt  sich  freilich  noch,  wie  dieses  Recht  der  ä^-apria  auf  die 
<Tap^  in  der  capE  Christi  aufgehoben  sein  kann,  wenn  doch  die 
capE,  Christi  selbst  keine  cap^  äfAapxia?  war?  In  jedem  Fall  hat 
diese  anthropologische  Anschauung  dieselbe  Bedeutung,  wie  die 
auf  den  juridischen  Begriff  der  Stellvertretung  gegründete,  und 
wenn  diess  bisher  nicht  ebenso  beachtet  worden  ist,  so  hat  es 
nur  in  der  Unbestimmtheit  der  Vorstellung  seinen  Grund,  die  man 
sich  gewöhnlich  von  der  cap^  im  paulinischen  Sinne  macht.  Nach 
der  einen  Anschauung  wie  nach  der  andern  ist  der  Mensch  durch 
die  Vermittlung  des  Glaubens  mit  dem  gestorbenen  Christus  so  sehr 
eins,  dass  das  ihn  mit  der  Sünde  verknüpfende  Band  als  gelöst, 
somit  er  selbst  als  ^(xaio;  anzusehen  ist. 

Dem  Tode  Christi  als  der  objectiven  Thatsache,  auf  welcher 
die  Rechtfertigung  beruht,  setzt  der  Apostel  auch  die  Auferstehung 
Christi  zur  Seite  Rom.  4,  25.  Was  sonst  dem  Tode  Christi  für 
sich  zugeschrieben  wird,  ist  zwischen  Tod  und  Auferstehung  so 


i 


Paalin.  Lehrbegriff.     Tod  und  Auferstehung  Christi.     163 

getheilt,  dass  dem  Tod  nur  das  Negative  zukommt,  die  Hinweg- 
räumung der  Sündenschuld,  der  Auferstehung  die  auf  dem 
Grunde  derselben  geschehene  Gerechterklärung,  oder  der  Tod 
Christi  bezieht  sich  auf  das  Thatsächliche,  die  Aufhebung  der 
Schuld,  und  die  Auferstehung  auf  das  darüber  ausgesprochene 
Urtheil  Gottes.  Tod  und  Auferstehung  gehören  so  zusammen, 
dass  die  durch  den  Tod  bewirkte  Sixaicoct;  durch  die  Auferstehung 
vollendet  ist,  sofern  Gott  Christus  nicht  auferweckt  haben  könnte, 
wenn  er  nicht  durch  die  Auferstehung  hätte  erklären  wollen, 
dass  die  ^i/taiwTi?  durch  den  Tod  geschehen  sei.  Unbestimmt 
werden  2  Cor.  5,  15  Tod  und  Auferstehung  zusammengenannt. 
Wenn  dagegen  Rom,  6,  4  gesagt  wird,  wie  Christus  von  den 
Todten  erweckt  ist,  sollen  auch  wir  in  einem  neuen  Leben  wan- 
deln, so  erhellt  aus  dem  Folgenden,  dass  sich  der  Apostel  dieses 
neue  Leben  durch  das  Hineinleben  in  die  Auferstehung  Christi, 
das  Gu;x<pi>Tov  Yiyovsvat  t/^;  ävacTaTso); ,  vermittelt  dachte.  Ähn- 
lich verhält  es  sich  Rom.  6,  8  mit  dem  Zusammenhang  der  Auf- 
erstehung Christi  mit  der  einstigen  unsern.  Aus  Rom.  8,  1  f. 
ist  zu  sehen,  dass  der  uns  inwohnende  Lebensgeist  des  Auf- 
erstandenen unsere  Auferstehung  vermitteln  soll.  Nehmen  wir 
hiezu  die  Stellen  Rom.  5,  10.  8,  34.  1  Cor.  15,  12-22.  2  Cor. 
4,  14,  so  ergibt  sich  als  die  paulinische  Lehre:  Durch  die  Auf- 
erstehung Christi  ist  nicht  blos  seine  göttliche  Sendung  beglau- 
bigt, sondern  auch  Christus  selbst  befähigt  worden,  mittelst 
seiner  Vertretung  bei  Gott  unsere  Rechtfertigung  und  mittelst 
der  Aussendung  seines  Geistes  unser  neues  Leben  zu  be- 
wirken. Diess  hängt  jedoch  schon  mit  einer  andern  Ideenreihe 
zusammen. 

3)  Der  Apostel  stellt  sich  auch  hier  wieder  auf  den  religions- 
geschichtlichen Standpunkt.  In  dem  ganzen  Gang  der  Entwicklung 
der  Menschheit  ist  es  objectiv  begründet,  dass  der  Weg  des 
Heils  nicht  das  SixaiouTÖai  ic  spytov  vofxoi»,  sondern  das  SixaiouGÖai 
£5c  :ri<iT£c.)?  ist.   Er  will  nicht  blos  der  These  des, Itidenlhums  seine 

11  * 


164  Zweiter  A  bschn  itt.     Ers  t  e  Pe  riode. 

Antithese  gegenüberstellen,  sondern  auch  die  Wahrheit  seiner 
Behauptung  auf  eine  dem  religiösen  Bewusstsein  des  Juden  selbst 
einleuchtende  Weise  darthun.  Diess  kann  nur  dadurch  geschehen, 
dass  er  auf  das  alte  Testament  zurückgeht,  um  an  der  dem  Juden 
im  alten  Testament  objectiv  gegebenen  Geschichtsanschauung 
nachzuweisen,  dass  das  Gesetz  und  alles,  was  mit  ihm  zusammen- 
hängt, nicht  die  absolute  Bedeutung  hat,  die  ihm  der  Jude  gibt, 
sofern  es  zwar  eines  der  Momente  ist,  durch  die  sich  der  allge- 
meine Gang  der  Entwicklung  hindurchbewegt,  diese  aber  ihre 
untergeordnete,  secundäre  Bedeutung  nur  so  lange  haben,  bis  sie 
selbst  wieder  durch  die  höhere,  nach  ihnen  kommende  Ordnung 
negirt  und  aufgehoben  werden.  So  schroff  daher  der  Gegensatz 
des  Apostels  zum  Gesetz  und  Judenthum  ist,  so  will  er  es  doch 
keineswegs  blos  schlechthin  negiren,  sondern  vielmehr  nur  als 
das,  was  es  wesentlich  ist,  begreifen.  Begreift  man,  was  das 
Gesetz  im  Zusammenhang  der  alttestamentlichen  Offenbarung  ist, 
so  ist  ebendamit  der  von  dem  Apostel  verkündigte  Heilsweg  für 
das  religiöse  Bewusstsein  der  Juden  zurechtgelegt,  und  als  ein 
Resultat  der  geschichtlichen  Entwicklung  aufgefasst,  dasinder 
religiösen  Weltanschauung  des  Juden  durch  die  innere  Nothwen- 
digkeil  der  Sache  selbst  begründet  ist.  Für  diesen  Zweck  weist 
der  Apostel  Rom.  4,  1  f.  auf  Abraham  zurück.  Was  sollen  wir 
sagen,  dass  Abraham  unser  Vater  erlangt  habe  nach  dem  Fleisch, 
d.  h.  durch  das  äussere  an  seinem  Leibe  geschehene  Werk  der 
Beschneidung?  Denn  wenn  Abraham  durch  Werke  gerecht 
geworden  wäre,  so  hätte  er  etwas,  dessen  er  sich  rühmen  kann, 
allein  so  verhält  er  sich  nicht  zu  Gott,  die  Schrift  sagt  ja:  Abra- 
ham glaubte  Gott  und  es  wurde  ihm  zur  Gerechtigkeit  gerechnet. 
Indem  dem  Abraham  sein  Glaube  zugerechnet  wurde,  und  zwar 
solange  er  noch  unbeschnitten  war,  wurde  er  ein  Vater  aller, 
die  in  der  Vorhaut  glauben,  so  dass  auch  ihnen  die  Gerechtigkeit 
zugerechnet  wird.  Wir  sehen  also  schon  in  Abraham  den  Glau- 
ben über  dem  Gesetz  stehen. 


Paulin.  Lehibegriff.     Gesetz  und  Verheissung.       165 

Noch  mehr  aber  zeigt  sich  die  untergeordnete  Bedeutung 
des  Gesetzes  an  demjenigen,  was  der  Glaube  zu  seinem  Object 
hat.  Das  Object  des  Glaubens  ist  die  göttliche  Verheissung. 
Abraham  glaubte  an  die  ihm  gegebene  Verheissung.  Ihm  oder 
seinen  Nachkommen  wurde  der  Besitz  der  Welt  verheissen. 
Diesen  Besitz  sollten  sie  aber  nicht  durch  das  Gesetz,  sondern 
die  Glaubensgerechtigkeit  erhallen,  wie  es  der  Natur  der  Sache 
nach  nicht  anders  sein  konnte;  denn  wenn  sie  ihn  auf  dem 
Wege  des  Gesetzes  durch  Beobachtung  desselben  hätten  er- 
langen sollen,  so  hätten  ja  Glaube  und  Verheissung  gar  keine 
Bedeutung  gehabt,  der  Glaube  wäre  leer  gewesen,  er  hätte 
nichts  zu  seinem  Inhalt  und  Object  gehabt,  und  die  Verheissung 
wäre  aufgehoben  worden.  Denn  das  Gesetz  bewirkt  Zorn ,  d.h. 
das  Gegentheil  der  Gesinnung,  aus  welcher  die  Verheissung  her- 
vorgeht, weil  Gesetz  und  Sünde  correlate  Begriffe  sind,  so  dass, 
wo  kein  Gesetz  auch  keine  Übertretung  ist,  und  wo  Gesetz  auch 
Sünde  und  Strafe,  das  strafende  Missfallen  Gottes.  Weil  also 
das  Gesetz  hier  nichts  zu  thun  hat,  sollen  sie  den  Besitz  nicht 
auf  dem  Wege  des  Gesetzes,  sondern  des  Glaubens  erlangen, 
damit  sie  ihn  in  Gemässheit  der  Gnade  erlangen,  auf  dass  die 
Verheissung  ihre  Gültigkeit  hätte  für  alle  Nachkommen,  nicht 
blos  für  die  aus  dem  Gesetz,  sondern  auch  für  die  aus  dem  Glau- 
ben Abrahams,  welcher  der  Vater  ist  von  uns  allen,  wie  geschrie- 
ben steht:  ich  habe  dich  zum  Vater  vieler  Völker  gemacht,  vor 
Gott,  welchem  er  glaubte  als  dem,  der  die  Todten  lebendig 
macht,  und  was  nicht  ist,  in's  Dasein  ruft.  Das  Gesetz  kommt 
also  bei  allem  diesem  gar  nicht  in  Betracht. 

Dass  es  mit  dem  Gesetz  sich  so  verhält,  dass  es  im  Zusam- 
menhäng der  alttestamentlichen  Religionsverfassung  nur  eine 
untergeordnete  secundäre  Stellung  hat,  in  welcher  es  ebenso 
tief  unter  dem  Christenthum  steht,  als  unter  der  dem  Abraham 
gegebenen  Verheissung,  in  welcher  ja  nur  voraus  schon  ausge- 
sprochen   ist,   was  im  Christenthum    zu   seiner  vollen  Realität 


166  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode.  . 

kommen  sollte,  diess  zeigt  der  Apostel  Gal.  3,  6  f.  in  einer  Ar- 
gumentation, in  welcher  der  Apostel  auch  wieder  ausgehend  von 
der  Glaubensgerechtigkeit  Abrahams  und  seiner  Verheissung  als 
allgemein  anerkannte  Wahrheit  den  Grundsatz  voranstellt,  dass 
niemand  das  Recht  habe,  eine  rechtskräftige  Willensbestimnuing 
aufzuheben,  oder  etwas  zu  ihr  hinzuzuthun.  Gilt  diess  von  einer 
menschlichen,  so  muss  es  noch  mehr  von  einer  göttlichen  gelten. 
Dem  Abraham  nun  aber  sind  als  ein  Gotteswort  die  Verheissungen 
gesagt  und  seinem  Samen,  und  zwar  so  bestimmt  i^  (J7:ep[y.a'n 
aÜToO,  dass  sie  nur  auf  Christus  gehen  können.  Diese  in  Be- 
ziehung auf  Christus  gegebene  Willensbestimmung  kann  daher 
nicht  durch  das  erst  nachher  gegebene  Gesetz  ungültig  gemacht 
werden,  so  dass  die  Verheissung  aufgehoben  würde.  Aufgehoben 
wäre  nämlich  die  Verheissung;  denn  obgleich  auch  das  Gesetz  Segen 
verheisst,  so  dass  die,  welche  das  Gesetz  halten,  ein  Erbtheil  zu 
erwarten  haben,  so  ist  doch  diese  xXyipovojy-ta  oder  Seligkeit  for- 
mell eine  ganz  andere.  Kommt  die  x>.yipovo[y-ia  aus  dem  Gesetz, 
so  ist  sie  durch  die  Beobachtung  des  Gesetzes  bedingt,  kann  also 
immer  nur  soweit  zu  Theil  werden,  als  das  Gesetz  wirklich  ge- 
halten wird,  und  da  das  Gesetz  immer  nur  so  mangelhaft  gehalten 
wird,  so  ist  die  x>,vipovo[xta  iy.  v6[i.ou  so  gut  wie  keine,  während 
dagegen  die  Seligkeit  in  Folge  der  Verheissung  auch  eine  völlig 
freie,  an  keine  Bedingung  gebundene  ist,  sie  ist  nur  Sache  der 
Gnade.  Als  eine  Seligkeit  in  diesem  Sinne  wollte  aber  Gott  dem 
Abraham  die  ihm  verheissene  ertheilen,  ebendesswegen  weil  sie 
Si'  i'KX'ffz'kixc,  >iej(^ipi<7Tat  V.  18. 

Aber  was  soll  denn,  diese  Frage  dringt  sich  hier  auf,  das 
Gesetz,  so  betrachtet,  noch  sein?  Neben  der  Verheissung  kommt 
es  ja  gar  nicht  in  Betracht,  steht  sogar  in  Widerstreit  mit  ihr. 
Die  Hauptanlwort,  die  der  Apostel  daraufgibt,  ist  in  dem  Satze 
V.  19  enthalten:  töv  xapaßdcdswv  yapiv  etsOt),  die  in  Übertretun- 
gen sich  äussernde  Sünde  habe  erst  am  Gesetz  ihren  Verlauf 
inebmen  müssen.    Da  diess  kein  absoluter  Zweck  sein  kann,  so 


Paulin.  Lehrbegriff.     Gesetz  und  Verheissung.      167 

ist  schon  hiemil  gesagt,  dass  das  Gesetz  nur  eine  relative,  für 
eine  bestimmte  Periode  gellende,  blos  vermittelnde  Bedeutung 
hat.  Mit  dieser  steht  es  zwischen  der  Verheissung  und  der  Er- 
füllung mitten  inne,  und  was  es  in  dieser  Stellung  wesentlich  ist, 
wird  nun  durch  die  Begriffe  des  ij-sctitti?  und  des  TraiSaytoYÖ? 
näher  bestimmt.  Dass  das  Gesetz  von  Hause  aus  einen  rein  ver- 
mittelnden Charakter  hat,  weist  der  Apostel  an  der  Art  und 
Weise  nach,  wie  es  gegeben  wurde,  nicht  unmittelbar  von  Gott, 
sondern  durch  Engel  als  untergeordnete  Mittelwesen  und  durch 
Moses,  von  welchem  Lev.  26,  46.  Deut.  5,  5  gesagt  wird,,  dass 
er  bei  der  Gesetzgebung  mitten  inne  stand  zwischen  Gott  und 
den  Kindern  Israel.  In  diesem  Sinne  war  also  Moses  ein  [/.efftTYi?; 
zum  Begriff  eines  solchen  jj-e(iiTin<;  aber  gehört  es,  dass  er  zwischen 
zwei  gleichsam  getheilt  keine  über  den  Gegensätzen  stehende 
Einheit  ist.  Denselben  Charakter  eines  [>.t(sknq  trägt  nun  auch 
das  Gesetz  an  sich,  sofern  es  nach  der  einen  Seite  der  Verheis- 
sung, nach  der  andern  der  Erfüllung  gegenübersteht  und  so  in 
seiner  nach  zwei  Seiten  hin  getheilten  und  auseinandergehenden 
Stellung  nur  dazu  da  ist,  Verheissung  und  Erfüllung  auseinander- 
zuhalten. Aber  nur  auf  dem  untergeordneten  Standpunkt  des 
Gesetzes  treten  so  Verheissung  und  Erfüllung  in  der  ganzen  Weite 
ihres  Unterschieds  auseinander,  in  Gott  ist  dieser  Unterschied 
nicht,  er  ist  selbst  die  Einheit  der  Verheissung  und  Erfüllung, 
sofern  es  für  ihn,  den  stets  sich  selbst  gleichen  und  mit  sich 
identischen  keines  solchen  Verheissung  und  Erfüllung  erst  durch 
den  Unterschied  vermittelnden  Moments  bedarf,  wie  das  Gesetz 
für  die  Menschen  ist.  Wenn  nun  das  Gesetz  zwischen  Verheis- 
sung und  Erfüllung  so  dazwischen  tritt,  wie  wenn  es  nur  dazu 
da  wäre,  beide  auseinanderzuhalten,  so  muss  man  fragen,  verhält 
es  sich  so  negativ  zu  den  Verheissungen,  dass  es  sogar  im  Wider- 
spruch zu  ihnen  steht,  und  die  Heilszwecke  Gottes,  statt  sie 
zu  befördern,  vielmehr  hintertreibt?  In  Widerspruch  käme  das 
Gesetz   mit   den  Verheissungen,   wenn  die  Seligkeit,   die   als 


168  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

Gegenstand  der  Vtifrheissungen  auch  nur  eine  Folge  derselben 
sein  soll,  durch  das  Gesetz  gegeben  würde.  Dann  könnte  man 
sagen:  wozu  die  Verheissungen,'^wenn  man  das,  was  sie  ver- 
heissen,  auch  ohne  sie  erhallen  kann?  Wozu  eine  Swcaioauvr,  U 
TTiffTStt»?,  wenn  es  eine  ^wcaio(yuv7i  s^  epytüv  v6p-ou  gibt.  Allein 
ein  solcher  Widerspruch  findet  nicht  statt,  weil  es  keine  Stxato- 
(TuvY)  ix  vofAou  gibt,  und  eine  solche  gibt  es  nicht,  weil  kein 
Gesetz  gegeben  ist,  das  <iie  Kraft  hat,  selig  zu  machen. 

'  Eine  Sixaioeruv?)  ix  vofxou  gibt  es  so  wenig,  dass  vielmehr 
die  Schrift  schlechthin  alles  als  Sünde  zusammenfasst,  unter 
diesen  Begriff  stellt  und  darüber  nicht  hinausgehen  lässt,  d.  h. 
aus  der  Schrift  ist  zu  sehen,  dass  in  der  ganzen  Periode  der 
Herrschaft  des  Gesetzes  unter  Juden  und  Heiden  ohne  Ausnahme 
und  Unterschied  nur  die  Sünde  herrschte,  und  zwar  ist  diess 
geschehen,  damit  die  Verheissung  aus  dem  Glauben  Jesu  Christi 
gegeben  würde  den  Glaubenden.  Kann  durch  den  Gegensalz,  in 
welchem  das  Gesetz  zu  der  Verheissung  steht,  diese  selbst  nicht 
aufgehoben  werden,  erscheint  nicht  die  Verheissung  neben  dem 
Gesetz,  sondern  nur  das  Gesetz  neben  der  Verheissung  als  das 
Überflüssige,  so  muss  man  um  so  mehr  fragen,  was  das  Gesetz 
ist  und  wozu  es  überhaupt  da  ist.  Da  unter  dem  Gesetz  nur  die 
Herrschaft  der  Sünde  ist,  so  kann  das  Wesen  des  Gesetzes  nur 
aus  seiner  Beziehung  zur  Sünde  erklärt  werden,  und  da  der 
höchste  Endzweck  Gottes. nur  dahin  gehl,  die  Verheissung  in 
dem  Glauben  an  Christus  in  Erfüllung  zu  bringen ,  so  kann  auch 
das  Gesetz,  wenn  es  geschichtlich  begriffen  werden  soll,  in 
seiner  Beziehung  zur  Sünde  nur  dazu  dienen,  diesen  Übergang 
von  der  Verheissung  zur  Erfüllung  zu  vermitteln.  Nach  der  Ab- 
sicht Gottes  sollte  die  Verheissung  durch  den  Glauben  in  Erfüllung 
gehen,  aber  es  geschieht  diess  nicht  unmittelbar,  dem  Glauben 
gehen  das  Gesetz  und  die  Sünde  voran,  ehe  der  Glaube  kam, 
wurden  wir  unter  dem  Gesetz  wie  in  einem  Gefangniss  zusammen 
eingeschlossen  gebalten  auf  den  Glauben  hin,  welcher  erst  in 


Paulin.  Leh  rbegr  iff.     Der  v(5|xo(;  <:at8aY<»>Y0s.         169 

der  Zukunft  offenbar  werden  sollte.  So  ist  nun  das  Gesetz  unser 
Zuchtmeister  gewesen  bis  auf  Christus,  damit  wir  durch  den 
Glauben  gerechtfertigt  werden.  Alles  also,  was  das  Gesetz  in 
seiner  Stellung  zwischen  Verheissung  und  Erfüllung  ist,  ist  es 
als  v6[j!.o?  T^aiSaywYÖ?,  und  da  es  in  dieser  Stellung  als  ein  in 
diese  Entwicklungsreihe  gehörendes  Glied  selbst  nur  die  Bedeu- 
tung eines  vermittelnden  Moments  haben  kann ,  so  muss  es  eben 
in  dieser  Beziehung  der  v6(ji.o?  wai^aytoyo?  sein.  ii)«ii}  t:»b  \i».i 
Gewöhnlich  denkt. man  sich  die  Aufgabe  des  Gesetzes  als 
eines  Erziehers  in  dem  Sinne,  wie  wenn  das  Gesetz  durch  die 
Erweckung  des  innern  Bedürfnisses  der  Erlösung  auf  Christus 
hätte  hinführen  sollen.  Wenn  aber  der  vofxo;  ein  TraiSaywyo;  et? 
XpwTov  genannt  wird,  so  soll  durch  ei?  nur  die  bis  auf  Christus 
dauernde  pädagogische  Bestimmung  des  Gesetzes  ausgedruckt 
werden;  worin  aber  diese  besteht,  ist  damit  noch  nicht  gesagt. 
Auch  davon  kann  man  sie  nicht  verstehen,  dass  das  Gesetz  in 
dieser  Zwischenzeit  von  Übertretungen  zurückhalten  und  ihnen 
eine  Schranke  setzen  sollte.  Diess  wäre  nur  unter  der  Voraus- 
setzung möglich,  dass  auch  die  Worte  V.  f9  töv  7rapaßa<jetüv 
j^apiv  xpo<ieTe97i  in  diesem  Sinne  zu  nehmen  sind.  Da  aber  diess 
nicht  der  Fall  ist,  so  kann  auch  dem  v6{ao?  TcaiSaytoyö?  nur  eine 
jenen  Worten  entsprechende  Bedeutung  gegeben  werden.  Das 
Zuchtmeisteramt  des  Gesetzes  kann  nur  darin  bestehen,  dass  es 
dem  Menschen  die  Sünde  vorhält  und  zum  Bewusstsein  bringt, 
jedoch  nicht  um  durch  das  Sündenbewusstsein  das  Bedürfniss  der 
Erlösung  zu  wecken,  sondern  nur  um  den  Menschen  in  die  volle 
Wirklichkeit  der  Sünde  hineinzustellen,  und  ihn  von  ihrer  Macht 
so  umschlossen  und  gefangen  gehalten  werden  zu  lassen,  dass 
er  wie  gebannt  aus  dem  vom  Gesetz  um  ihn  gezogenen  Kreis 
nicht  herauskommen  kann.  Wenn  man  nun  auch  es  sich  nicht 
anders  denken  kann,  als  dass  dem  Menschen  in  diesem  Zustand 
das  Gefühl  der  Erlösungsbedürftigkeit  erwacht,  so  schreibt  doch 
der  Apostel  diess  nicht  der  Wirksamkeit  des  Gesetzes  zu.    Unlei* 


"170  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

dem  Gesetze  befindet  sich  der  Mensch  nur  im  Zustand  der  Ge- 
fangenschaft und  der  Unfreiheit,  er  fühlt  sich  durch  das  Gesetz 
beengt  und  gedrückt,  wie  der  Knabe  durch  die  Disciplin  und  den 
Ernst  des  Pädagogen.  Dieser  pädagogische  Zustand  unter  dem 
Gesetz  hört  erst  auf,  wenn  der  Glaube  als  neues  Moment  in 
diese  Entwicklungsreihe  eintritt.  Da  nun  in  dem  Glauben  sich 
nur  verwirklicht,  was  an  sich  schon  in  derVerheissung  enthalten 
ist,  der  Glaube  nur  die  erfüllte,  die  realisirte  Verheissung  ist, 
so  ist  das  zwischen  beiden  stehende,  sie  auseinander  haltende 
und  vermittelnde  Gesetz  eines  dieser  drei  Momente,  so  stellen 
sich  die  drei:  Verheissung,  Gesetz  und  Glaube  von  selbst  in  ihrem 
Verhältniss  zu  einander  unter  den  Gesichtspunkt  eines  in  seinen 
bestimmten  Momenten  verlaufenden  Entwicklungsprocesses.  Das 
Gesetz  muss  zuvor  dazwischen  treten,  weil  die  Zeit  noch  nicht 
da  ist,  in  welcher  die  sTrayYsXta  in  der  ttwjti;  in  Erfüllung  geht, 
und  die^Zeit  hiezu  ist  desswegen  nicht  da,  weil  auch  in  der  reli- 
giösen Entwicklung  der  Menschheit  im  Grossen,  wie  im  Leben 
des  einzelnen  Menschen  alles  seine  bestimmte  Zeit  hat.  Diese 
Ansicht  liegt  schon  der  Vergleichung  des  Gesetzes  mit  einem 
Pädagogen  zu  Grunde.  Wie  der  Pädagog  dem  Knaben  dazu  bei- 
gegeben ist,  um  ihm  in  der  Periode  seiner  Unmündigkeit  und 
UnSelbstständigkeit  das  vorzuhalten,  was  er  thun  oder  lassen 
soll,  so  ist  auch  die  Gesetzesperiode  diejenige,  in  welcher  die 
Menschheit  in  ihrer  Abhängigkeil  vom  Gesetz  sich  gleichsam 
noch  im  Zustand  des  Knabenalters  befindet.  Abhängigkeit  ist  so 
viel  als  Unfreiheil  und  Knechtschaft.  Gesetz  und  Glaube  ver- 
halten sich  zu  einander,  wie  Knechtschaft  und  Freiheit,  oder 
wie  sich  der  Sklave  zum  Sohn  und  Erben  des  Hauses  verhält. 

Auch  dieses  Verhältniss  sieht  der  Apostel  iii  Abraham  vor- 
gebildißt,  in  seinen  beiden  Söhnen  Ismael  und  Isaak.  Jener,  der 
Sohn  der  Sklavin,  der  geborene  Sklave,  stellt  das  Gesetz  in  sich 
dar,  weil  das  Gesetz  den  Menschen  nur  in  ein  unfreies  Verhält- 
niss zu  Gott  setzen  kann.     Isaak,  der  von  der  freien  Sara  und 


Paulin.  Lehrbegriff.     Sxotye^a  tou  >coa[iou.  ITl 

noch  überdiess  in  Folge  einer  besondern  göttlichen  Verheissung 
Geborene  ist  der  Typus  der  Christen  als  der  ts/,v7.  t-^c  i-Kx^yzlixc. 
Der  Eine  ist  Sohn  im  eigentlichen  äussern  Sinn,  der  andere  im 
uneigentlichen  höhern  geistigen,  und  die  Mütter  dieser  beiden 
Söhne  repräsentiren  die  beiden  Religionsverfassungen,  die  Hagar 
das  jetzige  Jerusalem,  die  Sara  das  obere  himmlische.  Dieses 
obere  Jerusalem  ist  als  das  freie  unsere  Mutler,  sofern  wir  als 
Christen  uns  in  unserm  christlichen  Bewusstsein  frei  vom  Gesetz 
wissen.  In  Beziehung  auf  die  Galater,  die  zuvor  Heiden  waren, 
hebt  der  Apostel  noch  besonders  hervor,  dass  auch  ein  Erbe 
nicht  sogleich  im  vollen  Sinne  Erbe  sei,  sondern  solange  er  noch 
unmündig,  auch  nur  wie  ein  Sklave,  und  noch  unter  Aufsehern 
und  Verwaltern  steht.  Analog  ist  das  Gesetz  die  der  Unmündig- 
keitsperiode der  Menschheit  angehörende  Religionsform. 

In  demselben  Sinne  rechnet  der  Apostel  das  Judenthum  als 
Gesetzesreligion  zu  den  azoiysXy.  toO  >c6<y[A0'j.  Er  bezeichnet  mit 
diesem  Ausdruck  Gal.  4,  3,  wo  er  von  den  Galatern  sagt,  sie 
seien,  solange  sie  in  ihrem  vorchristlichen  Zustand  noch  un- 
mündig waren,  unter  die  rjxoiyzix  toQ  jtorraou  geknechtet  gewesen, 
zunächst  die  heidnische  Religion,  aber  auch  das  Judenthum 
rechnet  er  dazu,  wenn  er  V.  9  sich  darüber  wundert,  wie  die 
Galater  im  Begriff,  vom  Christenthum  zum  Judenthum  abzufallen, 
sich  zu  den  aTÖev?)  y,al  T:T(i>-/7.  CTOi^eia  zurückwenden  können. 
Die  aToi-/zix  to 0  xoajAOu  sind  die  physischen  Elemente  und  Sub- 
stanzen, als  Grundlage  der  heidnischen  Naturreligion;  so  sind 
die  (jToi5(^si:a  namentlich  die  Gestirne.  Auch  die  jüdische  Religion 
hat  in  so  Vielem,  in  ihren  Symbolen  und  Ceremonien,  in  ihren 
Festgebräuchen  und  Speisegesetzen,  in  so  manchen  Satzungen, 
wie  auch  in  ihrer  Beschneidung,  denselben  Naturcharakter.  Der 
Apostel  konnte  sie  nicht  tiefer  degradiren  als  durch  diese  Gleich- 
stellung mit  der  heidnischen.  Das  Natürliche,  Materielle,  Sinn- 
liche ist  in  beiden  so  sehr  die  Grundanschauung  und  das  Princip 
des  religiösen  Bewusstseins,  dass  der  Mensch  darin  noch  ganz 


1^1  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode, 

in  seinem  unfreien  Verhältniss  zu  Gott  sich  darstellt.  Er  hat 
noch  kein  geistiges  Goltesbewusstsein,  kennt  Gott  noch  nicht  als 
das,  was  er  wahrhaft  ist,  als  Geist.  Da  der  Apostel  diesen  Zu- 
stand der  Unfreiheit  auch  die  Periode  der  Unmündigkeit  nennt, 
Gal.  4,  3,  so  spricht  er  hiemit  selbst  die  Ansicht  aus,  der  Gang 
der  religiösen  Entwicklung  der  Menschheit  bringe  es  so  mit  sich, 
dass  der  Mensch  sich  zuerst  in  dem  Zustand  der  Abhängigkeit 
theils  von  der  äussern  materiellen  Natur,  theils  von  einer  solchen 
Macht,  wie  das  Gesetz  ist,  befindet,  und  erst  von  der  Natur  zum 
Geist,  von  der  Knechtschaft  zur  Freiheit  sich,  erhebt.  Das  Gesetz 
ist  selbst  ein  Moment  dieses  Entwicklungsgangs,  als  solches 
steht  es  nicht  sowohl  hemmend  als  vermittelnd  zwischen  der 
Verheissung  und  dem  Glauben.  Dieselbe  Periode  des  Gesetzes 
ist  es,  in  welcher  Sünde  und  Tod  die  in  der  Menschheit  herr- 
schenden Mächte  sind,  es  ist  die  von  Adam  repräsentirte  Seite 
der  Menschheit.  Von  dieser  aber  sagt  der  Apostel  1  Cor.  15, 46, 
dass  nicht  zuerst  das  Geistige,  sondern  das  Psychische  das  in  der 
Menschheit  wirkende  Princip  sei. 

Der  Apostel  unterscheidet  somit  überhaupt  zwei  grosse 
Entwicklungsperioden  der  Menschheit,  deren  Verhältniss  zu  ein- 
ander auf  dem  allgemeinen  Gegensatz  der  Principien  beruht,  die 
in  der  menschlichen  Natur  zu  unterscheiden  sind.  Das  Gesetz 
gehört  seinem  ganzen  Charakter  nach  der  ersten  Periode  an,  in 
welcher  der  Mensch  noch  in  der  Sphäre  des  materiellen  sinnlichen 
Lebens,  auf  der  Stufe  der  Abhängigkeit  und  Knechtschaft  sich 
befindet.  Erst  nachdem  diese  Periode  ihren  Verlauf  genommen 
hatte,  konnte  das  Christenthum  zu  der  ihm  bestimmten  Zeit  in 
die  Weltgeschichte  eintreten.  Als  das  TrX-yipwixa  der  Zeit  gekom- 
men war,  sagt  der  Apostel  Gal.  4,4,  sandte  Gott  seinen  Sohn. 
Durch  den  Sohn  Gottes  werden  auch  wir  Söhne  Gottes,  und  in 
Beziehung  darauf,  dass  wir  Söhne  sind,  hat  Gott  den  Geist  seines 
Sohns  in  unsere  Herzen  gesandt.  In  dem  Bewusstsein  also,  dass 
wir  Söhne  Gottes  sind,  nicht  Knechte  und  Unmündige,  wie  unter 


Paalin.  Lehrbegriff.     Gesetz  und  Freiheit.  173 

dem  Gesetz,  ist  erst  ein  wahrhaft  geistiges  Verhältniss  zwischen 
Gott  und  dem  Menschen  entstanden.  Obgleich  der  Apostel  im 
Christenthum  nur  etwas  Übernatürliches,  eine  unmittelbare  Ver- 
anstaltung Gottes  sieht,  so  bestrebt  er  sich  doch  recht  sichtbar, 
es  geschichtlich  zu  begreifen.  Alle  jene  Gegensätze,  aus  deren 
Gesichtspunkt  der  Apostel  das  Christenthum  betrachtet,  wie 
zwischen  Knechtschaft  und  Freiheit,  Unmündigkeit  und  Mündig- 
keit, Sünde  und  Gnade,  Tod  und  Leben,  Fleisch  und  Geist,  dem 
ersten  und  zweiten  Adam,  schliessen  auch  die  Idee  eines  ge- 
schichtlichen Entwicklungsgangs  in  sich. 

Ebendarauf  bezieht  sich,  was  der  Apostel  Gal.  4,  4  sagt, 
Gott  habe,  als  die  Erfüllung  der  Zeit  gekommen,  seinen  Sohn 
gesandt,  geboren  von  einem  Weibe,  geboren  unter  dem  Gesetz, 
d.  h.  er  stellte  ihn  ganz  in  die  geschichtliche  Entwicklung  hinein, 
in  welcher  die  eine  Periode  in  die  andere  übergieng.  Daher  trug 
er  auch  noch  den  Charakter  der  ersten  Periode  an  sich.  Geboren 
wie  ein  Mensch,  stand  er  unter  dem  Gesetz;  auch  an  ihn  machte 
das  Gesetz  dieselbe  Forderung,  wie  an  alle  Menschen,  er  wurde 
sogar  zum  Fluch  des  Gesetzes,  aber  nur  um  die  Menschen  als 
frei  vom  Gesetz  zu  Söhnen  Gottes  zu  machen.  Wie  es  also  im 
Wesen  der  menschlichen  Natur  liegt,  dass  der  Mensch  vom  un- 
mündigen Knaben  und  Jüngling  zum  selbstständigen  reifen  Mann, 
vom  Unfreien  zum  Freien,  vom  Knecht  zum  Sohn  wird,  so  ist 
Christus  in  der  dazu  bestimmten  Zeit,  d.h.  in  der  Zeit,  in  welcher 
die  Menschheit  dazu  reif  geworden  war,  als  Sohn  in  sie  einge- 
treten. So  betrachtet  ist  das  Christenthum  nicht  blos  etwas  äus- 
serlich  in  die  Menschheit  Hereingekommenes,  sondern  eine  Stufe 
der  religiösen  Entwicklung,  welche  aus  einem  innern,  der 
Menschheit  immanenten  Princip  hervorgegangen  ist,  der  Fort- 
schritt des  Geistes  zur  Freiheit  des  Selbstbewusstseins,  in  deren 
Periode  er  erst,  wenn  er  die  Unfreiheit  und  Knechtschaft  über- 
wunden hat,  eintreten  kann. 

Aus  dem  Gesichtspunkt  desselben  Gegensalzes,  in  welchem 


1T4  Zweiter  Abaclinitt.     Erste  Periode. 

die  beiden  hier  charaklerisirten  Perioden  der  Entwicklungsge- 
schichte der  Menschheit  einander  gegenüberstehen,  sind  nun 
auch  die  beiden  das  SixaioOTOat  betreffenden  Sätze  zu  betrachten. 
So  tief  die  erste  Periode  unter  der  zweiten  steht,  so  negativ  sie 
sich  zu  ihr  verhält,  in  demselben  Verhältniss  steht  das  ^ixaioO- 
(j0ai  i^  epYwv  \6^.oi>  zu  dem  ^ixaiou(yGat  ix  tc^tsw?.  Wer  auf  der 
Stufe  des  christlichen  Bewusslseins  steht,  ist  über  die  Ipya  vojaou, 
als  einen  überwundenen  Standpunkt,  weit  hinweg,  die  Thatsache 
des  Todes  Christi  hat  ihn  von  den  Anforderungen  des  Gesetzes 
frei  gemacht ,  und  im  Glauben  an  diesen  Tod  ist  das  Princip  der 
Sünde,  die  am  Gesetz  erst  zu  ihrer  vollen  Realität  gekommen 
ist,  so  erlöiltet,  dass  er  sich  zu  Gesetz,  Fleisch  und  Sünde  völ- 
lig frei  verhält. 

Dass  der  Mensch  durch  Glauben  nicht  durch  Werke  ge- 
rechtfertigt wird ,  ist  demnach  der  aus  der  bisherigen  Entwick- 
lung sich  ergebende  Hauptsatz  des  Apostels.  Dieser  Satz  ist 
nun  zwar  in  seiner  thalsächlichen,  anthropologischen  und  reli- 
gionsgeschichtlichen Begründung  dargelegt  und  als  die  auf  die- 
sem dreifachen  Grunde  beruhende  Antithese  der  These  des  Ju- 
denthums  gegenüber  gestellt.  Es  bedarf  aber  gleichwohl  noch 
einer  genauem  Bestimmung,  um  das  Verhältniss  der  xigti?  zu 
dem  ^i/taiou-rOai  und  zu  den  epya  im  Sinne  des  Apostels  richtig 
aufzufassen. 

Geht  man  davon  aus,  dass  das  ^txaioOfjöai  ix.  xioreco;  auf 
dem  Punkt,  welcher  zunächst  zu  fixiren  ist,  wenn  man  den 
Process  desselben  nach  seinen  einzelnen  Momenten  betrachtet, 
ein  'koyOl.taBxi  ist,  sofern  dem  Glaubenden  lofl^txcti  lo  Tziarii  aü- 
ToO  ei;  Stxaioduvvjv ,  eine  Zurechnung,  bei  welcher  der  Mensch 
nur  so  angesehen  wird,  wie  wenn  er  etwas  hätte,  was  er  nicht 
wirklich  hat,  so  bleibt  zwischen  dem  Subject,  von  welchem  die 
SiJcaiocnSvY)  prädicirt  wird,  und  dem  Prädicat,  das  ihm  gegeben 
wird,  noch  ein  Missverhällniss  zurück,  über  das  sich  das  sitt- 
lich religiöse  Bewusstsein  noch  verständigen  muss.    Wenn  von 


Paulin.  Lehrbegriff.    AtxatoiJdOat  Ix  TtiiTew«.         175 

dein  ^ixaioOaöai  s^  ^pytov  v6[j!.ou  die  Rede  ist ,  so  wird  vorausge- 
setzt, dass  die  'ipyx  v6;i.ou  in  einem  adäquaten  Verhältniss  zu 
der  ^ty.ato(7uv7i  stehen,  beide  wie  Ursache  und  Wirkung  sich  zu 
einander  vei halten,  was  der  Apostel  Rom.  4,  4.  als  den  [;-ia66; 
des  epya^sGOat  und  als  das  oO  Xoyt^S'rOat  xara  /aptv,  sondern 
xaTÄ  ocpsiXyii^-a  bezeichnet.  Bei  dem  Si/.atoCicrOai  t/.  7r{<JTeto;  ist 
diess  nicht  ebenso,  und  doch  kann  auch  dabei  die  sittliche  Idee, 
die  dem  Si/aioufjöat  sE  epy.  v6[j(.ou  zu  Grunde  liegt,  nicht  aufge- 
geben werden.  Es  ist  dem  Apostel  sehr  darum  zu  thun,  die 
Idee  des  Sittlichen  auch  für  seine  Rechtfertigungstheorie  festzu- 
halten und  ihr  selbst  den  Begriff  des  vo^y-o?  zu  vindiciren.  Der 
höchste  Ausdruck  für  den  paulinischen  Begriff  der  Rechtferti- 
gung ist  daher  der  vojy.oi;  toO  xveujjiaTo?  to?  ^wyJi;,  Rom.  8,  2. 
Das  Gesetz  des  Geistes,  d.  h.  der  Geist  als  das  die  ganze  Rich- 
tung des  Menschen  bestimmende  Princip,  das  Princip  des  christ- 
lichen Bewusstseins  als  das  Lebensprincip  für  die,  die  im  Glau- 
ben an  Christus  nur  in  ihm  das  Princip  ihres  geistigen  Lebens 
haben  können,  hat  mich,  sagt  der  Apostel,  von  dem  Gesetz  der 
Sünde  und  des  Todes  befreit.  In  dem  •jrveOjj'.a  wird  erst  die  wicxt?, 
die  zwar  die  nothwendige  Voraussetzung  des  7rv£u[;.a  ist,  sofern 
man  das  rveuixa  e^  äxovj;  Tziarsoi^  erhält,  Gal.  3,  2,  die  aber  zu 
ihm  im  Grunde  sich  nur  verhält,  wie  die  Form  zum  Inhalt,  zur 
lebendigen  Wirklichkeit  des  mit  seinem  positiven  Inhalt  erfüllten 
christlichen  Bewusstseins.  In  ihm  vollendet  sich  daher  erst  der 
ganze  Rechtfertigungsprocess.  Das  wahrhaft  christliche  Sixatou- 
cöatist  nun  nicht  mehr  ein  ^i/catoOcöai  ix.  iriTTeo)?  in  dem  Sinn,  in 
welchem  dem  TrtTTSuwv  27:1  tov  ^txaio'jvra  tov  affsß-ii  seine  TCiaTt? 
nur  Xoyt^sTai  ei;  Si/taioirjv/iv,  wobei  das  Verhältniss  des  Gerecht- 
fertigten zu  Gott  immer  noch  auf  einer  blos  vorgestellten  Saaio- 
cuvY)  beruht,  sofern  er  als  ein  äasßiQ«;,  wie  er  an  sich  ist,  von  dem 
^uaiöv  nur  als  ein  Si^cato;  angesehen  und  dafür  erklärt  wird, 
sondern  es  ist  ein  wahrhaft  reelles  St/taiouGÖai ,  weil  er  in  dem 
vSixo*;  Tou  7tv£u[xaTo; ,  in  dem  7:v£ü(ji.a  als  dem  in  ihm  wirkenden 


178  Zweiter  Abschnitt.    Erste  Periode. 

Princip  in  der  Thal  und  Wahrheit  in  das  der  sittlichen  Idee  ent- 
sprechende Verhältniss  zu  Gott  gesezl  ist.  Was  in  dem  als  Ge- 
rechtigkeit angerechneten  Glauben  blos  noch  ein  äusseres  Ver- 
hältniss ist ,  ist  durch  die  Vermittlung  des  TTveOjxa ,  in  welchem 
Gott  seinen  Geist  den  Menschen  mittheilt,  in  welchem  als  dem 
Geiste  Christi  er  in  dem  Menschen  wohnt,  Rom.  8,  9,  ein  wahr- 
haft inneres  geworden,  ein  Verhältniss  des  Geistes  zum  Geist, 
in  welchem  der  Geist,  als  das  Princip  des  subjectiven  Bewusst- 
seins,  mit  seinem  objectiven  Grunde,  dem  Geiste  Gottes,  als  dem 
Geiste  Christi  sich  zur  Einheit  zusammenschliesst.  Das  ^i)caicop.a 
ToO  v6[A0'j,  der  sittliche  Gehalt  des  Gesetzes  als  die  sittliche 
That  des  Menschen,  ist  dadurch  erfüllt  und  realisirt,  dass  die 
Gerechtfertigten  nicht  nach  dem  Fleisch,  sondern  nach  dem 
Geist  wandeln,  welches  Wandeln  nach  dem  Geist  kein  e[X[/.eveiv 
dv  Tuadt  Toi;  'fs-(^o!.[j.^.i'^oi<;  u.  s.  w.  Gal.  3,  10  ist,  was  auch  so 
eine  stets  unmögliche  sittliche  Forderung  bleibt;  aber  an  die 
Stelle  dieser  blos  quantitativen  Gesetzeserfüllung  ist  die  quali- 
tative getreten,  welche  in  dem  Geist  als  dem  Princip  der  Ge- 
setzeserfüllung oder  des  sittlichen  Verhaltens,  in  der  Totalität 
der  Gesinnung  auch  die  Totalität  des  Gesetzes,  das  $i>ca(<i}{j(.a  tou 
vojxou  in  diesem  Sinne  hat.  Das  auf  diese  Weise  erfüllte  ^ixatwjjLx 
ToO  v6[7.ou  ist  die  in  dem  Menschen  realisirte  SixaioouvY)  öeoO, 
welche  als  die  Si)taio(Tuv7i  auch  die  ^wr)  ist,  und  das  SUaio;  ix 
TclcTTSw?  !^'/i<7STat,  woriu  der  Apostel  den  ganzen  Inhalt  seiner 
Rechtfertigungslehre  zusammenfasst,  ist  schon  jetzt  zur  Wahr- 
heit und  Wirklichkeit  geworden.   Rom.  8,  9—17. 

^  Der  Geist  ist  also  das  Band ,  in  welchem  in  der  Rechtferti- 
gung Gott  und  Mensch  eins  werden;  die  Voraussetzung  aber, 
unter  welcher  allein  dieses  Band  geknüpft  werden  kann ,  ist  der 
Glaube.  Der  Glaube  ist  daher  selbst  dieses  Band  und  was  vom 
Geist  gilt,  gilt  auch  vom  Glauben.  Der  Glaube  ist  das  Band 
einer  Lebensgemeinschaft  mit  Christus,  in  welcher  Christus  so 
in  uns  lebt,  dass  alles,  was  an  uns  nur  endlich  ist,  nur  unserem 


Paulin.  Lehrbegriff.    Glaube  und  Liebe.        ,       177 

selbstischen  Ich  angehört,  von  uns  abgethan  ist,  wir  nicht  mehr 
uns,  sondern  nur  ihm  leben,  Gal.  2,  20.  Das  Lehen  im  Glauben 
ist  sowohl  ein  Leben  im  Fleisch  als  das  Leben  Christi  in  uns,  der 
Glaube  als  das  Band  der  Einheit  mit  Christus  ist  das  Vermittelnde 
zwischen  dem  Einen  und  dem  Andern.  Was  dem  Glauben  diese 
Kraft  der  Einigung  mit  Christus  gibt,  ist  die  Liebe,  mit  welcher 
er  für  uns  gestorben  ist,  2  Cor.  5,  14.  Alles  Particuläre,  In- 
dividuelle, Selbstische,  ist  in  Christus  aufgehoben  zur  Allge- 
ineinheit  eines  geistigen  Princips  in  dem  Gedanken  an  seine  auf- 
opfernde hingebende  Liebe.  Wie  diese  Liebe  Christi  selbst  aus- 
geht von  der  Liebe  Gottes,  der  ihn  für  uns  sterben  Hess,  Rom. 
5,  5,  so  kann  sie  auch  in  uns  nur  Liebe  wecken ,  so  bald  sie 
durch  den  Glauben  in  uns  aufgenommen  ist;  der  Glaube  selbst 
aber  geht  in  Liebe  über  als  die  tcicti;  St'  ayaTTv;?  dvgpyoujxsvr,, 
Gal.  5,  6.  In  der  Liebe,  deren  Element  der  Glaube  von  Anfang 
an  in  sich  hat,  hat  er  auch  ein  acht  praktisches  Princip  in  sich. 
Was  er  als  Glaube  an  sich  ist,  muss  er  auch  praktisch  werden 
in  der  Liebe,  sie  ist  der  praktische  Glaube  selbst.  Die  Liebe  ist 
in  ihrem  Zusammenhang  mit  dem  Glauben  auch  darum  ein  wich- 
tiges Moment  des  paulinischen  LehrbegrifTs ,  weil  in  ihr  das 
durch  den  Tod  Christi  aufgehobene  Gesetz  nur  in  höherer  Be- 
deutung wieder  aufgenommen  wird.  Die  Liebe  ist  ja  der  ganze 
Inbegriff  des  Gesetzes,  in  ihr  wird  das  Gesetz  zum  Gesetz  Christi 
selbst.  Gal.  5,  14.  6,  2.  vgl.  1  Cor.  9,  21. 

Es  erhellt  schon  hieraus ,  dass  der  paulinische  Begriff  des 
Glaubens  nicht  zu  abstract  gefasst  werden  darf,  wenn  er  mit 
dem  ganzen  Zusammenhang,  in  welchem  der  Apostel  seine  Lehre 
als  den  Inhalt  seines  christlichen  Bewusslseins  entwickelt  hat, 
in  Übereinstimmung  gebracht  werden  soll.  Es  ist  diess  für  eine 
Frage  festzuhalten,  die  hier  weiter  in  Betracht  kommt.  Wenit 
der  Apostel  den  Werken  alle  rechtfertigende  Kraft  abspricht, 
und  die  Rechtfertigung  allein  auf  den  Glauben  gegründet  wissen 
will,  wie  kann  er  zugleich  ganz  allgemein  den  Satz  aufstellen, 

Baur,  neateat.  Theol.  |2 


178  Zweiter  AT>sc1ihitt.'  Erste  Periode, 

dass  Gott  jedem  nach  seinen  Werken  vergelten  will  Rom.  2, 6? 
Werden  hier  nicht  die  Werke  zu  dem  Glauben  und  zur  Recht- 
fertigung in  ein  ganz  anderes  Verhältniss  gesetzt,  als  nach  dem 
Bisherigen  stattzufinden  scheint?  Man  nimmt  es  gewöhnlich  mit 
der  Beantwortung  dieser  Frage  sehr  leicht  und  oberflächlich. 
Philippi  in  dem  Commentar  zu  d.  St.  glaubt  die  Lehre  von  der 
Glaubensgerechtigkeit  mit  der  Lehre  von  dem  Lohn  der  guten 
Werke  einfach  so  vereinigen  zu  können :  „Der  Glaube  macht  die 
Person  des  Sünders  gerecht,  die  gerechte  Person  kann  aber  nur 
gerechte  Werke  vollbringen.  Denn  was  den  Werken  der  durch 
die  Rechtfertigung  Wiedergeborenen  noch  Mangelhaftes  und 
Sündliches  anhaftet,  das  ist  durch  die  rechtfertigende  Gnade  be- 
deckt und  vergeben."  Sind  aber  die  Werke  so  mangelhaft,  dass 
das  Fehlende  erst  durch  die  Gnade  oder  den  Glauben  ergänzt 
werden  muss,  so  ist  klar,  dass  das  rechtfertigende  Moment 
nicht  in  den  Werken,  sondern  nur  im  Glauben  liegt.  Und  wie 
die,  die  gute  Werke  haben,  um  des  hinzukommenden  Glaubens 
willen  beseligt  werden ,  so  werden  die ,  die  böse  Werke  haben, 
nicht  um  dieser  Werke  willen ,  sondern  wegen  des  ihnen  feh- 
lenden Glaubens  willen  verdammt.  Auf  dasselbe  kommt  auch  die 
Antwort  Tholuck's  hinaus. 

Die  richtige  Antwort  kann  nur  dadurch  gegeben  werden, 
dass  man  sich  auf  den  Standpunkt  des  Gegensatzes  stellt ,  von 
welchem  der  Apostel  bei  seiner  Rechtfertigungstheorie  ausgeht. 
Die  Rechtfertigung  durch  den  Glauben  und  die  durch  die  Werke 
stehen  ihm  nicht  wie  zwei  verschiedene  Auffassungen  des  Chri- 
stenthums  einander  gegenüber,  sondern  wie  Christenthum  und 
Judenthum.  Das  ^uatoO^Oai  ic,  epytov  v6[ji.oi»  ist  für  das  Juden- 
thum  ebenso  charakteristisch  wie  das  SaaioOcOat  iy.  Trierrsw;  für 
'das  Christenthum.  Es  stehen  so  zwei  Rechtferligungstheorien 
einander  gegenüber,  von  welchen  die  eine  die  andere  geradezu 
ausschliessl.  Da  nun  an  diesem  Gegensatz  das  Verhältniss  des 
Cbristentbums  zum  Judenthum  bestimmt  werden  soll,  so  fasst 


PauHn.  Lelirbegriff.    Glaube  und  Werke.  179 

er  das  Judenthum  in  seiner  abstracteslen  Spitze  als  Gesetz  auf. 
Ist  das  Judenthum  schlechthin  Gesetz ,  so  ist  ihm  nach  der  Be- 
griffsbestimmung des  Apostels  Gal.  3,  10.  die  Befähigung  abge- 
sprochen, die  Menschen  in  ein  beseligendes  Verhällniss  zu  Gott 
zu  setzen.  Ist  aber  diess  nicht  ein  zu  abstracter  Begriff  und  eine 
zu  einseitige  Auffassung  des  Wesens  der  alttestamentlicben  Re- 
ligion? Das  alte  Testament  besteht  ja  nicht  blos  aus  gesetzlichen 
Geboten  und  Vorschriften ,  es  nimmt  selbst  darauf  Rücksicht, 
dass  die  Gesetzesgerechtigkeit  des  Menschen  nur  eine  unvoll- 
kommene ist,  dass  der  Mensch  ebendesswegen  auch  einer  Ergän- 
zung des  ihm  Fehlenden,  einer  Ausgleichung  dieses  Missver- 
hältnisses durch  die  göttliche  Gnade  und  Vergebung  bedarf.  Sieht 
der  Apostel  auch  in  diesem  Theil  der  alttestamentlicben  Reli- 
gions-Verfassung, den  Opfern  und  Versöhnungsanstalten,  nur 
Forderungen  des  Gesetzes,  Leistungen,  die  der  Mensch  selbst 
durch  sein  eigenes  Thun  nach  der  Vorschrift  des  Gesetzes  zu 
vollbringen  hat,  so  kann  man  freilich  das  sittliche  Thun  nur  in 
die  Befolgung  des  äusserlich  Gebotenen  setzen.  Auf  dieser  nie- 
drigen Stufe  steht  ja  aber  das  alte  Testament  nicht,  es  weiss 
selbst  recht  gut  von  der  Aeusserlichkeit  des  gesetzlichen  Thuns 
die  Gesinnung  als  das  Innere  zu  unterscheiden,  das  allein  dem 
Menschen  seinen  wahren  sittlichen  Werth  vor  Gott  gibt  und  über 
das  Mangelhafte  der  Geselzeswerke  hinwegsehen  lässt.  Schon 
dadurch  wird  das  schroffe  Verhältniss,  in  das  der  Apostel  das 
Judenthum  als  Gesetz  zum  Christenthum  setzt,  gemildert,  der 
Gegensatz  ist  nur  noch  ein  relativer,  es  gibt  nicht  blos  ^pYa 
v6[Aou,  bei  welchen  das  beigesetzte  v6[xou  nur  an  das  inadäquate 
Verhältniss  zum  Si-zcatoOcöai  erinnern  soll,  sondern  auch  ^-{<x., 
welchen  nach  der  Gesinnung,  aus  welcher  sie  hervorgehen,  der 
innere  sittliche  Werth  nicht  schlechthin  abgesprochen  werden 
kann.  Geht  doch  der  Apostel  selbst  über  das  Judenthum  als 
blosse  Gesetzesreligion  hinaus,  wenn  er  schon  in  Abraham  das 
Vorbild  der  Glaubensgerechligkeit  sieht.     Wie  einseitig  ist  es 

12  * 


180  Zweiter  Abschnitt.    Erste  Periode. 

daher,  die  alttestamentiiche  Religion  auf  den  Begriff  des  Gesetzes 
so  einzuschränken,  dass  die  Sittlichkeit  der  toyx  v6u.ou  nichts 
anderes  sein  kann,  als  der  Widerstreit  des  sittlichen  Bewusst- 
seins  mit  den  Forderungen  des  Gesetzes !  Dem  Gesetz  bleibt  so 
freilich  nur  das  Amt,  die  Sünde  zu  strafen  und  zu  verdammen; 
wer  wollte  aber  läugnen,  dass  es  auch  im  allen  Testament  mög- 
lich war,  trotz  der  Mangelhaftigkeit  der  Gesetzes- Erfüllung, 
im  Vertrauen  auf  die  auch  im  alteft  Testament  nicht  fehlende  Ver- 
sicherung der  göttlichen  Gnade,  nicht  blos  das  Verdammungs- 
urlheil des  Gesetzes ,  sondern  auch  den  Frieden  eines  mit  Gott 
versöhnten  Gemüths  in  sich  zu  haben.  Die  spya  vötxou  sind  da- 
her ein  rein  theoretisch  aus  dem  alten  Testament  abstrahirter 
Begriff,  welchem  in  der  Wirklichkeit  insofern  nichts  entspricht, 
als  das  alte  Testament  selbst  keine  Berechtigung  dazu  gibt,  das 
Gesetz  als  solches  von  allem  Andern,  das  mit  ihm  zusammen- 
gehört, in  dieser  schroffen  abstracten  Weise  zu  trennen.  Auf 
ähnliche  Weise  verhält  es  sich  mit  der  ttitti?.  Im  strengen  Ge- 
gensatz zu  den  epya  vojxoi»  muss  in  dem  Begriff  der  tti^jtk;  alles 
.  negirt  werden,  was  als  ein  eigener  selbstthätiger  Act  des  Men- 
schen anzustehen  wäre.  Die  ttittic  ist  schlechthin  nur  Glaube, 
eine  blosse  Form,  die  für  sich  selbst  nichts  ist,  sondern  alles, 
was  sie  ist,  nur  von  dem  Object  hat,  auf  das  sie  sich  bezieht. 
Und  doch  ist  auch  der  Glaube  ein  subjeclives  Verhallen,  ein 
Thun  auf  der  Seite  des  Menschen ,  und  gehört  insofern ,  sei  es 
auch  nur  als  spyov  xiaTEw?,  unter  den  Begriff  der  spya. 
^Vi  So  gleicht  sich  der  Gegensatz  der  epya  vojxou  und  der  7c(<m; 
von  beiden  Seilen  her  aus,  beide,  die  ^py«  v6u.ou  wie  die  7r{<m;, 
sind  die  subjective  sittliche  Bedingung,  ohne  welche  das  ^i- 
xaioufföai  nicht  möglich  ist.  Wie  es  nur  die  Abslraction  des  Be- 
griffs ist ,  welche  bei  den  Ipya  v6aou  die  thatsächliche  Erfüllung 
der  Gebote  des  Gesetzes  so  fixirt,  dass  dabei  die  Gesinnung  so 
gut  wie  nicht  in  Betracht  kommt,  so  ist  auch  der  Glaube  nicht 
so  abstract  und  inhaltsleer  zu  denken,  dass  er  nicht  als  die  den 


r 


Paulio.  Lehrbegriff.     Glaube  und  Werke.  181 

Menschen  beseelende  innere  Gesinnung  das  vor  allem  wäre,  wo- 
durch der  sittliche  Werth  des  Menschen  bestimmt  wird.  Und  da 
die  Gesinnung,  wenn  sie  eine  lebendige  sein  soll,  sich  durch 
Werke  bethätigen  muss ,  so  können  auch  die  Werke  als  der 
Maasstab  betrachtet  werden ,  nach  welchem  Gott  das  entschei- 
dende Urtheil  über  die  Menschen  fällt,  wie  diess  der  Apostel 
Rom.  2,  6.  thut,  und  auch  sonst,  wie  1  Cor.  3,  13.  14.  9,  17. 
2  Cor.  5,  10.  9,  6.  Gal.  6,  7.  f.,  wo  er  von  den  Werken  als  der 
Norm  des  göttlichen  Gerichts  so  unbefangen  spricht,  wie  wenn 
an  eine  Collision  mit  seiner  Lehre  vom  Glauben  auch  nicht  ent- 
fernt zu  denken  wäre.  Er  denkt  nicht  daran,  weil  sich  seine 
Rechtfertigungslehre  durchaus  nur  auf  das  Verhällniss  des  Chri- 
stenthums  zum  Judenthum  bezieht,  auf  einen  abstract  gedachten 
allgemeinen  principiellen  Gegensatz ,  welcher,  sobald  er  auf  die 
concreten  Verhältnisse  des  wirklichen  Lebens  angewandt  wer- 
den soll,  von  selbst  zu  einem  blos  relativen  wird.  Werke  und 
Glaube,  oder  Aeusseres  und  Inneres  sind  im  Leben  des  Einzel- 
nen nicht  so  getrennt,  dass,  wo  das  Eine  ist,  nicht  immer  auch 
etwas  von  dem  andern  wäre;  nur  beide  zusammen,  in  ihrem 
Verhältniss  zu  einander,  machen  das  Wesen  der  Frömmigkeit, 
die  Gesinnung,  die  sittliche  Qualität  aus,  ohne  welche  der 
Mensch  vor  Gott  nicht  gerechtfertigt  werden  kann.  Christ  wer- 
den und  gerechtfertigt  werden,  ist  zwar  für  den  Apostel  eines 
und  dasselbe ,  wer  in  das  Reich  des  Messias  aufgenommen  ist, 
ist  ebendamit  für  einen  Gerechten,  Gottgefälligen,  zur  Seligkeit 
Bestimmten  erklärt,  aber  es  ist  diess  nur  eine  abstracte  Wahr- 
heit, eine  ideale  Anschauung,  aus  welcher  keineswegs  folgt, 
dass  auch  in  der  concreten  Wirklichkeit  des  praktischen  Lebens 
jeder,  der  Christ  ist,  auch  ein  wahrhaft  Gerechtfertigter  ist. 
Und  so  wenig  von  den  Christen  ein  ^ixaioOaöai  int.  xiarecdc  in  die- 
sem Sinne  gilt,  so  wenig  sind  die  in  die  Kategorie  des  SixaioO- 
<j6a'.  i\  i^'^tji'i  vofxo'j  gehörenden  Juden  auch  in  der  Wirklichkeit 
dem  darauf  ruhenden  Yerdammungsurtheil  verfallen.  Können  nun 


I8S5  Zweiter  Abschnitt.      Erste  Periode. 

zwei  sich  ausschliessende  Sätze ,  sobald  es  sich  um  die  concrete 
Wirklichkeit  handelt,  nicht  in  ihrer  abstracten  Aligemeinheil 
festgehalten  werden,  müssen  sie,  um  praktisch  zu  werden,  sich 
ausgleichen,  so  kann  diess  hier  nur  durch  die  einfache,  dem 
sittlichen  Bewusstsein  einleuchtende  Wahrheit  geschehen,  wie 
sie  der  Apostel  in  den  genannten  Stellen  ausspricht.  Die  Werke 
sind  dann  nicht  die  epya  v6[^-ou,  sondern  das  sittliche  Verhalten 
überhaupt,  und  an  die  Stelle  der  absoluten  Bedeutung  der  xicti; 
tritt  die  relative ,  welcher  zufolge  der  Glaube  die  die  Empfäng- 
lichkeit für  das  Heil  bedingende  sittliche  Gesinnung  ist,  wie  sie 
in  dem  Grundsatz  ausgeisprochen  ist,  welchen  der  paulinisch 
giesinnte  Verfasser  der  Apostelgeschichte  10,  35  dem  Apostel 
Petrus  in  den  Mund  legt,  dass  in  jedem  Volk  6  ipYa^6f/.svo?  ^i- 
)taio<yuv7iv  Gott  angenehm  ist. 

Zur  paulinischen  Lehre  vom  Glauben  gehört  auch  noch  die 
Frage,  wie  sich  der  Glaube  zur  Freiheit  des  Menschen  und  der 
Vorherbestimmung  Gottes  verhält.  Da  der  Apostel  die  Erthei- 
lung  des  7cv60{xa  erst  auf  die  xioti;  folgen,  die  izicriq  somit  nicht 
selbst  durch  das  77ve0(/.a  bewirkt-  werden  lässt,  so  scheint  sich 
von  selbst  zu  verstehen,  dass  er  den  Glauben  ganz  als  freie 
Sache  des  Menschen  betrachtet.  Anders  ist  es  auch  nicht,  und 
man  wäre  darüber  nicht  .im  Zweifel,  würde  nur  der  Apostel 
nicht  im  neunten  Kapitel  des  Römerbriefs  der  Lehre  von  einem 
unbedingten  Vorsatz  Gottes  so  das  Wort  zu  reden  scheinen,  dass 
die  theologischen  Erklärer,  die  an  einem  solchen  Absolutismus 
Anstoss  nehmen,  wie  namentlich  die  lutherischen,  auch  die 
neuesten,  Tholuck  und  Philipp!,  sich  alle  Mühe  geben  müssen, 
den  Apostel  etwas  Anderes  sagen  zu  lassen,  als  er  wirklich  sagt. 
Es  ist  diess  völlig  vergeblich.  Der  Sinn  des  Apostels  kann  nur 
sein,  dass  Gott  ohne  alle  Rücksicht  auf  menschliches  Thun,  nur 
nach  dem  reinen  Vorsatz  der  Erwählung  den  Jakob  vorgezogen 
und  den  Esau  nachgesetzt  und  den  Pharao  dazu  bestimmt  hat, 
an  ihm  einen  Beweis  seiner  Macht  zu  geben.  Wie  man  auch  das 


Paulin.  Lehrbegriff.     Glaube  und  Prädestination.     18(3 

jcaXeTv  V.  H,  äyaTcav  und  (y-tceiv  V.  13  nehmen  mag,  das  Argu- 
ment ist,  dass  wie  Golt  überhaupt  zu  allem,  was  ihn  von  aussen 
her  bestimmen  könnte,  sich  völlig  frei  und  unabhängig  verhält, 
er  auch  bei  der  Ertheilung  der  ^ixaioauviri  und  cwTYipta  an  keine 
in  die  Subjectivitäl  des  Menschen  gestellte  Bedingung  gebunden 
ist.  Der  Hauptgedanke  des  Apostels  ist  nicht,  was  Gott  über- 
haupt vermöge  seiner  Macht  Ihun  kann,  sondern,  was  er  abge- 
sehen von  allem,  was  der  Mensch  wollen  und  thun  mag,  aus 
dem  Menschen  selbst  macht,  dass  er,  wie  er  des  Einen  sich  er- 
barmt, so  den  Andern  verhärtet,  den  Einen  erwählt,  den  An- 
dern verwirft.  Wie  malt  und  unpassend  wäre  die  Anführung 
Pharao's,  wenn  damit  nur  gesagt  würde,  auch  an  einem  solchen, 
wie  Pharao,  könne  Gott  seine  Macht  beweisen?  Der  Zusammen- 
hang fordert  vielmehr  den  Sinn:  was  einer  in  der  einen  oder 
andern  Weise  ist,  als  Erwählter  oder  Verhärteter,  ist  er  nicht 
durch  sich  selbst,  durch  die  Rücksicht  auf  irgend  etwas,  was  er 
im  Guten  oder  Bösen  ist ,  sondern  schlechthin  durch  Gott.  Nur 
so  schliessen  sich  die  ¥.19  folgenden,  so  absolutistisch  lauten- 
den Sätze  passend  an  das  Vorhergehende  an,  wenn  der  Wider- 
spruch hervorgehoben  wird,  dass  Golt  von  dem  Menschen  ver- 
langt, anders  zu  sein,  als  er  ist,  während  doch  die  Möglichkeit 
gar  nicht  vorhanden  ist,  dass  er  anders  ist,  als  ihn  Gott  selbst 
gemacht  hat.  Der  Widerspruch  lässt  sich  nicht  läugnen,  aber 
selbst  der  Gedanke  eines  solchen  Widerspruchs ,  sagt  der  Apo- 
stel V.  20,  darf  in  dem  Menschen  nicht  aufkommen,  im  Bewusst- 
sein  seiner  schlechthinigen  Abhängigkeit  von  Gott.  Die  Anwen- 
dung, die  der  Apostel  V.  22  f.  von  den  aufgestellten  Sätzen 
macht,  kann  nur  diese  sein:  Wenn  Gott,  wie  er  ja  das  unbe- 
dingte Recht  hat,  aus  dem  Menschen  das  Eine  oder  Andere  zu 
machen,  aus  den  ungläubigen  Juden  Gefässe  des  Zorns,  aus 
den  Glaubigen  aber,  die  nicht  blos  aus  Juden,  sondern  auch  aus 
Heiden  bestehen,  Gefässe  der  Erbarmung  gemacht  hat,  mit  wel- 
chem Anspruch  kann  der  geborene  Jude  dagegen  auftreten?  er 


1S4  Zweiter   Abschnitt,     Erste  Periode. 

hat  es  vielmehr  nur  als  einen  Beweis  der  göttlichen  Langmuth 
anzusehen,  dass  Gott  ihn,  den  zum  Verderben  Bereiteten,  so 
lange  getragen  hat,  wobei  Gott  auch  die  Absicht  hatte,  während 
seiner  grossen  Langmuth  den  Reichthum  seiner  Herrlichkeit  an 
den  Berufenen  kund  zu  thun.  Diess  ist  der  einfache  und  natür- 
liche Sinn  der  Worte  des  Apostels. 

Demungeachtet  würde  man  ihn  falsch  verstehen,  wenn  man 
ihm  die  Behauptung  eines  absoluten  Decrets  zuschreiben  würde. 
So  entschieden  er  eine  schlechthinige,  jede  Rücksicht  auf 
menschliches  Thun  und  die  Subjectivität  des  Menschen  ausschlies- 
sende  Abhängigkeit  von  Gott  behauptet,  so  entschieden  macht  er 
C.  10  alles,  was  dem  Menschen  von  den  Segnungen  des  mes- 
sianischen  Reichs  zu  Theil  wird,  einzig  und  allein  vom  Glauben 
abhängig,  und  zwar  nicht  so,  wie  wenn  der  Glaube  selbst  nur 
denen  zu  Theil  würde,  die  in  Gemässheit  des  göttlichen  Rath- 
schlusses  dazu  erwählt  sind,  sondern  der  Glaube  ist  ihm  schlecht- 
hin das  Erste,  wobei  nichts  Anderes  vorausgesetzt  wird,  als  dass 
man  die  Predigt  des  Worts  hört,  Rom.  10,  8  f.  (Gal.  3,  2.  Die 
Frage  ist  daher  nicht,  ob  er  das  Eine  oder  das  Andere  behaup- 
tet, sondern  nur,  wie  er  beides  zugleich  behaupten  kann,  so- 
wohl die  schlechthinige  Abhängigkeit  des  Menschen  von  Gott, 
als  auch  die  durch  den  Glauben  bedingte.  Darauf  kann  man  nur 
vom  Standpunkt  des  Apostels  aus  antworten  mit  Rücksicht  auf 
das  practische  Interesse,  um  das  es  ihm  zu  thun  ist.  Nicht  um 
den  Locus  de  praedestinatione  dogmatisch  zu  behandeln,  und  in 
der  Streitfrage  über  Determinismus  und  Indeterminismus  eine 
bestimmte  Theorie  aufzustellen ,  kommt  der  Apostel  auf  die  C.  9 
aufgestellte  Behauptung,  sondern  um  dem  jüdischen  Parlicularis- 
mus  die  letzte  Wurzel  seiner  Berechtigung  abzuschneiden.  Es 
ist  also  nicht  sowohl  das  Verhältiiiss  des  einzelnen  Menschen  zu 
Gott,  wovon  der  Apostel  spricht,  als  vielmehr  das  Verhältniss, 
in  welchem  die  Juden  als  Nation  in  ihrem  Unterschied  von  den 
Heiden  zu  Gott  stehen.    Die  objectiv  vor  Augen  liegende  ge- 


I 


Paulin.  Lehrbegriff.    Glaube  und   Prädestination.     185 

schichtliche  Thalsache,  dass  die  Juden  das  Heil  nicht  erlangten, 
ungeachtet  sie  das  Gesetz  hatten  und  nach  der  im  Gesetz  aufge- 
stellten Norm  durch  spya  vop'j  die  Rechtfertigung  zu  erlangen 
suchten,  die  sie  aber  freilich  auf  diesem  Wege  nicht  erlangen 
konnten,  während  dagegen  die  Heiden  ohne  Gesetz  und  Streben 
nach  Gesetzesgerechtigkeit  die  Rechtfertigung  erJangten,  steht 
im  Widerstreit  mit  der  Meinung,  welche  bisher  die  Juden  von 
sich  als  dem  von  Gott  erwählten  Volk  hatten;  sie  findet  aber  ihre 
einfache  Erklärung  darin,  dass  die  Bedingung  des  messianischen 
Heils  einzig  und  allein  der  Glaube  ist.  Auf  den  Glauben  kommt 
aber  der  Apostel  erst  C.  10  und  gerade  diess  ist  der  Hauptpunkt. 
Er  theilt  die  Hauptfrage,  wie  die  für  das  nationale  Bewusstsein 
der  Juden  so  anstössige  Thatsache  zu  erklären  und  mit  der  Idee 
Gottes  zu  vereinigen  ist,  in  zwei  Seiten  der  Betrachtung,  indem 
er  auf  der  einen  Seite  alles  Gewicht  auf  den  Glauben  legt,  auf 
der  andern  noch  vom  Glauben  abstrahirt  und  vor  allem  die  Frage 
untersucht,  ob  abgesehen  vom  Glauben,  an  welchem  freilich. in 
letzter  Beziehung  alles  hängt,  jene  Thatsache  etwas  so  Auffal- 
lendes hat,  dass  sich  die  Juden  wie  über  ein  ihnen  widerfahre- 
nes Unrecht  zu  beschweren  Ursache  haben.  Was  haben  sie  auf- 
zuweisen und  gegen  Gott  geltend  zu  machen,  haben  sie  einen 
Rechtsanspruch  darauf,  das  erwählte  Volk  Gottes  zu  sein,  ist 
nicht  nach  dem  alten  Testament  selbst  die  Handlungsweise  Got- 
tes eine  so  freie,  unabhängige,  durch  keine  äussere  Rücksich- 
ten gebundene,  dass  er  aus  dem  Menschen  mächen  kann,  was 
er  will?  Die  national- jüdische  Frage  verallgemeinert  sich  so 
erst  dem  Apostel,  um  ihr  eine  schärfere  Spitze  zu  geben,  zu 
der  abstracten  Form,  in  welcher  er  sie  C.  9  behandelt,  wie 
wenn  das  in  Frage  stehende  Subject  der  Mensch  überhaupt  wäre 
in  seinem  Verhältniss  zu  Gott,  nicht  das  Volk  Israel,  sofern  man 
es  nach  dem  Rechtsanspruche  fragt,  welchen  es,  abgesehen  vom 
Glauben,  gegen  Gott  geltend  zu  machen  hat.  Der  Gesichtspunkt, 
aus  welchem  der  Apostel  die  Frage  aufstellt,  bleibt  auch  so  der- 


186  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

selbe,  und  man  würde  ihn  völlig  missverstehen,  wenn  man 
meinte,  er  wolle  durch  alles,  was  er  C.  9  über  die  Unbedingt- 
heit  des  göttlichen  Willens  sagt,  auch  nur  im  Geringsten  dem- 
jenigen vorgreifen,  was  er  über  den  Glauben  als  die  nolhwendige 
Bedingung  des  Heils  nachfolgen  lassen  und  zum  Hauptmoment 
seiner  Argumentation  machen  wollte.  Der  Glaube  war  also  für 
Israel  der  Stein  des  Anstosses,  9,  32.  Als  die  neue  Periode  des 
Glaubens  kam  Cvgl.  das  dXÖsiv  -n^v  tti^tiv  Gal.  3,  23),  hat  Israel 
es  versäumt,  sie  zu  seinem  Heil  zu  benützen.  Welche  Ansprüche 
kann  es  daher  auf  die  frühere  Zeit  gründen?  wie  wenn  der 
Mensch  in  seiner  Abhängigkeit  von  Gott  Gott  darüber  zur  Frage 
zu  stellen  hätte  und  es  nicht  schlechthin  in  die  Hand  Gottes  ge- 
stellt lassen  hiüsste,  ob  er  von  ihm  zu  einem  Gefäss  des  Zorns 
oder  zu  einem  Gefäss  der  Erbarmung  gemacht  ist.  Hat  also 
Israel  das  messianische  Heil  verloren ,  die  Zeit  vor  dem  Glauben 
gibt  ihm  keinen  Grund,  sich  darüber  zu  beschweren.  Mit  Christus 
hat  alles  Gesetzesleben  ein  Ende  (rtko^  vopu  Xpi^rrö?  Rom.  10, 4), 
es  gilt  seitdem  nur  der  Glaube  als  der  Weg,  auf  welchem  Ge- 
rechtigkeit zu  erlangen  ist. 

Auf  dem  Glauben  beruht  alles,  was  die  bisher  entwickelte 
Lehre  des  Apostels  enthält.  Da  aber  der  Glaube  das,  was  er  ist, 
nicht  für  sich  ist,  sondern  nur  durch  das  Object,  auf  das  er  sich 
bezieht,  so  schliesst  hier  die  weitere  Frage  an,  was  der  Apostel 
von  Christus  selbst  lehrt.  Die  Ansicht  von  der  Person  Christi 
ist  immer  bedingt  durch  die  Ansicht  von  seinem  Werke.  Christus 
kann  für  die  Menschen  nichts  gethan  und  ihnen  mitgetheilt  haben, 
was  nicht  in  ihm  selbst  auf  principielle  Weise  war.  Auf  die 
Person  Christi  werden  daher  immer  alle  Bestimmungen  überge- 
tragen, die  die  nothwendige  Voraussetzung  zu  sein  scheinen, 
um  ihn  zum  Erlöser  zu  befähigen.  Man  kann  daher  schon  aus 
dem  Bisherigen ,  aus  der  Lehre  des  Apostels  von  der  Rechtferti- 
gung durch  den  Glauben  auf  seine  Lehre  von  der  Person  Christi 
schliessen.   Hat  er  durch  seinen  Tod  die  Menschen  von  der  Sünde 


r 


Paulin.  Lehr  begriff.     Christologie.  187 

befreit,  so  muss  er  selbst  ohne  Sünde  gewesen  sein.  Dass  er 
von  keiner  Sünde  wussle,  wird  daher  auch  ausdrücklich  von  ihm 
in  diesem  Zusammenhang  gesagt,  2  Cor.  5,  2i.  Hat  er  den 
Menschen  das  TrvsOfxa  als  geistiges  Princip  mitgetheilt,  so  muss 
er  selbst  geistiger  Natur  sein.  Ist  überhaupt  durch  ihn  das 
Gegentheil  von  allem  demjenigen,  was  durch  Adam  in  die  Welt 
kam,  den  Menschen  zu  Theil  geworden,  so  muss  er,  wenn  er 
auch  Mensch  war,  wie  Adam,  doch  ein  Mensch  ganz  anderer 
Art  gewesen  sein.  Gegenüber  dem  Einen  Menschen,  durch 
welchen  die  Sünde  und  der  Tod  in  die  Welt  kam,  ist  er  der  Eine 
Mensch  Jesus  Christus,  in  welchem  die  Gnade  Gottes  den  Vielen 
geschenkt  worden  ist,  Rom.  5,  15.  Wie  durch  einen  Menschen 
der  Tod,  so  ist  durch  einen  Menschen  die  Auferstehung  der 
Todlen,  1  Cor.  i5,  21.  Wie  Adam  der  erste  irdische  Mensch 
war,  so  ist  er  der  zweite  Mensch  vom  Himmel,  1  Cor.  15,  47, 
wo  nach  den  neuesten  kritischen  Auctoritaten  zu  lesen  ist:  6 
SeuTspo?  avOpwTTO?  Co^ne  ö  x'jpioO  ^^  oOpavoO.  Wesentlich  Mensch 
also  ist  er,  wie  Adam,  aber  Mensch  in  höherem  Sinn.  Da  ihm 
als  dem  himmlischen  Menschen  das  Pneumatische  ebenso  zukom- 
men muss,  wie  Adam  als  dem  avOpwTro;  ex  *fr,i;  ypixo^  das  Psychi- 
sche, so  ist  er  demnach  der  pneumatische  Mensch.  Wenn  auch 
er  Mensch  ist,  wie  Adam,  der  zweite  Adam  nach  dem  ersten, 
so  sind  das  Psychische  und  das  Pneumatische  gleich  wesentliche 
Bestandtheile  der  menschlichen  Natur,  das  Pneumatische  ist  aber 
in  ihm  ebenso  das  Principielle ,  wie  in  Adam,  dem  irdischen 
Menschen,  das  Psychische.  nvcGp^,  Geist,  wird  daher  auch 
Christus  geradezu  genannt,  6  xüp'-o;  t6  TrveOaa  sttiv,  sagt  der 
Apostel  2  Cor.  3,  17  schlechthin.  Wo  Geist  ist,  da  ist  alles  licht 
und  bell,  es  liegt  keine  Decke  auf  dem  Angesicht,  wie  bei  Moses, 
es  ist  alles  vor  dem  Bewusslsein  des  Geistes  enthüllt  und  aufge- 
schlossen. Das  Wesen  des  Geistes  scheint  sich  der  Apostel,  wie 
aus  demselben  Abschnitt  2  Cor.  3,  7  f.  zu  sehen  ist,  unter  der 
Anschauung  einer  Lichtsubstanz  gedacht  zu  haben.    Um  zu  er- 


188  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

klären,  was  der  Herr  als  Geist  ist,  sagt  er,  dass  wir  alle,  die 
wir  mit  enthülltem  Angesicht  die  Klarheit  des  Herrn,  wie  in 
einem  Spiegel,  anschauen,  in  dasselbe  Bild  von  einer  Klarheit 
zur  andern  verwandelt  werden,  wie  es  ja  auch  nicht  anders  sein 
könne,  da  der  Herr  der  Geist  sei.  Klarheit,  Glanz,  ^o^a,  in 
demselben  Sinne,  in  welchem  er  von  dem  vom  Angesicht  des 
Moses  strahlenden  Lichtglanz  spricht,  macht  das  Wesen  des 
Geistes,  somit  auch  das  Wesen  Christi  aus.  In  diesem  geistigen 
Lichtglanze  Christi  spiegelt  sich  das  ewige  Lichtwesen  Gottes 
selbst  ab.  Daher  lässt  der  Apostel  2  Cor.  4,  6  Gott  als  Schöpfer 
des  Lichts  in  unsere  Herzen  leuchten,  Trpo?  (p(j)Ti(Tp,6v  rfi;  yw(3ias(ii(; 
T/i?  So^T)?  Tou  ösou  iv  7rpo<7w7i:o>  'l7i<Jou  XpwToO,  d.  h.  um  hell  zu 
machen  die  Erkenntniss  des  vom  Angesicht  Jesu  Christi,  wie  einst 
vom  Angesicht  des  Moses,  widerstrahlenden  Lichtglanzes.  Chri- 
stus ist  selbst  das  Bild  Gottes,  und  wie  in  ihm  der  Lichtglanz 
Gottes  sich  abspiegelt,  so  spiegelt  sich  dieser  Lichtglanz  wieder 
ab  in  seinem  Evangelium,  dem  euayYsXiov  tt}?  ^oEtt)?  toO  XpidToO, 
dessen  Erkenntniss  sodann  auch  in  dem,  der  es  in  sich  aufnimmt, 
einen  hellen  Glanz  bewirkt,  2  Cor.  4,  4. 

Hieraus  ist  wohl  deutlich  zu  sehen,  dass  das  ganze  Ver- 
hältniss  Christi  zu  Gott  darauf  beruht,  dass  Christus  wesentlich 
Geist  ist ,  weil  es  an  sich  zur  geistigen  Lichtnatur  Gottes  gehört, 
sich  in  einem  Lichtabglanz  zu  reflectiren,  und  Christus  ist  daher, 
wie  er  xö  7rvsO[jLa  ist,  so  auch  der  xupio?  Tfi;  So^vi?,  wesentlich 
Geist  und  Licht,  nicht  erst  in  Folge  seiner  Erhöhung,  sondern 
an  sich  schon,  da  durch  seine  Erhöhung  nur  zu  seiner  vollen 
Realität  gekommen  ist,  was  er  an  sich  schon  war,  und  was  da- 
mals, als  er  von  den  apj^ovxe?  toO  aiövo?  (i  Cor.  2,  8)  gekreuzigt 
wurde,  in  ihm  nur  noch  nicht  sichtbar  geworden  war.  Und  wie 
er  selbst  der  Lichtrefle.x  Gottes  ist,  so  soll  dasselbe  Licht  von 
ihm  aus  sich  über  die  ganze  Menschheit  verbreiten.  Was  er  als 
Geist,  als  Herr  der  Herrlichkeit,  als  Bild  Gottes,  als  der  himra- 
liscbe  Mensch  ist,  ist  dann  vollkommen  reaiisirt,  wenn  die  ganze 


Paalin.  Lehrbegriff.     Chris tologie.  189 

Menschheit  nach  seinem  Bilde  gestaltet  ist,  weil  Gott  alle,  die 
durch  den  Geist  Gottes  oder  den  Geist  Christi  Kinder  Gottes 
werden,  TTpowows  <7tju.u,6p<po<j;  ttIc  stxovo?  tou  uioO  auTOu,  et?  to 
eivai  TcpwTOTO/tov  dv  TroXXoi;  a^e>.(pot(;,  Rom:  8,  29.  Ist  er  nach 
der  Grundanschauung  seines  Wesens  Geist  und  nicht  blos  7rvsO|yjx, 
sondern  t6  TrvsGu-a  2  Cor.  3,  17,  so  können  es  nur  bestimmte 
Beziehungen  desselben  ttvsOjax  sein,  wenn  ihm  söVvohl  ein  7:v20|j.a 
ayiw^juvYi?,  als  ein  7cvgO|Aa  ^«ottoioGv  beigelegt  wird.  In  Gemäss- 
heit  des  7rv£0[7.a  aYio)(jijv7ic  ist  er  Rom.  1,  4  als  Sohn  Gottes  kräFtig 
erwiesen  durch  die  Auferstehung  der  Todten.  Das  7rveuu.a  xyioi- 
<rjvyi;  kann  nur  das  die  Messianität  Christi  constiluirende  Princip 
sein,  es  wird  das  TrvsOjxa  aYtwc^vTi?  genannt,  in  demselben  Sinn, 
in  welchem  Christus  der  ayo?  ist  und  auch  die  Christen  die  äyioi 
sind.  Was  er  als  Davids  Sohn  leiblich  ist,  ist  er  durch  die  Auf- 
erstehung geistig,  sofern  sie  erst  den  thatsächlichen  Beweis  da- 
von gab,  dass  der  Geist,  der  ihn  allein  zuta  Messias  macht,  auch 
wirklich  in  ihm  war.  Was  das  TcvsOp-a  aYiwTjvTi;  für  die  Person 
Christi  ist,  ist  das  TrvsOaa  (tdOTroioOv  für  die  Menschheit  über- 
haupt, als  das  in  ihr  wirkende,  Sünde  und  Tod  in  ihr  aufhebende, 
die  sterbliche  axo^  zum  Bild  des  himmlischen  Menschen  ver- 
klärende Lebensprincip. 

Ist  Christus  beides  gleich  wesentlich,  sowohl  Geist  als 
Mensch ,  so  kann  er  nur  als  die  geistige  Lichtgestalt  des  himm- 
lischen Menschen,  als  der  urbildliche  Mensch  gedacht  werden; 
ist  er  aber  Mensch  und  als  Mensch  erschienen ,  so  muss  er  auch 
die  menschliche  <7xp^  an  sich  haben,  wie  kann  er  sie  aber  haben, 
wenn  die  orap^  als  solche  der  Sitz  der  aaapria  ist?  Es  fällt  von 
selbst  in  die  Augen,  dass  der  Apostel  aus  diesem  Grunde  von 
einem  blossen  6[J!.olü){J^a  uapxo?  aiAapria;  spricht.  Was  soll  man 
sich  unter  diesem  eigenen  Ausdruck  denken?  Soll  er  nur  heis- 
sen,  wie  z.  B.  Philippi  meint,  er  habe  unsere  Sünde  auf  sich 
genommen  und  sei  gleichsam  selbst  sündig  geworden,  so  hatte 
er  keine  dap^  a{xapTia;  und  konnte  demnach  auch  die  <7ap^  a{^.ap- 


190  Zweiter  Abs  chn  i  tt.     Erste  Periode. 

TCa;  nicht  an  sich  verdammen.  Auch  nahm  er  ja  unsere  Sunde 
erst  in  seinem  Tode  auf  sich,  der  Apostel  aber  sagt  klar,  Gott 
habe  seinen  Sohn  ev  ö{xoiwjxaTc  capxo;  gesandt.  War  er,  ungeachtet 
er  eine  capE  hatte,  doch  ohne  aaapxia,  so  wird  vorausgesetzt, 
dass  die  dap^  auch  ohne  ajxapTia  sein  könne.  Auf  der  andern 
Seite  gibt  man  zwar  zu,  dass  die  Anthropologie  des  Apostels 
keine  capE  kenne,  die  nicht  eine  <;apE  ajxapTia;  sei,  behauptet 
aber,  dass  die  Sündlosigkeit  des  Messias  dadurch  nicht  aufge- 
hoben werde,  man  müsse  nur  acht  paulinisch  zwischen  aizapTwc 
und  Trapaßam?  unterscheiden.  Christus  habe  zwar  die  aapE  und 
mit  derselben  das  objective  Princip  der  ajxapTioc  angenommen, 
aber  das  Objective  sei  in  ihm  weder  zum  subjectiven  Bewusstsein, 
noch  zur  subjectiven  That  geworden.  Warum  sagt  aber  der 
Apostel,  wenn  diess  seine  Ansicht  von  der  aapE  Christi  war, 
nicht  geradezu,  wie  er  hätte  sagen  sollen,  Gott  habe  seinen 
Sohn  gesandt  sv  oapxl  äj^apTia;,  warum  sagt  er  iv  6|/.oib)aaTi 
«japxö;  ajjiapTtas?  Man  sagt,  ou-oiw^ia  sei  Abbild  eines  Dings 
durch  sichtbare  Darstellung  desselben:  wie  passt  aber  diess? 
Wie  kann  die  cap^  aaapTiac,  wenn  das  Bild  nur  wieder  die  Sache 
selbst  sein  soll,  anders  abgebildet  sein,  als  durch  eine  wirkliche 
<Tap^  ä|AapTia;?  wozu  dann  aber  der  Ausdruck  6ty.oi(«)[ji,a  (japxö? 
aaapxia??  Das  Wort  ofjiotcotjLa.  bedeutet  doch  immer  nur  Bild  und 
Ähnlichkeit,  nicht  die  Sache  selbst.  Hat  Christus  nur  ein  o^oioi^a. 
Gx^y,6i  ä;7.apTta?  gehabt,  so  hatte  er  nicht  die  (jap^  ajxapxtag  selbst. 
Und  wie  soll  man  sich  die  Sache  selbst  denken?  Hat  Christus  in 
seiner  (lap^  a^aapTia;  das  objective  Princip  der  Sünde  in  sich  ge- 
habt, die  coLo^  mit  ihrem  cppovyijia  tvi;  «rapxo;,  ihrem  iTriOup-eiv 
XÄToc  ToO  7rveu|ji,aTo;,  wie  schwer  ist  es,  die  Grenzlinie  zwischen 
Sündlosigkeit  und  Sünde  so  zu  ziehen,  dass  er  als  ein  [xin  y^ou; 
a|i,apTiav,  um  für  die  sündigen  Menschen  zu  sterben,  erst  zur 
äaapTia  gemacht  werden  inusste.  Hat  seine  pneumatische  Per- 
sönlichkeit es  verhindert,  dass  die  zum  Wesen  der  cap^  gehörende 
a^aapTia  in  ihm  auch  nur  zum  subjectiven  Bewusstsein  wurde, 


Paulin.  Lehrbegriff.     Christologie.  191 

wie  hart  müssen  die  beiden  einander  entgegengesetzten  Principien 
7rvE'ju.a  und  axp^  in  ihm  aufeinander  gestossen  sein.  Eben  hier 
liegt  ja  der  Punkt,  von  welchem  aus  die  Gnostiker  auf  ihre  do- 
ketische  Ansicht  von  dem  Leibe  Christi  kamen.  Der  Ausdruck 
oaoitoaa  verdeckt  nur  die  nicht  gelöste  Antinomie,  dass  Christus 
in  seinem  Leibe  die  axo^  aaapTia;  getödtet  haben  soll  und  doch 
keine  wahre  und  wirkliche  capE  aaapTia?  gehabt  haben  kann. 

