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Full text of "Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Oesterreich"

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Vorträge und Aufſätze 


zur 


Geſchichte des geiſtigen Lebens 


in 


Deutſchland und Oeſterreich. 


Von 


Wilhelm Scherer. 


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1874. 


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Die Vorträge und Aufſätze, welche ich hier geſammelt vorlege, 
ſind ſeit 1864 allmälich entſtanden, zum Theil an verſchiedenen 8 
Orten gedruckt, zum Theil jetzt neu geſchrieben. 


Ich hielt es für richtig, die Beziehung auf den Moment nicht 
zu verwiſchen, in welchem die Aufſätze verfaßt, die Vorträge gehalten 
wurden. Aber ich ſcheute mich nicht, Zuſätze und Anderungen an- 
zubringen, wo es die Sache zu erfordern ſchien. Für jede Einzel- 
heit heute noch einzuſtehen, möchte ich mich trotzdem nicht verpflichten. 
Manches würde ich jetzt anders ausdrücken. Manches iſt mir recht 


fremd geworden, ohne daß ich in der Lage war, die betreffenden 


Probleme neu durchzudenken. 


Die erſten vier Arbeiten ſuchen in die Urſprünge und das 
Weſen unſeres Volkes und ſeiner Litteratur einzudringen, großen— 
theils im Anſchluß an die Forſchungen meines verehrten Lehrers 
Karl Müllenhoff. Die Nummern V bis X beſchäftigen ſich mit 


VI 


der geiſtigen Entwicklung meiner öſterreichiſchen Heimat. Der zehnte 
und elfte Aufſatz ſind zwei Kleinigkeiten, die ich hier nur aufnahm, 
um eine Art Abſchluß für die zweite Gruppe und einen paſſenden 
Übergang zur dritten zu gewinnen, welche in einer Reihe von 
Feuilletons Einzelheiten der deutſchen Litteraturgeſchichte des acht⸗ 
zehnten und neunzehnten Jahrhunderts behandelt. 


Straßburg, 16. Auguſt 1874. 
28. Sch. 


Seite 
I. Über den Urſprung der deutſchen Nationalität 2 222... 1 
— ung Gaman ies 21 
III. Die deutſche Sprachein heit . 45 
IV. Über den Urſprung der deutſchen Litteratu ee. 71 
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VI. Das geiſtige Leben Oſterreichs im e In, 124 
VII. Pater Abraham a Sancta Clara 5 
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IX. Zu Bauernfelds ſiebzigſtem Geburtstags 308 
X. Unpolitiſche Gloſſen zu einem politiſchen Actenſtücke 316 
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XVII. Otto Ludwigs Shakeſpeareſtudie n 389 
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über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 


Vortrag gehalten im Rathhausſaale zu Straßburg 
am 25. Februar 1873. 


J. 


Zu Ende des vorigen Jahres iſt ein Buch erſchienen, das ge- 
wiß auf vielen Weihnachtstiſchen gelegen hat und ohne Zweifel auch 
in dieſem Kreiſe gekannt und vielleicht geliebt wird. 

Es war ein etwas ſeltſames und auffallendes Buch, auffallend 
durch den fremdartigen Titel, durch den Verfaſſer, durch den Plan, 
durch die Sprache, durch die Zumuthungen, die es an den Leſer 
ſtellte. 

Ein längſt beliebter Dichter, der ſeine ſchönſten Erfolge der 
Energie zu danken hatte, mit der er die Stoffe der Wirklichkeit zu 
ergreifen wußte, die Stoffe welche das deutſche Leben unmittelbar an 
die Hand gab; ein Schriftſteller, der uns bald in das Comtoir, bald 
in die Landwirthſchaft, bald in die Univerſitätskreiſe, bald an die Für⸗ 
ſtenhöfe geführt hatte, immer aber durch ſeine Romane uns in der 
Gegenwart feſthielt, — dieſer Schriftſteller muthet uns plötzlich einen 
Gang zu in ferne Vergangenheit, in weit abliegende Verhältniſſe, — 
er redet plötzlich eine andere Sprache, die allerdings deutſch iſt, aber 
kein fließendes natürliches Deutſch, wie wir es gewohnt ſind, wie es 
der Roman aus der feinſten Sprache des täglichen Lebens zu nehmen 
pflegt, ſondern ein etwas geſpreiztes, wir möchten faſt jagen: affec- 
tirtes Deutſch. Es iſt keine Zeile Converſationston darin. Alles 


geht auf Stelzen. Die Perſonen find von einem ungeheuren Be— 
Scherer, Vorträge. 1 


2 Über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 


wußtſein unnahbarer Würde durchdrungen. Sie ſcheinen alle Um⸗ 
wege zu machen, um das hervorzubringen, was — dünkt uns — 
weniger einfacher Worte bedurfte. Dabei drücken fie ſich jo unge- 
lenk, maſſig, ſchwerfällig, manchmal ſogar ſchwerverſtändlich aus. 

Und doch liegt ein Zauber auf dem Buche, es offenbart ſich 
eine Fülle der Poeſie darin, der ſich ſchwerlich Jemand ganz entziehen 
kann. Wir erhalten Einblick in eine Welt, die an ſich ſelbſt poetiſch 
iſt durch den Reichthum unverbrauchter Kraft, die Naivetät der An⸗ 
ſchauung, die einfachen unverkünſtelten Lebensverhältniſſe. Wir glau⸗ 
ben uns in das homeriſche Zeitalter verſetzt. Und es iſt auch ein 
homeriſches Zeitalter, das Heldenalter unſerer eigenen Nation. Und 
darauf beruht der gemiſchte Eindruck: es iſt eine andere Zeit, es iſt 
eine fremde Zeit, und doch iſt es die eigene Volksindividualität, die 
wir empfinden, es iſt unſer eigenes Denken und Fühlen. Zwar ferne, 
aber doch verwandt. Zwar fremd, aber doch nahe. 

Sie errathen, daß ich von dem neueſten Roman von Guſtav 
Freytag ſpreche, und insbeſondere von der erſten Erzählung, von 
„Ingo“. Und ich habe mir erlaubt daran zu erinnern, weil Ihnen 
das Buch am beſten eine Ahnung gibt von der Welt, in die ich Sie 
einführen will, und weil ich gerade den Punct hervorzuheben wünſche, 
auf welchem unſere Verwandtſchaft, unſer Bewußtſein, eins zu ſein 
mit jener fernen Epoche, beruht. 

Wenn ich verſprochen habe, über den Urſprung der deutſchen 
Nationalität zu reden, ſo erwarten Sie nicht, daß ich Ihnen eine 
Angabe machen werde über die Zeit, in welche dieſer Urſprung fällt. 
Wir wiſſen die Zeit nicht. Unſere Vorfahren treten unter dem Na⸗ 
men der Germanen in die Geſchichte. Da ſind ſie ein fertiges Volk, 
ſie haben bereits ihre eigene Nationalität, die ſie auf das beſtimm⸗ 
teſte von ihren Nachbaren unterſcheidet, die von den Römern mit 
einer gewiſſen ſcheuen Ehrfurcht angeſchaut und empfunden wird, 
nicht ohne die Ahnung, daß ſie einer unberührten gewaltigen Kraft 
gegenüber ſtänden, der ſie ſelbſt ſchließlich erliegen würden. Die 
gerade Fortſetzung dieſer germaniſchen Nationalität iſt unſre deutſche, 
deren Urſprung alſo fällt in eine Zeit, an welche keine geſchichtliche 
Ueberlieferung hinanreicht. 

Wie denn aber dann — werden Sie fragen — wie können 


Über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 3 


wir gleichwohl etwas davon wiſſen? Welche Mittel haben wir, um 
unſre geſchichtlichen Kenntniſſe auszudehnen weit hinter alle überlie- 
ferte Kunde, hoch hinauf in eine Epoche, die mit Nacht und mit 
Dunkel bedeckt ſein muß, in das kein geſchaffenes Auge dringt? 

Die Leuchte, welche das Dunkel erhellt, iſt die Wiſſenſchaft der 
Sprache. 

Die Mythologie der alten Scandinavier erzählt von einer un⸗ 
geheuren Eſche. Das iſt der größte und beſte von allen Bäumen, 
ſeine Zweige breiten ſich über die ganze Welt und reichen hinauf 
über den Himmel. Seine Wurzeln reichen hinab bis dahin, wo einſt 
das Chaos war, und dahin, wo Nacht und Nebel herrſcht, und un— 
ter einer dieſer Wurzeln befindet ſich eine Quelle, die Quelle gehört 
dem Rieſen Mimir: Mimir d. i. Erinnerung. 

Ein ſolcher Baum iſt die Sprache. Sie ragt aus der fernſten 
Vergangenheit in die Gegenwart und wieder in die fernſte Zukunft. 
Wenn wir nur tief genug zu graben verſtehen, bis an ihre Wurzeln 
hin; da ſchöpfen wir aus Mimirs Brunnen: unvordenkliche Weis- 
heit wird uns kund. 

Die Sprache iſt ein lebendes Archiv. Sie iſt wie ein ſteinalter 
Greis, der die Jahrhunderte und Jahrtauſende durchlebt hat, zahlloſe 
werthvolle Erinnerungen in ſich aufſammelnd: aber ſchweigend. Plötz— 
lich in unſern Tagen öffnet ihm deutſche Wiſſenſchaft den Mund, 
und er beginnt zu reden. Wir ſtaunen und hören und ſtaunen wie- 
der: den Geheimniſſen der Welt kommen wir um einige Schritte 
näher. 4 
Der Schatz der Wörter iſt der Schatz der Begriffe, der Ge— 
danken, der Anſchauungen, Ideen, Empfindungen. Die vergleichende 
Sprachwiſſenſchaft, die Erkenntnis der Geſetze, nach denen die Wör— 
ter entſtehen, ſich wandeln und vergehen, gibt uns die Mittel an 
die Hand den Wortſchatz der alten Germanen wiederherzuſtellen. 
Er liegt vor uns wie ein offenes Buch, und wir leſen in der Seele 
des Volkes. Eine ganze verſunkene Welt von Geiſtes- und Gemüths— 
kräften erhebt ſich aus den Grüften der Vorzeit. Oft genügt ein 
einziges Wort, und der volle Menſch ſteht vor mir in athmender 
Geſtalt, ich kann ihm nachfühlen, mich in ihn hineindenken, ich ſehe 
ihn leidend, ringend, kämpfend, vielleicht tief unglücklich, und doch 

5 1 * 


4 Über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 


wieder muthig und unverzagt, ſeines Zieles bewußt und auf das 
Eine, Große gerichtet, das ihn emporhebt über das Niedrige und 
Gemeine. 

Unwillkürlich habe ich vorausgreifend das Bild des Germanen 
hingeſtellt, wie er mir erſcheint, als den Typus des Idealiſten. Aber 
kehren wir zu unſerem Ausgangspuncte zurück und fragen wir: was 
lehrt die Sprachwiſſenſchaft über den Urſprung der deutſchen Natio- 
nalität? 

Zunächſt lehrt ſie uns, daß die Germanen ſich losgelöſt haben 
aus einem größeren Volksverbande, dem einſt die Kelten, Italer, 
Griechen, Thracier, Slaven, Seythen, kurz der größte Theil der 
europäiſchen Nationen, ferner die Perſer und Inder angehörten. Die 
Sprachen dieſer Völker ſtehen in einem ſo entſchiedenen Zuſammen⸗ 
hange, ſie ſind ſo nahe mit einander verwandt, daß ſie nothwendig 
einmal Eine Sprache gebildet haben müſſen. Dieſe Eine Sprache 
ſetzt Ein Volk voraus, das vermuthlich in Aſien ſeinen Sitz hatte 
und von einem beſtimmten Punct aus ſich theils in Aſien, theils nach 
Europa verbreitete. Man pflegt es das indogermaniſche oder ariſche 
Urvolk zu nennen. 

Ueber den Culturzuſtand deſſelben ſind wir durch die Wörter un⸗ 
terrichtet, welche der alten Sprache zugehörten. Die Arier hatten 
die unterſte Stufe auf der Leiter der Bildung bereits überſchritten. 
Sie waren kein Jäger-, kein Fiſchervolk mehr. Ja ſie waren nicht 
einmal auf Viehzucht beſchränkt. Es darf als gewiß angenommen 
werden, daß der erſte Schritt zum Ackerbau bereits gemacht war, die 
Namen mehrerer Getreidearten, Weizen und Gerſte, ſtimmen in jenen 
verwandten Sprachen überein. Alle haben daſſelbe Wort für ackern, 
pflügen: und die Erde heißt das Pflugland. Man beſaß Mühle und 
Mühlſtein: das Getreide wurde mithin auch gemahlen. Kurz ſie 
waren — nach der gangbaren Bezeichnung — Halbnomaden. 

Dieſem Volke alſo gehörten die Germanen an. Sie gehörten 
ſpeciell zu jenem Theil der ſich nach Europa abzweigte. Sie verhiel⸗ 
ten ſich zu der Geſammtheit wie ein einzelner Stamm zur Nation. 
Wie die zwölf Stämme Iſraels aus Egypten zogen, ſo trieben jene 
Arier ihre Heerden nach Weſten. Die Kelten zogen voran, ihnen folgten 
in zweiter Linie Italer und Germanen, den dritten Zug bildeten 


über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 5 


Griechen, Thracier und Slaven. In dieſer Marſchordnung wander— 
ten ſie in Europa ein, und in derſelben Vertheilung breiteten ſie ſich 
darüber aus und erkämpften ihren Weg. Noch heute entſpricht die 
geographiſche Lagerung ungefähr jener alten Heeresordnung. 

Als Halbnomaden kamen die Germanen nach Europa; als Halb— 
nomaden occupirten ſie das norddeutſche Territorium, ihre älteſten 
Wohnplätze. Als Halbnomaden finden wir ſie aber auch noch in den 
Tagen des Cheruskerfürſten Arminius; als Halbnomaden ſchildert 
ſie der edle Römer, der unſerm Volke zuerſt eingehende Aufmerkſam⸗ 
keit ſchenkte; als Halbnomaden ſtürzen ſie ſich auf das römiſche Welt— 
reich. Und jene ungeheuere welthiſtoriſche Revolution, die wir die 
Völkerwanderung nennen, war offenbar nur darum möglich weil die 
Träger der revolutionären That noch eine ungeheuere Expanſivkraft 
beſaßen, weil die ſiegreichen Helden des Kampfes einer noch wandern 
den, einer noch nicht ſeßhaften Nation angehörten, — mit einem 
Worte: weil die Germanen noch halbe Nomaden waren. 

Der Zuſtand der germaniſchen Volkswirthſchaft hat ſich alſo von 
den Zeiten ihrer Einwanderung in Europa bis zu den Zeiten der 
Völkerwanderung nicht weſentlich gehoben. Der Ackerbau blieb auf 
einer höchſt unvollkommenen Stufe. Ein Fortſchritt nach dieſer Rich— 
tung hat nicht ſtattgefunden. Und doch muß gerade in die angege— 
bene Epoche der Urſprung der deutſchen Nationalität fallen. Die 
Germanen als ein Stamm der übrigen Europäer, und die Germa— 
nen als ein ſelbſtändiges Volk: das iſt der Unterſchied, auf den es 
ankommt, das iſt der Schritt, den es zu erklären gilt. Es handelt 
ſich darum: wie kam es, daß die Germanen aus einem Stamme, 
aus einem Volkstheile, ſelbſt ein Volk, eine eigene Nation geworden 
ſind? Welche Kraft hat über ihnen gewaltet, um ihnen den perjün- 
lichen Stempel aufzudrücken, mit welchem ſie den Römern entgegen— 
traten? 

Ich glaube, wir haben die Erklärung zu ſuchen gerade in jener 
Stabilität unvollkommener volkswirthſchaftlicher Zuſtände, verbunden 
mit der geographiſchen Lage des Volkes. 

Hätten die Germanen eine große Steppe um ſich gehabt, unbe— 
wohnt, leidlich fruchtbar, die ihnen Niemand ſtreitig machte, ſo hätte 
ihr nationales Leben ruhig verfließen können, wie eine friedliche 


6 Über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 


Idylle. Es wäre eine Art vegetativen Daſeins geworden. So aber 
ſind die Germanen eingekeilt von allen Seiten zwiſchen andere, theils 
verwandte, theils unverwandte, jedenfalls aber ebenſo jugendkräftige 
Stämme und Nationen. Im Weſten und Süden die Kelten, im Oſten 
die Slaven, im Norden die Finnen und Lappen. Das mußte ganz 
andere Conſequenzen haben. 


Es iſt ein von der Wiſſenſchaft bewieſenes Geſetz, daß die Men⸗ 
ſchen ſich raſcher vermehren, als ihre Nahrungsmittel. Für Alle iſt 
nicht genug zu eſſen da. Auf den niederen Stufen der Cultur wird 
die rohe Kraft entſcheiden, der Stärkere reißt mehr als das unbe- 
dingt zum Leben Nothwendige an ſich, der Schwache wird umkommen. 
Dies iſt der Streit um die Lebensbedürfniſſe, welcher neuerdings 
unter dem Titel „Kampf ums Daſein“ eine ſo große Berühmtheit 
erlangt hat. Und es iſt die Beobachtung gemacht, daß das Anwach⸗ 
ſen der Bevölkerung nirgends raſcher vor ſich geht als bei no— 
madiſchen und halbnomadiſchen Nationen. Wenn alſo dieſen die 
Möglichkeit genommen iſt, ſich weiter auszubreiten und neues Ter⸗ 
rain zu occupiren, ſo wird der Kampf ums Daſein eine große Hef⸗ 
tigkeit erreichen. Sehen ſie ſich an den Grenzen zurückgewieſen, ſo 
werden ſie gegen ihr eigenes Fleiſch wüthen. Sie werden ſich unter⸗ 
einander aufreiben, und Krieg und Streit wird ihr tägliches Ge⸗ 
ſchäft. 

So kam es bei den Germanen. Sie ſtanden fortwährend ge⸗ 
gen einander im Felde. Die Römer ſahen mit Behagen zu, wie viel 
Kraft ſich da verzehrte in inneren Fehden, wie in ewigem Auf und 
Nieder der Machtverhältniſſe bald hier bald dort ein Clan vollſtän⸗ 
dig verſchwand und ausgetilgt wurde. Der ruhmreiche Sieger von 
geſtern war der Beſiegte von heute. 


Die ſocialen Verhältniſſe konnten nur fördernd einwirken. Der 
freie Germane lebt womöglich als Ariſtokrat. Das Hausweſen be— 
ſorgt die Frau, Greiſe und Kinder oder weniger brauchbare Selaven 
ſtehen ihr darin zu Seite. Die tüchtigen Sclaven erhalten eigene 
Wohnungen und ſind nur zu Naturalzins verpflichtet. Das Haupt 
der Familie aber iſt blos im Kriege ein thätiger Menſch, ſonſt lebt er 
träge, geht kaum einmal auf die Jagd, pflegt ſeinen Leib, ſchläft, 


Über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 7 


betrinkt ſich, ſpielt, wenn nicht ſeine öffentliche Pflicht ihn ruft zu 
Volksverſammlung und Gericht. 

Alſo einerſeits eine große Erleichterung des Krieges, von dem 
keine häuslichen Pflichten abhalten. Andererſeits bei wachſender Be⸗ 
völkerung eine wachſende Nothwendigkeit des Krieges, falls man nicht 
zu intenſiverer Bewirthſchaftung des Bodens übergehen will. Das 
aber wird hinausgeſchoben, ſo lange als irgend möglich, wie bei allen 
Nomaden und Halbnomaden. 

Sie ſehen wie hier Alles darauf hinwirkt, den Krieg zum eigent— 
lichen Lebensinhalte des germaniſchen Mannes zu machen. Ja nicht 
blos des Mannes. Wir wiſſen, daß auch Frauen ſich am Kampfe 
betheiligten; vollkommen gerüſtet wie Männer ſtürzten fie ſich mit 
in die Schlacht. Der Krieg iſt für Männer wie Frauen der ideale 
Zuſtand, auf ihn ſpitzt ſich die ganze Organiſation des Volkes zu, 
den Krieg verherrlicht die Poeſie, im Kriege werden die Götter ge— 
dacht, der Krieg wird ſelbſt ein religiöſes Geſchäft. 

Geſtatten Sie mir, dies etwas näher auszuführen. 

Es beſteht eine feſte Organiſation des Staates, die ganz auf 
ſofortige Mobilmachung berechnet iſt. Nach der Zahl der Kämpfer 
haben wir Verbände zu zehn, hundert und tauſend. Sie wohnen 
nach Familien und Geſchlechtern beiſammen, und in der Ord⸗ 
nung, in der ſie wohnen, brechen ſie zum Heere auf. Das 
ganze Volk iſt eine gegliederte Armee in fortwährender Kriegs⸗ 
bereitſchaft. Die ſtärkſten Bande des Blutes halten diejenigen zu⸗ 
ſammen, welche, Schulter an Schulter gedrängt, in Einer Schaar 
kämpfen. Ja, als wäre es damit nicht genug, als reichten die na⸗ 
türlichen Verbände nicht aus, als bedürfte es einer außerordentlichen 
Steigerung des kriegeriſchen Geiſtes: ſo finden wir, daß zwiſchen 
dem Fürſten und ſeiner Hausgenoſſenſchaft ein beſonderes Dienſtver⸗ 
hältniß exiſtirt, das ganz auf den Krieg geſtellt iſt. Die vornehmſten 
Jünglinge ſind um den Häuptling geſchaart, ſie wohnen im Frieden 
bei ihm, ſie ſchlafen in ſeinem Hauſe, ſie lagern um ſeinen Herd, ſie 
eſſen an ſeinem Tiſche. Er vertheilt Gunſt und Gnade unter ſie. 
Er rüſtet ſie aus mit Roß und Schwert und Helm und Schild, 
mit Armringen und anderen Kleinoden. Die Halle, in der er ſie um 
ſich verſammelt, heißt die Gabenhalle, er iſt ihr Goldfreund, ihr 


1 über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 


Schatzſpender und Ringvertheiler. Es iſt ein Wetteifer unter den 
Häuptlingen, wer das zahlreichſte und tüchtigſte Gefolge beſitzt, dar⸗ 
auf iſt ihr Anſehen gegründet, weit umher bei allem Volk. Für 
ſeine Freigebigkeit aber ſind die Genoſſen ihrem Herrn zu unbeding⸗ 
ter perſönlicher Ergebenheit verpflichtet. Sie ſchützen ihn mit Leib 
und Leben im Kampf. Wenn er unterliegt, wenn er fällt, ſo wäre 
es ſchmachvoll für den Krieger, lebend aus der Schlacht zu weichen. 
Sie ſind ein lebendiger Wall, der den Fürſten umſchließt. 

Dieſer Wall aber wird nur durch Reichthum gebaut, und die 
einzige Quelle des Reichthums iſt Raub und Krieg. Der Reichthum 
iſt nur für den Krieg beſtimmt und wird nur durch den Krieg erworben. 
Der Krieg verzehrt, was er ſchafft. Er iſt Anfang und Ende. Er 
ſpielt mit den Menſchen. Sie ſind für ihn da. Er gibt die höchſte 
Luſt und Wonne, er gibt die tiefſte Schmach und die äußerſte Noth. 

Aller Beſitz hat nur Werth durch die Beziehung auf ihn. Es 
gibt eine einzige Induſtrie, ein einziges ſelbſtändiges Handwerk: das 
treibt der Waffenſchmied. Es gibt ein einziges geſchätztes Erbſtück, 
das vom Vater auf Sohn und Enkel übergeht: das iſt das Schwert. 

Die Götterwelt iſt ein Spiegelbild der menſchlichen. Das Ge— 
waltige überwiegt darin und ſteigert ſich bis zum Wilden und Un⸗ 
geheuerlichen. Als Regel gilt, daß jeder Gott kriegeriſch iſt und 
Freude am Kampf hat. Sogar ganze Schaaren göttlicher Frauen trei- 
ben als Walküren das blutige Kriegshandwerk und ſehnen ſich immer⸗ 
fort nach Streit und Gefecht, hierin Abbild germaniſcher Frauen. 

Die alten Arier beſaßen einen Himmelsgott Namens Djaus. Er 
iſt der Stammvater des griechiſchen Zeus, wie Er Blitze ſchleudernd, 
wie Er der Herrſcher aller Götter. Bei den Germanen finden wir 
den Namen wieder. Aber er iſt auf die Bedeutung des Kriegsgottes 
eingeſchränkt. Jupiter iſt zum Mars geworden. 

Der Gott des Gewitters aber hat ſich zu einer beſonderen Ge— 
ſtalt ausgeprägt, er heißt Donar, der perſonificirte Donner. Er iſt 
ein Rieſentödter, ein Widerſacher aller Unholde wie Hercules. 

Der höchſte Gott iſt Wodan geworden, d. h. der Wüthende, 
der Gott des Sturmes und der ſtürmiſchen Bewegung. Er brauſt 
mit ſeinem Heere durch die Lüfte, unwiderſtehlich niederreißend, wie 
der Sturm ſelber und wie der Germane in der Schlacht. Jene zauber⸗ 


Über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 0 


volle geheimnißreiche Macht, welche vom Kriege ausgeht und dem 
germaniſchen Edlen das Herz bezwingt, dieſe ſchaut er in Wodan an. 
Wodan gibt und nimmt den Sieg. Er iſt wie das ewige Schickſal 
ſelber. Es packt, entrafft uns, wir wiſſen nicht wohin, wir wiſſen 
nicht warum. Wodan leiht dem geliebten, bevorzugten Helden ein 
Schwert, mit dem er ſiegreich iſt in alle Wege, und plötzlich tritt 
ihm mitten im Kampfgetümmel ein alter Mann entgegen mit breitem 
Hut und grauem Mantel, einäugig, einen Speer in der Hand — 
an dieſem Speere bricht das Schwert in zwei Stücke, und der Sieg 
weicht von ihm. Der alte Mann war Wodan. 

Solche fataliſtiſche Anſchauungen ſind allen niedrigen Cultur— 
ſtufen gemeinſam. Civiliſation bedeutet Herrſchaft des Menſchen über 
die Natur, auf den früheſten Entwickelungsſtufen der Nationen herrſcht 
umgekehrt die Natur über den Menſchen. Die Art und Weiſe, wie 
der Menſch ſich dieſer Abhängigkeit bewußt wird, das iſt der Schick— 
ſalsglaube. Er fühlt ſich in der Gewalt überirdiſcher Mächte, ihrer 
Willkür ſcheint er rettungslos verfallen, serjchaffen iſt er zu Glück oder 
Unglück, er ſelbſt kann nichts dazu thun. 

Es iſt aber bekannt, wie ſehr eine fataliſtiſche Religion beiträgt, 
den kriegeriſchen Geiſt zu ſteigern. Mit und durch die Weltan⸗ 
ſchauung des Fatalismus haben ſich die Anhänger Mohammeds die 
halbe Erde unterworfen. Ja noch in viel ſpäterer Zeit hat der ver— 
wandte Gedanke der göttlichen Vorherbeſtimmung eine ganz wunder— 
bar ſtählende und fanatiſirende Macht erzeigt. Der kriegeriſche ſtreit— 
bare Geiſt der Calviniſten des ſechszehnten und ſiebzehnten Jahrhun— 
derts iſt weſentlich aus dem Dogma der Prädeſtination entſprungen. 

Die Germanen ſind conſequent. Sie dehnen die Anſchauungen 
des Fatalismus auf die Götter ſelbſt aus. Auch ſie werden einſt 
dem Schickſal erliegen. Wie der Germane um ſeine Exiſtenz kämpft 
und ein ringendes Daſein führt, ringend nicht durch Arbeit um das 
tägliche Brod mit einem ſpröden Boden, ſondern ringend in aufre— 
gender Fehde um lockenden Beſitz, den er in fremder Hand ſieht, 
entbehrt und begehrt, — oder vertheidigend ſeine eigene Habe gegen 
begehrliche Gelüſte der Nachbarn: ſo denkt er auch die Götter. Ihre 
Herrſchaft über die Welt ſteht nicht feſt. Neidiſche feindliche Mächte 
bedrängen fie ohne Unterlaß. Davon erzählen freilich auch andere 


10 Über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 


Mythologien. Aber die griechiſchen Götter haben im Titanenkampf 
ihre Weltregierung ein für allemal gegen die Anfechtung geſchützt und 
geſichert. Der griechiſche Titanenkampf iſt ein längſt vergangener. 
Der germaniſche Titanenkampf liegt in der Zukunft; es wird die 
Zeit kommen, wo verzehrendes Feuer über die Welt hereinbricht, die 
Rieſen erheben ſich gegen die Götter, in einer gewaltigen Haupt⸗ 
ſchlacht meſſen ſie ihre Kräfte. Und nicht die Götter ſind Sieger, 
ſondern Götter und Rieſen vernichten ſich gegenſeitig. Aber nach 
ihrem Falle wird eine neue Erde entſtehen, ſie hebt ſich grün aus 
den Fluten, ein neues Weltalter beginnt unter friedlichen Göttern, 
dann ruhet der Streit. ä 

Es iſt ein Ausblick der Sehnſucht, wie in ſtarkverfeinerten und 
hochciviliſirten Zeiten ſich utopiſche Vorſtellungen von idylliſcher Ein⸗ 
fachheit des Lebens entwickeln. Traurige und hoffnungsvolle Träume 
ſuchen in dem Nebel der Vergangenheit und Zukunft, was die Gegen⸗ 
wart misgönnt. Die Gegenwart des Germanen und ſeiner Götter 
gehört dem Hader und Streit. Wenn nicht Donar wäre, der große 
Rieſentödter, ſo würden die Rieſen alsbald im Olymp und auf der 
Erde die Uebermacht gewinnen. So haben auch die Himmliſchen ihren 
Kampf ums Daſein. 

Die ſchaffende Phantaſie formt die Götter nach menſchlichem Bilde. 
Aber die Vorſtellungen von einer höhern Welt wirken zurück auf menſch⸗ 
liches Sein und Handeln. Jene Empfindungen, deren man voll iſt, 
die man in Wodan und die Walküren hineindichtet, die werden wieder 
geſtärkt im Menſchen, weil die Götter dafür Muſter und Beiſpiel 
ſind. Ein Ideal des Heldenthums wird ausgebildet, deſſen Gehalt 
ſich den Perſonennamen mittheilt. Der Name, den das Kind be⸗ 
kommt, ſoll ihm ſeine künftige Beſtimmung vorzeichnen. Der Knabe 
ſoll wie ein Held werden, ein feſter unerſchütterlicher Mann, Hart⸗ 
mann; ein Kampfberühmter, Gundomar; ein Schützer durch den 
Sieg, Sigismund; ein willkommener (lang gewünſchter, gern em⸗ 
pfangener) Schutz und Schirm, Wilhelm. Das Mädchen ſoll wie 
eine Walküre werden, eine Kampfjungfrau, Hildeburg; eiſengerüſtet, 
Iſanbirg; eine Schildkämpferin, Randgund, u. ſ. w. 

Das Kriegsheer zieht aus wie eine Proceſſion. Die heiligen Thier⸗ 
bilder und die Symbole der Götter ſind Feldzeichen. Die Prieſter hand⸗ 


WER, 


Über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 11 


haben die Disciplin. Vor dem Beginne der Schlacht wird Donar, der 
Rieſentödter, beſungen, und ſein zorniges Wettergebrüll ſucht man nach- 
zuahmen. Klingt es laut und fürchterlich, ſo gilt dies als ein gutes 
Zeichen. Man wartet nicht auf den Angriff: man greift ſelber an. 
Die Taktik der Germanen — ſagt der General von Peucker — 
war ſtets und überall offenſiv. Die Schlachtordnung war ein Dreieck 
mit der Spitze voran, an dieſer Spitze der Führer mit den Feld⸗ 
zeichen, die vorderſten Linien ſtreng geſchloſſen und mit Schilden ge⸗ 
deckt. Durchbrechung der feindlichen Schlachtlinie war der Zweck. 
Im vollen Sturmlauf rannten ſie heran, und der Anprall war von 
furchtbarer Gewalt. Ihre ganze kriegeriſche Stimmung, ihre Schlacht: 
wuth und Kampfgier war verbunden mit der bedeutenden mechaniſchen 
Kraft, die ſolchen dichtgeſchloſſenen Maſſen innewohnt. Dazu kam 
die Bewaffnung der Vorderſten mit beſonders langen Speeren und 
die ungeheure phyſiſche Stärke, mit welcher dieſe Waffe geführt wurde. 
Und das Ganze in der raſcheſten Bewegung, im vollen Lauf. Es 
hatte etwas Unwiderſtehliches. Sie ſelbſt verglichen die Keile ihrer 
Sch achtordnung, die ſie in die feindlichen Reihen trieben, mit dem 
Kopf eines Ebers, der wüthend einherſtürmt. 


II. 

Was iſt das für eine Welt in die wir hineinblicken mußten! 
Wie rauh, bewegt und unruhvoll! Wie beängſtigend und aufregend, 
faſt qualvoll für eine heutige Phantaſie! 

Als ich vor acht Tagen dieſen Saal zum erſten Mal betrat, da 
hatte ich keine Ahnung, daß das Erſte, worauf mein Auge fallen 
würde, Raphaels Parnaß wäre.) Es war ein Eindruck, den ich 
nie vergeſſen werde. Ich bin nicht in Rom geweſen. Zum erſten 
Male habe ich dieſe erhabenen Geſtalten, wenn ich ſo ſagen darf, 
leibhaftig vor mir geſehen, und ganz plötzlich, wie aus der Erde geſtie— 
gen. Immer und immer wieder mußte ich zu ihnen emporblicken, und 
ich mußte an die Stelle des Plato denken, welche Raphael inſpirirte, 


„Gegenüber der Thüre, durch die man in den großen Rathsſaal eintritt, 
befindet ſich eine koloſſale Tapete mit Raphaels Parnaß. 


12 Über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 


wo er die Dichter ſchildert, die gleich der Biene umherfliegen und 
von den Blumen ſaugen und aus gewiſſen Gärten und Thälern der 
Muſen von honigſtrömenden Quellen uns ihre Lieder bringen — und 
ſo oft ich in dieſen Tagen überlegte, wovon ich heute ſprechen würde, 
immer ſtand dieſer Homer vor mir und dieſer Apollo und die Heiter— 
keit und Klarheit der olympiſchen Götter und das Sonnige der grie— 
chiſchen Poeſie — und immer empfand ich es wie einen dumpfen 
ſchwülen Druck, wenn ich wieder in das Dunkel germaniſcher Wälder 
zurückkehrte an die Stätte des Urſprunges unſrer Nation. 

Ein größerer Contraſt iſt nicht denkbar. Die Phantaſie des 
germaniſchen Dichters ſchwebt nicht wie eine ſuchende ſammelnde Biene 
über den Blumen der Wirklichkeit. Sein Auge ſchaut nicht groß und 
klar und ruhig und unbefangen in die Welt, wie das Auge Homers. 
Es blitzt darin ein unheimliches Feuer, eine wilde Leidenſchaft, welche 
wie flackernde Lohe an die Dinge fliegt, die es beobachtet, um ihre 
Form und Farbe zu verſengen und auch in ihnen den glühenden Fun⸗ 
ken der Seele zu ſuchen, welche in raſtloſem Begehren ringt und ſich 
müht, und im heißeſten Kampfe am meiſten genießt und den Gipfel des 
Lebensgefühls erklimmt, wo ſie der Vernichtung am nächſten iſt. 

In jeder Zeile germaniſcher Poeſie iſt eine gleichmäßige Siede⸗ 
hitze der Empfindung. Ihr Weſen iſt Leidenſchaft. 

Freilich was wir beſitzen von ſolcher Poeſie, das reicht nicht 
hinauf in die Urſprünge des Volkes. Aber wie ein Geſicht, das ge— 
wohnt iſt, ſich leidenſchaftlich zu verzerren, zuletzt gleichſam ſtarr 
wird in dem angenommenen Ausdruck: ſo erſtarrt der Geiſt, aus 
welchem die deutſche Nationalität geboren wurde, in dem feſtſtehenden 
Style der alten Poeſie, der von den ſcandinaviſchen Schneebergen 
bis an die Nordabhänge der Alpen in gleicher Weiſe theils in ärm⸗ 
lichen Spuren, theils in reicher Entfaltung uns vorliegt. 

Etwas von dieſem Styl hat auch Freytag in ſeine Erzählung 
von Ingo hinübernehmen müſſen, wollte er getreu ſchildern, wollte 
er ſeine Perſonen annähernd ſo reden laſſen, wie ſie wirklich geredet 
haben können. | | 

Ein geiſtvoller College ſagte neulich: „Das ginge ja beſtändig 
wie im Trabe vorwärts.“ Und verwundert fügte er hinzu: „Sind 
denn die Leute wirklich damals ſo geweſen?“ Ich konnte nur erwidern: 


Über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 1 


ſoviel ich wüßte: allerdings. Man lieſt das in der That manch— 
mal mit einer Empfindung, als ob man in kleinen ſtetig wiederhol⸗ 
ten Stößen, wie im Trab, emporgeworfen würde. Aber ebenſo lieſt 
ſich altgermaniſche Poeſie. f 

Derjenige unter den modernen Schriftſtellern, der zuerſt die Leiden⸗ 
ſchaft ihren eigenen Dialekt ſprechen ließ, Rouſſeau, drückt ſich dar⸗ 
über ſo aus: „Die Leidenſchaft, voll von ihr ſelber, iſt mehr redſelig 
als beredt. Das Herz, voll von einer überſtrömenden Empfindung, 
wiederholt immer daſſelbe und wird nie fertig, es zu ſagen, wie eine 
ſprudelnde Quelle, die unaufhörlich fließt und ſich niemals erſchöpft.“ 

Das iſt nur halb richtig. Die Leidenſchaft iſt allerdings keiner 
Befriedigung fähig, alles Erreichte wird ihr nur Vorſtufe zu neuem 
Erreichbaren ſein. Sie wird daher nie fertig mit dem, was ſie an— 
ſtrebt: aber ſie ſtrebt immer nur auf Einen Punkt hin, und was 
nicht dieſer iſt, das läßt ſie bei Seite; ſie iſt inſofern ſparſam. Der 
Redſelige hat vielerlei zu ſagen: der von Leidenſchaft Ergriffene ſagt 
nur Eins, dies aber oft und dringend. 

So finden wir die germaniſche Poeſie. Sie iſt nicht ausführ⸗ 
lich und nicht beredt. Sie befaßt ſich nur mit den großen Haupt⸗ 
ſachen und darin zeigt ſie die Sparſamkeit der Leidenſchaft. Es gilt 
ſchon von der altgermaniſchen Poeſie, was Wilhelm Grimm in einem 
wunderſchönen Bilde von dem Volkslied ſagt: „Die Ereigniſſe ſtehen 
wie Berge neben einander, deren Gipfel nur beleuchtet ſind.“ 

Aber man muß hinzufügen: dieſe Gipfel, die beleuchtet ſind, 
dahin ſcheint die Sonne mit einer intenſiven Kraft, die faſt ver- 
zehrend wirkt. „Die Sprache der Leidenſchaft — bemerkt Otto Ludwig — 
iſt eine Sprache, in der alle Gemüths⸗, Geiſtes⸗ und Körperkräfte 
mitwirken, eine potenzirte, wie denn der Menſch, der ganze ſinnliche 
Menſch, in ihr potenzirt erſcheint.“ 

Dieſes Potenzirte hat die germaniſche Poeſie überall. In der 
Darſtellung der Hauptſachen, die ſie zur Behandlung auswählt, ent— 
wickelt fie eine Unermüdlichkeit, die offenbar davon herrührt, daß fie 
ſich nicht genug thun kann. Der Dichter ſtellt einen bezeichnenden 
Ausdruck hin, im nächſten Augenblick ſcheint ihm dieſer aber nicht 
bezeichnend genug, er ſucht nach einem noch bezeichnenderen, aber 
auch wenn der gefunden, iſt der Inhalt, den er in der Seele trägt, 


14 Über den Ursprung der deutſchen Nationalität. 


immer noch größer als was die Sprache vermag; das Bild, das er 
ſich von dem Gegenſtande macht, iſt unausſchöpflich, — und er geht 
zu einem anderen Gegenſtande über, ohne daß er ſich bei dem erſten 
genug gethan hätte. Man hat den Eindruck als ob der Dichter ſich 
abmüht, einem ungeheueren Stoffe, wovon er ganz durchdrungen iſt, 
annähernd zur Geſtalt zu verhelfen. 

Der nie befriedigte Drang, die Anſchauungen und Begriffe, 
welche dem germaniſchen Lebensgehalte nach obenan ſtehen, in der 
Seele des Hörers zum Leben aufzurufen, hat für jede Hauptvor⸗ 
ſtellung eine Unzahl von gleichbedeutenden Wörtern gejchaffen.. In 
der durchgeführten Häufung ſolcher gleichbedeutender Wörter beſteht 
das charakteriſtiſche Merkmal unſeres älteſten poetiſchen Styles. 

Zum Beiſpiel: Ein Volkskönig iſt gefallen im Kampfe. Sein 
Leichnam iſt verbrannt, ins Grab gelegt, der Hügel aufgeſchüttet. 
Die Edlen reiten um das Grab und beklagen ihn. 


In Kummer klagten ſie, den König lobend, 

Hochgeſang erhebend und von dem Helden redend. 

Sie verkündeten ſeine Kampfesgröße und ſeine Kraftwerke 
Prieſen ſie gewaltig: wie das paſſend iſt 

Daß man den freundlichen Herrn feiere mit Worten 
Und in Liebe ſein gedenke, wenn von dem Leibe fort 
Die Seel' im Tode ſich trennen muß. 

So bejammerten die Gothenleute 

Des Herrſchers Fall, die Herdgenoſſen. 

Sie ſprachen, aller Weltenkönige ſei in Wahrheit er 

Der mildeſte und menſchenfreundlichſte, 

Den Mannen liebreichſt und nach Lob und Ruhm begierigſt. 


Sie werden zugeben, in allen dieſen vielen Worten haben Sie 
nichts gehört, als: die Ritter ſangen und lobten den König als einen 
vollkommenen Helden. Mit verſchiedenen Worten iſt immer nur 
daſſelbe geſagt. Des Dichters Gedanke ſcheint feſtgewurzelt auf dem 
einen Punct, wie ein Redner, der nicht weiter weiß, vorläufig das 
ſchon Geſagte wiederholt. Jener Dichter aber will gar nicht weiter, 
er thut der Tiefe ſeines Gefühles nur genug, indem er verweilt. 

Grillparzer hat in einer Novelle einen alten Spielmann beſchrie⸗ 
ben, der auf ſeiner Violine immer nur Terzen und Quinten und an⸗ 
dere conſonirende Intervalle wiederholt, unabläſſig, unermüdlich, 


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Über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 15 


ſchwelgend in dem Wohllaut und ohne alles Bedürfniß eine ganze 
Melodie correct wiederzugeben. Ebenſo ſchwelgt der germaniſche 
Dichter in der einen Vorſtellung, die ihn gerade beherrſcht. 

Und nun vergleichen Sie mit dem angeführten Schluſſe eines 
germaniſchen Heldengedichtes — vergleichen Sie damit den Schluß 
der Ilias: die Beſtattung des Hector. Nur dritthalb Verſe: 


ſie ordneten Sänger 
Daß ſie die Klag' anſtimmten; und nun mit jammernden Tönen 
Sangen ſie Trauergeſang, und rings nach ſeufzten die Weiber. 


— 


Wie viel mehr epiſches Nacheinander ſchon darin allein, wie viel 


mehr Bild und Anſchauung, wie viel mehr Handlung. Und vollends 


wie Andromache klagt und dann Hekabe und dann Helena und wie 
die Geſtalt des Gefallenen ſich noch einmal aus ihren Klagen auf— 
baut, ein volles ganzes Menſchenbild, das uns mit zahlreichen Zügen 
deutlich und lebendig wird: es iſt eben ein total anderer Himmels— 
ſtrich der poetiſchen, der äſthetiſchen Weltanſchauung. 

Der Germane hat nur Intereſſe an dem Factum. Die That⸗ 
ſache als ſolche genügt ihm zu ſeiner poetiſchen Erbauung, ſie genügt 
ihm zur Entzündung der Phantaſie. Er hat ein ſtarkes Intereſſe daran, 
aber es iſt ihm nur um die Wahrheit zu thun. Er will ſie dem Zu⸗ 
hörer eindringlich ſagen, aber nicht anſchaulich, darum ſchlägt 
er immer auf denſelben Fleck. Darum empfängt man einen Eindruck 
als ob man unaufhörlich geſtoßen würde. Und der Eindruck iſt ſtark, 
aber er iſt ohne Form und Farbe, ohne den Reiz der verlaufenden, 
ſich abſpielenden Melodie. Wir hören die gewaltſame, die ſtockende 
und ſtotternde Rede der Leidenſchaft. Ihr ift es nur um den facti⸗ 
ſchen Gehalt ihrer Empfindung oder Anſchauung zu thun, nicht um 
die Form. 

Dieſe ſelbe äſthetiſche Weltanſchauung der Germanen hat nun 
aber auch ihre Sprache ergriffen und umgeſtaltet. Sie hat nicht 
blos die Poeſie beherrſcht, ſie beherrſcht auch das Material dex Poeſie, 
das einzelne Wort. 

Auch die Sprache iſt ein Kunſtwerk. In jedem einzelnen Wort 
unterſcheiden wir zwiſchen Inhalt und Form. Eine Silbe des Wor— 
tes iſt ſtets dem Inhalt, dem wichtigſten Element des Begriffes ge— 


16 Über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 


widmet. Die übrigen Silben dienen der Form und der Bezie⸗ 
hung. | 

Das Wort Menſch hieß in unſerer Sprache einſt manniskän. 
Da iſt die erſte Silbe, die Silbe man, für die Bedeutung weitaus 
die wichtigſte; man heißt „denken“, manniskän iſt „der Denkende“. 
Dieſe Silbe aber, in welcher der Begriff des Denkens liegt, dieſe 
Hauptſilbe für den Inhalt, die wird im Germaniſchen betont. 
Während in anderen Sprachen der Ton bald auf dieſer, bald auf 
jener Silbe ruhen kann, oder ſich nach gewiſſen mechaniſchen Rück⸗ 
ſichten auf einer beſtimmten niederſetzt, heftet das Deutſche den Ac⸗ 
cent auf die Bedeutungsſilbe feſt. Die Sprache gibt ihre Anſicht 
über den Werth der Silben kund. Nur dieſe Bedeutungsſilbe, die 
den Hauptbegriff enthält, iſt ihr werthvoll. Alle andern ſind gleichgiltig 
und werden vernachläſſigt. So zwar, daß ſie nach und nach gänzlich 
oder faſt gänzlich dahin ſchwinden. Jenes manniskän lautet heute 
Menſch. Das dreiſilbige Wort iſt ein einſilbiges geworden. Wo 
man in der älteſten Sprache geſagt hätte manniskänam (das iſt die 
zweite Endung der Mehrzahl), da ſagt man heute Menſchen. In 
manniskänäm, oder, wie es im achten Jahrhundert heißt, mannis- 
köno, was für eine Fülle von Ton und Klang und Farbe: das 
alles verklungen und verblaßt, nur der kahle Begriff übrig gelaſſen. 
Und deutlich der ganze Proceß blos Wirkung des ſtarken auf die 
Silbe man gelegten Accentes. 

Da haben Sie das Accentuirte, das Potenzirte der leidenſchaft⸗ 
lichen Rede auch im einzelnen Wort. 

Dies aber iſt ſehr wichtig. 

Auch das Germaniſche beſaß einſt einen freieren, einen weniger 
gewaltſamen, einen mehr muſikaliſchen Accent, wie ſeine verwandten 
Sprachen, wie das Indiſche, wie das Griechiſche und all die anderen. 
Aber ſämmtliche wichtigſte Eigenthümlichkeiten der äußern Form, des 
Klanges, der Conſonanten und Vocale, wodurch das Germaniſche 
ſich von ſeinen Schweſterſprachen unterſcheidet, laſſen ſich darauf zu⸗ 
rückführen, daß es jenen urſprünglichen Accent verlaſſen hat und aus⸗ 
ſchließlich die Silbe hervorhob, in welcher die Bedeutung ſich am ent⸗ 
ſchiedenſten geltend macht. Die Hauptkraft, welche den Germanen 
eine eigene Sprache bildete, war mithin der veränderte Accent; es 


über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 17 


war die ausſchließliche Werthſchätzung des Gehaltes, die Vernach— 
läſſigung der Form. 

Sie wiſſen nun wohl, daß mit Recht die Sprache für das weſent⸗ 
lichſte Kennzeichen der Nationalität gehalten wird. Eine Sprache für 
ſich, das heißt: ein Volk für ſich. 

Und nun blicken wir noch einmal zurück und laſſen Sie mich 
fragen: ob nicht die Sprachwiſſenſchaft das Dunkel, das über dem 
Urſprung unſerer Nationalität ruht, einigermaßen aufgehellt hat, ſo⸗ 
weit es für jetzt möglich ſcheint. 

Was haben wir gefunden? 

Die Weltlage der Germanen, eingekeilt von allen Seiten, ver- 
bunden mit dem hartnäckig feſtgehaltenen halbnomadiſchen Culturzu⸗ 
ſtand erhob den Krieg zur Leidenſchaft dieſes europäiſchen Stammes. 
Solche Leidenſchaft wirkte als unumſchränkt herrſchende Macht über 
alle Gebiete des geiſtigen und materiellen Lebens, fie hat die Re⸗— 
ligion umgeſtaltet, ſie hat die Poeſie umgeſtaltet, ſie hat die Wörter 
verwandelt, ſie hat den Germanen ihre eigene Sprache geſchaffen, 
fie hat aus dem europäiſchen Stamme eine ſelbſtändige Nation ge- 
macht. 

Aber wir ſind noch nicht zu Ende. Wir ſahen, welche Folgen 
der germaniſche Lebensgeiſt, den wir zergliederten, für die äſtheti⸗ 
ſche Anſchauung des Volkes, für Poeſie und Sprache, gehabt hat. 
Wir müſſen uns noch klar machen, welche ſittlichen Folgen daran 
hängen. 

Nicht ohne Abſicht habe ich bisher ſtets nur von der Nationali— 
tät, nicht vom Nationalcharakter geredet. Wie wir bei der Beur— 
theilung des Einzelnen vom Charakter als der höchſten Kraft und 
höchſten Entfaltung des Sittlichen in ihm ſprechen: ſo wollte ich 
auch in der Beurtheilung unſeres Volkes den Charakter für das Ge— 
biet der Ethik aufbehalten. 

Erlauben Sie mir, daran zu erinnern, wie Hegel die Leiden⸗ 
ſchaft definirt. 

Er verſteht darunter, daß ein Subject das ganze lebendige In— 
tereſſe ſeines Geiſtes, Talentes, N Genuſſes in Einen 
Inhalt gelegt habe. 


Dieſer eine Inhalt war für 855 Germanen der Krieg. Aber 
Scherer, Vorträge. 2 


18 über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 


ſehen wir ab von dem Inhalte. Der Inhalt iſt uns hier ganz 
gleichgiltig. Wir ſehen nur auf die Form der ſittlichen Geſinnung, 
auf die gänzliche Hingebung an Einen Gedankenkreis, durch den alles 
Andere wie durch eine helle freſſende Flamme aufgezehrt wird. Jener 
Inhalt war temporär: dieſe Form iſt geblieben. 

Der Germane ſelbſt wußte die Form ſehr wohl von dem In⸗ 
halte zu ſcheiden. Er hat beſondere Worte für die Geſinnung, die 
ich ſchilderte, und dieſe Worte drücken ihm den höchſten Begriff der 
Männlichkeit aus. 

Das erſte haben wir noch heute; es hat nur ſeine Bedeutung 
weſentlich verändert, aber doch nicht ſo, daß man nicht die Ver⸗ 
änderung begriffe. Das Wort iſt: einfalt. Einfalt iſt für uns in 
Gegenſatz zu vielſeitiger Bildung getreten. Wir gebrauchen es lobend 
für die Einfachheit des Geiſtes und Gemüthes. Wir gebrauchen es 
tadelnd für die Beſchränktheit des Blickes und des Urtheils. Für 
den alten Germanen bedeutet es „die Haltung des Gemüths, vermöge 
deren nur Ein Sinn, nur Ein Gedanke, nur Ein Wille das ganze 
Innere des Menſchen erfüllt und beherrſcht.“ 

Das zweite Wort iſt einhart. Gemeint iſt das hartnäckige 
Ausharren, das felſenhafte Standhalten bei dem Einen, einmal Er- 
griffenen. 

Dieſe Eigenſchaft zu bewähren, hatten die alten Germanen 
reichlich Gelegenheit. Der heftige Kampf ums Daſein brachte große 
Schwankungen des Glückes. Erſt im Unglück zeigt ſich der Held in 
ganzer Größe. Seine Würde, ſein Selbſtgefühl, ſeine Hoheit der 
Empfindung, ſein Vertrauen und ſein hochgerichtetes Streben gibt 
er nie auf. Er bleibt einfalt, er bleibt ein hart. 

Mit Recht hat uns Freytag in ſeinem Ingo gerade einen ſolchen 
Helden vorgeführt. Wir treffen ihn heimatlos, verfolgt, ſeiner Ge— 
noſſen und Kriegsgeſellen beraubt. Einen Augenblick lächelt ihm 
ſcheinbar das Glück. Zuletzt verſchlingt ihn tragiſches Verhängniß. 

Die altgermaniſche Poeſie hat eine Gabe, das Unglück darzu— 
ſtellen, die Heimatloſigkeit, die Einſamkeit, die Verlaſſenheit und 
Noth zu ſchildern, — welche manchmal von erſchütternder Wahr⸗ 
heit iſt. 

Ich habe Sie auf das innige Treueverhältniß aufmerkſam gemacht, 


über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 19 


das zwiſchen dem Häuptling und ſeinem Gefolge obwaltet. Ein ſolcher 
Gefolgsmann iſt fern von der Heimat. Heimat aber, das iſt die 
Halle, in der ſie um den Herrn verſammelt waren, das ſind die 
liebreichen Genoſſen, der Jubel und Geſang beim Trunk, der den 
Saal durchtönt, und der Hochſitz, der Thron des Herrn, von dem 
er die Gaben vertheilt. Daran denkt der Wanderer in der Ferne 
am düſtern Geſtade. Wenn Schlaf und Sorge geſellt den armen 
Einſamen oftmals feſſeln, ſo dünkt es ihn in träumendem Gemüthe, 
daß er ſeinen Herrn küſſe und umarme und auf das Knie ihm lege 
die Hände und das Haupt, wie er manchmal früher in vergangenen 
Tagen ſich zum Throne neigte. Er ſucht die Genoͤſſen und redet ſie 
an mit Jubel, eifrig ſie überſchauend. Doch der freundloſe Mann 
erwacht, und vor ſich ſieht er die fahlen Wogen, ſieht baden die 
Brandungsvögel und breiten ihre Federn, ſieht ſinken Schnee und 
Reif, geſellt dem Hagel; und der Herr und die Freunde — ſie ſchwim⸗ 
men hinweg mit den Wogen. 

In einer ähnlichen Lage befindet ſich Freytags Ingo, und wir 
begreifen nun den Jubel, mit welchem er die Schwertbrüder, die 
Kampfgenoſſen empfängt. 

Aber die Nachempfindung des Unglücks in der altgermaniſchen 
Geſinnung geht noch viel weiter. Was gibt es trockeneres für unſeren 
heutigen Geſchmack, als einen Geſetzesparagraphen! Tiefe des Gefühls 
wird vielleicht manchen menſchenfreundlichen Satzungen zum Grunde lie- 
gen. Aber Niemand wird erwarten, daß dieſe Empfindung ſelbſt darin 
zu Worte kommt. In der Rechtsſprache der Germanen war es an— 
ders. Hören Sie, wie ein frieſiſches Geſetz die Bedingung angibt, 
unter der das Vermögen eines vaterloſen Kindes angegriffen wer— 
den darf. 

„Wenn das Kind iſt ſtocknackt oder hauslos und dann die dü— 
ſtere Nacht und der eiskalte Winter über die Zäune ſcheint: ſo eilen 
alle Menſchen in ihren Hof und in ihr Haus, und das wilde Thier 
ſucht den hohlen Baum und der Berge Schlüfte, um darin ſein Le— 
ben zu friſten. Da weint das unmündige Kind und bejammert ſeine 
nackten Glieder und klaget laut, daß es kein Obdach habe, daß ſein 
Vater der ihm helfen ſollte gegen den kalten Winter und gegen den 
heißen Hunger, ſo tief und in Dunkel ruht, unter Eichenholz und 
2* 


[ar 
* 


20 über den Urſprung der deutſchen Nationalität. 


Erde, mit vier Nägeln verſchloſſen und bedeckt: — dann darf die 
Mutter ihres Kindes Erbe veräußern und verkaufen.“ 

So bekommen wir auch hier einen grellen Ausblick in die Noth 
des Lebens, welche der Kampf ums Daſein mit ſich führt. 

Ich glaube, in jeder ſolchen Schilderung ſteckt der ganze ger⸗ 
maniſche Menſch mit ſeinem vollen Charakter. Hochgeſpanntes Stre⸗ 
ben und tiefes Unglück: die beiden hängen nothwendig zuſammen. 
Das erſte tritt nicht auf, ohne daß wir das zweite in ſeinem Ge⸗ 
folge erblicken. Nimmſt du deinen Flug zur Sonne, ſo werden dir die 
Flügel verſengt. 

Ich darf nunmehr das letzte Wort ſagen. . 

Der alte Germane iſt das, was wir heute einen Idealiſten nen⸗ 
nen würden. 

Wir haben gefragt nach dem Urſprunge der deutſchen Natio⸗ 
nalität. . 

Wohlan, das Himmelszeichen, unter welchem die Geburt des 
deutſchen Nationalgeiſtes geſchieht, das iſt der Idealismus. 

Erinnern Sie ſich jener Schilderung in Freytags Roman, 
wie Ingo das römiſche Feldzeichen erobert? „Es ſchaute der Held 
auf dem Stein über ſeinem Haupt den Drachen des Caeſar, den 
grimmigen Wurm, und im Sprunge durchbrach er die Waffen des 
Römers; er ſprang auf den Stein, mit Bärengriff faßte er den 
Rieſen, der das Banner trug, und warf ihn vom Felſen. Leblos 
tauchte in die Fluten der Römer, und das Banner erhebend rief der 
Held gewaltig den Schlachtruf und ſprang mit dem Drachen hinab in 
den Strom.“ 

Auch unſer Volk hat ſich ein Banner erobert, aber nicht dem 
Römer abgewonnen, ſondern aus dem Hort der eigenen Bruſt 
hervorgezogen, ein Banner, das es hochhielt im Strome der Ge— 
ſchichte und das es ſeinen ſpäten Enkeln vererbte, wie Ingo, als 
einen Talisman, als ein Zauberding, auf daß ſie würdig leben der 
großen Ahnen. Und dieſer Talisman — er hat uns bis jetzt nicht 
verlaſſen. Denn wir wiſſen es wohl, unſer Heil beruht auf der 
ſelbſtloſen Geſinnung, auf der Hingebung, auf der Opferwilligkeit, 
auf dem Idealismus. 


Die Entdeckung Germaniens. 


Deutſche Alterthumskunde von Karl Müllenhoff. Erſter Band. 
Berlin, Weidmann, 1870. 


Wer mit der gewöhnlichen Vorſtellung deſſen was man „Alter: 
thümer“ zu nennen pflegt, das gegenwärtige Buch in die Hand 
nimmt und durchblättert, der wird ſich ſeltſam angemuthet, ja wahr: 
ſcheinlich ſehr getäuſcht finden. Er lieſt einige Ueberſchriften: „Sage 
von Troja,“ „Abenteuer des Odyſſeus,“ „Aviens Ora maritima,“ 
„Eudoxus von Knidos,“ „der Erdglobus des Krates,“ „die Erdmeſſung 
des Eratoſthenes,“ „Hipparch und Eratoſthenes,“ „Polybius,“ „Ti⸗ 
mäus“ — ja ums Himmelswillen, wo fangen denn die Alterthümer 
an? was haben alle dieſe Griechen in der deutſchen Alterthumskunde 
zu ſchaffen? So ungefähr wird der verwunderte Leſer fragen, und 
wenn er ein Pedant iſt, ſo wird er über Irreführung des bücherkau⸗ 
fenden Publicums klagen, das für ſein Geld wenigſtens einen un— 
zweideutigen Titel verlangen könne, er wird den Band zuklappen und 
weglegen mit dem beruhigenden Bewußtſein, das gehöre für die 
claſſiſchen Philologen, ihn, den Leſer, der über deutſche Antiquitäten 
belehrt ſein wolle, gehe das nichts an. 

Wenn er aber kein Pedant und ein bischen gutwillig und wiß— 
begierig iſt, ſo wird er nicht blos blättern, ſondern auch leſen und 
bald nicht blos leſen, ſondern auch ſtudiren, ſtudiren mit aller An— 
ſpannung und Hingebung deren er fähig iſt, ſtudiren mit dem von 
Seite zu Seite, von Bogen zu Bogen geſteigerten Gefühle, eine ganz 
gewaltige, eine nach Ziel, Methode und Reſultaten großartige Arbeit 


22 Die Entdeckung Germaniens. 


vor ſich zu haben. Ja er wird dem ſtolzen Gange dieſer ernſten 
Unterſuchungen zuerſt völlig kritiklos ſich überlaſſen, und wenn er 
dann die Nachprüfung unternimmt und hie und da in Einzelheiten, 
in Fragen äußerſt ſubtiler und ſchwieriger Natur ſich für eine andere 
Auffaſſung entſcheidet, ſo wird er ſich doch bei einiger Beſcheidenheit 
geſtehen müſſen, daß der Kern und die Bedeutung des Werkes von 
ſolchen Einwendungen unberührt bleibt. „Es iſt wol eines der ge— 
lehrteſten Bücher, die je geſchrieben wurden,“ ſagte mir ein Freund, 
bald nachdem der Band erſchienen war. Und das war nicht zu 
viel gejagt, aber man muß hinzufügen: es iſt auch eines der leben— 
digſten. Der lebendigſten, wenn man dabei nur nicht etwa an 
ſpringende Lebhaftigkeit des Styls denken will, ſondern an die geſtal⸗ 
tende Kraft, die aus wenigen unſcheinbaren, mühſam geſichteten Nach⸗ 
richten und Notizen lebensvolle Bilder von Zuſtänden und Perſonen 
zu entwerfen verſteht. Wie Müllenhoff z. B. den „raſenden Eifer“ 
des Krates von Mallos für die Theorie von der Kugelgeſtalt der 
Erde, ſeinen eiferſüchtigen Gegenſatz zu den alexandriniſchen Gelehr⸗ 
ten, ſeine Aufſtellung eines großen Erdglobus zu Pergamum ſchildert 
— wie er uns in einen Theil der wiſſenſchaftlichen Arbeit des Era⸗ 
toſthenes einführt, wie er dieſem Gelehrten faſt ehrfürchtig gegenüber 
ſteht, als einem Manne von ſeltenem Glanz und Reichthum der Be⸗ 
gabung, von immer gleicher Friſche, Energie und Regſamkeit des 
Geiſtes, von ſolcher Schärfe und Strenge des methodiſchen Den- 
kens nebſt ſo viel Hoheit der Geſinnung, daß ſich ihm überhaupt 
nur wenige vergleichen laſſen — wie er dann etwa den engen Ge— 
ſichtskreis des Polybius umgrenzt, der als praktiſcher, ganz der Ge— 
genwart und ihren Bedürfniſſen zugewandter Staatsmann und weit⸗ 
gereiſter nüchterner Beobachter über den Kreis der unmittelbaren 
Selbſterfahrung hinaus alles Verſtändniß einbüßt — und wie er 
dieſem antiken Rotteck den nur rhetoriſch und litterariſch geſchulten, 
antiquariſch gelehrten und immer leicht phantaſtiſchen Geſchichts- und 
Sagenforſcher Timäus an die Seite ſtellt: dies und manches ähn⸗ 
liche zeigt, daß dem Verfaſſer die alten Gelehrten in jahrelangem 
Verkehr zu vollſtändig gegenwärtigen, gleichſam mitlebenden Men⸗ 
ſchen geworden ſind, zu denen er ein beſtimmtes perſönliches Ver⸗ 
hältniß hat, mit denen er theils auf gutem, theils auf ſchlechtem 


Die Entdeckung Germaniens. 23 


Fuße ſteht, die er theils mit Liebe theils mit Abneigung betrachtet, 
denen er wol auch in draſtiſcher Weiſe ſeine Meinung ſagt, wie er 
denn einmal den „guten“ Strabo, nachdem er ihm feine Sünden ge- 
gen Eratoſthenes vorgehalten, für einen Mann von ſtumpfen, ja 
groben Sinnen, von kurzem Verſtande, geringer Verſchmitztheit und 
mäßigem Wiſſen, und ſchließlich für einen argen Tölpel erklärt. 

Aber nochmals fragen nun vielleicht auch meine Leſer, was 
denn alle dieſe griechiſchen Geographen und Hiſtoriker mit dem deut— 
ſchen Alterthum zu ſchaffen haben? 


Die Sache läßt ſich in zwei Worten klar machen. Alle die 
verwickelten und vielverzweigten Unterſuchungen des vorliegenden er— 
ſten Bandes beziehen ſich mehr oder weniger auf einen und denſelben 
Punct, auf eines und daſſelbe Ereigniß, das mit ſeiner allmählichen 
Vorbereitung und ſeinen wiſſenſchaftlichen Nachwirkungen einerſeits 
von ſo tiefgreifender und einſchneidender Bedeutung, andererſeits durch 
vielfache litterariſche Verluſte ſo ſehr in Dunkel gehüllt war, daß 
der ganze große Aufwand von Fleiß, Mühe und Scharfſinn, den wir 
hier vor uns ſehen, unbedingt nöthig war, um nach allen Seiten 
hin feſten Boden zu gewinnen, die entſcheidenden Thatſachen ge— 
hörig ins Licht zu ſetzen und das Reſultat in Sicherheit zu bringen. 


Dieſes Ereigniß iſt die Entdeckung unſerer Vorfahren, die Ent⸗ 
deckung des erſten in der antiken Welt bekannten germaniſchen Stam⸗ 
mes, die Entdeckung der Teutonen an der nördlichen Rheinmündung, 
durch einen Griechen im vierten Jahrhundert vor Chriſtus. 

Jeder Entdeckung gehen Ahnungen vorher, ſie kündigt ſich an 
von weitem, das neue Land tritt allmählich aus dem Nebel der Ferne. 
Näher und näher reicht die Fahrt. Eine Zeit ſchiebt die Aufgabe 
der folgenden zu, ein Volk dem andern. Zuletzt iſt es Wagniß eines 
Einzelnen. 

Der Vorgänger des kühnen Genueſers iſt Erik der Rothe von 
Island: die geiſtigen Ahnen der Spanier und Portugieſen des fünf— 
zehnten Jahrhunderts ſind die Normannen des zehnten, welche ſchon 
damals Grönland entdeckten und beſiedelten: die Lieder der alten 
Edda, die den grauſamen Tod der Nibelungen an Attilas Hof er— 
zählen, ſind im nördlichſten Amerika geſungen. Die Vorgänger der 


- 


24 Die Entdeckung Germaniens. 


Griechen des vierten Jahrhunderts vor Chriſtus waren die Phönizier 
— wir wiſſen nicht, welches Jahrhunderts. 

Aber die Natur ſelbſt ſendet ihre Boten aus und gibt den 
Menſchen Kunde von ihren weitgetrennten Brüdern. Der Golfſtrom 
trug künſtlich geſchnitztes Holz aus dem Meerbuſen von Mexiko an 
die Weſtküſte Europas und unter die Augen des Chriſtoph Columbus. 
„Dem lauſchenden Seemann erzählten Bewohner von Fayal und 
Gracioſa, daß Fichtenſtämme einer fremden Art von Abend her an 
ihre Inſeln geſpült ſeien.“ 

Auch der europäiſche dunkle Norden ſandte ſeine Botſchaft an 
den hellen vorgeſchrittenen Süden, aber ſie wurde nicht verſtanden. 
Der wilde Singſchwan der im Fluge ſchwermüthige Töne ausſtößt, 
. hat jetzt im hohen Norden ſeine Heimat, früher auch gewiß im alten 
ſumpf⸗ und waſſerreichen Deutſchland: im Anfang des Winters zieht 
er nach Süden, ans ſchwarze Meer, nach Griechenland, nach Afrika. 
Die Deutſchen wie die Griechen benennen den Schwan vom Singen, 
die Alten behaupten daß ſeine Stimme vorzugsweiſe beim Heran⸗ 
nahen des Todes laut werde, und wir ſelbſt haben den Begriff des 
Schwanengeſanges aus der antiken Poeſie entnommen. „Die Schwäne 
— ſagt Müllenhoff — kamen Jahr für Jahr aus dem Norden nach 
Griechenland und ließen ihre Stimme hören, aber eine Kunde iſt mit 
ihnen nie hinüber noch herüber gekommen.“ 

Das älteſte Denkmal einer ſtarken Erweiterung des geographi⸗ 
ſchen Geſichtskreiſes der Hellenen iſt die Odyſſee. Da finden wir 
die erſte Spur des Nordens, deſſen kurze helle Sommernächte voll⸗ 
kommen deutlich erſcheinen. Bei dem menſchenfreſſenden Rieſenvolke 
der Läſtrygonen, die in den hohen Norden oder Nordweſten verlegt 
werden, kann der des Abends eintreibende Hirte den des Morgens 
austreibenden anrufen, und einer der nicht ſchliefe, würde ſich leicht 
doppelten Lohn erwerben: 


Denn nicht weit find die Pfade der Nacht und des Tages entfernet. 


Die Stelle iſt, ſoviel wir wiſſen, in der erſten Hälfte des ſie⸗ 
benten Jahrhunderts vor Chriſtus abgefaßt. Damals aber kann den 
Griechen ſolche Nachricht nur durch die Phönizier zugekommen ſein. 


Auf demſelben Wege erhielten ſie Zinn und Bernſtein, jenes 


Die Entdeckung Germaniens. 25 


aus Brittannien, dieſen vom Rhein. Weiter als an die Küſte der 
Bretagne und der gegenüberliegenden „Zinninſeln“ ſind die Fahrten 
der Phönizier früher in der Regel nicht gegangen. Ein anderes als 
das Handelsintereſſe hat ſie dabei nie geleitet. 

Der Bedarf an Zinn war im Alterthume ſehr groß. Man 
brauchte es zur Bereitung der Bronze ſchon in einer Zeit, welche 
das Eiſen noch nicht kannte und deren Bezeichnung als Erzalter jetzt 
aller Welt geläufig iſt. Es ſcheint daß dieſer Bedarf faſt nur aus 
den Gruben von Kornwall gedeckt wurde. Und Denjenigen, der das 
Zinn von dort zuerſt brachte, nannten die Alten Medakritus, das iſt 
vermuthlich Melkart, der mythiſche Repräſentant der Phönizier. 

Seit dem achten Jahrhundert mindeſtens müſſen aber die Pho- 
nizier ihre Fahrten gelegentlich doch weiter ausgedehnt haben, wenn 
auch der Zinnhandel das Hauptziel blieb: in der Odyſſee wird der 
Bernſtein bekannt als eine phöniziſche Koſtbarkeit, wovon die ältere 
Ilias noch nichts weiß. Nur nach der Oſtſee ſind die Phönizier 
niemals gelangt, der oſtpreußiſche Bernſtein kam nicht früher als 
im erſten Jahrhundert nach Chriſtus in den Handel. Die älteſte 
Bezugsquelle iſt die Nordſeeküſte, die Gegend der Mündung des 
Rheins. 

Im nordweſtlichen Ocean vom Meere ausgeworfen: mehr wiſſen 
die Griechen nicht von dem wunderbaren Foſſil. Wie kryſtalliſirte 
Sonnenſtrahlen erſchien es ihnen: ſie nannten es Elektron, das iſt 
„Sonnenſtein“. Täglich wandelt die Sonne von Oſten nach Weſten, 
wie einen Strom ergießt ſie ihr Licht, der Strom heißt Eridanos, 
„der von Morgen ſtammende“. Die Sonne ſelbſt, „die leuchtende“ 
(Phaethon) ſinkt im Weſten ins Meer. Daraus macht der griechiſche 
Mythus einen einmaligen Fall um die Entſtehung des Bernſteins zu 
erklären. Phaethon wird abgetrennt von Helios, der Sonne; Phaethon 
iſt nur der Sohn des Sonnengottes, und ſein Fall wird menſchlich 
und ſittlich motivirt. Er iſt gefallen, weil er gefrevelt. Er hat ſich 
angemaßt was er nicht vermochte. Die Gotteskraft iſt nicht in 
ihm, die er beweiſen will. Zeus ſchleudert ſeinen Blitz, vernichtet 
ihn. — 

Die erſte griechiſche Stadt, die bei dem Sinken der phöniziſchen 
Macht ſeit dem ſiebenten Jahrhundert mehr und mehr der Mittel— 


26 Die Entdeckung Germaniens. 


punct eines Weltverkehres wurde, war Milet. Und wie Handel und 
Erdkunde überall auf gegenſeitige Förderung angewieſen ſind, ſo be— 
gann auch in Milet die Speculation über das Weltgebäude und die 
Geſtalt der Erde ſich zuerſt über die alte volksmäßige Weltanſicht zu 
erheben. 

In Milet hatte die griechiſche Naturphiloſophie begonnen mit 
Thales, dem erſten der „ſieben Weiſen“, welche das delphiſche Orakel, 
das Rom des helleniſchen Mittelalters, anerkannte. 

Und bereits Anaximander (610 — 547), der Schüler des Thales, 
wagte es ein ſichtbares Bild der bewohnbaren Erde aufzuſtellen: die 
erſte Landkarte. Und etwa fünfzig Jahre ſpäter hat ſein Landsmann 
Hecatäus dieſe Karte verbeſſert und mit einer erklärenden Schrift, 
der erſten Erdbeſchreibung, begleitet. 

Wer nur die Reihen der Namen überblickt, die uns daraus auf⸗ 
behalten ſind, wird ſtaunen über die Fülle und den Umfang des 
Stoffes der dem Mileſier zu Gebote ſtand. Seine Kenntnis reichte 
von den Säulen des Hercules bis nach Kaspapyros am Indus; ſeine 
Beſchreibungen der Länder gingen zum Theil tief ins Detail, ſo daß 
man ſich von der großartigen Ausdehnung der mileſiſchen und ioni⸗ 
ſchen Verbindungen nirgend beſſer eine Vorſtellung machen kann als 
aus den dürftigen Ueberbleibſeln ſeines Werkes. 

Auf jenen Karten aber waren Geſtalt, Größe, Lage der Länder 
und Meere nach ungefährer Vorſtellung auf einer kreisrunden Scheibe 
zu einem Gemälde geordnet, in deſſen Mittelpunct Delphi als „Nabel 
der Erde“ lag. 

Anaximander hatte den Hecatäus zur Nacheiferung gereizt. Heca⸗ 
täus ſeinerſeits regte den Herodot und Demokrit zu ihren Forſchungen 
an, und Demokrit verſuchte eine neue verbeſſerte Karte. Dieſer erſte 
glänzende Vertreter der Atomenlehre, ein Gelehrter von dem um— 
faſſendſten Wiſſen, ein Freigeiſt und ein Revolutionär auch auf re 
ligiöſem Gebiete, hat die Kreisfläche in ein Oval verwandelt und 
Delphi für immer aus dem Mittelpuncte der Welt gerückt. Zwiſchen 
Naturwiſſenſchaft und Prieſterreligion war ſtets Gegenſatz und Kampf. 
Mit dem Emporkommen der erſteren ging im alten Griechenland wie 
im neuern Europa das Mittelalter zu Ende. Delphi nicht mehr im 
Centrum der bewohnbaren Erde anerkannt: es iſt ein Einſchnitt, ein 


Die Entdeckung Germaniens. 27 


Emancipationsſchritt in der Geſchichte des geiſtigen und des religiöſen 
Lebens wie ihn 2000 Jahre ſpäter die Beſtätigung der Kugelgeſtalt der 
Erde durch die Entdeckung von Amerika und das copernicaniſche Welt— 
ſyſtem gemacht haben. . 

Die Kunde des weſtlichen Europas aber iſt bei dieſen 
Griechen des fünften Jahrhunderts nicht weſentlich vorwärts gekom— 
men. Was ſie wußten beſchränkte ſich darauf, daß auf der äußerſten 
Südweſtſpitze jenſeits der Säulen des Hercules die Kyneten oder Ky— 
neſier und nördlich weiter hinauf die Kelten wohnten und daß aus dem 
höheren Weſten das Zinn und der Bernſtein komme. Und Herodot 
konnte, wenigſtens ehe er Italien, Sicilien, Karthago beſucht, nichts 
näheres über den weſtlichen Ocean von einem Augenzeugen in Er- 
fahrung bringen. 

Hier war man alſo über die phöniziſchen Traditionen wenig hin- 
aus. Und auch im vierten Jahrhundert zeigt ſich noch bei Ariftote- 
les und ſeinen Altersgenoſſen kein ſonderlicher Fortſchritt. 

Von Ebbe und Flut wußten Platon und Ariſtoteles nur ganz im 
allgemeinen und von ihrem Zuſammenhange mit den Perioden des 
Mondes hatten ſie keine Ahnung. 

Die Behauptung des Ariſtoteles daß es im Kelten- und Scy⸗ 
thenlande wegen der Kälte keine Eſel gebe, ſcheint beinahe nur auf 
einer Schlußfolgerung zu beruhen. Auch daß zahlreiche große Flüſſe 
von den Arkynien den Alpen) ſich gegen Norden ergießen, lautet 
ſo unbeſtimmt, daß man nicht weiß, ob da wirkliche Kenntnis 
oder bloße Vermuthung redet. 

Nur eine einzige neue Thatſache kommt zum Vorſchein, in et- 
was märchenhafter Geſtalt, aber der ſittliche Kern unſerer 
Ahnen liegt dem Märchen zu Grunde, mit der Tiefe ihres Charak— 
ters erſcheinen ſie zuerſt vor dem Weiſen der alten Welt. 

Er nennt ſie in ſeiner Ethik als diejenigen, welche die Tugend 
der Tapferkeit übertreiben. Ganz ungeheuerlich und unmenſchlich ſind 
ſie ihm, „wahnſinnig oder unfähig Schmerz zu empfinden“. Denn 
ſie ſollen weder Erdbeben noch Meerflut fürchten. 

Und andere Griechen erläutern uns dies näher, wenn ſie erzäh— 
len, daß jene die eindringende Flut in voller Rüſtung mit gezogenen 
Schwertern, mit gezückten Speeren bekämpften. Auch daß ſie ruhig 


28 Die Entdeckung Germaniens. 


zuſähen, wie ihre Häuſer weggeſchwemmt würden, und ſie nachher 
wieder aufbauten. Und daß durch das Waſſer in jenen Gegenden 
ein ſtärkerer Menſchenverluſt entſtehe als durch den Krieg. 


Das Local iſt deutlich, wir befinden uns an den Küſten der 
Nordſee wo noch heute der Menſch mit dem Waſſer ringt. Der 
Waffenkampf klingt freilich abſurd. „Aber bei einem Volke, in dem der 
Heldenſinn lebendig und das rechte Zeichen des Mannes war — 
ſagt Müllenhoff — iſt es ſehr wohl denkbar, daß bei Ueberſchwem⸗ 
mungen und Sturmfluten, wenn kein Entkommen mehr möglich war, 
die Männer ihre Waffen anlegten: nicht um die andringenden Wo⸗ 
gen zu bekämpfen, wohl aber um in ihrem beſten Schmuck als Hel⸗ 
den und Krieger den Tod zu finden, der ihnen auf dem Schlachtfelde 
nicht beſchieden war.“ 


Daß dieſe wilden Krieger Germanen waren, wußte man noch 
nicht, man nannte ſie Kelten: daß außer den Kelten noch ein anderes 
Nordvolk exiſtire, war ganz unbekannt. Aus dem Keltenlande aber 
muß jene Erzählung den Griechen zugekommen ſein. 


Dort war im Jahre 600 vor Chriſtus die Stadt Marſeille, 
Maſſalia, gegründet worden von den rührigſten und kühnſten 
Seefahrern Joniens, den Phokäern, — ein feſter Sitz helleniſcher 
Cultur, feſt und geſchützt ſchon durch die äußere Lage: auf einer 
ſchmalen Landzunge, drei Seiten vom Waſſer umſpült, faſt eine In⸗ 
ſel; neben ihr der Hafen theaterförmig von dem felſichten Ufer um⸗ 
geben, mit ſehr engem Eingang. 

Es waren aber noch nicht Kelten, welche die ioniſchen An- 
ſiedler im Süden Galliens trafen. Zwei Jahrhunderte lang hatten 
ſie hier in unmittelbarer Nachbarſchaft nur mit den Ligurern zu thun, 
einem Volke das wie die Räter und Iberer zu der vorindogermani⸗ 
ſchen Urbevölkerung Europas gehörte: die Kelten waren noch nir— 
gends bis an das Mittelmeer vorgedrungen. Gegen die Ligurer er- 
rang die Stadt ihre erſten Erfolge. Ihnen kämpfte ſie Schritt für 
Schritt nach Oſten hin die Küſte ab: Antibes Nizza Monaco 
ſind maſſaliotiſche Gründungen. Den ſteinigen Boden um die Stadt 
ſelbſt wandelten ſie in Olivengärten und Weinberge um: das Bild 
der heutigen Provence — hier iſt es zuerſt da: die Frucht harter Ar⸗ 


Die Entdeckung Germaniens. 0 


beit jener griechiſchen Koloniſten, einem barbariſchen Volke, einem wi⸗ 
derwilligen Erdreich mühſam abgewonnen. 

Weiter ins Innere hinein knüpften ſie Verbindungen an. Den 
Fundſtätten des Zinns und Bernſteins ſuchten ſie auf dem Landwege 
näher zu kommen. Mit den Kelten beſtand gute Freundſchaft: ſie führ⸗ 
ten ihnen Oel und Wein zu und erhielten jene koſtbaren Handelsgegen— 
ſtände dafür zurück. Feſte Wege bahnten ſich ins Binnenland; auf 
Saumthieren brachten die Kaufleute ihre Zinn⸗ und Bernſteinſchätze an 
die Mündung der Rhone. Von der Straße zur Rhone zweigte ſich ein 
Nebenweg an den Po ab, und der Phaethon-Mythus wurde jetzt 
an dieſe beiden Flüſſe verſetzt, von denen Griechenland ſeinen Bern⸗ 
ſtein bezog; bald die Rhone bald der Po hieß Eridanos. 

Als nun zu Ende des fünften oder zu Anfang des vierten 
Jahrhunderts die Kelten im Rhonethal ſüdwärts vordrangen um ſich 
dann öſtlich in die Poebene zu wenden, da trugen jene Verbindungen 
auch ihre politiſchen Früchte. Das drohende Unwetter brachte der 
Stadt Vortheil. Sie erlangte eine Erweiterung ihres Gebietes. Ihre 
civiliſirende Einwirkung auf die Kelten wurde erleichtert und gefördert. 
Die Kelten wurden Griechenfreunde „Philhellenen“, und der griechi- 
ſche Kaufmann genoß von nun an im Barbarenlande den ſtärkſten 
Schutz des Gaſtrechtes. 

Mittlerweile aber waren noch andere für die Machtentfaltung 
von Maſſalia günſtige Ereigniſſe eingetreten. 

Die Seeherrſchaft im weſtlichen Theile des mittelländiſchen Mee— 
res ſtand um das Jahr 500 vor Chriſtus bei den verbündeten Etrus⸗ 
kern und Karthagern, und dieſe wieder waren durch das Verhältniß 
der Phönizier zu Perſien in die Bahnen der perſiſchen Politik hinein⸗ 
gezogen worden. Dieſe ganze etruskiſch-phöniziſch-perſiſche Allianz 
richtete ſich gegen das Hellenenthum im Oſten wie im Weſten. Aber 
die Schlacht bei Salamis trieb die Perſer zurück und gleichzeitig ſiegte 
Syrakus über die Karthager bei Himera (480), bald auch über die 
Etrusker bei Cumae (472). Innere afrikaniſche Kämpfe kamen hinzu, 
welche die Karthager auf lange dort gefeſſelt hielten. 

Dieſen günſtigen Zeitpunct benutzten die Maſſalioten um ihre 
Kolonien an der Küſte weſtlich der Rhone vorzuſchieben und ſich 
an der ſpaniſchen Oſtküſte feſtzuſetzen, welche Karthago eiferſüchtig 


30 Die Entdeckung Germaniens. 


behütete. Auch kam es zum Kriege „wegen der Fiſcherſchiffe“ — 
ſagt unſere Nachricht — die Maſſalia an die ſpaniſche Küſte hinaus⸗ 
zuſenden wagte. Aber die Griechenſtadt war glücklich. Und fernere 
Kämpfe müſſen ihnen die ſpaniſche Küſte und das weſtliche Meer er— 
öffnet haben. „Es liegt viel Kriegsbeute in der Stadt aufbewahrt 
— ſo wird erzählt — die ſie in fortwährenden Seekämpfen denen 
abgenommen hatten, welche auf die Herrſchaft des Meeres widerrecht— 
lich Anſpruch machten.“ Ein Bündniß mit den Urbewohnern Spaniens, 
den Iberern, wurde nun geſchloſſen, eine Reihe von Kolonien ent⸗ 
ſtanden bis gegen die Säulen des Hercules und noch in der Nähe 
von Malaga gründeten ſie Mainake. Die Stadt erhob ſich auf den 
Gipfel ihrer Macht. Das war im vierten Jahrhundert. 


Jetzt erſt waren griechiſche Entdeckungsfahrten 
außerhalb der Säulen des Hercules möglich. Euthymenes 
ſegelte nach dem Weſten von Afrika, Pytheas nach dem Weſten und 
Norden von Europa. 


Pytheas von Maſſalia iſt der Entdecker der Ger— 
manen. g 


Es war ebenſo ſelbſtverſtändlich, daß die Entdeckung der Ger— 
manen von Maſſalia ausgehen mußte, wie es ſelbſtverſtändlich war 
daß die erſten großen Orientreiſenden des Mittelalters aus Venedig 
ſtammten. | 

In Maſſalia trafen phöniziſche und griechiſche Kenntniſſe zu- 
ſammen. Materielle und wiſſenſchaftliche Intereſſen waren vorhan⸗ 
den welche einen Entdecker in Bewegung ſetzen konnten. 


Im vierten Jahrhundert nach Chriſtus, zur Zeit des Kaiſers 
Julianus Apoſtata etwa, beſchäftigte ſich ein römiſcher Beamter Na⸗ 
mens Avienus damit, verſchiedene höchſt proſaiſche Stoffe in lateiniſche 
Verſe zu bringen, was man Lehrgedichte nennt. Ein glücklicher Zu⸗ 
fall ſpielte ihm eine griechiſche Küſtenbeſchreibung (Periplus) in die 
Hände, welche er zu gleichem Zwecke benutzte. Müllenhoff hat er⸗ 
kannt, daß wir darin ein uraltes Denkmal der geographiſchen Litteratur 
vor uns haben. Der Periplus rührt nach ſeiner Anſicht von einem 
Phönizier her und iſt im fünften Jahrhundert vor Chriſtus von einem 
Maſſalioten aus dem Phöniziſchen ins Griechiſche überſetzt, im zwei— 


Die Entdeckung Germaniens. 31 


ten Jahrhundert vor Chriſtus wieder von einem maſſaliotiſchen Ge— 
lehrten mit Zuſätzen und Erweiterungen verſehen. 

Der phöniziſche Periplus war etwa um 550 abgefaßt, er gab 
eine genaue Beſchreibung der ſpaniſchen Küſte und reichte nördlich 
bis an die Bretagne und die Zinninſeln. Die Karthager haben noch 
nicht feſten Fuß gefaßt in Spanien, was um 500 geſchah; die 
Kelten ſind noch nicht in Spanien eingedrungen, was um 525 ge— 
ſchehen ſein mag; ja der Name der Kelten überhaupt ſcheint noch 
nicht bekannt: der Name der Ligurer oder Ligyer begreift alle Be- 
wohner Galliens in ſich. 

Die griechiſche Ueberſetzung aber fällt in eine Zeit, in welcher die 
Gedanken und Unternehmungen der Bürger von Maſſalia ſich immer 
mehr darauf richteten, an der ſpaniſchen Küſte Boden zu gewinnen. 

Hundert Jahre etwa nach dieſer Ueberſetzung ſchiffte Pytheas 
durch die Säulen des Hercules und befuhr den alten Phönizierweg 
nach den Zinninſeln. 

Das Unternehmen entſprang aus jener reinen unverfälſchten Lei⸗ 
denſchaft für die Wahrheit, welche allen großen Forſchern und Ent— 
deckern eigen iſt. Pytheas legt durch ſeine bloße Exiſtenz das glän— 
zendſte Zeugniß ab für den wiſſenſchaftlichen Sinn ſeiner Vaterſtadt. 
In der auguſteiſchen Epoche war ſie die Hochſchule nicht blos für die 
Gallier, ſondern auch vornehme Römer gingen jetzt lieber dahin als 
nach Athen. Nicht uneben hat ein neuerer Hiſtoriker Maſſalia mit 
dem Genf des ſechszehnten Jahrhunderts verglichen: ariſtokratiſche 
Verfaſſung, religiöſer Sinn, ſtrenge Sittenpolizei, Beſchränkung des 
Individuums, ſtarke geiſtige Intereſſen, weitwirkende Hochſchule. 
Noch beteten ſie zur Diana der Epheſer, deren Bildniß ſie aus der 
ioniſchen Heimat mitgebracht. Noch knieten ſie „vor dem Weſen, an 
dem wir die Breite der Gottheit leſen,“ wie Goethe ſagt, dem ſie ein 
Symbol der Natur geweſen iſt. Die ioniſche Naturforſchung fand 
hier im Zeitalter des Ariſtoteles eine bedeutſame Fortbildung. 

Pytheas ſtellt uns zum erſten Mal in der Geſchichte der Wiffen- 
ſchaft jenen Typus des Gelehrten dar, für welchen uns Alexander 
von Humboldt das geläufigſte Beiſpiel iſt. Pytheas war ein ebenſo 
hervorragender Reiſender wie Gelehrter. 

Die Combination aſtronomiſcher, geographiſcher und ethnographi— 


32 Die Entdeckung Germaniens. 


ſcher Kenntniſſe und Forſchungen, die ihn auszeichnet, war freilich 
nichts neues. Eine Generation vor ihm hatte die griechiſche Aſtro⸗ 
nomie ihre wiſſenſchaftliche Begründung durch Eudoxus von Knidos 
erhalten, der in Kyzikos und Athen ein Decennium lang, etwa 
370-360, lehrte. Und eben dieſer Eudoxus hat auch eine Geo— 
graphie geſchrieben. Aber ſein Verdienſt in der Aſtronomie war zu⸗ 
ſammenhängende Beobachtung, er war ein blos beſchauender, kein 
meſſender und rechnender Forſcher. Und fo war auch feine Erdbe— 
ſchreibung mehr eine Länderbeſchreibung, ausgeſtattet mit vielen an⸗ 
geſammelten Merkwürdigkeiten, Seltſamkeiten und Geſchichten. Geo⸗ 
graphie und Aſtronomie haben in ihm nicht befruchtend auf einander 
gewirkt. a 

Pytheas, der jedenfalls von ihm lernte, gleichviel ob er ſein 
unmittelbarer Schüler war oder nur ſonſt auf ſeinen Ergebniſſen 
fußte, — Pytheas hat dieſen Fortſchritt gemacht. Er war der 
erſte, der daran dachte, die Aſtronomie auf die Geo— 
graphie anzuwenden. Wenn man ſich nur einigermaßen ver⸗ 
gegenwärtigt, welche Rolle die Aſtronomie in der heutigen Geographie 
ſpielt, wie völlig alle genaue Ortsbeſtimmung auf den Dienſten der 
Aſtronomie beruht: ſo wird man ermeſſen, was das ſagen will und 
welchen hohen Rang es dem Maſſalioten anweiſt unter den wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Genies aller Zeiten. Er iſt ein Zielzeiger und Weg⸗ 
weiſer. 

Pytheas ſtand auf der Höhe der aſtronomiſchen Bildung ſeiner 
Zeit. Er hat die Aſtronomie ſelbſt gefördert durch die Erkenntnis, 
daß der Himmelspol nicht, wie Eudoxus annahm, ein einzelner 
immer auf derſelben Stelle bleibender Stern, ſondern ein leerer Punct 
ſei, mit welchem drei benachbarte Sterne faſt genau ein regelmäßiges 
Viereck bilden. 

Und er hat die Aſtronomie auf die Geographie angewendet, in⸗ 
dem er die Polhöhe eines Ortes, die Polhöhe ſeiner Vaterſtadt 
Maſſalia zu beſtimmen ſuchte: der erſte Verſuch dieſer Art, und 
abermals hundert Jahre lang bis auf Eratoſthenes (275— 194) wurde 
kein zweiter gemacht. Es unterliegt wol keinem Zweifel, daß Pytheas 
ebenſo wie Ariſtoteles wußte, daß Polhöhe und geographiſche Breite 
einander gleich ſind und daß er daher die Beobachtung benutzte, um 


Die Entdeckung Germaniens. 33 


die Lage ſeiner Vaterſtadt auf der Erdkugel zu berechnen. Die 
Beobachtung geſchah mittels des auf einer Fläche aufgerichteten 
Sonnenzeigers Gnomon), deſſen Verhältnis zu ſeinem Schatten im 
Sommerſolſtiz ermittelt wurde. Und in Anbetracht der Unvollkommen⸗ 
heit dieſes Hilfsmittels war das Reſultat des Pytheas merkwürdig 
genau. Welcher langwierigen Vorbereitungen, welcher wiederholten 
Verſuche, welcher Ausdauer muß er bedurft haben! 

Sein feſter Mannesmuth wagte ſich noch an eine dritte Auf⸗ 
gabe, welche mit jenen beiden aſtronomiſchen Beobachtungen auf das 
engſte zuſammenhängt, an ſeine Reiſe. Dieſe war, um es kurz zu 
ſagen, die älteſte Nordpolexpedition, welche verſucht wurde. All ſein 
wiſſenſchaftliches Denken und Trachten alſo dreht ſich um die Er⸗ 
forſchung des Pols, und ſein Charakterbild iſt dadurch ſo merkwürdig 
modern, daß ganz im Gegenſatze zur ſonſtigen helleniſchen Vielſeitig⸗ 
keit, welche jeden großen Gelehrten mehr oder weniger zum Polyhiſtor 
macht, bei ihm ſich alle mannigfaltigen Kenntniſſe, alle vielſeitigen 
Intereſſen, alles Wollen und alle Thatkraft auf ein einziges Problem 
concentrirt. Wie er denn nur Ein Werk geſchrieben hat, worin er 
die Ergebniſſe feiner Reiſe mit den aſtronomiſchen Beobachtungen zit- 
ſammenfaßte, und wie ſeine ganze Perſönlichkeit für uns geſchwunden 
iſt — außer ſoweit ſie an jenem Probleme haftet. 

Es gab eine volksthümliche Anſicht von drei Erdzonen, der kalten, 
der gemäßigten und der verbrannten: nur die mittlere iſt bewohnbar, 
in den beiden anderen kann Niemand leben. Die griechiſche Wiſſen⸗ 
ſchaft aber, die ſeit dem vierten Jahrhundert, insbeſondere ſeit Arifto- 
teles, über die Kugelgeſtalt der Erde einig war und ſich beſtimmtere 
Vorſtellungen über die Vertheilung des Bewohnbaren zu machen 
ſuchte, acceptirte jene volksthümliche Anſchauung im Ganzen, forſchte 
aber nach den näheren Grenzen. Sie glaubte den 54“ nördlicher 
Breite, um in heutiger Sprache zu reden, als die Mark anſehen zu 
müſſen, jenſeits deren nach Norden hin die unbewohnbare Welt 
beginne. 

Ob Pytheas dieſe Begrenzung gekannt, die doch bei ſeinem 
älteren Zeitgenoſſen Ariſtoteles ſchon vorkommt, ob er ausfuhr um 
ihre Richtigkeit zu prüfen, das wiſſen wir nicht. Aber das iſt wol 
unzweifelhaft, daß er unſeren Polarkreis als Ziel ins Auge faßte. 


Scherer, Vorträge. 3 


34 Die Entdeckung Germaniens. 


Seine Fahrt — bemerkt Müllenhoff — „war eine wiſſen⸗ 
ſchaftliche Erforſchungs- und Entdeckungsreiſe, zunächſt unternommen 
um das wunderbare große Phänomen der Steigung des Pols und 
der Neigung des Kosmos gemäß der Veränderung des Horizomig 
nach Norden hin mit eigenen Augen zu verfolgen und zugleich die 
Ausdehnung unſeres Welttheils und die Zugänglichkeit ſeiner Länder 
zu erkunden.“ 

Das Unternehmen führte zur Entdeckung des europäiſchen Nord⸗ 
weſtens, zur Entdeckung Brittanniens, zur Entdeckung jener vielum⸗ 
fabelten Thule, und — für uns hier das wichtigſte — zur Ent⸗ 
deckung deutſcher Völker an der Nordſee. 

Man kann alſo wohl mit Müllenhoff ſagen: „Die Entdeckung 
der Germanen und die Entdeckung von Amerika beruhen auf dem⸗ 
ſelben wiſſenſchaftlichen Probleme, auf der Frage nach der Größe des 
Erdballs.“ 5 

Pytheas unternahm ſeine Reiſe etwa 325 vor Chriſtus. Um 
dieſelbe Zeit war Alexander der Große den Indus hinab gefahren, 
ſeine Flotte erforſchte die Südküſte von Perſien, er ſelbſt machte 
jenen berühmten ſchrecklichen Wüſtenzug. Indien ſollte mit Perſien 
in Verbindung geſetzt, für griechiſche Wiſſenſchaft und griechiſchen 
Unternehmungsgeiſt aufgeſchloſſen werden. Daſſelbe wollte Pytheas 
für den Nordweſten Europas. Wie im Jahre 480 bei Salamis und 
Himera der Hellenismus im Oſten und Weſten den combinirten 
ſemitiſch⸗perſiſchen Angriff zurückſchlug, fo ſetzte er jetzt denſelben 
Mächten zum Trotz die Erweiterung ſeines Gebietes durch und rückte 
die Grenzen der für ihn zugänglichen Welt hinaus. Aber es war 
leider hier wie dort nur ein kurzer Höheſtand der Entwicklung. Blos 
in der Wiſſenſchaft trug er ſeine Früchte und wirkte auf alle Zukunft 
fort: „weil im Gebiete des geiſtigen Lebens die Kraft des Menſchen 
weiter reicht als in der äußeren Welt.“ 

Ob Pytheas ſeine Expedition auf eigene Koſten unternahm, ob 
er ſich der Unterſtützung der maſſaliotiſchen Kaufmannſchaft oder des 
Staates erfreute, das wiſſen wir nicht. Gewiß iſt nur, daß er die 
Oberleitung des Unternehmens in Händen hatte und Richtung und 
Ausdehnung der Fahrt nach ſeinem Belieben beſtimmte. 

Mit dem erſten Beginn der Schifffahrt im Mittelmeere, im 


Die Entdeckung Germaniens. 35 


März, wird er von Maſſalia abgereiſt ſein. Er ſegelte durch die 
Säulen des Hercules in den atlantiſchen Ocean hinaus und bekam 
hier Gelegenheit das wunderbare Phänomen von Ebbe und Flut ge— 
nauer als irgend ein Grieche vor ihm zu beobachten und deſſen Zu— 
ſammenhang mit dem Monde zu erkennen. Auch weiterhin auf 
ſeiner Reiſe behielt er die Sache im Auge und hat ſogar Fluthöhen 
gemeſſen. 

Er fuhr an der Weſt⸗ und Nordküſte Spaniens und an der 
Weſtküſte Frankreichs hinauf, an den Inſeln vorüber, die ſich von 
der Mündung der Loire und weiter der Charente längs der Bretagne 
hinziehen bis zu der äußerſten Oueſſant, die er Uxiſame nannte. 
Er lernte die Weſtſpitze der Bretagne, das Vorgebirge Kabaion, und 
das Volk der Oſtiäer kennen. | 

Von der Bretagne aus ſuchte er zuerſt das gegenüberliegend 
Zinnland im ſüdweſtlichen Theile der großen Inſel Albion auf. Hier 
hatte man ziemlich unbeſtimmt nur von den Kaſſiteriden, den „Zinn⸗ 
inſeln“, geſprochen. Durch Pytheas iſt der Name der Brittanniſchen 
Inſeln und die Specialnamen Albion für England, Jerne für Ir— 
land u. a. bekannt geworden. 

An dem ſüdweſtlichen Vorgebirge von Albion — er nennt es 
Belerion (das iſt Landsend) — hatte er Gelegenheit die Gewinnung 
und Verladung des Zinns zu beobachten. 

Die Landſchaft am Vorgebirge Belerion — ſo lautete etwa ſein 
Bericht — bringt das Zinn hervor, deſſen Bau von den Einwohnern, 
die gegen Fremde ausnehmend freundlich und durch den Verkehr mit 
den fremden Kaufleuten in ihren Sitten gemildert ſind, kunſtgerecht 
betrieben wird. Das Land iſt felſicht, aber von erdigen Strichen 
durchzogen, in denen der Bau, die Schmelzung und Reinigung des 
Metalls geſchieht. In Würfeln wird es dann auf die anliegende Inſel 
Iktis hinübergebracht, die zur Zeit der Ebbe mit Wagen zu erreichen 
iſt, wie auch andere Inſeln zwiſchen Brittannien und dem Feſtlande 
bei den Ebben als Halbinſeln erſcheinen. Auf Iktis aber erhandeln 
die Kaufleute das Zinn von den Einwohnern, bringen es hinüber 
ins Keltenland und dann über Land auf Pferden in etwa dreißig 
Tagen nach der Rhonemündung. 

Die Inſel Iktis wird eine der kleinen Inſeln Ben welche ge⸗ 

3 * 


36 Die Entdeckung Germaniens. 


naue Karten (näher dem Land als die Seilly-Inſeln) noch heute am 
Landsend ausweiſen. Und ohne Zweifel hatten ſchon die Phönizier 
dieſelbe als Handelsſtation auserſehen. Von ihnen zuerſt wurde die 
Milderung in den Sitten der Einwohner bewirkt. 

Im übrigen fand Pytheas das Land eiskalt und feucht und den 
Himmel trübe. Die zarteren Früchte und Thiere des Südens begeg⸗ 
nen nur ſelten oder gar nicht. Man züchtet Bienen, man baut 
Getreide, Weizen und Gerſte. Aus der letzteren wie aus dem Ho- 
nig werden Getränke — Bier (die Korma der Britten und Gallier) 
und Meth — bereitet. 

Man hat keine Tennen im Freien, denn dieſe würden durch Man⸗ 
gel an Sonnenſchein und durch Regengüſſe bald unbrauchbar werden. 
Es werden daher nur die Aehren abgeſchnitten, geſammelt und in 
Häuſer gebracht, der tägliche Bedarf ausgerauft, unter Dach gedroſchen 
und zur Speiſe verarbeitet. 

Das Volk lebt meiſt in ärmlichen Hütten von Holz und Stroh, 


natürlich ohne jeden Luxus. Sie haben viele Könige und Dynaſten. 


Im Kriege bedienen ſie ſich der Streitwagen. Das Meer befahren 
ſie in ledernen Schiffen. Zu der Zeit als Pytheas ankam, herrſchte 
Friede. 

Er fand das Land dicht bevölkert: ſehr begreiflich in der 
Gegend des Zinnbaues. Und tiefer ging er nicht ins Innere, es 
mußte ihm daran gelegen ſein, bis zur Mitte des Sommers mög⸗ 
lichſt weit nach Norden vorzudringen, um ſelbſt vielleicht das Schau⸗ 
ſpiel der nicht untergehenden Sonne zu genießen. 

Bis hierher war er nur dem alten Zuge der phöniziſchen Schiff⸗ 
fahrt gefolgt. Jetzt wagte er ſich auf neue Bahnen. 

Er fuhr vom Landsend die Weſtſeite von Albion hinauf, immer 
langſam und vorſichtig an der vielgegliederten Küſte hin. Er über⸗ 
ſchritt den vierundfünfzigſten Parallel und trat in die angebliche kalte 
Zone ein. Er ſah die Sterne über ſeinem Scheitel, welche Eudoxus 
als die immer ſichtbaren der arktiſchen Region beſchrieben hatte. 
Die Inſel Jerne mit ihren herrlichen Weiden und die Haemoden 
Hebuden, Hebriden), deren er ſieben zählte, wurden ihm bekannt. 
Er erreichte die Nordſpitze von Albion: Orkan. 

Schon war das Klima rauher und die Bevölkerung dünner ge⸗ 


n .. er er Deut Me zn re 


Die Entdeckung Germaniens. 37 


worden. Weizen und Gerſte verſchwanden. Die Einwohner lebten 
von „Hirſe“ vielmehr Hafer), von wildwachſenden Gemüſen und 
Früchten und Wurzeln. Ein Bild der äußerſten Armuth ſtellte ſich 
dem verwöhnten Griechen dar. 

Aber er ſtrebte weiter. Von Orkan fuhr er an den Orkaden 
hin, deren Zahl er ziemlich richtig auf dreißig angibt, und über ſie 
hinaus zu den Shetlandinſeln (»Vergos«?) , nach Berrike der größ⸗ 
ten von allen (das ſhetländiſche Mainland) und nach der letzten: 
nach Thule, der nördlichſten von den brittanniſchen Inſeln, wie ſie 
Pytheas nannte. Das wäre das heutige Unſt. 

Dort zeigten ihm die Eingebornen den Ort — wie ſie ſich 
treuherzig ausdrückten: „wo die Sonne Ruhe hält.“ 

Für die Entſtehung dieſer Volksanſicht bedurfte es, ſagt Müllen⸗ 
hoff, nur einiger hervorragender Puncte die den Abſchnitt, den der 
Umlauf der Sonne zur Zeit ihres höchſten Standes im Horizonte 
machte, ungefähr begrenzten. „Wer auf Unſt im Innern der von 
Norden in dieſelbe eindringenden Meeresbucht des Burrafjords) ſteht, 
überblickt zwiſchen dem felſigen Vorgebirge Hermaneß im Nordweſten 
und dem 938 Fuß hohen Saxavord in Nordoſten einen Horizontal— 
bogen von mindeſtens 70 Grad, alſo gerade ſo viel als hier der 
Horizontabſchnitt der Sonne im Mittſommer ausmacht.“ 

Daß Pytheas auf dieſen wenig einladenden Inſeln noch Men— 
ſchen fand, iſt ſehr merkwürdig. Aber man muß es ihm glauben. 
Es waren keltiſche Britten, und ſeine keltiſchen Dolmetſcher ließen 
ihn nicht im Stich. Er erhielt auch Nachricht von dem öſtlich gegen- 
überliegenden Feſtlande, Norwegen, deſſen Bewohner hier Belken 
(Belkai) genannt wurden. 

Nach Norden hin aber meinte er ans Ende der Welt vorge— 
drungen zu ſein, wie ſich Columbus am Orinoco in der Nähe des 
irdiſchen Paradieſes glaubte. 

Es war um die Sommerſonnenwende. Er erlebte die hellen 
Nächte von denen Homer geſungen, ja er berechnete die Dauer der 
Nacht irrthümlich auf nur zwei Stunden: er glaubte um fünf 
Breitengrade nördlicher zu ſein als er war. In ähnlicher Weiſe hat 
ſich Columbus, als er 1477 Island beſuchte, ſogar um zehn Grade 
geirrt. 


38 Die Entdeckung Germaniens. 


Die Kelten verſicherten, eine Tagfahrt jenſeits Thule beginne 
Morimaruſa, wie fie es nannten, das heißt: das todte Meer. Auch 
davon überzeugte ſich Pytheas noch ſelbſt, das Meer ſchien ihm dort 
dickgeworden, „geronnen“. Und nun glaubte er auch, was die Brit⸗ 
ten ferner zu berichten wußten: es gebe dahin weiter kein Land mehr, 
auch kein Meer und keine Luft, ſondern nur ein Gemiſch aus dieſem 
allen, und Erde und Waſſer und alles ſchwebe, und dieſe Maſſe ſei 
wie ein gemeinſames Band aller Subſtanzen, weder begehbar noch 
beſchiffbar. ; 

In der That find ſchon weiter ſüdlich noch heute die Wind— 
ſtillen und die Seenebel jener Gegend gefürchtet: die letzteren ſteigen 
von dem Eiſe des Polarmeeres auf, das in den warmen Golfſtrom 
einfällt. 

Pytheas hatte genug verſucht und erfahren. Er kehrte um. 
Kein Grieche und kein Römer nach ihm iſt wieder fo hoch in den Nor⸗ 
den vorgedrungen. Die Römer, welche der in Brittannien comman⸗ 
dirende Agricola 84 nach Chriſtus ausſandte um Thule zu ſuchen, 
begnügten ſich damit, das ſhetländiſche Mainland von ferne geſehen 
zu haben. 

Pytheas ſegelte nicht nach Norwegen hinüber, er wollte zunächſt 
die Geſtalt Brittanniens erkunden, er fuhr daher zurück nach Orkan 
und an der Oſtſeite Albions hinab nach der Südoſtſpitze Kantion 
(Kent). 

Von hier aus wendete er ſich zu dem gegenüberliegenden Conti⸗ 
nent und fuhr etwa von Dünkirchen an längs der Küſte nach Nordoſt, 
an den Schelde-, Maas- und Rheinmündungen vorüber — wir 
wiſſen nicht genau bis wie weit. Jedenfalls lernte er die Nordſee und 
ihre Inſeln, „die Inſeln zwiſchen Brettanike und Europa“, wie er ſie 
nannte, aus eigener Anſchauung kennen. 

Das Meer erſchien ihm hier wie ein ungeheurer Meerbuſen der 
voll großer und kleiner Inſeln lag. Es breitet ſich nirgend weit 
aus, weil es immerfort im Schooße der Küſten aufgenommen wird. 
Auch gleicht es nirgends einem Meere, ſondern, da ſeine Gewäſſer 
hin und wieder zwiſchen dem Lande herfließen, auch oft überſteigen, 
ſo vertheilt es ſich hin und her und zerſtreut ſich in Geſtalt krum⸗ 
mer Flüſſe. Es wird wo es an die Küſten ſpült von den Geſtaden 


Die Entdeckung Germaniens. 39 


der Inſeln, die nicht weit und faſt überall gleich weit von einander 
abſtehen, eingeſchloſſen, in ein ſchmales Bette gedrängt und einer 
Meerenge gleich. Und weil durch Flut und Ebbe der Raum ihres 
Abſtandes von einander bald mit Waſſer bedeckt, bald wieder davon 
frei iſt, ſo ſcheinen ſie bald Inſeln bald feſtes Land zu ſein. Wei⸗ 
terhin krümmt ſich das Geſtade und beſchreibt einen großen Bogen. 

Das Meer heißt To dan, ein deutſches Wort: „das Zerſtreute“. 
Die meiſten der Inſeln ſind wüſt und ohne Namen. Nur eine der⸗ 
ſelben, Abalus, etwa oberhalb der Elbe im Gebiete der Eidermündun⸗ 
gen, wird als ein Hauptfundort des Bernſteins genannt. Und in 
der That wird in dieſer Gegend noch heute der meiſte Bernſtein an 
der Nordſee gefunden. 

Auf dieſer Küſtenfahrt nun hatte Pytheas beobachtet, wie das 
Gebiet der Kelten aufhörte und eine neue Nationalität begann, für 
welche er die unbeſtimmte Bezeichnung der Scythen gebrauchte. Der 
Rhein, deſſen Name Rhènos auch wol durch Pytheas zuerſt bekannt 
wurde, ſchien die Grenze zwiſchen ihnen und den Kelten zu bilden. 
Das neue Volk ſelbſt wurde ihm, in keltiſcher Entſtellung des Wortes, 
als die Teutonen genannt, d. h. auf deutſch nur die Angehörigen 
der theuda, thiuda, des Volkes. Ihr Land ſoll Baunonia (Bohnen⸗ 
land?) oder Raunonia geheißen haben. 5 

Hier betrat Pytheas deutſchen Boden. Hier wurde er der geo— 
graphiſche Entdecker unſerer Ahnen. Seine Teutonen ſind dieſelben, 
welche zwei Jahrhunderte ſpäter in Gemeinſchaft mit den Cimbern 
der Schrecken Roms wurden. 

Von ihrer Art und Sitte hat er, ſoviel wir wiſſen, nichts 
überliefert. Blos über ihre Betheiligung am Bernſteinhandel be— 
richtet er, aber wo er nicht ſelbſt beobachten konnte, miſcht ſich ſchon 
Hypotheſe und Fabuloſes bei. 

Der Bernſtein iſt nach ihm eine Abſonderung des geronnenen 
Meeres, das er hinter Thule geſehen. Im Frühjahr tragen ihn die 
Fluten nach der Inſel Abalus und werfen ihn ans Ufer. Die Ein⸗ 
wohner ſammeln ihn und haben ſo reichlich davon, daß ſie ihn ſtatt 
des Holzes zum Feuer gebrauchen. Sie bringen ihn auch eine Tag⸗ 
fahrt weit nach dem gegenüberliegenden Feſtlande hinüber und ver— 
kaufen ihn an die Teutonen, ihre nächſten Nachbarn, von denen er 


40 Die Entdeckung Germaniens. 


dann weiter durch das Keltenland an die Rhonemündung und zu den 
Griechen gelangt. 

Der Bernſtein als Feuerungsmaterial! „Aber die Fabel weiſt 
wol unleugbar — bemerkt Müllenhoff — auf den auf allen Marſch⸗ 
inſeln der Nordſee herrſchenden Mangel an Holz und Brennmaterial 
und ſetzt vielleicht voraus, daß man ſich dafür auch des modrigen, 
harzigen Holzes und des Seetangs, mit dem zuſammen der Bern⸗ 
ſtein gewöhnlich gefunden wird, wie des Torfes oder Dargs, der 
auch auf dem Meeresboden bei Ebbezeit gegraben wird, bediente.“ 
Und in einer ſchleswig-holſteiniſchen Landeskunde von 1799 heißt es 
von dem am Ausfluß der Eider gefundenen Bernſtein in der Land⸗ 
ſchaft Eiderſtedt: „Schwarze Stücke ſind keine Handelswaare, ſondern 
arme Leute bedienen ſich ihrer zum Anzünden ſtatt der Lichte.“ Auch 
dies iſt ein Wink zur Erklärung der Fabel. 

Aber noch weitere ſeltſame Geſchichten wurden Pytheas zuge⸗ 
tragen hier am Endpuncte ſeiner Fahrt, theils unvollkommene Beob⸗ 
achtungen wirklicher Zuſtände, theils ſcherzende Märchen, wie ſie an 
den Grenzen ethnographiſcher Kenntniſſe ſo gern auftauchen. Sie 
gehen von der Nordſeeküſte aus und ziehen ſich an ihr dann mit 
einer gewiſſen Steigerung hinauf in den entlegneren Norden. 

Man erzählte von den Oeonen, den Eiereſſern, von denen noch 
Cäſar hörte, die ſich nur von Vogeleiern und Fiſchen oder wilden Halm⸗ 
pflanzen nähren. „Wer die Inſeln und das von Waſſerläufen und Strö⸗ 
men hin und her durchfurchte Uferland der Nordſee und die zahlloſen 
Schwärme der da hauſenden Vögel je geſehen hat, wird die Meinung ganz 
natürlich finden, daß die Bewohner von Fiſchen und Vogeleiern lebten. 
Sie gründet ſich auf die Anſchauung und Kenntnis der Gegend, nur 
übertreibt die Sage und rückt die von ihr behauptete Thatſache mit 
einer Schlußfolgerung über den nächſten und erſten Geſichtspunct 
hinaus in die weitere Ferne.“ 

Man erzählte von den Hippopoden, den Pferdefüßlern. Liegt 
irgend eine Fußtracht von beſonderer Feſtigkeit, die an Hufe erinnern 
mochte, zu Grunde? 

Man erzählte endlich von den Panotiern, Ganzohren, deren 
große Ohren den ganzen Körper bedecken und eine andere Bekleidung 
überflüſſig machen. Aber hier deutet ſich das urſprünglich ſcherzende 


Die Entdeckung Germaniens. 41 


Märchen leicht aus einer Mantel⸗ und Kapuzentracht, wie fie nament⸗ 
lich nördlichen Seeanwohnern zum Schutze gegen Wind und Regen 
nötig ſein mochte.“ 

: Mit dieſen Fabeln ſchloß für Pytheas das Bild der Welt ab. 
Die Wundervölker traten mit den Belken in eine Reihe, das Geſtade 
zog ſich ununterbrochen bis Norwegen hinauf, von Kattegat oder gar 
Oſtſee keine Ahnung. Den Belken gegenüber war dann Thule und 
darüber hinaus die Lagerſtatt der Sonne und der chaotiſche Urbrei 
von Waſſer, Luft und Erde: ein Reſultat vielleicht ſchon druidiſcher 
Speculation. | — 

Das Ganze aber, Brittannien mit eingeſchloſſen, ſchob ſich ihm 
viel zu weit nach Oſten. Den Endpunct ſeiner Fahrt bei Thule 
vermuthete er nördlich vom Don, wo ſich Europa und Aſien ſcheiden. 
Hier waren wieder Scythen und ſo mochten auch die Wundervölker 
jenſeits der Teutonen mit ähnlichen, die man im Norden Aſiens dachte, 
in ſeiner Vorſtellung zuſammenrinnen. 

Durchgängig überſchätzte er auch die Räume die er durchmeſſen, 
und man muß ſeine ungeheueren Zahlen auf die Hälfte reduciren 
um das richtige zu finden. Die große Langſamkeit der Fahrt auf 
dem unbekannten Meere kam ihm nicht zum Bewußtſein und er glaubte 
mit einer Tagfahrt ebenſo weit gekommen zu ſein, wie ſonſt auf dem 
Mittelländiſchen Meere. Gleichzeitig berechnete aus denſelben Gründen 
Alexander des Großen Admiral Nearch die Strecke vom Indus bis 
zum Euphrat auf 600 Meilen, die nicht 300 lang iſt. — 

Das neue Volk, bei welchem die Kenntnis des Keltiſchen nichts 
mehr half, mochte Pytheas von weiterem Vordringen abſchrecken. 
Er fuhr längs der Küſte zurück, ſchätzte auch die Südſeite des al⸗ 
bioniſchen Dreiecks nur nach dem Maße der gegenüberliegenden Küſte 
ab, lenkte dann bei der Bretagne in ſchon bekannte Wege ein, 
beobachtete daß im Norden Spaniens die Rückfahrt ſchwieriger war 
als die Hinfahrt — denn die Meeresſtrömung führt von Weſt nach 
Oſt in den biscayiſchen Golf hinein und Weſtwinde herrſchen vor — 
und lief endlich, wir wiſſen nicht wann, wieder in den Hafen der 
Vaterſtadt ein. — g 

So viel ungefähr wiſſen wir von der Entdeckungsreiſe des 
Pytheas, deren Reſultate er zugleich mit ſeinen ſonſtigen Forſchungen 


42 Die Entdedung Germaniens. 


in einer Schrift „über den Ocean“ niederlegte, die leider nicht auf 
uns gekommen iſt. In ſeine Seele iſt uns kein Einblick vergönnt 
wie in die des Chriſtoph Columbus. Und ſeine That hat nicht den 
weltbewegenden Einfluß gehabt wie die des Genueſers. 

Der Weg den er eröffnet, wurde nicht ſofort häufiger befahren 
und ausgebeutet. Selbſt die Folgen für den Zinn⸗ und Bernſtein⸗ 
handel die ſich daran knüpfen konnten, blieben aus. Denn die Macht 
Karthagos erhob ſich bald wieder über die von Maſſalia: aus dem 
dritten Jahrhundert berichtet Eratoſthenes daß die Karthager jedes 
fremde nach den Säulen des Hercules ſegelnde Schiff, deſſen ſie 
habhaft wurden, verſenkten. Und auch die Verbindungen der Maſſa⸗ 
lioten über Land wurden im dritten Jahrhundert durch neue Kelten⸗ 
bewegungen geſtört. 
| Aber in der Wiſſenſchaft lebten die Entdeckungen des Pte 
fort. Zwar Ariftoteles konnte davon nicht mehr Gebrauch machen, 
und ſein Schüler Dikläarch verhielt ſich ablehnend dagegen, weil fie 
zu ſeiner im voraus feſtgeſtellten Theorie von der Geſtalt und den 
Dimenſionen der bewohnbaren Welt nicht paßten. Aber der Sici⸗ 
lianer Timäus machte in der erſten Hälfte des dritten Jahrhunderts 
davon Gebrauch. Und Eratoſthenes, der das Problem von der 
Größe der Erde weiter verfolgte und in der Gradmeſſung die theore- 
tiſche Löſung fand, deſſen Anſichten über die Ausdehnung und Ver⸗ 
theilung des Bewohnbaren noch auf Columbus einwirkten und ſo an 
der Entdeckung Amerikas mit arbeiteten, — Eratoſthenes hat die Re⸗ 
ſultate der Expedition des Pytheas einfach acceptirt und durch Thule 
ſeinen Polarkreis gelegt. Die Beſchreibung Brittanniens aber wurde 
die Grundlage für alle weitere Forſchung und wirkte in unabge⸗ 
brochener Tradition durch Ptolemäus noch auf die neuere Karto— 
graphie ſeit dem Ende des Mittelalters. Die ultima Thule wurde 
von den Dichtern beſungen bis auf Goethes König von Thule, ein 
Romanſchreiber des dritten Jahrhunderts nach Chriſtus verfaßte 
„Unglaubliche Geſchichten jenſeits Thules“. Und nur gerade die Ent⸗ 
deckung eines neuen Volkes jenſeits der Kelten ging wieder verloren, 
der Keltenname wurde fort und fort in falſcher Ausdehnung ge⸗ 
braucht zur Irreführung auch noch mancher Gelehrten des neun— 
zehnten Jahrhunderts. 


Die Entdeckung Germaniens. 43 


Erſt im zweiten Jahrhundert vor Chriſtus lernten die Römer 
den Namen Germanen kennen. 

Der Hiſtoriker Polybius aber (etwa 208 — 127 v. Chr.) war wol 
der letzte der die Schrift des Pytheas ſelbſt geleſen hat. Er wagte 
beſchränkten Sinnes die Glaubwürdigkeit des Mannes anzuzweifeln 
und ihn als Lügner hinzuſtellen, worin ihm der Geograph Strabo 
in auguſteiſcher Zeit blindlings folgte. Erſt durch Müllenhoffs um⸗ 
ſichtige ſorgfältige und tief eindringende Erörterungen erhielt das Bild 
des Mannes wieder ſo viel Klarheit und Beſtimmtheit, als bei dem 
mangelhaften Zuſtand unſerer Quellen überhaupt noch möglich war: 
man wird nicht weſentlich darüber hinauskommen. 

Pytheas und ſeine wiſſenſchaftliche Bedeutung, das heißt: Py⸗ 
theas und ſeine Stellung innerhalb der geſammten Entwickelung grie— 
chiſcher Geographie bilden den Gegenſtand von Müllenhoffs zweitem 
Buch. Das erſte Buch behandelt die „Phönizier“, d. h. die Kunde 
der Phönizier vom europäischen Weſten und Norden: nebenbei kommt 
der Einfluß der Phönizier auf die Griechen und das Anfangsdatum 
der griechiſchen Geſchichte zur Sprache, die Sage von Ilias und 
Odyſſee wird erklärt: dies Alles hier ſcheinbar vereinzelt und unge— 
hörig, wenn man ſtarr ſyſtematiſchen Gang fordern wollte; aber 
ſehr berechtigt in dem Ganzen von Müllenhoffs Betrachtungen, — 
Vorausdeutungen, deren Werth ſich ſpäter zeigen wird, wenn der 
Plan des Werkes weiter zu Tage tritt. 

Es iſt eine breite Unterlage, auf der ſich der Bau dieſer deut— 
ſchen Alterthumskunde erhebt. Das Zuſtändliche der Antiquitäten 
löſt Müllenhoff in Erzählung auf. So wie das Weſen der Ger— 
manen den Griechen und Römern nach und nach klar wurde, ſo 
führt uns der Verfaſſer allmählich in daſſelbe ein. 

Das Heldenthum unſerer Vorfahren, wie es ſich 
auf allen Lebensgebieten offenbarte, muß der Kern des 
Buches werden. Noch hat es ſich in dieſem erſten Bande nicht 
enthüllt. Aber wir werden gelegentlich darauf vorbereitet durch jene 
Erzählung von den Nordſeevölkern, welche die eindringende Flut in 
voller Rüſtung mit ihren Speeren bekämpfen. 

Das iſt nur ein erſtes fernes Wetterleuchten germaniſchen Helden— 
thums, das den Griechen ſichtbar wird. Den Römern ſtanden dar— 


44 Die Entdeckung Germaniens. 


über weit unmittelbarere Erfahrungen bevor. Müllenhoffs zweiter 
Band muß mit den Cimbernkriegen beginnen, dann folgt Cäſar, 
dann die Kriege des erſten Jahrhunderts nach Chriſtus und als 
Niederſchlag der angeſammelten Kenntniſſe die unſterbliche Schrift 
des Tacitus: da erhalten wir ſchon den vollen Einblick in Weſen, 
Charakter und Geſinnung unſerer Nation, deren geiſtige Erzeugniſſe 
dann in einheimiſchen Quellen, in Mythologie und Heldenſage, vor⸗ 
liegen. 

Ich fürchte nicht, den Werth der germaniſchen Studien zu über⸗ 
ſchätzen, wenn ich glaube, daß die deutſche Alterthumskunde, wie 
Müllenhoff ihre Aufgabe faßt, auch mit den lebendigen Intereſſen 
der Gegenwart in einigem Zuſammenhange ſteht. 

Die Völkerwanderung war ein materieller Sieg des germaniſchen 
Heldenthums über Rom. Aber der äußere Sieg führte eine innere 
Niederlage mit ſich. Die geiſtige Herrſchaft Roms und des Romanis⸗ 
mus wurde nicht gebrochen, ſondern erſt recht ausgebreitet. Das 
ureigenthümliche Element, das dem römiſchen Weſen lange Wider⸗ 
ſtand leiſtete, um es ſchließlich wieder ſiegreich zu bekämpfen, das 
in vielfachen Metamorphoſen bis auf die Gegenwart reicht und in. 
ihren größten Thaten als wichtigſter Factor mit enthalten iſt, — 
dieſes Element vollſtändiger, allſeitiger und tiefer darzuſtellen und zu 
begreifen, als es bisher geſchah: das ſcheint mir die Aufgabe der 
deutſchen Alterthumskunde, deren Löſung wir von Müllenhoff er⸗ 
warten. 


Die deutſche Spracheinheit. 
E 


Die Geſchichte unſerer Sprache iſt bis zu einem gewiſſen Grade 
die Geſchichte unſeres Volkes ſelbſt. 


Die Sprache iſt das treueſte Abbild des Volksthums. Die To⸗ 
talität aller geiſtigen Kräfte iſt darin vertreten. In der Sprache iſt 
Muſik und Melodie. Die Sprache iſt ein Kunſtwerk, und äſthetiſche 
Bedürfniſſe, welche ſie geſchaffen, finden ſich als bildende Mächte in 
der Poeſie und allen Künſten wieder. In der Sprache iſt Geſinnung 
und That. Sie iſt für ein Volk, was das Geſicht für den einzelnen 
Menſchen. Jede Stimmung, jedes Gefühl, jeder Gedanke malt ſich auf 
ihr. Was der Genius einer Nation dichtet und träumt, das erfährt 
die Sprache und berichtet's fernen Jahrtauſenden. Sprache an ſich, 
abgeſehen von aller geſchriebenen Litteratur, iſt die wichtigſte, unver⸗ 
tilgbarſte Urkunde der Geſchichte. Wovon die Chroniken nichts wiſſen, 
worüber Keilinſchriften und Hieroglyphen ſtumm bleiben, wovon der 
umgewühlte Erdboden nichts erzählt, darüber geben uns Laute, For⸗ 
men, Wörter Auskunft. 


Aber die Sprache iſt noch mehr. Sie iſt auch eine bildende 
Kraft des Staatslebens. Sie iſt das hauptſächlichſte Band, das eine 
Nation umſchlingt und woran derſelben ihre innere Einheit zum Be⸗ 
wußtſein kommt. Die Sprache gilt unſeren Statiſtikern als das 
ſicherſte Kennzeichen der Nationalität. Wo die Sprachen ausgejtor- 
ben ſind, da nehmen wir die Völker als verſchwunden an. Darum 


46 Die deutſche Spracheinheit. 


iſt in Ländern mit gemiſchter Bevölkerung die Sprachenfrage eine 
politiſche Frage erſten Ranges. Die untergeordnetſten Natiönchen, 
Völker ohne irgend nennenswerthe Cultur, Völker, welche ohne Scha— 
den für die Menſchheit von der Erde hinweggeweht werden könnten, 
klammern ſich mit einer frenetiſchen Angſt an ihre Sprache wie an 
das koſtbarſte Gut, an den letzten Hort und Schirm ihrer Eigen— 
art, an welchem ihre Exiſtenz zu hängen ſcheint. 

Und ſie hängt in der That daran. Auch für uns Deutſche 
war die Sprache ſtets eine ſegnende Göttin, die uns zuſammenhielt, 
wenn Politik und Religion uns trennte, ja die gerade zu der Zeit, 
wo die größten Spaltungen über uns hereinbrachen, die Einheit un- 
ſeres Volksthums geſchaffen hat durch die Möglichkeit einheitlichen 
Geiſteslebens, welche ſie uns erſt gewährte. 

Dieſes politiſche Verdienſt unſerer Mutterſprache, ihre bindende, 
einigende Kraft iſt der Gegenſtand, dem ich hier einige Blätter wid- 
men will. 

Die Geſchichte der Fe läßt uns Erſcheinungen beobachten, 
welche auf anderen Gebieten durch die neuere Naturwiſſenſchaft aller 
Welt ſehr geläufig geworden ſind. Große Gruppen des Thierreiches, 
die man bisher neben einander zu ſtellen gewohnt war, werden jetzt 
genealogiſch angeordnet. In viel verzweigten und mannigfaltig ver⸗ 
äſtelten Stammbäumen gewahren wir, wie durch jahrhundertelange, 
jahrtauſendelange Entwicklung aus uralten Einheiten allmählich Viel⸗ 
heit und Mannigfaltigkeit entſteht. Verſchiedene und, ſoweit menjch- 
liche Beobachtung reicht, getrennte Thiergattungen werden auf gemein⸗ 
ſchaftliche Urväter zurück geführt. 

Ein Zug zur Specialiſirung beherrſcht die geſammte organiſche 
Schöpfung. Auch der Menſch iſt davon nicht ausgenommen. Das 
Völker⸗ und Sprachenmeer der heutigen Erde iſt nichts urſprüngliches. 
Die unendliche Mannigfaltigkeit geht auf wenige ältere Einheiten 
zurück. Und wenn wir den Blick auf die überreichen Verzweigungen 
und Theilungen einmal feſtheften, ſo geräth der Begriff der Nationa⸗ 
lität ins Schwanken. Wir wiſſen nicht mehr genau, wo die Grenze 
iſt. Alle Unterſchiede erſcheinen relativ. Das Kennzeichen der 
Sprache wird ſelbſt zweifelhaft und läßt uns im Stich. 

Die Germanen, welche Tacitus ſchildert, waren ein Volk, deſſen 


Die deutſche Spracheinheit. 47 


verſchiedene Theile eine im ganzen noch einheitliche Sprache redeten 
und ſich ohne Zweifel untereinander verſtanden. Aus dieſem Ur⸗ 
volke ſind Deutſche, Niederländer, Engländer, Dänen, Schweden, 
Norweger geworden. Die Vorfahren dieſer Völker waren ſprach⸗ 
lich gewiß nicht weiter getrennt, als heute etwa Schwaben und 
Baiern durch ihre Volksmundart. Was jetzt beſondere Sprachen 
ſind, waren damals Dialekte. Was jetzt beſondere Nationen ſind, 
waren damals Stämme. Die Unterſchiede ſind nur ſehr allmählich 
gewachſen, theils kraft des natürlichen inneren Triebes, mit welchem 
ſich die Eigenthümlichkeit durch Vererbung ſteigert, theils kraft äußerer 
trennender Umſtände und abweichender hiſtoriſcher Schickſale. 

Im ſechſten Jahrhundert war die Sprache der Sachſen in 
Deutſchland und der Angelſachſen in England viel mehr einheitlich, 
als die Sprache der Sachſen und Baiern. Noch im dreizehnten 
Jahrhundert hätte ein Niederländer den Kölner eher verſtanden als 
dieſer den Schwaben. Auch heute können ſich Holländer und Frie⸗ 
ſen ganz gut verſtändigen, während ein plattdeutſch redender Bauer 
den tiroliſchen Alpenhirten vergeblich befragen und anhören wird. 
Ja die ſprachliche Verwandtſchaft zwiſchen Plattdeutſch und Holländiſch 
hat in den Köpfen annexionsluſtiger Statiſtiker ſchon die merkwürdig⸗ 
ſten Verwirrungen angerichtet und unſeren ehrenwerthen Nachbarn 
ſcheinbare Belege für die chauviniſtiſchen Neigungen an die Hand 
gegeben, die ſie uns ſo grundlos zutrauen. 

Gibt es alſo überhaupt eine Grenze zwiſchen Sprache und 
Mundart, zwiſchen Volk und Stamm? Oder müſſen wir auf feſte 
Scheidungen ganz verzichten? 

Wo Völker und Sprachen ihrem natürlichen Sonderungstriebe 
überlaſſen bleiben oder die Bedingungen ihrer Exiſtenz denſelben noch 
befördern, da können alle Stämme nach und nach zu Völkern, alle 
Mundarten nach und nach zu Sprachen werden. Die Individuali— 
ſirung geht ins Unendliche. Die Nationaleinheiten fallen bis zu gänz— 
licher Zerſplitterung auseinander. Die Neger Afrikas, die Indianer 
Amerikas liefern dafür Beiſpiele. 

Aber in geſchichtlich bewegten Ländern, in welchen die natür— 
lichen Triebe von geiſtigen Kräften überherrſcht werden, fehlt es nie 
an Bindemitteln, die ſich der Abſonderung entgegen ſtemmen und die 


48 Die deutſche Spracheinheit. 


auch ihren ſprachlichen Ausdruck finden. Regelmäßig beobachten wir, 
daß zwar einerſeits die Individualiſirung der Mundarten ihren Fort⸗ 
gang nimmt, daß aber andererſeits einer dieſer Dialekte, deſſen Trä⸗ 
ger politiſch oder geiſtig beſonders hervorragen, in das Verhältniß einer 
Hegemonie zu den übrigen tritt. Und die herrſchende Sprache wird mehr 
und mehr auch innerlich Gemeinſprache, indem ſie aus allen Mundarten 
einzelne Beſtandtheile aufnimmt und ſo eine Art Mikrokosmus Turin 
licher Dialekte darſtellt. 

Die Zunge Latiums breitet ſich durch die römiſche Politik zuerſt 
über ganz Italien aus, ſiegt über das Volskiſche, Samnitiſche, Um⸗ 
briſche, Meſſapiſche, Etruskiſche, über die keltiſchen und liguriſchen 
Sprachen Oberitaliens, breitet ſich dann über einen großen Theil des 
Orbis Romanus aus und drängt das Iberiſche, Galliſche, Thraci⸗ 
ſche immer weiter zurück. Zu dem Lateiniſchen als Schriftſprache 
verhalten ſich die provinziellen Schattirungen wie Volksdialekte, und 
aus dieſen Dialekten werden die verſchiedenen romaniſchen Sprachen. 

Innerhalb jeder einzelnen romaniſchen Sprache derſelbe Proceß. 
Im Franzöſiſchen z. B. hebt das politiſche Uebergewicht der Isle de 
France die Mundart dieſer Landſchaft empor. Aber nur ganz all⸗ 
mählich und nachdem ſie viele fremde Elemente aus anderen Dialekten 
aufgenommen hat, gelangt ſie dazu, erſt die übrigen nördlichen, dann 
die ſüdlichen Mundarten Frankreichs aus der Schriftſprache zu ver— 
drängen. 

Die Erſcheinung wiederholt ſich, nur auf etwas anderen We- 
gen, bei faſt allen europäiſchen Völkern. Unter ihnen iſt es den 
Deutſchen und Italienern eigenthümlich, daß es mitten in ihrer Ge⸗ 
ſchichte lange Perioden gab, in denen das politiſche Band gelockert 
oder ganz zerriſſen und die Gemeinſprache das einzige nationale Binde⸗ 
mittel war. 

Solche Gemeinſprache aber erringt und behauptet ihre Herrſchaft 
in der Regel durch die Schrift, durch eine geſchriebene Litteratur, die 
in ununterbrochener Fortbildung ſich ſtetig entwickelt. Die Gemein⸗ 
ſprache wird Schriftſprache. 

Und das ſcheint mir nun der maßgebende Geſichtspunct für 
den Unterſchied von Volk und Stamm zu ſein. Die Schriftſprache 
iſt das Merkmal des Volkes. Wo eine beſondere Schriftſprache 


Die deutſche Spracheinheit. 49 


vorhanden, da pflegen wir von einer beſondern Nation zu reden. 
Nie wird es uns einfallen, die deutſchen Schweizer oder deutſchen 
Oeſterreicher für etwas anderes als für Angehörige deutſcher Stämme 
zu erklären. Die Holländer aber ſind ein ſelbſtändiges Volk, ſo gut 
wie die Deutſchen, Dänen oder Engländer. 

Wenn wir uns nun die Entſtehung und Ausbildung der heuti— 
gen deutſchen Schriftſprache vergegenwärtigen, ſo tritt uns die wun⸗ 
derbarſte Miſchung geiſtiger und politiſcher Motive entgegen. 

Man kann ſagen: unſere Schriftſprache iſt ein Erzeugniß des 
altdeutſchen Kaiſerthums, und umgekehrt: das neudeutſche Kaiſerthum 
iſt ein Erzeugniß der deutſchen Schriftſprache und ihrer Litteratur. 
Das lehrt die Geſchichte unſeres Volkes. 

Die Germanen, wie ſie die Römer kennen lernen, zerfallen in 
eine Unzahl kleiner politiſcher Gemeinweſen. Nur der ſüdweſtliche 
Theil der Nation, alle Germanen mit Ausnahme des gothiſch-vanda— 
liſchen und ſcandinaviſchen Stammes, bewahren ein Bewußtſein ge⸗ 
meinſchaftlicher Abkunft. Aber auch ſie ſind ſtaatlich getrennt und 
nur auf religiöſem Gebiete beſtehen unter ihnen Einungen, welche die 
verſchiedenen kleinen Staaten zu drei umfaſſenden Gruppen und Cul⸗ 
tusgenoſſenſchaften um drei große Haupttempel verſammeln. 

Wie nun der gewaltige Thatendrang der Völkerwanderung 
über die Germanen kommt, wie da gemeinſchaftliche Ziele, gemein⸗ 
ſchaftlicher Ruhm, gemeinſchaftliche Ehre winkt, da ſtellen ſich jene 
religiöſen Genoſſenſchaften plötzlich auch als politiſche Verbände und 
Einheiten dar. Die drei Stämme der Franken, Sachſen, Aleman⸗ 
nen entſtehen, die früheren Prieſtergeſchlechter an den Stammestem⸗ 
peln ſehen ſich an der Spitze erobernder Heeresmaſſen, die alten 
Amphiktyonien werden organiſirte Gemeinweſen. Dagegen entſpre⸗ 
chen die kleineren Stammesfragmente der Frieſen, Heſſen und Thü⸗ 
ringer ungefähr den urſprünglichen kleinen germaniſchen Staatsver- 
bänden. Jenen dreien aber geſellen ſich als vierter deutſcher Haupt— 
ſtamm die Baiern und Oeſterreicher, von gothiſch-vandaliſcher Abkunft, 
doch nicht unvermiſcht. 

Durch dieſe vier Stämme, welche das heutige Deutſchland aus— 
machen, geht im ſechſten Jahrhundert ein ſprachlicher Riß, der ſie in 
zwei Hälften zertheilt und die Baiern, Alemannen, Franken von den 


Scherer, Vorträge. 4 


50 Die deutſche Spracheinheit. 


Sachſen und Frieſen weiter entfernt, als dieſe den Engländern und 
Scandinaviern ſtehen. Das iſt die Scheidung in niederdeutſche und 
hochdeutſche Stämme. Daß jene dat, dieſe das; jene Water, 
dieſe Waſſer; jene open, dieſe offen; jene maken, dieſe ma⸗ 
chen ſagen, rührt aus der angegebenen Zeit her. Die Niederdeut⸗ 
ſchen hielten wie die Engländer und Scandinavier die alten germa⸗ 
niſchen Laute feſt, während ſich die hochdentſchen Stämme davon 
entfernten. 

Dieſe Trennung iſt nichts anderes als der ſprachliche Ausdruck 
für die geſchichtliche Thatſache, daß die hochdeutſchen Stämme als 
Mitglieder des merowingiſch-fränkiſchen Reiches in einen ſtaatlichen 
Verband mit romaniſchen Völkerſchaften und dadurch in dauernde 
Culturbeziehung zu einer fremden Nationalität traten. Das Chri⸗ 
ſtenthum wurde ihnen zugeführt, der Romanismus konnte auf ſie 
Einfluß nehmen. Der politiſche und Culturfortſchritt prägt ſich in 
einem Fortſchritt der Laute aus. Die politiſche und Cultureinheit 
des älteren Frankenreiches ſpiegelt ſich noch heute in der ſprachlichen 
Scheidung von Oberdeutſch und Plattdeutſch. Der Gegenſatz von 
Süddeutſch und Norddeutſch hat damals ſeine Begründung erhalten. 
Eine tiefgreifende Trennung hatte ſich vollzogen, die durch unſere 
ganze Geſchichte hin ſich oft in der verhängnißvollſten, oft in der 
ſegensreichſten Weiſe geltend machte. Wenn je die Gefahr nahe lag, daß 
aus den Deutſchen zwei Völker werden konnten, ſo war es damals. 

Der Mann, dem wir vor allen das Verdienſt beimeſſen müſſen, 
ein ſolches Unglück (wir dürfens ſo nennen) verhütet zu haben, iſt 
Karl der Große. Die karolingiſche Politik mit ihren Plänen der 
Weltmonarchie, die ſchließlich in der Wiederherſtellung des weſtrömi⸗ 
ſchen Kaiſerthums gipfelten, vereinigte vieles, was nicht beiſammen 
bleiben konnte, aber ſie vereinigte auch manches, was vermöge ſeiner 
innerſten Natur zuſammen gehörte, ſie vereinigte zum erſten Male 
alle Stämme, die das heutige Deutſchland ausmachen und die ſich 
in den Reichstheilungen des neunten Jahrhunderts als eine beſondere 
Einheit abſchieden. 

Die Monarchie Karls des Großen und ſeiner Nachfolger mit 
ihren chriſtlichen Bildungsbeſtrebungen gibt die Veranlaſſung zur 
Entſtehung einer geſchriebenen deutſchen Litteratur. Zunächſt be⸗ 


* 


* 


Die deutſche Spracheinheit. f 51 


dient ſich jeder, der etwas in deutſcher Sprache aufſchreibt, ſeiner 
eigenen Mundart. Wir finden fränkiſche, bairiſche, alemanniſche 
Ueberſetzungen kirchlicher Gebete und Formeln. Ein Baier beſchreibt 
das jüngſte Gericht in Verſen ſeines heimatlichen Dialektes. Ein 
ſächſiſcher Dichter bearbeitet auf Veranlaſſung Ludwigs des Frommen 
das Leben Jeſu Chriſti in ſeiner Mundart. Wir bemerken aber 
ſchon, wie ſich die localen Idiome unter einander berühren, vermi⸗ 
ſchen und ausgleichen. Mit der Verbreitung hervorragenderer Lei⸗ 
ſtungen greift auch die betreffende Sprachform um ſich. Mit dem 
litterariſchen Austauſch geht ein ſprachlicher Hand in Hand. Frän⸗ 
kiſche Aufzeichnungen, ins Baieriſche übertragen, ſchleppen von ihrer 
Mundart etwas ein. Mitten in ſächſiſchen Schriftſtücken finden wir 
hochdeutſche Spuren und umgekehrt. Nur in wenigen Denkmälern 
herrſcht der reine ungemiſchte Dialekt. 

Zu ſolchen litterariſchen Thatſachen kommt ein ſociales Moment. 
Wenn der ſächſiſche Edeling an Karls des Großen Hofe mit 
dem fränkiſchen Biſchof, mit dem alemanniſchen Mönch, mit dem 
baieriſchen Grafen zuſammentraf, in welcher Sprache tauſchten ſie 
ihre Gedanken aus? Gewiß redete jeder ſeinen Landesdialekt, aber 
möglichſt ſo, daß ihn der andere verſtehen konnte, d. h. ſo, daß die 
Unterſchiede zurücktraten und das Einheitliche ſich hervorhob. Unwill— 
kürlich mußten ſich die Gegenſätze abſchleifen. Und da es in der 
fränkiſchen Mundart, wie ſie am mittleren Rhein, etwa um Mainz, 
geſprochen wurde, ein Bindeglied zwiſchen Hochdeutſch und Nieder— 
deutſch wirklich gab, ſo darf man ſich die ſprachliche Entwickelung und 
Bewegung zur Zeit Karls des Großen als eine Gravitation zu die— 
ſem rheinfränkiſchen Mittelpuncte denken. 

Die Hofſprache Karls des Großen war der erſte, wenn auch 
ſchwache Anfang zu einer Art von Gemeinſprache, die ſich in dem— 
ſelben Maße auf verſchiedene deutſche Gegenden ausbreiten konnte, 
als das provinzielle Leben von dem fränkiſchen Hofe aus beſtimmt 
wurde. Aber die Hofſprache Karls des Großen wirkte nicht blos in 
der Epoche der fränkiſchen Monarchie auf ferne Gegenden, ſondern 
auch lange nach den Tagen der Karolinger auf ferne Zeiten. 

Solange ein Kaiſerthum beſtand, blieb die Tradition der Hof— 


ſprache ununterbrochen. Zwei Elemente find darin immer zu unter: 


52 Die deutſche Spracheinheit. 


ſcheiden, die heimatliche Mundart des betreffenden Herrſchergeſchlech⸗ 
tes und ein überlieferter Beſtandtheil, worin das Fränkiſche der Karo⸗ 
linger nachklingt. An dem Hofe der ſächſiſchen Ottonen redete man 
nicht ſächſiſch, ſondern einen fränkiſchen Dialekt, der in gerader Linie 
von jener vermittelnden Mundart des Rheines abſtammt und nur 
einige ſächſiſche Färbung angenommen hat. Als dann im elften 
Jahrhundert die fränkiſchen Kaiſer ans Regiment kamen, konnte das 
fränkiſche Grundelement nur neue Verſtärkung erhalten, und dieſe 
fränkiſche Hofſprache wurde den Staufern vererbt, welche ihrerſeits 
einen beträchtlichen alemanniſchen Zuſatz hinein brachten, der Laut und 
Klang melodiſcher und wohltönender geſtaltete. 

Und zu allen Zeiten geht von dieſer Converſationsſprache des 
Hofes etwas auf die Schriftſprache über. Eine eigentlich feſte, von 
den Dialekten geſchiedene und in ſich gleichmäßige Schriftſprache gab 

es allerdings nicht. Aber die Hofſprache mit ihrer Tendenz, ſich 
auszubreiten und zur Gemeinſprache zu werden, ſpielt in viele Mund⸗ 
arten herein, wenn ſie geſchrieben werden: ſie modificirt ſie, drückt 
ihnen einen einheitlichen Stempel auf, mildert das allzu Beſondere, 
verwiſcht das allzu Eigenartige. In der Hofſprache der fränkiſchen 
Kaiſer finden wir zu Ende des elften, Anfang des zwölften Jahrhun⸗ 
derts eine reiche Litteratur geiſtlichen Inhalts, allerdings großentheils 
in fränkiſchen Gegenden entſtanden; aber auch die gleichzeitigen baieri⸗ 
ſchen und öſterreichiſchen Aufzeichnungen laſſen Einfluß der fränkiſchen 
Orthographie bemerken und legen damit Zeugniß ab für die über⸗ 
wiegende Geltung jener Mundart, welche durch die Macht des Kaiſer⸗ 
thums getragen wurde. 

Es iſt ein Unterſchied zwiſchen Hofſprache, Gemeinſprache, 
Schriftſprache: aber dieſe drei hängen auf das innigſte zuſammen, 
der kaiſerliche Hof iſt das belebende Centrum, das alle Tendenz zur 
Einheit erweckt und fördert. 

Die Hofſprache der ſtaufiſchen Kaiſer mit ihrer alemanniſchen 
Färbung iſt im weſentlichen die Sprache der großen Dichter des 
dreizehnten Jahrhunderts. In ihr haben Wolfram von Eſchenbach, 
Gottfried von Straßburg, Walther von der Vogelweide, die Berfaj- 
ſer der Nibelungenlieder und der Gudrun gedichtet. Jeder fällt ge- 
legentlich in die Mundart ſeines Geburtslandes. Walther merkt man 


* 


\ 


Die deutſche Spracheinheit. 53 


den Oeſterreicher an, Wolframs Dialekt verräth die Ansbacher Ge- 
gend, Gottfried läßt ſich hie und da einen Elſäſſer Provinzialismus 
entſchlüpfen. Aber im ganzen iſt es doch Eine Sprache, als ſolche 
unzweifelhaft kenntlich, ein Organ der Litteratur und Bildung, von 
den rohen Volksmundarten beſtimmt geſchieden. 

Doch aber erſtreckt ſich ihre Herrſchaft nur über das eigentliche 
Süddeutſchland und die Schweiz. Der mittlere und untere Rhein, 
Heſſen und Thüringen verſchloß ſich gegen den alemanniſchen Zuſatz 
der ſüddeutſchen Gemeinſprache. Auf Grund der Hofſprache der 
fränkiſchen Kaiſer entwickelte ſich hier ein eigenes Mitteldeutſch, das 
ſeinerſeits zwar auch einzelne Sachſen in ſeinen Bereich zieht, aber 
an dem Kern des ſächſiſchen Stammes doch ſeine Grenze findet, 
während es nach Nordweſten hin ſich ausbreitet und z. B. das Ge— 
wand hergibt, in welchem die Ritter des deutſchen Ordens das Leben 
der Heiligen und ihre eigenen Thaten beſingen. 

Alſo drei ſprachliche Gebiete! Sollte es zu einer einheitlichen 
Sprache in Deutſchland kommen, ſo mußte zwiſchen der ſüddeutſchen 
und mitteldeutſchen Gemeinſprache eine Ausgleichung gefunden, und 
es mußte das Reſultat auch den Niederſachſen noch mitgetheilt wer: 
den. Aber weit entfernt davon: eine einheitliche ſtarke Reichsgewalt 
wurde nicht aufgerichtet, eine einheitliche feſte Sprache wurde nicht 
gewonnen. 

Als vollends mit dem Fall der Staufer die dürftige Einheit 
immer mehr zerbröckelte, als die Autorität des Kaiſerthums auf 
Null herabſank und die Fürſten immer mächtiger wurden, die 
Territorialhoheit immer größere Rechte an ſich zog und der politiſche 
Particularismus ins Kraut ſchoß, da riß auch ſprachlicher Particula⸗ 
rismus ein, ſelbſt jene relativen ſprachlichen Einheiten gingen verlo— 
ren und die ungemilderten Dialekte wurden Schriftſprachen. Die 
Oeſterreicher ſchrieben öſterreichiſch, die Baiern baieriſch, die Schwa⸗ 
ben ſchwäbiſch u. ſ. w. Der Steirer Ottokar erzählte in ſeinem 
Heimatsdialekt die Befeſtigung der Habsburger in den öſterreichiſchen 
Landen. Kloſener und Königshofen erzählten im Straßburger Deutſch 
ihre ſtädtiſchen Fehden, Gottfried Hagen auf Kölneriſch die inneren 
Wirren der Vaterſtadt. Detmar beſchrieb in ſeinem Plattdeutſch die 
Großthaten der Lübecker. Und Nürnberg, Augsburg, Magdeburg, 


54 Die deutſche Spracheinheit. 


Braunſchweig und wie ſie alle heißen die großen Städte, in denen 
ſich deutſche Bürgerherrlichkeit offenbarte, die fleißigen Mittelpuncte der 
Induſtrie und des Handels, ſie zeichnen ihre Chroniken, ihre Rechts⸗ 
bücher im Localdialekt auf. Es iſt für unſere Empfindung, als 
ob etwa heutige Berliner Zeitungen ſich des Jargons von Müller 
und Schulze bedienten. Und wie eine Berliner Poſſe ihren Anzug 
wechſeln muß, um in Wien auf den Brettern zu erſcheinen, ſo gin⸗ 
gen um jene Zeit Lieder und ſonſtige Gedichte in andere Mund⸗ 
arten über, wenn ſie aus dem Orte ihrer Entſtehung ſich weiter 
verbreiteten. a 

Und doch! Der letzte Faden, an welchem die politiſche Einheit 
hing, an dieſen knüpft ſich auch ein neuer Anfang der Gemeinſprache, 
der Anfang unſeres heutigen Schriftdeutſch an. 

