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in 2013
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Wtvk
in zwei Bänden
Erster Band
★
1932
S. FISCHER / VERLAG / BERLIN
Ausgewälilt, übertragen und eingeleitet von
Hans Reisiger
Mit vier Bildnissen
Erste bis vierte Anflag^e
Alle Becbte vorbehalten
EINLEITUNG
- . . Vor all meinen hochfahrenden Gedichten steht mein wahres
Ich noch immer unberührt, unausgesprochen,
Weit abseits, meiner spottend mit spöttisch-beglückwünschendem
Neigen und Grüßen,
Mit fernher schallendem, ironischem Gelächter über jedes Wort,
das ich schrieb.
ATLANTISCHE WIEGE
Paumanok
Meerschönheit! hingestreckt, besonnt!
Die eine Seite von deinem innern Ozean bespült, voll reichen Handels, Üampt-
und Segelschiffen,
Die andre vom atlantischen Wind geküßt, wild oder zart, — gewaltige Rümpfe
dunkel gleitend in die Ferne;
Eiland voll süßer Quellen trinkbaren Wassers — Boden und Luft gesund!
Eiland der salzigen Rüste, Luft und Flut !
Von Montauk Point
Ich stehe wie auf eines mächtigen Adlers Schnabel,
Ostwärts die See einatmend, schauend (nichts als Himmel und See),
Die hüpfenden Wellen, Schaum, die Schiffe in der Ferne,
Landsüchtige Unrast schneegekräuselter Kronen,
Die ewiglich die Küsten sucht.
Walt Whitman wurde am 3i. Mai des Jahres 1819 auf der
Farm West Hills nahe der kleinen Hafenstadt Huntington auf der
Insel Long Island geboren. Welcherart war das Fleisch und
Blut, in dem diese neue Seele sich inkarnierte? und welcherart
die irdische Umgebung, in der sie die Augen aufschlug und heran-
wuchs? — Die Antwort auf beide Fragen umschließt ein mehr-
fach und stark Gedoppeltes.
Zwei Blutströme trafen sich in Walt Whitman, beide pulsierend
von Auswandererlust, von Drang nach neuer Welt, beide kräftig her-
vorsprudelnd aus gesicherter Scholle, gespeist aus reinen und tiefen
Quellen gesunder Geschlechter. Von England her der eine : Bauern-
blut, gereift unter den freiheitlichen Strahlen der elisabethanischen
Sonne, die damals, mit dem 17. Jahrhundert, über dem Inselreich
aufstieg und unter deren Jahrzehnte währendem Friedenslicht die bis-
her in innerer Zerrissenheit vergeudeten Kräfte zum erstenmal in freu-
diger Geschlossenheit und Tatkraft nach außen hin gewandt wurden.
IX
Getragen und geadelt war dieser Drang in die Welt durch den starken
und geraden Charakter der Generation. Etwas von dem jugendlichen
Glanz und Überschwang, der die wandernden Goten umflügelte,
war mit diesen Männern; Kameradschaft, Freigebigkeit, Ruhm-
liebe, die sich zu kindlicher Prahlsucht steigerte, gingen laut und
fröhlich zusammen mit tiefer Frömmigkeit, mit glühendem Glauben
an die freie Menschennatur, an das eigene Ich und das der an-
deren, mit einer Hingabe an die eigenen Ideale bis in den Tod.
Sie gingen mit Lust in die Welt, weil sie ihre eigene Welt mit
sich trugen. So gründeten sie Virginia, die erste Kolonie zu Ehren
der jungfräulichen Königin, und verpflanzten die Keime zur Wesens-
art des späteren und heutigen Amerikaners in die Neue Welt. So
wandte sich eine ihrer Scharen auch weiter nördlich nach Con-
necticut. „True Love", „Treue Liebe" war der kindlich-schöne
Name des Schiffes, mit dem sie über den Ozean fuhren, und einer
der Ihren hieß Zachariah Whitman und war der Sohn des alten,
daheimgebliebenen elisabethanischen Bauern Abijah W^hitman. Er
wurde Prediger in Milford, Conn., denn tatkräftige Frömmigkeit
wohnte in ihnen dicht neben der handfesten Abenteurerlust. Sein
Sohn Joseph W^hitman setzte mit vielen anderen um 1660 über
den schmalen Sund hinüber nach der Insel, die Long Island ge-
tauft wurde. Dort hatten Vorläufer bereits ein Gebiet den einge-
borenen Indianern um sechs Röcke, sechs Paar Schuhe, sechs Äxte,
Perlenschnuren und dergleichen abgekauft und an einer der tiefen
Buchten das Hafenstädtchen Huntington, zu deutsch Jägerstadt,
gegründet. Auf den Hügeln südlich der Stadt waren Farmen an-
gelegt worden, und eine von ihnen, die Farm West Hills, erwarb
Joseph Whitman.
Während des folgenden Jahrhunderts wuchs diese elisabetha-
nische Erobererrasse, die die Weite und Freiheit des Atlantischen
Ozeans und die unbändige Fruchtbarkeit des neuen Kontinents in
der Brust trug, zu immer stolzerem Selbstgefühl, das schließlich
im Unabhängigkeitskrieg gegen das Mutterland seinen Ausdruck
fand. Nun blitzen die Waffen und donnern die Musketen und
Kanonen in das Whitmansche Blut. Die Romantik der Indepen-
denten schlägt hinein. Ein Urenkel Josephs fällt in der Schlacht
bei Brooklyn, der inzwischen am Westrande der Insel, New York
gegenüber, emporgewachsenen Stadt; die Nacht darauf führt
X
Washington den Rest seiner geschlagenen Truppen im Schutze des
Nebels über den East River. Ein anderer Urenkel, Jesse Whitman,
heiratet die Nichte eines der gefürchtetsten Führer der Indepen-
denten, des Majors Brush, der in englischem Kerker verdorrt.
Jesses eigene Mutter reitet, braun, breit, männisch, die qualmende
Tabakspfeife zwischen den Zähnen, auf die Schlachtfelder mit und
führt, mit Flüchen nicht sparend, Büchse und Säbel. Aber nun
gleitet ein sanfterer Strom in das Blut. Jesses Erwählte ist ein feines,
damenhaftes Mädchen von stiller Klugheit. Eine Lehrerin. Sie so-
wohl als ihr Gatte neigten dem Quäkertum zu, und beide waren
herzlich befreundet mit dem damaligen Führer dieser Sekte, Elias
Hicks. Und so hielt es auch Walter Whitman, einer von Jesses
vielen Söhnen, der Vater Walt Whitmans.
Walter Whitman, 1789 geboren, erbte die Farm West Hills.
Er erlernte jedoch in New York auch das Handwerk eines Zimmer-
manns und baute Holzhäuser und Scheunen. Er war ein Riese an
Gestalt, wortkarg, ernst, verschlossen, von kindlicher Unbeholfen-
heit in Umgang und Gespräch, tüchtig in seiner Arbeit, aber
nicht gerade von glücklicher Hand in seinen Geschäften, eigen-
sinnig und zuweilen jähzornig. Das starke Blut seiner Rasse scheint
in ihm zu einem gewissen Stillstand gekommen zu sein, und es
bedurfte eines anderen, heißeren und tieferen Zustroms, um die
Mischung zustande zu bringen, aus der der größte Dichter und
Verkünder einer neuen Welt geboren werden konnte.
Dieser andere, mütterliche Strom hatte seine gesunde Quelle in
Holland. Die Holländer hatten die Stadt New-Amsterdam, das
spätere New York, gegründet und waren, ebenfalls um die Mitte
des 17. Jahrhunderts, auch auf die Insel Long Island hinüber-
gekommen und waren so, von Westen nach Osten vorrückend, dem
englisch-puritanischen Einwandererstrom, der von Norden her
kam, begegnet. Ihre Farmen grenzten an die Farmen des Gebietes
von Huntington, und der Major Cornelius van Velsor war der
Nachbar der Whitmans auf West Hills.
Ein helles Licht breiter Behaglichkeit liegt über diesen besitzes-
frohen Familien, und die ganze duftende Frische und Sauberkeit
Hollands. In ihren schmucklos freundlichen Heimstätten mit den
blankgescheuerten, mit weißem Sand bestreuten Dielen, mit ihrem
Zinngerät und ihren berühmten Punschen hausten sie auch in der
XI
neuen Heimat voll unerschütterlicher Ruhe, Gesundheit, Bedacht-
samkeit und Tüchtigkeit, in rotbäckigem Selbstgefühl und Eigen-
sinn. Hinter unbewegten, massigen Gesichtern saugten sie mit
stillen, hellblauen, kleinen Augen in aller Ruhe die Erscheinungen
der Welt in sich und verarbeiteten sie in einem Innern, das sich
nnerwarteterweise gern dem Übersinnlichen öffnete — ein Zug, der
sich bei den in Amerika geborenen Holländern noch verstärkte.
Die Staaten New York und Pennsylvania sind noch heute tief
von diesem holländischen Blut durchsetzt. Es bildete den tüch-
tigen Grundstoff, mit dem sich alle die just in diesen Staaten hin-
zukommenden unsteten und leidenschaftlichen Elemente zu einer
lebenskräftigen Mischung verbinden konnten. Zumal in den dor-
tigen Landgemeinden bildet die Bevölkerung holländischen Blutes
den festen Kern. Und in den Städten New York, Brooklyn, Albany
gilt holländische Abstammung als eine Art Adelsbrief.
Der Major Cornelius van Velsor war ein Urbild des Holländers,
wohlbeleibt, behaglich, rotbäckig. Wenn er mit seiner Tochter
Louisa durch die Felder ritt, so konnte sie niemand sehen, ohne
die beiden sogleich an Gestalt, Gesicht und Farbe als Holländer
zu erkennen. Und dennoch hatte diese Tochter noch ein anderes,
leidenschaftlicheres, unruhigeres Blut in sich.
Die Gattin des Majors und Mutter Louisas war Naomi Williams.
Sie war ein Kind des großen wallisischen Geschlechts der Williams,
das seit alters der Seefahrt verschworen war. Ihr Vater, Kapitän
John Williams, fand seinen Tod in der See. Ebenso sein einziger
Sohn. Die Walliser waren von jeher eine geistig bewegte, phantasie-
volle Rasse, durch deren Sinn und Blut das Meer sicherlich mit
ganz anderem, dämonischerem Wellenschlag rauschte als durch
das der schwergewichtigen Holländer. Und vielleicht wurde in
den Seelentiefen dieses Geschlechts der erste Funke geschlagen zu
der schöpferischen Flamme, die in Walt Whitmans Brust aus-
brach. Und die See, deren Rauschen ihm zwischen Kindheit und
Mannheit zu so gewaltiger, mystischer Stimme anschwoll, hatte
vielleicht in noch gebrochenen Lauten ihr Geheimnis von Leben
und Tod schon in diese ruhelosen Seelen gelallt.
Inbrünstiger sicherlich auch als die von alters landsässigen Whit-
mans hatten diese Williams sich dem Quäkertum zugewandt, und die
freie Lehre vom „inneren Licht" mag ihnen in den Einsamkeiten
XII
Loiilsa (Van Velsor) Whitman
des Weltmeers zu einem um so innigeren Besitz geworden sein,
wenngleich der Kapitän John Williams, wahrscheinlich wegen
seiner Heirat mit einer Nicht-Quäkerin, aus der Sekte austrat.
Vielleicht war es zu einem Teil die gemeinsame Neigung zu
dieser Lehre, die den stillen Riesen Walter Whitman mit der
Tochter seines Nachbarn, der ^4 j^J^i^S^'^ Louisa van Velsor, in
tieferem Sinne zusammenführte. Er vermählte sich mit ihr im
Jahre 1816 und hauste zunächst sieben Jahre lang auf seiner
Farm. Schon während der ersten Jahre baute er, unweit von dem
alten W^hitmanschen Stammhaus, ein neues Wohnhaus, das noch
heute steht: ein kleines, behagliches, zweistöckiges Haus, das von
den freundlich braunen Scheunen und Schuppen der Farm um-
geben ist. Hier wurde ihm nach dreijähriger Ehe sein zweiter
Sohn geboren, der nach dem Vater Walter, abgekürzt Walt, ge-
nannt wurde.
Walt Whitman war einer der begnadeten Menschen, die bis in
ihr hohes Alter in eine starke und warme Muttersphäre geborgen
bleiben. Inmitten aller wilden und herrlichen Gesichte und Lei-
denschaften der freien, vielgestaltigen Welt, die ihm an die ein-
same Brust stürmten, war in ihm doch allezeit das unsichtbare
Kinderlächeln der Zugehörigkeit zu der Wesenheit, aus der er ge-
boren war und zu der er sich nur zurückzuwenden brauchte, um
immer wieder, trotz Furchen im Antlitz und grauem Haar und
Bart, wie ein Knäblein in sie einzugehen. Die Blutwärme seiner
freudigen Verkündung einer schönen, stolzen, „athletischen",
„elektrischen" Menschheit, die keusch, zärtlich, mitfühlend wäre
und „strömend wie die Natur", stammt gleichsam unmittelbar aus
dem Mutterschoß, aus dem er selber ins Leben gehoben worden :
„wohlgezeugt und aufgezogen von einer vollkommenen Mutter".
Mütter gebären Männer, und herrliche, liebesstarke, an Seele und
Leib wohlgestaltete Mütter zu schaffen, ist ihm das ürgebot einer
neuen Menschheit. Der Mutterschoß ist die Pforte, an der sich
die zahllosen Keime zu neuen Saaten drängen, und in alle Welten-
zukunft hinein ringt sich Geburt aus Geburt und Wiedergeburt,
immer neues Sein aus Muttersphären hervor.
Vor der Mutter ist das Kleinste groß und das Größte und Dä-
monischste kindlich schlicht und natürlich wie ein Blick oder
Kuß. Vielleicht strömt ein Teil der Kraft, mit der Whitman selber
alles in der Welt, Großes wie Kleines, umfaßt und durch die
Macht der Liebe lebendig miteinander verbrüdert und gleichmacht
— vielleicht strömt ein Teil dieser Kraft aus dem Glück der Gleich-
berechtigung aller seiner eigenen Wesensseiten , Gedanken und
Werke vor der mütterlichen Liebe. Und seine Zurückweisung
alles Sichduckens und Schämens in den Seelen der Menschen war
so stark und ruhevoll entschieden, weil er selber nie in seinem
Leben über irgend etwas, was in ihm sich regte, jene blasse und
scheue Zerknirschung zu fühlen gebraucht, die dem aufrechten
Wachstum so sehr schadet: Denn vor dem verstehenden und adeln-
den Blick der Mutter hatte es immer wie ein offenes Buch ge-
legen. Und obwohl nur wenige der Psalmenstrophen seiner Gesänge
unmittelbar an seine Mutter gerichtet sind, lebt doch der Gedanke
reiner und hoher Mutterschaft so stark durch sein ganzes Werk
hindurch, daß man es beinahe in seiner Gesamtheit als ein einziges
großes Weihelied an die Gebärerin ansehen kann, an „das har-
monische Wesensbild der Erde, die Vollendung, über die keine
Philosophie hinausgehen kann, noch will, die rechte Mutter der
Menschen " .
Schauen wir so klar in die Tiefe des Wesenthehen, so will es
nicht viel bedeuten, daß wir nur wenig Einzelheiten aus dem
Leben von Louisa Whitman wissen. Die sie gekannt haben, schil-
dern sie als eine übermittelgroße, sehr wohlgebaute, reiche An-
ziehungskraft ausströmende Frau, allezeit, bis in ihr hohes Alter,
von jenem wundervollen, unbestimmbaren Hauch reiner Frische
umgeben, der auch Walt Whitman so besonders zu eigen war.
Sie vereinte in sich die ernste Würde und Zurückhaltung ihrer
Quäkerin-Mutter mit der vollblütigen Heiterkeit des alten Majors
Kate (Cornelius) van Velsor. Sie war eine ausgezeichnete Reiterin
und verstand sich gut aufs Erzählen und Schildern, wogegen Lesen
und Schreiben nicht so recht ihre Sache war und ihr Mühe machte.
Ihr ovales, von dunklem Haar und schneeweißer Haube umrahmtes
Gesicht war immer von einem verhaltenen, stillen Humor er-
leuchtet. Sie schenkte ihrem Manne acht Kinder* und wurde
nahezu achtzig Jahre alt, in fast vollkommener Gesundheit, in allen
• Jesse, geb. 1818, Walt, geb. 1819, Mary Elisabeth, geb. 1821, Hannah
Louisa, geb. 1823 (Wal ts Lieblingsschwester), Andrew, geb. 1827, George, geb. 1829,
Thomas Jefferson, geb. i833, und Edward, geb. i835.
XIV
Sorgen und erschütterndem Erleben tätig und liebevoll bis an
ihren Tod (iSyS).
Die Landschaft, in die die Augen des Kindes blickten, war die
einer Insel am Rande des Weltmeers und am Rande einer neuen
Welt.
Long Island streckt sich von der Rucht von New York aus von
Westen nach Osten 200 km lang und durchschnittlich 20 km breit
in den Atlantischen Ozean. Es ähnelt der Gestalt eines Fisches;
„fishshaped Paumanok", „fischförmiges Paumanok", nennt es Whit-
man selbst mit dem seither berühmt gewordenen alten indiani-
schen Namen : das westliche, New York anblickende Ende, aul
dem Rrooklyn liegt, stellt den Kopf dar, und das östliche Ende
spaltet sich, als Schwanz, in zwei Halbinseln, deren südliche der
Ausläufer der Hügelkette ist, die sich als Rückgrat durch die ganze
Insel, der Nordküste entlang, hinzieht und in einem kühnen Vor-
gebirge, Montauk Point, ins Meer springt, von einem Leuchtturm
gekrönt.
An einer der zahlreichen Ruchten dieser hügligen Nordküste liegt
die kleine Stadt Huntington und oberhalb von ihr, auf den Hügel-
hängen, die Farm West Hills. Hier ist das Land fruchtbar und
reich, während nach Süden hin die Höhenkette in gelinde ab-
fallende sandige Flächen verebbt, die zum Teil von Kiefern und
kargem Graswuchs bedeckt sind und in breiten, seichten Lagunen
enden, die die Heimat der Heerscharen von Wasservögeln und
Fischen sind. Ihnen vorgelagert leuchtet ein schmaler Streifen
Sandes, eine Art Lido, aus dem Meere, auf den die atlantischen
Sturm wogen herabdonnern. Hier an den Südbuchten der Insel
wohnt eine ozeanisch abgehärtete Rasse von Fischern, die auch
Hummern-, Austern- und Muschelfang treiben.
Vor der europäischen Resiedelung war Paumanok von Rothäuten
bewohnt, die in den Wäldern mit den Wölfen um die Wette
jagten. Robben, Schildkröten, Schw^ertfische, Pelikane bevölkerten
das langgestreckte, einsame Gestade, aus den atlantischen Gewässern
stiegen die Fontänen der Walfische, und Wracks gestrandeter
Schiffe moderten in den sumpfigen Buchten.
Mit der Triebkraft der Rassen im Blut, die sich eine neue Welt
suchten und zähmten, wuchs W^alt Whitman hier unter einem
weithin freien Meereshimmel zwischen Hügeln auf, die das ewige
XV
atlantische Rauschen wie Muschehi in sich fingen — auf einer
noch von ürfrische betauten Insel, die von den glühenden Sommei-
sonnen dieser Zone (Long Island liegt auf der Breite Neapels!) be-
strahlt und von gewaltigen Winterstürmen umbraust wurde. Wohl
ein Schauplatz für den Neubeginn einer von starkem, frommeui
Staunen über ihr eigenes Erstlingsdasein auf dieser wunderbaren
Welt bebenden Seele; ein aus der wirren Fülle der Alten Welt
abgerückter Vorposten vor neuen Horizonten, wohl geeignet, um
von ihm aus auf beide Welten und auf das eine große Daseins-
wunder den neugeborenen Blick Adams zu werfen und sich die
Lungen zu füllen mit der Witterung einer neuen Menschheitsluft.
Eine üppige Natur drängte sich zwischen den ewig brandenden
VV^assern dem Kinde ans Herz mit den tausendfältigen Formen
ihrer belebten und unbelebten Wesen. Ein Paradies von Blumen
wuchs um die Wege der alten Farm. Eichen, Kastanien, Zedern,
Akazien, Nußbäume umrauschten sie. Kohl- und Maisfelder leuch-
teten ihm in die Augen. Weinberge glühten auf den Höhen. Zahl-
lose Grillen geigten, Füchse schnürten zwischen den Feldern, hun-
dert Vogelarten pfiffen und flöteten in den Hecken und Wipfeln.
Auf einem wildbewachsenen Hügel nahe dem alten Stammhaus
lagen die grauen, inschriftlosen Grabsteine der Whitmans, bei denen
der Knabe oftmals im ersten grünen Dämmer des Lebens zwischen
den Denkmälern des Todes saß.
Long Island blieb die eigentliche Heimat Walt Whitmans wäh-
rend seines ganzen Lebens, abgesehen von zwei größeren Reisen
in das Innere Amerikas und von den Jahren des Sezessionskrieges,
die ihn nach Washington und auf die südlichen Schlachtfelder
führten. Während dieses 78 jährigen Lebens sah er die zerstreuten,
durch widerstrebende Interessen zerrissenen Staaten zu einer mäch-
tigen Nation zusammenwachsen, deren Bevölkerung bei seinem
Tode fast siebenmal so groß war wie in seiner Kindheit. Auf seiner
Insel selber durchlebte er den gewaltigen Prozeß des Herauswach-
sens der amerikanischen Großstadt aus dem Lande. Er sah Brooklyn,
in seiner Kinderzeit eine mittlere Landstadt am Westende von
Long Island, während der folgenden Jahre anschwellen und sich
mit dem gegenüber, jenseits des East River, liegenden New York
zu einer menschenwimmelnden, brausenden Stadteinheit von nie
gesehener Lebens- und Arbeitskraft zusammenschweißen.
XVI
In den werdenden Städten Amerikas atmete, stärker als in euro-
päischen Städten, die Kraft des Landes. Keinerlei drückende Luft
von Überlieferung und Vergangenheit lag auf ihnen; alles war
selbstgeschalfen und für jeden; und hier, im dichteren Gedränge
jugendlich rücksichtslosen materiellen Wettstreits, blitzte die eigen-
tümliche amerikanische Idealität, aus freien Horizonten sich zu-
sammenballend, nur um so blanker und leidenschaftlicher auf.
In der starken Brust Walt Whitmans selber wurde alle Fülle
städtischen Gewühls gleichsam durch das reine, gesunde Gewebe
landgeborner Wesenheit hindurchgefiliert. Er war ein lebendiges
Teil in dem gewaltigen amerikanischen Epos von Stadt und Land.
W^as ihm in die Ohren brauste und in die Augen drängte, dröhnende
Straßen, Tausende von Gesichtern und Gestalten, von Seelen, die
ihn anblickten, verbrüderte sich in ihm mit dem nie verstummenden
Rauschen von See und Wald und dem Licht unendlichen Himmels
zu dem Gefühl von dem einen freudigen Wunder alles Lebens.
11 Whitman J
/WISCHEN STADT UND l.AND
M a u n a 1 r ;i 1 1 a
Rechter und edler ^anu; meiner Stadt,
üreingeborener Schöpfungsname voller Schönheit, dessen Sinn ist:
Felsgegründetes Eiland,
Küsten, wo allzeit fröhlich schlagen her und iiin die hurtigen Wogen der See.
Schon im Jahre i8a3, im Mai, kurz vor VValts viertem Geburts-
tag, gab sein Vater die Farm West Hills auf und zog mit seiner
Familie nach Brooklyn, das damals noch eine rechte Landstadt mit
großen Ulmen an den Straßen und mit Ziegel- und Holzhäusern
war. Bereits während des ersten Jahres, das die Whitmans dort
verbrachten, wuchs die Stadt um i5o Häuser, an deren Bau Walter
VVhitman als Zimmermann sich beteiligte.
Ein lebhaftes Hin und Her von Fährbooten vermittelte den Ver-
kehr zwischen Brooklyn und dem größeren New York, mit dem
es damals noch nicht durch die berühmten beiden riesigen Brücken
verbunden war. Hier am Wasser trieb sich der heranwachsende
Knabe mit stiller, schaulustiger Begeisterung herum, und bis in
sein hohes Alter blieben die Fähren eine besondere Liebe Whit-
mans, die in einem seiner schönsten Gesänge, „Auf der Brooklyn-
Fähre", ihren starken, mystisch durchleuchteten Ausdruck fand.
Im August 1894 feierten die beiden Schwesterstädte den Besuch
des Generals Lafayette, und es wird erzählt, daß der alte Freiheits-
held bei der Grundsteinlegung einer Bibliothek in Brooklyn den
kleinen Walt, der im Gedränge eingepfercht stand, liochgehoben
und geküßt habe.
Mit sechs Jahrea besuchte Walt die öffentliche Schule in Brook-
lyn und die Sonntagsschule. In den Sommerferien verbrachte er
mit seinen Geschwistern manche Tage auf dem Lande, in der Um-
gebung der alten Heimat West Hills.
XVIII
Es liegt im tiefsten Wesen Walt Whitmans, daß der dämmrige
Wunderglanz der Kindheit, der Glanz des ersten wonnigen Staunens
über das Sein nie in ihm erlosch; daß sich niemals in seiner wSeele
die Tore schlössen, die den meisten Menschen, ehe sie sich noch
dessen versehen, eines Tages mit häßlichem Alltagsknarren die Be-
reiche der Frühe versperren und sie zu Gefangenen machen in
einer entzauberten Welt, in der alle Dinge durch die furchtbare,
zähe Macht der Gewöhnung verdorren und die Seele nur dumpf
von Augenblick zu Augenblick hastet oder schleicht. Inmitten
eines Daseins, vor dem wir stündlich bis ins Herz vor Staunen
beben müßten, ringt sich diese heilige Kraft nur schwer aus den
mißbrauchten Seelen, und sie wissen den Erstlingsglanz nicht mehr
zu finden, in dem ihnen doch einmal Blume oder Vogel, Wind
oder Stille, Nähe und Weite, das Lebende um sie her und ihr
eigenes Ich erschien. Die Kraft des Staunens, die die höchste Kraft
der Menschenseele und die Quelle aller Religion und alles Schöpfe-
rischen ist, wuchs in Walt Whitman ungebrochen und unverengt
aus dem Blut seiner Kindheit in das Blut seiner Mannheit; dieses
Staunen der Seele, das zugleich Ruhe und Geborgenheit just im
Unbegreiflichen ist, dem man doch für ewig zugehört.
So fluten auch allenthalben aus der Dichtung Walt Whitmans
ungebrochene Strahlen in die wonnevollen Dämmergründe seiner
Kindheit zurück, und die ratlosen Kindertränen, die der Knabe
vor der einsamen Gewalt der Nacht und des unendlichen, finstern
Meeres bei den nur halb verstandenen Liebes- und Todesklagen
der Drossel geweint, funkeln wie Tau über den Gesängen des Mannes.
Tief und reich und leidenschaftlich ist das Erleben jedes Kindes,
und wem es nicht späterhin durch die karge Grellheit des Alltags
ausgelöscht wird, dem pulsiert es im Blut bis in den Tod. Und
müßig die Frage herkömmlicher Lebensbetrachtung, „ob damals
schon?" und dergleichen. Kann ich von meiner Kindheit in Zungen
reden, so bin ich Kind und Mann in einem, eine leibgewordene,
ungebrochene Seele.
Es war ein Kind, das ausging jeden Tag,
Und was es zuerst erblickte, das wurde es,
Und das wurde ein Teil von ihm für den Tag oder für einen Teil des Tags
Oder für viele Jahre oder weite Kreise von Jahren.
II*
XIX
Der frühe Flieder wurde ein Teil dieses Kinds,
Und Gras und weiße und rote Winden und weißer und roter Klee
und das Lied des Phoebevogels,
Und die Lämmer des dritten Monds und der hellrosa Wurf der Sau,
das Fohlen der Stute, das Kalb der Kuh,
Und die lärmende Brut im Farmhof oder am sumpfigen Rand des
Teichs,
Und die Fische, die so seltsam da unten schwebten, und das schöne,
seltsame Naß,
Und die Wasserpflanzen mit ihren flachen lieblichen Köpfen, alle
wurden sie Teile von ihm.
Die sprießende Saat des vierten und fünften Monats wurde Teil von
ihm,
Sprossen der Wintersaat und hellgelben Korns und die eßbaren Wur-
zeln im Garten,
Und die Apfelbäume, bedeckt mit weißem Blust und die Früchte her-
nach und Waldbeeren und das gewöhnlichste Unkraut am Wege,
Und der alte Trinker, der aus dem Wirtshaus nach Hause schwankte,
wo er bis spät am Abend gehockt,
Und die Schullehrerin, die vorbeiging auf ihrem Weg zur Schule,
Und die freundlichen Knaben, die vorbeigingen, und die zänkischen
Knaben,
Und die säubern, frischwangigen Mädchen und der barfüßige Neger-
knabe mit seiner Schwester,
Und all der Wechsel von Stadt und Land, wohin immer es kam.
Seine eigenen Eltern, der Vater, der es erzeugt, und sie, die ihn
empfangen in ihrem Schoß und ihn geboren,
Sie gaben dem Kinde mehr von sich selbst, als dies,
Sie gaben ihm auch später noch täglich von sich, sie wurden Teil
von ihm.
Die Mutter daheim, die die Speisen still auf den Abendtisch setzte.
Die Mutter mit milden Worten, mit sauberer Haube und sauberem
Gewand, der frische Duft, der von ihr und ihren Kleidern wehte,
wenn sie vorbeiging.
Der Vater, stark, selbstgenügsam, männlich, böse, ärgerlich, ungerecht.
XX
Der Streit, das schnelle, laute Wort, Rede und Widerrede,
Die häuslichen Gepflogenheiten, die Sprache, die Geselligkeit, der
Hausrat, das sehnsüchiig schwellende Herz,
Zärtlichkeit, die sich nicht scheut, sich zu zeigen; die Empfindung
der Wirklichkeit und der Gedanke, ob sie am Ende vielleicht un-
wirklich sei.
Die Zweifel bei Tag und die Zweifel bei Nacht, das wunderliche Ob
und Wie,
Ob das, was so erscheint, auch so ist, oder sind es alles nur Blitze
und Flecken?
Männer und Frauen, die schnell in den Straßen drängen, sind sie
nicht Blitze und Flecken, was sind sie dann?
Die Straßen selber und die Fassaden der Häuser, und Waren in den
Fensrern,
Fahrzeuge, Gespanne, die aus schweren Balken gefügten Werften, das
gewaltige Hin und Her der Fähren,
Das Dorf auf den Höhen, von fernher leuchtend im Sonnenuntergang
der Fluß dazwischen,
Schatten, Aureole und Dunst, das Licht, das auf weiße und braune
Dächer und Giebel fällt, zwei Meilen weit entfernt,
Der Schoner nahebei, der schläfrig mit der Flut treibt, das kleine
Boot dahinter an losem Tau,
Die hurtigen, sich überstürzenden Wellen,
Die Schichten buntfarbiger Wolken, der lange bräunliche Streifen
einsam für sich, das Stück klaren Himmels, darin er regungslos
liegt.
Der Rand des Horizontes, die fliegende Seekrähe, der Duft von salziger
Marsch und Uferschlamm,
Sie alle wurden Teil des Kinds, das ausging jeden Tag, und jetzt
noch geht, und gehn wird jeden Tag in Ewigkeit.
Stärker und schlichter als in den letzten Zeilen dieses Gesanges
läßt sich die fortlaufende Einheit staunenden Schauens durch das
ganze Sein hindurch nicht ausdrücken. Das Schauen weitet sich
dem Mann über die Welt der Kindheit hinaus, umfaßt die ganze
Erde und alle Räume, in denen andere Sonnen und Erden rollen,
und umfaßt die Unendlichkeit, deren Geheimnis alles Sichtbare
durchdringt und trägt. Aber die Seele dieses Schauens bleibt
XXI
dieselbe und das Allernächste und Alltäglichste wird nicht \vunder-
loser, sondern immer tiefer eingebettet in das Wunder des ganzen
Seins. Der rätselhafte Wesenshauch, der die bräunliche Wolken-
bank im klaren Himmelssee umwittert, bleibt derselbe Hauch Gottes,
der um die Toten streicht, die das Auge des Dichters mitten im Ge-
dränge des Lebens in Schwärmen schaut, oder der um die heißen
Leiber von Mann und Weib duftet, die sich in den Schauern der
Zeugung vereinen.
Quäkerinbrunst erschütterte auch den Knaben. Seine Eltern,
obwohl der Sekte der „Freunde" nicht zugehörig, standen ihrer
Lehre doch aus freier Neigung jederzeit nahe und bewahrten ihrem
damaligen Oberhaupt, Elias Hicks, die Freundschaft, die schon den
Großvater Whitman mit ihm verbunden hatte. Der leidenschaft-
liche alte Hicks verteidigte zu jener Zeit die alte, volle Freiheit der
Lehre gegen die orthodoxere Richtung des Quäkertums. Die Bibel-
lehren und die Gestalt Christi selbst nahm er nur als etwas Ge-
schichtliches, das erst aus dem eigenen Innern einer jeden einzelnen
Menschenseele neugeboren und verwirklicht werden müsse. In
jedem Menschen, lehrte er, wohnt Gott, und muß von jedem ins
Bewußtsein emporgehoben werden. Ein jeder muß sein „inneres
Licht" zum leuchten bringen. Aber eben dieses in kühner Freiheit
von allen Dogmen entzündete Einzellicht vereint sich dann in natür-
licher Gemeinschaftskraft mit dem Geisteslicht aller Weesen und
Dinge; denn der Geist ist ein und derselbe in allen.
Der greise Begeisterte mußte im Jahre 1828 der bibelstrengeren
Richtung weichen und wurde aus der Sekte ausgestoßen. Kurz da-
nach, etwa drei Monate vor seinem Tode, predigte er zum letzten
Male im Ballsaal von Worrisons Hotel auf der Brooklyn-Höhe vor
einer dichtgedrängten Menge, unter der sich auch die Eltern Whit-
mans und er selber, der neunjährige Knabe, befanden.
Es ist mehr als eine anekdotische Kuriosität, wenn sich dem
Knaben die Erscheinung des mächtigen, tiefbewegten alten Pre-
digers unvergeßlich ins Gedächtnis prägte. Indem seine des
Schauens schon so frohen Augen die gebieterische, in Quäkertracht
gekleidete Gestalt, das verzückte Antlitz mit dem glattgescheitelten
langen Haar, der hohen Stirn und der Habichtsnase in sich tranken
und seine Ohren die, wenn auch vielleicht noch unverstandenen,
glühenden Worte über „die Bestimmung des Menschen" aufsogen,
xxn
wurde ihm zum erstenmal dunkel und feurig das Herz erschütteri
von der Persönlichkeitsgewalt eines hohen Menschen und von dem
Anspruch letzter, innigster Freiheit der eigenen Seele.
In vielen unbewußten elektrischen Strömen geriet tief Verwandtes
in ihm in Schwingung; Eigenschaften, die hernach in dem Mann
und Greis sich offenbarten als die Grundelemente seiner eigenen
Lebenshaltung. Er selber liebte es, in späteren Jahren das Quäke-
rische in sich zu betonen. Das „innere Licht", die Intuition der
Seele, blieb ihm der Leitstern alles Tuns und Denkens; die Selbst-
achtung, und durch sie bedingt die Achtung vor jedem Mitmenschen
war ihm immerdar Lebenselement, die Luft, in der er atmete;
wenn ihn die Erhöhung und schauende Einsamkeit der Individualität
nicht zur Vereinsamung, sondern zu wärmstem, strömendem Ge-
meinschaftsgefi^ihl, zu jener von durchgeistigtem Eros glühenden
Kameradschaft führte und zu dem Begriff wahrer Demokratie, als
der freien Gemeinschaft selbstfreudiger und selbstbeherrschter
höchstentwickelter Einzelmenschen, des „göttlichen Durchschnitts"
(ein Leitmotiv all seiner Dichtung), so schwingt hier der alte quäke-
rische Grundton von der geistigen Einheit und Gleichheit aller ins
Gottesbewußtsein Eingetretenen mit.
Auch in seinem persönlichen Verhalten und Sein offenbarte sich
die Rassengemeinschaft mit den alten „Freunden"; wie denn wohl
jedes Ethos die Züge seiner Rasse trägt. Seine Aufrichtigkeit und
Schlichtheit, seine Gelassenheit, seine Schweigsamkeit, seine Freund-
lichkeit gegen Jedermann, seine Gleichgültigkeit gegen geltende
Gesellschaftsregeln, — all das waren echte Quäkereigenschaften.
Zumal nachdem das vulkanische Feuer seiner Mannesjahre in ge-
waltigen Gesängen aus ihm hinausgeschleudert war, breitete sich
immer mehr die Herrschaft eines milderen, sternenhaften Lichtes
an seinem Himmel aus. Es sei jedoch schon hier bemerkt, daß es
ein tiefer Irrtum wäre, sich Whitman auch während der Zeit seines
leidenschaftlichsten und kühnsten Schaffens etwa als eine Art Ge-
waltmenschen vorzustellen. Das tiefste Element just seiner Wild-
heit ist Stille, und er vermag das Rücksichtsloseste auszusprechen,
weil in seiner Sprache und Stimme immerdar der Klang mystischer
Zartheit mitbebt, der Klang, mit dem die Seele mit sich selber ein-
same Zwiesprache hält. Jede starke Bekennerkraft stammt aus den
Regionen des Schweigens und der Scheu. Die berühmten Worte
xxni
Emersons, mit denen er ein Exemplar der zweiten Auflage der
„Grashalme" (i856) an Carlyle schickte: „Das Buch hat furchtbare
Augen und Büffelstärke", deuten nur auf ein Element des Werkes, das
dem allezeit salonfähigen Emerson am stärksten fühlbar wurde. In
Wahrheit beben auch die wildesten Zeilen dieser Gesänge noch von
der Inbrunst, mit der sie dem Schweigen einer schweren, zarten,
keuschen, frommen Natur abgerungen sind, und zwischen ihnen blitzt
immer wieder ein seltsames, lässig-wehes Lächein auf, der Schatten
einer Handbewegung, die gleichsam sagen will: Wozu reden wir?
was sind Worte? hörst du nicht die Sprache des Lautlosen allenthalben
durch sie hindurch? — Wenn Whitman selber etwa am Schluß des
„Gesangs von mir selbst" von seinem „barbarischen Raubvogelschrei"
spricht, den er über die Dächer der Welt schallen lä(3t, so ist
das ein dichterisches Stimmungsbild im Finale dieser gewaltigen
Rhapsodie, wo ihm gewissermaßen in der Fülle des Gefühls von
Leben und Tod der Atem ausgeht und er nur noch stammelnd am
Rande des Sonnenuntergangs steht, wo Körper- und Geisteswelt,
Endlichkeit und Unendlichkeit ihm wie in flockigen, glühenden
W^olkenfetzen zerfließen und irgendwo in seiner Seele etwas so
Einsam- Wehes und Seliges schreit, wie es wohl wirklich aus dem
abendlichen Ruf eines Falken tönen mag. (Mir klingt die letzte
Zeile jenes herrlichen Gedichtes von Gottfried Keller im Ohr: „Fern,
wild und weh der Falken Stimmen klangen".) Die Rücksichts-
losigkeit Whitmans ist ja nichts Gewolltes, Erzwungenes, Jähes;
sondern nur das ruhige, natürliche Fortschreiten in dem reinen
Aussprechen und Anreden aller Dinge und Gefühle, und just die
vielbefehdeten Gesänge, die der Liebe der Geschlechter und der
Verherrlichung des Geschlechts geweiht sind, strahlen von Einsam-
keit, Stille und Reinheit. Eben durch dieses Aussprechen, durch
diesen lebendigen Klang einer mannhaft keuschen Stimme werden
alle diese Gefühle geklärt, geheiligt und in die volle Natürlichkeit
des Seins emporgehoben. Es weht ein Duft um sie, nicht weniger
frisch, als der den Knaben aus den Gewändern seiner Mutter streifte.
Mit elf Jahren wurde der kleine Walt in das Büro eines Rechts-
anwalts gesteckt. Obwohl sich der Chef seiner freundlich annahm, ja
sogar für ihn bei einer Leihbibliothek abonnierte, hielt der Knabe es
nicht lange bei ihm aus. Schon im nächsten Jahre finden wir ihn als
Setzerlehrling in einer Druckerei, also an einem Ort, wo hundert-
XXIV
fähige Kunde von dem Geschehen jedes Tages ihn streifte und
jenes intime Interesse an den Freuden und Leiden der wachsenden
Doppelstadt ßrooklyn-New York in ihm geweckt und genährt wurde,
das ihn für die kommenden Jahre so recht zu einem Großstädter und
Bürger „seiner" Stadt machte. Er erlernte das Druckerhandvverk
gründlich und fand dabei auch im Laufe der Zeit Gelegenheit zu
allerhand kleinen Ergüssen in Versen und Prosa, die zum Teil in
geachteten Wochenblättern gedruckt w urden. In all seinem Tun blieb
ihm eine gewisse Lässigkeit zu eigen, die Gelassenheit der Naturen,
deren Bestes nicht in Betriebsamkeit, sondern in aufnehmender Stille
reift. Bei allem, was ihn zum Verweilen lockte, verweilte er mit
pflanzlicher Werderuhe, und die hunderttausend Zungen städtischen
Lebens rauschten ihm wie SchilFgeflüster oder wie der Donner der
See in die Seele, immerdar als Chor innerhalb der großen Einheit
alles Seins. Er wehrt sich in den „Demokratischen Ausblicken"
einmal ausdrücklich gegen die Trennung von „Natur" und „Stadt";
seine Sinne werden nicht abgestumpft oder überreizt durch das
Treiben der Straßen, sondern sehen es mit eben der Frische an,
wie Meer, Luft und Wald.
Und der Pulsschlag dieser unbändig sich entfaltenden Doppel-
stadt war wahrlich kein zahmer und friedlicher. Alles vibrierte
von Zukunft. New York selber zählte damals schon 200000 Ein-
wohner und wuchs von Jahr zu Jahr. Menschen aller Bassen ström-
ten dem herrlichsten aller Seehäfen zu und mischten ihr Blut stür-
misch mit der alten englischen Einwandererrasse. Sonnenglut und
Winterkälte dieser kontrastreichen Zone leuchtete und schnob durch
die Straßen. Broadway wimmelte schon damals von tausenderlei
Fahrzeugen, Postwägen, Omnibussen, Kutschen, Beitern, zum Teil
viel farbiger und gestaltenreicher, als heute. Breites demokratisches
Treiben erfüllte ihn. Das Grau gewaltiger Steinbrücken, die Biesen-
formen der Wolkenkratzer fehlten noch; dafür leuchteten die Back-
steinbauten farbiger und lustiger, und auch das gelegentliche Wüten
der Feinde menschlicher Siedelung wurde zum furchtbaren Fest.
Der Feuerruf lockte Tausende mit seinem Getöse der Glocken und
Hörner herbei zu der flammenden Arena, wo die rotbcrockten Feuer-
wehrleute inmitten der verschlungenen Eingeweide von Spritzen-
schläuchen, Leitern, Haken, Stricken ihre Arbeit auf Leben und
Tod verrichteten. Im Dezember i835 brannten allein i3 Morgen
XXV
alter Gebäude in drei Tagen bis aul die Grundmauern ab. Mehr
als einmal hören wir in Whitmans Gesängen den Feuerlärm gellen!
Theater öffneten sich am Abend, vor allen das riesige, 3ooo Zu-
schauer fassende Bowery-Theater, wo berühmte enghsche Gäste
vor einer kindlich begeisterten, tobenden Volksmenge von Arbeitern
und Handwerkern spielten, als Gefeiertster der große Booth, den
der etwa 1 5 jährige Whitman dort zum erstenmal als Richard den
Dritten sah, — zum erstenmal durchschauert von der Macht künst-
lerischen Ausdrucks, lebendigen Worts, beseelter Gebärde. Immei
wieder nur rückblickend können w^ir in die Erschütterungen seiner
Jugend hineinleuchten, — können wir uns vorstellen, wie die Ge-
walt gesprochenen Wortes ihn treffen mußte, der bis in die späten
Mannesjahre hinein fast ebenso stark wie zum Dichter, sich zum
Redner berufen glaubte, zum großen Volksredner, der „mit mäch-
tiger Zunge Amerika führen, Amerika bezwingen" könnte!
Unterhalb des gewaltigen materiellen Aufschwunges der jungen
amerikanischen Staaten begannen immer leidenschaftlicher die Gegen-
sätze zu branden, von deren Ausgleich letzten Endes alle Zukunft
der Union abhing. Man muß daran denken, in wie hohem Grade
die politischen Grundlagen Amerikas rein ideell und doktrinär waren.
Zwei Namen, Thomas Jefferson und Alexander Hamilton, bezeich-
nen die Gegensätzlichkeit zweier Grundanschauungen aller staat-
lichen, ja überhaupt jeder Gemeinschaftsbildung. Jefferson, der
Vater der demokratischen Partei, vom Geiste Rousseaus erfüllt,
lehrte die Anwendung des Ideals völliger individueller Freiheit und
ünbeschränktheit auf die staatliche Gemeinschaft. Die Einheit der
Union dürfe die Rechte der Einzelstaaten auch nicht um ein Jota
verkürzen, genau wie jedes einzelne Individium unabänderlich frei
und souverän sein müsse. Hamilton dagegen war sozusagen demo-
kratischer Aristokrat; er verachtete das „Volk" an sich und sah
alles Heil nur in einer starken einheitlichen Bindung, in der Kräf-
tigung und dem Ausbau der Union, des Föderalismus. Beide Dok-
trinen, in einer rein ideellen Sphäre wohl versöhnbar, lösten im
lebendigen Leben der Staaten Fragen aus, die stürmisch gegen-
einander prallten. Und zwar wurden diese Fragen immer mehr zu
Kampfparolen des Südens gegen den Norden.
Der industrielle Norden wuchs schneller als der vorwiegend Ge-
treide und Baumwolle pflanzende Süden. Industrie braucht Schutz
XXVI
und starken Zusammenschluß; der immer stärker sich entwickelnde
TJnionsgedanke äußerte sich im Norden unter anderem durch das
Verlangen nach Schutzzoll. Der Süden, in partikularistisch-agra-
rischer Gelassenheit gegenüber dem Ünionsgedanken, durchweg
demokratisch im Sinne JefFersons, wünschte keinerlei Hindernisse
für seine Ausfuhr. Er empfand das Verlangen des Nordens nach
einer die ganze Union umfassenden Zollschranke als eine födera-
listische Anmaßung gegenüber dem natürlichen Recht der Einzel -
Staaten. Dazu kam eine andere Frage, an sich zweiten Ranges, aber
vermöge der ihr innewohnenden rein menschlichen Wucht ge-
eignet, zum Schlagwort zu werden: die Sklavenfrage.
Im Grunde widersprach die Sklaverei, die in den Südstaaten im
Schwange war, dem demokratischen Grundsatz von der Gleichheit
aller Individuen, und in der Tat wurde diese Frage späterhin die
Ursache zu einer Spaltung der Demokratischen Partei. Das Auf-
blühen des Raumwollhandels hing jedoch so wesentlich — wenig-
stens der im Süden landläufigen Meinung nach — von der Rei-
behaltung der Sklaverei (oder der „Institution", wie man euphe-
mistisch sagte) ab, daß das im Norden immer lauter werdende
Verlangen nach „Abolition", nach Abschaffung der Sklaverei wie-
derum nur als Angriff des übermütigen Nordens gegen die Grund-
rechte des Südens empfunden wurde. Jedoch, wie gesagt, ein
großer Teil der Demokratischen Partei selber war zwar für den
Freihandel, aber dennoch ebenfalls gegen die Sklaverei. Und über-
haupt war in lebendigem Wachstum aller Kräfte des jungen
Staatenbundes das Gefühl der Zusammengehörigkeit und des
Stolzes auf die Zukunft der Union dermaßen in ständigem Zu-
nehmen begriffen, daß vorläufig noch jeder Sezessionsgedanke
zurückgewiesen wurde. Es kam in der Tariffrage ein Kompromiß
zustande, und Süd-Carolina, das allein mit Sezession gedroht hatte,
unterwarf sich einem etwas gemilderten Schutzzoll.
Inmitten all dieser lebendig auf ihn eindringenden Strömungen war
Walt Whitman zu einem langgliedrigen, siebzehnjährigen ßurschen
herangewachsen, der sich in allerhand journalistischer Federfertig-
keit geübt und im Umgang mit Menschen sich vielerlei Erfahrung
und Rildung angeeignet hatte.
Mit einer der jähen Wendungen, die in seinem Leben nicht
selten sind, kehrte er im Jahre i836, im Frühling, der Stadt den
XXVII
Rücken und ging in die atlantische Stille von Long Island zurück.
Er Heß sich zunächst als Dorfschulmeister in dem kleinen Städt-
chen Babylon nieder; für einen jungen, landgeborenen Amerikaner
der damaligen Zeit eine nicht eben sehr erstaunliche Berufsver-
änderung. Babylon lag an der großen Bucht des Südgestades der
Insel, von wo er im Norden die blaue Hügelkette oberhalb Hun-
tingtons sehen konnte.
Man mag in dem Entschluß, für mehrere Jahre — mit Unter-
brechung — den Beruf eines Lehrers auszuüben, die Lust an per-
sönlicher, unmittelbarer Wirkung erkennen, etwas von jenem Eros,
der vielleicht in jeder Neigung zur Pädagogik lebendig ist. Jeden-
falls kam bei Whitujans Lehrertum das Leibhaftige seiner Wesen-
heit nicht zu kurz; alle Aussagen früherer Schüler von ihm sind
sich einig darin, daß seine eigenthche erzieherische Wirkung in
seiner Persönlichkeit lag, in der unbestimmbaren, frischen, reinen
Anziehungskraft, die von ihm ausströmte, in voller Gelassenheit
und Freundlichkeit, unbeeinträchtigt durch schulmeisterliches Ge-
haben und Launen. Seine Stellung zu den teilweise mit ihm gleich-
altrigen Schülern war eine ungezwungene Mischung von Ka-
meradschaft und Autorität. In den freien Stunden trieb er sich
mit den Mädchen und Knaben auf der Lagune und auf See herum,
beim Fisch-, Krabben- und Muschelfang, immer umatmet von
dem Tang- und Salzgeruch und der vielbewegten Weite der at-
lantischen Küste, immer im Angesicht der ruhelosen Unendlich-
keit des Ozeans, von der er später selbst sagte, daß sie ihm von
früher Jugend an das Gebot zugerauscht habe, sie nicht nur in
einer Dichtung zu verherrlichen, sondern eine Dichtung zu schaffen,
die selber so wie das Meer wäre.
Im Frühling des Jahres i838 finden wir ihn wieder in Hunting-
ton, wo er eine Wochenschrift „Der Long Islander** gründete, die
heute noch erscheint. Er war Drucker, Redakteur und Verleger
zugleich. Er hatte sich eine Presse und Typen gekauft und seine
Druckerei in der oberen Etage eines Gebäudes eingerichtet, das
heute ein Stall ist. In diesem etwa vier Seiten starken Wochen-
blatt brachte er seine politischen und moralischen Anschauungen
mit Lebhaftigkeit und Schärfe zum Ausdruck. Vor allem wandte
er sich gegen die Sklaverei, gegen den Alkohol und gegen die
Todesstrafe. Eine puritanische Neigung zum Moralisieren war
XXV HI
stark ausgeprägt. Er selber hatte es sich damals zum Gesetz ge-
macht, nicht zu trinken, zu rauchen und zu fluchen, ebenso kam
ihm schon damals, wie sein ganzes Leben lang, niemals ein schlüpf-
riges Wort, ein zweideutiger Witz oder dergleichen über die Lippen.
Sein Gefühl für persönliche Würde und Beherrschtheit war alle-
zeit lebendig. Das hohe Pathos seiner späteren Dichtung warf sein
klares Licht voraus; dieses Pathos, das so gar nicht der großen
Worte bedurfte, sondern im Gegenteil die ungezwungenste All-
tagssprache, den Stimmklang des eigenen leibhaftigen Fleisches
und Blutes suchte.
Er hatte sich ein Wägelchen und ein Pferd beschafft und fuhr
damit auf der Insel umher, um den Lesern sein Wochenblatt ins
Haus zu bringen. Alles in allem eine fröhliche, selbständige, leben-
dige Tätigkeit, die er sich so immer wieder in tastenden Versuchen
zu schaffen bemüht war. Immer aber so frei von aller Betriebsam-
keit und allem wirklichen Geschäftsgeist, immer so dem Ruhe-
vollen, Verweilenden, Lässigen, Aufnehmenden zugetan, daß ihm
kein rechter äußerer Erfolg blühen wollte. Das Erscheinen des
Blattes wurde immer unregelmäßiger, bis endlich die Abonnenten
die Geduld verloren und ihn im Stich ließen, so daß die Redaktion
geschlossen wurde und der „Long Islander" erst nach einem Jahr
wieder unter anderer Leitung erschien.
W^hitman selber war wieder Schulmeister in Babylon geworden
und blieb es noch zwei Jahre lang. Der Drang nach etwas ande-
rem, breiter und stärker und eigenartiger Wirkendem, trieb ihn
jedoch auch schon während dieser Zeit zu politischer Betätigung.
Er trat bei der Wahlversammlung von 1840 selber als Redner auf
und sprach für die Präsidentschaftskandidatur van Burens, der
von der Demokratischen Partei aufgestellt war, aber derjenigen
Richtung angehörte, die die Abschaffung der Sklaverei verlangte.
Es zog ihn nun immer stärker in die bewegtere Welt zurück,
und im Sommer 1841 trat er in die Druckerei der „New World"
in New York als Setzer und Mitarbeiter ein. Er gehörte seit-
dem zwanzig Jahre lang der Genossenschaft der New Yorker
Drucker an.
Es kam nun eine lange Zeit vielfältiger journalistischer Tätig-
keit für Whitman. Er schrieb, nachdem er seinen ersten Publi-
kumserfolg mit einer Novelle, „Der Tod in der Schulstube", die
XXIX
in der „Tribüne" erschien, errungen hatte, eine lange Reihe kleiner
Erzählungen, Skizzen und Gedichte, die in allerhand Tages- und
Wochenblättern erschienen, allesamt ohne dichterischen Wert und,
obwohl aus jeweils aufrichtigen Uberzeugungen entsprungen, den-
noch durchaus sentimental und ohne Eigenart in ihrer Wirkung.
Er schwang sich sogar zu einem großen, ziemlich kümmerlich zu-
sammengestoppelten Tendenz-Roman gegen die Trunksucht auf,
„Franklin Evans" benannt, der in zwanzigtausend Exemplaren ge-
druckt werden konnte und von dem er später mit lässiger Ironie
sagte, er habe ihn mit Hilfe schäumenden Gerstensaftes in einer
Hierstube am Broadway geschrieben.
Es war, als ob die wahre Katur und Sprache Whitmans sich in
diesen sieben Jahren hätte durchringen müssen durch den schemen-
haften Wust der wurzellosen Schreibsprache zweiten und dritten
Aufgusses. Hie und da blitzte in einem Aufsatz, in einem Gedicht,
in einer Novelle ein Wort oder Satz auf, der von einer anderen,
neuen, unverfälschten Natürlichkeit strahlte. xVber im allgemeinen
ließ nichts an diesen Erzeugnissen den wahren Walt Whitman
ahnen. Ja, die Probleme von Gut und Böse, mit denen er sich
herumschlug und die er an etwas krampfhaft konstruierten Fällen
demonstrierte, gingen ihm zwar offenbar ehrlich nahe, blieben
aber dennoch in der Sphäre eines gewissen leidigen Moraiisierens
haften. Trotz alledem lebte in der Art, wie er sich diese düsteren
Zusammenhänge schuf, die das Gute im Bösen verstrickten, etwas
Kindlich-Demonstratives, Missionshaft-Primitives, das nicht ganz
ohne Beziehung zum Tonfall seiner späteren Gesänge war. Jeden-
falls aber waren diese wie für eine puritanische Fibel geschaffenen
Erzeugnisse Schalen um den würzigen, langsam reifenden Kern
seines Wesens, die sich leichter abstreifen ließen, als etwa lite-
rarisch raffinierte Kunstprodukte.
Irgendwie blieb er damit doch in der Sphäre lebendiger Wir-
kung, und das leidenschaftlich bewegte politische Leben tat das
seine, ihn darin zu erhalten. Er kam durch seine Beziehungen
zur „Democratic Review" häufig in das Hauptquartier der Demo-
kratischen Partei, Tammany Hall, wo er mit vielen der bedeutend-
sten Politiker und Schriftsteller zusammentraf, und im Jahre 1846
wurde er zum Herausgeber der großen demokratischen Tages-
zeitung „Brooklyn Daily Eagle" ernannt.
XXX
Die Druckerei seiner Zeitung lag in der Nähe der Fähre, und
dieser Platz an der ewig pulsierenden Schlagader, die die beiden
Seestädte verband, war ihm von Herzen recht.
Denn wenn wir auch in seiner schriftstellerischen Tätigkeit dieser
Jahre etwas, zwar nicht eigentlich Abwegiges, so doch noch
Dumpfes, Befangenes empfinden, so blieb sein leibhaftiges Wesen
und Sein doch in stetem, fruchtbarem und natürlichem Wachstum
begriffen. Alle die tausend Keime der Dinge, die er in sich auf-
nahm, schlugen an und sproßten in der Wärme seiner Seele, un-
beeinträchtigt von der Schreibarbeit des Tages. Im steten Wechsel
zwischen Stadt und Land — denn er streifte an jedem Wochen-
ende draußen in Long Island herum — wuchsen ihm alle Wesen-
heiten dieser Erdenheimat üppig und wunderbar ineinander, und
ob er sich in das herbe Gras der Küste schmiegte oder in das Ge-
wimmel der Straßen tauchte, immer geschah es mit der gleichen
Lust der Zugehörigkeit; die stumme Umarmung der Natur löste
ebenso wie die brausende Nähe seiner Mitmenschen die Wonne
seines eigenen Fleisches und Blutes und das w^ohlige Daseinsstaunen
seiner Seele aus, und irgendwie wuchs lautlos die reine Sprache,
jenes Erstlings-xlnreden aller Dinge in ihm immer mächtiger, zu
dem er sich noch erst dunkel berufen fühlte; und das Antlitz jener
Gottheit, die er mit zarten Worten später als die höchste feierte,
der Wahrheit, begann sich ihm immer klarer zu entschleiern. Die
höchste ßeseligung, deren der Mensch fähig ist, das Gefühl des
Behaustseins im eigenen Ich, im Wunder des beschränkten und
doch unendlichen Räume des eigenen Leibes und der eigenen Seele,
entfaltete sich immer bewußter in ihm. „In unseren besten Stun-
den", sagt er später in den „Demokratischen Ausblicken", „steigt
ein Bewußtsein, ein Gedanke in uns auf, unabhängig, hoch über
allem anderen, gelassen wie die Sterne, in ewigem Glanz. Das ist
der Gedanke der Identität, — der deinigen für dich, wer du auch
seist, wie der meinigen für mich. Wunder der Wunder, über allen
Ausdruck erhaben, geistigster und duftigster aller Erdenträume,
und doch die festeste Grundtatsache und der Zugang zu allem Ge-
schehen. In solchen andächtigen Stunden, inmitten der bedeut-
samen Wunder von Himmel und Erde, (bedeutsam nur wegen
meines Ich im Mittelpunkt), fallen alle Glaubensbekenntnisse und
Konventionen ab und werden belanglos vor dieser einfachen Idee.
XXXI
In der Erleuchtung wirklichen Schauens nimmt sie allein Besitz
von uns und hat allein Wert für uns. Wie der schattenhafte Zwerg
im Märchen dehnt sie sich, einmal entfesselt und erkannt, über
die ganze Erde aus und reicht bis an das Dach des Himmels."
Im stetig werdenden Gefühl dieser „Grundtatsache" in der eigenen
Brust und im lebendigen Ausströmen dieses Gefühls durch die ge-
sunde, warme Leibhaftigkeit seines Körpers hindurch schlenderte
er in wacher, elektrisch bebender Lässigkeit durch das Getümmel der
brausenden Stadt, überall aufnehmend, Licht, Schatten, Laute, Far-
ben, Gutes und Böses wie mit empfindlichen Antennen in sich emp-
fangend, und überall Wohlgefühl, Sympathie, Magnetismus ver-
schenkend, an geistige Menschen wie an das einfache Volk, Freund
mit allen, nicht geschwätzig, betriebsam, sondern schweigsam, ge-
lassen, mehr schauend, als redend, und allen, bei denen er halt
machte oder denen er die Hand auf die Schulter legte, das wohl-
tuende Gefühl der Bedeutsamkeit und des Sinnes ihrer Tätigkeit,
ihres Berufs oder Handwerks vermittelnd. Er kannte die Kapitäne
und Mannschaften der Fährboote, war befreundet mit den Omni-
buskutschern und liebte es leidenschaftlich, neben ihnen hoch auf
dem Bock sitzend durch das vielgestaltige Gewühl des Broadway
zu fahren. Er ging in die Theater, den Zirkus, die Bibliotheken
und Museen; er war unter der Volksmenge, die im Jahre 1842
Dickens bewillkommnete oder staunend die erste Lokomotive be-
jubelte, die auf dem neuen Schienenstrang von Bulfalo her ankam.
Er besuchte Gerichtssäle, Gefängnisse, Bordells, — durch keinen
Schatten irgendeines Vorurteils von irgendeinem Men sehen wesen
geschieden, gar keines Vorurteils fähig, sondern immer nur schauend,
mitfühlend, aufnehmend, im stillen Besitz jenes wunderbaren Etwas,
das sich in keine Dumpfheit menschlichen Für und Widers hinein-
zerren läßt, sondern durch alles hindurchgeht wie der Geist wach-
gewordenen Lebens selber, während sein Herz schon in stummer
Sprache die Worte redete, die er noch nicht in Laute zu über-
setzen vermochte, — ja die er vielleicht in all seinen Gesängen,
die wie keine zuvor die transparente Kraft der Andeutung ent-
falteten, dennoch niemals ganz übersetzt hat, wie er denn selber,
in dem „Lied von der rollenden Erde", die Worte preist, die keine
Worte der Menschensprache sind, sondern die lautlos in Erde und
Himmel und Welten wie in den Zügen eines Mundes oder in einer
XXXH
Gebärde ruhen. Ja, noch in späteren Jahren konnte er von dem
Gefühl des ewig Unaussprechlichen so überwältigt werden, daß er
jene weh-grimmigen, vom herrischen Gelächter äußerster Einsam-
keit durchschütterten Strophen schrieb, die ich dieser Einleitung
als Motto vorangestellt habe, — Gelächter, das zu hören uns
von dem wahren Wesen all seines Dichtens mehr offenbart, als
alle wohlgeordnete Betrachtung. Denn was anderes lacht darin,
als dieselbe Kraft, die im All zugleich schafft und zerstört, die nach
Gestalt ringt und in der Gestalt selber, ja in der höchsten, die sie
zu bilden vermochte, der leiblich-seelischen Menschengestalt selber,
jubelnd, wild, selig das Gestaltlose grüßt? Und so erst verspüren
wir jenen von tiefster Bedingtheit bebenden Klang in Whitmans
wunderbarem Alltagspathos, der aus dem Wagnis stammt, trotz-
dem Worte zu bilden, in Worte das Unfaßbare zu fassen.
Wir fühlen im Steigen dieser Werdejahre, wie die Hüllen, die
die starken, saftstrotzenden Knospen seiner Dichtung noch um-
schließen, von verhaltener Triebkraft beben und bereit sind, über
Nacht aufzubrechen, wenn noch die letzte warme Zeugungswelle
über sie haucht. Und sie kam mit dem Frühling des Jahres 1848.
III Whitman I
SÜDLICHE
GLUT
O magnetischer Süden!
O magnetischer Süden ! o gleißender würziger Süden ! mein Süden !
O feuriger Sinn, o üppiges Blut, Triebkraft und Liebe ! Böse und Gut I
O mir so lieb ! . . .
Wiederum gleite ich in Florida auf durchsichtigen Seen, ich gleite auf
dem Okeechobee, ich streife durch das Hügelland oder durch lieb-
liche Lichtungen oder dichte Forste,
Ich sehe die Papageien in Wäldern, ich sehe den Melonenbaum und den
blühenden Eisenholzbaum ;
Wiederum, an Deck meines Küstenschoners, segle ich an Georgia hin
und segle an Carolina hin.
Ich sehe, wo die immergrüne Eiche wächst, die gelbe Pinie, der duftende
Lorbeerbaum, die Zitrone und Orange, die Zypresse, die zierliche
Zwergpalme,
Ich fahre an rauhen Vorgebirgen vorbei und biege in den Pamlico-Sund
durch schmale Zufahrt und schaue ins Land hinein ;
O die Baumwollstaude ! Die sprießenden Reis-, Zucker- und Hanffelder !
Die dornenbewehrte Kaktee, der Lorbeerbaum mit großen weißen Blüten,
Die Bergkette in der Ferne, die unberührte Üppigkeit, die alten ^Välder,
beladen mit Misteln und hängenden Flechten,
Der Harzduft und das ernste Dunkel, die schauernde Stille der Natur
(hier in diesen dichten Sümpfen trägt der Freibeuter seine Flinte und
hat der Flüchtling seine versteckte Hütte).
O der fremde Zauber dieser nur halb erforschten, halb undurchdringlichen
Sümpfe, durchwimmelt von Reptilen, widerhallend vom Bellen des
Alligators, von den traurigen Lauten der Nachteule und W^ildkatze,
und von dem Schnarren der Klapperschlange,
Der Spottvogel, der Gaukler Amerikas, der den ganzen Vormittag singt
und singt durch die mondhelle Nacht,
Der Kolibri, der wilde Truthahn, der W^aschbär, das Opossum ;
Ein Kornfeld in Kentucky, das hohe, geschmeidige, langblättrige Kom,
schlank, schwankend, hellgrün, gefiedert, mit herrlichen Ähren, jede
wohlgeborgen in ihrer Hülse ;
O mein Herz ! o zärtliche, wilde Schläge, ich kann sie nicht aushalten,
ich will fort I . . .
O unbezvvingliche Sehnsucht ! O ich will wiederkehren nach Alt-Tennessee
und nie wieder wandern.
XXXIV
Obwohl die Eigentümer des „Daily Eagle" der Richtung der
Demokratischen Partei angehörten, die die Rechte der Einzelstaaten
um jeden Preis gewahrt wissen wollte und also jeden Eingriff der
Union in die Sklavenfrage als eine Herausforderung des Südens be-
trachtete, war Whitman dennoch nicht gewillt, aus seiner Stellung
zu dieser immer brennender werdenden Frage ein Hehl zu machen.
Die daraufhin erfolgende Kritik der Eigentümer der Zeitung an
seiner Gesinnung beantwortete er mit einer Kündigung, so wenig
er auch materiell in der Lage war, einen sicheren Posten leichthin
aufzugeben.
Den leidenschaftlichsten und dichterisch bedeutsamsten Ausdruck
hatte er seinem Abscheu gegen die Sklaverei in einem Gedicht
„Blutgeld" gegeben, das in der „Tribüne" erschienen war, unter-
zeichnet „Paumanok". Hier löste er sich zum erstenmal aus her-
kömmlichen Versmaßen und goß seinen Grimm in freie Rhyth-
men, und zum erstenmal klingt hier ein Stimmton, der die kom-
mende Dichtung Whitmans verkündet, noch ringend, gleichsam
mit einer schweren Zunge, die erst reden lernt, aber doch deutlich
vernehmbar. Das Gedicht wurde in späteren Jahren in den Sammel-
band der Prosaschriften Whitmans, in einen kleinen Anhang von
Jugendarbeiten aufgenommen. Das glühende Gefühl Whitmans
für die Leiden der Sklaven kommt in den „Grashalmen" des öfteren
zu leidenschaftlichem Ausdruck, dann freilich von jedem Beige-
schmack der Aktualität befreit.
Das Gedicht lautet:
BLUTGELD
„Schuldig; am Leib und Blute Christi"
I
Einst, als die Zeit erfüllt war,
Daß der wundervolle Gott, Jesus, sein Werk auf Erden beenden sollte,
Ging Judas hin und verkaufte den jungen Gottessohn
Und ließ sich bezahlen für seinen Leib.
HI*
XXXV
Fluch traf die 'I'at, nocli ehe der Schweiß der krallenden Hand ver-
trocknet war,
Und Finsternis furchte sich über dem, der das Ebenbild Gottes ver-
schachert,
Wo er hin{j in der Luft, als schleuderte die Erde ihn von ihrer Brust
Und wiese der Himmel ihn zurück,
Von ei{|ner Hand gehenkt.
Mit langen Schatten sind die Kreisläufte schweigend vorgerückt
Seit jenen alten Tagen, — und manch ein Beutel sackte indessen ein
Sein Sündengeld, gleich jenem für Marias Sohn.
Und immer noch zischt die Frage:
„Was wollt ihr mir geben, so Avill ich diesen Menschen an euch ver-
raten?"
Und sie schließen den Handel und zahlen die Silberlin^e.
2
Blick' her, Erlöser,
Blick' her. Auferstandener von den Toten,
über die Wipfel des Paradieses;
Siehe dich selber immer noch in Banden,
Mühselig und beladen trägst du wiederum Menschengestalt,
Du wirst geschmäht, gegeißelt, in Ketten gelegt,
(iehetzt von der frechen Herde der andern.
Mit Stangen und Schwertern drohen die willigen Diener der Obrigkeit,
Wieder umringen sie dich, toll vor teuflischem Haß;
Die Hände der Menge strecken sich aus nach dir, wie Geierklauen,
Die .Niederträchtigsten speien dir ins Gesicht, sie schlagen dich mit
den flachen Händen ;
Wund, bluüg und gefesselt ist dein Leib,
Zu Tode betrübt ist deine Seele.
Blutzeuge der Qual, Bruder von Sklaven,
Mit deinem Preis ist deines Ebenbildes Preis noch nicht bezahlt,
Und immer noch schachert Ischariot.
XXXVI
Im Januar 1848 schied Whitinan aus seinem Redaktionsposten,
und im Februar desselben Jahres* geschah es, daß er eines Abends
im Foyer des alten Broadway-Theaters einem Herrn aus dem Süden
vorgestellt wurde, der ihm von der Gründung einer neuen Zeitung,
dem „Crescent", in New Orleans sprach und ihn kurzerhand als
Mitherausgeber engagierte.
Je wacher und leidenschaftlicher in Whitman das GeFühl der
Zugehörigkeit zu der Rasse seiner Neuen Welt geworden war und
die alte, nun ins Seelisch-Menschliche übertragene Pionierlust, in
und mit dieser Rasse hier auf riesigem, jungfräulichem Kontinent
das Neuland des Menschen zu entdecken und zu erobern, aus
diesem vielgestaltig-kraftstrotzenden Schöpfungslehm die höheren,
vollkommenen Söhne und Töchter dieser Neuen Welt und somit
der ganzen Erde zu schaffen, um so stärker mußte es ihn verlocken,
nun auch jenen so ganz andersartigen, mächtigen Teil dieser
amerikanischen Heimat kennenzulernen, der in den Südstaaten der
Union verkörpert war.
Je mehr ihm durch eben jene Kraft des Staunens die Welt des
Stoffs zum Sinnbild wurde, das von geistiger Unendlichkeit durch-
leuchtet ist, das heißt mit anderen Worten, je tiefer er alle Erschei-
nungen liebte um des Wunders ihrer Existenz willen, je ergreifender
und wonnevoller ihm alle Wesen und Dinge aufleuchteten als
traumhaft farbige, faßbare, bewegte, leidende und beseligte Realität
inmitten der ewigen, einigen Realität des Unsichtbaren, — um so
tiefer mußte ihn ein weiterer Schritt in diese leibhaftige Erschei-
nungswelt erschüttern, zumal in einen Teil dieser Welt, der mit
aller blühenden Schöpfungspracht, mit neuen Farben und Düften,
neuen Klängen, Gebärden und Charakteren, mit neuer Sonnenkraft
und Zeugungsfülle sich vor ihm auftat.
Denn der Süden der Vereinigten Staaten war vom Norden ebenso
weltverschieden, wie etwa die Länder des südlichen Mittelmeers
von Norddeutschland sind, ja in manchem Sinne wohl noch
mehr.
• Die Jahreszahl ist umstritten. Whitman selbst g^ibt in seinen autobiographischen
Notizen einmal das Jahr 1848, einmal das Jahr 1849 seinen Aufenthalt in
New Orleans an.
XXXVH
Whitman fuhr aus dem noch rauhen Februar seiner Zone in den
üppigsten Frühling hinein.
Es bedarf kaum eines Hinweises, mit wie ganz anderem Ge-
fühl ein Mann eine eigene Reise über einen Teil dieser Erde
empfindet, der gewöhnt ist, sich der Weltraumslage und der tag*
liehen und jährlichen Bewegung dieser Erde bewußt zu sein.
Wenn er auf dem Ohio entlang durch die erst neubesiedelten
Staaten Ohio, Indiana, Kentucky und Illinois, die noch von Ur-
waldfrische gleichsam dampften und dufteten, in den Vater der
Gewässer, den Mississippi hineinfuhr, so breitete sich das ganze
Leben dieses gewaltigen Stromes vor seiner Seele aus, der mit seinen
reichen Nebenströmen das Ackerland von halb Amerika bewässert
und den er als die wahre Schlagader der Neuen Welt ansah, um
die sich das innerste Leben einer herrlichen Menschenzukunft grup-
pieren müßte. Die geographische Größe rief ebenbürtige geistige und
dichterische Größe zuerst noch dunkel und drangvoll in ihm zum
Wettstreit auf, — irgendetwas ganz Neues, Unmittelbares, Eroberer-
starkes, alle älteren Kulturen Fortführendes, Vollendendes, oder
wenigstens ihnen Gleichwertiges.
Mit solcher Werde-Unruhe mischte sich andere Bewegtheit, per-
sönlicher, heißer, dämmriger: vielleicht altes wallisisches Blutsfieber
von den Ahnen her, das die gelassene Leidenschaftlichkeit seiner
Natur zum ersten Mal mit heißeren Würzen durchbrannte. Die
alles Sein lockende und lösende Kraft des Südens strömte ihm
entgegen. Die W^onnen, die starken Naturen mit Wehen nahen,
verkündeten sich seiner Seele von ferne, seiner Seele, die nicht
anders konnte, als sich allem öffnen, was von draußen nach Einlaß
und von drinnen nach Auslaß drängte. Eine Luft schlug ihm
entgegen, in der tausend bisher noch nicht entfaltete Sprossen und
Triebe sich plötzlich mit unbändiger Lust regten und streckten,
und in der ihn die Ahnung von der Macht überwältigte, die ihm
von nun an das Leben alles Lebens werden sollte, die Urkraft des
Weltalls, das beseelte Mysterium aller Neugeburt, die Macht des
Geschlechtes, der Zeugung.
Seine Unruhe fand einen noch befangenen, zahm gereimten und
gewissermaßen lehrhaften Ausdruck in einem Gedicht, das er wäh-
rend der Fahrt auf dem Mississippi schrieb und in dem er den
„Strom der Jugend" anruft und den Steuermann, der auf ihm
XXXVIII
das Schiff lenkt, vor üppigem Erschlaffen und sorgloser Wollust
warnt.
Im schöpferischen Werdegang öffnen sich plötzlich Sphären, die
mit einem Male eine Heimatluft um den Genius atmen und in denen
alles, was sich bisher auf keine Weise sagen oder gestalten ließ,
nun mit der Erstlingsfrische und dem geheimnisvollen, vieldeutigen,
herben Zauber Gestalt annimmt, mit dem es im Innersten erahnt
und geschaut wurde.
Die Dinge behalten denselben Namen, aber er klingt anders.
„Baum" ist nicht mehr „Baum", „Hand und Mund" nicht mehr
„Hand und Mund", „Herz" nicht mehr „Herz"; Wonnen der Neu^
geburt beginnen zu walten.
In eine solche Sphäre trat Whitman offenbar mit diesem Früh-
ling 1848 ein.
Sie stand unter dem Zeichen einer Liebe, deren Stärke und
Glut wir nur eben aus dieser ihrer Wirkung auf seine Dichter^
kraft und aus einigen wenigen Anzeichen ahnen können, da er
selbst bis an seinen Tod den Schleier des Geheimnisses darüber
gebreitet hat. Weder vor- noch nachher ist uns von einem Herzens-
erlebnis Whitmans etwas bekannt, und es scheint in der Tat, als
ob dies die einzige große Leidenschaft seines Lebens gewesen ist;
wie ja denn auch das Gesetz der Einmaligkeit über all seinem
Wesen und Schaffen zu walten scheint: der allesumspannenden
Einmaligkeit, die wie in einer großen Umarmung sich mit dem
Dasein vermählt. Denn es sei schon hier gesagt, daß seine Dich-
tung, nachdem sie einmal ihre Ausdrucksform gefunden hatte, sich
in einem mächtigen vulkanischen Ausbruch verschleuderte, dem
zwar immer wieder noch Feuerströme folgten, die jedoch ebensogut
nur gleichartige Teile der ersten Glut hätten sein können. Damit
soll nicht gesagt sein, daß wir nicht frühere und spätere Epochen
an seinen Gesängen gut zu unterscheiden vermöchten. Jedoch ge-
hört dazu schon eine ziemlich genaue Kenntnis Whitmans; eine
Einteilung seines Schaffens in verschiedene, jeweils in sich ge-
schlossene, aufbauende Ringe und Kreise, wie etwa die aus Goethes
Werk sich ergebende, ist bei ihm nicht denkbar. Die Maschen
seines zuerst nur 96 Seiten starken Buches waren so weit gewebt,
daß er die vielen noch folgenden Gesänge in sie verteilen konnte.
Er sang das eine große, freilich vielfältige Thema, das im Grunde
XXXIX
weder Anfang noch Ende hat. So konnte er denn auch etwa an
den Schluß der dritten Auflage von 1860 bereits das Gedicht „Leb-
wohl" stellen, das wie der Abschied eines sterbenden Greises klingt,
obwohl er es als Vierzigjähriger schrieb, und das er auch in den
ganz späten Auflagen der „Grashalme" ohne irgendeine störende
Wirkung mit Fug wiederum an den Schluß stellen durfte und
stellte. Er zog die Umrisse seines Werkes von vornherein so weit
und geräumig, als hätte er einen visionären Vorausblick über sein
gesamtes Schaffen gehabt.
Das New Orleans von damals war ein Gemisch aus Frankreich,
Spanien, Venedig und Amerika.
In weicher, üppiger Luft lag es, halb modern, halb altertüm-
lich, an den Golf von Mexiko gedrängt, mit seiner katholischen
Kathedrale, die von tausend wirren Ziegeldächern, Galerien und
Höfen umlagert and von einer Fülle südländischer Blumen und
Bäume umduftet war. Musik und Gesang, weiche kreolische
Laute lagen in der Luft. Priester wandelten in langen Gewändern
durch die Straßen, in denen sich ein Durcheinander von Pflanzern,
Händlern, Abenteurern drängte. In strengerer Abgesondertheit
schloß sich die vornehmste Aristokratie der Neuen Welt zusammen.
Nirgends in den Staaten lebte ein so feudaler Kastengeist wie
hier, — gemildert durch die Weichheit der Zone, durch die all-
gemeine Fröhlichkeit, die sich in bunter Romantik mit Tänzen,
Karnevals, Duellen, Liebesabenteuern austobte. In der Gesellschaft
wurde viel französisch gesprochen. An der Seite der Stadt je-
doch, die nach dem Mississippi hin lag, brodelte das Schiffer- und
Matrosenviertel, mit zahllosen Spelunken, Kneipen und Spiel-
höllen, eine wilde, von Verbrechern durchlungerte Welt. Und hin
und her in der Stadt trieb eine verwegene Künstler- und Literaten-
boheme ihr leichtsinniges Weesen.
Aus einigen spärlichen mündlichen und brieflichen Andeutungen
Whitmans geht nun hervor, daß er hier in dieser bewegten,
schönen Stadt eine Frau traf, die er ebenso leidenschaftlich liebte
wie sie ihn.
Wer es war und in welchen Kreisen er sie kennen lernte, ob
in der Gesellschaft oder im Volk, wissen wir nicht. Die meisten
Biographen nahmen bisher an, es sei eine Dame der südlichen
Aristokratie gewesen, deren Liebe zu einem Journalisten und
XL
Handwerker aus dem Norden ein so ungeheuerlicher Bruch mit
den Anschauungen ihrer Klasse war, daß an eine Heirat nicht zu
denken war. Whitman reiste nach drei Monaten plötzlich aus New
Orleans ab und kehrte in den Norden zurück; und diese flucht-
artige Abkehr wird gedeutet als Folge etwa des Einschreitens der
Verwandten der Dame, denen etwas von ihrem Verhältnis zu Whit-
man zu Ohren gekommen war. Das lebenslange Schweigen des
Dichters über alle Einzelheiten dieses tiefgreifenden Erlebnisses,
das so sehr im Widerspruch steht zu seinem sonstigen freien Aus-
sprechen aller Dinge, die ihn bewegten, wäre dann als eine viel-
leicht von den Verwandten geforderte, vielleicht auch freiwillige
Rücksichtnahme zu erklären. Neuere Biographen glauben keinen
Grund für eine solche Deutung zu sehen und meinen, diese Ge-
liebte habe ebensogut eine Frau aus dem Volk sein können, die ihn,
wie so viele Hunderte in New York, eben nur als „Walt" kannte
und ihn liebte, ohne zu fragen und etwas anderes von ihm zu for-
dern, als Gegenliebe. Aus dem einen, ja wohl einzigen Gedicht
Whitmans, das einem persönlichen, besonderen Liebeserlebnis gilt
und das zweifellos auf die Zeit in New Orleans zu deuten ist, näm-
lich dem Gedicht „Einst kam ich durch eine volkreiche Stadt" (in
den „Kindern Adams") ergibt sich in jener Hinsicht auch keinerlei
bestimmte Deutung. Es spricht nur für die Stärke seines Gefühls
und fast noch mehr des Gefühls der Frau. Es gibt ein paar Äuße-
rungen Whitmans, die mit aller Bestimmtheit aussprechen, daß er
noch einige Male in den Süden zurückkehrte. Nun ist uns aber sein
Leben nach der Veröffentlichung der „Grashalme" (i855) so bis
in alle Einzelheiten bekannt, daß wir von diesen Besuchen wissen
müßten, wenn sie nach i855 stattgefunden hätten. Wir können
sie also schlechterdings nur in die Jahre zwischen 1 848 (49) und 1 855
unterbringen, die weniger offen vor uns liegen. Da es unter an-
derem auch durch Whitmans eigene Aussage bekannt ist, daß er sechs
Kinder hatte, nimmt man an, daß er also in jenen Jahren des öfteren
seine Geliebte wiedersah. Ob das gerade zu jener ersten Deutung
passen würde, es habe sich um eine von den Verwandten streng
behütete Dame der Gesellschaft gehandelt, lasse ich dahingestellt.
Neuere Biographen neigen zu der Annahme, diese sechs Sprößlinge
stammten gewiß nicht von derselben Mutter. Vor allem glauben sie
das aus der Stelle eines Briefes Whitmans an den ihm befreundeten
XLI
englischen Kritiker Addington Symonds zu erkennen, wo Whit-
man schreibt: „Ich habe sechs Kinder gehabt — zwei davon sind
gestorben — habe ein lebendes Enkelkind im Süden, einen feinen
Buben, der mir gelegentlich schreibt — Umstände (Rücksichten aut
die Vermögenslage der Kinder) haben uns intimere Beziehungen
unmöglich gemacht." Es scheint, mit anderen Worten, daß den
Kindern ein gewisses Vermögen entzogen worden wäre, wenn
Whitmans Vaterschaft anerkannt worden wäre; ein Umstand, der zu-
gleich gewisse törichte Vorwürfe entkräftet, Whitman habe sich,
ähnlich wie Rousseau, nicht um seine Kinder gekümmert. Aus der
Wendung „habe ein Enkelkind im Süden" schließen nun jene neueren
Kritiker, daß er auch noch andere Enkelkinder im Norden gehabt
habe, also Kinder von einer oder mehreren anderen Frauen. Andrer-
seits scheint mir grade dieser Hinweis auf Vermögensumstände
denn doch sehr stark gegen die Annahme zu sprechen, jene Frau
sei irgendein anonymes Weib aus dem Volke gewesen.
Wie dem auch sei, — wer immer sich tiefer in Whitmans Werde-
gang einfühlt, wird in der Liebe zu dieser südlichen Frau das
eigentlich einzige erschütternde Herzenserlebnis des Dichters emp-
finden müssen; alles übrige kann getrost weiterer biographischer
Forschung überlassen bleiben*.
Whitman verließ also New Orleans, nachdem er das ganze viel-
fältige Leben der Stadt in sich aufgenommen hatte, am 25. Mai,
zur Freude seines fünfzehnjährigen Bruders Jeff, den er als Helfer
in der Druckerei mitgenommen hatte und dem das südliche Klima
schlecht bekam.
So kurz die Zeit gewesen war, so fuhr er doch als ein anderer
wieder den Mississippi hinauf und durch den Missouri, dann nach
dem jungen Chikago, durch die großen Seen Michigan, Huron
und Erie bis zum Niagarafall und in das südliche Kanada, und
schließlich auf dem Hudson wieder nach New York zurück. Die
Fahrt dauerte fünf herrliche Sommerwochen, in deren Glanz viele
helle, aufblühende Städte an den Ufern an ihm vorüberzogen, im
Hintergrunde immer die riesigen, von Fruchtbarkeit strotzenden
Siedelländer.
* Während ich diese Zeilen in Druck gebe, wird soeben ein Buch des New
Yorker Professors Emmory Holloway angekündigt, das neues Material zu dieser
Frage bringen soll. Es liegt zur Zeit noch nicht vor.
XLII
Im ganzen war er fast vier Monate von New York-Biooklyn
weggewesen und hatte siebzehn Staaten der Union mit eigenen
Augen gesehen, so daß sie „Teil von ihm" wurden, gleichwie
alles, was das Kind erblickte, „das ausging jeden Tag". Mit
der unvergänglichen Nachglut des Südens im Blut kehrte er heim
nach Manhattan.
FRÜCHT
Komm, sagte meine Seele,
Laß uns nun solche Verse schreiben für meinen Leib (denn wir sind eins),
Daß, sollt' ich unsichtbar nach meinem Tode wiederkehren,
Oder in andern Sphären, lange lange hin.
Ich ewiglich mit freudigem Lächeln weitersingen mag.
Für irgendeine Schar von Freunden neu anstimmend
(Im Einklang mit der Erde Boden, Bäumen, Winden, stürmischen Wogen),
Ewig und ewig zu meinen Versen mich bekennend, —
Gleichwie ich jetzt und hier zum erstenmal.
Zeichnend für Leib und Seele, meinen Namen vor sie setze:
Walt Whitman.