War  die  capc  von  Anfang  an  eine  <japE  ajxapTia?,  so  kann 
sie  demnach  auch  nicht  erst  durch  den  Ungehorsam  Adams  dazu 
geworden  sein,  und  es  gibt  uns  daher  die  Christologie  des  Apo- 
stels in  dem  von  der  r>ap^  Christi  gebrauchten  Ausdruck  auch 
eine  Bestätigung  unserer  Auffassung  seiner  Anthropologie.  Von 
einer  Erbsünde  im  augustinischen  Sinne  und  einem  Sündenfall 
als  der  Ursache  derselben  weiss  der  Apostel  nichts,  sondern  die 
Trapaxor,  und  Twapaßxdt;  Adams  kann  nur  davon  verstanden  wer- 
den, dass  das  von  Anfang  an  der  ffdtp^  immanente  Princip  der 
Sünde  durch  Adam  actuell  hervortrat.  Hiemit  stimmt  ganz  zu- 
sammen, wie  der  Apostel  in  der  Hauptstelle  seiner  Anthropologie 
1  Cor.  15,  45  das  Psychische  dem  Pneumatischen  so  voranstellt, 
dass  Adam  von  Anfang  an  keine  andere  als  eine  rein  psychische, 
nicht  aber  eine  rein  pneumatische  Natur  gehabt  haben  kann, 
wesswegen  er  auch  als  der  erste  Mensch  dem  zweiten,  als  der 
'/oiy.6i  dem  pneumatischen,  dem  avOpwxo;  ic,  oüpavoO  gegenüber- 
gestellt wird.  Dem  Bedenken,  wie  Gott  eine  ursprüngliche  <jap^ 
atxapTia?  geschaffen  haben  kann,  ist  die  Frage  entgegenzuhalten, 
was  hier  als  das  Erste  und  Ursprüngliche  anzusehen  ist,  der 
irdische  oder  der  himmlische  Mensch?  Wenn  auch  Adam  von 
Anfang  an*  nur  Ia  ^n^  /oixd;  war,  und  sich  nie  in  einem  andern 
Zustand  befand,  so  kann  doch  schon  sein  irdisches  Dasein  selbst 
als  ein  secundäres  betrachtet  werden,  sofern  er  nur  das  ge- 
schaffene irdische  Abbild  des  himmlischen  urbildlichen  Menschen 
war.  Wenn  auch  beide  als  Elemente  einer  und  derselben  Natur 
zusammengehören,  so  ist  es  doch  nur  das  Irdische,  das  an  der 


1 98  Zweiter  Alisclinitt;     Erste  Periode, 

Spitze  der  zeitlichen  Entwicklung  steht.  Es  kommt  hier  auch  die 
analoge  Anschauung  in  Betracht,  welche  der  Apostel  von  der 
Natur  überhaupt  hatte,  wenn  er  Rom.  8, 19  f.  von  einer  j;,aTai6Tifi<; 
spricht,  welcher  die  xti^k;  oüj^  ixoO<ra  uT^ZTxyri,  von  einer  SouXeia 
Tfi?  <p9opa?,  und  der  Natur  ein  w^ivstv  zuschreibt,  sofern  sie  den 
schmerzlichen  Drang  in  sich  hat,  ihr  inneres  Wesen  an's  Licht 
zu  bringen.  Gleichzeitig  mit  den  Kindern  Gottes,  wenn  die 
sXsuOspia  ihrer  So^a  offenbar  wird,  wird  auch  die  Natur  von  der 
Vergänglichkeit,  die  als  schwerer  Druck  auf  ihr  liegt,  befreit 
werden.  Es  ist  derselbe  Druck,  welchen  der  Mensch  in  der  dap^ 
äjjLapTia?  empfindet,  wenn  er  ruft :  Tic  pis  pucrexai  u.  s.  w.  Rom.  7, 24. 
Das  Gemeinsame  dieser  Anschauung  ist  die  Materialität  der  zeit- 
lichen Existenz,  dass  die  Natur  als  eine  geschaffene  ebenso  nur 
eine  materielle,  dem  Zug  und  der  Schwerkraft  der  Materie  fol- 
gende sein  kann,  wie  die  fixfc,  als  solche  nur  eine  <jap^  aj^apria; 
ist.  Wie  die  materielle  Natur  auf  einem  ideellen,  immateriellen 
Grunde  ruht,  so  hat  auch  der  irdische,  psychische  Mensch  den 
himmlischen  pneumatischen  zu  seiner  Voraussetzung,  und  hier 
wie  dort  ist  das  geistige  Princip  als  das  ursprüngliche  das  über- 
greifende, alles  materielle  und  fleischliche  Sein  durchdringende 
und  in  sich  verklärende.  h^'.ititiiik^rt^^ 

.  Je  enger  und  unmittelbarer  das  Verhältniss  ist,  in  welchem 
Christus  schon  als  das,  was  er  wesentlich  ist,  als  Mensch  und 
zwar  als  himmlischer  Mensch  zu  der  menschlichen  Natur  und  der 
Menschheit  steht,  um  so  mehr  muss  man  fragen,  welche  Vor- 
stellung der  Apostel  von  Christus  in  seinem  präexistirenden  Sein 
hatte.  Als  der  av6p«7ro;  zc,  oüpavoO  ist  er  ein  überweltliches, 
präexistirendes  Wesen,  aber  es  ist  hier  der  Punkt,  auf  welchem 
die  Christologie  des  Apostels  noch  am  wenigsten  zu  einer  festen 
und  bestimmten  Vorstellung  ausgebildet  war,  wie  überhaupt  der 
christologische  Blick  des  Apostels  weit  mehr  auf  das  von  der 
Auferstehung  aus  sich  entwickelnde  Sein  Christi  sich  richtete  als 
auf  das  rückwärts  liegende.    Wenn  es  daher  auch  einige  Stellen 


Psulin.  Lehrbegriff.     Christologie.  193 

gibt,  welche  die  Idee  der  Präexistenz  und  der  Weitschöpfung  zu 
enthalten  scheinen,  so  iässt  sich  doch  aus  ihnen  nichts  Sicheres 
erheben.  Es  sind  diess  hauptsächlich  die  Stellen  1  Cor.  10,  4. 
2  Cor.  8,  9.  1  Cor.  8,  6.  In  der  ersten  Stelle  nennt  der  Apostel 
Christus  eine  xerpa  TrvsujxaTtvfi^  nur  sofern  er  in  dem  den  Israeliten 
nachfolgenden  Felsen  nach  der  allegorischen  Deutung,  die  er 
ihm  gab,  einen  auf  Christus  sich  beziehenden  Typus  sah.  Diess 
setzt  nicht  voraus,  dass  Christus  schon  damals  existirte.  Er  be- 
zieht den  Felsen  symbolisch  auf  Christus,  wie  er  auch  dem  Manna 
und  der  Wasserspende  in  der  Wüste  eine  symbolische  Beziehung 
auf  das  Abendmahl  gab.  Die  zweite  Stelle  würde  die  Idee  der 
Präexistenz  nur  dann  enthalten,  wenn  dTCTwjj^euds  nothwendig 
heissen  müsste:  er  wurde  arm,  es  kann  aber  ebenso  gut  heissen, 
er  war  arm:  obgleich  an  sich,  seinem  Rechte  nach  reich,  lebte 
er  arm.  In  der  Stelle  1  Cor.  8,  6  glaubt  man  Si'  ou  xa  xavTa 
ebenso  wie  i^  ou  xa  ravTa  auf  die  Weltschöpfung  beziehen  zu 
müssen.  Es  ist  möglich,  dass  sich  der  Apostel  das  7n/sC>|xa  in 
Christus  auch  als  das  weltschöpferische  Princip  dachte,  wie  soll 
man  sich  aber  den  avöpcoTco;  d^  oüpavoO  als  den  Weltschöpfer 
denken?  Aber  kann  man  denn  tä  xavTa  nicht  auch  in  einem 
engern  Sinne  nehmen?  Alles,  was  Christus  zur  Erlösung  und 
Versöhnung  der  Menschen  gethan  hat,  betrachtet  der  Apostel  als 
das  von  Gott  durch  Christus  Geschehene.  Vgl.  2  Cor.  5,  17.  18. 
Diese  Travra  Sia  'IrjioO  XpidToO  sind  töc  TuavTa  Ik  toO  ÖsoO.  Ist 
nun  aber  auch  1  Cor.  8,  6  bei  den  Worten  i^  ou  toc  xavra  —  et; 
a'iTÖv  nicht  blos  an  die  Weltschöpfung,  sondern  auch  an  alles, 
was  sich  auf  die  Erlösung  bezieht,  zu  denken,  welches  Bedenken 
könnte  man  haben,  die  unmittelbar  daran  sich  anschliessenden 
Worte  hl*  ou  u.  s.  w.  nur  in  demselben  Umfang  zu  nehmen,  in 
welchem  2  Cor.  5,  18  tä  xdcvTa,  d.  h.  alles,  was  sich  auf  die 
Erlösung  und  Versöhnung  bezieht,  von  Gott  hix  'Ir.Too  XpicTOu 
gewirkt  wird?  Die  Stelle  wäre  die  einzige,  in  welcher  der 
Apostel  Christus  die  Wellschöpfung   zuschreiben   würde.     So 

Baur,  nentest.  Theol.  \o 


1Ö4  Zweiter  Abschnitt.     Erste   Periode. 

wenig  sich  diess  genauer  bestimmen  lässt,  so  entschieden  ist 
dagegen  zu  behaupten,  dass  er  Christus  nie  Gott  im  absoluten 
Sinne  nennt.  Noch  immer  wollen  zwar  Viele  die  Doxologie  Rom. 
9,5  nicht  auf  Gott,  sondern  auf  Christus  beziehen.  Wie  sollte 
aber  der  Apostel,  der  sonst  immer  die  absolute  Erhabenheit 
Gottes  über  alles  so  stark  hervorhebt,  der  Christus  so  bestimmt 
Gott  unterordnet  und  ihn  ausdrücklich  Mensch  nennt,  ihn  hier 
auf  diese  doxologische  Weise  prädicirt  haben?  Man  kann  nicht 
sagen,  im  Gegensatz  zu  xaxa  orapxa  müsse  hier  auch  eine  höhere 
Aussage  von  Christus  stehen;  der  Apostel  will  hier  nur  von  der 
nationalen  Abstammung  des  Messias  reden.  Erwägt  man,  wie 
der  Apostel  hier  alle  den  Israeliten  gewordenen  göttlichen  Wohl- 
thaten  und  Vorzüge  zusammenfassl,  so  muss  man  es  sehr  natür- 
lich finden,  dass  er  bei  dem  Höchsten,  das  noch  hinzukam,  dem 
Messias,  als  dem  Nachkommen  der  Väter,  sein  lobpreisendes 
Dankgefühl  ausdrückt,  er  sieht  darin  einen  Beweis  der  göttlichen 
Gnade,  der  für  die  Israeliten  nie  aufhören  könne,  Gegenstand 
dankbarer  Lobpreisung  zu  sein.  Überhaupt  erscheint  das  Ver- 
hältniss,  in  das  der  Apostel  Christus  zu  Gott  setzt,  durchaus  als 
ein  Verhältniss  der  Unterordnung,  wie  diess  ja  auch  1  Cor.  10,3 
ausgesprochen  ist,  wo  man  nicht  zwischen  einer  göttlichen  und 
menschlichen  Natur  unterscheiden  kann,  da  der  Apostel  von  dem 
ganzen  Christus  mit  dem  vollen  Begriff  seiner  Persönlichkeit  spricht. 
Die  Christologie  hat  so  zwar  in  der  Darstellung  des  Apostels 
noch  nicht  den  Punkt  erreicht,  auf  welchen  sie  erst  in  der  Folge 
noch  erhoben  worden  ist,  Christus  ist  noch  wesentlich  Mensch, 
nicht  Gott;  aus  der  bisherigen  Entwicklung  ergibt  sich  aber  nicht 
nur,  welche  hohe  Vorstellung  er  von  der  Person  Christi  hat, 
sondern  auch,  in  welchem  entsprechenden  Verhältniss  beides  zu 
einander  steht,  das,  was  er  ist  und  das  was  er  gethan  hat,  wie 
er  nur  als  der,  der  er  ist,  das  vollbringen  konnte,  was  durch 
Ihn  zur  Rechtfertigung  des  Menschen  und  seiner  Versöhnung  mit 
Gott  geschehen  ist.    Der  Apostel  war  es  zuerst,  welcher  das 


Paulin.  Lehrbegriff.     Christologie.  i95 

Chrislenthum  als  ein  neues,  weit  über  die  Grenzen  der  alttesla- 
mentlichen  Offenbarung  hinausgehendes  Princip  auffassle  und 
seine  Bedeutung  darin  erkannte,  nicht  nur  der  Menschheit  den 
allein  möglichen  Weg  des  Heils  in  der  Rechtfertigung  durch  den 
Glauben  zu  eröffnen,  sondern  sie  auch  auf  die  Stufe  des  geistigen 
Seins  zu  erheben,  zu  welcher  sie  durch  die  göttliche  Weltord-? 
nung  bestimmt  ist.  In  derselben  Stelle,  in  welcher  er  von 
Christus  sagt,  dass  er  der  Geist  sei,  nennt  er  das  Christenthum 
die  >caivn  ^taOyi/.in  und  alle  Gegensätze,  durch  die  er  den  Unter- 
schied der  neuen  Sia8r,xr,  von  der  alten  bestimmt,  zwischen  dem 
tödtenden  Buchstaben  und  dem  lebendig  machenden  Geist,  dem 
öxvxTo;  und  der  ycaraxpwi?  auf  der  einen  und  der  ^ixawTuvr,  iv 
^oEy)  auf  der  andern  Seite,  dem  verhüllenden  Schleier,  der  auf 
der  alten  liegt  und  der  lichten  Klarheit  der  neuen,  vereinigen 
sich  in  dem  Salze,  dass  der  Herr  der  Geist  ist  und  wo  der  Geist 
des  Herrn  ist,  auch  Freiheit  ist.  Es  ist  die  Freiheit  des  Geistes, 
vor  dessen  Bewusstsein  nichts  dunkel  und  verhüllt  bleiben  kann, 
sondern  alles  aufgehellt  und  aufgeschlossen  werden  muss. 

Je  höher  die  Vorstellung  des  Apostels  von  der  Person  Christi 
ist,  um  so  mehr  hängt  an  ihr  seine  ganze  Auffassung  des  Christen- 
thums.  Wie  er  überhaupt  das  Christenthum  unter  den  Gesichts- 
punkt der  religionsgeschichtlichen  Betrachtung  stellt,  so  fasst  er 
auch  die  Entwicklung  des  christlichen  Princips  nicht  blos  im 
Leben  des  Einzelnen  in's  Auge,  sondern  ganz  besonders  auch 
im  grossen  Gange  der  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit, 
die  in  seiner  Anschauung  nichts  anderes  ist  als  die  Geschichte  der 
Person  Christi  selbst  nach  der  Reihe  der  einzelnen  Momente,  die 
sich  in  ihr  von  seiner  irdischen  Geburt  an  bis  zur  höchsten  Spitze 
seines  übersinnlichen  Seins  unterscheiden  lassen.  Daher  hängt 
alles,  was  noch  zur  Lehre  des  Apostels  gehört,  mit  bestimmten 
Thatsachen  der  Geschichte  Christi  zusammen. 

Nachdem  der  von  den  Propheten  vorher  verkündigte  Sohn 
Gottes  als  Yev6(it.evo?  ex  CTcepfjuxTOi  AaßlS,  und  als  Y£v6{xevog  ix. 

13* 


196  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

Yuvai)tö;,  und  ysv6;j.svo?  Otto  voaov  zu  der  dazu  bestimmten  Zeit 
C^TS  '^>.6s  To  7rX7ipü)u,a  toO  j^o'^o^j,  Gal.  4, 4)  in  die  Weltgeschichte 
eingetreten  war,  und  nachdem  er  durch  seinen  Tod  das  voll- 
bracht hatte,  was  vor  allem  zur  Erlösung  der  Menschen  von  dem 
Fluch  des  Gesetzes  geschehen  musste,  war  es  die  grosse  That- 
sache  seiner  Auferstehung  vom  Tode,  durch  welche  die  neue 
mit  ihm  beginnende  Weltperiode  eröffnet  wurde.  Sie  ist  der 
Wendepunkt,  in  welchem  die  beiden  Perioden,  in  welche  der 
ganze  Weltverlauf  sich  theilt,  sich  von  einander  scheiden.  Auf 
die  Feststellung  und  Beglaubigung  dieser  Thatsache  durch  die 
urkundlichsten  Zeugnisse  legt  der  Apostel  das  grösste  Gewicht, 
da  auf  ihr  die  ganze  Predigt  des  Evangeliums,  der  Glaube  der 
Christen  und  die  Realität  alles  dessen  beruht,  was  zum  Inhalt  des 
christlichen  Bewusstseins  gehört,  1  Cor.  15,  1  f.  Wie  Christus 
nicht  hätte  auferstehen  können,  wenn  eine  Auferstehung  der 
Todten  nicht  an  sich  möglich  wäre,  so  ist  auch  durch  die  Auf- 
erstehung Christi  erst  für  die  Menschheit  die  Auferstehung 
zur  thatsächlichen  Wahrheit  geworden,  in  ihr  hat  zuerst  das 
durch  Christus  in  die  Menschheit  eingetretene  Lebensprincip 
in  seinen  auf  die  ganze  Menschheit  sich  erstreckenden  Wir- 
kungen sich  zu  äussern  angefangen.  Nachdem  durch  einen 
Menschen  der  Tod  gekommen,  so  kommt  durch  einen  Menschen 
auch  die  Auferstehung,  wie  in  Adam  alle  sterben,  so  werden  in 
Christus  alle  auferstehen.  Obgleich,  so  betrachtet,  die  Auf- 
erstehung dem  Apostel  nur  eine  Thatsache  der  christlichen  Offen- 
barung ist,  so  lässt  er  es  sich  doch  sehr  angelegen  sein,  sie  als 
eine  dem  natürlichen  Bewusstsein  einleuchtende  Wahrheit  dar- 
zustellen, und  sie  mit  der  allgemeinen  Anschauungsweise  in 
Einklang  zu  bringen.  Indem  er  ihre  Möglichkeit  zu  zeigen  sucht, 
1  Cor.  15,  35  f.,  stützt  er  sich  auf  folgende  Gründe:  1)  Die 
Natur  zeigt  uns  ganz  analoge  Erscheinungen,  Veränderungen, 
bei  welchen  Tod  und  Verwesung  nur  ein  Accidens  des  sich  gleich 
bleibenden,  nur  mit  einem  neuen  Leibe  sich  bekleidenden  sub- 


Paalin.  Lehrbegriff,     Christologie,  197 

slanziellen  Lebens  sind.  Das  Samenkorn,  wie  es  sowohl  stirbt 
als  wieder  auflebt,  ist  das  natürliche  Bild  der  Auferstehung, 
V.  36— 38.  2)  Die  Natur  zeigt  uns  eine  so  grosse  Mannigfaltig- 
keit und  Verschiedenheit  von  Körpern  oder  Wesen,  sowohl  min- 
der vollkommenen  als  solchen,  die  einen  weit  höhern  Grad  von 
Vollkommenheit  haben,  dass  daraus  zu  schliessen  ist,  auch  der 
Mensch  könne  nicht  blos  eine  sterbliche,  sondern  auch  eine  un- 
sterbliche Natur  haben,  V.  39  — 43.  3)  Wie  die  beiden  Elemente 
des  menschlichen  Wesens  4"JX?^  und  TTveOfü-a  sind,  die  ^}^u)(Tn  in 
dem  Sinne,  in  welchem  sie  auch  die  TapE  in  sich  begreift,  so 
dass  Adam  und  Christus  der  erste  und  zweite,  der  irdische  und 
himmlische  Mensch  die  beiden  Principien,  deren  Gegensatz  im 
Menschen  als  Einheit  ist,  in  sich  darstellen,  so  kann  das  Ver- 
hältniss  des  gegenwärtigen  Lebeng  zum  künftigen  nur  als  der 
Fortgang  vom  psychischen  Leben  zum  pneumatischen  gedacht 
werden,  V.  45  f.  Bei  diesem  letztern  Argument  besonders  fällt 
von  selbst  in  die  Augen,  dass  es  mehr  beweist,  als  bewiesen 
werden  soll.  Verhalten  sich  Adam  und  Christus  wie  <j^uj(r,  und 
7r»»sG[jLa,  warum  soll  das  pneumatische  Princip,  das  durch  Christus 
in  die  Menschheit  gekommen  ist,  erst  mit  der  künftigen  Aufer- 
stehung des  Leibes  in  seine  Herrschaft  eintreten,  dann  erst  seine 
Wirksamkeit  äussern?  man  sieht  nicht,  warum  das  durch  Christus 
der  Menschheit  mitgetheilte  höhere  geistige  Leben  nur  auf  den 
Leib  bezogen  wird.  Der  Gegensatz  ist  ja :  wie  die  Menschheit  in 
ihrer  ersten  Periode  die  psychische,  sinnliche,  fleischliche,  der 
Sünde  unterliegende  Seite  ihres  Wesens  an  sich  darstellt,  so 
ist  dagegen  in  der  zweiten  das  geistige  Princip  das  vorherr- 
schende, das  das  ganze  Denken,  Wollen  und  Thun  des  Menschen 
bestimmende.  Wenn  der  pneumatische  Charakter  des  Christen- 
tbums  schlechthin  in  die  Auferstehung  Christi  gesetzt  wird,  so 
ist  es  freilich  consequent,  auch  bei  den  Christen  die  Auferstehung 
des  Leibs  aus  demselben  Gesichtspunkt  zu  betrachten.  Aber  die 
Auferstehung  kann  nur  die  Vollendung  und  die  am  Leibe  sich 


{{fg  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

manifestirende  Wirkung  dessen  sein,  was  zuvor  schon  durch 
das  christliche  Princip  in's  Leben  getreten  ist.  In  der  Auferstehung 
ist  nur  der  Punkt  fixirt,  in  welchem  das  durch  Christus  geweckte 
geistige  Leben  zu  seinem  realsten  Ausdruck  kommt  und  in  der 
concretesten  Anschauung  sich  darstellt.  Der  Leib  ist  der  Träger, 
die  Anschauungsform  für  die  ganze  Persönlichkeit  des  Menschen, 
und  Tod  und  Auferstehung  sind  die  beiden  Seiten  des  mensch- 
lichen Wesens,  die,  so  verschieden  auch  ihr  Verhältniss  ist,  nie 
von  einander  getrennt  werden  können  und  daher  auch  zeitlich 
nicht  so. geschieden  sind,  wie  der  Apostel  es  darstellt.  Wie  die 
Menschen  nicht  blos  von  Adam  bis  Christus  starben,  sondern 
auch  jetzt  noch  sterben,  wie  es  ja  auch  V.  22  nicht  aTreOavov 
heisst,  sondern  ä7ro9vin<7xouTi ,  so  ist  auch  das  ^o>o7rotsi<T6at  h 
XpwTtji  nicht  blos  etwas  Zukünftiges,  sondern  Gegenwärtiges, 
sie  stehen  auf  in  dem  geistigen  Leben,  dessen  Princip  Christus 
ist.  Wie  soll  man  sich  auch  die  Wahrheit  des  Satzes  denken, 
dass  dv  Tö  Xpi(jTß  TravTEi;  ^tooTCOirjörjaovTai ,  wenn  diess  nur  von 
der  leiblichen  Auferstehung  zu  verstehen  wäre?  Gibt  es  auch 
eine  Auferstehung  der  Ungläubigen  und  Gottlosen,  wie  kann  von 
ihnen  gesagt  werden,  dass  sie  iv  XpiTTw  ^wo7i:oiyiöri<TovTai?  Man 
kann  dabei  nur  an  das  durch  Christus  der  Menschheit  mitgetheilte 
neue  geistige  Leben  denken,  sofern  in  ihm  ein  allgemeines  Princip, 
das  für  alle  die  gleiche  Bedeutung  hat,  in  das  Bewusstsein  der 
Menschheit  eingetreten  ist. 

Als  der  vom  Tode  Auferweckte  ist  Christus  zur  Rechten 
Gottes,  Rom.  8,  34,  in  der  unmittelbarsten  Gemeinschaft  mit 
Gott  haben  wir  uns  ihn  in  seinem  überirdischen  Sein  zu  denken, 
aber  er  bleibt  daselbst  nicht  auf  immer,  sondern  nur  bis  zu  einer 
bestimmten  Epoche,  ä.y^i<;  ob  eXövi  1  Cor.  11,  26.  Es  ist  also 
von  einem  Kommen  die  Rede,  das  erst  noch  bevorsteht  und  als 
teine  wapoucia  bezeichnet  wird,  1  Cor.  15,  23.  Mag  diese  Pa- 
tusie  früher  oder  später  erfolgen,  es  kaim  auch  in  der  Zwischen- 
4Beil  das  Verhältniss  Christi  zu  den  Seinen  kein  unlebendiges  sein. 


Paulin.   Lehrbegriff.     Cb  ristologie.  199 

'EvT'jyxavet  uTtep  vifxöv,  sagt  der  Apostel  Rom.  8,  34  von  Christus 
in  seinem  überirdischen  Zustand.  Er  setzt  das  auf  der  Erde  voll- 
brachte Werk  im  Himmel  dadurch  fort,  dass  er  als  unser  Für- 
sprecher und  Vermittler  bei  Gott  sich  dafür  verwendet,  den  Segen 
seiner  Erlösung  uns  auch  wirklich  zu  Theil  werden  zu  lassen. 
Denselben  Ausdruck  gebraucht  der  Apostel  Rom.  8,  26  vom 
Geist.  Er  vertritt  uns,  indem  er  das,  was  still  und  unbewusst 
in  uns  ist,  ohne  dass  wir  selbst  im  Stande  sind,  es  auszusprechen, 
dem  die  Herzen  prüfenden  Gott  als  Ausdruck  eines  gottgefälligen 
Sinnes  zu  vernehmen  gibt.  Christus  und  der  Geist  sind  somit  fort 
und  fort  dazu  thätig,  die  Gemeinschaft  zwischen  Gott  und  den 
Menschen  so  zu  vermitteln,  dass  alles  Hemmende  beseitigt  wird. 
Diess  ist  jedoch  nur  die  rein  überirdische  Seite  seiner  Thätigkeit. 
Wie  erweist  er  sich  aber  an  den  Seinen  auch  in  ihrem  irdi- 
schen Sein,  da  sie  durch  den  Glauben  in  einer  solchen  Beziehung 
zu  ihm  stehen,  dass  er  auch  in  seinem  überirdischen  Zustand 
einer  lebendigen  Gemeinschaft  mit  ihnen  nicht  entrückt  sein  kann? 
Es  gehört  hieher  die  dem  Apostel  besonders  eigenthümliche  Idee, 
dass  die  Christen  Glieder  des  Leibes  Christi  sind.  Dass  sie,  was 
sie  als  Christen  sind  und  sein  sollen,  nur  in  der  Einheit  mit 
Christus  sein  können,  in  ihm  allein  das  substanzielle  Princip 
ihres  Seins  und  Lebens  haben,  soll  dadurch  ausgedrückt  werden. 
Sie  alle  zusammen  bilden  einen  geistigen  Leib,  der  den  objectiven 
Grund  seines  Seins  und  Bestehens  in  Christus  hat,  sie  sind  in 
diesem  Sinn  ein  crwfxa  Xowtou,  1  Cor.  12,  27,  oder  wie  der 
Genitiv  XpKjro'j  auch  genommen  werden  kann,  ein  Leib,  der 
•Christus  ist,  der  eben  das  ist,  was  Christus  ist.  Denn,  sagt  der 
Apostel  1  Cor.  12,  12,  wie  der  Leib  Eins  ist  und  viele  Glieder 
hat,  alle  Glieder  des  Leibes  aber,  so  viele  es  sind.  Ein  Leib 
sind,  so  verhält  es  sich  auch  mit  Christus,  d.  h.  mit  der  christ- 
lichen Gemeinde,  die  gleichsam  der  persönliche  Christus  selbst 
ist.  Es  ist  eine  Einheit  in  der  Vielheit  und  das  die  Vielheit  zur 
Einheit  verknüpfende  Band  ist  der  Geist.    Denn  in  Einem  Geist 


Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

sind  wir  alle  zu  Einem  Leibe  getauft  worden ,  seien  wir  Juden 
oder  Hellenen,  Knechte  oder  Freie,  und  alle  sind  wir  mit  Einem 
Geiste  getränkt  worden.  Alle  also,  welche  die  christliche  Taufe 
empfangen  haben,  so  verschieden  sie  auch  nach  ihrer  nationalen 
Abkunft  und  ihren  sonstigen  Lebensverhältnissen  sein  mögen, 
bilden  eine  und  dieselbe  Gemeinschaft,  und  derselbe  in  der  Taufe 
mitgetheilte  Geist  dient  allen  zur  Nahrung  und  Förderung  ihres 
geistigen  Lebens.  Wie  man  nach  1  Cor.  12,  12  durch  die  Taufe 
einem  Leibe  einverleibt  wird,  der  Christus  ist,  so  sagt  der  Apostel 
Gal.  3,  27,  dass  die,  die  auf  Christus  getauft  werden,  Christus 
anziehen  und  in  ihm  alle  Eins  seien,  wer  sie  auch  seien,  Juden 
oder  Hellenen,  Knechte  oder  Freie,  Männer  oder  Weiber. 
Christum  anziehen  heisst  wesentlich  eins  mit  ihm  werden,  wie 
man  aber  mit  ihm  eins  wird,  sagt  der  Apostel  Rom.  6,  3  f.,  die 
auf  Christus  getauft  werden,  werden  auf  seinen  Tod  getauft.  Sie 
werden  mit  ihm  begraben  durch  die  Taufe  auf  den  Tod,  damit 
wie  Christus  auferweckt  worden  ist  von  den  Todten  durch  die 
Herrlichkeit  des  Vaters,  so  auch  sie  in  einer  neuen  Beschaffen- 
heit des  Lebens  wandeln;  denn  wie  sie  der  Ähnlichkeit  nach  mit 
seinem  Tode  zusammengewachsen  sind,  so  werden  sie  es  auch 
mit  seiner  Auferstehung  sein.  Die  Taufe  stellt  als  Untertauchung 
Beides  in  sich  dar,  Tod  und  Auferstehung.  Es  muss  also  in 
jedem,  der  in  lebendiger  Gemeinschaft  mit  Christus  stehen  will, 
derselbe  Process  des  Todes  und  Lebens,  der  sich  uns  in  der 
Person  Christi  darstellt,  sich  wiederholen,  er  muss  sterben  und 
auferstehen,  der  Sünde  absterben  und  der  Gerechtigkeit  leben. 

Mit  der  Taufe  nennt  der  Apostel  1  Cor.  10,  1  f.  das  Abend- 
mahl zusammen.  Beide  sind  gleich  wesentliche  Elemente  der 
christlichen  Gemeinschaft,  beide  begreifen  auf  gleiche  Weise  das 
in  sich,  was  zum  eigenthümlichen  Charakter  und  Vorzug  der- 
selben gehört,  beide  haben  daher  auch  ihr  Vorbild  schon  in  der 
alttestamentlichen  OfTenbarungsgeschichte.  Eine  geistige  Speise 
assen  die  Israeliten  und  einen  geistigen  Trank  tranken  sie,  so- 


Paalin.  Lehrbegriff.     Tanfe  nnd  Abendmahl.        801 

fern  die  darauf  sich  beziehenden  alttestamentlichen  Begebenheiten 
durch  die  allegorische  Schrifterklärung  diese  geistige  oder  typi- 
sche, symbolische  Bedeutung  erhalten.  Man  kann  daher  aus 
dem  Ausdruck  7cv£U{7.aTt>t6; ,  der  hier  ebenso  zu  nehmen  ist,  wie 
Apok.  11,  8,  nicht  mit  Rückert  schliessen,  der  Apostel  habe  sich 
im  Abendmahl  einen  verklärten  Leib  Christi  gedacht.  Wie  die 
Taufe  jeden  in  eine  gleichsam  persönliche  Beziehung  und  Lebens- 
gemeinschaft zu  Christus  setzt,  so  betrachtet  der  Apostel  auch 
das  Abendmahl  aus  demselben  Gesichtspunkte.  Er  nennt  1  Cor. 
10,  16  den  Kelch  eine  Gemeinschaft  des  Blutes  Christi  und  das 
Brod  eine  Gemeinschaft  seines  Leibes.  Durch  den  Genuss  von 
Brod  und  Wein  nimmt  man  Theii  am  Leib  und  Blut  Christi;  heisst 
diess  aber,  man  esse  in  dem  Brode  den  wirklichen  Leib  Christi 
und  trinke  im  Wein  sein  wirkliches  Blut?  Diess  ist  so  wenig  der 
Fall,  dass  der  Apostel  unter  TöjAa  XokjtoO  nicht  einmal  den  wirk- 
lichen Leib  Christi  selbst  zu  verstehen  scheint.  Denn,  wenn  der 
Apostel  zur  Erklärung  der  xotviovia  toO  orw^AaTo;  XpwToO  sagt: 
weil  es  Ein  Brod  ist,  sind  wir,  obgleich  wir  viele  sind,  Ein 
Leib,  denn  wir  alle  nehmen  ja  an  dem  Einen  Brode  Theil,  so  ist 
der  Leib,  dessen  Einheit  in  der  Einheit  des  Brodes  sich  darstellt, 
die  Gemeinde,  und  wenn  man,  sofern  man  an  dem  Einen  Brode 
Theil  nimmt,  auch  an  der  Einheit  des  Leibs  Theil  hat,  so  ist  die 
durch  das  Brod  vermittelte  xoivwvia  toO  (Twj^-aTo?  XpiGToO  die 
Gemeinschaft,  die  jeder,  der  das  Brod  bricht,  mit  der  Gemeinde, 
als  dem  (röjxa  Xpicrou  hat.  Die  Bedeutung  des  Abendmahls  be- 
stände demnach,  so  betrachtet,  darin,  dass  man  sich  in  ihm 
bewusst  wird,  dem  in  der  Gemeinde  der  Glaubigen  bestehenden 
Leibe  Christi  als  Glied  desselben  anzugehören.  Schon  insofern 
ist  das  Abendmahl  eine  Vergegenwärtigung  Christi,  man  sieht  in 
seiner  Gemeinde,  als  dem  Leibe  Christi,  ihn  selbst  vor  sich.  Es 
ist,  wie  wenn  der  Apostel,  indem  er  das  cröaa  XpwToO  in  diesem 
Sinne  nimmt,  sich  dadurch  erklären  wollte,  wie  Jesus  in  den 
Einsetzungsworten  von  dem  Brod  als  seinem  Leibe  habe  reden 


903  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

können.  Sprach  er  aber  einmal,  auch  nur  in  diesem  Sinne,  von 
seinem  Leibe,  so  musste  sich  mit  seinem  Leib  auch  die  Vorstel- 
lung des  Todes  verknüpfen.  Wie  Jesus  in  den  Einsetzungsworten 
nicht  blos  von  seinem  Leibe,  sondern  auch  seinem  Blute  sprach, 
so  ist  die  /.otvwvia  toO  atojxaTO?  auch  eine  xoivwvia  toO  atfAaTO?. 
Man  kann  in  seiner  Gemeinde  seinen  Leib  nicht  anschauen,  ohne 
auch  daran  zu  denken,  dass  er  für  sie  gestorben  ist.  Daher  ist 
die  Feier  des  Abendniahls,  wie  es  ja  auch  im  Momente  seines 
Todes  gestiftet  ist,  eine  Verkündigung  seines  Todes.  Wie  schon 
dadurch  bei  jeder  Feier  das  Andenken  an  ihn  erneuert  wird,  so 
sollte  das  Abendmahl  selbst  für  den  Zweck  der  äva[ji,v]ri<nc  gestiftet 
worden  sein,  und  die  Bedeutung  dieser  ävajxvr,<7i;  wird  näher  da- 
durch bestimmt,  dass  man  durch  das  Essen  des  Brodes  und  das 
Trinken  des'  Kelchs  den  Tod  des  Herrn  solange  verkündigen 
sollte,  bis  er  komme.  Man  feierte  also  das  Abendmahl  mit  dem 
Gedanken  an  die  Parusie,  die  Wiederkunft  des  Herrn,  verkün- 
digte nicht  blos  den  Tod,  durch  welchen  er  aus  einem  Gegen- 
wärtigen ein  Abwesender  geworden  war,  sondern  dachte  sich 
ihn  auch  als  den  einst  wieder  Kommenden  und  Gegenwärtigen, 
und  das  Abendmahl  hatte  so  seine  unmittelbarste  und  reellste 
Bedeutung  für  diese  Zwischenzeit  zwischen  dem  Tod  und  der 
Parusie,  man  hatte  in  dem  Brod  als  seinem  Leib  und  dem  Wein 
als  seinem  Blut  einen  Ersatz  für  seine  Abwesenheit,  sah  ihn 
selbst  leiblich  und  sichtbar  vor  sich,  es  war  als  äva[jLv/)<ii?  nicht 
blos  eine  Erinnerung  an  den  Abwesenden,  sondern  auch  eine 
Vergegenwärtigung  desselben,  ein  sichtbares  Unterpfand  seines 
Wiederkommens.  yw»  ;••.'  'Wn  .1» 

Christus  kommt  also  wieder,  aber  wann?  Der  Apostel 
scheint  ganz  den  Glauben  der  ältesten  Christen  an  die  Nähe  der 
Parusie  Christi  zu  theilen.  Wie  er  das  Hauptmoment  der  Er- 
scheinung Christi  in  seine  Auferstehung  setzt  und  in  den  zur 
Thatsache  gewordenen  Sieg  des  Lebens  über  den  Tod,  so  muss 
sich  dasselbe  Princip,  das  in  ihm  zuerst  in  seiner  vollen  Energie 


Paulin.  Lchibegriff.     Parusie  Ch  rist  i.  203 

hervorgetreten  ist,  auch  an  denen  bethätigen,  die  mit  ihm  zu 
derselben  Gemeinschaft  gehören.  Die  Parusie  ist  daher  der  Zeil- 
punkt der  Auferstehung  1  Cor.  15,  23.  Damit  verbindet  der 
Apostel  die  eigene  Vorstellung,  dass  die,  die  diese  Katastrophe 
erleben,  werden  verwandelt  werden,  1  Cor.  15,  51.  Sie  müssen 
verwandelt  werden,  weil  auch  in  ihnen  der  Tod  überwunden 
und  das  Sterbliche  zum  Unsterblichen  aufgehoben  werden  muss, 
wenn  sie  dasselbe  Leben,  zu  welchem  die  Auferweckten  durch 
die  Auferstehung  eingehen,  mit  ihnen  Iheilen  sollen.  Ernennt 
diess  ein  [Aucrr'piov,  etwas  sehr  Bedeutungsvolles,  woran  man 
bisher  noch  nicht  gedacht  habe,  es  ist  jedoch  nur  die  natürliche 
Folgerung  aus  dem  zuvor  Gesagten.  Dass  er  die  Parusie  als  ein 
Ereigniss  betrachtet,  welche  er  mit  seinen  damals  lebenden  Zeit- 
genossen noch  selbst  erleben  werde,  sagt  er  deutlich  genug, 
wenn  er  im  Unterschied  von  denen,  welche  gestorben  sind,  sagt: 

Mit  der  Parusie  Christi  ist  der  Punkt  gegeben,  von  welchem 
aus  die  Eschatologie  in  der  Reihe  ihrer  Momente  sich  entwickelt. 
Wie  sie  auf  die  Auferstehung  Christi  folgt,  und  ihre  wesent- 
lichste Bedeutung  in  der  Auferstehung  der  glaubigen  Christen 
hat,  so  folgt  auf  sie  noch  das  Ende,  an  welchem  die  mit  der 
Auferstehung  Christi  beginnende  Negation  des  Todes  vollendet 
ist.  Am  Ende  des  ganzen  gegenwärtigen  Weltlaufs  übergibt 
sodann  Christus  die  Herrschaft  Gott  dem  Vater,  und  unterwirft 
sich  dem,  der  ihm  alles  unterworfen  hat,  damit  Gott  sei  alles  in 
allem,  1  Cor.  15,  24  —  28.  Die  ganze  Welt-  und  Menschen- 
geschichte wird  als  der  Antagonismus  zweier  Principien  aufge- 
fasst,  von  welchen  das  eine  zuerst  zu  seiner  Herrschaft  gelangt, 
bis  es  von  dem  andern  bekämpft,  überwunden  und  völlig  aufge- 
hoben ist.  Das  erste  dieser  Principien  ist  der  Tod,  mit  ihm  be- 
ginnt die  Wellgeschichte,  und  ihr  Ende  hat  sie,  wenn  der  Tod 
und  mit  ihm  der  ganze  Gegensatz,  dessen  Entwicklung  der  Ver- 
lauf der  Weltgeschichte  ist,  aus  ihr  wieder  verschwunden  ist. 


804  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

Um  die  Macht  des  Princips  des  Todes  zu  brechen ,  erschien 
Christus  zu  der  ihm  bestimmten  Zeit,  als  der  Sohn  Gottes.  Gott 
hat  ihn  aus  sich  herausgestellt,  er  geht  in  ihm  gleichsam  selbst 
in  den  Process  der  Weltgeschichte  ein,  und  unterwirft  sich  in 
ihm  der  Endlichkeit  der  von  dem  Princip  des  Todes  beherrschten 
Welt,  damit  in  dem  Endlichen  das  Princip  der  Unendlichkeit  auf- 
gehe, aus  der  Welt  des  Todes  die  Welt  des  Lebens  hervorbreche. 
Gebrochen  ist  zwar  die  Macht  des  Princips  des  Todes  schon 
durch  die  Auferstehung  Christi,  solange  aber  die  Weltgeschichte 
noch  ihren  Verlauf  hat,  ist  das  Princip  des  Lebens  noch  nicht  zu 
seiner  Herrschaft  hindurchgedrungen.  Es  geschieht  diess  erst  in 
der  künftigen  Welt,  in  welcher  in  dem  vollendeten  Sieg  des 
Lebens  über  den  Tod  aller  Kampf  ausgekämpft,  aller  Gegensatz 
verschwunden  ist,  und  der  über  allen  stehende  absolute  Gott  aus 
dem  geschichtlichen  Process,  in  welchem  er  die  von  ihm  ge- 
schaffene Welt  sich  gegenübergestellt  hat,  alles,  was  ihm  an- 
gehört, in  sich  selbst  zurücknimmt,  um  es  in  der  ewigen  Einheit 
seines  Wesens  mit  sich  zusammenzuschliessen.  Ist  der  Gegen- 
satz der  beiden  Principien,  des  Todes  und  des  Lebens  zur  Einheit 
aufgehoben  >  so  kann  auch  der  mit  dem  Princip  des  Lebens 
identische  Christus  nicht  mehr  ausser  Gott,  sondern  nur  in  Gott 
sein.  Hat  der  Gegensalz  zwischen  Gott  und  der  Welt  sein  Ende 
erreicht,  so  ist  kein  Vermittler  mehr  nöthig.  Das  Vergängliche 
hat  angezogen  die  Unvergänglichkeit,  das  Sterbliche  die  Un- 
sterblichkeit. Zuletzt  ist  Gott  alles  in  allem.  Wie  ist  aber  diess 
zu  verstehen,  begreift  es  auch  das  endliche  Aufhören  des  Bösen 
durch  die  Bekehrung  der  Gottlosen  und  des  Teufels  in  sich?  Der 
Inhalt  und  Ausdruck  der  Stelle,  wie  namentlich  auch  das  Bild 
Tiöivai  im  Tou;  Tuo^a;  scheint  mehr  auf  eine  äussere  Entwaffnung 
als  auf  innere  Überwindung  des  Bösen  hinzudeuten.  Aber  welcher 
Unterschied  ist  es,  ob  die  bösen  Mächte  noch  fortexistiren ,  aber 
bis  zur  völligen  Unmacht  entkräftet,  oder  ob  sie  zuletzt  selbst 
von  der  alles  durchdringenden  Macht  des  Guten  angezogen  wer- 


Paulin.  Lehrbegr  jff.     Lehre  von  Gott.  205 

den?    Ist  dem  Tode  der   letsste   Stachel  genommen,   so  sollte 
man  meinen ,  dass  es  keine  ewige  Verdammniss  geben  kann. 

Von  selbst  schliesst  sich  hier  noch  die  Lehre  des  Apostels 
von  Gott  an.  Wie  das  Resultat  der  ganzen  Weltentwicklung 
darin  besteht,  dass  Gott  alles  in  allem  ist,  so  ist  dem  Apostel 
eben  diess  auch  der  leitende  Gesichtspunkt,  unter  welchen  er 
alles  stellt.  Alles,  was  er  zum  Gegenstand  seiner  Betrachtung 
macht,  hat  für  ihn  immer  wieder  eine  wesentliche  Beziehung 
auf  Gott,  und  je  mehr  er  sich  bemüht,  eine  Sache  nach  ihren 
verschiedenen  Seiten  aufzufassen  und  in  dem  ganzen  Zusammen- 
hang ihrer  Momente  darzulegen,  desto  mehr  drängt  es  ihn,  in 
letzter  Beziehung  zur  absoluten  Idee  Gottes  aufzusteigen ,  und 
seine  Betrachtung  in  ihr  als  ihrer  Spitze  abzuschliessen.  Wie 
von  Gott  alles  ausgehl,  so  ist  auf  ihn  alles  zurückzuführen.  Der 
Eine  Gott  ist  der  Vater,  ic,  oL  xx  ravxa  xai  vijj-sT;  et;  aÜTOv  1  Cor. 
8,  6,  oder,  wie  er  Rom.  H,  36  noch  umfassender  sagt,  i^ 
a'JToO,  xal  Si'  aÜToO,  xal  ei?  aÜTov  ra  -rravTa,  alles  geht  von  ihm 
aus,  alles  wird  durch  ihn  realisirt,  alles  hat  in  ihm  seinen  höch- 
sten Endzweck.  In  dieser  Richtung  auf  die  Eine  alles  bedingende 
Causalität  Gottes  ist  es  das  Bestreben  des  Apostels,  die  Idee  Got- 
tes in  ihrer  reinen  Absolutheit  aufzufassen  und  alles  Particulari- 
stische.  Beschränkte  und  Endliche  von  ihr  auszuschliessen.  Auf 
dieser  Auffassung  der  Idee  Gottes  beruht  der  Universalismus  des 
Apostels,  wie  er  diess  in  dem  Satz  ausspricht,  dass  Gott  sowohl 
der  Heiden  als  der  Juden  Gott  sei.  Rom.  2,  11.  3,  29.  10,  12. 
Das  Christenthum  ist  selbst  nichts  anderes,  als  die  Aufhebung 
alles  Particularistischen ,  damit  die  reine  absolute  Gottes-Idee 
in  der  Menschheit  sich  verwirkliche,  oder  in  ihr  zum  Bewusst- 
sein  komme.  In  die  allgemeine  Verbreitung  der  wahren  Er- 
kenntniss  Gottes  setzt  daher  der  Apostel  die  Aufgabe  des  Chri- 
stenthums  selbst.  2  Cor.  2,  14.  Wie  die  Rechtfertigung  durch 
den  Glauben  darauf  beruht,  dass  Gott  nicht  blos  der  Juden,  son- 
dern auch  der  Heiden  Gott,  also  Gott  im  absoluten  Sinn  ist,  so 


^06  Zweiter  Abschnitt."  Erste  Periode, 

hat  sich  Gott  auch  schon  von  Anfang  an  den  Heiden  geoffenbart, 
es  gehört  also  überhaupt  zum  Wesen  Gottes,  sich  zu  ofFenbaren; 
aber  das  an  sich  unsichtbare  Wesen  Gottes  wird  nicht  unmittel- 
bar offenbar,  sondern  nur  mittelbar,  nur  auf  dem  Wege  der 
denkenden  Betrachtung  erkennt  man  Gott  aus  den  Werken  der 
Natur,  Rom.  1,  19.  Die  Haupteigenschaft  Gottes  ist  die  All- 
macht ,  als  die  Eigenschaft ,  durch  welche  Gott  das  Nichtseiende 
in's  Dasein  ruft,  Rom.  4,  17.  Ein  Werk  seiner  Allmacht  ist 
auch  das  Christenthum ,  als  geistige  Schöpfung,  es  ist  auch  eine 
Lichtschöpfung  wie  die  Schöpfung  der  Welt,  2  Cor.  4,  6.  Die 
wichtigste  Thatsache,  auf  welcher  das  ganze  Christenthum  be- 
ruht, die  Auferweckung  Jesu,  ist  ein  gleicher  Akt  seiner  All- 
macht, Rom.  4,  17.  Der  Allmacht  Gottes  steht  zunächst  seine 
Liebe,  denn  nur  die  Liebe  kann  die  letzte  und  höchste  Ursache 
sein ,  auf  welche  das  ganze  von  Gott  beschlossene  und  veran- 
staltete Werk  der  Erlösung  zurückzuführen  ist,  Rom.  5,  8.  8, 
39.  2  Cor.  13,  13.  Die  Liebe  aber  kann  sich  nicht  äussern,  ohne 
dass  auch  der  Gerechtigkeit  Gottes  Genüge  geschieht,  als  der 
Eigenschaft,  durch  welche  zwischen  Gott  und  den  Menschen 
das  der  Idee  Gottes  adäquate  Verhältniss  bewirkt  werden  muss. 
Das  Christenthum  ist  selbst  eine  Offenbarung  der  Gerechtigkeit 
Gottes,  Rom.  1,  17.  Ist  der  Gerechtigkeit  Gottes  Genüge  ge- 
sehen ,  so  wird  seine  Liebe  in  der  Vergebung  der  Sünden  zur 
Gnade.  Den  höchsten  Inhalt  des  christlichen  Gottesbewusstseins 
legt  der  Apostel  in  die  Bezeichnung  Gottes  als  des  Vaters  Jesu 
Christi.  Die  beiden  Begriffe  Vater  und  Sohn  beziehen  sich  bei 
dem  ApQstel  nicht  auf  ein  inneres  Verhältniss  im  Wesen  Gottes 
selbst.  Sohn  Gottes  heisst  Jesus  nur  in  Beziehung  auf  das  Werk 
der  Erlösung.  Gott,  Christus  und  der  heilige  Geist  bilden  zwar 
eine  Trias,  2  Cor.  13,  13,  aber  keine  abstract  metaphysische, 
sondern  nur  für  das  concrete  christliche  Bewusslsein.  Die  Gnade 
steht  voran,  weil  das  Hauptmoment  des  christlichen  Bewusst- 
seins  die  durch  Christus  erworbene  Sündenvergebung  ist,  das 


Panlin.  Lehrhegriff.    Lehre  von  Gott.    Apokalypse.     207 

Princip  der  Gnade  ist  die  Liebe,  und  das  Princip,  das  die,  wel- 
chen die  Gnade  Christi  und  die  Liebe  Gottes  zu  Theil  geworden 
ist,  zur  Gemeinschaft  verbindet,  ist  der  heil.  Geist.  In  Bezie- 
hung auf  das  Wesen  Gottes  selbst  spricht  der  Apostel  nicht  vom 
heiligen  Geist,  sondern  vom  Geist  Gottes  1  Cor.  2,  10.  Er  unter- 
scheidet von  Gott  und  dem  Wesen  Gottes  an  sich  den  Geist  Got- 
tes als  das  Princip  des  Selbstbewusstscins  und  der  Persönlichkeit 
Gottes.  Wie  der  Geist  des  Menschen  ist  der  Geist  Gottes  das 
Princip  des  Wissens. 

2.     Der    Lehrbegriff    der    Apokalypse. 

Wie  der  paulinische  Lehrbegriff  sich  am  weitesten  vom  Ju- 
denthum  entfernt  und  sogar  in  bestimmtem  Gegensatz  zu  dem- 
selben steht,  so  schliesst  sich  dagegen  der  der  Apokalypse  um 
so  näher  und  unmittelbarer  an  das  Judenthum  an.  Nur  ist  es 
nicht  das  gesetzliche  mosaische  Judenthum ,  sondern  das  selbst 
schon  geistigere  Elemente  enthaltende  prophetische,  das  hier 
in  einer  eigenthümlichen  Verbindung  mit  dem  Christenthum  er- 
scheint. 

Wie  die  Propheten  des  alten  Testaments  ganz  in  der  An-r 
schauung  des  kommenden  Messias  lebten  und  mit  begeistertem 
Blick  dieses  Ziel  der  Theokralie  vor  sich  sahen  ,  so  bewegt  sich 
auch  bei  dem  Apokalyptiker  alles  um  die  Zukunft  des  Messias, 
in  den  Gedanken  der  schon  in  der  nächsten  Zeit  erfolgenden 
Parusie  Christi  geht  sein  ganzes  christliches  Bewusstsein  auf. 
Dass  der  Herr  kommt,  dass  er  in  kürzester  Frist  kommt,  dass 
schon  jetzt  in  der  Gegenwart  alles  zur  Vollendung  der  letzten 
Dinge  sich  anschickt,  ist  das  prophetische  Wort,  das  durch  die 
ganze  Apokalypse  hindurch  erschallt.  Alle  wahre  Christen  sind 
dem  Apokalyptiker  als  solche  auch  Propheten.  Wahre  Christen 
sind  die,  welche  die  {Aap-rjpia  toO  'Ir^oO  haben.  Diese  selbst 
aber  besteht  darin,  dass  man  mit  seinem  ganzen  Denken  und 
Wollen  auf  die  Parusie  Christi  gerichtet  ist.    In  demselben  Ver- 


208  Zweiter  Abschnitt.    Erste  Periode. 

hältniss,  in  welchem  das  Bewusstsein  des  Christen  im  Gedanken 
an  die  Parusie  von  der  Zukunft  erfüllt  ist,  hat  er  auch  den  Geist 
der  Prophetie  in  sich,  Apok.  19,  10.  Die  dogmatische  Grund- 
anschauung der  Apokalypse  ist  das  Reich  Christi,  wie  es  durch 
die  ganze  mit  der  Parusie  verbundene  Katastrophe  in  dem  himm- 
lischen Jerusalem  sich  verwirklicht.  Die  Zeit  der  Erndte  ist  da, 
Apok.  14,  15,  sobald  die  Zahl  der  vollendeten  Heiligen  voll  ge- 
worden ist,  6,  11.  14,  3.  15,  2.  Nach  einer  Reihe  von  Plagen, 
welche  das  Judenthum  zu  seinem  Heil  H,  13,  das  Heidenthum 
aber  zu  seinem  Verderben  getroffen  und  insbesondere  die  grosse 
Hure  Babylon ,  d.  h.  Rom,  als  den  Mittelpunkt  des  abgöttischen 
Heidenthums  von  der  Erde  vertilgt  haben,  öffnet  sich  der  Him- 
mel, der  Xoyo;  toj  ösoO  kommt  mit  einem  Schwert  im  Munde 
herab,  19,  11  f.  Er  führt  Krieg  mit  dem  Antichrist  und  seinem 
Propheten ,  lässt  beide  lebendig  in  den  Schwefelpfuhl  werfen 
undvernichtet  ihre  Anbeter,  die  Vögel  des  Himmels  werden  zu 
dem  grossen  Mahle  Gottes  berufen,  19,  17  und  verzehren  das 
Fleisch  der  getödteten  Verfolger,  der  Satan  aber  wird  auf  tau- 
send .Jahre  in  der  Hölle  gefangen  gesetzt,  während  die  Märtyrer 
auferstehen ,  20,  4  f.,  das  Hochzeitmahl  des  Lammes  und  der 
Braut  beginnt,  19,  7.  und  jene  mit  Christus  tausend  Jahre  in 
Jerusalem  herrschen,  20,  5  f.  vgl.  11,  1.  Nach  Ablauf  dieser 
Zeit  erfolgt  ein  zweiter  Angriff  des  wieder  frei  gewordenen 
Satans,  der  aber  mit  dessen  Sturz  in  den  Schwefelpfuhl  endigt, 
und  nun  beginnt  Gott  das  allgemeine  Weltgericht,  in  das  wahr- 
scheinlich die  der  ersten  Auferstehung  Gewürdigten  nicht  kom- 
men. Nachdem  jeder  streng  nach  seinen  Werken  gerichtet  und 
mit  den  Bösen  auch  die  letzten  Feinde  Tod  und  Hades  in's  ewige 
Verderben  hinabgestossen  sind,  nehmen  Himmel  und  Erde  eine 
neue  Gestalt  an,  21,  1  f.  Die  heilige  Stadt,  das  neue  Jerusa- 
lem steigt  vom  Himmel  herab,  zubereitet  wie  eine  für  ihren 
Bräutigam  geschmückte  Braut.  Die  Grösse  und  Herrlichkeit  die- 
ser Gottesstadt  wird  mit  der  sinnlichsten  Anschaulichkeit  geschil- 


Lehrbegriff  der  Apokalypse.  209 

dert.  Gold,  Perlen  und  Edelsteine  sind  das  Material,  aus  wel- 
chem sie  erbaut  ist.  Ein  Tempel  jedoch  ist  nicht  in  ihr,  denn 
Gott  der  Herr,  der  Allmächtige,  ist  ihr  Tempel  und  das  Lamm. 
Und  die  Stadt  bedarf  nicht  der  Sonne,  noch  des  Mondes;  dass 
sie  ihr  scheinen,  denn  die  Herrlichkeit  Gottes  hat  sie  erleuchtet, 
und  ihre  Leuchte  ist  das  Lamm.  Ihre  Bewohner  sind  nur  die, 
die  aufgeschrieben  sind  im  Lebensbuche  des  Lammes.  Ein  Strom 
von  Lebenswasser  geht  vom  Throne  Gottes  und  des  Lammes 
aus  und  auf  beiden  Seiten  des  Stroms  steht  der  Baum  des  Lebens. 
Es  fragt  sich,  wie  wir  diese  Schilderung  der  künftigen 
Seligkeit  und  der  Vollendung  des  Reichs  Christi  zu  nehmen  ha- 
ben? Es  lässt  sich  nicht  läugnen,  dass  das  apokalyptische  Reich 
Christi  tief  unter  der  von  Jesu  aufgestellten  sittlichen  Idee  der 
ßaTiXsia  Töv  oüpavtov  steht.  Der  Apokalyptiker  lehrt  nicht  nur 
chiliastisch  ein  irdisches  Reich  Christi,  auch  der  auf  dieses  Reich 
folgende  Zustand  der  Vollendung  und  Seligkeit  ist  nur  ein  irdisch- 
himmlischer. Eine  Vollendung  im  Himmel  kennt  der  Apoka- 
lyptiker nicht,  das  Himmlische  ist  ihm  immer  zugleich  ein  Irdi- 
sches, das  Jenseitige  ein  Disseitiges.  Auf  das  tausendjährige 
Reich,  das  nur  eine  vermittelnde  Bedeutung  haben  kann  und  nur 
den  Übergang  macht,  kann  nichts  Anderes  folgen  als  das  Letzte. 
Wozu  würde  ein  neuer  Himmel  und  eine  neue  Erde  geschaffen 
werden ,  wenn  auch  sie  wieder  verschwinden  und  nur  für  eine 
Zwischenperiode  bestimmt  sein  sollten?  Auch  die  letzte  Vollen- 
dung und  der  in  alle  Ewigkeit  dauernde  Zustand  der  Seligkeit 
kann  in  der  Anschauung  der  Apokalypse  nur  auf  dem  materiellen 
Boden  der  endlichen,  wenn  auch  himmlisch  verklärten  Erde 
stattfinden.  Es  kann  daher  nicht  anders  sein,  als  dass  das  Ab- 
solute der  Idee  sich  in  inadäquate  sich  selbst  widersprechende 
Vorstellungen  auflöst.  Wie  der  Apokalyptiker  die  Seligkeit  sei- 
nes neuen  Jerusalems  nur  mit  altteslamentlichen  aus  den  Schrif- 
ten der  Propheten  entlehnten  Bildern  schildern  kann,  in  welchen 
an  die  Stelle  des  neuen  Jerusalems  immer  wieder  das  alte  tritt, 

Baur.  nentest.  Theol.  *4 


!S10  Zweiter  Abschnitt.    Zweite  Periode. 

SO  kann  sich  er  auch  da,  wo  er  sich  auf  den  höchsten  Standpunkt 
erhebt,  nie  seines  alttestamenllichen  Particularismus  entschla- 
gen. Vgl.  21,  24.  22,  2. 

Man  hat  die  Apokalypse  schon  oft  wegen  ihrer  sinnlichen 
Vorstellungsweise  zu  vertheidigen  gesucht.  Was  hilft  es  aber, 
wenn  z.B.  Storr,  Neue  Apologie  der  Off.  Joh.  S.408,  sagt:  So 
wenig  Christus  einen  irdischen ,  erst  zur  Unverweslichkeit  rei- 
fenden Leib  hat,  so  wenig  ist  man  berechtigt ,  den  Märtyrern, 
die  mit  ihm  leben ,  einen  solchen  Leib  zuzuschreiben.  So  wenig 
die  Glaubigen,  die  in  dem  neuen  Jerusalem  Gott  und  Christo  als 
Priester  dienen,  und  mit  ihm  in  Ewigkeit  herrschen,  ein  irdi- 
sches Leben  führen,  so  wenig  darf  man  den  auferstandenen 
Märtyrern,  die  tausend  Jahre  früher  mit  Christo  regieren,  ein 
irdisches  Leben  aufdringen,  oder  sie  auf  diese  Erde  herabsetzen, 
die  während  der  tausend  Jahre  noch  irdische,  verführbare,  sterb- 
liche Bewohner  hat.  Wer  wollte  die  Märtyrer  mit  ihren  verklär- 
ten Leibern,  und  Christus  selbst,  mit  dem  sie  regieren  sollen, 
während  der  tausend  Jahre  auf  die  Erde  versetzen?  Freilich 
bringe  es  der  ganze  Plan  des  Buchs  mit  sich,  dass  während  der 
tausend  Jahre  Gott  und  Christus  die  Erde  beherrscht,  wie  er  sie 
zuvor  nicht  beherrscht  hat,  dass  sein  Einfluss  ä\if  die  Welt  sicht- 
barer sei ,  als  zuvor.  Aber  herrscht  Christus  gegenwärtig  nicht 
über  die  Erde,  weil  er  sich  nicht  sichtbar  bei  uns  aufhält?  Kann 
sein  Einfluss  nicht  allgemeiner  und  offenbarer  werden,  ohne  dass 
er  selbst  auf  dieser  Erde  mit  Augen  gesehen  wird?  Soll  sich 
denn  auch  Gott  in  den  tausend  Jahren  sichtbar  auf  der  Erde  auf- 
halten? Die  Apokalypse  sagt  kein  Wort  davon,  dass  Chri- 
stus und  die  Märtyrer  sichtbar  auf  der  Erde  wohnen  und  nach 
Art  der  Könige  dieser  Welt  irdischen  Glanz  und  irdische  Hoheit 
zeigen  werden  u.  s.  w. 

Alles  diess  ist  eine  ganz  vergebliche  Apologie.  Wie  lässt 
sich  denn  gegen  den  klaren  Sinn  dieser  Darstellung  läugnen, 
dass  die  Erde  der  Schauplatz  der  künftigen  Seligkeit  und  Herr- 


Lehrbegriff  der  Apokalypse.  2tt 

lichkeit  ist?  Man  könnte  nur  sagen,  da  so  viele  Züge  offenbar 
einen  bildlichen  Sinn  haben,  so  könne  die  ganze  Darstellung 
nur  als  eine  bildliche  genommen  werden.  Welche  abstracto 
Vorstellung  bliebe  aber  am  Ende  zurück,  wenn  alles  Concreto 
nur  zur  bildlichen  Darstellung  zu  rechnen  wäre!  Weit  richtiger 
fragt  man,  ob  denn  die  Apokalypse,  wenn  wir  sie  mit  den  übri- 
gen neutestamentlichen  Schriften  vergleichen,  mit  ihrer  sinn- 
lichen Vorstellungsweise  so  allein  steht.  Welcher  grosse  Un- 
terschied ist  es,  ob  ein  solcher  transcendenter  Zustand,  wie  der 
Zustand  der  Seligen  überhaupt  nach  der  Lehre  des  neuen  Testa- 
ments ist,  in  den  Himmel  oder  auf  die  himmlisch  verklärte  Erde 
versetzt  wird?  Hält  man  auch  den  Begriff  der  leiblichen  Auf- 
erstehung fest,  wie  kann  man  sich  die  Leiber  der  Auferstandenen 
denken ,  ohne  eine  denselben  entsprechende  materielle  Umge- 
bung? Es  ist  demnach  kein  specifischer,  sondern  nur  ein  gra- 
dueller Unterschied  zwischen  der  Apokalypse  und  den  übrigen 
Schriften  des  neuen  Testaments  und  sie  hat  nur  das  Eigene,  dass 
sie  die  Vorstellung  der  künftigen  Dinge  mit  der  concretesten 
Anschaulichkeit  ausgemalt  hat.  Auch  der  Apostel  Paulus  spricht 
ja  von  einem  obern  oder  himmlischen  Jerusalem  als  der  Mutter 
der  Glaubigen,  auch  er  erwartet  die  Parusie  schon  in  der  näch- 
sten Zeit,  auch  er  lässt  der  letzten  Katastrophe  einen  Kampf 
mit  den  feindlichen  Mächten  vorangehen ,  die  von  Christus  erst 
bezwungen  werden  müssen,  damit  sein  Reich  zu  seiner  Vollen- 
dung kommen  kann.  Wie  hätte  sich  auch  auf  dem  Standpunkt 
des  christlichen  Bewusstseins  in  einer  so  transcendenten  Region 
die  jüdische  Anschauungsweise  verläugnen  können?  Die  Phan- 
tasie, die  hier  allein  dazwischen  treten  kann,  konnte  ihre  An- 
schauungen nur  aus  dem  gewohnten  Bilder-  und  Ideenkreise 
nehmen. 

Der  Gegensatz,  in  welchem  derApokalyptiker  zu  dem  pau- 
linischen  LehrbegrifT  steht,  tritt  erst  da  hervor,  wo  man  nach 
den  Subjecten  fragen  mnss,  ans  welchen  die  erwählte  Gemeinde 

14* 


2\^  Zwei  ter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

des  neuen  Jerusalems  besteht.  Dem  paulinischen  Universalismus 
stellt  sich  der  Particularismus  des  Apokalyptikers  gegenüber. 
Die  Universalität  des  Christenthums  wird  zwar  so  weit  aner- 
kannt ,  dass  er  die  Christen  als  Gott  geweihte  Könige  und  Prie- 
ster erkauft  werden  lässt  aus  allen  Völkern  und  Nationen ,  5,  9. 
7,  9,  dass  er  aber  die  Heiden  als  ebenbürtige  und  gleichberech- 
tigte Bürger  des  neuen  Jerusalems  betrachtet  habe,  kann  nicht 
behauptet  werden.  K.  7,  4  gibt  er  die  Zahl  der  versiegelten 
Diener  Gottes  zu  hundert  vier  und  vierzigtausend  an,  es  sind 
je  zwölftausend  aus  jedem  der  zwölf  Stämme  Israels.  Wenn 
nun  auch  hier  Juden  und  Heidenchristen  zusammenbegriffen 
sind,  und  der  grosse  unzählbare  Haufe  aus  allen  Völkern  und 
I^ationen,  von  welchen  V.  9  die  Rede  ist,  von  den  zuvor  ge- 
nannten Subjecten  nicht  verschieden  ist ,  sondern  mit  ihnen  zu- 
sammengehört, so  ist  doch  hier  deutlich  zu  sehen,  wie  die  Heiden 
nur  sofern  sie  in  die  israelitische  Stammgemeinschaft  aufgenom- 
men werden,  zur  christlichen  Gemeinschaft  gehören.  Hat  die 
Zwölfzahl  der  Stämme  ihre  alte  Bedeutung  auch  für  das  messia- 
nische  Reich,  können  die  Heiden  nur  unter  diesem  Namen  Ge- 
nossen und  Bürger  desselben  werden ,  so  hat  das  jüdische  Volk 
noch  immer  das  absolute  Vorrecht,  das  Volk  Gottes  zu  sein, 
und  die  Heiden  stehen  nur  in  einem  secundären  Verhältniss  zu 
demselben.  Das  messianische  Heil  muss  für  sie  erst  durch  das 
Judenthum  vermittelt  werden.  Daher  sind  21,  12  an  den  zwölf 
Thoren  des  neuen  Jerusalems  die  Namen  der  zwölf  Stämme  der 
Söhne  Israels  geschrieben.  Von  der  Zwölfzahl  der  Stämme 
Israels  geht  die  ganze  Grundanschauung  aus,  das  Volk  Israel 
ist  der  Kern  und  Stamm  der  ganzen  theokratischen  Gemeinde. 
Zwar  gibt  es  auch  Juden,  welche  das,  was  sie  dem  Namen 
nach  sind,  nicht  wirklich  sind,  so  wenig,  dass  sie  vielmehr 
eine  Synagoge  Satans  sind ,  2,  9.  3,  9,  und  Jerusalem  kann  der 
Strafe  für  die  Kreuzigung  des  Herrn  nicht  entgehen.  Als  die 
Stadt,  in  welcher  der  Herr  gekreuzigt  worden  ist,  wird  sie  gei- 


Lehrbegriff  der  Apokalypse.  213 

stig  Sodom  und  Aegypten  genannt,  welche  beide  durch  ihre 
Sünden  und  Gräuel,  ihre  Gottlosigkeit  und  Feindschaft  gegen 
Gott  gleich  berüchtigt  sind.  Aber  auch  diese  so  grosse  Sünden- 
schuld betrachtet  der  Apokalyptiker  aus  einem  so  müden  Ge- 
sichtspunkt ,  dass  selbst  dadurch  der  Anspruch  der  Juden,  das 
Volk  Gottes  zu  sein,  auf  keine  Weise  beeinträchtigt  wird.  So 
schonend  ist  in  Vergleichung  mit  den  sonstigen  Strafen  der  Apo- 
kalypse das  Strafgericht  über  Jerusalem ,  dass  nicht  der  dritte 
oder  vierte,  sondern  nur  der  zehnte  Theil  der  Stadt  durch  ein 
Erdbeben  2erstört  wird,  und  nur  siebentausend  umkommen,  die 
Übrigen  aber  bekehren  sich ,  wenn  auch  aus  Furcht ,  doch  unter 
Anerkennung  der  Gerechtigkeit  des  göttlichen  Gerichts  und  der 
Wahrheit  des  Evangeliums,  H,  13,  während  dagegen  in  der 
heidnischen  Welt  die  weit  vernichtender  wirkenden  Strafen  im- 
mer nur  die  Folge  haben,  dass  die  Menschen  sich  nicht  bekeh- 
ren ,  und  nur  noch  mehr  in  ihrem  gotteslästerlichen  Sinne  be- 
harren. Hiemit  gibt  der  Apokalyptiker  deutlich  zu  verstehen, 
dass  es  nach  seiner  Ansicht  dem  Heidenthum  an  sich  an  einem 
für  das  Göttliche  empfänglichen  Sinne  fehlt,  das  Heidenthum 
bildet  einen  in  dem  allgemeinen  Gegensatz  del*  Prinzicien  be- 
gründeten Gegensalz  zum  Volk  Gottes,  darum  kommt  auch  der 
Antichrist  aus  der  heidnischen  Welt  und  in  ihr  hat  der  Satan 
den  eigentlichen  Schauplatz  seiner  gottfeihdlichen  Wirksamkeit. 
Wenn  auch  alles  diess  den  Apokalyptiker  nicht  hindert,  auch 
die  Heiden  in  das  messianische  Reich  und  in  das  neue  Jerusalem 
zuzulassen ,  so  liegt  doch  eine  völlige  Gleichstellung  der  Heiden 
und  Juden  ausserhalb  seines  Gesichtskreises.  Die  Heiden  stehen 
immer  nur  in  der  zweiten  Ordnung  und  man  weiss  nicht ,  ob, 
da  doch  in  das  neue  Jerusalem  nur  die  kommen  können ,  deren 
Namen  im  Buche  des  Lebens  geschrieben  sind ,  diese  Kategorie 
.  auch  auf  Heiden  ihre  volle  Anwendung  findet.  Vgl.  21,  24  —  27. 
Die  altjüdische  Vorstellung ,  nach  welcher  das  Heidenthum ,  als 
der  Sitz  der  Abgötterei,  das  Unreine  und  Profane  ist,  das  auf 


S14  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

alles,  das  mit  ihm  in  Berührung  kommt,  nur  einen  verunreini- 
genden Einfluss  haben  kann,  blickt  durch  seine  Anschauungs- 
weise immer  durch.  Daher  gibt  es  für  den  Christen,  welcher 
sich  jeder  heidnischen  Befleckung  enthalten  soll,  keinen  verab- 
scheuungswürdigern  Gräuel,  als  den  Genuss  von  Götzenopfer- 
fleisch. Vgl.  2,  14.  20.  Vergleicht  man  damit,  wie  ganz  anders 
der  Apostel  Paulus  hierüber  urtheilte,  so  zeigt  sich  hier  die  Dif- 
ferenz der  beiden  Standpunkte  in  ihrer  ganzen  Weite.  In  der 
Ansicht  des  Apokalyptikers  bilden  Judenthum  und  Heidenthum 
einen  zu  schroffen  Gegensatz,  als  dass  er  das  etStdXoO'jxa  «paYctv 
auch  nur  in  dem  beschränkten  Sinn,  in  welchem  der  Apostel 
Paulus  es  zuliess,  für  christlich  erlaubt  hätte  halten  können.  Mit 
Recht  muss  man  daher  fragen,  ob  auch  der  Apostel  Paulus  unter 
die  Apostel  gerechnet  ist ,  wenn  an  die  Grundsteine  des  neuen 
Jerusalems  nur  die  Namen  von  zwölf  Aposteln  geschrieben  sind, 
21,  14,  und  ob  er  einen  Apostel,  welcher  von  dem  etSwXoOuxa 
(pocys^v  eine  so  milde  Ansicht  hatte  und  es  nicht  schlechthin  ver- 
dammte, für  einen  wahren  und  ächten  Apostel  halten  konnte. 

Je  grossartiger  die  Erwartung  der  mit  der  Parusie  Christi 
eintretenden  Katastrophe  ist,  um  so  höher  muss  auch  die  Vor- 
stellung von  der  Person  dessen  sein,  der  durch  seine  Parusie 
alles  diess  herbeiführt.  An  dem  Kommen  des  Herrn  hängt  ja 
alles  diess,  wer  ist  also  der  Kommende?  Er  ist  die  Wurzel  und 
das  Geschlecht  Davids,  22,  16.  5,  5,  der  hellleuchtende  Morgen- 
stern 22,  16,  der  Löwe  aus  dem  Stamme  Juda  5^  5,  der,  der 
alle  Völker  mit  eisernem  Stabe  weidet,  2,  27.  12,  5.  19,  15, 
lauter  alttestamentliche  Prädikate  zur  Bezeichnung  des  Messias; 
er  ist  aber  auch  der  treue  Zeuge ,  der  Erstgeborne  der  Todten, 
der  Beherrscher  der  Könige  der  Erde,  der  uns  geliebt,  und  uns 
in  seinem  Blute  von  unsern  Sünden  gewaschen  hat,  der,  der 
lebt,  ob  er  gleich  todt  war,  und  als  der  in  alle  Ewigkeit  Lebende 
die  Schlüssel  des  Todes  und  der  Unterwelt  hat,  1,  5.  18,  der 
Richter  des  Verborgenen,  2,  23,  der  Herr  der  Herren  und  der 


Lehrbegriff  der  Apokalypse.  215 

König  der  Könige,  17,  14.  19,  16.  1,  5,  der  Treue  und  Wahr- 
haftige, der  in  Gerechtigkeit  richtet  und  Kriege  führt,  19,  11, 
der  Mächtige,  der  mit  eiserner  Kraft  die  Widerspensligen  nie- 
derschlägt und  den  Zorn  Gottes  ausrichtet,  19,  15.  Er  wird  fer- 
ner nicht  nur  in  der  unmittelbaren  Nähe  Gottes,  als  Tuvöpovo; 
desselben,  wie  die  ao<^ix  im  Buche  der  Weisheit,  aufgeführt, 
21,  22  f.  7,  17.  22,  1,  und  in  ähnlicher  Weise,  wie  Gott  selbst 
verehrt,  5,  11  f.  7,  10  f.,  sondern  er  erhält  auch  Prädikate, 
welche  sich  von  dem  Jehovahnamen  nur  wie  das  Abgeleitete  von 
dem  Ursprünglichen  unterscheiden,  wenn  er  wiederholt  1,  17  f. 
2,  8.  22,  13,  vgl.  21,  6,  das  A  und  das  0,  der  Erste  und  der 
Letzte  genannt  wird,  ja  er  ist  nicht  nur  der  e^^wv  tä  eTrra  ttvsu- 
\).xra.  ToO  öeoO,  3,  1 ,  sondern  auch  die  xp-^  tR?  xtifTsw?  toO 
OsoO,  und  der  Xoyo?  toO  GsoO,  3,  14.  19,  13. 

Dass  die  Apokalypse  dem  Messias  den  Jehovahnamen  bei- 
legt, lässt  die  Stelle  22,  13  nicht  bezweifeln.  Er  ist  hier,  wie 
aus  V.  12  und  19  zu  sehen,  der  Sprechende.  Von  sich  sagt  er 
also:  Ich  bin  das  A  und  das  0,  der  Erste  und  der  Letzte,  der 
Anfang  und  das  Ende.  Alle  diese  Prädikate  sind  nur  ein  anderer 
Ausdruck  für  die  sonstige  Umschreibung  des  Jehovahnamens 
durch  6  wv  y.cd  6  ■f,v  y.xl  6  ip)(0(;-evo?.  In  demselben  Sinne,  in 
welchem  Gott  der  Allherrscher  so  genannt  wird,  heisst  er  auch 
das  A  und  das  0,  der  Anfang  und  das  Ende,  1,  8.  21,  6.  Der' 
neue  Name,  welcher  dem  Messias  3,  12  gegeben  wird,  der- 
selbe Name,  von  welchem  19,  12  gesagt  wird,  es  kenne  ihn 
niemand,  als  er  selbst,  ist  der  unaussprechliche  Jehovahname, 
von  dessen  Wirkung  nicht  nur  die  spätere  rabbinische  Theologie, 
sondern  auch  schon  das  Buch  Henoch  c.  68,  20  f.  so  viel  Wun- 
derbares zu  erzählen  weiss.  Dafür  spricht  auch  die  eigenthüm- 
liche  Verbindung,  in  welche  3,  12  der  Name  des  Messias  mit 
dem  Namen  der  Auserwählten  und  des  neuen  Jerusalems  ge- 
bracht ist.  Eine  alte  talmudische  Tradition  lehrt,  dass  drei  Dinge 
mit  dem  Gottesnamen  benannt  werden,  die  Gerechten,  der  Mes- 


816  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode, 

Sias ,  und  Jerusalem.  Von  den  Gerechten  wird  diess  bewiesen 
aus  Jesaj.  43,  7:  bringe  her  zu  mir  jeglichen,  der  sich  nennt  mit 
meinem  Namen,  den  ich  schuf  zu  meiner  Ehre;  vom  Messias  aus 
Jerem.  23,  6:  diess  ist  der  Name,  mit  dem  man  ihn  nennen  wird : 
Jehova  unser  Heil;  vom  neuen  Jerusalem  aus  Ezech.  48,  35: 
der  Name  der  Stadt  soll  von  nun  an  sein:  Jehova  daselbst.  Auf 
diese  Tradition  bezieht  sich  auch  der  Apokalyptiker,  wenn  er 
3,  12  sagt,  die  Erwählten  haben  den  Namen  Gottes  und  den  des 
neuen  Jerusalems  und  den  neuen  Namen  des  Messias  an  der 
Stirne.  Es  ist  ein  und  derselbe  Name,  wie  diess  auch  die  Ver- 
gleichung  der  Stelle  14,  1  zeigt,  wo  nur  der  Name  Gottes  und 
des  Messias  genannt  ist,  und  2,  17,  wo  dem  Überwinder  ein 
Name  verheissen  wird,  den  keiner  kennt,  als  der  Empfänger, 
offenbar  derselbe  Geheimname,  den  nach  19,  12  auch  der  Mes- 
sias trägt.  Jehovah,  oder  Gott  im  höchsten  Sinn  wird  also  der 
Messias  genannt,  aber  er  wird  auch  nur  so  genannt,  ohne  dass 
aus  dem  Namen  geschlossen  werden  darf,  es  werde  ihm  auch 
eine  wahrhaft  göttliche  Natur  zugeschrieben.  Denn  wenn  dem 
Messias  der  Jehovahname  nur  auf  dieselbe  Weise  zukommt ,  wie 
derselbe  Name  auch  den  Gerechten  und  der  Stadt  Jerusalem  ge- 
geben wird ,  so  erhellt  hieraus  deutlich ,  welche  äusserliche  Be- 
ziehung der  Name  ausdrückt. 

Hiemit  ist  ohne  Zweifel  auch  schon  erklärt,  in  welchem 
Sinne  der  Messias  in  der  Apokalypse  6  loyoi;  toO  ösoO  genannt 
wird.  Man  kann  dieses  Prädikat  als  die  bekannte  in  den  Tar- 
gumim  so  oft  vorkommende  Umschreibung  des  Jehovahnamens 
nehmen,  und  der  Messias  wird  demnach  nur  in  demselben  Sinne 
6  Xoyo«;  tou  GeoO  genahnt,  in  welchem  ihm  auch  der  Jehovah- 
name beigelegt  wird.  In  keinem  Fall  darf  man  aus  der  Bezeich- 
nung des  Messias  als  desXoyo;  xoO  öeoO  auf  eine  ihm  an  sich  zu- 
kommende höhere  göttliche  Natur  schliessen.  Der  Apokalypti- 
ker betrachtet  die  ganze  Erscheinung  Jesu  aus  dem  Gesichtspunkt 
desXoyo?  tou  6eou,  sofern  das  Wort  Gottes  durch  ihn  sowohl  enl- 


Lehrbegriff  der  Apokalypse.  !2I7 

hüllt  als  erfüllt  wird;  Das  Christenthum  ist  selbst  der  ^oyoi;  tou 
6sou  1,  9,  alles,  was  den  Inhalt  dieser  Visionen  ausmacht,  sind 
die  Xoyoi  äXioOtvol  toO  6eoO  19,  9.  Jesus  ist  es,  der  den  Ralh- 
schluss  Gottes  offenbart,  und  der  ihn  auch  erfüllt.  Was  einmal 
als  Rathschluss  Gottes  ausgesprochen  ist,  muss  auch  realisirt 
werden.  Auch  in  dieser  Beziehung  ist  Jesus  der  Xoyo?  toö  OsoO. 
Es  bezieht  sich  darauf  die  Vergleichung  der  Wirksamkeit  Jesu 
mit  einem  aus  seinem  Munde  ausgebenden  scharfen  Schwert, 
19,  15.  Dass  dieses  Schwert  aus  seinem  Munde  ausgeht,  weist 
deutlich  daraufhin,  dass  das,  was  mit  dem  Schwert  verglichen 
wird,  eigentlich  das  aus  dem  Munde  ausgehende  Wort  ist,  der 
^oyo;  TOU  öeoO,  welchen  er  offenbart.  Ein  scharfes  Schwert  aber 
ist  er,  sofern  durch  ihn  der  ganze  Rathschluss  Gottes  als  stren- 
ges Strafgericht  mit  unwiderstehlicher  Macht  vollzogen  wird. 
Schon  hieraus  ist  zu  sehen,  dass  wir  hier  nicht  an  den  Logos 
des  Johanneischen  Evangeliums  denken  dürfen.  Schon  diess, 
dass  er  nicht  schlechthin  Xoyo?,  sondern  6  Xoyo?  toO  SeoO  genannt 
wird ,  beweist ,  dass  er  keine  selbstständig  Gott  gegenüberste- 
hende Hypostase  ist.  Besonders  aber  verdient  auch  diess  beachtet 
zu  werden ,  dass  er  erst  an  dieser  Stelle  der  Apokalypse  und 
zwar  sofern  er  als  strafender  Richter  vom  Himmel  auf  die  Erde 
herabkommt,  diesen  Namen  erhält.  Der  Grundbegriff  ist  offenbar 
das  Wort  Gottes ,  oder  der  in  der  Strenge  des  göttlichen  Straf- 
gerichts sich  vollziehende  Wille  und  Rathschluss  Gottes.  Da 
demnach  der  Ausdruck  keinen  metaphysischen  Begriff  enthält 
und  nichts  über  ein  Verhältniss  aussagt ,  das  an  sich  zur  Natur 
des  in  Frage  stehenden  Subjects  gehörte ,  so  ergibt  sich  hieraus 
von  selbst  auch  der  Sinn ,  in  welchem  das  weitere  noch  beson- 
ders bemerkenswerthe  Prädikat  zu  nehmen  ist,  das  die  Apoka- 
lypse Jesu  gibt,  wenn  sie  ihn  3,  14.  als  die  x^yy\  ttJ?  xTbeto« 
ToO  OcoO  bezeichnet.  Wenn  er  auch  als  der  Anfang  der  Schö- 
pfung nur  der  zuerst  Geschaffene  ist,  so  scheint  doch  dieser 
Ausdruck  klar  genug  den  Begriff  der  Präexistenz  zu  enthalten. 


Äi8  Zweiter  Abschnitt,     Zweite  Periode. 

Erwägt  man  aber  auf  der  andern  Seile,  dass  unmittelbar  vorher,  v 
3,  12,  der  himmlische  Name  des  Messias  ein  neuer  Name  heisst, 
dass  auch  sonst  nirgends  in  der  ganzen  Schrift  die  Präexistenz 
des  Messias  mit  klaren  Worten  ausgesprochen  ist,  so  wird  sehr 
wahrscheinlich,  dass  jene  Bezeichnung  keine  dogmatische  Be- 
stimmung, sondern  ein  blosser  Ehrentitel  seyn  soll.  Gleichfalls 
uneigentlich  steht  der  Ausdruck  Prov.  8,  22,  welche  Stelle  der 
Apokalyptiker  ohne  Zweifel  im  Auge  hatte.  Es  kommt  dabei 
weiter  in  Betracht,  dass  auch  die  rabbinische  Theologie  mit  dem 
Prädikat  »vor  der  Welt  geschaffen«  sehr  freigebig  ist.  Unter 
den  sieben  Dingen ,  welche  vor  der  Welt  erschaffen  sein  sollen, 
wird  ausdrücklich  auch  der  Name  des  Messias  genannt.  Sie 
zählt  ferner  zehn  Dinge  auf,  die  mit  der  Welt  erschaffen  sein 
sollen,  woraus  wenigstens  so  viel  zu  sehen  ist,  dass  ihr  die 
Präexistenz  eine  Eigenschaft  ist,  die  sie  allen  möglichen  Dingen 
ohne  irgend  welche  tiefere  Bedeutung  beilegt,  die  aber  dann 
auch  um  so  leichter  in  ein  blosses  ehrendes  Prädikat  übergehen 
konnte.  Es  ist  demnach  nicht  bloss  das  sehr  ungewiss,  ob  die 
Apokalypse  den  Messias  selbst  oder  nur  den  Namen  des  Messias 
als  vorweltlich  geschaffen  bezeichnen  will,  sondern  ebenso  auch 
das  Weitere,  ob  sie  dieses  Prädikat  im  dogmatischen  Sinne 
nimmt,  oder  nur  als  gesteigerten  Ausdruck  für  den  Gedanken 
gebraucht,  dass  der  Messias  das  höchste  Geschöpf  sei,  dasjenige, 
auf  welches  bei  der  Schöpfung  von  Anfang  an  Rücksicht  genom- 
men wurde,  n^^yt^i  xjih  ti'>nmmk 
Nehmen  wir  alles  diess  zusammen,  so  hat  die  Chrislologie 
der  Apokalypse  das  Eigene,  dass  sie  zwar  Jesu  als  dem  Messias 
die  höchsten  Prädikate  beilegt,  aber  alle  diese  Prädikate  nur 
äusserlich  auf  ihn  übertragene  Namen  sind,  welche  mit  seiner 
Person  noch  zu  keiner  innern  Einheit  des  Wesens  verknüpft 
sind,  es  fehlt  noch  an  der  innern  Vermittlung  zwischen  den  gött- 
lichen Prädikaten  und  dem  geschichtlichen  Indivi'luum,  das  der 
Träger  derselben  sein  soll.    So  bemerkenswerth  es  daher  ist, 


Lehrbegriff  der  Apokalypse.  81D 

wie  das  christliche  Bewusstsein  auch  auf  diesem  Punkte  den 
Drang  in  sich  hat,  die  Person  Jesu  so  hoch  zu  stellen,  so  we- 
nig darf  dabei  übersehen  werden,  wie  der  ganze  Inbegriff  dieser 
Prädikate  noch  eine  transcendente  Form  ist,  welcher  es  an  dem 
concreten  in  der  Persönlichkeit  Jesu  selbst  begründeten  Inhalt 
fehlt,  sie  sind  noch  keine  immanenten  aus  dem  substanziellen 
Wesen  seiner  Person  sich  von  selbst  ergebenden  Bestimmungen. 
Es  sind  nur  die  grossen  eschatologischen  Erwartungen,  um  deren 
willen  der  Messias  als  das  Hauptsubject  derselben  auch  eine 
ihnen  adäquate  Stellung  haben  muss.  Alles  Metaphysische  liegt 
noch  ausserhalb  des  Gesichtskreises  des  Apokalyptikers,  er  nimmt 
seinen  Standpunkt  noch  ganz  von  unten,  um  auf  den  Messias 
erst  nach  seinem  Tode  alles  übergetragen  werden  zu  lassen,  was 
ihm  seine  göttliche  Würde  gibt.  Vgl.  5,  12.  Sehr  bezeichnend 
lässt  er  ihn  daher  auch  von  Gott  als  seinem  Gott  reden,  3,  2.  12. 
Was  noch  weiter  zur  Christologie  der  Apokalypse  gehört,  hängt 
mit  ihrer  Lehre  vom  Werke  Christi  zusammen.  JjB*''^ 

Als  den  wesentlichsten  Bestandtheil  des  Werkes  Christi 
betrachtet  die  Apokalypse,  hierin  übereinstimmend  mit  der  pau- 
linischen  Lehre,  den  Tod  Christi,  und  zwar  ist  auch  ihr  das 
Motiv  desselben  seine  Liebe  zu  den  Menschen.  Sie  preist  ihn 
1,  5  als  den,  der  uns  geliebt  und  uns  von  unsern  Sünden  in 
seinem  Blute  gewaschen,  oder  nach  einer  andern  Lesart,  befreit 
hat.  Sein  Blut  hat  reinigende  Kraft:  Die  Geretteten  und  Seligen 
sind  die,  die  ihre  Kleider  gewaschen  und  weiss  gemacht  haben 
in  dem  Blute  des  Lammes  7, 14.  Vergebung  der  Sünden  bewirkt 
also  sein  Tod,  wobei  die  Vorstellung  eines  Lösegeldes  zu  Grunde 
zu  liegen  scheint.  Die  Menschen  sind  erlöst,  weil  er  sie  losge- 
kauft hat.  Damit  verbindet  sich  die  weitere  Vorstellung,  dass  er 
auf  die,  für  die  er  gestorben  ist,  als  die  von  ihm  Losgekauften, 
ein  bestimmtes  Eigenlhumsrecht  hat.  Vgl.  5,  9,  wo  es  in  dem 
himmlischen  Gesang  zum  Preise  des  Lammes  heisst:  Du  bist  ge- 
schlachtet worden,  und  hast  uns  Gott  erkauft  mit  deinem  Blut 


1920  Zweiter  Absehnitt.     Erste  Periode. 

aus  allen  Stämmen  und  Zungen  und  Völkern  und  Nationen,  und 
du  hast  sie  unserem  Gott  zu  Königen  und  Priestern  gemacht,  und 
sie  werden  auf  der  Erde  herrschen.  Vgl.  14,  4:  Die  hundert 
vier  und  vierzig  tausend,. die  dem  Lamme  folgen,  wohin  es  geht, 
sind  erkauft  worden  von  den  Menschen  als  Erstlinge  für  Gott 
und  das  Lamm.  Der  Tod  Christi  ist  der  Grund,  auf  welchem  die 
von  ihm  gestiftete  Gemeinde  beruht,  durch  ihn  ist  sie  geworden, 
was  sie  ihrem  Begriff  nach  sein  soll,  eine  Gemeinschaft  reiner, 
heiliger,  gotlgeweihter,  in  der  unmittelbarsten  Beziehung  zu 
Gott  und  Christus  stehender  Menschen.  Mit  dem  aus  der  mosai- 
schen Theokratie  (2  Mos.  19,  6)  genommenen  Begriff  eines 
Königreichs  von  Priestern  werden  daher  die  Christen,  sofern  sie 
durch  seinen  Tod  ihm  und  Gott,  seinem  Vater  zum  besondern 
Eigenthum  geweiht  sind,  Könige  und  Priester  genannt,  1,  6. 
5,  9.  14,  4.  Als  Priester  und  Könige  sind  sie  die  die  Welt  be- 
herrschende Macht,  der  Mittelpunkt,  um  welchen  sich  alles  be- 
wegt. In  dem  Tode  Christi  liegt  daher  die  Kraft  zur  Stiftung 
einer  Gemeinschaft,  die  dazu  bestimmt  ist,  sich  als  die  sub- 
stanzielle,  über  alles  übergreifende,  die  Welt  überwindende 
Macht  in  dem  ganzen  Verlauf  der  Weltgeschichte  zu  offenbaren. 
Wie  Christus  selbst  um  seines  Todes  willen  als  Sieger  bezeichnet 
wird,  3,  21.  5,  5,  so  wird  auch  seine  Gemeinde  in  ihrem  Ver- 
hältniss  zur  Welt  aus  dem  Gesichtspunkt  eines  zum  Siege  führen- 
den Kampfes  betrachtet.  Für  Christus  selbst  war  sein  Tod  der 
Weg,  auf  welchem  er  sich  die  höchste  göttliche  Macht  und 
Herrlichkeit  erwarb.  Das  Lamm  ist  würdig,  die  Siegel  des  Buchs 
zu  eröffnen,  weil  es  geschlachtet  worden  ist  u.  s.  w.  5,  9;  als 
das  geschlachtete  Lamm  ist  es  würdig,  zu  empfangen  Macht, 
Reichthum,  Weisheit,  Kraft,  Ehre,  Herrlichkeit,  Segen.  V.  12. 
Besonderes  Gewicht  legt  daher  die  Apokalypse  auf  die  Auf- 
erstehung Jesu,  1,  5.  18.  2,  8,  als  den  Weg  zu  der  Erhöhung, 
durch  welche  Christus  der  unmittelbare  Theilnehmer  an  der  gött- 
lichen Macht  geworden  ist,  3,21.  17, 14.  19, 16.  Diese  göttliche 


Lehrbegriff  der  Apokalypse.  üSJ^l 

Macht,  in  deren  Besitz  er  ist,  äussert  er  sowohl  durch  die  Re- 
gierung der  Welt  überhaupt,  als  auch  insbesondere  durch  die  Lei- 
tung seiner  Gemeinde.  Er  ist  der  Herr  der  Herrn,  der  Könige  der 
Könige,  der  Beherrscher  der  Könige  der  Erde,  1,  5.  Individua- 
lisirt  ist  die  alles  überschauende,  alles  beherrschende  Macht 
seiner  Weltregierung  in  den  sieben  Geistern.  Die  sieben  Geister, 
die  vor  dem  Throne  Gottes  stehen,  als  sieben  vor  ihm  brennende 
Leuchter,  1,  4.  4,  5,  nach  der  Stelle  bei  Zach.  4,  10,  wo  von 
Sieben  die  Rede  ist,  die  Augen  Jehova's  sind,  welche  die  ganze 
Welt  durchlaufen,  sind  auch  das  Attribut  des  Messias:  Er  hat 
die  sieben  Geister  Gottes  und  die  sieben  Sterne,  3,  1,  und  steht 
vor  dem  Throne  Gottes  mit  sieben  Hörnern ,  dem  Symbol  seiner 
Macht,  und  mit  sieben  Augen,  welche  die  sieben  Geister  Gottes 
sind,  die  ausgesandt  sind  über  die  ganze  Erde.  Von  diesen 
sieben  Geistern,  in  welchen  sich  seine  alles  durchdringende 
Macht  und  Wirksamkeit  darstellt,  geht  auch  alle  Offenbarung  an 
seine  Gemeinde  aus,  der  Geist  der  Prophetie,  welcher  ein  Zeug- 
niss  von  Jesus  Christus  ist,  19,  10.  Daher  werden  sie  auch 
gleich  im  Eingang  der  Apokalypse  sehr  bedeutungsvoll  mit  Gott 
zusammengenannt.  In  den  sieben  Gemeinden,  an  deren  Engel 
die  sieben  Sendschreiben  der  Apokalypse  gerichtet  sind,  stellt 
sich  überhaupt  das  Verhältniss  des  Herrn  zu  seiner  Gemeinde  dar. 
Darum  wird  er  dargestellt,  wie  er  in  der  Mitte  der  sieben  Leuchter, 
die  die  Gemeinden  sind,  eines  Menschen  Sohn  ähnlich  steht,  er 
hält  in  seiner  Hand  sieben  Sterne  und  aus  seinem  Munde  geht  ein 
scharfes  zweischneidiges  Schwerdt  aus,  und  sein  Antlitz  leuchtet 
wie  die  Sonne  in  ihrer  Macht.  Die  sieben  Sendschreiben  sind 
seine  Weckstimme  an  die  Gemeinde ,  der  Ruf,  dass  er  kommt, 
in  kürzester  Frist  kommt,  und  in  seinem  Kommen,  wie  es  die 
Apokalypse  schildert,  vollbringt  er  alles,  um  als  der  Herr  der 
Gemeinde  alle  feindlichen  Mächte  zu  vernichten,  die  der  Voll- 
endung seines  Reichs  entgegenstehen.  Ist  alles  diess  geschehen, 
so  vereinigt  er  sich  in  dem  vom  Himmel  herabkommendeu  Jeru- 


2^9  Zweiter  Abschnitt.    Erste  Periode. 

salem,  in  welchem  sich  seine  Gemeinde  in  ihrer  urbildlichen 
Schönheit,  der  ihrer  Idee  adäquaten  Gestalt  darstellt,  mit  ihr, 
als  der  Bräutigam  mit  der  Braut,  19,  7.  21,  2.  22,  17. 

Wie  aus  allem  diesem  das  alttestamentliche  Messiasideal,  nur 
zugleich  mit  den  bestimmten  concreten  Zügen,  die  es  durch  die 
Geschichte  Jesu  erhalten  hat,  hindurchblickt,  so  sind  hier  noch 
einige  alttestamentliche  Messias-Prädicate  zu  bemerken.  Dahin  ge- 
hört der  Schlüssel  Davids,  mit  welchem  er  öffnet,  ohne  dass  jemand 
schliesst,  und  schliesst,  ohne  dass  jemand  öffnet,  3,  7.  Dieser 
Schlüssel  David's  ist  aus  Jesaj.  22,  22  genommen.  Wie  man  sich 
überhaupt  den  Messias  nach  dem  Vorbild  David's  dachte,  so  hat 
hier  Christus  den  Schlüssel  David's,  d.h.  die  höchste  Gewalt  über 
das  alle  wahre  Juden  in  sich  begreifende  theokratische  Reich, 
dessen  ideeller  König  noch  immer  David  war.  Mit  der  Macht, 
mit  welcher  Christus  in  seinem  Reiche  waltet,  kann  er  in  die 
Gemeinschaft  seiner  Bekenner  aufnehmen  und  von  ihr  ausschlies- 
sen,  wen  er  will.  Das  bedeutungsvollste  Prädicat  aber,  das  dem 
Messias  gegeben  wird,  ist  das  des  Lammes.  T6  äpviov  wird  der 
Messias  in  der  Apokalypse  am  gewöhnlichsten  genannt,  und 
zwar  ist  er  tö  äpviov  tö  d(j<paYaevov,  5,  6.  7,  14.  i3,  8  u.  s.  w. 
Es  fragt  sich,  ob  dabei  an  das  Passahlamm  gedacht,  oder  ob  diese 
Bezeichnung  aus  Jesaj.  53,  7  genommen  ist.  Das  Erstere  be- 
hauptet Ritschi,  Entstehung  der  altkath.  Kirche  S.  145  f.  Zu 
dem  jesajanischen  Bilde  des  sanftmüthigen  Lammes  würde  die 
öpY^^  ToO  apviou  6,  16  nicht  passen.  Auch  dürfe  nicht  die  Rück- 
sicht unser  Urtheil  bestimmen,  dass  doch  das  Passahopfer  kein 
Versöhnungsopfer  gewesen  sei,  denn  es  komme  nicht  darauf  an, 
welcher  Sinn  ursprünglich  der  mosaischen  Institution  eigen  ge- 
wesen sei,  sondern  welchen  Sinn  die  Christen  damit  verbunden 
haben.  In  dieser  Beziehung  bürge  aber  die  paulinische  Auffas- 
sung Christi  als  Versöhnungsopfer  und  Passahlamm  Cl  Cor.  5,  7) 
dafür,  dass  auch  ein  geborener  Jude  von  höherer  Bildung  die 
Symbolik  des  Ceremonialgeselzes  nicht  immer  richtig  verslanden 


Lehrbegriff  der  Apokalypse.  12^3 

habe.  Für  die  Darstellung  Christi  als  Passahlamm  habe  der  Um- 
stand den  Ausschlag  gegeben,  dass  Christus  während  des  Pas- 
sahfestes gekreuzigt  worden  sei,  und  demnach  sei  es  von  unter- 
geordneter Bedeutung,  dass  sein  Tod  vielmehr  als  Sühnopfer  und 
nicht  als  Bundesopfer  aufgefasst  wurde.  Diese  Erklärung  ist 
nicht  die  richtige.  Es  findet  sich  in  der  Apokalypse  nirgends 
auch  nur  eine  Anspielung  auf  das  Passahlamm.  Es  ist  nur  der 
Ausdruck  dcpviov  d(j<paY[ievov ,  der  darauf  bezogen  werden  kann, 
aber  ebenso  gut  auch  auf  die  jesajanische  Stelle  sich  beziehen 
lässt.  Da  nun  die  Stelle  bei  Jesajas  auch  sonst  so  oft  auf  Jesus 
bezogen  wird,  Apostelgesch.  8,  32.  33,  und  bei  Kirchenvätern, 
und  Christus  auch  da,  wo  er  das  Passah  genannt  ist,  nicht  als 
das  geschlachtete  Passahlamm,  sondern  als  das  zur  Schlachtbank 
geführte  Lamm  des  Propheten,  tb;  TrpoßxTov  im  (j<pa"pfiv  vi/ÖY], 
bezeichnet  wird,  so  liegt  es  auch  in  der  Apokalypse  weit  näher, 
an  das  Letztere  zu  denken.  Die  öpYin  toO  äpvtou  steitet  damit 
nicht,  ila,  wenn  überhaupt  diese  öpyr,  nichts  unmessianisches  ist, 
sie  auch  einem  so  sanftmüthigen  Lamm ,  wie  das  bei  Jesajas  ist, 
zukommen  konnte.  In  jedem  Fall  soll  das  in  die  unmittelbarste 
Nähe  Gottes  versetzte  äpviov  £(y(paY(j!,£vov  auch  schon  durch  die 
Diminutivform  eine  Anschauung  sein,  in  welcher  das  Niedrigste 
und  Höchste  im  stärksten  Contrast  zusammengefasst  ist.  In  der 
symbolischen  Sprache  des  alten  Testaments  ist  das  Lamm  der 
prägnanteste  Ausdruck  für  die  Opfer-  und  Versöhnungs-Idee, 
wie  sie  auf  der  geschichtlichen  Thatsache  des  Todes  Jesu  beruht. 
Übrig  ist  nun  noch  zu  fragen ,  wie  die  Apokalypse  auf  der 
subjectiven  Seite  das  Yerhältniss  des  Menschen  zu  Gott  und 
Christus  vermittelt  werden  lässt.  Der  Standpunkt  der  Apokalypse 
ist  auch  hier  der  der  alttestamentlichen  Religion.  Das  Wesen 
der  Religion  isl,  nach  der  subjectiven  Seite  betrachtet,  das  Halten 
der  Gebote  Gottes,  das  der  Idee  Gottes  entsprechende  practische 
Verhalten.  Die  wahren  Verehrer  Gottes  sind  die  Tn^ouwzzq  xa; 
ivToXa;  ToO  öeou,  wozu,  wenn  sie  zugleich  als  Christen  bezeich- 


284  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

net  werden  sollen,  noch  die  jy.aprjpia  'IncoO  oder  die  iziariq  'Iyi<iou 
hinzugesetzt  wird,  12,  17.  14,  12.  Acht  altlestamentlich  wird 
daher  die  wesentliche  Bestimmung  des  religiösen  Bewusstseins 
als  Furcht  Gottes  bezeichnet,  wie  14,  7,  wo  der  Inhalt  des 
ewigen  Evangeliums,  das  der  Engel  den  Bewohnern  der  Erde 
verkündigt,  ist:  Gott  zu  fürchten  und  ihm  die  Ehre  zu  geben, 
weil  die  Stunde  des  Gerichts  gekommen  ist,  ihn  anzubeten  als 
den  Schöpfer  des  Himmels  und  der  Erde,  des  Meeres  und  der 
Wasserquellen.  Da  die  Furcht  Gottes  sich  practisch  bethätigen. 
muss,  so  sind  das  Hauptmoment  die  Werke.  Auf  die  Werke 
kommt  in  der  Apokalypse  alles  an.  Vgl.  14,  13:  Selig  sind  die 
Todten,  die  in  dem  Herrn  sterben,  sie  ruhen  aus  von  ihrer  Ar- 
beit, und  ihre  Werke  folgen  ihnen  nach,  d.  h.  sie  sind  das  ihren 
künftigen  Zustand  Bedingende.  Nach  ihren  Werken  werden  die 
Todten  gerichtet.  Daher  hat  jeder  Mensch  ein  Buch,  in  welchem 
alle  seine  Werke  aufgeschrieben  sind,  damit  ihm  nach  Maassgabe 
derselben  sein  Urtheil  gesprochen  werde,  20,  12.  Die  Werke 
müssen  ein  bestimmtes  Maass  voll  machen,  daher  wird  3,  2  dem 
Engel  der  Gemeinde  in  Sardes  geschrieben,  ich  habe  deine  Werke 
nicht  voll  gefunden  vor  Gott.  Es  muss  etwas  bestimmtes  that- 
sächlich  Geleistetes  vorhanden  sein,  worauf  man  sich  vor  Gott 
berufen  kann.  Neben  den  epya  ist  von  der  tc^otk;  die  Rede, 
14,  12,  -fi  x((m;  'IyiooO;  unter  der  ridTi;  ist  hier  aber  nicht  der 
Glaube  im  paulinischen  Sinne  zu  verstehen ,  sondern  in  Gemass- 
heit  der  in  der  Apokalypse  geschilderten  Zeit,  in  welcher  das 
Christenthum  einen  so  grossen  Kampf  mit  dem  Heidenthum  zu 
bestehen  hatte,  Treue  im  Bekenntniss  Jesu,  daher  die  ^{(tti;  mit 
der  äY<x7ryi,  Staxovia,  Ottojjlov/i  selbst  unter  den  epya  begriffen 
wird,  2,  19.  Die  erste  Forderung,  die  an  den  Christen  gemacht 
wird,  ist,  die  Treue  gegen  Jesus  nicht  zu  verläugnen,  2,  13, 
oder  seinen  Namen  nicht  zu  verläugnen,  3,  8,  seine  [xapxvipta 
zu  halten,  6,  9.  12,  17,  sein  Wort  festzuhalten,  Xoyov  innpeiv, 
3,  8,  zu  halten  an  dem,  was  man  hat,  2,  25,  seine  Werke  zu 


Lehrbegriff  der  Apokalypse.  ^!lSd 

beobachten  bis  an's  Ende,  2,  25,  sein  Leben  nicht  zu  lieben  bis 
zum  Tode,  12,  11,  sich  seinen  Kranz  nicht  nehmen  zu  lassen. 
Auf  die  Ü7ro(ji.ov;fi  und  moxiq  rtov  ayitov  kommt  es  daher  ganz  be- 
sonders an,  13,  10.  14,  12.  2,  3.  3,  10.  Das  ganze  Leben  des 
Christen  ist  ein  Sichhindurchkämpfen  zum  Sieg,  man  muss 
kämpfen  und  siegen  wie  Christus,  und  siegt  um  des  Blutes  des 
Lammes  willen,  12,  11.  Besonders  ausgezeichnet  werden  daher 
die  Märtyrer,  ^,  9.  12,  11.  20,  4.  Sie  erhalten  weisse  Kleider, 
zum  Beweis  der  Gerechtigkeit  ihrer  Sache  und  des  göttlichen 
Wohlgefallens.  Der  höchste  Preis  aber  wird  denen  zu  Theil, 
welche  sich  nicht  mit  Weibern  befleckt  haben  und  jungfräulich 
geblieben  sind,  14,  4,  wobei  freilich  die  Frage  entsteht,  ob  die 
Ehelosigkeit  eigentlich  oder  uneigentlich  zu  nehmen  ist,  ob  sie 
nicht  vielleicht  nur  ein  bildlicher  Ausdruck  für  das  ap.to[xov  elvai  ist, 
der  sittlichen  Reinheit,  die  der  wesentliche  Begriff  des  Christen, 
ist.  Die  Christen  sind  die  an  sich  Reinen,  die  reine  unbeschmutzle 
Gewände  tragen,  3,  5.  Das  Gewand  des  Christen  ist,  da  die 
Christen  auch  Priester  genannt  werden,  eigentlich  ein  Priester- 
gewand, es  wird  ihm  genommen,  wenn  er  es  nicht  rein  erhält, 
und  dann  beflndet  er  sich  im  Zustand  der  Unehre,  der  Nacktheit, 
3,  18.  16,  15.  Der  Priester  namentlich  hat  sein  Gewand  rein  zu 
erhalten,  und  wenn  es  befleckt  ist,  wieder  zu  reinigen,  22,14.  In- 
dem die  Apokalypse  den  Christen  als  den  an  sich  Reinen,  einen 
priesterlichen  Charakter  an  sich  Tragenden  betrachtet,  fasst  sie 
die  Sünde  hauptsächlich  als  Unreinheit  und  Befleckung  auf. 