Dieſer Anfang erwuchs in der That aus Elementen des Hoch⸗ 
deutſchen und des Mitteldeutſchen, er vereinigte in ſich Mundarten 
jener Sprachkreiſe, in welche wir die Gemeinſprache des zwölften und 
dreizehnten Jahrhunderts zerfallen ſahen. Und er bildete ſich ſeltſamer 
Weiſe in dem Lande, das ein mehr komiſcher als gefährlicher natio⸗ 
naler Größenwahn in unſeren Tagen der deutſchen Cultur entreißen 
möchte. z 

In Böhmen begegnete ſich baieriſch⸗öſterreichiſche und mittel- 
deutſche (oberſächſiſche) Mundart. Und aus dieſen Beſtandtheilen 
erwuchs die Hofſprache der luxemburgiſchen Kaiſer, die ſich auf die 
Habsburger des fünfzehnten Jahrhunderts übertrug und ſich in im— 
mer weiteren Kreiſen verbreitete. 

Im fünfzehnten Jahrhundert ſpielt die Schrift für alle Zwecke 
des Verkehrs eine größere Rolle als je früher, und als Verkehrs⸗ 
und Geſchäftsſprache wird ſchon das Deutſche, nicht mehr das La⸗ 
teiniſche gebraucht. Insbeſondere die im fünfzehnten Jahrhundert 
immer häufiger werdenden Reichstage verlangten eine einheitliche 
Sprache, die Ausfertigungen der kaiſerlichen Kanzlei gingen nach al- 
len vier Weltgegenden aus, und die in ihnen gebrauchte Sprache 
nimmt damit gleichzeitig ihren Weg, Die Kanzleien der Reichsfür⸗ 
ſten richten ſich im allgemeinen nach der kaiſerlichen, wenn auch na⸗ 
türlich die heimiſche Mundart ſtets etwas hineinſpielt. 

Zugleich aber nimmt mit der Erfindung der Buchdruckerkunſt 


* 


Die deutſche Spracheinheit. 55 


die litterariſche Production immer größere Dimenſionen an und be— 
rechnet ihre Hervorbringungen auf möglichſt weite Kreiſe. Sie muß daher 
Heine äußere Form ſuchen, die weithin Anklang und Aufnahme finden 
kann. Dazu bietet ſich gleichfalls jene Hof⸗ und Kanzleiſprache dar, 
und jo bemerken wir, wie um die Scheide des fünfzehnten und ſechs⸗ 
zehnten Jahrhunderts gewiſſe charakteriſtiſche Eigenheiten des heutigen 
Schriftdeutſch, welche auf der luxemburgiſch⸗habsburgiſchen Hofſprache 
und zuletzt auf der baieriſch⸗öſterreichiſchen Mundart beruhen, ſich 
mittelſt der gedruckten Bücher auch in Gegenden verbreiten, deren 
heimatlicher Dialekt davon nichts weiß. 

Das ſind die ſprachlichen Zuſtände, in welche Luther hinein 
tritt. Er acceptirt ſie, wie ſie liegen und gibt den Nothwendigkeiten 
der Situation nach, wie er ſie vorfindet. Er richtet ſich nach dem 
Deutſch der ſächſiſchen Kanzlei und dadurch mittelbar nach der Hof-, 
der Kaiſer⸗, der Reichsſprache, nach dem „gemeinen Deutſch“ des 
fünfzehnten Jahrhunderts. Aber auch er gelangt allmählich erſt zu 
einer feſten Sprache. In ſeinen früheſten Schriften nimmt die 
Mundart ſeiner Heimat noch einen breiten Raum ein und die reinere 
Sprache der Bibelüberſetzung iſt das Reſultat einer langſamen, erſt 
um 1525 beſtimmter gewendeten Entwickelung. 

Die Lutheriſche Bibel war die entſcheidende That zur Begrün⸗ 
dung einer einheitlichen deutſchen Cultur und Sprache. Sie war 
der Schöpfungsact deſſen was wir heute unſere Nation nennen. 
Wir knüpfen an Luther unſere nationale Einheit wie Italien die 
ſeinige an Dante. Luthers Bibel iſt unſere Divina commedia. 
Sie iſt der Grundſtein des Tempels, der uns umſchließt. 

Aber wie? Hat nicht die Reformation neue Entzweiung über 
unſer vielgeſpaltenes Volk gebracht? 

Scheinbar wohl. Sie hat Stämme, die bis dahin geiſtig eins 
waren, getrennt. Aber ſie hat auch Stämme vereinigt, die bis da⸗ 
hin fremd neben einander ſtanden. Und dieſe Einigung war wichti⸗ 
ger als jene Trennung. Was ſie ſchadete, konnte gut gemacht wer: 
den. Was ſie nutzte, konnte nur ihr gelingen. 

Der von Anbeginn kräftigſte, durch ſiegreiche Coloniſation auf 
Slavenboden übermächtig geſtärkte und durch unabläſſige Arbeit und 
Kampf weit ausgebreitete Stamm der Niederſachſen hatte ſich faſt ſeit 


56 Die deutſche Spracheinheit. 


der Chriſtianiſirung Allem fern gehalten, was Gemüth und Phanta⸗ 
ſie der Süddeutſchen bewegte. Die gewaltſame Bekehrung wurde nie 

ganz überwunden. Der neue Ideenkreis, Religion und Bildung, 

blieb etwas äußerlich Aufgezwungenes, durch eine tiefe Kluft von 

dem inneren Geiſt und Sinn des Volkes getrennt. 

Erſt die Reformation hat die Kluft ausgefüllt und dieſe ſpröden 
Norddeutſchen für ein gemeinſchaftliches geiſtiges Intereſſe gewonnen. 
Wie einſt die loſen Verbände germaniſcher Stämme in den Zeiten 
der Völkerwanderung ſich zu feſten einheitlichen Heeresmaſſen verdich- 
teten, als es den Kampf galt gegen das Rom des dritten Jahrhun⸗ 
derts: ſo war es das Rom des ſechszehnten Jahrhunderts, das un⸗ 
ſer Volk in den leidenſchaftlichſten Gegenſatz trieb und dadurch mit 
einem Zauberſchlage bewirkte, woran ſich ſeit Karl dem Großen ſie⸗ 
ben Jahrhunderte vergeblich abgemüht hatten. b 

Was die Karolinger auf die Dauer nicht vermochten, was den 
Ottonen nicht gelang, was die Staufer ſo wenig zu Stande brach⸗ 
ten wie die alte Kirche oder wie die großen Dichter des dreizehnten 
Jahrhunderts, woran die Kraft der politiſchen wie der Culturheroen 
des deutſchen Mittelalters ſcheiterte: Luther hat es vollbracht. Er 
hatte, wie er ſelbſt einmal ſagt, von dem vierfächtigen Geiſt Eliä 
den Wind, Sturm und Feuer, ſo die Berge zerreißt und die Felſen 
zerſchmettert, bekommen. Er mußte „die Klötze und Stämme ausreu⸗ 
ten, Dornen und Hecken weghauen, die Pfützen ausfüllen“ und war 
„der grobe Waldrechter, der Bahn brechen und zurichten muß.“ 

Er hat die Bahn gebrochen. Das geiſtige Band, das er uns 
ſchuf, war noch in viel weiterem Umfange ein ſprachliches. Eine 
Geſammtſprache der Gebildeten, der Litteratur und Wiſſenſchaft haben 
wir erſt durch ihn. Er war in der That, wie ſich der Turnvater 
Jahn in ſeinem cyklopiſchen Styl ausdrückt, „Luther war für das 
geſammte deutſche Volk ein Raummacher, Wecker, Lebenserneuerer, 
Geiſtesbeſchwinger, Ausrüſter mit der edelſten Geiſteswehr, Herold 
eines künftigen Bücherweſens, und der Erzvater eines dereinſtigen 
deutſchen Großvolkes, durch das aufgefundene Vermächtniß einer Ge⸗ 
meinſprache.“ | 

Aber Luthers Schöpfung war auch für die Sprache nur ein 
Anfang. Es war nur ein Ausgangspunct gewonnen für die künftige 


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* 


Die deutſche Spracheinheit. 57 


Einheit, nicht dieſe Einheit ſelbſt. Die Eroberung iſt keine plötzliche. 
Der Reformator Zwingli ſchreibt ſein Schwyzer Dütſch, die lutheri⸗ 
ſche Bibel muß in Baſel mit Worterklärungen verſehen werden, und 
in niederdeutſcher Uebertragung wurde ſie noch bis gegen Ende des 
ſechszehnten Jahrhunderts gedruckt. Die Sprache Luthers iſt zu 
einer definitiven Niederſetzung noch nicht gelangt, ſie unterſcheidet ſich 
in einigen Puncten noch recht weſentlich von unſerem Schriftdeutſch, 
gewiſſe Abſchleifungen, Formübertragungen, Uniformirungen ſind in 
ihr noch nicht vorgenommen. | 

Die Entwickelung geht Schritt für Schritt, aber mit unbeirr⸗ 
barer Sicherheit ihren Gang. Sehr bald fühlt man ihre Macht. 
In gewiſſen Gegenden Süddeutſchlands, wie in dem litterariſch ſo 
reich producirenden Straßburg, müſſen Bücher, die um 1515 ent- 
ſtanden waren, bereits um 1540 moderniſirt werden. Und ſo greift 
die neue Sprache weiter um ſich nach Süden und nach Norden, und 
die Volksmundarten ſinken zu einem Mittel komiſcher Wirkungen 


herunter. Zu Anfang des ſiebzehnten Jahrhunderts iſt das Schrift- 


deutſch noch nicht ganz durchgedrungen, aber im Laufe des dreißig 
jährigen Krieges vollendet ſich die Bewegung. 
Während auf politiſchem und religiöſem Gebiete Alles furchtbar 


ſchwankt, während die Nation pfadlos im Sande zu waten ſcheint, 


während gleich nach Luthers Tode ſich die widerlichſten Erſcheinungen 
breit machen, der Jeſuitismus einerſeits, die ſtarrſte lutheraniſche 
Zionswächterei andererſeits, während die Blüte der deutſchen Städte 
ſinkt, während ein gräßlicher Krieg unſer Volk zerfleiſcht, unſer Land 
verwüſtet: geht die Sprache ihren ſtillen Gang, ein einheitliches 
Idiom befeſtigt ſeine Herrſchaft über alle deutſchen Kehlen und Zungen, 
dies eine Gebiet ſtetigen Fortſchrittes bleibt ungeſtört. 

Da bei geringer litterariſcher Production der Einfluß der Sprach- 
gelehrten ſteigt, ſo konnte gerade um jene Zeit der Grammatiker 
Schottelius, ein Niederſachſe, ſich um die Fixirung der deutſchen 
Sprache die allerweſentlichſten Verdienſte erwerben. Und der Oſt— 
preuße Gottſched erbt im achtzehnten Jahrhundert ſeine Autorität. 
Dieſe ehrſamen Pedanten in Allongeperücken wollen wir hochhalten 
und ihre Bemühungen um die Feſtſetzung einer einheitlichen Sprache 
wahrlich nicht gering anſchlagen. Unſere Grammatik, unſere Formen⸗ 


58 Die deutſche Spracheinheit. 

lehre und Orthographie iſt hauptſächlich ihr Werk. Sie haben den 
großen Dichtern des achtzehnten Jahrhunderts das Organ im Weſent⸗ 
lichen fertig überliefert, mit welchem die ewig denkwürdigen Geiſtes⸗ 
thaten unſerer litterariſchen Glanzepoche vollbracht werden ſollten. 


Sowie dieſe eintrat, ſowie ein mächtig aufſtrebender litterari⸗ 
ſcher Schaffensdrang ſich geltend machte, war es mit dem Anſehen 
der Grammatiker vorbei. Adelung hatte gut zanken und ſchelten und 
der Sprache und Litteratur ihren Weg anweiſen. Sie wandelte ſelbſt⸗ 
gebahnte Straßen und ging an ihm ſtolz vorüber. 


Derſelbe ſtetige Fortſchritt, den uns die Sprache durch das 
ſechszehnte und ſiebzehnte Jahrhundert hin darbot, den gewahren wir 
in politiſcher, moraliſcher und geiſtiger Beziehung ſeit dem Ende des 
dreißigjährigen Krieges auf norddeutſchem Colonialboden. 


Der brandenburgiſch⸗preußiſche Staat iſt der Ausdruck des nieder⸗ 
deutſchen Geiſtes in ſeiner nüchternen verſtändigen Kühle, der keine 
phantaſtiſchen Grillen und Einſeitigkeiten aufkommen läßt. Er hat 
uns aus dem Labyrinthe herausgeleitet, in welches die allzu leiden⸗ 
ſchaftlich ergriffene religiöſe Bewegung uns verlockte. Die Toleranz 
war der Ariadnefaden, an welchem zuerſt der große Kurfürſt ſich zu⸗ 
rechtfand, um ein Zielzeiger und Wegweiſer für ſeine Nachkommen 
zu werden. | 

Das deutſche Volk hatte ſich in dogmatiſche Fragen verrannt 
und verbiſſen. Und alle geiſtigen Richtungen, welche es befreien 
konnten, fanden nur in Brandenburg⸗Preußen Aufnahme und Pflege, 
während man ſie anderwärts verſtieß. So Spener und die Seinigen, 
ſo die mit den Fortſchritten der Naturwiſſenſchaft verbundene Auf⸗ 
klärung. Ausgezeichnete Verwaltung theilte dem Bürger das Gefühl 
aufſteigenden Lebens und fruchtbringenden Gedeihens mit, ſie ſchenkte 
ihm dadurch feſte Staatsgeſinnung, perſönliches Selbſtgefühl, unbe⸗ 
fangenen Lebensgenuß, Freude und Behagen, offenes Auge und kecke 
Empfindung, die Quellen aller echten Poeſie. Und ein wahrhaft 
großer Menſch an der Spitze des Staates, ein Held und ein Denker, 
voll gewaltiger Leidenſchaft und gewaltigen Ernſtes, Urſache und 
Mittelpunct ungeheurer Kämpfe und Siege, weckte den Nationalſtolz, 
beſchämte eine kleinliche Dichtung durch die größte Wirklichkeit, riß 


CCC 


Die deutſche Spracheinheit. 59 
die Phantaſie zu kühnerem Fluge fort und gewährte der Religion und 


Wiſſenſchaft ganz freie Bewegung. ' 
Hieraus hat unſer geiftiges Leben feine Kraft geſchöpft, von da 


bekam es Macht und Glanz. Nun erſt iſt es im Stande, wieder 


erobernd aufzutreten, Süddeutſchland in den gemeinſamen Ideenkreis 
hineinzuziehen und jo die Wunden allmählich zu heilen, welche Re⸗ 
formation und Gegenreformation und kleinfürſtlicher Despotismus ge- 
ſchlagen haben. Leſſing und ſeine Freunde ſind der Ausdruck des 
fridericianiſchen Geiſtes in der Litteratur. Sie bahnen Goethe und 
ſeinen Genoſſen den Weg, aus deren Hand wir unſere heutige Cul⸗ 
tur empfingen. 

Die politiſche Action, welche ſeit dem ſiebzehnten Jahrhundert 
theils bewußt, theils unbewußt das Ziel verfolgte, den deutſchen Staat 
durch Preußen zu erſetzen, und welche ſchließlich zu der Aufrichtung 
des proteſtantiſchen Kaiſerthums geführt hat, iſt die Vorausſetzung 
und Bedingung für unſere litterariſche Entwickelung im ſiebzehnten 
und achtzehnten Jahrhundert. 

Die ganze Einheitsbewegung aber, deren vorläufigen Abſchluß 
wir erlebten, beginnt mit der een der Schriftſprache im 
ſechszehnten Jahrhundert. 


II. 


Wie nun ſteht unſere Sprache zum nationalen Leben? Wie be⸗ 
währt ſie alle jene Eigenſchaften, die wir der Sprache überhaupt 
nachrühmen? Inwiefern iſt ſie Abbild unſeres innerſten Seins? Was 
verräth ſie uns, was lehrt ſie, was erzählt ſie von den geheimſten 
Gedanken des Volkes, von ſeiner Zukunft und ſeinen Zielen? 

Ich will kurz ſein, denn es wäre viel zu ſagen. Daß eine 
Schriftſprache als übergeordnete Sprachregion allen Mundarten ent- 
gegenſteht, iſt, wie wir ſahen, nichts eigenthümlich Deutſches. Aber 
nirgends ſonſt beherrſcht die Schriftſprache eine ſolche Mannigfaltig— 
keit und ſchließt ſolche weit auseinander klaffende Gegenſätze ein wie 
bei uns. Nirgends geſtattet fie den Mundarten fo viel freie Be⸗ 
wegung, ſo ungehemmte Entfaltung, ein ſo ſelbſtändiges Leben wie 
bei uns. Nirgends ſteht ſie ſelbſt in ſo ununterbrochener friſcher 


60 Die deutſche Spracheinheit. 


Wechſelwirkung mit allen Mundarten wie bei uns. Mundartliche 
Poeſie bildet in Deutſchland einen beſonderen gern gepflegten Zweig 
der Litteratur. Jede Landſchaft faſt hat ihren Localpoeten, der aus 
dem Sprachgefühl des niederen Volkes heraus künſtleriſche Wirkungen 
erzielt, welche in der Schriftſprache unerreichbar wären. Ja der ge- 
leſenſte deutſche Dichter überhaupt iſt in, dieſem Augenblicke ein 
Dialektdichter. Und fortwährend wird die vornehme hochdeutſche 
Sprache aus dem Born der Volksmundart getränkt und verjüngt, 
jeder Dichter und Schriftſteller kann daraus zutragen. Es zeigt ſich, 
daß unſere Geſammtſprache nicht gewaltſam centralifiven will, daß 
jede Eigenthümlichkeit in ihr Platz findet, ja daß der individualiſtiſche 
Trieb ſich noch verſtärken kann, während die Einheit wächſt. 

Unſere Sprache hat nie in litterariſch productiven Zeiten eine 
Autorität geduldet. Keine Akademie hat ſie geregelt; keine Haupt⸗ 
ſtadt auf fie maßgebenden Einfluß geübt. Der genialſte Gramma⸗ 
tiker der Deutſchen, Jacob Grimm, erklärte: „Jeder Deutſche, der 
ſeine Sprache ſchlecht und recht, d. h. ungelehrt ſpricht, iſt ſelbſt eine 
lebendige Grammatik.“ Nicht einmal das äußerlichſte Gewand, die 
Orthographie, ſteht feſt. Grade Jacob Grimm hat ſie wieder in 
Bewegung gebracht, nachdem ſie ſich ſchon fixirt zu haben ſchien. 
Individuelles Wollen und Meinen hat auf dieſem Gebiete faſt zu 
große Macht. | 

Und je ohnmächtiger nun die Autorität ift, je weniger eine be⸗ 
ſtimmte Sprache, ein beſtimmter Styl als der gemeingiltige daſteht: 
deſto größere Forderungen werden in dieſer Hinſicht an den Einzelnen 
geſtellt. Wir haben keine Sprache, die für uns denkt und dichtet, 
jeder muß ſich ſeinen Ausdruck ſelbſt erſchaffen. Es ſcheint ſich das 
wohl zu ändern mit der anſchwellenden litterariſchen Production und 
mit den geſteigerten Bedürfniſſen eines immer größeren und immer 
verwöhnteren Publicums. Der ordinäre Leitartikel, die ordinäre 
Wochenblattnovelle hat ſchon jetzt ihren ziemlich feſtſtehenden Styl. 
Und für eine gewiſſe Durchſchnittsbildung, für die Befeſtigung eines 
nicht tiefen aber ſicheren Geſchmackes, für die allgemeine Fähigkeit 
und Gewandtheit des Ausdrucks iſt das vielleicht ein Vortheil. Aber 
ſtets wird es deutſche Forderung bleiben, daß ein Schriftſkeller, der 
als Individuum Anſpruch auf Geltung erhebt, ſich über dieſes Niveau 


Die deutſche Spracheinheit. 61 


durch einen ſtarken perſönlichen Beiſatz emporſchwingen müſſe. Wir 
ſcheuen nichts ſo ſehr als das Gewöhnliche. 

Iſt das aber nicht Alles ſymboliſch für die politiſche und geiſtige 
Entwickelung der Nation ſelbſt? Iſt es nicht eine Gewähr dafür, 
daß wir bleiben werden wie wir waren und ſind, daß die zu— 
nehmende Einheit nie die vielgeſtaltige Eigenheit knicken und ſtören 
werde? 

Die Sprache iſt auf dem Wege ſchon lange, den unſere Politik 
erſt ſeit Kurzem eingeſchlagen hat. Die Sprache zeigt, wohin er 
führt. Nicht zur Erſtickung, ſondern zur Weckung und Erhöhung des 
berechtigten Sonderlebens. Heimatsgefühl und Vaterlandsgefühl ver⸗ 
halten ſich wie mundartliches und ſchriftdeutſches Sprachbewußtſein. 
Der Particularismus wollte die Glieder vom Leibe abreißen, er nahm 
ihnen die beherrſchende, ordnende, leitende Seele damit. Erſt jetzt 
dürfen wir hoffen, daß alles Treffliche, das an einzelner Stelle ge— 
deiht, dem großen Ganzen zu gute komme. Beiden iſt Glück wider: 
fahren, das Ganze und die Theile haben gewonnen, beide tragen 
Gewähr neuen Wachsthums, neuer Kräftigung und Ausbildung in 
ſich. Und beide ſind von der Schablone befreit. 

Aber unſere Sprache, dieſe Sprache der Freiheit, die jedem 
Sprechenden und Schreibenden ſeine Eigenthümlichkeit läßt, ja ab⸗ 
zwingt, die jeder Mundart das Leben gönnt, dieſe Sprache, die ſo 
viel enthält und ſo viel verſöhnt, ſie faßt noch ganz andere, von 
außen zugetragene Elemente friedlich in ſich. 

Die Wörter wandern mit den Sachen, Culturaustauſch ſpiegelt 
ſich in der Sprache wieder. Alle Cultureinflüſſe, welche Deutſchland 
je erfahren hat, machen ſich in ſprachlichen Entlehnungen geltend. 
Wir finden ſemitiſche, griechiſche, lateiniſche Wörter, Begriffe der 
Religion und des Staatslebens, des Maßes und Gewichtes, des 
Garten⸗, Wein⸗ und Häuſerbaues, der Culturpflanzen und Hausthiere, 
mit denen das alte Rom unſeren germaniſchen Vorfahren die aufge— 
häuften Schätze der mittelländiſchen Civiliſation zuführte. Im zwölften 
Jahrhundert wird die ganze ariſtokratiſche Geſellſchaft Deutſchlands 
auf franzöſiſchen Fuß eingerichtet: Spiel, Tanz und Waffenhandwerk, 
Küche, Tracht und Wohnung wimmeln von franzöſiſchen Bezeich— 
nungen. Der kaiſerliche Hof des ſechszehnten und ſiebzehnten Jahr⸗ 


62 Die deutſche Spracheinheit. 


hunderts und ſeine fremden Beamten bringen uns italieniſche, zum 
Theil auch ſpaniſche Wörter. Das aus allen Nationen zuſammen⸗ 
gewürfelte Kriegsvolk des dreißigjährigen Krieges verſchont die deutſche 
Sprache ſo wenig wie die deutſchen Fluren. Der Glanz des fran⸗ 
zöſiſchen Hofes, die Eleganz der franzöſiſchen Induſtrie begünſtigt 
neue Entlehnungen. Lateiniſch und Franzöſiſch im Allgemeinen üben 
eine dauernde Fremdherrſchaft im Gebiete unſerer Sprache aus. Der 
Gelehrte glaubt ſeine Rede würdevoller und feierlicher zu machen, 
wenn er ſie mit lateiniſchen Brocken ſchmückt, der Hofmann meint 
ihr die mangelnde Zierlichkeit und Feinheit mitzutheilen, wenn er ihr 
franzöſiſche Schnörkel aufheftet. 


„ 


Gegen dieſe Ausländerei der Sprache erhob ſich während des 
dreißigjährigen Krieges eine Reaction des Volksthums, ſo heftig und 
rückſichtslos, daß ſie ihrerſeits wieder zu weit ging, am liebſten alle 
Fremdwörter wie läſtige Paraſiten aus dem Deutſchen verwieſen und 
die Spuren ſtattgehabter Cultureinwirkungen verwiſcht hätte: als ob 
es der deutſche Stolz verlangte, zu leugnen, daß man je etwas von 
außen empfangen habe.) Die Bewegung wurde bald wieder mäßiger, 
nachdem es ihr gelungen war, die Grenze zu Gunſten des einheimi⸗ 
ſchen Sprachſtoffes hinauszurücken. Aber zur Ruhe, zu einem feſten 


) Der Krieg gegen die Fremdwörter als Symptom erſtarkenden Nationalge- 
fühles iſt eine Erſcheinung, die wir auf niedrigeren Stufen der Civiliſation (mie 
es das ſiebzehnte Jahrhundert für Deutſchland war) noch täglich vor Augen ſe— 
hen. Treffend jagt darüber Mikloſiſch, Die flaviſchen Elemente im Magyariſchen 
Wien 1871) S. 10: „Die falſche Anſicht von Nationalehre hat in neuerer Zeit 
bei mehreren oſteuropäiſchen Völkern einen wahren Kreuzzug gegen die Fremd⸗ 
wörter hervorgerufen, man iſt bemüht, die Fremdwörter, dieſe lauten Zeugniſſe 
der Abhängigkeit jedes einzelnen Volkes von der mitlebenden und der dahinge— 
gangenen Menſchheit, durch einheimiſche Fabrikate zu verdrängen, die es jedoch 
ſelten weiter als zu einem Scheinleben in ſelten oder gar nie geleſenen Büchern 
bringen, während die wahre Sprache ſie bei Seite liegen läßt und in dieſer Hal⸗ 
tung verharren wird, bis man zu dem in Europa noch unverſuchten Mittel des 
Kaiſers Kienlung ſeine Zuflucht nimmt, der in dem 1771 veröffentlichten Man⸗ 
dſchu⸗Wörterbuch 5000 einheimiſche Ausdrücke an die Stelle der bis dahin ge— 
bräuchlichen chineſiſchen ſetzen ließ und jeden mit körperlicher Züchtigung bedrohte, 
der ſich in Geſchäften nicht der neuen Wörter bediente.“ 


Die deutſche Spracheinheit. | 63 


Abſchluß, zu einer ficheren Mark des Vaterländiſchen gegenüber den 
Eindringlingen ſind wir bis heute nicht gelangt. 

Die übermäßige Gaſtlichkeit unſerer Sprache bei allem berechtig— 
ten Gefühl ihrer Selbſtändigkeit, die Unmöglichkeit, alle Lehnwörter 
zu vertreiben, und doch der begreifliche Drang, ſie thunlichſt in 
engere Schranken einzudämmen, iſt gleichfalls ſymboliſch für das 
innerſte Weſen des deutſchen Geiſtes. 

Auch andere Sprachen haben Fremdwörter, keine kann ſich nach 
außen gänzlich verſchließen. Aber für keine Sprache Europas iſt die 
Frage der Fremdwörter eine ſo fortwährend brennende, jedem Schrift⸗ 
ſteller ſich neu aufdrängende, wie für uns. Denn keine Nation 
Europas hat ſich ſo tief und gründlich mit fremdem Volksthum aus⸗ 
einandergeſetzt wie die deutſche. 

Erwägen wir nur einmal unſere Stellung zum Chriſtenthum. 
Welche vielfältigen Formen hat ſeine Einwirkung durchlaufen! Welche 
Mannigfaltigkeit der Beziehungen von der erſten Aufnahme des ab— 
geſchloſſenen Papismus bis auf die modernſten deutſchen Forſchungen, 
von der gläubigſten Anerkennung bis zum verwegenſten hiſtoriſch ge— 
rüſteten Zweifelmuth! Wie ſind alle Elemente, die darin lagen, nach 
und nach zur Geltung gekommen! Wie iſt der ethiſche, dogmatiſche, 
äſthetiſche Gehalt entwickelt worden! Es iſt ein Problem, das uns 
fortwährend beſchäftigt, von dem wir nicht ablaſſen, das wir nach 
allen Seiten drehen und wenden, immer tiefer und tiefer greifend, 
bis in die letzten Urſprünge dringend, auflöſend, erklärend, ver- 
ſtehend. 

Erwägen wir ie Stellung zur Antike. Die romaniſchen 
Völker haben das nähere innere Verhältniß voraus, man merkt, 
wie ihnen das im Mittelalter zu gute kommt, wie es dann Renaiſſance 
und Humanismus gebiert: aber wir haben nicht abgelaſſen auch hier, 
immer wieder gebohrt, immer wieder gegraben, immer den ſpröden 
Stoff von neuem vorgenommen und bearbeitet, bis er keinen Wider— 
ſtand mehr leiſtete. Von dem ungeheuren praktiſchen Werthe des 
römiſchen Rechtes bis zu den idealſten Anſchauungen der Kunſt, 
welche Fülle fruchtbringender Beziehungen! Und wer darf ſich jetzt 
rühmen, die Antike beſſer zu begreifen als wir Deutſchen. Wen 
haben andere Nationen unſeren Raphael Mengs, Winckelmann, Goethe, 


64 Die deutſche Spracheinheit. 


Voß, Carſtens, Cornelius, unſeren Wolf, Niebuhr, Savigny, Boch. 
Lachmann, Bekker an die Seite zu ftellen. 

Und was deutſche Dichter, Künſtler, Forſcher für die Erkenntnis 
der Antike leiſteten, das haben ſie im weiteſten Umfang auch für 
andere Nationen gethan. Man überblicke nur unſere Ueberſetzungs⸗ 
litteratur. Keine Sprache iſt wie die deutſche geeignet, den fern⸗ 
liegendſten Idiomen noch etwas von ihrem Charakter abzugewinnen. 
der fernliegendſten Poeſie und ihren Formen noch ein verwandtes 
Element aus ihrem Eigenſten entgegenzubringen, um ſie vermittelſt 
deſſen in die fremde Lebensluft herüber zu verpflanzen und doch den 
urſprünglichen Duft nicht gänzlich zu verwiſchen. So ſind uns die 
Griechen und Römer zugeführt worden, Voſſens Homer iſt faſt ein 
deutſches Originalwerk. So ſind Shakeſpeare, Dante, Arioſt, 
Calderon unter uns erſchienen. So hat uns der Orient ſeine Schätze 
geboten, perſiſche Dichter fanden an Goethe einen Schüler, die Ueber⸗ 
fülle arabiſchen Reimwohllautes hat ſich unſerem Rückert nicht ver⸗ 
ſagen können. 

Aber die Leiſtungen nachſchaffender Poeſie wurden von der 
Wiſſenſchaft an hingebendem Verſtändniß und tiefgründender Er⸗ 
forſchung noch überboten. Es darf nur erinnert werden, daß die 
vergleichende Sprachwiſſenſchaft eine deutſche Schöpfung iſt. In das 
Weſen der Sprache, in den Urſprung der Poeſie und Mythologie, 
in die Geheimniſſe der menſchlichen Urgeſchichte iſt Niemand tiefer 
als die Deutſchen eingedrungen. 

Man erhält ein falſches Reſultat, wenn man ſeinen Maßſtab 
für die wiſſenſchaftliche Schätzung der Nationen lediglich aus der 
Naturwiſſenſchaft entnimmt. Die Deutſchen, welche auch auf manchem 
Gebiete der Naturforſchung jetzt das Banner vorantragen, haben doch 
in den Geiſteswiſſenſchaften am deutlichſten gezeigt, worin ihre eigen— 
thümliche geiſtige Macht beruht. Die hingebende Vertiefung in 
Fremdes und Fernliegendes; die ſtrenge Methode, welche keine Au— 
torität ungeprüft annimmt, welche ſich ſelbſt Schritt für Schritt con- 
trolirt und überall behutſam fragt, wie viel man wiſſen könne; die 
Andacht zum Unbedeutenden, die jede kleinſte Thatſache gewiſſenhaft 
beachtet und mit dem Höchſten in Beziehung ſetzt; dabei das energiſche 
Forſchen nach den Urſprüngen der Dinge und nach ihrem univer— 


Die deutſche Spracheinheit. 65 


ſalen Zuſammenhang: kurz Kritik, Fleiß, Gründlichkeit und unbe⸗ 
ſtochene allſeitige Erwägung haben erſt die Gelehrten unſeres Volkes 
der Hiſtorie und Philologie in vollem Maße zugeführt. Der große 
Blick auf das Ganze zeichnet die Deutſchen aus wie kein anderes 
Volk, ein wahrhaft titaniſches Ringen, zu erkennen was die Welt im 
Innerſten zuſammenhält, hat uns manchmal ergriffen: die nationalſte 
Geſtalt unſerer Sage iſt Fauſt. Ä 

Hier iſt auf einem Gebiet vollauf bewährt, was ſich auf den 
meiſten anderen wiederfindet und was die hervorragendſte Eigen- 
thümlichkeit der Deutſchen ausmacht und ihrer Geſchichte den indivi⸗ 
duellen Stempel aufdrückt: die ernſte tiefe und allumfaſſende Be⸗ 
geiſterung. Sie iſt eine Erbſchaft des älteſten Germanenthums, mit 
ihr ausgerüſtet treten unſere Ahnen in die Weltgeſchichte ein. 

In dem gewaltigen chaotiſchen Ringen der deutſchen Urwelt, in 
welchem unaufhörlich Völker ſanken und Völker ſtiegen, entwickelte 
ſich die Kriegsluſt zur Leidenſchaft, ja mehr als das — wenn Ein 
Wort es ſagen ſoll: zur Religion. Ich meine jene Religion, welche 
unabhängig von allem beſtimmten Glaubensinhalte gedacht wird, 
und welche nichts anderes bedeutet, als die unbedingte Anerkennung 
einer höheren Macht, der ich mich ganz gefangen gebe, der ich mein 
Denken, Thun und Fühlen gänzlich unterordne, und zwar aus freier 
Wahl, nicht aus dem Gefühl einer widerwillig geleiſteten Pflicht, 
ſondern aus reiner Begeiſterung und Liebe — ich bin hingenommen, 
verzückt, ich kann nicht anders, eine fremde Gewalt thront in meiner 
Seele, ſie tilgt jeden Gedanken aus an mein eigenes Ich. 

Dieſen Begriff der Religion vorausgeſetzt, darf ich ſagen: der 
Krieg war der erſte Gott, den die Germanen verehrten, aber an 
ihm lernten ſie Gottesdienſt überhaupt. Ihm wird es verdankt, daß 
die Germanenvölker religiöſe Völker geworden ſind. Und unter ihnen 
wieder ſind die Deutſchen das religiöſeſte. Alle anderen laſſen ſich 
mehr oder weniger tief ein mit den Dingen dieſer Welt und die 
Hingebung an ideale Güter geht nur bis zu einem gewiſſen Grad. 
Bei den Deutſchen iſt ſie grenzenlos und geht bis zu dem gänzlichen 
Verſchwinden in dem einen gerade übermächtig herrſchenden Trieb. 

So hat das Ringen um die ewige Seligkeit die Deutſchen der 


Reformation in wahre Irrſale des Denkens und Handelns geführt. 
Scherer, Vorträge. 5 


66 Die deutſche Spracheinheit. 


Aber während die eine gebietende Geiſtesmacht aller Schranken zu 
ſpotten ſcheint und das Uebermaß einſeitig erregten Strebens ganze 
Volkstheile mit ſich fortreißt, enthält die innere Mannigfaltigkeit der 
Nation ſtets das Correctiv und die Heilung. Während auf der 
großen Bühne der Welt ſich eine drangvolle Gegenwart aufreibt, 
wächſt in der Stille irgendwo der neue Gott, dem die glücklichere 
Zukunft gehört. 

Das Vaterland, die nationale Idee, oder wie man es nennen 
will, das Streben nach einer vaterländiſchen Cultur, nach einem 
vaterländiſchen Staat: das iſt der Inhalt jener Bewegung, welche 
auf geiſtigem Gebiet mit dem Kriege gegen die Fremdwörter und der 
grammatiſchen Fixirung unſerer Sprache, auf politiſchem mit dem 
Staate des großen Kurfürſten beginnt; das iſt die beſtimmende 
Macht unſerer Geſchichte ſeit dem Ausgang des dreißigjährigen | 
Krieges. . 
Im nationalen Aufſchwung glaube ich Abwehr und Kraft zu 
finden — ſchrieb Fürſt Bismarck, als man ihm die ſeltſamſten fran⸗ 
zöſiſchen Sympathien zutraute —: wenn ich einem Teufel verſchrieben 
bin, jo iſt es ein teutoniſcher und kein galliſcher.“ 

Was ſo in der Politik der Gegenwart lebendig iſt, das beherrſcht 
unſere geſammte geiſtige Entwicklung ſchon viel länger. Das National⸗ 
bewußtſein iſt auch in der trübſten Zeit des ſiebzehnten Jahrhunderts 
nicht erſtorben. Wäre es ſelbſt zu einem oberflächlichen „Hermanns“ 
Cultus oder zu der landläufigen Phraſe von der „uralten deutſchen 
Heldenſprache“ eingeſchrumpft, vorhanden iſt es doch. Und dieſelben 
Männer, welche im achtzehnten Jahrhundert die univerſalen Tendenzen 
auf die Spitze treiben, die der ganzen Menſchheit Wohl und Wehe 
auf ihren Buſen häufen wollen, ſie ſind zugleich ſehr deutſch geſinnt, 
auch ſie haben ihre Seele dem teutoniſchen Teufel verſchrieben. Es 
ſind gerade hundert Jahre her, ſeit zu Straßburg der Teutonismus 
in Goethe zum Durchbruch kam. Der deutſche Geiſt regiert den 
Kreis, der ſich um ihn ſammelt. „Deutſche Art und Kunſt“ iſt der 
Gegenſtand ihres heißen Bemühens. Das Weſen unſerer Sprache, 
ihre hohe Bildſamkeit und Freiheit, ihr lebendiger Zuſammenhang 
mit der Volksmundart wurde ihnen zuerſt wieder klar. Das Weſen 
der deutſchen Kunſt, auf welches unſere natürliche Anlage hinweiſt, 


rühren, 


Die deutſche Spracheinheit. 67 


haben ſie zuerſt wieder geahnt. Jenes Ueberwiegen des Gehaltes 


über die Form, das ſchon der germaniſchen Urſprache — dem älteſten 


Kunſtwerk, das wir geſchaffen — ſeinen beſonderen Lautcharakter auf⸗ 
prägte; jenes Princip des Naturalismus, dem Shakeſpeare und 
Rembrandt ihre eigenthümliche Größe verdanken, das wird vom 
jungen Goethe und ſeinen Genoſſen wieder gefunden. Sie fühlen 


ſich der Natur näher als die Griechen. Sie horchen aufmerkſamer 


auf ihren Herzſchlag. Natur ſelbſt in ihrer ewigen Schönheit ſuchen 
ſie zu belauſchen, zu ertappen. Sie vereinfachen nicht, ſie regeln 
nicht, die ganze Vielgeſtaltigkeit der zufälligen Erſcheinung wollen ſie 
in das Kunſtwerk hinüberretten. Alles Unbewußte im menſchlichen 
Geiſtesleben wird ſorgſam beachtetes Vorbild. Die Lyrik geht beim 
Volkslied in die Schule. Der Ausdruck des gewöhnlichen Lebens, 
die ungezügelte Sprache der Leidenſchaft werden die Muſter des dra⸗ 
matiſchen Dialogs. Die bewegte Stimmung des Augenblicks ſpiegelt 
ſich im Style wieder. Die Grundzüge einer Kunſtrichtung werden 


gewonnen, die noch heute lange nicht erſchöpft iſt. 


Wie die Kunſt, ſo die Wiſſenſchaft. Der Geiſt univerſaler 
Analyſe, der ſich mit Chriſtenthum und Antike ſo gründlich aus⸗ 
einander ſetzt, kommt auch dem deutſchen Weſen ſelbſt zu gute. Seit 
dem ſechszehnten Jahrhundert wird unſere Geſchichtswiſſenſchaft nicht 
müde, die entſcheidenden Charakterzüge der heimiſchen Nationalität zu 
erforſchen, oder wenigſtens das Bewußtſein der nationalen Ent- 
wickelung wachzuhalten und das Andenken unſerer hiſtoriſchen Groß— 
thaten ſtetig zu erneuern. Es iſt eine fortſchreitende Arbeit nationaler 
Selbſterkenntnis zu verfolgen, welche ſich vom ſechszehnten Jahr— 
hundert ab in wechſelnder, aber ſchließlich geſteigerter Intenſität ent⸗ 
faltet. Der ganze Umfang ihrer Aufgabe mag Herdern zuerſt dunkel 
vorſchweben. Er ahnt eine Wiſſenſchaft vom deutſchen Weſen, ge— 
gründet auf das germaniſche, in dem es wurzelt, verfolgt durch alle 
Zeiten und Wechſelfälle, kurz die deutſche Geſchichte im höchſten um— 
faſſendſten Sinne, welche alle Lebensgebiete bis zu den unſcheinbarſten 
Aeußerungen des Volksgemüthes betrachtet und überall die treibenden 
Kräfte bloslegt. Er ahnt, was Jacob Grimm zu ſchaffen beginnt, 
den ſtattlichen Bau, um welchen ſeit ihm tauſend fleißige Hände ſich 


5 * 


68 Die deutſche Spracheinheit. 


Jacob Grimm und ſeine Tendenzen ſind auf wiſſenſchaftlichem 
Gebiete der klarſte und mächtigſte Ausdruck der nationalen Geiſtes⸗ 
ſtrömung, welche unſere neueſte Geſchichte beherrſchte und noch lange 
beherrſchen wird. Wie einſt die franzöſiſche Occupation Jacob 
Grimms wiſſenſchaftliche Geſinnung zur vollen Reife brachte, ſo hat 
auch heute die aufgezwungene Abwehr unſeres weſtlichen Nachbars 
alle nationalen Antriebe verſtärkt. Fort und fort bewegen wir uns 
in derſelben Richtung und die Folgen davon, daß wir zu uns ſelbſt 
gekommen, daß wirklich eine ſtaatliche Autorität den Begriff der 
Nation gegenüber ihren Theilen hochhält, die Rechte und Pflichten 
des Ganzen gegenüber den Fragmenten wahrnimmt, — die Conſe⸗ 
quenzen davon machen ſich in ausgedehnter Weiſe fühlbar. 

Deutſchland ſammelt ſich in ſich. Es ſcheidet die fremdartigen 
Elemente aus. Es will nichts Antinationales in ſeiner Mitte dulden. 
Nach innen wie nach außen ſind große Rechnungen zu begleichen. 
Seit Jahrhunderten aufgelaufene Schuldforderungen werden einge⸗ 
trieben. Ungelöſte Probleme harren in großer Zahl. Das National⸗ 
gefühl als treibendes Pathos unſerer Entwickelung muß und wird 
noch wachſen. 

Aber hüten wir uns vor der hochmüthigen Anſicht, als ob es 
damit gethan wäre, als ob unſere Aufgabe damit erſchöpft ſei. Weil 
die Deutſchheit in uns mächtiger geworden, ſollen wir darum weniger 
nach reiner und ſchöner Menſchlichkeit im Sinne unſerer großen 
Dichter ſtreben? Sollen wir über dem Teutonismus den Univer⸗ 
ſalismus vernachläſſigen? Soll der neue Reichthum, der uns zu⸗ 
ſtrömt, den alten zur Armuth herabdrücken? Sollen wir das all⸗ 
ſeitige Verſtändnis, die unbefangene und tiefe Würdigung fremden 
Volksthums je verlieren? Würden wir damit nicht zugleich den ſchön⸗ 
ſten Vorzug einbüßen, auf welchem unſere Stellung unter den deen 
zu allererſt beruhte? 

Wir haben lange genug die materiellen Lebensmächte gering ge⸗ 
achtet: hüten wir uns, daß wir nicht in das entgegengeſetzte Extrem 
verfallen. Der deutſche Univerſalismus iſt auch ein nationales Gut 
und — ſobald nur der Staat auf vernünftiger Grundlage errichtet 
und durchgebildet iſt — das unſchätzbarſte von allen. Nationale 
Fortſchritte der Deutſchen ſollen Fortſchritte der Menſchheit ſein. Die 


= 


= 


a 


Die deutſche Spracheinheit. 69 


deutſche Nationalcultur ſoll die Tendenz beibehalten, ſich zur Welt⸗ 
cultur zu erweitern. Nur in dieſem Streben dürfen die Enkel hoffen, 
würdig der großen Ahnen zu leben. — 

Noch immer erfüllt die Sprache, als das vornehmſte Gefäß von 
Wiſſenſchaft und Kunſt und geiſtigem Leben, jene alte Aufgabe, ein 
Band der Einigung herzugeben für die politiſch getrennten Theile 
unſeres Volkes. Und wichtiger, größer, ernſter, aber auch leichter 
und vollkommener zu löſen war dieſe Aufgabe nie. 

Wieder beſtätigt ſich die Erfahrung: Politik und geiſtiges Leben 
bedingen ſich gegenſeitig und verſtärken ſich gegenſeitig. Intenſive 
Cultur, worin der Nationalcharakter ſich ausprägt, arbeitet der ſtaat⸗ 
lichen Einigung vor. Umgekehrt erhöhen gewaltige Thaten, in welchen 
innere Größe vor das Angeſicht der ganzen Welt tritt, den Einfluß 
nationaler Cultur und Sprache. In allen Welttheilen zitterten die 
Schläge des letzten Krieges um den Rhein vernehmlich nach. In 
allen Welttheilen haben ſie das Selbſtgefühl auch der fernſten Glieder 
unſeres Volkes entzückend geſteigert. Je mehr das Mutterland in ſich 
wächſt und emporſtrebt, deſto feſter werden die Deutſchen im Aus⸗ 
lande an ihm hangen, deſto treuer werden ſie ihre Sprache, ihre 
heimiſche Denk⸗ und Gefühlsweiſe bewahren, deſto ſicherer werden 
ſie in der Nähe und in der Ferne, in Oeſterreich wie in Amerika 
und ſonſt, auch als Mitglieder fremder Staaten ihre Nationalintereſſen 
wahrnehmen. Mit der deutſchen Geduld und Schmiegſamkeit hat es 
ein für allemal und überall ein Ende. 

Aber gerade dieſe auswärtigen Deutſchen in ihrer Verbreitung 


über alle Striche der Erde ſtellen ſich als die lebendige Verkörperung 


unſeres Univerſalismus dar. Ihre Fähigkeit, ſich einzuleben, zurecht: 
zufinden, durchzukämpfen iſt außerordentlich. Die tauſendfältigen 
Schattirungen, in denen ſich deutſches Weſen durch fie entfaltet, ge- 
hören ſehr nothwendig mit zu dem Geſammtbilde unſerer Nation. 
Je mehr aber das Mutterland ihnen zu geben im Stande iſt, 
deſto mehr hofft es, von dort zurückzuempfangen. Sie ſind die na⸗ 
türlichen Organe der Vermittelung zwiſchen dem nationalen Geiſt 
und dem Genius der Menſchheit. Sie ſind gleichſam die äußerſten 
feinſten Fühlfäden, die wir ausſtrecken, damit nichts Menſchliches uns 
fremd bleibe. Erſt in der Wechſelwirkung aller Theile erfüllt ſich 


70 Die deutſche Spracheinheit. 


das Höchſte, was ein Volk vermag. Und wenn es auch meiſt poli⸗ 
tiſche und materielle Intereſſen waren, welche einzelne Stämme, 
Stammesglieder und Individuen abtrennten von der geeinigten Haupt⸗ 
maſſe oder fern hinaustrieben in die weite Welt — und wenn es 
auch wieder politiſche und materielle Intereſſen ſind, die ſie einander 
nähern oder worin ſie ſich hilfreich die Hand bieten: — das eigent⸗ 
liche Symbol der Einigung für alle Deutſchen wird immer das geiſtige 
Leben, Wiſſenſchaft und Kunſt bleiben. 

Hören wir nicht auf, darin die höchſte Ehre r der Nation zu 
ſuchen. Leben wir als ein politiſch groß gewordenes Volk fort und 
fort des Leſſing'ſchen Freimaurerglaubens, daß die Staaten um der 
Menſchen willen da ſeien. Streben wir, irdiſch ſo hoch geſtiegen, 
unabläſſig über das Irdiſche hinweg nach dem Ewigen. 

Wien, 10. November 1871. 


8 
En 
8 
* 
10 
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a) 
27 
A 
. 


über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


Vortrag gehalten an der Univerſität Wien 
am 7. März 1864. 


Das älteſte geiſtige Beſitzthum eines jeden Volkes lebt allein in 
dem ſchwankenden Gedächtniß der Menſchen. Später beginnt eine 
andere geiſtige Production, deren Schöpfungen gleich bei ihrer Ent⸗ 
ſtehung beſtimmt ſind, durch die Schrift zu ſcheinbar unvergänglicher 


Dauer bewahrt zu werden. Die Poeſie iſt ſo alt wie der Menſch ſelbſt: 


die geſchriebene Litteratur tritt mit einem hiſtoriſch fixirbaren Moment 
aus dem Geſammtleben einer Nation eee unter beſtimmten 
Bedingungen und auf beſtimmte Anläſſe, deren ſpecielle Darlegung 
in der deutſchen Geſchichte uns hier beſchäftigen ſoll. 

Die erſte Ausbreitung der Germanen iſt ein bienenſtockartiges 
Wachſen, in welchem an die vorhandenen Bildungen immer neue 
und neue Zellen ſich anſetzen. Darauf folgt eine Epoche der heftig⸗ 
ſten und allgemeinſten Bewegung zu einem vorſchwebenden Ziel: es 


iſt der Eintritt eines politiſchen Ideals in die germaniſche Geſchichte. 


Wie das Inſect vom Lichte betäubt in willenloſem Drange der 
Flamme zuſtürzt: fo kam über die nordiſchen Barbaren die Herrlich- 
keit des römiſchen Reiches als eine geheimnißvolle Macht, die ſie 
mit unwiderſtehlicher Gewalt zu ſich heranzog. Das Begehren, in 
irgend einer Form den Boden des Orbis Romanus bebauen zu dür— 
fen, beherrſchte die Grenzvölker, leitete die Nachdrängenden. 

Dieſe löſt eine dritte Periode ab, voll neuer und ſelbſtändiger 
Bildungen. Halten wir uns an die wichtigſte, das Frankenreich, in 
welchem zuerſt ein germaniſcher Stamm — es genügt nicht zu ſagen: 


2. 


72 Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


erobernd, denn auch die Züge der Völkerwanderung waren Erobe- 
rungen, ſondern — annectirend auftrat. Einem raſchen Emporlodern 
der Kraft folgte, wie bei übermäßigem, zu hoch geſpanntem Thun, 
eine plößliche innere Schwäche. Für die ſchleichende Krankheit er⸗ 
ſtand endlich in dem Karolingiſchen Geſchlechte ein fähiger Arzt. 
Und wie äußere Feinde aufs Zuſammennehmen aller Mittel und 
Kräfte: ſo trieb äußere Förderung in höhere Bahnen. Chriſtliches 
und Germaniſches hatte ſich in Brittannien zu einer eigenthümlichen 
und hohen Cultur vermählt: angelſächſiſche Mönche bereiteten im in⸗ 
neren Deutſchland dem römiſchen Chriſtenthum, durch dieſes der 
fränkiſchen Annexion den Weg. Wie dergeſtalt im Norden geiſtige, 
ſo geſellten im Süden politiſche Beweggründe den Karlen und Pip⸗ 
pinen einen mächtigen Bundesgenoſſen. Die italieniſche Einheits⸗ 
tendenz, die ſich in begabten Langobardenkönigen gefährliche Organe 
ſchuf, warf das Papſtthum einer auswärtigen Allianz in die Arme. 
So war die Situation zur Zeit Pippins. Was er vermochte, um 
ſie zu nützen, davon hat er nichts verſäumt. Und als erſter König 
von Gottes Gnaden beſtieg der würdigere Uſurpator den Thron der 
abſterbenden Merowinger. | 

In dieſen Beſitz trat Karl der Große ein. Die Geſchichte kennt 
ihn als den Erben jenes Chlodowech und ſeiner Söhne, die zum er⸗ 
ſten Male, Germanen, Germanen zu unterjochen begannen. Sie 
kennt ihn als den Erben und Fortſetzer des Bonifacius, als den, der 
mit der Gewalt der Waffen dem Chriſtenthum eroberte, was des 
Apoſtels Wort noch unbezwungen ließ. Sie ſieht ihn endlich als 
den Alliirten der Päpſte, den Erben der Cäſaren, den neuen Herr⸗ 
ſcher der Welt. Das iſt nicht vorbedacht, nicht angelegt: ſondern dem 
glücklichen Sieger, der ein Ziel im Fluge erreicht, erſchien immer 
wieder ein neues wünſchenswerther und reizender. Die Strömungen 
lagen in der Zeit und waren gegeben. Kam ein Menſch von ſo außer⸗ 
ordentlicher pſychiſcher und phyſiſcher Organiſation, wie Karl der Große, 
ſo mußte er mehr von ihnen ergriffen und ſeinem Ruhme entgegen⸗ 
geriſſen werden, als daß er in überrechnender Sorge bei ſich gebrü- 
tet hätte, mit welchen Thaten er vor den erſtaunten Augen der Welt 
um ſeinen Namen den Glanz der Größe breiten könnte. 


7 


über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 73 


Aus dieſer Perſönlichkeit mit dieſem Inhalte entſprang die deut⸗ 
ſche Litteratur. | | 

Wie ſich Dünſte der Gewäſſer in die Lüfte heben und zu vie- 
ſigen Geſtalten der Wolken ballen: ſo gibt es Individuen, in denen 
ihre ganze Zeit ſich verdichtet, und deren Originalität aus den ele— 
mentarſten Kräften ihrer Epoche zuſammengeſchoſſen iſt. Und wie 
aus dem Gewölke ein neuer Segen auf die dankbare Erde quillt: ſo 


haben jene mit ihrem Thun Jahrhunderten Befruchtung, ſpätern Ge⸗ 


nerationen belebenden Anſtoß gebracht. 

Ueber dem achten und neunten Säculum thront ſo Karl der Große. 
Die Kaiſeridee, das Reſultat und oberſte Ende ſeiner Politik, iſt der 
Angelpunct der deutſchen Geſchichte geworden und im Grunde geblie⸗ 


ben. An ſeinen Namen knüpft ſich denn auch die entſcheidende Wen⸗ 


dung des geiſtigen Lebens unſerer Nation, mit welcher ſie aus einem 
ſchriftloſen Volke ein Litteraturvolk wurde, mit welcher ſie losgewun⸗ 
den aus den engen Feſſeln einer für ſich ſeienden Bildung an die 
Kette der Welteultur als ein neues Glied ſich fügte, mit welcher ſie 
den untergegangenen Civiliſationen eine Stätte ewiger Fortdauer zu 
bereiten ſich anſchickte. 


Pioetiſche und proſaiſche Production für die Schrift, Fixirung 
und Ausbreitung des Gedankens durch den Buchſtaben wird in dem 
Augenblicke nothwendig, wo es gilt eine große zuſammenhangende Maſſe 
von Vorſtellungen, ein Syſtem völlig neuer Ideen in ihrer Ge— 
ſammtheit und auf einmal einem Volke zuzuführen. Zu der Zeit 
Karls des Großen ſoll unzerſtörbar das Chriſtenthum eingepflanzt 
werden in die rohen Gemüther der germaniſchen Stämme im heutigen 
Deutſchland. 

Sehen wir, wie Karl dieſe Stämme fand, was er beabſichtigte, 
welche Organe ihm für ſeine Wirkung zu Gebote ſtanden, was dieſe 
leiſteten, auf welche Weiſe. 

Es fehlte viel damals, daß das Chriſtenthum, auch wo es dem 
Namen nach galt, überall feſt begründet, daß vom Heidenthum die 
letzten Trümmer verſchwunden wären. Wirft dieſes doch in heuti— 
gen Aberglauben und Volksbrauch noch ſtarke Schatten herein! Wie 
unendlich lebhafter wird damals fein Verſtändniß, wie ſehr das Chri⸗ 


74 Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


ſtenthum davon durchwachſen und gefärbt geweſen ſein. Man muß 
die Briefe des h. Bonifacius leſen mit ihren unerſchöpflichen Klagen 
vor dem Papſt und den angelſächſiſchen Freunden, um eine Vorſtellung 
zu gewinnen von dem ſummariſchen Verfahren des Bekehrers, den 
äußerſt geringen Anforderungen, durch welche er den Glauben der Neuge— 


wonnenen auf die erſte Probe ſtellte. Freilich der chriſtliche Gott ift. 


der officiell anerkannte. Zu ihm beten der König, die Beamten, die 
Geiſtlichkeit. Das Volk findet ſich mit ihm ab durch die Taufe, 
höchſtens durch ſonntägliche ſpärliche Kirchgänge. Es fühlt ſeine 
Herrſchaft durch die mannigfaltigen Eheverbote am drückendſten. Auch 
durch den Zehnten, der ſeit der Mitte des Jahrhunderts eingeführt 
iſt. Aber es betet zu ſeinen alten Göttern, es ruft ihre Hilfe an 


in jeder einzelnen Noth. Von den früheren Opfern find Reſte ge⸗ 


blieben: an den Quellen, an den Bäumen, und ganz beſonders die 
Todtenopfer. Wohl waren dies Alles verpönte Dinge. Aber die 
Bedrängniß. die Verfolgung macht erfinderiſch. Den Namen der al⸗ 
ten Götter wurden chriſtliche Märtyrer und Beichtiger untergeſchoben, 
oder Namen der Engel. Noch heute erzählt das Volk vom heiligen 
Michael oder Martin oder Johannes, was urſprünglich vom Wodan 
oder Donar gemeint war. Die alten Lieder, durch Concilienbeſchlüſſe 
unermüdlich verfolgt, wurden immerfort geſungen. Noch im zehnten 
Jahrhundert liefen reinheidniſche Zauberſprüche um. 


Ich meine nicht, daß im ganzen damals chriſtlichen Deutſchland 
das Heidenthum noch in gleicher Kraft ſtand. Am meiſten unter⸗ 
drückt war es natürlich in der Umgebung der großen Klöſter, in der 
unmittelbaren Nähe der Biſchofſitze. Am wenigſten in ausgedehnten 
Waldgebieten und in den Bergen. Denn auch auf die Prieſter, die 
nicht unter ſcharfer Controle ſtanden, war kein Verlaß. In Kleidern 
der Laien gingen ſie einher, Weiber hielten ſie ungeſcheut. In Waf⸗ 
fen, mit Hunden und Falken ſtreiften ſie auf der Jagd durch Wald 
und Feld. Und wenn alljährlich einmal — ſo war es Geſetz — 
der Biſchof ſeine Parochien bereiſte, ſo fand er vielleicht ſeit Monaten 
die Heerde verwaiſt, den Hirten in einen andern Sprengel entwichen. 
Prüfte er aber die gebliebenen: welche bodenloſe Unwiſſenheit, welcher 
Mangel an den nothwendigſten Begriffen, an den unentbehrlichſten 


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über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 75 


Kenntniſſen! Es war viel, wenn einer die Taufformeln ordentlich 


wußte, den Glauben, und allenfalls die Meßgebete. 

So ſtand es mit dem Volke. So ſtand es mit ſeinen unmit⸗ 
telbaren Leitern und Führern. Welch ein Abſtand, wenn man damit 
verglich was Iren und Angelſachſen thatſächlich erlangt hatten, was 
in den romaniſchen Theilen des Frankenreiches, was in Italien le- 
bendig blieb. Antik⸗chriſtliche Bildung war eine ſelbſtändige ſichtlich 
erſtarkende Macht der Zeit, welche Karl den Großen in ihren Dienſt 
zwang und ſein Leben mehr und mehr beherrſchte. 

Es iſt ein Wachsthum und Fortſchritt darin zu beobachten, 
der ſich in vier Stufen vollzieht. Ich rechne die erſte vom Regie⸗ 
rungsantritt bis zum Jahre 781; die zweite von 781 bis 787; die 
dritte von 787 bis zur Kaiſerkrönung 800; die vierte von der Kai⸗ 
ſerkrönung und den daran ſich ſchließenden Reichsverſammlungen zu 


Aachen bis zu Karls Tod 814. Jede neue Periode iſt durch einen 


Zug nach Italien eingeleitet; jede hat litterariſche Spuren in deut⸗ 
ſcher Sprache zurückgelaſſen, ſogar die erſte. 


Karl dachte nicht ſogleich an eine radicale Reform der vorhan- 
denen Zuſtände. Er begnügte ſich in den Spuren ſeiner Vorgänger 
zu wandeln. Er erneuerte ein Geſetz, das ſein Oheim Karlmann 
erlaſſen hatte zur Zeit und ohne Zweifel auf Betrieb des Bonifacius: 
ein Geſetz, das nur die ärgſten und ſcandalöſeſten Dinge abſtellte; 
im übrigen ſeine Anforderungen an Klerus und Laien noch möglichſt 
beſcheiden hielt. 

Mehr als für die Befeſtigung that Karl damals für die 
Ausbreitung des Chriſtenthums. Hier winkte der Ruhm glorreicher 
Kämpfe. Ich werde nicht verſuchen die Sachſenkriege zu ſchildern. 
An ſie knüpft ſich die Abfaſſung und Aufzeichnung eines litterariſchen 
Denkmals, wahrſcheinlich des älteſten, das uns in zuſammenhangen— 
der deutſcher Rede erhalten worden. 

Ein weſentlicher Antheil an der Chriſtianiſirung der Sachſen 
fiel den Mönchen in Fulda zu. Sturm, ein Baier, damals ihr Abt, 
erwarb ſich den Beinamen eines Apoſtels der Sachſen. Er ſelbſt 
zog aus und ſchickte manchen Glaubensboten in das heidniſche Land. 
Das äußere Zeichen der vollbrachten Bekehrung iſt die Taufe, und 


76 über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


dabei ſind die bindenden Formeln: Abſchwörung des Teufels, der 
Teufelsopfer und Teufelswerke; Bekenntniß des Glaubens an Gott 
den Vater, den Sohn und den heiligen Geiſt: Abſchwörung und 
Bekenntniß ſpricht der Täufling dem fragenden Prieſter nach. Dieſe 
Fragen und Antworten hat man zu Fulda für die ausgeſandten 
Geiſtlichen in ſächſiſcher Sprache aufgeſchrieben, ſei es weil nicht alle 
des Dialektes hinlänglich mächtig waren, ſei es um der großen Wich⸗ 
tigkeit willen, welche man einer genauen und ordnungsmäßigen Her⸗ 
ſagung der Formeln beilegte. 

Es war ein langes und blutiges Ringen in Sachſen. Das 
Volk wehrte ſich mit der letzten Verzweiflung, mit dem letzten Muth. 
Endlich erlag es. Der Sieger dictirte ein ſcheinbar grauſames Ge⸗ 
ſetz. Acht Artikel zum Schutze des Chriſtenthums endigen mit dem 
ſtrengen Refrain „der ſoll des Todes ſterben.“ Doch war begnadigt 
wer ſich einem Prieſter entdeckte, beichtete und die Kirchenbuße leiſtete. 
Ein beſonderes Verzeichnis ſpecialiſirt auf das ſorgfältigſte alle heid⸗ 
niſchen Opfer und Gebräuche, deren völlige Unterdrückung erzielt 
werden ſollte. Man begnügte ſich nun in der Taufe nicht 
mehr mit der einfachen Abſchwörung des Teufels; ſondern ein Zu- 
ſatz zu den erwähnten deutſchen Formeln bezeichnete die Mächte, 
denen entſagt werden ſollte, ausdrücklich als die alten Götter Wo⸗ 
dan, Donar und Sachsnot „und alle die Teufel die ihre Genoſſen 
ſind.“ 

Auch eine Beichtformel wurde damals in ſächſiſcher Sprache 
aufgeſetzt. In dem Rahmen des Sündenbekenntniſſes erſchöpft fie die 
ganze chriſtliche Moral. Alles iſt darin geſagt, was der Neubekehrte 
zu thun und zu laſſen hatte. Aber man ſieht auch, wie das Heiden⸗ 
thum, wie der alte Glaube und die alte Poeſie noch in Kraft ſtand. 
Man ſieht alle Schwierigkeiten welche die Bekehrer zu überwinden 
hatten: das Anſehen der Biſchöfe und Prieſter noch beſtritten, die 
Kirchen bedroht, geweihte Speiſe und Trank vor muthwilliger Zerſtö⸗ 
rung nicht ſicher. Die Fehdeluſt iſt unaufhörlich rege und der fried— 
liche Sinn wird dringend eingeſchärft. Gott erſcheint wie ein welt⸗ 
licher Gefolgsherr, in deſſen Dienſt ſich der Menſch begeben ſoll, 
dem er Treue ſchuldig iſt. 


Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 77 


Die mittlerweile eingetretene Berührung mit Italien trägt 781 
zuerſt erkennbare Frucht. In Karl ſelbſt war die Wißbegier erwacht: 
und fein Volk, Klerus und Laien, die Großen voran, ſollten ſeine 
Intereſſen theilen. Er brachte Lehrer mit aus dem Mutterlande der 
mittelalterlichen und modernen Bildung. An den Hof und in die hohen 
Kirchenwürden ſuchte er aus Italien und Brittannien alle zu ziehen, 
durch welche die geretteten Reſte der entſchwundenen Culturblüte eine 
glückliche Pflege fanden oder welche um deren Wiedererweckung ſich 
erfolgreich bemühten. Ich nenne Paulinus von Aquileja, Theodulf 
von Orleans, Paulus Diaconus, Petrus von Piſa und den hervor— 
ragendſten und einflußreichſten von allen: den Angelſachſen Alcuin. 
Wie ſich die Hofſchule belebte, wie ſich eine Art Akademie um 
den König verſammelte, wie Geſchichtſchreibung und Poeſie aufblüh— 
ten, die Perſönlichkeit Karls überall im Mittelpunct: das habe ich 
hier nicht zu erzählen. Von allen dieſen lateiniſch ſchreibenden Ge⸗ 
lehrten und Dichtern wurde eine originale und ſelbſtändige Litteratur 
nicht begründet. Hieronymus, Auguſtin, Iſidor, Beda waren die 
Lehrmeiſter Alcuins, und er ein ſklaviſcher Schüler. Einhard ſchmückte 
mit antiken Säulen den Dom zu Aachen, aus Suetonifchen Phraſen 
5 zimmerte er feine Charakteriſtik Karls des Großen. Das Einzige, 
5 worin ſich dieſe Zeit productiv erwies, war die Verfaſſung. Neue 
4 politiſche Geſtaltungen erſchaffen ſich gleichſam ſelbſt die Mittel ihrer 
5 Erhaltung und Befeſtigung. Die Nothwendigkeit, ein ſo großes 
3 Reich zu centralifiven, forderte eine Vervielfältigung der Perſon des 
Ei Monarchen, für welche man in dem Syſtem der missi dominici 
1 oder Königsboten die paſſende Form fand. Was dann noch fehlte, 
a um das Einheitsbewußtſein in Allen lebendig zu erhalten und den 
wünſchenswerthen Maßregeln die pünctliche Ausführung zu ſichern, 
das leiſteten die Reichsverſammlungen. Die Inſtructionen der Kö— 
nigsboten und die Beſchlüſſe der Reichsverſammlungen find die Mark— 
ſteine für die innere Entwickelung Karls des Großen. Darin ſind 
die Abſichten niedergelegt, welche Karl über die Befeſtigung und Si- 
cherung des Chriſtenthums und chriſtlicher Bildung hegte und die er 
ins Werk zu ſetzen geſonnen war. 
Es geſchah vermuthlich bald nach ſeiner Rückkehr aus Italien 
781, daß der König ein Circularſchreiben an alle Abteien erließ, 


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78 Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


worin er ſie auffordete, ſich neben einem gottergebenen Leben auch 
der Wiſſenſchaft zu befleißigen. Er rügt die ungebildete Sprache in 
den Zuſchriften der Klöſter, beklagt ihre Unfähigkeit gut Gedachtes 
auch gut auszudrücken. Er hebt die Wichtigkeit des grammatiſchen 
Studiums für die richtige Erklärung der heiligen Schrift hervor. 
Er ermahnt ſie endlich zum Schulamte nur ſolche Männer zu wäh⸗ 
len, die ſowohl die Fähigkeit und den Willen zu lernen, als auch 
Freude und Luſt zeigten Andere zu unterweiſen. Vielleicht im Zu⸗ 
ſammenhange mit dieſem Rundſchreiben ſteht die Herſtellung eines 
höchſt primitiven Hilfsmittels zum Unterrichte im Lateiniſchen. In 
ein weitverbreitetes und vielgebrauchtes lateiniſches Wörterbuch zur 
Bibel wurden die deutſchen Bedeutungen eingetragen. Die Arbeit 
wimmelt von den ärgſten Verſtößen, den gröbſten Misverſtändniſ⸗ 
ſen. Ihre äußere Einrichtung iſt ſo ſinnlos als möglich. Vergebens 
ſucht man ſich vorzuſtellen, wie Lehrer und Lernende davon nur den min⸗ 
deſten Nutzen ziehen mochten. Wir aber gewinnen daraus die will⸗ 
kommenſten Aufſchlüſſe über den damaligen Wortſchatz unſerer Sprache. 
Den beabſichtigten Zweck hat der Verfaſſer gänzlich ee, einem 
unbeabſichtigten wider Erwarten gedient. 


Der Römerzug von 787 bewirkte einen weiteren Schritt auf 
der betretenen Bahn. Aus den Händen des Papſtes hatte Karl der 
Große die kanoniſche Sammlung des Dionyſius Exiguus empfan⸗ 
gen und damals vielleicht auch die römiſche Liturgie. Von neuem 
ſoll er Grammatiker und Mathematiker und Lehrer des Gregoriani- 
ſchen Geſanges über die Alpen mitgenommen haben. Und am 23. 
März 789 wurde zu Aachen ein von längeren Inſtructionen begleite⸗ 
tes Edict erlaſſen, welches eine umfaſſende kirchliche Geſetzgebung auf 
Grundlage des kanoniſchen Rechtes enthielt, wie daſſelbe in dem er- 
wähnten Codex canonum vorlag. Ich hebe nur die Beſtimmungen 
hervor, welche auf die Entſtehung litterariſcher Denkmäler unleugba⸗ 
ren Einfluß übten. Mehrere Paragraphen des Edictes machen Bi⸗ 
ſchöfen und Prieſtern eifrige Predigt zur Pflicht. Als Gegenſtände 
derſelben führen ſie auf unter andern das Vaterunſer, das apoſtoli⸗ 
ſche und das athanaſianiſche Glaubensbekenntniß, ein Verzeichniß von 
Sünden, das dem Galaterbriefe des Apoſtels Paulus entnommen iſt. 


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Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 3 0 


Die ganze Verordnung rief eine Flut von lateiniſchen Muſterpredig⸗ 
ten, von Blumenleſen aus den Kirchenvätern, von Vaterunſer⸗ und 
Glaubenserklärungen hervor, welche in dieſem Zeitpuncte theils neu 
entſtanden, theils, aus älteren Quellen geſchöpft, die weiteſte Ver⸗ 
breitung fanden. 

Natürlich bediente die Lehre des Volkes ſich der Sprache des 
Volkes. Deutſch hatte der Prieſter die lateiniſchen Vorlagen wieder⸗ 
zugeben. Es ſchien daher unumgänglich, eine verläßliche Grundlage 


dem Unterrichte zu ſchaffen. Man mußte verſuchen, in geſicherter 


Uebertragung der wichtigſten kirchlichen Gegenſtände und Formeln 
Herr zu werden. Am gründlichſten wurde die Aufgabe zu Weißen⸗ 
burg gelöſt, einem Kloſter im Elſaß. Ein ganzer Katechismus kam 
zu Stande, der alle im Edict aufgezählten Stücke umfaßte. Die 
Ueberſetzung iſt ziemlich fehlerfrei gerathen und verdient alles Lob, 
wenn man ähnliche Arbeiten der Zeit daneben hält. 

Wie wenig verbreitet die Kunſt im allgemeinen noch war, chrift- 
liche Formeln und Begriffe in unſer Deutſch umzugießen, das zeigt 
der Erfolg des neuen Geſetzes in Freiſing. Dort war unter Biſchof 
Aribo der erſte Anfang gemacht worden zu einer litterariſchen Cultur 
in Baiern. Dort hat man um jene Zeit einzelnen Worten und 
Wortgruppen aus dem Buche des Iſidorus über die Pflichten deutſche 
Erklärungen beigeſchrieben. Dort übertrug man jetzt eine Auslegung 
des Vaterunſers in die Mutterſprache. Allein man begnügte ſich 
mit dieſer einen, allerdings wohlgelungenen, Verdeutſchung. Der 
Glaube wurde in einer leicht Bee lateiniſchen Faſſung hin⸗ 
zugefügt. 

Bei weitem ſchlimmer erging es dem königlichen Gebot in einem 
alemanniſchen Kloſter, vielleicht St. Gallen. St. Gallen iſt eine 
Hauptſtätte der muſikaliſchen Bildung im früheren Mittelalter. 
St. Gallen iſt die Heimat einer ganz neuen und folgenreichen Art 
der lyriſchen Kirchenpoeſie. St. Gallen kann Werke der bildenden 
Kunſt aufweiſen von unverächtlichem Werth. St. Gallen hat der 
Logik und Theologie, es hat der deutſchen Sprache eine höchſt ein- 
ſichtige Pflege gewidmet. St. Gallen hat eine Fülle originellen 
Lebens in ſeinen Mauern beherbergt und auch Geſchichtſchreiber her— 
vorgebracht, die es für die Nachwelt zu fixiren verſtanden. Aber 


80 über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


St. Gallen iſt vor den Einwirkungen der Rabaniſchen Schule zu 
Fulda, vor dem Auftreten der Walafried Strabo, der Hartmuat und 
Werinbert, kurz vor der Mitte des neunten Jahrhunderts noch weit 
entfernt von dem was es ſpäter bedeutete. Manche gute Anſätze 
gehen bald wieder verloren. Ein lateiniſch-deutſches Sachgloſſar aus 
den Sechziger Jahren des achten Säculums, das in der trockenſten 
Form doch ein ſinnvolles Welt- und Lebensbild entrollte, blieb zu- 
nächſt vereinzelt. Fortwährende Kämpfe mit den Konſtanzer Biſchöfen 
ließen keine rechte geiſtige Thätigkeit aufkommen. Urkunden und 
litterariſche Verſuche wieſen oft das roheſte und abſcheulichſte Latein 
auf. Wenn man nun hier wagte deutſch zu ſchreiben, ſo mußte auch 
dieſes den Stempel eines ſolchen Bildungsſtandes ſichtbar an der 
Stirn tragen. In der That erinnern die jetzt angefertigten Ueber⸗ 
ſetzungen des Vaterunſers und des Glaubens, welche den lateiniſchen 
Texten von Wort zu Wort folgen, durch ihre groben Verſtöße an 
die Ungeheuerlichkeiten des oben beſprochenen Bibelgloſſars. Um nur 
eins zu erwähnen, im Glauben wird creatorem für creaturam ge- 
nommen, alſo „an Gott das Geſchöpf Himmels und der Erde“ ge- 
glaubt. Man kann leicht ermeſſen, welche Klarheit der religiöſen Be⸗ 
griffe in den harten Köpfen deutſcher Hörer eine Predigt hervor⸗ 
bringen mußte, welche ſich derartiger Machwerke als G 
zu bedienen hatte. 


Alle bisher betrachteten litterariſchen Arbeiten verdanken dem 
localen Bedürfniſſe des Augenblickes ihre Entſtehung. Dieſes Be⸗ 
dürfnis jedoch haben die kirchlichen Maßregeln Karls des Großen erſt 
geweckt. Und noch mehr, Einhard, Karls Biograph, berichtet an einer 
bekannten Stelle von dieſem wie folgt: „Deutſche Gedichte von hohem 
Alter, in welchen der vormaligen Könige Thaten und Kriege beſungen 
wurden, erhielt er dem Gedächtniß der Menſchen, indem er ſie auf⸗ 
ſchreiben ließ. Auch begann er eine Grammatik der Mutterſprache. 
Ferner gab er den Monaten durchweg einheimiſche Benennungen, da 
ſich die Franken bis dahin theils lateiniſcher, theils deutſcher Wörter 
dafür bedienten. Ebenſo belegte er die Winde mit zwölf eigenen Be- 
zeichnungen, während man vorher kaum vier Windnamen auftreiben 
konnte.“ 


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Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 81 


Es iſt wichtig, die Bedeutung dieſer kurzen Nachrichten vollauf 
zu ermeſſen. Gelehrte Spielereien Karls des Großen würden uns 
ebenſo wenig intereſſiren, wie die dilettantiſchen Beſtrebungen irgend 
eines anderen großen Herrn, der es zu einer lebendigen Betheiligung 
an der Nationallitteratur nicht gebracht hat. Sie wären uns ſchätz⸗ 
bare Beiträge zu ſeiner Charakteriſtik, nichts weiter. Hier aber ſteckt 
mehr dahinter. 

Karl der Große, der Zeitlebens nicht ſo weit kam, die Kunſt 


des Schreibens zu erlernen, ſprach doch Lateiniſch wie Deutſch und 


auch Griechiſch verſtand er. Es wird kein claſſiſches Latein geweſen 
ſein, aber ein Jargon, über den er frei verfügte, die Umgangsſprache 
der Gebildeten in den romaniſchen Theilen ſeines Reiches. Und die 
deutſche Ariſtokratie folgte ihm, ſoviel wir ſehen, darin nach. Es 
ſcheint daß vom achten bis ins elfte Jahrhundert jeder deutſche Evel- 
mann ſchlecht und recht ſein Latein zu handhaben wußte wie etwa 
die ungariſchen Junker und Magnaten bis 1848. 

Das Unnationale einer vorzugsweiſe von Geiſtlichen getragenen 
und ganz aus dem ſpäteren Alterthume genährten Bildung kommt darin 
zum Ausdruck. Karl der Große aber bewahrte ſich Herz und Sinn auch 
für das Nationale, und ſeine ſonſtigen wiſſenſchaftlichen Neigungen 
werden fruchtbar für die einheimiſche Dichtung und Sprache. 

Karl ließ ſich am liebſten Geſchichten und Thaten der Alten vor- 
leſen. Er erfreute ſich auch an den Werken des heiligen Auguſtinus, 
beſonders am „Gottesſtaat“. Er nahm Unterricht in Grammatik, 
Rhetorik und Dialektik, am meiſten Zeit und Mühe jedoch ſchenkte er 
der Aſtronomie: er lernte die Kunſt des Rechnens und mit ſcharfer 
Aufmerkſamkeit erforſchte er begierig den Lauf der Sterne. 

Das hiſtoriſche Intereſſe — das erſte und nächſtliegende das in 
großen Staatsmännern lebendig zu ſein pflegt — finden wir in jener 
Sammlung deutſcher Gedichte wieder. Unter Karls Nachfolgern auf 
dem Throne vergleicht ſich ihm darin Kaiſer Maximilian I. zumeift. 
welcher die nationale Hiſtoriographie um ſich her anregte, welcher der 
älteren deutſchen Poeſie liebevolle Beachtung ſchenkte, welcher höfiſche 
und volksthümliche Gedichte der mittelhochdeutſchen Blütezeit in ein 
umfaſſendes Corpus vereinigen ließ. Was die Karliſche Sammlung 
enthalten haben mag, können wir nur vermuthen. Frühere Franken⸗ 

Scherer, Vorträge. 6 


82 über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


könige, deren mehrere wie Hugdietrich und Wolfdietrich lange ſagen⸗ 
berühmt blieben, aber auch Ermenrich, Attila, Siegfried, Gunther, 
Dietrich von Bern, kurz die heldenhaften oft ins übermenſchliche ge⸗ 
ſteigerten Perſönlichkeiten der gothiſchen, huniſchen, der Nibelungen⸗ 
ſage: ſie alle können unter den „alten Königen“ gemeint ſein. Jene 
Lieder mochten dem Kreiſe des deutſchen Epos angehören, und wenn 
wir ſie beſäßen, ſo würden wir Karls des Großen Verdienſte darum 
vielleicht mit demjenigen vergleichen was unter den Griechen Piſiſtratus 
für den Homer gethan. Aber das deutſche Volk ſtand zu ſeinem Epos 
nicht mehr wie die Griechen zu ihrem Homer. Das Geiſtliche Fremde 
Römiſche hatte ſich dazwiſchen geſchoben, eine Art erſter Renaiſſance, 
welche die vornehmſten Kreiſe zunehmend beherrſchte. Selbſt unter 
der weltlichen Ariſtokratie war der Sinn für die alten Sagen mehr 
und mehr im Weichen, er zog ſich in immer engere Kreiſe zurück bis 
er zuletzt nur im niedrigen Volke haftete, um erſt nach der Mitte 
des elften Jahrhunderts wieder in die höheren Schichten der Gejell- 
ſchaft Eingang zu finden. Im zehnten Jahrhundert wird noch ein 
Brief aus dem Ende des neunten erwähnt, deſſen geiſtlicher Verfaſſer 
ſeine Kunde von dem König Ermenrich und ſeinem ungetreuen Rath⸗ 
geber aus deutſchen Büchern geſchöpft haben ſoll. Das wäre die 
letzte Spur die ſich auf Karls des Großen Sammlung deutſcher Lieder 
beziehen läßt. Noch im vorigen Jahrhundert wurden Preiſe für ihre 
Auffindung ausgeſetzt. Sie iſt uns wol unwiederbringlich verloren. 
Auch den geheimnißvollen Zug zu den Geſtirnen theilt Karl der 
Große mit manchem Herrſcher und Kriegsfürſten. Cäſar hinterließ 
ein Werk über die Bewegungen der Sterne, und die Hofaſtrologen 
einer ſehr viel ſpäteren Epoche, die Schickſale Keplers, den Aber⸗ 
glauben Kaiſer Rudolfs II. und Wallenſteins kennt Jedermann. 
In Karl dem Großen machen ſich verwandte Intereſſen auf beſcheidene 
Weiſe geltend, wenn er die deutſchen Namen der Winde und Himmels⸗ 
gegenden ſpecialiſirte und vermehrte und für die Terminologie der 
Jahrestheilung ſorgte. Während die Namen der Wochentage ſchon 
in heidniſcher Zeit aus dem Lateiniſchen ins Deutſche überſetzt wurden 
und die aus dem alten Babylon ſtammende ſiebentägige Woche mit 
dieſen Namen bei allen Germanen in Gebrauch kam, ſo iſt für die 
zwölf Monate nicht das Gleiche, eher das Gegentheil zu erweiſen. Die 


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Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 83 


Bezeichnungen wurden ſpäter aufgenommen und blieben ſchwankend. 
Nicht blos daß für manche Monate der deutſche Name fehlte, daß 
daher fremde Namen neben den heimiſchen verwendet werden mußten, 
wie Einhard berichtet: ſondern auch die heimiſchen ſelbſt mochten 
nicht feſt ſtehen, ein Name mochte in verſchiedenen Gegenden ver⸗ 
ſchiedene Geltung haben, ein und derſelbe Monat hier ſo, dort anders 
benannt ſein. Karl ſuchte eine einheitliche Bezeichnung in der Mutter⸗ 
ſprache bei allen Deutſchen einzuführen. Es war eine Kalender— 
reform im Kleinen, ein würdiges Geſchäft für den Nachfolger Julius 
Cäſars, dem wie der ganzen mittelalterlichen Wiſſenſchaft größere 
productive Leiſtungen verſagt waren. Aber ſeine Monatsnamen ſind 
bis ins zehnte Jahrhundert wenigſtens von den Gelehrten gekannt 
und gebraucht worden und blieben die Grundlage auch für die ſpätere 
deutſche Benennung. 

Lateiniſch ſprechen hat Karl der Große ohne Zweifel durch praf- 
tiſche Unterweiſung gelernt, aber auch in die wiſſenſchaftliche Gram- 
matik ließ er ſich einführen ſeit 781. Und was er ſich da am 
Lateiniſchen aneignete, das wollte er gleich für das Deutſche ver- 
werthen. Eine Aufgabe, welche erſt der Humanismus des ſechs— 
zehnten Jahrhunderts wieder in Angriff nahm, hat Ihn wenigſtens 
zu dem Verſuche gereizt. Deutſche Grammatik! Was konnte er 
wollen? Zunächſt gewiß nur in das Fachwerk der lateiniſchen Alles 
eintragen, was deutſcher Sprachgebrauch zu ſein ſchien. Vergleichung 
deutſcher und lateiniſcher Regel, wobei die letztere mit achtungsvoller 
Scheu als ein höheres und mehrberechtigtes Geſetz angeſehen wurde, 
beſchäftigte auch nach ihm die mönchiſche Gelehrſamkeit. Ihm aber 
ſchwebte vielleicht noch ein anderes Ziel vor. Wie bei den Monats- 
namen wollte er vielleicht auch hier eine Einheit ſtiften um das bunte 
Vielerlei der deutſchen Mundarten etwas zu beſchränken. Die un⸗ 
willkürliche Nivellirung der Sprache, welche die politiſche Vereinigung 
aller Stämme, ihr Zuſammentreffen an Karls Hof bewirkte und die 
Mundart des Mittelrheins, welche zu den übrigen Dialekten ein faſt 
centrales Verhältniß einnahm (oben S. 51), würde ihm Maßſtab 
und Norm geliefert haben. Und orthographiſche Feſtſetzungen wären 
von ihm ausgegangen, wie er Verordnungen über die Bewirtſchaftung 
ſeiner Landgüter erließ. Auch mit dieſen grammatiſchen Beſchäf— 

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84 Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


tigungen wandelt er in den Spuren ſeiner Vorgänger im weltlichen 
Regiment: wollte doch Kaiſer Claudius dem lateiniſchen Alphabete 
drei Buchſtaben hinzufügen, und der Merowinger Chilperich erfand 
vier neue Schriftzeichen für eigenthümlich fränkiſche Laute und erließ 
Schreiben durch alle Städte ſeines Reiches daß die Race darin 
unterrichtet werden ſollten. 

Geſchichte, Aſtronomie, Grammatik fanden wir in garls natio⸗ 
nalen Intereſſen wieder: es fehlt nur die Theologie. Soll gerade 
ſie vergeſſen ſein, die Hauptmacht der Zeit? Soll ſie mit Karls 
Beſtrebungen für die Mutterſprache in keiner Weiſe befruchtend zu⸗ 
ſammengetroffen ſein? Eigene Leiſtungen dürfen wir freilich von 
einem Laien nicht erwarten. Aber wir beſitzen religiöſe und liturgiſche 
Fragen wie ſie Karl an die Biſchöfe und ſonſtigen Theologen ſeines 
Reiches ausgehen ließ um ihre Meinung zu vernehmen über wichtige 
Puncte, die ihn beſchäftigten: ſollte er die litterariſche Thätigkeit der 
Geiſtlichen nicht auch zu Ueberſetzungen theologiſchen Inhaltes ange⸗ 
regt haben? 

Karl der Große iſt der einzige innerhalb der gelehrten Akademie 
die er verſammelte, von welchem die Liebe zur Mutterſprache und 
zur einheimiſchen Dichtung bezeugt wird. Aber ſoll dieſe Liebe, ſollen 
ſeine eigenen Bemühungen ein vereinzeltes Phänomen, eine durch 
nichts vermittelte, durch nichts erklärbare Laune ſeiner Mußeſtunden 
geweſen ſein? Müſſen wir nicht vielmehr glauben und annehmen, 
daß er nur von einem ſonſt verbreiteten Drang und Streben für 
die nationale Sprache in ſeiner Weiſe mit ergriffen wurde? Weiſt 
darauf nicht ſchon die nur mundartlich verſchiedene, innerhalb der 
Landſchaften aber ziemlich feſte und ſelbſt manche Feinheiten aus⸗ 
drückende Orthographie, mit welcher überall in Urkunden die deutſchen 
Namen und die vereinzelten ſonſtigen deutſchen Sprachdenkmäler auf⸗ 
gezeichnet wurden? Und wenn Karl ſolche Neigungen theilte, wurden 
ſie nicht dadurch allein ſchon auch in Anderen verſtärkt, auch in 
Anderen geweckt? Und wenn jene Mönche zu Weißenburg, Freiſing, 
St. Gallen ſich dem zwar nützlichen und förderlichen, aber doch nicht 
nothwendigen, dabei höchſt mühevollen Geſchäfte der Verdeutſchung 
kirchlicher Formeln unterzogen: ſteckt nicht auch darin noch ein Ele⸗ 
ment von ſelbſtändiger Liebe für das heimatliche Idiom? Und führt 


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über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 85 


uns nicht dies Alles auf eine mittlere Schichte der Geſellſchaft, welche 
einerſeits mit dem Könige ſelbſt, andererſeits mit den klöſterlichen 
Regionen in Contact ſtand, irgend ein Biſchof, irgend welche Hof— 
geiſtliche, von denen durch Beiſpiel und Aufforderung zu ſolch löb— 


lichem Beginnen Anregung und Reizung ausging? 


Ich glaube: wir haben Grund zu dieſen Annahmen, und wir 
finden ſie beſtätigt durch eine Reihe von Ueberſetzungen, welche ſchon 
vermöge ihrer weiten Verbreitung über faſt alle und die entlegenſten 
Theile des mächtigen Reiches, ſchon vermöge einer beinah unbedingten 
Herrſchaft und Meiſterſchaft im Verſtehen der einen, im Gebrauche 
der anderen Sprache — mit deutlichen Fingerzeigen auf die Kreiſe 
der höchſten und thätigſten Intelligenz als auf die Stätte ihres Ur- 
ſprungs weiſen. 

Was Ulfilas ſeinen Gothen ſchenkte, was die oberſte Pflicht eines 
bekehrungsfreudigen Schaffens zu allen Zeiten geweſen iſt — die 
Uebertragung der Bibel —, das wurde hier für die Franken zwar 
nicht ſeinem ganzen Umfange nach geleiſtet, aber zu einem kleinen 


Theile mit beiſpielswürdiger Kraft und Liebe ausgeführt. Das Evan⸗ 


gelium Matthäi, welchem merkwürdiger Weiſe an einer Stelle mehrere 
Verſe des Lucas beigearbeitet ſind, wurde auf eine treffliche Art, mit 
gar wenigen Fehlern ins Deutſche gebracht. Demſelben ungenannten 
Verfaſſer oder Anderen, die in ſeinem Sinne verfuhren, ſind dann 
noch weitere, zum Theil vollkommenere Leiſtungen gelungen. Mit 
Sorgfalt und Bedacht haben ſie ihre Aufgaben gewählt. Da iſt aus 
dem Werke des Iſidorus „gegen die Juden“ das erſte Buch „von der 
Geburt des Herrn“, in welchem die jüdiſchen Einwendungen gegen 
die Grundlehren des Chriſtenthums zurückgewieſen werden. Da iſt 
ein Tractat von der Berufung aller Völker zum Chriſtenthume, recht 
geeignet daran zu erinnern, daß auch die Deutſchen der Ehre würdig 
geworden ſeien, welche einſt für die Heiden der Apoſtel Paulus den 
judenchriſtlichen Anmaßungen abgekämpft hat. Da iſt eine Predigt 
Auguſtins „von Petrus der auf dem Meere wandelt“, worin unter 


anderem die Schwankenden im Glauben, d. h. die Neubekehrten und 


dem Heidenthum nur halb Entwachſenen als ein ebenfalls noth- 
wendiges Glied der Kirche hingeſtellt werden. Da iſt noch Anderes, 
deſſen näheren Inhalt der ſpärliche Reſt nicht verräth, der davon auf 


86 über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


uns kam. Alle dieſe Werke wurden in deutſchem Laut, in deutſchem 
Worte bezwungen. 

So war die deutſche Sprache in die Schule des Lateins ge- 
nommen. An vielen Puncten iſt noch jetzt ſichtbar, wie tiefe und 
dauernde Spuren es in unſerer Rede zurückließ. 


Für alle weſentlichen Begriffe des Chriſtenthums mußten deutſche 


Worte gefunden werden: ſchon den erſten Bekehrern drängte ſich das 


Bedürfniß dazu auf. Es gab drei Wege. Analoge Vorſtellungen 
gehen durch alle Religionen, die Aeußerlichkeiten des Gottesdienſtes 
ſind oft nahezu dieſelben: darum konnten z. B. die einheimiſchen 
Ausdrücke für Opfer und Tempel ohne Schaden beibehalten werden; 
die Bezeichnung des allgemeinen heidniſchen Todtenreiches „Hölle“ ließ 
ſich auf den chriſtlichen Strafort der Böſen übertragen. Dies iſt 


die eine Weiſe auf die man verfuhr. Die zweite war einfache Herüber⸗ 


nahme angelſächſiſcher chriſtlicher Benennungen und Umſetzung der⸗ 
ſelben in die entſprechenden deutſchen Laute. Dahin gehört beiſpiels⸗ 
weile die Wiedergabe des Namens Jeſus durch „Heiland“, des Be⸗ 
griffes der Incarnation durch intleiscnissa, etwa „Einfleiſchung“. 
Die dritte beſtand in der Zulaſſung von Fremdworten, wie diabolus 
„Teufel“, angelus „Engel“. Man wandte zuweilen in einem ein⸗ 


zelnen Falle zwei, ſelbſt alle drei Methoden an, um die neuen Be⸗ 


griffe einzuführen. 


Aber nicht darum allein handelte es ſich für die emſigen Männer, 
denen die Pflege ihres Idioms am Herzen lag. Gezwungen durch 
die unſelbſtändige Art ihrer litterariſchen Production ſannen ſie auf 
Mittel, den langen Perioden, dem vielgegliederten Satzbau ihrer Vor⸗ 
lagen beizukommen. Unſere alte Sprache bewegte ſich in kurzen, 
einander parallel geordneten Sätzen und Wortreihen. Die Beſtimmung 
des Bindewortes war faſt nur, dieſe Beiordnung in helleres Licht zu 
ſetzen. Jetzt galt es, für die größere Abſtufung der lateiniſchen 
Conjunctionen entſprechende deutſche zu finden. Es mußte den Be⸗ 
deutungen der vorhandenen eine Färbung gegeben werden, die ihnen 


urſprünglich fremd war. Es mußten Adverbien zu Hilfe genommen 


werden, welche nur langſam und widerſtrebend auf das Niveau von 
Conjunctionen herabſanken. Es mußten Wiederholungen einzelner und 


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Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 87 


mehrerer Worte angewandt werden, um in viel unterbrochener Fügung 
Zuſammengehöriges zu binden. 

Durch derartige Bemühungen zuerſt wurden der deutſchen Rede 
viele Eigenſchaften errungen, welche wir heute als ihren unbeſtrittenen 
Beſitz von jeher zu betrachten gewohnt ſind. Durch derartige Be— 


mühungen hat die fränkiſche Geiſtlichkeit, insbeſondere die Umgebung 


Karls des Großen, auch der deutſchen Litteratur und Sprache die 
Zeichen ihres Daſeins eingegraben. Eine lange Geſchichte hat nur 
ihre Gründungen erweitert und ausgebaut. Aber wenn bei lebhafter 
Seefahrt nach einem entlegenen Land zufällige Ankerplätze zu volk— 
reichen Städten emporblühen, ſo haben die erſten Schiffer daran nicht 
gedacht. Ihr Sinnen ſtand auf ein ferneres Ziel. Das Goldland, 
welchem Karls Hoftheologen zuſteuerten, mag lange von Nebel um— 
hüllt geweſen ſein. Der zertheilte ſich mählich. Es wurde ſicht— 
barer, völlig klar endlich. Das Ereigniß vollzog ſich, welches für 
das fränkiſche Reich, für Deutſchland und Italien, für Europa und 
die ganze civiliſirte Welt zu ſo ungeheuerer Bedeutung, theilweiſe zu 
jo. ſchwerem Verhängniß gediehen iſt. Ich meine die Erneuerung des» 
weſtrömiſchen Kaiſerthums. 


Die erſten bezüglichen Andeutungen fallen in einer theologiſchen 


| Staatsſchrift gegen das byzantiniſche Reich. Alcuin ſcheint in Briefen 


dem Könige den Gedanken nahezulegen. Sein und Karls Lieblings- 
autor, der heilige Auguſtinus, konnte ihn nähren. Bereits übte der 
fränkiſche König die thatſächliche Oberherrſchaft über Rom aus. Die 
hiſtoriſchen Erinnerungen, in denen er lebte; die Traditionen einer 
rückſichtslos um ſich greifenden Politik, in denen er aufwuchs; die 
Eiferſucht auf den Glanz des oſtrömiſchen Reiches; der Rückblick 
auf eine Zeit, in welcher der Weſten ihm ebenbürtig gegenüber ſtand; 
der weite Weltblick und das hohe Selbſtgefühl, das die eigene Würde 
an Khalifen und Cäſaren wetteifernd maß; dazu der natürliche In⸗ 
jtinet des Herrſchers, der ſchrankenloſe Ehrgeiz des Eroberers: dies 
Alles mußte den Wunſch in Karls Seele zum Entſchluß, den Ent— 
ſchluß zur That reifen. 

Der geeignete Moment ſchien endlich gekommen. Papſt Leo III. 
war durch eine feindliche Partei in Rom mißhandelt und vertrieben 


88 über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


worden. Fränkiſche Hofpoeten mußten den Vorfall beſingen, frän⸗ 
kiſche Vaſallen nahmen den Vertriebenen auf, fränkiſche Geſandte 
ſetzten ihn wieder ein. Aber Leo wurde von ſeinen Gegnern ſchwerer 
Verbrechen beſchuldigt: Karl war der oberſte Richter: er ließ den 
Papſt zu ſich kommen nach Paderborn. Er hatte deſſen ganze 


Exiſtenz in ſeiner Hand. Er konnte fordern. Er forderte die Kaiſer⸗ 


würde. Er 

Das war im Jahre 799. In dem Jahre darauf wurden die 
Vorbereitungen getroffen, um die Sache ins Werk zu ſetzen. Noch 
einmal beſprach ſich Karl mit ſeinen bevorzugteſten Räthen: mit 
Angilbert in St. Riquier, mit Theodulf in Orleans, mit Alcuin in 
Tours. Im Auguſt hielt er eine große Reichsverſammlung zu Mainz 
ab „und ſah daß Friede war in ſeinem ganzen Reich“, wie ein Zeit⸗ 
genoſſe ſchreibt. Nun zog er nach Rom; berief einen zahlreichen 
Convent von Erzbiſchöfen, Biſchöfen und Aebten, von den anweſenden 
Franken und dem römiſchen Volk; ließ den Papſt ſchuldlos erklären; 
ließ ſich von dem Papſt und der ganzen Verſammlung die Kaiſer⸗ 
würde antragen; und „wollte ihre Bitte nicht abſchlagen: ſondern in 
aller Demuth, unterwürfig Gott und nachgebend dem Flehen der 
Geiſtlichkeit und der übrigen Chriſtenheit, empfing er am Tage der 
Geburt des Herrn (Weihnachten 800) den Namen des Imperators 
und die Einſegnung des Papſtes Leo.“) 

Karl erhielt durch die neue Würde keinen Zuwachs an reeller 
Macht. Aber auf dem Titel lag ein Zauber. Dieſer Name wurde 
eine Idee. Die Idee wurde eine Gewalt, welche den Kaiſer zu 
friſchen Thaten zwang. Raſcher Jugendmuth, Ehrgeiz und etwas 


*) So drücken ſich die Jahrbücher von Lorſch aus. Das Motiv der De— 
muth wurde von der Hoftradition ſpäter mehr ausgebeutet. Karl ſollte durch den 
Antrag überraſcht geweſen fein. Leo ſollte dem Ahnungsloſen, der vor dem Al⸗ 
tare im Gebete kniete, plötzlich die Krone aufgeſetzt haben. Karl ſollte ſogar ver- 
ſichert haben, er würde trotz des hohen Feſtes aus der Kirche weggeblieben ſein, 
wenn er den Plan des Papſtes vorausgewußt hätte. — Noch immer meinen 
neuere Hiſtoriker genug zu thun, wenn fie das Märchen micht ganz glauben. 
Der Papſt und der erſtaunte Kaiſer am Altar in Weihrauchdunſt, das Volk ju⸗ 
belnd umher, die Peterskirche die von ſeinem Zuruf dröhnt: es iſt ein zu effect- 
volles Bild, als daß, ein geſchmackloſer Geſchichtſchreiber es ſich entgehen laſſen 
dürfte. 


über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 89 


Glaubenseifer vielleicht hatten ihn in die Sachſenkriege getrieben, 
hatten ihn zum Kampf gegen die Langobarden bereit gemacht, hatten 
ihn über die Pyrenäen geführt und in die Steppen der Theiß. Jetzt 
waren gute Geſetze der einzige Ruhm, nach dem er geizte. Sein 
Land war ausgeſogen: es bedurfte des Friedens. Er ſelbſt war alt: 
er bedurfte der Sammlung fürs Ende. Zeitlebens hatte er nur hier 
gemäht, dort gerodet: jetzt wollte er ein neues Pflügen, neues Säen; 
er wollte neue Frucht, neue Ernten ſchauen. Er wollte es mit der 
Haſt und dem Ungeſtüme eines Mannes, der mit einem Fuße im 
Grabe ſteht und doch mit ungebrochenen Kräften ins Leben ragt, 
der, was die Natur ihm an Jahren vorenthält, durch die Maſſe 
ſeines Schaffens, durch den Werth ſeiner Leiſtungen erſetzen will. 
Wir können bei weitem nicht die ganze Thätigkeit ſeiner letzten Zeit 
betrachten. Schon haben wir uns von dem eigentlichen nem 
vielleicht zu weit entfernt. 

Karls Ideal war kein politiſches mehr. Nicht der Staat, den 
Gaius Cäſar einſt begründete, ſollte wiederhergeſtellt, nicht der Staat 
Juſtinians ſollte nachgebildet werden. Ein chriſtliches Haupt und 
chriſtliche Glieder; die Zucht des göttlichen Geſetzes über den unge— 
bändigten Seelen: das war ſein Streben. Unmittelbar nach ſeiner 
Rückkehr aus Italien, im November 801, berief er die hervorragend— 
ſten geiſtlichen Würdenträger des Reiches, um mit ihnen zu rathen 
über eine noch tiefer greifende Umgeſtaltung des religiöſen Lebens des 
Klerus wie der Laienwelt, als die erſte von 789 geweſen war. An 
die Bildung jener ſollten noch höhere Forderungen geſtellt, dem 
Glaubenseifer dieſer eine harte Leiſtung auferlegt werden. Nichts 
Geringeres verlangten Einige, als daß Jedermann die Formeln des 
Vaterunſers und Glaubens lateiniſch auswendig lernen und herzu— 
ſagen im Stande ſein ſolle. Ein entgegengeſetzter Vorſchlag, ſich 
wenigſtens mit dem Glauben allein zu begnügen, wurde verworfen. 
Ein von Anhängern deſſelben vorgelegter Entwurf einer in ihrem 
Sinne gefaßten Ermahnung an das Volk wurde zwar benutzt, aber 
durch geeignete Zuſätze der anderen Meinung angepaßt, und in ſolcher 
Geſtalt den zur Ausführung des Beſchluſſes Beauftragten mitgegeben. 
Von dieſer Exhortation hat man in Freiſing eine deutſche Ueberſetzung 
angefertigt. Zugleich wurde der früher daſelbſt verfaßten Erklärung 


90 über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


des Vaterunſers neue Brauchbarkeit verliehen, indem man die ein⸗ 
zelnen Bitten im lateiniſchen Texte an ihrem Orte einſchaltete. Die 
Einübung geſchah nämlich ſo, daß der Prieſter erſt einen ganzen 
Satz, dann die einzelnen Worte deſſelben in der Urſprache vorſagte 
und mit deutſchen Erklärungen begleitete. | 

Ob dies fruchtete? Ob damals gelang, was ſelbſt heute auf 
unüberwindliche Schwierigkeiten ſtoßen müßte? Wir haben Grund 
zu behaupten: nein. Unermüdlich wird die Verordnung eingeſchärft. 
Von dem Kaiſer ſelbſt faſt in jeder Reichsverſammlung, von den 
Biſchöfen in ihren Sprengeln. Dieſe Frage, ſo unerhört es klingt, 
ſteht eine Zeit lang im Mittelpuncte der kaiſerlichen Beſtrebungen. 
Vergebens. Die Widerſpenſtigen werden zur Pathenſchaft nicht zu- 
gelaſſen. Männer und Weiber werden mit Schlägen und Faſten 
bedroht. Umſonſt. Endlich macht eine Synode den Vorſchlag: wer 
anders nicht könne, möge die Formeln in ſeiner Mutterſprache lernen. 
Man ſieht aber nicht, daß der Kaiſer den Vorſchlag beſtätigt hätte. 
Ebenſowenig, daß er die frühere ſtrenge Forderung erneuert hätte. 
Er ſcheint ſich von ihrer Undurchführbarkeit ſchließlich überzeugt zu 
haben. 8 

Es liegt in der Natur der Sache, daß Maßregeln, welche die 
Erlernung der kirchlichen Formeln in der Urſprache zum Zweck hatten, 
auf die Hervorbringung deutſcher litterariſcher Denkmäler von ge⸗ 
ringerem Einfluß fein mußten, als dreizehn Jahre vorher die Ver⸗ 
ordnung über das Predigtweſen. Doch iſt vielleicht der weitere Ver⸗ 
lauf der Karliſchen Reformbeſtrebungen nach der Kaiſerkrönung auf 
anderen Gebieten nicht ganz ohne litterariſche Frucht geblieben. 

Unmittelbar an die eben beſprochene Novemberverſammlung des 
Jahres 801 ſchloß ſich eine allgemeine Unterſuchung, Enquete, „Exa- 
mination“ des Bildungszuſtandes der Kleriker und Laien durch das 
ganze Reich. Dabei verlangte man von den letzteren, daß ſie das 
Recht und Geſetz, nach welchem ſie lebten, wüßten und verſtünden. 
Es folgte im März 802 eine große Reichsverſammlung, auf welcher 
mit Benutzung des alten Edicts von 789 ein Syſtem der kirchlichen 
Geſetzgebung feſtgeſtellt und unter anderem beſchloſſen wurde, daß 
Aebte und Mönche ihre Kloſterregel verſtehen und wohl im Gedächt⸗ 
niß behalten ſollten. Auf dieſe Veranlaſſung wurde zu St. Gallen von 


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über den Urſprung der deutichen Litteratur. 91 


mehreren Mönchen nach der Reihe einem Exemplar der Regel des 
h. Benedict eine zwiſchenzeilige Verdeutſchung übergeſchrieben, die an 
richtigem Verſtändniß des Grundtextes noch immer ſehr vieles zu 
wünſchen übrig läßt. N 

Im Oktober 802 fand hierauf abermals eine allgemeine Reichs— 
verſammlung ſtatt. Ihre Theilnehmer ſonderten ſich in drei Grup⸗ 
pen. Die Biſchöfe und Prieſter nahmen eine Leſung und Erklärung 
der Canones der Concilien und der Decrete der Päpſte vor, wovon 


ſie die erſteren als künftig geltendes Recht förmlich recipirten. Die 


Aebte und Mönche beſchäftigten ſich mit der Benedictinerregel. Der 
Kaiſer ſelbſt endlich mit den Herzögen, Grafen und den übrigen welt- 
lichen Anweſenden ließ alle Geſetze ſeines Reiches leſen und je- 
dem Manne das ſeinige erklären, nöthige Zuſätze beſchließen, und die 
verbeſſerten Rechte aufzeichnen. Es könnte ſein, doch läßt es ſich 
mit Sicherheit nicht behaupten, daß entweder zum Behufe dieſer Ge- 
ſetzErklärung oder ſchon im Winter 801 auf 802 zur Erleichterung 
der erwähnten Unterſuchung und Laien⸗Examination Uebertragungen 
einzelner oder mehrerer Volksrechte angefertigt worden wären. Dann 
würde ein uns erhaltenes Bruchſtück von einer Verdeutſchung des 
ſaliſchen Geſetzes wohl dieſem Anlaſſe ſeine Entſtehung verdanken. 

Auf einer weiteren, zu Mainz im Jahre 803 abgehaltenen 
Reichsverſammlung ſind vielleicht die Beſchlüſſe zu Stande gekommen, 
welche eine durchaus unglaubwürdige Ueberlieferung als Statuten des 
h. Bonifacius bezeichnet. Darin werden mit Verluſt ihrer Parochie 
die Prieſter bedroht, welche den Täuflingen die Formeln der Teufels— 
entſagung und des bei der Taufe vorgeſchriebenen kurzen Glaubens— 
bekenntniſſes nicht in ihrer Mutterſpraͤche abfragen wollten. Viel⸗ 
leicht, doch ſei auch das mit allem Vorbehalte geäußert, hängt mit 
dieſem Beſchluſſe die Abfaſſung eines jedenfalls im Mainzer Spren- 
gel entſtandenen und officiell geltenden deutſchen Taufgelöbniſſes zu— 
ſammen. | 

Dies iſt der Geſammtbeſtand der deutſchen Proſalitteratur aus 
der Zeit Karls des Großen. Ein einziges Rechtsdenkmal. Die 
übrigen religiöſen Inhalts. Alle gleicherweiſe Ueberſetzungen, höchſtens 
unfreie Bearbeitungen lateinischer Originale. 


92 Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


Es iſt wiederholt hervorgehoben worden, daß nirgends und nie— 
mals wieder die Hierarchie in ſolchem Grade das Fundament des 
Staates war, wie in dem Reiche Karls des Großen. Nicht blos 
in dieſem Sinne, ſondern in Bezug auf den ganzen geiſtigen Inhalt 
der Zeit iſt der Ausſpruch Hegels richtig, das Frankenreich ſei das 
erſte ſich Zuſammennehmen des Chriſtenthums zu einer ſtaatlichen 
Bildung, die rein aus ihm hervorging. Was aber wahrhaft in 
Sinn und Geiſt einer Epoche lebendig iſt, das wird ſeine Kraft und 
ſeine Wirkung nicht allein durch litterariſche Hervorbringungen von 
unſelbſtändiger Art, ſondern vor allem auf dem Gebiete der Poeſie 
durch wo nicht der Materie, ſo doch der Form nach originale Schö— 
pfungen äußern müſſen. Und ſchon Herder hat erkannt, daß mit 
den Anfängen der Proſa die der Kunſtpoeſie zuſammenzufallen 
pflegen. 


Poetiſche Denkmäler aus den Jahren Karls des Großen ſind 
nicht ſo viele auf uns gekommen als proſaiſche. Beſäßen wir die 
Sammlung epiſcher Geſänge, welche ſein Befehl ins Leben rief, ſie 
würden uns als Beiſpiele der Naturpoeſie in Herders Sinne gelten: 
wir nennen es jetzt eher Volkspoeſie. Erhalten iſt uns, auch nur frag⸗ 
mentariſch, ein aus dem Gedächtniß aufgeſchriebenes Volkslied, das 
den Zweikampf Hildebrands und Hadubrands zum Gegenſtande hat. 
Aber nicht die Reſte des zurückweichenden Volksgeſanges ziehen uns 
hier an: wir ſuchen die neu entſtehende, die Kunſtpoeſie. 


Es gibt eine Verordnung vom Jahre 794, welche die deutſche 
Sprache gegen das Vorurtheil, ſie ſei zum Gebete weniger geeignet 
als die lateiniſche, griechiſche und hebräiſche, in Schutz nimmt. Dar⸗ 
aus iſt uns auf das Vorhandenſein deutſcher Gebete oder deren Ent— 
ſtehung in Folge dieſes Geſetzartikels ein wahrſcheinlicher Schluß ge— 
ſtattet. Wirklich kennen wir zwei deutſche Gebete aus jener Zeit. 
Das ältere, ſoweit es aus unſicherer Ueberlieferung ſich herſtellen ließ, 
lautet: 


Truhtin god, thu mir hilp indi thu forgip mir 
in thinem ginädöm rehtan giloubon 
indi guodan willeon, wisdöm indi spähida, 


heili indi gisundi indi thina guodün huldi. 


Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 93 


das heißt: 


Herre Gott, du hilf mir und du verleih mir 

in deinen Gnaden den rechten Glauben 

und guten Willen, Weisheit und Klugheit, 
Heil und Geſundheit und deine freundliche Huld. 


Es ſind einfältige Worte, in denen die nächſtliegenden Bitten 
karg und ärmlich ausgeſprochen werden. 


Von größerem Intereſſe, aber zum Theil noch geringerem Werth 
als dichteriſches Product, iſt das nach dem baieriſchen Kloſter Weſſo— 
brunn, ſeinem Fundorte, ſo genannte Weſſobrunner Gebet. 


Es iſt weder ein Gebet noch überhaupt ein einheitliches Werk der 
Litteratur. Es iſt nur eine Zuſammenſtellung von drei Gedichtan⸗ 
fängen, womit der Verfaſſer eines Schulbuches, der von den ſieben 
freien Künſten ſpricht, den Begriff der Poetik zu erläutern ſucht. 

Das erſte Stück iſt vermuthlich die Eingangsſtrophe eines heid— 
niſchen volksthümlichen Gedichtes von der Entſtehung der Welt und 
des Menſchen. Sie iſt aus ſächſiſcher Sprache incorrect ins Baieri⸗ 
ſche umgeſchrieben und lautet: 


Dat gafregin ih mit firahim firiwizzo meista, 
dat ero ni was noh üfhimil: 
ni swigli sterro nohhein noh sunna ni liuhta, 


noh mäno noh der märeo sèu. 
In unſerer Sprache: 


Das vernahm ich unter den Menſchen als der Wunder größtes, 
daß Erde nicht war noch der Himmel darüber: 

daß kein glänzender Stern noch die Sonne leuchtete, 
noch der Mond noch das herrliche Meer. s 


Damit ſtimmt ziemlich genau ein isländiſches ebenfalls heidniſches 
Gedicht überein in welchem es heißt: 


Einſt war das Alter, da Amir lebte: * 
da war nicht Sand, nicht See, nicht ſalzge Wellen. 
Nicht Erde fand ſich noch Ueberhimmel: 
gähnender Abgrund und Gras nirgend. 

Sonne wußte nicht wo ſie Sitz hätte, 

Mond wußte nicht was er Macht hätte, 
Die Sterne wußten nicht wo ſie Stätte hätten. 


94 über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 

Man ſieht, es iſt eine und dieſelbe Anſicht von einem uran⸗ 
fänglichen Chaos. Ihr ſteht die chriſtliche Vorſtellung entgegen, 
welche die Welt aus Nichts geſchaffen werden läßt. Dieſe finden 
wir in dem zweiten Fragmente niedergelegt, dem Anfang eines Ge— 
dichtes, worin mindeſtens die Schöpfung und etwa auch der Sünden⸗ 
fall nach dem erſten Buche Moſis in allitterirenden Langverſen bear⸗ 
beitet war. Das Bruchſtück lautet: 


Do där niwiht ni was enteo ni wenteo 
enti dö was der eino almahtico eot, 
manno miltisto, enti manake mit inan 
cootlihhe geista. enti cot heilac... 
Als da nichts war aller Orten und Enden, 
da war der alleinige allmächtige Gott, 

der mildeſte der Männer, und viele mit ihm 
ruhmreiche Geiſter. Und der heilige Gott ... 


So weit nur hat uns der baieriſche Kloſterlehrer dieſes merkwürdige 
Gedicht gönnen wollen, deſſen Gegenſtand erſt Jahrhunderte ſpäter 
wieder eine Behandlung in deutſchen Verſen fand. 


Das dritte Stück endlich iſt der Anfang eines Gebetes, deſſen 
vollſtändigen Inhalt wir vermuthungsweiſe aus jüngeren Aufzeich⸗ 
nungen herſtellen können. Der Verfaſſer deſſelben wollte Verſe 
machen, er ſchmückte ſeine Worte mit Allitteration und Reim, aber 
er ſetzte ſich über die Regeln der Metrik hinweg, die er vielleicht 
nicht hinlänglich kannte. Aus dem vorhin erwähnten kurzen Gebete 
hat er zwei Zeilen geborgt. Er fleht zu Gott, der den Menſchen 
ſo vieles Gute gegeben habe, er fleht um Kraft den göttlichen Willen 
zu thun; Herz und Gedanke, Seele und Leib befiehlt er dem gnädi⸗ 
gen freigebigen Herrn, der alle ſeine Bedürfniſſe kennt. Und zu 
Chriſtus betet er um Rettung und Erlöſung: er betet, daß er ſich 
vor dem Weltenrichter nicht zu ſchämen brauche, daß ihm Reue ver⸗ 
liehen und die Strafe ſeiner Sünden noch in dieſer Welt über ihn 
verhängt werden möge. 


Es ſind auch hier die allererſten Grundlagen des Chriſtenthums 
nach der moraliſchen Seite hin, welche in einfachen Worten zum 
Ausdruck gelangen: die Ergebung in den göttlichen Willen, das Le— 


Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 95 


ben nach Gottes Gebot, das Vertrauen das ihm alles anheim gibt, 
die Begriffe Sünde, Strafe, Reue, Erlöſung, ewige Seligkeit. 


Den Ausblick in das Ewige, in die letzten Schickſale des Men⸗ 
ſchen und der Welt eröffnet uns ein anderes Gedicht, woraus wir 
zugleich ein vollſtändigeres und begründeteres Urtheil über die chriſt⸗ 
liche Poeſie jener Zeit gewinnen: das ſogenannte „Muſpilli“, eine — 
ſoll ich ſagen Predigt? oder Erzählung? oder Prophezeihung? von 
der Zukunft nach dem Tode, deren Gang etwa folgender iſt: 

„Daran denke jeder der Menſchen, daß auch für ihn der Tag 
erſcheint, an dem er ſterben muß. Gleich wenn die Seele auf ihren 
Weg ſich begibt und den Körper liegen läßt, ſo kommt ein Heer aus 
dem Himmelsäther, das andere aus der Hölle, und ſie kämpfen um 
ſie. Sorgen mag die Seele bis es entſchieden wird, von welchem 
der Heere fie gewonnen iſt. Wenn des Satans Genoſſen ſie errin⸗ 
gen, ſo führen ſie ſie dahin wo ihr weh geſchieht, in Feuer und 
in Finſterniß: welches iſt ein grauſig Ding. Wenn ſie aber die 
erſtreiten, die da von dem Himmel kommen, und ſie den Engeln 
eigen wird, ſo tragen die hinauf ſie in des Himmels Reich, woſelbſt 
iſt Leben ohne Tod, Licht ohne Finſtre, eine Wohnung ohne Sorge: 
Niemand iſt dort ſiech. Wenn in dem Paradieſe der Menſch ein Haus 
gewinnt, eine Wohnung in dem Himmel: ſo iſt ihm geholfen. Darum 
thut es jedem Menſchen Noth, daß ihn ſein Herz antreibe, daß er 
mit Freude Gottes Willen thue und ſorglich vermeide das Feuer der 
Hölle, des Peches Pein. Dort erwarten ihn Satans heiße Flam⸗ 
men. Drum zittre wer ſich ſchuldig weiß. Wehe dem der in 
der Finſtre muß ſeine Miſſethaten büßen, brennen in der Hölle. 
Das iſt ſo furchtbar, wenn er dann ruft zu Gott, und ihm keine 
Hilfe kommt. Auf Gnade hofft die jammernswerthe Seele, doch der 
himmliſche Gott hat ihrer vergeſſen, weil ſie hier auf Erden darnach 
nicht handelte. 

„Wenn der mächtige König das große Gericht beruft, ſo muß 
dahin kommen jegliches Geſchlecht; keines der Menſchenkinder wagt 
es fern zu bleiben: Jedermann muß dort vor dem Herrn Rede 
ſtehn über alles was er auf der Welt vollbracht. Darum iſt es gut 
dem Manne, wenn er ſelbſt zu Gerichte ſitzt, daß er über jede Sache 


96 Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


nach dem Recht urtheile: dann braucht er nicht zu zagen, wenn 
er vor den Herrn tritt. Der aber weiß nicht welches Urtheil ihm 
wird, der durch Beſtechung ſtöret das Recht. Der Teufel ſteht da⸗ 
bei verborgen und ſetzt auf ſeine Rechnung alles was er übles auf 
Erden jemals that, damit er alles ſage, wenns zum Weltgerichte 
geht: kein Mann fürwahr ſollte der Beſtechung offen ſein.“ 

„Wenn das himmliſche Horn geblaſen wird und ſich der Welten— 
richter aufmacht, dann erhebt ſich mit ihm ein mächtiges Heer, das 
iſt all jo kühn, daß kein Menſch ihm widerſteht. Er fährt zur 
Mahlſtätte, die da abgegrenzt iſt, und die Engel eilen hin fern über 
die Marken, erwecken die Völker, führen ſie zum Herrn. Da ſoll 
Jedermann aus dem Staub erſtehn, aus Grabes Banden. Zurück 
ſoll ihm das Leben kehren, damit er ſich rechtfertige und er nach 
ſeinen Thaten abgeurtheilt werde. Wenn der dann ſeinen Sitz ein⸗ 
nimmt, der richtet über Lebende und Todte, dann ſteht um ihn her 
die Menge der Engel und guter Menſchen ein großer Chor; dann 
kommen ſie alle die aus ihrer Ruh erſtehn: und die Hand wird 
ſprechen, das Haupt es ſagen, jedes Glied es verkündigen bis herab 
zum kleinen Finger, wenn er unter den Menſchen Mord verübte. 
Keiner iſt ſo künſtereich, daß er dort löge, daß er eine That verhehlte 
und ſie dem Könige nicht verkündigt würde. Nur wer feine Miſſe⸗ 
thaten vorher hat gebüßt mit Faſten und mit Almoſen, der braucht 
nichts zu fürchten, wenn er zum Gerichte kommt. Dann wird her- 


Dieſe dringende Einſchärfung der richterlichen Uubeſtechlichkeit fällt auf. 
Daſſelbe Thema, ſogar auf ähnliche Weiſe, behandelt Theodulf in ſeiner „Mahn⸗ 
rede an die Richter“. Alcuin ſchreibt an ſeinen gun Arno, Biſchof von Salz⸗ 
burg, nach Rom: „Wenn aber deine liebevolle Sorge für vieler Menſchen Wohl 
mich antrieb, meinen ſüßeſten David Karl den Großen) zur Ausſendung ſeiner 
Boten zu bewegen, damit ſie Gerechtigkeit übten: ſo ſei verſichert, daß ich dies 
wiederholt gethan habe und auch ſeine Räthe dafür zu gewinnen ſuche.“ Die 
beiden Freunde ſetzten ihren Wunſch durch. Im, Jahre 802 wurden in der That 
zur Handhabung von Recht und Gericht die vornehmſten Männer des Reiches aus⸗ 
geſandt, „welche nicht nöthig hatten, zum Nachtheil der Unſchuldigen Geſchenke 
anzunehmen.“ Und in dem Geſetz, welches dieſe Sendung begleitete, ſagt Karl 
wiederholt: „Daß keiner ſich herausnehme, durch Lohn oder Geſchenke oder Schmei- 
chelei oder die Unterſtützung mächtiger Blutsfreunde die Gerechtigkeit zu ſtören.“ 
— Das hier beſprocheue Gedicht iſt im baieriſchen Dialekt geſchrieben und ohne 
Zweifel zu Ende des achten oder im Anfang des neunten Jahrhunderts abgefaßt. 
Manu könnte auf die Vermuthung kommen, daß Erzbiſchof Arno feiner Entſtehung 
nicht ganz fremd war. 


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über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 97 


vorgetragen das heilige Kreuz, woran Chriſtus erhenkt ward, und er 
zeigt die Wundmale die er auf Erden empfangen aus Liebe zu den 
Menichen.“ . . | 
Der Reſt des Gedichtes iſt verloren. Aber ich habe noch nicht 
alles Erhaltene mitgetheilt. Das Lied hat eine Erweiterung erfahren, 
die gleich merkwürdig iſt. ann | 
Die großen epiſchen Stoffe, aus welchen unter günſtigen Um⸗ 
ſtänden Nationalepen werden, ſind der Schrein, in welchen jedes 
Volk ſein Beſtes und Liebſtes hineinträgt und verſchließt Jahrhunderte 
hindurch. Die letzten Wellen der Völkerwanderung ſpülten die Ni⸗ 
belungenſage aus. Als hierauf Theodorichs Name groß war unter 
den Germanen, wurde auch ihm eine Rolle zugetheilt bei dem großen 
Mord an Attilas Hofe. Einen alten mythiſchen Helden, Rüdiger 
von Pöchlarn, ſetzt Oeſterreich in dieſer Sage ab. Zwei hiſtoriſche 
Markgrafen des zehnten Jahrhunderts, Gero und Eckehart, werden 
durch ſächſiſche Dichter hineingebracht. Und andere anderswo. Der⸗ 
ſelbe Vorgang wiederholt ſich an kleineren epiſchen Gedichten. Da 
gibt es z. B. ein Lied von den Wundern Chriſti. Zufällig wird 
in der erſten Strophe des Paradieſes erwähnt und in der zweiten 
Strophe von der Schöpfung des Menſchen gehandelt. Das iſt einem 
andern Dichter genug, um allerlei über die Schöpfung Adams, über 
die Schöpfung im allgemeinen und über die nähere Beſchaffenheit 
des Paradieſes einzuſchalten. Der war freilich nur ein geſchmack⸗ 
loſer Verſeſchmied. Aber auch gute Dichter verſchmähen es in der 
alten Zeit zuweilen, ihren Producten die Abrundung ſelbſtändiger 
Werke zu geben, und ſetzen ſie lieber an bereits Vorhandenes an. 
Die chriſtliche Mythologie hat eine Vorſtellung ausgebildet vom 
Antichriſt und ſeinem Kampf mit Elias am jüngſten Tage. Auf die⸗ 
ſen Stoff fällt ein gewandter Poet. Aber er kennt auch die ſo eben 
vorgeführte Schilderung des Lebens nach dem Tode und des Welt— 
gerichtes. Er findet daß gerade fein Thema eine angenehme Vervoll⸗ 
ſtändigung dieſer Schilderung wäre. Er bedenkt ſich alſo nicht, ſie 


an einer ziemlich unpaſſenden Stelle zu unterbrechen, und ihr folgen⸗ 


des einzufügen: 
„Das hört' ich ſagen die vor der Welt das Rechte lehren, daß 
der Antichriſt ſoll mit Elias kämpfen. Der Böſewicht iſt gewaffnet, 
7 


Scherer, Vorträge. 


98 Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


der Krieg bricht unter ihnen los. Die Kämpfer ſind ſo kraftvoll, 
ſo ſchwer iſt dieſer Handel. Elias ſtreitet für das ewige Leben. Er 
will der Guten und Gerechten Reich verſtärken. Darum wird ihm 
helfen der des Himmels waltet. Der Antichriſt ſteht auf des Erb⸗ 
feinds Seite, ſteht bei dem Satan, der ihn wird zu Falle bringen. 
Er wird auf der Kampfſtätte verwundet niederſinken, und bei dieſem 
Gange ſieglos werden. Doch glauben viele weiſe Gottesmänner, daß 
der Heilige in dem Kampfe ſoll verletzet werden. Und wenn des 
Elias Blut träuft auf die Erde, ſo entzünden ſich die Berge, kein 
Baum ſteht auf dem Boden feſt, die Gewäſſer all' vertrocknen, das 
Meer verſchluckt ſich ſelbſt, der Himmel wird verzehrt in Flammen, 
herab fällt der Mond, die Erdſcheibe brennt, ſtehen bleibt kein Fels. 
Wenn der Straftag fährt ins Land und mit dieſem Feuer ſucht die 
Menſchen heim: da kann kein Blutsfreund helfen vor dem Welt⸗ 
brand. Wenn der unermeßliche Glutregen Alles verbrennt, und 
Feuer und Luft es Alles durchfegt: wo iſt dann die Mark, um die 
der Menſch mit ſeinen Sippen ſtritt? Die Mark iſt verbrannt, die 
Seele ſteht verzweifelt, mit nichts kann fie mehr Buße thun: ſtracks 
fährt ſie zu der Hölle.“ f 

Man kann nicht ſagen, daß dieſer Dichter große Mittel auf- 
wende, um eine — nach meinem Gefühl wenigſtens — nicht geringe 
Wirkung hervorzubringen. Er nennt einfach ſeinen Gegenſtand, weiſt 
auf deſſen große Bedeutung hin, ſtellt die Kämpfer einander gegen⸗ 
über, vergleicht die Sachen die ſie verfechten, bezeichnet kurz den 
Ausgang des Kampfes, ſchildert dann die Folge deſſelben, den Welt⸗ 
brand (muspilli), indem er das Ereigniß durch die einzelnen Vor⸗ 
gänge und durch die einzelnen Objecte verfolgt, an denen es ſich 
vollzieht. Er ſchließt endlich, indem er auf eindringliche Weiſe eine 
Sittenlehre daraus ableitet. Ueberall iſt er ſehr kurz, ſehr ſparſam 
mit Worten, ſtets nur die Sache bezeichnend, verzichtend auf jeden 
Schmuck. Dafür iſt auch die Größe des Gegenſtandes völlig rein 
aufgefaßt, und wirkt allein durch ſich ſelbſt, wie eine Choralmelodie 
ohne Harmoniſirung und Begleitung. Die wiederholte Berufung auf 
die Autorität gelehrter Theologen als die Quelle, aus welcher der Dich- 
ter ſchöpft, befremdet und klingt uns proſaiſch. Sie iſt aber bei den 
alten Poeten hergebrachte Manier, und deshalb dieſem zu verzeihen. 


Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 99 


Vergleicht man den Zuſatz mit dem urſprünglichen Gedichte, zu 
dem er gemacht worden, ſo hat er Einiges voraus. Beide Verfaſſer 
behandeln ihren Stoff nach Art der Predigten, in denen Erzählung 
und Schilderung mit Ermahnung und Betrachtung wechſelte. Dem 
erſten Dichter muß man den Vorwurf machen, daß feine Schilderun⸗ 
gen trotz dem größeren Aufwand an Worten nicht immer anſchau⸗ 
lich werden. Insbeſondere hat er das Bild der Hölle nicht vollſtän⸗ 
dig und ſinnlich genug ausgemalt, obgleich ihm dafür, ebenſo wie 
für die Beſchreibung des Himmels, eine Menge beinahe feſtſtehender 
Anſchauungen überliefert waren. Die lehrhaften Theile ſind ihm in 
noch höherem Grade mislungen. Da verfällt er zuweilen in den 
trockenſten Ton, oder wird unklar und ſchwer verſtändlich, oder ver— 
wickelt ſich in endloſe Wiederholungen derſelben Ausdrücke und Re⸗ 
densarten, daß man meint, er komme nicht los davon. Ich habe 
Einiges dieſer Gattung oben gemildert, um das Verdienſt auch ſeiner 
Arbeit beſſer hervortreten zu laſſen. Ohnehin iſt es niemals mög- 
lich, die edle Kraft der Sprache in heutigem Deutſch wiederzugeben. 
Die Pracht des vollen Klanges, bei aller Rauhheit dieſe Lieblichkeit, 
genießt nur wer die Originale kennt. Ueberſetzungen aus dem Alt: 
d0deüeutſchen, auch die beſten, machen ſtets den Eindruck, als ob man 
Richard Wagner'ſche oder Berlioz'ſche Muſik mit Sebaſtian Bachs 

oder Händels Orcheſter zu ſpielen verſuchte. 

Das „Muſpilli“ und die wenigen poetiſchen Reſte die wir ſonſt 
anführen konnten, ſind uns nur wie durch vereinzelte Gebelaunen des 
Schickſals erhalten: wir finden ſie an die Ränder anderer Bücher 
hingekritzelt, auf zufällig leere Blätter und freie Stellen eingetragen, 

als Beiſpiele deutſcher Verſe ausgewählt und übel aneinander gereiht, 
aus ſchwankendem Gedächtniß aufgezeichnet, oft entſtellt, nirgends in 
ſicherer Ueberlieferung fortgepflanzt. 

Die erſten Dichter, welche chriſtlichen Lebens- und Lehrgehalt 
in deutſche Verſe faſſen wollten, ſchloſſen ſich an den Brauch der 
Volkspoeten an, deren Kunſt ſie übten, deren Strophen, Versformen 
und Stabreime ſie nachahmten. Sie wollten den heidniſchen Volks— 
geſang durch chriſtlichen erſetzen. Sie vertrauten die Eingebungen ih⸗ 
rer Muſe in Geſtalt kurzer Lieder ebenſo der mündlichen Ueberliefe— 
rung wie die fahrenden Sänger des germaniſchen Epos. 


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100 Über den Urſprung der deutſchen Litteratur. 


Soll man das chriſtliche Volkspoeſie nennen? Die Gedankenwelt 
aus der ſie entſpringt iſt eine andere. Die Methode der Production 
iſt gewiß dieſelbe. Aber die alte Form wurde mit Bewußtſein, zu 
beſtimmten äußern Zwecken auf einen neuen Inhalt angewendet, das 
nationale Kleid über einen fremden Leib gezogen. Und dieſes bewußte 
Schaffen iſt der Charakter der Kunſtpoeſie. Der Weg, der zu einer 
neuen Productionsart führte, war damit eingeſchlagen. Und das erſte 
entſchiedene Erzeugniß der Schriftpoeſie, das von Anfang an nur 
für die Schrift gedacht und nur in der Schrift denkbar war, fällt 
bereits in die Zeit Ludwigs des Frommen. Es iſt der ſächſiſche 
Heliand, das Leben des Heilands, in ſechstauſend Langverſen, eine 
der größten Leiſtungen deutſcher Dichtkunſt überhaupt. 

Doch davon habe ich heute nicht mehr zu reden. Ich ſtehe am 
Schluſſe meiner Betrachtung. Von den Erzeugniſſen eines augen⸗ 
blicklichen und zufälligen Bedürfniſſes bis zu ſolchen Schöpfungen, wel⸗ 
che der Genius der echten Poeſie im Fluge wenigſtens geſtreift hat, 
ſind die ſämmtlichen Denkmäler unſerer älteſten Proſa und Kunſt⸗ 
dichtung an uns vorübergezogen. Ihrer aller Lebenselement iſt das 
Chriſtenthum. Ihrer aller Anreger — mittelbar oder unmittelbar, 
gleichviel — iſt Karl der Große. Dieſer Menſch von grenzenloſer 
Sinnlichkeit, von unerſättlicher Eroberungsluſt, von einem Fanatis⸗ 
mus der zur Grauſamkeit ihn fortriß: wie wollen wir ſeine Geſtalt 
feſthalten, wenn wir an den Mann denken, deſſen Herz mitten un⸗ 
ter den Geiſtlichen und Gelehrten treu an deutſcher Mutterſprache 
und deutſcher Poeſie gehangen und der in dem Gedächtniß unſerer 
Vorfahren nicht wie bei den Franzoſen als ſtreitbarer Kriegsfürſt, 
ſondern wie ein ehrwürdiges Familienhaupt als gerechter Richter 
fortlebte? 

Karl ſitzt freundlich in milden Gedanken. Drei ſeiner Töch⸗ 
ter nahen ſich eine nach der andern, und drücken einen zärtlichen Kuß 
auf die weiße Stirn. Sie kommen wieder Hand in Hand, und be⸗ 
kränzen mit Blumen dies theure Haupt. Bertha bringt Roſen, Ro⸗ 
trud bringt Veilchen, Giſela Lilien. 

Es war ein gelehrter Zeitgenoſſe, der dieſes anmuthige Bild 
entwarf. 


über das Nibelungenlied. 


Vortrag gehalten im Saale der Handelsakademie zu Wien 
am 5. März 1865. 


Es iſt nicht meine Abſicht, über das Nibelungenlied in allen 
den verſchiedenen Beziehungen zu handeln, in welchen über ein 
Denkmal der Litteratur Betrachtungen angeſtellt werden können. Die 
äſthetiſche Würdigung, die Analyſe des Gedichtes in poetiſcher Hin⸗ 
ſicht, die Nachproduction ſeiner idealen Charaktertypen, die nähere 
Beſchreibung der Zuſtände die es vorausſetzt und abſpiegelt, ſelbſt die 
genauere Darſtellung der Entſtehung des uns überlieferten Nibelun⸗ 
genliedes und die Schilderung des wiſſenſchaftlichen Streites der ſich 
in neuerer Zeit daran geknüpft hat, bilden nicht den eigentlichen Ge⸗ 
genſtand meines Vortrages. Was ich verſuchen will, iſt die Entwicke⸗ 
lung der erſten Urſprünge des Gedichtes. Ich möchte Ihnen an 
einem Beiſpiele zeigen, wie Sagen in der Volksphantaſie entſtehen, 
wie die großen epiſchen Stoffe ſich ausbilden und geſtalten. 

Was ich gebe ſind im Weſentlichen die Anſchauungen Lachmanns. 
Und dieſe werde ich hinſtellen, ohne mich auf die Widerlegung deſſen 
einzulaſſen, was von Anderen dagegen vorgebracht wurde. Aber 
durchgängig ſetze ich die Fortbildung voraus, welche jene Lachmann'⸗ 
ſchen Anſichten durch Karl Müllenhoff erfuhren. 

Die erſten Urſprünge des Nibelungenliedes, das heißt die Ent- 
ſtehung der Nibelungenſage, liegen weit vor der Zeit in welcher das 
uns bekannte Nibelungenlied entſtand. 

Denn das Nibelungenlied iſt nicht das Werk Eines Dichters in 
dem Sinne wie wir heute von poetiſchen Werken ſprechen. Die Vor⸗ 


102 Über das Nibelungenlied. 


ſtellung die wir uns von der Arbeit eines Romandichters etwa ma- 
chen, wie er aus Erlebtem und Gedachtem, aus Fremdem und Eige— 
nem, aus Ueberliefertem und Erfundenem eine einheitliche Compoſition 
erſchafft, welcher ſein Geiſt das eigenthümliche und entſcheidende Ge⸗ 
präge aufdrückt, — dieſe Vorſtellung müſſen wir gänzlich fallen laſ⸗ 
ſen, wenn es ſich von der Entſtehung des Nibelungenliedes handelt. 

An dem Nibelungenliede iſt Jahrhunderte hindurch gearbeitet 
worden, bis es die Geſtalt erhielt in der wir es kennen. Und wenn 
wir die Perſonen wüßten denen wir das Verdienſt der Arbeit zuerkennen 
müſſen, ſo würden auch ſie ohne Zweifel nach Hunderten zählen. 

Das Gedicht ſelbſt iſt keineswegs ein einfaches untheilbares We- 
ſen mit ſcharfen, markirten Zügen, das nur einmal vorhanden nicht 
ſeines Gleichen hätte. Es iſt keineswegs das einzige und ausſchließ⸗ 
liche Ziel jener Arbeit von Jahrhunderten, jener Bemühungen von 
zahlloſen Dichtern geweſen. Das Nibelungenlied iſt nur Ein Exem⸗ 
plar einer weit verbreiteten, mit dem verſchiedenen Himmel ſich wan⸗ 
delnden Pflanze. 

Unſer Nibelungenlied iſt in Oeſterreich 1 % In Weſt⸗ 
falen aber ſang man von Siegfried und Kriemhild und Attila ganz 
anders. Im fernſten Norden, auf Island, in Grönland, flüſterte 
die Muſe den Dichtern von Sigurd dem Drachentödter und von der 
Jungfrau Brunhilde weit verſchiedenen Geſang zu. Die altdäniſchen 
Heldenlieder weiſen ihre beſonderen Züge auf, mit denen ſie die Ge⸗ 
ſtalten der Sage ausſtatten. Und auf den Färöiſchen Inſeln ſingt 
das Volk im Chor und zum Tanze noch heute wieder andere Lieder 
von Grimhild und wie ſie ihre Brüder mordet. 

Dennoch ein und derſelbe Stoff, ein und dieſelbe Sage, die un⸗ 
zählige Mal ihre Geſtalt wechſelt ohne jemals ihr innerſtes Weſen 
zu verändern. 

Wir aber müſſen angeſichts dieſer Vielgeſtaltigkeit die Frage er⸗ 
heben: wo ſang man zuerſt von den Nibelungen? wann und was 
ſang man von ihnen? 

Und weiter müſſen wir fragen: auf welchem Wege wurde die 
poetiſche Phantaſie von den beſungenen Gegenſtänden entzündet? Sind 
es Erdichtungen ausgeheckt von der freiſpielenden Einbildungskraft 
eines großen genialen Mannes? Oder iſt es hiſtoriſche Wahrheit: 


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über das Nibelungenlied. | 103 
haben Siegfried, Brunhild, Hagen, Kriemhild gelebt und als leib— 
haftige athmende Menſchen die Erde betreten? Oder gehören ſie zu 


jenen Wahngebilden, welche der menſchliche Geiſt ſich ſelber erſchafft 


ohne es zu wiſſen, die in Wahrheit niemals geweſen ſind und an die 
er dennoch glaubt ſo feſt und feſter als an die Dinge die ſein Auge 
betrachtet, ſeine Hand berührt? 

Wir können auf alle dieſe Fragen ganz beſtimmte und einfache 
Antworten geben. 

Der Inhalt des Nibelungenliedes iſt zur Hälfte wahr, zur Hälfte 
unwahr. Wahr im weſentlichen iſt der zweite Theil des Gedichtes, 
wo Alles hindrängt auf das furchtbare Ende, auf den blutigen Mord 
an Attilas Hof: das Gedächtniß großer erſchütternder hiſtoriſcher Er⸗ 
eigniſſe iſt darin bewahrt worden. Unwahr iſt die erſte Hälfte der 


Dichtung in welcher Siegfried im Mittelpuncte ſteht, der glänzende 


Held, wie er kämpft, wie er liebt, wie er herrſcht, wie er ſtirbt. 
Aber auch dieſer Theil iſt nicht erdichtet, wie ein Poet freiwählend 
in der Maſſe des Möglichen erfindet; ſondern er ruht auf alten re⸗ 
ligiöſen Vorſtellungen unſerer Urväter, enthält germaniſches Heiden⸗ 
thum, erzählt Thaten und Schickſale von Göttern wie ſie in der My⸗ 
the lebten. 5 

Mit der Zuſammenfügung beider Theile entſteht die Nibelun- 
genſage. Der deutſche Volksſtamm bei welchem dieſe Zuſammen⸗ 
fügung geſchah, iſt derjenige, dem es zuerſt gelang mit friſcher, be— 
zwingender Macht die zerſtreuten Kräfte der anderen germaniſchen 
Stämme zu einer einzigen Keule zuſammenzubinden, die auf die ro- 
maniſchen Völker furchtbar herabſauſte. Die Zeit in welcher die 
Zuſammenfügung vollzogen wurde, iſt der Höhepunct der Völkerwan⸗ 
derung, die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts unferer Zeitrech- 
nung, als Attila ſtarb und in Rom der Thron der Cäſaren zerbrach. 
Die Zeit, in welcher die europäiſche Welt den Germanen zu gehören 
begann, iſt auch die Zeit in welcher das größte Gedicht ihres Heiden— 
thums von den Göttern ihnen geſchenkt wurde. Die Nibelungen⸗ 
dichtung iſt der vollſtändigſte großartigſte Ausdruck den das deutſche 
Heidenthum gefunden hat, es iſt die bleibende Erbſchaft die es ſpäte— 
ren Geſchlechtern vermacht hat. 

Wie, wenn wir heute nach einem ähnlichen Ausdrucke unſerer 


104 Über das Nibelungenlied. 


Zeit ſuchten? nach einem Gedicht worin wir unſer beſtes Fühlen, 
unſer beſtes Denken, den feinſten Duft unſerer eigenſten Empfindun⸗ 
gen und Ideen beiſammen fänden? Wir würden vergeblich ſuchen. 
Keine zwei Menſchen heute, die eine gemeinſame Weltanſchauung 
ohne gegenſeitige Conceſſionen aus dem bloßen Zuſammenklange ihrer 
Geſinnungen heraus proclamiren könnten. Keine zwei Menſchen 
heute, welche denſelben Gedanken in gleiche Worte hüllen würden. 
Politik und Religion, die Angelpuncte um die ſich unſer allgemeines 
Leben dreht, — Wiſſenſchaft und Poeſie, die erhabenen Tröſterinnen 
in deren Armen der individuelle Geiſt aus den Stürmen des Lebens 
fliehend ſich zur Beruhigung und Sammlung hindurchringt: — 
überall in ihnen Parteien: denn überall Streit möglich. Alle Auto⸗ 
ritäten ſind für uns gefallen. Aus eigener Kraft, mit eigenem Muth 
ſucht jeder ſeinen beſondern Weg. Da entſtehen wohl Werke des 
Geiſtes zu denen wir demüthig emporſchauen, auch Despoten treten 
auf, Bezwinger der Seelen und Bezwinger der Leiber: aber wir 
fühlen und ſcheuen den Zwang und ergeben uns nicht. Keine Dich⸗ 
tung, kein wiſſenſchaftliches Syſtem wird uns geboten, worin wir 
Alle uns ſelbſt wiedererkennten, dem wir Alle nichts hinzuzuſetzen, 
dem wir Alle nichts hinwegzuwünſchen hätten. Was in die letzte 
Hütte ſeinen Weg ſich bahnt, iſt uns trivial. Die Kirche, worin 
wir uns erbauen, dazu iſt jenen das Thor verrammelt. Jeder Ein⸗ 
zelne bildet für ſich eine Welt. | 

In der Zeit hingegen, aus welcher die Nibelungendichtung ſtammt, 
bedeutete der Einzelne nichts und die Geſammtheit Alles. Eine und 
dieſelbe Ausdrucksweiſe für Alle im Leben wie in der Poeſie. Eine 
und dieſelbe Religion für Alle, gegen welche kein Zweifel und keine 
Kritik ſich regt. Eine und dieſelbe politiſche und rechtliche Anſchauung 
und Sitte. Und die Individuen Sklaven der nationalen Gemeinſam⸗ 
keit deren geiſtiges Kleid ſie tragen. 

Aus dem Innerſten dieſer Alles und Alle gleichmäßig durchdrin⸗ 
genden heidniſchen Welt- und Lebensanſchauung re die Nibe- 
lungendichtung. 

Sie hat, wie geſagt, ein doppeltes Theil an fich, ein unwahres 
und ein wahres, ein göttliches gleichſam und ein menſchliches. Lang⸗ 
ſam ſtieg jenes, ein reiner Geiſt, aus dem Himmel herab auf die 


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über das Nibelungenlied. 105 


Erde, um ſich mit Knochen, mit Fleiſch und mit Blut zu bekleiden. 
Drei Momente können wir unterſcheiden, in welchen dieſe Vermäh⸗ 
lung des Himmliſchen und Irdiſchen ſich vollzog. 

Betrachten wir zuerſt den mythologiſchen Gedankenkreis der in 
die Nibelungenſage ſich hineinſchlug. 


Unſere Vorfahren hatten nur ſo weit Eine Religion wie ſie Ein 
Volk waren. Und die vier großen Stämme in welche ſie zerfielen 
bildeten im Grunde jeder eine Nation für ſich mit ſeiner eigenen 
Prieſterſchaft, ſeinen eigenen Heiligthümern, ſeinem eigenen Haupt⸗ 
gott dem er vor den übrigen Preis und Verehrung widmete. Bei 
dem einen war dies eine Göttin, die Mutter Erde, auf einer Inſel 
des Oceans an einem düſteren See ihr Heiligthum. Bei dem zwei- 
ten ein göttliches Brüderpaar, dem Caſtor und Pollux vergleichbar. 
Bei dem dritten Zeus der uralte Himmelsgott, in einem ausgedehn⸗ 
ten Walde durch Menſchenopfer geehrt. Bei dem vierten endlich, 
bei den Franken, iſt Wodan der oberſte Gott, der Gott der im 
Sturm über die Erde brauſt in langem wallendem Mantel. 

Verweilen wir bei ihm. 

Auf ihn iſt aller Glanz verſammelt, womit das Volk die um⸗ 
gibt die es liebt und von denen es Liebe erwartet. Andere Götter 
galten in einzelnen Naturerſcheinungen als die wirkenden Mächte, 
oder ſtanden einzelnen Lebensbeziehungen als die leitenden ſegenver⸗ 
leihenden Gewalten vor. Wodan überragt fie alle. Was Er ge- 
währt iſt das Werthvollſte, Ihm dankt der fromme Menſch das 
Höchſte was ihm zu Theil werden kann. Wenn dichte Saaten reich— 
liche Ernte verſprechen, fo iſt das Wodans Geſchenk. Wenn tüchti- 
gen Kämpfern die Krone des Sieges zufällt, ſo hat Wodan ein 
Wunder gewirkt und dem ruhmreichen Helden ſeinen Speer ge— 
liehen. | 
Das ganze Leben der Natur ſchien dem heidniſchen Franken in 
dieſes Gottes Leben beſchloſſen. Was freudenvoll und ſchön und 
herrlich iſt in der äußeren Welt, das gehörte Wodans Reich an. 
In den wechſelnden Zeiten des Jahres erblickte der Franke Wodans 
wechſelnde Schickſale. Mit der aufſteigenden Pracht des Frühlings 
ſieht er Wodan lebendig werden, im Sommer weiß er ihn als den 


106 Über das Nibelungenlied. 


unbeſtrittenen König der Erde. Aber die grüne Pracht fällt ab, 
wird verweht — und der Gott ſtirbt dahin. Die winterlichen 
Mächte über die er geſiegt, über die er geherrſcht, bereiten ihm nun 
den Tod. i 

Heilige, ehrfürchtige Lieder bis zu deren Entſtehung kein Ge- 
dächtniß hinaufreichte, von deren Verfaſſern keine Kunde bewahrt 
war, begleiteten den Gott auf ſeinem Lebenswege, und wurden zur 
Feier ſeiner großen Feſte vom Volke im Chore geſungen. Und in⸗ 
dem das Volk im Frühjahr mit ihm triumphirt über ſeine winter⸗ 
lichen Feinde, über den Wolkendrachen, der das Licht des Himmels 
verhüllt und den der Gott erſchlägt, um den Schatz des Himmels, 
den Segen der Wolke ihm zu entreißen, — indem das Volk zur 
Zeit der erſten Tag⸗ und Nachtgleiche des Gottes Vermählung feiert 
mit der Jungfrau Sonne, indem es ihm entgegenjubelt da er in ſein 
Land einreitet, — indem es der Wonne ſich freut die ihm ſeine 
Herrſchaft verſpricht: nennt es ſeinen Namen Siegfried d. i. der 
Friede und Freude bringt durch ſeinen Sieg. 

Wodan-Siegfrieds erſte Frau iſt die Sonne des Frühlings die 
mit Tagen von wachſender Dauer die Welt beglückt. Die Strahlen⸗ 
gluten die ſie umgeben ſind eine feurige flackernde Lohe in deren 
Mitte ſie ſchläft, die der Gott durchreiten muß um ſie zu erwecken 
und ſich zu erringen. Und wie Er als ein ſtreitbarer ſiegreicher 
Kriegsheld gedacht wird, als das Ideal eines Mannes, ſo geſtaltet 
die Phantaſie des Volkes Sie zum Ideale des Weibes aus. 

Die deutſchen Frauen der älteſten Zeit waren auch ein kriegs⸗ 
muthiges Geſchlecht. Was ſie im Hauſe und im Frieden leiſteten, 
das fand ſeine poetiſche und religiöſe Verklärung in jenen blonden 
Göttinnen von ſtiller Hoheit die in ſanftumfließenden weißen Gewän⸗ 
dern an den Ufern der Flüſſe ihr goldenes Haar ſtrählen oder in 
heimlichem nächtlichem Zuge mit einem Heere von Kinderſeelen über 
die Erde ſchweben. Aber auch lanzentragende Göttinnen gab es, wie 
manche Weiber ganz gerüſtet mit in die Schlacht ſich ſtürzten. Eine 
ſolche iſt Siegfrieds Weib. Und ſie heißt Hilde, die Kämpfende — 
und Brunhild oder Brünhild als die in der Brünne d. i. im leuch⸗ 
tenden Panzer kämpft. 