Anläßlich des Krieges gegen Mexiko hatte sich die demokratische
Partei endgültig gespalten; die Richtung, die gegen Ausdehnung
der Sklaverei auf die eroberten mexikanischen Gebiete stimmte,
war ausgeschieden. Ihre Mitglieder, zu denen auch Whitman ge-
hörte, nannten sich jetzt „Freiland-Demokraten". Die Grundsätze
dieser Richtung vertrat Whitman in einer Tageszeitung, „Freeman",
die er selber gründete und in Brooklyn herausgab. Sie ging aber
schon nach einem Jahr wieder ein, wahrscheinlich weil der Heraus-
geber von allzuviel andersartigen Ideen erfüllt war, um sie erfolgreich
zu leiten. So entschloß Whitman sich kurzerhand, die journa-
listische Tagesarbeit an den Nagel zu hängen, und da sein Vater
just um diese Zeit zu kränkeln anfing, trat er in sein Geschäft ein,
das darin bestand, kleine Holzhäuser in Brooklyn im Rohbau zu
errichten und auf Fertigstellung zu verkaufen. Bei dem schnellen
Wachstum der Stadt war das ein einträgliches Geschäft, und W^hit-
man war bald auf dem Wege, ein reicher Mann zu werden.
W^enn es nun zwar wohl auch eine etwas verklärende Deutung
übereifriger Bewunderer ist, zu sagen, das Geld verdienen sei ihm
zuwider gewesen, und er habe, um der Armut treu zu bleiben,
seine Bautätigkeit bald wieder eingestellt, so ist doch soviel wahr,
XLIV
daß ein höheres Interesse flieses ersprießliche Handwerk während
der folgenden Jahre immer mehr in den Hintergrund drängte
und ihn so beanspruchte, daß er, unbekümmert um Gewinn oder
Verlust, jederzeit dem Drang nach Muße und Freiheit nachgab,
nicht immer zur Freude des besorgten, ein wenig verbitterten
Vaters.
Dieses Interesse war nichts Geringeres, als der feste Entschluß,
dem amerikanischen Volke, das ihm nun auf seiner Reise in leib-
haftiger Breite, Frische und Vielfältigkeit nahe gekommen war,
den geistig-dichterischen Ausdruck zu geben, der seiner Eigenart
und Jugendkraft gerecht wurde und der gleichsam die Bibel einer
durch und durch modernen, demokratischen Menschheit darstellen
sollte. Mit allen bewußten Sinnen richtete er die Kräfte dieser
sieben Jahre, die noch bis zum Erscheinen der „Grashalme" ver-
gingen, auf dies Ziel.
Dieser Drang, die Wesenheit seines Volkes geistig darzustellen
und gleichzeitig durch diese Darstellung die höchsten Kräfte in ihm
zu erwecken, war die natürliche Emanation seines starken, nach
Ausdruck ringenden Gefühls von dem Wunder und der Erstmalig-
keit seines eigenen Seins, in das er ja, mit verwandtem Fleisch und
Blut, alle die tausend Erscheinungen und Regungen, Freuden und
Leiden der Rasse aufgesogen hatte und immer weiter Tag für Tag
aufsog.
Der heiße Adel leidenschaftlicher Liebe, vielleicht zugleich mit
der Schw^ermut der Entsagung, die ihn aber nicht niederdrückte,
sondern noch höher in die Sphäre des Allgemeinen hob, mag ihn
noch ungeduldiger aus dem Tagesbetrieb der Zeitungsredaktion
hinausgedrängt haben durch die Fülle der neuerwachten Empfin-
dungen, die nach Zeit und Ruhe verlangten, um durchgefühlt und
zur Reife gebracht zu werden. Man fühlt, wie eine Dichtung, die
so ganz aus dem Seienden, Verweilenden stammt, in diesen sich
zur Erfüllung steigernden Jahren alles andere an sich reißen und
auftrinken mußte. Der Zimmermannsberuf brachte schon mehr
Muße und Beschaulichkeit; die feste, schlichte Gegenständlichkeit
der Handarbeit, der Aufenthalt in frischer Luft, die reale Zugehörig-
keit zum leiblichen Leben und Werden der Stadt selber, die er be-
dingte, förderten den inneren Zusammenschluß des Gerüstes der
Gedanken. Jedesmal, wenn ein Holzbau fertig war, gönnte sich
XLV
Whitman eine oft wochenlange Ferienzeit, während der er sich in
die Natur zurückzog, um auf der Insel herumzustreifen und am
Strande in der Sonne zu liegen, zu baden, zu lesen und zu dekla-
mieren. Hier erprobte er die ersten Versuche zu seinen Gesängen
an der Natur selber. Er suchte in ihnen den Rhythmus, der dem
der See antwortete.
Auch bei der Arbeit hatte er immer ein Buch oder eine Zeitschrift
oder Zeitung in der Tasche. Er war sein Leben lang ein eifriger
Zeitungsleser. Sie vermittelte ihm das Gefühl von realer Vielheit,
von lebendigem Geschehen, aus ihr hörte er das dumpfe Brausen
der Menge und ihres Ineinanderbrandens, das er so liebte, jenes
„enmasse", dem er sich und seine Dichtung verschwor. Er las
die alten Klassiker, Aschylos und Sophokles, Plato, las Dante und
Shakespeare und Ossian, den Don Quichote und die Nibelungen,
und was ihm sonst an Büchern in die Hände kam. Von früher
Jugend an waren ihm „Tausendundeine Nacht" und die Balladen
Scotts lieb und vertraut. Er selber sagt, er sei in jüngeren Jahren
so recht ein alles verschlingender Bücherfresser gewesen; eine Fest-
stellung, die vielleicht ein wenig übertrieben ist.
Gleichzeitig las er eifrig, wenn auch freilich ohne jedes System,
naturwissenschaftliche und philosophische Werke. Wissenschaft
und Philosophie empfand er — immer aus der innersten Sphäre
reiner Daseinsschau heraus — durchaus nicht als Gegensatz zur
Poesie, vielmehr als nährend und fruchtbar für sie. Die Wissen-
schaft machte ihm die erschaute Welt nur noch reicher und viel-
fältiger, die Philosophie bedeutete ihm Vereinheitlichung des Viel-
fältigen. Die Zweiheit von Selbst und Nichtselbst, von Subjekt und
Objekt wurde ihm lebendig zusammengehalten durch das wahre
„Ich", durch den Weltgeist, der Subjekt und Objekt gleicherweise
durchflutet. In diesem Sinne ist die sich durch seine Gesänge hin-
durchziehende Dreiheit: „Ich, meine Seele und mein Leib", „selt-
sames Trio", zu verstehen. Für diese aus seinem lebendigen Sein
geborene Anschauung fand Whitman die mit Leidenschaft begrüßte
Bestätigung in dem Kern der Philosophie Hegels. Das innerste
Prinzip dieser Philosophie ist die Versöhnung der Gegensätze. Jedes
endliche Ding ist es selbst und doch nicht es selbst; denn dadurch,
daß es in Beziehung steht zu dem, was es begrenzt, trägt es das Ele-
ment seiner Auflösung in sich. Die Seele kann nicht durch die
XLVI
Materie vernichtet werden, denn die Materie ist nur eine Objek-
tivation der Seele. Das Böse ist böse nur für unsere Anschauung;
für das „Absolute" sind Leid und Tod nur notwendige Stufen im
ewigen Fortschritt. Das Böse ist der Schatten des Guten. Die ewige
Wahrheit trägt es mit sich fort, um es endlich ganz im Guten auf-
gehen zu lassen. Im Bereiche der Menschheit sind unsere Körper
nur ein Teil der objektiven Inkarnation Gottes. Da die Seele un-
teilbar ist, ist das, was unsern Körper und Geist beseelt, zugleich
Allseele. Dies ist bei Whitman gemeint mit der mystischen Inden-
tifikation seines „Ich" mit dem Absoluten; und hierin liegt der
Grund zu der Gleichstellung von Seele und Leib. Seele und Leib,
beide Gott-Substanz, bilden im Meere der Unendlichkeit eine Einzel-
idee, die zugleich absolut und individuell ist.
Diese ganze Anschauung, deren weiterer Verzweigung ich hier nicht
nachgehe, ist bei Whitman durchaus nicht systematisch ausgebaut;
sie blitzt nur im großen Strom seiner Ich-Gesänge hie und da in
kronkreten Worten auf, die mit unbekümmerter Unmittelbarkeit
etwa aus Hegel oder Schelling oder griechischer Philosophie über-
nommen sind, und rauscht nur groß und weit und wortlos hinter
allem. Denn die „verzehrende Lust", von der er „rasend" ist, ist
nicht das Verlangen, einen philosophischen Gedankenaufbau zu er-
richten, sondern seine Wesenheit selber mit mystischer Kraft zum
Ausdruck zu bringen, in der die Wirklichkeit, der lebendige
Traum des Seins pulsiert. Das Wunder der „Identität", das Wun-
der des Absoluten, des „wahren Ich" im individuellen Ich, der in-
einander verschlungenen Endlichkeit und Unendlichkeit lebt in
ihm, klopft im Herzschlag jeder Sekunde, schaut, hört, fühlt,
riecht, denkt, jubelt, leidet in ihm und allen seinen Sinnen. Die
Worte, nach denen er ringt, sind Andeutungen auf die ewig laut-
losen, ewig wahren Worte ; er sucht jedes von ihnen so ganz mit
dem Arom seiner eigenen staunenden Wesenheit zu durchtränken,
daß durch sie, durch ihr leidenschaftliches Gedränge oder durch
ihre zarteste, bebende Vereinsamung in irgendeinem hingeflüsterten
Satz die Sphäre heraufbeschworen werde, in der allein erst das
wahre Verstehen dessen, was er meint, möglich ist: die Sphäre
einer tief natürlichen Ekstase, jener Ekstase, die uns alle angesichts
des unerhörten Wunders unseres Daseins täglich und stündlich in Bann
halten müßte und von der aus uns jegliche Alltagsgleichgültigkeit,
XLVII
jede Beruhigtheit in der Sphäre fragwürdiger Vertrautheit mit heute
und morgen eigenthch als das größte und dumpfste Wunder er-
scheinen müßte.
Daher auch die immerwährende Hindeutung darauf, daß er ganz
etwas anderes sei, als seine Leser vielleicht zunächst denken mögen ;
daß er ihnen ständig und mit jedem Wort entgleite, aber dennoch
„irgendwo" ruhig und gelassen auf sie warte. Denn das, was da
wartet, ist eben das mystisch-natürliche Bewußtsein vom wahren,
allgemeinen, absoluten Ich, das im Leser sowohl wie in ihm selber
lebt und zu dem hinzuführen der ganze Sinn seines Dichtens ist.
Daher ist es auch so schwer, etwas über Whitman auszusagen
außerhalb der Sphäre, die er selber eben erst schafft und die erst
fühlbar macht, worum es sich eigentlich handelt. Daher die Trans-
parenz seiner Worte, das seltsam Erregende, Erstmalige, Neugeborene
in und unter ihnen. Daher auch die besondere, erschütternde Ge-
walt des Wortes „Liebe", das alle seine Gesänge durchtönt; der
Liebe, die nichts anderes ist, als eben die bebende Wärme und das
alles Zeugens und Gebärens frohe Zugehörigkeitsgefühl zu der im
Unendlichen schwebenden, vom Unendlichen durchfluteten Leib-
haftigkeit, das sich zu seiner höchsten, zartesten, feurigsten Inten-
sität steigert im Kameradschaftsgefühl. Der bedeutende englische
Kritiker und Gelehrte John A. Symonds schrieb: „Whitman ist in
der Tat im höchsten Grade verwirrend für die Kritik. Über ihn
reden ist wie über das Universum reden ... Er gleicht dem Uni-
versum, nicht nur, weil er so weit und umfassend ist, sondern weil
er ungreifbar, entweichend, auf den ersten Blick widerspruchsvoll
und in gewissem Sinne formlos ist." („Walt Whitman", Seite 33.)
Alles ist ihm die Wesenheit, das Arom, der Daseinszauber seines
Buches; am liebsten wäre es ihm, der Leser, der Liebende, der
Kamerad trüge es bei sich in der Rocktasche, so daß es an seiner
Hüfte ruhte vmd nur recht nahe bei ihm wäre; denn es ist kein
Buch, „wer dies berührt, berührt einen Mann". Es ist auch nicht
in die Zeit eingeschlossen; Jahrhunderte und Jahrtausende, rollende
Kreisläufte sind wesenlos im ewig seienden Fluten der Wahrheit.
Die ewige Wiederkehr ist die ewige Gegenwart.
Dr. Richard M. Bücke, der erste und immer noch grundlegende
Biograph Whitmans (und andere Betrachter nach ihm) möchte es
so deuten, als ob dieses universale Daseinsgefühl Whitman um
XLVIiI
diese Zeit in jäher, mystischer Erleuchtung eines Tages über-
kommen hätte, an jenem Sommermorgen wahrscheinlich, dessen
Erleben Whitman im fünften Salz des „Gesangs von mir selbst"
in lächelndem Zwiegespräch mit seiner Seele nachtastet, zu der
er redet:
Ich gedenke, wie einst wir lagen an solch einem durchsichtigen
Sommermorgen,
Wie du dein Haupt quer über meine Lenden legtest und dich leise
über mich kehrtest
Und das Hemd streiftest von meinem Brustbein und tauchtest deine
Zunge in mein entblößtes Herz
Und hinaufreichtest, bis du meinen Bart fühltest, und hinabreichtest,
bis du meine Füße hieltest.
Alsbald erhob und breitete sich um mich der Friede und das Wissen,
das höher ist als alle Beweisgründe der Erde,
Und ich weiß, daß die Hand Gottes die Gewähr für meine eigene
Hand ist.
Und ich weiß, daß der Geist Gottes der Bruder meines eignen
Geistes ist.
Und daß alle Männer, die je geboren, auch meine Brüder sind, und
die Weiber meine Schwestern und Liebsten ;
Und daß der Richtkiel der Schöpfung Liebe ist.
Und zahllos Halme aufgerichtet oder geneigt auf den Feldern,
Und Ameisen braun in den winzigen Löchern an ihren Wurzeln,
Und moosiger Schorf der Schlupfwinkel von Würmern, Steinhaufen,
HoUunder, Königskerzen und Scharlachbeeren.
Diese Biographenart, eine solche mit dem ganzen Wesen von
Kind aut emporwachsende Empfmdungs- und Bewußtseinskraft in
eine bestimmte Stunde der Erleuchtung zu drängen, scheint mir
jedoch etwas allzu programmatisch, selbst wenn man es so deutet,
daß mit dieser Stunde nicht der Inhalt, wohl aber die letzte Inten-
sität dieser Offenbarung geboren worden sei. Die Intensität Whit-
mans ist ein Werden von Tag zu Tag, in ihrer Einheit immer
lebendig, nur immer weiter ausgreifend, in sich hinein und in die
Welt umher; und die Empfindungskraft des Kindes angesichts der
IV Whitman 1
XLIX
nächtlichen See und im Lauschen auf den Liebes- und Todes-
gesang des Vogels („Aus der ewig schaukelnden Wiege . . ."),
ist an Wesen und . Stärke dieselbe, wie die einer solchen sommer-
lichen Seelenstunde des Mannes. Auch daß etwa das Erwachen
der Ausdruckskraft, die Geburt der Worte in diese Stunde zu ver-
legen sei, wäre eine engherzige Deutung ; seine eigenste Sprache
wuchs Whitman in all diesen Jahren langsam, in vielen Versuchen
und Mühen heran und war kein vom Heiligen Geist jäh herab-
geschicktes Zungenlallen, sondern ein in strenger Arbeit errungenes
Kunstmittel, das er immer wieder und wieder dem, was er inner-
lich klingen hörte, immer reiner anzupassen suchte.
In völliger Verkennung Whitmans hat man auch bei uns — irre
geführt durch schlechte Übertragungen — von dem „rohen Golde"
geredet, das Whitman gleichsam wild und formlos um sich her
schleudere. Wenn er selber sagt, er bringe nur den Stoff zu neuen
Gesängen, so meint er natürlich etwas ganz anderes, viel Tieferes,
nicht etwa, daß er diesen Stoff in roher Form brächte. Es ist ein
rechtes Armutszeugnis, wenn gewisse Kritiker es für nötig halten,
darauf hinzuweisen, daß Whitman mit früheren, wohlgereimten
Gedichten und auch mit einigen, sich metrischer Form wieder an-
nähernden Altersgesängen seine Fähigkeit zu kunstgerechter Form
bewiesen habe, daß also doch so etwas wie Absicht in der Freiheit
seiner Rhythmen liegen müsse*. Whitman selber weist in einem
seiner Prosaaufsätze Reim und Metrik als Kunstmittel für die neue
demokratisch- kosmische Dichtung, die er einleitet, ausdrücklich
zurück, da nur die freie rhythmische Sprache sich der unendlichen
Bewegtheit der neuen Themen anzupassen vermöge.
Das Werdende in ihm erfüllte Whitman von Jahr zu Jahr aus-
schließlicher. Es konnte geschehen, daß er lohnende Bauaufträge
* Es würde hier zu weit führen, im ganzen und einzelnen auf die Frage der
Form Whitmans einzugehen. Ich hoffe, soweit es überhaupt möglich ist, in
meiner Übertragung das wunderbar Atmende im Rhythmus dieser Gesänge, das
jäh Hineilende, Überstürzte, dann wieder wie atemlos Innehaltende, in zartem
Verweilen sich dämmrig-zärtlich bis an alle Fernen des Seins Ausbreitende, und
all die hundertfältigen Lautfärbungen, Tonfälle vom Schrei bis zum Flüstern
einigermaßen unverdorben wiedergegeben zu haben. Ich weise im übrigen hier
nur auf die ausgezeichnete Kritik von Whitmans Stil und Form hin, die Basil
de S^lincourt in seinem Buche „Walt Whitman, Eine kritische Studie" (London 1914)
gegeben hat.
L
Bildnis von i855
aus der Erstausgabe der ,, Grashalme
unberücksichtigt ließ und einfach davonging, seinen Gedanken
nach. Die Familie lebte in auskömmlichen, aber doch knappen
Verhältnissen. Die Krankheit des Vaters wurde immer ernster.
Drei der Brüder, George, Jeff und Edward, halfen mit verdienen,
und die Mutter und Walts Lieblingsschwester Hannah schalteten
im Hause. Der älteste Bruder scheint als Arbeiter auswärts gelebt
zu haben, und die zweite Schwester Mary war vermutlich schon
verheiratet. Die wachsende Gleichgültigkeit Walts gegen die Be-
dürfnisse des Tages wird sicherlich oft mit Sorge und Unmut be-
trachtet worden sein, wenn auch die immer gleiche Liebe ihn um-
gab und man immer noch in den meisten Angelegenheiten ihn
um Rat fragte.
Im Jahre i853, zwei Jahre vor dem Tode des Vaters, machte
Whitman mit ihm einen Besuch in Huntington, damit er dort noch
einmal sein altes Heim sähe.
Im Frühjahr i855 gab er die Zimmerei endgültig auf, um sein
Manuskript abzuschließen, und im Frühsommer ging er in eine
kleine Druckerei, wo er es mit eigener Hand setzte. Anfang Juli,
wenige Tage bevor der Vater starb, war er damit fertig. Am
6. Juli zeigte er es in der „New York Tribüne" an. Es kostete
zwei Dollars, obwohl es nur ein schmaler Band von 96 Seiten
war, ziemlich groß im Format, seegrün gebunden, mit dem gold-
gedruckten Titel „Grashalme" auf dem Einband. Diese iV.usgabe
gehört heute zu den kostbarsten Seltenheiten.
Die Familie kümmerte sich um das Ereignis nicht sonderlich
und würde sich auch wohl nicht darum gekümmert haben, wenn
der Tod des Vaters nicht alle Gedanken und Gefühle beherrscht
hätte. Man kann sich die Stimmung selbst etwa der liebevollen
Mutter gegen dieses „Werk" vorstellen, dem zuliebe ihr Walt
während der letzten Monate zu einem rechten Faulenzer geworden
war, der am Morgen aufstand, wann es ihm paßte, zum Essen zu
spät kam und oft tagelang kaum zu sehen war.
Das Buch bestand aus einem langen Vorwort oder Manifest über
die neue Dichtung und den neuen Dichter (siehe Prosaschriften !)
und zwölf Gedichten gleichsam als Beispielen dafür. Der Verfasser
war nicht genannt, nur prangte gegenüber dem Titelblatt das seit-
her berühmte Bild, auf dem Whitman in Gürtel und Hemd, mit
breitem Schlapphut, die eine Hand in der Tasche, die andere leicht
IV*
LI
in die Hüfte gestützt, in lässiger Haltung zu sehen ist, — das
„rowdy-Poi trat" , wie empörte Kritiker es nannten. Es wäre ver-
fehlt, in dieser Aufmachung des Buches eine Pose zu sehen, wie
Unverständige es getan haben; vielmehr ist sie der Ausdruck einer
amerikanisch-kindlichen Unmittelbarkeit und Resolutheit, vielleicht
nicht ganz frei von einem Beigeschmack jener dort üblichen Art
von Reklame, die den zu Überzeugenden gleichsam am Rockknopf
faßt und nicht locker läßt. Liegt ja doch auch in Whitmans Dich-
tung selber in einem unendlich höheren, vergeistigten Sinne etwas
von diesem unmittelbaren Herankriegen" des Hörers, von diesem
direkten Anreden im allernatürlichsten Tonfall der Welt, so daß
zum Beispiel Basil de Selincourt einen gewissen Kreis dieser Ge-
sänge als „conversational poems", etwa als „Gesprächsgedichte"
bezeichnet.
Die einzelnen Gedichte hatten keine Sondertitel. Das erste und
größte, in der nächsten Auflage „Walt Whitman" und späterhin
„Gesang von mir selbst" genannte, bildete den wesentlichen Haupt-
teil des Buches. Unter den übrigen waren besonders bedeutungs-
voll „Die Schläfer", die „Gesichter" und „Es war ein Rind, das
ausging jeden Tag". Wir sehen hier wiederum jene Weitmaschig-
keit der ganzen Anlage, denn die zuletzt genannten Gesänge
rückten später viel weiter hinter neueingeschobene zurück.
Whitman hatte erwartet, sein Buch würde als Erfüllung oder
wenigstens als verheißungsvoller Versuch zur Erfüllung der
zweifellos damals lebendigen Sehnsucht nach einem ur-amerikani-
schen Dichter begrüßt werden, als Beginn einer Loslösung von
europäischer Literatur, der Amerika bisher nichts Eigenartiges ent-
gegenzustellen hatte, außer etwa in gewissem Grade die Schriften
und Gedichte Emersons, der aber selbst einmal, als man ihn als
neuen amerikanischen Dichter ansprach, mit den Worten abge-
wehrt hatte: „Der neue amerikanische Dichter wird ganz anders
aussehen !"
Wenn also Whitman auch auf Widerspruch, ja Empörung ge-
wisser Leute gefaßt war, so hatte er doch eines nicht erwartet:
Gleichgültigkeit. Gerieten nun auch einige Zeitungskriliker der-
maßen in Wut über das Buch, daß sie den Verfasser als ent-
sprungenen Tollhäusler bezeichneten, der öffentlich gepeitscht
werden müsse, und anderes mehr, so verharrten die meisten doch
LH
nur in geringschätzigem Schweigen, und das Pubhkum selber küm-
merte sich kaum um das grasgrüne Monstrum.
Die Neue Welt, die in ihrer Existenz und deren Formen selber
einen Komplex neuer Ideen darstellt, ist dennoch neuen Ideen,
wenigstens geistigen, nicht günstig gesinnt. Es fehlt ihr an einer
Menschenklasse, die ihrem Charakter und ihrer Tradition nach
auf neue Horizonte begierig ist und sich mit Lust auf den Marsch
begibt, wenn sie von irgendeinem Sehenden verkündet werden.
Walt Whitman selber wurde in breiterem Maße und mit Leiden-
schaft erst von England und danach von Deutschland und Frank-
reich her anerkannt, und noch heute hat Amerika im großen und
ganzen nichts Besseres zu tun gewußt, als ihn durch mechanische
Verherrlichung unschädlich zu machen.
Es wäre natürlich ganz verkehrt und kurzsichtig, etwa, wie es
geschehen ist, Whitman einen Vorwurf daraus zu machen, daß
just auch das breite Volk, an das er seine Dichtung vor allem ge-
richtet wissen will, wohl am allerwenigsten zu seiner Leserschaft
zu rechnen ist. Denn das Gewaltig- Volkstümliche, an das er sich
wendet, ist ebensogut ein Teil seines Wesens, und bei Schöp-
fungen von solchem Ewigkeitsgehalt kann man schlechterdings
nicht fragen: wem sind sie gesungen oder geschrieben? sondern
sie entstehen und dauern in der Welt und im All und strömen
ihre Wirkung aus, wie ein Weltkörper sein Licht ausströmt.
Was Whitman an Zukunftskraft und Jugendfrische und Stoff
zu erhöhter Demokratie — einer Gemeinschaft voll entfalteter, selbst-
bewußter und selbstbeherrschter, liebevoller Menschen — in
Amerika empfindet, war und ist zweifellos vorhanden ; sonst hätte
das Verwandte in ihm nicht mit solcher Inbrunst sich dieser
Wesenheit zugewendet. Daß er in seinem Ich etwas zum höchsten
Menschlichen Gesteigertes, freudig Gottbegeistertes daraus macht,
was zunächst über jene Wesenheit hinausgeht und von ihr nicht
mit der brüderlichen Lust aufgenommen wurde, die Whitman er-
wartet hatte, ist eine andere Frage, die mit dem Wert und der
Macht seiner Dichtung nichts zu tun hat. Wir dürfen nicht vergessen,
daß auch der Begriff Amerika für ihn ein Symbol, oder besser ein
„Idol" ist, das wahre Urbild der leibhaftigen Erscheinung Amerika.
Kaum je vor ihm hat jemand so erbarmungslos und klar die
Schäden und Schwächen Amerikas erkannt und gebrandmarkt,
LIIl
wie er etwa in seinen „Demokratischen Ausblicken". Dennoch
blieb sein Glaube an die tieferen Kräfte seiner Rasse unerschüttert,
weil er selber ja dieser Rasse war und fühlte, daß das Neue, Zu-
kunfthafte in ihm eben doch wieder ursprünglich amerikanisch
war. Jeder Genius wirkt in und mit dem Stoff seiner Rasse und
Zeit und erhebt sich ins Zeitlose nur aus ihr heraus.
Daß vielleicht die Alte Welt das Herrliche, was Whitman aus
dieser Rasse heraus verkündet, zunächst kraft ihrer Sehnsucht
stärker und deutlicher empfand, sagt nichts gegen Amerika und ge-
gen Whitmans Amerika-Idealismus. Wenn auch der Landmann viel-
leicht die Wesenheit des Landes und der Natur voller verkörpert,
so lebt doch in der Sehnsucht des Städters nach der Natur ein
ebenbürtiges Element, das die Herrlichkeit der Natur von an-
derer Seite her zum Seelenerlebnis macht. Ähnlich liegt das Ver-
hältnis der Alten Welt zur Neuen.
Whitman war erfüllt von dem Gedanken, daß der wahre Dichter,
wie er ihn begriff, in keinerlei Gegensatz zu dem lebendigen Leben
in Fleisch und Blut steht, daß sein Dichten gar nicht etwa mehr
oder wertvoller ist, als das reine Dasein gesunder, froher, tätiger,
liebender Menschenkinder selbst und daß er sein erhabenstes Ge-
dicht und seinen reichsten Wohllaut im eigenen Körper, in den
„stummen Linien seiner Lippen und seines Gesichts und zwischen
den W^impern seiner Augen und in jedem Gelenk und jeder Be-
wegung" tragen müsse. War freilich auch ein lebhafter Ehrgeiz
und Verlangen nach Anerkennung in ihm lebendig, das ihn sogar
zu manchem ungeduldigen Schritt drängte, den er besser nicht
getan hätte, so gab ihm jene Überzeugung doch Ruhe genug, um
die literarischen Kritiken mit Gleichmut über sich ergehen zu lassen.
„Im ganzen bekannten Universum", sagt er in der herrlichen Vorrede
zur Erstausgabe, „lebt ein wahrhaft Liebender, und das ist der
größte Dichter. Er brennt in ewiger Leidenschaft, ist unbekümmert
darum, was ihm das Schicksal bringt, Zufall, Glück oder Unglück,
und empfängt täglich und stündlich seinen köstlichen Lohn."
— „Als mein Buch", erzählte er in späteren Jahren einem Freunde,
„allenthalben einen solchen Sturm von Wut und Schmähungen
wachrief, machte ich mich davon, an das Ost-Ende von Long-
Island und verbrachte den Spätsommer und den ganzen Herbst —
den glücklichsten meines Lebens — in der Nähe von Shelter
LIV
Island and Peconic Bay. Dann ging ich wieder nach New York
zurück mit dem verstärkten Entschluß, in dem ich auch nie wieder
wankend wurde, mit meinem dichterischen Unternehmen auf
meine Weise fortzufahren und es, so gut ich könnte, zu Ende zu
führen."
Ein Amerikaner jedoch, und nicht der schlechteste, wurde so-
gleich von dem Geist dieser „Grashalme" tief ergriffen: und das
war Emerson: Emerson, der selber in so vieler Hinsicht ähnliche
Gedanken in seinen Schriften zum Ausdruck gebracht hatte, wenn
auch nicht mit der Kraft persönlicher Verwirklichung dessen, was
er mit Worten klarzumachen suchte. Es ist wohl kaum zu be-
zweifeln, daß Emersons Bücher Whitman den letzten Antrieb zur
Gestaltung seiner Ideen gegeben hatten. Im einzelnen auf diese
Wirkung einzugehen, würde hier zu weit führen. Genug, zu sagen,
daß eben jene Kraft Whitmans, allen seinen Worten die geheim-
nisvoll erregende Wirklichkeit einzuflößen, die aus dem Zauber
seines Seins kam, Emerson fehlte und durch seine mehr intellek-
tuelle Art nicht ersetzt werden konnte.
Emerson also richtete aus seinem Heim in Concord bei Boston
am 21. Juli i855 jenen berühmten Briet an Whitman, der so
lautete:
„Werter Herr, — ich bin nicht blind gegen den Wert der
wunderbaren Gabe Ihrer „Grashalme". Ich halte sie für die
außerordentlichste Probe von Geist und Weisheit, die Amerika
noch je beigebracht hat. Sie zu lesen, macht mich sehr glück-
lich, denn große Kraft macht uns glücklich. Das Buch begegnet
sich mit der Forderung, die ich seit jeher gegen unsere anschei-
nend so unfruchtbare und karge Natur erhebe, in dem Sinne,
daß zuviel Handarbeit oder ein allzu wässriges Temperament
unsern westlichen Geist gedunsen und gemein macht. Ich be-
glückwünsche Sie zu Ihren freien und tapferen Gedanken. Ich
habe große Freude daran. Ich finde unvergleichliche Dinge un-
vergleichlich gut gesagt, just so, wie es richtig ist. Ich finde
jene Kühnheit der Behandlung darin, die uns so entzückt und
zu der nur eine starke Empfindung begeistern kann.
Ich grüße Sie zum Beginn einer großen Laufbahn, hinter der
indessen irgendwie schon ein weites Feld der Vorbereitung
liegen muß, nach solch einem Start zu urteilen. Ich rieb meine
LV
Au^en ein wenig, um zu sehen, ob dieser Sonnenstrahl keine
Täuschung sei; aber der solide Geist des Buches ist eine leib-
haftige Gewißheit. Es hat das Beste, was ein Buch haben kann,
nämlich es stärkt und ermutigt.
Ich wußte bis gestern abend, als ich es in einer Zeitung an-
gezeigt fand, nicht, ob ich den Namen als wirklich und gültig
der Post anvertrauen könnte. Ich habe den Wunsch, meinen
Wohltäter zu sehen, und fühlte mich lebhaft versucht, meine
Arbeiten zu unterbrechen und nach New York zu kommen, um
Ihnen meine Wertschätzung auszusprechen.
R. W. Emerson.«
Emerson, der damals 52 Jahre alt war, hatte diesen Brief nicht
in einem ersten Impuls, sondern nach reifHcher Überlegung meh-
rerer Tage geschrieben. Er schickte auch Leute, die ihn in Con-
cord besuchten, nach Brooklyn, um Whitman kennenzulernen,
mit den Worten: „Unter uns ist ein Mann erstanden." Ein Wort,
das an den späteren Ausspruch Abraham Lincolns erinnert, als ihm
Whitman gezeigt wurde: „Well, er ist ein Mann."
Einer dieser Sendlinge Emersons, Mr. M. Conway, der Whitman
im September i855 aufsuchte, hat einen Bericht darüber für seine
Freunde geschrieben, der zwar für unseren Geschmack ein wenig
feuilletonistisch ist, aber doch ein lebhaftes und durchaus wahr-
heitsgetreues Bild vermittelt.
„Es war", erzählt Conway, „eines Sonntags im Hochsommer,
als ich durch die nahezu endlosen, eintönigen Straßen pilgerte, die
in das „fischförmige Paumanok" hinausführten, und der Weg, den
man mir gewiesen hatte^ führte zu dem allerletzten Hause vor der
großen Stadt, — einem kleinen, zweistöckigen Holzhaus. Auf mein
dreimaliges Klopfen öffnete eine stattliche alte Dame die Tür, just
weit genug, um mich sorgfältig betrachten zu können, und fragte
nach meinem Begehren. Ich hatte sogleich den Eindruck, daß seine
Mutter — denn als diese gab sie sich zu erkennen — besorgt war,
es handle sich um einen Polizeiagenten, der nach ihrem Sohn suchte
wegen seines verwegenen Buches. Schließlich jedoch deutete sie
nach einer öffentlichen Promenadenanlage hin, in deren Mitte ein
Hügel lag, und sagte mir, ich würde ihren Sohn dort finden. Es
war ein außerordentlich heißer Tag, das Thermometer zeigte fast
100» (Fahrenheit), die Sonne glühte herab, wie sie nur auf dem
LVi
sandigen Long Island glühen kann. Die Anlage hatte keinen ein-
zigen Baum oder Schutz, und ich dachte bei mir, daß wahrlich nur
ein leidenschaftlicher Feueranbeter an einem solchen Tage hier zu
finden sein könne. Zuerst konnte ich nirgends ein menschliches
Wesen gewahren; aber als ich mich eben wieder zum Weggehen
wenden wollte, sah ich, auf den Rücken gestreckt und gerade in
die furchtbare Sonne hineinschauend, den Mann, den ich suchte.
Mit seiner grauen Kleidung, seinem graublauen Hemd, seinem eisen-
grauen Haar, seinem dunkeln, sonnverbrannten Gesicht und bloßen
Hals lag er auf dem braun-weißen Gras — denn die Sonne hatte
das Grün ausgebrannt — und glich so der Erde, auf der er ruhte,
daß er wie ein Teil von ihr aussah und von einem Vorübergehenden
leicht übersehen werden konnte. Ich näherte mich ihm, nannte
meinen Namen und den Grund, weshalb ich ihn hier aufsuchte,
und fragte ihn, ob er die Sonne nicht einigermaßen heiß fände? —
„Durchaus nicht zu heiß," war seine Antwort; und er gestand mir,
daß dies einer seiner Lieblingsplätze und seine Lieblingslage sei,
um „Gedichte zu machen". Er ging darauf mit mir in sein Haus
und führte mich durch die engen Flure in sein Zimmer. Ein
kleines Zimmer, ungeführ 1 5 Fuß im Quadrat, mit einem einzigen
Fenster, das auf die öde Einsamkeit der Insel blickte; ein schmales
Bett, ein W^aschtisch mit einem kleinen Spiegel darüber, ein Tisch
aus Fichtenholz mit Feder, Tinte und Papier darauf; ein alter Stich,
Bacchus darstellend, hing an der Wand, und gegenüber ein ähn-
licher von Silen: dies bildete die sichtbare Umgebung Walt Whit-
mans; offenbar war nicht ein einziges Buch in dem Zimmer . . .
W^ir verbrachten den Rest des Tages damit, auf Staten Island
umherzustreifen und zu „schlendern", wo wir Schatten und einen
meilenweiten, herrlichen Strand hatten. Beim Baden wurde ich
durch eine gewisse Erhabenheit des Mannes berührt, die mich an
das Bacchusbild in seinem Zimmer denken ließ. Ich sah jetzt, daß
die Sonne sein Gesicht und seinen Hals rotbraun überzogen hatte und
daß sein Körper von heller Frische war, rein und edel, die Gestalt auf-
fällig zugleich durch ihre feinen Linien und durch jene Anmut der
Bewegung, deren Träger ein wohlgebildeter und wohlgefügter
Knochenbau ist. Sein Kopf war ein reines Eirund; sein (braunes)
Haar, stark mit Grau gemischt, war kurz geschnitten und bildete
samt dem Bart einen seltsamen Gegensatz zu der fast kindlichen
LVH
Fülle und Heiterkeit seines Gesichts. Diese Heiterkeit indessen kam
aus den stillen, lichtblauen Augen, und über ihnen zogen sich drei
oder vier tiefe Querfurchen, die das Leben gegraben hatte. Irgend-
welche Inbrunst gewahrte ich erst an ihm, als er ins Wasser kam,
das er mit der Begeisterung eines Liebenden umarmte. Wenn er
über Dinge sprach, die ihn tiefer interessierten, wurde seine immer
milde und klare Stimme langsamer und seine Lider hatten die
Neigung, sich über seine Augen herabzusenken. Man konnte durch-
aus in jedem Augenblick die Wirklichkeit jedes Wortes und
jeder Bewegung des Mannes fühlen, und zugleich das überraschende
Zartgefühl eines, der mit seiner Feder freier war, als selbst Mon-
taigne.
Nachdem ich mich mit Walt verabredet hatte, ihn im Laufe
der Woche wiederzutreffen und mit ihm durch die Straßen
New Yorks zu schlendern, ging ich, und konnte diese Nacht fast
gar nicht schlafen vor lauter Gedanken an meine neue Bekanntschaft.
Er hatte mich so magnetisiert, mich so mit etwas gleichsam Un-
definierbarem erfüllt, daß es mir damals schien, als bestände die
einzige Lebensweisheit darin, ein blaues Hemd und eine Bluse an-
zuziehen und in Mannahatta und Paumanok umherzustreifen, —
„zu schlendern und meine Seele zu Gast zu laden", um die Worte
meines neuen Freundes zu gebrauchen. Die Zeit wurde mir sehr
lang und der Anblick der glänzenden Stadt matt, während ich auf
die nächste Zusammenkunft wartete, voll Spannung, ob er mir
beim Wiedersehen noch ebenso groß erscheinen würde. Ich fand
ihn an dem festgesetzten Morgen in einer Brooklyner Druckerei
beim Setzen eines Aufsatzes der „Demokralischen Revue", der für
die Überlegenheit von Walt Whitmans Dichtung über die Tenny-
sons eintrat und den er (da er alles Für und Wider ganz tat) als
Anhang zu seiner nächsten Auflage abdrucken wollte. Er trug
immer noch die Arbeiterkleidung, in der er, wie er sagte, aufge-
wachsen war und die beizuhalten er bequem fand. Es wurde mir
klar, als ich mit ihm durch die Straßen ging und auf der Fähre
fuhr, daß er ein Fürst incognito unter seinen Bekannten der nie-
deren Klasse war. Alle Augenblicke kam einer auf ihn zu, ergriff be-
geistert seine Hand und lachte und plauderte (er selber aber lachte
nicht ein einziges Mal, ja ich habe ihn in der Tat nie auch nur lächeln
sehen). Da ich neugierig war, ob Leute dieser Klasse irgendwie
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seinen Wert zu schätzen wüßten, nahm ich einen Arbeiter in
gerippten Hosen beiseite, den ich mit ihm hatte sprechen sehen, und
fragte ihn: „Wissen Sie, wer der Mann dort ist?" — „Das ist Walt
W'hitman". — „Rennen Sie ihn schon lange?" — „Viele Jahre." —
„Was für ein Mensch ist das?" — »Ein erstklassiger Kerl ist W^alt.
Keiner kennt Walt, aber alle haben ihn gern." . . . Ich fragte
noch mehrere andere, fand aber keinen, der irgend etwas von
seinem Buch wußte, obwohl alle stolz darauf waren, mit ihm be-
kannt zu sein. Unvergleichlich war die Mischung von ünbeküm-
mertheit und scharfer Beobachtung in ihm, während wir so durch
die Straßen schlenderten.
Im Tombs-Gefängnis besuchten wir die Gefangenen, und das Zu-
trauen und die Redseligkeit, mit der sie zu ihm kamen und ihm
ihre Kümmernisse ausschütteten, als ob er ein Mann in Amt und
Würden wäre, war ganz seltsam. An einem Fall nahm er beson-
deren Anteil. Der Mann, gegen den ein Verfahren wegen eines
geringfügigen Verbrechens schwebte, war in eine sehr schlechte und
ungesunde Zelle gesperrt worden. Nachdem er ihn angehört hatte,
machte Walt kehrt und ging geradenwegs zu dem Gefängnisdirektor,
erstattete ihm Bericht und schloß: „Nach meiner Meinung ist es
eine verdammte Schande." Der Direktor war zuerst verblüfft über
dieses Auftreten eines hergelaufenen Mannes in Arbeiterkleidung,
dann betrachtete er ihn von Kopf bis zu Fuß, als überlegte er, ob
er ihn verhaften solle, wobei der Ankläger ruhig dastand und dem
Direktor mit strengem Freimut in die Augen sah. Walt siegte in
diesem Blickduell, und ohne ein weiteres Wort rief der Direktor
einen Beamten und befahl ihm, den Gefangenen in einen besseren
Raum zu bringen."
Diese Kameradschaft Whitmans mit den Gefangenen von New
York, insbesondere auch des großen Zuchthauses Sing-Sing, ist
durchaus eine Tatsache. Die eigenartige persönliche Macht, die
später während des Krieges auch alle Arzte und Lazarettbeamten
bewog, ihn frei und nach seinem Belieben überall aus und ein
gehen zu lassen, obwohl er keinerlei Amt oder Posten hatte, waltete
von jeher in ihm.
Der Lebensbeschreibung Dr. Buckes entnehme ich noch einige
andere persönliche Berichte über Whitmans damalige Art und
Erscheinung.
LIX
„Whitmans Erscheinung pflegte viel Aufsehen unter den Passa-
gieren zu erregen, wenn er auf das Fährboot kam. Er war gute
sechs Fuß hoch, mit dem Körperbau eines Gladiators, ein grauer,
üppiger Bart mischte sich mit dem Haar seiner breiten, leicht ent-
blößten Brust. In seinen wohlgewaschenen, karierten Hemdsärmeln,
die Hosen oft in die Stiefelschäfte gesteckt, den edlen Kopf von
einem riesigen schwarzen oder hellen weichen Filzhut bedeckt, ging
er einher mit angeboren majestätischem Schritt, ein echtes Vor-
bild von Natürlichkeit und Unabhängigkeit. Ich glaube kaum, daß
die Art, wie er sich damals kleidete, absichtlich exzentrisch war;
er hatte einen tiefen Widerwillen gegen alles Auffällige und allen
Schein, und ich kann mir denken, daß er einfach das anzog, was
handlich, sauber, sparsam und bequem war. Seine markante Er-
scheinung rief indessen trotzdem die verschiedensten Fragen bei den
Passagieren, die ihn nicht kannten, wach."
„In der Pennsylvania Avenue oder der siebenten oder vierzehnten
Straße, oder vielleicht an einem Sonntag auf dem Vorstadt weg
nach Rock Greek oder auf den Hügeln von Arlington oder an den
Ufern des Potomac kann man einer kraftvollen Gestalt begegnen,
die mit festem, aber gemächlichem Schritt einhergeht, sechs Fuß
hoch, gekleidet in Blau oder Grau, mit gelbgrauem Schlapphut,
breitem Hemdkragen, grauweißem, vollem, welligem Bart, mit
einem Gesicht, rot wie ein Apfel, blauen Augen und mit einem
Aussehen von animalischer Gesundheit, das eher auf Jagd und
Schiffahrt als auf ein Amt im Ministerium oder auf den Arbeits-
tisch eines Schriftstellers schließen läßt. In der Tat, der Mann,
den wir beschreiben, holt sich in seiner Dichtung, seinen Lebens-
formen, ja selbst in seiner Philosophie seine Kräfte offenbar aus
einer ständiger Beziehung zu den Einflüssen von Meer und Himmel,
Wäldern und Steppen und ihren Gesetzen und zu Menschen, die
in Einklang mit ihnen leben, während weder die üblichen Salons
der Gesellschaft noch die Sphäre gelehrter Bibliotheken ihm etwas
anhaben können."
„Walt Whitmans Kleidung war jederzeit äußerst einfach. Er
trug gewöhnlich bei gutem Wetter einen hellgrauen Anzug aus
guter Wolle. Das einzig Besondere an seiner Kleidung war, daß
er niemals eine Kravatte trug, sondern immer Hemden mit sehr
breitem Umlegekragen, deren vorderer Knopf fünf oder sechs Zoll
LX
tiefer als üblich saß, so daß die Kehle und der obere Teil der Brust
freiblieb. Im übrij^en kleidete er sich durchaus gediegen, sauber,
schlicht und unauffällig. Alles, was er trug, und überhaupt alles
an ihm, war jederzeit peinlich sauber. Seinen Kleidern mochte man
vielleicht (wie es in der Tat der Fall war) ansehen, daß sie viel
getragen waren, oder sie mochten sogar zerrissen und durch-
gescheuert sein, aber sie waren nie schmutzig. In der Tat, ein köst-
liches Arom von Sauberkeit war immer eine der Besonderheiten
des Mannes; es war seinen Kleidern, seinem Atem, seinem ganzen
Körper, seinem Essen und Trinken, seinem Gespräch zu eigen, und
jeder, der auch nur eine Stunde mit ihm zusammen war, mußte
spüren, daß es seinen Geist und sein Leben durchdrang und in
Wahrheit der Ausdruck einer Reinheit war, die ebensogut physisch
wie moralisch und moralisch wie physisch war."
„Lethargisch bei einem Interview, passiv und aufnehmend, ein
bewundernswerter Zuhörer, niemals in Hast, voll der Haltung
eines, der Muße genug hat, allezeit in vollkommener Ruhe, schlicht
und geradezu im Umgang, voll Liebe für das einfache, gewöhnliche
Volk, „einer, der Rohen und Gebildeten auf gleiche Weise begegnet",
mäßig, keusch, milde, liebevoll und herzlich, von vielen Freunden
geliebt, mit einer sommerlich-väterlichen Seele, die aus all seinem
Betragen und aus jedem Blick hervorscheint, ist er nicht im ge-
ringsten der „Barbar", für den ihn gewisse Leute so gern hielten.
Peinlich wie ein Brahmine von hoher Kaste in bezug auf seine
Nahrung und seine persönliche Sauberkeit und Ordnung, gut ge-
kleidet, mit grauer, offener Brust, mit einer tiefen, sympathischen
Stimme und einem freundlichen, lebhaften Blick, macht er den
Eindruck besten Bluts und bester Herkunft. Er erinnert einen an
die „ersten Männer", die „Anfänger"; er hat das primitive Aussehen
eines, der im Freien lebt, — nicht so sehr durch vielen Aufenthalt
in frischer Luft, wie durch angeborene Rasseneigenschaft, — ein Aus-
sehen, das mit Erde, Meer und Gebirge verwandt ist, und er wird,
wie jüngst ein Vorkämpfer seiner Sache schrieb, „gewöhnlich für
einen tüchtigen Handwerker oder Güterpacker oder Schiffer oder
sonst irgendeinen Arbeiter von Qualität genommen." Seine Phy-
siognomie zeigt höchst ausgesprochene Züge, Züge nach wahrhaft
antikem Schnitt, wie sie aus modernen Gesichtern fast verschwunden
sind, erkennbar an dem starken, breiten Ansatz seiner Nase, seinen
LXI
hohen, geschwungenen Brauen und an dem Fehlen jeglicher Wöl
bung seiner Stirn, — ein Gesicht, das sich dem Typus griechischer
Statuen annähert. Er bedeutet nicht Intellekt allein, sondern
Leben; und man fühlt, daß sein Schaffen sich mehr durch Ein-
fühlen und Aufsaugen, als durch angestrengte intellektuelle Vor-
gänge vollzieht, — durch die Ausströmung von Kraft viel mehr, als
durch ihre direkte und totale Anwendung."
„Jahrelang haben Tausende von Menschen in New York, Boston,
New Orleans und später in Washington einen Mann von auffallen-
der, männlicher Schönheit — einen Dichter — von machtvoller und
ehrwürdiger Erscheinung gesehen, wie ich selber ihn vor zwei
Stunden erst gesehen habe: im Einklang, sozusagen, mit den Stra-
ßen unserer amerikanischen Städte und wie geschaffen für diesen
Hintergrund und diese Umgebung ihrer flutenden Bevölkerung und
ihrer weiten und reichen Fassaden; einen Mann, groß, gelassen,
herrlich gebaut; meist in die lässige, grobe und immer malerische
Tracht des Volkes gekleidet . . . und mit unbekümmertem, stolzem,
Schritt über das Pflaster schreitend, Sonnenlicht und Schatten um
sich her. Den dunklen Schlapphut, den er meistens trägt, hielt er,
als ich ihn sah, in der Hand, da es sehr heiß war; reiches Licht,
wie ein Maler es gewählt haben würde, lag auf seinem bloßen,
majestätischen, homerisch großen Haupt und auf seinen starken
Schuhern und gab ihm die Erhabenheit antiker Skulpturen. Ich
sah sein Gesicht, klar, stolz, fröhlich, blühend und zugleich ernst;
die Brauen von edlen Furchen überschrieben; die Züge kräftig und
wohlgeformt, mit festblickenden, blauen Augen; die Brauen und
Lider von jener reinen Bogenform, die man selten sieht, außer an
den antiken Büsten; das reiche Haar und der wollige Bart ganz
grau, wodurch das jugendliche Aussehen des erst Fünfundvierzig-
jährigen einen Anstrich von Alter bekommt; die Einfachheit und
Reinheit seiner Kleidung, die billig und schlicht, aber fleckenlos
ist, von dem schneeweißen, umgeschlagenen Hemdkragen bis zu
den blankgeputzten Stiefeln, und einen leisen, frischen Hauch aus-
strömt; die ganze Gestalt von Männlichkeit wie von einem Nimbus
umgeben und in ihrer vollkommenen Gesundheit und Kraft den
erhabenen Zauber emes starken Menschen atmend."
Die Wiederholung derselben Eindrücke in diesen Berichten
bezeugt ihre Stärke. Manches darin mag etwas übertrieben betont
LXII
klingen. Aber solcherlei Aussagen über einen ergreifenden, großen
Menschen sind eben befeuert von dem unaussprechlichen Gefühl
der in Worten nicht zu fassenden Gewalt der Person, und wir
mögen daran denken, wie wir etwa vor einem großen Kunstwerk,
das wir bisher nur aus bewundernden Beschreibungen kannten,
von seiner Schlichtheit und Selbstverständlichkeit erschüttert wer-
den, wenn wir ihm leibhaftig gegenüberstehen. In ähnHcher Weise
müssen wir solche Beschreibungen in die Sphäre VVhitmans selber
projizieren, um ein wahres Gefühl seiner Wesenheit zu bekommen.
Aus dieser außerordentlichen Wirkung seiner Persönlichkeit her-
aus, an die er seit jeher gewöhnt war und in deren Unmittelbarkeit
und täglichem Verströmen er lebte, müssen wir auch die kräftige
Ungeduld verstehen, die ihn angesichts des Mißerfolges seines
Buches dazu drängte, sich gleichsam persönlich dafür einzusetzen
und es gewissermaßen dem Publikum in die Hand zu zwingen, —
so gelassen auch in höherem Sinne Whitman dem Schicksal seine
Dichtung vertraute und seine Zuhörerschaft ebensogut in den Jahr-
hunderten der Zukunft wußte, wie in der Gegenwart. Sein ameri-
kanisch-robustes Tagesgefühl rief die Instinkte persönlichen Ein-
tretens für seine Sache wach, die ihm ja bewußterweise Sache der
Menschheit war. Ich schicke dies voraus, weil Whitman aus der Art, wie
er im Jahre 1 856 die zweite Auflage auf den Markt brachte, in einem
trivialeren Sinne nicht unberechtigte Vorwürfe gemacht worden sind.
Die neue Ausgabe war um zwanzig Gesänge vermehrt. Vor allem
erschien darin das gewaltige „Begrüßungsgedicht" aller Völker der
Erde, „Salut au monde", das „Lied von der rollenden Erde",
„Gesang bei Sonnenuntergang", der „Gesang vom Beil" und zwei
Gesänge, die den Kern der in den nächsten Jahren voll gestalteten
„Kinder Adams" bildeten und zum erstenmal das Thema Geschlecht
mit aller Kühnheit anschlugen.
In einem Anhang druckte Whitman jenen Brief Emersons ab,
und zwar, was von Gegnern meist verschwiegen wurde, auf Drän-
gen von C. A. Dana, dem Herausgeber der „New York Sun", einem
nahen Freunde Emersons. Ferner fügte er einen offenen Antwort-
brief an Emerson bei, der freilich zu den unglücklichsten Äußerungen
Whitmans gehört, und setzte überdies auf die Rückseite des Buches
die Worte Emersons: „Ich begrüße Sie zum Beginn einer großen
Laufbahn. — R. W. Emerson."
LXIII
Alles in allem eine nicht sehr würdige Art von Selbstankündigung,
die denn auch aus der nächsten Ausgabe sofort wieder verschwand.
Die Behauptung, Emerson sei dadurch aufs tiet'sie verstimmt ge-
wesen, ist unrichtig. Seine Beziehung zu Whitman blieb bis zuletzt
sehr herzlich; er besuchte ihn wiederholt und sprach sich freimütig
über diejenigen neuen Gedichte aus, mit denen er nicht einver-
standen war.
Die Ausgabe erregte naturgemäß viel mehr Aufsehen und auch
einen noch viel wilderen Sturm der Entrüstung, der besonders
jenen Keimgesängen der „Kinder Adams" galt. Ursprünglich war
alles für einen großen Absatz des Buches vorgesehen, aber die New
Yorker Buchhändler zogen sich vor der öffentlichen Meinung zu-
rück, und so blieb das Buch, nachdem das erste Tausend verkauft
war, vergriffen.
In seinem natürlichen Drang nach Wirkung auf sein Volk, der
aus dem Gefühl und der Erfahrung von der Kraft seiner Persön-
lichkeit entsprang, stiegen nun alte Gedanken wieder in Whitman
empor, die ihn seit dem Erwachen des Sinns für die Gesamtheit
der amerikanischen Staaten bewegt hatten, Gedanken, die darin
gipfelten, als Redner selber vor das Volk zu treten, frei von jeder
Partei, lediglich als Verkünder der uramerikanischen Wesenheit,
die ihm der Keim der Zukunftsmenschheit war. Die politischen
Wolken waren inzwischen immer finsterer geworden; die Erschütte-
rungen, die die ganze Union zu zerreißen drohten, machten sich
von Tag zu Tag drohender fühlbar. Gegen sie die ganze einigende
Macht einer lebendigen amerikanischen Persönlichkeit einzusetzen
und das Ziel mit allen Strahlen seines Geistes und Gefühls zu be-
leuchten, um dessentwillen seinem tiefen Glauben nach diese Neue
Welt in die Erscheinung getreten war, — das mußte einen Mann
seiner Art zu einer Zeit und in einem Volke, wo jeder, der sich be-
rufen fühlte, nach Führerschaft greifen durfte, im Innersten ver-
locken. Er schrieb damals, nach dem Ausspruch seiner Mutter,
ganze Stöße von Vorträgen und Betrachtungen über die Redekunst,
in denen er ein Bild von dem großen Volksredner entwarf, das
dem gewaltigen Bilde des wahren Dichters entsprach, das er in der
Vorrede zur Erstausgabe der „Grashalme" verkündet hatte. Der
Redner erscheint hier als ein Prophet, von Inspiration durchglüht,
von dem Geist des Augenblicks geschüttelt, wie die alten großen
LXIV
Quäkerprediger, deren Macht er ja als Knabe (jespürt hatte; die
volle, fast hypnotische Macht der Persönlichkeit selber müsse die
Rede vorbereiten und tragen und der ganze Körper müsse lautlos,
rein und feurig mitreden. In einem dieser Entwürfe spielt er mit
Humor auf die Gepflogenheit an, auf sich selber aufmerksam zu
machen, worin er ja nicht unerfahren sei; aber anders gehe es nun
offenbar einmal nicht, wenn er das Gehör Amerikas erzwingen und
es zur Selbsterkenntnis führen wolle.
Unversehens aber wuchs ihm die Welt des eigenen Seins in
andere, neue Tiefen und auch das äußere Geschehen führte ihn zu
immer süßeren und stärkeren Geheimnissen des Daseinswunders,
die alle seine Kräfte in ein inneres Verweilen bannten.
V Whitnian I
KAMERADSCHAFT UND KRIEG
Lang, zu lang, Amerika,
Bist du auf ebenen, friedlichen \Vegen gegangen und hast nur aus deinen
Freuden und deinem Gedeihen gelernt.
Nun aber, o nun gilt es, aus Todesängsten zu lernen, vorwärts immer,
ringend mit Grauen des Schicksals, ohne zu wanken,
Und zu begreifen nun und der Welt zu zeigen, was deine Kinder en masse
in Wahrheit sind,
(Denn wer außer mir hat bis jetzt begriffen, was deine Kinder en masse
in Wahrheit sind?)
Seit dem Jahre i856 war Abraham Lincoln, zuvor Rechtsanwalt
im Staate Illinois, dann Kandidat für die Senatoren wähl dieses
Staates, als Vorkämpfer der neugegründeten Freilandpartei immer
mehr in den Gesichtskreis Amerikas gerückt. Obwohl er jedoch
die Sklaverei für den gefährlichsten Feind der Föderation hielt,
war er doch der Ansicht, daß, gerade um der Einheit der Staaten
willen, die Stimmung zugunsten ihrer Abschaffung in den Süd-
staaten selber geweckt und ein gewaltsamer Eingriff vermieden
werden müsse; und als im Jahre 1869 John Brown seinen be-
rühmten Einfall in Virginia machte, um die Sklaven gegen ihre
weißen Herren aufzuhetzen , verurteilte Lincoln diesen Gewalt-
streich durchaus und billigte die Hinrichtung Browns. Trotzdem
wurde Lincolns Persönlichkeit eben durch das leidenschaftliche
Eintreten für die Erhaltung der Union immer mehr für die Süd-
staaten die Verkörperung der anmaßenden Ansprüche des Nordens,
und als er nach mancherlei wilden Redeschlachten endlich im No-
vember 1860 zum Präsidenten gewählt wurde, war das für den
Süden das Signal zur Erklärung der Sezession, und zwar unter der
Führung des Staates Karolina, der von jeher der Feind der föde-
rativen Macht gewesen war.
LXVI
Gegen Ende Februar i86i zo{^ Lincoln, von einer ungeheuren
Menschenmenge empfangen, in Washington ein, und dabei sah ihn
Whitman zum erstenmal.
Er hatte inzwischen sein gelassen-waches Großstadt- und Land-
leben weitergeführt. Er verkehrte um diese Zeit unter anderem
in einem Kreis der Boheme New Yorks, deren Hauptquartier Pfafl^
Deutsches Restaurant am Broadway war, wo er besondere Freund-
schaft mit der geistvollen und schönen „Königin" dieses Kreises, Ada
Cläre, schloß. Berühmte Gäste kamen, um ihn kennenzulernen,
unter anderem Thoreau, der damals sein Werk „Waiden" veröffent-
licht hatte und von Emerson zu Whitman geschickt worden war.
Der kleine, scheue Mann, dessen Naturinbrunst im Grunde Welt-
flucht war, fühlte die Größe Whitmans, ohne sich in seine alles
Leben umfassende Wirklichkeitsfreude finden zu können; er begriff
Whitmans Liebe zur Masse, zum gewöhnlichen Volk und dem
Gewühl der Städte nicht. Er fand ihn „ganz außer dem Bereich
seiner Erfahrung", „verwirrend, seltsam, überraschend", „irgend
etwas Großes und Kolossales", und sagte von ihm: „Er ist De-
mokratie".
Der Mystiker Bronson Aleott kam, ebenfalls von Emerson ge-
schickt, und wurde von W^hitmans Persönlichkeit ganz und gar
überwältigt. „Er ist", schrieb er, „der leibhaftige Gott Fan."
Die zweite Auflage der „Grashalme" war nun schon seit drei
Jahren vergriffen, und Anfang 1860 trat Whitman mit dem jungen,
tatkräftigen Bostoner Verlag Thayer & Eldridge in Verbindung,
um die dritte Auflage vorzubereiten, da inzwischen wesentliche
neue Gesänge und Zyklen geschaffen waren. Er fuhr selber nach
Boston, um die Korrektur zu besorgen. Während dieses Aufent-
halts traf er häufig mit Emerson zusammen, mit dem er herzliche
Freundschaft schloß. Whitman selber hat uns (siehe Prosaschriften)
einen kurzen Bericht über das denkwürdige Gespräch hinterlassen,
das er eines Tages im Februar im Stadtpark von Boston, unter den
alten herrlichen ülmen auf und ab wandelnd, mit ihm hatte —
und das den Gedichten galt, die in der zweiten Auflage soviel Un-
willen erregt hatten, den Gesängen vom „elektrischen Leib", die
nun in der neuen Ausgabe, zu einem großen Zyklus „Kinder Adams"
erweitert, wieder erscheinen sollten. Diese neue Ausgabe sollte die
erste, von einem großen Verlage herausgebrachte und gewissermaßen
V
LXVH
das endgülti^o;e Bekenntnis Wliitmans für einen viel größeren
Leserkreis und auf Jahre hinaus werden. Das bestimmte wahr-
scheinlich Emerson, noch einmal alle Gründe der Besonnenheit
und Skepsis wie eine wohlgeordnete Armee gegen den Dichter
ins Feld zu führen, um ihn von der Veröffentlichung dieser Ge-
sänge abzubringen, die für viele das Buch unlesbar machen würden.
Als er endlich nach zwei Stunden mit der Frage schloß: „Was
haben Sie zu alledem zu sagen antwortete Whitman : „Nur,
daß ich zwar nichts dagegen erwidern kann, aber mich doch ent-
schlossener fühle als je, an meiner eigenen Theorie festzuhalten
und sie zu betätigen." — „. . . worauf wir", sagt er vergnüglich,
„weggingen und ein gutes Mittagessen einnahmen." —
Die dritte Auflage, als Bostoner Ausgabe bekannt, war die bis
dato am schönsten und würdigsten ausgestattete. Die neu hinzu-
gekommenen Gesänge waren vor allem „Von Paumanok kom-
mend", „Aus der ewig schaukelnden Wiege", „Kinder Adams",
„Calamus" und, an den Schluß des Buches gestellt, das „Lebwohl".
Ohne die flutende Einheit Whitmans, die im grenzenlosen Gott-
bewußtsein lebt, auf eine schematische Folter strecken zu wollen,
können wir doch das „offene Geheimnis" jener Drei-Einheit gleich-
sam als Index über sein Werk stellen, die er in dem neuen „Pau-
manok "-Gedicht zusammenfaßt:
Mein Kamerad!
Zwei Erhabenheiten sollst du mit mir teilen, und eine dritte, die
die andere umschliefU und noch leuchtender ist, als sie :
Die Erhabenheit der liebe und Demokratie, und die Erhabenheit
der Religion.
Liebe, Demokratie und Religion — und, sie alle tragend, ge-
bärend, verwirklichend, das „Ich", das „Selbst", das Ur- und Grund-
wunder des im Einzelmenschen verkörperten Seins. Eines spielt
ins andere hinüber, gleichwie die See zugleich Vielheit und Ein-
heit ist. Denn anders als im eigenen Ich erleben wir uns selbst,
die andern und die \Velt und Gott nicht; nichts im ganzen Uni-
versum kann wichtiger sein, als das eigene Selbst. Ks ist, um ein
Gleichnis Whitmans zu gebrauchen, sozusagen die Sehkraft.
Nachdem zum erstenmal das Ich in dem großen, gleichsam mit
dem Wellenschlag und Rhythmus der Unendlichkeit ergossenen
„Gesang von mir selbst" sich in aller Fülle ausgebreitet hatte.
LXVIII
morgenfrisch durcliblitzt von allein, was nur ein Mensch fühlen
und schauen kann, voll Erinnerung, Gegenwart und ewiger Zu-
kunft, hinausrauschend bis über die dunkle Schranke des Todes in
das aligegenwärtig Geistige, — nachdem in diesem Traumgesang
der Wirklichkeit, dessen Worte alle wie von der Morgensonne be-
strahlte Blätter eines mächtigen und in Vielfältigkeit zarten Baumes
leuchten, die Sphäre geschaffen war, in der alles in W^ahrheit von
jenem unbeschreiblichen Erstlingszauber glänzte, der uns in höchsten
Stunden die Welt und unser Dasein in ihr zu Bewußtsein bringt,
liob nun Whitman das blutvollste Wunder in diese neugeschaffene
Sphäre empor, das er mit der ganzen Kraft und Frische seines
eigenen Leibes erlebt hatte, das Wunder des Geschlechts, dei
Zeugung, der Vater- und Mutterschaft. Wie von feierlich-
paradiesischem Orgelpräludium umbraust, hebt er an und steigt
wie Adam in den Garten Welt aufs neue empor, von tausend
Blitzen frischesten Gefühls umspielt, eine Geisterschar herrlicher
Jünglinge und Mädchen ihm voraus, und Eva an seiner Seite oder
hinter ihm. Was reine und frische Leiber von Mann und Weib
auf dieser Erde am heißesten und beglückendsten durchschauert,
ist auch der mächtigste Träger des Seelischen. Was den Einzel-
leib gleichsam zerschmilzt mit Lust der Hingabe und Empfäng-
nis, ist zugleich höchstes Ich-Gefühl und höchster Gemeinschafts-
drang. Gleichwie in der mystisch-religiösen Ekstase sich, just durch
die innerste Vertiefung in das Selbst, die Schranken des Selbst
zum unendlichen Bewußtsein erweitern, so löst sich im Wunder
des Geschlechts der zu seiner berauschendsten Lust gesteigerte
Einzelwille in die Lust der Vereinigung mit dem leibhaftigen
Wunder des „Du". Die ganze Welt ist bestrahlt von dieser Lust,
alle Wesenheiten, sichtbar und unsichtbar, stimmen ein in dieses
gewaltige, innigste Du, alles leuchtet sich an, schmiegt sich an-
einander, umarmt sich , gibt sich hin, erobert und empfängt. Der
Himmel sprüht im Sonnenaufgang Zeugungsstrahlen über die hin-
gegebene Erde, die Biene taumelt im Duft des Samens der Blüte,
derW^ind streicht liebkosend über den hingestreckten, bloßen Körper,
Welle der See schmiegt sich in Welle, Grashalm drängt sich an
Grashalm, Früchte duften und locken, Tier drängt sich an Tier,
Vereinsamte betten sich in ihre eigene Sehnsucht und Glut, eine
bloße Berührung sprüht Blitze, Sonnen kreisen um Sonnen, das
LXIX
Unsichtbare umarmt das Sichtbare, alle Glieder und Teile des Körpers
atmen und schwellen im Drang ihres innersten Sinnes, alle so heilig
wie Gebete, alle vom Willen des ewigen Wunders erfüllt, alle mit-
gerissen in der warmen, leuchtenden Flut des Seins und Werdens, alle
berauschte Liebende und Kameraden in den Mutterräumen der Un-
endlichkeit. An der schmalen Pforte des Mutterschoßes drängen
sich die Keime zu neuen Saaten herrlicher Mannheit und Weib-
heit : zu den neuen Empfindenden, Liebenden, Bewußten, in denen
die W^elt zu sich selber immer wieder in Seelen- und Leibesschön-
heit erwacht, Augen aufschlägt, die schauen und glänzen. Alles
ist Geburt und wieder Geburt. In herrlichen Müttern schwillt die
Zukunft der Erde und Menschheit, Blitze der Zeugungskraft zucken
über eine neue Welt, alles Böse fliegt wie Schatten mit, der im
immer wachsenden Licht verweht, — hören wir Marschtakte,
Freudenchöre einer alten Welt, feuertrunkene, herbeikommen und
brüderlich einmünden?
Aber nicht nur bacchischer Taumel dies, verzückter Tanz zur
Feier der Mysterien, sondern vollste „Besonnenheit" in jedem
Augenblick des Seins, erwachtes Ruhen im „Jetzt und Hier", alle
zartesten und wildesten Empfindungen vereint, kein trübes, reuiges
„Morgen" mehr, kein schaler Nachgeschmack wie nach gewalt-
samer Berauschtheit, kein Beiseiteschieben der schnöden Alltags-
welt um des Ideals willen, sondern ein Bejahen alles Seienden und
des Adels aller Erd- und Naturgebundenheit, ein Schreiten und
Wandeln immer fort und immer tiefer in das unvergänglich Wirk-
liche hinein: „Du mußt dich nun an das Blenden des Lichts und
jedes Augenblicks deines Lebens gewöhnen." Ekstase wahrlich, wenn
anders Ekstase befreite Bewußtheit heißt, Gefühl des Wunders, das
uns in jeder Sekunde umgibt und erfüllt, Erlösung aus dem Schatten-
bann gespenstischer Wünsche, Ziele, Tätigkeiten, Ehrgeize, Sorgen,
Vergnügungen: „Du bist! — mehr nicht! — jedwedem höchsten
Gotte ist dies genug."
Und diese Lust strahlt nicht nur um das empfangende, weib-
liche „Du", zu dem dich alle magnetischen Blitze deines Leibes
ziehen, sondern auch um das „Du" des Mannes, des Kameraden,
des Gefährten im „Garten Welt"; auch zu ihm strebt der Magnet,
auch ihm legst du mit tiefer Lust die Hand in die Hand oder auf
die Schulter oder um die Hüfte, dem reinen, wohlgestalteten.
LXX
durchgeistigten Freunde. Nur „ätherischer" noch, „gleichsam
körperlos", obwohl immer in der Wonne der Leiblichkeit; gleich-
sam das eigene Wunder der Mannheit im gleichgeschaffenen Adams-
bruder liebevoll noch einmal erlebend, das „Zeichen der Mannheit"
mit ihm, im frischen Sinnbild in Waldestiefe am Sumpfrand ge-
pflückter Kalmuswurzel, kühnen Phallussymbols , austauschend,
in naturbeseeltem Rausch der All-Liebeskraft, in glühend-lächeln-
der Kameradschaft der hier auf Erden gemeinschaftlich Wandeln-
den und Fühlenden. Tiefer noch als im Empfängnistaumel des
Weibes lebt hier im mitliebenden Gefährten der wache Erostraum,
das Verstehen der Geistigkeit, der süßen und wilden Einsamkeit
der Seele in aller Gemeinschaft, der Blutfülle männlichen Gedankens,
der ewig das Unendliche ruhelos-freudig und zärtlich umspielt.
Daher blühen diese zart-feurigsten Liebesgesänge Whitmans,
über denen das Zeichen „Calamus" steht, gerade in einer Sphäre
keuschester Einsamkeit. Sie klingen wie in hoher, stehender
Sommerglut von den kühn geschwungenen Lippen eines panischen
Gottes den Büschen und Blumen zugeflüstert. Es hieße sich an
diesen Gedichten versündigen, wenn man, wie eifrige Maulwürfe
es versucht haben, den Eros aus ihnen hinwegdiskutieren wollte;
sie sind durch und durch davon durchbebt, genau so gut. wie die
stille Luft des Nachmittags vor den Toren Athens, als Sokrates
unter der Platane am Bach mit Phaidros redete. Und dennoch
anders. Denn hier in diesem neuen Garten Welt redet ein Mann,
der noch eben mit Worten von niegehörter Kühnheit und Lust
die Zeugung und das Weib gefeiert hat, der noch mitten aus
diesen Calamus-Gesängen heraus der „festverankerten, ewigen"
Liebe zum W^eib, dem übermächtigen Verlangen nach der „Braut"
seinen leidenschaftlichen Gruß zuruft, dem es keinen größeren
Stolz gibt, als die „Unbeflecktheit des Zeichens seiner Mannheit",
dem seine eigenen Gesänge sind wie „Sprößlinge seiner Lenden",
der den Samen ausstreuen will zu noch viel kühneren Republiken,
der das Weib als Mutter verherrlicht hat, wie keiner vor ihm.
Und so spüren wir erst die wahre Dämonie und Macht dieser
feurig-geflüsterten Galamus-Lieder, wenn wir uns bewußt werden,
daß ihr Sänger in ihnen sich aus der panischen Stille des Waldes
etwas holen will, was der Lebensnerv des ganzen Gemeinschafts-
lebens der Zukunft und aller Staaten und Städte sein soll, der
LXXI
Herzschlag wahrer Demokratie, das elektrisch zwischen allen eine
wahre Gemeinschaft hildenden Männern Spielende, das jeden Ein-
zelnen aus der Verkrampftheit der Eigensucht, Parteilichkeit, Ge-
hässigkeit und Stumpfheit Erlösende, wie er es in seinen „Demokrati-
schen Ausblicken" verkündet: „Inbrünstige und liebevolle Kame-
radschaft wird dann zu vollem Ausdruck kommen, persönliche
und leidenschaftliche Liebe von Mann zu Mann, die, schwer defi-
nierbar, den Eehren und Idealen der tiefsinnigen Erlöser aller
Länder und Zeiten zugrunde liegt, und die vielleicht die wesent-
lichste Sicherheit und Hoffnung für die Zukunft unserer Staaten
zu bilden verspricht, wenn sie einmal in Sitte und Literatur voll
entwickelt, gepflegt und anerkannt sein wird. In der Entwicklung,
dem Bewußtwerden und der allgemeinen Geltung dieser feurigen
Kameradschaft (der Freundschaftsliebe, die der die Literatur jetzt
beherrschenden Geschlechtsliebe ebenbürtig, wenn nicht überlegen
ist) erhoffe ich das ausschlaggebende Gegengewicht und die Ver-
geistigung unserer materialistischen und vulgären amerikanischen
Demokratie. Manche werden sagen, das sei nur ein Traum und
werden meinen Schlußfolgerungen nicht beistimmen : ich aber
erwarte zuversichtlich eine Zeit, wo durch all die Myriaden hörbarer
und sichtbarer weltlicher Interessen Amerikas die Fäden männlicher
l reundschaft, wie ein halbverborgener Einschlag, durchschimmern
werden, warm und zärtlich, rein und süß, stark und lebenslang, in
bisher unbekanntem Maße, — eine Kameradschaft, die nicht nur den
individuellen Charakter bestimmen und ihn gefühlsreich, muskulös,
heroisch und innig machen, sondern auch auf die allgemeine Politik
den nachhaltigsten Einfluß ausüben wird. Ich behaupte, die Demo-
kratie bedingt eine solche liebende Kameradschaft als ihr unent-
behrlichstes Zwillingsgegenspiel, ohne welches sie unvollständig
und unnütz ist und unfähig zu dauern."
So durchdringen und durchbluten sich die zwei jener Dreiheit:
Liebe und Demokratie, und in ihnen die dritte, „Religion", das heißt
nichts anderes, als die aus der staunenden, freudevollen Bewußt-
heit des Selbst geborene, immer wache Beziehung zum ünend-
liclien, die ewige Spiritualität. „Bibeln", schreibt Whitman in den
„Demokratischen Ausblicken", „mögen Überlieferung bringen und
Priester mögen sie auslegen, aber einzig und allein dem lautlosen
Wirken des einsamen Ich ist es vergönnt, in den reinen Äther der
Lxxn
Anbetung einzugehen, die llölie Gottes zu erreichen und mit denr»
{Unaussprechlichen Zwiesprache zu pflegen." So sehen wir die drei
„Erhabenheiten" in einem Herzschlag vereint.
Je inbrünstiger eine Empfindung ist, um so tiefer verwandelt
sie alle fragwürdige Verläßlichkeit und Gewöhnung in Traum,
in Staunen und Wunder; und so sind gerade diese Calamus-Ge-
(lichte durchsetzt von den tiefen Zeilen, die der Traumhaftigkeit
aller Erscheinungen gelten, und gerade in ihnen wird alles Er-
leben zur transparenten Farbigkeit vor der ruhevoll, warm und
groß aufsteigenden Dunkelheit des Todes:
„O ich glaube, nicht für das Leben singe ich hier mein Lied der
Liebenden, — für den Tod wohl muß es sein;
Denn wie ruhevoll, feierlich schwillt er empor in das Keich der
Liebenden,
Tod oder Leben erscheint mir dann gleich, meine Seele mag sich
nicht entscheiden,
(Obwohl ungewiß, glaube ich doch, daß die hohe Seele der Liebenden
am innigsten den Tod willkommen heißt.)"
„Ich will die Worte sagen, die den Tod lustvoll machen;
So gib mir den Ton an, o Tod, daß ich danach stimme.
Gib mir dich selbst, denn ich sehe, daß du nun mir vor allen ge-
hörst, und daß ihr untrennbar verschlungen seid,
Tod und Liebe."
Tod, nicht als ruhevoller Wellenschlag von Sein zu Nichtsein,
sondern in verkrampfter Gewaltsamkeit, als Fieberzuckung ver-
irrter Menschheit drohte über den Staaten, als sich diese Gesänge
aus Whitmans Herzen lösten, und er selber und all seine Liebes-
und Lebenskraft sollte bald Brust an Brust mit ihm ringen.
An jenem Tage von Lincolns Einzug in W^ashington lastete
dumpfes Schweigen über der begrüßenden Menge. Die Sache der
Südstaaten hatte ihre Parteigänger bis tief in den Norden hinein
in den Reihen der Demokratischen Partei, der zum Teil immer
noch die Souveränität der Einzelstaaten als höchstes zu erhalten-
des Gut erschien. Überdies war man sich bewußt, daß der Süden
militärisch besser vorbereitet war; das Kriegsdepartement der
föderativen Regierung hatte bisher in den Händen von Südländern
LXXHl
ffeleffen. Auch war an sich der aristokratische Süden mehr an Be-
fehlen und Gehorchen gewöhnt. Dagegen hatte der Norden frei-
hch ein Element einzusetzen, das gerade in Amerika von höchster
Bedeutung ist, nämlich die Idealität des Gedankens der Union,
die seinen ins Feld ziehenden Söhnen jene fast religiöse, kreuz-
fahrerhafte [nbrunst mitgab, ohne die der amerikanische Soldat
f^cine besten Fähigkeiten nicht entfalten zu können scheint.
Gegen Mitternacht des i3. April 1861 las Whitman, der gerade
aus der Oper kam, das eben ausgerufene Extrablatt, das den tät-
lichen Ausbruch der Feindseligkeiten meldete. Ein Aufruf des
Präsidenten zu den Waffen erfolgte am nächsten Tage, und die
Jugend New Yorks folgte ihm in Scharen. Unter ihnen auch
George Whitman, Walts um 10 Jahre jüngerer Bruder, der später
Hauptmann und Oberst wurde.
Für Whitman, wie für viele andere, bedeutete dieser Krieg die Probe
auf die Zukunft und Lebenskraft der Idee Amerikas und seine Einheit,
für ihn noch in dem tieferen Sinn des Glaubens an die von ihm
verkündete Demokratie der Menschheit. Die Hingabe vieler lau-
sender bester Söhne des Landes um eine Idee wurde ihm im Laufe
des Krieges immer mehr zum Beweis ihrer Fähigkeit, ein solches
männliches Ideal wirklich zu erreichen. Sein Glaube, daß die
eigentliche Kraft Amerikas in der unbekannten Masse, im breiten
Volk, im „göttlichen Durchschnitt" lebe, wurde durch das Massen-
erlebnis dieses Krieges genährt und bestätigt.
Das Fallen der Schranken individuellen Lebens bei höchster An-
spannung der Einzelkräfte war ein Element, das ihn im Tiefsten
ergriff, wenn er auch freilich jederzeit den Krieg nur als ein Fieber
im Leibe der Staatsgemeinschaft empfand, eine Gewaltsamkeit, die
nur erträglich wurde durch den Glauben an eine erhöhte Blüte
wahrhaft menschlichen Friedens und Gedeihens, die ihm folgen
müßte. Er sah im Geist eine Menschengemeinschaft so hoher und
herrlicher Art, daß für sie die Probe auf den Tod nur wie der
letzte, höchste Ausdruck gegenseitiger Triebe und kameradschaft-
lichen Zusammenhaltens gegen äußere Gewalten sein würde, aus
Lust aneinander. Und das reale Erlebnis dieses Krieges mußte
ihm wie ein dumpferes Vorspiel zu solcher Gemeinschaft erscheinen,
in dem jene höchste Kameradschaft ganz befreiter Menschen nur erst
seine dämmrigen Blitze spann.
LXXIV
Was aber dieser Krieg nicht brachte, brachte er selber in ihn
mit. Die ganze Liebeskraft seiner Einsamkeit trug er in die Qualen
und Ängste des wilden Bluthandels hinein, mit der Hingebungs-
kraft eines wahrhaft großen Herzens sich an die realen Forde-
rungen des Augenblicks verschwendend. Er bereitete sich mit fast
sakraler Inbrunst auf etwas vor, das noch dunkel vor ihm lag,
aber dessen opfervolle Größe er fühlte. Und wenn wir wissen, daß
er in den vier Kriegsjahren als unablässiger Tröster, Plleger, Lebens-
und Freudespender alle seine bisher unerschütterliche Gesundheit
und seinen unvergleichlichen lebendigen Magnetismus Tag und
Nacht an die Verwundeten und Sterbenden verschenkte, um
schließlich als ein körperlich Gebrochener aus diesen furchtbaren
Jahren hervorzugehen, so werden wir rückblickend die ergreifende
Bedeutung der Zeilen fühlen, die er am i6. April 1861 in sein
Tagebuch schrieb: „Ich habe an diesem Tag, in dieser Stunde,
mich entschlossen, mir einen reinen, vollkommenen, wohltuenden,
reinblütigen, starken Leib zu schaffen, indem ich alle Getränke
außer Wasser und reiner Milch vermeide und auch alle üppigen
Speisen und reichen Mahlzeiten, — einen edlen Leib, einen ge-
läuterten, gereinigten, vergeistigten, ungeschwächten Leib." Fühlen
wir hier nicht den erschütternden Willen, die Fragwürdigkeit der
^virren Geschehnisse des Lebens durch eigene, höhere Inkarnation
zu bezwingen? Größe und Adel und Liebe aus der dumpfen Ver-
krampftheit der Tatenwelt herauszuringen und erlösend in die
eigene Brust zu nehmen?
Wahrlich nicht in der Haltung und im Geiste eines, der sich
„opfert" ! sondern mit derselben Lust, mit derer sich, aus seiner un-
gebrochenen, alles mitfühlenden Natur heraus an die von Gut und
Böse durchbrauste Fülle des Großstadtlebens hingegeben hatte;
mit demselben Liebesfeuer, mit dem er einsam unter Büschen und
Blumen und Geistern von Kameraden im W^ald, am Teichrand ge-
wandert war und seine heißen Grüße geflüstert hatte; mit der Lust
am Lebendigen und seinem rätselhaften, süßschaurigen Sein in-
mitten des Unsichtbaren, Unendlichen. Mit Opfergefühlen schon
darum nicht, weil in solchem „Gürten seiner Lenden" auch das
Sichrüsten zu neuen Gesängen, zu neuer, gestalteter Vergeistigung
des wirren Geschehens lag, weil er sich als den Einzigen fühlte,
der das wahre, geistige Arom dieses Krieges und derer, die in ihm
LXXV
stritten und litten, in unverjjängliche Worte einzufangen berufen
sei, seinen Sinn und seine Wesenheit einzuweben in das große Ge-
webe der Zukunft, an dem er spann.
Während der ersten Monate des Krieges blieb Whitman zu Hause
bei der Mutter. In dieser Zeit entstand bereits ein Teil der
,/rrommelschläge", Gesänge, die noch nicht das Aroni persönlichen
Miterlebens trugen, sondern mehr ein Widerhall der erschütterten,
ersten Kriegsstimnumg waren, des Aufbrausens jener freilich schnell-
verrinnenden Woge von Gemeinsamkeit, Hingabe, Begeisterung*.
Als im Dezember 1862 George Whitman in der Schlacht bei Fre-
dericksburg verwundet worden war, brach Walt an die Front auf
und pflegte ihn zuerst im Feldlager am Rappahannok und später
in einem der Washingtoner Lazarette. So begann die Tätigkeit
des „Wundpflegers", die bis zum Ende dieses überaus blutigen und
wechselvollen Krieges und noch einige Zeit darüber hinaus dauerte.
I m die Ausmaße dieses Bruderkampfes einer zerrissenen Nation
nur ungefähr anzudeuten, sei gesagt, daß die xVrmeen der Union
zum Beispiel in der Schlacht bei Fredericksburg i3ooo, bei Chan-
cellersville 60000 und auf den Schlachtfeldern in Virginia während
des letzten Kriegsjahres über 100000 Mann verloren; Zahlen, die an
den damaligen Verhältnissen gemessen außerordentlich hoch sind.
l!)abei waren die Kämpfe von jener Erbitterung durchglüht, wie sie
just in Bruderkriegen mit besonderer Wildheit zu toben pflegt. Mehr
als einmal hing das Schicksal des Nordens an einem Faden, bis end-
lich Lincoln in General Grant den Mann fand, der die Sache der
Union zum Siege führte. Am 3. April i865 ergaben sich die letzten
Truppen der Südstaaten an ihn. Am 14. April wurde Abraham
Lincoln, der Amerika durch diese vier furchtbaren Jahre hindurch-
gesteuert hatte, ermordet. Er wäre auch ohne diesen tragischen
Ausgang nicht wiedergewählt worden, denn trotz des Sieges war
das Mißtrauen der großen Mehrheit der Amerikaner gegen eine
übermächtige Zentralgewalt allzu elementar.
„Während meiner zwei Jahre in den Lazaretten und im Feld,"
schrieb Whitman 1864, „habe ich über 600 Krankenbesuche ge-
macht und bin bei etwa 18 bis ^.oooo Verwundeten und Kranken
* Als Beispiel dieser schwächeren, vom Dämon weniger gjesegneten Gesänge
habe ich in Band II dieser Ausgabe nur die „Erzählung des Hundertjährigen"
gebracht.
LXXVI
gewesen und habe ihnen Seele und Leib, wenigstens in einigem ge-
ringen Maße, in der Stunde der Not gestärkt." Er hatte keinerlei
Amt und Stellung bei den Lazaretten. Er wohnte in Washington
bei der befreundeten Familie O'Connor und brachte das Geld, das
er brauchte, notdürftig durch Zeitungsbeiträge auf. Das meiste da-
von verwendete er darauf, allerhand Erfrischungen, Bücher, Schreib-
papier, Tabak u. s. f. für seine Pfleglinge zu kaufen, auch warb er
bei Freunden eifrig um Beiträge für diesen Zweck. Die Ärzte und
Lazarettbeamten sahen, daß seine Gegenwart den Verwundeten
wohltat und ließen ihn frei gewähren. Auf seine Besuche pflegte er
sich sorgfältig vorzubereiten. Er wußte, daß seine wesentliche Heil-
wirkung auf der Gesundheit und reinen Ausstrahlung seiner ganzen
Persönlichkeit beruhte, daß seine bloße, gelassene, liebe verströmen de
Gegenwart etwas war, was die armen Burschen mehr stärkte und
ermunterte, als irgend etwas sonst. Er kräftigte sich in der freien
Zeit durch lange Spaziergänge in der Natur, nahm jedesmal vor
den Besuchen ein Bad und aß kräftig, wenn auch sonst seine Nahrung
nur sehr sparsam und bescheiden war. „Walt, komm wieder!" war
der Gruß, der ihm in mancher Nachtstunde nachgerufen oder -ge-
flüstert wurde. Die zärtliche und feurige Kameradschaft, die er in
einer blühenden Menschengemeinschaft der Zukunft innerlich er-
schaut hatte, übte er hier in der zerstörten, leidvollen Wirklichkeit.