Bemerkenswerth  ist  noch,  wie  die  guten  Werke  der  ein- 
zelnen Christen  als  Einheit  zusammengefasst,  und  wenn  auch 
nicht  als  ein  Schatz  doch  als  ein  Schmuck  der  Kirche  betrachtet 
werden.  Wenn  das  Lamm  sich  mit  der  Braut  vermählt,  sind  die 
gerechten  Werke  der  Heiligen  ihr  Schmuck,  oder  das  aus  dem 
feinsten  Byssusstoff  bestehende  Hochzeitkleid,  19,  8.  Hiemit  ist 
nun  schon  der  Anfang  gemacht,  die  Werke  von  deii  sittlichen 
Subjecten,  von  welchen  sie  als  ihre  sittliche  That  nicht  getrennt 

Baur,  neutest.  Theol.  1^ 


^26  Zweiter  Abschnitt.     Erste  Periode. 

werden,  abzulösen,  und  ihnen  für  sich  einen  sittlichen  Werth 
zuzuschreiben,  Sie  werden  als  Ganzes  zusammengenommen  und 
wie  etwas  für  sich  bestehendes  betrachtet,  wie  wenn  es  nur  auf 
die  Werke  als  solche  ankäme,  nicht  die  Subjecte,  welchen  sie 
angehören  als  ihre  sittliche  That. 

Im  Allgemeinen  tritt,  da  es  immer  nur  der  einfache  Begriff 
der  Werke,  der  Treue,  der  sittlichen  Reinheit  ist,  wodurch  das 
Verhältniss  des  Einzelnen  zu  Christus  bestimmt  wird,  die  innere 
Seite  des  christlichen  Lebens  sehr  zurück  gegen  die  äussere,  wo 
im  grossen  Gange  der  Weltereignisse  die  Idee  des  Chrislenlhums 
sich  realisirt.  Mit  dem  allgemeinen  Entwicklungsprocess,  welcher 
hier  vor  sich  geht,  dem  grossen  Kampf  des  Christenthums  und 
Heidenlhums,  ist  das  Leben  des  Einzelnen  so  verflochten,  dass 
alles  dadurch  seine  Form  und  Farbe  erhält.  Der  Einzelne  kommt 
eigentlich  nicht  für  sich  selbst  in  Betracht,  sondern  nur  sofern 
er  in  dem  grossen  Kampf,  in  welchem  alles  in  zwei  Parteien  ge- 
theilt  ist,  auf  der  einen  oder  der  andern  Seite  steht.  Es  sind 
durchaus  schroffe  Gegensätze,  welche  statt  innerlich  mit  einander 
vermittelt  zu  werden,  nur  äusserlich  zusammenstossen;  alles 
nimmt  einen  raschen  gewaltsamen  Verlauf,  es  ist  nur  darum  zu 
thun,  so  schnell  als  möglich  zum  Ziel  zu  kommen  und  alles  zum 
Abschluss  zu  bringen.  Die  innere  immanente  Entwicklung  des 
Christenthums  sowohl  im  Leben  des  einzelnen  Christen ,  als  im 
grossen  Gange  der  Weltgeschichte  liegt  noch  ausserhalb  des  Ge- 
sichtskreises des  Apokalyptikers,  welcher  über  die  vermittelnden 
Momente  hinwegsieht,  und  nur  die  Hauptkatastrophe  und  <die 
letzte  Entscheidung  in's  Auge  fasst. 

Zur  vollständigen  Darstellung  der  neutestamentlichen  Theo- 
logie in  der  Form  der  Apokalypse  gehört  noch  der  Gottesbegriff 
der  Apokalypse,  da  sich  an  diesem  höchsten  theologischen 
Begriff  noch  besonders  zeigt,  wie  sehr  die  Apokalypse  auf  dem 
Standpunkt  des  alttestamentlichen  Monotheismus  und  der  alt- 
testamentlichen  Theokratie  steht.    Es  sind  beinahe  durchaus  alt- 


Lebrbegriff  der  Apokal  ypse.  227 

testamentliche  Prädicate,  welche  Gott  gegeben  werden.  Er  ist 
der  [iovo;  ödtoc,  welchen  jeder  fürchten  und  preisen  muss,  15,  4, 
der  die  ganze  Welt  geschaffen  hat  durch  seinen  Willen,  4,  li. 
10,  6.  14,  7,  der  Gott  des  Himmels,  wie  er  den  heidnischen 
Göttern  gegenüber  heisst,  16,  H,  t6  aX(pa  xal  t6  (L  (\g\.  Jesaj. 
44,  6),  ö  wv  xal  6  t^v  axI  6  sp^oaevo«;,  1,  8.  4,  8.  11,  17,  6  ^<J5v 
ei;  Tou?  aiöva;  twv  aiwvtov  4,  9,  6  ßaffiXeu?  tcüv  sÖvöv,  ö  TuavTO- 
xparcdp  15,  3  u.  s.  w.  Nach  dem  Charakter  der  Apokalypse  ist 
die  am  meisten  hervorragende  Eigenschaft  Gottes  seine  strafende- 
Gerechtigkeit,  der  Zorn  Gottes  11,  18,  mit  welchem  er  seine 
gerechten  und  wahrhaftigen  Gerichte,  16,  7.  19,  2,  vgl.  15,  3, 
von  welchen  er  selbst  6  SecTronr)?  6  ayio?  xai  aXiriOtvoi;  genannt 
wird,  6, 10,  vollzieht.  Rache  und  Vergeltung  darf  man  von  ihm 
erwarten,  6,  10,  durch  die  sirengste  Bestrafung  und  die  Ver- 
nichtung aller  ihm  widerstrebenden  Mächte  offenbart  er  sich  in 
seiner  höchsten  Macht  über  alles.  Zur  Verherrlichung  der  Macht 
und  Majestät  Gottes  nimmt  der  Apokalyptiker  die  ganze  Symbolik 
des  alten  Testaments  zu  Hülfe.  Man  vergleiche  besonders,  wie 
er  K.  4  den  Thron  und  himmlischen  Hofstaat  Gottes  schildert.  Er 
sieht  einen  Thron  im  Himmel,  der  auf  dem  Thron  Sitzende  war 
ähnlich  einem  Jaspis  und  Sardisstein,  und  ein  Regenbogen  rings- 
umher um  den  Thron  ähnlich  dem  Aussehen  nach  einem  Smaragd. 
Und  rings  um  den  Thron  waren  vier  und  zwanzig  Throne  und 
auf  den  Thronen  sassen  vier  und  zwanzig  Älteste  angelhan  mit 
weissen  Kleidern  und  auf  ihren  Häuptern  hatten  sie  goldene 
Kronen.  Und  von  dem  Throne  giengen  aus  Blitze,  Laute  und 
Donner  und  sieben  Feuerfakeln  brannten  vor  dem  Thron,  welche 
die  sieben  Geister  Gottes  sind.  Hier  ist  demnach  ganz  die  alt- 
teslamentliche  Anschauung  des  in  Donner  und  Blitz  sich  offen- 
barenden Naturgotts.  Um  den  Thron  stehen  sodann  vier  '(wa. 
Es  sind  die  vier  Cherubim  Ezecliiels  1,  5  f.  10,  14.  Sie  ver- 
einigen in  sich  die  Haupleigenschaften  der  vier  edelsten  Tliiere, 
die  Tapferkeit  des  Löwen,  die  Stärke  des  Stiers,  die  geflügelte 

15* 


JiJiS  Zweiter  Absclinitt     Erste  Periode. 

Geschwindigkeit  des  Adlers,  und  die  Intelligenz  des  Menschen. 
Bei  Ezechiel  ist  jeder  Cherub  aus  diesen  vier  Gestalten  zusammen- 
gesetzt, bei  dem  Apokalyptiker  hat  jeder  nur  eine  dieser  vier 
Gestalten.  Diese  vier  '(öx  repräsentiren  die  Gesammtheit  der 
Geschöpfe  und  drücken  gleichfalls  die  Idee  der  Schöpfermacht 
Gottes  aus.  Eine  eigene  Vorstellung  des  Apokalyptikers  sind  die 
vier  und  zwanzig  Ältesten,  die  als  Beisitzer  Gottes  einen  himm- 
lischen Rath  bilden,  4,  4.  Es  sind  keine  Engel,  sondern  ohne 
Zweifel  christliche  Märtyrer,  sie  sitzen  auf  Thronen,  wie  Christus 
seinen  Jüngern  verheissen  hat,  Matth.  19,  28.  vgl.  Apok.  3,  21, 
haben  weisse  Kleider,  wegen  der  Reinheit  ihres  Lebens,  tragen 
Kronen  zur  Belohnung  ihres  siegreichen  Glaubenskampfes.  So 
stellen  sie  die  gesammte  an  Christus  glaubende  Menschheit  oder 
die  christliche  Kirche  dar  und  nehmen  als  der  himmlische  Senat 
den  nächsten  und  unmittelbarsten  Antheil  an  der  göttlichen  Welt- 
regierung ,  sofern  sich  alles  in  ihr  auf  die  christliche  Kirche  als 
ihren  Mittelpunkt  bezieht.  Wenn  die  vier  ^äoc  Preis  und  Ehre 
und  Dank  bringen  dem,  der  auf  dem  Thron  sitzt,  dem  der  in 
alle  Ewigkeit  lebt,  fallen  die  vier  und  zwanzig  Ältesten  vor  dem 
auf  dem  Thron  Sitzenden  nieder,  beten  den  in  alle  Ewigkeit 
Lebenden  an,  werfen  ihre  Kronen  vor  dem  Thron  hin  und  sagen: 
Würdig  bist  du  Herr  zu  empfangen  Preis  und  Ehre  und  Macht, 
weil  du  alles  geschaffen  hast,  durch  deinen  Willen  war  es  da  und 
wurde  geschaffen  4,  10.  11.  Die  Schöpfer-Allmacht  Gottes  ist 
auch  in  ihnen  als  die  über  Allem  stehende  Idee  ausgesprochen. 
Zur  weitern  Umgebung  des  himmlischen  Throns  gehören  Myria- 
den von  Engeln,  5,  11.  Engel  spielen  eine  Hauptrolle  in  der 
Apokalypse  nicht  blos  als  Überbringer  der  göttlichen  Befehle, 
sondern  auch  als  Vollstrecker  der  göttlichen  Strafgerichte  und 
Beherrscher  der  Naturelemente.  Ausdrücklich  wird  die  Anbetung 
der  Engel  verboten ,  weil  sie  nur  Milknechte  der  Propheten  und 
Glaubigen  seien,  19,  10.  22,  9. 
'^*     Auffallend  ist,  dass  in  der  Apokalypse  selbst  der  Satan  noch 


f'     Lehrbegriff  der  Apokalypse.    '  ■  339 

eine  Stelle  im  Kreise  der  Himmlischen  hat.  Er  ist,  wie  im  allen 
Testament  namentlich  im  Buch  Hiob,  der  Ankläger  der  Frommen, 
12,  10,  und  der  Kampf  mit  ihm  beginnt  damit,  dass  er  vom 
Himmel  auf  die  Erde  herabgestürzt  wird.  Es  entsteht  Streit  im 
Himmel,  Michael  und  seine  Engel  streiten  mit  dem  Drachen  und 
seinen  Engeln,  und  der  grosse  Drache,  die  alte  Schlange  (ohne 
Zweifel  Anspielung  auf  den  Sündenfall),  der  genannt  wird 
Teufel  C^iaßoXo;,  eigentlich  Angeber,  Verläumder)  und  Satan, 
und  Verführer  der  ganzen  Welt  wird  mit  seinen  Engeln  auf  die. 
Erde  herabgeworfen.  Indem  er  wohl  weiss,  dass  er  nur  noch 
kurze  Zeit  hat,  greift  er  um  so  heftiger  die  theokratische  Gemeinde 
an,  12,  12,  durch  Verfolgungen,  zu  welchen  er  Juden  und  Hei- 
den anstiftet,  2,  9.  10.  13,  durch  Verführung  der  ganzen  Welt 
zum  Hass  gegen  die  Wahrheit,  12,  9.  vgl.  20,  8,  durch  Irrlehren 
in  der  Gemeinde  selbst  2,  24,  und  endlich  durch  die  Sendung 
des  Antichrists  und  des  ihn  begleitenden  falschen  Propheten.  In 
beiden  erscheint  das  Heidenthum  als  politische  und  religiöse 
Macht  in  seiner  gottfeindlichen  Spitze  und  als  das  Reich,  in 
welchem  der  sich  selbst  vergötternde  Teufel  sich  selbst  anbeten 
lässt,  13,  4. 

Die  ganze  Well  theilt  sich  so  in  einer  dem  manichäischen 
Dualismus  analogen  Weltanschauung  in  zwei  schroff  einander 
gegenüberstehende  Reiche,  von  welchen  das  eine  fallen  muss. 
Der  Sieg  des  einen  über  das  andere  ist  nicht  blos  durch  die  Idee 
Gottes  als  des  TravToxpaTojp  verbärgt,  sondern  ganz  besonders 
durch  den  Messias.  Das  Blut  des  Lammes  ist  das  weltüberwin- 
dende Princip.  Darum  ist  das  in  der  Nähe  des  göttlichen  Throns 
stehende  Lamm  in  die  unmittelbarste  Beziehung  zu  Gott  gesetzt. 
So  sehr  der  christliche  Vaterbegriff  Gottes  in  der  Apokalypse 
gegen  die  alttestamentliche  Idee  der  Herrschermacht  Gottes  zu- 
rücktritt, so  ist  doch  jener  Begriff  dadurch  in  das  Gottesbewusst- 
sein  aufgenommen,  dass  Gott  der  Vater  des  Messias  genannt 
wird,  3,  5.  21.  Wie  aber  dieses  Vaterverhältniss  vermittelt  wird, 


1^30  Zweitei*  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

(lässt  sich  nach  der  Apokalypse  nicht  genauer  bestimmen.  Auch 
,i2,  1  f.,  wo  die  Geburt  des  Messias  von  dem  Weib,  der  Iheo- 
kratischen  Gemeinde,  beschrieben  wird,  wird  nur  gesagt,  das 
Kind  des  Weibs  sei  zum  Schutz  gegen  den  Drachen,  welcher  es 
verschlingen  wollte,  zu  Gott  und  zu  seinem  Thron  entrückt  wor- 
den, V.  5.  Der  bildliche  Charakter  der  Apokalypse  macht  es  so 
oft  nicht  möglich,  ihre  Vorstellungen  auf  einen  bestimmteren 
dogmatischen  Begriff  zu  bringen. 

♦t>yw  ß^smit  1-^-     Zweite  Periode. 

Die  Lehrbegriffe  des  Hebräerbriefs,   der  kleineren 
il    .«nf^if  r -f       paulinischen  Briefe  u.  s.  w. 

1.   Der  Lehrbeariff  des  Hebräerbriefs. 

An  die  beiden  Lehrbegriffe  der  ersten  Periode,  den  pauli- 
nischen und  den  der  Apokalypse,  schliesst  sich  der  des  Hebräer- 
briefs dadurch  zunächst  an,  dass  auch  in  ihm  das  Hauptmoment  die 
Stellung  des  Christenthums  zum  Judenthum  ist.  Welchen  Gegen- 
satz die  beiden  erstem  Lehrbegriffe  in  dieser  Beziehung  bilden, 
liegt  vor  Augen.  So  tief  der  paulinische  Lehrhegriff  das  Juden- 
ihum  herabsetzt,  so  hoch  stellt  es  dagegen  der  der  Apokalypse. 
Nach  dem  erstem  hat  das  Christenthum  seine  absolute  Bedeutung 
nur  in  seinem  Unterschied  vom  Judenthum,  nach  dem  letztern 
nur  in  seiner  Identität  mit  demselben.  Um  das  Judenthum  so  viel 
möglich  zu  degradiren  und  dem  Christenthum  gegenüber  in  seiner 
ganzen  UnvoUkonimenheit  und  Nichtigkeit  darzustellen,  geht  der 
Apostel  Paulus  vom  Gesetz  aus;  das  Judenthum  ist  wesentlich 
Gesetz,  alles,  was  es  als  Religion  ist,  ist  es  als  Gesetz,  sofern 
man  im  Judenthum  nicht  anders  als  auf  dem  Wege  des  Gesetzes, 


Lehrbegriff  des  Hebräerbriefs.  331 

durch  die  Erfüllung  desselben,  selig  werden  kann.  Am  Gesetz 
aber  stellt  sich  auch  der  wesentliche  Mangel  des  Judenthums 
heraus,  dass  es  statt  selig  zu  machen,  nur  verdammen  kann. 
Daher  kann  das  Christenthum  seine  absolute  Bedeutung  nur  darin 
haben,  dass  es  die  Aufhebung  des  Gesetzes  ist.  Die  Apokalypse 
fasst  die  absolute  Bedeutung  des  mit  dem  Christenthum  identischen 
Judenthums  in  dem  MessiasbegrilT  auf.  Alles,  was  das  Christen- 
thum in  seinem  Unterschied  vom  Judenthum  und  in  seiner  Einheit 
mit  demselben  ist,  ist  nur  die  Verwirklichung  der  alltestament- 
lichen  Messias-Idee.  In  ihr  zeigt  sich  das  Judenthum  als  die  ab- 
solute Macht,  durch  welche  alles,  was  sich  auf  Seligkeit  und 
Yerdammniss  bezieht,  bedingt  ist.  Das  neue  Jerusalem  ist  die 
Vollendung  der  alttestamentlichen  Theokratie  durch  den  Messias. 
Zwischen  diese  beiden  LehrbegrifTe,  von  welchen  der  eine  die 
absolute  Bedeutung  des  Judenthums  behauptet,  der  andere  auf- 
hebt, stellt  sich  der  des  Hebräerbriefs  vermittelnd  hinein.  Auf 
der  einen  Seite  verhält  sich  das  Judenthum  zum  Christenthum 
rein  negativ,  auf  der  andern  ist  alles,  was  das  Christenthum  als 
absolute  Religion  ist,  an  sich,  ideell  auch  schon  im  Judenthum 
enthalten.  Diese  doppelte  Bedeutung  des  Judenthums  vereinigt 
der  Verfasser  des  Hebräerbriefs  in  der  alttestamentlichen  Idee 
des  Hohepriesters.  Das  Judenthum  ist  wesentlich  ein  Priester- 
thum,  hierin  liegt  sowohl  das  Vergängliche  als  das  Unvergäng- 
liche des  Judenthums,  die  absolute  Bedeutung,  in  welcher 
Judenthum  und  Christenthum  wesentlich  eins  sind.  Für  diesen 
Standpunkt  des  Lehrbegriffs  des  Hebräerbriefs  ist  sehr  bezeich- 
nend die  Stelle  7,  12,  wo  gesagt  wird:  (xeTaTiÖsjyivTi?  ty5?  sepw- 
(TuvT,?  dl  ävayxYi;  )cal  v6{jt.ou  p-eTaösai;  "^i^fzxi,  wenn  das  Priester- 
thum  verändert  wird,  so  geschieht  mit  Nothwendigkeit  auch  eine 
Veränderung  des  Gesetzes.  Wenn  also  das  unvollkommene 
Priesterthum  zum  vollkommenen  wird,  so  kann  auch  das  Gesetz 
nicht  bleiben,  wie  es  bisher  war,  etwas  so  Schwaches  und  Nutz- 
loses, es  muss  also  aus  dem  Gesetz  etwas  Anderes  werden.   Auf 


S3S  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

diesem  Wege  kommt  der  Apostel  Paulus  von  der  ^i)taio<iuvr  i^ 
spytöv  v6(j(,ou,  welche  immer  nur  eine  vermeintliche  ist,  zu  der 
Si)caio<iuvv)  ZK  7r^(7Teti>?.  Wie  sich  nun  auch  der  Verfasser  des 
Hebräerbriefs  die  fxsTaOeci?  votAou  gedacht  haben  mag,  die  Haupt- 
sache ist,  dass  ihm  das  Priesterthum  das  Primäre,  das  Gesetz 
das  Secundäre  ist,  das  Letztere  nach  dem  Erstem  sich  richten 
muss.  Von  einer  solchen  Unterordnung  des  Gesetzes  unter  das 
Priesterthum  weiss  der  Apostel  Paulus  nichts,  das  Gesetz  ist 
sosehr  der  seine  Ansicht  vom  alten  Testament  bestimmende  Be- 
griff, dass  er  in  jedem  Fall  nicht  das  Gesetz  nach  dem  Priester- 
thum ,  sondern  umgekehrt  das  Priesterthum  nach  dem  Gesetz 
bestimmt  haben  würde.  Gesetz,  Messias  oder  König,  und  Priester 
sind  die  Grundbegriffe,  von  welchen  drei  wesentlich  verschiedene 
Lehrbegriffe  der  neutestamentlichen  Theologie  ausgehen. 

In  der  Idee  des  Priesterthums  oder  des  Hoheprieslerthums 
gereift  der  Lehrbegriff  des  Hebräerbriefs  tief  in  das  Wesen  der 
alttestaraentlichen  Religionsverfassung  hinein,  in  ihr  erhebt  er 
sich  aber  auch  über  sie  und  reisst  sich  von  ihr  los.  An  dieser 
Idee  sind  demnach  zunächst  zwei  verschiedene,  in  einem  Gegen- 
satz zu  einander  stehende  Seiten  dieses  Lehrbegriffs  zu  unter- 
scheiden. 

Das  Christenthum  hat  einen  absoluten  Vorzug  vor  dem 
Judenthum,  und  zwar  vor  allem  aus  dem  Grunde,  weil  Christus 
ein  ganz  anderer  Hohepriester  ist,  als  der  des  alten  Testaments. 
Das  levitische  Priesterthum  steht  tief  unter  dem  wahrhaft  prie- 
sterlichen Christenthum.  Es  gehört  hieher  alles,  was  von  Christus 
als  einem  Hohepriester  nach  der  Weise  Melchisedeks  gesagt  wird, 
7, 1  f.  Als  Priester  nach  der  Ordnung  Melchisedeks  ist  er  grösser 
als  Abraham  und  Levi,  7,  4  —  10.  Ferner  zeigt  die  Geburt  Jesu 
aus  dem  Stamme  Juda,  dass  mit  ihm  das  levitische  Priesterthum 
ein  Ende  genommen  hat,  11  —  14,  und  dass  er  nicht  ein  wieder- 
vergehender Hohepriester  sein  wird,  wie  der  levitische,  beweist 
der  Schwur,   mit  welchem  Gott  seine  Einsetzung   bekräftigte, 


Lehrbegriff  des  Hebräerbriefs.  933 

20—22.  Im  allen  Testament  sind  immer  neue  Hohepriester 
nöthig,  weil  jeder  durch  den  Tod  hinweggenommen  wird,  ihr 
Amt  ist  vergänglich  und  sie  sind  nicht  im  Stande,  eine  dauernde 
und  ewige  Erlösung  hervorzubringen  und  zu  verbürgen.  Der 
Hohepriester  des  neuen  Testaments  aber  hat,  weil  er  in  Ewig- 
keit bleibt,  ein  unwandelbares  Priesterthum.  Daher  kann  er 
auch  aufs  Vollkommenste  erretten  die,  die  durch  ihn  Gott  nahen, 
indem  er  allezeit  lebt,  um  sie  zu  vertreten.  Ein  solcher  Hohe- 
priester ziemte  uns,  der  heilig,  unschuldig,  unbefleckt,  abge- 
sondert von  den  Sündern,  und  über  den  Himmel  erhöht  ist,  der 
nicht  nöthig  hat,  täglich  wie  die  Hohenpriester  zuerst  für  die 
eigenen  Sünden,  und  dann  für  die  des  Volks  zu  opfern,  er  hat 
diess  auf  einmal  gethan,  indem  er  sich  selbst  darbrachte.  Denn 
das  Gesetz  bestellt  Menschen  zu  Hohenpriestern,  die  mit  Schwach- 
heit behaftet  sind,  das  Wort  des  Eidschwurs  aber,  das  nach  dem 
Gesetz  ist,  einen  für  die  Ewigkeit  vollendeten  Sohn.  V.  24  —  28. 
Vgl.  V.  15:  Er  ist  ein  anderer  Priester  nach  der  Ähnlichkeit  mit 
Melchisedek  und  zwar  ein  solcher,  welcher  es  nicht  nach  dem 
Gesetz  eines  fleischlichen  Gebots  geworden  ist,  sondern  in  Ge- 
mässheit  der  Kraft  unzerstörbaren  Lebens,  d.  h.  als  der  unsterb- 
liche in  alle  Ewigkeit  bleibende  Hohepriester.  Wie  auf  dem 
Standpunkt  des  Hebräerbriefs  das  Priesterthum  das  wesentliche 
Element  einer  Religionsverfassung  ist,  der  HauplbegrifT  der 
Religion,  so  stellt  sich  an  der  Unvollkommenheit  und  Vergäng- 
lichkeit des  alttestamentlichen  Priesterthums  das  ganze  Wesen 
der  alttestamentlichen  Religion  dar.  ^ 

Was  vom  Priesterthum  gilt,  gilt  auch  vom  Gesetz.  Das 
Gesetz  ist  schwach  und  nutzlos,  weil  es  nichts  zu  Stande  bringt, 
7,  18. 19.  Es  bringt  nichts  zu  Stande,  nicht  blos,  weil  die  Hohe- 
priester selbst  schwache,  sterbliche,  der  Sünde  und  dem  Tode 
unterliegende  Menschen  sind,  sondern  auch  ihr  Amt  nicht  fähig 
ist,  eine  wahre  Versöhnung  zu  bewirken.  Schon  der  Ort,  wo 
dasselbe  ausgeübt  wird,  das  von  Moses  gestiftete  Zelt,  ist  trotz 


834  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

aller  heiligen  Dinge,  die  es  enthält,  9,  1  f.  21,  nur  ein  mit 
Menschenhänden  gemachtes  irdisches  unvollkommenes  Heilig- 
thum,  9,  24.  11.  8,  2.  Sodann  sind  die  in  ihm  wegen  der  Sünde 
dargebrachten  Opfer  solche,  welche  sich  alljährlich  wiederholen 
und  darum  die  Versöhnung  Suchenden  nicht  auf  immer  reinigen 
können,  sondern  im  Gegentheil  eben  durch  jene  öftere  Wieder- 
holung stets  von  Neuem  daran  erinnern,  dass  die  Sünde  noch 
nicht  getilgt  ist,  ihr  Unvermögen,  diess  zu  bewirken  selbst  ein- 
gestehen, 9,  25.  10,  1—3.  11.  Ja,  sie  können  überhaupt  keine 
eigentliche  Sünde  wegnehmen,  denn  es  werden  eben  Böcke, 
Kälber,  Kühe  dargebracht,  deren  Blut  zwar  körperliche  Be- 
fleckung hinwegzunehmen,  zwar  von  Menschen  gemachte  irdische 
Heiligthümer  zu  reinigen,  nicht  aber  das  mit  Sünden  belastete 
Gewissen  des  Menschen  von  jenen  zu  befreien,  ihn  mit  dem 
Himmel  zu  versöhnen  vermag,  9,  9—13.  21—23.  10,4—10. 
13,  9.  Ausserdem  deutet  schon  die  Trennung  des  verhüllten 
Allerheiligsten  von  dem  Heiligen  darauf  hin,  dass  der  Weg  zu 
dem  eigentlichen  Heiligthum  zu  der  wahren  Yersöhnungsstätte 
den  Menschen  noch  nicht  geöffnet  sei,  9, 8.  Aus  dieser  Schwäche 
und  Nutzlosigkeit  des  Gesetzes  folgt,  dass  es  nicht  das  Ebenbild 
der  Dinge  selbst,  sondern  nur  einen  Schatten  derselben  hat, 
10,  1,  die  Versöhnung  noch  nicht  verwirklicht,  sondern  nur  un- 
vollkommen nachbildet  und  andeutet,  dass  der  Bund,  welchen 
Gott  durch  Moses  mit  den  Israeliten  geschlossen,  wieder  ver- 
schwinden und  einem  andern  Platz  machen  muss.  Ausdrücklich 
behauptet  daher  der  Verfasser  des  Hebräerbriefs  die  Aufhebung 
des  Gesetzes.  Die  Aufhebung  nämlich  eines  vorangehenden  Ge- 
bots geschieht  wegen  d^  Sdtiwäche  und  Nutzlosigkeit  desselben. 

Was  also  durch  das  Gesetz  und  die  alttestntnentliche  Reli- 
gionsverfassung nicht  zu  Stande  kommen  konnte,  erhält  im 
Christenthum  seine  Vollendung.  Die  TeXciüxri; ,  7,  11.  19,  die 
nicht  im  Judenthum  sondern  im  Christenthum  liegt,  besteht  darin. 


Lebrbegriff  des  Hebräerbriefs.  835 

dass  während  das  Gesetz  nur  eine  o/ci«  töv  (xsXXovtwv  iYa6öv 
bat,  10,  1,  Christus  ein  äpj^ispcj;  twv  (jlsXXovtwv  äyÄÖbiv  ist, 
9,  11»  Wenn  von  den  [xeXXovTa  die  oxia  twv  ly-sXXovTcov  unter- 
schieden wird,  so  sind  die  (x^XXovtk  das  wahrhaft  Reale  und 
Substanzielle.  Diess  ist  aber  nach  der  Anschauung  des  Hebräer- 
briefs die  unsichtbare  urbildliche  Welt,  tä  ^Troupavix,  oder  Ta 
cv  TOI?  o'jpavoi?,  8,  5.  9,  23,  xa  äXr,Otva,  9,  24,  oO  /£ipo7wOtr,Ta, 
das  keiner  Veränderung  Unterworfene,  sondern  ewig  Bleibende. 
Zu  dieser  urbildlichen  oder  jenseitigen  Welt  verhält  sich  die 
diesseitige,  wie  ihr  Abbild  und  Schattenbild.  Daher  stellt  sich 
nun  der  Gegensatz  des  Judenthunis  und  Christenthums  unter  den 
Gegensatz  der  beiden  Welten,  des  Urbildlichen  und  Abbildlichen, 
des  Jenseitigen  und  Diesseitigen.  Das  Christenthum  ist  selbst  die 
zukünftige  Welt,  der  aiwv  [/.sXXoov,  5,  6,  die  oixoujxevr,  ixeXXoutja, 
2,  5.  Alles  diess  erhält  seine  Begründung  erst  durch  die  Lehre 
des  Hebräerbriefs   von  der  göttlichen  Würde  Christi   als   des 

Sohns.  -1  hj^imtA  m**  DL^iifnW    .h^  »h 

Der  GrundbegrifT  der  Christologie  des  Hebräerbriefs  ist  der 
Begriff  des  Sohns,  als  Sohn  ist  Christus  das  Subject  aller  Prädi- 
cate,  welche  ihm  hier  gegeben  werden.  Als  Sohn  ist  er  äicau- 
Yao(xa  tJJ?  SoEy)?  (öeoO)  xal.  )^apa)tTr,p  ttJ?  uxo<JTa<j8(«>;  auToG  ,1,3. 
Als  Abglanz  der  Herrlichkeit  Gottes  ist  er  mit  Gott  substanziell 
eins,  der  unmittelbare  Reflex  der  göttlichen  Substanz.  Der  per- 
sönliche Unterschied  ist  bezeichnet,  wenn  er  /xpx/.Tr,^  rfi?  utco- 
ffrdffe«?  auTOu  genannt  wird ,  er  ist  also  zwar  eine  für  sich  be- 
stehende Existenz,  aber  nur  eine  solche,  welcher  das  Wesen 
einer  andern,  das  Wesen  Gottes  vollkommen  aufgedrückt  ist. 
Dadurch  ist  der  Sohn  schlechthin  über  die  Welt  gestellt,  er  ist 
ein  wesentlich  göttliches,  von  der  Welt  verschiedenes  Wesen. 
Wenn  er  auch  das  mit  der  Welt  gemein  hat,  dass  er  wie  alles 
aus  Gott  hervorgegangen  ist,  wesswegen  er  7rpö)T6Tox.o;  heisst, 
1,  6,  so  ist  doch  er  es,  welcher  alles  mit  dem  Worte  seiner 
Macht  trägt,  1,  3,  der  durch  welchen  Gott  dieAeonen  geschaffen 


!^B6  Zweiter  Abscfanitt.      Zweite  Periode. 

hat,  1,  2,  d.  h.  die  jetzige  und  die  künftige,  oder  die  sichtbare 
und  die  unsichtbare  Welt.  Besonders  ist  es  dem  Verfasser  des 
Hebräerbriefs  darum  zu  Ihun,  die  Erhabenheit  des  Sohns  über 
die  Engel  hervorzuheben.  In  dieser  Beziehung  macht  er  vor 
allem  geltend,  dass  nur  ihm  der  ausgezeichnete  Name  Sohn  zu- 
kommt, 1,  4.  5.  Ferner  unterscheidet  er  sich  von  ihnen  durch 
die  Benennung  6e6;  V.  9,  wesswegen  er  auch  von  ihnen  ange- 
betet werden  muss,  V.  9.  6,  durch  seine  Ewigkeit  und  Unver- 
änderlichkeit,  V.  7-42,  durch  seine  Macht  über  die  ganze  Welt 
und  durch  sein  Verbleiben  zur  Rechten  Gottes,  V.  iS.  14.  Es 
hat  diess  ohne  Zweifel  eine  antithetische  Beziehung  gegen  solche, 
welche,  wie  diess  namentlich  von  den  Ebioniten  gesagt  wird, 
Christus  nur  für  einen  Engel,  wenn  auch  für  einen  äpj^^acYT^Xo; 
und  den  Beherrscher  der  Engel,  hielten.     lÄlJ^viteW;  fs 

Die  Christologie  des  Hebräerbriefs  steht  auf  eine  sehr  be- 
merkenswerthe  Weise  vermittelnd  zwischen  der  paulinischen  und 
der  Johanneischen.  Während  dem  Apostel  Paulus  Christus,  so 
hoch  er  gestellt  wird,  doch  immer  noch  wesentlich  Mensch  ist, 
wenigstens  der  avOpwTro?  swoupavio;,  lässt  dagegen  der  Verfasser 
des  Hebräerbriefs  das  ursprünglich  Menschliche  fallen,  Christus 
ist  als  rein  göttliches  Wesen  in  die  übersinnliche  Region  entrückt. 
Auf  der  andern  Seile  ist  aber  der  Sohn  dem  Verfasser  des 
Hebräerbriefs  noch  nicht  der  Logos  im  johanneischen  Sinne.  Er 
ist  nicht  selbst  der  Logos,  sondern  trägt  nur  toc  xavxa  tö  pTi[xaTi 
tyJ?  S'jvap.sto;  aOxou,  1,3.  Es  ist  um  so  eigenthümlicher,  dass 
der  Verfasser  des  Hebräerbriefs  dabei  stehen  bleibt,  und  nicht 
zur  Identificirung  des  Sohns  mit  dem  Logos  fortgeht,  da  er  den 
Xoyo?  ToO  9eoO,  4,  12.  13,  auf  eine  Weise  personificirt,  welche 
von  selbst  zur  Identificirung  der  beiden  Begriffe  führt.  Er  sagt 
V.  13  sogar:  es  sei  keine  Creatur  unsichtbar  vor  ihm,  alles  sei 
nackt  und  aufgedeckt  vor  seinen  Augen,  vor  ihm,  zu  welchem 
wir  in  dem  Verhältniss  stehen,  das  durch  alle  diese  Prädicate 
bezeichnet  ist.    Es  kann  zwar  zweifelhaft  scheinen,  ob  das  Sub- 


Lehr^egriff  des  HebrKerbriefs.  837 

jecl  V.  13  der  ^oyo?  toO  6sou  oder  Gott  ist,  allein  das  Hauptsub- 
ject  ist  V.  12  der  Xoyo?  toO  OsoG  und  es  lässt  sich  nichts  Wesent- 
liches gegen  die  Beziehung  auch  des  V.  13  auf  den  >.6yoi;  toO  OeoQ 
einwenden.  Auch  in  dem  Salze  xpo?  Sv  -^[jliv  6  Xoyo;  scheint  der 
Verfasser  nur  die  Vieldeutigkeit  des  Worts  "koyo^  noch  benutzen 
zu  wollen,  um  auch  dadurch  noch  nahe  zu  legen,  welche  un- 
mittelbare Beziehung  der  Xoyo;  tou  Ösou  in  seiner  richtenden 
Eigenschaft  zu  uns  hat.  Ungeachtet  dieser  Hypostasirung  des 
X^yo?  ToO  6soO  sind  doch  die  beiden  Begriffe  Logos  und  Sohn 
noch  nicht  weiter  mit  einander  vermittelt.  Um  die  göttliche 
Natur  des  Sohns  zu  bestimmen,  hält  sich  der  Verfasser  des 
Hebräerbriefs  nicht  an  den  Begriff  des  Xoyo?,  sondern  den  des 
7cvsu|xa.  Nach  9, 14  liegt  die  versöhnende  Kraft  des  Todes  Christi 
darin,  dass  Christus  aiwviov  rrvsOu-a  hat.  Er  versöhnt  die  Welt 
mit  Gott,  weil  er  im  Elemente  des  Geistes  sich  Gott  darbringt, 
weil  nicht  Blut  von  Böcken  und  Stieren,  sondern  das  TTveCi^xa 
aiuviov  das  Sühnmittel,  das  die  eigenthümliche  Beschaffenheit 
und  Wirksamkeit  dieses  Todes  vermittelnde  und  bestimmende 
Moment  ist.  Was  Christus  zu  einem  ewigen  Hohepriester  macht, 
was  ihm  die  ^uva^Ai?  ^w:^?  ä>caTa>.uTOu  gibt,  so  dass  das  absolute 
Lebensprincip  eine  immanente  Bestimmung  seines  Wesens  ist,  ist 
das  7cvs0{xa,  dass  er  ein  rein  geistiges  Wesen  ist,  wie  Gott  selbst 
Geist,  und  der  Vater  der  Geister  ist,  12,  9.  Dabei  denkt  sich 
der  Verfasser  das  Verhältniss  des  Sohns  zum  Vater  unter  dem 
Gesichtspunkt  strenger  Unterordnung.  Der  Sohn  ist  vom  Vater 
so  abhängig,  dass  der  Vater  auch  in  dem  den  Sohn  unmittelbar 
Betreffenden  das  thätige  Subject  ist.  Der  Vater  hat  den  Sohn  auf 
kurze  Zeit  unter  die  Engel  erniedrigt  2,  7.  Nicht  sich  selbst  hat 
Christus  verherrlicht,  so  dass  er  Hohepriester  wurde,  sondern 
der,  der  zu  ihm  sprach:  mein  Sohn  bist  du,  heute  habe  ich  dich 
gezeugt,  5,  5.  Auf  diese  Stelle  hauptsächlich  stützt  er  den 
Begriff  der  Sohnschaft.  Man  kann  diess  so  verstehen,  er  habe 
dieses  Verhältniss  als  ein  durch  den  Willen  Gottes  gesetztes  be- 


Ä38  Zweiter  Abschnitt.     Zweit«  Periode. 

trachtet.  Dagegen  bezeichnet  es  der  Ausdruck  aTrauyacfxa  als 
ein  natürliches.  Es  liegen  so  schon  im  Hebräerbrief  die  Ele- 
mente der  beiden  Vorstellungen  von  dem  Verhältniss  des  Vaters 
und  Sohns,  welche  immer  den  Hauptgegensatz  bildeten.  Auch 
darin  erscheint  die  Macht  des  Vaters  als  die  weit  über- 
greifende, dass  die  Unterwerfung  des  Endlichen  nicht  dem 
Sohn,  sondern  dem  Vater  zugeschrieben  wird,  1,  3.  13.  2,  8. 
10,  12.  13.  J 

In  allem,  wovon  bisher  die  Rede  war,  stellt  sich  uns  die 
antijüdische  Seite  dieses  Lehrbegriffs  dar.  Der  Unterschied  des 
Christenlhums  vom  Judenthum  tritt  hier  in  seiner  ganzen  Weite 
hervor.  Alles,  was  zum  Wesen  der  absoluten  Religion  gehört, 
fällt  nur  auf  die  Seite  des  Chrislenthums.  Die  erste  SiaOvixTi  ver- 
hält sich  blos  negativ  zur  zweiten.  Es  ist  diess  aber  nur  die  eine 
Seite  dieses  Lehrbegriffs,  und  es  steht  ihr  eine  andere  gegen- 
über, auf  welcher  der  Unterschied  zwischen  dem  Judenthum  und 
Christenthum  sich  so  viel  möglich  wieder  ausgleicht.  Es  gehören 
hieher  folgende  Momente: 

1.  Das  Judenthum  enthält  auch  schon  alles,  was  zum  Wesen 
der  wahren  Religion  gehört,  es  ist  auch  eine  ^laOyixy),  wie  das 
Christenthum,  es  hat  seine  Gebote  und  Verheissungen,  seinen 
Hohepriester,  seine  Opfer  und  Versöhnungsanstalten,  das  Chri- 
stenthum kann  in  dieser  Hinsicht  zum  Judenthum  nichts  hinzu- 
thun,  was  nicht  an  sich  auch  schon  das  Judenthum  hätte,  es  ist 
die  Vollendung  des  Judenthums,  seine  TeXeiwffi;,  vollendet  wer- 
den aber  kann  nur  das,  was  an  sich  schon  irgendwie  vorbereitet 
und  eingeleitet  ist.  Das  Christenthum  hat  also  alles,  was  auch 
schon  das  Judenthum  hat,  es  hat  es  nur  weit  besser  und  voll- 
kommener. Es  ist,  wie  es  7,  19  heisst,  iiztKJxytiyri  xpe^Trovoi; 
iXirfSo?,  ^i'  iit;  iyyO^oKLe^  tä  8eö,  eine  xpe^TTWv  ^laÖT^xyi  V.  22. 
Christus  hat  eine  ^lafpoptoxspa  Xetroupyia,  6'<ytp  y.x\  xpeiTTOvo?  iari 
WÖT/X'/i;  [j-ediTYi? ,  rixt;  cttI  xpsCTxociv  iTi(r{ytkia.i<;  v£voaoO£nriTai 
8,  6.    Er  gieng  als  Hohepriester  ein  ^la  rüi  [xsi^ovo;  xai  tcXcio- 


Lehrbegriff  des  HebTfterbriefs.  239 

T^pa?  <r/cr,vYf?,  9,  H,  seine  6'j(Tiai  sind  xpe^TTOve?,  ein  weit  vor- 
zuglicheres Reinigungsopfer. 

2.  Dieser  blos  graduelle  Unterschied  zwischen  Judenthum 
und  Christenlhum  wird  näher  bestimmt  als  das  Verhällniss  des 
Bildes  und  der  Sache,  oder  des  Abbilds  und  Urbilds.  Das  Ge- 
setz ist  in  seiner  Schwäche  und  Nutzlosigkeit  nicht  das  Eben- 
bild der  Dinge  selbst,  sondern  nur  ein  Schatten  derselben  10,  i. 
Aber  es  hat  auch  eine  positive  Seite,  welche  nie  aufgehoben 
werden  kann ,  es  ist  der  Typus ,  uTCo^stYjxa ,  ävtituttov  ,  9,  23. 
24.  8,  5,  der  wahren  Versöhnung  mit  Gott  und  damit  auch  des 
Christenthums.  Auch  die  wahre  Versöhnung  soll  durch  einen 
menschlichen,  zwar  nicht  sündhaften  aber  doch  leidensfähigen 
Hohepriester  geschehen ,  wie  durch  Aaron  5,  1  f.,  durch  einen 
Hohepriester,  welchen  der  Wille  Gottes  dazu  ernennt  5,  4  f., 
der  nur  mit  Blut  vor  das  Angesicht  Gottes  tritt ,  und  durch  Blut 
das  Gewissen  von  der  Sündenschuld,  das  Heilige  von  der  Be- 
fleckung reinigt,  nur  durch  Blut  die  Scheidung  zwischen  den 
Menschen  und  Gott  aufhebt,  8,  2  f.  9,  7  f.,  und  bis  auFs  Ein- 
zelnste erstreckt  sich  diese  Analogie.  Das  ganze  Judenthum  hat 
also  eine  typische  Bedeutung.  Die  irdischen  jüdischen  Priester 
dienen  einem  Abbild  und  Schattenrisse  des  Himmlischen  8,  5; 
Die  Abbilder  des  Himmlischen  müssen  durch  Blut  gereinigt  wer- 
den, das  Himmlische  selbst  aber  durch  ein  vorzüglicheres  Opfer, 
9,  23.  Christus  gieng  nicht  in  yzi^oT:oir,xx  i-^ix  ein,  die  die 
avT^Tuwa  Töv  dXiriOivöv  sind,  sondern  in  den  Himmel  selbst.  So 
ist  nun  auch  der  Himmel,  als  der  Ort  der  Seligkeit,  in  der  An- 
schauung des  Verfassers  unsers  Briefs  der  Berg  Zion ,  die  Stadt 
des  lebendigen  Gottes,  das  himmlische  Jerusalem  12,  22.  Juden- 
thum und  Christenthum  verhallen  sich  zu  einander,  wie  Abbild 
und  Urbild,  beide  werden  in  einer  durchgeführten  Symbolik  ein- 
ander so  nah  als  möglich  gerückt.  Es  ist  bei  allem  Unterschied 
auch  wieder  ein  Verhältniss  der  Identität,  welchem  gemäss  der 
Verfasser  des  Briefs ,  statt  beide  nur  auseinander  zu  halten ,  das 


1^40  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

Christenthum  in  das  Judenthum  hineinschaut,  oder,  wie  man 
ebenso  gut  sagen  kann ,  das  Christenthum  durch  das  Judenthum 
hindurchscheinen  lässt.  « 

3.  Nicht  blos  Andeutungen  und  Typen,  eine  «ncia  und  utto- 
Ssiy^^-axa  des  Christenthums  enthält  das  Judenthum,  sondern 
auch  schon  ganz  gleiche  und  ebenbürtige  Vorbilder  desselben. 
Die  Anschauung  des  alten  Testaments  bestimmt  ihm  die  des  neuen 
Testaments  und  umgekehrt,  es  fehlt  dem  neuen  nichts,  was  das 
alte  hatte,  und  dem  alten  nichts,  was  das  neue  hat.  Es  erhellt  diess 
aus  der  eigenthümlichen  Bedeutung,  welche  der  Verfasser  des 
Briefs  dem  Mclchisedek  gibt.  Schon  das  alte  Testament  verhiess 
einen  neuen  über  den  israelitischen  weit  erhabenen  Hohepriester, 
einen  Priester  ei;  töv  aiwva  nach  der  Ordnung  Melchisedeks 
5,  6.  10.  Schon  durch  diese  Verheissung  eines  nicht  aaroniti- 
schen  oder  nicht  levitischen  Hoheprieslers  wurde  die  Unvoll- 
kommenheit  des  Gesetzes  ausgesprochen,  und  ihm  sein  Ende 
angekündigt;  denn  mit  dem  Priesterthum,  an  welches  dieses  ge- 
knüpft war,  muss  es  selbst  aufhören  7,  11.  12.  Mit  Aaron  und 
Levi  hat  ja  Melchisedek  nichts  zu  thun ,  da  er  ohne  Vater  und 
Mutter  aus  keinem  Geschlecht  ist  V.  3.  6,  und  ebenso  wird  es 
einst  mit  dem  verheissenen  ihm  gleichen  wahren  Hohepriester 
sein.  V.  13.  14.  Ferner  finden  sich  bei  Melchisedek  alle  jene 
Mängel  nicht ,  welche  den  israelitischen  Hohepriester  zum  Ver- 
söhner unfähig  machen,  sondern  er  hat  weder  einen  Anfang 
seiner  Tage  noch  ein  Ende  seines  Lebens,  er  ist  vielmehr  dem 
Sohne  Gottes  vollkommen  gleich  und  bleibt  beständig  Priester 
V.  3,  ein  ihm  entsprechender  Hohepriester  wird  daher  den  levi- 
tischen verdrängen  V.  16.  Wie  wenig  dieser  mit  Melchisedek 
sich  messen  kann,  ist  ausserdem  daraus  zu  sehen,  dass  Melchi- 
sedek den  Abraham  segnete,  also  noch  über  Abraham  stand. 
Das  Hauplmoment  dieser  Auffassung  des  alten  Testaments  ist, 
dass  der  Verfasser,  während  er  auf  der  einen  Seite  das  alte  Te- 
>;8toment  tief  herabsetzt,  und  als  einen  blossen  Schalten  des  wahr- 


Ijehrbegriff  des  Hebrtterbriefs.  241 

haft  Seienden  betrachtet,  auf  der  andern  doch  wieder  das  wahrhaft 
Reale  schon  im  alten  Testament  findet,  und  aus  ihm  den  absoluten 
Inhalt  des  Christenthums  selbst  zu  begreifen  sucht.  Ist  also  auch 
der  levitische  Hohepriester  mit  Christus  auf  keine  Weise  zu  ver- 
gleichen ,  so  hat  dagegen  das  alte  Testament  in  seinem  Melchise- 
dek  einen  Christus  vollkommen  gleichen  Hohepriester,  der  das- 
selbe ist,  was  Christus  ist.  Judenlhum  und  Christenthuni  verhal- 
ten sich  daher  nicht  blos  wie  die  unvollkommene  und  vollkom- 
mene Religion  zu  einander,  so  dass  das  Christenthum  die  durch 
das  Judenthum  blos  hindurchscheinende  im  alten  Testament  nur 
wie  in  einem  Schattenriss  vorgebildete  Religion  wäre,  sondern 
das  alte  Testament  enthält  selbst  schon  die  mit  dem  Christen- 
thum identische  absolute  Religion,  aber  es  enthält  sie  nur  ideell, 
und  erst  im  Christenthum  ist  die  im  alten  Testament,  wie  nament- 
lich in  der  Person  Melchisedeks,  vorbildlich  aufgestellte  Idee  zu 
ihrer  wahren  Realität  gekommen.  Indem  so  das  eigentliche  Ju- 
denthum, das  gesetzliche,  levitische,  zwischen  der  altlestament- 
lichen  Religion  als  dem  ideellen  Christenthum  und  dem  geschicht- 
lichen Christenthum  in  der  Mitte  liegt,  erscheint  jenes  Judenthum 
selbst  nur  als  der  Abfall  von  der  Idee,  als  der  Schatten  dersel- 
ben, als  die  unwahre  Gestalt  der  wahren  Religion,  durch  welche 
-hindurch  die  Idee  sich  erst  geschichtlich  verwirklichen  muss. 
Wenn  man  also  vom  Judenthum  zu  dem  Christenthum  als  der 
TeXsio)7i(;  desselben  fortgeht,  so  erfasst  man  in  ihm  nur  die  schon 
dem  Judenthum  zu  Grunde  liegende,  aber  in  ihm  noch  verhüllte, 
noch  nicht  zu  ihrer  wahren  Realität  hindurchgedrungene  Idee 
der  alttestamentlichen  Religion.  Wie  auf  diese  Weise  beide 
Religionen,  die  alte  und  die  neue,  objectiv  eins  sind,  sofern 
das  substanzielle  Wesen  der  Religion,  das  Priesterthum  in  der 
Person  Melchisedeks  ganz  dasselbe  ist,  was  es  in  der  Person 
Jesu  ist,  so  fmdet  dieselbe  Identität  auch  auf  der  subjectiven 
Seite  statt,  sofern  es  schon  im  alten  Bunde  denselben  selig- 
machenden Glauben  gab,    wie  im  neuen.    Der  Verfasser  führt 

Bftiir,  nentest.  Theol.  \Q 


!94)S  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

C.  H  eine  ganze  Reihe  alttestamentlicher  Personen  auf,  welche 
den  Glauben  hatten ,  und  durch  ihn  von  Gott  das  Zeugniss  er- 
hielten, dass  sie  gerecht,  des  göttlichen  Wohlgefallens  und  der 
ewigen  Seligkeit  gewürdigt  seien.  Wenn  sie  auch  Mitglieder  des 
alten  Bundes  waren ,  so  gehörten  sie  doch  nicht  zu  der  sie  um- 
gebenden Welt,  11,  13.  38,  waren  schon  damals  Angehörige 
des  Himmels,  des  himmlischen  Jerusalem,  der  Stadt  Gottes,  11, 

10.  14.  16.  12,  22.  23.  28.  Sie  sind  in  dem  Glauben  mit  den 
Christen  eins,  und  es  ist  nur  der  Unterschied,  dass  das,  was 
den  Christen  unmittelbar  zu  Theil  wird,  für  sie  Gegenstand  einer 
erst  in  der  Zukunft  in  Erfüllung  gehenden  Erwartung  ist.    Vgl. 

11,  39.  40.  Wie.  sie  im  Glauben  mit  uns  eins  sind,  so  sollen 
sie  auch  nicht  ohne  uns  zu  ihrer  Vollendung  gelangen. 

Es  sind  demnach  zwei  einander  gegenüberstehende  Seiten 
des  Lehrbegriffs  zu  unterscheiden,  auf  der  einen  Seite  bilden 
Judenthum  und  Christenthum  einen  Gegensatz,  auf  der  andern 
ist  der  Gegensatz  aufgehoben;  aber  wie  ist  er  aufgehoben?  Auf- 
gehoben ist  der  Gegensatz  dadurch,  dass  alles,  was  dem  Chri- 
stenthum als  der  absoluten  Religion  seinen  absoluten  Werth  und 
Inhalt  gibt,  an  sich  oder  ideell  auch  schon  im  Judenthum  ent- 
halten ist;  aber  ebendesswegen  weil  es  nur  an  sich  enthalten 
ist,  nur  als  Idee,  muss  die  Idee  sich  erst  realisiren.  Diess  kann 
nur  durch  einen  Entwicklungsprocess  geschehen ,  in  welchem 
die  Idee  durch  ihre  noch  unwahre  Gestalt  sich  hindurchbewegt, 
um  zu  ihrer  wahren  Realität  zu  gelangen,  oder  sich  mit  ihrem 
wahren  concreten  Inhalt  zu  erfüllen.  Es  sind  demnach,  wenn 
wir  die  Idee  als  das  Absolute  oder  Vollkommene  betrachten, 
drei  Momente  zu  unterscheiden,  1.  das  Vollkommene  an  sieh, 
2.  das  Unvollkommene  in  seinem  Gegensatz  zu  dem  Vollkomme- 
nen, und  3.  das  Vollkommene  in  seiner  Vollendung.  Das  Unvoll- 
kommene ist  das  Judenthum  in  seinem  schon  nachgewiesenen 
negativen  Verhältniss  zum  Christenthum.  Die  beiden  andern 
Momente  sind  in  der  doppelten  Bedeutung  enthalten,  welche  der 


Lehrbegriff  des  Hebrfterbriefs.  )S43 

Verfasser  des  Hebräerbriefs  mit  dem  Vollkommenen,  dem  reXetov, 
verbindet.  Das  Vollkommene  ist  das  Himmlische  im  Gegensatjs 
zum  Irdischen  9,  11.  Das  Himmlische  ist  das  wirklich,  was  es 
sein  soll,  es  ist  das  dcAr.Oivov  9,  24,  auno  ii  sixwv  twv  TcpayiAa- 
Tcdv  10,  1,  während  das  Irdische  nur  das  Unvollkommene  ist, 
eine  T/tia,  10,  1,  ein  ivTiTUTrov,  9,  24,  ein  <i'K6^ziy[xix,  9,  23. 
8,  5,  ein  <jaXeu6jj,£vov  12,  27.  Himmlisches  und  Vollkommenes 
sind  daher  geradezu  identische  ßegriife,  aber  es  ist  nur  das 
Vollkommene  an  sich,  wie  es  der  Idee  nach  ist,  wovon  die 
TsXsioTVi;  oder  das  TsXetoOaöai  im  Sinne  des  Hebräerbriefs  als 
etwas  erst  Werdendes,  als  die  sich  erst  realisirende  Idee  unter- 
schieden werden  muss.  Die  Frage  ist  also,  wie  das  Vollkom- 
mene an  sich  auch  das  Vollkommene  in  seiner  realen  Vollendung 
wird,  und  in  diesem  Process  der  Realisirung  seiner  Idee  alles 
Unvollkommene,  das,  was  im  Judentbum  der  Gegensatz  des 
Christenlhums  ist,  aufhebt.  Da  nach  der  Lehre  von  der  Präexi- 
sLenz  Christi  die  Person  Christi  selbst,  sofern  Christus  der  Ab- 
glanz der  Herrlichkeil  Gottes  ist,  die  concrete  Anschauung  des 
an  sich  Vollkommenen  und  Himmlischen,  des  Urbildlichen  in 
seinem  absoluten  Charakter  ist,  so  muss  sich  jener  Process  in 
dej'  Person  Christi  selbst  darstellen ,  und  wir  können  daher  die 
zuerst  aufgestellte  Frage  bestimmter  so  fassen:  wie  wird  Chri- 
stus als  der  präexistirende  Sohn  zu  dem  Hohepriester  in  dem 
Sinn ,  in  welchem  ihn  der  Hebräerbrief  von  dem  levitischen  un- 
terscheidet? An  sich,  in  seiner  Präexistenz,  ist  er  nur  ein  gött- 
liches Wesen;  das  Nächste,  was  hieher  gehört,  als  das  erste 
Moment  des  den  Gegensatz  aufhebenden  Processes  ist  seine 
Menschwerdung,  er  muss  vor  allem  Mensch  werden,  und  es 
fragt  sich  daher,  wie  und  warum  wird  er  Mensch? 

Der  Grund  und  Zweck  der  Menschwerdung  ist,  die  Men- 
schen von  den  Sünden  zu  reinigen  1,3.  Dazu  ist  er  der  ewig  von 
.Gott  aufgestellte  Hohepriester.  Weil  es  Menschen  sind,  denen 
ev  zu  Hülfe  kommt,  nimmt  er,  wie  sie.  Fleisch  und  Blut  an; 

16* 


SS44  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

weil  es  schwache  und  leidende  Menschen  sind,  wird  er  ihnen 
in  allem  gleich,  um  ihre  Schwachheit  mitfühlen  zu  können,  und 
weil  Gott  beschlossen  hat,  durch  blutige  Versöhnung  die  Ver- 
schuldeten zu  reinigen,  erscheint  er  in  einem  sterblichen  Körper. 
Vgl.  2,  14.  16  f.  4,  15.  5,  1  f.  10,  5  f.  Er  ist  den  Menschen  in 
Allem  gleich  geworden,  in  ihrer  sittlichen  Schwäche  durch  seine 
Versuchbarkeit  2,  18,  in  ihrer  Unmacht  und  Endlichkeit  durch 
seine  Erniedrigung  unter  die  Engel,  2,  6—9,  vor  allem  aber 
durch  seine  Leidensfähigkeit.  So  lernte  er,  obgleich  er  Sohn 
war,  aus  dem,  was  er  litt,  den  Gott  schuldigen  Gehorsam,  ward 
vollendet  und  allen,  die  ihm  gehorchen,  Urheber  ewiger  Ret- 
tung, 5,  7  f.  Wie  jedes  Wesen,  das  nicht  Gott  selbst  ist,  muss 
auch  der  Sohn  im  Kampfe  mit  Versuchungen  und  Leiden  die 
Würdigkeit  bewähren ,  von  Gott  zu  sich  aufgenommen  zu  wer- 
den ,  1 2,  6  f.  Je  höher  der  Hebräerbrief  den  Sohn  stellt ,  um  so 
mehr  konnte  er  den  seiner  ursprünglichen  Natur  so  entgegen- 
gesetzten Zustand  nur  aus  dem  sittlich  religiösen  Gesichtspunkt 
betrachten.  Da  es  nothwendig  war,  dass  er,  um  den  Menschen 
gleich  zu  werden,  alles  mit  ihnen  theilte,  so  konnte  er  nur  auf 
dem  Wege  des  standhaften  ergebungsvollen  Duldens,  seines 
Leidens  und  Sterbens  der  seiner  ursprünglichen  Natur  inadäqua- 
ten Form  des  Daseins  sich  wieder  entschlagen.  Um  den  Willen 
Gottes  zu  thun,  übergibt  er  sich  dem  Tode,  10,  5  —  10.  Durch 
seine  Gottesfurcht,  seinen  Gehorsam,  seine  Ergebung  in  Leiden 
und  Sterben  muss  er  sich  erst  den  Preis  der  Errettung  aus  dem 
Untergang  im  Tode  und  der  Wiederaufnahme  zu  Gott  erringen 
und  verdienen,  5,  7  —  9.  12,  2.  Das  Gebet  Jesu  um  Rettung 
vom  Untergang  im  Tode  wurde  wegen  seiner  Ergebung  von  Gott 
erhört,  er  wurde  aus  dem  Reiche  der  Todten  wieder  heraufge- 
führt, 13,  20,  in  den  Himmel  wieder  aufgenommen,  über  die 
Engel,  unter  welche  er  erniedrigt  war,  wieder  erhoben,  4,  14. 
7,  26.  1,  4,  mit  Freude,  Ehre  und  Herrlichkeit  gekrönt,  2,  9. 
vgl.  1,9.  12,  2,  und  erhielt  auf  ewig  den  Sitz  zur  Rechten  Got- 


Lehr  begriff  des  Hebräerbriefs.  S?45 

tes,  1,  3.  8.  13.  8,  1.  10,  12.  Wie  er  in  allem  diesem  ein  Vor- 
bild für  die  Menschen  ist,  das  zeigt,  wie  man  durch  standhaftes 
und  ergebenes  Leiden  zur  ewigen  Vollendung  gelangen  kann, 
12,  2,  so  macht  alles  diess  zusammen  auch  den  Begriff  der 
TeXeCüxnc  oder  der  TeXeicofrt;  si?  tou?  atöva?  in  dem  realen  Sinne 
aus,  in  welchem  schon  davon  die  Rede  war.  Christus  ist  nun 
der  wirkliche  >t>.vipov6[Aoc  xavTtov,  als  welcher  er  gleich  anfangs 
aufgestellt  worden  ist,  1,  2.  vgl.  2,  6  f.  10,  12  f.,  d.h.  die  Idee, 
unter  deren  Gesichtspunkt  der  Sohn  zu  stellen  ist ,  ist  realisirt, 
und  der  ganze  Process,  der  in  ihm  seinen  Verlauf  nehmen  soll, 
vollendet.  Es  bezieht  sich  diess  auf  die  Person  Christi  selbst. 
Da  er  aber  nicht  um  seiner  selbst  willen  Mensch  geworden  ist, 
sondern  um  der  Menschen  willen,  so  kommt  nun  auch  nicht  blos 
das  in  Betracht,  was  er  für  sich  selbst  geworden  ist,  sondern 
vielmehr,  was  er  für  die  Menschen  gethan  hat.  Die  Hauptsache 
ist  die  durch  seinen  Tod  gestiftete  Versöhnung,  und  der  Haupt- 
gesichtspunkt, unter  welchem  der  Hebräerbrief  die  versöhnende 
Thätigkeit  Christi  und  sein  Werk  auffassl,  ist  der  Begriff  der 
Reinigung,  wie  er  sich  aus  dem  Begriff  des  Hohepriesters  ergibt. 
Der  Verfasser  des  Hebräerbriefs  fasst  nicht,  wie  der  Apostel 
Paulus,  im  Tode  Christi  das  der  Gerechtigkeit  Gottes  genugthuende, 
die  Sünden  und  ihre  Strafen  auf  sich  nehmende,  büssende,  stell- 
vertretende Opfer  auf,  sondern  der  Hauptbegriff  ist  ihm  statt  des 
Opfers  der  das  Opfer  an  sich  selbst  vollziehende  Hohepriester, 
welcher  zwischen  Gott  und  dem  Volk  als  der  Reiniger  des  Volks 
und  der  selbst  reine  Vertreter  der  Übrigen  mitten  inne  steht, 
9,  7.  10,  11.  7,  27.  5,  3.  Bei  den  wichtigsten  Versöhnungs- 
handlungen des  israelitischen  Priesterthums,  auf  welche  der 
Verfasser  des  Hebräerbriefs  zurückgeht,  bei  dem  Ritus  des  gros- 
sen Versöhnungstags,  10,  1  f.,  bei  den  gewöhnlichen  Opfern 
im  heiligen  Zelt,  9,  9.  10.  13.  10,  11,  und  bei  der  Bundesstif- 
tung, 9,  19  —  22,  ist  das  Vermittelnde  immer  die  Reinigung 
(pavTi^eiv,  )ca9apt!|siv ,  äyia^siv,  TeXstoOv).  Nach  dieser  Analogie 


946  Zweiter  Abschnitt,     Zweite  Periode. 

ist  Christus  der  zwischen  Gott  und  den  Menschen  stehende  Hohe- 
priester CiLtcixTiq  9,  15),  der  durch  seine  eigene  That  sich  selbst 
opfert,  9,  H  f.  14.  24  f.  10,  5  f.,  der  selbst  in  das  Heiligthum 
eingeht,  selbst  eine  Gabe  für  die  Sünden  darbringt,  selbst  durch 
Blut  und  seinen  ewigen  Geist  vor  das  Angesicht  Gottes  kommt. 
Der  Darbringende  und  das  Dargebrachte  sind  in  ihm  vollkommen 
eins  und  dasselbe,  als  der  Geopferte  ist  er  der  sich  selbst 
Opfernde,  es  ist  nicht  fremdes  Blut,  sondern  sein  eigenes,  mit 
welchem  er  die  Sünder  und  den  entweihten  Himmel  besprengt, 
um  sie  zu  reinigen  und  von  Neuem  zu  weihen.  Er  nimmt  nicht 
Strafe  und  Fluch  auf  sich,  um  durch  den  Tod  dafür  zu  büssen 
und  dadurch  erst  sie  zu  vernichten,  sondern  er  vernichtet  un- 
mittelbar durch  sein  reines  und  reinigendes  Leiden  und  Sterben 
die  Sünde  und  ihre  Folgen.  Zwar  geschieht  die  Reinigung  der 
Menschen  von  der  Sünde  ebendadurch,  dass  er  die  Sünden  auf 
sich  nimmt,  mit  ihnen  belastet  davon  geht  und  so  dieselben  ver- 
nichtet, 9,  28,  aber  er  ist  immer  der  Hohepriester,  welcher  den 
Reinigungsact  durch  die  Aufsichnahme  des  Unreinen  vollzieht. 
Das  Reinigungsmittel,  mit  welchem  er  diesen  Act  vollzieht,  .ist 
sowohl  sein  Blut  als  sein  ewiger  Geist.  Vermittelst  seines  eige- 
nen Blutes  ist  er  in  das  wahre  Allerheiligste  eingegangen,  d.  h. 
dadurch,  dass  er  seinen  eigenen  Leib  dargebracht,  den  Willen 
Gottes,  dass  er  sterben  sollte,  vollkommen  erfüllt  hat,  hat  sein 
Tod  für  uns  die  Kraft  eines  Reinigungsopfers,  um  die  Sünden, 
tlie  wir  begangen  haben,  hinwegzunehmen  und  zu  vertilgen  und 
dadurch  unser  Gewissen  zu  reinigen.  Die  Last  des  bösen  Ge- 
wissens wird  von  uns  genommen,  so  dass,  was  wir  bisher  gefehlt 
haben,  uns  nicht  mehr  hindert,  uns  als  äy"^'  ""<1  TSTeXeitüpivoi, 
als  Gottgeweihte  und  unserer  Bestimmung  Genügende,  zu  be- 
trachten. Diese  Bedeutung  erhält  aber  sein  Blut  ersf  dadurch, 
dass  er  durch  den  ewigen  Geist  Gott  sich  selbst  unbefleckt  dar- 
g^ebracht  hat,  so  erst  reinigt  er  unser  Gewissen  von  todten 
Werken,  um  dem  lebendigen  und  wahren  Gott  zu  dienen,  9,  14. 


Lehrbegriff  de»  Hebräerbriefs.  24k7 

Wie  er  selbst  unbefleckt  ist,  so  macht  er  auch  uns  unbefleckt 
und  rein  im  Gewissen,  und  weil  er  Sta  Trvsufxaxoc  aiwvtou  sich 
dargebracht  hat,  so  versetzt  er  uns  in  die  Sphäre  eines  wahrhaft 
geistigen  Bewusstseins,  um  mit  reinem  aufrichtigem  Gewissen 
Gott  auf  wahrhaft  geistige  Weise  zu  dienen.  Was  mit  dem  un- 
bestimmten aber  bedeutungsvollen  Ausdruck  hix  Tcveu^aaTO?  aiw- 
vioi»  gesagt  werden  soll,  kann  eigentlich  nur  diess  sein:  was  bei 
dem  levitischen  Hohepriester  eine  blos  endliche,  vorübergehende 
Beziehung  hat,  sei  in  Christus,  dem  ewigen  Hohepriester,  sub 
specie  aeternitatis  anzuschauen,  als  erhoben  in  das  Element  des 
Geistes  auf  absolute  Weise  in  seiner  unendlichen  Beziehung  auf 
die  künftige  Welt  aufzufassen.  Darum  ist  nun  auch  die  Versöh- 
nung mit  Einem  Male  und  auf  ewig  vollbracht,  es  ist  eine  XuTpöxjt; 
aiwvia,  9,  25  —  28.  7.  12.  10,  1  f.  Aus  dem  Begriffe  des  Hohe- 
priesters  ergibt  sich  endlich  auch  noch  das  den  Lehrbegriff'  des 
Hebräerbriefs  von  dem  paulinischen  unterscheidende  Moment, 
dass  das  Opfer  Christi  nicht  mit  dem  Acte  des  Sterbens  am  Kreuze, 
sondern  erst  mit  dem  Eintritt  Jesu  in  den  Himmel,  mit  seiner  Er- 
scheinung vor  dem  Angesicht  Gottes  beendigt  ist.  Wie  der 
Hohepriester  mit  dem  Blut  durch  den  Vorhang  in  das  innere  Zell 
geht,  wo  die  Herrlichkeit  der  Cherubim  die  heilige  Lade  be- 
schattet C9,  5.  7.  25J ,  und  damit  erst  die  Sühnung  vollkommen 
vollzieht,  so  vollendet  Christus  sein  hohepriesterliches  Geschäft 
erst  dadurch,  dass  er  mit  seinem  Blut  die  Himmel  durchschrei- 
tend vor  dem  Angesicht  Gottes  erscheint  und  sich  zur  Rechten 
der  Herrlichkeit  auf  den  Thron  der  Gnade  setzt,  9,  11  f.  10, 12. 
Als  Hohepriester  kann  er  nur  im  Himmel  sich  selbst  Gott  dar- 
stellen. Tod,  Aufer  weckung,  Erhöhung  in  den  Himmel  fallen 
daher  hier  wesentlich  zusammen. 

Christus  ist  also  Mensch  geworden,  um  als  der  Mensch  ge- 
wordene Sohn  auch  Hohepriester  zu  werden  und  in  der  durch 
seinen  Tod  gestifteten  Versöhnung  im  Himmel  das  Unvollkommene 
des  Judenthums  in  dem  Vollkommenen  des  Christenthums  auf- 


1848  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

zuheben.  Schon  darin  liegt,  dass  das  Absolute  des  Christen- 
thums  nicht  blos  ein  jenseitiges  ist,  in  der  Person  und  dem  Werke 
Christi  greift  es  in  die  diesseitige  Ordnung  der  Dinge  ein.  Wenn 
nun  aber  doch  das  Christenthum  der  aiwv  [ji>,>.ü)v  ist,  wie  ist  der 
ai<j>v  jj(.i>.>.o)v  auch  schon  in  dem  atwv  outo?,  oder  wie  gestaltet 
sich  in  der  Anschauung  des  Verfassers  des  Hebräerbriefs  die 
Periode,  in  welcher  die  künftige  Welt  in  die  gegenwärtige  schon 
herüberreicht,  und  die  gegenwärtige  in  ihrem  zeitlichen  Verlauf 
noch  nicht  aufgehört  hat,  was  ist  in  ihr  das  Überwiegende  und 
Bestimmende,  das  Judenthum  oder  das  Christenthum?  Hier  ist 
nun  der  Punkt,  auf  welchem  die  Ansicht  des  Verfassers  von  dem 
Verhältniss  beider  an  einer  gewissen  Ambiguität  leidet,  noch  zu 
keinem  klaren  Begriff  durchgebildet  ist.  Auf  der  einen  Seite  ist 
das  Christenthum  schon  da,  auf  der  andern  kann  ihm  doch  das 
Judenthum  noch  nicht  weichen.  Daraus  ist  es  daher  zu  erklären, 
dass  unser  Brief ,  wie  Seh  wegler  sagt,  Nachnposfolisvhes  Zfit- 
alter  II.  S.  319,  obgleich  er  den  levitischen  Cultus  im  Princip  für 
überwunden  ansieht,  doch  nicht  auf  factische  Abstellung  desselben 
dringt;  er  erklärt  ihn  zwar  für  ein  Schattenbild  von  etwas  Höhe- 
rem, denkt  sich  ihn  aber  doch  fortbestehend,  bis  einst  alles 
Irdische  und  somit  auch  diese  Form  des  irdischen  Cultus  ein 
Ende  nehmen  würde,  wenn  die  höhere  Weltordnung  des  voll- 
endeten messianischen  Reichs  eingetreten  ist:  er  spricht  von  ihm 
durchgehends  als  von  einem  integrirenden  Element  zwar  nicht 
des  vollendeten,  aber  des  gegenwärtig  bestehenden  Christen- 
thums.  Selbst  in  denjenigen  Stellen,  die  am  meisten  antijüdisch 
lauten,  und  in  denen  die  Institutionen  des  alten  Bundes  bestimmt 
für  veraltet  erklärt  werden,  wird  das  Christenthum  doch  nicht 
als  Aufhebung  des  Judenthums  gefasst:  das  Judenthum  dauert 
innerhalb  des  Chrislenthums  noch  fort,  zwar  als  ^fn^iLtr/uas  und 
als  ein  dem  Verschwinden  nahes,  i'^'yu?  a(pavi<T[iLoO ,  8,  13,  aber 
doch  noch  als  factisch  bestehendes,  es  ist  folglich  noch  nicht 
durch  den  Eintritt   des  Chrislenthums ,   durch   das   Erscheinen 


Lehrbegriff  des  HebrKerbr iefs.  S49 

Christi  aufgehoben  worden,  sondern  es  findet  seinen  vollständi- 
gen a(pavi<j[jLÖ5  erst  im  nahe  bevorstehenden  atwv  ij!,eXX(i>v ,  im 
kommenden  Zustand  des  «raßPaTirru-o;  und  der  ivx7rau(7i;,  in 
welchem  erst  die  volle  Verwirklichung  des  Christenthums  zu 
hoffen  ist.  Das  gegenwärtige  Christenthum,  das  Christenthum 
des  aiwv  outo?  ist  somit  nothwendig  noch  ein  Ineinander  von 
Judenthum  und  Christenthum.  Aber  in  diesem  Ineinander  von 
Judenthuni  und  Christenthum  ist  nun  doch  das  Christenthum  schon 
wesentlich  da.  Weil  es  selbst  die  künftige  Welt  ist,  2,  5.  6,  5, 
so  wird  auch  seine  geschichtliche  Erscheinung  mit  dem  Ende  der 
Welt  so  nahe  als  möglich  zusammengerückt.  Christus  hat  die 
neue  Religion  verkündigt,  Itz'  iT/xTou  töv  -/({xspöv-TouTtov ,  1,  i, 
d.  h.  unmittelbar  vor  dem  Ende  der  xj^spat  aOrat,  des  atcliv  outoi;, 
er  hat  das  Werk  der  Versöhnung  vollbracht  sxl  (luvTsXeia  röy 
aiwvwv,  9,  26,  d.  h.  mit  dieser  Vollbringung  hat  die  diesseitige 
sichtbare  Welt  eigentlich  aufgehört,  und  die  jenseitige  begonnen. 
Der  Christ  lebt  daher  schon  in  einer  andern  Welt,  die  nicht,  wie 
das  mosaische  Judenthum  Engeln,  sondern  nur  Christus  über- 
geben ist,  2,  5,  wo  Tod  und  Teufel  ihm  nichts  mehr  anhaben, 
2,  15,  wo  die  Stadt  Gottes,  das  himmlische  Jerusalem  unmittel- 
bar vor  ihm  steht,.  12,  22.  28,  wo  er  durch  keine  schroffe  und 
unabsehbare  Kluft  mehr  von  dem  Jenseits  getrennt,  sondern 
schon  fest  an  dasselbe  gekettet  ist,  mit  seiner  Hoffnung  schon 
wirklich  in  dasselbe  hinüberreicht,  6,  18. 

Wenn  also  auch  objectiv  das  Judenthum  durch  das  Christen- 
thum noch  nicht  aufgehoben  ist,  so  ist  doch  subjectiv  für  den 
Christen  der  aiwv  aiXXwv  schon  da ,  und  in  den  Suvajxei?  {/.sXXov- 
TOi;  aioSvo;,  6,  5,  als  christlichen  Lebenserfahrungen  sind  die 
Mächte  des  Jenseits  schon  jetzt  in  ihm  gegenwärtig.  Wo  die 
diesseitige  Welt  in  der  jenseitigen  schon  so  aufgehoben  ist,  da 
bedarf  es  nicht  erst  einer  so  gewaltigen  Weltkatastrophe,  wie 
die  in  der  Apokalypse  geschilderte  ist,  um  die  Schranken  der 
beiden  Welten  zu  durchbrechen.  Auch  der  Verfasser  des  Hebräer- 


j{50  Zweiter  Abtichuitt.     Zweite  Periode. 

briefs  sieht  in  kurzer  Frist  der  Parusie  und  dem  Weltende  ent- 
gegen. Es  ist  noch  eine  kleine  Weile,  so  wird  der,  der  da 
kommen  soll,  kommen,  und  nicht  zaudern,  10,  37.  vgl.  25. 
Auch  er  richtet  seinen  Blick  auf  ein  himmlisches  Jerusalem,  das 
als  die  Stadt  des  lebendigen  Gottes  Myriaden  von  Engeln  in  sich 
hat,  und  die  Versammlung  und  Gemeinde  der  im  Himmel  aufge- 
schriebenen Erstgeborenen  ist,  nur  lässt  er  es  nicht  vom  Himmel 
herabkommen,  um  auf  die  Erde  sich  niederzulassen,  nachdem 
ihm  hier  durch  die  Vernichtung  aller  gottfeindlichen  Mächte  die 
Stätte  bereitet  ist,  sondern  die  Glaubigen  sind  schon  hier  zu  ihm 
hinangerückt,  12,  22.  Auch  er  lässt  Christus  zum  zweitenmal 
sichtbar  erscheinen,  aber  nur  zum  Heil  für  die,  die  auf  ihn  harren, 
9,  28.  Er  hat  seinen  Kampf  schon  durch  Leiden  und  Tod  aus- 
gekämpft, einen  weiteren  Kampf  gibt  es  für  ihn  nicht,  nachdem 
er  sich  zur  Rechten  der  Majestät  gesetzt  hat  in  der  Höhe,  1,  3. 
vgl.  7,  26.  8,  1,  wo  er  nun  von  seiner  Arbeit  ruht,  und  wartet, 
bis  durch  die  Macht  Gottes  vollends  alle  seine  Feinde  ihm  unter- 
worfen werden,  10,  13.  2,  8,  so  dass  er  endlich  ohne  mit  der 
Sünde  zu  kämpfen,  d.  h.  ohne  sie  noch  einmal  auf  sich  nehmen 
zu  müssen,  noch  einmal  erscheint,  9,  28,  und  so  das  Weltall, 
zu  dessen  Erben  er  von  Gott  bestimmt  isl^  wirklich  in  Besiti 
nimmt,  1,  2.  Die  Idee  des  Priesters  ist  auch  hier  in  ihm  festge- 
halten. Als  Priester  hat  er  nicht  die  äussern  Feinde  zu  bekämpfen, 
sondern  das  Unreine  der  Sünde  zu  entfernen  und  abzuwehrcR, 
und  alles  von  der  Sünde  Gereinigte  an  sich  zu  ziehen.  Als 
«pj^tspeu;  jcara  tvIv  ri^tv  MeX^iaeSs/  si;  töv  xitovx,  ÄaivfJ;  ^la- 
ÖTfiÄTi;  [xeff^TX?  (Iyyuo^),  TrpoöpopLo;  uTcep  T^jAtiiv  ei^  tÖv  oupavdv,  teptiK 
{/.ey«?  im  tÖv  oIjcov  toO  Ösoo,  töv  ayttov  XsiTOupyo;  xal  xfi?  «ncyivff? 
T^;  äXtiÖivt?;  ,  aiTio?  «JcoTripia?  xitoviou ,  ö  TuoifAr.v  xwv  Trpoß^TWv  6 
^iya;,  6  ttJ?  TciaTew;  ipjr/iyö;  xal  TeXeiw-nr,; ,  ö  iwocroXo?  JC«i 
ap^iepeu;  tt?;  6|AoXoyta?  TO{i.öv,  13,  20.  12,  2.  3,  1,  sammelt  er 
in  dem  Zustand  seiner  Vollendung  den  Kreis  der  >'ersöhnten  und 
Brlöslen  um  sich.   Sie  heissen  seine  icpo^axa,  13,  20,  oder  seine 


■' ■^'  Lehrbegriff  des  HebrJterbri  efs.  8d1 

TtatSta,  2,  13,  uiol  V.  10,  auch  Ä<ieX<pol  V.  11.  12,  weil  die 
Menschen  wie  Christus  von  Gott  stammen,  von  dem  Einen,  der 
alle  Dinge,  und  insbesondere  den  Geist  des  Menschen  geschaffen 
hat.  Auch  seine  zweite  Erscheinung  kann  nur  den  Zweck  haben, 
am  Ende  der  Dinge  alles  mit  ihm  Verwandle  zu  sich  aufzunehmen, 
in  die  die  rechten  Grundfesten  habende  Stadt,  deren  Baumeister 
und  Schöpfer  Gott  ist,  11,  10.  Das  Ende  erfolgt,  wenn  das 
Endliche  als  das  in  sich  Wankende,  Unhaltbare,  Vergängliche 
mit  Einem  Male  zusammenfällt.  Das  Geschaffene  wird  noch  ein- 
mal erschüttert,  damit  das  Nichterschütterte  bleibe,  12,  27.  Die 
stete  Bewegung  und  Unruhe  der  diesseitigen  Well  kommt  in  der 
jenseitigen  zur  Ruhe.  Es  gibt  eine  )cxTaxau<ji? ,  einen  «yaß- 
ß«Tt«TjjLÖ<;  ^ür  das  Volk  Gottes.  Die  Gerechten  haben  ihre 
bleibende  Stätte  in  der  Stadt  Gottes,  die  Ungehorsamen  wer- 
den von  Gott  dem  allgemeinen  Richter  12,  23  zur  Rechenschaft 
gefordert,  und  mit  ewiger  Strafe,  mit  der  forldauernden  Qual 
der  Vernichtung  belegt  werden.  Es  steht  ein  furchtbares  Ge- 
richt bevor,  und  ein  Feuereifer,  welcher  die  Widersetzlichen 
verzehren  wird,  denn  Gott  ist  ein  verzehrendes  Feuer,  10,  27. 
12,  29. 

"?"  Noch  ist  die  Lehre  vom  Glauben  übrig.  Den  Glauben  de- 
finirl  der  Hebräerbrief  11,1  als  »j7r6<TTa<yt?  Atti^ojxsvwv  ,  und 
tkzf/o(;  -z^xy^iAxoiw  oü  ßXsTToaevwv.  Gegenstand  des  Glaubens  ist 
nicht  das  an  sich  Unsichtbare,  sondern  das  für  den  Glaubenden 
nicht  Sichtbare,  das  er  erst  in  der  Zukunft  schauen  kann,  wenn 
es  auch  an  sich  schon  vorhanden  ist.  Das  Hauptgewicht  legi  die 
Definition  auf  das  subjeclive  Verhalten,  wie  es  durch  uTro'jTafft; 
und  tkz^f/p;  ausgedrückt  ist.  Der  Glaube  ist  eine  Zuversicht,  bei 
welcher  man  das,  was  man  hofft,  sich  als  etwas  Gegenwärtiges 
vorstellt,  die  Überzeugung  von  dem  Dasein  des  Unsichtbaren, 
die  Anerkennung,  dass  man  genöthigt  ist,  es  anzunehmen.  Der 
Glaubende  muss  mit  dem  Object  seines  Glaubens  eins  werden, 
so  zur  Einheit  mit  ihm  zusammenwachsen,  dass  es  ihm  gar  nicht 


1tH9  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

möglich  ist,  von  dem,  was  er  glaubt,  sich  loszureissen,  vgl. 
cuYxcjcpadOai,  4,  2.  Je  ferner  das  Object  ist,  um  so  intensiver 
inuss  das  Ergreifen  desselben  sein,  damit  es  wirklich  in  uns 
hereinkomme,  uns  in  Besitz  nehme,  und  uns  nicht  wieder  ver- 
loren gehe.  Das  Unsichtbare  ist  Gegenstand  der  xiori^,  wenn 
der  Mensch  an  ihm  festhält,  als  ob  er  es  sähe,  unmittelbar  vor 
sich  hätte,  vgl.  li,  27;  dieses  dpav  geschieht  durch  das  xapxe- 
peiv,  durch  unverrückte  Richtung  auf  den  Gegenstand.  Diese 
Richtung  des  Willens  ist  eine  sehnsuchtsvolle,  nach  dem  wirk- 
lichen Besitz  verlangende,  eine  voraus  sich  freuende  und  hoffende, 
weil  das  Object  ein  dXTCt^6|xevov  ist.  Für  die  xidTt;  kann  daher 
auch  die  eXm;  gesetzt  werden,  man  hofft,  um  zu  glauben;  auch 
'von  der  Hoffnung  gilt,  was  vom  Glauben  gesagt  wird,  St'  i\- 
■f:iho<;  sYYi^oH'-ev  r&  ösoi,  7,  19.  3,  6.  In  der  Hoffnung  erhebt 
tbich  der  Mensch  über  das  Materielle  und  Irdische,  um  ein  Höheres 
'au  ergreifen ,  oder  zu  glauben.  Fragt  man  nun  aber  nach  dem 
eigentlich  seligmachenden  Inhalt  dieses  Glaubens,  so  ist  das 
Eigenthümliche  dieses  Begriffs  des  Glaubens,  dass  die  specielle 
Beziehung  des  Glaubens  auf  Christus  gegen  die  allgemeine  auf 
Gott  sehr  zurücktritt.  Als  Inhalt  des  Glaubens  wird  angegeben, 
glauben,  dass  Gott  ist,  und  denen,  die  ihn  suchen,  ein  Vergelter 
wird,  U,  6.  26,  dass  er  treu  ist  in  Erfüllung  seiner  Verheis- 
sungen  V.  11,  dass  er  die  Macht  hat  alles  zu  thun,  sogar  Todte 
wieder  zu  erwecken,  V.  19,  dass  er  seinen  Erwählten  eine  Stätte 
'der  ewigen  Seligkeit  bereitet  hat,  V.  10.  16,  dass  der  Mensch 
'nicht  der  Erde,  sondern  dem  Himmel  als  seinem  wahren  Vater- 
land angehört.  Dieser  Glaube  hat  alles  hervorgebracht,  was  den 
K.  H  aufgeführten  Personen  des  allen  Testaments  Grosses  wider- 
fahren ist,  und  was  sie  Grosses  gethan  haben,  die  Begnadigung 
der  Rahab,  V.  31,  das  Wohlgefallen  Gottes  an  dem  Opfer  Abels, 
V.  4,  die  Versetzung  des  Henoch  in  den  Himmel,  V.  5,  die  Ge- 
burt Isaaks  und  die  zahlreiche  Nachkommenschaft  Abrahams, 
V.  II.  12  u.  8.  w.    Der  Glaube  im  Sinne  des  Hebräerbriefs  hat 


Lehrbegriff  des  Hebräerbriefs. 

eine  ebenso  intensive  als  umfassende  Bedeutung.  Wenn  ti,  6 
gesagt  wird,  ohne  Glauben  ist  es  nicht  möglich  zu  gefallen,  denn 
der,  der  zu  Gott  gelangen  will,  inuss  glauben,  dass  er  ist,  und 
denen,  die  ihn  suchen,  ein  Vergelter  wird,  so  scheint  zwar  hier 
der  Glaube  nur  theoretisch  genommen  zu  sein,  und  somit  Theor 
retisches  und  Practisches  auseinanderzufallen.  Allein  das  Theo-r 
retische  ist  nur  ein  Element  des  Glaubens  und  der  Glaube  begreift 
an  sich  schon  auch  das  Practische  in  sich.  Der  Glaube  knüpft 
überhaupt  erst  das  Band  zwischen  Gott  und  dem  Menschen,  durch 
den  Glauben  erhält  der  Mensch  erst  den  bestimmten  Halt  seiner 
Existenz,  weil  er  durch  den  Glauben  mit  dem  in  Verbindung 
kommt,  S'.'  8v  t«  tzxvxv.  'a.xi  Si'  (yj  xx  :rxvT!x,  2,  10,  in  welchem 
allein  alles  den  substanziellen  Grund  seines  Daseins  hat.  Ist  ein- 
mal im  Menschen  durch  den  Glauben  dieses  Band  mit  Gott  ge- 
knüpft, so  ist  der  Glaube  überhaupt  das  Princip,  von  welchem 
alle  Äusserungen  des  geistigen  Lebens  ausgehen ,  die  Einheit  des 
Denkens  und  Wollens,  die  sittliche  Macht,  die  ihn  über  alles 
erhebt,  und  alles  wahrhaft  Grosse  wirkt,  was  Menschen  thun 
können.  So  i.«t  er  daher  auch  das  gerecht  und  selig  machende 
Princip.  Wie  der  Mensch  ohne  Glauben  verloren  geht,  und  der 
ewigen  Verdammniss  verfällt,  so  erhält  und  reitet  er  sich  durch 
den  Glauben  und  gelangt  zum  Besitz  des  verheissenen  ewigen 
Lebens.  Vgl.  40,  39.  Durch  den  Glauben  erhält  man  das  Zeug- 
niss,  dass  man  gerecht  ist,  H,  4.  Der  Verfasser  des  Hebräer- 
briefs spricht  daher  von  einer  ^utaioduvr  xxtä  ttictiv  H,  7,  von 
einer  nach  dem  Glauben  sich  richtenden,  nur  nach  Maassgabe 
des  Glaubens  stattfindenden  und  durch  ihn  bedingten  Gerechtig- 
keit. Dieser  Glaube  begreift  von  selbst  das  Thun,  die  guten 
Werke  in  sich.  Was  man  ^ix  riuTetoc  thul,  ist  ein  spYa^Sfjöai 
^ucaio«7uvY|v,  11,  33.  Wenn  9,  14  gesagt  wird,  dass  das  Blut 
Christi  unser  Gewissen  von  todlen  Werken  reinige,  um  dem 
lebendigen  Gott  zu  dienen,  so  sind  die  vsxpa  spya  zwar  keine 
Gesetzes  werke,  sondern  Werke,  die  sich  auf  nichtige  endliche 


Zweiter  Abschnitt.  '  Zweite  Periode. 

Dinge  beziehen,  in  Ansehung  welcher  das  menschliche  Thun 
todl  und  unfruchtbar  für  das  ewige  Leben  ist;  es  ist  aber  daraus 
sowohl  zu  sehen,  wie  der  Glaube  in  demselben  Verhaltniss,  in 
welchem  er  mit  dem  lebendigen  Gott  in  Verbindung  bringt ,  um 
so  thatkräftiger  sein  muss,  als  auch  welches  christliche  Element 
er  dazu  in  sich  aufnimmt.  Je  freier  und  reiner  von  der  Schuld 
der  Sünde  das  Gewissen  ist,  um  so  mehr  wird  sich  der  Glaube 
durch  lebendige  Werke  äussern,  üa  bei  dem  Glauben  alles  auf 
die  intensive  Stärke  ankommt,  mit  welcher  er  sich  in  der  Rich- 
tung auf  sein  in  so  weiter  Ferne  liegendes  Object  erhält,  so  ist 
eine  Haupteigenschaft  des  Glaubens  die  »AaKpoOuata  und  die  utto- 
U.0V7;  6,  11.  12.  10,  36.  Die  stete  Beharrung  in  der  einmal  ge- 
nommenen Richtung  ist  so  wichtig,  dass  mit  jedem  Abfall  von 
der  einmal  erkannten  Wahrheit  alles  unwiderruflich  und  unrettbar 
verloren  geht,  wie  der  Verfasser  des  Hebräerbriefs  behauptet, 
6,  4  f. 