Das Jahr rückt zur Sommerſonnenwende vor, die Tage wer⸗ 


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Über das Nibelungenlied. 107 


den von da ab kürzer, denn Tag und Nacht werden gleich, und da— 
mit beginnt das Uebergewicht und die Herrſchaft der Nacht. Die 
Mächte der Nacht, deren Herrſchaft ſich ausbreitet dem Winter ent⸗ 
gegen, nennt die alte heilige Poeſie Kinder der Dunkelheit, Söhne 
des Nebels — Nibelungen. Die dunkeln Nibelungen beſtricken mit 
ihren Liſten den lichten Siegfried und die leuchtende Brunhild. 
Eine Nibelungin, eine andere Hilde, Kriemhild d. i. die vermummte, 


verhüllte Kämpferin, eine Göttin der Nacht — wie Brunhild eine 


Göttin des Tages, — lockt Siegfried in ihre Netze. — Ein Zauber⸗ 


trank wird ihm gereicht, er vergißt ſeine Brunhild, und wird der 


Sklave der Nibelungen. Er ſelbſt muß ihnen nun Brunhild über⸗ 


liefern, mit dem Nibelung Günther ſchließt er Bundesbrüderſchaft, 


wechſelt mit ihm die Geſtalt, durchreitet ſo noch einmal die Flam⸗ 


menburg Brunhilds: und ſie wird Günthers Weib. 


Aber die Nibelungen wollen nicht blos ſeinen Dienſt, ſie wollen 
ſeinen Tod. Der Nibelung Hagen erſchlägt ihn, und mit ihm ſtirbt 
freiwillig Brunhild die nicht aufgehört hat allein ihn zu lieben. 
Die lichten Götter ſind todt, das Reich der winterlichen Nacht bricht 
herein. | | 

Das Volk auf Erden aber errichtet einen Scheiterhaufen, be- 
hängt ihn mit Koſtbarkeiten und zündet ihn an, als wären aus 
ſeiner Mitte die Schutzgötter des Sommers geſchieden, und müßte 


es nun ihnen die letzten Ehren erweiſen. 


Dies iſt in allgemeinen Umriſſen der Mythus von Wodan dem 
Siegefried, wie die religiöſe Poeſie der Franken ihn beſang. Jeder 
einzelne Zug hat ſeine Bedeutung, jede Wendung der Erzählung ent— 
ſpricht einer Wendung des Naturlebens. Der ganze Mythus iſt 
ſymboliſirte Natur. 

Es iſt Poeſie was dieſe Umwandlung der Naturereigniffe in 
göttliche Geſchichte bewirkt hat. Aber die Poeſie kann dabei nicht 
ſtehen bleiben. Sie muß an ihren Geſtalten weiter bilden, und 
bilden ſo lange bis ſie einheitliche Weſen erhält, in ſich geſchloſſen 
wie lebendige Menſchen mit einer fühlenden Seele der wir nachfüh— 
len können. 

Wie vielerlei widerſpruchsvolle Züge waren über Wodan zu— 


108 über das Nibelungenlied. 


ſammengehäuft. Wodan nach urſprünglicher Anſchauung iſt der Gott 
der im Sturme wüthet, ein eisgrauer bärtiger Alter, der mit den 
Seelen der Todten in den Zwölfnächten um Neujahr durch die Lüfte 
zieht. Und wie vereinigt ſich damit das Bild Wodans des Sieg- 
frieds? Eine Phantaſiegeſtalt mit dieſen Schickſalen, wie kann ſie 
anders gedacht werden, denn als ein blühender ſchöner Jüngling mit 
glänzenden Augen, von hoher Geſtalt, mit ſtolzem elaſtiſchem Gang, 
ein Herzenbezwinger, von leuchtender Schönheit das blonde lockichte 
Haupt. Und dieſer dahingerafft in ſeinem Jugendglanz, über die 
weißen kräftigen Glieder ein Blutſtrom mit dem das Leben ver⸗ 
rinnt. 

Je mehr ſich die Poeſie aller dieſer Züge bemächtigte, je mehr 
ſie ſie zur Weſenseinheit zu verbinden ſtrebte: deſto mehr mußten 
ſich dieſelben der Verbindung widerſetzen und endlich unwillkürlich zu 
zwei ganz verſchiedenen Bildern ſich gruppiren, ſo daß in der Phan⸗ 
taſie des Volkes immer deutlicher und beſtimmter zwei Geſtalten ſich 
von einander loslöſten. ; 

Dazu kam ein Anderes. Die älteſte Vorſtellung des Göttli- 
chen trägt mannigfache Unreinheit, viele irdiſche Elemente in ſich. 
Sie befreit ſich davon allmählich. Ruhend, feſt in ſich, ohne Wan⸗ 
del und Wechſel, ein König der nie ſeinen Thron verläßt, voll 
Ehrwürdigkeit und leidenſchaftslos, vor allem: ewig lebend und dem 
Tode nicht unterworfen — dieſem Bilde ſtrebt die Vorſtellung 
des Göttlichen zu, und was ihr widerſpricht, wird mehr und mehr 
ausgeſchieden. 

So wurde Wodans Idee geläutert. Er wurde immer voll⸗ 
ſtändiger ein Gott. In gleichem Maße wurde Siegfried immer 
vollſtändiger ein Menſch. Nur die göttliche Abkunft blieb ihm: 
und die göttliche Ewigkeit wurde mit der menſchlichen Sterblichkeit 
durch die Vorſtellung der Unverwundbarkeit bis auf Eine Stelle — 
vereinbart. Seine ganze Geſchichte mußte nun möglichſt ins Menſch⸗ 
liche umgewandelt werden. Das Wunderbare freilich konnte bleiben, 
Niemand nahm daran Anſtoß. Aber die Motive der handelnden 
Perſonen mußten menſchlich und verſtändlich werden. 

Siegfried galt von nun an für einen fränkiſchen Königsſohn, 
Brunhild war eine Königstochter. Und aus den Nibelungen wurde 


Über das Nibelungenlied. 109 


ein königliches Geſchlecht mit ſeinem eigenen Reich. Ein Rangſtreit 
der Königinnen Brunhild und Kriemhild ſchlingt den erſten Schick⸗ 
ſalsfaden: Brunhild erfährt von dem unbedachten Zorne der aufge: 
regten Gegnerin, wie man ſie hinterging, wie nicht Günther, ſon⸗ 
dern Siegfried in Günthers Geſtalt ihr Flammengefängniß durch⸗ 
brach: fie ſelbſt verlangt Siegfrieds Tod, und bberedet die Nibe- 
lungenfürſten dazu. Die Götterſage wurde zur Heldenſage, den 
alten Himmelsbewohnern entſproßte eine neue Generation fabelhafter 
Menſchen. | 

Wie Wodan der vornehmſte Gott, fo war nun Siegfried der 
vornehmſte Held. Die Phantaſie der Dichter wie ihres Publicums 
war mit ſeinen Schickſalen angefüllt. Der König wie der Bauer 
begehrte von ihm zu hören. Wenn die Bauern beim Trunk ſaßen, 
ſo mochten ſie wohl ein Lied anſtimmen vom Drachentödter. Wenn 
der König zu den Freuden des Mahles die Würze der Poeſie herbei— 
wünſchte, ſo rief er wohl nach dem Sänger, der die nibelungiſche 
Hinterliſt beklagte, welche den jungen Siegfried beſtrickte. 


Wir gelangen zu dem zweiten Momente in der Entſtehung der 
Nibelungenſage. 

Im fünften Jahrhundert unſerer Zeitrechnung, als bereits der 
Gott Siegfried in der Phantaſie ſeines Volkes ein freilich noch 
außerordentlicher Menſch geworden war, ſaßen die Franken am lin— 
ken Rheinufer etwa von Coblenz rheinabwärts bis an die Mündung 
der Maas. Südlich von ihnen in der Rheinpfalz hatten die Bur⸗ 
gunder ein Reich gegründet, deſſen Hauptort Worms war. Der 
burgundiſche König hieß Gundahar, Gunther. Gleichzeitig mit dem 
Weſtgothen Theodorich in Südfrankreich erhob er ſich gegen Aetius 


den eigentlichen Herrſcher von Weſtrom, der, geſtützt auf huniſche 


Hilfsvölker, mit kraftvoller Hand das Regiment in Gallien aufrecht 
hielt. Die Burgunder fielen in Belgien ein, wurden jedoch von Aetius 
zu einem demüthigen Frieden gezwungen (435). Auch gegen Theo- 
dorich waren die Römer ſiegreich. Die Burgunder aber, welche den 
ihnen aufgezwungenen Frieden gebrochen hatten, wurden von den 
Hunen 437 bis zur Vernichtung geſchlagen, 20,000 der Ihrigen fie⸗ 


110 Über das Nibelungenlied. 


len — eine ungeheure Zahl für damals — Gunther ſelbſt blieb in 
der Schlacht: das burgundiſche Königsgeſchlecht war ausgetilgt. 

Dieſes gewaltigen Ereigniſſes das die umwohnenden Völker er— 
ſchütterte bemächtigte ſich die fränkiſche Dichtung. Aber die Franken 
waren noch keine ſchreibende Nation damals, es gab keine ſichere 
Ueberlieferung geſchehener Dinge, keine Anſtalten waren getroffen zur 
genauen Ermittelung ihres inneren Zuſammenhanges, das einfache 
fertige Reſultat wurde hingenommen, ſchwankende Berichte darüber 
gingen von Mund zu Mund. Niemand unter dieſen Germanen ſchaute 
der römiſchen Politik in die Karten. Niemand vielleicht überſah alle 
Ereigniſſe des Krieges und den ganzen Verlauf der großen Entſchei⸗ 
dungsſchlacht. Wie die Nachricht ſich verbreitete, mußten zahlreiche 
unwillkürliche Entſtellungen die Einzelheiten betreffen. Und der erſte 
Franke der ſie dichteriſch bearbeitete, wußte von der hiſtoriſchen Wahr⸗ 
heit vielleicht nichts als die Thatſache des Unterganges Gunthers 
durch die Hunen, welchen die öffentliche Meinung der Deutſchen 
einem argen Verrathe zuſchrieb. Wenn aber ein poetiſch wirkſamer 
Stoff daraus werden ſollte, ja ſelbſt, wenn ein einfacher Menſch der 
kein Dichter war, von der Schreckensbotſchaft ergriffen, mit der Er⸗ 
zählung davon auf Anderer Gemüther Eindruck hervorbringen wollte: 
wie viel mußte er hinzuthun! Wie vieles verlangte ſeine Einbildungs⸗ 
kraft zu wiſſen, wovon ihm die Ueberlieferung nichts gewährte. Er 
brauchte vor allem einen beſtimmten Menſchen von dem er ein be⸗ 
ſtimmtes Bild in der Seele trug, deſſen Leidenſchaften, Abſichten, 
Machinationen er den Untergang der Burgunder zuſchreiben konnte. 
Er mußte in die Tiefen ſeines Gemüthes blicken. Er mußte die Ein⸗ 
zelheiten ſeines Verfahrens wiſſen. i 

Die Perſon die ſich von ſelbſt gleichſam in des Dichters Phan⸗ 
taſie einfand und die vacante Stelle beſetzte, war Attila. | 

Nicht Attila ſelbſt war der Beſieger geweſen. Aber als ver 
Schrecken ſeines Namens ſich ausbreitete, da gab es keine furchtbare 
That der Hunen mehr, die nicht auf ſeine Rechnung geſetzt wurde. 
Und weil Macht und Reichthum, die königliche Würde und der kö— 
nigliche Schatz für die germaniſche Anſchauung eng verſchwiſterte 
und unzertrennliche Begriffe waren; ſo mußte Habſucht das Motiv 
geweſen ſein das Attila gegen die Burgunder gereizt hatte. Ihren 


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über das Nibelungenlied. 111 


Schatz wollte er ihnen abgewinnen, der Verrath den die Römer began- 
gen haben ſollten wurde ihm zugeſchrieben, und in eigenmächtiger poeti⸗ 
ſcher Geſtaltung zu einer Verlockung in ſein Land umgewandelt, um 


die unterliegenden Helden noch verlaſſener, ihre Situation noch ge— 
fährlicher darzuſtellen, als die wahre Geſchichte ſie kannte. 

Wurden nun dieſe Zuthaten und Aenderungen alle erfunden? 
Wir dürfen nicht ohne weiteres antworten: ja. 

Unter poetiſchem Erfinden verſteht man eine bewußte Thätigkeit. 
Der erfindende Poet weiß, daß ſeinem gegebenen Stoffe dieſes und 
jenes mangelt, er beſtrebt ſich es ihm zu verleihen und ſucht danach 
eifrig wo er irgend es fände. Von alledem kann bei einem Dichter 
jener Zeit nicht die Rede ſein. Der weiß nicht einmal, daß Er mit 
ſeinen Geiſteskräften ein Gedicht ſchafft. Der homeriſche Sänger 
der den Zorn des Achilles beſingen will, ruft die Muſe an, und 
bittet, ſie möge ihn beſingen. Das iſt keine Redefloskel wie im 
Munde eines heutigen Dichters. Es iſt der Ausdruck wahren Glaubens. 
Die Muſe glaubt der Dichter ſingend in ſich, ſie legt ihm die Worte 
auf die Zunge, er ſpricht ſie nur aus. 

In der Phantaſie des altgermaniſchen Dichters ſieht es aus wie 
in einem Puppenſpiele. Nur wenige Figuren mit denen alle Rollen 
gegeben werden müſſen. Die allgemeine Anſchauung der alten Zeit 
beſtätigt ſich hier. Die einfachen Lebensverhältniſſe ließen es zu 
ſehr individuellen Charakteren nicht kommen. Eine geſchloſſene Reihe 
von Charaktertypen iſt vorhanden die immer wieder auftreten. Und 
wie die Charaktere, die Geſinnungen, ſo die Thaten der Menſchen. Alle 
nach Einem, zum voraus feſtſtehenden, wiederkehrenden Styl. Immer 
dieſelben Intereſſen aus denen gehandelt wird, dieſelbe Art und Weiſe, 
wie gehandelt wird. Darum kann ſich der Ausdruck der Poeſie in 
beſtimmten, faſt für alle Fälle bereitliegenden Formeln bewegen. 
Und wenn die Kunde jener Burgunderſchlacht zu einem Dichter drang, 
ſo mußten die lebhaften glänzenden Bilder von Schlachten die er längſt 
in ſeinem Geiſte fertig herumtrug, ſofort ſich einſtellen. Die Könige 
die nach fremden Schätzen und Reichen habgierig trachten, tauchten 
aus einem Winkel feiner Phantaſie auf, drangen ans Licht. Und 
ſo fort: alle Gegenſtände welche die poetiſche Einbildungskraft in ſich 
aufnahm um ſie neu zu ſchaffen, erhielten Geſtalten die von langer 


112 Über das Nibelungenlied. 


her feſtgeſtellt waren, wie Gegenſtände, die man in die Sprudel gewiſſer 
Mineralquellen wirft, alle gleichmäßig verſteinert herauskommen. 

Eine ſolche Umwandlung ging in der fränkiſchen Poeſie mit der 
Geſchichte von Gunthers und feiner Burgunder Tod vor. Aber da⸗ 
mit nicht genug: die ſo umgeſtaltete Geſchichte verband ſich und 
verſchmolz mit der fränkiſchen Dichtung von Siegfried dem Drachen⸗ 
tödter zu Einer Sage. Auch dies geſchah durch einen nothwendigen 
Proceß welcher in der dichteriſchen Phantaſie ſich ohne bewußte Ab⸗ 
ſicht vollzog. | 

Ich denke mir einen Dichter, deſſen Phantaſie ganz angefüllt ift 
mit den Geſtalten der Siegfriedsdichtung, für welchen Gunther eine 
ſcharf umgrenzte Perſon iſt die er mit ſeinen inneren Augen vor ſich 
ſieht als ob ſie lebte. Ich denke mir ferner, daß dieſer Dichter zu 
den Weſen der Sage in einem perſönlichen Verhältniſſe gleichſam 
ſteht, daß er Siegfried liebt und ſeine nibelungiſchen Feinde haßt, 
daß es längſt ihn ſchmerzte den treuloſen Gunther ohne Strafe, den 
ſchmählich hingemordeten Siegfried ohne Rache zu ſehen. Da hört 
er plötzlich von einem Gunther, der in einer großen blutigen Schlacht 
erſchlagen worden. Wie, wenn dies ſein Gunther wäre, der Nibelung 
Gunther, der Bruder Kriemhilds, der Feind Siegfrieds? Aber nicht 
einmal dieſe Frage taucht als Frage in ihm auf. Wie der natürliche 
Menſch nach der nächſten Frucht langt die ihm in die Augen fällt, 
um ſeinen Hunger zu ſtillen: ſo greift die hungrige Phantaſie ohne 
lange zu fragen nach dem was ſie entbehrt, gleichviel wo es ſich 
zeige. Dem Dichter wird es alsbald zur Gewißheit: die beiden 
Gunther, der nibelungiſche und der burgundiſche, ſind Eine Perſon. 
Aber der letztere lebte ja noch vor wenigen Jahren, und der erſtere 
vor unvordenklicher Zeit? Den Dichter kümmert das nicht, er weiß 
nichts mehr davon. Wenn er wieder an des Königs Tafel von 
Siegfrieds höchſt grauſamem Morde ſingt, wie er ſo oft ſchon ge— 
ſungen, indem er ein altüberliefertes Lied wiederholte, ſo fügt er die⸗ 
ſem nun wohl hinzu: „Dem der den Mord mitberathen und dem 
der den Mord hat gethan, ward ſpäter die Unthat blutig vergolten.“ 
Und wenn er die neuen Lieder von der Burgunderſchlacht und Kö⸗ 
nig Attila vorträgt, deren er keines ſelbſt gedichtet zu haben braucht, 
ſo wird er Hagen Siegfrieds Mörder mit einſchließen und ebenfalls 


Über das Nibelungenlied. f 113 
umkommen laſſen im Blutbad, und er wird vielleicht Attila den bur⸗ 
gundiſchen Helden ihre letzten Momente durch die höhnende Rede ver- 
bittern laſſen: jo hätten fie an Siegfried gehandelt, verrathen, getöd— 
tet: nun komme es ihnen heim. 

Will man durchaus von Einem Dichter des Nibelungenliedes 
reden, iſt man entſchloſſen um des einheitlichen Grundplanes willen 


mit Gewalt einen einheitlichen Homer unſeres Volksepos zu erfinden 


— denn kein ſolcher täuſchender Name iſt uns glücklicherweiſe über- 
liefert worden und nur die Hirngeſpinnſte unvorfichtiger Philologen 
haben in dieſer Eigenſchaft von Zeit zu Zeit ihr Weſen, ob ſie nun 
als Konrad von Würzburg oder Heinrich von Ofterdingen oder Ru— 
dolf von Ems oder als der Kürnberger auftreten, — will man, ſage 
ich, durchaus den Ruhm des Nibelungenliedes auf Einen Menſchen 
häufen: der Sänger den ich eben geſchildert, das iſt der einzig wür⸗ 
dige. Sein Werk iſt der „einheitliche Grundplan“. Aber man ſieht 
zugleich, auf welches Minimum von dichteriſcher Thätigkeit ſich dieſes 
Verdienſt reducirt. 

Eein Glück für ihn und uns, die wir die herrlichen Früchte 
feiner Thätigkeit genießen, daß das kritiſche Vermögen in feinen 
Zuhörern ſo wenig entwickelt war wie in ihm ſelbſt. Denn Wahr⸗ 
heit verlangte, erwartete man von dem Sänger. Und ihm iſt es 
gewiß nie in den Sinn gekommen, daß er ſtrenggenommen ein Lüg⸗ 
ner war. 

Der natürliche uncultivirte Menſch hat kein Gedächtniß für eine 
Thatſache als ſolche, er hat kein Intereſſe an dem exacten Wiſſen. 
Nur was er ſelber will, das Zukünftige das durch ſeine That erſt 
werden ſoll, das weiß er: er hat ſeine Pläne, fein bewußtes Stre- 
ben, und die Ueberſicht ſeiner Mittel ans Ziel zu kommen. Aber 
iſt es erreicht, oder ſcheitert er in ſeiner Bemühung, ſo wird auch 
dies ſogleich ein Factum das nur mehr der Phantaſie angehört und 
womit die Phantaſie, „die allverwandelnde, die allverſchwiſternde 
Himmelsgenoſſin“, wie Novalis ſie nennt, nach Willkür ihr Spiel 
treibt. Die Worte aber die von den Lippen des geweihten Sängers 
quellen, die hat ein Gott ihm eingegeben, und ſie werden wie ein 
Orakel geglaubt. 


Scherer, Vorträge. N 8 


114 | über das Nibelungenlied. 


Noch war die Nibelungendichtung nicht abgeſchloſſen. Eine dritte 
Erweiterung kam hinzu. 

Nicht zwei Jahrzehende waren verfloſſen ſeit der großen Bur⸗ 
gunderſchlacht, als eine neue, aufregende, aber diesmal ſehr freuden⸗ 
volle Nachricht die deutſchen Landſchaften durchflog. Attila, der ge⸗ 
waltige Hunenkönig, vor dem die Welt zitterte, war todt. Und ſeine 
Mörderin, erzählte man, ſei Hildiko geweſen, ſein eigenes Weib. 

Hildiko — was mußte der Name bei einem Franken der die 
Geſänge von Siegfried, Kriemhild, Gunther und Attila kannte, was 
mußte er vollends bei einem fränkiſchen Dichter für Gedanken er⸗ 
wecken und aufregen. N 

Man war in alter Zeit ſo wenig wie heute gewohnt längere 
Namen von Männern oder Frauen ganz auszuſprechen; für Kriem⸗ 
hild durfte Hilde geſagt werden, und aus Hilde konnte durch eine 
beigefügte Verkleinerungsſilbe Hildiko werden: Kriemhild und Hildiko 
mithin iſt derſelbe Name. 

Was ſchon einmal wenige Jahre vorher durch die Namens⸗ 
gleichheit zweier verſchiedener Gunther bewirkt worden war, wieder⸗ 
holte ſich jetzt. Die Perſonen welche denſelben Namen trugen, ver⸗ 
ſchmolzen in der dichteriſchen Phantaſie zu einer einzigen. Die 
Hildiko welche den Attila, ihren Mann, erſchlug war dem fränkiſchen 
Dichter Kriemhild, die Nibelungin, Siegfrieds Weib, Gunthers 
Schweſter. Und das Motiv ihrer That war leicht gefunden. Indem 
ſie Attila tödtete, rächte ſie den Tod ihres Bruders. 


Mit dem Zuwachs von Attilas Tod gelangte die Nibelungen⸗ 
dichtung zu einer Art von Abſchluß. Rein mythiſch und heidniſch⸗ 
religiös war ihr Embryo. Dann verwandelten ſich erſtens die Götter 
in Menſchen; der zur Sage gewordene Mythus verſchmolz zweitens 
mit dem hiſtoriſchen Ereigniß einer großen Schlacht zwiſchen Hunen 
und Burgundern, in welcher die Hunen den Sieg erfochten; dieſer 
wurde dem Attila zugeſchrieben und drittens deſſen Tod mit jenem 
Ereigniſſe in inneren Zuſammenhang gebracht. 

Ueberſehen wir nun noch einmal in Kürze die ganze älteſte Ge— 
ſtalt der Nibelungenſage, welche von unſerem Nibelungenliede ſich 
nicht unbeträchtlich unterſcheidet. 


Über das Nibelungenlied. 115 


Siegfried, ein fränkiſcher Königsſohn, tödtet einen Drachen und 
erbt ſeinen Schatz. Er reitet durch die Flammen welche die ſchla— 

fende Brunhild umſchließen und gewinnt ſich dieſe zum Weibe. Er 
verläßt ſie und kommt an den burgundiſchen Hof. Ein Zaubertrank 
wird ihm kredenzt, der ihm das Gedächtniß benimmt, und vergeſſen 
iſt Brunhild: die burgundiſche Königstochter Kriemhild erwirbt feine 
Liebe. Er ſchließt mit ihren Brüdern Bundesbrüderſchaft, erwirbt 
dem Gunther die vergeſſene Brunhild, und erhält Kriemhild zur Ehe. 
Der Streit der beiden Königinnen wird die Urſache ſeines Todes. 
Um Siegfrieds Wittwe aber läßt Attila freien, und ſie nimmt ihn 
zum Mann. Attila ſtrebt nach den Schätzen der burgundiſchen Brü⸗ 
der, lockt fie an feinen Hof und erſchlägt ſie. Kriemhild iſt nun ver⸗ 
pflichtet Blutrache zu üben an ihrem eigenen Mann. Als er einſt⸗ 
mals im Trunke ſich übernommen und feſter Schlaf ſeine Glieder 
umſchloß, vollführte ſie des Nachts die ungeheure That. Wie es im 
alten Liede heißt: 


Mit dem Dolch gab ſie Blut dem Bette zu trinken 

Mit mordluſtiger Hand: ſie löſte die Hunde: 
Vor der Saalthür warf fie, das Geſinde erweckend, 

Die brennende Brandfackel die Brüder zu rächen. 


Attilas Burg geht in Feuer auf. Kriemhild aber, nachdem ſie die 
Pflicht gegen ihre Brüder erfüllt, leiſtet nun auch dem Gatten die 
Pflicht und folgt ihm im Tode nach, indem ſie ſelbſt in die Flammen 
ſich ſtürzt. 

In ſolcher Geſtalt ungefähr wurde die Nibelungendichtung durch 
zahlloſe Sänger über ganz Deutſchland verbreitet und weit über 
Deutſchland hinaus bis auf die ſcandinaviſche Halbinſel, von wo ſie 
ſpäter mit den weten Geſchlechtern des Adels nach Island 
wanderte. 

Ich ſage: die Nibelungendichtung Aber ich möchte nicht dahin 
misverſtanden werden, als ob ich ein einziges großes Gedicht meinte. 
Ein ſolches gab es auch jetzt nicht. Es gab nur einzelne Lieder welche 
die einzelnen Theile der ganzen Dichtung oder Sage behandelten. Ja es 
gab über dieſelben Theile der Sage verſchiedene Gedichte welche in Einzel— 


heiten, vielleicht ſogar in weſentlicheren Puncten von einander ab- 
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116 Über das Nibelungenlied. 


wichen. So ſang man beſondere Lieder von dem Drachenkampfe 
Siegfrieds, von Siegfrieds Flammenritt, von ſeiner Ankunft am bur⸗ 
gundiſchen Hof u. ſ. w. 

Die Verfaſſer aller dieſer Lieder ſind unbekannt. Keiner jener 
alten Dichter hat jemals geſungen um feinen Namen durch ein jol- 
ches Werk auf die Nachwelt zu bringen. Und keines der Lieder 
wurde aufgeſchrieben: nur durch mündliche Tradition erhielten ſie ſich. 
Darum veränderten ſie ſich mit den Perſonen, durch deren Mund ſie 
gingen, und mit den Jahren ihrer Lebensdauer. Die Sänger welche 
an den Höfen der Könige und der Großen die Lieder vortrugen, 
mochten Lücken ihres Gedächtniſſes durch eigene Einfälle verdecken. 
Oder ihr poetiſches Gefühl mochte Aenderungen fordern, die ſie un⸗ 
bedenklich, faſt ohne es zu wiſſen, vornahmen. Kurz, von einzelnen 
beſtimmten Verfaſſern der alten Lieder könnte, wie bei unſeren Volks⸗ 
liedern, auch wenn uns Sängernamen überliefert wären, kaum die 
Rede ſein, — fo wenig werden ihre Werke im Laufe der Zeiten die 
urſprüngliche Geſtalt bewahrt haben. 

Während nun die Nibelungenlieder aus ihrer fränkiſchen Hei⸗ 
mat am Rhein in die Welt hinaus zogen, waren in Deutſchland 
die Metamorphoſen der Dichtung noch immer nicht ganz zu Ende. 
Aber es würde mich zu weit führen, wollte ich das Schauſpiel dieſer 
Verwandlungen, welches wir nicht aus directen Nachrichten, ſondern 
nur durch den Scharfſinn gelehrter Combination erſt kennen lernten, 
ſeinem ganzen Verlaufe nach abſchildern. Ich muß den Vorhang 
hier herabrollen laſſen, und es folgt ein Zwiſchenakt von ſieben Jahr⸗ 
hunderten. 


In der zweiten Hälfte des zwölften Säculums öffnet ſich uns 
die Bühne von neuem. Die Dynaſtie der Hohenſtaufen regiert 
über Deutſchland. Eben wird eine traurige Botſchaft den deutſchen 
Stämmen zugetragen, und von den Burgen des Adels bis hinab 
zur ärmſten Hütte mit Schrecken vernommen: Kaiſer Friedrich den 
Rothbart hat auf feinem Zuge ins heilige Land ein neidiſcher Fluß⸗ 
gott hinweggerafft. In dieſer Zeit les iſt das letzte Jahrzehend 
des zwölften Jahrhunderts) finden wir unſere Nibelungendichtung 
wieder. 


über das Nibelungenlied. 117 


Die Scene hat ſich verändert. Wir ſind vom Rhein weg ver⸗ 


ſetzt an die Ufer der Donau, nach Oeſterreich. Die Babenbergiſchen 


Fürſten halten zu Wien glänzenden Hof. Ein reicher und mächtiger 
Adel hauſt auf ſeinen Burgen zerſtreut über das Land. Und in die⸗ 
ſen höchſten Ständen herrſcht ein bemerkenswerthes Intereſſe nicht 
blos für die Pflege der Poeſie, ſondern der lebhafteſte Drang, ſelbſt 
Poeſie zu üben. 

Es war eine wichtige Zeit damals angebrochen für die Ent— 
wickelung des Gemüthes der deutſchen Nation. Die früheren Men⸗ 
ſchen bewegten ſich in grellen Contraſten. Ohne Uebergang wurden 
ſie von Entbehrung in Genuß, von Genuß in Entbehrung geworfen. 
Was zwiſchen beiden ſchwebt, Sehnſucht, Trauer und Wehmuth, der 
lautloſe Schmerz der nur in Thränen redet, das kannten ſie nicht. 
Die Blüte des feinſten Gefühls war noch unaufgeſchloſſen für ſie. 
Erſt damals wurden die zarteſten Saiten der menſchlichen Natur zum 
erſten Male gerührt, der höchſte Gipfel des menſchlichen Empfindungs⸗ 
lebens erſt damals erklommen. u 

Die Gemüthsvertiefung hatte mit der Religion begonnen, der 
reuige Sünder der ſich zerknirſcht vor Gott hinwarf oder die Gottes- 
mutter Maria unter bitteren Selbſtanklagen weinend um ihre Für⸗ 
ſprache anflehte, erfuhr zuerſt an ſich jene Erſchütterungen des inne⸗ 
ren Weſens, welche durch keinen äußeren Unfall, durch keinen erlitte- 
nen körperlichen Schmerz hervorgebracht waren, welche lediglich aus 
der Bewegung ſeiner Gedanken und deren Beziehung auf einen ganz 
idealen Vorſtellungskreis entſprangen. 

Das Kind der religiöſen Innigkeit iſt die Liebesinnigkeit. So 
übermächtig wurden die neuen ungeahnten Empfindungen, ſo blen⸗ 
dend wirkte der Glanz dieſer neuen Welt die ſich plötzlich aufſchloß 
— wie die alten Legenden von heiligen Männern erzählen, denen 
im Traum ein Blick in des Paradieſes Seligkeit gegönnt wurde —: 
daß es die Menſchen drängte (wie durch einen Schrei ſich körper— 
licher Schmerz Luft macht) von dem Druck der auf ihre Seele geübt 
wurde ſich zu befreien, indem fie ihr inneres Leben in Worte aus- 
ſtrömten. 

Jene Zeit iſt die Geburtsſtunde der edlen Liebe, die alle irdiſche 
Beimiſchung von ſich abgeſtreift hat. Es erklangen die erſten Laute 


118 Über das Nibelungenlied. 


der Sehnſucht damals in deutſcher Poeſie. Zum erſten Male löſte 
der Menſch ſein eigenes Innere, das Reich ſeiner eigenen Gedanken 
und Empfindungen von dem Reiche der Außenwelt, die auch ihre 
Strahlen in ſein Inneres wirft, vollſtändig ab, und machte ſich 
ſelbſt zum Gegenſtand und Mittelpuncte der Dichtung. Die Ge⸗ 
burtsſtunde der reinen Seelenliebe iſt auch die Geburtsſtunde der 
deutſchen lyriſchen Poeſie. Diejenigen aber, deren Bruſt die erſten 
leiſen Melodien jener höheren Empfindung entquollen, waren deutſche 
Frauen. Und von öſterreichiſchen adlichen Damen rühren die einzi⸗ 
gen Abdrücke des älteſten lyriſchen Geiſtes her, die auf unſere Zeit 
gekommen ſind. 

Die Fähigkeit, in angemeſſenen Situationen ſich poetiſcher For⸗ 
men mit Geläufigkeit zu bedienen, war eine kurze Zeit lang unge⸗ 
mein verbreitet in den Kreiſen des öſterreichiſchen Adels. Die Kunſt 
zu improviſiren verſtanden Viele die nichts weniger als Dichter oder 
Sänger von Profeſſion waren. In Augenblicken höchſter Erregung 
der Empfindung flatterten Liedſtrophen von ſchönen Lippen, welche 
vielleicht nicht vorher und nicht nachher mehr einen einzigen ſelbſtge⸗ 
dichteten Vers geſungen haben. Sehr ſchmucklos und ſehr ärmlich 
erſcheinen uns dieſe kurzen Liederchen vielleicht. Aber unter der be⸗ 
ſcheidenen Hülle fühlen wir dennoch den warmen Schlag des jungen 
Herzens. Es find nur einzelne Seufzer gleichſam, die aus der ge⸗ 
preßten Seele ſich losringen. 


Hören wir zum Beiſpiel wie ein Mädchen dem den ſie liebt dies 
rührend geſteht: 


Wenn ich in meinem Hemde nächllich ſteh allein 

Und ich da gedenke, edler Ritter, dein: 
So glühet meine Wange wie die Roſ' am Dornſtrauch blüht, 
Und leiſe ſenkt ſich oftmals mir die Sehnſucht ins Gemüth.“ 


* Im Grundtext lautet das Lied: 


Swenne ich stän aleine in minem hemede 
und ich gedenke ane dich, ritter edele, 
so erblüejet sich min varwe als der röse am dorne tuot, 


und gwinnet mir daz herze vil manegen trürigen muot. 


Über das Nibelungenlied. 119 


And wie ſchwermuthsvoll klagt eine Andere um den ungetreuen 
Liebling, welchen fie einem Falken vergleicht, den fie ſich gezähmt, 
mit dem ſie geſpielt, der ihr entfloh. 


Ich zog mir einen Falke länger als ein Jahr. 
Di.ooch als er wie ich ihn wollte vertraut und zahm mir war, 
Und ich ihm fein Gefieder - mit goldner Zier umwand: 
Da hob er ſich zur Höhe, flog von mir in ein ander Land. 


Ich ſah ſeitdem den Falken oft in ſtolzem Flug. 
Doch ach! an ſeinen Füßen er ſeidne Feſſeln trug, 
Ein fremdes Gold ihm glänzte roth im Gefieder — 
O, ſende, Gott, den Liebſten, ſende mir ihn wieder.“) 


Der wunderbare poetiſche Blumenwuchs der in den adelichen 
Kreiſen von Oeſterreich emporſproßte, umrankte auch die alten nibe⸗ 
lungiſchen Steinſäulen noch einmal. In derſelben ariſtokratiſchen 
Geſellſchaft, in welcher jene Liebeslieder entſtanden, wurden auch neue 
Lieder von den Nibelungen gedichtet. 

Wie ſehr aber hatte ſich ihr Inhalt geändert die lange Flucht der 
Jahre hindurch. Wie waren alte Elemente der Sage verblaßt und 
verkümmert, andere dagegen breiter ausgeführt, ja ſelbſt neue hinzu⸗ 
gekommen, — ganze wichtige Motive fallen gelaſſen und Wach weit 
verſchiedene erſetzt. 

Daß Brunhild Siegfrieds erſte Frau war, iſt bis auf eine 
letzte Spur vergeſſen. Das Wunderbarſte in Brunhilds Erſchei⸗ 
nung, der Flammenkranz der ihre Burg umgibt und den Siegfried 
durchreiten muß, iſt verſchwunden. Sie wohnt im fernſten Norden 
auf Island. Durch drei ſiegreiche Kampfſpiele, Speerwurf, Stein⸗ 


*) Ich zöch mir einen valken mere danne ein jär. 
dö ich in gezamete als ich in wolte hän, 
und ich im sin gevidere mit golde wol bewant, 
er huop sich üf vil höhe und floug in anderiu lant. 
Sit sach ich den valken schöne fliegen: 
er fuorte an sinem fuoze sidine riemen, 
und was im sin gevidere alröôtguldin. 


got sende si zesamene die gerne geliebe wellen sin. 


120 | über das Nibelungenlied. 


wurf, Weitſprung wird ſie errungen. Zwiſchen Siegfried und Gun⸗ 
ther findet kein Geſtaltenwechſel mehr ſtatt, ſondern in einen unſicht⸗ 
bar machenden Mantel gehüllt ſteht Siegfried dem Gunther in den 
Kampfſpielen bei. „ 

Die größte und einſchneidendſte Veränderung iſt die, daß nicht 
Attila die Burgunder an ſeinen Hof lockt und ſie aus Habſucht ver⸗ 
dirbt, ſondern daß Kriemhild es thut als Rächerin ihres böslich er⸗ 
mordeten Siegfried. Und in dem zweiten Theile der Dichtung der 
von dieſer Rache handelt, treten eine Menge Perſonen auf, welche 
die älteſte Sage nicht kennt: Dietrich von Bern, der alte Hildebrand 
und ihre Volksgenoſſen; Rüdiger von Pöchlarn der treueſte Vaſall; 
Volker von Alzei der Sänger und Held; Iring und Irnfried und 
noch Andere. 

Faſt um eben ſo Viele iſt die Maſſe der Erſchlagenen vermehrt. 
Nur Attila, der in dem ganzen Drama nun die Rolle eines müßigen 
Zuſchauers ſpielt, dann Dietrich und Hildebrand ragen wie drei ein⸗ 
ſame Maſten des untergegangenen Heldenſchiffes über die Fläche der 
verſchlingenden See empor. 

Auch jetzt wieder, wie in jener erſten Zeit nach Attilas Tod, 
bemächtigte ſich nicht ein einzelner bedeutender Geiſt dieſes gewal⸗ 
tigen Stoffes, um Ein einheitliches Gedicht daraus zu machen. Wie⸗ 
der griffen die verſchiedenen Dichter — auch ihre Namen unbekannt 
wie die der alten Nibelungenlieder und die der gleichzeitigen Liebes⸗ 
lieder — nur einzelne Theile dieſes Stoffes zu poetiſcher Behandlung 
heraus. Wieder fanden einzelne Theile doppelte Bearbeitung, wäh⸗ 
rend andere ganz leer ausgingen. 

Aber die Lieder wurden jetzt, in der vorgeſchritteneren Zeit, 
durch die ſchriftliche Aufzeichnung fixirt. Und dieſem Umſtande ver⸗ 
danken wir es, daß ihrer zwanzig uns erhalten ſind. Doch hat man 
die Lücken zwiſchen ihnen ausgefüllt, durch mannigfache Einſchaltungen 
ſie einander zu nähern geſucht, dem verſchiedenen Style verſchiedener 
Dichter ein modiſches, gleichmäßig bedeckendes Mäntelchen umge⸗ 
hängt. Und was ſo zu Stande kam mit dem Schein eines einheit— 
lichen Gedichtes, iſt unſer Nibelungenlied. Nicht Ein Lied alſo 
eigentlich, ſondern eine Sammlung von zwanzig Liedern, welche das 
ſchärfere Auge philologiſch geſchulter Kritiker in ihrem verſchiedenen 


Über das Nibelungenlied. 121 


Charakter, in ihrem verſchiedenen Styl, in ihren verſchiedenen Anſich⸗ 
ten über manche Puncte der Sage noch ſehr wohl unter dem fremd— 
artigen Schutt und Anwurf zu erkennen vermag. 

Der Geiſt den faſt alle dieſe Lieder athmen iſt nicht der Geiſt 
der hohenſtaufiſchen Periode. Sondern es iſt noch der Geiſt der Zeit, 
in welcher man zuerſt von den Nibelungen ſang. 

Es war ein hartes, wildes und kriegeriſches Geſchlecht, jene 
Germanen der Völkerwanderung: knorrig und feſt wie ihre Eichen, 
rauh wie die Luft die ſie in ſich zogen, düſter wie der Himmel zu 
dem ſie emporblickten, ahnungsvoll im Gemüthe wie das Rauſchen 
ihrer Wälder, träge im Frieden wie die Moore und Sümpfe die ſich 
noch endlos dehnten durch ihre Länder: im Kriege aber unwiderſteh⸗ 
lich wie die Stürme die über ihre Haiden hinbrauſten. 

Das ungeſtüme Heldenfeuer dieſer Nordlandsſöhne lodert noch 
hell auf in dem Nibelungenliede. Die Muſe die es eingegeben hat, 
iſt eine ſtürmiſche Walküre die auf dunklem Schlachtroß durch die 
Wolken jagt, gepanzert von Kopf bis zu Füßen, Kampf und Streit 
in ihrem Blick, Zorn auf ihrer Braue. 

Aber wenigſtens nicht alle Dichter der Nibelungenlieder haben 
aus dem Methhorn dieſer Muſe ſich Begeiſterung getrunken. In 
dem Liede von Siegfrieds und Kriemhildens erſter Begegnung liſpeln 
ganz andere Stimmen, Stimmen aus einer neuen erſt aufſteigenden 
Welt. 

Ein großes Feſt war zu Worms am Rhein. König Gunther 
wußte ſchon längſt i 

Wie von ganzem Herzen Siegfried der kühne Held 

Seine Schweſter liebe, ſah er ſie gleich noch nie, 

Der man den Preis der Schönheit vor allen Jungfrauen lieh. “) 


Und da beſprachen ſich die Burgunder unter einander, ſie wollten 
Kriemhild in der Geſellſchaft erſcheinen laſſen, um Siegfried Freude 
zu machen. Denn 


Was wäre Manneswonne, was freut er ſich zu ſchaun, 
Wenn nicht ſchöne Mägdelein und herrliche Fraun? 


Dies wie das Folgende nach Simrocks Ueberſetzung. 


122 Über das Nibelungenlied. 


In geſpannter Erwartung ſtanden die Ritter und Feſtgenoſſen, Sieg⸗ 
fried vor Allen, um das holde Mädchen zu ſehen. 


Da kam die Minnigliche wie das Morgenroth 

Tritt aus trüben Wolken. Da ſchied von mancher Noth 
Der ſie im Herzen hegte: was lange war geſchehn. 

Er ſah die Minnigliche nun gar herrlich vor ſich ſtehn. 
Von ihrem Kleide leuchtete gar mancher Edelſtein; 

Ihre roſenrothe Farbe gab minniglichen Schein. 

Was Jemand wünſchen mochte, er mußte doch geſtehn, 

Daß er hier auf Erden noch nichts ſo ſchönes geſehn. 
Wie der lichte Vollmond vor den Sternen ſchwebt, 

Des Schein ſo hell und lauter ſich aus den Wolken hebt, 

So glänzte ſie in Wahrheit vor andern Frauen gut: 

Das mochte wohl erhöhen den ſchmucken Helden ihren Muth. 


Siegfried, indem er ſie ſah, wurde vor Gedanken oft bleich und wie⸗ 
der roth. Da holte man ihn zu ihr. Hoch erröthete ſie indem ſie 
ihn willkommen hieß. 


Er neigte ſich ihr minniglich, als er den Dank ihr bot. 
Da zwang ſie zu einander ſehnender Minne Noth. 
Mit liebem Blick der Augen ſahn einander an 

Der Held und auch das Mägdelein: das ward verſtohlen gethan. 
Ward freundlich da gedrücket ihre weiße Hand 

In rechter Herzensminne? das iſt mir unbekannt. 
Doch kann ich auch nicht glauben, es wäre nicht geſchehn. 

Sie hatt' ihn holden Willen ohne Säumen laſſen ſehn. 
Zu des Sommers Zeiten und in des Maien Tagen 
Sollt' er in ſeinem Herzen nimmer wieder tragen 

So viel hoher Wonne f als er da gewann, 

Da ihm die zur Seite ging, die der Held zu minnen ſann. 


Die Muſe welche einem Dichter Das eingeben konnte, war ein 
zartes, kleines, blondes Mädchen, das zuſammenzuckte, wenn es ein 
Schwert blitzen ſah. Freilich es lallt in gebrochenen kindiſchen Tönen. 
Und wenn wir rückſichtslos mit dem ganzen Bewußtſein des moder⸗ 
nen Geſchmackes ihren Geſang in uns aufnehmen, ſo mögen ſich 
Rührung und Mitleid bei uns mit Geringſchätzung miſchen. Aber 


f 


Über das Nibelungenlied. 123 


unterdrücken wir allen Spott. Hören wir vielmehr mit Ehrfurcht zu. 
Denn dieſes Liebesſtammeln iſt das früheſte Morgenroth der neuen Zeit, 
das die alten ſtarren Bergrieſen mit ſeinem Schimmer umglüht. ; 
Eine und dieſelbe Geiſtesmacht regt zum erſten Male die Flügel 
in dieſen gefühlsinnigen Stellen eines Nibelungenliedes wie in jenen 
lyriſchen Poeſien adlicher Damen. Der Menſch der ſich ſelbſt werth 
genug geworden iſt, um ſeine tiefſten und verborgenſten Empfindungen 
poetiſch zu verklären, der wird bald auch ſo kühn ſein, ſeine Gedan⸗ 
ken, ſeine Geſinnungen, ſeinen Willen zu proclamiren um ſie, wenn 
es ſein muß, einer Welt gegenüber zu behaupten. 
| Zwei Lebensepochen unſerer Nation reichen ſich im Nibelungen- 
liede die Hand. Zwei Typen der aufſteigenden nationalen Entwicke⸗ 
lung begegnen ſich darin: der mittelalterliche und der moderne 


Menſch. 


* 


Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 


Vortrag im wiſſenſchaftlichen Verein in der Singakademie zu Berlin 
gehalten am 4. Januar 1873. 


I. 


Meine Damen und Herren! Ich will verſuchen, Ihnen das 
frühere geiſtige Leben eines deutſchen Stammes zu ſchildern, welcher 
— dem politiſchen Begriffe nach — jetzt aufgehört hat ein deut⸗ 
ſcher zu ſein. Die Deutſchen, welche dem heutigen Oeſterreich an⸗ 
gehören, ſind der Gegenſtand unſerer Betrachtung. Und wir werden 
ſie in der Epoche aufſuchen, in der ſie die größte Blüte ihrer Cul⸗ 
tur erlebten und, ebenbürtig allen übrigen Stämmen des Vaterlandes, 
zum Theil in der vorderſten Reihe derer ſtehen, auf welche die Na⸗ 
tion ſtolz iſt und in welchen die freieſte geiſtige Bildung zu glänzen⸗ 
dem Ausdruck gelangt. 

Ich kann vieles nur ſtreifen, nichts erſchöpfen. Erwarten Sie 
daher keine ausgeführte Darſtellung. Ich will nicht darſtellen, ich 
will beweiſen. Ich will nicht erzählen, ich will überzeugen. Ueber⸗ 
zeugen — wovon? das erlauben Sie mir einſtweilen zu verjchwei- 
gen und Sie vorerſt über die Dinge und Perſonen ein wenig zu 
orientiren. 

Die Zeit, die wir vornehmlich betrachten, iſt die zweite Hälfte 
des zwölften und die erſte des dreizehnten Jahrhunderts, — die Pe- 
riode, in welcher die Hohenſtaufen in Deutſchland, die Babenberger 
in Oeſterreich regieren. Der Schauplatz iſt hauptſächlich das Donau— 
thal, Ober- und Niederöſterreich, woran ſich Steiermark und Kärn- 


9 
* 
BD. 

e 


Das geiſtige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 125 


ten in zweiter Linie anſchließen, während Tyrol noch mehr im Hinz 


tergrunde ſteht. Der Segen, den die Natur über jenen blühenden 
Landſtrich ausgegoſſen hat, führt um 1150 zu einer bedeutenden An⸗ 
ſammlung von Reichthümern und dieſe zu wachſendem Luxus, der ſich 
allen Ständen gleichmäßig mittheilt, den Bauern, den Bürgern und 
der Ariſtokratie. Die Stände treten einander näher, es fehlt nicht 
an ſocialen Berührungen, und mancher reichgeſchmückte Bauer mochte 
ſich vor einem armen Edelmanne ſtolz in die Bruſt werfen. Zwi⸗ 
ſchen dem Fürſtenhaus und dem Volke bildete ſich ein beiſpiellos in- 
times Verhältniß, das auf dem reinſten gegenſeitigen Wohlwollen be⸗ 
ruhte. Die Babenberger waren eine regſame begabte gebildete Fa⸗ 
milie. Sie haben dem deutſchen Mittelalter ſeinen größten Hiſtori⸗ 
ker geſchenkt. Sie verſammelten Dichter und Sänger an ihrem Hofe. 
Herzog Leopold der Glorreiche und ſein Sohn Friedrich der Streit⸗ 
bare übten ſelbſt die Kunſt. Der erſtere gehörte zu den populärſten 
Fürſten jener Zeit. Er hielt den gefürchteten kleinen Adel nieder, 
begünſtigte Bürger und Landmann, hob Gewerbe und Handel und 
ſorgte für Sicherheit des Verkehrs; mit ſtarkem Arm handhabte er 
Recht und Gericht, ſchirmte Wittwen und Waiſen, und, ſelbſt fröhlichen 
Sinnes, beförderte er die Beluſtigungen des Volkes. Schon damals 
war die Tanzmuſik in Oeſterreich eine Macht. Wie ſollte ein Fürſt 
nicht populär werden, der wie Leopold ſich ein beſonderes Vergnü— 
gen daraus machte, neue Tanzlieder zu componiren und dieſe 
wohl ſelbſt vorzutragen: denn nach geſungenen, von Inſtrumental⸗ 
muſik blos begleiteten Liedern wurde damals getanzt. Sie ſehen, 
das berühmte Geſchlecht der Lanner und Strauß hat ſehr erlauchte 
Ahnen. 

Ich könnte mir denken, daß ein Maler ſich angeregt fühlte, 
dieſe reiche Epoche in ein Bild zu bringen, mit erlaubter Freiheit 
die Söhne eines Jahrhunderts als Zeitgenoſſen darzuſtellen und um 
Leopold den Glorreichen zu gruppiren. Er müßte den Pinſel eines 
Rubens beſitzen, um all die Ueppigkeit, Heiterkeit, Lebensfülle, all 
das genußkräftige Behagen zu vergegenwärtigen. Er würde die Ge— 
ſellſchaft nicht in einer Renaiſſancehalle verſammeln, auch nicht in 
einer gothiſchen Kirche. Er würde ſie hineinſtellen in die freie Na⸗ 
tur. Es wäre etwa Herbſt und Weinleſe. Im Hintergrunde voll 


126 Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 


zieht ſich — vom fernen Kahlenberg und Leopoldsberg überragt — 
das Geſchäft der Jahreszeit. Theils ſind noch thätige Winzer über 
die Hügel vertheilt, theils wandelt bereits die Fülle des ſüßen Ge— 
winnes den wartenden Kellern zu. In der Mitte des Bildes ſteht 
Leopold ſelbſt und ſingt ein Lied zum Tanz, der Fiedler neben ihm 
accompagnirt. Um ihn ringsum bewegt ſich der Reigen, Bürger und 
Bauern und Edelleute in bunter Miſchung. Fahrendes Volk, Spiel⸗ 
leute und Bettler, drängen ſich gaffend herzu. Im Vordergrunde 
rechts ſtehen die Hofleute, ſchöne Damen, vornehme Herren; der 
Dichter Ulrich von Lichtenſtein in phantaſtiſchem Aufputz ſpricht mit 
Walther von der Vogelweide, der, einfach und ſchlicht, mit den ern- 
ſten Zügen eines gereiften Mannes, aber Heiterkeit im Auge, eine 
drollige Scene beobachtet, die im Vordergrunde links ſich entwickelt. 
Wir ſehen da Ritter Neidhart von Reuenthal, den höfiſchen Dorf- 
poeten, mitten unter den Bauern, er macht einer ländlichen Schönen 
etwas auffällig die Cour, und einzelne Burſche in der Nähe werfen 
ihm grimmige Blicke zu, es iſt zu fürchten, daß ihre Wuth hand⸗ 
greiflichen Ausdruck gewinnt. Ganz vorn in der Mitte aber — da⸗ 
mit auch Diogenes oder Hans Sachs auf unſerem Gemälde nicht 
fehle — ſitzt ein Mönch auf dem Boden, er ſcheint ſich eben abge⸗ 
wendet zu haben von dem tollen Treiben, und ſein Geſicht drückt 
Misbilligung aus, ſeine finſter zuſammengezogenen Brauen, ſein 
ärgerlich zuckender Mund deuten eine verhaltene Strafpredigt an. 

Das wären die Elemente, die der Künſtler zwanglos vereinigen 
könnte. Und wenn er ein Liebhaber von Contraſten iſt, ſo mag er 
eine zweite Handlung traumhaft in den Lüften hinzufügen: Geſtalten 
der germaniſchen Fabelwelt, etwa die Nibelungenrecken an König At⸗ 
tilas Hof, die blutige Arbeit des grimmen Hagen, und wie der ge⸗ 
waltige Volker mit ſeinem Fiedelbogen den Hunen zu ſo ganz anderem 
Tanze aufſpielt. 

Er könnte dieſe Geſtalten hinzufügen, denn auch ſie gehören zu 
der geiſtigen Atmoſphäre des damaligen Oeſterreich. Nicht blos weil 
im Nibelungenlied ihr Zug durch Oeſterreich beſchrieben wird, ſondern 
weil das Nibelungenlied ſelbſt in Oeſterreich, die Gudrun in Steier⸗ 
mark und mehrere Gedichte der Dietrichſage in Tyrol verfaßt ſind: 
lauter poetiſche Producte, die in gewiſſem Sinne enge zuſammengehö⸗ 


U 


Das geiſtige Leben Oſterreichs im Mittelalter. i 127 


ren und denen das übrige litterariſche Deutſchland nichts oder nur 
ſehr wenig gleichartiges an die Seite zu ſtellen hat. 

Es iſt dies eine höchſt charakteriſtiſche Thatſache, woran ſich die 
Eigenthümlichkeit der öſterreichiſchen Litteratur mit am meiſten be⸗ 
währt. Mit ihr müſſen wir uns daher zunächſt und in ganz her— 
vorragender Weiſe beſchäftigen. Es hängt daran nichts geringeres 
als eine für unſere nationale Geſchichte äußerſt wichtige Frage. Die 
Frage nämlich: wie alt iſt die Scheidung zwiſchen “ Oeſter⸗ 
reich und dem übrigen Deutſchland? 

Erlauben Sie mir, vorerſt an Bekanntes zu erinnern. 

Der große Riß, der im ſiebenten Jahrhunderte die Deutſchen 
in Niederdeutſche und Hochdeutſche, in Norddeutſche und Süddeutſche 
trennte, — der Riß, der unſere Sprache in zwei Hauptdialekte ſchied, 
die ſich noch heute als plattdeutſche und oberdeutſche Volksmundart 
gegenüberſtehen, — ſchuf zwei geſonderte Gebiete des geiſtigen Le⸗ 
bens, welche erſt die Reformation wieder vereinigte, um freilich ih⸗ 
rerſeits neue Gegenſätze zu begründen. Dem erſten Gebiete gehören 
die niederdeutſchen Sachſen und Frieſen an, dem zweiten die mittel⸗ 
und oberdeutſchen Franken, Heſſen, Thüringer, Alemannen, Baiern 
und Oeſterreicher. Auf der letzteren Gruppe, innerhalb des zweiten 
Gebietes, ruht zunächſt die Fortbildung unſerer nationalen Litteratur. 
Die Geſchichte der deutſchen Dichtung vollzieht ſich lange Jahrhun— 
derte hindurch faſt nur in Mitteldeutſchland und Süddeutſchland. 

Gerade innerhalb Süddeutſchlands nun und zwar innerhalb 
eines einzelnen Stammes offenbart ſich im zwölften a eine 
neue Theilung. 

Die Oeſterreicher gehören bekanntlich zum boieriſchen Stamm. 
Einen deutſch⸗öſterreichiſchen Stamm gibt es nicht, wenn wir die Be— 
zeichnung ſcharf nehmen. In dem Sinne, wie wir von den Sachſen 
oder Alemannen als einem deutſchen Stamme ſprechen, können wir 


ihnen nur den ganzen bajuvariſchen Stamm entgegenſtellen, welcher 


Baiern, Tyroler, Kärntner, Steierer und Oeſterreicher umfaßt. Die 


Baiern und Oeſterreicher ſind daher unter einander weit näher ver— 
wandt als etwa mit den Schweizern und Schwaben. Dieſe Ver— 
wandtſchaft prägt ſich in uralter Zeit ebenſo wie noch heute, auch 
in der Dichtung aus. Das öſterreichiſche und baieriſche Gebirge iſt 


— 


128 Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. f 


* : 4 
das Gebiet der „Schnadahipfeln“, der „Vierzeiligen“, jener kurzen 
Improviſationen, welche — auf Tanzmelodien geſungen — Empfindun⸗ 
gen des Augenblickes in gebundene Worte faſſen. Aus dem zwölften 
Jahrhundert, iſt uns ein ſolches Lied erhalten, das in verſchiedenen 
Variationen heute noch umläuft und das Ihnen ohne Zweifel be- 
kannt iſt: f 

Du biſt mein, ich bin dein: 

Des ſollſt du gewiß ſein. 

Du biſt verſchloſſen 

In meinem Herzen. 

Verloren iſt das Schlüſſelein: 
Nun mußt du immer drinne ſein. 


Der Geiſt naiver Schalkhaftigkeit, der aus dieſen wenigen Zei⸗ 
len zu uns ſpricht, dazu eine friſche, manchmal unbändige Lebensluſt, 
Frohmuth und Heiterkeit, Freude an Schwank und derbem Spaß, 
Hang zur Satire verbunden mit einem draſtiſchen Darſtellungstalent 
— das möchten etwa die hervorſtechenden Züge ſein, in denen ſich 
öſterreichiſche und baieriſche Poeten vereinigen. 

Trotz dieſer Verwandtſchaft, trotz dieſem genauen Zuſammen⸗ 
hange ſehen wir im zwölften Jahrhundert die Oeſterreicher ganz an⸗ 
dere Wege wandeln als die Baiern. 

Es iſt die Zeit, in welcher die Romantik ihren „ 
hält ins deutſche Land. Alexander der Große voran mit aller Pracht 
des Orients, dann Karl der Große mit ſeinen Paladinen, byzantini⸗ 
ſche Kaiſer, welſche Könige und Helden, Erek und Iwein, Triſtan 
und Parzival, die Ritter alle aus Artus’ Tafelrunde und vom ge⸗ 
heimnißvollen Gral — ſie kommen über den Rhein und dringen 
durch das Elſaß und Schwaben auch in Baiern ein, ſie ziehen die 
Donau hinunter, nicht insgeſammt, aber einige: jedoch an der öſter⸗ 
reichiſchen Grenze machen ſie Halt. Hier ſteht ein anderes gewal⸗ 
tigeres Heldengeſchlecht und wehrt den Eingang: Siegfried und Ha⸗ 
gen, die Burgunderfürſten und Dietrich von Bern der weitherrſchende 
Gothenkönig; auch edle Frauen unter ihnen, die ſtreitbare Brunhild 
und ihre Gegnerin Kriemhild, die grauſame Gerlind und die ſanfte 
leidende Gudrun. 

Unbildlich geſprochen: die epiſche Poeſie der Stauferzeit vom 


Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 0 


zwölften und Anfang des dreizehnten Jahrhunderts zerfällt in zwei 
verſchiedene Maſſen: in das ritterliche, romantiſche oder höfiſche Epos 
einerſeits, in das Volksepos andererſeits. Das romantiſche Epos 
iſt ein franzöſiſcher Importartikel. Das Volksepos iſt einheimiſches 

Product. Jenes iſt die modernſte Errungenſchaft, worin die new 
erreichte Feinheit des höfiſchen Lebens zur Geltung kommt. Dieſes 
iſt ein uraltes Erbtheil der germaniſchen Völker aus den Zeiten der 
Wanderung, des rieſigen Zerſtörungskampfes gegen Rom. Jenes 
iſt das Werk von Ueberſetzern, die aus einem geſchriebenen Buch in 
ein anderes übertrugen, franzöſiſche Bücher in deutſche. Dieſes iſt 
fortgepflanzt durch lebendigen Geſang von Mund zu Mund, balla⸗ 
denartig, durch fahrende Sänger und Spielleute, ununterbrochen von 
Jahrhundert zu Jahrhundert. Jenes nun, das Ritterepos, wird in 
Mitteldeutſchland und dem außeröſterreichiſchen Süddeutſchland gepflegt, 

auch in Baiern mit eigenthümlicher Auswahl. Dieſes faſt ausſchließ⸗ 
lich in Oeſterreich. 

Oeſterreich iſt der Bewahrer alteinheimiſcher Poeſie. Die alten 
Stoffe des Volksgeſanges werden hier neu bearbeitet und jetzt großen⸗ 
theils zum erſten Male aufgezeichnet. Sie werden nun erſt ſchwarz 
auf weiß fixirt und in einen Zuſtand gebracht, der ihre unvergäng⸗ 
liche Dauer geſichert und ſie für uns bewahrt hat. 

Oeſterreich nimmt damit eine geiſtige Sonderſtellung ein, welche 
mit den Privilegien ſeiner Herrſcher, mit der Begründung einer par⸗ 
ticularen Staatsexiſtenz unter den Babenbergern, mit der Zuſammen⸗ 
faſſung der ſüdöſtlichen Länder unter Ottokar von Böhmen, dann 
unter habsburgiſchem Scepter verhängnißvoll zuſammenfällt und der⸗ 
geſtalt ſpäteren neuen und gründlicheren Scheidungsproceſſen vor⸗ 
arbeitet. Jene Trennung, welche ſo oft beklagt iſt, welche ſo lange 
Deutſchland aufgehalten hat auf der Bahn zur Einheit und jetzt einen 
Theil der Nation unerbittlich verdammt, fern zu bleiben vom neuen 
Reich: hier finden wir ihr erſtes Symptom. 

Es war nicht gleichgiltig, ob man ſich an Siegfried erbaute oder 
an Parzival. Das Tiefſte, was die Zeit bewegte, die feinſten ſitt⸗ 
lichen Probleme, der höchſte Ernſt und heiligſte Eifer moraliſcher 
Speculation: das Alles konnte nur im Ritterroman ſeine Kraft er⸗ 


proben. War das Nibelungenlied im höhern Grade . menſch⸗ 
Scherer, Vorträge. 


* 


130 Das geiſtige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 


lich, ſo hat jede Zeit doch auch ihren ſpecifiſchen Inhalt, der über 
das allgemein menſchliche Niveau hinausragt: und dieſe höchſte 
Spitze damaliger Zeitbildung haben die Oeſterreicher nie zu erklimmen 
geſucht. Sie bleiben bequem bei dem Alten. Sie machen den Fort⸗ 
ſchritt der übrigen deutſchen Litteratur nicht mit. Wenn ſpäter, nach 
der kurz verrauſchenden Blütezeit, auch in Oeſterreich die unwiderſteh⸗ 
liche Mode hereinbricht und die Romantik ihre Verehrer findet, wenn 
fie auch hier mit den Artus- und Gralrittern durchs Land zieht; fo 
ſind das doch ſämmtlich Ritter von recht trauriger Geſtalt, und die 
Dichter die ihnen huldigen, ſind Poeten dritten Ranges, abſtrus und 
langweilig, wüſte Abenteuer häufend, planlos, keine Künſtler. Die 
fremden Stoffe dienen zur Unterhaltung, wie andere, ſittliche oder 
äſthetiſche Erhebung kann von ihnen nicht mehr ausgehen. Das Co⸗ 
ſtüm wird übernommen, die Ideen ſind fort. 

Wir haben bisher nur die Thatſache eines tiefgreifenden Unter⸗ 
ſchiedes zwiſchen Oeſterreich und Deutſchland betont. Es lohnt wohl, 
noch einen Augenblick zu verweilen und zu fragen: Woher rührt die⸗ 
ſer Unterſchied? Was hat Oeſterreich und Deutſchland zum erſten 
Male entzweit? 

Ich gebe die Antwort mit Reſerve, denn ich kann nur eine Ver⸗ 
muthung äußern. Die Erklärung hiſtoriſcher Erſcheinungen iſt hier, 
wie ſo oft, hypothetiſch. | 

Man darf jagen: das frühere Mittelalter hatte zwei poetiſche 
Parteien, zwei poetiſche Zünfte gleichſam, die ſich auf Tod und Le⸗ 
ben bekriegen und ganz verſchiedenen Intereſſen dienen. Die eine 
Zunft ſind die Geiſtlichen, Träger des Chriſtenthums und aller eigent⸗ 
lichen litterariſch-ſchriftmäßigen Bildung. Die andere Zunft find die 
Spielleute, die fahrenden Volksſänger, die Erben des Heidenthums 
und ſeiner Poeſie. Das Publicum, bei dem ſie ſich Concurrenz ma⸗ 
chen, um deſſen Gunſt ſie kämpfen, iſt der Adel. Die Geiſtlichen 
ſind die Neuerer, ſie ſind die Aufſtrebenden, die Revolutionäre: die 
Spielleute befinden ſich im Beſitz, ſie haben das Ohr der vornehmen 
Gönner. Der Kampf wird im elften und zu Anfang des zwölften 
Jahrhunderts ſo geführt, daß jede Partei einfach auf ihrem Schein 
beſteht. Der Clericus nimmt ſeinen Stoff aus der Bibel, der 
Spielmann bleibt bei der Heldenſage. Mit ſolcher Kampfesart richten 


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Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 131 


die Geiſtlichen nichts aus, ſie ſind zu ſchwach. Es kam darauf an, 
daß ſie Stoffe zu finden wußten, welche durchſchlugen, welche (wie 
man heute ſagen würde) zeitgemäß waren. Dieſe zeitgemäßen Stoffe 
boten ſich in der franzöſiſchen Dichtung: orientaliſche Kriegsfahrten, 
Saracenenkämpfe, das war die richtige Koſt für die Aera der Kreuz⸗ 
züge. Die Geiſtlichen waren die litterariſch Geſchulten, ſie verſtan⸗ 
den die fremden Sprachen, fie waren zumeiſt zur Ueberſetzung beru- 
fen. Wo fie dieſen Beruf erfüllten, wo fie dieſen Weg' einſchlu⸗ 
gen, da errangen ſie den Sieg über die verhaßten Volksſänger. So 
ging es im außeröſterreichiſchen Deutſchland. 

In Oeſterreich war es anders. Als mit geſteigertem Wohlſtand 
und Luxus verfeinerte Umgangsformen in den ariſtokratiſchen Kreiſen 
allmählich durchdrangen, als der Einfluß und die Verehrung der 
Frauen wuchs und dadurch die Sitten ſich veredelten, als die höfiſche 
Converſation und die Vergnügungen der vornehmen Geſellſchaft einen 
neuen, zierlicheren und geiſtigeren Charakter annahmen, da ſtellte ſich 
der öſterreichiſche Klerus dieſer ganzen Bewegung feindlich entgegen. 
Sie ſahen darin nicht die Verfeinerung, ſondern die verfeinerte Sinn⸗ 
lichkeit. Jene wundervolle Weltfreude, die Offenbarung der Schön⸗ 
heit in der Natur und im Menſchen, war dieſen Zeloten nur Flei⸗ 
ſchesluſt und Sünde; das hölliſche Reich der Venus ſchien hereinzu⸗ 
brechen und die Kirche im erworbenen Beſitz zu ſtören. Das 
unſchuldigſte Dichterlein, das gläubigſte Gemüth, das von Frühling 
und ſchönen Frauen, von Roſe, Lilie und Nachtigall ſang, war ein 
Oppoſitionsmann vor geiſtlichen Augen. Ihm wird vorgeworfen, 
daß er über dem Geſchöpfe des Schöpfers vergeſſe. Der Eine macht 
den Bauch zu ſeinem Gott, der Andere hat eine Frau zur Göttin, 
ein Dritter betet Geld und Gut an. „Ein Vierter ehrt den Vogel⸗ 
ſang und die hellen Tage lang, dazu Blumen und das Gras, das 
ſtets des Viehes Speiſe was: die Rinder freſſen ſeinen Gott, er iſt 
der dummen Ochſen Spott.“ 

Dass gebildetere, zartere, innigere Verhältniß zwiſchen den beiden 
Geſchlechtern hatte in der Ehe begonnen. Der Mönch aber, der um 
jeden Preis die Nichtigkeit alles Irdiſchen beweiſen will, vergreift 
ſich mit rohem Cynismus daran, indem er die Häßlichkeit des Todes 


bis zum Ekelhaften realiſtiſch beſchreibt. Er führt die Frau an das 
9 * 


132 Das geiftige Leben Ofterreichs im Mittelalter. 


Sterbebett und an die Bahre des geliebten Mannes: „Nun komm, 
du ſchöne Frau, und beſieh dir deinen ſüßen Mann, und betracht 
ihn recht genau, wie ſein Antlitz ſchön gefärbt iſt, wie ſein Scheitel 
aufgerichtet, wie ſein Haar geſchlichtet. Schau nur aufmerkſam hin, 
ob er noch ſo glänzend und ſo fröhlich ſcheint, wie damals, als 
er offen und geheim ſeine Blicke mit dir ſpielen ließ. Wo ſind 
ſeine müßigen Worte, mit denen er der Damen Hoffart lobte und 
mit ihnen von Liebe ſchwatzte. Und wie matt liegt die Zunge 
in ſeinem Munde, womit er ſchöne Liebeslieder ſo einſchmeichelnd 
ſang. Wie ſchlaff ſind die Arme, mit denen er dich umfing,“ und 
ſo weiter. 

In ſolchen Schilderungen und Predigten ergingen ſich öſterreichi⸗ 
ſche Dichter, die in den geiſtlichen Stand getreten oder doch der Le⸗ 
bensanſchauung des Mönchthums verfallen waren. Auch ſonſt be⸗ 
merken wir, wie in dieſen Gegenden ein ſtrenger ascetifcher Geiſt 
immer feſter und feſter begründet und durch die kirchliche Organiſa⸗ 
tion unerſchütterlich gepflanzt werden ſoll. Der Kleriker ſchließt ſich 
immer enger ab, er iſt zuletzt von einem Dunſtkreis excluſiver An⸗ 
ſichten und Meinungen umgeben, in welchem alles natürliche Athmen 
ein Ende hat. 

Weit entfernt daher, mit der Laienwelt Fühlung zu ſuchen, an 
die natürlichen Triebe anzuknüpfen und auf die ritterlichen Neigungen 
einzugehen, um ſie zu leiten, arbeiteten die Geiſtlichen dieſen Trieben 
und Neigungen entgegen. Entweder ergoſſen ſie, wenn ſie deutſch 
dichteten, ihren Zorn in bittere Satire, oder ſie blieben ruhig bei 
ihren altgewohnten Stoffen, bei ihren Legenden und Bibelgeſchichten: 
kein Wunder, daß ſie damit nach wie vor wenig Glück machten, und 
daß der Adel den alten Trägern der poetiſchen Unterhaltung, den 
Spielleuten, ſeine Gunſt keineswegs entzog. 

Dies alſo das Reſultat des Wettkampfes zwiſchen Geiſtlichen und 
Spielleuten: im außeröſterreichiſchen Deutſchland trugen die Geiſtlichen, 
in Oeſterreich die Spielleute den Sieg davon. Dazu kam gegen 
Ende des zwölften Jahrhunderts ein dritter Stand der Poeten: die 
Ritter ſelbſt. Als der Adel die Poeſie in die Hand nahm, und aus 
den ritterlichen Kreiſen die größten Dichter hervorgingen, da waren 
ihre Wege nun verſchieden, je nach den Vorgängern, denen ſie ſich 


5 


Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 133 


anſchloſſen. In Deutſchland folgten ſie den Geiſtlichen über den 
Rhein und huldigten der Romantik. In Oeſterreich folgten fie den 


* Spielleuten und blieben den altgermaniſchen Heldenidealen getreu. 


Es war mithin, um es kurz zu ſagen, die ſchroffe, jede Con⸗ 
ceſſion verweigernde Politik des non possumus, durch welche die 
Geiſtlichen ſich in Oeſterreich um ihren Einfluß brachten, und durch 
welche in Folge deſſen die dortige Litteratur einen mehr volksthüm⸗ 


fcchen Charakter erhielt. 


Sie hat dieſen Charakter fort und fort bewahrt. Die Spielleute 
fanden ſtets reichen Lohn und machten die beſten Geſchäfte. Sie 
wurden in Oeſterreich das ganze dreizehnte Jahrhundert hindurch 
förmlich gezüchtet. Ihre Zudringlichkeit und Unverſchämtheit, ihre 
Unerſättlichkeit und Liederlichkeit war ſchließlich kaum mehr zu ertra⸗ 
gen. „Wenn man ſich in Wien zum Eſſen ſetzt — ſagt ein Satiri⸗ 
ker jener Zeit — ſo ſtreichen die Lotterſänger umher und wollen 
Geld. Sie ſind niemals nüchtern und doch heulen ſie vor dem 
Tiſch der Herren, wie die Kälber nach der Kuh. Mit dickaufgetra⸗ 
genen Schmeicheleien treten ſie an die Herren heran, behaupten vor 


dem Herzog geſungen zu haben und vollführen ein Spectakel, daß 
man ſein eigenes Wort nicht hört. Sind die einen fertig, ſtehen 


ſchon andere bereit. Das hielte ſelbſt ein grauer Mönch nicht 
aus.“ 

Erſt von den bisher geſchilderten Zuſtänden und Verhältniſſen 
aus eröffnet ſich uns das volle Verſtändniß für einen Mann, der es 
werth iſt, daß wir uns um ſein mann eee für Walther 
von der Vogelweide. 


II. 


Ich rede ungern von Walther von der Vogelweide. Er iſt uns 
längſt vertraut und lieb. Ich werde ſcheinen Bekanntes zu wieder⸗ 
holen, wenn ich verſuche ihn zu preiſen. Wie oft hat man in den 
Kämpfen der Gegenwart an ihn erinnert und ſich die tapferen Stro⸗ 
phen ins Gedächtniß gerufen, mit denen er für das Recht des Kai⸗ 


ſers, für das Recht der Nation eintrat, gegenüber dem Papſt. Alle 


Litteraturgeſchichten ſingen ſein Lob, alles was man zu ſeiner Ver⸗ 


134 Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 


herrlichung ſagen kann, iſt ſchon trivial geworden. Und doch muß ich 
von ihm ſprechen, will ich nicht den größten Dichter mit Stillſchwei⸗ 
gen übergehen, den Oeſterreich je hervorgebracht hat. 

Walther von der Vogelweide iſt etwa um das Jahr 1160 gebo⸗ 
ren. Und aus den achtziger Jahren des zwölften ee mö⸗ 
gen ſeine erſten Lieder ſtammen. 

Dieſe Lieder ſind Liebeslieder. Die Liebe war es, welche ihn, 
wie ſo viele ſeiner Zeitgenoſſen, zum Dichter machte. Und was für 
eine geſunde, kräftige, friſche Liebe iſt dieſe erſte Liebe unſeres Wal⸗ 
ther. Es iſt keine „höfiſche“ Liebe, keine „hohe Minne“, keine vor⸗ 
nehme Dame bei Hofe iſt ihr Gegenſtand, ſondern ein einfaches 
Mädchen beſcheidener Herkunft. 

Ein äußerſt anmuthiges Lied ſchildert die erſte Begegnung. Sie 
eilt zum Tanz auf die Wieſe, er tritt ihr in den Weg und bietet ihr 
einen Kranz: „Hätte er Edelgeſtein, ſo müßte das auf ihr Haupt.“ 
Sie nahm, was ich ihr bot — erzählt er weiter — wie ein ſcheues 
Kind, ihre Wangen wurden roth, wie Roſe neben Lilie erblüht. Da 
ſenkten ſich verſchämt ihre hellen Augen, ſie verneigte ſich gar ſchön 
— und das war mein Lohn: wird mir noch mehr, ſo nehm' ichs 
ſtillverſchwiegen. 

Und im Traume glaubt er das Erſehnte zu erleben. Es iſt 
ihm, als ob er unter einem Blütenregen auf bunter Wieſe das Mäd⸗ 
chen umarmte. Und eine ſolche Begegnung läßt er die Geliebte nach⸗ 
her ſelber ſchildern in jenem berühmten Liede mit dem Kehrreim 
„Tandaradei“: eine heimliche Zuſammenkunft „unter der Linden an 
der Haide“. „Ich kam gegangen — erzählt ſie — ich kam gegan⸗ 
gen auf die Aue, da war mein Geliebter ſchon da und ich wurde 
empfangen wie eine vornehme Fraue, und ich war ſelig und bins für 
und für. Ob er mich küßte? Wohl tauſendmal: ſeht wie roth mir 
iſt der Mund. Hätte mich da wer geſehen (verhüt' es Gott!) ſo 
ſchämt' ich mich. Doch da war Niemand als er und ich und ein klei⸗ 
nes Vögelein, das wird wohl verſchwiegen ſein.“ 

Auf den Liedern, welche dieſem erſten Liebesverhältniß gewidmet 
ſind, ruht der ganze Zauber der Jugend. Walther zeigt ſich darin, 
wie kein anderer altdeutſcher Lyriker, als ein voller natürlicher Menſch. 
Er iſt naiv wie ein Kind. Aller Zwang, alle Convention und alle 


Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 135 


Abſchwächung der Leidenſchaft iſt ihm noch vollkommen fremd. Er 
iſt heftig und ungeberdig. Er flucht, wenn er ſich ärgert, und er 
jubelt hell auf, wenn er ſich freut. Es fehlt ganz jene Dämpfung, 
welche das cultivirte Salonleben von heute, welche das höfiſche Le⸗ 
ben von damals den natürlichen Empfindungen auferlegt. Dieſe tö⸗ 
nen bei ihm voll aus, in ihrer ganzen urſprünglichen Stärke. Kurz, 
der Charakter von Walthers Lyrik, wo ſie uns zuerſt entgegen tritt, 
iſt unbefangen und ungeſchminkt wie das Volkslied. Jenes gemüth⸗ 
volle und ſchalkhafte: „Du biſt mein, ich bin dein,“ ſcheint hier 
ſich fortzuſetzen. Und es fehlt nicht an anderen öſterreichiſchen Lie⸗ 
besliedern von Vorgängern oder älteren Zeitgenoſſen Walthers, welche 
die Brücke bilden und denſelben Charakter bewähren. 

In den Jugendliedern ſehen wir Walther dem höfiſchen Treiben 
fern. Nun erſt kam er an den öſterreichiſchen Hof, deſſen Glanz 
und Reichthum unter Leopold dem Fünften, dem Tugendhaften, ihn 
anzog. Dort fand er Reinmar von Hagenau, einen elſäſſiſchen Dich⸗ 
ter, der ſein Talent ausſchließlich auf Liebeslieder wandte, Lieder voll 
Geiſt und Reflexion, voll Scharfſinn und Subtilität, zierliche Spiele 
des Witzes, wie er in der feinen höfiſchen Converſation aufgeboten 
wurde: aber ohne alle natürliche Empfindung. 

Indeß Reinmar war ein berühmter und gefeierter Mann: Wal⸗ 
ther von der Vogelweide, der nun bei Hofe in ein regelrechtes Liebes⸗ 
verhältniß zu einer Dame höheren Standes trat und ſich an conven⸗ 
tionelle Formen gewöhnen und ſeine naive Art ein wenig abſchleifen 
ſollte, — nahm ihn zum Vorbild. Sein Dichten kommt in ein an⸗ 
deres Fahrwaſſer. Das Volksthümliche verſchwindet, und auch er 
zahlt der ſpitzfindigen, etwas ſpinnewebigen und difteligen Reflexions- 
poeſie ſeinen Tribut. Es bleibt aber zwiſchen ihm und Reinmar im⸗ 
mer noch ein gewaltiger Unterſchied. Walther hat ein ſinnlich⸗drama⸗ 
tiſches Element in ſeiner Poeſie, ein Talent, äußere Vorgänge an⸗ 
ſchaulich hinzuſtellen, und dabei manchmal eine Pracht der Schilde⸗ 
rung und eine Farbenfülle, wovon Reinmar ſich aus Unvermögen 
oder Abſicht gänzlich fern hält. Und während Reinmar in der 
Liebesſehnſucht aufgeht, als ob es nichts Heiligeres auf der Welt 
gäbe als zu ſeufzen um ein Weib: jo hat man bei Walther df- 
ter das Gefühl, als ob er nicht mit ganzer Seele beim Minnedienſt 


136 Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 

dabei wäre; er iſt nicht ausgefüllt davon; er iſt eben ein echter Mann 
mit einem großen Herzen, das mehr umſpannt als die ſchmerzüche 
Sorge und die kleinliche Klage um perſönliches Glück. 

Walther von der Vogelweide verlebte an dem Hofe zu Wien 
mehrere frohe genußreiche Jahre in geſchützter Stellung. Aber er 
war auf die Gunſt des Fürſten angewieſen. Leopold der Fünfte 
ſtarb, ſein älterer Sohn Friedrich der Katholiſche ſtarb, der jüngere 
— der uns ſchon bekannte Leopold der Glorreiche — war unſerem 
Dichter damals noch nicht gewogen. Sobald es entſchieden iſt, daß 
er zur Regierung kommt, ergreift Walther den Wanderſtab. Er be⸗ 
fiehlt ſich in Gottes Schutz und zieht fort. 

So war er nun heimatlos. Er war ein Fahrender. Die Noth 
war die Begleiterin auf ſeinen Wegen. Die Noth aber lehrte ihn die 
Höhe ſeiner Dichterlaufbahn erklimmen und den Beruf finden, worin 
er ſein Größtes leiſten ſollte. 

Welches war dieſer Beruf? Walther von der Vogelweide wurde 
der erſte Publiciſt, der erſte Journaliſt ſeiner Zeit. Ich gebrauche 
den ganz modernen und inſoweit unpaſſenden Ausdruck, um mit aller 
Schärfe anzuzeigen, daß die beſtimmte Aufgabe, welche heute die Ta⸗ 
geslitteratur erfüllt, damals von der Poeſie mitgeleiſtet wurde. 

Im allgemeinen war auch dieſe Function den Spielleuten zuge⸗ 
fallen. Schon im neunten und zehnten Jahrhundert ſehen wir ſie 
unmittelbar nach eingreifenden Ereigniſſen, nach herrlichen Siegen, 
nach ſchrecklichen Niederlagen, ihre Lieder wie Flugblätter und Zei⸗ 
tungsnachrichten hinaustragen und die Kunde ſolcher aufregenden Be⸗ 
gebenheiten in ferne Länder bringen. Wir finden die Spielleute im 
Dienſte großer Herren, deren Ruhm ſie preiſen, deren Gegner ſie 
verunglimpfen. Sie üben das Amt von Leibjournaliſten der maßge⸗ 
benden Politiker. Sie bedienen ſich dabei kurzer Gedichte von je einer 
Strophe, die wir heute Epigramme nennen würden. 

Walther von der Vogelweide tritt nun in ihre Reihe, aber er 
führt ihrem Geſang einen höheren Inhalt zu. Er iſt der größte Epi⸗ 
grammatiker jener Zeit und wohl der größte deutſche Epigrammati⸗ 
ker überhaupt. Auch er freilich tritt in Herrendienſt und empfängt 
Lohn für das, was er leiſtet. Ja dieſer Lohn iſt nicht ohne Ein⸗ 
fluß auf die Partei, die er ergreift. Walther iſt kein treuer Partei⸗ 


u 


Das geiſtige Leben Oſterreichs im Mittelalter. l 


mann in allen Gegenſätzen, welche die Zeit bewegen. War es Irr⸗ 


thum oder Intereſſe, er wechſelt den Standpunct, er wechſelt die Her⸗ 
ren. Er hat für Philipp den Staufer geſungen. Er hat für den 
Welfen Otto IV. geſungen. Er hat für Friedrich II. geſungen. 
Aber über allem Wechſel treu ſteht er zum Vaterlande. Er be⸗ 
tritt die politiſche Bühne nach dem Tode Kaiſer Heinrichs VI. Es 


iſt zweifelhaft, wer König werden ſoll. Walther ahnt die Gefahr des 


Bürgerkrieges. Schon reißt Unſicherheit ein, „Gewalt fährt auf der 
Straße, Friede und Recht ſind beide wund.“ Er ſtellt Betrachtun⸗ 
gen an: alle Creatur habe ihre feſte Ordnung und ihren Herrn; das 
deutſche Volk ſteht führerlos. Er verlangt einen ſtarken, einen rei⸗ 
chen König: ein armer würde das Volk bedrängen. Man hört einen 
Mann ſprechen, dem die Noth des Vaterlandes tief zu Herzen geht. 

Er preiſt dieſes Vaterland als das Höchſte was er kennt. Er 
iſt weit herumgekommen, er hat der Länder viel geſehen: Deutſchland 
geht ihnen allen vor. „Von der Elbe bis zum Rheine und dann 
wieder bis nach Ungerland, da mögen wohl die Beſten ſein, ai ” 
in der Welt je fand.“ 

Es kam die Zeit, wo er diefe Geſinnung bewähren ſollte, wo 
es nicht einen Kampf galt zwiſchen Partei und Partei innerhalb der 
Nation, ſondern einen nationalen Kampf gegen Rom. 

Die Verwickelungen der italieniſchen Politik Ottos IV. führten 
im Jahre 1210 zu einer Entzweiung mit dem Papſte Innocenz III. 
Heftige Depeſchen wurden gewechſelt. Der Papſt drohte mit dem 
Bann und gebrauchte hohe Worte, als ob ſeine Sache die Sache 
Gottes wäre. Otto erwiderte kurz: er habe nichts Strafbares ge— 
than. „Das Geiſtliche, das Eures Amtes iſt, nehmen wir Euch nicht. 
In weltlichen Dingen aber, wie Ihr wißt, haben wir volle Gewalt, 
und es kommt Euch darüber keine Entſcheidung zu. Mögt Ihr alſo 
in geiſtlichen Dingen Eure Gewalt frei und unbeſchränkt ausüben. 
Seid aber auch verſichert, daß der Kaiſer im ganzen Umfange ſeines 
Reiches das Weltliche nicht aus der Hand geben wird.“ 

Der Papſt antwortete mit der Excommunication, die er über 
Otto und alle ſeine Anhänger oder Begünſtiger ausſprach. 

Dieſe päpſtliche Excommunication machte Walther zum antipapi⸗ 
ſtiſchen Sänger. Sie machte ihn zu einem Vorläufer Luthers und 


138 Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 


Huttens. Sie hob ihn auf den Gipfel ſeines Einfluſſes. Er wurde 
ein mächtiger Agitator mit ſeinen Verſen, ein Demagog in der Ab⸗ 
wehr clericaler Uebergriffe. Die Ultramontanen ſagten ihm nach, er 
habe Tauſende und Tauſende bethört, daß ſie nicht mehr hörten auf 
„Gottes und des Papſtes“ Gebot. | 

„Herr Papſt — jagt er mit Bezug auf jene Excommunication, 
welche alle Anhänger des Kaiſers treffen ſollte — ich fürchte mich 
nicht. Denn ich will euch gehorchen. Ihr ſelbſt habt bei der Krö⸗ 
nung aller Chriſtenheit geboten, dem Kaiſer unterthan zu ſein. Ihr 
habt geſagt: wer dich ſegnet, ſei geſegnet, wer dir flucht, der ſei ver⸗ 
flucht. Um Gott, bedenkt, ob ihr damit nicht euch ſelbſt das Ur⸗ 
theil ſpracht.“ | 

Wie in der Reformation ein beſtimmtes finanzielles Intereſſe 
den Ablaßhandel verhängnißvoll machte: ſo empörte ſich auch Walther 
am heftigſten, als in Deutſchland Opferſtöcke aufgeſtellt wurden, um 
gegen Austheilung des päpſtlichen Segens angeblich Kreuzzugsgelder 
zu ſammeln. Er führt in ſeiner draſtiſchen Weiſe den Papſt ſelber 
ein, wie er in Rom mit ſeinen Italienern frohlockt, nachdem er Fried⸗ 
rich II. zum Gegenkönig gemacht hat. „O wie ſchön chriſtlich der 
Papſt uns verlachet, wenn er zu ſeinen Wälſchen ſagt: Nun hab' ichs 
gut gemacht! — Was er da ſagt, er ſollt' es nimmer haben gedacht. — 
Er ſpricht: Ich habe zwei Tedeschi unter eine Krone gebracht, damit ſie 
das Reich zerſtören und verwüſten: unterdeſſen füllen wir uns unſere 
Kaſſen; ich habe ſie an meinen Stock gelockt, ihr Gut iſt alles mein, ihr 
deutſches Silber fährt in meinen wälſchen Schrein. Ihr Pfaffen, eſſet 
Hühner und trinket Wein, und laßt die dummen deutſchen Eſel faſten.“ 

Walther redet den Opferſtock ſelbſt an: „Sagt an, Herr Stock, 
hat euch der Papſt hierher geſandt, damit ihr ihn bereichert und uns 
Deutſche ärmer macht und pfändet? Wenn er dann im Lateran ſich 
ſeine Taſchen hat gefüllt, dann braucht er eine neue Liſt und klaget 
über Noth und Sorgen, bis ihm wieder zinſen alle Pfarren. Wohl 
wenig von dem Schatz gelangt ins heilige Land. Herr Stock, ihr 
ſeid zum Schaden hergeſandt, ihr ſucht im deutſchen Reich nach Thö⸗ 
rinnen und Narren.“ 

Eifrig ruft Walther die Geiſtlichen des Vaterlandes auf, dem 
Ablaßhandel und der Simonie Einhalt zu thun. Wie Luther im 


Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 139 


Papſt den Antichriſt zu erblicken meinte, ſo nennt ihn Walther den 
neuen Judas. Er vergleicht ihn mit jenem Papſte Gerbert⸗Sylve⸗ 
ſter II., den das Mittelalter allgemein für einen Schwarzkünſtler 
hielt. Aber nach Walther wäre Innocenz weit ſchlimmer. „Denn 
jener hat ſich ſelbſt doch nur der Höll' ergeben: du gibſt dich ſelbſt 
ihr preis, und alle Chriſtenheit daneben.“ 

Dabei blieb Walther jedoch ſtets ein gläubiger, frommer Chriſt. 
Er beſingt das heilige Land, wirkt ſpäter für den Kreuzzug, feiert 
die heilige Jungfrau und die göttliche Trinität. Rührend einfache 
und kindliche Gebete beſitzen wir von ihm. Aber er ſcheidet Reli⸗ 
gion und Kirchlichkeit. Er iſt ein Proteſtirender. Seine religiöſe 
Geſinnung hat ſich hoch erhoben bis zur Idee der allgemeinen Liebe, 
der „rechten Minne“, wie er es nennt, der Humanität. Wir beſitzen 
ein koſtbares Gedicht von ihm, für mich das werthvollſte Document 
ſeiner inneren Geiſtesrichtung. „Wer deine zehn Gebote, Gott, will 
ſprechen ohne Furcht, und bricht ſie doch, der hat nicht rechte Minne. 
Dich nennt ſo Mancher Vater, der mich nicht zum Bruder will, der 
ſpricht das inhaltsſchwere Wort mit wenigem Verſtändniß aus. Wir 
werden alle auf gleiche Art erzeugt, geboren und ernährt. Wer kann 
den Herrn von dem Knechte ſcheiden, hätt' er ſie auch im Leben 
wohl gekannt, wenn er ihr nackt Gebein wo findet und Gewürm ihr 
Fleiſch verzehrt? Einem Gotte dienen Chriſten, Juden, Heiden, ihm 
dem Schöpfer und Erhalter dieſer Welt.“ 

Aus dieſem Gedichte wird erſt klar, auf welcher Grundlage 
Walthers Polemik gegen die Uebergriffe des Papſtes und der 
Geiſtlichkeit ruhte. Chriſten, Juden, Mohammedaner in Parallele 
geſtellt, wie wenn ſie gleichberechtigte Diener Gottes wären! Es iſt, 
als ob uns der Athem von Nathan dem Weiſen daraus anwehte. 
Walther tritt dadurch in eine Reihe mit den aufgeklärteſten ſeiner Zeit⸗ 
genoſſen. 

So haben wir denn alle Seiten von Walthers Perſönlichkeit 
nach und nach kennen gelernt. Alle Gebiete, welche die altdeutſche 
Lyrik darbot, hat er durchmeſſen: das Liebeslied, das politiſche Lied, 
das religiöſe Lied. Und überall die größte Mannigfaltigkeit der Styl⸗ 
formen und Stimmungen, von Luſt, Scherz, Spott bis zu Ernſt, 
Trauer, Wehmuth, Zorn und Haß: Alles gefloſſen aus einer Per- 


140 Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 


ſönlichkeit, die unſere wärmſte Sympathie verdient. Er iſt ein Edel⸗ 
mann, aber entfernt von bornirtem ariſtokratiſchem Standesbewußt⸗ 
ſein. Er iſt ein guter Chriſt, aber entfernt von bornirter chriſtlicher 
Ueberhebung. 

Blicken wir nun zurück und Juchem wir die Erſcheinung Walthers 
zu verſtehen. 

Wir ſahen daß und warum die öſterreichiſche Poeſie einen volks⸗ 
thümlichen Charakter bewahrte, der dem übrigen Deutſchland verloren 
ging. Walthers Liebespoeſie zeichnet ſich in ihren Anfängen aus durch 
naive Volksthümlichkeit. 

Wir ſahen daß und warum in i h der Stand der Spiel⸗ 
leute wohlgelitten war und ſich unausrottbarer Beliebtheit erfreute. 
Walther von der Vogelweide nimmt aus der Hand der Spielleute das 
Amt der Journaliſtik, das er zu höheren Aufgaben erhebt. 

Wir ſahen daß in Oeſterreich das Ritterthum ſeine Lebensauf⸗ 
faſſung im Gegenſatze zu den Geiſtlichen ausbildete und daß dieſer 
Gegenſatz den Mitlebenden bewußt war. Walther von der Vogel⸗ 
weide hat die politiſchen Conſequenzen einer von allem ſpecifiſchen 
Kirchenthum unabhängigen Weltanſchauung gezogen, indem er gegen 
das Haupt der Kirche mit ſchrankenloſer Kühnheit litterariſch zu Felde 
zieht. 

Wir haben uns mithin überzeugt, daß die geiſtige Eigenart 
Walthers im weſentlichen von der geiſtigen Eigenart ſeiner Heimat 
bedingt iſt. Aber er hat das Erbgut ſeines Stammes in hohem Maße 
vermehrt, erweitert, vertieft und erhoben. 

Walthers letzte Lebensjahre waren friedlich und ruhig. Sein 
hoher Gönner, Kaiſer Friedrich II. hat ihn mit Haus und Hof be⸗ 
lehnt. Der Gegenſtand ſeiner vieljährigen Sehnſucht war erreicht, 
er konnte an eigenem Feuer warm werden. Seine Spur verlieren 
wir 1227. In dieſem Jahre wird er geſtorben ſein. 

Er liegt zu Würzburg begraben im Lorenzgarten am Neumün⸗ 
ſter. Die Sage meldet, er habe in ſeinem Teſtament verordnet, daß 
man auf ſeinem Grabſtein den Vögeln Weizenkörner und Trinken 
gebe. Vier Löcher ſeien in dem Stein geweſen, zum täglichen Füt⸗ 
tern der Vögel. 

Die Stelle iſt nicht mehr bekannt. Aber an der Außenſeite 


u 


Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 141 


des Neumünſters hat König Ludwig von Baiern eine Gedenktafel an⸗ 
bringen laſſen, mit den Worten: „Teutſcher war kein Dichter.“ 

Das Wort in ſeiner geſuchten Kürze iſt doch wahr. Neben 
Wolfram von Eſchenbach, neben Gottfried von Straßburg, neben den 
größten Dichtern des ausgehenden zwölften und beginnenden dreizehn⸗ 
ten Jahrhunderts ſteht der Oeſterreicher Walther als ein ebenbürtiger 
da: denn er hat das nationale Pathos eingeführt in unſere poetiſche 
Litteratur und er hat einen Kampf begonnen, der im ſechszehnten 
Jahrhundert die entſcheidende Signatur unſeres geiſtigen Lebens wurde 
und auf lange hinaus die beſten Kräfte abſorbirte. 

Ein altes Bild aus dem dreizehnten Jahrhundert zeigt Walther, 
wie er ſich ſelbſt einmal geſchildert hat: ſitzend auf einem Stein, die 
Beine übereinander geſchlagen, das Kinn auf die Hand geſtützt, ſin⸗ 
nend über die Noth des Vaterlandes. Auch dieſes Bildniß will den 
Patrioten feiern. 

Ich habe öfters vor der Erinnerungstafel am Neumünſter ge⸗ 
ſtanden. Sie gibt allerlei Gedanken ein. 

In das Grab zu Würzburg iſt nicht blos Walther von der Vo- 
gelweide geſunken. Er hat den edelſten, er hat den deutſcheſten Theil 
des Oeſterreicherthums mit ſich genommen auf lange Zeit. Mit ihm 


iſt das nationale Pathos der Oeſterreicher in die Grube gefahren, 


ja vielleicht ihr Pathos überhaupt, die Fähigkeit ſich für eine Idee 
zu begeiſtern und ihr zu leben. 

Werfen wir, um dies zu verdeutlichen, noch einen kurzen Blick 
auf die Richtung, welche die öſterreichiſche Litteratur zum Theil noch 
bei Walthers Lebzeiten genommen hat. Wenn ich dieſe Richtung mit 
einem Wort bezeichnen ſoll, ſo wäre es: Carneval, oder — um gut 
wieneriſch zu reden — Faſching. 

Poſſe, Maskerade, Caricatur und Narrheit iſt das Leben Ulrichs 
von Lichtenſtein, das er uns in feinen Memoiren ſo lehrreich geſchil— 
dert hat. Dabei ſtand ihm freilich ein Zauber und eine Melodie der 
Sprache zu Gebote, die wir noch heute ungeſchwächt empfinden, z. B. 
in dem von Mendelsſohn componirten Liede: 


In dem Walde ſüße Töne 
Singen kleine Vögelein. 
An der Haide blühen ſchöne 


142 Das geiſtige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 


Blumen in des Maien Schein. 

Alſo blüht mein hoher Muth, 

Wenn er denkt an ihre Güte, 

Die mir reich macht mein Gemüthe, — 
Wie der Traum den Armen thut. 


Es iſt dabei zu beachten, daß die Lyriker des Mittelalters alle ſelbſt 
auch Componiſten waren und daß ihre Lieder ſtets für den Geſang 
beſtimmt waren, ſozuſagen mit der Melodie auf die Welt kamen. 
Unter den Gedichten Walthers von der Vogelweide und Ulrichs von 
Lichtenſtein befinden ſich auch Tanzlieder. | 

Das Tanzlied aber dominirt ausſchließlich an dem öſterreichiſchen 
Hofe etwa von 1230 an. Der Faſching erklärt ſich in Permanenz. 
Der gefeiertſte Tanzcomponiſt war der baieriſche Ritter Neidhart von 
Reuenthal, auch er wurzelnd in der volksthümlichen Poeſie. Er lei⸗ 
tet die Aera des Poſſenhaften und Schlüpfrigen ein, welche nach und 
nach allen geſunden Geſchmack untergraben hat. Er bietet derbe aber 
anſchauliche und draſtiſche Schilderungen aus dem Volksleben. Sein 
Verkehr mit den Bauern gewährt ihm dazu reichlichen Stoff. Und 
dieſe Manier der draſtiſchen Schilderung iſt die eigentliche Stärke 
der altöſterreichiſchen Poeſie geblieben. Wir finden ſie in Novellen 
und Schwänken, in Satiren und Reimchroniken wieder. In den 
ſchlechteſten Späßen kommt oft noch eine ganz bewunderungswürdige 
Darſtellungskraft zum Vorſchein. Wenn daneben hie und da trockener 
Lehrton erklingt, ſo begreift man wohl, daß das Publicum ſich lieber 
zu dem Unterhaltenden und Feſſelnden wandte. Aber man begreift 
auch, daß dieſe Manier immer mehr auf die Erregung der Lachmus⸗ 
keln ausgehen mußte und daß dafür ſchließlich kein Mittel zu ſchlecht 
war. 

Es iſt eine neuerdings beliebte Vorſtellung, daß man ſagt, ein 
Volk werde gleichſam aufgegraben und die unterſten Schichten und 
Lagerungen kommen wieder zu Tage. Mit der faſchingsmäßigen Fär⸗ 
bung, die die öſterreichiſche Litteratur annimmt, ſinkt ſie auf den Bo⸗ 
denſatz des bajuvariſchen Stammescharakters hinab. Die allerelemen⸗ 
tarſten Functionen eines heitern Gemüthes ohne alle geiſtige Erhebung 
werden mechaniſch ausgeübt und träge gepflegt. 

In dieſem Zuſtande äſthetiſcher Bildung ging das öſterreichiſche 


Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter, 143 


Volk einer neuen Zeit entgegen, einer Zeit mit neuen Anſprüchen, 
neuen Aufgaben. 

Es hat ein paar Aſtronomen geliefert, ein paar Geſchichtſchrei⸗ 
ber. Der Univerſität Wien gebürt der Ruhm, daß an ihr die erſten 
humaniſtiſchen Vorleſungen in Deutſchland gehalten wurden: ſchon 
1454 erklärte der große Aſtronom Georg Peuerbach den Virgil. Ja, 
viele der bedeutendſten Tendenzen der Zeit faſſen ſich in Kaiſer 
Maximilian I. zuſammen, und er iſt in ſeinem ewigen Geldman⸗ 
gel und ſeinem Dilettantismus, in ſeiner Vielthuerei, Launenhaftig⸗ 
keit, Phantaſterei, aber auch in ſeiner hellen Naturfreude und vielſei⸗ 

tigen Geſchicklichkeit ein rechter Ausdruck des Oeſterreicherthums. 
25 Maximilian iſt voll von Bildungsintereſſen. Er iſt in geiſtiger 
Hinſicht ein Mittelpunct wie kein Kaiſer nach ihm, wie kein Kaiſer 
vor ihm außer Karl der Große. Alle großen Unternehmungen der 
1 Epoche werden zu ihm in Beziehung geſetzt, ſogar die Welſeriſchen 
As Schiffe, die erſten deutſchen die nach Oſtindien ſegeln, rechnet man 
Ss Ihm zur Ehre an. Richtiger preift ein Zeitgenoſſe das Dreigeſtirn 
Erasmus, Reuchlin, Pirkheimer, das mit hellem Schein den ſtralen⸗ 
den Mond, den Kaiſer Max, umgab. 

Er verhilft dem Humanismus in Wien zu entſchiedenem Durch⸗ 
bruch, die gelehrte Donaugeſellſchaft umgibt ihn wie eine Akademie, 
Conrad Celtis verherrlicht ihn in ſeinen Dramen, alle Dichter der 
Zeit ſind ſeines Lobes voll. Den berühmten Humaniſten und Päda⸗ 
gogen Rudolf Agricola ſuchte er ſchon als Erzherzog 1482 an ſeinem 
Hofe feſtzuhalten. In Geſchichte, Genealogie und Landesbeſchreibung 
ſind Stabius, Suntheim, Cuſpinian, Celtis, Peutinger um ihn und für 
ihn thätig. Unermüdlich ließ er Urkunden, Chroniken, Bücher ſammeln. 
Wimpfeling und Andere ſtellten ihm die Beſchwerden Deutſchlands 
gegen den Papſt zuſammen und behandelten ſyſtematiſch das Verhält⸗ 
niß zwiſchen Papft und Kaiſer. Den Gregor Reiſch, der in einer 
vielgeleſenen Encyclopädie das ganze Wiſſen von damals zuſammen⸗ 
faßte, und den Johann Geiler von Kaiſersberg, den berühmteſten 
Prediger jener Zeit, berief er wiederholt von Freiburg und Straßburg 
an ſeinen Hof um in Gewiſſensſachen und ſonſt ihren Rath zu hören. 

Alle Beziehungen zu Gelehrten und Künſtlern pflegt er mit Vorliebe. 
Der gelehrte Konrad Peutinger von Augsburg iſt fein Agent in po- 


144 Das geiſtige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 


litiſchen, finanziellen, künſtleriſchen und litterariſchen Angelegenheiten. 
Als Herzog Bogislav X. von Pommern den Juriſten Petrus Raven⸗ 
nas in Padua für ſeine Univerſität Greifswald gewonnen hatte und 
im Jahre 1497 mit ihm gen Norden zog, da kamen ſie durch Inns⸗ 
bruck, wo Kaiſer Max krank darniederlag. Der Kaiſer aber ließ 
Petrus zur Nachtzeit zu ſich kommen und dieſer trug in großer Ver⸗ 
ſammlung lateiniſche Gedichte vor, worin er den Kaiſer pries. 

Wie einſt im Nibelungenliede altgermaniſches Reckenthum und 
neumodiſches Ritterthum zuſammentrafen, wie in dem Oeſterreich des 
zwölften und dreizehnten Jahrhunderts Heldenſang und Minneſang mit 
einander wetteiferten: ſo ſcheint durch Maximilian das Oeſterreich des 
ſechszehnten Jahrhunderts den Ruhm zu erlangen, daß Mittelalter 
und Neuzeit ſich dort begegnen und vermählen. Die gleiche Liebe die 
er den neulateiniſchen Poeten und Gelehrten entgegentrug, die bewahrte 
er auch für die Dichtung einer abſterbenden Epoche. Die Anſchauun⸗ 
gen des Ritterthums haben in keinem deutſchen Manne eine ſolche 
Wiederbelebung erfahren wie in Kaiſer Max. Einige der werthvollſten 
Gedichte unſeres Mittelalters kennen wir nur durch die große Samm⸗ 
lung des ſogenannten Ambraſer Heldenbuches, die er anlegen ließ. 
Alle ritterlichen Künſte übte er und dachte ſich am liebſten wie einen 
frommen Ritter der Vorwelt. Bei ſeinem Grabmal zu Innsbruck, an 
dem er ſo eifrig ſchon bei Lebzeiten arbeiten ließ, ſtehen König Artus 
und Dietrich von Bern. 8 

Dabei beſeelte ihn das ganze Selbſtgefühl des modernen Men⸗ 
ſchen und es beſeelte ihn das Selbſtgefühl eines hochgeſtellten Man⸗ 
nes der, aus vielen Gefahren glücklich entronnen, ſich unter beſon⸗ 
derem göttlichem Schutze glaubt. Dieſem Selbſtgefühl ſchmeichelt 
Trithemius, indem er durch allerlei Geſchichtsfälſchungen die Habs⸗ 
burger von den alten Frankenkönigen ableitet. Der Selbſtverherrli⸗ 
chung ſeiner Perſon dient Maximilians eigene litterariſche Thätigkeit: 
Freidals Turnierbuch, Weißkunig, Theuerdank. Der Verherrlichung 
ſeiner Perſon dient auch ein großer Theil der künſtleriſchen Thätigkeit 
die er anregte; was Dürer, Burkmaier, Schäuffelin und Andere 
für ihn arbeiteten: der allegoriſche Triumphzug, die Ehrenpforte, 
und ſo weiter. 

Aber es iſt keine Stetigkeit in ihm. „Seine Seele iſt lauter 


Das geiftige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 145 5 


Bewegung, Freude an den Dingen und Entwurf,“ jagt Ranke. Alle 
ſeine Beſtrebungen und Anregungen bleiben die Neigungen eines ein⸗ 
zelnen Menſchen. Er findet keine Nachfolge, er ſchafft nichts Dauern⸗ 
des, und von dem was er ſchafft kommt den öſterreichiſchen Erblanden 
wenig zu gute. An der originellſten Leiſtung des deutſchen Geiſtes, an 
der großen Bewegung der deutſchen Theologie und Philoſophie bleiben ſie 
nach wie vor ohne Antheil. Oeſterreich ſteht der Reformation des ſechs⸗ 
zehnten Jahrhunderts faſt eben ſo fremd gegenüber wie dem Myſticis⸗ 
mus des vierzehnten. Wien hat für das geiſtige Leben Deutſchlands 
nie die Bedeutung von Nürnberg, Augsburg, Straßburg erreicht. 
Sie wiſſen, daß die Reformation auch in Oeſterreich viele An⸗ 
hänger hatte, daß ſie jedoch gewaltſam unterdrückt wurde. Die 
DOeſterreicher haben ſich dabei im allgemeinen nicht ſchlecht benom⸗ 
men, ſie waren tapfer und blieben feſt. Aber es kam nicht ſo ſehr 
darauf an, zu glauben und willig zu leiden für ſeinen Glauben und 
ſſich ſtandhaft vertreiben zu laſſen: es kam darauf an, zu kämpfen, 
zu kämpfen auf dem Boden den Luther betreten hatte, zu kämpfen 
mit den Waffen des Geiſtes, ſeinem Volke und deſſen Intereſſen zu 
| dienen mit ganzer ununterdrückbarer Kraft. Die ſonſt ſo fruchtbare 
N Litteratur des ſechszehnten Jahrhunderts ift überaus arm an öſterreichi⸗ 
ſchen Namen. Keine Theologen, wenige und geringe Dichter. Auch 
die claſſiſchen Studien faſſen keine rechte Wurzel, wecken keine rechte 
Begeiſterung. „Wien iſt ein Paradies!“ ruft um dieſe Zeit der 
ehrliche Wolfgang Schmeltzl aus. Ja wohl ein Paradies, aber nach 
5 mohammedaniſchem Zuſchnitt, ein Ort des Genuſſes und der Freude. 
— Ueber dieſes Paradies lagert ſich die Nacht des Jeſuitismus. 
Wenn alle Cultur in Wellenbewegung geht: für Oeſterreich iſt das 
ſiebzehnte Jahrhundert das tiefſte Wellenthal. Dem Volke bleibt zu 
ſeinem Troſt die gute Küche und als einziges äſthetiſches Element 
der Spaß. Ein geiſtreicher Mann und bedeutender Redner, übrigens 
kein geborener Oeſterreicher, macht ſeine Wiener Kanzel zu einer 
Art Poſſenbühne. Und bald darauf wird die erſte wirkliche ſtändige 
Poſſenbühne errichtet, und dem Hanswurſt eine bleibende Stätte ſeines 
Lebens und Wirkens eröffnet, deren letzte Ausläufer man noch heute 
im Wurſtelprater beobachten kann. 


Aber gerade um jene Zeit fängt eine neue Bewegung an. Die 
Scherer, Vorträge. 10 


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146 Das geiſtige Leben Oſterreichs im Mittelalter. 


Welle hob ſich und begann zu ſteigen. Oeſterreich hat — wie Je⸗ 
dermann weiß — doch noch einen äſthetiſchen Schutzgeiſt gehabt, der 
es nie verließ. Wenn wir aus der zweiten Blüteepoche deutſcher Litte⸗ 
ratur ebenbürtige Namen neben Walther von der Vogelweide ſtellen 
wollen, ſo müſſen wir Haydn und Mozart nennen. Walthers Lebens⸗ 
freude, ſeine naive Schalkhaftigkeit iſt ihnen geblieben, und der Ernſt, 
mit welchem er die Technik ſeiner Kunſt betrieb. Aber das iſt nur 
die eine Hälfte ſeines Weſens. Wo blieb die andere? 

Es würde über die Grenzen meiner Aufgabe weit hinausführen, 
wollte ich zu ſchildern verſuchen, wie nicht blos in der Muſik, ſon⸗ 
dern auch auf anderen Gebieten eine neue Erhebung nach und nach 
zu Stande kommt; wie einzelne Leiſtungen und einzelne Perſönlich⸗ 
keiten ſich hoch emporarbeiten über das Niveau; wie aber ſelten ein con⸗ 


ſequentes Fortarbeiten der Nachfolger ihr Werk krönt und ihr Andenken 


ehrt; und wie die Slaven in Oeſterreich es auf manchen Gebieten den 
Deutſchen zuvorthun. Es wäre leicht zu zeigen, wie der alte Feind, die 
Weichlichkeit und Genußſucht, wie der Mangel an Hartnäckigkeit und 
Hingebung Alles was ſchon aufrecht zu ſtehen und hoch zu ragen 
ſcheint, neidiſch wieder untergräbt. Und es wäre leicht zu zeigen, wie 
alles Große was wirklich zu Stande gekommen, auf deutſcher Anregung, 
auf deutſchem Vorgange beruht. Grillparzer wußte wohl, weshalb 
er Weimar als eine heilige Stätte verehrte. Im großen, im allge⸗ 
meinen Vaterlande liegen die Wurzeln der Kraft für jeden einzelnen 
Stamm. Der emporleitende Engel iſt derſelbe, der einſt Walther von 
der Vogelweide durchs Leben führte: das nationale Pathos. 


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Pater Abraham a Sancta Clara. | 
15 


Es iſt ein Sonntagmorgen des Frühjahres 1683. Wir befin⸗ 
den uns im Angeſicht der grünen freundlichen Hügel, welche der 
Hauptſtadt der Steiermark wie demüthige Clienten ihres Schloßberges 
die ſchuldige Ehrfurcht zu bezeigen ſcheinen. Als gute Katholiken len⸗ 
ken wir unſeren Schritt der nächſten Kirche zu. 
Eine ungewöhnlich große, eine ungewöhnlich aufmerkſame Ver⸗ 
ſammlung ſcheint dem Worte des Predigers geſpannt zu lauſchen. 
7 Der kleine beſcheidene Raum der Auguſtinerkirche hat lange nicht alle 
Herzudrängenden aufnehmen können, und viele Zurückgebliebene ſuchen 
94 nun vor den Eingängen abgeriſſene Sätze wenigſtens zu erhaſchen 
oder hoffen ſich allmählich durch die Menge zu winden. Auf ihren 
Mienen pflanzt ſich der Eindruck fort, den die Ausführungen des 
Predigers auf die Näherſtehenden hervorbringen. 

Zuweilen geht ein leiſes Murmeln des Beifalls durch die Ver⸗ 
ſammlung, zuweilen hier und dort ein ſtilles Nicken des Einverſtänd⸗ 
niſſes, dann ein faſt ängſtliches Hinblicken und Hängen an ſeinen 
Lippen, als ob man im Voraus ableſen wollte, wo die Mündung 
des unbegreiflichen Seitenweges liege, den er wider Erwarten durch 
enge Gaſſen voll alten Geräths und bunten Gerümpels einſchlägt. 
Jetzt beginnt dieſer und jener zu ahnen, auf ſeinen Zügen erglänzt 
der Triumph des Eingeweihten. Die Spannung der Anderen ſtei⸗ 
= gert ſich nur um ſo mehr. Da erfolgt plötzlich die Auflöſung des 
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148 Pater Abraham a Sancta Clara. 


immer verwickelter geſchürzten Knotens — unaufhaltſam bricht ſchal⸗ 
lendes Gelächter los, der Heiligkeit des Ortes ungeachtet. Aber 
gleich verfinſtern ſich die Geſichter wie reuevoll und erſchrocken über 


die eigene Luſtigkeit. Und ſchwere Sorge ſcheint ſich auf Allen zu 


lagern. 

Jetzt können wir auf die Kanzel hinſehen und verſtehen den 
Redner. f . 

Es iſt ein ſchöner ſtattlicher Mann. Die hohe vorgedrängte 
Stirn, von den kurzen emporſtarrenden Mönchshaaren umſäumt, die 
feſtgezogenen Linien der buſchigen Brauen, die energiſch ausladende 
Naſe müſſen einem Geiſte gehören, in welchem die Kenntniſſe, 
Gedanken und Worte wie eine wohlgeordnete, wohlausgerüſtete Armee 
aufmarſchirt ſtehen, jeder Gedanke ein Soldat, des dirigirenden Win⸗ 


kes gewärtig, in allen Bewegungen ſicher wie eine Maſchine. Die 


blitzenden Augen ſcheinen über die Verſammlung hinſchweifend zu ſa⸗ 
gen: „Ich habe meine Truppen in eurem Rücken, auf euren Flan⸗ 
ken, jedes Commando ſetzt ſie in Action, ich habe euch in meiner 
Gewalt, folgen müßt ihr, wohin ich will.“ Betrachten wir aber den 
breiten wohlgeformten Mund, über den die Naſe ſich faſt zu tief her⸗ 
abneigt, und Kinn und Wangen, die mit dem Halſe viel zu allmäh⸗ 
lich und weichlich verfließen, ſo ſcheinen in dieſer Region jene uni⸗ 


formirten Gedanken ein buntes bewegtes Feſt voll behaglicher Heiterkeit 


zu feiern. . 
| Die hohe über die Brüſtung geſtreckte Geſtalt deutet mit der 
aufgehobenen Rechten nach Südoſten. Er ſpricht von dem, was alle 
Herzen eben angſtvoll bewegt, von unheilverkündenden Zeichen und 
Wundern, die ſich am Himmel begeben; er ſchildert die drohende Ge⸗ 
fahr, und donnert wie empört ſeinen Hörern zu: „Eure Sünden 
find daran Schuld, die Strafe Gottes kommt über euch.“ 
Sahen wir nicht kroatiſche Miliz auf den Straßen? Ihr iſt der 
Schutz der Steiermark anvertraut, die Söhne, Brüder, Vettern der 


Andächtigen ſtehen gegen die Türken im Felde. Unabſehbare Heer⸗ 


ſäulen haben ſich unter Kara Muſtapha durch Ungarn gewälzt. Wie 
lange noch wird es währen, und die entſcheidende Schlacht iſt ge⸗ 
ſchlagen, die Reichshauptſtadt bedroht und an das chriſtliche Europa 
die Frage geſtellt, ob es dem Islam verfallen wolle. Alle Schreck⸗ 


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Pater Abraham a Sancta Clara. 149 


niſſe des Krieges rumoren über der Verſammlung als unheimliche 


Geiſter in den Lüften, und tragen, aus den Erinnerungen der 


jüngſten weſtlichen Kämpfe hervortauchend, die Züge der Marſchälle 
Ludwigs XIV. 

„Dieſe Zeit her, ſpricht der Mann auf der Kanzel, hatte die 
Welt, abſonderlich unſer Europa, einen ſolchen harten Zuſtand, wel⸗ 
chen ſo bald kein Medicus wenden kann. Allem Anſehen nach iſt es 
die Cholica, insgemein das Grimmen genannt, da es nichts thut als 


ſchneiden und ſtechen in deſſen Leib, indem kein Land faſt ohne Krieg 


iſt, kein Reich ohne feindliche Waffen. Von vielen Jahren her iſt 
das römiſch Reich ſchier römiſch Arm worden durch ſtäte Krieg. 
Von etlichen Jahren her iſt Niederland noch niederer worden durch 
lauter Krieg. Elſaß iſt ein Elendſaß worden durch lauter Krieg. Der 


NRheinſtrom iſt ein Peinſtrom worden durch lauter Krieg. Und an⸗ 
dere Länder ſind in lauter Elender verkehrt worden durch lauter Krieg. 


Ungarn führt ein doppeltes Kreuz im Wappen, und bisher hat es 
viel tauſend Kreuz ausgeſtanden durch lauter Krieg.“ 

Doch wie iſt uns denn? Sind wir nicht aus der Grazer Kirche 
am Münzgraben und aus der Zeit der zweiten Türkenbelagerung 
Wiens plötzlich ins Wiener Burgtheater des neunzehnten Jahrhunderts 
verſetzt? Würfeln hier nicht Graf Iſolans Getreue? Scherzt dort 
nicht der Holk ſche Jäger? Iſt es nicht Beckmann, der in der Kutte 
des Kapuziners jene Rede hält? 


„Und das römiſche Reich — daß Gott erbarm! 
Sollte jetzt heißen römiſch Arm; 

Der Rheinſtrom iſt worden zu einem Peinſtrom.“ 
„Und alle die geſegneten deutſchen Länder 

Sind verkehrt worden in Elender —“ 


In der That mag uns Schillers poetiſche Copie helfen und einladen 
die Bekanntſchaft des leibhaftigen Originales zu machen. Den Kapu⸗ 
ziner in Wallenſteins Lager kennen wir lange, oft haben wir über 
ſeine burleske Strafpredigt gelacht und dem großen Komiker, der vor 
Kurzem die Bretter des Burgtheaters auf Nimmerwiederſehen verlaſ⸗ 
ſen, mit dem innigſten Vergnügen ſtürmiſchen Beifall zugejauchzt; 
aber den Prediger und Satiriker Pater Abraham a S. Clara ken⸗ 


150 Pater Abraham a Sancta Clara. 


nen Wenige, und Viele, die ihn nicht kennen, glauben ihn mit Un⸗ 
recht verachten zu dürfen. 

Zwar die ältere Wiener Generation dieſes Jahrhunderts ſtand 
ihm noch etwas näher: einzelne ſeiner Werke wurden neu aufgelegt, 
andere im Auszuge bearbeitet, Anthologien ſeiner „ſinnreichen Gedan⸗ 
ken und ſcherzhaften Einfälle“ veranſtaltet, allerlei Anekdoten über ihn 
im Umlauf erhalten, jogar” unmittelbar vor dem Jahre 48 (welches 
alles dies hinweggeſchwemmt hat) eine Geſammtausgabe ſeiner 
Schriften begonnen. Aber der gerechten Würdigung und Beurthei⸗ 
lung des Paters ſelbſt iſt dieſe ununterbrochene Tradition ſeines 
Ruhmes wenig zu gute gekommen. Man behandelte ihn wie die 
tragiſche Muſe den Clown. Der Clown hat kein Schickſal, keine 
Freunde, keine Familie, er wird nicht geboren, er ſtirbt nicht, er hat 
kein Alter: er exiſtirt einfach zur Beluſtigung des Publicums und 
ſeine Beſtimmung iſt, dieſem Zwecke möglichſt vollkommen zu genü⸗ 
gen, möglichſt häufig herzliches Gelächter zu erregen. 

Man lachte über Pater Abrahams Witze und ſchnurrige Ge⸗ 
ſchichten, man entrichtete ihm den Zoll einer gewiſſen Bewunderung 
für die virtuoſe Handhabung feines Metiers: aber eine theilnahms⸗ 
volle Frage nach ſeinen Lebensſchickſalen, nach feinen menſchlichen 
Beziehungen zu Eltern, Verwandten und Heimat, nach ſeinem Bil⸗ 
dungsgange, ſeiner Stellung zur Welt, ſeinen Leiden und Freuden 
glaubte man ihm nicht ſchuldig zu ſein. Schon ſeine Zeitgenoſſen 
fühlten hierin nicht viel anders. Man wußte nicht einmal ſein Alter 
genau als er ſtarb. Die kurzen Biographien, die man ihm widmete, 
gaben nur das äußerlichſte Gerüſt. Kein Wunder, daß die Sage oder 
freie Erfindung mit einigen ſchönen Lappen wenigſtens dies Gerüſt 
behängen wollte. Da ſollte er während der großen Peſt 1679 mit 
Gefahr ſeines eigenen Lebens von Krankenbett zu Krankenbett der 
Pflicht des Seelſorgers obgelegen, während der Türkenbelagerung 
1683 den Verwundeten und Sterbenden auf den Wällen Troſt zuge⸗ 
ſprochen haben — wogegen wir jetzt erfahren, daß er zur Zeit der 
Peſt fünf Monate lang als Capellan des Landmarſchalls Grafen 
Hoyos im Landhaus abgeſperrt lebte, zur Zeit der Türkenbelagerung 
in Graz zu predigen hatte. Eine Charakteriſtik des Mannes zu ver⸗ 
ſuchen, ſeiner wahren Bedeutung eine ſorgfältigere Würdigung zu wid⸗ 


Pater Abraham a Sancta Clara. 151 


men, hat man ſich für überhoben gehalten. Und gleichwohl, ſo wenig 
auch zum Theil ſeine Predigten dem Ideal der Kanzelberedſamkeit 
entſprachen, ſo gerechtfertigt in gewiſſer Beziehung Leſſings Urtheil 
war, ſie ſeien „allzu elend“; ſo richtig ſelbſt einige der überaus 
ſtrengen Sätze von Gervinus ſeine wirklichen Schwächen trafen — 
der Pater Abraham, der Schillern als ein prächtiges Original er⸗ 
ſchien, deſſen Witz für Geſtalten und Wörter, deſſen humoriſtiſches 
Dramatiſiren Jean Paul bewunderte, der Pater Abraham, deſſen 
Büchlein „Auf, auf, ihr Chriſten!“ Goethe an Schiller mit den 
Worten ſchicken konnte: „Es iſt ein ſo reicher Schatz, der die höchſte 
Stimmung mit ſich führt,“ — dieſer Pater Abraham war es doch 
wohl werth, daß ihm einige Aufmerkſamkeit des Biographen und 
Litterarhiſtorikers in unſerer überallhin antheilsvollen Zeit geſchenkt 
wurde. 

Was keinem anderen Schriftſteller des ausgehenden ſiebzehnten 
und beginnenden achtzehnten Jahrhunderts gelungen iſt, das hat 
Abraham a S. Clara vermocht. Was Lohenſtein nicht konnte, was 


Chriſtian Weiſe nicht konnte, was Gottſched nicht konnte, was Bod— 


mer nicht konnte: das konnte dieſer Auguſtinermönch. Er allein 
wußte zu jener Zeit einzelnen ſeiner Schriften einen ſolchen Zug und 
Schwung zu verleihen, ſie mit einer ſolchen Kraft der Stimmung 
zu durchdringen, daß ihnen für uns Heutige noch anziehende und 
feſſelnde Gewalt beiwohnt. Abraham iſt intereſſanter und lesbarer 
als Sebaſtian Brant, als Murner, als Fiſchart, als Moſcheroſch, 
obgleich vielleicht alle dieſe Satiriker ihn an Höhe des Geiſtes und der 
Bildung weit überragen. Denn Abraham beſitzt das Geheimniß der 
modernen Sprache. Er beherrſcht die rhetoriſchen Mittel, mit denen 
auch auf der höchſten Bildungsſtufe die großen Wirkungen erzielt 
werden. 

Goethes und Schillers Ausſprüche über Abraham enthalten 
keine Charakteriſtik und Würdigung. Aber das bezeugen ſie, daß 
der Mann ihnen noch ein anderes Intereſſe einflößte, als das blos 
litterarhiſtoriſche. Dieſes allein würde den Pater bei ihnen niemals 
in ein bedeutendes Licht gerückt haben. Aber das ſeltene formelle 


Talent forderte die Anerkennung, welche dem Schriftſteller Abraham 


die größten deutſchen Schriftſteller gezollt haben. 


152 Pater Abraham a Saneta Clara. 


Trotz ſolcher Anerkennung konnte Abraham bisher noch nicht 
erlangen, was doch manchem Unbedeutenderen neben ihm ſchon zu 
Theil wurde: eine Monographie. Dieſe Schuld der deutſchen Litte⸗ 
raturwiſſenſchaft hat Herr von Karajan jetzt abgetragen.“) 

Herr von Karajan hat ſich der mühſeligen und ſchwierigen Auf⸗ 
gabe unterzogen, aus höchſt entlegenen, höchſt ſpärlich fließenden 


Quellen, aus Kirchenbüchern, Amtsacten, Kloſterchroniken, aus den 


Ergebniſſen einer langwierigen und ermüdenden genauen Lectüre der 


ſämmtlichen Schriften Abrahams ein Lebens- und Charakterbild des 


Paters zu entwerfen. Wie im deutſchen Märchen Todtengebein zu⸗ 
ſammengeſucht wird zur Wiederbelebung, ſo hat es ſich Herr von 
Karajan nicht verdrießen laſſen, aus den verborgenſten Winkeln die un⸗ 
ſcheinbarſten Knöchelchen Abrahams ſorgfältig aufzuleſen, zu ſäubern, 


zu ordnen und zur dauernden Belehrung aller Nachfolger gleichſam 


in einem Reliquienſchreine auszuſtellen. Seine Schuld iſt es nicht, 
wenn an der Geſtalt nicht blos wie im Märchen das letzte Glied des 
kleinen Fingers fehlt, ſondern auch mancher Hauptknochen vermißt 
wird, der ihr erſt die volle Conſiſtenz und den inneren Zuſammen⸗ 
hang aller Theile verleihen könnte. Die lange Vernachläſſigung rächt 
ſich eben, kein einziger Brief von Abraham iſt aufbehalten, die Ar⸗ 
chive der Klöſter, an denen er wirkte, ſind in alle Winde zerſtreut. 
Wenn nicht ganz unerwartete Funde uns noch zu gute kommen, ſo 
beſitzen wir in Karajans gründlichem und gelehrtem Buche Alles, 
was wir von biographiſchen Details über Abraham je erfahren 
werden. | 

Gerade über die für uns wichtigſten Puncte ergibt die Ueberlie⸗ 
ferung fo viel wie nichts, und finden wir uns lediglich auf Vermu⸗ 
thungen angewieſen. Ueber Abrahams Reiſen nach Rom, ſeine Gaſt⸗ 
predigten, ſein allmähliches Aufſteigen in die Ehrenſtellen ſeines Or⸗ 
dens, über manche innere Erlebniſſe ſeines Kloſters, die eigenthüm⸗ 
lichen finanziellen Beziehungen zum Hofe, die Eiferſüchteleien der 
Ordensgenoſſen ſind wir leidlich vollſtändig unterrichtet. Weit mehr 
als dieſe Dinge aber, die ſich doch nicht zu einer allſeitigen An⸗ 


* Abraham a Sancta Clara von Th. G. v. Karajan. Wien, Verlag von. 


Carl Gerold's Sohn, 1867. 


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Pater Abraham a Sancta Clara. 153 


ſchauung des Privatlebens damaliger Kloſtergeiſtlicher verwerthen 


laſſen, ziehen uns die Fragen an, welche die hiſtoriſche Betrachtung 
vor allen anderen aufzuwerfen hat: welchen Umſtänden verdankte 
Abrahams Begabung ihre eigenthümliche Entfaltung? welche Umſtände 


4 machten ihn zum Geiſtlichen und zum Mönch? welche Umſtände ver⸗ 


ſetzten ihn auf den Schauplatz ſeiner Thätigkeit, der nicht ſeine 
Heimat iſt? wie war eine ſolche Erſcheinung wie Abraham zu Ende 


des ſiebzehnten Jahrhunderts in Deutſchland möglich? 


IJIn der letzten dieſer Fragen liegt zugleich angedeutet, was uns 
von dem vorliegenden Buche ſcheidet. 
Herr von Karajan lehnt eine kritiſche Würdigung der Werke 
Abrahams ausdrücklich von ſich ab, und läßt ſich auf die Erörterung 
ſeiner hiſtoriſchen Bedeutung überall nicht ein. Wir haben kein 
Recht ihm aus dieſer Selbſtbeſchränkung den geringſten Vorwurf 
zu machen. Aber ſein Verhältniß zu dem Helden ſeines Werkes hat 
dadurch ſo ſehr den Charakter reiner Pietät erhalten, daß die Stim⸗ 
mung aus welcher es geſchrieben ſcheint, derjenigen nur zum Theil 
entſpricht, mit welcher wir uns gezwungen ſehen Abraham zu be- 
trachten. | 

Wenn die erſte Empfindung ihm gegenüber die Freude über 
ſeine originelle Beredſamkeit iſt, ſo ſtellt ſich als zweite doch alle⸗ 
mal Scham, Zorn und Trauer ein, welche im weſentlichen darauf 
beruhen, daß Abraham in einem ganzen großen Geiſtesgebiete der 
einzige hervorragende Schriftſteller nach allen Richtungen hin, und 
daß der Ort ſeiner lebendigſten und eingreifendſten Wirkſamkeit die 
Kanzel, der Beruf, dem er ſeine beſte Thätigkeit zu weihen hatte, 
die Seelſorge war. Denken wir ihn lediglich als ſatiriſchen Schrift: 
ſteller und mit ſeinem beſonderen Talente auf ſeine beſondere Art 
denſelben Zwecken dienend, für welche damals die Edelſten Deutjch- 
lands lebten: ſo würde es wenige Männer jener Zeit geben, auf de⸗ 
nen unſer Blick mit gleichem Wohlgefallen ruhte. So aber — wenn 
wir fragen: wie war eine ſolche Erſcheinung wie Abraham zu Ende 
des ſiebzehnten Jahrhunderts in Deutſchland möglich? ſo heißt dies 
nichts anderes als: wie war es möglich, daß zu derſelben Zeit, wo 
der Hof von Berlin einen Leibnitz und Pufendorf ſah, das deutſche 
Geiſtesleben an dem Hofe von Wien durch den einzigen Abraham a 


154 Pater Abraham a Sancta Clara. 


S. Clara repräſentirt war? wie war es möglich, daß zu derſelben Zeit, 
in welcher Spener dem Proteſtantismus Erneuerung und Läuterung 
brachte, in der katholiſchen Welt von Deutſchland ſich der begabteſte 
Prediger zum Poſſenreißer erniedrigte, und das heilige Amt der ſitt⸗ 
lichen Volksbildung am beſten zu verwalten meinte, indem er ſeine 
Strafreden an die Lachluſt einer unterhaltungsſüchtigen Hauptſtadt 
adreſſirte? 

Es lag nicht an einer Begrenztheit von Abrahams Talent. Wir 
werden ſehen, daß dieſes ſich auf dem ernſten Gebiete ebenſo reich 
und kräftig bewährte wie auf dem komiſchen. 

Es lag nicht an einer Speculation Abrahams auf den Beifall 
der Menge. Wir werden ihn als redlichen und wahrhaften Charak⸗ 
ter kennen lernen, dem nichts ſo verhaßt war wie Schmeichelei 
und Liebedienerei und der niemals mit Bewußtſein zu verwerf⸗ 
lichen Mitteln gegriffen hätte, um ſich in die Gunſt des Publicums 
zu ſetzen. 

Es lag an etwas Anderem. Dem Talente Abrahams, ſagt 
Jean Paul, ſchadete nichts als das Jahrhundert und ein dreifacher 
Ort: Deutſchland, Wien und die Kanzel. „Das Jahrhundert und 
Deutſchland“ müſſen wir abziehen, aber „Wien und die Kanzel“ wird 
ſich uns beſtätigen. Darin liegt es, daß Abrahams Bild in unſerer 
Vorſtellung ſchwankt zwiſchen einem ſtrafenden Nahe und einem 
Hofnarren oder Hanswurft. 


II. 


Auf allen Blättern der Abrahamiſchen Schriften quillt uns die 
Fülle von Wörtern und Wendungen entgegen, die ausſchließlich dem 
öſterreichiſch⸗baieriſchen Dialekt angehören. Wir bewundern ſeine 
Vertrautheit mit dieſer Mundart, er kennt ihre verborgenſten Lieblich⸗ 
keiten und dankt ſolcher Kenntnis einige ſeiner ſchlagendſten Wirkun⸗ 
gen. Wir meinen daß nur ein Einheimiſcher ſich die Volksſprache 
in ſo hohem Grade angeeignet haben, ſo ſouverän darüber herrſchen 
konnte. Dennoch war Abraham kein Baier oder Oeſterreicher. Er 
gehörte durch ſeine Geburt Schwaben an, Baiern nur durch die Ab⸗ 


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Pater Abraham a Sancta Clara. 155 


ſtammung des Vaters und ſeine Erziehung, Oeſterreich durch den 
größten und beſten Theil ſeines Lebens. 

Abraham oder, um ihn mit ſeinem bürgerlichen Namen zu nen⸗ 
nen, Hans Ulrich Megerlin kam in Kreenheinſtetten, einem kleinen 
abgelegenen Dorfe des oberen weißen Jura, den 2. Juli 1644 zur 
Welt. Seine Familie war leibeigen, ſein Vater Wirth und ein 
ziemlich wohlhabender, aber mit Kindern reich geſegneter Mann, 
der ſeine Heimat Waſſerburg am Inn vermuthlich früh verlaſſen 
hatte. | 

Daß der kleine Uli „gar vielmals barfüßig unter den Schweinen, 
Gänſen, Enten, Hühnern geſtanden und ſie gehütet oder ihnen ſonſt 
Compagnie geleiſtet“, wie ein Zeitgenoſſe erzählt, war nur in der 
Ordnung. Unerſättliche Lernbegierde in zarteſter Jugend, frühes 
Hervortreten ungewöhnlicher Begabung ſagen ihm die alten kurzen 
Lebensbeſchreibungen nach. Und ein raſch und leicht auffaſſender 
Kopf von ſtarkem Gedächtniß — das bei Zeiten ſich bemerkbar zu 
machen pflegt — muß er in der That geweſen ſein. Daß er kaum 


auf die lateiniſche Schule geſchickt ſchon von den Zäunen herab ſei⸗ 


nen Mitſchülern den Katechismus exponirt, brauchen wir darum dem⸗ 
ſelben alten Biographen noch nicht zu glauben. 

Gleichwohl müſſen wir das Treffende der Anekdote dhertennelt 
Raſch in ſich aufnehmen, raſch von ſich wiedergeben iſt wirklich Abra- 
hams Weiſe. Er eignet ſich das Verſchiedenartigſte ſo unbeſehen an. 
Er iſt ein Repoſitorium für alle möglichen Kenntniſſe, wie die Bü⸗ 
cher einer Bibliothek langt er ſie ſich zum Gebrauch herunter und ſtellt 
ſie wieder an ihren Ort: das Buch aber bleibt das gleiche, kein 
Buchſtab darin verändert ſich, fein Gedanke eines Gedankens wächſt 
neu hinein. 

Und noch ein anderer Grund läßt uns wünſchen, jene wahr⸗ 
ſcheinliche und mögliche Erzählung möchte auch wirklich wahr ſein. Es 
wäre uns dann eine ſehr früh hervorbrechende natürliche Anlage und 
Luſt zur Predigt bezeugt. Seine ſpätere Standeswahl läge in den 
Neigungen ſeiner Kindheit ſchon vorangedeutet. 

Die lateiniſche Schule, von der die Rede iſt, war in Möskirch, 
zwei Stunden von Kreenheinſtetten. Von hier kam er zwölf Jahre 
alt zu den Jeſuiten nach Ingolſtadt, dann im Herbſt 1659 nach 


156 Pater Abraham a Saneta Clara. 


Salzburg, zu deſſen Gymnaſium und Univerſität damals mehrere 
dreißig Benedictinerklöſter des oberen Deutſchland ihre beſten Kräfte 
ſtellten, um ein Gegengewicht gegen den jeſuitiſchen Unterricht zu 
ſchaffen. 8 

Wenn wir dieſe Kräfte nach den Früchten ihrer Wirkſamkeit an 
unſerem Abraham beurtheilen wollen, ſo können ſie uns nicht eben 
ſonderlichen Reſpect einflößen. Ein einziges genügt vollſtändig, um 
die Höhe der Bildung zu bemeſſen, welche dem gläubigen Jünger auf 
dieſen Schulen mitgetheilt wurde: die Art und Weiſe wie Abraham 
von der Philoſophie ſpricht. 

Er iſt kein Feind der Philoſophie. Aber er iſt ihr nur darum 
gewogen, weil er keine Ahnung hat von der Gefahr, welche dem 
Glauben durch ſie drohen konnte. Und er hat keine Ahnung von 
dieſer Gefahr, weil er — im Jahrhundert der Baco, Descartes, 
Spinoza, Locke, Leibnitz! — keine Ahnung hat von dem was Philo⸗ 
ſophie iſt und was Philoſophie will. 


Er ſchreibt begeiſtert den Preis der Wiſſenſchaft und in erſter 


Linie den der Philoſophie, weil ſie, „wo mancher zuweilen hun⸗ 
dert Griff verſucht ein verwirrte Frag recht zu entörtern und gleich⸗ 
wol letztlich mit dem Verſtand ſcheitert, alldort ohne Mühe beſſer 
als ein macedoniſcher Alexander ſolchen Knopf auflöſt.“ Was ſind 
aber das für Knöpfe, die „der Philoſophus“ jo geſchickt aufzulöſen 
verſteht? Sieben tiefe Probleme werden uns beiſpielsweiſe vorge⸗ 
führt mit dem Refrain: „Die Urſach weiß der Philoſophus.“ Näm⸗ 
lich: warum ein ſatter Menſch leichter ſei als ein nüchterner; warum 
einem verſtorbenen Menſchen Haar und Bart wachſe; warum ein 
im Vollmond geſchlagenes Holz dem Wurmſtich unterworfen, ein im 
Neumond geſchlagenes nicht; warum eine Pfanne mit Waſſer über 
das Feuer geſtellt unterwärts am Boden ganz kalt werde; warum 
ein Brunnen in der größten Sommerhitze kälter ſei als mitten im 
Winter, „da der rauhe December allen Bäumen die Haare einpul⸗ 
vert;“ warum derjenige, der ſich an Wein berauſcht, in der Regel 
nach vorwärts, derjenige, der von Bier vollgetrunken, aber rücklings 


zu Boden falle; warum eine Roſe an Wohlgeruch zunehme, wenn 


ſie in der Nähe des Knoblauchs wachſe. — Das nenn' ich mir doch 
einmal eine unſchuldige Philoſophie, der geſammten Orthodoxie zur 


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Pater Abraham a Sancta Clara. 157 


Erneuerung hiermit beſtens empfohlen. Sie mag demungeachtet mit 
nunſerem Abraham den Ariſtoteles verherrlichen als „ein Licht der Welt⸗ 
weiſen, einen Fürſt der Weltweiſen, eine Zierde der Weltweiſen, ein 
1 er anſehnliches Gemüthe“. 
1 Zu einer gewiſſen Niedrigkeit des geiſtigen Standpuncts war 
mithin Abraham durch ſeine Bildung wohl für immer verurtheilt. 
Doch aber blieb das freigegebene Feld noch immer groß genug, um 
eine bedeutende Individualität darauf zu entfalten. 
Abraham war aus dem Volk hervorgegangen. Die ſtarken, 
etwas ungeſchlachten plebejiſchen Züge ſind ſeiner ganzen Art ſtets 
> aufgeprägt geblieben. Er iſt durch kein Läuterungsfeuer gegangen, 
welches ihm die derben Auswüchſe verſengt hätte. Die heimiſchen 
Verhältniſſe ſelbſtverſtändlich, aber auch die Schulverhältniſſe ſcheinen 
ihn an der freien Entfaltung ſeines eigenſten Naturells nie gehindert 
zu haben. Dies Naturell muß aber von Anfang an die entſchei⸗ 
deenden Züge getragen haben, die wir an dem Manne erkennen. Die 
Heiterkeit des Gemüthes, das Talent und die Freude zu Scherz und 
Spott, die Fähigkeit Andere lachen zu machen müſſen ſchon damals 
in ihm vorhanden geweſen ſein. Inſofern glich der Knabe, der ſei⸗ 
nes Vaters Schweinen Compagnie leiſtete, dem Auguſtinermönch, der 
Kaiſern und Fürſten zu predigen hatte, ſo genau als nur ein kleiner 
Uli einem großen Ulrich⸗Abraham gleichen kann. 

Der fröhliche Sinn und das ſatiriſche Vermögen kann nur genährt 
und geſteigert worden ſein, als er aus dem ſtillen Winkel Schwabens 
in das zu jener Zeit belebte geräuſchvolle Ingolſtadt verſetzt wurde, wo 

der Zeſuitenzögling angehalten war die Fehler feiner Mitſchüler zu er⸗ 
ſpioniren, wo unter jeſuitiſcher Anleitung die Phantaſie keineswegs ver⸗ 
kümmerte: wo z. B. in jeſuitiſchen Schauſpielen man gewiß ſeiner bald 
erkannten Begabung die entſprechenden Rollen anvertraute. 
a Die äußere Cultivirung der heiteren Lebensrichtung war ihm 
dagegen vermuthlich ſowohl in Ingolſtadt wie in Salzburg verſagt. 
Die Ungebundenheit des Studentenlebens begann erſt nach dem ſtren⸗ 
gen Zwange des Gymnaſiums. Man trat an die Univerſität wie aus 
dem Gefängniß an das Licht der Freiheit. Um ſo ſehnſüchtiger moch⸗ 
ten die Schüler zu Ingolſtadt und Salzburg auf die Herren Studen⸗ 
ten blicken und manches luſtige Lied heimlich erlauſchen, an manchem 


1 


158 Pater Abraham a Sancta Clara. 


luſtigen Streich aus der Ferne ihr Vergnügen haben. Abrahams 
Werke ſind voll von Beziehungen, die man für Reminiscenzen halten 
möchte, ſo lebendig treten ſie auf. 

»Qualis est vita auf der Welt, 

Quae mihi semper wohlgeſällt? 

Iſt es nicht das Studentenleben? 

Ita vere, das iſt's eben. 

Studenten find jucundi, bisweilen furibundi.« 


Lernte Abraham allmählich um ſich ſchauen und beobachten, 
was in der Welt vorgeht, ſo ſcheint er bereits in Salzburg auch 
die Direction auf eine andere Art der Beobachtung, auf das ge⸗ 
lehrte Sammeln und Aufhäufen von allerlei Wiſſenskram erhalten zu 
haben. 


Otto Aicher aus St. Veit in Niederbaiern und um ſo einflußreicher, 
je näher ſein eigenes Alter noch dem der Schüler ſtand. Dieſer 


Aicher zeigte ſich ſpäter als fruchtbarer Schriftſteller, unter anderem 


als Veranſtalter von Blumenleſen, von Sammlungen ſchöner Stellen 
aus verſchiedenen alten Schriftſtellern. Er mag ſeine Zöglinge zu 
ähnlichen Arbeiten, zu gleicher Verwerthung ihrer Lectüre angehalten 
haben. Dann aber zweifeln wir nicht, daß Abraham ſchon damals 


in erſter Linie auf Anekdoten, pointirte Geſchichtchen und witzige 


Dicta aus war. Derſelbe Aicher bekundete ſpäter Kenntniß vieler 
neuerer europäiſcher Litteraturen. Er mag wenigſtens außerhalb der 
Schule auch zur Beſchäftigung damit angeregt haben. Und Abra⸗ 
ham legte vielleicht den Grund zu ſeiner Beleſenheit in weltlichen 
Autoren, beſonders in Novellendichtern, gleichfalls ſchon damals. 

Im Herbſt 1662 verläßt Ulrich Megerlin das Gymnaſium und 
Salzburg, noch in demſelben Herbſt 1662 ſetzt der Noviz Abraham a 
Sancta Clara in dem Kloſter Maria Brunn bei Wien Auguſtiner 
Barfüßer⸗Ordens ſeine Studien fort. 

Iſt ihm der Entſchluß ſchwer geworden? Hat er ihn freiwillig 
oder überredet oder gezwungen gefaßt? Kniet er wohl vor dem wun⸗ 


derthätigen goldenen Gnadenbild Mariä und betet um Ausdauer und 


frommen demüthigen Sinn? Oder ſieht er erfreut die Scharen der 
Wallfahrer heranpilgern und malt ſich im Geiſte aus, wie er einſt 


Unter ſeinen dortigen Lehrern war der bedeutendſte der Pater 


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Pater Abraham a Sancta Clara. 159 


ſo große Verſammlungen der Gläubigen und noch größere durch die 
Gewalt des Wortes hinreißen, ihre Gemüther gleichſam an feine Lip- 
pen binden würde? Oder ſchleicht er in Anwandlungen von Reue 
oder Zweifel, verſenkt in Sehnſucht um das Weltleben, um fröhliche 
Genoſſen, durch die düſteren Gänge — da tritt er wohl in die Küche 
und ſpricht ſelbſt troſtbedürftig dem frommen Thomerl Troſt zu, — 
dem er drei Decennien nachher einige Worte der Erinnerung weihte, 
dem alten kleinen Laienbruder, der über das Geſchirr gebeugt ſteht 
und ſpült und murrt und ſpült — als er todt war, glaubte man ihn 
immer noch zu hören, wie er nächtlich wuſch und die Schüſſeln hin⸗ 


1 ſetzte —? Doch was hilft es, ſich dies alles vorzuſtellen? In das 


Dunkel einer Menſchenſeele dringt kein Blick, wenn ſie ſelbſt ſich 
nicht eröffnet. Und wie Wenige beſitzen den Schlüſſel zu ihrer eige- 
nen Bruſt. Vielleicht waren Abraham und alle ſeine Zeitgenoſſen 
ſehr weit entfernt von dem ſentimentalen Bedauern, das uns Heutige 
immer unwillkürlich bei den Begriffen Mönch und Kloſter anwan⸗ 
delt. Vielleicht ſollten wir unſeren Helden im Gegentheil beglück⸗ 
wünſchen über die gebotene Gelegenheit ſo raſch feine Carriere begin⸗ 
nen zu können, ſo nahe ſchon der Kanzel, dem künftigen und ver⸗ 
muthlich erſehnten Schauplatz feiner Thaten, gerückt zu fein. 
Auffallend bleibt doch immer die Eile, mit welcher der Achtzehn⸗ 
jährige, noch vor Vollendung ſeiner Studien, in den Orden trat, 
und gerne möchten wir wiſſen, ob nicht doch äußere Einflüſſe ihn 
dazu beſtimmten. Auffallend ſind überdies die immer weiteren Di⸗ 
ſtanzen, in denen er ſich von ſeiner Heimat entfernt, mindeſtens 
müſſen ſie auf beſonderen Gründen beruhen, über die uns beſtimmte 
Nachrichten entgehen. Ausdrücklich erfahren wir nur, daß ſeine Auf⸗ 
nahme ins Kloſter auf Recommandation des päpſtlichen Nuntius 
Carlo Caraffa erfolgte. Aber auch das iſt nicht wenig auffallend, 
daß wir den leibeigenen Wirthsſohn von Kreenheinſtetten ſo vorneh— 
mer Protection genießen ſehen. Er kann freilich zu Ingolſtadt und 
Salzburg vielfach in Berührung mit höher geſtellten Geiſtlichen ge- 
kommen ſein und ſich ihnen durch ſeine glücklichen Fähigkeiten ſelbſt 
empfohlen haben. Aber der Ordensname Abraham, den er wählte, 
leitet auf eine andere Vermuthung. 

Als unſer Abraham ſchon die Schwelle ſeines Predigerruhmes 


160 Pater Abraham a Sancta Clara. 


überjchritten hatte, im Mai 1680, ſtarb zu Altötting in Baiern ein 
anderer Abraham, jetzt ein alter blinder verfallener Mann, ehemals 
ein rüſtiger Herr, der in der geiſtlichen Welt von Tirol, Oeſterreich, 
Baiern, ja bis in die Schweiz hinein als muſikaliſche Autorität eine große 
Geltung erlangt hatte. Er war ein kunſtreicher Orgelſpieler und tüchti⸗ 
ger Capellmeiſter, der in ſiebzehn Klöſtern die Einführung oder Verbeſſe⸗ 
rung der Kirchenmuſik leitete und an die 2000 muſikaliſche Compoſi⸗ 
tionen hinterließ. Geadelt und zum Canonicus in dem berühmten 
Wallfahrtsorte Altötting erhoben, ließ er über 20,000 Gebetbüchlein 
deutſch und lateiniſch drucken, ſpeiſte ganze Schaaren von Wallfah⸗ 
rern auf ſeine eigenen Koſten und erwies ſich überhaupt ſo freigebig, 
daß er ſchließlich beinahe ſelbſt in Noth gerieth. 

Dieſer Abraham war unſeres Helden Vaterbruder und ſcheint 
die — für uns wenigſtens unſichtbare — Hand geweſen zu ſein, 
welche dem ſchwäbiſchen Wirthsſohne die Schickſalsfäden ſchlang und 
ſeine Jugend, ſo wie wir ſie kennen lernten, geſtaltete. Ein allein⸗ 


ſtehender Mann in guten Vermögensverhältniſſen pflegt ja wohl aus 


der zahlreichen Familie naher Verwandten ſich eines begabten Kindes 
anzunehmen und es wie ſein eigenes in der Welt zu ſchützen und zu 
fördern. Hier kam noch ein beſonderer Umſtand hinzu: das Jahr 
der Ueberſiedelung unſeres Abraham von Ingolſtadt nach Salzburg, 
d. h. von den Jeſuiten zu den Benedictinern, fällt mit dem Todes⸗ 
jahre ſeines Vaters zuſammen. Dies war alſo wohl der Augen⸗ 
blick, in welchem der Oheim die Sorge für die Erziehung der Waiſe 
übernahm, und vermuthlich war er kein Freund der Geſellſchaft 
Jeſu. 