„Ich glaube nicht," schrieb er an seine Mutter nach Brooklyn,
„daß sich Menschen je so geliebt haben, wie ich und diese armen
Verwundeten und Sterbenden uns lieben." Er saß bei ihnen, legte
Verbände an, wusch Wunden aus, las ihnen aus der Bibel vor,
schrieb Briefe in die Heimat für sie und half ihnen in der letzten
Stunde. Tag für Tag und in vielen Nächten. Er führte über seine
Pfleglinge genau Buch und notierte die Bedürfnisse und kleinen
Lieblingswünsche eines jeden. Und w as mehr als alles war : aus jeder
seiner Gaben, seiner Berührungen, jedem seiner Worte strömte die
Zartheit und Liebe, die nur aus der Ganzheit und Reinheit von
Leib und Seele strömen kann. In der Nähe des Todes blüht das
liebenswerte am Menschen mit geheimnisvoller Losgelöstheit auf,
und wir fühlen gleichsam die Ströme ^veher und lustvoller magne-
tischer Kraft, mit der Whitman sich über diese Leidenslager
beugte; fühlen das „duftende Gras seiner Brust", das aus Kraft und
Freude gesproßt war, sich in zärtlich-mütterlichem Hauch zum
LXXVII
Leiden und zur Schwachheit neigen. Ohne Schwächlichkeit selber,
ohne Sentimentalität, gelassen, lind, und so „elektrisch", wie nur
je eine Äußerung seiner höchsten Lust.
Das Tiefste dieser innigen Gemeinschaft mögen wir vielleicht
ahnungsweise begreifen, wenn wir uns darauf- besinnen, daß alles
Verlangen Whitmans nach höherer, liebevollerer Menschheit und
die dämmrigen Gestalten solcher Menschheit im Grunde in seiner
Brust lebten, eingehüllt in die leuchtende Sphäre seines eigenen
Seins und seiner eigenen Dichterkraft; und daß nun hier in der
absondernden, durch den Tod von aller Herkömmlich keit gelösten
Sphäre des Nur-Menschseins, des JNur-Liebebedürfens ein Etwas
waltete, das, obwohl gewandelt, doch jener einsamen Sphäre der
eigenen Innerlichkeit verwandt war. Der tiefe Drang Whitmans
zu natürlichster Unmittelbarkeit, der sich schon in seinem vorherigen
Leben und in dem ganzen, gradezu gerichteten Sprechton seiner
Dichtung ausdrückte, fand hier in den durch Leiden gelösten und
kindlich gemachten Seelen Widerhall und begierige Aufnahme. —
Whitman selber war weit von jener Gesinnung entfernt, die um
dieser Samariterdienste willen späterhin eine Art Heiligenschein um
ihn verbreiten wollte: er wies all solche Verherrlichung übereifriger
Freunde scharf zurück und weigerte sich noch in Alter und Krank-
heit, einem Gesuch um eine staatliche Rente für diese Tätig-
keit in den Lazaretten zuzustimmen. Ebenso verfälscht ist die
salbungsvolle Befriedigung, die einige angelsächsische Kritiker über
diese seine Selbstaufopferung bezeigen, gleich als habe er dadurch
seine vorherige „Ich-Besessenheit" und Unbändigkeit wieder gut
gemacht und den Ablaß durch sie verdient. Diese tätigen Liebes-
dienste waren ihm wehe Lust und waren eine natürliche Blüte
seines ganzen, ungebrochenen Seins.
Während all dieser Jahre fand er immer noch Zeit, regelmäßig
an seine Mutter zu schreiben. Aus diesen Briefen fühlen wir, wie
tief und unablässig er mit ihr verbunden war. Der über Vierzig-
jährige spricht in ihnen wie ein Kind, das zum erstenmal von Hause
weg ist, er beichtet der Mutter alle seine kleinen und kleinsten
Nöte und Angelegenheiten, beschreibt ihr etwa genau den Zustand
seiner Kleider, die Löcher und schadhaften Stellen, irgendwelche
Neuanschaffungen, oder berichtet, unter Entschuldigungen, daß
er es nicht früher getan habe, von dem Verkauf eines alten Rockes,
LXXVIII
den er nicht mehr habe tragen können, erzählt, was er morgens,
mittags und abends zu sich nimmt, mit wem er verkehrt u. s. t
Er verfehlt auch nie, sich nach den Sorgen der Mutler zu erkun-
digen, nach den Geschwistern, den Geldangelegenheiten, und gibt
Ratschläge bei Krankheitsfällen usw. Ein zärtlicher Humor leuchtet
durch diese Briefe. Ab und zu sind Klagen vernehmbar über seine
eigene Gesundheit, die allmählich durch die Überanstrengung und
durch den vielen Aufenthalt in einer vergifteten Atmosphäre zu
leiden begann. Einmal zog er sich eine schwere Blutvergiftung an
der Hand zu, die ihm fast den ganzen Arm gekostet hätte. Erste
leichte Schwindelanfälle und vorübergehende Lähmungen beun-
ruhigten den bisher an keinerlei Krankheit oder Schwäche Gewöhn-
ten. Er litt schwer unter dem Malariaklima und der unmäßigen
Hitze Washingtons. An besonders glühenden Tagen ging er mit
Sonnenschirm und Fächer aus. Die Leiden des Krieges quollen im
Sommer 1864 noch einmal in finsteren Giftwolken schwerer denn
je in die von Verwundeten überfüllte Stadt. Es war das Jahr,
in dem General Grant zum letzten Ringen den Oberbefehl über-
nahm. — „O Mutter," schreibt Whitman in diesen Tagen, „zu den-
ken, daß wir nun bald wieder hier haben werden, was ich nun
schon so oft gesehen habe, die schmerzbeladenen Fuhren und Züge
und Bootsfrachten von armen, blutigen, bleichen, verwundeten
jungen Männern . . Es ist schrecklich, daran* zu denken . . Was für
ein furchtbares Ding ist der Krieg! Mutter, es scheinen keine
Menschen zu sein, sondern ein Haufen von Teufeln und Metzgern,
die einander hinschlachten." Und eine Woche später: „Ich er-
schrecke wirklich vor der Welt . . . Ich bin zwei Monate lang zwi-
schen Leiden und Tod gewesen, schlimmer als je. Das einzige Gute
ist, daß ich ihren Qualen, ihren getrübten Seelen und ihren Lei-
bern ein paar Sonnenblicke bringen konnte. — O es ist furchtbar
und wird noch schlimmer, schlimmer, schlimmer!" — Dazu kam
die ständige Sorge um seinen Bruder George, der in allen größereu
Schlachten dieses blutigen Endkampfes mitfocht, und um den er dop-
pelt bangte im Gedanken an die Mutter. Die Zahl der Verwun-
deten, die irrsinnig wurden, stieg immer mehr. Freunde und Ärzte
drängten Whitman, für einige Zeit im Norden Erholung zu suchen.
Er weigerte sich. Er schrieb an die Mutter, er könne den Gedan-
ken nicht ertragen, nicht da zu sein, wenn etwa George verwundet
LXXIX
nach Washington gehracht würde. EndHch aber warf ihn der
glühende Mittsommer 1864 so darnieder, daß er seinen Posten ver-
lassen mußte. Er kehrte nach Hanse zurück, wo er sechs Monate
lang blieb.
Während dieser Zeit legte er die letzte Hand an die „Trommel-
schläge", die im folgenden Sommer in New York als Sonderausgabe
gedruckt wurden. Die dritte, Bostoner Ausgabe der „Grashalme"
von 1860 war in etwa fünftausend Exemplaren verkauft und dies-
mal nicht mit einem solchen Entrüstungssturm aufgenommen wor-
den. Aber der Kriegsausbruch hatte den jungen Verlag gezwungen,
seine Tätigkeit einzustellen.
Auch in Brooklyn und New York konnte sich Whitman nicht
enthalten, die Lazarette zu besuchen, und im Dezember 1864 kehrte
er nach W^ashington zurück, vor allem, um etwas für seinen Bruder
zu unternehmen, der inzwischen gefangen genommen worden war
und in dem grausigen Wintergefängnis von Dannville schmachtete.
Durch ein Gesuch an General Grant gelang es ihm, George zu be-
freien, der dann im Frühjahr trotz aller Leiden wohlbehalten nach
Hause zurückkehrte.
Im Februar i865 erhielt \Vhitman eine kleine, leidlich bezahlte
Beamtenstelle im indianischen Büro des Departements des Innern,
wo ihm der Umgang mit den Eingeborenen viel Freude machte.
Am 14. April, kurz nach Friedensschluß und nach dem Einzug
der Truppen, w urde Lincoln im Theater ermordet. Whitman war
zu der Zeit auf Besuch zu Hause und erfuhr den genauen Hergang
des Ereignisses durch einen befreundeten Augenzeugen.
Wahrscheinlich hatte Whitman den Präsidenten nie persönlich
kennengelernt. Aber er war ihm in Washington oft begegnet und
hatte jedesmal Grüße einer besonderen, gegenseitigen Sympathie
mit ihm ausgetauscht. Eine tiefe, vergeistigte Liebe zu dem hage-
ren, ernsten Mann hatte Whitman seit langem erfüllt, in dessen
gramzerfurchten Zügen sein Selierblick das kindliche Leuchten der
Idealität erkannte. Nun hatte der vielbefehdete Führer, der das
Opfer des Hasses gegen eine allzustarke Verkörperung der Über-
macht des Nordens und des Gedankens der Oberhoheit der Union
über die Einzelstaaten geworden war, mit seinem Tode gleichsam
die schwer errungene Einheit von Norden und Süden besiegelt.
Für ganz Amerika erhielt seine Gestalt durch dieses tragische
LXXX
Ende die Weihe eines Sinnbildes, die sie für Whitman längest gehabt
hatte.
Aus der ahnungsvollen Unruhe dieser Frühjahrstage und -nächte
heraus, die der Ermordung Lincolns in der empHndlichen Seele
Whitmans vorausgingen, aus dem weh-beseligenden Wissen um
die Wirklichkeit des „ allesumhüllenden Todes" und aus der
mystisch-süßen Liebe zu der so im Dunkeln autleuchtenden Welt
der Lebenden heraus sang nun der selber im Innersten seiner
freudestarken W^esenheit Erschütterte dem Ermordeten jene zart-
gewaltige Nänie, die einer seiner berühmtesten Gesänge wurde:
das „Andenken an Präsident Lincoln", worin er das schmerzlich-
einsame Lied der liermitdrossel, die in den Sumpfzedern schlägt,
und das holde Wunder des blühenden Flieders und den bleichen
traurigen Glanz des Venusgestirns zu einem Weihelied für die
„süßeste, weiseste Seele aller Völker und Länder" verwebt und
zugleich zu einem Loblied auf den Tod, so voll bebender Natur-
kraft und geheimnisvoll in die Nacht geschmiegter Innigkeit, daß
wir, wie kaum irgendwo in aller Dichtung der Welt, gleichsam
das Arom alles Seins und Vergehens wie einen feucht- würzigen
Seeufergeruch atmen.
Hier, wie auch in den letzten Gesängen der „Trommelschläge",
schwingt ein Ton, der bisher nur hie und da, am deutlichsten in
den verwandten „Calamus"-Liedern, aufgeklungen war: ein ge-
stillter, schmerzlich-wonnevoller Ton, wie unter Sternen ange-
schlagen, in duftenden Nächten tiefster, schweigender Einsamkeit.
W^eh, das in aller Lust Whitmans immer vibriert hatte und das
nur stumpfere Ohren nicht herau*:gel)ört hatten, männlich-starkes
Weh, das in jeder wahren Lust am Wunder des Daseins lebt, tönte
nun voller und inniger mit. Es scheint, daß in jener Zeit die Saiten
der Seele Whitmans so zum Zerreißen gespannt waren, daß er sie
nur unter Schmerzen berühren konnte. Freunde haben erzählt, sie
hätten ihn wohl von der Straße in irgendeine Allee oder unter
einen Torbogen treten sehen, wo er dann ein Papier hervorzog und
schrieb, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Wenn
solche Berichte auch Übertreibungen Begeisterter sein mögen, so
sind sie doch Auswirkungen der Schwingung einer Realität.
Um Whitmans immer wachsende Neigung zum Übersinnlichen,
wie sie sich in den Gedichten der letzten Epoche seines Lebens
VI WhitmaD 1
LXXXI
offenbart, voll zu verstehen, müssen wir uns immer aufs neue gegen-
wärtig halten, daß ihm das Übersinnliche nicht weniger wirklich
war, als irgendeine sogenannte Wirklichkeit. Wenn er etwa in
dem Gedicht an einen Freund, den er im Traum gestorben glaubte,
ausspricht, die Toten seien überall gegenwärtig, die Stadt Manna-
hatta, Boston, Chikago, Philadelphia sei von Toten so voll wie von
Lebenden, ja vielmals voller als von Lebenden, so ist ihm das eine
Wahrheit, nicht weniger gewiß als seine Fland oder sein Auge.
Oder wenn er, das Getriebe der Boote, Dampf- und Segelschiffe
von der Brooklyn-Fähre aus beschauend, sich selber als leibhaftigen
Gefährten einer hier an derselben Stelle nach hundert Jahren ebenso
wimmelnden Menschheit erblickt und voraussagt, so ist ihm das
Wirklichkeit. „Ich steige", ruft er im „Leb wohl", „empor aus meiner
Menschwerdung, wieder neuen Formen zu!" Eine ewige Stufenfolge
zieht sich durch alles Sein, und zugleich lebt das volle Wunder
des Seins in jedem Zustand der sich bewußt werdenden Seele.
Den Getrübten täuscht das Wirrsal von Gut und Böse, von Ver-
gänglichkeit und Ewigkeit, aber der Reine sieht die Wahrheit.
Daß in solchem Schauen dennoch die Seele auch in Schmerzen
erzittern kann, ja in Schmerzen, die tiefer erschüttern, als dumpfes
Leid der im Alltag Gebundenen, von Schmerzen, die gleichsam
überpersönlich an sich selber das Überwinden des Vergänglichen
vollziehen, ist kein Widerspruch zur Wahrheit. In welchem Sinne
eine Seele leidet, das ist immer wieder das Stigma ihrer Erlöser-
kraft an sich und anderen. „Denke an die Seele, nähre die Seele,
übe die Seele", ob in Leid oder Lust, ist vor dem Unendlichen und
inmitten des Unendlichen eines. Die „Freude", die Whitman ver-
kündet, ist nichts anderes, als das immer Stärker-Werden der Seele
in Allem, was durch sie hindurchflutet.
Der letzte Teil seines Lebens ist das Beispiel solchen Glaubens,
nicht mehr oder weniger, als seine Jugend und Manneszeit es war;
nur stiller, an eigenes Leiden geschmiegter und daher vielleicht
noch weihevoller.
In die Zeit jenes gespannten Zustandes seiner Seele fiel ein klein-
lich-brutales Ereignis, das Whitman freilich äußerlich mit voller
Gelassenheit hinnahm. Der neu ernannte Chef seines Departements,
Mr. Harlan, fand in Whitmans Pult, wahrscheinlich aufmerksam
gemacht durch einen böswilligen Kollegen, das Manuskript für die
LXXXII
neue Ausgabe der „Grashalme", die Whitman vorbereitete. Harlan
war Methodist, und man kann es begreifen, daß er über den In-
halt gewisser Gesänge so empört war, daß er sich zur sofortigen
Entlassung des Verfassers entschied. Die Entlassung lautete ohne
Begründung kurz: „Der Dienst Walter Whitmans aus New York
als Beamter im Indianischen Büro ist von diesem Datum ab auf-
gehoben. — 3o. Juni i865."
Der edelmütig-hitzige Freund Whitmans, O'Connor, ging sogleich
zu dem ihm bekannten Kronanwalt Ashton, und dieser bewog
Harlan zwar nicht, den Dichter in seinem Amte zu lassen, aber
doch, ihn an Ashtons Departement zu überweisen. Auch sonst
schadete das scharfe Vorgehen Harlans W^hitman nicht, da er in
Washington überall bekannt und beliebt war, seine „Grashalme"
aber so gut wie niemand gelesen hatte. Journalisten und Mit-
beamte traten für ihn ein, und O'Connor selber veröffentlichte seine
bekannte Schrift „TheGood Gray Poet" („Der gute graue Dichter"),
in der er Harlan aufs schärfste angriff. Einige Zeit später gab ein
anderer Freund, John Burroughs, die erste biographische Studie
über Walt Whitman heraus. Whitman selber bereitete für das
Jahr 1867 eine neue, die vierte Auflage der „Grashalme" vor, die
im Oktober dieses Jahres erschien. Sie enthielt wenig Neues, die
„Trommelschläge" waren noch nicht in sie aufgenommen; geringe
Änderungen waren vorgenommen, Whitman schrieb an seine Mutter,
er habe einige übertriebene Redewendungen und zwei oder drei
ganze Stellen weggelassen.
In England hatte sich inzwischen W. M. Rossetti zum warmen
Fürsprecher Whitmans gemacht und veröffentlichte nun einen Aus-
wahlband der „Grashalme", den Whitman nach einigen Bedenken
gegen eine gekürzte Ausgabe seines in allen Teilen organisch ge-
wachsenen Werkes dennoch gelten ließ. Diese Ausgabe gewann
ihm einen ansehnlichen Kreis von Verehrern im Mutterland, zu
denen Männer wie Tennyson, Dante Gabriel Rossetti, Swinburne,
J. A. Symonds u. a. zählten. Vor allem eroberte sie ihm das Herz
einer der bedeutendsten Frauen des damaligen England, der Witwe
von Alexander Gilchrist, des berühmten Biographen von William
Blacke, Anne Gilchrist, die sich sogleich von Rossetti ein Exemplar
des vollständigen Werkes geben ließ und in einem leidenschaftlich-
warmen Essay, „A womans estimate of Walt Whitman", im
vi*
LXXXIII
besonderen für die verfehmten „Kinder Adams* eintrat, wozu für eine
englische Frau nicht wenig Mut gehörte. Sie trat auch in Brief-
wechsel mit Wliitman selber (der allerdings fast ausschließlich von
ihrer Seite bestritten wurde) und siedelte später mit ihren Kindern
(im Jahre 1876) nach Philadelphia über, um in der persönlichen
Nähe des verehrten Mannes zu leben.
Abgesehen von einer gänzen Reihe von Besuchern, die ihm sein
wachsender Ruhm zuführte, lebte Whitman still und einfach in
dem kleinen Kreis gelehrter und hochgebildeter Freunde, durch
den er sich jedoch nicht an seiner alten GevVohnheit hindern ließ,
mit schlichten Menschen aus dem Volk freundschaftlich zu ver-
kehren. Vor allem datiert aus dieser Zeit seine bis an das Ende
seines Lebens dauernde, innige, väterlich-zärtliche Kameradschaft
mit dem jirnj^en Irisch- Amerikaner Peter Doyle, der nach dem
Kriege, in dem er verwundet worden war, eine Stelle als Pferde-
bahnschalfner auf der Pennsylvania Avenue erhalten hatte. Whit-
man lernte ihn in einer stürmischen Winternacht kennen. Er kam
grade von Burroughs und saß, in eine große, weißwollene Decke
gewickelt, als einziger Fahrgast im Wagen. Der junge Schaffner,
der draußen frierend und einsam stand, fühlte sich angezogen durch
den Mann mit dem grauen Bart und dem sonngebräunten Gesicht,
trat in den Wagen und setzte sich zu ihm. Und Whiiman fuhr,
anstatt auszusteigen, die ganze Strecke noch einmal mit ihm, da
sie soviel miteinander zu reden hatten. Seitdem kam Peter täglich
nach beendeter Fahrt vor das Schatzhaus, in dem Whitmans Büro
lag, und holte ihn zu Spaziergängen ab, bei denen sich oft die
anderen Freunde anschlössen. Der junge Mensch war durch die
Kriegsereignisse innerlich aus dem Gleichgewicht gebracht; er schlug
sich mit Selbstmordgedanken und dergleichen Gespenstern herum,
und fand in Whitmans Wärme und Liebe den Halt seines Lebens
wieder. Die Briefe Whitmans an ihn, die er später, als er Washing-
ton verlassen hatte, an ihn schrieb, füllen einen ganzen Band und
sind unter dem alten Gedichttitel „Cnlamus" erschienen. In dieser
innigen Freundschaft bebte der starke väterlich-männliche Eros fort,
der Whitman dazu belähigt hatte, die beste Kraft seines Lebens an die
Hunderte und Tausende, leidender Opfer des Krieges zu verströmen.
Die politische Entwicklung der ^achkriegsjahre war für Whit-
man eine tiefe Enttäuschung. Grant war zum Präsidenten gewählt
LXXXIV
worden, und der militärisch verdiente General erwies in den acht
Amtsjahren seine völlige Unfähigkeit als Politiker. Anstatt, wie es
in Whitmans Geist gewesen wäre, die Herzen des Südens zu ge-
winnen und nun die wahre, innere Einheit der Union zu schaffen,
wurde in radikal-republikanischer Übertreibung den aufständischen
Weißen das Stimmrecht entzogen und den dafür gänzlich unreifen
Negern verliehen, wobei Stimmenkauf und Korruption jeder Art
ein immer schamloseres Wesen trieben. Wir können uns vorstellen,
mit welchem Widerwillen der von der Idee einer Gemeinschaft
freier, selbstbeherrschter, liebesstarker Menschen erfüllte Dich-
ter etwa die Scharen der Schwarzen mitansah, die nach einem
Wahlsieg „wie ebensoviel losgelassene wilde Bestien" unter Waffen
durch die Straßen tobten. Seit 1868 arbeitete er an einer Schrift,
in der er die Umrisse wahrer Demokratie und somit wahrer Mensch-
lichkeit zu entwerfen unternahm, jene gewaltige Bilanz der Ge-
dankenfülle, die ihm im Kriege gereift war und die schließlich im
Jahr 1871 als Sonderbroschüre unter dem Titel „Demokratische
Ausblicke" erschien. Trotz schneidendster Kritik an dem gegen-
wärtigen Zustand Amerikas, an seinem Dünkel, seiner geistigen
und seelischen Hohlheit, seinem alle edle Besinnung erstickenden
Materialismus, seiner kümmerlichen Literatur baut er dennoch auf
die unerlösten Kräfte in der breiten, gesunden Masse und fordert
und verkündet den großen Dichter, der den geistigen Ausdruck
bringen soll für die Scharen edler, kraftvoller, stolzer Männer und
tüchtiger Weiber, die allenthalben, unabhängig von dem korrupten
Staats-, Gesellschafts- und Literaturbeiriebe, anzutreffen sind, wenn
man nur Augen hat, zu sehen. Der große Dichter soll selber nur
ein Teil der Masse sein, mit ihr leben, mit machtvollen, schlichten
Menschen aus dem Volke umgehen, ihre robuste Wesenheit in sich
verkörpern und gestalten; frei von feudaler und kirchlicher Auto-
rität und Tradition, genährt von der modernen Wissenschaft, leib-
haftig erfüllt von der Gleichheit des Geistes Gottes in allen, soll er
Angesicht zu Angesicht der herrlichen, frischen Welt der Menschen
und Dinge gegenübertreten und sie deuten und neu schaffen und
die Seele in Allen berühren, sie alle zu dem einzig beglückenden
Bewußtsein ihrer Seele erwecken, ihres einmaligen, wunderbaren
Selbst, das ins Ewige verkettet ist. Seine Sprache soll die der höch-
sten Natürlichkeit sein, ebenbürtig der Natur selber, ebenbürtig
LXXXV
dem Unaussprechlichen. Den Menschen zu züchten, — das ist die
Lösung des großen, jedoch nur scheinbaren Widerspruchs zwischen
Individuahsmus und Gemeinschaft. Alle politischen Rechte und
Freiheiten sind nichts, wenn nicht der freie, vollentfaltete Mensch
geschaffen wird, der sie trägt und ausübt und dem Gesetz, das die De-
mokratie verkörpert, dem Gesetz der Entwicklung, die innere Freiheit
gibt und warmen Glanz gegenseitiger, lebendiger Liebe und Kamerad-
schaft. Die Demokratie soll nichts Geringeres sein, als die mensch-
liche Sphäre, in der ihre Einzelnen miteinander leben, eine neue
Erdenluft, die alle Umgangsformen, Sitten, Handlungen bestimmt
und Wohlgefühl, Kraft, Schönheit, Güte, Gastlichkeit, Duldsamkeit
lebendig zwischen Allen und von Allen zu Allen fluten läßt.
Da alle Neuschöpfung in Kunst und Leben nur aus der beson-
deren Wesenheit ihrer Rasse und ihres Volkes möglich ist, so muß
aus Amerika das höchste Amerikanische entwickelt werden. „Das
Höchste aber und die Krönung der Demokratie ist, daß sie allein
alle Nationen, alle Menschen noch so verschiedener und entfernter
Länder zu einer Bruderschaft, einer Familie vereinen kann und
immer zu vereinen bestrebt ist. Sie ist der alte, immer wieder
neue Traum der Erde, der Traum ihrer ältesten und jüngsten Völ-
ker und liebsten Philosophen und Dichter. Nicht nur das halbe
Ziel des Individualismus, der isoliert; sondern auch die andere
Hälfte, die da ist Zusammengehörigkeit und Liebe, die ver-
schmilzt, bindet und einigt und alle Rassen zu Kameraden und
Brüdern macht. Beide müssen lebendig gemacht werden durch die
Religion (die einzige, würdigste Erhöherin von Mensch und Staat),
die in die stolzen Gewebe der Materie den Atem des Lebens haucht.
Denn im Herzen der Demokratie ruht letzten Endes das religiöse
Element. Alle Religionen, alte wie neue, wohnen dort. Und die
Idee der Demokratie kann sich nicht eher in strahlender Schönheit
und Gewalt verwirklichen, als bis jene, die die beste und letzte,
die geistige Frucht tragen, in volle Erscheinung getreten sind."
„Im Herzen der Demokratie ruht das religiöse Element": denn
eben die einzig und allein aus stillster Einsamkeit und tiefster Ver-
senkung der Einzelseele geborene mystische Einheit mit der gött-
lichen Allgegenwart, mit der Allseele wird in der erhöhten Ge-
meinschaft gleich ehrfürchtig-freier Seelen zu lebendiger Liebe und
Freude, strahlend und widergestrahlt.
LXXXVI
Der ganze gewaltige materielle Aufschwung Amerikas ist dazu
verurteilt, der furchtbarste Fehlschlag aller Zeiten zu werden, wenn
nicht aus ihm sich solche Vergeistigung und Veredlung des Men-
schen emporringt; lieber in Niederlagen und Verlusten zur Er-
kenntnis der Seele geführt werden, als die Welt mit allen Gewalten
der Materie beherrschen und seellos sein.
Freilich ist Whitman der letzte, nicht anzuerkennen, daß in
einem vernünftigen, gesunden äußeren Gedeihen und maßvollem
Wohlstand, der aber möglichst Allen zugute kommen muß, das
physische Erdreich sozusagen liegt, auf dem der Typus von Men-
schen nach seinem Herzen sich am freiesten entwickeln kann. Ver-
flucht aber die irrsinnige, Seele und Leib um ihr Bestes betrügende
Hast nach Gewinn, das Zappeln in niederträchtig verzerrten Be-
ziehungen von Mensch zu Mensch, das Herumhetzen in Geschäfts-
häusern, Salons, Klubs, Börsen u. s. f., das auch noch die Nächte
zu schlaflosen Höllen macht und schließlich im gräßlichen Zähne-
klappern eines Todes ohne Würde und Majestät endet.
Der Krieg und seine eigenen tiefsten Erfahrungen inmitten der
ungenannten Tausende sind ihm die Gewähr für das Vorhandensein
einer stummen, freudigen Opferkraft in der breiten Masse dieses
Volkes, die zu höherem Bewußtsein zu erwecken eben die heilige
Aufgabe des wahren Dichters, Redners, Führers ist, der den
innersten Sinn der Demokratie, des „göttlichen Durchschnitts" er-
kannt hat.
Kühne, strenge und blühende Verkündung! Wohin gesprochen
und von wem gehört? Von Amerika bislang sicherlich nicht.
DUNKELHEIT UND HELLER ABEND
Willkommen, unaussprechliche Anmut sterbender Tage !
Und ich selber, o Tod, habe geatmet mit jeglichem Atemzug
In deiner Nähe und in dem stummen Gedanken an dich.
Gleichzeitig mit den „Demokratischen Ausblicken" war die
fünfte Auflage der „Grashalme" erschienen, in die nun auch die
„Trommelschläge" eingereiht waren, und zwar waren sie, gleich-
sam zum Zeichen, in welchem tiefen Sinne Whitman die Erleb-
nisse des Krieges betrachtet wissen wollte, als Angelpimkt des
ganzen Buches in die Mitte gestellt. Daneben veröffentlichte er
ein kleines, 120 Seiten starkes Bändchen, das u. a. die Nänie auf
Lincolns Tod enthielt und nach einem der schönsten und bedeu-
tungsvollsten Gedichte „Durchfahrt nach Indien" betitelt war.
Hier deutete er den Plan an, gleichsam als rein spirituelles Seiten-
stück zu den „Grashalmen" ein Buch Gesänge vom Übersinnlichen
zu schreiben, und an anderer Stelle* verkündete er, daß er sich
nun gereift fühle, die Gedichte zu schaffen, die das Programm der
„Demokratischen Ausblicke" verwirklichen und alle Staaten
Amerikas Hand in Hand „in den ungebrochenen Kreis eines Ge-
sanges" führen sollten.
Aus solchen kühnen Plänen riß ihn der völlige Zusammenbruch
seiner Gesundheit gewaltsam heraus.
Er hatte sich seit der Lazarettzeit nie wieder ganz erholt. In
der letzten Zeit hatten sich die Anwandlungen von Schwäche,
* In der Vorrede zu dem Sonderabdruck eines Gedichtes „Wie ein starker
Vogel auf Schwingen frei", das er auf Einladung der Vereinigten literarischen
Gesellschaften von Dartmonih College im Sommer 1872 öffentlich sprach. Derlei
Einladungen war er bereits einige Male gefolgt und tat es später noch wieder-
holt, bis in seine allerletzten Jahre.
LXXXVÜI
Schwindel und leichtere Erkrankunj^en bedenklich gemehrt. Am
23. Januar iSyS hatte er noch bis spät in den Abend hinein am
Ofen in der Bibliothek des Schatzhauses gelesen, und sein schlechtes
Aussehen war dem Pförtner aufgefallen. Nachdem er sich in seiner
gegenüberliegenden Wohnung zu Bett begeben hatte, wachte er
zwischen drei und vier Uhr morgens auf und fühlte, daß er Arm
und Bein seiner linken Seite nicht bewegen konnte. Er blieb ruhig
liegen, bis am Morgen Freunde kamen und den Arzt holten. Er
hatte einen Schlaganfall erlitten.
Da die Zeitungen seinen Zustand übertrieben, schrieb er sogleich
an seine Mutter, um sie zu beruhigen ; er sei auf dem Wege zur
Besserung und werde in ein paar Tagen wieder an seinem Pulte
sitzen. Als er sich bei der Pflege seiner Freunde kaum etwas er-
holt hatte, bekam er die Nachricht vom Tode der Frau seines
Bruders Jefferson, Martha, die er besonders geliebt hatte. Trotz-
dem konnte er Ende März sich wieder an seine Büroarbeit be-
geben, obwohl lahm und von Schwächezuständen des Kopfes
geplagt. Eine elektrische Kur tat ihm gut. Anfang Mai jedoch er-
krankte seine Mutter, die von Brooklyn nach der kleinen Arbeiter-
vorstadt Camden zu ihrem Sohn, dem Obersten George Whitman,
und dessen Frau umgesiedelt war. Da es mit ihr nicht besser
wurde, machte er sich, so leidend er selber war, am 10. Mai auf
und fuhr nach Camden. Am 23. schon starb Louisa Whitman.
Walt war bis zum letzten Augenblick bei ihr.
Er wurde von diesem Schlage bis ins innerste Herz getroffen.
Als er voll Unrast sich wenige Tage später an die Küste begeben
wollte, wohl zu der alten, geliebten Mutter See, hatte er einen
schweren Rückfall und mußte sofort in das Haus seines Bruders
zurückgebracht werden, — in dieses Städtchen, das er nun, ab-
gesehen von einer späteren Reise, bis an sein Ende nicht wieder
verlassen sollte.
Seine Freunde in Washington sorgten dafür, daß ihm sein
Büroposten zunächst belassen wurde unter der Bedingung, daß er
einen Ersatzmann stellte. Er erholte sich auch wieder so weit, daß
er wenigstens zeitweise das Zimmer verlassen konnte. Aber da-
zwischen kamen immer wieder die langen, dunkeln Tage und
Wochen, in denen er sich nicht von der Stelle rühren konnte
und in denen sein Kopf jedes klare Denken und jede Führung
LXXXIX
versagte und die gräf31ichen Schatten geistiger Umnachtung um ihn
die Flügel regten. Die Freunde, die ihm hätten helfen können,
waren fern. Bei seinem Bruder und dessen Frau fand er zwar
liebevolle Fürsorge, aber keinerlei geistige Labung. Er mußte die
Segel des Geistesschiffs, mit dem er just auf die „See des Unbe-
kannten" kühn wie ein Kolumbus der Seele hatte hinausfahren
wollen, streichen. Er, der gewohnt war, seine eigene Fülle und
Kraft zu verströmen, mußte sich nun mit letzten inneren Kräften
an das bedrohlich schwindende Bewußtsein klammern, um sich
über den Tiefen der Finsternis zu halten. Nur wer je in sich
selber in äußerster Not, Einsamkeit und Schwäche um Seelenkraft
und -halt gerungen hat, wird die pathetische Größe jenes „Den-
noch" begreifen, zu dem sich Whitman in diesen furchtbaren
Jahren immer wieder emporrang.
Der Gedanke an die Mutter verließ ihn nie. „Piet, mein liebster
Sohn", schreibt er an Peter Doyle, „ich denke immer noch, ich
werde durchkommen, aber die Zeit allein kann das entscheiden.
Mutters Tod liegt mir noch immer auf der Seele, die Zeit lüftet
diese Wolke nicht von mir." Und einen Monat später: „Ich habe
das Gefühl, als ob ich wieder kräftiger werde und freier im Kopf
— beinahe so, wie ich vor Mutters Tod war, — aber ich kann
mich damit noch nicht versöhnen — es ist die große Wolke meines
Lebens — nichts, was je vorher geschah, hat mich so getroffen."
— „Nichts, was je vorher geschah" — wenn wir das, nach diesem
gedrängten Bericht über sein Leben, durchdenken, werden wir die
unendliche Kindesliebe spüren, die hier in verzweifelter Ohnmacht
ringt. Nach Jahren setzte er gleichsam als Gedenkstein dieses Ge-
dicht in die „Grashalme" :
•
Gleichsam an deinen Toren selber, Tod,
Am Eingang zu den grenzenlosen Dämraergründen deiner Herrschaft,
Für das Gedächtnis meiner Mutter, für die heilige Einheit der
Mutterschaft,
Für sie, begraben und hingeschieden, doch nicht begraben, nicht ge-
schieden von mir
(Ich sehe wieder das stille, gütige Antlitz, noch immer frisch und
schön.
Ich sitze bei der Gestalt im Sarg,
XC
Ich küsse und küsse wiederum krampftiaft die lieben alten Lippen,
die Wangen, die geschlossenen Augen im Sarg):
Für sie, das vollkommene Weib, tätig, geistig, mir von aller Erde,
von Leben und Liebe das Teuerste,
Grabe ich eine Inschrift hier, bevor ich scheide, inmitten dieser
Gesänge,
Und setze einen Grabstein hier.
Im Sommer 1874 wurde Whitman von einem neuen Chef seines
bescheidenen Postens in Washington enthoben, was freilich vom
Standpunkt der Behörde aus zu begreifen war, da er nun seit acht-
zehn Monaten krank war und keine Aussicht bestand, daß er in
absehbarer Zeit sein Amt wieder würde übernehmen können.
Seine materielle Lage, die an sich bescheiden genug gewesen
war, wurde dadurch bedenklich. Er hatte einige geringe Erspar-
nisse zurückgelegt, aber sie gingen nun rasch auf die Neige. Er
war jetzt in klareren Stunden damit beschäftigt, seine Kriegstage-
bücher zur Herausgabe vorzubereiten, und schrieb auch kleine
Aufsätze für Zeitungen und Zeitschriften, — ein Verdienst so recht
von der Hand in den Mund. Der Ertrag der „Grashalme" blieb
immer noch sehr gering, und selbst um ihn wurde er, wie es zu
jener Zeit noch möglich war, von den Buchhändlern zum Teil
betrogen.
Trotz allem und allem aber rang er sich zu zwei seiner er-
schütterndsten Gedichte durch, in denen er das Leid in sinnbildliche
Gestalt zwang: zu dem „Gebet des Kolumbus" und dem „Gesang
vom Rotholzbaum", die das Vertrauen auf den göttlichen Plan und
das „wahre Licht" und den freudigen Untergang des Gegenwärtigen
um des vollkommeneren Zukünftigen willen verherrlichen.
Im Frühjahr 1876 begann sich der furchtbare Bann, der über
ihm lag, allmählich zu lösen. Am i3. März war in der englischen
Zeitung „Daily News" ein Brief von Robert Buchanan erschienen,
der die Vereinsamung und Verarmung des kranken Dichters warm
und eindringlich beschrieb und weitgehende Teilnahme wachrief.
Rossetti wandte sich an Whitman mit einer Anfrage, auf welche
Weise seine englischen Freunde ihm am besten helfen könnten.
Er antwortete würdig und schlicht und teilte mit, daß er eben
eine neue Auflage, die sogenannte Zentenarausgabe der „ Grashalme " ,
XCI
vorbereite, und wenn die Freunde ihm helfen wollten, so könn-
ten sie es am besten dadurch, daß sie das Buch kauften. Dar-
auf traf sofort eine überaus herzliche Antwort ein, samt einem
größeren Barbetrag und der Liste zahlreicher Subskribenten. Das
war eine gute Medizin, wie Whitman selber schrieb. Vor allem
jedoch fand er in diesem Frühjahr den Weg zu dem Arzt, der ihn
in Wahrheit, wenigstens soweit es noch möglich war, heilen sollte:
zur Natur. Seine Gesundheit hatte sich so gebessert, daß er gegen
Ende April aufs Land fahren konnte, auf die Farm einer befreun-
deten Familie Stafford, und hier sog er während sechs Jahren, in
immer wiederholten Besuchen von Camden her, die Heilkraft der
Stille und der Gemeinschaft mit Bäumen, Vögeln, Himmel und
Bach in seinen noch immer halb gelähmten Körper ein. Von
1876 bis 1882 schrieb er hier jene von kindlich-panischer Einheit
mit der Natur sanft leuchtenden Tagebuchblätter im Freien nieder,
über denen das Wort Mark Aurels stehen könnte: Tugend ist eine
lebendige, begeisterte Sympathie mit der Natur. Hier an dem
klaren Timberbach, von Grillen umzirpt, von Schmetterlingen
und Vögeln umflogen, saß, lag oder badete er in der Sonne, rang
mit den schlanken jungen Baumstämmen, wie mit lebendigen
W^esen, und nahm ihre elastische Kraft in sich auf. Klare Sternen-
nächte, erhellt von den geliebten Fixsternbildern, die er alle bei
Namen kannte, und von den wandelnden Planeten, gingen über
ihm auf und atmeten ihm die alte, vertraute Luft der Unendlich-
keit zu. Das reine Vertrauen zum Wunder der Wirklichkeit blühte
wieder voll in ihm auf.
Es wäre falsch, sich Whitman in dieser Spätzeit seines Lebens
etwa als einen durch Leiden Gezähmten, Resignierten zu denken.
Das Kindliche in ihm, das immer ein starker Einschlag seines
Wesens war, offenbarte sich vielleicht jetzt noch unmittelbarer in
der sanften Lockerung des Alters. Aber allezeit blieb in ihm ein
männlich Machtvolles, ein geheimnisvolles Feuer panischer Art,
eine im Untergrund brennende Flamme einsamer Wildheit und
Größe, die auf alle Besucher dieser Zeit eine irgendwie er-
schütternde Wirkung übte. Noch eben hatte er selber in der Vor-
rede zur Zenienarausgabe von der „furchtbaren, unwiderstehlichen
Begier nach Sympathie" gesprochen, die ihn durchglühte. Der
glänzende junge englische Gelehrte Edward Carpenter, der ihn
xcu
aufsuchte, schilderte ihn als höflich und von großer persönlicher
Anmut, aber doch elementar und „adamitisch" von Charakter:
dreifach sich offenbarend, im magnetisch ausstrahlenden Geist des
Mannes, in der umfassenden, in unsichtbaren Bereichen wohnen-
den Weite der Seele und zugleich in einer Art von furchtbarer
Majestät, „als ob in ihm das Gericht sich offenbarte — eine zeus-
gleiche Erscheinung voll Donners". Mrs. Gilchrist, die 1876 nach
Philadelphia übergesiedelt und in deren Heim Whitman ein
häufiger Gast war, selber eine herrliche, feurige Frau, sagte, wen
dieses Element in Wbitmans Wesen einmal erfaßt habe, für den
gebe es kein Verbergen mehr vor der schrecklichen Flamme dieser
Persönlichkeit. Dr. R. M. Bücke, selber ein Mann voll höchster
Tatkraft und Energie, der nach einer abenteuerlichen Jugend ein
bedeutender Arzt und Leiter einer Irrenanstalt geworden war und
später die erste grundlegende Biographie Wbitmans schrieb, schil-
derte seinen ersten Eindruck von Whitman als eine Art von „gei-
stigem Rausch", der auf Monate hinaus in ihm nachwirkte und
ihm die Gestalt des greisen Dichters über menschliche Erschei-
nung hinaushob.
Wbitmans Lebenskraft nahm in diesen Jahren ständig wieder
zu; er ging in die Theater, besuchte Freunde und trug u. a. im
Jahre 1879 ^" Steck Hall in New York sein „Andenken an
Lincoln" vor. Und Milte September desselben Jahres entschloß er
sich, mit einigen Freunden eine große, sechzehnwöchige Reise über
den Mississippi hinaus in den Westen bis zu den Rocky Mountains
zu unternehmen. Er freute sich wie ein unbändige? Kind an der Fahrt
in dem bequem-imposanten Schlafwagenzug und an der unermüd-
lichen Lokomotive, die sie durch die riesigen Strecken hinführte
und der er schon vorher den feurigen Gesang ihrer Wesenheit, „An
eine Lokomotive im Winter", gedichtet hatte:
Dich für mein Rezitativ!
Dich in dem treibenden Sturm, wie jetzt, der Schnee, der sinkende
Wintertag,
Dich in all deiner Rüstung, dein regelmäßiger Doppelpulsschlag,
dein zuckendes Pochen,
Dein schwarz zylindrischer Leib, goldenes Messing und silbriger
Stahl,
XCIII
Dein schweres Seitengestänge, gleichlaufendes Zwillingsgestänge, wir-
belnd, hin und her schießend an deinen Flanken,
Dein metrisches Keuchen und Brausen, bald schwellend, bald in die
Ferne verhallend,
Dein großes, vorspringendes Licht ganz vorn.
Deine langen, bleichen, schwebenden Dampfwimpel, von zartem
Purpur durchhaucht.
Die dicken, finsteren Wolken, aus deinem Schornstein gespieen.
Dein vielverklammerter Leib, deine Ventile und Federn, der bebende
Blitz deiner Räder,
Der Zug dahinter, bald jäh, bald schlaff, doch unablässig vorwärts
getragen ;
Urbild der neuen Zeit — Sinnbild von Kraft und Bewegung — Puls
du des Kontinents,
Einmal nur komm und diene der Muse und tauch in Gesang, so
wie ich dich hier leibhaftig sehe.
Mit Sturm und schüttelnden Windstößen und wirbelndem Schnee,
Bei Tag mit warnender, läutender Glocke laut.
Bei Nacht mit schwingender Lampen stummem Signal.
Rauh-kehlige Schönheit !
Rolle durch meinen Gesang mit all deiner unbändigen Musik, deinen
schwingenden Lampen bei Nacht,
Deinem tollen Pfeifengelächter, widerhallend, schütternd wie Erd-
beben, alles aufstörend ringsumher,
Gesetz in dir selber ganz, fest deine eigene Spur verfolgend,
(Nicht schwächliche Süße tränenseliger Harfe in dir noch glattes
Piano,)
Deine Trillerschreie von Felsen und Hügeln erwidert,
Hingejagt über die Steppen weit und über die Seen,
Zu den freien Himmeln uneingepfercht und froh und stark.
Noch einmal tauchte Whitman auf dieser Reise in weite, ihm
bisher unbekannte, aber wie aus innerer Schau längst vertraute
Bereiche der Neuen Welt. Fast in allen Städten, in die er kam,
fand er alte Freunde aus der Kriegszeit, junge Männer, die er
selber in den Lazaretten und Feldlagern gepflegt hatte und die
inzwischen zu tüchtigen Handwerkern oder Farmern herangereift
XCIV
waren. Die zwei ^ewaltig[Sten Erlebnisse dieser Fahrt waren ihm
die wesdichen Prärien und das wilde, phantastisch zerklüftete
Felsgebirge. Empfand er in der unter riesigen Lufträumen schwei-
genden Weite der Steppen das Element tiefsten, amerikanischen
Charakters, ein Sinnbild ruhender Verschmelzung des Idealen und
Realen, so rief sein Herz beim ersten Anblick des in vielgestaltiger
Fülle gedrängten Hochgebirges, daß er hier gleichsam die Land-
schaft seiner Seele und das Gesetz seiner eigenen Gesänge gefunden
habe. Diese in einer riesigen Einheit brüderlich emporgeschichtete
Mannigfaltigkeit, in der doch immer dieselben Formen, Felswand,
Gipfel, Wildstrom, Schneefeld, sich unermüdhch wiederholten, war
ihm das Abbild der Welt, die er selber geschaffen und in der er
dieselben Gedanken immer wieder in hundertfacher Form wie ein-
tönigen Adlerschrei wiederholt hatte. In St. Louis, im Herzen
des Kontinents und des mächtigen Mississippitals, nahm er längeren
Aufenthalt im Heim seines dorthin übersiedelten Bruders Jefferson.
Hier schrieb er jene Tagebuchzeilen über eine „Literatur des Mis-
sissippitals", die dieses „Vaters der Gewässer" und dieses Tales wür-
dig wäre, das sich breit, fruchtbar und nach Menschen rufend in
die Zukunft öffnete. Er war des fast religiösen Glaubens, daß hier
das wahre Zentrum neuer amerikanischer Menschheit sei, und pro-
phezeite, daß in wenigen Jahrzehnten hier die wahre Hauptstadt der
Union sich türmen würde. Wir fühlen in all seinen Tagebuchblättern
dieser Zeit den Atem der wie Champagner berauschenden, klaren
und leichten Luft dieser glücklichen Zone. In St. Louis besuchte
er mit Vorliebe die Kindergärten, wie er denn zeit seines Lebens
die Kinder vor allen liebte; und der riesige, weißbärtige Mann mit
dem frischen Gesicht war bald unter dem Namen „Kris Kringle",
was etwa soviel wie „Weihnachtsmann" ist, bei den kleinen
Leuten bekannt und geliebt.
Neujahr 1880 kehrte er nach Camden zurück, immer wieder bei
jeder Gelegenheit auf die geliebte Staffordfarm hinausflüchtend, an
den Timberbach, dessen Plätschern ihm in die ersten Jahre der
Gesundung geschwatzt hatte. Er besuchte Dr. Bücke und die von
ihm geleitete Irrenanstalt in Südkanada und machte von da aus
noch eine zweite kürzere Reise in dieses Land. Den Winter ver-
brachte er wieder in Camden und auf dem Lande und ging
im Frühjahr nach Boston, wo er am 14. April wiederum sein
xcv
„Andenken an Lincoln" öffentlich vortrug. Er beschloß, von nun ab
jedes Jahr eine solche Erinnerungsfeier an den Retter der Union
zu halten, und führte das auch, mit wenigen Unterbrechungen,
bis zuletzt aus. Im Hause Emersons verlebte er in einem der edel-
sten geistigen Kreise Bostons viele Stunden. Es war sein letztes
Zusammensein mit dem Philosophen von Concord, der im Jahre
darauf starb.
Die Bostoner Verlagsfirma Osgood and Co. trat an ihn heran
mit Vorschlägen zu einer neuen, umfassenden (siebenten) Auflage
der „Grashalme". Auf diese Ausgabe setzte Whitman große Hoff-
nungen. Er vereinte in ihr den gesamten dichterischen Stoff der
vorigen Ausgabe sowie der Broschüren, vor allem der „Durch-
fahrt nach Indien", die u. a. das „Andenken an Lincoln" ent-
halien hatte. Es wurde, abgesehen von der Ausgabe von 1860, die
erste äußerlich würdige Ausgabe seines Werkes. Im Winter 1881
wurden etwa 2000 Exemplare abgesetzt. Anfang 1882 jedoch spielte
ihm amerikanische Engherzigkeit wiederum einen argen Streich:
der Distriktsanwalt von Boston verbot die Veröffentlichung auf
Ersuchen einiger Agenten der „Gesellschaft zur Unterdrückung
des Lasters", falls nicht eine Reihe beanstandeter Stellen ausge-
merzt würde. Da sich Whitman energisch widersetzte, zogen Os-
good and Co. am 9. April die Ausgabe wieder ein, was ihnen aller-
dings heftige literarische Angriffe eintrug. Sie stellten jedoch Whit-
man die gedruckten Bogen und die Platten zur Verfügung, die er
im Sommer der Philadelphier Firma David Mc Kay übergab, die
un verweilt eine neue, achte Auflage herausbrachte. Sie wurde in
einem Tage verkauft und auch weitere Neudrucke fanden so viel
Nachfrage, daß Whitman am Jahresende einen Ertrag von
5oo Dollar daraus hatte. Derselbe Verlag veiöffentlicbte noch im
gleichen Jahre die gesammelten Tagebücher.
Weihnachten 1882 brachte ihm die besonders innige Freundschaft
einer Quäkerfamilie aus Philadelphia, der Familie des reichen und
frommen Glashändlers Pearsall Smith. Dessen Tochter Mary war von
der Universität Neu-England mit dem begeisterten Entschluß nach
Hause gekommen, Whitman persönlich kennenzulernen, obwohl
ihre Eltern, denen Whitman bis dahin nur der Verfasser eines un-
moralischen Buches War, sich einigermaßen entsetzt darüber
zeigten. Der alte Smith fuhr jedoch mit dem Freimut des Quäkers
XCVl
I
eines Tages mit seiner Tochter in seiner schönen Equipage nach
Camden hinaus und besuchte Whitman kurzerhand, und die Folge
war ein jahrelanger, herzlicher Verkehr zwischen ihnen. Whitman
nannte später Miß Mary nächst der t885 verstorbenen Mrs. Gil-
christ seine „treueste, lebende Freundin". Das warme Licht jugend-
licher Verehrung eines schönen Mädchens war wohl angetan,
seinem alten, immer jungen Herzen wohlzutun, wie denn allezeit
viel junges Volk kameradschaftlich mit ihm umging.
Die Erträge der beiden Philadelphia-Ausgaben ermöglichten ihm
im März 1884, einen alten Lieblingsplan zu verwirklichen und
sich ein bescheidenes zweistöckiges Häuschen in der Mickle-Street
in Camden, nahe dem Hause seines Bruders, zu kaufen. Mrs. Mary-
Davis, eine brave Witwe, führte ihm die Wirtschaft und schuf
ihm die behagliche Atmosphäre, die Whitman im Grunde so liebte.
Es war seit jeher viel holländische Art in ihm und, bei aller Rück-
sichtslosigkeit gegen materielle Interessen, wenn es sich um Gei-
stiges handelte, dennoch viel natürliche Neigung dazu, ein ordent-
licher Haushälter seines Leibes zu sein. Er war für seine Person
immer sparsam gewesen, so freigebig er auch immer für andere
bis an sein Ende blieb. Bis zuletzt führte er ganze Listen von
Hilfsbedürftigen, denen er mit seinen kleinen Ersparnissen allezeit
beisprang, mit der Selbstverständlichkeit und Kameradschaft, die
jede Demütigung ausschloß, wie er selber auch Gaben seiner
Freunde immer mit reinster Freude und Natürlichkeit annahm.
Der lange, still leuchtende Abend seines Lebens, der bis in das
Frühjahr 1892 hineinglomm, ist arm an äußeren Ereignissen, ob-
wohl gerade jetzt die Berichte über sein Leben anschwellen und
fast jeden Tag und jede Stunde verzeichnen *. Was er für das
äußere Leben als wünschenswert und genügend erklärt hatte, be-
saß er nun : vier eigene Wände und ein Dach auf amerikanischem
Boden, die geringen Einkünfte, die für die Notdurft des Lebens
unerläßlich sind, und einen Sparpfennig auf der Bank. Bei ständig
Ich verweise auf die breite und gewissenhafte Biographie von Henry Bryan
Binns, die einzige bisher ins Deutsche übertragene (H. Haessel Verlag, Leipzig 1907,
übersetzt von Johannes Schlaf). Es würde den Rahmen dieser kurzen Darstellung
überschreiten, die Hunderte von kleinen Erzählungen, Erinnerungen, Anekdoten
wiederzugeben, die alle sich in das Bild des greisen Whitman fügen — das
Bild, in dem er volkstümlichem Gedenken so recht eigentlich erscheint.
Ml VVl,itni(«n 1
XCVII
sinkenden Kräften des Leibes blieb er geistig rege, las viel, vor
allem jetzt Garlyles Schriften, und nahm in kleineren Aufsätzen leb-
haft Stellung dazu. Nachdem er einen Sonnenstich erlitten hatte
und fast gar nicht mehr ausgehen konnte, schenkten seine Freunde
ihm ein Wägelchen und Pferd. Das Fahren hatte er von jeher ge-
liebt, und so kutschierte er nun täglich auf dem Lande umher,
freilich nicht wie ein gemächlicher Greis, sondern immer in schnell-
ster Karriere. Er vertauschte das erste Pferd, das ihm zu langsam
lief, mit einem feurigeren. Seine Geburtstage pflegten die Freunde
mit besonderen Festmahlzeiten zu feiern, bei denen er selber aus
seinen Gedichten vorzutragen liebte und dabei auch jetzt mit
besonderem Genuß und kräftig dem Champagner zusprach. Er
sträubte sich allezeit dagegen, lebendigen Leibes etwa als eine
Art von Heiligem mumifiziert zu werden. „Sprecht von mir",
trug er einigen jungen Besuchern aus England auf, „nicht als
von einem Heiligen oder überhaupt etwas irgendwie endgültig Fer-
tigem. " Das Bewußtsein der elementaren Fülle und Gegensätzlich-
keit in der Tiefe seines Wesens war bis zuletzt in ihm lebendig, jene
naturhafte Vieldeutigkeit, die ihn von jeher gedrängt hatte zu den
immer wiederholten Warnungsrufen seiner Gesänge, er sei nicht das,
als was er vielleicht erscheine, er wirke vielleicht ebensoviel Böses
wie Gutes, sein wahres Ich stehe hinter all seinen Worten : jene
Bedingtheit, trotz der wahre Größe etwas auszusagen wagt. Der
von dämonischem Wissen um die Vielspältigkeit der Menschen-
seele zerklüftete, freilich nicht naturhaft wiederum zusammenge-
schlossene, große dänische Denker Kierkegaard schreibt: „In einem
Leben von siebzig Jahren alle möglichen Wesenheiten gehabt zu
haben und sein Leben wie ein Musterbuch zu hinterlassen, das
man zur gefälligen Auswahl aufschlagen kann, ist nicht so schwierig.
Aber die eine Wesenheit voll und reich und dabei zugleich die
entgegengesetzte zu haben und, indem man der einen Wesenheit
das Wort und das Pathos gibt, da hinterlistig die entgegengesetzte
unterzuschieben : das ist schwierig. " — „Hinterlistig unterzuschieben"
ist charakteristisch für Kierkegaard ; für Whitman gilt, daß in ihm
sich die verschiedenen Wesenheiten naturhaft als Eines ineinander-
fügten, mit kindhaft elementarer Selbstverständlichkeit, immer in
warmer, Kraft und Liebe ausströmender Einheit des Seins, die
immer wieder und bis in die letzten Tage jene oft angedeutete.
XCVIII
wunderbare Erregung in den Besuchern wachrief. Der englische
Gelehrte Dr. Johnston schreibt, nach einer eingehenden Schilde-
rung der Erscheinung des greisen, in seinem Armstuhl majestätisch
sitzenden Dichters: „Aber sein Zauber lag nicht so sehr in diesen
Einzelzügen als in seinem Gesamtwesen und in dem unwidersteh-
lichen Magnetismus seiner milden, aromatischen Gegenwart, die
Gesundheit, Reinheit und Natürlichkeit auszuströmen schien und
eine Anziehung auf mich übte, die mich in Wahrheit erstaunte,
und eine Exaltation von Geist und Seele in mir wachrief, wie
keines Menschen Erscheinung je zuvor. Ich fühlte, daß ich hier
Angesicht zu Angesicht war mit der lebendigen Verkörperung alles
dessen, was gut, edel und liebenswert an der Menschheit ist."
Im November 1888 wurde Whitman aufs neue von einem Schlag-
anfall betroffen, der ihn dem Tode nahebrachte. Er verlor zum
erstenmal für eine Zeitlang die Sprache. Mitten in dieser Krise
fand er jedoch noch die Kraft, ein neues Bändchen, aus Gedichten
und Prosa gemischt, die „Novemberzweige", zu redigieren, kurze
Gedichte, die alle „im frühen Kerzenlicht des Alters" seine Ver-
trautheit mit Tod und Unendlichkeit in gestilltem Tonfall spiegeln.
Alles, was er jetzt anrührte, bekam diese stille Transparenz und
diesen Jenseitsschimmer. Im Jahr darauf war er noch einmal so
weit gekräftigt, daß er dem Diner, das zu Ehren seines siebzigsten
Geburtstages in einem großen Camdener Saal gegeben wurde, bei-
wohnen konnte, hinter einem riesigen Blumenstrauß fast verborgen
und sich an seinem Champagner erfreuend. Im Oktober 1891
hielt der Philosoph Oberst Ingersoll in Philadelphia vor zwei-
tausend Menschen einen Vortrag über Whitman, dessen Ertrag für
den Dichter bestimmt war. Whitman war in seinem Rollstuhl da-
bei, und als Ingersolls Rede beendet und der mächtige Beifall ver-
rauscht war, wandte er sich im Sitzen selber mit ein paar in ihrer
Unmittelbarkeit wunderbaren Worten an die Zuhörer: „Da letzten
Endes, meine Freunde," sagte er mit seiner merkwürdig jungen
und wohllautenden Stimme, „das Wesentliche in dem seltsamen
Zeugnis liegt, das wir persönliche Gegenwart und Begegnung von
Angesicht zu Angesicht nennen, so bin ich hierher gekommen, um
bei Ihnen zu sein und mich Ihnen zu zeigen und Ihnen mit meiner
lebenden Stimme für Ihr Kommen und Robert Ingersoll für seine
Worte zu danken. Und so, mit diesem kurzen Zeugnis meines
vir
XCIX
Hierseins, und in solchem guten Willen und Dankbarkeit biete ich
Ihnen meinen Gruß und Lebewohl."
Das letzte Geburtstagsfest wurde in des Dichters eigenem Hause
im Jahre 1891 gefeiert, bei dem Whitman einen Gedenktoast auf
Emerson ausbrachte und trotz größter körperlicher Schwäche sich
lebhaft an einem politischen Gespräch beteiligte, das seine nie er-
loschene Teilnahme am Schicksal Amerikas bezeugt. Er verurteilte
darin aufs heftigste die protektionistische Doktrin „Amerika den
Amerikanern" und sprach für den Gedanken der gegenseitigen
Abhängigkeit aller Völker, die einander in geistigem und wirt-
schaftlichem Austausch offenstehen sollten, da sie nichts anderes
wären, als eine einzige Schiffsmannschaft an Bord. „Die letzte Wahr-
heit von der menschlichen Rasse", sagte er, „ist die Solidarität der
Interessen." — „Nach diesen Worten rief er nach seinem Rock
und seinem Wärter, segnete alle und stieg langsam die Treppe
hinauf." (H. B. Binns.)
Im Dezember veröffentlichte er das kleine gemischte Bändchen
„Ade, Phantasie!" sein „letztes Gezirp", wie er es nannte (später
in den „Grashalmen" und „Prosaschriften" enthalten), und end-
lich die zehnte Auflage der „Grashalme", deren Druckbogen er
auf dem Sterbebette las. Im Januar 1892 erschienen die „Ge-
sammelten Prosaschriften". Vor „Ade, Phantasie" war das Bildnis
wiedergegeben, das Whitman als Zweiundsiebzigjährigen zeigt, —
„das Bildnis eines Patriarchen, gebeugt unter einer Weltwucht von
Erfahrungen" (H. B. Binns).
Neben diesen abschließenden Arbeiten an seinem dichterischen
Werk widmete er sich dem Gedanken an sein eigenes Grabmal.
Er selber machte den Entwurf dazu nach einer Zeichnung Blakes
und ließ es im Herbst 1891 auf einem neuen Friedhof in der Nähe
von Camden unter jungen Buchen und Nußbäumen auf seine Kosten
errichten und ließ auch die Gebeine seiner Eltern herbeischaffen, die
ihm zur Seite ruhen sollten.
Die Wintertage des neuen Jahres 1892 brachten ihm die letzte,
mit immer gleicher Geduld ertragene Leidenszeit inmitten lieb-
reicher Pflege seines Bruders und seiner Freunde, vor allem des
jungen, ihm innig ergebenen Horace Träubel, der später der Ver-
walter seines literarischen Nachlasses und Begründer des „Walt
Whitman-Bundes" wurde und von dem Whitman sagte, daß er
C
Whitman im zweiuiidsiebzigsteii Lebensjahre
ihm „unaussprechlich treu" sei. In einer der letzten iNächte beugte
sich Träubel über ihn, küßte ihn und sagte: „Geliebter Walt, du
kannst dir nicht vorstellen, was du uns gewesen bist", und er er-
widerte schwach: „Noch ihr, was ihr mir gewesen seid." Er wurde
zu seiner Erleichterung in ein Wasserbett gebracht und machte
einen Versuch zu lachen, als er sich darin umwandte und das
Wasser plätscherte. Während draußen kalter, grauer, tief ver-
schneiter Winter alles umklammerte, löste sich sein Leiden in der
letzten Wohligkeit des nahen Todes, und endlich, am 26. März, in
der siebenten Stunde des Nachmittags, glitt er, Traubeis Hand in
der seinen haltend, ruhevoll und still in das Unbekannte hin-
weg. —
Am 3o. März wurde Walt Whitman zu Grabe getragen. Ohne
kirchliche Zeremonie — aber in der stillen Erhabenheit der Teil-
nahme Tausender. Als die Leiche noch aufgebahrt in dem kleinen
Haus in der Mickle-Street lag, zog von elf Uhr früh bis zwei Uhr
nachmittags ein Strom von Menschen an ihr vorüber, die dieses
Antlitz noch einmal sehen wollten, einfache Leute aus dem Volk
zumeist; ähnlich wie, in einer tragischeren Sphäre, die russischen
Bauern jenes einsamen Dorfes und von weither an der Leiche Leo
Tolstois stumm vorüberzogen; der Weg zum Friedhof war von
trauernden Menschen gesäumt, und auf dem Friedhof selber, über
den Hügel hin und bis an den Teich hinab, der ihn begrenzte,
stand eine zahllose Menge, um den Worten Ingersolls und der
anderen Freunde zu lauschen, die ihm den Gruß der „Liebe, die
das Rätsel der Sterblichkeit überwindet", nachsandten.
PROSASCHRIFTEN
VORBEMERKUNG
Walt Whitman pflegte seine Piosaschriften zum Teil in die Ge-
dichtbändchen aufzunehmen, aus denen sich die „Grashalme" in
ihrer jetzigen Gestalt und der — nunmehr von ihnen getrennte —
Prosaband der Standardausgabe 1891/92 entwickelten, die Whitman
noch auf seinem Sterbebett redigierte und die in Philadelphia bei
McKay erschien. ISach seinem Tode ging sein Werk in den Verlag
von Small, Maynard & Comp., Boston, über, wo 1897/98 die elfte
Auflage der „Grashalme" und der „Prosaschriften" erschien.
Whitmans erste bedeutungsvolle Prosaschrift, die Vorrede zur
Erstausgabe der „Grashalme" (i855, Selbstverlag, Brooklyn, New
York) verschwand bereits wieder in der zweiten Ausgabe von i856
(New York, Selbstverlag), da ihr Inhalt größtenteils als „Steinbruch
für neue Gedichte" verwendet worden war.
1871 veröffentlichte Whitman seine umfangreichste und berühm-
teste Prosaschrift, die „Democratic Vistas" („Demokratische Aus-
blicke"), zunächst als Sonderbroschüre (Washington, Selbstverlag),
dann im selben Jahr innerhalb der fünften Auf läge der „Grashalme"
(Washington, Selbstverlag).
1876 erschien gleichzeitig mit der sechsten Auflage der „Gras-
halme" ein Bändchen, „Two Rivulets" („Zwei Bächlein"), aus
Gedichten und Prosa gemischt (Camden, Selbstverlag). Die darin
enthaltenen Aufsätze gingen mit über in den 1882 erscheinenden,
lediglich Prosa enthallenden Band „Specimen Days and Collect"
(„Tagebuchblätter" oder eigentlich etwa „Mustertage und Ge-
sammeltes"; Philadelphia, McKay). In „Collect" waren nun auch
die „Demokratie Vistas" sowie jene Vorrede zur Erstausgabe mit-
aufgenommen.
I Wliitman I
i888 erschien ein wiederum aus Poesie und Prosa gemischtes Bänd-
chen, „November Boughs" (Novemberzweige"; Philadelphia, Mc Kay),
und im gleichen Jahr, von Whitman selbst verlegt und vertrieben,
ein Band „Complete Poems and Prose". Endlich 1891, im Winter
vor seinem Todesjahr, das gleichfalls gemischte Bändchen „Good-
bye my Fancy" („Ade, Phantasie"; Philadelphia, Mc Kay).
Unmittelbar vor seinem Tode redigierte Whitman dann die zehnte
Auflage der „Grashalme" (1891, Philadelphia, Mc Kay) und der
„Gesammelten Prosaschriften" (1892, ebenda) in je einem Band.
Am 26. März 1892 starb er.
Diese Ausgabe letzter Hand enthält die Prosaschriften in dieser
Reihenfolge: „Specimen Days", „Collect", „November Boughs" und
„Good-bye my Fancy".
Ich habe die zeitlich jüngste Schrift, die Vorrede zur Erstausgabe,
an den Anfang dieses ausgewählten Bandes gestellt und darauf gleich
die „Demokratischen Ausblicke" folgen lassen, um diese kühn um-
rissene Gedankenwelt von Anfang an einheitlich und in aller Breite
und Fülle wirken zu lassen.
Darauf folgen die Tagebuchblätter, zunächst die aus dem Se-
zessionskriege (1862 — 64) und danach die aus den Jahren 1876 — 82,
die Whitman als halb Gelähmter auf Long Island, seiner Heimat,
während langsamer seelischer, wenn auch körperlich nie völliger
Gesundung im Wald, am Bach, an der atlantischen Küste und zum
Teil auch während einer Reise in die Weststaaten niederschrieb.
Den Beschluß bilden einige Stücke aus den „Novemberzweigen"
und „Ade, Phantasie", — nur wenige, da die meisten der in diesen
beiden Bändchen enthaltenen Aufzeichnungen Themen behandeln,
die uns ferner liegen, wie etwa eine Studie über Robert Burns, den
Quäker Elias Hicks, über das spanische Element in Amerika oder
persönliche Erinnerungen des greisen Whitman an Brooklyner und
New Yorker Jugendeindrücke, wie etwa an das alte Bowery-Theater
in New York u. a. m.
In die Kriegstagebücher habe ich Auszüge aus zwei Berichten
Whitmans an den „Brooklyn Eagle" und die „New York Times"
aufgenommen, sowie aus den Briefen, die er während dieser Zeit an
seine Mutter schrieb. Sie sind dem Bande „The Wound Dresser"
(„Der Wundpfleger") entnommen, den Dr. R. M. Buke 1898 bei
Sraall, Maynard & Comp., Boston, herausgab. H. R.
VORREDE ZUR ERSTAUSGARE DER GRASHALME
BROOKLYN, N. Y., i855
Amerika verschließt sich nicht gegen die Vergangenheit und
gegen das, was sie unter anderen Formen und poHtischen Zuständen
hervorgebracht hat, auch nicht gegen die Idee der Kaste oder die
alten Religionen, — es hört gelassen an, was die Vergangenheit ihm
zu sagen hat, — es ist nicht ungeduldig, weil die träge Masse in
der Literatur noch an Anschauungen und Formen hängt, aus denen
das Leben, das sie einst erfüllte, geschwunden und in ein neues
Leben in neuen Formen übergegangen ist, — es ist sehr wohl ge-
wahr, daß der Leichnam allgemach aus den Eß- und Schlafzimmern
des Hauses hinausgetragen wird, — daß er just in der Tür noch
ein wenig verweilt, — daß er für seine Zeit der Rechte war, — daß
seine Tatkraft übergegangen ist auf den starken, Wohlgestalten Erben,
der jetzt naht und der für seine Zeit der Rechte sein soll.
Die Amerikaner haben von allen Völkern aller Zeiten der Erde
wahrscheinlich die vollste dichterische Natur. Die Vereinigten
Staaten selbst sind im Grunde das größte Gedicht. Die umfang-
reichsten und unternehmungslustigsten Staaten in der bisherigen
Geschichte der Erde erscheinen zahm und ruhig neben ihrem viel
größeren Umfang und Unternehmungsgeist. Hier endlich ist im
Tun der Menschen etwas, was mit den gewaltigen Vorgängen von
Tag und Nacht sich messen kann. Hier ist Tatkraft, aller Fesseln
ledig, notwendigerweise blind für Resonderheiten und Einzelheiten,
aber voll mächtigen Antriebs auf die Massen. Hier ist Gastlich-
keit immer das Merkmal heroischen Geistes. Hier breitet sich die
Fülle des Lebens, alles Kleinliche verachtend, unvergleichlich in
der gewaltigen Kühnheit ihrer Menschenanhäufung, in ungehemmter
3
lind flutender Weite aus und verströmt ihren fruchtbaren, herr-
lichen Überfluß. Diesem Lande gehören die Schätze von Winter
und Sommer, und es kann niemals zugrunde gehen, solange Korn
aus dem Boden wächst und Früchte von den Obstbäumen fallen
und Fische in den Buchten schwimmen und Männer mit Frauen
Kinder zeugen.
Andere Staaten sind verkörpert in ihren führenden Männern, —
aber der Genius der Vereinigten Staaten offenbart sich nicht am
besten oder reichsten in ihren Exekutiv- oder Legislativgewalten,
noch in ihren Gesandten oder Schriftstellern, Universitäten, Kirchen
oder Salons, auch nicht in ihren Zeitungen oder in ihren Erfindern,
— sondern immer und zumeist im gewöhnlichen Volk aller Staaten
des Nordens, Südens, Ostens und Westens, auf ihrem ganzen mäch-
tigen Gebiet. Die Größe der Nation wäre indessen nur ein Mon-
strum ohne eine entsprechende Größe und Großmut des Geistes
ihrer Bürger. Weder dichtbewohnte Staaten, noch Straßen und
Dampfschiffe, noch blühender Handel, noch Farmen, Kapital und
Schulen können dem idealen Mann genügen, — und können auch
dem Dichter nicht genügen. Ebensowenig können Traditionen ge-
nügen. Eine lebendige Nation kann sich allezeit selber ihr tiefstes
Gepräge geben und kann sich die höchste Autorität auf dem ein-
fachsten Wege schaffen: nämlich aus ihrer eigenen Seele heraus.
(Als ob es nötig wäre, den Weg der Überlieferung des Ostens Gene-
ration um Generation zurückzutrotten! Als ob die Schönheit und
Heiligkeit des gegenwärtig Vorhandenen hinter der des Mythischen
zurücktreten müßte! Als ob die Menschen nicht in jeder Zeit sich
ihr eigenes Gepräge geben könnten! Als ob die Erschließung des
westlichen Kontinents durch Entdecker und das, was aus Nord-
und Südamerika geworden ist, geringer wäre als der kleine Schau-
platz der Antike oder das ziellose Schlafwandeln des Mittelalters!)
Der Stolz der Vereinigten Staaten kehrt dem Wohlstand und der
Verfeinerung der Städte, allen Segnungen von Handel und Land-
wirtschaft und aller geographischen Größe und dem Glanz äußerer
Siege den Rücken, um sich zu weiden an dem Anblicke von leib-
haftigen, vollentfalteten Menschen, oder eines vollentfalteten, un-
bezwinglichen, einfachen Menschen.
Die amerikanischen Dichter müssen Altes und Neues umschließen,
denn Amerika ist die Rasse der Rassen. Die Ausdrucksform des
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amerikanischen Dichters muß transzendent und neu sein. Sie muß
indirekt sein, nicht direkt oder beschreibend oder erzählend. Seine
Kraft ist auf viel Höheres gerichtet. Mögen die Zeiten und Kriege
anderer Völker besungen und ihre Geschichte und ihre Charaktere
dargestellt und in Verse gebracht werden. Anders der große F*salm
der Republik. Hier ist das Thema schöpferisch und voll von Ausblicken
in die Zukunft. Mag alles in flacher Gewohnheit, in Gehorsam und
Gesetz erstarren, — der große Dichter erstarrt nie. Gehorsam knebelt
ihn nicht, er ist Herr darüber. Unerreichbar hoch steht er und
sendet die Strahlen eines konzentrierten Lichtes in die Runde, —
er lenkt sie mit seinem Finger, — er siegt im Stehen über die
schnellsten Läufer und überholt und überwältigt sie leicht. Er
hält die Zeit, die auf den Wegen der Ungläubigkeit, Äußerlich-
keit und Spottsucht irrt, durch seinen festen Glauben zurück. Glaube
ist das Antiseptikum der Seele, — er durchdringt das einfache Volk
und schützt es; — das Volk hört niemals auf, zu glauben, zu hoffen
und zu vertrauen. Es liegt eine unbeschreibliche Frische und Un-
bewußtheit über einem ungebildeten Menschen, die die Macht des
stolzesten gestaltenden Genies demütigt und ihrer spottet. Der
Dichter erkennt mit unzweifelhafter Gewißheit, daß einer, ohne
ein großer Künstler zu sein, doch ebenso geheiligt und vollkommen
sein kann, wie der große Künstler.
Der größte Dichter übt oft seine Macht, zu zerstören und neu
zu gestalten, aus, aber nur selten die Macht des Angriffs. Was ver-
gangen ist, ist vergangen. Wenn er nicht neue, höhere Vorbilder
aufstellt und sich nicht selber beweist durch jeden Schritt, den er
tut, so ist er nicht, was er sein soll. Die bloße Gegenwart des großen
Dichters bezwingt, — kein Verhandeln, Streiten oder sonst welche
absichtlichen Bemühungen. Hier ist er vorbeigegangen! Sieh ihm
nach! Da ist keine Spur von Verzweiflung oder Menschenhaß zu
sehen, oder von List, oder Hochmut, oder von Schande der Ab-
stammung oder Farbe, kein Wahnbild von Hölle, kein Bedürfnis
nach einer Hölle: — sondern hinfort soll kein Mensch wegen seiner
Unwissenheit oder Schwachheit oder Sünde verachtet werden. Der
größte Dichter kennt nichts Kleinliches und Gemeines. Wenn er
in etwas, das vorher als klein galt, seinen Atem bläst, so füllt es
sich an mit der Größe und Lebenskraft des Universums. Er ist ein
Seher, — er ist individuell, — er ist vollkommen in sich selbst, —
5
die andern sind ebensogut wie er, nur, er sieht es, und sie nicht.
Er gehört nicht zum Chorus, er macht nicht halt vor irgendeiner
Vorschrift, er gibt Vorschriften. Was die Sehkraft für die andern
Sinne ist, das ist er für die andern Menschen. Wer kennt das
wunderbare Geheimnis der Sehkraft? Die andern Sinne bekräftigen
sich einander, aber sie ist jedem Beweis, als nur dem durch sich
selbst, entrückt und ist ein Vorläufer der Identitäten der geistigen
Welt. Ein einziger Blick von ihr spottet aller Forschungen der
Menschen, aller Instrumente und Bücher der Erde und allen Ver-
standes. Was ist noch wunderbar, was noch unwahrscheinlich,
unmöglich, grundlos oder vag, — nachdem du einmal durch einen
Spalt deiner Lider, nicht größer als die Narbe eines Pfirsichs, alle
Nähe und Ferne in dich aufgenommen hast und der Sonnenuntergang
und alle Dinge in dich eingedrungen sind mit elektrischer Schnelle,
zart und in aller Ordnung, ohne Verwirrung, Stoßen oder Drängen?
Land und Meer, die Tiere, Fische und Vögel, der Himmel und
seine Weltkugeln, die Wälder, Gebirge und Flüsse sind keine
kleinen Themen, — aber die Menschen erwarten von dem Dichter
mehr, als daß er nur die Schönheit und Würde weist, die allen
stummen, leibhaftigen Dingen zu eigen sind, — sie erwarten von
ihm, daß er den Pfad weise zwischen der Wirklichkeit und ihren
Seelen. Männer und Frauen gewahren die Schönheit sehr wohl, —
vielleicht ebensogut wie er. Die leidenschaftliche Ausdauer von
Jägern, Wäldlern, Frühaufstehern, Garten-, Obst- und Feldbauern,
die Liebe gesunder Frauen zur männlichen Gestalt, die Lust an
der Seefahrt, am Pferdelenken, die Leidenschaft für Licht und
Luft, — all das ist ein altes, mannigfaltiges Merkmal des unfehlbaren
Schönheitssinnes und einer dichterischen Uranlage in Menschen,
die im Freien leben. Sie brauchen nicht die Hilfe des Dichters, um
wahrzunehmen. Das Wesen der Dichtkunst liegt nicht in Reim
oder Gleichmaß oder in abstrakter Anrede der Dinge, noch in
melancholischen Klagen oder guten Lehren, sondern es ist das Leben
solcher Menschen und noch viel mehr und liegt in der Seele. Der
Vorteil des Reimes ist, daß er die Saat eines noch lieblicheren und
üppigeren Reimes ausstreut, und der Vorteil des Gleichmaßes, daß
es sich selbst in seine eigenen Wurzeln überträgt, die in unsicht-
barem Grunde ruhen. Der Reim und das Gleichmaß vollkommener
Gedichte zeigen das freie Wachstum metrischer Gesetze an und
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sprossen aus ihnen so unfehlbar und ungezwungen wie Flieder-
blüten und Rosen aus einem Busch, und nehmen Formen an so
fest wie die Formen von Kastanien und Orangen, Melonen und
Birnen, und verströmen ihren Duft, der sich nicht in Form fassen
läßt. Der Wohllaut und die Form der schönsten Dichtungen,
Kompositionen, Reden oder Vorträge ist nicht unbedingt, sondern
bedingt. Alle Schönheit kommt aus schönem Blut und einem
schönen Gehirn. Wenn alles, was groß ist, in einem Mann oder
einer Frau sich zusammenfindet, so ist es genug, und diese Tatsache
wird durch das ganze Weltall hin in Geltung bleiben; aber die
Künsteleien und Vergoldungen von Millionen Jahren werden nicht
in Geltung bleiben. Wer sich Sorge darum macht, daß seine Ge-
dichte reich verziert sind und schön klingen, ist verloren. Was du
tun sollst, ist dies: Liebe die Erde, die Sonne und die Tiere, ver-
achte Reichtümer, gib Almosen jedem, der dich darum bittet, stehe
auf für die Unwissenden und Blöden, gib dein Einkommen und
deine Arbeit anderen, hasse Tyrannen, streite nicht über Gott, habe
Geduld und Nachsicht mit den Menschen, nimm deinen Hut vor
nichts Bekanntem oder Unbekanntem ab und vor keinem Menschen
und keiner Anzahl von Menschen, — verkehre frei mit starken,
schlichten Menschen aus dem Volke und mit jungen Leuten und
mit Müttern von Familien, — prüfe alles nach, was du in der
Schule oder Kirche oder aus irgendeinem Buche gelernt hast, und
verwirf alles, was deiner eigenen Seele zuwider ist; und dein leib-
haftiges Fleisch und Blut soll ein erhabenes Gedicht sein und den
reichsten Wohllaut haben, nicht nur in Worten, sondern in den
stummen Linien deiner Lippen und deines Gesichts, und zwischen
den Wimpern deiner Augen, und in jeder Bewegung und jedem
Gelenk deines Körpers. Der Dichter soll seine Zeit nicht auf un-
nütze Arbeit verschwenden. Er soll wissen, daß der Boden bereits
gepflügt und gedüngt ist; andere mögen es nicht wissen, aber er
soll es wissen. Er soll geradenwegs an die Schöpfung herangehen.
Sein Vertrauen soll das Vertrauen aller Dinge, die er berührt, und
alle Neigung an sich heranziehen.
Im ganzen bekannten Universum lebt ein wahrhaft Liebender,
und das ist der größte Dichter. Er brennt in ewiger Leidenschaft,
ist unbekümmert darum, was ihm das Schicksal bringt, Zufall,
Glück oder Unglück, und empfängt täglich und stündlich seinen
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köstlichen Lohn. Was andere hemmt oder zerbricht, ist ihm nur
Nahrung für das Feuer seines Suchens nach Vereinigung und
Liebeslust. Niemand in der Welt hat eine solche Fähigkeit zur
Freude wie er. Alles, was man nur vom Himmel oder von dem
Höchsten erwarten kann, empfängt er innig im Anblick der Mor-
gendämmerung oder des Winterwaldes oder in der Gegenwart
spielender Rinder oder wenn er seinen Arm um den Nacken eines
Mannes oder Weibes legt. Seine Liebe hat vor aller andern Liebe
Muße und Raum noch über ihn selbst hinaus. Er ist kein zag-
hafter oder argwöhnischer Liebhaber — er ist zuversichtlich — er
spottet der Entfernung. Seine Erfahrung, seine Schauer und Er-
schütterungen sind nicht umsonst. Nichts kann ihn wankend
machen, weder Leiden noch Finsternis, weder Tod noch Furcht.
Für ihn sind Klage, Eifersucht und Neid Leichen, begraben und
verfault in der Erde, — er sah sie in die Grube fahren. Das Meer
ist der Küste und die Küste des Meeres nicht sicherer, als er des
Genusses seiner Liebe und aller Vollkommenheit und Schönheit
sicher ist.
Der Genuß der Schönheit ist kein Spiel auf Verlust oder Ge-
winn, — er ist so unvermeidlich wie das Leben, so streng gesetz-
mäßig wie die Gravitation. Hinter dem Sehen liegt ein anderes
Sehen und hinter dem Hören ein anderes Hören und hinter der
Stimme eine andere Stimme, die in Ewigkeit suchen nach der
Harmonie der Dinge mit dem Menschen. Diese verstehen das Ge-
setz der Vollkommenheit in allem, was auf Erden flutet und ruht,
und wissen, daß es verschwenderisch und gerecht ist, daß es in
jeder Minute von Licht und Dunkelheit und in jedem Fußbreit
Erde oder Meer lebt, und in jeder Himmelsrichtung, und in jedem
Geschäft oder Beruf und in allem, was auf Erden geschieht. Das
ist der Grund, weshalb dem richtigen Ausdruck von Schönheit
Bestimmtheit und Gleichgewicht zu eigen ist. Ein Teil muß nicht
über den andern gestellt werden. Der beste Sänger ist nicht der,
der das geschmeidigste und mächtigste Organ hat. Die wahre Lust
an Gedichten wird nicht durch die erweckt, die das beste Versmaß
haben und am schönsten klingen.
Ohne Anstrengung und ohne daß man im geringsten merkt,
wie es geschieht, wirkt der größte Dichter durch den Geist eines
oder aller Ereignisse und Leidenschaften, Szenen und Personen,
(S
die er schildert, mehr oder weniger auf den individuellen Charakter
dessen ein, der ihn hört oder liest. Das in der rechten Art zu tun,
heißt mit den Gesetzen wetteifern, die der Zeit nachstreben und
folgen. Hierin muß aller Zweck und der Schlüssel zu allem liegen, —
und der leiseste Hinweis ist der beste und letzten Endes der klarste.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nicht getrennt, son-
dern vereint. Der größte Dichter gestaltet das, was sein wird,
folgerichtig aus dem, was ist und war. Er zieht die Toten aus
ihren Särgen und stellt sie wieder auf ihre Füße. Er sagt zur Ver-
gangenheit: Stehe auf und wandle vor mir, daß ich dich erkenne!
Er lernt von ihr, — er stellt sich dorthin, wo die Zukunft zur
Gegenwart wird. Der größte Dichter wirft nicht nur seine Strahlen
über Charaktere, Szenen und Leidenschaften, — er steigt zum
Schluß höher und vollendet alles, — er läßt die höchsten Zinnen
sehen, von denen niemand sagen kann, wozu sie da sind oder was
jenseits von ihnen liegt, — er erscheint einen Augenblick leuchtend
auf dem äußersten Rand. Wundervoll ist sein letztes halb verbor-
genes Lächeln oder Stirnrunzeln; durch diesen Blitz im Augenblick
des Scheidens wird der, der ihn sieht, noch für viele Jahre später
ermutigt oder erschreckt. Der größte Dichter predigt nicht Moral
und gibt keine Regeln für die Anwendung von Moral; er kennt
die Seele. Die Seele ist von dem grenzenlosen Stolz erfüllt, niemals
eine Lehre oder Erfahrung anzuerkennen, als nur ihre eigene.
Aber ebenso grenzenlos wie ihr Stolz ist auch ihr Mitgefühl, eines
gleicht das andere aus, und keines von beiden kann jemals übers
Ziel schießen, solange es mit dem andern vereint ist. Die innersten
Geheimnisse der Kunst schlummern in diesem Zvvillingsbunde. Der
größte Dichter hat dicht zwischen ihnen beiden gelegen, und sie
leben in seinem Stil und in seinen Gedanken.
Die Kunst der Künste, der Ruhm der Darstellung und der
Sonnenschein der Literatur ist Einfachheit. Nichts ist besser als
Einfachheit, — nichts kann Übertreibung oder Unbestimmtheit
wieder gutmachen.
Auf der Woge der Leidenschaft hinzutreiben, in gedankliche
Tiefen zu tauchen und allen Gegenständen Ausdruck zu verleihen,
das sind weder sehr gewöhnliche noch sehr ungewöhnliche Gaben.