5w»i<  In  der  weiten  umfassenden  Bedeutung,  in  welcher  der  Ver- 
lasser des  Hebräerbriefs  den  Begriff  des  Glaubens  nimmt,  wenn 
er  ihm  von  Anfang  an  in  dem  alten  Bunde  wie  im  neuen  den- 
selben seligmachenden  Inhalt  gibt,  spricht  sich  die  Ansicht  aus, 
die  er  überhaupt  von  der  ganzen  Religionsgeschichte  hat.  So 
gross  der  Unterschied  ist,  welchen  er  zwischen  dem  Judenthum 
und  Christenthum  annimmt,  so  fasst  er  doch  beide  in  derselben 
Anschauung  zusammen.  Der  Sohn  ist  zwar  über  Menschen  und 
Engel  unendlich  erhaben,  es  ist  aber  doch  zwischen  der  christ- 
lichen und  vorchristlichen  Offenbarung  nur  der  Unterschied,  dass 
nachdem  Gott  in  vielfältiger  und  vielartiger  Weise  gesprochen 
hat  zu  den  Vätern  in  den  Propheten,  er  am  Ende  dieser  Tage  zu 
uns  in  dem  Sohne  gesprochen  hat,  1,  1.  Christus  ist  zwar  ein 
ganz  anderer  Hohepriester  als  der  des  alten  Testaments,  und 
doch  ist  auch  sein  Priesterlhum  nur  eine  andere  Form  des  von 
Anfang  bestehenden  Priesterlhums.  Alle  diese  Gegensätze  haben 
nur  eine  relative  Bedeutung,    indem   sie   in   dein   allgemeinen 


Lehrbegriff  des  Hebräerbriefs.  9d9 

Gegensatz  zwischen  Gott  und  der  Welt,  dem  Absoluten  und  dem 
Endlichen  verschwinden.  In  keinem  andern  Lehrbegriff  ist  die 
Transcendenz  Gottes  so  stark  ausgesprochen,  wie  in  dem  des 
Hebräerbriefs.  Gott  oder  das  Jenseits  ist  das  Einzige,  dem 
wahre  Realität  zukommt,  auf  dieser  Seite  allein  liegt  alles  Sein 
und  aller  Gehalt,  das  Diesseits  ist  dem  absoluten  Jenseils  gegen- 
über eine  blosse  Erscheinung,  es  ist  zwar  von  Gott  hervorge- 
bracht, aber  nicht  um  stufenweise  verklärt  und  so  endlich  mit 
ihm  zu  gegenseitigem  Ineinandersein  vereinigt  zu  werden,  son- 
dern es  ist  zum  Untergang  bestimmt.  Alles,  was  diesseits  ist,  ist 
nur  eine  Tx-ta,  ein  uTCoSstyjxa ,  ein  oaX£'j6[ji.£vov ,  und  der  Sohn, 
der  an  sich  ganz  der  jenseitigen  Welt  angehört,  tritt  nur  dazu 
in  die  diesseitige  herein,  um  diese  vergängliche,  in  sich  zer- 
fallende Ordnung  der  Dinge  vollends  abzubrechen,  und  alles, 
was  in  ihr  Realität  hat,  in  das  transcendenle  Jenseits  hinüberzu- 
nehmen. Daher  kommt  selbst  alles  das,  was  zur  christlichen 
Offenbarung  gehört,  zu  keiner  festen  geschichtlichen  Realität,  es 
ist  nur  dazu  da,  um  als  eine  fremdartige,  in  diese  Ordnung  der 
Dinge  nicht  hereingehörende  Erscheinung,  nachdem  es  kaum 
gesetzt  ist,  sogleich  wieder  aufgehoben  zu  werden,  es  ist  hier 
kein  immanenter  geschichtlicher  Zusammenhang,  wie  zwischen 
dem  ersten  und  zweiten  Adam,  keine  selbstsländige  Realität  des 
Kreuzestodes,  sondern  Christus  stirbt  hier  nur,  um  das  Blut  zu 
haben,  mit  welchem  er  in  den  Himmel  eingehen  muss,  um  dort 
die  Versöhnung  zu  stiften,  für  die  hier  der  Ort  nicht  ist;  auch 
der  heilige  Geist  hat  keine  festere  Consistenz,  es  sind  nur  lupiC' 
[j(,ol  7rverj[xaTo;  xylou  x.aTa  t/iv  toO  Oeou  öeV/iaiv,  2,  4,  er  ist  kein 
dem  christlichen  Bewusstseiu  und  der  christlichen  Gemeinschaft 
inwohnendes  Princlp.  Der  Schwerpunkt  des  christlichen  Be- 
wusstseins  lie^^t  hier  noch  so  sehr  in  der  transcendenten  Welt, 
dass  hier  nicht  blos  nichts  eine  bleibende  Stätte  hat,  sondern 
auch  die  Thatsachen  des  Christenthums,  wie  wenn  sie  nur  als 
flüchtige  Erscheinungen  den  schwankenden  Boden  dieser  ver- 


956  Zweiter  Abschnitt.    Zweite  Periode. 

gänglichen  Welt  berührten,    erst  in  der  künftigen  ihre  wahre 
Realität  haben. 

2.    Der   Lehrbegriff  der   kleineren    paulinischen 
;,,;..    Briefe,  mit  Ausnahme  der  Pastoralbriefe.^^^j^^ 

Der  LebrbegrifT  dieser  Briefe  steht  dem  des  Hebräerbriefs 
am  nächsten.  Der  Hauptpunkt  ist  auch  hier  die  Christologie,  in 
welcher  diese  Briefe  auf  der  einen  Seite  ebenso  entschieden  über 
den  eigentlich  paulinischen  Lehrbegriff  hinausgehen,  als  sie  auf 
der  andern  unter  dem  juhanneischen  zurückbleiben.  Innerhalb 
dieser  Sphäre  wird  die  Christologie  mit  allen  Prädicalen,  die 
sich  auf  Christus  übertragen  lassen,  so  ausgebildet,  dass  nur 
die  Steigerung  noch  übrig  bleibt,  die  der  Logosbegriff  im  johan- 
neischen  Sinne  enthält. 

Wie  im  Hebräerbrief  ist  auch  hier  Christus  an  sich,  seinem 
substanziellen  Wesen  nach,  gölllich,  und  auch  hier  wird  der 
Begriff  seiner  göttlichen  Natur  dadurch  bestimmt,  dass  er  das 
Bild  Gottes  genannt  wird,  Col.  1,  15.  Er  ist  der  Reflex  Gottes, 
in  welchem  das  an  sich  unsichtbare  Wesen  Gottes  in  sichtbarer 
Gestalt  angeschaut  wird.  Soll  also  das  an  sich  seiende  Wesen 
Gottes,  wie  es  das  Verhältniss  Gottes  und  der  Welt  nothwendig 
macht,  in  die  Erscheinung  heraustreten,  so  kann  es  nur  durch 
ihn  geschehen.  In  ihm  sind  also  Gott  und  W^elt  an  sich  eins. 
Sofern  er  an  sich  göttlicher  Natur  ist,  wird  von  ihm  gesagt,  er 
sei,  wie  es  Phil.  2,  6  heisst,  ev  (xoptp-^  ösoO  67rap;(wv,  im  Unter- 
schied von  seiner  menschlichen  Daseinsforn».  Was  vom  Apostel 
Paulus  in  dem  Begriff  des  (JeÜTspo:  avöpwTco;  ic,  oüpxvoO  noch  in 
seiner  Einheit  zusammengefasst  ist,  wird  nun  in  zwei  verschie- 
dene Seiten  auseinandergelegt,  es  ist  hiemit  schon  der  Anfang 
gemacht,  zwei  Naturen,  eine  göttliche  und  eine  menschliche  in 
der  Einen  Person  zu  unterscheiden.  Christus  ist  an  sich  Gott, 
und  als  Gott  wird  er  unter  denselben  Gesichtspunkt  der  absoluten 
Idee  gestellt,  aus  welchem  das  Wesen  Gottes  aufgefasst  werden 


Lehrbegriff  des  Epheser-  und  Colosser-Briefs.      ^Ö7 

muss.  Prädicate,  welche  der  Apostel  Paulus  Gott  beilegt,  werden 
auf  Christus  übergetragen.  Was  der  Apostel  Paulus  Rom.  11,  36 
von  Gott  sagt,  es  sei  alles  ^t'  aOroC»  und  si?  aüröv,  wird  auch 
von  Christus  gesagt:  tx  T^av-ra  St'  aOTOu,  /.xi  si;  aÜTOv  r/CxiTTai, 
Col.  1,  16.  Er  ist  von  Gott  dazu  bestimmt,  §i'  aÜToO  a.'KOAa.Txk^ 
Ix^xi  Ta  xavTa  sv  aÜTco  V.  20,  durch  ihn  und  in  ihm  wird  alles 
zur  Einheit  des  absoluten  Endzwecks  zusammengefasst.  Die 
Hauptbestimmung  ist  aber,  dass  in  ihm  alles  geschaffen  ist,  alles 
im  Himmel  und  auf  der  Erde,  das  Sichtbare  und  das  Unsichtbare, 
siTS  öpovot,  eiTS  xupioT/iTe?,  siTs  apj(at,  sire  e^oiKJiai,  alles  von 
den  höchsten  Regionen  der  Geisterwelt  bis  in  die  untern,  alles 
hat  in  ihm  sein  Sein  und  Bestehen,  wie  er  selbst  vor  allem  ist^ 
so  hat  in  ihm  alles  den  substanziellen  Grund  seines  Daseins.  Als. 
der  TTpoiTOTO/co?  7:<x.<rr,t;  xTiaecoi;  ist  er  zwar  in  Eine  Reihe  mit  der 
Creatur  gestellt,  er  ist,  wenn  auch  das  Erste  von  allem  Geschaf- 
fenen der  Zeit  und  dem  Rang  nach,  doch  auch  nur  wie  alles 
Andere  von  Gott  geschaffen,  sofern  aber  alles  Geschaffene  von 
ihm  getragen  und  gehalten  wird,  und  in  ihm  den  substanziellen 
Grund  seiner  Einheit  hat,  steht  er  auf  absolute  Weise  über  allem 
Geschaffenen,  er  ist.  somit  absolut  von  der  Welt  verschieden. 
Gleichwohl  kann  sein  Yerhältniss  zur  Welt  nur  als  ein  immanentes 
bezeichnet  werden.  Diess  liegt  schon  darin ,  dass  alles  in  ihm 
geschaffen  worden  ist;  ganz  besonders  aber  gehört  hieher  der 
eigenthümliche  auf  Christus  übergetragene  Begriff  des  TCAripojjxa, 
in  welchem  das  immanente  Verhältniss,  in  welchem  Christus  zur 
Kirche  steht,  nur  als  die  concretere  Form  des  allgemeinen  Ver- 
hältnisses aufgefasst  wird,  in  welchem  er  zur  Welt  überhaupt 
steht. 

,j{  Christus  ist,  was  ein  specifischer  Begriff  der  beiden  Briefe 
ist,  das  Pleroma,  weil  in  ihm  erst  der  an  sich  seiende  Gott  aus 
seinem,  abstracten  Sein  heraustritt  und  zur  Fülle  des  concreten 
Lebens  sich  aufschliesst.  'Ev  aÜTtji,  wird  Col.  1,  19  gesagt, 
sOS6/.r<js  (6  Osö;)  t;äv  tö  7;Xrlpü)|/.a  xaTOUcv^^ai.    Col.  2,  9:  iv  aOrai 

Baiir,  neutest.  Tlieol.  17 


^ZöS  «Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

xaTOixel  TPav  x6  7r>v^pw[ji.a  tyJ?  ÖeörviTO?  (Jto|j!.aTucß?  u.  s.  w.  Eph.  1, 
22.  23:  aÜTOv  s^owts  xsfpaAiQv  uTuep  Travra  tyj  exx>.7)(Jia ,  y)ti?  i<rrt 
TÖ  <7cü{Aa  auTou,  xö  TrXyipwjxa  tou  tä  xavTa  sv  7ra<Ji  TrXvipou- 
[A^vou.  Vgl.  Eph.  3,  19.  4,  13.  Christus  ist  das  TrXy^ptojxa  im 
höchsten  absoluten  Sinn,  er  ist  6  xa  Trdtvra  iv  xa<Tt  7rXY)pou[y.evo;. 
Er  ist  das  xXiQpcoixa  Gottes,  als  derjenige,  in  welchem  das,  was 
Gott  an  sich  ist,  nach  dem  abstracten  Begriff  seines  Wesens,  mit 
seinem  bestimmten  concreten  Inhalt  sich  erfüllt.  Das  TrXxpwaa 
Christi  ist  die  Kirche,  als  das  concreto  reale  Sein,  mit  welchem 
als  seinem  Inhalt  Christus  sich  erfüllt.  Mit  dem  Ausdruck  TuXv^pwjAa 
wird  ein  concretes  reales  Sein  bezeichnet,  als  der  Inhalt  eines 
andern  Seins,  mit  welchem  es  sich  zur  Einheit  der  Form  und  des 
Inhalts  zusammenschliesst.  Als  TrXvipou^xevo?  toc  xavTa  dv  Traai 
ist  Christus  das  x>.ifip<j)jxa,  das  TravTa  dv  radt  mit  seinem  bestimm- 
ten Inhalt  erfüllt,  und  dieses  7r>.xp(0[Aa  selbst  ist  die  mit  ihrem 
absoluten  Inhalt  erfüllte  absolute  Allheit. 

Wie  mit  dem  Begriff  des  TrXvipto^xa  verhält  es  sich  auch  mit 
dem  Begriff  des  crö[^.a.  Die  Kirche  ist  das  g&[lx  Christi  Eph. 
1,  23.  4,  12;  aber  auch  Christus  wird  döjxa  genannt,  er  ist  das 
oö^ixa  der  Gottheit,  sofern  in  ihm  ttäv  tö  7r>.T^pw[/.a  rr?  Gsottito;, 
alles,  was  die  Idee  der  Gottheit  mit  ihrem  bestimmten  concreten 
Inhalt  erfüllt,  (rwjxaTtxö?  wohnt,  Col.  2,  9,  was  sich  nur  aus 
diesem  Zusammenhang  der  Begriffe  erklären  lässt.  Ist  aber  er 
selbst  das  (jöjjLa  der  Gottheit,  so  kann  die  Kirche  nur  in  einem 
concreteren  Sinn  sein  a&[Lx  sein ,  da  er  als  a&[Lx  der  Gottheit 
das  Haupt  der  Kirche  und  das  Princip  ist,  e^  ou  wav  r6  o&jxcn 
auvapixoXoyoujxevov  xal  (Tuf/,ßtßa^6jxevov  ^la  7ra<Ty,;  atpfj;  rfi;  <7n- 
j^opioyiai;,  xax'  evspystav  iv  (x^Tpto  cvö?  exacTOu  [xipou?,  nnv  au^Ti^tv 
TOU  (T<«>(ji,aTo;  TCOieirai  ei?  oi)toSo[ji.iriv  eauToO  iw  ayaTTYi,  Eph.  4,  16, 
womit  die  Kirche  in  ihrem  realen  Sein  als  ein  innerlich  geglieder- 
ter, in  der  Idee  seiner  Einheit  bestehender  Organismus  bezeichnet 
wird.  Zu  derselben  Anschauungsweise,  vermöge  welcher  die 
ganze  Betrachtung  von  oben  nach  unten  geht,  jedoch  so,  dass 


Lehrbegriff  des  Epheser-  und  Colosser-Briefs.       959 

jedes  folgende  Moment  nur  die  concretere  Form  der  sich  reali- 
sirenden  Idee  ist,  gehört  auch  diess,  dass  das  Verhältniss  Christi 
z\i  der  Kirche  unter  dem  doppelten  Gesichtspunkt  dargestellt 
wird,  als  das  Verhältniss  des  Haupts  zum  Leib,  und  als  ein  ehe- 
liches Verhältniss.  Wie  die  Kirche  der  Leib  Christi  ist,  so  ist 
Christus  selbst  das  Haupt  der  Kirche.  Auto?  s<yTtv  ri  xe(pa>.Tn  toG 
owjxaTo;,  tt??  tAxkndx^.  Col.  2, 19.  Eph.  4, 15.  Vgl.  2, 20.  Christus 
«nd  die  Gemeinde  erfüllen  einander  gegenseitig,  er  durchdringt 
sie  als  das  alle  Glieder  belebende  und  zusammenhaltende  Haupt, 
Eph.  4,  15.  16.  Col.  2,  19,  sie  erfüllt  ihn,  sofern  er  in  ihr  sich 
nichts  Anderes,  als  seinen  eigenen,  zu  ihm  selbst  gehörigen 
Leib  auferbaut.  Eph.  4,  12.  15.  Je  mehr  die  Gemeinde  das  ist, 
was  sie  sein  soll,  desto  mehr  erwächst  sie  zu  Christus  selbst, 
4,  15,  zu  einem  vollkommenen  Mann,  zu  der  Leibesgrösse ,  in 
welcher  sie  Christum  wirklich  erfüllt  4,  13,  desto  mehr  wird  sie 
der  das  Haupt  zu  einem  Ganzen  erfüllende,  vervollständigende 
Leib,  gleichsam  eine  Verdoppelung  Christi,  ein  von  dem  idealen 
Christus  durchdrungener  und  ihn  hinwiederum  umkleidender 
realer  Christus.  Apostel,  Propheten,  Verkündiger  des  Evan- 
geliums, Vorsteher  und  Lehrer  sind  nur  einzelne  Glieder  dieses 
aus  Christus  heraus  und  in  ihn  hineinwachsenden  Leibs,  4, 11.16. 
So  steht  die  Gemeinde  durch  diese  concreto  Einheit  mit  Christus 
und  insbesondere  durch  die  Gliederung,  die  er  durch  Anordnung 
jener  Kirchenämter  ihr  gegeben  hat,  allen  Versuchen,  sie  zu 
zersplittern  und  irre  zu  führen,  als  ein  gedrungener,  in  sich 
abgeschlossener  Organismus  gegenüber,  4,  14.  15.  Dasselbe 
Verhältniss  zwischen  Christus  und  der  Gemeinde  als  dem  Haupt 
und  dem  Leib  wird  unter  der  Form  eines  ehelichen  Verhältnisses 
aufgefasst.  Es  ist  ganz  dasselbe  Verhältniss,  da  Eph.  5,  28  die 
Y'jvatxs;  die  (Twaarx  der  av^pe?  genannt  werden.  Die  Gemeinde 
ist  die  Ehefrau  Christi,  weil  sie  der  Leib  ist,  in  welcher  er  erst 
die  concreto  Realität  seiner  Existenz  erhält.  Mann  und  M^eib 
bilden  eine  organische  Einheit.    Das  Weib  kann  zwar  nur  in  der 

17  * 


S60  Zwei  ter  Abschni  tt.     Zweite  Periode.      f,.f 

Abhängigkeit  vom  Mann  existiren,  aber  der  Mann  kann  auch 
nicht  ohne  das  Weib  sein,  weil  er  in  ihm  erst  zur  vollen  Realität 
seiner  Existenz  gelangt.  Beide  gehören  wesentlich  zusammen 
und  das  Band  ihrer  Einheit  ist  die  Liebe.  Wie  der  Mann  in  dem 
Weibe  sein  eigenes  Fleisch  liebt,  in  ihr  sein  eigenes  Ich  erkennt, 
so  ist  das  Verhältniss  Christi  zu  der  Gemeinde. 

Diese  Bestimmungen  über  das  Verhältniss  Christi  zur  Kirche 
erhalten  ihren  vollen  Sinn  erst,  wenn  wir  die  allgemeine  Idee, 
die  der  Christologie  dieser  Briefe  zu  Grunde  liegt,  näher  in's 
Auge  fassen.  Christus  ist  das  Haupt,  das  Princip,  der  Central- 
punkt  von  Allem.  Dadurch  ist  er  unter  den  Gesichtspunkt  einer 
allgemeinen  Idee  gestellt.  Zum  Wesen  der  Idee  aber  gehört  es, 
dass  sie  das,  was  sie  an  sich  ist,  auch  in  der  Wirklichkeit  ist. 
Auch  die  in  der  Person  Christi  enthaltene  Idee  muss  daher  in 
dem  Princip  ihrer  Entwicklung  sich  selbst  realisiren.  Ausgedrückt 
wird  diess  in  den  beiden  Briefen  dadurch,  es  sei  die  Absicht 
Gottes  (Xva)C8<pa>.anoffa(j6ai  toc  Travra  £v  Xpt<JTö,  Eph.  1,  10,  ^i' 
auToO  aTuojcaTaXXa^ai  t«  xavra  et;  aOrov,  Col.  1,  20.  Wie  von 
ihm  alles  ausgeht,  so  soll  in  ihn  alles  wieder  zurückgehen,  aus 
dem  Unterschied ,  in  welchen  es  aus  sich  herausgegangen,  zu  der 
Einheit  mit  sich  selbst  zurückgenommen  werden.  Diess  geschieht 
durch  die  Menschwerdung,  die  der  Epheserbrief  4,  8  f.  als  die 
Herabkunft  vom  Himmel  zur  Erde  und  Unterwelt  darstellt.  Er 
wendet  die  Stelle  Ps.  68,  19  auf  Christus  an,  und  schliesst  aus 
dem  Hinaufsteigen,  von  welchem  in  dieser  Stelle  die  Rede  ist, 
auf  das  Herabkommen.  Das  Hinaufsteigen  setzt  das  Herabkommen 
voraus,  er  kam  herab  ei;  tä  xaTtorspa  {AspYj  TfJ;  yy??.  Der,  der 
herabkam,  ist  derselbe,  der  hinaufstieg  über  alle  Himmel,  um 
Alles  zu  erfüllen.  Was  hier  ausgedrückt  wird,  ist  die  abwärts 
und  aufwärts  gleich  weit  sich  erstreckende,  von  der  höchsten 
Höhe  bis  zur  untersten  Tiefe  hinabgehende  und  von  dieser  hin- 
wiederum zu  jener  hinaufgehende,  das  ganze  Universum,  so  weit 
es  von  vernünftigen  Wesen  bewohnt  ist,  mit  ihrem  erlösenden 


Lehrbegriff  des  Ephcser-  und  Colosser-Briefs.       261 

und  segnenden  Einfluss  umfassende  und  erfüllende  Wirksamkeit 
Christi.  Es  ist  die  Idee  des  Christus  im  höchsten  Sinne  zukom- 
menden TrXr^pwjxa,  die  nun  auch  ihrem  extensiven  Umfang  nach 
betrachtet  wird.  Ist  Christus  das  TrXr'ptofxa  im  absoluten  Sinne, 
so  kann  auch  die  diesem  Begriff  gemäss  sich  äussernde  Thätig- 
keit  Christi  nur  eine  alles  umfassende,  den  weitesten  Kreis  be- 
schreibende, das  Oberste  und  Unterste  mit  einander  verbindende 
sein.  Die  Herabkunft  Christi  schliesst  so  von  selbst  auch  die 
Höllenfahrt  in  sich.  Christus  als  das  7:lrt^(ä[i.x  ist  auch  der  tä 
TcÄvra  TT^Tipweya?,  ist  er  aber  der  toc  Travxa  Tr^npciXTa?,  so  ist  er 
auch  der  si;  toc  xaTtoTspa  pipYi  t^?  y^?  xaraßac.  Der  Zweck  des 
Hinabsteigens  und  Hinaufsteigens  ist  das  avaxs(pa>.atto«Ta(j6at  xa 
Tzocrzx  dv  T(o  XpwTto,  alles  in  Christus  zu  recapituliren  und  an 
die  ursprüngliche  Einheit  anzuknüpfen,  in  welcher  es  in  ihm  den 
substanziellen  Grund  seines  Bestehens  hat.  Aus  diesem  allge- 
meinen Gesichtspunkt  muss  daher  das  Werk  Christi  betrachtet 
werden.  Seine  Bestimmung  ist  die  allgemeine  Versöhnung  und 
Vereinigung  des  Universums.  Alles  im  Himmel  und  auf  Erden 
soll  in  ihm  eins  werden.  Das  ist  der  von  Gott  von  Ewigkeil 
gefasste  Rathschluss,  welcher  in  Christus  zu  der  hiezu  bestimmten 
Zeit  erfüllt  und  verwirklicht  wird.    Eph.  1,  10  f. 

Diess  ist  ganz  besonders  auch  der  Zweck  seines  Kreuzes- 
todes. Wie  Gott  durch  ihn  und  in  Beziehung  auf  ihn,  so  dass 
in  ihm  alles  seinen  letzten  Endzweck  hat,  alles  versöhnen  wollte, 
so  hat  er  in  dem  Blute  seines  Kreuzes  durch  ihn  Frieden  gestiftet 
für  die  Gesammtheit  aller  Wesen  auf  der  Erde  und  im  Himmel. 
Col.  1,  20.  Es  geschieht  diess  auf  verschiedene  Weise.  Die 
beiden  Briefe  betrachten  den  Tod  Christi  als  einen  Kampf  mit 
einer  Gott  feindlichen  Macht.  Je  höher  und  allgemeiner  der  Ge- 
sichtspunkt ist,  unter  welchen  die  Person  und  das  Werk  Christi 
gestellt  wird,  um  so  mehr  steigert  sich  dadurch  die  Idee  des 
Gegensatzes.  Die  Christus  entgegenstehende  Macht  ist  die  des 
apj^tov  T^?  iEoudia;  tou  ispo?,  Eph.  2,  2,  es  sind  die  äp^ai  xai 


SB?  Zweiter  Abschnitt.     Zweite    Periode, 

.i^orjfjia.1  SV  ToT?  eiroupav^ot? ,  Eph.  3,  10.  vgl.  Col.  2,  15,  die  )co<i- 
(xoxpdtTops?  ToO  »JxoTOu«;  TOUTOu,  die  77V£u{xaTiy.a  ttS?  Trovvipia;  sv  toi? 
ETcoupa/ioi?,  Eph.  6,  12.  Der  Tod  Christi  ist  daher  die  Überwin- 
dung dieser  feindlichen  Mächte  und  Gewalten,  Gott  hat  sie,  wie 
es  Col.  2,  15  heisst,  im  Tode  Christi  entwaffnet,  sie  öffentlich 
zur  Schau  dargestellt,  und  in  Christus  im  Triumph  aufgeführt. 
So  sind  die  appvxe;  toO  aiwvo;  tootou,  von  welchen  der  Apostel 
1  Cor.  2,  8  noch  in  unbestimmtem  Sinne  sprach,  zu  einer  über- 
sinnlichen Macht  geworden ,  und  die  Bekämpfung  und  Besiegung 
dieser  Mächte  und  Gewalten  ist  eine  auf  die  sichtbare  und  un- 
sichtbare Welt  sich  beziehende  That.  In  näherer  Beziehung  zum 
paulinischen  Lehrbegriff  wird  zum  Versöhnungswerke  Christi 
besonders  die  Aufhebung  des  Gesetzes  gerechnet.  Gott  heftete 
das  Gesetz,  das  Schuldbuch  der  Menschen,  an's  Kreuz,  um  es 
aus  der  Welt  hinwegzunehmen,  Col.  2,  14,  dadurch  sind  die 
Menschen  mit  Gott  versöhnt.  Die,  die  ehedem  Gott  entfremdet 
und  feindlich  von  Gesinnung  in  den  bösen  Werken  waren,  hat 
er  mit  sich  versöhnt.  Das  Mittel  der  Versöhnung  war  der  ge- 
lödtete  fleischliche  Leib  Christi.  In  dem  Tode  Christi  ist  der 
fleischliche  Leib,  die  <TapE  als  der  Sitz  der  Sünde,  von  uns  aus- 
gezogen und  hinweggenommen  worden.  Die  Taufe  stellt  diese 
Ertödtung  und  Begrabung  des  fleischlichen  Leibs  dar,  sie  ist 
gleichsam  eine  neue  Beschneidung,  die  christliche,  die  7repiT0(ji.T, 
Tou  Xpt<jToO ,  in  welcher  die  Vorhaut  des  Fleisches  von  uns  ge- 
nommen ist.  Wie  wir  mit  ihm  begraben  sind,  so  sind  wir  auch 
mit  ihm  auferweckt  durch  den  Glauben  an  die  Macht  Gottes,  der 
ihn  von  den  Todten  auferweckte.  Und  die  Folge  dieser  Versöhnung 
durch  den  Tod  Christi  ist,  dass  wir  im  Bewusstsein  der  Freiheit 
vom  Gesetz  und  der  Vergebung  der  Schuld  der  Sünden,  heilig, 
untadelig  und  unsträflich  vor  Gott  stehen.  Col.  1,  20  f.  2,  11  f. 
Ein  besonderes  Moment  des  im  Tode  Christi  sich  vollziehen- 
den allgemeinen  Versöhnungsprocesses  ist  die  Vereinigung  der 
•Juden  und  Heiden  zu  einer  und  derselben  religiösen  Gemein- 


Lehrbegriff  des  Epheser-  und  Coloss  cr-Br  iefs.       IS63 

Schaft.  Der  Tod  Christi  ist  eine  von  Gott  für  den  Zweck  getroffene 
Veranstaltung,  die  Scheidewand  zwischen  Heiden  und  Juden  auf- 
zuheben, und  durch  den  zwischen  beiden  gestifteten  Frieden 
beide  zusammen  mit  Gott  zu  versöhnen.  Dem  Judenthum  ist  sein 
absoluter  Vorzug  durch  die  Beseitigung  des  mosaischen  Gesetzes 
genommen.  Indem  so  alle  nationalen  Unterschiede  und  Gegen- 
sätze, mit  allem,  was  sonst  in  den  verschiedenen  Lebensver- 
hältnissen die  Menschen  von  einander  trennt,  im  Christenthum 
vermittelst  des  Todes  Christi  aufgehoben  sind,  stellt  sich  im 
Christenthum  selbst  ein  neuer  Mensch  dar,  welcher  nun  den  ihm 
noch  anhängenden  alten  Menschen  auch  practisch  immer  mehr 
abzulegen  hat.  Col.  3,  9.  Eph.  2,  10.  15.  4,  22.  Beide,  Heiden 
und  Juden,  sind  so  zu  Einem  Leibe  vereinigt,  mit  Gott  versöhnt 
worden ,  beide  haben  in  demselben  Geiste  den  Zutritt  zum  Vater. 
Er  selbst  aber,  der  Stifter  dieser  allgemeinen  Versöhnung,  ist 
dadurch,  dass  ihn  Gott  von  den  Todten  erweckt  und  zu  seiner 
Rechten  im  Himmel  gesetzt,  weit  über  jede  Macht  und  Gewalt 
erhöht  und  ihm  alles  unterworfen  und  ihn  zum  Haupt  über  alles 
für  die  Kirche  gemacht  hat,  der  nun  erst  alles  in  allem  Erfüllende 
geworden,  Eph.  1,  20  f.  4,  10,  Sein  Herabsteigen  und  sein 
Hinaufsteigen  hat  den  Zweck,  Iva  T^X'/iptoa-/)  töc  TuavTa,  Eph.  4,  10. 
Er  erfüllt  alles  im  concretesten  Sinne  in  der  Kirche,  seinem 
Leibe,  durch  die  Verleihung  der  verschiedenen  Geistesgaben  zum 
Bestehen  der  Gemeinde,  4,  6.  Wie  er  sind  auch  wir  vom  Tode 
erweckt  und  zur  Rechten  Gottes  im  Himmel  erhoben ,  Eph.  2,  6. 
Was  von  ihm,  dem  Haupte  des  Leibs,  gesagt  wird,  gilt  auch 
von  allen,  die  als  Glieder  seines  Leibs  mit  ihm  identisch  sind. 
Indem  Gott  auch  uns  ouve^aöicev  sv  toic  sTiroupavioi;  sv  Xpiarcp 
'Iy)(70ö,  ist  dadurch  erst  das  äva/ce^aXatwaaaöai  ra  xavTa  dv  xcp 
Xpi(JTß,  das  der  Hauptzweck  der  oUovojxCa  toO  7rXYipci)(jiÄT0?  töv 
XÄipöv  ist,  Eph.  1,  10,  zu  seiner  vollen  Wahrheil  geworden. 

Alle  jene  Momente,  in  welchen  die  Geschichte  Christi,  in 
seinem  xaTaßaiveiv  und  ävaßaiveiv,    ihren  Verlauf  nimmt,  sind 


964  Zwei  ter  Abs  chnitt.     Zwei  tVrer  iode.  '" 

ebenso  viele  Momenle  der  sich  selbst  realisireiiden  Idee.  Christus 
ist  zwar  an  sich  das  Haupt  von  Allem  und  ganz  besonders  voji 
der  Kirche,  was  er  aber  an  sich  ist,  erhält  erst  dadurch,  dass 
die  Idee  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  in  die  Wirklichkeit 
heraustritt,  seine  volle  reale  Bedeutung.  Wenn  also  auch  Christus 
7rp6  TcavTwv  ist,  so  ist  er  doch  die  apj(vi,  der  TrpwToxoxo;  ix  twv 
vsxpöv,  Iva  YsviriTat  £v  xacrtv  aOxoc  .TrptoTSotov,  Col.  1,  18.  Was 
er  also  an  sich  ist,  muss  er  doch  erst  werden.  Die  Idee  muss 
sich  erst  in  dem  Process  der  geschichtlichen  Entwicklung,  in 
welchen  sie  eingeht,  realisiren.  Daher  erhallen  die  Hauplthal- 
sachen  der  Geschichte  Christi  als  Momente  der  sich  selbst  reali- 
sirenden  Idee  eine  selbstständige  reale  Bedeutung,  sie  sind  die 
nothwendige  Bedingung,  unter  welcher  allein  die  Person  Christi 
zu  der  absoluten  Bedeutung,  die  sie  an  sich  hat,  erhoben  wer- 
den kann.  Wenn  auch  Christus  an  sich  der  Centralpunkl  von 
Allem  und  die  Einheit  ist,  in  welcher  alle  Gegensätze  versöhnt 
sind,  so  ist  er  doch  erst  durch  seinen  versöhnenden  Tod  der,  in 
welchem  alles  versöhnt  ist,  alle  Gegensätze  und  trennenden 
Unterschiede  aufgehoben  sind,  und  nur  so  ist  «er  selbst  über  alles 
erhöht  worden.  Es  ist  acht  paulinisch,  dass  der  Tod  Christi  als 
der  reale  Mittelpunkt  der  ganzen  Christologie  betrachtet  wird ; 
darin  geht  aber  der  Lehrbegriff  dieser  Briefe  über  den  paulini- 
schen  hinaus,  dass  über  alles,  was  Christus  seiner  geschichtlichen 
Bedeutung  nach  ist,  die  an  sich  seiende  Idee  der  Person  Christi 
gestellt  wird.  Von  der  Idee  geht  hier  alles  aus,  und  die  ganze 
Person  Christi  wird  unter  den  Gesichtspunkt  der  metaphysischen 
Nothwendigkeit  des  Processes  der  sich  realisirenden  Idee  gestellt. 
Auf  der  andern  Seite  wird  aber  doch  wieder  alles,  was  sich  auf 
die  Person  Christi  bezieht,  als  ein  freier  Act  der  Liebe  Gottes 
betrachtet.  Christus  ist  der  Sohn  der  Liebe  Gottes,  Col.  1,13, 
und  in  ihm  vollzieht  sich  der  geheimnissvoll  von  Ewigkeil  aus 
freiem  Wohlgefallen  gefasste  Ralhschluss  Gottes.  Eph.  i,  9  f. 
Die  Grundidee  dieser  Christologie,  dass,  was  Christus  an 


Lebrbegriff  des  Philipperbriefs.  VÖö 

sich  auf  absolute  Weise  ist,  er  erst  auf  dem  geschichtlichen  Wege 
des  von  ihm  vollbrachten  Werks  und  des  ganzen  Processes, 
welchen  er  an  sich  selbst  durchgemacht  hat,  werden  kann,  sleHt 
sich  uns  in  einer  eigenthümlichen  Form  im  Philipperbrief 
dar.  Die  verschiedenen  Momente,  die  in  dieser  Christologie  zu 
unterscheiden  sind ,  legt  der  Philipperbrief  genauer  auseinander. 
Christus  ist,  was  er  ist,  schon  an  sich  auf  absolute  Weise,  und 
doch  muss  er  auch  wieder  das  erst  werden,  was  er  nach  der 
Idee  seiner  Person  sein  soll.  Wozu  wäre  er  Mensch  geworden, 
gestorben,  auferstanden,  wenn  alles  diess  für  ihn  selbst  nichts 
zur  Folge  gehabt  hätte?  Auf  der  einen  Seite  ist  er  also  an  sich 
schon  alles,  auf  der  andern  muss  er  das,  was  er  noch  nicht  ist, 
erst  werden.  Beides  lässt  sich  nur  so  vereinigen,  dass  er  dessen, 
was  er  schon  ist,  sich  entäussert,  um  das,  dessen  er  sich  ent- 
äussert hat,  mit  der  vollen  Realität  der  mit  ihrem  absoluten  Inhalt 
erfüllten  Idee  zurückzuerhalten.  Diess  ist  die  Idee  des  Philipper- 
briefs. Christus  ist  an  sich  göttlicher  Natur,  er  ist  ev  [Aopfpf,  SsoO, 
aber  er  entäussert  sich  derselben,  und  legt  die  [xop<pin  6soO  ab, 
um  die  [j(.op<pYi  SouXou  anzunehmen,  die  Folge  davon  aber  ist,  dass 
er  wegen  seines  Gehorsams  bis  zum  Tod  über  alles  erhöht  der 
Gegenstand  der  allgemeinen  Anbetung  wird  2, 6  f.  Was  die  beiden 
Briefe  von  Christus  in  Beziehung  auf  die  Welt  und  die  Kirche 
allgemein  und  objectiv  aussagen ,  dass  Christus  als  das  7:>.rpwL;.a, 
das  er  an  sich  ist,  alles  in  allem  erfüllen  müsse,  fasst  der  Philip- 
perbrief in  Beziehung^  auf  Christus  selbst  aus  dem  sittlichen  Ge- 
sichtspunkt auf.  Die  göttliche  Würde,  die  Christus  an  sich  hat, 
muss  für  ihn  auch  das  Resultat  seiner  eigenen  sittlichen  That  sein. 
Darum  legt  er  sie  selbst  ab,  um  sie  als  den  Lohn  seines  Gehor- 
sams um  so  herrlicher  wieder  zu  empfangen.  Um  aber  den  vollen 
Sinn  dieser  Stelle  zu  verstehen,  muss  man  auch  wissen,  in 
welchem  Sinne  von  einem  Raub  die  Rede  ist.  War  Christus  iv 
p-op<p-^  Oso'j  ÜTcapj^wv,  so  hatte  er  als  solcher  die  Qualität  eines 
göttlichen  Wesens.    War  nun  aber  dieses  iv  {/.op(p-9  0gou  u7rap;^eiv 


.jW6  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

noch  kein  eivai  loa.  Oetji,  so  muss  vorausgesetzt  werden,  dass 
das,  was  er  an  sich  war,  als  ev  [xop^?i  SeoO  uTrapjrtov,  erst  dann 
zu  einem  elvai  loa  6e^  werden  konnte,  so  dass  es  ihm  in  der 
Wahrheit  und  Wirklichkeit  zukam,  nachdem  er  seine  göttliche 
Natur  auf  dem  Wege  des  sittlichen  Strebens  durch  die  Erprobung 
seines  Gehorsams  bethätigt  hatte.  Hieng  aber  das  eivai  loa  öst^i 
ganz  am  Begriff  des  Sittlichen ,  wie  kann  Christus  auch  nur  ent- 
fernt der  Gedanke  an  die  Möglichkeit  zugeschrieben  werden, 
ohne  sittliche  Bethatigüng  zu  erhalten,  was  nur  Folge  einer  sitt- 
lichen That  sein  kann?  Wie  ist  es  zu  erklären,  dass  der  Ver- 
fasser des  Briefs  auch  nur  verneinend  von  einem  Raube  spricht? 
^ff^  ;.  Es  lässt  sich  diess  nur  aus  dem  gnostischen  Ideenkreise 
erklären.  Die  Gnostiker  sprachen  von  einem  Aeon,  welcher 
das  absolute  Wesen  Gottes  auf  unmittelbare  Weise  erfassen 
wollte,  und  weil  er  so  das  an  sich  Unmögliche  erstrebte,  aus  dem 
TcXif^ptdixa  in  das  xevujxa  herabfiel.  Dieser  Aeon  begieng  so 
gleichsam  einen  Raub,  weil  er,  der  in  der  Qualität  eines  gött- 
lichen Wesens  an  sich  die  Fähigkeit  hatte,  sich  mit  dem  Absoluten 
zu  vereinigen,  diese  Identität,  welche  erst  durch  den  ganaen 
Weltprocess  realisirt  werden  konnte,  gleichsam  sprungweise, 
mit  Einem  Male,  durch  einen  gewaltsamen  Act,  oder  wie  durch 
einen  Raub  an  sich  reissen  wollte.  So  erhält  erst  die  bildliche 
Vorstellung  eines  äpTcayi^-o;  ihre  eigentliche  Bedeutung.  Es  war 
ein  Raub,  weil  der  Aeon  willkürlich  und  gewaltsam  vorgreifend 
an  sich  reissen  wollte,  was  erst  in  einer  bestimmten  Ordnung, 
durch  eine  Reihe  vermittelnder  Momente  ihm  zu  Theil  werden 
konnte.  Nicht  blos  das  Selbstsüchtige  und  Anmaassende,  Eigen- 
mächtige, sondern  auch  das  Vorgreifende,  Anticipirende  gibt 
den  vollen  Begriff  des  äpTrayf^-o;.  Wie  der  ä.ft'KK^^oi;  bei  jenem 
Aeon  darin  bestand,  dass  er  auf  voreilige,  hasüg  zugreifende 
Weise  auf  einmal  haben  wollte,  was  er  nachher  doch  erhielt,  so 
ist  auch  bei  Christus  das  cauxdv  xevoOv  und  das  szjtov  TaxeivoOv 
mit  allem,  was  dazu  gehört,  nur  der  Weg,  auf  welchem  6  bio^ 


Lehrbegriff  des  Philipperbriefs.  ^G7 

aÜTÖv  Owepui];t«xye  u.  s.  w.  oder  jenes  hx  civai  Oe<^  sich  verwirk- 
lichte. Die  über  alles  erhabene  Ehre  und  Würde,  zu  welcher 
Jesus  erhöht  wurde,  ist  nur  der  reelle  Besitz  dessen,  was  das 
elvai  i<ia  9sö  in  sich  begreift,  worauf  er  als  dv  {/.opcp^  6eou  uTrapywv 
an  sich  das  Recht  hatte.  Nur  vorher  also,  ehe  es  in  der  von 
Gott  bestimmten  Ordnung  geschah,  auf  abrupte  Weise  sollte  er 
es  nicht  haben.  Der  gnoslische  Mythus  soll  den  Gedanken  aus- 
drücken, dass  alles  in  der  Welt  durch  einen  bestimmten  Ent- 
wicklungsprocess  hindurchgehen  muss,  die  geistigen  Subjecte 
erst  dadurch  die  Idee  dessen,  was  sie  an  sich  sind,  in  sich  rea- 
lisiren,  dass  sie  in  der  endlichen  Welt  in  alle  Momente  des  end- 
lichen Daseins  eingehen,  und  aus  dem  Endlichen  sich  zum 
Unendlichen  erheben.  Diese  speculalive  Idee  hat  der  Verfasser 
des  Philipperbriefs  auf  das  sittliche  Gebiet  übergetragen  und 
Christus  als  sittliches  Vorbild  der  Selbstentsagung  und  demuths- 
vollen  Erniedrigung  aufgestellt,  sofern  man  an  ihm  sehe,  dass 
man  nicht  auf  voreilige ,  hastig  zugreifende  Weise  etwas  an  sich 
ziehen  soll,  worauf  man  zwar  an  sich  ein  Recht  hat,  was  man 
aber  nur  auf  einem  bestimmten  Wege,  und  erst  wenn  man  die 
ganze  Reihe  der  daran  geknüpften  Bedingungen  erfüllt  hat,  er- 
langen kann.  Auf  dem  sittlichen  Gebiet  versteht  sich  diess  von 
selbst.  Alles  Sittliche  hat  erst  dadurch  seine  Realität,  dass  es 
durch  die  sittliche  Thätigkeit  des  sich  selbst  bestimmenden  Sub- 
jects  zur  bestimmten  sittlichen  That  wird.  Nur  daraus  also,  dass 
der  Verfasser  des  Philipperbriefs  jene  speculative  Idee  der  Gnosis 
vor  Augen  hatte,  lässt  es  sich  erklären,  dass  er  diese  sittliche 
Anwendung  von  ihr  machte.  Die  Veranlassung  dazu  aber  lag 
darin,  dass  die  Christologie  dieses  Briefs  an  sich  schon  ein  spe- 
culatives  Element  in  sich  hat.  Wenn  Christus  an  sich  göttlicher 
Natur  ist,  und  als  allgemeines  kosmisches  Princip  an  der  Spitze 
des  ganzen  Weltlaufs  steht,  so  ist  schon  darin  auch  die  Idee 
eines  bestimmten  Processes  enthalten,  welcher  seinen  Verlauf 
nehmen  und  auch  für  Christus  selbst  ein  bestimmtes  Resultat 


IP^  Zweiter  AbBchnitt.     Zw  eite  Periode. 

haben  muss.  Das  Resultat  kann  nur  sein,  dass  Christus  am  Ende 
des  ganzen  Processes  der  Weltentwicklung  das  ist,  was  er  an 
sich  schon  ist,  aber  ernst  es  nun  auf  andere  Weise,  entweder 
speculativ  so,  dass  die  an  sich  seiende  Idee  in  ihm  mit  der  Rea- 
lität ihres  concreten  Inhalts  sich  erfüllt  hat,  oder  ethisch  so,  dass 
er  was  er  an  sich  ist,  auch  auf  dem  Wege  der  sittlichen  Bethätigung 
geworden.  Diess  letztere  ist  der  Gesichtspunkt  des  Philipper- 
briefs, hier  ist  die  Christologie  in  ihren  drei  Momenten,  des 
uTcapyeiv  iv  (Jt-opcij  ÖsoQ,  des  sauTÖv  xevoOv  und  [xop(pTriv  oouXou 
XaßeTv,  und  des  uTrepu^'OuaOai  ethisch  aufgefasst,  jedoch  so,  dass 
die  zu  Gfunde  liegende  speculative  Idee  deutlich  hervorblickt. 
Ein  darauf  sich  beziehender  Zug  ist  2,  10  die  Unterscheidung  der 
drei  Classen  von  Wesen,  der  ^Troupavtot,  iniyzioi  und  xaTa)(^96vioi, 
welche  alle  auf  gleiche  Weise  die  Kniee  vor  Christus  beugen. 
Er  ist  also  nicht  blos  der  Erlöser  der  Menschen,  sondern  seine 
Thätigkeit  erstreckt  sich  auf  das  ganze  Universum  von  den  höch- 
sten Regionen  der  Geisterwelt  bis  hinab  in  die  Unterwelt,  worin, 
wie  Ephes.  4,  9,  die  Idee  der  Höllenfahrt  ausgedrückt  ist.  Er 
ist  also  auch  hier  der  toc  Travxa  dv  Trxffi  7w>.Yipou[xevo;,  der  alles  in 
sich  Einigende  und  Zusammenfassende. 

"■■'  Je  allgemeiner  und  umfassender  so  der  Gesichtspunkt  ist, 
unter  welchen  die  Person  Christi  gestellt  wird,  und  je  mehr  die 
ganze  Idee  dieser  Christologie  darauf  beruht,  in  Christus  ein  an 
sich  göttliches  über  alles  Endliche  absolut  erhabenes  Wesen  an- 
zuschauen, um  so  mehr  muss  das  Menschliche  gegen  das  Gött- 
liche zurücktreten.  Ist  das  Göttliche  das  Substanzielle,  so  kann 
das  Menschliche  nur  ein  Accidens  sein.  Von  der  [Aop9iri  9eoO  wird 
zwar  die  [jt,op(pr,  ^ouXou  unterschieden,  an  sich  aber  ist  Christus 
göttlicher  Natur,  und  die  y-opfp-io  SouXou  ist  nur  eine  für  eine  be- 
stimmte Zeit  angenommene  Gestall,  in  welcher  Christus  nicht 
nur  Mensch  wurde,  sondern  auch  als  Mensch  für  den  Zweck  der 
sittlichen  Erprobung  alles  Niedrige  des  menschlichen  Daseins 
'ertrug.    Die  Menschheit,  in  welcher  er  erschien ,  ist  der  ppfpr, 


Lebrbegriff  des  Philipperbriefs.  ^69 

OeoO  gegenüber  an  sich  schon  eine  [Aop(pYi  ^ouXou,  da  er  als  Mensch 
nur  ein  niedriger  leidensvoUer  Mensch  sein  konnte.  Wie  es  aber 
auf  dem  Standpunkt  dieser  Christologie  mit  der  Menschheit  Christi 
sich  verhält,  zeigen  die  Ausdrücke,  deren  sich  der  Philipperbrief 
bedient,  deutlich.  War  Christus,  als  ev  6[ji,otco[j!,aTi  avöptoxtov  ysvo- 
|ji,evo;,  nur  ojxoio?  den  Menschen,  2,  7,  so  war  er  kein  wahrer  und 
wirklicher  Mensch,  sondern  schien  nur  ein  solcher  zu  sein.  Nur 
Ähnlichkeit,  Analogie,  nicht  aber  Identität  und  Wesensgleichheit 
kann  der  Ausdruck  6{jL0tt«)(7.«  bezeichnen  C«nan  vgl.  Rom.  6,  5), 
und  die  Stelle  Rom.  8,  3,  wo  vom  Sohn  gesagt  ist,  Gott  habe  ihn 
gesandt  iv  ojxoitojj'-aTi  cap^o;  ajxapTta?,  ist  hier  allerdings  parallel, 
da  Christus,  wenn  er  keine  <jap^  a[y-apTia?  hatte,  auch  keine 
wahre  <7ap^  haben  konnte.  An  dieser  Bedeutung  von  6{xoiü)(xa. 
ist  in  unserei-  Stelle  um  so  weniger  zu  zweifeln,  da  auch  das 
unmittelbar  dabei  stehende  «i^^yifxaTt  Eupsösl;  tlx;  avöpwxo?  V.  8  nicht 
anders  genommen  werden  kann.  Will  man  auch  w?  und  sOpsÖ-^vai 
nicht  premiren,  so  liegt  doch  in  cxfi^  gar  zu  deutlich  nur  der 
Begriff  eines  externus  habilus,  und  zugleich  der  Begriff  des 
Wandelbaren,  Vorübergehenden,  in  kurzer  Zeit  Verschwinden- 
den. Die  Ausdrücke  des  Briefs  lassen  daher  selbst  kaum  die 
Annahme  zu,  dass  Christus  ein  wahrhaft  menschliches  Subject 
gewesen  sei. 

Wie  die  Christologie  dieser  Briefe  abgesehen  von  diesem 
letzten  Punkt  über  die  des  Apostels  Paulus  hinausgeht,  so  ist  ihr 
Lehrbegriff  auch  in  der  Lehre  vom  Glauben  und  von  der  Recht- 
fertigung nicht  streng  paulinisch.  Der  Philipperbrief  hebt  zwar 
3,  9  die  paulinische  ^tjcaioduvyi  Sia  ttiotswi;  XpicToO  als  die  ex 
6eou  ^ixaioouvvi  iizi  t^  mcTet  sehr  nachdrücklich  im  Gegensatz 
gegen  die  ^ixato<juvy)  h.  vojxoi»  hervor,  es  geschieht  diess  aber 
auf  eine  sehr  üusserliche  Weise.  Es  ist  nicht  mehr  das  Interesse, 
den  Glauben  im  Gegensatz  gegen  die  Werke  überhaupt  als  das 
Princip  der  Rechtfertigung  festzustellen.  Im  Colosser-  und 
Epheserbrief  ist  von  der  Rechtfertigung,  der  ^ixaioauvri  im  spe- 


Www  Zweiter  Abschnitt.     Zweite   Periode. 

cifischen  paulinischen  Sinne  gar  nicht  die  Rede,  sondern  nur  von 
Sündenvergebung,  Erlösung,  Versöhnung.  Eph.  2,  8  wird  es 
zwar  dem  Glauben  zugeschrieben,  dass  wir  durch  die  Gnade 
erlöst  sind,  aber  nur  um  alles  vorangehende  Verdienst  der  Werke 
auszuschliessen,  und  es  wird  dagegen  neben  dem  Glauben  den 
Werken  weit  grösseres  Gewicht  beigelegt,  als  in  den  Briefen  des 
Apostels.  Die  Hauptforderung  ist,  des  Herrn  würdig  zu  wan- 
deln zu  allem  Wohlgefallen,  in  jedem  guten  Werke  Frucht  zu 
bringen  und  in  vollkommener  Erfüllung  des  Willens  Gottes  den 
der  Idee  Christi  entsprechenden  vollkommenen  Menschen  ganz 
in  sich  darzustellen,  Col.  1,  10.  28.  4,  12.  Die  guten  Werke 
werden  als  ein  nothwendiges  Moment  hervorgehoben:  der 
Epheserbrief  schliesst  sie  sogar  in  die  Vorherbestimmung  ein : 
wir  sind  ein  Geschöpf  Gottes,  geschaffen  in  Jesus  Christus  zu 
guten  Werken,  welche  Gott  zuvor  bereitete,  damit  wir  in  den- 
selben wandeln  sollen,  2,  10. 

'**^  Der  Iranscendenten  Christologie  dieser  Briefe  und  ihrer 
darauf  beruhenden  Anschauung  von  dem  alles  umfassenden  und 
über  alles  übergreifenden  Charakter  des  Christenthums  ist  es 
ganz  gemäss,  dass  sie  in  der  Lehre  von  der  Beseligung  der 
Menschen  auf  eine  überzeitliche  Vorherbestimmung  zurückgehen, 
Eph.  1,4  f.  Alles  hängt  an  dem  ewigen  in  der  Zeit  sich  ver- 
wirklichenden Rathschlüss  Gottes.  Je  mehr  alles,  was  sich  auf 
die  Seligkeit  des  Menschen  bezieht,  über  das  zeitliche  Dasein 
hinausliegt,  um  so  mehr  kann  es  nur  als  ein  freies  Geschenk  der 
göttlichen  Gnade  angesehen  werden.  Die  Gnade  ist  das  den 
Menschen  durch  den  Glauben  an  Christus  neu  schaffende  Princip. 
Etwas  Neues  muss  nämlich  der  Mensch  durch  das  Christenthum 
werden.  Es  muss  der  alte  Mensch  ausgezogen  und  der  neue 
angezogen  werden,  der  gegen  den  vorigen  ein  ganz  anderer  ist, 
Col.  3,  9.  Eph.  4,  21  f.  Was  der  Colosserbrief  einfacher  so  aus- 
drückt: äTre)tSu<jau-evot  —  xTiTavTo;  aOröv,  hat  der  Epheserbrief 
weiter  so  ausgeführt :  ä7:o0s<y6at  /caxa  -nnv  T^poripav  «va<7Tpo^Vlv 


Lehrbegriff  des  Epheser-  und  Colosser-Briefs.        ^71 

TÖv  TWtXaiöv  avöpcDTTov  Tov  <p6eip6[ievov  u.  s.  w.  Die  Wahrheit,  die 
in  Christus  ist,  wird  hier  darein  gesetzt,  abzulegen  was  den 
frühern  Wandel  betrifft,  den  alten  Menschen,  der  zu  Grunde 
gebt  vermöge  der  Lüste  des  Trugs,  d.  h.  der  nur  Eitles  und 
Nichtiges  vorspiegelnden  Lüste,  dagegen  erneuert  zu  werden 
dem  Geiste  der  Gesinnung  nach  und  anzuziehen  den  neuen  Men- 
schen, der  nach  Gott  geschaffen  ist  in  Gerechtigkeit  und  Heiligkeit 
der  Wahrheit.  Der  neue  Mensch  ist  demnach  kein  schlechthin 
neuer,  sondern  nur  ein  erneuerter,  sofern  in  ihm  das  Bild,  nach 
welchem  der  Mensch  ursprünglich  von  Gott  geschaffen  worden 
ist,  wiederhergestellt  wird.  Das  ursprünglich  anerschaffene 
Ebenbild  Gottes  ist  das  Vorbild  des  zu  erneuernden  Menschen, 
das  Christenthum  ist  somit  selbst  nichts  schlechthin  Neues,  son- 
dern nur  die  Zurückführung  des  Menschen  zu  seiner  ursprüng- 
lichen Würde  und  Vollkommenheit.  Erneuert  wird  der  Mensch 
7rveu(xaTi  toG  voö?,  wobei  unter  7rvs0[xa  nicht  der  göttliche  Geist 
zu  verstehen  ist,  sondern  der  Geist  des  Menschen,  welcher  als 
das  TTveuixa  toO  voö;  das  substanzielle  geistige  Princip  ist,  von 
welchem  auch  die  sittliche  Umbildung  der  Gesinnung  ausgehen 
muss.  Dass  diese  Erneuerung  nur  durch  Gott  geschehen  kann, 
wird  in  beiden  Stellen  nicht  ausdrücklich  gesagt,  es  liegt  aber 
darin,  dass  die  Seligkeit  überhaupt  ein  Geschenk  Gottes  ist,  und 
die  T^  X^P'*^^  <ye(7W(j[7-evot  Sia  tt)?  TrtdTsw;  ein  Tuoiyijxa  Gottes  sind, 
jtTKTÖevTe?  dv  XpwTö  'Ititou  Eph.  2,  8—10.  Durch  das  Christen- 
thum wird  also  der  Mensch  eine  /catvvi  y.Tirri;,  das  Christenthum 
greift  als  ein  neues  schöpferisches  Princip  in  das  Leben  des 
Menschen  ein,  es  wird  ein  neues  Bewusstsein  in  ihm  geweckt, 
in  welchem  das  Neue  vom  Alten  sich  scheidet,  wie  das  Licht  von 
der  Finsterniss.  Der  Mensch  ist  aus  der  d^ou^iia  toO  (ixotou;  in 
die  ßaadeia  toO  utoQ  Tfl?  dYainri?  versetzt,  Col.  1,  13,  und  wo 
zuvor  nur  ein  Zustand  des  Todes  war  in  den  TrapaTTTwjxaTa  und 
in  den  ajJiapTiai,  iv  al;  u.  s,  w.  Eph.  2,  1  f.,  da  ist  nun  ein  neues 
durch  die  Gemeinschaft  mit  Christus  gewecktes  Leben.    Als  der 


Zweiter  Abschnitt.    Zweite  Periode. 

neue  mit  Christus  auferweckte  Mensch  kann  er  auch  nur  dahin 
streben,  wo  Christus  ist,  Col.  3,  1  f.     Derselbe  Gegensatz  des 
Todes  und  des  Lebens,  welcher  sich  in  Christus  darstellt,  ist 
der  Process,  welcher  in  jedem  Menschen  in  seiner  Einheit  mit 
Christus  seinen  Verlauf  nehmen  muss.    In  der  Anschauung  der 
Person  Chrisli  hat  der  G«ist  alles  vor  sich,  was  er  werden  soll, 
und  was  aus  ihm  werden  soll.    In  dem  ra  avw  ^viTStv,  Col.  3, 1  f. 
hat  er  sein  7ro>.iTSo[xa  iv  oüpavoi?,  z^  ou  u.  s.  w.  Phil.  3,  20  f. 
^^,;  Wie  es  dem  Apostel  Paulus  vor  allem  darum  zu  thun  ist, 
den  Glauben  als  das  die  Einheit  mit  Christus  vermittelnde  Princip 
festzustellen,   so  fassen   diese  Briefe    vorzüglich   die   aus  dem 
Glauben  hervorgehende  sittliche  Vollendung  des  Menschen  in's 
Auge.    Schon  diesem  Praclischen  gegenüber  tritt  der  Glaube  im 
paulinischen  Sinne   zurück,    ebenso  aber  auch  dadurch,    dass 
diese  Briefe,    was  gleichfalls  eine  Eigenlhümlichkeit  derselben 
ist,   das  Christenthum  ganz  besonders  als  Sache  des  Wissens 
auffassen.  Was  der  Apostel  Paulus  mehr  nur  in  polemischer  und 
persönlicher  Beziehung  als  das  Characteristische  des  Christen- 
thums  hervorhebt,  dass  es  eine  ^(pia  öeoO  i\  |j.'j(TTxpi(«>  ist,  ist 
der  vorherrschende  Gesichtspunkt,  unter  welchen  diese  Briefe 
das  Christenthum   stellen.     Schon    das   immer  wiederkehrende 
Wort  (;.u(TT7iptov  zeigt,  welches  Gewicht  hier  daraufgelegt  wird, 
dass  das  Christenthum  für  den  Menschen  Gegenstand  und  Inhalt 
des  Wissens  ist.     Von  dem  im  Geheimniss  Christi  enthaltenen 
Reichlhumder  Yvöat;,  iTti^^mcn;,  der  co^ix,  der  (juvect?  Ist  immer 
wieder  die  Rede.    In  Christus  selbst  sind  alle  Schätze  der  Weis- 
heit und  Erkennlniss  verborgen,  Col.  2,  3.    Erleuchtet  müssen 
die  Augen  sein,  um  zu  wissen,  was  die  Hoffnung  der  Berufung 
ist  u.  s.  w.  Eph.  1,  18  f.,  und  das  ^i^aa/ceiv  iv  i:(x.cn^  <;o(pia  ist  für 
jeden  nothwendig,  um  ihn  zu  einem  vollkommenen  Menschen  in 
Christus  zu  bilden,  Col.  I,  28.     Selbst  der  Philipperbrief  fasst 
die  Auferstehung,  das  Leiden  und  den  Tod  Chrisli  von  dieser 
theoretischen  Seile  auf,  dass  er  wissen  will  die  Suvauti?  ruf?  ava- 


Lehrbegriff  des  Epheser-  und  Colosser-Briefs.      273 

(rradsto;  u.  s.  w.  3,  10.  Wie  die  Werke,  als  die  Bethätigung 
des  Siltlichen,  dem  Glauben  in  selbstständiger  Bedeutung  gegen- 
übertreten, so  löst  sich  auch  das  andere  Element  des  religiösen 
Bewusstseins  von  seiner  Einheit  mit  dem  Glauben  ab,  und  es  ist 
dem  Glaubenden  vor  allem  darum  zu  thun,  theoretisch  zu  wissen, 
was  der  Inhalt  des  Glaubens  ist.  Dieses  Hervorheben  des  Wissens 
und  Erkennens,  als  des  eigentlichen  Wesens  der  Religion  und 
des  Christenthums  weist  diesen  Briefen  von  selbst  die  Zeit  ihrer 
Entstehung  in  der  Nähe  der  gnostischen  Periode  an. 

Ist  das  Christenthum  ein  vor  Anfang  der  Welt  vorherbe- 
stimmtes, über  alles  Andere  unendlich  hinausliegendes  und  von 
Ewigkeit  her  in  Gott  verborgenes,  den  Menschen  nie  zuvor  be- 
kannt gewordenes,  erst  durch  Christus  verkündigtes  und  durch 
den  Geist  seinen  Aposteln  und  Propheten  geoffenbartes  [AucTvipiov, 
Eph.  3,  5  f.,  so  ist  ebendamit  auch  die  absolute  Erhabenheit  des 
Christenthums  über  Judenthum  und  Heidenthum  ausgesprochen. 
Beide  verhalten  sich  gleich  negativ  zum  Christenthum,  das  ihnen 
gegenüber  6  Xoyo?  t^;  iXr.Ö&ta?  ist,  Eph.  1,  13,  oder  «pw?  im 
Gegensatz  von  (txoto;,  5,  8.  Die  Juden  und  die  Heiden  waren 
wegen  der  allgemeinen  Sündhaftigkeit  dem  göttlichen  Zorn  ver- 
fallen, Eph.  2,  3.  Der  religiöse  Charakter  des  Heidenthums  wird 
noch  besonders  dadurch  bezeichnet,  dass  die  Heiden  aOsoi  iy  zu 
xoGjjLü)  sind,  2,  12,  ifr/corwpisvoi  t^  Stavoia  ovts;,  4,  18,  ÄTT/iX- 
XorpiwjjLSvot  T^?  ^w/J;  Tou  ösou  oia  Tr,v  ayvoiav  n^v  oucav  sv 
auToi?,  4,  18,  TcsptffaToOvTe?  xapa  tov  aicSva  toO  mg^lou  toutou, 
2,  2,  XÄTÖt  TOV  apj(^ovTa  rn;  i^oucta?  tou  aspo;.  Beiden  Religionen 
gegenüber  ist  das  Christenthum  die  absolute  Religion.  Der  ab- 
solute Charakter  des  Christenthums  selbst  aber  ist  bedingt  durch 
die  Person  Christi.  Daher  kann  nun  alles,  was  neben  der  Person 
Christi  zwischen  Gott  und  den  Menschen  vermittelnd  sich  hinein- 
stellt und  als  ein  nothwendiges  Mittel  der  Einigung  und  Ver- 
söhnung der  Menschen  mit  Gott  gelten  soll,  nur  als  eine  Beein- 
trächtigung des  absoluten  Charakters  des  Christenthums  angesehen 

B«ur,  Mutest.  Theol.  18 


IS74  Zweiter  Abschni  tt.      Zweite  Periode. 

werden.  In  dieser  Beziehung  polemisirt  der  Colosserbrief  sowohl 
gegen  einen  mit  der  Würde  Christi  unverträglichen  Engelcultus, 
als  auch  gegen  eine  den  Menschen  knechtisch  an  die  <TTOij(sta  toO 
-ytöcjAou  bindende  Ascese.  Die  im  Colosserbrief  gemeinten  Engels- 
verehrer setzten  ohne  Zweifel  Christus  selbst  in  die  Classe  der 
Engel,  als  sva  töv  dcpj^ayysXtov,  wie  diess  Epiphanius  als  einen 
Lehrsatz  der  Ebioniten  angibt,  wogegen  der  Colosserbrief  mit  allem 
Nachdruck  auf  ein  solches  jtpaTSiv  ttiv  xe^paV/iv  dringt,  dass  alles, 
was  nicht  das  Haupt  selbst  ist,  nur  in  einem  absoluten  Abhängig- 
keilsverhältniss  zu  ihm  stehend  gedacht  wird  2,  19.  Aus  dem- 
selben Gesichtspunkt  einer  Antithese  gegen  alles,  was  der  abso- 
luten Würde  Christi  Eintrag  Ihut,  ist  auch  das  zu  betrachten,  was 
sowohl  gegen  die  Beschneidung  als  auch  gegen  die  czov/zXci.  toQ 
x6(j;xou  gesagt  wird  2,  8  f.  Eine  Lehre,  welche  den  Menschen  in 
religiöser  Hinsicht  von  seinem  natürlichen  bürgerlichen  Sein,  von 
der  materiellen  Natur  abhängig  machte,  und  sein  religiöses  Heil 
durch  die  reinigende  und  heiligende  Kraft,  die  man  den  Elementen 
und  Substanzen  der  Welt  zuschrieb,  den  Eintluss  der  Himmels- 
körper, das  natürlich  Reine  im  Unterschied  von  dem  für  unrein 
Gehaltenen  vermittelt  werden  Hess,  setzte  die  (yxoiytXx  tou  )c6(J(aou 
an  dieselbe  Stelle,  welche  nur  Christus  als  Erlöser  haben  sollte. 
In  diesem  Sinne  werden  V.  8  die  aToiysXix.  toO  x6(J(7-ou  und  Christus 
einander  gegenübergestellt.  Das  ist  die  Philosophie  in  dem  Sinne, 
in  welchem  das  Wesen  der  Philosophie  als  Weltweisheit  be- 
zeichnet wird,  als  die  Wissenschaft,  die  es  mit  den  <jToi)^eta  toO 
)f.6<s^o\>  zu  thun  hat.  Als  solche  ist  sie  auch  nur  eine  xevin  dcTraTin, 
eine  blosse  zapaWt?  töv  äv9pto7rcov ,  im  Unterschied  von  dem 
Christenthum,  das  als  die  absolute  Religion  statt  jener  natürlichen 
Elemente  der  andern  Religionen  das  TrXTfiptofxa  rfj;  Osötyito;  in 
sich  hat. 

Obgleich  so  betrachtet  Judenthum  und  Heidenihum  in  einem 
gleich  negativen  Verhältniss  zum  Christenthum  stehen,  so  wird 
doch  auch  wieder  zwischen  Judenthum  und  Christenthum  eine 


Lehrbegriff  des  Epheser-  und  Colosser-Briefs.      Ä75 

gewisse  Identität  angenommen.  In  diesem  Sinne  spricht  der 
Colosserbrief  2,  17  von  dem  alten  Testament  als  einer  ay.Kx. 
Wenn  die  Satzungen  der  alttestamentlichen  Religion  ein  Schatten- 
bild des  Künftigen  genannt  werden,  während  dagegen  t6  cÄ[;-a 
ToO  XpKTToO  ist,  die  wahre  Wirklichkeit  nur  im  Christenthum  ist, 
so  wird  zwar  der  alttestamentlichen  Religion  hiemit  nur  ein  ge- 
ringer Grad  von  Wahrheit  und  Realität  zugestanden,  da  aber 
in  cKix  auch  das  Verhältniss  von  Bild  und  Sache  liegt,  so  enthält 
auch  schon  dieses  Schwache  und  Unvollkommene,  wenn  auch 
nur  auf  bildliche  Weise,  eine  nähere  Beziehung  zum  Christen- 
thum. Als  das  dem  Christenthum  vorangehende  Schattenbild 
enthält  das  Judenthum  Züge,  die  sich  auch  im  Christenthum 
finden,  Analogien,  in  welchen  das  Christenthum  als  die  Wahr- 
heit und  Wirklichkeit  des  Judenthums  sich  nachweisen  lässt.  In 
diesem  Sinne  stellt  der  Colosserbrief  die  Taufe  als  Beschneidung 
dar  2,  H.  Dem  Judenthum  ist  zwar  der  absolute  Anspruch, 
welchen  es  mit  seinem  Gebot  der  Beschneidung  machte,  genom- 
men, aber  dafür  soll  nun  auch  das  Christenthum  eine  Beschnei- 
dung haben,  wenn  auch  keine  iv  r;apx.l  ^^sipoTCoCnTO?,  doch  eine 
xjsi^OTZoinxoc, ,  SV  xi)  ä77£x.SuGSt  Tou  aoi^.oiTOc  T?\q  (japxö;,  die  Trspi- 
ro^.ri  ToCi  XpwToO,  die  durch  die  Taufe  stattfindet,  in  welcher 
Christus  die  vsxpou?  ovTa?  sv  r^  axpoßuaxia  r/)?  dapxö?  lebendig 
macht,  dadurch  nämlich,  dass  sie  aller  sinnlichen  Lüste  und 
Begierden  sich  begebend  zu  einem  sittlich  heiligen  Leben  geweiht 
werden.  Schon  dadurch  werden  Judenthum  und  Christenthum 
näher  zusammengerückt  und  als  an  sich  eins  betrachtet.  Noch 
deutlicher  geschieht  diess  Eph.  2,  11  f.  Wenn  hier  von  den 
Heiden  gesagt  wird,  dass  sie  Vorhaut  genannt  von  der  soge- 
nannten fleischlichen  Beschneidung,  in  der  ganzen  Zeit  des 
Heidenthums  ohne  Christus,  fern  von  der  Bürgerschaft  Israels 
und  unbekannt  mit  den  Bundesverheissungen  ohne  Hoffnung  und 
ohne  Gott  in  der  Welt  gewesen,  jetzt  aber  als  die  ehmals  fern 
Stehenden  nahe  gekommen  seien  in  dem  Blute  Christi,  so  wird 

18* 


SJ76  Zweiter  Absclinitt.     Zweite  Periode. 

hiemit  gesagt,  die  Heiden  haben  nur  Antheil  erhalten  an  dem, 
was  die  Juden  zuvor  schon  hatten,  und  das  Christenthum  ist 
nicht  die  absolute  Religion,  in  welcher  die  Negativität  des  Hei- 
denthums  und  Judenthums  auf  gleiche  Weise  ein  Ende  hat,  son- 
dern der  substanzielie  Inhalt  des  Christenthums  ist  das  Judenthum 
selbst,  und  es  erweitert  sich  so  nur  das  Judenthum  im  Univer- 
salismus des  Christenthums  durch  den  Tod  Christi  auch  zu  den 
Heiden.  Im  Tode  Christi  hat  die  Feindschaft,  die  Scheidewand, 
alles  Positive,  das  beide  trennte,  ein  Ende.  Die  Heiden  haben 
so  zwar  als  Christen  alles,  was  die  Juden  haben,  aber  sie  sind 
doch  immer  nur  die  erst  Zugelassenen  und  nachher  Hinzuge- 
kommenen, die  blos  Theilnehmenden,  wenn  sie  als  die  eövr,  blos 
als  cuyx^.'/ipovoj/.a  /.vX  <7U(T<jtü[/.a  )cal  <Tu{jt,[J!,eTO)^a  rii?  eTcaYyeXia?  ev 
Tö  XptfjTö  bezeichnet  werden  Eph.  3,  6.  Sie  nehmen  also  blos 
Theil  an  etwas,  worauf  den  nächsten  und  eigentlichen  Anspruch 
doch  nur  die  Juden  zu  machen  haben.  Das  Judenthum  macht 
demnach,  wenn  es  auch  tief  unter  dem  absoluten  Charakter  des 
Christenthums  steht,  doch  auch  wieder  sein  absolutes  Recht  und 
seine  Identität  mit  dem  Christenthum  geltend. 

Die  Grundanschauung  der  beiden  Briefe  ist  eigentlich  die 
Idee  des  C7ö[ji,a  XpidToO ,  d.  h.  der  christlichen  Kirche  als  der  Ver- 
einigung der  Heiden  und  Juden  durch  die  Aufhebung  der  sie 
trennenden  Unterschiede.  Im  Bewusstsein  der  Macht  der  Juden 
und  Heiden  trennenden  Gegensätze  und  der  Nothwendigkeit  ihrer 
Aufhebung,  wenn  es  überhaupt  eine  christliche  Kirche  geben 
soll,  wird  alles  Gewicht  auf  die  Einheit  der  Kirche  gelegt.  Die 
Einheit  ist  das  eigentliche  Wesen  der  Kirche,  diese  Einheit  ist  in 
allen  zu  ihr  gehörenden  Momenten  durch  das  Christenthum  ge- 
geben. Es  ist  Ein  Leib  und  Ein  Geist  u.  s.  w.  Eph.  4,  3  f.  Be- 
gründet aber  wurde  diese  Einheit  durch  den  Tod  Christi,  sofern 
durch  ihn  alle  trennenden  Unterschiede  aufgehoben  worden  sind. 
Von  diesem  Punkte  aus  steigt  die  Anschauung  höher  hinauf  bis 
dahin,  wo  der  Grund  aller  Einheit  liegt.    Die  einigende,  eine 


Lehrbegriff  des  Briefs  Jacobi.  !877 

allgemeine  Gemeinschaft  stiftende  Kraft  des  Todes  Christi  lasst 
sich  nur  daraus  begreifen,  dass  Christus  überhaupt  der  alles 
tragende  und  zusammenhaltende  Centralpunkt  des  ganzen  Uni- 
versums ist.  Je  mehr  das  christliche  Bewusstsein  in  der  An- 
schauung der  sich  constituirenden  Kirche  von  dem  absoluten 
Inhalt  des  Christenthums  erfüllt  ist,  um  so  mehr  hat  es  den  Drang 
in  sich,  dieses  Absolute  als  ein  überweltliches  und  überzeitliches 
auzuschauen.  Das  ganze  Streben  der  Christologie  geht  in  diese 
transcendente  Region,  um  in  ihr  den  Punkt  zu  fixiren,  an  welchen 
sich  der  höhere  Begriff  der  Persönlichkeit  Christi  anknüpfen  lässt. 
Es  handelt  sich  nur  noch  darum,  diesen  Begriff  auf  seinen  ad- 
äquaten Ausdruck  zu  bringen. 

3.    Der  Lehrbegriff  des  Briefs  Jacobi  und  der.< 
petrinischen  Briefe. 

In  dem  Lehrbegriff  des  Hebräerbriefs  und  dem  der  kleineren 
paulinischen  Briefe  hat  sich  der  Paulinismus  weiter  fortgebildet. 
Wenn  auch  in  diesen  Briefen  nicht  gerade  die  Schärfe  des  pauli- 
nischen RechtfertigungsbegrifTs  hervortritt,  so  enthalten  sie  doch 
auch  nichts  Antipaulinisches.  In  dem  Brief  Jacobi  dagegen  be- 
gegnet uns  nun  eine  auf  den  Mittelpunkt  der  paulinischen  Lehre 
losgehende  Opposition.  Dem  paulinischen  Hauptsatz  Rom.  3,  28 
SixaiouGÖai  7wi(7T£i  ävOptoTwOv ,  yid^U  spywv  v6i7-ou,  wird  nun  hier 
der  Satz  entgegengestellt,  Jac.  2,  24,  oti  il  epywv  Siy.atouTa'. 
av6p(i)7ro? ,  '/.cd  oüx  ix  TCidTEw;  |ji,6vov.  Alle  Versuche,  die  man 
gemacht  hat,  um  der  Anerkennung  der  Thatsache  zu  entgehen, 
dass  ein  directer  Widerspruch  zwischen  diesen  beiden  Lehrbe- 
grifFen  staltfinde  und  der  Verfasser  des  Jacobusbriefs  die  pauli- 
nische  Lehre  zum  unmittelbaren  Gegenstand  seiner  Polemik 
mache,  sind  völlig  vergeblich.  Sollte  die  Wahrheit  des  einen 
der  beiden  Sätze  neben  der  des  andern  bestehen  können,  so 
müsste  gezeigt  werden  können,  dass  beide  einander  gar  nicht 
berühren,  dass  beide,  Paulus  und  der  Verfasser  des  Jacobus- 


278  Zweiter  Abschnitt.     Zw  ei  te  P  eriode. 

briefs,  mit  den  drei  HaiiplbegriflPen ,  um  welche  es  sich  hier 
handelt,  dem  SiaaioOiöai,  den  epya  v6[^.ou.  und  der  ttittic,  einen 
ganz  andern  Sinn  verbinden.  Allein  es  ist  weder  unter  dem 
^txawOdöai  bei  dem  Verfasser  des  Jacobusbriefs  etwas  anderes  zu 
verstehen  als  bei  Paulus,  noch  ist  diess  bei  den  epya  der  Fall. 
Wollte  man  mit  Calvin  behaupten,  Jacobus  wolle  nicht  docere, 
ubi  quiescere  debeat  sahitis  fiducia ,  in  quo  uno  insisfif  Paulus, 
Jacobus  dringe  nur  darauf,  dass  der  Glaubige  fidei  mae  teri- 
tatem  operibus  demonatret ,  daher  sei  die  Amphilogie,  dass  das 
verbum  justificandi  bei  Paulus  bedeute  die  grotuita  üvstitine 
imputatio  apud  Dei  tribunal,  bei  Jacobus  aber  die  demonstratio 
justitiae  ab  effectis,  idque  apud  homines,  so  müsste  demnach  der 
Satz  des  Jacobus  den  Sinn  haben:  der  Gerechtfertigte  kann  den 
thatsächlichen  Beweis  seiner  Rechtfertigung  nur  durch  Werke 
geben.  Mit  welchem  Rechte  lässt  sich  aber  behaupten,  dass 
Jacobus  dabei  den  paulinischen  Satz  vom  rechtfertigenden  Glau- 
ben voraussetze,  wenn  er  vom  Glauben  so  spricht,  wie  diess 
offenbar  der  Fall  ist.  Ebenso  wenig  kann  man  sagen,  der 
BegriflF  der  spy»  sei  bei  beiden  ein  anderer,  Paulus  verstehe 
unter  den  epya  nur  Werke  des  mosaischen  Gesetzes,  Jacobus 
Werke,  die  aus  dem  Glauben  hervorgehen,  Früchte  des  Glau- 
bens sind.  Man  ist  durchaus  nicht  berechtigt,  den  paulinischen 
Begriff  der  spya  so  zu  beschränken,  Paulus  macht  nirgends 
einen  solchen  Unterschied  unter  den  epya,  sondern  er  sagt 
ganz  allgemein  von  den  spya,  dass  es  nicht  möglich  sei, 
durch  sie  ^wtatouaöat,  so  dass  diess  auch  von  den  aus  dem 
Glauben  hervorgehenden  Werken  gilt;  denn,  sofern  sie  aus 
dem  Glauben  hervorgehen,  haben  sie  auch  schon  den  Glau- 
ben und  mit  dem  Glauben  die  Rechtfertigung  zu  ihrer  Voraus- 
setzung, wesswegen  eben  die  Rechtfertigung  nicht  erst  durch 
sie  bewirkt  werden  kann.  Es  liegt  somit  auch  in  den  epya  nichts, 
wodurch  der  Widerspruch  beider  beseitigt  werden  könnte.  Ist 
diess  aber,  etwa  bei  der  nitixi^  möglich?    Uniäugbar  verbinden 


Lehrbegriff  des  Briefs  Jacobi.  879 

beide  mit  der  xwti?  einen  ganz  verschiedenen  Begriff,  aber  man 
meine  nur  nicht,  dass  der  Verfasser  des  Jacobusbriefs,  wenn  er 
vom  Glauben  so  geringschätzend  spricht,  neben  diesem  falschen 
Glauben  noch  einen  andern  habe,  den  wahren,  denselben,  auf 
welchen  Paulus  das  Gewicht  legt.    Der  Glaube  ist  dem  Jacobus 
immer  nur  der  Glaube,  von  welchem  Paulus  1  Cor.  13,  1  f.  sagt, 
dass  der  Mensch  mit  ihm  für  sich  allein  ein  tönendes  Erz  und 
eine  klingende  Schelle  bleibe.   Diesem  Glauben  schrieb  nun  frei- 
lich auch  Paulus  keine  rechtfertigende  Kraft  zu,  er  sagt  vielmehr 
oüSev  w<peXouu.ai.    Aber  der  Unterschied  ist,  dass  Paulus  diesem 
leeren.nichtigen  Glauben  seinen  rechtfertigenden  gegenüberstelltj 
und  von  ihm  als  den  wahren  unterscheidet,  Jacobus  aber  vom 
Glauben  überhaupt  keinen  andern  Begriff  hat,  als  eben  nur  jenen. 
Alle  Argumente,  durch  welche  der  Verfasser  des  Jacobus- 
briefs 2,  14  f.  seinen  Hauptsatz  darzuthun  sucht,  beweisen  nur, 
welchen  geringen  Begriff  er  vom  Glauben  hat.    Er  sagt  O  wenn 
einer  sagt,  er  habe  Glauben,  aber  keine  Werke  hat,  so  kann 
ihn  sein  Glaube  nicht  selig  machen,  denn  diess,  dass  er  sagt,  er 
habe  Glauben,  ist  nur  soviel,  wie  wenn  einer  bei  der  Pflicht  der 
Wohlthätigkeit  es  bei  blossen  Worten  bewenden  lassen  wollte. 
Daher  wird  nun  unmittelbar  der  Hauptsatz  ausgesprochen,  V.17: 
der  Glaube  ohne  Werke  ist  für  sich  todt,  nicht  der  falsche  Glaube 
oder  der  Glaube  als  Scheinglaube,  sondern  der  Glaube  als  solcher, 
er  ist  an  sich,  seinem  Wesen  nach,  todt.     2)  Wenn  der  Eine 
den  Glauben  hat,  der  Andere  die  Werke,  so  kann  nur  der,  der 
die  Werke  hat,  thatsächlich  beweisen,  dass  er  das,  was  er  zu 
haben  behauptet,  auch  wirklich  hat.   Aus  den  Werken  kann  man 
den  Glauben  beweisen,  der  Glaube  für  sich  selbst  aber,  ohne 
die  Werke,  hat  nichts  seine  Realität  beweisendes.     Er  ist  also 
so  gut  wie  nichts,  denn  was  keinen  Beweis  seiner  Existenz  geben 
kann,  existirt  eigentlich  gar  nicht.    3)  Auch  die  Dämonen  glau- 
ben, aber  sie  zittern  dabei,  weil  sie  Gott  als  das  Object  ihres 
Glaubens  nur  fürchten  können.   Wenn  auch  der  Glaube  practisch 


1^80  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

ist,  SO  bringt  er  wenigstens  keine  wahrhaft  religiöse  Wirkung 
hervor,  er  ist  also  nicht  in  der  Weise  practisch,  wie  die  Religion 
practisch  sein  soll,  dass  sie  den  Menschen  in  das  rechte  Ver- 
hältniss  zu  Gott  setzt.  Gibt  es  einen  Glauben,  welcher  sich  nur 
dadurch  äussert,  dass  man  aus  Furcht  vor  Gott  zittert,  so  ist 
doch  hieraus  deutlich  zu  sehen,  dass  der  Glaube  an  sich  noch 
nichts  wesentlich  Religiöses  ist.  Wenn  also  auch  der  Glaube  ein 
religiöses  Element  ist,  so  hat  er  doch  das  nicht  in  sich,  was  auch 
zur  Religion  gehört,  dass  sie  den  Menschen  in  ein  seligmachendes 
Verhältniss  zu  Gott  setzt.  4)  Derselbe  Beweis  wird  aus  der 
Schrift  geführt,  V.  20  f.  Dieselben  Schriftbeispiele,  durch,  welche 
der  rechtfertigende  Glaube  der  paulinischen  Lehre  bewiesen  wer- 
den sS[\,  beweisen  das  gerade  Gegentheil.  Abraham  hatte  die 
Gerechtigkeit,  die  ihm  zuvor  nur  mit  Rücksicht  auf  seinen  Glau- 
ben zugeschrieben  werden  konnte,  dann  erst  in  der  Wirklichkeit, 
als  er  durch  die  Opferung  Isaaks  eine  thatsächliche  Probe  seines 
Gehorsams  gegen  Gott  gegeben  hatte.  Ebenso  verhält  es  sich 
mit  der  Rahab,  auch  sie  hatte  etwas  Werkthätiges  gethan,  worauf 
ihr  StxatoQdöai  beruhte.  Diese  beiden  Beispiele  enthalten  eine 
sehr  bestimmte  antithetische  Beziehung,  man  vgl.  besonders 
Hebr.  11,  31.  Das  Resultat  aus  allem  diesem  ist,  dass  die  Trtort; 
ohne  die  spy«  ebenso  todt  ist,  wie  der  Leib  ohne  den  Geist  todt 
ist.  Die  xiffTi?  ist  demnach  so  gut,  wie  nichts,  sie  hat  nichts  an 
sich,  was  ihr  den  Charakter  eines  Princips  des  religiösen 
Lebens  gibt. 

Zwar  wird  von  der  rbTt?  auch  wieder  gesagt,  dass  sie 
ÄüvepysT  toi?  spyot?,  2,  22,  so  dass  es  scheint,  sie  sei  auch  ein 
zur  Rechtfertigung  thätig  mitwirkendes  Princip,  ebenso  soll  der 
Mensch  nur  nicht  durch  den  Glauben  allein,  oOx  ix.  irCdTe«?  ftövov, 
2?  24,  gerechtfertigt  werden,  und  die  Rechtfertigung  durch  die 
Werke  wird  die  Vollendung  der  tt^oti?  genannt,  ix  töv  epywv 
reXeioOTai  ri  ttwti;,  2,  22.  In  einem  innern  Zusammenhang  steht 
aber  desswegen  doch  die  Tr^oTi?  nicht  zu  den  epya.    Stände  sie  in 


Lehrbegriff  des  Briefs  Jacobi.  281 

einem  solchen  zu  ihnen,  so  müsste  sie  ja  auch  das  wirkende  Prin- 
cip  derselben  sein,  die  spya  wären  nur  das,  worin  das  Innere 
der  TTidTi?  äusserlich  wird.  Wie  kann  aber  der  Verfasser  des 
Briefs  sich  die  iri<TTi?  in  diesem  Verhällniss  zu  den  e'pya  gedacht 
haben,  wenn  er  von  ihr  Ausdrücke  gebraucht,  die  ihr  gerade 
das  absprechen,  was  sie  als  Princip  vor  allem  haben  muss,  dass 
sie  an  sich  etwas  Wirksames  und  Lebendiges  ist.  Was  aber 
für  sich  todt  ist,  ohne  Kraft  und  Leben,  nur  einem  Leibe  gleicht, 
welcher  ohne  Geist,  ohne  ein  beseelendes  und  belebendes  Princip 
ist,  kann  doch  nicht  die  Bedeutung  eines  Princips  haben.  Wie 
könnte  sonst  auch  das  ^txaiouiQai  schlechthin  nur  den  spya  zu- 
geschrieben werden,  wenn  diese  selbst  ihr  Princip  in  der  iziaxi^ 
hätten,  somit  auch  ihre  rechtfertigende  Kraft  die  tt^ti?  wäre?  Das 
wahrhaft  Reale  und  Substanzielle  sind  nur  die  Werke,  sie  sind, 
was  sie  sind,  unmittelbar  durch  sich  selbst  und  aus  sich  selbst, 
sie  sind  daher  auch  nicht  blos  das  Äussere  von  einem  Innern, 
wie  die  tHoti?  wäre.  Wenn  nun  gleichwohl  auch  wieder  von 
einem  <iuvspY£iv  der  Tziariq  die  Rede  ist,  so  kann,  wofern  wir 
nicht  eine  gar  zu  grosse  Inconsequenz  bei  dem  Verfasser  voraus- 
setzen wollen,  damit  nur  diess  gesagt  sein,  dass  die  ttitti?  zwar 
auch  dabei  ist,  aber  als  ein  blos  begleitendes  Moment  des  reli- 
giösen Bewusstseins,  dessen  substanzielle  Form  die  Werke  sind. 
Theoretisches  und  Practisches,  Glauben  und  Wissen  auf  der  einen, 
und  Wollen  und  Handeln  auf  der  andern  Seite,  fallen  hier  eigent- 
lich völlig  auseinander,  es  fehlt  das  Bewusstsein  der  diese  beideti 
Seiten  in  sich  zusammenfassenden  Einheit,  einer  Einheit,  in 
welcher,  wie  diess  das  Eigenthümliche  des  paulinischen  Begriffs 
des  Glaubens  ist,  das  Theoretische  auch  das  Princip  des  Pracli- 
schen  ist,  und  das  Practische  zum  Theoretischen  sich  verhalt, 
wie  das  Äussere  zum  Innern.  '  *f««»v+./ 

Schon  darin  zeigt  sich  die  Mangelhaftigkeit  dieses  Lehrbe- 
griffs, dass  er  den  Glauben  und  die  Werke  nicht  in  ihrer  Einheit 
aufzufassen  weiss.     Beide  stehen  unvermittelt  neben  einander, 


^02  Zweiter  Abschnitt,     Zwei te  Periode. 

und  da  nun  die  Werke  vor  dem  Glauben  das  voraus  haben,  dass 
sie  etwas  ausserlich  in  die  Augen  Fallendes  sind,  so  wird 
alle  Realität  und  Substanzialität  des  Seins  in  sie  gelegt,  wie 
wenn  es  keine  andere  Realität  gäbe,  als  die  der  äussern  sinn- 
lichen Existenz.  Sie  allein  haben  also  wahrhaft  religiösen  Werth, 
weil  sie  das  thatsächlich  Gegebene  sind,  und  die  Wirklichkeit 
ihrer  Existenz  keinem  Zweifel  unterliegen  kann.  Wenn  nun  aber 
die  Werke  das  schlechthin  Geltende  sein  sollen,  so  fragt  sich, 
wie  der  Verfasser  des  Briefs  ihnen  eine  Bedeutung  beilegen  kann, 
die  sie  nach  dem  paulinischen  Lehrbegriff  nicht  haben  können. 
Diess  ist  der  Hauptgesichtspunkt,  unter  welchen  dieser  Lehrbe- 
griff gestellt  werden  muss.  Paulus  hat  gezeigt,  dass  die  Werke 
immer  nur  etwas  Unvollkommenes  sind,  nie  den  zureichenden 
Grund  der  Rechtfertigung  in  sich  enthalten  können,  weil  kein 
Mensch  von  sich  sagen  kann,  dass  er  alles  erfüllt  habe,  was  das 
Gesetz  zu  thun  gebietet;  daher  verfällt  der,  dessen  religiöser 
Werth  nur  nach  seinen  Werken  beurtheilt  werden  soll,  immer 
wieder  der  Strafe,  welche  auf  die  Übertretung  des  Gesetzes  ge- 
setzt ist.  Was  hat  nun  der  Verfasser  des  Briefs,  indem  er  sich 
wieder  auf  den  Standpunkt  der  spya  stellt,  gethan,  um  alles  das 
zu  widerlegen ,  was  vom  paulinischen  Standpunkt  aus  gegen  die 
epya  geltend  gemacht  worden  ist?  Hier  ist  offenbar  die  schwäch- 
ste Seite  dieses  Lehrbegriffs.  Die  absolute  Forderung  des  Gesetzes 
wird  von  dem  Verfasser  des  Briefs  vollkommen  anerkannt.  Ja 
er  sagt  sogar  2,  10,  wenn  einer  auch  das  ganze  Gesetz  halte,  es 
aber  nur  in  Einem  Stücke  fehlen  lasse,  so  sei  es  so  viel  als  ob 
er  das  ganze  Gesetz  nicht  gehalten  hätte.  Wie  kann  aber  die 
Forderung  gestellt  werden,  auch  nicht  £v  ivl  wraieiv,  wenn  er 
doch  selbst  gestehen  muss,  3,  2,  xoXXa  TTTaiofxev  axavTSi;?  Er 
verlangt  von  den  Christen  ein  spyov  tsXciov,  dass  sie  sein  sollen 
T^Xeioi  /.cd  oXojcXvipot,  ev  {A'/i^evi  Xei7r6[xsvoi ,  i,  4,  und  der  TeXsio; 
avnp  ist  der,  welcher  ev  Xoyto  oü  Tvraisi,  3,  2.  Wie  ist  diess 
möglich?    Wird  vom  Verfasser  des  Briefs  selbst  anerkannt,  dass 


I/ehrbegriff  des  Briefs  Jacobhx  983 

es  keinen  Menschen  gibt,  von  welchem  diess  schlechthin  gesagt 
werden  kann,  wie  kann  er  gleichwohl  den  Satz  aufstellen,  dass 
der  Mensch  SixaioOTai  £;  spy^^^  ^^^  Werke,  auf  deren  Grund 
der  Mensch  gerechtfertigt  werden  soll,  können  doch  nur  dem 
Gesetz  vollkommen  adäquate  sein.  Haben  aber  die  Werke  diese 
Vollkommenheit  auch  schon  in  dem  Falle  nicht,  wenn  es  auch 
nur  in  Einem  Stücke  fehlt,  so  ist  es  schlechthin  unmöglich,  durch 
die  Werke  gerechtfertigt  zu  werden.  Wie  kann  also  der  Ver- 
fasser des  Briefs  die  Rechtfertigung  auf  die  Werke  gründen?  er 
muss  sich  doch  etwas  die  UnvoUkommenheit  der  Werke  Ergän- 
zendes, somit  auch  erst  die  Rechtfertigung  Bewirkendes  gedacht 
haben;  wenn  nun  aber  diess  nicht  der  Glaube  sein  soll,  was  soll 
es  sein?  Der  Verfasser  setzt  selbst  voraus,  dass  es  keine  eigent- 
liche Rechtfertigung  durch  die  Werke  gibt.  Er  rechnet  auf  eine 
Vergebung  der  Sünden  durch  das  Gebet,  5,  15,  auf  die  Barm- 
herzigkeit des  göttlichen  Gerichts,  die  dem  zu  Theil  werde, 
welcher  selbst  Barmherzigkeit  übe,  2,  13,  und  spricht  von  einem 
vollkommenen  Gesetz  der  Freiheit,  unter  welchem  nichts  anderes 
verstanden  werden  kann ,  als  die  Befreiung  von  dem  Joch  des 
Gesetzes,  welche  der  Apostel  Paulus  als  die  wichtigste  Folge 
seiner  Lehre  vom  Glauben  betrachtet.  Wenn  es  nun  aber  bei 
dem  Gesetz  der  Freiheit  nicht  sowohl  auf  die  Beobachtung  aller 
einzelnen  Gebote,  als  vielmehr  auf  die  Gesinnung  im  Ganzen 
ankommt,  wenn  die  Vergebung  der  Sünden,  die  auch  bei  den 
epY*  "icht  entbehrt  werden  kann,  auf  der  subjectiven  Empfäng- 
lichkeit dafür  beruht,  so  wird  man  von  dem  Sixaioüaöai  immer 
wieder  auf  etwas  zurückgeführt,  das  die  spy*  selbst  schon  zu 
ihrer  Voraussetzung  haben.  Was  könnte  diess  aber  anderes  sein, 
als  der  Glaube?  Den  Glauben  hebt  ja  der  Verfasser  selbst  wieder 
so  hervor,  dass  man  nicht  begreift,  wie  er  ihn  nur  in  Beziehung 
auf  das  SixatoOfrOai  so  herabsetzen  kann.  Er  nennt  ja  die  Christen 
als  die  tutwj^ou;  tou  xocfxou  auch  die  ttXouciou*;  sv  tuigtsi  kscI  xXr- 
pov6|xo'j«  Tfl?  ßfltdiXsia?,  2, 5,  und  schreibt  dem  Gebet  des  Glaubens 


-1194  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

eine  reitende  Kraft  zu,  5,  15.  So  schwächt  sich  die  Polemik 
gegen  Paulus  wieder  ab,  die  Antithese  verliert  ihre  Schärfe,  da 
die  Werke  von  der  Gesinnung,  von  welcher  sie  getragen  werden, 
nicht  getrennt  werden  können.  Der  Unterschied  von  dem  pauli- 
nischen  LehrbegrifT  besteht  daher  1)  in  dem  Nachdruck,  mit 
welchem  auf  das Practische  gedrungen  wird,  alsdienothwendige 
Erprobung  der  christlichen  Gesinnung,  und  2)  darin,  dass  an 
die  Stelle  des  Glaubens  im  paulinischen  Sinne  die  christliche 
Gesinnung  tritt,  die  überhaupt  in  dem  durch  Christus  begründeten 
Vertrauen  besteht,  dass  denen,  die  durch  ihre  ganze  Handlungs- 
weise nach  christlicher  Vollkommenheit  streben,  die  Gnade  und 
Barmherzigkeit  Gottes  zu  Theil  werden  werde. 