Der alte Abraham ſtand zu dem öſterreichiſchen Hauſe in nähe⸗ 
rer Beziehung, indem er einer Erzherzogin ſeine erſte Anſtellung — 
in ihrer Capelle — verdankte, nachher der Hofmuſik eines Erzher⸗ 
zogs angehörte, und auf dieſe Beziehungen hin hatte er von Ferdi⸗ 
nand III. die Erhebung in den Adelſtand erlangt: er ſuchte vielleicht 
auch den Neffen in die Nähe des kaiſerlichen Hofes zu bringen und 
benutzte ſeine Verbindungen in Wien zu dieſem Zwecke. Vielleicht 
drängte er ihn, ſeine Laufbahn möglichſt früh zu beginnen: die ſtrenge 
Disciplin des Barfüßer-Ordens wird er ihm nicht aufgezwungen 
haben: dem Neffen dagegen mochten die großen Beiſpiele alter Pre⸗ 


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Pater Abraham a Sancta Clara. 161 
diger der Bettelorden dabei vorſchweben, da nun einmal auf der 
Seite des Predigtamtes ſein offenbarer Beruf lag. 

Der Altöttinger Canonicus ſoll im Jahre 1660 vom Papſte zum 
Protonotarius apostolicus ernannt worden fein. Bei dieſer Gele- 
genheit, wo nicht früher, mag er die Bekanntſchaft des Nuntius 
gemacht und zwei Jahre ſpäter deſſen Recommandation für ſeinen 
Neffen in Anſpruch genommen haben. Der Neffe aber, vermuthen 
wir, gab ſeinem ſchuldigen Danke gegen den alten Canonicus dadurch 
den angemeſſenen Ausdruck, daß er beim Eintritt in die geiſtliche 
Gemeinſchaft den Namen Abraham ſich beilegte und ſo gleichſam des 
Oheims Schatten ſeinem künftigen Leben als unzertrennlichen Beglei⸗ 
ter geſellte. | 

Nachdem Abraham die theologiſchen Studien abſolvirt und den 
Doctorgrad erlangt, auch in Wien ſeine erſte Meſſe gehalten, zeigte 
er ſofort ſo bedeutende Anlagen zur öffentlichen Rede, daß er alsbald 
nach dem Auguſtinerkloſter Maria Stern zu Taxa in Baiern als 
Feiertagsprediger abgeordnet wurde. 

Taxa war ein ſtark beſuchter Wallfahrtsort zwiſchen Augsburg 


und München, von einem ſchattenreichen Fichtenwäldchen umkränzt, 


an dem Flüßchen Glana gelegen. „Die überaus angenehme Gegend 
und von Natur wohlgeordnete Beſchaffenheit des Orts wurde noch 
mehr geadelt durch die klaren Waſſerquellen, welche durch hervordrin— 
gende Brunnadern die kleinen Fiſchteichel daſelbſt mit unabſetzlichem 
Einfluß erfülleten.“ So beſchreibt es Abraham ſelbſt, der ſeinen 
perſönlichen Beziehungen zu dem Orte in dem Wallfahrtsbüchlein 
„Sad, gack, gack, gack a Ga,“ worin viele erbauliche und alberne 
Wundergeſchichten mit gläubiger und Glauben verlangender Miene 
vorgetragen werden, ein Denkmal geſetzt hat. 

In dieſem Eckchen Deutſchlands alſo entfaltete zuerſt jene Be⸗ 
redſamkeit ihre Schwingen, deren Ruhm bald die Donau auf und 
ab in Baiern und Oeſterreich, in Steiermark und Krain, in Böh⸗ 
men und Mähren ſich ausbreiten ſollte. 

Nur kurze Zeit blieb Abraham in Taxa. Seine hervorragende 
Begabung wurde auf den größeren Wirkungskreis von Wien zurück⸗ 
berufen, im Jahre 1668 oder 1669 etwa. Und mit einer Unter⸗ 


brechung von ſieben in Graz waggb ran en Jahren Game hat 


Scherer, Vorträge. 


162 Pater Abraham a Sancta Clara. 


er, in ſeinem Orden allmählich zum Prior, Provinzial und Defini⸗ 
tor aufſteigend, hier unermüdlich und unter nie erkaltender Theil⸗ 
nahme des Publicums auf der Kanzel der Auguſtinerkirche an Sonn⸗ 
und Feiertagen das Predigtamt bis zu ſeinem Tode, 1. December 1709, 
verwaltet. f 


III. 


Er war unbeſtritten der erſte Prediger des katholiſchen Deutſch⸗ 
lands. Von nah und fern ſuchte man ihn zu Gaſtpredigten zu ge⸗ 
winnen. Vor Allem in Wien und deſſen Umgebung ſelbſt gab es 
wenig hohe und vornehme Kanzeln, die er nicht gelegentlich betreten 
hätte. Bei der höchſten und vornehmſten von allen hatte er von An⸗ 
fang an regelmäßige Verpflichtungen: die Auguſtinerkirche war Hof⸗ 
kirche. Und in äußerer Anerkennung dieſes Verhältniſſes wurde Abra⸗ 
ham 1677 durch die Ernennung zum Hofprediger geehrt. 


Es thut uns wohl zu ſehen, welche Freimüthigkeit Abraham in 


dieſer Stellung entwickelte. Und das Lob eines ehrenhaften, furcht- 
loſen und durchaus wahren Charakters darf ihm Niemand vorenthal⸗ 
ten. Es geſchieht im Bewußtſein der eigenen Integrität, wenn er 
gegen ſeine geiſtlichen Standesgenoſſen loszieht, welche ihre Zungen 
in lauter Honig und Oel tauchen, und welche eines geiſtlichen 
Intereſſes halber mit der Wahrheit nicht heraus wollen. Und 
wenn er uns erzählt, es gebe gar wenig Prediger, welche ſich un⸗ 
terſtehen, gegen öffentliche ärgerliche Sünden und Laſter zu reden, 
ſo bezeugt jedes Blatt ſeiner Werke, daß ihm nichts ferner als ſolche 
Scheu lag. 

Wie bitter und rückſichtslos, nichts verhüllend, nichts entſchul⸗ 
digend, lieſt er den Geiſtlichen den Text, welche oft Noahs Zimmer⸗ 
leuten nicht unähnlich ſeien, die anderen die Arche bauten, ſich ſelbſt 
aber nicht retten konnten und mit den übrigen Menſchen in der 
Sündflut zu Grunde gingen. Mit den Eulen vergleicht er ſie, welche 


das Oel nächtlicher Weile aus den Lampen ſchlürfen, und ſo von 


der Kirche erhalten werden, ſonſt aber nichts nützen. Es wäre un⸗ 


erhört und hätte vermuthlich Amtsſuspenſion zur Folge, wenn ein heu⸗ 


tiger Prediger ſich auf ſolchem Mangel an Corpsgeiſt betreten ließe. 


on W 


ang Abraham a Sancta Elara. 163 


Was für Dinge jagt Abraham dem Adel ins Geſicht! Wie 
wirt er ihm ſeine Standesvorurtheile, ſeinen Ahnenſtolz, ſeine Auf⸗ 


. geblaſenheit und Zehren von den Verdienſten der Vorfahren, ſeine 


rückſichtsloſe Ausſaugung und Bedrückung der Bauern vor, denen vor 


auer Fronarbeit kein Tag in der Woche mehr für ihre eigenen Ge⸗ 


ſchäfte bleibe. Ja, er geht ſo weit, zu einer Zeit, wo das Anden⸗ 
ken Stephan Fadingers und des oberöſterreichiſchen Bauernaufſtandes 
noch lebendig war, an das revolutionäre Lied zu erinnern: „Als Adam 


0 ackerte und Eva ſpann, wo war denn damals der Edelmann?“ 


In welchem Tone redet er vom Hofe! Bei Hofe komme die 
Redlichkeit wie der Palmeſel nur alljährlich einmal ans Licht. Bei 
Hofe ſei ſo viel Treue zu finden, als Speck in den Judenküchen. 


Bei Hofe gehe man mit verdienſtvollen Leuten um wie mit den Nuß⸗ 


bäumen, in die bei der Ernte mit Prügeln hinein geworfen werde, 
zum Lohne, daß ſie Früchte tragen. Bei Hofe behandle man die 
Bedienſteten wie Limonien, die man hinter die Thür werfe, ſobald 


bein Saft mehr in ihnen. Bei Hofe bekleide man die Nackten — aber 


nur die Wahrheit, welche daſelbſt niemals bloß erſcheinen dürfe. 
Bei Hofe ſpeiſe man die Hungernden — aber nur mit Worten. 
Und ſo weiter, ein langes Sündenregiſter. Endlich: „Du wirſt bei 
Hofe ſehen, daß allda wenig Metall: aber viel Erz, viel Erzdiebe, 


Erzſchelme, Erzbetrüger ꝛc.“ 


Es ließen ſich noch viele ähnliche, ausgeführte, witzſprühende, 
zornfunkelnde Stellen mittheilen, worin die Lügenhaftigkeit und Heu⸗ 
chelei des Hofgetriebes, die Unmöglichkeit, daß unabhängige Männ⸗ 
lichkeit in dieſer Atmoſphäre ſich halten könne, ſchonungslos in uner- 
ſchöpflicher Fülle der Gleichniſſe beleuchtet wird. Mit wahrem Ent⸗ 
zücken ſehen wir ihn über die Mächtigen der Erde unbarmherzig zu 
Gerichte ſitzen, den Sohn des unglücklichſten, verachtetſten, mißhan⸗ 


deltſten, des ſeit Jahrhunderten zertretenen und geſchundenen Standes, 


den Leibeigenen von Kreenheinſtetten. 

Abraham iſt mit Herz und Kopf, zu ſeiner Ehre ſei es geſagt, 
in jener Zeit des Buhlens um Hofgunſt, obwohl ihm die höchſten 
Kreiſe offen ſtanden, ſtets ein ganzer und echter Plebejer geblieben. 
In hochadelicher Geſellſchaft fühlte er ſich 1150 wohl und bei Hofe 

11* 


164 Pater Abraham a Sancta Clara. 


fürchtete er auszugleiten auf dem Eiſe, das dort mitten im Sommer 
gefroren ſei. 

Den Machiavell, der damals in Deutſchland ſehr in Mode ſtand, 
bewundert und zum Lebensführer gewählt wurde, nicht daß man ſeine 
Größe erkannt hätte, ſondern weil man einen Lehrmeiſter der Nichts⸗ 
nutzigkeit an ihm zu haben glaubte, — den „klugen, ſpitzfindigen“ 
Machiavell verachtet unſer Abraham als einen Menſchen, von dem 
man nicht wiſſe, ob er mit all ſeinem Anhang mehr belachens⸗ oder 
bemitleidenswürdig ſei.“) Hier ſteht Abraham ganz auf der Höhe 
der Zeit, als ein Mitſtreiter in den Reihen der Guten und Ehrlichen 
gegen das Syſtem der Politik, welches der dreißigjährige Krieg ge⸗ 
zeitigt hatte. Nichts war populärer damals und bei den ſatiriſchen 
Schriftſtellern und den Pamphletiſten ein beliebteres Thema als 5 
Kampf gegen die „Staatsraiſon“. 

Im Drama trat Ratio Status — dieſer „Teufels⸗Katechismus“, 
dieſe „umgekehrten zehn Gebote“ (inversus decalogus) — als ein 
Quackſalber auf, welcher die von Spaniern und Franzoſen ausge⸗ 
plünderte und an den Bettelſtab gebrachte kranke und hinfällige Dame 
Deutſchland erſt vollends ruinirt. In der allegoriſchen Weiſe der 
Zeit wurde ſie als eine Jungfrau dargeſtellt, vor welcher alle Großen 
und Mächtigen, alle Potentaten der Erde auf den Knieen liegen, ſie 
aber hält eine Wage in der Hand, auf deren tiefer ſtehender Schale 
die Begierde nach Machterweiterung, auf der anderen hoch empor 
geſchnellten das Recht ſich befindet. 

Abraham ſeinerſeits äußert Zweifel, ob er im Himmel droben 
irgendwelche heilige Hof-Miniſtros und vornehme Hofräthe antreffen 
werde, — „weil bei dergleichen gar oft Ratio Status — ein Wun⸗ 
derthier iſt dies — das Gewiſſen in die Schanz ſchlägt.“ Er führt 
Kaiphas als Vorgänger dieſer Politiker ein, der bei der Verurthei⸗ 
lung Jeſu geſagt habe: „Unſchuld hin, Unſchuld her, es iſt beſſer 
daß Einer zu Grunde gehe als wir Alle.“ Ingrimmig fragt Abra⸗ 
ham, ob denn Ratio Status von dem Gewiſſen, von dem Gebote 


Die Stelle, angeführt von Karajan, S. 126, iſt übrigens entlehnt aus 
Balth. Schuppii Schriften Hanau 1663) S. 421. 


Pater Abraham a Sancta Clara. 165 


Gottes und der Kirche emancipirt ſei? Er befürchtet, es werde eine 
Zeit kommen, wo Ratio Status das eigene Reich zu Grunde richten 


uünd nicht, wie jene meinen, ein Grundſtein deſſelben fein werde. 


Aus einer gewiſſen allgemeinheit der Polemik und Kritik darf, 


a klann oder will indeß Abraham auf dem politiſchen Gebiete nicht her⸗ 


f 4 austreten. Er ſagt wohl den großen Herren im allgemeinen, ſie 


ſollten ſich doch endlich einmal die Brille auf die Naſe ſetzen, und 
nicht immer durch die Finger ſehen, mit der Juſtiz nicht ſo verfah⸗ 


| 1 ren als mit einem Gewölbe von Spinngewebe, wo die größten In⸗ 


ſecten durchbrechen und die Mücken hängen bleiben, ſie ſollten nicht 


dem Deſtillirkolben gleichen, der aus der Blume die letzten Tropfen 


herausſaugt. Er ſagt den Obrigkeiten, daß ſie einer Hoſpitalſuppe 
gleichen, auf der wenig Augen ſind, den Beamten überhaupt, daß 
ſie gar zu barmherzig ſeien, nicht in der Beherbergung eines Fremd⸗ 
lings, ſondern des fremden Gutes; daß ſie bei geringer Beſoldung 


3 | ſich Accidentien verſchaffen, indem fie ihr Amt treu verwalten, wie 
die Katze die Speiſekammer. Er hebt an den zahlreichen Stellen, wo 


er die Macht des Geldes ſchildert, immer auch die zerrüttenden Wir⸗ 
kungen auf dem Gebiete der Juſtiz und Verwaltung hervor. 

Aber directer Tadel einer Regierungsmaßregel, Bloßlegung der 
innerſten Schäden des Staatsweſens, in dem er lebte und wirkte, 


| = ging doch vermuthlich über das Maß deſſen hinaus, was er ſich 


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erlauben durfte. Er hätte ſonſt aus unmittelbarſter Erfahrung hin⸗ 
weiſen können auf die älteſte und tieffte, die unaufhörlich eiternde 
Wunde des Habsburgiſchen Staates. Der öſterreichiſche Seckel war 
unter Leopold I. manchmal ſo leer, daß man die Couriere nicht be⸗ 
zahlen konnte, die man zu entſenden hatte. Man ſchätzte die Staats⸗ 
einnahmen auf 12 Millionen Gulden: davon kam aber oft nicht die 
Hälfte in die Kaſſe. Die Defraudationen waren maſſenhaft, und 
die Leiter des Finanzweſens gaben dazu das Beiſpiel: im Jahre 1680 
wurde der Hofkammer⸗Präſident Graf Sinzendorff wegen ſchlechter 
Verwaltung, Amtsvernachläſſigung, Diebſtahl, Meineid, Betrug ſei⸗ 
ner Aemter entſetzt und zu einem Schadenerſatz von einer Million 
und 970,000 Gulden verurtheilt. 

Auch Abrahams Kloſter hatte unter der öffentlichen Finanzcala⸗ 
mität zu leiden. Von 1676 — 1690 konnte die Hofkammer (Finanz⸗ 


166 g Pater Abraham a Sancta Clara. 


miniſterium) die den Auguſtinern ſchuldigen Beträge für Meſſen, 
Muſik und andere im Intereſſe des Hofes geleiſtete geiſtliche Verrich⸗ 
tungen niemals vollſtändig ausbezahlen, jo daß ſchließlich ein Schuld— 
betrag von 6674 Fl. aufgelaufen war. Und da „bei dieſen beſchwer⸗ 
lichen Zeiten“ die Hofkammer die ganze Summe zu hoch fand, mußte 
ſich das nicht ſonderlich wohlhabende Kloſter mit 5000 Fl. begnügen. 
Im Jahre 1704 wurde das Kloſter gezwungen, ſeinen ganzen Kir⸗ 
chenſchatz und all ſein Silber in das kaiſerliche Münzhaus zum Ein⸗ 
ſchmelzen abzuführen. Die jährliche Intereſſenzahlung dafür verſprach 
man wenigſtens. 

Abraham wagte nur jene leiſe Andeutung an das wenige Me⸗ 
tall, das bei Hofe zu finden ſei. 

Gleichzeitige Geſchichtſchreiber Leopolds ſprechen ihre Verwunde⸗ 
rung aus über die große Freiheit, welche die Reden des Hofpredigers 
genoſſen, und ſchlagen daraus natürlich Capital für den Ruhm ihres 
Helden, den ſie den Großen nennen. Aber es widerſpricht durchaus 
nicht der Natur dieſes Monarchen, ſoweit wir ſie kennen, daß es 
ihm Freude machte, wenn ſeine Räthe und Höflinge ein wenig mit 
der Brühe des Spottes übergoſſen wurden und ſeine eigene über die 
Satire erhabene Perſon an Superiorität gewann. Das kleine un⸗ 
ſcheinbare Männchen mit dem matten Blick und dem wankenden Gang, 
begabt mit einigen Tugenden des Privatmannes und keiner des Re⸗ 
genten, ruheliebend, bigott und vergnügungsſüchtig, mistraute Allen, 
die er zu höheren Aemtern berief, um ſo mehr, je weniger er Ver⸗ 
trauen zu ſich ſelbſt beſaß. Nach Lobkowitz', ſeines erſten Miniſters, 
Sturz (1674) beſtand er darauf, wie Ludwig XIV. ſelbſt ſein erſter 
Miniſter zu ſein, obgleich ſeine Fähigkeiten, trotz dem Geſchäftsver⸗ 
ſtändniß, das man ihm nachrühmte, dazu lange nicht ausreichten und 
den eigentlichen Beherrſchern von Oeſterreich, dem ſpaniſchen Ge— 
ſandten und den Jeſuiten, dadurch die Zügel des Regiments erſt recht 
feſt in die Hände gedrückt wurden. 

Außerdem beſaß Abraham alle Eigenſchaften, welche ihn dem 
Kaiſer angenehm und ſympathiſch machen mußten. Leopold war 
unterhaltungsſüchtig: Abraham unterhielt ihn. Leopold liebte die Ko⸗ 
mödie: Abraham hatte nichts dagegen und dachte günſtig vom Be⸗ 
ruf des Schauſpiels. Leopold war ein Freund weitſchichtiger Gelehr⸗ 


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Pater Abraham a Sancta Clara. 167 


ſamkeit: Abrahams Predigten und Schriften ſtarrten davon. Leo⸗ 
pold ließ ſich ganz von den Jeſuiten leiten, aus denen er ſeine 


Beichtväter wählte: Abraham bezeigt wiederholt feine Verehrung vor 
dieſem Orden und preiſt deſſen Verdienſte um Jugenderziehung und 


Heidenbekehrung. Leopold duldete in der Mehrzahl ſeiner Erbländer 
keine Niederlaſſung eines Proteſtanten, ſuchte in Schleſien und Nieder⸗ 
öſterreich die Ausrottung des Proteſtantismus mit den gewaltſamſten 


und verwerflichſten Mitteln durchzuſetzen, ja man glaubte, er habe 


ein Gelübde gethan, falls ihm die ungariſche Empörung zu dämpfen 
gelänge, Alle, die ſich dem katholiſchen Glauben nicht bequemen wür⸗ 
den, aus dem Lande zu vertreiben: Abraham, gleichfalls an ſeinem 
Theile bekehrungseifrig, vergaß ſich bis zu den unwürdigſten Schmä⸗ 
hungen gegen den Proteſtantismus und dem gemeinſten Geſchimpfe 
gegen Luther, das nur er ſelbſt noch überbietet durch die wüthendſten 
und ſinnloſeſten Beſchuldigungen der Juden. 

Abraham war ferner durchdrungen von großer perſönlicher Ver⸗ 
ehrung gegen den Kaiſer. Wir wahrhaftig können ihm darin nicht 
gleich fühlen, höchſtens nachfühlen, wenn wir unparteiiſche Zeitgenof- 


ſen die Verehrung theilen ſehen. Wir wahrhaftig können Leopolds 


unerſchütterlichen Gleichmuth, die imperturbabilita dell’ animo nicht 
mit dem venezianiſchen Geſandten für eine große Tugend halten, uns 
graut vor dieſer Leidenſchaftsloſigkeit, dieſer Unfähigkeit des Haſſes, 
die mit Grauſamkeit, dieſer Unfähigkeit der Liebe, die mit Gutmüthig⸗ 
keit gepaart war. Wir wahrhaftig können eine Freigebigkeit nicht 
loben, die auf Koſten unbezahlter Gläubiger bewieſen wurde. Wir 
wahrhaftig können vor der Zartheit eines Gewiſſens keinen Reſpect 
empfinden, welches eben durch ſeine Zartheit den Jeſuiten, den „Di⸗ 


rectoren der kaiſerlichen Conſcienz“, die Handhabe bot, um die Ver⸗ 


tilgung der Ketzerei und die Zurückführung der verirrten Schäflein als 
eine unverletzliche Pflicht darzuſtellen. 

Wir wahrhaftig können eine Frömmigkeit nicht bewundern, die 
zum Fanatismus ausartete, eine Rechtſchaffenheit nicht, welche die 
durch den weſtfäliſchen Frieden den Schleſiern garantirte theilweiſe 
Gewiſſensfreiheit auf alle mögliche Weiſe und durch Eingriff in un⸗ 
zweifelhafte Privatrechte illuſoriſch machte, eine Gerechtigkeitsliebe nicht, 
welche Verbrechern die Strafloſigkeit gewährte, wofern fie zum Katho— 


168 Pater Abraham a Sancta Clara. 


licismus übertraten. Und das iſt leider die wahre Geſtalt der sen- 
timenti di religione, di giustizia e di probita, worauf nach dem 
venezianiſchen Geſandten alle Regierungsgrundſätze dieſes Kaiſers, als 
auf ihren Eckſtein, gegründet waren. Leopold ſelbſt ging mit dem 
Bewußtſein aus der Welt, dem er auf dem Todtenbette Worte lieh, 
ſtets für gute Verwaltung und Juſtiz geſorgt und Niemand Gerechtig⸗ 
keit verweigert zu haben. Er ſtarb mit einer Illuſion. Zwar daß 
er allgemein zur Gerechtigkeit dringend ermahnte, und ſoweit er ſelbſt 
unmittelbar einzugreifen hatte, nach beſtem Wiſſen Gerechtigkeit übte, 


kann derjenige vielleicht zugeben, der die Hinrichtungen von Eperies 


als die gerechte Strafe beſiegter Rebellen vertheidigen will. Aber 
konnte eine Rechtspflege die Unparteilichkeit erreichen, deren unterſte 
Inſtanz in den Händen von ſchlechtbezahlten und von der adlichen 
Gutsherrſchaft abhängigen Beamten lag? Konnte ein Civilproceß ge⸗ 
deihliche Reſultate liefern, der den Advocaten jede Verſchleppung und 
jede Ausſaugung der Parteien geſtattete, welche dann in der That mit 
Syſtem collegialiſch betrieben wurde? 

Indeß, ich komme darauf zurück, wer Leopold ſah und ſprach, 
wer die edlen Grundſätze hörte, die er äußerte, wer die Andacht 
beobachtete, mit der er täglich ſeinen drei Meſſen beiwohnte, wer die 
— ſehr übertriebene — Gründlichkeit an ſich erfuhr, mit der er die 
Audienzen abhielt: der mochte wohl geneigt werden, Vieles, was ge⸗ 
ſchah und was er nicht billigte, keineswegs dem guten wohlmeinenden 
Monarchen zur Laſt zu legen, ſondern Einiges beſchönigend zu ent⸗ 
ſchuldigen, Anderes auf die Räthe und die Organe des kaiſerlichen 
Willens zu ſchieben. Unſer Abraham befand ſich ungefähr in dieſem 
Falle. Denn klar ſah er ohne Zweifel manche der Schäden, zu deren 
Beſeitigung bei Hofe kaum der gute Wille vorhanden war. 

Ich verweile ſo lange auf dieſem Puncte, weil er in der öſter⸗ 
reichiſchen Geſchichte von einer verhängnißvollen Wichtigkeit iſt und 
zu der merkwürdigen Beobachtung Anlaß gibt, daß die Beurtheilung 
der Handlungen des Regenten vom 17. Jahrhundert bis ins 19. bei 
uns keine weſentliche Aenderung erfahren hat. Von wenigen Erſchei⸗ 
nungen unſerer Geſchichte wendet ſich ein gradſinniges deutſches Ge⸗ 
wiſſen mit widerwilligerer Abneigung, als von Kaiſer Franz. Gleich⸗ 
wohl leben noch heute zahlreiche Oeſterreicher, ſonſt von tadelloſem 


Pater Abraham a Sancta Clara. 169 


und feinem ſittlichen Empfinden, welche in dieſem verſchlagenen und 
hinterhaltigen Manne das Ideal eines gewiſſenhaften und gütigen 
Herrſchers verehren. In dieſer Region unſeres moraliſchen Bewußt⸗ 
ſeins iſt der Umſchwung eingetreten, ſeit die Begriffe von Volksrech⸗ 
ten und Verfaſſungen durch deren wiederholten Bruch geſchärft wur⸗ 
den. Nach einer anderen Richtung zeigt ſich die Wendung in größe⸗ 
rer Allgemeinheit erſt ſeit den Erfahrungen des letzten Sommers. 
Etrſt jetzt beginnen einzelne ihre Urtheile über auswärtige, insbeſon⸗ 
7 dere deutſche Politik von den traditionellen Maximen der Staatskanz⸗ 
lei mehr und mehr loszulöſen: nationale Empfindungen treten endlich 
bie und da an die Stelle der dynaſtiſchen. 

= Abraham läßt uns erkennen, daß auch in dieſer Beziehung der 
Oiäeſterreicher des ſiebzehnten Jahrhunderts dem Durchſchnittsbürger 
des neunzehnten glich. 

= Kühle Beobachter waren überzeugt, daß man auch unter Leopold 
denſelben Abſichten von Unterdrückung des deutſchen Reichs und ſei⸗ 
ner Freiheit nachhänge, welche Karl V. und Ferdinand II. auszu⸗ 
führen verſucht hatten. Und auf gar verſchiedenartige Phaſen der 
bſterreichiſchen Politik paßt vortrefflich, was der ſchwediſche Geſandte 
im März 1675 ſeinem Hofe über jene Abſichten ſchrieb: „Ob man 
wohl meinen ſollte, daß dieſes nichts als Viſionen und Chimären 
wären, womit die philoſophiſchen Politici ſich zu ergötzen pflegten, 
zumalen dem Haufe Oeſterreich die Flügel dergeſtalt beſchnitten zu 
ſein ſcheinen, daß es über alle Maßen ſchwer, ja faſt unmöglich ſei, 
den jetzt gemeldeten Zweck zu erhalten: ſo haben jedoch die Miniſtri 
und Schmeichler dieſes Hauſes ſtarke Opinion und Hoffnung, daß 
Gott der Herr die große Pietät und den Eifer der öſterreichiſchen 
Prinzen für die römiſch⸗katholiſche Religion und die Austilgung al⸗ 
ler Rotten und Ketzereien endlich krönen und ihnen die Erreichung 
ihres Zieles gewähren werde.“ 

Halten wir daneben nun Abrahams lovyale Anpreiſung der kai⸗ 
ſerlichen Politik, „welche nicht aus Ehrſucht ihre Macht zu vermeh⸗ 
ren ſucht, ſondern blos die Ehre Gottes, den Nutzen der Kirche und 
des h. Römiſchen Reiches Wohlſtand zu befördern geneigt iſt“: ſo 
ſehen wir den Bekämpfer der Staatsraiſon abermals blind, auch hier 
geblendet vom geiſtlichen Intereſſe und voll unbedingter Gläubigkeit 


170 Pater Abraham a Sancta Clara. 


in die edlen Abſichten ſeiner Regierung, gleichwohl ohne jede Servi⸗ 
lität, nur wie ergriffen ohne ſein Wiſſen von einer unheilvollen erb⸗ 
lichen Krankheit, welche ſehr trefflichen Männern auch heute den klaren 
Blick noch umſchleiert. | 

Sahen wir nach Allem unſern Abraham für Leopold bequem, 
geſinnungsverwandt, perſönlich anhänglich, politiſch loyal, ſo gab es 
trotz dieſer Bequemlichkeit, Geſinnungsverwandtſchaft, Anhänglichkeit, 
Loyalität für ſeine ſcharfe Beurtheilung der Verhältniſſe des Hofes 
und der Großen dieſer Erde eine ſchmale und ſehr leicht unverſehens 
überſchreitbare Grenze, an welche er ſchon dicht herangeſtreift ſein 
muß, wenn er z. B., wie ſich zeigte, die undankbare Behandlung 
wahrer Verdienſte zu rügen wagte, welche dem Kaiſer doch ſelbſt zur 
Laſt fiel. Und daß er wirklich einmal die ihm gezogenen Schranken 
überſchritten, alſo vielleicht dem Kaiſer oder Mitgliedern des kaiſer⸗ 
lichen Hauſes zu nahe getreten, und dafür nicht ſtraflos ausgegangen 
ſei, deutet er ſelbſt an, indem er bemerkt, daß er ſich auf dem Hof⸗ 
pflaſter einmal eine Blaſe gegangen habe. Ja vielleicht war ſein 
ſiebenjähriger Aufenthalt in Graz eine Verbannung und ſollte des 


Hofpredigers Freimuth zur Beſchränkung auf unſchädlichere Gebiete 


nachdrücklich anweiſen. 

Vergegenwärtigen wir uns Abrahams Perſönlichkeit, ſoweit fie 
uns bisher klar geworden, und nehmen wir dazu noch einige andere 
deutlich hervortretende Züge, ſeinen Aberglauben, ſeinen Wunderglau⸗ 
ben, feinen Hexenglauben: jo erhalten wir das Bild eines Mannes, 
der zwar, was ſeinen Charakter anlangt, ohne erkennbaren Vorwurf 
daſteht, aber in geiſtiger Hinſicht, in Bezug auf Bildung und Höhe 
der ſittlichen und religiöſen Anſchauungen eine Stufe einnimmt, welche 
ſich über die des ganz gewöhnlichen beſchränkten Pfaffen nur in ſehr 
wenigen Puncten erhebt. Abraham iſt ein unermüdlicher und eifriger 
Bekämpfer aller menſchlichen Schwächen und Laſter, unbekümmert in 
welcher Schichte der Geſellſchaft er ſie antreffe. Hof und Adel, 
Geiſtliche und Beamte ſchont er jo wenig wie Bürger und Bauern, 
Handwerker und Kaufleute. Den Soldaten hält er vor, ſie glaubten 
ihr Gewiſſen ſei privilegirt; aber er iſt doch wieder gerecht genug, 
in Anerkennung der unleugbaren Beſſerung dieſes Standes ſeit dem 
dreißigjährigen Kriege, dem noch herrſchenden Vorurtheile entgegenzu⸗ 


Pater Abraham a Sancta Clara. 171 


treten und zu verſichern, auch unter ihnen gebe es wackere Leute, 
auch die Soldaten hätten einen Platz im Himmel. Wo wir unge⸗ 
rechte Uebertreibung Abrahams vermuthen müſſen, dürfen wir feine 
perſönlichen Erfahrungen und feine Lebensſtellung als entſchuldigende 
Momente anführen; und meiſt folgt er darin zugleich den landläufi⸗ 
gen Anſchauungen der volksthümlichen Satire, welche in der Littera⸗ 
tur und auf der Kanzel gewiſſe ſtehende Lieblingsthemata ausgebildet 
hatte und ohne Rückſicht auf das wirkliche Leben fort und fort in 
gleicher Weiſe behandelte. Wir können z. B. unmöglich glauben, 
daß die Frau zu Abrahams Zeit durchſchnittlich blos dieſes eitle, 
putzſüchtige, ſchwatzhafte, keifende, kokette und treuloſe Weſen, zu dem 
er ſie macht, geweſen ſei. Aber die Verſpottung und Herabwürdigung 
der Frauen iſt gerade ein ſolches Lieblingsthema der Satiriker, und ſchon 
die wenigen Notizen, die wir über ſeine Mutter beſitzen, zeigen uns 
in der That ein unverträgliches und zänkiſches Weib, die ſo häufig 
bei ihm wiederkehrenden Vorſtellungen unglücklicher Ehen ſtammen 
ſchon aus der trüben Erfahrung ſeiner eigenen Kindheit. Für die 
wo nicht ſittliche, jo doch äſthetiſche Beſſerung, die um ihn her be- 
reits eintrat, die zunächſt in übertriebenen Formen ſich äußernde 
Verehrung und halbe Anbetung der Frauen hatte der Mönch keinen 
Sinn, er ſah darin nur ſchimpfliche Schwäche und Selbſterniedri⸗ 
gung des Mannes. Sogar daß Frauen fremde Sprachen lernen, 
will er nicht dulden, während doch in dem Eindringen franzöſiſcher 
Bildung damals unleugbar ein cultivirendes Element gelegen hat. 
Wenn Abraham ſo nach beſten Kräften warnt und mahnt und 
ſtraft und tadelt, ſo ſtellt er doch nirgends ein poſitives Lebensideal 
auf, das unmittelbare Geltung beanſpruchte. Die ſittlichen Ideale, 
welche er überhaupt vorführt, find die katholiſchen Heiligen, abſtracte 
Tugendmuſter ohne Realität, der wahren Natur des Menſchen mög— 
lichſt entſchieden entgegenhandelnd. Die idealen Geſtalten der Zeit 
ſelbſt, ein Leibnitz, ein Eugen von Savoyen, finden bei ihm keine 
Abſpiegelung. Trotz allem gelehrten Kram, trotz aller zur Schau 
getragenen Vielwiſſerei und dem gelegentlichen Anpreiſen der „Wiſſen⸗ 
ſchaft“ ſteht er doch, wie wir ſahen, viel zu niedrig, um etwa ſeinen 
Zuhörern das Bild eines ringenden gewaltigen Gelehrten zu entwer— 
fen. Trotz dem begeiſterten Aufruf gegen die Türken, trotz dem pa⸗ 


172 Pater Abraham a Sancta Clara. 


triotiſchen Eifer gegen fremde Moden und Sitten gelangt er nirgends 
zur Aufſtellung eines Idealbildes vom deutſchen Weſen oder auch nur 
zu einer kräftigen Manifeſtation nationalen Stolzes und des Gefühls 
nationaler Ehre und Größe. 

Zum Glück tritt in Abrahams moraliſchen Anſchauungen wenig⸗ 
ſtens die äußere Werkheiligkeit ziemlich in den Hintergrund. „Gott 
ſieht nicht auf das, was der Menſch thut, ſondern wie er es thut; 
er ſieht auf den Kern und nicht auf die Schale oder Hülfe; der Kern 
iſt die Meinung, die Schale das Werk.“ 

Sein eigentlich religiöſes Empfinden dagegen iſt ohne alle Ver⸗ 
feinerung, Veredlung und Innigkeit. Der Myſticismus des Mittel⸗ 
alters hatte ſich aus der katholiſchen Welt nahezu vollſtändig zurück⸗ 
gezogen. Man kann nicht verlangen, daß Abraham wie jener Angelus 
Sileſius hätte empfinden ſollen. Aber er iſt auch weit entfernt da⸗ 
von, zu empfinden, wie Friedrich Spee oder Jacob Balde. 

So miſchen ſich überall in dem Menſchen Abraham, in der gei⸗ 
ſtigen Beſonderheit Abraham die anziehenden und die abſtoßenden, die 
ungewöhnlichen und die gewöhnlichen Züge. Er iſt ein völliges Kind 
ſeiner Zeit, ſeiner Confeſſion, ſeines Standes, ſeines Staates. Mit 
ihrer ganzen Beſchränktheit haben es dieſe vier ihm angethan. Er 
unterſcheidet ſich wenig von der durchſchnittlichen geiſtigen Beſchaffen⸗ 
heit eines Katholiken, eines Geiſtlichen, eines Oeſterreichers vom 
Ende des 17. Jahrhunderts. Aber er ragt über die Meiſten hervor 
durch ſeine Rechtſchaffenheit, ſeine Wahrhaftigkeit und die unbeſtochene 
Redlichkeit ſeines ſittlichen Urtheils. Dabei allerdings kam ihm die 
Ausnahmeſtellung zu Statten, welche die Kutte des Bettelmönchs ver⸗ 
leiht: denn die Beſitzloſigkeit ohne die Sorge für den täglichen Un⸗ 
terhalt muß einer privilegirten Exiſtenz gleichkommen. Gegen die 
Macht, die „alles ſchlägt, die allem trotzt, die alles treibt, die alles 
findet, die alles zermalmt und überwindet,“ gegen das Geld — war 
Abraham für ſeine Perſon gefeit. 


IV. 


— 


Vierhundert Jahre vor Abraham, in der zweiten Hälfte des 13ten 
Jahrhunderts durchzog die Donaugelände predigend, lehrend, begei⸗ 


Pater Abraham a Sancta Clara. 173 


* ſternd, unabſehbare Schaaren des Volkes mit ſeinem Worte fort⸗ 


1 4 reißend ein anderer Bettelmönch, der weitberühmte Berthold von Re⸗ 
gensburg. Bei ihm daſſelbe Miſchungsverhältniß der geiſtigen 


Kräfte, wie bei Abraham. Auch ſeine Bildung höchſt untergeordnet, 
ſein theologiſches Wiſſen nur gewöhnlich, die zelotiſche Beſchränktheit, 
der Haß gegen die Ketzer in voller Blüte. Aber welche Sprache! 
welche Beredſamkeit! welche Anſchaulichkeit! welche feſt und ſicher aus⸗ 
geführten Gleichniſſe voll Originalität! und welcher Geiſt des Ernſtes 
und der Herzlichkeit, der dies alles durchdringt und belebt! 

So wird auch in Abraham der Theolog, der Gelehrte, ja der 
Menſch überhaupt weit überboten durch den Redner und Schriftſteller. 
Nur um dieſes willen haben wir uns mit jenem ſo lange beſchäftigt, 
ohne das ungemeine formelle Talent des Redners, das ihn zum Schrift⸗ 
ſteller machte, kennten wir ſeinen Namen vielleicht bloß aus beiläufigen 
Aeußerungen der Zeitgenoſſen und hätten von dem eigentlichen Weſen 
des Mannes keine Ahnung. 

Abraham der Redner und Abraham der Schriftſteller — das 
iſt ein und daſſelbe. Auch wenn er ſchreibt, ſteht er auf der Kanzel 
und hat ſein ganzes Publicum Aug' in Auge vor ſich. Und manche 
ſelbſt von ſeinen größeren Werken mögen auf wirklich gehaltenen Pre⸗ 
digten zum Theil beruhen. Jedenfalls iſt die Predigt die einzige 
Kunſtform, in die man fie faſſen kann. Daher die ungemeine Leb— 
haftigkeit und Unmittelbarkeit des Tons, die ſie alle auszeichnet und 
vermöge welcher ſie unſeren Anſprüchen an den Styl um ſo viel nä⸗ 
her entgegenkommen, als viele andere. 

Abraham iſt vielleicht unter allen Schriftſtellern des ausgehen⸗ 
den 17. Jahrhunderts derjenige, der uns den herrſchenden Geſchmack 
ſeiner Zeit am genießbarſten überliefert. Die unverſtändig weit aus⸗ 
holende Gelehrſamkeit iſt auch bei ihm da. Die endloſe Geſchichten⸗ 
und Curioſitätenkrämerei drängt ſich ſehr bemerkbar in feinen Schrif- 
ten auf. An dem Schwulſt und Bombaſt eines Lohenſtein hat auch 
er ſein reichlich gemeſſenes Theil. Wenn in ſeinen Naturſchilderungen 
„der Erdboden von dem unbeſcheidenen Winter ſeines froſtigen Arreſts 
entlaſſen wird und hernach als ein reicher Handelsmann ſeine wun- 
derſchönen Waaren den Augen, Händen und Naſen feilbietet“ oder 
im Winter „die Stauden mit Schneeflocken bedecket, als wollten ſie 


174 Pater Abraham a Sancta Clara. 


dem Mai mit ihren Blüten trotzen,“ „die Bäume wie ein ſiebzigjäh⸗ 
riges altes Mütterchen mit weißen Haaren überwachſen“ ſind, wenn 
die Sonne, „dieſer Fürſt der Geſtirne,“ der Nebel, „dieſer tülpiſche 
Sohn der moraſtigen Erden“ genannt wird: ſo zehrt Abraham von 
dem Capital des Marini und ſeiner italieniſchen und deutſchen e 
mer oder bildet neue Gleichniſſe in ihrem Sinne aus. 

Auf allen dieſen Dingen beruht aber nicht der Kern und das 
Weſen ſeines Styles. | 

Abraham hat mehr als irgend ein anderer deutſcher Proſaiker 
die Feſſelung der Aufmerkſamkeit des Leſers zum oberſten Princip 
ſeiner Schreibweiſe gemacht. Dieſem einen Zwecke wird alles Uebrige 
untergeordnet. Um ihn zu erreichen, ſetzt Abraham alle nur erdenk⸗ 
lichen Mittel in Bewegung. Er ſucht Spannung zu erregen, indem er 
entweder von vornherein ein Programm aufſtellt, deſſen vollſtändige 
Durchführung der Leſer oder Hörer dann erwartet, oder indem er 
umgekehrt an irgend einem entfernten Endpuncte ſein Thema anfaßt 
und das Ganze nach und nach zum Vorſchein kommen läßt. Ein 
einziger wenig complicirter Grundgedanke wird auf die verſchiedenſte 
Art gewendet, ſcheinbar verlaſſen manchesmal, und immer darauf 
wieder ausdrücklich zurückgegriffen. Die Rede beginnt in der Regel 
mit einer Ueberraſchung, und ſo jeder einzelne Abſchnitt der Durch⸗ 
führung: der Hörer wird bis zum letzten Moment im Ungewiſſen 
darüber gelaſſen, auf welches Ziel der Redner zuſteuere. Die Kunſt 
der Steigerung verſteht Abraham wie Wenige. Die Figur der Frage 
beutet er auf jede nur mögliche Weiſe aus. Das äußerſte und conſe⸗ 
quenteſte Streben nach Abwechſelung, die auf die höchſte Spitze getriebene 
Anſchaulichkeit der Darſtellung charakteriſiren ſeine Schriften in ihren 
kleinſten Theilen. Die höchſt originellen und meiſt ſchlagenden Gleich⸗ 
niſſe und Beiſpiele (um fo ſchlagender oft, je mehr fie allzu roh und 
niedrig ſcheinen) ergießen ſich in Strömen über jeden Punct, welcher 
der Verſinnlichung bedarf. Die deutliche und in die Augen fallende 
Zeichnung mit ſtarken Strichen erſtreckt ſich herab bis auf das Spe⸗ 
ciellſte. Der Parallelismus thut häufig ſeine bindende Wirkung, ſo 
daß ganze Reihen von Sätzen in Ein Syſtem ſich zuſammenſchließen, 
und die Aufmerkſamkeit unaufhaltſam weiter eilt. Man athmet auf, 
wo das Syſtem zum Abſchluß gelangt, und jeder dieſer Ruhepuncte 


Pater Abraham a Sancta Clara. 175 


| . vermehrt die Faßlichkeit, indem er ein Mittel überſichtlicher Gliede⸗ 
rung abgibt. 


Erwägen wir die Methode von Abrahams Redekunſt, ſo meinen 


| wir wie zwei geheim fortwirkende Mächte die zweierlei Bildungsein⸗ 
flüſſe ſeiner Jugend zu unterſcheiden. Zwei Orden, ſahen wir, theil⸗ 


ten ſich in ſeine Erziehung: die Jeſuiten zu Ingolſtadt und die Be⸗ 


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nedictiner zu Salzburg. Von den erſteren rühren die Reizmittel der 


Phantaſie, von den letzteren die aus den entlegenſten Winkeln zu⸗ 


ſammengeſchleppte und geſcharrte Gelehrſamkeit her. 


Die Jeſuiten befanden ſich im Beſitze aller der Mittel, welche 
die damalige äſthetiſche Bildung an die Hand gab, um die Sinne 
und Geiſter gefangen zu nehmen. Bei den Benedictinern fand das 
ehrenwerthe, aber höchſt unfruchtbare Sammelſuriums-Wiſſen, an 
welchem die ganze Zeit krankte, bereitwillige und nicht immer präten⸗ 
ſionsloſe Pflege. Hier wie dort fand man ſich gedrängt, auch das 
claſſiſche Alterthum in ſeinen Kreis zu ziehen. 

Eine beliebte Verſinnlichungsweiſe Abrahamiſcher Predigten ift 
es, die alten Götter den chriftlichen Heiligen zu vergleichen, Vorgänge 
der Bibel durch griechiſche Mythen zu erläutern. Eben dieſe Zu⸗ 
ſammenſtellung von Geſchichten des alten oder neuen Teſtaments oder 
ſonſtigen chriſtlichen Inhalts mit Erzählungen der heidniſchen Sage, 
z. B. die Opferung Iſaaks mit Andromedas Befreiung durch Per- 
ſeus, war die ſtehende Einrichtung der Komödien, mit denen die Je— 
ſuiten überall, wo ſie größere Schulen beſaßen, das Publicum an ſich 
lockten. Alle Künſte der Dekoration, alle Wunderwirkungen der Ma⸗ 
ſchinerie, die Schmeichelei der Muſik wurden aufgeboten, um die 
ſtarker Reize bedürftigen Nerven der Epigonen des dreißigjährigen 
Krieges in Schwingung zu verſetzen. Die geringeren Erregungs- 
mittel der damaligen Schauſpielkunſt und Theaterdichtung wurden 
ſelbſtverſtändlich nicht verſchmäht. 

In dieſer war z. B. ſehr gern gebraucht der Effect des Echos, 
das etwa einen im Walde einſam Klagenden äfft oder tröſtet. Abra- 
ham geht in der Verwendung des Echos ſo weit, daß er deſſen vor— 
gebliche Antworten ſogar als Beweismittel zu ſeinen geiſtlichen Zwecken 
gebraucht. So etwa: „Wollen wir nicht das Echo fragen: was ſoll 
einſt aus aller des Menſchen Herrlichkeit werden? — Erden“ gibt 


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176 | Pater Abraham a Sancta Clara. 


das Echo zurück. Oder: „Wie hat Luther ausgelegt die heilige Bi⸗ 
bel?“ Echo: „übel.“ ! 

In den Jeſuitenſchulen wurden öffentliche Redeakte gehalten, 
wobei ein Gemälde mit allegoriſchen Figuren vorgewieſen und deſſen 
theils ernſte theils komiſche Deutung zum Gegenſtande der Disputa⸗ 


tion gemacht wurde. Moraliſche Begriffe zu perſonificiren und dieſe | 


Perſonen in ihrer ganzen äußeren Erſcheinung wie ein Gemälde in 
allen Einzelheiten auszuführen und zu vergegenwärtigen, darin ent⸗ 
wickelt Abraham große Virtuoſität. Da nimmt z. B. die Sünde 
die Geſtalt einer Megäre an, welche Zeuxis gemalt haben ſoll, der 
Kopf wie mit Schimmel überzogen, die Stirn wie ein Hackbrett mit 
Falten durchfurcht, „ein paar Wangen, welche Farb halber einem al⸗ 
ten ledernen Feuerkübel glichen, beinebens aber ganz ungeformt und 
ſchlampend wie ein ausgepfiffener Dudelſack,“ „der Mund innen wie 
ein zerſtörtes Troja, worinnen weniger Zähne als in einem Laubfroſch, 
außer daß vornher ein einziger Milchzahn ſtehen geblieben, welcher ſo 
groß, daß er ſich über die Oberlippe erhob und ſchier mit ſeiner ab⸗ 
gewetzten Spitze die Naſe kitzelte“ u. ſ. w. 

Wie verſteht es Abraham aber auch, Gemüths- und Seelenzu⸗ 
ſtände zu verſinnlichen, heftige Leidenſchaften, wie ſie den Menſchen 
verwüſten und ſelbſt ſein Aeußeres umgeſtalten, zu ſchildern. Seine 
Schilderungen des Neidigen, des Schmeichlers, des Zornigen, des kei⸗ 
fenden Weibes, der zänkiſchen Ehe, oftmals wiederkehrende und immer 
doch mit neuen Variationen verſehene Themata, bilden wahre Pracht⸗ 
ſtücke, die man freilich mit Labruyeres Feinheit und ſcharfſichtiger 
Beobachtungsgabe zuſammenhalten muß, um ſie nicht zu überſchätzen. 
Unzählige kleine Genrebildchen, unmittelbar der Wirklichkeit abgelauſcht, 


ſprudeln von dramatiſchem Leben. Und das ganze damalige Wien 


mit ſeiner Schauluſt, Leichtlebigkeit und Vornehmthuerei ſtellt er uns 
lebendig vor die Seele. 

Kurz, Abraham bewährt überall den ſchärfſten Blick für die 
Dinge der Außenwelt, die geſchulteſte Beobachtungsgabe des Sinn⸗ 
fälligen, den unerſchöpflichſten Reichthum an paſſenden und verdeut⸗ 
lichenden Vergleichungen, die höchſte und ungeſuchteſte Präciſion des 
Ausdrucks. Ohne die unumſchränkte Herrſchaft über die Sprache und 


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N g Pater Abraham a Sancta Clara. g 177 


E über den ganzen Umfang ihres Wortſchatzes wäre eine Beredſamkeit 


wie Abrahams gar nicht denkbar. 

Goethe vergleicht einmal Lavaters „Pontius Pilatus“ mit Abra⸗ 
hams Art: „denn in dieſe Manier muß jeder Geiſtreiche verfallen, 
der auf den Augenblick wirken will, er hat ſich nach den gegenwärti⸗ 
gen Neigungen, Leidenſchaften, nach Sprache und Terminologie zu er⸗ 
kundigen, um ſolche alsdann zu ſeinen Zwecken zu brauchen und ſich 


der Maſſe anzunähern, die er an ſich heranziehen will.“ 


Die Stelle iſt mehr auf Lavater gemünzt als auf Abraham. 
Dennoch paßt ſie auch auf dieſen beinah völlig. Die ſouveräne Ver⸗ 
fügung über die Geſammtmacht des öſterreichiſchen Spracharſenals — 
denn der Schwabe verräth ſich nur in wenigen Wörtern und Wen⸗ 
dungen — iſt eins von den Geheimniſſen ſeiner Wirkung. Für je⸗ 
den Begriff ſtehen ihm im Moment ſämmtliche Synonymen zu Ge— 
bote. Für Ein Wort ſchleudert er zehn heraus. In einen wahren 
Wirbelwind von bezeichnenden Ausdrücken hüllt er uns zuweilen. 

Was freilich das Grammatiſche anlangt, ſo zeigt ſich unglaub⸗ 
liche Rohheit und Unwiſſenheit. Das grammatiſche Bewußtſein der 
Oeſterreicher war damals hinter dem ſchriftdeutſchen Sprachgeſetz doch 
noch viel weiter zurück als heutzutage. Und das wollen wir nicht 
loben. Aber das unbekümmerte Hineingreifen in den ganzen Vorrath 


mundartlicher Wörter war unter allen Umſtänden einfach ein Gebot der 


Nothwendigkeit, weil eine Quelle ſonſt unerreichbarer Effecte. Oder will 
ſich Jemand anheiſchig machen, den Abraham, ohne ihn zu verderben, 
in reines Schriftdeutſch zu übertragen? Alle Sprachgewaltigen zu allen 
Zeiten gehen von der innigſten Vertrautheit mit ihrem heimatlichen 
Volksdialekte aus. 

Um indeß Abraham auch auf dieſem Gebiete, dem Gebiete ſeiner 
eigenſten Größe, nicht zu ſehr zu beſtaunen und über ſeine Zeitgenoſſen 
zu erheben, müſſen wir uns erinnern, daß gegen Ende der Siebziger 
Jahre des 17. Jahrhunderts der Magiſter Velthen nicht blos in die 
Poſſe, ſondern ſogar in die Tragödie die Improviſation einführte, 
und daß hierin, wie viel auch andere Momente zu dieſem Schritte 
mitwirkten, doch ein Symptom ziemlich verbreiteter Redefähigkeit 
erkannt werden muß. Die Elite der damaligen Schauſpieler traute 
ſich zu, in freier Rede Alles zu übertreffen — an Wirkſamkeit 

Scherer, Vorträge. 12 


178 Pater Abraham a Sancta Clara. 


wenigſtens — was die deutſche dramatiſche Litteratur bis dahin ge- 
liefert hatte. Der Schwülſtige par excellence, Lohenſtein, über⸗ 
trifft in den Reden, welche er den Helden ſeines ungenießbaren 
Romans Arminius in den Mund legt, ſtellenweiſe Alles was er 
ſonſt geleiſtet, indem er ſich darin ſogar ſparſam und maßvoll, 
menſchlich und einfach zeigt. Darf es uns da wundern, wenn die 
Redekunſt mit das Beſte geliefert hat, was uns aus jener Zeit ver⸗ 
blieben iſt? 

Man muß freilich beim Leſen zu überſchlagen wiſſen, um dies 
Beſte ohne Beimiſchung würdigen zu können. Allzu viel Wuſt 
ſchleppt Abraham mit, der ebenſo der Belehrung wie der Unterhal⸗ 
tung ſeines Publicums dienen ſollte. Ganze Allongeperrücken von 
Geſchichten und Notizen ſtülpt er zur Rechtfertigung einzelnen Be⸗ 
hauptungen und Lehrſätzen über, oft auch nur, um das eine Glied 
einer Vergleichung recht unaustilgbar dem Gedächtniß der Zuhörer 
einzuprägen. Um z. B. zänkiſche Weiber mit Glocken zu vergleichen, 
welche ohne Urſache zu klingen anfangen, werden eine lange Reihe 
ſolcher Glocken vorgeführt. Aber ſolche Glocken ſind ja ſicherlich eine 
große Merkwürdigkeit, und deßhalb war der curioſitätenſüchtigen Zeit 
trefflich gedient mit der Mittheilung. Weniger amüſant auch für ſie 
mochte z. B. eine Zuſammenſtellung ſämmtlicher gotteingegebener Träume 
der Bibel geweſen ſein. Aber ſtark verfehlt dürfte Abraham den Ger 
ſchmack feines Publicums doch nur ſelten haben. | 

Das ſtärkſte ift, wenn Belege zuſammengeſucht und über einan⸗ 
der gethürmt werden für Dinge, die an ſich gar kein Intereſſe bie⸗ 
ten. Z. B. Aufzählung aller Heiligen, die an dem Todestage eines 
Mannes, deſſen Leichenrede eben gehalten wird, geſtorben ſind. Oder 
geſchichtsphiloſophiſche Erläuterung des Peſtjahres 1679 durch die 
Ereigniſſe der Jahre 79 ſämmtlicher Jahrhunderte ſeit Chriſtus. Da⸗ 
gegen iſt, für uns zwar gleich unerträglich, aber doch im Geiſte mit⸗ 
telalterlicher Theologie, wenn die Bedeutung der Zahl Drei zur Glo⸗ 
rification der h. Dreifaltigkeit erläutert wird. 

Die gelehrte Trödelbude, die ſich Abraham, wie wir annahmen, 
in Salzburg unter benedictiniſchen Einflüſſen errichtet hatte, füllte ſich 
nach und nach bis oben voll mit derartigem Kehricht. Aber manches 
gute Stück von Novellen und Schwänken befand ſich doch darunter. 


Pater Abraham a Sancta Clara. 179 


5 N 
Hiemit die Predigten zu würzen, war verbreitete Sitte, unter Abra⸗ 
hams Vorgängern z. B. von dem Proteſtanten Balthaſar Schupp 


häufig geübt, den man oft mit Abraham verglichen hat. Doch über⸗ 


N trifft ihn Abraham bei weitem an Witz, Geſtaltungskraft und fort⸗ 
reißendem Fluß der Rede. | 


Abraham trug feine Gefchichten ſehr kurz und bündig vor, fel- 


ö teen ohne originelle Züge, oft mit einer Lebendigkeit, welche auch 
längſt Bekanntes aus der Bibel mit neuem Reiz zu verſehen, ja 


durch ſpannenden Vortrag zu heben, durch eigene perſönliche Theil— 
nahme uns menſchlich nahe zu rücken weiß. Z. B. die Erzählung 
von der Ambassada des göttlichen Couriers Gabriel bei Marien — 
wie er die Verkündigung nennt — unterbricht er, da Maria zaudernd 
einen Augenblick ſchweigt, mit der Anrede: „Warum, o ſeligſte Jung⸗ 
frau, laſſeſt nicht von deinen corallinen Lippen das Fiat ergehen? 
Du ſiehſt ja, daß der heilige Engel, ein von Gott geſandter Bot⸗ 
ſchafter, um ſolches inſtändig anhalte.“ In den Bericht über wich⸗ 
tige Entſcheidungen verſteht er eine ängſtliche Spannung wie faſt der 
Mithandelnden und Betheiligten hineinzulegen, ſo daß wir manchmal 


. bei dem läſtigen Geſchichtenerzählen uns doch in etwas entſchädigt 


finden. 


N | V. 

Dieſer Redner, von deſſen Kunſt die vorſtehenden Bemerkungen 
nur ein höchſt unvollkommenes Bild geben, griff nicht auch gleich, 
als er auf der Kanzel mächtig wurde, nach der Feder, um mit ihr 
die Einwirkungen des Wortes zu unterſtützen. Obwohl er oftmals 


ſeine Predigten aufgezeichnet zu haben ſcheint, ſo ließ er ſie doch ſel⸗ 


ten und nur bei beſonders feierlichen Gelegenheiten drucken. Und 
gehaltene Predigten zur Erinnerung für die Anweſenden, zur Kennt⸗ 
nißnahme für die Abweſenden in Druck zu geben iſt doch noch im— 
mer etwas anderes als eigens für den Druck zu produciren. Wor⸗ 
über ſollte er ſchreiben? Große geiſtige Fortſchritte, die zur Mitthei⸗ 
lung drängen, hat er nie gemacht, eine ungewöhnliche Maſſe von 
Kenntniſſen die ihn zur Schriftſtellerei wahrſcheinlich ermuthigt hät⸗ 
ten, war bei ihm nicht aufgehäuft, das ſatiriſche Talent hatte ſich 
12 * 


180 Pater Abraham a Sancta Clara. 


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kaum jchon kräftiger hervorgethan, das Leben kannte er vielleicht noch 
wenig: es bedurfte eines äußeren Anlaſſes, eines ſeelenbewegenden Er⸗ 
lebniſſes, eines überwältigenden Herandrängens furchtbarer Natur⸗ 
mächte, von deren Druck ſich der Geiſt zu löſen begehrte, während 
es zugleich die Erfüllung einer öffentlichen Pflicht galt und Mn Pre⸗ 
diger in ſeiner Rolle blieb. 

Dieſes Ereigniß war die Peſt, welche im Jahre 1679 drei lange 
Monate hindurch Wien verwüſtete. Der ſchreckliche Feind war kaum 
gewichen, die zahlreichen Flüchtlinge kehrten zurück, befreit athmete 
Alles auf, aber nur zaghaft genoß man noch des neugeſchenkten Le⸗ 
bens, als Abraham es unternahm, — weniger der allgemeinen Stim⸗ 
mung Ausdruck zu verleihen, als auf das Erlebte zurückzublicken und 
dieſe ſchmerzlichen Betrachtungen zur Kräftigung des ſittlichen Be⸗ 
wußtſeins zu verwerthen. Sein „Merks Wien! Das ft: des wü⸗ 
tenden Tods umſtändige Beſchreibung“ u. ſ. w. ſollte in erſter Linie 
ein Erbauungsbuch ſein. 

Als um die Mitte des zwölften Jahrhunderts in Oeſterreich mit 
dem allgemeinen Wohlſtand die Freude am Luxus, der übermüthigſte 
Lebensgenuß, in den adelichen Kreiſen das zartere Verhältniß zu den 
Frauen, die feinen gebildeten Formen der ritterlichen Galanterie ihren 
Einzug feierten, da hielt ein adelicher Mönch, der Bruder Heinrich 
von Melk, dieſer weltfreudigen Geſellſchaft, wie das verſteinernde Haupt 
der Meduſa, das Bild der Ewigkeit entgegen. Aus dem Contraſte 
der mönchiſchen Welt⸗ und Lebensanſchauung mit dem irdiſchen Luſt⸗ 
taumel, der ihn ſelbſt einſt umwogt, entſprang dieſem erſten deutſchen 
Satiriker die negirende Gemüthsſtimmung, die ſtreng urtheilende 
Beobachtung, die ihn nur mit düſteren Farben das Gemälde ſeiner Zeit 
entwerfen ließ. | 

Jenem Heinrich gleich, unterſtützt und ſelbſt wie betäubt von 
der traurigen Vergangenheit, die eben noch ſchreckliche Gegenwart ge⸗ 
weſen, ruft unſer Abraham den Tod herbei, um die menſchliche 
Herrlichkeit, um alle irdiſche Größe vor ſeinem Publicum in das 
Licht zu rücken, worin ſie der Bettelmönch erblickt. Wie groß und 
ruhmreich iſt geiſtliche Tugend, geiſtliche Entſagung! Wie herrlich iſt 
die Wiſſenſchaft, die Gelehrſamkeit! Wie geprieſen iſt Schönheit, iſt 
Reichthum, wie beſeligend Frieden der Ehe, wie hoch zu achten krie⸗ 


Pater Abraham a Sancta Clara. 181 


geriſcher Muth und Tapferkeit! Vor dem Tode gilt das Alles nichts, 
> Tod hat vor nichts Reſpect. „So wahr ich lebe, ſchwört der 

Tod, ich verſtehe nicht atem und bien daher nicht, was Reſpect 
für ein Thier.“ 

Voll angefüllt mit Erinnerungen an die Peſt iſt Abrahams 
Schrift, mit Erzählungen von rührender Pflichttreue, von aufopfern⸗ 
der Liebe, aber auch mit Schilderungen des Sterbens und der Todten, 
die bis zum Ekel wahr und anſchaulich find. Die Geſtalt des To- 
des bildet er zu einer gleichſam menſchlichen Perſönlichkeit aus und 
ſteigert den Charakter kalt lächelnder und verachtungs voller Ironie, 
den er ihm beilegt und bis in die äußerſten Spitzen conſequent durch⸗ 
führt, zu völlig dramatiſcher Lebendigkeit. Hierin hatte freilich die 
bildende Kunſt mit ihren Todtentänzen ihm vorgearbeitet. 

Durch große Mannigfaltigkeit der Gegenſtände und die zahl⸗ 
reichen Abwechslungen der Darſtellung bei aller Einfachheit des 
Grundgedankens gehört dieſes erſte Werk Abrahams zu ſeinen beſten 
und anziehendſten. Der Satiriker freilich kommt darin noch nicht zu 
vollem Athem. Denn wenn auch die eingebildeten Herrlichkeiten der 
Welt vor dem Tode zu Schanden werden ſollen, ſo liegt es doch 
zugleich im Plane der Schrift, auch dem wirklich Großen und Schö— 
nen gegenüber des Todes unerbittliche Macht zu zeigen und verge- 
ſtalt die Reflexion der Weltverachtung auf den Gipfel zu führen. So 
erſcheint die ſpätere Einſeitigkeit Abrahams hier bei weitem nicht durch⸗ 
gebrochen und wir finden ihn auch poſitiv und anerkennend. Die 
Schilderung der glänzenden Phyſiognomie Wiens vor dem Ueberfall 
der Peſt iſt warm, theilnehmend, faſt ohne alle Herbigkeit. Um ſo 
ergreifender taucht mitten in der bunten Bewegung das bleiche, ge 
ſpenſtiſche Gerippe auf. 

Abrahams zweite ſchwächere Schrift „Löſch Wien“ (1680) iſt 
auch durch die Peſt angeregt und fordert die Wiener auf, für ihre 
dem Tode zum Opfer gefallenen Freunde und Verwandten die Qua⸗ 
len des Fegfeuers, in denen fie ſchmachten, durch Andacht und Ge- 
bete zu löſchen. Es fehlt nicht an Stellen von tiefem Gefühl, wo 
er z. B. die Kinder an ihre verlornen Eltern erinnert. „Herzaller⸗ 
liebſte Kinder! erwägt doch ein wenig, woher ihr nach Gott euer 
täglich Brot genommen, wer euch von der Wiegen aus geſpeiſt. Wer? 


182 Pater Abraham a Sancta Clara. 


euere liebſten Eltern. Und das hat ſie oft gekoſtet den Schweiß ih⸗ 
res Angeſichts, und das haben ſie zu wegen gebracht mit ſteten Sor⸗ 
gen und arbeitſamer Kümmerniß. Wer hat euch mehr Scherzel (An⸗ 
ſchnitte des Brotes) geben, als euere allerliebſten Mütter, die mit 
euch jo manchesmal durch viel tauſend Buſſel (Küffe) in eurer Kindheit 
geſcherzt haben und euch ſo oft auf ihren Armen als auf lebendigen 
Wiegen getragen?“ | 

Die dritte kleine Schrift „die große Todtenbruderſchaft, das ift: 
ein kurzer Entwurf des ſterblichen Lebens“ (ebenfalls 1680) behandelt 
das Thema vom Allbezwinger Tod, der nichts ſchont, noch einmal, 
aber weit roher und derber, pfäffiſcher, als „Merks Wien“. Die ein⸗ 
gelegten Poeſien ſind auf dem ernſten Gebiete ungefähr das, was 
die wenig jüngeren Wiener Hanswurſtiaden auf dem komiſchen. 

Ein neues großes Ereigniß der Zeit, die drohende Türkengefahr 
vor Wien, eine abermalige Gottesgeißel für die Sünden der Welt, 
wie ſchon die Peſt es nach Abrahams. Auffaſſung geweſen war, be⸗ 
wog ihn 1683 zur Abfaſſung des Werkchens „Auf, auf, ihr Chriſten! 
Das iſt: eine bewegliche Anfriſchung der chriſtlichen Waffen wider 
den türkiſchen Blutegel,“ — worin Belehrungen über die türkiſche 
Geſchichte, türkiſche Einrichtungen und Sitten mit Ermunterungen 
zum Kampfe, Aufforderungen zur Einigkeit und Ermahnungen zur 
Buße abwechſeln. Das Geſchichtenerzählen iſt ſtärker in Blüte als 
in den früheren Werkchen, die Abſicht der Belehrung über den heran⸗ 
ziehenden Feind und über alles Unheil, das er den Chriſten ſchon 
gebracht, wiegt vor. Aber ein großer Zug des Gottvertrauens und 
der Siegeshoffnung geht durch das Ganze, und wenn man ſich des 
Paters gleichzeitige Predigten von demſelben Geiſte getragen denkt, ſo 
mag er befeuernd und erhebend genug gewirkt haben. 

Alle bisher erwähnten Abrahamiſchen Bücher ſind, wie wir ſehen, 
Gelegenheitsſchriften, durch das unmittelbare Bedürfniß des Momen⸗ 
tes eingegeben. Nachdem Abraham ſo die ſchriftſtelleriſche Bahn 
überhaupt betreten hatte, wagten ſich dann auch andere litterariſche 
Projecte hervor. Von ſeinem Aufenthalte zu Taxa in Baiern her 
war vielfältiges Material von Legenden und Wundergeſchichten, die 
ſich an jenem Orte ſollten begeben haben, bei ihm aufgehäuft. Dar⸗ 
aus machte er jetzt — 1685 — jenes ſchon erwähnte Wallfahrts⸗ 


1 er 
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Pater Abraham a Sancta Clara. 183 


büchlein mit dem wunderlichen, dem Gackern einer Henne nachgebilde⸗ 


ten Titel: welche Henne als Wunderthier bei der Gründung beſagten 


| 4 Kloſters eine einflußreiche Rolle geſpielt hatte. 


Schon aber beſchäftigte unſeren Helden ein umfangreicherer Plan. 
Sein ſatiriſcher Hang fand bisher nur beiläufige Befriedigung. Noch 


in dem Türkenbuch hatten nur einige Parallelen, die er zu Ungunſten 
der Chriſten mit den Türken ziehen konnte, ihm die erwünſchte Gele⸗ 
genheit geboten. Er wollte jetzt ein Werk ſchreiben, das in vorwie⸗ 
gend ſatiriſcher Abſicht angelegt war. Es beſchäftigte ihn zehn Jahre 


mindeſtens, umfaßt vier Quartbände und führt den Titel „Judas der 
Erzſchelm“, erſchienen 1686— 1695. f 

Die Lebensgeſchichte des Verräthers Judas, als des Ausbunds 
ſämmtlicher Laſter, ſoll Gelegenheit geben, alle Sünden, welche Abra⸗ 


ham in ſeiner Zeit beobachtet, zur Sprache zu bringen. Eine Reihe 


ſatiriſcher Zeitpredigten find alſo an jenem Faden, den die alte Apo⸗ 
kryphen⸗Litteratur lieferte, aufgereiht. Das war ſo weit ganz gut. 
Aber indem der Autor ein Capitel ſeines Textes ſtets als Grund⸗ 
lage eines Abſchnittes — der einer Predigt gleichkommt — voran⸗ 


ſtellte: ſo bot dieſer jedesmalige Text oft nicht blos ein, ſondern 


mehrere Themata, und Themata nicht blos ſatiriſcher Art, an deren 
keinem jedoch Abraham vorübergehen wollte, ohne belehrende und er- 
bauliche Betrachtungen daran zu knüpfen. Hiedurch haben die Ab- 
ſchnitte, was bei Abraham ſonſt niemals fehlt, die Einheitlichkeit und 
die Conſequenz der Durchführung verloren. Abraham muß dieſen 
Uebelſtand ſelbſt gefühlt haben, denn er iſt nie wieder zu ſo großen 
Compoſitionen zurückgekehrt. Alle ſeine ſpäteren Werke, ſoweit ich 
ſie kenne, find Sammlungen von Predigten oder predigtartigen Auf- 
ſätzen, deren jede für ſich abgeſchloſſen und manchmal durch nichts 
als den Titel mit den anderen verbunden iſt. Die Zahl dieſer Werke 
iſt ſehr groß und noch aus ſeinem Nachlaſſe wurden fünf Quartbände 
veröffentlicht. 

Ich kann mich auf nähere Charakteriſtiken hier nicht weiter ein⸗ 
laſſen. Einige der letzten Bücher ſind nur erbaulicher Natur: an die 


Dinge der äußeren Welt, an das Leben und die Beſchäftigungen der 


verſchiedenen Stände werden Betrachtungen geknüpft, welche auf das 


184 Pater Abraham a Sancta Clara. 


Ewige und Himmliſche hindeuten. Bei weitem die Mehrzahl aber läßt 
der Satire freien Lauf. 

Im „Judas“ zuerſt zeigt der Abraham fein ganzes Geſicht, an 
den wir immer zunächſt denken, wenn von Abraham a Sancta Clara 
die Rede iſt: Abraham der Humoriſt. Auch im Judas finden ſich 
ernſte Stellen voll Schwung und Feuer, ja man kann ſagen: in der 
Regel iſt noch der tiefe Abſcheu vor dem Laſter der Grundton, der 
ſich bei aller humoriſtiſchen Ausführung im Einzelnen dem Leſer 
aus dem Ganzen ee Aber wenn z. B. das Thema behan⸗ 
delt wird N 


Willſt du heirathen, ſo beſinn dich fein: 
Sonſt bekommſt Eſſig anſtatt des Wein — 


und alle die verſchiedenen Täuſchungen, die Einem begegnen können, 
geſchildert werden mit dem Refrain „O hätte ich das gewußt!“ — 
ſo verfällt Abraham ſchon ganz in die humoriſtiſche Virtuoſenmanier, 
deren Effect nothwendig mehr die Erheiterung, als die ſittliche Beſſe⸗ 
rung des Leſers oder Zuhörers ſein muß. Dieſelbe Manier, welche 
wir faſt in allen Stücken ſeines Nachlaſſes finden. Dieſelbe Manier, 
welche auf die Kanzel übertragen ihm das nicht eben geiſtreiche Epi⸗ 
gramm eintrug: 

Erzvater Abraham! es lachet deine Sara, 

Statt daß ſie Gott dem Herrn aus wahrem Herzen dankt. 

So lacht auch Jedermann bei Abraham a Clara, 

Wenn er ein' Predigt macht bei Auguſtinus Sanct. 
Wenigſtens beweiſen dieſe Zeilen ſowohl, daß im Publicum das 
Unpaſſende komiſch wirkender Predigten gefühlt wurde, als auch daß 
man daran keineswegs gewöhnt war. Für uns aber iſt die Bemer⸗ 
kung wichtig, daß eben jenes Factum, das uns an Abraham verletzt, 
jene Entwürdigung der Kanzel, die er ſich zu ſchulden kommen laſſen 
und die ein ſo trauriges Licht auf den damaligen Bildungszuſtand 
Wiens wirft, — daß dieſe Abrahamiſche Extravaganz an ihm ſelbſt 
etwas Neues, allmählich erſt Gewordenes, daß ſie keineswegs die ur⸗ 
ſprüngliche Quelle ſeines Rufes und ſeiner Beliebtheit, ſondern nur 
ein Auswuchs an ſeinem Talente war, der ſeine beſonderen Gründe 
gehabt haben muß, — ein Auswuchs allerdings, wie es ſcheint, der 


ur. Pas = 
EN Fr 


g 


Pater Abraham a Sancta Clara. 185 


; 4 zuletzt alles Uebrige, die ganze Thätigkeit, die ganze Perſönlichkeit des 
Mannes überwuchert hat. 


Es möchten wenige Puncte in der Litteraturgeſchichte ſchwerer zu 


k beurtheilen ſein, als der: bei welchen Stellen eines beliebigen Bu⸗ 


ches oder einer beliebigen Rede die zeitgenöſſiſchen Leſer oder Zuhö— 


ö 9 rer nothwendig gelacht haben müſſen. Schon die Menſchen einer und 


derſelben Zeit ſtimmen hierin nicht überein. Der norddeutſche Witz 


iſtt ein anderer als der ſüddeutſche, der ſüddeutſche reine Spaß ohne 


Witz wird in Norddeutſchland in der Regel nicht verſtanden. Es 
müßte möglich ſein, daß ein Wiener von heute ſich geiſtig in einen 
Wiener von circa 1700 verwandelte, um zu beurtheilen, bei welchen 
Wendungen einer damals gehaltenen Predigt er dem Lachreiz nicht 
hätte widerſtehen können. Und auch dies gäbe nur ein unſicheres 
Reſultat. Es kommt bei der komiſchen Wirkung ſehr weſentlich auf 
die Art des Vortrags an, auf die Geberde, auf die Miene, mit der 


eine Wendung begleitet wird, auch darauf, ob der Vortragende fie in 


der Vorausſetzung ſagt, daß darüber gelacht werden würde. 
Endlich wird die Sammlung und Erhebung des Gemüthes, welche die 
Kirche gewähren ſoll, durch einzelne verſtreute Wendungen, die bei 
dieſem ein leiſes Lächeln erregen mögen, an jenem vielleicht abgleiten, 
entfernt nicht beeinträchtigt. Wir müßten alſo wiſſen, bei welchen 
Stellen blos gelächelt, bei welchen laut gelacht wurde, und worauf es 
beruhte, ob der Geſammteindruck einer Predigt komiſch war. 

Einen ſicheren Maßſtab gibt es dennoch. Es gibt gewiſſe Ge— 
legenheiten, bei denen alle Menſchen zu allen Zeiten nur ernſt ſein 
können, oder ſich doch nur ernſt geberden dürfen. Und es gibt ge⸗ 
wiſſe Dinge, die bei allen Menſchen zu allen Zeit für verkehrt gelten 
müſſen und die daher nur ein Narr oder wer Andere lachen machen 
will über die Lippen bringen wird. 

Bei Trauerreden an der Bahre geliebter Verſtorbener werden keine 
Poſſen geriſſen. Wenn daher Abraham bei ſolchen Gelegenheiten 
Wortſpiele anbringt, wunderliche Argumentationen aus Rückwärtsle⸗ 
ſungen der Worte und Buchſtabenverſetzungen gebraucht, auch auf an⸗ 
dere ſonderbare Sophismen, die wir nicht für ernſthaft halten könn⸗ 
ten, Beweiſe baut, wenn er durch ganz unerwartete Schwenkungen 
des Ganges ſeiner Rede unmittelbar neben offenbar tief gefühlten 


186 Pater Abraham a Sancta Clara. 


und ergreifenden Stellen verblüfft — kurz wenn er uns Heutige 
zwingt, in Trauerreden über ihn zu lachen: ſo müſſen dieſelben Dinge 
zu ſeiner Zeit auf Niemanden dieſe Wirkung hervorgebracht haben, 
und geiſtreich war manches, was wir komiſch oder albern finden 
dürfen. Wenn er aber eine Auseinanderſetzung über die Abſcheulich⸗ 
keit der Sünde und die Wirkung des Bußſacraments beginnt: „Aller⸗ 
lei Naſen! allerlei Naſen! Es gibt große Naſen, kleine Naſen, lange 
Naſen, kurze Naſen“ u. ſ. w., ſo konnte eine ſolche Tollheit nur in 
komiſcher Abſicht vorgebracht werden. 

Lege ich nun dieſen Maßſtab an Abrahams Schriften, ſo darf 
ich in den früheren bis zum Judas faſt nur das Geiſtreiche und 
Pointirte anerkennen. Im Judas ſcheinen ſich die erſten humoriſti⸗ 
ſchen Anwandlungen hervorzuwagen. In den letzten Arbeiten und 
im Nachlaß (welcher zum Theil Concepte von wirklichen Kanzelreden 
enthalten dürfte) bewegen ſich ſchrankenlos und ungehemmt alle mög⸗ 
lichen Poſſen auf offener Bühne. Gute Poſſen, witzige Poſſen, lä⸗ 
cherliche Poſſen, poſſenhafte Poſſen auch für uns — aber doch im⸗ 
mer Poſſen nicht als Gäſte, ſondern als einheimiſche berechtigte Be⸗ 
wohner der Kanzel der Hofkirche des heiligen Römiſchen Reichs! 

Wir ſehen demnach eine Entwickelung in Abrahams Manier in 
den Wirkungen, die er bei ſeinen Zuhörern hervorbringen will: vom 
Intereſſiren, Ueberraſchen, Blenden zuerſt zum Lächeln, dann zum 
Lachen. 
Ein Jahr ehe der ſtändige Poſſenreißer der Hofkirche ſeine 
Bühne und das Leben verließ, war in Wien die erſte ſtändige Poſ⸗ 
ſenbühne von dem Manne eröffnet worden, der ſeinen Namen in der 
deutſchen Litteraturgeſchichte durch die Erneuerung und Reform — 
des Hanswurſts verewigt hat, dem wir es in erſter Linie zu danken 
haben, daß zu einer Zeit, wo Deutſchland ſchon durch Leſſings Minna 
von Barnhelm bewegt wurde, in Wien noch der Kampf um den Hans⸗ 
wurſt die Geiſter in Athem hielt. Der legitime Nachfolger und Erbe 
Abrahams a Sancta Clara war Joſeph Stranitzky. Der Verfaſſer 
des „Judas der Erzſchelm“ wurde abgelöſt durch den Verfaſſer der 
„Olla potrida des durchtriebenen Fuchsmundi“. . 


U 


Pater Abraham a Sancta Clara. 187 


VI. 


Wie verſtehen wir nun Abrahams Entwickelung? Was treibt 


ihn in die burleske Richtung? 


Abraham ſteht in der Geſchichte des Predigtweſens keineswegs 


allein da. Seine komiſche Manier iſt die höchſte Spitze einer wie 
es ſcheint im fünfzehnten Jahrhundert aufgekommenen Gattung der 


Kanzelberedſamkeit, welche in engem Zuſammenhange mit der volks⸗ 
thümlichen Satire ſtand und zuerſt an dem Dominicaner Barletta in 


Italien, an den Franciscanern Olivier Maillard, Hofprediger Lud⸗ 


wigs XI. und Michel Menot in Frankreich, an dem Doctor Geiler von 


Kaiſersberg in Deutſchland ausgezeichnete Vertreter fand. Wie weit 


dieſe Männer Lachen erregen wollten, wie weit es ihnen blos auf 
draſtiſche Wirkung ankam, das können wir in der Ferne der Zeiten 
bei ihnen noch ſchwerer entſcheiden als bei Abraham a Sancta Clara. 
Die geiſtreich ſein ſollende allegoriſch⸗tändelnde Art Kaiſersbergs und 
Anderer ſtarb unter Katholiken und Proteſtanten nicht aus, und pro- 
teſtantiſche Bauernprediger wie Spörrer und Sackmann leiſten das 


äußerſte an draſtiſch grober Rede. Der Franciscaner Cornelius Adri⸗ 


anſen, der in Brügge um die Mitte des ſechszehnten Jahrhunderts 
lehrte, kanzelte die verſchiedenen Stände und Parteien ab und feſſelte 


die Aufmerkſamkeit des Volkes durch oft ſehr ſchmutzige Späße. In 


Frankreich hatte noch der Ordensbruder Abrahams, der Auguſtiner 
Andre (gejtorben 1675) den Muth und das Vorrecht alle Derbheiten 
ungeſcheut zu jagen, und der Begriff der capucinades kann nicht 
älter als 1573 ſein, in welchem Jahre ſich König Karl IX. die Ka⸗ 
puziner vom Papſte verſchrieb. Auch den italienischen Volksrednern 
waren in der Regel alle Mittel recht um ſich den Beifall ihres Audi⸗ 


toriums zu ſichern. 


Die Manier als ſolche mithin dürfen wir unſerem Helden nicht 
zum Vorwurf machen. Das Charakteriſtiſche liegt nur darin, daß 
er fie auf ihre Höhe bringt und eine ganze weit wirkſame Schule be- 
gründet die ihm nacheifert, während gleichzeitig in Frankreich ſchon 
das Genie Boſſuets erſchienen war Hofprediger ſeit 1661) und alle 
geiſtliche Beredſamkeit Europas verdunkelte; während ſelbſt der Je— 


188 Pater Abraham a Saneta Clara. 


ſuit Segneri, der berühmteſte italieniſche Prediger des ſiebzehnten 
Jahrhunderts, wenigſtens in ſeinen gedruckten Reden ſich aller Poſſen⸗ 
reißerei enthielt, deren ihn ſein Ruf beſchuldigt. Das Charakteriſti⸗ 
ſche liegt darin, daß Abraham dem kaiſerlichen Hof und dem gebilde⸗ 
teſten Publicum der katholiſchen Hauptſtadt Deutſchlands gegenüber 
einen Styl niedrigſter Wirkungen feſthalten und zur Vollendung brin⸗ 
gen durfte, welcher ſich gleichzeitig im proteſtantiſchen Deutſchland nur 
auf den unterſten Stufen der Bildung geltend zu machen wagte, 
während in den Kreiſen höherer Cultur die homiletiſchen Reformen 
Speners immer größeren Einfluß gewannen. 

Alſo das Verſpätete iſt das Charakteriſtiſche. Abraham iſt 
der Zeitgenoſſe Boſſuets. Der Hof von Wien iſt im ſiebzehnten 
Jahrhundert nicht weiter als der Hof von Paris im fünfzehnten. 
Der ſchmutzige Bach der anderwärts verſickert, hier in Abraham 
wächſt er noch einmal zum Strom an. 

Aber der Mann iſt ein Virtuos. Sein Entwickelungsgang iſt 
der leider ſehr regelmäßige des Virtuoſenthums überhaupt. 

Die Fertigkeit, auf welche der Erfolg ſich vorzugsweiſe gründete, 
wird geſteigert, ausgebildet, übertrieben, ſolange Steigerung, Aus⸗ 
bildung, Uebertreibung möglich iſt — und zuletzt hat das Teufelshaar 
den Klee überwuchert und es wächſt nicht Ein nahrhaftes Hälmchen 
mehr auf dieſem Boden. Den Gefahren des Virtuoſenthums unter⸗ 
liegt aber ein Prediger ſo gut wie ein Schauſpieler, wie ein Concert⸗ 
geber, wie ein Maler. ö 

Abraham herrſcht nicht über ſeine Zuhörer, ſondern er dient 
ihnen. Nicht das Gute, Große, Edle bildet er in ſich aus, nicht 
darin macht er Fortſchritte, ſondern im Erfolgreichen. Er erleidet 
willig den unbewußten Einfluß, welchen Stimmung und Geſchmack 
des Publicums auf jeden ausüben, der in ſeiner Thätigkeit und Wir⸗ 
kung auf das Publicum angewieſen iſt, wenn er nicht zu jenen Ein⸗ 
ſamen, Stolzen gehört, die über die Welt ſchreiten wie ein Löwe 
durch die Wüſte. Ein Prediger müßte vielleicht blind und taub ſein, 
um ihnen gleich zu werden. Was kann ihn ſonſt retten bei lang⸗ 
jährigem Verkehr, daß nicht die Wirkung, die er auf das Publicum 
ausübt, ihm vom Publicum zurückgegeben wird, daß nicht, wie ein 
geiſtesmächtiger Mann ſeine ſtändigen Hörer ſich ähnlich macht, dieſe 


Pater Abraham a Sancta Clara. 189 


Hörer umgekehrt wieder ihn aſſimiliren? Was kann ihn retten vor 
der täuſchenden Selbſtbeſchwichtigung, wenn ja einmal ein Zweifel in 
ihm auftaucht, was kann unſeren Abraham retten, wenn z. B. je⸗ 
nes Epigramm etwa geheime ſchlummernde Bedenken des eigenen Ge— 
wiſſens wieder wachruft, vor der beruhigenden Erwägung, daß ja nur 
die edelſte Abſicht ihn leite, daß die glühendſte Liebe zum Guten und 
Rechten nur dieſes Mittel als das ſicherſte gewählt habe, um ſich ſel⸗ 
ber Eingang zu verſchaffen? Was kann ihn vor dieſer Erwägung 
retten vollends in einer Zeit, welche „Belehrung durch Unterhaltung“ 
zur allgemeinen Deviſe ihres litterariſchen und künſtleriſchen Schaffens 
gemacht hat? Was kann ihn endlich davor retten, ſchaffend und wir⸗ 
kend in einer Welt von ganz beſtimmt ausgeprägtem Charakter, daß 
nicht die verwandten Seiten ſeiner eigenen Natur zu unverhältniß⸗ 
mäßig hervorgetrieben werden, um das urſprüngliche Gleichgewicht fei- 
ner Seelenkräfte nicht zu ſtören? 

Und es beſtand eine unleugbare Verwandtſchaft zwiſchen den 
humoriſtiſchen Anlagen dieſes Schwaben und der ganzen durch Jahr- 
hunderte unveränderlichen und immer mehr ausgebildeten Geſchmacks— 
richtung des öſterreichiſchen und ganz beſonders des Wiener Publi⸗ 
cums. Inſofern iſt es richtig, daß Wien und der unmittelbare Con⸗ 
tact mit ſeiner Bevölkerung, wie er durch die Kanzelthätigkeit gegeben 

ar, für Abraham verhängnißvoll wurde. Und die Antwort auf 
unſere Frage nach der Möglichkeit einer Erſcheinung wie Abraham zu 


Ende des ſiebzehnten Jahrhunderts — liegt in dem Hinweis auf die 


Naturgeſetze der geiſtigen Production und Conſumtion, auf die ver⸗ 
hältnißmäßige Abhängigkeit der erſteren von der letzteren. Das Ge⸗ 
ſetz des Angebotes und der ee gilt nicht blos für das ökono⸗ 
miſche Gebiet. 

Die Betrachtung des Geſchmackes, der Abraham umſtrickte und 
in ſeine Dienſte zwang, iſt der letzte Schritt, der uns für die hiſtori⸗ 
ſche Motivirung der Abrahamiſchen Individualität noch übrig bleibt. 

Eſaias Pufendorf berichtet, die öſterreichiſchen Miniſter hätten 
ihren Herren ſchon von langer Hand weisgemacht, daß ſie ſich um 
Finanzſachen nicht bekümmern dürften, „ſondern ſelbige Sorgen als die 
mit ihrer Dignität und Grandeur nicht convenabel und darzu ſehr 
verdrießlich und ſchwer wären, denen ſo darüber beſtellet, allerdings 


190 Pater Abraham a Sancta Clara. 


und abſolute überlaſſen.“ Pufendorfs Beobachtungen wurden am 
Hofe Leopolds I. gemacht. Wie es unter dieſem Kaiſer mit den 
öſterreichiſchen Finanzen ſtand, wurde oben ſchon berührt. Von dem⸗ 
ſelben Leopold iſt aber bekannt, daß ihm keine Ausgabe zu groß war, 
wo es galt ſeine Perſon zu verherrlichen und daß unter ihm Opern, 
Ballete und Hoffeſte ungeheure Summen verſchlangen. 

Ich fühle mich verſucht in jenem Berichte Pufendorfs, durch dieſe 
Thatſachen illuſtrirt, das ganze Weſen des deutſch⸗öſterreichiſchen Stamm⸗ 
charakters, wie er im Wienerthum ſich condenſirt, angedeutet zu finden. 
Auch in der Wirthſchaft zeigt ſich der ganze Menſch, und das Verhält⸗ 
niß zu den ökonomiſchen Intereſſen iſt die elementarſte Form des Ver⸗ 
hältniſſes zu den großen Lebensintereſſen überhaupt. Es ſind ſtets 
dieſelben geiſtigen Mächte, welche ſie alle gleichmäßig beſtimmen. Der 
Wohlſtand iſt nicht blos die unerläßliche Bedingung von Bildung, 
Freiheit, Sittlichkeit, ſondern das Reſultat eben der Were welche 
Bildung, Freiheit, Sittlichkeit erzeugen. 

Leopold I. iſt typiſch für das Oeſterreicherthum, weil ihm der 
Sparſinn fehlt. Es ſcheint ihnen ein zu hartes Sorgen, die Mittel 
zum Genuß ruhig hinzulegen, wenn die Sinne ſeufzen nach Genuß. 
„Ihre Miniſter haben ihnen weisgemacht, daß ſelbige Sorgen mit 
ihrer Dignität und Grandeur nicht convenabel und darzu ſehr ver⸗ 
drießlich und ſchwer.“ Die Miniſter ſind die Sinne, nur auf ihren 
eigenen Vortheil bedacht, betrügeriſche, habſüchtige Diener eines läſſi⸗ 
gen Herrn, der in ariſtokratiſcher Trägheit dem äußeren Schein per⸗ 
ſönlicher Geltung ſein wahres Wohlbefinden aufopfert. Der Geiſt iſt 
bequem und ſchlaff, die Sinne ſind rührig und kräftig. Das Stre⸗ 
ben nach Behagen iſt ſtark entwickelt und doch gelangt man nie zum 
vollen Behagen. Dies Schweben zwiſchen Genuß und Unbefriedigung, 
die daraus erfolgende Verquickung von gedankenloſer Heiterkeit und 
kritiſch geſtimmter Herzenskälte — bei aller Bereitwilligkeit zu plötz⸗ 
lichen Rührungen — macht das eigentliche Lebensgefühl des heutigen 
Wieners aus. Dieſes aber iſt nur die jüngſte Erſcheinungsform 
uralter Stimmungen und Gemüthsrichtungen, welche mit den erſten 
Manifeſtationen eines beſonderen geiſtigen Lebens der ſüdöſtlichen 
Marken Deutſchlands ſchon hervortreten. 

Aneignung von Idealen, Leben nach Idealen, bekümmertes Rin⸗ 


Be 


U 


Pater Abraham a Sancta Clara. 191 


= gen um Löſung fittlicher Probleme — das iſt Arbeit des Geiſtes, die 
ſcheuen wir. Im Anfang des dreizehnten Jahrhunderts verherrlicht 
der Nordbaier Wolfram von Eſchenbach die Ideale des Ritterthums, 


wirft der Elſäſſer Gottfried von Straßburg die ſociale Frage auf, die 
Frage nach Liebe und Ehe, von welcher im innerſten die Zeit bewegt 
wird. Auch in Oeſterreich hat damals die Poeſie nicht gefeiert: was 
uns heute das liebſte Beſitzthum aus jener Epoche iſt, das Nibelun— 


genlied, verdanken wir Oeſterreich. Aber das Verdienſt jener adeli⸗ 


chen Sänger, welche die Nibelungenlieder neu behandelten, war nur ein 
formelles. Was die Sache anlangt, ſo hafteten ſie treu an den 
alten Schätzen, welche Jahrhunderte gehütet hatten. Die geiſtige Fort: 
ſchrittsbewegung vollzog ſich außerhalb Oeſterreichs, Oeſterreich hatte 
keinen Theil daran. 

Unſere Sinne dagegen rührig und habſüchtig. Die ſtarken ſinn⸗ 
lichen Reize verfangen und ihrer kann uns nie genug werden. Die 
mit ſtärkeren ſinnlichen Reizen verbündete, an Gedanken nicht zu ſchwer 


tragende Poeſie, die muſikaliſche Poeſie, die zugleich den Privat- und 


öffentlichen Intereſſen des Tages dient, die Lyrik, die Liebes- und 
politiſche Lyrik — gibt es unter allen altdeutſchen Lyrikern der erſten 
Generation einen beſſeren Namen als Walther von der Vogelweide? 
unter allen Lyrikern der zweiten Generation einen einflußreicheren und 


größeren als den humoriſtiſchen Neidhart von Reuenthal, der in Baiern 


zwar geboren, doch ſchließlich in Oeſterreich den Schauplatz ſeiner 
Späße und Liebesabenteuer fand? Und hier ſind wir auch ſchon auf 
dem komiſchen Gebiete: auf Neidharts Humor folgen die Tollheiten 
des Ulrich von Lichtenſtein. Und nehmen wir dazu den erſten deut— 


ſchen Novellen⸗ und Schwankdichter Stricker, jenen erſten deutſchen 


Satiriker Heinrich von Melk: ſo iſt unſer Miſchungsverhältniß der 
Geſchmacksrichtungen vollſtändig angegeben. 

Ich müßte allzu Bekanntes wiederholen, um nachzuweiſen, wie 
uns dies Miſchungsverhältniß durch alle Zeiten ſeither geblieben iſt. 
Freilich die Kraft der Vertretung der einzelnen Richtungen war nicht 
dieſelbe, nur die Richtungen waren gleich. Wir haben in neuerer 
Zeit unſere Schuld an dem Kunſtleben der Nation hauptſächlich mit 
Muſik abbezahlt. In dem Staate der Geſellſchaft Jeſu war nur frei 


192 Pater Abraham a Sancta Clara, 


was keine Gedanken producirt. Auf dem Felde der redenden Künſte 
dominirte der ſtärkſte materielle Reiz: der Spaß. 

Wir waren ſtets und ſind mit einer größeren Doſis Lachluſt 
begabt als andere Deutſche. Auch neben Ernſt, Tiefe und Leiden⸗ 
ſchaft wohnt bei uns die heiterſte Bereitwilligkeit zu Spott und Ironie, 
zu unerſchöpflichem Erzählen und Anhören lächerlicher Geſchichten und 
Schnurren, zum harmloſeſten ungefälſchten unerzogenen Spaß an ſich. 
Der Spaß iſt unſer unzertrennlicher Begleiter im Glück, leider ein 
unzertrennlicherer Begleiter als unſere etwas zweifelhafte Gutmüthigkeit 
und die vollends mythiſche Beſcheidenheit. Der Spaß iſt unſer treu⸗ 
ſter Freund im Unglück, leider ein treuerer Freund als das Bewußt⸗ 
ſein unſerer Pflicht, als der Glaube an uns ſelbſt, als die Begeiſterung 
für das Große, als der Trotz auf unſer Recht und unſere Kraft. 

So iſt, ſo war Pater Abrahams Publicum. Der Punct der ent⸗ 
ſchiedenen Verwandtſchaft, Abrahams komiſches Talent, wurde der Aus⸗ 
gangspunct der Infection, welche nach und nach ſein ganzes Weſen er⸗ 
griff und aus ihm das machte, als was wir ihn leider betrachten müſ⸗ 
ſen, einen intereſſanten Fall in dem geſchichtsphiloſophiſchen Capitel: 
das Poſſenhafte als Krankheitsform des menſchlichen Geiſtes. 

Wien, 18. October 1866. 


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Franz Grillparzer. 


Beiträge zu ſeinem Verſtändniſſe. 


Grillparzer hat ſich ſtets mit voller Unbefangenheit über ſein 
Verhältniß zu großen Männern ausgeſprochen. Von ſeinem Beſuch 
in Potsdam und Sansſouci z. B. erzählt er: „Wir verfolgten dort 
alle Erinnerungen an Friedrich den Großen, der mir immer widerlich 
war, ohne deshalb weniger groß zu ſein.“ Nach Grillparzers eigenem 
Beiſpiel darf ich vielleicht ohne Unbeſcheidenheit erklären: Grillparzer 
war mir nie ſympathiſch. Ja, ich bin vielleicht Grillparzern und 
meinen Leſern dieſe Erklärung ſchuldig als Vorbereitung auf die nach— 
folgenden Aufſätze. Der kühle objective Ton, der ſich ernſtlich um 
Verſtändniß bemüht, aber nie zum Enthuſiasmus erhebt, der über 
Poeſie ſo proſaiſch und ſachlich als möglich redet, er entſprang aus 
dem lebhaften Wunſche, einem bedeutenden Manne, der mir fremd— 
artig und nicht liebeweckend gegenüberſtand, Gerechtigkeit widerfahren zu 
laſſen. In früherer Jugend war mir Grillparzer vollſtändig ver⸗ 
ſchloſſen, es war mir unmöglich, in den wenigen Werken, die ich 


kannte, irgend etwas zu bewundern. Eine Vorſtellung des Ottokar, 


die ich zufällig ſah, ließ mich gänzlich kalt. Die Sappho machte 
mir bei der Lectüre nicht den geringſten Eindruck, obgleich ich ſie auf 
Betrieb und unter warmer Empfehlung einer edlen, herrlichen, ver— 
ehrungswürdigen Dame, einer Zeitgenoſſin Grillparzers, geleſen habe. 

Die Gemeinde der Grillparzer-Verehrer war lang eine ſehr kleine, 
aber ſie umfaßte die beſten Elemente des alten Wien. Das Ver⸗ 
hältniß hat ſich durch zwei Umſtände geändert. Ein dramatiſcher 


Techniker, ein Kenner der Bühne und des Theatereffectes vom erſten 
Scherer, Vorträge. 13 


194 Franz Grillparzer. 


Range, nährte in ſich und anderen die unverholene Bewunderung 
für Grillparzers techniſche Meiſterſchaft. Er rief eine ſehr berechtigte 
Agitation ins Leben, er bewirkte neue Aufführungen faſt ſämmtlicher 
Grillparzeriſchen Stücke, welche nicht anders als erfolgreich wirken 
konnten. An den großen Eigenſchaften dieſer Dramen beſaß er den 
beſten Verbündeten, und es war nicht mehr als billig, daß das Wiener 
Publicum ſich ſeiner früheren Ungerechtigkeit zu ſchämen anfing und 
ſie durch geſteigerten Enthuſiasmus nach Kräften gut zu machen ſuchte. 
Ganz rein ſachlich aber war die Begeiſterung nicht, ein zweiter Grund 
hatte wenigſtens ſtarken Antheil daran. Das alte Wien hegte den 
Gegenſtand ſeiner Verehrung und Liebe faſt verſchämt in der Stille, 
wie ein weltunbekanntes köſtliches Erbſtück. Das neue Wien machte 
das Erbſtück zu Geld, trat auf den Markt mit ſeinem Reichthum, 
kaufte prächtige Geſchmeide und Edelſteine dafür ein und war ſichtlich 
bemüht, ſeine eigene werthe Erſcheinung damit zu ſchmücken. Es war 
bedeutende Nachfrage nach großen Männern in Oeſterreich, man wollte 
ſich ſehen laſſen vor dem „Ausland“, und die Künſte der Reclame 
wurden in Bewegung geſetzt für edle beſcheidene Perſönlichkeiten, die 
aus ſich ſelbſt ganz unfähig waren, mehr Geltung in Anſpruch zu 
nehmen als ſie verdienten. Viel Uebertreibung miſchte ſich ein: das 
Reſultat war gleichwohl ein gutes. Das Unrecht der deutſchen Kritik 
und Litteraturgeſchichte gegen Grillparzer wurde geſühnt. Das poetiſche 
Kapital, von welchem die Deutſchen zehren, iſt reicher geworden, ſeit 
man ihn nicht mehr überſehen zu dürfen glaubt. 

Die Wogen der Begeiſterung gingen in Wien endlich ſo hoch, 
daß ich es für meine Pflicht hielt, mich davon tragen zu laſſen. Ich 
wollte verſuchen, ob ich den Enthuſiasmus theilen könnte, von dem 
ich meine ganze Umgebung ergriffen ſah. Daß ich Grillparzer noch 
nicht genug kannte, um meiner Abneigung irgend folgen zu dürfen, das 
geſtand ich mir leicht. Ich las daher Alles von ihm, was ich erreichen 
konnte. Einen ganz tiefen Eindruck aber habe ich nur von dem 
„armen Spielmann“ erhalten. Dazu geſellte ſich ſpäter die Auffüh⸗ 
rung der „Eſther“ und vor kurzem ſein Bericht über den Beſuch bei 
Goethe. Alles übrige hat mir wohl Bewunderung eingeflößt, aber 
es hat mich niemals im Tiefſten ergriffen. 

Ich hatte das Glück, Grillparzer noch perſönlich kennen zu lernen. 


Franz Grillparzer. N 195 


| 4 Aber es blieb mir das Gefühl, einen Einſiedler zu ſtören, und fo 


i kam es nur zu zwei bis drei wirklichen Beſuchen. Wir ſprachen, 


3 ſoyviel ich mich erinnere, von dem Nibelungenliede, deſſen Verfaſſer 
GOrillparzer claſſiſche Bildung zutraute, weil er wie Virgil uns mitten 
in die Begebenbeiten hinein führe und das hinter denſelben liegende 


9 durch Erzählung eines Betheiligten nachhole. Wir ſprachen von Politik, 
worin ich den alten Herrn ſeltſamerweiſe ſehr gut verſtand. Auch 
von jeinem geliebten Lope war die Rede und von dem oberöſterrei⸗ 


bliſchen Dramatiker Pater Maurus Lindermayer, den ich erſt durch 


ihn nennen hörte und dann, nicht ohne Vergnügen, las. 

Leeider habe ich, ſeit ich Grillparzers Werke genauer kenne und 
ein hohes Intereſſe dafür empfinde, wenige derſelben auf der Bühne 
geſehen, nur eben die Eſther mit einzelnen Scenen der anderen Stücke 
bei der Todtenfeier im Burgtheater, und zweimal den Bruderzwiſt. 
Es iſt dies ein großer Mangel, den ich ſchmerzlich empfinde und der 
für eine gerechte Würdigung des Mannes nicht anders als nad: 
theilig ſein kann. — 

Wenn man ein perſönliches Verhältniß zu den Dingen und 
Perſonen hat, von denen man öffentlich ſprechen will, ſo ſollte man 
das, glaube ich, immer offen darlegen oder wenigſtens durchfühlen 
laſſen. Der Leſer mag dann hinzufügen oder abziehen, je nachdem 
es ihm ſcheint, daß aus Antipathie zu wenig, aus Sympathie zu viel 
gejagt worden ſei. Auch ob umgekehrt Jemand im Bewußtſein eigener 
Antipathie, aus Furcht ſich einer Ungerechtigkeit ſchuldig zu machen, 
in den entgegengeſetzten Fehler der Ueberſchätzung fallen könne, mag 
von ſtrengeren Richtern erwogen werden. 

Grillparzer ſtarb am 21. Januar 1872. Die folgenden Be- 
merkungen wurden zum Theil bald darnach in einem Vortrage zu 
Wien ausgeſprochen, dann mit beträchtlichen Vermehrungen nieder— 
geſchrieben und in der Oeſterreichiſchen Wochenſchrift veröffentlicht; 
jetzt, im Mai 1874, habe ich das meiſte hinzugefügt, was ſich auf 
den Nachlaß bezieht und aus den Sämmtlichen Werken (zehn Bände, 
Stuttgart 1872) geſchöpft iſt. Die würdigſte Art, einen Dichter zu 
feiern, ſchien mir die eingehende Betrachtung ſeiner Schöpfungen. 
Und eine gewiſſe Genauigkeit philologiſcher Behandlung, wie ſie die 
Litteraturgeſchichte ihren älteren Lieblingen zu gewähren pflegt, glaubte 

13* 


196 Franz Grillparzer. - 


ich als Philolog dem Dichter ſchuldig zu fein. Daß auch das Gefühl 
und die Pflicht der Landsmannſchaft dabei ne hat, will ich 
nicht leugnen.“) N 


1, 
„Des Lebens Schattenbild.“ 


Die Stoffe, welche Grillparzer dramatiſch bearbeitete, zerfallen 
hauptſächlich in zwei Gruppen: eine antike, welche Sappho, das gol⸗ 
dene Vließ, des Meeres und der Liebe Wellen umfaßt; und eine vater⸗ 
ländiſch⸗-hiſtoriſche, zu der König Ottokars Glück und Ende, der treue 
Diener ſeines Herrn, Libuſſa und der Bruderzwiſt im Hauſe Habs⸗ 
burg gehören. 

Wie dieſe Wahl der Stoffe mit verbreiteten Zeitrichtungen zu⸗ 
ſammenhängt, liegt vor Augen. 

Auch für Grillparzer war, wie für den Grafen Platen, das 
Alterthum die ideale Welt, in die er ſich aus der Wirklichkeit flüchtete. 
Und Flucht aus der Wirklichkeit bedeutete ihm alle Poeſie überhaupt. 
Auch ihn hat es nach Italien, nach Griechenland gezogen, um in der 
reicheren Natur, unter ſchöneren Menſchen nach einem Abglanz ver⸗ 
ſunkener Herrlichkeit zu ſuchen. Es war ein entzückender Moment, 
als er zum erſten Male aufbrach: 


Gelobt ſei Gott! die Stund iſt da, 
Der Wanderſtab in der Hand! 

Zu Dir hin gehts, Italia, 

Du hochgelobtes Land 


Die ſüdliche Natur ſchließt alle ihre Zauber vor ihm auf. Mit 


) Ich verzeichne einige von mir benutzte Litteratur: Wurzbach Franz Grill 
parzer. Wien 1871. Goedeke Grundriß 3, 384 ff. H. Hopfen in der National⸗ 
Zeitung 1871 Nr. 25. 27. 29; 1872 Nr. vom 11. Februar. G. Freytag Im neuen 
Reich 1872 Nr. 5 S. 198. A. Foglar Grillparzers Anſichten über Litteratur, Bühne 
und Leben, Wien 1872. E. Kuh Zwei Dichter Oeſterreichs, Peſt 1872 S. 1-286. 
K. Tomaſchek Friedrich Halm und Franz Grillparzer, Wien 1872. Auguſte von 
Littrow⸗Biſchoff Aus dem perſönlichen Verkehre mit Franz Grillparzer, Wien 1873. 
Außerdem hat Frau Helene Auſpitz in Wien die Güte gehabt, mir ihre Auf⸗ 
zeichnungen über Geſpräche mit Grillparzer zu leihen, woraus ſie in der N. Fr. Pr. 
Nr. 2673 (2. Februar 1872) Einiges veröffentlichte. 


Franz Grillparzer. 197 


allen Sinnen klammert er ſich an ihre Pracht. „Ueberall Schönheit, 


überall Glanz!“ ruft er aus. Er kommt ſich wie ein Pilgrim vor, 
der zum heiligen Grabe zieht, „zu deinem Grab, du heilige, ent- 


ſchlafne Zeit.“ Die Reliquien, die er ſuchte, waren die Spuren der 


Antike. In der Geſellſchaft der ewigen Götter meinte er zu wandeln — 


Und von jeder hohen Schwelle 
Sah ein Himmliſcher ihn an, 
Rückte ſacht auf dem Geſtelle, 
Lud zu ſich den Wandersmann. 


Und in den Ruinen des Coloſſeums ergreift er leidenſchaftlich 


Partei für die entſchwundene Heidenherrlichkeit, für die „rieſige Ver⸗ 


gangenheit“. Das Kreuz ärgert ihn, das dort aufgeſtellt: 


Thut es weg, das heilge Zeichen! 

Alle Welt gehört ja dir. 

Uebrall — nur bei dieſen Leichen 
/ Uebrall ſtehe, nur nicht hier. 


Es war ein tiefer, unauslöſchlicher Eindruck, den er aus der 
einſtigen Hauptſtadt der Welt mit fortnahm. Stets blickte er mit 
gehobener Stimmung darauf zurück: 


Roma! Roma! Goldne Stunden, 
Als ich deine Zauber ſah; 

Jahre ſind ſeitdem verſchwunden 
Und dein Reiz noch immer nah. 


Man ſieht die feſtgewurzelte Verehrung der Antike, welche noth- 
wendig in ſeinen poetiſchen Producten zum Ausdruck kommen mußte. 
Auch er iſt ein Epigone der Winckelmann, Leſſing, Goethe, die das 
Alterthum unter uns theils forſchend, theils ſchaffend neu belebten. 
Aber er iſt auch zugleich ein Epigone der Corneille und Racine, die 
nur unter ganz beſtimmten Einſchränkungen antike Stoffe wählten 


und bearbeiteten. 


Wenn einſt die franzöſiſchen Dichter des zwölften Jahrhunderts 
in den trojaniſchen Krieg und in die Aeneide neue, ſelbſterfundene 
Liebes epiſoden verflochten, um dieſe Gegenſtände ihrem Publicum 


198 a Franz Grillparzer. 


mundgerechter zu machen, jo verfuhr Corneille nicht anders. Und 
Racine hat die Liebe geradezu zum herrſchenden Moment in der dem 
Alterthum nachgebildeten tragiſchen Kunſtform gemacht. 

So ſind auch Grillparzers antikiſirende Dramen ausſchließlich 
Liebestragödien. Und ſie ſind nicht der realen geſchichtlichen Welt 
entlehnt, nicht römiſch, nicht atheniſch, nicht ſpartaniſch, ſondern dem 
Mythus und der Sage angehörig. Dieſen Sinn hatte eben für 
Grillparzer die Wahl ſo entlegener Stoffe. Sie ſollten, den Be⸗ 
dingungen einer beſtimmten Zeit entrückt, in idealer Ferne rein menſch⸗ 
lichen Gehalt darbieten. Antike Anſchauungen, antike Empfindungen, 
antikes Heldenthum, antike Lebensverhältniſſe: darauf war es von 
ihm nicht abgeſehen. Und jeder Vorwurf, den man hieraus ableitet, 
iſt ungerecht. a 

Das wirkliche hiſtoriſche Leben ſuchte ſich Grillparzer mehr in 
der Nähe auf. Auch hierin folgte er einem Zuge der Zeit. Den 
Hohenſtaufen⸗Tragödien der Immermann, Grabbe, Raupach ſtellte er 
ſeine Habsburger-Tragödien entgegen. Und wie jene ſich an die neu⸗ 
belebte mittelalterliche Forſchung Deutſchlands und an das erſte 
künſtleriſch abgeſchloſſene Geſchichtswerk dieſer Richtung, an Raumers 
Hohenſtaufen anlehnten: ſo werden Grillparzers hiſtoriſche Dramen 
zunächſt mit den Beſtrebungen Hormayrs und ſeiner Freunde in Zu⸗ 
ſammenhang gebracht werden müſſen. Die Epoche, die er aufſuchte, 
war nicht die alte Kaiſerherrlichkeit des Reiches, ſondern ältere öſter⸗ 
reichiſche Geſchichte, böhmiſche und ungariſche Vergangenheit. 

Indeſſen ſind nicht alle hiſtoriſchen Stoffe unter einander gleich. 
König Ottokar und der Bruderzwiſt dürften wohl allein eigentlich real⸗ 
geſchichtlichen und politiſchen Inhalt darbieten. Im treuen Diener 
und in der Libuſſa iſt dem hiſtoriſchen oder ſagenhaften Sujet mehr 
eine ſymboliſche Seite abgewonnen. Und die Anekdote aus der mero⸗ 
vingiſchen Franken⸗Zeit, welche der Dichter in „Wehe dem, der lügt“ 
benutzte, oder der ſpaniſche Stoff der „Jüdin von Toledo“ kann kaum 
noch hierher gerechnet werden. 

Ueberhaupt ſind ja mit der antiken und vaterländiſch⸗geſchicht⸗ 
lichen Richtung die Gegenſtände lange nicht erſchöpft, denen ſich Grill— 
parzers dramatiſche Kunſt zuwandte. Die mittelalterliche Sage iſt 
durch den Operntext Meluſine vertreten, das alte Teſtament durch 


Franz Grillparzer. 199 


Eſther. Die Ahnfrau ift eine dramatiſirte Räuber⸗ und Geiſter⸗ 


geſchichte. „Der Traum ein Leben“ oder — wie es urſprünglich 
heißen ſollte — „des Lebens Schattenbild“ verſetzt uns in den Orient, 
entlehnt aber von dort nur das Koſtüm, innerhalb deſſen es gewiſſen 


: 1 ſittlichen Ueberzeugungen Ausdruck gibt. 


Halten wir uns an das letztgenannte Stück zunächſt, um nach 


© dieſer äußeren und allgemeinen Ueberſicht von Grillparzers Stoffwelt 


uns den inneren Motiven, die ihn bei der Wahl derſelben leiteten, 
und damit den entſcheidenden Grundzügen ſeiner Perſönlichkeit zu 
nähern. 

Woher hat Grillparzer den Stoff? Wie behandelt er ihn? Was 
iſt daran überliefert und was iſt individueller Zufag? 

Der Titel erinnert an Calderons „Leben ein Traum“. Aber das 
Sujet hat damit wenig oder gar nichts zu thun. Calderons Stück 
enthält das bekannte Motiv, daß ein Menſch ſchlafend in eine be— 
ſtimmte Situation gebracht wird, worin er ſich über ſeinen ſonſtigen 
Stand oder ſeine bisherige Lebenslage plötzlich erhöht ſieht und daß 
man ihm hinterher, wenn er — wieder ſchlafend — in die vorige 
Lage zurückgebracht iſt, einbildet, Alles ſei ein Traum geweſen. Ein 
deutſches Stück von Ludwig Hollonius aus dem Jahre 1605, „Der 
Traum des menſchlichen Lebens“ (Somnium vitae humanae), Shake⸗ 
ſpeare im Vorſpiel zu „Der Widerſpänſtigen Zähmung“, Holberg im 
„Jeppe von Berge“ u. A. behandeln daſſelbe Thema. Quelle dafür 
ſind die Briefe des Ludovicus Vives, und die Anekdote knüpft ſich 
urſprünglich an Philipp den Guten von Burgund. 

Bei Calderon iſt das Motiv inſofern tiefer als bei Shakeſpeare 
und Holberg gefaßt, als es ihm durchaus nicht auf eine komiſche, 
ſondern auf eine ſehr ernſte Wirkung ankommt. Die Meinung, jene 
plötzliche Erhöhung ſei ein Traum geweſen, dient zur ſittlichen Ver— 
edlung des Helden. Er ſchließt daraus, das ganze Leben ſei nichts 
anderes als ein Traum, in Folge deſſen ändert ſich ſeine Stellung 
zum Leben, er iſt des Erwachens eingedenk und überhebt ſich nicht. 
Die irdiſche Vergänglichkeit, die Nichtigkeit der Welt, dieſer Urgedanke 


des Chriſtenthums, wird ſo verherrlicht und die Lehre gepredigt, 


Daß das Glück des Menſchen alles 
Wie ein Traum vorüberſchwindet. 


200 Franz Grillparzer. 


Daran ſtreift ſehr nahe jenes Lied von Grillparzers Derwiſch: 
„Schatten ſind des Lebens Güter, Schatten ſeiner Freuden Schaar.“ 
Aber Grillparzers Held träumt wirklich. Und nur inſoferne 
dieſer Traum auch nach Grillparzers Darſtellung ethiſch vertiefend 
wirkt, inſofern der Held dadurch von verderblichem Ehrgeiz geheilt 
wird, beſteht eine gewiſſe Verwandtschaft zwiſchen Calderons und 
Grillparzers Drama. 

Und keineswegs Calderon, ſondern — man möchte ſagen: das 
gerade Gegentheil von Calderon hat in Grillparzers Phantaſie die 
merkwürdige Schöpfung angeregt. Kein gläubiger Katholik hat den 
Stoff geliefert, ſondern ein Freigeiſt; kein Andächtiger, ſondern ein 
Spötter; kein fanatiſcher Spanier, ſondern ein leichtherziger Franzoſe; 
nicht Calderon, ſondern Voltaire in feiner Erzählung Le blanc et 
le noir. ‚ 

Auch bei Voltaire heißt der Held Ruſtan, iſt aber nicht ein ein- 
facher Jäger in engen Verhältniſſen, ſondern ein mirza, was nach 
Voltaires Verſicherung im Orient ſo viel bedeutet als in Frankreich 
ein Marquis, in Deutſchland ein Baron. Den Namen Mirza hat 
ſich Grillparzer für die Braut Ruſtans zunutze gemacht. 

Auch Voltaires Ruſtan beſitzt eine ſolche Braut aus einer be⸗ 
nachbarten Familie, welche ihm ſeine Eltern beſtimmt haben und mit 
der er ſein Haus begründen ſoll. Aber unglücklicher Weiſe hat er 
die Prinzeſſin von Kaſchmir auf dem großen Markte von Kabul ge⸗ 
ſehen, geliebt und Pfänder der Treue mit ihr ausgetauſcht. 

Die Urſache, weßhalb ſie auf dem Markte von Kabul erſchien, 
war folgende. Ihr Vater beſaß einen koſtbaren großen Diamant und 
einen Wurfſpieß, der von ſelbſt die Richtung einſchlug, welche ihm 
ſein Beſitzer wünſchte. Beide Koſtbarkeiten ſtahl ein Fakir feiner 
kaſchmiriſchen Hoheit und übergab ſie der Prinzeſſin, ſeiner Tochter, 
mit der Verſicherung, daß ihr Schickſal daran hänge. Der Herzog 
von Kaſchmir iſt nun außer ſich über den Verluſt und begibt ſich auf 
den Markt von Kabul, um die Kaufleute, die aus allen vier Welt⸗ 
gegenden dort zuſammenſtrömen, nach ſeinen Kleinodien zu fragen. 
Die Prinzeſſin aber ſchenkt den Diamant an Ruſtan, die Lanze be⸗ 
wahrt ſie zu Hauſe in ihrer Truhe. 

Ruſtan hat keinen anderen Gedanken mehr als die ſchöne Prinzeſſin. 


Franz Grillparzer. 201 


Er will ſie heimlich in Kaſchmir aufſuchen, um ſie zu erringen. Sein 
weißer Kammerdiener, Topaze, räth ihm ab, ein ſchwarzer, Ebene, 
räth ihm zu. Der ſchwarze ſchafft das Geld zur Reiſe, indem er 
jenen Diamant täuſchend nachahmen läßt und den echten einem Arme⸗ 
nier verpfändet. 

Ruſtan begibt ſich auf den Weg, die beiden Kammerdiener be- 
gleiten ihn. Plötzlich in einem großen Walde ſind ſie verſchwunden. 
Indem man ſie ſucht, findet man blos einen Adler, der gegen einen 
Geier kämpft und ihm die Federn ausrupft. Sobald Ruſtan dazu⸗ 
kommt, iſt es ein Rhinoceros, das ſich mit dem Elephanten balgt, 


der Ruſtans Gepäck trägt. Und als man den Elephanten wieder 


hat, ſind die Pferde fort. Ruſtan kauft einen Eſel, der von einem 
Bauern geprügelt wird, und ſetzt ſich auf ihn. Der Eſel aber ſchlägt 
den Weg nach Kabul ein anſtatt nach Kaſchmir und Ruſtan kann ihn 
nicht abwenden. Endlich vertauſcht er ihn gegen ein Kamel, das 
ihm willigere Dienſte thut. Da findet er auf ſeinem Wege plötzlich 
einen reißenden Strom — er wird nicht hinüber kommen — aber 
während der Nacht baut ſich eine marmorne Brücke, die er bequem 
paſſirt. Nicht lange indeſſen und ein rieſiges Gebirge thürmt ſich 
vor ihnen auf — Ruſtan und ſeine Begleiter wollen verzweifeln — 
aber wieder kommt Hülfe, ein langer Bogengang thut ſich auf und 
führt durch das Gebirge hindurch auf eine blühende Wieſe. Sie ſind 
in Kaſchmir. 8 

Hier empfängt Ruſtan die erſchütternde Nachricht, daß feine An- 


gebetete im Begriff ſtehe, mit einem Herrn Bababou vermählt zu 


werden, dem ſie ihr Vater verſprochen hat. Er fällt in Ohnmacht. 
Zwei Aerzte behandeln ihn, der eine will ihn nach Kabul zurück— 


ſchicken, der andere in Kaſchmir behalten. Ruſtan bleibt. 


Er erfährt, daß der Fürſt demjenigen ſeine Tochter zugeſichert 
hatte, der ihm den verlorenen Diamant ſchaffen würde. Herr Bababou 
iſt der glückliche, denn er hat den koſtbaren Stein von jenem Arme— 
nier gekauft. Ruſtan aber kommt nun mit dem unechten Diamant, 
von deſſen Fälſchung er keine Ahnung hat, und erklärt den Monſieur 
Bababou für einen Spitzbuben. Ein Zweikampf ſoll entſcheiden, auf 
dem Wege dahin ruft ihm ein Rabe zu: „Schlage dich!“ eine Elſter 
dagegen: „Schlage dich nicht!“ Ruſtan ſchlägt ſich und iſt Sieger. 


202 Franz Grillparzer. 


Bababou fällt, der Sieger bekleidet ſich mit feiner Rüſtung. So wird 
er als Bräutigam ausgerufen, ſo bringt ihn das Volk vor die Fenſter 
der Prinzeſſin. Dieſe erblickt die verhaßte Rüſtung, verzweifelt zieht 
ſie den zauberhaften Wurfſpieß aus der Truhe, und ſogleich ſteckt er 
in Ruſtans Herzen. An deſſen Schrei erkennt ſie die geliebte Stimme. 
Schreckliches Wiederfinden. Mit demſelben Wurfſpieß gibt auch ſie 
ſich nun den Tod. 


Ruſtan, der nicht ganz todt iſt, wird zu Bette gebracht. Da 


ſtehen zu beiden Seiten ſeine lang vermißten Kammerdiener Topaze 
und Ebene. Sie enthüllen ſich als ſein guter und böſer Genius. 
Jener ſteht plötzlich mit vier weißen, dieſer mit vier ſchwarzen Flü⸗ 
geln da. Der weiße hat alle Hinderniſſe in ſeinen Weg geworfen, 


er war der Adler, er war der Elephant, der Eſel, er hat die Pferde 


verſcheucht, den Strom fließen laſſen, das Gebirg aufgethürmt, hat 
als Arzt und als Elſter warnend zu ihm geſprochen. Der ſchwarze 
dagegen räumte die Hinderniſſe weg, er war der Geier, das Rhino⸗ 
ceros, er ſchlug als Bauer den Eſel, er verkaufte Ruſtan das Kamel, 
er baute die Brücke, er bahnte den Bogengang durchs Gebirge, er 
hat als Arzt ihn bleiben heißen, als Rabe zum Kampfe gerathen. 

In längeren Erörterungen, welche Ruſtan mit den beiden Genien 
pflegt, verwirren ſich ſeine Gedanken. „Da ſteckt ein Geheimniß da⸗ 
hinter, das ich nicht verſtehe“, ſagt er endlich. — „Ich auch nicht“, 
meint der gute Genius, und verſchwindet. — „Ich werde es gleich 
erfahren“, ſagt Ruſtan. — „Das wollen wir ſehen“, erwidert Topaze. 

Da verſchwindet Alles. Ruſtan findet ſich in der Wohnung 


ſeines Vaters, die er nie verlaſſen hat, und in ſeinem Bett, wo er 


eine Stunde geſchlafen hat. f 

Er ſpringt auf, in Schweiß gebadet, ſeiner ſelbſt nicht mächtig. 
Er befühlt ſich, ruft, ſchreit, klingelt. Der Kammerdiener Topaze 
eilt in der Nachtmütze und gähnend herbei. „Bin ich todt? lebe ich?“ 
ruft Ruſtan aus. „Wird die ſchöne Prinzeſſin von Kaſchmir davon 
kommen?“ — „Träumt mein Gebieter?“ entgegnet Topaze trocken. 

„Ah“ — ruft Ruſtan — „was iſt aus dieſem barbariſchen Ebene 
geworden mit ſeinen vier ſchwarzen Flügeln? Er iſt ſchuld an meinem 
grauſamen Tode.“ — „Herr, ich habe ihn oben ſchnarchend verlaſſen, 
ſoll ich ihn holen?“ — „Der Schändliche! Seit ſechs Monaten ver⸗ 


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Franz Grillparzer. | 203 


folgt er mich; er hat mich auf den Markt von Kabul geführt, er 


hat mir meinen Diamant entwendet, er allein iſt ſchuld an meiner 
Reiſe, an dem Tode meiner Prinzeſſin und an dem verhängnißvollen 
Lanzenſtiche, an dem ich ſterbe in der Blüte meiner Jugend.“ 
Der treue Topaze ſucht den noch immer hocherregten Ruſtan 
nach und nach zu ſich ſelbſt zu bringen und ihn aufzuklären, daß 
Alles nur ein Traum ſei. d | 

Die weder ſehr tiefſinnige noch beſonders witzige Geſchichte ſchließt 
mit Reflexionen und Späßen, welche unſere conventionellen engen 
Begriffe von Zeitdauer verſpotten ſollen. Alle Ereigniſſe vom An⸗ 
fange der Welt bis an deren Ende — meint Topaze — können ſich 
hintereinander vollziehen in weit weniger als dem hunderttauſendſten 
Theil einer Secunde, und vielleicht verhalte ſich die Sache in Wirk— 
lichkeit nicht anders. 

Erinnert man ſich nun des Grillparzeriſchen Stückes, ſo wird 
Aehnlichkeit und Verſchiedenheit ſofort einleuchten. Der techniſche 
Kunſtgriff, den Leſer oder Zuſchauer ſelbſt bis zuletzt im Dunkel zu 
laſſen, ob es ſich um Traum oder Wirklichkeit handle, iſt hier wie 
dort derſelbe. Die Scene von Ruſtans Aufwachen zeigt frappante 
Aehnlichkeit. Auch iſt das Ziel von Ruſtans ehrgeizigem Streben 
im Traum beide Mal eine ſchöne Prinzeſſin, hier von Samarkand, 
dort von Kaſchmir. Auch bei Voltaire iſt ihr Beſitz an einen dem 
Vater geleiſteten Dienſt geknüpft. Aber im Drama dreht ſich Alles 
um ganz andere höhere Intereſſen, die Kindereien von Diamant und 
Wurfſpieß konnte Grillparzer nicht brauchen. Doch hat in beiden 
Faſſungen Ruſtan einen beſtimmten Gegner und Nebenbuhler vor ſich, 
den er beſiegt, dem gegenüber er ſich jedoch im Unrecht befindet, bei 
Voltaire mit dem falſchen Diamant, bei Grillparzer mit dem falſchen 
Anſpruch, der Lebensretter des Königs zu ſein. Damit fängt im 
Drama die Sache gleich an und dieſe erſte Unthat, dieſe Falſchheit 
iſt es, die fortzeugend Böſes muß gebären, bis Ruſtan nach mancherlei 
Betrug und Mord und Gewaltthat ringsum von Feinden umgeben 
auf der ſchickſalsvollen Brücke ſteht, von der er ſich in den Strom 
ſtürzt. i 

Den ganzen Kampf der Genien mußte Grillparzer hinauswerfen 
als ein rein epiſches Element. Aber den ſchwarzen Genius finden 


204 Franz Grillparzer. 


wir hier als den Sclaven Zanga wieder, eine Art Mephiſto, das 
perſonificirte böſe Gelüſte, der Ruſtan auf die Bahn des Unrechts 
lockt und dem am Schluß des Traumes auch die ſchwarzen Flügel 
wachſen. Der gute Genius bleibt hinter der Scene und läßt ſich 
nur als frommer Derwiſch mit jenem ſinnvollen Lied vernehmen, 
welches nur unſere Gedanken, die Liebe und das Gute für wahr, 
alles andere für Schatten erklärt. 

Grillparzer hat dem Voltaireſchen Stoff einen ganz anderen 
Grundgedanken untergeſchoben, der freilich nahe genug lag. Der Titel 
ſcheint zu Voltaires Meinung zu paſſen: „Der Traum ein Leben“ — 
das kann nur ſagen wollen, daß ein Traum von wenig Stunden im 
Stande ſei, ein ganzes Leben einzuſchließen. Und andererſeits klingt 
in dem Liede des Derwiſch der Calderoniſche Satz an, daß das Leben 
nur ein Traum ſei. In Wahrheit aber will Grillparzer weder auf 
das eine noch auf das andere hinaus. Die Spitze ſeines Gedichtes 
iſt gegen den Ehrgeiz gerichtet. 

Deutlicher kann man ſich darüber nicht ausſprechen als es Ruſtan 
ſelber thut, wenn er die Sonne begrüßt: 


Breit es aus mit deinen Strahlen, 
Senk es tief in jede Bruſt: 

Eines nur iſt Glück hiernieden, 
Eins: des Innern ſtiller Frieden 
Und die ſchuldbefreite Bruſt! 

Und die Größe iſt gefährlich, 

Und der Ruhm ein leeres Spiel; 
Was er gibt, ſind nichtge Schatten. 
Was er nimmt, es iſt ſo viel! 

Preiſen wir uns glücklich, daß Grillparzer ſelbſt die Moral ſeines 
Stückes nicht befolgt hat, daß Er wenigſtens mit dem ſtillen Genuß 
des inneren Friedens ſich nicht begnügte, daß er den Ehrgeiz hatte, 
ſich über die öde Fläche der Gewöhnlichkeit zu heben, daß Ruhmes⸗ 
glanz ihn zauberiſch lockte und der Wunſch nach dichteriſcher Größe 
ſeine Phantaſie beflügelte! 

Wie, oder ſollen wir vielmehr in ſeines Herzens tiefſten Falten 
ſpähen, ob auch an ihm der Satz zur Wahrheit geworden, ob auch 


Franz Grillparzer. 205 


ihm der Ruhm verhängnißvoll geweſen? „Was er nimmt, es iſt ſo 


viel!“ War das aus eigener Empfindung geſagt? 


. 
„Des Innern ſtiller Friede.“ 


Die Geſinnung, welche Ruſtan als das Reſultat feiner Traum- 
erfahrungen kundgibt, ſchlingt ſich faſt durch alle Dramen Grill⸗ 


parzers hindurch. Des Innern ſtiller Friede ſcheint das höchſte Gut 


des Menſchen. Eine beſcheidene und ſtille Exiſtenz, ein beſchränktes, 
einfaches Glück bildet den Hintergrund, von dem ſich das Toben der 
Leidenſchaft abhebt. Einfache, ſchlichte, zufriedene, nicht hochſtrebende 
Naturen ſind die Idealgeſtalten, die er nicht blos dichteriſch anſchaut 
und in ſeiner Phantaſie verklärt, ſondern denen er eine ganz perſön⸗ 
liche Liebe und Verehrung entgegenbringt. 

In der Ahnfrau ſchwebt der häusliche ſtille Genuß eines be⸗ 
ſcheidenen Liebesglückes, dem die Wünſche und Träume des unglüd- 


lichen Paares zufliegen, nur wie ein ferner ſchöner Stern über dem 


Drang und Grauen einer Gegenwart, die ſie wie ſchwerer Nebel 
umfängt. In dieſem erſten Stück iſt der Dichter am entſchloſſenſten, 
ſeine Grundſtimmung zu verläugnen und darzuſtellen, was ihm weh 
thun muß. Kein Drama Grillparzers iſt aus einer jo ſtarken Ent- 
zündung der Phantaſie entſprungen. Keines offenbart eine fo ent- 
ſchloſſene Tragik. Nirgends iſt das Furchtbare ſo ohne Milderung 
hingeſtellt. Nirgends vielleicht ſind die poetiſchen Geſtalten ſo rein 
abgelöſt von des Dichters Innerem, nirgends ſo ohne allen ſubjectiven 
Zuſatz aus dem ſchaffenden Geiſt — man möchte ſagen: heraus— 
geſchleudert. 

Ueberall ſonſt gewinnt das Ideal, die dem Dichter ſelbſt ſym⸗ 
pathiſche Gemüthsart, lebendigere Verkörperung. 

In „des Meeres und der Liebe Wellen“ ſucht die Mutter Heros 
ihre ſtolze Tochter von dem Tempel wegzuführen, indem ſie ein ſtill— 
glückliches Familienleben als ſchönſtes Ziel ausmalt. Es iſt das Ver— 
hängniß Heros, daß ſie darauf nicht hören will. Bald ſoll ihr eine 
einfache Hütte mit dem Geliebten an der Seite als der Wunſch aller 
Wünſche erſcheinen — aber die Pforte zum Glück iſt dann verſchloſſen. 


206 Franz Grillparzer. 


Im erſten Act der „Libuſſa“ weiſen Krokus' älteſte Töchter, Kaſcha 
und Tetka, die böhmiſche Krone zurück. Aus einer Welt geheimniß⸗ 
vollen Sinnens und Forſchens, aus dem nachdenklichen Verkehr mit 
der lebloſen Natur, aus dem ſonnigen Reiche der Einſamkeit wollen 
ſie nicht hinaus in die Welt des Wirkens und Handelns. Wer darin 
lebt, ſcheint ihnen ein Sinnenknecht, vom Irdiſchen umnachtet, und 
„wer handelt, geht oft fehl.“ Libuſſa, die jüngſte Schweſter, wagt 
dieſen Schritt. Doch es kommt die Zeit, wo ſie, von der Welt ge⸗ 
kränkt, ſich zurückſehnt zu den Schweſtern. Sie leidet unter dem 
Königthum, wie Hero unter dem Prieſterthum. 

Wenn ihr die Ehe den inneren Frieden wiedergibt, ſo wird der 
Gegenſatz zwiſchen der Geſinnung des Privatmannes und den Pflichten 
des Regenten für Rudolf den Zweiten im „Bruderzwiſt“ zum tragiſchen 
Verhängniß. Die „Jüdin von Toledo“ behandelt die Verirrung und 
Rückkehr eines Königs, der ſeine häusliche Pflicht verletzt. Dagegen 
erſcheint Rudolf von Habsburg im „Ottokar“ gleich vollkommen als 
Herrſcher wie als Menſch: er iſt ſchlicht, unſcheinbar, prunklos; im 
einfachen grauen Rock tritt er auf; ſein iſt der maßvolle gerechte 
Sinn, die ſtille Sicherheit und Feſtigkeit. An ihn reihen ſich ver⸗ 
wandter Art Königin Margarethe und der alte Merenberg, und ſeine 
ſpätere verklärte Wiederholung iſt Primislaus in der „Libuſſa“. 

Wie im „Ottokar“ der Sieg auf Rudolfs Seite ſteht, ſo hat der 
Dichter in der „Eſther“ die Naivetät eines reinen Herzens, eines 
ſelbſtloſen Gemüthes geradezu triumphirend dargeſtellt. Wäre die Fort⸗ 
ſetzung nicht unterblieben, ſo würden wir ohne Zweifel ſehen, wie 
eben dieſe Eigenſchaften ſie zur Retterin ihres Volkes machen, wie alle 
Intrigen und Nachſtellungen an der Hoheit ihres ſchlichten Empfindens 
ſcheitern. 8 
Dieſes Ideal der Einfachheit und Reinheit, der Selbſtloſigkeit 
und Güte erſcheint in dem Biſchof Gregor des Luſtſpiels „Wehe dem, 
der lügt“ mehr nach der Seite der Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit ge- 
wendet; in dem „treuen Diener“ Bancban als pünktlichſte Pflichttreue 
und Ergebenheit in das aufgetragene Amt: nur dieſes hat der alte 
Magnat im Auge, er ſieht nicht rechts, nicht links. Und es iſt 
eine echt Grillparzeriſche Wendung, wenn Bancbanus am Schluß 
allen Lohn von Seite des Königs ablehnt mit den Worten: 


Franz Grillparzer. 207 


Der Glanz, womit du deinen Diener ſchmückteſt, 
Er hat als unheilvoll ſich mir bewährt. 
Gebeut nicht, daß aufs neu' ich Gott verſuche! 


Aber gerade in den beiden letztgenannten Stücken iſt Grillparzers 
3 . Dioralpinch wenn ich jo ſagen darf, ad absurdum geführt. Denn 
im „Weh dem, der lügt“ zeigt ſich, daß man mit der ſtrengen Wahr- 
heitsliebe in der Welt nicht auskommt. Und im „treuen Diener“ 
3 offenbart ſich, daß Pflichttreue gegenüber dem Herrn zur Pflichtver⸗ 
fläumniß an dem eigenen Haufe, an der eigenen Frau werden kann. 
Am ſo conſequenter hat Grillparzer feine Lieblingsanſchauung in 
der „Sappho“ geltend gemacht. 

Hier war Melitta durch keine leiſeſte Andeutung der griechiſchen 
Sage gegeben, ſie iſt die eigenſte Erfindung des Dichters und viel⸗ 
lleicht unter allen ſeinen Geſtalten mit der größten Liebe gezeichnet. 
Jn ihr hat er fein Ideal von Weiblichkeit dargelegt. Er iſt gleich⸗ 
ſam ſelbſt Phaon, indem er ihr jene bedeutungsvolle Roſe überreicht 


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BUN. Als Bürgen feiner innern Ueberzeugung, 
Daß ſtiller Sinn des Weibes ſchönſter Schmuck, 
Und daß der Unſchuld heitrer Blumenkranz 
Mehr werth iſt, als des Ruhmes Lorberkronen. 


Melitta iſt — wie Sappho jagt — „das liebe Mädchen mit 
dem ſtillen Sinn.“ 


Obſchon nicht hohen Geiſts, von mäßgen Gaben, 
Und unbehülflich für der Künſte Uebung, 

War ſie mir doch vor andern lieb und werth 
Durch anſpruchsloſes fromm beſcheidnes Weſen, 
Durch jene liebevolle Innigkeit, 

Die, langſam gleich dem ſtillen Gartenwürmchen 
Das Haus iſt und Bewohnerin zugleich, 

Stets fertig bei dem leiſeſten Geräuſche 

Erſchreckt ſich in ſich ſelbſt zurückzuziehen, 

Und um ſich fühlend mit den weichen Fäden, 
Nur zaudernd waget Fremdes zu berühren, 
Doch feſt ſich ſaugt, wenn es einmal ergriffen, 
Und ſterbend das Ergriffne nur verläßt. 


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208 Franz Grillparzer. 


Es iſt nicht nöthig auszuführen, wie Grillparzer dies Bild im 
Einzelnen bereichert und jeden Zug in Action geſetzt hat. Aber nie- 
mals wieder war es ihm ſo angelegen, auch die äußere Erſcheinung 


ins Licht zu ſtellen und die Grazie in der Bewegung anſchaulich zu 


machen: Melitta ſchwebt ihm vor, von allem Reiz umfloſſen. Wie 
Eucharis ſie findet im ſtillen Myrthenwäldchen am klaren, kühlen 
Bache, die Kleider ringsumher, das zierliche Mädchen mit den kleinen 
Händen Waſſer ſchöpfend und Arme und Geſicht eifrig reibend, wäh⸗ 
rend die Sonne durch die Blätter ſchleicht und ſie mit Purpur über⸗ 


gießt, wie ſie dann fröhlich ins Haus zurückgeht, ganz in ſich ver⸗ 


loren und verſunken, ein heiteres Lied auf den Lippen, — das iſt ſo 
zart und ſüß und keuſch geſchildert, wie eine reine Jünglingsphantaſie 
ſich ſchüchtern die Geliebte denken mag. 

Es fehlt nicht an dem Gegenſatze, der Melitten zur Folie dient. 
Melitta iſt, was ſich Sappho ſehnt zu ſein. Ihr Weſen iſt das 
Zauberland, nach welchem Sappho umſonſt verlangende Arme aus- 
ſtreckt. Der Grundton Melittas iſt Idylle, der Grundton Sapphos 
iſt Elegie. Und womit hat Sappho die Seligkeit verſcherzt? Sie iſt 
zu hoch geſtiegen, ſie kann das irdiſche Glück nicht mehr erfaſſen. 
Ihr ganzes Schickſal liegt in den Worten beſchloſſen: 


Weh dem, den aus der Seinen ſtillem Kreiſe 
Des Ruhms, der Ehrſucht eitler Schatten lockt! 
Ein wildbewegtes Meer durchſchiffet er 

Auf leichtgefügtem Kahn. Da grünt kein Baum, 
Da ſproſſet keine Saat und keine Blume, 
Ringsum die graue Unermeßlichkeit. 

Von ferne nur ſieht er die heitre Küſte, 

Und mit der Wogen Brandung dumpf vermengt 
Tönt ihm die Stimme ſeiner Lieben zu. 
Beſinnt er endlich ſich und kehrt zurück 

Und ſucht der Heimat leichtverlaſſne Fluren, 

Da iſt kein Lenz mehr, ach! und keine Blume, 
Nur dürre Blätter rauſchen um ihn her. 


Mit der größten Beſtimmtheit finden wir hier den Grundgedanken 
von „Traum ein Leben“ wieder und Melitta und Sappho ſtehen 
ſich gegenüber, wie das Naive und Sentimentale nach Schillers 
Anſchauung. Melitta iſt Natur, Sapphos Verhängniß iſt die Kunſt. 


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Franz Grillparzer. 209 


Aber unwillkürlich fühlen wir uns aufgefordert, hier noch tiefer 
einzudringen und bei der Betrachtung der von Grillparzer geſchaffenen 
Geſtalten nicht ſtehen zu bleiben. Es läßt ſich faſt mit Sicherheit 


. nachweiſen, daß unſer Dichter höchſt individuelle Empfindungen und 


Erfahrungen in der Sappho ee und aus ſeinem Innerſten 
dabei geſchöpft hat. 0 
Es gibt ein merkwürdiges Gedicht von ihm, „Jugenderinne⸗ 
rungen im Grünen“ überſchrieben und 1835 zuerſt erſchienen, voll 
von Aufſchlüſſen über ſein Leben und ſeine Entwicklung. 

Er erwähnt eine Enttäuſchung der Freundſchaft, die er erfahren, 
eine andere der Liebe. Er drückt ſich auf das härteſte über die letztere 
aus: „Der Schleier war zerriſſen, Gemeinheit ſtand, wo erſt ein 
Engel flog.“ Weiter will er den Vorhang nicht lüften. Aber er 
fährt fort: | | 
Da fand ich fie, die nimmer mir entſchwinden, 

Sich mir erſetzen wird im Leben nie, 
Ich glaubte meine Seligkeit zu finden 
Und mein geheimſtes Weſen rief: nur die! 


Gefühl, das ſich in Herzenswärme ſonnte, 
Verſtand, wenngleich von Güte überragt, 

Aus Märchen grenzt was ſie für andre konnte, 
An Heilgenſchein, was ſie ſich ſelbſt verſagt. 


Der Zweifel der mir ſchwarz oft nachgeſtrebet: 
Ob Güte ſei? durch ſie ward er erhellt; 

Der Menſch iſt gut, ich weiß es, denn ſie lebet, 
Ihr Herz iſt Bürge mir für eine Welt. 


Wer weiß es, ob jene erſte nicht näher Geſchilderte Züge zur 
Sappho hergegeben hat? Gewiß iſt, daß dieſe zweite eine Familien⸗ 
verwandtſchaft mit Melitta aufweiſt, die kein Zufall ſein kann: ſei es 
nun, daß der Dichter ſein beſtimmt angeſchautes Ideal nachher im 
Leben wiedergefunden, oder daß er ſein Ideal nach dem Leben gebildet 
habe. Faſt wörtlich gleich ſchildert Primislaus in der Libuſſa den 
erſten und entſcheidenden Eindruck der Geliebten. Ihre Erſcheinung 
ruft ihm ein Bild in die Seele, das ihn umſchwebt ſeit ſeinen früheſten 
Tagen: „Und all mein Weſen, es rief aus: ſie iſts!“ 

Scherer, Vorträge. 14 


210 Franz Grillparzer. 


Aber wir conſtruiren unſere Ideale nicht, ohne daß unſer eigenes 
Selbſt den Stoff dazu böte. Was wir außer uns bewundern, das 
muß in uns widerklingen. Wenn Grillparzer feinen liebſten Ge⸗ 
ſtalten den Grundton des Einfachen und Schlichten leiht, ſo meint er 
ſein eigenes innerſtes Weſen und zugleich das Weſen des Oeſter⸗ 
reichers darin aufzufaſſen. In einem Epilog zum zweiten Theile des 
goldenen Vließes ſagte er dem Wiener Publicum von dem Stücke: 


Verfaßt hats einer, der ſich euer nennt, 
Als unter euch geboren euch verwandt 
Durch das, was dieſes Landes Beſte bindet, 
Ein offnes Herz und einen ſchlichten Sinn. 


Und in einem anderen Gedichte preiſt er geſund⸗- natürlichen Ver⸗ 
ſtand und richtiges Empfinden als das glückliche Erbtheil des Oeſter⸗ 
reichers und zugleich als das Höchſte, was der Menſch überhaupt er⸗ 
reichen könne. Dabei ſucht er das Heimatsland, das er anredet, 
durch die Bezeichnung zu charakteriſiren: „Die Unſchuld, die du dir 
bewahrſt, an heitrem Sinn erlabend.“ — 

Wenn alſo der Menſch Grillparzer ſich in der Melitta ſpiegelt, 
ſo hat der Dichter ſeine perſönlichen Stimmungen in das Seelen⸗ 
leben der Sappho hineingetragen. Jenes ſehnſüchtige Hinüberblicken 
aus der Welt der Kunſt und des Ruhmes in die Welt des einfachen 
Herzens und des ſtillen Glückes iſt ſein eigenes. f 

Grillparzer war nicht glücklich. In den „Jugenderinnerungen“ 
findet er ſich unter denſelben Bäumen, die erſt ſeine Kindheit geſehen, 
unter ihnen hat er geträumt von künftigen Schöpfungen: was er 
kaum zu hoffen gewagt, hat ſich erfüllt. Und doch! Wenn er ſein 
ganzes Leben überſchlägt und zurückblickt auf die Knabenzeit, ſo bricht 
er in die ſchmerzlichen Worte aus: 


Wenn erſt ich das Verlorne wieder hätte, 
Wie gäb ich gern, was ich ſeitdem gewann. 


Ein Schauder vor der Welt erfaßt ihn. Er kommt ſich wie 
ein Ausgeſtoßener vor. Er ſchildert ſich einmal als einen Verbannten. 
Das Leben hat ihn in den Bann gethan, weil er mit des Lebens 


Franz Grillparzer. f f 211 


\ Schweſter, mit der Kunſt, hinausgezogen in wilder Jagd: „Alles 
Wirklichen Genuſſe entſagt ich um den holden Ai f Ange ſpricht 
3 das Leben den Fluch über ihn aus: 


Von Wunſch zu Wunſch in ewger Kette 

Und raſtlos, wie du biſt, ſo bleib! 

Dir ſei kein Haus und keine Stätte, 

Kein Freund, kein Bruder und kein Weib — 


Ein Büttel aber beigegeben: 
Um dich, in dir laß er dich nie, 
Er peitſche raſtlos dich durchs Leben, 


Zieh hin, um all dein Glück betrogen, 
Und buhl um meiner Schweſter Gunſt; 
Sieh, was das Leben dir entzogen, 

Ob dirs erſetzen kann die Kunſt. 


. So war es denn kein Wunder, daß Grillparzer den Dichter⸗ 
beruf nicht als ein freudiges Schaffen, ſondern als ein ſchmerzliches 

Leiden auffaßte. Er vergleicht den Dichter mit einem Baume, der, 
vom Blitz geſchlagen, ſtrahlend ſich verklärt. Die Poeſie ift ihm eine 
Perle, erzeugt in Todesnoth und Qualen von dem freudenloſen ſtillen 
Muſchelthier. Und wie der Waſſerfall im Sonnenglanze Diamanten 
um ſich her zu ſprühen ſcheint — 


Er wäre gern ins ſtille Thal gezogen 
Gleich feinen Brüdern in der Wieſen Schooß, 

Die Klippen die ſich ihm entgegenſetzen 

Verſchönern ihn, indem ſie ihn verletzen — 


ſo bezahlt der Dichter den Beifall, der ihn umjubelt, die Be⸗ 
wunderung, die ihm gezollt wird, mit dem Beſten ſeines Lebens: 
„Was ihr für Lieder haltet, es ſind Klagen, geſprochen in ein freuden⸗ 
leeres Allez. 

Wir kennen die dunkle Geſtalt mit dem düſteren Blick und dem 
geheimen tiefen Leiden in der Bruſt. Sie iſt der ſtille Hausgeiſt, 
der die europäiſche Poeſie der Zwanziger Jahre durchwandelt. Auch 

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212 Franz Grillparzer. 


Grillparzer kann ſich den Stimmungen des Weltſchmerzes nicht ent⸗ 


ziehen. Die Figur der Sappho iſt daraus empfangen. 


Aber kehren wir zu unſerem Ausgangspunct zurück, zu Grill- 


parzers Ideal der Sittlichkeit und Menſchlichkeit, „des Inneren ſtiller 
Friede und die ſchuldbefreite Bruſt“. 

Ein verwandtes Thema, wie in der „Sappho“, wird im „gol⸗ 
denen Vließe“ abgeſpielt. Wie Phaon ſteht Jaſon zwiſchen zweien 
Frauen, wovon die eine über die Schranken der Gewöhnlichkeit ſich 
hinausgehoben hat: ſein Herz neigt ſich der anderen zu, welche ihm 
das einfache Glück alltäglicher Menſchen verſpricht. Wie Sappho 
und Melitta, ſo ſtehen ſich Medea und Kreuſa gegenüber, auch die 
Letztere im weſentlichen des Dichters Schöpfung. Aber die Gegen⸗ 
ſätze ſind erweitert und vertieft: wie denn das goldene Vließ über⸗ 
haupt wohl die geiſtig tiefſte von allen Grillparzeriſchen Tragödien 
genannt zu werden verdient. Der Contraſt zwiſchen Hellenenthum 
und Barbarenthum zieht ſich durch das Ganze hindurch. Kreuſas 
einfach mildes, freundliches Weſen, voll Güte, Sanftmuth und ein⸗ 
ſchmeichelnder Lieblichkeit iſt durch griechiſche freie, ſchöne Bildung 


verklärt. Um Medeas harte, leidenſchaftliche Natur iſt die Wolke des 


düſteren Grauens gelagert, Zauber, Verbrechen, böſe Künſte. Wie 
ſie heraus will aus der Barbarei, wie ſie dem Verhängniß zu ent⸗ 
fliehen ſucht, wie ſie das Ideal des Lebens vor ſich ſieht, wie ſie in 
die griechiſche Welt hinein ſich ſehnt und angſtvoll ſtrebt — und wie 
dies Alles in der Scene ſich concentrirt, in der ſie den vergeblichen 
Verſuch macht, Jaſon ein Lied zu ſingen —: das iſt ganz außerordent⸗ 
lich, und dieſe Scene gehört zu dem Rührendſten im edlen und großen 
Sinne, was die Poeſie aller Zeiten hervorgebracht. 

Was Medea will, das faßt ſie in den Satz zuſammen: „Laß 
uns die Götter bitten um ein einfach Herz!“ Und daſſelbe Wort 
ertönt in einer anderen Scene aus Kreuſas Mund dem ſchwächlichen 
Jaſon gegenüber, der, anſtatt mit feſter Hand gegen die Welt zu 
kämpfen und ſich ſein Haus zu gründen, in thörichte Klagen aus⸗ 
bricht und Unmögliches verlangt und unerfüllbare Wünſche äußert: 
hätte ich nie die Heimat verlaſſen, wäre ich nie nach Kolchis ge- 


gangen, hätte ich nie das Vließ geſehen, hätte ich mein Weib nie 


gekannt — b 


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Franz Grillparzer. 213 
Mach, daß ſie heimkehrt in ihr fluchbeladnes Land 


Und die Erinnrung mitnimmt, daß ſie dageweſen, 
Dann will ich wieder Menſch mit Menſchen ſein. 


Da hält ihm Kreuſa entgegen: 


Das wärs allein? Ich weiß ein andres Mittel: 
Ein einfach Herz und einen ſtillen Sinn. 


