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Full text of "Walt Whitmans Werk."

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Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2013 


http://archive.org/details/waltwhitmanswerk11whit 


Wtvk 

in   zwei  Bänden 

Erster  Band 
★ 


1932 


S.  FISCHER  /  VERLAG  /  BERLIN 


Ausgewälilt,  übertragen  und  eingeleitet  von 
Hans  Reisiger 


Mit   vier  Bildnissen 


Erste    bis    vierte  Anflag^e 
Alle  Becbte  vorbehalten 


EINLEITUNG 

-  .  .  Vor  all  meinen  hochfahrenden  Gedichten  steht  mein  wahres 
Ich  noch  immer  unberührt,  unausgesprochen, 

Weit  abseits,  meiner  spottend  mit  spöttisch-beglückwünschendem 
Neigen  und  Grüßen, 

Mit  fernher  schallendem,  ironischem  Gelächter  über  jedes  Wort, 
das  ich  schrieb. 


ATLANTISCHE  WIEGE 


Paumanok 
Meerschönheit!  hingestreckt,  besonnt! 

Die  eine  Seite  von  deinem  innern  Ozean  bespült,  voll  reichen  Handels,  Üampt- 

und  Segelschiffen, 

Die  andre  vom  atlantischen  Wind  geküßt,  wild  oder  zart,  —  gewaltige  Rümpfe 

dunkel  gleitend  in  die  Ferne; 
Eiland  voll  süßer  Quellen  trinkbaren  Wassers  —  Boden  und  Luft  gesund! 
Eiland  der  salzigen  Rüste,  Luft  und  Flut ! 

Von  Montauk  Point 
Ich  stehe  wie  auf  eines  mächtigen  Adlers  Schnabel, 
Ostwärts  die  See  einatmend,  schauend  (nichts  als  Himmel  und  See), 
Die  hüpfenden  Wellen,  Schaum,  die  Schiffe  in  der  Ferne, 
Landsüchtige  Unrast  schneegekräuselter  Kronen, 
Die  ewiglich  die  Küsten  sucht. 

Walt  Whitman  wurde  am  3i.  Mai  des  Jahres  1819  auf  der 
Farm  West  Hills  nahe  der  kleinen  Hafenstadt  Huntington  auf  der 
Insel  Long  Island  geboren.  Welcherart  war  das  Fleisch  und 
Blut,  in  dem  diese  neue  Seele  sich  inkarnierte?  und  welcherart 
die  irdische  Umgebung,  in  der  sie  die  Augen  aufschlug  und  heran- 
wuchs? —  Die  Antwort  auf  beide  Fragen  umschließt  ein  mehr- 
fach und  stark  Gedoppeltes. 

Zwei  Blutströme  trafen  sich  in  Walt  Whitman,  beide  pulsierend 
von  Auswandererlust,  von  Drang  nach  neuer  Welt,  beide  kräftig  her- 
vorsprudelnd aus  gesicherter  Scholle,  gespeist  aus  reinen  und  tiefen 
Quellen  gesunder  Geschlechter.  Von  England  her  der  eine :  Bauern- 
blut, gereift  unter  den  freiheitlichen  Strahlen  der  elisabethanischen 
Sonne,  die  damals,  mit  dem  17.  Jahrhundert,  über  dem  Inselreich 
aufstieg  und  unter  deren  Jahrzehnte  währendem  Friedenslicht  die  bis- 
her in  innerer  Zerrissenheit  vergeudeten  Kräfte  zum  erstenmal  in  freu- 
diger Geschlossenheit  und  Tatkraft  nach  außen  hin  gewandt  wurden. 


IX 


Getragen  und  geadelt  war  dieser  Drang  in  die  Welt  durch  den  starken 
und  geraden  Charakter  der  Generation.  Etwas  von  dem  jugendlichen 
Glanz  und  Überschwang,  der  die  wandernden  Goten  umflügelte, 
war  mit  diesen  Männern;  Kameradschaft,  Freigebigkeit,  Ruhm- 
liebe, die  sich  zu  kindlicher  Prahlsucht  steigerte,  gingen  laut  und 
fröhlich  zusammen  mit  tiefer  Frömmigkeit,  mit  glühendem  Glauben 
an  die  freie  Menschennatur,  an  das  eigene  Ich  und  das  der  an- 
deren, mit  einer  Hingabe  an  die  eigenen  Ideale  bis  in  den  Tod. 
Sie  gingen  mit  Lust  in  die  Welt,  weil  sie  ihre  eigene  Welt  mit 
sich  trugen.  So  gründeten  sie  Virginia,  die  erste  Kolonie  zu  Ehren 
der  jungfräulichen  Königin,  und  verpflanzten  die  Keime  zur  Wesens- 
art des  späteren  und  heutigen  Amerikaners  in  die  Neue  Welt.  So 
wandte  sich  eine  ihrer  Scharen  auch  weiter  nördlich  nach  Con- 
necticut. „True  Love",  „Treue  Liebe"  war  der  kindlich-schöne 
Name  des  Schiffes,  mit  dem  sie  über  den  Ozean  fuhren,  und  einer 
der  Ihren  hieß  Zachariah  Whitman  und  war  der  Sohn  des  alten, 
daheimgebliebenen  elisabethanischen  Bauern  Abijah  W^hitman.  Er 
wurde  Prediger  in  Milford,  Conn.,  denn  tatkräftige  Frömmigkeit 
wohnte  in  ihnen  dicht  neben  der  handfesten  Abenteurerlust.  Sein 
Sohn  Joseph  W^hitman  setzte  mit  vielen  anderen  um  1660  über 
den  schmalen  Sund  hinüber  nach  der  Insel,  die  Long  Island  ge- 
tauft wurde.  Dort  hatten  Vorläufer  bereits  ein  Gebiet  den  einge- 
borenen Indianern  um  sechs  Röcke,  sechs  Paar  Schuhe,  sechs  Äxte, 
Perlenschnuren  und  dergleichen  abgekauft  und  an  einer  der  tiefen 
Buchten  das  Hafenstädtchen  Huntington,  zu  deutsch  Jägerstadt, 
gegründet.  Auf  den  Hügeln  südlich  der  Stadt  waren  Farmen  an- 
gelegt worden,  und  eine  von  ihnen,  die  Farm  West  Hills,  erwarb 
Joseph  Whitman. 

Während  des  folgenden  Jahrhunderts  wuchs  diese  elisabetha- 
nische  Erobererrasse,  die  die  Weite  und  Freiheit  des  Atlantischen 
Ozeans  und  die  unbändige  Fruchtbarkeit  des  neuen  Kontinents  in 
der  Brust  trug,  zu  immer  stolzerem  Selbstgefühl,  das  schließlich 
im  Unabhängigkeitskrieg  gegen  das  Mutterland  seinen  Ausdruck 
fand.  Nun  blitzen  die  Waffen  und  donnern  die  Musketen  und 
Kanonen  in  das  Whitmansche  Blut.  Die  Romantik  der  Indepen- 
denten  schlägt  hinein.  Ein  Urenkel  Josephs  fällt  in  der  Schlacht 
bei  Brooklyn,  der  inzwischen  am  Westrande  der  Insel,  New  York 
gegenüber,  emporgewachsenen  Stadt;    die  Nacht  darauf  führt 


X 


Washington  den  Rest  seiner  geschlagenen  Truppen  im  Schutze  des 
Nebels  über  den  East  River.  Ein  anderer  Urenkel,  Jesse  Whitman, 
heiratet  die  Nichte  eines  der  gefürchtetsten  Führer  der  Indepen- 
denten,  des  Majors  Brush,  der  in  englischem  Kerker  verdorrt. 
Jesses  eigene  Mutter  reitet,  braun,  breit,  männisch,  die  qualmende 
Tabakspfeife  zwischen  den  Zähnen,  auf  die  Schlachtfelder  mit  und 
führt,  mit  Flüchen  nicht  sparend,  Büchse  und  Säbel.  Aber  nun 
gleitet  ein  sanfterer  Strom  in  das  Blut.  Jesses  Erwählte  ist  ein  feines, 
damenhaftes  Mädchen  von  stiller  Klugheit.  Eine  Lehrerin.  Sie  so- 
wohl als  ihr  Gatte  neigten  dem  Quäkertum  zu,  und  beide  waren 
herzlich  befreundet  mit  dem  damaligen  Führer  dieser  Sekte,  Elias 
Hicks.  Und  so  hielt  es  auch  Walter  Whitman,  einer  von  Jesses 
vielen  Söhnen,  der  Vater  Walt  Whitmans. 

Walter  Whitman,  1789  geboren,  erbte  die  Farm  West  Hills. 
Er  erlernte  jedoch  in  New  York  auch  das  Handwerk  eines  Zimmer- 
manns und  baute  Holzhäuser  und  Scheunen.  Er  war  ein  Riese  an 
Gestalt,  wortkarg,  ernst,  verschlossen,  von  kindlicher  Unbeholfen- 
heit in  Umgang  und  Gespräch,  tüchtig  in  seiner  Arbeit,  aber 
nicht  gerade  von  glücklicher  Hand  in  seinen  Geschäften,  eigen- 
sinnig und  zuweilen  jähzornig.  Das  starke  Blut  seiner  Rasse  scheint 
in  ihm  zu  einem  gewissen  Stillstand  gekommen  zu  sein,  und  es 
bedurfte  eines  anderen,  heißeren  und  tieferen  Zustroms,  um  die 
Mischung  zustande  zu  bringen,  aus  der  der  größte  Dichter  und 
Verkünder  einer  neuen  Welt  geboren  werden  konnte. 

Dieser  andere,  mütterliche  Strom  hatte  seine  gesunde  Quelle  in 
Holland.  Die  Holländer  hatten  die  Stadt  New-Amsterdam,  das 
spätere  New  York,  gegründet  und  waren,  ebenfalls  um  die  Mitte 
des  17.  Jahrhunderts,  auch  auf  die  Insel  Long  Island  hinüber- 
gekommen und  waren  so,  von  Westen  nach  Osten  vorrückend,  dem 
englisch-puritanischen  Einwandererstrom,  der  von  Norden  her 
kam,  begegnet.  Ihre  Farmen  grenzten  an  die  Farmen  des  Gebietes 
von  Huntington,  und  der  Major  Cornelius  van  Velsor  war  der 
Nachbar  der  Whitmans  auf  West  Hills. 

Ein  helles  Licht  breiter  Behaglichkeit  liegt  über  diesen  besitzes- 
frohen Familien,  und  die  ganze  duftende  Frische  und  Sauberkeit 
Hollands.  In  ihren  schmucklos  freundlichen  Heimstätten  mit  den 
blankgescheuerten,  mit  weißem  Sand  bestreuten  Dielen,  mit  ihrem 
Zinngerät  und  ihren  berühmten  Punschen  hausten  sie  auch  in  der 


XI 


neuen  Heimat  voll  unerschütterlicher  Ruhe,  Gesundheit,  Bedacht- 
samkeit und  Tüchtigkeit,  in  rotbäckigem  Selbstgefühl  und  Eigen- 
sinn. Hinter  unbewegten,  massigen  Gesichtern  saugten  sie  mit 
stillen,  hellblauen,  kleinen  Augen  in  aller  Ruhe  die  Erscheinungen 
der  Welt  in  sich  und  verarbeiteten  sie  in  einem  Innern,  das  sich 
nnerwarteterweise  gern  dem  Übersinnlichen  öffnete  —  ein  Zug,  der 
sich  bei  den  in  Amerika  geborenen  Holländern  noch  verstärkte. 

Die  Staaten  New  York  und  Pennsylvania  sind  noch  heute  tief 
von  diesem  holländischen  Blut  durchsetzt.  Es  bildete  den  tüch- 
tigen Grundstoff,  mit  dem  sich  alle  die  just  in  diesen  Staaten  hin- 
zukommenden unsteten  und  leidenschaftlichen  Elemente  zu  einer 
lebenskräftigen  Mischung  verbinden  konnten.  Zumal  in  den  dor- 
tigen Landgemeinden  bildet  die  Bevölkerung  holländischen  Blutes 
den  festen  Kern.  Und  in  den  Städten  New  York,  Brooklyn,  Albany 
gilt  holländische  Abstammung  als  eine  Art  Adelsbrief. 

Der  Major  Cornelius  van  Velsor  war  ein  Urbild  des  Holländers, 
wohlbeleibt,  behaglich,  rotbäckig.  Wenn  er  mit  seiner  Tochter 
Louisa  durch  die  Felder  ritt,  so  konnte  sie  niemand  sehen,  ohne 
die  beiden  sogleich  an  Gestalt,  Gesicht  und  Farbe  als  Holländer 
zu  erkennen.  Und  dennoch  hatte  diese  Tochter  noch  ein  anderes, 
leidenschaftlicheres,  unruhigeres  Blut  in  sich. 

Die  Gattin  des  Majors  und  Mutter  Louisas  war  Naomi  Williams. 
Sie  war  ein  Kind  des  großen  wallisischen  Geschlechts  der  Williams, 
das  seit  alters  der  Seefahrt  verschworen  war.  Ihr  Vater,  Kapitän 
John  Williams,  fand  seinen  Tod  in  der  See.  Ebenso  sein  einziger 
Sohn.  Die  Walliser  waren  von  jeher  eine  geistig  bewegte,  phantasie- 
volle Rasse,  durch  deren  Sinn  und  Blut  das  Meer  sicherlich  mit 
ganz  anderem,  dämonischerem  Wellenschlag  rauschte  als  durch 
das  der  schwergewichtigen  Holländer.  Und  vielleicht  wurde  in 
den  Seelentiefen  dieses  Geschlechts  der  erste  Funke  geschlagen  zu 
der  schöpferischen  Flamme,  die  in  Walt  Whitmans  Brust  aus- 
brach. Und  die  See,  deren  Rauschen  ihm  zwischen  Kindheit  und 
Mannheit  zu  so  gewaltiger,  mystischer  Stimme  anschwoll,  hatte 
vielleicht  in  noch  gebrochenen  Lauten  ihr  Geheimnis  von  Leben 
und  Tod  schon  in  diese  ruhelosen  Seelen  gelallt. 

Inbrünstiger  sicherlich  auch  als  die  von  alters  landsässigen  Whit- 
mans hatten  diese  Williams  sich  dem  Quäkertum  zugewandt,  und  die 
freie  Lehre  vom  „inneren  Licht"  mag  ihnen  in  den  Einsamkeiten 


XII 


Loiilsa  (Van  Velsor)  Whitman 


des  Weltmeers  zu  einem  um  so  innigeren  Besitz  geworden  sein, 
wenngleich  der  Kapitän  John  Williams,  wahrscheinlich  wegen 
seiner  Heirat  mit  einer  Nicht-Quäkerin,  aus  der  Sekte  austrat. 

Vielleicht  war  es  zu  einem  Teil  die  gemeinsame  Neigung  zu 
dieser  Lehre,  die  den  stillen  Riesen  Walter  Whitman  mit  der 
Tochter  seines  Nachbarn,  der  ^4  j^J^i^S^'^  Louisa  van  Velsor,  in 
tieferem  Sinne  zusammenführte.  Er  vermählte  sich  mit  ihr  im 
Jahre  1816  und  hauste  zunächst  sieben  Jahre  lang  auf  seiner 
Farm.  Schon  während  der  ersten  Jahre  baute  er,  unweit  von  dem 
alten  W^hitmanschen  Stammhaus,  ein  neues  Wohnhaus,  das  noch 
heute  steht:  ein  kleines,  behagliches,  zweistöckiges  Haus,  das  von 
den  freundlich  braunen  Scheunen  und  Schuppen  der  Farm  um- 
geben ist.  Hier  wurde  ihm  nach  dreijähriger  Ehe  sein  zweiter 
Sohn  geboren,  der  nach  dem  Vater  Walter,  abgekürzt  Walt,  ge- 
nannt wurde. 

Walt  Whitman  war  einer  der  begnadeten  Menschen,  die  bis  in 
ihr  hohes  Alter  in  eine  starke  und  warme  Muttersphäre  geborgen 
bleiben.  Inmitten  aller  wilden  und  herrlichen  Gesichte  und  Lei- 
denschaften der  freien,  vielgestaltigen  Welt,  die  ihm  an  die  ein- 
same Brust  stürmten,  war  in  ihm  doch  allezeit  das  unsichtbare 
Kinderlächeln  der  Zugehörigkeit  zu  der  Wesenheit,  aus  der  er  ge- 
boren war  und  zu  der  er  sich  nur  zurückzuwenden  brauchte,  um 
immer  wieder,  trotz  Furchen  im  Antlitz  und  grauem  Haar  und 
Bart,  wie  ein  Knäblein  in  sie  einzugehen.  Die  Blutwärme  seiner 
freudigen  Verkündung  einer  schönen,  stolzen,  „athletischen", 
„elektrischen"  Menschheit,  die  keusch,  zärtlich,  mitfühlend  wäre 
und  „strömend  wie  die  Natur",  stammt  gleichsam  unmittelbar  aus 
dem  Mutterschoß,  aus  dem  er  selber  ins  Leben  gehoben  worden : 
„wohlgezeugt  und  aufgezogen  von  einer  vollkommenen  Mutter". 
Mütter  gebären  Männer,  und  herrliche,  liebesstarke,  an  Seele  und 
Leib  wohlgestaltete  Mütter  zu  schaffen,  ist  ihm  das  ürgebot  einer 
neuen  Menschheit.  Der  Mutterschoß  ist  die  Pforte,  an  der  sich 
die  zahllosen  Keime  zu  neuen  Saaten  drängen,  und  in  alle  Welten- 
zukunft hinein  ringt  sich  Geburt  aus  Geburt  und  Wiedergeburt, 
immer  neues  Sein  aus  Muttersphären  hervor. 

Vor  der  Mutter  ist  das  Kleinste  groß  und  das  Größte  und  Dä- 
monischste kindlich  schlicht  und  natürlich  wie  ein  Blick  oder 
Kuß.  Vielleicht  strömt  ein  Teil  der  Kraft,  mit  der  Whitman  selber 


alles  in  der  Welt,  Großes  wie  Kleines,  umfaßt  und  durch  die 
Macht  der  Liebe  lebendig  miteinander  verbrüdert  und  gleichmacht 
—  vielleicht  strömt  ein  Teil  dieser  Kraft  aus  dem  Glück  der  Gleich- 
berechtigung aller  seiner  eigenen  Wesensseiten ,  Gedanken  und 
Werke  vor  der  mütterlichen  Liebe.  Und  seine  Zurückweisung 
alles  Sichduckens  und  Schämens  in  den  Seelen  der  Menschen  war 
so  stark  und  ruhevoll  entschieden,  weil  er  selber  nie  in  seinem 
Leben  über  irgend  etwas,  was  in  ihm  sich  regte,  jene  blasse  und 
scheue  Zerknirschung  zu  fühlen  gebraucht,  die  dem  aufrechten 
Wachstum  so  sehr  schadet:  Denn  vor  dem  verstehenden  und  adeln- 
den Blick  der  Mutter  hatte  es  immer  wie  ein  offenes  Buch  ge- 
legen. Und  obwohl  nur  wenige  der  Psalmenstrophen  seiner  Gesänge 
unmittelbar  an  seine  Mutter  gerichtet  sind,  lebt  doch  der  Gedanke 
reiner  und  hoher  Mutterschaft  so  stark  durch  sein  ganzes  Werk 
hindurch,  daß  man  es  beinahe  in  seiner  Gesamtheit  als  ein  einziges 
großes  Weihelied  an  die  Gebärerin  ansehen  kann,  an  „das  har- 
monische Wesensbild  der  Erde,  die  Vollendung,  über  die  keine 
Philosophie  hinausgehen  kann,  noch  will,  die  rechte  Mutter  der 
Menschen " . 

Schauen  wir  so  klar  in  die  Tiefe  des  Wesenthehen,  so  will  es 
nicht  viel  bedeuten,  daß  wir  nur  wenig  Einzelheiten  aus  dem 
Leben  von  Louisa  Whitman  wissen.  Die  sie  gekannt  haben,  schil- 
dern sie  als  eine  übermittelgroße,  sehr  wohlgebaute,  reiche  An- 
ziehungskraft ausströmende  Frau,  allezeit,  bis  in  ihr  hohes  Alter, 
von  jenem  wundervollen,  unbestimmbaren  Hauch  reiner  Frische 
umgeben,  der  auch  Walt  Whitman  so  besonders  zu  eigen  war. 
Sie  vereinte  in  sich  die  ernste  Würde  und  Zurückhaltung  ihrer 
Quäkerin-Mutter  mit  der  vollblütigen  Heiterkeit  des  alten  Majors 
Kate  (Cornelius)  van  Velsor.  Sie  war  eine  ausgezeichnete  Reiterin 
und  verstand  sich  gut  aufs  Erzählen  und  Schildern,  wogegen  Lesen 
und  Schreiben  nicht  so  recht  ihre  Sache  war  und  ihr  Mühe  machte. 
Ihr  ovales,  von  dunklem  Haar  und  schneeweißer  Haube  umrahmtes 
Gesicht  war  immer  von  einem  verhaltenen,  stillen  Humor  er- 
leuchtet. Sie  schenkte  ihrem  Manne  acht  Kinder*  und  wurde 
nahezu  achtzig  Jahre  alt,  in  fast  vollkommener  Gesundheit,  in  allen 

•  Jesse,  geb.  1818,  Walt,  geb.  1819,  Mary  Elisabeth,  geb.  1821,  Hannah 
Louisa,  geb.  1823  (Wal ts  Lieblingsschwester),  Andrew,  geb.  1827,  George,  geb.  1829, 
Thomas  Jefferson,  geb.  i833,  und  Edward,  geb.  i835. 


XIV 


Sorgen  und  erschütterndem  Erleben  tätig  und  liebevoll  bis  an 
ihren  Tod  (iSyS). 

Die  Landschaft,  in  die  die  Augen  des  Kindes  blickten,  war  die 
einer  Insel  am  Rande  des  Weltmeers  und  am  Rande  einer  neuen 
Welt. 

Long  Island  streckt  sich  von  der  Rucht  von  New  York  aus  von 
Westen  nach  Osten  200  km  lang  und  durchschnittlich  20  km  breit 
in  den  Atlantischen  Ozean.  Es  ähnelt  der  Gestalt  eines  Fisches; 
„fishshaped  Paumanok",  „fischförmiges  Paumanok",  nennt  es  Whit- 
man  selbst  mit  dem  seither  berühmt  gewordenen  alten  indiani- 
schen Namen :  das  westliche,  New  York  anblickende  Ende,  aul 
dem  Rrooklyn  liegt,  stellt  den  Kopf  dar,  und  das  östliche  Ende 
spaltet  sich,  als  Schwanz,  in  zwei  Halbinseln,  deren  südliche  der 
Ausläufer  der  Hügelkette  ist,  die  sich  als  Rückgrat  durch  die  ganze 
Insel,  der  Nordküste  entlang,  hinzieht  und  in  einem  kühnen  Vor- 
gebirge, Montauk  Point,  ins  Meer  springt,  von  einem  Leuchtturm 
gekrönt. 

An  einer  der  zahlreichen  Ruchten  dieser  hügligen  Nordküste  liegt 
die  kleine  Stadt  Huntington  und  oberhalb  von  ihr,  auf  den  Hügel- 
hängen, die  Farm  West  Hills.  Hier  ist  das  Land  fruchtbar  und 
reich,  während  nach  Süden  hin  die  Höhenkette  in  gelinde  ab- 
fallende sandige  Flächen  verebbt,  die  zum  Teil  von  Kiefern  und 
kargem  Graswuchs  bedeckt  sind  und  in  breiten,  seichten  Lagunen 
enden,  die  die  Heimat  der  Heerscharen  von  Wasservögeln  und 
Fischen  sind.  Ihnen  vorgelagert  leuchtet  ein  schmaler  Streifen 
Sandes,  eine  Art  Lido,  aus  dem  Meere,  auf  den  die  atlantischen 
Sturm  wogen  herabdonnern.  Hier  an  den  Südbuchten  der  Insel 
wohnt  eine  ozeanisch  abgehärtete  Rasse  von  Fischern,  die  auch 
Hummern-,  Austern-  und  Muschelfang  treiben. 

Vor  der  europäischen  Resiedelung  war  Paumanok  von  Rothäuten 
bewohnt,  die  in  den  Wäldern  mit  den  Wölfen  um  die  Wette 
jagten.  Robben,  Schildkröten,  Schw^ertfische,  Pelikane  bevölkerten 
das  langgestreckte,  einsame  Gestade,  aus  den  atlantischen  Gewässern 
stiegen  die  Fontänen  der  Walfische,  und  Wracks  gestrandeter 
Schiffe  moderten  in  den  sumpfigen  Buchten. 

Mit  der  Triebkraft  der  Rassen  im  Blut,  die  sich  eine  neue  Welt 
suchten  und  zähmten,  wuchs  W^alt  Whitman  hier  unter  einem 
weithin  freien  Meereshimmel  zwischen  Hügeln  auf,  die  das  ewige 


XV 


atlantische  Rauschen  wie  Muschehi  in  sich  fingen  —  auf  einer 
noch  von  ürfrische  betauten  Insel,  die  von  den  glühenden  Sommei- 
sonnen  dieser  Zone  (Long  Island  liegt  auf  der  Breite  Neapels!)  be- 
strahlt und  von  gewaltigen  Winterstürmen  umbraust  wurde.  Wohl 
ein  Schauplatz  für  den  Neubeginn  einer  von  starkem,  frommeui 
Staunen  über  ihr  eigenes  Erstlingsdasein  auf  dieser  wunderbaren 
Welt  bebenden  Seele;  ein  aus  der  wirren  Fülle  der  Alten  Welt 
abgerückter  Vorposten  vor  neuen  Horizonten,  wohl  geeignet,  um 
von  ihm  aus  auf  beide  Welten  und  auf  das  eine  große  Daseins- 
wunder den  neugeborenen  Blick  Adams  zu  werfen  und  sich  die 
Lungen  zu  füllen  mit  der  Witterung  einer  neuen  Menschheitsluft. 

Eine  üppige  Natur  drängte  sich  zwischen  den  ewig  brandenden 
VV^assern  dem  Kinde  ans  Herz  mit  den  tausendfältigen  Formen 
ihrer  belebten  und  unbelebten  Wesen.  Ein  Paradies  von  Blumen 
wuchs  um  die  Wege  der  alten  Farm.  Eichen,  Kastanien,  Zedern, 
Akazien,  Nußbäume  umrauschten  sie.  Kohl-  und  Maisfelder  leuch- 
teten ihm  in  die  Augen.  Weinberge  glühten  auf  den  Höhen.  Zahl- 
lose Grillen  geigten,  Füchse  schnürten  zwischen  den  Feldern,  hun- 
dert Vogelarten  pfiffen  und  flöteten  in  den  Hecken  und  Wipfeln. 

Auf  einem  wildbewachsenen  Hügel  nahe  dem  alten  Stammhaus 
lagen  die  grauen,  inschriftlosen  Grabsteine  der  Whitmans,  bei  denen 
der  Knabe  oftmals  im  ersten  grünen  Dämmer  des  Lebens  zwischen 
den  Denkmälern  des  Todes  saß. 

Long  Island  blieb  die  eigentliche  Heimat  Walt  Whitmans  wäh- 
rend seines  ganzen  Lebens,  abgesehen  von  zwei  größeren  Reisen 
in  das  Innere  Amerikas  und  von  den  Jahren  des  Sezessionskrieges, 
die  ihn  nach  Washington  und  auf  die  südlichen  Schlachtfelder 
führten.  Während  dieses  78  jährigen  Lebens  sah  er  die  zerstreuten, 
durch  widerstrebende  Interessen  zerrissenen  Staaten  zu  einer  mäch- 
tigen Nation  zusammenwachsen,  deren  Bevölkerung  bei  seinem 
Tode  fast  siebenmal  so  groß  war  wie  in  seiner  Kindheit.  Auf  seiner 
Insel  selber  durchlebte  er  den  gewaltigen  Prozeß  des  Herauswach- 
sens der  amerikanischen  Großstadt  aus  dem  Lande.  Er  sah  Brooklyn, 
in  seiner  Kinderzeit  eine  mittlere  Landstadt  am  Westende  von 
Long  Island,  während  der  folgenden  Jahre  anschwellen  und  sich 
mit  dem  gegenüber,  jenseits  des  East  River,  liegenden  New  York 
zu  einer  menschenwimmelnden,  brausenden  Stadteinheit  von  nie 
gesehener  Lebens-  und  Arbeitskraft  zusammenschweißen. 


XVI 


In  den  werdenden  Städten  Amerikas  atmete,  stärker  als  in  euro- 
päischen Städten,  die  Kraft  des  Landes.  Keinerlei  drückende  Luft 
von  Überlieferung  und  Vergangenheit  lag  auf  ihnen;  alles  war 
selbstgeschalfen  und  für  jeden;  und  hier,  im  dichteren  Gedränge 
jugendlich  rücksichtslosen  materiellen  Wettstreits,  blitzte  die  eigen- 
tümliche amerikanische  Idealität,  aus  freien  Horizonten  sich  zu- 
sammenballend, nur  um  so  blanker  und  leidenschaftlicher  auf. 

In  der  starken  Brust  Walt  Whitmans  selber  wurde  alle  Fülle 
städtischen  Gewühls  gleichsam  durch  das  reine,  gesunde  Gewebe 
landgeborner  Wesenheit  hindurchgefiliert.  Er  war  ein  lebendiges 
Teil  in  dem  gewaltigen  amerikanischen  Epos  von  Stadt  und  Land. 
W^as  ihm  in  die  Ohren  brauste  und  in  die  Augen  drängte,  dröhnende 
Straßen,  Tausende  von  Gesichtern  und  Gestalten,  von  Seelen,  die 
ihn  anblickten,  verbrüderte  sich  in  ihm  mit  dem  nie  verstummenden 
Rauschen  von  See  und  Wald  und  dem  Licht  unendlichen  Himmels 
zu  dem  Gefühl  von  dem  einen  freudigen  Wunder  alles  Lebens. 


11    Whitman  J 


/WISCHEN  STADT  UND  l.AND 


M  a  u  n  a  1  r  ;i  1 1  a 
Rechter  und  edler  ^anu;  meiner  Stadt, 

üreingeborener  Schöpfungsname  voller  Schönheit,  dessen  Sinn  ist: 
Felsgegründetes  Eiland, 

Küsten,  wo  allzeit  fröhlich  schlagen  her  und  iiin  die  hurtigen  Wogen  der  See. 


Schon  im  Jahre  i8a3,  im  Mai,  kurz  vor  VValts  viertem  Geburts- 
tag, gab  sein  Vater  die  Farm  West  Hills  auf  und  zog  mit  seiner 
Familie  nach  Brooklyn,  das  damals  noch  eine  rechte  Landstadt  mit 
großen  Ulmen  an  den  Straßen  und  mit  Ziegel-  und  Holzhäusern 
war.  Bereits  während  des  ersten  Jahres,  das  die  Whitmans  dort 
verbrachten,  wuchs  die  Stadt  um  i5o  Häuser,  an  deren  Bau  Walter 
VVhitman  als  Zimmermann  sich  beteiligte. 

Ein  lebhaftes  Hin  und  Her  von  Fährbooten  vermittelte  den  Ver- 
kehr zwischen  Brooklyn  und  dem  größeren  New  York,  mit  dem 
es  damals  noch  nicht  durch  die  berühmten  beiden  riesigen  Brücken 
verbunden  war.  Hier  am  Wasser  trieb  sich  der  heranwachsende 
Knabe  mit  stiller,  schaulustiger  Begeisterung  herum,  und  bis  in 
sein  hohes  Alter  blieben  die  Fähren  eine  besondere  Liebe  Whit- 
mans, die  in  einem  seiner  schönsten  Gesänge,  „Auf  der  Brooklyn- 
Fähre",  ihren  starken,  mystisch  durchleuchteten  Ausdruck  fand. 

Im  August  1894  feierten  die  beiden  Schwesterstädte  den  Besuch 
des  Generals  Lafayette,  und  es  wird  erzählt,  daß  der  alte  Freiheits- 
held bei  der  Grundsteinlegung  einer  Bibliothek  in  Brooklyn  den 
kleinen  Walt,  der  im  Gedränge  eingepfercht  stand,  liochgehoben 
und  geküßt  habe. 

Mit  sechs  Jahrea  besuchte  Walt  die  öffentliche  Schule  in  Brook- 
lyn und  die  Sonntagsschule.  In  den  Sommerferien  verbrachte  er 
mit  seinen  Geschwistern  manche  Tage  auf  dem  Lande,  in  der  Um- 
gebung der  alten  Heimat  West  Hills. 


XVIII 


Es  liegt  im  tiefsten  Wesen  Walt  Whitmans,  daß  der  dämmrige 
Wunderglanz  der  Kindheit,  der  Glanz  des  ersten  wonnigen  Staunens 
über  das  Sein  nie  in  ihm  erlosch;  daß  sich  niemals  in  seiner  wSeele 
die  Tore  schlössen,  die  den  meisten  Menschen,  ehe  sie  sich  noch 
dessen  versehen,  eines  Tages  mit  häßlichem  Alltagsknarren  die  Be- 
reiche der  Frühe  versperren  und  sie  zu  Gefangenen  machen  in 
einer  entzauberten  Welt,  in  der  alle  Dinge  durch  die  furchtbare, 
zähe  Macht  der  Gewöhnung  verdorren  und  die  Seele  nur  dumpf 
von  Augenblick  zu  Augenblick  hastet  oder  schleicht.  Inmitten 
eines  Daseins,  vor  dem  wir  stündlich  bis  ins  Herz  vor  Staunen 
beben  müßten,  ringt  sich  diese  heilige  Kraft  nur  schwer  aus  den 
mißbrauchten  Seelen,  und  sie  wissen  den  Erstlingsglanz  nicht  mehr 
zu  finden,  in  dem  ihnen  doch  einmal  Blume  oder  Vogel,  Wind 
oder  Stille,  Nähe  und  Weite,  das  Lebende  um  sie  her  und  ihr 
eigenes  Ich  erschien.  Die  Kraft  des  Staunens,  die  die  höchste  Kraft 
der  Menschenseele  und  die  Quelle  aller  Religion  und  alles  Schöpfe- 
rischen ist,  wuchs  in  Walt  Whitman  ungebrochen  und  unverengt 
aus  dem  Blut  seiner  Kindheit  in  das  Blut  seiner  Mannheit;  dieses 
Staunen  der  Seele,  das  zugleich  Ruhe  und  Geborgenheit  just  im 
Unbegreiflichen  ist,  dem  man  doch  für  ewig  zugehört. 