Der  Standpunkt,  auf  welchem  der  Verfasser  des  Briefs  steht, 
ist  der  des  Gesetzes,  in  dem  Gesetz  aber  sieht  er  nur  einen  ver- 
geistigten Inhalt.  Die  Religion  ist  ihm  wesentlich  ein  Thun,  die 
Befolgung  eines  Gesetzes.  Dieses  Gesetz  aber  ist  ihm  nicht  das 
mosaische,  sondern  das  Sittengesetz,  das  in  seinem  reinen  sitt- 
lichen Gehalt  aufgefasste  mosaische  Gesetz.  Diess  ist  es  un- 
streitig, was  er  unter  dem  v6[xo?  teXsio;  tyi;  iXeuöepiac  versteht, 
eben  diess  ist  daher  für  ihn  der  bezeichnende  Ausdruck  für  das 
Christenthum.  Ein  vollkommenes  Gesetz  nennt  er  es,  weil  es 
die  Idee  der  sittlichen  Vollkommenheit  enthält,  deren  Realisirung 
die  höchste  Aufgabe  des  Menschen  ist.  Die  Idee  dieser  Voll- 
kommenkeit soll  der  Christ  im  Leiden  und  Thun,  in  allen  Ver- 
hältnissen des  Lebens  realisiren,  weil  er  nur  so  seinen  Glauben 
bethätigen  und  erproben  kann,  1,3.  Im  Bewusstsein  dieser 
sittlichen  Aufgabe  hat  der  Christ  ein  freudiges,  ihn  über  Armuth 
und  Reichthum  erhebendes  Selbstbewusstsein.  Das  christliche 
Bewusstsein,  das  nur  ein  freudiges  sein  kann,  spricht  sich  in 
dem  Armen  als  erhebendes  Selbstgefühl,  in  dem  Reichen  als  er- 
niedrigender Demuthssinn  aus,  weil  der  Christ,  wenn  er  die 
christliche  Ansicht  vom  Reichthum  hat,  ihn  nur  für  etwas  Ver- 
«gängliches   halten   kann,    aber    in  dieser  Anerkennung   seiner 


Lehrbegriff  des  Briefs  Jacobi.    \  HSö 

Nichtigkeit,  in  dem  Gefühl  seiner  Demuth,  erhebt  er  sich  zugleich 
über  die  Nichtigkeit  des  Reichthums  und  reisst  sich  von  ihm  los, 
es  ist  also  eine  Demuth,  die  in  ihrer  Erniedrigung  zugleich  ein 
erhebendes  Gefühl  in  ihm  weckt.  Dieses  kräftige  sittliche  Be- 
wusstsein  hat  bei  dem  Verfasser  des  Briefs  dieselbe  Bedeutung, 
wie  bei  dem  Apostel  Paulus  der  Glaube.  Auch  dem  Verfasser 
des  Briefs  ist  der  Glaube  das  Princip  des  christlichen  Bewussl- 
seins,  weil  man  ohne  zu  glauben,  nicht  Christ  sein  kann,  aber 
der  Glaube  spricht  sich  bei  ihm  nicht,  wie  bei  Paulus,  als  Ver- 
trauen auf  den  Versöhnungstod  Jesu,  sondern  in  der  Form  des 
sittlichen  Sollens  aus.  Der  Glaube  muss  sich,  wenn  er  ist,  was 
er  sein  soll ,  practisch  bewähren.  Über  die  Möglichkeit  dieses 
Sollens  reflectirt  er  nicht,  als  Christ  weiss  er  sich  frei,  und  das 
Sollen,  dessen  er  sich  bewusst  ist,  schliesst  ihm  von  selbst  das 
Können  in  sich. 

Von  diesem  einfachen  practischen  Standpunkt  aus  liegt  eine 
Theorie,  wie  die  des  Apostels  Paulus,  vermöge  welcher  der 
Tod  Christi  nur  dazu  bestimmt  ist,  den  Process,  in  welchen  der 
Mensch  mit  dem  Gesetz  verwickelt  ist,  zu  schlichten  und  im 
Glauben  eine  Norm  aufzustellen,  durch  welche  der  Mensch  in 
seiner  unendlichen  Erhabenheit  über  alle  Anforderungen  des 
Gesetzes  sich  unmittelbar  mit  Gott  eins  weiss,  ganz  ausserhalb 
des  Gesichtskreises  dieses  Lehrbegriffs.  Es  ist  sehr  bezeichnend 
für  denselben,  dass  in  dem  ganzen  Brief  auch  nicht  in  Einer 
Stelle  vom  Tode  Christi  die  Rede  ist.  Kaum  spricht  sich  in  dem 
XpwjTÖ?  tüq  ^6^7)?,  2,  1,  die  Anerkeimung  einer  höheren  Würde 
Christi  aus,  es  ist  diess  überhaupt  die  einzige  Stelle,  in  welcher 
Christus  ausdrücklich  genannt  ist,  sonst  spricht  der  Verfasser 
nur  von  dem  y.'jpio;  so  unbestimmt,  dass  man  nicht  weiss,  ob 
Gott  oder  Christus  zu  verstehen  ist.  Die  ganze  paulinische  Dog- 
matik,  wie  sie  zuerst  eine  eigene  Theorie  über  das  Werk  Christi 
construirt,  und  sodann  nach  der  Analogie  des  Werks  auch  die 
Person  Christi  idealisirt,  wird  hier  im  Grunde  ganz  einfach  auf 


Zweiter  Abscbnitt.     Zweite  Periode. 

die  Seite  geschoben,  und  der  Verfasser  geht  auf  jenen  Standpunkt 
in  der  Bergrede  zurück,  auf  welchem  Jesus  selbst  ohne  irgend 
eine  Hinweisung  auf  seinen  Tod  und  ohne  allen  Anspruch  auf 
eine  übermenschliche  Würde  die  ganze  Bedeutung  seiner  Mission 
in  die  Erfüllung  und  Vervollkommnung  des  Gesetzes  setzte. 
Scheint  doch  der  Verfasser  selbst  5,  12  f.  recht  absichtlich  auf 
die  Sittenlehre  der  Bergrede  zurückzuweisen.  In  demselben 
Sinne,  in  welchem  der  Verfasser  das  Chrislenthum  als  v6(jt,o; 
TeXeto;  bezeichnet,  nennt  er  es  das  Wort  der  Wahrheit,  und 
spricht  die  höchste  Ansicht,  die  er  vom  Christenthum  hat,  darin 
aus,  dass  er  diesem  Wort  eine  zeugende,  eine  neue  Schöpfung 
bewirkende  Kraft  zuschreibt.  Gott  hat  uns  durch  das  Wort  der 
Wahrheil  gezeugt,  1,  18,  d.  h.  er  hat  uns  die  christliche  Lehre 
gegeben,  damit  wir  durch  ihre  Befolgung  gleichsam  seine  Kinder 
werden.  Als  solche  sind  die  Christen  die  Erstlinge  der  Geschöpfe 
Gottes.  Das  Christenthum  ist  ein  heiligendes  Princip  für  die 
ganze  Welt.  Wie  die  Christen  durch  das  Wort  der  Wahrheit  von 
Gott  gezeugt  sind,  so  kommen  durch  es,  oder  das  Christenthum, 
alle  Crealuren  in  ein  neues  Verhältniss  zu  Gott.  Das  Christenthum 
ist,  so  betrachtet,  in  seinem  Princip  der  sittlichen  Heiligung 
auch  eine  neue  Schöpfung,  nur  in  einem  andern  Sinne  als  bei 
dem  Apostel  Paulus,  bei  welchem  alles  an  der  Person  Christi 
hängt. 

Dem  sittlichen  Standpunkt,  auf  welchem  der  Verfasser  des 
Briefs  steht,  ist  es  gemäss,  dass  die  sittliche  Freiheit  des  Men- 
schen in  seinem  Lehrbegriff  eine  ganz  besondere  Bedeutung  hat. 
Die  Genesis  der  Sünde,  wie  er  sie  1,  14  f.  beschreibt,  ist  ganz 
darauf  angelegt,  die  Sünde  als  die  eigene  freie  That  des  Menschen 
darzustellen.  Es  werden  daher  folgende  Momente  unterschieden: 
1)  die  als  sinnliche  AflFeclion  auf  den  Menschen  einwirkende 
imöuaia,  2)  das  Eingehen  des  Willens  in  die  den  Menschen  af- 
ficirende  £7riOu;j,ia,  3)  die  aus  dem  Willen  hervorgehende  äussere 
That,  und  4)  der  Tod,  mit  allem,  was  er  zur  Folge  hat.    Die 


Lehrbegriff  de"  Briefs  Jacobi.  887 

Sünde  hat  den  Tod  zur  Folge,  aber  nicht  die  Sünde  als  eine  ein- 
zelne That,  sondern  die  Sünde  in  ihrer  ganzen  Entwicklung,  als 
der  ganze  sündiiche  Verlauf  eines  Lebens.  Sünde  und  Tod  wer- 
den hier  nur  in  Beziehung  auf  den  einzelnen  Menschen  betrachtet, 
nicht  wie  bei  dem  Apostel  Paulus  als  die  in  der  Menschheit  im 
Grossen  wirkenden  Principien,  durch  welche  der  ganze  Charakter 
einer  Periode  der  Menschheit  so  bestimmt  wird,  dass  der  Ein- 
zelne nur  in  seiner  Abhängigkeit  von  der  Gattung  erscheint.  Die 
SündÖ  hat  ihren  Grund  nur  in  der  sittlichen  Willensfreiheit  und 
nicht  einmal  auf  die  «rip^  geht  der  Verfasser  zurück,  um  in  ihr 
den  natürlichen  Ursprung  der  Sünde  nachzuweisen.  Von  diesem 
Gesichtspunkt  der  sittlichen  Freiheit  aus  wird  daher  auch  der 
Begriff  Gottes  so  bestimmt,  dass  Gott  als  die  absolute  Quelle  alles 
Guten,  als  das  Princip,  von  welchem  nur  Gutes  kommen  kann, 
gedacht  wird.  W^ie  in  Gott  kein  Plus  und  Minus  des  Lichts  ist, 
weil  er  die  reine  ungetrübte  Idealität  mit  sich  selbst  ist,  so  kann 
auch  von  ihm  nichts  Böses  kommen.  Alles  Böse  fällt  nur  auf  die 
Seite  des  Menschen,  Gott  und  Mensch  stehen  daher,  wie  diess 
ganz  der  Standpunkt  der  alttestamentlichen  Religion  ist,  in  einem 
völlig  freien  Verhältniss  einander  gegenüber.  Alles  ist  in  die 
sittliche  Freiheit  des  Menschen  gestellt,  in  sein  sittliches  Bewusst- 
sein,  in  das  sittliche  Sollen,  das  sich  durch  die  That  verwirk- 
lichen muss. 

Der  Lehrbegriff  des  Jacobusbriefs  ist  der  ausgesprochenste 
Gegensatz  zum  paulinischen ,  dagegen  steht  unter  den  verschie- 
denen neuteslamentlichen  Lehrbegriffen  keiner  dem  paulinischen 
naher,  als  der  der  beiden  petrinischen  Briefe.  Der  LehrbegriS 
dieser  Briefe  ist  überhaupt  ein  vermittelnder,  eklektischer,  ka- 
tholisirender,  in  welchem  daher  verschiedene,  zu  einer  neutrali- 
sirenden  Einheit  verbundene  Elemente  zu  unterscheiden  sind.^ 

Die  allgemeine  Grundlage  ist  paulinisch,  die  paulinischen 
Grundbegriffe  blicken  überall  durch,  nur  ist  ihnen  das  specifische 
paulinische  Gepräge ,  die  polemische  Spitze ,  die  sie  in  ihrer  ur- 


988  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

sprünglichen  Fassung  haben,  grösstentheils  genommen.  Der 
Glaube  ist  das  das  Heil  des  Menschen  Bewirkende,  das  Ziel,  das 
TsXo;,  das  man  durch  den  Glauben  erreicht,  ist  die  uwriripia  ^^yj^"^, 
vgl.  1  Petr.  1,  5.  9.  21.  Der  Glaube  hat  aber  hier  nicht  die  in- 
tensive Bedeutung  und  principielle  Stellung  wie  bei  dem  Apostel 
Paulus.  Vgl.  2  Petri  1,  5.  Der  absoluten  Erhabenheit  des  Christen- 
thums  ist  sich  der  Verfasser  des  ersten  Briefs  sehr  lebhaft  bewusst, 
er  erkennt  in  ihm  einen  unaussprechlichen,  überschwänglichen, 
den  Menschen  zum  Unvergänglichen,  Bleibenden  erhebenden 
geistigen  Inhalt,  vgl.  1,8:  äyaXXiaGÖe  x^?^  ivexXaXyiTO)  xal  Ss- 
So^a(y[j.£V7i ,  V.  12:  si?  a  e7vtGu[7.oO<7iv  ayysXoi  Trapacxu^J^at,  2,  9: 
ToO  £)c  cncoTOu?  \j[i.S.(;  xaXeuavto?  si?  t6  öaojxadTov  aÜTOu  ^ö?,  vgl. 
1,  23.  4,  14.  Dabei  ist  aber  doch  der  Blick  des  Verfassers,  weit 
mehr  als  diess  bei  dem  Apostel  Paulus  der  Fall  ist,  der  alttesta- 
mentlichen  Theokratie  und  ihrer  Herrlichkeit  zugewandt,  und  das 
Chrislenthum  ist  in  seiner  absoluten  Erhabenheit  nur  der  ausge- 
sprochene Inhalt  des  alten  Testaments.  Man  vgl.,  was  das  Letztere 
betrifft,  das  in  den  Propheten  zeugende  xv£ij[xa  XpiaroO,  1,  11. 
Paulinisch  ist  ferner  die  hohe,  dem  Tode  Christi  beigelegte 
Bedeutung,  von  welcher  wiederholt  die  Rede  ist,  vgl.  1,  2. 
2,24.  3,  18.  4,  1  f.;  nur  schliessl  sich  der  Verfasser  darin  näher 
an  die  Vorstellungsweise  des  Hebräerbriefs  an,  dass  er  den  Tod 
Christi  nicht  wie  Paulus  auf  die  Schuld  der  Sünde,  von  welcher 
die  Menschen  auf  dem  Wege  der  Genugthuung  durch  ein  stell- 
vertretendes Opfer  losgekauft  und  erlöst  werden  müssen,  bezieht, 
sondern  auf  die  Sünde  selbst  als  solche,  das  sittlich  Unreine  und 
Befleckende  in  ihr.  Ganz  in  der  Weise  des  Hebräerbriefs  sagt 
er  3,  18,  Christus  habe  einmal  für  unsere  Sünden  gelitten,  als 
der  Gerechte  für  Ungerechte,  damit  er  uns  zu  Gott  hinführe, 
indem  er  dem  Fleische  nach  getödtet,  dem  Geiste  nach  lebendig 
gemacht  worden  ist,  2,  24:  Christus  hat  unsere  Sünden  selbst 
an  seinem  Leib  an  das  Holz  getragen,  damit  wir  von  den  Sünden 
hinweggekommen,  der  Gerechtigkeit  leben.  Der  Hauptgesichts- 


Lehrbegriff  der  Briefe  Pctri.  ^89 

punkt,  aus  welchem  er  den  Tod  Christi  betrachtet,  ist  wie  im 
Hebräerbrief  (vgl.  1 2,  24)  der  pavTi(j{/,ö?  aVaaTO?  'IincoC»  XptaToO, 
1,  2,  der  Begriff  der  Reinigung.  Das  Blut  Christi  hat  eine  reini- 
gende Kraft,  sofern  wir  vermöge  des  Todes  Christi  nicht  mehr 
der  Sünde  leben.  Das,  wovon  wir  durch  den  Tod  Christi  erlöst 
worden  sind,  ist  nicht  sowohl  die  Schuld  und  Strafe  der  Sünde, 
als  vielmehr  die  Sünde  selbst,  d.  h.  die  ganze  in  dem  bisherigen 
Leben  uns  anhängende  Sündhaftigkeit.  Wir  sind  erlöst,  heisst 
es  1,  18,  Sä  t^c  [/.aTaia?  i^jxöv  avaoTpofpfis  TcaTpoTcapa^orou  nicht 
durch  Vergängliches,  Silber  oder  Gold,  sondern  das  kostbare 
Blut  Christi,  als  des  reinen,  unbefleckten  Lamms.  Das  Ver- 
mittelnde dabei  ist  die  acht  paulinische  Vorstellung,  dass  die 
cap^  der  Sitz  und  die  Wurzel  der  Sünde  ist.  Wenn  also  die  cap^ 
ertödtet  ist,  wie  diess  im  Tode  Christi  geschah,  so  ist  im  Men- 
schen gleichsam  das  Princip  der  Sünde  vernichtet,  und  es  kann 
somit  dem  Menschen  nicht  schwer  fallen,  nachdem  er  von  der 
Sünde  gereinigt  und  geheilt  ist,  sich  von  der  Befleckung  durch 
die  Sünde  frei  zu  erhalten.  So  ist  es  zu  verstehen,  wenn  es 
4,  1  f.  heisst:  Da  Christus  für  uns  im  Fleische  gelitten  hat,  so 
waffnet  auch  ihr  euch  mit  demselben  Gedanken,  dass  wer  im 
Fleische  gelitten  hat,  d.  h.  wir  Christen,  sofern  Christus  für  uns 
gelitten  hat,  sein  Leiden  also  eigentlich  unser  Leiden  ist,  aufge- 
hört hat,  mit  der  Sünde  etwas  zu  thun  zu  haben,  so  dass  ein 
solcher  nicht  mehr  den  Lüsten  der  Menschen,  sondern  dem  Willen 
Gottes  die  übrige  Zeit  im  Fleische  lebt.  Seine  reinigende  Kraft 
äussert  also  der  Tod  Christi  dadurch  auf  uns,  dass  wir  im  Be- 
wusstsein  desselben  der  Macht  der  Sünde  keinen  Raum  in  uns 
geben  und  die  sündigen  Begierden  in  uns  unterdrücken  0«   Ganz 


..■^■^,  1)  Die  Stelle  1  Petr.  4,  1  ist  für  die  Vergleichung  des  pctrinisclien 
Lehrbegriffs  mit  dem  paulinischen  so  wichtig,  dass  sie  noch  etwas  näher 
betrachtet  zu  werden  verdient.  Um  die  Abhängigkeit  des  petrinischen 
Lehrbegriffs  vom  paulinischen,  und  ebendamit  den  nichtapostolischen 
Ursprung  des  Briefe  zu  bestreiten,  erklärt  Bernh.  Weiss,  Der  petrini- 
Banr,  nentest.  Tbeol.  19 


J890  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

im  Sinne  des  Hobräerbriefs  (vgl.  9,  9—14.  10,  19  f.)  wird  der 
Auferstehung  Jesu  die  Wirkung  zugeschrieben,   dass  wir  den 


sehe  Lehrbegriff,  1855,  S.  289  den  Satz  ort  6  ::aOwv  h  aapx'i  Tcsreautat 
afiapn'a;,  bei  welchem  das  Subject  nicht  Christus,  sondern  der  Christ  ist, 
so :  Das  -c'::auxat  aijiapTia;  beziehe  sieh  nicht  auf  eine  erlösende  Befreiung 
von  der  Macht  der  Sünde ,  sondern  spreche  das  einfache  Factum  aus, 
dass  der,  welcher  leidet,  dadurch  mit  der  Sünde  gebrochen  hat,  weil 
er  ja  damit  bezeuge,  dass  er  nicht  mehr  dem  Willen  der  Welt  gehorchen 
wolle,  sondern  dem  Willen  Gottes  leben.  Wie  kann  aber  diess  von  den 
Leiden  so  schlechthin  gesagt  werden?  Es  gibt  ja  Leiden,  die  man  un- 
gern genug  erduldet,  und  wie  kann  auch  von  denjenigen,  die  man  willig 
erduldet,  gesagt  werden,  dass  der  Leidende  unmittelbar  in  ihnen  mit  der 
Sünde  gebrochen  habe?  es  müsste  diess  doch  an  einem  bestimmten  Merk- 
mal zu  erkennen  sein.  Wenn  nicht  blos  von  einem  jraOstv  schlechthin 
gesprochen  wird,  sondern  einem  TcaOetv  h  oapx\  und  dieses  jiaOstv  Iv  uapx'i 
durch  den  raOwv  Iv  lapx^t  Xptatb;  motivirt  wird,  so  muss  eben  darin  der 
Grund  davon  liegen,  dass  in  dem  -aÜEtv  h  aapxt  die  Sünde  mit  Einem 
Male  ein  Ende  hat.  Welcher  Zusammenhang  der  Begriffe  ist  es  denn, 
wenn  gesagt  wird:  weil  Christus  dem  Fleische  nach  gelitten  hat,  sollen 
auch  wir  so  gesinnt  sein,  dass  wer  im  Fleische  gelitten  hat,  von  der 
Sünde  hinweggekommen  ist?  Wenn  der  im  Fleische  leidende  Christ 
dadurch  mit  der  Sünde  gebrochen  hat,  so  muss  demnach  auch  der  dem 
Fleische  nach  leidende  Christus  eben  dadurch  mit  der  Sünde  gebrochen 
haben.  Wie  hat  aber  der  JcaOwv  (jap-zA  Xptoxö;  mit  der  Sünde  gebrochen? 
Man  kann  sich  diess  nicht  denken,  ohne  dass  dabei  die  crap^  als  der 
Sitz  der  ä(jiapT(a  aufgefasst  wird  und  ohne  dass  somit  der  ;:a6a)v  h  oapxi 
seine  aap?  aus  demselben  Gesichtspunkt  betrachtet.  Wer  leidet  und  da- 
durch mit  der  Sünde  bricht,  ertödtet  also  seine  «jap?  als  den  Sitz  der 
a[jLapTi'a  auf  dieselbe  Weise  wie  bei  Christus  sein  Leiden  die  Ertödtung 
seiner  aap?  war.  Diess  kann  man  sich  nur  durch  den  paulinischen  Ge- 
dankenzusammenhang ergänzen.  Die  Sache  verhält  sich  daher  so:  Dem 
Verfasser  des  Briefs  schwebt  die  paulinische  Anschauung  des  Todes  Christi 
vor,  aber  er  will  nicht  in  die  specifischen  Begriffe  derselben  eingehen, 
daher  schwächt  er  sie  ab  und  setzt  an  die  Stelle  der  dogmatisclieu  Idee 
der  Lebensgemeinschaft  mit  Christus  seinen  sittlichen  Begriff  der  Nach- 
folge Christi.  Während  Paulus  2  Cor.  5,  14  aus  seinem  et?  önkp  navxwv 
arc^Oavcv  in  rascher  Folge  schliesst:  apa  o\  reavte;  dl;t^Oavov,  macht  der 
Verfasser  des  Briofs  von  seinem  XpiaTo;  TiaOwv  oapxl  recht  emphatisch  die 
moralische  Nutzanwendung:  xa\  u[A$t;  trjv  auTrjv  ewotav  OTrXiaaaOe.  Und 
doch  ist  es  unmöglich,  bei  seinem  TtaOwv  h  aapx\  n^^auTat  «jiapTi'a?  nicht 
an  Rom.  6,  7  denken,  wo  von  dem  aTcoöowoiv  gesagt  Wird,  dass  er  oeSi- 


Lehrbegriff  der  Briefe  Petri.      »•  291 

Zugang  zu  Gott  haben  und  vermittelst  der  Taufe  mit  einem  guten 
Gewissen  vor  ihn  treten  können,  3,  18.  21.  Auch  das  ist  der 
typischen  Anschauungsweise  des  Hebräerbriefs  gemäss,  dass  er 
die  Taufe  als  ein  Gegenbild  der  Rettung  Noah's  und  seiner  Ge- 
fährten durch  die  Fluthen  betrachtet,  3,  20. 

Eine  andere  eigenthümliche  Vorstellung  mahnt  uns  an  den 
paulinischen  Universalismus,  wie  er  besonders  in  dem  Briefe  an 
die  Epheser  sich  findet.  Mit  diesem  Briefe  theilt  der  erste  petri- 
nische die  Idee  der  Höllenfahrt  Christi.  Christus  gieng  in  dem 
Geiste,  in  welchem  er  lebendig  gemacht  wurde,  hin  zu  den  im 
Gefängniss  befindlichen  Geistern  und  predigte  denen,  die  einst 
ungehorsam  waren,  als  die  Langmuth  Gottes  abwartete,  in  den 
Tagen  Noah's,  als  die  Arche  zubereitet  wurde,  3,  19  f.  0-   End- 


/.atwtat  «710  T^?  ajxapxia?  und  bei  dem  TraOetv  Iv  aapx.\  nicht  an  das  az:oöavstv 
auv  XptaTw.  Es  ist  also  klar,  dass  der  petrinisclie  Lehrbegriff  Elemente 
des  paulinischen  in  sich  enthält. 

1)  Auch  dieser  Punkt  des  petrinischen  Lehrbegriffs  wird  gewöhnlich 
ganz  falsch  aufgefasst.  Man  verbindet  die  Stellen  3,  19  und  4,  5.  6 
so ,  dass  die  eine  durch  die  andere  erklärt  werden  soll.  Ans  4,  5.  6 
sei  gewiss ,  dass  Clmstus  allen  Todten  das  Evangelium  verkündigt  habe, 
3,  19  sei  zwar  nur  von  den  Zeitgenossen  Noah's  die  Rede,  aber  daraus 
folge  nicht,  dass  Petrus  die  Heilspredigt  nur  auf  sie  beschränken  wolle. 
Gepredigt  habe  den  abgeschiedenen  Seelen  der  gestorbene,  nicht  der 
auferstandene  Christus,  während  seines  Aufenthalts  im  Hades.  Es  sei 
einmal  die  Bestimmung  Christi  gewesen,  nach  Menschenweise  auch  in 
den  Hades  hinabzusteigen,  und  so  sei  es  auch  natürlich  gewesen,  dass 
er  auch  dort  seine  erlösende  Tbätigkeit  fortsetzte  und  wie  auf  der  Erde 
das  EuaYYeXti^suOat  seine  eigentliche  Aufgabe  gewesen  sei ,  so  habe  er  sie 
auch  an  den  Todten  vollführt.  Bei  dieser  Auffassung  begreift  man  vor 
allem  nicht,  warum  der  Verfasser  des  Briefs  die  Predigt  im  Hades  sich 
so  speciell  auf  die  Zeitgenossen  Noah's  beziehen  lässt.  Der  Hauptfehler 
aber  ist,  dass  man  bisher  allgemein  angenommen  hat,  die  TiVEÜjxaTa 
3,  19  seien  die  Seelen  abgeschiedener  Menschen.  Allein  rtveüfiaTa  sind 
Geister,  und  bei  den  ::veü[iaTa  ev  (puXaxyj  kann  man  nur  an  die  otYYeXot 
ajjLapTTJaavTs;  denken ,  von  welchen  2  Petr.  2,  4  gesagt  wird ,  dass  Gott 
sie  asipoui  'C6oo\j  Taptapwaa?  u.  s.  w.  Es  sind  die  Engel ,  welche  nach 
1  Mos.  6,  1  f.  in  der  der  der  Sündfluth  unmittelbar  vorangehenden  Periode 
nicht   nur    selbst    durch    ihren  Ungehorsam    von   Gott    abfielen,    sondern 

19* 


292  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode.  ' 

lieh  können  wir  zu  der  paulinischen  Seite  dieses  petrinischen 
Lehrbegriffs  auch  die  Lehre  von  der  Person  Christi  rechnen.   Die 


auch  die  Menschen  verführten  und  die  Ursache  einer  in  so  hohem  Grade 
überhand  nehmenden  Verschlimmerung  wurden ,  dass  die  ganze  Zeit  von 
dem  Fall  der  Engel  bis  zum  Hereinbrechen  der  Fluth  als  die  Periode 
der  so  lange  noch  zuwartenden  Langmuth  Gottes  bezeichnet  wird.  Hier- 
aus erhellt,  dass  das  xrjpüTTeiv  3,  19  keine  evangelische  Verkündigung 
zum  Glauben  gewesen  sein  kann,  sondern,  da  jene  gefallenen  Geister 
keiner  Erlösung  fähig  sind  und  nur  zum  Gericht  aufbewahrt  werden, 
2  Petr.  2,4,  so  kann  er  ihnen  nur  dieses  Gericht  verkündigt  und  sich 
ihnen  als  den  Vollzieher  desselben  gezeigt  haben.  Zugleich  ergibt  sich 
auch  erst  klar  die  der  Stelle  zu  Grunde  liegende  Anschauung,  indem  so- 
gleich in  die  Augen  fallen  muss ,  dass  dem  jropeuOs'ts  toi?  Iv  9uXaxr)  ttveü- 
{jLaacv  V.  22  entspricht  TiopsuOen;  —  aiyikoi'j.  Es  sollen  die  mit  dem  Tode 
Christi  zusammenhängenden  christologischen  Momente  hervorgehoben 
werden.  Der  Hauptbegriff  ist  das  Ttopeuö^vat  auf  der  einen  und  der  an- 
dern Seite,  die  Zwischensätze  enthalten  nur  Nebenbestimmnngen.  Da 
Christus  nach  seinem  Tode  nicht  mehr  der  sichtbaren  Welt  angehörte,  so 
wird  hier  sein  Verhältniss  zur  unsichtbaren  Welt  geschildert ,  wie  er  auf 
der  einen  Seite  in  dem  Hades,  in  welchen  er  hinabstieg,  mit  den  da- 
selbst befindlichen  Geistern ,  den  abgefallenen  Engeln ,  zusammentraf, 
auf  der  andern  aber  bei  seiner  Erhebung  aus  der  untern  Welt  in  die 
obere  durch  alle  Regionen  der  höhern  Geisterwelt  hindurchgieng,  bis  er 
sich  zur  Rechten  Gottes  setzte.  Es  ist  somit  derselbe  Kreis  der  Vor- 
stellung, in  welchem  sich  der  Epheserbrief  bewegt,  wenn  er  4,  9.  10 
dem  xataß^vat  £??  -ca  xatcoispa  [i^pr;  t%  y5j§  das  avaßrjvai  Ortepavco  Tiivtwv 
TtüV  oupavöiv  gegenüberstellt.  In  dem  petrinischen  Brief  ist  die  Idee  der 
Hadesfahrt  Christi  schon  weiter  ausgebildet ,  da  der  Epheserbrief  noch 
nichts  darüber  andeutet,  was  Christus  in  dieser  Zeit  seines  Aufenthalts 
im  Hades  gethan  habe.  Nun  kann  aber  auch  4,  5.  6  nicht  mehr  mit 
3,  19  zusammengenommen  werden.  Man  nimmt  £UT)YY£^''''örj  gewöhnlich 
im  activen  Sinne,  wie  wenn  es  sich  auch  aus  diesem  Grunde  von  selbst 
verstände ,  dass  Christus  im  Hades  allen  Todten  das  Evangelium  gepre- 
digt habe.  Eur)YYS^-<JÖ^  vexpoi?  kann  nach  dem  gewöhnlichen  Sprach- 
gebrauch nur  heissen:  es  wurde  den  Todten  das  Evangelium  gepredigt; 
von  wem?  ist  nicht  gesagt;  man  kann  zwar  hinzudenken,  was  am 
nächsten  zu  liegen  scheint,  von  Christus,  allein  es  ist  diess  nicht  aus- 
drücklich gesagt,  und  liegt  auch  nicht  einmal  so  nahe,  als  es  scheint, 
da  sich  die  Thätigkeit  Christi  im  Hades  auch  blos  auf  die  dämonischen 
TtveüfiaTa  bezogen  haben  kann.  Ist  der  Brief  so  spät  geschrieben ,  dass 
in   ihm    auch  schon  Nachapostolisches  durchblicken  kann,    so  ist  an  die 


Lchrbegriff  der  Briefe  Petri.     *  ^93 

wenigen  Andeutungen  hierüber,  3,  22,  wo  von  dem  in  den  Himmel 
hingegangenen  Christus  zur  Rechten  Gottes  gesagt  wird,  es  seien 
ihm  Engel,  Gewalten  und  Mächte  unterthan,  und  die  Doxologie 
4,  11,  wo  Gott  verherrlicht  werden  soll  durch  Jesus  Christus, 
welchem  zukommt  die  Ehre  und  die  Macht  in  alle  Ewigkeit,  ge- 
hören demselben  Kreise  der  Christologie  an,  in  welchem  sich  die 
kleineren  paulinischen  Briefe  und  der  Hebräerbrief  bewegen.  Und 
wie  der  Universalismus  auch  der  Zeit  nach  so  weit  als  möglich 
zurückgeht,  so  wird  auch  hier,  wie  im  Epheserbrief,  auf  die 
Erwählung  77pö  xaTaßo>.-^;  >t6(Tf;.0'j,  auf  die  TrpoYvoxri?  Gottes  des 
Vaters,  1,  2,  so  wie  darauf  besonderes  Gewicht  gelegt,  dass 
Christus  TrposYvoxrjxevo;  xpö  x.aTaßoX-^?  x6<t[;-ou  war,  1,  20. 

In  allen  diesen  Zügen  hat  dieser  LehrbegrifF  unverkennbar 
einen  paulinisirenden  Charakter;  es  ist  diess  aber  nur  die  eine 
Seite  desselben,  welcher  eine  andere  gegenübersteht,  durch 
welche  er  einen  zwischen  Paulinismus  und  Judaismus  vermitteln- 
den Charakter  erhält. 

Dahin  gehört  schon  das  enge  Verhältniss,  in  welches  die 
neutestamentliche  Religionsanstalt  zur  alltestamenllichen  gesetzt 
wird.    In  den  Propheten  des  allen  Testaments  wohnte  schon  der 


schon  im  Hirten  des  Hermas  vorkommende  Vorstellung  zu  denken,  dass 
die  Apostel  auch  den  Gestorbenen  gepredigt  haben.  Nachdem  also  zuvor 
gesagt  ist,  die  Heiden  haben  dem  Rechenschaft  zu  geben,  der  in  Be- 
reitschaft steht,  zu  richten  Lebendige  und  Todte,  wird  zur  Begründung 
des  Richteramts  über  die  Todten  noch  hinzugesetzt,  dass  Christus  nicht 
blos  die  Lebendigen ,  sondern  auch  die  Todten  richte ,  sei  daraus  zu 
sehen,  dass  auch  den  Todten  das  Evangelium  verkündigt  worden  sei; 
es  sei  diess  dazu  geschehen,  damit  sie  gerichtet  werden  als  solche,  die 
nach  menschlicher  Weise  dem  Fleische  nach  nur  zum  Tode  verurtheilt 
werden  können ,  nach  göttlicher  Weise  aber  dem  Geiste  nach  leben 
werden ,  d.  h.  damit  auch  die  Todten  des  Gegensatzes  zwischen  Mensch- 
lichem und  Göttlichem,  zwischen  Fleisch  und  Geist,  zwischen  Tod  und 
Leben  als  der  absoluten  Norm  sich  bewusst  werden,  nach  welcher  der 
Richter  über  Lebende  und  Todte  richten  wird.  Sie  sollen  also  nicht 
gerichtet  werden  ,  ohne  daSs  sie  zuvor  wössten ,  wie  sie  gerichtet  werden. 


mf^  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

Geist  Christi,  1,  H,  derselbe  Geist,  der  im  neuen  Testament 
der  von  Christus  ausgehende  und  mit  ihm  identische  Geist  ist.  In 
diesem  Geiste  haben  die  Propheten  dem  christlichen  Heil  nach- 
geforscht und  von  der  im  Christenthum  erschienenen  Gnade  ge- 
weissagt. Sie  forschten,  auf  welche  und  welcherlei  Zeit  hin 
offenbarte  der  in  ihnen  wohnende  Geist  Christi,  welcher  voraus- 
bezeugte die  Christo  bevorstehenden  Leiden  und  die  darauf  fol- 
gende Herrlichkeit.  Geoffenbart  wurde  ihnen,  dass  sie  nicht  für 
sich  selbst,  vielmehr  für  uns  das  mittheilten,  was  nun  verkündigt 
worden  durch  die,  welche  mittelst  des  vom  Himmel  herabge- 
sandten Geistes  das  Evangelium  gepredigt  haben.  In  der  alt- 
testamentlichen  Prophetie  war  somit  schon  die  speciellste  Kennt- 
niss  dessen,  was  im  Christenthum  in  Erfüllung  gehen  sollte, 
enthalten.  Derselbe  hohe  Werth  wird  den  alttestamentlichen 
Weissagungen  als  einem  die  Zukunft  Christi  aufheilenden  Licht, 
das  aber  erst  aus  der  factischen  Erfüllung  jener  Weissagungen 
recht  erkannt  werden  kann,  im  zweiten  Brief  1,  19  f.  bei- 
gelegt. 

Auch  darin  spricht  sich  der  judenchristliche  Charakter  des 
ersten  Briefs  auf  eine  besonders  der  Apokalypse  sehr  verwandte 
Weise  aus,  dass  die  Christen  nach  der  Anschauungsweise  des  alten 
Testaments  als  das  acht  theokratische  Volk  dargestellt  werden.  Was 
das  alte  Volk  Gottes  auf  äusserliche  materielle  Weise  war,  sind 
sie  auf  geistige,  2,  5  f.,  Xiöoi  ^övre?,  otxo?  7rveu|iaTa6?,  lepa- 
T6U(j!.a  ayiov,  avsveYx.at  7rveu[ji.aTtxai;  Guata?  u.  s.  w.;  V.  9  ein  aus- 
erwähltes Geschlecht,  ein  königliches  Prieslerlhum,  ein  heiliges 
Volk,  das  Volk  des  Eigenthums,  sie  die  vorher  Cals  Heiden)  kein 
Volk  waren,  nun  aber  ein  Volk  Gottes  sind.  Dem  eschatologi- 
schen  Standpunkt  der  Apokalypse  nähert  sich  der  Verfasser  da- 
durch, dass  ihm  neben  dem  Glauben  die  Hoffnung  das  wesentlichste 
Moment  des  christlichen  Bewusslseins  ist.  Der  Christ  ist  wieder- 
geboren zu  einer  lebendigen  Hoffnung  durch  die  Auferstehung 
Jesu  Christi,  zu  einem  unvergänglichen.  Erbe,  das  ihm  aufbe- 


Lehrbegriff  der  Briefe  Petri.  295 

wahrt  wird  im  Himmel.  In  dieser  Hoffnung^  ist  schon  jetzt  die 
Grundstimmung  des  Christen  die  lebhafteste  Freude.  Vgl.  i,  6. 
8.  21.  4,  13.  Obgleich  auch  der  Verfasser  dieses  Briefs  das  Ende 
der  Dinge  ganz  nahe  sieht,  4,  7,  so  ist  ihm  doch  die  apokalypti- 
sche Erwartung  der  Parusie  und  eines  irdischen  Reiches  Christi 
völlig  fremd.  Dagegen  mag  als  ein  gleichfalls  in  die  Anschauungs- 
weise der  Apokalypse  gehörender  Zug  auch  noch  diess  angeführt 
werden,  dass  er  mit  besonderer  Vorliebe  Christus  als  den  äpo? 
ÖeoO  betrachtet,  1,  19,  vgl.  2,  22,  und  ihn  den  7roity.Yiv  und  irci- 
(T/toTTo;  Töv  «{'u/wv  0[;.C)v  nennt,  2,  25. 

Noch  bestimmter  tritt  der  Unterschied  vom  Paulinismus  in 
allem  demjenigen  hervor,  was  sich  auf  den  Unterschied  des 
Glaubens  und  der  Werke  bezieht.  Der  Lehrbegriff  ist  im  Allge- 
meinen paulinisch,  aber  er  vermeidet  sichtbar  alles  specifisch 
Faulinische.  Die  charakteristischen  Bezeichnungen  der  paulini- 
schen  Rechtfertigungslehre,  die  Ausdrücke  SwatoucOai,  c^ixaio- 
ouv/)  fehlen  hier  ganz.  Um  so  mehr  aber  wird  im  Sinne  des 
Jacobusbriefs  auf  das  practische  Christenthum  gedrungen.  Die 
Liebe  wird  besonders  empfohlen  1,  22.  2,  17.  4,  8,  in  welcher 
letztern  Stelle  mit  einem  auch  Jac.  5,  20  gebrauchten  Ausdruck 
von  ihr  gesagt  wird ,  dass  sie  eine  Menge  von  Sünden  bedecke, 
und  die  Bewährung  des  Glaubens  in  Geduld  und  Rechtschaffenheit 
im  Leiden  gesetzt,  1,  7,  in  die  Heiligung  des  ganzen  Lebens 
durch  Gehorsam  gegen  die  Wahrheit  1,  15.  22.  Die  Hauptsache 
ist  hier  immer  die  xaXr,  (xva<JTpo<pTo ,  wie  sie  sich  durch  xaXa  zpycc 
erweist,  2,  12,  und  die  Summe  aller  Ermahnungen  wird  in  dem 
Satze  zusamujengefassl  2,  20:  ei  ÄYaOoTtotouvTs;  xal  T^aT/ovrs? 
OrotAcvstTö,  TO'JTO  '/oL^n;  Tzx^x  Oeto.  In  dieser  Beziehung  wird  mit 
besonderem  Nachdruck  auf  das  unschuldige  und  geduldige  Leiden 
Christi  hingewiesen,  durch  das  er  uns  ein  Vorbild  gegeben  hat, 
dass  wir  nachfolgen  sollen  seinen  Fussslapfen.  Der  Brief  alhmet, 
indem  er  mit  Rücksicht  auf  die  verschieden  Lebensverhaltnisse 
immer  wieder  einschärft  dcTcoOEcOai  7;9c<yav  Ka>ciav,  2,  1,  a.Tzi)(eaQxi 


Zweiter  Abschnitt.    Zweite  Periode. 

Töv  (Tapxtxöv  d7ut9u{xic5v ,  u7roTa<T(Te<j6ai ,  2,  11.  13,  xau<jai  ti?1v 
yXö^T^rav  auroO  ätio  xajtoO,  3, 10,  ayia^eiv  tÖv  Oeöv  sv  xai?  xapSiat?, 
3, 15,  <Tuvsi§?i«Jiv  syetv  äyaSiriv,  lieber  äyaÖOTroioOvT«;  Tracryeiv  v;  5ca- 
xoTTOioOvTa?,  3, 16  f.,  nicht  avOpwTrwv  iTriOufjLiat?  zu  leben,  sondern 
0eXVi}AaTi  öeou ,  welchem  man  Rechenschaft  zu  geben  hat  als  dem 
Richter  der  Lebendigen  und  der  Todten,  4,  2.  5  u.  s.  w.,  ganz 
den  Geist  der  practischen  Religiosität,  aus  welchem  der  Jacobus- 
brief  hervorgegangen  ist. 

Mit  diesem  Brief  stimmt  der  erste  petrinische  auch  darin 
überein,  dass  er  das  Princip  der  Wiedergeburt  in  das  Wort 
Gottes  setzt.  Christ  kann  man  nur  werden  durch  Wiedergeburl, 
man  wird  wiedergeboren,  weil  man  vom  Vergänglichen  zum 
Unvergänglichen  erhoben  wird,  1,  3  f.  Das  Wort  Gottes  ist 
gleichsam  der  Samen ,  welchen  Gott  in  den  Neubekehrten  legt, 
damit  das  Unvergängliche  aus  ihm  hervorgehe.  Der  X6yo;  öeoG 
^övTO?  x,al  (xivovTOf;  ist  keine  oTropa  ^Sapno,  sondern  a(p9apTo?, 
das  Wort  des  Herrn  bleibt  in  Ewigkeit  und  dieses  Wort  ist  das 
Evangelium,  1,  23  f.  Es  ist  auch  diess  ein  charakteristischer 
Unterschied  dieses  Lehrbegriffs  von  dem  paulinischen,  dass  das 
eigenthümliche  christliche  Princip  nicht  so  unmittelbar  mit  der 
Person  Christi  identificirt  und  als  ein  übernatürlich  wirkendes 
dargestellt  wird.  Es  ist  nicht  Christus,  nicht  der  Geist,  sondern 
das  Wort  Gottes ,  das  vom  Menschen  in  sich  aufgenommen ,  das 
Princip  seiner  Wiedergeburt  und  seines  sittlich  religiösen  Lebens 
wird.  Was  bei  dem  Apostel  Paulus  die  mystische  Gemeinschaft 
mit  dem  in  uns  lebenden  und  durch  seinen  Geist  nach  seinem 
Bilde  uns  umgestaltenden  Christus  ist,  ist  hier  die  sittliche,  den 
Willen  des  Menschen  bestimmende  Wirksamkeit  des  göttlichen 
Worts,  das  als  Princip  der  Wiedergeburt  aus  dem  Menschen  auch 
eine  /.atviri  xti<7i?  macht.  Da  auch  schon  das  alte  Testament  seinen 
X6yo;  öeou  hatte,  so  schliesst  sich  in  dieser  Idee  das  neue  an  das 
alte  Testament  an,  und  man  hat  so  eine  um  so  breitere  Grundlage 
für  die  Einheit  dör  katholischen  Kirche,  welcher  der  abstracto 


Lehrbegriff  der  Briefe  Petri.  297 

Rechtfertigungsbegriff  des  Paulinismus  weit  weniger  zusagte,  als 
die  practische  Tendenz  dieses  Lehrbegriffs. 

Denselben  Paulinismus  und  Judenchristenthum  combiniren- 
den  Charakter  hat  besonders  auch  der  zweite  petrinische  Brief. 
Das  Höchste  ist  ihm  die  STrtYvwct;  tou  OsoO  XpiorroO,  1,  2.  3.  8. 
2,  20.  3,  18,  zu  welchem  als  dem  Theoretischen  das  Practische 
hinzukommen  muss.  Daher  fordert  er  auf,  1,5,  zu  erweisen  in 
xlem  Glauben  die  Tugend,  in  der  Tugend  die  Erkenntnis«,  in 
der  Erkenntniss  die  Mässigung,  in  derMässigung  die  Geduld,  in 
der  Geduld  die  Frömmigkeit,  in  der  Frömmigkeit  die  Bruder- 
liebe, in  der  Bruderliebe  die  Menschenliebe.  Denn  wenn  diese 
Tugenden  vorhanden  sind  und  sich  mehren ,  so  machen  sie  nicht 
müssig  und  unfruchtbar  für  die  Erkenntniss  unseres  Herrn  Jesu 
Christi.  In  der  Erkenntniss  Christi  haben  also  alle  diese  Tugen- 
den ihr  Ziel  und  ihre  Vollendung,  und  sie  selbst  bethätigl  sich 
in  der  ganzen  Reihe  dieser  Tugenden.  Das  Christenthum  ist 
theoretisch  i-izifviacaq ,  practisch  apsTvi  oder  ayaTTiri ,  Wissen  und 
Than,  und  beides  ist  nur  ein  anderer  Ausdruck  für  die  Paulinis- 
mus und  Judenchristenthum  combinirende  Formel  7ri<jTt?  xal  spya. 
Es  zeigt  sich  schon  hierin  die  katholisirende  Richtung  des  sich 
bildenden  LehrbegrifFs.  Der  LehrbegrifF  der  katholischen  Kirche 
kann  sich  weder  an  die  ttCcti?  noch  an  die  Ipya  einseitig  halten. 
Er  nimmt  daher  beides  zusammen;  weil  es  ihm  aber  nur  darum 
zu  thun  ist,  alles  Einseitige  und  Extreme  abzuschneiden,  so  ist 
es  auch  keine  organische  Einheit,  sondern  nur  eine  äussere 
Combination.  Wie  im  zweiten  petrinischen  Brief  Petrus  und 
Paulus  sich  brüderlich  die  Hand  reichen,  so  stehen  nun  auch  im 
LehrbegrifF  dieser  Briefe  der  Glaube  und  die  Werke  beide  in 

derselben  selbstständigen  Bedeutung  neben  einander. 
tuui 

4.    Die  Lehrbegriffe   der  synoptischen  Evangelien. 
Wir  lassen  sie  hier  folgen,  ohne  dass  damit  behauptet  wer- 
den soll,  dass  ihnen  hier  gerade  ihre  chronologische  Stelle  an- 


898  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

zuweisen  ist.  Sie  stehen  nach  den  eng  an  einander  sich  an- 
schliessenden Lchrbegriffen  der  Briefe  am  schicklichsten  hier, 
sofern  die  Abfassung  der  synoptischen  Evangelien  in  ihrer  jetzigen 
Gestalt  in  die  zweite  Periode  gesetzt  werden  muss.  Da  die 
synoptischen  Evangelien  das  Leben  und  die  Lehre  Jesu  darstellen 
wollen,  so  sollte  man  in  ihnen  keinen  eigenthümlichen  Lehrbegriff 
voraussetzen ,  was  sie  als  Lehre  enthalten ,  sollte  nur  die  Lehre 
Jesu  sein.  Dass  sie  aber  nicht  als  schlechthin  referirende  Berichte 
zu  nehmen  sind,  zeigt  schon  ihre  Verschiedenheit.  Wie  könnten 
sie  denselben  Gegenstand  so  verschieden  darstellen,  wenn  sie 
einfach  nur  das  Geschehene  erzählten?  Alles  also,  worin  sie 
von  einander  abweichen,  kann  nur  der  individuellen  Auffassung 
anheimfallen  und  aus  Vorstellungen  hervorgegangen  sein,  welche 
einem  eigenen  Ideenkreise  angehören.  Aber  auch  in  dem  ge- 
meinsamen Inhalt  dieser  Evangelien  gibt  es  so  Manches,  was  wir 
nicht  für  eine  rein  historische  Darstellung  hallen  können,  wie 
namentlich  alles,  worin  das  Wunder  eine  so  grosse  Rolle  spielt. 
Es  muss  also  erst  das  Geschichtliche  vom  Nichtgeschichtlichen 
kritisch  geschieden  und  die  Frage  untersucht  werden ,  wie  wir 
uns  die  Entstehung  des  Letztern  zu  erklären  haben.  Mag  man 
auch  gewisse  geschichtliche  Elemente  dabei  voraussetzen,  die 
Hauptsache  bleiben  immer  gewisse  Anschauungen  und  Traditio- 
nen, aus  welchen  diese  Bestandtheile  der  evangelischen  Geschichte 
entstanden  sind.  Da  der  Hauplgegenstand  der  Evangelien  die 
Person  Jesu  ist,  so  ist  voraus  zu  erwarten,  dass  sich  so  Manches 
mit  ihr  verknüpft  haben  werde,  was  wir  nicht  zur  Lehre  Jesu 
selbst,  sondern  nur  zu  einem  Kreise  von  Vorstellungen  rechnen 
können,  worin  sich  das  religiöse  Bewusstsein  jener  Zeil  ausge- 
prägt hat.  Gibt  es  daher  einen  besonderen  Lehrbegriff  der 
synoptischen  Evangelien,  so  wird  er  hauptsächlich  in  einer 
eigenthümlichen  Form  der  Christologie  bestehen,  welche  sowohl 
von  der  paulinischen  als  der  johanneischen  zu  unterscheiden  ist. 
Die  Grundanschauung  der  synoptischen  Evangelien  von  der 


Lehrbegriffe  der  synoptischen  Evangelien.         Si99 

Person  Jesu  ist,  dass  er  der  Messias  ist,  der  uioq  OsoO,  uioq  dxßi^. 
Da  nun  aber  die  Idee  des  Messias  bei  den  Juden  längst  vorhanden 
war,  und  sich  zu  einer  bestimmten  Form  ausgebildet  hatte,  so 
war  nichts  natürlicher,  als  dass  auf  die  Person  Jesu  Vieles  blos 
aus  dem  Grunde  übergetragen  wurde,  um  in  ihm,  wenn  er  der 
Messias  sein  sollte,  das  Messiasideal,  wie  es  in  der  jüdischen 
Anschauungsweise  exislirte,  verwirklicht  zu  sehen.  Es  zeigt 
sich  diess  schon  bei  der  Geschichte  der  Geburt  Jesu.  Die  beiden 
Hauptevangelien,  das  des  Matthäus  und  das  des  Lucas  lassen 
Jesum  auf  übernatürliche  Weise  durch  den  heiligen  Geist  von 
einer  Jungfrau  geboren  werden.  Dass  diess  nicht  historisch  ver- 
standen, ja,  nicht  einmal  für  die  ursprüngliche  und  älteste  Vor- 
stellung von  der  Geburt  Jesu  gehalten  werden  kann,  beweisen 
die  Genealogien,  welche  keinen  Sinn  hätten,  wenn  sie  nicht  die 
natürliche  Erzeugung  Jesu  voraussetzten.  Die  ihm  zugeschrie- 
bene übernatürliche  Erzeugung  kann  daher  nur  aus  der  Messias- 
idee abgeleitet  werden.  Als  Messias,  als  XpicrTÖ?  ist  er  der 
Gesalbte,  nämlich  der  mit  dem  heiligen  Geist  Gesalbte.  Der 
heilige  Geist  ist  das  die  Persönlichkeit  des  Messias  constituirende 
Princip,  alles,  was  den  Messias  auf  eigenthümliche  Weise  aus- 
zeichnet und  ihn  zu  dem  befähigt,  was  er  ist,  hat  er  vom  heiligen 
Geist,  derselbe  Geist,  welcher  die  Propheten  des  alten  Testaments 
inspirirte,  wirkt  auch  in  ihm,  nur  in  höherem  Grade,  auf  absolute 
Weise,  er  ist  ihm,  wie  ei  JoK  3,  34  heisst,  oü/c  ix.  pixpou  ge- 
geben. Wenn  nun  die  übernatürliche  Geburt  Jesu  als  Wirkung 
des  heiligen  Geistes  beschrieben  wird,  so  ist  klar,  dass  dadurch 
der  heilige  Geist  als  das  immanente,  den  innersten  Mittelpunkt 
seiner  Persönlichkeit  bildende  Princip  bezeichnet  werden  soll. 
Diess  ist  in  jedem  Fall  die  dabei  zu  Grunde  liegende  Hauptidee, 
und  wir  können  es  daher  dahingestellt  lassen,  ob  noch  andere 
Momente  zur  Ausbildung  der  Geburtsgeschichte  mitwirkten,  wie 
namentlich  das  für  den  Messias  übliche  Prädicat  u(6?  GeoO,  das 
mit  dem  entsprechenden  Zusatz  Ps.  2,  7:  heute  habe  ich  dich 


Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode.  ' 

gezeugt,  leicht  als  ein  physisches  Verhältniss  genommen  werden 
konnte,  und  das  jesaianische  Orakel  von  der  gebärenden  Jung- 
frau, bei  welchem  sehr  zweifelhaft  ist,  ob  es  schon  von  den 
Juden  auf  den  Messias  bezogen  wurde.  Dass  aber  selbst  auf  dem 
Standpunkt  der  synoptischen  Evangelien  die  übernatürliche  Er- 
zeugung nicht  als  eine  wesentliche  Eigenschaft  des  Messias  be- 
trachtet wurde,  beweist  neben  den  damit  nicht  wohl  vereinbaren 
Genealogien  das  Marcusevangelium,  das  die  Geburtsgeschichte 
ganz  mit  Stillschweigen  übergeht,  somit  auch  die  übernatürliche 
Erzeugung  auf  sich  beruhen  lässt,  was  nur  daraus  zu  erklären 
ist,  dass  man  das  wesentliche  Moment  derselben,  die  Begabung 
mit  dem  messianischen  Geist,  sich  auch  ohne  diese  Voraussetzung 
denken  konnte.  Wie  schon  hier  der  Einfluss  sich  zeigt,  welchen 
die  herrschenden  Zeitvorstellungen  auf  die  Gestaltung  der  synop- 
tischen Christologie  hatten ,  so  ist  überhaupt  in  ihr  durchaus  das 
Bestreben  sichtbar,  Züge,  die  als  messianisch  galten,  auf  die 
Person  Jesu  überzutragen.  Die  Davidische  Abstammung,  die 
Geburt  in  der  Davidsstadt  Bethlehem,  die  Magier  und  ihr  Stern, 
die  Flucht  nach  Ägypten,  der  bethlehemitische  Kindermord,  alles 
diess  und  was  sonst  damit  zusammenhängt,  kann  nur  aus  diesem 
Gesichtspunkt  betrachtet  werden;  die  darauf  sich  beziehenden 
Erzählungen  giengen  nur  aus  der  apologetischen  Tendenz  her- 
vor, an  der  Person  Jesu  alle  jene  Merkmale  nachzuweisen,  die 
in  der  Anschauungsweise  der  Juden  als  wesentliche  Kriterien  der 
Messianität  galten.  So  bildete  sich  eine  Christologie,  welche 
besonders  in  der  Darstellungsweise  des  Matthäus  ein  acht  jüdi- 
sches Gepräge  an  sich  trägt. 

Weitere  Momente  der  synoptischen  Christologie  sind  die 
Taufe  und  die  Versuchung.  Was  die  übernatürliche  Erzeugung 
durch  den  heiligen  Geist  für  den  Eintritt  Jesu  in  die  Welt  ist,  ist 
die  Erscheinung  bei  der  Taufe  für  den  Antritt  seines  öfTenllichen 
Lehramts.  Hier  wie  dort  sollte  der  heilige  Geist  als  das  göttliche 
Princip  der  Messianität  Jesu  dargestellt  und  seine  Begabung  mit 


Lehrbegriffe  der  synoptischen  Evangelien.        301 

demselben  anschaulich  gemacht  werden.  Daraus  entstand  die 
Erzählung,  dass  der  heilige  Geist  in  der  Gestalt  einer  Taube,  die 
auch  sonst  bei  den  Juden  ein  Symbol  des  heiligen  Geistes  war, 
bei  der  Taufe,  um  bleibend  auf  ihm  zu  ruhen,  herabgekommen, 
und  eine  himmlische,  das  Wohlgefallen  Gottes  über  ihn  aus- 
sprechende Stimme  ihn  feierlich  dem  Volk  als  Messias  verkündigt 
habe.  Von  selbst  dringt  sich  der  Gedanke  auf,  dass,  wenn  Jesus 
schon  durch  seine  Geburt  den  heiligen  Geist  als  das  Princip  seiner 
messianischen  Wirksamkeit  in  sich  hatte,  die  Ausrüstung  mit 
dem  Geiste  bei  der  Taufe  als  überflüssig  erscheint,  wie  ja  auch 
Marcus  nur  von  dieser  letztern  Mittheilung  des  Geistes  spricht. 
Sehr  leicht  erklärt  sich  diess  aber,  wenn  man  annimmt,  zuerst 
sei  nur  die  Taufe  als  Moment  der  Mittheilung  des  messianischen 
Geistes  fixirt  worden,  hierauf  aber  sei  man,  um  das  Verhäitniss 
des  Geistes  zu  ihm  noch  tiefer  und  innerlicher  aufzufassen ,  auf 
den  Moment  der  Empfängniss  zurückgegangen,  und  so  seien 
zuletzt  beide  Erzählungen ,  obgleich  die  eine  die  andere  auszu- 
schliessen  scheint,  in  der  hierüber  nicht  reflectirenden  Tradition 
neben  einander  stehen  geblieben. 

Aus  demselben  Interesse,  Jesum  als  Messias  durch  alle 
Beweise  der  Messianität  sich  legitimiren  zu  lassen,  gieng  die 
Geschichte  seiner  Versuchung  hervor.  Als  Messias  und  Stifter 
des  messianischen  Reichs  hatte  er  den  Teufel  als  Gegner  sich 
gegenüber.  Dieser  musste  also  von  ihm  überwunden  werden. 
Daher  ist  die  Versuchung,  die  er  gleich  anfangs  mit  dem  Teufel 
besteht,  das  schon  den  ganzen  Verlauf  des  messianischen  Werks 
wie  in  einer  bildlichen  Anschauung  in  sich  darstellende  Vor- 
spiel des  grossen  Kampfes  und  die  thatsächliche  Probe  dafür, 
dass  er  mit  dem  göttlichen  Geist,  ohne  welchen  er  der  Messias 
nicht  sein  konnte,  wirklich  ausgerüstet  worden  ist.  Beides  zu- 
sammen gibt  ihr  die  passendste  Stelle  unmittelbar  nach  der  Taufe. 
Die  Kraft,  die  er  in  der  Taufe  erhalten  hat,  bewährt  sich  in  der 
Versuchung,  und  der  über  den  Teufel  gewonnene  Sieg  ist  nun 


30Ä  Zweiter  Abschnitt,    Zweite  Perio  de, 

entscheidend  für  die  ganze  folgende  Entwicklung  seines  messia- 
nischen  Werks,  die  Versuchungsgeschichte  stellt  so  den  Gesichts- 
punkt auf,  aus  welchem  der  weitere  Inhalt  der  evangelischen 
Geschichte  zu  betrachten.  Die  messianische  Thäligkeit  Jesu  ist 
ein  fortgehender  Kampf  mit  dem  Teufel,  der  wenn  auch  jetzt 
durch  die  sittliche  Erhabenheit  Jesu  zurückgeschlagen,  doch  sich 
auf's  Neue  an  ihm  versucht  und  mit  der  Macht  derFinsterniss  ihn 
angreift.  Diess  deutet  Lucas  an,  wenn  er  seine  Versuchungs- 
geschichte 4,  13  mit  den  Worten  schliesst:  (TjwTzkidctq  Tcavra 
TTitoacaöv  6  ^laßoXo;  a.7T£<TT7i  dcTu'  auToO  a^t  xaipou,  nur  solange 
also  stand  er  von  ihm  ab,  bis  der  rechte  Zeitpunkt  zu  einem 
neuen  Angriff  auf  ihn  kam.  Marcus  hat  in  seiner  Darstellung  der 
Versuchungsgeschichte  den  eigenen  Zug,  dass  er  von  Jesus  sagt, 
er  sei  während  der  vierzig  Tage  in  der  Wüste,  als  er  versucht 
wurde  vom  Satan,  [^.sxa  tc5v  ör^pttov  gewesen.  Wollte  er  ihn 
dadurch  vielleicht  mit  Adam  parallelisiren,  der  ja  einst  auch  mit 
den  Thieren  zusammen  war,  und  als  zweiten  Adam  darstellen, 
welcher  im  Unterschied  von  dem  ersten  der  Versuchung  nicht 
unterlag,  sondern  sie  siegreich  bestand? 

Die  erste,  der  öffentlichen  Wirksamkeit  Jesu  vorangehende 
Periode  seines  Lebens  eignete  sich  vorzugsweise  dazu,  zur  Auf- 
hellung des  Dunkels,  das  auf  ihr  lag,  alles  Auszeichnende,  das 
zum  Messiasideal  jener  Zeit  gehörte,  auf  seine  Person  überzu- 
tragen. Aber  auch  der  Theil  der  evangelischen  Geschichte, 
welcher  die  öffentliche  Wirksamkeit  Jesu  selbst  betrifft,  ist  nicht 
so  rein  historisch  gehalten,  dass  nicht  dieselbe  Tendenz  einer 
traditionellen  Idealisirung  seiner  Person  hindurchblickte.  Am 
auffallendsten  ist  diess  bei  den  vielen  Wundern  verschiedener 
Art,  welche  die  evangelische  Geschichte  von  Jesu  erzählt.  Wie 
man  auch  die  Wunder  Jesu  betrachten  mag,  dass  der  allgemeine 
Glaube  der  Zeit,  der  Messias  müsse  Wunder  thun,  wie  man  sich 
ja  auch  Moses  und  die  Propheten  als  Wunderthäter  dachte,  auf 
die  Darstellung   der  evangelischen  Geschichte  eingewirkt  hat, 


Lehrbegriffe  der  synoptischen  ETangelien.         303 

lässt  sich  nicht  läugnen.  Es  fehlt  in  der  evangelischen  Geschichte 
nicht  an  Andeutungen  darüber,  wie  die  Wundererzählungen 
hauptsächlich  auch  aus  dem  Bedürfniss  entstanden,  die  messia- 
nische  Thätigkeit  Jesu  in  Handlungen  anzuschauen,  in  welchen 
die  geistige  Aufgabe  derselben,  wie  in  einem  bildlichen  Reflex 
sich  abspiegelte.  Sollte  der  Messias  seiner  eigentlichen  Be- 
stimmung nach  der  Heiland  der  Menschen  sein,  so  konnte  man 
sich  keine  anschauliche  Vorstellung  von  seiner  heilskräftigen 
Wirksamkeit  machen,  wenn  man  sie  nicht  auch  in  leiblichen 
Heilungen  anschaute,  die  als  Wirkungen  derselben  in  der  Thal 
nur  eine  bildliche  Anschauung  seiner  Heilsthätigkeit  im  geistigen 
Sinne  waren.  Nachdem  Matthäus  die  ersten  Krankenheilungen 
Jesu  erzählt  und  seine  Erzählung  mit  den  Worten  geschlossen 
hat:  zavTa;  tou?  xaxo);  e^ovra?  löepaireuffsv,  8,  16,  setzt  er  hin- 
zu, diess  sei  geschehen,  damit  der  Ausspruch  des  Propheten 
Jesajas  erfüllt  würde:  aÖTo?  tä?  äcOeveta;  v^picov  £>.aߣ,  xal  ra? 
v6(7ou?  ißadTacev.  Bei  Jesajas  sind  die  atrOsveiai  und  vocot  nur  in 
moralischem  Sinne  zu  nehmen,  der  Evangelist  aber  sieht  den 
Ausspruch  dadurch  erfüllt,  dass  Jesus  leibliche  Heilungen  ver- 
richtete, und  doch  wollte  auch  er  dadurch  nur  denselben  Begriff 
des  Messias  als  des  Heilands  der  Menschen  bezeichnen,  der  in  der 
Stelle  des  Propheten  liegt.  Diese  unbewusste  Umsetzung  des  Geisti- 
gen in  Leibliches  ist  der  natürliche  Process  der  traditionellen  Sage, 
die  in  ihrer  concrelen  Darslellungsweise  das  Leibliche  als  ein 
Bild  des  Geistigen  betrachtet,  aber  ebendadurch  das  Eine  an  die 
Stelle  des  Andern  setzt  und  so  den  Heiland  im  geistigen  Sinne 
in  einen  leibliche  Heilungen  verrichtenden  Wunderthäter  ver- 
wandelt. 

Einen  weiteren  Beweis  dafür,  wie  die  evangelischen  Wun- 
dererzählungcn  aus  einer  Anschauungsweise  hervorgiengen,  in 
welcher  das  Leibliche  ein  Reflex  des  Geistigen  war,  und  das 
Eine  in  das  Andere  übergieng,  gibt  die  Stelle  Matlh.  11,  2  f.,  in 
welcher  Jesus  auf  die  Frage  des  Täufers,  ob  er  der  Messius  sei, 


Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode,    ^j 

die  Antwort  gibt:  Die  Blinden  sehen,  die  Lahmen  gehen,  die 
Aussätzigen  werden  rein,  die  Tauben  hören,  die  Todten  stehen 
auf,  und  den  Armen  wird  das  Evangelium  verkündigt.  Hier  soll 
offenbar  die  messianische  Wirksamkeit  Jesu  überhaupt  geschildert 
werden,  und  es  wäre  ganz  gegen  den  Sinn  der  Stelle,  wenn 
man  die  einzelnen  Züge  derselben  von  den  verschiedenen  Arten 
der  damals  noch  nicht  einmal  in  diesem  Umfang  verrichteten 
Wunder  Jesu  verstehen  wollte.  Diess  muss  um  so  mehr  ange- 
nommen werden,  da  den  Worten  Jesu  die  Stellen  bei  Jesajas 
35,  5  f.  61,  1  f.  zu  Grunde  liegen,  in  welchen  das  Sehen  der 
Blinden,  das  Hören  der  Tauben,  das  Hüpfen  der  Lahmen,  das 
Jubeln  der  Stummen  Bild  der  Freude  über  die  Erlösung  aus-  dem 
Exil  ist.  Auf  analoge  Weise  sollte  auch  die  Zeit  der  Erscheinung 
Jesu  als  eine  Zeit  der  Erlösung  geschildert  werden,  in  welcher 
alle  Gebrechen  der  Menschheit  geheilt  werden  und  alles  zu  einer 
neuen  Lebenslhätigkeit  erwachen  sollte.  Man  denke  sich  aber 
auch,  wie  solche  bildliche  Anschauungen  in  der  traditionellen 
Sage  weiter  forlgebildet  und  in  wirkliche  Wunderhandlungen 
umgesetzt  wurden,  und  wie,  nachdem  einmal  ein  solcher  Anfang 
gemacht  war,  die  evangelische  Tradition  die  Tendenz  erhielt, 
die  messianische  Wirksamkeit  Jesu  durch  Wunder  der  verschie- 
densten Art  darzustellen  und  zu  verherrlichen.  ^*r< 
Ein  weiteres,  derselben  idealisirenden  Tendenz  der  synopti- 
schen Chrislologie  angehörendes  Moment  ist  die  Verklärungs- 
geschichte, wie  sie  die  drei  Synoptiker  einstimmig  erzählen, 
Matth.  17,  i  f.  Marc.  9,  2  f.  Luc.  9,  28  f.  Jesus  bestieg  6-8 
Tage  nach  seiner  ersten  Leidensverkündigung  mit  seinen  drei 
vertrautesten  Jüngern  einen  hohen  Berg.  Sie  sahen,  wie  mit 
Einem  Male  sein  Angesicht  und  selbst  seine  Kleider  in  überirdi- 
schem Glänze  sich  verklärten  und  zwei  Gestalten,  Moses  und 
Elias  erschienen,  sich  mit  ihm  zu  unterreden,  und  eine  himm- 
lische Stimme  aus  einer  lichten  Wolke  erklärte  Jesum  für  Gottes 
Sohn,   dem  sie  Gehör  zu  schenken  hätten.    Es  ist  unmöglich, 


Lehr-begriffe  der  synoptischen  Evangelien.         305 

diese  Erzählung  thatsächlich  zu  verstehen ,  man  kann  sie  nur  als 
einen  Mythus  nehmen,  dessen  Tendenz  nach  Strauss  die  ge- 
doppelte ist:  erstens  die  Verklärung  des  Moses  an  Jesu  in  er- 
höhter Weise  zu  wiederholen ,  und  zweitens  Jesum  als  den  Mes- 
sias mit  seinen  beiden  Vorgängern  zusammenzubringen,  durch 
diese  Erscheinung  des  Gesetzgebers  und  des  Propheten,  des 
Gründers  und  des  Reformators  der  Theokralie  Jesum  als  den 
Vollender  des  Gotlesreichs ,  als  die  Erfüllung  des  Gesetzes  und 
der  Propheten  darzustellen  und  seine  messianische  Würde  noch 
überdiess  durch  eine  Himmelsstimme  bekräftigen  zu  lassen.         r 

Nehmen  wir  alle  diese  Züge  zusammen,  so  haben  wir  in 
ihnen  die  Elemente  einer  Christologie,  welche  auf  der  Grundlage 
des  jüdischen  Messiasbegriffs  die  Person  Jesu  so  hoch  als  möglich 
zu  stellen  suchte,  ohne  die  Grenzlinien  des  Menschlichen  zu 
überschreiten  und  aus  ihm  ein  an  sich  göttliches  Wesen  zu 
machen.  Er  steht  auf  demselben  Boden  wie  Moses  und  die  Pro- 
pheten des  alten  Testaments  und  unterscheidet  sich  nur  dadurch 
von  ihnen,  dass  ihn  als  den  Vollender  der  alttestamentlichen 
Theokratie  eine  noch  höhere  Würde  umstrahlt.  Das  Höchste, 
was  von  ihm  zu  prädiciren  ist,  ist,  dass  er  der  uioc  OsoO  ist, 
aber  als  solcher  ist  er  nur  Messias  im  jüdischen  Sinne,  und  wie 
weit  diese  Christologie  noch  von  der  Idee  der  Präexistenz  ent- 
fernt ist,  zeigt  nichts  deutlicher  als  die  Sage  von  seiner  über- 
natürlichen Erzeugung.  Alles,  was  ihn  über  das  Menschliche 
erhebt,  ist  nur  auf  die  Causalität  des  seine  Erzeugung  bewirken- 
den, oder  nach  einer  andern  Vorstellung  erst  bei  der  Taufe  ihm 
mitgetheilten  Tcveuj/^t  ayiov  zurückzuführen. 

Vom  Standpunkt  der  jüdischen  Messias-Idee  aus  musste  der 
Tod  Jesu  mit  den  besondern  Umständen,  unter  welchen  er  er- 
folgte, ein  Hauptanstoss  für  den  Glauben  an  seine  messianische 
Würde  sein.  Es  fragt  sich  daher,  wie  die  diesem  Standpunkt 
am  nächsten  stehenden  Synoptiker  den  Tod  Jesu  auffassten.  Nach 
ihrer  Darstellung  der  evangelischen  Geschichte  hatte  schon  Jesus 

B»nr,  neiitest.  Theol.  *" 


306  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

für  die  Beseitigung-  jenes  Anslosses  Sorge  gelragen,  indem  er 
seine  Jünger  theils  durch  die  Vorherverkündigung  seines  Todes, 
theils  durch  die  Nachweisung  seiner  Nothwendigkeit  aus  Stellen 
des  alten  Testaments  auf  ihn  vorzubereiten  suchte.  Es  ist  diess 
jedoch,  wie  schon  früher  bemerkt  worden  ist,  einer  der  Punkte, 
bei  welchen  wir  nicht  gewiss  sein  können,  ob  nicht  Späteres 
zurückdatirt,  und  die  von  den  Jüngern  erst  nach  dem  Tode  ge- 
wonnene Ansicht  von  demselben  dem  Meister  selbst  in  der  Form 
einer  Weissagung  in  den  Mund  gelegt  worden  ist.  Wenn  auch 
Jesus  selbst  schon  Andeutungen  dieser  Art  gab,  so  legte  doch 
erst  der  als  geschehene  Thatsache  vor  Augen  stehende  Tod  die 
Frage  recht  nahe,  wie  er  mit  der  messianischen  Würde  Jesu  zu 
vereinigen  sei.  Man  sieht  es  den  auf  den  Tod  Jesu  angewandten 
Stellen  des  alten  Testaments  an,  welche  Mühe  man  sich  gab, 
diese  Frage  zu  beantworten,  und  ein  so  räthselhaftes  Schicksal 
des  Messias  für  sein  religiöses  Bewusslsein  zurechtzulegen.  In 
Stellen,  die  so  künstlich  für  diesen  Zweck  benützt  sind,  konnte 
man  erst  dann  einen  solchen  Zweck  finden,  nachdem  man  sich 
in  die  Nothwendigkeit  versetzt  sah,  über  die  vorliegende  That- 
sache sich  irgendwie  zu  verständigen.  In  diesem  Interesse 
durchforschte  man  das  ganze  alte  Testament,  um  auf  alles  zu 
achten,  was  darüber  Aufschluss  geben  zu  können  schien,  gerade 
so,  wie  Lucas  24,  25  f.  von  Jesus  erzählt,  er  habe  nach  seiner 
Auferstehung  anfangend  von  Moses  und  allen  Propheten  seinen 
.Jüngern  in  der  ganzen  Schrift  alles  ausgelegt,  was  sich  auf  ihn 
bezog,  um  zu  beweisen,  dass  der  Messias  alles  diess  leiden  und 
auf  diesem  Wege  in  seine  Herrlichkeit  eingehen  musste.  Auch 
aus  der  Apostelgeschichte  besonders  ist  zu  sehen,  wie  man  mit 
Hülfe  des  alten  Testaments  die  Nothwendigkeit  des  Todes  in 
seinem  Zusammenhang  mit  der  Auferstehung  zu  rechtfertigen  und 
sich  begreiflich  zu  machen  suchte.  Er  musste  sterben,  aber  er 
musste  auch  auferstehen,  und  weil  das  Eine  nicht  ohne  das  An- 
dere sein  kann,  gibt  sich  in  beidem  nur  eine  höhere  göttliche 


Lebrbegriffe  der  synoptischen  Evangelien,         307 

Nothwendigkeit  zu  erkennen.  Darum  ist  es  auch  schon  im  alten 
Testament  vorausgesagt  und  es  ist  alles  nur  in  Folge  eines  vor- 
ausbestimmten Ralhschlusses  geschehen.  Es  war,  sagt  Petrus 
Apg.  2, 23,  Gottes  festgesetzte  EntSchliessung  und  Vorhersehung, 
dass  Jesus  ausgeliefert  und  durch  gottlose  Hände  an's  Kreuz  ge- 
heftet wurde.  Aber  Gott  hat  ihn  auferweckl  und  die  Stricke  des 
Todes  gelöst,  weil  es  nicht  möglich  ist,  dass  er  vom  Tode  be- 
wältigt wurde.  Auf  ihn  hinweisend  sagt  David  Ps.  16,  8—11: 
»Ich  sah  den  Herrn  vor  mir,  denn  zu  meiner  Rechten  steht  er, 
ich  werde  nicht  wanken.  Darum  freute  sich  mein  Herz  und  froh- 
lockte meine  Zunge,  auch  mein  Fleisch  wird  wohnen  in  Hoffnung, 
denn  nicht  wirst  du  überlassen  meine  Seele  der  Unterwelt,  noch 
auch  wirst  du  lassen  deinen  Heiligen  Verwesung  sehen.  Du  hast 
mir  Wege  des  Lebens  kund  gethan ,  wirst  mich  mit  Freude  er- 
füllen bei  deinem  Angesicht.«  Da  nun  David  Prophet  war  und 
wusste,  dass  mit  einem  Eide  ihm  Gott  geschworen,  dass  er  aus 
der  Frucht  seiner  Lende  nach  dem  Fleische  Christum  erwecken 
werde  C2  Sam.  7,  12.  Ps.  132,  H),  um  ihn  zu  setzen  auf  seinen 
Thron,  so  hat  er  voraussehend  von  der  Auferstehung  gesagt,  er 
werde  seine  Seele  nicht  der  Unterwelt  überlassen,  noch  sein 
Fleisch  die  Verwesung  sehen  lassen.  So  wurde  nun  Christus 
auferweckt  und  zur  Rechten  Gottes  erhöht;  auf  David  selbst  aber 
kann  diess  nicht  gehen,  er  stieg  ja  nicht  in  den  Himmel,  von 
sich  selbst  kann  er  also  diess  nicht  gesagt  haben,  sondern  nur 
von  Christus.  —  Diese  Stelle  ist  auch  desswegen  bemerkenswerth, 
weil  in  ihr  schon  der  Versuch  gemacht  ist,  die  Nothwendigkeit 
der  Auferstehung  aus  der  Idee  der  Person  des  Messias  abzuleiten. 
Oüx  '/ov  ^'jvxTov  xpxTswOai  aÜTÖv  Ott  aüxoO.  Es  ist  an  sich  nicht 
möglich,  dass  der  Messias  dem  Tode  anheimfällt,  weil  er  dem 
Tode  anheimgefallen  nicht  mehr  der  Messias  wäre.  Wenn  also 
auch  der  Messias  stirbt,  so  ist  an  sich  in  ihm  der  Tod  im  Leben 
aufgehoben,  wenn  auch  nicht  in  dem  Übermenschlichen  seiner 
Natur,  doch  in  seiner  messianischen  Würde.  In  demselben  Sinne 

20* 


308  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

wird  es  3,  15  als  ein  Widerspruch  hervorgehoben,  den  apj^iaYoc 
ty}?  ^o)7i;  zu  tödten,  wesswegen  ihn  Gott  von  den  Todlen  auf- 
erweckt habe.  Zum  Begriff  des  Messias  gehört  es,  dass  er  der 
Fürst  des  Lebens  ist.  Wenn  nun  die  ^wri,  deren  apxTiyö;  er  ist, 
ein  sehr  allgemeiner  Begriff  ist,  so  liegt  doch  darin  schon  das 
Argument,  dass  der  Begriff  des  Lebens  sehr  unvollkommen  in 
ihm  aufgefasst  wäre,  wenn  er  sich  nicht  auch  im  physischen  Sinne 
an  ihm  realisirt  hätte.  Es  ist  demnach  hier  schon  der  Anfang 
gemacht,  der  Person  des  Messias  eine  absolute  Bedeutung  zu 
geben,  und  was  die  Idee  seiner  messianischen  Würde  in  sich  zu 
begreifen  schien,  als  eine  immanente  Eigenschaft  seiner  Persön- 
lichkeit aufzufassen,  oder  seine  Person  so  zu  steigern,  dass  sie 
in  der  weitern  Consequenz  ihrer  Idee  zuletzt  vom  Menschlichen 
zum  Übermenschlichen  erhoben  werden  musste. 

Wie  auf  den  Tod  die  Auferstehung  folgte,  so  auf  diese  die 
Himmelfahrt.  Sie  gehört  ganz  der  idealisirenden  Tendenz  an,  in 
welcher  die  synoptische  Christologie  sich  ausbildete  und  zuletzt 
nur  in  einem  solchen  Schlüsse  des  irdischen  Lebens  Jesu  ihren 
natürlichen  Ruhepunkt  finden  konnte.  Die  doppelte,  und  wenn 
wir  die  Apostelgeschichte  hinzunehmen,  dreifache  Form,  in 
welcher  die  Erzählung  von  der  Himmelfahrt  bei  den  synoptischen 
Schriftstellern  selbst  erscheint,  zeigt  deutlich,  wie  erst  in  der 
Anschauungsweise  der  Jünger  diese  Vorstellung  sich  bildete. 
Gerade  derjenige  Evangelist,  welcher,  wenn  er  der  Apostel 
Matthäus  ist,  selbst  Zeuge  dieser  Begebenheit  gewesen  wäre, 
sagt  nichts  von  einer  sichtbaren  Himmelfahrt.  Er  schliesst  sein 
Evangelium  mit  der  Versicherung  Jesu,  es  sei  ihm  alle  Gewalt 
im  Himmel  und  auf  Erden  gegeben ,  und  er  werde  bei  ihnen  sein 
alle  Tage  bis  an's  Ende  der  Well.  Die  Vorstellung  war  also 
wohl,  wie  sie  Strauss  richtig  angibt,  Jesus  sei  ohne  Zweifel 
schon  bei  der  Auferstehung  unsichtbar  zum  Vater  aufgestiegen, 
er  sei  aber  zugleich  unsichtbar  immer  um  die  Seinigen,  und  aus 
dieser  Verborgenheit  heraus  offenbare  er  sich,  so  oft  er  es  nöthig 


Lehrbegriffe  der  synoptischen  Evangelien.        309 

finde,  in  Christophanien,  wie  ungefähr  nach  derselben  An- 
schauungsweise der  Apostel  Paulus  1  Cor.  15  die  ihm  zu  Theil 
gewordene  Erscheinung  des  schon  in  Himmel  Erhobenen  mit  den 
früheren  ganz  in  Eine  Reihe  stellt,  so  dass  man  sich  demnach 
nur  einen  fliessenden  Unterschied  zwischen  seinem  doppelten 
Sein  auf  der  Erde  und  im  Himmel  dachte  und  aus  diesem  Grunde 
seine  Erhebung  in  den  Himmel  nicht  durch  einen  besondern  Act 
fixirte.  Die  Hauptsache  ist  die  auch  schon  in  den  Worten  Jesu 
vor  Gericht  Mallh.  26,  64  enthaltene  Vorstellung,  dass  er  nicht 
mehr  auf  der  Erde,  sondern  im  Himmel  befindlich  mit  der  all- 
mächtigen Kraft  Gottes  über  alles  walte.  Bei  Marcus  und  Lucas 
dagegen  wird  der  Übergang  von  der  Erde  zum  Himmel  als  eine 
vor  den  Augen  der  Jünger  geschehene  Thatsache  fixirt.  Nach 
Marcus  hat  sich  Jesus,  wie  es  scheint,  unmittelbar  von  dem 
Mahle,  bei  welchem  er  den  Eilfen  erschien,  zum  Himmel  er- 
hoben, und  sich  zur  Rechten  Gottes  gesetzt,  nach  Lucas  im 
Evangelium  hat  er  die  Jünger  nach  Bethanien  hinausgeführt  und 
die  Hände  aufhebend  sie  gesegnet,  und  während  er  sie  segnete, 
entfernte  er  sich  von  ihnen,  und  wurde  in  den  Himmel  entrückt. 
Wie  schon  hier  das  Successive  des  Hinschwebens  zum  Himmel 
besonders  hervorgehoben  wird,  so  gibt  Lucas  in  der  Apostelge- 
schichte 1 ,  9  noch  eine  anschaulichere  Beschreibung,  wie  er, 
während  er  den  Jüngern  seine  letzten  Aufträge  ertheilte,  vor 
ihren  Augen  in  die  Höhe  gehoben  wurde,  und  eine  Wolke  ihn 
aufnahm  und  ihn  von  ihren  Augen  hinweg  entrückte.  Der  Haupt- 
unterschied aber  zwischen  den  beiden  Darstellungen  des  Lucas 
im  Evangelium  und  in  der  Apostelgeschichte  ist,  dass,  während 
im  Evangelium,  wie  auch  bei  Marcus,  Jesus  noch  am  Tage  seiner 
Auferstehung  sich  in  Himmel  erhoben  zu  haben  scheint,  in  der 
Apostelgeschichte  seine  Himmelfahrt  erst  am  Schlüsse  der  vierzig- 
tägigen Frist  erfolgte,  die  er  noch  auf  der  Erde  weilte.  Die 
Zahl  vierzig  kommt  auch  sonst  im  alten  und  neuen  Testament 
öfters  bei  Zwischenperioden   und   mysteriösen  Mittelzuständen 


310  Zweiter  Abschu  itt.    Zweite  Periode. 

vor.  Hier  scheint  jedoch  auf  diese  Zeitbestimmung  hauptsächlich 
die  in  der  Apostelgeschichte  Epoche  machende  Scene  des  ersten 
christlichen  Pfmgstfestes  eingewirkt  zu  haben.  Nachdem  einmal 
die  Ausgiessung  des  heiligen  Geistes  auf  das  Pfingstfest  verlegt 
v\rar,  konnte  man  die  Himmelfahrt  nicht  durch  eine  zu  lange 
Zwischenzeit  von  ihr  trennen,  da  Jesus  seine  überirdische  Macht 
und  Wirksamkeit  vor  allem  durch  die  verheissene  Sendung  seines 
Geistes  beurkundet  haben  sollte.  Was  demnach  Lucas  in  dem 
Evangelium  nur  summarisch  erzählt,  wurde  erst  im  Zusammen- 
hang der  Apostelgeschichte  an  seiner  bestimmten  Stelle  in  die 
christliche  Chronologie  eingereiht,  und  wir  sehen  sowohl  hier- 
aus, als  auch  aus  den  beiden  Engeln,  durch  deren  Zeugniss 
Lucas  die  Erhebung  Jesu  in  den  Himmel  bestätigen  lässt,  wie 
allmählig  diese  Vorstellung  zu  ihrer  concreten  Gestalt  sich  aus- 
bildete. 

Das  Höchste,  was  die  synoptische  Christologie  von  Jesus 
prädicirt,  ist,  dass  ihm,  wie  es  Matth.  28,  18  heisst,  iS66Yi  izdirsx 
e^oucia  ev  oOpavö  xal  stti  y^?,  oder  dass  er  zur  Rechten  Gottes 
sitzt,  welcher  Ausdruck  die  unmittelbare  Theilnahme  an  der 
göttlichen  Macht  und  Weltregierung  bezeichnet,  dasselbe,  was 
auch  in  dem  schon  in  den  synoptischen  Evangelien  Jesu  empha- 
tisch gegebenen  Namen  xupto?  liegt.  Als  sitzend  zur  Rechten 
Gottes  wird  er  gewöhnlich  vorgestellt,  nur  Stephanus  sieht  ihn, 
Tov  uiov  ToO  avöptoTTOu,  t/.  ^sEiöv  EffTWTX  ToO  0eou.  Apg.  7,  55.  56. 
Dieses  Stehen  ist  hier  aber  wahrscheinlich  daraus  zu  erklären, 
dass  er  den  ihm  nachfolgenden  Märtyrer  empfangend  und  in  den 
Himmel  aufnehmend  gedacht  wird.  Wenn  Stephanus  in  derselben 
Anschauung  die  Herrlichkeit  Gottes  und  den  geöffneten  Himmel 
sieht,  so  kann  diess  nur  von  seiner  Aufnahme  in  den  Himmel 
verstanden  werden.  Dahin  also,  wo  er  selbst  ist,  sollen  auch 
die  kommen,  welche  in  ihrem  Leben  ihm  nachfolgen,  er  empfängt 
sie  hier,  wie  er  überhaupt  hier  zur  Rechten  Gottes  dazu  seinen 
Sitz  hat,   um  von  da  mit  seiner  Macht  auf  alles,  was  sich  auf 


I 


Lehrbegriffe  der  synoptischen  Evangelien.  311 

seine  Zwecke  auf  der  Erde  bezieht,  einzuwirken.  Daher  heissl 
er  Apg.  7,  55  f.  £<jtü>;  sx  Ssawv  toO  Osoj,  wie  MalUi.  26,  64 
xaOviaevoc  iy.  Se^töv  tyi;  Suvaasw;.  Aber  auch  dieses  sich  Setzen 
zur  Rechten  Gottes  nach  seiner  Erhebung  in  den  Himmel  ist  noch 
nicht  der  letzte,  seine  messianische  Thätigkeit  auf  der  Erde  ab- 
schliessende Act.  Er  sollte  nur  dazu  in  den  Himmel  gegangen 
sein,  um  von  ihm  wiederzukommen.  Die  beiden  Engel,  welche 
den  Jüngern  nach  der  Himmelfahrt  erschienen,  sagten  zu  ihnen: 
Dieser  Jesus,  welcher  von  euch  hinweg  in  den  Himmel  aufge- 
nommen worden  ist,  wird  so  kommen  auf  dieselbe  Weise,  wie 
ihr  ihn  zum  Himmel  gehen  sähet.   Apg.  1,  11. 

Mit  dem  Gedanken  an  die  Hinmielfahrt  verband  sich  un- 
mittelbar die  Erwartung  seiner  Parusie,  und  zwar  sollte  sein 
Kommen  vom  Himmel  nicht  blos  ein  ebenso  sichtbares  sein ,  wie 
sein  Gehen  in  den  Himmel,  sondern  auch  schon  in  der  nächsten 
Zukunft  erfolgen.  Die  Erwartung  der  Parusie,  die  uns  auch  bei 
den  synoptischen  Schriftstellern  als  der  allgemeine,  das  ganze 
Bewusstsein  der  ältesten  Christen  beherrschende  Glaube  erscheint, 
war  der  vermittelnde  Gedanke,  in  welchem  der  Gegensatz  sich 
aufhob,  in  welchem  die  jüdische  Messiasidee  zu  der  ihr  sosehr 
widerstreitenden  Katastrophe  des  Lebens  Jesu  stand.  Schien  sein 
Tod  alle  Hoffnungen  auf  immer  zerstört  zu  haben,  die  man  auf 
ihn  als  den  erschienenen  Messias  baute,  so  konnte  man  den 
Glauben  an  seine  Messianität  nur  in  dem  Gedanken  festhalten, 
dass  er  nur  dazu  vom  Tode  auferstanden  und  in  Himmel  erhoben 
worden  sei,  um  alsbald  von  da  wiederzukommen,  und  nun  erst 
bei  seiner  zweiten  Erscheinung  alles  das  zu  realisiren,  was  er 
bei  seiner  ersten  noch  un-vollendet  gelassen  hatte.  Daher  ver- 
knüpften sich  nun  mit  der  Idee  der  Parusie  alle  Hoffnungen,  die 
nach  der  jüdischen  Messiasidee  in  einem  irdischen  Reiche  des 
Messias  in  Erfüllung  gehen  sollten.  Die  Apokalypse  hat  diesen 
Hoffnungen  den  concreAesten  Ausdruck  gegeben,  aber  auch  bei 
den  synoptischen  Schriftstellern  finden  sich  Andeutungen  der- 


31S8  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

selben  Art.  Wenn  Petrus  Apg.  3,  19  f.  ermahnt,  Busse  zu  thun 
und  sich  zu  bekehren,  auf  dass  die  Sünden  ausgelöscht  werden, 
damit  Zeiten  der  Erquickung  kommen  vom  Angesicht  des  Herrn 
her,  und  er  vom  Himmel  sende  den  vorher  bestimmten  Jesus 
Christus,  welchen  der  Himmel  aufnehmen  muss  bis  zu  den  Zeiten 
der  Wiederhei:stellung  alles  dessen,  was  Gott  durch  den  Mund 
seiner  heiligen  Propheten  von  Alters  her  geredel  hat,  so  blickt 
auch  hier  in  den  /.aipol  ava^l/u^sto?  und  den  /fovoi  dcTroxaTaTTaaeo); 
deutlich  die  Idee  eines  auf  der  Erde  zu  errichtenden  messiani- 
schen  Reiches  durch.  Die  äxoy.aTa(jTa(Ti5  Travrtdv  ist  die  Wieder- 
herstellung und  Erneuerung  aller  Dinge  zu  ihrem  früheren 
vollkommeneren  Zustand,  die  man  bei  der  Zukunft  Christi  und 
schon  bei  seinem  Vorläufer  Elias  Matth.  17,  H  erwartete,  das- 
selbe, was  Matth.  19,  28  mit  dem  Ausdruck  Tzv.'kiyyz'^edoc.  be- 
zeichnet wird. 

Was  nun  die  weitere  Lehre  von  der  Parusie  Christi  bei  den 
Synoptikern  betrifft,  so  entsteht  hier  die  kritische  Frage,  was 
wir  in  den  auf  die  Parusie  sich  beziehenden  Abschnitten  der 
synoptischen  Evangelien  den  Verfassern  derselben  als  ihre  eigene 
Vorstellung  zuschreiben  dürfen.  Was  wir  bei  ihnen  über  die 
Parusie  finden,  ist  in  Reden  und  Weissagungen  Jesu  enthalten; 
welches  Recht  haben  wir  also  alles  diess  nicht  zur  Lehre  Jesu 
selbst,  sondern  nur  zum  Ideenkreise  der  Verfasser  der  synopti- 
schen Evangelien  zu  rechnen?  Es  ist  schon  bei  der  Darstellung 
der  Lehre  Jesu  gezeigt  worden,  wie  die  neueste  Kritik  die 
schwierige  Frage,  um  welche  es  sich  hier  handelt,  auf  eine  ganz 
andere  Weise  löst,  als  man  bisher  versucht  hat,  Sie  bestreitet 
die  bisher  als  unzweifelhaft  geltende' Voraussetzung,  dass  Jesus 
selbst  die  Zerstörung  Jerusalems  und  des  jüdischen  Tempels 
vorherverkündigl  habe,  mit  dem  gewichtigen  Grunde,  dass  der 
Apokalyptiker  hievon  nichts  weiss,  vielmehr  ausdrücklich  das 
gerade  Gegentheil  behauptet.  Wie  kann  also  Jesus  die  Zer- 
störung Jerusalems  geweissagt  haben,  wenn  der  Apostel  Johannes 


Lehrbegriffe  der  synoptischen  Evangelien.  313 

als  Verfasser  der  Apokalypse  zu  einer  Zeit,  in  welcher  die  Zer- 
störung Jerusalems  so  nahe  bevorstand,  versichern  konnte,  Jeru- 
salem werde  nicht  zerstört  werden?  Wir  können  daher  in  den 
angeblichen  Weissagungen  Jesu  von  der  Zerstörung  Jerusalems 
und  seiner  damit  in  Verbindung  stehenden  Parusie  nur  die  Vor- 
stellungen der  Jünger  sehen,  welche  in  der  Gewissheit  ihrer 
Erwartung  und  vielleicht  auch  aus  Anlass  von  Reden,  in  welchen 
Jesus  von  dem  einstigen  Aufhören  des  mosaischen  Tempelcullus 
gesprochen  haben  mag,  denselben  diese  Form  der  Darstellung 
gegeben  haben.  Es  kommt  nun  nur  noch  darauf  an ,  das  Ver- 
hältniss  der  beiden  auf  die  Parusie  sich  beziehenden  Hauptstellen 
Matth.  24  und  Luc.  21  durch  genauere  Erwägung  ihres  Inhalts 
richtiger  zu  bestimmen. 

Je  grösser  die  Spannung  war,  mit  welcher  die  ersten 
Christen  der  Parusie  Christi  entgegensahen,  je  zuversichtlicher 
sie  sie  schon  in  der  nächsten  Zeit  erwarteten ,  um  so  mehr  niuss 
alles,  was  in  der  damaligen  Zeitgeschichte  ein  Zeichen  der  Nähe 
des  Herrn  zu  sein  schien,  ihre  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen 
haben.  Man  kann  sich  daher  leicht  vorstellen,  welchen  Eindruck 
auf  sie,  nachdem  sie  schon  längere  Zeit  vergeblich  auf  die  Parusie 
geharrt  hatten,  die  Zerstörung  Jerusalems  und  des  jüdischen 
Tempels  machen  mussle,  eine  Begebenheit,  die  an  sich  eine  grosse 
geschichtliche  Bedeutung  hatte,  und  nach  verschiedenen  Bezie- 
hungen in  einen  so  nahen  Zusammenhang  mit  dem  Christenthum 
gesetzt  werden  musste.  Wie  konnten  sie  sie  anders  als  mit  dem 
Gedanken  an  die  Parusie  Christi  betrachten?  Hier  wenn  irgend- 
wo mussten  die  Weissagungen  Jesu  in  Erfüllung  zu  gehen  schei- 
nen, die  ohne  Zweifel  schon  damals  in  einer  ähnlichen  Form, 
wie  bei  Matthäus  und  Lucas,  im  Umlauf  waren.  Die  beiden,  die 
Parusie  betreffenden  Abschnitte  bei  Matthäus  und  Lucas  enthalten 
daher  auch  die  deutlichsten  Hinweisungen  auf  die  Zerstörung 
Jerusalems.  Wahrlich  ich  sage  euch,  sagt  Jesus  Matth.  24,  2, 
es  wird  kein  Stein  auf  dem  andern  gelassen  werden,  der  nicht 


St4  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Per  i  ode. 

zerstört  werden  wird.  Noch  bestimmlere  Züge  enthält  die  Schil- 
derung des  Lucas,  wenn  hier  V.  20  von  den  Heeren  die  Rede  ist, 
die  Jerusalem  umgeben  werden,  darauf  werde  seine  Verödung 
folgen,  sie  werden  durch  die  Schärfe  des  Schwerdls  fallen,  und 
gefangen  in  alle  Völker  hinweggeführt  werden,  und  Jerusalem 
werde  von  den  Heiden  zertreten  werden,  bis  die  Zeiten  der 
Heiden  erfüllt  sein  werden.  Diess  bezieht  sich  so  genau  auf 
die  Zerstörung  Jerusalems  durch  die  Römer,  dass,  besonders 
wenn  wir  auch  noch  die  gleichlautende  Stelle  19,  43  f.  hinzu- 
nehmen, nicht  wohl  bezweifelt  werden  kann,  der  Verfasser  des 
Evangeliums  habe  bei  diesen  Stellen  die  Zerstörung  Jerusalems 
als  schon  geschehene  Thalsache  vor  sich  gehabt.  Dabei  dringt 
sich  nun  aber  sogleich  die  Frage  auf,  wie  gleichwohl  mit  dieser 
Begebenheit  die  Idee  der  Parusie  in  Verbindung  gesetzt  werden 
konnte.  W^ar  Jerusalem  schon  damals  zerstört,  so  wusste  man 
ja  auch,  dass  die  Parusie  auch  jetzt  nicht  erfolgt  war.  Es  liegt 
ein  Hauptmoment  in  den  Worten  aj^t  TrT.rptoGcücri  )caipoi  cOvöv 
21,24.  Jerusalem  ist  zwar  zerstört,  ohne  dass  die  Parusie  schon 
erfolgt  ist,  aber  es  muss  auch  die  Periode  ihren  Verlauf  nehmen, 
die  mit  diesen  Worten  bezeichnet  ist.  Es  muss  also  Jerusalem 
eine  bestimmte  Zeit  unter  der  Herrschaft  und  dem  Drucke  der 
Heiden  sein,  und  es  werden  Zeichen  an  Sonne,  Mond  und  Sternen 
geschehen  und  die  V.  25  geschilderte  Zeit  der  Noth  wird  ein- 
treten, und  erst  dann,  wenn  alles  diess  geschehen  ist,  wird  man 
V.  27  des  Menschen  Sohn  kommen  sehen  in  einer  Wolke  mit 
grosser  Kraft  und  Herrlichkeit.  Aber  Lucas  datirl  die  Parusie 
doch  wieder  zurück  auf  den  Zeitpunkt  der  Zerstörung  Jerusalems. 
Denn  er  sieht  schon  den  Anfang  von  allem  diesem,  die  ganze  mit 
der  Zerstörung  Jerusalems  beginnende  Reihe  als  die  Periode  an, 
in  welcher  die  ßacriXsta  toQ  6soO  in  der  Nähe  ist.  Schon  dieses 
iffx);  ä-TTiv  vi  ßadiXsia  toO  öeou  V.  31  ist  ein  ideelles  Kommen, 
und  wie  Lucas  von  der  ßaTiXeix  xoO  ÖsoO  nicht  als  von  einer 
schon  gekommenen ,  sondern  als  von  einer  erst  kommenden  zu 


Lehrbegrfffe  der  synoptischen  Evangelien.         315 

sprechen  pflegt,  so  kann  er  auch  V.  27  bei  dem  Kommen  des 
Menschensohns  nur  an  eine  mächtige  Einwirkung  zur  Herbei- 
führung der  ßacriXeia  toO  öeou  gedacht  haben.  Die  Zerstörung 
Jerusalems  war  ihm  der  Zeilpunkt  des  Anbruchs  der  ßarriXsia  toO 
6eou,  weil  er  in  dem  Judenthum  nur  eine  feindliche  Macht  er- 
blickte, deren  Zerstörung  der  ^xaikzix  toO  ösoO  in  seinem  uni- 
versellen Sinne  eine  neue  freiere  Sphäre  eröffnete.  Diess  wäre 
also  auch  die  (i7roX'jTpco(Jt;,  zu  welcher  die  Jünger  ihre  Häupter 
erheben  sollen,  nicht  die  Erlösung  aus  der  jetzigen  Welt  über- 
haupt, sondern  aus  dem  Druck  der  Verhältnisse,  welche  die  Folge 
der  noch  bestehenden  Macht  des  Judenthums  waren.  Wie  man 
nun  aber  auch  die  Stelle  exegetisch  nehmen  mag,  ausser  Zweifel 
ist  in  jedem  Fall  die  Bestimmtheit,  mit  welcher  sowohl  von  der 
Parusie  als  von  der  Zerstörung  Jerusalems  die  Rede  ist.  Setzt 
nun  diese  Bestimmtheit  in  Beziehung  auf  Jerusalem  voraus,  dass 
es  damals,  als  das  Evangelium  geschrieben  wurde,  schon  zerstört 
war,  so  bleibt  nur  die  Annahme  übrig,  dass  der  Verfasser  die 
Parusie  in  einem  blos  ideellen  Sinne  nahm,  oder  sie  erst  nach 
.der  Zwischenperiode  erwartete,  in  welcher  Jerusalem  in  der 
Macht  der  heidnischen  Völker  sein  sollte.  Schon  hier  sehen  wir 
demnach  die  beiden  anfangs  unmittelbar  zusammengedachten  Er- 
eignisse von  einander  getrennt,  die  Zerstörung  Jerusalems  und 
die  Parusie. 