= Jaſon iſt der Ruſtan des Traumes, der aus Ehrgeiz und Ruhm: 
ſiucht fein Lebensglück in die Schanze geſchlagen und ſich auf die Bahn 
des Unrechts begeben hat. Ueber ihm und Medea ſchwebt, wie ein 
Rettungsengel, der Geiſt des einfachen Herzens, zu ihm langen ſie 
verzweiflungsvoll empor, aber er vermag ſie dem Verhängniß nicht 
zu entziehen. Dieſes Verhängniß aber hat gleichſam ſinnliche Geſtalt 
gewonnen in dem goldenen Vließ. Und am letzten Ende erſcheint 
Medea damit angethan und ſagt dem niedergeſchmetterten Jaſon, was 
Ruſtans Derwiſch ſingt: 


Erkennſt das Zeichen du, um das du rangſt? 

Das dir ein Ruhm war und ein Glück dir ſchien? 
Was iſt der Erde Glück? — Ein Schatten! 

Was iſt der Erde Ruhm? — Ein Traum! 

Du Armer! der von Schatten du geträumt! 

Der Traum iſt aus, allein die Nacht noch nicht. — 


So läßt ſich denn in vielen Umwandlungen, bald beſtimmter, 
bald unbeſtimmter angeſchlagen, durch alle Dramen derſelbe Grund— 
ton verfolgen. 

Aber die höchſte Steigerung, deren das Lebensideal eines reinen 
Herzens und der ſtillen Güte fähig war, iſt nicht in einer Tragödie, 
ſondern in der Erzählung vom armen Spielmann gegeben. 

Der Held iſt nicht blos ein ſtilles Gemüth, er iſt nach gewöhn⸗ 
lichem Maßſtab ſo unglücklich als man nur ſein kann; aus einer 
glänzenden Lebenslage herausgeworfen, ganz plötzlich um all ſein 
Vermögen betrogen, arm wie eine Kirchenmaus, und unfähig etwas 
zu erwerben — denn er iſt wirklich ganz unbegabt — das Liebes— 
glück, das ſich ihm bietet, verſcherzt er, es bleibt ihm nichts als eine 


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214 Franz Grillparzer. 


Violine, die er nicht zu ſpielen verſteht, und ein Zimmer, das er 


nur zur Hälfte bewohnen darf: — und der Mann iſt glücklich 
und zufrieden, ja es gibt für ihn Augenblicke der Seligkeit. Es ruht 
über der Geſchichte ein melancholiſcher Hauch. Aber die Grundſtim⸗ 
mung iſt ſanft und verſöhnt, etwa wie in dem Gedicht „Beſcheidenes 
Loos“: 

Bei dem Klang des Saitenſpieles 

Geh ich einſam und allein: 

Habe wenig, brauche Vieles, 

Doch das Wenige iſt mein — 


oder in dem Gedicht „Ruhe“: 
Befriedigung, die ich nach außen träumte, 
Kommt nun von innen ſelber in mein Dach; 
Das Leben rächt ja ſtets, was es verſäumte, 
Ich hole meine Jugendjahre nach. — 


Die vorſtehenden Betrachtungen werden einige Materialien ge⸗ 
währen, aus denen ſich die Seelenverfaſſung Grillparzers in den 
Hauptzügen erkennen läßt. Seine ethiſche Anlage, ſeine moraliſche 
Weltanſchauung hat ſich uns damit enthüllt. Wir fanden eine eigen⸗ 
thümliche Begrenzung des Geſichtskreiſes, welche nicht ohne Einfluß 
bleiben konnte auf den Gehalt ſeiner Schöpfungen. Einen Helden 


des mächtigen Willens, der ſich aufreibt in ſchmerzlichem Ringen 


mit der widerſtrebenden Welt, — ja ſelbſt eine aufflammende, ver⸗ 
heerende Leidenſchaft, die zu furchtbaren Thaten ſpornt, hat Grill⸗ 
parzer nie dargeſtellt. Und wo ein Stoff, den er bearbeitete, dazu 
Anlaß bot, hat er den Anlaß nie benutzt. Sein Ottokar iſt kein 
Emporkömmling durch eigene Kraft, ſondern ein übermüthiger Glücks⸗ 
pilz, dem Fortuna ihre Gaben in den Schooß wirft ohne fein Ver⸗ 
dienſt. Sein Bancban iſt kein Rebell, ſondern ein „treuer Diener 
ſeines Herrn“. 

Es iſt als ob unſeren Dichter eine ähnliche Anſchauung geleitet 
hätte, wie ſie ein anderer öſterreichiſcher Dichter, Adalbert Stifter, 
kundgibt und ſeinerſeits auch ſtets befolgte: „Ein ganzes Leben voll 
Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung feiner ſelbſt, Verſtandesgemäß⸗ 


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Franz Grillparzer. - 215 


heit, Wirkſamkeit in feinem Kreiſe, Bewunderung des Schönen, ver— 
bunden mit einem heiteren, gelaſſenen Sterben halte ich für groß: 
mächtige Bewegungen des Gemüthes, furchtbar einherrollenden Zorn, 
die Begier nach Rache, den entzündeten Geiſt, der nach Thätigkeit 
ſtrebt, umreißt, ändert, zerſtört und in der Erregung oft das eigene 
Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, ſondern für kleiner, da 
dieſe Dinge ſo gut nur Hervorbringungen einzelner und einſeitiger 
Kräfte ſind, wie Stürme, feuerſpeiende Berge, Erdbeben.“ 

Dieſe Worte enthalten ein Programm, das eben jo gut für Grill⸗ 
parzer gilt, wie für Stifter. 


III. J 
Techniſche Meiſterſchaft. 


Unter Grillparzers Zeitgenoſſen mögen ihn Manche übertroffen 
haben an weitem Blick, an umfaſſender Bildung, an geiſtiger Kraft, 
an Ideenreichthum und männlicher Energie des Charakters. Man 
kann nicht ſagen, daß in ihm wie in unſeren Claſſikern die höchſten 
Tendenzen der Epoche ſich durchdrangen und zu künſtleriſcher Geſtal⸗ 
tung gelangten. Mancher mindere Künſtler mag in dieſer Hinſicht 
ein beſſerer Repräſentant ſeiner Zeit ſein. 

Wie kommt es, daß trotzdem Grillparzers Name ſich leuchtend 
heraushebt unter allen feinen Altersgenoſſen? Wie kommt es, daß fein 
Stern immer heller und heller ftrahlt, während mancher andere viel- 
gefeierte neben und nach ihm verbleicht und erliſcht? 

Grillparzers Geheimniß iſt die dramatiſche Technik. 

Er iſt mit Einſeitigkeit auf die dramatiſche Kunſtform gerichtet. 
Dieſe aber beherrſcht er. Er hat ſich in mühevoller ernſtlicher Arbeit 
das Handwerkszeug angeeignet. Und er hat es in edler Weiſe ge- 
braucht, nicht zu wohlfeilen Effecten, ſondern zu bedeutenden Offen⸗ 
barungen einer reinen idealen Natur. Es verband ſich in ſeinen 
Schöpfungen die ſichere Fertigkeit des wohlgeſchulten Handwerkers mit 
der prieſterlichen Weihe des Künſtlers. 

Will man ſich recht handgreiflich von der ausgezeichneten Mache 
Grillparzeriſcher Stücke überzeugen und dieſelbe gleichſam durch Expe- 
riment feſtſtellen, ſo muß man ein Drama, das man genau kennt, 


216 Franz Grillparzer. 
aber bisher nur geleſen hatte, aufführen ſehen. Man wird bench 
daß der Eindruck überall geſteigert iſt. 

Ich habe das erſt kürzlich an der Eſther erprobt. Ich kannte 
das Stück noch gar nicht und las es zur Vorbereitung auf die Grill⸗ 
parzer-Feier des Burgtheaters. Von dem erſten Acte empfing ich gar 
keinen oder nur geringen Eindruck. Der zweite gefiel mir aller⸗ 
dings recht gut. Aber ich begriff doch nicht, wie man daraus ſo 
etwas Beſonderes machen könne. Gleich darauf ſah ich das herrliche 
Fragment — der erſte Act hob ſich bedeutend, von dem zweiten war 
ich überwältigt. a 

Auf der Bühne herrſcht eben nicht das bloße Wort. Action, 
Scene, Geberdenſpiel ſind Factoren, die der Dichter mit in Rechnung 
zieht, und das um ſo mehr, je mehr er ſich heimiſch fühlt in der 
dramatiſchen Technik, je mehr er auf die ſpecifiſchen Wirkungen des 
Schauſpiels ausgeht, die durch das bloße Wort nie erzielt werden 
können, in denen das Wort vielleicht ſtört und abſchwächt. 


„Der dramatiſche Dichter“ — ſagte Grillparzer zu einem An⸗ 


fänger in der Kunſt — „ſoll ſich in das Parterre verſetzen und zu⸗ 
ſchauen im Geiſte, ob eine Perſon rechts oder links zu ſtehen kommt, 
ob ſie die oder die Hand hebt oder ſenkt, ob ſie ſitzt oder ſteht: ja 
ſozuſagen jeden Knopf am Kleide derſelben ſoll er ſehen.“ 


Ich enthalte mich nicht, eine Parallelſtelle aus Otto Ludwig an⸗ 


zuführen, der hervorhebt, wie viel Shakeſpeare bei der dramatiſchen 
Charakteriſtik ſeinem ſchauſpieleriſchen Handwerk zu verdanken gehabt 
habe: „Er ging im Geiſte den Schritt, den er für die Figur gewählt, 
er fühlte die ganze Schauſpielermaske im Geſichte und Leibe, die Hal⸗ 
tung der Geſichtszüge, der Geſtalt, wie eine von allen Seiten auf 
ſein Selbſt modificirend eindrängende Form, — wie ein Schauſpieler, 
der gewohnt iſt, ganze Abende hindurch genau in derſelben Form zu 
ſtecken, ein und daſſelbe Charaktergeſicht, dieſelbe Art zu gehen, ſich 
zu wenden, bis in die kleinſten Züge hinein ſtreng feſtzuhalten.“ 
Aehnlich hat auch Grillparzer geſchaffen, ſo bis ins Einzelſte 
Alles vor ſich geſehen und berechnet. Das Wort iſt nur ein Theil 
deſſen, was er dichteriſch ſchafft. Darum zeigt ſich der Erfolg Grill⸗ 
parzeriſcher Stücke ſo ſehr von der Qualität der Aufführung abhängig. 
Der Schauſpieler muß aus Wort und Situation ahnen, wie Grill⸗ 


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Franz Grillparzer. 217 


parzer das Ganze in ſeiner Phantaſie geſchaut. Er muß das innere 
Bild des Dichters wiederherſtellen, indem er das Verſchwiegene er— 


gänzt. Und er hat mehr zu ergänzen als bei einem declamations— 


ſüchtigen, redſeligen Dramatiker. Ich citire noch einmal Otto Ludwig: 
„Wer beurtheilte wohl ein Gemälde nach der bloßen Untermalung? 
Was von einem echten Drama aufgeſchrieben iſt, iſt nichts als Unter- 
malung des Gemäldes. Shakeſpeare und nach ihm Leſſing waren ſo 
beſcheiden, dem Schauſpieler ſeinen Theil an dem Werke zu gönnen,“ 


was die ſpäteren allzu oft unterließen. Und an einer anderen Stelle 


bemerkt er, Vieles von Goethe wirke auf der Bühne nicht, weil es 
zu ſchön, weil zu viel Muſik in der Rede: „Die ſeelenvollen Goethe'ſchen 
Verſe haben ſchon die Melodie, die ſie haben können; was der Schau⸗ 


ſpieler hinzuthun kann, iſt daſſelbe, was der Dichter ſchon hinzuthat; 
er iſt überflüſſig, er kann die ätheriſche Muſik nur vergröbern.“ 


Man muß andererſeits freilich geſtehen, daß die Poeſie des 
Wortes, die durch und durch und in allen Theilen poetiſche Rede 
Grillparzer nicht in ſehr hohem Maße zu Gebote ſtand. Nicht daß 
ihm nicht auch hier Wunderbares gelänge, aber ſeine Sprache iſt 
nicht gleichmäßig durchgebildet, proſaiſche Wendungen begegnen hie 
und da und öfter als einem aufmerkſamen Beobachter lieb iſt. Alle 
lyriſchen Gedichte Grillparzers leiden an dieſem Formgebrechen. Nie 
iſt ihm ein eigentliches Lied gelungen. Es rächte ſich, daß er das 
Volkslied, dieſen großen, unerſchöpflichen, immer noch fließenden 
Quickborn der deutſchen Lyrik ſeit Goethe und Bürger, gründlich ver— 
achtete. Mit der muſikaliſchen Poeſie überhaupt hatte er kein Glück. 
Der Operntext „Meluſina“ iſt ziemlich unbedeutend, und Mirjams 
Siegesgeſang, den Schubert componirte, oder die Cantaten, die man 
von ihm hat, geben der Tonkunſt wenig Gelegenheit, ſich in ihrer 
eigenthümlichen Herrlichkeit zu entfalten. Es iſt keine rechte Stim⸗ 
mung darin, kein träumeriſches, ahnungsvolles Gefühlsleben. Grill— 
parzers dichteriſches Schaffen iſt Geſtalt und Handlung. 


Die Forderungen des Dramas ſind von denen der Poeſie als 
ſolcher, der Poeſie in abstracto — wenn ich ſo ſagen darf — oft 
weit verſchieden. Jene proſaiſchen Wendungen, welche im Leſen ſo 
ſehr verletzen, werden von der Bühne kaum gemerkt. Und in der 


218 Franz Grillparzer. 


ſpecifiſch dramatiſchen Sprache iſt Grillparzer ſo reich und mächtig 
und aller Mittel ſo ſicher, wie irgendeiner. | 

Leere Rhetorik, welche aus dem Rahmen der Situation heraus- 
tritt, um einem lyriſchen Gelüſte des Dichters zu fröhnen, überhaupt 
jene beliebten Kraftſtellen, in denen ein Poet feine Figuren als Sprach⸗ 
rohr für ſeine eigenen Angelegenheiten misbraucht, werden ſich bei 
Grillparzer kaum finden. 

Er unterſcheidet einen mittleren und einen höchſten Grad des 
Affectes. Jener ſtrömt in Reden aus, eine große innere Erregung 
macht ſich Luft, die Leidenſchaft iſt noch mäßig genug, um nach Ge⸗ 
ſtalt zu ringen, Wille und Beſonnenheit noch ſtark genug, um ge⸗ 
wählte Worte auf ein beſtimmtes Ziel zu richten. Dieſer aber ver⸗ 
ſinkt in Schweigen oder findet einen einzelnen Ausruf, der entweder 
heftiges Thun begleitet oder worin ſich ſonſt ganze Gefühls⸗ und 
Gedankenwelten zuſammenpreſſen. 

Seelenzuſtände, in denen das Weſen eines Menſchen wie erdrückt 
iſt unter einer coloſſalen Laſt der Leidenſchaft, worin er willenlos 
traumhaft thut, was er nicht weiß, oder ganz in ſich verſinkt, als 
dürfte das Blut nicht weiter rollen in ſeinen Adern, hat Grillparzer 


wiederholt geſchildert. Uebermacht des Begehrens und Uebermacht 


des Leidens ſtellt ſich bei ihm ſo dar. 

Aber auch an jenen charakteriſtiſchen Einzelworten iſt bei ihm 
kein Mangel. . 

Ich meine nicht den rhetoriſchen Laconismus, den die moderne 
Bühne von dem Römer Seneca geerbt und worin die Franzoſen ſo 
Großes geleiſtet. Wendungen, wie das berühmte Moi! der Cor⸗ 
neilleſchen Medea oder das eben jo berühmte Soyons amis Cinna! 
wird man aus Grillparzers Werken wohl nicht ausheben können. 
Aber welche Wirkung ganz auf das Spiel berechnet und ohne dieſes 
matt, am Schluß der Scene zwiſchen Medea, Kreuſa und Jaſon, 
wie der letztere Medeen die Leier wegnehmen will und ſie ſie zerbricht 
und vor Kreuſa hinwirft! 


Medea. N 
Hier! 0 
Entzwei! Entzwei die ſchöne Leier! 

Kreuſa. 


Todt! 


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Franz Grillparzer. + 9 


Medea. 
Wer? — Ich lebe! — lebe! 


Es gehört dazu, daß Kreuſa entſetzt zurückfährt, daß dann Medea 


ihr Wer? „raſch umblickend“ ſpreche und ihr lebe! ſtolz und drohend, 


und daß fie nachher „hoch emporgehoben vor ſich hinſtarrend daſteht“, 
wie der Dichter vorſchreibt. f 

Darf ich neben ſo viel Licht auch eine Schattenſeite hervorheben, 
ſo möchte ich ſagen, daß mir der Dialog manchmal etwas zu gerad— 
linig, zu katechismusartig ſcheint, ſelten dies fo ſtark wie im Anfang 
des vierten Actes der „Sappho“ in der Scene zwiſchen Sappho und 


Men Diener Rhamnes. 
Sappho. 
Kennſt du ein ſchwärzres Laſter, als den Undank? 


Rhamnes. 
Ich nicht. a 
Sappho. 
Ein giftigeres? 
Rhamnes. 
Nein, wahrlich nicht. 
Sappho. 
Ein fluchenswürdigeres, ein ſtrafenswertheres? 
Rhamnes. 
Fürwahr, mit Recht belaſtets jeder Fluch! 
Sappho. 
Nicht wahr? Nicht wahr? die andern Laſter alle, 
Hyänen, Löwen, Tiger, Wölfe ſinds, 
Der Undank iſt die Schlange. Nicht? die Schlange! 
So ſchön, ſo glatt, ſo bunt, ſo giftig! — Oh! — 

Man ſieht, es iſt einem Declamationseffecte die dramatiſche 
Wahrheit, die Grillparzer ſonſt fo hoch hielt, geopfert. Rhamnes 
dient nur dazu, um eine bekannte rhetoriſche Figur in Scene zu ſetzen. 

Ich kann auch nicht läugnen, daß mir im Uebrigen Grillparzers 


Erfindungskraft ſeiner Ausführungskraft nicht gleich zu kommen ſcheint. 


Es begegnet wohl, daß er zum Behufe der Charakteriſtik oder 
Motivirung eine Situation erfindet oder Vorgänge eintreten läßt, die 


in ſich allzu wenig Intereſſe darbieten, um den Zuſchauer zu feſſeln 


und ſeine Phantaſie anzuregen. 
Wie die Wahl und Ausbildung ſeiner Stoffe in gewiſſe Grenzen 


220 Franz Grillparzer. 


gebannt iſt, haben wir ſchon erwogen. Der Mann, der zwiſchen 
zwei Frauen ſteht, wovon die eine meiſtens das überſchritten hat, 
was Philiſter die Schranken der Weiblichkeit nennen, wovon die an⸗ 
dere ſich innerhalb dieſer Schranken hält, kehrt faſt ſchematiſch wieder. 
Phaon zwiſchen Sappho und Melitta, Jaſon zwiſchen Medea und 
Kreuſa, Ruſtan zwiſchen Gülnare und Mirza, Ottokar zwiſchen Kuni⸗ 
gunde und Margaretha, Raimund zwiſchen Meluſina und Bertha 
dieſe letztere nebenbei bemerkt ganz freie Erfindung des Dichters, das 
Volksbuch weiß nichts von ihr), König Ahasverus zwiſchen Vaſthi 
und Eſther, König Alfons zwiſchen der ſchönen Jüdin von Toledo 
und ſeiner Gattin Leonore. Immer hat die erſtgenannte das brillante 
Aeußere voraus, die zweite meiſt das gute Herz und ſtets den ein⸗ 
fachen Sinn. 

Das mehrfach wiederholte Ausſchelten der männlichen Haupt⸗ 
perſon, Phaons durch Rhamnes, Jaſons durch Medea, Ottokars durch 
Kunigunde und Zawiſch hat ſchon die wohlwollende Caroline Pichler 
misfällig hervorgehoben. Es hängt dies mit dem Grundgebrechen 
der Grillparzeriſchen Helden zuſammen, welche, wie die Euripideiſchen, 
meiſt nichts weniger als Ideale von männlicher Kraft und Würde ſind. 

Auch in Grillparzers Schilderung des Verlaufes von Liebesver⸗ 
hältniſſen kehren verwandte Motive gerne wieder. Das Verhältniß 
Medeas zu Peritta vergleicht ſich dem der Hero zu Janthe: die ſchul⸗ 
dige Dienerin wird Freundin und mild behandelt, ſobald die Liebe 
bei der Herrin eingezogen. Die etwas brutale Methode des Lieb⸗ 
habers, gleich mit dem Kuſſe anzufangen, iſt in der „Sappho“ wie 
im „goldenen Vließ“ dieſelbe, und beide Mal die gleiche faſt elektriſche 
Wirkung dieſes Kuſſes. Auch Leon in „Weh dem, der lügt“ N 
ſich ſofort handgreifliche Zärtlichkeiten gegen Edrita. 

Das Durchbrechen der Liebe hat Grillparzer wiederholt ge- 
ſchildert. Dabei iſt es vorzugsweiſe das Abwehrenwollen und doch 


Unterliegen, der Kampf des Weibes gegen ſeine eigene Schwäche, was 


er hervorhebt und im Einzelnen mit charakteriſtiſcher Verſchiedenheit 
vor Augen ſtellt. In Melitta, traumhaft befangen, wie ſie iſt, zeigt 
ſich kaum ein Kampf, faſt willenlos folgt fie Phaon. Für Medea iſt 
der entſcheidende Moment, wie fie lim dritten Acte der „Argonauten“) 
lange in Schweigen und Weinen verſunken den enteilenden Jaſon 


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1 


Franz Grillparzer. ö 221 


zurückruft und damit ihre Liebe bekennt. Der Grieche zwingt ſie 
förmlich zu dem Geſtändniß und ihr „Jaſon!“ bricht vulcaniſch aus 
ihr heraus. Sanfter, allmälicher, wie in Wellenbewegung, vollzieht 
ſich Heros Zurückweichen und Ergeben in der Thurmſcene. In der 
„Libuſſa“ fürchtet man, die Liebenden könnten auseinander gehen ohne 
die innere Vereinigung, die man doch für nothwendig hält und er— 
wartet und die durch Libuſſas directes „Bleib hier!“ endlich zu 
Stande kommt. Wieder anders, unter ſcheinbarem Trotz verhüllt, 
läßt Kunigunde merken, daß es ihr Zawiſch angethan. Lakoniſch und 
trocken bringt Edrita ihre Erklärung vor. Und in der „Jüdin“ voll⸗ 
zieht ſich Alles ohne Erklärung, kaum mit Bewußtſein, wie ein 
Naturproceß. Ganz an Jaſon und Medea aber, wenn auch in ſehr 
verſchiedener Form, erinnert Eſther. Wie ſie lange ſchweigt, dann 
als der König alle Hoffnung aufzugeben ſcheint, — „ich wußt es ja, 
mir iſt kein Glück beſchert“ — ſchnell den Kranz ergreift und doch 
ihn wieder abthun will und der König um Aufſchub der Entſcheidung 
fleht und ſich zum Gehen wendet: da wirkt ihr einfaches „Herr!“ 
gleich jenem Rufe Medeens, das Wort umfaßt Alles, was hier zu 
ſagen war. „Es iſt! der Ton entſchied — ſagt der König — nun 
fort von ihr! Ich ſelber will ſie führen.“ Das erinnert auch im 
Ausdruck an Jaſons kurze Rede in der gleichen Lage: „Das wars! 
Medea! Komm zu mir! Zu mir!“ 

Merkwürdiger Weiſe aber findet ſich das Zurückrufen des Ge— 
liebten auch ſchon in der „Ahnfrau“, wo Jaromir ſich als Räuber 
enthüllt und Bertha ſich zuerſt entſetzt von ihm abwendet, um nach— 
her doch — ihre Seele liegt in Banden — den Verſtoßenen wieder 
an ſich zu ziehen. 

Wie wir hier bei aller inneren Verwandtſchaft doch charakte— 
riſtiſche Verſchiedenheit fanden, ſo ſtellt ſich die äußere Phyſiognomie 
von Grillparzers Dramen nach der techniſchen Seite hin als eine 
höchſt mannigfaltige dar. f 

Gleich im Beginn ſeiner Laufbahn die Ahnfrau und Sappho. 
Glaubt man nicht in eine andere Welt zu treten, wenn man ſich von 
jener zu dieſer wendet? Daß ein junger Dichter, ein Anfänger, mit 
zwei ſolchen Stücken debutirt, daß er ſie innerhalb Jahresfriſt, und 
jedes in wenigen Wochen, fertig bringt, das dürfte wohl ohne Bei— 


222 Franz Grillparzer. 


ſpiel in der Geſchichte der dramatiſchen Litteratur daſtehen. Grill⸗ 


parzer war ein dramatiſches Genie. Er tritt als ein fertiger Menſch 


vor das Publicum und zeigt ſich von vornherein auf der Höhe der 


techniſchen Meiſterſchaft, — auf einer Höhe, die er ſpäter nicht immer 
zu behaupten wußte. 

Man kann die Mannigfaltigkeit der Formen in Grillparzers 
Dramen auf drei Typen zurückführen, repräſentirt etwa durch die 
Ahnfrau, Sappho und Ottokar. Dieſelben grenzen ſich freilich nicht 
ſtreng gegen einander ab, denn die Compoſitionsform erwächſt bei 
Grillparzer mit Nothwendigkeit aus der Natur des Stoffes. 

Die Ahnfrau zeigt wenig Charakteriſtik, athemlos fortſtürmende 
Handlung, eine wahre Siedhitze der dramatiſchen Temperatur in den 
rhetoriſchen Formen der ſpaniſchen Bühne. Dieſelben Eigenſchaften 
finden wir in „Traum ein Leben“ wieder. 


Dem Typus der Sappho können wir das goldene Vließ, des 
Meeres und der Liebe Wellen, die Eſther und die Libuſſa zuweiſen. 


Dem des Ottokar den treuen Diener ſeines Herrn; Weh dem, der 
lügt; den Bruderzwiſt und die Jüdin von Toledo. Dort herrſcht 
idealiſtiſche Charakteriſtik etwa nach Goetheſcher Methode, wie im 
Taſſo oder in der Iphigenie: der Dichter ſchöpft aus der Innenwelt. 
Hier herrſcht realiſtiſche Charakteriſtik etwa nach Shakeſpegreſcher 
Methode: der Dichter iſt in die Anſchauung der Außenwelt vertieft. 
Dort waltet ein ſubjectiver Zug, hier die objective Beobachtung. 
Dort Seelenmalerei, hier die Fülle der ſinnlichen Erſcheinung. Dort 
wenige Typen, hier die Vielgeſtaltigkeit des wirklichen Lebens. 

Man ſieht, die traditionellen Stoffe der claſſiſchen Bühne, Antike 
und altes Teſtament, dazu halb mythiſche Sage, ſchließen ſich auch 
an die claſſiſche Formentradition. Mittelalter und Hiſtorie können 
ſich dem Einfluffe der ſpecifiſch wi e Bühnenform nicht ent⸗ 
ziehen. 

Mit den drei Typen iſt es nun freilich nicht gethan. In Sappho 
und Medea fällt alles Gewicht auf die je drei Hauptcharaktere, neben 
denen die anderen Figuren nur die zum Fortgang der Handlung 
nöthigen ihnen zugewieſenen Functionen erfüllen. Ein ſelbſtändiges 
Intereſſe fällt nicht für ſie ab. Im Gaſtfreund und den Argo⸗ 
nauten, den beiden erſten Theilen des goldenen Vließes, treten neben 


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a) u Be 


Franz Grillparzer. 223 


t ‚ Medea auch ihre Angehörigen hervor, weniger der ſanfte Bruder 


g 4 Abſyrtus, als der begehrliche Vater Aietes, deſſen Geſtalt in ihrer 
ſtürmiſchen Sinnlichkeit an die Figuren der Ahnfrau erinnert. In des 


Meeres und der Liebe Wellen ſteht nur Hero im Vordergrund, alle 


1 1 anderen, auch Leander, find dramatische Maſchinerie, obgleich bis auf 


den Thurmwächter herunter mit bewunderungswürdiger Kunſt ſo weit 


1 ausgeſtattet und motivirt, als man es braucht, um ſie zu verſtehen. 
Dagegen iſt Eſther auf allſeitige Charakteriſtik faſt ſämmtlicher Mit⸗ 


5 W handelnden angelegt: Eſther, der König, Mardochai, Haman, Zares, 


ja noch weiter die einzelnen Hofleute bekommen ihr Theil bezeichnender 
Züge ab: wobei Haman aus der Reihe der übrigen mehr hevaus- 


1 tritt und am nächſten dem Bancbanus an die Seite zu ſtellen wäre. 


Dieſelbe Allſeitigkeit und reiche Vertheilung der Charakteriſtik im 
„Ottokar“, im „Bruderzwiſt“ und in „Weh dem, der lügt“, während 
im „treuen Diener“ wieder nur die Hauptperſon mit Liebe ausgeführt 
erſcheint. 4 

Grillparzer hat ſich für ſeine Dramen grundſätzlich nie der 
Proſa bedient, ſondern in der Regel des fünffüßigen Jambus: die 
Stücke des erſten Typus verwenden den viertactigen Trochäus, der 
auch in der erſten draſtiſchen Scene der Jüdin von Toledo wieder⸗ 
kehrt. In der Libuſſa tauchen unter den fünffüßigen Jamben ge⸗ 
legentlich gereimte Alexandriner, ja ſelbſt Knittelverſe auf. In der 
Trilogie des goldenen Vließes wird der fünffüßige Jambus anfangs 
nur den Griechen zugetheilt, während die leidenſchaftlichen Reden der 
Barbaren ſich in freien Rhythmen von wechſelnder Zeilenlänge mit 
unruhigen Daktylen und Anapäſten durchſetzt bewegen. In den 
ſpäteren Partien treten dieſe Barbarenrhythmen nur in einzelnen be— 
ſonders erregten Momenten auf. Auch hat Grillparzer nur in der 
Trilogie die kurze Wechſelrede Vers um Vers, die ſog. Stichomythie 
der griechiſchen Bühne, verwendet. Sie widerſprach für ſein Gefühl 
wohl der Forderung der Natürlichkeit, die er an den Dialog vor 
Allem ſtellte. 

Die innere Entwicklung in Grillparzers dramatiſcher Kunſt läßt 
ſich kurz bezeichnen als: Fortſchritt in der Charakteriſtik, Rückſchritt 
im feſten Aufbau, in der folgerichtigen Gliederung, im dramatiſchen 
Zug, der athemloſen Steigerung der Handlung. 


224 Franz Grillparzer. 


In letzterer Hinſicht ſtehen Ahnfrau, Sappho und Traum ein f 


Leben oben an. Gerade die drei Stücke, welche nach dem Zeugniß 
von Caroline Pichler bei der erſten Aufführung den größten Beifall 
ernteten, und gerade die drei erſten Stücke des Autors. Denn wenn 
Caroline Pichler die Vermuthung äußert, das dritte der genannten 
Dramen, das erſt 1834 aufgeführt wurde, möchte noch ein Product 


aus der friſchen, von kräftigem Selbſtgefühl geſchwellten Jugend⸗ 


periode des Dichters ſein, ſo war dieſe Vermuthung ganz richtig. 
Schon 1821 erſchienen die Expoſitionsſcenen von „Traum ein Leben“ 
gedruckt. 

Alle drei Jugenddramen zeigen ſtreng geſchloſſene Compoſition. 


Sie haben die Einheit der Zeit mit einander gemein und die Be⸗ 


dingungen, welche ſich ſonſt daraus ergeben. 

Schon in der Trilogie iſt die Handlung nicht mehr ſo ſicher ge- 
führt, namentlich im dritten Theil. Die Motive wiederholen ſich,“ 
es iſt als ob ſich die Perſonen immer einunddaſſelbe zu ſagen hätten. 
Die Rückblicke auf die ideale Jugendzeit nehmen kein Ende. Grill⸗ 
parzer ſelbſt warf der „Medea“ Mangel an Einheit vor. Der erſte 
Act war fertig, als ſeine Mutter ſtarb und er, um ſeines Schmerzes 
Herr zu werden, nach Italien ging. Mit Mühe, ja nur durch einen 


Zufall konnte er ſich nach ſeiner Rückkehr auf den zweiten und dritten 


Act wieder beſinnen, die er im Geiſte ſchon ganz ausgearbeitet hatte. 
Dieſe Unterbrechung erklärt Einiges, aber nicht Alles. 

„Des Meeres und der Liebe Wellen“ kommt anfangs vor lauter 
Charakteriſtik nicht recht in Gang. Im „Ottokar“ und im „treuen 
Diener“ wird, wie ich glaube und unten näher ausführen will, das 
tragiſche Intereſſe nicht vollſtändig genug angeregt. Das Luſtſpiel 
„Weh dem, der lügt“, womit Grillparzer nach längerer Unterbrechung 
ſeiner Thätigkeit vor das Publicum trat, konnte keinen Bühnenerfolg 


„) Medea zu Jaſon: „Die ganze Welt verwünſche mich, nur bn nicht!“ in 
der Scene nach dem Bannſpruch, und ganz ähnlich im dritten Act kurz vor 
Medeas Kniefall. — Kreuſa zu Jaſon: „Du wirft Dich wieder heben, wenn du 
willſt“ (Act 2), desgleichen der König zu Jaſon: „Du wirft Dich neu erheben, 
glaube mirs“ (Act 3). — Peritta zu Medea (Werke III. S. 73): „Was iſt das? 
Feucht fühl’ ich dein Antlitz auf meiner Schulter!“ Aietes zu Medea (S. 121): 
„Was iſt! Feucht liegt dein Geſicht auf meiner Schulter.“ i 


2 


Franz Grillparzer. ö 225 


erringen, und das lag gewiß nicht an äußern Zufälligkeiten allein. 
In der Eſther iſt das Hauptintereſſe eigentlich in der Heldin erſchöpft, 
auf die Intrigen, welche die Partei der Vaſthi gegen ſie ſpinnen wird, 
iſt man gar nicht geſpannt. Der „Bruderzwiſt in Habsburg“ hält 
auch gegen das Ende hin ſich nicht auf der Höhe der in reicher 
Charakteriſtik glänzenden erſten Acte. Den fünften Act der „Jüdin 
von Toledo“ wollte der Autor ſelbſt noch umarbeiten. Und die 
„Libuſſa“ iſt in einzelnen Partien kaum bühnengerecht; ſie fällt zuweilen 
ganz in die undramatiſche Weiſe des Leſedramas. 

Dagegen die Charaktere. Welcher Fortſchritt von Sappho zur 
Medea und von da zur Hero. Letztere iſt die mit dem mannig⸗ 
faltigſten Detail, mit der liebevollſten Einzelbetrachtung, der ſorgfäl⸗ 
tigſten Motivirung ausgeſtattete Frauengeſtalt des Dichters. Mit 
welcher Sicherheit iſt Kunigunde im „Ottokar“ gezeichnet, oder Rachel, 
die Jüdin von Toledo, oder Edrita in „Weh dem, der lügt“, obgleich 
zum Theil nur ſkizzirt, aber mit ein paar Strichen die ganze Figur 
lebendig hingeſtellt. Und Eſther vollends ſcheint den Keim zu einer 
Iphigenie zu enthalten. 

Nicht minder wachſen die männlichen Charaktere an Tiefe und 
Bedeutung. Der Grillparzeriſche Liebhaber macht einen ſtetigen 
Vervollkommnungsproceß durch. Von Jaromir und Ruſtan, von 
Phaon und Jaſon — welchen Fortſchritt bildet Zawiſch im „Ottokar“. 
Trotz ſeiner abſcheulichen Hinterhältigkeit und Kriecherei — Grillparzer 
ſuchte darin nationale Charakterzüge aufzufaſſen — hat dieſer Roſen⸗ 
berg in ſeiner Keckheit was Bezauberndes. Ganz ausgezeichnet iſt 
der friſche Leon im Luſtſpiel, und König Ahasverus in ſeiner Hoheit 
und Milde ſcheint den menſchlich klaren und reifen Geiſt König 
Saladins im „Nathan“ mit dem lebhafteren Gefühle der Jugend zu 
vereinigen. Noch Größeres iſt im Primislaus der „Libuſſa“ gewollt, 
aber kaum erreicht, weil das packende dramatiſche Leben fehlt. 
Aus den etwas ſchematiſchen Problemen und Empfindungsrich— 
tungen ſeiner erſten Zeit ſtrebt Grillparzer ſichtlich heraus. Vom 
„Ottokar“ an gelangt er immer weiter in Kenntniß der Welt und der 
Menſchen. Sein Blick ſchärft ſich. Seine Intereſſen werden viel- 
ſeitiger. 

Gegen König Ottokar ſelbſt habe ich Bedenken, auch gegen den 

15 


Scherer, Vorträge. 


226 Franz Grillparzer. 


Habsburger, aber die Nebenfiguren, die verſchiedenen Roſenberge, die 
Merenberg, ſind vorzüglich gelungen. Ebenſo in „Weh dem, der 
lügt“, außer Leon und Edrita der ſchwerfällige, egoiſtiſche, junker⸗ 
haft dünkelvolle Attalus, der ungeſchlachte Katwald und der im Style 
eines Shakeſpeareſchen Rüpels gehaltene „dumme“ Galomir. Im 
„treuen Diener“ heben ſich die Königin, der Prinz und Erny vor⸗ 
trefflich von der Hauptperſon ab. Und beachtenswerth, daß Grill⸗ 
parzer im Bancban wie im Leon und ſpäter im Haman der „Eſther“, 
im Iſaak der „Jüdin“ ſich ein neues Gebiet, das des Humors, zu 
erſchließen ſucht. Die reichſte Geſtalt aber, die er geſchaffen, ein 
unübertreffliches Meiſterwerk an tiefer Menſchenauffaſſung iſt Rudolf 
der Zweite. 

Denſelben Unterſchied wie Grillparzers Dramen älteren und 
neueren Datums geben auch ſeine beiden novelliſtiſchen Arbeiten kund: 
„das Kloſter von Sendomir“ (in der „Aglaja“ für 1828) und „der 
arme Spielmann“ (in der „Iris“ für 1848). 

Beiden iſt eigenthümlich, daß der Autor innerhalb der epiſchen 
Dichtungsgattung ſich eine dramatiſche Form ſchafft. Beide ſind der 
Hauptſache nach große Erzählungsſcenen. Die Helden ſelbſt theilen 
in beſtimmter Situation ihre Schickſale mit. Und im „Kloſter von 
Sendomir“ beruht ein beſonderes Moment der Spannung darauf, 
daß dem Leſer erſt allmälich klar wird, wie die Perſon des erzählen⸗ 
den Mönches und des Helden ſeiner Geſchichte zuſammenfallen. 

Aber während der „arme Spielmann“ recht eigentlich eine Cha⸗ 
rakterſtudie iſt und zwar eine der ausgeführteſten des Dichters, läßt 
ſich das „Kloſter“ zunächſt mit der Ahnfrau vergleichen. Die Be⸗ 
gebenheit iſt die Hauptſache, die Charaktere nehmen kein Intereſſe 
für ſich in Anſpruch. Auch darin zeigt ſich Aehnlichkeit, daß die 
dunkle, tragiſche Verwicklung erſt allmälich aus dem Hintergrunde 
hervortritt, daß die Erzählung ſozuſagen analytiſch geführt wird. 

Der ganze Gang von Grillparzers Entwicklung, der Rückſchritt 
in Bezug auf die Handlung, der Fortſchritt in Bezug auf die Cha⸗ 
raktere, hat etwas ſehr Natürliches. Es iſt ein Gang der Ver⸗ 
tiefung. Mancher andere Dramatiker kann ihn ebenſo an ſich beob⸗ 
achten. Die Jugend gehört dem Märchen, der wunderſamen, auf⸗ 
regenden Begebenheit. Das Alter wird philoſophiſcher. Nicht mehr 


Franz Grillparzer. 227 


die Dinge intereſſiren, ſondern ihre Urſachen. Die große Entfaltung 
unſerer Geſchichtswiſſenſchaft legt denſelben Weg zurück. Auf die 
merkwürdigen Thatſachen, die die Phantaſie entzünden, achtet man 
weniger, als auf den ſtillen Grund der Ereigniſſe, auf die wirkenden 
Mächte, die handelnden Charaktere und ihren Bildungsgang, die be⸗ 
ſtimmenden Zuſtände, die den Einzelnen feſſeln. 


IV. 
Wirkung im Leben. 


Eine vollſtändige Geſchichte der Grillparzeriſchen Dichtung müßte 
von den ungedruckten Jugenddramen ausgehen, die mir nicht be- 
kannt ſind. | 

Schon im Vaterhauſe ſpielte Franz Grillparzer mit feinen Brü⸗ 
dern oft Komödie. Es wurden Ritterſtücke aufgeführt, in denen 
einer der Knaben, als Mädchen verkleidet, jedesmal entführt werden 
mußte und ein anderer nur unter der Bedingung mitſpielte, daß eine 
Rauferei vorkam. 

Grillparzers litterariſche Neigungen, welche früh hervortraten, 
fanden zunächſt keine Unterſtützung. Sein Vater hatte dieſelbe Ab⸗ 
neigung gegen mittelmäßige Dichterlinge wie ſpäter der Sohn. 
Doch ſchrieb Franz bereits mit fünfzehn Jahren, angeregt beſonders 
durch Schillers Don Carlos, ſein erſtes Stück: „Blanka von 
„Kaſtilien“. Die Arbeit bekundet — wie Laube berichtet — in den 
erſten Acten ein ungemeines Compoſitionstalent. Gleich in den Ein⸗ 
gangsſcenen iſt eine Spannung errichtet und iſt eine ſo mannigfache 
Verzweigung angelegt, wie ſie wohl ſelten bei einem fünfzehnjährigen 
Dramatiker vorkommen mag. Die zweite Hälfte des Stückes geht 
unverhältnißmäßig ins Breite. | 

Grillparzer zeigte das Stück feinem Onkel, dem Theaterſecretär 
Sonnleithner, der es 1 als zu lang und unbrauchbar wieder 
zurück gab. 

In das ſechzehnte und ſiebzehnte Jahr fallen kleinere Arbeiten, 
kurze Schauſpiele bürgerlichen Themas, und ſie bekunden nach Laube 
ebenfalls ein poſitives dramatiſches Talent in Führung der Hand⸗ 
lung und der Charakteristik. „Mancherlei Anfänge von Stücken, 


15 * 


228 Franz Grillparzer. 


darunter ein heiter angelegter franzöſiſcher Heinrich IV., reichen 
nicht über einzelne Scenen hinaus.“ | 
Eine eigenhändige Notiz aus dem Jahre 1818 beſagt: „Mit 
einer eigenen, unendlich traurigen Empfindung denke ich der Plane, 
die ich einſt in beſſern Tagen machte. Wenn ich mir jetzt die Idee, 
die mich bei der Ausarbeitung des Spartacus begeiſterte, bedenke, ſo 
ſchaudre ich, und es iſt mir kaum begreiflich, ſie je gehabt zu haben.“ 
Inzwiſchen war ſchon die Ahnfrau erſchienen, die am 31. Ja⸗ 
nuar 1817 zuerſt aufgeführt wurde. Sappho folgte am 21. April 
1818. Von „Traum ein Leben“ erſchien der erſte Aufzug im Jahr 
1821, das Ganze wurde zuerſt aufgeführt 4. October 1834. 
Das goldene Vließ iſt 26. und 27. März 1821; König Ottokars 
Glück und Ende 19. Februar 1825; ein treuer Diener ſeines Herrn 
28. Februar 1828; des Meeres und der Liebe Wellen 3. April 1831; 
Weh dem, der lügt! 6. März 1838 zuerſt aufgeführt. Es folgte 
bei Grillparzers Lebzeiten noch der erſte Act der Libuſſa 29. No⸗ 
vember 1840 und die beiden erſten Acte der Eſther am 29. März 1868. 
Der Operntext „Meluſina“, urſprünglich für Beethoven beſtimmt, 
dann von Conradin Kreutzer componirt, ſei hier nur beiläufig er⸗ 
wähnt. Wenn Grillparzer nach dem Volksbuch oder deſſen Tieckſcher 
Erneuerung arbeitete, ſo iſt er ziemlich frei verfahren. Vielleicht liegt 
aber irgend eine andere moderne Nacherzählung zu Grunde. 
Grillparzer ſagt einmal: „Die Jugendeindrücke wird man nicht 
los. Meinen Arbeiten merkt man an, daß ich in der Kindheit mich 
an den Geiſter⸗ und Feen⸗Märchen des Leopoldſtädter Theaters er⸗ 
götzt habe.“ Man wird bei dieſen Worten am eheſten an die Ahn⸗ 
frau und Traum ein Leben denken dürfen. Aber auch das Schauer⸗ 
liche der finſteren Wohnung, worin er ſeine Kindheit verbrachte, die 
weiten Räume, welche ſeine Phantaſie mit Räubern, Zigeunern und 
Geiſtern bevölkerte; dazu das Textbuch der Zauberflöte und die 
Ritterromane von Spieß und Cramer als ein weſentlicher Theil der 
früheſten Lectüre; dann in ſpäterer Zeit die eingehende Beſchäftigung 
mit den ſpaniſchen Dramatikern, an den Tag gelegt unter andern 
durch eine theilweiſe Ueberſetzung von Calderons Leben ein Traum: 
dies alles muß man im Auge haben, um die Ahnfrau richtig zu 
würdigen. | 


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Franz Grillparzer. 229 


Die Ahnfrau. 


Der Stoff erwuchs dem Autor, wie er ſelbſt berichtet, aus zwei 
Erzählungen, einer Räubergeſchichte und einer Geiſtergeſchichte. In 
jener flüchtet ein junger Räuber in ein Schloß, worin ſeine Geliebte 
als Magd wohnt, die keine Ahnung von ſeinem Handwerk hat. In 
der zweiten führt die frappante Aehnlichkeit zwiſchen der Enkelin 
und ihrer Ahnfrau zu allerlei Verwicklungen und Verwechslungen. 
Jene Geliebte und dieſe Enkelin verfloſſen zu einer Figur. Der 
Räuber und Liebhaber iſt ihr Bruder: Motiv aus der Braut von 
Meſſina. Er mordet den Vater: Motiv aus König Oedipus. Die 
That geſchieht mit einem Dolche, an welchem das Verbrechen einer 
früheren Generation derſelben Familie haftet und den man vom Be⸗ 
ginn des Stückes an bedeutungsvoller Stelle gewahrt: Motiv aus 
Werners 24. Februar. 

Dies ungefähr die Elemente des Stoffes, welche ſich in der 
Phantaſie des Dichters gegenſeitig befruchteten. 

Ob das Stück eine eigentliche Schickſaltragödie zu nennen ſei 
oder nicht, auf dieſe Streitfrage laſſe ich mich nicht ein. Grillparzer 
ſelbſt war geneigt, den um das Burgtheater ſo hochverdienten 
Schreyvogel (Weſt) für die Schickſalsidee, ſoweit ſie darin hervor⸗ 
trete, verantwortlich zu machen. Aber die Aenderungen, welche ihm 
Schreyvogel vorſchlug, waren ganz richtig. Wenn die Ahnfrau ein⸗ 
mal da war, ſo mußte ſie irgendwie mit dem Schickſal der Haupt⸗ 
perſonen zuſammenhängen: ſonſt war ſie nur Geſpenſt. Schreyvogel 
gab dem Schauereffect wenigſtens tiefere Bedeutung. 

Das eben iſt nun einmal nicht wegzuläugnen, daß die Ahnfrau 
in eine Reihe tritt mit der um etwa 1815 bis 1825 beliebten Gat⸗ 
tung von Schauerdramen: gehäufte Gräuel, Verwandtenmord und 
Blutſchande, in Bewegung geſetzt durch Misverſtändniß und Zufall. 
Die Schickſaltragödie mit ihrer ganzen Genealogie von Lillos Fatal 


curiosity durch Werners vierundzwanzigſten Februar zu Müllners 


neunundzwanzigſtem und zur „Schuld“ iſt nur ein einzelnes Glied 
dieſer Reihe. | 

Auch Müllners Schuld aber hat auf die Ahnfrau unzweifelhaft 
eingewirkt. Das düſtere Colorit gleich von Anfang an, manche 


230 Franz Grillparzer. 


Aehnlichkeit der Situation, der analytiſche Gang der Handlung er⸗ 
gibt ſich aus dem Weſen des Gegenſtandes. Auch die ſtarkſinnliche, 
heftig begehrende und zur Gewaltthat geneigte Natur deſſen, der 
Schuld auf ſich lädt, iſt in der Sache begründet. Aber dieſer Geiſt 
der Sinnlichkeit über das Ganze gebreitet, auch über die Geliebte, darf 
ſchon als Verwandtſchaft gelten. Und die gleiche Versart mit ſpe⸗ 
ciellen Aehnlichkeiten der Behandlung tritt wohl entſcheidend hinzu.“) 

Den meiſten Stücken jener Gattung iſt das Peinliche der 
Spannung gemeinſam, welches dadurch erzeugt wird, daß Zufälle, 
Misverſtändniſſe und beſtimmte Zeitverhältniſſe, ein Zufrüh oder Zu⸗ 
ſpät — kurz daß keine innere Nothwendigkeit die Verwickelung zu 
einer tragiſchen macht. Dieſer Vorwurf trifft die Ahnfrau in vollem 
Maße. Die verhängnißvolle Enthüllung über Jaromirs Herkunft 
konnte leicht rechtzeitig geſchehen; der Vatermord iſt reiner Zufall; 
Jaromir iſt Räuber ohne ſeine Schuld u. ſ. w. 

Alle derartigen Gebrechen wollen wir aber eben ſo wenig hoch 
anſchlagen, wie die Reminiscenzen, die uns auffallen: die Nacht, 
welche Jaromir mit tauſend Flammenaugen anſtarrt, wie bei Goethe 
die Finſterniß aus dem Geſträuche mit hundert ſchwarzen Augen ſieht; 
die Beſchreibung des Brandes durch den Hauptmann, welche an die 
Schillerſche in der „Glocke“ mahnt. Auch über die mehr als kühne 
Conſtruction: „Theils getödtet, theils gefangen, retteten ſich wenge 
nur“ wollen wir uns hinausſetzen und es mit dem ſonderbaren Be⸗ 
nehmen des Geſpenſtes, jo wie mit der Unwahrſcheinlichkeit der nächt⸗ 
lich improviſirten Verlobung nicht allzu ſtreng nehmen. Vergeſſen 
wir nicht, daß wir es mit einem Jugendwerke zu thun haben, daß 
dieſes Jugendwerk eine techniſche Vollendung zeigt, wie ſie der auf⸗ 
geblaſene Müllner und ſeinesgleichen entfernt auch nie erreichten, daß 
es alle Dramen ähnlichen Zuſchnitts ſofort in tiefen Schatten ſtellte, 
und als das einzige der ganzen Gattung auf die Späterlebenden ge⸗ 
kommen iſt, daß es endlich in unglaublich kurzer Zeit entſtanden war. 


* Ich meine nicht blos die vierfüßigen Trochäen, welche Grillparzer den 
Spaniern unmittelbar entlehnen konnte. Aber Halbverſe, wie S. 10 (6. Auflage): 
In das ungeheure Grab 

Schwarz herab 


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Franz Grillparzer. 231 


Als ſich Grillparzer mit dem Stoff der Ahnfrau trug, lernte er 


Schreyvogel kennen. Ihm erzählte er den Stoff, und Schreyvogel 


rief entzückt: „Das Stück iſt fertig, Sie brauchen es nur niederzu⸗ 
ſchreiben!“ Dennoch trat über anderen Begebenheiten und Intereſſen 
der Tragödienſtoff in den Hintergrund und war faſt vergeſſen, als 


eine neue Mahnung Schreyvogels ihn wieder belebte. Deſſelben Abends 


vor dem Schlafengehen ſchrieb der Dichter die erſten acht bis zehn 
Verſe nieder, welche der Graf im Anfang ſpricht. Als er nach ſehr 
verworrenen Träumen Morgens erwachte, wußte er nicht, wie ihm 
geſchah. Er hatte das Gefühl einer herannahenden Krankheit. Doch 
ſtand er auf, wuſch ſich und frühſtückte. Als er ſich ſodann auf 
ſeinen Seſſel ſetzte, fiel ihm das Papier in die Augen — er hatte 


ganz vergeſſen, daß er geſtern dieſe Verſe geſchrieben. In der größten 
Agitation ſchrieb er fort: ſeine Mutter rief ihn zum Eſſen, doch er 


hatte ſich eingeſchloſſen und ſchrieb weiter bis fünf Uhr Nachmittags; 
dann rannte er um die Baſteien und konnte erſt ſpät etwas zu ſich 
nehmen. Des anderen Tages dieſelbe Erſcheinung, in drei oder vier 
Tagen war der erſte Act, binnen ſechzehn Tagen etwa das Ganze 
fertig. Dabei befiel ihn in der That Geſpenſterfurcht. „Ich kann 
ſagen — bemerkte Grillparzer — daß ich das ganze Stück wie im 
Fieber dichtete: es iſt rein phyſiſch entſtanden, alles ſchwebte mir ſo 


S. 44: Engel ſah ich an der Schwelle 
Und die Hölle 
Hauſet drin! 
S. 68: Greiſe zagend, 
Weiber klagend, 
Kinder weinend 
erinnern doch gar zu beſtimmt an Aehnliches in der Schuld, z. B. gleich in 
Elvirens Monolog (1. Act. 1. Scene): 
i Bis es fern am Blumenſtrand 
Still verſchwand. 
oder: Und der Riß geſpaltner Saiten 
Iſt ein Schall 
Der den Fall 
\ Eines Menſchen kann bedeuten. 
Ebenſo in Hugos Erzählung II. 1. Vergl. auch Ottos Erzählung III. 1; 
ferner Hugos Rede III. 2; ſeinen Monolog IV. 5. 


232 Franz Grillparzer. 


lebhaft vor, daß ich eigentlich nur niederzuſchreiben brauchte, was 
ich hörte.“ 

Es iſt etwas übergegangen von dieſem Fieber auf das Stück. 
Welches athemloſe Forteilen, welche coloſſale Steigerung bis zum 
Schluß! Der Gipfelpunct wohl jene furchtbare Scene, wie Jaromir 
ſich gegen die entſetzliche Erkenntniß, daß er ſeinen Vater ermordet, 
ſträubt, indem er die Liebe zur Schweſter in ſich aufſtachelt und 
gegen die Thatſachen halb wahnſinnig ankämpft. Grillparzer hat 
nichts mehr geſchrieben von dieſer großartigen Gewalt der Leidenſchaft, 
von ſo titaniſchem Trotz und Auflehnung gegen das Schickſal. 

Die vierfüßigen Trochäen und der ſpaniſche Ton paſſen dazu 
ausgezeichnet. Die dadurch gegebene feſte Form der Sprache und 
des Styls, die glühende declamirende Rhetorik mit ihren langathmigen 
Ausbrüchen und endloſen Anaphern machen die Tragödie zu einem 
ganz einheitlichen Product voll ſüdlichen Feuers. Siedend heißes 
Blut ſcheint in den Adern der Hauptperſonen zu rollen. 

Eigentliche Charakteriſtik findet ſich, wie öfter hervorgehoben, 
nicht. Die Charaktere ſind nur Hebel der Handlung ohne ſelbſtän⸗ 
dige Bedeutung. Jede Figur iſt auf Eine Stimmung gebaut. Düſter, 
ſchwermüthig, lebensſatt, voll banger Ahnung Borotin. Jaromir und 
Bertha aber zwei Naturen von übermächtiger Leidenſchaft und Sinn⸗ 
lichkeit. „Wie ſie glüht, wie es ſie hinüberzieht — ſagt der Graf 
von ſeiner Tochter — Aller Widerſtand genommen und im Strudel 
fortgeſchwommen.“ Und Jaromir iſt wie gefoltert von Liebesqualen: 
„Gefühle die noch ſchliefen, ſchütteln ſich und werden wach.“ — 
„Woher dieſe heiße Gier, die mich flammend treibt zu ihr?“ 

Außer dieſer Leidenſchaftlichkeit und dem daraus entſpringenden 
raſenden Glücksverlangen eines dem Geſchick Verfallenen kommt nichts 
zum Vorſchein. Nur bei Jaromir liegt ein pſychologiſches Problem 
vor: die urſprünglich gute und edle Natur ſoll in dem Räuber durch⸗ 
brechen. Man ſoll die Ueberzeugung haben, daß er jetzt ein beſſerer 
Menſch ſein würde. Aber auch dies wird nur in rhetoriſchen Ber- 
ſicherungen abgemacht, und es könnte gar nicht anders fein: jedes aus⸗ 
führlichere Pſychologiſiren würde den raſchen Gang des Stückes 
unterbrechen, der den Zuſchauer kaum einmal zur Beſinnung kommen 
läßt. 


Franz Grillparzer. 233 


Sappho. 


Als die Ahnfrau durchſchlagenden Erfolg erzielte, mußte Grill— 
parzer wohl die Bemerkung hören: ja, mit Geſpenſtern und Vater⸗ 
mördern könne man leicht Wirkung machen. Er wollte zeigen, daß 
er ſolcher Mittel nicht bedürfe, und daher kam es, daß die Sappho 
ſo einfach wurde. 

Die nähere Veranlaſſung dazu aber war folgende. Auf dem 
Wege nach dem Prater wurde ihm von einem Bekannten der Vor⸗ 
ſchlag gemacht, einen Operntext „Sappho“ für den Componiſten 
Weigl zu ſchreiben. Grillparzer ſagte Nein; aber der Name Sappho 
fiel befruchtend in ſeine Seele, und wie er einſam in den Prater tief 
hinein wandelte, hat ſich ihm der Stoff entwickelt und gegliedert, 
dergeſtalt leicht, natürlich und vollſtändig, daß er bei der Rückkehr in 
die Stadt die ganze Tragödie vor ſich geſehen. Sogleich machte er 
ſich ans Schreiben und in drei Wochen war das Stück fertig. 

Welche inneren Gründe zu der Auffaſſung und Ausgeſtaltung 
des Stoffes mitwirkten, haben wir bereits oben geſehen. Auch die 
Corinne der Frau von Stael dürfte darauf von Einfluß geweſen ſein. 

Soweit das Sujet im Alterthum dramatiſch bearbeitet wurde, 
war es ein Komödienſtoff, der mit den Lebensumſtänden ver hifto- 
riſchen Sappho ſehr wenig zu thun hatte. Phaon iſt ein alter Fähr⸗ 
mann, der durch eine Schönheitsſalbe Aphroditens ſich verjüngt und 
von Liebesanfechtungen der Weiber nun ſehr zu leiden hat. Sappho 
ihrerſeits iſt über die Jahre des Reizes ſtark hinaus und da ihre 
Liebe keine Erwiderung findet, ſo ſtürzt ſie ſich vom leukadiſchen 
Felſen, dem die Sage Heilkraft gegen Liebesſchmerzen zuſchrieb. Der 
Sprung wirkte wie ein abkühlendes Bad und konnte mit beſtem Er⸗ 
folg auch mehrmals gebraucht werden. 

Wie nun aber ſchon das ſpätere Alterthum die Sache tragiſch 
nahm, jo hielt es auch die neuere Zeit damit. In unſerem Jahr⸗ 
hundert haben, ſcheints, beſonders die italieniſchen Dramatiker den 
Stoff mit Vorliebe behandelt, ſo Stanisl. Marchiſio 1808, Tommaſo 
Arabia 1856. Pacini hat ein Libretto von Salvad. Cammarano 
componirt, und nur dieſes iſt mir bekannt: es ſcheint unter Einwir⸗ 
kung des Grillparzeriſchen Stückes zu ſtehen. Ganz frei benutzte im 


234 Franz Grillparzer. 


ſechzehnten Jahrhundert der Engländer John Lilly den Stoff, indem 
er die Königin Eliſabeth als Sappho feierte und ſie aus dem Kampf mit 
Venus, die ihr Phaons Herz entreißen möchte, ſiegreich hervorgehen läßt. 

Es will mir nun ſcheinen, daß Grillparzer, ſo ſtreng er auch 


den tragiſchen Conflict aus dem Weſen der betheiligten Charaktere 


entwickelt hat, doch des Stoffes nicht vollkommen Herr geworden iſt. 
Der Sprung vom Felſen behält immer etwas im ſchlimmen Sinne 
Theatraliſches. Grillparzer hat viel gethan, um ihn zu motiviren. 
Aber wir empfinden keine ſolche Gewalt der Leidenſchaft, daß wir 
überzeugt wären, Sappho könne nicht weiter leben. Ja die Geſtalt 


der Sappho im Ganzen hat etwas unwillkürlich zur Parodie Heraus⸗ 


forderndes: das alte Luſtſpielmotiv ſchlägt noch ein wenig durch. 

Der Engländer Robinſon nannte Grillparzers Sappho eine 
widerwärtige Tragödie (Ein Engländer über deutſches Geiſtesleben, 
Weimar 1871, S. 313). Ich weiß nicht, was ihn zu dieſem harten 
Urtheil bewog. Aber ich geſtehe, daß auch mir etwas an dem Stücke 
widerſtrebt. Man iſt überraſcht zu entdecken, daß ein Künſtler, wie 
Grillparzer, nicht höher von der Kunſt denkt. Man könnte glauben, 
Phaons Vater habe die Tragödie geſchrieben, der nach der Verſiche⸗ 
rung ſeines Sohnes (II. 1) das moderne Vorurtheil gegen Schau⸗ 
ſpielerinnen und Sängerinnen theilt. Es iſt, als ob von vornherein 
bei Allem, was Sappho thut, eine kritiſche Stimme im Hintergrund 
das Wort „unweiblich“ misbilligend ausſpräche. Und dies „Unweib⸗ 
liche“ iſt ihre Schuld. 

Ueber den Charakter Phaons und über Sapphos unbegreifliche 
Verblendung, an dieſem äſthetiſch begeiſterten Philiſter und moraliſch 
angehauchten Courmacher ſo leidenſchaftlich zu hängen, iſt von An⸗ 
deren genug geredet worden. Trotz alledem iſt es ein ausgezeichnetes 
Stück, das Werk eines überlegenen dramatiſchen Genius, eine Tra⸗ 
gödie von ſicherer Bühnenwirkung, in dem Ebenmaß feinſter Charakte⸗ 
riſtik und unaufhaltſam fortſchreitender Handlung vielleicht das Beſte, 
was dem Dichter gelungen. 


Der Traum ein Leben. 


Ueber dieſes „dramatiſirte Märchen“ iſt hier nur Weniges nach⸗ 


zutragen. Es hat, ſchon durch die Natur des Stoffes, den Zuſchnitt 


Franz Grillparzer. 235 


eines Intrigenſtückes gewonnen. Zanga, der Intrigant, iſt der ganz 
gewöhnliche Verführer und Böſewicht, der vor keiner Unthat zurück⸗ 
ſchreckt und vorwärts, vorwärts drängt. Dem entſprechend ſtellt ſich 
Ruſtan als ein ſchwacher leidenſchaftlicher Menſch dar, deſſen Phan⸗ 
taſie, durch Zanga aufgeregt, ihn fortreißt, deſſen gutes Herz übri⸗ 
gens unter ſeinem eigenen Thatendurſte leidet. Das entſcheidende 
pſychologiſche Moment, wie das Böſe in ihm Macht erhält, iſt ſehr 
kurz abgemacht. Es iſt nur die zwingende Situation geſchaffen, in 
der er wählen muß und ſich auf die Seite des ſchrankenloſen Ehr⸗ 
geizes ſchlägt. Die daran geknüpften Erfahrungen des Traumes 
ſtimmen ihn dann entgegengeſetzt. Wir erkennen dies überall als 
Grillparzers Methode, die ſich für den dramatiſchen Zug der Hand⸗ 
lung ſehr vortheilhaft erweiſt und mit der Natur übereinſtimmt. 
Wir bekommen nicht lange Monologe zu hören mit „ſoll ich — oder 
ſoll ich nicht.“ Wir ſehen, wie die Entſcheidung fällt, und es iſt 
uns genug Material an die Hand gegeben, um zu beurtheilen, warum 
ſie ſo und nicht anders erfolgen mußte. 

Techniſch zeichnet ſich das „Märchen“ durch die Sorgfalt aus, 
mit welcher Grillparzer das Weſen des Traumes ſtudirt und wieder⸗ 
gegeben hat. Er liefert uns in den Expoſitionsſcenen alle Elemente, 
mit denen die Phantaſie im Schlafe arbeitet. Und das Schwankende 
der Traumgeſtalten, wie ſie an die Wirklichkeit erinnern, mit ihr 
verfließen und doch wieder ſich loslöſen, und der Zweifel des Träu⸗ 
menden, der Abbild und Vorbild vergleicht und es über vage Erinne⸗ 
rung doch nie hinausbringt — das Alles iſt vortrefflich. 


— * 


Das goldene Vließ. 


Die Gewalt dieſes alten Mythus iſt dem Dichter aus Hederichs 
mythologiſchem Lexikon nahegetreten, das er einſt an einem trüben 
regneriſchen Sommernachmittage zu Baden in die Hand bekam. In 
der concentrirteſten, auf die weſentlichſten Grundzüge gebrachten Ge⸗ 
ſtalt hat ihn der Stoff gepackt. 

Er hat damit unbewußt eine Idee Schillers ausgeführt, der am 
28ſten Auguſt 1798 über die antike Fabelſammlung des Hygin, 
welche er eben durchlieſt, an Goethe die Bemerkung ſchreibt: „Für 


236 a Franz Grillparzer. 


den tragiſchen Dichter ſtecken noch die herrlichſten Stoffe darin, doch 
ragt beſonders die Medea vor, aber in ihrer ganzen Geſchichte und 
als Cyklus müßte man ſie brauchen.“ 

Das hat meines Wiſſens außer Grillparzer Niet gethan. 
Inſofern ſind der erſte und zweite Theil das Eigenthümlichſte: dieſer 
beherrſcht durch Jaſons jugendlich glänzende Erſcheinung und über⸗ 
ſprudelnde Thatkraft; jener in großen Zügen Barbarenthum und 
Griechenthum einander gegenüberſtellend. Die Art, wie wir in 
Kolchis eingeführt werden, die religiöſe Ceremonie, mit der das Stück 
ſich eröffnet, erinnert an Lopes El nuevo mundo und die Schilde⸗ 
rung der Indianer, zu denen Columbus kommt. 

Der dritte Theil „Medea“ dagegen iſt ein vielbehandelter Stoff. 
Alle Bearbeitungen gehen mehr oder weniger auf Euripides zurück. 
Wie ſich zu dieſem Seneca verhält und wie Corneille zu beiden, das 
haben wir hier nicht zu unterſuchen. Corneille führte zuerſt die 
Kreuſa als mithandelnde Perſon ein und der Italiener Gaſparo Gozzi 
im vorigen Jahrhundert folgte ihm darin nach. Auch Grillparzer 
konnte ſie natürlich nicht entbehren und wie er aus ihr ein Gegen⸗ 
bild der Medea machte, haben wir bereits erwogen. Sonſt iſt er im 
weſentlichen mit dem euripideiſchen Perſonal ausgekommen und hat 
es nur durch Nebenfiguren, wie den Herold der Amphiktyonen und 
den Landmann des erſten und fünften Actes, vermehrt. Dafür hat 
er andere Nebenperſonen weggeſchafft und auch den Aegeus, den 
ſchon Seneca beſeitigte, aber Corneille wieder aufnahm, fallen gelaſſen. 

Dem Geiſte des modernen Dramas gemäß gibt Grillparzer 
nicht, wie Euripides, blos die Kataſtrophe, ſondern auch was zunächſt 
vorangeht. Er beginnt nicht mit der Thatſache, daß Jaſon die Kreuſa 
heirathen will und — was ſich gleich dazugeſellt — daß ein Macht⸗ 
ſpruch des Königs Medea und ihre Kinder verbannt. Medea iſt 
auch nicht von vornherein die wüthige, ſchreckliche. Sondern es wird 
gezeigt, wie es zu dem allen kam. Die Charaktere wirken nicht in 
fertiger Ausprägung ſtarr gegen einander, ſondern ſie enthüllen ſich 
nach und nach mit der wechſelnden, geſteigerten, geſpannteren Situation. 
Dieſe iſt nicht blos ihr eigenes Werk, ſondern vielfach auch das Werk 
der Umſtände. Die ſorgfältige Motivirung iſt auf Milderung der 
Schuld gerichtet, nicht blos bei Medea, auch bei Jaſon, ja bei Kreon. 


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Franz Grillparzer. 237 


Euripides' Jaſon iſt ein proſaiſcher Menſch, ein klug verſtändig 
ſorgender, dem ideale Motive fremd, und der mit Härte das Zwed- 
mäßige durchführt. Er hat um die korinthiſche Königstochter geworben: 


Auf daß wir ehrſam leben, was das Wichtigſte, 

Und keinen Mangel dulden (leider ſeh ich ja: 

Dem armen Mann geht jeder Freund gern aus dem Weg!) 
Und unſre Söhne würdig unſres Stamms erziehn. 


Grillparzers Jaſon theilt dieſe Eigenſchaft, ſtellt ſich aber als 
eine ausgeführte um Vieles bereicherte Charakterſtudie des männlichen 
Egoiſten dar. 


Nur Er iſt da, Er in der weiten Welt, 

Und alles andre nichts, als Stoff zu Thaten. 

Voll Selbſtheit, nicht des Nutzens, doch des Sinns, 
Spielt er mit ſeinem und der andern Glück: 

Lockts ihn nach Ruhm, ſo ſchlägt er einen todt, 
Will er ein Weib, ſo holt er eine ſich, 

Was auch darüber bricht, was kümmerts ihn! 

Er thut nur recht, doch recht iſt, was er will. 


Er iſt, wie geſagt, ein Egoiſt. Raſch begehrend, kühn erobernd, 
ſanft einſchmeichelnd, ſolange das Weib zum Zwecke dient. Dann 
iſt fie ihm nur Hinderniß. Er hat herausgeſtrebt aus der Gewöhn⸗ 
lichkeit, von Heldenſinn, von Ehrgeiz getrieben. Er wollte Großes, 
er ſah ſich von ganz Griechenland umjubelt bei dem kühnen Unter⸗ 
nehmen. Jetzt kehrt er zurück und wird gemieden oder nicht gekannt. 
Er erträgt es nicht. Medea iſt ihm zur Laſt, aber er hat zuerſt 
noch ein gewiſſes Pflichtgefühl, noch Anfälle von Männlichkeit, er 
will ſich nicht von ihr trennen. Immer lockender aber ſteigt die 
glückliche Jugend vor ihm auf, Kreuſas Bild zaubert ſie ihm empor; 
immer verhaßter wird ihm Medea. Der Welt und ihrem Urtheil zu 
trotzen vermag er nicht. Sein Pflichtgefühl hält nicht weiter vor. 
Er will ſie ganz einfach los ſein. Er ſehnt ſich nach einem ſtillen, 
ſchuldloſen, häuslichen Glück. Er verläugnet ſeine früheren Ideale. 
Der Knabe iſt ein Mann geworden 


Und nicht mehr kindiſch mit den Blüten ſpielend 
Greift er nach Frucht, nach Wirklichkeit, Beſtand. 


238 Franz Grillparzer. 


Die Kinder ſind mir, und kein Ort für ſie, 
Beſitzthum muß ich meinen Enkeln werben. 
Soll Jaſons Stamm, ein trocknes Heidekraut, 
Am Wege ſtehn, vom Wanderer getreten? 


Da haben wir den Euripideiſchen Philiſter. Aber dieſer hier be⸗ 
gehrt nicht einmal die geliebte Kreuſa in ſtolzem, rückſichtsloſem Ent⸗ 
ſchluſſe. Sondern der König will es, er verkündets, Jaſon fügt ſich 
ſchweigend und wagt vor Medea nicht einmal ſeine Liebe zu geſtehen. 

Bei Euripides iſt Medea nicht von vornherein gemieden, ſon⸗ 
dern im Gegentheil geachtet in Korinth. Hiedurch wird Jaſons 
Frevel größer. Es ſind eben durchweg entſchiedenere, ſtärkere, willens⸗ 
kräftigere Menſchen bei Euripides. Hier iſt ihnen Allen ein Element 
von Schwäche beigeſellt. Auch Medea hat Gefühlsmomente, in denen 
ſie zerſchmilzt. Und nicht blos den Kindern gegenüber, bei deren 
Anblick ſie eingedenk der geplanten Rache auch vet Euripides in 
Thränen ausbricht. 

Grillparzer wagt es eben nicht, Medeen als das antike Grauen⸗ 
bild hinzuſtellen. Sie hat nicht ihren Bruder Abſyrtus wirklich zer⸗ 
ſtückelt, ſie iſt nur indirect Urſache ſeines Todes. Sie hat auch den 
Pelias nicht wirklich ermordet, ſondern nur die verhängnißvolle Situa⸗ 
tion, das unglückſelige Vließ, das ſie dämoniſch anzieht, iſt daran ſchuld. 

Der Gegenſatz von Barbarenthum und Griechenthum, der die 
ganze Trilogie durchzieht, bekämpft ſich echt tragiſch in Medeens 
Bruſt. Die unheilvolle kolchiſche Zauberwelt, durch das Vließ, durch 
alles magiſche Geräth, durch Gora hereinragend in die Gegenwart 
— das iſt die dunkle Region, aus der ſie herausſtrebt und in die ſie 
durch die Gewalt der Umſtände nur um ſo viel tiefer noch zurück⸗ 
geſtoßen wird. Ihr redliches Wollen wird zu ſchanden. Der Um⸗ 
ſchwung kommt von außen: der durch die Amphiktyonen verhängte 
Bann. Dieſer aber beruht auf einer falſchen Anſicht von dem Sach⸗ 
verhalt bei Pelias Tod. So greift denn wieder hier das Mis⸗ 
verſtändniß ein. Und deſſen Aufklärung durch Medea hilft ihr 
nichts mehr. | 

Bei Euripides ſollen die Kinder mit verbannt werden, Medea 
ſelbſt bittet, daß man ſie in Korinth laſſe. Bei Grillparzer iſt ge⸗ 
rade dies ein weiteres entſcheidendes Moment, daß man ihr die Kinder 


CCC 


Ener 


Franz Grillparzer. 239 


nicht laſſen will. Sie erbittet bei dem auch hier ſchwachen Jaſon, daß 
ihr eines übergeben werde, das ihr freiwillig folgt. Da zeigt ſich, daß ſie 
das Herz ihrer Kinder verloren. Sie wenden ſich beide von ihr ab. 

Dies erſt zeitigt den furchtbaren Mordgedanken. Sie haßt die 
Kinder jetzt. In einer früheren Unterredung mit der unheimlichen 
Gora war die Vorſtellung der Rache aufgetaucht, ſie hat ſie ſchau⸗ 
dernd von ſich gewieſen. Jetzt kehrt ſie ſelbſt dazu zurück und läßt 
ſie in ſich groß werden. Während Gora früher ſchürte, ſteht ſie jetzt 
ſcheu neben der Herrin. 

Aber die Ausführung ſelbſt wird doch erſt wieder von außen — 
durch die zufällige Auffindung der Kiſte — entſchieden. Und Kreons 
Verlangen nach dem goldenen Vließ wirkt dabei mit. 

Kreon iſt unſchuldig. Er hat nur Jaſons Beſtes gewollt. Deß⸗ 


halb ſucht er ihn von Medea zu trennen und neu an ſich zu feſſeln. 


Deßhalb, als Unterpfand künftiger neuer Größe, nicht etwa aus Hab- 
ſucht, verlangt er für ihn das goldene Vließ — und befördert gerade 
dadurch die Rache. 

Daß Medea, nachdem fie an Kreuſa die unheilvolle Gabe ge⸗ 


ſchickt hat, ſich in Träumereien verliert, ſcheint mir nicht recht natür⸗ 


lich. Sollten ſich nicht ihre Gedanken mit angſtvoller Spannung an 
Goras Schritte heften? Grillparzer hat dadurch wieder für den Mord 


der Kinder die zwingende Situation geſchaffen, die wenigſtens Medea 


ſo empfindet. Sie täuſcht ſich und den Zuſchauer mit den Betrach⸗ 
tungen über das Märchen ihres Lebens. Sie thut, als ob ſie noch 
die Wahl hätte. Erſt mit Goras Entſetzensrufen fühlt ſie ſich den 
Rückweg abgeſchnitten. a 

Das Ganze iſt nun freilich weniger furchtbar, als wenn bei 
Euripides Medea den Kindern mit dem fertigen Entſchluß des Mordes 
entgegentritt und dann, ſowie ſie ſie vor ſich ſieht, den Muth nicht 
findet und ſich doch wieder aufrafft und wieder ſchwankt, und aber⸗ 
mals beſchließt und ſie mit Zärtlichkeiten überhäuft und ſelbſt von 
Schmerz überwältigt wird, und hierauf mit Wolluſt den Bericht von 
dem grauſen Ende der Nebenbuhlerin entgegennimmt und ſodann mit 
Ruhe und klarem Wollen, alle mütterliche Empfindung zurückdrängend, 
ihrer gräßlichen That ſich zuwendet. Bald hört man die Angſtrufe, 
bald das Todesgeſchrei hinter der Scene. 


240 Franz Grillparzer. 


Das Stück ſchließt bei Grillparzer wie bei Euripides mit einer 


letzten Unterredung zwiſchen Jaſon und Medea. Verwandte Gedanken 
klingen an. So wenn Euripides' Jaſon ausruft „O theuerſte Söhne!“ 
und Medea darauf: „Der Mutter ſind ſie es, nicht dir.“ Bei 
Grillparzer: 
Jaſon. 
Wo haſt du meine Kinder? 


Medea. 
Meine ſinds! 

Aber während die Beiden beim Euripides ſich nichts zu ſagen 
haben als die alten Schmähungen und bitteren Vorwürfe — und 
dann Medea ruhig auf ihrem Drachenwagen zu Aegeus abfährt, in⸗ 
dem ſie Jaſon ein übles Ende prophezeit: ſo hat Grillparzer nach 
einem edleren Abſchluß geſucht, der einer Sühne gleichkommt. Sie 


ſind beide vernichtet. Tragen, dulden, büßen iſt ihr Loos. Tragen, 


dulden, büßen: darin klingt das Stück aus. Und daß Medea auch hier 
noch die Größere iſt, das verſöhnt uns einigermaßen mit ihr. 

So endet die Trilogie, welcher Grillparzer mit Recht den Namen 
des goldenen Vließes gegeben hat. Das Vrließ iſt ein zauberhaftes 


Symbol, wie ein Unterpfand des Glückes wird es heftig erſtrebt und 


dem, der es gewinnt, bringt es Unheil. An allem Schrecklichen, das 
geſchieht, hat es heimlich Antheil. Es ſcheint perſönlich mit zu brauen 
an dem entſetzlichen Geſchick. Dem Dichter könnte dabei der Nibe⸗ 
lungenhort vorgeſchwebt haben, der ſich ähnlich unheilbringend vom 
Anfang bis zu Ende durch die deutſche Sage zieht. 


König Ottokars Glück und Ende. 


Auch dieſen Stoff hat Grillparzer nicht als der Erſte behandelt. 
Unter andern iſt ihm 1594 Georg Calaminus, Gymnaſiallehrer zu 
Linz, mit einem lateiniſchen Drama: Rudolphottocarus, austriaca 
tragoedia vorangegangen. Es war dem Kaiſer Rudolf II. gewidmet 
und iſt eine gelehrte Geſchichtsſtudie in dramatiſcher Faſſung. Jeder 
Scene folgen Anmerkungen mit den Quellennachweiſen. Uebrigens 
iſt die damals gebräuchliche dramatiſche Form feſtgehalten, jeder Act 
ſchließt mit einem Chorgeſang. Die Handlung beginnt mit den That⸗ 


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RETTEN RER NO SEEN 


Franz Grillparzer. 241 


ſachen, welche Grillparzer im vierten Aufzuge behandelt. Was vor⸗ 
ausging, wird erzählt. | 

Man könnte hie und da glauben, Grillparzer habe dieſe alte 
„öſterreichiſche Tragödie“ gekannt und benutzt, wenn ſich nicht bald 
zeigte, daß die Uebereinſtimmung auf den Beiden gleich zugänglichen 
Nachrichten der Geſchichte beruht. 

Grillparzers Ottokar iſt in allen weſentlichen Thatſachen hiſtoriſch, 
d. h. auf alte Ueberlieferungen gegründet, welche darum noch nicht 
wahr zu ſein brauchen. Der ganze Verlauf von Ottokars Schickſal 
war gegeben, ebenſo das Liebesverhältniß zwiſchen Kunigunde und 
Zawiſch und die Epiſode vom alten Merenberg.) Der junge 
Merenberg und Bertha von Roſenberg ſind Erfindungen des Dichters. 
Sehr glückliche Erfindungen, denn mit einem Schlage war ſo die 
Feindſchaft der Roſenberge motivirt und es war dem König ein per⸗ 
ſönlicher Feind gegeben, der ihn in der Schlacht erſchlägt und dabei 


) Die Gefangennahme zu Anfang des dritten Actes ganz nach der Keim: 
chronik Cap. 99, nur daß Herbott von Füllenſtein ſtatt des Dürnholzers geſetzt 
iſt: Von dem Durnholz der Wolf mit herren Ortolf von Windischgrez daz 
an truog daz er der Treu ab sluog hals unde hende. oweè der missewende 
daz er sich ie sö vergaz! wan dé der Merenberger az näch seiner pet 
sein bröt, do brächt er in in nöt, wan er in ob dem tische vieng. 

Wenn Ottokar dann im vierten Act bei Grillparzer befiehlt: „Werft ihn in 
tiefſten Thurm, und wer mir meldet: der Merenberg iſt todt, der ſei willkommen!“ 
fo iſt das wieder der Reimchronik nachgebildet, wo — nur vor der Gefangen- 
nahme — Ottokar Jedem, der den Merenberger finge, Alles verſpricht, was er 
irgend verlange. Wenn aber die Quelle nachher berichtet, der König habe den 
alten Mann von einem Pferde ſchleifen und an den Galgen ſchmieden“ laſſen, wo 
ihn in der zweiten Nacht ein Suppan mit dem Kolben todt ſchlug: jo hat Grill: 
parzer dieſe Grauſamkeit nicht mit aufgenommen. Ottokar ſcheint jenes harte 
Wort, das zur Tödtung auffordert, nicht mit Ueberlegung geſprochen zu haben. 
„Der alte Mann mag hart im Kerker ruhn!“ Und er befiehlt ihm ritterliche 
Haft zu geben. Gleich aber kommt die Meldung über Merenberg: 


Als er nicht ſchwieg und alle Welt verklagte, 
Stieß ihn ein Scupan hart den Thurm hinab; 
Er wirds nicht überleben, glaubt man faſt! 


Und ſo iſt es. — Grillparzers charakteriſtiſche Tendenz zur Milderung ver⸗ 
läugnet ſich auch hier nicht. x 
Scherer, Vorträge. 16 


242 Franz Grillparzer. | 


ein Rächeramt erfüllt. Zugleich ſtimmt die Sache zu einem über⸗ 
lieferten Charakterzuge Ottokars, zu ſeinen vielfältigen Liebeshändeln. 
Und es iſt die Auffaſſung der alten Hauptquelle Grillparzers, daß 
der König hierfür durch die Untreue ſeines Weibes geſtraft wurde. 
Ebendort findet ſich die Andeutung, daß ein Verwandter des Meren⸗ 
bergers dem gefangenen Ottokar einen Meſſerſtich verſetzt habe. 

Dieſe Hauptquelle Grillparzers war die ſteiriſche Reimchronik 
des ſog. Ottokar von Horneck. 

Hierauf hat bereits Lorenz (Deutſche Geſchichte I. 226. 227) 
hingewieſen und insbeſondere darauf aufmerkſam gemacht, daß ſchon 
die alte Reimchronik eine Verurtheilung der Eheſcheidung des Königs 
liefert, daß auch dort alles ſpätere Unglück wie eine Folge jenes 
Schrittes hingeſtellt wird. Dadurch war Grillparzer der Ausgangs⸗ 
punct gegeben. Mit der Verſtoßung Margarethens, an deren Cha⸗ 
rakter und Schickſal die Ideen des Rechts und der Treue unwandel⸗ 
bar geknüpft ſcheinen, beginnt Ottokars Schuld. Dieſe ließ ſich der⸗ 
geſtalt greifbar an einer beſtimmten Perſon anſchaulich machen. 

Der Dichter hat nun aber die Reimchronik auch ſehr im Ein⸗ 
zelnen benutzt. Das Geſpräch im Lager zwiſchen Ottokar und ſeinem 
Kanzler z. B. lag ihm darin faſt als fertige Scene vor. Nachdem 
die Vorſtellungen Biſchof Brauns von Olmütz zu einer kräftigen 
Steigerung gebracht ſind, heißt es: „Nun erſt erſchrak der König, 
das Haupt ſank ihm nieder, lang ſaß er und ſchwieg, und als er 
wieder aufblickte, ſprach er zu dem Biſchof: Herr, ich will euch 
folgen; wie ſehr ich auch erzürnt bin, das will ich fahren laſſen, 
wofern ihr mich darin ſchützt 


Daß die Sühn' alſo geſchehe 
Daß man mir Ehre daran jehe (zugeftehe).“ 


Man ſieht, die Worte der Quelle, welche der neuere Dichter 
vielleicht ſchärfer auffaßte, als ſie zu nehmen ſind, enthielten den 
Anlaß zu dem abenteuerlichen und kindiſchen Vorſatz des Grillparze⸗ 
riſchen Ottokar, dem Habsburger durch den Glanz ſeiner äußeren 
Erſcheinung imponiren zu wollen. 

Das Motiv zur folgenden Scene gewährten abermals die Worte 
des Chroniſten: 


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e e ZB a 


Franz Grillparzer. 243 


Da wurde das Gedränge groß, 

Da man den Fürſten Zagheit bloß 
Sah über den Söller gehn 

Und vor dem König Rudolf ſtehn. 
Der ſaß ſtill an ſeiner Statt. 


Da bittet ihn Ottokar um die Lehen und knieend empfängt er 
ſie mit dem Scepter. Der Contraſt zwiſchen den beiden Fürſten 
wird im Sinne Grillparzers näher ausgeführt durch die Chronik von 
Kolmar: Ottokar kommt mit vielen Rittern und Roſſen, mit vergol⸗ 
deten Gewändern und edlen Steinen geziert. Rudolf erſchien in 
ſeinem grauen Wams niedrig und gewöhnlich und ſaß auf einem 
Schemel. Das Eingreifen Zawiſch', des Intriganten in Grillparzers 
Stück, der den Vorhang des Zeltes aufreißt, iſt Erfindung des 
modernen Dichters. 

Die ſteiriſche Reimchronik erzählt ferner, daß König Ottokar 
von Böhmen „der ellenhaft“ (d. h. der mannhafte; — verſtand 
Grillparzer: der elende, unglückliche?) ein ganzes Jahr lang ſich in 
Mähren aufhielt und nicht nach Prag zurückkehrte. Als er aber end⸗ 
lich in ſeiner Hauptſtadt ſich einfand und ſein friedliches Abkommen 
mit Rudolf der Königin bekannt wurde, da fuhr ſie ihn übel an. 

Es folgt nun eine Rede, welche Grillparzer zum Theil wörtlich 
benutzt hat. | 


Auf unſern Steppen ift ein Thier, heißt Maulthier, 
Wenn das den Wolf von weitem kommen ſieht, 
So rert es laut, ſchlägt aus nach allen Seiten, 
Die Erde wirfts in weiten Wirbeln auf; 

Doch naht der Wolf, da bleibt es zitternd ſtehn, 
Und läßt ſich ohne Widerſtand erwürgen: 

So faſt hat dieſer König auch gethan! 


Ganz nach der Chronik, wo die Königin zu Ottokar ſagt: Ihr habt 
euch grade benommen wie ich höre, daß das Maulröſſel thut: 


Das iſt der Art und hat den Muth, 
Wenn es den Wolf von weitem ſchmeckt, 
Es bäumt ſich auf und reckt, 
Und ſchlägt aus hinten und vorn, 
Hauend mit geſpitzten Ohrn 
Mit lauter Stimm' es rert, 
16 * 


244 Franz Grillparzer. 


Bis ihm der Wolf ſo nahe kehrt, 

Daß er ihm thut gedon (ihm hart zuſetzt), 

So läßt es ab davon 

Und gibt das Wehren auf. 
Sie wirft ihm denn nun auch vor, daß er gekniet habe, ver⸗ 
höhnt ihn und ſtachelt ihn auf. „Da wurde dem König ſo Zorn 
— heißt es weiter — daß von ihm ging ein Dunſt wie aus einer 
Kohlenbrunſt, wie ein Drache blickte er auf und ſagte: Fürwahr, ihr 
Teufelin, was ich nach eurem Sinn thun oder nicht thun ſoll, das 
geräth mir nimmer wohl. Da ihr aber ſo ſehr ringt darnach, daß 
ihr mich bringt in Müh und Noth, ſo werde dem König der Friede 
aufgeſagt.“ Und er ſchickt gleich nach einem Schreiber, der den Ab⸗ 
ſagebrief an Rudolf aufſetzen muß. 

Ebenſo iſt bei Grillparzer Kunigunde der böſe Dämon Ottokars, 
der ihn neuerdings in den Kampf treibt. Im fünften Acte verläuft 
dann die Schlacht und Ottokars Ende weſentlich nach der Chronik. 
Das Zuſammentreffen mit Margarethens Leiche iſt natürlich Erfindung 
Grillparzers, der mit Recht alle poetiſchen Motive, welche ihm das 
Werk des alten Epikers darbot, benutzte.“ 

Er hat, gleichſam dankend, dieſem „Ottokar von Horneck“ ein 
Denkmal geſetzt in der bekannten eingelegten Arie zum Preiſe Oeſter⸗ 
reichs, welche er ihn im dritten Acte ſprechen läßt und wofür ihm 
der Kaiſer eine goldene Kette umhängt. Ich geſtehe, daß ich dieſe 
Rede weder der Form nach ſehr ſchön, noch dem Inhalte nach ſehr 
richtig finden kann. Daß ſie den raſchen Verlauf der Handlung 
unnütz ſtöre, wird man ohnedies nicht beſtreiten. Dem alten Cala⸗ 
minus, der merkwürdiger Weiſe ſich ebenfalls gedrungen fühlt, einen 
Preis Oeſterreichs einzuflechten, ſteht dafür die paſſendere Form des 
Chorgeſanges zu Gebote. 

Ueber eine andere hübſche kleine Epiſode derſelben Scene laſſe 


) Die Vergleichung Grillparzers mit den hiſtoriſchen Quellen, die hier nur 
angedeutet werden konnte, iſt höchſt lehrreich, nicht blos zur Charakteriſtik des 
Dichters, ſondern auch im praktiſchen Sinne. Sein Verfahren kann als Muſter 
und Vorbild für ähnliche Arbeiten dienen. Will man daneben zeigen, wie der 
Dramatiker die hiſtoriſchen Quellen nicht benutzen dürfe, fo leiſtet der „Rudolf 
von Habsburg, dramatiſches Gedicht in zwei Abtheilungen, von J. E. Kopp“ 
Luzern 1856), die beſten Dienſte. 


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Franz Grillparzer. 245 


ich Laube ſprechen: Die bekannte Stelle: „Katharina Fröhlich, Bürgers⸗ 
kind aus Wien“ iſt vom Dichter nicht erfunden worden, ſondern be- 
ruht auf hiſtoriſchem Grunde, freilich auf modern hiſtoriſchem. 
Katharina Fröhlich war die Tochter eines hochgeachteten Wiener 
Bürgers, welcher um feiner hingebenden Thätigkeit für das Gemeinde- 
wohl Bürgervater genannt wurde. Grillparzer war in dieſem 


Biürgerhauſe ein gern geſehener Freund, und er ſah Katharina auf- 


wachſen. Als ſie ſechzehn Jahre alt war und ihr eine reiche Partie 
angetragen wurde, hörte fie von Grillparzer, daß er ihr nicht ab- 
rathen zu dürfen meinte, daß er aber der unglücklichſte Menſch auf 
Erden ſein würde, wenn ſie die Partie annähme. Dies ſcheint ſeine 
Liebeserklärung geweſen zu ſein. Katharina lehnte die Partie ab. 
Solchergeſtalt im Fröhlichſchen Hauſe daheim, hatte er oft erzählen 
hören, was der neunjährigen Kathi einmal in der Burg begegnet 
war. Sie war mit einer Begleiterin durch den Auguſtinergang ge⸗ 
wandelt und war dort dem Kaiſer Franz begegnet. Ihre Reverenz 
machend bleibt ſie ſtehen, und der Kaiſer, das bildhübſche Kind be⸗ 
trachtend, bleibt ebenfalls ſtehen, legt die Hand auf ihr Köpfchen 
und fragt ſie, ihre „Bildſauberkeit“ rühmend, wie ſie heiße. — 
„Katharina, Katharina Fröhlich!“ — „So?“ — Und eilig ſetzt ſie 
hinzu: „Bürgerskind aus Wien!“ — „Saperlot!“ ruft der Kaiſer. 

„Daß der ſonſt in bürgerlichen Dingen vor der Oeffentlichkeit 
ſchüchterne Grillparzer dies aufs Theater gebracht — fährt Laube 


fort — verwundert einen beinahe. Aber ein friſcher Schalk ſprang 


zuweilen bei ihm hervor, und er hat wahrſcheinlich ſeine geliebte Kathi 
überraſchen und heiter erſchrecken wollen.“ 

Es zeigt ſich, daß wir beim „Ottokar“ ſehr weit vordringen 
können in der Analyſe der Elemente, aus denen er dem Dichter er- 
wachſen iſt. Eins aber kommt noch hinzu. Es iſt ſicher, daß ihm 
bei der Geſtalt Ottokars kein Geringerer als Napoleon vorſchwebte, 
wie denn auch die beiden Frauen an Joſephine und Marie Louiſe 
erinnern konnten. 

Wüßten wir das nicht, hätte ers nicht ſelbſt geſagt, ſo ließe ſich 
darüber ſtreiten. Ein Gedicht „Napoleon“, 1821 nach des Kaiſers 
Tod entſtanden, zeigt eine ganz andere Auffaſſung. Napoleon ſteht 
dort viel größer da. Grillparzer meint, er ſei das Fieber geweſen 


* 


246 Franz Grillparzer. 


einer kranken Zeit, er habe eine Schuld getragen, die früher war als 
er, lang aufgehäufte Frevel hätten ſich in ihm zuſammengefaßt. Der 
Dichter liebt ihn nicht. Aber er iſt ihm Bürge, daß noch Ganzheit, 
Hoheit, Größe gedenkbar ſei in unſerer Stückelwelt. Er weiß ihn 
nur mit Alexander und mit Cäſar zu vergleichen. Er war zu groß, 
weil ſeine Zeit zu klein, der Löwe mußte zum Tiger werden unter 
ſo viel Affen. 

„Sehr übertrieben!“ ſagen wir heute, ſo ausſchweifenden Lobes⸗ 
erhebungen gegenüber. „Sehr übertrieben!“ müſſen wir aber ande⸗ 
rerſeits auch zum „Ottokar“ ſagen, der wieder nach der entgegenge⸗ 
ſetzten Seite hin zu weit geht und damit auch äſthetiſch gegen die 
Forderungen der Tragödie verſtößt. | 

Der Held iſt mit einer gewiſſen Antipathie gezeichnet und er⸗ 
weckt ſie daher auch beim Zuſchauer. Ottokar iſt ein übermüthiger 
Prahlhans, kindiſch in ſeinem Hochmuth, thöricht in ſeiner eitlen 
Verblendung, ein Deſpot von rohen Formen ohne alle Größe, ver⸗ 
letzend die er an ſich ketten ſollte, vertrauend denen, die ihm ſchmei⸗ 
cheln, beherrſcht durch die, die ihn beſchämen, vermeſſen — man 
ſieht nicht weßhalb, trotzend — man weiß nicht auf was: nicht ein⸗ 
mal ein Glaube an ſeinen Stern der ihm zur Seite ſtände. Warum 
ihm alle dieſe Kronen zufallen, begreift man nicht. Daß es jein 
Verdienſt ſei, kann man ſich nicht denken. Er will bewundert werden 
um jeden Preis: das iſt die ſtärkſte Triebfeder ſeines Handelns. 

An Richard III., einem moraliſchen Ungeheuer, nimmt man 
Theil, an Ottokar nicht. Wenn Richard dahin ſinkt, ſo fühlen wir 
uns erſchüttert, daß ein ſolcher Menſch von ſo dämoniſcher Gewalt 
zerſchellen muß. Ottokar erwirbt ſich durch nichts Anrecht auf unſer 
Mitgefühl: das bißchen Gewiſſensbiſſe im fünften Act zählt kaum. 
Dort redet übrigens allerdings Napoleon und nicht Ottokar. Wenn 
man letzteren ſo kennen gelernt hätte, wie er ſich hier ſchildert, — 
ein Mann, der wie Sturm und Ungewitter auf der Erde gehauſt, 
der es gewagt, dem Herrn der Welten frevelnd nachzuſpielen, der den 
Menſchen, das Wunderwerk der Schöpfung, für nichts geachtet und 
fie ſchockweis dem Tode in die Arme geſchleudert hat — wenn Ottokar 
ſich ſo gewaltig, ſo coloſſal gezeigt hätte, ſo würde uns ſein Fall 
weit mehr ergreifen. Alles darf ein tragiſcher Held ſein, nur nicht klein. 


Franz Grillparzer. 247 


Iſt Ottokar zu ſehr mit Schatten, ſo iſt andererſeits ſein Gegner 
mit zu viel Licht gemalt. Rudolf von Habsburg iſt zu ſehr ein 
providentieller Held. Der Heiligenſchein, von dem er umgeben, trägt 
nicht bei, ſeine Phyſiognomie zu verſchärfen, ſondern zu verblaſſen. 

Der Dichter iſt parteiiſch, parteiiſch gegen feinen Helden und 
für deſſen Widerſacher. Ja, es konnte mit Recht geſagt werden: 
das Stück hat zwei Helden. Hieran, glaube ich, krankt die Tragödie, 
die im übrigen ein Meiſterwerk iſt. 


Ein treuer Diener ſeines Herrn. 


Das Stück verdankt einer äußeren Veranlaſſung ſeine Entſtehung. 
Die Kaiſerin verlangte zu ihrer Krönung in Preßburg ein neues 
Drama aus der ungariſchen Geſchichte. Grillparzer durchlas die 
ungariſchen Chroniken, fand nichts für die Gelegenheit paſſendes, ge⸗ 
rieth aber auf den Bancban, einen Stoff, der weniger durch das, 
was darin lag, als durch das, was ſich hinein legen ließ, ſeine 
Phantaſie aufregte. Er hat nicht länger als zwei Monate daran 


gearbeitet. 


Der Held befindet ſich in ähnlicher Lage, wie Don Gutierre in 
Calderons „Arzt ſeiner Ehre“ und benimmt ſich auch nicht beſſer. 
Don Gutierre ermordet nicht den Prinzen, ſondern ſeine Frau, wie 
der alte Galotti feine Tochter. Bancbanus verſchont den Prinzen 
gleichfalls, das Uebrige beſorgt die Frau ſelbſt. Die ganze charakte⸗ 
riſtiſche und eigenartige Wendung, welche jetzt an dem Stücke auf⸗ 
fällt, hat aber erſt der Dichter hineingebracht. Sie lag, wie geſagt, 
von vornherein nicht in dem Stoffe. 

Es war im Jahre 1213. Das Volk von Galizien, in Ab⸗ 
hängigkeit von dem König der Ungarn, hatte deſſen zweiten, jetzt 
fünfjährigen Sohn Coloman zum Fürſten verlangt. Und König An⸗ 
dreas beſchloß ſelbſt dahin zu ziehen, nachdem er die Reichsverwal— 
tung mit unbedingter Vollmacht an die Königin Gertrud und ihren 
Bruder, den Erzbiſchof von Kalocſa übertragen und den Grafen 
Bank aus dem Geſchlechte Bor zum Palatinus ernannt hatte. Allein 
ſowohl dieſer als noch andere Magnaten blieben ohne Einfluß und 
Alles wurde unter den vertrauten Räthen der Königin abgemacht. 


ei Franz Grillparzer. 


Längſt ſchon hatten der Einfluß der Königin, einer gebornen 
Herzogin von Meran, die Schwäche des Königs, die Begünſtigung 
der Ausländer und Zurückſetzung der Magyaren die Unzufriedenheit 
des Adels erregt und eine Verſchwörung zur Folge gehabt, welche 
nun während der Abweſenheit des Königs zum Ausbruch kam. 

Es hielten ſich aber um dieſe Zeit die jüngeren Brüder der 
Königin, Otto von Meran und Heinrich von Iſtrien, am ungariſchen 
Hoflager auf. Einer derſelben verliebte ſich in des Palatins Bank 
Gemahlin, Ungarns reizendſte Frau, Gertruds beſtändige Gefährtin, 
vielleicht auch ihre Beſchützerin durch ihre Macht über Banks Ge⸗ 
müth. Der Prinz begehrte durch mancherlei Künſte die herrliche Frau 
zur Luſt; und als er mit Verachtung zurückgewieſen wurde, ſann er 
auf Ueberraſchung und Genuß durch Gewalt. Die ſchändliche That 
wurde in dem Zimmer der Königin vollbracht. Da dort der Ver⸗ 
folgten alle Hülfe und Rettung abgeſchnitten war, fiel der Verdacht 
einer Begünſtigung des Verbrechens auf die Königin, und nun trat auch 
der längſt ſchon unzufriedene Palatin zur Partei der Verſchwornen. 

In ihrem Rath wurde Gertruds Ermordung beſchloſſen; der 
Verbrecher hatte durch die Flucht der Rache ſich entzogen. 

Wahrſcheinlich war es der Palatin, der den Verſchworenen den 
Weg zu dem Gemache der Königin und ſichere Friſt zur That be⸗ 
reitete. Der Mord an ihr ward von dem Biharer Grafen Peter 
und dem Ban Simon begangen. Die königlichen Kinder, den erſt⸗ 
gebornen, achtjährigen, bereits gekrönten Bela, den jüngſten, Andreas, 
und die Tochter Maria, welche übrigens von Niemand verfolgt wur⸗ 
den, brachte ihr Erzieher, Meiſter Salomon, Sohn des Grafen 
Miska, in Sicherheit. Die Burg wurde ausgeplündert und dabei 
auch das große königliche Gnadenſiegel entwendet. 

In der darauf folgenden Nacht rächten die Anhänger der Königin 
ihren Tod durch Ermordung des Grafen Peter und mehrerer Ver⸗ 
bündeten. Der ſchwer beleidigte Bank wurde von ihnen und hernach 
auch von dem Könige verſchont. — 

Ich habe die Geſchichte großentheils wörtlich nach Feßlers Ge- 
ſchichte der Ungarn (Bd. 2 S. 415 ff.) erzählt, der noch bemerkt, 
daß nach einigen alten Nachrichten der Banus Bank ſelbſt die Mord⸗ 
that vollzogen habe. 


Franz Grillparzer. 249 


An dieſe letztere Verſion hielt ſich ein ungariſcher Dramatiker, 
Joſeph Katona, der im Jahre 1816 den Stoff bearbeitete. 


Das Stück iſt merkwürdig. Es wird für das beſte nationale 
Drama der Magyaren angeſehen und hat in der That einzelne hohe 
Schönheiten, die uns das Gefühl geben, daß wir einer großen un⸗ 
verbrauchten Kraft gegenüberſtehen. Dabei iſt es aber mit dem ſelt⸗ 
ſamſten techniſchen Ungeſchick gemacht, faſt ohne alle Ahnung von 
Charakteriſtik, Scenenbau und folgerichtig geführter Handlung. Es 
iſt ein ewiges Kommen und Gehen der Perſonen, wie es dem Dichter 
gerade paßt, von ſtrenger Motivirung keine Spur. Der Compoſitions⸗ 


form nach iſt es ein ziemlich verwickeltes Intrigenſtück und als In⸗ 


trigant, der Otto erſt verführt, dann verräth, figurirt — ſehr be- 
zeichnend — ein deutſcher Ritter, Namens Biberach. Mit Ausnahme 
dieſes Biberach, den Otto erſticht, ſcheint es Regel, daß die Unſchul⸗ 
digen zu Grunde gehen und die Schuldigen entkommen. 


Otto hat der Königin einen Schlaftrunk gegeben und unterdeſſen 
Melinden, der Gattin Banks, Gewalt angethan. Melinda und Bank 


halten die Königin für mitſchuldig. Melinda überhäuft ſie mit den 


bitterſten Vorwürfen. Der Palatinus Bank tritt ernſt als Rächer 
vor ſie hin, alle ihre Sünden gegen das Land hält er ihr vor und 
dann den jüngſten Frevel gegen ſein eigenes Haus. Sie erklärt ihn 
für einen Lügner und verflucht ihn mitſammt Melinden und dem 


Buben, den — wie ſie ſagt — zu ihrer Schmach ſie Bruder nennen 


muß. Bank aber nimmt darauf keine Rückſicht und da er ſich von 
ihr noch verhöhnt glaubt, jo droht er: fie ruft nach Hülfe, Otto er- 
ſcheint, eilt aber ſofort feige davon, Bank will ihm nach, kann die 
Thür nicht öffnen, flucht ihm und dem Land, wo er geboren — da 
wird Gertrud wüthend, ſtürzt ſich auf Bank und zückt ihren Dolch: 
„Elender, ſchmähe meine Heimat nicht!“ Bancban entwindet ihr den 
Dolch und erſticht ſie: „Nun freue dich, meine Ehre, rein gewaſchen 
hat dies Blut dich.“ — Otto wird von den Verſchwornen gefangen, 
entkommt aber und ermordet auf der Flucht Melinda, um ſeine 
Schweſter zu rächen. Der Aufſtand wird unterdrückt, der König 
kehrt zurück, die Unſchuld der Königin kommt an den Tag. Der 
König aber begnadigt ihren Mörder, der genug geſtraft ſei. Er wendet 


250 Franz Grillparzer. 


ſich an ſeine Großen mit den Worten: „Magyaren! Beſſer daß die 
Königin fiel als unſer Vaterland.“ 

Das Stück iſt von einem echt ungariſchen Haß gegen die Fremden 
durchzogen. Und daneben die eigenthümlichſte Sorte von Loyalität, 
mitten im Aufruhr königstreue Geſinnung: jener Michael, Melindens 
Bruder, der den Ausbruch der Verſchwörung zu verhüten ſucht, in⸗ 
dem er die Königin warnt; jener Peter, der von Pferden hingeſchleift 
noch ſterbend ruft: es lebe unſer König! 

Grillparzer hat, wohl ganz zufällig, einige Züge mit Joſeph 
Katona gemein, z. B. daß er Bancbans Gattin umkommen läßt und 
daß er die Häupter der Aufſtändiſchen zu Brüdern des Bancban und 
ſeiner Frau macht, wie ſie bei dem Ungarn Melindens Brüder find. 
Aber im Uebrigen, wie himmelweit verſchieden iſt die Auffaſſung des 
Stoffes bei dem Cisleithanier und bei dem Transleithanier! Und 
wie ſehr wünſchte ich, für die des Landsmannes, des Deutſchen und 
des größeren Dichters Partei ergreifen zu können! 

Wenn in den alten Jeſuiten⸗Schauſpielen Legenden in Scene 
geſetzt werden, Märtyrergeſchichten, und ſich der Held damit beſchäf⸗ 
tigt, das ganze Stück hindurch gegenüber den verſchiedenſten Martern 
und Verſuchungen immer nur ſeinen Glauben an Gott zu betheuern 
und ſeine unbedingte Treue für das göttliche Geſetz zu bekunden, ſo 
wenden wir uns ab und ſagen: undramatiſch. 

Ganz ſo iſt es nun im „treuen Diener ſeines Herrn“ wohl nicht, 
denn Bancban iſt nicht der alleinige Träger des Intereſſes. Wir 
ſehen einen Frevel ſich vollziehen und wir ſind geſpannt, ob die 
Schuldigen das rächende Schickſal ereilt oder nicht. | 

Aber Bancban fteht doch wieder zu ſehr im Mittelpunct, als 
daß wir nicht auf Schritt und Tritt ihm begegnen müßten und daß 
wir uns nicht an ihm ärgerten. Er iſt ganz ein ſolcher alter Mär, 
tyrer, ein Held der leidenden Treue. Er iſt gleichſam nur auf einen 
Ton geſtimmt, und der heißt Herrentreue. Die altdeutſche Poeſie 
hat dieſes Pathos der Treue in wunderbarer Weiſe darzuſtellen ge⸗ 
wußt im Rüdiger des Nibelungenliedes. Da iſt aber ein Conflict 
und innerer Kampf, der Held ſteht vor der Wahl und ſie wird ihm 
ſchwer. In Bancban merken wir keinen Conflict. Und, recht be⸗ 
trachtet iſt auch keiner vorhanden. 


Franz Grillparzer. 251 


War es denn ein unverzeihliches Verbrechen, ſich der Perſon 
Ottos zu bemächtigen, wie die „Aufrührer“ wollen, damit er bei der 
Rückkehr des Königs der verdienten Strafe nicht entgehe? Der Stand⸗ 


punct der Aufrührer ſcheint uns ganz correct. Bancban aber greift 


hier erſt handelnd ein, wo es gilt, im Dienſte ſeines Herrn — den 
Mörder ſeines Weibes und den Erben der Krone zu retten. Warum 
hat er nicht früher, warum nicht für ſeine Frau gehandelt? Bei wem 
ſoll ſie Schutz ſuchen, wenn nicht bei ihm? 

Bancban will es nicht wiſſen, wer auf der Straße Spottlieder 
ſingt gegen ihn. Hätte er den Herzog geſehen mit ſeinen eigenen 
Augen, er würde eher glauben, daß er wachend träumte, als Uebles 
von dem Schwager ſeines Herrn. „Ha, Scham und Schmach!“ 
ruft Erny, da das Lied ertönt. Bancban kennt — wie er ſagt — 
keine Schmach als Unrecht thun. | 

Wenn ein Bauer Entſchädigung verlangt, weil ihm der Prinz 
auf letzter Jagd die Saat verwüſtet, ſo fährt er ihn an: 

1 Er? — Der Prinz allein? f 
Die ganze Saat? Wohl nur des Prinzen Jäger? 
Weßhalb denn ſchreiſt du: „Er“? Wo bleibt die Achtung, 
Verwünſchtes Volk! für Eurer Fürſtin Bruder? 


Und wenn man ihm erzählt, der Prinz umſchwärme ſein Weib: 
„Ich kanns nicht ändern,“ ſagt er gleichmüthig und ſchickt ſeine Erny 
zum Tanz zurück, dem ſie angſtvoll entfloh. 

Bancbanus hat von ſeinem Herrn das Amt übernommen, Ruhe 
zu erhalten im Land. Würde er dieſer Pflicht nicht beſſer nachge⸗ 
kommen ſein, wenn er dem kecken Otto von vornherein feſt entgegen- 
trat und nachher dafür ſorgte, ihn einer ſicheren Strafe aufzuſparen? 
Und wäre er darum minder der treue Diener ſeines Herrn geweſen? 
Bancbanus verſäumt die höchſte Pflicht, die ihm ſein Amt auferlegt 
— aus allerunterthänigſtem Reſpect vor dem Mitglied des erlauchten 
Königshauſes. Iſt das wahre Treue? Er konnte eine Revolution 
verhindern, und er hat es nicht gethan, um gegen einen Prinzen 
nicht die „ſchuldige Ehrfurcht“ zu verletzen. Nein, wir ſind ganz der 
Meinung der Aufrührer: Bancban iſt alt und ſchwachſinnig und 
kindiſch. Nicht einmal die Unſchuld ſeiner Frau conſtatirt er ſelbſt 
am Schluſſe. 


252 Franz Grillparzer. 


Der humoriſtiſche Zug, der ihm anfangs geliehen, iſt nicht ſehr 
gelungen. Er klingt ein wenig an den Ton des gutmüthigen Pol⸗ 
terers an und iſt noch ſehr weit entfernt von dem freiſpielenden 
Humor einer friſchen, thatkräftigen Natur, wie Leon in „Weh dem, 
der lügt“. a 
Deſto mehr gelungen, aber nur um ſo mehr zum Nachtheile des 
Helden, iſt der pedantiſche Zug. Bancban iſt ein öſterreichiſcher 
Bureaukrat der alten Schule voll kleinlicher Bedenklichkeit. Muß er 
doch ſelbſt einen Zweifel unterdrücken, ob es die Königin verzeihen 
werde, wenn er die Bittſchriften in einem anderen Saale entgegennähme, 
wo es ruhiger wäre als in dem eigentlich dazu beſtimmten. 

Ich will Grillparzer dieſen Charakter nicht zum Vorwurf machen, 
als ob er ihn in ſeinem ganzen Verfahren gebilligt hätte. Das 
braucht auch nicht die Wirkung des Stückes zu ſein. Kaiſer Franz 
hielt es vielleicht mit demſelben Rechte für ein aufreizendes, wie die 
geſammte Kritik für ein ſerviles. Ich behaupte weder das eine noch 
das andere: nur, daß es einen äſthetiſch verwerflichen Helden habe. 

Der innere Trieb aber, der Grillparzer zur Wahl — oder viel⸗ 
mehr zur Umgeſtaltung des hiſtoriſchen Stoffes führte, war doch kein 
anderer als Verherrlichung der Unterthanentreue. Der Höhepunct iſt 
wie Bancban die Misvergnügten auf das Erſcheinen des Königs ver⸗ 
tröſtet: „Bis dahin haltet euch als ruhige Bürger“ (Ruhe iſt die erſte 
Bürgerpflicht!) — und wie er die Aufforderung ſeines Bruders: 
„Biſt du ein Mann, ſo nimm dein Schwert und geh an unſrer 
Spitze“ mit den Worten erwidert: 

Aufrührer, ich mit Euch? Ich bin der Mann des Friedens, 
Der Hüter ich der Ruh. Mich hat mein König 

Geordnet, ſeinen Frieden hier zu wahren. 

Ich in den Bürgerkrieg mit Euch? 

Fluch Bürgerkrieg! Fluch dir vor allen Flüchen! 


Dieſe Geſinnung des Bancbanus iſt gewiß ſehr brav und ehren⸗ 
werth. Aber — man mag ſagen, was man will — ſeine Hand⸗ 
lungsweiſe entſpringt aus dem treuen, redlichen Wollen einer engen, 
beſchränkten, kleinlichen, nur das Nächſte ins Auge faſſenden Natur. 
Es iſt — wir müſſen an eine ähnliche Bemerkung beim Ottokar er⸗ 
innern — es iſt leider eine Treue ohne Größe. 


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Franz Grillparzer. f 253 


Grillparzers König Andreas nennt ſeine Ungarn ein einfach 
ſtilles Volk von maßvoller Sitte und zu allem Guten tüchtig. So 
weit dieſes Urtheil von der Wahrheit abweicht, ſo weit der Geiſt des 
„treuen Dieners“ von dem des ungariſchen Bancbanus, dem wirk— 
lichen der Geſchichte und dem poetiſchen des Joſeph Katona. 

Man fühlt ſich verſucht, die beiden Dramen, das deutſch⸗öſter— 
reichiſche und das magyariſche, ſymboliſch zu nehmen. Sie erzählen 
uns, dünkt mich, ein ſehr wichtiges Capitel aus der inneren Geſchichte 
des Staates, in dem wir leben. Sie geben uns Aufſchluß über die 
politiſche Anlage, Geſinnung, Handlungsweiſe und deren verſchiedene 
Erfolge diesſeits wie jenſeits der Leitha. 

Sehr bezeichnend in anderer Hinſicht iſt nun auch die innere 
Verkettung der Handlung bei Grillparzer. N 

Die Königin liebt ihren Bruder abgöttiſch, ſie theilt ſein heißes 
Blut, ſeine Heftigkeit, ſeine Abneigung gegen Bancban und gegen die 
Ungarn — „einfältig Volk, nur ſtumpf, nicht tugendhaft“ — und ſie 
nimmt es der Gräfin Erny faſt ein wenig übel, daß ſie ſo gleichgiltig 
gegen ihren glänzenden jugendfriſchen Bruder bleiben kann. 

Sie iſt ſchwach gegen Otto und kann ihm nichts verſagen, auch 
nicht die Unterredung mit Erny die er wünſcht. Uebrigens meint 
ſie ſich vorzuſehen, indem ſie in der Nähe bleibt, um nöthigenfalls 
einzugreifen. a 

Otto liebt Erny nicht, er liebt nur die Eroberung, den Triumph 
— und dieſen nur aus Starrſinn, aus Eigenſinn, der will, weil er 
gewollt. Ja er will ſchließlich nichts als daß ſie ihm das Wort 
abbitte, das ihr gegen ihn im Zorn entfahren: „Geht, ich veracht 
Euch!“ Thut ſie das nicht, ſo ſoll ſie verſchwinden vom Geſicht der 
Erde, in einem Schloſſe heimlich eingeſperrt. 

Erny iſt ruſchlich, wie ihr Gatte ſagt. Sie übereilt ſich leicht. 
Eine Uebereilung war jenes Wort der Verachtung, das ſie jetzt ſo 
unbedacht wiederholt. Sie ſieht die Drohung Ottos wahr werden 
— kein Entrinnen für den Augenblick — ſie übereilt ſich abermals 
und ſtößt ſich den Dolch in die Bruſt. 

Otto ſühnt ſein Vergehen, ſoweit dies möglich, durch den Zu— 
ſtand halben Stumpfſinns, in den ihn Schrecken und Reue verſetzen, 
und durch die Aufopferung, mit der er dem Kronprinzen das Leben 


254 * Franz Grillparzer. 


rettet. Der rückkehrende König ſeinerſeits aber macht ſich mit Recht 
am Schluſſe Vorwürfe: „Unſittlichkeit! Warum ließ ich beim Scheiden 
dich zurück? Warum zertrat ich nicht, verwies dich?“ 

Man ſieht, die Schuld an Ernys Tode vertheilt ſich: ein Theil 
fällt auf den König, ein Theil auf die Königin, ein Theil auf Banc- 
ban, ein Theil auf Erny ſelbſt, ein Theil — freilich der größte, aber 
doch nur ein Theil — auf Otto von Meran, der doch ſchwer be⸗ 
leidigt war und als verwöhnter Prinz doppelt aufgebracht ſein mußte 
und es nicht ſo ſehr böſe gemeint hat und ja nun auch büßt. 

Und wenn die lauſchende Königin an der Tapetenthüre früher 
gemerkt hätte, was vorgeht und rechtzeitig eingetreten wäre, ſo war 
das Unglück überhaupt abgewendet. 

Aehnlich ſteht es mit dem Tode der Königin ſelbſt. 

Sie ergreift ihres Bruders Schwert und Mantel um ſich gegen 
die Verſchwornen zu vertheidigen. Sie fühlt ſich zu ſchwach, wirft 
beides hin und eilt fliehend in den dunklen Gang. In demſelben 
Augenblick treten die Häupter der Empörung auf, erſt ſpäter hinter 
ihnen Gewaffnete mit Fackeln. 

Simon. 
Der Herzog wars. Dort liegt ſein Schwert und Mantel. 
Wirf deinen Dolch! | 

Peter wirft und trifft die Königin. Alſo ein Misverſtändniß, 
eine Verwechslung, der die Königin zum Opfer fällt etwa wie die 
Gräfin von Lavagna im „Fiesco“ oder Erbförſters Marie oder Ottokar 
und Agnes von Schroffenſtein. Wäre früher Licht zur Hand geweſen, 
ſo war der Irrthum nicht möglich. 

Und daß gerade Peter dieſen unglücklichen Wurf thun muß, der 
halb gezwungen ſich dem Aufſtand anſchloß! Simon hat ganz recht, 
der Teufel hat ſie gaukelnd hier genarrt. An dem Tode der Königin 
iſt Niemand ſchuldig als der Teufel Zufall. 


Des Meeres und der Liebe Wellen. 


Der „Jon“ des Euripides beginnt mit einem Monolog des Titel⸗ 
helden. Er iſt im Tempel des Apollo zu Delphi aufgewachſen, wie 
Hero in dem ihrigen. Er tritt am Morgen heraus, um ſein von 


Franz Grillparzer. 5 255 


Kindheit an gewohntes Tagwerk zu verrichten. Er ſchmückt mit 
Lorberzweigen und heiligen Kränzen den Vorhof des Tempels, er 
fegt mit dem Lorberbeſen und beſprengt mit friſchem Wäſſer den 
Boden und treibt die Vögel mit ſeinen Pfeilen zur Flucht. Er preiſt 
ſich glücklich, ein Knecht der Götter zu ſein, den Ewiglebenden zu 
dienen, nicht den Sterblichen. Er bedroht die Vögel des Parnaſſus, 
die aus ihrem nächtlichen Lager herübergeflogen kommen, von denen 
einer Halme zum Neſt für ſeine Kinder unter des Tempels Gebälke 
tragen will. Er verjagt ihn, denn ihn zu tödten ſcheut er ſich. Da 
erſcheint der Chor, den Jon abhält, ins Innere des Tempels einzu⸗ 
dringen. Und nachher kommen ſeine Eltern, die er freilich noch 
nicht kennt. 
| Wem Grillparzers „des Meeres und der Liebe Wellen“ gegenwärtig 
5 iſt, der wird ſich ſofort der ähnlichen Situation des Eingangs er⸗ 
innern und wie die hier gegebenen Motive ſonſt noch im erſten Acte 
benutzt ſind. Zu welcher wundervollen Symbolik hat ihm nicht das 
Motiv der niſtenden Vögel gedient! 
3 Ob außerdem irgend ein Dramatiker Grillparzern e beit 
phat, weiß ich nicht. Denn die früheren Behandlungen des Gegen⸗ 
ſtandes, z. B. die Amours infortunes de Leandre et de Hero 
von La Selve, einem Vorgänger des Corneille, kenne ich nicht näher. 
In Schillers Ballade ſind Hero und Leander durch „der Väter 
feindlich Zürnen“ getrennt. Im deutſchen Volkslied von den zwei 
Königskindern heißt es blos: 


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Sie konnten zu einander nicht kommen, 
Das Waſſer war viel zu breit. 


Grillparzer folgte hierin, wie in den meiſten übrigen Umſtänden, 
dem altgriechiſchen Gedichte von Muſäus. 

Auch dort iſt Hero eine Prieſterin der Venus, welche einen 
Thurm zu Seſtos in der Nähe des Meeres bewohnt. Durch häufige 
Opfer ehrt ſie ſcheu die Göttin und ihren Sohn, mit anderen Frauen 
geht ſie nicht um, den Tänzen der Mädchen hält ſie ſich fern. An 
dem jährlichen großen Tempelfeſte ſieht ſie Leander. Wie der alte 
Dichter ihre Schönheit zu ſchildern ſucht und den Eindruck, den ſie 
auf Leander macht, wie er deſſen Liebeswerben und ihre Nachgibig⸗ 


256 Franz Grillparzer. 


keit beſchreibt, das laſſe ich bei Seite. Denn hier mußte ſich Grill⸗ 
parzer Alles ſelbſtändig geſtalten. 5 

Es wird verabredet, daß ſie durch eine ausgeſteckte Fackel ihm 
den Weg übers Meer zeigen ſoll. Ihre Zuſammenkünfte werden be⸗ 
ſchrieben, ebenſo die ſtürmiſche Winternacht, in der der Wind die 
Fackel löſcht und Leander in den Fluten verſinkt. Es kommt der 
Morgen, Hero blickt vergeblich nach dem Geliebten aus. Da ſieht 
ſie ihn am Fuße des Thurmes liegen, an Klippen zerſchellt. Sie 
zerreißt ihr Gewand und ſtürzt ſich herab und ſtirbt über dem todten 
Liebling. 

Grillparzer hat die ganze Handlung auf drei Tage eingeſchränkt. 
Jenes Feſt iſt bei ihm zugleich Heros Weihe als Prieſterin und in 
den Formen ausgeführt — Abſchied vom Leben, Trennung von den 
Eltern — wie man ſich etwa die Einkleidung einer Nonne denkt. 
Dem Leander hat er einen älteren Freund Naukleros beigeſellt, der 
ihn abzuhalten ſucht von ſeinem tollkühnen Beginnen. Der Hero 
ſteht die leichtſinnige, muthwillige, märchenkundige Janthe zur Seite, 
und ihr Oheim, der ſtrenge Prieſter, als Hüter des Rechtes und der 
heiligen Geſetze. Er iſt es, der die Fackel löſcht, wie im deutſchen 
Volkslied eine falſche Nonne die zwei Kerzen ausbläſt, die dem Königs⸗ 
ſohne leuchten. 8 

Grillparzer nannte das Stück: „Des Meeres und der Liebe 
Wellen“. Er wollte dadurch von vornherein andeuten, daß die Be⸗ 
handlung, obgleich ſie einen antiken Stoff betraf, romantiſch oder viel⸗ 
mehr allgemein menſchlich gemeint ſei.“) | 

Die Tragödie zeichnet fich durch die Strenge aus, mit welcher 
das einfache feſte Wollen der Hauptperſonen entſchieden durchgeführt iſt. 


*) Grillparzer ſetzt im feiner Selbſtbiographie (Werke 10, 212) die Ent⸗ 
ſtehung des Stückes nach der franzöſiſchen und engliſchen Reiſe, welche 1836 ſtatt⸗ 
fand. Aber es wurde ſchon am 3. April 1831 aufgeführt, obgleich es erſt 1840 
im Buchhandel erſchien. „Ich habe ſchon geſagt — bemerkt Grillparzer S. 193 
— daß ich über die Zeitfolge der Ereigniſſe in großer Verwirrung bin.“ Er 
nennt den Stoff einen neuen „oder einen alten, den ich wieder aufnahm.“ Die 
erſte Beſchäftigung damit möchte in die Zeit nach der Sappho und vor dem Ottokar 
zu ſetzen ſein. Die nähere Beziehung Grillparzers zu Fräulein Fröhlich fällt ſpä⸗ 
teſtens vor 1821 wie ſich aus Werke 8, 103 ergibt. Vergl. E. Kuh S. 55. 


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Franz Grillparzer. 257 


Hier wird nichts den Umſtänden, nichts dem Zufall zugewälzt. Die 
Gewalt der Leidenſchaft allein führt ins Verderben. Hero und 
Leander ſind beide genügend gewarnt; die Hinderniſſe, die ſich ihnen 
entgegenthürmen, die Abmahnungen, die ihnen zu Theil werden, ſie 
verachten Alles, ſie ſtürzen ſich mit ſehenden Augen in die Gefahr. 
Keine Abſchwächung, keine Milderung. Auch der Prieſter thut un⸗ 
erbittlich, erſt ſanft, dann hart, was er für ſeine Pflicht hält. Und 
die Bemerkung des Naukleros gegen ihn: „Ihr habt den ſchnöden 
Dienſt misgünſtiger Indusknechte vom Orient ererbt und hüllet Euch 
in Gräuel und in Nacht“ zeigt, daß ſein Verfahren in dem Geiſte 
des Cultus begründet iſt, dem er vorſteht. 

Jeder folgt mit einer gewiſſen Verblendung der kulſtittgen Rich⸗ 
tung, in welche ſein Charakter ihn der gegebenen Situation gegenüber 
drängt und treibt. Das iſt die echte tragiſche Verwicklung. Grill⸗ 
parzer iſt nirgends anderswo ſo ſtreng und herb geweſen. Keine 
Phraſe, keine Sentimentalität, keine Weichlichkeit, nichts kleinlich Rüh⸗ 


rendes. Er ſchildert verzehrende Gluth der Leidenſchaft, aber nirgends 


auch nur ein Anklang an die Rhetorik der Ahnfrau. Jede Gelegen- 
heit zu Gefühlsausbrüchen iſt gefliſſentlich abgeſchnitten. Kein directes 
Kundgeben innerer Seelenvorgänge. Vornehm begibt ſich der Dichter 


jedes Mittels, um den Zuſchauer künſtlich zu hetzen. Und doch — 


welche Angſt, welche Erregung, welche Beſorgniß für das Schickſal 
der Beiden ergreift uns in der Thurmſcene! Wäre es nur gelungen, 
die Handlung etwas reicher zu geſtalten, die ſich oft um gar zu un⸗ 
bedeutende Dinge dreht! | 

Der Charakter Heros liegt weit ab von den alten Lieblings: 
neigungen des Dichters, er iſt weder naiv noch ſentimental, aber in 
jedem Zuge motivirt und durchaus eigenartig. Der Einblick, den wir 
in die Häuslichkeit ihrer Eltern erhalten, macht uns klar, weßhalb ſie 
weder die Heimat lockt noch die Ehe. Das Familiengefühl iſt in ihr 
nicht ſtark entwickelt, den Eltern gegenüber bleibt ſie kühl, einem 
Bruder iſt ſie geradezu abgeneigt, ſie grollt ihm ſtill und tief. Sie 
iſt gern frei und will mit Niemand ihre Seele tauſchen, vor Amor 
hat ſie keine Angſt. Sie iſt ſtolz auf ihre Abkunft aus dem Prieſter⸗ 
geſchlecht. Sie nimmt es ſtreng mit ihrer Pflicht und tadelt herbe 
die Verſäumniß der Uebrigen, von denen ſie ſich ſpröde abſondert. 

17 


Scherer, Vorträge. 


258 Franz Grillparzer. 


Zu keiner ihresgleichen führt ſie des Herzens Zug, ein ſtill Bedürfniß 
hin. Sie kann nicht finden, daß Geſellſchaft fördert: „Was einem 
obliegt, muß man ſelber thun.“ 

Dabei ein merkwürdig maßvoller Sinn und ſicheres Wiſſen um 
das, was ihr frommt. Sie iſt früh abgelöſt von den Ihrigen, im 
Heiligthum aufgewachſen wie Jon, ſie kennt nichts anderes als den 
Tempel. Ihre Vorſtellung von der Welt hat ſie ſich nach dem Bilde 
ihres harten Vaters und rohen Bruders geformt, ſtörriſch wildes 
Weſen, wenig denkend, heftig wollend, mit ungeſchlachter Hand ein⸗ 
greifend in das ſtille Reich geordneter Gedanken, „wo die Entſchlüſſe 
keimen, wachſen, reifen am milden Strahl des gottentſprungnen 
Lichts“ — ſo denkt ſie ſich die Männer. Ihr Freiheitsſinn ſträubt 
ſich gegen die Abhängigkeit von einem Manne, dem ſie ſich unter⸗ 
ordnen muß, obgleich die Weiſere und Beſſere. Sie will das Rechte 
thun, nicht weil man ihrs befahl, nein, weil es recht, weil ſie es ſo 
erkannt. So feſſelt ſie Alles an den Altar der Göttin. Und doch 
läßt ſie ſich vom Oheim nicht zu dem Verſuche bewegen, ob ihr 
Orakel zu Theil würden und die Gabe der Weiſſagung verliehen ſei. 
Sie weiſt dieſe Zumuthung ruhig aber ohne Schwanken von ſich: 


Verſchiednes geben Götter an Verſchiedne; 
Mich haben ſie zur Sehrin nicht beſtimmt. 


Sie hält von ihrem Weſen jegliche Störung fern. Sie will den 
eigenen Sinn bewahren, ablehnend alles Uebrige. 

Das iſt der Kern ihrer Perſönlichkeit, das aber auch die Ueber⸗ 
hebung, die ſich rächen muß. So beſchränktes Streben — ſagt der 
Prieſter — ſei ſelbſtiſch, es ſei widrig, unerlaubt, ja ungeheuer. 
Und wenn er ihr ſeine Bewunderung nicht verſagen kann — „ſo 
ſchön, ſo ſtill, ſo Ebenmaß in jedem“ — ſo muß er doch hinzusetzen; 
„zu ſicher und zu feſt“. 

Ihre Sinnlichkeit iſt unaufgeſchloſſen, ſie wird es an dem Tage, 
an dem ſie ſich für ewig bindet, ſie wird es durch die Schönheit 
eines Mannes. Wir erfahren nicht viel Anderes von dieſem Leander, 
als daß er ſchön und friedfertig und ein guter Sohn. Als „dumpfer 
Träumer, blöder Schlucker“ tritt er auf, wie der Freund ihn nennt. 
Aber wir fühlen doch, er iſt das gerade Gegentheil deſſen, was Hero 


Franz Grillparzer. | 259 


1 


bis dahin unter einem Manne ſich gedacht. Und ſo wirkt denn gleich 


ſein Anblick zauberiſch auf ſie ein. Ein Lied von Leda und dem 
Schwan verfolgt ſie, das ſie in ihrer Unſchuld kaum verſteht und das 
doch ihre Phantaſie ſchon längſt ſeltſam gereizt haben muß. Ihr 


feſtes, klares Weſen erhält einen Zuſatz von Zerſtreutheit und Träu⸗ 
merei, der ſich ſteigert, ſteigert, ſteigert, um ſie zuletzt dem Geliebten 


als ein Opfer nachzuraffen. Ein Druck laſtet auf ihr, der dumpfer 
und dumpfer wird, und ſie zuletzt erdrückt. Und immer der Zug 
von Sicherheit und Selbſtändigkeit. Sie zögert wohl am Morgen 
nach Leanders Beſuch, indem ſie ſagen will, ſie kenne ihr Recht und 
ihre — Pflichten. Aber ſchnell faßt ſie ſich: 


f auch meine Pflichten kenn ich; 
Wenn Pflicht das alles, was ein ruhig Herz, 
Im Einklang mit ſich ſelbſt und mit der Welt, 
Dem Recht genüber ſtellt der andern Menſchen. 


Solche Unabhängigkeit kann ſich nicht leidend fügen und nach 
thränenreichen Klagen ins Unvermeidliche ſchicken. Wenn ſie das Un⸗ 
glück trifft, zerbricht ſie. 

Nein, in dieſer Hero iſt keine Spur von Schablone. Keine 
mädchenhafte Ziererei gegenüber Leander, kein Monolog mit Gewiſſens⸗ 
biſſen oder Sophiſterei der Leidenſchaft, ja faſt keine Klagrede um 
den Verlorenen oder doch, was dem gleichkommt, in ganz eigenartigen 
Formen. Wie die griechiſchen Maler den Anblick des höchſten 
Schmerzes verhüllten, weil er nicht auszudrücken ſei, ſo ſchafft Grill⸗ 
parzer hier etwas Aehnliches. Im Augenblicke der Entdeckung des 
Leichnams muß Hero dem Oheim unbefangen entgegentreten — ſie 
ſtürzt freilich bei dem Verſuch zuſammen. 

Grillparzer hat dieſen Charakter mit Selbſtverläugnung und mit 
ganz feſter Hand entworfen, man möchte glauben: ohne nate 
Gemüthsintereſſe, nur mit einem ſachlichen Beobachtungsintereſſe. 
ſelbſt berichtet: „Eine wunderſchöne Frau reizte mich, ihre nn 
wenn auch nicht ihr Weſen, durch alle dieſe Wechſelfälle durchzuführen.“ 
Wie weit doch auch das Weſen vielleicht Porträt iſt, mögen Ein⸗ 
geweihtere unterſuchen. Jedenfalls hatte dieſe Hero ein ganz ſelb⸗ 
ſtändiges Leben gewonnen. Grillparzer hat ſich die Frage vorgelegt: 

17 * 


9 


260 Franz Grillparzer. 


wie muß ein Mädchen beſchaffen fein, damit es Prieſterin wird? 
und wie muß die Prieſterin beſchaffen ſein, damit ſie in Liebesgram 
vergehe? Und er hat das Problem conſequent zu löſen geſucht, gleich⸗ 
ſam zuſchauend und forſchend und abbildend, wie die Natur ſelbſt 
ein ſolches Weſen ſchafft und entwickelt, bildet und zerſtört. Wir 
möchten dem Dichter zurufen, was der Prieſter a Hero jagt: Du 
biſt gereift. 
8 Weh dem, der lügt! 

Grillparzer war ſehr witzig, alle, die ihn kannten, wiſſen das. 
Er hatte eine epigrammatiſche Ader, und die gedruckten oder geſchrie⸗ 
benen Epigramme ſind nicht einmal die beſten. Ein ganz eigener 
Humor und gutmüthige Ironie, gegen ſich ſelbſt und gegen andere, 
belebte oft ſeine Rede. Cette dame est plus heureuse que les 
autres — ſagte er einmal von einer Franzöſin, welche ihn in der Ge⸗ 
ſellſchaft von Wiener Damen huldigend beſucht hatte — elle ne com- 
prend pas bien Pallemand, et croit que je suis poete de pre- 
mier ordre. Das Hübſcheſte, was mir in der Art von ihm erzählt 
iſt und worin ein faſt altdeutſch unbefangener Scherz mit dem Heiligen 
anklingt, iſt Folgendes: 

Es war die Rede vom Kirchenbeſuch. „Ich ſollte freilich auch 
öfter in die Kirche gehen. Aber ich denk mir halt, da Gott der All⸗ 
weiſe, Allgütige und Allergerechteſte iſt, ſo wird er doch auch der 
Allerartigſte ſein, und da wird er mich doch auch wieder beſuchen 
wollen. Weil er einen aber immer nur mit Krieg und Peſt und 
Noth heimſucht, ſo verlang ich mir den Beſuch gar nicht.“ Er hoffe 
trotzdem in den Himmel zu kommen. „Denn wenn ich auch nicht 
viel Gutes gethan hab, Böſes auch nichts, und wenn der liebe Gott 
gar ſo difficil ſein wollt, blieb er am End ganz allein mit den zwölf 
Apoſteln, und das wär doch gar zu langweilig für ihn.“ 

Dies nur als Pröbchen. Wenn alſo von Grillparzer ein Luſt⸗ 
ſpiel angekündigt wurde, ſo durfte man keineswegs von vornherein 
zweifelhaft ſein, weil er bisher nur in der Tragödie Erfahrungen ge⸗ 
ſammelt. Und doch war der Miserfolg ein ganz entſchiedener. Er 
wäre vielleicht nicht ſo arg geweſen, hätte nicht die wenig glückliche 
Aufführung mitgewirkt und hätte Grillparzer das Stück nicht ein 
Luſtſpiel genannt, anſtatt vielleicht eine dramatiſirte Anekdote aus der 


Franz Grillparzer. 261 


Merowinger⸗Zeit. Was würde ſich freilich das große Publicum 
Wiens im Jahre 1838 unter der Merowinger⸗Zeit gedacht haben? 


g Damit berühren wir gleich einen wunden Fleck, und wir wollen 


darauf zurückkommen. d 

Grillparzer entnahm den Stoff aus der fränkiſchen Geſchichte 
des Gregorius von Tours (III. 15), man kann die Erzählung in 
den deutſchen Sagen der Brüder Grimm oder in Guſtav Freytags 
Bildern aus der deutſchen Vergangenheit bequem nachleſen. 

Biſchof Gregorius von Langres will ſeinen Neffen Attalus be⸗ 


2 freien laſſen, der, als Geiſel fortgenommen, in Knechtſchaft verfallen, 


als Roßhirt bei einem Deutſchen im Dienſt ſteht. Er ſchickt Diener 
aus und bietet Geſchenke, der Deutſche fordert zehn Pfund Goldes, 
welche der Biſchof — wie es ſcheint — nicht aufbringen kann. Da 
bietet ſich ihm ſein Koch Leo an, um die Befreiung durch Liſt zu 


# verſuchen. Ein erſter Verſuch ſchlägt fehl. Er läßt fich daher von 


einem beliebigen Menſchen in dem Hauſe als Sclave verkaufen und 
befragt, was er verſtünde, antwortet er: „Ich weiß Alles ſehr gut zu 
bereiten, was man an den Tafeln der Herren ißt und gewiß wird 
meinesgleichen in dieſer Kunſt nirgends gefunden. Denn fürwahr, 
ich ſage dir, auch wenn du dem König ein Mahl zurichten wollteſt, 
ich kann dir königliche Gerichte machen, und keiner beſſer, als ich.“ 
Da ſagte der Herr: „Sonntag iſt vor der Thür, ich werde meine 
Nachbarn und Verwandten einladen; mache mir alſo ein Mahl, daß 
ſie ſich wundern und ſprechen: In des Königs Hauſe haben wir es 
nicht beſſer geſehen.“ Und jener ſprach: „Mein Herr laſſe mir nur 
eine Menge von jungen Hühnern herbeiſchaffen, und ich werde thun, 
wie er befiehlt.“ 

In der That fällt das Diner zur vollen Zufriedenheit aller Be⸗ 
theiligten aus. Und Leo iſt nun der erklärte Günſtling des Herrn, 
der ihm die größte Macht in ſeinem Hauſe einräumt. 

Nach Verlauf eines Jahres, der Herr iſt vollkommen ſicher ge— 
macht, geht der Koch mit dem Pferdeknecht Attalus auf eine Wieſe, 
und, abſeits von den Uebrigen liegend, verabreden ſie die Flucht für 
die nächſte Nacht. 

Es hatte aber jener Deutſche gerade wieder viele feiner Ver⸗ 
wandten zum Mahle geladen, unter dieſen auch ſeinen Eidam. Als 


262 Franz Grillparzer. 


ſie nun um Mitternacht vom Mahl ſich erhoben, da folgte Leo dem 
Eidam ſeines Herrn in ſein Gemach und reichte ihm den Schlaftrunk. 
Da ſprach dieſer zu ihm: „Mein Schwäher überläßt dir Alles, ſo ſag 
mir doch, wenn du es kannſt: wann willſt du ihm ſeine Pferde 
nehmen und dich auf den Weg in die Heimat machen?“ So ſprach 
er in guter Laune zum Scherze. Jener aber ſagte auch im ſcherzen⸗ 
den Tone ihm die Wahrheit und ſprach: „Ich denke noch in dieſer 
Nacht, wenn es Gott gefällt.“ Da ſagte jener: „Dann mögen meine 
Diener nur auf der Hut ſein, daß du mir nichts von meinen Sachen 
mitnimmſt.“ So gingen ſie lachend auseinander. 

Als aber alle ſchliefen, rief Leo den Attalus, und als ſie die 
Pferde geſattelt, fragte er ihn, ob er auch ein Schwert habe. Er 
antwortete: „Ich habe nur einen kleinen Speer.“ Da ging jener 
wieder in das Gemach ſeines Herrn und nahm deſſen Schild und 
Schwert. Als der Herr fragte, wer es wäre und was er wolle, 
antwortete er: „Ich bin Leo dein Knecht und wecke den Attalus, daß 
er ſchnell aufſtehe und die Pferde auf die Weide treibe. Denn er 
ſchläft ſo feſt, als ſei er betrunken.“ „Gut“ ſagte jener und ſchlief ein. 

Leo aber ging hinaus, waffnete den Jüngling und fand die Hof⸗ 
thüre durch göttlichen Beiſtand geöffnet. Sie machen ſich nun auf 
den Weg, ſchwimmen auf ihren Schilden über die Moſel, verbergen 
ſich im Walde, ſtärken ſich, nachdem ſie zwei Tage gehungert, an 
einem Pflaumenbaum, verſtecken ſich bei herannahendem Pferdegetrappel 
hinter einem großen Brombeerbuſch und entgehen ſo der Verfolgung 
ihres Herrn, der gerade bei ihrem Verſteck Halt macht und Drohungen 
gegen ſie ausſtößt. In Reims nimmt ſie ein Prieſter auf und ent⸗ 
zieht ſie den Nachſtellungen des Deutſchen. Und von hier gelangen 
ſie endlich nach Hauſe. Da freute ſich der Biſchof, als er ſie ſah, 
und weinte am Halſe ſeines Neffen Attalus, dem Leo aber gab er 
mit ſeiner ganzen Nachkommenſchaft die Freiheit und ein Eigengut. 
Auf dem lebte er mit ſeinem Weibe und ſeinen Kindern als ein freier 
Mann bis an ſein Ende. 

Das iſt der rohe Stoff, den Grillparzer bearbeitete. War die 
Wahl und war die Behandlung glücklich? | 

Das Stück iſt recht intereſſant zu leſen, wenn man die Quelle 
kennt und vergleicht, oder auch wenn man ſie nicht kennt und einen 


Franz n. 263 


gebildeten Sinn für alle Feinheiten in der Behandlung eines ziemlich 
fern liegenden Stoffes mitbringt. Das ſind aber freilich Voraus⸗ 
ſetzungen, die man im Allgemeinen für ein ERDE nicht 
machen darf. 

Wenn in dem Stoff der Gegenſatz zwiſchen fränkiſcher und bar⸗ 
bariſcher Cultur hereinſpielt, ſo hat Grillparzer ſehr geſchickt den 
Kunſtgriff gebraucht, dabei an Franzöſiſch und Deutſch zu erinnern und 
dadurch die einſchlägigen Verhältniſſe uns mundgerechter zu machen. 
Denn ein franzöſiſcher Koch iſt uns ein ſehr geläufiger Begriff und 
auch daß franzöſiſche Köche ihre Herrſchaften tyranniſiren, kommt zu⸗ 
weilen vor. Aber daß Leon, der Held, um den ſich das Intereſſe 
concentrirt, ein Koch von Handwerk iſt, berührt doch ſeltſam und 
ſtimmt nicht zu unſeren Begriffen, da wir uns nicht gegenwärtig 
halten, daß der Koch oder Küchenmeiſter in alter Zeit eine höhere 
ſociale Stellung einnahm. Daß Leon dabei höhere Motive hat und 
dem Biſchof nur aus innerem Drange dient, während ſein Sinn 
eigentlich auf Kriegshandwerk ſteht, hilft wenig. Warum dient er 
ihm juſt als Koch? ö 

Das Charakterbild Leons war durch die Stelle der alten Erzäh⸗ 
lung gegeben, an der er ſcherzend die Wahrheit ſagt und eben dadurch 
verhüllt. Ohne Zweifel war es dieſes Motiv, was den Dichter 
reizte. Und indem er die Frage aufwirft: warum ſpielt Leon ſo 
mit der Wahrheit? gibt er die Antwort: es war die Bedingung, 
unter der allein er den Jüngling befreien darf, und Gewiſſensbedenken 
des Biſchofs ſtecken dahinter. So war der Grundriß des „Luſtſpiels“ 
gewonnen, das im Uebrigen ſich ziemlich genau an die Quelle hält 


And nur die Perſon der Edrita mit den daran hängenden Motiven 


hinzufügt. Es wird durch den moraliſchen Hintergrund nicht inter⸗ 
eſſanter, und als eine Verherrlichung der Wahrhaftigkeit wäre ich 
nicht im Stande daſſelbe anzuſehen. 

Das Stück hat ſeinen Werth hauptſächlich als eine Reihe von 
merkwürdigen Charakterſtudien, wie ich ſchon hervorhob. Alle Figuren 
find trefflich gezeichnet mit der im Ottokar“ zuerſt gewonnenen Sicher: 
heit, Objectivität und Schärfe und mit derſelben wirkſamen Methode, 
daß in Geſinnung, Rede, Handlungsweiſe ſich der Menſch ausprägt 
und daß jedes Wort aus dem Charakter heraus entſpringt und eben ſo 


264 . Franz Grillparzer. 


ſachlich angemeſſen wie für die Individualität bezeichnend erſcheint. 
Nur der Biſchof iſt eine etwas blaſſe theoretiſche Geſtalt und ſein 
Predigen verträgt man nicht. 

Aus bloßen Charakterſtudien entſteht denn freilich kein u 
Luſtſpiel, und die Handlung iſt hier gewiß nicht ſpannend genug. 

In jedem Drama muß eine Frage aufgeworfen ſein, deren 
Löſung zweifelhaft iſt und für deren Löſung der Zuſchauer ausnehmend 
intereſſirt wird. 

Hier dreht ſich Alles um die Frage: ob die Flucht gelingt. War 
aber wohl eine bloße Flucht genügend, um die dramatiſche Spannung 
zu erwecken? In der Erzählung iſt das ein ſehr fruchtbares Motiv, 
da gibt es furchtbare Gefahren und wunderbare Rettungen, tauſend⸗ 
fältigen Anlaß zu athemlos mitfühlender Angſt. Aber es dürfte 
Schwierigkeiten haben, dieſelben Wirkungen mit dramatiſchen Mitteln 
zu erzielen, ſchon weil man die Größe der herannahenden Gefahr, 


den Eifer und die Eile der Verfolger nicht zugleich mit den Bewe⸗ 


gungen der Flüchtenden veranſchaulichen kann. Leicht macht die leb⸗ 
hafte Erzählung eines Verfolgten von ſeiner ausgeſtandenen Gefahr 
größeren Effect auf der Dim; als der Verſuch, dieſe Gefahr ſelbſt 
darzuſtellen. 


Auch im Drama iſt eine Flucht nichts Seltenes, aber meiſt nur 


der Augenblick des Aufbruchs und meiſt ſo, daß noch ein anderes 
Intereſſe daran hängt, zwei Liebende, die ſich dadurch erringen und 
angehören, deren Lebensglück daran geknüpft iſt. 

Nun freilich liebt Edrita den Leon und Leon liebt ſie auch und 
Attalus nicht minder. Aber letzterer begibt ſich doch gleichmüthig auf die 
Flucht, und daß Leon nicht unempfindlich iſt, kommt nur ſo beiläufig 
heraus, und Edrita thut wenigſtens, als ob ſie ihn entbehren könnte. 
So hat man das Gefühl, als ob Liebe hier keine beſondere Rolle 
ſpiele. Das Intereſſe aber an der gelingenden Flucht iſt auch nicht 
ſehr lebhaft. Man denkt, wenn ſie erwiſcht würden, Leon wäre dreiſt 
genug und klug genug, um alle Schwierigkeit zu überwinden. Jeden⸗ 
falls würde es ihm nicht ans Leben gehen, da er Edrita und ſeine 
Kochkunſt zu Verbündeten hat. Und ob Attalus Kattwalds Pferde 
hütet oder bei ſeinem biſchöflichen Oheim iſt, das bleibt uns ſehr 
gleichgiltig. 


| Franz Grillparzer. 265 


Zum Ueberfluß merkt man am Schluß, daß es mit dem Motto: 
„Weh dem, der lügt“ nicht gar ſo ernſt gemeint war. Gregorius 
würde ſich freuen, den Neffen wieder zu haben, auch wenn es mit der 
Heilighaltung der Wahrheit noch viel weniger glatt abgegangen wäre. 


Eſther. 


Als Racine ſeine „Eſther“ für die jungen Damen von Saint⸗ 
Cyr verfaßte, da machte er es ſich zum Grundſatz, die Erzählung der 
heiligen Schrift ſo wenig als möglich zu verändern. Er glaubte, wie 
er ſich in der Vorrede ausdrückt, ſeine ganze Handlung mit den 
Scenen füllen zu können, welche ſozuſagen Gott ſelbſt entworfen habe. 

Wie weit Grillparzer ſich an den Bericht der Bibel gehalten 
haben würde, können wir aus den beiden erhaltenen Acten nicht be⸗ 


urtheilen. Nur ſo viel ſcheint klar: Grillparzer bereitet das Complott, 
das in der altteſtamentlichen Novelle Mardochai entdeckt, durch die. 


Andeutungen von einer Partei der Vaſthi vor, welche etwas für die 


entthronte Königin unternehmen will. Er nimmt alſo an, daß die 


Verſchwörung zu Gunſten der Vaſthi ſtattgefunden hat. 

Es verſchweigt ferner Eſther auch im Drama ihre Abkunft und, 
wie in der Bibel, iſt Mardochai daran ſchuld: was aber Grillparzer 
ſehr fein motivirt. Eſther wünſcht die ihr zugedachte Ehre abzulehnen 
durch das Bekenntniß, daß ſie Jüdin ſei. „Schweig, ſchmähſt du die 
Deinen?“ ruft ihr Mardochai zu. 

Wahrſcheinlich ſchloß ſich daher Grillparzers Plan auch im Ueb⸗ 
rigen ziemlich nahe an die bibliſche Erzählung an, nur daß er wohl 
zwiſchen der Verſchwörung und dem Geſetze gegen die Juden nicht 
eine längere Zeit verſtreichen ließ und beides in engere Verbindung 
brachte. Etwa ſo. ö 
Die Intrigen der für Vaſthi gewonnenen Höflinge richten ſich 

naturgemäß gegen die neu erwählte Königin. Sie erfahren, daß ſie 
Jüdin iſt und gründen darauf ihren Plan. Es kommt ihnen zu 
Hilfe, daß der kleinliche Haman über Mardochai erboſt iſt, weil 
dieſer ſich nicht vor ihm niederwirft. Sie wiſſen ihn daher zu jenem 
Geſetz gegen die Juden zu vermögen, das er beim König auswirken 
und das indirect die neue Königin treffen ſoll. Mardochai erfährt 


* 


266 Franz Grillparzer. 


das, wendet ſich an Eſther, und die Rettung der Juden vollzieht ſich 
dann wie in der Schrift. 