So  fluten  auch  allenthalben  aus  der  Dichtung  Walt  Whitmans 
ungebrochene  Strahlen  in  die  wonnevollen  Dämmergründe  seiner 
Kindheit  zurück,  und  die  ratlosen  Kindertränen,  die  der  Knabe 
vor  der  einsamen  Gewalt  der  Nacht  und  des  unendlichen,  finstern 
Meeres  bei  den  nur  halb  verstandenen  Liebes-  und  Todesklagen 
der  Drossel  geweint,  funkeln  wie  Tau  über  den  Gesängen  des  Mannes. 

Tief  und  reich  und  leidenschaftlich  ist  das  Erleben  jedes  Kindes, 
und  wem  es  nicht  späterhin  durch  die  karge  Grellheit  des  Alltags 
ausgelöscht  wird,  dem  pulsiert  es  im  Blut  bis  in  den  Tod.  Und 
müßig  die  Frage  herkömmlicher  Lebensbetrachtung,  „ob  damals 
schon?"  und  dergleichen.  Kann  ich  von  meiner  Kindheit  in  Zungen 
reden,  so  bin  ich  Kind  und  Mann  in  einem,  eine  leibgewordene, 
ungebrochene  Seele. 

Es  war  ein  Kind,  das  ausging  jeden  Tag, 
Und  was  es  zuerst  erblickte,  das  wurde  es, 

Und  das  wurde  ein  Teil  von  ihm  für  den  Tag  oder  für  einen  Teil  des  Tags 
Oder  für  viele  Jahre  oder  weite  Kreise  von  Jahren. 


II* 


XIX 


Der  frühe  Flieder  wurde  ein  Teil  dieses  Kinds, 

Und  Gras  und  weiße  und  rote  Winden  und  weißer  und  roter  Klee 

und  das  Lied  des  Phoebevogels, 
Und  die  Lämmer  des  dritten  Monds  und  der  hellrosa  Wurf  der  Sau, 

das  Fohlen  der  Stute,  das  Kalb  der  Kuh, 
Und  die  lärmende  Brut  im  Farmhof  oder  am  sumpfigen  Rand  des 

Teichs, 

Und  die  Fische,  die  so  seltsam  da  unten  schwebten,  und  das  schöne, 
seltsame  Naß, 

Und  die  Wasserpflanzen  mit  ihren  flachen  lieblichen  Köpfen,  alle 
wurden  sie  Teile  von  ihm. 

Die  sprießende  Saat  des  vierten  und  fünften  Monats  wurde  Teil  von 
ihm, 

Sprossen  der  Wintersaat  und  hellgelben  Korns  und  die  eßbaren  Wur- 
zeln im  Garten, 

Und  die  Apfelbäume,  bedeckt  mit  weißem  Blust  und  die  Früchte  her- 
nach und  Waldbeeren  und  das  gewöhnlichste  Unkraut  am  Wege, 

Und  der  alte  Trinker,  der  aus  dem  Wirtshaus  nach  Hause  schwankte, 
wo  er  bis  spät  am  Abend  gehockt, 

Und  die  Schullehrerin,  die  vorbeiging  auf  ihrem  Weg  zur  Schule, 

Und  die  freundlichen  Knaben,  die  vorbeigingen,  und  die  zänkischen 
Knaben, 

Und  die  säubern,  frischwangigen  Mädchen  und  der  barfüßige  Neger- 
knabe mit  seiner  Schwester, 
Und  all  der  Wechsel  von  Stadt  und  Land,  wohin  immer  es  kam. 

Seine  eigenen  Eltern,  der  Vater,  der  es  erzeugt,  und  sie,  die  ihn 

empfangen  in  ihrem  Schoß  und  ihn  geboren, 
Sie  gaben  dem  Kinde  mehr  von  sich  selbst,  als  dies, 
Sie  gaben  ihm  auch  später  noch  täglich  von  sich,  sie  wurden  Teil 

von  ihm. 

Die  Mutter  daheim,  die  die  Speisen  still  auf  den  Abendtisch  setzte. 
Die  Mutter  mit  milden  Worten,  mit  sauberer  Haube  und  sauberem 

Gewand,  der  frische  Duft,  der  von  ihr  und  ihren  Kleidern  wehte, 

wenn  sie  vorbeiging. 
Der  Vater,  stark,  selbstgenügsam,  männlich,  böse,  ärgerlich,  ungerecht. 


XX 


Der  Streit,  das  schnelle,  laute  Wort,  Rede  und  Widerrede, 

Die  häuslichen  Gepflogenheiten,  die  Sprache,  die  Geselligkeit,  der 

Hausrat,  das  sehnsüchiig  schwellende  Herz, 
Zärtlichkeit,  die  sich  nicht  scheut,  sich  zu  zeigen;  die  Empfindung 
der  Wirklichkeit  und  der  Gedanke,  ob  sie  am  Ende  vielleicht  un- 
wirklich sei. 

Die  Zweifel  bei  Tag  und  die  Zweifel  bei  Nacht,  das  wunderliche  Ob 
und  Wie, 

Ob  das,  was  so  erscheint,  auch  so  ist,  oder  sind  es  alles  nur  Blitze 
und  Flecken? 

Männer  und  Frauen,  die  schnell  in  den  Straßen  drängen,  sind  sie 

nicht  Blitze  und  Flecken,  was  sind  sie  dann? 
Die  Straßen  selber  und  die  Fassaden  der  Häuser,  und  Waren  in  den 

Fensrern, 

Fahrzeuge,  Gespanne,  die  aus  schweren  Balken  gefügten  Werften,  das 

gewaltige  Hin  und  Her  der  Fähren, 
Das  Dorf  auf  den  Höhen,  von  fernher  leuchtend  im  Sonnenuntergang 

der  Fluß  dazwischen, 
Schatten,  Aureole  und  Dunst,  das  Licht,  das  auf  weiße  und  braune 

Dächer  und  Giebel  fällt,  zwei  Meilen  weit  entfernt, 
Der  Schoner  nahebei,  der  schläfrig  mit  der  Flut  treibt,  das  kleine 

Boot  dahinter  an  losem  Tau, 
Die  hurtigen,  sich  überstürzenden  Wellen, 

Die  Schichten  buntfarbiger  Wolken,  der  lange  bräunliche  Streifen 
einsam  für  sich,  das  Stück  klaren  Himmels,  darin  er  regungslos 
liegt. 

Der  Rand  des  Horizontes,  die  fliegende  Seekrähe,  der  Duft  von  salziger 

Marsch  und  Uferschlamm, 
Sie  alle  wurden  Teil  des  Kinds,  das  ausging  jeden  Tag,  und  jetzt 

noch  geht,  und  gehn  wird  jeden  Tag  in  Ewigkeit. 

Stärker  und  schlichter  als  in  den  letzten  Zeilen  dieses  Gesanges 
läßt  sich  die  fortlaufende  Einheit  staunenden  Schauens  durch  das 
ganze  Sein  hindurch  nicht  ausdrücken.  Das  Schauen  weitet  sich 
dem  Mann  über  die  Welt  der  Kindheit  hinaus,  umfaßt  die  ganze 
Erde  und  alle  Räume,  in  denen  andere  Sonnen  und  Erden  rollen, 
und  umfaßt  die  Unendlichkeit,  deren  Geheimnis  alles  Sichtbare 
durchdringt  und  trägt.    Aber  die  Seele  dieses  Schauens  bleibt 


XXI 


dieselbe  und  das  Allernächste  und  Alltäglichste  wird  nicht  \vunder- 
loser,  sondern  immer  tiefer  eingebettet  in  das  Wunder  des  ganzen 
Seins.  Der  rätselhafte  Wesenshauch,  der  die  bräunliche  Wolken- 
bank im  klaren  Himmelssee  umwittert,  bleibt  derselbe  Hauch  Gottes, 
der  um  die  Toten  streicht,  die  das  Auge  des  Dichters  mitten  im  Ge- 
dränge des  Lebens  in  Schwärmen  schaut,  oder  der  um  die  heißen 
Leiber  von  Mann  und  Weib  duftet,  die  sich  in  den  Schauern  der 
Zeugung  vereinen. 

Quäkerinbrunst  erschütterte  auch  den  Knaben.  Seine  Eltern, 
obwohl  der  Sekte  der  „Freunde"  nicht  zugehörig,  standen  ihrer 
Lehre  doch  aus  freier  Neigung  jederzeit  nahe  und  bewahrten  ihrem 
damaligen  Oberhaupt,  Elias  Hicks,  die  Freundschaft,  die  schon  den 
Großvater  Whitman  mit  ihm  verbunden  hatte.  Der  leidenschaft- 
liche alte  Hicks  verteidigte  zu  jener  Zeit  die  alte,  volle  Freiheit  der 
Lehre  gegen  die  orthodoxere  Richtung  des  Quäkertums.  Die  Bibel- 
lehren und  die  Gestalt  Christi  selbst  nahm  er  nur  als  etwas  Ge- 
schichtliches, das  erst  aus  dem  eigenen  Innern  einer  jeden  einzelnen 
Menschenseele  neugeboren  und  verwirklicht  werden  müsse.  In 
jedem  Menschen,  lehrte  er,  wohnt  Gott,  und  muß  von  jedem  ins 
Bewußtsein  emporgehoben  werden.  Ein  jeder  muß  sein  „inneres 
Licht"  zum  leuchten  bringen.  Aber  eben  dieses  in  kühner  Freiheit 
von  allen  Dogmen  entzündete  Einzellicht  vereint  sich  dann  in  natür- 
licher Gemeinschaftskraft  mit  dem  Geisteslicht  aller  Weesen  und 
Dinge;  denn  der  Geist  ist  ein  und  derselbe  in  allen. 

Der  greise  Begeisterte  mußte  im  Jahre  1828  der  bibelstrengeren 
Richtung  weichen  und  wurde  aus  der  Sekte  ausgestoßen.  Kurz  da- 
nach, etwa  drei  Monate  vor  seinem  Tode,  predigte  er  zum  letzten 
Male  im  Ballsaal  von  Worrisons  Hotel  auf  der  Brooklyn-Höhe  vor 
einer  dichtgedrängten  Menge,  unter  der  sich  auch  die  Eltern  Whit- 
mans  und  er  selber,  der  neunjährige  Knabe,  befanden. 

Es  ist  mehr  als  eine  anekdotische  Kuriosität,  wenn  sich  dem 
Knaben  die  Erscheinung  des  mächtigen,  tiefbewegten  alten  Pre- 
digers unvergeßlich  ins  Gedächtnis  prägte.  Indem  seine  des 
Schauens  schon  so  frohen  Augen  die  gebieterische,  in  Quäkertracht 
gekleidete  Gestalt,  das  verzückte  Antlitz  mit  dem  glattgescheitelten 
langen  Haar,  der  hohen  Stirn  und  der  Habichtsnase  in  sich  tranken 
und  seine  Ohren  die,  wenn  auch  vielleicht  noch  unverstandenen, 
glühenden  Worte  über  „die  Bestimmung  des  Menschen"  aufsogen, 


xxn 


wurde  ihm  zum  erstenmal  dunkel  und  feurig  das  Herz  erschütteri 
von  der  Persönlichkeitsgewalt  eines  hohen  Menschen  und  von  dem 
Anspruch  letzter,  innigster  Freiheit  der  eigenen  Seele. 

In  vielen  unbewußten  elektrischen  Strömen  geriet  tief  Verwandtes 
in  ihm  in  Schwingung;  Eigenschaften,  die  hernach  in  dem  Mann 
und  Greis  sich  offenbarten  als  die  Grundelemente  seiner  eigenen 
Lebenshaltung.  Er  selber  liebte  es,  in  späteren  Jahren  das  Quäke- 
rische in  sich  zu  betonen.  Das  „innere  Licht",  die  Intuition  der 
Seele,  blieb  ihm  der  Leitstern  alles  Tuns  und  Denkens;  die  Selbst- 
achtung, und  durch  sie  bedingt  die  Achtung  vor  jedem  Mitmenschen 
war  ihm  immerdar  Lebenselement,  die  Luft,  in  der  er  atmete; 
wenn  ihn  die  Erhöhung  und  schauende  Einsamkeit  der  Individualität 
nicht  zur  Vereinsamung,  sondern  zu  wärmstem,  strömendem  Ge- 
meinschaftsgefi^ihl,  zu  jener  von  durchgeistigtem  Eros  glühenden 
Kameradschaft  führte  und  zu  dem  Begriff  wahrer  Demokratie,  als 
der  freien  Gemeinschaft  selbstfreudiger  und  selbstbeherrschter 
höchstentwickelter  Einzelmenschen,  des  „göttlichen  Durchschnitts" 
(ein  Leitmotiv  all  seiner  Dichtung),  so  schwingt  hier  der  alte  quäke- 
rische Grundton  von  der  geistigen  Einheit  und  Gleichheit  aller  ins 
Gottesbewußtsein  Eingetretenen  mit. 

Auch  in  seinem  persönlichen  Verhalten  und  Sein  offenbarte  sich 
die  Rassengemeinschaft  mit  den  alten  „Freunden";  wie  denn  wohl 
jedes  Ethos  die  Züge  seiner  Rasse  trägt.  Seine  Aufrichtigkeit  und 
Schlichtheit,  seine  Gelassenheit,  seine  Schweigsamkeit,  seine  Freund- 
lichkeit gegen  Jedermann,  seine  Gleichgültigkeit  gegen  geltende 
Gesellschaftsregeln,  —  all  das  waren  echte  Quäkereigenschaften. 
Zumal  nachdem  das  vulkanische  Feuer  seiner  Mannesjahre  in  ge- 
waltigen Gesängen  aus  ihm  hinausgeschleudert  war,  breitete  sich 
immer  mehr  die  Herrschaft  eines  milderen,  sternenhaften  Lichtes 
an  seinem  Himmel  aus.  Es  sei  jedoch  schon  hier  bemerkt,  daß  es 
ein  tiefer  Irrtum  wäre,  sich  Whitman  auch  während  der  Zeit  seines 
leidenschaftlichsten  und  kühnsten  Schaffens  etwa  als  eine  Art  Ge- 
waltmenschen vorzustellen.  Das  tiefste  Element  just  seiner  Wild- 
heit ist  Stille,  und  er  vermag  das  Rücksichtsloseste  auszusprechen, 
weil  in  seiner  Sprache  und  Stimme  immerdar  der  Klang  mystischer 
Zartheit  mitbebt,  der  Klang,  mit  dem  die  Seele  mit  sich  selber  ein- 
same Zwiesprache  hält.  Jede  starke  Bekennerkraft  stammt  aus  den 
Regionen  des  Schweigens  und  der  Scheu.    Die  berühmten  Worte 


xxni 


Emersons,  mit  denen  er  ein  Exemplar  der  zweiten  Auflage  der 
„Grashalme"  (i856)  an  Carlyle  schickte:  „Das  Buch  hat  furchtbare 
Augen  und  Büffelstärke",  deuten  nur  auf  ein  Element  des  Werkes,  das 
dem  allezeit  salonfähigen  Emerson  am  stärksten  fühlbar  wurde.  In 
Wahrheit  beben  auch  die  wildesten  Zeilen  dieser  Gesänge  noch  von 
der  Inbrunst,  mit  der  sie  dem  Schweigen  einer  schweren,  zarten, 
keuschen,  frommen  Natur  abgerungen  sind,  und  zwischen  ihnen  blitzt 
immer  wieder  ein  seltsames,  lässig-wehes  Lächein  auf,  der  Schatten 
einer  Handbewegung,  die  gleichsam  sagen  will:  Wozu  reden  wir? 
was  sind  Worte?  hörst  du  nicht  die  Sprache  des  Lautlosen  allenthalben 
durch  sie  hindurch?  —  Wenn  Whitman  selber  etwa  am  Schluß  des 
„Gesangs  von  mir  selbst"  von  seinem  „barbarischen  Raubvogelschrei" 
spricht,  den  er  über  die  Dächer  der  Welt  schallen  lä(3t,  so  ist 
das  ein  dichterisches  Stimmungsbild  im  Finale  dieser  gewaltigen 
Rhapsodie,  wo  ihm  gewissermaßen  in  der  Fülle  des  Gefühls  von 
Leben  und  Tod  der  Atem  ausgeht  und  er  nur  noch  stammelnd  am 
Rande  des  Sonnenuntergangs  steht,  wo  Körper-  und  Geisteswelt, 
Endlichkeit  und  Unendlichkeit  ihm  wie  in  flockigen,  glühenden 
W^olkenfetzen  zerfließen  und  irgendwo  in  seiner  Seele  etwas  so 
Einsam- Wehes  und  Seliges  schreit,  wie  es  wohl  wirklich  aus  dem 
abendlichen  Ruf  eines  Falken  tönen  mag.  (Mir  klingt  die  letzte 
Zeile  jenes  herrlichen  Gedichtes  von  Gottfried  Keller  im  Ohr:  „Fern, 
wild  und  weh  der  Falken  Stimmen  klangen".)  Die  Rücksichts- 
losigkeit Whitmans  ist  ja  nichts  Gewolltes,  Erzwungenes,  Jähes; 
sondern  nur  das  ruhige,  natürliche  Fortschreiten  in  dem  reinen 
Aussprechen  und  Anreden  aller  Dinge  und  Gefühle,  und  just  die 
vielbefehdeten  Gesänge,  die  der  Liebe  der  Geschlechter  und  der 
Verherrlichung  des  Geschlechts  geweiht  sind,  strahlen  von  Einsam- 
keit, Stille  und  Reinheit.  Eben  durch  dieses  Aussprechen,  durch 
diesen  lebendigen  Klang  einer  mannhaft  keuschen  Stimme  werden 
alle  diese  Gefühle  geklärt,  geheiligt  und  in  die  volle  Natürlichkeit 
des  Seins  emporgehoben.  Es  weht  ein  Duft  um  sie,  nicht  weniger 
frisch,  als  der  den  Knaben  aus  den  Gewändern  seiner  Mutter  streifte. 

Mit  elf  Jahren  wurde  der  kleine  Walt  in  das  Büro  eines  Rechts- 
anwalts gesteckt.  Obwohl  sich  der  Chef  seiner  freundlich  annahm,  ja 
sogar  für  ihn  bei  einer  Leihbibliothek  abonnierte,  hielt  der  Knabe  es 
nicht  lange  bei  ihm  aus.  Schon  im  nächsten  Jahre  finden  wir  ihn  als 
Setzerlehrling  in  einer  Druckerei,  also  an  einem  Ort,  wo  hundert- 


XXIV 


fähige  Kunde  von  dem  Geschehen  jedes  Tages  ihn  streifte  und 
jenes  intime  Interesse  an  den  Freuden  und  Leiden  der  wachsenden 
Doppelstadt  ßrooklyn-New  York  in  ihm  geweckt  und  genährt  wurde, 
das  ihn  für  die  kommenden  Jahre  so  recht  zu  einem  Großstädter  und 
Bürger  „seiner"  Stadt  machte.  Er  erlernte  das  Druckerhandvverk 
gründlich  und  fand  dabei  auch  im  Laufe  der  Zeit  Gelegenheit  zu 
allerhand  kleinen  Ergüssen  in  Versen  und  Prosa,  die  zum  Teil  in 
geachteten  Wochenblättern  gedruckt  w  urden.  In  all  seinem  Tun  blieb 
ihm  eine  gewisse  Lässigkeit  zu  eigen,  die  Gelassenheit  der  Naturen, 
deren  Bestes  nicht  in  Betriebsamkeit,  sondern  in  aufnehmender  Stille 
reift.  Bei  allem,  was  ihn  zum  Verweilen  lockte,  verweilte  er  mit 
pflanzlicher  Werderuhe,  und  die  hunderttausend  Zungen  städtischen 
Lebens  rauschten  ihm  wie  SchilFgeflüster  oder  wie  der  Donner  der 
See  in  die  Seele,  immerdar  als  Chor  innerhalb  der  großen  Einheit 
alles  Seins.  Er  wehrt  sich  in  den  „Demokratischen  Ausblicken" 
einmal  ausdrücklich  gegen  die  Trennung  von  „Natur"  und  „Stadt"; 
seine  Sinne  werden  nicht  abgestumpft  oder  überreizt  durch  das 
Treiben  der  Straßen,  sondern  sehen  es  mit  eben  der  Frische  an, 
wie  Meer,  Luft  und  Wald. 

Und  der  Pulsschlag  dieser  unbändig  sich  entfaltenden  Doppel- 
stadt war  wahrlich  kein  zahmer  und  friedlicher.  Alles  vibrierte 
von  Zukunft.  New  York  selber  zählte  damals  schon  200000  Ein- 
wohner und  wuchs  von  Jahr  zu  Jahr.  Menschen  aller  Bassen  ström- 
ten dem  herrlichsten  aller  Seehäfen  zu  und  mischten  ihr  Blut  stür- 
misch mit  der  alten  englischen  Einwandererrasse.  Sonnenglut  und 
Winterkälte  dieser  kontrastreichen  Zone  leuchtete  und  schnob  durch 
die  Straßen.  Broadway  wimmelte  schon  damals  von  tausenderlei 
Fahrzeugen,  Postwägen,  Omnibussen,  Kutschen,  Beitern,  zum  Teil 
viel  farbiger  und  gestaltenreicher,  als  heute.  Breites  demokratisches 
Treiben  erfüllte  ihn.  Das  Grau  gewaltiger  Steinbrücken,  die  Biesen- 
formen der  Wolkenkratzer  fehlten  noch;  dafür  leuchteten  die  Back- 
steinbauten farbiger  und  lustiger,  und  auch  das  gelegentliche  Wüten 
der  Feinde  menschlicher  Siedelung  wurde  zum  furchtbaren  Fest. 
Der  Feuerruf  lockte  Tausende  mit  seinem  Getöse  der  Glocken  und 
Hörner  herbei  zu  der  flammenden  Arena,  wo  die  rotbcrockten  Feuer- 
wehrleute inmitten  der  verschlungenen  Eingeweide  von  Spritzen- 
schläuchen, Leitern,  Haken,  Stricken  ihre  Arbeit  auf  Leben  und 
Tod  verrichteten.  Im  Dezember  i835  brannten  allein  i3  Morgen 


XXV 


alter  Gebäude  in  drei  Tagen  bis  aul  die  Grundmauern  ab.  Mehr 
als  einmal  hören  wir  in  Whitmans  Gesängen  den  Feuerlärm  gellen! 
Theater  öffneten  sich  am  Abend,  vor  allen  das  riesige,  3ooo  Zu- 
schauer fassende  Bowery-Theater,  wo  berühmte  enghsche  Gäste 
vor  einer  kindlich  begeisterten,  tobenden  Volksmenge  von  Arbeitern 
und  Handwerkern  spielten,  als  Gefeiertster  der  große  Booth,  den 
der  etwa  1 5  jährige  Whitman  dort  zum  erstenmal  als  Richard  den 
Dritten  sah,  —  zum  erstenmal  durchschauert  von  der  Macht  künst- 
lerischen Ausdrucks,  lebendigen  Worts,  beseelter  Gebärde.  Immei 
wieder  nur  rückblickend  können  w^ir  in  die  Erschütterungen  seiner 
Jugend  hineinleuchten,  —  können  wir  uns  vorstellen,  wie  die  Ge- 
walt gesprochenen  Wortes  ihn  treffen  mußte,  der  bis  in  die  späten 
Mannesjahre  hinein  fast  ebenso  stark  wie  zum  Dichter,  sich  zum 
Redner  berufen  glaubte,  zum  großen  Volksredner,  der  „mit  mäch- 
tiger Zunge  Amerika  führen,  Amerika  bezwingen"  könnte! 

Unterhalb  des  gewaltigen  materiellen  Aufschwunges  der  jungen 
amerikanischen  Staaten  begannen  immer  leidenschaftlicher  die  Gegen- 
sätze zu  branden,  von  deren  Ausgleich  letzten  Endes  alle  Zukunft 
der  Union  abhing.  Man  muß  daran  denken,  in  wie  hohem  Grade 
die  politischen  Grundlagen  Amerikas  rein  ideell  und  doktrinär  waren. 
Zwei  Namen,  Thomas  Jefferson  und  Alexander  Hamilton,  bezeich- 
nen die  Gegensätzlichkeit  zweier  Grundanschauungen  aller  staat- 
lichen, ja  überhaupt  jeder  Gemeinschaftsbildung.  Jefferson,  der 
Vater  der  demokratischen  Partei,  vom  Geiste  Rousseaus  erfüllt, 
lehrte  die  Anwendung  des  Ideals  völliger  individueller  Freiheit  und 
ünbeschränktheit  auf  die  staatliche  Gemeinschaft.  Die  Einheit  der 
Union  dürfe  die  Rechte  der  Einzelstaaten  auch  nicht  um  ein  Jota 
verkürzen,  genau  wie  jedes  einzelne  Individium  unabänderlich  frei 
und  souverän  sein  müsse.  Hamilton  dagegen  war  sozusagen  demo- 
kratischer Aristokrat;  er  verachtete  das  „Volk"  an  sich  und  sah 
alles  Heil  nur  in  einer  starken  einheitlichen  Bindung,  in  der  Kräf- 
tigung und  dem  Ausbau  der  Union,  des  Föderalismus.  Beide  Dok- 
trinen, in  einer  rein  ideellen  Sphäre  wohl  versöhnbar,  lösten  im 
lebendigen  Leben  der  Staaten  Fragen  aus,  die  stürmisch  gegen- 
einander prallten.  Und  zwar  wurden  diese  Fragen  immer  mehr  zu 
Kampfparolen  des  Südens  gegen  den  Norden. 

Der  industrielle  Norden  wuchs  schneller  als  der  vorwiegend  Ge- 
treide und  Baumwolle  pflanzende  Süden.  Industrie  braucht  Schutz 


XXVI 


und  starken  Zusammenschluß;  der  immer  stärker  sich  entwickelnde 
TJnionsgedanke  äußerte  sich  im  Norden  unter  anderem  durch  das 
Verlangen  nach  Schutzzoll.  Der  Süden,  in  partikularistisch-agra- 
rischer  Gelassenheit  gegenüber  dem  Ünionsgedanken,  durchweg 
demokratisch  im  Sinne  JefFersons,  wünschte  keinerlei  Hindernisse 
für  seine  Ausfuhr.  Er  empfand  das  Verlangen  des  Nordens  nach 
einer  die  ganze  Union  umfassenden  Zollschranke  als  eine  födera- 
listische Anmaßung  gegenüber  dem  natürlichen  Recht  der  Einzel - 
Staaten.  Dazu  kam  eine  andere  Frage,  an  sich  zweiten  Ranges,  aber 
vermöge  der  ihr  innewohnenden  rein  menschlichen  Wucht  ge- 
eignet, zum  Schlagwort  zu  werden:  die  Sklavenfrage. 

Im  Grunde  widersprach  die  Sklaverei,  die  in  den  Südstaaten  im 
Schwange  war,  dem  demokratischen  Grundsatz  von  der  Gleichheit 
aller  Individuen,  und  in  der  Tat  wurde  diese  Frage  späterhin  die 
Ursache  zu  einer  Spaltung  der  Demokratischen  Partei.  Das  Auf- 
blühen des  Raumwollhandels  hing  jedoch  so  wesentlich  —  wenig- 
stens der  im  Süden  landläufigen  Meinung  nach  —  von  der  Rei- 
behaltung der  Sklaverei  (oder  der  „Institution",  wie  man  euphe- 
mistisch sagte)  ab,  daß  das  im  Norden  immer  lauter  werdende 
Verlangen  nach  „Abolition",  nach  Abschaffung  der  Sklaverei  wie- 
derum nur  als  Angriff  des  übermütigen  Nordens  gegen  die  Grund- 
rechte des  Südens  empfunden  wurde.  Jedoch,  wie  gesagt,  ein 
großer  Teil  der  Demokratischen  Partei  selber  war  zwar  für  den 
Freihandel,  aber  dennoch  ebenfalls  gegen  die  Sklaverei.  Und  über- 
haupt war  in  lebendigem  Wachstum  aller  Kräfte  des  jungen 
Staatenbundes  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  und  des 
Stolzes  auf  die  Zukunft  der  Union  dermaßen  in  ständigem  Zu- 
nehmen begriffen,  daß  vorläufig  noch  jeder  Sezessionsgedanke 
zurückgewiesen  wurde.  Es  kam  in  der  Tariffrage  ein  Kompromiß 
zustande,  und  Süd-Carolina,  das  allein  mit  Sezession  gedroht  hatte, 
unterwarf  sich  einem  etwas  gemilderten  Schutzzoll. 

Inmitten  all  dieser  lebendig  auf  ihn  eindringenden  Strömungen  war 
Walt  Whitman  zu  einem  langgliedrigen,  siebzehnjährigen  ßurschen 
herangewachsen,  der  sich  in  allerhand  journalistischer  Federfertig- 
keit geübt  und  im  Umgang  mit  Menschen  sich  vielerlei  Erfahrung 
und  Rildung  angeeignet  hatte. 

Mit  einer  der  jähen  Wendungen,  die  in  seinem  Leben  nicht 
selten  sind,  kehrte  er  im  Jahre  i836,  im  Frühling,  der  Stadt  den 


XXVII 


Rücken  und  ging  in  die  atlantische  Stille  von  Long  Island  zurück. 
Er  Heß  sich  zunächst  als  Dorfschulmeister  in  dem  kleinen  Städt- 
chen Babylon  nieder;  für  einen  jungen,  landgeborenen  Amerikaner 
der  damaligen  Zeit  eine  nicht  eben  sehr  erstaunliche  Berufsver- 
änderung. Babylon  lag  an  der  großen  Bucht  des  Südgestades  der 
Insel,  von  wo  er  im  Norden  die  blaue  Hügelkette  oberhalb  Hun- 
tingtons sehen  konnte. 

Man  mag  in  dem  Entschluß,  für  mehrere  Jahre  —  mit  Unter- 
brechung —  den  Beruf  eines  Lehrers  auszuüben,  die  Lust  an  per- 
sönlicher, unmittelbarer  Wirkung  erkennen,  etwas  von  jenem  Eros, 
der  vielleicht  in  jeder  Neigung  zur  Pädagogik  lebendig  ist.  Jeden- 
falls kam  bei  Whitujans  Lehrertum  das  Leibhaftige  seiner  Wesen- 
heit nicht  zu  kurz;  alle  Aussagen  früherer  Schüler  von  ihm  sind 
sich  einig  darin,  daß  seine  eigenthche  erzieherische  Wirkung  in 
seiner  Persönlichkeit  lag,  in  der  unbestimmbaren,  frischen,  reinen 
Anziehungskraft,  die  von  ihm  ausströmte,  in  voller  Gelassenheit 
und  Freundlichkeit,  unbeeinträchtigt  durch  schulmeisterliches  Ge- 
haben und  Launen.  Seine  Stellung  zu  den  teilweise  mit  ihm  gleich- 
altrigen Schülern  war  eine  ungezwungene  Mischung  von  Ka- 
meradschaft und  Autorität.  In  den  freien  Stunden  trieb  er  sich 
mit  den  Mädchen  und  Knaben  auf  der  Lagune  und  auf  See  herum, 
beim  Fisch-,  Krabben-  und  Muschelfang,  immer  umatmet  von 
dem  Tang-  und  Salzgeruch  und  der  vielbewegten  Weite  der  at- 
lantischen Küste,  immer  im  Angesicht  der  ruhelosen  Unendlich- 
keit des  Ozeans,  von  der  er  später  selbst  sagte,  daß  sie  ihm  von 
früher  Jugend  an  das  Gebot  zugerauscht  habe,  sie  nicht  nur  in 
einer  Dichtung  zu  verherrlichen,  sondern  eine  Dichtung  zu  schaffen, 
die  selber  so  wie  das  Meer  wäre. 

Im  Frühling  des  Jahres  i838  finden  wir  ihn  wieder  in  Hunting- 
ton, wo  er  eine  Wochenschrift  „Der  Long  Islander**  gründete,  die 
heute  noch  erscheint.  Er  war  Drucker,  Redakteur  und  Verleger 
zugleich.  Er  hatte  sich  eine  Presse  und  Typen  gekauft  und  seine 
Druckerei  in  der  oberen  Etage  eines  Gebäudes  eingerichtet,  das 
heute  ein  Stall  ist.  In  diesem  etwa  vier  Seiten  starken  Wochen- 
blatt brachte  er  seine  politischen  und  moralischen  Anschauungen 
mit  Lebhaftigkeit  und  Schärfe  zum  Ausdruck.  Vor  allem  wandte 
er  sich  gegen  die  Sklaverei,  gegen  den  Alkohol  und  gegen  die 
Todesstrafe.   Eine  puritanische  Neigung  zum   Moralisieren  war 


XXV  HI 


stark  ausgeprägt.  Er  selber  hatte  es  sich  damals  zum  Gesetz  ge- 
macht, nicht  zu  trinken,  zu  rauchen  und  zu  fluchen,  ebenso  kam 
ihm  schon  damals,  wie  sein  ganzes  Leben  lang,  niemals  ein  schlüpf- 
riges Wort,  ein  zweideutiger  Witz  oder  dergleichen  über  die  Lippen. 
Sein  Gefühl  für  persönliche  Würde  und  Beherrschtheit  war  alle- 
zeit lebendig.  Das  hohe  Pathos  seiner  späteren  Dichtung  warf  sein 
klares  Licht  voraus;  dieses  Pathos,  das  so  gar  nicht  der  großen 
Worte  bedurfte,  sondern  im  Gegenteil  die  ungezwungenste  All- 
tagssprache, den  Stimmklang  des  eigenen  leibhaftigen  Fleisches 
und  Blutes  suchte. 