Noch  weiter  wird  diese  Trennung  Matth.  24.  Es  ist  auch 
hier  von  der  Zerstörung  Jerusalems  die  Rede,  aber  nur  V.  2; 
sie  ist  daher  nur  der  Ausgangspunkt  für  die  Reihe  der  Zeichen, 
an  welchen  die  Parusie  und  die  mit  ihr  erfolgende  'TuvT£>.sia  tou 
aiövo;  erkannt  werden  soll.  Die  gewöhnliche  Erklärung,  nach 
welcher  die  hier  geschilderte  Hauptbegebenheit  die  Zerstörung 
Jerusalems  sein  soll,  lässt  sich  nicht  rechtfertigen,  und  sie  stösst 
besonders  bei  V.  29  auf  unumstössliche  Schwierigkeiten.  Ver- 
gleicht man  die  beiden  Darstellungen  bei  Matthäus  und  Lucas,  so 
muss  sogleich  in  die  Augen  fallen,  in  wie  vielen  Zügen  sie  un- 


3tH6  Zweiter  A.bsclinitt.     Zweite  Periode. 

geachtet  ihrer  Differenz  übereinstimmen.  Es  lässt  sich  diess 
wohl  nur  daraus  erklären ,  dass  auf  einer  gemeinsamen  Grund- 
lage beide,  Matthäus  und  Lucas  auf  verschiedene  Weise  fort- 
bauten. Ohne  Zweifel  gab  es  schon  früh  eine  Jesu  in  den  Mund 
gelegte  Weissagung  seiner  Parusie.  Sie  enthielt  die  bei  Matthäus 
und  Lucas  gleichlautenden  Züge  Matth.  24,  4  —  14.  Luc.  21, 
8—19.  Es  sind  solche  Züge,  wie  sie  schon  bei  den  Juden  zum 
Bild  der  messianischen  Periode  gehörten,  auch  sieht  man  in 
ihnen  deutlich  theils  Beziehungen  auf  die  damalige  Zeitgeschichte, 
wohin  namentlich  auch  gehört  V.  5  TzoXkol  ilzuGO-^rxi  u.  s.  w.  vgl. 
Apg.  5,  35,  theils  Vertröstungen  wegen  des  Verzugs  der  Parusie, 
wie  V.  6  oÜTttd  iijxi  tö  ts>;oc  und  V.  14.  Erst  dann  sollte  das 
Ende  kommen,  wenn  das  Evangelium  allen  Völkern  verkündigt 
wäre.  Diess  sagte  man  sich,  als  die  Parusie  schon  länger,  als 
man  anfangs  glaubte,  auf  sich  warten  liess.  Zu  diesen  ursprüng- 
lichen Elementen  der  Weissagung  der  Parusie  gehörten  ohne 
Zweifel  auch  die  in  beiden  Stellen  gleichlautenden  Ermahnungen 
Matth.  V.  16  f.  Luc.  V.  21  f.  So  weit  gehen  beide  Evangelisten 
zusammen,  nun  aber  muss  man  sich  die  Differenz  daraus  er- 
klären, dass  die  ursprüngliche  Form  der  Weissagung  nach  dem 
Eintritt  Epoche  machender  Zeitereignisse  sich  modificirte.  Klar 
ist  in  dieser  Beziehung  bei  Lucas ,  wie  er  die  Zerstörung  Jeru- 
salems unter  Titus  als  den  Punkt  fixirt,  von  welchem  der  eigent- 
liche Anfang  der  Parusie  und  der  sie  begleitenden  Ereignisse  zu 
datiren  ist.  Warum  geschieht  nun  aber  diess  nicht  auf  dieselbe 
Weise  auch  bei  Matthäus?  Gerade  an  derselben  Stelle,  wo  Lucas 
auf  die  Zerstörung  Jerusalems  übergeht,  spricht  Matthäus  V.  1 5  von 
dem  ßSiXuyjjLa  tvi;  epyijy-wdEw;  nach  Daniel.  Unter  diesem  ßSsXuyfxa 
epyi[j,(o(Tsto;  dasselbe  zu  verstehen,  wovon  Lucas  spricht,  das 
Jerusalem  belagernde  römische  Kriegsheer,  oder  den  Ver- 
wüstungsgräuel  überhaupt,  ist  rein  willkürlich  und  dein  Ausdruck 
nicht  gemäss,  da  ecrro;  dazu  nicht  passt  und  unter  dem  totto; 
ayio;  speciell  der  Tempel  zu  verstehen  ist.    Daniel  meint  unter 


Lehrbegriffe  der  synoptischen  Evangelien.        317 

dem  ß^eXuyu-a  £pYiu.w<T2o>;  die  von  Antiochus  Epiphanes  befohlene 
Aufstellung  seines  Bildnisses  im  Tempel  zu  Jerusalem.  Diese 
grösste  Entweihung  des  Heiligthums  könnte  nicht  besser  be- 
zeichnet sein  als  durch  diese  Worte.  Da  nun,  wie  Die  Cassius 
und  Hieronymus  melden,  dasselbe  unter  Hadrian  geschah,  welcher 
das  Standbild  des  capitolinischen  Jupiters  an  derselben  Stätte 
aufstellen  liess,  wo  sonst  der  wahre  Gott  verehrt  wurde,  was  ist 
natürlicher,  als  die  Annahme,  dass  die  Stelle  des  Matthäus  eben- 
darauf zu  beziehen  ist?  Man  vgl.  die  weitere  Ausführung  in  den 
Kritischen  Untersuchungen  über  die  kanonischen  Evangelien 
S.  607  f.  Nehmen  wir  an,  der  Verfasser  des  Evangeliums,  durch 
welchen  diese  Weissagung  von  der  Parusie  ihre  jetzige  Form 
erhielt,  habe  während  des  grossen  Aufstandes  der  Juden  unter 
Hadrian  diese  Stelle  geschrieben,  so  sah  er  in  dem  ^^ilrj-^ixa. 
ttJ;  sorpt-cüfTSto;,  wie  es  damals  erfolgte,  das  eigentliche  Signal 
der  bevorstehenden  Katastrophe,  des  Anbruchs  der  6Xt'];i;  ^&yxkn 
V.  21,  auf  welche  sodann  unmittelbar  die  Parusie  folgen  sollte. 
Bei  dieser  Erklärung  treffen  nicht  nur  die  einzelnen  Züge,  wie 
namentlich  die  leuSo/jjKJTO'.  und  •j/sj^oxpo'prlTxt  V.24,  weit  besser 
zu  als  bei  der  gewöhnlichen,  sondern  es  erhält  besonders  auch 
jenes  eüOeo);  Y.  29,  das  den  Interpreten  immer  am  meisten 
Schwierigkeiten  gemacht  hat,  seinen  befriedigenden  Sinn.  Die 
einzige  Einwendung,  die  man  dagegen  machen  kann,  es  passe 
dazu  die  Bestimmung  Y.  34  nicht,  es  solle  alles  diess  innerhalb 
der  ysvea  aj-rr,  geschehen ,  ist  durch  die  gegebene  Nachweisung 
hinlänglich  widerlegt,  dass  der  Ausdruck  Ysvea  keineswegs  blos 
ein  Menschenalter  von  etwa  dreissig  Jahren  bezeichnet,  sondern 
einen  weit  grössern  Zeitraum,  sogar  mehr  als  ein  Jahrhundert 
umfasst.  Steht  nun  durchaus  nichts  der  Annahme  entgegen,  die 
letzte  Redaction  des  Evangeliums  Matthäus,  wie  sie  sich  wenig- 
stens in  dieser  Stelle  zu  erkennen  gibt,  falle  erst  in  die  Jahre 
130 — 134,  so  dient  uns  die  Weissagung  in  der  Form  bei  Mat- 
thäus nur  um  so  mehr  dazu,  an  ihr  die  verschiedenen  Modifi- 


•$18  Zw  eiter  Abschnitt.     Zweite  Period«. 

cationen,  die  der  Glaube  an  die  Parusie  erhielt,  zu  verfolgen. 
Dass  sie  noch  innerhalb  der  damals  lebenden  Generation  erfolgen 
werde,  war  die  ursprüngliche  Erwartung.  In  steten  GedankeQ 
an  sie  sah  man  jedem  bedeutungsvollen  und  erschütternden  Zeit- 
ereigniss  mit  der  gespanntesten  Zuversicht  entgegen ,-  sie  werde 
jetzt  endlich  um  so  gewisser  erfolgen,  je  länger  man  schon  ver- 
geblich auf  sie  gewartet  hatte.  Nachdem  die  Zerstörung  Jerusa- 
lems diese  Folge  nicht  gehabt  hatte,  war  der  zweite  jüdische 
Krieg,  der  grosse  Aufstand  der  Juden  unter  Hadrian  eine  Epoche 
von  gleich  wichtiger  Bedeutung.  Auch  jetzt  noch  war  die  Gene- 
ration, welche  die  Parusie  erleben  sollte,  nicht  ganz  ausgestorben, 
auch  jetzt  noch  konnte  die  Verheissung  in  ihrem  ursprünglichen 
Sinne  in  Erfüllung  gehen,  und  je  grösser  damals  die  Verwirrung 
in  Judäa  war,  um  so  deutlicher  sah  man  die  Symptome  der  kom- 
menden Katastrophe  vor  sich.  Dieser  Eindruck  der  damaligen 
Zeitereignisse  spricht  sich  in  der  Form,  welche  die  Weissagung 
bei  Matthäus  hat,  aus.  Dem  Matthäus  folgt  hier  sehr  genau 
Marcus.  Auch  er  hat  die  Zeitbestimmung  der  ysvea  aOnr),  be- 
gnügt sich  aber  nicht,  blos  von  den  Engeln  zu  sagen,  dass  sie 
Tag  und  Stunde  der  Parusie  nicht  wissen,  sondern  spricht  dieses 
Wissen  sogar  dem  Sohn  ab.  13,  32.  Es  liegt  darin  eine  ge- 
ringere Vorstellung  von  der  Würde  des  Sohns,  wie  ja  auch  die 
Arianer  diese  Stelle  besonders  benützt  haben,  bei  Marcus  aber 
ist  diess  nicht  so  streng  zu  nehmen,  er  hat  auch  hier  nur  die 
Worte  des  Matthäus  nach  seiner  Weise  explicirt.  Wenn  Matthäus 
24, 36  sagt,  niemand  wisse  Tag  und  Stunde,  ei  (xti  6  izxirri^  {xovo;, 
so  kann  sie  ja  auch  der  Sohn  nicht  wissen.  Auch  das  ist  eine 
bemerkenswerthe  Abweichung  von  Matthäus,  dass  er  zwar  bitten 
heisst  V.  18,  die  Flucht  möchte  nicht  im  Winter  geschehen,  da- 
gegen das  jjLviSe  cv  crxß^aTo)  des  Matthäus  weglässt.  Bei  Lucas  fehlt 
diess  mit  der  ganzen  Ermahnung,  bei  Matthäus  aber  ist  sie  ein 
augenscheinliches  Merkmal  des  judaistischen  Ursprungs  dieser 
Form  der  Weissagung  und  zwar  ohne  Zweifel  in  Judaa  selbst. 


Lehrbegriffe  der  synoptischen  Evangelien.         319 

Bei  Matthäus  und  Marcus  hat  der  ursprüngliche  Glaube,  dass 
die  Parusie  noch  in  der  ys'^sa  ^^'^  erfolgen  werde,  schon  seine 
höchste  Probe  bestanden.  Die  Äusserungen  der  übrigen  neutesta- 
mentlichen  Schriftsteller  derselben  Periode  lauten,  wenn  sie  auch 
die  Nähe  der  Parusie  verkündigen,  allgemein  und  unbestimmt.  Der 
Glaube  an  die  Parusie  musste  um  so  schwächer  werden,  je  weiter 
man  allmählig  über  den  Zeitpunkt  hinwegkam,  innerhalb  dessen  sie 
erfolgen  sollte.  Wie  man  aber  zuletzt,  nachdem  auch  der  äusserste 
Zeitpunkt  vorüber  war,  und  die  völlige  Erfolglosigkeit  aller  Er- 
wartungen der  Parusie  so  offen  am  Tage  lag,  dass  sie  kaum 
mehr  bezweifelt  werden  konnte,  diese  falsche  Hoffnung  mit  sei-» 
nem  christlichen  Bewusstsein  zu  vereinigen  suchte,  darüber  gibt 
uns  die  Stelle  2  Pelri  3,  1  f.  den  deutlichsten  Aufschluss.  Er 
ermahnt  zu  gedenken  der  von  den  heiligen  Propheten  vorherge- 
sagten Worte  und  des  von  den  Aposteln  verkündigten  Gebots  des 
Herrn  und  Heilands  (in  Betreff  der  Zukunft  Christi),  indem  sie 
vor  allem  erkennen,  dass  kommen  werden  in  den  letzten  Tagen 
Spötter,  die  nach  ihren  eigenen  Lüsten  wandeln  und  sagen,  wo 
ist  die  Verheissung  seiner  Parusie?  seitdem  die  Väter  entschlafen 
sind,  bleibt  alles  so,  wie  es  vom  Anfang  der  Schöpfung  an  war. 
Der  Brief  versetzt  uns  in  eine  Zeit,  in  welcher  es  mit  dem  Glau- 
ben an  die  Parusie  so  weit  gekommen  war,  dass  man  über  ihn 
spotten  konnte.  Wenn  auch  der  Verfasser  des  Briefs  diese 
Spötter  zu  widerlegen  sucht,  so  kann  er  doch  den  Gegenstand 
ihres  Spottes  nicht  in  Abrede  ziehen,  er  wagt  es  nicht,  den 
Glauben  an  die  Parusie  in  seinem  alten  Sinne  festzuhalten  und 
seine  Widerlegung  hat  nur  den  Zweck,  ihn  in  die  Anerkennung 
der  allgemeineren  Wahrheit,  die  ihm  zu  Grunde  liegt,  hinüber- 
zuleiten. Sie  wissen  nicht,  sagt  er,  dass  ehedem  ein  Himmel 
und  eine  Erde  war,  welche  aus  Wasser  und  durch  Wasser  ent- 
standen waren  durch  Gottes  Wort,  von  ihnen  aus  gieng  die 
damalige  Welt  von  Wasser  überfluthet  unter.  Der  jetzige  Himmel 
aber  und  die  jetzige  Erde  sind  durch  dasselbe  Wort  aufgespart, 


3)i0  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

indem  sie  für  das  FeuCT  aufbewahrt  werden  für  den  Tag  des 
Gerichts  und  des  Untergangs  der  gottlosen  Menschen.  Der  Sinn 
dieser  Stelle  kann  nur  sein :  So  gewiss  das  subslanzielle  Element 
der  allen  Welt  das  Wasser  war,  durch  das  sie  in  der  Sündfluth 
untergieng,  so  gewiss  ist  das  Element  der  jetzigen  Welt  das 
Feuer,  das  am  Tage  des  Gerichts  zerstörend  und  strafend  aus- 
brechen wird.  Wenn  also  auch  der  Glaube  an  eine  Parusie  nicht 
aufrecht  erhalten  werden  kann,  so  bleibt  doch  Gericht  und  Welt- 
untergang als  feste  Wahrheit  stehen.  In  Beziehung  auf  die  Parusie 
selbst  aber  setzt  er  hinzu:  Das  Eine  soll  ihnen  nicht  verborgen 
sein,  dass  Ein  Tag  vor  dem  Herrn  ist,  wie  tausend  Jahre,  und 
tausend  Jahre,  wie  Ein  Tag.  Nicht  verspätet  sich  der  Herr  mit 
der  Verheissung,  wie  Einige  es  für  Verspätung  halten,  sondern 
ist  langmüthig  gegen  uns,  weil  er  nicht  will,  dass  Einige  unter- 
gehen, sondern  dass  alle  zur  Busse  schreiten.  Kommen  aber 
wird  der  Tag  des  Herrn  wie  ein  Dieb,  an  welchem  der  Himmel 
mit  Krachen  vergehen  wird,  die  Elemente  aber  werden  in  Flam- 
men gesetzt  und  aufgelöst  werden.  Wenn  also  auch  das  einstige 
Kommen  des  Herrn  keinem  Zweifel  unterliegt,  ja  sogar,  wegen 
der  Ungewissheit  seines  Zeitpunkts,  jeden  Augenblick  zu  erwarten 
ist,  so  ist  doch  der  Glaube  an  die  Parusie  allen  Zeitkategorien 
entrückt.  Sind  tausend  Jahre  wie  ein  Tag  und  ein  Tag  wie 
tausend  Jahre,  so  können  noch  Jahrtausende  vergehen,  bis  der 
Herr  erscheint,  und  man  kann  es  dem  allgemeinen  geschichtlichen 
Weltlauf  ruhig  überlassen,  ob  es  früher  oder  später  geschieht. 
Das  Bewusstsein  des  Christen  hat  nun  erst  den  ekstatischen 
Charakter  verloren,  welchen  es  durch  den  Glauben  an  die  Pa- 
rusie hatte.  Man  denke  sich,  wie  gespannt  und  aufgeregt  die 
Stimmung  der  Christen  sein  musste,  solange  sie  schon  in  der 
nächsten  Zeit  die  Parusie  Christi  erwarteten,  und  mit  ihr  das 
Ende  aller  Dinge.  Sie  hatten,  während  alles  um  sie  her  seinen 
gewohnten  Gang  fortgieng,  mit  der  Gegenwart  völlig  gebrochen 
und  standen  in  dem  Gedanken,  dass  Jeden  Augenblick  alles  zu 


Lehrbegriffe  der  synoptischen  Evangelien.         381 

Ende  gehe,  zwischen  Sein  und  Nichtsein  auf  der  Grenzscheide 
zwischen  der  jetzigen  und  der  künftigen  Welt.  Welche  ganz 
andere  Weltansicht  war  es  dagegen,  sobald  man  auf  den  Glauben 
an  die  Parusie  verzichtete  und  sich  damit  zufrieden  gab,  dass 
Christus  wenn  auch  nicht  jetzt,  doch  künftig  einmal  am  Ende  der 
Welt  wiederkommen  werde.  Verfolgen  wir  so  den  Glauben  an 
die  Parusie  von  seiner  höchsten  Anspannung,  die  er  in  der  Apo- 
kalypse und  auf  der  äussersten  Spitze  der  ysvea  aur/;  bei  Matthäus 
hat,  bis  zu  seiner  völligen  Erschlaffung  in  dem  zweiten  petrini- 
schen Brief,  so  haben  wir  hier  einen  phänomenologischen  Process 
vor  uns,  in  welchem  durch  fortgehende  Negation  aller  einzelnen 
Momente  zuletzt  nur  die  allgemeine  abstracte  Wahrheit  bleibt. 

Die  Christologie  ist  der  Hauplbestandtheil  des  synoptischen 
Lehrbegriffs.  Nächst  der  Lehre  von  Christus  hat  die  Lehre  vom 
heiligen  Geist  noch  besondere  Bedeutung.  Die  Hauptquelle  ist 
jedoch  dafür  die  Apostelgeschichte. 

Wie  das  Princip,  durch  welches  Jesus  seine  Befähigung 
zum  Messias  erhielt,  das  TrveOaa  ayiov  ist,  so  ist  es  derselbe 
Geist,  dessen  Wirksamkeit  die  Fortsetzung  des  von  Jesu  begon- 
nenen Werks,  die  Realisirung  alles  dessen,  was  zum  messiani- 
schen  Reich  gehört,  bedingt.  Im  Evangelium  Matthäi  verheisst 
Jesus  schon  bei  der  K.  10  erzählten  Aussendung  seinen  Jüngern, 
sie  dürfen,  wenn  sie  sich  zu  verantworten  haben,  nicht  dafür 
sorgen,  was  sie  reden  sollen,  es  werde  ihnen  zur  Stunde  ge- 
geben werden,  denn  nicht  sie  seien  die  Redenden,  sondern  der 
Geist  ihres  Vaters  sei  es,  der  in  ihnen  rede.  Lucas  schliesst  sein 
Evangelium  mit  dem  Befehl  Jesu  an  die  Jünger,  das  Evangelium 
zu  verkündigen,  und  mit  der  Verheissung,  dass  er  ihnen  die 
Verheissung  seines  Vaters  senden  werde,  sie  sollen  in  Jerusalem 
sitzen  bleiben,  bis  sie  angethan  werden  mit  der  Kraft  von  oben. 
Die  Apostelgeschichte  lässt  Jesum  gleichfalls  diese  Verheissung 
geben  unmittelbar  vor  der  Himmelfahrt.  Johannes  habe  mit 
Wasser  getauft,  sie  werden  mit  dem  heiligen  Geist  getauft  wer- 

B  a  u  r ,  ueutest    Tlieol.  ä  1 


3^2  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

den  und  empfangen  die  Kraft  des  auf  sie  kommenden  heiligen 
Geistes,  und  werden  seine  Zeugen  sein  in  Jerusalem,  in  ganz 
Judäa  und  Samaria  und  bis  an  die  Enden  der  Erde. 

In  Erfüllung  gieng  diese  Verheissung  am  ersten  christlichen 
Pfingstfest,  an  welchem,  wie  Apg.  K.  2  erzählt  wird,  der  heilige 
Geist  in  der  Gestalt  von  feurigen  Zungen  auf  die  Jünger  herab- 
kam. Alle  wurden  mit  dem  heiligen  Geist  erfüllt  und  fiengen  an 
zu  reden  mit  andern  Zungen,  wie  der  Geist  ihnen  gab,  sich  aus- 
zusprechen. Es  darf  hier  als  erwiesen  vorausgesetzt  werden, 
dass  diese  Erzählung  eine  rein  mythische  Darstellung  ist.  Es 
fand  nicht  nur  ein  solches  Reden  in  den  verschiedensten  Sprachen 
der  Welt  nicht  in  der  Wirklichkeit  statt,  sondern  es  kann  sogar 
nicht  einmal  angenommen  werden,  dass  die  Miltheilung  des 
Geistes,  von  welcher  hier  die  Rede  ist,  an  einem  bestimmten 
Zeitpunkt  erfolgte.  Dass  sie  am  ersten  Pfingstfest  geschehen 
sein  soll,  hängt  ja  mit  der  Himmelfahrt  und  der  Fixirung  der- 
selben auf  den  vierzigsten  Tag  nach  der  Auferstehung  zusammen, 
womit  kein  historischer  Anhaltspunkt  gegeben  ist.  Abstrahiren 
wir  daher  von  allem,  was  zur  blossen  Form  der  Darstellung  ge- 
rechnet werden  muss,  so  bleibt  uns  als  der  eigentliche  Kern  der 
Sache  nur  die  den  Jüngern  und  ersten  Christen  zu  einer  That- 
sache  ihres  Bewusslseins  gewordene  Überzeugung,  dass  derselbe 
Geist,  durch  welchen  Jesus  zum  Messias  befähigt  worden  ist, 
auch  ihnen  mitgelheilt  sei,  und  das  specifische,  das  christliche 
Bewusstsein  bestimmende  Princip  ihrer  Gemeinschaft  sei.  Eine 
christliche  Gemeinde  gibt  es  erst  seit  der  Ausgiessung  des  Geistes. 
Da  der  Christ  das,  was  er  ist,  nicht  für  sich  ist,  sondern  in  Ge- 
meinschaft mit  Andern,  so  kann  das  eigenthümliche  Princip  des 
Christenlhums  nur  in  der  Gemeinschaft  im  Ganzen  und  in  dem 
Einzelnen  nur,  sofern  er  ein  Glied  derselben  ist,  sich  kund  geben. 
Die  christliche  Gemeinde  ist  die  Sphäre,  in  welcher  der  heilige 
Geist  in  der  ganzen  Fülle  seiner  Wirkungen  sich  ofTenbarl,  daher 
ist  jetzt  der  Zeilpunkt  gekommen,  in  welchem  die  alle  Weis- 


Lehrbeg^riffe  der  synopt.  Evang.  n.  Apostelgesch.     393^ 

sagung  des  Propheten  Joel  von  der  Ausgiessung  des  Geistes  über 
alles  Fleisch  in  Erfüllung  geht.  Es  gilt  daher  auch  die  Bedeutung 
der  Pfingstbegebenheit  keineswegs  blos  den  Aposteln,  sondern 
die  Mittheilung  des  Geistes  ist  eine  allgemeine.  Jeder  Einzelne 
kann  nur  dadurch  ein  Glied  der  messianischen  Gemeinschaft 
werden,  dass  ihm  der  Geist  mitgetheilt  wird.  Wie  Christus  selbst 
als  der  mit  dem  heiligen  Geist  Gesalbte  der  äyio;  ist,  so  sind 
auch  die  Christen  in  diesem  bestimmten  Sinne  die  ayioi.  Mit  dem 
ersten  Eintritt  in  die  christliche  Gemeinschaft  empfängt  man  auch 
den  heiligen  Geist.  Daher  wird  die  Mittheilung  desselben  schon 
Apg.  2,  38  mit  der  Taufe  in  Verbindung  gesetzt.  Die  mit  dem 
Bekenntniss  der  [^.sTavoia  zur  Vergebung  der  Sünden  vollzogene 
Taufe  ist  der  feierliche  Moment  der  Mittheilung  des  heiligen 
Geistes.  Ertheilt  wird  die  Taufe  zunächst  auf  den  Namen  Jesu 
Christi,  Apg.  2,  38,  wie  diess  in  der  Apostelgeschichte  die  ge- 
wöhnliche Formel  ist,  da  das  christliche  Bekenntniss  vor  allem 
wesentlich  in  der  Anerkennung  Jesu  als  des  erschienenen  Mes- 
sias besteht,  aber  schon  Matth.  28,  19  flnden  wir  die  vollständi- 
gere, Jesu  selbst  beigelegte  Formel,  nach  welcher  auf  den 
Namen  des  Vaters,  des  Sohnes  und  des  heiligen  Geistes  getauft 
werden  soll.  Diese  Trias  ergab  sich  von  selbst,  sobald  man  den 
heiligen  Geist  als  das  eigentliche  Princip  der  christlichen  Gemein- 
schaft betrachtete.  Der  auf  Christus  Getaufte  empfieng  ja  den 
heiligen  Geist  und  der  heilige  Geist  war  in  Folge  der  Verheissung 
des  Vaters  gekommen.  Auch  der  Name  des  Vaters  wurde  daher 
in  die  Formel  aufgenommen,  und  an  den  Namen  des  Vaters  schloss 
sich,  da  die  Taufe  auf  Christus  geschah,  von  selbst  der  Name 
des  Sohnes  an.  Ist  der  Geist  mitgetheilt,  so  muss  er  als  lebendig 
wirkendes  Princip  sich  auch  äussern  oder  aussprechen.  Aus 
dieser  einfachen  Reflexion ,  dass  es  zum  Wesen  des  Geistes  ge- 
hört, sich  in  Worten  und  in  verständlicher  Rede  zu  äussern, 
gieng  die  Erzählung  Apg.  K.  2  hervor,  und  zwar  musste  der 
Geist  in  dem  ersten  Moment  seiner  Mittheilung,  wo  er  gleichsam 

21  * 


324  Zweiter  Abschnitt.      Zweite  Periode. 

in  Masse  an  so  Viele  ertheilt  wurde,  auch  in  seiner  vollen  Energie 
als  kräftigstes  Organ  der  Rede  sich  vernehmen  lassen.  Daher 
erschienen  nicht  nur  feurige  Zungen ,  als  Symbole  des  sich  aus- 
sprechenden Geistes,  die  sich  an  die  Einzelnen  vertheilten,  son- 
dern es  wurden  auch  die  mit  dem  Geiste  Begabten  befähigt,  exspat; 
Y>.fa)T<jat5  XxXetv ,  wie  ja  damals  alle  mögliche  Sprachen  der  Welt 
vernommen  worden  sein  sollen.  Man  dachte  sich  also  den  den 
Glaubigen  als  Princip  einer  neuen  Form  des  Bewusstseins  mit- 
getheillen  und  in  ihnen  sich  aussprechenden  Geist  gleichsam  mit 
einem  besonderen  Organ  der  Rede.  Soll  der  Geist  auf  die  ihm 
adäquate  Weise  sich  aussprechen ,  so  muss  er  auch  ein  eigenes 
Organ  der  Rede  sich  schaffen.  Die  erspai  Y>.c5<7(Tai  sind  daher  als 
Geisteszungen  andere  als  die  gewöhnlichen  menschlichen  Zungen, 
oder  neue  Zungen,  >tatvai  "^X&caxi,  wie  sie  auch  genannt  werden. 
Man  vgl.  Marc.  16, 17,  wo  Jesus  selbst  in  seinen  Abschiedsworten 
an  die  Jünger,  unter  den  cf^tjxix^  welche  den  Glaubigen  folgen 
werden,  als  einen  sie  auszeichnenden  Vorzug  besonders  auch 
diess  hervorhebt,  dass  sie  yXcoadat?  "koikiiaouai  xaivaic.  Wenn 
auch  blos  der  Ausdruck  Y>.(o(7<7ai;  laXsTv  gebraucht  wird,  so  kann 
diess  innerhalb  der  Apostelgeschichte  nur  als  die  abgekürzte 
Formel  genommen  werden.  Die  yXöT^at  in  diesem  Zusammen- 
hang sind  schlechthin  die  Geisteszungen.  Mit  allen  diesen  Aus- 
drücken soll  nur  der  in  seiner  lebendigen  Wirksamkeit  sich 
äussernde  Geist  als  das  immanente  Princip  des  christlichen  Be- 
wusstseins bezeichnet  werden;  es  kommt  jedoch  die  Bestimmung 
hinzu,  dass  der  Geist  nicht  wäre,  was  er  nach  dem  wahren 
Begriff  seines  Wesens  sein  sollte,  und  seine  Mittheilung  nicht 
ihre  volle  Realität  hätte,  wenn  nicht  das  >.x>.£iv  YAco'y(jat;  von  ihm 
prädicirt  werden  könnte.  Das  )^a>.siv  Y^t^dcat?  soll  daher  der 
prägnanteste  concrelesle  Ausdruck  für  den  Begriff  des  Geistes 
als  des  christlichen  Princips  in  der  ganzen  Fülle  seiner  Wir- 
kungen sein. 

Dieser  bestimmtere  Begriff  des  Xa/siv  yXö^acxic  erhellt  aus 


Lehrbegciffe  der  synopt.  Evang.  n.  Apostelgesch.     31^5 

der  Vergleichtmg  der  übrigen  Stellen,  in  welchen  in  der  Apostel- 
geschichte von  demselben  die  Rede  ist.  Ausser  K.  2  findet  es 
sich  10,  46  und  19,  6.  Nach  der  ersten  Stelle  K.  2  wurde  der 
heilige  Geist  den  ersten  Christen  überhaupt  ertheiit.  Da  er  da- 
mals zuerst  in  den  Glaubigen  auT  eigenthümliche  Weise  sich 
äusserte,  so  musste  hier  auch  der  volle  Begriff  seiner  Wirksam- 
keit gegeben  werden,  und  das  IxlzX^  ^^loiaaxi^  wird  daher  hier 
am  ausführlichsten  beschrieben.  So  lange  nun  blos  Juden  zum 
Christenthum  bekehrt  wurden,  ist  von  dem  XaXsiv  yXtixjffai?  nicht 
weiter  die  Rede,  es  verstand  sich  von  selbst,  dass,  was  den  ersten 
Bekennern  des  Christenthums  ertheiit  worden  war,  auch  den 
Übrigen,  die  nachfolgten,  nicht  fehlen  konnte.  Nicht  einmal 
K.  8,  wo  der  erste  bedeutende  Zuwachs,  welchen  die  Christen- 
gemeinde ausserhalb  Jerusalem  und  Judäa  erhielt,  die  Bekehrung 
der  Samaritaner  und  die  Mittheilung  des  heiligen  Geistes  durch 
die  Handauflegung  der  beiden  Apostel  Petrus  und  Johannes  so 
genau  beschrieben  wird ,  wird  das  ^.aXsiv  y^wcdat?  erwähnt,  was 
sich  nur  daraus  erklären  lässt,  dass  dem  Verfasser  der  Apostel- 
geschichte nach  seiner  liberalen  Ansicht  die  Samaritaner  nicht  als 
Fremde,  sondern  als  Stammesgenossen  der  Juden  galten.  Als  nun 
aber  auch  Heiden  in  die  christliche  Gemeinde  aufgenommen  wur- 
den, verstand  es  sich  nicht  ebenso  von  selbst,  dass  sie  mit  den 
bisherigen  Christen,  die  blos  Judenchristen  waren,  alles,  was 
zu  den  Vorzügen  der  Mitglieder  des  messianischen  Reichs  gehört, 
völlig  gemein  hatten.  Daher  ist  K.  10  bei  Cornelius  und  denen, 
die  mit  ihm  als  die  ersten  Heiden  bekehrt  wurden ,  ausdrücklich 
bemerkt,  dass  sich  auch  bei  ihnen  das  auf  sie  herabgekommene 
7uvtu[xa  ayiov  durch  das  XaXsiv  Y>.co<j(yai;  geäussert  habe,  und  darauf 
hingewiesen,  dass  es  dieselbe  Erscheinung  sei,  wie  die  am 
Pfingstfest  erfolgte:  t6  7:veO[Jt,a  ayiov  eXaßov,  xaÖw;  xal  ri^LsXc, 
V.  47.  vgl.  11, 15. 17.  Sie  konnte  daher  auch  nur  die  Bedeutung 
haben,  dass  auch  sie,  wie  jene,  Christen  im  vollen  Sinn  geworden 
seien.     Nachher  erst   wurden   Heiden   in  grösserer  Zahl  zum 


3126  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

Christenthum  bekehrt,  aber  so  Viele  es  waren  und  so  viele  neue 
Heidenchristen-Gerneinden  entstanden ,  nirgends  ist  etwas  über 
das  yloicaixK;  XaXeiv  angedeutet,  zum  deutlichen  Beweis,  dass  es 
bei  Cornelius  und  dessen  Haus  nur  desswegen  besonders  hervor- 
gehoben ist,  weil  er  als  der  erste  Heide,  der  das  Christenthum 
annahm,  auch  der  Repräsentant  der  sämmtlichen  Heidenchrislen 
ist.  Es  versieht  sich  also  auch  hier  wieder  von  selbst ,  dass  das, 
was  bei  ihm  stattfand ,  auch  allen  andern  Heidenchristen  zu  Theil 
wurde.  ■^üm^mip 

Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  ist  nun  auch  leicht  zu  sehen, 
warum  in  der  dritten  Stelle  Apg.  19,  6  bei  der  Bekehrung  und 
Taufe  der  Johannisjünger  auf  einmal  wieder  das  >.a>.siv  •^"kfaaGxi^ 
erscheint.  Diese  Johannisjünger  bildeten  nämlich  gewissermassen 
eine  eigene  Menschenklasse:  sie  waren  keine  Heiden,  sondern 
Juden,  aber  doch  auch  keine  gewöhnlichen  Juden,  wie  die  bis- 
her bekehrten,  nicht  solche,  die  bisher  ohne  allen  Glauben  an 
Jesus  als  Messias  erst  durch  die  Taufe  zum  Glauben  an  ihn  be- 
kehrt wurden,  sie  waren  durch  die  Johannistaufe  schon  so  vor- 
bereitet auf  den  Glauben  an  Jesus,  dass  sie  im  Grunde  jetzt  schon 
halbe  Christen  waren;  insofern  waren  sie  eine  neue  Gattung  von 
Menschen,  die  jetzt  zum  Christenthum  übergieng,  es  musste  also 
auch  von  ihnen  gesagt  werden,  dass  sie  den  Übrigen  nicht  nach- 
standen, und  zwar  um  so  mehr,  da  das,  was  ihnen  eigentlich 
allein  noch  fehlte,  eben  das  TrvsOaa  oiyiov  war.  Daher  nun  auch 
hier  die  ausdrückliche  Erwähnung  des  >.aXeTv  yXüioaxi^.  Würden 
in  der  Folge  noch  mehrere  Johannisjünger  auf  diese  Weise  be- 
kehrt und  getauft  worden  sein,  es  wäre  über  das  IxkeXw  yliinstjxic 
nichts  weiter  gesagt  worden,  da  man  nun  schon  wusste,  dass 
diese  dritte  Classe  mit  den  beiden  andern  alles  theilt,  was  zum 
vollen  Begriff  des  Chrislenthums  gehört.  Ist  also  das  tcvsOjax 
ayiov  das,  was  den  an  Jesus  als  den  Messias  Glaubenden  den 
messianischen  Charakter  ertheilt,  das,  was  die  Christen  zu 
Christen  macht,  oder  mit  Einem  Worte  ist  es  das  Princip  des 


.Lehrbegriffe  der  synopt.  Evang.  u.  Apo  steig  es  eh.     3587 

christiiclien  Bewusstseins,  so  ist  das  yluafsxic  >.a>.eTv  der  Aus- 
druck dafür,  dass  dieses  Bevvussisein  alles  in  sich  begreifl,  was 
zum  specifischen  Inhalt  desselben  gehört,  und  lebendig  und 
kräftig  genug  ist,  sich  in  der  seinem  Inhalt  adäquaten  Weise 
auszusprechen.  So  aufgefasst  ist  das  IxlzX^  y^wcrcai;  nichts  be- 
sonderes, was  nur  jener  Zeil  eigen  wäre,  sondern  nur  ein  all- 
gemein christliches  Prädicat,  ein  bildlicher  Ausdruck,  der  sich 
von  selbst  erklärt,  sobald  die  Erzählung  von  der  Püngslbegeben- 
heit,  aus  welcher  er  herstammt,  als  das  erkannt  ist,  was  sie 
ohnediess  ihrer  ganzen  Beschairenheit  nach  ist,  als  die  mythische 
Darstellung  des  Ursprungs  der  christlichen  Gemeinde.  Seitdem 
das  ■:rvöO[X7.  aytov  auf  diese  Weise  das  constilutive  Princip  der 
christlichen  Gemeinschaft  geworden  ist,  greift  es  in  der  Dar- 
stellung der  Apostelgeschichte  überall  ein,  wo  es  um  etwas  für 
die  Sache  des  Christenthums  Wichtiges  und  Entscheidungsvolles 
sich  handelt.    Vgl.  8,  29.  20,  23. 

In  der  bisherigen  Darstellung  des  synoptischen  Lehrbegriffs 
halten  wir  noch  keine  Ursache,  in  ihm  selbst  divergirende  Rich- 
tungen zu  unterscheiden.  Die  hervorgehobenen  Momente  bilden 
ein  zusammenhängendes  Ganzes,  in  Welchem,  wenn  sie  auch 
bald  aus  diesem,  bald  aus  jenem  Evangelium  genommen  sind,  das 
Eine  an  das  Andere  sich  anschliesst.  Da  nun  aber  das  Lucas- 
evangelium für  die  Schrift  eines  Schülers  des  Apostels  Paulus 
gilt,  und  in  jedem  Fall  einen  hellenisirenden  Charakter  an  sich 
trägt,  durch  welchen  es  sich  von  dem  mehr  judaisirenden  Mat- 
thäusevangelium unterscheidet,  so  ist  voraus  anzunehmen,  dass 
sich  auch  in  dem  Lehrtypus  der  beiden  Evangelien  die  Verschie- 
denheit ihres  Ursprungs  zu  erkennen  geben  wird.  Dem  Matthäus- 
evangelium kann  zwar,  abgesehen  von  seinen  vielen  Citaten  aus 
dem  alten  Testament,  durch  welche  es  seine  nähere  Verwandt- 
schaft mit  dem  alten  Testament  und  dem  Judenthum  beurkundet, 
nicht  wohl  das  Prädicat  des  jüdischen  Particularismus  gegeben 
werden,  um  so  weniger  aber  verläugnct  das  Lucasevangelium 


388  Zweiter  Abs  ehnitt.     Zweite  Periode. 

seinen  paulinischen  Universalismus.  Ich  hebe  die  hieher  gehören- 
den Züge  kurz  hervor  (vgl,  Krit.  Unters.  S.  428  f.). 

Die  paulinisirende  Tendenz  des  Lucasevangeliums  spricht 
sich  sehr  bestimmt  darin  aus,  dass  es  gerade  das,  was  für  das 
Matthäusevangelium  charakteristisch  ist,  die  Affirmation  des  Ge- 
setzes und  die  wiederholt  erklärte  ausschliessliche  Bestimmung 
des  Evangeliums  für  die  Juden,  nicht  hat,  und  statt  der  darauf 
sich  beziehenden  Aussprüche  Jesu  vielmehr  entgegengesetzt  lau- 
tende gibt;  man  vgl.  Matth.  5,  17  mit  Luc.  16,  17,  wo  die  Lesart 
des  marcionitischen  Textes  twv  >.6yü>v  [xou  statt  toO  v6(J!.ou  die 
ursprüngliche  zu  sein  scheint,  und  Matth.  11,  13  mit  Luc.  16,  16. 
Ebendahin  gehört  die  Aufnahme  mehrerer,  bei  Matthäus  fehlender 
Lehrstücke,  in  welchen  der  Lehre  von  der  Vergebung  der  Sünden 
und  der  freien  Gnade  und  Barmherzigkeit  Gottes  eine  dem  pauli- 
nischen LehrbegrifF  ganz  entsprechende  Bedeutung  gegeben  ist. 
VgL  18,  9  f.  Eine  eigenlhümliche  Grundanschauung  von  der 
Person  und  Wirksamkeit  Jesu  drückt  sich  darin  aus,  dass  die 
erste  Handlung,  durch  welche  er  sich  in  seiner  höheren  Würde 
und  Bestimmung  kund  gibt  und  legitimirt,  die  Austreibung  eines 
Dämon  ist.  Da  Jesus  nicht  nur  factisch  durch  sein  Wort  einen 
Beweis  seiner  die  Dämonen  bezwingenden  Macht  gibt,  sondern 
auch  der  Dämonische  noch  ausdrücklich  ein  Zeugniss  von  der 
Macht  und  Würde  Jesu  ablegt,  so  soll  durch  diese  erste  öffent- 
liche Handlung  unstreitig  die  allgemeine  Bedeutung  der  Person 
Jesu  charakteristisch  hervorgehoben  werden.  Nach  jüdischer  An- 
schauung ist  das  Heidenthum  auch  das  Reich  der  Dämonen.  Es 
stellt  sich  daher  in  der  die  Dämonen  vernichtenden  Macht  Jesu 
seine  rettende  und  erlösende  Wirksamkeit  für  die  Heidenwelt  dar. 
Die  dämonische  Macht  des  Heidenthums  musste  vor  allem  ge- 
brochen werden,  wenn  der  heidnischen  Menschheit  das  messia- 
nische  Heil  zu  Theil  werden  sollte.  Vgl.  10,  17.  18.  Unter 
denselben  Gesichtspunkt  gehört  die  grosse  Bedeutung,  welche 
Samarien   im   Lucasevangelium    hat.     in   der  Ausdehnung  des 


Lehrbegriff  des  Lucas-Evangeliums.  329 

Wirkungskreises  Jesu  auf  Samarien,  in  der  Länge  der  Zeit,  die 
er  hier  verweilt  haben  soll,  9,  51  f.,  in  der  Vorliebe,  mit  welcher 
in  den  dahin  gehörenden  Erzählungen  die  Züge  eines  gottgefälli- 
gen, der  Aufnahme  in  das  Reich  Gottes  von  selbst  entgegen- 
kommenden Sinnes  an  Samaritern  dargestellt  werden,  sehen  wir 
die  Seite  des  Lebens  Jesu  vor  uns,  welche  der  paulinische  Uni- 
versalismus, um  sich  auf  die  Auctorität  Jesu  stützen  zu  können, 
zu  seiner  Voraussetzung  haben  musste.  In  allen  diesen  Bezie- 
hungen weicht  das  Lucasevangelium  von  dem  Matthäusevangelium 
auf  eine  Weise  ab,  die  nicht  für  zufällig,  sondern  nur  für  absicht- 
lich gehalten  werden  kann,  und  daher  auf  einen  ganz  andern 
dogmatischen  Standpunkt  hinweist. 

Noch  auffallender  ist  in  dieser  Hinsicht  die  Absichtlichkeit, 
mit  welcher  das  Lucasevangelium  den  zwölf  Aposteln  die  siebenzig 
Jünger  gegenüberstellt.  Es  lässt  sich  an  einer  Reihe  von  Zügen 
nachweisen  (vgl.  Krit.  Unters.  S.  435  f.),  wie  das  Lucasevangelium 
geschichtliche  Situationen  und  Aussprüche  Jesu,  welche  in  dem 
ursprünglichen  Zusammenhang  der  evangelischen  Geschichte  sich 
nur  auf  die  Zwölf  beziehen  konnten,  auf  die  siebenzig  Jünger 
überträgt  mit  der  unverkennbaren  Absicht,  die  Letztern  den 
Erstem  nicht  blos  gleichzustellen,  sondern  statt  derselben  allein 
als  die  wahren  und  ächten  Jünger  Jesu  darzustellen.  Die  sieben- 
zig Jünger,  von  welchen  überhaupt  nur  Lucas  weiss,  sind  un- 
streitig nach  der  bei  den  Juden  angenommenen  Zahl  der  heidnischen 
Völker  gerade  in  dieser  Zahl  für  ihren  Beruf  ebenso  bestimmt, 
wie  die  zwölf  Apostel  mit  Rücksicht  auf  die  Zwölfzahl  der  Stämme 
Israel;  ebenso  weist  auch  schon  die  Berufung  und  Aussendung 
der  siebenzig  Jünger  in  Samarien,  dem  heidnischen  Lande,  auf 
ihre  Bestimmung  für  die  heidnische  Welt  hin;  es  kann  daher  auch 
darüber  kein  Zweifel  sein,  dass  nur  das  Heidenthum  die  Sphäre 
ist,  in  welcher  Jesus  alle  jene  grossen  Erfolge  seiner  Sache  in 
der  Zukunft  vor  sich  liegen  sieht,  von  welchen  er  in  der  wichtigen 
Stelle  10,  17  f.  mit  so  grosser  Begeisterung  spricht.    Die  Zwölf 


330  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

dagegen  sind  dem  Verfasser  des  Lucasevangeliums  die  engherzi- 
gen Träger  des  jüdischen  Particnlarismus,  welche  noch  unge- 
schickt für  das  Reich  Gottes,  auch  nicht  fähig  sind,  die  engen 
Grenzen  Judaa's  zu  üherschreilen.  Auch  sonst  noch  gibt  sich  die 
paulinisirende  Richtung  des  Evangeliums  durch  einzelne  Züge  zu 
erkennen.  In  den  beiden  Parabeln  vom  Gastmahl,  14,  16  f.,  und 
vom  armen  und  reichen  Mann,  16,  19  f.,  treten  Judenthum  und 
Heidenthum,  oder  judaistisches  und  paulinisches  Chrislenthum 
mit  den  zu  ihnen  gehörenden  Gegensätzen  einander  gegenüber. 
Der  Schluss  der  letztern  Parabel  stellt  das  nach  dem  Tode  Jesu 
thatsächlich  stattfindende  Verhältniss  der  Juden  zum  Christenthuni 
sehr  anschaulich  vor  Augen.  Es  war  ja  jetzt  wirklich  der  Fall 
eingetreten,  welchen  die  Parabel  nur  hypothetisch  setzt:  ei 
Mwucrso?  xal  7rpo(pYiTt3v  oü-/C  axououctv ,  oOSe  iav  Tt?  ix.  vexpwv 
ava<yT9,  7:£i<j6*/,TovTat ,  V.  31.  Jesus  war  ja  vom  Tode  auf- 
erstanden, und  doch  glaubten  sie  an  ihn  als  Messias  nicht,  wo- 
von der  Grund  darin  liegt,  dass  sie  auf  Moses  und  die  Propheten 
nicht  hören,  sie  nicht  verstehen,  sich  durch  sie  nicht  zum  Glau- 
ben an  den  Messias  hinleiten  lassen,  überhaupt  in  ihrem  welt- 
lichen Sinne  keine  Empfänglichkeit  für  das  nur  den  Armen  be- 
stimmte messianische  Heil  haben.  Eine  ähnliche  Bedeutung  hat 
die  kleine,  nur  bei  Lucas  sich  findende  Erzählung  von  den  beiden 
Schwestern  Maria  und  Martha  und  ihrem  so  verschiedenen  Ver- 
halten zu  Jesu,  10,  38  f.  Man  kann  in  der  Einen  der  beiden 
Schwestern  nur  ein  Bild  der  vertrauensvollen  Hingabe,  die  zum 
Begriff  der  paulinischen  ttictic  gehört-,  in  der  Andern  nur  ein 
Bild  des  in  äussern  Werken,  in  dem  werkthätigen  Thun  der  epya 
voaou  sich  abmühenden  und  in  ihm  von  dem  wahren  Heil  sich 
abwendenden  Geselzeseifers  sehen.  Auch  in  ihnen  stellt  sich  uns 
so  dieselbe,  die  Tendenz  und  den  Charakter  des  Evangeliums 
bestimmende  Grundanschauung  in  einem  sehr  prägnanten  Bilde 
dar,  und  die  auf  die  Zeitverhältnisse  sich  beziehonde  Antithese 
liegt  klar  in  den  tadelnden  Worten  Jesu  an  die  Martha  und  in 


Lehrbegriff  des  Lucas-Evang.  u.  der  Apostelgesch.     331 

dem  rühmenden  Zeugnisse,  das  er  der  Maria  ertheill.  Die  pauli- 
nische  Form  des  Christenthums  hat  demnach  auch  auf  die  Dar- 
stellung der  evangelischen  Geschichte  einen  sichtbaren  Einfluss 
gehabt,  um  den  Universalismus,  welcher  das  eigentliche  Element 
des  Paulinismus  ist,  nicht  blos  als  paulinisches  Dogma  er- 
scheinen zu  lassen,  sondern  ihm  seine  principielle  Berechti- 
gung schon  auf  dem  Boden  der  evangelischen  Geschichte 
nachzuweisen. 

Gehen  wir  von  dem  Evangelium  zu  der  Apostelgeschichte 
fort,  so  begegnet  uns  auch  hier  überall  dieselbe  Grundanschauung. 
Die  eigentliche  Aufgabe  der  Apostelgeschichte  ist  ja,  den  Uni- 
versalismus, als  die  Grundlehre  des  Christenthums,  in  seiner 
geschichtlichen  Entwicklung  zu  verfolgen.  Zugleich  sehen  wir 
nun  aber  den  Paulinismus  auf  eine  Weise  modificirt,  welche  über- 
haupt für  den  Entwicklungsgang,  welchen  das  christliche  Dogma 
innerhalb  der  kanonischen  Schriften  genommen  hat,  bemerkens- 
werth  ist.  Während  im  Evangelium  der  Paulinismus  nicht  blos 
gegen  das  Judenthum,  sondern  auch  gegen  das  Judenchristenthum 
und  die  dasselbe  repräsentirenden  Apostel  antithetisch  auftritt, 
ist  es  dagegen  in  der  Apostelgeschichte  das  sichtbare  Bestreben, 
tliesen  Gegensatz  soviel  möglich  zu  mildern  und  auszugleichen, 
und  zwischen  den  beiden  Hauptaposteln  Petrus  und  Paulus  das- 
selbe harmonische  Verhältniss  nachzuweisen,  das  in  dem  zweiten 
petrinischen  Briefe  als  ein  thatsächlich  anerkanntes  in  klaren 
Worten  ausgesprochen  ist.  Für  diesen  Zweck  wird  Petrus  ebenso 
paulinisch,  wie  Paulus  petrinisch  dargestellt.  Nicht  Paulus  ist 
es,  welcher  als  Heidenapostel  dem  christlichen  Universalismus 
zuerst  seine  Bahn  bricht,  sondern  schon  vor  ihm  hat  Petrus 
bei  der  Bekehrung  des  Heiden  Cornelius  die  Schranken  des 
Judenthums  durchbrochen.  Schon  damals  soll  dem  Petrus  ein 
neues  Licht  in  der  Erkenntniss  aufgegangen  sein,  oti  oux  eczi 
TcpoffwTToXTTmr;?  6  ösoc,  äXX'  iv  7:avTi  sövsi  6  <poßou^u.svo;  aOrdv 
xai  epYaCop-svo;  Stxatoouvyiv  ^sxt6{  a'irtji  icri,  Apg.  10,  34.    Auf 


388  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

der  Versammlung  in  Jerusalem  soll  Petrus  es  sogar  für  eine  Ver- 
suchung Gottes  erklärt  haben,  auf  den  Nacken  der  Jünger  ein 
Joch  zu  legen,  das  weder  die  Väter  noch  sie  selbst  zu  tragen 
vermocht  haben,  und  von  den  sämmtlichen  Aposteln  sei  der  ge- 
meinsame Beschlussgefasst  worden,  als  ein  Beschluss  des  heiligen 
Geistes,  kein  weiteres  Joch  aufzuerlegen,  d.  h.  die  Beobachtung 
des  mosaischen  Gesetzes  nicht  weiter  zu  verlangen,  mit  Aus- 
nahme einiger  Punkte,  bei  welchen  auf  die  Juden,  mit  welchen 
man  zusammenlebte,  Rücksicht  zu  nehmen  war. 

Wie  Petrus  auf  diese  Weise  paulinisirl,  so  ist  dem  Paulus 
der  Apostelgeschichte  seine  antithetische  Schärfe  ganz  genommen, 
er  hat  im  Grunde  nichts  eigenthümlich  Paulinisches.  In  den  bei- 
den grösseren  Lehrvorträgen,  welche  er  nach  der  Apostelge- 
schichte zu  Antiochien  und  Athen  hält,  13,  16  f.,  17,  22  f.,  ist 
es  nur  der  Monotheismus,  welcher  sich  dem  Polytheismus,  nicht 
das  Erlösungsbedürfniss  und  Eriösungsbewusstsein,  das  sich  dem 
heidnischen  Sünden-  und  Weltleben  entgegenstellt.  Von  der 
paulinischen  Auffassung  des  Christenthums,  wie  sie  sich  im  Römer- 
brief auch  dem  Heidenthum  gegenüber  ausspricht,  von  dem  Zu- 
rückgehen auf  die  sittliche  Wurzel  der  Religion  findet  sich  hier 
keine  Spur,  selbst  der  Messiasglaube  wird  17,  31  nur  vorüber- 
gehend berührt.  In  der  Rede  13,  16  f.  tritt  zwar  die  paulinische 
Lehre  deutlicher  hervor,  aber  ihr  eigentlicher  Gehalt  wird  doch 
nur  angedeutet.  Nachdem  Paulus  ausführlich  von  der  früheren 
Leitung  des  israelitischen  Volkes,  von  dem  Täufer  Johannes,  von 
der  Hinrichtung  und  Auferstehung  Jesu  gesprochen  und  seine 
Messianität  aus  dem  alten  Testament  erwiesen  hat,  fügt  er  V.  38 
hinzu:  ^'voxttov  oOv  zaxo)  u{/.iv,  öti  oia  toutou  Oti.tv  a^ect;  ä{^.apTiü>v 
■Aix.zxyyiXktxxiy  y,cd  ätüo  Tcavtcov,  t'ov  oxj'a  7iSi>v/i6r,T2  sv  Tt3  v6(xti) 
Mwucew;  ^DtaiwO-^vai,  sv  toutw  wa;  6  maTeuwv  Si>taioOTai.  Aus 
dieser  flüchtigen  Andeutung  ist  gewiss  die  paulinische  Lehre  von 
der  Rechtfertigung  und  dem  Aufhören  des  Gesetzes  nicht  abzu- 
nehmen.   Diese  Stelle  ist  überdiess  die  einzige  in  der  Apostel- 


'  Lehrbegriff  der  Apostelgeschichte.  333 

geschichle,  in  welcher  sich  ein  solche  Hinweisung  findet.  In 
allen  übrigen  Äusserungen  des  Paulus  treffen  wir  ausnahmelos 
nur  dieselbe  Ankündigung  des  Auferstandenen,  dieselbe  alt- 
teslanientliche  Beweisführung  für  die  Messianität  Jesu,  wie  in  den 
Reden  eines  Petrus.  Nur  über  diese  Frage  disputirl  Paulus 
i  7,  2  f.  mit  den  Juden  in  Thessalonich ,  indem  er  aus  der  Schrift 
darthut,  öti  töv  XpKJxov  s^si  7ra9siv  )cai  ava^rvTivai  sy,  vexptov,  xal 
6'ti  outo?  d<TTiv  6  XpKJTo;,  'IriToO;,  nur  hierüber  verhandelt  er 
einen  Tag  lang  in  Rom ,  tjsiGwv  auTou;  tä  Tuspl  toO  'l7i<JoO ,  a7:6 
TS  ToO  v6(ji.ou  MwuTso)?  xal  TÖV  Tcpo^YiTöv  28,  23,  nur  daran  er- 
innert er  die  ephesinischen  Gemeindevorsteher,  wenn  er  20,  21  die 
Lehre,  welche  er  verkündigte,  ohne  etwas  vorzuenthalten,  in  der 
uLSTavota  si?  tov  öeöv  und  der  ttwti;  ei;  töv  xupiov  infAßv  'IrifJoCiv 
XpwTÖv  zusammenfasst,  und  kaum  eine  leise  Färbung  des  Aus- 
drucks ruft  in  dem  z^jxyyilio^  tTIq  /apiTo;  V.  24  dem  Kundigen 
die  paulinische  Auffassung  der  Heilslehre  in's  Gedächtniss.  Auch 
in  seinen  Erklärungen  vor  dem  Synedrium  23,  6,  vor  Felix 
24,  14,  vor  Feslus  25,  8,  vor  Agrippa  26,  19  f.  hält  er  keinen 
andern  Gesichtspunkt  fest.  In  allen  diesen  Äusserungen  weist 
Paulus  jede  feindselige  Beziehung  seiner  Lehre  zum  Mosaismus 
ab,  und  versichert,  dass  es  sich  zwischen  ihm  und  den  Juden 
durchaus  nur  um  die  Messianität  Jesu,  um  die  Erfüllung  der  alt- 
testamentlichen  Weissagungen  in  seinem  Tod  und  seiner  Auf- 
erstehung handle  (vgl.  26,  22),  wogegen  ausser  seiner  Polemik 
gegen  die  Gültigkeit  des  Gesetzes  auch  seine  Lehre  vom  allein- 
seligmachenden Glauben  nicht  undeutlich  verläugnel  wird,  wenn 
er  26,  20  den  Inhalt  seiner  Lehre  dahin  angibt:  ixTr/iffzXkoy  [xe- 
tävosTv  xal  eziTToeosiv  iid  tov  Osov,  a^ia  t^;  [y.STavoia;  Ipya 
7rpa«T<7ovTa?.  Diese  asTavota.,  dieses  £7:i<JTpe(peiv  iizl  töv  6söv, 
Welches  in  einer  veränderten  Handlungsweise  besteht,  erinnert 
weit  mehr  an  die  Busspredigt  des  Täufers  und  die  von  ihm  ver- 
langten x.apTTO'j;  ä^iou;  tt^;  [7.STavoiac,  Luc.  3, 8,  oder  an  das  asTa- 
vovidxTs  Axl  Ixt'jTpsd'aTe  des  Petrus  Apg.  3, 19.  vgl.  V.  26.  2,  38. 


334  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

5,  31,  als  an  die  Lehre  des  Paulus  vom  Glauben  und  von  der 
Umschaffung  des  innern  Menschen. 

Vergleicht  man  den  Hauptinhalt  der  paulinischen  Lehrvor- 
träge der  Apostelgeschichte  mit  dem  der  petrinischen,  so  ist 
deutlich  zu  sehen,  wie  beide  in  einem  die  Gegensätze  neutrali- 
sirenden  Lehrbegriff  zusammentreffen.  Alles,  was  eine  polemi- 
sche Spitze  hat,  wird  so  viel  möglich  zurückgestellt  und  es  wer- 
den vorzugsweise  nur  diejenigen  Lehren  hervorgehoben,  welche 
als  der  allgemein  anerkannte  Inhalt  des  christlichen  Bewusstseins 
angesehen  werden  können.  Dass  Heiden  und  Juden  die  gleiche 
Berechtigung  zum  messianischen  Heil  haben,  das  Gesetz  eine 
Last  sei,  welche  den  an  Jesum  Glaubenden  nicht  auferlegt  werden 
dürfe,  beide,  Heiden  und  Juden,  nur  durch  die  Gnade  gerettet 
werden  Cwie  diess  auch  Petrus  Apg.  15,  11  erklärt):  diess  war 
durch  den  Paulinismus  zur  Zeit  der  Abfassung  der  Apostelge- 
schichte schon  so  sehr  zur  stehenden  Wahrheit  geworden,  dass 
darüber  kein  weiterer  Zweifel  entstehen  konnte.  Vergebung  der 
Sünden  wurde  ohnediess  als  die  unmittelbare  Folge  des  Glaubens 
an  Jesus  betrachtet.  Vgl.  Apg.  2,38.  3,  19.  4, 12.  5,31.  10,43. 
Auf  der  andern  Seite  wollte  man  aber  von  der  paulinischen  Lehre 
vom  Glauben  und  der  Rechtfertigung  in  dem  Sinn ,  in  welchem 
sie  in  den  Hauplbriefen  des  Apostels  enthalten  ist,  nichts  wissen, 
und  drang  dagegen  um  so  mehr  auf  Busse  und  Bekehrung  und 
die  aus  ihr  hervorgehenden  Früchte  des  practischen  Christen- 
thums.  So  bildete  sich  ein  Lehrbegriff,  in  welchem  das,  was  im 
Paulinismus  der  specifische,  auf  der  höhern  Bedeutung  der  Person 
Christi  beruhende  Inhalt  des  Christenthums  ist,  zurücktritt  und 
das  allgemein  Religiöse,  wie  es  als  der  geläuterte  Inhalt  der  alt- 
testamentlichen  Religionslehre  anzusehen  ist,  auf  dieselbe  Weise, 
wie  wir  diess  auch  im  Briefe  Jacobi  finden,  die  wesentliche 
Grundlage  bildet.  In  diesem  Sinne  wird  in  dem  Lehrvortrag  des 
Petrus  Apg.  10,  34  f.,  als  das  Wichtigste,  worauf  es  überhaupt  in 
dem  Verhältniss  des  Menschen  zu  Gott  ankommt,  hervorgehoben 


Lehrbegriff  der  Apostelgeschichte.  335 

das  (poßsifjöxi  Oeov  äxI  i^yx^ta^xi  SiJtatoiuvyiv.  \on  Jesus  wird 
gesagt,  dass  er  vermöge  seiner  Frieden  verkündigenden  Lehre 
der  Herr  Aller  sei  Cd.  h.  der  Juden  und  Heiden,  deren  aufge- 
hobener Gegensatz  zunächst  diese  eipr,v7;  ist}.  Zum  Messias  von 
Gott  gesalbt,  sei  er  wohlthuend  und  alle  vom  Teufel  Überwältig- 
ten heilend  umhergewandert,  und  nach  seinem  Kreuzestod  von 
Gott  auferweckt  worden.  Der  wesentliche  Inhalt  der  evangeli- 
schen Verkündigung  ist  neben  der  Vergebung  der  Sünden,  welche 
der  an  Jesum  Glaubende  durch  seinen  Namen  erhält,  dass  er  von 
Gott  bestimmt  ist  zum  Richter  der  Lebendigen  und  Todten.  Mit 
der  Lehre  von  der  Sündenvergebung  als  der  Hauptsache  dessen, 
was  durch  Christus  bewirkt  worden  ist,  schliesst  auch  der  Apostel 
Paulus  die  geschichtliche  Übersicht,  welche  er  in  seinem  Lehr- 
vortrag K.  13  gibt,  und  in  der  Rede  K.  17  zielt  alles  darauf  hin, 
Jesum  als  denjenigen  darzustellen,  durch  welchen  Gott  am  Tage 
des  Gerichts  die  Welt  mit  Gerechtigkeit  richten  werde.  Im  Zu- 
sammenhang damit  wird  in  derselben  Rede  17,  30  der  Haupt- 
zweck des  Christenthums  in  die  von  Gott  an  alle  Menschen 
allenthalben  ergangene  Aufforderung  zur  Busse  gesetzt.  Je 
practischer  die  Bestimmung  des  Christenthums  aufgefasst  und  auf 
das  selbstthätige  sittliche  Thuu  des  Menschen  bezogen  wird,  um 
so  grösseres  Gewicht  erhält  der  Gedanke  an  das  künftige,  über 
den  sittlichen  Werlh  des  Menschen  entscheidende  Gericht,  und 
die  Hauptlehrc  des  Christenthums  ist  daher,  dass  Christus  der 
Weltrichler  isl.  Auch  hierin  stimmt  der  Brief  Jacobi,  in  welchem 
gleichfalls  mit  besonderem  Nachdruck  auf  das  künftige  Gericht 
hingewiesen  wird,  mit  dem  Lehrtypus  der  Apostelgeschichte 
überein.  Je  mehr  auf  'diese  Weise  das  specifisch  Paulinische 
gegen  das  praclisch  Religiöse  zurücktritt,  bildete  sich  ein  ver- 
mittelnder katholischer  Lehrbegriff,  in  welchem  die  Gegensätze 
zwar  im  Allgemeinen  stehen  blieben,  aber  ohne  sich  auszu- 
schliessen,  mit  dem  gegenseitigen  Bestreben,  den  Gegensätzen 
ihre  polemische  Spitze  zu  nehmen  und  in  eine  Mitte  einzulenken, 


S36  Zweiter  Abschnitt.     Zweite  Periode. 

in  welcher  sie  sich  wenigstens  zu  einer  äusserlich  vermittelnden 
Einheit  ausgleichen. 

Diese  Milderung  und  Ausgleichung  des  ursprünglichen 
Gegensatzes  zeigt  sich  auch  noch  auf  folgende  Weise.  Seine 
innerste  Bedeutung  hat  der  Paulinismus  darin,  dass  ihm  Heiden- 
thum  und  Judcnthum  auf  der  einen  und  Christenthum  auf  der 
andern  Seite  zwei  principiell  verschiedene  Sphären  sind,  welche 
wie  der  Gegensatz  von  Sünde  und  Gnade,  von  Tod  und  Leben, 
von  Diesseits  und  Jenseits  sich  zu  einander  verhalten.  Dieser 
scharfe  Gegensatz  konnte  nicht  mehr  festgehalten  werden,  sobald 
die  Unmöglichkeit  der  Geselzes-Erfüllung  nicht  mehr  in  dem  ab- 
soluten Sinne  galt,  in  welchem  sie  der  Apostel  Paulus  behauptet 
halte.  Ist  das  i^yäJ^zcBoLi  StxatocuvYiv  in  jedem  Volke  möglich,  so 
kann  auch  nicht  von  Heiden  und  Juden  schlechthin  gesagt  wer- 
den, dass  sie  nur  Sünder  sind.  Nicht  in  der  Beschaffenheit  des 
Gesetzes,  sofern  es  nur  ein  TraiSaYtoyo;  ist  und  nicht  Suvatxevo; 
*(wo-oi-^«Tai,  wird  der  Grund  des  Gegensatzes  gesucht,  in  welchem 
das  Judenthum  zum  Christenthum  steht,  sondern  in  der  ange- 
borenen Verkehrtheit  und  Widerspenstigkeit  des  jüdischen  Volks. 
Der  Antinomismus  des  Apostels  Paulus  hat  sich  in  der  Apostel- 
geschichte in  eine  Anklage  gegen  das  Volk  verwandelt.  Nicht 
nur  erscheinen  die  Juden  in  der  Apostelgeschichte  überall  als  die 
erklärten  Feinde  des  Christenthums,  sondern  es  wird  auch  ihre 
Feindschaft  gegen  das  Christenthum  als  eine  so  habituelle  und  in 
der  ganzen  Sinnesart  des  Volks  so  tief  wurzelnde  betrachtet, 
dass  zwischen  der  jüdischen  Nation  und  dem  Christenthum  eine 
ebenso  grosse  Kluft  besteht,  wie  zwischen  dem  Gesetz  und  dem 
Evangelium. 

Aus  diesem  Gesichtspunkt  wird  das  Verhältniss  der  jüdischen 
Nation  zum  Christenthum  in  der  Rede  des  Stephanus  Apg.  K.  7 
aufgefassl.  Während  sonst  die  Apostelgeschichte  von  der  wesent- 
lichen Identität  des  Christenthums  mit  dem  Mosaismus  ausgeht 
und  sich  darauf  beschränkt,  in  Christus  die  Erfüllung  der  all- 


Lebrbegriff  der  Apostelgeschichte.  33T 

teslamenllichen  Weissagungen  aufzuzeigen ,  wird  hier  mit  allem 
Nachdruck  das  Missverhältniss  hervorgehoben,  in  welches  die 
Institutionen  des  alten  Testaments  in  der  Hand  eines  Volks,  wie 
das  jüdische  ist,  zu  einer  den  Menschen  über  das  Sinnliche  zum 
Geistigen  erhebenden  Religion  kommen  mussten.  Der  Inhalt  der 
1^  •  Rede  theilt  sich  in  zwei  einander  parallel  laufende  Seiten:  auf 

der  einen  Seite  werden  die  Wohlthaten  aufgezählt,  welche  Gott 
von  der  ältesten  Zeit  an  dem  Volk  erwiesen  hat,  auf  der  andern 
wird  mit  ihnen  das  Benehmen  des  Volks  gegen  Gott  zusammen- 
gestellt. Daher  der  Hauptgedanke  der  Rede:  so  gross  und  ausser- 
ordentlich die  Wohlthaten  waren,  welche  Gott  von  Anfang  an 
dem  Volk  zu  Theil  werden  liess,  so  undankbar  und  den  göttlichen 
Absichten  widerstrebend  war  dagegen  auch  von  Anfang  an  der 
Sinn  des  Volks,  so  dass  da,  wo  ein  ganz  harmonisches  Verhält- 
niss  stattfinden  sollte,  vielmehr  das  grösste  Missverhältniss  her- 
vortritt; in  demselben  Verhältniss,  in  welchem  Gott  von  seiner 
Seite  alles  gethan  hat,  um  das  Volk  an  sich  zu  ziehen  und  zu 
sich  zu  erheben,  wandle  sich  das  Volk  von  Gott  hinweg.  Zu 
diesem  Behuf  geht  der  Redner  in  die  frühere  Geschichte  des  is- 
raelitischen Volks  zurück,  er  weist  nach,  wie  die  theokratischen 
Institutionen  schon  durch  die  Schicksale  der  Patriarchen  vorbe- 
reitet worden  seien  Cvgl.  V.  5. 7. 15  f.,  und  /povo;  tyi«;  dTvayyeX^a? 
V.  17).,  wie  aber  auch  schon  mit  ihrer  ersten  wirklichen  Ein- 
führung, trotz  ihres  augenscheinlichen  göttlichen  Ursprungs,  die 
Undankbarkeit  des  Volks  und  seine  Unfähigkeit  zum  Verständniss 
der  göttlichen  Führungen  und  Absichten  in  der  anfänglichen  Ver- 
werfung des  Moses  und  dem  nachmaligen  Abfall  zum  Götzendienst 
aufs  Stärkste  hervorgetreten  sei,  die  gleiche  Denkweise  jedoch 
auch  an  den  salomonischen  Tempelbau  sich  geheftet  habe;  er 
schliesst  endlich  aus  dem  allem,  dass  es  nur  die  Forlsetzung  der 
früheren  Widerspenstigkeit  und  Herzenshärtigkeit  sei,  wenn  die 
Juden  Jesum  ebenso  verschmähen,  wie  sie  Moses  verschmäht 
haben  CV.  37.  52),  und  das  von  Menschen  erbaute  Gotteshaus 

Banr>  neutest.  Theol.  ^« 


33S  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

nebst  dem  Dienst  in  demselben  der  wahren  Gollesverehrung 
ebenso  vorziehen,  wie  die  Väter  in  der  Wüste  das  goldene  Kalb 
dem  lebendigen  Gott  vorgezogen  haben  CV.  41.  51>  Dabei  muss 
nun  freilich  vorausgesetzt  werden,  dass  die  Rede  des  Stephanus 
wenigstens  in  der  Form  ihrer  Ausführung  eine  Composilion  des 
Verfassers  der  Apostelgeschichte  ist,  welcher  in  ihr  seine  eigene 
Ansicht  von  dem  Verhältniss  der  Juden  zum  Christenthum  ent- 
wickelt. Diess  kann  jedoch  ohne  Bedenken  angenommen  werden, 
da  die  Authentie  der  Rede  des  Stephanus  auch  aus  andern  Grün- 
den höchst  zweifelhaft  ist,  und  ihr  Inhalt  mit  der  Art  und  Weise, 
wie  der  Verfasser  der  Apostelgeschichte  sonst  das  Verhältniss 
der  Juden  zum  Christenthum  schildert,  ganz  übereinstimmt.  Was 
also  bei  dem  Apostel  Paulus  der  allgemein  menschliche  Gegensatz 
ist,  in  welchem  die  Juden  und  Heiden  als  Sünder  zum  Christenthum 
stehen,  ist  hier  ein  nationaler  in  der  Individualität  des  jüdischen 
Volks  gegründeter,  und  es  fällt  somit  das,  wovon  der  Apostel 
den  eigentlichen  Grund  in  dem  Wesen  des  Gesetzes  nachzuweisen 
sucht,  als  sittliche  Schuld  nur  auf  die  Seite  des  Volks. 


Dritte  Periode. 

Die  Lehrbegriffe  der  Pastoralbriefe  und  der  johanneischen 

Schriften. 

,     i.   Der  Lehrbegriff  der  Pastoralbriefe. 

Es  sind  uns  noch  zwei  LehrbegrifTe  übrig,  welche  eine 
eigene  Periode  der  neutestamentlichen  Theologie  bilden.  Wie 
die  Schriften,  welche  die  Quelle  derselben  sind,  zu  den  spätesten 
des  Kanons  gehören,  so  zeigt  auch  der  Charakter  dieser  Lehr- 
begrifTe selbst,  dass  sie  einer  weiter  fortgeschrittenen  Enlwick- 
lungspcriode  angehören.    In  dem  einen  derselben  hat  sich  der 


Lebrbegriff  der  Pastoralbriefe.  339 

Paulinismus  nach  Maassgabe  der  Erscheinungen,  in  deren  Zeit 
die  Pastoralbriefe  entstanden  sind,  modificirt,  in  dem  andern 
stellt  sich  uns  ein  neuer  selbstsländigerLehrlypus  dar,  in  welchem 
Elemente  der  neuteslamentlichen  Theologie,  welche  bisher  noch 
keine  bestimmtere  Gestalt  gewonnen  hatten,  sich  zu  einer  höhern 
Einheit  zusammenschlössen. 

Zu  den  Grundsätzen  des  paulinischen  Christenthums  bekennt 
sich  der  Verfasser  der  Pasloralbriefe  ausdrücklich  dadurch ,  dass 
er  das  dem  Christen  im  Glauben  an  Christus  zu  Theil  gewordene 
Heil  keinem  vorangehenden  Verdienst  der  Werke,  sondern  allein 
der  Barmherzigkeit  Gottes,  seiner  rettenden  und  berufenden 
Gnade  zuerkannt  wissen  will.  Vgl.  2  Tim.  1,9,  wo  er  von  der 
öuvafxt?  öeoO  spricht,  tou  atoaavxo;  'fl(jwci;  xal  xa>.£(7avT05  xXr.csi 
ayix,  oO  jcaxa  xa  spya  'fliy.wv,  aXkx  jcax'  i^iav  Trpoösdtv  xal  "/«.^i^ 
TTiV  ^oOetdav  vifxiv  £v  XpwTTo)  'lyidou  Trpo  j(p6vo>v  atcovtwv.  Tit.  3,  4 : 
'f^  j^pridTOTYi;  '/.cd  -fi  <piXav6po)7Cta  27U£<pavyi  tou  ccoTVipo?  tojacüv  GeoO, 
oux  e^  epywv  twv  ev  St/catocuvri  wv  ^TTotTjaajxev  */ip,£i;,  dXXa  xaxa 
T(Jv  auToO  eXsov  eatodsv  iQ(xa?,  —  Iva  Si>cai(«)ösvTs;  t?)  exsivou  /^xp''^^ 
xXyipov6[7.oi  YsvwfJi-sOa  /.ax'  iXmSa  ^win?  aiwviou.  Schon  hier  lässt 
sich  jedoch  bemerken ,  wie  es  dem  Lehrbegriff  dieser  Briefe  an 
einem  tieferen  Eingehen  in  den  innern  Zusammenhang  der  pauli- 
nischen Grundbegriffe  fehlt.  Er  will  zwar  die  Gnade  der  Berufung 
nicht  durch  die  Gerechtigkeit  der  Werke  beeinträchtigt  wissen, 
stellt  aber  den  Werken  den  Glauben  nicht  so  gegenüber,  dass  die 
Lehre  vom  rechtfertigenden  Glauben  sich  als  den  Mittelpunkt  der 
ganzen  Heilslehre  herausstellt.  Auch  sonst  gibt  sich  der  pauli- 
nische  Geist  des  Verfassers  in  einzelnen  Zügen  zu  erkennen,  wie 
namentlich  in  der  Bedeutung,  welche  er  dem  Tode  Jesu  gibt, 
1  Tim.  2,  6.  Tit.  2,  14  u.  s.  w.  Wenn  aber  der  Apostel  Paulus 
in  dem  Tode  Jesu  einen  Rechtsprocess  sieht,  welcher  die  Los- 
kaufung von  der  y-xTapa  v6[ji,ou  bewirken  soll,  so  hat  sich  dagegen 
Jesus  nach  Tit.  2,  14  desswegen  für  uns  gegeben,  iva  XuTpcocnriTai 
TQjjLa?   dcTCo   Trä-r/);  dcvo^Aia;   xai   xa6api(r/i    saoTtS  Xaov  7:spiou<nov, 

22» 


340  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

^TiXwTiTiv  xaXßv  spYcov.  Der  Tod  Jesu  befreit  nicht  vom  v6[xo?,  son- 
dern von  der  avop-ia,  d.h.  er  gehl  nicht  sowohl  auf  das  Vergangene 
als  auf  das  Künftige.  Wie  Paulus  sagt  der  Verfasser  dieser  Briefe 
von  Christus  2  Tim.  1,  10,  er  sei  xaTapyrca;  piv  töv  öavarov, 
(pwTiffai;  ^s  ?^to7lv  x«l  afpOapoiav,  aber  der  Zusatz  ^i«  toO  eOaYyeXtou 
passt  nicht  recht  in  die  Anschauungsweise  des  Apostels.  Pauli- 
nisch  ist  ferner,  wenn  er  Tit.  3,  5  den  heiligen  Geist  in  reichem 
Maasse  von  Gott  durch  Christus  ausgegossen  werden  lässt;  wenn 
aber  dabei  die  Wiedergeburt  und  Erneuerung  des  heiligen  Geistes 
an  die  Taufe  geknüpft  wird,  so  ist  diess  eine  dem  Apostel  Paulus 
fremde  Bestimmung.  Noch  mehr  zeigt  sich  der  vermittelnde 
Charakter  des  LehrbegrifFs  dieser  Briefe,  oder  die  Verflachung 
des  Paulinismus,  wie  wir  sie  auch  in  den  kleineren  paulinischen 
Briefen  finden,  in  den  positiven  sittlichen  Bestimmungen,  welche 
theils  mit  dem  Glauben  zusammengestellt  werden,  theils  an  die 
Stelle  desselben  gesetzt  werden.  Der  Glaube  ist  der  principiellen 
Stellung  entrückt,  welche  er  bei  dem  Apostel  Paulus  hat,  wenn 
er  mit  der  Liebe  und  andern  Tugenden  in  Eine  Reihe  gesetzt 
wird,  wie  diess  in  diesen  Briefen  so  oft  geschieht.  Vgl.  1  Tim. 
1,  5:  tö  TsXo;  TÄ;  ^TapayysMy.;  ecTiv  ayaTni,  £x  JcaOapa?' xxpSt'ai; 
xai  (yuveiSrjfTew;  äyaO-^?  xal  rfcrreo);  avuTTOxpiTOu ;  1,14:  [xstoc 
7r{<7T£ü);  xal  äyaTTr,; ;  2,  1 5 :  sxv  [xeivwatv  ev  izlcrei  xal  «."^auKt)  xai 
ayiaTfAco;  4,  12:  tjxo?  yivou  Ttov  ttkttöv  cv  "k^fcct,  ev  ava<iTpo<pff, 
£v  äyot^nr),  £v  tottei,  dv  ayvstx;  6,  11:  ^uoy.z  ^txaiOTjvYiv ,  ex><:£- 
ßsiav,  TC(<JTtv,  äyaTT/iv,  67rojj!,ovrW ;  2  Tim.  1,  13:  h  x(<7Tei  xal 
aydcTT/)  T?i  h  Xpi^rcw  'Iy]ToO;  2,  22:  ^iwxs  SixaiocuvYiv,  7ri<mv, 
ayaTOiv,  elp^vriv;  vgl.  3,  10.  Tit.  2,  2.  Hat  der  Glaube  nicht 
mehr  seine  centrale  Bedeutung,  so  muss  um  so  mehr  Gewicht 
auf  die  practische  Religiosität  oder  die  Werke  gelegt  werden. 
Es  ist  daher  auch  in  diesen  Briefen  von  den  spya  atIx  oder  ayaOÄ 
auf  eine  Weise  die  Rede,  welche  nicht  für  paulinisch  und  den 
paulinischen  Grundsätzen  entsprechend  gehallen  werden  kann. 
Vgl.  1  Tim.  2,  10:   dzoai^zix  Si'  epywv  äyaOdiv;    5,  10:   yuvv!, 


Lehrbegriff  der  Pastoralbriefe.  341 

iv  epYO'?  xaXot?  [xap'njpou(/.£viri  —  si  TtavTl  spyt«)  «Yaö'^  iTT/ixoXoy- 
ör,<yE;  5,  25.  6,  18:  ay'^^^^PT^'^ '  '^^O'J'fS^^  ^^  Ipyot?  xaXot?.  Vgl. 
2  Tim.  2,  21.  3,  17.  Tit.  1,  16.  2,  7:  Trspl  -avTa  ceauTÖv  Tuaps- 
j^oi^svo;  TUTTOv  xaXßv  spytov;  2,  14.  3,  1.8. 14:  [;.av6av£To)<jav  — 
xaXöv  spytov  7cpofoTa(y6ai.  In  allen  diesen  Stellen  sind  es  durch- 
aus die  Werke,  in  welche  das  wahre  Wesen  des  Christenlhums 
gesetzt  wird.  Ja,  so  sehr  hat  hier  der  paulinische  Begriff  der 
TciTTi?  seine  specifische  Bedeutung  verloren,  dass  an  die  Stelle 
desselben  der  ganz  allgemeine  Begriff  der  Religiosität  überhaupt 
gesetzt  wird.  Die  eOaeßeia  oder  ösoaeßeia  ist  in  diesen  Briefen 
ein  sehr  geläufiger  Ausdruck,  vgl.  1  Tim.  2,  2.  3,  16.  4,  7.  8. 
6,  3.  5.  6.  11.  2  Tim.  3,  5.  12.  16.  Tit.  1,  1.  2,  12. 

In  allem  diesem  ist  noch  nichts  Charakteristisches  für  den 
Lehrbegriff  dieser  Briefe,  es  ist  nur  dieselbe  schlaffere  Auffassung 
des  Paulinismus  im  Interesse  einer  katholisirenden,  die  Gegen- 
sätze vermittelnden  Richtung,  wie  wir  diess  überhaupt  in  den 
Pseudonymen  Schriften  der  Kanons  finden.  Um  ihrem  Lehrbegriff 
näher  zu  kommen,  müssen  wir  ihre  polemische  Seite  in's  Auge 
fassen.  Sie  bestreiten  Häretiker,  die  schon  damals  eine  sehr 
bedeutende  Zeiterscheinung  geworden  waren,  und  keine  andern 
gewesen  sein  können,  als  die  uns  bekannten  Gnostiker.  Was 
diesen  Gegnern  zum  Hauplvorwurf  gemacht  wird,  ist  ihre  Ab- 
weichung vom  Glauben,  dass  sie,  wie  es  1  Tim.  1,  19  heisst, 
TTspi  TT,v  TCiiTTiv  svausty/iiav,  oder  aTrsTrXav/iOviiJxv  dcTrö  Tnq  xifTretü?, 
1  Tim.  6,  10,  Twepi  ttiv  äX>iOetav  Victoj^yi^täv  ,  2  Tim.  2,  18.  Vgl. 
1  Tim.  4,  1.  2  Tim.  3,  8.  4,  4.  Es  gibt  also  schon  einen  Inhalt 
des  Glaubens,  welcher  seine  bestimmte  feststehende  Form  hat, 
von  welcher  man  nicht  abweichen  darf,  einen  Gegensatz  von 
Orthodoxie  und  Heterodoxie.  Die  letztere  wird  mit  dem  Aus- 
druck sTepoSiSa<Tx.aXsiv  bezeichnet  1  Tim.  1,  3.  6,  3.  Die  Lehre, 
an  welche  man  sich  halten  soll,  ist  die  gesunde,  die  Oyiaivouffa 
SiW/caXix  1  Tim.  1,  10.  Tit.  1,  9.  2, 1,  der  Xo-o;  Oytr,?  Tit.  2,  8, 
XoYoi  OyiatvovTe;  2  Tim.  1,  13.    Als  die  wahre  Heilslehre  kann 


34S  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

sie  keine  das  geistige  Wohl  des  Menschen  gefährdende  Elemente 
enthalten.  Die  Irrlehre  wird  mit  einer  um  sich  greifenden  Krank- 
heit verglichen  2  Tim.  2,  17.  Auch  ri  xaXri  SiSa<TxaXia  heisst  die 
wahre  Lehre  1  Tim.  4,  6,  oder  auch  schlechthin  tj  SiSa(T>ca>.ia 
1  Tim.  6,  1.  Wer  sich  zur  falschen  Lehre  bekennt,  ist  ein 
a2psTUÖ5  avOptüTco?,  ein  Häretiker,  weil  er  im  Unterschied  von 
der  allgemein  angenommenen  Lehre  seinen  eigenen  selbstge- 
wähllen  Weg  geht,  z^iarpxTvrxi  6  toiouto;  xal  aaapTavsi,  wv 
auTOJCÄTaxpiTo;  Tit.  3,  10  f.  Was  einen  solchen  zum  Häretiker 
macht,  ist  sein  Abfall  vom  Glauben,  von  der  tticti?.  Das  Wort 
m(TTi;  bezeichnet  demnach  hier,  was  für  diese  Briefe  besonders 
charakteristisch  ist,  nicht  mehr  den  Glauben  als  subjectives  Ver- 
halten, sondern  die  mn-zii;  ist  im  objectiven  Sinn  ein  Inbegriff  von 
Wahrheiten,  welche  als  stehende  Lehre  gelten.  Man  vgl.  über 
diese  Bedeutung  von  xt<7Tt?  1  Tim.  4,  1.  6,  10.  21.  Tit.  1,  4, 
wo  auch  von  einer  xoiv;^  TCi<JTt;  die  Rede  ist. 

Hat  einmal  der  Glaube  auf  diese  Weise  zu  einem  fixirten 
Dogma,  einem  bestimmten  System  theoretischer  Überzeugungen 
sich  gestaltet,  so  kann  diess  nicht  geschehen  sein,  ohne  dass 
sich  eine  fester  geschlossene  Gemeinschaft  gebildet  hat.  Es 
spricht  sich  in  diesen  Briefen  schon  ein  bestimmtes  kirchliches 
Bewusstsein  aus,  und  die  Idee  der  Kirche  erhält  ihre  dogmatische 
Bedeutung.  OIxo;  öeoO,  sxxXyiaia  ösoO  ^övto?,  <jtuXo?  xal  iSpai«- 
(Aa  Tyfi;  xkn^zioi.c,  sind  1  Tim.  3,  15  die  den  Begriff  der  Kirche 
bezeichnenden  Ausdrücke.  Die  Grundanschauung,  auf  welcher 
der  Begriff  der  Kirche  beruht,  ist  der  olxo;  ösoO,  Wie  man  sich 
Gott  in  dem  seiner  Verehrung  gewidmeten  Tempel  wohnend  und 
in  ihm  gegenwärtig  denkt,  so  ist  auch  die  Kirche  als  die  Ge- 
meinschaft derer,  welche  in  demselben  Glauben  vereinigt  sind, 
gleichsam  ein  von  der  Gegenwart  Gottes  erfüllter  Raum.  Wenn 
aber  die  Kirche  ein  Pfeiler  und  eine  Grundfeste  der  Wahrheit 
genannt  wird,  so  ist  damit  gesagt,  dass  das,  was  die  Kirche  zur 
Kirche  macht,  die  Substanz  ihres  Wesens  ausmacht,  die  Lehre 


Lclirbegriff  der  Pastoralb  riefe.  343 

isl,  welche  als  der  Inbegriff  der  Wahrheil  in  ihr  niedergelegt  ist, 
und  welche  sie  daher  auch  in  ihrer  unversehrten  Reinheit  zu 
bewahren  hat.  In  demselben  Sinne  wird  2  Tim.  2,  19  von  der 
Kirche  gesagt,  zur  Beruhigung  gegen  die,  welche  durch  falsche 
Lehren,  wie  durch  die  Läugnung  einer  künftigen  Auferstehung, 
vom  rechten  Wege  abirren  und  Manche  in  ihrem  Glauben  ver- 
wirren, dass  der  feste  Grund  Gottes  unerschüttert  fest  stehe; 
er  hat,  wie  Säulen  und  Grundsteine  mit  Inschriften  versehen  sind, 
die  doppelte  Inschrift:  1)  es  kennt  der  Herr  die  ihm  Angehören- 
den, d.  h.  es  kann  niemand  zu  dieser  Gemeinschaft  gehören,  der 
nicht  von  Christus  geprüft  und  gewählt  ist,  und  2)  es  stehe  ab 
von  Ungerechtigkeit,  d.  h.  von  Unsittlichkeit  überhaupt,  wozu 
auch  die  Irrlehre  gehört,  jeglicher,  der  den  Namen  des  Herrn 
ausspricht.  Die  Kirche  hat  also  schon  ihre  bestimmte  Umgren- 
zung, und  es  bilden  alle,  die  zu  ihrer  Gemeinschaft  gehören, 
eine  in  sich  geschlossene  Einheit;  doch  ist  diese  noch  nicht  so 
abgeschlossen,  dass  nicht  ein  bedeutender  Unterschied  der  Mit- 
glieder in  ihr  stattfinden  und  selbst  Irrlehrer  noch  in  ihr  sein 
könnten.  Es  gibt,  wie  es  in  demselben  Zusammenhang  2  Tim. 
2,  20  heisst,  in  einem  grossen  Hause  nicht  blos  goldene  und 
silberne  Gefässe,  sondern  auch  hölzerne  und  irdene,  die  einen 
zur  Ehre,  die  andern  zur  Unehre.  Wenn  nun  einer  sich  gereinigt 
hat  von  diesen,  den  Gefässen  der  Unehre,  den  Irrlehrern  und 
ihren  Irrthümern,  wird  er  ein  Gefäss  zur  Ehre  sein,  geheiligt 
und  nützlich  dem  Herrn,  zu  jedem  guten  Werke  bereit.  Es 
spricht  sich  hier  gegen  die  Irrlehrer  noch  nicht  der  Ketzerhass 
der  spätem  Kirche,  sondern  eine  mildere  Ansicht  aus,  es  wird 
besonders  empfohlen,  sie  zurechtzuweisen,  ob  nicht  vielleicht 
Gott  ihnen  geben  möchte  Sinnesänderung  zur  Erkennlniss  der 
Wahrheit  und  sie  zur  Besonnenheit  kommen  aus  der  Schlinge  des 
Teufels,  der  sie  gefangen  hält.  Erst  wenn  mehrmalige  Ermah- 
nungen vergeblich  gewesen  sind,  soll  man  mit  einem  ketzerischen 
Menschen  keine  weitere  Gemeinschaft  haben.    Alle  diese  gegen 


344  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

die  Häretiker  gerichteten  Vorschriften  zielen  im  Zusammenhang 
mit  den  die  hierarchische  Gestaltung  der  Kirche  betreffenden  An- 
ordnungen, die  der  Hauptzweck  dieser  Briefe  sind,  darauf  hin, 
die  Einheit  der  Kirche  zu  realisiren  und  den  Grundsatz  festzu- 
stellen, dass  Einheit  im  Glauben  und  in  der  Lehre  die  wesent- 
liche Grundlage  der  Kirche  ist.  Daher  ist  nichts  wichtiger,  als 
das  den  Vorstehern  besonders  empfohlene  Festhalten  an  der 
kirchlichen  Lehre,  dem  xaxa  tviv  SiSa)(riv  ttkjtö?  Xo^o?  Tit.  1,  9, 
der  Oyiaivouca  ^i.^xay.xkix,  welche  demnach,  da  es  nur  darauf 
ankommt,  alles  ihr  Widerstreitende  von  ihr  fernzuhalten,  als 
eine  im  Wesentlichen  schon  fixirte  gedacht  werden  muss. 

Der  Gegensatz  gegen  die  Häretiker  hat  zuerst  dem  Dogma 
von  der  Einheit  der  Kirche  seinen  Ursprung  und  seine  bestimmte 
Bedeutung  gegeben.  Derselbe  Gegensatz  hat  überhaupt  auf  den 
Lehrbegriff  dieser  Briefe  vielfach  eingewirkt.  Hatte  der  Paulinis- 
mus zuerst  die  einfachen  Thatsachen  des  christlichen  Glaubens 
zum  Gegenstand  der  Reflexion  und  Speculation  gemacht,  und 
seine  Antithese  gegen  das  Judenchrislenthum  auf  dem  Wege  einer 
dialektischen  Polemik  durchgeführt,  so  halten  dagegen  die  Pa- 
storalbriefe für  nöthig,  vom  Streit  abzumahnen,  und  wiederholt 
einzuschärfen,  dass  das  Wesen  der  christlichen  Religiosität  nicht 
in  spitzfindigen  Speculationen,  sondern  in  der  practischen  An- 
erkennung der  Grundwahrheiten  der  Religion,  im  Glauben  und 
in  der  Liebe  bestehe.  So  beginnt  gleich  der  erste  Brief  an  Timo- 
theus  mit  der  Aufforderung,  p,/)  sTspoStSacnca^siv,  [xviSe  ■K^oniftn 
[xuöoti;  xal  ysvsaXoyiai?  aTrepavTOi;,  airive;  ^yiTifidet;  wapej^ouai  [xaX- 
>.ov  Yi  oi5tovo{Aiav  ÖsoO  nriv  sv  Triaret,  man  soll  sich  nicht  halten  an 
Mythen  und  überschwängliche  Genealogien,  welche  mehr  Streit- 
fragen zum  Vorschein  bringen,  als  dass  sie  die  im  Glauben  an- 
zuerkennende Religionsökonomie  Gottes  erkennen  lassen,  das 
Ziel  der  Verkündigung  aber  sei  Liebe  aus  reinem  Herzen  und 
gutem  Gewissen  und  ungeheuchelteni  Glauben.  Vgl.  2  Tim.  2, 
14.  22.   Tit.  3,  9.    Die  Vergleichung  dieser  Stellen  zeigt,  wie 


Lehrbegriff  der  PaBtoralbriefc.  345 

das  Transcendente  der  gnostischen  Speculation  auch  den  Pauliner 
von  der  Nolhwendigkeit  überzeugte,  auf  das  Praclische  zu  drin- 
gen. Der  Paulinismus  hatte  selbst  in  seinem  Gegensatz  gegen 
das  Gesetz  und  dasJudenthum  ein  der  Gnosis  verwandtes  Element. 
Um  so  mehr  lag  es,  als  die  Gnosis  in  das  Häretische  übergieng, 
in  dem  Interesse  des  Paulinismus,  eher  einzulenken,  als  mit  der 
Gnosis  Hand  in  Hand  zu  gehen.  Die  Missbilligung  der  [/.a^rai 
vojjLixai  Tit.  3,  9,  der  Disputationen  über  den  religiösen  Werlh 
des  Gesetzes  und  des  alten  Testaments,  so  wie  die  ausdrückliche 
Erklärung,  oti  xaXo;  6  v6fj.o;  1  Tim.  1,  5,  sollen  dem  paulinischen 
Antinomismus  sein  Bedenkliches  nehmen.  Dieselbe  Tendenz 
scheint  auch  die  Stelle  zu  haben,  die  von  jeher  als  classischer 
Ausspruch  für  das  Inspirationsdogma  galt,  2  Tim.  3,  16.  Wenn 
hier  mit  besonderem  Nachdruck  gesagt  wird,  jegliche  Schrift 
der  zuvor  genannten  ispa  ypa(A{xaTa,  unter  welchen  in  jedem  Fall 
vorzugsweise  das  alte  Testament  zu  verstehen  ist,  sei  von  Gott 
eingegeben  und  nützlich  zur  Lehre,  zur  Überführung,  zur  Zu- 
rechtweisung, zur  Zucht  in  der  Gerechtigkeit,  so  scheint  hier 
absichtlich  ein  anerkennendes  Zeugniss  für  das  von  den  Gnostikern 
hauptsächlich  auch  auf  paulinischer  Grundlage  so  sehr  herabge- 
setzte alte  Testament  ausgestellt  zu  werden.  Und  wie  auf  das 
Practische  besonderes  Gewicht  gelegt  wird,  so  soll  die  Ermah- 
nung, sich  an  die  ispa  y^<x.}x\Kxxx  zu  halten,  -als  die  ^uva^iieva 
(TO(pwat  ei;  ctoT/iptav  hix  xtcTew?  r^?  £v  Xptorö  'Ir,(joO  auf  die  bib- 
lische Grundlage  der  christlichen  Religiosität  hinweisen. 