Aber in der Literatur mit der vollkommenen Geradheit und ün-
bekümmertheit der Bewegungen von Tieren, mit der Unantastbarkek
9
der Stimmung von Bäumen im Wald, von Gras am Wege zu
sprechen, das ist der vollkommene Triumph der Kunst. Hast du
einen gesehen, dem das gelungen ist, dann hast du einen Meister
unter den Künstlern aller Völker und Zeiten geschaut. Nicht den
Flug der grauen Möve über der Bucht, noch die feurige Ungeduld
des Vollblutes, noch Sonnenblumen, die sich vom hohen Stengel
neigen, noch die Erscheinung der Sonne in ihrem Lauf am Himmel
hin, noch die Erscheinung des Mondes danach wirst du mit größerem
Wohlgefallen betrachten als ihn. Der große Dichter hat eigentlich
keinen ausgesprochenen Stil, vielmehr ist er der Kanal von Gedanken
und Dingen ohne Zugabe oder Verkürzung und der freie Kanal
seiner selbst. Er schwört seiner Kunst: Ich will mich nicht auf-
drängen, noch will ich in meinen Arbeiten Glätte oder Effekt-
hascherei oder Originalität haben, die wie ein Vorhang zwischen
mir und den andern hinge. Ich will nichts zwischen uns haben,
nicht den üppigsten Vorhang. Was ich sage, bedeutet genau das,
was ich sage. Meinetwegen mögen andere begeistern, verblüffen,
bezaubern oder schmeicheln, — meine Zwecke sollen sein wie die
von Gesundheit oder Hitze oder Schnee und sich ebensowenig wie
sie um Beobachtung kümmern. Was ich erlebe oder schildere, soll
aus meiner Arbeit hervorgehen, ohne eine Spur meines Arbeitens.
Du sollst bei mir stehen und mit mir in den Spiegel schauen.
Das alte rote Blut und der reine Adel großer Dichter erweist sich
durch ihre Zwanglosigkeit. Ein heroischer Mensch übergeht und
verläßt unbekümmert Sitte oder Vorbild oder Autorität, die ihm
nicht passen. Unter den Kennzeichen der Bruderschaft von Schrift-
stellern, Gelehrten, Musikern, Erfindern und Künstlern ersten Ranges
ist keines schöner, als der schweigsame Trotz, der von neuen, freien
Formen aus vorwärts schreitet. Wo man Dichtungen, Philosophie,
Politik, Mechanik, Naturwissenschaft, Sitte, Kunsttechnik, würdige
Nationaloper, Schiffbaukunst oder eine andere Kunst braucht, da
wird immer und ewig derjenige der größte sein, der das größte
ursprüngliche praktische Vorbild gibt. Die reinste ilusdrucksform
ist die, die keine ihrer würdige Sphäre findet und sich eine schafft.
Die Botschaft großer Dichtungen an alle Menschen ist die: Kommt
als Gleichberechtigte zu uns, nur dann könnt ihr uns verstehen.
Wir sind nicht besser als ihr, was wir enthalten, enthaltet ihr; was
wir genießen, könnt ihr genießen. Habt ihr gemeint, es könne nur
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einen Höchsten geben? Wir behaupten, daß es zahlreiche Höchste
geben kann, und daß der eine den anderen ebensowenig ersetzt
als ein Auge das andere, und daß die Menschen nur durch das
Bewußtsein ihrer eigenen Hoheit gut und groß sein können. — Stürme
und Zerstörungen, die tödlichsten Schlachten und Schiffbrüche, die
wildeste Wut der Elemente, die Gewalt des Meeres, der Kreislauf
der Natur, das Weh menschlichen Sehnens, Würde, Haß und Liebe,
— worin glaubt ihr, liegt die Größe von all dem? Es ist jenes Etwas
in der Seele, das sagt: Wüte fort, wirble fort, ich wandle als Herr
hier und überall — Herr über die Zuckungen des Himmels und
den Anprall der See, Herr über Natur und Leidenschaft und Tod
und alle Schrecknisse und Schmerzen.
Die amerikanischen Dichter sollen sich auszeichnen durch Groß-
mut und Liebe und Ermutigung von Mitstrebenden. Sie sollen Kos-
mos sein, ohne Monopol oder Geheimnis, mit Freuden alles weiter-
geben — hungrig nach Ebenbürtigen Tag und Nacht. Sie sollen sich
nicht um Reichtümer kümmern und Privilegien, — sie sollen selbst
Reichtümer und Privilegien sein. Sie sollen wissen, wer der reichste
Mann ist. Der reichste Mann ist der, der aller Pracht, die er sieht.
Gleichwertiges aus dem größeren Vorrat seines eigenen Selbst ent-
gegenstellt. Der amerikanische Dichter soll keine Kaste schildern,
noch eine oder zwei Interessensphären, noch vorwiegend Liebe, noch
vorwiegend Wahrheit, noch vorwiegend die Seele, noch vorwiegend
den Körper, — auch soll er für die östlichen Staaten nicht mehr
sein als für die westlichen, noch für die südlichen Staaten mehr als
für die nördlichen.
Exakte Wissenschaft und ihre praktische Entwicklung ist für den
größten Dichter kein Hindernis, sondern immer eine Ermutigung
und Stütze. Anfänge und Erinnerungen sind dort, — dort die Arme,
die ihn zuerst emporhoben und ihn am besten hielten, — dorthin
kehrt er nach all seinem Gehen und Kommen zurück. Der Seemann
und Reisende — der Anatom, Chemiker, Astronom, Geolog, Phreno-
log, Spiritualist, Mathematiker, Historiker, Lexikograph sind keine
Dichter, aber sie sind die Gesetzgeber der Dichter, und ihr Bau liegt
dem Bau jedes vollkommenen Gedichtes zugrunde. Gleichgültig,
was emporwächst oder ans Tageslicht kommt, sie gaben den Samen
zur Konzeption, — aus ihnen kommen oder bei ihnen stehen die
sichtbaren Zeichen von Seelen. Wenn Liebe und Eintracht sein soll
1 1
zwischen Vater und Sohn, und wenn die Größe des Sohns die Aus-
strahlung von der Gröfie des Vaters ist, dann soll auch Liebe bestehen
zwischen dem Dichter und dem Mann der exakten Wissenschaft.
Die Schönheiten der Dichtung sollen künftig den Schmuck und die
letzte freudige Bestätigung der Wissenschaft bilden.
Groß ist der Glaube an das Gedeihen der Wissenschaft und an
die Erforschung der Tiefen von Eigenschaften und Dingen. Hier zu
weilen, hier sich zu bewegen, begeistert die Seele des Dichters, und
doch bleibt sie stets Herrin ihrer selbst. Die Tiefen sind unergründ-
lich und deshalb ruhig. Unschuld und Nacktheit kehren wieder, —
sie sind weder anständig noch unanständig. Die ganze Theorie vom
Übernatürlichen und alles, was damit verknüpft oder daraus ab-
geleitet ist, schwindet wie ein Traum. Was je geschehen ist, was
geschieht und was geschehen kann und soll: die Naturgesetze
schließen alles in sich. Sie genügen für jeden einzelnen Fall, —
keiner darf übereilt oder verzögert werden, — für besondere Wun-
der an Dingen oder Menschen ist kein Raum in dem weiten klaren
System, wo jede Bewegung und jeder Grashalm und die Körper und
Geister von Männern und Weibern und alles, was sie betrifft, un-
aussprechlich vollkommene W^under sind, alle unter sich zusammen-
hängend und doch jedes gesondert und an seinem Platz. Auch läßt
sich die Annahme, als gäbe es in dem uns bekannten Universum
etwas Göttlicheres als Männer und Weiber, nicht vereinen mit der
Realität der Seele.
Männer und W^eiber und die Erde und alles, was darauf ist,
müssen so genommen werden, wie sie sind, und die Erforschung
ihrer Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft soll nicht unter-
brochen werden und soll mit völliger Unbefangenheit geschehen.
Auf dieser Basis spekuliert die Philosophie, immer im Hinblick auf
den Dichter, immer mit Rücksicht auf das ewige Streben aller nach
Glück, niemals im Gegensatz zu dem, was für die Sinne und für
die Seele klar ist. Denn das ewige Streben aller nach Glück bildet
den einzigen Kern gesunder Philosophie. Was weniger umfaßt als
das, — was weniger ist als die Gesetze von Licht und astronomischer
Bewegung — oder weniger als die Gesetze, die den Dieb, den Lügner,
den Fresser, den Säufer in diesem und zweifellos auch in jenem Leben
verfolgen — oder was weniger ist als weite Zeiträume oder langsame
Verdichtung oder geduldiges Aufeinanderlagern von Erdschichten,
I 2
— das hat keinen Wert. Alles, was Gott in eine Dichtung oder in
ein philosophisches System bringen will, gleichwie als ein Geschöpf
oder einen Einfluß, der bekämpft wird, hat gleichfalls keinen Wert.
Gesundheit und Einheitlichkeit charakterisieren den großen Mei-
ster, — wird in einem Prinzip gefehlt, so ist alles verfehlt. Der große
Meister hat mit Wundern nichts zu tun. Er sieht seine eigene
Gesundheit in der Gemeinschaft mit der Masse, — er sieht einen
Mangel in besonderem Hervorragen. Vollkommene Gestalt wächst
auf allgemeinem Boden. Unter dem allgemeinen Gesetz zu stehen,
ist groß, denn das heißt damit harmonieren. Der Meister weiß,
daß er unbeschreiblich groß ist, und daß alle unbeschreiblich groß
sind, — daß zum Beispiel nichts größer ist, als Kinder zu empfangen
und gut zu erziehen — daß Sein gerade so groß ist wie Beobachten
oder Erzählen.
Für das Werden großer Meister ist die Idee der politischen Frei-
heit unerläßlich. Freiheit findet Helden als Anhänger, wo immer
Männer und Frauen leben, — aber sie findet keine treueren An-
hänger und kein freudigeres Willkommen als bei den Dichtern.
Sie sind die Stimme und die Verkörperung der Freiheit. Sie sind
seit Urzeiten dieser großen Idee würdig, ihnen ist sie anvertraut,
und sie müssen sie bewahren. Nichts hat den Vorrang vor ihr, und
nichts kann sie entstellen oder erniedrigen.
Da die Eigenschaften der Dichter des Kosmos in ihrem leibhaf-
tigen Körper verdichtet sind und in der Lust an den Dingen, so
besitzen sie den Vorteil der Echtheit vor aller Erfindung und
Romantik. Wenn sie sich verströmen, so werden alle Dinge von
Schauern Lichts überflössen, — das Tageslicht wird von fliegenderem
Glänze erleuchtet, — die Tiefe zwischen Sonnenauf- und -Untergang
wird vielmals tiefer. Jeder bestimmte Gegenstand, jeder Zustand,
jede Kombination, jeder Vorgang entfaltet eine besondere Schön-
heit, — das Einmaleins die seine, — das Alter die seine, — das Zim-
mermannshandwerk die seine, — die Große Oper die ihre, — der
riesige, scharfgeschnittene New Yorker Klipper auf See unter Dampf
oder vollen Segeln leuchtet in unvergleichlicher Schönheit, — die
weiten, ineinander wirkenden Kreise der Regierung Amerikas leuch-
ten in gleicher Schönheit, — und die gewöhnlichsten klaren Ent-
schlüsse und Handlungen in gleicher Schönheit. Die Dichter des Kos-
mos schreiten durch alle Hindernisse und Barrikaden und Unruhen
i3
und Kriegslisten hindurch zu den Hauptprinzipien. Sie stiften
Nutzen, — sie erlösen die Armut von ihrer Not und die Reichen
von ihrem Hochmut. Du stolzer Besitzender, sagen sie, sollst nicht
mehr gewinnen und genießen als irgendein anderer. Der Eigen-
tümer der Bibliothek ist nicht der, der einen Rechtsanspruch auf
sie hat, weil er sie gekauft und bezahlt hat. Jedweder, Mann oder
Weib, ist Eigentümer der Bibliothek, der all die verschiedenen
Zungen, Themen und Stilarten zu lesen vermag und sie ohne Mühe
in sich aufnimmt, und den sie geschmeidig, stark, reich und weit
machen.
Diese amerikanischen Staaten, stark, gesund und vollkommen,
sollen kein Vergnügen an Verzerrungen der natürlichen Vorbilder
haben und dürfen sie nicht zulassen. In Gemälden, Bildwerken oder
Schnitzereien in Stein oder Holz, in Illustrationen von Büchern und
Zeitungen, in den Mustern von Geweben, in allem, was Räume,
Möbel oder Kleider schmücken oder auf Gesimsen oder Denkmälern
stehen soll oder auf dem Bug von Schiffen oder sonst irgendwo vor
Menschenaugen im Haus oder draußen, ist alles, was die recht-
schaffene Form verzerrt oder unirdische Wesen, Ortlichkeiten oder
Umstände darstellt, ein abscheulicher Unfug. Die menschliche
Gestalt vor allem ist so erhaben, daß sie niemals ins Lächerliche
gezogen werden sollte. Übertriebene Ornamente zu einem Werk
dürfen nicht geduldet werden, sondern nur die, die den vollkom-
menen Erscheinungsformen der freien Natur entsprechen und un-
widerstehlich aus der Natur des Werkes selber quellen und zu seiner
Vollendung nötig sind. Die meisten Schöpfungen sind am schönsten
ohne Ornament. Übertreibungen rächen sich an der Physiologie
des Menschen. Reine und starke Kinder werden nur in den Ge-
meinwesen erzeugt und empfangen, wo die Vorbilder natürlicher
Formen am Licht jedes Tages stehen. Der große Genius und das
Volk dieser unserer Staaten darf nicht ins Romanhafte erniedrigt
werden. Wenn wirkliche Geschehnisse richtig erzählt werden, be-
darf es keiner Romane mehr.
Die großen Dichter sind kenntlich an dem Wegfall aller Kunst-
griffe und an der Offenbarung vollkommener persönlicher Lauter-
keit. Hinfort soll keiner von uns mehr lügen, denn wir haben
erkannt, daß Aufrichtigkeit die innere und äußere Welt gewinnt,
ohne jede Ausnahme, und daß noch nie, seit unsere Erde sich zur
i4
Weltkugel geballt hat, Betrug, Ränke und Verschlagenheit auch
nur ein Körnchen von ihr, auch nur den Hauch eines Schattens
an sich zu ziehen vermochten, — und daß ein falscher, kriecherischer
Mensch sich auch hinter dem Reichtum und der Macht eines Staates
oder der ganzen Staatenrepuhlik nicht zu verbergen vermag, son-
dern entdeckt und der Verachtung ausgeliefert wird, — und daß die
Seele sich niemals narren läßt und nicht genarrt werden kann, —
und daß Wohlstand ohne die liebende Zustimmung der Seele nur
eine stinkende Blähung ist, — und daß es noch nie ein Wesen ge-
geben hat, das von Natur die Wahrheit haßt: auf allen Kontinenten
dieser Erde nicht und auf keinem Planeten und Satelliten, nicht in
der Dunkelheit vor der Geburt, noch irgendwann im Wechsel des
Lebens, noch irgendwo im Verborgenen oder im lebhaftesten Treiben,
noch in irgendeiner Gestalt oder Umgestaltung.
Höchste Vorsicht und Klugheit, festeste organische Gesundheit,
starke Hoffnungskraft, Liebe zu Frauen und Kindern, die Kraft,
aus allem Nahrung zu ziehen. Störendes zu vernichten, Sinn für
Kausalität und für die vollkommene Einheit der Natur, und die
Fähigkeit, diesen selben Sinn auch auf die menschlichen Angelegen-
heiten anzuwenden, — all das wird an die Oberfläche des Welt-
bewußtseins heraufbeschworen, um Teil des größten Dichters zu
werden, von seiner Geburt aus Mutterleib und von der Geburt
seiner Mutter aus Mutterleib an. Klugheit geht selten weit genug.
Man hielt den Bürger für klug, der auf soliden Gewinn bedacht
war und für sich und seine Familie gut sorgte und ein ehrbares
Leben führte ohne Schuld und Vergehen. Der größte Dichter sieht
und würdigt diese haushälterischen Notwendigkeiten, wie er die
Notwendigkeit von Essen und Schlafen sieht, aber er hat einen
höheren Begriff von Klugheit und begnügt sich nicht damit, nur die
Hand auf die Klinke der Pforte zu legen. Das wahre Wesen der
Lebensklugheit besteht nicht darin, daß man sich das Leben behag-
lich gestaltet und zu Reife und Ernte führt. Es genügt, daß man,
um unabhängig zu sein, eine kleine Summe als Sterbegeld auf die
Seite legt, ein paar Balken um sich her und ein paar Schindeln
über dem Kopfe hat auf einem eigenen Fleckchen amerikanischer
Erde und die paar Dollars verdient, die man jährlich zur Kleidung
und Nahrung braucht. Aber eine traurige Lebensklugheit ist es,
ein so erhabenes Wesen, wie den Menschen, an die jahrelange,
10
bleiche Hast des Gelderwerbes hinzuwerfen, mit all ihren sengen-
den Tagen und eisigen Nächten, all ihren würgenden Enttäu-
schungen und heimlichen Ränken, mit ihrer ewigen Hetzjagd durch
Geschäftsräume und Salons, oder schamlosem Prassen, wenn andere
verhungern; mit all ihrer Gefühllosigkeit für Blüte und Duft der
Erde, für Blumen und Luft und Meer, für die wahre Freude an
den Frauen und Männern, denen du begegnest oder mit denen du
zu tun hast, in Jugend und mittlerem Alter, und mit Krankheit
und verzweifeltem Ekel am Ende eines Lebens ohne Erhebung und
Unschuld (magst du es auch zu einer Rente von zehntausend Dollars
im Jahre oder zu einem Sitz im Kongreß oder in der Regierung
gebracht haben), und schließlich mit dem gräßlichen Zähneklappen
eines Todes ohne Heiterkeit und Majestät. Das ist der große Selbst-
betrug in der modernen Zivilisation und ihrem Streben, der die
Oberfläche und die unleugbar an sich bedeutende Erscheinungs-
form der Zivilisation entstellt und ihre riesigen Züge, die immer
schneller und schneller wachsen, mit Tränen feuchtet, da noch
die Küsse der Seele sie nicht erreichen können.
Noch ist die rechte Erklärung nicht gegeben, was Klugheit sei.
Die Klugheit bloßer Wohlhabenheit und Ehrbarkeit eines hoch-
geachteten Lebens ist zu schwach erkennbar für das Auge, um
überhaupt beurteilt zu werden, da alle Maße von klein oder groß
spurlos verschwinden bei dem Gedanken an die Klugheit, die die
rechte ist für die Unsterblichkeit. Was ist die Weisheit, die den
spärlichen Raum eines Jahres oder von siebzig oder achtzig Jahren
ausfüllt, verglichen mit der Weisheit, die durch Jahrtausende sich
breitet und zu bestimmten Zeiten mit gewaltiger Verstärkung und
reicher Gegenwart wiederkehrt, mit den hellen Gesichtern von
Hochzeitsgästen, die von überallher, soweit du sehen kannst, fröhlich
auf dich zu eilen? Nur die Seele ist selbstherrlich, — alles andere
steht in Beziehung zu dem, was nachfolgt. Alles, was ein Mensch
tut oder denkt, hat seine Folgen. Klein oder groß, gebildet oder
ungebildet, weiß oder schwarz, gesetzlich oder ungesetzlich, krank
oder gesund, — alles was ein Mann oder Weib, vom ersten Atem-
zug bis zum letzten, Kraftvolles, Gütiges, Wahrhaftiges tut, ist
sicherlich für ihn oder sie von Nutzen in der unerschütterlichen
Ordnung des Weltalls in alle Ewigkeit. Die Klugheit des größten
Dichters antwortet letzten Endes der Sehnsucht der übervollen
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Seele, weist nichts von sich, übergeht nichts aus Rücksicht auf sich
oder andere, kennt keinen besondern Sabbat oder Gerichtstag,
scheidet die Lebenden nicht von den Toten oder die Gerechten
von den Ungerechten, ist zufrieden mit dem Gegenwärtigen, fügt
zu jedem Gedanken und jeder Tat das entsprechende Gegenteil
und kennt weder Vergebung noch Buße!
Die Probe darauf, ob er er der größte Dichter ist, muß er jetzt
und heute bestehen. Wenn er sich nicht von der unmittelbaren
Gegenwart wie von gewaltiger Meerflut durchströmen läßt, — wenn
er nicht selbst die Gegenwart in übertragener Form ist und wenn
ihm die Ewigkeit nicht offen steht, die alle Epochen, Schauplätze
und Vorgänge, alle belebten und unbelebten Formen miteinander
verschmilzt, die alle Zeiten umschließt, die aus ihrer unfaßbaren
Unbestimmtheit und Grenzenlosigkeit in die dahingleitenden Er-
scheinungsformen des „Heute" emportaucht und von den lenksamen
Ankern des Lebens festgehalten wird, die das Fleckchen Gegenwart
zum Ubergang macht von dem, was war, zu dem, was sein wird,
und sich in der Welle just dieser Stunde und just dieses einen von
den sechzig schönen Kindern dieser Stunde offenbart, — so mag
er, der der größte Dichter sein wollte, noch einmal untertauchen
in den allgemeinen Strom und seine Entwicklung abwarten.
Der letzte Prüfstein jeder Dichtung, jedes Charakters oder Werks
bleibt immer derselbe. Der vorausschauende Dichter versetzt sich
selbst um Jahrhunderte voraus und beurteilt alles Vollbringen
unabhängig vom Wechsel der Zeit. Überlebt er sie? Dauert er
ungeschmälert fort? Wird derselbe Stil und das Streben des Genius
nach solchen Zielen auch dann noch genügen? Ist der Marsch von
zehn, hundert und Tausenden von Jahren willig nach rechts oder
links abgewichen um seinetwillen? W^ird er noch lange nach
seinem Tode geliebt? Denkt der junge Mann und das junge Weib
oft an ihn? und denken die Reifen und die Alten an ihn?
Eine große Dichtung ist für alle Zeiten Gemeingut und für alle
Stände und Rassen, alle Klassen und Sekten, und für das Weib
ebenso wie für den Mann und für den Mann ebenso wie für das
Weib. Eine große Dichtung ist kein Abschluß für Mann oder Weib,
sondern ein Anfang. Hat sich jemand gedacht, er könne sich endlich
unter einer unanfechtbaren Autorität niederlassen, sich bei ihren
Erklärungen beruhigen, diese sich zu eigen machen und völlig
2 Whitman J
17
befriedigt sein? Zu keinem solchen Ziel fühii; der größte Dichter —
er bringt weder Abschluß noch behagliches Ausruhen und Fett-
werden. Sein Einfluß äußert sich, wie der der wirkenden Natur.
Wen er mit sich nimmt, den führt er mit festem, sicherem Griff
in lebendige, bis dahin unerreichte Regionen, — von nun an gibt
es keine Ruhe mehr, — sie sehen den Raum und unaussprechlichen
Glanz, der die alten Plätze und Lichter in tote Leeren verwandelt.
Nun soll ein Mensch entstehen aus Aufruhr und Chaos, — der
ältere ermutigt den jüngeren und unterweist ihn, — die zwei
sollen furchtlos zusammen ausziehen, bis die neue Welt sich selbst
eine Himmelsbahn schafft, selbstbewußt auf die kleineren Sternen-
bahnen schaut und durch die endlosen Kreise schwingt, um nie
wieder stillzustehn.
Rald wird es keine Priester mehr geben. Sie haben ihre Arbeit
getan. Ein neuer Orden wird kommen, und seine Mitglieder sollen
Menschenpriester sein und jeder Mensch soll sein eigener Priester
sein. Sie sollen ihre Inspiration in den realen Objekten von heute
finden, die die Symptome der Vergangenheit und Zukunft sind. Sie
sollen nicht die Unsterblichkeit oder Gott verteidigen wollen oder
die Vollkommenheit der Dinge oder die Freiheit oder die köstliche
Schönheit und Wirklichkeit der Seele. Sie sollen aus Amerika
hervorgehen und Widerhall finden in aller Welt.
Die englische Sprache ist der großen amerikanischen Ausdrucks-
form günstig, — sie ist sehnig genug und geschmeidig und voll-
ständig genug. Auf dem zähen Stamm einer Rasse gev>^achsen, die
durch allen Wechsel der Verhältnisse nie ohne den Gedanken poli-
tischer Freiheit, den Lebensodem aller Freiheit, gewesen ist, hat
sie Bestandteile von feineren, anmutigeren, zarteren und glätteren
Sprachen in sich aufgenommen. Sie ist die mächtige Sprache des
Trotzes, — sie ist das Idiom des gesunden Menschenverstandes. Sie
ist die Sprache der stolzen und melancholischen Rassen und aller,
die vorwärtsstreben. Sie ist die auserwählte Sprache, um Entwick-
lung auszudrücken und Glauben, Selbstachtung, Freiheit, Recht,
Gleichheit, FreundHchkeit, Fülle, Klugheit, Entschiedenheit und
Mut. Sie ist das Mittel, das das Unaussprechliche annähernd aus-
drücken soll.
Keine große Literatur, keine Stil- oder Redekunst, keine Um-
gangssitten, kein gesellschaftlicher Verkehr oder Haushalt oder
i8
öffentliche Einrichtungen oder das Verhalten von Arbeitgehern
gegen ihre Angestellten, kein Vorgang in der Exekutive oder in
Heer und Flotte, in Gesetzgebung oder Rechtsprechung, keine
Polizei, Schule oder Architektur noch Lieder und Vergnügungen
können auf die Dauer dem eifernden und leidenschaftlichen Instinkt
des amerikanischen Grundgefühls entgehen. Mag es vom Munde
des Volkes ausgesprochen werden oder nicht, — es klopft im Herzen
jedes freien Mannes und Weibes als lebendige Frage nach dem,
was vergänglich ist oder was bestimmt ist, zu dauern. Ist es gleich-
bedeutend mit meinem Lande? Übt es seine Wirkungen ohne
schändliche Parteilichkeit aus? Ist es bestimmt für die immer
wachsende Gemeinschaft von Brüdern und Geliebten, groß, fest
vereint, stolz, edelmütig wie keine je zuvor? Ist es etwas frisch
aus den Feldern Gewachsenes oder aus der See Gefischtes, für mich
hier und heute? Ich weiß: was für mich, einen Amerikaner, in
Texas, Ohio, Kanada antwortet, muß auch für jedes Individuum
und jede Nation antworten, die mit zu meinem Stoff gehören. Ist
das eine Antwort? Ist es bestimmt, die Jungen der Republik zu
säugen? Löst es sich willig auf in der süßen Milch der Brüste der
Mutter vieler Kinder?
Amerika rüstet sich in ruhiger Haltung und Wohlwollen für die
Besucher, die sich angesagt haben. Nicht Intellekt wird ihre Be-
glaubigung sein und sie willkommen machen. Der Begabte, der
Künstler, der Erfinder, der Verleger, der Staatsmann, der Gelehrte,
— sie alle werden nicht gering geschätzt, — sie kommen an ihren
rechten Platz und verrichten ihr Werk. Auch die Seele der Nation
verrichtet ihr Werk. Sie weist keinen zurück, läßt alle zu. Aber
nur denen, die ihresgleichen sind, wird sie auf halbem Wege ent-
gegengehen. Ein einzelner Mensch ist so herrlich wie eine Nation,
wenn er die Eigenschaften hat, die eine herrliche Nation schaffen.
Die Seele der größten, reichsten und stolzesten Nation mag wohl
auf halbem Wege der ihrer Dichter entgegengehen.
DEMOKRATISCHE AUSBLICKE
Die gewaltigste Lehre der Natur im ganzen Weltall ist vielleicht
die Lehre von der Vielfältigkeit und der Freiheit; und so muß sie auch
für Politik und Fortschritt der Neuen Welt gelten. Wenn jemand zum
Beispiel gefragt würde, welches die wesentlichen Unterscheidungs-
merkmale zwischen dem politischen und allgemeinen Leben Euro-
pas und Amerikas seien gegenüber der alten asiatischen Kultur,
wie sie sich bis auf den heutigen Tag in China und der Türkei
fortgeerbt hat, so könnte er die Antwort in John Stuart Mills tiefem
Essay über „Freiheit in der Zukunft" finden, wo zwei Haupt-
bestandteile oder Grundlagen für eine wahrhaft große Nation ge-
fordert werden: erstens eine reiche Vielfältigkeit des Charakters,
und zweitens freier Spielraum für die menschliche Natur, um sich
in zahllosen, ja widerstreitenden Richtungen zu entfalten (was für
die ganze Menschheit vielleicht etwas Ähnliches bedeutet wie die
Einflüsse, die, auf grenzenlosem Feld, jene immerwährende Heil-
wirkung der Luft bewirken, die wir das Wetter nennen: jene un-
endliche Zahl von Strömungen und Kräften, Einflüssen, Tempera-
turen, sich kreuzenden Wirkungen, deren unablässiges Gegenspiel
beständige Neubelebung und Vitalität bringt). Mit diesem Gedanken
und allem, was notwendigerweise aus ihm folgt, will ich meine
Betrachtungen beginnen.
Amerika, das die Gegenwart mit den gewaltigsten Taten und
Problemen erfüllt und die Vergangenheit samt dem Feudalismus
frohen Mutes in sich aufnimmt (da in der Tat ja die Gegenwart
nur der gesetzliche Erbe der Vergangenheit ist, den Feudalismus
inbegriffen), — Amerika zählt meines Erachtens für seine Recht-
fertigung und seinen Erfolg (denn wer dürfte jetzt schon von
20
Erfolg sprechen?) fast ausschließlich auf die Zukunft. Diese seine
Hoffnung ist nicht unberechtigt. Wir sehen heute vor uns, wenn
auch erst in ahnungsvollem Dämmer, eine zahlreiche, gesunde,
gigantische Nachkommenschaft. Ich halte alles, was unsere Neue
Welt bisher geleistet hat und was sie jetzt ist, für wesentlich un-
wichtiger als das, was sie in Zukunft erreichen wird. Als einzige
von allen Nationen haben diese Staaten den Versuch unternommen,
die lang, lang hinausgeschobenen moralisch-politischen Gedanken
von Jahrhunderten, das republikanisch-demokratische Prinzip und
die Theorie von Entwicklung und Vervollkommnung durch frei-
willige Einrichtungen und Selbstvertrauen in Formen von dauern-
der Macht und Brauchbarkeit zu bringen, und zwar auf Gebieten,
die an Weite mit den Maßen des physikalischen Kosmos wetteifern.
Wer in der Tat außer den Vereinigten Staaten hat je in der Ge-
schichte sich diese Gedanken in unbekümmertem Glauben zu eigen
gemacht und steht auf ihnen, handelt nach ihnen und setzt sich
für sie ein so wie sie?
Doch genug des Vorspiels. Laßt mich nunmehr den Grundton
der folgenden Melodie anschlagen. Vorausschicken will ich nur
noch dies: Wenngleich die einzelnen Teile dieser Schrift zu ganz
verschiedenen Zeiten niedergeschrieben wurden und mir vielleicht
vorgeworfen werden kann, daß sie teilweise einander widersprechen,
— denn die große Frage der Demokratie hat, wie alle großen
Fragen, ihre verschiedenen Seiten, — so fühle ich diese Teile doch
in meinem eigenen Bewußtsein und in meinen Überzeugungen
harmonisch verschmolzen und möchte sie nur aus solcher Einheit
heraus verstanden wissen, jede Seite, jede Forderung, jede Be-
hauptung bedingt und gemäßigt durch die anderen. Man vergesse
auch nicht, daß sie nicht das Ergebnis eines Studiums politischer
Ökonomie sind, sondern des schlichten Menschenverstandes und
vieler Beobachtungen und Wanderungen unter Menschen in diesen
Staaten, in Krieg und Frieden dieser aufwühlenden Jahre.
Ich will nicht herumreden um die furchtbaren Gefahren des
allgemeinen Wahlrechts in den Vereinigten Staaten. In der Tat,
ich schreibe, um diesen Gefahren, die ich zugebe, ins Auge zu
sehen. Ich schreibe für die, in deren Geist die wechselvolle Schlacht
tobt zwischen den demokratischen Überzeugungen und Bestrebun-
gen und dem Bewußtsein von der Roheit, Lasterhaftigkeit und
21
Launenhaftigkeit des Volkes. Ich werde die Worte Amerika und
Demokratie als gleichbedeutende Ausdrücke gebrauchen. Das Er-
gebnis, um das es sich handelt, ist kein geringes. Die Vereinigten
Staaten sind bestimmt, entweder über die glanzvolle Geschichte des
Feudalismus hinauszukommen oder sich als den furchtbarsten
Fehlschlag aller Zeiten zu erweisen. Nicht die mindeste Sorge habe
ich um die Aussichten für ihren materiellen Erfolg. Ihren geo-
graphischen, Geschäfts- und Produktionsmöglichkeiten ist eine
triumphale Zukunft gewiß. In dieser Hinsicht wird die Republik
sicherlich bald (wenn es nicht jetzt schon der Fall ist) alle bisher
bekannten Beispiele überholen und die Welt beherrschen.
All das zugegeben, auch den unschätzbaren Wert unserer poli-
tischen Institutionen und des allgemeinen Wahlrechts (überhaupt
sollen grundsätzlich alle Türen so weit wie möglich geöffnet wer-
den!), sage ich dennoch aus einer viel größeren Tiefe heraus: um
aus unserer westlichen W^elt eine Nation zu schaffen, die allen bis-
her bekannten überlegen ist und alle Vergangenheit überwindet,
brauchen wir vor allem eine starke, doch unbeargwöhnte Literatur,
vollkommene Persönlichkeiten und Gesellschaftsformen, die ur-
sprünglich und transzendental und der Ausdruck der Demokratie
und des modernen Lebens sind, — ein Ausdruck, der bisher über-
haupt noch nicht gefunden worden ist. Aus ihnen heraus muß
zugleich eine neue Rasse von Lehrern und von vollkommenen
Frauen entstehen, unerläßlich als Stamm für die Fortpflanzung
einer Neuen Welt. Denn Feudalismus, Kastengeist und die kirch-
liche Überlieferung schwinden zwar merklich aus unsern politischen
Institutionen, aber halten die wichtigeren Gebiete der Erziehung,
des sozialen Lebens und der Literatur, die die wahre Grundlage
der Nation sind, auch in diesem Lande geistig in festem Besitz.
Ich sage, daß die Demokratie sich nicht selber einwandfrei recht-
fertigen kann, ehe sie nicht ihre eigenen Formen von Kunst, Dich-
tung, Erziehung und Theologie findet und in einer gewissen Fülle
entfaltet und alles Bestehende, alles, was irgendwo in der Ver-
gangenheit unter entgegengesetzten Einflüssen entstanden ist,
ausschaltet. Es erstaunt mich, daß so viele Stimmen, Federn,
Geister in der Presse, in Hörsälen, in unserm Kongreß usf. intellek-
tuelle Themen diskutieren, Finanzschwierigkeiten, Probleme der
Gesetzgebung, Stimmrecht, Tarif- und Arbeiterfragen und all die
22
Geschäfts- und Wohlfahrtsbedürfnisse Amerikas nebst Vorschlägen
zur Abhilfe, die oft ernster Beachtung wert sind, — während ein
Bedürfnis, eine tiefste Lücke besteht, die kein Auge zu bemerken,
keine Stimme zu nennen scheint. Unser Grundbedürfnis in den
Vereinigten Staaten von heute, im engsten, umfassendsten Anschluß
an die gegenwärtigen Verhältnisse und an die Zukunft, ist eine
Klasse und die klare Idee einer Klasse von einheimischen Autoren,
eine Literatur, ganz anders und viel höher geartet als alle bisher
bekannten: priesterlich, modern, fähig, sich zu messen mit den
Möglichkeiten unserer Länder, die ganze Fülle amerikanischer
Mentalität, amerikanischen Geschmacks und Glaubens durchdrin-
gend und ihr einen neuen Odem einhauchend, ihr Entscheidungs-
kraft verleihend; eine Literatur, die auf die Politik eine tiefere
Wirkung ausübt als das oberflächliche Volkswahlrecht und letzten
Endes auch von innen her und indirekt die Wahlen der Präsidenten
und Kongresse beeinflußt, — die nach allen Richtungen ausstrahlt,
würdige Lehrer, Schulen, Umgangsformen erzeugt und als größtes
Ergebnis das schafft, was weder die Schulen noch die Kirchen und ihr
Klerus bisher geschaffen haben und ohne das diese Nation ebensowenig
dauernd und fest stehen kann wie ein Haus ohne Grundmauern:
nämlich einen religiösen und moralischen Charakter unterhalb der
politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Grundlagen der Ver-
einigten Staaten. Denn, nicht wahr, lieber, ernsthafter Leser? — die
Bewohner unseres Landes mögen allesamt lesen und schreiben können
und allesamt das Wahlrecht besitzen, und doch kann es ihnen an
der Hauptsache gänzlich fehlen — und diese will ich hier andeuten.
Das Problem der Menschheit in der ganzen zivilisierten Welt
von heute ist, von genügend hoher Warte aus betrachtet, sozial
und religiös und muß letzten Endes von der Literatur in Angriff
genommen und behandelt werden. Nie war ein solches Bedürfnis
nach etwas vorhanden wie hier in den Staaten nach dem Dichter
der Moderne oder dem großen Literatus der Moderne. Zu allen
Zeiten vielleicht ist der Kernpunkt jeder Nation, von dem aus sie
am stärksten gelenkt wird und andere lenkt, ihre nationale Lite-
ratur, besonders ihre urtümlichen Dichtungen. Vor allen älteren
Ländern wird in Amerika eine große originale Literatur sicherlich
die Rechtfertigung und Bürgschaft (in mancher Hinsicht die ein-
zige Bürgschaft) der Demokratie werden.
23
Nur wenige erkennen, wie die große Literatur alles durchdringt,
allem Farbe gibt, Vielheiten und Individuen gestaltet und auf
feinsten Wegen mit unwiderstehlicher Gewalt nach ihrem Willen
aufbaut, erhält oder zerstört. Warum ragen in der Erinnerung
über allen Nationen der Erde zwei besondere Länder empor, win-
zig an sich und doch unsagbar gigantisch, schönheitstrahlend,
Säulenhaft? Unsterblich lebt Juda, und Griechenland unsterblich,
in ein paar Gedichten.
Näher als das. Es ist nicht allen bewußt, aber es ist wahr, daß,
wie der Genius Griechenlands samt aller Gesellschafts- und Persön-
lichkeitsbildung, aller Politik und Religion dieser wunderbaren
Staaten auf ihrer Literatur und Ästhetik beruhte, daß, sageich, ebenso
späterhin die Literatur der Hauptträger des europäischen Rittertums,
der feudalen, geistlichen, dynastischen Welt dort drüben war, ihr
Knochenbau, der sie auf Hunderte und Tausende von Jahren zu-
sammenhielt, ihr Fleisch und ihre Blüte trug, ihr Form und Rich-
tung gab, sie abrundete und sie bewußt und unbewußt, in Blut,
Rasse und Glauben ihrer Menschen, so durchtränkte, daß sie bis
auf den heutigen Tag ihre Vorherrschaft erhalten hat, dem mäch-
tigen Wechsel der Zeit zum Trotz, — die Literatur, die bis ins
Mark drang, vor allem ihr bedeutendster Teil, ihre bezaubernden
Lieder, Balladen und Gedichte.
Die Einflüsse, die nach dem bloßen Urteil der Sinne und Augen
die Weltgeschichte prägen, sind, ich weiß es wohl, vor allem die
Kriege, das Aufsteigen und Sinken der Dynastien, die Verschie-
bungen des Handels, wichtige Erfindungen, Schiffahrt, militärische
und bürgerliche Regierungen, das Erscheinen machtvoller Persön-
lichkeiten, Eroberer usf. All das spielt natürlich eine Rolle; und
doch wird vielleicht ein einziger neuer Gedanke, eine Idee, ein
abstraktes Prinzip, ja, eine literarische Stilform, die für ihre Zeit
paßt und von einem großen Autor in Form gebracht und in die
Menschheit geworfen wird, im rechten Augenblick Veränderungen,
Werden und Vergehen bewirken, weit stärker als die längsten und
blutigsten Kriege oder der gewaltigste lediglich politische, dynastische
oder kommerzielle Umsturz.
Kurz gesagt: wie es außer allem Zweifel ist, — wenn es
auch nicht alle sehen, — daß eine Handvoll Dichter, Philosophen
und Autoren ersten Ranges der gesamten Religion, Erziehung,
24
Gesetzgebung, Gesellschaftsordnung usf. der zivilisierten Welt im
wesentlichen Form und Bestand gegeben haben, indem sie die Atmo-
sphäre bestimmten und schufen, aus der heraus jene entstanden
sind, — so muß auch der innere, wahre demokratische Aufbau des
amerikanischen Kontinents heute und in Zukunft von solchen
Männern geprägt werden, und zwar mehr als je. Dabei ist eines
wichtigen Unterschiedes zu gedenken: während im Altertum und
Mittelalter die höchsten Gedanken und Ideale sich aus sich selbst
heraus verwirklichten und Ausdruck und Verbreitung ebensosehr
und vielleicht mehr durch andere Künste fanden, als durch die
Literatur im eigentlichen Sinne, die der Masse der Menschen, ja
sogar auch den meisten hervorragenden Menschen, verschlossen
war, ist im Gegenteil die Literatur unserer Tage nicht allein inni-
ger mit den Anforderungen der Zeit verbunden, sondern hat sich
zu dem einzigen und allgemeinen Mittel zur moralischen Beein-
flussung der Welt entwickelt. Malerei, Bildhauerei und Theater
spielen offenbar keine unersetzliche oder auch nur wichtige Rolle
mehr in den Auswirkungen und der Mittlerschaft des Intellekts,
der lebendigen Nützlichkeit und selbst der hohen Ästhetik. Die
Architektur hat zweifellos noch gewisse Fähigkeiten und eine
wirkliche Zukunft. Die Musik, die große Verknüpferin, das Ver-
geistigtste und zugleich Sinnlichste, was es gibt, eine Göttin, aber
doch ganz menschlich, schreitet fort und behält ihre hohe Stellung;
in einem gewissen Bereich gibt sie, was nichts außer ihr zu geben
vermag. Aber es ist unleugbar, daß in der Zivilisation von heute
vor allen anderen Künsten die Literatur die Herrscherin ist, die
lebendigen Nutzen wirkt, die den Charakter von Kirche und Schule
gestaltet oder wenigstens fähig wäre, es zu tun. Rechnet man die
wissenschaftliche Literatur hinzu, so ist ihr Wirkungskreis in der
Tat ohnegleichen.
Ehe ich weitergehe, ist es vielleicht von Bedeutung, gewisse
Punkte klarzustellen. Die Literatur baut ihren Weizen auf vielen
Feldern, und die einen mögen gedeihen, während die andern zu-
rückbleiben. Was ich in diesen Ausblicken sage, gilt hauptsächlich
für die imaginative Literatur, die Dichtung besonders, die der
Grundstock aller Literatur ist. Im Bereich der Wissenschaft und
auf dem Sondergebiet des Journalismus sind in diesen Staaten viel-
versprechende Anzeichen, ja vielleicht schon Erfüllungen voll
25
höchsten Ernstes, voll Wirklichkeitskraft und Leben zu erkennen.
Diese sind natürlich modern. Aber in dem Bereich der Einbildungs-
kraft und innersten Wesenheit besteht für unser Zeitalter und unser
Land das gebieterische Bedürfnis nach schöpferischer Kraft. Denn
es ist nicht nur nicht genug, daß das neue Blut, der neue innere
Bau der Demokratie lediglich durch politische Mittel, oberfläch-
liches Wahlrecht, Gesetzgebung usw. belebt und zusammengehalten
wird, sondern es ist mir völlig klar, daß seine Kraft unzureichend,
sein Wachstum fraglich und sein wesentlicher Zauber unentfaltet
bleiben muß, wenn dieses Neue nicht tiefer geht, nicht mindestens
ebenso fest und warm in den Menschenherzen und ihrem Fühlen
und Glauben Wurzel faßt, wie der Feudalismus oder die Kirchlich-
keit zu ihrer Zeit, und wenn es nicht seine eigenen ewigen Quellen
eröffnet, die je und je aus dem Mittelpunkt fluten. Daher halte
ich es für möglich, daß, wenn zwei oder drei Dichter (oder auch
Künstler oder Redner) wirklich amerikanischen Ursprungs am
Horizont aufsteigen würden wie Planeten, Sterne erster Größe, die
durch ihre Überlegenheit alles, was die einzelnen Rassen und Länder
zu geben haben, zusammenschweißen würden, — daß diese den Ver-
einigten Staaten mehr Zusammenhalt und moralische Einheit (die
Eigenschaft, die uns heute am nötigsten ist) geben würden, als alle
ihre Verfassungen, alle Bande der Gesetzgebung und Rechtsprechung,
alle bisherigen politischen, kriegerischen oder materiellen Erfah-
rungen. Es wäre von größtem Nutzen für die Staaten mit all ihrer
Verschiedenheit des Klimas, ihrer Städte und Lebensformen usw.,
einen allen gemeinsamen, für alle typischen Besitzstand an Helden,
Charakteren, großen Taten, Leiden, Glück und Unglück, Ruhm
und Schmach zu haben; noch viel wichtiger aber wäre es für sie,
eine geschlossene Gruppe machtvoller Dichter, Künstler und Lehr-
meister zu besitzen, die für uns passen und der Nation Ausdruck
verleihen und alles das in sich vereinen und wieder ausströmen
würden, was allgemeingültig, eingeboren und allen gemeinsam ist,
im Binnenland und an den Küsten, in Nord und Süd. Die Ge-
schichtschreiber sagen von dem alten Griechenland mit seinen
ewig eifersüchtigen Selbstregierungen, Städten und Staaten, daß
die einzige positive Einheit, die es je besaß oder empfing, die trau-
rige Einheit einer schließlichen gemeinsamen Unterwerfung unter
fremde Eroberer war. Unterwerfung, Zusammenschluß solcher
26
Art ist für Amerika undenkbar; aber die Furcht vor un versöhn-
baren Konflikten im Innern und vor dem Mangel an einem ge-
meinsamen Gerippe, das alle zusammenhält, verfolgt mich beständig.
Jedenfalls liegt für eine lange Periode der Zukunft die Notwendig-
keit deutlich zutage, die Staaten in der einzig zuverlässigen Einheit,
der moralischen und künstlerischen, zu verschmelzen. Denn ich
sage: die wahre Nationalität der Staaten, die echte Union im Falle
einer moralischen Krisis, ist und wird letzten Endes weder das ge-
schriebene Gesetz sein, noch (wie man gewöhnlich glaubt) Selbst-
erhaltungstrieb oder gemeinsame finanzielle oder materielle Inter-
essen, — sondern die Glut und Macht der Idee, die alles andere
unwiderstehlich in sich verschmilzt und alle untergeordneten,
beschränkten Unterschiede in der umfassenden, unbeschränkten
Gewalt von Geist und Gefühl löst.
Man mag einwenden (und ich gebe die Stärke dieses Einwandes
zu), daß ein allgemeines physisches Gedeihen und eine werktüchtige
Bevölkerung, die sich allen materiellen Komfort des Lebens schafft,
die Hauptsache und genügend sei. Man mag ins Feld führen, daß
unsere Republik durch ihre Taten in Wahrheit heute die gewal-
tigsten Kunstwerke, Gedichte usw. hervorbringt, indem sie die
Wildnis in fruchtbare Farmen verwandelt und Eisenbahnen, Schiffe,
Maschinen usw. schafft. Und man mag fragen: Ist all das nicht
in der Tat besser für Amerika als irgend welche Äußerungen des
Rhapsoden, Künstlers oder Literaten?
Auch ich grüße diese Leistungen mit Freude und Stolz: und
antworte dann, daß die Seele des Menschen nicht durch solche
Dinge allein — nein, überhaupt nicht durch solche Dinge end-
gültig befriedigt werden kann, sondern nur auf ihnen und allen
Dingen steht, wie die Füße auf dem Boden stehen und einzig dessen
wahrhaft bedarf, was sich auf das Höchste: auf sie selbst allein
richtet.
Aus solchen Erwägungen, solchen Wahrheiten heraus erhebt
sich als Gegenstand dieser Ausblicke die wichtige Frage nach dem
Charakter, nach einer ur-amerikanischen Persönlichkeit, für die die
Kunst und Literatur Ausdruck und Echo ist und die, in Grenzen,
die allen gemeinsam sind, mit allen in Wechselwirkung steht.
Diesem Hauptpunkt haben die Denker der Vereinigten Staaten,
sonst so scharfsinnig, entweder nur sehr schwache Beobachtung
27
geschenkt, oder sie verharrten und verharren ihm gegenüber in
Schlafsucht.
Ich für meinen Teil möchte auch die Politiker und Geschäfts-
leute unter meinen Lesern aufs eindringlichste warnen vor dem
herrschenden Wahn, daß die Begründung freier politischer Ein-
richtungen und eine hochentwickelte, rein verstandesmäßige Ge-
schicklichkeit samt allgemeiner Ordnung, materieller Fülle, Ge-
werbefleiß usw. (so wünschenswerte und kostbare Güter sie auch
sein mögen) an sich schon genüge, um unserem demokratischen
Experiment den Erfolg zu sichern. Obwohl die Union sich im
vollen oder nahezu vollen Besitz aller dieser Vorteile sieht und
eben erst siegreich aus dem Kampf mit den einzigen Feinden her-
vorgegangen ist, die sie überhaupt zu fürchten braucht, nämlich
denen in ihrem eigenen Innern, — ist dennoch die Gesellschaft der
Vereinigten Staaten angefault, unreif, abergläubisch und verderbt.
Und zwar die politische, durch Gesetze geschaffene Gesellschaft
ebenso wie die private, freiwillige. In jeglicher Äußerung ihrer
Energie scheint mir das W^ichtigste, das Rückgrat von Staat oder
Einzelmensch, das moralische Gewissen, entweder gänzlich zu fehlen
oder doch bedenklich geschwächt oder unentwickelt zu sein.
Ich meine, wir täten am besten, unserer Zeit und unserem Lande
scharf ins Gesicht zu blicken, wie ein Arzt, der die Diagnose einer
tiefen Krankheit stellt. Nie vielleicht gab es so viel Herzenshohlheit,
wie jetzt in den Vereinigten Staaten. Der Erstlingsglaube scheint
uns verlassen zu haben. Wir glauben nicht mehr ehrlich an das
Grundprinzip der Staaten (trotz aller hektischen Begeisterung und
melodramatischem Geschrei), noch an die Menschheit überhaupt.
W^elches durchdringende Auge sähe nicht überall durch diese Maske
hindurch? Es ist ein erschreckendes Schauspiel. Wir leben durch-
weg in einer Atmosphäre von Heuchelei. Die Männer glauben nicht
an die Frauen und die Frauen nicht an die Männer. Eine An-
maßung ohne Ehrfurcht herrscht in der Literatur. Das Bestreben
aller „Literaten" ist es, etwas zu finden, womit sie ihren Spaß
treiben können. Ein Haufen Kirchen, Sekten usw., die traurigsten
Phantasmen, die ich kenne, maßt sich den Namen Religion an. Unter-
haltung ist Geschwätz. Die Unwahrheit im Geist, die Mutter aller
falschen Taten, hat bereits unabsehbare Folgen gezeitigt. Eine scharf-
sinnige und aufrichtige Persönlichkeit aus dem Zoll-Departement
28
in Washington, die ihr Amt zu regelmäßigen Besuchen in die
Städte des Nordens, Südens und Westens führt, um Betrügereien
auf die Spur zu kommen, hat viel mit mir über ihre Entdeckungen
gesprochen. Die Verderbtheit unserer Geschäftskreise ist nicht ge-
ringer, sondern unendlich viel größer, als man angenommen hatte.
Die nationalen, staatlichen und städtischen Behörden Amerikas in
allen ihren Zweigen und Abteilungen, die Gerichte ausgenommen,
sind durch und durch zersetzt von Korruption, Bestechung, Unehr-
lichkeit, Mißwirtschaft; und auch die Gerichte sind bereits ange-
fressen. Die Räuberei und Schurkerei in den Großstädten, ob äußer-
lich anständig oder nicht, stinkt zum Himmel. Geschwätzigkeit,
laue Liebeshändel, schwächliche Treulosigkeit, dürftige Ziele oder
überhaupt keine Ziele in der eleganten Welt. In der Geschäftswelt
(Geschäft, — dieses allesverschlingende moderne Wort!) ist das
einzige Ziel, mit allen Mittel Geld zu machen. Die Schlange des
Zauberers im Märchen fraß alle anderen Schlangen auf; Geldgier
ist unsere Zauberschlange, die heute allein das Feld behauptet. Die
beste Klasse, die wir aufzuweisen haben, ist nur ein Haufe von
elegant gekleideten Spekulanten und Pöbel. Wahr ist freilich, daß
hinter dieser phantastischen Posse, die sich auf der Schaubühne der
Gesellschaft abspielt, solide Dinge und erstaunliche Arbeitsleistungen
erkennbar sind, noch in rohen Formen und im Hintergrund, aber
bereit, nach vorn zu kommen und für sich selber zu zeugen, wenn
ihre Zeit gekommen ist. Aber die Wahrheit ist darum nicht weniger
furchtbar. Ich sage, daß die Demokratie unserer Neuen Welt, —
mit so großem Erfolge sie auch die Massen aus ihrem Sumpf empor-
gehoben und materiellen Fortschritt und Produktionskraft und eine
gewisse, freilich höchst trügerische, oberflächliche Volks-Intelligenz
geschaffen hat, — dennoch, so weit man sieht, ein fast völliger
Fehlschlag in sozialer Hinsicht und in Hinsicht wahrhaft großer
religiöser, moralischer und literarischer Ergebnisse ist. Vergebens
marschieren wir in nie gesehenem Sturmschritt auf die Bildung
eines Reiches zu, kolossaler als die des Altertums, als das Reich
Alexanders und die stolzeste Entfaltung Roms. Vergebens haben
wir Texas, Kalifornien, Alaska annektiert und langen im Norden
nach Kanada und im Süden nach Kuba. Es ist, als wären w ir mit
einem riesigen, immer vollständiger sich auswachsenden Körper
ausgestattet, und es bliebe uns nur eine kleine oder gar keine Seele.
29
Ich möchte meine Behauptungen noch mit weiteren Beobach-
tungen, Lokalbeispielen usw. belegen. Der Gegenstand ist wichtig
und verträgt Wiederholungen. Nach einiger Abwesenheit bin ich
jetzt (September 1870) wieder für ein paar Ferienwochen in New
York und Brooklyn. Der Glanz, die malerische Erscheinung und
die ozeanische Weite und Belebtheit dieser beiden großen Städte,
die unvergleichliche Lage, die Flüsse und die Bai, die glitzernde
See, kostspielige, stolze, neue Gebäude, Fassaden aus Marmor und
Eisen von eigenartiger Größe und eleganter Zeichnung, dazu eine
Menge heiterer Farben, vorwiegend weiß und blau, wehende Flaggen,
zahllose Schiffe, die brausenden Straßen, Broadway, das schwere,
tiefe, musikalische Dröhnen, das kaum jemals aussetzt, auch nicht
bei Nacht; die Häuser der Makler, die reichen Läden, die Werften,
der große Zentralpark und Brooklyn-Park auf dem Hügel (wo ich
in diesem wundervollen Herbstwetter spaziere, nachdenklich, beob-
achtend, alles in mich aufnehmend), — die Versammlungen der
Bürger in Gruppen, zur Unterhaltung, beim Handel, bei den Abend-
vergnügungen oder vor ihren Quartieren, — all das, sage ich, und
Ähnliches befriedigt vollkommen meinen Sinn für Macht, Fülle,
Bewegung usw. und versetzt mich, durch diese meine Sinne und
Neigungen und mein ästhetisches Bewußtsein, in eine beständige
Gehobenheit und in das Gefühl absoluter Erfüllung. Ich fahre über
die Flüsse im Osten und Norden, auf den Fähren oder mit den
Lotsen in ihren Lotsenhäusern, oder verbringe eine Stunde in Wall-
street oder in der Goldbörse: und immer mehr und mehr wird es
mir bewußt, daß (wenn wir überhaupt eine solche Zweiteilung
zugeben) die Natur groß ist nicht allein in ihren Bereichen der
Freiheit und der frischen Luft, in ihren Stürmen, in den Herr-
lichkeiten von Tag und Nacht, den Bergen, Wäldern und Meeren,
— sondern ebenso groß in den künstlichen Schöpfungen der Men-
schen, — in dieser Überfülle wimmelnder Menschheit, — in diesen
sinnreichen Erfindungen, diesen Straßen, Gütern, Häusern, Schiffen,
— diesen hastenden, fiebernden, elektrischen Menschenmassen und
ihrem komplizierten Geschäftsgenius (nicht dem geringsten unter
den Geniussen) und all diesem mächtigen, vielverstrickten Wohl-
stand und Gewerbefleiß, der hier vereinigt ist.
Aber wenn wir unsere Augen vor dem Glanz und der Größe
des allgemeinen oberflächlichen Eindrucks schließen, ihn streng
3o
ausschalten und uns in sorgfältiger Prüfung an das halten, was
allein von wirklicher Bedeutung ist, an die Persönlichkeiten,
so forschen und fragen wir: gibt es bei uns Männer, die würdig
dieses Namens sind? athletische Männer? Gibt es vollkommene
Frauen, die der verschwenderischen materiellen Üppigkeit gewachsen
sind? Ist eine alles durchdringende Atmosphäre edler Sitten vor-
handen? Gibt es ein Wachstum schöner junger und majestätischer
alter Menschen? Gibt es Künste, würdig der Freiheit und eines
reichen Volkes? Gibt es eine große moralische und religiöse Kultur,
— die einzige Rechtfertigung einer großen materiellen Kultur? Man
muß mir zugeben, daß vor strengen Augen, die die Menschheit
unter das moralische Mikroskop nehmen, eine Art von dürrer und
flacher Sahara erscheint: diese unsere Städte, dicht gefüllt mit
kläglichen Zerrbildern, Mißgestalten, Phantomen, die sinnlose Possen
reißen. Man muß mir zugeben, daß allenthalben, im Verkaufs-
laden, auf der Straße, in Kirche, Theater, Restaurant und Amts-
zimmer, Geschwätzigkeit und Gemeinheit, niedrige Verschlagenheit
und Treulosigkeit herrschen, — allenthalben eine schwächliche,
freche, gezierte, frühreife Jugend, — allenthalben eine unnormale
Lüsternheit, ungesunde Erscheinungen, männliche wie weibliche,
geschminkt, wattiert, gefärbt, frisiert, mit unreiner Gesichtsfarbe
und schlechtem Blut, — die Befähigung zu gesunder Mutterschaft
überall verkümmert oder schon gänzlich geschwunden, hohle Be-
griffe von Schönheit und dazu eine Art von Umgangsformen oder
vielmehr Mangel an Umgangsformen, wie sie (bedenkt man die
gebotenen Vorteile) wohl kaum gemeiner in der Welt zu sehen
sind*.
* Von diesen kurz angedeuteten Übeln scheinen mir zwei die bedenklichsten
zu sein: erstens der Zustand oder das Fehlen oder vielleicht besser das seltsame
Ausgeschaltetsein des moralischen Gewissensnervs in der gesamten amerikanischen
Gesellschaft; und zweitens die erschreckende Erschöpfung der Frauen in ihrer
Fähigkeit zu gesunder, athletischer Mutterschaft, der Eigenschaft, die die Krö-
nung ihres Seins ist und die das Weib für ewig in höchster Sphäre über den
Mann erhebt.
Ich habe manchmal in der Tat gedacht, daß der einzige Weg und das einzige
Mittel zum Wiederaufbau der Gesellschaft in allererster Linie die Neugeburt,
Aufzucht, Entfaltung und Kräftigung von Frauen wäre, die für künftige Rassen
(da die Bedingungen, die der Geburt vorangehen, von entscheidender Bedeutung
sind) eine vollkommene Mutterschaft gewährleisten. Groß, groß, wahrlich, viel
größer, als sie selbst wissen, ist die Sphäre der Frauen.
3i
Und nun sage ich: Um in all diese beklagenswerten Zustände
den heilkräftigen Atem gesunden, heroischen Lebens zu blasen,
brauchen wir eine auf neuem Boden gegründete Literatur! — eine
Literatur, die nicht nur die vorhandenen Oberflächen der Erschei-
nungen kopiert und spiegelt oder sich zur Kupplerin des sogenannten
Geschmacks macht; die nicht nur zum Amüsement und Zeitver-
treib da ist und das Schöne, Verfeinerte, der Vergangenheit An-
gehörige feiert oder technische, rhythmische und grammatische
Geschicklichkeit zur Schau stellt, — sondern eine Literatur, die dem
Leben zugrunde liegt, die religiös ist und in festem Zusammenhang
mit der Wissenschaft steht, die die Elemente und Kräfte mit eben-
bürtiger Gewalt handhabt, die eine Lehrerin und Erzieherin von
Männern ist und berufen, das Allerwichtigste zu vollenden: die
völlige Erlösung der Frau aus diesen unglaublichen Schlingen und
Geweben einer albernen Putzmacherwelt und aller Art von dys-
peptischer Erschlaffung, — um so den Staaten eine starke und
holde weibliche Rasse zu sichern, eine Rasse vollkommener Mütter.
Und nun, in vollem Bewußtsein dieser Tatsachen und Gesichts-
punkte und aller Für und Wider, die sie einschließen, in noch
immer unerschüttertem Glauben an die Urstoffe in den amerika-
nischen Massen, in beiden Geschlechtern, auch als Individuen be-
trachtet, und in der Erkenntnis, daß sie die breiteste Grundlage für
die beste literarische und ästhetische Würdigung sind, fahre ich
mit meinen Betrachtungen, meinen Ausblicken fort.
Zuerst wollen wir sehen, was sich aus einer kurzen, allgemeinen,
gefühlsmäßigen Betrachtung der politischen Demokratie und ihres
Ursprungs ergibt, mit Rücksicht auf einige ihrer allgemeinen Eigen-
schaften als Aggregat und als Basis für unsere zukünftige Literatur
und Autorschaft. Wir w^erden allerdings bald finden, daß die Ur-
Idee des Einzelseins des Menschen, Individualismus, sich allent-
halben geltend macht und sogar aus den entgegengesetzten Ideen
herausspringt. Aber die Masse, der Gesamtcharakter muß dennoch
aus gebieterischen Gründen stets sorgfältig in Erwägung gezogen,
im Sinne behalten und berücksichtigt werden*.
* Die hier angedeutete Frage kann die Zeit allein beantworten. Muß nicht
die Tugend des modernen Individualismus, der beständig wächst und alles er-
greift, in Amerika die alte Tugend des Patriotismus, der glühenden, ausschließ-
lichen Liebe zu dem ganzen Lande ernstlich beeinträchtigen und vielleicht völlig
32
Die [)oliüsclie Geschichle der N er^jaii^jenlieit isl alles in allem
hei voi gewachsen aus dem, was den Worten „Ordnung", „Sicher-
heit", „Kaste" zugrunde liegt, und besonders aus dem Bedürfnis
nach einer prompt entscheidenden Autorität und einem Zusammen-
halt auf alle Fälle. Wir überspringen eine Zeit und kommen zu
der Periode, die noch in dem Gedächtnis der heutigen Völker lebt
und in der, wie aus einer Höhle, in der sie geschlummert und Wut
in sich aufgespeichert hatten, jene lärmenden Empörungen und
bilderstürmerischen Ausbrüche voll leidenschaftlichen Gefühls für
alles Unrecht aufsprangen, die noch heute nachwirken (von 1790
bis zur Gegenwart, 1870) und die die Form der Staaten veränderten,
wohlbekannt aus der Geschichte der alten Welt, von vielem Blut
befleckt und begleitet von dem wilden Geschrei und den Forde-
rungen der Reaktion. Fast alle diese Bewegungen entsprangen einem
innersten Bedürfnis.
Denn wenn alles andere gesagt ist, — wenn alle die vorüber-
gehend oder dauernd gültigen Lehren von Unterordnung, Erfahrung,
Besitzrecht usw. angehört und anerkannt wurden, — wenn die
wertvolle und wohlbegründete Regelung unserer Pflichten und
Beziehungen innerhalb der Gesellschaft sorgfältig durchdacht und
erschöpft ist, — dann erhebt sich das Verlangen, alles dies fort-
zuentwickeln und umzugestalten nach der Idee jenes Etwas, das
ein Mensch ist (letzter kostbarer Trost des geplagten armen Volkes),
und das abseits von allem andern steht, göttlich aus eigenem Recht,
gleichviel ob Mann oder Weib, einsam und unantastbar für alle
Kanonen und alle Obrigkeit der Welt und für jegliche Satzung,
die aus der Vergangenheit, aus der Staatsraison und den Akten der
Gesetzgebung hergeleitet ist oder selbst aus dem, was sich Religion,
Demut oder Kunst nennt. Die Ausstrahlungen aus dieser Wahr-
heit sind der Schlüssel zu den bedeutungsvollsten Taten der jüngsten
drei Jahrhunderte und haben das politische Werden und Leben
Amerikas geschaffen. Sie schreitet sichtbar und noch viel mehr
unsichtbar fort. Unterhalb der Strömungen der Gesellschaftsbildung
sowohl wie unterhalb der Bewegungen der Politik der führenden
ersticken? Ich selbst zweifle nicht, daß beide ineinander aufgehen und gegenseitig
Kraft und Nutzen aus sich ziehen werden und daß aus ihnen ein größeres drittes
Ergebnis erwachsen wird. Aber ich fühle wohl, daß sie beide und ihr Wider-
streit ein ernstes Problem und Paradox für die Vereinigten Staaten bilden.
3 Whiimuii I 33
Nationen der Welt sehen wir, selbst inmitten der mächtigsten Ten-
denzen zur Gemeinschaft, dieses Bild der Vollkommenheit in der
Vereinzelung ständig vordringen und an Stärke zunehmen, dieses
Bild individueller persönlicher Würde eines Einzelmenschen, Mann
oder Weih, im wesentlichen charakterisiert nicht durch äußerlich
Erworbenes und äußere Stellung, sondern durch den eigenen Stolz;
und aller Weisheit endgültiger Schluß ist die einfache Idee, daß
das Letzte und Beste, worauf man sich verlassen kann, die Mensch-
heit selber ist und ihre eingeborenen, natürlichen, vollentfalteten
Eigenschaften, ohne irgendwelche abergläubischen Hilfsmittel; denn
andernfalls wäre die gesamte Ordnung der Dinge ziellos, ein Be-
trug, ein Zusammenbruch. Diese Idee des vollkommenen Indivi-
dualismus ist es in der Tat, die der Idee der Gemeinschaft am
tiefsten Charakter und Farbe gibt. Denn wir begünstigen eine
starke Vergemeinschaftung und einen starken Zusammenschluß
hauptsächlich oder ausschließlich deshalb, um die Unabhängigkeit
des Einzelmenschen zu stärken, gleichwie wir auf der Einheit der
Union unter allen Umständen bestehen, um den Rechten der Ein-
zelstaaten die vollste Lebensfähigkeit und Freiheit zu sichern, deren
jedes genau so wichtig ist wie das Recht der Nation, der Union.
Die Demokratie, die den alten Glauben an die notwendige Un-
umschränktheit der bestehenden dynastischen Herrschaft auf welt-
lichem, geistlichem und scholastischem Gebiet als an die einzige
Sicherung gegen Chaos, Verbrechen und Unwissenheit verdrängt,
hat das Ziel, durch viele Umwandlungen hindurch und inmitten
endloser Torheiten, Streitigkeiten und offensichtlicher Fehlschläge
um jeden Preis jene Theorie oder Doktrin zu beweisen, daß der
in gesundester, vollster Freiheit erzogene Mensch zu seinem eigenen
Gesetz werden kann und muß, das seine Wirkungen auf ihn selbst
und seine eigene Disziplin sowie auf alle seine Beziehungen zu den
anderen Individuen und zum Staat ausübt, und daß, wie andere
Theorien sich in der bisherigen Geschichte der Völker als weise
genug und vielleicht unerläßlich für die damaligen Verhältnisse
erwiesen haben, diese Theorie in dem augenblicklichen Zustand
unserer zivilisierten Welt das einzige Ideal ist, für das zu wirken
es sich lohnt, weil sie Ergebnisse gewährleistet, die den Natur-
gesetzen entsprechen und denen man zutrauen kann, daß sie, einmal
zur Geltung gebracht, aus sich selbst heraus weiterwachsen werden.
34
Was das politische Gebiet der Demokratie angeht, das Weg und
Boden für andere, umfassendere Gebiete vorbereitet, so gibt es wahr-
scheinlich selbst in diesen republikanischen Staaten nur wenige
Geister, die das Zutreffende des Satzes begreifen, den uns Abraham
Lincoln hinterlassen hat: „Die Regierung über das Volk, durch
das Volk, für das Volk"; eine Formel, deren Fassung wie ein simp-
les Wortspiel klingt, deren Sinn aber die Gesamtheit und alle Ein-
zelheiten der Theorie umfaßt.
Das Volk! Gleichwie unsere riesige Erde selber für einen ge-
wöhnlichen Betrachter voller brutaler Widersprüche und Ärgernis
ist, so hat auch der Mensch, als Masse betrachtet, etwas Abstoßen-
des und ist ein beständiges Rätsel und eine Herausforderung für
die gebildeten Klassen. INur der seltene, kosmisch fühlende Künstler-
geist, der vom Licht der Unendlichkeit erleuchtet ist, vermag den
mannigfachen, ozeangleichen Eigenschaften der Masse gegen über-
zutreten, — aber Geschmack, Intelligenz und Bildung (sogenannt!)
sind ihr immer feindlich gewesen und werden es immer sein. Es
liegt immer noch ein gewisser Glanz auch über den verruchtesten
Verbrechen und tierischsten Gemeinheiten der feudalen und dyna-
stischen alten Welt mit ihrem Ensemble so schöngekleideter und
stattlicher Lords, Königinnen und Höfe. Aber das Volk ist unge-
bildet, ungepflegt, und seine Sünden sind hager und schlecht ernährt.
Die Literatur hat sich, streng genommen, niemals um das Volk
gekümmert, und sie tut es auch heute nicht, was immer man sagen
mag. Allgemein gesprochen haben die bisherigen Tendenzen der
Literatur nur dazu gedient, kritische und unzufriedene Menschen
zu schaffen. Es scheint, als bestände bis dato ein natürlicher Wider-
wille zwischen einem literarischen oder beruflichen Dasein und
dem rauhen, starken Geist der Demokratie. Zwar ist in der jüngeren
Literatur häufig genug eine gewisse wohlwollende Haltung und
geschäftige Nächstenliebe zu finden; aber ich weiß nichts, was,
selbst in unserem Lande, seltener wäre als eine wissenschaftliche
Wertung und ehrfürchtige Schätzung des Volkes und seines un-
ermeßlichen Reichtums an verborgenen Kräften und Fähigkeiten,
seiner Ungeheuern, künstlerischen Kontraste von Licht und Schatten,
seiner absoluten Verläßlichkeit in allen Notfällen (zumal in Amerika)
und eines gewissen Hauchs von geschichtlicher Größe in Krieg und
Frieden, die alle vielgerühmten Beispiele der Heldenbücher, alle
3"
35
hochtönenden Überlieferungen aller Kolerien der Welt weit über-
trifft.
Die Ereignisse des verflossenen Sezessionskrieges und ihre Ergeb-
nisse erweisen für jeden, der sie sorgfältig studiert und versteht,
daß die volkstümliche Demokratie trotz all ihren Mängeln und
Gefahren sich praktisch durch sich selbst rechtfertigt, weit über die
stolzesten Forderungen und wildesten Hoffnungen ihrer begeistertsten
Vorkämpfer hinaus. Vielleicht wird keine Zukunft es je wissen, aber
ich weiß es wohl, daß der Kernpunkt dieser grimmigsten und ent-
schlossensten aller kriegerischen Unternehmungen der Welt aus-
schließlich in der namenlosen, unbekannten Truppe lag, und daß
ihre heiße Blutarbeit in jeder w^esentlichen Hinsicht freiwillig war.
Das Volk kämpfte und starb aus eigener Wahl, für seine eigenen
Ideen gegen den übermütigen Angriff der Vormacht der Sklaverei,
die seine eigene innerste Existenz bedrohte. In alle Einzelheiten
tauchend, bei allen Armeen, im persönlichen Umgang mit den
Soldaten, habe ich die erhabensten Eindrücke erlebt. Ich habe die
Bereitwilligkeit gesehen, mit der das eingeborene amerikanische
Volk, die friedlichste und gutmütigste Rasse der Welt, die persön-
lich unabhängigste und intelligenteste, die am wenigsten geeignet
ist, sich all dem erbitternden Verdruß militärischer Disziplin zu
unterwerfen, beim ersten Trommelschlag zu den Waffen sprang, —
nicht für Gewinn noch Ruhm, noch um eine Invasion zurück-
zuschlagen, — sondern für ein Sinnbild, eine bloße Abstraktion, —
für das Leben und die Sicherheit der Flagge. Ich habe die Gelehrig-
keit und den Gehorsam ohnegleichen dieser Soldaten gesehen. Ich
habe sie durch lange Zeiten hindurch unter dem Druck von Hoff-
nungslosigkeit, schlechter Führung und Niederlagen gesehen; habe
die unglaubliche Schlächterei gesehen, in die sich die Armeen (wie
zuerst bei Fredericksburg und später in der Wildnis) immer wieder
ohne Zögern stürzten, wenn der Befehl zum Vorgehen kam. Ich
habe sie im Schützengraben gesehen oder hinter Brustwehren
kauernd oder durch tiefen Schmutz marschierend, oder in strö-
mendem Regen oder dichtem Schneegestöber, oder auf Eilmärschen
im heißesten Sommer (wie auf dem Marsch nach Getysbury), —
ungeheure, erdrückende Massen, Divisionen, Armeekorps, jeder
einzelne Mann so schmierig und schwarz von Schweiß und Staub,
daß seine eigene Mutter ihn nicht erkannt haben würde, — die
36
ganze Uniform schmutzig, blutbefleckt und zerrissen, stinkend nacli
altem saurem Schweiß, — manch ein Kamerad, vielleicht ein Bruder
vom Hitzschlag getroffen, aus Reih und Glied beiseite wankend
und vor Erschöpfung am Wege sterbend, — aber die große Masse
unbeirrt weitermarschierend, guten Muts, von Hunger ausgehöhlt,
aber stählern in unbesiegbarer Entschlossenheit.
Ich habe diese Rasse in ihrer Gesamtheit noch furchtbarere,
wenn auch einförmigere Prüfungen bestehen sehen: — die Ver-
wundungen, die Amputationen, die zerschmetterten Gesichter und
Glieder, das schleichende Fieber, das lange ungeduldige Liegen im
Bett und alle die Arten von Verstümmelung, Operationen und
Krankheit. Ach, ich sah Amerika noch in seiner frühen Jugend
schon ins Lazarett geschleppt! Dort habe ich diese Soldaten be-
obachtet, viele von ihnen erst Knaben an Jahren, und ihren Anstand,
ihre religiöse Natur und Tapferkeit und ihre liebevolle Herzlichkeit.
Wirklich in ihrer Gesamtheit. Denn an der Front und in allen
Lagern standen in zahllosen Zelten die Regiments-, Brigade- und
Divisionslazarette, während zugleich überall im Lande, in oder bei
den Städten, sich Scharen von riesigen, weißgewaschenen, über-
füllten, einstöckigen Holzbaracken erhoben; und dort schlich der
Tod bei Tag und Nacht durch die schmalen Gänge zwischen den
Reihen der Feldbetten oder an den Matratzen am Boden vorbei und
berührte leise manch einen armen Dulder, oft mit gesegneter, will-
kommener Hand.
Ich weiß nicht, ob man mich verstehen wird, aber ich bin mir
bewußt, daß ich letzten Endes diese Zeilen hier schreibe aus dem
heraus, was ich lernte, indem ich persönlich solchen Szenen bei-
wohnte. Eines Nachts während der düstersten Zeit des Krieges, im
Lazarett des Patentamts von Washington, als ich am Bett eines
Soldaten aus Pennsylvania stand, der im vollen Bewußtsein des
ganz nahen Todes vollkommen ruhig dalag, mit edlem, vergeistigtem
Anstand, sagte der erfahrene Wundarzt, beiseite gewendet, zu mir,
daß er viele, viele Male Zeuge des'Sterbens von Soldaten gewesen
sei, und daß er bei Bull Run, Antjetam, Fredericksburg usw. tätig
gewesen sei, aber daß er noch nie auch nur in einem einzigen Fall
gesehen habe, daß ein Mann oder Bursch die nahende Auflösung
mit feiger Schwäche oder Angst erwartet hätte. Meine eigene Be-
obachtung bestätigte diese Bemerkung voll.
37
Was haben wir hier, wenn nicht, hoch über allem Gerede und
allen Streitfragen, die vollgültige, letzte Probe auf die Demokratie,
offenbart in ihren Persönlichkeiten? Seltsam genug: diese Probe
hat der Süden in allen Stücken genau so bestanden wie der Norden.
Obwohl ich nur von dem letzteren sprach, schließe ich doch beide
mit voller Überlegung ein. Großer, gemeinsamer Stamm! Für mich
die vollendete, überzeugende Gewähr für die Zukunft: unleugbarer
Beweis, auch für das schärfste Urteil, von vollkommener Schönheit,
Zartheit und Tapferkeit, die kein feudaler Lord noch die griechische
oder römische Rasse je übertroffen hat. Keine Zunge soll jemals
geringschätzig von den Rassen Amerikas, Nord oder Süd, sprechen
zu einem, der den Krieg in den großen Armeelazaretten durch-
gemacht hat.
Indessen freilich ist die Menschheit im allgemeinen auf allen
Gebieten immer voller verstockter Bosheit gewesen und ist es noch.
In Stunden der Niedergeschlagenheit meint die Seele, das werde
ewig so bleiben, — aber sie erholt sich schnell von solchen schwäch-
lichen Stimmungen. Ich selbst sehe deutlich genug, was in allen
Schichten des gemeinen Volkes noch unreif und mangelhaft ist;
die große Zahl der Unwissenden, Leichtgläubigen, der Untauglichen
und Ungeschickten und der ganz niedrig Stehenden und Armen.
Eine hervorragende Persönlichkeit des Auslands* fragt spöttisch,
ob wir die Politik einer Nation zu erhöhen und zu verbessern ge-
denken, indem wir all diese morbiden Elemente samt ihren Eigen-
schaften absorbieren. Die Frage ist in der Tat furchtbar, und es
wird zweifellos immer eine große Zahl solider und denkender
Bürger geben, die nie darüber hinwegkommen werden. Unsere
Antwort ist allgemein und in dem Zweck und Sinn dieses Essays
enthalten. Wir glauben, daß die höhere Aufgabe politischer und
sonstiger Regierung (nachdem sie natürlich zunächst für Polizei,
Sicherheit des Lebens und Eigentums und für die grundlegende
Satzung und das allgemeine Gesetz und seine Anwendung gesorgt
hat) im übrigen darin besteht, nicht nur zu herrschen, Unordnung
zu bekämpfen usw., sondern die Möglichkeiten aller wohltätigen,
männlichen Entfaltung, allen Strebens nach Unabhängigkeit und
den Stolz und die Selbstachtung, die in allen Charakteren schlum-
mern, zu entwickeln, auszubilden und zu ermutigen.
* Carlyle in seinem Aufsatz „Shooting Niagara".
38
Ich sage, die Mission einer Regierung in zivilisierten Ländern
besteht hinfort nicht allein mehr in Unterdrückung und nicht allein
in Wahrung der Autorität, selbst nicht der des Gesetzes, noch, —
um das Lieblingsargument jenes hervorragenden Autors zu nennen,
— m der Aufrichtung der Herrschaft der besten Männer, der ge-
borenen Helden und Führer der Rasse (als ob diese je, oder auch
nur einmal unter hundert, an die höchsten Stellen kämen, sei es
durch Wahl oder Erbrecht), — sondern darin, Gemeinwesen in
allen ihren Entwicklungsstufen zu züchten, beginnend mit Indi-
viduen und wiederum endend bei Individuen, die alsdann — höher
als die höchste Willkürherrschaft — über sich selber herrschen
sollen. Die Lehre, um derentwillen, auf moralisch-geistigem Gebiet,
Christus für die Menschheit erschien, nämlich die Lehre, daf3 in
der absoluten Seele, die jedem Individuum zu eigen ist, etwas so
Transzendentes, so über alle Abstufungen Erhabenes liegt, daß in
dieser Hinsicht alle Wesen auf derselben gleichen Höhe stehen und
alle Unterschiede von Intellekt, Tugend, Stellung oder überhaupt
irgendwelcher Höhe oder Tiefe völlig belanglos sind, — diese Lehre
hat ihr Seitenstück in dem Grundsatz der Demokratie, daß die
Nation, als eine Gemeinschaft lebendiger Einzelexistenzen, jedem
ihrer Angehörigen den Anspruch auf Freiheit, auf irdisches Ge-
deihen und Glück, auf Förderung seines Wachstums und bürger-
lichen Schutz gewähren muß, und daß daher die Menschen, zum
mindesten in Hinsicht des politischen Wahl- und Stimmrechts, aber
auch darüber hinaus im einzelnen und allgemeinen auf eine breite,
elementare, universelle, gemeinsame Plattform gestellt werden
müssen.
Diese W^irkung ist nicht immer direkt, sondern vielleicht zumeist
indirekt. Denn die Demokratie rechtfertigt sich nicht erschöpfend
in sich selbst, ja vielleicht überhaupt nicht, gleich der Natur. Sie
ist nur, soweit wir sehen, das beste, vielleicht einzige wirklich
geeignete Mittel, die einzige Bildnerin, Erweckerin, Erzieherin für
die Millionen, und zwar nicht nur für große Persönlichkeiten von
Fleisch und Blut, sondern für unsterbliche Seelen. Sein Wahlrecht
zusammen mit allen andern auszuüben, ist nicht so viel; und diese
Institution wird, wie jede andere, immer ihre Unvollkommenheiten
haben. Aber ein freier Mensch zu werden und nun, da alle Schranken
gefallen sind, ohne Demütigung und ebenbürtig allen anderen
39
dazustehen und den Weg frei zu haben, um das große Experiment
der Entwicklung zu beginnen, deren Ziel (vielleicht erst nach
mehreren Generationen) die Erschaffung des vollentfalteten Mannes
oder Weibes ist, — das ist etwas!
Wir begründen das nicht (oder wenigstens ich begründe es nicht)
mit der besonderen Verständigkeit oder Vortrefflichkeit des Volkes,
der Massen, selbst der besten, noch auch mit ihren Rechten; sondern
damit, daß, ob gut oder schlecht, im Recht oder nicht im Recht,
die demokratische Formel die einzige Sicherheit und der einzige
Schutz für kommende Zeiten ist. Wir geben den Massen das
Wahlrecht um ihrer selbst willen, zweifellos; aber vielleicht noch
viel mehr, von einem anderen Gesichtspunkt aus, um der Gemein-
schaft willen. Alles andere überlassen wir den Schwärmern: uns
genügt es, die Freiheit von ihrer wissenschaftlichen Seite zu zeigen,
kalt wie Eis, verstandesmäßig, logisch, klar und leidenschaftslos
wie Kristall.
Auch die Demokratie bedeutet Gesetz, und zvsar im strengsten,
weitesten Sinn. Viele glauben (und oft herrscht dieser Irrtum in
ihren eigenen Reihen), daß sie Abschaffung des Gesetzes und Auf-
ruhr bedeute. Sie ist, kurz gesagt, das höhere Gesetz des Geistes,
das das Gesetz der physischen Kraft, des Körpers, verdrängt. Gesetz
bedeutet die unerschütterliche, ewige Ordnung des Universums; und
das Gesetz, das über allen anderen steht, das Gesetz der Gesetze,
ist das der Aufeinanderfolge, welches besagt, daß das höhere Gesetz
zu seiner Zeit das niedrigere allmählich ersetzt und überwindet.
Für hochstrebende Seelen ist auch die ästhetische Seite der Frage,
die in jedem Falle wichtig ist, von Bedeutung: im allgemeinen
besteht der Ehrgeiz, sich aus der Masse herauszuheben, um eine
privilegierte Sonderstellung zu gewinnen. Der wahre Meister des
Lebens aber sieht Größe und Gedeihlichkeit darin, nur ein Teil
der Masse zu sein; nichts tut so gut als ein gemeinsamer Grund
und Boden. Willst du das göttliche, große, allgemeine Gesetz in
dir haben? So tauche in ihm unter!
Das Höchste aber und die Krönung der Demokratie ist, daß sie
allein alle Nationen, alle Menschen noch so verschiedener und
entfernter Länder zu einer Bruderschaft, einer Familie vereinen
kann und immer zu vereinen bestrebt ist. Sie ist der alte, immer
wieder neue Traum der Erde, der Traum ihrer ältesten und jüngsten
40
Völker und liebsten Philosophen und Dichter. Nicht nur das halbe
Ziel des Individualismus, der isoliert; sondern auch die andere
Hälfte, die da ist Zusammengehörigkeit und Liebe, die verschmilzt,
bindet und einigt und alle Rassen zu Kameraden und Brüdern
macht. Beide müssen lebendig gemacht werden durch die Religion
(die einzige, würdigste Erhöherin von Mensch und Staat), die in die
stolzen Gewebe der Materie den Atem des Lebens haucht. Denn
im Herzen der Demokratie ruht letzten Endes das religiöse Element.
Alle Religionen, alte wie neue, wohnen dort. Und die Idee der
Demokratie kann sich nicht eher in strahlender Schönheit und
Gewalt verwirklichen, als bis jene, die die beste und letzte, die
geistige Frucht tragen, in volle Erscheinung getreten sind.
Ich möchte einige Worte nicht so sehr für unser Land, sondern
mit Bezug auf Europa sagen, besonders den britischen Teil von
Europa. Aber die ganze Frage ist zusammenhängend und umfafk
alle Völker. Der Liberale von heute hat vor Antike und Mittelalter
den Vorteil voraus, daß seine Doktrin nicht allein zu individualisieren,
sondern zu universalisieren sucht. Das große Wort Solidarität ist
gesprochen. Unter heutigen Verhältnissen kann es unter allen
Gefahren für eine Nation keine größere geben, als daß gewisse
Volksteile von den übrigen durch einen Trennungsstrich geschieden
sind, daß sie nicht die gleichen Rechte wie die andern haben,
sondern degradiert, erniedrigt sind und gar nicht in Betracht ge-
^zogen werden. In Gott — wenn ich so sagen darf — zu wirken
und von ihm und seinem göttlichen Gemeinschaftsgebilde, dem
Volk, zu zeugen (oder meinetwegen auch von dem leibhaftigen,
gehörnten und geschwänzten Teufel und seinem Gebilde, wenn
einige krampfhaft darauf bestehen !), — das, sage ich, ist der Sinn
der Demokratie; und das ist, was unser Amerika bedeutet und
vollbringt, — darf ich nicht sagen, schon vollbracht hat? Andernfalls
würde es nicht mehr bedeuten und vollbringen als jedes beliebige
andere Land. Und gleichwie der Magen der Natur, dank seiner
kosmisch-antiseptischen Kraft, vollkommen stark genug ist, nicht
nur alle ihm beständig zugeführten Krankheitsstoffe zu verdauen,
ihnen nicht auszuweichen, sondern eher vielleicht sie ganz besonders
bereitwillig in sich aufzunehmen, um sie in Nährstoffe für die
höchsten Zwecke und für neues Leben zu verwandeln, — so auch
die Demokratie Amerikas. Das ist die Lehre, die wir Heutigen zu
41
den europäischen Ländern hinübersenden, mit jedem Hauch des
Westwinds.