Er  hatte  sich  ein  Wägelchen  und  ein  Pferd  beschafft  und  fuhr 
damit  auf  der  Insel  umher,  um  den  Lesern  sein  Wochenblatt  ins 
Haus  zu  bringen.  Alles  in  allem  eine  fröhliche,  selbständige,  leben- 
dige Tätigkeit,  die  er  sich  so  immer  wieder  in  tastenden  Versuchen 
zu  schaffen  bemüht  war.  Immer  aber  so  frei  von  aller  Betriebsam- 
keit und  allem  wirklichen  Geschäftsgeist,  immer  so  dem  Ruhe- 
vollen, Verweilenden,  Lässigen,  Aufnehmenden  zugetan,  daß  ihm 
kein  rechter  äußerer  Erfolg  blühen  wollte.  Das  Erscheinen  des 
Blattes  wurde  immer  unregelmäßiger,  bis  endlich  die  Abonnenten 
die  Geduld  verloren  und  ihn  im  Stich  ließen,  so  daß  die  Redaktion 
geschlossen  wurde  und  der  „Long  Islander"  erst  nach  einem  Jahr 
wieder  unter  anderer  Leitung  erschien. 

W^hitman  selber  war  wieder  Schulmeister  in  Babylon  geworden 
und  blieb  es  noch  zwei  Jahre  lang.  Der  Drang  nach  etwas  ande- 
rem, breiter  und  stärker  und  eigenartiger  Wirkendem,  trieb  ihn 
jedoch  auch  schon  während  dieser  Zeit  zu  politischer  Betätigung. 
Er  trat  bei  der  Wahlversammlung  von  1840  selber  als  Redner  auf 
und  sprach  für  die  Präsidentschaftskandidatur  van  Burens,  der 
von  der  Demokratischen  Partei  aufgestellt  war,  aber  derjenigen 
Richtung  angehörte,  die  die  Abschaffung  der  Sklaverei  verlangte. 
Es  zog  ihn  nun  immer  stärker  in  die  bewegtere  Welt  zurück, 
und  im  Sommer  1841  trat  er  in  die  Druckerei  der  „New  World" 
in  New  York  als  Setzer  und  Mitarbeiter  ein.  Er  gehörte  seit- 
dem zwanzig  Jahre  lang  der  Genossenschaft  der  New  Yorker 
Drucker  an. 

Es  kam  nun  eine  lange  Zeit  vielfältiger  journalistischer  Tätig- 
keit für  Whitman.  Er  schrieb,  nachdem  er  seinen  ersten  Publi- 
kumserfolg mit  einer  Novelle,  „Der  Tod  in  der  Schulstube",  die 


XXIX 


in  der  „Tribüne"  erschien,  errungen  hatte,  eine  lange  Reihe  kleiner 
Erzählungen,  Skizzen  und  Gedichte,  die  in  allerhand  Tages-  und 
Wochenblättern  erschienen,  allesamt  ohne  dichterischen  Wert  und, 
obwohl  aus  jeweils  aufrichtigen  Uberzeugungen  entsprungen,  den- 
noch durchaus  sentimental  und  ohne  Eigenart  in  ihrer  Wirkung. 
Er  schwang  sich  sogar  zu  einem  großen,  ziemlich  kümmerlich  zu- 
sammengestoppelten Tendenz-Roman  gegen  die  Trunksucht  auf, 
„Franklin  Evans"  benannt,  der  in  zwanzigtausend  Exemplaren  ge- 
druckt werden  konnte  und  von  dem  er  später  mit  lässiger  Ironie 
sagte,  er  habe  ihn  mit  Hilfe  schäumenden  Gerstensaftes  in  einer 
Hierstube  am  Broadway  geschrieben. 

Es  war,  als  ob  die  wahre  Katur  und  Sprache  Whitmans  sich  in 
diesen  sieben  Jahren  hätte  durchringen  müssen  durch  den  schemen- 
haften Wust  der  wurzellosen  Schreibsprache  zweiten  und  dritten 
Aufgusses.  Hie  und  da  blitzte  in  einem  Aufsatz,  in  einem  Gedicht, 
in  einer  Novelle  ein  Wort  oder  Satz  auf,  der  von  einer  anderen, 
neuen,  unverfälschten  Natürlichkeit  strahlte.  xVber  im  allgemeinen 
ließ  nichts  an  diesen  Erzeugnissen  den  wahren  Walt  Whitman 
ahnen.  Ja,  die  Probleme  von  Gut  und  Böse,  mit  denen  er  sich 
herumschlug  und  die  er  an  etwas  krampfhaft  konstruierten  Fällen 
demonstrierte,  gingen  ihm  zwar  offenbar  ehrlich  nahe,  blieben 
aber  dennoch  in  der  Sphäre  eines  gewissen  leidigen  Moraiisierens 
haften.  Trotz  alledem  lebte  in  der  Art,  wie  er  sich  diese  düsteren 
Zusammenhänge  schuf,  die  das  Gute  im  Bösen  verstrickten,  etwas 
Kindlich-Demonstratives,  Missionshaft-Primitives,  das  nicht  ganz 
ohne  Beziehung  zum  Tonfall  seiner  späteren  Gesänge  war.  Jeden- 
falls aber  waren  diese  wie  für  eine  puritanische  Fibel  geschaffenen 
Erzeugnisse  Schalen  um  den  würzigen,  langsam  reifenden  Kern 
seines  Wesens,  die  sich  leichter  abstreifen  ließen,  als  etwa  lite- 
rarisch raffinierte  Kunstprodukte. 

Irgendwie  blieb  er  damit  doch  in  der  Sphäre  lebendiger  Wir- 
kung, und  das  leidenschaftlich  bewegte  politische  Leben  tat  das 
seine,  ihn  darin  zu  erhalten.  Er  kam  durch  seine  Beziehungen 
zur  „Democratic  Review"  häufig  in  das  Hauptquartier  der  Demo- 
kratischen Partei,  Tammany  Hall,  wo  er  mit  vielen  der  bedeutend- 
sten Politiker  und  Schriftsteller  zusammentraf,  und  im  Jahre  1846 
wurde  er  zum  Herausgeber  der  großen  demokratischen  Tages- 
zeitung „Brooklyn  Daily  Eagle"  ernannt. 


XXX 


Die  Druckerei  seiner  Zeitung  lag  in  der  Nähe  der  Fähre,  und 
dieser  Platz  an  der  ewig  pulsierenden  Schlagader,  die  die  beiden 
Seestädte  verband,  war  ihm  von  Herzen  recht. 

Denn  wenn  wir  auch  in  seiner  schriftstellerischen  Tätigkeit  dieser 
Jahre  etwas,  zwar  nicht  eigentlich  Abwegiges,  so  doch  noch 
Dumpfes,  Befangenes  empfinden,  so  blieb  sein  leibhaftiges  Wesen 
und  Sein  doch  in  stetem,  fruchtbarem  und  natürlichem  Wachstum 
begriffen.  Alle  die  tausend  Keime  der  Dinge,  die  er  in  sich  auf- 
nahm, schlugen  an  und  sproßten  in  der  Wärme  seiner  Seele,  un- 
beeinträchtigt von  der  Schreibarbeit  des  Tages.  Im  steten  Wechsel 
zwischen  Stadt  und  Land  —  denn  er  streifte  an  jedem  Wochen- 
ende draußen  in  Long  Island  herum  —  wuchsen  ihm  alle  Wesen- 
heiten dieser  Erdenheimat  üppig  und  wunderbar  ineinander,  und 
ob  er  sich  in  das  herbe  Gras  der  Küste  schmiegte  oder  in  das  Ge- 
wimmel der  Straßen  tauchte,  immer  geschah  es  mit  der  gleichen 
Lust  der  Zugehörigkeit;  die  stumme  Umarmung  der  Natur  löste 
ebenso  wie  die  brausende  Nähe  seiner  Mitmenschen  die  Wonne 
seines  eigenen  Fleisches  und  Blutes  und  das  w^ohlige  Daseinsstaunen 
seiner  Seele  aus,  und  irgendwie  wuchs  lautlos  die  reine  Sprache, 
jenes  Erstlings-xlnreden  aller  Dinge  in  ihm  immer  mächtiger,  zu 
dem  er  sich  noch  erst  dunkel  berufen  fühlte;  und  das  Antlitz  jener 
Gottheit,  die  er  mit  zarten  Worten  später  als  die  höchste  feierte, 
der  Wahrheit,  begann  sich  ihm  immer  klarer  zu  entschleiern.  Die 
höchste  ßeseligung,  deren  der  Mensch  fähig  ist,  das  Gefühl  des 
Behaustseins  im  eigenen  Ich,  im  Wunder  des  beschränkten  und 
doch  unendlichen  Räume  des  eigenen  Leibes  und  der  eigenen  Seele, 
entfaltete  sich  immer  bewußter  in  ihm.  „In  unseren  besten  Stun- 
den", sagt  er  später  in  den  „Demokratischen  Ausblicken",  „steigt 
ein  Bewußtsein,  ein  Gedanke  in  uns  auf,  unabhängig,  hoch  über 
allem  anderen,  gelassen  wie  die  Sterne,  in  ewigem  Glanz.  Das  ist 
der  Gedanke  der  Identität,  —  der  deinigen  für  dich,  wer  du  auch 
seist,  wie  der  meinigen  für  mich.  Wunder  der  Wunder,  über  allen 
Ausdruck  erhaben,  geistigster  und  duftigster  aller  Erdenträume, 
und  doch  die  festeste  Grundtatsache  und  der  Zugang  zu  allem  Ge- 
schehen. In  solchen  andächtigen  Stunden,  inmitten  der  bedeut- 
samen Wunder  von  Himmel  und  Erde,  (bedeutsam  nur  wegen 
meines  Ich  im  Mittelpunkt),  fallen  alle  Glaubensbekenntnisse  und 
Konventionen  ab  und  werden  belanglos  vor  dieser  einfachen  Idee. 


XXXI 


In  der  Erleuchtung  wirklichen  Schauens  nimmt  sie  allein  Besitz 
von  uns  und  hat  allein  Wert  für  uns.  Wie  der  schattenhafte  Zwerg 
im  Märchen  dehnt  sie  sich,  einmal  entfesselt  und  erkannt,  über 
die  ganze  Erde  aus  und  reicht  bis  an  das  Dach  des  Himmels." 

Im  stetig  werdenden  Gefühl  dieser  „Grundtatsache"  in  der  eigenen 
Brust  und  im  lebendigen  Ausströmen  dieses  Gefühls  durch  die  ge- 
sunde, warme  Leibhaftigkeit  seines  Körpers  hindurch  schlenderte 
er  in  wacher,  elektrisch  bebender  Lässigkeit  durch  das  Getümmel  der 
brausenden  Stadt,  überall  aufnehmend,  Licht,  Schatten,  Laute,  Far- 
ben, Gutes  und  Böses  wie  mit  empfindlichen  Antennen  in  sich  emp- 
fangend, und  überall  Wohlgefühl,  Sympathie,  Magnetismus  ver- 
schenkend, an  geistige  Menschen  wie  an  das  einfache  Volk,  Freund 
mit  allen,  nicht  geschwätzig,  betriebsam,  sondern  schweigsam,  ge- 
lassen, mehr  schauend,  als  redend,  und  allen,  bei  denen  er  halt 
machte  oder  denen  er  die  Hand  auf  die  Schulter  legte,  das  wohl- 
tuende Gefühl  der  Bedeutsamkeit  und  des  Sinnes  ihrer  Tätigkeit, 
ihres  Berufs  oder  Handwerks  vermittelnd.  Er  kannte  die  Kapitäne 
und  Mannschaften  der  Fährboote,  war  befreundet  mit  den  Omni- 
buskutschern und  liebte  es  leidenschaftlich,  neben  ihnen  hoch  auf 
dem  Bock  sitzend  durch  das  vielgestaltige  Gewühl  des  Broadway 
zu  fahren.  Er  ging  in  die  Theater,  den  Zirkus,  die  Bibliotheken 
und  Museen;  er  war  unter  der  Volksmenge,  die  im  Jahre  1842 
Dickens  bewillkommnete  oder  staunend  die  erste  Lokomotive  be- 
jubelte, die  auf  dem  neuen  Schienenstrang  von  Bulfalo  her  ankam. 
Er  besuchte  Gerichtssäle,  Gefängnisse,  Bordells,  —  durch  keinen 
Schatten  irgendeines  Vorurteils  von  irgendeinem  Men sehen wesen 
geschieden,  gar  keines  Vorurteils  fähig,  sondern  immer  nur  schauend, 
mitfühlend,  aufnehmend,  im  stillen  Besitz  jenes  wunderbaren  Etwas, 
das  sich  in  keine  Dumpfheit  menschlichen  Für  und  Widers  hinein- 
zerren läßt,  sondern  durch  alles  hindurchgeht  wie  der  Geist  wach- 
gewordenen Lebens  selber,  während  sein  Herz  schon  in  stummer 
Sprache  die  Worte  redete,  die  er  noch  nicht  in  Laute  zu  über- 
setzen vermochte,  —  ja  die  er  vielleicht  in  all  seinen  Gesängen, 
die  wie  keine  zuvor  die  transparente  Kraft  der  Andeutung  ent- 
falteten, dennoch  niemals  ganz  übersetzt  hat,  wie  er  denn  selber, 
in  dem  „Lied  von  der  rollenden  Erde",  die  Worte  preist,  die  keine 
Worte  der  Menschensprache  sind,  sondern  die  lautlos  in  Erde  und 
Himmel  und  Welten  wie  in  den  Zügen  eines  Mundes  oder  in  einer 


XXXH 


Gebärde  ruhen.  Ja,  noch  in  späteren  Jahren  konnte  er  von  dem 
Gefühl  des  ewig  Unaussprechlichen  so  überwältigt  werden,  daß  er 
jene  weh-grimmigen,  vom  herrischen  Gelächter  äußerster  Einsam- 
keit durchschütterten  Strophen  schrieb,  die  ich  dieser  Einleitung 
als  Motto  vorangestellt  habe,  —  Gelächter,  das  zu  hören  uns 
von  dem  wahren  Wesen  all  seines  Dichtens  mehr  offenbart,  als 
alle  wohlgeordnete  Betrachtung.  Denn  was  anderes  lacht  darin, 
als  dieselbe  Kraft,  die  im  All  zugleich  schafft  und  zerstört,  die  nach 
Gestalt  ringt  und  in  der  Gestalt  selber,  ja  in  der  höchsten,  die  sie 
zu  bilden  vermochte,  der  leiblich-seelischen  Menschengestalt  selber, 
jubelnd,  wild,  selig  das  Gestaltlose  grüßt?  Und  so  erst  verspüren 
wir  jenen  von  tiefster  Bedingtheit  bebenden  Klang  in  Whitmans 
wunderbarem  Alltagspathos,  der  aus  dem  Wagnis  stammt,  trotz- 
dem Worte  zu  bilden,  in  Worte  das  Unfaßbare  zu  fassen. 

Wir  fühlen  im  Steigen  dieser  Werdejahre,  wie  die  Hüllen,  die 
die  starken,  saftstrotzenden  Knospen  seiner  Dichtung  noch  um- 
schließen, von  verhaltener  Triebkraft  beben  und  bereit  sind,  über 
Nacht  aufzubrechen,  wenn  noch  die  letzte  warme  Zeugungswelle 
über  sie  haucht.   Und  sie  kam  mit  dem  Frühling  des  Jahres  1848. 


III    Whitman  I 


SÜDLICHE 


GLUT 


O  magnetischer  Süden! 

O  magnetischer  Süden  !  o  gleißender  würziger  Süden  !  mein  Süden ! 

O  feuriger  Sinn,  o  üppiges  Blut,  Triebkraft  und  Liebe !   Böse  und  Gut  I 

O  mir  so  lieb  !  .  .  . 
Wiederum  gleite  ich  in  Florida  auf  durchsichtigen  Seen,  ich  gleite  auf 

dem  Okeechobee,  ich  streife  durch  das  Hügelland   oder  durch  lieb- 
liche Lichtungen  oder  dichte  Forste, 
Ich  sehe  die  Papageien  in  Wäldern,  ich  sehe  den  Melonenbaum  und  den 

blühenden  Eisenholzbaum ; 
Wiederum,  an  Deck  meines   Küstenschoners,  segle   ich  an  Georgia  hin 

und  segle  an  Carolina  hin. 
Ich  sehe,  wo  die  immergrüne  Eiche  wächst,  die  gelbe  Pinie,  der  duftende 

Lorbeerbaum,  die  Zitrone  und   Orange,  die  Zypresse,  die  zierliche 

Zwergpalme, 

Ich  fahre  an  rauhen  Vorgebirgen  vorbei  und  biege  in   den  Pamlico-Sund 

durch  schmale  Zufahrt  und  schaue  ins  Land  hinein  ; 
O  die  Baumwollstaude !   Die  sprießenden  Reis-,  Zucker-  und  Hanffelder ! 
Die  dornenbewehrte  Kaktee,  der  Lorbeerbaum  mit  großen  weißen  Blüten, 
Die  Bergkette  in  der  Ferne,  die  unberührte  Üppigkeit,  die  alten  ^Välder, 

beladen  mit  Misteln  und  hängenden  Flechten, 
Der  Harzduft  und  das  ernste  Dunkel,   die  schauernde  Stille  der  Natur 

(hier  in  diesen  dichten  Sümpfen  trägt  der  Freibeuter  seine  Flinte  und 

hat  der  Flüchtling  seine  versteckte  Hütte). 
O  der  fremde  Zauber  dieser  nur  halb  erforschten,  halb  undurchdringlichen 

Sümpfe,  durchwimmelt  von  Reptilen,  widerhallend   vom  Bellen  des 

Alligators,  von  den  traurigen  Lauten   der  Nachteule  und  W^ildkatze, 

und  von  dem  Schnarren  der  Klapperschlange, 
Der  Spottvogel,  der  Gaukler  Amerikas,  der  den  ganzen  Vormittag  singt 

und  singt  durch  die  mondhelle  Nacht, 
Der  Kolibri,  der  wilde  Truthahn,  der  W^aschbär,  das  Opossum ; 
Ein  Kornfeld  in  Kentucky,  das  hohe,  geschmeidige,  langblättrige  Kom, 

schlank,  schwankend,  hellgrün,  gefiedert,  mit  herrlichen  Ähren,  jede 

wohlgeborgen  in  ihrer  Hülse ; 
O  mein  Herz !   o  zärtliche,  wilde  Schläge,  ich  kann   sie  nicht  aushalten, 

ich  will  fort  I  .  .  . 

O  unbezvvingliche  Sehnsucht !  O  ich  will  wiederkehren  nach  Alt-Tennessee 
und  nie  wieder  wandern. 


XXXIV 


Obwohl  die  Eigentümer  des  „Daily  Eagle"  der  Richtung  der 
Demokratischen  Partei  angehörten,  die  die  Rechte  der  Einzelstaaten 
um  jeden  Preis  gewahrt  wissen  wollte  und  also  jeden  Eingriff  der 
Union  in  die  Sklavenfrage  als  eine  Herausforderung  des  Südens  be- 
trachtete, war  Whitman  dennoch  nicht  gewillt,  aus  seiner  Stellung 
zu  dieser  immer  brennender  werdenden  Frage  ein  Hehl  zu  machen. 
Die  daraufhin  erfolgende  Kritik  der  Eigentümer  der  Zeitung  an 
seiner  Gesinnung  beantwortete  er  mit  einer  Kündigung,  so  wenig 
er  auch  materiell  in  der  Lage  war,  einen  sicheren  Posten  leichthin 
aufzugeben. 

Den  leidenschaftlichsten  und  dichterisch  bedeutsamsten  Ausdruck 
hatte  er  seinem  Abscheu  gegen  die  Sklaverei  in  einem  Gedicht 
„Blutgeld"  gegeben,  das  in  der  „Tribüne"  erschienen  war,  unter- 
zeichnet „Paumanok".  Hier  löste  er  sich  zum  erstenmal  aus  her- 
kömmlichen Versmaßen  und  goß  seinen  Grimm  in  freie  Rhyth- 
men, und  zum  erstenmal  klingt  hier  ein  Stimmton,  der  die  kom- 
mende Dichtung  Whitmans  verkündet,  noch  ringend,  gleichsam 
mit  einer  schweren  Zunge,  die  erst  reden  lernt,  aber  doch  deutlich 
vernehmbar.  Das  Gedicht  wurde  in  späteren  Jahren  in  den  Sammel- 
band der  Prosaschriften  Whitmans,  in  einen  kleinen  Anhang  von 
Jugendarbeiten  aufgenommen.  Das  glühende  Gefühl  Whitmans 
für  die  Leiden  der  Sklaven  kommt  in  den  „Grashalmen"  des  öfteren 
zu  leidenschaftlichem  Ausdruck,  dann  freilich  von  jedem  Beige- 
schmack der  Aktualität  befreit. 

Das  Gedicht  lautet: 


BLUTGELD 

„Schuldig;  am  Leib  und  Blute  Christi" 
I 

Einst,  als  die  Zeit  erfüllt  war, 

Daß  der  wundervolle  Gott,  Jesus,  sein  Werk  auf  Erden  beenden  sollte, 
Ging  Judas  hin  und  verkaufte  den  jungen  Gottessohn 
Und  ließ  sich  bezahlen  für  seinen  Leib. 


HI* 


XXXV 


Fluch  traf  die  'I'at,  nocli  ehe  der  Schweiß  der  krallenden  Hand  ver- 
trocknet war, 

Und  Finsternis  furchte  sich  über  dem,  der  das  Ebenbild  Gottes  ver- 
schachert, 

Wo  er  hin{j  in  der  Luft,  als  schleuderte  die  Erde  ihn  von  ihrer  Brust 
Und  wiese  der  Himmel  ihn  zurück, 
Von  ei{|ner  Hand  gehenkt. 

Mit  langen  Schatten  sind  die  Kreisläufte  schweigend  vorgerückt 
Seit  jenen  alten  Tagen,  —  und  manch  ein  Beutel  sackte  indessen  ein 
Sein  Sündengeld,  gleich  jenem  für  Marias  Sohn. 

Und  immer  noch  zischt  die  Frage: 

„Was  wollt  ihr  mir  geben,  so  Avill  ich  diesen  Menschen  an  euch  ver- 
raten?" 

Und  sie  schließen  den  Handel  und  zahlen  die  Silberlin^e. 


2 

Blick'  her,  Erlöser, 

Blick'  her.  Auferstandener  von  den  Toten, 

über  die  Wipfel  des  Paradieses; 

Siehe  dich  selber  immer  noch  in  Banden, 

Mühselig  und  beladen  trägst  du  wiederum  Menschengestalt, 

Du  wirst  geschmäht,  gegeißelt,  in  Ketten  gelegt, 

(iehetzt  von  der  frechen  Herde  der  andern. 

Mit  Stangen  und  Schwertern  drohen  die  willigen  Diener  der  Obrigkeit, 
Wieder  umringen  sie  dich,  toll  vor  teuflischem  Haß; 
Die  Hände  der  Menge  strecken  sich  aus  nach  dir,  wie  Geierklauen, 
Die  .Niederträchtigsten  speien  dir  ins  Gesicht,  sie  schlagen  dich  mit 

den  flachen  Händen  ; 

Wund,  bluüg  und  gefesselt  ist  dein  Leib, 
Zu  Tode  betrübt  ist  deine  Seele. 

Blutzeuge  der  Qual,  Bruder  von  Sklaven, 

Mit  deinem  Preis  ist  deines  Ebenbildes  Preis  noch  nicht  bezahlt, 
Und  immer  noch  schachert  Ischariot. 


XXXVI 


Im  Januar  1848  schied  Whitinan  aus  seinem  Redaktionsposten, 
und  im  Februar  desselben  Jahres*  geschah  es,  daß  er  eines  Abends 
im  Foyer  des  alten  Broadway-Theaters  einem  Herrn  aus  dem  Süden 
vorgestellt  wurde,  der  ihm  von  der  Gründung  einer  neuen  Zeitung, 
dem  „Crescent",  in  New  Orleans  sprach  und  ihn  kurzerhand  als 
Mitherausgeber  engagierte. 

Je  wacher  und  leidenschaftlicher  in  Whitman  das  GeFühl  der 
Zugehörigkeit  zu  der  Rasse  seiner  Neuen  Welt  geworden  war  und 
die  alte,  nun  ins  Seelisch-Menschliche  übertragene  Pionierlust,  in 
und  mit  dieser  Rasse  hier  auf  riesigem,  jungfräulichem  Kontinent 
das  Neuland  des  Menschen  zu  entdecken  und  zu  erobern,  aus 
diesem  vielgestaltig-kraftstrotzenden  Schöpfungslehm  die  höheren, 
vollkommenen  Söhne  und  Töchter  dieser  Neuen  Welt  und  somit 
der  ganzen  Erde  zu  schaffen,  um  so  stärker  mußte  es  ihn  verlocken, 
nun  auch  jenen  so  ganz  andersartigen,  mächtigen  Teil  dieser 
amerikanischen  Heimat  kennenzulernen,  der  in  den  Südstaaten  der 
Union  verkörpert  war. 

Je  mehr  ihm  durch  eben  jene  Kraft  des  Staunens  die  Welt  des 
Stoffs  zum  Sinnbild  wurde,  das  von  geistiger  Unendlichkeit  durch- 
leuchtet ist,  das  heißt  mit  anderen  Worten,  je  tiefer  er  alle  Erschei- 
nungen liebte  um  des  Wunders  ihrer  Existenz  willen,  je  ergreifender 
und  wonnevoller  ihm  alle  Wesen  und  Dinge  aufleuchteten  als 
traumhaft  farbige,  faßbare,  bewegte,  leidende  und  beseligte  Realität 
inmitten  der  ewigen,  einigen  Realität  des  Unsichtbaren,  —  um  so 
tiefer  mußte  ihn  ein  weiterer  Schritt  in  diese  leibhaftige  Erschei- 
nungswelt erschüttern,  zumal  in  einen  Teil  dieser  Welt,  der  mit 
aller  blühenden  Schöpfungspracht,  mit  neuen  Farben  und  Düften, 
neuen  Klängen,  Gebärden  und  Charakteren,  mit  neuer  Sonnenkraft 
und  Zeugungsfülle  sich  vor  ihm  auftat. 

Denn  der  Süden  der  Vereinigten  Staaten  war  vom  Norden  ebenso 
weltverschieden,  wie  etwa  die  Länder  des  südlichen  Mittelmeers 
von  Norddeutschland  sind,  ja  in  manchem  Sinne  wohl  noch 
mehr. 


•  Die  Jahreszahl  ist  umstritten.  Whitman  selbst  g^ibt  in  seinen  autobiographischen 
Notizen  einmal  das  Jahr  1848,  einmal  das  Jahr  1849  seinen  Aufenthalt  in 
New  Orleans  an. 

XXXVH 


Whitman  fuhr  aus  dem  noch  rauhen  Februar  seiner  Zone  in  den 
üppigsten  Frühling  hinein. 

Es  bedarf  kaum  eines  Hinweises,  mit  wie  ganz  anderem  Ge- 
fühl ein  Mann  eine  eigene  Reise  über  einen  Teil  dieser  Erde 
empfindet,  der  gewöhnt  ist,  sich  der  Weltraumslage  und  der  tag* 
liehen  und  jährlichen  Bewegung  dieser  Erde  bewußt  zu  sein. 
Wenn  er  auf  dem  Ohio  entlang  durch  die  erst  neubesiedelten 
Staaten  Ohio,  Indiana,  Kentucky  und  Illinois,  die  noch  von  Ur- 
waldfrische gleichsam  dampften  und  dufteten,  in  den  Vater  der 
Gewässer,  den  Mississippi  hineinfuhr,  so  breitete  sich  das  ganze 
Leben  dieses  gewaltigen  Stromes  vor  seiner  Seele  aus,  der  mit  seinen 
reichen  Nebenströmen  das  Ackerland  von  halb  Amerika  bewässert 
und  den  er  als  die  wahre  Schlagader  der  Neuen  Welt  ansah,  um 
die  sich  das  innerste  Leben  einer  herrlichen  Menschenzukunft  grup- 
pieren müßte.  Die  geographische  Größe  rief  ebenbürtige  geistige  und 
dichterische  Größe  zuerst  noch  dunkel  und  drangvoll  in  ihm  zum 
Wettstreit  auf,  —  irgendetwas  ganz  Neues,  Unmittelbares,  Eroberer- 
starkes, alle  älteren  Kulturen  Fortführendes,  Vollendendes,  oder 
wenigstens  ihnen  Gleichwertiges. 

Mit  solcher  Werde-Unruhe  mischte  sich  andere  Bewegtheit,  per- 
sönlicher, heißer,  dämmriger:  vielleicht  altes  wallisisches  Blutsfieber 
von  den  Ahnen  her,  das  die  gelassene  Leidenschaftlichkeit  seiner 
Natur  zum  ersten  Mal  mit  heißeren  Würzen  durchbrannte.  Die 
alles  Sein  lockende  und  lösende  Kraft  des  Südens  strömte  ihm 
entgegen.  Die  W^onnen,  die  starken  Naturen  mit  Wehen  nahen, 
verkündeten  sich  seiner  Seele  von  ferne,  seiner  Seele,  die  nicht 
anders  konnte,  als  sich  allem  öffnen,  was  von  draußen  nach  Einlaß 
und  von  drinnen  nach  Auslaß  drängte.  Eine  Luft  schlug  ihm 
entgegen,  in  der  tausend  bisher  noch  nicht  entfaltete  Sprossen  und 
Triebe  sich  plötzlich  mit  unbändiger  Lust  regten  und  streckten, 
und  in  der  ihn  die  Ahnung  von  der  Macht  überwältigte,  die  ihm 
von  nun  an  das  Leben  alles  Lebens  werden  sollte,  die  Urkraft  des 
Weltalls,  das  beseelte  Mysterium  aller  Neugeburt,  die  Macht  des 
Geschlechtes,  der  Zeugung. 

Seine  Unruhe  fand  einen  noch  befangenen,  zahm  gereimten  und 
gewissermaßen  lehrhaften  Ausdruck  in  einem  Gedicht,  das  er  wäh- 
rend der  Fahrt  auf  dem  Mississippi  schrieb  und  in  dem  er  den 
„Strom  der  Jugend"  anruft  und  den  Steuermann,  der  auf  ihm 


XXXVIII 


das  Schiff  lenkt,  vor  üppigem  Erschlaffen  und  sorgloser  Wollust 
warnt. 

Im  schöpferischen  Werdegang  öffnen  sich  plötzlich  Sphären,  die 
mit  einem  Male  eine  Heimatluft  um  den  Genius  atmen  und  in  denen 
alles,  was  sich  bisher  auf  keine  Weise  sagen  oder  gestalten  ließ, 
nun  mit  der  Erstlingsfrische  und  dem  geheimnisvollen,  vieldeutigen, 
herben  Zauber  Gestalt  annimmt,  mit  dem  es  im  Innersten  erahnt 
und  geschaut  wurde. 

Die  Dinge  behalten  denselben  Namen,  aber  er  klingt  anders. 
„Baum"  ist  nicht  mehr  „Baum",  „Hand  und  Mund"  nicht  mehr 
„Hand  und  Mund",  „Herz"  nicht  mehr  „Herz";  Wonnen  der  Neu^ 
geburt  beginnen  zu  walten. 

In  eine  solche  Sphäre  trat  Whitman  offenbar  mit  diesem  Früh- 
ling 1848  ein. 

Sie  stand  unter  dem  Zeichen  einer  Liebe,  deren  Stärke  und 
Glut  wir  nur  eben  aus  dieser  ihrer  Wirkung  auf  seine  Dichter^ 
kraft  und  aus  einigen  wenigen  Anzeichen  ahnen  können,  da  er 
selbst  bis  an  seinen  Tod  den  Schleier  des  Geheimnisses  darüber 
gebreitet  hat.  Weder  vor-  noch  nachher  ist  uns  von  einem  Herzens- 
erlebnis Whitmans  etwas  bekannt,  und  es  scheint  in  der  Tat,  als 
ob  dies  die  einzige  große  Leidenschaft  seines  Lebens  gewesen  ist; 
wie  ja  denn  auch  das  Gesetz  der  Einmaligkeit  über  all  seinem 
Wesen  und  Schaffen  zu  walten  scheint:  der  allesumspannenden 
Einmaligkeit,  die  wie  in  einer  großen  Umarmung  sich  mit  dem 
Dasein  vermählt.  Denn  es  sei  schon  hier  gesagt,  daß  seine  Dich- 
tung, nachdem  sie  einmal  ihre  Ausdrucksform  gefunden  hatte,  sich 
in  einem  mächtigen  vulkanischen  Ausbruch  verschleuderte,  dem 
zwar  immer  wieder  noch  Feuerströme  folgten,  die  jedoch  ebensogut 
nur  gleichartige  Teile  der  ersten  Glut  hätten  sein  können.  Damit 
soll  nicht  gesagt  sein,  daß  wir  nicht  frühere  und  spätere  Epochen 
an  seinen  Gesängen  gut  zu  unterscheiden  vermöchten.  Jedoch  ge- 
hört dazu  schon  eine  ziemlich  genaue  Kenntnis  Whitmans;  eine 
Einteilung  seines  Schaffens  in  verschiedene,  jeweils  in  sich  ge- 
schlossene, aufbauende  Ringe  und  Kreise,  wie  etwa  die  aus  Goethes 
Werk  sich  ergebende,  ist  bei  ihm  nicht  denkbar.  Die  Maschen 
seines  zuerst  nur  96  Seiten  starken  Buches  waren  so  weit  gewebt, 
daß  er  die  vielen  noch  folgenden  Gesänge  in  sie  verteilen  konnte. 
Er  sang  das  eine  große,  freilich  vielfältige  Thema,  das  im  Grunde 


XXXIX 


weder  Anfang  noch  Ende  hat.  So  konnte  er  denn  auch  etwa  an 
den  Schluß  der  dritten  Auflage  von  1860  bereits  das  Gedicht  „Leb- 
wohl" stellen,  das  wie  der  Abschied  eines  sterbenden  Greises  klingt, 
obwohl  er  es  als  Vierzigjähriger  schrieb,  und  das  er  auch  in  den 
ganz  späten  Auflagen  der  „Grashalme"  ohne  irgendeine  störende 
Wirkung  mit  Fug  wiederum  an  den  Schluß  stellen  durfte  und 
stellte.  Er  zog  die  Umrisse  seines  Werkes  von  vornherein  so  weit 
und  geräumig,  als  hätte  er  einen  visionären  Vorausblick  über  sein 
gesamtes  Schaffen  gehabt. 