Der Charakter der Eſther ergab ſich für Grillparzer wohl aus 
der Scene, wie ſie zum König geht, eine Art Opferlamm, pflichttreu 
und ſelbſtlos. Daß er Mardochai und Eſther auf dem Lande wohnen 
läßt, dadurch gewinnt er einen ſchönen Hintergrund für die Einfach⸗ 
heit der künftigen Königin. Sie iſt etwas ſchwach und abhängig von 
dem Oheim. Er muß ſie leiten. Sie hat keinen Sinn für die großen 
Schickſale ihres Volkes. Gerade wie in der Bibel Mardochai es iſt, 
der ſie antreiben muß, dem Könige zu nahen. 

Bei Grillparzer iſt Haman die Veranlaſſung, daß in ſo gewalt⸗ 
ſamer Weiſe ein Erſatz für Vaſthi geſucht wird. Haman hat das 
Hohne vorherige Zuſtimmung des Königs ins Werk geſetzt. Solche 
Eigenmächtigkeit des Miniſters deutet die Bibel in einem anderen 
Zuſammenhange dadurch an, daß er zum voraus den Galgen für 
Mardochai errichten läßt. 

Grillparzer erreicht durch dieſe Einmiſchung des Haman, daß 
er ihn von vornherein in die Handlung verwickelt (was in der Bibel 
mangelt) und den Charakter des Königs hebt. Zugleich iſt das Motiv 
für das Verhältniß des Letzteren zu ſeinen Höflingen damit gegeben. 

Für das Charakterbild Hamans lagen einige weſentliche Züge 
ſchon im alten Teſtament bereit: ſo die Kleinlichkeit, mit der er ſich 
rühmt, wie gnädig der König gegen ihn ſei und daß er bei Eſther 
allein mit dem Könige eſſen dürfe; ferner daß er auf die Ehrenbezei⸗ 
gung fo viel hält. So ſtellt ihn auch Grillparzer dar. Er beob⸗ 
achtet eiferſüchtig, ob die Höflinge ihm freundlich ſind oder nicht. 
Er fühlt ſich ganz abhängig von der königlichen Gnade und Gunſt. 
Dieſe iſt ſein Lebenslicht. Der Dichter brauchte ihn ſo, um ſeine 
ſpätere Feindſchaft gegen Mardochai zu begründen. — 

So viel glaubte ich über Grillphrzers „Eſther“ nach den Gelben 
vorhandenen Acten vermuthen und bemerken zu dürfen. Nähere 
Unterſuchung würde vielleicht ergeben, daß die Eſther des Lope de 
Vega ihm in einzelnen Zügen zum Vorbilde diente. Der Dichter 
ſelbſt hat ſich über die beabſichtigte Fortſetzung nur einmal aus⸗ 
geſprochen, und Frau von Littrow danken wir die Mittheilung ſeiner 
Aeußerungen, welche zum Theil ſo ſeltſam klingen, daß man die oft 


Franz Grillparzer. 267 


beklagte Schwäche ſeines Gedächtniſſes dafür verantwortlich machen 
möchte. | | 

Die Verſchwörung der Partei der Vaſthi iſt ein Mordanſchlag 

gegen Eſther. Hamans Haß gegen die Juden ſollte blos durch ſeinen 
Haß gegen Mardochai motivirt werden, der ihm die Ehrerbietung 
vorenthält, welche er verlangt, und den er „für einen Feueranbeter 
oder Juden“ hält. 
„H5Haman ſtellt nun dem Könige vor, wie die Verſchiedenheiten 
der Religionen im Staate nicht zu dulden ſeien und welche Gefahren 
daraus entſpringen können. Hier wäre eine große Scene über das 
Recht des Staates der Religion gegenüber, über die Stellung der 
Religion im Staate, über Glaubensfreiheit, politiſche Rechte und 
kirchliche Satzungen gekommen.“ 

Grillparzer bemerkte bei dieſer Gelegenheit, daß erſt die Heirat 
des Erzherzogs Karl mit der Prinzeſſin Henriette von Naſſau-Weil⸗ 
burg, einer Proteſtantin, in der Wiener Bevölkerung auf die Ideen 
der veligiöfen Duldung geführt hätte, welche früher in Oeſterreich 
noch ganz fern lagen, jetzt aber in der Geſellſchaft und in den Fami⸗ 
lien vielfach beſprochen wurden. Eben dieſe Ideen hatten Grillparzer 
bei der Wahl des Stoffes geleitet: die Religion und nicht die Liebe 
ſollte den Inhalt des Dramas bilden. 

Die Heirat des Erzherzogs Karl fand bereits im Jahre 1815 
ſtatt. Man darf daher Grillparzer nicht ſo misverſtehen, als ob ein 
unmittelbarer Zuſammenhang zwiſchen dieſer Heirat und ſeiner Eſther 
obwalte, welche jedenfalls nicht zu ſeinen früheſten Arbeiten gehört. 
Doch kann man freilich nicht wiſſen, wie lange der Stoff ihn ſchon 
beſchäftigte. , 

Von der Heldin des herrlichen Fragmentes und nicht minder von 
dem König Ahasverus haben wir uns, wenn wir dem Dichter Glau— 
ben ſchenken wollen, wie wir ſchließlich müſſen, eine ganz falſche Vor⸗ 
ſtellung gebildet oben S. 225). 

Das Geſetz gegen die Juden ſollte bei Grillparzer nicht Tod 
und Galgen, ſondern nur die Auslieferung der heiligen Bücher und 
die Unterdrückung ihres Cultus verhängen. Da befiehlt Mardochai 
der Eſther, für ihr Volk einzutreten und zu erklären daß ſie den Ver⸗ 
folgten angehöre. „Dieſe aber iſt durch Schweigen über ihre Religion 


268 Franz Grillparzer. 


eine Königin geworden, durch Verheimlichen iſt ſie es geblieben; ſie 
mag auch den König lieben, umſoweniger aber fühlt ſie Neigung das 
Schickſal der Vaſthi zu erfahren. Sie iſt auch nicht ſo rein geblieben, 
als ſie war, und ſchon durch den Zwieſpalt ihrer Stellung wird ſie 
demoraliſirt.“ Eſther war zur Liebes- nicht zur Tugendheldin be⸗ 
ſtimmt, und ſo weigert ſie ſich dem Gebote des Alten Gehorſam zu 
leiſten. „Sie kann den König für die Juden gewinnen dadurch, daß 
ſie, die Geliebte, dem verhaßten Volke angehört, ſie kann ihn aber 
auch dadurch für ſich verlieren. Das ſollte wieder eine wichtige 
Scene werden, in welcher die ganze Gewalt und Autorität talmudi⸗ 
ſtiſchen Prieſter- und Rabbinerthums ſich geltend machen konnte, durch 
welche die rebelliſche und gottesläugneriſche (gottverläugnende?) Tochter 
von der Hoffahrt der Welt zur Unterwerfung und zum Gehorſam 
unter die Herrſchaft des Glaubens gebracht wurde.“ 

Hierauf ſollte die bibliſche Entwickelung folgen bis zur Erhöhung 
Mardochais und dem Sturze Hamans. Haman erkennt in Eſther, 
die nun offen als Jüdin auftritt, eine Feindin, mit welcher zu 
ringen nicht mehr in ſeiner Gewalt ſteht. „Im nächſten Act liegt er 
vernichtet, Gnade flehend, zu der Königin Füßen, welche er zu um⸗ 
faſſen ſucht; ſie weiſt ihn kalt ab, indem ſie dieſelben gleichgiltig auf 
die Bank oder auf das Ruhebett, auf welchem ſie ſitzt, herauf zieht, 
und läßt Haman ſterben.“ | 

Eſther iſt „durch Intrigen hart geworden“. Die Entſtellung der 
Wahrheit, die Verläugnung ihres Glaubens, darin liegt der Kern 
des Verderbens von Anfang an. Und wenn ſie darin nur dem 
Wunſche des Oheims ſich fügte, ſo erkennen wir wieder das Grill⸗ 
parzeriſche Princip der Vertheilung und Abſchwächung der Schuld. 
Wir erkennen zugleich, daß auch in dieſem Stücke Privattugend und 
öffentliche oder nationale Tugend mit einander im Streit lagen. 

Und das Ende? „Eſther ſtirbt oder führt ein qualvolles Leben 
neben dem krankhaft erregten König, nachdem ihr ſelbſt die Rolle 
Hamans zugefallen iſt, den Launen des Gebieters zu fröhnen und ſie 
Mardochai, entweder weil er zu alt oder weil er auch ſchon geſtorben, 
nicht mehr zur Seite hat, um ſich gegen die nun ſie allein bedrohen⸗ 
den Stimmungen des unſtäten Despoten aufrecht zu erhalten.“ 

Man möchte Grillparzer faſt zürnen, wenn er im Stande ge- 


Franz Grillparzer. 269 


weſen wäre, ſeine eigenen, von ihm ſelbſt geſchaffenen idealen Ge⸗ 
ſtalten ſo — ich weiß kein anderes Wort — ſo herunterkommen zu 
laſſen. Vielleicht iſt es gut, daß wir nur das Fragment beſitzen. 


N 
Reliquien. 


Ich habe nicht die Abſicht, Grillparzers ganzen Nachlaß aus— 
führlich zu beſprechen. Ich ſuche in ihm überall den Dramatiker, 
und ſeine Werke ſind mir wichtiger als ſeine Perſönlichkeit. Zur per⸗ 
ſönlichen Charakteriſtik aber dienen die meiſten proſaiſchen Aufſätze 
und Notizen, die nach ſeinem Tode ans Licht traten und die drei 
letzten Bände der Sämmtlichen Werke 8 Der Eindruck iſt 15 
überall erfreulich. 

Die öſterreichiſche Mundart hat ein prächtiges Wort für an⸗ 
dauernde Unzufriedenheit und Verdrießlichkeit die ſich in klagenden 
und anklagenden Worten ergießt ohne ſich je zum Zorn zu ſteigern. 
Man nennt das: Raunzen. Die Altöſterreicher, die wenig Urſache 
hatten, die Zuſtände in denen ſie lebten als gut zu acceptiren oder 
in fortſchreitender Beſſerung zu erblicken, und die in ihrem eigenen 
Wohl und Wehe vielfach durch ſolche Zuſtände beſtimmt wurden, — 
die Altöſterreicher können nach dem Unterſchied der Charaktere in 
Schimpfer und Raunzer eingetheilt werden. Die erſteren machen ſich 
in einzelnen böſen Ausbrüchen Luft und nehmen im Uebrigen das 
Leben heiter und leicht. Die Raunzer aber kommen nie recht zum 
Behagen und ſind in einen unerquicklichen Gemüthszuſtand wie in 
einen Käfig eingeſchloſſen. Grillparzer gehörte zu den Raunzern, 
und das iſt es was die Selbſtbiographie partienweiſe zu einer wenig 
angenehmen Lectüre macht. 

In den Reflexionen und Notizen finde ich manche Ausſprüche 
von wunderbarer Tiefe und Weisheit, andere von überraſchender 
Schärfe und ſchlagender Wahrheit, viele aber auch von einer ſo ſelt— 
ſamen Schiefheit und Beſchränkung, daß ich mich ſehr künſtlich nur 
zu einer Art von Verſtändniß hindurcharbeiten kann. Eigenthümlich 
iſt Grillparzer überall, aber auch der Grillenhafte iſt eigenthümlich. 
Indeſſen bin ich wohl kaum in der Lage, hier gerecht zu urtheilen. 


270 Franz Grillparzer. 


Grillparzer ſchlägt ſich fortwährend mit den „deutſchen Pedanten“ 
herum, zu denen ich unzweifelhaft gehöre. Die deutſche Alterthums⸗ 
wiſſenſchaft iſt ihm ein Greuel, Gervinus beehrt er mit ſeinem ſpe⸗ 
ciellen Haſſe: Geiſtesrichtungen und Perſonen, in deren Verehrung ich 
aufgewachſen bin, werden von ihm auf das feindſeligſte zurückgewieſen. 
Mögen andere unterſuchen, wie auch das mit ſeiner Art und Bedeu⸗ 
tung eng und nothwendig ba n ee ich begnüge mich die That⸗ 
ſache zu erwähnen. 

Höchſt werthvoll war mir jedes Wort, worin er ſich über Fragen 
der dramatiſchen Technik ausſpricht, und es gereichte mir zur beſon⸗ 
deren Freude, manchen Geſichtspunct ausdrücklich beſtätigt zu finden, 
unter dem ich ſeine Production betrachtet hatte. Die Studien über 
das ſpaniſche Theater, beſonders über Lope de Vega, vermag ich nur 
unvollkommen zu würdigen. 

Zur Schilderung ſeiner eigenen Perſönlichkeit liefert Grillparzer 
die wichtigſten, zum Theil tiefeindringende Bemerkungen. Aber, wie 
er oft hervorhebt: er iſt ein Sclave der Inſpiration. Er iſt es in 
ſeiner dichteriſchen Thätigkeit, er iſt es auch in der Selbſterkenntniß. 
Auf irgend eine Region ſeines Inneren fällt ihm plötzlich ein grelles 
Licht. Aber in gleichmäßiger Tageshelle und allſeitiger Beleuchtung 
hat er ſein Inneres kaum je überſchaut. Und am beſten kennt ihn 
doch, wer ſich die Grundzüge ſeines Weſens aus ſeinen Werken zu⸗ 
ſammenzuſetzen ſucht. 


Libuſſa. 


König Krokus von Böhmen liegt im Sterben. Seine jüngſte 
Tochter Libuſſa will eine heilende Pflanze holen. In einem waldigen 
Thal ergreift ſie der Gießbach. Ihr Schrei tönt durch die Nacht. 
Ein Landmann, Primislaus, errettet ſie. Im Anfang des Stückes 
kleidet ſie ſich in ſeiner Hütte um und er wartet auf ſie. In den 
Kleidern ſeiner Schweſter tritt ſie auf und wird von ihm geleitet, 
auf ſeinem Roſſe kehrt ſie nach Hauſe zurück. 

Unterdeſſen iſt der Vater geſtorben. Ihre älteren Schweſtern 
verſchmähen den Thron, Libuſſa aber fühlt ſich dem Volke näher, die 
Begegnung mit Primislaus hat ſie verwandelt, das Kleid der Bäurin 


2 


Franz Grillparzer. 271 


ſcheint ihr neue Empfindungen zu geben, fie trennt ſich von den 
Schweſtern: 
Denk ich von heut 
Mich wieder hier in eurer ſtillen Wohnung 
Beſchäftigt mit — weiß ich doch kaum womit — 
Mit Mitteln zu den Mitteln eines Zwecks: 
Mit Mond und Sternen, Kräutern, Lettern, Zahlen, 
Dünkts allermeiſt einförmig mir und kahl. 
Dieß Kleid, es reibt die Haut mit dichtern Fäden 
Und weckt die Wärme bis zur tiefſten Bruſt; 
Mit Menſchen Menſch ſein, dünkt von heut mir Luſt. 
Des Mitgefühles Pulſe fühl ich ſchlagen, 
Drum will ich dieſer Menſchen Krone tragen. 


Sie erwartet kindliches Vertrauen von dem Volke und in dieſem 
Sinn erfaßt ſie ihre Aufgabe. Aber das patriarchaliſche Frauen⸗ 
regiment erweiſt ſich auf die Dauer unzulänglich. Reelle Kämpfe um 
Mein und Dein erfordern einen ſtarken Richter. Der Adel, die 
Wladiken drängen in ſie, einen Mann zu wählen. Sie denken an 
A ſich dabei: Libuſſa gedenkt der Begegnung im Walde. Sie hält fie 
mit einem Räthſel hin, das auf Primislaus berechnet iſt, das nur 
Er löſen kann und wirklich löſt: aber er bleibt in der Einſamkeit 
1 und naht ſich nicht dem Hofe. Libuſſa bezeichnet den Mann und 
7 läßt ihn holen, fein Roß geleitet die Boten. Aber Primislaus kommt 
als einfacher Landmann und bringt ſeine Gaben dar, er neckt die 
Fürſtin ſeinerſeits mit dunklem Räthſelworte und die Krone ſcheint er 
abſichtlich zu verſcherzen. Er kritiſirt das Thun der Weiber, jedes 
Wort zeigt den gebornen Herrſcher voll Sicherheit und Selbſtgefühl. 
Vor dem Ohre der verhüllten Libuſſa ſchildert er ſeine Leidenſchaft 
zu ihr, macht ihre Eiferſucht rege und läßt ſchon jetzt ſeine Macht 
ſie fühlen. In aufwallendem Zorne bedroht ſie ſcheinbar ſein Leben, 
ein Volksaufſtand will ihn befreien, aber ſie iſt jetzt entſchloſſen: ſie 
macht ihn zu ihrem Gemal, zu ihrem und des Volkes Herrn. 

Libuſſa iſt glücklich durch die Ergebung in den Willen ihres 
Mannes, der ſeinerſeits äußerlich doch ſtets ihr Unterthan zu bleiben 
ſcheint. Das Volk wird regiert und gefördert. Eine Stadt ſoll ge⸗ 
gründet werden, Prag, und Primislaus wünſcht das Werk als 
Götterwille angeſehen, Libuſſa ſoll als Prieſterin es weihen und die 


272 Franz Grillparzer. 


Zukunft künden. Sie ſträubt ſich, fühlt ſich ſchwach und fürchtet zu 
erliegen, wagt es dennoch, von prophetiſchem Geiſt übermannt. Allein 
es iſt ihr Tod. Nach langen weisheitsvollen Reden, worin Grill⸗ 
parzer ſich, wie in ſeinem „Bruderzwiſt“, nicht enthalten kann, die 
Revolution vorauszuſagen, wo „Freiheit ſich wird nennen die Gemein⸗ 
heit und als Gleichheit brüſten ſich der dunkle Neid“; worin auch 
nach einer jetzt verſchollenen aber früherhin eine Zeit lang ſehr be⸗ 
liebten Theorie den Slaven die Weltherrſchaft verheißen wird — ihre 
Größe bricht nach dem Zeitalter der Germanen an, „der letzte Auf⸗ 
ſchwung iſts der matten Welt“ — nach dieſen und anderen tiefen 
Reden bricht Libuſſa am Altare nieder und ſtirbt. 

Dies iſt der Verlauf des Stückes. So oft ich es leſe, kommt 
es wie Traum und Nebel über mich. Alles ſchwebt in einem un⸗ 
gewiſſen Licht. Aus der Sprache iſt das dramatiſche Leben beinah 
völlig geſchwunden, weiſes Räthſelwort verſtrickt uns, wir erwägen 
mehr als wir empfinden, wir betrachten mehr als wir bewegt ſind. 

Ich glaube, Grillparzer hat dieſe Stimmung hervorbringen 
wollen. Er hat abſichtlich Märchendämmerung um uns ausgegoſſen. 
Wir befinden uns ja nicht in der wirklichen Welt, obgleich es der 
Dichter ſorgfältig vermeidet, das Wunderbare allzu ausdrücklich herbei⸗ 
zuziehen. Nur wie aus der Ferne erfahren wir von Krokus und 
ſeiner göttergleichen Frau; die überirdiſche Abkunft der Schweſtern 
wird mehrfach betont, aber ſie dringt ſich nicht mit thatſächlichem 
Berichte auf. Die Methode der Charakteriſtik ſcheint eigens für den 
beſtimmten Eindruck berechnet. Es fehlen hier ganz die zufälligen 
charakteriſirenden Züge, die Grillparzer ſo reich zu Gebote ſtehen, wo 
er ſie will. Das kleine thatſächliche Detail, das eine gewiſſe Porträt⸗ 
ähnlichkeit hervorbringt und den Schein des wirklichen Lebens erweckt, 
iſt hier weggelaſſen; und wo ſolche Züge vorkommen wie daß Pri⸗ 
mislaus nicht leſen kann und nicht die ritterlichen Waffen führt, da 
haben ſie eine andere höhere Bedeutung. Wie uns die drei Wladiken 
als der weiſe Lapak, der reiche Domaslav und der ſtarke Biwoy 
vorgeſtellt werden und dann nur in jeder beſtimmten Situation dieſe 
Eigenſchaften jeder in ſeiner Weiſe bewähren: ſo ſind auch die an⸗ 
dern Figuren auf ganz allgemeine Qualitäten und Contraſte angelegt. 
Wenn man den Begriff der Regententugend in ſeine Merkmale auflöſt, 


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Franz Grillparzer. 273 


edel, klug, tapfer, ſtark, gerecht, vorſichtig, vor allem ſtolz, und dieſe 


nach der Reihe in Scene ſetzt an dem Verhalten eines einzelnen 


Menſchen, ſo hat man Primislaus. 
Dagegen iſt in Libuſſa ein Element der Sprödigkeit wie in Hero. 
In den „Jugenderinnerungen“ auf die ich mich ſchon oben bei der 


Sappho berief (S. 209) ſchildert Grillparzer eigene Liebeserfahrung 
wie folgt: 


In Glutumfaſſen ſtürzten wir zuſammen, 

Ein jeder Schlag gab Funken und gab Licht; 
Doch unzerſtörbar fanden uns die Flammen, 

Wir glühten, aber ach, wir ſchmolzen nicht. 
Denn Hälften kann man aneinander paſſen, 

Ich war ein Ganzes und auch ſie war ganz; 
Sie wollte gern ihr tiefſtes Weſen laſſen, 

Doch allzufeſt geſchlungen war der Kranz. 

So ſtanden beide, ſuchten ſich zu einen, 

Das Andre aufzunehmen ganz in ſich, 

Doch all umſonſt, trotz Ringen, Stürmen, Weinen, 
Sie blieb ein Weib, und ich — war immer: ich! 


In der „Libuſſa“ beobachten wir auch zwei Ganze, die ſich zu 
Hälften zu machen ſtreben, und dies unter beſonders erſchwerenden 
Umſtänden. Primislaus muß ſich hüten, nicht der Mann ſeiner 
Frau zu werden. Sicherer Inſtinct leitet ihn, daß er ſtets die Linie 
einhält die gerades Wegs zur Herrſchaft führt. Man könnte ſich 
denken daß Grillparzer zu der Bearbeitung des Stoffes durch vie, 
Vermälung der Königin Victoria angeregt worden wäre. Für ſolche 
fürſtliche Familienangelegenheiten war ſehr viel Sinn im alten Wien 
vorhanden. Die zum Theil höchſt verletzenden Parlamentsverhand⸗ 
lungen über die Apanage und die Naturaliſation des Prinzen Albert 
fanden im Januar 1840 ſtatt und müſſen in dem damals ſo patriar⸗ 
chaliſchen Oeſterreich doppelt aufregend gewirkt haben. Im November 


deſſelben Jahres wurde der erſte Act der „Libuſſa“ aufgeführt. 


Grillparzer ſuchte darin das Problem in ſeiner Weiſe zu löſen 
und eigene Herzenswirrniſſe klangen das Verſtändniß fördernd an. 
Ihn beſchäftigte die Frage, wie wol ein Mann beſchaffen ſein müſſe, 
um die Stellung eines Prinz Gemal auf ſich zu nehmen, und 


welchen Schwierigkeiten das innere Verhältniß eines ſolchen Paares 
Scherer, Vorträge. 18 


274 Franz Grillparzer. 


zu begegnen RS Auch Primislaus und Libuſſa ſehen wir lange 
ringen: doch zuletzt gelingt das Schönſte. Libuſſa lernt die Seligkeit 
der Unterordnung unter einen geliebten Mann. Und es liegt Grill⸗ 
parzers eigene Theorie der Weiblichkeit zu Grunde, wenn er Pri⸗ 
mislaus bemerken läßt: | 


Es ift die Herrſchaft ein gewaltig Ding, 

Der Mann geht auf in ihr mit ſeinem Weſen, 
Allein das Weib, es iſt ſo hold gefügt, 

Daß jede Zuthat mindert ihren Werth. 

Und wie die Schönheit, noch ſo reich geſchmückt, 
Mit Purpur angethan und fremder Seide, 
Durch jede Hülle, die du ihr entziehſt, 

Nur ſchöner wird und wirklicher ſie ſelbſt, 

Bis in dem letzten Weiß der Traulichkeit, 
Erbebend im Bewußtſein eigner Schätze, 

Sie feiert ihren ſiegendſten Triumph — 

So iſt das Weib, der Schönheit holde Tochter, 
Das Mittelding von Macht und Schutzbedürfniß, 
Das Höchſte, was ſie ſein kann, nur als Weib, 
In ihrer Schwäche ſiegender Gewalt. 

Was ſie nicht fordert, das wird ihr gegeben, 
Und was ſie gibt, iſt himmliſches Geſchenk; 
Denn auch der Himmel fordert nur durch Geben. 


\ 


89 8 Stolz, der als ein fremder Tropfen dazu kommt, wovon 
Primislaus im Verfolg redet, iſt in Libuſſa zuletzt ganz geſchwunden. 
Von der Macht der weiblichen Schwäche aber hat Grillparzer in der 
„Jüdin von Toledo“ noch ein mehreres gekündet. 

Er bekämpft alſo in der „Libuſſa“ wieder das Unweibliche und 
Ueberweibliche, wie wir ihn ſonſt gefunden haben. Aber dies iſt nur 
Ein Moment in der hohen Symbolik des Ganzen. 

Wie Libuſſa ſich von ihren Schweſtern wendet, ſo ſcheiden ſich 
die mittelalterlichen Gegenſätze des handelnden und beſchaulichen 
Lebens. Libuſſa verläßt die unfruchtbare Beſchaulichkeit, die egoiſtiſche 
Abſchließung im geiſtigen Genuſſe; ſie tritt ins handelnde Leben. 
Aber ſie ſtammt von übermenſchlichem Geſchlecht, ſie iſt zu hoch, zu 
rein für die Erde, ſie kann nicht feſten Boden faſſen; erſt als ſie 
einfach nur Weib und Gattin ſein will, da gewinnt ſie das Glück 
und da fühlt ſie ſich wohl — es iſt eine Menſchwerdung und doch 


Franz Grillparzer. 5 275 


eine Verklärung. Daß ſie noch einmal ſich zurück wagt in jene ver⸗ 
laſſenen übermenſchlichen Regionen, das bringt ihr den Tod. 

Wir vernehmen abermals die troſtloſe Weisheit, daß das Edle 
und Hohe zu Grunde gehen müſſe, daß zum Beiſpiel der Dichte 
mit ſeinem Herzblut bezahle (vergl. oben S. 211). 

In Aegypten regierten nach der Sage wert Jahrtausende die 
Götter, dann Jahrtauſende die Heroen, nach ihnen erſt kamen die 
Menſchen. Hier ſtehen wir auf der Scheide der heroiſchen und 
menſchlichen Periode. Libuſſas Schweſtern ziehen von ihrem Stamm⸗ 
ſitz weg, wie in deutſchen Sagen die Zwerge auswandern, wenn 
ihnen das Menſchenvolk zu laut wird. An der Stelle wo ſie in ge⸗ 
heimnißvoller Weisheit ſchwelgten, wird das laute Geräuſch einer 
fleißigen, arbeitſamen, vielthätigen Stadt ſich breit machen. Libuſſa 
aber gehört ihrem Urſprung nach zu ihnen: auch ſie wird aufgezehrt 
von den Anforderungen einer neuen Zeit. Primislaus iſt die Proſa, 
Libuſſa iſt die Poeſie. 

Der Dichter ergreift nicht Partei. Er ſcheint neutral wie das 
Schickſal ſelber. Und ſo ſtimmt er auch uns zu ernſter Betrachtung. 


Die Jüdin von Toledo. 


Der Stoff dieſer Tragödie, ſpaniſche Begebenheiten des zwölften 
Jahrhunderts, wurde Grillparzer durch ein Stück des Lope de Vega 
nahe gebracht, deſſen Inhalt ungefähr folgender ift. *) 

Der erſte Act behandelt ziemlich ungehörig die Jugendgeſchichte 
des Königs Alfonſo des Achten, die Parteikämpfe, welche damals 
Spanien zerriſſen und die Gewinnung von Toledo für den König, 
der noch Knabe iſt. 

Im zweiten Act finden wir den Knaben als Mann, er hat ſich 
mit der engliſchen Prinzeſſin Leonore vermählt. Er ſpricht große 
Zärtlichkeit gegen fie aus, fie erwidert höflich und kühl. Er verab⸗ 
redet mit ihr einen Beſuch der berühmten Gärten Galianas. 


) Eine ſorgfältige Unterſuchung über die Geſchichte des Stoffes gibt E. Chme⸗ 
larz in der Oeſterreichiſchen Wochenſchrift (1872) Bd. 2 S. 481 ff. 551 ff. Vgl. 
Grillparzer Werke 8, 267. 

18 * 


276 | Franz Grillparzer. 


Dort tritt Rahel die ſchöne Jüdin von Toledo mit ihrer Schweſter 
Sibylla auf. Sie hat den Einzug des Königs geſehen, ſpricht aber 
gleich von der Kälte des engliſchen Blutes der Königin, und mochte 
damit — wie Grillparzer bemerkt — auch die Meinung von Lopes 
Zeitgenoſſen treffen, denen eine ſpaniſche Jüdin jedenfalls anziehender 
vorkam als eine Königin aus dem Stamme der verhaßten engliſchen 
Eliſabeth. | | | 

Durch einen Zufall belauſcht der König die Jüdin im Bade 
und wird von ihren Reizen zur höchſten Leidenſchaft entflammt. Er 
ſchickt ſeinen Günſtling Garceran zu ihr. Vergebens ſtellt dieſer dem 
Könige das Unziemliche einer ſolchen Liebſchaft vor, er muß gehorchen 
und führt Rahel in das Gemach des Königs. 

Alfonſo ſucht die um ſeine Abweſenheit beſorgte Königin zu be⸗ 
ruhigen, aber ſeine Pflicht im Kampfe gegen die Mauren will er nicht 
mehr thun, die Regierungsgeſchäfte ſind ihm gleichgiltig, er eilt von 
neuem zu Rahel, für die er einen Gartenpalaſt auf das prächtigſte 
hat einrichten laſſen. Eine ſchwarze Geiſtererſcheinung vertritt ihm 
mit warnender Stimme die Pforte, aber die Hand am Schwerte 
dringt Garceran zuerſt ein. 

Inzwiſchen hat die Königin die angeſehenſten Großen des Reiches 
auf ihr Schloß beſchieden. Sie erſcheint in Trauerkleidern, den In⸗ 
fanten Enrique auf dem Arm, vor der Verſammlung und hält den 
Granden ihre eigene Schmach ſo wie die Gefahr für das Reich und 
den Glauben vor, indem ſie am Schluſſe von ihnen die Ermordung 
der Rahel fordert. Die Großen gerathen in gewaltige Aufregung und 
ſchwören, das Verlangen der Königin zu erfüllen. 

In der nächſten Scene unterhalten ſich Alfonſo und Rahel am 
Tajo durch Fiſchfang. Sie ziehen üble Vorzeichen aus dem Waſſer. 
Rahel iſt kaum in ihre Wohnung eingetreten, als ſich die Erfüllung 
naht. Sie erhält Kunde von dem Anſchlag auf ihr Leben; aber die 
Warnung kommt zu ſpät, die Verſchwornen dringen ein und m. 
fie nebſt ihrer Schweſter nieder. 

Alfonſo erfährt den Mord und iſt wüthend; die Königin die zu 
ihm kommt fährt er rauh an und eilt unverſöhnt davon. In einem 
leidenſchaftlichen Monolog ſpricht er ſeinen Schmerz, ſeine ſchwärmeriſche 
Liebe und ſeinen Durſt nach Rache aus. Da erklingt himmliſche 


Tas, 1 2 


Re 


ERENTO 


Franz Grillparzer. | 277 


* 


Muſik, ein Engel erſcheint, wirft dem König ſeine Rachſucht vor und 


droht ihm mit dem Zorn des Himmels, wenn er in dieſer Geſinnung 


verharre. Reuig und zerknirſcht bricht Alfonſo auf. 
NMaun kommt der übervortreffliche Schluß des Ganzen — ſagt 
Grillparzer — ſo vortrefflich, daß ich ihm an Innigkeit beinahe nichts 
im ganzen Bereiche der Poeſie an die Seite zu ſetzen wüßte. Der 
König, der an den Hof zurück will, und die Königin, die ihrem 
Gatten entgegenreiſt, treffen, ohne von einander zu wiſſen, in einer 
Kapelle zuſammen, in der ein wunderthätiges Bild der Muttergottes 
zur Verehrung aufgeſtellt iſt. Sie knien, von einander entfernt, 
nieder und fangen an, in lauten, ſich durchkreuzenden Worten ihr 
Herz vor der Gnadenmutter auszuſchütten. Der König, der ſich da⸗ 
durch in ſeiner Andacht geſtört findet, ſchickt ſeinen Kämmerling 
(Garceran), die fremde Dame um Mäßigung ihres lauten Gebetes 
zu erſuchen. Die Königin lehnt die Botſchaft ab. Sie habe ihren 
Gatten verloren und ſei in ihrem Rechte, zu klagen. Indeſſen iſt ihr 
Kammerfräulein (Clara) zu dem Kammerherrn des Königs (ihrem 
geliebten Garceran) hingekniet, die Erkennungen tauſchen ſich aus, 
und das fürſtliche Ehepaar feiert ſeine Verſöhnung vor dem Altar 
der Gebenedeiten.“ 

Die Königin hat ſich in dieſer Scene ſehr erniedrigt, ſie bittet 
um Verzeihung, ſie ſei der Umarmung des Königs nicht werth. — 

Der Stoff iſt noch mehrfach behandelt, in Spanien und außer⸗ 
halb Spaniens, in Romanen, Novellen, Dramen. Der Franzoſe 
Cazotte leitet Alfonſos wunderbare Leidenſchaft von einem Zauber ab, 
von einem Bilde des Königs das die Jüdin, von einem Bilde der 
Jüdin, welches der König auf der Bruſt trägt: correſpondirende 
fremdartige Schriftzüge ſind auf beiden verzeichnet. Sowie dem 
Könige das Bild genommen iſt, weicht der Bann von ihm, und er 
iſt geheilt. 

Grillparzer hat dieſen Zug benutzt, aber in der feinſten Weiſe. 
Der Zauber erſcheint bei ihm nur als ein Aberglaube der Betheiligten, 
etwa wie wenn Gretchen das Blumenorakel fragt, ob Fauſt ſie liebe. 
Rahel glaubt daran und die Königin glaubt daran, Alfonſo ſelbſt iſt 
nicht immer ganz unberührt. Dem Zuſchauer aber ſucht der Dichter den 


8 reinmenſchlichen Vorgang aus reinmenſchlichen Gründen klar zu machen. 


278 Franz Grillparzer. 


Im Uebrigen kann man Grillparzers Stück nur mit dem des 
Lope vergleichen. Lopes erſter Act fällt natürlich weg, dieſe Be- 
gebenheiten liegen vor dem Beginn des Dramas, der König erzählt 
ſie ſeiner Gemalin. Die große Scene, worin Leonore die Granden 
zur Rache aufruft, iſt beibehalten. Auch das Liebesverhältniß zwiſchen 
Garceran und dem Hoffräulein findet ſich wieder. Der Verlauf im 
Ganzen iſt derſelbe, aber die Führung der Handlung im Einzelnen 
mußte faſt durchweg anders werden, ſchon nach den Anforderungen 
des heutigen Publicums, nach den Bedingungen der heutigen Bühne. 
Weder konnte das allzu vulgäre Motiv des Belauſchens im Bade 
Anwendung finden noch die Engelerſcheinungen, die Vorbedeutungen 
und anderes Eingreifen überirdiſcher Mächte. Selbſt die letzte von 
Grillparzer hochbewunderte Scene hat für uns etwas — ich weiß 
nicht ob ich das rechte Wort gebrauche: etwas zu Opernhaftes, als 
daß eine Nachbildung gewagt werden durfte. 

Erklärt mußte werden, wie die Leidenſchaft den König plötzlich 
anfliegen und wie fie ihn wieder verlaſſen konnte. Um dieſen PBunct 
dreht ſich die Bemühung des Dichters. Die Erklärung mußte ge⸗ 
ſucht werden in den Charakteren der betheiligten Menſchen. 

Rahel, die ſchöne Jüdin, iſt wieder eine dramatiſche Schöpfung 
vom erſten Rang. 

Der Jude Iſaak hat eine Tochter aus erſter Ehe, ein braves 
einfaches Mädchen, beſonnen und klug, tapfer wo es gilt, Namens 
Eſther Lopes Sibylla); ihre Mutter war arm und brav wie ſie. 

Iſaaks zweite Frau war reich, verſchwenderiſch, genuß⸗ und 
putzſüchtig. Sie lebte in Saus und Braus, kaufte Schmuck und Edel⸗ 
ſtein und ſah nach hübſchen Chriſten aus: ihr Mann mußte ſie 
ſtrenge bewachen. Ihre Tochter iſt Rahel, auch ſie Ebenbild ihrer 
Mutter. Sie tritt uns entgegen ſchmuckbehangen und in ſtolzen 
Kleidern prangend, maßlos eitel, verwöhnt, verwildert, heftig, ein 
verzogenes Kind, das ſeine Umgebung beherrſcht und Alles thut was 
ihr durch den Sinn fährt. Wie die Kinder nach den Sternen, ſo 
greift ſie nach dem König: er iſt für ſie ein Schmuckſtück, ein Glanz⸗ 
ding, womit ſie ſich behängen möchte. Sie will ihn erſt nur ſehen, 
dann malt ihre eitle Phantaſie ſich aus, er auch werde ſie bemerken, 
ihre Schönheit loben, ſie in die Backe kneipen — und Andere werden 


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Franz Grillparzer. 279 


ſie darum beneiden: elementarſte Eitelkeit, die ſich freut den Aerger 
und den Neid zu wecken! Die glanzlüſterne Phantaſie führt ſie weiter, 
mit allen Mitteln der Kofetterie, mit kindiſchem Zauber, wovon fie nur 


dunkel gehört, ſucht ſie den König zu erringen und feſtzuhalten. 


Und doch kann man kaum ſagen: fie ſucht, fie will. Alles 
ſcheint mehr Laune und Eingebung als feſter Entſchluß. Bewußt und 
Unbewußt iſt nirgends zu ſcheiden, Koketterie und Naivetät fließen 
zuſammen. Und wenn ſie eine Abſicht leitet, ſo iſt doch ihr eigenſtes 
Sein ihr beſter Bundesgenoſſe dabei. Sie iſt keine durchtriebene, 
gleichſam geſchulte Kokette, aber eine kokette Natur, ein Weib, worin 
alle Inſtincte des Gefallens auf das höchſte ausgebildet find. 

Der ſtarke Reiz, der in ihr wohnt, iſt der unerklärliche Zauber 
des Unlogiſchen und des Launiſchen in den Frauen. Vielleicht be⸗ 
ſteht der Zauber eben in der Unerklärlichkeit. Der raſche Wechſel, 
das Bunte, immer Neue, jetzt Thränen der Verzweifelung, in der 
nächſten Minute ein ſeliges Lächeln wie von heimlichem Glück; 
heute ſtürmiſch und brauſend, morgen kalt und vornehm; jetzt ſchwer 
und düſter in ernſten Gedanken, dann luſtig und leicht wie ein jubi⸗ 
lirendes Vöglein — ſo erſcheint uns die ewige Natur ſelbſt in ihrem 
unerſchöpflichen Reichthum. 

Rahel iſt „eine Thörin, die ſich zehnmal in jedem Athemzuge 
widerſpricht.“ Sie zeigt uns auch in ihren Empfindungen den jäheſten 
Wechſel von Furcht und Verwegenheit, von Schreckhaftigkeit und 
Uebermuth. Zu Hauſe treibt ſie nur Poſſen — erzählt die Schweſter 
— ſpielt mit Menſch und Hund und macht uns lachen, wenn wir 
noch ſo ernſt. Maskerade, Parodie, ein wenig Schauſpielerei, das 


ſcheinen ihre beſonderen Talente. Alleingelaſſen in den königlichen 


Gärten, worin ſie verwegen eingedrungen, verfolgt von der Menge, 
bricht ſie in Angſtrufe aus, und die Angſt iſt gleich Todesfurcht. 
Aber wenn ſie des Königs Fuß umklammert, wenn ſie ſich auch jetzt 
noch bedroht glaubt und ihren Schmuck und ihr Tuch als Löſegeld 
hingibt und ſich zu ſchwach erklärt um zu gehen und ihre Wange an 
des Königs Knie legt und ſich nur dort in Sicherheit fühlt und da 
ein wenig ſchlafen möchte: ſo wiſſen wir ſchon nicht mehr genau, 
wie weit echte Empfindung aus ihr redet, wie weit ſie durch das ab⸗ 
gelegte Tuch ihre Schönheit entblößen, wie weit durch die körperliche 


280 Franz Grillparzer. 


Berührung den König entflammen will. Echt und künſtlich ſcheint hier 
Eins: ihr Weſen iſt im Augenblicke wirklich „ein Meer von Angſt in 
ſtets erneuten Wellen“. Aber der König ſagt mit Recht: „Dies 
Geſchlecht iſt ſtark erſt, wenn es ſchwach.“ Und dieſe Stärke wird 
ſo leicht halbbewußt. Wie die Kinder einen echten Schmerz ver⸗ 
längern und mit Willen ſteigern, um ihre Wünſche durchzuſetzen. 

Und dabei iſt Rahel ausgeſtattet mit allem körperlichen ſinnver⸗ 
wirrendem Reiz und immer in Bewegung, immer lebendig. „Wie 
das wogt und wallt und glüht und prangt,“ ruft Alfonſo bewun⸗ 
dernd aus. 

Wie ſie als des Königs erklärte Geliebte vorgeführt wird und 
ſich mit ihm unzufrieden zeigt und durch Koketterie mit Garceran ihn 
eiferſüchtig zu machen ſucht und ſeine Waffen in Spielzeug wandelt 
und ihn nicht fortläßt und gleich darauf behauptet, ſie habe ihn längſt 
gebeten an den Hof zurückzugehen, wie ſie dann die Furcht vor dem 
herannahenden Verderben ergreift und dazwiſchen wieder neuer Schmuck 
intereſſirt und wie ſie endlich in Eſthers Armen dem abgehenden 


König nachruft: „Und hab ihn, Schweſter, wahrhaft doch geliebt:“ 


— ich kann nicht die ganze Scene abſchreiben, man muß das bei Grill⸗ 
parzer ſelbſt nachleſen. Und dazu die zuſammenfaſſende Schilderung: 


Nimm alle Fehler dieſer weiten Erde, 

Die Thorheit und die Eitelkeit, die Schwäche, 
Die Liſt, den Trotz, Gefallſucht, ja die Habſucht, 
Vereine ſie, ſo haſt du dieſes Weib. 


Aber auch das andere Wort des Königs, womit er die Verlorene 
beklagt: 


Sie aber war die Wahrheit, ob verzerrt, 

All was ſie that, ging aus aus ihrem Selbſt, 
Urplötzlich, unverhofft und ohne Beiſpiel. 
Seit ich ſie ſah, empfand ich daß ich lebte, 
Und in der Tage trübem Einerlei 

War ſie allein mir Weſen und Geſtalt. 


Alfonfo iſt eine edle Natur. Er ſtrebt aufrichtig nach Recht und 
Gerechtigkeit, nach Erfüllung ſeiner Pflicht als Herrſcher und als 
Menſch, als König und als Gatte. Allein ſeine Jugend war rauh 


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Franz Grillparzer. | 281 


und ernſt, ein Leben der Tugend und Entſagung, man ließ ihm nicht 
zu fehlen Zeit: 0 


Als Knabe ſchon den Helm auf ſchwachem Haupt, 
Als Jüngling mit der Lanze hoch zu Roß, 
Das Aug gekehrt auf meines Gegners Dräun, 
Blieb mir kein Blick für dieſes Lebens Güter, 
Und was den reizt und lockt, lag fern und fremd. 
Daß Weiber es auch gibt, erfuhr ich erſt, 
Als man mein Weib mir in der Kirche traute, 
Die wirklich ohne Fehl, wenn irgend Jemand, 
Und die ich, grad heraus, noch wärmer liebte, 
Wär manchmal, ſtatt des Lobs, auch etwas zu verzeihn. 


Leonore iſt eine kalte correcte tugendhafte Engländerin. Sie iſt 
langweilig, prüde und prätentiös, kaum der einfachſten ſchicklichen 
Liebenswürdigkeit fähig. Und ſie ſoll den König ausfüllen? Daß er 
nach Weibern nie viel gefragt habe, wird uns wiederholt verſichert. 
Er erbittet ſich förmlich Unterricht von Garceran, wie man ſich mit 
einer Geliebten zu benehmen habe. Und Garceran ſagt uns im 
dritten Act noch einmal ausdrücklich, was wir ungefähr ſchon wiſſen. 
Der König iſt von Männern großgezogen und gepflegt, vorzeitig ge— 
nährt mit den Früchten der Weisheit. Selbſt ſeine Ehe treibt er als 
Geſchäft. In Rahel tritt ihm zum erſten Mal das Weib entgegen, 


Das Weib als ſolches, nichts als ihr Geſchlecht, 
Und rächt die Thorheit an der Weisheit Zögling. 
Das edle Weib iſt halb ein Mann, ja ganz; 
Erſt ihre Fehler machen ſie zu Weibern. 


Aber Alfonſo iſt immer nur mit halbem Herzen bei der Jüdin. 
Er bleibt der Pflichtverſäumniß ſich bewußt. Er hält ſich immer gegen⸗ 
wärtig, daß Alles vorübergehen ſoll, daß es nur eines Worts bedarf, 
„um dieſes Trauerſpiel zu löſen in ſein eigentliches Nichts.“ Wenn 
Garceran ſich wundert, wie Liebe mit Verachtung ſich vertrage, ſo 
meint Alfonſo: Verachtung ſei ein viel zu hartes Wort, aber Nicht⸗ 
achtung etwa ſei wohl richtig. Schon daß ein ſo abſcheulicher egoiſtiſcher 
Jude ihr Vater iſt, ſetzt ihr Bild herab in ſeiner Seele. Rahel 
ſelber fühlt, daß ſich ſeiner Liebe Widerſtreben beimiſcht: ſeine Nei⸗ 
gung ſei verſtecktes Haſſen. Der König ſagt ſpäter von ihr, ſie ſei 


282 Franz Grillparzer. 


ohne Schuld, wie es die Gemeinheit iſt, die eitle Schwäche, die nur 
nicht widerſteht und ſich ergibt. Und Garceran faßt ſein Urtheil dahin 
zuſammen: ſie war ſchön, doch auch verbuhlt, und leicht, voll arger 
Tücken. N 

Der König iſt innerlich von ihr losgelöſt, ſowie er ſie am 
Ende des dritten Actes verläßt. Mit ernſten guten Vorſätzen kehrt 
er zur Königin zurück. Gerade das Zuſammenſein mit ihr aber 
weckt wieder das Bild der Verlaſſenen, der Contraſt hebt ſie noch 
einmal, von neuem durchleben wir die Abwendung von der recht⸗ 
mäßigen Gattin in den Worten | 


Dort jenes Mädchen — 

War thöricht fie, jo gab fie fich als ſolche, 

Und wollte klug nicht fein, noch fromm und tig. 
Das ift die Art der tugendhaften Weiber, 

Daß ewig ſie mit ihrer Tugend zahlen. 

Biſt du betrübt, ſo tröſten ſie mit Tugend, 

Und biſt du froh geſtimmt, iſts wieder Tugend, 
Die dir zuletzt die Heiterkeit benimmt, 

Wohl gar die Sünde zeigt als einzge Rettung. 


Daß die Königin in ihrem übertriebenen Aberglauben ihn noch 
immer behext glaubt, das gibt den Ausſchlag für die Ermordung 
der Jüdin. 


Zu Anfang des fünften Actes iſt die That geſchehen. Der 


König kam zu ſpät um ſie zu hindern. Wie bei Lope ſpricht er den 
Entſchluß der Rache aus, er klagt ſo heftig und ſtellt die Verlorne 
jetzt ſo hoch, daß Eſther, ihre eigene Schweſter, ihn zu mäßigen ſucht. 
Er will ſie ſehen, zerſtört, verſehrt, mishandelt; er will ſich an dem 
Greuel ihres Anblickes zur Rache ſtärken. | 

Aber es kommt anders als er denkt. Die bezaubernde Kraft 
war das Leben, das ungeſtüm pulſirende Blut, das leuchtende 
Auge, der beſtrickende Reiz des Blickes und der Bewegung. Der 
König tritt an den Leichnam der Ermordeten — und vorbei, mit 
einem Schlage vorbei alle Bezauberung; er iſt befreit von der ge⸗ 
heimnißvollen Macht die ihn umgarnte; es ſcheint ihm, daß ein böſer 
Zug um Wange, Kinn und Mund, etwas Lauerndes im Blick ihre 
Schönheit entſtellte. Wie früher im Wiederſehen ſeines Weibes ihm 


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Franz Grillparzer. | 283 


das Bild der Geliebten aufging: ſo kehrt ihm jetzt vor dem ver⸗ 
zerrten Geſichte der Geliebten die Erinnerung an ſein Weib zurück, 
an ſeine Pflicht und an ſein Volk. 

Gedankenvoll wendet er ſich ab und bleibt mit untergeſchlagenen 
Armen vor Iſaak ſtehen, der wie ſchlummernd im Seſſel liegt. Ob 
er in den gemeinen Zügen des Vaters nach den Aehnlichkeiten mit 
der Tochter ſucht? 

In dieſer Stimmung erfolgt die Verſöhnung. 

Grillparzer hat den Moment der Ernüchterung auf das ſorg⸗ 
fältigſte vorbereitet. Die Mahnung Eſthers, der König möge ſich 
nicht trennen von ſeinem Volke, obgleich er ſie bekämpft, ſcheint ihm 
doch Eindruck zu machen. Er fühlt zum voraus, was ſich ihm ent⸗ 
gegenthürmen wird, wenn er an das Werk der Rache ſchreitet. Er 
ſtachelt ſich mit Gewalt dazu, begeiſtert von der Erinnerung des 
Lebens. So wie dieſe ausgelöſcht wird durch die Entſtellung des 
Todes: ſo ſteht er ihr gegenüber wie damals, als er ſie verließ. Er 
hat ſie ja nicht einmal geachtet. Soll er um ihretwillen neue Greuel 
häufen und dem Landesfeind ein willkommenes Schauſpiel geben? 

Und dennoch bleibt eine Härte zurück. Das Publicum müßte 
vielleicht aus tugendſtolzen Leonoren beſtehen, um ſich von der plöͤtz⸗ 
lichen Umwandlung des Königs nicht verletzt zu fühlen. Wir empfin⸗ 
den ganz wie Eſther: die Großen haben ſich ein Opfer geſchlachtet 
aus den Kleinen und reichen ſich die annoch blutige Hand. Es liegt 
etwas Empörendes darin, wogegen die genaueſte und eingehendſte 
Motivirung nicht aufkommt. 


Ein Bruderzwiſt in Habsburg. 


Der Held des „Bruderzwiſtes“ iſt Kaiſer Rudolf der Zweite. 
An der Entfaltung ſeiner Perſönlichkeit haftet das Intereſſe des 
Stückes, und es gewährt ein beſonderes Vergnügen, damit die Cha⸗ 
rakteriſtik zu vergleichen, welche der Meiſter deutſcher ee 
bung von demſelben Kaiſer entworfen. 

Ranke geleitet uns auf die Hofburg zu Prag, er zeigt 88 wie 
Rudolf daraus ein Muſeum und ein Laboratorium gemacht. Er 
führt uns den Beſchützer Tychos und Keplers vor, den Aſtrologen, 


284 Franz Grillparzer. 


Alchymiſten und Kunſtliebhaber — und aus der Befangenheit in 


wiſſenſchaftlichen und künſtleriſchen Intereſſen begreifen wir die Ent⸗ 


fremdung von den Geſchäften der Welt. Rudolf iſt erfüllt von der 
idealen Bedeutung des Kaiſerthums, von dem Ehrgeiz an der Spitze 
der abendländiſchen Chriſtenheit zu ſtehen, von dem Bewußtſein per⸗ 
ſönlicher Würde und von der Eiferſucht auf ſeine Allgewalt, die er 
mit Niemand theilen will. Aengſtlich wahrt er ſeine Autorität. Aber 
er iſt kein eingreifender Menſch. Die Geſchicke der Welt lieſt er in 
den Geſtirnen, ſie ſelbſt zu geſtalten fühlt er ſich lahm. Vergeblich 
die Mahnungen, womit ſeine Mutter das Mistrauen des Sohnes in 
die eigene Kraft bekämpft. Er ſcheut die Menſchen, fürchtet Attentate, 
macht ſich für jedermann ſo viel als möglich unſichtbar. Man er⸗ 
fährt kaum, zu welcher Religion er ſich bekenne. Der alte Jung⸗ 
geſell, der auf ſpäte Hochzeit denkt, wünſcht eine deutſche Frau, gleich⸗ 
viel ob proteſtantiſch oder katholiſch. Die proteſtantiſchen Fürſten 
waren in gutem Credit bei ihm: am Ende ſeines Lebens will er ſich 
ihnen in die Arme werfen. 

„Es iſt das ſeltſamſte Hageſtolzenleben — ſagt Ranke — in 
welchem das Kaiſerthum gleichſam ſich ſelber abhanden kam. Rudolf 
war mürriſch, eigenſinnig, argwöhniſch, empfindlich, man möchte ſagen, 
für jede Zugluft der Welt; bittere Enttäuſchungen, dunkle Einwir⸗ 
kungen religiöſen Aberglaubens konnten denn doch nicht vermieden 
werden; zuweilen hatte er Momente einer mit Jähzorn gemiſchten 


Melancholie, in denen man an ſeinem geſunden Verſtand zweifelte.“ 


Grillparzers Rudolf unterſcheidet ſich nur wenig von dem Bilde 


des Hiſtorikers. Grillparzer hat im Sinne der modernen Auffaſſung 


gleichſam das erklärende Wort geſprochen, das alle jene einzelnen 
Züge zuſammenfaßt und uns den Kern des Mannes nahe bringt. 
Sein Held iſt ein guter gläubiger Katholik, nicht aus Furcht, 


wie er ſagt, ſondern aus Ehrfurcht vor dem Beſtehenden — aber er 


iſt ein noch viel beſſerer Menſch. Seine edle ſchöne Menſchlichkeit 
gewinnt ihm unſere Herzen. Er haßt den Krieg als der Menſchheit 
Brandmal und ſtiftet einen heimlichen Orden der Friedensritter. 
Wundervoll wie ihm der Fanatiker Ferdinand gegenüber ſteht, der in 
ſeinen Ländern die Ketzerei austilgt, der die hartnäckigen Proteſtanten 
bei einbrechendem Winter zu vielen Tauſenden vertreibt, der ſeine 


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Franz Grillparzer. 285 


ſchöne proteſtantiſche Braut mit einer ſchiefgewachſenen häßlichen 
Katholikin vertauſcht und dies alles im Stolz und Selbſtgefühl der 
Gottſeligkeit ſelbſt erzählt und ſich deſſen rühmt. „Nun, ich be⸗ 
wundre Euch, “ſagt Rudolf. Aber im nächſten Augenblick erſcheint 
ihm, wie ein plötzliches Geſpenſt, die Furchtbarkeit des Mannes — 
die Vorſtellung des Unmenſchlichen ergreift ihn ſinnverwirrend, das 
Mitleid um die Vertriebenen bedrängt ſeine weiche Seele — 


Weiſ' deine Hände! 
Iſt das hier Fleiſch? lebendig, wahres Fleiſch? 
Und fließt hier Blut in dieſen bleichen Adern? 
Freit eine Andre, als er meint und liebt — 
Mit Weib und Kind, bei zwanzigtauſend Mann, 
In kalten Herbſtesnächten, frierend, darbend! 
Mir kommt ein Grauen an. 


Wie in ausbrechender Angſt vor einem Mörder ſtampft er mit 
dem Stock auf den Boden und ruft heftig nach Menſchen. Sowie 
die Hofleute erſcheinen, zwingt er ſich wieder zur Ruhe und zu einer 
etikettemäßigen Frage an Ferdinand, ſeinen Gaſt, läßt aber wie 
unwillkürlich durchblicken, daß ihm deſſen baldige Abreiſe erwünſcht 
wäre. Ferdinand will ihm erſt noch ſeinen Bruder Leopold vor⸗ 
ſtellen, den er mitgebracht. „So iſt der Leupold da? Wo iſt, wo 
weilt er?“ ruft der Kaiſer und verlangt ungeſtüm nach dem jungen 
lebensluſtigen Herrn: 
Ein verzogner Fant, 
Hübſch wild und raſch, bei Wein und Spiel und Schmaus. 


Wohl ſelbſt bei Weibern auch, man ſpricht davon. 
Allein er iſt ein Menſch. 


Er iſt ein Menſch der jubeln und ſich freuen kann. Im Schloßhof 
tummelt er ein Roß: ſo meldet man. Der Kaiſer wendet ſich noch 
einmal höflich an Ferdinand. Dann wieder: „Wo bleibt der Range? 
Warum kommt er nicht?“ Man hört Leopold von außen. Da wird 
der Beginn des Gottesdienſtes gemeldet. „Des Herrn Dienſt vor 
allem,“ ſagt Rudolf ernſt und bereitet ſich zum Kirchgang, die andern 
ordnen ſich im Zuge, den eintretenden Leopold weiſt der Kaiſer an 
ſeine Stelle. Der Zug ſetzt ſich in Bewegung, Ferdinand und 
Leopold unmittelbar vor dem Kaiſer. Nach einigen Schritten tippt 


286 Franz Grillparzer. “ 


letzterer Erzherzog Leopold auf die Schulter. Dieſer wendet ſich um 
und küßt ihm lebhaft die Hand. Der Kaiſer winkt ihm, liebreich 
drohend, Stillſchweigen zu, und ſie gehen weiter. 

Wie reizend dieſe Begrüßung, das herzliche warme Gefühl, das 
durch die offizielle Frömmigkeit hindurchbricht! Dieſe Scene iſt von 
hinreißender Wirkung: ein prachtvoller Schluß des erſten Actes. 

Aber Grillparzer iſt noch weiter gegangen. Um alle Seiten der 
Menſchlichkeit an dem Kaiſer zu entwickeln, hat er ihn uns auch als 
Vater gezeigt. Er hat ihm einen Sohn gegeben, — er verleiht ihm 
dazu die Regententugend der Gerechtigkeit und läßt ſie an dem eigenen 
Sohne üben. | | 

Don Cäſar ift ein wilder wüſter junger Menſch. Er pocht auf 
ſein Verhältniß zum Kaiſer, das er kennt. Vor keiner Gewaltthätig⸗ 
keit ſcheut er zurück. Er achtet keine Schranken der Sitte und des 
Rechtes. Er iſt heftig, jähzornig, leidenſchaftlich, ſinnlich, ungezähmt, 
begehrlich. Und doch nicht ohne edlere Züge. Er iſt ein treuer 
Freund, er will des Freundes Schuld auf ſich nehmen, er ſetzt ſich 
des Kaiſers Zorn aus, um ihn zu retten. Er haßt die Weiber⸗ und 
die Pfaffendiener, die Heuchler und die Schurken, die weichlichen und 
die verzärtelten Menſchen. Er verkehrt mit Lutheranern, und da es 
ihm der Kaiſer vorwirft, erwidert er: „Was den Glauben, Herr, be⸗ 
trifft, da richtet nur Gott.“ Er iſt ſtolz, Verachtung liegt ihm näher 
als der Haß. Er kennt eine Tugend nur: die Wahrheit, und ein 
Laſter: die Heuchelei. 

Dieſer Menſch ermordet ein Prager Bürgermädchen, die er einſt 
geliebt, die ihm einen Nebenbuhler vorzieht, den er für einen Heuchler 
und ungetreuen Freund hält — der Mann iſt todt und noch leugnet 
ſie hartnäckig, daß ſie ihn geliebt, Cäſar aber glaubt dafür Beweiſe 
zu haben: das Bild des Gehaßten hängt in ihrem Zimmer, ſie rückt 
ihren Schemel zum Gebet hart an das Bild — jetzt entflieht ſie vor 
den ſchrecklichen Vorwürfen des aufgeregten Cäſar zu eben jenem 
Bild, dort ringt ſie die Hände wie zu einem Heiligen — da zieht 
der Wüthende eine Piſtole heraus und erſchießt fie. 

Cäſar iſt ein Entarteter und gänzlich Verlorener in Rudolfs 
Augen. Und doch muß in ſeinem Herzen etwas für ihn ſprechen, 
wie in dem unſrigen. Cäſar verfällt zum Theile dem Fluch der 


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Franz Grillparzer. i 287 


unehelichen Geburt, er iſt „ein Zerrbild zwischen Niedrigkeit und 


Größe.“ Und er wird zum Mörder aus Haß gegen die Heuchelei. 


Man hat dieſe Epiſode getadelt, und Tadel verdient ſie wohl 
darum, weil dem großen Theaterpublicum etwas zu viel darin zu— 
gemuthet wird. Lucretia, jenes Mädchen, erregt nicht das geringſte 
Intereſſe, und kaum weiß man, ob ſie ſchuldig oder unſchuldig ſtirbt. 
Aber die Scene, worin der Kaiſer ſein Richteramt übt an dem ent⸗ 
arteten Sohne, den er gleichwohl geliebt, iſt tief ergreifend und groß— 
artig gedacht. | 

Grillparzer benutzt die hiſtoriſche Launenhaftigkeit Rudolfs des 
Zweiten, um ihm eine große Mannigfaltigkeit des äußern Auftretens 
zu verleihen. Manchmal ergeht er ſich gedankenreich in langen Reden, 
Worte der Weisheit fallen von ſeinen Lippen, ſein Geiſt ſchwingt ſich 


3 hoch auf, Stimmen einer höheren Welt ſcheinen ſich kund zu thun. 


Aber wenn er übellaunig, verbittert iſt, ſpricht er kein Wort, er 
deutet nur, will, daß man in ſeinen Mienen leſe und ſeine Gebärden 
verſtehe. So tritt er auf zu Anfang, dieſes ſtumme heftige Weſen 
ſcheint die Unnahbarkeit der Majeſtät auszudrücken. Und ſo finden 
wir ihn wieder im vierten Act in ſeinen Gärten am Hradſchin. Der 
Kaiſer innerlich bewegt, aber ſchweigend, ſeine Begleiter die Gefühle 
gleichſam interpretirend und beſchwichtigend, die ihn durchwühlen. Es 
iſt die Nacht nach Cäſars grauſiger That, der Sturm hat gewüthet 


und die Blumen geknickt, und Kampf hat getobt in der Stadt. Cäſar 


iſt ins Gefängniß gebracht, man hat ihm zur Ader gelaſſen, um ihn 
zu beſchwichtigen; den Schlüſſel bewahrt Herzog Julius von Braun⸗ 
ſchweig, Rudolfs Freund. Angſtvoll kommt ein Diener und bittet 
um dieſen Schlüſſel. Cäſar hat ſich den Verband aufgeriſſen, die 
Aerzte können nicht zu ihm, es ſtrömt ſein Blut, wenn nicht raſch 
Hilfe kommt, iſt er verloren. | 


Herzog Julius will den Schlüſſel geben, der Kaiſer winkt, nimmt 
ihm denſelben ab und geht zur Seite, vergeblich alle Vorſtellungen des 
Herzogs, daß Cäſars Leben und Ehre daran hänge, daß ihm Spruch 
und Recht werden müſſe — der Kaiſer wirft den Schlüſſel in den 
Brunnen und ſagt mit ſtarker Stimme: „Er iſt gerichtet, von mir, 
von ſeinem Kaiſer, ſeinem“ — er will ſagen: „Vater“, faßt ſich aber 


288 Franz Grillparzer. 


und mit zitternder von Weinen erſtickter Stimme ſagt er: „Herrn“, 
und wankend geht er ab. 

Herzog Julius bricht in die Worte aus, welche in aller Schärfe 
die ſtaatsmänniſche Unfähigkeit des tugendhaften Privatmannes be⸗ 
zeichnen: 

O daß er doch mit gleicher Feſtigkeit 
Das Unrecht ausgetilgt in ſeinem Staat, 
Als er es austilgt nun in ſeinem Hauſe. 


Und ebenſo hat ſchon im erſten Acte Erzherzog Ferdinand dem 
Kaiſer, der die Zeit zu bändigen verzweifelt und nur den entarteten 
Sohn der Zeit, wie er Cäſar nennt, zu bändigen verſucht, Ferdi⸗ 
nand hat ihm ins Geſicht geſagt: 


Ihr würdets, Herr, und bändigtet die Zeit, 
Wär Euch der Wille dort ſo feſt als hier. 


Rudolf alſo hat das Bewußtſein, in Don Cäſar nicht blos ver⸗ 
einzeltes Unrecht, ſondern das Unrecht einer neuen böſen wildver⸗ 
worrnen Zeit zu bekämpfen, die ihn zu ſchauen zwingt ihr greulich 
Antlitz. Eigendünkel iſt ihr Weſen, Eigenſucht, die nichts erkennt, 
was nicht ihr eignes Werk. Die Reinigung des Glaubens ſcheint 
ihm nur ein einzelner Zug der Unbotmäßigkeit des Subjects, dem 
die Ehrfurcht vor der Väter Sitte ſchwindet. Ja er prophezeit das 
Heraufkommen des vierten Standes, der im Namen der allgemeinen 
Menſchenrechte alles Beſtehende bedroht und die Herrſchaft für ſich 
begehrt, — die Barbarei, die ſich losringt aus dem eigenen Schoße 
des hochcultivirten Volkes, die alles Große befehdet, die Kunſt, die 
Wiſſenſchaft, den Staat, die Kirche herabſtürzt von der Höhe zur 
Oberfläche eigener Gemeinheit, bis Alles gleich, ei ja, weil Alles 
niedrig. Bi: 

Hier redet nicht mehr Rudolf der Zweite, ſondern ein Mann, 
der mit tauſend andern Wiener Bürgern im October 1848 vor 
wüthenden Proletarierhaufen gezittert, die unter dem Banner „Freiheit 
und Gleichheit“ einherzogen. Dieſer Rudolf iſt Grillparzers eigener 
conſervativer Proteſt gegen die Revolution. 

Aber mit Recht bemerkt ein ausgezeichneter Wiener Kritiker: 
„Nie hat Grillparzer einen Charakter geſchaffen, der an unmittelbar 


Franz Grillparzer. 289 


einleuchtender Wahrheit und lebensvoller Conſequenz dem Kaiſer 
Rudolf dem Zweiten gliche. Der Dichter ſelbſt ſpricht aus dem 
Kaiſer, und doch iſt dieſer eine vom Dichter unabhängige, völlig ob— 
jective Exiſtenz. Der Kaiſer iſt unverkennbar ein Habsburger; kaum 
ein Zug in ihm, der aus dem Geſchlechte ſchlüge. Grillparzer kennt 
dieſes Geſchlecht bis in die letzten Herzensfalten ſo genau, als habe 
er jahrhundertelang in der Hofburg zu Wien gewohnt. Wie lebendig 
hat er aus dieſer intimen Kenntniß heraus ſeinen Rudolf den Erſten 
hingeſtellt, und wie erſt ſeinen Rudolf den Zweiten! Oft wenn ich 
vom Kaiſer Franz las und von ſeinem Nachfolger Ferdinand, und 


dann überſprang auf ſinnreiche Ausſprüche und Selbſtbekenntniſſe 


Grillparzers, kam mir der Dichter jo märchenhaft vor wie ein ver 


1 % wunſchener habsburgiſcher Prinz, der bei Tage zum Archivdireetor 
verdammt ſei und Nachts Erinnerungen an ſeine glänzende Vergangen- 
heit niederſchreibe. Am ſtärkſten tritt dieſer verwandtſchaftliche Zug 


im „Bruderzwiſt“ hervor, wo Grillparzer uns das ganze Erzhaus 
von damals wie ein Kartenſpiel aufſchlägt. Wir befinden uns wie 
geladene Gäſte in der Familie.“ 

Von den Erzherzögen kennen wir bereits die ſteieriſchen Brüder, 
die unter ſich ſo ſehr verſchiedenen Ferdinand und Leopold. Niemals 
verläugnet jener den treuen Sohn der Kirche, den Zögling der jpa- 
niſchen und jeſuitiſchen Politik. Niemals dieſer die warme, ehrliche, 
aufrichtige, faſt kindliche Liebe zum Kaiſer. | 

Eine prächtige Figur ift der behäbige Maximilian, der deutſche 
Ordensmeiſter, der den Krieg ſo wenig liebt und ſeine eigene Reiſe— 
küche mit ſich führt und den lebensluſtigen Neffen Leopold mit ſeinen 
Liebesabenteuern neckt. Kein Freund von Geſchäften, ein Ehrenmann, 
der die Schlauheit nicht liebt, aber zu wenig Logik und Geiſtesſtärke 
beſitzt, um ſich vor der Umgarnung zu hüten. Gutherzig und treu 
dem Kaiſer, deſſen Rechtlichkeit er achtet, läßt er ſich doch gegen ihn 
gewinnen. Später kniet er reuig vor ihm und bringt kein Wort 
hervor. „Und du, mein guter Bruder — ſagt der Kaiſer — ſprichſt 
nicht?“ Maximilian: „Mir iſt das Weinen näher. Auch kniet ſichs 
ſchwer mit meines Körpers Laſt.“ 

Die wichtigſte Perſon nach Rudolf ſelbſt aber iſt Erzherzog 
Mathias, der eigentliche Gegner des Kaiſers. Der Zwiſt, die Ab— 

Scherer, Vorträge. 19 


290 Franz Grillparzer. 


neigung der Brüder tritt uns gleich in der zweiten Scene entgegen. 
Mathias wartet im Vorzimmer des erzürnten Kaiſers. Wir erfahren, 
daß Er, Mathias, der Liebling des Vaters war und dieſer Vorzug 
erſcheint als der Anfang des Streites. „Hätt' Euer Vater minder 
Euch geliebt: was gilt es, Euer Bruder liebt' Euch wärmer?“ ſo 
ſagt ihm Melchior Kleſel, ſein Sporn und ſein Stachel, der ihn zu 
Thaten treibt. 

Mathias erſcheint gleich hier phantaſtiſch, aufgeregt, wankel⸗ 
müthig, ſanguiniſch. Mit den größten Hoffnungen hat er ſich in ein 
gewagtes Unternehmen eingelaſſen, in den Niederlanden einen Thron 
gründen wollen. Gänzlich niedergeſchlagen kehrt er zurück: „Mit 
mir iſts aus.“ Er hat den Glauben an ſich ſelbſt gänzlich eingebüßt. 
Nur Kleſel hält ihn aufrecht und bringt ihn zu Allem. 

So ſehen wir den Herrn und den Diener hier, ſo bleiben ſie 
in dem ganzen Stücke. „Wir beide — ſagt Rudolf mit Bezug auf 
ſeinen Bruder — wir beide haben von unſrem Vater Thatkraft nicht 
geerbt. Allein ich weiß es und er weiß es nicht.“ Rudolf iſt voll 
von übermäßigem Mistrauen, Mathias voll von übermäßigem Ver⸗ 
trauen in die eigene Kraft. Jetzt wünſcht er ein Commando in Un⸗ 
garn, obgleich er nirgends noch geſiegt. Rudolf gewährt es, weil er 
ihn dort für unſchädlich hält. Im zweiten Acte finden wir ihn bei 
der Armee. Er iſt in der That wieder beſiegt, hat ſich mit perſön⸗ 
licher Tapferkeit herausgehauen als ein kunſtgeübter Fechter, und er 
freut ſich dieſer Kunſt, mitten in der Niederlage denkt er an den künf⸗ 
tigen Sieg, der ihm nicht fehlen könne, ihm ſchwebt ein Plan vor 
aus Vegetius, von Frieden will er nichts wiſſen. Geſchlagen mit 
dem ganzen Heer, hofft er nun mit dem halben zuverſichtlich auf Er- 
folg. Aber der überlegene Kleſel lenkt ihn zu dem Gegentheil deſſen 
was er eigentlich will. Die köſtliche Berathung der Erzherzoge führt 
zu dem Frieden mit den Türken und zu einem Bündniß wider den 
Kaiſer. Mathias' flackernde Energie, die zu großen Entſchlüſſen 
drängt, bricht in die ſchon berühmten Worte aus: 


Das iſt der Fluch von unſrem edlen Haus: 
Auf halben Wegen und zu halber That, 
Mit halben Mitteln zauderhaft zu ſtreben. 


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Franz Grillparzer. 291 


Man hat dieſe Worte ſeltſamer Weiſe wie ein abgewogenes Ge⸗ 
ſammturtheil Grillparzers über die Habsburger angeſehen und ihnen 
großen Beifall geſpendet. Weder ſollen ſie ein Geſammturtheil ſein 
noch wären ſie als ſolches richtig. Sie ſind vielmehr charakteriſtiſch 
gerade demjenigen in den Mund gelegt, der mit unzulänglichen Mitteln 
immer das Allergrößte will und aus einem Extrem ins andere fällt, 
aus Uebermuth in Verzweiflung. Wenn man Anſpielungen ſucht auf 
die Gegenwart, ſie ſtecken nicht in dem, was Mathias über Andere 
ſagt, ſondern in dem, was er ſelbſt iſt und thut. Um Grillparzers 
wahre und ganze Meinung über die Habsburger zu bekommen, muß 
man vielmehr hinzunehmen, was er den Kaiſer ſelber ſagen läßt: 


Mein Haus wird bleiben, immerdar, ich weiß, 

Weil es mit eitler Menſchenklugheit nicht 

Dem Neuen vorgeht oder es hervorruft, 

Nein, weil es einig mit dem Geiſt des All, 

Durch klug und ſcheinbar unklug, raſch und zögernd, 
Den Gang nachahmt der ewigen Natur, 

Und in dem Mittelpunct der eignen Schwerkraft 
Der Rückkehr harrt der Geiſter, welche ſchweifen. 


Ueber Mathias wird mit aller wünſchenswerthen Deutlichkeit ge— 
ſprochen. Ihm fehlt der Muth; im Anfang raſch, doch zögernd, 
kommts zur That: ſo ſchildert ihn Kaiſer Rudolf. Ihm fehlt die 
Feſtigkeit, das Beharren im Entſchluß: ſo ſchildert ihn Kleſel in ſeiner 
eigenen Gegenwart. Dieſer aus der Niedrigkeit raſch emporgeſtiegene 
Prieſter iſt es, der ihm den Muth und die Thatkraft gießt in die 
unentſchiedene Seele. Mathias iſt ein gefügiges Werkzeug in des 
Schlauen Hand. Bei der Berathung der Erzherzöge arbeitet Kleſel 
für ihn, indem er gegen ihn ſcheint, ja ihn erzürnt, und da Mathias 
ſeine Treue endlich erkennt, gleich wieder Aufregung, Enthuſiasmus: 
„Ein Meer von Bildern ſchwimmt vor meiner Seele.“ 

Im dritten Act erfährt vor unſern Augen Rudolf die Entwicke— 
lung der Empörung, in ſeiner unmittelbaren Nähe gleichfalls erheben 
ſich die böhmiſchen Stände, der Act ſchließt mit dem Einzuge des 
ſiegreichen Mathias in Prag, während der dem Kaiſer einzig treu 
geſinnte Erzherzog Leopold ihm den verhängnißvollen Befehl entreißt, 


der das Paſſauer Kriegsvolk und neuen Bürgerkrieg herbeiruft. 
19 * 


292 | Franz Grillparzer. 


Dieſer Kampf eröffnet den vierten Aufzug. Cäſars wilde That 
und das Gericht des Kaiſers, dann lange Monologe Rudolfs, der 
hiſtoriſche Fluch, den er über Prag ausſpricht und dann in der Weich- 
heit ſeines Herzens wieder zurück nimmt. Er ſinkt zuſammen — wir 
wiſſen nicht: iſt es der Tod oder eine Ohnmacht. 

Im fünften Act, der zu Wien ſpielt, übernimmt zuerſt Kleſel 
die Führung des Intereſſes, er wird durch Erzherzog Ferdinands 
Gewaltthat nach Kufſtein entfernt. Dem Abgehenden begegnet Wallen⸗ 
ſtein und bringt die Nachricht von dem Aufruhr in Prag. Ferdinand 
kommt dabei nicht von der Scene, wir ſehen, wie er über Mathias 
hinauswächſt und dieſen in ähnlicher Weiſe bei Seite ſchiebt, wie 
Mathias früher mit Kaiſer Rudolf gethan. Jetzt erſt trifft die Nach⸗ 


richt von des Letzteren Tode in Wien ein. Der Anfang des dreißig⸗ 


jährigen Krieges und dieſer Todesfall ſind hier zuſammengerückt. 
Ueber Mathias aber kommt das Gefühl ſeiner Schuld gegen den 
Bruder. Deſſen Geiſt ſcheint ihn zu umſchweben mit zürnender Ge⸗ 
bärde. Reuig kniet er nieder, und ſchlägt wie ein Büßender an 
ſeine Bruſt. 2 

Dieſer letzte Act iſt faſt nur dramatiſirte Hiſtorie, aber ich be- 
wundere doch, was der Dichter aus dem ſpröden Stoffe gemacht, 
wie klug er Alles benutzt hat, was die Theilnahme des Publieums 
erwecken und erhalten kann. Und wenn nur Kleſel, Ferdinand, 
Mathias, vor allem aber Wallenſtein gute Schauſpieler ſind, ſo wird 
die Abſicht, ſoweit es der Natur der Sache nach möglich iſt, wohl 
erreicht werden. 


VI. 
Schickſal und Vaterland. 


Das, was wir Schickſal nennen, iſt theils unſer eigenes Werk, 
theils das der Umſtände, unter denen wir leben und aufwachſen. 
Inſoferne unſer Wollen aber der Ausfluß des Charakters und der 
Charakter ſeinerſeits ein Gebilde der Umſtände, der Familie, des 
Staates, des Stammes, des Volksgeiſtes iſt, dem wir angehören, 
der Zeit, in der wir emporkommen, der nationalen, ſocialen, ſtaat⸗ 
lichen, localen Situation, in der wir unſere Stellung ſuchen müſſen: 


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EEE FERNEN 


Franz Grillparzer. 293 


— inſoferne können wir unſere perſönliche Arbeit an dem Schickſale, 
das wir erfahren, doch auch nur auf die allgemeinen Lebensmächte 
zurückführen. 
Dennoch werden in dem Lebensverlaufe jedes Einzelnen immer 
zwei entſcheidende Strömungen ſich deutlich von einander abheben: 
eine, die von innen kommt, eine andere von außen; eine, die aus 
der Tiefe der Individualität entſpringt, die andere, die an ihn heran⸗ 
tritt und ihn umſpielt, bedrängt oder fördert; eine des perſönlichen 
eigenen, eine andere des fremden Willens. Dieſe Elemente wirken 
in Verſchiedenen verſchieden. Bald hat dieſes, bald hat jenes den 
größern Antheil. Dem Einen ſcheint das Leben wie ein fertiges 
Kunſtwerk aus ſeiner Hand hervorzugehen, dem Andern wie ein reines 
Geſchenk der Götter in den Schooß zu fallen; dem Einen wie ein 
träger Klumpen unter ungeſchickten Fingern aller Form zu ſpotten, 
dem Andern wie ein reines Werk des Teufels zu zerbröckeln. 

Es iſt kein Wunder, wenn ſolche Mannigfaltigkeit der wirklichen 
Welt ſich ſpiegelt in der Kunſt. In heftigen begehrenden Zeiten, 
die große Kraft und große Verbrechen ans Licht fördern, ſtellt ſich 
dem Dichter das Schickſal ſeines Helden als deſſen eigenes Werk dar. 
In ſtilleren friedlicheren Tagen, in denen das Allgemeine mächtig 
geworden iſt und das Wollen des Einzelnen ſich in ſittſamen beſchei— 
denen Grenzen hält, da werden andere Anſchauungen wach, den Um⸗ 
ſtänden, den Zufällen, unglücklichen Verwickelungen wird aufgebürdet 
was den Menſchen trifft. | 

Auch Grillparzer erwuchs in einer ſolchen Zeit. Sie malt fich 
in ſeinem Leben wie in ſeinen Werken. 

Geboren 1791, war er 1811 zwanzig Jahre alt und erlebte den 
öſterreichiſchen Krieg von 1809 und die Erhebung Europas gegen 
Napoleon als ein Jüngling in der Blüte ſeiner Jahre. Aber die 
„Freiheitskriege“ und was ihnen vorausging trug in Oeſterreich einen 
weſentlich anderen Charakter als in Deutſchland. Niemals war der 
Kampf für den Donauſtaat ein Exiſtenzkampf und nie wurden die 
Kräfte dazu aus der Tiefe des nationalen Bewußtſeins geholt. Und 
die große ſchöpferiſche Periode Grillparzers von der Ahnfrau bis zur 
Hero fällt in die Jahre 1817 bis 1831, in eine Epoche der Er— 
mattung und Weichlichkeit, worin auch das Denken und Fühlen des 


294 Franz Grillparzer. 


Einzelnen ſich dem Machtkreiſe der heiligen Allianz nicht entziehen 
konnte. 

Grillparzer war kein ſtarker Menſch, er erſcheint geſchoben und 
gedrängt, in ſeinem Schickſal ſind die äußeren Anſtöße überwiegend, 
ſeine Initiative war gering. Auch ſtarke und tiefe Empfindung trieb 
ihn nicht zu entſchloſſenem Handeln. Das ernſtliche ſich ſelbſt be⸗ 
zwingende Genügen an dem Möglichen und Erreichbaren, wie es 
energiſchen Naturen eigen, war ihm fremd. 

Sein Leben verlief einfach und dürftig. Eine ganz gewöhnliche 
Beamtencarriere, die ihn nicht höher als zur Würde eines Archiv⸗ 
directors der Hofkammer führte. Dazwiſchen einige Reiſen, nach 
Italien, Deutſchland, Frankreich und England, auch nach Griechen⸗ 
land, von denen er in der Regel Erfriſchung und Anregung zu neuen 
Arbeiten mitbrachte. Innerlich und äußerlich in ſeiner Entwicklung 
keine Stürme und Wetter, kein mühevolles Ringen, keine großen 
Wandlungen, keine gewaltigen Kataſtrophen. Ein ſtilles Gemüths⸗ 
leben, das nur von Einer tiefen langdauernden Neigung zu erzählen 
weiß. Warum er die Geliebte nicht geheiratet? „Wiſſen S', i hab 
mi net traut“ ſagte er einem Bekannten in ſeiner ſchlichten Weiſe. 
Es fehlte ſeinem gleichſam jungfräulichen Weſen der wagende Muth 
und das unerſchütterliche Selbſtvertrauen. Angſt vor den Enttäu⸗ 
ſchungen, die ihm bevorſtehen konnten, Angſt vor der Proſa der Ehe 
nach der Poeſie der Brautſchaft, Angſt auch vor den materiellen 
Sorgen (denn er war nie reich), Angſt endlich davor, daß die bei⸗ 
den Ganzen ſich nicht als Hälften zuſammenfügen würden (S. 273), 
das Alles mochte er mit jenem Worte meinen. Eine ſouveraine 
Natur mit mächtigem Willen war er nicht. Handfeſtes Bewältigen, 
robuſtes Zwingen der widerſtrebenden Wirklichkeit lag nicht in ihm. 

Seine von Hauſe aus weiche Natur war durch die harte Zucht 
eines ſtrengen Vaters verſchüchtert worden. Er ſchloß ſich mehr an 
die Mutter an und hing an ihr mit ſchwärmeriſcher Zärtlichkeit. 
Wenn ſie ſterben ſollte — äußerte er einmal, lange nach dem Tode 
des Vaters — ſo möge man ihn nur gleich mit begraben, denn er 
habe ſonſt Niemand auf der Welt. So wurden die weichen und weib- 
lichen Seiten ſeines Weſens immer noch mehr entwickelt. 4 

Eine reiche Innerlichkeit bei unſcheinbarem Auftreten, wie ein 


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Franz Grillparzer. 295 


anſpruchsloſes beſcheidenes Mädchen ſich darſtellt, prägte ſich auch in 
ſeiner äußeren Erſcheinung aus. 

„Ein ſechsundzwanzigjähriger, wohlgewachſener, ſtiller aber kränk— 
licher Menſch, der den beſten Eindruck macht“: ſo charakteriſirt ihn 
Zelter an Goethe 1819. „Grillparzer war nicht hübſch zu nennen 
— bemerkt Caroline Pichler ungefähr aus derſelben Zeit — aber 
eine ſchlanke Geſtalt von mehr als Mittelgröße, ſchöne blaue Augen, 
die über die blaſſen Züge den Ausdruck von Geiſtestiefe und Güte 
verbreiteten, und eine Fülle von dunkelblonden Locken machten ihn zu 
einer Erſcheinung, die man gewiß nicht ſo leicht vergaß, wenn man 
auch ihren Namen nicht kannte, wenn auch der Reichthum eines höchſt 
gebildeten Geiſtes und eines edlen Gemüths ſich nicht ſo deutlich in 
Allem, was er that und ſprach, gezeigt hätte.“ Den Greis aber, 
den „Dichter mit ſeinen anmuthigen weiblichen Eigenſchaften“ hat am 
beſten Laube geſchildert: „Er verſteht ſo leicht und fein wie ein ge— 
ſchmeidiger Frauenverſtand, er antwortet ſo plötzlich und ſchalkhaft 
wie ein Mädchen, er drückt ſo unwillkürlich ſeine Beſorgniß aus 
wie ein weiblicher Mund.“ 8 | 

So find es denn auch hohe Frauenbilder, welche ſeine Phantaſie 
am mächtigſten erregten, und wenn er auch in der Erkenntniß und 
Darſtellung männlicher Charaktere ſich weſentlich vervollkommnete: 
die männlichſten Seiten der männlichen Natur, die edelſten und höchſten 
Formen der Männlichkeit blieben ihm unzugänglich. 

Es iſt ganz weiblich, wenn er das Furchtbare zu mildern, 
Gräuel abzuſchwächen ſucht und dort, wo ſich Schreckliches ereignet, 
Zufälle und unglückliche Fügungen herbeizieht, wie in der Ahnfrau, 
der Medea, dem Bancban. Ehrgeizigen Helden ſtellt er verführende 
Intriganten an die Seite, dem Ruſtan den ſchwarzen Sclaven, dem 
Ottokar ſein Weib und Zawiſch. Und nur die Liebe bedarf keines 
Zufalls, keiner Verführung, keiner äußeren Verwicklung. Nur das tra- 
giſche Geſchick, das aus der Liebe folgt, entſpringt ihm rein aus den Cha— 
rakteren: ſo in der Sappho, ſo in des Meeres und der Liebe Wellen. 

Es iſt ganz weiblich ferner, wenn unſer Dichter diejenigen, welche 
er leben läßt, entſchuldigt, die aber, welche untergehen ſollen, von 
vornherein in ſchlimmes Licht rückt, wie die Sappho und den Ottokar. 
Die allzu große Erſchütterung will er dem Zuſchauer ſparen. 


296 Franz Grillparzer. 


Und es iſt wieder weiblich, wenn der Kreis, auf welchen die 
Frauen in der Regel eingeſchränkt ſind, wenn Haus und Familie, 
wenn Eltern⸗, Gatten- und Geſchwiſterliebe ganz werzugzit ver⸗ 
herrlicht und geprieſen werden. 

Darin ſehen wir die Ausführung des Programms, das wir am 
Ende des zweiten Capitels kennen lernten. 

In der Ahnfrau iſt das Band der Familie zerriſſen, mit den 


furchtbarſten Gräueln werden jene Urgefühle verletzt: da müſſen wohl 


die Schuldigen vom Erdboden verſchwinden, damit die Sonne ſich 
nicht verhülle vor ihrem Anblick. In der Sappho ſehnt ſich Phaon 
wie Melitta nach der Heimat, nach den Ihrigen, mit denen ſie inner⸗ 
lich eins ſind: Sappho trauert, daß ſie durch die Kunſt abgelöſt von 
ihren Lieben. In der Trilogie hat ſich Jaſon losgeriſſen von dem 
Haufe Kreons, das ihn wie ein Vaterhaus beſchützte, das ihn zu fried⸗ 
lichem Lebensgenuß umfing: die Rache iſt, daß er vergeblich ſpäter 
jene unwiederbringliche Jugendzeit zurückwünſcht. Und Medea: ihre 
Schuld iſt ſo ſehr gemildert, aber beſtehen bleibt als ihr ärgſtes Ver⸗ 
gehen, daß ſie den Vater verlaſſen konnte, um dem Fremdling zu 
folgen. Und wie ſchlägt es dem Ruſtan des Traumes zum Unheil 
aus, daß er aus dem Schooße der Familie forteilt, die ſich ihm zur 
Heimat zubereitet! Ottokars Schuld beginnt, wie wir ſahen, mit der 
Scheidung von Margarethe, Heros mit der Entfremdung von den 
Eltern und vom Bruder. | 

Wir ſehen eine beſondere Entfaltung jenes Lebensideals des reinen 
Herzens vor uns, das wir früher betrachteten. Indem wir aber jenen 
ſchlichten Familiengefühlen das einfache Loyalitätsgefühl des Banc⸗ 
banus geſellt finden, und indem wir gewahren, daß der Dichter 
ſcheitert, wo er aus dieſem Kreiſe heraustritt, wie in ſeinem Luſtſpiel: 
da erkennen wir den inneren Zuſammenhang, die ſchickſalsvolle Ver⸗ 
kettung, welche einen begabten Poeten auf das enge Gebiet der Tugen⸗ 
den und Ideale einſchränkt, die der Abſolutismus begünſtigt; und wir 
müſſen uns die Frage vorlegen: wie verhält ſich Grillparzer 
zum Staat? 

Es gibt ein zweifaches Verhältniß zum Staate, ein bewußtes 
und ein unbewußtes. 

Was das erſtere anlangt, ſo waren 1 die früheſten poetiſchen Zeilen. 


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Franz Grillparzer. 297 


deren ſich Grillparzer erinnerte und die wahrſcheinlich aus dem Jahre 
1805 ſtammten, ein politiſches und zwar ein oppoſitionelles Gedicht. 
„Wenn man uns reformirte“ — ſchloß es — 


„Wenn man uns reformirte 

Und alles anders führte, 

Das wär ſchon recht. 

Jedoch es bleibt beim Alten, 

Die Schurken läßt man walten; 
Ei wahrlich! Das iſt ſchlecht.“ 


Auch für die folgende Zeit muß man den Dichter als einen 
Liberalen bezeichnen. Und den März 1848 begrüßte er mit Freude: 


Sei mir gegrüßt, mein Oeſterreich, 

Auf Deinen neuen Wegen! 

Es ſchlägt mein Herz, wie immer gleich, 
Auch heute Dir entgegen. 

Was Dir gefehlt zu Deiner Zier, 

Du haſt es Dir errungen, 

Halb kindlich fromm erbeten Dir 

Und halb durch Muth erzwungen. 

Die Freiheit ſtrahlt ob Deinem Haupt 
Wie längſt in Deinem Herzen, 

Denn freier warſt Du als man glaubt: 
Es zeigtens Deine Schmerzen. 


Noch in den letzten Jahren war ich erſtaunt, mit welcher Unbe— 
fangenheit, mit welchem klaren unverſchleierten Blick er die politiſchen 
Dinge beurtheilte, wie fern von allen Selbſttäuſchungen, in denen 
man ſich bei uns ſo gerne wiegt, er alle Schäden und Uebelſtände 
offen bezeichnete, wie ſchonungslos er über Verhältniſſe und Perſonen 
urtheilte. „Oeſterreich iſt halt die chriſtliche Türkei,“ pflegte er zu 
ſagen. 

Wenn er aber in jenem Bancbanus die Loyalität und Unter⸗ 
thanentreue verherrlichte; wenn er Rudolf von Habsburg als ein 
Idealbild der Dynaſtie im „Ottokar“ feierte; wenn er Radetzky jenes 
vielcitirte: „In Deinem Lager iſt Oeſterreich!“ zurief; wenn er da— 
durch ſich in den Augen der Menge zu einem Schleppträger der 
Reaction machte und auch ſonſt gegen Manches ſich ablehnend ver— 
hielt, was die politiſche Tagesmeinung zeitweilig als Evangelium hin— 


298 Franz Grillparzer. 


ſtellte: ſo läßt ſich das aus der Individualität eines Mannes wie 
Grillparzer ſehr wohl erklären. 

Es war nicht blos weil die politiſche Entwicklung ſich überſtürzte, 
weil die Warnungen, die er von allem Anfang ausſprach, ungehört ver⸗ 
hallten, weil er die Phraſe herrſchen und den Pöbel entfeſſelt ſah. 
Nein! Jene Miſchung von Kritik und Unterwerfung, von Oppo— 
ſition und Loyalität läßt ſich nicht aus einzelnen Thatſachen, Ereig- 
niſſen, Stimmungen erklären. Sie iſt das politiſche Grundgefühl des 
vormärzlichen, deſpotiſch wohlerzogenen Oeſterreichers überhaupt, des 
bequemen Objects der Polizeiwillkür und Beamtenallmacht. Und es 
gibt keinen ſtärkeren Beweis für die ſtrenge Alles durchſetzende Dis⸗ 
ciplin der „guten alten Zeit“, als daß ein Mann, der ſonſt ſo hoch 
über allen anderen ſtand, politiſch ſich fo wenig von dem Durchſchnitt 
ſeiner Altersgenoſſen unterſchied. Grillparzer hat im „treuen Diener 
ſeines Herrn“ Anſchauungen niedergelegt, welche damals Millionen 
von Oeſterreichern mit ihm theilten. 

Uebrigens hatte es auch, objectiv genommen, einen guten Sinn, 
den Begriff Oeſterreich, woran ſeine Seele hing, zunächſt ausgeprägt 
zu finden in der Dynaſtie und in der Armee. Und wenn er aus 
dem letzten Decennium zurückblickte in die zwanziger Jahre, welche 
ihn in der Vollkraft des Schaffens ſahen, und wenn er dann zwei⸗ 
feln mochte, ob nicht der früheren Zeit der Preis gebühre: ſo kann 
ich das von ſeinem Standpunct aus nicht ſchelten. 

Die ganz revolutionären Zuſtände, welche ſeit dem Scheitern 
der Reaction in Oeſterreich eingeriſſen ſind, das ewige Schwanken von 
Syſtem zu Syſtem, die wechſelvolle Unſicherheit aller öffentlichen 
Dinge iſt dem Gedeihen einer auf das Höchſte gerichteten geiſtigen 
Thätigkeit nicht günſtig. Dem Gemüth wie dem Gedanken fehlt der 
wünſchenswerthe Halt, es fehlen die feſten geiſtigen Verbände, aus 
denen allein eine ideale Erhebung der Seele entſpringt. Der jchlech- 
teſte Zuſtand, wenn er dauert und in ſich eine gewiſſe Kraft bewährt, 
ſammelt in allen Edlen wenigſtens die idealiſtiſchen Regungen der 
Oppoſition zu einem großen, breiten, das Herz erweiternden, den 
Muth ſchwellenden Strom. Sollte Grillparzer den völligen Bankerott 
des Idealismus, der im März 1848 ſo vielverheißend die Schwingen 
regte und dann ſo elend zur Erde ſtürzte, nicht mit Trauer empfinden? 


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Franz Grillparzer. 299 


Und ferner: ſollte er nach Jahren fortgeſetzter äußerer Einbußen 
und innerer Auflöſung nicht mit Schmerz und Sehnſucht einer Zeit 
gedenken, in welcher der erſte Miniſter ſeines Vaterlandes an der 
Spitze der continentalen Politik zu ſtehen und die Geſchicke Europas 
zu lenken ſchien? Grillparzer war zunächſt öſterreichiſcher Staatsbürger, 
dann erſt Niederöſterreicher und Wiener, dann erſt ein religiös Prei- 
ſinniger, dann erſt ein politiſch Freiſinniger und dann erſt ein Deutſcher. 
Das Wiener Kind mußte ſich mit Stolz als ein Angehöriger der alten 
Kaiſerſtadt fühlen und konnte glauben, im Mittelpunct einer Machtſphäre 
zu ſtehen, welche ſich vom Rhein bis über die Karpathen erſtreckte. Und 
wenn es ſtets einigen Selbſtgefühles bedarf, um das Eigenſte, Ge— 
heimſte, Innerſte und Heiligſte, was man in der Bruſt trägt, kühn vor 
das Antlitz der Welt zu ſtellen; wenn ein beſonderer Muth und wagen— 


der Antrieb dazu gehört, um aus dem poetiſchen Menſchen einen Poeten 


zu machen; und wenn man mit Recht bemerkt hat, daß ein großes, glän— 
zendes Vaterland das Meiſte beiträgt, um uns dieſes Selbſtvertrauen zu 
verleihen; wenn daher litterariſche Blüteepochen auch in der Regel mit 
Zeiten des politiſchen Aufſchwunges und ſtaatlicher Machtentfaltung 
zuſammenfallen: ſo dürfen wir wohl der Metternich'ſchen Periode 
einiges Verdienſt um Grillparzer zuſchreiben, und wir dürfen behaupten, 
daß zwiſchen Grillparzer und dem Metternich'ſchen Regime ebenſo ein 
innerer und nothwendiger Zuſammenhang obwaltet wie zwiſchen 
Shakeſpeare und Eliſabeth, wie zwiſchen Calderon und den ſpaniſchen 
Habsburgern. 

Aber freilich, das öſterreichiſche Ancien Régime hatte auch ſeine 

andere Seite, und Grillparzer war der Letzte, ſie nicht zu fühlen. 
Die Knechtſchaft hat meine Jugend zerſtört, 
Des Geiſtesdruckes Erhalter; 
Nun kommt die Freiheit ſinnbethört 
Und lähmt mir auch mein Alter. 
So heißt es in dem Gedichte „Barricaden-Trümmer“. 

Ich will hier nicht Allbekanntes und hundert mal Geſagtes 
wiederholen. Es muß natürlich auf die Thätigkeit jedes Einzelnen 
lähmend einwirken, wenn in einem abſolut regierten Staate, in welchem 
Alles von oben herab erwartet wird, die Machthaber einer regeren 
Entfaltung des geiſtigen Lebens grundſätzlich abgeneigt ſind. Grill— 


300 Franz Grillparzer. 


parzer ſelbſt klagt, daß die Beſchränkungen der Cenſur ihn in ſeiner 
Productivität gehemmt hätten. Aber das Entſcheidende liegt nicht ſo 
ſehr in der Regierungsform und in den Regierungsmaximen, als in 
den Einrichtungen der Verwaltung. 

Die Zuſtände, welche die Stein-Hardenberg'ſche Geſetzgebung für 
Preußen beſeitigt hatte, waren in Oeſterreich unangetaſtet geblieben. 
Aber die Ausſchließung des Bürgers von der Adminiſtration der 
Communalangelegenheiten iſolirt ihn und ſtellt ihn und ſein Haus dem 
Staate als ein Einzelnes gegenüber. Er ſelbſt kann nur beten und er: 
werben, häusliche und Privattugenden entwickeln, im Staate fühlt er 
ſich nur verpflichtet, nicht berechtigt. Der Staat iſt das Haus des 
Fürſten und ſeiner Familie, welche ihrerſeits darin nach Belieben 
Privattugenden und Privatlaſter entfalten können, ohne daß dem 
Bürger etwas anderes als ſchweigendes Dulden und leidender Gehor— 
ſam dabei zukäme, gerade wie dem Kinde gegenüber ſeinem Vater. 
Nur mit ſolcher Demuth iſt man „gutgefinnt“. 

Feſte, aufrechte Männlichkeit kann unter derartigen Verhältniſſen 
nicht gedeihen. Und die Dichtung, welche ähnliche Zuſtände zum 
Hintergrunde hat, gefiel ſich zu allen Zeiten in der Verherrlichung 
häuslicher Tugenden und ſtillzufriedenen Glückes, in der Verurtheilung 
alles höheren Strebens als nichtigen Ehrgeizes und unerlaubter Ueber⸗ 
hebung. | 

Auch in dem Deutſchland der Zwanziger Jahre fehlte es daran 
nicht, und der ganze beliebte Apparat ſpieleriger Gefühlsduſelei, von 
der ſelbſt Grillparzers erſte Werke nicht völlig frei ſind, wurde dafür 
in Bewegung geſetzt. Insbeſondere war es Sachſen, das ſich — 
wie ſchon im vorigen Jahrhundert zur Zeit der Gellert und Weiße — 


in dieſer Hinſicht auszeichnete. Aber einen Poeten erſten Ranges hat 


die Richtung in Deutſchland nicht hervorgebracht. Das war Oeſter— 
reich vorbehalten, wo zu allen jenen natürlichen Folgen des Despotis- 
mus ſich noch die geiſtliche Erziehung geſellte, welche blinden Glauben 
und unbedingtes Vertrauen in die Vorgeſetzten zur Pflicht machte, 
welche den eigenen Willen und das perſönliche Selbſtgefühl ertödtete, 
welche an die Stelle einſichtigen und bewußten Strebens die mecha— 
niſche Handwerksarbeit und todten Gedächtnißkram ſetzte und nicht Kraft 
und Stolz, ſondern Demuth und Schwäche als ſittliche Ideale aufitellte. 


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Franz Grillparzer. 301 


So hat der Staat als eine unbewußt im Dichter mitarbeitende 
Kraft ihm beides, Nutzen und Schaden gebracht. Und dem entſpre— 
chend fanden wir in Grillparzers politiſchen Anſichten ebenſowohl 
Elemente rückhaltsloſer Hingebung, wie auch herber Kritik. 

Aber mit dem Staate iſt der Begriff Vaterland noch nicht er— 
ſchöpft. 

Grillparzer hat oft Gewicht gelegt auf den Stammescharakter der 
Deutſchen Oeſterreichs, und welche Eigenſchaften er mit denſelben zu 
theilen, was er denſelben zu verdanken glaubte, haben wir bereits im 
zweiten Capitel geſehen. 

Der Stammescharakter, das Reichscentrum, die Reſidenz und 
die Großſtadt durchdrangen ſich in dem, was Wien dem Dichter 
gewähren konnte und — was es ihm nehmen mußte. 

Wenn Grillparzer den Nationalfehler der Deutſchen das Schwanken 
und Tappen in der Kunſt nannte, ſo haben wir ihn ſelbſt frei von 
dieſem Fehler gefunden. Wir konnten im Gegentheil ſeine techniſche 
Sicherheit und ſeine frühe Bühnenkenntniß bewundern. Daran hat, 
glaube ich, der Umſtand, daß er in Wien auf die Welt kam, wohl 
einigen Antheil. Die Stadt der lebhaften naiven Empfindungsäuße⸗ 


rung, die Stadt der Schauluſt und der Poſſe, die Stadt des Burg- 


theaters konnte den ſchlummernden Theaterdämon in ihm leicht wecken. 
Freilich, der umſichtige, bühnenkundige, um das Theaterweſen 
hochverdiente Schreyvogel war erſt ſeit 1814 Leiter des Burgtheaters, 
und vor ihm war das Inſtitut in unläugbarem Verfall. Es konnte 
nicht mehr bieten und lehren als jede andere große Bühne auch. 
Aber Wien zeichnet ſich vor anderen Städten Deutſchlands aus durch 
eine feſtere Geſchmacksrichtung, durch eine gewiſſe Stetigkeit des äſthe— 
tiſchen Urtheils und durch eine entſchiedene Abneigung gegen gewagte 
litterariſche und künſtleriſche Experimente. Schon der Styl der Ge— 
ſelligkeit iſt bei uns weniger wandelbar, nicht jo auf einzelne Per— 
ſönlichkeiten zugeſchnitten und beſtimmteren Traditionen unterworfen 
als in Norddeutſchland. Und wie in der Aeſthetik des Lebens, ſo iſt 
es auch in den Künſten. Ayrenhoff und Collin, die einheimiſchen 
Vorgänger Grillparzers auf dem Gebiete des Dramas, bewegen ſich 
ſtreng in den Formen der franzöſiſchen Bühne und von dieſen geht 
auch wieder Grillparzer aus. Selbſt das Studium der Spanier kann 


302 Franz Grillparzer. 


ihn in den Hauptpuncten der Technik nicht beirren. Das Drama 
des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ſtellt ſich bei uns dem— 
nach in ununterbrochener ſtetiger Fortentwicklung dar. 

Waren es die in dem Wien des ſiebzehnten bis neunzehnten 
Jahrhunderts mächtigen romaniſchen Bildungseinflüſſe, welche die 
äſthetiſche Haltung der Stadt beſtimmten? War es nur eine gewiſſe 
Trägheit, die das einmal Gangbare ſchwerer verläßt? oder war es, 
daß der germaniſche Individualismus bei uns weniger entwickelt iſt, 
oder daß wir uns in einem engeren Kreiſe überhaupt möglicher Ent- 
faltungen bewegen, oder daß uns das inmitten ſo vieler Nationalitäten 
früher entwickelte großſtädtiſche Weſen nivellirt hat, oder daß die jeſui⸗ 
tiſche Erziehung an uns daſſelbe Geſchäft vollzog? Vermuthlich war 
es von allen dieſen Dingen Etwas, und vielleicht kommt noch ein 
Anderes in Betracht. 

Die künſtleriſche Technik beruht darauf, daß die losgelaſſene Phan⸗ 
taſie nie der Zucht und Lenkung des Verſtandes völlig entfliehe, und 
daß der Verſtand ſeinerſeits einen geſunden Reſpect vor dem Ueblichen 
und Erprobten bewahre. Zu dieſer Miſchung von phantaſtiſcher Be⸗ 
wegung und verſtändiger Ruhe, zu dieſem Zuſammenwirken von Hitze 
und Kälte, wenn ich ſo ſagen darf, iſt der Oeſterreicher weit mehr 
geneigt und geeignet als z. B. der Norddeutſche. Keine lächerlichere 
Prätention, als wenn wir uns für vorzugsweiſe phantaſiebegabt 
halten und die „norddeutſche Kälte“ verſpotten. Die „norddeutſche 
Kälte“ Callot-Hoffmanns macht Euch die Haare zu Berge ſtehen. Und 
Heinrich von Kleiſt packt und ängſtigt und erſchüttert Euch doch wohl 
nicht mittelſt ſeines „Verſtandes“. Die allerphantaſtiſcheſten Poeten 
unſerer Litteratur waren Norddeutſche. Die energiſcheſten Thaten 
dichteriſcher und wiſſenſchaftlicher Phantaſie ſind von Norddeutſchland 
ausgegangen. 

Die norddeutſche Entwicklung iſt uns um einige Pferdelängen 
voraus, die große Schule der modernen deutſchen Sprache haben wir 
nicht mitgemacht, weder die logiſche Zucht des Verſtandes, welche die 
Aufklärung durchſetzte, noch jenes vom Pietismus angebahnte Ringen 
nach dem Ausdruck des Unſagbaren, des Tiefen, Schlummernden, 
Ahnungsvollen, das uns im Innerſten lebt. Daher die Incorrect⸗ 
heiten der Sprache, von denen auch Grillparzer nicht frei iſt. Daher 


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Franz Grillparzer. 2303 


die ſeltſame Thatſache, daß bei unläugbarer lyriſcher Begabung und 
Stimmung Grillparzer doch kein großer Lyriker geworden iſt. Denn 
hier thuts die Sprache zumeiſt und der Reim und der Wohllaut. 
Grillparzer aber iſt — wie man mit Recht geſagt hat — in ſeinen 


Dramen ein beſſerer Lyriker als in ſeinen lyriſchen Gedichten. 


Trotz dem weiten Zurückbleiben in mancher Hinſicht hat uns nun 
aber die lange Abſchließung von Deutſchland doch gewiſſe Vortheile 
gebracht. f 
Wenn ſeit Leſſing Kunſttheorie und Praxis, wenn wiſſenſchaft⸗ 


liche und dichteriſche Thätigkeit in Deutſchland Hand in Hand gingen, 


ſo konnte es nicht fehlen, daß Verſchrobenheiten der Theorie zuweilen 
auf die Praxis einwirkten. In Oeſterreich hat dieſe Verſchwiſterung 
nicht ſtattgefunden. Ohne Antheil an der großen philoſophiſchen Be— 
wegung, haben ſich die Oeſterreicher naiver zu der Kunſt verhalten. 
Und wenn das ihrer geiſtigen Tiefe Eintrag that, ſo hat es doch ihre 
Technik gefördert. Der klägliche Abſtand zwiſchen hochgeſpanntem 
Wollen und ungenügendem Vollbringen findet ſich bei uns ſeltener 
als im übrigen Deutſchland. 

Alſo nicht die große Phantaſie, ſondern der durch Theorien un- 
beirrte ganz ungemeine künſtleriſche Verſtand hat Grillparzern die 
Meiſterſchaft dramatiſcher Technik verſchafft. Das iſt der ſchlichte 
Sinn, die geſunde Natürlichkeit und das richtige Empfinden, das er 
ſich ſelbſt und ſeinen Landsleuten nachrühmte, und dies hatte er ohne 
Zweifel im Auge, wenn er einmal im Jahre 1846 die ſonderbare 
Aeußerung that: „Die Oeſterreicher ſind jetzt von allen Deutſchen 
vielleicht die Geſcheidteſten.“ 

Aber auch hier fehlt die Kehrſeite nicht. Jenem Ausſpruch über 
die öſterreichiſche Geſcheidtheit fügte er ſofort die Einſchränkung hin⸗ 
zu: „Aber es herrſcht hier eine ſolche — nicht Dummheit, ſondern 
Gedankenfaulheit und daher Gedankenloſigkeit, eine ſolche Vorliebe für 
Spaßmacherei, daß ſelbſt die Beſſeren heute gern über das lachen, 
wofür ſie geſtern begeiſtert waren.“ 

Und ſchon früher klagte er über das „Capua der Geiſter“, über 
die weichliche entnervende Luft, in der er doch zeitlebens athmete. Ein 
reiches, bewegtes, geiſtig-ernſtes Leben, worin ſich tauſend Kräfte 
ſchaffend regen und in der Geſellſchaft auserwählter Geiſter, in dem 


304 Franz Grillparzer. 


bunten Treiben vieler mächtig Strebenden jeder Keim zur Blüte reift, 


ein ſolches angeregtes und anregendes, befreiendes und förderndes 
Leben bot ihm die Heimat nicht. Und fie hat feine Productionskraft 
nicht blos nicht gefördert, ſein Talent nicht gehoben und gehalten 
und getragen, ſondern ſie hat ihn direct geſchädigt und zurückgeſchreckt. 
Der bitterſte Schmerz ſeines Lebens, die erſte große, nie verwundene 
Kränkung, die er erfahren, war eine rohe Unthat des Wiener 
Publicums. 


Acht bedeutende Dramen hatte er der Bühne geſchenkt. Eine 


reiche Begabung hatte ſich entfaltet. Eine zwanzigjährige ruhmvolle 
Laufbahn lag hinter ihm. Oeſterreich, einſt eine Wiege der herrlichſten 
Dichtung, dann jahrhundertelang zurückgeblieben, war durch ihn wie⸗ 
der eingefügt worden als ein würdiges und ebenbürtiges Glied in die 
deutſche Geſammtlitteratur. Der Fluch geiſtiger Unfruchtbarkeit, der 
ſeit der Reformation auf uns zu laſten ſchien, war durch Grillparzer 
behoben. Schon waren einzelne ſeiner Dichtungen in die meiſten 
Culturſprachen Europas übergegangen. Schon hatte ein Mann wie 
Lord Byron ſeinem Genius gehuldigt und ihm den Anſpruch auf 
ewigen Nachruhm zuerkannt. Da wurde ihm in den Räumen des 
Wiener Burgtheaters eine Schmach angethan, die er mit Recht nie 
verzeihen konnte. | 

Das Luſtſpiel „Weh dem, der lügt“ gehört gewiß nicht zu feinen 
beſten Leiſtungen. Aber daß man einen Dichter wie Grillparzer 
einfach auspfiff, daß man alle dem Genius ſchuldige Achtung bei Seite 
ſetzte und das vielleicht mislungene Stück eines edlen, gottbegnadeten 
Poeten auf eine Stufe ſtellte mit den frechen Verſuchen der Talent⸗ 
loſigkeit, welche Züchtigung verdienen: das war ein Mangel an Tact, 
eine Unbarmherzigkeit und vor allem eine Gemüthsroheit, welche als 
ewiger Makel auf dem „gemüthlichen“ Wiener Publicum der Dreißiger 
Jahre haften wird. 

Grillparzer war kein Mann ohne Selbſtgefühl. In einem Ge⸗ 
ſuche an die Hofkammer aus dem Jahre 1831 ſchrieb er: „Ich habe 
durch litterariſche Arbeiten meinem Vaterlande Ehre gemacht und darf 
daher wohl, wenn Jedermann in der Schuld ſeines Vaterlandes iſt, 
auch dieſes letztere als ein wenig in der meinigen betrachten.“ 

Aber dieſes Selbſtgefühl ſtand ihm nicht überall zu Gebote, wo 


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Franz Grillparzer. 305 


er es brauchte, nicht gegenüber dem Publicum, nicht gegenüber dem 
Miserfolg von „Weh dem, der lügt“. Es fehlte ihm die heitere 
Sicherheit, welche eine ſolche Kränkung gar nicht an ſich herankommen 
läßt und ſich viel zu hoch dafür dünkt. Es fehlte ihm jene ſouveraine 
Verachtung der Dummheit und Gemeinheit, die alle thatkräftigen 
Naturen ſicher und unangefochten durch den Schlamm der Welt leitet. 
So hatte er der ihm angethanen Schmach nichts entgegenzuſetzen als 
Klagen und Verbitterung und Zurückziehung auf ſich ſelbſt. Er empfand 
wie ein edles Weib, das ſich von ihrem Geliebten verkannt und mis- 
handelt ſieht. Die Bühne, die Oeffentlichkeit, war ihm verleidet. 
Was er nun noch arbeitete, war nicht für die Gegenwart, die ihn 
umgab. Ein tiefer Widerwille gegen die litterariſche Kritik erfaßte ihn. 
In dem Gedichte „Rechtfertigung“ führt er dieſen als den Grund 
ſeines Verſtummens an. Und in demſelben Gedankenkreis bewegen 
fi) Epigramme und mündliche Aeußerungen gegen den frechen, rüd- 
ſichtsloſen, abſprechenden Ton der Kritik, der von Deutſchland herüber— 
gekommen, bei uns aber noch geſteigert und gemeiner geworden ſei. 

Er war indeß unbefangen genug, hinzuzufügen, daß ihm wirklich 
nichts mehr oder doch ſelten etwas einfalle. Er meinte, es ſei viel 
beſſer, wenn einem nachgeſagt würde: „Der hat ſchon aufgehört“ als: 
„Der ſchreibt noch immer“. Das Verſiegen der Productionskraft 
datirt bei Grillparzer aber nicht von dem unglücklichen Luſtſpiel. 

Nachdem alle ſeine Hauptwerke in vierzehn Jahren (1817 bis 
1831) entſtanden waren, folgte eine Pauſe von ſieben Jahren, in der 
nur ein älteres Werk „Traum ein Leben“ ans Licht trat und am Ende 
dieſer Pauſe eben jenes Luſtſpiel, das nur ein neues noch viel län— 
geres Schweigen einleiten ſollte. 

Jede Erklärung aus äußeren Motiven ſchlägt alſo fehl. Auch 
Grillparzers eigene Bemerkung (er hat ſich bald ſo, bald jo darüber 
erklärt), daß es ihm an äußerem Anreiz, an einem Zwang zur Arbeit 
gefehlt habe, kann kaum als entſcheidend angeſehen werden. Wir 
dürfen einfach ſagen: zu Mehr reichte ſeine Begabung nicht aus. 
Und höchſtens können wir daran erinnern, daß nach der eigenthüm— 
lichen Anlage unſeres Volksſtammes der Contraſt zwiſchen Jünglings— 
arbeit und Mannesarbeit ein größerer als anderwärts, und zwar zu 
Ungunſten einer nachhaltigen, ſtetig fortgeſetzten reifen Thätigkeit iſt. 

Scherer, Vorträge. 20 


306 Franz Grillparzer. 


Grillparzers friſche Productivität dauert von ſeinem 26. bis zu ſeinem 
40. Jahre. Mit der wachſenden geiſtigen Reife geht dabei ein Rück⸗ 
ſchritt an Erfindungs- und packender Geſtaltungskraft Hand in Hand. 
Was nach dem 40. Jahre folgt, ſind wenige Nachblüten, deren 
Bühnenwirkſamkeit zweifelhaft bleibt. 

Ich habe, ſoweit mein Blick reicht, zu zeigen verſucht, was 
Grillparzer feinem engeren Vaterlande verdankte, worin es ihm nutzte, 
worin es ihm ſchadete. Wie verhielt er ſich zu Deutſchland? 

Es fällt mir nicht ein, all die verſchiedenen Wendungen zuſam⸗ 
menzuſtellen, in denen Grillparzer ſeine Antipathie gegen Preußen 
kundgab oder die deutſche Uebercultur verſpottete oder einem Gefühl 
der Ueberlegenheit Ausdruck lieh oder die Hegel'ſche Philoſophie an⸗ 
klagte, daß ſie die deutſche Kunſt verdorben habe. In allen ſolchen 
Dingen redete und urtheilte er ganz wie ein anderer Alt-Oeſterreicher. 
Das Nationalgefühl war nur wenig in ihm entwickelt und als poli⸗ 
tiſcher Factor zählte es bei ihm nicht mit. Daß das misgünſtige 
Auge manchen wirklichen Fehler entdeckte, ſoll dabei nicht geläugnet 
werden. Aber wenn ein Epigramm aus der letzten Zeit befagt: 

Als die Deutſchen beſcheiden nach alter Weiſe, 

Sprach ich gern ein Wort zu ihrem Preiſe; 

Nun aber, da ſie ſich ſelber loben, 

Fühl ich mich fürder der Müh überhoben — 
ſo wüßte ich jene Worte zum Preiſe der Deutſchen nicht nachzuweiſen. 
Vielmehr ſcheint der Dichter mit beſonderem Behagen ſeinerſeits nur 
zu tadeln, und — ſagen wir nicht: das Lob, aber die gerechte Wür⸗ 
digung durchweg Anderen zu überlaſſen. Und wenn er den alten 
Merenberg im „Ottokar“ beten läßt: 


O gib daß wir, der Deutſchen Aeußerſte, 
Theilnehmen an dem Heil, das dort entſtand, 
Daß alle, die wir Oeſterreicher ſind, 
Entnommen aus des Fremden harter Zucht, 
Wie Brüder kehren in der Eltern Haus, 
Von Eines Vaters Auge fromm bewacht — 


ſo ſoll das nicht nationale Geſinnung ausdrücken; ſondern unter dem 
„Heil das dort entſtand“ wird Rudolf von Habsburgs „leuchtendes 
Geſtirn“ verſtanden. 


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Franz Grillparzer. 307 


Dennoch gab es einen Punct, wo Grillparzer ſich mit Begeiſte— 
rung als Deutſcher fühlte. 

In ein Exemplar von „Traum ein Leben“, das er nach Weimar 
ſandte, ſchrieb er die Zeilen: 


So willſt du dahin dich begeben, 
Wo Goethes Spur verwittert kaum? 
In Weimar war die Kunſt ein Leben, 
Uns iſt ſie höchſtens noch ein Traum. 


Dieſelbe Geſinnung nahm wohl auch eine polemiſche Wendung 
an, um die Gegenwart zurückzuſetzen: 
Nur weiter geht ihr tolles Treiben, 
Von „vorwärts! vorwärts!“ erſchallt das Land. 


Ich möchte, wärs möglich, ſtehen bleiben, 
Wo Schiller und Goethe ſtand. 


Er fühlte, was er der großen Weimarer Zeit verdankte. Von 
dort iſt der mächtige Aufſchwung ausgegangen, der dieſen Oeſterreicher 
mit ſich fortriß. a 

Von ſeinem zweiten Beſuch bei Goethe erzählt Grillparzer: 
„Als ich im Zimmer vorſchritt, kam mir Goethe entgegen und war ſo 
liebenswürdig und warm als er neulich ſteif und kalt geweſen war. 
Das Innerſte meines Weſens begann ſich zu bewegen. Als es aber 
zu Tiſche ging, und der Mann, der mir die Verkörperung der deutſchen 
Poeſie, der mir in der Entfernung und dem unermeßlichen Abſtande 
beinahe zu einer mythiſchen Perſon geworden war, meine Hand er— 
griff, um mich ins Speiſezimmer zu führen, da kam einmal wieder 
der Knabe in mir zum Vorſchein, und ich brach in Thränen aus. 
Goethe gab ſich alle Mühe, um meine Albernheit zu maskiren.“ 
Grillparzer iſt mir nie ſo liebenswürdig und ſo verehrungswürdig zu— 
gleich erſchienen wie in dieſem Augenblicke knabenhaft vorbrechenden 
Gefühles. Wenn ich mir ihn ſo vorſtelle, neben Goethe, da iſt Alles 
verſchwunden, was mir ſein Bild verdunkelt. 


Zu Bauernfelds ſiebzigſtem Geburtstag. 


Feuilleton der „Deutſchen Zeitung“ vom 13. Januar 1872. 


Als wir neulich Mendelsſohns Muſik zu „Oedipus auf Kolonos“ 
hörten, da ergriff mich der Chor „Nie geboren zu ſein, iſt der Wünſche 
größter“ wieder mit wunderbarer Gewalt. Es lag etwas ſchauerlich 
Unbarmherziges und Grauſames darin, als — getragen durch Mendels— 
ſohns treu an Sinn und Metrum angeſchmiegte Muſik — die herben 
Worte ertönten, in denen der griechiſche Dichter das Alter ſchildert: 


Am düſtern Ende naht ſich, verachtet, 

Oede, kraftlos, aller Freunde 

Leer, das Alter, dem ſich jedes 

Wehe des Wehs geſellt hat: 

In dem, Unſelger, dich 

Ueberall, wie nördlich einen Seeſtrand, 
Wogenſchlag und Winterorcan' erſchüttern: 

Alſo ſtürmen auf dich auch, 

Hochher brandend in ſtetem 

Wuthgrimme, die Leiden — und ruhen nimmer. 


Wie ganz anders dagegen, wie tröſtlich ſchön und mild klingt 
Alles, was Jacob Grimm in ſeiner berühmten Rede „über das Alter“ 
ſagt. Er kennt die Leiden, er iſt ſelbſt davon betroffen, aber er 
deutet ſie ins Schöne um, er weiß allen Schwächen eine gute Seite 
abzugewinnen, ſelbſt das Härteſte legt er ſich zurecht; nicht geduldig 
fügſam, ſondern faſt dankbar genießend, ſcheint er ſich in den Nieder⸗ 


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Zu Bauernfelds ſiebzigſtem Geburtstag. 309 


gang des Lebens zu finden. Man fühlt: es liegt eine Umwälzung 
der Weltanſchauung zwiſchen dem Griechen und dem Deutſchen, das 
Chriſtenthum hat die Menſchen genügſamer gemacht. 

Ob ich nun aber Sophokles hernehme oder Jacob Grimm, und 
ihre Schilderungen des Alters — auf Bauernfeld paßt weder die 
eine noch die andere. Gegenüber Sophokles trübgefärbter Betrachtung 
ſteht Bauernfeld als lebendige Widerlegung da. Aber auch das fried— 
ſame Greiſenalter, das Jacob Grimm zeichnet, hat auf Bauernfeld 
keine Anwendung. 

Daß Bauernfeld nicht mehr jung iſt, kann leider weder er, noch 
könnens ſeine Freunde leugnen. Und wenn er heute und geſtern und 
ſeit Wochen an dieſe betrübende Thatſache unaufhörlich erinnert wird, 
jo können wir ihm die Unannehmlichkeit leider nicht erſparen. Aber 
Bauernfeld würde mich doch mit Recht auslachen, wollte ich ihn als 
ehrwürdigen Greis bezeichnen. Und ſelbſt einen alten Herrn würde 
ich nicht wagen ihn zu nennen. Denn Bauernfeld iſt nicht blos 
einer der friſcheſten alten Herren — ich bitte um Verzeihung, dies— 
mal muß ich das Wort gebrauchen, aber ich wills nicht wieder thun 
— Bauernfeld iſt nicht blos einer der friſcheſten alten Herren die 
mir je vorgekommen, ſondern einer der friſcheſten Menſchen überhaupt, 
eine unerſchöpflich heitere, kräftige, elaſtiſche Natur. Ich habe oft 
mit Neid auf ihn geblickt. Wir Jungen müſſen uns beſchämt ver- 
ſtecken vor dieſer Spannkraft, dieſer Unverwüſtlichkeit, dieſer Fülle 
von Lebensmuth und Lebensluſt. Bauernfeld iſt ein Jüngling mit 
grauem Haar, und wenn er — was wir ihm von Herzen wünſchen 
— das hundertſte Lebensjahr erreicht, ich bin überzeugt, er wird nie 
ein Greis. 

Man möge es entſchuldigen, wenn die ewig neugierige Wiſſen— 
ſchaft dieſe merkwürdige Erſcheinung nicht ohne weiteres als Factum 
hinnimmt, ſondern nach einer Erklärung ſucht. Und man möge es 
dem Litterarhiſtoriker zugute halten, wenn er zunächſt bei ſeiner 
Wiſſenſchaft ſich Auskunft holt, wenn er einen bedeutungsvollen Zu— 
ſammenhang erblickt, wo Andere ſich vielleicht mit der Anerkennung 
einer individuell glücklichen Organiſation begnügen würden, und wenn 
er die Gefahr nicht ſcheut, den Inhaber dieſer Organiſation ſelbſt zu 
den luſtigſten Bemerkungen herauszufordern über eine weitausholende 


310 Zu Bauernfelds fiebzigftem Geburtstag. \ 


Gelehrſamkeit, die ſich bis ins finſtere Mittelalter verirrt, um den 
beſcheidenen Geburtstagsſtrauß zu pflücken, welchen ſie heute im 
Mölkerhof überreichen möchte. — 

Nirgends prägt ſich der Charakter eines Volkes oder Volks- 
ſtammes ſo rein aus, wie in ſeiner Kunſt und Litteratur. Und dem 
aufmerkſamen Beobachter zeigen durch die Folge der Zeiten hin ein- 
zelne Nationen und Stämme ſtets dieſelben Grundlinien ihrer künſt⸗ 
leriſchen Phyſiognomie. Durch die geſammte öſterreichiſche Litteratur 
vom elften Jahrhundert bis ins neunzehnte geht ein einheitlicher Zug, 
ein Zug der Jugendfriſche, der Naivetät, des Jünglinghaften. 

Vergeblich bemühten ſich die Mönche des elften und zwölften 
Jahrhunderts, ihr Publicum in den engen Geſichtskreis der Klofter- 
zelle, in den Dunſtkreis trüber ascetiſcher Lebensauffaſſung hineinzu⸗ 
ziehen. Selten, daß ſie einmal einen einzelnen Geiſt verfinſtern und 
ihm die ſonnige Unbefangenheit rauben. Treu hängen die Oeſter⸗ 
reicher an den Jugendidealen der Völker. Die Heroen der germa⸗ 
niſchen Wanderung beſingen ſie nach wie vor. Die Kriegsſtürme 
Attilas finden ihren Nachklang, die alten Gothenkönige bleiben un⸗ 
vergeſſen, der blühende Held vom Rhein, jung Siegfried, lebt in 
öſterreichiſchen Liedern fort. An den Geſtalten der germaniſchen 
Jugendzeit erbauen ſich die adeligen Kreiſe des zwölften Jahrhunderts. 
Ueppiger Lebensgenuß zieht in unſere Lande ein, verklärt und veredelt 
durch eine Liebespoeſie voll natürlichen Zaubers und unverkünſtelter 
Anmuth, unmittelbarer Abdruck eines ſeligen, jungen, heiteren Herzens⸗ 
lebens. Der große Walther von der Vogelweide wächſt aus dieſer 
Welt heraus, oppoſitionsluſtig und fromm, ein echter deutſcher Ritter, 
der die Pfaffen haßt und Rom und ſeinen Uebermuth, formgewandt 
und melodienreich, graziös und naiv, lebensluſtig und empfindungs⸗ 
tief. Und nach ihm, welches tolle Leben thut ſich auf, welche Fülle 
von Scherz und guter Laune! Derbe Späße, Bauernprügeleien, 
Schwänke mit Dorfſchönen, kräftige Satiren und komiſche Genrebil⸗ 
der, verrückte Erfindungen ausgelaſſenen Humors, gedichtete und gelebte 
Faſtnachtspoſſen, knabenhafte Luſt an Spiel und Tanz, an Mumme⸗ 
reien und Aufzügen. Dabei heftige aufwallende Leidenſchaften, plöß- 
liche ſchroffe Gegenſätze, die ſich raſch wieder verſöhnen, ein üppiges, 
friſches, genießendes Geſchlecht. Die Wolken der Sorge liegen nicht 


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Zu Bauernfelds ſiebzigſtem Geburtstag. 311 


auf ſeiner Stirn. Die Erde bietet ihm alle ihre Freuden dar, warum 
ſoll es nicht zugreifen, ſich nicht anklammern an die ſchöne Welt, die 
es mit ihren ſüßeſten Reizen lockt? 

Die ernſte Denkarbeit der deutſchen Philoſophie des vierzehnten 
Jahrhunderts, die harte Mannesarbeit der Reformation konnte hier 
nicht gethan werden. Durch die beſten öſterreichiſchen Schriften der 
Reformationszeit geht ein eigener weicher Ton ſchlichter Herzlichkeit 
und ſanftmüthiger Liebe, frommer, kindlicher Einfalt und williger Er: 
gebung. Nachher kam die lange Knebelung der Gegenreformation. 
Aber die unverwüſtliche Laune wußte ſich auf die Kanzel Bahn zu 
brechen, das Theater wurde nicht müde, den deutſchen Volkshumor 
in ſeinen tollſten Geſtalten immer fort zu pflegen. Die energiſche 
Spannung aller Geiſteskräfte, die großartige idealiſtiſche Erhebung, 
aus welcher die claſſiſche Litteraturepoche entſprang, dafür waren wir 
Oeſterreicher verdorben. Wir fühlten uns ausgeſchloſſen, viele An⸗ 
läufe waren vergeblich, erſt das neunzehnte Jahrhundert brachte uns 
den litterariſchen Wiederanſchluß an Deutſchland. Aber der Sinn, 
in dem wir uns an dem geiſtigen Leben der Nation betheiligten, war 
der alte. Die ſchöne Weltfreudigkeit der „Schöpfung“ und der 
„Jahreszeiten“, die brauſende, ſtürmiſche Lebensluſt des „Don Juan“ 
trug ſich jetzt, gemäßigt und gemildert, in die Poeſie hinüber. Selbſt 
im Tragiſchen war etwas Jünglinghaftes: keine herben Abſchlüſſe, 
keine grellen Diſſonanzen, eine Stimmung, die keine Illuſionen, keine 
ſchweren Enttäuſchungen kennt, mehr Rührung als Erſchütterung, 
mehr Melancholie als Verzweiflung, und immer noch Genuß auch im 
Schmerz. Im Hintergrunde ein genügſames Innenleben, anſpruchs— 
los, gutmüthig, heiter und froh. Und als der große politiſche Idea— 
lismus wie der Blitz in uns hineinfuhr, walches Feenland ſchien ſich 
zu öffnen! Was für eine ſonnige Jugendlichkeit lag über den März— 
tagen von 1848! Die Jünglingsarbeit des Niederreißens war ſo 
ſchön gelungen, wie es die Mannesarbeit des Aufbauens nimmermehr 
konnte. 

Wenn nun alle gute Laune, alle Lebensluſt und Humor, alle 
Sorgloſigkeit, die den Augenblick genießt, alle Aufgelegtheit zu knaben— 
haftem Scherz, alle Spottſucht und Oppoſitionsluſt, alle Schwelgerei 
in bösklingenden, aber gutmüthigen Worten, wenn die Geſchicklichkeit 


312 Zu Bauernfelds fiebzigftem Geburtstag. 


und Anſtelligkeit, die Gewandtheit und Eleganz, wenn alle leichthin⸗ 
fließende Rede und alle einſchmeichelnde Liebenswürdigkeit, die ſich in 
einem Volksſtamme aufgeſpeichert finden — wenn alle dieſe Eigen⸗ 
ſchaften ſich in einem einzelnen Menſchen zuſammenfaſſen und wenn 
der Eine mit grauen Haaren noch ein Jüngling iſt: darf man darin 
bloßen Zufall ſehen? Iſt es nicht der Geiſt, die Geſinnung und 
Stimmung, was ihn jugendlich und friſch und unverwelklich erhält? 
Und dankt er dieſen Geiſt nicht dem Volksſtamme, dem er angehört 
und den er — als einer der Erſten — wieder würdig eingeführt hat 
in die Litteratur des deutſchen Volkes? 

Die Menſchen des heutigen Oeſterreich ſcheiden ſich in Vor⸗ 
Achtundvierziger und Nach-Achtundvierziger. Wir Jungen, die 
Anno 48 noch Kinder waren, fühlen uns von einem ganz fremd— 
artigen Geiſte angeweht, wenn wir den Alten gegenüberſtehen. Aber 
dürfen wir uns mit voller Beruhigung ſagen, daß wir beſſer geworden 
ſind? Dürfen wir mit Zuverſicht behaupten, daß ſich in uns Spä⸗ 
teren ein unbedingter Fortſchritt ausſpreche? 

Es iſt eine heikle Frage, die ich hier berühre, und ich möchte 
nicht die Gegenwart ſchmähen, um einem Vertreter der Vergangenheit 
meine herzliche Verehrung zu bezeigen. Aber Eins darf ich ſagen: 
der Vor-Achtundvierziger Oeſterreicher iſt ein glücklicher Menſch aus 
Einem Guſſe, rund, voll, ganz, in ſich gegründet, ein einheitlicher, 
conſequenter, ſicherer Charakter ohne inneren Zwieſpalt. In die Nach- 
gebornen iſt ein Bruch gekommen, ſie ſind „problematiſch“ geworden. 
Die alte Natur kann ſich nicht ganz verleugnen, aber neue Ideale 
ſind in die Welt getreten, neue Aufgaben ſind uns auferlegt, denen 
wir uns nicht gewachſen fühlen. Ueber den Zwieſpalt zwiſchen Wollen 
und Können gelangen wir ſelten hinaus. Als handelnde Menſchen 
ſuchen wir nach einem äußeren Halt. Als empfindende Menſchen 
tragen wir das volle Heimatsgefühl in uns. 

Es gibt ein kleines Bild von Schwind, ein gar anſpruchsloſes 
Ding ohne großen Kunſtwerth. Bauernfeld und Schwind fahren 
über Land. Sie ſitzen auf einem „Zeiſelwagen“. Ein munteres 
Bäuerlein ſchwingt kräftig die Peitſche über zwei muthig anziehenden 
Ackergäulen. Die Straße, auf der ſie ſich im Vordergrunde bewegen, 
iſt mit ſteifen Pappeln beſetzt. Im Hintergrunde ein paar Waldberge, 


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Zu Bauernfelds ſiebzigſtem Geburtstag. 313 


ganz gewöhnlich, ohne irgend hervorragende Formen, einige Burg- 
trümmer auf der Höhe, kurz eine alltägliche Gegend, wie man ſie 
überall an den Ausläufern des Wiener Waldes ſehen kann. 

Ich wußte mir lange nicht zu ſagen, worin der unendliche Zauber 
dieſes Bildes beſtand, den es immer auf mich ausübte, ſo oft ich es 
in der Schwind⸗Ausſtellung ſah. Und einem Fremden könnte ich es 
auch heute nicht deutlich machen, ich würde Jeden vorüberdrängen, 
damit er mir den Liebling nicht ſchmähe. Mit Worten iſt es nicht 
auszudrücken, an Form und Farbe liegt es nicht, die Situation hat 
nichts Frappantes — aber Straße und Flur und Berg und Wald 
— es iſt Heimat! Und die beiden lieben, fröhlichen, unbefangenen 
Menſchen und das gemüthliche Bäuerlein — ſie ſind Heimat! Und 
wenn ich mir dächte, daß ich einmal nach vielen Jahren, etwa im 
Auslande, vielleicht mitten unter anderen Intereſſen, Menſchen, Pflich⸗ 
ten, plötzlich dies Bild ſehen ſollte — ich weiß, es würde mit 
thränenerzwingender Macht mir die Seele bewegen. 

Als ein prächtiges Stück Heimat, das weit über die Heimat 
hinaus gewirkt und uns alle geehrt hat, ſteht Bauernfeld vor mir 
da. Als eine Huldigung an den heimatlichen Geiſt in ſeiner un⸗ 
gebrochenen, kräftigen, reinen Entfaltung möge er ſich dieſe Zeilen 
gefallen laſſen. 

Die Litteraturgeſchichte ſucht ihre Helden gern in der geiſtigen 
Wiege auf. Sie beobachtet ihre erſte Entfaltung faſt noch lieber als 
die Höhe ihres Schaffens. So waren mir in Bauernfelds Geſam— 
melten Werken ganz beſonders die älteſten Stücke intereſſant, in denen 
ſeine Muſe ſich aus der Umarmung des romantiſchen Geiſtes noch 
nicht losgewunden hat. „Der Muſikus von Augsburg“, „Die Ge— 
ſchwiſter von Nürnberg,“ „Der Fortunat“ ſind ſolche Stücke. 

Vor Allem iſt mir der „Fortunat“ ans Herz gewachſen. Der 
Held des alten Volksbuches hatte ſchon im ſiebzehnten Jahrhundert 
einmal unter dem Schutz der „engliſchen Komödianten“ die Bühne be- 
treten. Seitdem, meines Wiſſens, nicht wieder bis auf Tieck. Und 
als Bauernfeld mit weit mehr Bühnentechnik als Tieck den Verſuch 
erneuerte und ſeinen Fortunat den Wienern vorführte, da wurde 
er ziemlich ſchnöde abgelehnt. Und doch iſt dieſer Fortunat ein 
reizender Burſche. | 


314 Zu Bauernfelds ſiebzigſtem Geburtstag. 


Ein ſchöner Jüngling, lieblich, freundlich, lebensfroh, 
Raſch, unbekümmert, kecken Handelns, herzenswarm, 
Gebildet nicht, doch bildſam, drum den Frauen werth. 
Wenn Ihr in Eures eignen Herzens Tiefe forſcht, 

So habt Ihr Wunderbares auch, gleich ihm, erlebt, 
Denn Ihr wart jung, und Jugend iſt der Wunder Zeit. 

Ja wohl, alle Wundergaben der Jugend ſind ausgegoſſen über 
Bauernfelds „Fortunat“. Eine Reihe bunter, lockender Bilder entrollt 
er uns, „erfüllet uns mit Lebens- und mit Liebesglanz“. Zu won⸗ 
nigem Behagen ladet er uns ein und zum Genuß des „jungen, reichen, 
freudeblühnden Lebens“. 5 

Bauernfeld ſelbſt iſt ein Fortunat. Auch ihm hat die gütige 
Göttin Fortuna einen Wunſchſäckel ertheilt voll des gemünzten Goldes 
lauterer Poeſie, voll Jugendfriſche, Heiterkeit und unermüdlicher 
Schaffensluſt. Verſchwenderiſch hat er ſeine Schätze ausgeſtreut. 
Und doch fehlt ihm der Leichtſinn Fortunats, der all die Reichthümer 
nicht zu Rathe hält. Bauernfeld hat es wie Wenige ernſt mit dem 
Berufe des Dichters und Schriftſtellers genommen. Er gehört zu 
den beneidenswürdigen Naturen, die in augenblicklicher Eingebung 
produciren und ihre Gaben aus dem Aermel ſchütteln. Nirgends 
liegt die Verführung zu leichtſinniger Ueberproduction näher, als bei 
jo glücklicher Organiſation. Aber Bauernfeld iſt ſtreng gegen ſich 
ſelbſt. Man betrachte nur einmal die Geſammtausgabe und ſeine 
kurzen Notizen in den Anhängen. Was iſt da nicht alles weggelaſſen! 
Wie Vieles hat er der Aufnahme nicht für werth gehalten! Wie 
Vieles hat er umgearbeitet, geändert, gefeilt, gebeſſert! Und wie be⸗ 
ſcheiden iſt der Ton, in dem er von allen ſeinen Sachen redet! Es 
iſt als wären dieſe Bemerkungen ſämmtlich von der Geſinnung ein⸗ 
gegeben, welche ihm folgende Worte dictirte, mit denen er den erſten 
Band der Geſammtausgabe einer Freundin überreichte: 


Wie Du mich kennſt, ſo bin ich! Und alle die Fehler und Schwächen, 

Mäßig mit Gutem vermiſcht, ſpiegeln ſich wieder im Buch. 

Alle Menſchen, denen es ernſt iſt um die Sache, ſind beſcheiden, 
d. h. ſie beugen ſich vor dem Ideal, dem ſie nachſtreben und das 
ſie ſich bewußt bleiben nie zu erreichen. Dieſe Beſcheidenheit ſchließt 
aber perſönliches Selbſtgefühl nicht aus. Und ſo wollen wir 


Zu Bauernfelds ſiebzigſtem Geburtstag. 315 


Bauernfeld wünſchen, daß er an ſeinem ſiebzigſten Geburtstage mit 
Stolz und Befriedigung auf die Zeit zurückblicke, die hinter ihm liegt. 
Möge ihm der Tag, der ihn wieder um ein Jahr älter macht, durch 
das Bewußtſein verſüßt ſein, etwas Tüchtiges geſchaffen und mit 
ſeinem Pfunde redlich gewuchert zu haben! Und möge für die Zeit, 
die noch vor ihm liegt, der wunderthätige Säckel ſeine Kraft nie ein⸗ 
büßen! 


— 


Unpolitiſche Gloſſen zu einem politiſchen Actenſtücke. 


Feuilleton der „Deutſchen Zeitung“ vom 12. Januar 1872. 


Mit großer Spannung hatte ich dem Adreßentwurf des Abgeord- 
netenhauſes entgegengeſehen. Unſere Nationalität iſt einer großen Ge⸗ 
fahr entgangen. Der Verſuch war gemacht worden, die Deutſchen 
Oeſterreichs in eine tſchechiſche Gefangenſchaft zu führen, wie einſt 
die alten Juden in die babyloniſche und aſſyriſche: der Verſuch iſt 
abgeſchlagen; die Vergewaltigung deutſchen Geiſtes iſt zurückgewieſen; 
die eben noch unterdrückte Partei ift wieder Herrſcherin, fie beſitzt das 
Vertrauen der Krone, ſie hat die Macht, in ihrer Hand liegt die 
nächſte Zukunft. Der Augenblick trifft zuſammen mit dem kühnſten 
glänzendſten Aufſchwung deutſchen Nationalgefühles. Von Angſt und 
Sorge befreit athmen wir auf und geben uns neuen Hoffnungen hin. 
Ein freies erfolgreiches Leben ſcheint vor uns zu liegen. Von allen 
Seiten regt es ſich, ſchaffensfreudig und arbeitsfroh. Lange Ber: 
ſäumniſſe ſollen eingeholt werden. Das Gefühl iſt allgemein, der 
erfochtene Sieg müſſe benutzt, die Stellung der Deutſchen bis zur 
Unerſchütterlichkeit feſt begründet werden. Eine geſegnete Aera weiſer 
Maßregeln ſcheint ſich aufzuthun. Die Regierung ſelbſt entwirft ein. 
umfaſſendes Programm, voll reichen Stoffes für eine breitangelegte, 
weitverzweigte, raſtloſe Thätigkeit. 

Was werden die Vertreter des Volkes in einem ſolchen Augen- 
blicke der Regierung, was werden ſie der Krone ſagen? Werden ſie 
ſich auf der Höhe ihrer Aufgabe zeigen? Werden fie dahinter zurüd- 


Unpolitiſche Gloſſen zu einem politiſchen Actenſtücke. 317 
bleiben? Werden uns ihre Worte mit Befriedigung oder mit Ent⸗ 
täuſchung erfüllen? 

Mit ſolchen Fragen und Zweifeln nahm ich das Blatt zur Hand, 
das den Adreßentwurf enthielt... 

Ich will nicht mit Einem harten Worte ſagen, welchen Eindruck 
ich davon empfing. Ich konnte nicht verkennen, daß der Entwurf 
viel Verdienſtliches bot. Auch iſt der eigentlich politiſche Gehalt, der 
ſich um die augenblicklich brennenden Tagesfragen dreht, von den Ge— 
ſinnungsgenoſſen allgemein gebilligt worden. Und ich bin nicht ge— 
willt, dieſe Billigung einzuſchränken oder abzuſchwächen. Aber ich 
muß offen geſtehen, daß ich in dem Entwurfe manches nicht gefunden 
was ich erwartete — und manches gefunden was ich nicht erwartete. 
Und ich will meine Bedenken nicht zurückhalten, auch wenn ſie ein 
wenig hinterher hinken. Es handelt ſich um die höchſten Ziele der 
deutſchen Partei. Zu deren Klärung und Sichtung beizutragen ſcheint 
mir Pflicht jedes Einzelnen. Und unter dem Strich fallen manche 
Rückſichten weg, die man über dem Strich wohl gerne nimmt. 

Der Entwurf iſt, inſofern er nicht weitergehende Forderungen 
oder eingehendere Erörterungen enthält, eine treue Paraphraſe der 
Thronrede. Wie kommt es alſo, daß die Stelle der Thronrede, welche 


die Ordnung des Univerſitätsweſens als eine der wichtigſten Auf— 


gaben der Regierung bezeichnet, wie kommt es, daß dieſe Stelle in 


dem Adreßentwurfe des Abgeordnetenhauſes kein Echo gefunden hat? 


Sollten wirklich die Vertreter des Volkes an Fürſorge für das 
geiſtige Leben deſſelben hinter der Regierung zurückbleiben wollen? 
Und warum? Müſſen wir uns vielleicht erinnern, daß der Verfaſſer 
des Adreßentwurfes, ein ehemaliger Profeſſor, aus ſeiner Abneigung 
gegen die ſeit 1848 begonnenen Neuerungen auf dem Gebiete des 
Unterrichtsweſens kein Hehl macht? Aber wird das Abgeordnetenhaus 
als Ganzes dem Beiſpiel des Adreßausſchuſſes folgen und dieſe Ab— 
neigung des Herrn Geheimraths Herbſt ratificiren? Oder ſollen wir 
den Grund dieſer Auslaſſung vielmehr in den tönenden Schlußſätzen 
der Adreſſe angedeutet finden, worin die Staatstheorie des Verfaſſers 
ſich unverkennbar ſpiegelt? 

Betrachten wir uns dieſe Schlußſätze etwas genauer. 

„Wir tagen in einer Zeit nie geahnten wirthſchaftlichen Auf— 


318 Unpolitiſche Gloſſen zu einem politiſchen Actenſtücke. 


ſchwunges, regen und emſigen Schaffens auf allen Gebieten des Ver⸗ 
kehrs und der Production in unſerem geſegneten Vaterlande.“ Die 
ſichtliche Steigerung des Volkswohlſtandes wird hierauf die natür⸗ 
lichſte Quelle der Zufriedenheit genannt. Und als die Grundlage 


für die volkswirthſchaftliche Blüte eines Landes werden Friede, Ver⸗ 


faſſung, Geſetz hingeſtellt. Aus der Sicherung dieſer Güter ſoll neues 
Vertrauen entſpringen, durch die Sicherung dieſer Güter ſoll der 
öſterreichiſche Staatsgedanke neue Kräftigung erfahren. 

Es klingt als ob der Volkswohlſtand der Mittelpunet wäre, um 
den die ganze Aufgabe des Staates ſich drehe. Da können die höch— 
ſten Pflegeſtätten des geiſtigen Lebens freilich nicht auf beſondere Rück 
ſicht zählen. Was kümmern uns die Univerſitäten! Was tragen die 
Univerſitäten zur Hebung der materiellen Intereſſen bei! Oekonomiſche 
Blüte, geſicherter Genuß des Lebens, darauf kommt es an, dadurch 
gedeihen die Staaten. 

So ſind denn die Lehren der Jahre 1870 und 1871 an dem 
Verfaſſer des Adreßentwurfes ſpurlos vorübergegangen? 

Da war ein Staat im Weſten, deſſen volkswirthſchaftliche Blüte 
nichts zu wünſchen übrig ließ. Die „unerſchöpflichen Hilfsquellen“ 
des geſegneten Landes wurden unermüdlich ausgebeutet. Alles, was 
Production und Verkehr ſichern, befördern, heben konnte, war da 
geſchehen. Und dieſer glückliche Staat iſt heute eine Ruine, die 
Zauberinſel iſt eine troſtloſe Stätte wilder Leidenſchaften geworden, 
die Sirenenſtimmen haben ſich in Revanchegekrächz verwandelt, la 
belle France ſieht uns traurig und verzweifelt an, der Sieger ſelbſt 
ſteht ſchaudernd vor der inneren Verwüſtung eines glänzenden Volkes 
und beklagt das entſetzliche Unglück des Niederganges franzöſiſcher 
Civiliſation und Geiſtesblüte. . . . Wir aber in Oeſterreich, wir liegen 
auf den Knien und beten an den Gott der materiellen Intereſſen. 
Mercurius, der Schutzpatron der Kaufleute und Induſtrieritter, das 
iſt der Heilige, dem wir Altäre bauen. 

Das neue deutſche Reich und Preußen, das es geſchaffen, ſteht 
vor uns als ein lebendiger Beweis, was treue, ſelbſtloſe Arbeit, was 
ernſte Mühe um die edelſten Güter der Menſchheit, was Opfer⸗ 
freudigkeit, Begeiſterung und Pflichtgefühl, was folgerichtiges Denken 
und entſchloſſenes Handeln, was ein an Thatſachen geſchulter Idea— 


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Unpolitiſche Gloſſen zu einem politiſchen Actenſtücke. 319 


lismus werth ſind. Wir dünken uns groß, wenn wir über die 
Formen der Gottesfurcht ſpotten, in welchen dieſer Idealismus manch— 
mal ſich äußert und rufen inbrünſtig: o heiliger Mercurius, bitt 
für uns! . 

Der öſterreichiſche Staat, in welchem alle centrifugalen Kräfte 
ſich Stelldichein gegeben haben, worin die nackte Selbſtſucht eines 
aufgeblaſenen Natiönchens ſoeben noch dem unerhörteſten Triumphe 
nahe war — der öſterreichiſche Staat ſteht da wie ein noch in Voll⸗ 
zug befindliches Experiment, wodurch das Weltenſchickſal die Folgen 
des Egoismus und die Nothwendigkeit des Gemeingeiſtes demonſtriren 
will. Wir aber ſchließen die Augen vor den offenliegenden That- 
ſachen und rufen andächtig: o heiliger Mercurius, bitt für uns! 

Nach der Schlacht von Königgrätz ging ein Angſtruf nach In⸗ 
telligenz durch die Reihen der öſterreichiſchen Armee und des öſter— 
reichiſchen Volkes. Heute, wo dieſe Intelligenz die Bewunderung der 
Welt auf ſich gezogen hat und niegeſehene Lorbeern erntet — heute 
haben wir für die Intereſſen der Bildung, des Wiſſens, der Forſchung 
kein einziges förderndes Wort. Wir kehren Minerven den Rücken 
zu und rufen krampfhaft: o heiliger Mercurius, bitt für uns! 

„Aber — wird man mir vielleicht einwenden — der Adreß— 
entwurf vernachläſſigt die Bildung keineswegs. Er gedenkt des Volks- 
ſchulweſens, er betont die ernſte Durchführung der Volksſchulgeſetze, 
er wendet ſich ausdrücklich gegen die Aufhetzungen der Clericalen, 
deren Widerſtand gebrochen werden müſſe.“ 

Ich habe den betreffenden Paſſus nicht überſehen. Und ich bin 
dem Verfaſſer der Adreſſe dafür dankbar. Aber der Charakter des 
ganzen Schriftſtückes wird dadurch in noch helleres Licht geſetzt. 

Wo es die Oppoſition gegen den Clerus gilt, da iſt der land— 
läufige Liberalismus raſch zur Hand. Dafür hat er Sinn, ja hier 
ſchießt er auch über das Ziel gern hinaus. In der Oppoſition über⸗ 
haupt hat er ſeine Stärke. Wo es gilt zu bauen und zu ſchaffen, wo 
es ſich um Durchführung poſitiver Programme handelt, wo die ober— 
ſten Ideen und Intereſſen der Zeit ihre Verwirklichung fordern, da 
geht ihm Verſtändniß, Luſt und Kraft aus. 