Was man auch in abstrakten Argumenten für oder gegen die
Theorie umfassenderer Demokratisierung in irgendeinem Lande
sagen mag, sicher ist, daß alle europäischen Länder sich viele Un-
ruhen ersparen könnten, wenn sie die handgreifliche Tatsache (denn
sie ist handgreiflich) erkennen würden, daß eine solche Demokra-
tisierung in irgendeiner Form so ziemlich das einzige Hilfsmittel
ist, das sie noch haben. Dies, — oder weitere chronische Unzu-
friedenheit, von Jahr zu Jahr lauter werdendes Murren, bis zu der
unvermeidlichen, in den meisten Fällen sehr schnell herannahenden
Krisis, dem Zusammenbruch und dynastischen Ruin. Eine Staats-
kunst, die so genannt zu werden verdient, erörtert heutzutage nicht
mehr, ob sie haltmachen, sich auf die Vergangenheit stützen und
die Monarchie verteidigen, oder ob sie in die Zukunft blicken und
demokratisieren solle, — sondern nur noch, wie und in welchem
Grad und welcher Folge sie am weisesten demokratisieren könne.
Und ich meine, daß sich in der Alten Welt unter den Schülern und
Adepten des Fortschritts und allen Männern von einigem gesunden
Verstand Träger einer solchen Staatskunst finden müßten.
Die eifrigen und oft unüberlegten Forderungen von Reformern
und Revolutionären sind unentbehrlich, um die Trägheit und Ver-
steinerung, der ein so großer Teil der menschlichen Einrichtungen
verfällt, auszugleichen. Diese letzteren werden stets für sich selber
sorgen, — die Gefahr ist nur, daß sie geeignet sind, uns sehr rasch
zu verknöchern. Jene aber müssen mit Nachsicht, ja mit Achtung
behandelt werden. Was Zirkulation für die Luft, das ist Agitation
und ein reichliches Maß spekulativer Willkür für die politische
und moralische Gesundheit. Indirekt, aber sicher erwachsen Güte,
Tugend, Gesetz (und zwar das allerbeste) aus der Freiheit. Diese
sind für die Demokratie, was der Kiel für das Schiff ist, oder das
Salz für den Ozean.
Der Liberalismus wird in den Vereinigten Staaten seine rechte
Schwerkraft durch eine allgemeinere Teilnahme am Besitz, an
Wohnstätten und Komfort, — durch eine weite, bindende Veräste-
lung des Wohlstands gewinnen. Wie der menschliche Körper, und
überhaupt alle Dinge in diesem vielfältigen Universum, am besten
zusammengehalten w ird durch das einfache Wunder seiner eigenen
42
Kohäsion und ihrer Nutzanwendung, so wird auch eine große,
mannigfache Volksgemeinschaft, die sich über MilHonen Quadrat-
meilen erstreckt, am festesten gehalten und verbunden durch das
Prinzip der Sicherheit und Dauerhaftigkeit des Zusammenhalts ihrer
mittleren Besitzstände: so daß, anders herum gesehen, die Demo-
kratie, so hart und dem zuvor Gesagten widersprechend es auch
klingen mag, mit mißtrauischen, unzufriedenen Augen auf die ganz
Armen, Unwissenden und Erwerbslosen blickt. Sie verlangt nach
Männern und Frauen, die einen Beruf haben und in guten Ver-
hältnissen sind, nach Eigentümern von Haus und Grund, mit Geld
auf der Bank, — und auch mit einem gewissen Bedürfnis nach
Literatur; sie braucht sie und beeilt sich, sie zu schaffen. Zum
Glück ist die Saat bereits gesät und hat unausrottbare Wurzeln
geschlagen.
In ein paar Jahren wird das Herrschaftszentrum Amerikas tief
im Inland, nach Westen zu, liegen. Unsere Bundeshauptstadt der
Zukunft wird vielleicht anderswo zu finden sein, wie die gegen-
wärtige. Es ist möglich, nein, wahrscheinlich, daß sie in weniger
als fünfzig Jahren ein- oder zweitausend Meilen weiter wandern und
neugegründet werden wird, und daß alles, was zu ihr gehört, nach
einem ganz anderen, ureigenen und viel stolzeren Plan wieder
aufgebaut werden wird. Das soziale und politische Hauptrückgrat
der Staaten wird wahrscheinlich entlang dem Ohio, Missouri und
Mississippi laufen und westlich und nördlich von ihnen, einschließ-
lich Kanada. Diese Gebiete, samt den mächtigen Bruderslaaten nach
dem Pazifik hin (zur Herrschaft über diesen Ozean und seine zahl-
losen Inselparadiese bestimmt), werden alle Wesenszüge Amerikas
zusammenschließen und -halten, auch alle von früher her bewahr-
ten, die aber nun, zur reicheren Entfaltung, auf einen neuen,
kühneren, rein einheimischen Stamm gepfropft sein werden. Ein
ungeheures Wachstum, verwurzelt in allen, genährt von allen, in
sich aufnehmend alle, um sie in Herrlichkeit zu verwandeln: vom
Norden Verstand, die Sonne aller Dinge, und unbeugsamen Gerech-
tigkeitssinn, den Anker in den letzten, wildesten Stürmen; vom
Süden die lebendige Seele, das Gefühl für gut und böse, so stolz,
daß es keine andere Überzeugung gelten läßt, als die seine; und vom
Westen selber die feste PersönHchkeit, warmblütig und nervig und
mit der tiefen Fähigkeit zu alles in sich aufnehmender Verschmelzung.
43
Politisclie Demokratie in ihrer gegenwärtigen Form und Wirkung
in Amerika ist, trotz all ihren bedrohhchen Übelständen, eine Schule
zur Züchtung erstklassiger Menschen. Sie ist das Gymnasion des
f jcbens in allen Dingen. Trotz Fehlschlägen versuchen wir es immer
wieder aufs neue. Wagemutige Lust erfüllt diese Arena, so recht
nach dem Herzen der Vorkämpfer für die Freiheit, und gewährt
tiefe Befriedigung an sich, unabhängig von Erfolg. Mögen wir vieles
nicht erreichen, eines erreichen wir sicherlich : Erfahrung im Kampf,
Abhärtung vor dem Feind. Wir pulsieren im Strom der Entwick-
lung. Die Zeit ist grenzenlos. Mögen die Sieger nach uns kommen.
Es hat sicherlich seinen Grund, daß das Schlechte noch Macht unter
uns hat. Nach den Hauptabschnitten der Weltgeschichte zu ur-
teilen, ist die Gerechtigkeit jederzeit in Gefahr, der Friede ist
stündlich von Fallstricken umgeben, von Sklaverei, Elend, Gemein-
heit, Tyrannenlist und Leichtgläubigkeit des Volkes in irgendeiner
ihrer proteischen Formen; niemand kann ja sagen, sie seien über-
wunden. Die Wolken zerreißen ein wenig, und die Sonne scheint
hervor, — aber bald und unausbleiblich senkt sich die Finsternis
wieder herab, gleich als wie für ewig. Aber dennoch lebt in jeder
gesunden Seele ein unsterblicher Mut und eine prophetische Ahnung,
die unter keinen Umständen kapitulieren kann und darf. Vivat dem
Angriff! — dem ewigen Sturmlauf! — Vivat der bedrängten Sache,
— dem Geist, der kühne Ziele hat, — dem unermüdlichen Streben
inmitten aller Feindschaft des Gewohnten!
Früher, vor dem Kriege (ach, ich wage nicht zu sagen, wie oft! i
war auch ich von Zweifel und Trübsinn erfüllt. Ein Ausländer,
ein scharfblickender, edler Mann, sagte, eigentlich nur meine eigenen
Beobachtungen in Worte fassend, sehr eindrucksvoll zu mir: „Ich
bin viel in den Vereinigten Staaten gereist, habe ihre Politiker beob-
achtet, den Reden der Kandidaten zugehört, die Zeitungen gelesen,
die öffentlichen Gebäude besucht und den Gesprächen von Männern
gelauscht, die sich unbeobachtet glaubten. Und ich habe Ihr ge-
rühmtes Amerika von Kopf bis zu Fuß durchlöchert gefunden von
Treulosigkeit, sogar gegen sich selbst und das eigene Programm.
Ich habe die frechen Höllenfiatzen der Sezession und Sklaverei
herausfordernd aus allen Fenstern und Türen grinsen sehen. Ich
habe überall an erster Stelle Diebe und Schalksgesindel die Besetzung
der Ämter bestimmen und zuweilen selber die Ämter füllen sehen.
44
Ich iand den ISorclen (jeiiaii so voller Giltstolie wie (Jcui Süden.
Was die Inhaber öffentlicher Ämter, nationaler, staatlicher und
kommunaler, angeht, so habe ich gefunden, daß nicht einer unter
hundert durch freiwillige Wahl der Außenseiter, des Volkes gewählt
worden ist, sondern, daß alle durch kleine oder große Schiebungen
der Berufspolitiker nominiert und durchgebracht worden sind und
ihre Stellung erhalten haben nicht durch Fähigkeit und Verdienst,
sondern durch korrupte Cliquen und Wahlmanöver. Ich habe ge-
sehen, wie auf diese Weise die Millionen biederer Farmer und
Handwerker nur die hilflosen Gummipuppen einer verhältnismäßig
kleinen Anzahl von Politikern sind ; und habe mehr und mehr das
beunruhigende Schauspiel wahrgenommen, daß die Parteien sich
der Regierung bemächtigen und sie offen und schamlos für ihre
Parteizwecke ausbeuten. "
Traurige, ernste, tiefe Wahrheiten. Dennoch bestehen andere,
noch tiefere, entgegengesetzte, beherrschende Wahrheiten. Über
diese Politiker und großen und kleinen Cliquen und all ihre
Frechheit und Tücke und über die mächtigsten Parteien er-
hebt sich eine Macht, die, wenn auch vielleicht ein wenig zu
träge, dennoch alle Entscheidungen und Beschlüsse in der Hand
hält, bereit, sie in strengem Verfahren durchzuführen, sobald es
wirklich nötig ist, und zuzeiten die mächtigsten Parteien summa-
risch in Atome zu zerschmettern, vielleicht just in der Stunde ihres
Triumphes.
In zuversichtlicheren Stunden sehen sich diese Dinge alles in allem
ganz anders an als auf den ersten Blick. Obschon es zweifellos
wichtig ist, wer zum Gouverneur, Bürgermeister oder Gesetzgeber
erwählt wird (und unheilvoll, wenn Unfähige oder Schurken ge-
wählt werden, wie es zuweilen vorkommt), so gibt es doch andere,
stillere, unendlich viel wichtigere Tatsachen. Falschheit und der-
gleichen wird sich wie der Schaum des Meeres immer nur an der
Oberfläche zeigen; genug, wenn tiefes und klares Wasser darunter
ist. Genug, daß die verborgene Kette und Einschlag des Gewebes
echt und ewig dauerhaft sind, mag auch die mit Stickerei über-
ladene Pracht, die sich dem oberflächlichen Auge darbietet, nur
Schund sein. Genug kurzum, daß die Rasse, das Land, das eine
solche Rebellion wie die jüngst erlebte, hervorbringen konnte, sie
auch niederzuschlagen vermochte.
Der Durchschnittsmensch eines Landes ist letzten Endes das einzig
Wichtige. Er bleibt in diesen Staaten der unsterbHche Eigentümer
und Meister. Eine Nation wie die unsrige, die sich in einer Art
geologischen Werdezustands befindet und beständig neue Experi-
mente macht, neue Abordnungen erwählt, zieht Nutzen nicht nur
aus den Diensten der besten Männer, sondern manchmal noch mehr
aus denen, die sie herausfordern, und aus den Kämpfen, die sie da-
durch verursachen. In solchem Sinne ist nationale Wut, Haß, Streit
usf. besser als Zufriedenheit. Und in solchem Sinne sind auch jene
Warnungssignale unschätzbar für spätere Zeiten.
So taucht immer wieder wie ein Leitmotiv der Gedanke auf, der
diesen Seiten Ton und Echo gibt. W^enn ich im Geist hin und her
reise durch verschiedene Breiten, verschiedene Jahreszeiten und das
Gedränge der großen Städte überschaue, New York, Boston, Phila-
delphia, Cincinnati, Chicago, St. Louis, San Francisko, New Orleans,
Baltimore, — wenn ich untertauche in diese endlosen Schwärme
lebhafter, ungestümer, gutherziger, freiheitliebender Bürger, Hand-
werker, Schreiber und jungen Volks, — so befällt mich bei dem
Gedanken an diese Masse so frischer und freier, so liebender und
stolzer Männer eine sonderbare Ehrfurcht. Ich fühle mit Nieder-
geschlagenheit und Verwunderung, daß unter unseren genialen oder
talentierten Schriftstellern oder Rednern bisher nur wenige oder
gar keiner wirklich zu diesem Volke gesprochen oder ihm ein ein-
ziges, vorbildliches Werk geschaffen oder seinen innersten Geist und
seine eigenste Gedankenwelt in sich aufgenommen hat, die infolge-
dessen bislang in der höchsten Sphäre noch gar keinen Ausdruck,
keine Verherrlichung gefunden hat.
Stark ist die Herrschaft des Leibes, stärker die Herrschaft des
Geistes. Was bisher unseren Intellekt, unsere Phantasie ausgefüllt
hat und sie noch heute ausfüllt und ihre Normen bestimmt, kommt
aus dem Ausland. Die großen Dichtungen, Shakespeare inbegriffen,
sind Gift für die Idee von Stolz und W^ürde des gewöhnlichen
Volkes, die das Lebensblut der Demokratie ist. Die Vorbilder
unserer Literatur, wie wir sie von anderen Ländern über das Meer
her beziehen, sind an Fürstenhöfen geboren und im Sonnenschein
von Schlössern erwärmt und herangewachsen; alles riecht nach
Fürstengunst. Wir haben zwar eine ganze Menge einer gewissen
Sorte von Handwerkern der Literatur, die sich auf ihre Art
46
bemühen; viele elegant, viele gfelehrt, alle gefällig. Aber von dem
nationalen Prüfstein berührt oder an dem Maßstab demokratischer
Persönlichkeit gemessen, welken sie zu Asche. Ich behaupte, daß
ich keinen einzigen Schriftsteller, Künstler, Redner oder was sonst
gesehen habe, der sich mit dem stummen, aber stets aufrechten
und tätigen, alles durchdringenden, allem zugrunde liegenden
Willen und typischen Streben des Landes in wesensverwandtem
Geiste auseinandergesetzt hätte. Soll man diese feinen Kreatürchen
amerikanische Dichter nennen? Soll man diese ewige kleinliche
Rleistertopfarbeit als amerikanische Kunst, als das Drama, die Lyrik,
die Ästhetik Amerikas bezeichnen? Es ist mir, als hörte ich von
einem Berggipfel im fernen Westen her das Hohngelächter des
Genius unserer Staaten.
Die Demokratie wartet ihre Zeit ab in schweigendem Sinnen
über ihr eigenstes Ideal, nicht allein in Literatur und Kunst, —
auch nicht im Mann aliein, sondern ebenso im Weibe: das Ideal-
bild der amerikanischen Frau (befreit von dem Dunst, von der
stockenden, ungesunden Luft, die um das W^ort „Dame" hängt),
entwickelt, erhoben zur starken, gleichberechtigten Mitarbeiterin
des Mannes, auch bei praktischen und politischen Entscheidungen,
— größer als der Mann vielleicht durch ihre göttliche Mutterschaft,
ihr ewig erhabenes, sinnbildliches Eigen, — jedenfalls aber ebenso-
groß wie der Mann, in jeder Hinsicht; oder besser gesagt, fähig
ebensogroß zu sein, sobald sie sich dessen bewußt wird und es über
sich vermag, allen Tand und Schein aufzugeben und, gleich den
Männern, mitten in das wirkliche, unabhängige, stürmische Leben
zu treten.
Glaubtest auch du, o Freund, Demokratie sei nur eine Wahl-
parole und politisches Schlagwort und Name für eine Partei? Als
solche kann sie nur von Nutzen sein, wenn sie sich zu ihrer vollen
Blüte und Frucht entwickelt in der gesamten Lebenshaltung, in
den höchsten Formen des Umgangs von Menschen miteinander
und ihrer Überzeugungen, — in Religion, Literatur und Schule, —
Demokratie im gesamten öffentlichen und privaten Leben, auch in
Heer und Flotte. Ich habe angedeutet, daß sie, als oberster Grund-
satz, bisher nur geringe oder gar keine Verwirklichung oder gläu-
bige Anhängerschaft gefunden hat. Soweit ich sehe, hat sie bis-
her auch keine nennenswerte Hilfe durch die Propaganda ihrer
47
t
Vorkämpfer (jeliabi, die ihr im Ge^jenteil oft nur geschadel haben.
Sie wurde und wird gefördert durch alle Kräfte der Moral und
durch Handel, Finanzwirtschaft, Maschinen, Verkehr und allen
Fortschritt der Geschichte und kann ebensowenig wie die Gezeiten
des Meeres oder die Erde in ihrem Kreislauf aufgehalten werden.
Auch herrscht sie zweifellos, noch unenlfaltet und verborgen, tief
in den Herzen des guten Durchschnitts des amerikanisch geborenen
Volkes, vor allem in den ackerbauenden Gebieten. Aber sie ist
weder dort noch sonstwo das mit vollem Bewußtsein angenommene,
leidenschaftliche, absolute Glaubensbekenntnis.
Ich glaube daher, daß die Blütezeit der Demokratie in der Zu-
kunft liegt. Gleichwie wir, bei tiefer und umfassender Betrachtung,
die reichgegliederte Feudalwelt als das in langen Jahrhunderten
erreichte Ergebnis eines tiefen, ihr innewohnenden, menschlich-
göttlichen Prinzips erblicken, oder einer Quelle, aus der Gesetze,
Kirche, Umgangsformen, Einrichtungen, Sitten, Persönlichkeiten
und (bisher unerreichte) Dichtungen entsprangen, — so soll auch
nach langen Jahrhunderten dem berufenen rückschauenden Histo-
riker und Kritiker das demokratische Prinzip ein ebensolches Bild
bieten, in der reichen Fülle seiner Ergebnisse, — wenn es erst
einmal mit unumschränkter Macht und lange Zeit die Menschheit
beherrscht hat, — Ursprung und Prüfstein aller moralischen,
ästhetischen, sozialen, politischen und religiösen Formen und Ein-
richtungen gewesen ist, — sie in Geist und Gestalt erzeugt und zu
ihrer höchsten Höhe geführt hat, — wenn es vielleicht seine
Ordensbrüder und Asketen gehabt hat, zahlreicher und inbrün-
stiger als die Mönche und Priester aller früheren Glaubensbekennt-
nisse, — wenn es ganze Zeitalter mit einer klaren Großzügigkeit
beherrscht hat, die mit der der Natur wetteifert, und in seinem
eigensten Interesse und mit unvergleichlichem Erfolge eine neue
Erde, einen neuen Menschen geschaffen und nach seinem Plan zu
einem triumphierenden Ende geführt hat.
So wagen wir es also, über Dinge zu schreiben, die noch nicht
ins Dasein getreten sind, und an Hand von Landkarten zu reisen,
die noch unbeschrieben und leer sind. Aber die Wehen der Neu-
geburt schütteln uns, und wir haben den Vorteil der Zeiten starker
Neugestaltung, Ahnung, Ungewißheit für uns, nämlich den Geistes-
hauch solcher Aufgaben, der uns umweht; und unsere Sprache,
48
heiß von Kampf und Aufruhr ringsum, ohne wohlgeglätteten Zu-
sammenhang zwar und verfehlt nach dem Maßstab der sogenann-
ten Kritik, bricht dennoch aus uns hervor, so wirklich wie die
Blitze.
Nachdem wir nun so viel beigebracht haben, was wohl überlegt
werden und helfen soll, unser Gebäude, unsere geplante Idee vor-
zubereiten und stark zu machen, gehen wir noch weiter und geben
dem Bau nach einer andern Seite hin vielleicht seine Hauptfassade.
Denn mit der Demokratie, der Ausgleicherin, dem unnachgiebigen
Prinzip des Durchschnitts, ist ohne Zweifel ein anderes Prinzip
verbunden, ebenso unnachgiebig, dem ersten auf dem Fuße folgend,
ihm unentbehrlich, entgegengesetzt (so wie die Geschlechter ein-
ander entgegengesetzt sind), ein Prinzip, das dem andern entgegen-
wirkt und es modifiziert, und dennoch ohne das andere niemals
zu seiner höchsten Geltung kommen kann und das zu unserer
weltgroßen Politik und den aufsteigenden tödlichen Gefahren der
Republik jenes Gegengewicht gibt, mit dem die Natur die ur-
sprüngliche, furchtbare Unbarmherzigkeit aller ihrer obersten Ge-
setze mildert. Dieses zweite Prinzip ist der Individualismus, die
stolze, zentripetale Isoliertheit des menschlichen Wesens in sich
selbst, — Identität, — Persönlichkeit. Wie immer man es nennen
mag, seine innige Verschmelzung mit der gesamten Organisation
politischer Gemeinschaft, die jetzt wie mit Strahlen der Morgenröte
über alle Welt emporsteigt, ist von höchster Bedeutung, wie denn
überhaupt dieses Prinzip an sich eine Lebensnotwendigkeit ist. Es
stellt gewissermaßen das Schwungrad dar, das der so erfolgreich
arbeitenden Maschinerie des Gemeinlebens Amerikas das Gleich-
gewicht gibt.
Und wenn wir es richtig bedenken, worauf ruht die Zivilisation
selber, und welchen andern Zweck hat sie und alle ihre Religionen,
Künste, Schulen usw., als einzig und allein die Züchtung reicher,
überquellender, vielfältiger Persönlichkeiten? Darauf zielt alles hin;
und weil die Demokratie allein im gegenwärtigen Stand der Ent-
wicklung um dieses Zieles willen das unendliche Brachfeld der
Menschheit aufpflügt und die Saat hineinpflanzt und ihr freies
Wachstum gibt, deshalb allein gehen ihre Ansprüche allen anderen
vor. Literatur, Dichtung, Ästhetik eines Landes sind hauptsächlich
deshalb von Bedeutung, weil sie den Frauen und Männern dieses
4 Wbitman I
49
Landes Stoff und Anregung zur Persönlichkeitsbildung geben, auf
tausenderlei wirksame Weise. Gleichwie für eine starke Festigung
der Nationalität unserer Einzelstaaten der oberste Grundsatz gilt,
daß nur ein so machtvoller Zusammenschluß ihnen den vollen,
freien Spielraum innerhalb ihrer eigenen Sphäre gewährleisten
kann, so wird auch der Individualismus in ungehemmter Verzwei-
gung am reichsten blühen unter gebieterisch republikanischen For-
men. Das Wort Demokratie ist oft gedruckt worden. Aber ich kann
nicht oft genug wiederholen, daß sein Wesenskern noch unerweckt
schlummert, ungeachtet des Widerhalls und der vielen wütenden
Stürme, unter denen seine Silben von Feder oder Zunge gebraucht
wurden. Es ist ein großes Wort, dessen Geschichte meines Er-
achtens noch ungeschrieben ist, weil sie noch nicht Ereignis ge-
worden ist. Es ist in gewissem Sinne der jüngere Bruder eines
anderen oft gebrauchten Wortes, Natur, dessen Geschichte ebenfalls
noch seines Schreibers wartet. Nach meiner Beobachtung ist die
Tendenz unserer Zeit in den Staaten auf jene weitumfassenden
Bewegungen und Einflüsse der Menschheitsidee gerichtet, moralische
wie physische, die jetzt und immer über den Planeten laufen mit
der Triebkraft von Elementen. Daher ist es gut, die ganze Frage
auf die Betrachtung des einzelnen Ich eines Mannes oder Weibes
und somit auf ihre ewige Grundlage zurückzuführen. Selbst bei
der Betrachtung des Universellen, in Politik, Metaphysik und allem
andern, kommen wir früher oder später auf die einzelne, einsame
Seele zurück.
In unsern besten Stunden steigt ein Bewußtsein, ein Gedanke in
uns auf, unabhängig, hoch über allem andern, gelassen wie die
Sterne, in ewigem Glanz. Das ist der Gedanke der Identität — der
deinigen für dich, wer du auch seist, wie der meinigen für mich.
Wunder der Wunder, über allen Ausdruck erhaben, geistigster und
duftigster aller Erdenträume, und doch die festeste Grundtatsache
und der einzige Zugang zu allem Geschehen. In solchen andäch-
tigen Stunden, inmitten der bedeutsamen Wunder von Himmel
und Erde (bedeutsam nur wegen meines Ich im Mittelpunkt), fallen
alle Glaubensbekenntnisse und Konventionen ab und werden be-
langlos vor dieser einfachen Idee. In der Erleuchtung wirklichen
Schauens nimmt sie allein Besitz von uns und hat allein Wert für
uns. Wie der schattenhafte Zwerg im Märchen dehnt sie sich,
5o
einmal entfesselt und erkannt, über die ganze Erde aus und reicht
bis ans Dach des Himmels.
Die Eigenschaft des „Seins" im eigenen Selbst, entsprechend
seiner eigenen zentralen Idee und Bestimmung, und wie wir aus
ihr und für sie wachsen mögen, ohne jede Kritik nach andern
Maßstäben und jede Anpassung an sie, — das lehrt uns die Natur.
Gewiß, der vollentwickelte Mensch sammelt, sucht, absorbiert
weislich; wer sich aber unverhältnismäßig viel damit abgibt und
die kostbare Idiokrasie, die Urbestimmung, zu der er geboren ist,
nämlich das eigene Ich, die Hauptsache, übersieht oder unterdrückt,
hat seine Bestimmung verfehlt, so umfassend auch seine Allgemein-
bildung sein mag. So bemüht man sich heute um Bildung und
Verfeinerung nicht nur vollauf zur Genüge, sondern diese drohen
uns aufzufressen wie ein Krebsgeschwür. Schon beobachtet der
demokratische Genius diese Tendenz mit Mißfallen. Ein bißchen
gesunde Roheit, wilde Tüchtigkeit, Bewährung dessen, was man
im eigenen Ich hat, sei es was es wolle: das tut uns not. Negative
Eigenschaften, sogar Mängel, wären eine Erleichterung. Verein-
zelung, normale Einfachheit und Unabhängigkeit inmitten dieses
mehr und mehr komplizierten, mehr und mehr verkünstelten Zu-
standes der Gesellschaft, — wie sehnen wir uns in Gedanken danach!
wie wäre uns ihre Wiederkehr willkommen!
Amerika hat moralisch und künstlerisch noch nichts Eigenes
zustande gebracht. Es scheint sich seltsamerweise dessen nicht be-
wußt zu sein, daß die Vorbilder von Persönlichkeiten, Büchern,
Lebensformen usw., die früheren Verhältnissen und europäischen
Ländern naturgemäß waren, hier nur Fremdlinge im Exil sind.
Reine einzige Strömung seines Lebens, soweit sie sich an der Ober-
fläche seiner sogenannten Gesellschaft zeigt, nimmt, sozial oder
ästhetisch, den demokratischen Gedanken in sich auf oder mündet
in ihn; vielmehr laufen alle Strömungen ihm geradenwegs zuwider.
Niemals war in der Alten Welt sorgfältig aufgepolsterter äußerer
Schein, in geistiger und anderer Hinsicht (lediglich beruhend auf
der Idee der Kaste und der Hinlänglichkeit von rein äußerlich Er-
worbenem), — niemals war Zungenfertigkeit und bloßer Wort-
intellekt in höherem Grade der Prüfstein alles Strebens und das
höchste Ziel und Beispiel als an der Oberfläche unserer republi-
kanischen Staaten von heute. Die Schriftsteller jeder Epoche nennen
4*
5i
das Motto ihrer Götter. Das Wort der Moderne, sagen diese Stim-
men, ist das Wort Kultur.
Hier stehen wir plötzlich dicht an feindlichem Gebiet. Dieses
Wort Kultur oder der Sinn, den es angenommen hat, enthält als
Gegensatz unser ganzes Thema und ist in der Tat der Ansporn
gewesen, der mich zum Angriff getrieben hat. Bestimmte Fragen
erheben sich. Erzeugen nicht die Fortschritte der Kultur, nach
allem, was wir jetzt nachgewiesen und ausgeführt haben, in kürzester
Zeit eine Klasse von oberflächlichen Zweiflern, die an nichts mehr
glauben? Soll ein Mensch sich selber in hundertfältiger Anpassung
verlieren und aus Rücksicht auf dies und das und jenes so umge-
modelt werden, daß alles Einfach-Gute, Gesunde und Starke an
ihm verdrängt und beschnitten wird wie Buchsbaumhecken in
einem Garten? Man kann Getreide und Rosen und Obstbäume
kultivieren, — aber wer will die Berggipfel, das Meer und die ge-
ballte Pracht der Wolken kultivieren? Und endlich: ist die schnell
bereite Antwort, daß Kultur nur helfen, ordnen und die Elemente
von Fruchtbarkeit und Kraft gehörig verteilen will, eine gültige
Antwort?
Ich habe nichts gegen den Namen oder das Wort, aber ich würde
unbedingt, um des Endzwecks dieser Staaten willen, auf einem
radikalen Wechsel der Klasse bei der Verteilung des Erbes der
Vergangenheit bestehen. Ich würde ein Kulturprogramm fordern,
das nicht für eine einzelne Klasse oder für die Salons und Hörsäle
entworfen wäre, sondern mit Verständnis für das praktische Leben,
für den Westen, für das arbeitende Volk, für Farmer, Handwerker
und Ingenieure und für die breite Masse der Frauen auch aus den
mittleren und arbeitenden Schichten und mit Rücksicht auf die
völlige Gleichheit der Frauen und der erhabenen, mächtigen Mutter-
schaft. Ich würde von diesem Programm oder dieser Theorie einen
Gesichtskreis fordern, weitherzig genug, um das ganze Areal der
Menschheit zu umfassen. Sein Hauptziel muß die Bildung eines
typischen Persönlichkeitscharakters sein, der für den guten Durch-
schnitt der Menschen erreichbar und nicht durch Bedingungen
beschränkt ist, die ihn für die Massen unerreichbar machen. Die
beste Kultur wird immer die der männlichen, tapferen Instinkte,
liebender Aufnahmefähigkeit und Selbstachtung sein, bestrebt, über ^
diesen ganzen Kontinent hin eine universelle Idiokrasie zu schaffen.
52
die als echtes Kind Amerikas zur Freude seiner Mutter in ihrem
eigenen Geist zu ihr zurückkehren und ihr Myriaden von Nach-
kommen bringen wird, tüchtig, natürlich, aufnahmefähig, duld-
sam, voll frommen Glaubens an sie, die Mutter Amerika, und klar
bewußt, warum und wofür sie, die umfassendste, gewaltigste Neu-
schöpfung der Geschichte, erstanden ist und, jetzt und hier, mit
herrlichem Schritt durch die Zeit schreitet . . .
Wenn wir es, obwohl nur in rohen Umrissen, versuchen wollen,
ein grundlegendes Vorbild oder Porträt wahrer Persönlichkeit zum
allgemeinen Gebrauch für die Mannheit der Vereinigten Staaten
zu entwerfen (und zweifellos wird dasjenige am nützlichsten sein,
das am einfachsten und für alle verständlich und nicht zu hoch
gegriffen ist), so sollten wir zuvor die Leinwand gut vorbereiten.
Die Abstammung müßte zuerst in Betracht gezogen werden. (Wird
wohl die Zeit bald kommen, wo Vater- und Mutterschaft eine
W^issenschaft, und zwar die vornehmste Wissenschaft, sein wird?)
Für unser Vorbild ist eine reinblütige, kraftvolle physische Grund-
lage unerläßlich; die Fragen des Essens und Trinkens, der Luft,
der körperlichen Übung, der Anpassungsfähigkeit und Verdauung
dürfen nie außer acht gelassen werden. Aus diesen Vorbedingungen
heraus denken wir uns eine wohlgeschaffene Selbstheit, — in der
Jugend frisch, feurig, gefühlsstark, hochstrebend, voll Abenteuer-
lust; in der Reife tapfer, urteilsfähig, selbstbeherrscht, weder allzu
redselig noch allzu verschlossen, weder vorlaut noch verdrossen;
in ihrer körperlichen Erscheinung von anmutigen Bewegungen, die
Gesichtsfarbe von reinstem Blut belebt, leicht durchglüht, die Brust
breit, die Haltung aufrecht, eine Stimme, deren Klang wohllauten-
der ist als Musik, ruhig und fest blickende Augen, die aber auch
fähig sind. Blitze zu schleudern, — ein Auftreten alles in allem,
das auch in Gesellschaft der Höchsten seine Eigenart zu bewahren
weiß. (Denn angeborene Persönlichkeit allein befähigt einen Mann,
auch vor Präsidenten und Generalen oder in sonst welchem her-
vorragenden Kreis mit Gelassenheit zu stehen, — und nicht die
„Kultur" oder irgendwelche Bildung oder irgendwelches Wissen.)
Was die geistige Erziehung unseres Vorbildes angeht, die Ent-
wicklung seines Intellekts, die Bereicherung seines rein verstandes-
mäßigen Wissens usw., so sind alle Bemühungen unserer Zeit, be-
sonders in Amerika, so sehr darauf gerichtet und tun sich so viel
53
zugute darauf, für diesen Teil der Erziehung ausgiebig zu sorgen,
daß wir, so wichtig und nötig er auch ist, unsererseits nichts dazu
zu bemerken brauchen, — außer vielleicht ein Wort der Warnung
und Einschränkung. Auch bei den Umgangsformen und Sitten
brauchen wir uns hier nicht aufzuhalten. Sie sind, ebenso wie
Schönheit, Anmut usf., lediglich Folgeerscheinungen. Wenn die
Ursachen, die wesentlichen Dinge beachtet werden, so folgen die
rechten Umgangsformen unfehlbar nach. Viel ist unter Künstlern
geredet worden von dem „hohen Stil", als ob er ein Ding für sich
wäre. Wenn ein Mann, ein Künstler oder sonst jemand, Gesund-
heit, Stolz, scharfe Sinne und ein edles Streben hat, so hat er die
Grundelemente des höchsten Stils. Alles übrige ist nur eine Frage
der Anwendung (freilich auch nichts Geringes). Ich übergehe eine
ganze Reihe wesentlicher Züge, die ein Vorbild der amerikanischen
Zukunftspersönlichkeit haben muß, und muß nur, wieder und
immer wieder, einen erwähnen, der vielleicht im modernen Leben
am wenigsten beachtet wird, — einen Mangel, der vielleicht die
düstersten Folgen für unsere Nachkommen haben wird. Ich meine
das einfache, unverfälschte Gewissen, das Urelement aller Moral.
Würde ich gefragt, wo nach meiner Ansicht der Grund zu der
schwärzesten Befürchtung für das Amerika, das wir erhoffen, liege,
so müßte ich auf diesen besonderen Punkt hinweisen. Ich müßte
die unwandelbare Anwendung dieser alten, ewig- wahren Grund-
regel aller Menschen, Zeiten und Völker auf den Individualismus
fordern, heute und immerdar. Unsere triumphierende moderne
Zivilisation mit all ihrer Erziehungskunst und all ihren wunder-
vollen Vorrichtungen wird sich dennoch als bloßes Stückwerk er-
weisen, wenn dieser Mangel bestehen bleibt. Schon jetzt ist (um
einen etwas hoffnungsvolleren Ton anzuschlagen) von der Welt
des amerikanischen Westens zu sagen, daß einzig und allein ihre
alles durchdringende Religiosität das Rückgrat einer männlichen
oder weiblichen Persönlichkeitsbildung sein kann und hoffentlich
auch sein wird.
Es ist zweifellos eine der Hauptaufgaben des Individualismus,
wahre Religion zur Reife zu bringen; eine Aufgabe, zu der keine
Organisation oder Kirche imstande ist. Gleichwie die Geschichte
nur zu einem kümmerlichen Teil in dem, was die Fachleute Ge-
schichte nennen, enthalten ist und sich nicht aus ihren Büchern
54
offenbart, außer wenn der Leser in sich selbst den Sinn für die
eigentliche, noch nie geschriebene und vielleicht nie zu schreibende
Geschichte hat, — so ist auch die Religion nur in einer gewissen
zufälligen Form in den Kirchen und Glaubensbekenntnissen ent-
halten und festgelegt und in Wahrheit ganz unabhängig von ihnen;
vielmehr ist sie ein Teil der ihres Seins bewußten Seele, die auf
ihrer höchsten Stufe keine Bibeln im alten Sinn, sondern in einem
neuen Sinn kennt, — der ihres Seins bewußten Seele, die erst dann
wahrer Religion gegenüberzutreten vermag, wenn sie sich gänzlich
von allem Kirchenglauben befreit hat.
Individualismus schließt das ein und fördert es. Ich möchte in
der Tat behaupten, daß einzig in der vollkommenen, unbefleckten
Einsamkeit der Individualität die eigentliche Geistigkeit der Religion
wirklich in Erscheinung zu treten vermag. Nur in ihr ist tiefe
Betrachtung, andächtige Ekstase und Aufschwung der Seele mög-
lich; nur in ihr eine wahre Kommunion mit den Mysterien, den
ewigen Rätseln des Woher? und Wohin? Aus einsamer, andäch-
tiger Versenkung in das Gefühl der Identität schwingt sich die
Seele empor, und alle Satzungen, Kirchen, Predigten verwehen wie
Dunst. In einsamen, schweigenden Gedanken der Ehrfurcht und
Sehnsucht läßt das innere Bewußtsein seine wunderbaren Linien,
gleichwie eine bisher unsichtbare Schrift in magischer Tinte, auf-
leuchten für den Geist. Bibeln mögen Überlieferung bringen und
Priester mögen sie auslegen, aber einzig und allein dem lautlosen
Wirken des einsamen Ich ist es vergönnt, in den reinen Äther der
Anbetung einzugehen, die Höhe Gottes zu erreichen und mit dem
Unaussprechlichen Zwiesprache zu pflegen. —
Eine wichtige Seite des amerikanischen Individualismus ist die
Beteiligung an der Politik. Jedem jungen Mann in Nord und Süd,
der sich ernstlich in diese Fragen vertieft, möchte ich hier, als
ein Gegengewicht zu meinen früheren Äußerungen, sagen, daß,
von einem höchsten Standpunkt aus betrachtet, letzten Endes das
politische (vielleicht auch das literarische und soziale) Amerika in
seiner Entwicklung am besten seine eigenen Wege geht, so bedenk-
lich sie auch einer bloß zeitlichen Beurteilung erscheinen mögen.
Es ist jetzt bei Dilettanten und Gecken Mode (und vielleicht bin ich
selbst nicht frei von Schuld), die gesamte Form, die die aktive
Politik Amerikas angenommen hat, als hoffnungslos zu verrufen
55
und als etwas, wovon man sich sorgfältig fernhalten müsse. Sieh
zu, daß nicht auch du diesem Irrtum verfällst. Vielleicht ist Amerika
doch alles in allem auf dem rechten Wege, trotz all dieser Possen
seiner Parteien und Parteiführer, diesen schwachköpfigen Nomi-
nierten, diesem unwissenden Stimmvieh und all den untauglichen
Gewählten. Die Dilettanten und alle, die sich vor ihrer Pflicht
drücken, sind nicht auf dem rechten Wege. Ich rate dir, dich im
Gegenteil noch viel lebhafter an der Politik zu beteiligen. Jedem
jungen Manne rate ich das. Informiere dich immer selbst; tue
immer dein möglichstes; übe immer dein Wahlrecht aus. Mache
dich los von Parteien. Sie waren von Nutzen und sind es bis zu
einem gewissen Grade heut noch; aber die freie Masse der unbe-
einflußten Wähler: Farmer, Schreiber, Mechaniker, die über den
Parteien stehen, alles überschauen und den Ausschlag geben, ob
der Sieg sich auf die oder jene Seite neigen soll, — das sind die
Männer, die die Gegenwart und die Zukunft am nötigsten braucht.
Was Amerika angeht, so kann es, falls überhaupt die Möglichkeit
eines Niedergangs und Ruins besteht, nur von innen her bedroht
werden, nicht von außen; denn es ist mir klar, daß auch das ver-
einte Ausland es nicht niederzwingen könnte. Aber diese wilden,
wölfischen Parteien beunruhigen mich. Sie kennen kein anderes
Gesetz als ihren eigenen Willen und werden immer streitsüchtiger
und immer unduldsamer gegen den Gedanken der Gemeinschaft
und Brüderlichkeit aller und der vollkommenen Gleichheit unserer
Staaten, diesen Gedanken, der ganz Amerika ewig überwölbt. Daher
darfst du dich nicht unbedingt einer Partei verschreiben und dich
nicht blindlings ihren Diktatoren unterwerfen, sondern mußt un-
beirrt selber Richter und Herr über sie bleiben.
So viel (in Eile, das meiste bleibt noch ungesagt) über ein Ideal-
bild, oder Andeutungen für ein Idealbild amerikanischer Männlich-
keit. Aber auch das andere Geschlecht bedarf in unserem Lande
zum mindesten einiger grundsätzlicher Winke.
Ich habe ein junges amerikanisches Mädchen gesehen, eine von
den vielen Töchtern einer Familie, die vor mehreren Jahren aus
ihrem ärmlichen Landheim in eine der Städte des Nordens aus-
wanderte, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wurde
bald eine tüchtige Näherin, aber da sie diesen Beruf zu ungesund
und wenig einträglich fand, begann sie mutig, in fremdem Dienst
56
zu arbeiten, als Wirtschafterin, Köchin, Haushäherin usw. Nach-
dem sie es in mehreren Stellungen versucht hatte, erhielt sie schließ-
lich eine, die ihr zusagte. Sie sagte mir, daß sie nichts Erniedrigendes
in dieser Stellung findet; sie sei nicht unvereinbar mit persönlicher
Würde, Selbstachtung und der Achtung der anderen. Sie leistet
etwas und empfängt daher Gegenleistungen. Sie ist gesund; ihre
bloße Gegenwart ist stärkend und gesund; ihr Charakter ist makel-
los; sie hat sich durchgesetzt und bewahrt ihre Unabhängigkeit
und konnte ihren Eltern helfen und für Erziehung und Anstellung
ihrer Schwestern sorgen. Ihr Leben bietet ihr auch Möglichkeiten
zu geistiger Fortbildung und zu viel ruhigem, einfachem Glück
und Liebe.
Ich habe eine andere Frau gesehen, die, aus Neigung und Not
zugleich, in das praktische Leben eingetreten ist und ein Mecha-
nikergeschäft betreibt. Sie arbeitet teilweise selbst darin und gerät
immer mehr und mehr in das wirkliche, harte Leben. Sie läßt sich
nicht zurückschrecken durch die Rauheit seiner Berührung, ver-
steht es, zugleich standhaft und schweigsam zu sein, wahrt ihre
Stellung mit unveränderlichem Gleichmut und Anstand und kann
es jederzeit aufnehmen mit den tüchtigsten Zimmerleuten, Farmern,
ja selbst Schiffern und Rutschern. Bei alledem hat sie den Zauber
der weiblichen Natur nicht verloren, sondern bewahrt und übt ihn
ungeschmälert auch unter so rauhen Verhältnissen.
Dann ist da die Frau eines Mechanikers, Mutter zweier Kinder,
eine Frau von nur mittelmäßiger englischer Erziehung, aber voll
feinen Verstandes, mit all der Anmut und Feinfühligkeit ihres
Geschlechts; in der Tat eine so edle weibliche Persönlichkeit, daß
ich glücklich bin, sie hier erwähnen zu können. Niemals ihre eigene
Unabhängigkeit verleugnend, sondern sie immer heiter bewahrend
samt allem, was dazu gehört, — Kochen, Waschen, Kinderpflegen,
Haushalten, — strahlt sie Sonnenschein aus auf all diese Pflichten
und verklärt sie. Körperlich frisch und gesund, arbeitsliebend,
praktisch, weiß sie doch, daß es ab und zu auch Ruhepausen geben
muß, die der Erholung, der Musik, der Muße und Gastlichkeit
gewidmet sind, und sorgt für solche Ruhepausen. Was sie auch
tut und wo sie auch ist, ist dieser Zauber, dieser unbeschreibliche
Duft echter Weiblichkeit um sie her, begleitet sie und strömt von
ihr aus, der von Rechts wegen dem ganzen weiblichen Geschlecht
57
zu eigen ist und der die unveränderliche Atmosphäre und gemein-
same Aureole aller alten und jungen Frauen ist oder sein sollte.
Meine liebe Mutter beschrieb mir einmal eine wundervolle Person,
drüben in Long Island, die sie in ihrer Jugend kannte. Sie war
bekannt unter dem Namen der „Friedensstifterin". Sie war gut
etwa achtzig Jahre alt, von glücklicher, sonniger Gemütsart, hatte
immer auf einer Farm gelebt und war eine vortreffliche Nachbarin,
verständig und verschwiegen, bei allen immer gleich willkommen
und beliebt, besonders bei Jungverheirateten Frauen. Sie hatte
zahlreiche Kinder und Enkelkinder. Sie war ungebildet, besaß aber
eine angeborene Würde. Sie war im ganzen Lande die stillschweigend
anerkannte häusliche Ordnungstifterin , Richterin, Helferin, Hirtin
und Versöhnerin geworden. Sie war eine Erscheinung, die alle
Blicke anzog, mit ihrer großen Gestalt, ihrem vollen, schneeweißen
Haar (das nie von einer Kopfbedeckung verhüllt war), ihren dunklen
Augen, ihrer reinen Gesichtsfarbe, ihrem frischen Atem und be-
sonderem persönlichen Magnetismus.
Ich gebe zu, daß diese Frauenbilder unendlich verschieden sind
von jenen importierten Modellen weiblicher Persönlichkeit, — den
üblichen Frauencharakteren der gangbaren Romanschreiber oder
der höfischen Dichtungen des Auslands mit all ihren Ophelias,
Prinzessinnen und Ladys, die die neidischen Träume so mancher
armen Mädchen erfüllen und auch von unsern Männern als höchste
begehrenswerte Ideale weiblicher Vortrefflichkeit hingenommen
werden. Aber ich biete die meinigen einmal zur Abwechslung an.
Es machen sich überdies Anzeichen von etwas noch Revolutio-
närerem bemerkbar (wir wollen uns jetzt nicht dabei aufhalten,
sie zu berücksichtigen, aber sie müssen berücksichtigt werden).
Der Tag ist im Anzug, wo die tiefe Frage des Eintritts der Frauen
in die Arena des praktischen Lebens, der Politik, des Wahlrechts usw.
nicht nur rings um uns her erörtert, sondern vielleicht zur Ent-
scheidung gebracht und praktisch erprobt werden wird.
Natürlich müssen wir in den Vereinigten Staaten, hinsichtlich
der Männer sowohl wie der Frauen, die Typen höchster Persönlich-
keit gänzlich umformen, die uns die östliche, feudale, ekklesiastische
Welt vermacht hat und die noch heute malerisch und melodrama-
tisch die Einbildungskraft und den Geschmack der Vereinigten Staaten
beherrschen und die zwar für Studienzwecke von Nutzen sind, aber im
58
Leben eine traurige Wirkung ausüben und einen wunderlichen Ana-
chronismus zu den Erscheinungen und Bedürfnissen um uns her
bilden. Die alten, unsterblichen Elemente bleiben natürlich bestehen.
Die Aufgabe ist, sie den neuen Bedingungen unserer Tage erfolgreich
anzupassen. Das ist auch nicht etwas so Unglaubliches. Ich kann
mir ein Gemeinwesen denken, heute und hier, wo, auf ausreichender
Grundlage, die vollkommenen Persönlichkeiten ohne großes Auf-
heben sich zusammenfinden; sagen wir, in irgendeiner hübschen
Ansiedlung oder Stadt des Westens, wo ein paar hundert der
besten Männer und Frauen, aus allen möglichen gewöhnlichen
Stellungen, durch günstige Umstände vereint worden sind, Menschen
ohne irgend welches besondere Genie oder besonderen Reichtum,
aber tüchtig, keusch, fleißig, fröhlich, entschlossen, kameradschaft-
lich und ehrfürchtig. Ich kann mir ein solches Gemeinwesen regel-
recht organisiert denken, mit rechtmäßig eingesetzter Obrigkeit,
und so, daß für Landbau, Häuserbau, Handel, Gerichtswesen, Post,
Schulen und Wahlen gesorgt ist, und alles sonstige Leben, die
Hauptsache, sich in jedem Individuum frei entfaltet und Blüten
treibt und goldene Früchte trägt. Ich kann mir so, in jedem jungen
und alten Mann nach seiner Eigenart und in jedem Weibe nach
seiner Art, eine wahre Persönlichkeit denken, vollentfaltet und
gleichmäßig entwickelt an Körper, Verstand und Geist. Ich kann
mir eine solche Möglichkeit denken, nicht nur als eine Ausnahme
oder als etwas besonders Schwieriges, sondern in heiterem Einklang
mit den städtischen und allgemeinen Bedürfnissen unserer Zeit.
Und ich kann sie mir vorstellen als höchste Entfaltung von etwas,
was besser ist als aller herkömmliche Glanz der Geschichte und
Dichtung. Vielleicht existiert — unbesungen, in keinem Drama
verherrlicht, unerwähnt in Essays oder Biographien — vielleicht
existiert sogar bereits ein solches Gemeinwesen, in Ohio, Illinois,
Missouri oder sonstwo, in praktischer Erfüllung und übertrifft so
bereits, im gewöhnlichsten einfachen Leben, alles, was je bisher in
den schönsten Idealbildern ausgemalt wurde.
Um kurz zusammenzufassen: Will Amerika sich daran machen,
formgebend zu wirken (und es ist hohe Zeit, von bloßen windigen
Versprechen zu soliderer Leistung überzugehen), so muß es,
um seine Zwecke zu erreichen, zunächst einmal aufhören, eine
Auffassung von Charakter anzuerkennen, die aus den feudalen
^9
Aristokratien erwachsen oder lediglich durch literarische Maßstäbe
oder irgendwelche von drüben kommende, fixundfertige Formeln für
Kultur, Schliff, Kaste usw. gebildet ist. Es muß streng seinen eigenen,
neuen Maßstab einführen, der im Grunde sehr alt ist und die alten,
einzigen Elemente enthält und sie in Gruppen und Einheiten faßt,
die für die moderne Welt, die Demokratie, den Westen passen und
für die praktischen Verhältnisse und Bedürfnisse unserer eigenen
Städte und ackerbauenden Distrikte. Das Wertvollste liegt allezeit
im Allgemeinen. Die frische Luft von Feld, Hügel oder See ist
allezeit besser, als alles Fächeln mit Fächern, mögen sie auch aus
Elfenbein sein und nach Parfüm duften; die Luft ist besser als das
kostbarste Parfüm.
Und nun, um nicht mißverstanden zu werden, wollen wir nicht
unterlassen, uns Absolution zu erbitten von alledem, was wahrhafte
Kultur oder Begleiterscheinung von ihr ist. Vergib uns, ehrwürdiger
Schatten, wenn wir scheinbar leichtfertig von deiner Aufgabe
gesprochen haben ! Die gesamte Zivilisation der Erde mit all ihrem
Ruhm und laicht ist, wir wissen es wohl, dein Werk. Es geschieht
in der Tat in deinem Geiste und in dem Bestreben, mit deinen
erhabensten Lehren zu wetteifern, wenn wir diese bescheidenen
Äußerungen wagen. Denn auch du, mächtige Priesterin! wisse,
daß es etwas Größeres gibt, als dich, nämlich die frischen, ewigen
Kräfte des Seins. Aus ihnen und durch sie beschwören wir —
gleichwie du selbst in deinen besten Zeiten — die letzte, notwendige
Hilfe herbei, um unser Land und unsere Zeit zu beleben. Daher
reden wir nicht so sehr gegen das Prinzip der Kultur; wir beauf-
sichtigen es nur und verbreiten zugleich mit ihm ein ebenso tiefes,
vielleicht tieferes Prinzip. Wie wir gezeigt haben, daß die Neue
Welt in sich das alles ausgleichende Gemeinschaftsprinzip der
Demokratie enthält, so zeigen wir auch, daß sie das allfältige, all-
gewährende, allfreie Theorem des Individualismus enthält und somit
ein hochragendes, bislang noch unbenutztes Gerüst oder eine Platt-
form errichtet, breit genug für alle, zugänglich für jeden Farmer
und Arbeiter — für Männer und Weiber — eine erhabene Selbst-
heit, die nicht allein physisch vollkommen ist, nicht befriedigt allein
mit den Schätzen des Geistes und Wissens, sondern religiös und von
der Idee des Unendlichen erfüllt (dem sicheren Steuer und Kompaß
auf dieser ruhelosen Reise des Fortschritts von Mensch und Volk
60
über schwärzeste, wildeste Wogen und durch gefährlichste Stürme),
— und die sich vor allem andern dessen bewußt ist, daß Menschen-
tum im tiefsten Sinne und soweit wir es kennen, ehrliche Treue zu
sich selber ist um jenseitiger Ziele willen, — und daß letzten Endes
das Persönlichkeitsgefühl des sterblichen Lebens seine größte Be-
deutung erst in Beziehung auf die Unsterblichkeit hat, auf das
Unbekannte, Geistige, die einzig dauernde Wirklichkeit, die, wie
der Ozean auf seine Ströme wartet und sie in sich aufnimmt, auf
jeden und alle von uns wartet.
Vieles andere noch müßten wir in diesen „Ausblicken" ausführen
oder wenigstens im Umriß andeuten, nicht allein über diese Gegen-
stände, sondern auch über andere, noch nicht erwähnte. Wir könn-
ten in der Tat ein Leben lang über diese Materie reden und sie
ausspinnen. Aber wir müssen zu unserm ursprünglichen Ausgangs-
punkt zurückkehren. In dieser Hinsicht müssen wir noch einmal
ausdrücklich bekennen, daß alle objektive Größe der Welt im höch-
sten Sinn allein auf Geistigkeit beruht und von ihr abhängt. Hier,
und hier allein, liegt das Gleichgewicht und der Ruhepunkt von
allem. Denn der Geist, der allein das dauernde Gebäude baut, baut
es stolz für sich selbst. Durch ihn und was aus ihm folgt, werden
dem sterblichen Sinn die Höhepunkte des Materiellen, des Bekann-
ten vermittelt und Ahnung des Unbekannten. Ausdruck und Ver-
körperung zu finden, eine Literatur mit erhabenen, urtypischen
Vorbildern zu versehen, — alle Empfänglichen mit Stolz und Liebe
zu erfüllen, soviel sie nur fassen können, geistige Ziele zu vollenden
und die Zukunft fühlbar zu machen, — dies, und dies allein, be-
friedigt die Seele. Wir sagen kein Wort gegen die reale Materie;
aber die W^eisen wissen, daß sie nicht eher wahrhaft real wird, als
bis Gefühl und Geist sie berührt haben. Ist nicht Geist etwas Un-
wägbares? O wir wollen lieber sorgen, daß der zarteste Ton eines
Liedes, die zahllosen flüchtigen Regungen der Leidenschaften, die
von Rednern oder Erzählern erweckt werden, mehr Dichtigkeit
und Gewicht haben, als die Maschinen dort in den großen Fabriken
oder die Granitblöcke in ihren Fundamenten.
Indem wir uns so den Bereichen nähern , die der eigentliche
Gegenstand dieser Betrachtungen sind, und im Hinblick auf eine
neue und höhere Persönlichkeitsbildung die Bedürfnisse und Mög-
lichkeiten schöpferischer amerikanischer Literatur im Lichte dessen.
6i
was wir zuvor besprochen haben, betrachten, wird sogleich offen-
bar sein, daß eine tiefe Kluft den gegenwärtig anerkannten Zustand
dieser Bereiche samt allem, was sich in ihnen regt, von einem Zu-
stand trennt, der der Welt, dem Amerika wirklich angepaßt wäre,
nach dem im gegenwärtigen Zustand nur getastet wird, und an-
gepaßt der Fülle von Rassen vollkommener Männer und Frauen,
die in diesen Ausblicken mit groben Strichen entworfen ist. Es ist
in gewissem Sinne kein geringerer Unterschied als zwischen dem
langandauernden, nebeiförmigen, gestaltlosen Zustand der astrono-
mischen Weltkörper und dem darauf folgenden Zustand, den end-
gültig geformten Weltkugeln selbst, nachdem sie sich gehörig ver-
dichtet und in Systeme geordnet haben und nun dort droben hängen,
Kronleuchter des Weltalls, verbunden und erleuchtet durch ihr
gegenseitiges Licht, als fester Grund für alles Stoffliche und zur
Benutzung für das gewöhnlichste Leben, aber noch mehr als unver-
gängliche Kette und Staffel aller geistigen Schau und Offenbarung.
Ein grenzenloses Feld ist auszufüllen ! Eine neue Schöpfung ersehnter
Werke, ausgesendet wie WMtkörper, um in freien, gesetzmäßigen
Umläufen zu kreisen, in sich selbst ruhend durch den Äther zu
wandeln und wie des Himmels Sonnen selber zu scheinen! Nichts
Geringeres als dies meinen wir, wenn wir von der Literatur der
Neuen Welt reden, die sich aus diesen Staaten in inniger Einbeit mit
ihnen erheben soll, zur rechten Zeit sich verkündend.
Was verstehen wir indessen genauer unter Literatur der Neuen
Welt? Tun wir hier nicht schon des Guten genug? Haben die Ver-
einigten Staaten heute nicht mehr Setzer und Pressen in eifrigem
Betrieb als irgendein anderes Land? Veröffentlichen und verbrauchen
sie nicht mehr Gedrucktes als andere Länder? Werden unsere Ver-
leger nicht schneller und gründlicher fett? — Sicherlich sind viele
in dieser Täuschung befangen, aber es ist meine Absicht, sie zu zer-
stören. Ich behaupte, eine Nation mag ganze Ströme und Ozeane
von sehr lesenswerten Druckschriften haben und in Umlauf bringen,
Zeitungen, Zeitschriften, Romane, Leihbibliotheken, „Poesie" usf.,
— wie sie die Vereinigten Staaten heute in der Tat besitzen und in
Umlauf bringen, — von unbestreitbarem Nutzen und Wert, — hundert
neue Bücher, die jedes Jahr geschrieben und herausgebracht werden,
sehr anerkennenswert, unübertroffen an Können und Wissen, — und
noch Hunderte oder gar Millionen mehr, die durch Raubverlage
62
auf den Markt geworfen werden, — und dennoch wird vielleicht,
trotz alledem, besagte Nation streng genommen überhaupt keine
Literatur besitzen.
Was also — wiederholen wir — verstehen wir unter wahrer Lite-
ratur? im besonderen unter der demokratischen Literatur der Zu-
kunft? Schwierige Fragen! Die Antwort kann nur indirekt gegeben
werden und weist uns an die Vergangenheit. Im besten Fall können
wir nur Andeutungen, Vergleiche auf Umwegen geben.
Es muß als die tiefste Lehre der Zeit und der Geschichte um des
Zweckes dieser Aufzeichnungen willen nochmals wiederholt werden,
daß alles, was eine Nation oder Epoche an politischen und mate-
riellen Errungenschaften, heroischen Persönlichkeiten, militärischer
Machtentfaltung usw. hervorbringt, bei genauer, tiefgehender Be-
trachtung unvollkommen bleibt und nur hemmend wirkt, ehe es
nicht durch nationale, urwüchsige Wesensvorbilder in der Literatur
mit wahrem Leben erfüllt wird. Sie allein gestalten die Nation,
bringen alles letztgültig zum Ausdruck, beweisen, vollenden alles und
geben allem Bestand. Zweifeilos: einige der blühendsten, mächtig-
sten und volkreichsten Gemeinwesen der antiken Welt und einige
der größten Persönlichkeiten und Ereignisse haben der Nachwelt
bis auf heute keinerlei Erbschaft hinterlassen. Zweifellos waren unter
diesen Ländern Heldentaten, Persönlichkeiten, von denen uns nichts
überliefert ist, nicht einmal Name, Zeit oder Ort, solche, die größer
waren als alle uns überlieferten. Andere wieder sind heil angelangt
wie Aon Reisen über Jahrhundert weite Meere. Die kleinen Schiffe,
die Wunderdinger, die sie trugen und durch unerhörte Glücksfälle
wohlbehalten zu uns brachten (oder wenigstens das Beste von ihnen,
ihren Sinn und Extrakt) über weite Einöden hin, durch Finsternis,
Stumpfheit, Unwissenheit usw., — diese kleinen Schiffe waren ein
paar Schriften, — ein paar unsterbliche Dichtungen, gering an Um-
fang, doch voll welcher unermeßlichen Werte der Erinnerung,
voller Charaktere, Sitten, Sprachen und Glauben ihrer Zeit, voll
tiefster Beziehungen, Hinweise, Gedanken, genug, um den alten, ewig
neuen Körper und die alte, ewig neue Seele innig zu verschmelzen!
Sie! und noch einmal sie! — die diese so teure Fracht zu uns trugen,
teurer als Stolz, teurer als Liebe! Alle kostbarste Erfahrung der
Menschheit, in kleinsten Raum gefaltet, haben sie gerettet und zu
uns gebracht. Einige dieser winzigen Schiffe nennen wir Altes und
63
Neues Testament, Homer, Äschylos, Plato, Juvenal usf. — Kostbare
Winzigkeiten! Ich glaube, wenn wir wählen müßten, so würden
wir es eher ertragen, so furchtbar es wäre, alle wirklichen Schiffe,
die heute auf Werften liegen oder auf See schwimmen, zu verlieren
und mit ihrer ganzen Fracht leck in die Tiefe sinken zu sehen, als
euch und euresgleichen und was zu euch gehört und aus euch er-
wachsen ist, vernichtet und ausgelöscht zu sehen.
Zusammengefaßt durch die Genies einer Stadt, Rasse oder Epoche
und durch sie in die höchste aller künstlerischen Formen, die lite-
rarische, gebracht, ist die besondere Wesens- und Erscheinungsart
dieser Stadt, Rasse oder Epoche, ihre besondere Verkörperung der
allgemein menschlichen Eigenschaften und Leidenschaften, ihr
Glaube, ihre Helden, Liebenden und Götter, ihre Kriege, Überliefe-
rungen, Unruhen, Verbrechen, Erregungen, Freuden (oder doch
der geistige Hauch von alledem) auf uns gekommen, um unser
eigenes Sein und seine Erfahrungen zu erleuchten. Würde das, was
sie uns geben, all dieses nicht mehr Entbehrliche, Höchste uns ge-
nommen, so könnte nichts anderes im ganzen grenzenlosen Vorrats-
speicher der Welt uns einen Ersatz dafür bieten.
Für uns ragen diese Denkmäler entlang den großen Heerstraßen
der Zeit, — diese Gebilde der Hoheit und Schönheit. Für uns brennen
diese Leuchtfeuer durch alle Nächte. Unbekannte Ägypter, Hiero-
glyphen grabend; Hindus mit ihren Hymnen, W^eisheitssprüchen
und endlosen Epen; hebräischer Prophet, vom Geist erleuchtet wie
in Blitzen, mit einem Gewissen wie rotglühendes Eisen, mit Klage-
liedern und Racheschreien gegen Tyrannen und Sklaverei; Christus
mit geneigtem Haupt, wie eine Taube brütend über Liebe und
Frieden; der Grieche, ewige Gestalten schaffend voll Ebenmaß des
Körpers und Gefühls; der Römer, der Herr der Satire, des Schwerts
und Gesetzbuchs; einige der Gestalten fern und im Dämmer, andere
näher und sichtbar; Dante, einherschreitend mit magerer Gestalt,
nichts als Sehnen, kein Gran überflüssigen Fleisches; Angelo und
die großen Maler, Baumeister, Musiker ; der reiche Shakespeare, ver-
schwenderisch wie die Sonne, Gestalter und Sänger des Feudalismus
in seinem Sonnenuntergang, mit all seinen glühenden Farben, über
die er mit souveräner Willkür verfügt; und so zu den Deutschen
Kant und Hegel, die, obwohl nahe bei uns, so doch wiederum, Zeit-
alter überspringend, leidenschaftslos und unerschütterlich sitzen
64
wie die ägyptischen Götter. Ist es nun wirklich zu viel, wenn wir
von diesen und ihresgleichen wieder auf unser Lieblingsbild zurück-
kommen und sie sehen wie Weltkörper und Systeme von Welt-
körpern, die auf freien Bahnen durch die Räume jenes zweiten
Himmels, des kosmischen Geistes, der Seele, wandeln?
Ihr Gewaltigen und Strahlenden! Ihr seid, in euren Bereichen,
nicht für Amerika erwachsen, sondern eher für seine Feinde, das Feu-
dale und Alte, — während unser Genius demokratisch und modern
ist. Und doch, — o könntet ihr euern Lebensodem in die Nüstern
unserer Neuen Welt blasen, — nicht um uns, wie jetzt, zu ver-
sklaven, sondern um in uns und für uns einen Geist zu erwecken
gleich dem euern, — vielleicht (wagen wir es auszusprechen?) um
zu überwinden, ja zu zerstören, w^as ihr selbst hinterlassen habt!
Auf eurer Höhe, nicht tiefer, sondern eher noch höher und weiter,
müssen wir uns treffen und messen, heute und hier. Ich fordere
Rassen von Sängern, die mit der Macht von Weltkörpern unbeirrt
und sicher ihre Bahn fliegen. Erscheint, ihr süßen demokratischen
Beherrscher des Westens!
Durch Hinweise wie diese deuten wir mittelbar an, was wir unter
wahrer Literatur eines Landes oder Volkes verstehen. Und so ver-
glichen und gemessen an den erhabensten Schöpfungen allein, was
stellen unsere reichen Mengen von Druckschriften, die in mannig-
fachen Formen die Vereinigten Staaten bedecken, Besseres dar als
vergleichsweise jene über gewisse Strecken des Meeres verbreiteten,
hin und her wogenden Ansammlungen von Tintenfischen, die der
mit halb emporgetauchtem Kopf hindurchschwimmende Wal ver-
schlingt?
Zwar mag unsere landläufige sogenannte Literatur (gleichsam
wie ein unendlicher Vorrat von kleiner Münze) einen gewissen
Nutzen haben, vielleicht sogar gerade das bieten, was unsere Zeit
braucht (eine Vorbereitung, ähnlich wie Kinder lernen müssen zu
buchstabieren). Jedermann liest und nahezu jedermann, in der Tat,
schreibt, seien es Bücher, sei es für die Zeitschriften und Zeitungen.
In gewissem Sinn hat auch dieser Zustand seine Großzügigkeit.
Aber bringt er Fortschritt? oder hat er seit langem irgendwelchen
Fortschritt gebracht? Es liegt etwas Imponierendes in den riesigen
Auflagen der Tageszeitungen und Wochenschriften, den Bergen
weißen Papiers, die in den Gewölben der Druckereien aufgestapelt
Whiunan I
65
sind iiud in den stolzen, dröhnenden Zehn-Zylinder-Pressen, vor
denen ich jederzeit stundenlang stehen kann, um ihnen zuzuschauen.
Auch wird (obwohl die Vereinigten Staaten auf dem Gebiete der
F*hantasie nicht ein einziges Werk ersten Ranges, nicht einen ein-
zigen großen Schriftsteller aufzuweisen haben) der Hauptzweck immer
noch erreicht, und immer wieder bis ins Unendliche, nämlich zu
amüsieren, zu kitzeln, die Zeit zu vertreiben, Neuigkeiten und Ge-
rüchte von Neuigkeiten in Umlauf zu bringen und Verse zu reimen
für den Geschmack der Leser. Heutzutage gehört bei all dem
Bücherschreiben und dem Wetteifer der Schriftsteller, insbesondere
der Romanschriftsteller, der (sogenannte) Erfolg demjenigen oder
derjenigen, die den Geschmack des gemeinen, flachen Durchschnitts
trelfen, die sensationelle Gier nach Aufreizung, Geschehnis, Satire usf.,
und die das sinnliche, äußere Leben gewöhnlichen Schlages be-
schreiben. Für Autoren solcher Art oder wenigstens für die glück-
lichsten von ihnen ist, soviel wir sehen, die Zuhörerschaft unbegrenzt
und gewinnbringend; aber sie schwindet bald. Während heute und
jederzeit für die, die das innere oder spirituelle Leben darzustellen
suchen, die Zuhörerschaft begrenzt ist und oft nur zögernd sich
bildet, aber für ewig bestehen bleibt.
Verglichen mit der Vergangenheit hat unsere moderne Wissen-
schaft einen hohen Aufschwung genommen und erfüllen unsere
Zeitungen einen nützlichen Zweck, — aber die ideelle Literatur,
oder auch nur die gewöhnliche Romanliteratur, macht meines Er-
achtens keine wesentlichen Fortschritte. Man sehe sich die frucht-
baren Erzeugnisse des zeitgenössischen Romans, der Novelle, des
Dramas usw. an. Dasselbe endlose Gespinst verwickelter, über-
triebener Liebesgeschichten, die offenbar von den Amadissen und
Palmerins des dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten Jahrhun-
derts drüben in Europa herstammen. Die Kostüme und alles son-
stige Zubehör auf moderne Form gebracht, die W^ürze heißer und
abwechslungsreicher, die Drachen und Menschenfresser weggelassen,
— aber der eigentliche Inhalt, meine ich, ist nicht fortgeschritten,
— ist just so sensationell, just so verrenkt und so ziemlich der-
selbe geblieben, nicht mehr und nicht weniger.
Was ist der Grund, daß wir in unserer Zeit, in unserem Lande
keinen frisch aus unserer Umgebung geborenen Mut, keine eigene
gesunde Kraft, — nicht den Mississippi, die handfesten Männer des
Westens, des Südens, keine geistigen und physischen Tatsachen usF.
in der Gesamtheit unserer Literatur, zumal in ihrem dichterischen
Teil, sehen, — sondern anstatt dessen immer nur eine kleine
Minderheit von Dandys und Blasierten, feine Herrchen, die vom
Ausland importiert sind im fünfhundertsten Aufguß und uns über-
fluten mit ihren dünnen Salongefühlen, die sich an Sonnenschirmen,
Schmachtliedern und Reimgeklingel erregen, — oder die über
irgend etwas winseln und flennen, von einem fehlgeborenen Einfall
zum andern jagen und ewig beschäftigt sind mit irgendeiner dys-
peptischen Verliebtheit in dyspeptische Frauenzimmer. Während,
in niegesehenem Strom, die größten Ereignisse und Umwälzungen,
die stürmischsten Leidenschaften der Geschichte heute mit unver-
gleichlicher Schnelligkeit und Großartigkeit sich auf dem Schau-
platz unseres und aller Kontinente kreuzen, neuen Stoff darbieten,
neue Ausblicke voll neuer Bedürfnisse eröffnen und kühn auf-
springende Schöpfungen der Literatur herausfordern, die, begeistert
durch sie, sich in höchste Höhen aufschwingen und der Kunst in
aller ihrer Erhabenheit dienen (was nur ein anderer Name ist für
„Gott dienen" oder „der Menschheit dienen"). Wo ist der Mann
der Literatur, wo ist das Buch, dem ein edleres Ziel vorschwebt,
als im alten Geleise zu trotten, längst Gesagtes zu wiederholen
und — höchster Triumph! — gut gekauft zu werden und gelehrt
und elegant zu sein?
Man betrachte die Wege des Fortschritts, die diese Staaten zu-
rückgelegt haben, bis sie nun heute frei, gleichberechtigt für immer,
fest zusammengefügt für immer an ihrem Platze stehen. Europäische
Abenteuer? Die Antike? Asien und Afrika? Alte Geschichte —
Wunder-Romantik? — Nein, unsere eigenen unanzweifelbaren wirk-
lichen Taten! Sie jagen einander, unerhört, strahlend wie Feuer!
Wenn ich ihre Geschichte lese, von den Taten und Tagen des
Kolumbus an bis auf die Gegenwart und einschließlich der Gegen-
wart — vor allem den letzten Sezessionskrieg, — so ist mir bei
jeder Seite zumute, als müßte ich innehalten und mich besinnen,
ob ich mich nicht geirrt habe und unter die leuchtenden Phantasie-
bilder eines Traums geraten bin. Aber es ist kein Traum. Wir
stehen, leben, bewegen uns in dem ungeheuren Strom des Materia-
lismus und Spiritualismus unseres Zeitalters. Das positivste aller
Reiche ist für uns gegründet worden. Die Gründer sind in andere
67
Sphären übergegangen, — aber welches sind die furchtbaren Pflich-
ten, die sie uns hinterlassen haben?
Ihre Politik haben die Vereinigten Staaten meines Erachtens,
trotz all ihren Fehlern, bereits im wesentlichen und ein für allemal
auf ihre eigenen, eingeborenen, gesunden, weit vorausschauenden
Grundsätze gegründet, die nie wieder umgestürzt werden können
und ein sicheres Fundament für alles übrige bilden. Zusammen
mit ihr müssen natürlich auch ihre zukünftigen religiösen Formen,
ihre Soziologie, Literatur, ihre Lehrer, Schulen, die Art der äuße-
ren Erscheinung usw. ein geschlossenes einheitliches Ganzes bilden,
auf ebensolchen Grundsätzen. Denn wie könnten wir so zerspalten,
so uns selbst widersprechend bleiben, wie jetzt? Ich sage, wir
können Harmonie und Beständigkeit erlangen, indem wir die Ein-
heit aller Dinge und die ethischen Inhalte berücksichtigen und
vertrauensvoll auf ihnen weiterbauen. Ich sehe in der Tat, daß
für die Neue Welt nach zwei Epochen vorbereitender Schichtungen
jetzt eine dritte Epoche, ohne die die andern beiden nutzlos wären,
bereit steht und sich in unverkennbaren Zeichen ankündigt. Die
Erste Epoche war der Entwurf und die Festlegung der politischen
Grundrechte für ungeheure Volksmassen, ja für alles Volk, in der
Organisation republikanischer National-, Staats- und Kommunal-
regierungen, alle aufgebaut in Beziehung zu jeder einzelnen und
jede einzelne in Beziehung zu allen. Dies ist das amerikanische
Programm, nicht für Klassen, sondern für den Menschen im all-
gemeinen, und ist verkörpert in den Grundsätzen der Unabhängig-
keitserklärung und, in seiner späteren Entwicklung, in der Bun-
desverfassung sowie in den Regierungen der Einzelstaaten mit all
ihren inneren Angelegenheiten und dem allgemeinen Wahlrecht;
die Bedeutung all dieser Grundlagen liegt nicht nur in dem, was
sie selbst enthalten, begründen und pflanzen, sondern auch in allem,
was mit Notwendigkeit aus ihnen folgt. Die Zweite Epoche ist die
des materiellen Gedeihens und Wohlstandes, die Epoche der Pro-
duktion, der arbeitsparenden Maschinen, des Eisens, der Baum-
wolle, der lokalen, staatlichen und kontinentalen Eisenbahnen, des
Verkehrs und Handels mit allen Ländern, der Dampfschiffe, Gruben,
des Arbeitsmarkts, der Organisation der Großstädte, der Verbilli-
gung des Komforts, zahlloser technischer Lehranstalten, Bücher,
Zeitungen, der Währung für den Geldumlauf usf. Die Dritte
68
Epoche, die aus den vorhergehenden beiden sich erhebt, um sie
und alles zu verklären, verkünde ich nun hier, als einer für viele.
Ich verkünde den eingeborenen Geist, der Ausdruck und Form an-
nimmt für diese Staaten, gereift, vergeistigt, selbstbeherrscht, ver-
schieden von allen anderen, expansiver, reicher, freier, — einen
Geist, der durch ursprüngliche Autoren und Dichter der Zukunft
dargestellt werden soll, durch amerikanische Persönlichkeiten, deren
viele, Männer und Frauen, bereits ungekannt überall in den Staaten
leben; — und durch eine viel herrlichere, einheimische Entfallung
von Sprache, Gesängen, Opern, Reden, Vorlesungen, Bauten — und
durch eine erhabene, feierliche religiöse Demokratie, die ent-
schlossen die Herrschaft ergreift, das Alte auflöst, alle Oberflächen
abschält und aus ihrem eigenen inneren Lebensprinzip heraus die
Gesellschaft neu aufbaut und demokratisiert.
Nur wenige ahnen, wie tief, wie tief die Bedeutung Amerikas
ist, des Vorbildes allen Fortschritts und wahren Glaubens an den
Menschen, trotz aller Irrtümer und Bosheit. Die Welt glaubt
offenbar, und auch wir haben offenbar geglaubt, daß die Vereinig-
ten Staaten nur dazu da seien, um die Gleichheit der Gerechtsamen
Aller und eine Wahlregierung durchzuführen, — um die Würde
der Arbeit einzuweihen und eine Nation praktisch tätiger, den Ge-
setzen gehorsamer, ordentlicher und wohlhabender Menschen zu
werden. Ja, dies sind in der Tat Teile der Aufgabe Amerikas;
aber sie erschöpfen nicht nur nicht den Begriff von Fortschritt,
sondern sind darüber hinaus auch die Vermittler eines viel tieferen,
höheren Fortschritts, mit dem sie schwanger gehen. Tochter einer
physischen Revolution, — Mutter der wahren Revolutionen, näm-
lich der des inneren Lebens und der Kunst. Denn solange der
Geist sich nicht wandelt, ist jeder Wandel der Erscheinung be-
langlos.
Ich erinnere mich, als ich ein Knabe war, sprachen die alten
Leute immer von amerikanischer Unabhängigkeit. Was ist Unab-
hängigkeit? Freiheit von allen Gesetzen und Schranken, außer
denen des eigenen Ich, die von denen des Universums beherrscht
werden. Was ist Ländern, Männern, Frauen letzten Endes zu eigen,
als einzig und allein ihre innewohnende Seele, Ursprünglichkeit,
ihr Sein in sich selbst, frei, im höchsten Gleichgewicht, sich auf-
schwingend zu eigenem Fluge, sich selbst getreu?
69
Gegenwärtig weiden die Vereinigten Staaten in ihrer Theologie
und ihren sozialen Anschauungen (die wichtiger als ihre politischen
Institutionen sind) gänzlich von fremden Ländern beherrscht. Wir
sehen, wie die Söhne und Töchter der Neuen Welt, ihres Genius
nicht bewußt, das Einheimische, Universelle, Nahe noch nicht ent-
deckt haben, sondern immer noch das Entlegene, Partielle, Tote
importieren. Wir sehen London, Paris, Italien — nicht in ursprüng-
licher Schönheit wie dort, wohin sie gehören, sondern aus zweiter
Hand hier, wo sie nicht hingehören. Wir sehen die Brocken der
Juden, Römer, Griechen; aber wo sehen wir, auf seinem eigenen
Boden, in irgendwelcher getreuen, höchsten, stolzen Verkörperung
Amerika selbst? Ich frage mich manchmal, ob ihm auch nur ein
Winkel im eigenen Hause gehört.
Nicht als ob in einem gewissen Sinne, und zwar in einem sehr
hohen, wahre Theologie, wahre Kunst und wahre Literatur nicht
gewisse Züge gemeinsam hätten. Sie sind verbrüdert und binden die
Rassen untereinander, sie sind in vielen Einzelheiten, unter Gesetzen,
die auf alle unterschiedslos anwendbar sind, unabhängig von Klima
und Zeit und wenden sich, aus welcher Quelle sie auch stammen
mögen, an Gefühle, — Stolz, Liebe, Geistigkeit, — die dem Men-
schengeschlecht gemeinsam sind. Nichtsdestoweniger berühren sie
selbst da einen Menschen am innigsten (oder vielleicht überhaupt
nur), wenn sie ihren Ausdruck finden durch die autochthonen
Lichter und Schatten hindurch, durch den Geschmack, die Vorlie-
ben, Abneigungen, besonderen Ereignisse und Eigenheiten hin-
durch, die aus der eigenen Nationalität, Geographie, Umgebung,
Uberlieferung usw. dieses Menschen geboren sind. Geist und Form
sind eins und hängen viel mehr, als man glaubt, von Gemeinschaft,
Identität und Ort ab.
Mit der Körperlichkeit und Persönlichkeit eines Landes, einer
Rasse — teutonisch, türkisch, kalifornisch oder was sonst — ist
immer ein Etwas verwoben — ich kann schwerlich sagen, was es
ist — die Geschichte beschreibt nur seine Ergebnisse — es ist das-
selbe wie der unaussprechliche Ausdruck mancher Menschen-
gesichter. Auch die Natur in ihren stumpferen Formen ist voll
davon, — aber für die meisten ist es da ein Geheimnis. Dieses
Etwas ist verwurzelt in den unsichtbaren Wurzeln, in dem tiefsten
Sinn dieses Ortes, dieser Rasse oder Nationalität; und es in sich
70
autzunehmen und wieder auszuströmen, Worte und Werke aus
seinem innersten Kern heraus zu gestalten und in höchste Bereiche
zu tragen, das ist die Aufgabe oder ein Hauptteil der Aufgabe der
wahren Schriftsteller, Dichter, Historiker, Gelehrten und vielleicht
sogar Priester und Philosophen eines jeden Landes. Hier, und hier
allein, sind die Grundelemente für eine wirklich wertvolle und
dauerhafte lyrische und dramatische Kunst Amerikas.
Aber gegenwärtig sind all die Schwärme von Gedichten, von
literarischen Zeitschriften, Theaterstücken, die bislang dem ameri-
kanischen Intellekt und unseren besten Ideen entsprungen sind,
zwecklos und ein Hohn, wenn man sie beurteilt nach einem
höheren Maßstab als dem, der die Hauptzwecke des Daseins
darin sieht, während der einen Hälfte des Lebens fieberhaft Geld
zu machen und während der andern vielleicht durch „Amüse-
ment", Reisen ins Ausland und Geschwätz die Zeit totzuschlagen,
— wenn man sie beurteilt im Hinblick auf die Ziele von Patrio-
tismus, Gesundheit, edler Persönlichkeit, Religion und demokra-
tischer Kultur! Sie stärken und nähren keinen, bringen nichts
Charakteristisches zum Ausdruck, geben niemandem Richtung und
Ziel und befriedigen nur den niedrigsten Geschmack hohler
Geister . . .
Amerika braucht eine Poesie, die kühn, modern, allumfassend
und kosmisch ist, wie es selbst. Diese Poesie darf in keiner Hin-
sicht die Wissenschaft und das Moderne ignorieren, sondern muß
aus der Wissenschaft und dem Modernen Inspiration schöpfen.
Sie muß mehr in die Zukunft als in die Vergangenheit schauen.
Wie Amerika, muß auch sie sich von den Vorbildern der Ver-
gangenheit, und wären es die höchsten, freimachen und, bei aller
Achtung vor ihnen, den vollen Glauben an sich selbst und an die
Erzeugnisse ihres eigenen, demokratischen Geistes haben. Wie
Amerika, muß^auch sie das Banner des göttlichen Selbstbewußt-
seins (der tiefsten Grundlage der neuen Religion) in das Vorder-
treffen stellen und unter allen Umständen hochhalten. Lange ge-
nug hat das Volk Dichtungen angehört, worin die Durchschnitts-
menschheit sich unterwürfig duckt und demütig Höhere über sich
anerkennt. Amerika aber hört nicht auf solche Dichtungen. Auf-
recht, von stolzer Selbstachtung geschwellt sei der Gesang, dann
wird ihm Amerika mit Wohlgefallen lauschen.
7>
Das echte Gold, die Edelsteine werden, wenn sie endlich ans
Licht kommen werden, wahrscheinlich nicht aus den Bereichen
stammen, von denen man sie heute für gewöhnlich erwartet. Der
unmündige Genius amerikanischer Dichterkraft schlummert heute
zweifellos in weiter Ferne, zum Glück unentdeckt und unbehelligt
von den Koterien der Kunstschreiber, der Schwätzer und Kritiker
der Salons oder der Sprecher in Hörsälen, — schlummert abseits,
seiner selbst nicht bewußt, in irgendeinem Dialekt des Westens,
in irgendeiner einheimischen Ausdrucksweise in Michigan oder
Tennessee, oder in irgendeiner ländlichen Wahlrede — oder in
Kentucky, Georgia oder auf den Karolinen — oder in dem Slang
oder Volkslied oder einer Redensart der Arbeiter von Manhattan *,
Boston, Philadelphia oder Baltimore — oder oben in den Wäldern
von Maine — oder fern in der Hütte des kalifornischen Goldgräbers
oder in den Rocky Mountains oder längs der pazifischen Bahn —
oder in der Brust der jungen Farmer des Nordwestens oder in
Kanada oder der Fischer auf den Seen. Rauhe und grobe Wiegen
dies! Aber einzig aus solchen Anfängen und eingeborenen Stämmen
werden vielleicht Blüten von echt amerikanischem Arom aufbrechen
und sprießen, wenn ihre Zeit da ist, und Früchte, die wahrhaft und
voll unser eigen sind . . .
Lange vor unserer zweiten Jahrhundertfeier werden wir einige
vierzig oder fünfzig große Staaten haben, darunter Kanada und
Kuba. Am Ende des gegenwärtigen Jahrhunderts wird unsere Be-
völkerung sechzig oder siebzig Millionen betragen. Der Pazifische
Ozean wird uns ganz und der Atlantische größtenteils gehören.
Wir werden in täglicher elektrischer Verbindung sein mit allen
Teilen des Globus. Was für ein Zeitalter! Was für ein Land! Wo
sonst ein so großes?! Die Individualität einer einzelnen Nation muß
dann, wie immer, die Welt leiten. Kann es zweifelhaft sein, wer
der Führer sein sollte? Man bedenke aber, daß immer nur die
mächtigste, ursprünglichste, ungeknechtete Seele in Wahrheit und
glorreich geführt hat und je führen kann. (Diese Seele — ihr an-
derer Name in diesen Ausblicken ist Literatur.)
In einem schönen Traum wollen wir diese hundert Jahre über-
springen und die Schöpfungen, Gedichte und Philosophien Amerikas
* New York. (Anmerkung des Übersetzers.)
72
überschauen, wenn sie alle Prophezeiungen erfüllt und höchsten
Idealen endgültige Gestalt gegeben haben werden. Vieles, was v/ir
jetzt noch nicht ahnen, wird dann vielleicht in üppigem Wachstum
dastehen, Reichtum und Kraft literarischer und künstlerischer Dar-
stellung, wobei Charakter als Hauptelement gelten wird und nicht
bloße Bildung und Eleganz.
Inbrünstige und liebevolle Kameradschaft wird dann zu vollem
Ausdruck kommen, persönliche und leidenschaftliche Liebe von
Mann zu Mann, die, schwer definierbar, den Lehren und Idealen
der tiefsinnigen Erlöser aller Länder und Zeiten zugrunde liegt,
und die vielleicht die wesentlichste Sicherheit und Hoffnung für
die Zukunft unserer Staaten zu bilden verspricht, wenn sie einmal
in Sitte und Literatur voll entwickelt, gepflegt und anerkannt sein
wird.