Das  New  Orleans  von  damals  war  ein  Gemisch  aus  Frankreich, 
Spanien,  Venedig  und  Amerika. 

In  weicher,  üppiger  Luft  lag  es,  halb  modern,  halb  altertüm- 
lich, an  den  Golf  von  Mexiko  gedrängt,  mit  seiner  katholischen 
Kathedrale,  die  von  tausend  wirren  Ziegeldächern,  Galerien  und 
Höfen  umlagert  and  von  einer  Fülle  südländischer  Blumen  und 
Bäume  umduftet  war.  Musik  und  Gesang,  weiche  kreolische 
Laute  lagen  in  der  Luft.  Priester  wandelten  in  langen  Gewändern 
durch  die  Straßen,  in  denen  sich  ein  Durcheinander  von  Pflanzern, 
Händlern,  Abenteurern  drängte.  In  strengerer  Abgesondertheit 
schloß  sich  die  vornehmste  Aristokratie  der  Neuen  Welt  zusammen. 
Nirgends  in  den  Staaten  lebte  ein  so  feudaler  Kastengeist  wie 
hier,  —  gemildert  durch  die  Weichheit  der  Zone,  durch  die  all- 
gemeine Fröhlichkeit,  die  sich  in  bunter  Romantik  mit  Tänzen, 
Karnevals,  Duellen,  Liebesabenteuern  austobte.  In  der  Gesellschaft 
wurde  viel  französisch  gesprochen.  An  der  Seite  der  Stadt  je- 
doch, die  nach  dem  Mississippi  hin  lag,  brodelte  das  Schiffer-  und 
Matrosenviertel,  mit  zahllosen  Spelunken,  Kneipen  und  Spiel- 
höllen, eine  wilde,  von  Verbrechern  durchlungerte  Welt.  Und  hin 
und  her  in  der  Stadt  trieb  eine  verwegene  Künstler-  und  Literaten- 
boheme ihr  leichtsinniges  Weesen. 

Aus  einigen  spärlichen  mündlichen  und  brieflichen  Andeutungen 
Whitmans  geht  nun  hervor,  daß  er  hier  in  dieser  bewegten, 
schönen  Stadt  eine  Frau  traf,  die  er  ebenso  leidenschaftlich  liebte 
wie  sie  ihn. 

Wer  es  war  und  in  welchen  Kreisen  er  sie  kennen  lernte,  ob 
in  der  Gesellschaft  oder  im  Volk,  wissen  wir  nicht.  Die  meisten 
Biographen  nahmen  bisher  an,  es  sei  eine  Dame  der  südlichen 
Aristokratie  gewesen,  deren  Liebe   zu  einem  Journalisten  und 


XL 


Handwerker  aus  dem  Norden  ein  so  ungeheuerlicher  Bruch  mit 
den  Anschauungen  ihrer  Klasse  war,  daß  an  eine  Heirat  nicht  zu 
denken  war.  Whitman  reiste  nach  drei  Monaten  plötzlich  aus  New 
Orleans  ab  und  kehrte  in  den  Norden  zurück;  und  diese  flucht- 
artige Abkehr  wird  gedeutet  als  Folge  etwa  des  Einschreitens  der 
Verwandten  der  Dame,  denen  etwas  von  ihrem  Verhältnis  zu  Whit- 
man zu  Ohren  gekommen  war.  Das  lebenslange  Schweigen  des 
Dichters  über  alle  Einzelheiten  dieses  tiefgreifenden  Erlebnisses, 
das  so  sehr  im  Widerspruch  steht  zu  seinem  sonstigen  freien  Aus- 
sprechen aller  Dinge,  die  ihn  bewegten,  wäre  dann  als  eine  viel- 
leicht von  den  Verwandten  geforderte,  vielleicht  auch  freiwillige 
Rücksichtnahme  zu  erklären.  Neuere  Biographen  glauben  keinen 
Grund  für  eine  solche  Deutung  zu  sehen  und  meinen,  diese  Ge- 
liebte habe  ebensogut  eine  Frau  aus  dem  Volk  sein  können,  die  ihn, 
wie  so  viele  Hunderte  in  New  York,  eben  nur  als  „Walt"  kannte 
und  ihn  liebte,  ohne  zu  fragen  und  etwas  anderes  von  ihm  zu  for- 
dern, als  Gegenliebe.  Aus  dem  einen,  ja  wohl  einzigen  Gedicht 
Whitmans,  das  einem  persönlichen,  besonderen  Liebeserlebnis  gilt 
und  das  zweifellos  auf  die  Zeit  in  New  Orleans  zu  deuten  ist,  näm- 
lich dem  Gedicht  „Einst  kam  ich  durch  eine  volkreiche  Stadt"  (in 
den  „Kindern  Adams")  ergibt  sich  in  jener  Hinsicht  auch  keinerlei 
bestimmte  Deutung.  Es  spricht  nur  für  die  Stärke  seines  Gefühls 
und  fast  noch  mehr  des  Gefühls  der  Frau.  Es  gibt  ein  paar  Äuße- 
rungen Whitmans,  die  mit  aller  Bestimmtheit  aussprechen,  daß  er 
noch  einige  Male  in  den  Süden  zurückkehrte.  Nun  ist  uns  aber  sein 
Leben  nach  der  Veröffentlichung  der  „Grashalme"  (i855)  so  bis 
in  alle  Einzelheiten  bekannt,  daß  wir  von  diesen  Besuchen  wissen 
müßten,  wenn  sie  nach  i855  stattgefunden  hätten.  Wir  können 
sie  also  schlechterdings  nur  in  die  Jahre  zwischen  1 848  (49)  und  1 855 
unterbringen,  die  weniger  offen  vor  uns  liegen.  Da  es  unter  an- 
derem auch  durch  Whitmans  eigene  Aussage  bekannt  ist,  daß  er  sechs 
Kinder  hatte,  nimmt  man  an,  daß  er  also  in  jenen  Jahren  des  öfteren 
seine  Geliebte  wiedersah.  Ob  das  gerade  zu  jener  ersten  Deutung 
passen  würde,  es  habe  sich  um  eine  von  den  Verwandten  streng 
behütete  Dame  der  Gesellschaft  gehandelt,  lasse  ich  dahingestellt. 
Neuere  Biographen  neigen  zu  der  Annahme,  diese  sechs  Sprößlinge 
stammten  gewiß  nicht  von  derselben  Mutter.  Vor  allem  glauben  sie 
das  aus  der  Stelle  eines  Briefes  Whitmans  an  den  ihm  befreundeten 


XLI 


englischen  Kritiker  Addington  Symonds  zu  erkennen,  wo  Whit- 
man  schreibt:  „Ich  habe  sechs  Kinder  gehabt  —  zwei  davon  sind 
gestorben  —  habe  ein  lebendes  Enkelkind  im  Süden,  einen  feinen 
Buben,  der  mir  gelegentlich  schreibt  —  Umstände  (Rücksichten  aut 
die  Vermögenslage  der  Kinder)  haben  uns  intimere  Beziehungen 
unmöglich  gemacht."  Es  scheint,  mit  anderen  Worten,  daß  den 
Kindern  ein  gewisses  Vermögen  entzogen  worden  wäre,  wenn 
Whitmans  Vaterschaft  anerkannt  worden  wäre;  ein  Umstand,  der  zu- 
gleich gewisse  törichte  Vorwürfe  entkräftet,  Whitman  habe  sich, 
ähnlich  wie  Rousseau,  nicht  um  seine  Kinder  gekümmert.  Aus  der 
Wendung  „habe  ein  Enkelkind  im  Süden"  schließen  nun  jene  neueren 
Kritiker,  daß  er  auch  noch  andere  Enkelkinder  im  Norden  gehabt 
habe,  also  Kinder  von  einer  oder  mehreren  anderen  Frauen.  Andrer- 
seits scheint  mir  grade  dieser  Hinweis  auf  Vermögensumstände 
denn  doch  sehr  stark  gegen  die  Annahme  zu  sprechen,  jene  Frau 
sei  irgendein  anonymes  Weib  aus  dem  Volke  gewesen. 

Wie  dem  auch  sei,  —  wer  immer  sich  tiefer  in  Whitmans  Werde- 
gang einfühlt,  wird  in  der  Liebe  zu  dieser  südlichen  Frau  das 
eigentlich  einzige  erschütternde  Herzenserlebnis  des  Dichters  emp- 
finden müssen;  alles  übrige  kann  getrost  weiterer  biographischer 
Forschung  überlassen  bleiben*. 

Whitman  verließ  also  New  Orleans,  nachdem  er  das  ganze  viel- 
fältige Leben  der  Stadt  in  sich  aufgenommen  hatte,  am  25.  Mai, 
zur  Freude  seines  fünfzehnjährigen  Bruders  Jeff,  den  er  als  Helfer 
in  der  Druckerei  mitgenommen  hatte  und  dem  das  südliche  Klima 
schlecht  bekam. 

So  kurz  die  Zeit  gewesen  war,  so  fuhr  er  doch  als  ein  anderer 
wieder  den  Mississippi  hinauf  und  durch  den  Missouri,  dann  nach 
dem  jungen  Chikago,  durch  die  großen  Seen  Michigan,  Huron 
und  Erie  bis  zum  Niagarafall  und  in  das  südliche  Kanada,  und 
schließlich  auf  dem  Hudson  wieder  nach  New  York  zurück.  Die 
Fahrt  dauerte  fünf  herrliche  Sommerwochen,  in  deren  Glanz  viele 
helle,  aufblühende  Städte  an  den  Ufern  an  ihm  vorüberzogen,  im 
Hintergrunde  immer  die  riesigen,  von  Fruchtbarkeit  strotzenden 
Siedelländer. 

*  Während  ich  diese  Zeilen  in  Druck  gebe,  wird  soeben  ein  Buch  des  New 
Yorker  Professors  Emmory  Holloway  angekündigt,  das  neues  Material  zu  dieser 
Frage  bringen  soll.   Es  liegt  zur  Zeit  noch  nicht  vor. 


XLII 


Im  ganzen  war  er  fast  vier  Monate  von  New  York-Biooklyn 
weggewesen  und  hatte  siebzehn  Staaten  der  Union  mit  eigenen 
Augen  gesehen,  so  daß  sie  „Teil  von  ihm"  wurden,  gleichwie 
alles,  was  das  Kind  erblickte,  „das  ausging  jeden  Tag".  Mit 
der  unvergänglichen  Nachglut  des  Südens  im  Blut  kehrte  er  heim 
nach  Manhattan. 


FRÜCHT 


Komm,  sagte  meine  Seele, 

Laß  uns  nun  solche  Verse  schreiben  für  meinen  Leib  (denn  wir  sind  eins), 

Daß,  sollt'  ich  unsichtbar  nach  meinem  Tode  wiederkehren, 

Oder  in  andern  Sphären,  lange  lange  hin. 

Ich  ewiglich  mit  freudigem  Lächeln  weitersingen  mag. 

Für  irgendeine  Schar  von  Freunden  neu  anstimmend 

(Im  Einklang  mit  der  Erde  Boden,  Bäumen,  Winden,  stürmischen  Wogen), 

Ewig  und  ewig  zu  meinen  Versen  mich  bekennend,  — 

Gleichwie  ich  jetzt  und  hier  zum  erstenmal. 

Zeichnend  für  Leib  und  Seele,  meinen  Namen  vor  sie  setze: 

Walt  Whitman. 

Anläßlich  des  Krieges  gegen  Mexiko  hatte  sich  die  demokratische 
Partei  endgültig  gespalten;  die  Richtung,  die  gegen  Ausdehnung 
der  Sklaverei  auf  die  eroberten  mexikanischen  Gebiete  stimmte, 
war  ausgeschieden.  Ihre  Mitglieder,  zu  denen  auch  Whitman  ge- 
hörte, nannten  sich  jetzt  „Freiland-Demokraten".  Die  Grundsätze 
dieser  Richtung  vertrat  Whitman  in  einer  Tageszeitung,  „Freeman", 
die  er  selber  gründete  und  in  Brooklyn  herausgab.  Sie  ging  aber 
schon  nach  einem  Jahr  wieder  ein,  wahrscheinlich  weil  der  Heraus- 
geber von  allzuviel  andersartigen  Ideen  erfüllt  war,  um  sie  erfolgreich 
zu  leiten.  So  entschloß  Whitman  sich  kurzerhand,  die  journa- 
listische Tagesarbeit  an  den  Nagel  zu  hängen,  und  da  sein  Vater 
just  um  diese  Zeit  zu  kränkeln  anfing,  trat  er  in  sein  Geschäft  ein, 
das  darin  bestand,  kleine  Holzhäuser  in  Brooklyn  im  Rohbau  zu 
errichten  und  auf  Fertigstellung  zu  verkaufen.  Bei  dem  schnellen 
Wachstum  der  Stadt  war  das  ein  einträgliches  Geschäft,  und  W^hit- 
man  war  bald  auf  dem  Wege,  ein  reicher  Mann  zu  werden. 

W^enn  es  nun  zwar  wohl  auch  eine  etwas  verklärende  Deutung 
übereifriger  Bewunderer  ist,  zu  sagen,  das  Geld  verdienen  sei  ihm 
zuwider  gewesen,  und  er  habe,  um  der  Armut  treu  zu  bleiben, 
seine  Bautätigkeit  bald  wieder  eingestellt,  so  ist  doch  soviel  wahr, 


XLIV 


daß  ein  höheres  Interesse  flieses  ersprießliche  Handwerk  während 
der  folgenden  Jahre  immer  mehr  in  den  Hintergrund  drängte 
und  ihn  so  beanspruchte,  daß  er,  unbekümmert  um  Gewinn  oder 
Verlust,  jederzeit  dem  Drang  nach  Muße  und  Freiheit  nachgab, 
nicht  immer  zur  Freude  des  besorgten,  ein  wenig  verbitterten 
Vaters. 

Dieses  Interesse  war  nichts  Geringeres,  als  der  feste  Entschluß, 
dem  amerikanischen  Volke,  das  ihm  nun  auf  seiner  Reise  in  leib- 
haftiger Breite,  Frische  und  Vielfältigkeit  nahe  gekommen  war, 
den  geistig-dichterischen  Ausdruck  zu  geben,  der  seiner  Eigenart 
und  Jugendkraft  gerecht  wurde  und  der  gleichsam  die  Bibel  einer 
durch  und  durch  modernen,  demokratischen  Menschheit  darstellen 
sollte.  Mit  allen  bewußten  Sinnen  richtete  er  die  Kräfte  dieser 
sieben  Jahre,  die  noch  bis  zum  Erscheinen  der  „Grashalme"  ver- 
gingen, auf  dies  Ziel. 

Dieser  Drang,  die  Wesenheit  seines  Volkes  geistig  darzustellen 
und  gleichzeitig  durch  diese  Darstellung  die  höchsten  Kräfte  in  ihm 
zu  erwecken,  war  die  natürliche  Emanation  seines  starken,  nach 
Ausdruck  ringenden  Gefühls  von  dem  Wunder  und  der  Erstmalig- 
keit seines  eigenen  Seins,  in  das  er  ja,  mit  verwandtem  Fleisch  und 
Blut,  alle  die  tausend  Erscheinungen  und  Regungen,  Freuden  und 
Leiden  der  Rasse  aufgesogen  hatte  und  immer  weiter  Tag  für  Tag 
aufsog. 

Der  heiße  Adel  leidenschaftlicher  Liebe,  vielleicht  zugleich  mit 
der  Schw^ermut  der  Entsagung,  die  ihn  aber  nicht  niederdrückte, 
sondern  noch  höher  in  die  Sphäre  des  Allgemeinen  hob,  mag  ihn 
noch  ungeduldiger  aus  dem  Tagesbetrieb  der  Zeitungsredaktion 
hinausgedrängt  haben  durch  die  Fülle  der  neuerwachten  Empfin- 
dungen, die  nach  Zeit  und  Ruhe  verlangten,  um  durchgefühlt  und 
zur  Reife  gebracht  zu  werden.  Man  fühlt,  wie  eine  Dichtung,  die 
so  ganz  aus  dem  Seienden,  Verweilenden  stammt,  in  diesen  sich 
zur  Erfüllung  steigernden  Jahren  alles  andere  an  sich  reißen  und 
auftrinken  mußte.  Der  Zimmermannsberuf  brachte  schon  mehr 
Muße  und  Beschaulichkeit;  die  feste,  schlichte  Gegenständlichkeit 
der  Handarbeit,  der  Aufenthalt  in  frischer  Luft,  die  reale  Zugehörig- 
keit zum  leiblichen  Leben  und  Werden  der  Stadt  selber,  die  er  be- 
dingte, förderten  den  inneren  Zusammenschluß  des  Gerüstes  der 
Gedanken.  Jedesmal,  wenn  ein  Holzbau  fertig  war,  gönnte  sich 


XLV 


Whitman  eine  oft  wochenlange  Ferienzeit,  während  der  er  sich  in 
die  Natur  zurückzog,  um  auf  der  Insel  herumzustreifen  und  am 
Strande  in  der  Sonne  zu  liegen,  zu  baden,  zu  lesen  und  zu  dekla- 
mieren. Hier  erprobte  er  die  ersten  Versuche  zu  seinen  Gesängen 
an  der  Natur  selber.  Er  suchte  in  ihnen  den  Rhythmus,  der  dem 
der  See  antwortete. 

Auch  bei  der  Arbeit  hatte  er  immer  ein  Buch  oder  eine  Zeitschrift 
oder  Zeitung  in  der  Tasche.  Er  war  sein  Leben  lang  ein  eifriger 
Zeitungsleser.  Sie  vermittelte  ihm  das  Gefühl  von  realer  Vielheit, 
von  lebendigem  Geschehen,  aus  ihr  hörte  er  das  dumpfe  Brausen 
der  Menge  und  ihres  Ineinanderbrandens,  das  er  so  liebte,  jenes 
„enmasse",  dem  er  sich  und  seine  Dichtung  verschwor.  Er  las 
die  alten  Klassiker,  Aschylos  und  Sophokles,  Plato,  las  Dante  und 
Shakespeare  und  Ossian,  den  Don  Quichote  und  die  Nibelungen, 
und  was  ihm  sonst  an  Büchern  in  die  Hände  kam.  Von  früher 
Jugend  an  waren  ihm  „Tausendundeine  Nacht"  und  die  Balladen 
Scotts  lieb  und  vertraut.  Er  selber  sagt,  er  sei  in  jüngeren  Jahren 
so  recht  ein  alles  verschlingender  Bücherfresser  gewesen;  eine  Fest- 
stellung, die  vielleicht  ein  wenig  übertrieben  ist. 

Gleichzeitig  las  er  eifrig,  wenn  auch  freilich  ohne  jedes  System, 
naturwissenschaftliche  und  philosophische  Werke.  Wissenschaft 
und  Philosophie  empfand  er  —  immer  aus  der  innersten  Sphäre 
reiner  Daseinsschau  heraus  —  durchaus  nicht  als  Gegensatz  zur 
Poesie,  vielmehr  als  nährend  und  fruchtbar  für  sie.  Die  Wissen- 
schaft machte  ihm  die  erschaute  Welt  nur  noch  reicher  und  viel- 
fältiger, die  Philosophie  bedeutete  ihm  Vereinheitlichung  des  Viel- 
fältigen. Die  Zweiheit  von  Selbst  und  Nichtselbst,  von  Subjekt  und 
Objekt  wurde  ihm  lebendig  zusammengehalten  durch  das  wahre 
„Ich",  durch  den  Weltgeist,  der  Subjekt  und  Objekt  gleicherweise 
durchflutet.  In  diesem  Sinne  ist  die  sich  durch  seine  Gesänge  hin- 
durchziehende Dreiheit:  „Ich,  meine  Seele  und  mein  Leib",  „selt- 
sames Trio",  zu  verstehen.  Für  diese  aus  seinem  lebendigen  Sein 
geborene  Anschauung  fand  Whitman  die  mit  Leidenschaft  begrüßte 
Bestätigung  in  dem  Kern  der  Philosophie  Hegels.  Das  innerste 
Prinzip  dieser  Philosophie  ist  die  Versöhnung  der  Gegensätze.  Jedes 
endliche  Ding  ist  es  selbst  und  doch  nicht  es  selbst;  denn  dadurch, 
daß  es  in  Beziehung  steht  zu  dem,  was  es  begrenzt,  trägt  es  das  Ele- 
ment seiner  Auflösung  in  sich.  Die  Seele  kann  nicht  durch  die 


XLVI 


Materie  vernichtet  werden,  denn  die  Materie  ist  nur  eine  Objek- 
tivation  der  Seele.  Das  Böse  ist  böse  nur  für  unsere  Anschauung; 
für  das  „Absolute"  sind  Leid  und  Tod  nur  notwendige  Stufen  im 
ewigen  Fortschritt.  Das  Böse  ist  der  Schatten  des  Guten.  Die  ewige 
Wahrheit  trägt  es  mit  sich  fort,  um  es  endlich  ganz  im  Guten  auf- 
gehen zu  lassen.  Im  Bereiche  der  Menschheit  sind  unsere  Körper 
nur  ein  Teil  der  objektiven  Inkarnation  Gottes.  Da  die  Seele  un- 
teilbar ist,  ist  das,  was  unsern  Körper  und  Geist  beseelt,  zugleich 
Allseele.  Dies  ist  bei  Whitman  gemeint  mit  der  mystischen  Inden- 
tifikation  seines  „Ich"  mit  dem  Absoluten;  und  hierin  liegt  der 
Grund  zu  der  Gleichstellung  von  Seele  und  Leib.  Seele  und  Leib, 
beide  Gott-Substanz,  bilden  im  Meere  der  Unendlichkeit  eine  Einzel- 
idee, die  zugleich  absolut  und  individuell  ist. 

Diese  ganze  Anschauung,  deren  weiterer  Verzweigung  ich  hier  nicht 
nachgehe,  ist  bei  Whitman  durchaus  nicht  systematisch  ausgebaut; 
sie  blitzt  nur  im  großen  Strom  seiner  Ich-Gesänge  hie  und  da  in 
kronkreten  Worten  auf,  die  mit  unbekümmerter  Unmittelbarkeit 
etwa  aus  Hegel  oder  Schelling  oder  griechischer  Philosophie  über- 
nommen sind,  und  rauscht  nur  groß  und  weit  und  wortlos  hinter 
allem.  Denn  die  „verzehrende  Lust",  von  der  er  „rasend"  ist,  ist 
nicht  das  Verlangen,  einen  philosophischen  Gedankenaufbau  zu  er- 
richten, sondern  seine  Wesenheit  selber  mit  mystischer  Kraft  zum 
Ausdruck  zu  bringen,  in  der  die  Wirklichkeit,  der  lebendige 
Traum  des  Seins  pulsiert.  Das  Wunder  der  „Identität",  das  Wun- 
der des  Absoluten,  des  „wahren  Ich"  im  individuellen  Ich,  der  in- 
einander verschlungenen  Endlichkeit  und  Unendlichkeit  lebt  in 
ihm,  klopft  im  Herzschlag  jeder  Sekunde,  schaut,  hört,  fühlt, 
riecht,  denkt,  jubelt,  leidet  in  ihm  und  allen  seinen  Sinnen.  Die 
Worte,  nach  denen  er  ringt,  sind  Andeutungen  auf  die  ewig  laut- 
losen, ewig  wahren  Worte ;  er  sucht  jedes  von  ihnen  so  ganz  mit 
dem  Arom  seiner  eigenen  staunenden  Wesenheit  zu  durchtränken, 
daß  durch  sie,  durch  ihr  leidenschaftliches  Gedränge  oder  durch 
ihre  zarteste,  bebende  Vereinsamung  in  irgendeinem  hingeflüsterten 
Satz  die  Sphäre  heraufbeschworen  werde,  in  der  allein  erst  das 
wahre  Verstehen  dessen,  was  er  meint,  möglich  ist:  die  Sphäre 
einer  tief  natürlichen  Ekstase,  jener  Ekstase,  die  uns  alle  angesichts 
des  unerhörten  Wunders  unseres  Daseins  täglich  und  stündlich  in  Bann 
halten  müßte  und  von  der  aus  uns  jegliche  Alltagsgleichgültigkeit, 


XLVII 


jede  Beruhigtheit  in  der  Sphäre  fragwürdiger  Vertrautheit  mit  heute 
und  morgen  eigenthch  als  das  größte  und  dumpfste  Wunder  er- 
scheinen müßte. 

Daher  auch  die  immerwährende  Hindeutung  darauf,  daß  er  ganz 
etwas  anderes  sei,  als  seine  Leser  vielleicht  zunächst  denken  mögen ; 
daß  er  ihnen  ständig  und  mit  jedem  Wort  entgleite,  aber  dennoch 
„irgendwo"  ruhig  und  gelassen  auf  sie  warte.  Denn  das,  was  da 
wartet,  ist  eben  das  mystisch-natürliche  Bewußtsein  vom  wahren, 
allgemeinen,  absoluten  Ich,  das  im  Leser  sowohl  wie  in  ihm  selber 
lebt  und  zu  dem  hinzuführen  der  ganze  Sinn  seines  Dichtens  ist. 
Daher  ist  es  auch  so  schwer,  etwas  über  Whitman  auszusagen 
außerhalb  der  Sphäre,  die  er  selber  eben  erst  schafft  und  die  erst 
fühlbar  macht,  worum  es  sich  eigentlich  handelt.  Daher  die  Trans- 
parenz seiner  Worte,  das  seltsam  Erregende,  Erstmalige,  Neugeborene 
in  und  unter  ihnen.  Daher  auch  die  besondere,  erschütternde  Ge- 
walt des  Wortes  „Liebe",  das  alle  seine  Gesänge  durchtönt;  der 
Liebe,  die  nichts  anderes  ist,  als  eben  die  bebende  Wärme  und  das 
alles  Zeugens  und  Gebärens  frohe  Zugehörigkeitsgefühl  zu  der  im 
Unendlichen  schwebenden,  vom  Unendlichen  durchfluteten  Leib- 
haftigkeit, das  sich  zu  seiner  höchsten,  zartesten,  feurigsten  Inten- 
sität steigert  im  Kameradschaftsgefühl.  Der  bedeutende  englische 
Kritiker  und  Gelehrte  John  A.  Symonds  schrieb:  „Whitman  ist  in 
der  Tat  im  höchsten  Grade  verwirrend  für  die  Kritik.  Über  ihn 
reden  ist  wie  über  das  Universum  reden  ...  Er  gleicht  dem  Uni- 
versum, nicht  nur,  weil  er  so  weit  und  umfassend  ist,  sondern  weil 
er  ungreifbar,  entweichend,  auf  den  ersten  Blick  widerspruchsvoll 
und  in  gewissem  Sinne  formlos  ist."  („Walt  Whitman",  Seite  33.) 
Alles  ist  ihm  die  Wesenheit,  das  Arom,  der  Daseinszauber  seines 
Buches;  am  liebsten  wäre  es  ihm,  der  Leser,  der  Liebende,  der 
Kamerad  trüge  es  bei  sich  in  der  Rocktasche,  so  daß  es  an  seiner 
Hüfte  ruhte  vmd  nur  recht  nahe  bei  ihm  wäre;  denn  es  ist  kein 
Buch,  „wer  dies  berührt,  berührt  einen  Mann".  Es  ist  auch  nicht 
in  die  Zeit  eingeschlossen;  Jahrhunderte  und  Jahrtausende,  rollende 
Kreisläufte  sind  wesenlos  im  ewig  seienden  Fluten  der  Wahrheit. 
Die  ewige  Wiederkehr  ist  die  ewige  Gegenwart. 

Dr.  Richard  M.  Bücke,  der  erste  und  immer  noch  grundlegende 
Biograph  Whitmans  (und  andere  Betrachter  nach  ihm)  möchte  es 
so  deuten,  als  ob  dieses  universale  Daseinsgefühl  Whitman  um 


XLVIiI 


diese  Zeit  in  jäher,  mystischer  Erleuchtung  eines  Tages  über- 
kommen hätte,  an  jenem  Sommermorgen  wahrscheinlich,  dessen 
Erleben  Whitman  im  fünften  Salz  des  „Gesangs  von  mir  selbst" 
in  lächelndem  Zwiegespräch  mit  seiner  Seele  nachtastet,  zu  der 
er  redet: 

Ich  gedenke,  wie  einst  wir  lagen  an  solch  einem  durchsichtigen 
Sommermorgen, 

Wie  du  dein  Haupt  quer  über  meine  Lenden  legtest  und  dich  leise 

über  mich  kehrtest 
Und  das  Hemd  streiftest  von  meinem  Brustbein  und  tauchtest  deine 

Zunge  in  mein  entblößtes  Herz 
Und  hinaufreichtest,  bis  du  meinen  Bart  fühltest,  und  hinabreichtest, 

bis  du  meine  Füße  hieltest. 

Alsbald  erhob  und  breitete  sich  um  mich  der  Friede  und  das  Wissen, 
das  höher  ist  als  alle  Beweisgründe  der  Erde, 

Und  ich  weiß,  daß  die  Hand  Gottes  die  Gewähr  für  meine  eigene 
Hand  ist. 

Und  ich  weiß,  daß  der  Geist  Gottes  der  Bruder  meines  eignen 
Geistes  ist. 

Und  daß  alle  Männer,  die  je  geboren,  auch  meine  Brüder  sind,  und 
die  Weiber  meine  Schwestern  und  Liebsten  ; 

Und  daß  der  Richtkiel  der  Schöpfung  Liebe  ist. 
Und  zahllos  Halme  aufgerichtet  oder  geneigt  auf  den  Feldern, 
Und  Ameisen  braun  in  den  winzigen  Löchern  an  ihren  Wurzeln, 
Und  moosiger  Schorf  der  Schlupfwinkel  von  Würmern,  Steinhaufen, 
HoUunder,  Königskerzen  und  Scharlachbeeren. 

Diese  Biographenart,  eine  solche  mit  dem  ganzen  Wesen  von 
Kind  aut  emporwachsende  Empfmdungs-  und  Bewußtseinskraft  in 
eine  bestimmte  Stunde  der  Erleuchtung  zu  drängen,  scheint  mir 
jedoch  etwas  allzu  programmatisch,  selbst  wenn  man  es  so  deutet, 
daß  mit  dieser  Stunde  nicht  der  Inhalt,  wohl  aber  die  letzte  Inten- 
sität dieser  Offenbarung  geboren  worden  sei.  Die  Intensität  Whit- 
mans  ist  ein  Werden  von  Tag  zu  Tag,  in  ihrer  Einheit  immer 
lebendig,  nur  immer  weiter  ausgreifend,  in  sich  hinein  und  in  die 
Welt  umher;  und  die  Empfindungskraft  des  Kindes  angesichts  der 


IV    Whitman  1 


XLIX 


nächtlichen  See  und  im  Lauschen  auf  den  Liebes-  und  Todes- 
gesang des  Vogels  („Aus  der  ewig  schaukelnden  Wiege  .  .  ."), 
ist  an  Wesen  und  .  Stärke  dieselbe,  wie  die  einer  solchen  sommer- 
lichen Seelenstunde  des  Mannes.  Auch  daß  etwa  das  Erwachen 
der  Ausdruckskraft,  die  Geburt  der  Worte  in  diese  Stunde  zu  ver- 
legen sei,  wäre  eine  engherzige  Deutung ;  seine  eigenste  Sprache 
wuchs  Whitman  in  all  diesen  Jahren  langsam,  in  vielen  Versuchen 
und  Mühen  heran  und  war  kein  vom  Heiligen  Geist  jäh  herab- 
geschicktes Zungenlallen,  sondern  ein  in  strenger  Arbeit  errungenes 
Kunstmittel,  das  er  immer  wieder  und  wieder  dem,  was  er  inner- 
lich klingen  hörte,  immer  reiner  anzupassen  suchte. 

In  völliger  Verkennung  Whitmans  hat  man  auch  bei  uns  —  irre 
geführt  durch  schlechte  Übertragungen  —  von  dem  „rohen  Golde" 
geredet,  das  Whitman  gleichsam  wild  und  formlos  um  sich  her 
schleudere.  Wenn  er  selber  sagt,  er  bringe  nur  den  Stoff  zu  neuen 
Gesängen,  so  meint  er  natürlich  etwas  ganz  anderes,  viel  Tieferes, 
nicht  etwa,  daß  er  diesen  Stoff  in  roher  Form  brächte.  Es  ist  ein 
rechtes  Armutszeugnis,  wenn  gewisse  Kritiker  es  für  nötig  halten, 
darauf  hinzuweisen,  daß  Whitman  mit  früheren,  wohlgereimten 
Gedichten  und  auch  mit  einigen,  sich  metrischer  Form  wieder  an- 
nähernden Altersgesängen  seine  Fähigkeit  zu  kunstgerechter  Form 
bewiesen  habe,  daß  also  doch  so  etwas  wie  Absicht  in  der  Freiheit 
seiner  Rhythmen  liegen  müsse*.  Whitman  selber  weist  in  einem 
seiner  Prosaaufsätze  Reim  und  Metrik  als  Kunstmittel  für  die  neue 
demokratisch- kosmische  Dichtung,  die  er  einleitet,  ausdrücklich 
zurück,  da  nur  die  freie  rhythmische  Sprache  sich  der  unendlichen 
Bewegtheit  der  neuen  Themen  anzupassen  vermöge. 

Das  Werdende  in  ihm  erfüllte  Whitman  von  Jahr  zu  Jahr  aus- 
schließlicher. Es  konnte  geschehen,  daß  er  lohnende  Bauaufträge 

*  Es  würde  hier  zu  weit  führen,  im  ganzen  und  einzelnen  auf  die  Frage  der 
Form  Whitmans  einzugehen.  Ich  hoffe,  soweit  es  überhaupt  möglich  ist,  in 
meiner  Übertragung  das  wunderbar  Atmende  im  Rhythmus  dieser  Gesänge,  das 
jäh  Hineilende,  Überstürzte,  dann  wieder  wie  atemlos  Innehaltende,  in  zartem 
Verweilen  sich  dämmrig-zärtlich  bis  an  alle  Fernen  des  Seins  Ausbreitende,  und 
all  die  hundertfältigen  Lautfärbungen,  Tonfälle  vom  Schrei  bis  zum  Flüstern 
einigermaßen  unverdorben  wiedergegeben  zu  haben.  Ich  weise  im  übrigen  hier 
nur  auf  die  ausgezeichnete  Kritik  von  Whitmans  Stil  und  Form  hin,  die  Basil 
de  S^lincourt  in  seinem  Buche  „Walt  Whitman,  Eine  kritische  Studie"  (London  1914) 
gegeben  hat. 