Die  Antithese  gegen  die  Gnosis  lässt  sich  hier  nicht  wohl 
verkennen,  es  gibt  aber  überhaupt  nichts  Charakteristisches  im 
Lehrbegriff  dieser  Briefe,  wobei  nicht  die  Einwirkung  der  Gnosis 
sich  nachweisen  Hesse.  In  dieser  Hinsicht  ist  hier  besonders  die 
Lehre  von  Gott  zu  erwähnen.  In  mehreren  Stellen  dieser  Briefe 
zeigt  sich  das  Bestreben,  das  absolute  Wesen  Gottes  hervorzu- 
heben und  in  prägnanten  Prädicaten  auszusprechen,  wie  nament- 
lich in  den  beiden  Doxologien  des  ersten  Briefes  1, 17:  tö  ßaatXsl 


346  Zweiter  Absclinitt.     Dritte  Periode. 

Töv  aiwvtov,  a<p8apT<j),  aopdcTw,  {jlovm  öeß  TijAifl  xal  Xo^a  ei;  tou? 
aiöva;  töv  aiwvwv,  ajAiov;  6,  15:  6  [i.axapto?  xal  [xovo?  S'jvairr,?, 
6  ßot<Tt>.S'j?  Töv  ßa<ii>.eu6vT0)v ,  xal  xupto?  töv  xupt£u6vTti>v ,  6  [xovo? 
ej^tov  aOavadtav,  (pö;  oixöv  a7rp6<7iTOv,  8v  el^sv  oOSsl;  av9po)7:o}v, 
oOSe  iSstv  Suvarai,  g»  Ti|AYi  xal  xpaxo;  aitoviov,  a{^-r,v.  Emphatische 
und  gehäufte  Prädicate  dieser  Art,  welche  alle  nur  den  Begriff 
des  absoluten  Wesens  der  Gottheil  ausdrücken  sollen,  sind  ganz 
der  Weise  der  Gnosliker  gemäss,  einige  derselben  haben  auch 
eine  nähere  Verwandtschaft  mit  gnostischen  Vorstellungen,  wie 
ßaTtXeu;  töv  alwvwv,  «pö;  otxwv  aTTpodiTOv.  Solche  Prädicate, 
deren  sich  hauptsächlich  die  Gnostiker  bedienten,  eigneten  sich 
auch  die  kirchlichen  Schriftsteller  an,  da  sie  im  Gegensatz  gegen 
die  Gnostiker  und  die  Angriffe  derselben  auf  den  altleslament- 
lichen  Anthropomorphismus  und  Anthropopathismus  nichts  mehr 
zu  vermeiden  hatten ,  als  eine  zu  sinnliche  Vorstellung  von  dem 
Wesen  der  Gottheit.  Antithetisch  gegen  die  Gnosis  ist  dagegen 
wieder  die  Bestreitung  der  Ansicht,  dass  es  eine  unreine 
Schöpfung  gebe.  Wenn  von  den  Häretikern  dieser  Briefe  gesagt 
wird,  dass  sie  zu  heirathen  verbieten  und  sich  der  Speisen  zu 
enthalten  gebieten,  welche  Gott  geschaffen  zum  Genüsse  mit 
Danksagung  für  die  Glaubigen,  und  die,  so  die  Wahrheit  erkannt 
haben,  1  Tim.  4,  3,  so  bezieht  sich  diess  deutlich  auf  den  gno- 
stischen  Dualismus  und  den  gnostischen  Widerwillen  gegen  die 
materielle  Schöpfung  als  eine  unreine.  Im  Gegensatz  gegen 
diesen  Dualismus  wird  gesagt,  jegliches  Geschöpf  sei  gut  (ttäv 
XTt<ij7.a  xaXöv)  und  nichts  verwerflich,  wenn  es  mit  Danksagung 
genossen  werde,  denn  es  werde  geheiligt  durch  Gottes  Wort 
und  Gebet,  1  Tim.  4,  4,  alles  sei  rein  den  Reinen,  den  Befleckten 
aber  und  Ungläubigen  sei  nichts  rein,  sondern  befleckt  sei  ihr 
Sinn  und  Gewissen.  Kann  die  materielle  Welt  als  eine  unreine, 
nicht  als  das  Werk  Gottes  betrachtet  werden,  so  muss  sie  einem 
von  Gott  verschiedenen  Princip  zugeschrieben  m erden,  es  liegt 
daher  in  dieser  gnostischen  Weltansicht  unmittelbar  die  gnosti- 


Lehrbegriff  der  Pas toralbriefe.  347 

sehe  Trennung-  des  Weltschöpfers  von  dem  höchsten  Gott.  Die 
Widerlegung  dieses  der  absoluten  Idee  Gottes  widerstreitenden 
Dualismus  ist  es  nun,  wenn  behauptet  wird,  es  sei  in  der  ma- 
teriellen Well  nichts  so  unrein,  dass  es  nicht  für  ein  Werk  Gottes 
gehalten  werden  könne,  alles  Geschaffene  sei  als  solches  auch 
gut.  Wie  in  dieser  Beziehung  die  christliche  Idee  Gottes  gegen 
den  gnostischen  Dualismus  gerechtfertigt  werden  mussle,  so  gab 
auch  der  gnostische  Particularismus  eine  Veranlassung,  das  Ab- 
solute der  Gottesidee  festzuhalten.  Es  ist  auffallend,  wie  ange- 
legentlich in  mehreren  Stellen  dieser  Briefe  die  Universalität  der 
Gnade  Gottes  in  Christus  hervorgehoben  wird.  Die  Hauptstelle 
ist  1  Tim.  2,  3:  touto  yap  >iaX6v  xal  ätuoSs/Ctov  evtoTCiov  toO  cco- 
T^po;  T^fAßv  öeoO,  o;  TCocvTa?  avöpwTTOu;  öeXei  (TwO-^vai  xai  st;  eTriyvcöcrtv 
dcXr^sia?  iXBeiv.  El;  yap  6so;,  e!;  xal  [xsctTYi;  OsoO  xal  avöptoTrwv, 
avOpwTTo;  XpiTTÖ;  'Ir,(ToO;,  6  ^ou;  eauröv  avTi>.i>Tpov  uTrsp  xavTcov. 
Vgl.  4,  10:  Gott  ist  dwnnp  TvavTwv  avöpwTTow.  Tit.  2,  H  ^7:e(pavr, 
•fi  x^P'^S  '^^^  ^^'^^  "^  (TcüTT^pto;  TwKcriv  avOpwTTOt;.  Diese  nachdrück- 
lichen Erklärungen  setzen  die  entgegengesetzte  Behauptung  vor- 
aus, dass  die  erlösende  und  seligmachende  Gnade  Gottes  nicht 
allen  Menschen  bestimmt  sei.  Sie  liegt  in  der  bekannten  Unter- 
scheidung, welche  die  Gnostiker  zwischen  Pneumatikern,  Psy- 
chikern  und  Hylikern  machten.  Da  nur  die  selig  werden,  oder 
in  das  Lichtreich  aufgenommen  werden  können,  welche  das 
pneumatische  Lichtprincip  in  sich  haben,  so  kommt  diess  auch 
nur  den  Pneumatikern  zu,  und  es  gibt  demnach  ein  von  Natur 
selig  werdendes  Geschlecht,  einen  Particularismus,  welcher  alle, 
die  nicht  in  diese  Classe  gehören,  von  der  Seligkeit  ausschlicsst. 
Die  Antithese  gegen  diesen  gnostischen  Particularismus  gibt  sich 
noch  besonders  dadurch  zu  erkennen,  dass  dem  GwO-^vai  aus- 
drücklich das  eXOsTv  si;  ^wyvtixriv  dXiriOeia;  gleichgesetzt  wird. 
Denn  eben  darauf  stützten  ja  die  Gnostiker  ihren  Particularismus, 
dass  sie  die  einzige  Bedingung  der  Seligkeit,  die  yvö^ri;,  oder, 
wie  in  diesen  Briefen  wiederholt  gesagt  wird,  die  iTr^yvcofft;  t-?!; 


34S  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

dcXyiösia?  (vgl.  2  Tim.  2,  25),  als  den  speciellen  Vorzug  Ein- 
zelner, einer  bestimmten  Classe  betrachteten.  Das  Charakteri- 
stische des  Lehrbegriffs  dieser  Briefe  liegt  demnach  hauptsächlich 
in  der  Lehre  von  Gott.  Es  zeigt  sich  hier  das  theils  durch  die 
Gnosis  angeregte,  theils  im  Interesse  des  christlichen  Bewusst- 
seins  sich  in  Antithese  zu  ihr  setzende  Streben,  die  absolute  Idee 
Gottes  so  festzuhalten,  dass  weder  im  Reiche  der  Natur  noch  im 
Reiche  der  Gnade  eine  mit  ihr  unvereinbare  Schranke  stehen 
bleibt.  Aus  diesem  Gesichtspunkt  ist  auch  die  mit  dieser  Auf- 
fassung der  Idee  Gottes  eng  zusammenhängende  Christologie 
dieser  Briefe  zu  betrachten. 

Charakteristisch  ist  in  dieser  Beziehung,  dass  in  diesen 
Briefen  so  oft  Gott  selbst  zum  Hauptsubject  der  erlösenden 
Thätigkeit  gemacht  wird.  Schon  Schleiermacher  hat  den 
Ausdruck  0eö?  cco-nrip  1  Tim.  2,  3.  Tit.  3,  4  als  eine  nur  diesen 
Briefen  eigene  Bezeichnungsweise  bemerklich  gemacht.  Ebenso 
eigenthümlich  ist,  dass  die  in  dieser  Beziehung  sich  äussernde 
Thätigkeit  Gottes  mit  Ausdrücken  bezeichnet  wird,  welche  die 
Epoche  des  Christenthums  mit  einem  plötzlich  erschienenen  Liebt 
vergleichen ,  sie  als  eine  Epiphanie  Gottes  darstellen.  'ETretpavyi 
-fi  X^^P^?  "^^^  ^^^^  '^  «JWTTipto?  7rä<iiv  dcvöpwTTOi?,  Tit.  2,  H,  "fi  xpvi- 
(iTonri;  xal  ii  (ptXavOpwTTia  (auch  diese  den  Begriff  der  Güte  und 
Liebe  so  stark  hervorhebenden  Ausdrücke  sind  bezeichnend) 
d7r£(pavri  ToO  ctor/ipo;  loy.öv  6soC»,  Tit.  3.  4.  Wenn  nun  gleich 
neben  Gott  auch  Christus  selbst  co^T^p  und  seine  Erscheinung 
eine  ^Triipaveta  genannt  wird,  2  Tim.  1, 10.  4,  1.8,  so  haben  doch 
diese  beiden  Begriffe  des  «rcoT^p  und  der  exifpaveta,  wie  sie  im 
Zusammenhang  dieser  Briefe  sich  fmden,  immer  etwas  Eigen- 
thümliches,  das  man  sich  gleichfalls  nur  aus  dem  Einfluss  der 
Gnosis  erklären  kann.  Der  Begriff  des  cwTTip  hatte  überhaupt 
bei  den  Gnostikern  eine  besondere  Bedeutung,  und  wenn  mit 
dem  Ausdruck  e7ri(pavetx  nur  der  Begriff  eines  plötzlich  erschei- 
nenden Lichts  verbunden  werden  kann,  so  ist  auch  diess  ganz 


Lehrbegriff  der  Pas toralbriefe.  349 

der  Anschauungsweise  der  Gnosliker  gemäss,  welche  in  An- 
sehung des  Christenthuins  besonders  das  Unvermitlelte  seines 
Eintritts  in  die  Welt  hervorhoben,  und  abstrahirend  von  allem, 
was  die  Person  Jesu  vor  der  Taufe  betraf,  das  Christenthum  als 
ein  neues  Moment  des  allgemeinen  Wellentwicklungsprocesses, 
als  eine  neue  Erscheinung  des  in  ihm  sich  offenbarenden  ab- 
soluten Geistes  auffassten.  Aus  dieser  Sphäre  scheinen  wenig- 
stens diese  Ausdrücke  genommen  zu  sein.  Auch  die  Zukunft 
Christi  zum  Gericht  wird  eTunpavsta  genannt,  1  Tim.  6,  14.  Wie 
man  sich  diese  als  eine  plötzlich  eintretende  dachte,  so  verband 
man  diese  Vorstellung  auch  mit  der  ersten  dxiipaveta,  als  einer 
unmittelbaren  Offenbarung  Gottes. 

Was  nun  aber  die  Person  Jesu  selbst  betrifft,  so  kommen 
hier  zwei  Stelion  in  Betracht  1  Tim.  2,  5.  und  3,  16.  Nach  der 
erstem  Stelle  ist  wie  Ein  Gott,  so  auch  Ein  Mittler  Gottes  und  der 
Menschen,  avöpwro;  Xpicrrö;  'l7i«7oC)?,  der  sich  selbst  zum  Löse- 
geld für  alle  gegeben  hat.  Hier  wird  demnach  Christus,  unge- 
achtet seines  Mittleramts,  sehr  bestimmt  Mensch  genannt,  und  es 
kann  demnach  in  jedem  Fall  nur  das  Menschliche  als  das  Sub- 
stanzielle  seiner  Persönlichkeit  gedacht  werden,  wodurch  diese 
Christologie  ihren  paulinischen  Standpunkt  in  seinem  Unterschied 
von  dem  johanneischen  behauptet.  Gleichwohl  würde  das  Sub- 
jecl  der  Persönlichkeit  Christi  nicht  blos  avöptoTToc,  sondern  auch 
Oso;  sein,  wenn  in  der  zweiten  Stelle  Gsö?  ^ipxvepcüBv;  ev  capxi  die 
richtige  Lesart  wäre.  Da  nun  aber  nach  kritischen  Gründen  o; 
oder  0  zu  lesen  ist,  so  kann  als  Gegenstand  des  allgemein  als  gross 
anerkannten  Geheimnisses  der  christlichen  Religion  nur  überhaupt 
der  bezeichnet  sein,  welcher  im  Fleisch  erschien,  im  Geist  ge- 
rechtfertigt wurde,  d.  h.  vermöge  des  höhern  geistigen  Princips, 
das  in  ihm  war,  als  der  legitimirt  wurde,  der  er  war,  wie  ja 
TTveutta  überhaupt  das  Princip  der  Messianität  ist.  'EfpavsptoSvi  dv 
<7ap5cl  kafin  in  Vergleichung  mit  2,  5  nur  heissen,  er  war  an  sich 
Mensch,  trat  als  Mensch  auf,  nur  liegt  darin  schon  der  Begriff 


8^0  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

der  i7;i(pavsi3t,  von  welcher  zuvor  die  Rede  war,  weil  aber  das 
(pxvcpouiOai  ein  «pxvepoOaöai  sv  capxl  war,  musste  er  als  der  Träger 
der  göttlichen  Offenbarung  £v  xv5u[axti  StxaioOoöai,  wobei  wohl 
hauptsächlich  an  die  Auferstehung  zu  denken  ist,  oder  auch  an 
die  Erscheinung  bei  der  Taufe.  In  diesen  drei  Paaren  von  Sätzen 
scheint  absichtlich  das  eine  Glied  mehr  gnostisch,  das  andere 
mehr  anlignostisch  zu  lauten.  Das  (pav£po>07ivai  ev  ocl^yX  musste 
vor  allem  gegen  die  Gnostiker  geltend  gemacht  werden,  das 
St/taicoOfivai  £v  TTveuu-xri  ist  dagegen  mehr  gnostisch,  besonders 
wenn  man  es  auf  die  Taufe  bezieht.  Dem  auf  die  Geisterwelt 
sich  beziehenden  ö(pGyivxt  äyye^^oi;,  wobei  die  gnostische  Vor- 
stellung verglichen  werden  kann,  nach  welcher  Christus  durch 
die  Reiche  der  Engel  hindurchgieng,  um  zum  Pleroma,  zu  dem 
dva>.-/i(pOrivai  ev  So^v;  zu  gelangen,  entspricht  das  in  der  sinnlichen 
Welt  geschehene  /cy)pu;^ö-^vat  äv  sOvedi,  und  völlig  analog  ist  das 
Yerhältniss  der  beiden  folgenden  Sätze  iTrwTeuQyj  ev  x.ocjxw  und 
aveXiQ<pG7i  ev  So^ti  ,  so  dass  durch  jeden  dieser  Sätze  so  viel  mög- 
lich auf  gleiche  Weise  dem  orthodoxen  und  dem  gnostischen 
Interesse  genügt  werden  soll,  indem  Christus  ebenso  sehr  nach 
seinem  Yerhältniss  zur  idealen  geistigen  Welt,  die  die  Gnostiker 
vorzugsweise  in's  Auge  fassten,  als  nach  seinem  Yerhältniss  zur 
realen  Wirklichkeit,  deren  historischen  Boden  die  Orthodoxen 
im  Gegensatz  gegen  die  Gnostiker  festhalten  musjiten,  betrachtet 
wird.  Die  Hervorhebung  und  Zusammenstellung  dieser  christo- 
logischen  Momente  nähert  sich  schon  der  Form  eines  Symbols. 
In  anlignostischem  Interesse  wurden  ja  auch  die  ersten  Symbole 
abgefassl  und  in  sie  namentlich  auch  die  1  Tim.  6,  13  erwähnte 
Bestimmung,  die  unter  Pontius  Pilatus  geschehene  Kreuzigung 
aufgenommen.  Bei  allen  diesen  für  den  Lehrbegriff  dieser  Briefe 
charakteristischen  Zügen  lässt  sich  nicht  wohl  verkennen,  wie 
sehr  er  in  den  Ideenkreis  der  Gnostiker  hinübergreift,  aber  auch 
wie  schwankend  seine  Haltung  dadurch  ist,  dass  er  von  der 
Gnosis  ebenso  angezogen  als  abgeslossen  wurde.    Am  meisten 


Lehrbegriff  der  Pastoralbriefe  u.  des  Johannes-Er.     351 

fällt  diess  bei  der  Frage  auf,  wer  denn  eigentlich  das  Subject 
aller  der  christologischen  Sätze  1  Tim.  3,  16  ist.  Mensch  wird 
zwar  Christus  ausdrücklich  genannt,  aber  von  einem  mensch- 
lichen Subject  kann  doch  eigentlich  nicht  gesagt  werden  e^pavs- 
pcjOv]  dv  capxi.  Es  passt  diess  nur  für  ein  höheres  übermensch- 
liches Wesen,  für  einen  Aeon  der  Gnostiker.  Da  die  Pastoralbriefe 
von  ihrem  paulinischen  Standpunkt  aus  dazu  noch  nicht  fortzu- 
gehen wagten,  so  musste  hier  noch  eine  Lücke  bleiben,  man 
weiss  nicht  recht,  wer  denn  das  Subject  der  Christologie  ist.  Ein 
blosser  Mensch  scheint  es  nicht  sein  zu  können,  und  doch  fehlt 
noch  die  Kategorie  für  ein  anderes  Subject.  Hier  musste  also 
noch  ein  weiterer  Fortschritt  der  neutestamentlichen  Theologie 
geschehen  zu  der  höheren  Stufe,  auf  welche  wir  ihr  noch  zu 
folgen  haben. 

2.   Der  johanneische  Lehrbegriff. 

In  ihm  erreicht  die  neutestamentliche  Theologie  ihre  höchste 
Stufe  und  ihre  vollendetste  Form.  Vergleicht  man  den  johan- 
neischen  Lehrtypus  mit  den  bisher  dargestellten  Lehrbegriffen, 
so  ist  leicht  zu  sehen ,  wie  er  sie  alle  zu  seiner  Voraussetzung 
hat,  und  in  ihm  erst  sich  ausgleicht  und  abschliessl,  was  bisher 
immer  noch  einen  Punkt  offen  Hess,  auf  welchem  ein  weiterer 
Schritt  zur  Einheit  des  Ganzen  geschehen  konnte. 

Die  Grundidee,  in  welcher  der  johanneische  Lehrbegriff 
seine  Einheit  und  das  Princip  seiner  Entwicklung  hat,  ist  in  dem 
Prolog  des  Evangeliums  so  klar  ausgesprochen,  dass  er  sich  uns 
sogleich  in  seiner  hohen  übergreifenden  Bedeutung  darstellt.  Es 
ist  die  Idee  des  Logos,  der  im  Anfang  war,  bei  Gott  war,  selbst 
Gott  war,  durch  welchen  alles  geworden  ist,  der  das  Princip 
des  Lebens  und  des  Lichts  der  Menschen  ist.  Als  der  fleisch- 
gewordene  Logos  ist  er  ein  und  dasselbe  Subject  mit  dem  Men- 
schen Jesus.  Die  Christologie  des  neuen  Testaments  halte  von 
Anfang  an  die  Tendenz,  Jesu  als  dem  Sohn  Golles  eine  höhere 


WSft  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

Über  das  Menschliche  hinausgehende  Bedeutung  zu  geben,  sie 
hatte  ihm  schon  Präexistenz  und  Weltschöpfung  als  die  ihm  eigen- 
thümlichen  Prädicate  beigelegt;  den  höchsten  Ausdruck  aber  für 
alles,  was  in  Hinsicht  der  Person  Christi  den  Inhalt  des  christ- 
lichen Bewusstseins  ausmacht,  hat  sie  nun  erst  in  dem  Begriff 
des  Logos  gefunden,  mit  welchem  dasselbe  Subject,  das  seiner 
äussern  zeitlichen  Erscheinung  nach  der  Mensch  Jesus  ist,  als 
ein  in  der  unmittelbarsten  Beziehung  zu  Gott  stehendes  selbst- 
sländiges  göttliches  Wesen,  ja  selbst  als  Gott  bezeichnet  wird. 
In  dem  Satze:  6e6?  vy  6  Xoyo;  kann  öso?  nur  als  Prädicat  des 
Subjects  6  >.6yo;  genommen  werden,  der  Logos  ist  also,  wenn 
auch  nicht  als  der  absolute  Gott,  doch  als  Gott,  als  göttliches 
Wesen  prädicirt.  Schon  im  Begriffe  des  Logos  und  in  der  ganzen 
Beschreibung,  die  von  ihm  gegeben  wird,  liegt  es,  dass  er  nur 
als  ein  für  sich  bestehendes  göttliches  Wesen  gedacht  werden 
kann,  es  weist  darauf  auch  noch  besonders  diess  hin,  dass  von 
ihm  gesagt  wird,  er  sei  Trpö?  töv  Osöv  gewesen,  sei  6  u)v  sl?  tov 
xoXtüov  toO  Tuarpo?,  Die  eigene  Verbindung  von  sivai  mit  ei;  und 
Trpö;  mit  dem  Accusativ  soll  das  Sein  des  Logos  bei  Gott  nicht  blos 
als  ein  ruhendes,  sondern  als  ein  thätiges  bezeichnen,  der  Logos 
ist  in  steter  Thätigkeit  und  Bewegung,  und  das  Object  seiner 
Thäligkeil  und  Bewegung  ist  das  Wesen  Gottes;  sein  immanentes 
Verhältniss  zu  Gott  ist  dadurch  ausgedrückt,  dass  er  als  der  tov 
si;  TÖv  x6>.7cov  toO  xaTpo;  der  gleichsam  zum  Herzen  Gottes  sich 
bewegende  ist,  und  alles,  was  ihn  von  Gott  trennt  und  unter- 
scheidet, in  der  Einheil  mit  ihm  aufzuheben  sucht.  Eben  diess 
setzt  aber  auch  voraus,  dass  er  sich  zugleich  seines  persönlichen 
Unterschieds  von  Gott  bewusst  ist.  Das  Absolute  seines  Wesens 
liegt  daher  in  dem  Ineinandersein  dieser  beiden  Momente,  dass 
sein  Verhältniss  zu  Gott  ebensosehr  der  Unterschied  in  der  Ein- 
heit, als  die  Einheil  im  Unterschied  ist.  Dass  nun  aber  derVer- 
fa5?ser  des  Evangeliums  die  höhere  göttliche  Würde,  die  er  Jesu 
beigelegt  wissen  wollte,  so  einfach  und  schlechthin  mit  dem  Be- 


Johanneisober  Lebrbegriff.  363.i 

griffe  Logos  bezeichnete,  lässt  sich  nur  daraus  erklären,  dass 
diese  Idee  dem  Ideenkreise  der  Zeit  und  Localität,  in  welcher 
das  Evangelium  erschien,  gar  nicht  fremd  war.  Es  ist  bekannt, 
welche  Bedeutung  die  Logosidee  schon  in  der  alexandrinischen 
Religionsphilosophie  hatte.  Es  wäre  gegen  alle  geschichtliche 
Analogie,  wenn  man  annehmen  wollte,  der  Evangelist  sei  ohne 
alle  Beziehung  zu  den  Zeitvorstellungen,  der  damals  so  weit 
verbreiteten  Logosidee,  auf  seine  Lehre  vom  Logos  gekommen. 
Diese  Verwandtschaft  seiner  Idee  mit  der  alexandrinischen  Reli- 
gionsphilosophie kann  man  ohne  Bedenken  zugeben,  wenn  man 
nur  genauer  bestimmt,  was  er  der  Natur  der  Sache  nach  allein 
aus  ihr  genommen  haben  kann.  Nicht  den  Inhalt;  denn  wenn  er 
es  nicht  zuvor  schon  als  eine  wesentliche  Bestimmung  des  christ- 
lichen Bewusstseins  angesehen  hätte,  Christus  seiner  höhern 
Würde  nach  in  das  Identitätsverhällniss  zu  Gott  zu  setzen,  das 
der  Logosbegriff  ausdrückt,  so  hätte  er  nicht  auf  den  Gedanken 
kommen  können,  diese  gangbare  Zeitvorstellung  auf  Christus 
überzutragen.  Es  soll  also  damit  eigentlich  nur  diess  gesagt 
werden:  wenn  die  höhere  Würde,  welche  das  christliche  Be- 
wusstsein  Christus  beilegt,  auf  ihren  bestimmten  Begriff  und 
Ausdruck  gebracht  werden  soll,  so  kann  diess  auf  keine  ad- 
äquatere Weise  geschehen,  als  durch  den  Logosbegriff",  wobei 
als  vermittelnde  Vorstellung  auch  noch  diess  mitgewirkt  haben 
kann,  dass  die  christliche  Lehre,  deren  Urheber  Jesus  ist,  Xoyoi;, 
der  >.6yo;  Geou  genannt  wurde,  wie  ja  Jesus  auch  in  der  Apo- 
kalypse der  ^oyog  Osou  heisst.  Die  Bedeutung  Wort,  d.  h.  Off'en- 
barungsorgan,  muss  im  Begriff'e  des  Logos  immer  festgehalten 
werden,  da  Xoyo;  auch  Vernunft  nur  insofern  heisst,  als  das 
Denken  auch  ein  Reden  ist.  Aber  auch  zu  dem  gnostischen 
Ideenkreise  und  namentlich  der  gnostischen  Aeonenlehre,  in 
welcher  dieselben  Begriffe,  die  wir  hier  haben,  in  einer  ganz 
analogen  Verbindung  vorkommen,  Xoyo?,  ^wyi,  <pt3;,  xXripwfta, 
;^api;,  aXioOcia,  steht  der  johanneische  Prolog  in  einer  sehr  nahen 

Banr,  neutest.  Theol.  ««i 


354  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

Beziehung  und  die  ganze  Anschauungsweise,  die  ihm  zu  Grunde 
liegt,  hat  einen  der  gnostischen  verwandten  Charakter. 

Es  fragt  sich  nun  hier  zunächst,  in  welchem  Verhältniss 
der  Logos  zu  Gott  steht,  und  wie  sich  der  Evangelist  das  Wesen 
Gottes  überhaupt  dachte?  Der  Prolog  selbst  nennt  den  Logos  den 
{jLovoysvYi?,  den  [Aovoyevvl;  uoo;,  und  sagt  von  Gott:  6e6v  oOSel;  swpaxs 
TTtoTTOTS  •  6  [^ovoysvfl;  'jio?,  ö  wv  ei;  tov  /.oXtiov  tou  Traxpo;,  sxsivo; 
£^y,Yv^<rxTo  1,  18.  Gott  hat  niemand  je  gesehen,  weil  das  Wesen 
Gottes  überhaupt  über  alles  Endliche  absolut  erhaben  und  seiner 
Natur  nach  unsichtbar  ist.  Ist  Gott  an  sich  unsichtbar,  so  liegt 
schon  darin,  dass  nichts  Körperliches  von  Gott  prädicirt  werden 
kann,  sein  Wesen  im  Gegensatz  gegen  alles  Körperliche  ein  rein 
geistiges  ist.  Es  wird  aber  auch  ausdrücklich  die  Geistigkeit 
Gottes  auf  eine  so  unmittelbare  und  bestimmte  Weise  ausge- 
sprochen, wie  wir  diess  vor  unserem  Evangelisten  nirgends  finden. 
lJv£ij,y,a  6  Oco;,  sagt  er  in  der  in  dieser  Beziehung  Epoche 
machenden  Stelle  4,  24.  Geist  ist  Gott,  und  die,  die  ihn  anbeten, 
müssen  ihn  im  Geist  und  in  der  Wahrheit  anbeten.  Die  Geislig- 
keit  wird  hier  vom  Wesen  Gottes  in  einem  so  emphatischen  Sinn 
ausgesagt,  dass  mit  ihr  auch  die  räumliche  Beschränkung  der 
Gottesverehrung,  wie  der  Cultus  zu  Jerusalem  und  auf  Garizim, 
unvereinbar  ist.  Geist  und  Gott  sind  somit  schlechthin  identische 
Begriffe,  alles,  worin  das  absolute  Wesen  Gottes  besteht,  hat 
nur  darin  seinen  Grund,  dass  Gott  Geist  ist.  Hat  man  bisher  den 
Geist  nur  als  eines  der  vielen  Prädicate  des  Absoluten  angesehen 
und  von  einem  Geiste  Gottes  gesprochen,  um  Gott  das  Höchste 
zuzuschreiben,  was  er  nach  aussen  mittheilen  kann,  so  ist  es 
nun  zum  bestimmten  Bcwusstsein  gekommen,  dass  man  sich  vom 
Wesen  Gottes  überhaupt  keine  Vorstellung  machen  kann,  wenn 
man  nicht  schlechthin  von  ihm  sagt,  dass  er  Geist  sei.  In  diesem 
Begrinr  haben  alle  Beziehungen,  in  welchen  das  Wesen  Gottes 
als  ein  absolutes  aufgefasst  wird,  ihre  Einheit.  Ist  Gott  Geist, 
so  ist  er  seinem  Wesen  nach  unsichtbar,  das  Eine  ist  nur  der 


Johanneisoher  Lebrbegriff.  355 

negative,  das  Andere  der  positive  Ausdruck.  Wird  von  Gott 
gesagt,  dass  ihn  niemand  je  gesehen  habe,  so  wird  dadurch 
nicht  ausgeschlossen,  dass  er  auf  geistige  Weise  gesehen  wer- 
den kann,  und  ein  Object  des  vorstellenden  und  denkenden 
Pewusstseins  ist.  Parallel  mit  i,  18  ist  die  Stelle  14,  8.  Wenn 
hi^r  Philippus  Jesum  bittet,  ihm  den  Vater  zu  zeigen,  und  Jesus 
sic;h  selbst  allein  für  die  sichtbare  Erscheinung  Gottes  erklärt,  so 
lie{;t  hierin,  dass  Gott  überhaupt  nur  auf  geistige  Weise  gesehen 
werden  kann. 

Wie  in  diesen  Stellen  das  Wesen  Gottes  als  reine  Geisligkeit 
bestimmt  wird,  so  scheint  er  in  der  Stelle  5,  17,  in  welcher  ein 
fortdauerndes  epYa^scöai  von  Gott  ausgesagt  wird,  als  absolute 
Tbätigkeit  prädicirt  zu  werden.  O  Twanrip  [xou  iw?  apTt  epya^sTat, 
Kiybi  epYa^0(7.at,  hält  Jesus  den  Juden  entgegen,  welche  ihn 
wegen  seiner  Heilung  am  Sabbath  tadelten.  Er  identificirt  sein 
ipYa!^£<jOat  mit  dem  spYa^saOxi  Gottes,  um  dadurch  sein  Thun  am 
Sabbath  zu  rechtfertigen.  Nun  hat  ja  aber  Gott  am  Sabbath  ge- 
ruht, wie  kann  also  Jesus  für  das  Gegentheil  der  Ruhe,  für  die 
Thätigkeit  am  Sabbath  sich  auf  Gott  berufen?  Man  sagt  gewöhn- 
lich, der  Ausspruch  Jesu  solle  die  falsche,  durch  die  göttliche 
Sabbathsrahe  veranlasste  Meinung,  wie  wenn  Gott  seit  der 
Schöpfung  ruhte,  durch  die  Idee  der  fortgehenden  schöpferischen 
oder  erhaltenden  Thätigkeit  Gottes  berichtigen.  Allein  die  Mei- 
nung, dass  Gott  seit  der  Schöpfung  ruhe,  konnten  die  Juden 
eigentlich  nicht  haben;  dass  Gott  wenigstens  durch  die  Erhaltung 
der  Welt  fortgehend  thätig  sei,  die  Sabbathsruhe  also  nur  auf 
das  Aufhören  der  unmittelbaren  Schöpfungsthätigkeit  sich  be- 
ziehe, konnten  die  Juden  nicht  läugnen.  Die  Voraussetzung, 
von  welcher  aus  Jesus  argumentirt,  kann  also  nur  diese  sein: 
Wie  es  bei  Gott  keinen  Stillstand  seiner  Thätigkeit  gibt,  so  kann 
auch  der  Sohn  auf  keine  andere  Weise  thätig  sein  und  niuss  da- 
her auch  am  Sabbath  wirken.  Aber  für  Gott  gab  es  ja  einen 
Stillstand  seiner  Thätigkeit,   wenn  er  am  Sabbath  ruhte,   und 

23* 


356  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

wenn  er  wegen  dieser  Ruhe  den  Sabbath  einsetzte,  so  haben  die 
Juden  Recht,  dass  das  spya^sdöat  am  Sabbath  kein  göttliches 
dpYa^sTOai  ist.  Es  handelt  sich  hier  ja  um  eine  Handlung  am 
Sabbath.  Beruft  man  sich  nun  für  das,  was  man  am  Sabbath 
thun  oder  nicht  thun  darf,  auf  Gott,  so  kann  doch  das  bestim- 
mende Moment  nur  die  Ruhe  Gottes  am  Sabbath  sein.  Behauptet 
dagegen  Jesus,  dass  die  Thätigkeit  Gottes  keinen  Stillsland  habe, 
so  ist  klar,  dass  er  auch  keine  Ruhe  Gottes  am  Sabbath  annimmt, 
und  den  Sabbath  nicht  als  göttliches  Institut  anerkennt.  Es  ist 
demnach  der  Standpunkt  der  absoluten  Gottesidee,  auf  welchen 
das  Evangelium  sich  stellt,  auf  welchem  jede  besondere  göttliche 
Thätigkeit  in  der  Allgemeinheit  eines  überzeitlichen  Wirkens  auf- 
geht. Nur  aus  diesem  Grunde  kann  es  ein  solches  Ruhen  von  der 
Arbeit,  wie  im  alten  Testament  von  Gott  als  dem  Schöpfer  der 
Welt  erzählt  wird,  für  den  höchsten,  durch  Christus  geoffenbarten 
Gott  gar  nicht  geben.  Nur  desshalb  kann  auch  sein  Gesandter  in 
seinem  Wirken  an  den  jüdischen  Sabbath  nicht  gebunden  sein. 
Es  ist  schwer  zu  sagen,  wie  derselbe  Sabbath,  welcher  von  Gott 
feierlich  eingesetzt  worden  ist,  hier  als  für  Gott  nicht  e.xistirend 
dargestellt  werden  kann;  so  viel  ist  aber  doch  wohl  ausser  Zwei- 
fel, dass  das  dpya^soöai  Gottes  über  den  Sabbath  gestellt  wird, 
weil  das  Wesen  Gottes  überhaupt  nur  als  absolute  Thätigkeit 
gedacht  werden  kann.  Es  ist  also  auch  diess  ein  zum  johan- 
neischen  Gottesbegriff  gehörendes  Moment,  in  welchem  gleich- 
falls die  absolute  Erhabenheit  Gottes  über  alles  Endliche  ausge- 
sprochen werden  soll. 

Je  transcendenter  aber  das  Wesen  Gottes  ist,  um  so  mehr 
liegt  in  dieser  Transcendenz  die  Nothwendigkeit  eines  das  Ver- 
hältniss  Gottes  und  der  Welt  vermittelnden  Wesens.  Diess  ist 
der  Begriff  des  Logos  als  des  göttlichen  Offenbarungsorgans.  Ein 
solches  kann  er  aber  nur  sein  in  seiner  unmittelbaren  Einheit  mit 
Gott.  Nur  als  der  {xovoyevy;;  ut6;,  6  Av  ei;  töv  xöXwov  toO  TCXTpö; 
kann  er  e^yiystfTÖai,  offenbaren  und  aussprechen,  was  ohne  ihn 


Johanneiseber  Lehrbegriff.  357 

in  dem  an  sich  seienden  absoluten  Wesen  Gottes  für  die  Menschen 
verschlossen  ist.  In  dieser  Identität  mit  Gott  ist  er  der  (xovoysvt.i; 
Trapa  xaTpö;  1,  14,  der  {/-ovoYev;^;  uto?  1,18.  Da  er  ausdrücklich 
6eö;  genannt  wird,  so  kann  auch  durch  utö;  nur  seine  Wesens- 
gemeinschaft mit  Gott  ausgedrückt  sein.  Im  Begriff  des  Sohns 
liegt  von  selbst  der  Begriff  der  Zeugung.  Er  ist  nicht  geschaffen, 
wie  die  Welt  und  alles  was  ist,  durch  ihn  geschaffen  ist,  sondern 
gezeugt,  und  der  uJö;  OsoO  hat  daher  im  johanneischen  Evangelium 
eine  ganz  andere  Bedeutung  als  bei  den  Synoptikern.  Was  die 
ysYevvYia^vot  ix.  6eou  1,  13.  14  auf  relative  Weise  sind,  ist  er  als 
(xovoYsviri?  auf  absolute.  Daher  ist  auch  Gott  auf  eine  ganz  eigen- 
thümliche  Weise  sein  Vater,  ^rarrip  i'^io;,  5,  18.  Auch  10,  36, 
wo  die  Behauptung  Jesu,  dass  Gott  sein  Vater  ist,  bei  den  Juden 
den  Vorwurf  der  Gotteslästerung  hervorruft,  weil  er  sich,  ob- 
gleich Mensch,  zu  einem  Gott  mache,  kann  mit  Beidem  nur  das- 
selbe gesagt  sein.  Jesus  ist  desshalb  Gott,  weil  er  aus  Gott 
gezeugt,  aus  seinem  Wesen  hervorgegangen  ist.  Man  kann 
nicht  so  geradezu  sagen  (vgl.  Köstlin,  joh.  Lehrb.  S.  92),  dass 
das  Evangelium  die  Art  und  Weise  des  Ursprungs  so  ganz  und 
gar  nicht  andeute,  dass  sich  über  die  Entstehung  des  Logos  bei 
Johannes  nichts  finde;  er  sei  eben  von  jeher  bei  dem  Vater,  und 
es  handle  sich  somit  nur  darum,  seine  gegenwärtige  gegebene 
Beziehung  zum  Vater  kennen  zu  lernen.  Der  Evangelist  sagt 
hierüber  wenigstens  so  viel,  als  er,  ohne  in  eine  weitere  meta- 
physische Erörterung  einzugehen,  auf  seinem  evangelischen 
Standpunkt  sagen  konnte.  Alles,  was  hierüber  zu  sagen  ist, 
enthält  der  Begriff  des  uiö?,  sofern  in  ihm  das  Verhältniss  des 
Sohns  zum  Vater  als  die  vollkommenste  Wesensidentität  gedacht 
wird.  Einheit  und  Gleichheit  mit  Gott  ist  der  Grundbegriff  dieses 
Verhältnisses.  Der  Logos  ist  als  Sohn  sosehr  mit  dem  Vater 
eins,  dass  er  eigentlich  nur  die  concrete  Erscheinung  des  Vaters 
ist.  Wer  mich  sieht,  lässt  der  Evangelist  Jesum  sagen,  14,9. 
vgl.  12,  45,  der  siehet  den  Vater.    Ich  und  der  Vater  sind  eins, 


35S  Zweiter  Äjbschnitt.     Dritte  Periode. 

10,  30.  Vgl.  V.  38,  iv  s[/,ol  6  7raTr,p,  ^ay*»*  ^^  "^^  TcaTpl,  in  dem- 
selben Sinn,  in  welchem  er  17,  21  zu  den  Jüngern  sagt:  i'va 
TravTS?  ^v  wfji,  /.adw?  cii,  Trarep,  dv  dpiol,  y.ou'fu  sv  erol,  iva  xat 
auTol  dv  Yifxiv  §v  oifjiv.  Aus  dieser  Stelle  ist  hauptsächlich  zu 
sehen,  welcher  Art  diese  Einheit  ist.  Der  Vater  und  der  Logos 
oder  der  Öohn  sind  zwar  zwei  verschiedene  Personen,  jeder  von 
beiden  hat  sein  persönliches  Selbstbewusstsein,  aber  der  per- 
sönliche Unterschied  ist  dadurch  aufgehoben,  dass  jeder  von 
beiden  in  dem  Ich  des  Andern  sein  eigenes  persönliches  Ich  er- 
kennt. Die  Einheit,  welche  beide  verbindet,  kann  daher  in 
letzter  Beziehung  nur  als  eine  moralische  bestimmt  werden. 
Jeder  von  beiden  weiss  sich  mit  dem  Andern  so  eins  und  fühlt 
sich  mit  ihm  so  unzertrennlich  verbunden,  dass  in  Keinem  von 
beiden  auch  nur  der  Gedanke  einer  Verschiedenheit  entstehen 
kann.  Jeder  gibt  sein  eigenes  Selbst  an  das  des  Andern  hin,  und 
lässt  sein  eigenes  Selbstbewusstsein  in  dem  des  Andern  aufgehen. 
Vermöge  dieser  Wesensidentität  kommen  dem  Logos  oder  Sohn, 
da  er,  wenn  auch  nicht  der  pvo;  6soi;,  doch  deö;  ist,  auch  in 
seiner  menschlichen  Erscheinung  wahrhaft  göttliche  Attribute  zu. 
Wie  der  Vater  auf  absolute  und  ursprüngliche  Weise  das  Leben 
in  sich  hat,  so  auch  der  Sohn  durch  Mittheilung  des  Vaters,  5, 26. 
Wenn  auch  das  Eine  das  Andere  aufzuheben  und  nicht  beides 
zugleich  sein  zu  können  scheint,  Mittheilung  und  Absolutheit,  so 
muss  doch  im  Sinne  des  Evangeliums  gesagt  werden,  dass  auch 
der  Sohn  auf  absolute  Weise  das  Leben  in  sich  hat.  Er  greift  mit 
der  absoluten  Machtvollkommenheit  des  Vaters  in  die  natürliche 
Ordnung  der  Dinge  ein,  und  seine  wunderbaren  Werke,  seine 
SpY«,  sind  der  unmittelbare  Reflex  der  Wirksamkeit  Gottes.  Für 
den  Logos  gibt  es  ferner  keine  Schranken  des  Wissens,  er  ist, 
wie  Gott  allwissend.  Sein  Wissen  umfasst  zunächst  alle  himm- 
lischen Dinge,  xa  iTcoupavia,  3,  12,  die  er  durch  eigene  An- 
schauung erkannt  hat,  3,  32.  8,  38,  aber  auch  das  Irdische,  die 
gesammten  Gedanken,  Gesinnungen  und  Entschlüsse  der  Men- 


Jobanneischer  Lehrbegriff.  359 

sehen.  Dieses  Wissen  zeigt  sich  bei  der  Begegnung  Nathanaels 
1,  49  f.,  ferner  2,  25.  4,  19.  6,  64,  wo  wiederholt  hervorge- 
hoben wird,  dass  Jesus  das,  was  man  sonst  nur  auf  empirischem 
Wege  wissen  kann,  in  sich  selbst  wusste,  dv  eauTto.  Vgl.  auch 
H,  4.  15,  wo  er  von  Anfang  voraus  weiss,  welchen  Ausgang 
die  Krankheit  des  Lazarus  nehmen  wird.  Für  sein  höheres  über- 
menschliches Wissen  gibt  es  absolut  keine  Schranken,  weder  in 
räumlicher  noch  in  zeitlicher  Ferne,  weder  in  der  Vergangenheit 
noch  in  der  Zukunft,  weder  äusserlich  noch  innerlich.  Ganz  im 
Sinne  des  ursprünglichen  Evangeliums  sagt  Petrus  21,  17:  Herr 
du  weisst  alle  Dinge  u.  s.  w.  Indem  der  Logos  so  auch  in  seiner 
irdischen  Erscheinung  die  Erhabenheit  seines  göttlichen  Wesens 
offenbart,  so  zeigt  er  ebendamit  im  Gegensatz  zu  allem  Andern 
die  Gleichheit  seines  Wesens  mit  Gott. 

In  seiner  Einheit  mit  Gott  ist  der  Logos  das  höchste  Offen- 
barungsorgan. Indem  er  nun  aber  auf  diese  Weise  seine  Wirk- 
samkeit in  der  Welt  und  Menschheit  äussert,  hat  er  als  das 
Princip  des  Lebens  und  des  Lichts  der  Menschen  seinen  Gegen- 
satz an  der  Finsterniss.  Dabei  fragt  sich  nun,  wie  dieser  Gegen- 
satz zu  nehmen  ist,  ob  als  ein  ethischer,  in  der  Freiheit  des 
Menschen  gegründeter,  oder  als  ein  metaphysischer,  somit  ab- 
soluter. Für  das  Erstere  spricht,  dass  der  Logos  nur,  sofern  er 
er  das  Licht  der  Menschen  ist,  1,  4,  als  das  in  der  Finsterniss 
leuchtende  Licht  mit  der  Finsterniss  in  Berührung  kommt,  für 
das  Letztere,  dass  die  Finsterniss  schon  ihrem  Begriffe  nach  eine 
die  Freiheit  bedingende  Macht  zu  sein  scheint.  Es  ist  neuestens 
sehr  entschieden  die  Behauptung  aufgestellt  worden,  das  johan- 
neische  Evangelium  habe  eine  dem  gnostischen  Dualismus  ganz 
analoge  Wellansicht.  Die  Lehre  von  einer  Verschiedenheit  der 
menschlichen  Naturen  im  johanneischen  Evangelium  könne  nur 
dann  geläugnet  werden,  wenn  man  den  Muth  habe,  alle  diejenigen 
Stellen,  welche  den  Gegensatz  des  Guten  und  Bösen,  des  Lichts 
und  der  Finsterniss  in  seiner  ganzen  Schärfe  darstellen,  das  ver~> 


360  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

schiedene  Verhalten  der  Menschen  in  Beziehung  auf  die  christ- 
liche Offenbarung  auf  eine  objectiv  begründete  Nothwendigkeit 
zurückführen,  einen  principiellen  Unterschied  von  vorn  herein 
in  die  menschlichen  Naturen  setzen,  willkürlich  hinwegzuerklären. 
Nur  der  Vorstellung  einer  von  entgegengesetzten  Principien  her- 
rührenden ursprünglichen  Verschiedenheit  der  menschlichen  Na- 
turen lassen  sich  alle  Ausdrücke  des  Evangeliums  einreihen,  in 
welchen  von  dem  Gegensatz  des  Guten  und  Bösen  unter  den 
Menschen  die  Rede  ist.  Wenn  Jesus  3, 6  die  Nothwendigkeit  der 
Gebart  durch  das  Wasser  und  den  Geist  dadurch  rechtfertige, 
dass  das  aus  dem  Fleisch  Gezeugte  Fleisch,  das  aus  dem  Geist 
Gezeugte  Geist  ist,  so  sei  offenbar,  dass  tö  ysYevvrijxsvov  nicht 
eine  Seite  der  menschlichen  Natur,  sondern  diese  vollständig 
bezeichne,  und  dass  somit  nicht  die  menschliche  Natur  nach 
ihren  beiden  Seiten,  der  geistigen  und  der  leiblichen,  sondern 
die  Menschheit  nach  zwei  entgegengesetzten  Classen  unterschie- 
den werde.  Die  Geburt  von  oben  ist  ja  nur  desshalb  für  den 
Eintritt  in  das  Himmelreich  nothwendig,  weil  der  Fleischliche 
durchaus  nicht  geistig  ist.  Auf  der  andern  Seite  aber  dürfe  die 
Stelle  nicht  so  verstanden  werden,  als  sei  nun  das  ganze  Men- 
schengeschlecht von  Hause  aus  fleischlich,  und  als  sondere  sich 
das  geistige  Geschlecht  aus  dieser  an  sich  ganz  gleichartigen 
Menschheit  nur  durch  die  Wiedergeburt  ab.  Das  ysvvnöyivai 
avwOsv  bezeichne  nur  die  Geburt  von  oben ,  welche  nur  für  die- 
jenigen eine  ganz  neue  höhere  Geburt  sei,  eine  Wiedergeburt, 
welche,  wie  Nicodemus,  von  Hause  aus  nichts  weiter  haben, 
als  die  Empfänglichkeit  für  das  Gute,  wie  für  das  Böse.  Die 
andere  Möglichkeit  werde  dadurch  nicht  ausgeschlossen,  dass 
nämlich  bei  Einigen  die  Geburt  aus  Gott  der  substanzielle  Grund 
ihres  Wesens  sei,  dessen  sie  sich  in  dem  Verlauf  ihres  zeitlichen 
Lebens  nur  bewusst  zu  werden  brauchen,  wie  andererseits  die 
Unempfänglichkeit  für  das|Höhere,  die  Unmöglichkeit,  die  Lehre 
Jesu  innerlich  zu  vernehmen,  in  dem  Ursprung  aus  dem  Teufel 


Johanneischer  Lebrbegriff.  361 

gegründet  sei,  8,  43.  44.  Auch  11,  52  sei  von  Kindern  Gottes 
unter  den  Heiden  und  ohne  Vermittlung  des  christlichen  Glaubens 
die  Rede.  Wie  auch  3,  20.  21  die  Menschen  schon  unabhängig 
von  der  persönlichen  Erscheinung  des  Logos  entweder  das  Böse 
oder  das  Gute,  die  Wahrheit,  thun,  und  für  die  Letztern  durch 
den  Eintritt  des  Lichts  nur  das  Neue  hinzukomme,  dass  ihre 
Werke  als  in  Gott  vollbracht  erscheinen,  dass  sie  also  zu  dem 
bestimmten  Bewusstsein,  zur  Erkenntniss  ihrer  thatsächlichen 
Gemeinschaft  mit  Gott  gelangen,  so  werde  auch  11,  52  das  Ver- 
hältniss  der  Gotteskindschaft  als  von  der  historischen  Erscheinung 
des  Logos  und  dem  durch  ihn  gestifteten  Glauben  unabhängig 
dargestellt.  Das  adäquate  Yerhältniss  des  Menschen  zu  Gott  sei 
so  sehr  ein  substanzielles,  wie  von  der  Willkür,  so  auch  von 
dem  Bewusstsein  unabhängiges,  dass  es  zunächst  allgemein  ohne 
ein  bestimmtes  und  entwickeltes  Wissen  vorhanden  sei.  Es  sei 
diess  ausdrücklich  der  Sinn  der  Worte  Jesu  3,  8,  das  xvsOfxa 
weht,  wo  es  will,  und  man  vernimmt  seine  Stimme,  ohne  zu 
wissen,  von  wo  es  kommt  und  wohin  es  geht,  und  diess  sei  all- 
gemein der  Zustand  eines  jeden,  der  aus  dem  Geiste  geboren  ist. 
Indem  man  die  hiemit  gesetzte  Verschiedenheit  der  mensch- 
lichen Naturen  in  ihrer  Consequenz  auffasste,  wollte  man  auch 
dem  Johanneischen  Evangelium  dieselbe  Dreiheit  von  Principien 
zuschreiben ,  auf  welche  die  Gnostiker  ihren  Dualismus  zurück- 
führten. Wie  die  von  Natur  Bösen  vom  Teufel  stammen,  die 
Guten  vom  Logos,  so  könne  der  Urheber  der  psychischen  Naturen 
und  der  materiellen  Welt  überhaupt  nur  der  vom  höchsten  Gott 
verschiedene  Gott  des  Judenthums  und  des  alten  Testaments  sein. 
Den  Hauptbeweis  dafür  sollte  neben  der.  Stelle  3,  17  die  Stelle 
8,  44  darbieten.  Wenn  nun  auch  ein  solcher  Gnosticismus  sich 
im  Evangelium  nicht  nachweisen  lässt,  und  höchstens  die  Prä- 
missen in  ihm  liegen  könnten,  so  muss  man  doch  gestehen,  dass 
der  Evangelist  in  den  genannten  Stellen,  zu  welchen  auch  noch 
die  Stelle  12,  36  f.  hinzugesetzt  werden  kann,  die  Verschieden- 


362  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

heit  der  Guten  und  Bösen  auf  eine  über  die  Sphäre  der  sittlichen 
Freiheit  hinausliegende  Nothwendigkeit  zurückzuführen  scheint, 
so  dass  demnach  der  Gegensatz  der  beiden  Principien,  Licht  und 
Finslerniss  für  ihn  nicht  blos  eine  ethische,  sondern  auch  eine 
metaphysische  Bedeutung  hatte.  So  nahe  er  aber  dieser  Ansicht 
kommt,  den  weiteren  Schritt,  welcher  ihn  zum  Dualisten  machte, 
hat  er  gleichwohl  nicht  gelhan.  Mit  derselben  besonnenen  Hal- 
tung, mit  welcher  er  in  der  Lehre  vom  Logos  das  gnostische 
Gebiet  zwar  nahe  genug  berührt,  aber  doch  das  specifisch  Gno- 
stische von  sich  fern  hält,  bleibt  er  auch  hier  auf  der  Grenzscheide 
stehen,  von  welcher  aus  die  Entscheidung  ebenso  gut  auf  die 
eine  als  die  andere  Seite  fallen  kann.  Es  wird  somit  zwar  der 
Unterschied  und  Gegensatz  der  menschlichen  Naturen,  wie  er 
als  Thatsache  der  Erfahrung  in  der  Wirklichkeit  gegeben  ist,  mit 
aller  Schärfe  aufgefasst,  aber  doch  die  Möglichkeit  nicht  ausge- 
schlossen, ihn  aus  dem  Princip  der  Freiheit  als  eine  Folge  der 
sittlichen  Selbstbestimmung  zu  begreifen.  Es  bleibt  daher  auch 
der  Gegensatz  der  beiden  Principien,  Licht  und  Finsterniss, 
wenn  er  gleich  nur  in  die  sittliche  Welt  fällt,  für  die  Weltan- 
schauung des  Evangelisten  stehen,  und  es  schliesst  sich  daran 
die  weitere  Frage  an ,  wie  er  durch  den  Logos  vermittelt  und 
aufgehoben  wird?  .)*.SHh 4' 

-^  Der  Logos  ist  das  in  der  Finsterniss  scheinende  Licht,  der 
Evangelist  lüsst  ihn  aber  auch  im  Fleisch  erscheinen.  O  Xoyot; 
cap^  eysveTO  ist  ein  Hauptsatz  der  johanneischen  Theologie.  Wie 
soll  man  sich  aber  diese  Fleischwerdung  denken,  und  wie  ist  es 
möglich,  dass  mit  dem  Logos  als  dem  göttlichen  Subject  in  der- 
selben Persönlichkeit  ein  anderes  menschliches  Subject  zusammen- 
existirte?  Dringt  sich  nun  hier  sogleich  die  Frage  auf,  ob  der 
fleischgewordene  Logos  die  volle  Realität  einer  menschlichen 
hatte,  so  sind  zunächst  alle  die  Momente  in's  Auge  zu  fassen, 
welche  für  die  Verneinung  dieser  Frage  zu  sprechen  scheinen. 
Es  kommt  in  dieser  Beziehung  vor  allem  in  Betracht,  dass  schon 


Johanneisoher  Lehrbcgriff:  36H 

der  Sprachgebrauch  nicht  gestattet,  <Tap^  eysysTo  gleichbedeutend 
mit  avOpwTCo?  iyevsTo  zu  nehmen.  Es  ist  mit  Recht  bemerkt  wor- 
den, dass  crxp^  im  neuen  Testament  nie  seine  ursprüngliche  Be- 
deutung verliert.  Es  wird  zwar  synekdochisch  zur  Bezeichnung 
des  ganzen  Menschen  gebraucht,  wie  in  dem  öfters  vorkommen- 
den Tcaora  cap^,  oder  wenn  [liol  cap^  so  viel  als  eine  Person  heisst, 
es  wird  ferner  besonders  häufig  das  Natürliche  am  Menschen  als 
solches  in  seinem  Unterschied  vom  Göttlichen  capE  genannt,  das 
Wort  bezeichnet  daher  überhaupt  das  Menschliche  in  seiner  na- 
türlichen Schwäche  und  Endlichkeit,  das  Beschränkte,  Äusser- 
liche,  bei  Paulus  das  Princip  der  Sünde  in  der  menschlichen 
Natur,  immer  aber  wird  in  allen  diesen  Ausdrucksweisen  die 
menschliche  Natur  überhaupt  nur  insofern  durch  dieses  Wort 
bezeichnet,  als  die  Leiblichkeit  als  dasjenige  angesehen  wird, 
was  ihre  wesentliche  Eigenthümlichkeit  ausmacht.  Es  kann  daher 
auch  bei  Johannes  oap^  eysysTo  nur  von  der  Annahme  eines  Leibs 
verslanden  werden.  Von  einer  Seele  Christi,  welche  er  zur 
Erlösung  dahingehe,  ist  zwar  10,  11.  15.  17  die  Rede,  aber  die 
Vergleichung  von  13,  37.  38  zeigt,  dass  hier  die  <\>K)y^fi  nur  das 
animalische  Lebensprincip  ist,  und  derselbe  AfFect,  welcher 
12,  27  der  ^uyri  beigelegt  wird,  wird  11,33.  13,21  dem  TrveOaa 
zugeschrieben,  worin  demnach  nichts  Weiteres  enthalten  sein 
kann,  als  wenn  vom  Logos  auch  sonst  Liebe,  Betrübniss,  Un- 
wille ausgesagt  werden. 

Lässt  demnach  schon  der  von  dem  Verfasser  des  Evangeliums 
gebrauchte  Ausdruck  nur  an  einen  vom  Logos  angenommenen 
Leib  denken,  so  schliesst  auch  der  Zusammenhang  des  Prologs 
die  Möglichkeit  aus,  die  Fleischwerdung  von  einer  eigentlichen 
Menschwerdung  zu  verstehen.  Die  Fleischwerdung  greift  gar 
nicht  als  ein  so  wichtiges  Moment  in  die  im  Prolog  geschilderte 
Wirksamkeit  des  Logos  ein,  dass  sie  sie  in  zwei  Perioden  theiite, 
die  menschliche  und  vormenschliche;  das  «rapE  iyi^zxo  erscheint 
nur  als  Nebenbestimmung.  Der  Logos  ist  von  Anfang  an  so  sehr 


364  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

dasselbe  mit  sich  identische  Subject,  dass  in  dein  ganzen  Verlauf 
seiner  Wirksamkeil  nichts  eintreten  kann,  was  ihn  erst  zu  diesem 
bestimmten  Subject  machte,  oder  zu  einem  andern  Subject,  als 
er  bisher  war.  Sein  Dasein  in  der  Welt  ist  in  seiner  vollen 
Realität  schon  dadurch  gesetzt,  dass  er  das  in  der  Finsterniss 
scheinende  Licht  ist.  Wie  er  von  Anfang  an  dasselbe  Subject 
ist,  so  findet  auch  bei  denen,  welche  im  Glauben  mit  ihm  eins 
werden,  vor  wie  nach  dasselbe  Verhältniss  der  Kindschaft  Gottes 
statt.  Seine  Fleischwerdung  ist  nur  die  höchste  Manifestation 
seiner  Herrlichkeit  für  die,  die  ihn  in  sich  aufnehmen.  Wie  die 
Aufnahme  des  Logos  bei  denen,  die  an  ihn  glauben,  eine  so 
segensvolle  ist,  dass  sie  durch  ihn  Kinder  Gottes  werden,  so  ist 
es  nur  eine  besondere  Seite  dieses  Verhältnisses,  dass  der  Logos 
in  seiner  sichtbaren  Erscheinung  im  Fleisch  unter  ihnen  Wohnung 
machte,  damit  sie  seine  Herrlichkeit  in  unmittelbarer  Anschauung 
sehen  könnten.  Das  crapE  äysvsTO  hat  daher  gar  nicht  die  Be- 
deutung, die  es  als  Menschwerdung  haben  zu  müssen  scheint, 
es  ist  nur  ein  Accidens  der  stets  sich  gleich  bleibenden  Persön- 
lichkeit des  Logos. 

Folgt  nun  auch  daraus  nicht,  dass  die  vom  Logos  ange- 
nommene (jap^  nicht  dieselbe  Realität  hat,  wie  die  <yap^  eines 
Menschen,  so  fehlt  es  doch  nicht  an  Stellen,  nach  welchen  man 
sich  eine  ganz  eigene  Vorstellung  von  dieser  «rapE  machen  muss. 
Wenn  Jesus  oO  (pavepco;,  dXV  cJ:  sv  xpuzxö  nach  Jerusalem  reist, 
7,  10,  und  hier  denselben  Juden,  welche  schon  früher  mit  ihm 
in  Berührung  gekommen  waren,  unkenntlich  ist,  7,  15,  wenn 
die  Art,  wie  er  im  Tempel  den  Juden,  die  ihn  steinigen  wollen, 
entschwindet,  nur  eine  wunderbare  sein  kann,  8,  59  C»nan  vgl. 
auch  10,  39,  wo  ^^viXöev  t/.  tyic  ysipo;  aOröv  auch  ein  solches 
Entschwinden  zu  sein  scheint),  so  scheint  an  keine  feste  materielle 
Leiblichkeit  gedacht  werden  zu  können,  sondern  nur  an  eine  wan- 
delbare, nach  Willkür  veränderliche,  an  eine  immaterielle  solcher 
Art,  wie  sie  auch  zu  dem  Wandeln  auf  dem  See  passt,  6,  16  f., 


Johanneisoher  Lebrbegriff.  Mrai 

welche  Erzählung  der  Verfasser  des  Evangeliums  auch  desswegen 
aus  den  Synoptikern  aufgenommen  haben  mag,  weil  sie  seine 
Vorstellung  von  der  Leiblichkeit  Jesu  begünstigte.  Alle  diese 
Data,  welche  leicht  noch  vermehrt  werden  könnten,  scheinen 
demnach  dafür  zu  sprechen,  dass  die  <7ap^  des  fleischgewordenen 
Logos  nicht  von  einer  menschlichen  Natur  in  ihrem  wahren  und 
vollen  Sinne  verstanden  werden  kann. 

Wie  soll  man  sich  aber  diese  cap^  denken,  wenn  sie  nicht 
zu  einer  doketischen  Erscheinung  werden  soll?  Es  kommt  auf 
der  andern  Seite  in  Betracht,  dass  der  Evangelist  den  fleischge- 
wordenen Logos  mit  der  Person  Jesu  von  Nazareth  vollkommen 
identificirt  und  ihn  auf  dieselbe  Weise,  wie  wir  ihn  aus  den 
synoptischen  Evangelien  kennen,  als  menschliches  Subject  auf- 
treten und  handeln  lässt.  Ja,  es  werden  auch  solche  Bestimmungen 
in  dem  Evangelium  festgehalten ,  welche  nur  für  eine  wirklich 
menschliche  Individualität  passen  und  die  Vereinigung  einer  voll- 
ständigen menschlichen  Persönlichkeit  mit  dem  persönlichen  Lo- 
gos voraussetzen.  Die  wiederholte  Erwähnung  der  Mutter  und 
der  Brüder  Jesu,  2,  1  f.  2,  12.  6,  42.  7,  3.  5.  19,  25.  26,  kann 
nur  als  ein  Zeugniss  einer  wirklich  mit  dem  Logos  verbundenen 
vollständigen  menschlichen  Natur  betrachtet  werden.  Wie  könnte 
die  Persönlichkeit  des  Erlösers  nur  aus  dem  Logos  bestanden 
haben,  wenn  doch  ein  menschliches  Weib  als  seine  Mutter  be- 
zeichnet werden  kann?  Der  Evangelist  deutet  also  hiemit  die 
menschliche  Geburt  des  Erlösers  an,  und  auf  dieselbe  Weise 
lässt  er  1,  46.  6,  42  den  Nathanael  und  die  Juden  in  Joseph  den 
Vater  Jesu  anerkennen.  Ein  weiteres  Moment,  das  in  dieselbe 
Reihe  gehört  und  sogar  an  die  Stelle  des  johanneischen  Logos 
die  rein  menschliche  Person  des  synoptischen  Jesus  zu  setzen 
scheint,  ist  die  auch  vom  johanneischen  Evangelium  bezeugte 
Mittheilung  des  Geistes  an  Jesus  bei  der  Taufe  1,  32  f.,  womit 
die  Stelle  3,  34  zu  vergleichen,  in  welcher  gleichfalls  gesagt  ist, 
Gott  habe  ihm  den  Geist  ertheilt  und  zwar  oü>c  i/.  [/.sTpou,  nicht 


366  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

in  beschränktem  Maass,  im  höchsten  Maass,  auf  absolute  Weise. 
Wozu,  muss  man  mit  Recht  fragen,  bedurfte  er  noch  bei  seiner 
Taufe  einer  besondern  Ausrüstung  mit  dem  7:ve0|jux  aytov,  wenn 
er  doch  von  Anfang  an  der  fleischgewordene  göttliche  Logos 
war?  Es  ist  von  selbst  klar,  dass  eine  solche  Mittheilung  des 
■TrvsCiv.a  ayiov  nicht  für  ein  mit  dem  Logos  identisches  Subject, 
sondern  nur  für  ein  solches  Individuum  passt,  wie  der  synoptische 
Jesus  ist. 

It^;  Um  diesen  Widerspruch  zu  lösen,  hat  man  neueslens  auch 
in  dieser  Beziehung  den  Evangelisten  zum  vollkommenen  Gnosti- 
ker  gemacht  und  behauptet,  der  1,  33  bei  der  Taufe  herabge- 
kommene  und  der  3,  34  ohne  Maass  von  Gott  gegebene  Geist  sei 
eben  der  Logos  selbst  als  ein  rein  geistiges  Wesen.  Dieses 
7rve0;j-a  habe  erst  seiner  menschlichen  Persönlichkeit  die  höhere 
Bedeutung,  die  Würde  und  Macht  des  Erlösers  gegeben.  Wäre 
der  göttliche  Logos  schon  vorher  in  ihm  gewesen,  so  begreife 
man  schlechterdings  nicht,  was  ihm  noch  bleibend  mitgetheilt 
werden  musste,  was  ihm  zu  seiner  Befähigung  als  Erlöser  noch 
fehlen  konnte,  so  wenig  als  man  sich  denken  kann,  wie  dem 
Logos  selbst  noch  der  Geist  von  Gott  ohne  Maass  mitgetheilt 
werden  konnte.  Man  müsse  also  auch  hier  dieselbe  Doppel- 
persönlichkeit voraussetzen,  wie  sie  die  Gnostiker  lehrten.  Die 
Taufe  sei  der  Moment,  in  welchem  die  Vereinigung  des  himmli- 
schen Aeon  mit  dem  irdischen  Menschen  vor  sich  gieng,  durch 
welche  der  Mensch  Jesus  zum  Träger  und  Organ  des  ewigen 
Logos,  des  eingeborenen  Sohns  wurde.  Gegen  diese  Auffassung 
lässl  sich  geltend  machen,  dass  sie  in  der  Stelle  1,  33  keinen 
sehr  festen  Haltpunkt  hat.  Es  ist  in  ihr  nicht  gesagt,  dass  Jesus 
wij'klich  von  Johannes  getauft  worden  ist,  und  die  hier  erwähnte 
Erscheinung  als  äusseres  Factum  stattgefunden  hat.  Man  kann 
sie  auch  so  verstehen,  dass  der  Täufer  in  einer  innern  Anschauung 
den  heiligen  Geist  in  der  Gestalt  einer  Taube  auf  ihn  herabkom- 
men und  auf  immanente  Weise  mit  ihm  sich  vereinigen  sah.    Die 


Johanne  ischer  Lehrbegriff. 

symbolische  Erscheinung  soll  nur  die  Bezeichnung  des  Moments 
sein,  in  welchem  dem  Täufer  in  Betreff  der  Person  Jesu  das  Be- 
wusstsein  seiner  Messianität,  deren  Princip  das  tzwzu^x  ayiov  ist, 
aufgieng.  Das  Herabkommen  des  xveufi.»  ayiov  hätte  demnach 
keine  objective  Bedeutung  für  Jesus,  sondern  nur  eine  subjective 
für  den  Täufer. 

Allein  die  Schwierigkeit,  von  welcher  hier  die  Rede  ist,  ist 
dadurch  nicht  gehoben,  sie  liegt  überhaupt  in  der  Frage,  wie 
dasselbe  Subject,  das  als  der  göttliche  Logos  in  die  evangelische 
Geschichte  eingeführt  wird,  zugleich  als  menschliches  Individuum 
in  ihr  auftreten  kann.  Diess  ist  schlechthin  unbegreiflich,  und 
es  lässt  sich  auf  diese  Frage  keine  andere  Antwort  geben,  als 
die  einfache,  dass  eben  diess  der  Unterschied  des  synoptischen 
und  johanneisclien  Christus  ist.  Der  letztere  ist  ein  absolut  gött- 
liches Subject.  Mag  es  auch  als  eine  zu  gewagte  Lösung  des 
Räthsels,  das  hier  vorliegt,  erscheinen,  den  johanneischen  Logos 
mit  einem  gnostischen  Aeon  zu  identificiren  ^  so  muss  man  doch 
gestehen,  dass  das  johanneische  Evangelium  auch  hier  ganz  auf 
der  Grenze  der  gnostischen  Anschauungsweise  steht.  Der  johan- 
neische Logos  kann  auch  in  seiner  Fleischwerdung  die  transcen- 
dente  Sphäre  nicht  verläugnen ,  aus  welcher  er  in  diese  irdische 
Ordnung  der  Dinge  herabgekommen  ist.  Es  ist  durchaus  der 
Logos,  welcher  seiner  Einheit«  mit  Gott  sich  bewusst  ist,  nur 
darin  scheint  sich  ein  menschliches  Bewusstsein  in  ihm  auszu- 
sprechen, dass  er  in  seiner  Einheit  mit  Gott  sich  auch  schlecht- 
hin abhängig  von  Gott  weiss.  Er  ist  nicht  blos  vom  Vater  in  die 
Welt  gesandt  und  nicht  von  sich  selbst  gekommen ,  5,  43.  7, 28. 
8,  28.  42,  sondern  er  kann  auch  nur  das  ausführen,  was  ihn 
der  Vater  anweist,  5,  19  f.,  er  kann  nichts  rein  von  sich  selbst 
Ihun,  ohne  den  Vater  zu  sehen  und  zu  hören,  V.  30.  Was  er 
Göttliches  hat  und  millheilt,  hat  er  vom  Vater,  seine  Lehre  ist 
nicht  die  seinige,  sondern  die  des  Vaters,  7,  i6.  8,  28.  40. 
14,24.  Wie  er  nichts  von  sich  selbst  redet,  sondern  nur  so,  wie 


368  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

der  Vater,  der  ihn  gesandt,  ihm  aufgetragen  hat,  12,49,  so  ver- 
zichtet er  auch  völlig  auf  einen  eigenen  Willen,  und  sucht  in 
allem  nur  den  Willen  und  die  Gebote  des  Vaters  zu  erfüllen, 
4,  34.  5, 30.  8, 29. 15, 10.  17,  4.  So  sehr  er  der  Erfüllung  seines 
Gebets  von  vorn  herein  gewiss  sein  kann,  11,  41.  42.  14,  16, 
so  muss  er  doch  den  Vater  bitten  und  zu  ihm  beten.  Alles  diess 
wird  14,  28  in  dem  Bekenntniss  zusammengefasst:  Der  Vater  ist 
grösser  als  ich.  Allein  gerade  diese  Stelle  zeigt,  wie  er  auch 
diese  schlechthinige  Abhängigkeit  nicht  als  Mensch  von  sich  aus- 
sagt. Wozu  sollte  er  als  Mensch  sagen,  was  sich  von  selbst 
versteht,  dass  der  Vater  grösser  ist,  als  er?  Es  kann  also  nur 
auf  sein  höheres  übermenschliches  Wesen  gehen,  und  es  ist 
somit  in  der  Stelle  klar  ausgesprochen,  dass  er  ungeachtet  seiner 
Einheit  mit  Gott  auch  in  einem  untergeordneten  Verhältniss  zu 
ihm  steht.  Es  ist  jedoch  hiemit  nichts  Anderes  gesagt,  als  was 
an  sich  schon  im  Begriffe  des  Logos  liegt,  dass  er  das  Gott  und 
Welt  vermittelnde  Offenbarungsorgan  ist.  Als  solches  greift  er 
in  demselben  Sinne,  in  welchem  5,  22  von  dem  über  den  Gegen- 
sätzen stehenden  Vater  gesagt  wird,  dass  er  nicht  richte,  sondern 
alles  Gericht  dem  Sohn  übergeben  habe,  überall,  wo  der  Gegen- 
satz zwischen  Gott  und  der  Welt  zu  vermitteln  ist,  mit  seiner 
Thätigkeit  ein.  Diess  führt  uns  auf  die  johanneische  Lehre  von 
der  Erlösung. 

Als  das  in  der  Finsterniss  scheinende  Licht,  als  der  fleisch- 
gewordene Logos  ist  der  Erlöser  in  den  Gegensatz  des  Lichts 
und  der  Finsterniss  eingetreten,  um  ihn  durch  seine  erlösende 
Thätigkeit  zu  vermitteln  und  aufzuheben.  Sobald  das  Licht  da 
ist,  wird  von  ihm  gezeugt,  damit  alle  glauben.  Der  Glaube  ist 
es  also,  wodurch  der  Gegensatz  des  Lichts  und  der  Finsterniss 
aufgehoben  wird;  denn  wer  an  ihn  als  an  das  in  die  Welt  gekom- 
mene Licht  glaubt,  der  bleibt  nicht  in  der  Finsterniss,  12,  46. 
Und  wie  er  selbst  der  eingeborene  Sohn  Gottes  ist,  so  werden 
die,  die  an  ihn  glauben,  Kinder  Gottes,  und  als  solche  in  das 


Johanneisoher  Lehrbegriff.  3G9 

eigenlhümlichsle  und  beseligendste  Verhällniss  zu  Gott  gesetzt, 
1,  12  f.  Im  Glauben  ist  daher  der  ganze  Zweck  der  Erlösung 
begriffen;  denn  wer  an  ihn  glaubt,  geht  nicht  verloren,  sondern 
hat  das  ewige  Leben,  wer  an  ihn  glaubt,  wird  nicht  gerichtet; 
wer  aber  nicht  glaubt,  ist  schon  gerichtet,  darum,  weil  er  nicht 
glaubt  an  den  Namen  des  eingebornen  Sohnes  Gottes.  Da  aber 
.das  Object  des  Glaubens  der  Sohn  Gottes  ist,  so  kommt  alles 
darauf  an,  dass  er  als  das  erkannt  werden  kann,  was  er  an  sich 
ist.  Darin  besteht  die  erlösende  Thätigkeit,  sie  ist  die  Selbsl- 
darstellung  und  fortgehende  Verherrlichung  des  Sohns.  Alles, 
was  zum  Werk  der  Erlösung  gehört,  hat  hier  die  unmittelbarste 
Beziehung  auf  die  Person  des  Erlösers,  indem  alles  nur  darauf 
hinzielt,  dass  er  als  das,  was  er  seiner  ganzen  Persönlichkeit 
nach  ist,  in  das  glaubige  Bewusstsein  aufgenommen  wird.  Diess 
kann  nur  im  fortgehenden  Kampf  mit  der  ungläubigen  Welt  ge- 
schehen, da,  wie  dem  Licht  die  Finsterniss,  so  dem  Glauben 
der  Unglaube  gegenübersteht.  Der  Person  des  Erlösers  gegen- 
über concentrirt  sich  die  ganze  Macht  der  Finsterniss  in  dem 
Unglauben  der  Welt.  Das  Werk  der  Erlösung  kann  daher  nur 
dadurch  vollbracht  werden,  dass  dieser  Unglaube  überwunden 
wird.  In  ihm  allein  wird  die  Macht  der  Finsterniss  gebrochen 
und  der  Teufel,  der  Fürst  der  Welt,  gestürzt.  Die  verschiedenen 
Seiten,  die  sich  an  seiner  Person  unterscheiden  lassen,  sind 
ebenso  viele  Momente  seiner  Selbsldarstellung.  Seine  erlösende 
Thätigkeit  stellt  sich  daher  dar  1.  in  seinen  Werken,  2.  in  seiner 
Lehre,  3.  in  seinem  Tode,  und  in  allen  diesen  Beziehungen 
kommt  alles  darauf  an,  dass  er  von  den  Menschen  als  das  erkannt 
wird,  was  er  seiner  ganzen  Persönlichkeit  nach  ist. 

1.  Die  Werke.  Durch  Werke,  l'pya,  welche  von  den 
pvip-axa  unterschieden  werden,  14,  10.  15,  22  f.  10,  38.  1,  51. 
stellt  sich  der  Erlöser  als  den  dar,  der  er  ist.  Durch  Werke 
muss  er  sich  thatsächlich  als  den  documentiren ,  der  er  ist,  da- 
her werden  seine  epya  auch  oTij/.sta  genannt,  sie  sind  Zeichen, 

Banr,  neatest.  Theol.  *4 


370  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

Offenbarungen  seiner  messianischen  Würde  und  göttlichen  Herr- 
lichkeit, und  es  ist  der  den  Messias  als  Sohn  Gottes  auszeich- 
nende Vorzug,  dass  er  solche  (r/ip.eta  thut,  wesswegen  vom  Täu- 
fer gesagt  wird,  dass  er  cy.jxsiov  iizoirias'^  oüSev,  10,  41.  Sie. 
sind  der  unmittelbare  Reflex  der  höchsten  göttlichen  Wirksam- 
keit, daher  ist  die  Frage  im  Grunde  ganz  überflüssig,  wie  sich 
die  spY«  zu  den  eigentlichen  Wundern  verhalten.  Als  Acte  der 
göttlichen  Thätigkeit,  als  Äusserungen  der  in  dem  Sohn  wirken- 
den Macht  des  Vaters  haben  alle  messianischen  epya  einen  über- 
natürlichen Charakter,  der  Sohn  kann  nichts  thun,  was  er  nicht 
den  Vater  thun  sieht,  5,  17  f.,  sie  sind  sowohl  der  unmittelbare 
Ausfluss  seiner  göttlichen  Natur  als  des  auf  Erden  gegenwärtigen 
Lichts  9,  4.,  wie  sie  auch  als  Werke  angesehen  werden,  die  der 
Vater  selbst  durch  den  Sohn  vollbringt,  14,  10.  Eben  desshalb, 
weil  sie  in  jeder  Hinsicht  unvergleichlich  sind,  weil  Jesus  Werke 
gethan  hat,  a  oüSet;  aXXo;  TrsTroiTiJtev,  15,  24,  sind  sie  die  augen- 
scheinlichsten Beweise  seiner  göttlichen  Sendung,  denen  selbst 
der  Glauben  schenken  muss,  welcher  den  Worten,  der  Person  Jesu 
den  Glauben  versagt,  10,  38,  durch  welche  allein  schon  ein 
gewisser  Glaube,  auch  wenn  er  ganz  ohne  geistigen  Gehalt  ist, 
hervorgerufen  wird,  3,  2.  Der  Unglaube  der  Juden  ist  gerade 
desshalb  so  verwerflich,  weil  Jesus  ihnen  so  viele  gute  Werke 
gezeigt,  10,  32,  so  grosse  Zeichen  vor  ihnen  gethan  hat,  12, 
37 ,  jedes  Wunder  ist  als  eine  Offenbarung  seiner  Herrlichkeit 
anzusehen,  2,  11.  11,  4.  40. 

Wenn  diess  der  allgemeine  Characler  dieser  epya  ist,  so 
sind  die  im  Evangelium  erzählten  Wunder  aus  der  grossen  Menge 
der  (nri[X£ia,  welche  Jesus  gethan  haben  sollte,  20,  30,  recht  ab- 
sichtlich dazu  gewählt,  an  jedem  derselben  eine  der  verschiede- 
nen Grundanschauungen,  unter  welche  die  Person  Jesu  gestellt 
werden  muss,  in's  Licht  zu  setzen.  Sehen  wir  von  den  beiden 
(TYiaeta  2,  1  f.  4,  43  f. ,  welche  im  Grunde  nur  einleitender  Art 
sind ,  ab ,  so  ist  das  erste  hieher  gehörende  epyov  die  K.  5  er- 


Johanneischer  Lehrbegriff.  3Tf 

zählte  Krankenheilung,  welche  jedoch  vorzugsweise  aus  dem 
Gesichtspunkt  einer  am  Sabbath  verrichteten  Handlung  betrach- 
tet wird,  und  als  solche  dazu  dient,  an  ihr  überhaupt  den  Cha- 
rakter der  epva  Jesu  vor  Augen  zu  stellen.  In  dieser  Beziehung 
soll  daher  dieses  spyov  anschaulich  machen ,  dass  das  epyaCe<j6at 
des  Sohns  mit  dem  des  Vaters  ganz  identisch  ist,  dass  wie  der 
Vater  das  Leben  hat  in  ihm  selbst,  so  er  auch  dem  Sohn  gegeben 
hat,  das  Leben  zu  haben  in  ihm  selbst,  und  dass  er  in  diesen 
spya,  die  der  Sohn  nicht  von  sich  selbst  thun  kann,  das  spre- 
chendste Zeugniss  seiner  Sendung  geben  will.  Ta  yap  spya,  Ä 
(>£Ötox,£  [AOi  ö  TraTTiO  tva  tsXsicüco)  auTa,  auToc  töc  spy«,  a  ^yw 
TwOtö,  {jLapTupsi  T^epl  euLoO,  ort  6  TraiTip  »xs  dcTcsffTaXxe-  xal  6  'Kt^^xq 
[AS  "KXTTiO  aÜTÖ;  a£(7-apTupYi/ce  Tuspl  eaoO.  V.  36.  Was  also  die  spya 
überhaupt  sind,  sowohl  nach  ihrer  Innern  Causalität,  als  auch 
nach  ihrer  äussern  Erscheinung,  soll  sich  vor  allem  an  diesem 
spyov  zu  erkennen  geben.  Einen  specielleren  Charakter  hat  schon 
das  folgende  spy^^v,  die  K.  6  erzählte  wundervolle  Speisung.  Sie 
stellt  Jesum  als  das  Brod  des  Lebens  dar.  Wie  es  hier  der  schon 
im  Prolog  als  höchstes  Attribut  dem  Logos  gegebene  Begriff  der 
^wTj  ist,  welcher  zu  seiner  concreten  Erscheinung  kommt,  so 
veranschaulicht  die  K.  9  erzählte  Heilung  des  Blindgebornen, 
den  auch  schon  im  Prolog  mit  dem  Begriff  der  (^wr,  verbundenen 
Begriff  des  ow;  töv  ävöptoTCwv,  die  Wahrheit,  dass  Jesus  das 
Licht  der  Welt  ist,  wie  er  sich  selbst  8,  12.  nennt.  In  dieselbe 
Reihe  gehört  noch  das  grösste  aller  dieser  spya  und  cxasia,  die 
Auferweckung  des  Lazarus,  welche  auch  niy  die  thatsächliche 
Darstellung  der  Wahrheit  ist,  die  Jesus  selbst  11,  25.  in  den 
Worten  ausspricht:  ich  bin  die  Auferstehung  und  das  Leben, 
wer  an  mich  glaubt,  wird  leben,  auch  wenn  er  stirbt.  Der  Haupt- 
begriff ist  nicht  blos  das  Leben  überhaupt,  dessen  Princip  der 
Logos  ist,  sondern  das  Leben  als  die  Negation  des  Todes,  in 
seiner  den  Tod  überwindenden  und  in  sich  aufhebenden  Macht. 
So  ist  jedes  dieser  Wunder  eine  neue  Offenbarung  der  göttlichen 

24* 


S72  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

Grösse  und  Herrlichkeit  Jesu,  und  es  stellt  sich  in  ihnen  die  ab- 
solute Bedeutung  seiner  Person  immer  wieder  unter  einem  neuen 
Gesichtspunkt  dar,  von  welchem  aus  sie  der  Gegenstand  des 
seligmachenden  Glaubens  werden  soll.  So  betrachtet  sind  seine 
Werke  jnichts  anderes  als  die  Selbsldarstellung  seiner  Person,  und 
eben  darin  besteht  seine  erlösende  Thätigkeit,  dass  seine  Werke 
ihn  als  den,  der  er  an  sich  ist,  dem  Bewusstsein  der  Menschen 
gegenüberstellen.    Unter  denselben  Gesichtspunkt  gehört 

2.  die  Lehre  Jesu.  Sie  ist  in  seinen  Reden  enthalten,  und 
wie  das  Evangelium  die  spya  Jesu  auf  den  höchsten  Grad  des 
Wunders  steigert,  so  gibt  es  auch  die  inhaltsreichsten  Reden. 
Sie  schliessen  sich  meistens  an  die  spya  an,  um  das,  was  ein 
epyov  in  einer  grossartigen  Anschauung  vor  Augen  stellt,  zu 
expliciren  und  nach  seinen  einzelnen  Momenten  in  seiner  teleo- 
logischen Bedeutung  darzulegen.  Schon  aus  diesem  Grunde  ha- 
ben sie  dieselbe  Beziehung  auf  die  Person  Christi,  wie  die  spya, 
es  ist  diess  aber  überhaupt  der  Character  der  johanneischen 
Reden  und  Lehrvorträge.  Ihr  stehendes  Thema  ist  die  absolute 
Bedeutung  seiner  Person.  In  der  ersten  grösseren  Rede  des  Evan- 
geliums im  Gespräch  mit  Nicodemus  K.  3  wird  zwar  vor  allem 
der  Satz  aufgestellt,  dass  niemand  das  Reich  Gottes  sehen  könne, 
der  nicht  von  oben  geboren  werde,  die  Hauptsache  ist  aber  die 
Begründung  der  dem  sinnlichen  Menschen  unbegreiflich  schei- 
nenden Wahrheit  durch  die  Autorität  dessen,  der  aus  eigener 
unmittelbarer  Anschauung  vom  Himmlischen  zeugen  kann,  als 
der  vom  Himmel  He^abgekommene  auch  in  den  Himmel  hinauf- 
steigt, 6  uJö?  Tou  av9pw7uou ,  6  wv  dv  tö  oOpavö,  und  in  seiner 
Erhöhung  für  alle  als  der  aufgestellt  wird,  welchen  sie  zum  Ge- 
genstand ihres  Glaubens  zu  machen  haben,  so  dass,  je  nachdem 
man  an  ihn  glaubt  oder  nicht  glaubt,  das  in  ihm  in  die  Welt  ge- 
kommene Licht  die  scheidende  itpioi;  der  Guten  und  Bösen  ist. 
In  der  zweiten  Rede,  die  auch,  wie  die  K.  3,  nur  ein  Gespräch 
ist,  K.  4  bezeichnet  er  sich  als  den,  der  das  lebendige  Wasser 


i 


Johanneischer  Lehrbegriff.  373 

geben  kann,  das  in  dem,  der  davon  trinkt,  zu  einer  TCTi-p  u^aro? 
aXXofjtevo'j  et?  ^üjr.v  aitdvtov  wird. 

Die  erste  in  einem  grössern  Zusammenhang  und  mit  logi- 
scher Strenge  sich  entwickelnde  Rede  Jesu  ist  die  K.  5,  in  wel- 
cher er  von  der  Identität  des  i^yxCtt^xi  des  Sohns  mit  dem  des 
Vaters  spricht.  Das,  worin  dieses  gemeinsame  Thun  des  Vaters 
und  Sohns  besteht,  ist  das  syetpsiv  und  J^wottoisTv.  Beide  Aus- 
drücke bezeichnen  denselben  Begriff,  nur  mit  dem  Unterschied, 
dass  das  ^woroistv  in  dem  ^ysipstv  sich  dadurch  bethätigt,  dass 
es  durch  die  Negation  des  Todes  die  Affirmation  des  Lebens  ist. 
Dieser  Begriff  des  ^woxoisiv,  oder  des  Sohns,  sofern  er  als  der 
Logos  die  ^wyi  im  absoluten  Sinn  ist,  wird  V.  20—29  durch 
folgende  drei  Momente  hindurchgeführt:  Das  erste  Moment  ist 
die  durch  den  Glauben  vermittelte  ^m  äiwvto;,  die  Wirkung  des 
^woTCOistv  ist  das  geistige  Leben.  Wer  den  Glauben  hat,  hat 
unmittelbar  in  dem  Glauben  den  Tod  durch  das  Leben  in  sich 
aufgehoben,  er  hat  das  Princip  des  Lebens  in  sich,  zunächst  zwar 
nur  des  geistigen  Lebens,  aber  dieses  geistige  Leben  ist  auch  die 
Bedingung  und  die  Wurzel  des  leiblichen  der  künftigen  Auferste- 
hung, dieses  leibliche  Leben  ist  an  sich  schon  in  dem  geistigen 
enthalten,  V.  24.  In  dem  zweiten  Moment  greift  das  geistige  Le- 
ben schon  in  das  leibliche  hinüber,  doch  ist  das  Leibliche  noch 
ganz  durch  das  Geistige  vermittelt,  die  ^toy,  wird  als  x^xarxaiq 
nur  denen  zu  Theil,  welche  das  geistige  Leben  in  sich  aufge- 
nommen haben.  Es  kommt  einst  die  Zeit,  in  welcher  die  leib- 
lich Todten  den  Ruf  des  Sohnes  Gottes  hören,  und  die,  die  ihn 
hören,  zum  Leben  d.  h.  zum  seligen  Leben  gelangen  werden, 
und  diese  Zeit  kommt  nicht  erst,  sondern  sie  ist  schon  jetzt  da, 
denn  nicht  blos  von  der  Zukunft,  auch  schon  von  der  Gegenwart 
kann  gesagt  werden,  dass  die  Todten  die  Stimme  des  Sohnes 
Gottes  hören  und  leben,  d.  h.  die  geistig  Todten  hören  in  dem 
Gotteswort,  das  der  Sohn  verkündigt,  auch  den  Ruf  zum  Leben, 
und  sind ,  wenn  sie  ihm  folgen ,  schon  jetzt  selig.    Die  geistige 


374  Zweiter  Abschnitt     Dritte  Periode. 

und  die  leibliche  Auferstehung  wird  hier  als  eine  und  dieselbe 
zusammengenommen,  aber  eben  desswegen  ist  V.  25.  noch 
nicht  von  der  allgemeinen  Auferstehung  der  Guten  und  der  Bö- 
sen die  Rede,  sondern  nur  von  der  seligen  Auferstehung,  der 
avacTafft?  ^«yj?,  weil  nur  diese  mit  der  geistigen  Auferstehung, 
in  welcher  sie  ihren  Grund  und  Ursprung  hat,  zu  dieser  Einheit 
des  Begriffs  verbunden  werden  kann.  In  dem  dritten  Moment 
ist  das  leibliche  Leben  nicht  blos  mittelbar  als  Folge  des  geisti- 
gen, sondern  unmittelbar  für  sich  Gegenstand  des  ^tooroieiv, 
daher  erstreckt  sich  das  ^woTiotsTv  auch  auf  die  Bösen.  Die  Auf- 
erstehung ist  eine  allgemeine,  Gute  und  Böse  hören  in  ihren 
Gräbern  die  Stimme  des  Sohns  und  stehen  auf,  aber  die  Letztern 
nur  zur  avacTaat;  xpicsw?.  V.  29. 

So  ist  der  Begriff  durch  alle  seine  Momente  durchgeführt, 
nur  kommt  dabei  noch  das  Verhältniss  des  xpivetv  zum  (^wowoisiv 
in  Betracht.  Das  ^o)07;ocsTv  schliesst  auch  das  xpiveiv  in  sich,  denn 
nicht  alle,  ohne  Unterschied,  macht  der  Sohn  lebendig,  sondern 
nur  die,  die  er  will,  V.  21.  Das  ^woTroteiv  kann  nicht  geschehen, 
ohne  dass  ein  Unterschied  gemacht  wird,  die  Einen  von  den  Andern 
unterschieden  und  geschieden,  d.  h.  gerichtet  werden,  das  ^tdo- 
Ttoisiv  ist  von  selbst  auch  ein  xpivetv,  sofern  das  ^wottoisiv  durch  den 
Glauben  bedingt  ist,  die  so  Gerichteten  und  Geschiedenen  sind 
auch  die  Ausgeschiedenen  und  als  solche  die  Verurtheillen.  Das 
im  ersten  und  zweiten  Moment  nur  negativ  sich  äussernde  xp(veiv 
wird  im  dritten  ein  positives ,  das  im  ^tooTOistv  enthaltene  xpiveiv 
wird  nun  das  Überwiegende  in  ihm,  die  dtvicTaci?  als  die  Wir- 
kung des  ^tooTTotsTv  geschieht  nur  für  den  Zweck  der  xpici;,  ist  also 
nur  eine  ävadTaci?  xpicsw?.  In  dieser  Einheit  des  i^ytiJ^t(s^xi 
des  Sohns  mit  dem  des  Vaters  macht  also  nur  das  xpiveiv  einen 
Unterschied.  Denn  der  Vater  richtet  niemand ,  sondern  hat  alles 
Gericht  dem  Sohn  übergeben.  Das  xpivetv  ist  seinem  wesent- 
lichen Begriff  nach  ein  Scheiden ,  es  setzt  also  Gegensätze  vor- 
aus, die  auseinander  gehalten  werden  müssen.    Wird  nun  vom 


Johanneischer  Lehrbegriff.  375 

Vater  gesagt,  dass  er  nicht  richte,  so  ist  damit  die  über  alle 
Gegensätze  der  endlichen  Welt  erhabene  Absolutheit  Gottes  aus- 
gesprochen; kommt  dagegen  dem  Sohn  vorzugsweise  das  Rich- 
ten zu,  so  wird  er  dadurch,  wie  es  ja  auch  der  BegrilF  des 
Logos  an  sich  schon  mit  sich  bringt,  als  der  in  die  Welt  der 
Gegensätze  Hineingestellte  bezeichnet.  Nur  in  diesem  Sinn  kann 
es  genommen  werden,  wenn  es  V.  27  heisst:  der  Vater  habe 
ihm  die  Macht  gegeben,  xal  /.ptcriv  ttoieiv,  oti  uSo;  avÖpwTüou  äfj-ri. 
Wie  er  also  uiö?  6sou  ist,  so  ist  er  auch  der  uio;  avOpwTrou.  Als 
der  in  die  Welt  und  Menschheit  Eingetretene  ist  er  nicht  blos 
Gott,  sondern  muss  selbst  auch  Mensch  sein.  Wie  der  Vater  als 
der  absolute  Gott  schlechthin  über  den  Gegensätzen  steht,  so  ist 
der  Sohn  das  der  Welt  und  Menschheit  zugekehrte  gottmensch- 
liche Bewusstsein ,  und  wie  sich  in  ihm  die  Gegensätze  der  end- 
lichen Welt  reflectiren,  so  greift  er  auch  mit  seiner  Macht  in  sie 
ein,  um,  was  im  Glauben  ihm  angehört,  oder  im  Ungjauben  von 
ihm  sich  abwendet,  von  einander  zu  scheiden. 

Wie  in  der  Rede  K.  5  der  Begriff  des  Logos  als  des  abso- 
luten Lebensprincips  explicirt  wird ,  so  hat  auch  die  Rede  K.  6 
denselben  Begriff  zu  ihrem  Inhalt.  Wie  der  Logos  oder  der 
Sohn  die  lebendigmachende  Kraft  ist,  so  ist  er  es  auch,  welcher 
alles  geistige  Leben  ernährt  und  erhält,  und  ihm  seinen  ewigen 
Bestand  gibt.  Diess  ist  der  Begriff  des  Lebensbrods,  wie  er 
K.  6  nach  seinen  verschiedenen  Momenten  dargelegt  wird.  Es 
gibt  ein  göttliches  Lebensbrod,  das  vom  Himmel  kommt  und  der 
Welt  das  Leben  gibt;  dieses  Lebensbrod  ist  Jesus,  als  der  vom 
Himmel  gekommene  Logos;  weil  aber  Jesus  als  der  vom  Himmel 
Gekommene  nicht  blos  der  Logos  ist,  sondern  der  fleischgewor- 
dene Logos,  so  wird  dasselbe,  was  im  Begriffe  des  Lebensbrods 
liegt,  auch  als  Fleisch  bezeichnet,  oder  concreler  als  Fleisch 
und  Blut.  Das  himmlische  Lebensbrod  ist  also  Jesus  nur  sofern 
er  der  fleischgewordenc  Logos  ist,  oder  in  Fleisch  und  Blut 
existirt;  denn  nur  von  Fleisch  und  Blut  kann  dasselbe  prädicirt 


376  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

werden,  was  die  wesentliche  Eigenschaft  des  Brods  ist,  dass 
es  Object  eines  Genusses  ist,  durch  welchen  es  der  Geniessende 
in  sich  aufnehmen,  und  zur  substanziellen  Einheit  mit  sich  ver- 
einigen kann.  Eben  diess  aber  ist  der  Hauptgesichtspunkt ,  um 
welchen  es  sich  hier  handelt.  Denn  nicht  sowohl ,  dass  Jesus 
das  absolute  göttliche  Lebensprincip  ist,  die  Leben  schaffende, 
vom  Tode  zum  Leben  erweckende  Macht ,  als  welche  er  schon 
K.  5  dargestellt  ist,  soll  hier  dargethan  werden,  als  vielmehr, 
dass  das  Verhalten  des  glaubenden  Subjects  zu  ihm  nur  derselbe 
Process  sein  kann,  durch  welchen  bei  dem  leiblichen  Genuss  der 
Geniessende  die  nährende  Substanz  sich  einverleibt.  Denn  wie 
das  Brod  nur  dazu  da  ist,  dass  man  es  isst,  und  nur  der  nicht 
stirbt,  der  das  himmlische  Lebensbrod  durch  den  Genuss  sich 
aneignet,  so  hat  auch  nur,  wer  sein  Fleisch  isst  und  sein  Blut 
trinkt,  das  Leben  in  sich,  denn  nur  sein  Fleisch  ist  wahrhaft 
Speise,  und  nur  sein  Blut  ist  wahrhaft  Trank,  und  nur  wer  sein 
Fleisch  isst  und  sein  Blut  trinkt,  bleibt  in  ihm,  wie  er  in  ihm  ist. 
Der  ganze  Inhalt  der  Rede  ist  demnach,  dass  er  sich  als  die  all- 
gemeine Lebenssubstanz  für  alle  darstellt,  welche  des  ewigen 
Lebens  theilhaftig  werden  wollen. 