In der Entwicklung, dem Bewußtwerden und der allgemeinen
Geltung dieser feurigen Kameradschaft (der Freundschaftsliebe, die
der die Literatur jetzt beherrschenden Geschlechtsliebe ebenbürtig,
wenn nicht überlegen ist) erhoffe ich das ausschlaggebende Gegen-
gewicht und die Vergeistigung unserer materialistischen und vul-
gären amerikanischen Demokratie. Manche werden sagen, das sei
nur ein Traum, und werden meinen Schlußfolgerungen nicht bei-
stimmen: ich aber erwarte zuversichtlich eine Zeit, wo durch all
die Myriaden hörbarer und sichtbarer weltlicher Interessen Amerikas
die Fäden männlicher Freundschaft, wie ein halbverborgener Ein-
schlag, durchschimmern werden, warm und zärtlich, rein und süß,
stark und lebenslang, in bisher unbekanntem Maße — eine Kamerad-
schaft, die nicht nur den individuellen Charakter bestimmen und
ihn gefühlsreich, muskulös, heroisch und innig machen, sondern
auch auf die allgemeine Politik den nachhaltigsten Einfluf^ aus-
üben wird. Ich behaupte, die Demokratie bedingt eine solche liebende
Kameradschaft als ihr unentbehrlichstes Zwillingsgegenspiel, ohne
welches sie unvollständig und unnütz ist und unfähig zu dauern.
Starkherzige Fröhlichkeit und Gläubigkeit und Sinn für Gesund-
heit al fresco soll eine der Vorbedingungen edlen amerikanischen
Schrifttums der Zukunft sein. Eines der Merkmale des großen
Schriftstellers soll sein, daß ihm der Sinn fehlt für das Verschleierte,
Düstere, Böse, den Teufel, die von den Puritanern ererbten grim-
migen Vorurteile, Hölle, angeborene Verderbtheit und desgleichen.
73
Der große Schrittsteller wird vor allen andern kenntlich sein an seiner
heiteren Einfachheit, seinem Festhalten an natürlichen Maßstäben,
seinem unbegrenzten Glauben an Gott, seiner Ehrfurcht und daran,
daß in ihm kein Raum ist für Zweifel, Blasiertheit, Possen, Spott-
sucht oder irgendwelche unnatürliche und flüchtige Mode.
Ich darf nicht verfehlen, unermüdlich immer wieder und wieder
und noch deutlicher als bisher auf das erhabene Ziel zurückzu-
kommen, sicherlich das stolzeste und reinste, in dessen Dienst der
Schriftsteller der Zukunft, auf welchem Gebiete immer, freudig
wirken mag. (O möchte doch in der Tat ein solcher Fernblick,
wie wir ihn träumen, uns auch dieses Ideal zu seiner Zeit verwirk-
licht sehen lassen !) Das Gegengewicht zu der materiellen Zivilisation
unserer Rasse, unserer Nation, ihres* Wohlstands, ihrer Territorien,
Fabriken, Bevölkerung, Erzeugnisse, ihres Handels und ihrer Heeres-
und Seemacht und der lebendige Atem, der durch all das atmet,
muß, wie gesagt, ihre moralische Zivilisation sein — deren For-
mulierung, Darstellung und Förderung die höchste Aufgabe der
Literatur ist. Der höchste Gipfel dieser erhabenen Höhe der Zivili-
sation, die sich über alle Herrlichkeiten und Schätze von Wohl-
stand, Intellekt, Macht und Kunst als solcher erhebt, — ja sogar
über Theologie und religiösen Eifer, — muß ihre Entwicklung
zum absoluten Gewissen, zu moralischer Gesundheit und Gerechtig-
keit sein, als deren Verkörperung sie aus ewigen Tiefen empor-
taucht. Selbst in religiösem Eifer liegt noch ein Hauch anima-
lischer Glut. Aber moralische Gewissenhaftigkeit — kristallklar,
fleckenlos, nicht nur gottgleich, sondern vollkommen menschlich
— weckt ewig Ehrfurcht und Entzücken. Groß ist fühlende Liebe,
selbst in der Ordnung des rationalen Universums. Aber wenn wir
Abstufungen machen sollen, so bin ich überzeugt, daß es noch
etwas Größeres gibt. Kraft, Liebe, Verehrung, Wohlstand, Genie,
Schönheit: sie alle versagen irgendwie bei schärfster Betrachtung
und Untersuchung in klarsten Stunden, werden irgendwie nichtig.
Alsdann kommt geräuschlos, mit schwebenden Schritten, die höchste
Herrin, die Sonne, das letzte Ideal. Mit den Namen Recht, Ge-
rechtigkeit, Wahrheit deuten wir sie nur an, aber beschreiben sie
nicht. Für die Welt der Menschen bleibt sie ein Traum, eine Idee,
wie sie es nennen. Aber kein Traum ist sie dem Weisen, — son-
dern das Stolzeste, fast das einzig Verläßliche und Dauernde in
aller Welt. Ihre Analogie im materiellen Universum ist dasjenige,
was diese Welt und alle Dinge auf ihr zusammenhält und ihre
Kräfte ewig sicher und wohlbehalten vorwärts trägt. Weil sie im
Leben, in der Soziologie, Literatur, Politik, im Geschäftsleben und
selbst im Gottesdienst fehlt und man ihr, heute wie je, beständig
ausweicht, — daher der Abgrund, die tödliche Kluft und der schwarze
Fleck, der der Zivilisation von heute mit all ihren unbestreitbaren
Triumphen und überhaupt aller bisher bekannten Zivilisation
Hohn spricht.
Die Literatur der Gegenwart ist, obwohl sie gewisse populäre
Ansprüche vortrefflich und mit einer Fülle von Sachkenntnis und
Wortgewandtheit erfüllt, dennoch im tiefsten Grunde verfälscht
und ungesund, und selbst ihre Fröhlichkeit ist angekränkelt. Es
tut ihr not, den Einklang mit der Natur und dem Geist der Natur
zu finden und ihn wiederzugeben und seine Gesetze zu erkennen
und zu befolgen. Ich behaupte, die Frage der Natur, im großen
gesehen, schließt die Fragen der Ästhetik, des Gefühls und der
Religion in sich, und schließt Glückseligkeit in sich. Eine gesund
geborene und auferzogene Rasse, aufwachsend im Haus und im
Freien unter den rechten harmonischen Bedingungen für Tätigkeit
und Entwicklung, würde wahrscheinlich, infolge dieser Bedingungen,
Genüge darin finden, zu leben, — und würde in ihren Beziehungen
zu Himmel, Luft, Wasser, Bäumen usw. und zu all dem Zahllosen,
was es an jedem Tag zu sehen gibt, und in der Tatsache des Lebens
selber Glückseligkeit entdecken und genießen, — und dies ihr Sein
wäre Tag und Nacht durchflutet von gesunder Entzückung, weit
über allen Freuden, die Reichtum, Vergnügungen oder selbst
befriedigter Intellekt, Bildung oder Sinn für Kunst zu gewähren
vermögen.
Wer meine Betrachtungen liest, wird ihren Hauptgehalt nicht
erfassen, wenn er nicht den Punkt wohl beachtet, daß eine neue
Literatur, vielleicht auch eine neue Metaphysik, sicherlich eine neue
Poesie meines Erachtens die einzig festen und würdigen Stützen
und Ausdrucksmittel der amerikanischen Demokratie sein können.
In der Zukunftsliteratur dieser Staaten muß daher vor allen Dingen
die lang vernachlässigte Natur, die echte Natur, die wahre Idee der
Natur wieder völlig zur Geltung und Herrschaft gelangen, den
Dichtungen die alles durchdringende Atmosphäre einhauchen und
75
den Maßstab bilden für alle bervorragenden literariscben und äs-
tbetischen Scböpfungen.
leb meine nicbt die glatten Wege, gestutzten Hecken, Bosketts
und Nacbtigallen der engliscben Poeten, sondern den ganzen Erd-
ball mit seiner geologiscben Gescbichte, den Kosmos, wie er Feuer
und Scbnee trägt und durcb den grenzenlosen Raum rollt, leicbt
wie eine Feder und docb Billionen Tonnen scbwer. Ferner — da
das, was wir gegenwärtig unvollkommen als Natur bezeicbnen,
höcbstens soviel bedeutet, wie von dem physischen Gewissen, dem
Sinn für Materie und animalische Gesundheit erfaßt werden kann
— so muß darüber hinaus entschieden das Bewußtsein gepflanzt
und entwickelt werden, daß der Mensch etwas unendlich Höheres
besitzt, als das physische Gewissen, nämlich das ethische und geistige
Gewissen, das ihn auf seine Bestimmung jenseits des Sichtbaren,
Sterblichen hinweist.
Indem wir nun wirklich zu den Höhen einer solchen Natur-
anschauung emporsteigen, schreiten wir, reinste Luft atmend, in
den Betrachtungen dieser unserer „Ausblicke" fort.
Höhepunkt und Endziel literarisch-künstlerischen Ausdrucks und
seine tiefsten Genußquellen für die Menschenseele liegen in der
Metaphysik, die die Mysterien der Geisteswelt, der Seele selbst, der
Frage nach der ewigen Fortdauer unserer Identität in sich schließt.
Zu allen Zeiten war der menschliche Geist auf diese Höhen gerichtet
und wird es immer sein. Hier wenigstens stehen wir auf gemein-
samem Boden, welcher Rasse oder Epoche wir auch angehören.
Auch der Beifall ist einmütig, handle es sich um Altertum oder
Neuzeit. Die Autoren, die auf diesem Gebiet Gutes leisten, werden
der Menschheit am liebsten sein, und ihre Werke werden immer
geschätzt bleiben, sie mögen ästhetisch noch so unvollkommen sein,
— mag auch der äußere Erfolg statt in einem schönen Prozentsatz
oder Honorar einfach in dem Lorbeerkranz der Sieger bei den großen
Olympischen Spielen bestehen.
Der Gipfel der Literatur und Poesie ist immer die Religion gewesen
und wird es immer sein. Die indischen Vedas, die Nackas Zoroasters,
der jüdische Talmud, das Alte Testament, das Evangelium Christi
und seiner Jünger, Piatos Werke, Mohammeds Koran, Snorres Edda
und so fort bis auf unsere Zeit, bis auf Swedenborg und die unschätz-
baren Schöpfungen von Leibniz, Kant und Hegel, — diese sowie
76
solche Dichtungen, worin zwar Menschen und Dinge, die mensch-
lichen Leidenschaften und die Erscheinungen des stofflichen Uni-
versums besungen werden, worin aber der religiöse Grundton, das
Bewußtsein vom Mystischen, die Anerkennung der Zukunft, des
Unbekannten, der göttlichen Allgegenwart und des göttlichen Planes
nie fehlt, sondern indirekt allem die Färbung gibt, — solche Werke
allein stellen die wirklichen Höhen und Gipfel der Literatur dar
und ragen empor wie die großen Berge der Erde.
Wenn wir auf diesem Grunde stehen — dem letzten, höchsten,
einzig dauernden Grund — und von da aus alle Werke der lite-
rarischen und sonstigen Kunst streng beurteilen, müssen wir jedes
prätentiöse Werk — seine ästhetischen oder intellektuellen Fein-
heiten mögen noch so groß sein — entschieden ablehnen, wenn es
die göttliche Zentralidee vom All verletzt oder ignoriert oder auch
nur nicht preist, — die Idee, die das Universum durchflutet mit
einer ewigen Stufenfolge von Zweck in der, wenn auch noch so
langsamen Entwicklung des physischen, moralischen und geistigen
Kosmos.
Ich sage, wer dieses einfache Bewußtsein und diesen Glauben
nicht in sich aufgenommen hat, der hat vergeblich philosophiert
und studiert, wie groß auch seine äußere Bildung sein mag. Dieser
Gedanke ist nicht ganz neu, — aber es ist die Aufgabe der Demo-
kratie, ihn auszuführen und dafür zu sorgen, daß er mit entschiedener
Konsequenz weiter ausgebaut wird. Uber den Türen alles Unter-
richts muß die Inschrift stehen: „Obschon man wenig oder nichts
absolut wissen oder erkennen kann, außer von einem vergänglichen
Gesichtspunkte aus, so wissen wir doch ein Dauerndes, nämlich
daß Raum und Zeit nach dem Willen Gottes fortlaufende Ketten,
Vollendungen materieller Geburten und Anfänge bilden, allen
Widerspruch, Zweifel und Furcht lösen und schließlich Glück-
seligkeit bringen — und daß die Verkündigung dieser Geburten als
der Keime geistiger Früchte den wirklichen Verbindungsbogen
spannt über allen Unterricht, alle Wissenschaft."
Die örtlich bedingten Anschauungen von Sünde, Krankheit, Miß-
gestalt, Unwissenheit, Tod usw. und ihre Beurteilung durch den
oberflächlichen Verstand, durch gewöhnliche Gesetzgebung und
Theologie müssen bekämpft werden durch eine Wissenschaft, die
jenen Glauben kühn annimmt, verbreitet und den Samen pflanzt
77
tür höhere Gesetze — (ür die Erklärung des physischen Universums
durch das geistige — und die den Weg bahnt für eine Rehgion,
süß und unanfechtbar gleichermaßen für kleine Kinder wie für
große Gelehrte.
Die erhebenden und vergeistigenden Ideen vom Unbekannten
und Unwirklichen müssen mit Nachdruck zur Geltung gebracht
werden, da sie die legitimen Erben des Bekannten und Wirklichen
und mindestens ebenso groß wie ihre Eltern sind. Ohne Furcht
vor Spott und vor der prahlerischen Wirklichkeit wollen wir auf
unserm Platz und festen Grunde stehen und ihn niemals verlassen
und dem wachsenden Übermaß und Übermut dieser Wirklichkeit
die Stirn bieten. Dem zur Zeit triumphierenden Schrei der Sinnen-
welt, der Wissenschaft, des Fleisches, — dem Schrei, der die Herrlich-
keiten von Reichtum, Handel und Landwirtschaft, von Logik, In-
tellekt und Beweisführung, von unvergänglichen Werken, Bauten
aus Stein und Eisen oder selbst die wundervolle Wirklichkeit von
Bäumen, Erde, Felsen usw. verkündet, — fürchtet euch nicht, meine
Brüder und Schwestern, diesem Schrei mit ebenso zuversichtlicher
Stimme die Überzeugung entgegenzurufen, die im tiefsten Innern
jeder erleuchteten Seele lebt: „Ihr alle seid nichts als Illusionen!
Erscheinungen! Träume!" — Sicherlich dürfen wir die Wirklich-
keit nicht verdammen oder völlig leugnen, da der in ihr liegende
Sinn unerläßlich ist; aber wie klar erkennen wir, daß sie durch
die Seele hindurch auf ein Ziel hin wandert, das wir von höheren,
geistigen Gesichtspunkten aus bereits wahrnehmen können; und
daß sie, so greifbar sie unter gegenwärtigen Verhältnissen erscheinen
mag, mit allem, was zu ihr gehört, vielleicht, nein sicherhch ver-
sinken und verschwinden wird.
Ich grüße mit Freuden die ozeangleiche, vielfältige, hochgespannte
praktische Energie, das Verlangen nach Tatsachen und selbst den
Geschäftsmaterialismus unseres Zeitalters, unserer Staaten. Aber
wehe dem Zeitalter oder Lande, in dem diese Dinge und Entwick-
lungen bei sich selber haltmachen und nicht nach Ideen streben.
Wie Brennstoff in die Flamme und Flamme in den Himmel ver-
geht, so muß Wohlstand, Wissenschaft, Materialismus, — ja auch
diese Demokratie, auf die wir uns so viel zugute tun, — unfehlbar
aufgehen in die höchste Geistigkeit, die Seele. Unendlicher Flug!
Unergründliches Geheimnis! Der Mensch, so winzig, schwillt über
7«
das wahrnehmbare Cniversuiii hinaus und überwindet und über-
wölbt Raum und Zeit, wenn er auch nur über eine große Idee
nachsinnt. So, und nur so, vermag ein menschliches Wesen, sein
Geist, über die objektive Natur sich zu erheben und sie zu recht-
fertigen, sie, die vielleicht an sich ein bloßes Nichts, aber hierin
über alles Verstehen und in göttlichem Sinne dienlich, unent-
behrlich und wichtig ist. Und wie der Sinn der objektiven Natur
zweifellos irgendwie hierin gefaltet und verborgen liegt, — und wie
irgendwie hierin der Daseinszweck dieses Erdballs und seiner
mannigfachen Formen und des Tageslichts und der Finsternis der
Nacht liegt, — so muß auch der große Schriftsteller, und vor allem
der Dichter, hieraus seine Inspiration und den Pulsschlag seines
Blutes holen. Dann mögen wir zu einer Dichtung gelangen, die
der unsterblichen Seele des Menschen würdig sein wird; die alle
Materie und alle Schau der Natur in ihrem eigenen Sinne in sich
aufnehmen und dennoch, über all das hinaus, mittelbar und un-
mittelbar einen befreienden, lösenden, erweiternden, religiösen
Charakter haben wird, — eine Dichtung, die mit der Wissenschaft
frohlocken, die moralischen Kräfte befruchten und das Trachten
nach dem Unbekannten und die geistige Versenkung in das Un-
bekannte beleben wird . . .
„Die wesentliche Frage", sagte der Bibliothekar des Kongresses
in einem Vortrag vor der sozial wissenschaftlichen Vereinigung in
New York, Oktober 1869, „die wesentliche Frage bei der Beur-
teilung eines Buches ist: Hat es irgendeiner Menschenseele
geholfen?" — Darin liegt der Prüfstein nicht nur für jeden großen
Schriftsteller und sein Buch, sondern für jeden großen Künstler.
Mag sein, daß alle Kunstwerke in erster Linie nach ihren künst-
lerischen Qualitäten beurteilt werden müssen, nach ihrer Gestaltungs-
kraft, ihren dramatischen oder malerischen Fähigkeiten, ihrer
Kunst, eine Handlung zu schürzen, oder ihrem Wohllaut usw.
Aber wenn sie den Anspruch erheben, Werke ersten Ranges zu
sein, so müssen sie streng und scharf danach beurteilt werden, ob
sie, im höchsten Sinn und immer nur mittelbar, in den ethischen
Prinzipien wurzeln und deren Ausstrahlung sind, und ob sie die
Kraft haben, zu befreien, zu erheben, zu erweitern.
Gleichwie im Wirken des Kosmos eine sittliche Tendenz lebt,
eine sichtbare oder unsichtbare, allem zugrunde liegende Absicht,
79
deren Ergebnis und Rechtfertigung wir geduldig abwarten müssen
und die alle Meteorologie, alle Fülle der Erscheinungen in Mineral-,
Pflanzen- und Tierreich belebt, — all das physische Wachstum und
Werden des Menschen und die gesamte Geschichte der Rassen in
Politik, Religion, Krieg usw., — so auch in dem Werk, in der Fülle
der Werke des größten Schriftstellers. Dies ist der letzte, tiefste
Maßstab und Prüfstein einer literarischen oder künstlerischen
Leistung ersten Ranges, der, wenn richtig verstanden und ange-
wendet, sicherlich zu Werken und Büchern führen muß, edler als
alle bisher bekannten. Sieh auf die Natur (dieses einzige voll-
kommene, wirkliche Gedicht), die so gelassen inmitten des göttlichen
Planes ruht, allumfassend, zufrieden, unbekümmert um alle Eintags-
kritik und alle die endlosen, wortreichen Schwätzer. Und höre auf
das Bewußtsein der Seele, die ewige Identität, den Gedanken, das
Etwas, vor dem selbst die Bedeutung von Demokratie, Kunst,
Literatur usw. zusammenschrumpft und partiell und meßbar wird,
— das Etwas, das vollkommen befriedigt (was jene nicht tun).
Dieses Etwas ist das All und das Bewußtsein des Alls, zugleich
mit dem Bewußtsein der Ewigkeit und dem Bewußtsein der Seele
von sich selbst, die, immerdar unzerstörbar, fröhlich obenauf durch
den Raum segelt zu allen Bereichen hin wie ein Schiff auf See.
Und nochmals höre auf den Herzschlag in aller Materie und allem
Geist, wie er unablässig klopft, — die ewigen Pulsschläge, die ewige
Systole und Diastole des Lebens in den Dingen, — daran ich fühle
und erkenne, daß Tod nicht, wie man glaubte, das Ende ist, sondern
der wahre Anfang, — und daß nichts je verloren gegangen ist oder
verloren gehen und sterben kann, weder Seele noch Stoff.
In der Zukunft dieser Staaten müssen unermeßlich größere Dichter
erstehen, die die großen Gedichte des Todes schaffen. Die Gedichte
des Lebens sind grof3, aber wir brauchen die Gedichte vom Zweck
des Lebens nicht nur in ihm selbst, sondern über es hinaus. Ich
habe Homer gepriesen, die heiligen Sänger des Judentums, Aschy-
lus, Juvenal, Shakespeare usw. und ihren unschätzbaren Wert an-
erkannt. Aber ich sage (vielleicht mit Ausnahme der zweitgenannten,
in mancher, nicht jeder Hinsicht): es müssen, für die Zwecke der
Zukunft und der Demokratie, Dichter erscheinen (wage ich es aus-
zusprechen?) von höherem Rang als jene alle, — Dichter, die nicht
nur von der religiösen Glut und Hingabe Jesaias erfüllt sind oder
80
von dem Reichtum des epischen Talents Homers oder der stolzen
Charaktere Shakespeares, sondern die auch mit den Prinzipien der
Philosophie Hegels und mit moderner Wissenschaft in Einklang
stehen. Amerika und die Welt braucht ein Geschlecht von Sängern,
die jetzt und immerdar das nationale physische Sein des Menschen
mit der Gesamtheit von Zeit und Raum, mit der vielfältigen Er-
scheinungsfülle der Natur, die ihn umgibt und ihn ewig beun-
ruhigt, da sie zugleich ein Teil von ihm und doch kein Teil von
ihm ist, so verknüpfen und in Einklang bringen, daß sie ihn mit
völliger Harmonie, Befriedigung und Ruhe erfüllen.
Uralter Glaube, den die Wissenschaft jetzt verscheucht hat, muß
wiederhergestellt, durch dieselbe Macht, die sein Schwinden ver-
ursachte, wiedergebracht werden -— wiederhergestellt zu neuem
Schwung, tiefer, weiter, höher als je. Wahrlich, diese allgemeine
Blasiertheit, diese feige Ängstlichkeit, dieses Schaudern vor dem Tode,
diese niedrigen, entwürdigenden Anschauungen dürfen den Geist,
der die zukünftige Gesellschaft durchdringen soll, nicht auf immer
beherrschen, wie es in der Vergangenheit der Fall war und jetzt
ist. Was der Römer Lukretius in edelster Absicht, aber allzu blind-
lings für seine und die folgende Zeit negativ zu tun versuchte,
muß positiv von einem großen, künftigen Schriftsteller, besonders
Dichter geleistet werden, der, immer ganz Dichter bleibend, dennoch
zugleich alle Erkenntnisse der Wissenschaft in seine Geistigkeit auf-
nehmen und aus beiden Elementen und seinem eigenen Genius heraus
das große Gedicht vom Tode schaffen wird. Dann wird der Mensch
in Wahrheit der Natur und Raum und Zeit wissenschaftlich und
liebend zugleich gegenübertreten und seinen richtigen Platz ein-
nehmen, gerüstet fürs Leben, Herr über Glück und Unglück. Und
dann wird das lang Ersehnte erfüllt sein und das Schiff einen Anker
haben, der ihm auf all seinen früheren Fahrten gefehlt hat.
Noch andere Normen und Weisungen gibt es für die Werke
großer Schriftsteller. Das, was in Wahrheit die soziale und poli-
tische Welt im Gleichgewicht erhält, ist nicht so sehr Gesetzgebung,
Polizei, Verträge und Furcht vor Strafe, sondern der heimliche,
ewige, intuitive Sinn der Menschheit für Redlichkeit, Männlichkeit,
Anstand usf. Diese beständige Regulierung, Kontrolle und Aufsicht
auf dem Wege der Selbsthilfe ist in der Tat die conditio sine qua
non der Demokratie; und eines der höchsten und wichtigsten Ziele
6 Whitman I
8i
demokratischer Literatur wäre es, diesen Sinn in Individuen und
Gesellschaft zu entwickeln, zu pflegen und zu stärken. Eine starke
Meisterschaft des überlegenen Ich über die schwächere Allgemein-
heit muß durch die Schriftsteller unterstützt und sichergestellt
werden, wenn auch nur indirekt dadurch, daß er in seinen Werken
für die demokratischen Individualitäten sowohl wie für die demo-
kratische Gemeinschaft das Vorbild erhabener, leidenschaftlicher
Körperlichkeit und in und mit ihr das eines erhabenen, gebiete-
rischen Geistes schafft.
Ich gehe noch weiter und blicke — für alle Fälle — der Tat-
sache in die Augen, daß die Vereinigten Staaten machtvolle ein-
heimische Philosophen, Redner und Dichter brauchen werden als
zusammenhaltende Kräfte in kommenden Zeiten der Gefahr, zum
Schutz gegen Zerstörung und Zerfall. Denn die Geschichte ist lang,
lang, lang. Man mag die Möglichkeiten drehen und wenden wie
man will, das Problem der Zukunft Amerikas ist in gewissen Be-
ziehungen ebenso dunkel wie umfangreich. Stolz, Wettbewerb,
Sonderinteressen, frevelhafter Eigensinn und beispiellose Willkür
brüten schon über uns. Wer soll das schwerfällige Ungeheuer —
wer soll Behemoth aufhalten? wer Leviathan zügeln? — Wir mögen
es bemänteln, wie wir wollen, quer über den Wegen unseres Fort-
schritts erhebt sich riesig und dämmerig die Ungewißheit und furcht-
bares, drohendes Dunkel. Es ist zwecklos, es zu leugnen: die Demo-
kratie treibt in geiler Fülle die dichtesten, tödlichsten Giftpflanzen
und -früchte von allen, lockt immer schlimmere und schlimmere
Eindringlinge herbei — und braucht neuere, reichere, stärkere,
kühnere Verteidiger und Bezwinger. Unsere Länder, die so viel um-
fassen (die in der Tat alle aufnehmen und keinen zurückweisen),
tragen in ihrer Brust auch die Flamme, die fähig ist, sie selber zu
verzehren und uns alle. So kurz auch die Spanne unseres natio-
nalen Daseins erst ist, so sind doch schon Tod und Niedergang bis
in dichteste Nähe über uns gekommen, und werden wiederum
kommen, ohne Zweifel, wenn sie auch jetzt abgewehrt sind. Künf-
tige Geschlechter werden vielleicht nie wissen, aber ich weiß, mit
wie knapper Not im verflossenen Sezessionskrieg unsere National-
einheit (in der, wie in einem Schiff im Sturm, all unser bestes Sein,
Hoffen und Können auf Gedeih oder Verderb verfrachtet war und
noch verfrachtet ist) mehr als einmal und mehr als zwei- und
82
dreimal just um ein Haar der Vernichtung entging. Ach, daran
zu denken! an die Todesangst und den blutigen Schweiß mancher
dieser Stunden! an diese grausamen, scharfen, hangenden Ent-
scheidungsstunden !
Und heute? wo es inmitten dieser Wirbelstürme von unglaub-
licher Schwätzerei, blinder Parteiwut, Unglauben völlig an Kapi-
tänen und Führern ersten Ranges fehlt, bei höchster Gemeinheit
und Niedrigkeit der sich an der Oberfläche breitmachenden Massen,
und wo jenes furchtbare Problem, die Arbeiterfrage, sich wie eine
gähnende Kluft zu öffnen beginnt, die mit jedem Jahr zusehends
weiter wird — was für Aussichten haben wir da? Wir segeln auf
einer gefährlichen See voll kochender, sich kreuzender Ströme und
Unterströme und Strudel — alle so finster und unerprobt — und
wohin sollen wir wenden? Es ist, als hätte der Allmächtige vor
diese Nation Seekarten gebreitet, um ihr die Wege zu weisen zu
einem Herrscherschicksal, strahlend wie die Sonne, aber voll tiefer
innerer Schwierigkeiten und schwärender Leiden menschlicher Un-
vollkommenheit — als wollte er sagen: Hab acht! die einzigen
W^ege, die dich zur Entwicklung führen, sind lang, voll mannig-
facher furchtbarer Hindernisse und Stürme! — Ihr spracht, o
Länder Amerikas, in eurer Seele zu euch: Wir wollen das Reich
aller Reiche sein, wir wollen alles andere. Vergangenes und Gegen-
wärtiges, überschatten und die Geschichte der Dynastien der Alten
Welt und ihre Eroberungen als etwas Überwundenes hinter uns
lassen — wir wollen eine neue Geschichte machen, eine Geschichte
der Demokratie, neben der die alte Geschichte zwergenhaft er-
scheinen soll — , wir allein wollen der Beginn von etwas viel Um-
fassenderem und die Krönung unserer Zeit sein. Wenn das, ihr
Länder Amerikas, der Entschluß eurer Seele ist und der Preis, um
den ihr ringt, dann sei es so! Aber bedenkt, was es euch kosten
wird und schon jetzt kostet. Glaubtet ihr, daß Größe für euch
reifen würde wie eine Birne? Wollt ihr Größe erlangen, so wisset,
daß ihr sie erobern müßt durch Generationen und Jahrhunderte
hindurch — daß ihr dafür bezahlen müßt mit einem entsprechenden
Preis. Auch euer wie aller Länder Teil ist Kampf und Verrat,
Unehrlichkeit der Ämter, innerlich fauler Wohlstand, Übersätti-
gung im Reichtum, der Dämon der Gier, die Hölle der Leiden-
schaft, Verfall des Glaubens, ermüdender Aufschub, versteinerte
83
Trägheit, immer neue, unvermeidliche Revolutionen, Heilsverkünder,
Gewitter, Tode und Geburten, immer neuer Aufschwung zu immer
stärkeren Ideen und Menschen.
Und dennoch — versunken in das dunkel- verworrene Rätsel
unserer Zukunft, dessen langwierige Lösung sich geheimnisvoll
durch die Zeiten erstreckt — habe ich von einer kleinen oder viel-
leicht schon größeren Schar geträumt, ja sie bereits in Andeutungen
geschildert — eine Schar von Tapferen und Wahrhaftigen, wie die
Welt sie noch nicht sah — voll gewappnet und gerüstet — vielleicht
getrennt durch verschiedene Zeiten und Staaten, im Süden, Norden,
Osten oder Westen — an der pazifischen oder atlantischen Küste, in
den Südstaaten oder in Kanada — in dem einen Jahr oder Jahrhundert
hier, in anderen Jahrhunderten dort — aber immer in Einheit, in
seelischer Geschlossenheit, mit wachem Gewissen und Gott-Bewußt-
sein, erleuchtete Vollbringer, nicht nur in der Literatur, der größten
Kunst, sondern in jeder Kunst — ein neuer unsterblicher Orden,
eine neue Dynastie, von Generation zu Generation überliefert —
eine Schar, eine Klasse, mindestens ebenso fähig, sich mit den Ge-
fahren und Nöten unserer Zeit zu messen, wie jene, die zu ihrer
Zeit so lange und erfolgreich in Harnisch oder Kutte die feudale
oder priesterliche Welt aufrechthielten und ruhmvoll machten. Im
Gegensatz zum Rittertum und all den geschwundenen, zahllosen
höfischen Helden, alten Altären, Abteien, Priestern vergangener
Geschlechter und Reihen von Geschlechtern ruft heute eine viel
ritterlichere und heiligere Sache in einer Neuen Welt zu größerer,
erhabenerer Tat, die sie auch vollbringen wird, und die mehr sein
wird als das bloße Widerspiel oder Seitenstück dazu.
Nachdem wir nun endgültig auf einem Höhepunkt dieser „Aus-
blicke" angelangt sind, gestehe ich, daß die Verkündigung einer
solchen Klasse und Institution — eines neuen und größeren Ordens
der Literatur — und der Glaube an sie und ihre Möglichkeit (nein,
Gewißheit) all diesen Spekulationen zugrunde liegt, und daß alles
übrige, all ihre andern Teile, darauf aufgebaut und gegründet
sind. Die Schöpfung einer solchen Institution erscheint mir in
der Tat als die Vorbedingung nicht nur für unsere künftige natio-
nale und demokratische Entwicklung, sondern überhaupt für unsern
dauernden Bestand. Die höchst verkünstelten, materialistischen
Grundlagen der modernen Zivilisation mit ihren entsprechenden
84
Lebenseinrichtungen und -methoden, mit ihrer übermäßigen Geltung
boßen Intellekts, mit den verderblichen Einflüssen von Reichtum
sowohl wie Armut und dem Fehlen aller hohen Charakterideale,
— mit all der Fülle von Tendenzen und Lebensformen, denen zu
widerstehen nur wenige stark genug sind und die jetzt mit maschinen-
hafter Geschwindigkeit die Menschengeschlechter nur noch ein-
förmig wie gußeißerne Ware auszuformen scheinen, — und die wir
doch alles in allem, im Vergleich zum feudalen Zeitalter, schließ-
lich hinnehmen und willkommen heißen müssen und aus denen
wir das Beste machen müssen um ihrer ozeangleichen realen Groß-
artigkeit willen und weil sie die Massen im großen und ganzen
unwiderstehlich durchkneten, — ich sage, all diese furchtbare Herr-
schaft lediglich materialistischer Einflüsse auf das jetzige Leben der
Vereinigten Staaten mit all ihren bereits sichtbaren Ergebnissen,
die sich immer mehr häufen und weit in die Zukunft hinein wirken,
— all das muß entweder durch mindestens ebenso subtile und mäch-
tige Einflüsse wettgemacht werden, die auf Vergeistigung, reines
Gewissen, echtes Schönheitsgefühl und unabhängige, erstlingsfrische
Mannheit und Weibheit abzielen; — oder aber unsere moderne
Zivilisation mit all ihren Errungenschaften ist umsonst, und wir
sind auf dem Wege zu einem Schicksal, einem Zustand, der, in
dieser ihrer realen Welt, dem der Verdammten des Fabelreichs
gleicht.
Wenn wir so auf die kommenden, in aller Gelassenheit nahen-
den Zeiten blicken und auf diesen neuen Orden, der in ihnen er-
wachsen soll, und auf die endlose Kette von Heranbildung, Ent-
wicklung, Entfaltung in Nation und Mensch, die der Sinn des Lebens
ist, so sehen wir, in Vorzeichen, inmitten dieser Ausblicke und Hoff-
nungen, neue gesetzschaffende Kräfte gesprochener und geschriebener
Sprache, — nicht nur pädagogischer Formen, korrekt, regelrecht,
in aller Uberlieferung bewandert, geschaffen für äußere Richtig-
keit, schöne Worte, endgültig geprägte Gedanken, — sondern eine
Sprache, die umweht ist vom Hauch der Natur, die Sprünge macht
kopfüber, der es vor allem auf Impuls und Wirkung ankommt und
auf das Wachstum dessen, was sie pflanzen und zu starker Ent-
wicklung bringen will, — die mit Leben und Charakter wetteifert
und die Dinge nicht so sehr ausspricht, als andeutet und zu ihnen
hinzwingt. In der Tat, eine neue Theorie literarischen Schaffens
für höchste Werke der Einbildungskraft, besonders für höchste Dich-
tung, ist der einzige Weg, der den Vereinigten Staaten offen ist.
Bücher müssen verlangt und beschafft werden von der Voraussetzung
aus, daß Lesen kein Halbschlaf ist, sondern im höchsten Sinn eine
Geistesübung, ein gymnastisches Ringen; daß der Leser selbst etwas
dabei tun muß, daß er wachsam sein muß, daß er oder sie in der
Tat selbst das Gedicht, die Beweisführung, die Geschichte, den
metaphysischen Essay mit aufbauen muß und der Text nur die An-
deutungen, den Schlüssel, den Ausgangspunkt oder das Gerippe
gibt. Nicht so sehr das Buch muß komplett sein, sondern der Leser.
Auf solche Weise könnte eine Nation geschmeidiger und athletischer
Geister sich bilden, wohl trainiert, intuitiv, gewöhnt, sich auf sich
selber zu verlassen und nicht auf ein paar Koterien von Schrift-
stellern.
Wenn wir diesem Gedanken nachgehen, so sehen wir, nicht daß
alle unsere ererbten Bibliotheken , all die zahllosen Bücher in
Schränken, alle die Urkunden usw. etwas Geringes sind, — son-
dern wie groß die Gefahr ist, sich ganz von ihnen abhängig zu
machen, von den Adern ohne Blut, den Muskeln ohne Nerv, der
falschen Anwendung aus zweiter und dritter Hand. Wir sehen, daß
das wahre Interesse dieses unseres Volkes an der Theologie, Ge-
schichte, Dichtung, Politik und den persönlichen Vorbildern der Ver-
gangenheit (der britischen Inseln zum Beispiel, aber überhaupt der
gesamten Vergangenheit) nicht notwendig darin liegt, uns selbst oder
unsere Literatur nach ihnen zu modeln, sondern uns mit ihnen,
als mit etwas Abgeschlossenem, Gültigerem, zu vergleichen, ihre
Warnungen zu hören und durch sie einen Einblick in uns selbst,
in unsere eigene Gegenwart und unsere viel größere, andersartige
Geschichte, Religion und Gesellschaftsform der Zukunft zu gewinnen.
Wir sehen, daß fast alles, was bisher mit bezug auf die Mensch-
heit unter der Herrschaft der feudalen und östlichen Institutionen
und Religionen und für andere Länder geschrieben, gesungen oder
festgestellt worden ist, von neuem geschrieben, gesungen und fest-
gestellt werden muß in Ausdrucksformen, die der Institution dieser
unserer Staaten entsprechen und sich ihr gehorsam einfügen und
anpassen.
Gleichwie im physischen Kosmos nach meteorologischen, pflanz-
lichen und tierischen Zeitaltern zuletzt der Mensch sich erhebt,
86
der aus ihnen geboren ist und bestimmt, sie zu erproben, in sich
zu konzentrieren, mit Staunen und Liebe auf sie zu blicken, über
sie zu herrschen, sie zu krönen und sie in höhere Reiche empor-
zutragen, — so sehen wir auch aus den sozialen und politischen
Zeitaltern der Vergangenheit jetzt diese Staaten sich erheben. Wir
sehen, daß nicht, wie viele meinten, alles bereits erreicht und vollendet
ist, sondern daß in Wahrheit das Größte immer noch zu tun bleibt,
und wir entdecken, daß das Werk der Neuen Welt nicht beendigt,
sondern nur eben erst begonnen ist.
Wir sehen unser Land, Amerika und seine Literatur, Ästhetik
usf. im wesentlichen an als die werdende Ausdrucksform oder als
die breiteste Offenbarung der tiefsten Grundelemente und der höch-
sten Endziele der Geschichte und des Menschen — als die Bildnerin
unserer eigensten Physiognomie (nach den ewigen Gesetzen und
Bedingungen der Schönheit), die subjektive Bindung und den Aus-
druck des Objektiven, hervorgehend aus unserer besonderen Zu-
sammensetzung, Überlieferung und Anschauung — und als Nieder-
schlag und Zusammenfassung der nationalen Mentalität, Charakter-
eigenart, Berufung, der nationalen Heldentaten, Kämpfe und Frei-
heiten — wo alles das in einer einheimischen literarischen und
künstlerischen Formulierung seinen höchsten Ausdruck findet, der
unsere Nation davor bewahren wird, ziellos herumzutappen und
all ihre materielle Größe, so imposant und gewaltig sie ist, nach
flüchtigem Glänze schwinden zu sehen, sondern der Amerika dazu
verhelfen wird, sich selbst zu verstehen, hochherzig zu leben und
aus seiner Fülle zu spenden und eine vollgestaltete Welt zu werden,
die, sicher in sich selber ruhend, erleuchtet und erleuchtend, ihre
Bahn durchläuft, — göttliche Mutter nicht allein körperlicher, son-
dern geistiger anderer Welten, in endloser Nachfolge durch die
Zeiten — gegründet immer auf das eine, Wesentliche: den Durch-
schnitt, das leibhaftig konkrete, demokratische Volkstümliche, auf
dem aller Aufbau der Zukunft für alle Zeiten ruhen muß.
TAGEBUCH 1862-1864
An der Front
Falmouth, Virginia, g^eg^enüber Fredericksburg
21. Dezember 1862.
Beginne mit meinen Besuchen in den Feldlazaretten der Potomac-
Armee. Verbringe einen großen Teil des Tages in einem geräumigen
Backsteingebäude am Ufer des Rappahannock, das seit der Schlacht*
als Lazarett dient; scheint, daß nur die am schwersten Verwundeten
hier aufgenommen sind. Draußen unter einem Baum, zehn Schritt
von der Front des Hauses, bemerke ich einen Haufen amputierter
Füße, Beine, Arme, Hände usw., eine volle Ladung für einen ein-
spännigen Karren. Mehrere Tote liegen dabei, jeder mit seiner
braunwollenen Decke zugedeckt. Im Hof, gegen den Fluß hmab,
sind frische Gräber, meistens von Offizieren; die Namen auf Faß-
dauben oder Holzlatten, die in den schmutzigen Boden gesteckt sind.
(Die meisten dieser Leichen wurden später ausgegraben und zu
ihren Angehörigen nach Norden geschafft.) Das große Gebäude ist
im unteren und oberen Stockwerk gedrängt voll ; alles improvisiert,
kein System, alles ziemlich schlecht, aber zweifellos so gut, als es
sich eben machen läßt; alle Wunden sehr schwer, einige furchtbar;
die Leute noch in ihren vertragenen Uniformen, schmutzig und
blutig. Unter den Verwundeten sind auch gefangene Rebellen, Sol-
daten und Offiziere. Mit einem von ihnen, einem Mississippier,
einem Hauptmann, der einen bösen Schuß im Bein hatte, unter-
hielt ich mich eine Zeitlang; er bat mich um Zeitungen, die ich
ihm gab. (Ich sah ihn ein Vierteljahr nachher in Washington; das
* Bei Fredericksburg. (Anmerkung des Übersetzers.)
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Bein war amputiert; sonst ging es ihm gut.) Ich ging durch die
unteren und oberen Zimmer. Einige von den Leuten lagen im
Sterben. Ich hatte bei diesem Besuch nichts zu verschenken, son-
dern schrieb nur im Auftrag der Verwundeten ein paar Briefe an
Verwandte zu Hause, Mütter usw. Sprach auch mit dreien oder
vieren, die am empfänglichsten schienen und es nötig hatten.
2 3. bis 3i. Dezember.
Die Folgen der letzten Schlacht sind hierherum überall wahr-
zunehmen, an Tausenden von Fällen (Hunderte sterben täglich) in
den Feld-, Brigade- und Divisionslazaretten. Das sind nur Zelte, und
zwar zum Teil sehr ärmliche. Die Verwundeten liegen am Boden,
glücklich, wenn ihre Decken auf Schichten von Tannen- oder Fich-
tenzweigen oder kleinen Blättern ausgebreitet sind. Keine Betten;
selten auch nur eine Matratze. Es ist ziemlich kalt. Der Boden ist
hart gefroren und es schneit mitunter. Ich gehe von einem zum
andern. Ich weiß nicht, ob ich diesen Verwundeten und Sterbenden
viel helfe; aber ich kann sie nicht verlassen. Dann und wann hält
sich ein junger Mensch krampfhaft an mir fest, und ich tue für ihn,
was ich kann; auf jeden Fall bleibe ich bei ihm und sitze stunden-
lang neben ihm, wenn er es haben will.
Da liegen sie auf einem freien Platz im Walde, zwei- bis drei-
hundert arme Kerls — das Ächzen und Schreien — der Blutgeruch
vermischt mit dem frischen Duft der Nacht, des Grases, der Bäume
— dieses Schlachthaus ! Oh, gut ist es, daß ihre Mütter, ihre Schwe-
stern sie nicht sehen können, — daß sie sich das nicht vorstellen
können, nie vorgestellt haben. Ein Mann ist von einem Granat-
splitter getroffen, ins Bein und in einen Arm — beide sind ampu-
tiert — da liegen die abgetrennten Glieder. Andern sind die Beine
abgeschossen — andere haben Kugeln in der Brust — andere un-
beschreiblich fürchterliche Wunden im Gesicht oder im Kopf, alle
verstümmelt, ekelerregend, zerfleischt, aufgerissen, — manche im
Unterleib — manche sind noch Knaben — viele Rebellen dabei,
schwer verletzt — die Reihe kommt an sie wie an die übrigen —
die Arzte behandeln sie gerade so. So sieht es im Verwundetenlager
aus — ein Fragment, ein entfernter Widerschein der blutigen Szene
— während über das Ganze der klare große Mond hin und wieder
sein weiches, ruhiges Licht ausgießt. Mitten im Walde diese Szene
89
fliehender Seelen — unter dem Knattern und Krachen und gellenden
Geschrei — der leise Duft des Waldes — und doch der beißende,
erstickende Rauch — der Glanz des Mondes, der immer wieder so
friedlich vom Himmel herabblickt — das Gewölbe so himmlisch —
das Helldunkel dort oben, diese schwimmenden oberen Meere —
einige große, friedliche Sterne dahinter, die schweigend und ge-
lassen hervorkommen und dann verschwinden — die melancholische,
verhängte Nacht droben und ringsumher. Und dort, auf den Wegen,
den Feldern und in den Wäldern dieser Kampf — niemals und
nirgends ein so erbitterter — beide Parteien jetzt in voller Wucht —
Massen — kein Scheingefecht, kein halbes Spiel, sondern grimmige,
wilde Dämonen kämpfen hier — Tapferkeit und Todesverachtung
die Regel, Ausnahmen so gut wie keine.
Welche Geschichte kann je — denn wer weiß alles — das wütend
entschlossene Ringen der Armeen in all ihren einzelnen großen und
kleinen Abteilungen darstellen — wo, wie hier, jede von Kopf bis
Fuß in verzweifelten, tödlichen Willen getaucht ist? Wer weiß
etwas von den Nahkämpfen, von den vielen Kämpfen im Dunkeln,
in diesen schattenverwobenen, mondstrahlendurchblitzten Wäldern
— die hin und her wogenden Gruppen und Rotten — das Schreien,
der Lärm, das Knattern der Gewehre und Pistolen — der ferne
Kanonendonner — Hurrarufen, Schreie, Drohungen und die schreck-
liche Musik der Flüche — das unbeschreibliche Durcheinander —
Befehle, Ansporn und Zuspruch der Offiziere — alle Teufel im
menschlichen Herzen losgelassen — der starke Ruf: „Vorwärts, Leute !
Vorwärts!" — das Blitzen des bloßen Säbels und Gewühl von Flam-
men und Qualm? Und noch immer der klare, wolkenumzogene
Himmel und noch immer wieder das Mondlicht, das silbrig weich
seine strahlenden Lichtflecken über alles gießt. Wer will die Szene
malen, die plötzliche teilweise Panik am Nachmittag in der Däm-
merung ? Wer den unwiderstehlichen Vormarsch der zweiten, plötz-
lich herbefohlenen Division des dritten Korps unter Hooker selbst —
diese rasch aufrückenden Phantome durch die Wälder hin? Wer
zeigt, was sich da im Schatten heranbewegt, fließend und fest —
die Ehre der Armee, vielleicht der Nation zu retten? — Und es war
die Rettung. Dort behaupten die Veteranen das Feld.
90
üng^enannt bleibt der tapferste Soldat
Wer schreibt, sage ich, wer kann die Geschichte solcher Szenen
schreiben? Wer erzählt von den vielen Dutzenden — nein Tausenden
ungenannter Helden aus Norden und Süden, unbekannten Helden-
taten, unglaublicher, spontaner, äußerster Verzweiflungskraft? Keine
Geschichte, kein Gedicht verherrlicht, kein Lied besingt diese Tapfer-
sten von allen — diese Taten. Kein offizieller Generalstabsbericht, kein
Bibliothekbuch, keine Zeitungsspalte weiht dem Tapfersten aus
Nord oder Süd, Ost oder West den Nachruf. Ungenannt, unbekannt
bleiben für immer die tapfersten Soldaten. Unsere Männlichsten —
unsere Jungen — unsere kühnen Lieblinge: in keinem Bilde leben
sie fort. Ihr Urbild (ohne Zweifel gibt es Hunderte, Tausende wie
er) kriecht vielleicht zur Seite unter einen Strauch oder Farrenbusch,
zu Tode getroffen — sucht dort Obdach für kurze Zeit — tränkt
Wurzeln, Gras und Boden mit rotem Blut — die Schlacht rückt
vor, kehrt wieder, huscht von der Szene, fegt vorbei — und dort,
vielleicht unter Schmerz und Qual (doch geringer, weit geringer als
man denkt) windet sich die letzte Lethargie wie eine Schlange um
ihn — die Augen verglasen im Tod — niemand kümmert sich darum —
vielleicht lassen eine Woche später bei Waffenruhe die Begräbnis-
kommandos den abgelegenen Platz undurchsucht — und dort zer-
fällt endlich der tapferste Soldat zu Erde, unbegraben und un-
bekannt.
Meine Vorbereitung für Besuche
Bei meinen Besuchen in den Lazaretten habe ich gefunden, daß
ich durch die bloße Tatsache meiner persönlichen Gegenwart, durch
die Ausströmung von einfachem Frohsinn und Magnetismus mehr
Erfolg hatte und nützte als durch ärztliche Pflege oder Lecker-
bissen oder Geldgeschenke oder irgend etwas anderes. Während des
Krieges besaß ich vollkommene körperliche Gesundheit. Es war
meine Gewohnheit, wenn es sich machen ließ, mich auf jeden meiner
täglichen oder nächtlichen Rundgänge, die zwei bis vier oder fünf
Stunden dauerten, dadurch vorzubereiten, daß ich mich zuvor durch
Ruhe, Baden, frische Kleidung, eine gute Mahlzeit und ein möglichst
heiteres Aussehen stärkte.
91
Aus einem Bericht im „Brooklyn Eagle", 19. März i863
So werde ich besser vertraut mit den einzelnen Fällen und lerne
jeden Tag einen besonderen, interessanten Charakter kennen und
komme in ein vertrautes und oft zärtliches Verhältnis zu edlen
jungen amerikanischen Männern ; und dann erst beginnt das eigent-
liche Gute, das man tun kann. Und dann erst, das gestehe ich
egoistischerweise, bin ich so recht in meinem Element. Selbst vom
ärztlichen Standpunkt aus ist das von größter Bedeutung ; ich kann
bezeugen, daß Freundschaft buchstäblich ein Fieber und die Arznei
täglicher Zärtlichkeit eine schlimme Wunde geheilt hat. In dem,
was ich da sage, liegt das letzte Geheimnis einer erfolgreichen Tätig-
keit als Krankenpfleger unserer Soldaten, und ich spreche es aus
für die, die es verstehen können.
Washington, 3o. Juni i863.
Liebste Mutter!
Ich habe die letzten Tage bis gestern Abend mit einem ziemlichen
Anfall von Halskatarrh und Kopfweh zu tun gehabt; aber heute
fühle ich mich beinahe wieder ganz wohl. Ich war fast wie sonst
in der Stadt — in den Lazaretten usw. meine ich. Man sagt mir,
daß ich mich zu viel an den Krankenbetten aufhalte, bei Fieber-
kranken, eiternden Wunden usw. Einen Soldaten, der schwer typhus-
krank vor etwa vierzehn Tagen hierhergebracht wurde, habe ich
in meine ganz besondere Obhut genommen, da ich ihn in einem
Zustand fand, der nahe am Sterben war, infolge von Vernachläs-
sigung und einer furchtbaren Reise von vierzig Meilen, schlechten
Wegen und schnellem Fahren; und dann wurde er, als er hierher
kam, ebenfalls vernachlässigt, da er ein einfacher Junge vom Lande
ist, sehr scheu und schweigsam und sich nie beklagte. Ich machte
den Arzt auf ihn aufmerksam, setzte die Pflegerinnen in Bewegung,
ließ ihn mit Spiritus waschen, gab ihm Stücke Eis zu schlucken
und Eis auf den Kopf ... Er war sehr ruhig, ein sehr vernünftiger
Mensch, altmodisch; er wollte nicht sterben, und ich mußte ihn
fortwährend belügen, denn er glaubte, ich wisse alles. Und ich tat
natürlich, als ob ich ihm stets die volle Wahrheit sagte und es ihm
mitteilen und nicht verheimlichen würde, wenn es einmal gefährlich
um ihn stehen sollte. Schwer Fieberkranke werden in der Regel
92
aus den allgemeinen Sälen in eine besondere Baracke geschafft, und
wie mir der Arzt sagte, sollte er auch dorthin gebracht werden. Ich
brachte es ihm schonend bei, aber der arme Junge bildete sich sofort
ein, daß er als hoffnungslos aufgegeben sei und deshalb dorthin
gebracht werde. Dieser Gedanke erschütterte ihn; und obwohl ich
ihm diesmal die Wahrheit sagte, hatte ich damit weniger Erfolg als
vorher mit meinem Flunkern. Ich überredete den Arzt, ihn dazu-
lassen. Drei Tage lang schwebte er zwischen Leben und Tod, eher
noch näher dem Tode. Um es aber endlich kurz zu machen, liebe
Mutter, er ist jetzt über die größte Gefahr hinaus. Die ganze Zeit
über war er bei vollem Bewußtsein. — Jetzt beginnt er ein wenig
Nahrung zu sich zu nehmen (eine Woche lang aß er nichts; ich
mußte ihn zwingen, dann und wann eine Viertel-Orange zu nehmen),
und, mag man es nun Anmaßung nennen oder nicht, ich möchte
sagen, daß, wenn er wieder aufkommt und gesund wird, ich ihm
das Leben gerettet habe.
Mutter, wie ich Dir schon schrieb. Du kannst Dir keine Vor-
stellung davon machen, wie diese kranken und sterbenden Jünglinge
sich an einen anschließen und wie bezaubernd das ist, trotz all dem
Traurigen, trotz Schrecken und Tod, die einen hier umgeben. In
diesem selben Lazarett, wo dieser Kavallerist liegt, habe ich noch
etwa fünfzehn oder zwanzig Fälle, um die ich mich besonders küm-
mere und zum Teil nicht weniger als um ihn. Es sind zwei von
East Brooklyn da . . . Beide sind ziemlich schwer verwundet, beides
Jünglinge unter neunzehn Jahren. O Mutter, wenn ich so durch
die Bettreihen gehe, scheint es mir, als wäre es ein Unrecht, diese
Kinder ins Heer aufzunehmen und sie so vorzeitigen Erfahrungen
auszusetzen. Ich widme mich hauptsächlich dem Armory-Square-
Lazarett, weil hier bei weitem die schlimmsten Fälle, die entsetz-
lichsten Wunden, das größte Leiden zu finden ist, weil hier Trost
am meisten nottut. Ich gehe jeden Tag ohne Ausnahme und oft
bei Nacht — bleibe manchmal sehr lange. Niemand legt mir etwas
in den Weg, weder Wachtposten, Wärter, Ärzte noch sonst jemand.
Man läßt mir vollständig freie Hand.
Washington, 8. September i863.
Ich gehe jeden Tag und jede Nacht in die Lazarette — ich glaube
nicht, daß sich Menschen je so liebten, wie ich und einige dieser
93
armen verwundeten, kranken und sterbenden Männer einander
lieben. — Mutter, ich bin wirklich stolz darauf, Dir zu sagen, daß
ich mir bewußt bin, eine ganze Anzahl von Leben zu retten, da-
durch, daß ich sie davor bewahre, sich selber aufzugeben, und daß
ich so viel wie möglich bei ihnen bin; die Leute sagen, es sei so,
und die Ärzte sagen, es sei so — und ich kann mit gutem Gewissen
bekennen, daß es wahr ist, obwohl ich es von mir selber sage. Ich
weiß, Du wirst es gern hören, Mutter, deshalb sage ich es Dir.
Washington, 2. März 1864.
Oh, ich wünschte. Du, Mutter — oder überhaupt Frauen wie Du
und Mat* — wären hier, so viele wie möglich, als Hausmütter für
die armen kranken und verwundeten Männer. Eure bloße Gegen-
wart würde schon genügen — oh, wie gut würde es ihnen tun.
Mutter, es macht mich krank, zu sehen, welche Art von Menschen
hier mit ihrer Pflege betraut sind — so kalt und förmlich, sie
fürchten sich, sie anzufassen.
Washington, 3. Juni 1864.
Du weißt nicht, wie sehr ich mich danach sehne, nach Hause
zu kommen und euch alle wiederzusehen; Dich, liebe Mutter, und
Jeff und Mat und alle. Ich glaube, ich habe Heimweh — ein
neues Gefühl für mich — dazu kommt, daß ich alles Grauen des
Soldatenlebens gesehen habe, ohne jedoch das kriegerische Erleben
mitzumachen, das mich abgelenkt hätte. Es ist schrecklich, so viel
zu sehen und nicht helfen zu können.
Ein New Yorker Soldat
Heute Nachmittag, am 11. Juli, blieb ich lange bei Oskar F.Wil-
bur, Kompagnie G, i54 Rgt. New York, der an Dysenterie und auch
einer schlimmen Wunde daniederliegt. Er bat mich, ihm ein
Kapitel aus dem Neuen Testament vorzulesen. Ich willigte ein
und fragte ihn, was ich lesen solle. Er sagte: „Wähle selbst!" Ich
schlug den Schluß eines der ersten Evangelien auf und las die
Kapitel vor, worin die letzten Stunden Christi und die Vorgänge
* W.'s Schwägerin, Frau seines drittjüngsten Bruders Thomas Je£ferson W.
(Anmerkung des Ühersetzers.)
94
bei der Kreuzigung beschrieben sind. Der arme verfallene junge
Mensch bat mich, auch das folgende Kapitel vorzulesen, wo Christus
wieder auferstand. Ich las sehr langsam, denn Oskar war schwach.
Es gefiel ihm sehr gut, aber die Tränen standen ihm in den Augen.
Er fragte mich, ob ich auf Religion etwas halte. Ich sagte: „Viel-
leicht nicht in der Weise, wie du meinst, mein Lieber, und doch
kommt es wohl auf dasselbe hinaus." Er sagte: „Sie ist mein
ganzer Trost." Er sprach vom Tode und sagte, er fürchte ihn
nicht. Ich sagte: „Wie, Oskar, glaubst du denn nicht, daß du wie-
der gesund wirst?" Er sagte: „Mag sein; aber wahrscheinlich ist
es nicht." Er sprach mit Fassung von seinem Zustand. Die Wunde
war sehr schlimm, sie eiterte stark. Dann hatte ihn die Dysenterie
sehr mitgenommen, und ich fühlte, daß er schon in diesem Augen-
blick so gut wie im Sterben lag. Seine Haltung war sehr mann-
haft und zärtlich. Den Kuß, den ich ihm beim Abschied gab, er-
widerte er vierfach. Er gab mir die Adresse seiner Mutter. Ich
war öfter so mit ihm zusammen. Er starb wenige Tage nach dem
eben Beschriebenen.
Bescheidenheit der Soldaten
Ich kann mich immer wieder nicht genug darüber wundern,
unter diesen altjungen amerikanischen Soldaten so wenig Prahler
und Prahlerei zu finden. Ich habe Leute gefunden, die seit Beginn
des Krieges in jeder Schlacht gewesen sind, und habe mit ihnen
über alle Schlachten in den verschiedensten Gegenden der Ver-
einigten Staaten und über viele Gefechte auf den Flüssen und in
den Häfen gesprochen. Ich finde hier Leute aus allen Staaten der
Union, ohne Ausnahme. (Es gibt in der Unionsarmee mehr Süd-
länder, besonders aus den Grenzstaaten, als man gewöhnlich an-
nimmt.) Ich bezweifle jetzt, ob man eine richtige Vorstellung von
dem bekommen hat, was dieser Krieg in Wirklichkeit ist, oder
was das eigentliche Amerika und sein Charakter ist, ohne solche
Erfahrungen, wie ich sie jetzt mache.
Virginia
Zerstört, schutzlos, vom Krieg zerstampft, wie Virginia ist, werde
ich doch überall, wohin ich komme, von Überraschung und
95
Bewunderung überwältigt. Welche Möglichkeiten sind hier für Land-
bau, Verbesserungen, menschliches Leben, Ernährung und Ent-
wicklung. Der Boden ist noch immer weit über dem Durchschnitt
aller Nordstaaten. Und die Landschaft, wie weiträumig, überall
Gebirge in der Ferne, überall günstig gelegene Ströme. Auch jetzt
noch Wälder in Fülle und Reichtum an Blumen, Obst und Früchten
aller Art. Himmel und Luft voller Leuchtkraft und sicherlich im
allgemeinen sehr gesund. Etwas Reiches, Elastisches ist überall bei
Tag und Nacht zu fühlen. Die Sonne, ihrer Kraft froh, strahlt und
brennt und ist doch, wenigstens für mich, niemals lästig und
ermüdend. Es ist nicht die lechzende tropische Hitze, sondern
eine stärkende Glut. Der Nordwind mäßigt sie. Die Nächte sind
oft unvergleichlich. Gestern abend (8. Februar) sah ich zum ersten-
mal den neuen Mond, mit dem klaren Umriß der vollen Scheibe;
Himmel und Luft so klar, so durchsichtige Färbungen, es war
mir, als hätte ich den Neumond nie zuvor wirklich gesehen. Die
Sichel war ganz, ganz schmal. Sie hing zart grade über dem düstern
Schatten der Blauen Berge. Ach, möchte sie ein gutes Omen für
diesen unglücklichen Staat bedeuten.
Sommer i864
Ich bin wieder in Washington und mache meine täglichen und
nächtlichen Rundgänge. Allenthalben in den Lazaretten gibt es
Fälle, wo arme Burschen schon lange liegen und an hartnäckigen
Wunden leiden oder schwach und mutlos sind von Typhus und
dergleichen und besondere, mitfühlende Pflege brauchen. Zu diesen
setze ich mich ans Bett und plaudere mit ihnen oder tröste sie
schweigend. Sie haben das ungeheuer gern (und ich auch). Jeder
Fall hat seine Besonderheit und verlangt neue Anpassung. Ich
habe gelernt, mich darauf einzurichten — ich habe ein gut Teil
Lazarettweisheit gelernt. Manche unter den jungen Burschen, die
zum erstenmal im Leben von Hause fort sind, hungern und
dürsten nach Zärtlichkeit; das ist oft das einzige, was ihnen hilft.
Die Leute wollen gern Bleistifte haben und Schreibpapier. Ich
habe ihnen billige Taschenbücher gegeben und Kalender für das
Jahr 1864, clic mit leerem Papier durchschossen sind. Zum Lesen
bringe ich gewöhnlich ein paar alte illustrierte Zeitschriften oder
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Geschichtenbücher — sie sind immer beliebt. Auch die Morgen-
und Abendblätter der Tageszeitungen. Die besten Bücher ver-
schenke ich nicht, sondern leihe sie im ganzen Lazarett herum aus Die
Leute sind immer sehr pünktlich mit dem Zurückgeben. In diesen
Lazaretten oder auf freiem Feld mache ich so beständig die Runde;
ich habe gelernt, mich jedem Bedürfnis anzupassen nach seiner
Art und Weise und werde jedem gerecht nach seinen Umständen,
so trivial oder feierlich sie sein mögen — nicht nur Besuche und
erheiternde Gespräche und kleine (iaben — nicht nur Waschen
und Verbinden von Wunden (ich habe einige Fälle, wo der Patient
es von keinem andern getan haben will, als von mir) — sondern
ich lese auch Stellen aus der Bibel vor, erkläre sie, bete mit ihnen
am Bett, spreche über die christliche Lehre mit ihnen usw. (Ich
glaube, ich sehe meine Freunde über dieses Geständnis lächeln,
aber ich war nie im Leben ernster.) Im Lager und überall hatte
ich die Gewohnheit, vorzulesen oder den Leuten etwas vorzutragen.
Sie hatten das sehr gern und liebten deklamatorische poetische
Stücke. Wir rückten dann, nach dem Abendbrot, in einer großen
Gruppe zusammen und vertrieben uns die Zeit mit solchen Vor-
lesungen oder mit Gesprächen oder auch mit einem unterhaltenden
Spiel, genannt das Spiel der „Zwanzig Fragen".
Aus einem Bericht in den „New York Times",
II. Dezember i864
Für viele von den Verwundeten und Kranken, besonders unter
den jüngsten Leuten, liegt in persönlicher Liebe und Liebkosung,
in der magnetischen Ausströmung von Sympathie und Freund-
schaft etwas, was in seiner Weise mehr Gutes tut als alle Arznei
der Welt. Ich sprach von meinen regelmäßigen Gaben : Leckerbissen,
Geld, Tabak, bestimmten Nahrungsmitteln, allerhand Kleinigkeiten
usw. usw. — aber ich fand immer mehr und mehr, daß ich in einer
merkwürdig großen Zahl von Fällen am meisten durch jene hier
angedeuteten Mittel helfen und die Wagschale zugunsten der Hei-
lung beeinflussen konnte. Der amerikanische Soldat ist voller
Zärtlichkeit und liebebedürftig Und er ist wundersam dankbar
dafür, wenn dieses Bedürfnis gestillt wird, während er fern von
Hause, unter Fremden, mit schmerzhaften Wunden daniederliegt.
7 Whitman f
97
Viele werden das nur für Sentimentalität halten, aber ich weiß,
es ist Tatsache. Ich glaube, daß die bloße Anwesenheit und das
Umhergehen einer herzhaften, gesunden, reinen, starken, edel-
mütigen Persönlichkeit, Mann oder Weib, unter den Verwundeten
und im Lazarett beständige, unsichtbare Ströme aussendet und
dadurch den Kranken und Verwundeten unermeßlich wohltut.
Abraham Lincoln
Ich sehe den Präsidenten fast täglich, da ich zufällig dort wohne,
wo er auf dem Hin- und Rückweg zu seinem Landhaus vor der
Stadt vorbeikommt . . . Ich sah ihn heute morgen gegen halb neun
Uhr hereinkommen und die Vermont Avenue entlangreiten. Er
hat immer ein Gefolge von 26 bis 3o Mann Kavallerie, mit ge-
zogenen Säbeln über den Schultern. Man sagt, diese Garde ist
gegen seinen persönlichen Wunsch, aber er läßt seine Räte ge-
währen. Weder ihre Uniformen noch ihre Pferde sind sonderlich
stattlich. Mr. Lincoln reitet gewöhnlich ein gut aussehendes, leicht
gehendes graues Pferd, ist in schlichtes Schwarz gekleidet, einiger-
maßen abgetragen und staubig, trägt einen steifen schwarzen Hut
und sieht alles in allem so einfach aus, wie der gewöhnlichste
Mann . . . Ich sehe ganz deutlich Abraham Lincolns dunkelbraunes
Gesicht mit den tiefgefurchten Linien, mit den Augen, in deren
Ausdruck für mein Gefühl immer eine tiefe verborgene Trauer
liegt. Wir sind so weit gekommen, daß wir Grüße miteinander
tauschen, und zwar sehr herzliche. Manchmal fährt der Präsident
in einer offenen Equipage . . . Sie kamen einmal sehr nahe an mir
vorbei, und ich blickte dem Präsidenten voll ins Gesicht, als sie
langsam vorüberfuhren, und sein Blick, obwohl abwesend, war zu-
fällig unverwandt in meine Augen gerichtet. Er verbeugte sich
und lächelte, doch tief hinter diesem Lächeln bemerkte ich wohl
jenen Ausdruck, den ich andeutete. Kein Künstler hat in seinen
Porträts den tiefen, obwohl zarten und indirekten Ausdruck des
Gesichts dieses Mannes festgehalten. Da ist noch etwas ganz anderes.
Einer der großen Bildnismaler des vorigen oder vorvorigen Jahr-
hunderts müßte das malen.
98
Präsident Lincolns Tod
i6. April i865.
Er hinterläßt den Geschichtschreibern und Biographen Amerikas
nicht allein die dramatischste Erinnerung unseres Landes, — son-
dern, nach meiner Überzeugung, die größte, beste, eigenartigste,
künstlerischste und moralischste Persönlichkeit. Nicht als ob er
keine Fehler gehabt und während seiner Präsidentschaft begangen
hätte; aber Rechtlichkeit, Güte, Scharfsinn, Gewissenhaftigkeit und
(eine neue Tugend, unbekannt in anderen Ländern und auch bei
uns kaum noch wahrhaft bekannt, aber der Grund und das Band,
das alles zusammenhält, wie die Zukunft im größten Maßstab er-
weisen wird) Unionismus im wahrsten und weitesten Sinne bil-
deten das Rückgrat seines Charakters. Das besiegelte er mit seinem
Tode. Der tragische Glanz seines Todes wirft, alles läuternd und
verklärend, um seine ganze Gestalt und sein Haupt eine Aureole,
die dauern und durch die Zeit nur noch leuchtender werden wird,
da die Geschichte lebt und die Liebe des Landes nicht vergeht.
Viele haben mitgeholfen, diese Union zu schaffen; aber wenn ein
Name, ein Mann besonders genannt sein soll, so ist er vor allen
ihr Bewahrer für die Zukunft. Er wurde ermordet — aber die
Union ist nicht ermordet — ca ira! Der eine fällt und der andere
fällt. Der Soldat bricht zusammen und sinkt wie eine Welle —
aber die Wogenreihen des Ozeans drängen ewig nach. Der Tod
verrichtet sein Werk, löscht Hunderte, Tausende aus — Präsident,
General, Kapitän und jedermann — aber die Nation ist unsterblich.
TAGEBÜCH 1876-1882
Mai, Juni 1876.
Ich finde, daß der Wald im späten Mai und frühen Juni mein
bester Aufenthalt zum Schreiben ist. Dort zeichnete ich mir fast
alles auf, was nun folgt, auf Baumstämmen oder -Stümpfen sitzend
oder auf Zäunen hockend.
Wohin ich auch gehe im Winter oder Sommer, in Stadt oder
Land, allein zu Haus oder auf Reisen, — überall muß ich Notizen
machen; es ist meine vorherrschende Leidenschaft in der Zeit des
Alters und der körperlichen Schwäche.
Wenn ich so die t-Striche und die i-Punkte gewisser beschränk-
ter Bewegungen der letzten Jahre nachmale, so will es mir scheinen,
als stecke in den folgenden Auszügen so recht das Abc einer neu-
gelernten Lektion. Wenn du ausgekostet hast, was auszukosten
war in Geschäft, Politik, Geselligkeit, Liebe und so fort, — und
fandest, daß keines von diesen restlos befriedigt oder auf die Dauer
taugt, — was bleibt dann? Die Natur bleibt und ihre Kraft, aus
dumpfer Verborgenheit hervorzulocken, was in Mann oder Weib
an Verwandtem steckt mit freier Luft, mit Baum und Feld, mit
dem Wechsel der Jahreszeiten — dem Sonnenschein bei Tage —
dem Sternenhimmel bei Nacht. Von dieser Überzeugung wollen
wir ausgehen. Die Literatur fliegt so hoch und ist so heiß gewürzt,
daß unsere Aufzeichnungen vielleicht nur erscheinen werden wie
ein paar Atemzüge gewöhnlicher Luft oder ein paar Züge frischen
Wassers. Aber das gehört zu unserer Lektion.
Teure, beruhigende, gesunde Stunden der Erholung — nach drei
Kerkerjahren der Lähmung — nach dem langen Druck des Krieges,
seinen Wunden, seinem Sterben.
100
Wer weiß, vielleicht (ich träume und wünsche es mir) bringen
die folgenden Seiten Sonnenstrahl oder Gras- und Weizengeruch,
oder Vogelruf, Sternflimmer bei Nacht, Schneeflockenfall frisch und
mystisch irgendeinem Bewohner schwülen Stadthauses oder müdem
Arbeiter oder Arbeiterin? — oder auch in ein Krankenzimmer oder
Gefängnis, — als kühlenden Hauch oder Arom der Natur für einen
fiebernden Mund oder matten Pulsschiag.
Beim Betreten eines langen Farmweges
Jeder hat sein Steckenpferd, meines ist ein richtiger Farmweg,
eingezäunt mit altem graugrünen, moos- und flechtenbewachsenen
Kastanienholzwerk, reichliches Unkraut und Gesträuch fleckenweis
zwischen den Steinen, die, hier und da angehäuft, das Geländer
stützen: — regellos ausgetretene Pfade dazwischen, Roß- und Rin-
derfährten, — alle Merkmale jeglicher Jahreszeit sichtbar und
duftend ringsumher in der Nachbarschaft. — Apfelblüte im frühen
April — Schweine, Geflügel, ein Buchweizenfeld im August, ein
andres voll langer, wehender Maisbüschel — und schließlich der
Teich (die Erweiterung des Baches), der verborgen-schöne, mit
jungen und alten Bäumen und was für Schlupfwinkeln und Aus-
blicken !
Zu Quelle und Bach
So schlendere ich immer weiter, bis zu der Quelle unter den
Weiden — die, musikalisch wie zartes Gläserklingen, einen kräftigen
Schwall ergießt. Dort, wo das Ufer überhängt wie eine große
braune, struppige Augenbraue oder Oberlippe, strömt sie aus der
Öffnung, so dick wie mein Hals, rein und klar. Gluckst und gluckst
in einem fort — meint etwas, sagt etwas, zweifellos! (könnte man
es nur übersetzen) — gluckst dort immer, das ganze Jahr hindurch
— setzt nie aus; — Unmengen von Pfefferminze, von Brombeeren
im Sommer, — Licht und Schatten nach Belieben — just der rechte
Platz für meine Juli-Sonnenbäder und auch Wasserbäder; — aber
vor allem immer dies unnachahmliche, weichtönende Glucksen,
wenn ich an heißen Nachmittagen hier sitze. Wie dies und alles
in mich hineinwächst, Tag um Tag, — alles so einheitlich — der
lOI
wilde, eben spürbare Duft, die sprenkeligen Blätterscbatten und die
ganzen naturbeilkräftigen, elementar-moraliscben Einflüsse dieses
Platzes.
Plaudre weiter, o Bacb, in dieser deiner Sprache! Aucb icb will
aussprechen, was icb in meinen Tagen und auf meinen Wegen, den
heimischen, unterirdischen, verflossenen — in mich aufgenommen
habe — und nun dich. Hüpfe, winde deinen Weg — ich begleite
dich wenigstens ein Weilchen. Ich besuche dich so häufig, Jahr
um Jahr, und du weißt, ahnst nichts von mir, (doch warum dies
behaupten? wer kann es wissen?) — aber ich will von dir lernen, bei
dir verweilen, von dir empfangen, dir nachahmen, von dir abschreiben.
Erwachen an einem frühen Sommermorgen
Hinweg denn, den göttlichen Bogen gelöst, entspannt den so
lange gestrafften! Hinweg von Vorhang, Teppich, Sofa, Buch —
von „Gesellschaft" — von Stadthaus, Straße, modernen Bequem-
lichkeiten und Luxus, — fort zu meinem frei sich windenden Bach
mit seinem ungestutzten Gebüsch und grasigen Ufern — fort von
Binden, engen Stiefeln Knöpfen, dem ganzen gußeisernen zivilisier-
ten Leben — von der Umgebung künstlicher Läden, Maschinen,
Ateliers, Bureaus, Empfangsräume — von Schneiderherrschaft und
Modekleidern — am besten vielleicht von jeglicher Kleidung, jetzt
bei der steigenden Sommerglut, hier in der wasserfrischen, schatti-
gen Einsamkeit. Hinweg, du Seele (laß mich, lieber Leser, dich
einzeln beiseitenehmen und ganz frei, lässig, vertraulich zu dir
reden), und kehre zumindest für einen Tag und eine Nacht zurück
zu unser aller nackter Lebensquelle, an die Brust der großen,
schweigenden, ungezähmten, allempfangenden Mutter. Ach! wie
viele von uns sind so verhärtet — wie viele so weit hinweggewan-
dert — daß eine Umkehr fast unmöglich ist.
Was meine Notizen betrifft — die nehme ich, wie sie kommen,
aus dem Haufen, ohne eigentliche Beihenfolge. Es ist wenig Zu-
sammenhang in den Daten. Sie erstrecken sich wahllos über fünf,
sechs Jahre. Alle sind nachlässig aufgezeichnet, im Freien — an
Ort und Stelle. Dies werden die Drucker vielleicht zu ihrem Arger
gewahr werden, denn ihr Manuskript besteht zum großen Teil aus
diesen schnell gekritzelten ersten Zetteln.
I02
Zugvögel um Mitternacht
Hast du je den Mitternachtsflug von Vögeln belauscht, wenn sie
in zahllosen Heerscharen durch Luft und Dunkelheit droben dahin-
ziehen, um ihren frühen oder späten Sommerwohnsitz zu wechseln?
Das ist etwas, was man nicht vergißt. Ein Freund weckte mich
vorige Nacht kurz nach zwölf, um das eigenartige Geräusch un-
gewöhnlich großer Flüge zu beobachten, die nach Norden zogen
(etwas spät dies Jahr). In der Stille, dem Schatten und dem köst-
lichen Wohlgeruch jener Stunde, (dem natürlichen Duft, der der
Nacht allein eigen ist), schien es mir wundersame Musik. Man
konnte die charakteristische Bewegung hören — ein paar Mal das
„Brausen mächtiger Schwingen", aber oft ein langgedehntes,
samtenes Rauschen — zuweilen ganz nah — mit andauerndem
Rufen und Zwitschern und ein paar Tönen Gesang. Das Ganze
dauerte von zwölf bis nach drei. Einzelne Male war die Gattung
deutlich zu unterscheiden, ich konnte den Paperlink erkennen, den
Tangar, die Wilson-Drossel — den weißköpfigen Sperling, und
manchmal kam hoch aus den Lüften der Ruf des Regenpfeifers.
Hummeln
Monat Mai — der Monat der schwärmenden, singenden, paaren-
den Vögel — der Monat der Hummeln — Fliedermonat — (und
auch mein eigner Geburtsmonat). Diesen Abschnitt kritzle ich
im Freien, kurz nach Sonnenaufgang, auf dem Weg zum Bach.
Die Lichter, Düfte, Melodien, die Blaumeisen, Grasmücken und
Rotkehlchen in jeder Richtung, dies lärmende, vielstimmige Natur-
konzert! Als Untertöne das Klopfen eines nahen Spechtes auf seinem
Baum und ferner Hahnenschrei. Und dann der frische Erdgeruch
— die Farben, das zarte Graugelb und dünne Blau des Horizontes.
Das leuchtende Grün des Grases ist noch leuchtender geworden
durch die Milde und Feuchtigkeit der letzten zwei Tage. Wie
steigt die Sonne schweigend in den weiten, klaren Himmel auf
ihrem Tagesweg! Wie baden die warmen Strahlen alles — und
kommen küssend und beinahe heiß über mein Gesicht geströmt.
Vor noch gar nicht langer Zeit kam das erste Quaken aus den
Froschteichen und zeigte sich das erste Weiß der blühenden Kornel-
kirsche. Jetzt ist der Boden überall besät von der endlosen Üppigkeit
io3
des Löwenzahnes. Die weißen Kirschen- und Birnenblüten —
die wilden Veilchen, die mit ihren blauen Augen aufsehen und
sich vor meinen Füßen verneigen, wie ich am Waldrand entlang-
schlendere — der rosa Hauch auf den knospenden Apfelbäumen —
das leuchtendhelle Smaragdgrün der Weizenfelder — das dunklere
Grün des Roggens — eine warme Spannkraft in der Luft — die
Zederbüsche über und über bedeckt mit ihren kleinen, braunen
Früchten — der Sommer, voll erwachend — die Amselgesellschaft,
ein ganzer geschwätziger Hauten auf irgendeinem Baume ver-
sammelt, den Raum mit Lärm erfüllend und die Stunde, da ich
hier sitze.
Später.
Die Natur schreitet in Marschordnung vorwärts, in Sektionen,
wie ein Armeekorps. Jede hat viel für mich getan und tut es noch.
Aber in den letzten zwei Tagen war es die große, wilde Biene, die
Hummel (oder Brummelbiene, wie die Kinder sie nennen). Wenn
ich vom Farmhaus zum Bach hinuntergehe oder humple, komme
ich durch den vorhin erwähnten Weg mit seiner Einfassung von
rissigen, splitterigen, brüchigen, zerlöcherten alten Latten, dem
Lieblingsaufenthalt dieser summenden, haarigen Insekten. Auf und
nieder, neben und zwischen diesen Latten, schwärmen, schießen
und fliegen sie in unzählbaren Myriaden. Bei meinem langsamen
Schlendern begleiten sie mich oftmals gleich einer beweglichen
Wolke. Sie spielen eine Hauptrolle auf meinen Streifzügen, mor-
gens, mittags und bei Sonnenuntergang, und beherrschen oft die
Landschaft in einer Weise, die ich mir nie hätte träumen lassen —
füllen den langen Weg nicht nur in Scharen von vielen hundert,
nein zu Tausenden. Groß, lebhaft und geschwind, mit wunder-
barer Triebkraft und einem andauernden, lauten, schwellenden
Summen, das zeitweilig durch einen Laut, fast wie ein Schrei,
unterbrochen wird, schießen sie hin und her, schnell wie der Blitz,
jagen einander und vermitteln mir (so winzige Dinger sie sind)
ein neues, ganz bestimmtes Gefühl von Kraft, Schönheit, Vitalität
und Bewegung. Ist es ihre Paarungszeit? Oder was bedeutet diese
Fülle, Schnelle, Emsigkeit, dieser Aufwand? Beim Gehen glaubte
ich, mir folge ein besonderer Schwärm, aber bei näherer Betrach-
tung waren es rasch aufeinanderfolgende, wechselnde Schwärme.
io4
Ich habe mich zum Schreiben unter einen großen, wilden Kirsch-
baum gesetzt — die Warme des Tages ist durch einige Wolken
und eine frische Brise gemildert; nicht zu heiß und nicht zu kühl
— und hier sitze ich lange und immer länger, eingehüllt in das
tiefe musikalische Gedröhn dieser Hummeln, die zu Hunderten um
mich herumgleiten, schweben, sausen — große Burschen, mit hell-
gelber Jacke, großem glänzendem schwellendem Rumpf, plumpem
Kopf und hauchdünnen Flügeln, und ihrem unausgesetzten üppigen,
weichen Gebrumm. (Wäre das nicht ein Vorwurf zu einer Ton-
dichtung, zu der es den Hintergrund geben könnte? Einer Art
Hummelsymphonie? — )
Wie nährt mich dies alles, lullt mich ein, just in der Art, wie
ich es brauche: die frische Luft, die Roggenfelder, die Apfelgärten.
Die beiden letzten Tage waren makellos schön an Sonne, Wind,
Temperatur und allem — nie erlebte ich zwei vollkommenere Tage,
und ich habe sie unendlich genossen. Mein Befinden ist etwas besser,
und meine Seele hat Ruhe. (Und doch ist der Jahrestag von meines
Lebens schwerstem Verluste und Schmerz ganz nah*.)
Wieder eine Aufzeichnung, wieder ein vollkommener Tag: Vor-
mittag von sieben bis neun, zwei Stunden ganz eingehüllt in den
Klang von Hummelgebrumm und Vogelmusik. Drüben in den
Apfelbäumen und in einer hohen nahen Zeder saßen drei oder vier
rotrückige Drosseln. Jede sang ihr bestes Lied und schmetterte
die Läufe, wie ich sie schöner niemals hörte. Zwei Stunden lang
höre ich ihnen zu, dem Lauschen hingegeben und lässig die Land-
schaft in mich aufnehmend. Fast jeder Vogel, habe ich bemerkt,
hat seine bestimmte Zeit im Jahr — manchmal sind es nur ein
paar Tage — wo er am schönsten singt; und jetzt ist die Zeit dieser
Rotrücken. Gleichzeitig wegauf, wegab die hin und her schießenden,
dröhnenden musikalischen Hummeln. Auf dem Heimweg umgibt
mich ein großer Schwärm als Hofstaat, zieht mit mir wie zuvor.
Sommerbilder — Sommerfaulheit
Nichts kann die stille Pracht und Frische übertreffen, die mich
hier am Bach, abends halb sechs Uhr, beim Schreiben umgibt.
Mittags hatten wir einen heftigen Regenschauer, mit kurzem Donner
* Der Todestag seiner Mutter, 23. Mai 1873. (Anmerkung des Übersetzers.)
loS
und Blitz; und danach nun dieser nicht außergewöhnliche aber
(im Ganzen, nicht in Form oder Einzelheit) unbeschreibliche Himmel
vom klarsten Blau, mit rundgeballten, silberumsäumten Wolken
und blendend reiner Sonne. Unten Bäume in der Fülle zarten
Laubes — von Wasser und Röhricht kommende, langgedehnte
Vogelstimmen — am deutlichsten das jämmerliche Miauen eines
klagenden Katzenvogels und das vergnügliche Krähen von zwei
Eisvögeln. Die letzteren habe ich jetzt eine halbe Stunde bei ihrem
üblichen Abendspiel über und in dem Wasser beobachtet; offen-
bar ein herrlicher Spaß. Sie jagen einander, wirbeln und kreisen
rundherum, oft fröhlich ins Wasser hinunter, wobei der Gischt in
Diamanten zersprüht, — und dann schießen sie weg, mit schrägen
Flügeln, in anmutigem Fluge, manchmal so nah an mir vorbei,
daß ich ihre dunkelgrau gefiederten Leiber und ihre milchweißen
Hälse deutlich sehen kann.
Als ich mich zum Heimgehen erhebe, verweile ich noch und
lausche lange einem köstlichen Sanges-Epilog (ist es die Einsiedler-
drossel?). Aus einem der buschigen Verstecke drüben am Moor
kommt es — langsam und träumerisch, wieder und immer wieder.
Und dazu die Ringelspiele der Schwalben, die zu Dutzenden in
konzentrischen Kreisen durch die letzten Strahlen des Abendrots
flitzen — wie Blitze eines Luftrads.
Ein Julinachmittag am Teich
Hitze, intensiv, doch um vieles erträglicher in so reiner Luft —
weiße und rosa Teichblumen mit großen, herzförmigen Blättern —
glasklares Wasser in der Bucht, Ufer mit dichtem Gebüsch und
malerischen Buchen, — Schatten, — Rasen; aus Schlupfwinkeln
hervor der tremolierende, schwirrende Ruf irgendeines Vogels, der
die warme, träge, fast wollüstige Stille zerreißt; — gelegentlich
eine W'espe, eine Hornisse, eine Biene oder Hummel (die fliegen
mir um Gesicht und Hände, stören mich aber nicht, und ich sie
auch nicht; denn es scheint, als untersuchten sie mich, fänden aber
nichts, und — fort sind sie!) — der Himmel über mir so weit und klar,
und der Bussard dort oben, der seinen langsamen Flug in majestäti-
schen Spiralen und Kreisen zieht — gerade über dem Wasserspiegel
zwei große, schieferfarbene Wasserjungfern mit Hauchflügeln, sie
io6
kreisen und schießen dahin und stehen manchmal regungslos im
Gleichgewicht, nur ihre Flügel zittern leise ohne Unterlaß (pro-
duzieren sie sich zu meinem Vergnügen?). — Der Teich selber, mit
dem schwertförmigen Kalmus; — Wasserschlangen — zuweilen eine
Amsel, rote Tupfen auf den Schultern, schräg vorbeifliegend; —
Geräusche, die in Einsamkeit, Wärme, Licht und Schatten hörbar
werden — das Schnattern einer Teichente — (die Grillen und Gras-
hüpfer sind verstummt in der Mittagshitze, doch höre ich das Lied
der ersten Zikaden;) — dann, in ziemlicher Entfernung, das Rasseln
und Schwirren einer Mähmaschine, die, am anderen Ufer der Bucht,
in raschem Tempo von Pferden durch ein Roggenfeld gezogen
wird — (was war das für ein gelber oder hellbrauner Vogel, so
groß wie ein junges Huhn, mit kurzem Hals und langgestreckten
Beinen, den ich eben in flatterndem, ungeschicktem Flug drüben
zwischen den Bäumen sah?) — in meiner Nase der stetige, zarte,
doch intensive, würzige Gras- und Kleeduft. Und alles deckend,
alles umfassend, für Auge und Seele der freie Himmel, durchsichtig
und blau — und drüben im Westen geballt, ein Haufen weißgrauer
Schäfchen wölken, die der Seemann „Makreelenzüge" nennt. Mit
silbernem Gekräusel, gleich wirren Locken, breitet, dehnt sich der
Himmel — ein weites, lautloses, gestaltloses Trugbild — und doch,
vielleicht die wirklichste Wirklichkeit und der Gestalter aller Dinge
— wer weiß — ?