L 


Bildnis  von  i855 
aus  der  Erstausgabe  der  ,, Grashalme 


unberücksichtigt  ließ  und  einfach  davonging,  seinen  Gedanken 
nach.  Die  Familie  lebte  in  auskömmlichen,  aber  doch  knappen 
Verhältnissen.  Die  Krankheit  des  Vaters  wurde  immer  ernster. 
Drei  der  Brüder,  George,  Jeff  und  Edward,  halfen  mit  verdienen, 
und  die  Mutter  und  Walts  Lieblingsschwester  Hannah  schalteten 
im  Hause.  Der  älteste  Bruder  scheint  als  Arbeiter  auswärts  gelebt 
zu  haben,  und  die  zweite  Schwester  Mary  war  vermutlich  schon 
verheiratet.  Die  wachsende  Gleichgültigkeit  Walts  gegen  die  Be- 
dürfnisse des  Tages  wird  sicherlich  oft  mit  Sorge  und  Unmut  be- 
trachtet worden  sein,  wenn  auch  die  immer  gleiche  Liebe  ihn  um- 
gab und  man  immer  noch  in  den  meisten  Angelegenheiten  ihn 
um  Rat  fragte. 

Im  Jahre  i853,  zwei  Jahre  vor  dem  Tode  des  Vaters,  machte 
Whitman  mit  ihm  einen  Besuch  in  Huntington,  damit  er  dort  noch 
einmal  sein  altes  Heim  sähe. 

Im  Frühjahr  i855  gab  er  die  Zimmerei  endgültig  auf,  um  sein 
Manuskript  abzuschließen,  und  im  Frühsommer  ging  er  in  eine 
kleine  Druckerei,  wo  er  es  mit  eigener  Hand  setzte.  Anfang  Juli, 
wenige  Tage  bevor  der  Vater  starb,  war  er  damit  fertig.  Am 
6.  Juli  zeigte  er  es  in  der  „New  York  Tribüne"  an.  Es  kostete 
zwei  Dollars,  obwohl  es  nur  ein  schmaler  Band  von  96  Seiten 
war,  ziemlich  groß  im  Format,  seegrün  gebunden,  mit  dem  gold- 
gedruckten Titel  „Grashalme"  auf  dem  Einband.  Diese  iV.usgabe 
gehört  heute  zu  den  kostbarsten  Seltenheiten. 

Die  Familie  kümmerte  sich  um  das  Ereignis  nicht  sonderlich 
und  würde  sich  auch  wohl  nicht  darum  gekümmert  haben,  wenn 
der  Tod  des  Vaters  nicht  alle  Gedanken  und  Gefühle  beherrscht 
hätte.  Man  kann  sich  die  Stimmung  selbst  etwa  der  liebevollen 
Mutter  gegen  dieses  „Werk"  vorstellen,  dem  zuliebe  ihr  Walt 
während  der  letzten  Monate  zu  einem  rechten  Faulenzer  geworden 
war,  der  am  Morgen  aufstand,  wann  es  ihm  paßte,  zum  Essen  zu 
spät  kam  und  oft  tagelang  kaum  zu  sehen  war. 

Das  Buch  bestand  aus  einem  langen  Vorwort  oder  Manifest  über 
die  neue  Dichtung  und  den  neuen  Dichter  (siehe  Prosaschriften !) 
und  zwölf  Gedichten  gleichsam  als  Beispielen  dafür.  Der  Verfasser 
war  nicht  genannt,  nur  prangte  gegenüber  dem  Titelblatt  das  seit- 
her berühmte  Bild,  auf  dem  Whitman  in  Gürtel  und  Hemd,  mit 
breitem  Schlapphut,  die  eine  Hand  in  der  Tasche,  die  andere  leicht 


IV* 


LI 


in  die  Hüfte  gestützt,  in  lässiger  Haltung  zu  sehen  ist,  —  das 
„rowdy-Poi  trat"  ,  wie  empörte  Kritiker  es  nannten.  Es  wäre  ver- 
fehlt, in  dieser  Aufmachung  des  Buches  eine  Pose  zu  sehen,  wie 
Unverständige  es  getan  haben;  vielmehr  ist  sie  der  Ausdruck  einer 
amerikanisch-kindlichen  Unmittelbarkeit  und  Resolutheit,  vielleicht 
nicht  ganz  frei  von  einem  Beigeschmack  jener  dort  üblichen  Art 
von  Reklame,  die  den  zu  Überzeugenden  gleichsam  am  Rockknopf 
faßt  und  nicht  locker  läßt.  Liegt  ja  doch  auch  in  Whitmans  Dich- 
tung selber  in  einem  unendlich  höheren,  vergeistigten  Sinne  etwas 
von  diesem  unmittelbaren  Herankriegen"  des  Hörers,  von  diesem 
direkten  Anreden  im  allernatürlichsten  Tonfall  der  Welt,  so  daß 
zum  Beispiel  Basil  de  Selincourt  einen  gewissen  Kreis  dieser  Ge- 
sänge als  „conversational  poems",  etwa  als  „Gesprächsgedichte" 
bezeichnet. 

Die  einzelnen  Gedichte  hatten  keine  Sondertitel.  Das  erste  und 
größte,  in  der  nächsten  Auflage  „Walt  Whitman"  und  späterhin 
„Gesang  von  mir  selbst"  genannte,  bildete  den  wesentlichen  Haupt- 
teil des  Buches.  Unter  den  übrigen  waren  besonders  bedeutungs- 
voll „Die  Schläfer",  die  „Gesichter"  und  „Es  war  ein  Rind,  das 
ausging  jeden  Tag".  Wir  sehen  hier  wiederum  jene  Weitmaschig- 
keit der  ganzen  Anlage,  denn  die  zuletzt  genannten  Gesänge 
rückten  später  viel  weiter  hinter  neueingeschobene  zurück. 

Whitman  hatte  erwartet,  sein  Buch  würde  als  Erfüllung  oder 
wenigstens  als  verheißungsvoller  Versuch  zur  Erfüllung  der 
zweifellos  damals  lebendigen  Sehnsucht  nach  einem  ur-amerikani- 
schen  Dichter  begrüßt  werden,  als  Beginn  einer  Loslösung  von 
europäischer  Literatur,  der  Amerika  bisher  nichts  Eigenartiges  ent- 
gegenzustellen hatte,  außer  etwa  in  gewissem  Grade  die  Schriften 
und  Gedichte  Emersons,  der  aber  selbst  einmal,  als  man  ihn  als 
neuen  amerikanischen  Dichter  ansprach,  mit  den  Worten  abge- 
wehrt hatte:  „Der  neue  amerikanische  Dichter  wird  ganz  anders 
aussehen !" 

Wenn  also  Whitman  auch  auf  Widerspruch,  ja  Empörung  ge- 
wisser Leute  gefaßt  war,  so  hatte  er  doch  eines  nicht  erwartet: 
Gleichgültigkeit.  Gerieten  nun  auch  einige  Zeitungskriliker  der- 
maßen in  Wut  über  das  Buch,  daß  sie  den  Verfasser  als  ent- 
sprungenen Tollhäusler  bezeichneten,  der  öffentlich  gepeitscht 
werden  müsse,  und  anderes  mehr,  so  verharrten  die  meisten  doch 


LH 


nur  in  geringschätzigem  Schweigen,  und  das  Pubhkum  selber  küm- 
merte sich  kaum  um  das  grasgrüne  Monstrum. 

Die  Neue  Welt,  die  in  ihrer  Existenz  und  deren  Formen  selber 
einen  Komplex  neuer  Ideen  darstellt,  ist  dennoch  neuen  Ideen, 
wenigstens  geistigen,  nicht  günstig  gesinnt.  Es  fehlt  ihr  an  einer 
Menschenklasse,  die  ihrem  Charakter  und  ihrer  Tradition  nach 
auf  neue  Horizonte  begierig  ist  und  sich  mit  Lust  auf  den  Marsch 
begibt,  wenn  sie  von  irgendeinem  Sehenden  verkündet  werden. 
Walt  Whitman  selber  wurde  in  breiterem  Maße  und  mit  Leiden- 
schaft erst  von  England  und  danach  von  Deutschland  und  Frank- 
reich her  anerkannt,  und  noch  heute  hat  Amerika  im  großen  und 
ganzen  nichts  Besseres  zu  tun  gewußt,  als  ihn  durch  mechanische 
Verherrlichung  unschädlich  zu  machen. 

Es  wäre  natürlich  ganz  verkehrt  und  kurzsichtig,  etwa,  wie  es 
geschehen  ist,  Whitman  einen  Vorwurf  daraus  zu  machen,  daß 
just  auch  das  breite  Volk,  an  das  er  seine  Dichtung  vor  allem  ge- 
richtet wissen  will,  wohl  am  allerwenigsten  zu  seiner  Leserschaft 
zu  rechnen  ist.  Denn  das  Gewaltig- Volkstümliche,  an  das  er  sich 
wendet,  ist  ebensogut  ein  Teil  seines  Wesens,  und  bei  Schöp- 
fungen von  solchem  Ewigkeitsgehalt  kann  man  schlechterdings 
nicht  fragen:  wem  sind  sie  gesungen  oder  geschrieben?  sondern 
sie  entstehen  und  dauern  in  der  Welt  und  im  All  und  strömen 
ihre  Wirkung  aus,  wie  ein  Weltkörper  sein  Licht  ausströmt. 

Was  Whitman  an  Zukunftskraft  und  Jugendfrische  und  Stoff 
zu  erhöhter  Demokratie  —  einer  Gemeinschaft  voll  entfalteter,  selbst- 
bewußter und  selbstbeherrschter,  liebevoller  Menschen  —  in 
Amerika  empfindet,  war  und  ist  zweifellos  vorhanden ;  sonst  hätte 
das  Verwandte  in  ihm  nicht  mit  solcher  Inbrunst  sich  dieser 
Wesenheit  zugewendet.  Daß  er  in  seinem  Ich  etwas  zum  höchsten 
Menschlichen  Gesteigertes,  freudig  Gottbegeistertes  daraus  macht, 
was  zunächst  über  jene  Wesenheit  hinausgeht  und  von  ihr  nicht 
mit  der  brüderlichen  Lust  aufgenommen  wurde,  die  Whitman  er- 
wartet hatte,  ist  eine  andere  Frage,  die  mit  dem  Wert  und  der 
Macht  seiner  Dichtung  nichts  zu  tun  hat.  Wir  dürfen  nicht  vergessen, 
daß  auch  der  Begriff  Amerika  für  ihn  ein  Symbol,  oder  besser  ein 
„Idol"  ist,  das  wahre  Urbild  der  leibhaftigen  Erscheinung  Amerika. 
Kaum  je  vor  ihm  hat  jemand  so  erbarmungslos  und  klar  die 
Schäden  und  Schwächen  Amerikas  erkannt  und  gebrandmarkt, 


LIIl 


wie  er  etwa  in  seinen  „Demokratischen  Ausblicken".  Dennoch 
blieb  sein  Glaube  an  die  tieferen  Kräfte  seiner  Rasse  unerschüttert, 
weil  er  selber  ja  dieser  Rasse  war  und  fühlte,  daß  das  Neue,  Zu- 
kunfthafte in  ihm  eben  doch  wieder  ursprünglich  amerikanisch 
war.  Jeder  Genius  wirkt  in  und  mit  dem  Stoff  seiner  Rasse  und 
Zeit  und  erhebt  sich  ins  Zeitlose  nur  aus  ihr  heraus. 

Daß  vielleicht  die  Alte  Welt  das  Herrliche,  was  Whitman  aus 
dieser  Rasse  heraus  verkündet,  zunächst  kraft  ihrer  Sehnsucht 
stärker  und  deutlicher  empfand,  sagt  nichts  gegen  Amerika  und  ge- 
gen Whitmans  Amerika-Idealismus.  Wenn  auch  der  Landmann  viel- 
leicht die  Wesenheit  des  Landes  und  der  Natur  voller  verkörpert, 
so  lebt  doch  in  der  Sehnsucht  des  Städters  nach  der  Natur  ein 
ebenbürtiges  Element,  das  die  Herrlichkeit  der  Natur  von  an- 
derer Seite  her  zum  Seelenerlebnis  macht.  Ähnlich  liegt  das  Ver- 
hältnis der  Alten  Welt  zur  Neuen. 

Whitman  war  erfüllt  von  dem  Gedanken,  daß  der  wahre  Dichter, 
wie  er  ihn  begriff,  in  keinerlei  Gegensatz  zu  dem  lebendigen  Leben 
in  Fleisch  und  Blut  steht,  daß  sein  Dichten  gar  nicht  etwa  mehr 
oder  wertvoller  ist,  als  das  reine  Dasein  gesunder,  froher,  tätiger, 
liebender  Menschenkinder  selbst  und  daß  er  sein  erhabenstes  Ge- 
dicht und  seinen  reichsten  Wohllaut  im  eigenen  Körper,  in  den 
„stummen  Linien  seiner  Lippen  und  seines  Gesichts  und  zwischen 
den  W^impern  seiner  Augen  und  in  jedem  Gelenk  und  jeder  Be- 
wegung" tragen  müsse.  War  freilich  auch  ein  lebhafter  Ehrgeiz 
und  Verlangen  nach  Anerkennung  in  ihm  lebendig,  das  ihn  sogar 
zu  manchem  ungeduldigen  Schritt  drängte,  den  er  besser  nicht 
getan  hätte,  so  gab  ihm  jene  Überzeugung  doch  Ruhe  genug,  um 
die  literarischen  Kritiken  mit  Gleichmut  über  sich  ergehen  zu  lassen. 
„Im  ganzen  bekannten  Universum",  sagt  er  in  der  herrlichen  Vorrede 
zur  Erstausgabe,  „lebt  ein  wahrhaft  Liebender,  und  das  ist  der 
größte  Dichter.  Er  brennt  in  ewiger  Leidenschaft,  ist  unbekümmert 
darum,  was  ihm  das  Schicksal  bringt,  Zufall,  Glück  oder  Unglück, 
und  empfängt  täglich  und  stündlich  seinen  köstlichen  Lohn." 
—  „Als  mein  Buch",  erzählte  er  in  späteren  Jahren  einem  Freunde, 
„allenthalben  einen  solchen  Sturm  von  Wut  und  Schmähungen 
wachrief,  machte  ich  mich  davon,  an  das  Ost-Ende  von  Long- 
Island  und  verbrachte  den  Spätsommer  und  den  ganzen  Herbst  — 
den  glücklichsten  meines  Lebens  —  in  der  Nähe  von  Shelter 


LIV 


Island  and  Peconic  Bay.  Dann  ging  ich  wieder  nach  New  York 
zurück  mit  dem  verstärkten  Entschluß,  in  dem  ich  auch  nie  wieder 
wankend  wurde,  mit  meinem  dichterischen  Unternehmen  auf 
meine  Weise  fortzufahren  und  es,  so  gut  ich  könnte,  zu  Ende  zu 
führen." 

Ein  Amerikaner  jedoch,  und  nicht  der  schlechteste,  wurde  so- 
gleich von  dem  Geist  dieser  „Grashalme"  tief  ergriffen:  und  das 
war  Emerson:  Emerson,  der  selber  in  so  vieler  Hinsicht  ähnliche 
Gedanken  in  seinen  Schriften  zum  Ausdruck  gebracht  hatte,  wenn 
auch  nicht  mit  der  Kraft  persönlicher  Verwirklichung  dessen,  was 
er  mit  Worten  klarzumachen  suchte.  Es  ist  wohl  kaum  zu  be- 
zweifeln, daß  Emersons  Bücher  Whitman  den  letzten  Antrieb  zur 
Gestaltung  seiner  Ideen  gegeben  hatten.  Im  einzelnen  auf  diese 
Wirkung  einzugehen,  würde  hier  zu  weit  führen.  Genug,  zu  sagen, 
daß  eben  jene  Kraft  Whitmans,  allen  seinen  Worten  die  geheim- 
nisvoll erregende  Wirklichkeit  einzuflößen,  die  aus  dem  Zauber 
seines  Seins  kam,  Emerson  fehlte  und  durch  seine  mehr  intellek- 
tuelle Art  nicht  ersetzt  werden  konnte. 

Emerson  also  richtete  aus  seinem  Heim  in  Concord  bei  Boston 
am  21.  Juli  i855  jenen  berühmten  Briet  an  Whitman,  der  so 
lautete: 

„Werter  Herr,  —  ich  bin  nicht  blind  gegen  den  Wert  der 
wunderbaren  Gabe  Ihrer  „Grashalme".  Ich  halte  sie  für  die 
außerordentlichste  Probe  von  Geist  und  Weisheit,  die  Amerika 
noch  je  beigebracht  hat.  Sie  zu  lesen,  macht  mich  sehr  glück- 
lich, denn  große  Kraft  macht  uns  glücklich.  Das  Buch  begegnet 
sich  mit  der  Forderung,  die  ich  seit  jeher  gegen  unsere  anschei- 
nend so  unfruchtbare  und  karge  Natur  erhebe,  in  dem  Sinne, 
daß  zuviel  Handarbeit  oder  ein  allzu  wässriges  Temperament 
unsern  westlichen  Geist  gedunsen  und  gemein  macht.  Ich  be- 
glückwünsche Sie  zu  Ihren  freien  und  tapferen  Gedanken.  Ich 
habe  große  Freude  daran.  Ich  finde  unvergleichliche  Dinge  un- 
vergleichlich gut  gesagt,  just  so,  wie  es  richtig  ist.  Ich  finde 
jene  Kühnheit  der  Behandlung  darin,  die  uns  so  entzückt  und 
zu  der  nur  eine  starke  Empfindung  begeistern  kann. 

Ich  grüße  Sie  zum  Beginn  einer  großen  Laufbahn,  hinter  der 
indessen  irgendwie  schon  ein  weites  Feld  der  Vorbereitung 
liegen  muß,  nach  solch  einem  Start  zu  urteilen.  Ich  rieb  meine 


LV 


Au^en  ein  wenig,  um  zu  sehen,  ob  dieser  Sonnenstrahl  keine 
Täuschung  sei;  aber  der  solide  Geist  des  Buches  ist  eine  leib- 
haftige Gewißheit.  Es  hat  das  Beste,  was  ein  Buch  haben  kann, 
nämlich  es  stärkt  und  ermutigt. 

Ich  wußte  bis  gestern  abend,  als  ich  es  in  einer  Zeitung  an- 
gezeigt fand,  nicht,  ob  ich  den  Namen  als  wirklich  und  gültig 
der  Post  anvertrauen  könnte.  Ich  habe  den  Wunsch,  meinen 
Wohltäter  zu  sehen,  und  fühlte  mich  lebhaft  versucht,  meine 
Arbeiten  zu  unterbrechen  und  nach  New  York  zu  kommen,  um 
Ihnen  meine  Wertschätzung  auszusprechen. 

R.  W.  Emerson.« 
Emerson,  der  damals  52  Jahre  alt  war,  hatte  diesen  Brief  nicht 
in  einem  ersten  Impuls,  sondern  nach  reifHcher  Überlegung  meh- 
rerer Tage  geschrieben.  Er  schickte  auch  Leute,  die  ihn  in  Con- 
cord  besuchten,  nach  Brooklyn,  um  Whitman  kennenzulernen, 
mit  den  Worten:  „Unter  uns  ist  ein  Mann  erstanden."  Ein  Wort, 
das  an  den  späteren  Ausspruch  Abraham  Lincolns  erinnert,  als  ihm 
Whitman  gezeigt  wurde:  „Well,  er  ist  ein  Mann." 

Einer  dieser  Sendlinge  Emersons,  Mr.  M.  Conway,  der  Whitman 
im  September  i855  aufsuchte,  hat  einen  Bericht  darüber  für  seine 
Freunde  geschrieben,  der  zwar  für  unseren  Geschmack  ein  wenig 
feuilletonistisch  ist,  aber  doch  ein  lebhaftes  und  durchaus  wahr- 
heitsgetreues Bild  vermittelt. 

„Es  war",  erzählt  Conway,  „eines  Sonntags  im  Hochsommer, 
als  ich  durch  die  nahezu  endlosen,  eintönigen  Straßen  pilgerte,  die 
in  das  „fischförmige  Paumanok"  hinausführten,  und  der  Weg,  den 
man  mir  gewiesen  hatte^  führte  zu  dem  allerletzten  Hause  vor  der 
großen  Stadt,  —  einem  kleinen,  zweistöckigen  Holzhaus.  Auf  mein 
dreimaliges  Klopfen  öffnete  eine  stattliche  alte  Dame  die  Tür,  just 
weit  genug,  um  mich  sorgfältig  betrachten  zu  können,  und  fragte 
nach  meinem  Begehren.  Ich  hatte  sogleich  den  Eindruck,  daß  seine 
Mutter  —  denn  als  diese  gab  sie  sich  zu  erkennen  —  besorgt  war, 
es  handle  sich  um  einen  Polizeiagenten,  der  nach  ihrem  Sohn  suchte 
wegen  seines  verwegenen  Buches.  Schließlich  jedoch  deutete  sie 
nach  einer  öffentlichen  Promenadenanlage  hin,  in  deren  Mitte  ein 
Hügel  lag,  und  sagte  mir,  ich  würde  ihren  Sohn  dort  finden.  Es 
war  ein  außerordentlich  heißer  Tag,  das  Thermometer  zeigte  fast 
100»  (Fahrenheit),  die  Sonne  glühte  herab,  wie  sie  nur  auf  dem 

LVi 


sandigen  Long  Island  glühen  kann.  Die  Anlage  hatte  keinen  ein- 
zigen Baum  oder  Schutz,  und  ich  dachte  bei  mir,  daß  wahrlich  nur 
ein  leidenschaftlicher  Feueranbeter  an  einem  solchen  Tage  hier  zu 
finden  sein  könne.  Zuerst  konnte  ich  nirgends  ein  menschliches 
Wesen  gewahren;  aber  als  ich  mich  eben  wieder  zum  Weggehen 
wenden  wollte,  sah  ich,  auf  den  Rücken  gestreckt  und  gerade  in 
die  furchtbare  Sonne  hineinschauend,  den  Mann,  den  ich  suchte. 
Mit  seiner  grauen  Kleidung,  seinem  graublauen  Hemd,  seinem  eisen- 
grauen Haar,  seinem  dunkeln,  sonnverbrannten  Gesicht  und  bloßen 
Hals  lag  er  auf  dem  braun-weißen  Gras  —  denn  die  Sonne  hatte 
das  Grün  ausgebrannt  —  und  glich  so  der  Erde,  auf  der  er  ruhte, 
daß  er  wie  ein  Teil  von  ihr  aussah  und  von  einem  Vorübergehenden 
leicht  übersehen  werden  konnte.  Ich  näherte  mich  ihm,  nannte 
meinen  Namen  und  den  Grund,  weshalb  ich  ihn  hier  aufsuchte, 
und  fragte  ihn,  ob  er  die  Sonne  nicht  einigermaßen  heiß  fände?  — 
„Durchaus  nicht  zu  heiß,"  war  seine  Antwort;  und  er  gestand  mir, 
daß  dies  einer  seiner  Lieblingsplätze  und  seine  Lieblingslage  sei, 
um  „Gedichte  zu  machen".  Er  ging  darauf  mit  mir  in  sein  Haus 
und  führte  mich  durch  die  engen  Flure  in  sein  Zimmer.  Ein 
kleines  Zimmer,  ungeführ  1 5  Fuß  im  Quadrat,  mit  einem  einzigen 
Fenster,  das  auf  die  öde  Einsamkeit  der  Insel  blickte;  ein  schmales 
Bett,  ein  W^aschtisch  mit  einem  kleinen  Spiegel  darüber,  ein  Tisch 
aus  Fichtenholz  mit  Feder,  Tinte  und  Papier  darauf;  ein  alter  Stich, 
Bacchus  darstellend,  hing  an  der  Wand,  und  gegenüber  ein  ähn- 
licher von  Silen:  dies  bildete  die  sichtbare  Umgebung  Walt  Whit- 
mans;  offenbar  war  nicht  ein  einziges  Buch  in  dem  Zimmer  .  .  . 

W^ir  verbrachten  den  Rest  des  Tages  damit,  auf  Staten  Island 
umherzustreifen  und  zu  „schlendern",  wo  wir  Schatten  und  einen 
meilenweiten,  herrlichen  Strand  hatten.  Beim  Baden  wurde  ich 
durch  eine  gewisse  Erhabenheit  des  Mannes  berührt,  die  mich  an 
das  Bacchusbild  in  seinem  Zimmer  denken  ließ.  Ich  sah  jetzt,  daß 
die  Sonne  sein  Gesicht  und  seinen  Hals  rotbraun  überzogen  hatte  und 
daß  sein  Körper  von  heller  Frische  war,  rein  und  edel,  die  Gestalt  auf- 
fällig zugleich  durch  ihre  feinen  Linien  und  durch  jene  Anmut  der 
Bewegung,  deren  Träger  ein  wohlgebildeter  und  wohlgefügter 
Knochenbau  ist.  Sein  Kopf  war  ein  reines  Eirund;  sein  (braunes) 
Haar,  stark  mit  Grau  gemischt,  war  kurz  geschnitten  und  bildete 
samt  dem  Bart  einen  seltsamen  Gegensatz  zu  der  fast  kindlichen 


LVH 


Fülle  und  Heiterkeit  seines  Gesichts.  Diese  Heiterkeit  indessen  kam 
aus  den  stillen,  lichtblauen  Augen,  und  über  ihnen  zogen  sich  drei 
oder  vier  tiefe  Querfurchen,  die  das  Leben  gegraben  hatte.  Irgend- 
welche Inbrunst  gewahrte  ich  erst  an  ihm,  als  er  ins  Wasser  kam, 
das  er  mit  der  Begeisterung  eines  Liebenden  umarmte.  Wenn  er 
über  Dinge  sprach,  die  ihn  tiefer  interessierten,  wurde  seine  immer 
milde  und  klare  Stimme  langsamer  und  seine  Lider  hatten  die 
Neigung,  sich  über  seine  Augen  herabzusenken.  Man  konnte  durch- 
aus in  jedem  Augenblick  die  Wirklichkeit  jedes  Wortes  und 
jeder  Bewegung  des  Mannes  fühlen,  und  zugleich  das  überraschende 
Zartgefühl  eines,  der  mit  seiner  Feder  freier  war,  als  selbst  Mon- 
taigne. 

Nachdem  ich  mich  mit  Walt  verabredet  hatte,  ihn  im  Laufe 
der  Woche  wiederzutreffen  und  mit  ihm  durch  die  Straßen 
New  Yorks  zu  schlendern,  ging  ich,  und  konnte  diese  Nacht  fast 
gar  nicht  schlafen  vor  lauter  Gedanken  an  meine  neue  Bekanntschaft. 
Er  hatte  mich  so  magnetisiert,  mich  so  mit  etwas  gleichsam  Un- 
definierbarem erfüllt,  daß  es  mir  damals  schien,  als  bestände  die 
einzige  Lebensweisheit  darin,  ein  blaues  Hemd  und  eine  Bluse  an- 
zuziehen und  in  Mannahatta  und  Paumanok  umherzustreifen,  — 
„zu  schlendern  und  meine  Seele  zu  Gast  zu  laden",  um  die  Worte 
meines  neuen  Freundes  zu  gebrauchen.  Die  Zeit  wurde  mir  sehr 
lang  und  der  Anblick  der  glänzenden  Stadt  matt,  während  ich  auf 
die  nächste  Zusammenkunft  wartete,  voll  Spannung,  ob  er  mir 
beim  Wiedersehen  noch  ebenso  groß  erscheinen  würde.  Ich  fand 
ihn  an  dem  festgesetzten  Morgen  in  einer  Brooklyner  Druckerei 
beim  Setzen  eines  Aufsatzes  der  „Demokralischen  Revue",  der  für 
die  Überlegenheit  von  Walt  Whitmans  Dichtung  über  die  Tenny- 
sons  eintrat  und  den  er  (da  er  alles  Für  und  Wider  ganz  tat)  als 
Anhang  zu  seiner  nächsten  Auflage  abdrucken  wollte.  Er  trug 
immer  noch  die  Arbeiterkleidung,  in  der  er,  wie  er  sagte,  aufge- 
wachsen war  und  die  beizuhalten  er  bequem  fand.  Es  wurde  mir 
klar,  als  ich  mit  ihm  durch  die  Straßen  ging  und  auf  der  Fähre 
fuhr,  daß  er  ein  Fürst  incognito  unter  seinen  Bekannten  der  nie- 
deren Klasse  war.  Alle  Augenblicke  kam  einer  auf  ihn  zu,  ergriff  be- 
geistert seine  Hand  und  lachte  und  plauderte  (er  selber  aber  lachte 
nicht  ein  einziges  Mal,  ja  ich  habe  ihn  in  der  Tat  nie  auch  nur  lächeln 
sehen).  Da  ich  neugierig  war,  ob  Leute  dieser  Klasse  irgendwie 


LVIII 


seinen  Wert  zu  schätzen  wüßten,  nahm  ich  einen  Arbeiter  in 
gerippten  Hosen  beiseite,  den  ich  mit  ihm  hatte  sprechen  sehen,  und 
fragte  ihn:  „Wissen  Sie,  wer  der  Mann  dort  ist?"  —  „Das  ist  Walt 
W'hitman".  —  „Rennen  Sie  ihn  schon  lange?"  —  „Viele  Jahre."  — 
„Was  für  ein  Mensch  ist  das?"  —  »Ein  erstklassiger  Kerl  ist  W^alt. 
Keiner  kennt  Walt,  aber  alle  haben  ihn  gern."  .  .  .  Ich  fragte 
noch  mehrere  andere,  fand  aber  keinen,  der  irgend  etwas  von 
seinem  Buch  wußte,  obwohl  alle  stolz  darauf  waren,  mit  ihm  be- 
kannt zu  sein.  Unvergleichlich  war  die  Mischung  von  ünbeküm- 
mertheit  und  scharfer  Beobachtung  in  ihm,  während  wir  so  durch 
die  Straßen  schlenderten. 

Im  Tombs-Gefängnis  besuchten  wir  die  Gefangenen,  und  das  Zu- 
trauen und  die  Redseligkeit,  mit  der  sie  zu  ihm  kamen  und  ihm 
ihre  Kümmernisse  ausschütteten,  als  ob  er  ein  Mann  in  Amt  und 
Würden  wäre,  war  ganz  seltsam.  An  einem  Fall  nahm  er  beson- 
deren Anteil.  Der  Mann,  gegen  den  ein  Verfahren  wegen  eines 
geringfügigen  Verbrechens  schwebte,  war  in  eine  sehr  schlechte  und 
ungesunde  Zelle  gesperrt  worden.  Nachdem  er  ihn  angehört  hatte, 
machte  Walt  kehrt  und  ging  geradenwegs  zu  dem  Gefängnisdirektor, 
erstattete  ihm  Bericht  und  schloß:  „Nach  meiner  Meinung  ist  es 
eine  verdammte  Schande."  Der  Direktor  war  zuerst  verblüfft  über 
dieses  Auftreten  eines  hergelaufenen  Mannes  in  Arbeiterkleidung, 
dann  betrachtete  er  ihn  von  Kopf  bis  zu  Fuß,  als  überlegte  er,  ob 
er  ihn  verhaften  solle,  wobei  der  Ankläger  ruhig  dastand  und  dem 
Direktor  mit  strengem  Freimut  in  die  Augen  sah.  Walt  siegte  in 
diesem  Blickduell,  und  ohne  ein  weiteres  Wort  rief  der  Direktor 
einen  Beamten  und  befahl  ihm,  den  Gefangenen  in  einen  besseren 
Raum  zu  bringen." 

Diese  Kameradschaft  Whitmans  mit  den  Gefangenen  von  New 
York,  insbesondere  auch  des  großen  Zuchthauses  Sing-Sing,  ist 
durchaus  eine  Tatsache.  Die  eigenartige  persönliche  Macht,  die 
später  während  des  Krieges  auch  alle  Arzte  und  Lazarettbeamten 
bewog,  ihn  frei  und  nach  seinem  Belieben  überall  aus  und  ein 
gehen  zu  lassen,  obwohl  er  keinerlei  Amt  oder  Posten  hatte,  waltete 
von  jeher  in  ihm. 

Der  Lebensbeschreibung  Dr.  Buckes  entnehme  ich  noch  einige 
andere  persönliche  Berichte  über  Whitmans  damalige  Art  und 
Erscheinung. 


LIX 


„Whitmans  Erscheinung  pflegte  viel  Aufsehen  unter  den  Passa- 
gieren zu  erregen,  wenn  er  auf  das  Fährboot  kam.  Er  war  gute 
sechs  Fuß  hoch,  mit  dem  Körperbau  eines  Gladiators,  ein  grauer, 
üppiger  Bart  mischte  sich  mit  dem  Haar  seiner  breiten,  leicht  ent- 
blößten Brust.  In  seinen  wohlgewaschenen,  karierten  Hemdsärmeln, 
die  Hosen  oft  in  die  Stiefelschäfte  gesteckt,  den  edlen  Kopf  von 
einem  riesigen  schwarzen  oder  hellen  weichen  Filzhut  bedeckt,  ging 
er  einher  mit  angeboren  majestätischem  Schritt,  ein  echtes  Vor- 
bild von  Natürlichkeit  und  Unabhängigkeit.  Ich  glaube  kaum,  daß 
die  Art,  wie  er  sich  damals  kleidete,  absichtlich  exzentrisch  war; 
er  hatte  einen  tiefen  Widerwillen  gegen  alles  Auffällige  und  allen 
Schein,  und  ich  kann  mir  denken,  daß  er  einfach  das  anzog,  was 
handlich,  sauber,  sparsam  und  bequem  war.  Seine  markante  Er- 
scheinung rief  indessen  trotzdem  die  verschiedensten  Fragen  bei  den 
Passagieren,  die  ihn  nicht  kannten,  wach." 