Welches aber das poſitive Programm, der lebengebende Gedanke 
ſei, von welchem allein uns Heil kommen kann, das brauche ich den 


320 Unpolitiſche Gloſſen zu einem politiſchen Actenftüde. 


Leſern der „Deutſchen Zeitung“ kaum zu ſagen. Der Meſſias, auf 
den wir warten, hat ſeine Herrlichkeit längſt gezeigt. Der Retter 
Oeſterreichs kann nur der deutſche Geiſt ſein. | 

Wohlgemerkt, ich ſage nicht: die Deutſchen. Ich ſage: der 
deutſche Geiſt. Und ich glaube, man ſollte dieſe Unterſcheidung immer 
machen. Stellt man „die Deutſchen“ als den Kitt des Staates hin, 
ſo könnte das wie ein Anſpruch auf Oberherrſchaft klingen. Und die 
Deutſchen als ſolche, als einzelne Nation, erheben dieſen Anſpruch 
nicht. Sie würden ihre eigene Sache dadurch ſchwächen. Das 
Machtgebiet des deutſchen Geiſtes iſt weit größer als das Macht- 
gebiet der Nation. Und für den deutſchen Geiſt die Herrſchaft in 
Oeſterreich fordern heißt nur: das Ergebniß natürlicher Culturver⸗ 
hältniſſe präciſiren, welche keine Gewalt der Erde abzuändern im 
Stande iſt. 

Was wir den deutſchen Geiſt nennen, das iſt nicht nebelhaft 
und unfaßbar wie ſonſt Geiſter ſind: es ſteht ſichtbar vor unſeren 
Augen, es iſt ein Inbegriff von Gedanken, Gefühlen, Meinungen, 
von ſittlichen, äſthetiſchen, politiſchen, wiſſenſchaftlichen Ideen, der 
von einem beſtimmten Mittelpunct aus ſich über alle Seiten des 
Daſeins verbreitet, ſie belebt und befruchtet und ſich in einer Menge 
von Inſtitutionen ausprägt, die meiſt nicht einen beſchränkt natio⸗ 
nalen, ſondern einen abſolut menſchlichen Werth beſitzen. Der deutſche 
Geiſt in dieſem Sinne iſt zum großen Theil das letzte Reſultat der 
bisherigen Culturentwicklung überhaupt. Seine Fortſchritte und Er- 
rungenſchaften ſind vielfach Fortſchritte und Errungenſchaften der 
Menſchheit. Die deutſche Heeresorganiſation iſt für jetzt die oberſte 
Stufe, welche die Heeresorganiſation überhaupt erreicht hat. Der 
Schulzwang und die allgemeine Wehrpflicht ſind Einrichtungen von 
unbedingter Trefflichkeit. Die deutſche Volksſchule, das deutſche Gym— 
naſium und die deutſche Univerſität haben bisher nirgends ihres 
gleichen. Die Methoden deutſcher Wiſſenſchaft ſind für den Ge— 
brauch der Welt gefunden. Und mancher andere geiſtige Beſitz von 
intimerem Charakter, der an die ſpecifiſchen nationalen Eigenthüm⸗ 
lichkeiten ſich inniger gebunden zeigt, wie die Grundſätze des Rechtes 
und der Verwaltung, — das iſt zwar nicht für die Welt aber doch 
für uns mit gefunden und errungen worden. 


Unpolitiſche Gloſſen zu einem politiſchen Aectenſtücke. 321 


Der deutſche Geiſt beherrſcht ſeine Umgebung. Es gibt keine 
ſpecifiſch öſterreichiſche, es gibt keine tſchechiſche, keine floveniſche 
Cultur. Unſere Cultur iſt die deutſche, aber auf einer niedrigeren 
Stufe. Wir können die Errungenſchaften Deutſchlands wohl anneh⸗ 


men und uns zu eigen machen, aber wir können ſie dermalen nicht 


übertreffen. Und es iſt thörichter Eigendünkel, dies zu verſuchen. 
Wir ſind zurückgeblieben. Da gibt es kein anderes Mittel, als dies 
einmal in ehrlicher Bemühung nachzuholen. Man kann nicht plötz⸗ 
lich ernten, wo man nie geſät hat. Dieſelben Wege, welche Deutſch⸗ 
land auf die Höhe gewandelt iſt die es jetzt einnimmt, dieſelben Wege 
müſſen wir erſt nachwandeln. | 

Daran aber haben die mitten unter uns wohnenden Slaven⸗ 
ſtämme ein eben ſo ſtarkes Intereſſe wie wir. Wer ſich zum Diener 
des deutſchen Geiſtes macht, der iſt uns willkommen, der gilt uns 
als Deutſcher, gleichviel ob ſeine Wiege in Czaslau oder in Wien, 
in Laibach oder in Graz geſtanden hat. | 

Die Deutſchen einholen, den Deutſchen nacheifern, deutſche Art 
pflanzen und hegen: das iſt die Aufgabe, in der wir uns einigen, 
das iſt die Idee, an der wir wieder Hingebung und Glauben lernen 
können. Macht uns theilhaftig der inneren Segnungen, deren ſich 
Deutſchland erfreut: und geſtillt iſt die Sehnſucht nach den Brüdern 
„im Reich“, gewonnen iſt das höchſte Gut, wodurch uns das Leben 
in Oeſterreich wieder lebenswerth wird. 


Scherer, Vorträge. Yu 21 


Mittelalter und Gegenwart, 


Aus einem Wiener Vortrage vom 17. October 1870. 


Die Beurtheilung des Mittelalters hat drei Stadien durchlaufen 
ſeit hundert Jahren: ein bekämpfendes, ein bewunderndes, ein ver⸗ 
ſtehendes. 

Die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts, die vorzugsweiſe 
ſo genannte Periode der Aufklärung, hatte ein Intereſſe daran, das 
Mittelalter möglichſt herabzuſetzen. Die Zeit wollte auf dieſe Weiſe 
ihre eigene Vollkommenheit inne werden. Ich ſage das nicht tadelnd, 
es iſt ein natürlicher Zug der menſchlichen Natur: wenn man ein 
Stück Weges zurückgelegt hat, will man ſehen, wie weit man gekom⸗ 
men, man will an der Größe des Erreichten die Größe ſeiner Kräfte 
abſchätzen, man will Zuverſicht erwerben gegenüber den neuen Auf- 
gaben, die ihrer Löſung harren. Alle Mächte, denen gegenüber das 
Zeitalter der Aufklärung emporkam, hatten während des Mittelalters 
im Zenith ihrer Kraftentwicklung geſtanden; das Weſen des Mittel⸗ 
alters war zuſammengeſunken unter den Schlägen eines Geiſtes, der 
gerade in der Aufklärungsepoche mächtiger als je ſeine Glieder reckte 
und ſtolz herabblicken durfte auf die Leichen erſchlagener Feinde. 
War es nicht begreiflich, daß dieſes Siegesgefühl den überwundenen 
Gegner möglichſt ins Schwarze malte? 

Man ſuchte zuſammen, was ernſte Satiriker, was begeiſterte 
Prediger des Mittelalters ihren Zeitgenoſſen Schlechtes nachjagten. 
Alle Klagen über ſittlichen Verfall wurden herbeigeholt. Die ſtrengen 
Bußordnungen der Kirche, welche eine wahre Muſterkarte des Laſters. 


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Mittelalter und Gegenwart. 3 


aufrollen, konnten zu demſelben Zwecke dienen. Man ſchilderte die 
mittelalterlichen Verfaſſungen und Rechtsordnungen und hatte leichte 
Mühe zu beweiſen, daß ſie den Staatszweck wenig erfüllten, daß für 
die Wohlfahrt, für die Rechtspflege, für die äußere und innere Sicher⸗ 
heit der Unterthanen ſehr ſchlecht geſorgt war, daß ein Syſtem gegen⸗ 
ſeitiger Ausbeutung herrſchte, in welchem der Schwache nirgends 
Schutz fand — die Begriffe Feudalismus und Fauſtrecht bezeichneten 
das Aergſte und Verhaßteſte was ſich ein gebildeter Politiker des 
achtzehnten Jahrhunderts vorſtellen konnte. Man wies darauf hin, 
daß eine Menge nützlicher Erfindungen nicht gemacht waren, daß 
daher die Induſtrie und die Bequemlichkeit des Lebens ſehr im Argen 


lagen. Man glaubte vollends gewonnenes Spiel zu haben, wenn 


man den Zuſtand der Religion und der Wiſſenſchaft im Mittelalter 
prüfte, man konnte die blindeſte Ergebung in die Autorität, den 
craſſeſten Aberglauben verzeichnen, der Stand der Naturwiſſenſchaften 
war der niedrigſte, die Philoſophie war nicht productiv, um die Phi⸗ 
lologie war es ärmlichſt beſtellt, die Alles beherrſchende Theologie 
konnte nicht zur Befreiung der Geiſter führen. 

Als Vertreter dieſer Richtung, welche über das ganze Mittel- 
alter blos Nacht und Dunkel laſtend ausgebreitet ſah, nenne ich nur 
den Göttinger Profeſſor Meiners und feine „hiſtoriſche Vergleichung 
der Sitten und Verfaſſungen, der Geſetze und Gewerbe, des Handels 
und der Religion, der Wiſſenſchaften und Lehranſtalten des Mittel- 
alters mit denen unſeres Jahrhunderts in Rückſicht auf die Vortheile 
und Nachtheile der Aufklärung“. Das Buch erſchien zu Hannover 
1793 und 1794 in drei Bänden. Es iſt der Inbegriff alles deſſen, 


was ſich dem Mittelalter Uebles nachſagen ließ. 


So urtheilte man noch im letzten Decennium des achtzehnten 
Jahrhunderts. Kaum ein Dutzend Jahre war ſeitdem verfloſſen, als 
bereits ein großer Umſchwung ſich vollzogen und in der gemeinen 
Anſicht der Gebildeten das Mittelalter einen ganz anderen Sinn ge⸗ 
wonnen hatte. 

Man muß z. B. die Declamationen hören, in denen ſich Joſeph 
Görres, der größte Rhetor der Romantik, erging. Wo Meiners nur 
dunkle Schattenmaſſen erblickt hatte, da ſah Görres ein glänzendes 


Lichtmeer, deſſen Pracht ihn blendete und ihm Sinn und Verſtand 
21* 


324 Mittelalter und Gegenwart. 


gefangen nahm. Für ihn war das Mittelalter die Epoche des Chri⸗ 
ſtenthums: wie das Chriſtenthum die Weltreligion ſei, ſo ſollte die 
Kirche, die Eine Kirche die ganze geiſtige Welt in ſich begreifen und 
das Kaiſerthum, das Eine Kaiſerthum, die ganze politiſche Welt um⸗ 
faſſen. Nur in den Köpfen der großen Päpfte jener Zeit habe die 
Idee dieſes Rieſenwerkes feſtgeſtanden, und wenn dieſelbe nicht zur 
Ausführung kam, ſo lag das nach Görres vorzüglich an dem Unge⸗ 
ſchick, an dem plumpen Ungeſtüm einer Reihe deutſcher Kaiſer, die 
für das Große keinen Sinn beſaßen. Gleichwohl ſeien es gewaltige 
Jahrhunderte geweſen, deren Thaten noch für ihre Größe zeugen. 
„Kraft, Heldenmuth, Tapferkeit, Weisheit, Edelmuth, Seelenſtärke be⸗ 
lebten die Glieder dieſes Kirchenreichs, in der Glorie der Göttlichkeit 
ſonnte ſich die irdiſche Welt.“ Die Zeit des Uebels brach natürlich 
herein mit der Reformation. 

Gegenüber dieſen beiden Standpuncten, gegenüber Abſcheu und 
Verehrung, Verdammung und Anbetung, wo werden wir unſere 
Stellung ſuchen? 

Ich habe ſchon einen dritten Standpunct angedeutet, als das 
dritte Stadium in der Beurtheilung des Mittelalters, den Stand⸗ 
punct des Verſtehens, des Begreifens, der objectiven hiſtoriſchen 
Durchdringung. Dies ſoll der unfrige ſein und ich glaube, es wird 
auch der Standpunct der Gerechtigkeit ſein. Wir werden weder lauter 
Schatten noch lauter Licht erblicken, auch für uns iſt der mittelalter⸗ 
liche Zuſtand ein Zuſtand relativer Unvollkommenheit, auch wir können 
die Bezeichnung der Nacht für das Mittelalter acceptiren. Aber es 
iſt eine helle, eine glänzende Nacht, in der unzählige Sterne mit theils 
mildem, theils kräftigem Lichte leuchten. 

Eben darum iſt der Standpunct der Gerechtigkeit keineswegs der 
der Gleichgiltigkeit. Wenn wir uns ins Mittelalter begeben, ſo 
ſtehen wir nicht auf neutralem Boden. Ich kann über Ideen und 
Zuſtände des deutſchen Mittelalters nicht ſprechen wie über Ideen 
und Zuſtände von Japan oder China. Das Mittelalter liegt uns 
recht fern, wir würden uns ſehr fremd fühlen, wenn wir mit einem 
mittelalterlichen Menſchen uns verſtändigen, wenn wir in einem 
mittelalterlichen Hauſe leben ſollten, fremder würden wir uns viel⸗ 
leicht fühlen als im alten Rom oder Athen. Aber gleichwohl, nicht 


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Mittelalter und Gegenwart. 325 


blos näher als Japan oder China, ſondern auch näher als Athen 
oder Rom liegt uns noch immer das Mittelalter. Die alte Nacht 


will auch über uns noch ihren ſchwarzen Schleier werfen und jene 


funkelnden Sterne, ſie leuchten auch uns. | 

Am 6. März 1458 wurde zu Straßburg ein Mann verbrannt, 
Namens Friedrich Reiſer. Er ſtammte aus Schwaben, hatte Deutſch⸗ 
land, Böhmen und die Schweiz ruhelos durchzogen, endlich ſich in 
Straßburg niedergelaſſen und eine kleine Gemeinde um ſich geſammelt, 
der er das Wort Gottes mit etwas freieren Anſichten predigte, als 
die Kirche es vertragen konnte. Sein Hauptverbrechen aber und der 
Punct, worauf er ſelbſt das meiſte Gewicht legte, war die Lehre: 
der Papſt ſei nicht höher als der geringſte Laie, er ſolle keine welt⸗ 
liche Macht beſitzen, denn mit dieſem Beſitze ſei das Verderben in die 
Kirche gekommen. Er nannte ſich Fridericus Dei gratia Episco- 
pus fidelium in Romana Ecclesia donationem Constantini sper- 
nentium: „Friedrich von Gottes Gnaden Biſchof der Gläubigen in 
der römiſchen Kirche, die von Konſtantins Schenkung nichts wiſſen 
wollen.“ Auf eine erdichtete Schenkung Kaiſer Konſtantin des Großen 
führte man nämlich im Mittelalter die weltliche Macht des Papſtes 
zurück. 

Der klagende Schatten des armen „Biſchofs Friedrich“, wenn er 
noch zürnend umherirrte, iſt entſühnt. Die weltliche Macht des 
Papſtes iſt ſo eben in Rauch aufgegangen. Aber ertönen nicht die 
Proteſte aus Fulda, aus Mecheln und vielleicht noch aus vielen an- 
deren Orten, auf die jetzt kein Menſch achtet? Kennen wir nicht ſehr 
genau die noch immer mächtige, wenn auch augenblicklich etwas klein⸗ 
laute Partei, welche den Panegyriker des „Kirchenreiches“, welche 
Joſeph Görres als einen großen Propheten verehrt und ihn wie einen 
neuen Heiligen in einem Fenſter des Kölner Domes angebracht hat? 
Können, ſollen wir in Oeſterreich je vergeſſen, wie die Giftſpinnen 
dieſer Partei über den blühenden Leib eines edlen deutſchen Stammes 
hingekrochen ſind, um ihm den verderblichen Stoff einzuimpfen, der 
das Mark in den Knochen verzehrt, der Geiſt, Charakter, Unab⸗ 
hängigkeit, Großſinn, Herzensſtärke austilgt und nur das animaliſche 
Behagen am Leben zurückläßt? Können wir — wir die Todfeinde der 
ſpäten Enkel — können wir von den Urahnen, wo ſie uns im 


326 Mittelalter und Gegenwart. 


Mittelalter begegnen, jemals anders reden als mit dem Accent des 
Haſſes? 

Aber das Mittelalter bietet auch eine andere Seite. Wir ge⸗ 
wahren eine Reihe tüchtiger, ernſter, zukunftsreicher Beſtrebungen, 
denen wir unſere ganze Sympathie ſchenken müſſen. Sollen wir 
nicht ſtolz ſein auf die Kraft des deutſchen Bürgerthums, auf den 
Bund der Hanſa, die erſte und oberſte Handels- und Gewerbsmacht 
im damaligen Europa? Sollen wir nicht ſtolz ſein auf den Glanz 
der Sprache, auf die Innigkeit der Empfindung, auf den Witz und 
den Geiſt, auf die Tiefe des Gedankens, welche unſere Dichter des 


dreizehnten Jahrhunderts zu entfalten wußten? Sollen wir nicht mit 


heller Freude hinblicken auf die kraftvollen Perſönlichkeiten, welche die 
Geſchichte der Kaiſerzeit uns vorführt? Die mächtige und geachtete 
Stellung, welche Deutſchland damals nach Außen einnahm, die Supre⸗ 
matie in Europa wollen wir wahrlich nicht gering anſchlagen. Der 
Glanz und die Furchtbarkeit, welche zeitweiſe dem deutſchen Namen 
beiwohnte, kann uns noch heute unſere Pulſe höher ſchlagen machen, 


wenn wir in den Annalen und Chroniken davon leſen. Denn nie⸗ 


mals wieder ſeit den Tagen Karls des Großen, ſeit der Zeit der 
Ottonen und ſeit der Regierung Heinrichs des Dritten hat Deutſch⸗ 
land ſo weithin geherrſcht und ſo viele fremde Nationen mit ſeiner 
Macht überflogen. Und wer möchte leugnen, daß es ſchön iſt zu 
herrſchen, obgleich nicht immer klug und weiſe, obgleich nicht immer 
ſittlich und edel? 

Aber fern liegt uns jede Regung des Neides, ſehr ferne der 
Wunſch, jene Verhältniſſe möchten ſich erneuern. Wir werden nie 
vergeſſen, daß nur Mäßigung die Mutter dauernder Schöpfungen iſt. 
Voll empfinden wir das Glück, das uns die Gegenwart beſchert. 
Wir ſind froh, daß wir fortan ohne Scham auf die große verlorne 
Vergangenheit zurückſchauen können, ja daß vor unſeren Augen ein 
Staatsgebäude erſteht von ganz anderer Feſtigkeit, als es dieſe Ver⸗ 
gangenheit je geahnt. Faſt könnte uns zu Muthe ſein als wäre das 
deutſche Volk aus einem kleinen geduldigen Zwerg einer von jenen 
Rieſen im Märchen geworden, die ihre Feinde gleich dutzendweiſe 
lebendig in den Sack ſtecken. Und wenn wir uns der langen ſchweren 
Kämpfe zwiſchen Kaiſer und Papſt erinnern, in welchen der Kaiſer 


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Mittelalter und Gegenwart. 327 


unterlag und das Reich in Trümmer ging, ſo können wir nicht ohne 
Behagen darauf hinweiſen, daß es heute dieſelbe glänzende Reihe er⸗ 
ſtaunlicher Thaten iſt, welche den Namen von Kaiſer und Reich wie⸗ 
der im Ernſt auf deutſche Lippen bringt und zugleich den unfehlbaren 
Biſchof von Rom von der Laſt der erlogenen konſtantiniſchen Schen⸗ 
kung befreit. Es iſt als ob der erwachende Kaiſer in ſeinen erſten 
Morgenträumen mit einem zufälligen Ruck der Hand den Tempel des 
Wahns umgeſtürzt hätte. 5 


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Zu Leſſings „Nathan“. 


Man weiß, was die heutige Naturforſchung Atavismus nennt. 
Auch die Geſchichte des Geiſtes hat ihren Atavismus. Es leben 
unter uns Leute, deren ſeeliſche Verfaſſung, deren Gedanken, An⸗ 
ſchauungen, Empfindungen aus einer abgelaufenen Geſchichtsepoche, 
aus dem Mittelalter ſtammen. 

Wie nach Karl Vogt die Mikrocephalen den Stammvater des 
Menſchen und Affen wiederholen ſollen, ſo wiederholt der Paſtor 
Knak und ſein Anhang eine längſt untergegangene Menſchenſpecies, 
den vorcopernicaniſchen Menſchen (homo antecopernicanus L. im 
Gegenſatz zum homo sapiens L.). 

Aber auch das Umgekehrte findet ſtatt. Einzelne Organe be⸗ 
ſonders hervorragender Individuen der niederen Thiergeſchlechter bil⸗ 
den ſich aus im Laufe der Zeit; eine neue, höher geartete Claſſe ent⸗ 
ſteht; und was einſt das mühſam bewahrte Privilegium weniger Aus⸗ 
erwählter war, iſt einer zahlreichen Gruppe von Weſen anvertraut 
zum täglichen bequemen Gebrauch. 

Es iſt nicht anders mit der Entwicklung der Ideen. Die ſchüch⸗ 
terne Vermuthung eines beſcheidenen Weiſen pflanzt ſich ſtille fort in 
erleuchteten Köpfen, bis der Prophet auftritt der ſie verkündet; er 
wird vielleicht geſteinigt oder verbrannt, aber die Idee wirkt und lebt, 
ſie weckt ſich Männer der That, es ſammelt ſich um ſie wie eine 
Armee, unaufhaltſam zieht ſie über die Welt daher wie ein Eroberer, 
vor welchem Throne ſtürzen und die Völker ſich beugen. 

Eine ſolche längſt gepflegte, ſtill gewachſene, arg befehdete, in 


Zu Leſſings „Nathan“. 329 


Blut und Wunden erzogene, zuletzt doch groß gewordene Idee iſt die 
Humanität, die Religion werkthätiger Liebe, williger Selbſtverleug⸗ 
nung, ſanfter Duldung, vor welcher die endlichen Schranken der Be⸗ 
kenntniſſe fallen und die alleinſeligmachenden Kirchen verſchwinden. 

Das Evangelium dieſer Religion iſt Leſſings „Nathan der Weiſe“. 
Das wiſſen nicht blos die Bekenner, das wiſſen vor Allem die 
Gegner. Das wußten z. B. die verdienſtvollen Leute, denen es beim 
Erſcheinen des Stückes gelang, daſſelbe in den Catalogus librorum 
a commissione Caesarea Regia aulica prohibitorum (Cum sup- 
plemento usque ad 1780, Viennae, p. 313) zu bringen und damit 
das Verbot in Oeſterreich, in dem Oeſterreich Maria Thereſiens und 
Joſephs des Zweiten, durchzuſetzen. Wie ſchmerzlich, daß es ihnen nicht 
eben ſo leicht wurde, das Verbot für alle Zukunft aufrecht zu erhalten, 
daß am 25. Januar 1819 der „Nathan“ ſogar in Wien gegeben wurde 
und ſeitdem wohl über achtzigmal das Publicum erbaut hat. *) 

Wie das chriſtliche Evangelium ſich an einzelne Parabeln knüpft, 
ſo iſt es auch hier eine ſymboliſche Erzählung, um die der Bau der 
herrlichen Dichtung ſich erhebt, die Geſchichte von den drei Ringen. 

Es iſt bekannt, daß Leſſing die Geſchichte nicht erfunden hat. 
Und doch kein Zweifel, daß Leſſing den Sinn, in dem er ſie ge⸗ 
brauchte, nicht etwa erſt hineinlegte, ſondern daß dieſer Sinn fchon 
urſprünglich darin lag. 

Leſſings unmittelbare Quelle war der Boccaccio. Aber Boccaccio 
war ein Sammler, der wenige Novellen ſelbſt erfunden hat. Die 
Erzählung von den drei Ringen lag ihm in den Cento novelle 
antiche und anderwärts vor. Auch ein franzöſiſches Fabliau des 
dreizehnten Jahrhunderts enthält fie.**) Aber alle dieſe Novellen 
des Mittelalters haben eine — man möchte faſt ſagen unendliche — 
Geſchichte, die meiſtens von Indien ausgeht und über Perſien, Ara⸗ 
bien nach Spanien, Italien und dann nach Nordeuropa zu verfolgen 
iſt. Wie verhält es ſich nun mit den drei Ringen und woher ſtammt 
die Geſchichte ſchließlich? Wo finden wir den Originalboden, in dem 


) Die Aufführung zur Feier von Leſſings Geburtstag am 22. Januar 1870 
war der Anlaß des vorliegenden in der Wiener „Preſſe“ erſchienenen Artikels. 
Li dis dou vrai aniel, herausgegeben von Adolf Tobler. Leipzig 1871. 


330 Zu Leſſings „Nathan“. 


dieſe Pflanze keimte und aufwuchs? Wer war es, der das tiefſinnige 
Märchen zuerſt erzählte? 

Die Duldung hat ihre älteſte Heimat in der Seele der Unter⸗ 
drückten. Die erſten Spuren der Erzählung finden wir unter den 
ſpaniſchen Juden des zwölften Jahrhunderts. 

Don Pedro von Aragonien (10941104) richtet an einen 
weiſen Juden die verfängliche Frage, ob die chriſtliche oder die jüdiſche 
Religion die beſſere ſei. Der Jude ſucht vergeblich Ausflüchte, er 
bittet endlich um eine dreitägige Bedenkzeit. Nach Ablauf dieſer Friſt 
kommt er wieder und ſtellt ſich aufgebracht und verſtimmt. Auf die 
theilnehmende Frage des Königs, was er habe, antwortet er: „Vor 


einem Monate reiſte mein Nachbar weit fort und um ſeine beiden 


Söhne zu tröſten, ließ er ihnen zwei Edelſteine zurück. Nun kommen 
die beiden Brüder zu mir und verlangen, daß ich ſie von der Eigen⸗ 
thümlichkeit der Steine und deren Unterſchied in Kenntniß ſetzen ſolle. 
Und als ich ihnen erwiderte, daß dies Niemand beſſer wüßte als ihr 
Vater, der ja ein großer Kenner von Edelſteinen nach Werth und 
Form ſei, da er ein Juwelier wäre, und daß ſie ſich an ihn wenden 
möchten, der ihnen das Richtige ſagen würde, ſo ſchlugen ſie mich 
und ſchmähten mich wegen dieſes Beſcheides.“ | 

Wie nun der König verſetzt: „Daran haben fie Unrecht gethan 
und ſie verdienen beſtraft zu werden,“ da antwortet der Weiſe mit 
der Nutzanwendung: „Siehe, auch Chriſten und Juden ſind Brüder, 
von denen jedem ein Edelſtein überliefert wurde, und Du fragſt nun, 
Herr, welches der beſſere ſei? So mögeſt Du, König, einen Boten 
an den Vater im Himmel ſenden, denn dieſer iſt der große Juwelier 
und er wird den Unterſchied der Steine ſchon anzugeben wiſſen.“ 

Der Grundgedanke iſt hier ſchon gegeben und die Geſchichte be- 
darf nur geringer Modification, um ihren ganzen Tiefſinn zu ent⸗ 
falten. 

Setzen wir an die Stelle des Edelſteines ein Kleinod, das den 
Erben kennzeichnet, an die Stelle der zwei Söhne die drei gleich⸗ 
geliebten, für welche der Vater zwei unechte, aber vom echten nicht 
unterſcheidbare Kleinode machen läßt: ſo haben wir die entſcheidende 
Faſſung, auf welcher Boccaccio und Andere fortbauten. Daß der 
König ein Sultan, daß das Kleinod ein Ring wird, thut nichts 


S 
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Zu Leſſings „Nathan“. 331 


Weſentliches zur Sache. Genug, der Sinn iſt gewonnen: ob Chri⸗ 
ſtenthum, ob Judenthum, ob Mohammedanismus die rechte Religion 
ſei, das können wir Menſchen nicht entſcheiden. 

Erſt Leſſing fügte einen neuen Gedanken hinzu, indem er dem 
Ringe die Kraft zuſchrieb, „beliebt zu machen, vor Gott und Menſchen 
angenehm“, und daran die Mahnung an die Söhne knüpfte: 


Es ſtrebe von euch jeder um die Wette, 

Die Kraft des Steins in ſeinem Ring an Tag 
Zu legen! Komme dieſer Kraft mit Sanftmuth, 
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun, 
Mit innigſter Ergebenheit in Gott, 

Zu Hilf! 


Hierdurch erſt iſt die Parabel aus einem Symbol des Indifferentis⸗ 
mus oder der Toleranz zu einem Symbol der Humanitäts-Religion 
geworden. 

Uns aber erſcheint es wichtig, zu beobachten, daß Entſtehung 
und vielleicht auch nächſte Fortbildung der Erzählung nach dem mittel⸗ 
alterlichen Spanien führen. 

In Spanien trafen Chriſtenthum, Judenthum und Islam in 1 fo 
naher Berührung zuſammen, wie nirgends ſonſt. Man trat ſich 
geiſtig näher, ein Culturaustauſch fand ſtatt, intimere Beziehungen 
im Leben waren nicht unerhört; ſpaniſche Chriſten, Prinzen und 
Edelleute, traten in arabiſche Dienſte. 

In Spanien konnte man die Religionen am bequemften ver⸗ 
gleichen, und vergleichen iſt anerkennen. In Spanien entſtand daher 
das Buch Khozari, deſſen Verfaſſer die Theologen der drei Religionen 
und einen Philoſophen gegen einander argumentiren läßt. In Spa⸗ 
nien war der Jude Moſes Maimonides zu Hauſe, deſſen halbratio⸗ 
naliſtiſche Philoſophie ſich geneigt erwies, den Wunderglauben zu 
untergraben und die Schöpfung aus Nichts zu beſtreiten, und Moſes 
Maimonides traf mit dem ſchärfſten Tadel ſeine Glaubensgenoſſen, 
welche ſich erlaubten, den Islam als Götzendienſt zu bezeichnen. Aus 
Spanien ging der arabiſche Philoſoph Ibn⸗Roſchd (Averroes) her⸗ 
vor, welchem die abendländiſche Wiſſenſchaft zum Theil den Ariſtoteles 
zu verdanken hatte, und deſſen Lehren ſich manchen Anhänger unter 
den Scholaſtikern erwarben. Dieſem Averroes aber iſt es geläufig, 


— 


332 Zu Leſſings „Nathan“. 


von den „drei Religionen“, von den „Lehrern der drei Geſetze“ in 
einem Ton zu ſprechen, welcher offenbar die Gleichſtellung einſchloß. 

Für alle ſolche Meinungen und Beſtrebungen, die ſich in An⸗ 
daluſien zuſammendrängten, war das übrige Europa vom Ende des 
zwölften und Anfang des dreizehnten Jahrhunderts nicht unem⸗ 
pfänglich. 


Der Geſichtskreis hatte ſich durch die Kreuzzüge erweitert. Die 


eigenthümliche Bildung des Orientes war erſchloſſen. Geographiſche 
Intereſſen kamen empor. Naturwiſſenſchaftliche Studien griffen um 
ſich. Ueberall regte der Geiſt freier die Schwingen. Ein geheimes 
Gefühl, daß Glaube und Wiſſen nicht verträglich ſei, wurde lebendig. 
Jener milden, duldſamen Hiſtorie von den drei Ringen ſtand ein 
freches revolutionäres Wort entgegen, das ſich die Zeit ſcheu ins Ohr 
flüſterte: „Die Welt iſt getäuſcht worden von drei Betrügern; zwei 


ſind ruhmbedeckt geſtorben, nur Jeſus endigte am Kreuze.“ Bald 
war es jener Averroes, bald der freigeiſtige Hohenſtaufe Friedrich der 


Zweite, dem man den Ausſpruch zuſchrieb, welcher ſpäter zu einem 
eigenen Buche „Von den drei Betrügern“ (de tribus impostori- 
bus) erweitert wurde. | 

Die höchſten und wahrſten Gedanken wagten fich zum erſtenmal 
ans Licht. Friedrich dem Zweiten warf ein Papſt vor, er habe ge⸗ 
äußert, man dürfe nichts glauben was gegen die Naturgeſetze und 
gegen die Vernunft verſtoße. Gleichviel, ob Friedrich das wirklich 
geſagt hat, gleichviel, wer es ſonſt ſagte, gleichviel, wem es in den 
Mund gelegt wurde: geſagt iſt es worden in jener Zeit. Und daß 
es geſagt wurde, iſt für uns der hellſte Punct des Mittelalters. 

Die poetiſche Litteratur der mittelhochdeutſchen Blütezeit iſt tief 
getränkt mit freiſinnigen Anſchauungen. Bei Walther von der Vogel⸗ 
weide (S. 139), bei Freidank begegnet mehr oder minder beſtimmt 
die Gleichſtellung der drei Religionen. Während noch der römiſche 
Syllabus des neunzehnten Jahrhunderts allen denen die Hoffnung 
auf die ewige Seligkeit abſchneidet, welche außerhalb der „wahren 
Kirche Chriſti“ ſtehen: ſo ereifert ſich im dreizehnten Jahrhundert der 
größte Dichter des deutſchen Mittelalters, Wolfram von Eſchenbach, 
gegen die Lehre von der ewigen Verdammniß der Heiden. Und der⸗ 
ſelbe Wolfram ſchildert in ſeinem „Parzival“ ein ideales chriſtliches 


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Zu Leſſings „Nathan“. 333 


Reich, das ohne ausdrückliche Polemik doch in Gegenſatz gegen das 
orthodox⸗römiſche Chriſtenthum und die ſichtbare Kirche tritt, ein 
Reich der Gläubigen und Auserwählten des Herrn ohne römische 
Hierarchie, ohne Papſt und ohne bevorrechtete Prieſterſchaft, ohne 


Bann, Interdict und Ketzergerichte, worin Gott ſelbſt im Geiſte des 


reinen Evangeliums Herrſcher und Richter ſeiner Gemeinde iſt und 
ſein Reich nicht äußerlich, ſondern in der Bruſt des Menſchen gründet 
und ausbaut. In dem ſocialen Romane Gottfrieds von Straßburg 
fällt nicht blos der gelegentlich hervortretende Rationalismus des 
Verfaſſers, ſondern noch viel mehr der Umſtand auf, daß das Inſtitut 
der Ehe ohne alle Rückſicht auf die offiziellen kirchlichen Begriffe der 
Sittlichkeit in ganz revolutionärem Sinne behandelt wird. Ja ſelbſt 
im Nibelungenliede iſt das offizielle Chriſtenthum nur eine leichte 
Tünche, das alte germaniſche Heidenthum blickt überall durch, die 
heidniſche Moral gibt die Triebfedern her, welche die grandioſen 
Heldengeſtalten in ihrem Handeln bewegen: Demuth, Milde, Ver⸗ 
ſöhnlichkeit und ähnliche Tugenden der Entſagung ſind für ſie noch 


nicht erfunden. Kurz, man darf ſagen: die edelſten Schöpfungen der 


altdeutſchen Dichtung entſtammen einem Geiſte, der zu der Kirche in 
theils offener theils heimlicher, theils bewußter theils unbewußter 
Oppoſition ſtand. 

Man ſieht, die Welt, in der das Märchen von den drei Ringen 
aufkam, bietet doch einige wohlbekannte moderne Züge dar, welche an 
die charakteriſtiſche Phyſiognomie des achtzehnten Jahrhunderts er— 
innern. Die Sonne der Aufklärung begann damals zu dämmern am 
fernen Horizont. Kein Wunder, daß ein Product jener Epoche meh- 
rere hundert Jahre ſpäter verwandten Geſinnungen, ähnlichen Be⸗ 
ſtrebungen zu Hilfe kam. Wir jagen nicht zu viel, wenn wir be- 
haupten: der erſte Erzähler jener Novelle und unſer Leſſing waren 
Eines Geiſtes Kinder, über Jahrhunderte hinweg reichen ſie ſich die 
Hände, freuen ſich des gleichen Urſprungs und verbinden ſich zu ge- 
meinſchaftlichem Wirken. 

Aber wie kam dieſes Bündniß zu Stande? Unter welchen nähe⸗ 
ren Modalitäten wurde es geſchloſſen? Weßhalb hat unter den vielen 
Novellen des Boccaccio gerade dieſe Leſſing ſo betroffen, daß er ſchon 
frühe daran dachte, ſie zum Stoffe eines Dramas zu wählen? Mit 


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334 Zu Leſſings „Nathan“. 


einem Worte: welches war der Entſtehungsproceß des göttlichen Ge— 
dichtes in der Seele des Verfaſſers? 
Darüber iſt viel geſchrieben, viel geforſcht. Sehr ſcharfſinnig, 


zu ſcharfſinnig vielleicht, hat man den Elementen nachgeſpürt, aus 
denen der „Nathan“ erwuchs. Eine zweite Novelle des Boccaccio ſoll 


den Namen Nathan und Züge zu ſeinem Charakter, ſo wie zu dem 
des Tempelherrn geliefert haben. Eine dritte hätte die Grundlinien 
der Familiengeſchichte, die ſich zwiſchen Nathan, Recha, dem Tempel⸗ 
herrn und Saladin abſpielt, an die Hand gegeben. Und dazu wäre 
endlich noch eine Erinnerung an die Lebensgeſchichte Swifts getreten, 
welche Leſſing auch bei „Miß Sara Sampſon“ und Goethe bei ſeiner 
„Stella“ vorſchwebte. Auch daß das Grundmotiv, die vergleichende 
Gegenüberſtellung der drei Religionen, ſchon in einer Jugendarbeit 
Leſſings, in den „Rettungen“, ſich nachweiſen laſſe, hat man längſt 
erkannt. 


Aber wie früh dieſer Gedanke bei Leſſing wirklich begegnet, 1 


wahrſcheinlich nur dem engſten Kreiſe der litterariſchen Fachgelehrten 
bekannt. 

Es iſt geradezu der erſte und älteſte Leſſing'ſche Gedanke, den 
wir kennen. Das erſte Blatt Papier, beſchrieben von Leſſings Hand, 
das wir beſitzen, enthält dieſen Gedanken. 

Als Leſſing im Sommer 1741 die Fürſtenſchule zu Meißen be⸗ 
ziehen ſollte, mußte er die übliche Aufnahmsprüfung beſtehen. Der 
Rector hatte zur Ueberſetzung ins Lateiniſche Einiges über den Be⸗ 
griff der Barbaren bei den Alten und die Aufhebung dieſes Völker⸗ 
unterſchiedes durch Chriſtus dictirt. Leſſing, der die Aufgabe ſchnell 
löſte, hatte Zeit übrig, von freien Stücken das Folgende (das wir 
gleich deutſch wiedergeben) hinzuzufügen: 


. „Diefen Ausſpruch (wahrſcheinlich den Satz: Liebe deinen 


Nächſten wie dich ſelbſt) wollen wir immer im Sinne behalten, denn 
es iſt barbariſch, einen Unterſchied zu machen zwiſchen den Völkern, 
welche ſämmtlich Gott erſchaffen und mit Vernunft begabt hat. Am 
meiſten geziemt es dem Chriſten, ſeinen Nächſten zu lieben und unſer 
Nächſter iſt, nach Chriſtus, wer unſerer Hilfe bedarf. Wir bedürfen 
aber alle der Hilfe anderer Menſchen, alſo ſind wir Alle einander 
die Nächſten. Darum wollen wir nicht die Juden verdammen, ob— 


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Zu Leſſings „Nathan“. 335 


gleich ſie Chriſtum verdammten, denn Gott ſelbſt hat geſagt: Richtet 
nicht, verdammet nicht. Wir wollen ebenſowenig die Mohammedaner 
verdammen, auch unter den Mohammedanern gibt es rechtſchaffene 
Menſchen. Kurz, Niemand iſt ein Barbar, wer nicht unmenſchlich 
und grauſam iſt.“ 

Gewiß, wir haben da N nicht die Lehre des Nathan. Aber 
merkwürdig früh den erſten Keim dazu. Denn es war ein zwölfßäh⸗ 
riger Knabe, der ſolche Worte jchrieb. *) 

Nur erhebt ſich von Neuem die Frage: wie kam der junge Leſ— 
ſing dazu, und wie kam ein zwölfjähriger Knabe zu ſolchen Anſichten, 
zu dieſer beſtimmten Anwendung von chriſtlichen Sätzen, die er aller- 
dings aus dem Katechismus lernen mußte? 

Wir dürfen es wagen, auch auf dieſe weitere Frage noch eine 


Antwort zu verſuchen. 


Es war im Jahre 1670, als Theophilus Leſſing, der Groß— 
vater unſeres Leſſing, ſeines Zeichens ſpäter Juriſt, nach Vollendung 
ſeiner philoſophiſchen Studien die hergebrachte Disputation hielt. 
Und was war das Thema Nebfel ten Es betraf eine damals nahe- 
liegende Frage. 

Der dreißigjährige Krieg war entbrannt über dieſe Frage und 
predigte mit Feuer und Schwert die einfache Antwort, die man ſich 
ſo ſchwer entſchloß zu begreifen und anzunehmen. Aber nun, nach 
dreißigjährigem Leiden, nach dreißigjährigem Jammer hatte man ſie 
wohl begreifen müſſen. Und Philipp v. Zeſen kam ſicherlich einem 


*) Die obige Notiz wurde entnommen aus Loebells von Koberſtein heraus— 
gegebenem Leſſing (Entwickelung der deutſchen Poeſie Band 3) S. 277. Sie iſt 
dort geſchöpft aus E. A. Dillers Meißner Programm „Erinnerungen an G. E. 
Leſſing, Zögling der Landesſchule zu Meißen in den Jahren 174146“. Ich 
habe mir dieſes Programm erſt vor Kurzem verſchaffen können, und da ergab ſich 
denn leider, daß der Verfaſſer in der Vorrede S. IX bemerkt: „Alle unſere Nach— 
richten beruhen auf eigner Prüfung und Benutzung der zugehörigen Quellen; 
nur der Artikel über Leſſings Receptionsprüfung iſt der Ausführung nach ein 
ſelbſtentworfenes Gemälde, aber die Grundlinien dazu ſind aus der Wirklichkeit.“ 
Wie viel darin Wirklichkeit, wie viel Erfindung iſt, ſagt Diller nicht. Aber ich 
kann kaum zweifeln, daß das litterariſche Document, das uns von ſo unſchätz⸗ 
barem Werthe wäre, zu dem Erfundenen gehört. Indeſſen wäre directe Nachricht 
aus Meißen noch immer willkommen. 


336 Zu Leſſings „Nathan“. 


Bedürfniß ſeiner Zeitgenoſſen entgegen, wenn er nachwies, wie lange 
ſchon weiſe Männer die Lehre verkündet hatten, welche erſt durch 
namenloſes Elend in der deutſchen Welt zur Anerkennung gelangte. 
Philipp v. Zeſen ſtellte in zwei Sammelwerken, welche zu Amſter⸗ 
dam 1665 herauskamen: „Des geiſtlichen Standes Urtheile wider den 
Gewiſſenszwang“ und „des weltlichen Standes Urtheile“ über den- 
ſelben Gegenſtand zuſammen. 

Dies war denn auch das Thema Theophil Leſſings. Er dis⸗ 
putirte de religionum tolerantia und zwar über die allgemeine Dul⸗ 
dung aller Religionen, über die Religionsfreiheit, wie wir ſagen 
würden. 

Sollte nun die Vermuthung zu kühn ſein, daß die milde, duld⸗ 
ſame Geſinnung gegen Andersgläubige, welche ſich in jener Prüfungs⸗ 
arbeit des jugendlichen Leſſing ausſpricht, eine Art Familientra⸗ 
dition geweſen ſei? Ob nun die mündliche Unterweiſung des Vaters 
ſich auf dieſer Bahn hielt, ob dem Knaben ſelbſt die Disputations⸗ 
ſchrift des Großvaters einmal in die Hände gefallen und von dem 
Vielleſer verſchlungen worden war — genug, daß wir mit einigem 
Grunde den Satz aufſtellen dürfen: Die Geſinnung, aus wel⸗ 
cher der „Nathan“ entſprang, hat Leſſing durch directe 
Vererbung empfangen. 

Liegt nicht etwas Tröſtliches in den vorſtehenden Betrachtungen? 
Der glückliche Einfall eines unbekannten ſpaniſchen Juden des zwölf⸗ 
ten Jahrhunderts erweiſt ſich fortzeugend in einem der freieſten Köpfe 
des achtzehnten. Und einer vergeſſenen Diſſertation des ſiebzehnten 
Jahrhunderts danken wir vielleicht das Humanitäts-Evangelium der 
Aufklärungszeit. 

Kein tüchtiges edles Wollen geht verloren in dem Haushalt der 
Geſchichte. Auch der beſcheidenſte Arbeiter darf hoffen, das Große 
und Höchſte zu fördern. Wer nur immer in ſeinem Kreiſe beharrlich 
und muthig eintritt für die Ideen, auf denen der Fortſchritt unſeres 
Geſchlechtes beruht, der mag ſich des ſtolzen Bewußtſeins freuen, daß 


auch er einen Nagel geſchmiedet hat zum Sarge des a 
1 00 Menſchen. 


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Die deutſche Litteraturrevolution. 


Unwillkürlich lebt man auch aus der Ferne die Bewegung mit, 
welche Deutſchland jetzt ergriffen hat. Man verſenkt ſich in die 
Stimmung der Freiheitskriege. Man ſucht die Geſinnungen jener 
großen Zeit in ſich nachklingen zu laſſen. Und alle Aufzeichnungen 
der damals Betheiligten gewinnen einen neuen Werth. 

Ich kann es z. B. nicht ohne vergleichenden Blick auf die Gegen- 
wart leſen, wenn der Freiherr vom Stein über die Franzoſen ſchreibt: 
„In keiner Geſchichte findet man eine ſolche Unſittlichkeit, einen ſolchen 
moraliſchen Schmutz, als in der franzöſiſchen. Nirgends ſtellt ſich 
dieſes deutlicher und überzeugender als in der Geſchichte der Revo— 
lution dar, deren Gang gleich eine laſterhafte und verbrecheriſche 


Richtung nahm, ſobald die Schwäche der Regierung kund wurde und 


die Nation ihren Charakter ohne Scheu vor Strafe zeigen konnte. Unter 
Napoleons Despotismus ſchmiegte ſie ſich knechtiſch, aller Gemein⸗ 
geiſt, aller Sinn für Wahrheit und Recht verſchwand, ihren Platz 
nahm Sclavenſinn, gemeinen Egoismus, Habſucht, Sinnlichkeit und 
Ränkeſucht ein.“ 

Manche Reflexionen ließen ſich daran knüpfen, Steins Urtheil 
wäre zu ergänzen, zu erweitern, zu berichtigen. Aber nicht hierauf 
kommt es vorzüglich an, ſondern das Gegenbild möchte ich betrachten, 
das Stein gelegentlich von den Deutſchen entwirft. Wenn das Por⸗ 
trät der Franzoſen in mancher Hinſicht noch trifft, ſo dürfen wir froh 
behaupten, daß die Deutſchen der Schilderung Steins längſt unähn⸗ 
lich geworden ſind. 

Scherer, Vorträge. 22 


338 Die deutſche Litteraturrevolution. 


„Beſtimmt die Staatsverfaſſung die Auswahl der Wiſſenſchaften 
— bemerkt er — ſo kann man ſich leicht erklären, warum von einer 
Nation, die durch Bureaukratie regiert wird und wenig Geſelligkeit 
fühlt, Metaphyſik mit ſo vielem Ernſte betrieben wird; ſie iſt durch 
ihre Verfaſſung von allen öffentlichen Angelegenheiten zurückgedrängt 
und zur Speculation verdammt, weil ſie zum Handeln gelähmt iſt; 
das iſt der Fall der Deutſchen.“ 

Deutlicher und ausführlicher ſpricht er ſich in einer Denkſchrift 
vom Jahre 1807 aus, worin er das zudringliche Eingreifen der 
Staatsbehörden in Privat- und Gemeindeangelegenheiten ſcharf ver⸗ 
urtheilt. „Räumt man dem Volke Theilnahme an ſeinen eigenen 
National- und Communalangelegenheiten ein, fo zeigen ſich die wohl- 
thätigſten Aeußerungen der Vaterlandsliebe und des Gemeingeiſtes; 
verweigert man ihm alles Mitwirken, ſo entſteht Mismuth und Un⸗ 
wille, die arbeitenden und mittleren Stände der bürgerlichen Geſell⸗ 
ſchaft werden alsdann verunedelt, indem ihre Thätigkeit ausſchließend 
auf Erwerb und Genuß geleitet wird, die oberen Stände ſinken in 
der öffentlichen Achtung durch Genußliebe und Müßiggang oder wirken 
nachtheilig durch wilden unverſtändigen Tadel der Regierung. Die 
ſpeculativen Wiſſenſchaften erhalten einen uſurpirten Werth, das Ge⸗ 
meinnützige wird vernachläſſigt, und das Sonderbare, Unverſtändliche 
zieht die Aufmerkſamkeit des menſchlichen Geiſtes an ſich, der ſich 
einem müßigen Hinbrüten überläßt, ſtatt zu einem kräftigen Handeln 
zu ſchreiten.“ 

Das Weſentliche des damaligen Zuſtandes erfaßt Stein voll⸗ 
kommen richtig. Und der weitblickende Staatsmann weiß die Urſache 
deſſelben aus unmittelbarſter Kenntniß ſcharf zu bezeichnen. 

Der despotiſche Beamtenſtaat hatte den unabhängigen Bürger 
von den öffentlichen Geſchäften möglichſt ausgeſchloſſen; der Geiſt der 
Bevormundung zog immer größere Gebiete des Lebens in feinen Be— 
reich; die allgewaltige Bureaukratie wachte eiferſüchtig auf ihre Rechte 
und war beſtrebt, ſie fortwährend zu erweitern. 

War es unter ſolchen Umſtänden nicht natürlich, daß gerade 
unter den geiſtig Höchſtſtehenden ſich eine völlig unwürdige Anſicht 
vom Staat feſtſetzte, als ob er eine bloße Zwangsanſtalt zur Privat- 
ſicherheit wäre, als ob ein von Armeen umpanzertes Privatleben ein 


Die deutſche Litteraturrevolution. 339 


Recht auf den Namen Staat hätte, als ob der Zweck der bürgerlichen 
Geſellſchaft damit erſchöpft ſei, eine möglichſt große Anzahl von Vir⸗ 
tuoſen im Denken, Meinen, Leben und künſtleriſchen Bilden zu er— 
ziehen? 

In dieſer Weiſe ungefähr ſchildert Adam Müller die Zeit. Fichte 
gebraucht für dieſe Zurückziehung auf das Privatleben die Formel 
„Egoismus“. Und Schleiermacher predigt gegen die „Liebloſen“, die 
gleichgiltig ſind gegen Alles was nicht unmittelbar in den Kreis ihres 
perſönlichen Daſeins eingreift, aber auch gegen diejenigen, die ſich 
„durch Irrthum auf irgend einer Seite, um einer abweichenden Ueber: 
zeugung willen“ ausgeſchloſſen haben von der Theilnahme an den 
allgemeinen Angelegenheiten und nun mit aller Liebe, die ihnen inne⸗ 
wohnt, ſich auf das Gebiet des häuslichen Lebens einſchränken. Und 
wer erkennt nicht — fragt Schleiermacher — den Werth der häus— 
lichen Verbindungen? Wer weiß es nicht, wie viel ſie dem Herzen 
ſind? „Aber laßt uns auch geſtehen, ſie ſollen den nicht ganz für ſich 
nehmen, nicht ganz ſein Leben ausfüllen, der in ſich Kraft fühlt und 
Beruf zu einer ausgebreiteten Wirkſamkeit, und die muß Jeder fühlen, 
der auch nur denken kann den Gedanken Vaterland.“ 

Woher kam die Heilung für das Uebel? 

Mancher möchte ſich vielleicht auf das ſogenannte Geſetz von 
Druck und Gegendruck berufen, und Napoleon das Verdienſt zu— 
ſchreiben, die ſchlummernden Nationalgeiſter geweckt zu haben. Daran 
iſt auch etwas Wahres, aber es iſt nicht die ganze Wahrheit, es iſt 
nur ein kleiner Theil der Wahrheit. Auch der jetzige deutſch-fran⸗ 
zöſiſche Krieg fördert den Nationalgeiſt, aber geſchaffen hat er ihn 
wahrhaftig nicht. 

Die nationale Bewegung wurde beidemale auf dem Gebiete der 
Litteratur vorbereitet und gepflegt. Das gibt man freilich in dieſer 
Allgemeinheit gerne zu. Aber die Litteraturgeſchichten datiren die 
„Einkehr ins deutſche Leben“ nicht früher, als etwa vom Ende des 
erſten Decenniums unſeres Jahrhunderts. Dadurch wird unſere große 
claſſiſche Litteraturepoche überhaupt in ein falſches Licht gerückt. Nicht 
durch ihr bloßes Daſein, wie man zu jagen pflegt, hat fie uns wie- 
der Stolz und Selbſtgefühl gegeben und unſere gemeinſamen geiſtigen 
Intereſſen vergegenwärtigt, ſondern von Anfang an war ſie auch dem 

22* 


340 Die deutſche Litteraturrevolution. 


Stoffe nach eine „Einkehr ins deutſche Leben“, nur daß ſie allerdings 
gewiſſen Gegenwirkungen eine Zeit lang nicht widerſtehen konnte. 

Wiederholt hat man einzelne Erſcheinungen dieſer Epoche der 
franzöſiſchen Revolution an die Seite geſetzt. Was dort politiſch, 
ſoll ſich in Deutſchland litterariſch vollzogen haben. H. Heine ſetzte 
die Kant 'ſche Philoſophie als eine Art Erſtürmung der Baſtille in 
Scene. Dilthey und Haym vergleichen die Excentricitäten der Friedrich 
Schlegel und Genoſſen mit den Stürmen jenſeits des Rheins. Aber 
dann wäre ja wohl Schlegels „Lucinde“ das revolutionärſte Buch 
unſerer Litteratur? Nein, das iſt nur ein ganz ſchlechter, frecher und 
überdieß mislungener Putſchverſuch; mit dem Namen Revolution ge⸗ 
ſchieht dem elenden Ding zu viel Ehre. 

Vielmehr muß man die ganze litterariſche Bewegung von Leſſing 
und Herder bis Jacob Grimm als ein Analogon der Revolution hin⸗ 
ſtellen, worin es zweierlei galt: Emancipation von fremden Muſtern, 
Abwerfung der litterariſchen Fremdherrſchaft, und zweitens Emanci⸗ 
pation von dem Geiſte des achtzehnten Jahrhunderts. 

Was man den Geiſt des achtzehnten Jahrhunderts oder der Auf⸗ 
klärung nennt, ſetzt ſich aus ſehr verſchiedenen Elementen zuſammen, 
die theils auf den Ideenkreis der Renaiſſance, theils auf die großen 
mathematiſch-naturwiſſenſchaftlichen Entdeckungen des ſiebzehnten Jahr⸗ 
hunderts zurückgehen. Das Reſultat: Uniformirung, Centraliſirung 
der Bildung und des Staates, Abſolutismus mit allmächtiger Bureau⸗ 
kratie, Mechaniſirung, äußerliche Regelung des Lebens nach Rück⸗ 
ſichten des Verſtandes und der Zweckmäßigkeit. 

Dem gegenüber nun eine Revolution, welche ſich auf die von 
der Aufklärung zurückgeſetzten Elemente ſtützt. Gegenüber dem 
Kosmopolitismus die Nationalität, gegenüber der künſtlichen Bil⸗ 
dung die Kraft der Natur, gegenüber der Centraliſation die auto⸗ 
nomen Gewalten, gegenüber der Beglückung von oben die Selbſt⸗ 
regierung, gegenüber der Allmacht des Staates die individuelle Frei⸗ 
heit, gegenüber dem conſtruirten Ideal die Hoheit der Geſchichte, 
gegenüber der Jagd nach Neuem die Ehrfurcht vor dem Alten, gegen⸗ 
über dem Gemachten die Entwicklung, gegenüber Verſtand und Schluß⸗ 
verfahren Gemüth und Anſchauung, gegenüber der mathematiſchen 
Form die organiſche, gegenüber dem Abſtracten das Sinnliche, gegen⸗ 


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Die deutſche Litteraturrevolution. 341 


über der Regel die eingeborne Schöpferkraft, gegenüber dem Mecha⸗ 
niſchen das „Lebendige“. 

Entſchieden tritt der neue Geiſt in den Siebziger - Jahren des 
vorigen Jahrhunderts hervor, und das Büchlein: „Von deutſcher Art 
und Kunſt“, woran ſich Möſer, Herder und Goethe betheiligten, kann 
als die Signatur der Revolution betrachtet werden. Nur muß man 
nicht vergeſſen, daß weſentliche Elemente derſelben ſchon früher, ſchon 
bei Klopſtock, bei Leſſing, in den Litteraturbriefen vorhanden ſind, ja 
daß an Gleims preußiſchen Kriegsliedern Leſſing der Begriff einer 
volksthümlichen Poeſie zuerſt aufging. 

Es wäre, ſcheint mir, die Aufgabe der Litteraturgeſchichte, vor 
Allem die gemeinſchaftlichen Züge der Epoche von 1770-1815 
zu erforſchen, und dann erſt den beſonderen Charakter jedes Decen⸗ 
niums oder jeder litterariſchen Generation zu beleuchten. Man muß 
das Niveau beſtimmen, über welches ſich die Berggipfel erheben. 

Der Sinn für die nationale Vergangenheit, der ſich in Herder 
und dem jungen Goethe regt, findet ſich bei anderen europäiſchen 
Völkern in ähnlicher Weiſe wieder. Bei den Engländern gibt Percy 
alte Volkslieder heraus und bereitet ſo für Walter Scott den Boden. 
In Frankreich wählen zwei Dichter, d' Arnaud und Belloy, gleichzeitig 
(1769) und ohne von einander zu wiſſen, den Ritter von Fayel zum 
Stoffe eines Trauerſpiels, und d' Arnaud hält bei dieſer Gelegenheit 
dem Ritterthume eine warme Lobrede. Wenige Jahre ſpäter erſcheint 
Goethes „Götz“. 

Von Herders und Goethes Intereſſe für Volkslieder und Volks⸗ 
bücher, welches Maler Müller, Jung Stilling und Andere theilen, 
führt eine ſtetige und gleichmäßige Entwicklung zu dem Tieck der 
„Volksmärchen“ und von da zu „des Knaben Wunderhorn“, zu Arnim, 
Brentano, Görres und den Brüdern Grimm. Goethes „Erwin von 
Steinbach“ läßt ſich in gerader Linie verbinden mit Wackenroders 
frommen Kunſtphantaſien, mit Friedrich Schlegels Intereſſe für alt— 
deutſche Kunſt, mit Sulpiz Boiſſeree. Die volksthümliche Mythologie, 
Rieſen, Zwerge und das geſammte Geiſterreich kommt in einer ver- 
breiteten Schauerromantik wieder zu Ehren, woran Schiller, Tieck, 
Kleiſt, Arnim, Hoffmann betheiligt ſind. Die äſthetiſch gefärbte 
religiöſe Stimmung der Schleiermacher, Wackenroder, Novalis hat 


N 


342 Die deutſche Litteraturrevolution. 


nach vorwärts und rückwärts ihre Anknüpfungspuncte. Der deutſche 
Pantheismus erfaßt in ſtetiger Folge Herder, Goethe, Schleiermacher, 
Schelling, Görres, Kanne, Hegel. In der äſthetiſchen Theorie hat 
die Lehre vom genialen Subject, das keine Regeln braucht, während 
jener ganzen Epoche immer wieder Anhänger gefunden und auch auf 
das ſittliche Gebiet mitunter bedenklich herüber geſpielt. Ja, auch in 
der Politik fehlt es nicht an einer durchgehenden und eigenthümlichen 
Tendenz. In altväteriſchen Formen tritt Juſtus Möſer doch uner⸗ 
müdlich für die Autonomie ein. Wilhelm v. Humboldt greift die 
Vielregiererei und die bureaukratiſche Allgewalt des Staates an, um 
dem Individuum die weiteſtgehenden Rechte zu vindiciren. Seine 
politiſche Theorie hängt auf das genaueſte mit der Heilighaltung der 
Individualität zuſammen, als deren Hauptſymptom Goethe ſelbſt ein⸗ 
mal Lavaters Phyſiognomik hinſtellt, und welche innerhalb der Ro⸗ 
mantik namentlich in Schleiermachers „Monologen“ einen hervor⸗ 
ragenden Ausdruck fand. Der active Staatsmann aber dieſer deutſch⸗ 
politiſchen Tendenz iſt kein anderer als Stein, der haßerfüllt gegen 
die Bureaukratie den Neubau des Staates auf der Grundlage der 
Selbſtverwaltung durch ſeine Städteordnung begann. Damals wurde 
in Deutſchland angebahnt, wonach die beſten unter den Franzoſen ſeit 
Jahren vergeblich ſtreben, weil ſie darin mit Recht die einzige wirk⸗ 
ſame Garantie der Freiheit erblicken: die adminiſtrative Decentrali⸗ 
ſation. | | 

Die vorſtehende Skizze konnte natürlich nur die äußerſten Um⸗ 
riſſe, nur die allgemeinſten Grundzüge des deutſchen Revolutions⸗ 
zeitalters vorführen. Dieſe Tendenzen ſind nun vielfach theils durch⸗ 
kreuzt, theils unterſtützt durch die Ideen der franzöſiſchen Revolution 
ſelbſt und durch manche litterariſche Einwirkungen von außen, wie 
Shakſpeare, Oſſian, Rouſſeau, Sterne, bei denen es aber meiſt zu 
einer lebendigen Durchdringung und Verarbeitung kam, ſo daß ſie 
nicht wie ein fremdes Element innerhalb des nationalen Lebens 
ſtanden. 


In der größten litterariſchen Erhebung jener Zeit aber, in der | 


Goethe- und Schiller-, der Weimarer Glanzepoche, erſcheinen die 
Strebungen der deutſchen Revolution gemäßigt und geregelt durch eine 
letzte gewaltige Nachwirkung des Kunſtprincips der Renaiſſance. 


Die deutſche Litteraturrevolution. 343 


Die Sehnſucht des Bürgers nach einem weltmänniſch-freieren 
Daſein iſt der Kern des Lebensgefühls, das ſich in unſerer claſſiſchen 
Litteraturperiode emporarbeitet. Klopſtock muß die würdige ſociale 
Stellung des Dichters erſt erkämpfen; noch feinen Zeitgenoſſen er- 
ſcheint manchmal der Schatten des armen verkommenen Günther als 
ein Schreckbild, das die zuſtrömenden Jünger mit drohend erhobener 
Rechten vom Parnaß zurückſcheucht. Der junge Leſſing ſtürzt ſich 
gleich auf der Univerſität in ein freieres Weltleben, wie es Paſtors⸗ 
ſöhne ſonſt wohl nur aus der Ferne betrachten mochten. Wieland 
erhält in adeliger Geſellſchaft ſeine entſcheidenden Impulſe. 

Und auf die höheren ſocialen Schichten fing der Dichter an ſeine 
Producte, je höher er ſtand, deſto mehr zu berechnen. Goethes 
Freund Merck macht die Durchſchnittspoeten darauf aufmerkſam, daß 
ſich unter dem Publicum Weltleute befänden, „die das ſelbſt gethan 
und gewirkt haben, was vor ihren Augen von den Marionetten des 
Verfaſſers tragirt wird.“ Goethe ſchreibt an Herzog Karl Auguſt im 
Jahre 1787: „Ich möchte nun nichts mehr ſchreiben, was nicht 
Menſchen, die ein großes und bewegtes Leben führen und geführt 
haben, nicht auch leſen dürften und möchten.“ 

Unter dem deutſchen Adel aber herrſchte die franzöſiſche Bildung. 
Man konnte ihm nicht beikommen ohne eine ſtrenge Kunſtform, welche 
ſich der franzöſiſchen ebenbürtig an die Seite ſtellen durfte. Die 
Quellen dafür konnte man nur in den Quellen der franzöſiſchen und 
der Renaiſſancelitteratur überhaupt finden. Dahin wieſen Leſſing und 
Winckelmann. | | 

Auf ſolche Weiſe wurden die Tendenzen der deutſchen Litteratur⸗ 
revolution durchkreuzt, durchbrochen, gehemmt. Herders und Schlegels 
umfaſſendes, nach allen Seiten hin gerecht werdendes litterariſches 
Studium that auch das Seinige dazu. Die Poetiſirung der Welt 
und des Lebens war die Frucht der feineren Geſelligkeit, des hochge— 
triebenen Cultus des Privatlebens. f 

„In der Welt wird Alles durch Zweikampf entſchieden,“ ſagt 
Carlyle einmal. Man hat angefangen, die Geſchichte der politiſchen 
Parteien in Deutſchland zu erforſchen. Es wäre zu wünſchen, daß 
man auch in der Litteraturgeſchichte einmal aufhörte, immer ein leben- 
des Bild nach dem andern vorzuführen, wie man ruhig einen Fluß 


344 Die deutſche Litteraturrevolution. 


hinabfährt und ſich die wechſelnde Scenerie der Ufer betrachtet. Viel⸗ 
mehr ſollte man jene lebenden Bilder in bewegte Dramen umſetzen, 
man ſollte die Parteien und ihre Stärke, ihre Action, das Auf- und 
Abwogen des Kampfes, Sieg und Niederlage erforſchen und dar— 
ſtellen. 

Im achtzehnten Jahrhundert meſſen ſich Antike und Volksthum 
in Deutſchland. Die ſtreitenden Parteien erleben aber viele Umwand⸗ 
lungen. Die Antike erſcheint zuerſt nur als Renaiſſance. Als ſolche 
glaubt man ſie geworfen in den Siebziger-Jahren. Da kehrt ſie 
vertieft und geläutert, aus den Quellen ihres Urſprungs getränkt zu⸗ 
rück und erficht manchen bedeutenden Sieg. Nicht minder erſtarkt 
das Volksthümliche durch mächtiges Eintauchen in nationale Gegen⸗ 
wart und Vergangenheit. Die Erſcheinungen, die man für die Frei⸗ 
heitskriege charakteriſtiſch hält, beginnen zum Theil viel früher. In 
Tiecks „neuem Herkules am Scheidewege“ (1800) wird bereits ein 
„Altfranke“ verſpottet. Und Adam Müller beſtätigt 1807: „Vor 
einigen Jahren fing man in Deutſchland ein gewiſſes vaterländiſches 
Weſen, eine gewiſſe derbe, biedere und wackere Deutſchheit zu affec⸗ 
tiren an. Man hoffte, ſich in Hermanns Schlacht über den Varus 
und in den Geſängen der Barden für immer mit vaterländiſchem 
Geiſt berauſchen zu können.“ Man ſieht, wie früh der Turnvater 
Jahn zu ſpuken anfing. 

Die energiſcheſte Verkörperung hat der deutſche Revolutionsgeiſt 
ohne Zweifel in der ſogenannten zweiten Generation der Romantiker, 
in Arnim, Görres, Grimm gefunden. In ihr war die Erkenntniß 
zum vollen Durchbruch gekommen, daß man in vieler Hinſicht nur 
für etwas kämpfte, was vor dem Eindringen der Renaiſſance in 
Deutſchland bereits vorhanden war. Daher die nahe Beziehung zum 
Mittelalter und Allem, was noch im ſechzehnten und ſiebzehnten Jahr⸗ 
hundert im Gegenſatz zur Renaiſſance auf volksthümlicher Grundlage 
beſtand. Zugleich gemäß dem erregten Nationalgefühl das Streben 
nach der Anſchauung des rein und urſprünglich Germaniſchen gegen- 
über aller ſpäteren Beimiſchung. 5 

Wie unmittelbar in dem Bewußtſein jener Menſchen die alt⸗ 
deutſche Litteratur mit ihrer nächſten politiſchen Aufgabe zuſammen⸗ 
hing, zeigt ſich oft recht charakteriſtiſch. Beim Wiederbeginn des 


Die deutſche Litteraturrevolution. 345 


Krieges gegen Napoleon im Jahre 1815 beſorgte Auguſt Zeune in 
Berlin einen Abdruck des Nibelungenliedes, „da viele Jünglinge dies 


Lied als ein Palladium in den bevorſtehenden Feldzug mitzunehmen 


wünſchten“. Er nennt das eine „Feld⸗ und Zeltausgabe“. 
So kindlich, ſo unſchuldig ſind die Deutſchen heute nicht in den 
Kampf gezogen. Aber iſt das ein Nachtheil? 


Wien, 23. Auguſt 1870. 


Friedrich Hölderlin. 
Geboren 20. März 1770, geftorben 7. Juni 1843. 


Es kann nichts wachſen und nichts fo tief 
vergehen wie der Menſch. Mit der Nacht 
des Abgrunds vergleicht er oft ſein Leiden 
und mit dem Aether ſeine Seligkeit. Aber 
wie wenig iſt dadurch geſagt! 
Hölderlins Hyperion. 

Geboren 1770, geſtorben 1843: — ein Alter von 73 Jahren, 
davon kaum Ein Jahrzehend poetiſchen Schaffens und vier Decennien 
umnachtet vom Wahnſinn. Das ganze Schickſal des unglücklichen 
Dichters iſt mit dieſem Ueberſchlage ſeines Lebens umſchrieben. 

Ich ſage: kaum Ein Jahrzehend poetiſchen Schaffens, und die 

Zahl muß noch reducirt werden. 
Cas iſt wahr: wir haben Gedichte Hölderlins ſchon aus dem 
Jahre 1785. Aber noch bis gegen 1796 bleibt er unſelbſtändig. 
Erſt um dieſe Zeit findet er ſeine eigene Manier, ſeine eigene Sprache, 
ſeinen eigenen Styl; es gelingen ihm lyriſche Gedichte von hoher 
Vollendung; 1797 und 1799 erſcheint ſein Roman „Hyperion“; er 
verſucht ſich an dramatiſchen Plänen. Aber ſchon 1801 neigt ſich ſeine 
Bahn nach abwärts und bald war es völlig um ihn geſchehen. 

Alſo fünf Jahre vielleicht, fünf Jahre von dreiundſiebzigen, in 
denen ihm das Hochgefühl zu Theil wurde — und auch dieſes ver- 
gällt durch namenloſes Leid — das Hochgefühl, auszuſprechen was 
kein Anderer ſo ausſprechen konnte. Und im Anfange der Dreißiger, 
ehe er noch auf „die Mitte unſeres Lebenswegs“ gelangt war, Alles 
vorbei. 


Friedrich Hölderlin. a 347 


Wird da nicht ſein Lied an die Parzen begreiflich? 


Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! 
Und Einen Herbſt zu reifem Geſang mir, 
Daß williger mein Herz, vom ſüßen 


Spiele geſättiget, dann mir ſterbe! 
* 


Es war die Zeit, in der er an ſeinem Trauerſpiele „Empedokles“ 
arbeitete, womit er das Höchſte zu erreichen hoffte. Er verlangte 
nichts mehr als nur dies noch vollenden zu dürfen: 

— iſt mir einſt das Heil'ge, das am 
Herzen mir liegt, das Gedicht gelungen: 
Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! 


Nicht einmal dieſer beſcheidenſte Wunſch wurde ihm erfüllt. Nur 
Fragmente des Empedokles, Fragmente von hoher Schönheit, können 
wir bewundern. N 

Armer Hölderlin! Du biſt verwelkt „wie ein abgefallenes Blatt, 
das ſeinen Stamm nicht wieder findet, das umhergeſcheucht wird von 
den Winden, bis es der Sand begräbt!“ — 

In der erſten Epoche ſeines Dichtens, in der Periode ſeiner Un⸗ 
ſelbſtändigkeit, erinnert Hölderlins Proſa an Wieland und Heinſe, 
Hölderlins Poeſie an Matthiſſon und an ſeine Landsleute Schubart 
und Schiller. Vor Allen der Letztere hat mächtig auf ihn eingewirkt. 
Hölderlins gereimte Hymnen haben ganz die bauſchige Rhetorik, die 
langen wort⸗ und bilderreichen Perioden, aber auch etwas von dem 
Schwung und Adel, der Schillers ähnliche Gedichte auszeichnet. In 
dieſen Formen beſingt er alle abſtracten Ideale hochſinniger Jüng⸗ 
linge: Liebe, Freundſchaft, Freiheit, Menſchheit, Schönheit, die Göt⸗ 
tin der Harmonie, die Genien der Jugend und Kühnheit. 

Von Schiller, zu dem er in rührender Beſcheidenheit empor⸗ 
blickte, fühlte er ſich ſo abhängig, daß er ihm noch 1797 ſchreiben 
konnte: Von Ihnen dependir ich unüberwindlich. 1798: Ich darf 
Ihnen wohl geſtehen, daß ich zuweilen im geheimen Kampfe mit 
Ihrem Genius bin, um meine Freiheit gegen ihn zu retten, und daß 
die Furcht, von Ihnen durch und durch beherrſcht zu werden, mich 
ſchon oft verhindert hat, mit Heiterkeit mich Ihnen zu nähern. 

Auch in der inneren Anlage iſt die Verwandtſchaft unverkennbar. 


348 i Friedrich Hölderlin. 


Poeſie und Philoſophie ſind die erhabenen Göttinnen, zwiſchen deren 
Verehrung er ſchwankt. Ideal, Natur und Griechenthum — dieſe 
Begriffe floſſen ihm in Eins. 

Um Hölderlin innerhalb des ſchwäbiſchen Geiſtes recht zu wür⸗ 
digen, muß man ihn zwiſchen Schubart und Schiller einerſeits, zwi⸗ 
ſchen ſeine Freunde Schelling und Hegel andererſeits ſtellen. Dort 
der kosmopolitiſche Liberalismus, genährt an Rouſſeau. Hier das be⸗ 
geiſterte Studium Kants, über den hinaus es ihn zurück auf Spinoza 
und zum Pantheismus trieb. 

Alles das, insbeſondere die Mängel der Form, durchſchaute 
Schiller ſelbſt ſehr wohl. In einem denkwürdigen Briefe ruft er den 


Jünger ab von dem betretenen Wege. Er warnt ihn vor der Weit⸗ 
ſchweifigkeit, die in einer endloſen Ausführung und unter einer Fluth 


von Strophen oft den glücklichſten Gedanken erdrückt. Wenige bedeu⸗ 
tende Züge in ein einfaches Ganze verbunden, weiſe Sparſamkeit, 
ſorgfältige Wahl des Bedeutenden und klarer einfacher Ausdruck des⸗ 
ſelben: das iſts, was er ihm empfiehlt. 

Dieſen Mahnungen, die ſich Hölderlin ſehr zu Herzen nahm, 
kam eine entſcheidende Wendung ſeiner Gemüthsverfaſſung entgegen. 

Der Zauberſtab der Liebe hatte ſein Herz berührt. Eine all⸗ 
mächtige Leidenſchaft wandelt ihm das Innere um. Er fühlt ſich in 
einer neuen Welt. Ein Weſen iſt ihm erſchienen, das ihm die 
Schwungkraft des Adlers mittheilt. Ein Weſen, worin ſein Geiſt 
meint Jahrtauſende verweilen zu können, um dann noch zu ſehen, 
wie ſchülerhaft all unſer Denken und Verſtehen vor der Natur ſich 
findet. „Lieblichkeit und Hoheit — ſchreibt er einem Freunde — 
Lieblichkeit und Hoheit und Ruh und Leben, und Geiſt und Gemüth 
und Geſtalt iſt ein ſeliges Eins in dieſem Weſen.“ 

Wohl hat er recht zu ſagen: „Großer Schmerz und große Luſt 
bildet den Menſchen am beſten.“ Das neue Leben, das ihn ourch⸗ 
ſtrömte, gab ihm beides im Uebermaße. Das höchſte Glück und das 
tiefſte Leid: die Seligkeit verſtanden, geliebt zu werden; die Un⸗ 
möglichkeit, je die Geliebte beſitzen zu dürfen. Ja noch mehr: ſeine 
Diotima war nicht blos die Frau eines Andern; dieſem Andern be⸗ 
fand er ſich in abhängiger Stellung gegenüber, dieſer Andere hatte 
das Recht, ihn aus ihrer Nähe zu vertreiben — er hatte das Recht 


aa a ae 


Friedrich Hölderlin. 349 


und machte Gebrauch davon. Es ſoll nicht verſchwiegen werden, was 
die Tradition berichtet: der Unglückliche wurde unter Mishandlungen 
aus dem Hauſe gejagt. Tödtlich gekränkt, in ſeinem Heiligſten ver⸗ 
letzt, durfte er die Schmach Ar einmal rächen aus Rückſicht für die 
Geliebte. 

Unter dieſen Wandlungen des Schickſals bildet ſich Hölderlin 
jeinen Styl. 

Der Glanz der Rhetorik verſchwindet wo die Seele ſchwer— 
belaſtet ſeufzt, wo unter dem Druck einer überirdiſchen Gewalt das 
Herz nach Halt und Faſſung ringt, wo im furchtbaren Zuſammen⸗ 
ſtoß der ideale Hang des Gemüths vor der brutalen Wirklichkeit ſich 
beugt. 

„Ich hüte mich — läßt der Dichter feinen Hyperion jagen — 
viel Worte zu machen von Dingen, die das Herz zunächſt angehen, 
meine Diotima hat mich ſo einſylbig gemacht.“ Seine Gedichte wer⸗ 
den kurz, ſeine Sprache knapp, allen Schmuck, auch den des Reims 
verſchmäht er, oft iſt ihm eine einzige Strophe genug, um eine den 
ganzen Menſchen durchzitternde Empfindung darin niederzulegen. In 
die wunderbarſte Einfachheit des Wortes hüllt ſich ihm der tiefſte 
Inhalt. 


Wie mein Glück iſt mein Lied. — Willſt du im Abendroth 
Froh dich baden? Hinweg iſts und die Erd' iſt kalt, 

Und der Vogel der Nacht ſchwirrt 

Unbequem vor das Auge dir. 


„Ich habe ſehr wenig von dem geſagt, was ich dabei empfand,“ 
äußert er einmal über eine ſeiner vollendetſten Elegien. Aber er irrt, 
wenn er meint, er gebe oft ſeine lebendigſte Seele in ſehr flachen 
Worten hin, und kein Menſch wiſſe, was ſie eigentlich ſagen wollen, 
als er ſelbſt. Gerade, daß man Alles ahnt was er verſchweigt, 
daß Alles in uns erregt wird was ihn dabei bewegte, gerade das 
gibt manchen Gedichten eine ſo ſchauerliche, erſchütternde Wahrheit. 
Die „flachen Worte“ ſind wie ein vielſtimmiger Accord, in den eine 
Welt von Tönen zuſammenrinnt. 

Ich kann nicht beſchreiben, wie es mich ergreift, wenn er feinen 
Lebenslauf in die ſcheinbar kahlen Sätze faßt: 


350 Friedrich Hölderlin. 


Hochauf ſtrebte mein Geiſt, aber die Liebe zog 
Bald ihn nieder; das Leid beugt ihn gewaltiger; 
So durchlauf ich des Lebens Bogen 

Und kehre, woher ich kam. — 


Es wäre aber unrecht, ſich zu täuſchen und nicht ſcharf den 
Blick auf die Grenzen von Hölderlins Begabung zu lenken. 

Schiller und Goethe haben ihn vollkommen richtig beurtheilt. 
Er iſt zu ſubjectiv, überſpannt, einſeitig. „Fliehen Sie die philo⸗ 
ſophiſchen Stoffe — hatte ihm Schiller zugerufen — ſie ſind die un⸗ 
dankbarſten, und in fruchtloſem Ringen mit denſelben verzehrt ſich 
oft die beſte Kraft. Bleiben Sie der Sinnenwelt näher, ſo werden 
Sie weniger in Gefahr ſein, die Nüchternheit in der Begeiſterung zu 
verlieren.“ ER 

Das aber war es eben, was Hölderlin am wenigſten konnte. 
Es fehlt ihm ganz die derbe Luſt an der Wirklichkeit, ohne die kein 
rechter Poet gedeihen kann. Sein Auge ſaugt ſich nicht an, er klam⸗ 
mert ſich nicht feſt an den Urquell aller darſtellenden Kunſt, an die 
ſinnliche Erſcheinung. Nicht der Stoff packt ihn, ſondern die Idee. 
Er weiß nicht den Gedanken in Geſtalt umzuſetzen. Er ſchreitet wie 
ein Schwebender dahin, ſein Scheitel berührt die Wolken, aber ſein 
Fuß ſteht nicht auf der Erde feſt. 

Es mangeln bei ihm alle Contraſte. Das Böſe, auch wo er 
es darſtellen will, lernt man nie von Angeſicht zu Angeſicht kennen. 
Alle ſeine Gedichte, auch die erzählenden und dramatiſchen, ſind im 
Grunde ideale Selbſtdarſtellungen. Je länger er einen Stoff behan⸗ 
delt, deſto mehr treten alle feſten Elemente zurück, und der geſunde 
Erdgeruch verliert ſich. Im Hyperion iſt, unter mehrfachen Umarbei⸗ 
tungen des Erzählenden, des Thatſächlichen immer weniger geworden. 
Seine Liebesgedichte haben nichts Dramatiſches, keinen Fortſchritt, 
keine Entwicklung. Alle ſeine Seelenkräfte ſcheinen in einem einfär⸗ 
bigen Knäuel verſchlungen. 

Hölderlin kennt dieſe Gebrechen. Er weiß, wo es ihm fehlt: 
weniger an Ideen als an Nuancen, weniger an einem Hauptton als 
an mannichfaltig geordneten Tönen, weniger an Licht wie an Schatten, 
und das Alles aus Einem Grunde: er ſcheut ſich, das Gemeine und 
Gewöhnliche im wirklichen Leben zu ſehen. Er ringt mit aller Kraft 


7 ˙ öNT—Ä—ñ—ñ 


Friedrich Hölderlin. 351 


ſeiner Seele nach dem „Lebendigen in der Poeſie“. Aber er fühlt 
auch, daß er ſich nicht herauswinden kann aus den poetiſchen Irren, 
in denen er wandelt. 

Im Graſe zu liegen und das himmliſche Blau anzuträumen, 
war die Luſt des Knaben. Es iſt als ob für ſeine ganze Poeſie 
dieſes Element ſtets die Baſis geblieben wäre. „Ein Gott iſt der 
Menſch, wenn er träumt,“ ruft Hyperion aus. 

Die geſtaltloſe Idealität Klopſtocks hat ſich in Hölderlin fort⸗ 
geſetzt. Nur unendlich vertieft und veredelt und auf ein anderes Ge— 
biet gewendet. 

Auch Hölderlin iſt ein Pietiſt. Aber ein Pietiſt des Pan⸗ 
theismus. 

„Eins zu ſein mit Allem, was lebt! — ſagt Hyperion — mit 
dieſem Worte legt die Tugend den zürnenden Harniſch, der Geiſt des 
Menſchen das Scepter weg, und alle Gedanken ſchwinden vor dem 
Bilde der ewig einigen Welt, und das eherne Schickſal entſagt der 
Herrſchaft, und aus dem Bunde der Weſen ſchwindet der Tod, und 
Unzertrennlichkeit und ewige Jugend beſeliget, verſchönert die Welt.“ 

„Dich wird kein Lorbeer tröſten und kein Myrthenkranz — 
ſchreibt Diotima an Hyperion — der Olymp wirds, der lebendige, 
gegenwärtige, der ewig jugendlich um alle Sinne Dir blüht: die 
ſchöne Welt iſt Dein Olymp ...“ 

Hölderlin ſchafft ſich eine neue Mythologie. Der Aether iſt der 
Gott, zu dem alle Weſen aufſtreben, zu dem des Menſchen Seele ſich 
wie im Gebete erhebt. Am ſchärfſten läßt er ſeinen Empedokles das 
Naturevangelium verkündigen. 

— Was ihr geerbt, was ihr erworben, 
Was euch der Väter Mund erzählt, gelehrt, 
Geſetz' und Bräuch', der alten Götter Namen, 


Vergeßt es kühn und hebt wie Neugeborne 
Die Augen auf zur göttlichen Natur. 


Aber trotz allem Schwelgen in der Natur — man begreift doch, 
wie Goethe zu dem Eindruck kam: die Natur ſcheint ihm nur durch 
Ueberlieferungen bekannt zu ſein. Mit wenigen Ausnahmen iſt es 
als ob ein Nebelkreis um ihn gelagert wäre, durch welchen die reale, 
greifbare Natur nicht in ihrem Glanze dringen könnte. 


352 Friedrich Hölderlin. 


Hölderlin war kein Plaſtiker. Hölderlin war ein Stimmungs⸗ 
menſch. Kein Wunder, daß er ſich gerne auf den Wogen der Muſik 
ſchaukeln ließ und die Muſik ihn wie ein letzter treugebliebener Schutz⸗ 
engel auch in die Nacht ſeines Geiſtes begleitete. 

Was aber war die Grundſtimmung, die durch ſein ganzes 
Dichten und Leben ging? 

Es war eine tiefe Verbitterung gegen die Verſunkenheit des 
Vaterlandes. 

Als er ins wirkende Leben hinaustrat, wurde er ſchmerzlich ge— 
weckt aus kindlichen idealiſchen Träumen. Schillers Don Carlos 
„war die Zauberwolke, in welche der gute Gott ſeiner Jugend ihn 
hüllte, damit er nicht zu früh das Kleinliche und Barbariſche der 
Welt ſähe, die ihn umgab“. Es war in der That eine kleinliche und 
elende Welt, aus der er ſich herauskämpfen ſollte. Es war nicht die 
Welt von Weimar und Jena, nicht die Welt der höchſten Kreiſe 
deutſcher Bildung. Es war die enge philiſtröſe Welt kleiner würtem⸗ 
bergiſcher Landſtädtchen, in welcher das Höchſte, was er anſtrebte, 
als Affectation, Uebertreibung, Ehrgeiz, Sonderbarkeit galt. Es war 
eine Welt, von der er Recht hatte zu ſagen: „Ich glaube, daß ſich 
die gewöhnlichſten Tugenden und Mängel der Deutſchen auf eine 
ziemlich bornirte Häuslichkeit reduciren: Jeder iſt nur in dem zu 
Hauſe, worin er geboren iſt, und kann und mag mit ſeinen Intereſſen 
und ſeinen Begriffen nur ſelten darüber hinaus.“ Da war kein 
Schwung, keine Elaſticität, kein großer mannichfaltiger Trieb, kein 
Gefühl für gemeinſchaftliche Ehre und für gemeinſchaftliche Natio⸗ 
nalität. 

Aus dieſer Welt flüchtet er ins Griechenthum. Dieſer 
Welt hält er als Spiegelbild das antike Menſchheitsideal ſeines Hype⸗ 
rion vor. Dieſer Welt zur Warnung ſtellt er ſeinen Empedokles 
in demſelben Conflicte mit beſchränkter Bürgerlichkeit dar, unter wel⸗ 
cher ſein eigenes Sein ſich verzehrt. 

„Ja, vergiß nur — ſagt Hyperion — vergiß nur, daß es 
Menſchen gibt, darbendes, angefochtenes, tauſendfach geärgertes Herz! 
und kehre wieder dahin, wo du ausgingſt, in die Arme der Natur, 
der wandelloſen, ſtillen und ſchönen.“ 

Seiner Nation und ſich ſelbſt wünſcht er zurück die verlorene 


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x 


Friedrich Hölderlin. 5 353 


Jugend. Aus der Ueberfülle des Leids ſehnt er ſich nach dem Tode. 
Seine letzte Zufluchtsſtätte iſt das Grab. Er redet den Archi⸗ 
pelagus an: 


Wenn die reißende Zeit mir 
Zu gewaltig das Haupt ergreift, und die Noth und das Irrſal 
Unter Sterblichen mir mein ſterblich Leben erſchüttert, 
Laß der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken! 


Er bricht in furchtbaren Groll aus gegen das Schickſal, gegen die 
menſchliche Beſtimmung. „Wir werden geboren für Nichts, wir 
lieben ein Nichts, glauben an Nichts, arbeiten uns ab für Nichts, 
um allmälig überzugehen in Nichts. Wenn ich hinſehe auf das Leben, 
was iſt das Letzte von Allem? Nichts. Wenn ich aufſteige im Geiſte, 
was iſt das Höchſte von Allem? Nichts.“ — 

Solche Empfindungen waren nicht ihm allein eigenthümlich. 
Schon Andere haben bemerkt, daß Hölderlin nur mitergriffen war von 
einer geiſtigen Epidemie, welche ſeit den Siebziger-Jahren des vorigen 
Jahrhunderts gerade die Edelſten und Beſten vielfach umſtrickte und 
ſchwächere Seelen vernichtete. Es iſt dieſelbe Epidemie, welche in 
unſerem Jahrhundert den Namen des Weltſchmerzes erhielt und als 
deren Philoſophen wir Schopenhauer kennen. | 

Es iſt mir unbegreiflich, wie deſſen Lehren heute noch Anhänger 
finden können. Es gibt ja viel Elend in der Welt und Jeder hat 
ſein Theil Unglück zu tragen. Arm wer nie entbehren mußte und 
aus der Entſagung Kraft für ein höheres Daſein ſchöpfte. Aber wer 
mag ſich an dem Gedanken der Vernichtung berauſchen in dieſer herr⸗ 
lichen Welt, in der täglich ſo viel neues Leben erwacht, in der un⸗ 
zählige Kräfte ſich regen, in der alle Wiſſenſchaften kühn vordringen 
wie auf geebneter Bahn, in der die ſehnſüchtigen Wünſche von Jahr⸗ 
tauſenden ſich zu erfüllen beginnen? Wer mag zaghaft träumen, wer 
mag in bitterem Groll ſich berauſchen mitten in dieſer Zeit der freu— 
digen Zuverſicht, der ſelbſtgewiſſen Heiterkeit, der ſtolzen Thatkraft? 

Nein, unter uns iſt kein Raum mehr für den Weltſchmerz. Was 
will da Schopenhauer? Aber auch: was will da Hölderlin? 

Hölderlin iſt keine dauernde Lectüre für einen vollen heutigen 


Menſchen. Aber er iſt ein Tröſter auf Augenblicke. Tröſtend eben, 
Scherer, Vorträge. 23 


5 


354 Friedrich Hölderlin. 


weil er ſo troſtlos iſt. Kein beſſeres Heilmittel für die Erſchöpfung 
eines Momentes, als der Anblick dieſer ungeheuren Erſchöpfung des 
Schmerzes, die jeden geſammelten Gedanken in den Abgrund gezogen 
hat. Denkt euch ein Haus das einen Wahnſinnigen zu pflegen hat. 
Heiligkeit ſcheint auszuſtrömen von ihm. Man wird beſſer in ſeiner 
Nähe. Vor ſo grenzenloſem Unglück verſtummen alle kleineren 
Klagen. 

Es iſt eine tiefe Bemerkung von Gervinus, daß neue Richtungen 
einer Nation mit neuer geiſtiger Anſtrengung, mit der Erregung lange 
ungeübter Kräfte nicht ohne traurige Schickſale Einzelner durchgeſetzt 
werden können. Der neue Gott, der ſeine Herrſchaft über die Ge⸗ 
müther antritt, fordert ein Opfer. 

Von Poeſie, Philoſophie, Politik erwartete Hölderlin die Er⸗ 
neuerung des deutſchen Lebens. 

Er hat ſich nicht geirrt. Dieſe Mächte kamen, wirkten ſegens⸗ 
reich, aber ſie warfen ihn in die Tieſe. 

Seltſam, wie der Gedanke des Opfers als ein hoher und herr⸗ 
licher ihn in allen ſeinen Gedichten viel beſchäftigt hat. Den Tod 
fürs Vaterland preiſt er wiederholt. Es begeiſtert ihn, Achill weggerafft 
zu ſehen in der Jugendkraft. Sein Empedokles ſtürzt ſich in den 
Aetna als ein Opfer, welches ſeine Zeit verlangt. Und in dieſem 
Sinne wollte er wol einſt den Tod des Sokrates behandeln, und den 
Tod des Agis als das letzte Aufleuchten alter Spartanertugend. 

Es gibt auch ein Schlachtfeld des Geiſtes, ein titaniſches Ringen 
mit höheren Mächten. Auf dieſem Schlachtfelde iſt Hölderlin ge⸗ 
fallen. 

Hölderlin war ſchön. Wenn er vor ſeinen Studiengenoſſen auf 
und nieder ging, ſo war es ihnen als ſchritte Apollo durch den Saal. 
Als er im Jahre 1800 nach der Heimat zurückkehrte, glaubte man 
einen Schatten zu ſehen. 

Dazwiſchen lag die unglückliche Liebe. Dazwiſchen lag das ver⸗ 
zweifelte Ankämpfen gegen die Grenzen ſeines Talents. Dazwiſchen 
lag die Erfahrung, daß er keine Wirkung auf das Publicum hervor⸗ 
brachte — der heftig erregte Ehrgeiz und doch kein Element, „worin 
er ſich ein ſtärkend Selbſtgefühl erbeuten konnte“ — das Scheitern 
aller ſeiner Hoffnungen. 


Er 


Friedrich Hölderlin. 355 


Schon in geſundem Zuſtande wurde es ihm ſchwer, feine Ge⸗ 
danken von einem Gegenſtande zum anderen zu wenden. Die Kraft 
des Willens war nicht ſtark in ihm. Es fehlte ihm die ſichere Herr⸗ 
ſchaft über die verſchiedenen Vorſtellungskreiſe ſeiner Seele. In der 
Fremde — ſeine lange Hofmeiſterlaufbahn hatte ihn ſchließlich nach 
Bordeaux geworfen — traf ihn der letzte Schlag, dem die zarte, ner⸗ 
vöſe, empfindliche, gereizte, unter mütterlicher Erziehung gepflegte 
Organiſation nicht mehr widerſtehen konnte. Es ſcheint, daß bei der 
Nachricht vom Tode der Geliebten ihm zuerſt der klare Zuſammen⸗ 
hang der Gedanken abhanden kam. Die Zügel der Leitung über 
ſeinen arg beſtürmten Geiſt entglitten ihm völlig. Die Form ſeines 
Irrſinns war eine aus gänzlicher Erſchöpfung hervorgegangene Zer- 
ſtreutheit. — Halten wir das Bild des Armen mit ſeinen eigenen 
Worten feſt: 

Manches hab ich verſucht und geträumt und habe die Bruſt mir 

Wund gerungen 5 


23 * 


Caroline. 
I. 


„Caroline“ iſt der Titel eines eben erſchienenen, von Georg Waitz 
herausgegebenen Buches,) zu deſſen Lectüre ich meine Leſer durch 
die nachfolgenden Zeilen verlocken möchte. Wer irgend ſich für die 
litterariſchen Zuſtände und Parteien Deutſchlands am Ende des vori⸗ 
gen und Anfang dieſes Jahrhunderts intereſſirt, wird die reichſte Be⸗ 
lehrung daraus ſchöpfen und die Anſchauung eines Frauenbildes ge⸗ 
winnen, das man ſich nicht ohne Bewegung vergegenwärtigen kann. 

Die Heldin des Buches — das keine Biographie, ſondern nur 
in einer reichen Correſpondenz die Materialien dazu liefert — iſt die 
1809 im Alter von 46 Jahren verſtorbene Caroline Schelling, ge⸗ 
ſchiedene Schlegel, verwittwete Böhmer, geborene Michaelis. 

Tochter des berühmten Göttinger Orientaliſten, aufgewachſen in 
den Profeſſorenkreiſen der Univerſitätsſtadt, dann verheiratet in einem 
Landſtädtchen der Harzgegend an den Arzt Böhmer, den ſie nach vier⸗ 
jähriger äußerlich ungetrübter, aber innerlich (wenigſtens für ſie) nicht 
eben ſehr beglückter Ehe durch den Tod verliert, — ſucht die junge 
geiſtvolle Witwe lange vergeblich nach einem feſten Halt im Leben. 
Freundſchaftliche Berührung mit Auguſt Wilhelm Schlegel, der ihr 
leidenſchaftlich huldigt — Heiratsanträge eines würdigen Geiſtlichen 
— Liebeswirrniſſe mit einem gewiſſen Tatter — Aufenthalt zu Mainz 


*) Caroline. Briefe an ihre Geſchwiſter, ihre Tochter Auguſte, die Familie 
Gotter u. ſ. w., nebſt Briefen von A. W. und Fr. Schlegel. Herausgegeben von 
G. Waitz. Zwei Bände. Leipzig. S. Hirzel 1871. 


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EDEN ISERBE DIENEN 


Caroline. ö 357 


mitten in den Revolutionsſtürmen, an denen man ſie thätig betheiligt 
glaubte — Freundſchaft mit Georg Forſter — Staatsgefangenſchaft 
auf der Feſtung Königſtein: jo ungefähr laſſen ſich die Lehr- und 
Wanderjahre der merkwürdigen Frau umſchreiben, welche endlich durch 
die Vermälung mit Wilhelm Schlegel einen vorläufigen Abſchluß fin⸗ 
den, bis auch dieſes Band ſich unter beiderſeitiger Uebereinkunft löſt, 
und die Vielumhergeworfene in den Armen des zwölf Jahre jüngeren 
Schelling ein ſpätes, aber tief und dankbar genoſſenes Glück erlangt. 

Das iſt freilich kein alltäglicher Lebenslauf. Und Caroline 
konnte dem Schickſale nicht entgehen, auf das jede Frau gefaßt ſein 
muß die ſo weit von der Heerſtraße der Gewöhnlichkeit abſchweift. 
Und doch iſt allzu bereitwillig der Stab über ſie gebrochen worden. 
Man vergißt ſo leicht, daß es in moraliſchen Dingen kein Recruten⸗ 
maß gibt, daß Temperament und Naturanlage, individuelle Dispoſi⸗ 
tionen und Lebensverhältniſſe und die ſittlichen Anſchauungen des Zeit⸗ 
alters nothwendig in Rechnung gezogen werden müſſen, um ein reines 
und gerechtes Urtheil zu ermöglichen. Wer will überhaupt alle 
räthſelvollen Irrwege des menſchlichen Herzens zum voraus berechnen 
und ihm ein für allemal den Gang vorzeichnen, den es nehmen müſſe? 
Das Leben ausgezeichneter Menſchen bietet mehr als einen vielver⸗ 
ſchlungenen pſychologiſchen Knoten, den wir nicht aufzulöſen vermögen, 
den wir als ein undurchdringliches Geheimniß ſchweigend anzuerkennen 
haben. Aber dürfen wir vorſchnell verdammen, weil wir nicht über⸗ 
all verſtehen? 

Vielleicht hätte man Carolinen ihre extraordinären Schickſale gern 
vergeben. Mindeſtens ihre Zeitgenoſſen waren darin nicht ſo ſtreng. 
Aber ſie war eine allerliebſte Frau, ſie hatte jene hinreißende An⸗ 
muth und Weichheit, jene reizende Miſchung von Geiſt, Lebhaftigkeit, 
Witz und Gefühl, jene Harmonie des ganzen Weſens, welche Liebe 
auszuathmen und Liebe zu verlangen ſcheint — nicht mit Abſicht, 
nicht aus Berechnung, es iſt ihre innerſte Natur ſo, ſie kann nicht 
anders; ſie iſt unbefangen, naiv, offen, wahrhaftig; ſie hat etwas 
von jener „aus der Unſchuld entſpringenden Verwegenheit“, wie es 
Goethe einmal nennt, welche auf Männerherzen eine jo unwider⸗ 
ſtehliche Macht ausübt. 

Um ſolche Frauen ſammelt ſich regelmäßig ein Kreis ausgezeich— 


358 ‚Caroline. 


neter Männer, die alle mehr oder weniger für fie zu ſchwärmen, 
alle mehr oder weniger von ihr bezaubert zu ſein ſcheinen. Grund 
genug, daß ſie von anderen Frauen gehaßt werden die auf ebenſo⸗ 
viel Geiſt und Liebenswürdigkeit Anſpruch erheben zu dürfen glauben, 
ohne daß ſie in gleichem Maße gefeiert wären. „Solche Anziehungs⸗ 
kraft! dabei kann es nicht mit rechten Dingen zugehen, dabei müſſen 
falſche, unerlaubte Künſte im Spiele ſein.“ Auf dieſe Art bildet ſich 
die öffentliche Meinung, und die Verleumdung hat ein weites Feld. 

So ungefähr iſt es auch Carolinen ergangen. Die Damen, 
denen ſie Concurrenz macht, wollen ihr nicht wohl, die betreffenden 
Männer und Verehrer müſſen in daſſelbe Horn ſtoßen, in Briefen 
wird das Urtheil Fernerſtehender nach der gleichen Richtung dirigirt. 
Solche Briefe kommen dann unter den Nachlebenden an das Licht 
der Oeffentlichkeit, unſere detailſüchtige Litteraturgeſchichte macht ſich 
zum Echo des alten Klatſches. Und ſo kommt es, daß das Bild 
Carolinens immer dunkler und dunkler dargeſtellt wird, je beſſer man 
ſich unterrichtet zeigen kann. Aus der zierlichen kleinen Frau wird 
ſchließlich ein dämoniſches Weſen, ein zwietrachtſtiftender Kobold, eine 
„Dame Lucifer“, die alle Verhältniſſe um ſich her zerrüttet, eine OR 
böſer Genius der romantischen Schule. 

Mit dem vorliegenden Buche in der Hand fühlt man ſich ver⸗ 
ſucht, den neueſten Darſtellungen der Romantik gegenüber zum Ritter 
der hart angefochtenen Dame zu werden und eine der jetzt ſo beliebten 
„Rettungen“ zu ſchreiben. Aber ich glaube, das Buch ſelbſt iſt die 
beſte Rettung. Schade, daß es nicht über alle Puncte des intimſten 
Lebens volle Klarheit verbreitet. „Ich könnte begreifen — ſchreibt 
Caroline einmal — wie man die Documente eigener verworrener 
Begebenheiten ſeinen Kindern und auch der nach uns lebenden Welt 
als eine die Menſchheit überhaupt intereſſirende Erfahrung hinter⸗ 
laſſen kann. Erſt wenn Namen und Perſonen nichts mehr zur Sache 
thun, tritt ſie in ein wahres Licht.“ In dieſem Sinne läßt das 
Werk Manches vermiſſen, die Begebenheiten ſind nicht immer deut⸗ 
lich, aber der Charakter Carolinens wird vollkommen anſchaulich: 
ſie zeigt ſich überall als eine groß und frei und edel angelegte Natur. 
Dieſem Eindruck wird ſich kein aufmerkſamer Leſer entziehen können, 
und die erwähnten Litterarhiſtoriker werden gewiß ſelbſt die Gelegen⸗ 


Caroline. 359 


heit ergreifen, um der liebenswürdigen Frau die ungalanten Urtheile 
abzubitten, die ſie über ſie gefällt haben. 

Man heftet ſich ohnedies viel zu ſehr an biographiſche Details, 
die — an ſich vielleicht höchſt lehrreich und intereſſant — doch für 
die Hauptſache wenig austragen. Es könnte Alles wahr ſein was 
man Carolinen nachgeſagt hat, und der Kern ihrer Perſönlichkeit 
bliebe davon ziemlich unberührt. Was Einer iſt und leiſtet, das 
ſcheint mir die Hauptſache. Das Andenken hervorragender Männer 
in der Geſchichte wird nicht durch ihr Privatleben beſtimmt, nicht 
dadurch daß ſie brave Familienväter, gute Ehegatten, friedfertige 
Collegen waren, ſondern durch das was ſie für den Staat, für das 
Vaterland, für Wiſſenſchaft und Kunſt, für die ganze Menſchheit ge⸗ 
than haben. Die Wirkungsſphäre der Frauen iſt meiſt viel einge⸗ 
ſchränkter, ihr Andenken in der Geſchichte lebt in der Regel nur durch 
das fort was ſie ausgezeichneten Männern geweſen ſind. Unvergeß⸗ 


lich bleibt dem deutſchen Volke Frau v. Stein, weil ihr Goethe ſo 


viel verdankte. Und die indiscrete Neugier, welche in die eigentliche 
Natur der Beziehungen zwiſchen dem Dichter und der angebeteten 
Freundin eindringen und womöglich die intimſten Momente ihres Zu: 
ſammenſeins belauſchen möchte, hat ſehr wenig mit einer gerechten 
hiſtoriſchen Würdigung zu thun. So kommt es auch bei Caroline 
vor Allem auf das an was Schlegel und Schelling ihr verdankten. 
Der Segen, den ſie im Herzen ihrer Männer zurückgelaſſen, iſt ein 
unvertilgbares Verdienſt, das ſie ſich um ſie und dadurch mittelbar 
um Deutſchlands Geiſtesleben erworben hat. Und wer kann darüber 
beſſer urtheilen als dieſe Männer ſelbſt? 

Etwa drei Monate nach ihrem Tode ſchreibt Schelling: „In je 
größere Ferne ſie mir tritt, deſto lebhafter fühle ich ihren Verluſt. 
Sie war ein eigenes einziges Weſen, man mußte ſie ganz oder gar 
nicht lieben. Dieſe Gewalt, das Herz im Mittelpuncte zu treffen, 
behielt fie bis ans Ende. Wir waren durch die heiligſten Bande ver- 
einigt, im höchſten Schmerz und im tiefſten Unglück einander treu 
geblieben — alle Wunden bluten neu, ſeit fie von meiner Seite ge- 
riſſen iſt. Wäre ſie mir nicht geweſen was ſie war, ich müßte als 
Menſch ſie beweinen, trauern, daß dies Meiſterſtück der Geiſter nicht 
mehr iſt, dieſes ſeltene Weib von männlicher Seelengröße, von dem 


360 Caroline. 


ſchärfſten Geiſt, mit der Weichheit des weiblichſten, zarteſten, liebe⸗ 
vollſten Herzens vereinigt. O etwas der Art kommt nie wieder!“ 

Caroline Schelling war eine rechte Gelehrtenfrau, nicht wie ſie 
gewöhnlich ſind, ſondern wie ſie ſein ſollten. 

Wiſſenſchaft als Lebensberuf ergriffen führt immer die Gefahr 
einſeitiger Verbiſſenheit, handwerksmäßiger Beſchränkung und ſtumpf⸗ 
ſinniger Abgeſchloſſenheit in einem engen Kreiſe mit ſich. Da muß 
die Frau eine Art umgekehrter Circe ſein, die das gelehrte Heerden⸗ 
thier jedesmal wieder in den Menſchen verwandelt. Hiervon beſaß 
Caroline ein lebhaftes Bewußtſein. Wie ſie ſelbſt die größte Angſt 
hatte ſich in eine philiſtröſe Exiſtenz verſinken zu ſehen, ſo wußte ſie 
auch Andere davor zu bewahren. „Was iſt doch das ein elendes 
Leben, das ein Gelehrter führt — ſchreibt ſie ihrem Bruder Philipp 
— o ſuche ja bis ans Ende Deiner Tage Sinn für die weite offene 
Welt zu behalten, das iſt unſer beſtes Glück.“ Die großen Jung⸗ 
brunnen der Menſchheit ſind Natur und Kunſt; wie die Sonne nach 
mythologiſchen Vorſtellungen täglich in den Ocean, ſo ſollen wir 
untertauchen in das Schöne, um daraus Kraft und Freiheit der Seele 
zu holen neben aller eingeſchränkteren Thätigkeit. 

„O mein Freund — ſchreibt Caroline an Wilhelm Schlegel — 
wiederhole es Dir unaufhörlich, wie kurz das Leben iſt und daß nichts 
ſo wahrhaftig exiſtirt als ein Kunſtwerk. — Kritik geht unter, leib⸗ 
liche Geſchlechter erlöſchen, Syſteme wechſeln, aber wenn die Welt 
einmal aufbrennt wie ein Papierſchnitzel, ſo werden die Kunſtwerke 
die letzten lebendigen Funken ſein, die in das Haus Gottes gehen — 
dann erſt kommt Finſterniß.“ 

So ſehr Caroline das lebendigſte Gefühl der Unabhängigkeit in 
ſich nährte, und ſo ſehr ſie Denen, die ſie liebte, zu geben vermochte, 
ſo groß war doch ihre Fähigkeit, zu empfangen, ſo wunderbar ihr 
Talent, ſich anzuſchmiegen. Sie beſaß eine unglaubliche Elaſticität 
des Geiſtes, mit der ſie alles Bedeutende ergriff was ihr nahe kam. 
„„Nichts Gutes und Großes war zu heilig oder zu allgemein für ihre 
leidenſchaftlichſte Theilnahme,“ ſagt Friedrich Schlegel. So durchlebte 
ſie feurig bewegt die Mainzer politiſche Revolution, ſo die Revolution 
der Romantiker gegen das Ancien Régime in der Litteratur des 
vorigen Jahrhunderts. An Wilhelm Schlegels Shakeſpearearbeiten, 


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Caroline. . 361 


an der Recenſionsthätigkeit der verbundenen Freunde betheiligte ſie 
ſich, in die Ideen von Schellings Naturphiloſophie warf ſie ſich mit 
Begier — ſie hat auch dies und jenes für den Druck geſchrieben, 
aber immer nur gedrängt von Außen, auf beſtimmte Veranlaſſung, 
um etwa Schlegel eine Freude zu machen, aber ganz ohne perſönliche 
litterariſche Prätenſionen. Sie beſaß nach Wilhelm Schlegels Zeug- 
niß alle Talente um als Schriftſtellerin zu glänzen, ihr Ehrgeiz war 
aber nicht darauf gerichtet. Sie fühlte ſich nicht geſchaffen, über die 
Grenze ſtiller Häuslichkeit hinwegzugehen. Es fehlte ihr in der That 
an eigentlich originaler Productionskraft. Sie hat etwas von dem 
receptiven Genie, das in Wilhelm Schlegel, dem unvergleichlichen 
Ueberſetzer, Recenſenten, Litterarhiſtoriker wohnte. Sie empfindet 
das aber als einen Mangel und bezeichnet es in einem Briefe an 
ihren Bruder als Familienfehler, „vieles aufzufaſſen, um es mit ein 
paar Ideen darüber wieder hinzuwerfen“. 

Gerade dieſes Talent jedoch — welches Glück für einen Mann, 
der wie Schelling mit den ernſteſten tiefſten Problemen rang, wenn 
die Gefährtin ihm in die fernſten Gedankenregionen zu folgen ver- 
mochte, wenn er ſie einweihen durfte in die Myſterien der abſtrac⸗ 
teſten Speculation, wenn ihm ſeine Ideen aus ihrem Munde mit 
neuer Klarheit entgegentönten, wenn er mit Zinſen zurückerhielt, was 
er ihr von ſeinen Geiſtesſchätzen ſpendete. 

Der weibliche raſche Blick, der ſchlichte gerade Verſtand, das 
unbeirrbare ſichere Urtheil war Caroline im höchſten Maße eigen. 
„Die Ueberlegenheit ihres Verſtandes über den meinigen habe ich ſehr 
frühe gefühlt,“ erzählt ihr Schwager Friedrich Schlegel. Das klare 
Weſen einer urſprünglich heiteren, thätigen, beſtimmten Natur prägt 
ſich in ihren Jugendbriefen manchmal mit überraſchender Schärfe 
aus. „Es iſt ganz vergeblich, hier nachzudenken — mit dieſen Wor⸗ 
ten reißt fie ſich von gewiſſen religiöſen Reflexionen los — es iſt 
ganz vergeblich, hier nachzudenken; es verwirrt unſere Begriffe und 
verwirrte Begriffe machen muthlos.“ Und ein andermal beſchreibt 
ſie, wie ſie immer einen Plan haben müſſe im Großen oder Kleinen: 
„Ich mag keine Nadel abſtricken ohne den Eifer und die Ausſicht, 
etwas fertig zu bekommen und hinterher zu denken, ich habe wirklich 
was gethan. Bin ich zwecklos, ſo iſt mir wie Denen, die gewohnt 


362 Caroline. 


find ſich von Sonnenaufgang bis Untergang zu ſchnüren, und un⸗ 
geſchnürt nicht wiſſen, wo ſie den Leib laſſen ſollen. Kommt nun 
noch der Pfahl im Fleiſch dazu, daß ich etwas thun will was ich 
nicht mag, und habe doch nicht die Macht es zu forciren, ſo bin ich 
ein elendes Geſchöpf, das mit Gleichgiltigkeit das Morgenlicht durch 
die Vorhänge ſchimmern ſieht und ohne Satisfaction ſich niederlegt.“ 

Ihre hohe Verſtändigkeit aber äußert ſich nie aufdringlich, ſteif, 
pedantiſch, ſie bleibt immer biegſam, zierlich, ſchön. Durch die ernſten 
litterariſchen Geſchäfte der Männer ſchlingen ſich ihre anmuthigen 
Briefe wie leichte graziöſe Arabesken durch. Die ſchweren Gedanken⸗ 
accorde Schelling'ſcher Philoſopheme umſpielt ſie wie mit den geiſt⸗ 
reichen Begleitungsfiguren einer ſüßſchwärmenden Muſik. | 

Sie war wie gemacht zur Geſelligkeit, weniger zu der rauſchen⸗ 
den Geſelligkeit eines großen Cirkels, in welchem allzu viele lang⸗ 
weilige und unbedeutende Menſchen gleichmäßige Artigkeit und Auf⸗ 
merkſamkeit erfordern, als zu der beſcheidenen Geſelligkeit am trau⸗ 
lichen Theetiſch mit wenigen guten Freunden, vor denen ſie ſich ganz 
gehen laſſen und alle ihre glänzenden Gaben des Geſprächs zwang⸗ 
los entfalten konnte. Sie ſprach wunderbar ſchön. Sie war wie 
die Jungfrau im Märchen, der bei jedem Wort, das ſie ſpricht, eine 
Roſe aus dem Munde fällt. „Alles umgab ſie mit Gefühl und Witz, 
ſie hatte Sinn für Alles, und Alles kam veredelt aus ihrer bildenden 
Hand und von ihren ſüßredenden Lippen. Sie vernahm jede Andeu⸗ 
tung und ſie erwiderte auf die Frage, die nicht geſagt war. Keine 
Sphäre belebter Unterhaltung war ihr fremd. Sie konnte in der⸗ 
ſelben Stunde irgend eine komiſche Albernheit mit dem Muthwillen 
und der Feinheit einer gebildeten Schauſpielerin nachahmen, und ein 
erhabenes Gedicht vorleſen mit der hinreißenden Würde eines kunſt⸗ 
loſen Geſanges.“ 

Und trotz dieſen geſelligen Talenten, trotz den Huldigungen, die 
ihr überreich zu Theil wurden, wie iſt ſie ſo gar nicht verwöhnt, wie 
anſpruchslos und beſcheiden ſteht ſie neben ihrem Mann, wie eifrig 
leiſtet ſie ihm Secretärsdienſte, wie willig fügt ſie ſich in ſeine Ab⸗ 
haltungen, wie gutmüthig tritt ſie zurück, wo die Wiſſenſchaft ihn 
nicht losläßt. So entſchuldigt ſie einmal Verſäumniſſe Schellings 
bei einem Freunde mit den Worten: „Ich habe ihn ſelber ſeit acht 


Caroline. 363 


Tagen nicht geſehen, außer wenn er zum Eſſen herunterkam und da⸗ 
bei auch eiligſt die Siegesnachrichten zu ſich nahm, ich habe ſelber 
oft vor der verſchloſſenen Thüre geſtanden und allerlei Anliegen ge⸗ 
habt, allein Baal war taub, und ich habe mir bald geſagt: Baal 
dichtet. So laſſen wir ihn denn dichten . ..“ 

Habe ich nun nicht recht zu ſagen: ſie war das Ideal einer 
deutſchen Gelehrtenfrau? f | 

Denn ich muß Hinzufügen, fie tft auch eine eifrige, praktiſche, 
exacte Hausfrau, die für das Leibliche trefflich zu ſorgen weiß; ſie iſt 
eine ſehr geſchickte Ehefrau, welche die Launen des geſtrengen Herrn 
in anmuthigſter Weiſe zu ertragen, zu ignoriren oder zurückzuweiſen 


verſteht; fie iſt auch eine gute Tochter und Schweſter, eine zuverläſ⸗ 


ſige Freundin, eine ausgezeichnete Mutter. Mit welcher ſchwärme⸗ 
riſchen Liebe hängt ſie an Auguſte Böhmer, ihrer einzigen Tochter. 
Und wie iſt ihr die ganze Welt umgewandelt von dem Augenblicke 
an, wo ſie dieſe Tochter verliert. Man fühlt ſofort, eine Wunde iſt 
ihr geſchlagen, die nie völlig wieder vernarben kann. Der Gedanke 
an das liebliche todte Mädchen iſt fortan der ſtille traurige Hinter⸗ 
grund ihres ganzen Lebens. 

In ihrer Jugend ſteht Caroline als ein herrliches Bild der 
Kraft, des Selbſtgefühls, der Friſche und des Lebensmuthes vor uns 
da: „nicht ſchön, nicht beſcheiden, aber gut, ſtolz und natürlich,“ wie 
ſie ſelbſt ſich abſchildert. Wie unbekümmert wandelt ſie über die 
Erde, „die gottloſe kleine Frau, die kokette junge Wittwe“; ſolche Les⸗ 
arten gibts nämlich über ſie, und ſie meldet das ganz luſtig ihren 
Freunden. Wie reizend ſcherzt ſie über ihre Unbeſonnenheiten: „Ich 
hoffe in meinem achtzigſten Jahre noch welche zu begehen, wenn ich 
nicht ſo glücklich bin, vor dem vierzigſten zu ſterben.“ Wie genuß⸗ 
kräftig packt ſie das Leben an: „Glückſeligkeit beſteht nur in Augen⸗ 
blicken; nichts verzeih' ich mir weniger, als nicht froh zu ſein, auch 
kann der Augenblick niemals kommen, wo ich nicht die Freude, die 
ſich mir darbietet, herzlich genießen ſollte.“ Und mit welcher Sicher— 
heit muß ein Weſen in ſich ſelbſt gegründet geweſen ſein, welches 
ſagen konnte: „Ich fürchte, das Geſchick und ich haben keinen Ein⸗ 
fluß mehr auf einander; ſeine gütigen Anerbietungen kann ich nicht 
brauchen, ſeine böſen Streiche will ich nicht achten. Auf Wunder 


364 Caroline. 


rechnet man nicht, wenn man ſich fähig fühlt Wunder zu thun und 
ein widerſtrebendes Schickſal durch ein glühendes, überfülltes, in 
Schmerz wie in Freude ſchwelgendes Herz zu bezwingen.“ 

Da klingt es denn freilich ganz anders, wenn ſie in dem Todes⸗ 
jahre Auguſtens aus Jena, wohin ſie eben erſt wieder zurückgekehrt 
war, an Wilhelm Schlegel ſchreibt: „Ich bin nur froh, hier das Erſte 
überſtanden zu haben, und verlaſſe mich für das Zukünftige ruhig 
auf Deine Freundſchaft und die ſtille Gewalt meines eigenen guten 
Gemüths. Dieſe werden ſchon wieder etwas bilden, ein Hüttchen 
anbauen unter den Trümmern alter Herrlichkeit. O mein Freund, 
ich baute oft und riß oft ein. Dieſes ſind nun die letzten Zweige, 
Zweige der weinenden Weide, die ich über meinem Haupt zuſammen⸗ 
flechte, um unter ihrem Schatten den Abend zu erwarten.“ 

Der Ton der Neckerei, des Spottes, der humoriſtiſchen Schilde⸗ 
rung verſchwindet nun beinahe gänzlich aus ihren Briefen. Sie iſt 
ſehr verändert. Aber der Grundzug der Wahrhaftigkeit, Charakter⸗ 
ſtärke und Herzensgüte iſt geblieben. 

So wie uns nun Caroline erſchienen iſt: wird noch Bean bie 
Frage aufwerfen, ob fie im Stande war, hübſche Briefe zu ſchreiben? 
Die reizendſten von der Welt! Der Herausgeber des gegenwärtigen 
Buches hat ganz Recht, wenn er ſagt: Carolinens Briefe dürfen als 
ſolche einen Platz in unſerer Litteratur in Anſpruch nehmen. Sie 
ſind nicht blos wichtig als hiſtoriſche Quelle, ſondern ſie ſind wahre 
Kleinode der Form, zierliche Muſter des unbefangen plaudernden 
Briefſtyles, unmittelbare Abdrücke einer lebhaften, angeregten, bedeu⸗ 
tenden Natur, „welche durchſichtig und ſeelenvoll hinſchreibt, was ſie 
als Geſpräch gedacht hat.“ 

Schade, daß der Herausgeber „Unbedeutendes“, wie er ſagt, hin⸗ 
wegließ. Ob ſich darunter auch gewiß nichts Anderes findet, als 
was Jeder gern entbehren würde, wenn er es kennte? Der Geſchmack 
des Herausgebers braucht nicht nothwendig auch der ſeiner Leſer zu 
ſein. Dieſe Art Frauen hat es an ſich, gerade über gänzlich Un⸗ 
bedeutendes ſo reizend zu ſchreiben, daß man ſich für jeden Strumpf 
und jedes Kinderhäubchen intereſſirt. Wie es andere Menſchen gibt, 
die nur „Lichtſtrahlen“ von ſich geben ſollten, in deren Briefen und 
ſonſtigen Prodücten ganze Seiten nur da zu ſtehen ſcheinen um eine 


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Caroline. 365 


einzige ſchöne Stelle zu illuſtriren, jo kann man bei den echt harmo⸗ 
niſchen Weſen, wie Caroline eines war, eigentlich nichts herausreißen 
aus dem was ihrer Feder entfließt; ſogenannte ſchöne Stellen gibts 
da im Grunde nicht, die Einzelheiten kommen kaum zum Bewußtſein, 
aber das Ganze iſt bezaubernd. 5 

Ich würde mich freuen, wenn ich bei einer neuen Auflage noch 
einige Lücken ergänzt fände. Und vielleicht entſchließt man ſich dann 
auch, ein Facſimile von Carolinens Handſchrift beizugeben, das ich 
wenigſtens ungern vermiſſe. 

Der erſte Band iſt durch ein Bild Auguſte Böhmers geziert, 
es zeigt jene „zarte in ſich gekehrte Weiblichkeit“, welche die Mitleben⸗ 
den über ſie verbreitet fanden. Vor dem zweiten Bande entzückt uns 
der Anblick Carolinens ſelbſt. Ein ganz wunderbares Geſicht; keine 
regelmäßige Schönheit; eine etwas unſchöne breite Naſe und der Mund 
vielleicht zu groß. Aber welche Güte und welcher Verſtand blitzt aus 
den Augen, welche Schalkhaftigkeit ſitzt auf den Lippen, welche Klar⸗ 
heit thront auf der offenen Stirn: „Frank und frei“ ſcheint als Wahl- 
ſpruch über dieſen Zügen zu ſchweben. | 

Die Farbe ihrer Augen war blau, wie man gelegentlich aus 
einem Briefe erfährt, worin ſie ſich ſelbſt die blauäugige Caroline 
nennt und neben Wilhelm Schlegel wie die blauäugige Pallas Athene 
neben den homeriſchen Helden ſtehen möchte, um ihn als Redner zu 
begeiſtern. Daß ich nichts Genaueres über Geſtalt und Gang weiß, 
iſt mir ein wenig fatal. Aber wenn ich leſe, wie Friedrich Schlegel 
ihr ins Geſicht über die „kleine, zierliche, zerbrechliche, leichtſinnige, 
coloſſaliſch verliebte Frau“ ſcherzt, ſo kann ich mir doch nur eine feine 
biegſame Figur mit leichtem, ſicherem, elaſtiſchem Schritte denken . . 

Ach, daß die ſüßredenden Lippen auf ewig verſtummt ſind! Es 
iſt mir aber doch, indem ich mich in die Briefe verſenke, als ob ich 
die Worte mit dem Klang einer weichen melodiſchen Stimme ver— 
nähme — ja es iſt, wie Friedrich Schlegel ſagt: bei mancher Stelle 
glaubt man zu ſehen, wie die Blicke wechſeln, wie ihre Mienen leicht 
ſich ändern. Der ganze unwiderſtehliche Zauber ihrer reichen ſchönen 
Natur wirkt durch das geſchriebene Wort noch einmal; ich wenigſtens 
muß bekennen, daß ich demſelben vollſtändig unterlegen bin; es er— 
griff mich, wie wenn ſie mir geſtorben wäre, als ich die Schilderung 


366 Caroline. 


ihres Todes bei Schelling las: „Ihre letzten Tage waren ruhig; ſie 
hatte kein Gefühl von der Gewalt der Krankheit, noch der Annähe⸗ 
rung des Todes. Sie iſt geſtorben wie ſie ſich immer gewünſcht 
hatte. Am letzten Abend fühlte ſie ſich leicht und froh; die ganze 
Schönheit ihrer liebevollen Seele that ſich noch einmal auf; die immer 
ſchönen Töne ihrer Sprache wurden zur Muſik; der Geiſt ſchien 
gleichſam ſchon frei von dem Körper und ſchwebte nur noch über der 
Hülle, die er bald ganz verlaſſen ſollte. Sie entſchlief am Morgen 
des 7. September, ſanft und ohne Kampf; auch im Tode verließ ſie 
die Anmuth nicht; als ſie todt war, lag ſie mit der lieblichſten Wen⸗ 
dung des Hauptes, mit dem Ausdrucke der Heiterkeit und des herr⸗ 
lichſten Friedens auf dem Geſicht.“ > 


15. Juni 1871. 


II. 


Als ich die vorſtehenden Zeilen ſchrieb, wußte ich die arg com⸗ 
promittirenden Dinge aus Carolinens Mainzer Epoche noch nicht, 
welche mir nachher Waitz mittheilte und welche Haym in ſeinem Ar⸗ 
tikel „Ein deutſches Frauenleben aus der Zeit unſerer Litteraturblüte“ 
(Preußiſche Jahrbücher Bd. 28) allgemein bekannt gemacht hat. Ich 
war der Meinung geweſen, daß wir ſie eines Augenblickes der Schwäche 
gegenüber einem geliebten Manne anzuklagen hätten, der ſie dann 
treulos verließ und ſich von ihr zurückzog. Ich wußte nicht, daß die 
herrliche Frau die Beute eines beliebigen Franzoſen geworden war. 
Mein erſtes Gefühl, als ich es hörte, war Zorn und Empörung, 
wie man ſie empfindet, wenn ein edles Kunſtwerk verſtümmelt worden 
iſt — „abſcheulich! unverzeihlich!“ ich hatte kein anderes Wort dafür. 

Alles Beſchönigen und alles Entſchuldigen hilft nun nicht. 
Gerne läßt man die von Haym angeführten Milderungsgründe gelten. 
Gerne ſagt man ſich, daß wir alle näheren Umſtände kennen müßten 
um den Grad der Verſchuldung zu ermeſſen. Aber die Verſchuldung 
als ſolche bleibt unberührt, Niemand kann ſie leugnen, Niemand kann 
ſie hinwegſchaffen. Die brutale Thatſache iſt von unablöſchlicher Häß⸗ 
lichkeit. Caroline ſelbſt kann nur mit peinlichen Empfindungen an 
die wüſte Mainzer Zeit zurückgedacht haben. 


Be: 


Caroline. 367 


Wenn es den Menſchen vergönnt wäre über einen Trunk Lethe 
zu verfügen um nach freier Wahl einen Theil ihrer Thaten und Er- 
lebniſſe für immer der Vergeſſenheit zu überliefern — vielleicht wür⸗ 
den ſie unſchlüſſig ſtehen und nicht wiſſen, wovon ſie ſich ſchwerer 
trennten, von ihren vergangenen Leiden oder von ihren entflohenen 
Freuden. Nur eins gibt es, was Jeder ohne Bedenken und haſtig 
zugreifend gerne loswerden würde, die Erinnerung an ſolche Augen⸗ 
blicke, in denen er gethan was ſeiner nicht würdig war. 

Solches Vergeſſen müßte ſein wie Einſchlafen oder Ertrinken. 
Die Wellen umwogen, umſpielen uns, ziehen uns in die Tiefe, zu⸗ 
letzt iſt Alles ruhig. 

Das Leben mancher Menſchen iſt nicht ein Kampf ums Daſein, 
ſondern ein Kampf um den Schlaf, moraliſch vielleicht ein Kampf 
ums Vergeſſen. Manchen aber gewährt die Natur beides willig. 
Es iſt möglich, ja es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß Caroline jene Ge— 
dächtnißſchwäche beſaß, welche öfters bei ſehr elaſtiſchen Frauennaturen 
gefunden wird, die wie Waſſernixen aus der Tiefe des Sees empor⸗ 
tauchen und alles Gras und Schilf und Schlamm und Röhricht von 


ſich abſtreifen und wieder wie jung und neugeboren die leuchtenden 


Glieder durch die klaren Wogen drängen. Caroline lebte in der 
Gegenwart, ging voll auf in ihr, und ihre Vergangenheit konnte ſie 
vielleicht anſehen, als ob ſie ſelbſt es nicht geweſen wäre, wie Schick⸗ 
ſale einer fremden Perſon. Aber ganz vergeſſen kann Niemand ſolche 
Erfahrungen. Und in Augenblicken, in denen ihr das Gedächtniß 
völlig zurückkehrte, in denen all der böſe Schlamm ihr noch einmal 
die Phantaſie beengte, durch den ſie hindurch gemußt, in den ſie ſich 
hinein begeben: — ich bin überzeugt, daß tiefe Schamröthe ihr in 
die Wangen ſtieg. Und wenn ſie auch wohl nicht an den Nutzen 
der Reue glaubte und die Vergangenheit fo leicht und licht als mög⸗ 
lich zu nehmen ſuchte (auch das traue ich ihr zu) — fie hat gewiß 


Alles gethan, damit die arge Diſſonanz ſo wenig als möglich in ihrer 


Seele nachtönte. Aber als Diſſonanz muß ſie in ihr erklungen ſein, 
und widerwärtig muß ihr das Andenken geweſen ſein. 

Gleichwohl ſchäme ich mich nicht des ehrlichen Entzückens das 
mir die Exiſtenz dieſer Frau einflößte, und ich beharre bei den enthu— 
ſiaſtiſchen Worten die man oben geleſen hat. 


* 


368 Caroline. 


Es iſt mit überlegener Miene darüber geſpottet worden, daß 
Caroline mehr als ſechzig Jahre nach ihrem Tode noch verſchiedenen 
deutſchen Profeſſoren die Köpfe verdreht habe. Sehr viel Ehre für 
die deutſchen Profeſſoren! Man wirft ihnen gerne, und nicht ganz 
mit Unrecht, eine gewiſſe Engherzigkeit und Philiſterhaftigkeit in mora⸗ 
liſchen Dingen vor. Sehr ſchön, wenn Caroline im Stande war, 
ſolche Strenge zu mildern. Ich beneide Niemanden um die robuſte 
Tugendhaftigkeit, welche Schellings angebetete Gattin ohne weiteres 
in Eine Linie mit einer beliebigen Straßendirne ſtellt. Ich ſtreite 
aber auch gar nicht um die moraliſche Beurtheilung dieſer einzelnen 
Frau, obwohl ich von Natur mehr zum Verzeihen als zum Verdam⸗ 
men neige. Aber ich ſage offen, daß es mir als Rohheit erſcheint, 
wenn man den Werth einer Frau wie dieſe nur nach dem ſechſten 
Gebot bemißt und wenn alles was ſie ſonſt war und that einfach 
ausgelöſcht erſcheint dadurch, daß ſie einmal in ihrem Leben auf un⸗ 
verantwortliche Weiſe leichtſinnig geweſen iſt und Schande auf ſich 
geladen hat. Einigermaßen dürfen doch auch wir ſie mit Schellings 
oder mit Louiſe Gotters Augen betrachten. 

Sind wir wirklich ſchon ſo weit herunter gekommen, daß uns 
die bloße Correctheit als das höchſte Gut erſcheint? Haben wir ver⸗ 
geſſen, daß ſchöne Menſchlichkeit die Blüte aller Sittlichkeit iſt? Was 
helfen uns alle correcten Frauen der Welt, wenn ſie unſere Freude 
am Daſein nicht verſtärken. Im Beichtſtuhl und nach dem Katechis⸗ 
mus iſt es äußerſt gleichgiltig, ob eine Frau ſchön oder häßlich: iſt 
es auch fürs Leben gleichgiltig und für eine höhere Sittlichkeit, für 
die reiche, freie und ſchwungvolle Entfaltung aller edlen Menſchlichkeit 
im Menſchen? Möchten wir wohl ein einziges vollkommenes vielleicht 
in ſchrankenloſer Leidenſchaft entſtandenes Liebeslied dahingeben um 
den Preis, den Dichter zu einem vorwurfsfreien correcten Hageſtolzen 
oder Ehemann zu machen? 

Aber das ſind nur nebenbei aufgeworfene Fragen. Ich fühle 
mich nicht zu Carolinens Advocaten berufen. Mein Enthusiasmus 
galt und gilt nicht dem Individuum, nicht dieſer einzelnen beſtimmten 
Caroline, ſondern der in ihr Fleiſch gewordenen Idee. 

Wenn der Venus von Milo in den Stürmen der Pariſer Com⸗ 
mune die Naſe abgeſchlagen wäre, bliebe ſie darum weniger die Venus 


Caroline. 369 


von Milo? Würde der Künſtler, der fie geſchaffen, darum weniger 
auf den Dank und die Bewunderung der Nachwelt rechnen dürfen? 
Ich beklage die Schuld, durch welche Caroline ſelbſt ihr Leben ent⸗ 
ſtellt hat, ganz wie eine ſolche Verſtümmelung. Aber das herrliche 
Menſchenbild, das dadurch entſtellt iſt, bewundere ich nach wie vor, 

und dankbar bleibe ich der ſchaffenden Natur, daß ſie ein ſolches 
Wunderwerk erzeugen wollen. 

Die Sprache zwingt — oder verführt wenigſtens — auch den 
heutigen Menſchen manchmal zu einer Art Mythologie. Ich habe 
von der in Carolinen erſchienenen Idee geſprochen. Ich meine nichts 
über die Thatſachen der Wirklichkeit Hinausgehendes und doch etwas 
Aehnliches wie die Platoniſche Idee. Es iſt uns jetzt geläufiger von 
Typen zu ſprechen. Wir ſammeln die zerſtreuten Charakterformen, 
die ſich zu wiederholen ſcheinen, deren jeder ſeine Einſeitigkeit zeigt; 
wir können ſie durch einander ergänzen, berichtigen, erweitern und 
verengern und ein Idealbild des Typus gewinnen, das in ſeiner Voll⸗ 
kommenheit nirgends ganz erſcheint, welchem ſich aber die Geſtalten 
der wirklichen Welt mehr oder weniger nähern. Das Leben entfernt 
das Individuum oft von der Reinheit des Typus. Das Kind ver⸗ 
heißt mehr als das entwickelte Weſen hält. 

Caroline nun iſt die vollkommenſte Verwirklichung des Typus, 
zu dem ſie gehört. Dieſer Typus aber, dieſe wunderbare Miſchung 
hinreißender und verführeriſcher Eigenſchaften, ſcheint mit einer ge⸗ 
wiſſen Schwäche faſt unauflöslich verbunden. 

Caroline war entſchieden eine der Frauen, welche auf männliche 
Leitung, darauf daß ein wirklicher ſtarker überlegener Mann neben 
ihnen ſteht, angewieſen ſind. Wenn ihnen der fehlt, wenn ſie ſich 
ſelbſt überlaſſen ſind, dann iſt ihre Schwäche und phantaſtiſche Er⸗ 
regung zu Allem, auch zu dem Verkehrteſten fähig. Frau Böhmer 
und Frau Schelling: was iſt gegen dieſe einzuwenden? Die Wittwe 
Böhmer und Frau Schlegel, die befanden ſich in jener ungeleiteten, 
ungeſchützten, beklagenswürdigen Lage. 

Wenn alſo eine gewiſſe, nicht blos phyſiſche Zerbrechlichkeit zu 
jenem Typus gehört und wenn ſie auch Carolinen anhaftet und in 
verhängnißvoller Weiſe ihr Leben verunſtaltet hat: ſollen wir darum 
die Idee die in ihr erſcheint nicht bewundern? ſollen wir uns nicht 

Scherer, Vorträge. 24 


370 Caroline. 


die Freude zu erhalten ſuchen an all den Eigenſchaften, die wir los⸗ 
löſen können von ihrer irdiſchen zufälligen Perſönlichkeit, um daran 
ein Stück vollkommener Weiblichkeit anzuſchauen? 

Und wenn wir uns ein Idealbild unſeres Volkes geſtalten, wenn 
wir überſchauen wollen, welche reiche ſittliche Productivität es ent⸗ 
faltet, wie vielerlei Charaktertypen es hervorgebracht hat: ſo wird, 
dünkt mich, unter den Frauentypen an äſthetiſcher Vollkommenheit der⸗ 
jenige oben an ſtehen, den Caroline am vollkommenſten repräſentirt. 


13. Juni 1874. 


III. 


Wir werden ohne Zweifel noch erleben, daß Caroline als Heldin 
irgend eines ſchlechten Romanes misbraucht wird. Sie ſelbſt hat es 
erlebt, daß ſie Gegenſtand eines ſchlechten Dramas wurde. 

Daſſelbe führt den Titel: „Die Mainzer Klubbiſten zu König⸗ 
ſtein. Ein tragi⸗komiſches Schauſpiel in einem Aufzuge.“ 1793. 
o. O. 32 Seiten klein Octav. 

Schon das Perſonenverzeichniß gibt eine genügende Vorſtellung 
des albernen Products. Es lautet wörtlich: 

Bürgerin Böhmer, eine viel verſprechende und wenig 16075 
Wittwe. 

Bürgerin Forkel, Taglöhnerin bei der engliſchen Ueberſeter⸗ Fabrik 
des Bürger und Mainzer Nationalkonvents Deputirten, Forſter. 

Bürgerin Eßbeck, ehemal von Adel, nun Vorleſerin im Klub. 

Bürgerin Wehdekind, Mutter des großen Erzbürgers Wehdekind. 

Bürgerin Wehdekind, Frau des Erzbürgers. 

Aloyſius Franziskus Xaverius Ignatius Loyola Blau, Profeſſor 
der demokratiſchen Dogmatik zu Mainz. 

Arnſperger, zügelloſer Kaplan zu Kaſſel, Farren zu Bingen 
(vergl. S. 30, wo Reit zu ihm ſagt: „Zum Farren, nicht zum 
Pfarrer hätte man dich in Bingen machen ſollen“). 

Scheuer, Polizeikommiſſar und Proklamationsreuter in Mainz. 

Reit, Duodezgelehrter aus Mainz. 

Arand, der gelehrteſte Pfarrer im erſten Maine ai, 


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Caroline. 371 


Nackenheim, Regens und Weinhändler im Seminare, Pfarrer zu 
Kriſtoph, Doctor baccal. Biblic. Stultiss. formatus et bombasti- 
e wirklicher Weihbiſchof, Erzbiſchof in petto. 5 

Der Commandant von a e 

Wache. 

Die Erfindung iſt höchſt ärmlich Die zu Königstein eingeker⸗ 
kerten Klubbiſten erhalten durch den Commandanten die Erlaubniß, 
ſich in ſeinem Zimmer zu einem Thee zu verſammeln, wie ſie es bei 
Forſter gewohnt waren. Da halten ſie ſich gegenſeitig ihre alten 
Sünden vor, bis es dem Commandanten zu arg wird und er fie 
durch die Wache abführen läßt. 

Der erſte Auftritt ſpielt im Zimmer der Bürgerin Böhmer. 
Für die Scandalſüchtigen ohne Ausbeute, lehrt vielmehr auch dieſe 
Darſtellung noch, die natürlich von einem wüthenden Gegner her⸗ 
rührt, daß Caroline als die bedeutendſte Frau des revolutionären 


Kreiſes neben Thereſe Forſter galt. Sie wird von dem Verfaſſer 


immer mit verhältnißmäßiger Achtung behandelt. Selbſt in dieſer 
ſchlechten Satire bleibt ſie ſchwungvoll, nur in ihrem Munde iſt revo⸗ 
lutionäres Pathos. 

Von der wahrhaft fürchterlichen Lage, in der ſie ſich damals 
befand, war im großen Publicum, wie man deutlich ſieht, nichts be- 
kannt. Denn der Verfaſſer, deſſen Cynismus in der Polemik nichts 
zu wünſchen übrig läßt, hätte ſich ein ſo dankbares Thema nicht ent⸗ 
gehen laſſen. 

Die ſchärfſten Vorwürfe, welche er Carolinen zu machen hat, 
legt er ihrer Mainzer Hausgenoſſin, der Frau Forkel in den Mund. 
Sie ſoll Forſtern gegen ſeine Frau, nach deren Abreiſe, verhetzt haben: 
„Deine Abſicht war aber, Forſtern in dein Netz zu verwickeln, ihn 
zu deinem Manne zu machen, mit ihm, der ſchon lange nichts an— 
deres träumte und den vielleicht dieſer Plan allein zum Demokraten 


machen konnte, als Deputirten des Mainzer Nationalconventes (fo) 


nach Paris zu ziehen, dort und in Mainz die bedeutende, große, ge— 
lehrte Dame zu ſpielen und —“ 

Hier wird Frau Forkel von der Bürgerin Böhmer unterbrochen: 
„Lange genug habe ich mit der möglichſten Faſſung deine Beleidi— 


gungen angehört. Hätte ich je eine Schwachheit für Forſtern gehabt, 
24 


372 Caroline. 


ſo war mirs zu verzeihen; — ich bin Wittwe und frei von jeder 
Verbindung“ u. ſ. w. 8 

Hierauf wird ſie von der Bürgerin Forkel als ein „verlogenes, 
ehrſüchtiges, falſches, gottloſes Geſchöpf“ bezeichnet, „deſſen Demo⸗ 
kratie höchſt unrein iſt, denn nur der Hochmuth machte dich dazu, 
und hätten ſich die Adelichen nur ein wenig mit dir abgegeben, es 
wäre dir nicht eingefallen, zu dieſer Fahne zu ſchwören.“ 

Ueber Thereſe ſagt die Bürgerin Böhmer: „Sie war es, welche 
Forſtern, der Anfangs zu gutmüthig und ſchwach vor den franzöſi⸗ 
ſiſchen Mordthaten und folglich vor der Capitulation ſelbſt zurück⸗ 
bebte, mit ihrem Feuer elektriſirte, und ſo entſtand aus einer gering⸗ 
fügigen Urſache das Größte, das Nützlichſte was Menſchen thun 
können: demokratiſche Proſelytenmacherei.“ | 

Man ſieht, es ift nichts daraus zu lernen. Der Verfaſſer ift 
ſo ungeſchickt, daß er die Perſonen in der craſſeſten Weiſe aus ihrer 
Rolle fallen läßt. Wie weit ſonſt das Pamphlet etwa dazu dienen 
kann, die traurige Geſchichte der Mainzer Verwirrungen zu beleuchten, 
das mögen Andere unterſuchen, wenn es der Mühe werth iſt. 


Friedrich Schleiermacher. 


I. 


Man darf behaupten, daß die meiſten großen Männer ſich vor- 
genommen haben es zu werden; daß ihnen von früh auf, wenn auch 
in dunklen Umriſſen, das erhabene Ziel vorſchwebte, deſſen Erreichung 
nachher das Reſultat ihres Lebens war. 

Alexander der Große berauſchte ſich an den Helden Homers, 
ihnen wollte er ähnlich werden. Friedrich der Große geſtand höchſt 
unbefangen ein, daß er aus Ehrgeiz, aus Bedürfniß ſich hervorzu⸗ 
thun, den ſchleſiſchen Krieg begonnen. In Leſſing lag ein ſtarkes 
Element der Ruhmſucht, in ſeiner Jugend verzehrte ihn eine Zeit lang 
die heftigſte Eiferſucht auf Klopſtock. Ja in der ganzen deutſchen 
Litteratur des vorigen Jahrhunderts ſpielt der Wetteifer mit den 
Fremden, der heftige Wunſch, es den vorgeſchritteneren Franzoſen 
und Engländern gleichzuthun, die größte Rolle als bewegendes Mo⸗ 
ment. Man hat ein unbeſtimmtes Bewußtſein von innerer Kraft 
und Stärke. Die einſtige Nationalgröße wirkt nach. Phraſen, wie 
die verbreitete von der „uralten deutſchen Heldenſprache“, ſpuken in 
den Köpfen. Man will ſich emporarbeiten aus dem Zuſtande gei⸗ 
ſtiger Zurückſetzung, dem man unter den civiliſirten Völkern Europas 
verfallen war. Die Neuberin ſchreibt an Gottſched, daß ſie in allen 
ihren Beſtrebungen ſtets nur „auf den rühmlichſten und beſten Nutzen 
der geſammten deutſchen Geſellſchaft denke“. Und dem Publicum er⸗ 
klärt ſie: 


374 Friedrich Schleiermacher. 


Bedenkt: mein Vorſatz war, das ſag' ich öffentlich, 
Daß unſerm deutſchen Reich kein Vorzug ſollt' gebrechen. 


Und darum verſuchte ſie die Reform der Schauſpielkunſt. Mit ſol⸗ 
chem bewußten Streben ging man an den Unterbau unſerer Littera⸗ 
tur, und in Denen, die das Werk krönten, war das Bewußtſein 
wahrlich nicht geringer. 

Das deutſche Volk hat im achtzehnten Jahrhundert eine große 
Litteratur errungen, weil es ſie erringen wollte. Gerade wie es 
im neunzehnten Jahrhundert ſeine politiſche Einheit erringt, weil es 
ſie erringen will. 

Die kühne That iſt die Tochter des bewußten Entſchluſſes. 
Wenn man das ſo hinſtellt, ſcheint es trivial, und doch wird in den 
weltgeſchichtlichen Entwickelungen dieſe treibende Kraft oft überſehen. 
Man führt die Ereigniſſe manchmal vor, als ob das Glück ſeine 
Günſtlinge im Schlaf damit überraſchte. Namentlich in der Cultur⸗ 
geſchichte ſcheinen mitunter die 5 wie Pflanzen aufzu⸗ 
wachſen. 

Jenes bewußte Streben ganzer Nice ſammelt ſich in dem 
Einzelnen als Ehrgeiz, Ruhmſucht, Thatenluſt an. Aber dieſes 
Phänomen iſt kein ausſchließlich giltiges. Es kommt vor, daß der 
Nationalgeiſt ſeine Organe gleichſam wider ihren Willen an 10 Tage⸗ 
werk heranzwingen muß. 5 

Zu dieſen ſeltenen Naturen gehörte Schleiermacher. Beim 
Durchleſen ſeines Briefwechſels“) iſt mir nichts fo aufgefallen, wie die 
merkwürdige Abweſenheit des Verlangens nach einer Wirkſamkeit ins 
Große. 

Dieſer Schriftſteller, deſſen gedruckte Werke Tauſende von Bogen 
füllen, bekennt, daß es ihm eine höchſt unangenehme Empfindung 


mache, etwas von ſich gedruckt zu ſehen. Er könne feine. Zeit beſſen 


brauchen, als um etwas zu ſchreiben. Bücherſchreiben iſt ihm „nur 
ein widerliches Treiben ohne Leben, ohne Anſchauung, ohne Nutzen. 
Das Predigen — fährt er fort — iſt wol etwas mehr, aber nach 
der gegenwärtigen Einrichtung doch auch wenig genug.“ i 

Ein 8 ein g ein eee der das Predigen 


*) Aus Schleiermachers Leben in Briefen. 4 Bände. Berlin 1860 —1863. 


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Friedrich Schleiermacher. 375 


gering anſchlägt und die ſchriftſtelleriſche Wirkſamkeit noch geringer! 
Was will er in der Welt, wenn er das Predigen und das Schreiben 
verſchmäht? 

„Schleiermacher iſt eine e Beichtvaternatur, “ ſagte ein witziger 
Freund. Die Bezeichnung trifft ſcharf, aber zu ſcharf, wenn man 
an die hiſtoriſche Erſcheinung des Beichtvaters denkt, die ſo viel Ge⸗ 
häſſiges und Unheilvolles mit ſich führt. Aber in einem höhern 
Sinne kann man das Wort vielleicht gebrauchen; in dieſem Sinne 
hat es mit dem Charakter des Erziehers die entſchiedenſte Verwandt⸗ 
ſchaft. Und Schleiermacher ſelbſt würde nichts dagegen einwenden, 
wenn man ihn eine Erziehernatur nennen wollte. „Es ſcheint mir 
— ſchreibt er — die unnachläßlichſte Pflicht eines jeden Menſchen 
zu ſein, Andere zu erziehen, es mögen nun Alte ſein oder Kinder, 
eigene oder fremde.“ Er fühlt in ſich eine überlegene Ruhe und 
Sicherheit, mit der er den Wirrniſſen und Verwicklungen ſeines 
Freundeskreiſes ordnend und klärend gegenüberſteht. Darum iſt es 
ſeine eingeſtandene Luſt, „ſich in Vieles einzumiſchen, an Vielem theil⸗ 
zunehmen und in vielerlei Verbindungen mit Menſchen zu leben“. 

Sein Element iſt die Geſelligkeit, nicht der rauſchende Verkehr 
mit vielen Leuten zugleich, ſondern der Verkehr von Menſch zu Menſch, 
von Seele zu Seele; nicht die Region äußeren Geltenwollens, ſon⸗ 
dern des Austauſches innerer Werthe; nicht der glänzende Salon, 
ſondern das ſtille Plauderſtübchen. 

„Eigentlich gibt es doch keinen größern Gegenſtand des Wirtens 
als das Gemüth;“ mit dieſen Worten bezeichnet er klar die Provinz, 
in der er zu herrſchen wünſcht. Das Verborgene einer ſolchen Wir⸗ 
kung iſt ihr größter Reiz. Er ſtellt ſie wie ein heiliges Geheimniß 
entgegen jener „Thätigkeit der Außenwelt, die ſo durchaus nur Mittel 
iſt, wo der Werth in dem allgemeinen Mechanismus ſich verliert, 
von der ſo wenig bis zum eigentlichen Zweck und Ziel alles Thuns 
hin gedeiht und immer tauſendmal fo viel unterwegs verloren geht“. 

Man verſteht es, wie eine ſo geartete Perſönlichkeit ſich immer 
genauer an Frauen anſchließen mußte, als an Männer. Die Blüte 
des Verkehrs, „das zarte Gefühl und den feinen Sinn für die lieb⸗ 
lichen Kleinigkeiten des Lebens und für die feinen Aeußerungen ſchö— 
ner Geſinnungen, die oft in kleinen Dingen unwillkürlich das ganze 


376 Friedrich Schleiermacher. 


Gemüth enthüllen“, Alles dies konnte er nur bei edlen Frauen in 
ſeiner Vollendung finden. 

Er braucht die Geſelligkeit. Sie iſt ſeine Heimat. Er 600 
Heimweh danach, wo ſie ihm fehlt. Stumpfſinn kommt über ihn, 
wenn er iſolirt iſt. Ohne Freund, ohne herzliches Geſpräch, ohne 
Wechſel zwiſchen Arbeit und geſelligem Genuß gibt es für ihn kein 
Leben. Das ſind die Stunden, in denen er „nichts iſt“, wie er 
ſich ausdrückt. Er fällt zuſammen, wenn es ihm an der wahren 
und einzigen Nahrung ſeines Geiſtes fehlt. „Wahrlich — ſchreibt 
er aus ſolcher Einſamkeit — ich bin das allerabhängigſte und un⸗ 
ſelbſtändigſte Weſen auf der Erde, ich zweifle ſogar, ob ich ein In⸗ 
dividuum bin. Ich ſtrecke alle meine Wurzeln und Blätter aus nach 
Liebe, ich muß ſie unmittelbar berühren, und wenn ich ſie nicht in 
vollen Zügen in mich ſchlürfen kann, bin ich gleich trocken und welk. 
Das iſt meine innerſte Natur, es gibt kein Mittel dagegen und ich 
möchte auch keines.“ 

So ſpricht Schleiermacher über ſein eigenes Weſen, und er iſt 
ein eifriger, gründlicher, ſcharfſichtiger Beobachter ſeiner ſelbſt. Er 
hat den Kern ſeiner Anlage ohne Zweifel richtig erfaßt. Trotzdem 
— was iſt die Frucht dieſer Anlage und was iſt das Reſultat dieſes 
Lebens, das aufgehen zu wollen ſcheint in dem ſtillen unſcheinbaren 
Weben des Gemüthes? 

Als Schleiermacher ſtarb, hatte er eine ſo großartige Wirkſam⸗ 
keit nach außen hinter ſich, wie ſie nur wenigen Menſchen unſeres 
Jahrhunderts zu Theil geworden iſt. Er war bei ſeinem Tode viel⸗ 
leicht der angeſehenſte und einflußreichſte Mann der proteſtantiſchen 
Kirche. Er war das Haupt einer ausgebreiteten theologiſchen Schule, 
die noch heute in Kraft ſteht. Er war das Haupt einer zahlreichen 
Gemeinde, die von nah und fern ihm ihre Verehrung entgegenbrachte. 
Er ſtand als Univerſitätslehrer wie als Kanzelredner gleich hoch. Er 
hatte an der Aufraffung des deutſchen Staates den hervorragendſten 
Antheil. Er hat das Feuer, das die Napoleoniſche Herrſchaft in 
Deutſchland verzehrte, redlich geſchürt. Er kämpfte für eine freiere 
Verfaſſung der proteſtantiſchen Kirche. Er war der mächtigſte ſchrift⸗ 
ſtelleriſche Vertreter der Union. Er ſtand im preußiſchen Agendeſtreite 
Mann gegen Monn dem Könige Friedrich Wilhelm dem Dritten ſelbſt 


Friedrich Schleiermacher. 377 


gegenüber. Iſt das nicht ein reiches Leben, aber reich gerade an 
äußeren Thaten, reich an dem was er in ſeiner Jugend ſo ſtolz ver⸗ 
ſchmäht hatte, um allein in der Welt des Gemüthes ſeine Wohnung 
aufzuſchlagen? 