4. August, nachmittags sechs Uhr.
Lichter, Schatten und seltene Wirkungen auf Laub und Gras — ,
durchsichtiges Grün, Grau usw., alles in der Pracht und Glut des
Sonnenuntergangs. Die klaren Strahlen fallen jetzt auf viele neue
Stellen, auf die faltigen, rissigen, bronzebraunen unteren Baum-
stämme, die zu jeder anderen Stunde im Schatten stehen — baden
die alten und jungen knorrigen Säulen in starkem Licht, enthüllen
mir neue, wundersame Züge stummer, rauher Anmut, die starke
Rinde, den Ausdruck leidloser Unberührbarkeit, dazu viele nie
zuvor bemerkte Knorren und Zapfen. In der Offenbarung solchen
Lichtes, solch ungewöhnlicher Stunde, solcher Stimmung, wundert
man sich nicht mehr über die alten Fabeln (ja, warum denn Fabeln?)
von Menschen, die krank wurden aus Liebe zu Bäumen und in
Verzückung gerieten über die mystische Wirklichkeit der stummen
107
unwiderstehlichen Kraft in ihnen, — Kraft, die am Ende viel-
leicht die letzte, vollkommenste, höchste Schönheit ist.
Heuschrecken und Grillen
2 2. August.
Schnarrender, einförmiger Laut von Heuschrecken oder Grillen,
diese höre ich bei Nacht, jene so nachts wie tags. Der Morgen-
und Abendgesang der Vögel hat mich von je entzückt; aber ich
merke, daß ich mit ebensoviel Freude diesen seltsamen Insekten
lauschen kann. Jetzt um die Mittagszeit, eben da ich schreibe, läßt
eine einzelne Heuschrecke sich hören, aus 200 Schritt Entfernung
von einem Baum herab, ein langanhaltendes Schwirren, gehörig
laut, abgestuft in verschiedene Wirbel oder Schwingungskreise,
die an Kraft und Schnelligkeit wachsen bis zu einem gewissen
Punkt, — und dann ein flatterndes, sanft auslaufendes Sinken. Jede
Strophe dauert ein bis zwei Minuten. Das Lied der Heuschrecke
paßt vortrefflich zu dieser Landschaft — es hat Fülle, Ausdruck
und Männlichkeit; es ist wie ein feiner alter Wein, nicht süß, aber
weit besser als süß.
Aber die Grille — wie soll ich ihre reizvollen Laute beschreiben?
Eine singt in einem Weidenbaum, nur 20 Meter von meinem
offenen Schlaffenster entfernt, seit vierzehn Tagen singt sie mich jede
klare Nacht in Schlaf. Neulich abends fuhr ich wohl einen halben
Kilometer weit durch den Wald und hörte Myriaden von Grillen
auf einmal — ein eigenartiger Eindruck; jedoch gefällt mir mein
einzelner Nachbar auf dem Baume besser.
Laßt mich jedoch über den Gesang der Heuschrecken noch mehr
sagen, wenn ich mich auch wiederhole; ein langes, chromatisches,
tremolierendes Crescendo, wie von einer ehernen Scheibe, die, im
Kreise geschwungen, Schallwelle auf Schallwelle hervorbringt, be-
ginnend mit einem gewissen mäßigen Takt oder Rhythmus, der schnell
an Tempo und Inbrunst zunimmt, einen hohen Grad von Energie
und Ausdruckskraft erreicht — und dann rasch und graziös sinkt
und erlischt. Nicht die Melodie des Singvogels — weit davon — ;
dem Durchschnittsmusikanten würde dieser Gesang vielleicht jeder
Melodie bar erscheinen, doch hat er für das feinere Ohr gewiß
seine eigene Harmonie; eintönig zwar — doch welch ein Schwung
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in diesem ehernen Dröhnen, um und um, wie Zymbeln oder wie
das Schwingen eherner Wurfscheiben.
Was uns ein Baum zu sagen hat
I. September.
Ich möchte, um das zu erklären, weder den größten noch den
malerischsten Baum wählen. Hier vor mir steht einer meiner Lieb-
linge — eine schöne, kerzengerade gelbe Pappel, etwa 90 Fuß hoch
und vier Fuß breit an der Wurzel. Wie stark, lebendig, dauerhaft!
Wie wortlos beredt: Wie vermittelt sie das Gefühl von ünbeirrbar-
keit und Sein, im Gegensatz zu der Menschenart des bloßen
Scheinens. Dann die nahezu seelischen, fühlbar künstlerischen,
heroischen Eigenschaften emes Baumes; so unschuldig und harmlos
und doch so wild. Er ist, aber er sagt nichts. Wie beschämt er
mit seiner zähen, gleichmäßigen Heiterkeit in jedem Wetter dieses
flatterhafte Wichtchen Mensch, das beim geringsten bif3chen Regen
und Schnee unter Dach eilt! Die Wissenschaft (oder besser Halb-
wissenschaft) spottet über den Gedanken an Dryaden, Hamadryaden
und sprechende Bäume. Aber wenn sie auch nicht sprechen, so
tun sie doch etwas, das gerade so gut ist wie das meiste Reden
und Schreiben, Dichten und Predigen — oder noch viel besser.
Ich möchte wirklich sagen, daß die alten Dryadengeschichten so
wahr sind wie nur irgendwelche und tiefer als die meisten Über-
lieferungen. („Schneide dies aus," wie der Quacksalber sagt —
„und bewahre es auf.") Geh und setze dich in einen Hain oder
Wald zu einem oder mehreren dieser stummen Gefährten und lies
das Gesagte und denke nach.
Eine Lehre, die die Verschwisterung mit einem Baum — viel-
leicht überhaupt die größte moralische Lehre, die Erde, Felsen
und Tiere uns geben können, ist eben diese Lehre des Eigen wesens,
des Seins ohne die geringste Rücksicht auf das, was der Zuschauer
(der Kritiker) meint oder sagt und ob es ihm gefällt oder nicht.
Welche schlimmere, welche verbreitetere Krankheit durchseucht uns
alle, unsere Literatur, unsere Erziehung, unser Verhalten zuein-
ander (ja zu uns selbst), als eine ungesunde Sorge um den Schein
(noch dazu meist ganz flüchtigen Schein)? Und gleichzeitig kümmern
wir uns gar nicht oder kaum um die gesunden, langsam reifenden,
109
überdauernden, wirklichen Seiten von Charakter, Büchern, Freund-
schaft, Ehe — die unsichtbaren Grundlagen und Haften der Mensch-
heit! (Denn die gemeinsame Basis, der Nerv, der große Sympathi-
kus, das Plenum der Menschheit, das jedem Dinge sein Gepräge
gibt, ist notwendigerweise unsichtbar.)
Der Himmel. Tage und Nächte. Glück
20. Oktober.
Ein heller, klarer, frostiger Tag — trockne und frische Luft voll
Sauerstoff. Von all den gesunden, schweigenden, köstlichen Wun-
dern, die mich umgeben und durchdringen — (Bäume, Wasser,
Gras, Sonnenlicht, erster Frost) — ist es der Himmel, den ich heute
am meisten betrachte. Er zeigt das zarte, durchsichtige Blau, das
dem Herbste eigen ist, mit nur weißen Wolken, kleinen und größeren,
die der großen Halbkugel ihre stille, seelenhafte Bewegung verleihen.
Den ganzen Morgen über (sagen wir von sieben bis elf ühr), behält er
dieses klare, doch intensive Blau. Doch wie der Mittag heranrückt,
wird die Farbe heller — zwei, drei Stunden lang ganz grau — dann
noch um einen Schein blasser bis zum Sonnenuntergang, dessen
blendende Pracht ich durch die Lichtungen einer Gruppe großer
Bäume hindurch beschaue: — Feuerzungen und eine üppige Ent-
faltung von Hellgelb, Violett und Rot, mit einem weiten Silber-
glanz schräg über dem Wasser; — die durchsichtigen Schatten,
Lichtstreifen, Blitze und lebhaften Farben übertreffen weit alle
Gemälde der Welt.
Ich weiß nicht warum und wieso, doch mir scheint, als verdankte
ich hauptsächlich diesen Himmeln (und manchmal will mich dün-
ken, obwohl ich den Himmel natürlich jeden Tag meines Lebens
sah, als hätte ich ihn zuvor nie wirklich erblickt) in diesem Herbste
manche wunderbar zufriedene, fast möchte ich sagen vollkommen
glückliche Stunde. Ich las einmal, daß Byron kurz vor seinem
Tode einem Freunde erzählte, er habe in seinem ganzen Leben
nur drei glückliche Tage gekannt. Auch gibt es die alte deutsche
Legende von des Königs Glocke, die auf das gleiche hinzielt. Wie
ich da draußen im Walde das wundervolle Abendrot durch die
Bäume erblickte, fielen Byrons Worte und die Glockengeschichte
mir ein, und es erwachte in mir das Bewußtsein, daß ich eine
HO
glückliche Stunde erlebte. (Meine besten Augenblicke jedoch bringe
ich wohl nie zu Papier; wenn sie über mich kommen, mag ich
nicht durch Aufzeichnungen den Zauber zerstören. Dann gebe ich
mich nur ganz der Stimmung hin und lasse mich auf den Fluten
ihrer stillen Entzückung tragen.)
Was ist überhaupt Glück? Ist dies eine seiner Stunden oder ihm
ähnlich? So unfaßbar — ein bloßer Hauch, ein verschwindender
Lichtschein? Ich bin nicht sicher — so laßt mir die Wohltat der
Ungewißheit. Hast du. Durchsichtiger, in deinen azurblauen Tiefen
Arznei für Kranke, wie mich? (Oh, die körperliche Zerrüttung und
seelische Unruhe der letzten drei Jahre!) Und träufelst du sie nun,
leise, mystisch, unsichtbar durch die Luft auf mich herab?
Ein Wintertag am Meeresstrand
Jüngst verbrachte ich einen schönen Dezembermittag an der
Seeküste von New Jersey, die ich durch eine kaum mehr als ein-
stündige Eisenbahnfahrt über Old Camden und Atlantic erreichte.
Ich war zeitig aufgebrochen, gestärkt durch schönen, starken Kaffee
und ein gutes Frühstück (von geliebten Händen, von meiner lieben
Schwester Lou zubereitet — wie viel besser schmecken doch dann
die Speisen, und wie viel besser nähren und stärken sie einen und
machen vielleicht noch den ganzen Tag angenehm.)
Mindestens fünf bis sechs Meilen liefen unsere Geleise durch weit-
gedehnte Wiesen von Dünengras, dazwischen kleine Lagunen und
Rinnsale überall. Der Schilfgeruch — meiner Nase eine Wonne —
brachte Erinnerungen an die Südbucht meiner Heimatinsel. Ich
wäre gern noch bis zur Nacht durch diese flachen, duftenden See-
prärien gereist. Von halb zwölf bis zwei Uhr war ich fast ständig
nahe am Strand oder in Sehweite des Ozeans, lauschte seinem hei-
seren Murmeln, trank die willkommene, belebende Brise. Zuerst
eine schnelle Wagenfahrt über fünf Meilen harten Sand — unsere
Räder hinterließen kaum eine Spur; — dann nach Tisch, da noch
zwei Stunden übrig waren, ging ich zu Fuß in einer anderen Rich-
tung — (sah und traf kaum jemand) — ergriff Besitz von etwas, das
wohl einst der Gesellschaftsraum von einer alten Badehausanlage
gewesen sein mochte und hatte einen weiten Ausblick — reizvoll,
erquickend, unbegrenzt — ganz für mich allein. Unmittelbar vor
III
und neben mir eine dürre Strecke Schilf und indisches Gras — und
Weite, einfache, schmucklose Weite. Ferne Boote und von weither
eben noch sichtbar die schleppende Rauchwolke eines heimkehren-
den Dampfers; etwas deutlicher Schiffe, Briggs, Schoner; die
meisten hatten alle Segel vor dem steifen, stetigen Wind gesetzt.
W^ie anziehend, wie fesselnd sind doch Meer und Strand! Wie
verliert man sich in ihre Einfachheit, ja in ihre Leere!
Was ist das in uns, daß durch diese Richtungslosigkeiten und
Richtungen geweckt wird? Dieser Wellenschlag, dieser grauweiße,
salzige, eintönige, leblose Strand — diese gänzliche Abwesenheit
von Kunst, Büchern, Unterhaltung, Eleganz — wie unbeschreib-
lich wohltuend, selbst an einem Wintertag wie heut: rauh und
doch so zart anzuschauen, so vergeistigt, an unfaßbare Tiefen des
Gefühls rührend, inniger als alle Gedichte, Gemälde, Musik, die
ich je gelesen, gesehen, gehört. (Doch will ich gerecht sein — viel-
leicht ist es nur deshalb so, weil ich diese Gedichte gelesen, diese
Musik gehört habe.)
Strandträume
Schon als Knabe hatte ich den Gedanken, den Wunsch, etwas,
ein Gedicht vielleicht, über die Seeküste zu schreiben, — über diese
vielsagende Trennungslinie, die zugleich Berührung und Verbindung
ist und das Feste mit dem Flüssigen vermählt, — dieses seltsame,
lauernde Etwas, (als welches zweifellos jede objektive Form schließ-
lich einmal dem subjektiven Geiste erscheint,) das weit mehr be-
deutet, als sein bloßer, erster Anblick verrät, ist er auch noch so
großartig, und Reales und Ideales verschmilzt und jedes zu einem
Teil des anderen macht. In meiner Jugend und frühem Mannes-
alter auf Long Island streifte ich stunden- und tagelang an den
Küsten von Rockaway und Conney Island entlang, oder ostwärts
nach Hampton oder Montauk. Einmal, an dem letzteren Ort (beim
alten Leuchtturm: in jeder Richtung, soweit das Auge reichte,
nichts als wogende See) fühlte ich — , ich weiß es noch genau — ,
daß ich eines Tages ein Buch schreiben müsse, das diesem flu-
tenden, mystischen Thema Ausdruck verliehe. Ich erinnere mich,
wie mir's dann später kam, daß die Seeküste nicht das Thema
eines bestimmten, lyrischen, epischen oder literarischen Versuches,
112
sooderD vielmehr ein unsichtbarer Einfluß werden sollte, ein alles
durchdringendes Maß und Vorbild mir und meiner Dichtung. (Ich
möchte hier jungen Schriftstellern einen Wink geben. Ich glaube,
ich habe die gleiche Regel unbewußt auch auf andere Mächte als
Meer und Küste angewandt, — ich habe es vermieden, sie nach
einer toten Schablone zu bedichten, da sie mir zu groß für bloß
formale Behandlung waren , und war zufrieden, wenn ich indirekt
zeigen konnte, daß wir einander kennengelernt und durchdrungen
haben, wenn auch nur einmal, so doch zur Genüge, — daß wir
wirklich ineinander aufgegangen sind und einander verstanden
haben.)
Ein Traum, ein Bild taucht seit Jahren von Zeit zu Zeit (manch-
mal lange nicht, aber ganz sicher immer wieder einmal) leise vor
mir auf und hat, glaube ich, obwohl es nur eine Vorstellung ist,
mein praktisches Leben stark beeinfl ußt, — sicherlich meine Schriften,
denen es Form und Farbe gegeben hat. Es ist nichts mehr und
nichts weniger als eine unermeßliche Strecke weißbraunen Sandes,
hart und glatt und breit; der Ozean rollt unablässig majestätisch
darauf zu, mit langsamem, abgemessenem Schwung, mit Rauschen
und Zischen und Schäumen und dumpfen Stößen dazwischen wie
von tiefen Pauken. Die Szene, dieses Bild, steigt, wie gesagt, seit
Jahren von Zeit zu Zeit vor mir auf. Manchmal erwache ich bei
Nacht und kann es deutlich hören und sehen.
Frühlings vor spiel, Wiedergeburt
lo. Februar 1877.
Heute das erste Zwitschern, fast Singen eines Vogels. Dann sah
ich am offenen Fenster in der Sonne zwei Honigbienen herumflitzen
und summen.
I I . Februar.
An diesem wundervollen Abend, in dem sanften Rosa und blassen
Gold des schwindenden Lichtes, hörte ich das erste Wispern und
Sich-Regen des erwachenden Frühlings — ganz leise — ich weiß nicht,
ob aus Erdboden oder Wurzeln, oder von der Bewegung von In-
sekten, — doch war es hörbar, wie ich so an einen Zaun gelehnt
stand und lange in den westlichen Horizont sah. Im Osten erschien
der Sirius, als die Schatten wuchsen, in blendender Pracht. Und
8 Wbiuaao 1
ii3
der große Orion ; und ein bißchen nach Nordosten der Große Bär,
kopfabwärts.
20. Februar.
Sonnenuntergang. Eine einsame, lustige Stunde am Teich; ich übe
Arme, Brust, meinen ganzen Körper an einer zähen, jungen Eiche
(faustdick, 12 Fuß hoch), ziehe und stemme und atme die gute Luft.
Nachdem ich eine Weile mit dem Baum gerungen habe, kann ich
spüren, wie sein junger Saft und seine Lebenskraft aus dem Boden
quillt und mich vom Scheitel bis zur Sohle durchglüht wie Wein
der Gesundheit. Zur Abwechslung, als Dreingabe, lasse ich dann
laute Stimmübungen vom Stapel. Deklamatorisches, Sentimentales,
Schmerz, Zorn aus dem Vorrat unserer Dichter und Dramatiker —
oder fülle meine Lungen und singe wilde Lieder und Kehrreime,
die ich bei den Schwarzen im Süden horte, — oder patriotische
Lieder, die ich von den Soldaten lernte. Ich lasse das Echo dröhnen,
kann ich euch sagen! Zwischen zwei derartigen Kraftausbrüchen,
im sinkenden Zwielicht, schrie ein Käuzchen am anderen Ufer der
Bucht vier-, fünfmal hintereinander sein tu-u-u-u — leise, nach-
denklich (wie mir schien, auch ein wenig spöttisch) entweder als
Applaus für die Negerlieder oder vielleicht als ironischen Kommen-
tar zu dem Schmerz, Zorn oder Stil unserer Dichter.
Eine der Wunderlichkeiten des Menschen
Wie kommt es, daß man in all der heiteren, verlassenen Einsam-
keit, allein, tief in diesem Waldesschweigen, — oder, wie ich fand,
in der wilden Prärie, in der Bergesstille — nie ganz frei ist von
dem Instinkt (ich verliere ihn nie, und andere sagen mir im Ver-
trauen das gleiche von sich), sich umzuschauen, ob nicht jemand
erscheinen, aus dem Boden wachsen, oder hinter einem Baum,
einem Felsen hervortreten werde? Ist das ein unterbewußtes, ver-
erbtes Überbleibsel von der ür -Wachsamkeit des Menschen, das
von den wilden Tieren herstammt? oder von seinen wilden Vor-
fahren von einst? Es ist durchaus weder Nervosität noch Angst.
Es ist, als lauere vielleicht etwas Unbekanntes in diesen Büschen
und einsamen Orten. Nein, ganz sicherlich ist da irgend etwas
lebendig unsichtbar Gegenwärtiges.
114
Ein Nachmittagsbild
2 2. Februar.
Gestern Nacht und heute schwer und regnerisch, bis zum halben
Nachmittag, wo der Wind sich plötzlich drehte, die Wolken wie
Vorhänge rasch fortzogen und der klare Himmel durchkam und
mit ihm zugleich der schönste, erhabenste wunderbarste Regen-
bogen, den ich jemals sah ; ganz vollständig, sehr farbig an seinen
Erdenenden und in der Höhe nach allen Richtungen einen leuch-
tenden violetten, gelben, grünen Dunst ausstrahlend, durch den die
Sonne leuchtete — ein unbeschreiblicher Licht- und Farbenaus-
bruch, so üppig und doch so zart, wie ich es nie zuvor erblickte.
Dann das Nachspiel: eine volle Stunde verging, ehe das letzte dieser
Erdenenden verschwand. Dahinter der Himmel: ein durchsichtiges
Blau, mit vielen kleinen weißen Wolken und Flocken. Dazu ein
Abendrot, das alle Sinne der Seele verschwenderisch, zärtlich, voll
erfüllte und beherrschte. Ich schließe diese Zeilen am Teich; durch
die Abendschatten fällt eben noch genug Licht, um den westlichen
Widerschein auf dem Wasserspiegel zu sehen, mit dem umgekehrten
Bild der Bäume. Hin und wieder höre ich das klatschende Geräusch
eines Hechtes, der herausspringt und das Wasser kräuselt.
Die Tore öffnen sich
6. April.
Ich fühle leibhaftig den Frühling, oder doch seine Vorboten. Ich
sitze im hellen Sonnenschein, am Rande des Baches, der Wind
kräuselt leise das Wasser. Nichts als Einsamkeit, Morgenfrische,
Lässigkeit. Meine zwei Eisvögel leisten mir Gesellschaft, segeln,
wenden, stoßen, tauchen, manchmal launisch getrennt, und gleich
wieder vereint. Wieder und wieder höre ich ihre zwitschernden
Kehllaute; eine ganze Zeit lang nichts als diesen eigenartigen Ton.
Gegen Mittag werden auch andere Vögel warm; ich höre die schnar-
renden Laute des Rotkehlchens und eine Musik zweier Stimmen,
davon eine ein köstliches, helles Glucksen, und mehrere andere
Vögel, die ich nicht unterzubringen weiß. Dazu kommt noch von
Zeit zu Zeit (ja, eben höre ich's) ein leises Quarren von ein paar
ungeduldigen Fröschen am Rande des Teiches. Hie und da rauscht
8* Il5
zischend ein ziemlich starker Wind durch die Bäume. Ein armes,
kleines totes Blatt, lang vom Frost gefesselt, wirbelt plötzlich von
irgendwoher im wilden Taumel neuer Freiheit hoch in die Lüfte,
in Raum und Sonnenlicht, und stürzt dann plötzlich hinab aufs
Wasser, wo es festgehalten wird und bald versinkend dem Blick
entschwindet. Noch sind Büsche und Bäume kahl, doch haben die
Buchen noch zum großen Teil die verschrumpelten, gelben Blätter
vom vorjährigen Laube, viele Zedern und Fichten sind noch grün,
und das Gras zeigt schon Spuren kommender Üppigkeit. Und über
dem Ganzen ein wundervoller Dom vom reinsten Blau, ein Spiel
von kommendem und gehendem Licht, und große Herden von
weißen, still dahinschwimmenden Wolken.
Der gewöhnliche Erdboden
Auch der Erdboden — laßt andere See und Luft beschreiben —
(wie ich es zuweilen versuche) — doch ich will nun den einfachen
Erdboden zum Thema nehmen, und weiter nichts. Dieser braune
Boden hier, just zwischen Winterende und Frühlingsanfang und
Wachstum — der Regenschauer des Nachts und der frische Duft
am nächsten Morgen — die roten Würmer, die sich aus dem Boden
hervorwinden — die toten Blätter, das keimende Gras und das heim-
liche Leben darunter — der Wille zu neuem Beginn — an geschützten
Stellen bereits einzelne kleine Blumen — der ferne Smaragdglanz
des Winterweizens und der Roggenfelder — die noch nackten Bäume
mit hellen Durchblicken, die im Sommer verdeckt sind, — das zähe
Brachfeld, das Pflug-Gespann, der kräftige Bursch, der seinen Pferden
aufmunternd zupfeift — und dort, in langen, schräg aufgeworfenen
Streifen, die dunkle, fette Erde.
Vögel, Vögel, Vögel
Etwas später. Strahlendes Wetter.
Ungewöhnlich sangesreich sind in diesen Tagen (den letzten des
April, den ersten des Mai) die Amseln; überhaupt schwirren, pfeifen
und hocken alle möglichen Vögel hoch in den Bäumen. Nie sah
und hörte ich sie so, war so mitten unter ihnen, so von ihnen und
ihrem Treiben umdrängt, überschwemmt, wie in diesem Monat.
ii6
Laßt mich aufzählen, was ich hier finde: Amseln (in Mengen),
Ringeltauben, Eulen, Spechte, Königsvögel, Krähen (in Mengen),
Wachteln, Eisvögel, Hühnerhabichte, Gelbvögel (auch Beutelstare
genannt), Bussarde, Zaunkönige, Drosseln, Rohrdommeln, Feld-
lerchen (in Mengen), Kuckucke, Teichschnepfen, Rotkehlchen, '
Raben, Grauschnepfen, Adler, Fischreiher, Waldtauben.
Schon früh kamen Blaukehlchen, Killdeer, Regenpfeifer, Rot-
kehlchen, Waldschnepfen, Feldlerchen, vveißbauchige Schwalben,
Sandpfeifer, Wilson-Drosseln.
Sternhelle Nächte
1 1 . Mai.
Wieder bricht eine jener ungewöhnlich durchsichtigen, schwarz-
blauen Sternennächte an, die gleichsam zeigen wollen, daß, so strah-
lend und prächtig der Tag sein mag, dennoch dem Nicht-Tag etwas
zu eigen bleibt, was ihn übertrifft. Das seltenste, schönste Beispiel
eines langanhaltenden Helldunkels von Sonnenuntergang bis neun
Uhr. Ich ging zum Delaware hinunter und fuhr immer wieder hin-
über und herüber. Venus wie leuchtendes Silber hoch im Westen.
Die große, dünne, blasse Sichel des Neumonds, eine halbe Stunde
hoch, langsam hinter eine düstere W^olkenwand sinkend und dann
wieder hervortauchend. Arktur gerade über mir. Ein leiser, wür-
ziger Meeresduft von Süden her. Die dämmerige milde Kühle; jede
Einzelheit der unbeschreiblich beruhigenden und stärkenden Sze-
nerie deutlich zu erkennen; — eine jener Stunden, die der Seele zu-
raunen, was sich nicht in Worte fassen läßt. (Oh, wo fände Geistig-
keit ihre Nahrung ohne Nacht und Sterne?) Die gestaltlose Weite
der Luft und das verschleierte Blau des Himmels schienen Wunder
genug.
Als die Nacht vorrückte, wandelte sich ihr Geist und Kleid zu
noch umfassenderer Pracht. Ich wurde mir fast einer deutlich be-
stimmten Gegenwart bewußt: der schweigenden Nähe der Natur.
Das große Sternbild der Wasserschlange streckte seine Windungen
über mehr als den halben Himmel. Der Schwan flog mit aus-
gebreiteten Schwingen die Milchstraße hinab. Die nördliche Krone,
der Adler, die Leier, alle an ihrem Platz dort oben. Aus dem ganzen
Gewölbe schössen Lichtblitze, Grüße an mich, durch das klare
117
Blauschwarz herab. Jedes gewöhnliche Bewußtsein von Bewegung,
jedwedes animalische Leben schien ausgeschaltet, schien ein Traum;
eine seltsame Macht, gleich der gelassenen Ruhe ägyptischer Gott-
heiten, ergriff die Herrschaft, durch ihre Unfaßbarkeit um nichts
weniger gewaltig. Zuvor hatte ich viele Fledermäuse gesehen, die
sich in dem hellen Zwielicht wiegten und ihre schwarzen Gestalten
hin und her über den Fluß schnellten; doch jetzt waren sie ganz
verschwunden. Der Abendstern und der Mond waren fort. Regsam-
keit und Friede waren ruhig beisammengelagert in den flutenden
Schatten des Alls.
26. August.
Hell war der Tag, und mein Geist gleichfalls im „sforzando".
Nun kommt die Nacht, ganz anders, unsagbar nachdenklich mit
ihrer eigenen, zarten und milden Pracht. Venus verharrt im Westen
mit einem wollüstigen Glänze, wie sie ihn im ganzen Sommer noch
nicht zeigte. Mars geht früh auf, und der düster-rote Mond, zwei
Tage nach Vollmond; Jupiter im nächtlichen Meridian, und der
lange, gekrümmte Skorpion dehnt sich voll sichtbar im Süden, den
Antares am Halse. Mars durchschreitet jetzt als oberster Herrscher
den Himmel; den ganzen Monat über gehe ich nach dem Abend-
essen hinaus, um ihn zu beobachten ; manchmal stehe ich um Mitter-
nacht auf, um noch einmal einen Blick auf seinen unvergleichlichen
Glanz zu werfen. (Ich lese, daß kürzlich ein Astronom durch das
neue Teleskop von W^ashington feststellte, daß der Mars jedenfalls
einen Mond, vielleicht sogar zwei, hat.*) Blaß und fern, doch im
Himmelsraum nahe, geht Saturn ihm voran.
Königskerzen
Große, sanfte Königskerzen, von samtenem Gewebe und heller,
bräunlich-grüner Farbe, wachsen überall auf den Feldern, je weiter
der Sommer vorrückt. Anfangs, wenn sie noch niedrig und unent-
faltet sind, wirken sie mit ihren breiten Blättern (acht, zehn, zwanzig
Blätter an jeder Pflanze) wie Rosetten auf dem Erdboden. Auf den
zwanzig Morgen Brachland, am Ende des Feldweges, und besonders
in den Furchen längs der Zäune, stehen sie in Menge, erst dicht
* A. Hall im Jahre 1877. (Anmerkung des Übersetzers.)
118
über dem Boden, doch bald schießen sie hoch, schon sind die Stengel
vier, fünf, ja sieben und acht P'uß hoch; die Blätter so breit, wie
meine Hand, die untersten doppelt so lang — so frisch und tauig
in der Frühe. Ich höre, daß der Farmer die Königskerze für ein
gemeines, nutzloses Unkraut hält; doch mir ist sie lieb geworden.
Jedes Ding enthält seine Lehre, in der der Hinweis auf alle anderen
Dinge enthalten ist — und in letzter Zeit scheint mir's manchmal,
als konzentriere sich für mich alles in diesem wetterharten, gelb-
blumigen Unkraut. Wenn ich am frühen Morgen den Feldweg
daherkomme, verweile ich stets vor ihrem weichen, wolligen Vlies,
ihren Stengeln und breiten Blättern, die von zahllosen Diamanten
glitzern. Zusammen kehren wir, sie und ich, nun seit drei Jahren
in jedem Sommer schweigend zurück; nach so langen Pausen stehe
oder sitze ich immer wieder bei ihnen und träume — verwoben
mit all den andern Stunden und Stimmungen der Erholung meines
gesunden oder kranken Geistes, der hier dem Frieden so nahe ist, wie
nur möglich.
Ferne Geräusche
Die Axt des Holzhauers — der gleichmäßige Fall eines einzelnen
Dreschflegels — das Krähen des Hahnes im Hühnerhof (mit den
unvermeidlichen Antworten aus anderen Hühnerhöfen) — das Brüllen
der Rinder — doch vor allem, fern und nah, der Wind — hoch in
den Baum wipfeln, tief in den Büschen, oder auf Gesicht und Händen
so leise streichelnd, in diesem mild-leuchtenden Mittag, dem kühlsten
seit langer Zeit (2. Sept.); — ich will es nicht Seufzer nennen, denn
für mich hat der Wind immer einen festen, gesunden, fröhlichen
Ausdruck, abwechslungsreich bei aller Einförmigkeit, bald rasch,
bald langsam, bald rauh, bald zart. Wie zischelt der Wind in
dem Fichtenwäldchen dort drüben. Oder auf See, — ich kann mir
im Augenblicke vergegenwärtigen, wie er die Wogen peitscht, wie
weithin Schaumgeister spritzen, und das freie Pfeifen und den Salz-
geruch, — und dieses weite große Paradoxon, das bei all seiner
Bewegung und Rastlosigkeit ein Gefühl von ewiger Ruhe vermittelt.
Andere Begleiter
Sonne und Mond jedoch, hier und zu dieser Zeit! Nie schien das
prächtige, königliche Gestirn am Tage so wunderbar, so groß, so
119
glühend und liebevoll, — nie bei Nacht ein so blendender Mond,
wie gerade in den letzten drei, vier Nächten.
Ein Sonnenbad. Nacktheit
Sonntag, 9,7. August.
Wieder ein Tag ganz frei von ausgesprochner Hinfälligkeit und
Schmerzen. Es scheint wirklich, als flösse ungesehen Friede und
Stärkung auf mich herab, wie ich so langsam in der guten Luft
durch diese Wiesen wege und Felder humple — wie ich hier einsam
mit der Natur sitze — der offenen, stummen, mystischen, fernen,
doch fühlbaren, beredten Natur. Ich lasse mich versinken in die
Landschaft, in den vollkommenen Tag. Ich hocke an dem klaren
Wasserlauf und trinke die Ruhe, — hier aus seinem leisen Glucksen,
dort aus dem tieferen Rauschen seines drei Fuß hohen Wasserfalls.
— Kommt, oh, ihr Trostlosen, wenn noch Entschlußkraft in euch
schlummert, — kommt zu der unfehlbaren Heilkraft von Rachufer,
Wald und Feld. Zwei Monate lang (Juli und August 77) hab' ich
sie nun in mich aufgenommen, und sie beginnen einen neuen
Menschen aus mir zu machen. Jeden Tag Einsamkeit — jeden
Tag mindestens zwei oder drei Stunden Freiheit, Rad, kein
Geschwätz, keine Fesseln, keine Kleider, keine Rücher, kein
„ Renehm en" !
Soll ich dir sagen, Leser, worauf ich meine schon fast wieder-
hergestellte Gesundheit zurückführe? Darauf, daß ich seit fast
zwei Jahren, mit wenigen Unterbrechungen, ohne Arzneimittel und
täglich in der frischen Luft bin. Vorigen Sommer fand ich eine
besonders geschützte kleine Schlucht, etwas abseits von meinem
Räch; ursprünglich eine große, ausgeschachtete Mergelgrube, nun
verlassen und ausgefüllt von Rüschen, Räumen, Gras, einer Weiden-
gruppe, einer einzelnen Erhöhung und einer Quelle mit köstlichem
Wasser, die mitten hindurch fließt mit zwei oder drei kleinen
Wasserfällen. Hierher flüchtete ich mich an jedem heißen Tage,
und so mache ich es auch in diesem Sommer. Hier begreife ich,
was jener Alte meinte, der sagte, er sei selten weniger allein, als
wenn er allein sei. Nie zuvor kam ich der Natur so nahe, noch sie
so nahe zu mir. Eine Stunde oder so nach dem Frühstück schlenderte
ich zu der Verborgenheit besagter Schlucht hinab, die ich und
120
einige Drosseln usw. ganz für uns allein hatten. Ein leichter Süd-
west blies durch die Wipfel. Es war just der Ort und die Stunde
für mein adamitisches Luftbad nebst Bürsten des Körpers von Kopf
bis Fuß. So hing ich denn die Kleider auf einen nahen Zaun,
behielt den alten, breitrandigen Strohhut auf dem Kopf und be-
queme Schuhe an den Füßen und hatte zwei herrliche Stunden!
Zuerst Arme, Brust und Seiten mit den steif-elastischen Borsten
gebürstet, bis sie feuerrot waren — dann ein teilweises Bad im
klaren Wasser des rinnenden Baches — alles sehr gemächlich, mit
vielen Ruhepausen — alle paar Minuten barfuß herumgelaufen im
nahen, schwarzen Schlamm, als fettes Moorbad für meine Füße, —
ein zweites und drittes Mal in dem kristallklaren Wasserlauf kurz
abgespült — mit dem duftenden Handtuch abgerubbelt — langsame,
lässige Promenaden auf dem Rasen auf und ab in der Sonne, ab-
wechselnd mit Ruhepausen und dann wieder Abreibungen mit der
Bürste. Manchmal nehme ich meinen Feldstuhl von Ort zu Ort
mit, da mein Bereich hier ziemlich ausgedehnt ist (fast hundert
Ruten) und ich mich ganz sicher fühle vor Störungen (und das
würde mich auch keineswegs aus der Fassung bringen, wenn es
zufällig einmal vorkäme).
Wie ich langsam über das Gras ging, schien die Sonne hell genug,
daß ich meinen mitgehenden Schatten sehen konnte. Irgendwie
schien es mir, als würde ich eins mit all und jedem Ding um mich
her, je nach seinem Wesen. Die Natur war nackt und ich auch.
Es war eine zu lässige, einschläfernde, wonnige und ausgeglichene
Stimmung, um darüber nachzugrübeln. Doch mag ich mir etwa
die folgenden Gedanken gemacht haben : Vielleicht ist unser innerer,
nie verlorner Zusammenhang mit Erde, Licht, Luft, Bäumen usw.
nicht durch Augen und Gemüt allein zu erfassen, sondern mit dem
ganzen fleischlichen Körper, den ich ebenso wenig wie die Augen
geblendet und verbunden haben will. Süße, gesunde stille Nackt-
heit in der Natur! — oh, könnte die arme, kranke, geile Stadt-
menschheit dich nur einmal wieder wirklich kennenlernen! — Ist
also Nacktheit nicht unanständig? — Nein, an sich nicht. Eure
Gedanken, eure Heuchelei, eure Furcht, euer Ehrbartun: die sind
das Unanständige. Es kommen Stimmungen, wo diese unsere Klei-
dung nicht nur zu lästig wird zum Tragen, sondern in sich selbst
unanständig. Vielleicht hat der Mann oder das Weib, die das freie
121
heitere Hochgefühl der Nacktheit in der Natur nie kennenlernen
durften (und wie viele Tausende sind das!), nie wirklich gewußt,
was Reinheit ist — noch was Glauben, Kunst und Gesundheit
eigentlich ist. (Wahrscheinlich entsprang der ganze Schatz an
höchster Philosophie, Schönheit, Heroismus, Form, wie die alte
hellenische Rasse ihn aufweist, — die höchste Höhe und tiefste
Tiefe, die die Kultur auf diesen Gebieten kennt, — aus ihrer natür-
lichen und religiösen Idee der Nacktheit.)
Die Eichen und ich
5. September 77.
Ich schreibe dies, elf Uhr vormittags, unter einer dicht belaubten
Eiche am üfer, unter der ich vor plötzlichem Regen Schutz suchte.
Ich kam hierher (es war den ganzen Morgen trüb und regnerisch,
doch vor einer Stunde hörte es etwas auf) zu der schon erwähnten,
täglichen, einfachen Leibesübung, die ich so liebe: um an diesem
jungen Eichbäumchen hier zu ziehen und von ihm gezogen zu
werden, mitzuschwingen mit der zähen Geschmeidigkeit seines auf-
rechten Stammes, — vielleicht etwas von seiner elastischen Faser,
seinem klaren Safte in meine alten Sehnen hineinzubekommen. Ich
stehe auf dem Rasen und übe dies Gesundheitsstemmen mäßig
schnell und mit Unterbrechungen fast eine Stunde lang, und atme
dabei die frische Luft in tiefen Zügen. An dem Bach entlang habe
ich drei oder vier von Natur günstige Ruheplätze — außerdem
trage ich einen Stuhl mit mir und benütze ihn für bedachtsamere
Gelegenheiten. An anderen geeigneten Stellen habe ich, außer dem
eben erwähnten Eichbäumchen, in bequemer Reichweite starke
und geschmeidige Stämme von Buchen und Stechpalmen ausgesucht
zu meiner Naturgymnastik für Arm-, Brust- und Rumpfmuskeln.
Bald fühle ich Saft und Kraft in mir aufsteigen, wie Quecksilber
in der Wärme. Dort in Sonne und Schatten halte ich Äste oder
schlanke Stämme zärtlich umfaßt, ringe mit ihrer harmlosen Stärke
und weiß, daß die Lebenskraft von ihnen auf mich übergeht.
(Oder vielleicht ist es ein Austausch zwischen uns — vielleicht ge-
wahren die Bäume von alldem mehr, als ich mir je träumen ließ.)
Nun aber in vergnüglicher Gefangenschaft hier unter der großen
Eiche — der Regen strömt, der Himmel ist mit bleiernen Wolken
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bedeckt — auf der einen Seite nichts als der Teich, auf der andern
ein Grasflecken, besät mit den weißen Blüten der wilden Möhre —
Axtklänge von einem fernen Holzschlag her: — warum bin ich so
(beinahe) glücklich, ganz allein hier in dieser nichtssagenden Um-
gebung (wie die meisten Leute es nennen würden)? Warum würde
jede Störung — selbst durch Leute, die ich gern habe, — den
Zauber vernichten? Aber bin ich denn allein? Zweifellos kommt
eine Zeit — vielleicht ist sie für mich gekommen — wo man mit
seinem ganzen Wesen, vornehmlich im Gemüt, jene Identität fühlt
zwischen dem subjektiven Ich und der objektiven Natur, die
Schelling und Fichte so gerne betonen. Wie es ist, weiß ich nicht,
aber oft werde ich mir hier einer Gegenwart bewußt — in klaren
Stimmungen bin ich mir ihrer gewiß, und weder Chemie noch
Logik noch Ästhetik kann die geringste Erklärung dalür geben.
Die ganzen beiden letzten Sommer hat sie meinen kranken Leib
und meine kranke Seele gestärkt und genährt, wie nie zuvor.
Dank, unsichtbarer Arzt, für deine stumme, köstliche Arznei,
deinen Tag und deine Nacht, deine W^assc und deine Lüfte, für
die Ufer, das Gras, die Bäume und sogar für das Unkraut!
Schmetterlinge
20. August 1878.
Schmetterlinge, nichts als Schmetterlinge flattern beständig hin
und her (statt der Hummeln der letzten drei Monate, die ganz ver-
schwunden sind) — alle Arten, weiße, gelbe, braune, purpurne —
hin und wieder glitzert ein prächtiger Bursche lässig vorbei auf
Flügeln, getupft mit allen Farben wie die Paletten der Maler.
Über der Brust des Teiches sehe ich viele weiße kreuz und quer
ihren müßigen, launischen Flug verfolgen. Nah dem Platz, wo ich
sitze, wächst ein hochstengeliges Kraut, verschwenderisch gekrönt
mit tiefroten Blüten, auf die die schneeigen Insekten sich nieder-
lassen und verweilen, manchmal vier oder fünf zur selben Zeit.
Dann besucht sie ein Kolibri und ich beobachte ihn, wie er kommt
und fortfliegt, zierlich sich wiegt und vorbeischimmert. Diese weißen
Schmetterlinge geben neue, schöne Kontraste zu dem reinen Grün
des Augustlaubs (wir haben kürzlich reichlichen Regen gehabt)
und zu der gleißenden Bronze des W^asserspiegels. Man kann sogar
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manche von diesen Insekten zähmen; ich habe da einen großen,
schönen Faher, der kennt mich und kommt zu mir und hat es gern,
wenn ich ihn auf meiner ausgestreckten Hand halte.
Ein anderes Mal, später
Ein zwölf Morgen großes Feld reifer Kohlköpfe mit ihrer vor-
herrschenden Farbe von Malachitgrün; und darüber und dazwischen
schweben und fliegen nach allen Richtungen Myriaden dieser
weißen Schmetterlinge. Als ich heute den Feldweg heraufkam,
sah ich eine lebendige Kugel aus ihnen, drei oder vier Fuß im
Durchmesser, viele Dutzende zusammengeballt, die rollten, immer
ihre Kugelform bewahrend, durch die Luft, sechs bis acht Fuß
über dem Erdboden.
P]rinnerung aus einer Nacht
9.5. August, neun bis zehn Uhr vorm.
Ich sitze am Teich, alles ist still, die breite, glänzende Fläche
liegt vor mir. — Das Blau des Himmels und die weißen Wolken
spiegeln sich darin — darüber huscht hie und da der Schatten eines
fliegenden Vogels. Letzte Nacht war ich hier unten mit einem
Freund bis nach Mitternacht; alles ein Wunder an Glanz — die
Pracht der Sterne und der vollkommen runde Mond — die ziehenden
Wolken, Silber und lichtes Gelbbraun — manchmal Massen von
dunstig erleuchtetem Windgewölk — und schweigend an meiner
Seite mein lieber Freund. Die Schatten der Bäume und Streifen
Mondlichts auf dem Gras — die leicht bewegte Luft und der kaum
spürbare Duft des nahen reifenden Kornes, die unbewegte durch-
geistigte Nacht, unaussprechlich reich, zärtlich, inhaltvoll — alles
in allem etwas, das die Seele durchdringt und noch lange nachher
die Erinnerung stärkt, nährt und beruhigt.
Wilde Blumen
Das war, und ist noch, eine Festzeit für wilde Blumen; ganze
Meere von ihnen stehen an den Wegen durch die Wälder, säumen
die Ränder der Bäche, wachsen an all den alten Zäunen entlang
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und sind verschwenderisch über die Felder verstreut. F^ine acht-
blättrige, goldgelbe Blüte, hell und licht, mit einem braunen
Büschel in der Mitte, fast so groß wie ein silbernes Halbdollarstück,
ist sehr verbreitet; auf einer langen Fahrt gestern sah ich sie in
Massen an den Ufern jedes Baches stehen. Dann gibt es ein schönes,
mitblauen Blüten bedecktes Kraut (von demBlau der alten chinesischen
Teetassen, die unsere Großtanten sammelten), bei dem ich immer
stehenbleibe, um es zu bewundern; es ist ein wenig größer als ein
Zehncentstück und sehr verbreitet. Weiß jedoch ist die vor-
herrschende Farbe. Von den wilden Möhren habe ich gesprochen;
auch von dem wohlriechenden Immergrün. Aber alle Farben und
Schönheiten sind vertreten besonders an den oft vorkommenden
Strecken sprossender Zwergeichen und Zvvergzedern hier herum.
Wilde Astern in allen Farben. Trotz des Frosthauchs halten sich
die abgehärteten kleinen Dinger in all ihrer Blütenpracht. Ebenso
die Blätter der Bäume, manche fangen an, gelb oder braun oder
graugrün zu werden. Die tiefe Weinfarbe der Färberbäume und
Gummibäume läßt sich schon sehen und das Strohgelb der Birke.
Der Delaware — Tage und Nächte
5. April 1 87g.
Mit der Rückkehr des Frühlings zu den Wolken, den Lüften,
den Wassern des Delaware kommen auch die Seemöwen wieder.
Ich werde es niemals müde, ihrem weitausladenden, leichten,
spiralenförmigen Flug zuzusehen oder wie sie schweben mit lang-
samen, unbewegten Flügeln oder herunteräugen mit ihrem ge-
bogenen Schnabel oder nach Nahrung ins Wasser tauchen. Die
Krähen, deren es übergenug den Winter hindurch gab, sind mit
dem Eise verschwunden. Nicht eine ist jetzt zu sehen. Die Dampf-
boote sind wieder zum Vorschein gekommen — stattlich daher-
schnaufend, frisch bemalt für die Sommerarbeit.
Aber laßt mich das Ganze zusammenfassen und aufzählen: —
den Fluß selbst, den ganzen Weg vom Meer her — Cape Island
auf einer Seite und Henlopen-Leuchtturm auf der anderen, die
breite Bucht hinauf nach Norden, und so bis Philadelphia und
weiter bis Trenton; — die Gegenden, die ich am besten kenne (da
ich einen großen Teil der Zeit in Gamden zubringe, sehe ich die
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Dinge von diesem Aussichtspunkt) — die großen, hochmütigen,
schwerbeladenen Ozeandampfer, die ein- oder auslaufen — die
mächtige Breite hier zwischen den zwei Städten, durchschnitten
von dem Windmühleneiland — gelegentlich ein Kriegsschiff, manch-
mal ein fremdes, vor Anker, mit seinen Geschützen und Stück-
pforten, und die Boote und braungebrannten Schiffer, und die
regelmäßigen Ruderschläge, und die fröhlichen Schwärme von
Ausflüglern — die häufigen großen, schönen Dreimaster, einige
neu und sehr schmuck mit ihren weißgrauen Segeln und gelbem
Fichtengestänge — die Schaluppen, die mit günstigem Wind daher-
rauschen — (ich sehe eben eine, wie sie herbeikommt mit breiten
Segeln, ihr Gaffeltoppsegel leuchtet in der Sonne, hoch und malerisch
— wie schön zwischen Himmel und Wasser!) — die wimmelnden
Werften und Anlegeplätze die Stadt entlang — die Flaggen der
verschiedenen Nationen, das starke, englische Kreuz auf seinem
Grund von Blut, die französische Trikolore, das Banner des großen
deutschen Kaiserreiches und die italienischen und spanischen Far-
ben; — manchmal am Nachmittag die ganze Szenerie belebt von
einer Flotte von Yachten, die mit halber Fahrt langsam vom Ren-
nen in Gloucester heimkehren, und, wenn man den Blick nord-
wärts w^endet, die langen Streifen weißflockigen Dampfes oder
schmutzigschwarzen Rauches von der Küste von Kensington oder
Richmond her, fächerförmig, schräg sich herüberziehend im West-
südwestwind.
Szenen auf Fähre und Fluß — Winternächte
Dann die Camdenfähre! Welche Fröhlichkeit, Abwechslung,
Belebtheit, Geschäftigkeit bei Tag. Was für beruhigende, schwei-
gende, wunderbare Stunden bei Nacht, wenn ich im Boot über-
fahre, fast niemand außer mir darin, und allein auf dem Deck
hin und her gehe, vorn oder achtern. Welche Zwiesprache mit
dem Wasser, der Luft, dem köstlichen chiaroscuro — der Himmel
und die Sterne, die nichts, kein Wort zu dem Intellekt sprechen,
und doch so beredt, so mitteilsam zu der Seele sind. Und die Fähr-
leute — wie wenig wissen sie, was sie mir gewesen sind, Tag und
Nacht, — wie viele Wolken von Verdrossenheit, Langerweile,
Schwäche sie in ihrer rauhen Art mir vertrieben haben. Und die
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Lotsen — die Kapitäne Hand, Walton und Giberson am Tag; und
Kapitän Olive nachts; Eugen Crosby, der mich mit seinen starken
jungen Armen so oft stützte, umfing, sicher auf das Schiff geleitete
über die Löcher auf der Brücke, über alle Hindernisse.
Ich habe von den Krähen gesprochen. Ich beobachte sie immer
vom Boot aus. Ihre schwarzen Flecken heben sich gegen Schnee
und Eis in dieser Jahreszeit überall ab — fliegend und flatternd
oder auf kleinen oder größeren Schollen den Strom hinauf und
hinab schwimmend. An einem Tag war der Fluß beinahe eisfrei
— nur eine einzige lange Scholle abgebrochenen Eises bildete einen
schmalen Streifen, der schnell die Strömung hinunterschwamm,
über eine Meile weit. Auf diesem weißen Streifen waren die Krähen
versammelt, Hunderte von ihnen — eine spaßige Fahrt.
Dann der Warteraum, ein genaues Bild des Lebens. Nachmittags,
gegen halb vier Uhr; es beginnt zu schneien. Im Theater hat eine
Nachmittagsvorstellung stattgefunden, von halb fünf bis fünf Uhr
kommt der Strom der heimkehrenden Damen. Ich habe niemals
in dem geräumigen Zimmer eine frohere, lebendigere Szene sich
abspielen sehen — schöne, gutgekleidete Frauen und Mädchen aus
Jersey, Dutzende von ihnen, die eine Stunde lang hereinströmen,
mit hellen Augen und glühenden Gesichtern, aus der frischen Luft
kommend — ein paar Sternchen Schnee auf den Kleidern und
Hüten, wenn sie eintreten. — Die Wartezeit von fünf oder zehn
Minuten — das Plaudern und Lachen — (Frauen können sich
köstlich untereinander amüsieren, mit vielen witzigen Einfällen, in
fröhlicher Hingegebenheit) — dazu die Laute der Glockenzeichen,
der Dampfpfeifen der abfahrenden Schiffe mit ihren rhythmischen
Pausen und Untertönen, — die vertraulichen Bilder, Mütter mit
ihrer Schar Töchter (ein reizender Anblick), Kinder, Bauern, —
die Bahnbeamten mit ihren blauen Röcken und Kappen — alle die
verschiedenen Charaktere aus Stadt und Land dargestellt oder an-
gedeutet. Dann draußen ein verspäteter Reisender, der sinnlos dem
Boot nachrennt, nachspringt. Gegen sechs Uhr verdichtet sich der
menschliche Strom allmählich — jetzt ein Gedränge von Fuhr-
werken, Karren, aufgehäuften Kisten, jetzt ein Zug Rindvieh, der
große Aufregung hervorruft, die Treiber mit schweren Stöcken,
mit denen sie die dampfenden Flanken der verängstigten Tiere
bearbeiten.
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Eine Januar nacht
Schöne Fahrten über den breiten Delaware heute nacht. Der
Fluß kurz nach acht Uhr voll von größtenteils aufgebrochenem
Eis, aber ein paar große Schollen machen unser stark gebautes
Dampfboot dröhnen und erzittern, als es gegen sie stößt. Im klaren
Mondlicht breiten sie sich aus, seltsam, unirdisch, silberig, matt-
glänzend, so weit ich sehen kann. Stoßend, zitternd, manchmal
wie tausend Schlangen zischend, gibt die steigende Flut, wie wir
mit ihr oder durch sie hindurchfahren, einen mächtigen Grundton,
im Einklang mit dem ganzen Bild. Die Pracht zu Häupten droben
ist unbeschreiblich; aber es ist etwas Hochmütiges, fast Anmaßen-
des in der Nacht, niemals noch bin ich mir so des verborgenen
Gefühls, ich möchte beinahe sagen der Leidenschaftlichkeit
der schweigenden, unendlichen Sterne da oben bewußt geworden.
In solcher Nacht kann man verstehen, warum seit den Tagen der
Pharaonen oder des Hiob in dem mit Planeten besäten Himmels-
dom die feinste, tiefste Kritik am menschlichen Stolz, Ruhm, Ehr-
geiz empfunden wurde.
Eine andere Winternacht
Ich kenne nichts „Erfüllenderes", als in einer klaren, kühlen
Mondnacht auf dem weiten, festen Verdeck eines starken Schiffes
zu stehen, das stolz und unwiderstehlich durch dieses dicke, mar-
morne, glänzende Eis stößt. Der ganze Fluß ist jetzt davon be-
deckt — einige ungeheure Schollen. Es liegt etwas so Verzau-
bertes über der Szene — zum Teil durch die Art des bläulichen
Lichtes, des Mondzwielichtes; — nur die großen Sterne können sich
in dem Leuchten des Mondes durchsetzen. Die Luft ist scharf, an-
genehm für Bewegung, trocken, voll Sauerstoff'. Und das Gefühl
von Kraft — der feste, zornige, gebieterische Eifer unserer starken,
neuen Maschine, indes sie ihren Weg durch die großen und kleinen
Schollen pflügt!
Eine andere
Zwei Stunden lang fuhr ich über den Fluß, hin und her,
nur zum Vergnügen — zu stiller Erregung. Himmel und Fluß
veränderten sich öfters. J)er Himmel hielt eine Zeitlaiip zwei jj^ruße
Fächer heller Wolken ausgebreitet, durch die der Mond hindurch-
ging, leuchtend jetzt und eine Aureole von durchsichtigem Gelb-
braun mit sich führend, und jetzt die ganze Weite mit hellem,
dunstigem Lichtgrün überflutend, durch das er, wie durch einen
erleuchteten Lichtschleier, mit gemessener, frauenhafter Bewegung
zog. Dann bei einer anderen Fahrt ist der Himmel vollkommen
klar und Luna in all ihrem Glanz. Der Große Wagen im Norden
mit dem Doppelstern an der Deichsel, viel deutlicher als gewöhnlich.
Dann die glänzige Lichtspur auf dem Wasser, tanzend und sich
kräuselnd. Verwandlungen, Bilder, Gedichte — unnachahmlich.
Eine andere
Ich studiere bei der Überfahrt heute nacht die Sterne unter
günstigen Umständen. Es ist spät im Februar und wieder beson-
ders klar. Hoch im Westen die Plejaden, zitternd mit feinem Ge-
funkel im sanften Himmel — der Aldebaran, der die V-förmigen
Hyaden führt — und droben im Süden die Capella mit ihren Zick-
lein. In voller Entfaltung im hohen Süden der majestätischste von
allen, Orion, weit ausgebreitet, mächtig, der Hauptakteur auf die-
ser Bühne, mit der blitzenden, gelben Rosette an seiner Schulter
und seinen drei Königen — und etwas gegen Westen Sirius, voll
ruhigen Stolzes, der wunderbarste Einzelstern. Ich ging spät an
Land (ich konnte mich von der Schönheit und Lindigkeit der
Nacht nicht trennen) und während ich herumstand oder langsam
weiterwanderte, hörte ich die hallenden Rufe der Bahnleute in dem
Hof des Westjersey Depots, das Schieben und Rangieren der Züge,
Lokomotiven usw. inmitten der allgemeinen Stille, und ein Etwas
in der akustischen Beschaffenheit der Luft, musikalische, ergreifende
Effekte, wie ich sie nie zuvor wahrgenommen. Ich verweilte lange,
lange und lauschte.
Nacht vom i8. Marz 1879.
Eine jener ruhigen, angenehm kühlen, köstlich klaren und
wolkenlosen ersten Frühlingsnächte — die Atmosphäre wieder von
dem seltsamen, gläsernen Blauschwarz, das den Astronomen so
willkommen ist. Genau acht Uhr abends; die Szenerie droben von
9 Whituiaii 1
feierlichster, unvergleichlicher Schönheit. Venus fast unten im
Westen, von einer Größe und einem Glanz, als wollte sie sich vor
ihrem Untergehen selbst übertreffen. Schwellender, mütterlicher
Himmelskörper, — ich nehme dich wieder in mich auf. Ich denke
zurück an jenen Frühling vor Abraham Lincolns Ermordung, als
ich ruhelos die Ufer des Potomac um Washington durchstreifte
und dich beobachtete, hoch dort oben, schwermütig wie ich selbst:
„Als wir wanderten auf und ab in dem mystischen Dunkelblau,
Als wir in Schweigen wanderten in der durchsichtigen, schattigen Nacht,
Als ich sah, du habest mir etwas zu sagen, da du Nacht für Nacht dich mir
neigtest,
Da du dich tief vom Himmel herniedersenktest als wie an meine Seite (indes
die anderen Sterne alle zuschauten),
Da wir miteinander wanderten in der feierlichen Nacht."
Mit der scheidenden Venus, groß bis zuletzt und bis zum Rande
des Horizontes leuchtend, welch ein Schauspiel bietet das weite
Gewölbe in diesem Augenblick! Merkur war just nach Sonnen-
untergang sichtbar — ein seltener Anblick. Arkturus ist jetzt auf-
gegangen, genau im Nordosten. In ruhiger Pracht strahlen alle die
Sterne des Orion an ihrem Platz im Meridian gegen Süden mit
dem Sternbild des Hundes ein wenig links. Und jetzt steigt eben
Spica auf, spät, tief und leicht verschleiert. Castor, Regulus und
die übrigen alle leuchten ungewöhnlich hell (weder Mars noch
Jupiter noch Mond bis zum Morgen). Am Rand des Flusses blin-
ken viele Lichter — zwei oder drei ungeheure Schlote zwei Meilen
aufwärts, die dicke Schmelzflammen ausstoßen, vulkanartig, die
ganze Umgebung erleuchtend — und manchmal ein elektrisches
oder Karbidlicht mit dantesken Infernostrahlen, weitausgereckten
Speichen, furchtbar, geisterhaft mächtig.
Zwei Stadtteile
New York, Mai 1879.
Kein Viertel dieser Stadt bietet an diesen schönen Mainachmit-
tagen ein glänzenderes, lebhafteres, gedrängteres Menschenschau-
spiel als die Gegend, die die 14. Straße (besonders das kurze Stück
zwischen Broadway und 5. Avenue) samt Union Square und Um-
gebung umfaßt. Alle die Straßen sind hier breit und die Plätze
i3ü
groß und frei — jetzt überflutet vom flüssigen Gold des machtvollen
Sonnenscheins der letzten zwei Nachmittagsstunden. Gegen fünf
Uhr muß der ganze Stadtteil an den Tagen meiner Beobachtung
3o bis 40000 schön gekleidete Menschen enthalten haben, alle in
Bewegung, viele gut aussehend, viel schöne Frauen, oft junges Volk
und Kinder, die letzteren in Gruppen mit ihren Bonnen — die Trot-
toirs überall gedrängt voll dichten Gewühls (aber keine Zusammen-
stöße, keine Störung), voll Massen leuchtender Farben, Bewegung,
geschmackvollen Toiletten (die Frauen kleiden sich zweifellos besser
als früher und ebenso die Männer). Es ist, als ob New York an
diesen Nachmittagen zeigen wollte, was es an erlesenen mensch-
lichen Gestalten und Physiognomien, an unnachahmlicher Verschwen-
dung von Fahrzeugen, Waren, Glanz, Magnetismus und Glück zu
bieten hat.
Ein anderes Bild, ebenfalls von fünf bis sieben Uhr nachmittags.
Die ganze 5. Avenue entlang und den ganzen Weg von den Aus-
gängen des Zentralparks in der 69. Straße bis hinunter zur 14. ein
Mississippi von Pferden und reichen Fahrzeugen, nicht ein oder
zwei Dutzende, sondern Hunderte und Tausende. Die breite Straße
ist von ihnen erfüllt und vollgepfropft — ein regsames, blendendes,
hastiges Gewühl, mehr als zwei Meilen lang. (Ich möchte wissen,
ob es nie ins Stocken kommt, aber ich glaube, das geschieht nie.)
All dies zusammen ist für mich das märchenhafte Bild von New
York. Ich liebe es, einen der Omnibusse in der 5. Avenue zu be-
steigen und der reißenden Prozession entgegenzufahren. Ich glaube
nicht, daß London oder Paris oder irgendeine andere Stadt der Welt
einen derartigen Wagenkorso aufzuweisen hat, wie ich ihn hier
fünf- oder sechsmal an diesen schönen Mainachmittagen gesehen
habe.
Ein schöner Nachmittag von vier bis sechs Uhr
Zehntausend Fahrzeuge eilen durch den Park an diesem voll-
kommenen Nachmittag. Welch ein Schauspiel! Und ich habe alles
gesehen und genau und mit Muße beobachtet. Privatkalescheu ,
Droschken und Coupes, schöne Pferde, Schoßhunde, Bediente,
modische Kleider, Ausländer, Kokarden an Hüten, Federbüsche —
die ganze ozeangleiche Flut von New Yorks Reichtum und „Adel".
Es war ein imposanter, reicher, endloser Zirkus in größtem Maß-
stab, voll Bewegung und Farbe in der Schönheit des Tages, in der
klaren Sonne und milden Luft. Familiengruppen, Paare, einzelne
Fahrer — natürlich meist elegant gekleidet — viel Stil (aber viel-
leicht wenig oder nichts, selbst hierin, durch sich selbst voll gerecht-
fertigt). Durch die Fenster von zwei oder drei der vornehmsten
Wagen sah ich Gesichter, fast leichenhaft, so aschfarben und schlaff.
In der Tat ließ die ganze Angelegenheit in Geist und Haltung
weniger vom echten Amerika erkennen, als ich von einem so er-
lesenen Massenschauspiel erwartet hätte. Ich glaube, daß es als
Beweis für den grenzenlosen Reichtum und Luxus des schon erwähn-
ten Adels überwältigend war. Aber das, was ich in diesen Stunden
sah, ich benutzte zwei andere Gelegenheiten, zwei andere Nachmit-
tage, um dieselbe Szene zu beobachten), bestärkte mich in einem
Gedanken, der bei jedem neuen Blick, den ich auf die höchsten
Schichten unserer reichen und vornehmen Welt werfe, immer wieder
in mir auftaucht — nämlich der Gedanke, daß sie sich nicht behag-
lich fühlen, daß sie sich ihrer selbst zu bewußt sind, in viel zu viele
Wachshüllen eingeschlossen und weit davon entfernt, glücklich zu
sein, — daß nichts in ihnen ist, worum wir, die wir arm und einfach
sind, sie zu beneiden brauchen, und daß sie statt des ewigfrischen
Duftes von Gras und Wald und Küste immer nur den Geruch von
Seifen und Parfüm. atmen, der, so erlesen er sein mag, doch an den
Friseurladen erinnert, — an etwas, das irgenwie in wenigen Stunden
schal und dumpfig wird.
Schwalben am Fluß
3. September.
Bewölkt und naß und Ostwind, die Luft ohne sichtbaren Nebel,
aber sehr schwer von Feuchtigkeit. Als ich vormittags über den
Delaware fuhr, sah ich eine ungewöhnliche Menge fliegender Schwal-
ben, kreisend, hin und her schießend, anmutig über jede Beschrei-
bung, dicht überm Wasser. In dichten Schwärmen flogen sie um
den Bug des Fährbootes, als es an seinem Tau festgebunden lag,
und als wir losfuhren, beobachtete ich ihre flink wendenden, sich
schneidenden und kreuzenden Schleifenflüge über den Landungs-
pfeilern und hin und her über dem breiten Strom und bis dicht an
l32
ihn herab. Obwohl ich Schwalben mein Leben lang gesehen hatte,
war es mir, als hätte ich mir nie zuvor ihre besondere Schönheit
und Eigenart in der Landschaft klar gemacht. Als ich vor einiger
Zeit in einer riesigen alten Scheune eine Stunde lang den Flug dieser
Vögel beobachtete, wurde ich an das 11. Buch der Odyssee erinnert,
wo Odysseus, sich offenbarend, die Freier erschlägt und Minerva
in Gestalt einer Schwalbe sich durch die Höhe der Halle empor-
schwingt, hoch oben auf einem Balken sitzt, wohlgefällig auf das
Gemetzel blickt und sich in ihrem Element fühlt, frohlockend,
freudig.
Die Prärien
(Rede vor einer Volksversammlung in Topeka, Kansas)
Wenn euch daran liegt, ein Wort von mir zu hören, will ich
über diese eure Prärien zu euch sprechen; sie machen mir den tief-
sten Eindruck von all den Bildern, die ich auf diesem meinem ersten
leibhaftigen Besuch im Westen sehe oder gesehen habe. Als ich in
rasendem Tempo hierher fuhr, mehr als tausend Meilen weit, durch
das schöne Ohio, durch das brotspendende Indiana und Illinois,
durch das weite Missouri, das alles hervorbringt, was es nur gibt;
als ich eure reizende Stadt teilweise in den letzten zwei Tagen
durchforschte und als ich auf dem Oreadenhügel bei der Univer-
sität stand und meine Augen über weite Flächen lebendigen Grüns
nach allen Richtungen hin schweifen ließ — war ich tief ergriffen,
sage ich, und werde es für den Rest meines Lebens bleiben, von
diesem Wesenszug der Topographie eurer westlichen zentralen Welt
— diesem ungeheuren Etwas, das sich nach seinen eigenen unbe-
grenzten Maßen unbeschränkt ausstreckt und das in diesen Prärien
lebendig ist und, schön wie Träume, das Reale und Ideale mitein-
ander vereint.
Ich frage mich, ob die Menschen dieses kontinentalen inneren
Westens wissen, wieviel Kunst sie in diesen Prärien haben — wie
urwüchsig und ganz euer eigen — wieviel Einwirkung auf die Bil-
dung eines Charakters für euer zukünftiges Menschentum, breit,
patriotisch, heroisch und neu? wie ganz sie zu der Größe und
stolzen Monotonie des Himmels und zu dem Ozean mit seinen
Wassern passen? wie befreiend, beruhigend, nährend sie für die
Seele sind?
i33
Denn sind nicht sie es eigentlich, die uns unsere führenden mo-
dernen Amerikaner gegeben haben, Lincoln und Grant? — Männer
aus dem breiten Durchschnitt, im Vordergrunde ihres Charakters
ganz praktisch und real, aber dennoch (für diejenigen, die Augen
haben zu sehen) mit den feinsten Untergründen eines Ideals, das
sich so hoch wie nur irgendeines erhebt. Und sehen wir in ihnen
nicht die vorausgeworfenen Schatten der zukünftigen Rassen, die
diese Prärien füllen werden?
Nicht als ob die Yankee- und Atlantischen Staaten und jeder
andere Teilstaat — Texas und die Staaten im Südosten und am
Golf von Mexiko, das Reich an der pazifischen Küste, die Territorien
und Seen im kanadischen Grenzstrich (noch ist der Tag nicht, an
dem ganz Kanada dazu gehört, aber er wird kommen) — nicht, als
ob sie alle nicht ebenbürtige, ungeteilte und untrennbare Glieder
dieser Nation wären, die conditio sine qua non der menschlichen,
politischen und kommerziellen Neuen Welt. Aber dieses bevorzugte
zentrale Flachland von rund 2000 Meilen im Geviert scheint vom
Schicksal bestimmt zu sein, die Heimat von dem zu werden, was
ich Amerikas charakteristische Idealität und charakteristische Reali-
tät nennen möchte.
Ein egoistischer „Fund"
„Ich habe das Gesetz meiner eigenen Gedichte gefunden", war
das unausgesprochene, aber immer entschiedenere Gefühl, das in
mir erwachte, als ich Stunde um Stunde durch all diese grimme,
doch freudige, elementare Einsamkeit fuhr — diese Fülle von Stoff,
diese völlige Abwesenheit von Kunst, dieses fessellose Spiel urwüch-
siger Natur — Spalt, Schlucht und kristallener Bergstrom zahllose
Male wiederholt, auf hunderte von Meilen hin — die Breite und
absolute Ungebundenheit, mit der alles gefügt ist — die phantastischen
Formen, gebadet in durchsichtigem Braun, zarten Rots und Graus,
manchmal tausend, manchmal zwei- oder dreitausend Fuß hoch
emporragend — auf ihren Gipfeln sind zuweilen riesige Massen ge-
lagert, in die Wolken tauchend, bloß ihre Umrisse aus dunstigem
Lila zu erkennen. — („Inmitten der erhabensten Bilder der Natur,"
sagt ein alter holländischer geistlicher Schriftsteller, „inmitten der
Tiefen des Ozeans, wenn das möglich wäre, oder unter den zahllosen
i34
rollenden Welten droben in der Nacht denkt der Mensch an sie
und beurteilt sie nicht abstrakt an sich, sondern immer mit Be-
ziehung auf seine eigene Persönlichkeit und darauf, wie sie etwa
auf ihn einwirken oder sein Schicksal bestimmen könnten.")
Künstlerischer Charakter der Landschaft
Redet mir noch einmal davon, nach Europa zu gehen, um die
Ruinen feudaler Burgen oder die Überreste des Kolosseums oder die
Schlösser von Königen zu besuchen, wenn ihr hierher kommen
könnt! Auch Abwechslung gibt es hier; nach den tausend Meilen
weiten Prärien von Illinois und Kansas — sanftem, ergiebigem Flach-
land für Korn und Weizen von zehn Millionen demokratischer
Farmen der Zukunft — türmen sich hier in allen nur denkbaren
Formen diese gar nicht nutzbaren Bergriesen auf, sich in den Him-
melsraum wölbend, Schönheit, Schrecken, Macht ausströmend, mehr
als Dante oder Angelo jemals ahnten. Ja, ich meine, der Milchsaft
einer Dichtung, Malerei, Beredsamkeit, ja selbst einer Metaphysik
und einer Musik, die für die Neue Welt passen soll, muß erst aus
dem Anblick dieser Berge seine Kraft ziehen, ehe er endgültig stark
genug wird.
Bergströme
Die spirituelle Belebtheit und Durchgeistigung dieser ganzen
Region besteht für mich großenteils in ihren eigenartigen Strömen,
denen man überall begegnet, da der Schnee der unzugänglichen
oberen Gebiete beständig schmilzt und durch die Schluchten herab-
fließt. Nicht wie die Gewässer ländlicher Ebenen oder Bäche mit
bewaldeten Ufern und Rasen oder dergleichen. Die Formen, die
das Element des Wassers auf der Erdkugel annimmt, können erst
dann von einem Künstler voll verstanden werden, wenn er diese
einzigartigen Bergströme studiert hat.
Ätherische Eindrücke
Aber der seltsamste Eindruck, wenn ich mich umschaue, liegt
vielleicht in den atmosphärischen Farbtönen. Die Prärien, durch
die ich auf meiner Reise hierher fuhr, und diese Berge und Wälder
i35
scheinen mir neue Lichter und Schatten liervorzubringen. Überall
diese unnachahmhche Luft — Abstufungen und Himmelstönungen;
noch nirgends sah ich solche durchsichtigen Lilas und Graus. Ich
konnte mir einen hervorragenden Landschaftsmaler denken, einen
feinen Koloristen , der, nachdem er eine Zeitlang hier gezeichnet
hätte, seine ganze frühere Arbeit (das Entzücken der üblichen Aus-
stellungsbesucher) als schmutzig, roh und gekünstelt verwerfen
würde. Dicht vor unseren Augen dehnt sich eine unendliche Mannig-
faltigkeit aus, hoch droben das nackte Weißbraun, über der Baum-
grenze; fern an nianchen Stellen Schneeflecken das ganze Jahr
über (keine Bäume, keine Blumen, keine Vögel in diesen eisigen
Höhen). Während ich schreibe, sehe ich den Snowy Range durch den
blauen Duft, herrlich und fern. Ich sehe deutlich seine Schneefelder.
liine Literatur des Mississippitales
Herbst 1879.
Als ich an einem Regentag in Missouri lag und ausruhte, nach-
dem ich lange umhergelaufen war, um mir alles anzuschauen, ge-
riet ich über ein dickes Buch, das ich da fand, „Milton, Young,
Gray, Beattie and Collins", hatte aber bald genug davon, erfreute
mich indessen, wie schon so oft, eine Weile an W. Scotts Dich-
tungen „Lay of the last Minstrel", „Marmion" usw., — hörte dann
auf, legte das Buch weg und beschäftigte mich mit dem Gedanken
an eine Poesie, die im Lauf der Zeit der fruchtbaren Gegend, in
deren Mitte ich mich befand, Ausdruck und Nahrung geben könnte.
Überall in den Vereinigten Staaten braucht es nur einen Augen-
blick Überlegung, um klar zu erkennen, daß all die populären
Buch- und Bibliothekdichter, wie sie entweder von England impor-
tiert werden oder hierzulande ihre Nachahmer und Doppelgänger
finden, unseren Staaten fremd sind, soviel sie auch von uns allen
gelesen werden. Um aber völlig zu verstehen, wie absolut im Gegen-
satz zu unserer Zeit und unserem Land, und wie kleinlich und
beschränkt sie sind und welche Anachronismen und Absurditäten
sie — vom amerikanischen Standpunkt aus — vielfach enthalten,
muß man eine Zeitlang in Missouri, Kansas und Colorado wohnen
oder reisen und mit Land und Volk dieser Staaten in Fühlung
kommen.
i36
Wird je der Tag koniiiieii — gleichgültig wie spät — , da diese
Modelle und Gliederpuppen von den britischen Inseln, ja auch die
kostbaren Traditionen der Klassiker, nur Reminiszenzen, Studien-
objekte sein werden? Der reine Atem, die Ursprünglichkeit, die
grenzenlose Fruchtbarkeit und Weite, die seltsame Mischung von
Zartheit und Kraft und Mäßigung, von Realem und Idealem, von
all den eigentümlichen und tüchtigen Elementen in diesen Prärien,
den Rocky Mountains, dem Mississippi und Missouri — wird das
alles je in unserer Poesie und Kunst Gestalt erlangen und irgend-
wie zum Maßstab werden?
Vor kurzem war ich auf einem Dampfer im New Yorker Hafen,
sah den Sonnenuntergang über den dunkelgrünen Hügeln von
Navesink und betrachtete den unvergleichlichen Kranz von Küste,
Hafen und Meer um Sandy Hook. Aber kaum eine oder zwei
Wochen, und mein Blick fällt auf die dunklen Gipfelkonturen der
„Spanish Peaks". In dem mehr als 2000 Meilen weiten Zwischen-
raum findet trotz einer unendlichen und widerspruchsvollen Mannig-
faltigkeit zweifellos eine merkwürdige, völlige Verschmelzung statt,
in der nach und nach alles ausgeglüht, verdichtet und vereinheit-
licht wird. Aber eindringlicher, umfassender und dauerhafter als
durch die Gesetzgebung der Einzelstaaten oder den gemeinsamen
Boden des Kongresses und des höchsten Gerichtshofs oder durch
die grausame Schweißung unserer Nationalkriege oder durch die
Stahlbande unserer Eisenbahnen oder durch alle Verkittungs- und
Schmelzprozesse unserer materiellen und kommerziellen Geschichte
in Vergangenheit und Gegenwart würde meines Erachtens eine
solche Verdichtung durch eine große, pulsierende, lebenskräftige
Dichtung oder eine Reihe von Dichtungen oder eine ganze Literatur
erzielt werden. Die Ebenen, die Prärien und der Mississippistrom
mit der ganzen Weite seines vielgestaltigen Tales müßten den kon-
kreten Hintergrund dieser Literatur bilden. Und Amerikas Bevöl-
kerung, Leidenschaften, Kämpfe, Hoffnungen — wie sie sind —
müßten die lodernde Flamme, das Ideal dazu sein.
Amerikas GrölJe
Die Überlegenheit und Lebenskraft unseres Amerika liegt in
der Masse des Volkes, nicht in einer Aristokratie, wie in der alten
Welt. Die Größe unseres Heeres während des Bürgerkrieges lag
in der Linie; und so ist es auch bei der Nation. Andere Länder
ziehen ihre Lebenskraft aus Wenigen, aus einer Klasse, wir aber
aus der Gesamtheit des Volkes. Unsere Führer sind nicht gerade
bedeutend und sind es nie gewesen; aber der Durchschnitt des
Volkes ist gewaltiger als alles in der bisherigen Geschichte. Ich
denke manchmal, daß sich unsere Überlegenheit auf allen Gebieten,
einschließlich Literatur und Kunst, in dieser Weise zeigen wird:
Wir werden keine großen Individuen haben, aber ein großes, un-
vergleichlich großes Durchschnittsvolk.
Die Frauen des Westens
Kansas City.
Von dem, was ich von den Frauen der Präriestädte zu sehen
bekomme, bin ich nicht so befriedigt. Ich schreibe dies, während
ich gemütlich in einem Laden an der Hauptstraße von Kansas
sitze und ein Menschenstrom auf den Trottoirs an mir vorüber-
flutet. Die Damen (ebenso wie in Denver) sind alle elegant ge-
kleidet und erscheinen vornehm an Gesicht, Benehmen und Tun,
aber sie haben weder in Gestalt noch Geistigkeit eine irgendwie
in ihrer Art hohe angeborene Eigenart (wie die Männer sie zweifel-
los in ihrer Art haben). Sie sehen „intellektuell" und elegant, aber
dyspeptisch und im großen Ganzen puppenhaft aus. Sie haben offen-
bar den Ehrgeiz, ihre Schwestern im Osten zu kopieren. Etwas
ganz anderes und Höheres muß kommen, um mit der herrlichen
Männlichkeit des Westens zu wetteifern, sie zu ergänzen, zu er-
halten und fortzupflanzen.
Das Boston von heute
In den interessanten aber fragwürdigen Briefen Dr. Schliemanns
über seine Ausgrabungen aus der alten homerischen Zeit lese ich,
daß die Städte, Ruinen usw., die er aus ihren Gräbern schaufelt,
zweifellos in Schichten gelagert sind, — das heißt, daß auf den
Fundamenten eines alten, sehr tief gelegenen Komplexes immer
eine zweite Stadt oder ein zweiter Ruinenkomplex und über diesem
wieder ein anderer ruht — und zuweilen noch ein anderer darüber
i38
— deren jeder das Ergebnis einer langen oder auch rapiden Ent-
wicklung darstellt, die von der vorigen verschieden ist, aber un-
zweifelhaft aus ihr hervorgewachsen ist und auf ihr ruht. In der
moralischen, gefühlsmäßigen, heroisch-menschlichen Entwicklung
(die nach meiner Meinung das Wesentliche einer Rasse ist) hat
etwas Ähnliches sicherlich in Boston stattgefunden. Wie die Metro-
pole Neu-Englands heute ist, kann man sie als sonnig beschreiben,
als heiter, aufnahmefähig, voll Glut und Glanz, mit einem gewissen
Element von Sehnsucht, von großartiger Toleranz, mit der sich
aber nicht spaßen läßt. Man liebt hier gut zu essen und zu trinken
— die äußere Erscheinung so kostbar, als es die Mittel erlauben.
An Häusern, Straßen, Menschen ist in ihrem besten Durchschnitt
jenes feine Etwas (gewöhnlich dem Klima zugeschrieben; es ist
aber nicht das — es ist etwas Undefinierbares in der Rasse, im
Verlauf ihrer Entwicklung), das hinter all dem Trubel von Tätig-
keit, Studium, Geschäft einen glücklichen und frohen, im Gegen-
satz zu einem schwerfälligen und finsteren Gemeingeist ausströmt.
Es erinnert mich an die Leuchtkraft, die von den altgriechischen
Städten zu uns kommt. In der Tat ist sehr viel Hellenisches in
Boston, und die Menschen werden auch stattlicher, voller, mit
freieren Bewegungen und Farbe im Gesicht. Ich habe nirgends
(dies ist nun zwar nicht griechisch) so viele schöne grauhaarige
Frauen gesehen. Während meines Vortrages ertappte ich mich
mehr als einmal dabei, daß ich eine Pause machte, um sie mir an-
zusehen. Es waren viele unter den Zuhörern, — gesund, frauenhaft
und mütterlich, wunderbar anmutig und schön — so, wie sie, glaube
ich, keine Zeit und kein Land außer dem unsrigen aufzuweisen hat.
Millets Gemälde
i8. April.
Besuchte das Haus von Quincy Shaw, drei oder vier Meilen weit,
um eine Sammlung von J. F. Millets Gemälden zu sehen. Zwei
Stunden der Entzückung. Noch nie war ich so überwältigt von
solcher Ausdrucksform. Ich stand lange, lange vor dem „Säemann".
Ich glaube die Kunsthändler nennen das Bild den „Ersten Säe-
mann", da der Künstler noch eine oder zwei Kopien davon machte
und, wie manche meinen, sich in jeder wieder vervollkommnete.
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Ich bezweifle es aber. Es ist etwas darin, das kaum wieder zu er-
reichen sein dürfte, eine erhabene Düsterkeit und urwüchsige ge-
bundene Wildheit. Außer diesem Meisterstück waren noch viele
andere da (ich werde die einfache Abendszene, „Tränken der Kuh",
nie vergessen), alle unvergleichlich, alle vollkommen als Bilder, als
Kunstwerke an sich; und dann glaubte ich jenen undefinierbaren
ethischen Endzweck des Künstlers (ihm selbst wahrscheinlich un-
bewußt) darin zu entdecken, wonach ich immer suche. Mir er-
zählten sie alle die ganze Vorgeschichte und die Ursache der großen
französischen Revolution, das vorherige lange An-die-Erde-Drücken
der Massen eines heroischen Volkes zu elendem Hungern und Darben
— die Vorenthaltung aller Rechte, den Versuch, die Menschheit
um Generationen zurückzuhalten — und doch die Naturgewalt,
titanisch, nur um so stärker und zäher durch solche Unterdrückung
— furchtbar lauernd, um hervorzubrechen, rachebrütend — der
Druck gegen die Dämme, das endliche Bersten, die Erstürmung
der Bastille — die Hinrichtung des Königs und der Königin — der
Wettersturm von Mord und Blut. Doch wer wird sich wundern?
„Könnten wir die Menschheit anders wünschen?
Wollen wir ein Volk von Holz und Stein?
Keine Gerechtigkeit in Schicksal und Zeit?"
Das echte Frankreich, sein Grundelement, lebt sicherlich in diesen
Bildern . . . Abgesehen von allem anderen werde ich meines kurzen
Aufenthalts in Boston immer gedenken, weil er mir die Neue Welt
von Millets Bildern eröffnete. Wird Amerika je einen solchen Künst-
ler haben, der aus des Landes eigenstem Lebenskern, aus seinem
Körper und seiner Seele hervorginge?
Vögel — und eine Warnung
i4. Mai i88i.
Wieder daheim; auf eine Weile unten in den Wäldern von Jersey.
Zwischen acht und neun Uhr vormittags ein ganzes Vogelkonzert,
von allen Seiten her, zusammenklingend mit dem frischen Duft,
dem Frieden, der Natürlichkeit rings um mich her. Seit kurzem
sehe ich die Rotdrossel, von der Größe des Rotkehlchens*, oder ein
* Das amerikanische Rotkehlchen ist etwa dreimal so groß wie das unsrige.
(Anmerkung des Übersetzers.)
1 4o
bißchen kleiner, Brust und Schultern hell, mit unreßehnäßig;en
dunklen Streifen, langem Schwanz, — sie kauert zur Zeit stunden-
lang oben auf einem hohen Busch oder einem Baum, lustig singend.
Ich gehe oft nahe zu ihr hin und höre ihr zu, da sie nicht scheu
zu sein scheint. Ich liebe es, zuzusehen, wie ihr Schnabel und ihre
Kehle arbeitet, wie der Körper sich seitwärts hin und her bewegt
und der lange Schwanz wippt. — Ich höre den Specht; bei Nacht
und am frühen Morgen das Weben des Ziegenmelkers — mittags
das köstliche Gurgeln der Drossel und das Mio-o-o des Katzen vogels.
Viele kann ich nicht mit Namen nennen; ich erkundige mich aber
auch nicht besonders danach. Man darf nicht zu viel wissen oder
zu genau und »wissenschaftlich sein bei Vögeln und Bäumen und
Blumen und Gewässern; eine gewisse Freiheit, ja sogar Unbestimmt-
heit, vielleicht Unwissenheit, Gläubigkeit erhöht die Freude an
diesen Dingen und an dem Gefühl für Vögel, Wald, Fluß und See
überhaupt. Ich wiederhole es — man soll nicht alles zu genau
wissen wollen oder die Gründe, warum. Meine eigenen Aufzeich-
nungen sind aus dem Stegreif hingeschrieben unter der Breite von
Mittel-New Jersey. Wenn sie auch beschreiben, was ich sah, was
mir vor Augen kam, so dürfte doch der gelernte Ornithologe, Bota-
niker oder Entomologe mehr als einen Schnitzer darin entdecken.
Boston Common* — Emerson
IG. bis I 3. Oktober.
An diesen schönen Tagen und Nächten verbringe ich ein gut
Teil meiner Zeit im Stadtpark — jeden Mittag von halb zwölf bis
gegen eins — und fast an jedem Abend bei Sonnenuntergang noch
eine Stunde. Ich kenne all die großen Bäume, besonders die alten
Ulmen an der Tremont- und Beacon-Straße, und habe mit den
meisten eine schweigend-vertraute Freundschaft geschlossen, wäh-
rend ich so in der durchsonnten, aber ziemlich kühlen Luft auf
den weiten ungepflasterten Wegen umhergehe.