„In  der  Pennsylvania  Avenue  oder  der  siebenten  oder  vierzehnten 
Straße,  oder  vielleicht  an  einem  Sonntag  auf  dem  Vorstadt  weg 
nach  Rock  Greek  oder  auf  den  Hügeln  von  Arlington  oder  an  den 
Ufern  des  Potomac  kann  man  einer  kraftvollen  Gestalt  begegnen, 
die  mit  festem,  aber  gemächlichem  Schritt  einhergeht,  sechs  Fuß 
hoch,  gekleidet  in  Blau  oder  Grau,  mit  gelbgrauem  Schlapphut, 
breitem  Hemdkragen,  grauweißem,  vollem,  welligem  Bart,  mit 
einem  Gesicht,  rot  wie  ein  Apfel,  blauen  Augen  und  mit  einem 
Aussehen  von  animalischer  Gesundheit,  das  eher  auf  Jagd  und 
Schiffahrt  als  auf  ein  Amt  im  Ministerium  oder  auf  den  Arbeits- 
tisch eines  Schriftstellers  schließen  läßt.  In  der  Tat,  der  Mann, 
den  wir  beschreiben,  holt  sich  in  seiner  Dichtung,  seinen  Lebens- 
formen, ja  selbst  in  seiner  Philosophie  seine  Kräfte  offenbar  aus 
einer  ständiger  Beziehung  zu  den  Einflüssen  von  Meer  und  Himmel, 
Wäldern  und  Steppen  und  ihren  Gesetzen  und  zu  Menschen,  die 
in  Einklang  mit  ihnen  leben,  während  weder  die  üblichen  Salons 
der  Gesellschaft  noch  die  Sphäre  gelehrter  Bibliotheken  ihm  etwas 
anhaben  können." 

„Walt  Whitmans  Kleidung  war  jederzeit  äußerst  einfach.  Er 
trug  gewöhnlich  bei  gutem  Wetter  einen  hellgrauen  Anzug  aus 
guter  Wolle.  Das  einzig  Besondere  an  seiner  Kleidung  war,  daß 
er  niemals  eine  Kravatte  trug,  sondern  immer  Hemden  mit  sehr 
breitem  Umlegekragen,  deren  vorderer  Knopf  fünf  oder  sechs  Zoll 


LX 


tiefer  als  üblich  saß,  so  daß  die  Kehle  und  der  obere  Teil  der  Brust 
freiblieb.  Im  übrij^en  kleidete  er  sich  durchaus  gediegen,  sauber, 
schlicht  und  unauffällig.  Alles,  was  er  trug,  und  überhaupt  alles 
an  ihm,  war  jederzeit  peinlich  sauber.  Seinen  Kleidern  mochte  man 
vielleicht  (wie  es  in  der  Tat  der  Fall  war)  ansehen,  daß  sie  viel 
getragen  waren,  oder  sie  mochten  sogar  zerrissen  und  durch- 
gescheuert sein,  aber  sie  waren  nie  schmutzig.  In  der  Tat,  ein  köst- 
liches Arom  von  Sauberkeit  war  immer  eine  der  Besonderheiten 
des  Mannes;  es  war  seinen  Kleidern,  seinem  Atem,  seinem  ganzen 
Körper,  seinem  Essen  und  Trinken,  seinem  Gespräch  zu  eigen,  und 
jeder,  der  auch  nur  eine  Stunde  mit  ihm  zusammen  war,  mußte 
spüren,  daß  es  seinen  Geist  und  sein  Leben  durchdrang  und  in 
Wahrheit  der  Ausdruck  einer  Reinheit  war,  die  ebensogut  physisch 
wie  moralisch  und  moralisch  wie  physisch  war." 

„Lethargisch  bei  einem  Interview,  passiv  und  aufnehmend,  ein 
bewundernswerter  Zuhörer,  niemals  in  Hast,  voll  der  Haltung 
eines,  der  Muße  genug  hat,  allezeit  in  vollkommener  Ruhe,  schlicht 
und  geradezu  im  Umgang,  voll  Liebe  für  das  einfache,  gewöhnliche 
Volk,  „einer,  der  Rohen  und  Gebildeten  auf  gleiche  Weise  begegnet", 
mäßig,  keusch,  milde,  liebevoll  und  herzlich,  von  vielen  Freunden 
geliebt,  mit  einer  sommerlich-väterlichen  Seele,  die  aus  all  seinem 
Betragen  und  aus  jedem  Blick  hervorscheint,  ist  er  nicht  im  ge- 
ringsten der  „Barbar",  für  den  ihn  gewisse  Leute  so  gern  hielten. 
Peinlich  wie  ein  Brahmine  von  hoher  Kaste  in  bezug  auf  seine 
Nahrung  und  seine  persönliche  Sauberkeit  und  Ordnung,  gut  ge- 
kleidet, mit  grauer,  offener  Brust,  mit  einer  tiefen,  sympathischen 
Stimme  und  einem  freundlichen,  lebhaften  Blick,  macht  er  den 
Eindruck  besten  Bluts  und  bester  Herkunft.  Er  erinnert  einen  an 
die  „ersten  Männer",  die  „Anfänger";  er  hat  das  primitive  Aussehen 
eines,  der  im  Freien  lebt,  —  nicht  so  sehr  durch  vielen  Aufenthalt 
in  frischer  Luft,  wie  durch  angeborene  Rasseneigenschaft,  —  ein  Aus- 
sehen, das  mit  Erde,  Meer  und  Gebirge  verwandt  ist,  und  er  wird, 
wie  jüngst  ein  Vorkämpfer  seiner  Sache  schrieb,  „gewöhnlich  für 
einen  tüchtigen  Handwerker  oder  Güterpacker  oder  Schiffer  oder 
sonst  irgendeinen  Arbeiter  von  Qualität  genommen."  Seine  Phy- 
siognomie zeigt  höchst  ausgesprochene  Züge,  Züge  nach  wahrhaft 
antikem  Schnitt,  wie  sie  aus  modernen  Gesichtern  fast  verschwunden 
sind,  erkennbar  an  dem  starken,  breiten  Ansatz  seiner  Nase,  seinen 


LXI 


hohen,  geschwungenen  Brauen  und  an  dem  Fehlen  jeglicher  Wöl 
bung  seiner  Stirn,  —  ein  Gesicht,  das  sich  dem  Typus  griechischer 
Statuen  annähert.  Er  bedeutet  nicht  Intellekt  allein,  sondern 
Leben;  und  man  fühlt,  daß  sein  Schaffen  sich  mehr  durch  Ein- 
fühlen und  Aufsaugen,  als  durch  angestrengte  intellektuelle  Vor- 
gänge vollzieht,  —  durch  die  Ausströmung  von  Kraft  viel  mehr,  als 
durch  ihre  direkte  und  totale  Anwendung." 

„Jahrelang  haben  Tausende  von  Menschen  in  New  York,  Boston, 
New  Orleans  und  später  in  Washington  einen  Mann  von  auffallen- 
der, männlicher  Schönheit  —  einen  Dichter  —  von  machtvoller  und 
ehrwürdiger  Erscheinung  gesehen,  wie  ich  selber  ihn  vor  zwei 
Stunden  erst  gesehen  habe:  im  Einklang,  sozusagen,  mit  den  Stra- 
ßen unserer  amerikanischen  Städte  und  wie  geschaffen  für  diesen 
Hintergrund  und  diese  Umgebung  ihrer  flutenden  Bevölkerung  und 
ihrer  weiten  und  reichen  Fassaden;  einen  Mann,  groß,  gelassen, 
herrlich  gebaut;  meist  in  die  lässige,  grobe  und  immer  malerische 
Tracht  des  Volkes  gekleidet  .  .  .  und  mit  unbekümmertem,  stolzem, 
Schritt  über  das  Pflaster  schreitend,  Sonnenlicht  und  Schatten  um 
sich  her.  Den  dunklen  Schlapphut,  den  er  meistens  trägt,  hielt  er, 
als  ich  ihn  sah,  in  der  Hand,  da  es  sehr  heiß  war;  reiches  Licht, 
wie  ein  Maler  es  gewählt  haben  würde,  lag  auf  seinem  bloßen, 
majestätischen,  homerisch  großen  Haupt  und  auf  seinen  starken 
Schuhern  und  gab  ihm  die  Erhabenheit  antiker  Skulpturen.  Ich 
sah  sein  Gesicht,  klar,  stolz,  fröhlich,  blühend  und  zugleich  ernst; 
die  Brauen  von  edlen  Furchen  überschrieben;  die  Züge  kräftig  und 
wohlgeformt,  mit  festblickenden,  blauen  Augen;  die  Brauen  und 
Lider  von  jener  reinen  Bogenform,  die  man  selten  sieht,  außer  an 
den  antiken  Büsten;  das  reiche  Haar  und  der  wollige  Bart  ganz 
grau,  wodurch  das  jugendliche  Aussehen  des  erst  Fünfundvierzig- 
jährigen  einen  Anstrich  von  Alter  bekommt;  die  Einfachheit  und 
Reinheit  seiner  Kleidung,  die  billig  und  schlicht,  aber  fleckenlos 
ist,  von  dem  schneeweißen,  umgeschlagenen  Hemdkragen  bis  zu 
den  blankgeputzten  Stiefeln,  und  einen  leisen,  frischen  Hauch  aus- 
strömt; die  ganze  Gestalt  von  Männlichkeit  wie  von  einem  Nimbus 
umgeben  und  in  ihrer  vollkommenen  Gesundheit  und  Kraft  den 
erhabenen  Zauber  emes  starken  Menschen  atmend." 

Die  Wiederholung  derselben  Eindrücke  in  diesen  Berichten 
bezeugt  ihre  Stärke.  Manches  darin  mag  etwas  übertrieben  betont 


LXII 


klingen.  Aber  solcherlei  Aussagen  über  einen  ergreifenden,  großen 
Menschen  sind  eben  befeuert  von  dem  unaussprechlichen  Gefühl 
der  in  Worten  nicht  zu  fassenden  Gewalt  der  Person,  und  wir 
mögen  daran  denken,  wie  wir  etwa  vor  einem  großen  Kunstwerk, 
das  wir  bisher  nur  aus  bewundernden  Beschreibungen  kannten, 
von  seiner  Schlichtheit  und  Selbstverständlichkeit  erschüttert  wer- 
den, wenn  wir  ihm  leibhaftig  gegenüberstehen.  In  ähnHcher  Weise 
müssen  wir  solche  Beschreibungen  in  die  Sphäre  VVhitmans  selber 
projizieren,  um  ein  wahres  Gefühl  seiner  Wesenheit  zu  bekommen. 

Aus  dieser  außerordentlichen  Wirkung  seiner  Persönlichkeit  her- 
aus, an  die  er  seit  jeher  gewöhnt  war  und  in  deren  Unmittelbarkeit 
und  täglichem  Verströmen  er  lebte,  müssen  wir  auch  die  kräftige 
Ungeduld  verstehen,  die  ihn  angesichts  des  Mißerfolges  seines 
Buches  dazu  drängte,  sich  gleichsam  persönlich  dafür  einzusetzen 
und  es  gewissermaßen  dem  Publikum  in  die  Hand  zu  zwingen,  — 
so  gelassen  auch  in  höherem  Sinne  Whitman  dem  Schicksal  seine 
Dichtung  vertraute  und  seine  Zuhörerschaft  ebensogut  in  den  Jahr- 
hunderten der  Zukunft  wußte,  wie  in  der  Gegenwart.  Sein  ameri- 
kanisch-robustes Tagesgefühl  rief  die  Instinkte  persönlichen  Ein- 
tretens für  seine  Sache  wach,  die  ihm  ja  bewußterweise  Sache  der 
Menschheit  war.  Ich  schicke  dies  voraus,  weil  Whitman  aus  der  Art,  wie 
er  im  Jahre  1 856  die  zweite  Auflage  auf  den  Markt  brachte,  in  einem 
trivialeren  Sinne  nicht  unberechtigte  Vorwürfe  gemacht  worden  sind. 

Die  neue  Ausgabe  war  um  zwanzig  Gesänge  vermehrt.  Vor  allem 
erschien  darin  das  gewaltige  „Begrüßungsgedicht"  aller  Völker  der 
Erde,  „Salut  au  monde",  das  „Lied  von  der  rollenden  Erde", 
„Gesang  bei  Sonnenuntergang",  der  „Gesang  vom  Beil"  und  zwei 
Gesänge,  die  den  Kern  der  in  den  nächsten  Jahren  voll  gestalteten 
„Kinder  Adams"  bildeten  und  zum  erstenmal  das  Thema  Geschlecht 
mit  aller  Kühnheit  anschlugen. 

In  einem  Anhang  druckte  Whitman  jenen  Brief  Emersons  ab, 
und  zwar,  was  von  Gegnern  meist  verschwiegen  wurde,  auf  Drän- 
gen von  C.  A.  Dana,  dem  Herausgeber  der  „New  York  Sun",  einem 
nahen  Freunde  Emersons.  Ferner  fügte  er  einen  offenen  Antwort- 
brief  an  Emerson  bei,  der  freilich  zu  den  unglücklichsten  Äußerungen 
Whitmans  gehört,  und  setzte  überdies  auf  die  Rückseite  des  Buches 
die  Worte  Emersons:  „Ich  begrüße  Sie  zum  Beginn  einer  großen 
Laufbahn.  —  R.  W.  Emerson." 


LXIII 


Alles  in  allem  eine  nicht  sehr  würdige  Art  von  Selbstankündigung, 
die  denn  auch  aus  der  nächsten  Ausgabe  sofort  wieder  verschwand. 
Die  Behauptung,  Emerson  sei  dadurch  aufs  tiet'sie  verstimmt  ge- 
wesen, ist  unrichtig.  Seine  Beziehung  zu  Whitman  blieb  bis  zuletzt 
sehr  herzlich;  er  besuchte  ihn  wiederholt  und  sprach  sich  freimütig 
über  diejenigen  neuen  Gedichte  aus,  mit  denen  er  nicht  einver- 
standen war. 

Die  Ausgabe  erregte  naturgemäß  viel  mehr  Aufsehen  und  auch 
einen  noch  viel  wilderen  Sturm  der  Entrüstung,  der  besonders 
jenen  Keimgesängen  der  „Kinder  Adams"  galt.  Ursprünglich  war 
alles  für  einen  großen  Absatz  des  Buches  vorgesehen,  aber  die  New 
Yorker  Buchhändler  zogen  sich  vor  der  öffentlichen  Meinung  zu- 
rück, und  so  blieb  das  Buch,  nachdem  das  erste  Tausend  verkauft 
war,  vergriffen. 

In  seinem  natürlichen  Drang  nach  Wirkung  auf  sein  Volk,  der 
aus  dem  Gefühl  und  der  Erfahrung  von  der  Kraft  seiner  Persön- 
lichkeit entsprang,  stiegen  nun  alte  Gedanken  wieder  in  Whitman 
empor,  die  ihn  seit  dem  Erwachen  des  Sinns  für  die  Gesamtheit 
der  amerikanischen  Staaten  bewegt  hatten,  Gedanken,  die  darin 
gipfelten,  als  Redner  selber  vor  das  Volk  zu  treten,  frei  von  jeder 
Partei,  lediglich  als  Verkünder  der  uramerikanischen  Wesenheit, 
die  ihm  der  Keim  der  Zukunftsmenschheit  war.  Die  politischen 
Wolken  waren  inzwischen  immer  finsterer  geworden;  die  Erschütte- 
rungen, die  die  ganze  Union  zu  zerreißen  drohten,  machten  sich 
von  Tag  zu  Tag  drohender  fühlbar.  Gegen  sie  die  ganze  einigende 
Macht  einer  lebendigen  amerikanischen  Persönlichkeit  einzusetzen 
und  das  Ziel  mit  allen  Strahlen  seines  Geistes  und  Gefühls  zu  be- 
leuchten, um  dessentwillen  seinem  tiefen  Glauben  nach  diese  Neue 
Welt  in  die  Erscheinung  getreten  war,  —  das  mußte  einen  Mann 
seiner  Art  zu  einer  Zeit  und  in  einem  Volke,  wo  jeder,  der  sich  be- 
rufen fühlte,  nach  Führerschaft  greifen  durfte,  im  Innersten  ver- 
locken. Er  schrieb  damals,  nach  dem  Ausspruch  seiner  Mutter, 
ganze  Stöße  von  Vorträgen  und  Betrachtungen  über  die  Redekunst, 
in  denen  er  ein  Bild  von  dem  großen  Volksredner  entwarf,  das 
dem  gewaltigen  Bilde  des  wahren  Dichters  entsprach,  das  er  in  der 
Vorrede  zur  Erstausgabe  der  „Grashalme"  verkündet  hatte.  Der 
Redner  erscheint  hier  als  ein  Prophet,  von  Inspiration  durchglüht, 
von  dem  Geist  des  Augenblicks  geschüttelt,  wie  die  alten  großen 


LXIV 


Quäkerprediger,  deren  Macht  er  ja  als  Knabe  (jespürt  hatte;  die 
volle,  fast  hypnotische  Macht  der  Persönlichkeit  selber  müsse  die 
Rede  vorbereiten  und  tragen  und  der  ganze  Körper  müsse  lautlos, 
rein  und  feurig  mitreden.  In  einem  dieser  Entwürfe  spielt  er  mit 
Humor  auf  die  Gepflogenheit  an,  auf  sich  selber  aufmerksam  zu 
machen,  worin  er  ja  nicht  unerfahren  sei;  aber  anders  gehe  es  nun 
offenbar  einmal  nicht,  wenn  er  das  Gehör  Amerikas  erzwingen  und 
es  zur  Selbsterkenntnis  führen  wolle. 

Unversehens  aber  wuchs  ihm  die  Welt  des  eigenen  Seins  in 
andere,  neue  Tiefen  und  auch  das  äußere  Geschehen  führte  ihn  zu 
immer  süßeren  und  stärkeren  Geheimnissen  des  Daseinswunders, 
die  alle  seine  Kräfte  in  ein  inneres  Verweilen  bannten. 


V    Whitnian  I 


KAMERADSCHAFT  UND  KRIEG 


Lang,  zu  lang,  Amerika, 

Bist  du  auf  ebenen,  friedlichen  \Vegen  gegangen  und  hast  nur  aus  deinen 
Freuden  und  deinem  Gedeihen  gelernt. 

Nun  aber,  o  nun  gilt  es,  aus  Todesängsten  zu  lernen,  vorwärts  immer, 
ringend  mit  Grauen  des  Schicksals,  ohne  zu  wanken, 

Und  zu  begreifen  nun  und  der  Welt  zu  zeigen,  was  deine  Kinder  en  masse 
in  Wahrheit  sind, 

(Denn  wer  außer  mir  hat  bis  jetzt  begriffen,  was  deine  Kinder  en  masse 
in  Wahrheit  sind?) 

Seit  dem  Jahre  i856  war  Abraham  Lincoln,  zuvor  Rechtsanwalt 
im  Staate  Illinois,  dann  Kandidat  für  die  Senatoren  wähl  dieses 
Staates,  als  Vorkämpfer  der  neugegründeten  Freilandpartei  immer 
mehr  in  den  Gesichtskreis  Amerikas  gerückt.  Obwohl  er  jedoch 
die  Sklaverei  für  den  gefährlichsten  Feind  der  Föderation  hielt, 
war  er  doch  der  Ansicht,  daß,  gerade  um  der  Einheit  der  Staaten 
willen,  die  Stimmung  zugunsten  ihrer  Abschaffung  in  den  Süd- 
staaten selber  geweckt  und  ein  gewaltsamer  Eingriff  vermieden 
werden  müsse;  und  als  im  Jahre  1869  John  Brown  seinen  be- 
rühmten Einfall  in  Virginia  machte,  um  die  Sklaven  gegen  ihre 
weißen  Herren  aufzuhetzen ,  verurteilte  Lincoln  diesen  Gewalt- 
streich durchaus  und  billigte  die  Hinrichtung  Browns.  Trotzdem 
wurde  Lincolns  Persönlichkeit  eben  durch  das  leidenschaftliche 
Eintreten  für  die  Erhaltung  der  Union  immer  mehr  für  die  Süd- 
staaten die  Verkörperung  der  anmaßenden  Ansprüche  des  Nordens, 
und  als  er  nach  mancherlei  wilden  Redeschlachten  endlich  im  No- 
vember 1860  zum  Präsidenten  gewählt  wurde,  war  das  für  den 
Süden  das  Signal  zur  Erklärung  der  Sezession,  und  zwar  unter  der 
Führung  des  Staates  Karolina,  der  von  jeher  der  Feind  der  föde- 
rativen Macht  gewesen  war. 


LXVI 


Gegen  Ende  Februar  i86i  zo{^  Lincoln,  von  einer  ungeheuren 
Menschenmenge  empfangen,  in  Washington  ein,  und  dabei  sah  ihn 
Whitman  zum  erstenmal. 

Er  hatte  inzwischen  sein  gelassen-waches  Großstadt-  und  Land- 
leben weitergeführt.  Er  verkehrte  um  diese  Zeit  unter  anderem 
in  einem  Kreis  der  Boheme  New  Yorks,  deren  Hauptquartier  Pfafl^ 
Deutsches  Restaurant  am  Broadway  war,  wo  er  besondere  Freund- 
schaft mit  der  geistvollen  und  schönen  „Königin"  dieses  Kreises,  Ada 
Cläre,  schloß.  Berühmte  Gäste  kamen,  um  ihn  kennenzulernen, 
unter  anderem  Thoreau,  der  damals  sein  Werk  „Waiden"  veröffent- 
licht hatte  und  von  Emerson  zu  Whitman  geschickt  worden  war. 
Der  kleine,  scheue  Mann,  dessen  Naturinbrunst  im  Grunde  Welt- 
flucht war,  fühlte  die  Größe  Whitmans,  ohne  sich  in  seine  alles 
Leben  umfassende  Wirklichkeitsfreude  finden  zu  können;  er  begriff 
Whitmans  Liebe  zur  Masse,  zum  gewöhnlichen  Volk  und  dem 
Gewühl  der  Städte  nicht.  Er  fand  ihn  „ganz  außer  dem  Bereich 
seiner  Erfahrung",  „verwirrend,  seltsam,  überraschend",  „irgend 
etwas  Großes  und  Kolossales",  und  sagte  von  ihm:  „Er  ist  De- 
mokratie". 

Der  Mystiker  Bronson  Aleott  kam,  ebenfalls  von  Emerson  ge- 
schickt, und  wurde  von  W^hitmans  Persönlichkeit  ganz  und  gar 
überwältigt.   „Er  ist",  schrieb  er,  „der  leibhaftige  Gott  Fan." 

Die  zweite  Auflage  der  „Grashalme"  war  nun  schon  seit  drei 
Jahren  vergriffen,  und  Anfang  1860  trat  Whitman  mit  dem  jungen, 
tatkräftigen  Bostoner  Verlag  Thayer  &  Eldridge  in  Verbindung, 
um  die  dritte  Auflage  vorzubereiten,  da  inzwischen  wesentliche 
neue  Gesänge  und  Zyklen  geschaffen  waren.  Er  fuhr  selber  nach 
Boston,  um  die  Korrektur  zu  besorgen.  Während  dieses  Aufent- 
halts traf  er  häufig  mit  Emerson  zusammen,  mit  dem  er  herzliche 
Freundschaft  schloß.  Whitman  selber  hat  uns  (siehe  Prosaschriften) 
einen  kurzen  Bericht  über  das  denkwürdige  Gespräch  hinterlassen, 
das  er  eines  Tages  im  Februar  im  Stadtpark  von  Boston,  unter  den 
alten  herrlichen  ülmen  auf  und  ab  wandelnd,  mit  ihm  hatte  — 
und  das  den  Gedichten  galt,  die  in  der  zweiten  Auflage  soviel  Un- 
willen erregt  hatten,  den  Gesängen  vom  „elektrischen  Leib",  die 
nun  in  der  neuen  Ausgabe,  zu  einem  großen  Zyklus  „Kinder  Adams" 
erweitert,  wieder  erscheinen  sollten.  Diese  neue  Ausgabe  sollte  die 
erste,  von  einem  großen  Verlage  herausgebrachte  und  gewissermaßen 


V 


LXVH 


das  endgülti^o;e  Bekenntnis  Wliitmans  für  einen  viel  größeren 
Leserkreis  und  auf  Jahre  hinaus  werden.  Das  bestimmte  wahr- 
scheinlich Emerson,  noch  einmal  alle  Gründe  der  Besonnenheit 
und  Skepsis  wie  eine  wohlgeordnete  Armee  gegen  den  Dichter 
ins  Feld  zu  führen,  um  ihn  von  der  Veröffentlichung  dieser  Ge- 
sänge abzubringen,  die  für  viele  das  Buch  unlesbar  machen  würden. 
Als  er  endlich  nach  zwei  Stunden  mit  der  Frage  schloß:  „Was 
haben  Sie  zu  alledem  zu  sagen antwortete  Whitman :  „Nur, 
daß  ich  zwar  nichts  dagegen  erwidern  kann,  aber  mich  doch  ent- 
schlossener fühle  als  je,  an  meiner  eigenen  Theorie  festzuhalten 
und  sie  zu  betätigen."  —  „.  .  .  worauf  wir",  sagt  er  vergnüglich, 
„weggingen  und  ein  gutes  Mittagessen  einnahmen."  — 

Die  dritte  Auflage,  als  Bostoner  Ausgabe  bekannt,  war  die  bis 
dato  am  schönsten  und  würdigsten  ausgestattete.  Die  neu  hinzu- 
gekommenen Gesänge  waren  vor  allem  „Von  Paumanok  kom- 
mend", „Aus  der  ewig  schaukelnden  Wiege",  „Kinder  Adams", 
„Calamus"  und,  an  den  Schluß  des  Buches  gestellt,  das  „Lebwohl". 

Ohne  die  flutende  Einheit  Whitmans,  die  im  grenzenlosen  Gott- 
bewußtsein lebt,  auf  eine  schematische  Folter  strecken  zu  wollen, 
können  wir  doch  das  „offene  Geheimnis"  jener  Drei-Einheit  gleich- 
sam als  Index  über  sein  Werk  stellen,  die  er  in  dem  neuen  „Pau- 
manok "-Gedicht  zusammenfaßt: 

Mein  Kamerad! 

Zwei  Erhabenheiten  sollst  du  mit  mir  teilen,  und  eine  dritte,  die 
die  andere  umschliefU  und  noch  leuchtender  ist,  als  sie : 

Die  Erhabenheit  der  liebe  und  Demokratie,  und  die  Erhabenheit 
der  Religion. 

Liebe,  Demokratie  und  Religion  —  und,  sie  alle  tragend,  ge- 
bärend, verwirklichend,  das  „Ich",  das  „Selbst",  das  Ur-  und  Grund- 
wunder des  im  Einzelmenschen  verkörperten  Seins.  Eines  spielt 
ins  andere  hinüber,  gleichwie  die  See  zugleich  Vielheit  und  Ein- 
heit ist.  Denn  anders  als  im  eigenen  Ich  erleben  wir  uns  selbst, 
die  andern  und  die  \Velt  und  Gott  nicht;  nichts  im  ganzen  Uni- 
versum kann  wichtiger  sein,  als  das  eigene  Selbst.  Ks  ist,  um  ein 
Gleichnis  Whitmans  zu  gebrauchen,  sozusagen  die  Sehkraft. 

Nachdem  zum  erstenmal  das  Ich  in  dem  großen,  gleichsam  mit 
dem  Wellenschlag  und  Rhythmus  der  Unendlichkeit  ergossenen 
„Gesang  von  mir  selbst"  sich  in  aller  Fülle  ausgebreitet  hatte. 


LXVIII 


morgenfrisch  durcliblitzt  von  allein,  was  nur  ein  Mensch  fühlen 
und  schauen  kann,  voll  Erinnerung,  Gegenwart  und  ewiger  Zu- 
kunft, hinausrauschend  bis  über  die  dunkle  Schranke  des  Todes  in 
das  aligegenwärtig  Geistige,  —  nachdem  in  diesem  Traumgesang 
der  Wirklichkeit,  dessen  Worte  alle  wie  von  der  Morgensonne  be- 
strahlte Blätter  eines  mächtigen  und  in  Vielfältigkeit  zarten  Baumes 
leuchten,  die  Sphäre  geschaffen  war,  in  der  alles  in  W^ahrheit  von 
jenem  unbeschreiblichen  Erstlingszauber  glänzte,  der  uns  in  höchsten 
Stunden  die  Welt  und  unser  Dasein  in  ihr  zu  Bewußtsein  bringt, 
liob  nun  Whitman  das  blutvollste  Wunder  in  diese  neugeschaffene 
Sphäre  empor,  das  er  mit  der  ganzen  Kraft  und  Frische  seines 
eigenen  Leibes  erlebt  hatte,  das  Wunder  des  Geschlechts,  dei 
Zeugung,  der  Vater-  und  Mutterschaft.  Wie  von  feierlich- 
paradiesischem Orgelpräludium  umbraust,  hebt  er  an  und  steigt 
wie  Adam  in  den  Garten  Welt  aufs  neue  empor,  von  tausend 
Blitzen  frischesten  Gefühls  umspielt,  eine  Geisterschar  herrlicher 
Jünglinge  und  Mädchen  ihm  voraus,  und  Eva  an  seiner  Seite  oder 
hinter  ihm.  Was  reine  und  frische  Leiber  von  Mann  und  Weib 
auf  dieser  Erde  am  heißesten  und  beglückendsten  durchschauert, 
ist  auch  der  mächtigste  Träger  des  Seelischen.  Was  den  Einzel- 
leib gleichsam  zerschmilzt  mit  Lust  der  Hingabe  und  Empfäng- 
nis, ist  zugleich  höchstes  Ich-Gefühl  und  höchster  Gemeinschafts- 
drang. Gleichwie  in  der  mystisch-religiösen  Ekstase  sich,  just  durch 
die  innerste  Vertiefung  in  das  Selbst,  die  Schranken  des  Selbst 
zum  unendlichen  Bewußtsein  erweitern,  so  löst  sich  im  Wunder 
des  Geschlechts  der  zu  seiner  berauschendsten  Lust  gesteigerte 
Einzelwille  in  die  Lust  der  Vereinigung  mit  dem  leibhaftigen 
Wunder  des  „Du".  Die  ganze  Welt  ist  bestrahlt  von  dieser  Lust, 
alle  Wesenheiten,  sichtbar  und  unsichtbar,  stimmen  ein  in  dieses 
gewaltige,  innigste  Du,  alles  leuchtet  sich  an,  schmiegt  sich  an- 
einander, umarmt  sich ,  gibt  sich  hin,  erobert  und  empfängt.  Der 
Himmel  sprüht  im  Sonnenaufgang  Zeugungsstrahlen  über  die  hin- 
gegebene Erde,  die  Biene  taumelt  im  Duft  des  Samens  der  Blüte, 
derW^ind  streicht  liebkosend  über  den  hingestreckten,  bloßen  Körper, 
Welle  der  See  schmiegt  sich  in  Welle,  Grashalm  drängt  sich  an 
Grashalm,  Früchte  duften  und  locken,  Tier  drängt  sich  an  Tier, 
Vereinsamte  betten  sich  in  ihre  eigene  Sehnsucht  und  Glut,  eine 
bloße  Berührung  sprüht  Blitze,  Sonnen  kreisen  um  Sonnen,  das 

LXIX 


Unsichtbare  umarmt  das  Sichtbare,  alle  Glieder  und  Teile  des  Körpers 
atmen  und  schwellen  im  Drang  ihres  innersten  Sinnes,  alle  so  heilig 
wie  Gebete,  alle  vom  Willen  des  ewigen  Wunders  erfüllt,  alle  mit- 
gerissen in  der  warmen,  leuchtenden  Flut  des  Seins  und  Werdens,  alle 
berauschte  Liebende  und  Kameraden  in  den  Mutterräumen  der  Un- 
endlichkeit. An  der  schmalen  Pforte  des  Mutterschoßes  drängen 
sich  die  Keime  zu  neuen  Saaten  herrlicher  Mannheit  und  Weib- 
heit :  zu  den  neuen  Empfindenden,  Liebenden,  Bewußten,  in  denen 
die  W^elt  zu  sich  selber  immer  wieder  in  Seelen-  und  Leibesschön- 
heit erwacht,  Augen  aufschlägt,  die  schauen  und  glänzen.  Alles 
ist  Geburt  und  wieder  Geburt.  In  herrlichen  Müttern  schwillt  die 
Zukunft  der  Erde  und  Menschheit,  Blitze  der  Zeugungskraft  zucken 
über  eine  neue  Welt,  alles  Böse  fliegt  wie  Schatten  mit,  der  im 
immer  wachsenden  Licht  verweht,  —  hören  wir  Marschtakte, 
Freudenchöre  einer  alten  Welt,  feuertrunkene,  herbeikommen  und 
brüderlich  einmünden? 

Aber  nicht  nur  bacchischer  Taumel  dies,  verzückter  Tanz  zur 
Feier  der  Mysterien,  sondern  vollste  „Besonnenheit"  in  jedem 
Augenblick  des  Seins,  erwachtes  Ruhen  im  „Jetzt  und  Hier",  alle 
zartesten  und  wildesten  Empfindungen  vereint,  kein  trübes,  reuiges 
„Morgen"  mehr,  kein  schaler  Nachgeschmack  wie  nach  gewalt- 
samer Berauschtheit,  kein  Beiseiteschieben  der  schnöden  Alltags- 
welt um  des  Ideals  willen,  sondern  ein  Bejahen  alles  Seienden  und 
des  Adels  aller  Erd-  und  Naturgebundenheit,  ein  Schreiten  und 
Wandeln  immer  fort  und  immer  tiefer  in  das  unvergänglich  Wirk- 
liche hinein:  „Du  mußt  dich  nun  an  das  Blenden  des  Lichts  und 
jedes  Augenblicks  deines  Lebens  gewöhnen."  Ekstase  wahrlich,  wenn 
anders  Ekstase  befreite  Bewußtheit  heißt,  Gefühl  des  Wunders,  das 
uns  in  jeder  Sekunde  umgibt  und  erfüllt,  Erlösung  aus  dem  Schatten- 
bann gespenstischer  Wünsche,  Ziele,  Tätigkeiten,  Ehrgeize,  Sorgen, 
Vergnügungen:  „Du  bist!  —  mehr  nicht!  —  jedwedem  höchsten 
Gotte  ist  dies  genug." 