Wie war das gekommen? Woher ein ſolcher Gegenſatz zwiſchen 
Anlage und Ausführung? Was hat ihn vertrieben aus den ſtillen 
Regionen, in denen er ſich ſo heimiſch fühlte? Was hat ihn hinaus⸗ 
gedrängt in das Gewühl, in den Kampf, auf den Schauplatz der 
Außenwelt? 

Im Allgemeinen iſt die Antwort leicht gegeben. Eine bedeutende 
Individualität iſt wie eine gewaltige Naturkraft. Welche Feſſeln man 
ihr anlegen mag, ſie zerbricht ſie und ſtürmt heraus. Auch Schleier⸗ 
machers Scheu vor dem äußeren Leben iſt nur ſo eine Feſſel, wenn 
auch eine Feſſel, welche die Natur ſich ſelber angelegt hat. Das 
Gemüthsleben, das er preiſt, iſt ein religiöſes. Er ſpricht es aus: 
„Religion war der mütterliche Leib, in deſſen heiligem Dunkel mein 
junges Leben genährt und auf die ihm noch verſchloſſene Welt vor- 
bereitet wurde; in ihr athmete mein Geiſt, ehe er noch ſeine äußeren 
Gegenſtände, Erfahrung und Wiſſenſchaft gefunden hatte; ſie half 
mir, als ich anfing den väterlichen Glauben zu ſichten und das Herz 
zu reinigen von dem Schutte der Vorwelt; ſie blieb mir, als Gott 
und Unſterblichkeit dem zweifelnden Auge verſchwanden; ſie leitete mich 
ins thätige Leben; ſie hat mich gelehrt, mich ſelbſt mit meinen Tugen⸗ 
den und Fehlern in meinem ungetheilten Daſein heilig zu halten, und 
nur durch ſie habe ich Freundſchaft und Liebe gelernt.“ 

Religion war der Gegenſtand, in den er ſich am gründlichſten 
vertiefte, dem er den größten Ernſt widmete, mit dem er ſo lange 
rang, bis er ihn bewältigt zu haben glaubte. Von Religion war 
ſein Herz voll. Es quoll über. 

Dieſer Religiöſe ſtand einer irreligiöſen Zeit gegenüber. Er 
wollte ſie bekehren. Es ging ihm wie den großen Religionsſtiftern. 
Zuerſt ringen ſie in der Einſamkeit, bis ſie die Wahrheit, bis ſie das 
Heil gefunden zu haben glauben. Dann drängt es ſie, der übrigen 
Menſchheit dieſen Segen zuzuführen. 

Einem ſolchen Drange unterlag auch Schleiermacher, als er die 
„Reden über die Religion“ ſchrieb. Damit war die Feſſel geſprengt. 


378 Friedrich Schleiermacher. 


Seine Natur ſtellte ihre Eigenthümlichkeit mit dem Anſpruch auf Gel⸗ 
tung vor die Welt. Er mußte für dieſe Geltung kämpfend eintreten. 
Die praktiſche Thätigkeit im möglichſten Umfang war ihm fortan 
Pflicht. Der Beichtvater war Prieſter und Prophet geworden. Er 
mußte erziehen im Großen. Der Nationalgeiſt hatte ihn an ſein 
Tagewerk herangezwungen. 

So, wie geſagt, läßt ſich die Perſönlichkeit Schleiermachers im 
Allgemeinen, in den Umriſſen anſehen. Wer Aufſchluß darüber ver⸗ 
langt, wie ſich im Einzelnen der eigenthümliche Inhalt ſeiner Indi⸗ 
vidualität geſtaltete, den verweiſe ich auf Diltheys Buch, deſſen erſter 
Band die Entwickelungsgeſchichte Schleiermachers enthält, deſſen zweiter 
Band ſein philoſophiſches und theologiſches 1 und ſeine äußere 
Wirkſamkeit darſtellen wird.“ 

Diltheys „Leben Schleiermachers“ ift eine ganz hervorragende 
Leiſtung. Alle Bedingungen, um ein ausgezeichnetes Werk zu ſchaffen, 
ſind hier zuſammengetroffen. 

Nicht leicht hat ein geiſtiger Heros ſo viel von der verborgenen 
Arbeit ſeiner Seele zu Papier gebracht in Tagebüchern, Briefen, 
Entwürfen, Aufzeichnungen aller Art, wie Schleiermacher. Faſt 
Alles aber was Schleiermacher aufzeichnete, ſo wie Alles was durch 
ſchriftlichen Verkehr von Aufzeichnungen Anderer bei ihm einlief, iſt 
bewahrt geblieben. Und Alles was bewahrt blieb hat Dilthey "be: 
nutzen dürfen. Es iſt alſo ein ganz coloſſales Material in ſeinem 
Buche verarbeitet. 

Weit höher aber ſchlage ich das an, was dem Verfaſſer en 
gegeben wurde, ſondern was er ſelbſt zur Behandlung feines Gegen- 
ſtandes mitbrachte. 

Alle Probleme, welche Schleiermacher beſchäftigten, hat Dilthey 
ſelbſtändig durchdacht. Alle Philoſophen, Theologen, Dichter, welche 
neben und vor Schleiermacher dieſelben oder ähnliche Probleme be⸗ 
handelten, hat Dilthey ſtudirt. 

Und der Vortheil, der ihm hieraus erwuchs, iſt ein doppelter. 

Der eine wird ſchon im vorliegenden Bande ſichtbar, der andere muß 


„) W. Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. I. Berlin 1870. 


* 
: 
4 


—.. . 
n 


Friedrich Schleiermacher. 379 


ſich erſt im zweiten Bande zeigen. Der vorliegende Band ſucht 
Schleiermacher zu erklären, der zweite muß ihn kritiſiren. 

Schleiermacher erklären heißt: Sein Denken und Empfinden auf 
große Gedanken und Empfindungsrichtungen vor ihm und neben ihm 
zurückführen. Es heißt nachweiſen, wie ſeine Eigenthümlichkeit durch 
das Allgemeine bedingt iſt, wie ſeine Individualität durch den Gang 
der Geſchichte gefordert und geſchaffen wurde. Es heißt zeigen, was 
alt iſt an Schleiermacher und was neu, worin er fortſetzt und worin 
er anfängt, was er aufnimmt und was er producirt, worin er ab⸗ 
hängig iſt und worin originell, und wie die Originalität oft nur in der 
neuen Combination, in der Zuſammenfaſſung gegebener Richtungen 
beſteht. ö 

Alle die großen Culturrichtungen, welche Schleiermacher beherr⸗ 
ſchen, welche Schleiermacher erzeugen, hat der Verfaſſer exact erforſcht. 
Und er ſtellt ſie dar — nicht wie ſie ihm erſcheinen, ſondern wie ſie 
den Zeitgenoſſen erſchienen. Alle die Perſönlichkeiten um Schleier⸗ 
macher her, welche jene Richtungen repräſentiren, hat er ſich ver⸗ 
gegenwärtigt und anſchauliche Porträte von ihnen entworfen. So 
entrollt er das erhebende Schauspiel gewaltiger, gegen und mit ein⸗ 
ander arbeitender Kräfte, aus deren gährendem Durcheinanderwogen 
ſich neues Leben geſtaltet. N 

Aber dieſe Darſtellung bedarf einer Ergänzung. Der Verfaſſer 
muß den Werth der Schleiermacher'ſchen Lebens- und Weltanſicht feſt⸗ 
ſtellen. Und er muß noch weiter gehen: er muß den Werth der all⸗ 
gemeinen Culturrichtungen feſtſtellen, aus denen fie hervorging. Er. 
muß ſie meſſen an der Bedeutung, die ſie für unſer geiſtiges Leben 
bewährten, er muß ſie meſſen an unſeren heutigen Ueberzeugungen, 
an ſeinen eigenen Gedanken über die höchſten Probleme. 

Das iſt es, was wir vom zweiten Band erwarten, wenn der 
großartige Plan, der dem Verfaſſer vorſchwebt, ausgeführt werden 
ſoll. Er will nicht erzählen blos, ſondern überzeugen. „Er möchte, 
daß vor der Seele des Leſers, wenn er dies Buch ſchließt, das Bild 
eines großen Daſeins ſtehe, aber zugleich ein Zuſammenhang bleiben⸗ 
der Ideen, ſtreng begründet, eingreifend in die wiſſenſchaftliche Arbeit 
und das handelnde Leben der Gegenwart.“ | 5 


380 Friedrich Schleiermacher. 


. 


„Ueber die Religion, Reden an die Gebildeten unter ihren Ver⸗ 
ächtern“ — unter dieſem Titel erſchien in Berlin 1799 das erſte 
größere Werk Schleiermachers, das ihn zuerſt berühmt machte und 
an das man immer zuerſt denken wird, wenn der Name Schleier⸗ 
macher genannt wird. Das Buch ſteht wie ein Wegweiſer da, der 
aus der Religionsauffaſſung des achtzehnten Jahrhunderts in die des 
neunzehnten hinüberdeutet. In gewiſſem Sinne überragt es alle ſpä⸗ 
teren theologiſchen Schriften Schleiermachers, insbeſondere die be⸗ 
rühmte und vielbewunderte „Glaubenslehre“. Die Reden ſtehen in 
einem unbefangeneren Verhältniß zu den Reſultaten der exacten Wiſſen⸗ 
ſchaft als die Glaubenslehre. In die Reden könnte man ſich das 
Leben Jeſu von Strauß eingeſchaltet denken, ohne daß ihr weſent⸗ 
licher Inhalt irgend alterirt würde; die Glaubenslehre ſtellt ſich mit 
ihrer Chriſtologie, mit ihrem eben ſo urbildlichen als geſchichtlichen, 
ihrem abſolut irrthumsloſen und ſündloſen Erlöſer der modernen kri⸗ 
tiſchen Forſchung in unverſöhnlichem Widerſtreit entgegen. 

Eine Lehre, in deren Conſequenz es liegt, die höchſte Stufe des 
thieriſchen Lebens, welche im Menſchen erreicht wird, mittels der Vor⸗ 
ſtellung einer noch höheren Stufe, einer einmaligen übermenſchlichen 
Erſcheinung zu durchbrechen — eine ſolche Lehre wird die heutige 
Wiſſenſchaft nicht befriedigen können, welche in dem ausnahmsloſen 
Verhältniß von Urſache und Wirkung ein unantaſtbares Heiligthum 
erblickt. Aber die „Reden“ ſind von den eben geſchilderten Elementen 
einer theologiſch ſtrengeren Auffaſſung noch ziemlich frei. Nur wenn 
ihr Verfaſſer eine Umprägung theologiſcher Begriffe vornimmt und 
Worten, wie „Wunder, Offenbarung, Eingebung, Weiſſagung, Gna⸗ 
denwirkung“ einen unverfänglichen Sinn unterſchiebt, den ſie nach 
dem Sprachgebrauch niemals gehabt haben, ſo übt er bereits jene 
Methode, welche ihm in der „Glaubenslehre“ geſtattet, ſich äußerlich 
merkwürdig genau an die hergebrachten Lehrſätze des kirchlichen Sy⸗ 
ſtems anzuſchließen und ihnen dabei innerlich eine ganz neue Bedeu⸗ 
tung beizumeſſen. 

Der Hauptinhalt der „Reden“ hat jedoch hiemit wenig zu thun. 


Friedrich Schleiermacher. 381 


Sie entwickeln eine Anſicht über das Weſen der Religion, welche ſo 
intereſſant, ſo tiefgreifend und dem Standpuncte der Gegenwart in 
vielen Stücken ſo nahe iſt, daß eine Auseinanderſetzung damit auch 
heute noch lohnt. 

Schleiermacher weiſt der Religion ein beſonderes, ihr ganz allein 
eigenes Gebiet der menſchlichen Seele an, unabhängig von der Meta⸗ 
phyſik, unabhängig von der Moral. 

Unabhängig von der Metaphyſik: denn er ſtand auf den 
Schultern Kants, er bewegte ſich auf dem Boden der Kritik der 
reinen Vernunft, er durchſchaute die Unzulänglichkeit aller Beweiſe 
vom Daſein Gottes und von der Unſterblichkeit. Den Begriff Gottes 
erſetzt er durch den in der Regel ganz unperſönlich gefaßten des Uni⸗ 
verſums. Von der Unſterblichkeit macht er keinen Gebrauch, ja er 
bezeichnet die Sehnſucht nach ewiger individueller Fortdauer als ir⸗ 
religibs. Der wahrhaft religiöſe Menſch ſehnt ſich vielmehr danach, 
aufzugehen im Univerſum. | 

Unabhängig von der Moral: dieſer Punct ift ſchwerer zu 
faſſen, vielleicht aber darf man an uralte Vorſtellungen dabei an⸗ 
knüpfen. 

Das Mittelalter unterſchied zwei große Lebensrichtungen: die 
vita activa und vita contemplativa, das thätige und das beſchau⸗ 
liche Leben. Es war unvermeidlich, dieſe Sphären einander entgegen⸗ 
zuſetzen und gegeneinander abzuwägen, wobei ſtets die Contemplation 
vor der Activität den Vorzug erhielt. Mußte man doch im Mönche 
den Repräſentanten des beſchaulichen, im ritterlichen Kriegsmann den 
Repräſentanten des thätigen Lebens erblicken. 

Eine ähnliche Unterſcheidung ſchwebt Schleiermacher vor, nur 
daß er natürlich Thätigkeit und Beſchaulichkeit im weiteſten Sinne 
nimmt. Das thätige Leben weiſt er ausſchließlich der Moral zu; 
das, was man im Mittelalter vita contemplativa nannte, entſpricht 
ungefähr der Schleiermacher ſchen Religion. Als einen Typus des 
echt religiöſen Lebens feiert er Spinoza. 

Ausſchließlich der Religion weiſt er die Gefühle der Ehrfurcht, 
Demuth, Liebe, Dankbarkeit, des Mitleids und der Reue zu: kurz 
Alles was die Alten als Frömmigkeit zuſammenfaßten und ebenfalls 
unmittelbar auf die Religion bezogen. 


382 Friedrich Schleiermacher. 
5 

Alle dieſe Gefühle aber glaubt er aus der Betrachtung des 
Univerſums (Spinozas cognitio Dei intuitiva) ableiten zu dürfen. 
Er ſchildert des Nähern, was er unter dieſer Betrachtung oder „An⸗ 
ſchauung“, wie er es nennt, verſteht. Er meint jene Totalanſchauung 
des Univerſums, welche ſchon Herder in den „Ideen“ auf ähnliche 
Weiſe entwickelt hatte. Er meint eine Betrachtung der äußeren Na⸗ 
tur, welche nicht bei der Pracht der Erſcheinung, nicht bei der Ver⸗ 
ſenkung in die ungeheuren Maſſen, Zahlen und Größen ſtehen bleibt, 
ſondern die Geſetze ins Auge faßt. „Erhebt Euch zu dem Blick, 
wie dieſe Alles umfaſſen, das Größte und das Kleinſte, die Welt⸗ 
ſyſteme und das Stäubchen welches unſtät in der Luft umherflattert, 
und dann ſagt, ob Ihr nicht anſchaut die göttliche Einheit und die 
ewige Unwandelbarkeit der Welt.“ 

Er meint eine Betrachtung des geiſtigen Lebens, welche aus 
allen Individuen zuſammengenommen ſich die vollkommene Anſchau⸗ 
ung der Menſchheit verſchafft, der Menſchheit als eines organiſirten 
Ganzen, worin die einzelne Perſönlichkeit nur ein verſchwindender 
Theil iſt, worin ein unaufhaltſamer Fortſchritt ſtattfindet, worin das 
Rohe, das Barbariſche, das Unförmliche immer mehr verſchlungen 
und in organische Bildung umgewandelt wird. Blinder Inſtinct, ge- 
dankenloſe Gewöhnung, todter Gehorſam, alles Träge und Paſſive 
ſoll vernichtet werden. „Dahin deutet das Geſchäft des Augenblicks 
und der Jahrhunderte, das iſt das große, immer Fort AP Er⸗ 
löſungswerk der ewigen Liebe.“ 

Aber die Menſchheit verhält ſich zum Univerſum, wie die ein⸗ 
zelnen Menſchen zu ihr. Die Menſchheit iſt nur eine einzelne Form 
des Univerſums. Darum ſtrebt die Ahnung über ſie hinaus ins 
Unendliche. 

Man ſieht, daß das Univerſum der Houptbegriff iſt in Schleier⸗ 
machers Religionsanſicht. In der Betrachtung des Univerſums durch⸗ 
dringt uns Ehrfurcht; demüthig fühlen wir unſere Kleinheit; wir 
lieben unſere Brüder als daſſelbe was wir ſind, als Darſtellungen 
der Menſchheit; wir ſind Denen dankbar, welche aus Religioſität — 
„als ſolche, die ſich mit dem Ganzen ſchon geeinigt haben und ſich 
ihres Lebens in demſelben bewußt ſind“ — uns in unſerem Daſein 
und Streben fördern; wir bemitleiden die Egoiſten, die ſich in ihr 


e e. 


Friedrich Schleiermacher. a 383 


Ich verſchanzen; wir bereuen Alles in uns was dem Genius der 


Menſchheit feind iſt. 
So fließt aus der Betrachtung des Univerſums die „Frömmig⸗ 


keit“ oder — warum ſollen wir es nicht nennen, wie das achtzehnte 


Jahrhundert es zu nennen pflegte, wie es Herder verkündigte? 4 
die Menſchlichkeit, die Humanität. 

Die Religion 1 iſt Anſchauung und Gefühl des 
Univerſums. 

Schleiermacher aber geht noch einen Schritt weiter. Er be⸗ 
hauptet, es helfe nichts, alle dieſe Anſchauungen und Gefühle ſich zu 
vergegenwärtigen, ſie vollkommen zu verſtehen, ſie zu haben im klar⸗ 
ſten Bewußtſein; um wahrhaft religiös zu ſein, um als Ausfluß 
einer wirklich religiöſen Natur gelten zu dürfen, müſſen ſie in dem 
Menſchen urſprünglich eins und ungetrennt geweſen ſein, er muß 
Momente in ſich erlebt haben, in welchen keines dieſer Gefühle und 
Anſchauungen ihm gegenwärtig war, worin aber eine Empfindung 
über ihn kam, welche ſie alle enthielt. 

Und Schleiermacher beſchreibt einen ſolchen Moment mit allem 
Aufwand ſprachlicher Mittel, die ihm zu Gebote ſtanden. Die Er. 
iſt bekannt, aber hier unentbehrlich. 

„Könnte und dürfte ich ihn doch ausſprechen — jenen Augenblic 
— andeuten wenigſtens, ohne ihn zu entheiligen! Flüchtig iſt er und 
durchſichtig wie der erſte Duft, womit der Thau die erwachten Blu⸗ 
men anhaucht, ſchamhaft und zart wie ein jungfräulicher Kuß, heilig 
und fruchtbar wie eine bräutliche Umarmung; ja nicht wie dies, 
ſondern er iſt alles dies ſelbſt. Schnell und zauberiſch entwickelt 
ſich eine Erſcheinung, eine Begebenheit zu einem Bilde des Univer⸗ 
ſums. So wie fie ſich formt, die geliebte und immer geſuchte Ge— 
ſtalt, flieht ihr meine Seele entgegen, ich umfange ſie nicht wie einen 
Schatten, ſondern wie das heilige Weſen ſelbſt. Ich liege am Buſen 
der unendlichen Welt, ich bin in dieſem Augenblick ihre Seele, denn 
ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben wie mein eigenes, 
ſie iſt in dieſem Augenblicke mein Leib, denn ich durchdringe ihre 
Muskeln und ihre Glieder wie meine eigenen und ihre innerſten Ner⸗ 
ven bewegen ſich nach meinem Sinn und meiner Ahnung wie die 
meinigen. Die geringſte Erſchütterung — und es verweht die heilige 


384 Friedrich Schleiermacher. 


Umarmung und nun erſt ſteht die Anſchauung vor mir als ab⸗ 
geſonderte Geſtalt, ich meſſe ſie und ſie ſpiegelt ſich in der offenen 
Seele wie das Bild der ſich entwindenden Geliebten in dem aufge⸗ 
ſchlagenen Auge des Jünglings und nun erſt arbeitet ſich das Ge⸗ 
fühl aus dem Innern empor und verbreitet ſich wie die Röthe der 
Scham und der Luſt auf ſeiner Wange. 

„Dieſer Moment iſt die höchſte Blüte der Religion. Könnte ich 
ihn Euch ſchaffen, ſo wäre ich ein Gott — das heilige Schickſal ver⸗ 
zeihe mir nur, daß ich mehr als eleuſiſche Myſterien habe aufdecken 
müſſen. Er iſt die Geburtsſtunde alles Lebendigen in der Religion.“ 

So weit Schleiermacher. Er ſchildert mit dieſen Worten zu⸗ 
nächſt ein ganz ſubjectives pſychologiſches Phänomen, das ſich auch 
ſehr wohl erklären läßt. 

Die ſtärkſten religiöſen Impulſe hat Schleiermacher in der Ge⸗ 
meinde der Herrnhuter bekommen. Die herrnhutiſche Religion war 
ſozuſagen eine genießende, eine ſchwelgeriſche Religion. Die Herrn⸗ 
huter ſchwelgten in der Betrachtung des Oſterlammes und ſeiner 
Wunden. Die Aeußerung ihrer Gefühle bewegte ſich dabei zum Theil 
in Formen, welche ſchon dem Mittelalter geläufig waren und wodurch 
die Seele als Braut Gottes dargeſtellt wurde. Eben dieſe Auffaſſung 
finden wir hier bei Schleiermacher. Mit Recht ſagt Julian Schmidt: 
„Die Zärtlichkeit des Redners für das Univerſum hat immer etwas 
von der Zärtlichkeit des Herrnhuters für Jeſus.“ 

Die perſönliche innere Erfahrung Schleiermachers wird alſo wohl 
klar ſein. Die Gefühle ſeiner gläubig religiöſen Zeit gegenüber einem 
Gegenſtande, den ſeine Phantaſie mit aller erdenklichen Vollkommen⸗ 
heit ausſtattete, waren ihm geblieben, als jener Gegenſtand ſelbſt ihm 
durch ernſte, wiſſenſchaftliche Arbeit nach langen ſchweren Kämpfen 
verloren ging. Ein neuer Gegenſtand der Verehrung bot ſich ihm 
dar im Univerſum, auf ihn übertrug er die alten Gefühle. Nicht 
ohne Schaden für die Auffaſſung des Gegenſtandes. Man kann 
nichts lieben, was keine Perſon iſt. So läuft es denn ohne mytho⸗ 
logiſche Perſonification auch in den Reden nicht ganz ab. Manchmal 
erſcheint der Weltgeiſt oder das Göttliche, das Allmächtige ſtatt des 
Univerſums. 

Welcher Art aber thatſächlich jene Gefühle waren, die er ſich 


Friedrich Schleiermacher. 385 


durch bloße Arbeit der Phantaſie ſo perſönlich färbte, das verräth er 
deutlich, wenn er das unendliche Chaos des Sternenhimmels als das 
ſchicklichſte und höchſte Sinnbild der Religion bezeichnet. Jene Ge⸗ 


fühle waren äſthetiſcher Natur. Das Gefühl des Erhabenen 


überkam ihn im Anſchauen des Univerſums. Dieſes brachte die Stim⸗ 
mung der Ehrfurcht und Demuth über ihn. 

War es nun richtig, eine ſo ganz perſönliche Empfindung für 
das Weſen der Religion überhaupt zu erklären? 

Ganz gewiß nicht. Die hiſtoriſche Forſchung widerſpricht ent⸗ 
ſchieden. | 

Die älteſten Religionen find ohne Metaphyſik, will jagen ohne 
Mythologie, gar nicht zu denken. Theils ſtammen die Mythen aus 
bloßen poetiſchen Aus drücken, deren urſprünglicher Sinn in ſpäteren 
Sprachepochen verloren ging. Sie ſtellen ſich dann als eine Art 
Allegorie dar. Ich will ein Beiſpiel geben. Was kann einfacher 
klingen als folgender Satz: „Odin ſenkte den Blick in den Born der 
Erinnerung, um daraus Weisheit zu ſchöpfen.“ Die altnordiſche 
Mythologie hat aus dem Born der Erinnerung einen wirklichen 
Brunnen gemacht, den ein Rieſe „Erinnerung“ (Mimir) hütet und 
worin Weisheit und Verſtand verborgen ſind. Dahin kommt Odin 
und verlangt einen Trunk, erhält ihn aber nicht eher, als bis er ſein 
eines Auge zum Pfande ſetzt, d. h. in die Weisheitsquelle verſenkt. 

Theils muß man die Mythen als Anfänge der Phyſik be⸗ 
trachten. Der Menſch ſucht ſich die Naturphänomene zu erklären, 
indem er menſchliches Thun als ihre Urſache vorausſetzt. Er 
hört Lärm und Gepolter in den oberen Luftregionen. Das erweckt 
ihm die Erinnerung an Getöſe und Schreien bei menſchlichen Kämpfen. 
Alſo ſchließt er: da oben wird auch gekämpft, da ſchlagen ſich die 
Leute. Er dichtet eine Schlacht und ergänzt die aus menſchlichen 
Kämpfen bekannten Motive dazu. Die betheiligten Perſonen nimmt 
er aus der unmittelbaren Anſchauung. Er ſieht dunkle Wolken, er 
ſieht den hellen Himmel davon umdüſtert und dann wieder hell. Er 
perſonificirt die Wolken und perſonificirt den Himmel. Er träumt 
von einer Schlacht, welche der Himmelsgott den Wolkendämonen ſieg⸗ 
reich geliefert hat. Und das Gewitter iſt für ihn erklärt. 


Die gewaltigen entfeſſelten Naturkräfte aber fürchtet er in ihrer 
Scherer, Vorträge. 25 


386 Friedrich Schleiermacher. 


unwiderſtehlichen Macht. Er ſucht ihnen beizukommen in ſeiner Weiſe, 
durch Zauberei, durch Opfer, durch Gebet. Das Alles iſt nichts 
Anderes als verſchiedene Mittel, um die Kräfte der Natur in ſeinen 
Dienſt zu zwingen. 

Die ſtolze Formel „Beherrſchung der Natur zu menſchlichen 
Zwecken“ gilt nicht blos für unſere erleuchteten Zeiten. Was wir 
mit Eiſenbahnen und Telegraphen thatſächlich erreichen, das 
glaubte der Naturmenſch durch Zauberei, Opfer, Gebet zu erlangen. 
Wie jene Gewittermythen zu unſerer Kenntniß von Dampf und 
Elektricität, ſo verhalten ſich Zauberei, Opfer, Gebet zu unſerer heu⸗ 
tigen Mechanik. 

Jene urweltliche Mechanik iſt auch heute noch nicht ausgeſtorben, 
ſelbſt auf den Höhen der Civiliſation. Aber verträgt ſie ſich mit dem 
gegenwärtigen Stande der exacten Wiſſenſchaft? 

Wenn nicht, ſo iſt auch bewieſen, daß Schleiermacher vollkommen 
recht hatte, die Metaphyſik, die Fragen nach Gott und Unſterblichkeit 
gänzlich auszuſcheiden aus der Religion. Schleiermacher irrte, wenn 
er ſein ſubjectives Religionsgefühl für das Weſen der Religion über⸗ 
haupt nahm. Die älteſten Religionen ſind ganz anders entſtanden, 
ihr Weſen iſt ein anderes: rohe Vorſtellungen von Naturkräften, 
rohe Verſuche, dieſelben dem Menſchen unterthänig zu machen; roh 
in ihrem Urſprung, wenn auch vielfach verfeinert und verflüchtigt in 
ihrer weiteren Entwicklung; darum aber nicht minder Abkömmlinge 
jener uralten Zeit. 

Eben deßhalb mußten alle ſolche Vorſtellungen ausgeſchieden 
werden, wenn von Religion überhaupt noch geredet werden ſollte. 
Die Religion mußte unabhängig von ihnen daſtehen, wenn ſie mit 
der modernen Wiſſenſchaft ſich überhaupt noch vertragen ſollte. 

Was aber Schleiermacher an die Stelle des Verworfenen ſetzen 
will, kann ſchwerlich in dem Bewußtſein eines heutigen Menſchen ſich 
befeſtigen. Was ſoll uns das Gefühl der Erhebung in der Be— 
trachtung des Univerſums? Die Tugenden, welche Schleiermacher 
daraus ableitet, haben zum Theil gewiß ganz andere Quellen. 

Und darum werden wir die Scheidung von der Sittlichkeit kaum 
zugeben können, ohne den allgemeinen und wohlbegründeten Ae 
gebrauch zu verletzen. 


a a ah 


Friedrich Schleiermacher. 387 


Die religiöſen Gefühle ſollen nach Schleiermacher nur wie eine 
heilige Muſik alles Thun des Menſchen begleiten; er ſoll Alles mit 
Religion thun, nichts aus Religion; die religiöſen Gefühle ſollen 
ihn vor der Einſeitigkeit bewahren, welche das handelnde Leben ver— 
langt. Dieſe begleitende Verſenkung ins Univerſum iſt im Grund 
nichts Anderes als was wir Bildung zu nennen pflegen. Jene Ge- 
fühle der „Frömmigkeit“ aber, Liebe, Mitleid, Dankbarkeit u. ſ. w. 
erkennen wir am ſicherſten aus den ſittlichen Handlungen, in denen 
die Ehrfurcht vor dem Ganzen den Egoismus des Einzelnen bändigt. 
Und in dem „Ganzen“ werden wir nicht ſofort das Univerſum, ſon⸗ 
dern zunächſt die realen ſittlichen Gemeinſamkeiten: Familie, Staat, 
Nation, Menſchheit erblicken müſſen. 

Es gibt viele Abſtufungen des Guten. 

Es gibt ein Gutes, das aus Furcht vor der Strafe des Staates 
entſpringt. | 

Es gibt ein Gutes, das aus Furcht vor der öffentlichen Mei⸗ 
nung oder vor deren Spiegelbild, dem individuellen Gewiſſen ent⸗ 
ſpringt. Ä 

Es gibt ein Gutes, das aus Ehrgeiz entſpringt, der Alles für 
ſich aufrufen und ſich dienſtbar machen will was die Menſchen für 
hoch und trefflich halten. Das iſt eine Mechanik des Geiſtes, welche 
die idealen Kräfte der Menſchheit zu individuellen Zwecken verwerthet. 

Es gibt endlich ein Gutes aus Liebe zum Guten, welches die 
edelſten Geiſter als das einzige wahrhaft Gute verherrlicht haben. 

Nur dieſe Spitze der Sittlichkeit, wenn überhaupt etwas, wollen 
wir Religion nennen. Sie entſteht nicht ohne ein äſthetiſches Ele— 
ment der Bewunderung für die Tugenden, welche die Dichter be— 
ſingen, welche die Kunſt verewigt. Aber ihr Hauptbegriff iſt der 
Glaube. Wie viel er auch durch die Einſicht in den bisherigen 
Gang der Geſchichte genährt werden mag, wie ſehr es auch eine 
hiſtoriſche Wahrſcheinlichkeitsrechnung geben mag, die uns manchmal 
den Ereigniſſen vorausblicken und das Kommende ahnen läßt: die 
ſtarke, lebendige, unerſchütterliche Ueberzeugung des Glaubens iſt über 
alles Wiſſen, über alle Erfahrung, über alle Ahnung hinaus. Und 
dieſer Glaube treibt mehr als irgend etwas Anderes zum Handeln. 


Wofür werdet ihr eure ganze Kraft einſetzen, als woran ihr glaubt? 
25 * 


388 Friedrich Schleiermacher. 


Willſt du dich aufopfern für einen Zweck, an deſſen ſchließliche Ver⸗ 
wirklichung du nicht glaubſt? Wirſt du einem Staate mit Begeiſte⸗ 
rung dein Leben weihen, der dir verfault ſcheint und reif zur Auf⸗ 
löſung? Wirſt du dich einer Wiſſenſchaft, einer Kunſt hingeben, deren 
Schöpfungen dir gleichgiltig vorkommen für die Erweiterung menſch⸗ 
lichen Erkennens und menſchlichen Empfindens? Du wirſt vielmehr 
nur dann Großes erreichen, wenn dir die innere Weihe nicht fehlt, 
und damit begnadigt dich allein der Glaube. 

Aber die Religion iſt nicht blos, wo es ſich um die allgemeinen 
und höchſten Angelegenheiten der Menſchheit handelt. Die Religion 
iſt überall, wo ſelbſtloſe Liebe, Treue, Hingebung, Opferwilligkeit er⸗ 
ſcheint: in der Freundſchaft, in der Ehe, in jedem menſchlichen Ver⸗ 
hältniß, worin der Egoismus ſich nicht blos widerwillig beugt, ſon⸗ 
dern gleichſam aufgezehrt und vernichtet iſt durch eine höhere Gewalt. 

Nur allerdings, woran die beſeligende Macht des Glaubens ſich 
in unſerer Zeit am herrlichſten enthüllt, das ſind die Begriffe Vater⸗ 
land, Nation und Staat. Darum iſt das Deutſchland des neun⸗ 
zehnten Jahrhunderts um ſo viel frömmer als das Deutſchland des 
achtzehnten, weil dieſe Begriffe eine ſolche niegekannte Macht in ihm 
gewonnen haben. | 

Daß Schleiermacher ein Religionsbegeiſterter, ein Glaubensheld 
auch in unſerem Sinne war, dafür möge hier nur ein einziges Zeug⸗ 
niß ſtehen. 

Es iſt der Schluß der Reden über die Religion in der zweiten, 
1806 nach Deutſchlands tiefem Fall erſchienenen und ſchon etwas 
mehr ſpecifiſch chriſtlich gefärbten Auflage. 

„Deutſchland iſt immer noch da, und ſeine unſichtbare 
Kraft iſt ungeſchwächt, und zu ſeinem Beruf wird es ſich wieder ein⸗ 
ſtellen mit nicht geahnter Gewalt, würdig ſeiner alten Heroen und 
ſeiner vielgeprieſenen Stammeskraft ... Hier habt ihr ein Zeichen, 
wenn ihr eines bedürft, und wenn dies Wunder geſchieht, dann werdet 
ihr vielleicht glauben wollen an die lebendige Macht der Religion und 
des Chriſtenthums. Aber ſelig ſind die, durch welche es geſchieht, 
die, welche nicht ſehen und doch glauben.“ 


Wien, im Auguſt 1870. 


Otto Ludwigs Shakſpeareſtudien. 


Aus dem Nachlaſſe des Dichters, herausgegeben von Moriz Heydrich. 
Leipzig. Cnobloch, 1872. 


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Otto Ludwigs Shakſpeareſtudien ſind eines der merkwürdigſten 
und lehrreichſten Bücher, die man leſen kann. Ihre Form iſt frei⸗ 
lich nicht die anziehendſte. Künſtliche Mittel des Styles werden nicht 
in Bewegung geſetzt, durch welche ſich ein träger Leſer, der nur halb 
bei der Sache iſt, gefeſſelt fühlen könnte. Immer um denſelben 
Gegenſtand dreht ſich Alles, der wird um und um gewendet, in neue 
Beleuchtung gerückt, erſt aus der Ferne, dann immer näher betrachtet, 
bald fallen gelaſſen, bald wieder vorgenommen, erſt die Umriſſe und 
das Ganze, dann die kleinſten Einzelnheiten mit unnachlaſſender 
Vertiefung. Es iſt kein fertiges Buch, Otto Ludwig ſelbſt würde 
es nie ſo herausgegeben haben. Es ſind nur Vorbereitungen zu 
einem Buche, eine Reihe einzelner werthvoller Erkenntniſſe, die Lud⸗ 
wig in ſeine Studienhefte eintrug wie ſie ihm kamen, ohne Syſtem, 
ohne zum voraus geregelte Ordnung. Der Herausgeber konnte in 
der Mittheilung derſelben kaum anders verfahren als er verfahren 
iſt. Nur war es beſſer, anſtatt der weitſchweifigen und wenig be⸗ 
lehrenden Einleitung ein orientirendes Regiſter beizugeben, wonach 
man raſch überſehen konnte, an welchen verſchiedenen Stellen Ludwig 
über denſelben Gegenſtand gehandelt hat. 

Eben darum aber, weil es kein leicht zu genießendes Buch iſt, 
ſcheint es Pflicht der Kritik, recht nachdrücklich darauf hinzuweiſen 
und offen zu erklären, daß der deutſchen Litteratur hiermit ein Werk 
geſchenkt iſt, worauf ſie alle Urſache hat ſtolz zu ſein. Wer ſich 


390 | Otto Ludwigs Shakſpeareſtudien. 


nur durch unbequeme Aeußerlichkeiten nicht abſchrecken läßt und herz⸗ 
haft in die harte Schale beißt, dem wird der Geſchmack des ſüßen 
Kernes nicht entgehen. 

Wir ſtellen das Buch in eine Reihe mit Laubes Schriften über 
das Burgtheater und das norddeutſche Theater und mit Freytags 
Technik des Dramas. 

Alle dieſe Werke tragen die Signatur unſerer ſogenannten un⸗ 
philoſophiſchen Zeit, und es iſt ein wahrer Genuß, ſie neben das 
dünne Raiſonnement etwa von E. v. Hartmanns „Aphorismen über 
das Drama“ zu halten. Die Schönheitsmetaphyſik, die Deductionen 
aus dem Begriffe des Tragiſchen, die flachen Eintheilungen in große 
todte Behälter anſtatt der lebendigen Mannigfaltigkeit der Geſchichte, 
das Operiren mit höchſt ſublimirten Abſtractionen, die von der Welt 
der Thatſachen kaum mehr einen ſchwachen Geruch an ſich tragen — 
kurz, der ganze alte Adam deutſcher Philoſophie iſt hier gründlich 
abgethan. Praktiſche Ziele werden ins Auge gefaßt. | 

Schauſpielkunſt iſt Menſchendarſtellung, und die dramatiſche 
Poeſie liefert das Material, woran dieſe Menſchendarſtellung ſich 
entfalten kann. Bühnendramen, nicht Leſedramen! — darin möchte 
heute wol alle Welt einig ſein. 

Die Bühne und ihre Bedürfniſſe wechſeln. Das Publicum 
ändert ſich, ſein Geſchmack, ſeine Stimmung, ſeine äſthetiſche und 
moraliſche Geſinnung, ſeine Gedanken und Gefühle erfahren Wand⸗ 
lungen je nach Zeit und Ort. Das deutſche Publicum iſt kein ein⸗ 
heitliches und es kann überall nur bis zu einem gewiſſen Grade er⸗ 
zogen, von ſeiner natürlichen Richtung weggezogen werden. 

Andererſeits ändert ſich auch das Holz, aus welchem Schau⸗ 
ſpieler geſchnitzt werden. Jede Zeit, jede Generation liefert nur eine 
beſchränkte Anzahl von moraliſchen Typen. Auf einigen mehr be⸗ 
günſtigten Gebieten bilden ſich neue heraus, auf anderen kehren kaum 
die alten wieder. Gewiſſe Seiten des Charakters ſtellen ſich in er⸗ 
höhter Mannigfaltigkeit, in reicherer Gliederung dar, andere verarmen. 
Demgemäß ändert ſich auch das Quantitätsverhältniß, in welchem für 
die eine oder andere Charakterſeite auf hervorragende ſchauſpieleriſche 
Repräſentanten zu rechnen iſt. Dieſer Zweig ſtirbt ab, jener treibt 
neue Sproſſen. b 


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Otto Ludwigs Shakſpeareſtudien. i 391 


Eine dramatiſche Production, welche mit ihrer Zeit Fühlung be⸗ 
hält und mit den gegebenen Factoren rechnet, wird auf alle ſolche 
Dinge Rückſicht nehmen. Und hierüber find Laubes Bücher voll Be- 
lehrung und Aufſchluß. Inſoferne ergänzen ſie Freytag und O. Lud⸗ 
wig, welche die dramatiſche Technik mehr aus idealer Ferne, ohne 
den ſpeciellen Hinblick auf die irdiſchen Mühen der Inſcenirung und 
des Repertoires, der Erziehung des Publicums und der Schauſpieler 
behandeln. 

Freytags „Technik des Dramas“ zeigt eine feine und geſchmack— 
volle, auf vielfältige Erfahrung gegründete Reflexion. Aber er will 
zunächſt nur aus der bisherigen Praxis heraus einige praktiſche Winke 
und Rathſchläge geben. Es fehlt daher jene kühne Einſeitigkeit, mit 
der man Bahn bricht. Es fehlt jene Fruchtbarkeit der Geſichtspuncte, 
welche nach allen Seiten hin ungeahnte neue Ausſichten eröffnet. 

Otto Ludwig leiſtet das Alles in hohem Maße. Er war ein 
vorzugsweiſe energiſcher Geiſt. Mit gewaltigem Ernſte geht er den 
Sachen zu Leibe. Bewunderungswürdig dieſe Fähigkeit der Selbſt⸗ 
kritik, dieſe Entſchloſſenheit ſich einzugeſtehen: ich war auf falſchem 
Wege, ich habe im Nebel getappt, ich muß von vorne anfangen, ich 
muß das Handwerk meiner Kunſt erſt nochmals lernen und die Prin- 
eipien des Schaffens mühſam aus den großen Muſtern abſtrahiren; 
hiermit muß ich erſt im Reinen ſein, ehe ich neuerdings producire. 
— „Endlich nun öffne ich mir die Thüre des Kunſttempels, zu deſſen 
Dache ich hineinſtieg,“ ruft er aus, ſowie ihm die Grundſätze klarer 
werden. Die höchſten und werthvollſten Seiten des deutſchen Volks— 
charakters fanden ſich in Ludwig zuſammen: der hingebende Ernſt 
und der unbeſtechliche Wahrheitsſinn. 

Schon ſeit dem erſten Aufblühen des Dramas im ſechzehnten 
Jahrhundert gehen zwei Compoſitionsformen neben einander her: eine 
loſe, freiere Manier, die mit dramatiſirten Hiſtorien anhebt, und eine 
mehr geſchloſſene Compoſition nach dem Muſter der Antike. Jene 
empfängt in den großen Zeiten der engliſchen, dieſe in den großen 
Zeiten der franzöſiſchen Bühne ihre entſcheidende Ausbildung. In 
Deutſchland herrſcht weder die eine noch die andere unbedingt. Kaum 
hat ſich im vorigen Jahrhundert das franzöſiſche Muſter recht durch— 
geſetzt und Nacheiferung geweckt, ſo machte Leſſing die folgenſchwere 


392 Otto Ludwigs Shakſpeareſtudien. 


Entdeckung, daß die engliſche Bühne uns näher liege, weil die Natio⸗ 
nalgeiſter enger verwandt ſeien. Seitdem liefern ſich die Schatten 
Corneilles und Shakſpeares auf deutſchem Boden ihre Schlachten. 

War es nöthig, ſich ſo völlig auf die engliſche Seite zu ſchlagen, 
wie es Otto Ludwig that? Muß man Shakſpeare gleich einem Gott 
verehren und liegt nur in ihm das Heil? 

Jedenfalls darf zunächſt die Wiſſenſchaft ſich glücklich ſchätzen, 
daß Otto Ludwig ſo fühlte. Ohne ſolchen Glauben an Shakſpeare 
keine ſolche Vertiefung in Shakſpeare; ohne dieſe Vertiefung keine 
Reſultate wie ſie uns jetzt dargeboten werden, kein ſolcher Einblick 
in die Werkſtatt, in die intimſten Geheimniſſe dramatiſcher Technik. 
„Sein Urtheil befreit nur, wer ſich willig ergeben hat,“ ſagte ein 
großer Philologe. Otto Ludwig hat den Proceß der Läuterung an 
Shakſpeare für viele Andere mit durchgemacht. 

Aber objectiv genommen möchten wir nicht Shakſpeare als den 
erſten und letzten Glaubensartikel des Dramatikers ſo rückhaltslos 
hinſtellen, wie es Ludwig thun zu müſſen meinte. Die vollberechtigte 
Forderung, daß die Handlung und ihr Verlauf ſich mit Nothwendig⸗ 
keit aus den Charakteren ergeben und Zufälle ausſchließen müſſe — 
iſt unabhängig von dem Style der Durchführung. Von dieſer Seite 
ſteht es uns ebenſowohl frei mit der Kataſtrophe anzufangen, wie 
mit dem Beginne der Verwicklung. Strenge Motivirung iſt bei der 
feſtgehaltenen Einheit der Zeit und des Ortes eben ſo möglich, wie 
bei dem freieſten Schalten mit Zeit und Raum. 

Hierfür ſcheint es nur Eine vernünftige Regel zu geben: die 
einem Dichter zunächſt liegende, ſich ſeiner Phantaſie mit Nothwen⸗ 
digkeit aufdrängende Auffaſſung des Stoffes muß die Compoſitions⸗ 
form beſtimmen. 


Unſere Zeit hat einmal mit der gebundenen Styltradition ge⸗ 


brochen, ſie muß frei wählen. Sie hat ſich davon entwöhnt, es 
hilft nichts, ſie neuerdings binden zu wollen an eine doch auch nur 
gewählte Form. Der Dramatiker mag ſich aus inneren Gründen, 
je nach der Natur des Gegenſtandes für die eine oder für die andere 
Compoſitionsform entſcheiden, ſo gut wie wir im Kirchenbau lieber 
nach der Gothik, im Palaſtbau lieber nach der Renaiſſance greifen. 
Aber die Strenge des inneren Zuſammenhanges, die folgerichtige 


e 


Otto Ludwigs Shakſpeareſtudien. 393 


Motivirung müſſen wir freilich nach dem Muſter Shakſpeares fordern. 
Jedes richtig gebaute Drama iſt ein in Scene geſetztes Plaidoyer für 
die Unfreiheit des menſchlichen Willens, für ſeine Abhängigkeit von 
dem gewordenen Charakter. 

Da ſtoßen wir indeſſen gleich auf einen weiteren bedenklichen 
Punct. a 

Otto Ludwig wendet ſich wiederholt gegen die moderne Art zu 
motiviren, die er hauptſächlich auf Schiller zurückführt. Es ſcheint 
ihm, daß ſchwächliche Humanitätsbegriffe, daß ein Beſchönigungs⸗ 
und Abſchwächungsſyſtem um ſich greife, das ſeiner männlichen Natur 
widerſtrebt. Er meint, der neuere Dichter mache ſich zum Anwalt 
der unterliegenden Partei. Er ſchiebe die Schuld von dem Ange⸗ 
klagten auf die Situation, auf die Zeit, auf den Richter ſelbſt. „Im 
Helden fällt nun nicht ein Schuldiger, ſondern ein Opfer der mate⸗ 
riell mächtigeren Gegenpartei; ſein Ausgang iſt nicht die Folge ſeiner 
Schuld, ſondern das Loos des Schönen auf der Erde.“ 

Auch hier ſcheint uns Ludwig zu ſchroff gegen unſere Zeit, zu 
ausſchließlich einer vergangenen zugeneigt. Nicht blos das Drama, ſon⸗ 
dern die Poeſie im Allgemeinen, und nicht blos die Poeſie, ſondern 
auch die Geiſteswiſſenſchaft hat ein Intereſſe an dem Probleme der 
Motivirung und iſt fortwährend bemüht es zu löſen. Eines kann 
nicht vom Anderen getrennt werden. Die Methode, die auf dem 
einen Gebiete herrſcht, wirkt unwillkürlich auf die anderen hinüber. 
Und der Einfluß der Wiſſenſchaft in dieſer Hinſicht iſt wohl größer 
als man gemeiniglich annimmt. 

Wir find nun ſtufenweiſe dahin gekommen, den handelnden Ein- 
zelnen immer mehr zu entlaſten, den Einfluß, den die allgemeinen 
Geiſtesmächte auf ihn üben, immer genauer zu berechnen und immer 
höher anzuſchlagen. Es kann nicht fehlen, daß ſolche wiſſenſchaftliche 
Anſchauungen auch die dichteriſche Motivirung erfaſſen und umge⸗ 
ſtalten. ö f 

Ja, wir ſelbſt ſind anders geworden, unſer Wollen und Empfin⸗ 
den unterliegt anderen Geſetzen als in früherer Zeit. Wir ſind ſo 
zahm, vernünftig und ſittſam. Wir wiſſen fo trefflich zu entſagen, 
mit heiterer Stirn Opfer zu bringen und mit Anſtand uns in Un⸗ 
vermeidliches zu ſchicken. Das Herz bricht uns, ohne daß wir eine 


394 Otto Ludwigs Shakſpeareſtudien. 


Miene verziehen. Haß, Eiferſucht, Zorn, Rachſucht und ähnliche 
wilde Leidenſchaften treten nur mit Maulkörben auf. Und wo einſt 
Gift und Dolch in Bewegung geſetzt wurden, da find wir mit Nadel- 
ſtichen zufrieden. Die zunehmende Bildung ſchwächt das ſtarke egoi⸗ 
ſtiſche Begehren. Der Reſpect vor dem Allgemeinen, vor dem Ge— 
ſetze und der öffentlichen Meinung iſt größer als je. Der Einzelne 
räumt den Umſtänden gern einige Bedeutung ein, er liebt es, für 
ſeine Entſchlüſſe einen gewiſſen Spielraum zu behalten und den Zu- 
fall auch mit entſcheiden zu laſſen. Wir Alle führen gerne den 
mythologiſchen Begriff des Schickſals im Munde; Männer von ſehr 
feſtem Willen empfinden ſich als Werkzeuge einer höheren Leitung, 
man zieht vor, als Pflicht aufzufaſſen, was im Grunde innerſte 
Neigung iſt. Wir haben große Staatsmänner ohne perſönliches 
Machtverlangen, und der gewaltige Menſch, der das alte Europa aus 
ſeinen Angeln gehoben hat, ſagt beſcheiden: Fert unda nee regitur. 
Freilich, wenn die Uebermacht des Allgemeinen uns ſchwächt, ſo 
ſtärkt ſie uns auch andererſeits. Haben wir uns einer Idee gefangen 
gegeben, jo iſt fie es, die in uns wirkt, uns hebt, unſere Kraft ver⸗ 
zehnfacht, unſeren Willen hart wie Stahl macht. 

Aufzuhalten iſt dieſe Umwandlung nicht, wenn man auch ein— 
mal die Geduld dabei verlieren mag, wie Otto Ludwig. Und wo die 
wirklichen Menſchen anders werden, da können die Menſchen der 
Dichtung nicht zurückbleiben. | 

Wenn ich hierin Ludwig entgegentrete, jo will ich aber damit 
nicht ſagen, daß alle harten Worte, die er gegen Schiller geſprochen 
hat, ungerecht ſeien. Dieſelben beſchränken ſich keineswegs auf den 
Einen ſoeben geltend gemachten Geſichtspunet. Hier möge man nach— 
prüfen und gerecht abwägen. Daß Ludwig ſich durch ſeine ſtrenge 
Kritik an Schiller verſündigt habe, darf Niemand behaupten. Man 
muß ihn beurtheilen nach ſeinen eigenen Worten: „Habe ich Manches 
nicht gebilligt was der Nation heilig geworden iſt, ſo kann ich mich 
nur mit der Gewiſſenhaftigkeit meines Strebens rechtfertigen; ich 
habe auch meine eigenen Wünſche und Vorurtheile für nichts ge— 
achtet.“ Seine Kritik iſt nicht gegen den Dichter Schiller als ſolchen 
gerichtet, ſondern gegen den Dramatiker. Es kann etwas an ſich 
ſehr ſchön und poetiſch ſein, was innerhalb einer beſtimmten Gattung 


Otto Ludwigs Shakſpeareſtudien. 395 


Tadel verdient. Der allgemeine poetiſche Gehalt kann die drama⸗ 
tiſche Form geradezu ſprengen. Ludwigs Ausführungen über Schiller 
ſind nun namentlich dadurch ſehr fruchtbar, daß ſie auffordern, die 
Geneſis von Schillers dramatiſcher Technik näher zu unterſuchen, den 
Muſtern, den Styltraditionen nachzuſpüren, die ihn geleitet und die 
dann durch eigene äſthetiſche Theorie und moraliſche Anſchauung modi⸗ 
ficirt wurden. ö 

Uoeberhaupt, für die hiſtoriſche Forſchung iſt das Buch voll An⸗ 
regung. Auch für die Behandlung Shakſpeares ſelbſt wird es ohne 
Zweifel neuen Anſtoß geben. Es wäre ein ſchlechtes Zeichen für die 
deutſche Shakſpeareforſchung, wenn fie ſich nicht raſch Ludwigs Ge⸗ 
ſichtspuncte zu eigen machte und die von ihm begonnenen Unter⸗ 
ſuchungen fortführte. Ludwigs Beobachtungen ſind oft lange nicht 
umfaſſend genug. Ihm kommt es immer in erſter Linie auf Regeln 
für die Production an. Die Frage nach dem Urſprunge von Shak⸗ 
ſpeares Technik iſt nirgends aufgeworfen, geſchweige denn beantwortet. 

Wenn z. B. Shakſpeare dem Dialoge Spannung verleiht, in⸗ 
dem er eine Mittheilung, welche erfolgen ſoll, durch Ungeſchick oder 
Aufregung oder Befangenheit des Erzählers lange nicht zum Bor: 
ſchein kommen läßt, ſondern weite Umwege wählt, um die Ungeduld 
des Hörers zu erregen: ſo habe ich dieſes Mittel, mit bewußter 
Kunſt angewendet, auch bei einem Zeitgenoſſen Shakſpeares, dem 
Straßburger Dramatiker Kaspar Brülow, gefunden. Brülow hat 
nur lateiniſch gedichtet, und ein älterer lateiniſcher Dichter des jech- 
zehnten Jahrhunderts, der Holländer Cornelius Schonäus, bedient 
ſich deſſelben Kunſtgriffes. Woher hat ihn Shakſpeare? 

Aber noch nach einer anderen Seite hin können Otto Ludwigs 
Studien, wenngleich nur andeutungsweiſe, zur Nachfolge reizen. 
Wiederholt begegnet uns bei ihm der Verſuch, complicirtere äſthetiſche 
Erſcheinungen auf ein Urphänomen zurückzuführen. Und dieſe Re— 
duction iſt unerläßlich, ſoll eine pſychologiſche Erklärung gelingen, 
welche nur an letzte Analyſen anknüpfen und das einfachſte Phänomen 
als Object nehmen kann. 

Otto Ludwigs nachgelaſſenes Werk iſt ein neuer Beweis, daß 
wir endlich ruhig in die Straße wieder einlenken, welche Ariſtoteles 
gezeigt und Leſſing nach ihm betreten. Die deductive Methode iſt 


396 Otto Ludwigs Shakſpeareſtudien. 


überall in Mißeredit gekommen. Wir fühlen uns wieder heimiſch auf 
dem Boden der Erfahrung, und erſt durch die Generaliſation von 
Beobachtungen glauben wir zu allgemeinen Wahrheiten aufſteigen zu 
können. Eindringende Erforſchung der vorliegenden Muſter — an⸗ 
ders können äſthetiſche Theorien nicht gewonnen werden. Anders 
können wir auch zu einer Kunſtlehre des Dramas nicht gelangen, als 
indem wir die techniſchen Eigenthümlichkeiten der Dramen aller Zei⸗ 
ten und Völker umfaſſend ſammeln, ordnen, gegenſeitig an einander 
meſſen und in ihrem Verhältniſſe zu den jeweiligen Forderungen der 
Bühne erforſchen. 

Ich habe nur eine ſchwache Andeutung von dem reichen Inhalte 
des Otto Ludwig'ſchen Buches gegeben. Man fühlt ſich eben überall 
aufgelegt, mit einem ſo ernſten Geiſte, ſei es bedingt beiſtimmend, 
ſei es bekämpfend, zu discutiren. Und darüber verſäumt man, was 
vielleicht wichtiger wäre, ihn ſelbſt häufiger zum Worte kommen zu 
laſſen. 


Wien, 4. April 1872. 


Moderne Legenden. 
Sieben Legenden. Von Gottfried Keller. Stuttgart, Göſchen. 1872. 


Gottfried Keller hat lange geſchwiegen. Seine „Leute von Selv- 
wyla“ ſind 1856, ſein „Grüner Heinrich“ ſchon 1854 erſchienen. 
Seinem Ruhm und ſeiner Kunſt hat die lange Pauſe nicht geſchadet. 
Der Vollgehalt echter Poeſie, wie in „Romeo und Julie auf dem 
Dorfe“, kann keinen brillanten plötzlichen Erfolg haben, aber immer 
größer und größer wird der Kreis ſeiner Verehrer. Manche andere 
Geſchichte der „Leute von Seldwyla“ in ihrem eigenartigen carikiren⸗ 
den Humor wird nur langſam Freunde finden, etwa wie die Poeſie 
der Lalenburger, des Finkenritters, des Schelmuffsky oder mancher 
anderen altdeutſchen humoriſtiſchen Geſchichte, dem an gepfefferte Koſt 
gewöhnten Geſchlechte der Gegenwart nicht mehr recht munden mag. 

Auch der „Grüne Heinrich“ machte in der Stille feinen Weg. 
Auch dies kein Buch für die Menge; mehr eine ernſte Charakter⸗ 
ſtudie als ein leicht lesbarer Unterhaltungsroman; ein Buch voll 
Verſenkung in die geheimſten Falten eines träumeriſchen Gemüthes. 
Man lieſt und lieſt und lieſt ſich hinein und wird gefangen von der 
ſeltſamen Welt und iſt voll Bedenken und ſelbſt Widerſtreben und 
lieſt doch weiter und kann nicht aufhören, etwa wie man vor einem 
vielfächerigen alten Schubkaſten voll vergilbter Papiere und halbver⸗ 
moderter Briefe und Stammbücher und intimer Aufzeichnungen ge— 
wöhnlicher und ungewöhnlicher Menſchen ſitzt und wühlt und wühlt 
und eine ganze verſunkene Gemüthswelt nach und nach vor ſich auf— 
ſteigen läßt. i 


398 Moderne Legenden. 


Ganz eigenartig und merkwürdig und wieder nicht auf große 
durchſchlagende Wirkungen berechnet ſind auch Gottfried Kellers ge— 
wiß nur wenigen bekannte Gedichte. Mir ſelbſt ſind nur die „neuen 
Gedichte“ (Braunſchweig 1854) einmal in die Hände gefallen. 

Die Natur kryſtalliſirt ſich zu neuen Mythologien darin, in der 
reichen duftigen Welt ſiedelt ſich die Liebe an in tauſendfältiger Ge⸗ 
ſtalt, holde Mädchengeſtalten ſehen wir ziehen, aus den edlen Reben 
ſteigen lebendige Geiſter auf und der Humor fährt bald lächelnd, bald 
grinſend dazwiſchen. Der Taugenichts kommt zu ſeinem Recht, nicht 
der ideale Eichendorffs, ſondern der leibhaftige zerlumpte Betteljung. 
Aus dunklen Waldſeen tauchen weiße Feenleiber empor und über dem 
grünen bunten Thal ſtehen wie alte graue Berge die ernſten walten⸗ 
den Gedanken, die das Höchſte und Tiefſte im Menſchen bewegen, 
entſchloſſene radicale Anſchauungen über Politik und Religion, das 
Denken und Fühlen eines ganzen modernen lebenswarmen Menſchen 
und eines ganzen Poeten. Zu den trüben unerklärlichen Wallungen 
des Herzens findet er die Naturſtimmung, zur Naturſtimmung die 
lebendige Geſtalt. Ueberall dichtet er mehr für die Phantaſie als für 
die Empfindung. Selten ein Ton, der uns ganz durchſchauert, wie 
junger Wein glühend durch die Adern rollt. Eine betrachtende Stim⸗ 
. mung bleibt herrſchend. Keine Phraſe, keine triviale rhetoriſche Floskel. 
Feſte Bilder, beſtimmte Situation; originell gedacht, originell aus⸗ 
geführt; Alles feſt und anſchaulich, klar umriſſen, nicht traumhaft im 
Nebel ſchwankend, und doch bei aller Gegenſtändlichkeit und Linien⸗ 
beſtimmtheit voll Geſang und Melodie. Meiſter Brahms, der ſeine 
Texte ſo trefflich zu wählen weiß und manchem ſcheinbar gedanken⸗ 
ſchweren Liede ſchon das Muſikaliſche abgelauſcht und manches ver⸗ 


geſſene gerettet hat, könnte, dünkt mich, in Kellers Gedichten mehr 


als Eine Perle finden, würdig in das Gold ſeiner Melodien gefaßt 
zu werden. 

Es iſt immer derſelbe Gottfried Keller und doch in neuer höchſt 
unerwarteter Geſtalt, der uns nun die „ſieben Legenden“ darbietet. 

„Legenden? — wird man vielleicht verwundert oder gar entrüſtet 
fragen — Legenden von einem modernen Dichter? Von einem Frei⸗ 
geiſt und Republikaner? Was wollen die? Spotten, läſtern, blas⸗ 
phemiren, das Heilige verhöhnen?“ 


Moderne Legenden. 399 


Ich will nicht behaupten, daß es ganz ohne Spott dabei ablaufe. 


Ein ſo durch und durch humoriſtiſcher Menſch wie Keller thut es 


nicht ohne einige Schelmerei. Ja es iſt möglich, daß dieſe für ihn 
den Hauptreiz dabei ausgemacht hat. Aber es bleibt immer ein gut⸗ 


müthiger Scherz mit dem Heiligen, wie er ſich in naiven Zeiten, im 


Mittelalter, bei Hans Sachs unzählige Male findet, und wie am 
meiſten ein recht moderner Menſch ihn mit Behagen nachfühlen kann, 
der frei betrachtend über dieſen Dingen ſchwebt, gerade wie er etwa 
die griechiſchen Götter mit einiger Ironie behandeln und doch an 
ihrem idealen Weſen, wie eine erhabene Kunſt es ausgeprägt hat, 
ſich erbauen mag. Und ſoll dem echten Humor, nicht dem leicht⸗ 
fertigen Spaß, ſein Gebiet beſchränkt werden und ängſtlicher beſchränkt 
als es in den gläubigſten Zeiten war? 

Keller ſelbſt bekennt, er habe den alten Geſchichten zuweilen das 
Antlitz nach einer anderen Himmelsgegend hin gewendet, als nach 
welcher ſie in der überkommenen Geſtalt ſchauten. 

Was das ſagen will, kann man an der „Eugenia“ (die erſte 
Nummer von den ſieben und die Krone der Sammlung) und am 
„ſchlimm⸗heiligen Vitalis“ ſtudiren. Die frommen Heiligen der Legende 
ſchließen hier als Unheilige. Die exaltirten Gemüther, welche gegen 
die Natur ankämpfen, unterliegen ihren natürlichen Empfindungen. Das 
Menſchliche iſt ſtärker in ihnen als das Ueberſinnliche, das ſeiner 
irdiſchen Schranken zu ſpotten ſucht. 

Dieſer Grundgedanke iſt nichts Neues. Andacht und Schwär— 
merei durch ihre Uebertreibung ad absurdum zu führen und etwa 
den Gott Amor als glücklichen Sieger über verſtiegene Hirngeſpinnſte 
religiöſer Phantaſie darzuſtellen, haben ſich ſchon viele Poeten zum 
beſonderen Vergnügen gerechnet. Aber gar nicht erſt im Zeitalter 
der Aufklärung. Auch hierin hat das Mittelalter vorgearbeitet, es 
gibt Erzählungen ſchon aus dem elften Jahrhundert, worin z. B. 
junge Leute, die ſich durch Faſten zu Heiligen ausbilden wollen, ganz 
kläglich den irdiſchen Qualen des Hungers unterliegen und demüthig 
ihre Schwäche bekennen. Und die italieniſche Novelliſtik des vier— 
zehnten Jahrhunderts bearbeitete mit Vorliebe ſolche Stoffe. Der 
moderne Dichter nun freilich erlaubt ſich, die Heiligen ſelbſt dazu zu 
benutzen und ihr fleckenloſes Anſehen in den Staub des Irdiſchen 


400 Moderne Legenden. 


herabzuziehen. Und bei aller Ehrbarkeit, denn Keller iſt ſehr weit 
von Wielands lüſterner Manier entfernt, ſchlimm bleibt es für die 
arme Eugenie und den tapferen Vitalis doch immer, daß ihnen, 
nachdem ſie ſo lange im Rufe der ſtrengſten Enthaltſamkeit ge⸗ 
ſtanden, nun plötzlich nachgeſagt wird, ſie ſeien ſchließlich doch wie 
andere gewöhnliche Menſchen in den Hafen der Ehe eingelaufen und 
hätten ſich da erſt recht glücklich gefühlt. Aber der Dichter wird uns 
ja Auskunft ertheilen können, ob ihm vielleicht ein zürnender Schatten 
nächtlich im Traum erſchienen und ihn über ſeine Unthaten zur Rede 
geſtellt hat. Oder wer weiß, ob nicht dieſe alten gebildeten Himmels⸗ 
bewohner aus Alexandria mit der Zeit fortgeſchritten ſind, wenn ſie 
auch unſerer irdiſchen Vollkommenheit ein wenig nachhinken, wie es 
bei der großen Entfernung vom Herde der Civilifation nicht anders 
ſein kann — und ob ſie jetzt nicht gerade dabei ſind, die neueſten 
Schriften von Voltaire zu verſchlingen und danach ihre eigenen früheren 
Anſichten ein wenig zu modificiren. 

Aber ſehen wir ab von dieſen boshaften Erfindungen, in denen 
der moderne Dichter das wohlerworbene Renommee ſeiner Helden ſo 
wenig rückſichtsvoll ins Gegentheil verkehrte. Er hat andere Geſchichten 
erzählt, in denen er das Weſen der Legenden unangetaſtet ließ, ihnen 
aber durch merkwürdige Zuthaten einen ganz neuen, eigenthümlichen 
Reiz verlieh. 

Da iſt eine Erzählung, die man in Koſegartens „Legenden“ als 
den „Garten des Liebſten“ findet. Darin geht die heilige Dorothea 
den Gang zum Martyrium, den jammernden Freunden gegenüber 
preiſt ſie ſich glücklich und frohlockt, und während ein eiſiger Schloſſen⸗ 
regen aus den Wolken niederbrauſt, drückt ſie ihre Freude aus, nun 
bald zu ſpazieren mit dem Liebſten in des Liebſten Garten. 

Schöne Roſen wird mein Freund mir pflücken, 
Süße Aepfel mir vom Baume brechen, 
Ruhen werd ich in des Liebſten Armen 
Am kryſtallnen Bach im weichen Graſe. 

Und Theophilus, des Landvogts Schreiber, ſpottet ihrer: „Ei, 
ſo ſchicke mir von dieſen ſchönen Roſen, dieſen ſüßen Aepfeln, die da 
wachſen in des Liebſten Garten.“ — „Was du bitteſt, ſoll ge⸗ 
ſchehen,“ ſagt ſie lächelnd und geht ruhig weiter. Auf dem Richtplatz 


Moderne Legenden. 401 


aber ſteht plötzlich ein wunderſchöner Knabe vor ihr mit einem aus 
Silberdraht geflochtenen Körbchen, worin drei rothe Roſen und drei 
Aepfel: dieſe ſchicke der Liebſte aus ſeinem Garten. Da ordnet 
Dorothea den feinen Knaben gleich an Theophilus ab, er möge ſagen: 
zum Angedenken an Dorothea. Hierauf winkt ſie dem Henker und 
ihr Haupt entſinkt dem Nacken. Theophilus aber, gedankenvoll am 
Fenſter ſtehend, empfängt die Botſchaft und ſchlägt ſich reuig an die 
Bruſt und ſpricht tiefſeufzend: „Weh mir! Ich habe Gott geläſtert 
und Chriſti keuſche Braut verhöhnt!“ Von Stund an wurde er be- 
kehrt, glaubte an Chriſtus, predigte gewaltig und erhielt auch ſeiner⸗ 


ſeits die Martyrkrone. 


Ich ſchweige davon, wie draſtiſch und charakteriſtiſch Keller die 
einzelnen beibehaltenen Züge herausgearbeitet hat und wie dabei 
immer ein leiſes Lächeln um die Lippen des Erzählers ſchwebt. Bei 
ihm ſind Theophilus und Dorothea ein Liebespaar, das durch einen 
unglücklichen Scherz des Mädchens getrennt wird. In der Däm⸗ 
merung erhält Theophilus das Körbchen, die drei Aepfel ſind leicht 
angebiſſen von zwei zierlichen Zähnen. Während ſich der Sternen⸗ 
himmel über ihm entflammt, ißt er ſie langſam auf, eine gewaltige 
Sehnſucht durchſtrömt ihn mit ſüßem Feuer, er eilt zum Statthalter 
und bekennt ſich zu Dorotheas Glauben. „So fahre der Hexe 
nach!“ ruft der Statthalter und läßt ihn noch in derſelben Stunde 
enthaupten. 

So wurde Theophilus für immer mit Dorotheen vereinigt. Mit 
dem ruhigen Blicke der Seligen empfing ſie ihn. „Wie zwei Tauben, 
die, vom Sturme getrennt, ſich wiedergefunden und erſt in weitem 
Kreiſe die Heimat umziehen, ſo ſchwebten die Vereinigten Hand in 
Hand, eilig, eilig und ohne Raſten an den äußerſten Ringen des 
Himmels dahin, befreit von jeder Schwere und doch ſie ſelber.“ 
Welche anmuthige Vorſtellung! Man fühlt ſich an Francesca da 
Rimini bei Dante erinnert. — So ziehen die Liebenden dahin, tren⸗ 
nen ſich ſpielend, vereinigen ſich wieder, ruhen im Anſchauen ihrer 
ſelbſt. „Aber einſt geriethen fie in holdeſtem Vergeſſen zu nahe an 
das kryſtallene Haus der heiligen Dreifaltigkeit und gingen hinein; 
dort verging ihnen das Bewußtſein, indem ſie, gleich Zwillingen 
unter dem Herzen ihrer Mutter, entſchliefen und wahrſcheinlich 

Scherer, Vorträge. 26 


402 Moderne Legenden. 


noch ſchlafen, wenn fie inzwiſchen nicht wieder haben hinauskommen 
können.“ 

Eine andere Geſchichte dichtet Keller im Sinne des himmliſchen 
Haushaltes fort, von dem man früh im Mittelalter in gemüthlich⸗ 
humoriſtiſcher Auffaſſung zu erzählen weiß, wie z. B. beim Gaſtmal 
Chriſti ſich die Heiligen treffen und Johannes der Täufer iſt Mund⸗ 
ſchenk, weil er bekanntlich keinen Wein trinkt. 


Die einfache alte Erzählung iſt die. Ein junges Mädchen, 


Namens Muſa, tanzt leidenſchaftlich gern, Kirche und Meſſe hat ſie 
ſchon öfter verſäumt und es ſteht zu fürchten, ſie werde ſich noch 
um den Himmel tanzen. Glücklicherweiſe iſt ſie eine eifrige Ver⸗ 
ehrerin der Jungfrau Maria und dieſe beſchließt, das ſonſt fo treff- 
liche Mädchen zu retten. Einmal, wie Muſa, noch ganz heiß 
und ſchwindelnd vom Tanze, in ihr ſtilles Kämmerchen zurück⸗ 
kehrt und niederkniet vor der Gottesmutter, da ſieht ſie den 


Himmel offen und Melodien quellen ihr entgegen, wie ſie ſie nie 


gehört. Dazu 


Tanzten Sonn und Mond und alle Sterne 
Und die heilgen Jungfraun weißgekleidet 
Und die hohe Gottesmutter ſelber 

Selige geheimnißreiche Tänze. 


Und Maria fragt: „Möchteſt du wol ſolche Tänze tanzen alle 


Tage deines Lebens?“ Tanzlüſtern bejaht es das Mädchen. „Der 


Wunſch iſt leicht zu erfüllen,“ verſetzt hierauf die heilige Jungfrau, 
„du mußt nur dreißig Tage lang alles Spieles und Tanzes dich 
enthalten, dann will ich dich abholen in das Haus der Hochzeit.“ 
Muſa, wie aus ſchwerem Traum erwachend, fühlt ihr ganzes 
Innere umgewandelt und thut Buße. Am dreißigſten Tage holt 
Maria mit einem Kuß ihre Seele ab und des Himmels diamantene 
Thore thun ſich auf und jene wunderbaren Harmonien ertönen wieder 
und Muſa tritt in die hellen Reihen, 


Wo ſie tanzt mit Sonn und Mond und Sternen, 
Mit den heilgen Jungfraun, mit der hohen 
Gottesmutter, der Gebeuedeiten, 

Immerdar den hochzeitlichen Reigen. 


REAL eee e 


Moderne Legenden. 403 


Hieraus nun hat Keller ſein überaus reizendes „Tanzlegendchen“ 
gemacht. | 

Muſa kann ſich einmal nicht enthalten in der Kirche, vor dem 
Altare ſelber zu tanzen. Da erſcheint ihr ein ältlicher aber ſchöner 
Herr und tanzt ihr entgegen und ſie glaubt zu träumen und läßt ſich 
nicht ſtören. Es iſt der König David. Da muß man nun aber bei 
Keller ſelbſt nachleſen, wie er ihn beſchreibt mit dem glänzend ſchwar⸗ 
zen gelockten Bart, „welcher vom Silberreif der Jahre wie von einem 
fernen Sternenſchein überhaucht war“; und wie er die Engel ſchil⸗ 
dert, die oben auf dem Chore Muſik machen, man könnte die ſämmt⸗ 
lichen kleinen Knirpſe gleich malen; und wie dann der König David 
das junge Mädchen zur Entſagung verlockt, indem er ihr eine himm⸗ 
liſche Melodie vorſpielen läßt, eine ſo unerhört glückſelige, überirdiſche 
Tanzweiſe, daß dem Kinde die Seele im Leibe hüpft und alle Glieder 
zucken, und wie ſie nun wirklich fromm wird und, weil ſie das Zucken 
nicht laſſen kann, ihre feinen Füßchen durch eine Kette feſſelt, und 
wie ſie nach drei Jahren dünn und durchſichtig wie ein Sommer⸗ 
wölkchen wird und von ihrem Bettchen in den Himmel ſchaut und 
da ſchon die goldenen Sohlen der Seligen durch das Blau hindurch 
meint tanzen und ſchleifen zu ſehen, und wie ſie endlich ſtirbt und 
der wehende Wind ſich in Muſik zu wandeln ſcheint und ſich der 
Himmel für ſie aufthut und der König David ſie empfängt. 

Den himmliſchen Feſttag, zu dem ſie gerade zurecht kommt, be⸗ 
ſchreibt nun Keller des Näheren, indem er folgende köſtliche Geſchichte 
erfindet: „An Feſttagen war es, was zwar vom heiligen Gregor von 
Nyſſa beſtritten, von demjenigen von Nazianz aber aufrechtgehalten 
wird, Sitte, die neun Muſen, die ſonſt in der Hölle ſaßen, einzu⸗ 


laden und in den Himmel zu laſſen, damit ſie da Aushilfe leiſteten. 


Sie bekamen gute Zehrung, mußten aber nach verrichteter Sache 
wieder an den anderen Ort gehen.“ Nach dem Tanz iſt große Tafel, 


* Die Geſchichte der Muſa ſteht in Koſegartens Legenden I. 126 f. in 
zwanzig Zeilen lich habe bei der Nacherzählung die poetiſche Faſſung in Koje- 
gartens Sagen der kirchlichen Vorzeit benutzt): damit hat Keller einige Züge 
combinirt, welche aus der dem Motive nach identiſchen Geſchichte des ritterbür⸗ 


tigen Fräuleins bei Koſegarten Leg. I. 118 ff. entnommen ſind. 
26 * 


404 Moderne Legenden. 


die Muſen ſitzen an einem beſonderen Tiſch. Die emſige Martha aus 
dem Evangelium mit weißer Küchenſchürze und einem zierlichen klei⸗ 
nen Rußfleck an dem weißen Kinn, ſorgt in eigener Perſon für ſie. 
Die kleine eben in den Himmel aufgenommene Tänzerin ſetzt ſich zu 
ihnen. Die heilige Cäcilie nimmt ſich ſchweſterlich ihrer an. Die 


kleinen Muſikbübchen kommen, um von den glänzenden Früchten zu 


erhalten, die auf ihrem Tiſche ſtrahlen. König David trinkt ihnen zu 


und ſtreichelt wol der einen das Kinn im Vorbeigehen. Selbſt die 


heilige Maria bezeigt ſich freundlich und huldreich und küßt Urania 
zärtlich auf den Mund und flüſtert ihr beim Abſchied zu, ſie werde 
nicht ruhen, bis die Muſen für immer im Paradieſe bleiben könnten. 

Es kam aber anders. Um ſich für alle erfahrene Güte zu be⸗ 
danken, übten die Muſen zum nächſten Feſttag in einem abgelegenen 
Winkel der Unterwelt einen Lobgeſang ein, dem ſie die Form der im 
Himmel üblichen feierlichen Choräle zu geben ſuchten. Und als ſie 


wieder zu ihrem Dienſte berufen wurden, nahmen ſie einen für ihr 


Vorhaben günſtig ſcheinenden Augenblick wahr, ſtellten ſich zuſammen 
auf und begannen ſänftiglich ihren Geſang, der bald gar mächtig 
anſchwoll. „Aber in dieſen Räumen klang es ſo düſter, ja faſt trotzig 
und rauh, und dabei ſo ſehnſuchtsſchwer und klagend, daß erſt eine 
erſchrockene Stille waltete, dann aber alles Volk von Erdenleid und 


Heimweh ergriffen wurde und in ein allgemeines Weinen ausbrach. 


Ein unendliches Seufzen rauſchte durch die Himmel; beſtürzt eilten 
alle Aelteſten und Propheten herbei, indeſſen die Muſen in ihrer 
guten Meinung immer lauter und melancholiſcher ſangen und das 
ganze Paradies mit allen Erzvätern, Aelteſten und Propheten, Alles 
was je auf grüner Wieſe gegangen oder gelegen, außer Faſſung ge⸗ 
rieth. Endlich aber kam die allerhöchſte Trinität ſelber heran, um 


zum Rechten zu ſehen und die eifrigen Muſen mit einem lang hin⸗ 


rollenden Donnerſchlage zum Schweigen zu bringen.“ Die armen neun 
Schweſtern blieben von nun an verbannt. 

Iſt das nicht eine wunderbare Erfindung, die ſich ganz unver⸗ 
geßlich einprägt? eine Vorſtellung, die man nie wieder los wird, voll 
tiefer Symbolik und doch ganz unbefangen nur um ihrer ſelbſt willen 
hingeſtellt? Die armen Muſen, die mit den feurigen ſchwarzen oder 
tiefblauen Augen in der ätheriſchen Geſellſchaft ſo verſchüchtert um 


A 


Moderne Legenden. 405 


ſich blicken — das Motiv erinnert an Paul Heyſes letzten Centaur — 
man hat ein Gefühl, als ob eine entthronte Königin nur von Almoſen 
oder ihrer Hände Arbeit leben muß und mit dem beſten Willen es 
nie recht machen kann und dann am wenigſten, wenn ſie ſich die 
meiſte Mühe gibt. a 

Unwillkürlich bin ich in meinem Bericht dahin gekommen, Gott⸗ 
fried Keller ſelbſt ſprechen zu laſſen. Sein Styl, wie er ſich in dem 


vorliegenden Bändchen darſtellt, iſt nicht zu excerpiren oder zu ab⸗ 


breviiren. So kurz, ſo gedrungen in den ſparſam gewählten Worten, 
mit einer ſolchen Fülle der Anſchauungen ausgeſtattet, durchgebildet, 
maßvoll, ohne alle Manier und Affectation, einfach und ſchlicht, Satz 
um Satz ſo natürlich fortrollend, dabei aller Mittel ſicher, um mit 
gering ſcheinenden Ausdrücken die lebendigſten und wirkungsvollſten 
Bilder in uns hervorzurufen, um Ernſtes und Luſtiges anzuregen, 
letzteres oft wie ein Wetterleuchten über die Landſchaft hinfahrend, 
um uns bald in den ſonnigen Orient, bald in die helle Marmorſtadt 
von Alexandrien, bald in ein luftiges Landhaus am Schwarzen Meere, 
bald wieder nach der Heimat, nach duftigen Wäldern, ragenden 
Burgen oder in ein dumpfes Kloſter zu verſetzen: ich habe wirklich 
ſeit lange nichts geleſen, was ſo ausgezeichnet erzählt geweſen wäre 
und wobei ſich ſo der Eindruck vollendeter Natürlichkeit, die aus der 
höchſten Kunſt entſpringt, aufgedrängt hätte. 

Ich habe noch kein Wort von den Marienlegenden geſagt, von 
„der Jungfrau und dem Teufel“, der „Jungfrau als Ritter“, von „der 
Jungfrau und der Nonne“. Die heilige Jungfrau iſt, ohne daß der 
Verfaſſer den alten Legenden viel zuzuſetzen brauchte, etwas menſchlich 
und irdiſch ausgefallen. Sie iſt, wenn ich ſo ſagen darf, ein wenig 
emancipirt. Es reizt ſie, mit dem Teufel zu ringen, ja ſie traut ihren 
Kräften einmal zu viel, es gelüſtet ſie, ein Turnier mitzumachen und 
als Ritter einem ſchönen Mädchen zu ſchmeicheln: der Kloſterdienſt 
dagegen wird ihr etwas langweilig, und vielleicht würde das Ehe⸗ 
ſtiften ihr mehr Vergnügen machen — wenigſtens in Alexandria; 
wie der heilige Vitalis an ſeinem großen Wendepunct angekommen iſt 
und zweifelt, ob er ſeine Heiligkeit nicht lieber dem ehelichen Glück 
aufopfern ſollte: da wirft er ſich vor einem Muttergottesbilde nieder, 
das eigentlich eine alte Junoſtatue war, „und als ein röthlicher Schein 


406 Moderne Legenden. 


vorüberziehender Frühwolken auf den Marmor flog, da ſchien das 
Geſicht auf das holdeſte zu lächeln, mochte es nun ſein, daß die 
alte Göttin, die Beſchützerin ehelicher Zucht und Sitte, ſich bemerklich 
machte, oder daß die neue über die Noth ihres Verehrers lachen 
mußte; denn im Grunde waren Beide Frauen und dieſe lächert es 
immer, wenn ein Liebeshandel im Anzug iſt.“ 

Ich geſtehe, daß für mich die ironiſchen Blitze lange nicht den 
Hauptwerth der gegenwärtigen Publication ausmachen. Gottfried Keller 
bemerkt ganz richtig, daß die Legendenphantaſie ähnliche Wege ge⸗ 
wandelt iſt wie die Novellenphantaſie. Es ſind dieſelben Elemente, 
welche ſich hier wie dort geltend machen, nur etwas anders gewendet 
und auf ein verſchiedenes Gebiet bezogen. Novellen aus der antiken 
Welt ſind uns nicht viele erhalten, das Wenige freilich vom höchſten 
Zauber. Aber der Geiſt der antiken Novelle hat ſich zum Theil in 
die älteſten Legenden übertragen, gerade wie auch im Mittelalter die 
dichteriſche Phantaſie zu Zeiten ihr beſtes Können in dieſe Stoffwelt 
hineintrug. „Alles was das ſpäte Alterthum der neuen Zeit am 
unmittelbarſten entgegenbrachte, Allegorien, Parabeln, Apologe, No⸗ 
vellen, religiös⸗philoſophiſche Streitfragen — ſagt Gervinus — das 
finden wir in der Legende noch völlig erhalten.“ 

Man hat die Geſammtzahl der im Mittelalter curſirenden Le⸗ 
genden auf 40,000 berechnet. Die wundervollen poetiſchen Erzäh⸗ 
lungen von Jeſu Eltern, von der Kindheit Chriſti und der Flucht 
nach Aegypten, dieſe herrlichen Idyllen, das großartige Evangelium 
Nicodemi mit ſeiner ganz dramatiſchen Schilderung der Höllenfahrt 
Chriſti, worin uns jene Höllenmythologie zuerſt ganz ausgebildet 
entgegentritt, aus der nachher Milton und Klopſtock ſchöpften — dann 
die Lebensbeſchreibungen der Apoſtel — bilden den Kern dieſer Lit⸗ 
teratur, an welchen ſich zunächſt die unzähligen Märtyrergeſchichten 
aus den Chriſtenverfolgungen, dann die Biographien weit reiſender 
Bekehrer, endlich unzählige Localſagen (ſpäterer bewußter Fälſchungen 
zu geſchweigen) anſchloſſen. Dies ganze große Gebiet der chriſtlichen 
Heroenwelt, eine reiche Fundgrube poetiſcher Stoffe hat Gottfried 
Keller für unſere Zeit wieder entdeckt. Und vielleicht werden wir bald 
unbefangen genug ſein, um eine Sammlung ſchmucklos und ohne alle 
Ironie erzählter Legenden rein vom poetiſchen Geſichtspunct dankbar 


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Moderne Legenden. 407 


anzunehmen. Auch den Grimm'ſchen Märchen mußte erſt ein ironi⸗ 
ſcher Muſäus den Weg bahnen. Wir aber ſind darauf angewieſen 
und es iſt die würdige Aufgabe unſerer dichteriſch wenig productiven 
Zeit, alle die Blüten ſorgfältig zu ſammeln und uns an ihrem 
Dufte zu erquicken, welche der Genius der Poeſie früherhin über die 
Erde ausgeſtreut hat. | 

Für den begabten Dichter aber, der, zum ſelbſtändigen Schaffen 
berufen wie Wenige, ſich an der angedeuteten Aufgabe hier ſo prächtig 
betheiligte, haben wir den Wunſch, daß er nun nicht abermals in 


Schweigen verſinken, ſondern daß er uns bald die zweite Auflage des 


„Grünen Heinrich“ und einen zweiten Band der „Leute von Seldwyla“ 
ſchenken möge. 


Wien, im Mai 1872. 


Die neue Generation. 


Vor wenigen Wochen iſt ein neues Werk von Julian Schmidt 
erſchienen: „Bilder aus dem geiſtigen Leben unſerer Zeit“ (Leipzig 1870), 
eine Sammlung von größeren und kleineren, früher nur zerſtreut ge⸗ 
druckten Aufſätzen; ein höchſt anregendes und geiſtvolles Buch, das 
Niemand ohne Vergnügen leſen wird. 

Julian Schmidt hat dieſer Sammlung eine Einleitung voran⸗ 
geſchickt, worin er ſich ausſpricht über die „neue Generation“. Es mag 
ihm eine Anzahl jüngerer Gelehrten und Dichter dabei vorſchweben, 
die ſich etwa im Anfange der Dreißiger befinden und deren Haupt⸗ 
leiſtungen noch im Schooße der Zukunft liegen. 

Das Thema iſt intereſſant genug. Wir leben in einer Zeit 
tiefgreifendſter Umgeſtaltung. Was haben wir nicht ſeit 1848 erlebt! 
Wie hat ſich insbeſondere die deutſche Welt verwandelt, ökonomiſch, 
politiſch, ſittlich! 

Die Frage erhebt ſich: wie wirkt dieſe neue Welt auf den deut: 
ſchen Geiſt, auf dichteriſche und wiſſenſchaftliche Production, und welche 
Pflanzen wachſen auf dem neuen Boden? 

Leider verſucht Julian Schmidt keine erſchöpfende mit Thatſachen 
belegte Charakteriſtik. Er greift nur einige Züge heraus, die ihm 
gerade auffallen und rückt dieſe näher ins Licht. Ich will nicht mit 
ihm darüber rechten. Wer möchte die Schwierigkeit des Gegenſtan⸗ 
des verkennen? 

Wo faſſe ich das Neue, erſt Werdende, noch Gährende, nach 
Weſen und Geſtaltung Ringende? Die Leute in fünfzig Jahren werden 


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Die neue Generation. 409 


ſehr genau wiſſen, was ſich heute in unſerem geiſtigen Leben volf- 
zieht. Sie werden ohne Mühe die Thätigkeit der Gegenwart taxiven, 
und in den Litteraturgeſchichten von 1920 wird man bequem die 
Namen der Dichter, Philoſophen, Hiſtoriker, Philologen aufſchlagen, 
in deren Händen um 1870 die Fortbildung der Poeſie und Geiſtes⸗ 
wiſſenſchaft ruhte. Wie wenig aber iſt den Zeitgenoſſen darüber ver⸗ 
gönnt zu wiſſen. Jeder überblickt nach unſerer endlichen Beſchränkung 
nur den kleinen Theil, der gerade in ſeinen Geſichtskreis fällt. 
Trotzdem, wer könnte ſich an der kräftigen, geiſtigen Arbeit 
dieſes Geſchlechtes betheiligen, ohne den Wunſch, ſich darüber Rechen⸗ 
ſchaft zu geben, was ihn ſelbſt, was ſeine Freunde und Genoſſen, 
was alle mit und um ihn Strebenden im Innerſten bewegt, welches 


gleichſam die großen Mächte find, in deren Dienſt und Pflicht wir 


Alle ſtehen? 

Mag nur Jeder ſagen, was er seht oder zu ſehen glaubt. 
Wenn wir unſere Beobachtungen fleißig austauſchen und willig be- 
richtigen, jo wird ſich vielleicht doch fein Geſammtbild ergeben, von 
dem wir Erweckung und Führung empfangen können. In dieſem 
Sinne wird es erlaubt und nützlich ſein, einige Bemerkungen von 
Julian Schmidt etwas zu prüfen und zu erläutern. 

„Die neue Generation iſt mit der romantiſchen 
Schule verwandt.“ Das kann man vielleicht zugeben, aber es 
kommt auf nähere Beſtimmungen an. 

Die ſogenannte romantische Schule war von einer Anzahl allge- 
meiner Ideen bewegt, welche die Einzelwiſſenſchaften mit einer unge⸗ 
ahnten Fülle neuer Geſichtspuncte befruchteten. 

Einige von dieſen Geſichtspuncten ſind empiriſch faſt erſchöpfend 
durchgearbeitet worden. Die Kritik, die Methode der Feſtſtellung des 
Thatſächlichen, iſt zur äußerſten Feinheit gebracht. Aber andere, nicht 
minder wichtige Geſichtspuncte hat man fallen laſſen. 

Die Bewegung kehrt jetzt an ihren Ausgangspunct zurück, um 
das früher Verſäumte nachzuholen. Die allgemeinen Ideen, welche 
den erſten Anſtoß gaben, treten wieder hervor. Je mehr die einzelnen 
Wiſſenſchaften in ihrem eigenthümlichen Material ſich zurecht gefun- 
den haben, deſto mehr beginnen ihnen wieder die oberſten Principien 
am Herzen zu liegen. Die höchſten Aufgaben, an denen man vor 


410 Die neue Generation. 


einem Decennium noch ſcheu vorüberging, oder die man den harm⸗ 
loſen Träumereien der Philoſophie überließ, drängen ſich jetzt mächtig 
auf und heiſchen Löſung. 

Nachdem man lange Zeit die möglichſte Arbeitstheilung gefor⸗ 
dert hatte, macht ſich unter uns wieder das Bedürfniß der Arbeits- 
vereinigung geltend. Denn die wichtigſten Probleme liegen auf den 
Grenzgebieten der Wiſſenſchaften. Der Pſycholog ſtellt ſich an den 
Secirtiſch, der Sprachforſcher lernt von dem Phyſiologen, der politiſche 
Hiſtoriker geht bei dem Nationalökonomen in die Schule, und der 
Culturhiſtoriker vollends ſollte ein Mann mit zehn Köpfen ſein, der 
das ganze phyſiſche und geiſtige Leben des Menſchen in ſeinem urſäch⸗ 
lichen Zuſammenhange durchſchaut. 

In der That iſt es die Univerſalität erfahrungsmäßiger Be⸗ 
trachtung, von welcher auf allen Gebieten der Wiſſenſchaft die ſchön⸗ 
ſten Reſultate erwartet werden. Jedes Einzelne ſoll ſein Licht von 
dem Ganzen erhalten. Die verſchiedenen Theile des Lebens ſind in 
ihrer innern unlöslichen Verknüpfung erkannt. Der Begriff des 
Menſchlichen wird aus allen Nationen der Erde gewonnen: die nie⸗ 
deren Entwicklungsſtufen geben Kunde von den Urſprüngen, die 
höheren im Vergleich damit zeigen, welche Kräfte in Zukunft uns 
weiter führen. 

Es könnte ſcheinen, als thue die verpönte Polyhiſtorie früherer 
Zeit ſich wieder auf. Es iſt als ob das Wort Lügen geſtraft werden 
ſollte, welches Alexander Humboldt als den letzten Polyhiſtor bezeich⸗ 
nete. Aber man muß unterſcheiden zwiſchen Humboldt und den alten 
Vielwiſſern des ſiebzehnten Jahrhunderts. Die wandelnden Biblio⸗ 
theken, die athmenden Converſationslexika ſind im Ausſterben. Nie⸗ 
mand beſchwert noch ſein Gedächtniß mit Dingen, die er bequem in 
einem Buche nachſchlagen kann. Aber die Vertrautheit mit den Me⸗ 
thoden und Reſultaten verſchiedener Wiſſenſchaften ſcheint die unerläß⸗ 
liche Bedingung großer Fortſchritte. Die ſcheidenden Dämme müſſen 
durchſtochen werden. Nicht daß Humboldt ſo viel wußte macht ſeine 
Größe aus, ſondern daß die ungeheuren Kenntniſſe, die er beſaß, ſich 
gegenſeitig befruchteten. 

Der Polyhiſtor der alten Zeit hatte alle neun Muſen und 
ſämmtliche olympiſche Götter im Leibe, aber jeder ſaß gelangweilt in 


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Die neue Generation. 411 


ſeiner Zelle und wußte nichts vom andern. In dem Polyhiſtor der 
neueren Zeit iſt das eine vergnügliche, bewegte Geſellſchaft geworden, 
die ſich unter einander liebt und Kinder zeugt. 

In der lebendigen Berührung ſcheinbar getrennter Wiſſenszweige, 
in dem univerſaliſtiſchen Zuge überhaupt liegt nun allerdings eine 
Verwandtſchaft mit der romantiſchen Schule. Nur daß wir viel be⸗ 
ſcheidener geworden ſind, daß wir von dem was uns gelingen kann 
weit mäßigere Vorſtellungen bekommen haben. Die Correctur des 
ſchrankenloſen Univerſalismus liegt in dem was Julian Schmidt 
mit Recht hervorhebt: Die neue Generation baut keine 
Syſteme. | 

Wir fliegen nicht gleich zu den letzten Dingen empor. Die 
„Weltanſchauungen“ ſind um ihren Credit gekommen. Selbſt der letzte 
intereſſante Verſuch einer ſolchen kann dem nicht abhelfen. Denn das 
blos Intereſſante hat keinen Werth mehr. Wir fragen, wo ſind die 
Thatſachen, für welche ein neues Verſtändniß eröffnet wird? Mit 
ſchönen Anſichten, mit geiſtreichen Worten, mit allgemeinen Redens⸗ 
arten iſt uns nicht geholfen. Wir verlangen Einzelunterſuchungen, in 
denen die ſicher erkannte Erſcheinung auf die wirkenden Kräfte zurück⸗ 
geführt wird, die ſie ins Daſein riefen. 

Dieſen Maßſtab anzulegen haben wir von den Naturwiſſen⸗ 
ſchaften gelernt. Und hiemit ſind wir auf den Punct gelangt, wo ſich 
die eigentliche Signatura temporis ergibt. Dieſelbe Macht, welche 
Eiſenbahnen und Telegraphen zum Leben erweckte, dieſelbe Macht, 
welche eine unerhörte Blüte der Induſtrie hervorrief, die Bequemlich⸗ 
keit des Lebens vermehrte, die Kriege abkürzte, mit einem Wort die 
Herrſchaft des Menſchen über die Natur um einen gewaltigen Schritt 
vorwärts brachte — dieſelbe Macht regiert auch unſer geiſtiges Leben: 
ſie räumt mit den Dogmen auf, ſie geſtaltet die Wiſſenſchaften um, 
ſie drückt der Poeſie ihren Stempel auf. Die Naturwiſſenſchaft 
zieht als Triumphator auf dem Siegeswagen einher, an den wir Alle 
gefeſſelt ſind. 

Nicht nur daß für eine Reihe der wichtigſten Aufgaben die 
Geiſteswiſſenſchaften ſich von der Naturforſchung Hilfe erbitten müſſen: 
die ganze Methode, der ganze Charakter der wiſſenſchaftlichen Arbeit 
iſt ein anderer geworden. 


412 Die neue Generation. 


Der rückſichtsloſe Wahrheitsſinn, die Vorurtheilsloſigkeit, die 
Unbekümmertheit um das Reſultat ſtammt von daher. Man iſt ſich 
bewußt der Grenzen des Erkenntnißvermögens. Fragen, welche einſt 
alle Gemüther bewegten; Fragen, um die man gerädert, verbrannt 
und geköpft wurde: wiv zucken gleichgiltig die Achſeln dazu und ſagen: 
„Ich weiß nicht,“ oder auch: „Was kümmerts mich?“ Denn wir 
ſehen den Verſuch ihrer Löſung für eine Competenzüberſchreitung 
der menſchlichen Vernunft an. 

Wir glauben nicht mehr, daß einige wenige oberſte Grundſätze 
zur Orientirung in der geſammten Welt des Wißbaren und Unwiß⸗ 
baren ausreichen. Gewiſſenhafte Unterſuchung des Thatſächlichen iſt 
die erſte und unerläßliche Forderung. Aber die einzelne Thatſache als 
ſolche hat an Werth für uns verloren. Was uns intereſſirt, iſt viel⸗ 
mehr das Geſetz, welches daran zur Erſcheinung kommt. Daher die 
ungemeine Bedeutung, welche die Lehre von der Unfreiheit des Willens, 
von der ſtrengen Cauſalität auch in der Erforſchung des geiſtigen 
Lebens erlangt hat. | 3 

Sogar die Poeſie kann ſich der Einwirkung nicht entziehen. Die 
Motivirung wird ſtrenger. Die Menſchen erſcheinen wie Puppen in 
der Hand „unüberwindlicher Mächte“. Die Verhältniſſe, unter denen 
Einer aufwächſt, werden ihm ein unabwendbares Verhängniß, das 
ihn zermalmt oder erhebt. Die verborgenſten Orte und Gänge der 
moraliſchen Welt werden unabläſſig durchforſcht. Man ſtrebt nach 
Wahrheit, nach dem Bezeichnenden, Charakteriſtiſchen mit einer Energie 
und Rückſichtsloſigkeit, welche für zartbeſaitete Gemüther etwas Ab⸗ 
ſtoßendes hat. 

Und der erwählte Philoſoph der neuen Generation ſoll — 
nach Julian Schmidt — nun Schopenhauer ſein? Dieſe hochſtre⸗ 
benden Menſchen wären dem Peſſimismus verfallen? 

Ich ſetze einer ſolchen Behauptung den beſtimmteſten Widerſpruch 
entgegen. 

Der geleſenſte deutſche Dichter iſt augenblicklich Fritz Reuter. 
Beweiſt das Peſſimismus oder Optimismus? 

Der jüngſte peſſimiſtiſche Philoſoph conſtatirt ausdrücklich den 
Optimismus, der in Epochen vielverheißender Fortſchritte ein⸗ 
reiße und den er in unſerer Zeit zunächſt nur für das politiſche 


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Die neue Generation. 413 


Gebiet hervorhebt, „wo die Bildung der Nationalſtaaten ihrem Ziele 
entgegeneilt“. 

Und doch iſt der theoretiſche Peſſimismus ſcheinbar obenauf. 
Das Phänomen läßt ſich nicht leugnen. Aber es läßt ſich erklären. 

Zum Theil iſt es rein litterariſcher Art. Schopenhauer, ein aus- 
gezeichneter, geiſtvoller Styliſt, ein Schriftſteller erſten Ranges, den 
die Schulphiloſophie ſeiner Zeit nicht aufkommen ließ, hat mit dem 
Sturze dieſer Schulphiloſophie eine Art Auferſtehung gefeiert. Seine 
Bücher lieſt auch der mit Vergnügen, dem ſie nichts weniger als ein 
Evangelium ſind. | 

Im Mebrigen aber: woraus ſetzt ſich die peſſimiſtiſche Secte 
zuſammen? \ 

Theils finden wir allerdings Menſchen, die das Schickſal unge- 
wöhnlich ſchwer heimgeſucht hat, theils aber (und das iſt die Mehr⸗ 
zahl) Müßiggänger, welche ſich die Zeit mit übler Laune vertreiben 
— mißvergnügte Lyriker, deren Gedichte nicht mehr geleſen werden — 
Spatzenköpfe, welche den Peſſimismus für beſonderen Tiefſinn halten 
und um jeden Preis tiefſinnig erſcheinen wollen — Mitglieder fauler 
Gemeinweſen, denen nie ein wirklicher Staat mit Flammenlettern das 
Wort Pflicht in die Seele geſchrieben hat — endlich die unüberſeh— 
bare Maſſe derjenigen, welche nur der augenblicklichen Mode nach- 
laufen und den Peſſimismus für ein weſentliches Kennzeichen des 
gebildeten Menſchen anſehen. 

Ich bin ſo unhöflich, mit der letztgenannten Claſſe ganz ſpeciell 
meine verehrungswürdigen Landsleute zu meinen, welche ſich vor jeder 
neuen Mode jo willig beugen, wie weiland das Volk Iſrael vor einem 
neuen Götzen. Und wehe dem, der ſich gegen Baal auflehnt, um 
Jehovah in ſeine alten Rechte einzuſetzen! 

Alles in Allem genommen gehört der heutige Peſſimismus zu den 
zahlreichen Erſcheinungen der Rückbildung, des Atavismus auf geiſti— 
gem Gebiete. Die „neue Generation“ iſt daran unbetheiligt. Eher 
kann man ihr Optimismus, Zuverſichtlichkeit, übergroßes Selbitver- 
trauen zum Vorwurf machen. Denn ſehr ſtark iſt in ihr „die Kraft 
des Hoffens, jene mächtige und ſichere Phantaſie, die in dem Wer— 
denden ſchon das Vollendete ahnt“. g 

Eine einzige Quelle des Peſſimismus fließt auch für ſie. 


414 Die neue Generation. 


Gerade ſehr hochgerichtetes Streben kann dahin kommen, den 
Bogen zu ſtraff zu ſpannen. Je höher das Ziel, deſto leichter das 
Mislingen. Mancher mag die Maske des Uebermuths und der Hei⸗ 
terkeit vornehmen, um die Verzweiflung wegzuſcheuchen. Wer einen 


Funken des himmliſchen Feuers erraffen will, der muß darauf gefaßt N 


ſein, daß neidiſche Götter ihn an den Fels ſchmieden und Jupiters 
Adler ihn zerfleiſchen. Wer möchte es ihm verargen, wenn in dem 
ſchmerzlichen Ringen nach Wahrheit ihn auf Momente trübe Ahnungen 
beſchleichen? 
5 Aber der große allgemeine Zug der Geiſter iſt mächtiger als 
ſolche Ahnungen. Der mehrerwähnte jüngſte peſſimiſtiſche Philoſoph 
fordert ſchließlich von ſeinen Jüngern „die volle Hingabe an das Leben 
und ſeine Schmerzen“. Sein praktiſches Reſultat iſt das gerade Gegen⸗ 
theil der Schopenhauer'ſchen Verneinung des Willens zum Leben. 
Und ſo bringt ſelbſt der Dämon der Verzweiflung dem Gotte des 
Glaubens ſein Opfer dar. 

Gewaltig fortſchreitende Zeiten wie die unſrige führen eine wun⸗ 
derbar beſeligende und erhebende Kraft nfit ſich. Die Menſchen wachſen 
moraliſch über ſich ſelbſt hinaus. Die Frage nach dem Lebensglück 
des Einzelnen tritt weit zurück. Der Soldat, der auf dem Schlacht⸗ 
felde mit dem Tode kämpft, jubelt mit dem letzten Athemzug den 
ſiegenden Cameraden ein Hurrah zu. 


Wien, im Juni 1870. | | x 


* — a 


| Ludwig Spach. 


I. 


Moderne Culturzuſtände im Elſaß. Von Ludwig Spach. Straßburg, 
Trübner 1873. Zwei Bände. 


Als ich das vorliegende Buch, auf deſſen Erſcheinen ich mich 
lange gefreut hatte, zum erſten Male in die Hand bekam, da ſuchte 
ich neugierig ſofort nach dem Namen Ludwig Lavater, und beſſer 
hätte ich es in der That nicht treffen können, um das Wehen des 
Geiſtes ganz unmittelbar zu empfinden, der in demſelben wohnt. 

Ludwig Lavater iſt nämlich Herr Ludwig Spach ſelbſt auf einer 
früheren Stufe ſeiner Entwicklung. Ludwig Lavater ſieht in der Vor⸗ 
rede ſeiner Gedichte (1839) auf ſeine heimiſche elſäſſiſche Jugend 
zurück „wie auf ein verſchwundenes Traumparadies“. Er war über 
die Vogeſen hingezogen in die franzöſiſche Hauptſtadt. Die Heimat 
war ihm fremd und fremder geworden. Er ſuchte ſie feſtzuhalten, 
ſoviel an ihm lag. Er „nährte in feiner Bruſt lange und gleich⸗ 
zeitig eine Zwillingsliebe für die galliſche und die deutſche Muſe“. 
Aber dieſe Epoche liegt hinter ihm. Es iſt nur wie ein Denkmal 
jener Zeit, wenn er feine deutſchen Verſe ſammelt. Das „unjelige 
Schwanken zwiſchen zwei ſich feindlich bekämpfenden Sprachen“ iſt 
vorüber. Er hat den Gedanken aufgegeben, ſich auf doppelter Lauf⸗ 
bahn Palmen zu erkämpfen. In zwei franzöſiſchen Romanen hat er 
ſein „Herzblut ausgegoſſen“, und in dem einen, in Henri Farel, be⸗ 
wieſen — nach dem Urtheile der größten lebenden Frau und des 
größten lebenden Dichters — daß er ein vollkommener Kenner 


416 Ludwig Spach. 


des weiblichen Herzens ſei. In franzöſiſcher Sprache wird er der 
Geſchichtſchreiber ſeines Heimatlandes. In franzöſiſcher Sprache 
feiert er ältere und neuere deutſche Dichter. Aber jetzt, an dem 
Abend ſeines Lebens, kehrt er zurück in jenes „Traumparadies“. Er 
zaubert ſich eine Phantaſiewelt aus vaterländiſchen Erinnerungen. 
Die Verſenkung in die Vergangenheit ſoll ihn hinwegheben über alle 
Qual und alle Beſchwerde einer Uebergangsepoche. Und in dem vor— 
liegenden Buche legt er Rechenſchaft ab von dem geiſtigen Leben des 
Elſaſſes im neunzehnten Jahrhundert. Es iſt ein Rückblick auf Selbſt⸗ 
erlebtes und zum Theil auf Selbſtgethanes. Von Ludwig Lavater 
redet er wie von einem Halbverſtorbenen. Aber noch an vielen an⸗ 
deren Stellen hat er von ſich ſelbſt zu ſprechen. Er thut es in der 
liebenswürdigſten Art mit einigem harmloſen graziöſen Verſteckſpiel 
und mit herzgewinnender Beſcheidenheit. Trotz aller Objectivität und 
obgleich er nie zuſammenfaſſend ſeine eigenen Leiſtungen aufzählt, iſt 
das ganze Buch eine Art unwillkürlicher Selbſtcharakteriſtik. 

Wir gewahren eine feine, zart organiſirte Natur von entſchieden 
äſthetiſcher Anlage. Die weiche Atmoſphäre der feinſten Bildung iſt 
ſeine Lebensluft. Die Reception alles Schönen und Großen was 
der Menſch hervorgebracht, und die geſchmackvolle Reproduction, der 
Cultus des Edlen und Hohen mit einem Worte, iſt ſein Beruf. 
Wenn er uns (I. 225) erzählt, unter dem ſchwülen Horizonte der 
Napoleoniſchen Periode habe im Elſaß immerfort ein Kern von Män⸗ 
nern und Frauen beſtanden, „die ſich nicht unwillig in dem erfriſchen⸗ 
den Haine der Muſen ergingen“: jo dürfen wir ſagen: Herr Spach 
war in Straßburg der Muſaget. Wer ſich in den Bann ſeiner Per⸗ 
ſönlichkeit begibt, der betritt eine Region des Friedens. Alles was 
Anſtoß erregen könnte nach irgend einer Seite hin, das iſt daraus 
verwieſen, es iſt vorſichtig verhüllt oder discret angedeutet, es iſt ge— 
mildert und des Stachels beraubt. Die zarte Grenzlinie des Schick— 
lichen wird nie überſchritten. Das allzu Leidenſchaftliche, das allzu 
ſchroff Charakteriſtiſche, das Derbe und Draſtiſche ſtößt bei ihm auf 
Abneigung. Noch aus der Ferne widerſtreben ihm die bacchiſchen 
Feſte, die unmäßigen Trinkgelage einer früheren Zeit. Wir wundern 
uns nicht, in ihm einen Gegner der elſäſſiſchen Dialektdichtung zu 
finden. Er ſteht durchweg auf Seite der ſchönen Kunſt im Gegen⸗ 


Ludwig Spach. 42 


ſatz der vorwiegend charakteriſtiſchen. „Der äſthetiſche Sinn — 
bemerkt er — muß ſich nicht abwenden, ſchüchtern wie eine Mimoſe; 
das eben iſt das Zeichen des Genius, daß er ſich an rechter Stelle 
zu bezähmen weiß.“ Dieſes Innehalten, dieſe Mäßigung bezeichnet 
Herrn Spach auch überall, wo er das Gebiet der Religion und Meta⸗ 
phyſik ſtreift. Es leitet ihn ein gewiſſer Tact des Herzens und der 
Phantaſie, lieber am Eingang des Tempels beſcheiden zu verweilen, 
als im Innern vielleicht zu ſchauen was ihm nicht lieb wäre. 

Alles was in dem ruhigen gebildeten äſthetiſchen Genuſſe als 
eine Störung empfunden wird, das flieht er wie einen perſönlichen 
Feind. Das Schreckgeſpenſt der ſocialen Frage gaukelt beſtändig vor 
ſeinem inneren Auge. Die „rohe, von Begierden gepeitſchte Maſſe“, 
der „vierte Stand, der mit derber Fauſt an die Pforten der europäi⸗ 
ſchen Staaten ſchlägt“, erſcheint bei ihm wie der mythologiſche Wolf, 
der die Sonne der Cultur zu verſchlingen droht. Er hält in Frank⸗ 
reich beinahe das Syſtem der Centraliſation für das einzig berechtigte, 
wenn der Föderalismus nur als Maske für communiſtiſche Umtriebe 
dient (I. 214). Das einzige Mal, daß er früher feine Stimme in 
einer praktiſchen Frage der Socialpolitik erhob, da waren es Bor: 
ſchläge, um durch die Begünſtigung der Auswanderung nach Amerika 
einen Abzugscanal für das Proletariat zu ſchaffen (J. 242). 

Ein Mann, für den Bildung und geiſtige Freiheit Alles iſt, 
konnte wol ſich fügen und zurechtfinden, aber nicht ſich eigentlich 
wohl fühlen unter dem Napoleoniſchen Regiment. Der Hiſtoriker be⸗ 
obachtet die Zeichen der Zeit, und die Tragweite der vollendeten 
Thatſachen iſt ihm weit klarer als ſeinen verblendeten Landsleuten, 
welche für vorübergehend halten, was durch den ſtahlharten Willen 
eines geiſtes⸗ und waffenmächtigen Volkes unerſchütterlich feſtgehalten 
wird. Die Wahl zwiſchen dem Frankreich der Commune und dem 
Vaterland Schillers und Goethes konnte für Herrn Spach nicht 
zweifelhaft ſein. Der neue Zuſtand mußte ihn auf Seite der freieren 
und menſchlicheren Bildung finden. Der Aeſthetiker und Litterar- 
hiſtoriker blickt zu den Heroen der deutſchen Poeſie mit einer Ver— 
ehrung auf, wie ſie ihm offenbar kein Franzoſe abgewonnen hat. Er 
ſpricht gegen einzelne Zweige der franzöſiſchen Litteratur Verwerfungs— 
urtheile aus, wie ſie ſchärfer nicht gedacht werden können. Er redet 

Scherer, Vorträge. 27 


418 Ludwig Spach. 


von den liederlichen fabrikartigen Producten der Boulevardlitteratur. 
Er bezeichnet Victor Hugo kurzweg als halbwahnſinnig. Ja er ſchlägt 
gegen den „unflätigen Patriarchen von Ferney“ einen Ton an, wie 
wir anderen Deutſchen ihn uns jedenfalls nicht geſtatten würden. 
Aber Schiller und Goethe ſind für ihn Geſtalten von unantaſtbarer 
Hoheit. Er ſteht ihnen gegenüber etwa wie ein franzöſiſch gebildeter 
Deutſcher des vorigen Jahrhunderts, der alle Vorzüge des franzöſi⸗ 
ſchen Styls ſich angeeignet hat und nun dieſes langvermißte Gut ges 
bildeter freier Form durch unſere Claſſiker auch den Deutſchen ge- 
wonnen ſieht. Nicht ſo ſehr Nationalgefühl macht ihn zum Bewun⸗ 
derer und Verehrer, als vielmehr objective Werthſchätzung. Und erſt 
die litterariſche Geſinnung wird zur Grundlage der nationalen. 
Dieſes eine Beiſpiel ſchon würde genügen, um uns zu überzeugen 
von der Macht nationaler Propaganda, welche eine große Litteratur 
mit ſich führt. Jenes vielgetadelte weltbürgerliche Element unſerer 
claſſiſchen Litteraturepoche iſt gerade die Quelle ihres weitgehenden 
Einfluſſes. Zeig 

Herr Spach hat ſo entſchieden und rückhaltslos Partei genom⸗ 
men, wie nur wenige ſeiner Landsleute. Aber er bleibt auch jetzt 
ein Vermittler und er bleibt es mit Recht. Schon früher war das 
Elſaß ein von Parteien zerriſſenes Land: die confeſſionellen Gegen⸗ 
ſätze ſind geblieben, die politiſchen und nationalen haben eine ganz 
andere Schärfe und eine ganz andere Bedeutung bekommen. Herr 
Spach hat früher immer geſtrebt, ein neutrales Gebiet ausfindig zu 
machen, auf welchem ſich die ſonſt ſchroff geſonderten Parteien fried⸗ 
lich treffen und zu gemeinſchaftlicher Arbeit verbinden könnten. Ueber⸗ 
all wo es galt einen Mittelpunct zu ſchaffen, zerſtreute Kräfte zu 
ſammeln und in lebendigen Contact zu ſetzen: da fand man ihn an 
der Spitze. Er war der Präſident der litterariſchen Geſellſchaft, er 
war der Präſident der hiſtoriſch-archäologiſchen Geſellſchaft, er war 
eines der thätigſten Mitglieder von beiden und einer der Hauptarbeiter 
an der Revue d'Alsace. 

Auch für die neuen Parteien gibt es ein ſolches Feld der Ver⸗ 
einigung, und es iſt kein anderes als das alte, auf welchem ſich Herr 
Spach zeitlebens mit ſo großer Vorliebe bewegte. Der Boden der 
Vermittelung iſt die Wiſſenſchaft, es ſind die allgemeinen Intereſſen 


Ludwig Spach. 41 9 


der Bildung. Schon jetzt war es nicht möglich, den eingewanderten 
Deutſchen den Zutritt zur hiſtoriſchen Geſellſchaft zu wehren, und 
wir hoffen auf erfolgreiches Zuſammenwirken. Auch hier aber iſt der 
erſte entſcheidende Schritt von keinem Anderen als Herrn Spach aus⸗ 
gegangen. 1 

Er hat ſich, wie gejagt, rückhaltslos auf die Seite der Deutſchen 
geſtellt. Er ſah voraus und acceptirte die Bevorzugung der deutſchen 
Sprache im Allgemeinen. Aber er betonte auch andererſeits mit Recht: 
„Ueber dem Knie abzubrechen mit der achtzigjährigen überkommenen 
franzöſiſchen Bildung ſchiene nicht rathſam.“ Er hat ſeiner Zeit ein 
weſentlich franzöſiſch gebildetes Publicum unermüdlich hingewieſen auf 
die Schätze der deutſchen Litteratur. Möge er jetzt ſeine Stellung 
an der neuen Reichsuniverſität benutzen, um die deutſche Jugend hin⸗ 
zuweiſen auf das, was innerhalb der franzöſiſchen bleibende Bedeu⸗ 
tung und hohen Werth beſitzt auch für uns. 

Ein Werk der Vermittelung iſt auch das vorliegende Buch. 

Es will die eingewanderten Deutſchen in die Tradition des 
früheren geiſtigen Lebens der Elſäſſer, insbeſondere Straßburgs, ver- 
ſetzen. Der Verfaſſer beginnt mit einer Charakteriſtik der Präfecten 
des niederrheiniſchen Departements. Er ſchildert die Maires von 
Straßburg. Er entrollt eine Bilderreihe alſaciſcher deutſcher Dichter. 
Er macht uns mit den franzöſiſchen Poeten des Elſaſſes bekannt. Er 
führt uns die neueren elſäſſiſchen Geſchichtſchreiber vor. Er geleitet 
uns in die hiſtoriſche, in die litterariſche, in die naturwiſſenſchaftliche 
Geſellſchaft, in die Ackerbaugeſellſchaft des Unterelſaß, in die Société 
industrielle von Mülhauſen. Wir wohnen mit ihm den öffent⸗ 
lichen Vorleſungen bei, wir beſuchen die frühere Akademie und das 
Straßburger Theater. Wir durchblättern die Revue d'Alsace, die 
Revue catholique, die Gazette médicale de Strasbourg, die poli- 
tiſchen Journale des Elſaſſes von 1800 bis 1870. Wir ſtehen be- 
trachtend ſtill vor einigen hervorragenden Erzeugniſſen moderner 
elſäſſiſcher Sculptur. Wir werden über die kirchlichen Zuſtände des 
Elſaſſes orientirt. Das Buch verbreitet ſich mit gleichem Intereſſe 
über die Verhältniſſe der Proteſtanten, der Katholiken und der Juden. 
Mit einem Wort: wir erhalten ein ſo allſeitiges und vollſtändiges 


Gemälde des geiſtigen Lebens im Elſaß während des neunzehnten 
27% 


420 Ludwig Spach. 


Jahrhunderts, wie es entfernt nicht für eine andere deutſche Stadt 
oder Landſchaft unternommen oder vollends ausgeführt wurde. Und 
dies alles in einer Sprache von vollendeter Leichtigkeit, Anmuth und 
Geſchmeidigkeit. Der Verfaſſer verſteht uns anzuziehen, feſtzuhalten 
und befriedigt zu entlaſſen. Auch ſcheinbar trockener Stoff belebt ſich 
unter ſeinen Händen. Langweile kommt nie auf, und man fühlt ſich 
nicht blos feſſelnd unterhalten, ſondern reich belehrt. Die ſchwierige 
Aufgabe ſcheint dem Verfaſſer ſpielend und mühelos zu glücken. Und 
daß ihm die deutſche Sprache als litterariſches Medium viele Jahre 
lang beinahe gänzlich fremd war, das merkt nur der ſehr aufmerkſame 
Leſer und nur an ſehr wenigen Stellen. Herr Spach iſt ein Meiſter 
der Form. 

Auf das politiſche Leben fällt manches bedeutſame Streiflicht. 
Es iſt intereſſant zu beobachten, wie der unaufhörliche Syſtemwechſel 
Frankreichs auch nach der Grenzprovinz ſeine Wellen wirft. In 
Uebergangszeiten ein fortwährender Wechſel der Präfecten. Der Nach⸗ 
folger immer der Feind des Vorgängers: was dieſer geſchaffen und 
begünſtigt, das wird von jenem principiell vernachläſſigt oder wol 
gefliſſentlich geſchädigt. Die beſte Zeit wird auf Wahlagitation ver⸗ 
ſchwendet. Den Wahlen iſt ſchließlich jedes andere Intereſſe unter⸗ 
geordnet. Das Alles freilich iſt an ſich nichts neues, aber es wird 
anſchaulicher an dem concreten Beiſpiel. 

Am liebſten verweilen wir, wo wir den Verfaſſer am meiſten in 
ſeiner geiſtigen Heimat finden, bei ſeinen Berichten über die Thätig⸗ 
keit der gelehrten Geſellſchaften, über die Erſcheinungen der Litteratur 
und Kunſt. 

Ueber dieſe Dinge konnte er ſprechen, wie es niemals ein aus⸗ 
wärtiger Beobachter oder ſelbſt ein Eingewanderter im Stande war. 
Er hat die volle Vertrautheit, die abſolute Sachkunde und den Ein⸗ 
blick ins innere Getriebe. Aber er ſpricht wie der Präſident einer 
Verſammlung über die einzelnen Mitglieder. Er ſucht ein gleich- 
mäßiges Licht zu verbreiten, nur ſehr ſelten fallen dunklere Schatten. 
Er erweiſt manchmal den Unbedeutenden zu viel Ehre, und er erweiſt 
den Bedeutenden nicht genug. Und ſo muß denn der Unterzeichnete 
eigene frühere Urtheile dem ausdrücklichen Widerſpruch des verehrten 
Verfaſſers gegenüber noch immer ausdrücklich feſthalten. Gerade ſeine 


Ludwig Spach. 421 


vorliegende Darſtellung kann zur Beſtätigung dienen. Auch er ſpricht 
von „unſerer proſaiſchen Zwittergeſellſchaft“ (J. 138) und beklagt „die 
befähigten Geiſter, die hier zu Lande der zwitterhaften Stellung 
zwiſchen Oſt und Weſt zum Opfer fielen“ (I. 103). Und wenn man 
ein Geſammtreſultat ſeines Berichtes ziehen wollte, ſo empfängt man 
den Eindruck: eine Schaar ausgezeichneter Kräfte bemüht ſich um die 
undankbare Aufgabe, durch künſtliche ſchwierige Leitungen unter einer 
verzehrenden Sonne, in ſchwüler Luft, unter heißen ausdörrenden 
Winden ein Fleckchen Land grün und kühl und für den Anbau ge⸗ 
eignet zu erhalten — unwillkürlich legt man ſich die Frage vor: was 
würden dieſe Kräfte geleiſtet haben unter einem andern Himmels- 
ſtrich? 

Wir bedauern übrigens, daß der Herr Verfaſſer nicht die Thä⸗ 
tigkeit der Elſäſſer außerhalb des Elſaſſes in umfaſſender Weiſe be⸗ 
rückſichtigt hat. Es iſt ein glänzendes Blatt in der Geſchichte der 
modernen franzöſiſchen Malerei, welches durch elſäſſiſche Namen aus⸗ 
gefüllt wird. Auch wie viel die Pariſer Journaliſtik von elſäſſiſchem 
Geiſte und ſpeciell von den Zöglingen des proteſtantiſchen Seminars 
profitirt hat, darüber wünſchte man gern Näheres zu erfahren. Ein 
Mann wie Edmond Scherer. hätte wol eingehende Darſtellung ver⸗ 
dient .... Doch wir dürfen keine Anſprüche an den Verfaſſer ſtellen, 
welche er aus ſeinem Plane mit vollem Bewußtſein ausſchloß. Er 
hat ſich die Frage wol vorgelegt, ob er elſäſſiſche Schriftſteller auf- 
nehmen dürfe, die, in Paris lebend, ganz im Pariſer Leben auf⸗ 
gegangen ſind. Und er beſcheidet ſich nur diejenigen zu beſprechen, 
die durch irgend ein ſichtbares Band mit dem Elſaß in Contact ge- 
blieben ſind. 8 

Herr Spach ſpricht in der Vorrede von der undankbaren Rolle 
des Vermittlers, die er, einem angeborenen Triebe folgend, nicht ver⸗ 
leugnen wolle. Nun in der That, Undank genug von Seiten ſeiner 
Landsleute hat ſie ihm eingetragen. Möge ihm dafür der aufrichtige 
Dank und die unverholene Anerkennung der eingewanderten Deutſchen 
eine ſchwache Entſchädigung bieten. Die Jugendfreunde die er 
verloren, die alten Genoſſen die ſich von ihm gewendet — dieſe 
können ſie ihm nicht erſetzen, die Lücke in ſeinem Herzen, welche die 
neuen Zuſtände nothwendig reißen mußten, in keiner Weiſe ausfüllen. 


422 Ludwig Spach. 


Aber Herr Spach ſieht ein neues Leben hervorſprießen in dem Lande, 
das er vor allen liebt. Er ſieht jene Intereſſen der Bildung geſchützt 
und gefördert, für die er vor Allem lebt. Von jenen Parteien, deren 
ſchroffe Sonderung er ſo ſehr beklagt, wird die nächſte Generation 
nichts mehr wiſſen. Er kann mit Beruhigung in die Zukunft ſeiner 
Heimat blicken. Und er kann die Ueberzeugung feſthalten: daß dieſe 
Zukunft ihn ehren und feinen edlen Beſtrebungen die vollſte Gerech— 
tigkeit widerfahren laſſen wird. 


Straßburg, 18. April 1873. 


II. 


Henri Farel, roman alsacien, par Louis Lavater. Paris, Adolphe 
Guyot, 1834. 


Endlich alſo halt ich das merkwürdige Buch in Händen, auf das 
ich ſo lange vergeblich Jagd machte. Der Verfaſſer ſelbſt beſaß kein 
Exemplar mehr, Niemand in Straßburg will den Roman kennen, in 
der Heitziſchen Bibliothek, welche die ganze alſatiſche Litteratur in 
ſeltener Vollſtändigkeit darbietet, iſt er nicht vorhanden: das Buch 
hatte ſeiner Zeit großen Anſtoß gegeben, die provinzielle Prüderie 
fand ſich tief beleidigt durch die Anſpielungen auf bekannte Ereigniſſe, 
die dem Gedächtniß der Mitlebenden noch nicht entſchwunden waren, 
durch das kühne Wagniß, die Geheimniſſe des ehelichen Lebens offen 
zu beſprechen, durch die Unbefangenheit, mit welcher gelegentlich 
Pariſer Sittenzuſtände künſtleriſch verwerthet werden. Man machte 
dem Verfaſſer einen Vorwurf aus ſolchen Einzelheiten und überſah, 


was die Hauptſache war, daß man ein Werk vor ſich hatte, das wie 


wenig andere zur Ehre der elſäſſiſchen Heimat geſchrieben war. 

Der Henri Farel iſt 1834 erſchienen, zwei Jahre nach der 
Indiana von George Sand, und man glaubt zu merken, falls nicht 
ein Zufall uns täuſcht, daß ſich der Verfaſſer dem Einfluſſe dieſer 
hinreißenden Erſcheinung nicht entziehen konnte. Auch hier eine Frau 
ohne inneres Verhältniß zu ihrem Manne, und zwei Liebhaber: der 
eine treu, ſchmucklos, etwas proſaiſch, in rührender Hingebung unab⸗ 
löslich gefeſſelt; der andere brillant, verführeriſch — dieſer zweite 


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Ludwig Spach. 493 


beſitzt ihr Herz, das für ihn nur eine vorübergehende Studie bildet, 
woran er ſich die erſten Sporen in Liebes ſachen verdient. Die arme 
Frau iſt ſchließlich tief gedemüthigt und fühlt ſich zurückgeſtoßen und 
mit empörender Gleichgiltigkeit behandelt, wie Indiana. Aber es iſt 
dann kein Tröſter zur Hand, ſondern jener treue, beſcheidene hat 
mittlerweile den Tod vorgezogen. 

Es iſt eine unverkennbare Aehnlichkeit, aber es ſind auch be— 
ſtimmte Unterſchiede vorhanden. Die Typen ſind nicht ſo allgemein, 
nicht ſo unbedingt und unwahrſcheinlich idealiſirt. Die Sand malt 
die Männer in der Regel, wie ſich eine Frau von großen Leiden— 
ſchaften dieſelben wünſcht, als Ausbund alles Guten, Großen und 
Schönen und doch ohne rechten Beruf. Oder der ganze Menſch wird 
auf eine einzige Eigenſchaft gebaut, die ſich in ihm incarnirt, er iſt 
blos treu z. B., aber dann auch treu bis zum Exceß, hundetreu, er erſtickt 
alle Eiferſucht, bleibt unnatürlich beſonnen und verſtändnißvoll und 
ſtets vollendeter Cavalier. Henri Farel iſt nicht ſo, er iſt ein ganz 
natürlicher Menſch und könnte jeden Augenblick in der Wirklichkeit ſo 
vorkommen. Er ſchmachtet in den Feſſeln der Frau Minna von 
Wangenheim. Maßloſe Eiferſucht verzehrt ihn, er quält ſie, oft 
thöricht, oft mit Recht, oft lächerlich das Harmloſeſte zur Staats- 
affaire aufblähend, oft mit dem wunderbarſten Scharfblick wirkliche Ge⸗ 
fahren ahnend. Und, wie es ganz begreiflich iſt, er wird der Dame 
ſeines Herzens läſtig. Dieſes ewige Ueberwachen, dieſen ſchwerfälligen 
Mangel an Verſtändniß für die einfachſten, unverfänglichſten Dinge, 
das können Frauen nicht vertragen. Sie weiß trotzdem immer, was 
ſie an ihm hat, aber ſie läßt ſich hinreißen durch ihre grenzenloſe 
Schwäche und durch eine ſeltſame Verirrung des Herzens. 

Der brillante Liebhaber, der ſie bezaubert, iſt ein halbes Kind. 
Frau von Wangenheim hat ihn als Schüler in Paris geſehen, er iſt 
der Sohn einer elſäſſiſchen Landsmännin und Jugendfreundin und 
eines Pariſer Bankiers. Er ſoll in Straßburg ſeine Studien begin⸗ 
nen, die Mutter empfiehlt ihn an Frau von Wangenheim. Dieſe 
wünſcht heimlich, daß der junge Mann und ihre leidenſchaftlich ger 
liebte Tochter Lili ein Paar werden möchten. Aber Lili wird durch 
einen plötzlichen Tod dahin gerafft. Der talentvolle Pariſer, der das 
Mädchen immer als reines Kind behandelt hat, findet es für gut, 


424 Ludwig Spach. 


der Mutter die Cour zu machen, und Minna iſt nicht unempfänglich 
für ſeine Schmeicheleien, unmerklich, ihr ſelbſt unbewußt, wandeln 
ſich ihre mütterlichen Empfindungen in ein anderes Gefühl. 

Was den Hintergrund ſo vieler franzöſiſcher Romane ausmacht, 
die geſetzliche Unmöglichkeit der Eheſcheidung, das ſpielt auch hier ſeine 
Rolle. Aber der Verfaſſer hat überall die Wirklichkeit eines beſtimm⸗ 
ten hiſtoriſchen Momentes, eines beſtimmten Locals und feſter Be— 
dingungen des Standes und der Verhältniſſe im Auge. Der Roman 
ſpielt in der Zeit von 1810 bis 1816. Die Aufhebung der Ehe⸗ 
ſcheidung durch das Geſetz vom 16. Mai 1816 greift in das Leben 
zweier Menſchen ein und macht ſie unglücklich. 

Frau von Wangenheim hat zum erſten Mal deutlich beobachtet 
was in Alfred vorgeht, ſie ſieht mit Unruhe und Gewiſſensbiſſen die 
Gefahr vor ſich, daß der Sohn ihrer Freundin durch den Verkehr 
mit ihr in die Geheimniſſe einer Leidenſchaft eingeweiht werden könnte, 
welche ſeine lebhafte Phantaſie gewiß längſt geahnt: die ihr ſelbſt 
drohende Gefahr empfindet ſie noch nicht. Andererſeits hat der Tod 
ihrer Tochter das einzige Hinderniß hinweggeräumt, das für ihre 
Auffaſſung einer Scheidung entgegenſtand. Und wenn ihr manches 
an dem Gedanken einer neuen Ehe widerſtrebt: fie iſt ſie Farel 
ſchuldig, er hat ſie verdient durch jahrelange Treue, dadurch, daß er 
ſeine ganze Exiſtenz an die ihrige geheftet und nur für ſie gelebt hat. 
Sie darf hoffen, ſeine fürchterliche Eiferſucht werde doch endlich 
ſchwinden, wenn er am Ziele feiner Wünſche ſtehe. Sie fpricht alſo 
das Wort, fie gibt das Verſprechen, das ihn zum ſeligſten aller 
Menſchen macht. Er iſt außer ſich, ein Gefühl nie gekannter Wonne 
durchſtrömt den ſtarken Mann, ein Jubel erfüllt ihn, der ihm die 
Bruſt zerſprengen will. Mit Mühe beruhigt ſie ihn. Alle Verab⸗ 
redungen werden getroffen. Sie begeben ſich in den gemeinſchaftlichen 
Salon. Da iſt Herr von Wangenheim und andere Geſellſchaft. Der 
Gegenſtand ihres Geſpräches tritt bald für Minna und Farel hervor, 
die Nachricht, um die es ſich dreht, wird durch ein Zeitungsblatt 
belegt: „Geſetz vom 16. Juni 1816: Article unique: Le divorce 
est aboli.“ 

Ich beſchreibe die Wirkung nicht, die jeder Leſer ſchon nach dieſer 
ſchwachen Skizze ahnen muß. 


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Ludwig Spach. 425 


Das letzte Hoffnungslicht, das dem armen Farel aufging, iſt 
durch eine reactionäre Maßregel der Reſtauration ausgelöſcht und ver: 
nichtet. Zwei Menſchen, die noch glücklich ſein konnten, — die letzte 
Möglichkeit dazu iſt ihnen benommen. Nun geht Alles ſeinen Gang 
nach abwärts, wie es muß. 

Ich fühle, daß ich nicht im Stande bin, eine eigentliche Ana⸗ 
lyſe des Romans zu geben. Dazu müßte ich ihn von Anfang bis zu 
Ende ruhig erzählen, aber das objective Erzählen wird mir ſo ſchwer 
und der hier verarbeitete Stoff iſt ſo reich und mannigfaltig. 

Wenn einerſeits George Sand auf die Conception von ferne ein⸗ 


gewirkt zu haben ſcheint, ſo finden wir andererſeits die unzweifel⸗ 


hafteſten Anklänge an Goethe, namentlich an die Wahlverwandt— 
ſchaften, weniger an Wilhelm Meiſter. 

Henri Farel iſt ein Schweizer Fabrikant, Sohn eines Arztes aus 
der Familie des Reformators von Neufchatel. Er hat eine reichere 
humane Bildung erhalten, wie der Goethe ſche Kaufmannsſohn, die 
Schweiz hat ſeinen Naturſinn ausgebildet, er iſt ein Poet geworden in 
Auffaſſung der Dinge dieſer Welt und in den Bedürfniſſen ſeines Herzens. 

Um ihn ſind drei Frauen gruppirt. | 

Die erſte, Juliette, eine Jugendliebe, hat er vergeſſen: er ſieht 
ſie wieder unmittelbar vor ſeiner Hochzeit mit einer andern. Sie 
aber lebt von dem Andenken der Stunden, die ſie auf der Inſel 
Ufenau als halbe Kinder getheilt. Sie liebt ihn ihr Leben lang. Sie iſt 
wie ſein guter Engel, der ihn aus der Ferne beſchützt, und in dem 
Augenblicke einer großen Gefahr tritt ſie als Retterin ein. 

Die zweite iſt Madeleine, eine ländliche Schönheit, an Bildung 
tief unter Farel ſtehend. Trotz den Warnungen ſeines Vaters und 
Bruders — eines Pfarrers, zu dem er kein rechtes Verhältniß hat —, 
trotz dem Wunſche ſeiner verſtorbenen Mutter, der ihm allerdings zu 
ſpät bekannt wird — macht er ſie zu ſeiner Frau. Die Ehe wird 
unglücklich, wie ſich erwarten ließ; ſie iſt eine innere Unmöglichkeit. 
Madeleine hat die bedenklichſten Seiten ihres Charakters mit bäuriſchem 
Inſtinct zu verbergen gewußt, ſie hat ihn ſechs Jahre lang feſtge— 
halten durch verſtellte Demuth und eine ſtets unveränderte Sanftmuth. 
Sobald ſie Frau iſt, kommt ihr wahrer Charakter faſt brutal an den 
Tag. Sie ſtrebt nach unbedingter Herrſchaft über einen Mann, den 


426 Ludwig Spach. 


ſie nicht verſteht, dem ſie geiſtig nichts gewähren kann und dem ihre 
kalte Natur ſinnlich nichts gewähren will... 

Zu ſpät ſieht Henri Farel die Unhaltbarkeit ſeiner Ehe ein, aber 
er will keine Scheidung, obgleich dieſe geſetzlich möglich wäre. Er 
hat ein zu lebhaftes Gefühl von Ehre, um die Geſetze feines Vater⸗ 
landes für ſich aufzurufen, ehe er alle Mittel erſchöpft ſieht, um ſeine 
angetraute Gattin in Wirklichkeit zu gewinnen. 

j Madeleine ſoll zu ihrer Mutter zurückkehren, ſeine Geſchäſte 
rufen ihn nach auswärts, er will fie nur in Unterbrechungen ſehen. 

Er geht ins Elſaß. Herr von Wangenheim, Fabrikant wie er, for⸗ 

dert ihn auf fein Aſſocié zu werden. | 

Dort auf der einſamen Fabrik (ihre Lage ſcheint in der Nähe von 
Zabern gedacht) tritt ihm die dritte Frau entgegen, deren Einfluß auf 
ſein Herz entſcheidend wird. Der Abbruch ſeines Geſchäftes in der 
Schweiz fällt zuſammen mit dem Tode ſeines Vaters, dieſer Tod 
bewirkt eine Annäherung zwiſchen Heinrich und Madeleine; ſie ver⸗ 
langt in die neue Heimat mitgenommen zu werden, und Heinrich 
gibt widerſtrebend nach. Minna von Wangenheim wünſcht nichts 
anderes als ihn zum Freunde zu behalten, aber ſie wünſcht auch ein 
innerlich glückliches Verhältniß zwiſchen den beiden Gatten. Sie be⸗ 
nutzt ihren Einfluß auf Heinrich, um eine Annäherung herbeizuführen. 
Aber die Eiferſucht Madeleines, ihr Haß gegen Minna, geſchürt durch 
boshafte Einflüſterungen Wangenheims und Anderer, iſt nicht zu 
ſtillen. Es kommt zu einer neuen heftigen Seene. Madeleine gebiert 
unter dem Beiſtande Minnas vor der Zeit ein todtes Kind. Heinrich 
iſt vier Stunden unterwegs geweſen, um Hilfe zu holen, zurückkehrend 
findet er Alles vorbei. 

Un enfant mort-né était couché sur un fiutsuft ; des 
mouchoirs blancs couvraient ce petit cadavre; une jolie tete 
päle sortait seule de dessous cette enveloppe. Henri, les larmes 
aux yeux, s’agenouilla pour le voir de plus pres; et, dans 
le m&me instant, il rebondit sur ses pieds. 

— Qu’avez-vous? lui demanda Minna. 

— L' avez-vous bien fixe, madame? 

— Non, reprit-elle en rougissant. 

Ils ne s’etaient que trop bien compris. En voyant ces 


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Ludwig Spach. 427 


traits à peine ebauches, empreints pourtant d'une criminelle 
ressemblance, il semblait a Henri qu' un enfant de Minna 
venait de mourir. 

Das Citat wird genügen, um die Einwirkung der Wahlver⸗ 
wandtſchaften außer Zweifel zu ſtellen. 

Schiller und Goethe und andere deutſche Dichter kehren nicht 
blos dem Verfaſſer ſelbſt fortwährend wieder, Situationen und 
Charaktere aus ihren Werken ſind nicht blos ihm vielfach gegenwärtig, 
und er zieht ſie wie zur Erläuterung herbei: ſondern auch in einzelne 
ſeiner Perſonen legt er das gleiche Intereſſe. 

Heinrich Farel iſt mit deutſcher Litteratur vertraut, und im 
Juni 1815 auf Vorpoſten am Rhein als Hauptmann einer Freiſchaar 
zieht er in der Nacht am Biwachtfeuer Körners Gedichte heraus: 
mit denſelben Verſen, welche ſeine jungen Landsleute gegen die Fran⸗ 
zoſen begeiſterten, facht ein Menſch von germaniſcher Raſſe unter den 
franzöſiſchen Fahnen ſeinen Kriegsmuth an. 

Ich kann die Erfindung dieſes Motivs nicht eben loben, ich halte 
es für recht eee e Aber es iſt charakteriſtiſch für den 
Verfaſſer. 

Alfred, von mütterlicher Seite Elſäſſer d. h. Deutſcher, von 
väterlicher Seite Franzoſe, ſtellt dieſe Gegenſätze auch in ſeinem 
Charakter dar. Die beiden Nationalitäten ſtoßen in ihm wie auf 
einem Schlachtfelde zuſammen, ſie machen ihn unruhig und unent⸗ 
ſchloſſen, heute arbeitſam und der edelſten Vorſätze voll, morgen träg 
und gleichgiltig; heute enthuſiaſtiſch wie einen Berliner Studenten, 
morgen ſpöttiſch wie einen Pariſer Gamin. 

Dieſer junge Alfred aber hat es durchgeſetzt, daß er nicht in das Ge⸗ 
ſchäft ſeines Vaters einzutreten braucht, er will Schriftſteller werden 
und möchte ſich mit deutſchem Geiſte befruchten. Die deutſchen Dich- 
ter, von denen er einige Kenntniß aus den Geſprächen ſeiner Mutter 
ſchöpfte, will er an der deutſchen Grenze ſtudiren. Er geht nach 
Straßburg. Da discutiren die Studenten über Schiller und Goethe 
ganz wie in Deutſchland. Den Profeſſor Arnold, den Verfaſſer des 
Pfingſtmontag, machen ſie zum Schiedsrichter ihres Streites. Alfred 
lernt einen ungariſchen Offizier kennen, der eine für einen Ungarn 
allerdings merkwürdige, aber doch nicht unmögliche Bekanntſchaft 


428 Ludwig Spach. 


mit deutſcher Litteratur verräth. Der meint: „Die Franzoſen ſollten 
ſich rächen für die Millionen, die wir ihnen entführen werden, indem 
ſie unſere litterariſchen Schätze plündern. Es iſt klar, daß Ihr einer 
Erneuerung bedürft. Ich will des Teufels ſein, wenn nicht unſere 
jungen Berliner Offiziere aus ihren Reiſetaſchen einige Bände Schiller 
auf den Straßen von Paris fallen laſſen: man wird ſie aufheben.“ 

Damit ſcheint Alfred ganz einverſtanden. Als er von Minna 
zärtlichen Abſchied nimmt, iſt er im Begriff nach Berlin aufzubrechen. 
Und zu Ende des Romanes, wo ihn die Unglückliche aufſucht und ſo 
ſchnöde behandelt wird, da iſt er eben von Berlin zurückgekehrt und 
corrigirt die erſten Bogen feines erſten Werkes: un resume brillant 
des doctrines philosophiques qu'il avait eeremees a Berlin, un 
coup d’oeil prophetique sur l'avenir littéraire de la France. 

Die Erfindung hat nichts Unwirkliches. Man erinnert ſich, wie 
ſtark gerade die deutſche Philoſophie von der wünsch eklektiſch 
ausgebeutet wurde. 

Aber man fühlt durch, wie der Verfaſſer des Mama ſeine 
eigene Lebensaufgabe in einer ähnlichen Vermittelung erblickt, wie 
er auf dem Gebiete der Poeſie deutſche Anregungen in Frankreich 
verwerthen möchte. 

Gleichwohl, wie ſtark auch fremde Einwirkungen ihn beherrſchen 
mögen, es iſt in ſeinem Buche ein Element, das ſich weder auf fran⸗ 
zöſiſche noch auf deutſche Vorausſetzungen, weder auf die Sand noch 
auf Schiller und Goethe zurückführen läßt und das innerhalb der 
deutſchen Litteratur nachher durch Immermanns Münchhauſen und 
die Dorfgeſchichten repräſentirt wird. Man iſt leicht mit dem Schlag⸗ 
worte „Realismus“ zur Hand. Man darf ſich auf das ſtark ent- 
wickelte elſäſſiſche Heimatsgefühl berufen. Man kann die Erzählungen 
von Erckmann⸗Chatrian vergleichen, denen ich aber Spachs Roman 
bei weitem vorziehe. Das eigentlich Entſcheidende jedoch iſt der echt 
hiſtoriſche Sinn des Verfaſſers, der ſich hier einem poetiſchen Pro— 
ducte mittheilt und es überall durchdringt, ohne daraus einen ſoge— 
nannten hiſtoriſchen Roman zu machen. Das Hiſtoriſche drängt 
ſich nicht auf, es iſt nicht um ſeiner ſelbſt willen da, es ſollen nicht 
nebenbei geſchichtliche Kenntniſſe mitgetheilt und große hiſtoriſche Er- 
eigniſſe zur Erhöhung des poetiſchen Reizes beigezogen und hervor— 


Ludwig Spach. . 429 


ragende Perſönlichkeiten eingeführt werden, die bei dem Leſepublicum 
ein ähnliches Bedürfniß der Neugier befriedigen, wie man etwa Bis⸗ 
marck unter den Linden zu begegnen ſucht oder ſich in die Nähe der 
Monarchen oder großer Kriegshelden drängt, um ſie von Angeſicht 
zu Angeſicht zu ſehen; nichts von alle dem. 

Der Verfaſſer ſucht, wie ſchon bemerkt wurde, die höchſte locale 
und zeitliche Beſtimmtheit. Dieſe braucht er, um ſeine Perſonen 
lebendig zu concipiren. Schweiz, Elſaß, Paris: das Alles hebt ſich 
in den Contraſten der Wirklichkeit von einander ab; die landſchaft⸗ 
lichen Schönheiten der Alpen und der Vogeſen werden nicht vergeſſen; 
die politiſchen Verhältniſſe der Schweiz und des Elſaſſes ſpielen herein. 
Wie Farel das erſte Mal in Straßburg iſt, wohnt er den Empfangs⸗ 
feierlichkeiten für Marie Louiſe bei. Er hat früher in der Schweiz 
gegen die Franzoſen gekämpft, 1815 kämpft er unter Rapp gegen die 
Deutſchen als Eindringlinge. Die moraliſche Verderbniß der Revo— 
lutionszeit findet ihre Typen in Herrn von Wangenheim und ſeinem 
Vetter Jean, dem ehemaligen Genoſſen von Eulogius Schneider. 

Die verſchiedenen Nationalitäten ſind ausgezeichnet charakteriſirt. 
Dem Helden haftet etwas ſpecifiſch Schweizeriſches an. Das Deutſch— 
thum wird unter anderem durch den Studenten Bernhard Link ver⸗ 
treten, ein warmes ehrliches Herz bei pedantiſchem Aeußeren, ein 
Typus jenes deutſchen Enthuſiasmus, der ſich gleichzeitig für die 
Wiſſenſchaft und irgend eine ideale Liebſchaft begeiſtert. Dazu kommt, 
damit in den Hauptgegenſätzen des Deutſchen und Franzöſiſchen ſich 
nicht Alles erſchöpfe, die kleine heißblütige Italienerin Laurette, Juliet⸗ 
tens Freundin, und der ungariſche General Gadi mit ſeiner ſolda— 
tiſchen Biederkeit und ſeinen lateiniſchen Floskeln, eine köſtliche, lebens— 
wahre, höchſt gelungene Figur. 

Nicht minder heben ſich die Stände von einander ab. Made⸗ 
leine und die ſchöne Müllerin Roſette, ſo wie der Müller Jean ſind 
vortreffliche gar nicht geſchmeichelte Typen des Bauernthums. Von 
allen Nebenperſonen, auch wenn ſie ganz im Hintergrunde bleiben, 
erhält man ein feſtes Bild, jo von Madeleines Mutter, von Juliet⸗ 
tens Vater. Dazu die religiöſen Gegenſätze: Heinrich Farel Deiſt; 
Minna gleichfalls liberal geſinnt; dagegen Alfreds Mutter orthodoxe 
Lutheranerin; der gute Paſtor Reſſel ein rechter Bauernpfarrer; 


430 Ludwig Spach. 


endlich die Ueberbleibſel der Schreckenszeit, die atheiſtiſch-glaubens⸗ 
loſen, aber jetzt äußerlich der Kirche ſich fügenden Wangenheims. 

Bei allem Guten was ich von dem Buche geſagt habe — und 
ich gab doch nur eine ganz objective und höchſt lückenhafte Charakte⸗ 
riſtik — darf ich nicht verhehlen, daß man dem Verfaſſer anmerkt, 
er ſteht nicht auf der Höhe ſeiner Kunſtübung, ſondern am Beginn. 
Manche Uebergänge ſind zu hart; mehrfach vermißt man ſtrenge 
Motivirung, das Benehmen Madeleines z. B. wird nicht völlig klar; 
nicht überall iſt man überzeugt, daß die Dinge ſo gehen mußten wie 
ſie der Verfaſſer gehen läßt. Der Anfang des Anfangs, daß Farel 
ſo blind in ſein Verhängniß rennt, daß er in ſechs Jahren Madeleine 
nicht beſſer kennen gelernt, daß er z. B. jetzt zum erſten Mal erfährt, 
ſie habe keinen Sinn für die Natur: das ſcheint nicht recht glaublich. 
Das Ungeheuer Wangenheim, Minnas Gemahl, iſt allzu ſehr Unge⸗ 
heuer; er iſt ſo ſehr durchtriebener Teufel, daß man ihn für einen 
bloßen Theaterteufel halten möchte. Am meiſten aber, dünkt mich, 
wäre noch für Minna zu thun. Sie iſt nicht hinlänglich ausge⸗ 
ſtattet mit reinem, beſtrickendem, den Leſer unmittelbar ergreifendem 
Reize. Sie macht den Eindruck eines unvollkommenen Porträts: der 
Künſtler war von dem Original vielleicht zu ſehr entzückt, er verlor 
die Sicherheit der Beobachtung und weiß in dem Beſchauer darum 
nicht das gleiche Entzücken hervorzurufen. Oder er will ſich unwill⸗ 
kürlich rächen für die Bewunderung die ihm abgezwungen worden, 
und ſo hebt er die kleinen Züge mehr hervor als die großen. 

Aber neben einzelnen Fehlern, welchen bedeutenden Eindruck 
empfängt man doch im Ganzen. Welche reichen Anlagen, welche tief 
ergreifenden Situationen, welche Kenntniß des weiblichen Herzens, 
welche draſtiſchen Erfindungen. Wie ſchade, daß dieſem erſten Schritte 
keine weiteren folgten, daß der Verfaſſer ſein Talent nach dieſer Seite 
hin nicht ausbildete! 

Iſt etwas Symboliſches dabei, wenn die Elſäſſerin Minna den 
ſchwerfälligen ehrlichen deutſchen Farel ſo tief kränkt, dadurch, daß ſie ihr 
Herz nicht verſchließen kann gegen den Zauber eines jungen Pariſers? 

Ludwig Lavater ſchildert den verhängnißvollen Einfluß, den die 
Aufhebung der Eheſcheidung von 1816 auf das Schickſal von Heinrich 
Farel nimmt. 


7 Zu u Ye re 


Ludwig Spach. 431 


Soll ich zu ſchildern ſuchen, welchen verhängnißvollen Einfluß 
die Rückgabe des Elſaſſes an Frankreich in den Pariſer Verträgen 
von 1814 und 1815 auf Ludwig Spach genommen hat? 

Was hätte ein Mann von dieſen wiſſenſchaftlichen und poetiſchen 
Gaben für die deutſche Litteratur werden können. Was für einen 
Geſchichtſchreiber hätten wir an ihm gewonnen mit dieſer glücklichen 
Aumuth und Leichtigkeit der Sprache, mit dieſer vergegenwärtigenden 
Phantaſie, mit dieſer Gabe zu charakteriſiren, mit dieſen allſeitigen 
Culturintereſſen und dem ſicheren Blick für politiſche Verhältniſſe. 

In Frankreich hat er entbehrt was nur Paris gewähren konnte 
und was es ihm verſagte, was Niemand entbehren kann der in die 
erſte Reihe gehört: das Gefühl zuſammen zu arbeiten mit den Beſten, 
an ihnen ſein erſtes ebenbürtiges Publicum, ſeine gerechten Richter 
und ſeine fördernden Gleichſtrebenden zu beſitzen. 


28. December 1873. 


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