In dieser Gegend an der Beacon-Straße, zwischen denselben alten
Ulmen, ging ich vor einundzwanzig Jahren an einem klaren, kalten
Februarmittag mit Emerson zwei Stunden lang auf und ab. Er
* Der Stadtpark in Boston. (Anmerkung des Übersetzers.)
war damals im besten Alter, scharf, physisch und moralisch magne-
tisch, gegen alles gewaffnet und ließ, wenn er wollte, das Seelische
ebenso wirkungsvoll wie das Intellektuelle spielen. Während jener
zwei Stunden war er der Sprecher und ich der Zuhörer. Es war
eine Beweisführung, ein Auskundschaften, Besichtigen, Angreifen,
Bedrängen (ein Armeekorps in Schlachtordnung, Artillerie, Ka-
vallerie, Infanterie) von allem, was gegen jenen Teil (einen Haupt-
teil) in der Komposition meiner Gedichte, die „Kinder Adams",
vorgebracht werden konnte. Für mich kostbarer als Gold, diese
Abhandlung — sie gab mir für alle Zukunft die seltsame und
widerspruchsvolle Lehre: jeder einzelne Punkt von Emersons Be-
weisführung war unwiderleglich; keines Bichters Anklagerede je
vollständiger und überzeugender; ich könnte die Beweise nie besser
formulieren hören — und dann fühlte ich auf dem Grund meiner
Seele die klare und unverkennbare Überzeugung, daß ich allem
trotzen und meinen eigenen Weg gehen müsse. „Was haben Sie
nun auf das alles zu sagen?" sagte Emerson, als er schließlich inne-
hielt. „Nur, daß ich zwar nichts dagegen erwidern kann, aber mich
doch entschlossener fühle als je, an meiner eigenen Theorie fest-
zuhalten und sie zu betätigen", war meine freimütige Antwort.
Worauf wir weggingen und ein gutes Mittagessen im „American
House" einnahmen. Und von da an schwankte oder zweifelte ich
nie mehr (wie es, offen gestanden, vorher zwei- oder dreimal der
Fall gewesen war).
Nur ein neues Fährboot
I 2. Januar.
Ein solcher Anblick, wie ihn der Delaware gestern abend eine
Stunde vor Sonnenuntergang bot, auf der ganzen Strecke zwischen
Philadelphia und Camden, ist der Aufzeichnung wert. Es war
Flutzeit, eine gute Brise von Südwest, das Wasser blaß, lohfarben
und gerade genug bewegt, um alles frisch und fröhlich zu beleben;
ein beginnender Sonnenuntergang von ungewöhnlichem Glanz, ein
breites Wolkengewühl ganz in goldenem Dunst, aus dem blendende
Lichtstrahlen hervorschossen. Mitten in alledem, in dem klaren
Graugelb des Abendlichtes, dampfte das große neue Boot den
Fluß herauf, die „Wenonah", so schön, wie man sich nur etwas
142
vorstellen kann; leicht und schnell daherschäumend, ganz blank und
weiß, voll leuchtend roter und blauer Flaggen, die in der Brise
flatterten. Nur ein neues Fährboot, und doch in seiner Zweck-
mäßigkeit dem Schönsten, was die Geschicklichkeit der Natur
hervorbringt, vergleichbar und ebenbürtig. Hoch oben im unsicht-
baren Äther wiegten sich und kreisten vier oder fünf große See-
falken anmutig, während hier unten, inmitten der malerischen
Pracht von Himmel und Fluß, diese Schöpfung technischer Schön-
heit, Bewegung und Kraft schwamm, in ihrer Art nicht weniger
vollkommen.
Nach dem Versuch, ein gev^isses Buch zu lesen
Ich habe versucht, ein prachtvoll gedrucktes und gelehrtes Buch
über die „Theorie der Dichtkunst" zu lesen, das ich heute früh
von England zugeschickt bekam, — habe es aber schließlich als
verlorene Mühe aufgegeben. Hier ein paar willkürliche Notizen,
die sich daraus ergaben, die ich daraufhin niederschrieb, wie ich
sie eben in meinen Papieren finde:
In der Jugend und im Mannesalter sind alle Gedichte angefüllt
mit Sonnenschein und mit dem wechselreichen Prunk des Tages.
Wie aber das Seelische mehr und mehr die Oberhand gewinnt (das
Sinnliche immer noch dabei), wird die Dämmerung die Atmosphäre
des Dichters. Auch ich habe die strahlende Sonne gesucht und
suche sie noch immer und mache meine Gedichte entsprechend.
Aber jetzt, da ich alt werde, bedeuten die Halblichter des Abends
viel mehr für mich.
Das Spiel der Einbildungskraft mit den sinnlichen Gegenständen
der Natur als Symbolen — mit Glauben, Liebe und Stolz als dem
unsichtbaren Antrieb, den Bewegkräften von allem — , daraus setzt
sich das seltsame Schachspiel eines Gedichts zusammen.
Die gewöhnlichen Lehrer oder Kritiker fragen immer: „Was
bedeutet es?" Eine schöne Musiksymphonie oder ein Sonnenunter-
gang oder Meerwogen, die sich auf den Strand wälzen — was be-
deuten sie? Gewiß, im innerlichst-unfaßbaren Sinn bedeuten sie
etwas — wie Liebe und Religion und das beste Gedicht auch; aber
143
wer kann diese Fiedeiitunf^ ergründen nnd definieren? Dies soll
kein Freibriet sein für Willkür und verrückte Eskapaden — es soll
nür die Tatsache rechtfertigen, daß die Seele sich häufig über
etwas freut, was für Vernunft und Überlegung unerklärlich bleibt.
Im besten Fall ist eine Lehre der Poetik so viel, als von einer
Unterhaltung ferner oder verborgener Sprecher im Dunkeln zu
hören ist, von der wir nur ein abgebrochenes Gemurmel ver-
nehmen können. Was nicht zu uns dringt, ist weit mehr, vielleicht
die Hauptsache.
Erhabenste Stellen von Dichtungen sind nur in freiem Abstand
zu genießen, wie wir manchmal bei Nacht nach Sternen schauen,
nicht indem wir direkt auf sie blicken, sondern etwas zur Seite.
(Einem poetischen Schüler und Freund.) — Ich versuche nur,
dich in Beziehung zur Dichtkunst zu bringen. Dein eigenes Hirn,
Herz und deine eigene Fortentwicklung muß die Sache nicht nur
verstehen, sondern selbst reichlich dazu beitragen.
Ich habe mir Meer, Tageslicht, Berg und Wald vorgestellt, daß
ihr Wesen Richter sei über unsere Literatur. Ich habe mir eine
entkörperte Menschenseele vorgestellt, daß sie ihr Urteil darüber
spreche.
Edgar Poes Bedeutung
I . Januar 1 880.
Wenn ich die Krankheit diagnostiziere, die „Menschheit" ge-
nannt ist — (um einmal aus der Geistesverfassung heraus zu
sprechen, die die beherrschende in der Persönlichkeit und den
Schriften des Mannes zu sein scheint, von dem ich rede) — so will
es mir scheinen, daß die Dichter irgendwie ihre ausgeprägtesten
Symptome sind. Wenn wir die Künstler — Musiker, Maler, Schau-
spieler usw. als ein Ganzes nehmen und sie allesamt als Aus-
strahlungen oder Speichen dieses wild wirbelnden Piades betrach-
ten und die Dichtung als Mittelpunkt und Achse des Ganzen, —
wo in der Tat könnten wir besser als hier die Urbe weggründe,
Triebkräfte und Merkmale unserer Zeit, den Krankheitsfall unserer
Epoche studieren?
'44
Nach einstimmigem Urteil gibt es nichts Besseres für einen
Mann oder ein Weib, als ein vollkommenes, edles Leben, moralisch
fleckenlos, mit einem glücklichen Gleichmaß von Tätigkeit, phy-
sisch gesund und rein, ein Leben, das auch dem sympathischen,
menschlich-gefühlsmäßigen Element sein Recht und nicht mehr
als sein Recht gewährt, — ein Leben bei alledem, das weder hastet
noch ruht noch ermüdet bis ans Ende. Und dennoch gibt es noch
eine andere Form von Persönlichkeit, die dem künstlerischen Sinn
weit lieber ist (da er das Spiel der stärksten Lichter und Schatten
liebt), — die den höchstvollkommenen Charakter, das Gute, Hero-
ische, zwar niemals erreicht, aber dennoch nie aus dem Auge ver-
liert, sondern durch Fehlschläge, Sorgen, zeitweiligen Zusammen-
bruch hindurch immer wieder zu ihm zurückkehrt und — mag sie
auch oft dagegen sündigen — leidenschaftlich danach rmgt, solange
Geist, Muskeln und Stimme der Kraft gehorchen, die wir Willen
nennen. Diese Art von Persönlichkeiten sehen wir mehr oder
weniger in Bums, Byron, Schiller und George Sand. Aber nicht
in Edgar Poe. Dagegen liegt der Dienst, den Poe dem zuerst be-
zeichneten Charakter erweist, sicherlich darin, daß er einen abso-
luten Kontrast und Widerspruch dazu schafft, was beinahe ebenso
wertvoll ist, als wenn er ein vollkommenes Beispiel davon dar-
stellen würde.
Beinahe ohne jede Spur von einem moralischen Prinzip oder von
dem Realen und seiner Größe oder von den einfacheren Herzens-
regungen, weisen die Gedichte Poes ein intensives Talent für tech-
nische und abstrakte Schönheit auf, mit einer bis zum Ubermaß
getriebenen Reimkunst, einer unverbesserlichen Vorliebe für Nacht-
motive, einem dämonischen Unterton hinter jeder Seite, — und das
Endurteil über sie wird wahrscheinlich sein, daß sie zu den elek-
trischen Lichtern der phantastischen Literatur gehören, glänzend
und blendend, aber ohne Wärme . . .
Lange Zeit und bis vor kurzem fand ich keinen Geschmack an
Poes Schriften. Ich wollte und will noch, daß in der Dichtung die
klare Sonne scheint und frische Luft weht — daß Kraft und Ge-
sundheit auch in den stürmischsten Leidenschaften waltet, nicht
Delirium — und daß die ewigen Sittengesetze hinter allem stehen.
Obwohl Poes Genius diese Forderungen nicht erfüllt, so hat er es
doch zu einer Anerkennung seiner Eigenart gebracht, und auch
lo Whituiau 1
ich hin dahin {jelangt, diese Anerkennung zu hilHgen und seinen
Wert zu schätzen.
In einem Traum, den ich einmal hatte, sah ich ein Schiff auf
See im Sturm um Mitternacht. Es war kein großes, vollgetakeltes
Schiff noch stolzer Dampfer, der sicher durch das Geheul steuerte,
sondern es schien eine jener wundervollen kleinen Schonerjachten
zu sein, die ich oft so munter hüpfend im Hafen von New York
oder im Long Island-Sund hatte vor Anker liegen sehen, — und
die jetzt steuerlos, mit zerfetzten Segeln und geknickten Spieren
durch die wilden Schloßen und Winde und Wellen der Nacht
dahinflog. An Deck stand eine schlanke, zarte, schöne Gestalt, ein
dunkler Mann, der offenbar all das Grausen, die Finsternis und
Zerstörung mit Lust genoß, deren Mittelpunkt und Opfer er war.
Diese Gestalt meines düsteren Traumes mag ein Bild Edgar Poes
sein, seines Geistes, seines Geschicks und seiner Dichtungen, die
selber allesamt düstere Träume sind.
Ein Wink der wilden Natur
I 3. Februar.
Als ich heute über den Delaware fuhr, sah ich einen großen
Flug wilder Gänse, gerade über mir, nicht sehr hoch, in V-Form
geordnet, sich abhebend gegen die hell rauchfarbenen Mittags-
wolken. Ich sah sie ganz deutlich, obwohl nur einen Augenblick, und
wie sie dann weiterflogen nach Südosten, bis sie allmählich ver-
schwanden. — Seltsame Gedanken lösten sich in mir in diesen
kaum zwei oder drei Minuten, als ich diese Geschöpfe durch den
Himmel ziehen sah — durch das weite, luftige Reich — überall
nur dieses Rauchgrau ohne Sonne — das Wasser unten — der
rapide Flug der Vögel, just für einen Augenblick auftauchend —
mir einen Wink zublitzend von der ganzen Weite der Natur mit
ihrer ewigen, unverfälschten Frische, ihren nie von Menschen
besuchten Bereichen von See, Himmel und Küste — und dann
verschwindend in der Ferne.
Carlyle von amerikanischen Gesichtspunkten aus beurteilt
Es besteht gegenwärtig sicher eine unerklärliche Wechsel-
beziehung — ob sie nun andauert oder nicht, ist gleichgültig —
i46
zwischen diesem verstorbenen Autor und unsern Vereinigten Staaten
von Amerika. In dem Maße, wie wir Westler endgültige Gestalt
annehmen und bisher unbekannte Formen und Ergebnisse erzielen,
ist es interessant, zu beobachten, mit welch neuen Sinnen wir auf
repräsentative Persönlichkeiten und Ereignisse blicken, die aus der
Alten Welt erwachsen sind. Ohne Frage ist seit Carlyles Tode
nicht nur das Interesse an seinen Büchern, sondern an jeder per-
sönlichen Einzelheit, die den berühmten Schotten betrifft, heute in
unserem Lande lebhafter und allgemeiner als in seiner eigenen
Heimat. Ob es mir nun gelingt oder nicht, — auch ich möchte über
den Ozean reichen, die dunkeln Wahrsagungen des Mannes über
Menschheit und Politik prüfen und alles (das ist die Idee, die mir
kommt) widerlegen durch einen, der diesen Fragen viel gründlicher
das Horoskop gestellt hat — G. F. Hegel.*
... Es war das grausame Schicksal Carlyles, das Kreißen und
die Wehen einer alten Ordnung mitzuerleben und m hohem Maße
selbst zu verkörpern, die inmitten einer erstickenden Fülle von
Morbidität eine neue Ordnung gebar . . . Aber man stelle sich vor,
daß er, oder seine Eltern vor ihm, nach Amerika gekommen, durch
die aufmunternden Wirklichkeiten und die Tatkraft unseres Lan-
des und Volkes erfrischt worden wäre, — daß er unter uns, beson-
ders im Westen, aufgewachsen wäre und Auge in Auge mit dem
Leben gerungen hätte, — daß er die unbegrenzte Luft, die schran-
kenlosen Möglichkeiten bei uns ein- und ausgeatmet hätte, geistig
hingegeben an die Theorien und Entwicklungen unserer Republik,
inmitten praktischer Tatsachen, wie sie einem in Kansas, Missouri,
Illinois, Tennessee oder Louisiana entgegentreten. Ich sage Tat-
sachen, Dinge, denen man Auge in Auge gegenübersteht, so ver-
schieden von Büchern und von all den Bagatellen und bloßen
Berichten in den Bibliotheken, von denen der Mann beinahe ganz
* Besonders erwähnenswert ist hierbei (vielleicht ein Fall jenes Humors, womit
Geschichte und Vorsehung ihren Ernst zu kontrastieren pflegen), daß, obwohl
keine meiner großen Autoritäten zu ihren Lebzeiten die Vereinigten Staaten ernst-
licher Erwähnung würdigte, alle Hauptwerke beider heute mit Fug und Recht
gesammelt und unter dem fettgedruckten Titel zusammengebunden werden könn-
ten: „Spekulationen für den Gebrauch Nordamerikas und der dortigen Demokratie
in ihren Beziehungen zur Metaphysik, einschließlich Lehren und \Varnung-;n
(auch Ermutigungen, und zwar im weitesten Sinne) von der Alten Welt für die
Neue."
i47
zehrte, und die selbst sein starker und lebendiger Geist, wenn es
hoch kommt, nur reflektierte. (Ein Witzwort sagte über den Drei-
ßigjährigen, daß es in Schottland niemand gäbe, der so viel auf-
gelesen und so wenig gesehen habe.) . . .
Carlyles Schaffen auf dem Gebiete der Literatur gleicht nach
Anlage und Ausführung in ein oder zwei Hauptpunkten dem
Wirken Immanuel Kants auf dem Gebiete der spekulativen Philo-
sophie. Aber der Schotte hatte nichts von dem magenstarken
Phlegma und der unerschütterlichen Gelassenheit des Königsberger
Weisen; auch erkannte er nicht wie dieser seine eigenen Grenzen,
vor denen er haltgemacht hätte. Er schafft Gestrüpp, Giftranken
und Gesträuch weg — wenigstens haut er tapfer darauf ein und
schlägt alles kurz und klein. Kant tat etwas Ähnliches auf seinem
Gebiete, und das war auch alles, was er tun wollte; seine Arbeit
hat den Boden für immer völlig geebnet — und wahrscheinlich
hat kein anderer Sterblicher der Menschheit je einen größeren
Dienst erwiesen. Der schmerzlichste Fehler Carlyles aber scheint
mir darin zu bestehen, daß er offenbar inmitten eines Wirbels von
Nebel, Leidenschaft und sich kreuzenden Absichten immer fest
glaubte, er besitze zur Heilung der Weltübel ein Universalmittel,
und es sei sein Lebensberuf, es zu verbreiten.
Carlyle hatte zwei Anker, oder Rüstanker, um sein Schiff' im
äußersten Notfall im Gleichgewicht zu erhalten. Von dem einen
wird sogleich des Näheren die Rede sein. Den anderen, vielleicht
den wichtigeren, konnte er nur in einer ausgesprochenen Form
persönlicher Energie, in einem außerordentlichen Grade von ent-
scheidender Willens- und Tatkraft finden, in Menschen, die „zum
Herrschen geboren" sind. Wahrscheinlich floß dem Schotten in
allen Adern ein Element, das sich für diese Art Charakter vor
allem andern in der Welt erwärmte und das ihn meines Erach-
tens zum Hauptverherrlicher und -verkünder solcher Charaktere
in der Literatur machte, — mehr als Plutarch und Shakespeare. Die
großen Massen der Menschheit sind ihm nichts, wenigstens nichts
weiter als chaotisches Rohmaterial; für ihn gelten nur die großen
Planeten und glänzenden Sonnen ! Gegen Ideen fast unveränderlich
gleichgültig und kalt, wurde er unfehlbar durch eine kraftvolle
Persönlichkeit ersten Ranges zu leidenschaftlichen Lobpreisungen
und wildem Entzücken hingerissen. In solchem Falle wurde auch
148
der Anspruch an Pflichterfüllung herabgeschraubt und vertuscht.
Alles, was man unter den Worten Republikanismus und Demo-
kratie versteht, war von Anfang an nicht nach seinem Geschmack
und wurde ihm bei zunehmendem Alter verhaßt und zum Abscheu.
Bei einem so zweifellos aufrichtigen und gewissenhaften Geist wie
dem seinen ist es erstaunlich, welche wichtigen Faktoren er hart-
näckig ignorierte.
Zum Beispiel die Aussicht, nein Gewißheit, daß das demokratische
Prinzip jedem einzelnen Staate der heutigen Welt nicht sowohl zu
vollkommenen Gesetzgebern und Beamten verhelfen wird, sondern
daß es das einzig wirksame Mittel ist, um sicher, wenn auch noch
so langsam, das Volk im großen Maßstabe zu freiwilliger Selbst-
regierung und Selbstverwaltung zu erziehen (das Endziel der poli-
tischen und aller übrigen Entwicklung), das „Regieren" allmählich
auf ein Minimum zu beschränken und die ganze Bureaukratie und
all ihr Tun den Teleskopen und Mikroskopen von Parteien und
Komitees zu unterwerfen — und, was das Größte von allem ist,
^ jenen Gewässern der großen Tiefe, die offenbar ein für allemal ihre
alten Schranken durchbrochen haben, eine umfassende, gesunde,
immer wiederkehrende Bewegung von Ebbe und Flut zu ermög-
lichen, nicht Stagnation und gehorsame Genügsamkeit, mit der man
bei dem Feudalismus und Klerikalismus der antiken und mittel-
alterlichen Welt auskam, — daran scheint Carlyle nie gedacht zu
haben. Es war prachtvoll, wie er bis zuletzt jeden Kompromiß
ablehnte. Er war merkwürdig antik. Seine barsche, malerische,
höchst machtvolle Erscheinung und Stimme versetzt einen aus dem
England der Gegenwart um mehr als 2000 Jahre zurück in die
Gegend zwischen Jerusalem und Tarsus . . .
Der zweite Hauptpunkt in Carlyles Lehre war die Idee der Pflicht-
erfüllung. (Das ist einfach ein neues Kodizill — wenn es besonders
neu ist, was keineswegs feststeht — des altehrwürdigen Vermächt-
nisses der Monarchie, der vermoderten Gesetze von Legitimität und
Königtum.) Er scheint sich manchmal bis zum Wahnsinn aufgeregt
zu haben, wenn Leute, die mindestens ebenso tief dachten wie er,
ihn darauf aufmerksam machten, daß diese Formel zwar wertvoll,
aber ziemlich vage sei, und daß es für philosophische Betrachtung
auf jedem Gebiet, sei es Weltgeschichte oder individuelle Angelegen-
heiten, noch viele andere Gesichtspunkte gebe . . .
■ 49
Es gibt, abgesehen vom bloßen Intellekt, im Wesen jeder hervor-
ragenden menschhchen Identität (in ihrer moralischen Gesamtheit,
einheitlich betrachtet, nicht nur im eigentlichen moralischen Sinn,
sondern als Ganzes einschließlich des Körpers) ein wunderbares
Etwas, das ohne Bew^eis, häufig ohne sogenannte Bildung (es wäre
zwar das Ziel und die Krone aller Bildung, die diesen Namen ver-
diente) zu einer Ahnung der absoluten Ausgleichung in Raum und
Zeit gelangt, der Ausgleichung dieses ganzen vielgestaltigen rasen-
den Chaos von Falschheit, Frivolität, Geilheit, — dieser Narren-
schwärmerei, unglaublichen Heuchelei und allgemeinen Unbeständig-
keit, die wir „die Welt" nennen; ein inneres Schauen jenes gött-
lichen Fadens und unsichtbaren Bandes, das das gesamte Wirrsal
der Dinge, die ganze Geschichte und Zeit, alles Geschehen, sei es
noch so trivial oder noch so wichtig, wie einen angekoppelten Hund
an der Hand des Jägers festhält. Eine solche innere Schau, ein
solches tiefes geistiges Zentrum — bloßer Optimismus erklärt nur
die Oberfläche oder den äußern Rand der Sache — fehlte Carlyle
großenteils, vielleicht ganz. Er scheint vielmehr im Spiel seiner
Geistesfunktionen von einem Gespenst, das er während seines ganzen
Lebens nicht bannen konnte, verfolgt worden zu sein — griechische
Philologen finden, glaube ich, dieselbe phantastische Trugerschei-
nung bei Aristophanes in seinen Komödien — von dem Gespenst des
Weltuntergangs.
Wie höchster Triumph oder größtes Mißlingen im Menschen-
leben, in Krieg oder Frieden, von einem kleinen, verborgenen Zentral-
punkt, kaum mehr als ein Blutstropfen, einem Pulsschlag oder
Lufthauch abhängen kann ! Es ist sicher, daß alle diese gewichtigen
Fragen, Demokratie in Amerika, Carlyleismus und der Drang zu
tiefster, politischer oder literarischer Forschung sich um einen ein-
fachen Punkt in der spekulativen Philosophie drehen.
Das tiefste Problem, das den Menschengeist beschäftigen kann,
auf dessen Lösung Wissenschaft, Kunst, die Grundlagen und Be-
strebungen von Nationen und überhaupt alles vernünftige Menschen-
glück (heute 1882 hier in New York, Texas, Kalifornien ebenso wie
zu allen Zeiten in allen Ländern) im innersten und letzten Grunde
beruht und wovon alles ausgehen muß, sofern es entscheidende Be-
weiskraft haben soll — dieses Problem liegt ohne Zweifel in der
Frage: Was ist die alles verschmelzende Erklärung, das Band, das
i5o
Verhältnis von dem (radikalen demokratischen) Ich, der mensch-
lichen Identität von Verstand, Gemüt, Geist usw. einerseits, zu dem
(konservativen) Nicht-Ich, zu der Gesamtheit des materiellen, objek-
tiven Universums und seiner Gesetze samt ihrer letzten Ursache in
Raum und Zeit andererseits?
Immanuel Kant hat diese Frage offen gelassen, obschon er die
Gesetze der menschlichen Vernunft erklärte, oder, kann man auch
sagen, teilweise erklärte. Schellings Antwort oder Andeutung einer
Ä.ntwort (sehr wertvoll und wichtig, soweit sie geht) ist die: Die
gleiche, allgemeine Vernunft, Leidenschaft, ja auch die Maßstäbe
von Recht und Unrecht, die bewußt und ausgesprochen im Menschen
leben, existieren unbewußt oder als wahrnehmbare Analogien auch
im ganzen Universum der äußeren Natur, in all ihren Gegenstän-
den, groß oder klein, und in all ihren Bewegungen oder Prozessen, —
so daß also der ungreifbare Menschengeist und die konkrete Natur,
trotz Dualität und Trennung, im innersten und wesentlichen gleich-
bedeutend und eins wären.
Aber G.F.Hegels umfassendere Darstellung der Sache bleibt wohl
das letzte und beste Wort, das bis jetzt darüber gesagt worden ist.
Er übernimmt in der Hauptsache das eben auszugsweise erwähnte
System, aber er führt es aus, befestigt es, bringt alles darin unter,
wobei er gewisse ernstliche Lücken jetzt zum erstenmal ausfüllt, so
daß es ein zusammenhängendes metaphysisches System wird, eine
wirkliche Antwort, (soweit es überhaupt eine Antwort geben kann),
auf die obige Frage, ein System, das, wie ich entschieden zugebe,
durch zukünftige Gehirne erweitert, revidiert und sogar ganz neu
aufgebaut werden mag, das aber auf jeden Fall, als Ganzes betrach-
tet, heute in hellem Glänze erstrahlt, den Gedanken des Universums
erleuchtet und sein Geheimnis dem menschlichen Geist deutet —
mit tröstlicherer wissenschaftlicher Sicherheit als irgendein früheres
System.
Nach Hegel ist die ganze Erde mit ihrer unendlichen Mannig-
faltigkeit — Vergangenheit: gegenwärtige Zustände, zukünftige Ge-
schehnisse, die Gegensätze von Materiellem und Spirituellem, von
Natürlichem und Künstlichem — all das sind nach der Anschauung
des Kollektivisten nur notwendige Seiten und Entfaltungen, verschie-
dene Stufen und Glieder in dem endlosen Prozeß der schöpferischen
Idee, die trotz unzähliger scheinbarer Mißerfolge und Widersprüche
i5i
durch eine zentrale und ununterbrochene Einheit zusammen-
gehalten wird — es gibt überhaupt keine Widersprüche oder Miß-
erfolge, sondern nur Ausstrahlungen eines einheitlichen, folge-
richtigen und ewigen Zwecks. Die gesamte Masse des Seins strebt
und fließt stetig, unbeirrbar dem dauernden Utile und Morale zu,
wie die Flüsse zum Meer. Wie das Leben das Allgesetz und das
unaufhörliche Wirken des sichtbaren Universums, der Tod aber nur
die andere oder unsichtbare Seite desselben ist, so sind das „Utile",
die Wahrheit und die Gesundheit die zusammenhängend -unver-
änderlichen Gesetze des moralischen Universums, und Laster und
Krankheit mit all ihren Störungen nur vorübergehende, wenn auch
noch so vorherrschende Erscheinungsformen.
Auf die Politik wendet Hegel überall den gleichen alles umfassen-
den Maßstab und Glauben an. Nicht eine einzelne Partei oder eine
einzelne Regierungsform ist absolut und ausschließlich die wahre.
Die Wahrheit beruht in dem richtigen Verhältnis der Dinge zuein-
ander. Eine Mehrheit oder Demokratie kann so schmählich regieren
und so viel Unheil anrichten wie eine Oligarchie oder wie Despo-
tismus, — wenn auch mit weit weniger Wahrscheinlichkeit. Das
große Übel ist aber eine Verletzung entweder des eben erwähnten
Verhältnisses oder des Moralprinzips. Das Trügerische, Ungerechte,
Grausame und sogenannte Unnatürliche ist — obwohl in einem
gewissen Sinne zugelassen (wie Schatten zum Licht) und unvermeid-
lich im göttlichen Plane — im Gesamtsinne dieses Planes nur par-
tiell, unwesentlich, zeitweilig und trotz noch so großem scheinbaren
Übergewicht sicherlich bestimmt, zugrunde zu gehen, nachdem es
viele große Leiden verursacht hat.
Die Theologie überträgt Hegel in die Wissenschaft. Alle schein-
baren Widersprüche in der Auffassung des göttlichen Wesens durch
verschiedene Zeitalter, Nationen, Kirchen, Anschauungen sind nur
unvollständige und unvollkommene Darstellungen einer einzigen
Wesenseinheit, von der alle ausgehen, — rohe Versuche oder aus-
einandergezogene Teile, die zugleich als unter sich verschieden und
zusammengehörig betrachtet werden müssen. Kurz (um es in unserer
eigenen Sprache auszudrücken oder zusammenzufassen), der Denker
oder Analytiker oder Betrachter, der infolge einer unerforschlichen
Verbindung von geschulter Weisheit und natürlicher Intuition die
moralische Einheit und Wohlbeschaffenbeit des Schöpfungsplanes in
ID2
Geschichte, Wissenschaft, in allem Leben aller Zeit, Gegenwart und
Zukunft am uneingeschränktesten und in vollkommenem Glauben
annimmt, der ist der wahrste Kosmosanbeter und der Fromme und
der tiefste Philosoph zugleich. Wer aber unter dem Bann seiner
selbst und seiner Verhältnisse in dem gesamten Walten der gött-
lichen Vorsehung Dunkelheit und Verzweiflung sieht, und wer in
dieser Beziehung leugnet oder Ausflüchte sucht, der ist der ärgste
Sünder und Ungläubige, gleichgültig, wieviel Frömmigkeit auf seinen
Lippen gaukelt.
Ich fühle mich um so mehr berechtigt, Hegel hier ein wenig frei
zu zitieren*, als ich damit nicht nur Geist und Buchstaben Carlyles
widerlegen und mit Wurzel und Boden im Ganzen und Einzelnen
ausrotten, sondern auch den Lehrsätzen der Evolutionisten das
Gleichgewicht halten kann, nachdem Darwin kürzlich gestorben
und verdientermaßen verherrlicht worden ist. So unaussprechlich
wertvoll diese Lehrsätze für die Biologie und so unentbehrlich sie
einem zielbewußten Studium für alle Zukunft auch sind, sie um-
fassen und erklären durchaus nicht alles — und das letzte Wort
oder Flüstern ist noch über keinen Mund gekommen, das auf die
höchsten jener Sätze folgen und immerdar hoch über ihnen und
über technischer Metaphysik schweben muß. Gewiß, die Schätze,
die von den Deutschen Kant, Fichte, Schelling und Hegel und auch
von dem Engländer Darwin auf seinem Gebiet der Menschheit ver-
erbt wurden, sind für die Heranbildung von Amerikas Zukunft
unentbehrlich. Und doch möchte ich behaupten, daß ihnen allen,
auch den besten, im Vergleiche zu den leuchtenden Blitzen und dem
hohen Schwünge der alten Propheten und Seher, der geistlichen
Dichter und Dichtungen aller Länder (wie in der hebräischen Bibel)
etwas zu fehlen scheint, nein sicherlich fehlt. Es ist ihnen eine
* Ich habe absichtlich alles wiederholt, nicht nur um den ewig lauernden Pessi-
mismus und Weltschmerz Carlyles zu widerlegen, sondern weil es die amerika-
nischsten Gesichtspunkte sind, die ich kenne. Meines Erachtens sind die
obigen Grundsätze Hegels eine wesentliche und krönende Rechtfertigung der
Demokratie der Neuen Welt in den schöpferischen Gebieten von Raum und Zeit.
Sie haben das Element in sich, das anscheinend nur die Größe, die Mannigfaltig-
keit und Lebenskraft Amerikas zu fassen, auf breitem Raum zu verkörpern oder zu
assimilieren oder auch nur hervorzubringen vermag. Es scheint mir merkwürdig,
daß sie in Deutschland oder überhaupt in der Alten Welt entstanden; während ein
Carlyle, möchte ich sagen, ganz das zu erwartende, legitime Produkt Europas ist.
i53
{^jewisse Kalte eigen, ein Unbefriedigtlassen des innersten Gemüts,
ein Mangel an lebendiger Glut, Liebe, Wärme, wie sie von den alten
Sehern und Dichtern ausströmt und von der bei den scharfsinnigsten
modernen Philosophen bis jetzt nichts zu spüren ist.
Carlyles Name ist für unsere Zwecke im großen ganzen der Reihe
der eben genannten hervorragendsten Sittenärzte unserer Zeit bei-
zuzählen, — mit Emerson und noch zwei oder drei anderen, — wenn
auch sein Rezept drastisch ist und vielleicht zerstörend wirkt, wäh-
rend das der anderen assimilierend und auf natürliche Weise stärkend
ist. Feudalistisch im Innersten, wie seine Werke sind, geistige
Erzeugnisse und Ausstrahlungen des Feudalismus, enthalten sie
doch für das demokratische Amerika ewig wertvolle Lehren und
Beziehungen. Nationen oder Individuen, wir lernen sicherlich am
gründlichsten von Ungleichartigem, von einem aufrichtigen Gegner,
von dem Licht, das, wenn auch aus Verachtung, auf gewisse wunde
Punkte und Verpflichtungen geworfen wird.
In vielen Einzelheiten war Carlyle in der Tat einem der hebrä-
ischen Propheten der Vorzeit vergleichbar, ein neuer Micha oder
Habakuk. Seine Reden sprudeln manchmal hervor aus abgrund-
tiefer Inspiration. Immer wertvoll, solche Männer; jetzt so wert-
voll wie je. Seine rauhen, polternden, höhnischen, widerspruchs-
vollen Töne, — was täte mehr Not unter den geschmeidigen, ab-
geschliffenen, goldanbetenden, Jesus und Judas gleichsetzenden,
Stimmrecht-übermütigen Lauten des heutigen Amerika. Er hat
unser 19. Jahrhundert mit dem Lichte eines mächtigen, durch-
dringenden und vollkommen ehrlichen Intellektes erster Ordnung
erhellt, das er auf Politik, soziales Leben, Literatur und hervor-
ragende Persönlichkeiten Englands und des Kontinents warf, — tief
unzufrieden mit allem und erbarmungslos das Kranke an allem
enthüllend. Während er aber die Krankheit bezeichnet und darüber
tobt und schimpft, ist er selbst in der gleichen Atmosphäre ge-
boren und aufgewachsen, ein charakteristisches Symptom dieser
Krankheit.
Natur und Demokratie
Demokratie ist vor allem andern mit der frischen Luft verwandt,
ist sonnig und stark nur in Verbindung mit der Natur — genau
so wie die Kunst. Etwas ist erforderlich, um beide zu mäßigen.
sie im Zaum zu halten und sie vor Ausschreitung und Verfall zu
bewahren. Ich wollte zum Schluß Zeugnis ablegen für eine sehr
alte Weisheit und Notwendigkeit. Die amerikanische Demokratie
mit ihren Myriaden von Einzelpersönlichkeiten, mit ihren Fabriken,
Werkstätten, Läden, Bureaus, mit all den dichtgedrängten Straßen
und Häusern ihrer Städte und all ihren mannigfachen verkünstelten
Lebensbedingungen muß entweder gestärkt und belebt werden
durch regelmäßigen Kontakt mit Licht, Luft und Wachstum unter
freiem Himmel, mit Landleben, Tieren, Feldern, Bäumen, Vögeln,
Sonnenwärme und weiten Räumen droben, oder sie wird sicherlich
verdorren und verblassen. Wir können keine starken Rassen von
Handwerkern und Arbeitern und keine wahre Gemeinschaft (der
einzige eigenste Zweck Amerikas) haben, wenn diese Bedingung
nicht erfüllt wird. Ich kann mir keine blühenden, heroischen,
demokratischen Kräfte in den Vereinigten Staaten oder überhaupt
keine dauerhafte Demokratie denken, ohne daß die Naturkräfte
einen ihrer Hauptbestandteile bilden, die die Quelle aller Gesundheit
und Schönheit sind und aller Politik, Wohlfahrt, Religion und
Kunst der Neuen Welt zugrunde liegen.
GESAMMELTES
Aus der Vorrede zu:
„Wie ein starker Vogel auf Schwingen frei . . ."
Als ich vor Jahren den Plan zu meinen Gedichten auszuarbeiten
begann und ihn lange Zeit (vom 28. bis 35. Lebensjahr) immer
wieder überdachte und umgestaltete, wobei ich viel experimentierte,
niederschrieb und vieles wieder fallen ließ, lag allem andern ein
tiefes Motiv zugrunde und hat dem Plan und seiner Ausführung
seither zugrunde gelegen, — das religiöse. Trotz vieler Wechsel
und obwohl die Ausdrucksform ganz andere Gestalt angenommen
hat, als ich sie mir ursprünglich gedacht hatte, bin ich in der Aus-
arbeitung meiner Gedichte von diesem Grundmotiv nie abgewichen.
Selbstverständlich nicht, um es in der hergebrachten Weise zur
Schau zu stellen oder etwa mit einem Blick auf die Kirchensitze
Hymnen oder Psalmen zu schreiben oder konventionellem Pietismus
und dem krankhaften Schmacht von Frömmlern Ausdruck zu
geben, — vielmehr auf neue Art, abzielend auf die breitesten Grund-
lagen und Gebiete der Menschheit, in Einklang mit der frischen
Luft von Meer und Land. Ich will sehen, sagte ich zu mir, ob für
meine dichterischen Zwecke in der Durchschnittsmenschheit, wenig-
stens in deren moderner Entwicklung bei uns, in dem kräftigen
Gemeingefühl, in den eingeborenen Sehnsüchten und Elementen
nicht eine Religion, ein gesunder religiöser Keim liegt, — tiefer und
größer und fruchtbarer als alle bloßen Sekten und Kirchen, — so
grenzenlos, freudig und lebenskräftig wie die Natur selbst, — ein
Keim, der zu lange ohne Pflege, unbesungen, beinahe unbekannt
i56
geblieben ist. Mit dem Aufblühen der Wissenschaft beginnt er-
sichtlich die alte Theologie des Ostens, schon längst kindisch ge-
worden, zu sterben und zu verschwinden. Die Wissenschaft aber
— und das wird sich vielleicht als ihr Hauptverdienst erweisen —
bereitet ebenso ersichtlich den Weg für ein unbeschreiblich Höheres,
— für den jungen, aber vollkommenen Sprößling der Zeit — die
neue Theologie — Erbin des Westens — stark und liebevoll und
wunderbar herrlich.
Für Amerika, und für jetzt und allezeit, ist die höchste und ab-
schließende Wissenschaft die von Gott, — und was wir Wissen-
schaft nennen, ist nur ihr Diener, wie es auch die Demokratie ist
oder sein soll. Und ein Dichter Amerikas (sagte ich zu mir) muß
sich mit solchen Gedanken erfüllen und sein Allerbestes aus ihnen
heraus singen. — Gleichwie es meines Erachtens keine gesunde
und vollkommene Persönlichkeit noch eine große elektrische Natio-
nalität gibt, wenn nicht die Religion als Grundelement alle anderen
Elemente durchdringt (wie die Wärme in der Chemie, selbst un-
sichtbar, dennoch das Leben alles sichtbaren Lebens ist, so kann
es keine Poesie geben, die dieses Namens würdig wäre, ohne daß
jenes Element allem zugrunde liegt. Sicherlich ist die Zeit ge-
kommen, wo die Religionsidee in den Vereinigten Staaten entlastet
wird von bloßem Klerikalismus, von Sonntagsheiligung und Kirchen
und Kirchenbesuch, und wo ihr jene allgemeine, wichtigste, un-
entbehrlichste und heiterste Stellung zugewiesen wird, der sich alles
anzupassen hat, Charakter, Bildung und Tun der Menschen.
Das Volk, besonders die jungen Männer und Frauen Amerikas,
müssen anfangen zu lernen, daß Religion wie Poesie etwas ganz,
ganz anderes ist, als sie dachten. Sie ist in der Tat für die Macht
und Fortdauer der neuen Welt zu wichtig, als daß sie noch länger
den Kirchen, alten oder neuen, katholischen oder protestantischen,
dieses Heiligen oder jenes, überlassen werden dürfte. Sie muß von
nun an der Demokratie en masse und der Literatur überantwortet
werden. Sie muß in die Dichtungen der Nation eingehen. Sie
muß die Nation erschaffen.
.57
Eine Notiz auf ^ut Glück
(Zuerst v'eröffentlicht in der „North American Review" 1881)
Soll die Erwähnung von Dingen, wie ich sie kurz, aber deut-
lich und entschlossen in dem Kapitel „Kinder Adams" meiner
„Grashalme" zur Sprache gebracht habe, in Poesie und Literatur
erlaubt sein? Sollte die Neuerung nicht vielmehr durch Kritik
und öffentliche Meinung verurteilt werden? Und wenn das nichts
nützt, durch den Staatsanwalt? — Zweifellos, ohne jenes Kapitel
mit einzuschließen, konnte ich nicht ein Werk verfassen, das er-
klärtermaßen, wie nie zuvor, die vollständige menschliche Identität,
die physische, moralische, seelische und intellektuelle, behandelte
(in gewissem Sinne gab ich der physischen den Vorrang und die
Führung); auch hätte ich sonst nicht die bona fides, die Lauterkeit
und Vollständigkeit der Darstellung erreichen können, die zu
meinem Plane gehörte. Aber ich möchte meinen Standpunkt noch
mehr als bisher befestigen und erweitern. Und wenn ich auch von
niemandem verlange, meiner Theorie beizupflichten, liegt mir doch
offen gestanden etwas daran, meine dichterischen Versuche und
meine Prinzipien von ihrem eigenen Boden aus wenigstens teil-
weise verstanden zu wissen. Es scheint mir am besten, der Frage
mit völligem Freimut gegenüberzutreten.
Es gibt, allgemein gesprochen, zwei Gesichtspunkte, nach denen
sich die Welt zu diesen Dingen verhält. Der erste, der konven-
tionelle biederer Leute und biederer Literatur überall, unterdrückt
jede direkte Benennung und macht nur ganz verblümte Andeu-
tungen — (wie es die Griechen mit dem Tod machten, der in der
gebildeten Gesellschaft Griechenlands nicht gerade heraus benannt,
sondern euphemistisch umschrieben wurde). In der heutigen Ge-
sellschaft hat dies Verhalten — ohne auf die Argumente und Ein-
zelheiten, die zahlreich, verschiedenartig und verwirrend sind,
näher einzugehen — zu einem Zustand von Unwissenheit, Ver-
tuschung, verborgen gehaltener Krankheit und Schwäche geführt,
der sicherlich einen Hauptfaktor des Weltübels bildet. Diesem
unwissenschaftlichen, unästhetischen und durchaus unreligiösen
Verhalten, das uns die Vergangenheit vererbt hat (die Ursachen
sind verschieden; eine liegt in uralten Lehren menschenfreund-
licher Weiser, die damit die herrschende Roheit und Animalität
i58
des INoinadeiizeitahcrs bändigen wollten; eine andere im Puritaner-
tum oder vielleicht Protestantismus selbst; eine dritte wird am
Schluß dieser Ausführungen bezeichnet werden) — diesem Ver-
halten sind wohl größtenteils die Mißgeburten, die ungenügende
Reife, der frivole Sinnenkitzel und jenes pathologische Hinsiechen
und Kränkeln der Menschen zu verdanken, das meines Erachtens
der Grund und Ursprung jeder Art von Übel und Kränklichkeit
ist. Sein Geruch, wie von etwas Schleichendem, Tückischem, Pest-
artigem scheint nach und nach alle moderne Literatur, Konver-
sation und Sitte zu durchseuchen.
Der zweite Gesichtspunkt, und zwar der weit umfassendere —
wie denn die Welt im Werktagskleid die in Salontoilette an Zahl
weit übertrifft — ist der des gewöhnlichen Lebens, von den ältesten
Zeiten her und besonders in England (vgl. die ersten Kapitel von
Taines Englischer Literaturgeschichte und Shakespeare beinahe
überall) ; ein Gesichtspunkt, den unser heutiges Zeitalter von einem
lachlustigen Geschlecht ererbt hat in dem W^itz (oder was als Witz
gilt) in Männergesellschaft, in den erotischen Geschichten und Ge-
sprächen, die jene bloß lüsterne Sinnlichkeit, die nach Viktor Hugo
die allgemeinste Eigenschaft aller Zeiten und Länder ist, erregen,
ausdrücken und ausmalen sollen. Dieser zweite Zustand, so schlimm
er ist, gleicht wenigstens einer Krankheit, die zum Vorschein kommt
und deshalb weniger gefährlich ist als eine verheimlichte.
Mir scheint für eine weitere Stufe, einen dritten Gesichtspunkt,
die Zeit gekommen und Amerika der Platz dafür zu sein. Derselbe
Freimut, Glaube und Ernst, den nach Jahrhunderten von Ablehnung,
Kampf, Unterdrückung und Märtyrertum die Gegenwart der Be-
handlung von Politik und Religion entgegenbringt, muß für diese
Frage einen Plan und Maßstab schaffen, nicht so sehr im Hinblick
auf das, was man Gesellschaft nennt, als auf nachdenklichste Männer
und Frauen und auf gedankenreichste Literatur. Denselben Geist,
der in dieser Beziehung den physiologischen Schriftsteller und
Demonstrator auf seinem wichtigen Gebiet charakterisiert, glaubte
ich einmal auf einem gewiß nicht weniger wichtigen Gebiet be-
kunden zu müssen.
In der vorliegenden Notiz wage ich diesen Plan und diese
Anschauung nur anzudeuten, für die ich mich in meiner eige-
nen literarischen Tätigkeit schon vor mehr als zwanzig Jahren
i59
entschieden und die ich in meinen gedruckten Gedichten deuthch
lormuliert habe (wie denn Bacon sagt, eine abstrakte Idee oder
Theorie sei wertlos, wenn sie nicht zu einer Tat oder einem Werk
als konkretem Beispiel führe) — die Anschauung nämlich, daß der
Geschlechtstrieb an sich, solange er normal und gesund bleibt,
seinem Wesen nach zu Recht besteht, anerkannt werden muß und
kein unbedingt unpassendes Thema für den Dichter ist, ebensowenig
wie zugestandenermaßen für den Naturforscher; — daß ferner, was
den ganzen Aufbau, den Organismus und Endzweck der „Grashahiie"
anbelangt, alles auf einer schwachen oder gar keiner Grundlage
beruhen würde, wenn ich jenem Thema ausgewichen wäre und
mich nicht offen dazu bekannt hätte, als zu der alles umfassenden
Basis (die gesunde Natürlichkeit von allem sollte ja die Atmosphäre
der Gedichte sein). Ich möchte also die Frage im bedeutsamsten
Sinne stellen und auf ihre äußerste Konsequenz hin, so anmaßend
das auch erscheinen mag.
Kurz gesagt, wie die Anerkennung der gesunden Natürlichkeit
von Geburt, Natur und Menschheit der Schlüssel ist zu jeder wahren
Theorie vom Leben und Universum, wenigstens der einzigen
Theorie, aus der heraus ich geschrieben habe, so ist sie auch,
und zwar unbedingt, der einzige Schlüssel zu den „Grashalmen"
und zu jedem einzelnen Teil derselben. Das ist der Grund, warum
ich gerade für diese Gedichte zwanzig Jahre lang eingetreten bin
und sie bis zum heutigen Tage aufrecht erhalte. Das ist es, was
ich im innersten Geist und Gemüt fühlte, als ich unter den alten
Ulmen des Bostoner Stadtparkes auf Emersons heftige Argumente
nur mit Stillschweigen antwortete.
In der Tat, sollte nicht jeder Physiologe und jeder gute Arzt
dafür beten, daß diese Frage, die bisher dem Geschwätz und Ge-
schreibsel von Schuften überantwortet war, aus ihrer Verbannung
erlöst und wenigstens einmal, wenn nicht öfter, kühn in den Be-
reich der Poesie und Gesundheit gestellt Wierde — als etwas, das
nicht an sich unanständig und uhrein, sondern mit edelster Männ-
lichkeit und Weiblichkeit durchaus vereinbar und beiden unent-
behrlich ist? Sollte nicht jede Gattin und Mutter und, wenn es
möglich wäre, jeder Säugling, der auf die Welt kommt, und jede Ehe
(das Fundament und die conditio sine qua non des Kulturstaates)
loben und danken dafür, wenn gezeigt oder als selbstverständlich
160
angesehen würde, daß Mutterschaft, Vaterschaft, Geschlechthchkeit
und alles, was dazu gehört, offen, freudig, stolz, ohne daß man
sich schämt oder zu schämen braucht, von den höchsten künst-
lerischen und menschlichen Gesichtspunkten aus bekräftigt werden
kann, wo immer es darauf ankommt? Ja, in aller Ehrfurcht sei es
gesagt, sollte nicht auch die Schöpferkraft selbst sich herablassen,
auf einen solchen Versuch, die Basis und den Anfang des ganzen
göttlichen Planes in der Menschheit zu rechtfertigen, mit einem
Beifallslächeln zu blicken?
In der Bewegung für die Befähigung und die Zulassung der
Frauen zu neuen Gebieten des Geschäftswesens, der Politik und des
Stimmrechts bildet die herrschende Lüsternheit und Konvention
in der Behandlung des Geschlechtlichen das furchtbare Haupt-
hindernis. Die wachsende Flut der Frauenbewegung, die von Jahr
zu Jahr mehr anschwillt und weiter vorrückt, weicht bestürzt davor
zurück. Meines Erachtens wird es in dieser Bewegung keinen all-
gemeinen Fortschritt geben, bis eine vernünftige, philosophische,
demokratische Behandlungsweise an die Stelle jener Konvention
getreten ist.
Die ganze Frage, die viel, sehr viel tiefer geht, als die meisten
denken (und zweifellos ist auf jeder Seite etwas zu sagen), ist von
besonderer Wichtigkeit für die Kunst, — es ist erstens eine ethische
und dann noch mehr eine ästhetische Frage . . .
Nicht das Gemälde oder die nackte Statue oder der Text ist
unanständig, sofern der künstlerische Zweck ein lauterer ist, es ist
vielmehr des Beschauers eigener Gedanke, seine eigene verzerrte
Auffassung. Wahre Sittsamkeit ist eine der köstlichsten Eigen-
schaften, ja Tugenden; aber in nichts Hegt mehr Heuchelei, mehr
Falschheit, als wenn sie überflüssigerweise betont wird. Infolge
von Erziehung und Selbsterkenntnis weiß der Mensch schon lange
genug, wie schlecht er ist. Ich möchte dieses Bewußtsein nicht
sowohl stören oder vernichten, vielmehr nur wieder auf die innerste
Bedeutung des Schriftwortes hinweisen und es unwiderleglich
daneben stellen: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte",
(samt dem Gipfelpunkt des Ganzen — der Menschheit mit ihren
Elementen, Leidenschaften, Begierden), „und siehe, es war sehr gut."
Wird die Schöpfung nicht durch alles, was jenen dritten Ge-
sichtspunkt nicht gelten läßt, von Anfang an negiert, — wenn man
II Whitman I I 6 I
sich die Sache ernstlich und von allen Seiten überlegt? Lebt die
in diesen Gesichtspunkten liegende Überzeugung, so verdunkelt und
ihrer selbst unbewußt sie sein mag, in der Tat nicht ewig im
Zentrum der ganzen Gesellschaft, der Geschlechter und der Ehe?
Ist sie in Wahrheit nicht eine Intuition des Menschengeschlechts?
Denn so alt die Welt ist und so unbeschreiblich die unzähligen und
glänzenden Früchte ihrer Kultur und Evolution, — vielleicht die
besten und frühesten und reinsten Intuitionen des Menschen-
geschlechtes müssen sich erst noch entwickeln.
Emersons Werke (ihre Schatten)
Die Regionen, die wir Natur nennen, die über alles Maß hinaus-
ragen, von unendlicher Ausdehnung, unendlicher Tiefe und Höhe,
— diese Regionen, einschließlich des Menschen in seinen sozialen,
historischen und moralisch-gefühlsmäßigen Beziehungen, — einen
wie geringen Teil von ihnen (das kam mir heute zum Bewußtsein)
hat die Literatur wirklich dargestellt, — selbst wenn man ihre Er-
zeugnisse aller Zeiten summiert. Sie erscheint im besten Fall wie
eine kleine Flotte von Schiffen, die sich an die Küsten einer unend-
lichen See schmiegen und sich niemals hinauswagen, um zu
erforschen, was noch nicht auf Karten verzeichnet ist, — nie
kolumbusgleich nach neuen Welten aussegeln, um die Rundung
des Erdballs zu durchmessen.
Emerson schreibt oft aus solchem Gedankenkreis heraus. Seine
Bücher berichten das eine oder das andere eben aus jenem Meeres-
und Luftraum; und richten sich verständlicher an unsere Zeit und
an das amerikanische Staatswesen als die Schriften irgendeines
Mannes vor ihm. Aber ich will damit beginnen, daß ich seine
Schwächen hervorhebe — und so beweisen, daß ich für seine tiefsten
Lehren nicht unempfänglich bin. Ich will seine Werke vom demo-
kratischen und westlichen Gesichtspunkt aus betrachten. Ich will
die Schatten der sonnigen Räume bezeichnen . . .
Erstens also: diese Schriften sind vielleicht zu vollkommen, zu
konzentriert. (Wie gut ist z. B. gute Butter, guter Zucker. Aber
immer nur Zucker und Butter! Mögen sie noch so gut sein!) Und
obschon der Autor viel zu sagen weiß von Freiheit und üngebunden-
heit und Einfachheit und Selbstherrlichkeit, so war doch noch nie
162
ein Werk mehr auf künstliche Gelehrsamkeit und Wohlanständig-
keit im dritten oder vierten Aufguß (er nennt es Bildung) gegründet
und darauf aufgebaut. Es ist immer etwas Gemachtes, nie ein un-
bewußt Gewachsenes. Es ist die Porzellanfigur oder Statuette eines
Löwen oder Hirsches oder indianischen Jägers — freilich von vor-
züglicher Arbeit — für den Rosenholz- oder Marmorständer in
Salon oder Bibliothek; nie das Tier oder der Jäger selbst. Wer
w^ill auch das Tier oder den Jäger? Was ließe sich damit anfangen
inmitten von Astrallicht und Nippes und Gobelins und Damen und
Herren, die mit gedämpften Stimmen von Browning und Long-
fellow und Kunst sprechen? Vor dem geringsten Verdacht eines
wirklichen Bullen oder Indianers oder sich selbst auswirkender
Naturkraft würden all diese guten Leute in panischem Schrecken
davonlaufen.
Emerson ist meines Erachtens nicht als Dichter oder Künstler
oder Lehrer am bedeutendsten, obwohl wertvoll in alledem. Sein
Bestes gibt er in der Kritik oder Diagnose. Nicht Leidenschaft oder
Phantasie oder Nebeninteresse oder Schwäche oder irgendein aus-
gesprochenes Motiv oder eine besondere Vorliebe beherrscht ihn.
(Ich weiß, Feuer, Gemüt, Liebe, Selbstheit glühen tief und unver-
gänglich in ihm, wie in allen Neu-Engländern, aber die Fassade
verbirgt sie völlig, es ist nichts von ihnen zu merken.) Er sieht
oder ergreift nicht nur oder vorwiegend eine Seite, eine Ansicht
(wie alle Dichter oder die meisten guten Schriftsteller überhaupt),
er sieht alle Seiten. Seine Schüler hören unter seinem Einfluß
schließlich auf, irgend etwas zu verehren, ja beinahe an irgend
etwas zu glauben, was außerhalb ihrer selbst ist. Emersons Werke
füllen gewisse Lebensperioden und Entwicklungsstufen aus, und
zwar gut, — sie sind (wie die Lehre oder Theologie des Autors,
die er als junger Mann predigte) unbeschreiblich wertvoll und
kostbar als Durchgangsstadium. Aber im Alter oder in reizbaren
oder feierlichsten Stunden oder im Sterben, wenn man die ungreit-
bar beruhigenden und belebenden Einflüsse abgrundtiefer Natur
oder naturähnliche Elemente in der Literatur und menschlichen
Gesellschaft braucht und die Seele das schärfste bloß verstandes-
mäßige Erkennen ablehnt, wird man nicht nach ihnen verlangen.
Emerson hat eine für einen Philosophen seltsam stutzerhafte
Anstandstheorie. Er scheint keine Ahnung davon zu haben, daß
i63
äußere Manieren einfach die Zeichen sind, an denen der Chemiker
oder Metallurg seine Metalle erkennt. Für den bedeutenden P'orscher
sind alle Metalle bedeutend, so wie sie es auch wirklich sind. Der
Unbedeutende wird, wie die konventionelle Welt, nur auf Gold
und Silber viel halten. Dem wirklichen Menschheitsbildner also
erscheinen sogenannte schlechte Manieren oft am malerischsten und
bedeutsamsten. Man stelle sich vor, Emersons Werke würden ab-
sorbiert als dauernder Lebenssaft des amerikanischen Charakters
im allgemeinen und besonderen, — was für eine wohlgewaschene
und grammatische, aber blut- und hilflose Rasse würden wir dann
werden! Nein, nein, lieber Freund; die Staaten brauchen zwar ohne
Frage Gelehrte und vielleicht auch Damen und Herren, die häufig
baden und nie laut lachen oder unrichtig sprechen, aber sie brauchen
nicht Gelehrte oder Damen und Herren auf Rosten alles übrigen.
Sie brauchen gute Farmer, Seeleute, Handwerker, Beamte, Bürger,
— gesunde geschäftliche und soziale Verhältnisse, — vollkommene
Väter und Mütter. Wenn wir nur solche oder annähernd solche
haben könnten, in Fülle, schön und stattlich und gesund und
großmütig und patriotisch, so könnten sie ihre Verba und Nomi-
nativa falsch konstruieren und wie Musketensalven lachen, wenn
es ihnen Spaß machen würde. Solche Menschen sind natürlich
nicht alles, was Amerika braucht, aber sie müssen wir uns vor
allen Dingen in großer Anzahl verschaffen. Und trotz fürchter-
licher Fehler und Irrgänge scheint der Instinkt der Staaten wesent-
lich und hauptsächlich darauf gerichtet zu sein und abzuzielen. Das
Streben nach einer erlesenen, überfeinerten, von allen anderen
abgegrenzten Klasse, das Streben der Länder und Literaturen der
Alten Welt, ist nicht sowohl an sich, als weil es unser eigenes
Streben erstickt und in der Tat sein Tod ist, zu tadeln. Was eine
solche abgesonderte Raste betrifft, so können die Vereinigten Staaten
den glanzvollen Beispielen der ersten Nationen Europas in Ver-
gangenheit und Gegenwart (weit, weit über allem Vergleich und
Wettbewerb mit uns) niemals etwas Gleichwertiges gegenüberstellen.
Aber eine ungeheure und eigenartige, über unser weites und mannig-
faltiges Gebiet, W^est und Ost, Süd und Nord, ausgebreitete Gemein-
schaft — in der Tat zum erstenmal in der Geschichte ein großes,
zusammengeschlossenes, wirkliches Volk, das diesen Namen ver-
dient und das aus vollentwickelten heroischen Individualitäten
i64
beiderlei Geschlechtes besteht, — das ist Amerikas wichtigster,
vielleicht einziger Daseinsgrund. Wenn wir dieses Ziel erreichen,
so wird es mindestens ebensosehr (seit kurzem denke ich, zwei-
mal mehr) das Ergebnis einer für uns passenden demokratischen
Soziologie, Literatur und Kunst sein, — wenn wir die je haben
werden, — als unserer demokratischen Politik.
Zeitweilig habe ich daran gezweifelt, ob Emerson wirklich weiß
oder fühlt, was Poesie höchster Art ist, wie z. B. in der Bibel oder
in Homer oder Shakespeare. Ich sehe, daß er heimlich oder offen
höchstvollendete Formglätte oder das, was alt oder seltsam ist, be-
vorzugt, — Wallers „Go lovely rose" oder Lovelaces Verse an
„Lacusta", die sonderbaren Einfälle der altfranzösischen Barden
und ähnliches. Für Kraft scheint er die Bewunderung eines Gentle-
man zu haben, — aber in seinem innersten Herzen stehen ihm
kunstvolle Versformen, geistreiche Einfälle, elegante Schnörkel und
Worte immer höher als die erhabensten Eigenschaften Gottes und
der Dichter.
Daß ich, wie die meisten jungen Leute, vor Jahren einen be-
ginnenden Anfall (spät zwar und nur an der Oberfläche) von
Emersonmanie hatte, — daß ich seine Schriften ehrfürchtig las und
ihn in den meinen als „Meister" anredete und ihn einen Monat
lang oder so auch dafür hielt, — daran erinnere ich mich nicht
nur mit Gelassenheit, sondern mit wirklicher Genugtuung. Ich
habe bemerkt, daß die meisten jungen Leute von strebsamem Geist
durch derlei Übungsstadien hindurch müssen.
Das beste am Emersonianismus ist, daß er den Riesen erzeugt,
der sich selbst vernichtet. „Wer will bloßer Epigone eines Mannes
sein?" — diese Frage lauert hinter jeder Seite. Nie hat es einen
Lehrer gegeben, der so dafür gesorgt hätte, daß seine Schüler
selbständig werden, — nie einen echteren Evolutionisten.
Neue Poesie — Kalifornien, Kanada, Texas
Meiner Ansicht nach ist die Zeit gekommen, um die formalen
Schranken zwischen Prosa und Poesie gänzlich niederzubrechen.
Ich behaupte, die letztere muß von nun an ohne Rücksicht auf
den Reim und die rhythmischen Regeln von Jambus, Spondaeus,
Dactylus usw. ihren Charakter gewinnen und wahren. Mag auch
i65
der Reim samt den genannten Maßen für geringere Schriftsteller und
Themen weiterhin als Ausdrucksmittel dienen (besonders für Paro-
distisches und Komisches, da der Reim an sich und überhaupt für
den vollendeten Geschmack in Zukunft etwas unvermeidlich Romi-
sches zu haben scheint), echteste und erhabenste Poesie (innerlich
und notwendigerweise zwar immer rhythmisch und leicht genug
von Prosa zu unterscheiden) kann in der englischen Sprache nie
wieder in willkürlicher und reimender Strophenform Ausdruck
finden, ebensowenig wie die größte Reredsamkeit oder die echteste
Kraft und Leidenschaft. Zwar gebe ich zu, daß die ehrwürdigen
und himmlischen Formen melodischen Versbaues zu ihrer Zeit
eine große und angemessene Rolle gespielt haben, — daß schwer-
mütige Klage, Ralladen, Kriege, Liebesgeschichten, Sagen Europas
usw. vielfach unnachahmlich schön in Reim und Strophe dar-
gestellt worden sind, — daß es sehr hervorragende Dichter ge-
geben hat, deren Gestalten wundervoll und passend der Mantel
solcher Versform umhüllte und daß dieser ihr Mantel vielleicht in
noch größerer Schönheit auf einige Dichter unserer Zeit gefallen
ist. Trotz alledem glaube ich sicher, daß die Zeit solchen Reimes
zu Ende ist. In Amerika jedenfalls und als Mittel höchsten ästhe-
tischen, praktischen oder geistigen Ausdrucks, in Gegenwart und
Zukunft, versagt er offenbar und muß versagen.
Die Muse der Prärien von Kalifornien, Kanada, Texas und der
Rerggipfel Kolorados entledigt sich sowohl der literarischen als
sozialen Etikette des transatlantischen Feudalismus und Kasten-
wesens, dehnt sich fröhlich aus, macht sich bereit, den Umfang des
ganzen Volkes zu umfassen, samt dem freien Spiel aller Gefühle,
Stolz, Leidenschaften, Erfahrungen, die zu ihm in Körper und
Geist gehören, — den ganzen Erdball zu umfassen und all seine
astronomischen Reziehungen, wie sie uns von den Gelehrten ge-
schildert werden, — das moderne, geschäftige 19. Jahrhundert (so
erhaben poetisch wie je eines, nur anders) mit seinen Dampf-
schiffen, Eisenbahnen, Fabriken, Telegraphen, Zylinderpressen, —
den Gedanken von der Solidarität der Nationen und von der Brüder-
schaft und der Schwesterschaft der ganzen Erde, — die Würde und
den Heroismus der praktischen Arbeit in Farmen, Fabriken, Gieße-
reien, Werkstätten, Bergwerken oder auf Schifl'en, Seen und Flüssen.
Diese Muse wählt jenes andere, geschmeidigere, angemessenere
166
Ausdrucksmittel und schwingt sich empor zu dem freien, weiten,
göttlicheren Himmel der Prosa.
Bei Gedichten dritter oder vierter Ordnung (vielleicht sogar hei
manchen zweiter Ordnung), hat es wenig oder gar nichts zu besagen,
wer sie verfaßt, — sie sind gut genug, so wie sie sind; auch brauchen
sie nicht tatsächliche Ausströmungen von Persönlichkeit und Leben
der Verfasser zu sein. Das gerade Gegenteil wirkt manchmal reiz-
voll. Aber Dichtungen erster Ordnung (Gedichte der Tiefe im
Unterschied von Gedichten der Oberfläche) sind streng an den
Dichtern selbst zu messen, an ihrer Persönlichkeit und ihrem Leben
zu prüfen. Wer will Verherrlichung von Mut und männlichem
Trotz aus dem Munde eines Feiglings oder Schleichers? Wer
ein Lied auf Mildtätigkeit oder Keuschheit von einem verseschreiben-
den Knicker oder einem unzüchtigen, schlüpfrigen Roue?
In diesen Staaten wird es die Poesie über alles bisher Dagewesene
hinaus mit den wirklichen Tatsachen zu tun haben, mit den kon-
kreten Staaten und — denn wir sind nicht viel weiter als am An-
fang — mit der endgültigen Ausgestaltung der Union. Manchmal
denke ich sogar, sie allein wird die Union gestalten müssen (d. h.
ihr künstlerischen Charakter, Geistigkeit, Würde geben müssen).
Was der amerikanischen Bevölkerung am gefährlichsten ist, das
ist das Übermaß von Wohlstand, Geschäft, Weltlichkeit, Mate-
rialismus; was am meisten fehlt, in Ost, West, Nord, Süd, das ist
ein warmes und glühendes Nationalgefühl, ein Patriotismus, der
alle Teile zu einem Ganzen vereinigt. Wer anders kann jene Ge-
fahr in Zukunft abwehren, diesen Mangel ausfüllen, als eine Klasse
erhabenster Dichter?
Obgleich die Vereinigten Staaten noch keine Dichter von irgend-
wie überragender Größe hervorgebracht haben, so importieren,
drucken und lesen sie doch mehr Poesie als eine gleich große
Anzahl Menschen sonstwo — ja wahrscheinlich mehr als die ganze
übrige Welt zusammengenommen.
Die Poesie ist (wie eine große Persönlichkeit) die Frucht vieler
Generationen — des seltenen Zusammentreffens vieler Umstände.
Um große Dichter zu haben, braucht es auch eine große Zu-
hörerschaft.
,67
Darwinismus
— dann Weiteres
Durch die vorgeschichtlichen Zeiten bis herein in die Morgen-
dämmerung unserer Überheferungen, die Theologie begründend,
die Literatur durchdringend und so immer weiter verbreitet, er-
scheinen die ehrwürdigen Ansprüche auf Abstammung von Gott
selbst oder von Göttern und Göttinnen, auf Abkunft von gött-
lichen Wesen, die größere Schönheit, Gestalt und Macht besaßen
als wir. (Dieser Glaube bildet gewissermaßen Wirbelsäule und
Mark aller antiken Rassen und Länder, Ägyptens, Indiens, Griechen-
lands, Roms, Chinas, Judäas usw., und gibt ihrer Kunst, Dichtung
und Politik wie auch ihrem Kirchenwesen (von all dem haben
wir mehr oder weniger geerbt) Form und Farbe. In der neuesten
Zeit aber lehrt diejenige Abstammungstheorie, die die tiefste Wir-
kung ausgeübt zu haben scheint (in seltsamem Gegensatz zur an-
tiken), daß wir von Affen, von Pavianen herkommen und uns aus
ihnen entwickelt haben, — eine Theorie, deren indirekte Wirkungen
oder Konsequenzen vielleicht wichtiger sind als sie selbst. (Diese
zwei Theorien, so grundverschieden sie zu sein scheinen und so
heftig ihre widerstreitenden Fürsprecher heute einander bekämpfen,
— ließen sie sich nicht vielleicht miteinander versöhnen, ja sogar
verschmelzen? Können wir denn eine davon entbehren? Besser
noch: wird sich nicht aus beiden noch eine dritte, die wahre, oder
eine die wahre andeutende Theorie herausbilden?)
Die alte Theorie von der Evolution, wie sie von Darwin mit
verdreifachter W^ucht, mit wahrhaft alles absorbierenden Ansprüchen
neu aufgestellt worden ist, enthält so viel und ist so notwendig als
Gegengewicht gegen den noch weitverbreiteten und unsagbar zähen,
entnervenden Aberglauben, — sie ist von dem neuen Mann in so
großartigen, bescheidenen, wahrhaft wissenschaftlichen Folgerungen
ausgeprägt worden, daß die Welt ethischer und physikalischer
Forschung durch das Erscheinen des Darwinismus in ihren Speku-
lationen schließlich vervollkommnet und erweitert werden muß.
Und doch ist das Problem des menschlichen und sonstigen Ur-
sprungs der Lösung um keinen Zoll näher gekommen. Mit der
Zeit wird die Evolutionstheorie ihre Heftigkeit mildern müssen,
sie darf nicht alles andere beherrschen, sie wird ihren Platz als
ein Segment des Kreises, der ganzen Masse, einnehmen müssen,
168
als nur eine von vielen Theorien, von vielen Ideen tiefsten Gehalts,.
— sie wird vieles zu berichtigen und zu differenzieren haben und
doch die göttlichen Geheimnisse ebenso unerklärlich und unerreich--
bar lassen wie zuvor, — vielleicht noch mehr.
Dann Weiteres
Was letzten Endes von Priestern oder Dichtern, und nur von
Priestern oder Dichtern vollbracht werden muß,' — trotz all der
erstaunlichen und blendenden Errungenschaften unseres Jahr-
hunderts, dem Auftreten Amerikas, der Naturwissenschaft und
der Demokratie, — das bleibt nach wie vor unentbehrlich, nach
allen Leistungen der großen Astronomen, Chemiker, Linguisten,
Historiker, Forscher und der wunderbaren deutschen und sonstigen
Metaphysiker in den letzten hundert Jahren — und es wird ein Be-
dürfnis bleiben, hier in Amerika genau so wie in der Welt Europas
oder Asiens vor hundert, tausend oder mehreren tausend Jahren, —
ich glaube sogar, es wird notwendiger sein als je, um unseren
heutigen Anschauungen Ausdruck zu verleihen, aus dem erweiterten
Hintergrund und dem unbeschreiblich größeren Ausblick der Jetzt-
zeit heraus. Einzig den Priestern und Dichtern der Neuzeit, die
mindestens ebenso erhaben sind wie die der Vergangenheit, ist es
in der Tat vorbehalten, die Ergebnisse der Vergangenheit, der Ge-
meinschaft aller Menschen und Zeiten in sich aufzunehmen, zu
würdigen und das alte Metall, das bereits gestaltete Material, um-
zugießen in neue zeitgemäße Formen und Bildungen. (Die Haupt-
resultate sind bereits gegeben, denn es gibt vielleicht nichts Neues,
jedenfalls nicht viel eigentlich Neues, nur wichtigere moderne Kom-
binationen und neue entsprechende Anpassungen.)
Mittlerweile warten die höchsten und feinsten und umfassendsten
Wahrheiten der modernen Wissenschaft — wie auch die Demo-
kratie — auf ihre wahre Aufgabe und die letzten lebendigen Licht-
blitze durch große Metaphysiker und spekulative Philosophen, die
die Fundamente und Grundlagen bauen für jene neuen, umfassen-
deren, harmonischeren, melodischeren, freieren amerikanischen
Dichtungen.
169
Unser wirklicher Höhepunkt
Der Höhepunkt in der Entwicklung dieser großen und viel-
gestaltigen Republik wird in der Schaffung und dauerhaften Be-
gründung von Millionen behaglicher Stadtheimstätten und mäßig
großer Farmen bestehen, gesund und unabhängig, in abgesondertem
Einzelbesitz mit Eigentumsrecht, wohlfeil versorgt mit allem, was
man zum Leben braucht, und für alle erwerbbar. Außergewöhn-
licher Reichtum, Prunk, zahllose Industrien, ein Übermaß von Export,
Riesenkapitale und -kapitalisten, vollbesetzte Fünf-Dollar-Hotels,
künstlicher Komfort, ja selbst Bücher, Universitäten und das Wahl-
recht — all das bildet an sich, in mancher Hinsicht (so hart es
auch klingen mag, und scharf wie das Messer eines Chirurgen),
mehr oder weniger eine Art antidemokratischer Krankheit und
Ungeheuerlichkeit und scheint mir in der Hauptsache nur von
Wert oder von Bedeutung zu sein, sofern es zu jenem Höhepunkt
Beziehungen bat und auf seltsamen Umwegen dazu beiträgt, daß
er erreicht wird.
In dem gewöhnlichen Erdboden, in Getreide, Vieh, Luft, Bäumen
usw. und darin, daß man aas erster Hand mit ihnen zu tun hat,
liegt ein subtiles Etwas, das das einzige reinigende und dauernde
Element für Individuen und Gesellschaft bildet. Ich muß gestehen,
es wäre mein W^unsch, daß in Amerika die Beschäftigung mit der
Landwirtschaft aus erster Hand immer allgemeiner würde. Ihre
Erträge sind die einzigen, auf denen das Lächeln Gottes zu ruhen
scheint. Welche anderen — welches Geschäft, welcher Profit und
Reichtum ist ohne Makel? Welche Glücksgüter sonst sind nicht, in
jedem Dollar, mehr oder weniger Zeichen und Frucht von Betrug,
Lüge, Unnatur?
AUS „NOVEMBERZWEIGE«
UND „ADE, PHANTASIE«
Die Arbeitslosen- und Streikfrag^e
Zwei grimmige und gespenstische Gefahren — gefährlich für
Frieden, Gesundheit, Fortschritt und soziale Sicherheit, den
Regierungen der Alten Welt längst leibhaftig bekannt, denn sie
spielten dort mehr als einmal bei dynastischen Umstürzen, Blut-
bädern, in Tagen und Monaten des Schreckens eine Rolle, —
scheinen sich seit einigen Jahren der Neuen Welt zu nähern, ja
sich allmählich bei uns einzunisten. Was wollen diese Phantome
hier? (Ich personifiziere sie in dichterischer Form, aber sie sind
sehr real.) Soll das frische und weite Gebiet Amerikas ihnen auch
Standort und Herberge und dauernden Wohnsitz geben?
Was im Untergrunde der ganzen politischen Welt heute am
meisten drängt und verwirrt und die wichtigsten Folgen für die
Zukunft hat, ist nicht die abstrakte Frage dei' Demokratie, sondern
die Frage sozialer und wirtschaftlicher Organisation, die Behand-
lung der Arbeiter durch die Arbeitgeber und alles, was hier her-
einspielt — nicht nur die Lohnfrage, sondern ein gewisser Geist
und ein gewisses Prinzip, wodurch die Verhältnisse neu belebt
werden müssen — , alle die Fragen von Fortschritt, Leistungsfähig-
keit, Tarif, Finanzen usw., die in Wirklichkeit mehr oder weniger
direkt aus der Armutsfrage hervorgehen. Ich will zunächst den
Leser auf einen Gedanken über diese Angelegenheit aufmerksam
machen, der ihm bisher vielleicht noch nicht zum Bewußtsein ge-
kommen ist: — Der Reichtum der zivilisierten Welt im Gegensatz
zu ihrer Armut — woraus ist er herzuleiten? und was stellt er
171
dar? Ein Reicher sollte eigentlich einen guten Magen haben. Wie
in Europa der Reichtum von heute in der Hauptsache das Ergebnis
und die Frucht ist von Raub, Mord, Gewalttat, Verrat, Habgier
vergangener Jahrhunderte und immer so fort, so auch in Amerika,
unter demselben Zeichen — (vielleicht noch nicht so schlimm oder
wenigstens nicht so fühlbar; — wir existieren noch nicht lange genug,
aber wir tun offenbar alles, um Europas Vorsprung einzuholen).
So seltsam es klingt, gerade in den sogenannten ärmlichsten,
niedrigsten Charakteren wird man zuweilen, nein gewöhnlich,
Lichtseiten erhabenster Tugenden, Begabungen, Heroismen finden.
Es ist also zweifelhaft, ob der Staat in den langen, einförmigen
Zeiten der Entwicklung oder in furchtbaren besonderen Krisen
nur durch seine guten Bürger erhalten wird. Wenn der Sturm
am tödlichsten und die Krankheit am drohendsten ist, kommt die
Hilfe oft aus merkwürdigen Gegenden — (man erinnere sich an
den homöopathischen Spruch: „Heile den Biß mit einem Haar vom
selben Hund") . . .
W^enn auch die Vereinigten Staaten, ebenso wie die Länder der
Alten Welt, große Massen von Armen, Verzweifelten, Unzufriede-
nen, Heimatlosen, Schlechtbezahlten hervorbringen sollten, wie es
uns seit einigen Jahren zu drohen scheint, die stetig, wenn auch
langsam, sich in sie hineinfressen wie ein Krebs in Magen und
Lungen, — dann ist unser republikanisches Experiment trotz all
seiner äußeren Erfolge im Kern nicht lebensfähig und ein Fiasko.
Februar 1879.
Ich sah heute ein Bild, das ich noch nie zuvor gesehen habe,,
und es bestürzte mich und machte mich ernst. Drei recht statt-
liche amerikanische Männer von ehrbarer Erscheinung, zwei davon
jung, trugen Lumpensäcke auf den Schultern und die üblichen
langen Eisenhaken in den Händen und trotteten die Straße entlang,
die Augen auf den Boden gerichtet, um nach Brocken, Lumpen,
Knochen usw. zu spähen.
Wer bekommt die Beute?
Die Protektionisten blenden die Augen des Publikums gern mit
der glänzenden Vorspiegelung grof3er Einkünfte aus Industrie,
172
Bergbau, künstlich hochgetriebenem Export: so viele Millionen aus
dieser Quelle und so viele aus jener, — welch verführerisches, un-
widerlegliches Lockbild: ein ungeheurer jährlicher Barertrag aus
Eisen-, ßaumwoll-, Woll-, Lederwaren und hundert anderen
Dingen, alles aufgepäppelt durch „Schutzzoll"! Aber der wirklich
wichtige Punkt bei all dem ist: in wessen Taschen fließt
diese Beute eigentlich? Es würde einige Entschuldigung und
Befriedigung gewähren, wenn auch nur ein angemessener Teil den
Arbeitermassen zugute käme, — wenn daraus Heimstätten für
Männer, Frauen und Rinder entstünden, Myriaden wirklicher
Heimstätten mit Eigentumsrecht in jedem Staat, — nicht das täu-
schende Geschrei von dem erstaunlichen Reichtum, wie er in Zen-
sur, Statistik und Zeitungslisten prangt, sondern eine ehrliche Ver-
teilung und ein anständiger Durchschnitt für Arbeiter und Arbei-
terinnen: — das wäre etwas. In Wahrheit ist es aber ganz anders.
Den Profit vom „Schulzzoll" haben nur ein paar Dutzend Bevor-
zugte, die durch Protektion von Kongreß, Landtag, Banken und
durch andere Sondervorteile eine vulgäre Aristokratie bilden, genau
so schlimm wie die englischen und kontinentalen Adelskasten oder
Dynastien der Vergangenheit. Wie Sismondi gezeigt hat, besteht
das wahre Gedeihen eines Volkes nicht in dem großen Reichtum
einer einzelnen Klasse, sondern kann nur verwirklicht werden,
wenn die große Masse des Volkes mit Heimstätten und Land ver-
sorgt wird, an denen es Eigentumsrecht hat. Das mag nicht das
glänzendste Schauspiel sein, aber es ist die beste Wirklichkeit.
Führer aus dem wirklichen Volk
. . . Keine Gemeinschaft von Männern ist fähig, Präsidenten,
Richter und Heerführer zu ernennen, wenn sie nicht aus sich selbst
heraus die besten Muster hervorbringen kann; und bringt sie ein
oder zwei solcher Muster hervor, so ist die ganze Gemeinschaft
dadurch auf tausend Jahre ausgezeichnet. Ich hoffe eine Zeit zu
erleben, wo alles, was so aussieht, wie unser jetziges Personal von
Regierungsbeamten, — ünions-, Staats-, Stadt-, Militär- und Marine-
beamten, — nur noch zum Gespött dient, und wo bewährte Hand-
werker und junge Männer in den Kongreß und zu anderen amt-
lichen Stellungen berufen werden, im Arbeitsanzug, frisch von
173
Hobelbank und Werkzeug wegf, wohin sie wieder in Ehren zurück-
kehren. Die jungen Männer müssen sich darauf vorbereiten, einer
solchen Bestimmung Ehre zu machen, denn das Zeug dazu haben
sie. Nichts anderem, das bedenke man, gebührt je der Vorrang,
als blanker Überlegenheit.
In den Handwerkern und jungen Männern Amerikas steckt
gegenwärtig mehr rauhe und unentwickelte Tüchtigkeit, Kamerad-
schaftsgefühl, Pflichttreue, klarer Blick und praktische Begabung
für jede Art von Tätigkeit, selbst die höchste und umfassendste,
als unter all unseren Staatsbeamten in Legislative, Exekutive,
Rechtsprechung, Heer und Flotte und auch mehr, als unter allen
literarischen Persönlichkeiten. Es wäre mir eine große Freude,
wenn ich irgendeinen heroischen, klugen, wohlunterrichteten, ge-
sunden, bärtigen amerikanischen Grobschmied oder Schiffer mittle-
ren Alters sehen würde, der vom Westen her über die Alleghanies
käme und die Präsidentschaft anträte, mit einem reinlichen
Arbeitsanzug bekleidet, Gesicht, Brust und Arme gebräunt. Ich
würde sicher einem solchen Manne, der die erforderlichen Eigen-
schaften besäße, vor jedem anderen Kandidaten meine Stimme
geben.
Daß Arbeiter und Handwerker von ihrem Beruf weg — Lincoln,
Johnson, Grant, Garfield — aus den Massen emporgehoben wur-
den, die Präsidentschaft übernahmen und die gewaltige Macht des
Amtes mit fester Hand ausübten, tatsächlich mit größerer Kraft
und Tüchtigkeit als irgendein König der Geschichte: — erkennen
wir nicht, daß diese Tatsachen eine Bedeutung haben, weit, weit
über politische und Parteiinteressen hinaus?
Letzte Aufzeichnungen
Auf ihrer höchsten Warte und in ihren erhabensten Schöpfungen
ist echte Poesie der Ausdruck und die Begleiterscheinung echter
Religion, — war und ist eine bessere Helferin wahrer Religion und
hat sie mehr gefördert (es gibt natürlich auch eine falsche, und mehr
als genug) als alle Priester und Glaubensbekenntnisse und Kirchen,
die heute existieren oder jemals existiert haben, — trotzdem die
heutzutage herrschende Theorie und Praxis der Poesie ganz ein-
seitig und nur ornamental und elegant ist, — ein Liebesseufzer, ein
•74
Juwel, eine feudalistische Liebhaberei, eine geistreich ersonnene
Geschichte oder eine intellektuelle Finesse, angepaßt dem niedrigen
Geschmack und Maßstab, der immer so ziemlich allgemein gelten
wird — (notwendige Vorstufe zu etwas Höherem),
★
Alle die Sekten, Kirchen und Doktrinen, Tollheiten, Verbrechen,
Fanatismus der Masse und der Einzelnen, so häufig in aller Ge-
schichte, sind in ihrer Art ebenfalls Beweise von der Ursprünglich-
keit und Allgemeinheit des unzerstörbaren Elementes menschlicher
Religiosität und sind nur die Kehrseite davon. Genau so wie
Krankheit der Beweis der Gesundheit und ihre Kehrseite ist . . .
Die Philosophie Griechenlands lehrte die Natürlichkeit und Schön-
heit des Lebens. Das Christentum lehrt Krankheit und Tod er-
dulden. Ich habe mich besonnen, ob sich nicht eine dritte Philo-
sophie entwerfen ließe, die beide verschmelzen und beiden völlig
gerecht werden würde.
★
Die Natur schien mich lange Zeit zu gebrauchen, — als ich selbst
gesund, tüchtig, stark und glücklich war, — damit ich Kraft, Frei-
heit, Gesundheit darstelle. Seit einiger Zeit aber scheint sie zu
glauben, ich könne das alles vielleicht besser sehen und verstehen,
wenn ich dessen größtenteils beraubt wäre
★
Wie schwierig ist es, die Literatur mit irgend etwas Neuem zu
bereichern — und wie unbefriedigend für einen ernsten Geist, nur
dem Vergnügen der Menge zu dienen! (Es scheint mir sogar, sagte
H. Heine, erfrischender, etwas Schlechtes zu vollbringen, als etwas
Nichtiges.)
★
Der Höchste sagte: Laß uns nicht so weit unten beginnen, — ist
unser Grund nicht zu rauh, zu grob? — Die Seele antwortete:
Nein, nicht, wenn wir bedenken, wozu das alles dient, — das Ziel,
in Raum und Zeit verborgen.
★
176
Im Grande sind meine Veröffentlichungen, alle meine Werke,
zweifellos nur Stegreifäußerungen spontaner Persönlichkeit, blind-
lings dem unerforschlichen Rufe folgend, von dieser Persönlichkeit
beherrscht — nur undeutlich, doch entschieden — und fast ohne
alle Planmäßigkeit, Kunst, Bildung usw. Wenn ich mich ent-
schlossen habe, die Zügel, die Leitung in der Hand zu behalten,
so geschah es hauptsächlich, um den unsichtbaren Rossen die
Richtung, den Antrieb, den Weg zu geben. (Ich wollte sehen, wie
ein Mensch in Amerika in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts
erscheinen würde, aber ganz frei und ehrlich, in wahrhaftigem
Abbild.)
INHALT
Einleitung IX
Vorbemerkung i
Vorrede zur Erstausgabe der „Grashalme" 3
Demokratische Ausblicke 20
Tagebuch 1862— 1864 88
Tagebuch 1876— 1882 100
Gesammeltes
Aus der Vorrede zu: „Wie ein starker Vogel auf
Schwingen frei" i56
Eine Notiz auf gut Glück l58
Emersons V^erke (ihre Schatten) 162
Neue Poesie — Kalifornien, Kanada, Texas . . i65
Darwinismus — dann Weiteres 168
Dann Weiteres 169
Unser wirklicher Höhepunkt 170
Aus „Novemberzweige" und „Ade, Phantasie"
Die Arbeitslosen- und Streikfrage 171
Wer bekommt die Beute 172
Führer aus dem wirklichen Volk 178
Letzte Aufzeichnungen 174
Druck der S p a m e r s c h e n B u c h d r u c k e r e i i u Leipzig
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