Und  diese  Lust  strahlt  nicht  nur  um  das  empfangende,  weib- 
liche „Du",  zu  dem  dich  alle  magnetischen  Blitze  deines  Leibes 
ziehen,  sondern  auch  um  das  „Du"  des  Mannes,  des  Kameraden, 
des  Gefährten  im  „Garten  Welt";  auch  zu  ihm  strebt  der  Magnet, 
auch  ihm  legst  du  mit  tiefer  Lust  die  Hand  in  die  Hand  oder  auf 
die  Schulter  oder  um  die  Hüfte,  dem  reinen,  wohlgestalteten. 


LXX 


durchgeistigten  Freunde.  Nur  „ätherischer"  noch,  „gleichsam 
körperlos",  obwohl  immer  in  der  Wonne  der  Leiblichkeit;  gleich- 
sam das  eigene  Wunder  der  Mannheit  im  gleichgeschaffenen  Adams- 
bruder liebevoll  noch  einmal  erlebend,  das  „Zeichen  der  Mannheit" 
mit  ihm,  im  frischen  Sinnbild  in  Waldestiefe  am  Sumpfrand  ge- 
pflückter Kalmuswurzel,  kühnen  Phallussymbols ,  austauschend, 
in  naturbeseeltem  Rausch  der  All-Liebeskraft,  in  glühend-lächeln- 
der  Kameradschaft  der  hier  auf  Erden  gemeinschaftlich  Wandeln- 
den und  Fühlenden.  Tiefer  noch  als  im  Empfängnistaumel  des 
Weibes  lebt  hier  im  mitliebenden  Gefährten  der  wache  Erostraum, 
das  Verstehen  der  Geistigkeit,  der  süßen  und  wilden  Einsamkeit 
der  Seele  in  aller  Gemeinschaft,  der  Blutfülle  männlichen  Gedankens, 
der  ewig  das  Unendliche  ruhelos-freudig  und  zärtlich  umspielt. 

Daher  blühen  diese  zart-feurigsten  Liebesgesänge  Whitmans, 
über  denen  das  Zeichen  „Calamus"  steht,  gerade  in  einer  Sphäre 
keuschester  Einsamkeit.  Sie  klingen  wie  in  hoher,  stehender 
Sommerglut  von  den  kühn  geschwungenen  Lippen  eines  panischen 
Gottes  den  Büschen  und  Blumen  zugeflüstert.  Es  hieße  sich  an 
diesen  Gedichten  versündigen,  wenn  man,  wie  eifrige  Maulwürfe 
es  versucht  haben,  den  Eros  aus  ihnen  hinwegdiskutieren  wollte; 
sie  sind  durch  und  durch  davon  durchbebt,  genau  so  gut.  wie  die 
stille  Luft  des  Nachmittags  vor  den  Toren  Athens,  als  Sokrates 
unter  der  Platane  am  Bach  mit  Phaidros  redete.  Und  dennoch 
anders.  Denn  hier  in  diesem  neuen  Garten  Welt  redet  ein  Mann, 
der  noch  eben  mit  Worten  von  niegehörter  Kühnheit  und  Lust 
die  Zeugung  und  das  Weib  gefeiert  hat,  der  noch  mitten  aus 
diesen  Calamus-Gesängen  heraus  der  „festverankerten,  ewigen" 
Liebe  zum  W^eib,  dem  übermächtigen  Verlangen  nach  der  „Braut" 
seinen  leidenschaftlichen  Gruß  zuruft,  dem  es  keinen  größeren 
Stolz  gibt,  als  die  „Unbeflecktheit  des  Zeichens  seiner  Mannheit", 
dem  seine  eigenen  Gesänge  sind  wie  „Sprößlinge  seiner  Lenden", 
der  den  Samen  ausstreuen  will  zu  noch  viel  kühneren  Republiken, 
der  das  Weib  als  Mutter  verherrlicht  hat,  wie  keiner  vor  ihm. 

Und  so  spüren  wir  erst  die  wahre  Dämonie  und  Macht  dieser 
feurig-geflüsterten  Galamus-Lieder,  wenn  wir  uns  bewußt  werden, 
daß  ihr  Sänger  in  ihnen  sich  aus  der  panischen  Stille  des  Waldes 
etwas  holen  will,  was  der  Lebensnerv  des  ganzen  Gemeinschafts- 
lebens der  Zukunft  und  aller  Staaten  und  Städte  sein  soll,  der 


LXXI 


Herzschlag  wahrer  Demokratie,  das  elektrisch  zwischen  allen  eine 
wahre  Gemeinschaft  hildenden  Männern  Spielende,  das  jeden  Ein- 
zelnen aus  der  Verkrampftheit  der  Eigensucht,  Parteilichkeit,  Ge- 
hässigkeit und  Stumpfheit  Erlösende,  wie  er  es  in  seinen  „Demokrati- 
schen Ausblicken"  verkündet:  „Inbrünstige  und  liebevolle  Kame- 
radschaft wird  dann  zu  vollem  Ausdruck  kommen,  persönliche 
und  leidenschaftliche  Liebe  von  Mann  zu  Mann,  die,  schwer  defi- 
nierbar, den  Eehren  und  Idealen  der  tiefsinnigen  Erlöser  aller 
Länder  und  Zeiten  zugrunde  liegt,  und  die  vielleicht  die  wesent- 
lichste Sicherheit  und  Hoffnung  für  die  Zukunft  unserer  Staaten 
zu  bilden  verspricht,  wenn  sie  einmal  in  Sitte  und  Literatur  voll 
entwickelt,  gepflegt  und  anerkannt  sein  wird.  In  der  Entwicklung, 
dem  Bewußtwerden  und  der  allgemeinen  Geltung  dieser  feurigen 
Kameradschaft  (der  Freundschaftsliebe,  die  der  die  Literatur  jetzt 
beherrschenden  Geschlechtsliebe  ebenbürtig,  wenn  nicht  überlegen 
ist)  erhoffe  ich  das  ausschlaggebende  Gegengewicht  und  die  Ver- 
geistigung unserer  materialistischen  und  vulgären  amerikanischen 
Demokratie.  Manche  werden  sagen,  das  sei  nur  ein  Traum  und 
werden  meinen  Schlußfolgerungen  nicht  beistimmen :  ich  aber 
erwarte  zuversichtlich  eine  Zeit,  wo  durch  all  die  Myriaden  hörbarer 
und  sichtbarer  weltlicher  Interessen  Amerikas  die  Fäden  männlicher 
l  reundschaft,  wie  ein  halbverborgener  Einschlag,  durchschimmern 
werden,  warm  und  zärtlich,  rein  und  süß,  stark  und  lebenslang,  in 
bisher  unbekanntem  Maße,  —  eine  Kameradschaft,  die  nicht  nur  den 
individuellen  Charakter  bestimmen  und  ihn  gefühlsreich,  muskulös, 
heroisch  und  innig  machen,  sondern  auch  auf  die  allgemeine  Politik 
den  nachhaltigsten  Einfluß  ausüben  wird.  Ich  behaupte,  die  Demo- 
kratie bedingt  eine  solche  liebende  Kameradschaft  als  ihr  unent- 
behrlichstes Zwillingsgegenspiel,  ohne  welches  sie  unvollständig 
und  unnütz  ist  und  unfähig  zu  dauern." 

So  durchdringen  und  durchbluten  sich  die  zwei  jener  Dreiheit: 
Liebe  und  Demokratie,  und  in  ihnen  die  dritte,  „Religion",  das  heißt 
nichts  anderes,  als  die  aus  der  staunenden,  freudevollen  Bewußt- 
heit des  Selbst  geborene,  immer  wache  Beziehung  zum  ünend- 
liclien,  die  ewige  Spiritualität.  „Bibeln",  schreibt  Whitman  in  den 
„Demokratischen  Ausblicken",  „mögen  Überlieferung  bringen  und 
Priester  mögen  sie  auslegen,  aber  einzig  und  allein  dem  lautlosen 
Wirken  des  einsamen  Ich  ist  es  vergönnt,  in  den  reinen  Äther  der 


Lxxn 


Anbetung  einzugehen,  die  llölie  Gottes  zu  erreichen  und  mit  denr» 
{Unaussprechlichen  Zwiesprache  zu  pflegen."  So  sehen  wir  die  drei 
„Erhabenheiten"  in  einem  Herzschlag  vereint. 

Je  inbrünstiger  eine  Empfindung  ist,  um  so  tiefer  verwandelt 
sie  alle  fragwürdige  Verläßlichkeit  und  Gewöhnung  in  Traum, 
in  Staunen  und  Wunder;  und  so  sind  gerade  diese  Calamus-Ge- 
(lichte  durchsetzt  von  den  tiefen  Zeilen,  die  der  Traumhaftigkeit 
aller  Erscheinungen  gelten,  und  gerade  in  ihnen  wird  alles  Er- 
leben zur  transparenten  Farbigkeit  vor  der  ruhevoll,  warm  und 
groß  aufsteigenden  Dunkelheit  des  Todes: 

„O  ich  glaube,  nicht  für  das  Leben  singe  ich  hier  mein  Lied  der 
Liebenden,  —  für  den  Tod  wohl  muß  es  sein; 

Denn  wie  ruhevoll,  feierlich  schwillt  er  empor  in  das  Keich  der 
Liebenden, 

Tod  oder  Leben  erscheint  mir  dann  gleich,  meine  Seele  mag  sich 

nicht  entscheiden, 
(Obwohl  ungewiß,  glaube  ich  doch,  daß  die  hohe  Seele  der  Liebenden 

am  innigsten  den  Tod  willkommen  heißt.)" 

„Ich  will  die  Worte  sagen,  die  den  Tod  lustvoll  machen; 
So  gib  mir  den  Ton  an,  o  Tod,  daß  ich  danach  stimme. 
Gib  mir  dich  selbst,  denn  ich  sehe,  daß  du  nun  mir  vor  allen  ge- 
hörst, und  daß  ihr  untrennbar  verschlungen  seid, 
Tod  und  Liebe." 

Tod,  nicht  als  ruhevoller  Wellenschlag  von  Sein  zu  Nichtsein, 
sondern  in  verkrampfter  Gewaltsamkeit,  als  Fieberzuckung  ver- 
irrter  Menschheit  drohte  über  den  Staaten,  als  sich  diese  Gesänge 
aus  Whitmans  Herzen  lösten,  und  er  selber  und  all  seine  Liebes- 
und Lebenskraft  sollte  bald  Brust  an  Brust  mit  ihm  ringen. 

An  jenem  Tage  von  Lincolns  Einzug  in  W^ashington  lastete 
dumpfes  Schweigen  über  der  begrüßenden  Menge.  Die  Sache  der 
Südstaaten  hatte  ihre  Parteigänger  bis  tief  in  den  Norden  hinein 
in  den  Reihen  der  Demokratischen  Partei,  der  zum  Teil  immer 
noch  die  Souveränität  der  Einzelstaaten  als  höchstes  zu  erhalten- 
des Gut  erschien.  Überdies  war  man  sich  bewußt,  daß  der  Süden 
militärisch  besser  vorbereitet  war;  das  Kriegsdepartement  der 
föderativen  Regierung  hatte  bisher  in  den  Händen  von  Südländern 


LXXHl 


ffeleffen.  Auch  war  an  sich  der  aristokratische  Süden  mehr  an  Be- 
fehlen und  Gehorchen  gewöhnt.  Dagegen  hatte  der  Norden  frei- 
hch  ein  Element  einzusetzen,  das  gerade  in  Amerika  von  höchster 
Bedeutung  ist,  nämlich  die  Idealität  des  Gedankens  der  Union, 
die  seinen  ins  Feld  ziehenden  Söhnen  jene  fast  religiöse,  kreuz- 
fahrerhafte [nbrunst  mitgab,  ohne  die  der  amerikanische  Soldat 
f^cine  besten  Fähigkeiten  nicht  entfalten  zu  können  scheint. 

Gegen  Mitternacht  des  i3.  April  1861  las  Whitman,  der  gerade 
aus  der  Oper  kam,  das  eben  ausgerufene  Extrablatt,  das  den  tät- 
lichen Ausbruch  der  Feindseligkeiten  meldete.  Ein  Aufruf  des 
Präsidenten  zu  den  Waffen  erfolgte  am  nächsten  Tage,  und  die 
Jugend  New  Yorks  folgte  ihm  in  Scharen.  Unter  ihnen  auch 
George  Whitman,  Walts  um  10  Jahre  jüngerer  Bruder,  der  später 
Hauptmann  und  Oberst  wurde. 

Für  Whitman,  wie  für  viele  andere,  bedeutete  dieser  Krieg  die  Probe 
auf  die  Zukunft  und  Lebenskraft  der  Idee  Amerikas  und  seine  Einheit, 
für  ihn  noch  in  dem  tieferen  Sinn  des  Glaubens  an  die  von  ihm 
verkündete  Demokratie  der  Menschheit.  Die  Hingabe  vieler  lau- 
sender bester  Söhne  des  Landes  um  eine  Idee  wurde  ihm  im  Laufe 
des  Krieges  immer  mehr  zum  Beweis  ihrer  Fähigkeit,  ein  solches 
männliches  Ideal  wirklich  zu  erreichen.  Sein  Glaube,  daß  die 
eigentliche  Kraft  Amerikas  in  der  unbekannten  Masse,  im  breiten 
Volk,  im  „göttlichen  Durchschnitt"  lebe,  wurde  durch  das  Massen- 
erlebnis dieses  Krieges  genährt  und  bestätigt. 

Das  Fallen  der  Schranken  individuellen  Lebens  bei  höchster  An- 
spannung der  Einzelkräfte  war  ein  Element,  das  ihn  im  Tiefsten 
ergriff,  wenn  er  auch  freilich  jederzeit  den  Krieg  nur  als  ein  Fieber 
im  Leibe  der  Staatsgemeinschaft  empfand,  eine  Gewaltsamkeit,  die 
nur  erträglich  wurde  durch  den  Glauben  an  eine  erhöhte  Blüte 
wahrhaft  menschlichen  Friedens  und  Gedeihens,  die  ihm  folgen 
müßte.  Er  sah  im  Geist  eine  Menschengemeinschaft  so  hoher  und 
herrlicher  Art,  daß  für  sie  die  Probe  auf  den  Tod  nur  wie  der 
letzte,  höchste  Ausdruck  gegenseitiger  Triebe  und  kameradschaft- 
lichen Zusammenhaltens  gegen  äußere  Gewalten  sein  würde,  aus 
Lust  aneinander.  Und  das  reale  Erlebnis  dieses  Krieges  mußte 
ihm  wie  ein  dumpferes  Vorspiel  zu  solcher  Gemeinschaft  erscheinen, 
in  dem  jene  höchste  Kameradschaft  ganz  befreiter  Menschen  nur  erst 
seine  dämmrigen  Blitze  spann. 


LXXIV 


Was  aber  dieser  Krieg  nicht  brachte,  brachte  er  selber  in  ihn 
mit.  Die  ganze  Liebeskraft  seiner  Einsamkeit  trug  er  in  die  Qualen 
und  Ängste  des  wilden  Bluthandels  hinein,  mit  der  Hingebungs- 
kraft eines  wahrhaft  großen  Herzens  sich  an  die  realen  Forde- 
rungen des  Augenblicks  verschwendend.  Er  bereitete  sich  mit  fast 
sakraler  Inbrunst  auf  etwas  vor,  das  noch  dunkel  vor  ihm  lag, 
aber  dessen  opfervolle  Größe  er  fühlte.  Und  wenn  wir  wissen,  daß 
er  in  den  vier  Kriegsjahren  als  unablässiger  Tröster,  Plleger,  Lebens- 
und Freudespender  alle  seine  bisher  unerschütterliche  Gesundheit 
und  seinen  unvergleichlichen  lebendigen  Magnetismus  Tag  und 
Nacht  an  die  Verwundeten  und  Sterbenden  verschenkte,  um 
schließlich  als  ein  körperlich  Gebrochener  aus  diesen  furchtbaren 
Jahren  hervorzugehen,  so  werden  wir  rückblickend  die  ergreifende 
Bedeutung  der  Zeilen  fühlen,  die  er  am  i6.  April  1861  in  sein 
Tagebuch  schrieb:  „Ich  habe  an  diesem  Tag,  in  dieser  Stunde, 
mich  entschlossen,  mir  einen  reinen,  vollkommenen,  wohltuenden, 
reinblütigen,  starken  Leib  zu  schaffen,  indem  ich  alle  Getränke 
außer  Wasser  und  reiner  Milch  vermeide  und  auch  alle  üppigen 
Speisen  und  reichen  Mahlzeiten,  —  einen  edlen  Leib,  einen  ge- 
läuterten, gereinigten,  vergeistigten,  ungeschwächten  Leib."  Fühlen 
wir  hier  nicht  den  erschütternden  Willen,  die  Fragwürdigkeit  der 
^virren  Geschehnisse  des  Lebens  durch  eigene,  höhere  Inkarnation 
zu  bezwingen?  Größe  und  Adel  und  Liebe  aus  der  dumpfen  Ver- 
krampftheit der  Tatenwelt  herauszuringen  und  erlösend  in  die 
eigene  Brust  zu  nehmen? 

Wahrlich  nicht  in  der  Haltung  und  im  Geiste  eines,  der  sich 
„opfert" !  sondern  mit  derselben  Lust,  mit  derer  sich,  aus  seiner  un- 
gebrochenen, alles  mitfühlenden  Natur  heraus  an  die  von  Gut  und 
Böse  durchbrauste  Fülle  des  Großstadtlebens  hingegeben  hatte; 
mit  demselben  Liebesfeuer,  mit  dem  er  einsam  unter  Büschen  und 
Blumen  und  Geistern  von  Kameraden  im  W^ald,  am  Teichrand  ge- 
wandert war  und  seine  heißen  Grüße  geflüstert  hatte;  mit  der  Lust 
am  Lebendigen  und  seinem  rätselhaften,  süßschaurigen  Sein  in- 
mitten des  Unsichtbaren,  Unendlichen.  Mit  Opfergefühlen  schon 
darum  nicht,  weil  in  solchem  „Gürten  seiner  Lenden"  auch  das 
Sichrüsten  zu  neuen  Gesängen,  zu  neuer,  gestalteter  Vergeistigung 
des  wirren  Geschehens  lag,  weil  er  sich  als  den  Einzigen  fühlte, 
der  das  wahre,  geistige  Arom  dieses  Krieges  und  derer,  die  in  ihm 


LXXV 


stritten  und  litten,  in  unverjjängliche  Worte  einzufangen  berufen 
sei,  seinen  Sinn  und  seine  Wesenheit  einzuweben  in  das  große  Ge- 
webe der  Zukunft,  an  dem  er  spann. 

Während  der  ersten  Monate  des  Krieges  blieb  Whitman  zu  Hause 
bei  der  Mutter.  In  dieser  Zeit  entstand  bereits  ein  Teil  der 
,/rrommelschläge",  Gesänge,  die  noch  nicht  das  Aroni  persönlichen 
Miterlebens  trugen,  sondern  mehr  ein  Widerhall  der  erschütterten, 
ersten  Kriegsstimnumg  waren,  des  Aufbrausens  jener  freilich  schnell- 
verrinnenden Woge  von  Gemeinsamkeit,  Hingabe,  Begeisterung*. 
Als  im  Dezember  1862  George  Whitman  in  der  Schlacht  bei  Fre- 
dericksburg verwundet  worden  war,  brach  Walt  an  die  Front  auf 
und  pflegte  ihn  zuerst  im  Feldlager  am  Rappahannok  und  später 
in  einem  der  Washingtoner  Lazarette.  So  begann  die  Tätigkeit 
des  „Wundpflegers",  die  bis  zum  Ende  dieses  überaus  blutigen  und 
wechselvollen  Krieges  und  noch  einige  Zeit  darüber  hinaus  dauerte. 

I  m  die  Ausmaße  dieses  Bruderkampfes  einer  zerrissenen  Nation 
nur  ungefähr  anzudeuten,  sei  gesagt,  daß  die  xVrmeen  der  Union 
zum  Beispiel  in  der  Schlacht  bei  Fredericksburg  i3ooo,  bei  Chan- 
cellersville  60000  und  auf  den  Schlachtfeldern  in  Virginia  während 
des  letzten  Kriegsjahres  über  100000  Mann  verloren;  Zahlen,  die  an 
den  damaligen  Verhältnissen  gemessen  außerordentlich  hoch  sind. 
l!)abei  waren  die  Kämpfe  von  jener  Erbitterung  durchglüht,  wie  sie 
just  in  Bruderkriegen  mit  besonderer  Wildheit  zu  toben  pflegt.  Mehr 
als  einmal  hing  das  Schicksal  des  Nordens  an  einem  Faden,  bis  end- 
lich Lincoln  in  General  Grant  den  Mann  fand,  der  die  Sache  der 
Union  zum  Siege  führte.  Am  3.  April  i865  ergaben  sich  die  letzten 
Truppen  der  Südstaaten  an  ihn.  Am  14.  April  wurde  Abraham 
Lincoln,  der  Amerika  durch  diese  vier  furchtbaren  Jahre  hindurch- 
gesteuert hatte,  ermordet.  Er  wäre  auch  ohne  diesen  tragischen 
Ausgang  nicht  wiedergewählt  worden,  denn  trotz  des  Sieges  war 
das  Mißtrauen  der  großen  Mehrheit  der  Amerikaner  gegen  eine 
übermächtige  Zentralgewalt  allzu  elementar. 

„Während  meiner  zwei  Jahre  in  den  Lazaretten  und  im  Feld," 
schrieb  Whitman  1864,  „habe  ich  über  600  Krankenbesuche  ge- 
macht und  bin  bei  etwa  18  bis  ^.oooo  Verwundeten  und  Kranken 

*  Als  Beispiel  dieser  schwächeren,  vom  Dämon  weniger  gjesegneten  Gesänge 
habe  ich  in  Band  II  dieser  Ausgabe  nur  die  „Erzählung  des  Hundertjährigen" 
gebracht. 


LXXVI 


gewesen  und  habe  ihnen  Seele  und  Leib,  wenigstens  in  einigem  ge- 
ringen Maße,  in  der  Stunde  der  Not  gestärkt."  Er  hatte  keinerlei 
Amt  und  Stellung  bei  den  Lazaretten.  Er  wohnte  in  Washington 
bei  der  befreundeten  Familie  O'Connor  und  brachte  das  Geld,  das 
er  brauchte,  notdürftig  durch  Zeitungsbeiträge  auf.  Das  meiste  da- 
von verwendete  er  darauf,  allerhand  Erfrischungen,  Bücher,  Schreib- 
papier, Tabak  u.  s.  f.  für  seine  Pfleglinge  zu  kaufen,  auch  warb  er 
bei  Freunden  eifrig  um  Beiträge  für  diesen  Zweck.  Die  Ärzte  und 
Lazarettbeamten  sahen,  daß  seine  Gegenwart  den  Verwundeten 
wohltat  und  ließen  ihn  frei  gewähren.  Auf  seine  Besuche  pflegte  er 
sich  sorgfältig  vorzubereiten.  Er  wußte,  daß  seine  wesentliche  Heil- 
wirkung auf  der  Gesundheit  und  reinen  Ausstrahlung  seiner  ganzen 
Persönlichkeit  beruhte,  daß  seine  bloße,  gelassene,  liebe  verströmen  de 
Gegenwart  etwas  war,  was  die  armen  Burschen  mehr  stärkte  und 
ermunterte,  als  irgend  etwas  sonst.  Er  kräftigte  sich  in  der  freien 
Zeit  durch  lange  Spaziergänge  in  der  Natur,  nahm  jedesmal  vor 
den  Besuchen  ein  Bad  und  aß  kräftig,  wenn  auch  sonst  seine  Nahrung 
nur  sehr  sparsam  und  bescheiden  war.  „Walt,  komm  wieder!"  war 
der  Gruß,  der  ihm  in  mancher  Nachtstunde  nachgerufen  oder  -ge- 
flüstert wurde.  Die  zärtliche  und  feurige  Kameradschaft,  die  er  in 
einer  blühenden  Menschengemeinschaft  der  Zukunft  innerlich  er- 
schaut hatte,  übte  er  hier  in  der  zerstörten,  leidvollen  Wirklichkeit. 
„Ich  glaube  nicht,"  schrieb  er  an  seine  Mutter  nach  Brooklyn, 
„daß  sich  Menschen  je  so  geliebt  haben,  wie  ich  und  diese  armen 
Verwundeten  und  Sterbenden  uns  lieben."  Er  saß  bei  ihnen,  legte 
Verbände  an,  wusch  Wunden  aus,  las  ihnen  aus  der  Bibel  vor, 
schrieb  Briefe  in  die  Heimat  für  sie  und  half  ihnen  in  der  letzten 
Stunde.  Tag  für  Tag  und  in  vielen  Nächten.  Er  führte  über  seine 
Pfleglinge  genau  Buch  und  notierte  die  Bedürfnisse  und  kleinen 
Lieblingswünsche  eines  jeden.  Und  w  as  mehr  als  alles  war  :  aus  jeder 
seiner  Gaben,  seiner  Berührungen,  jedem  seiner  Worte  strömte  die 
Zartheit  und  Liebe,  die  nur  aus  der  Ganzheit  und  Reinheit  von 
Leib  und  Seele  strömen  kann.  In  der  Nähe  des  Todes  blüht  das 
liebenswerte  am  Menschen  mit  geheimnisvoller  Losgelöstheit  auf, 
und  wir  fühlen  gleichsam  die  Ströme  ^veher  und  lustvoller  magne- 
tischer Kraft,  mit  der  Whitman  sich  über  diese  Leidenslager 
beugte;  fühlen  das  „duftende  Gras  seiner  Brust",  das  aus  Kraft  und 
Freude  gesproßt  war,  sich  in  zärtlich-mütterlichem  Hauch  zum 


LXXVII 


Leiden  und  zur  Schwachheit  neigen.  Ohne  Schwächlichkeit  selber, 
ohne  Sentimentalität,  gelassen,  lind,  und  so  „elektrisch",  wie  nur 
je  eine  Äußerung  seiner  höchsten  Lust. 

Das  Tiefste  dieser  innigen  Gemeinschaft  mögen  wir  vielleicht 
ahnungsweise  begreifen,  wenn  wir  uns  darauf-  besinnen,  daß  alles 
Verlangen  Whitmans  nach  höherer,  liebevollerer  Menschheit  und 
die  dämmrigen  Gestalten  solcher  Menschheit  im  Grunde  in  seiner 
Brust  lebten,  eingehüllt  in  die  leuchtende  Sphäre  seines  eigenen 
Seins  und  seiner  eigenen  Dichterkraft;  und  daß  nun  hier  in  der 
absondernden,  durch  den  Tod  von  aller  Herkömmlich keit  gelösten 
Sphäre  des  Nur-Menschseins,  des  JNur-Liebebedürfens  ein  Etwas 
waltete,  das,  obwohl  gewandelt,  doch  jener  einsamen  Sphäre  der 
eigenen  Innerlichkeit  verwandt  war.  Der  tiefe  Drang  Whitmans 
zu  natürlichster  Unmittelbarkeit,  der  sich  schon  in  seinem  vorherigen 
Leben  und  in  dem  ganzen,  gradezu  gerichteten  Sprechton  seiner 
Dichtung  ausdrückte,  fand  hier  in  den  durch  Leiden  gelösten  und 
kindlich  gemachten  Seelen  Widerhall  und  begierige  Aufnahme.  — 
Whitman  selber  war  weit  von  jener  Gesinnung  entfernt,  die  um 
dieser  Samariterdienste  willen  späterhin  eine  Art  Heiligenschein  um 
ihn  verbreiten  wollte:  er  wies  all  solche  Verherrlichung  übereifriger 
Freunde  scharf  zurück  und  weigerte  sich  noch  in  Alter  und  Krank- 
heit, einem  Gesuch  um  eine  staatliche  Rente  für  diese  Tätig- 
keit in  den  Lazaretten  zuzustimmen.  Ebenso  verfälscht  ist  die 
salbungsvolle  Befriedigung,  die  einige  angelsächsische  Kritiker  über 
diese  seine  Selbstaufopferung  bezeigen,  gleich  als  habe  er  dadurch 
seine  vorherige  „Ich-Besessenheit"  und  Unbändigkeit  wieder  gut 
gemacht  und  den  Ablaß  durch  sie  verdient.  Diese  tätigen  Liebes- 
dienste waren  ihm  wehe  Lust  und  waren  eine  natürliche  Blüte 
seines  ganzen,  ungebrochenen  Seins. 

Während  all  dieser  Jahre  fand  er  immer  noch  Zeit,  regelmäßig 
an  seine  Mutter  zu  schreiben.  Aus  diesen  Briefen  fühlen  wir,  wie 
tief  und  unablässig  er  mit  ihr  verbunden  war.  Der  über  Vierzig- 
jährige spricht  in  ihnen  wie  ein  Kind,  das  zum  erstenmal  von  Hause 
weg  ist,  er  beichtet  der  Mutter  alle  seine  kleinen  und  kleinsten 
Nöte  und  Angelegenheiten,  beschreibt  ihr  etwa  genau  den  Zustand 
seiner  Kleider,  die  Löcher  und  schadhaften  Stellen,  irgendwelche 
Neuanschaffungen,  oder  berichtet,  unter  Entschuldigungen,  daß 
er  es  nicht  früher  getan  habe,  von  dem  Verkauf  eines  alten  Rockes, 


LXXVIII 


den  er  nicht  mehr  habe  tragen  können,  erzählt,  was  er  morgens, 
mittags  und  abends  zu  sich  nimmt,  mit  wem  er  verkehrt  u.  s.  t 
Er  verfehlt  auch  nie,  sich  nach  den  Sorgen  der  Mutler  zu  erkun- 
digen, nach  den  Geschwistern,  den  Geldangelegenheiten,  und  gibt 
Ratschläge  bei  Krankheitsfällen  usw.  Ein  zärtlicher  Humor  leuchtet 
durch  diese  Briefe.  Ab  und  zu  sind  Klagen  vernehmbar  über  seine 
eigene  Gesundheit,  die  allmählich  durch  die  Überanstrengung  und 
durch  den  vielen  Aufenthalt  in  einer  vergifteten  Atmosphäre  zu 
leiden  begann.  Einmal  zog  er  sich  eine  schwere  Blutvergiftung  an 
der  Hand  zu,  die  ihm  fast  den  ganzen  Arm  gekostet  hätte.  Erste 
leichte  Schwindelanfälle  und  vorübergehende  Lähmungen  beun- 
ruhigten den  bisher  an  keinerlei  Krankheit  oder  Schwäche  Gewöhn- 
ten. Er  litt  schwer  unter  dem  Malariaklima  und  der  unmäßigen 
Hitze  Washingtons.  An  besonders  glühenden  Tagen  ging  er  mit 
Sonnenschirm  und  Fächer  aus.  Die  Leiden  des  Krieges  quollen  im 
Sommer  1864  noch  einmal  in  finsteren  Giftwolken  schwerer  denn 
je  in  die  von  Verwundeten  überfüllte  Stadt.  Es  war  das  Jahr, 
in  dem  General  Grant  zum  letzten  Ringen  den  Oberbefehl  über- 
nahm. —  „O  Mutter,"  schreibt  Whitman  in  diesen  Tagen,  „zu  den- 
ken, daß  wir  nun  bald  wieder  hier  haben  werden,  was  ich  nun 
schon  so  oft  gesehen  habe,  die  schmerzbeladenen  Fuhren  und  Züge 
und  Bootsfrachten  von  armen,  blutigen,  bleichen,  verwundeten 
jungen  Männern  .  .  Es  ist  schrecklich,  daran* zu  denken  .  .  Was  für 
ein  furchtbares  Ding  ist  der  Krieg!  Mutter,  es  scheinen  keine 
Menschen  zu  sein,  sondern  ein  Haufen  von  Teufeln  und  Metzgern, 
die  einander  hinschlachten."  Und  eine  Woche  später:  „Ich  er- 
schrecke wirklich  vor  der  Welt  .  .  .  Ich  bin  zwei  Monate  lang  zwi- 
schen Leiden  und  Tod  gewesen,  schlimmer  als  je.  Das  einzige  Gute 
ist,  daß  ich  ihren  Qualen,  ihren  getrübten  Seelen  und  ihren  Lei- 
bern ein  paar  Sonnenblicke  bringen  konnte.  —  O  es  ist  furchtbar 
und  wird  noch  schlimmer,  schlimmer,  schlimmer!"  — Dazu  kam 
die  ständige  Sorge  um  seinen  Bruder  George,  der  in  allen  größereu 
Schlachten  dieses  blutigen  Endkampfes  mitfocht,  und  um  den  er  dop- 
pelt bangte  im  Gedanken  an  die  Mutter.  Die  Zahl  der  Verwun- 
deten, die  irrsinnig  wurden,  stieg  immer  mehr.  Freunde  und  Ärzte 
drängten  Whitman,  für  einige  Zeit  im  Norden  Erholung  zu  suchen. 
Er  weigerte  sich.  Er  schrieb  an  die  Mutter,  er  könne  den  Gedan- 
ken nicht  ertragen,  nicht  da  zu  sein,  wenn  etwa  George  verwundet 


LXXIX 


nach  Washington  gehracht  würde.  EndHch  aber  warf  ihn  der 
glühende  Mittsommer  1864  so  darnieder,  daß  er  seinen  Posten  ver- 
lassen mußte.  Er  kehrte  nach  Hanse  zurück,  wo  er  sechs  Monate 
lang  blieb. 

Während  dieser  Zeit  legte  er  die  letzte  Hand  an  die  „Trommel- 
schläge", die  im  folgenden  Sommer  in  New  York  als  Sonderausgabe 
gedruckt  wurden.  Die  dritte,  Bostoner  Ausgabe  der  „Grashalme" 
von  1860  war  in  etwa  fünftausend  Exemplaren  verkauft  und  dies- 
mal nicht  mit  einem  solchen  Entrüstungssturm  aufgenommen  wor- 
den. Aber  der  Kriegsausbruch  hatte  den  jungen  Verlag  gezwungen, 
seine  Tätigkeit  einzustellen. 