Wie  es  in  diesen  beiden  Reden  der  Begriff  des  Lebens  ist, 
welcher  in  seiner  concreten  Beziehung  auf  die  Person  Jesu  in 
seine  verschiedenen  Elemente  auseinander  gelegt  wird,  so  ist 
es  8,  12.  der  Begriff  des  Lichts,  welchen  Jesus  zur  Grundan- 
schauung seines  Wesens  macht.  Er  ist  das  Licht  der  Welt,  wer 
ihm  folgt,  wird  nicht  in  der  Finslerniss  wandeln,  sondern  das 
Licht  des  Lebens  haben,  darum  muss  er  auch  wirken  die  Werke 
dessen,  der  ihn  gesandt  hat,  so  lange  es  Tag  ist;  es  kommt  die 
Nacht,  da  Niemand  wirken  kann;  so  lange  er  in  der  Welt  ist, 
ist  er  das  Licht  der  Welt,  9,  4  f.  Als  das  Licht  der  Welt  ist  er 
zum  Gericht  in  die  Welt  gekommen ,  damit  die  nicht  Sehenden 
sehen,  und  die  Sehenden  blind  werden.  Auch  dieses  Gericht 
ist  dieselbe  Scheidung  der  Einen  von  den  Andern  nach  der  Ver- 


Johanneischer  Lehrbegriff.  377 

schiedenheit  ihrer  Natur ,  von  welcher  sonst  in  diesem  Evange- 
lium die  Rede  ist.  Die  Einen  sind  die  Empfänglichen,  welche 
glauben,  ehe  sie  sehen,  oder  wissen,  was  sie  sehen,  die  An- 
dern die  Unempfänglichen,  welche  nicht  glauben  bei  allem,  was 
sie  sehen  und  wissen ,  9,  39  f.  In  demselben  Sinn  nennt  er  sich 
3,  19  f.  das  in  die  Welt  gekommene  Licht,  durch  dessen  Ein- 
tritt in  die  Geschichte  die  dem  Licht  und  die  der  Finsterniss  ver- 
wandten Naturen  von  einander  geschieden  und  jene  der  Finster- 
niss entrissen  werden,  vgl.  12,  46.  Auf  diese  Weise  ist  der 
Hauptinhalt  dieser  Reden  durchaus  ein  die  absolute  Bedeutung 
der  Person  Jesu  und  die  nur  durch  ihn  mögliche  Vermittlung  des 
Menschen  mit  Gott  aussprechender  Begriff,  mit  welchem  Jesus 
selbst  identificirt  wird.  Leben  und  Licht  sind  die  Hauptprädicate, 
die  sich  unmittelbar  auf  den  Begriff  des  Logos  beziehen.  In  ähn- 
lichem Sinn  wird  Jesus  aber  auch  der  Weg  14,  6,  die  Thüre, 
der  einzige  Eingang  zum  ewigen  Leben  genannt,  10,8.  9.  Er  ist 
die  ö'jpa  töv  TrpoßaTtov  V.  7,  aber  auch  der  gute  Hirte,  welcher 
sein  Leben  für  die  Schafe  lässt,  der  die  Seinen  kennt  und  er- 
kannt wird  von  den  Seinen ,  auf  dieselbe  Weise  wie  der  Vater 
ihn  und  er  den  Vater  kennt.  V.  11  f.  Als  Weg  nennt  sich 
Jesus  die  Wahrheit  und  das  Leben.  Was  der  Weg  theoretisch 
als  Wahrheit  ist,  ist  er  praktisch  als  Leben;  es  fassen  daher 
diese  drei  Begriffe  die  absolute  Bedeutung  der  Person  Jesu  in 
ihrer  Einheit  zusammen.  * 

Ist  nun  der  Hauptinhalt  der  Lehre  Jesu  in  die  Reden  nieder- 
gelegt, welche  in  diesem  Evangelium  Jesu  in  den  Mund  gelegt 
werden,  so  ergibt  sich  hieraus  von  selbst,  wie  die  Lehre  Jesu 
wesentlich  nichts  anderes  ist,  als  die  Lehre  von  seiner  Person. 
Der  ganze  Inhalt  seiner  Reden  und  Belehrungen ,  somit  seiner 
Lehre  überhaupt  ist  nur  die  Selbstdarstellung  seiner  Person  als 
des  Einen ,  in  welchem  man  allein  zum  ewigen  Leben  gelangen 
kann.  Gegen  diese  IdentiGcirung  der  Lehre  Jesu  mit  der  Lehre 
von  seiner  Person  könnte  nur  diess  zu  sprechen  scheinen,  dass 


378  Zweiter  Abschnitt.    Dritte  Periode. 

er  13,  34  ausdrücklich  das  Gebot  der  Liebe  für  ein  neues  erklärt, 
und  eben  damit  den  Hauptinhalt  seiner  Lehre  in  das  Gebot  der 
Liebe  zu  setzen  scheint.  Aber  auch  dieses  Gebot  steht  in  der 
unmittelbarsten  Beziehung  zu  seiner  Person.  Lieben  sollen  sich 
die  Jünger  unter  einander,  wie  er  sie  geliebt  hat,  und  den 
grössten  Beweis  seiner  bis  an's  Ende  fortdauernden  Liebe  hat  er 
durch  die  Handlung  gegeben,  welche  er  unmittelbar  vor  seinem 
Leiden  und  Tod  an  seinen  Jüngern  vornahm,  die  Fusswaschung, 
K.  13.  In  ihr  wollte  er  ihnen  ein  Beispiel  geben,  dass  wie  er 
an  ihnen  gethan  hat,  auch  sie  thun,  V.  15.  Ist  das  Wesen  der 
Liebe  Selbstverläugnung  und  Selbstaufopferung,  unbedingte  Hin- 
gabe an  Andere,  so  ist  eine  durch  solche  Handlungen  sich  er- 
weisende Liebe  in  dem  Verhältniss  um  so  grösser,  je  höher  die 
Person  ist,  welche  diese  Beweise  der  Liebe  gibt.  Dieselbe  ab- 
solute Bedeutung,  welche  die  Person  Jesu  hat,  hat  daher  auch 
die  von  ihm  bewiesene  Liebe,  und  das  Gebot  der  Liebe  ist  somit 
ein  neues,  weil  in  seiner  Person  erst  die  Liebe  in  ihrer  hohen 
unendlichen  Macht  sich  offenbaren  konnte,  er  allein  geliebt  bat, 
wie  kein  Anderer  geliebt  hat,  da  seine  Liebe  gegen  die  Seinen 
selbst  nur  der  Ausfluss  und  Reflex  der  Liebe  ist,  welche  ihn  mit 
dem  Vater  und  den  Vater  mit  ihm  verbindet.  Wie  jene  Handlung 
der  Liebe  ausdrücklich  ein  von  ihm  gegebenes  Beispiel  genannt 
wird,  so  erhellt  hieraus  zugleich,  welche  Bedeutung  überhaupt 
auf  dem  Standpunkt  des  johanneischen  Evangeliums  das  Vorbild 
Jesu  hat.  Die  Bedeutung  seiner  Person  bringt  es  von  selbst  mit 
sich,  dass  als  absolutes  Gebot  für  die  an  ihn  Glaubenden  gelten 
muss,  zu  thun,  wie  er  gethan  hat. 

3.  Der  Tod  Jesu.  Auch  der  Tod  Jesu  gehört  unter  den- 
selben Gesichtspunkt  der  Selbstdarstellung  Jesu,  unter  welchen 
überhaupt  die  erlösende  Thäligkeit  Jesu  zu  stellen  ist.  Je  mehr 
er  durch  seine  Selbstdarstellung  in  seinen  Werken  und  in  seinen 
Reden  als  der  erkannt  wird,  der  er  an  sich  ist,  um  so  mehr 
gereicht  diess  nur  zur  Verherrlichung  seiner   selbst  und   des 


Johanneischer  Lehrbegriff.  379 

Vaters  durch  ihn.  Wie  daher  das  ganze  Werk  der  Erlösung  die 
fortgehende  Verherrlichung  des  Vaters  durclf  den  Sohn  und  in- 
sofern des  Sohnes  selbst  ist,  so  ist  der  Tod  Jesu  der  entschei- 
dende Moment  für  die  Verherrlichung  des  Sohns.  Es  kommt  in 
ihm  nur  zur  Vollendung,  was  schon  bisher  durch  das  ganze 
Werk  Jesu  auf  Erden  eingeleitet  und  ausgeführt  worden  ist.  Vgl. 
17,  1  f.  12,  28  f.  Aus  dem  Gesichtspunkt  der  Verherrlichung 
der  Person  Jesu  betrachtet  der  Evangelist  den  Tod  Jesu  schon 
in  dem  wiederholt  mit  einer  gewissen  Vorliebe  gebrauchten 
doppelsinnigen  Ausdruck  utj^oCiv.  Er  spielt  auf  den  Kreuzestod 
an,  so  dass  die  Erhöhung  an  dem  Kreuz  die  höhere  Bedeutung 
bezeichnen  soll,  welche  seine  Person  und  sein  Werk  durch  sei- 
nen Tod  erhalten  hat.  In  diesem  Sinne  wird  er  mit  der  von 
Moses  in  der  Wüste  erhöhten  Schlange  verglichen,  die  allen,  die 
auf  sie  hinblicklen,  Heilung  gewährte.  So  musste  auch  des 
Menschen  Sohn  erhöht  werden,  damit  jeder,  der  an  ihn  glaubt, 
nicht  verloren  gehe,  sondern  das  ewige  Leben  habe,  3,  14  f. 
In  seinem  Tode  wurde  er  also  erst  vor  aller  Welt  als  das  Object 
des  Glaubens  so  aufgestellt,  dass  alle,  die  durch  ihn  das  ewige 
Leben  erlangen  wollen,  das  Auge  des  Glaubens  auf  ihn  richten 
können.  Sein  Tod  war  daher  das  nothwendige  Mittel,  um  ihn 
vor  das  Bewusstsein  des  Menschen  so  hinzustellen ,  dass  alle  an 
ihn  glauben,  und  ihn  als  das,  was  er  ist,  anerkennen  können. 
Von  demselben  utj/oOcöai  ist  12,  32  die  Rede,  wo  Jesus  im  Hin- 
blick auf  seinen  Tod  sagt:  Wenn  ich  erhöht  werden  werde  von 
der  Erde,  werde  ich  alle  zu  mir  ziehen.  Seine  Erhöhung  am 
Kreuz  ist  eine  geistige  Erhebung.  Wenn  er  am  Kreuze  über  der 
Erde  schwebt,  hat  sein  Tod  die  Wirkung,  dass  die,  die  an  ihn 
glauben,  gleichsam  von  der  Gewalt  entbunden  werden,  die  sie  an 
die  Erde  fesselt,  er  zieht  sie  von  der  Erde  zu  sich  in  den  Himmel 
nach,  erhebt  sie  vom  Sinnlichen  zum  Geistigen.  Je  mehr  sein 
Tod  dazu  dient,  den  wahren  Glauben  an  ihn  zu  bewirken,  ihn 
im  Bewusstsein  der  Menschheit  zur  allgemeinen  Anerkennung  zu 


380  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

bringen,  um  so  mehr  erhellt  hieraus,  wie  er  nur  der  Weg  zu 
seiner  Verherrlichling  ist.  Nichts  anderes  sagt  auch  die  bildliche 
Vergleichung,  durch  welche  die  Verherrlichung,  welcher  des 
Menschen  Sohn  in  seinem  Tode  entgegengeht,  so  ausgedrückt 
wird:  Wofern  nicht  das  Waizenkorn  in  die  Erde  fällt  und  stirbt, 
bleibt  es  allein  für  sich,  wenn  es  aber  stirbt,  bringt  es  viele 
Frucht.  Dieselbe  Nothwendigkeit  findet  also  auch  bei  dem  Tode 
Jesu  statt.  Wie  das  Waizenkorn  nur  wenn  es  in  die  Erde  gelegt 
ist,  sich  zur  Frucht  vervielfältigt,  so  kann  auch  Jesus  nur  da- 
durch, dass  er  stirbt,  eine  Gemeinde  von  Glaubenden  um  sich 
sammeln.  In  seinem  Tode  erhält  also  erst  seine  Person  eine 
solche  Bedeutung  und  Anziehungskraft,  dass  er  in  immer  grös- 
serem Umfang  der  Gegenstand  des  Glaubens  wird.  Wie  das 
ganze  Leben  und  Wirken  Jesu  in  der  Welt  ein  Kampf  des  Lichts 
und  der  Finsterniss  ist,  so  tritt  die  Finsterniss  ganz  besonders  in 
seinem  Tode  in  ihrer  Macht  hervor.  Es  ist  der  Fürst  der  Welt, 
der  Teufel,  welcher  als  der  eigentliche  Urheber  seines  Todes, 
13,  27,  zum  Kampf  gegen  ihn  auftritt,  und  die  Bedeutung  seines 
Todes  wird  daher  hauptsächlich  auch  in  die  Überwindung  des 
Teufels  gesetzt.  Im  Angesicht  seines  Todes  sieht  Jesus,  12,  31, 
das  Weltgericht  vollzogen,  und  den  Fürsten  dieser  Welt  hinaus- 
gestossen.  Kurz  vor  seiner  Gefangennehmung  sieht  er  eben  diesen 
Fürsten  sich  nahen,  und  setzt  gerade  darein  die  Bedeutung  seines 
Todes,  dass  derselbe,  eben  weil  der  Teufel  kein  Recht  an  ihn 
hatte,  nur  dazu  dienen  werde,  ihn  als  den  den  Vater  liebenden 
und  seinen  Willen  vollziehenden  Sohn  zur  allgemeinen  Erkennt- 
niss  der  Welt  zu  bringen,  14,  30.  31.  Je  allgemeiner  die  Er- 
kenntniss  Gottes  und  dessen,  den  er  gesendet  hat,  in  der  Well 
wird,  um  so  mehr  verliert  dadurch  der  Teufel  seine  Macht  in  der 
Well;  je  entscheidender  daher  der  Tod  Jesu  für  sein  Werk  über- 
haupt ist,  um  so  mehr  ist  er  auch  der  Zeitpunkt,  in  welchem  die 
Macht  des  Teufels  gebrochen  wurde.  Besteht  also  seine  Ver- 
herrlichung darin,  dass  er,  wie  diess  ja  der  Zweck  seiner  Selbst- 


Johanneischer  Lehrbegriff.  381 

darstellung  ist,  immer  allgemeiner  als  der,  der  er  an  sich  ist, 
anerkannt  wird,  so  erklärt  sich  hieraus  von  selbst,  warum  ge- 
rade sein  Tod  das  Hauptmoment  seiner  Verherrlichung  ist. 

Fragen  wir  nun  aber  weiter,  auf  welche  Weise  der  Tod 
Jesu  die  allgemeine  Anerkennung  seiner  Person  bewirkt,  so 
treten  wir  mit  der  Beantwortung  dieser  Frage  in  eine  neue  Sphäre 
des  Johanneischen  Lehrbegriffs  ein,  in  welcher  an  die  Stelle  der 
irdischen  Thätigkeit  Jesu  die  Wirksamkeit  seines  Geistes  tritt. 
Wirken  kann  aber  der  Geist  nur,  nachdem  er  an  die  Jünger,  mit- 
getheilt  ist,  und  diese  Mittheilung  selbst  ist  wesentlich  bedingt 
durch  seinen  Tod  und  seine  Auferstehung.  Die  Auferstehung 
selbst  aber  hat  im  johanneischen  Evangelium  einen  rein  geistigen 
Charakter,  es  eröffnet  sich  daher  überhaupt  mit  seinem  Tode 
eine  ganz  neue  Sphäre,  die  seiner  rein  geistigen  Wirksamkeit. 

Die  Auferstehung  Jesu  scheint  der  Evangelist  im  Allgemeinen 
auf  dieselbe  Weise  zu  beschreiben,  wie  die  Synoptiker;  das 
Eigenlhümliche  seiner  Vorstellungsweise  tritt  aber  schon  darin 
hervor,  dass  er  die  Auferstehung  in  die  unmittelbarste  Verbin- 
dung mit  dem  Hingang  Jesu  zum  Vater  setzt.  Nur  diess  kann 
der  Sinn  der  Stelle  20,  17  sein,  wo  er  den  kaum  zuvor  Aufer- 
standenen sagen  lässt,  er  sei  gerade  jetzt  im  Begriff,  zum  Vater 
aufzusteigen.  Ganz  übereinstimmend  damit  zeigen  auch  die  Ab- 
schiedsreden, wie  eng  der  Evangelist  beides  zusammengedacht 
hat,  die  Auferstehung  und  den  Hingang  zum  Vater.  Der  Hin- 
gang Jesu  zum  Vater  ist  die  nothwendige  Bedingung,  unter 
welcher  allein  der  Geist  vom  Vater  gesendet  werden  kann.  Es 
ist  euch  gut,  sagt  Jesus  16,  7  zu  den  Jüngern,  dass  ich  hingehe, 
denn  wenn  ich  nicht  hingehe,  wird  der  Paraklet,  der  heilige 
Geist,  nicht  kommen  zu  euch,  wenn  ich  aber  hingegangen  sein 
werde,  werde  ich  ihn  zu  euch  senden.  Vgl.  14,  12  f.  Nun  er- 
halten ja  aber  die  Jünger  an  demselben  Tage,  an  welchem  Jesus 
zum  Vater  zu  gehen  versichert,  den  heiligen  Geist,  20,  19  f. 
Wie  können  sie  ihn  also  erhalten  haben,  wenn  er  nicht  zuvor 


382  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

zum  Vater  gegangen  war?  Man  kann  das,  was  20,  17—23 
erzählt  wird,  nur  als  die  Erfüllung  dessen  betrachten,  was  Jesus 
in  seinen  Abschiedsreden  den  Jüngern  verheissen  hat.  Nur  aus 
dem  Inhalt  der  Abschiedsreden  können  wir  uns  daher  die  richtige 
Vorstellung  von  der  Mittheilung  des  Geistes  und  der  sie  begleiten- 
den Erscheinung  Jesu  bilden.  An  ein  leibliches  Kommen  und 
Wiedersehen,  oder  die  Auferstehung  im  gewöhnlichen  materiellen 
Sinne  kann  man  nicht  denken,  wenn  die  Hauptvorstellung,  auf 
welche  alles  zurückgeht,  immer  wieder  ist,  dass  er  ihnen  den 
Geist  der  Wahrheit,  den  heiligen  Geist,  einen  andern  Paraklet 
vom  Vater  senden  werde.  Kommt  ein  anderer  als  er,  so  kommt 
er  nicht  selbst.  Und  doch  wird  in  demselben  Zusammenhang  auch 
wieder  gesagt,  dass  er  selbst  zu  den  Jüngern  komme  14,  18  f.: 
Ich  komme  zu  euch,  noch  ist  es  ein  Kleines  und  die  Welt  sieht 
mich  nicht,  ihr  aber  werdet  mich  sehen.  Unter  diesem  Kommen 
und  Sehen  kann  nichts  anderes  verstanden  werden,  als  die  Sen- 
dung des  Geistes,  in  welchem  zwar  er  selbst  kommt,  sofern  es 
sein  Geist  ist,  der  von  ihm  gesendete,  aber  doch  nur  auf  geistige 
Weise.  So  wenig  das  Kommen  des  Vaters  14,  23  ein  leibliches 
ist,  ebenso  wenig  auch  das  des  Sohns,  sie  kommen  beide,  um 
Wohnung  bei  den  Jüngern  zu  machen,  wenn  der  von  beiden 
gesendete  Geist  kommt,  und  die  lebendigste  Gemeinschaft  mit 
ihnen  vermittelt.  In  dieser  Mittheilung  des  Geistes  werden  gleich- 
sam alle  Schranken  aufgehoben,  welche  das  Diesseits  und  Jen- 
seits trennen.  Der  Herr  ist  auch  jetzt,  wie  zuvor,  bei  den  Jüngern, 
er  kommt  und  sieht  sie,  wie  auf  leibliche  Weise,  und*  doch  kommt 
er  nur  in  einem  Andern,  der  nicht  er  selbst  ist.  Als  der  Lebende 
oder  Auferstandene  14,  19  ist  er  der  zum  Vater  Hingegangene, 
und  doch  sind  in  dieselbe  Gemeinschaft  schon  jetzt  im  Grunde 
auch  die  Jünger  versetzt.  Indem  die  Jünger  den  Geist  in  «ich 
haben,  haben  sie  in  ihm  alles,  was  sie  mit  dem  Vater  und  Sohn 
zur  innigsten  persönlichen  Gemeinschaft  verknüpft. 

Hat  nun  dieses  Kommen  und  Wiedersehen  in  den  Abschieds- 


Johvnneiscber  Lehrbegriff.  383 

reden  diese  geistige  Bedeutung,  so  kann  es  da,  wo  nur  geschieht, 
was  in  ihnen  verheissen  ist,  nicht  anders  sein.  Der  Herr  kommt 
ja  nur  zur  Mittheilung  seines  Geistes.  Dass  hier,  so  sinnlich  die 
Berührung  ist,  in  welche  der  Herr  mit  den  Jüngern  kommt,  an 
keine  körperliche  Erscheinung  zu  denken  ist,  zeigt  die  ganze 
Schilderung  dieser  Scenen.  Wie  kann  ein  materieller  Leib  durch 
geschlossene  Thüren  hindurchgehen?  Man  kann  daher  in  diesen 
Erscheinungen  des  nicht  blos  Auferstandenen,  sondern  auch 
schon  in  Himmel  Hingegangenen  nur  die  Einwirkungen  seines 
Geistes  auf  die  Jünger  sehen,  durch  welche  er  in*  ihrem  Bewusst- 
sein  das  Bild  seiner  persönlichen  Gegenwart  erweckte.  Es  lässt 
sich  nicht  verkennen,  dass  diese  vergeistigte  Form  der  Aufer- 
stehung mit  der  johanneischen  Christologie  überhaupt  sehr  eng 
zusammenhängt.  Das  Ende  der  evangelischen  Geschichte,  an 
welchem  Jesus  die  Welt  und  das  irdische  Sein  verlässt,  weist 
von  selbst  auf  den  Anfang  zurück,  an  welchem  er  in  dasselbe 
eintrat.  Er  geht  zum  Vater  zurück,  von  welchem  er  ausgegangen 
ist,  geht  dahin  wieder  zurück,  wo  er  zuvor  war,  6,  62.  Zuvor 
aber,  ehe  er  in  die  Welt  kam  und  Fleisch  wurde,  war  er  der 
noch  nicht  Fleisch  gewordene  rein  göttliche  Logos.  Was  folgt 
also  hieraus  anderes,  als  dass  er  die  irdische  Hülle  des  Fleisches, 
die  er  erst  annahm,  zuletzt  auch  wieder  ablegte,  um  rein  der 
zu  sein,  der  er  zuvor  war,  in  der  unmittelbaren  Einheit  mit  dem 
Vater,  mit  welchem,  wie  er  selbst  Geist  ist,  nur  Geistiges  eins 
sein  kann.  Wollte  man  sagen,  das  vom  Logos  angenommene 
Fleisch  habe  ebendadurch,  dass  der  Logos  in  ihm  Mensch  wurde, 
und  für  den  Zweck  des  Erlösungswerks  den  ganzen  Verlauf  eines 
menschlichen  Lebens  in  ihm  durchmachte,  eine  Bedeutung  er- 
halten, die  es  nicht  mehr  verlieren  konnte,  es  sei  dadurch  mit 
ihm  selbst  unzertrennlich  eins  geworden,  so  kommt  dagegen  in 
Betracht,  was  der  Evangelist  in  demselben  Zusammenhang,  in 
welchem  er  davon  spricht,  man  werde  des  Menschen  Sohn  einst 
dahin  zurückgehen  sehen,  wo  er  zuvor  war,  sagen  lässt:  der 


384  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

Geist  sei  es,  der  lebendig  macht,  das  Fleisch  nütze  nichts,  6,  63. 
Wie  man  auch  diesen  Salz  drehen  mag,  um  ihn  etwas  Anderes 
sagen  zu  lassen,  als  er  wirklich  sagt,  es  ist  in  ihm  die  allgemeine 
Wahrheit  ausgesprochen,  dass  das  Fleisch  keine  absolute  Bedeu- 
tung für  die  Person  Christi  hat,  sein  Verhältniss  zu  ihr  kein  an 
sich  nothwendiges  und  unzertrennliches  ist,  woraus  nur  die  Fol- 
gerung gezogen  werden  kann,  dass  er  nach  der  Vorstellung  des 
Evangelisten  auch  wirklich  im  Momente  seiner  Auferstehung  und 
seines  Hingangs  zum  Vater  der  irdischen  Hülle  des  Fleisches  sich 
entäussert  hat,  womit  nur  zusammenstimmt,  dass  seine  Leiblich- 
keit auch  schon  in  seinem  irdischen  Leben  da  und  dort  auf  eine 
Weise  erscheint,  welche  es  kaum  möglich  macht,  ihr  die  feste 
Materialität  eines  menschlichen  Leibs  zuzuschreiben. 

Wie  Jesus  selbst  mit  seiner  Auferstehung  und  seinem  Hin- 
gang in  Himmel  in  die  Sphäre  des  rein  geistigen  Seins  zurücktrat, 
so  ist  sein  Tod  auch  der  Zeitpunkt,  mit  welchem  nun  die  Wirk- 
samkeit des  Geistes  und  seine  Mittheilung  an  die  Jünger  und 
überhaupt  an  die  an  ihn  Glaubenden  ihren  Anfang  nahm.  Es  ver- 
dient hier  besonders  das  Verhältniss  beachtet  zu  werden,  in 
welches  der  Evangelist  den  Geist,  das  TTvsOjjLa  aytov,  zu  der 
Person  Jesu  setzt.  Eine  darauf  sich  beziehende  wichtige  Stelle 
ist  7,  38  f.  Jeswi  sagt  hier  von  dem  an  ihn  Glaubenden,  es 
werden  Ströme  lebendigen  Wassers  aus  seinem  Leibe  lliessen. 
Der  Evangelist  bemerkt  dazu,  diess  habe  Jesus  von  dem  Geist 
gesagt,  welchen  die  an  ihn  Glaubenden  empfangen  sollten,  denn 
es  gab  noch  keinen  heiligen  Geist,  weil  Jesus  noch  nicht  ver- 
herrlicht war.  Seine  Verherrlichung  erfolgte  durch  seinen  Tod. 
Nach  seiner  Auferstehung  bei  seiner  ersten  Erscheinung  em- 
pfiengen  daher  die  Jünger  den  heiligen  Geist,  20,  22,  und  ohne 
Zweifel  ist  auch  schon  das  mit  Blut  aus  seiner  durchstochenen 
Seite  ausgeflossene  Wasser,  wenn  man  damit  die  xoi>.ia  7,  38 
zusammenhält,  ein  Symbol  des  nach  seinem  Tod  von  ihm  aus- 
gegangenen Geistes.  Die  Vorstellung  ist  also  eigentlich :  So  lange 


Johanneisoher  Lehrbegriff. 

noch  Jesus  auf  der  Erde  lebte  und  wirkte,  war  der  messianische 
Geist,  welchen  er  selbst  ohne  Maass  empfangen  hatte,  so  sehr 
mit  seiner  Person  identisch,  dass  es  noch  keine  Wirksamkeit  des 
TTveOax  (XYiov  gab  ausser  in  ihm^elbst;  erst  mit  seinem  Tode 
wurde  der  bisher  mit  ihm  identische  Geist  von  seiner  Person  nun 
so  entbunden,  dass  er  als  selbstständiges  Princip  im  Kreise  der 
an  ihn  Glaubenden  wirken  konnte.  Das  Kommen  des  Paraklet  ist 
zwar  durch  den  Hingang  Jesu  bedingt,  nach  demselben  will  er 
ihn  senden,  16,  7;  der  Antheil  aber,  welchen  der  Sohn  an  der 
Sendung  hat,  scheint  nur  in  der  an  den  Vater  gerichteten  Bitte 
zu  bestehen,  14,  16,  in  Folge  welcher  der  Vater  den  Geist  der 
Wahrheit  im  Namen  des  Sohns  sendet,  14,  26.  Die  Abhängig- 
keit desselben  vom  Sohn  ist  daher  nur  eine  mittelbare,  wie  be- 
sonders aus  der  Stelle  16,  13  —  15  hervorgeht.  Wie  schon  der 
Logos,  so  wird  auch  der  Geist  nichts  von  sich  selbst  reden, 
sondern  aussprechen,  was  er  gehört  hat,  und  das  Zukünftige 
verkündigen.  »Er  wird,  sagt  Jesus,  mich  verherrlichen,  weil 
er  von  dem  Meinigen  nehmen  und  es  euch  verkündigen  wird. 
Alles,  was  der  Vater  hat,  ist  mein;  desshalb  sage  ich,  er  wird 
von  dem  Meinigen  nehmen,  was  er  euch  verkündigen  wird.« 
Offenbar  wird  hier  gesagt,  dass  der  Paraklet  nur  in  uneigentlicher 
Weise  den  Inhalt  seiner  Verkündigung  von  dem  Sohn  entnehmen 
wird,  nur  sofern  alles,  was  der  Vater  hat,  auch  ihm  angehört. 
Mit  dieser  Abhängigkeit  des  Geistes  vom  Vater  stimmt  ganz  zu-- 
sammen,  dass  ausdrücklich  auch  gesagt  wird,  der  Paraklet, 
welchen  er  vom  Vater  senden  werde,  der  Geist  der  Wahrheit, 
gehe  vom  Vater  aus,  Trapöc  toO  Traxpo;  e/c:7opeu£Tat,  15,  26.  Man 
streitet  darüber,  ob  dieses  djcxopeuecGat  von  einem  metaphysi- 
schen, die  persönliche  Präexistenz  voraussetzenden  Ausgehen 
des  heiligen  Geistes  zu  verstehen  sei,  oder  vom  blossen  Gesendet- 
sein, was  mit  der  weitem  Frage  zusammenhängt,  ob  der  Para- 
klet überhaupt  als  persönliches  Wesen  zu  denken  ist.  Unstreitig 
wird  er  als  solches  beschrieben,  man  vgl.  besonders  16,  12  f.; 

Baur,  neutest.  Theol.  ^«^ 


386  Zweitor  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

es  kann  diess  aber  auch  nur  darin  seinen  Grund  haben ,  dass  ihn 
Jesus  als  seinen  Stellvertreter  betrachtet,  welcher,  wie  er  selbst, 
den  Jüngern  berathend  und  helfend  zur  Seite  stehen  soll,  woher 
eben  der  Name  ^x^xyCkr.roc^  d*,h.  ein  zur  Hülfe  Gezogener,  ein 
Beistand,  und  zwar  besonders  ein  gerichtlicher,  ein  Sachwaller, 
advocnlus.  Man  darf  hier  nicht  übersehen,  dass  die  Wirksamkeit 
des  Geistes  nur  die  Forlsetzung  der  messianischen  Thätigkeit 
Jesu  ist,  deren  Princip  auch  schon  das  TrveOjjLa  aytov  war;  es  ist 
dasselbe  wirkende  Princip,  nur  mit  dem  Unterschied,  dass  es 
nicht  mehr  unmittelbar  mit  der  Persönlichkeit  Jesu  verknüpft  ist, 
sondern  als  das  die  Glaubigen  beseelende  und  ihre  Gemeinschaft 
bedingende  Princip  in  immer  weiterem  Umfang  wirkt,  auf  eine 
Weise,  bei  welcher  keineswegs  nolh wendig  ist,  sich  den  Geist 
als  persönliches  Wesen  zu  denken.  Auf  den  Vater  aber  wird 
sein  Wesen  und  Wirken  zurückgeführt,  weil  das  Wesen  Gottes 
selbst  reine  Geistigkeit  ist,  und  wie  der  Logos  so  auch  der  Geist 
nur  in  schlechthiniger  Abhängigkeit  von  dem  Vater  als  dem  allein 
absoluten  Gott  gedacht  werden  kann.  Die  Causalität  Gottes  ist 
in  ihrer  absoluten  Idee  zu  überwiegend,  als  dass  die  Frage  nach 
der  Persönlichkeit  des  Paraklet  eine  besondere  Bedeutung  hätte. 
Die  Hauptsache  ist,  dass  in  ihm  als  Einheit  alles  zusammengefasst 
ist,  was  seit  dem  Tod  und  Hingang  Jesu  den  weiter  entwickelten 
Inhalt  des  christlichen  Bewusstseins  ausmacht. 

Es  kommt  hier  jedoch  zweierlei  in  Betracht.  Zunächst  ist 
der  Paraklet  auf  die  Jünger  zu  beziehen.  Bedenkt  man,  welches 
Resultat  bei  dem  fortgehenden  Kampf  mit  dem  Unglauben  die 
ganze  Thätigkeit  Jesu  hatte,  vgl.  12,  37,  so  kam  alles  darauf 
an,  mit  welchem  Erfolg  durch  die  Thätigkeit  der  Jünger  der 
Glaube  an  ihn  bewirkt  werden  konnte.  Diess  ist  die  Bedeutung 
der  Abschiedsreden  Jesu.  Die  Jünger  waren  zwischen  ihm  und 
der  ungläubigen  Welt  die  nothwendigen  Vermittler  des  Glaubens. 
Sollte  aber  das  Werk  Jesu  durch  sie  fortgesetzt  werden,  so 
mussten  sie  dazu  durch  denselben  Geist  befähigt  werden,  welcher 


I 


Jobanneischer  Lehrbegriff.  387 

auch  das  Princip  der  messianiscben  Thätigkeit  Jesu  war.  Man 
kann  jedoch,  wenn  man  nach  dem  Begriff  des  johanneischen 
Paraklels  fragt,  nicht  blos  i)ei  den  ersten  Jüngern  Jesu  stehen 
bleiben.  Ist  das  Evangelium  erst  in  einer  spätem  Zeit  entstan- 
den, enthält  es,  wie  nicht  zu  läugnen  ist,  eine  schon  weiter 
fortgeschrittene  Entwicklung  des  christlichen  Bewusstseins, 
konnte  dem  Verfasser  selbst  der  Unterschied  seines  Standpunkts 
von  dem  früheren  und  auch  schon  von  dem  d€r  Synoptiker  un- 
möglich verborgen  bleiben :  worin  anders  konnte  er  die  Berech- 
tigung desselben  finden,  als  in  dem  ßewusstsein,  dass  auch  in 
ihm  derselbe  Geist  sich  ausspreche,  welcher  als  das  in  alle 
Wahrheit  leitende  Princip  nicht  blos  den  ersten  Jüngern,  son- 
dern überhaupt  der  Gemeinschaft  der  Glaubigen  von  Jesu  ver- 
heissen  worden  war?  Daher  bezieht  sich  auch  das,  was  Jesus 
zum  Inhalt  seiner  letzten  Reden  macht ,  nicht  blos  auf  seine  er- 
sten Jüngern  im  engern  Sinn ,  sondern  auch  auf  die  Glaubigen 
überhaupt.  Ausdrücklich  sagt  Jesus  17,  20:  oO  iz&pX  toutwv,  die 
Jünger,  epwTto  [/.ovov,  xklxA'xi  T^spl  twv  ttkjtsuovtwv  öix  toG  Xoyou 
aÜTwv  ei;  sas,  damit  alle  eins  sind,  wie  du,  Vater,  in  mir  und 
ich  in  dir,  damit  auch  sie  in  mir  eins  sind,  jene  Glaubenden, 
damit  die  Welt  glaube,  dass  du  mich  gesendet  hast.  Auch  schon 
7,  39  wird  ganz  allgemein  gesagt,  das  7irvs0|/.a,  das  nach  dem 
Tode  Jesu  kommen  soll,  werden  oi  zkttsuovts;  si;  xütöv  empfan- 
gen. Wenn  er  1 7,  6  seine  ersten  Jünger  die  Menschen  nennt, 
die  ihm  der  Vater  gegeben  habe,  seinen  Namen  zu  offenbaren, 
so  weist  auch  diess  darauf  hin ,  dass  er  in  ihnen  nur  die  ersten 
Glieder  der  an  ihn  sich  anschliessenden  Gemeinschaft  sah.  Wie 
er  auf  dieselbe  Weise  die  Jünger  sandte,  wie  ihn  der  Vater  ge- 
sandt hatte,  20,  21,  so  sollte  sich  dasselbe  Werk  auch  in  den 
Glaubenden  fortsetzen.  Dieselbe  Einheit,  die  ihn  mit  dem  Vater 
und  die  Jünger  mit  ihm  verband,  begriff  auch  die  ganze  Gemein- 
schaft der  an  ihn  Glaubenden  in  sich,  17,  21.  Daher  ist  es  auch 
derselbe  von  Jesu  verheissene  und  gesendete  Geist,    welcher, 

25  * 


388  Zweiter  Abschnitt     Dritte  Periode. 

wie  er  schon  in  den  ersten  Jungern  wirkte,  so  auch  die  ganze 
Gemeinschaft  der  an  ihn  Glaubenden  beseelt  und  als  das  Princip 
des  christlichen  Bewusstseins  mit  der  weiteren  Entwicklung  der 
christlichen  Gemeinschaft  immer  tiefer  in  die  volle  Erkenntniss 
der  christlichen  Wahrheit  hineinführt.  Er  ist  fort  und  fort  der 
Geist  der  Wahrheit,  der  in  alle  Wahrheit  leitet,  und  so  sehr  das 
der  christlichen  Gemeinschaft  immanente  Princip,  dass  alles^  was 
sich  in  ihr  als  ein  neues  wesentliches  Moment  der  Entwicklung 
der  christlichen  Erkenntniss  und  des  christlichen  Lebens  heraus- 
stellt, nur  als  etwas  betrachtet  werden  kann,  was  der  Geist 
nicht  von  sich  selbst  spricht,  sondern  von  dem  Herrn  selbst  em- 
pfängt, wie  ja  Jesus  16,  44  sagt,  dass  er  es  von  dem  Seinigen 
nehme.  Das  Geschäft  des  Geistes  wird  16,  8  zunächst  gesetzt 
in  das  i'kifjizi'^  töv  jcoitj^.ov  Tcspl  a[j!.apTia$,  xai  Trepl  Stxaiomjvyi;, 
xal  Tcepl  xpiffsw;,  dass  er  der  Welt  ihre  Sünde  des  Unglaubens, 
ihre  Schuld  gegen  die  Gerechtigkeit  der  Sache  und  Person  Jesu, 
und  die  Nichtigkeit  ihres  Widerstands  strafend  vorhält;  der 
Hauptbegriff  bleibt  aber  für  das  johanneische  Evangelium  immer, 
dass  er  das  Princip  der  Wahrheit  und  der  Erkenntniss  ist.  Durch 
ihn  wird  ganz  besonders  die  höhere  Erkenntniss  des  Verhältnis- 
ses aufgeschlossen^  in  welchem  der  Sohn  zum  Vater  steht,  14,20. 
Wenn  er  aber  auch  alles  lehrt,  14,  26,  und  die  Christen  in  alle 
Wahrheit  führt,  16,  13,  und  seine  Offenbarung  als  eine  neue 
dargestellt  wird,  welche  nicht  bei  der  blossen  Erinnerung  an 
das  vom  Erlöser  schon  Gesagte  stehen  bleibt ,  sondern  darüber 
hinausgeht,  und  auch  das  Neue,  das  die  unmittelbaren  Jünger 
noch  nicht  zu  fassen  vermochten,  mittheilt,  die  Wahrheit  in 
ihrem  vollen  Umfang,  so  soll  diess  doch  auf  keine  Weise  ein 
principielles  Hinausgehen  über  die  ursprüngliche  Offenbarung 
Jesu  selbst  sein.  Der  Geist  schöpft  immer  nur  aus  dem  Inhalt 
seiner  Lehre,  um  den  in  seiner  Offenbarung  verschlossenen  un- 
endlichen Inhalt  dem  gereiften  Bewusstsein  zu  entfalten.  Es  lässt 
sich  nicht  anders  denken,  als  dass  eben  diess,  was  hiemit  dem 


Johanneischcr  Leh  rbegriff.  389 

Paraklel  beigelegt  wird,  das  johanneische  Evangelium  für  sich 
selbst  in  Anspruch  nehmen  will.  Es  steht  einerseits  auf  dem 
Standpunkt  einer  weiter  fortgeschrittenen  Entwicklung,  ande- 
rerseits ist  es  sich  aber  doch  bewusst,  die  principielle  Einheit 
mit  dem  Urchristenthum  festgehalten,  die  Substanz  des  nrchrist- 
lichen  Glaubens  nur  tiefer  erforscht  zu  haben  und  in  sein 
innerstes  Wesen  eingedrungen  zu  sein.  Hieraus  erklärt  sich 
von  selbst,  wie  die  dem  johanneischen  Evangelium  eigen- 
thümliche  und  von  ihm  mit  besonderer  Vorliebe  behandelte 
Lehre  vom  Paraklet  für  kein  anderes  so  grosses  Interesse  haben 
konnte. 

Auf  welchem  eigenthümlichen  Standpunkt  der  johanneische 
LehrbegrifF  steht,  ergibt  sich  aus  der  bisherigen  Entwicklung 
desselben;  um  aber  das  Charakteristische  desselben  noch  schär- 
fer in's  Auge  zu  fassen,  ist  noch  genauer  darauf  Rücksicht  zu 
nehmen,  wie  er  sich  zu  denjenigen  Formen  des  christlichen  Be- 
wusstseins  verhält,  über  welche  er  seiner  ganzen  Stellung  nach 
schon  hinausgeschritten  ist,  d.  h.  zum  Judaismus  und  Pauli- 
nismus. 

Was  das  Verhältniss  zum  Judaismus  betrifft,  so  frugt  es 
sich  zunächst,  welche  Stellung  das  johanneische  Evangelium 
zum  alten  Testament  und  zum  Judenthum  sich  gibt.  Es  sind  hier 
zwei  sehr  von  einander  verschiedene  Seiten  dieses  Verhällnisses 
zu  unterscheiden.  Auf  der  einen  Seite  muss  die  Verwandtschaft 
des  Christenthums  mit  dem  alten  Testament  anerkannt  werden, 
auf  der  andern  steht  das  Judenthum  dem  Standpunkt  des  Evan- 
geliums schon  so  fern,  dass  man  auch  hieraus  auf  die  spätere 
Zeit  seiner  Entstehung  schliessen  kann.  Das  Judenthum  hat  den 
absoluten  Vorzug  vor  dem  Heidenthum,  dass  seine  Gotlesver- 
ehrung  eine  wissende,  d.  h.  auf  das  wahre  Object  des  religiösen 
Bewusstseins  gerichtete  ist,  während  die  heidnische,  wofür  die 
samaritanische  gilt,  eine  in  Beziehung  auf  ihr  Object  irrende  und 
nicbtwissende  ist,  4,  22.    Ist,  wie  17,  3  gesagt  wird,  das  das 


Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

ewige  Leben,  dass  man  den  allein  wahren  Gott  erkennt,  so  hat 
nur  die  jüdische  Religion  diese  absolute  Wahrheit  in  sich.  Darum 
kann  auch  nur  aus  den  Juden  das  niessianische  Heil  kommen, 
4,22,  der  Messias,  welcher  der  Erlöser  der  Welt  sein  soll,  4,42. 
Mit  der  Erkenntniss  des  wahren  Gottes  ist  daher  in  den  Schrif- 
ten des  alten  Testaments  eine  fortgehende  Weissagung  und  Hin- 
weisung auf  den,  welcher  von  dem  allein  wahren  Gott  als  der 
Erlöser  der  Welt  gesendet  werden  soll,  verbunden.  Schon  Moses 
hat  von  ihm  geschrieben,  und  zwar  so  klar  und  unzweideutig, 
dass  Moses  selbst  der  Ankläger  der  Juden  wird,  weil  sie,  wenn 
sie  ihm  glaubten ,  auch  Jesu  glauben  müssten,  5,  45;  ebenso  ist 
in  den  Schriften  der  Propheten  von  der  messianischen  Periode 
die  Rede,  6,  45.  Abraham  hat  sogar  schon  hocherfreut  den  Tag 
des  Messias  gesehen ,  8,  56,  und  Esaias  in  der  Anschauung  sei- 
ner Herrlichkeil  von  ihm  geweissagl,  12,  41.  Auch  dadurch  be- 
urkundet sich  die  alttestamentliche  Religion  als  die  wahre,  dass 
in  den  wichtigsten  Momenten  der  evangelischen  Geschichte  nur 
in  Erfüllung  gieng,  was  schon  im  alten  Testament  theils  aus- 
drücklich vorherverkündigt ,  theils  typisch  dargestellt  ist,  2, 17. 
3,  14.  6,  32.  7,  38.  12,  14  f.  38  f.  19,  28.  36.  37. 

Auf  der  andern  Seite  steht  nun  aber  das  Judenthum  als 
Geselzesreligion  so  tief  unter  dem  Christenthum  als  der  absolu- 
ten Religion ,  dass  die  eine  mit  der  andern  so  gut  wie  nichts  zu 
thun  hat.  Dieser  Gegensatz  ist  schon  im  Prolog  V.  17.  in  den 
Worten  ausgesprochen:  das  Gesetz  ist  durch  Moses  gegeben, 
die  Gnade  und  die  Wahrheit  ist  durch  Jesus  Christus  zu  Theil 
geworden.  Gesetz  und  Evangelium  treten  hier  in  ihrer  ganzen 
Weite  auseinander,  und  wie  hier  in  dem  Gegensatz  zum  Evan- 
gelium auch  schon  die  Aufhebung  des  Gesetzes  liegt,  so  wird 
überhaupt  das  Gesetz  überall,  wo  von  ihm  die  Rede  ist,  nur  als 
ein  particuläres,  nationales  und  ebendesswegen  vergängliches 
bezeichnet.  Es  ist  höchst  bezeichnend,  wie  der  Evangelist  vom 
mosaischen  Gesetz  als  von  etwas  spricht,   was  nur  die  Juden 


Johaniieischer  Lehrbegriff. 

angehe,  was  nur  sie  das  ihrige  nennen  können,  7, 19:  oü  M(ou(ri^; 
SeSwxev  uaTv  tov  v6{aov;  V.  22.  8,  17.  10,  34:  in  eurem  Gesetz 
steht  geschrieben.  Selbst  wo  eine  Stelle  des  alten  Teslamenls 
in  den  Schicksalen  Jesu  ihre  Erfüllung  finden  soll,  wie  Ps.  69, 5, 
wird  diese  Stelle  15,  25  genannt:  6  ^oyo?  6  Yeypafxfxsvo:  iv  tö 
v6[j.w  aÜTcov.  Die  bedeutendsten  gesetzlichen  Feste  werden  nur 
als  Feste  der  Juden  bezeichnet,  namentlich  das  Passahfesl  wird 
mit  diesem  Ausdruck  als  ausschliesslich  jüdisches  Fest  dargestellt, 
2,  13.  6,  4.  11,  55.  Ebendahin  gehört  die  Eigenlhümlichkeit, 
dass  der  stehende  Name,  mit  welchem  im  johanneischen  Evan- 
gelium die  Gegner  Jesu  bezeichnet  werden,  so  verschiedenen 
Classen  sie  auch  angehören ,  der  Name  -louSatot  ist.  Es  ist  auch 
daraus  zu  sehen,  wie  sehr  sich  das  Bewusstsein  des  Evangelisten 
vom  Judenthum  losgerissen  hat.  Es  steht  in  seinem  schon  abge- 
schlossenen Gegensatz  zum  Judenthum  vor  ihm,  und  er  sieht  in 
ihm  unter  diesem  Gesichtspunkt  nur  das  Reich  des  Unglaubens 
und  der  Finsterniss,  ja  die  Juden  sind  ihm  sogar  geradezu  die 
Söhne  des  Teufels,  deren  Streben  nur  dahin  geht,  das  zu  Ihun, 
was  ihr  Vater,  der  Menschenmörder  von  Anfang  an  und  der 
Feind  der  Wahrheit  von  ihnen  verlangt,  8,  44.  Diese  Spitze  des 
Gegensatzes  sieht  der  Evangelist  in  ihnen  wegen  ihres  bewussten 
Widerspruchs  gegen  die  Wahrheit,  weil  sie  trotz  alles  dessen, 
was  Jesus  ihnen  gerade  gethan  hat,  um  sie  zum  Glauben  an  ihn 
zu  bringen,  dennoch  in  ihrem  Unglauben  beharren.  Das  Juden- 
thum ist  der  eigentliche  Boden,  auf  welchem  Licht  und  Finsterniss 
in  ihrem  Gegensatz  einander  gegenüberstehen.  So  viele  Strahlen 
des  göttlichen  Lichts  das  alte  Testament  in  sich  schliessl,  so 
ausgezeichnet  Judäa  als  das  Vaterland  des  Messias,  4,44,  und  als 
der  Ort  ist,  von  welchem  das  Heil  ausgeht,  4,  22,  so  schwer 
liegt  die  Macht  der  Finsterniss  auf  dem  Judenthum,  und  so  gross 
ist  sein  Gegensatz  zum  Christenthum. 

Dabei  ist  nun  noch  besonders   bemerkenswerth,    wie  der 
Evangelist  in  der  evangelischen  Geschichte  selbst  den  Punkt  fixirt, 


392  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

auf  welchem  das  Christenthum  vom  Judenthum  sich  ablöst,  und 
der  Bruch  beider  vollendet  ist.  Es  geschieht  diess  durch  die 
eigenthümliche  Weise,  wie  er  Jesum  als  das  wahre  und  eigent- 
liche Passahlamm  darstellt,  19,  36  f.  Was  das  alttestamentliche 
Passahlamm  blos  typisch  war,  kam  in  ihm  zu  seiner  vollen  Realität 
in  dem  Moment,  in  welchem  an  ihm  das  nicht  geschah,  was  auch 
an  dem  jüdischen  Passahlamm  nicht  geschehen  durfte.  Sobald 
das  Bild  zur  Waiirheit,  der  Typus  zur  Sache  selbst  geworden  ist, 
hat  das  Bild,  der  Typus,  seine  Bestimmung  erreicht  und  erfüllt, 
er  hat  nun  nichts  weiter  zu  bedeuten.  Derselbe  Moment,  in 
welchem  der  gekreuzigte  Christus  als  das  wahre  und  eigentliche 
Passahlamm  dargestellt  wurde,  ist  der  Wendepunkt,  in  welchem 
das  Judenthum  aufhörte  zu  sein,  was  es  bisher  war,  sein  Ende 
war  gekommen,  und  das  Christenthum  trat  als  die  wahre  Religion 
an  seine  Stelle.  Das  Grosse,  Bedeutungsvolle  jenes  Moments 
war  daher,  dass  in  ihm  die  alttestamentliche  Religionsökonomie, 
wie  sie  in  dem  Worte  der  Schrift  prophetisch  und  typisch  ent- 
halten ist,  nunmehr  abgelaufen  war,  und  eine  neue  ihren  Anfang 
nahm,  deren  Charakteristisches  in  dem  aus  der  Seite  Jesu  ge- 
flossenen Blut  und  Wasser  angeschaut  wird.  Wie  sehr  dem 
Evangelisten  dieser  Gedanke  vorschwebt,  ist  aus  der  Sorgfalt  zu 
sehen,  mit  welcher  er  die  Erfüllung  alttestamentlicher  Weis- 
sagungen gerade  im  Momente  des  Todes  Jesu  nachzuweisen 
sucht.  Alles  was  nur  immer  in  Stellen  des  alten  Testaments  sich 
darauf  beziehen  lässt,  wird  herbeigezogen,  um  diesem  Moment 
seine  volle  Bedeutung  zu  geben.  Den  dabei  leitenden  Gedanken 
hat  der  Evangelist  selbst  in  dem  letzten  Worte  des  sterbenden 
Jesus  ausgesprochen  in  dem  Worte:  t&rtkzaxxi,  19,  30.  Es  ist 
vollendet,  nämlich,  wie  aus  V.  28  zu  sehen  ist,  alles,  was  zur 
Erfüllung  des  alten  Testaments  an  Jesus,  als  dem  Messias,  ge- 
schehen musste.  In  diese  grossartige  geschichtliche  Anschauung 
muss  man  sich  hineinversetzen,  wenn  man  den  Evangelisten  in 
seiner  Darstellung  des  Todes  Jesu  richtig  verstehen  will.    Es  ist 


Johanneischer  Lehrbegriff.  393 

der  Wendepunkt  der  beiden  Religionsökonomien,  der  Umschwung 
aus  dem  alttestamentlichen  jüdischen  Bewusstsein  in  das  neu- 
testamentliche  christliche,  welchen  er  im  Momente  des  Todes  Jesu 
vor  sich  gehen  sieht,  das  Alte  ist  abgelaufen  und  zu  seinem  Ende 
gekommen,  und  das  Neue  tritt  in's  Dasein.  Wenn  also  auch  das 
Judenthum  noch  fortexistirt,  so  ist  es  eine  blosse  Form  ohne 
alle  innere  Bedeutung,  und  es  ist  nur  die  Verblendung  und  Ver- 
stockung  des  Unglaubens,  welche  dem  Christenthum  gegenüber 
noch  am  Judenthum  festhält.  Wie  fern  musste  der  Verfasser  des 
Evangeliums  schon  der  Periode  des  Urchristenthums  stehen,  wenn 
er  auf  das  Judenthum  so  tief  herabsehen  konnte,  und  wie  wenig 
kann  man  sich  ihn  in  einer  nationalen  Beziehung  zu  demselben 
denken,  wenn  er  so  wenig  Sympathie  für  die  Juden  hat,  dass  er 
in  ihnen  nufr  Söhne  des  Teufels  und  durch  göttliches  Verhängniss 
zum  Unglauben  Verblendete  und  Verstockte  sieht?  Vgl.  12,37  f. 
Welche  grosse  Kluft  trennt  ihn  in  dieser  Beziehung  nicht  blos 
von  dem  Apokalyptiker,  sondern  auch  von  dem  Apostel  Paulus! 
Wie  der  Verfasser  des  Evangeliums  vom  Judenthum  und 
Judaismus  sich  völlig  losgesagt  hat,  so  hat  er  auch  den  Paulinis- 
mus hinter  sich,  er  hat  ihn  aber  zugleich  so  in  seinen  LehrbegrifF 
aufgenommen,  dass  er  die  wesentliche  Grundlage  desselben  ist. 
Der  paulinische  Universalismus  ist  eine  schon  feststehende  That- 
sache,  und  er  hängt  mit  der  Grundidee  des  Evangeliums,  der 
Lehre  vom  Logos  so  eng  zusammen,  dass  er  nun  erst  auch  theo- 
retisch begründet  ist.  Als  der  göttliche,  schon  vor  der  Welt 
existirende  Logos  ist  Christus  über  den  jüdischen  Particularismus 
so  erhaben,  dass  alles,  was  er  Nationales  an  sich  hat,  nur  in 
einer  sehr  zufälligen  Beziehung  zu  ihm  zu  stehen  scheint.  Er  ist 
zwar  der  jüdische  Messias  1,  42.  4,  22  (nur  im  johanneischen 
Evangelium  wird  dieser  acht  jüdische  Name  gebraucht,  und 
gleichsam  eine  antiquarische  Notiz  über  ihn  gegeben),  der  im 
alten  Testament  prophetisch  Verheissenc,  welcher,  weil  ja  -ö 
coTxp^  iy^  TcSv  'io'j^aitov  e<rriv,  4,  22,  auch  nur  unter  den  Juden 


Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

auftreten  konnte;  sonst  jedoch  ist  von  dem  johanneischen  Christus 
alles  Nationale  abgestreift,  der  Ausdruck  uiö:  toO  O&oO  hat  nicht 
denselben  Sinn  wie  bei  den  Synoptikern,  von  einem  Davidssohn 
ist  gar  nicht  die  Rede,  das  den  synoptischen  Evangelien  so 
wichtige  Dogma,  dass  der  Messias  als  ix.  toO  <j7repijt.aT0?  Aa^lS, 
xal  01.7:6  Br.OXes;;-,  rii;  >ta>y.7;c,  otcou  r,v  Aaßl^,  loysTai,  7,  42, 
führt  er  blos  als  jüdische  Meinung  an,  die  Einzugsscene  geschiebt 
xwar  auch  hier  auf  dieselbe  Weise,  nie  bei  den  Synoplikern,  sie 
erscheint  aber  hier  ofTenbar  nur  als  Accommodation  von  Seilen 
Jesu,  um  den  Juden  auch  diesen  Vorwand  ihres  Unglaubens  ab- 
zuschneiden, wie  wenn  sie  wegen  eines  solchen  ihm  fehlenden 
Kriteriums  der  Messianität  an  ihn  nicht  hätten  glauben  können. 
Auf  dem  universellen  Standpunkt  des  johanneischen  Evangeliums 
ist  der  Logos,  seiner  ursprünglichen  Idee  nach,  dlas  Licht  der 
Well,- 8  «ptdTi^ei  TravTa  avOpwTcov,  1,  9,  und  selbst  wenn  unter 
den  TÖc  lÄia  und  oi  räiot  V.  H  nur  das  jüdische  Volk  zu  verstehen 
wäre,  was  jedoch  keine  nothwendige  Annahme  ist,  wird  durch 
dieses  specielle  Verhältniss  jenes  allgemeine  keineswegs  be- 
schränkt. Wenn  der  Evangelist  11,52  mit  besonderem  Nach- 
druck hervorhebt,  dass  Jesus  nicht  blos  für  das  jüdische  Volk 
sterben  sollte,  sondern  dazu,  durch  seinen  Tod  auch  die  zer- 
streuten Kinder  Gottes  zu  einem  Ganzen  zu  vereinigen,  so  setzte 
er  solche  zerstreute  Kinder  Gottes  auch  in  der  heidnischen  Welt 
voraus.  Je  grösser  der  Unglaube  der  Juden  war,  je  weniger 
daher  an  ihnen  der  Zweck  der  Wirksamkeit  Jesu  erreicht  werden 
konnte,  desto  mehr  musste  er  in  der  heidnischen  Welt  in  Er- 
füllung gehen,  in  ihr  also  auch  eine  weit  grössere  Empfänglich- 
keit für  das  Wort  Gottes  und  den  Glauben  an  Jesus  vorhanden 
sein,  als  bei  den  Juden,  wie  denn  auch  wirklich  der  Evangelist 
in  mehreren  Stellen  die  Heiden  auf  diese  Weise  vor  den  Juden 
auszeichnet.  Es  gehört  hieher  besonders  die  Erzählung  K.  4. 
Der  Evangelist  sieht  hier  in  den  Samaritanern,  welche  den  Über- 
gang zu  den  Heiden  machten,  das  reiche  Erndtefeld,  das  in  der 


Jobanneischer  Lehrbegriff.  395 

empfänglichen  Heidenwelt  dem  Glauben  an  Jesus  sich  öffnete. 
Die  bekehrten  Sainaritaner  gehören  schon  zu  jenen  andern 
Schafen,  welche  Jesus  in  der  Gleichnissrede  vom  guten  Hirten 
zu  seiner  Heerde  führen  zu  müssen  versichert,  10, 16.  Bemerkens- 
werth  ist  in  dieser  Beziehung  besonders  auch  die  Stelle,  12,  20  f., 
in  welcher  Jesus  gleichfalls  das,  was  im  ungläubigen  Judenlhum 
nicht  möglich  war,  seine  Verklärung  durch  den  Glauben  an  ihn, 
in  der  glaubigen  Heidenwelt  sich  verwirklichen  sieht.  In  jenen, 
das  glaubige  Heidenthum  repräsentirenden  Hellenen  fällt  der  ver- 
klärte Blick  Jesu  auf  die  zu  seiner  Verherrlichung  bestimmte 
Sphäre,  in  welcher  aus  seinem  Tode  die  Gemeinde  der  Glaubigen 
erstehen  sollte.  Die  gleiche  Berechtigung  und  Befähigung  der 
Heiden  zur  Theilnahme  am  messianischen  Heil  ist  dem  Evangeli- 
sten eine  längst  entschiedene  Sache,  eine  Frage,  welche  nicht 
mehr,  wie  in  den  Briefen  des  Apostels  Paulus,  Gegenstand  des 
Streits  und  lebhafter,  das  Zeitinleresse  in  Anspruch  nehmender 
Verhandlungen  ist,  sondern  sich  in  der  Wirklichkeit  schon  da- 
durch gelöst  hat,  dass  es  eine  aus  Heiden  und  Juden  bestehende, 
zur  Einheit  eines  Ganzen  gewordene  christliche  Gemeinde  gab. 
Hierin  also,  in  diesem  die  Heidenwelt  als  sein  wesentlichstes 
Element  betrachtenden  Universaiismus  steht  das  johanneische 
Evangelium  ganz  auf  dem  Boden  der  Errungenschaft  des  Pauli- 
nismus. 

Was  nun  aber  das  Verhaltniss  des  johanneischen  Lehrbe- 
griffs zum  paulinischen  in  den  auf  das  innere  Verhaltniss  des 
Menschen  zu  Gott  sich  beziehenden  Lehren  betrifft,  so  ergibt 
sich  schon  aus  dem  johanneischen  Standpunkt  überhaupt,  dass 
er  über  die  paulinische  Lehre  vom  Glauben  und  der  Rechtferti- 
gung hinausliegt.  Wer  dem  Gesetz  schon  so  fern  steht,  wie  der 
Verfasser  des  johanneischen  Evangeliums,  kann  es  auch  nicht  als 
die  Hauptaufgabe  der  erlösenden  Thätigkeit  Jesu  betrachten,  den 
Menschen  von  der  Scluildfurderung  des  Gesetzes  zu  befreien. 
Eine  Auffassung  des  Todes  Jesu,  bei  welcher  auf  die  stellver- 


Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

tretende  und  genugthuende  Bedeutung  desselben  das  Hauptge- 
wicht gelegt  wird,  passt  nicht  in  den  johanneischen  Lehrbegriff, 
in  welchem  die  Person  Jesu  in  ihrer  Einheit  und  Totalität  so  sehr 
die  Grundanschauung  ist,  dass  auch  der  Tod  Jesu  als  specielles 
Moment  nicht  so  sehr  hervorgehoben  und  fixirt  werden  kann.  Nur 
in  einer  Rede  des  Täufers  1, 19  wird  Jesus  das  Lamm  Gottes  ge- 
nannt, 6  ai'pwv  Tviv  a[;-apTtav  toO  /t6<j[;-ou,  und  auch  dieses  atpetv 
ist  nicht  von  einem  stellvertretenden  Tode  zu  verstehen,  sondern 
nur  davon,  dass  er  überhaupt  durch  seine  ganze  persönliche 
Erscheinung  und  Wirksamkeit  die  Sünde  hinwegnimmt  und  auf- 
hebt. Hiemit  fällt  der  specifisch-paulinische  Begriff  des  Glaubens 
hinweg,  und  das  Object  des  Glaubens  ist  nicht  der  Tod  Jesu  mit 
seiner  Sünden  vergebenden  Kraft,  sondern  die  Person  Jesu  über- 
haupt als  des  fleischgewordenen  Logos,  oder,  da  Jesus  als  der 
Gesendete  nur  in  der  unmittelbarsten  Einheit  mit  dem  ihn  Senden- 
den gedacht  werden  kann,  Gott  selbst.  Man  glaubt  in  Jesus  an 
Gott  selbst,  5,  24.  Für  TridTsustv  stehen  daher  auch  mehrere,  ein 
persönliches  Verhältniss  ausdrückende  Begriffe,  wie  XajAßävetv, 
7capaXa[Aßaveiv,  1,  11.  12.  3,  11.32.  5,  43.  12,  48.  13,  20, 
(xxoueiv  8,  43.  47.  10,  3.  16.  18,  37,  epxEaOai  6,  35.  37.  7,  37. 
Die  paulinische  Unterscheidung  zwischen  dem  Glauben  und  den 
Werken  hat  auf  dem  johanneischen  Standpunkt  keine  Bedeutung. 
Das  durch  den  Glauben  bezeichnete  Verhältniss  zu  Jesu  ist  an 
sich  ein  practisches  Verhalten,  das  sich  auch  thatsächlich  äussern 
muss.  Auf  die  Frage  des  Volks  6,  28:  xi  ttoiöiasv,  Iva  ipYa^w- 
j/,e6a  T«  Ipya  toO  9eoO;  gibt  Jesus  die  Antwort:  toOt6  c<m  to 
Ipyov  ToO  6eoO,  Iva  7rt<jTeu(nfiTe  si?  8v  a7re<jT2iXev  dxeTvo;.  Der 
Glaube  ist  also  selbst  ein  spyov,  dadurch  hebt  sich  der  Streit  über 
den  Glauben  und  die  Werke  von  selbst  auf.  Ein  solches  epyov, 
als  unmittelbares  practisches  Verhalten  ist  aber  der  Glaube  nur 
wegen  der  persönlichen  Beziehung,  die  in  ihm  liegt.  Als  Ver- 
trauen zu  Jesus,  als  Anhänglichkeit  an  seine  Person,  als  Liehe 
zu  ihm,  enthält  der  Glaube  von  selbst  den  Trieb,  sich  practisch 


'Jobanneischer  Lehrbegriff.  397 

ZU  äussern.  Wenn  ihr  mich  liebet,  sagt  Jesus  14,  15,  werdet 
ihr  meine  Gebote  halten.  Die  Liebe  zu  ihm  kann  sich  nur  da- 
durch bethätigen,  dass  man  nach  seinen  Geboten  handelt.  Ihr 
seid  meine  Freunde,  sagt  Jesus  15,  14,  wenn  ihr  alles  thut, 
was  ich  euch  befehle.  Wer  meine  Gebote  hat,  sich  ihrer  bewusst 
ist,  und  sie  hält,  der  ist's,  der  mich  liebt,  und  wer  mich  liebt, 
wird  von  meinem  Vater  geliebt  werden,  und  ich  werde  ihn  lieben, 
14, 21.  Wie  mich  der  Vater  geliebt  hat,  so  habe  ich  euch  geliebt, 
bleibet  in  meiner  Liebe;  wenn  ihr  meine  Gebote  haltet,  werdet 
ihr  in  meiner  Liebe  bleiben,  wie  auch  ich  die  Gebole  meines 
Vaters  gehalten  habe  und  in  seiner  Liebe  bleibe ,  15,  9  f.  Auf 
das  TT.peTv  xa;  dvToH?,  oder  darauf,  dass  man  das  thul,  was  dem 
Willen  Gottes  und  Jesu  gemäss  ist,  kommt  hier  alles  an  in  Hin- 
sicht des  Verhältnisses  des  Menschen  zu  Gott.  Das  Princip  und 
Motiv  dieses  Thuns  ist  die  Liebe,  und  zwar  nicht  in  dem  Sinne, 
in  welchem  der  Apostel  Paulus,  wenn  er  von  einer  7ri<iTi?  dvsp- 
youjAsvy)  §t'  ayaTnri?  spricht,  die  Liebe  aus  dem  Glauben  hervor- 
gehen lässt,  sondern  die  Liebe  tritt  hier  unmittelbar  an  die  Stelle, 
welche  bei  dem  Apostel  Paulus  der  Glaube  einnimmt.  Wer  an 
Jesus  glaubt,  tritt  dadurch  in  ein  Liebesverhältniss  zu  ihm,  das 
das  bestimmende  Princip  seines  Seins  und  Lebens  wird.  Die 
Liebe  zu  ihm  treibt  ihn,  alles  das  zu  thun,  was  Jesus  von  ihm 
verlangt,  und  die  Liebe  zu  Jesus  schliesst  ganz  besonders  die 
Liebe  zu  Andern  in  sich.  Das  ist  mein  Gebot,  sagt  Jesus  15, 12, 
dass  ihr  einander  liebet,  wie  ich  euch  geliebt  habe.  Auch  da, 
wo  Jesus  von  der  Lieb'e  als  einem  neuen  Gebot  spricht,  versteht 
er  es  von  dem  äyaTTxv  dtXV/iXo'j;:  wie  er  die  Seinen  geliebt  habe, 
so  sollen  auch  sie  sich  unter  einander  lieben. 

Wie  die  Liebe,  als  das  Princip  des  christlichen  Verhaltens 
in  der  Liebe  wurzelt,  welche  Jesus  zu  den  Seinen  hat,  so  hat 
diese  Liebe  Jesu  selbst  acht  johannelsch  ihre  höhere  Begründung 
in  dem  Verhäilniss,  in  welchem  er  zu  dem  Vater  steht.  Das 
innerlichste  Band  dieses  Verhältnisses  ist  die  Liebe.     Von  der 


398  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

Liebe,  mit  welcher  der  Valer  den  Sohn  geliebt  hat,  vor  Grund- 
legung der  Welt,  und  vermöge  welcher  der  Vater  in  ihm  und  er 
im  Vater  ist,  47,  23.  24,  geht  alles  aus.  Diese  Liebe  des  Vaters 
und  Sohns  in  der  höchsten  metaphysischen  Sphäre,  von  welcher 
die  Betrachtungsweise  des  Evangeliums  ausgeht,  ist  der  maass- 
gebende  Typus  für  alle  auf  der  Sendung  des  Sohns  beruhende 
Verhältnisse.  Sie  ist  der  Grund  der  Sendung  des  Sohns.  Denn 
also  hat  Gott  die  Welt  geliebt,  dass  er  seinen  eingebornen  Sohn 
gab,  auf  dass  alle,  die  an  ihn  glauben,  nicht  verloren  gehen, 
sondern  das  ewige  Leben  haben,  3,  16.  Mit  derselben  Liebe, 
mit  welcher  der  Vater  den  Sohn  liebt,  liebt  er  auch  die  Welt, 
und  mit  derselben  Liebe,  mit  welcher  der  Sohn  den  Vater  liebt| 
thut  er  alles,  was  der  Vater  aus  Liebe  zur  Welt  von  ihm  ver- 
langt. Die  Welt  soll  erkennen,  sagt  Jesus  14,  31,  dass  ich  den 
Vater  liebe  und  so  thue,  wie  mir  der  Vater  befohlen  hat.  Mit 
derselben  Liebe,  mit  welcher  der  Vater  die  Welt  liebt,  liebt  der 
Sohn  die,  die  ihm  der  Vater  gegeben  hat,  und  der  grössle  Be- 
weis seiner  Liebe  ist,  dass  er  sein  Leben  für  sie  gibt,  weil  ja 
niemand  grössere  Liebe  hat  als  die,  dass  er  sein  Leben  lässt  für 
seine  Freunde,  15, 13.  Indem  so  die  Liebe  immer  auf  ein  höheres 
Verhältniss  zurückweist,  in  welchem  sie  selbst  wurzelt,  erhält 
dadurch  erst  alles  Thun  seineu  absoluten  sittlichen  Werth.  In 
diesem  Sinne  sagt  Jesus,  dass  er  nicht  seine  eigene  Ehre  suche, 
sondern  nur  die  Ehre  dessen,  der  ihn  gesendet  hat,  8,  50.  7, 18, 
dass  es  seine  Speise  sei,  den  Willen  dessen  zu  thun,  der  ihn 
gesendet  hat,  und  sein  Werk  zu  vollenden,  4,  34,  dass  er  vom 
Himmel  gekommen  sei,  nicht  seinen  Willen  zu  thun,  sondern 
den  Willen  dessen,  der  ihn  gesendet  hat,  6,  38.  Wie  das  ganze 
Thun  des  Sohns  schlechthin  bedingt  ist  durch  sein  Einssein  mit 
dem  Vater,  so  dass  dadurch  von  selbst  alles,  was  nur  aus  ihm 
ist,  ausgeschlossen  und  unmöglich  gemacht  ist,  so  können  auch 
die  an  ihn  Glaubenden  nur  in  der  Einheit  mit  ihm  und  in  der 
schlechthinigen  Abhängigkeit  von  ihm  auf  fruchtbringende  Weise 


Johann  eisohe  r  Lehrb'egriff.  399 

wirken,  wie  diess  durch  das  Gleichniss  vom  Weinstock  und  den 
Reben  veranschaulicht  wird,  K.  15.  Wie  in  der  Einheit  des 
Vaters  und  Sohns  das  Thun  des  Sohns  eigentlich  das  Thun  des 
Vaters  ist,  so  hat  auch  das  Thun  der  Seinen  das  bestimmende 
Princip  nur  darin,  dass  sie  in  ihm  sind  und  bleiben.  Das  Ver- 
hällniss  des  Sohns  zum  Vater  ist  auf  diese  Weise  der  absolute 
Typus  fiir  alles,  wodurch  das  Verhältniss  der  Menschen  zu  Gott 
practisch  realisirt  werden  soll.  Daher  kann  auch  das  Endziel  nur 
ein  diesem  Verhältniss  analoges  sein.  Was  der  Sohn  auf  abso- 
lute Weise  ist,  sollen  die  an  ihn  Glaubenden  durch  seine  Ver- 
mittlung werden.  Ist  also  er  der  Eingeborne,  so  erhalten  sie 
von  ihm  die  s^ouita,  tskvx  ösoO  ys^wöat,  1,  12.  Als  Kinder 
Gottes  sind  sie  von  Gott  gezeugt.  Dieses  Kindschaftsverhältniss  hat 
zwar  von  der  menschlichen  Zeugung  seinen  Namen  und  ist  in- 
sofern derselben  analog,  wenn  man  aber  auch  aus  dem  mensch- 
lichen Verhältniss  alles  Unreine  und  Materielle  hinwegdenkt,  so 
ist  es  doch  ein  von  demselben  unendlich  verschiedenes,  ein  Ver- 
hältniss ganz  eigener  Art,  1,13.  Dieses  ysvvTiÖ-^vat  esc  6soO  ist 
gleichbedeutend  mit  dem  •^t'^>ir,b-f\sx'.  avwSev,  dem  von  oben  Ge- 
borenwerden, 3,  3  f.,  wobei  neben  dem  auf  die  christliche  Taufe 
sich  beziehenden  Wasser  noch  besonders  der  Geist  als  wirken- 
des Princip  genannt  wird,  auf  dieselbe  Weise,  wie  Jesus  unge- 
achtet seiner  Idenliiät  mit  dem  göttlichen  Logos  noch  besonders 
das  7rn\j[i.x  zugeschrieben  wird.  Demgemäss  geht  nun  auch 
dasselbe  innige  Verhältniss,  in  welchem  Jesus  zum  Vater  steht, 
auf  die  mit  ihm  Verbundenen  über.  Die  Liebe,  mit  welcher  ihn 
der  Vater  geliebt  hat,  soll  auch  in  den  Seinen  sein,  wie  er  in 
ihnen  ist,  17,26.  Wenn  einer  ihn  liebt,  und  somit  auch  sein 
Wort  hält,  so  wird  ihn  auch  der  Vater  lieben,  und  beide,  der 
Vater  und  der  Sohn,  kommen  zu  ihm,  um  ihre  Wohnung  bei  ihm 
zu  nehmen,  14,  23.  So  ist  das  Verhältniss  der  an  Jesum  Glau- 
benden zu  ihm  nur  die  Fortsetzung  des  Verhältnisses,  in  welchem 
er  selbst  zum  Vater  steht,  das  eine  Verhältniss  reflectirt  sich  in 


400  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

dem  andern,  so  jedoch,  dass  das  eine  dem  andern  nicht  blos 
untergeordnet,  sondern  auch  wieder  mit  ihm  identisch  ist.  In 
demselben  Verhältniss,  in  welchem  der  Sohn  zum  Vater  steht, 
stehen  die  Glaubigen  nicht  blos  zum  Sohn,  sondern  durch  die 
Vermittlung  des  Sohns  auch  zum  Vater.  Das  bestimmende  Prin- 
cip  des  ganzen  Verhältnisses  aber  ist  die  durch  unbedingte  Hin- 
gabe und  Befolgung  des  göttlichen  Willens  sich  bethätigende 
Liebe,  deren  höchstes  absolutes  Princip  die  Liebe  des  Vaters  zum 
Sohn  und  Gottes  zu  der  Welt  ist. 

Die  Liebe  ist  somit  überhaupt  der  höchste  BegrifT,  von 
welchem  die  johanneische  Anschauungsweise  ausgeht.  In  ihr 
liegt  daher  auch  der  Punkt,  In  welchem  der  johanneische  Lehr- 
begriflf  von  dem  paulinischen  sich  scheidet.  So  hoch  auch  der 
Apostel  Paulus  die  Liebe  Gottes  stellt,  so  steht  doch  in  seiner 
Anschauungsweise  vermöge  seiner  Ansicht  vom  Gesetz  der  Liebe 
noch  immer  die  Gerechtigkeit  gegenüber.  Der  Mensch  kann  von 
dem  Gesetz  nicht  hinwegkommen,  ohne  dass  dem  Rechtsanspruch 
des  Gesetzes  an  ihn  Genüge  geschehen,  seine  Schuldforderung 
getilgt,  das  Lösegeld  bezahlt  ist.  Diess  geschieht  durch  den  Tod 
Jesu,  er  ist  das  Hauptmoment,  in  welchem  das  ganze  Werk  der  Er- 
lösung sich  vollzieht.  Mit  dieser  centralen  Bedeutung,  welche  der 
Tod  Jesu  im  paulinischen  Lehrbegriff  hat,  ist  sogleich  alles  gegeben, 
was  den  eigenthümlichen  Inhalt  desselben  ausmacht,  der  intensive 
Begriff  des  nur  auf  den  Tod  als  sein  eigentliches  Object  gerichte- 
ten Glaubens,  und  das  ebendadurch  bedingte  Verhältniss  des 
Glaubens  und  der  Werke  in  Hinsicht  der  Rechtfertigung.  Im 
Johanneischen  Lehrbegriff  fehlt  vor  allem  eine  solche  Bedeutung 
des  Todes  Jesu,  wie  bei  Paulus,  und  zwar  aus  dem  doppelten 
Grunde,  weil  das  Gesetz  dem  Gesichtskreis  des  Evangeliums 
schon  so  entrückt  ist,  dass  seine  Ansprüche  gleichsam  als  anti- 
quirt  anzusehen  sind,  und  sodann  weil  die  ganze  Anschauung 
von  der  Person  Jesu  es  nicht  gestattet,  ein  einzelnes  Moment 
auf  so  überwiegende  Weise  hervorzuheben,  dass  der  Schwer- 


Johanneischer  Lehrbegriff,  401 

punkt  des  ganzen  Erlösungsvverkes  in  dasselbe  fällt.  Erlösend 
ist  Jesus  durch  seinen  Tod  nur  in  demselben  Verhältniss,  in 
welchem  er  es  durch  seine  irdische  Erscheinung  überhaupt  ist. 
Was  bei  Paulus  die  Thatsaohe  des  Todes  ist,  ist  hier  das  rein" 
Persönliche,  die  Person  Jesu  in  ihrer  absoluten  Bedeutung.  Daher 
kann  man  des  der  Menschheit  durch  Jesus  zu  Theil  gewordenen 
Heils  nur  dadurch  theilhaftig  werden,  dass  man  den  ganzen  Ein- 
druck seiner  Persönlichkeit  auf  sich  wirken  lässt,  sich  ihr  hingibt 
und  sich  durch  sie  practisch  bestimmen  lässt.  Wie  also  der  jo- 
hanneische  Lehrbegriff  von  dem  Judenthum  als  einem  noch  fort- 
bestehenden Moment  des  religiösen  Bewusstseins  sich  völlig 
losgesagt  und~alles  Judaistische  weit  hinler  sich  zurückgelassen 
hat,  so  geht  er  in  demselben  Verhältniss  über  den  paulinischen 
Standpunkt  hinaus,  in  welchem  auf  demselben  noch  das  Bedürf- 
niss  vorhanden  ist,  sich  mit  dem  Gesetz  erst  rechtlich  auseinander- 
zusetzen. Einen  Zusammenhang  mit  dem  Judenthum,  vermöge 
dessen  das  Christenlhum  von  ihm  sich  erst  losmachen  und  enian- 
cipiren,  gleichsam  seine  Schuld  an  dasselbe  abtragen  müsste, 
um  das  Recht  seiner  freien  Existenz  zu  haben,  gibt  es  für  das 
Johanneische  Evangelium  nicht. 

Wie  so  der  johanneische  Lehrbegriff  sich  nicht  blos  über 
den  Judaismus,  sondern  auch  den  Paulinismus  erhebt,  und  auf 
beide  als  überwundene  Standpunkte  herabsieht,  so  besteht  über- 
haupt sein  eigenthümlicher  Charakter  darin,  dass  er  in  freier 
Idealität  über  den  Gegensätzen  steht,  und  auf  dem  Standpunkt 
der  absoluten  Idee  sich  selbst  über  die  Momente  der  geschicht- 
lichen Vermittlung  hinwegsetzt.  Seine  ganze  Betrachtungsweise 
geht  nicht  von  unten  nach  oben,  sondern  von  oben  nach  unten. 
Konnte  der  Apostel  Paulus  den  Anknüpfungspunkt  für  das  Chri- 
stenthum  nur  in  der  Sünde  finden,  und  das  Christenthum  nur  aus 
dem  Gesichtspunkt  des  Gegensatzes  auffassen,  in  welchem  in  der 
geschichtlichen  Entwicklung  der  Menschheit  Sünde  und  Gnade, 
Tod  und  Leben  zu  einander  stehen,  so  ist  dagegen  auf  dem  jo- 

Banr,  neutest.  Theol.  26 


4012  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

hanneischen  Standpunkt  der  höchste  Zweck  des  Christenthums 
nicht  das  praclische  Interesse  der  erlösungsbedürftigen  Mensch- 
heit, sondern  das  Theoretische  der  Selbstoffenbarung  und  Selbst- 
mittheilung Gottes  an  die  Menschheit,  wie  sie  in  der  Idee  des 
Logos  ausgesprochen  ist.  Tritt  sie  in  die  Welt  und  Menschheit 
herein,  so  kann  sie  zwar  auch  nur  den  Gegensatz  von  Licht  und 
Finsterniss  hervorrufen,  sie  ist  aber  nicht  selbst  durch  ihn  be- 
dingt, so  dass  die  überwiegende  Macht  der  Finsterniss  in  der 
Welt  die  Ursache  der  göttlichen  Offenbarung  wäre.  Der  höchste 
Begriff,  in  welchem  im  johanneischen  Evangelium  das  absolute 
Wesen  Gottes  in  seiner  Beziehung  zur  Welt  und  Menschheit  aus- 
gesprochen wird,  ist  die  ^wti  auovio;.  Wie  dem  Sohn  als  dem 
Logos  die  Macht  über  alles  Fleisch  gegeben  ist,  so  soll  er  allem, 
was  ihm  der  Vater  gegeben  hat,  der  ganzen  Menschheit,  allen 
in  ihr  begriffenen  Subjeclen,  das  ewige  Leben  geben.  Das  aber 
ist  das  ewige  Leben,  dass  sie  den  Einen  wahren  Gott  und  den, 
den  er  gesendet  hat,  Jesum  Christum,  erkennen,  17,  2  f.  Die 
Mittheilung  des  ewigen  Lebens  besteht  also  in  der  Mitlheilung 
des  wahren  Gottesbewusstseins  an  die  Menschheit.  Mitgelheilt 
wird  dieses  Bewusstsein  durch  Jesus,  es  ist  diess  der  ganze 
Zweck  seiner  Sendung  in  die  Welt,  und  wie  sich  die  Mittheilung 
des  wahren  Gottesbewusstseins  an  die  Menschheit  zu  der  Mit- 
theilung des  ewigen  Lebens  verhält,  so  verhält  sich  die  Verherr- 
lichung des  Vaters  durch  den  Sohn.  Das  Eine  ist  die  Voraus- 
setzung des  Andern.  Verherrlicht  wird  der  Sohn  durch  den 
Vater,  wenn  die  Erkenntniss  des  Einen  wahren  Gottes  und  des- 
sen, den  er  gesendet  hat,  durch  den  fortgehenden  Erfolg  der 
von  Jesu  ausgegangenen  Thätigkeit  das  allgemeine  Bewusstsein 
der  Menschheit  wird,  und  in  demselben  Verhältniss,  in  welchem 
diess  geschieht,  erfolgt  die  Verherrlichung  des  Vaters  durch  den 
Sohn  in  der  Mitlheilung  des  ewigen  Lebens  an  die  Mcnschhcil. 
Beides  also  ist  Eines  und  dasselbe,  die  Mittheilung  des  wahren 
Gottesbewusstseins  und  die  Mitlheilung  des  ewigen  Lebens,  das 


Johannelscher  Lehrbegriff.  403 

Eine  wie  das  Andere  ist  der  absolute  Zweck  und  Inhalt  des 
Christenthums.  Daher  ist  die  höchste  Aufgabe  der  Sendung  Jesu, 
den  Namen  Golles  zu  offenbaren,  ihn  den  Menschen  bekannt  zu 
machen,  17,  6.  26.  Diess  kann  nur  dadurch  geschehen,  dass 
Gott  als  das,  was  er  an  sich  ist,  erkannt  wird.  Was  aber  Gott 
an  sich  ist,  ist  4,  24  in  dem  einfachen  Satze  gesagt:  TcvsOfxa  6 
öso;.  Gott  ist  Geist,  und  wie  er  selbst  Geist  ist,  so  müssen  auch 
die,  die  ihn  anbeten,  ihn  im  Geist  und  in  der  Wahrheit  anbeten. 
Wird  nun  in  demselben  Zusammenhang  gesagt  V.  23,  dass  die 
Stunde  kommt  und  schon  da  ist,  wo  die  wahren  Anbeter  anbeten 
werden  den  Vater  im  Geist  und  in  der  Wahrheit,  weil  ja  der 
Vater  nur  solche  als  seine  Anbeter  verlangt,  so  ist  auch  dadurch 
die  absolute  Bedeutung  des  Christenthums  ausgesprochen.  Die 
Mittheilung  des  wahren  Gottesbewusstseins  im  Christenthum  be- 
steht darin,  dass  Gott  als  reiner  Geist  erkannt  ist,  und  somit 
auch  der  Mensch  nur  in  einem  rein  geistigen  Verhältniss  zu  ihm 
stehen  kann.  Das  Christenthum  ist  daher  die  Erhebung  des  Be- 
wusstseins  in  die  Sphäre  reiner  Geistigkeit,  in  welcher  Gott  als 
Geist  gewusst  wird ,  und  alles  Particuläre  und  Beschränkende  in 
der  Allgemeinheit  der  Idee  Gottes  aufgehoben  ist.  In  diesem 
reinen  geistigen  Gottesbewusstsein  ist,  was  schon  der  Prolog  als 
das  Eigenthümliche  der  christlichen  Offenbarung  hervorhebt,  das 
unsichtbare  Wesen  Gottes,  das  niemand  je  gesehen,  durch  den 
Eingeborenen,  den  im  Schoosse  des  Vaters  Seienden,  aufge- 
schlossen und  in  das  menschliche  Bewusstsein  als  sein  absoluter 
Inhalt  übergegangen. 

Besteht  nun  aber  das  Absolute  des  Christenthums  ebensosehr 
in  der  Mittheilung  des  wahrhaft  geistigen  Gottesbewusstseins  an 
die  Menschheit,  als  in  der  Mittheilung  des  ewigen  Lebens:  wie 
verhält  sich  das  Eine  zu  dem  Andern?  gehört  zwar  das  Erslere 
der  Gegenwart,  das  Letztere  aber  der  Zukunft  an,  oder  ist 
beides  im  christlichen  Bewusstsein  so  ineinander,  dass  der  Christ 
in  demselben  Verhältniss,   in  welchem  er  das  wahre  Gotlesbe- 

26  *. 


404  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

wusslseiii  hat,  auch  das  ewige  Leben  hat?  Unstreitig  Ist  das 
Letztere  die  Lehre  des  johanneischen  Evangeliums,  und  es 
schliesst  uns  darin  erst  vollends  die  hohe  Eigenlhümlichkoit 
seiner  Anschauungsweise  auf.  Wie  in  der  absoluten  Idee  Gottes 
jede  zeilliche  und  räumliche  Schranke  und  in  der  dieser  Idee 
entsprechenden  Einen  Heerde  unter  dem  Einen  Hirten  jeder 
nationale  Unterschied,  alles  was  die  Menschen  äusserlich  von 
einander  trennt,  aufgehoben  ist,  so  fällt  in  dieser  Idee  auch  die 
Zukunft  mit  der  Gegenwart  zusammen,  es  gibt  keine  das  Jenseits 
vom  Diesseits  trennende  Kluft,  das  ewige  Leben  ist  aus  der 
Äeusserlichkeit  eines  nur  künftigen  Zustandes  in  die  Innerlichkeit 
des  Geistes  verlegt.  Was  Jesus  5,  24  so  feierlich  betheuert: 
»wahrlich,  wahrlich,  ich  sage  euch,  wer  mein  Wort  vernimmt 
und  dem  glaubt,  der  mich  gesandt  hat,  der  hat  das  ewige  Leben, 
und  geht  nicht  in  das  Gericht,  sondern  ist  schon  vom  Tode  zum 
Leben  übergegangen«,  ist  der  höchste,  in  so  vielen  Äusserungen 
wiederkehrende  Grundgedanke  der  johanneischen  Eschatologie. 
Vgl.  3,  16.  4,  14.  6,  40.  47.  10,  28.  Wer  sein  Wort  hält,  wird 
den  Tod  nicht  sehen  ewiglich,  8,  51,  wer  an  ihn  glaubt,  wird 
leben,  ob  er  gleich  stirbt,  und  jeder,  der  lebt  und  an  ihn  glaubt, 
wird  in  Ewigkeit  nicht  sterben,  11,  26.  Das  ewige  Leben  ist 
also  schon  jetzt  der  dem  christlichen  Bewusstsein  immanente 
Inhalt. 

Wie  verhält  sich  aber  dazu  der  wirkliche  Eintritt  in  das 
zukünftige  Leben?  Ist  die  Zukunft  der  Gegenwart  immanent, 
sind  beide  ineinander,  so  darf  die  Eschatologie  nichts  enthalten, 
was  nur  dazu  dient,  beide  auseinanderzuhalten  und  eine  Schranke 
zwischen  ihnen  zu  setzen,  wie  diess  durch  die  Lehre  von  einer 
erst  am  Ende  der  Welt  erfolgenden  Auferstehung  geschieht.  Es 
ist  jedoch  auch  im  johanneischen  Evangelium  von  einer  allge- 
meinen, nicht  immillelbarauf  dieses  Leben  folgenden  Auferstehung 
die  Rede.  Es  kommt  die  Stunde,  in  welcher  alle,  die  in  den 
Gräbern  sind,  die  Stimme  Christi  hören,  und  hervorgehen  werden 


Jo hanneischer  Lehrbegriff.  405 

die  Guten  zur  Auferslehungr  des  Lebens,  die  Bösen  zur  Aufer- 
stehung des  Gerichts,  5,  28.  29.  Jesus  wird  die,  die  ihm  Gott 
gegeben  hat,  am  jüngsten  Tag  auferwecken,  6,  40.  44.  54. 
Welche  Bedeutung  kann  aber  eine  solche  Auferstehung  haben, 
wenn  das,  was  die  Hauptsache  bei  der  Auferstehung  ist,  schon 
anticipirl  ist,  oder  Vielehen  Glauben  kann  man  an  eine  leibliche 
Auferstehung  haben,  wenn  schon  gesagt  ist,  dass  das,  worin 
die  Auferstehung  vor  sich  gehe,  nicht  der  Leib  ist,  sondern  der 
Geist?  Wie  nahe  streift  also  das  johanneische  Evangelium,  wenn 
es  auch  die  künftige  allgemeine  Auferstehung  stehen  lässt,  an 
die  Lehre  jener  Gnostiker,  welche  2  Tim.  2,  18  sagten:  xry 
ävifTTactv  viär,  yeyovevai?  Überhaupt  welchen  Werth  kann  eine 
leibliche  Auferstehung,  d.  h.  eine  Auferstehung  der  capE  in  einem 
Evangelium  haben,  das  als  allgemeine  Wahrheit  ausspricht  6,63: 
r,  (jap^  oux  töcpeXsi  ouSsv?  Hat  es  ja  auch  von  der  Auferstehung 
Jesu  nicht  die  gewöhnliche  materielle  Vorstellung,  und  wenn, 
wie  Jesus  14,  3  sagt,  wo  er  ist,  auch  die  sein  sollen,  die  ihm 
angehören,  so  kann  man  sich  auch  die  Letztern  nicht  in  materieller 
Leiblichkeit  mit  dem  Auferstandenen  zusammendenken.  Der 
Zeitpunkt  der  Auferstehung  ist  auch  der  des  Gerichts,  aber  auch 
das  Gericht  setzt  das  johanneische  Evangelium  ebenso  aus  der 
Zukunft  in  die  Gegenwart.  Der  Vater  hat  zwar  dem  Sohn  alles 
Gericht  übergeben ,  5,  22,  aber  auch  der  Sohn  richtet  eigentlich 
nicht,  denn  wer  an  ihn  glaubt,  wird  nicht  gerichtet,  und  wer 
nicht  glaubt,  ist  schon  gerichtet,  darum  weil  er  nicht  glaubt  an 
den  Namen  des  eingeborenen  Sohnes  Gottes.  Die  von  ihm  aus- 
gehende xpbi;  besteht  nur  darin,  dass  durch  das  Kommen  des 
Lichts  in  die  Welt  die  Menschen  nach  der  Beschaffenheit  ihrer 
Werke  in  zwei  Classen  sich  scheiden,  in  Freunde  des  Lichts  und 
Freunde  der  Finsterniss,  3,  19  f.  Selbst  den,  welcher  seine 
Worte  nicht  achtet  und  nicht  glaubt,  sagt  er  12,  47  f.,  richte  er 
nicht,  denn  nicht  um  die  Welt  zu  richten,  sondern  um  sie  zu 
retten,  sei  er  gekommen;  wer  ihn  nicht  achte  und  seine  Worte 


406  Zweiter  Abschnitt.     Dritte  Periode. 

nicht  annehme,  habe  den,  der  ihn  richtet,  das  Wort,  das  er 
gesprochen,  dieses  werde  ihn  richten  am  jüngsten  Tage,  12,  48. 
Auch  so  gibt  es  also  eine  icr/xT-n  7i[/ipa  des  Gerichts?  Wenn  aber 
Jesus  nicht  selbst  richtet,  sondern  sein  Icqo^,  und  mit  diesem 
Richten  nur  diess  gesagt  sein  kann,  dass  seine  Lehre  den  Maass- 
stab enthält,  nach  welchem  der  innere  sittliQhe  Werlh  eines  jeden 
zu  bemessen  ist,  so  ist  dieses  Richten  nicht  sowohl  ein  künftiger, 
als  vielmehr  ein  gegenwärtiger  Act. 

Und  wie  mit  der  Auferstehung  und  dem  Gericht,  so  verhält 
es  sich  auch  mit  der  Parusie.  Es  gibt  auch  nach  dem  johanneischen 
Evangelium  eine  Parusie,  aber  auch  sie  ist  nicht  an  die  Zukunft 
gebunden,  denn  wer  ihn  liebt,  den  wird  er  lieben  und  sich  ihm 
offenbaren,  14,  2i,  oder  zu  ihm  kommen,  und  Wohnung  bei  ihm 
machen,  14,  23.  Schon  jetzt  ist  er  also  jedem,  der  die  wahre 
geistige  und  sittliche  Empfänglichkeit  für  ihn  hat,  gegenwärtig. 
Insbesondere  zeigt  auch  das  ganze  Verhältniss,  in  welchem  er 
als  der  nach  seinem  Tode  und  seiner  Auferstehung  im  Geiste  zu 
seinen  Jüngern  Kommende,  sie  Wiedersehende  und  mit  ihnen 
Redende,  16,  25,  zu  ihnen  steht,  welche  vergeistigte  Bedeutung 
die  Parusie  in  diesem  Evangelium  hat,  und  wie  sehr  es  auch  in 
dieser  Beziehung  über  die  sonst  im  neuen  Testament  gewöhnliche 
Anschauungsweise  sich  erhebt. 

So  gehört  es  überhaupt  zu  der  dem  johanneischen  Evange- 
lium eigenen  Idealität,  dass  alle  Gegensätze  ihm  immer  wieder 
ein  fliessender  Unterschied  werden,  und  alles  äusserlich  Objective 
zu  einer  geistigen  Anschauung  aufgehoben  wird.  Kein  Evange- 
lium legt  so  grosses  Gewicht  auf  die  spya  Jesu,  wie  das  johan- 
neische,  wenn  es  Jesum  sogar  sagen  lässt  10,  38:  wenn  man 
auch  ihm  selbst  nicht  glaube,  soll  man  doch  seinen  epya  glauben. 
Und  kein  Evangelium  setzt  den  Glauben  um  der  «rri^-eia  xal  Tspara 
oder  um  der  Epya  willen,  bei  welchen  der  Glaube  auf  dem  Sehen 
beruht,  so  tief  herab,  indem  es  absichtlich  zeigt,  wie  dieser 
Glaube  zuletzt  doch  nur  ein  twkjtsueiv  tcjS  lo-^vä  sein  kann,  4,  50. 


Johanneischer  Lehrbegriff.  40T 

In  demselben  Sinn  thut  es  6,  63  den  Ausspruch,  dass  nur  der 
Geist  das  Lebendigmachende  ist,  das  Fleisch  aber  schlechthin 
keinen  Nutzen  hat,  dass  die  Worte,  die  Jesus  spricht,  Geist  und 
Leben  sind,  in  demselben  Sinne  preist  es  20,  29  die  selig,  die 
nicht  sehen  und  doch  glauben.  Diess  ist  immer  wieder  derselbe 
Idealismus,  welchem  in  der  Selbstgewissheit  seiner  innern  An- 
schauung zuletzt  sogar  die  geschichtliche  Wirklichkeit  nur  eine 
äussere,  das  an  sich  Wahre  für  das  Bewusstsein  vermittelnde 
Form  ist. 


o 

O 


O 


0) 


a 
o 

Sl 

•H  Sz; 

CQ  ^ 
•H  0) 
U   ,0 

o 

tj  8 

•cl     CQ 

•o   © 

>^   rH 
pH     O 


I 


o 

o 

EH 

P4  pq 


University  of  Toronto 
Library 


DO  NOT 

REMOVE 

THE 

CARD 

FROM 

THIS 

POCKET 


Acme  Library  Card  Pocket 
LOWE-MARTIN  CO.  LIMITED 


Brown  DRor.Lro 

BOOKIHNOFRS, 
•TAT10HI.R«.  f  TC.