Auch  in  Brooklyn  und  New  York  konnte  sich  Whitman  nicht 
enthalten,  die  Lazarette  zu  besuchen,  und  im  Dezember  1864  kehrte 
er  nach  W^ashington  zurück,  vor  allem,  um  etwas  für  seinen  Bruder 
zu  unternehmen,  der  inzwischen  gefangen  genommen  worden  war 
und  in  dem  grausigen  Wintergefängnis  von  Dannville  schmachtete. 
Durch  ein  Gesuch  an  General  Grant  gelang  es  ihm,  George  zu  be- 
freien, der  dann  im  Frühjahr  trotz  aller  Leiden  wohlbehalten  nach 
Hause  zurückkehrte. 

Im  Februar  i865  erhielt  \Vhitman  eine  kleine,  leidlich  bezahlte 
Beamtenstelle  im  indianischen  Büro  des  Departements  des  Innern, 
wo  ihm  der  Umgang  mit  den  Eingeborenen  viel  Freude  machte. 

Am  14.  April,  kurz  nach  Friedensschluß  und  nach  dem  Einzug 
der  Truppen,  w  urde  Lincoln  im  Theater  ermordet.  Whitman  war 
zu  der  Zeit  auf  Besuch  zu  Hause  und  erfuhr  den  genauen  Hergang 
des  Ereignisses  durch  einen  befreundeten  Augenzeugen. 

Wahrscheinlich  hatte  Whitman  den  Präsidenten  nie  persönlich 
kennengelernt.  Aber  er  war  ihm  in  Washington  oft  begegnet  und 
hatte  jedesmal  Grüße  einer  besonderen,  gegenseitigen  Sympathie 
mit  ihm  ausgetauscht.  Eine  tiefe,  vergeistigte  Liebe  zu  dem  hage- 
ren, ernsten  Mann  hatte  Whitman  seit  langem  erfüllt,  in  dessen 
gramzerfurchten  Zügen  sein  Selierblick  das  kindliche  Leuchten  der 
Idealität  erkannte.  Nun  hatte  der  vielbefehdete  Führer,  der  das 
Opfer  des  Hasses  gegen  eine  allzustarke  Verkörperung  der  Über- 
macht des  Nordens  und  des  Gedankens  der  Oberhoheit  der  Union 
über  die  Einzelstaaten  geworden  war,  mit  seinem  Tode  gleichsam 
die  schwer  errungene  Einheit  von  Norden  und  Süden  besiegelt. 
Für  ganz  Amerika  erhielt  seine  Gestalt  durch  dieses  tragische 


LXXX 


Ende  die  Weihe  eines  Sinnbildes,  die  sie  für  Whitman  längest  gehabt 
hatte. 

Aus  der  ahnungsvollen  Unruhe  dieser  Frühjahrstage  und  -nächte 
heraus,  die  der  Ermordung  Lincolns  in  der  empHndlichen  Seele 
Whitmans  vorausgingen,  aus  dem  weh-beseligenden  Wissen  um 
die  Wirklichkeit  des  „ allesumhüllenden  Todes"  und  aus  der 
mystisch-süßen  Liebe  zu  der  so  im  Dunkeln  autleuchtenden  Welt 
der  Lebenden  heraus  sang  nun  der  selber  im  Innersten  seiner 
freudestarken  W^esenheit  Erschütterte  dem  Ermordeten  jene  zart- 
gewaltige  Nänie,  die  einer  seiner  berühmtesten  Gesänge  wurde: 
das  „Andenken  an  Präsident  Lincoln",  worin  er  das  schmerzlich- 
einsame Lied  der  liermitdrossel,  die  in  den  Sumpfzedern  schlägt, 
und  das  holde  Wunder  des  blühenden  Flieders  und  den  bleichen 
traurigen  Glanz  des  Venusgestirns  zu  einem  Weihelied  für  die 
„süßeste,  weiseste  Seele  aller  Völker  und  Länder"  verwebt  und 
zugleich  zu  einem  Loblied  auf  den  Tod,  so  voll  bebender  Natur- 
kraft und  geheimnisvoll  in  die  Nacht  geschmiegter  Innigkeit,  daß 
wir,  wie  kaum  irgendwo  in  aller  Dichtung  der  Welt,  gleichsam 
das  Arom  alles  Seins  und  Vergehens  wie  einen  feucht- würzigen 
Seeufergeruch  atmen. 

Hier,  wie  auch  in  den  letzten  Gesängen  der  „Trommelschläge", 
schwingt  ein  Ton,  der  bisher  nur  hie  und  da,  am  deutlichsten  in 
den  verwandten  „Calamus"-Liedern,  aufgeklungen  war:  ein  ge- 
stillter, schmerzlich-wonnevoller  Ton,  wie  unter  Sternen  ange- 
schlagen, in  duftenden  Nächten  tiefster,  schweigender  Einsamkeit. 

W^eh,  das  in  aller  Lust  Whitmans  immer  vibriert  hatte  und  das 
nur  stumpfere  Ohren  nicht  herau*:gel)ört  hatten,  männlich-starkes 
Weh,  das  in  jeder  wahren  Lust  am  Wunder  des  Daseins  lebt,  tönte 
nun  voller  und  inniger  mit.  Es  scheint,  daß  in  jener  Zeit  die  Saiten 
der  Seele  Whitmans  so  zum  Zerreißen  gespannt  waren,  daß  er  sie 
nur  unter  Schmerzen  berühren  konnte.  Freunde  haben  erzählt,  sie 
hätten  ihn  wohl  von  der  Straße  in  irgendeine  Allee  oder  unter 
einen  Torbogen  treten  sehen,  wo  er  dann  ein  Papier  hervorzog  und 
schrieb,  während  ihm  die  Tränen  über  das  Gesicht  liefen.  Wenn 
solche  Berichte  auch  Übertreibungen  Begeisterter  sein  mögen,  so 
sind  sie  doch  Auswirkungen  der  Schwingung  einer  Realität. 

Um  Whitmans  immer  wachsende  Neigung  zum  Übersinnlichen, 
wie  sie  sich  in  den  Gedichten  der  letzten  Epoche  seines  Lebens 


VI   WhitmaD  1 


LXXXI 


offenbart,  voll  zu  verstehen,  müssen  wir  uns  immer  aufs  neue  gegen- 
wärtig halten,  daß  ihm  das  Übersinnliche  nicht  weniger  wirklich 
war,  als  irgendeine  sogenannte  Wirklichkeit.  Wenn  er  etwa  in 
dem  Gedicht  an  einen  Freund,  den  er  im  Traum  gestorben  glaubte, 
ausspricht,  die  Toten  seien  überall  gegenwärtig,  die  Stadt  Manna- 
hatta,  Boston,  Chikago,  Philadelphia  sei  von  Toten  so  voll  wie  von 
Lebenden,  ja  vielmals  voller  als  von  Lebenden,  so  ist  ihm  das  eine 
Wahrheit,  nicht  weniger  gewiß  als  seine  Fland  oder  sein  Auge. 
Oder  wenn  er,  das  Getriebe  der  Boote,  Dampf-  und  Segelschiffe 
von  der  Brooklyn-Fähre  aus  beschauend,  sich  selber  als  leibhaftigen 
Gefährten  einer  hier  an  derselben  Stelle  nach  hundert  Jahren  ebenso 
wimmelnden  Menschheit  erblickt  und  voraussagt,  so  ist  ihm  das 
Wirklichkeit.  „Ich  steige",  ruft  er  im  „Leb  wohl",  „empor  aus  meiner 
Menschwerdung,  wieder  neuen  Formen  zu!"  Eine  ewige  Stufenfolge 
zieht  sich  durch  alles  Sein,  und  zugleich  lebt  das  volle  Wunder 
des  Seins  in  jedem  Zustand  der  sich  bewußt  werdenden  Seele. 
Den  Getrübten  täuscht  das  Wirrsal  von  Gut  und  Böse,  von  Ver- 
gänglichkeit und  Ewigkeit,  aber  der  Reine  sieht  die  Wahrheit. 

Daß  in  solchem  Schauen  dennoch  die  Seele  auch  in  Schmerzen 
erzittern  kann,  ja  in  Schmerzen,  die  tiefer  erschüttern,  als  dumpfes 
Leid  der  im  Alltag  Gebundenen,  von  Schmerzen,  die  gleichsam 
überpersönlich  an  sich  selber  das  Überwinden  des  Vergänglichen 
vollziehen,  ist  kein  Widerspruch  zur  Wahrheit.  In  welchem  Sinne 
eine  Seele  leidet,  das  ist  immer  wieder  das  Stigma  ihrer  Erlöser- 
kraft an  sich  und  anderen.  „Denke  an  die  Seele,  nähre  die  Seele, 
übe  die  Seele",  ob  in  Leid  oder  Lust,  ist  vor  dem  Unendlichen  und 
inmitten  des  Unendlichen  eines.  Die  „Freude",  die  Whitman  ver- 
kündet, ist  nichts  anderes,  als  das  immer  Stärker-Werden  der  Seele 
in  Allem,  was  durch  sie  hindurchflutet. 

Der  letzte  Teil  seines  Lebens  ist  das  Beispiel  solchen  Glaubens, 
nicht  mehr  oder  weniger,  als  seine  Jugend  und  Manneszeit  es  war; 
nur  stiller,  an  eigenes  Leiden  geschmiegter  und  daher  vielleicht 
noch  weihevoller. 

In  die  Zeit  jenes  gespannten  Zustandes  seiner  Seele  fiel  ein  klein- 
lich-brutales Ereignis,  das  Whitman  freilich  äußerlich  mit  voller 
Gelassenheit  hinnahm.  Der  neu  ernannte  Chef  seines  Departements, 
Mr.  Harlan,  fand  in  Whitmans  Pult,  wahrscheinlich  aufmerksam 
gemacht  durch  einen  böswilligen  Kollegen,  das  Manuskript  für  die 


LXXXII 


neue  Ausgabe  der  „Grashalme",  die  Whitman  vorbereitete.  Harlan 
war  Methodist,  und  man  kann  es  begreifen,  daß  er  über  den  In- 
halt gewisser  Gesänge  so  empört  war,  daß  er  sich  zur  sofortigen 
Entlassung  des  Verfassers  entschied.  Die  Entlassung  lautete  ohne 
Begründung  kurz:  „Der  Dienst  Walter  Whitmans  aus  New  York 
als  Beamter  im  Indianischen  Büro  ist  von  diesem  Datum  ab  auf- 
gehoben. —  3o.  Juni  i865." 

Der  edelmütig-hitzige  Freund  Whitmans,  O'Connor,  ging  sogleich 
zu  dem  ihm  bekannten  Kronanwalt  Ashton,  und  dieser  bewog 
Harlan  zwar  nicht,  den  Dichter  in  seinem  Amte  zu  lassen,  aber 
doch,  ihn  an  Ashtons  Departement  zu  überweisen.  Auch  sonst 
schadete  das  scharfe  Vorgehen  Harlans  W^hitman  nicht,  da  er  in 
Washington  überall  bekannt  und  beliebt  war,  seine  „Grashalme" 
aber  so  gut  wie  niemand  gelesen  hatte.  Journalisten  und  Mit- 
beamte traten  für  ihn  ein,  und  O'Connor  selber  veröffentlichte  seine 
bekannte  Schrift  „TheGood  Gray  Poet"  („Der  gute  graue  Dichter"), 
in  der  er  Harlan  aufs  schärfste  angriff.  Einige  Zeit  später  gab  ein 
anderer  Freund,  John  Burroughs,  die  erste  biographische  Studie 
über  Walt  Whitman  heraus.  Whitman  selber  bereitete  für  das 
Jahr  1867  eine  neue,  die  vierte  Auflage  der  „Grashalme"  vor,  die 
im  Oktober  dieses  Jahres  erschien.  Sie  enthielt  wenig  Neues,  die 
„Trommelschläge"  waren  noch  nicht  in  sie  aufgenommen;  geringe 
Änderungen  waren  vorgenommen,  Whitman  schrieb  an  seine  Mutter, 
er  habe  einige  übertriebene  Redewendungen  und  zwei  oder  drei 
ganze  Stellen  weggelassen. 

In  England  hatte  sich  inzwischen  W.  M.  Rossetti  zum  warmen 
Fürsprecher  Whitmans  gemacht  und  veröffentlichte  nun  einen  Aus- 
wahlband der  „Grashalme",  den  Whitman  nach  einigen  Bedenken 
gegen  eine  gekürzte  Ausgabe  seines  in  allen  Teilen  organisch  ge- 
wachsenen Werkes  dennoch  gelten  ließ.  Diese  Ausgabe  gewann 
ihm  einen  ansehnlichen  Kreis  von  Verehrern  im  Mutterland,  zu 
denen  Männer  wie  Tennyson,  Dante  Gabriel  Rossetti,  Swinburne, 
J.  A.  Symonds  u.  a.  zählten.  Vor  allem  eroberte  sie  ihm  das  Herz 
einer  der  bedeutendsten  Frauen  des  damaligen  England,  der  Witwe 
von  Alexander  Gilchrist,  des  berühmten  Biographen  von  William 
Blacke,  Anne  Gilchrist,  die  sich  sogleich  von  Rossetti  ein  Exemplar 
des  vollständigen  Werkes  geben  ließ  und  in  einem  leidenschaftlich- 
warmen Essay,   „A  womans  estimate  of  Walt  Whitman",  im 


vi* 


LXXXIII 


besonderen  für  die  verfehmten  „Kinder  Adams*  eintrat,  wozu  für  eine 
englische  Frau  nicht  wenig  Mut  gehörte.  Sie  trat  auch  in  Brief- 
wechsel mit  Wliitman  selber  (der  allerdings  fast  ausschließlich  von 
ihrer  Seite  bestritten  wurde)  und  siedelte  später  mit  ihren  Kindern 
(im  Jahre  1876)  nach  Philadelphia  über,  um  in  der  persönlichen 
Nähe  des  verehrten  Mannes  zu  leben. 

Abgesehen  von  einer  gänzen  Reihe  von  Besuchern,  die  ihm  sein 
wachsender  Ruhm  zuführte,  lebte  Whitman  still  und  einfach  in 
dem  kleinen  Kreis  gelehrter  und  hochgebildeter  Freunde,  durch 
den  er  sich  jedoch  nicht  an  seiner  alten  GevVohnheit  hindern  ließ, 
mit  schlichten  Menschen  aus  dem  Volk  freundschaftlich  zu  ver- 
kehren. Vor  allem  datiert  aus  dieser  Zeit  seine  bis  an  das  Ende 
seines  Lebens  dauernde,  innige,  väterlich-zärtliche  Kameradschaft 
mit  dem  jirnj^en  Irisch- Amerikaner  Peter  Doyle,  der  nach  dem 
Kriege,  in  dem  er  verwundet  worden  war,  eine  Stelle  als  Pferde- 
bahnschalfner  auf  der  Pennsylvania  Avenue  erhalten  hatte.  Whit- 
man lernte  ihn  in  einer  stürmischen  Winternacht  kennen.  Er  kam 
grade  von  Burroughs  und  saß,  in  eine  große,  weißwollene  Decke 
gewickelt,  als  einziger  Fahrgast  im  Wagen.  Der  junge  Schaffner, 
der  draußen  frierend  und  einsam  stand,  fühlte  sich  angezogen  durch 
den  Mann  mit  dem  grauen  Bart  und  dem  sonngebräunten  Gesicht, 
trat  in  den  Wagen  und  setzte  sich  zu  ihm.  Und  Whiiman  fuhr, 
anstatt  auszusteigen,  die  ganze  Strecke  noch  einmal  mit  ihm,  da 
sie  soviel  miteinander  zu  reden  hatten.  Seitdem  kam  Peter  täglich 
nach  beendeter  Fahrt  vor  das  Schatzhaus,  in  dem  Whitmans  Büro 
lag,  und  holte  ihn  zu  Spaziergängen  ab,  bei  denen  sich  oft  die 
anderen  Freunde  anschlössen.  Der  junge  Mensch  war  durch  die 
Kriegsereignisse  innerlich  aus  dem  Gleichgewicht  gebracht;  er  schlug 
sich  mit  Selbstmordgedanken  und  dergleichen  Gespenstern  herum, 
und  fand  in  Whitmans  Wärme  und  Liebe  den  Halt  seines  Lebens 
wieder.  Die  Briefe  Whitmans  an  ihn,  die  er  später,  als  er  Washing- 
ton verlassen  hatte,  an  ihn  schrieb,  füllen  einen  ganzen  Band  und 
sind  unter  dem  alten  Gedichttitel  „Cnlamus"  erschienen.  In  dieser 
innigen  Freundschaft  bebte  der  starke  väterlich-männliche  Eros  fort, 
der  Whitman  dazu  belähigt  hatte,  die  beste  Kraft  seines  Lebens  an  die 
Hunderte  und  Tausende,  leidender  Opfer  des  Krieges  zu  verströmen. 

Die  politische  Entwicklung  der  ^achkriegsjahre  war  für  Whit- 
man eine  tiefe  Enttäuschung.  Grant  war  zum  Präsidenten  gewählt 


LXXXIV 


worden,  und  der  militärisch  verdiente  General  erwies  in  den  acht 
Amtsjahren  seine  völlige  Unfähigkeit  als  Politiker.  Anstatt,  wie  es 
in  Whitmans  Geist  gewesen  wäre,  die  Herzen  des  Südens  zu  ge- 
winnen und  nun  die  wahre,  innere  Einheit  der  Union  zu  schaffen, 
wurde  in  radikal-republikanischer  Übertreibung  den  aufständischen 
Weißen  das  Stimmrecht  entzogen  und  den  dafür  gänzlich  unreifen 
Negern  verliehen,  wobei  Stimmenkauf  und  Korruption  jeder  Art 
ein  immer  schamloseres  Wesen  trieben.  Wir  können  uns  vorstellen, 
mit  welchem  Widerwillen  der  von  der  Idee  einer  Gemeinschaft 
freier,  selbstbeherrschter,  liebesstarker  Menschen  erfüllte  Dich- 
ter etwa  die  Scharen  der  Schwarzen  mitansah,  die  nach  einem 
Wahlsieg  „wie  ebensoviel  losgelassene  wilde  Bestien"  unter  Waffen 
durch  die  Straßen  tobten.  Seit  1868  arbeitete  er  an  einer  Schrift, 
in  der  er  die  Umrisse  wahrer  Demokratie  und  somit  wahrer  Mensch- 
lichkeit zu  entwerfen  unternahm,  jene  gewaltige  Bilanz  der  Ge- 
dankenfülle, die  ihm  im  Kriege  gereift  war  und  die  schließlich  im 
Jahr  1871  als  Sonderbroschüre  unter  dem  Titel  „Demokratische 
Ausblicke"  erschien.  Trotz  schneidendster  Kritik  an  dem  gegen- 
wärtigen Zustand  Amerikas,  an  seinem  Dünkel,  seiner  geistigen 
und  seelischen  Hohlheit,  seinem  alle  edle  Besinnung  erstickenden 
Materialismus,  seiner  kümmerlichen  Literatur  baut  er  dennoch  auf 
die  unerlösten  Kräfte  in  der  breiten,  gesunden  Masse  und  fordert 
und  verkündet  den  großen  Dichter,  der  den  geistigen  Ausdruck 
bringen  soll  für  die  Scharen  edler,  kraftvoller,  stolzer  Männer  und 
tüchtiger  Weiber,  die  allenthalben,  unabhängig  von  dem  korrupten 
Staats-,  Gesellschafts-  und  Literaturbeiriebe,  anzutreffen  sind,  wenn 
man  nur  Augen  hat,  zu  sehen.  Der  große  Dichter  soll  selber  nur 
ein  Teil  der  Masse  sein,  mit  ihr  leben,  mit  machtvollen,  schlichten 
Menschen  aus  dem  Volke  umgehen,  ihre  robuste  Wesenheit  in  sich 
verkörpern  und  gestalten;  frei  von  feudaler  und  kirchlicher  Auto- 
rität und  Tradition,  genährt  von  der  modernen  Wissenschaft,  leib- 
haftig erfüllt  von  der  Gleichheit  des  Geistes  Gottes  in  allen,  soll  er 
Angesicht  zu  Angesicht  der  herrlichen,  frischen  Welt  der  Menschen 
und  Dinge  gegenübertreten  und  sie  deuten  und  neu  schaffen  und 
die  Seele  in  Allen  berühren,  sie  alle  zu  dem  einzig  beglückenden 
Bewußtsein  ihrer  Seele  erwecken,  ihres  einmaligen,  wunderbaren 
Selbst,  das  ins  Ewige  verkettet  ist.  Seine  Sprache  soll  die  der  höch- 
sten Natürlichkeit  sein,  ebenbürtig  der  Natur  selber,  ebenbürtig 


LXXXV 


dem  Unaussprechlichen.  Den  Menschen  zu  züchten,  —  das  ist  die 
Lösung  des  großen,  jedoch  nur  scheinbaren  Widerspruchs  zwischen 
Individuahsmus  und  Gemeinschaft.  Alle  politischen  Rechte  und 
Freiheiten  sind  nichts,  wenn  nicht  der  freie,  vollentfaltete  Mensch 
geschaffen  wird,  der  sie  trägt  und  ausübt  und  dem  Gesetz,  das  die  De- 
mokratie verkörpert,  dem  Gesetz  der  Entwicklung,  die  innere  Freiheit 
gibt  und  warmen  Glanz  gegenseitiger,  lebendiger  Liebe  und  Kamerad- 
schaft. Die  Demokratie  soll  nichts  Geringeres  sein,  als  die  mensch- 
liche Sphäre,  in  der  ihre  Einzelnen  miteinander  leben,  eine  neue 
Erdenluft,  die  alle  Umgangsformen,  Sitten,  Handlungen  bestimmt 
und  Wohlgefühl,  Kraft,  Schönheit,  Güte,  Gastlichkeit,  Duldsamkeit 
lebendig  zwischen  Allen  und  von  Allen  zu  Allen  fluten  läßt. 

Da  alle  Neuschöpfung  in  Kunst  und  Leben  nur  aus  der  beson- 
deren Wesenheit  ihrer  Rasse  und  ihres  Volkes  möglich  ist,  so  muß 
aus  Amerika  das  höchste  Amerikanische  entwickelt  werden.  „Das 
Höchste  aber  und  die  Krönung  der  Demokratie  ist,  daß  sie  allein 
alle  Nationen,  alle  Menschen  noch  so  verschiedener  und  entfernter 
Länder  zu  einer  Bruderschaft,  einer  Familie  vereinen  kann  und 
immer  zu  vereinen  bestrebt  ist.  Sie  ist  der  alte,  immer  wieder 
neue  Traum  der  Erde,  der  Traum  ihrer  ältesten  und  jüngsten  Völ- 
ker und  liebsten  Philosophen  und  Dichter.  Nicht  nur  das  halbe 
Ziel  des  Individualismus,  der  isoliert;  sondern  auch  die  andere 
Hälfte,  die  da  ist  Zusammengehörigkeit  und  Liebe,  die  ver- 
schmilzt, bindet  und  einigt  und  alle  Rassen  zu  Kameraden  und 
Brüdern  macht.  Beide  müssen  lebendig  gemacht  werden  durch  die 
Religion  (die  einzige,  würdigste  Erhöherin  von  Mensch  und  Staat), 
die  in  die  stolzen  Gewebe  der  Materie  den  Atem  des  Lebens  haucht. 
Denn  im  Herzen  der  Demokratie  ruht  letzten  Endes  das  religiöse 
Element.  Alle  Religionen,  alte  wie  neue,  wohnen  dort.  Und  die 
Idee  der  Demokratie  kann  sich  nicht  eher  in  strahlender  Schönheit 
und  Gewalt  verwirklichen,  als  bis  jene,  die  die  beste  und  letzte, 
die  geistige  Frucht  tragen,  in  volle  Erscheinung  getreten  sind." 

„Im  Herzen  der  Demokratie  ruht  das  religiöse  Element":  denn 
eben  die  einzig  und  allein  aus  stillster  Einsamkeit  und  tiefster  Ver- 
senkung der  Einzelseele  geborene  mystische  Einheit  mit  der  gött- 
lichen Allgegenwart,  mit  der  Allseele  wird  in  der  erhöhten  Ge- 
meinschaft gleich  ehrfürchtig-freier  Seelen  zu  lebendiger  Liebe  und 
Freude,  strahlend  und  widergestrahlt. 


LXXXVI 


Der  ganze  gewaltige  materielle  Aufschwung  Amerikas  ist  dazu 
verurteilt,  der  furchtbarste  Fehlschlag  aller  Zeiten  zu  werden,  wenn 
nicht  aus  ihm  sich  solche  Vergeistigung  und  Veredlung  des  Men- 
schen emporringt;  lieber  in  Niederlagen  und  Verlusten  zur  Er- 
kenntnis der  Seele  geführt  werden,  als  die  Welt  mit  allen  Gewalten 
der  Materie  beherrschen  und  seellos  sein. 

Freilich  ist  Whitman  der  letzte,  nicht  anzuerkennen,  daß  in 
einem  vernünftigen,  gesunden  äußeren  Gedeihen  und  maßvollem 
Wohlstand,  der  aber  möglichst  Allen  zugute  kommen  muß,  das 
physische  Erdreich  sozusagen  liegt,  auf  dem  der  Typus  von  Men- 
schen nach  seinem  Herzen  sich  am  freiesten  entwickeln  kann.  Ver- 
flucht aber  die  irrsinnige,  Seele  und  Leib  um  ihr  Bestes  betrügende 
Hast  nach  Gewinn,  das  Zappeln  in  niederträchtig  verzerrten  Be- 
ziehungen von  Mensch  zu  Mensch,  das  Herumhetzen  in  Geschäfts- 
häusern, Salons,  Klubs,  Börsen  u.  s.  f.,  das  auch  noch  die  Nächte 
zu  schlaflosen  Höllen  macht  und  schließlich  im  gräßlichen  Zähne- 
klappern eines  Todes  ohne  Würde  und  Majestät  endet. 

Der  Krieg  und  seine  eigenen  tiefsten  Erfahrungen  inmitten  der 
ungenannten  Tausende  sind  ihm  die  Gewähr  für  das  Vorhandensein 
einer  stummen,  freudigen  Opferkraft  in  der  breiten  Masse  dieses 
Volkes,  die  zu  höherem  Bewußtsein  zu  erwecken  eben  die  heilige 
Aufgabe  des  wahren  Dichters,  Redners,  Führers  ist,  der  den 
innersten  Sinn  der  Demokratie,  des  „göttlichen  Durchschnitts"  er- 
kannt hat. 

Kühne,  strenge  und  blühende  Verkündung!  Wohin  gesprochen 
und  von  wem  gehört?  Von  Amerika  bislang  sicherlich  nicht. 


DUNKELHEIT  UND  HELLER  ABEND 


Willkommen,  unaussprechliche  Anmut  sterbender  Tage ! 

Und  ich  selber,  o  Tod,  habe  geatmet  mit  jeglichem  Atemzug 
In  deiner  Nähe  und  in  dem  stummen  Gedanken  an  dich. 

Gleichzeitig  mit  den  „Demokratischen  Ausblicken"  war  die 
fünfte  Auflage  der  „Grashalme"  erschienen,  in  die  nun  auch  die 
„Trommelschläge"  eingereiht  waren,  und  zwar  waren  sie,  gleich- 
sam zum  Zeichen,  in  welchem  tiefen  Sinne  Whitman  die  Erleb- 
nisse des  Krieges  betrachtet  wissen  wollte,  als  Angelpimkt  des 
ganzen  Buches  in  die  Mitte  gestellt.  Daneben  veröffentlichte  er 
ein  kleines,  120  Seiten  starkes  Bändchen,  das  u.  a.  die  Nänie  auf 
Lincolns  Tod  enthielt  und  nach  einem  der  schönsten  und  bedeu- 
tungsvollsten Gedichte  „Durchfahrt  nach  Indien"  betitelt  war. 
Hier  deutete  er  den  Plan  an,  gleichsam  als  rein  spirituelles  Seiten- 
stück zu  den  „Grashalmen"  ein  Buch  Gesänge  vom  Übersinnlichen 
zu  schreiben,  und  an  anderer  Stelle*  verkündete  er,  daß  er  sich 
nun  gereift  fühle,  die  Gedichte  zu  schaffen,  die  das  Programm  der 
„Demokratischen  Ausblicke"  verwirklichen  und  alle  Staaten 
Amerikas  Hand  in  Hand  „in  den  ungebrochenen  Kreis  eines  Ge- 
sanges" führen  sollten. 

Aus  solchen  kühnen  Plänen  riß  ihn  der  völlige  Zusammenbruch 
seiner  Gesundheit  gewaltsam  heraus. 

Er  hatte  sich  seit  der  Lazarettzeit  nie  wieder  ganz  erholt.  In 
der  letzten  Zeit  hatten  sich  die  Anwandlungen  von  Schwäche, 

*  In  der  Vorrede  zu  dem  Sonderabdruck  eines  Gedichtes  „Wie  ein  starker 
Vogel  auf  Schwingen  frei",  das  er  auf  Einladung  der  Vereinigten  literarischen 
Gesellschaften  von  Dartmonih  College  im  Sommer  1872  öffentlich  sprach.  Derlei 
Einladungen  war  er  bereits  einige  Male  gefolgt  und  tat  es  später  noch  wieder- 
holt, bis  in  seine  allerletzten  Jahre. 


LXXXVÜI 


Schwindel  und  leichtere  Erkrankunj^en  bedenklich  gemehrt.  Am 
23.  Januar  iSyS  hatte  er  noch  bis  spät  in  den  Abend  hinein  am 
Ofen  in  der  Bibliothek  des  Schatzhauses  gelesen,  und  sein  schlechtes 
Aussehen  war  dem  Pförtner  aufgefallen.  Nachdem  er  sich  in  seiner 
gegenüberliegenden  Wohnung  zu  Bett  begeben  hatte,  wachte  er 
zwischen  drei  und  vier  Uhr  morgens  auf  und  fühlte,  daß  er  Arm 
und  Bein  seiner  linken  Seite  nicht  bewegen  konnte.  Er  blieb  ruhig 
liegen,  bis  am  Morgen  Freunde  kamen  und  den  Arzt  holten.  Er 
hatte  einen  Schlaganfall  erlitten. 

Da  die  Zeitungen  seinen  Zustand  übertrieben,  schrieb  er  sogleich 
an  seine  Mutter,  um  sie  zu  beruhigen ;  er  sei  auf  dem  Wege  zur 
Besserung  und  werde  in  ein  paar  Tagen  wieder  an  seinem  Pulte 
sitzen.  Als  er  sich  bei  der  Pflege  seiner  Freunde  kaum  etwas  er- 
holt hatte,  bekam  er  die  Nachricht  vom  Tode  der  Frau  seines 
Bruders  Jefferson,  Martha,  die  er  besonders  geliebt  hatte.  Trotz- 
dem konnte  er  Ende  März  sich  wieder  an  seine  Büroarbeit  be- 
geben, obwohl  lahm  und  von  Schwächezuständen  des  Kopfes 
geplagt.  Eine  elektrische  Kur  tat  ihm  gut.  Anfang  Mai  jedoch  er- 
krankte seine  Mutter,  die  von  Brooklyn  nach  der  kleinen  Arbeiter- 
vorstadt Camden  zu  ihrem  Sohn,  dem  Obersten  George  Whitman, 
und  dessen  Frau  umgesiedelt  war.  Da  es  mit  ihr  nicht  besser 
wurde,  machte  er  sich,  so  leidend  er  selber  war,  am  10.  Mai  auf 
und  fuhr  nach  Camden.  Am  23.  schon  starb  Louisa  Whitman. 
Walt  war  bis  zum  letzten  Augenblick  bei  ihr. 

Er  wurde  von  diesem  Schlage  bis  ins  innerste  Herz  getroffen. 
Als  er  voll  Unrast  sich  wenige  Tage  später  an  die  Küste  begeben 
wollte,  wohl  zu  der  alten,  geliebten  Mutter  See,  hatte  er  einen 
schweren  Rückfall  und  mußte  sofort  in  das  Haus  seines  Bruders 
zurückgebracht  werden,  —  in  dieses  Städtchen,  das  er  nun,  ab- 
gesehen von  einer  späteren  Reise,  bis  an  sein  Ende  nicht  wieder 
verlassen  sollte. 

Seine  Freunde  in  Washington  sorgten  dafür,  daß  ihm  sein 
Büroposten  zunächst  belassen  wurde  unter  der  Bedingung,  daß  er 
einen  Ersatzmann  stellte.  Er  erholte  sich  auch  wieder  so  weit,  daß 
er  wenigstens  zeitweise  das  Zimmer  verlassen  konnte.  Aber  da- 
zwischen kamen  immer  wieder  die  langen,  dunkeln  Tage  und 
Wochen,  in  denen  er  sich  nicht  von  der  Stelle  rühren  konnte 
und  in  denen  sein  Kopf  jedes  klare  Denken  und  jede  Führung 


LXXXIX 


versagte  und  die  gräf31ichen  Schatten  geistiger  Umnachtung  um  ihn 
die  Flügel  regten.  Die  Freunde,  die  ihm  hätten  helfen  können, 
waren  fern.  Bei  seinem  Bruder  und  dessen  Frau  fand  er  zwar 
liebevolle  Fürsorge,  aber  keinerlei  geistige  Labung.  Er  mußte  die 
Segel  des  Geistesschiffs,  mit  dem  er  just  auf  die  „See  des  Unbe- 
kannten" kühn  wie  ein  Kolumbus  der  Seele  hatte  hinausfahren 
wollen,  streichen.  Er,  der  gewohnt  war,  seine  eigene  Fülle  und 
Kraft  zu  verströmen,  mußte  sich  nun  mit  letzten  inneren  Kräften 
an  das  bedrohlich  schwindende  Bewußtsein  klammern,  um  sich 
über  den  Tiefen  der  Finsternis  zu  halten.  Nur  wer  je  in  sich 
selber  in  äußerster  Not,  Einsamkeit  und  Schwäche  um  Seelenkraft 
und  -halt  gerungen  hat,  wird  die  pathetische  Größe  jenes  „Den- 
noch" begreifen,  zu  dem  sich  Whitman  in  diesen  furchtbaren 
Jahren  immer  wieder  emporrang. 

Der  Gedanke  an  die  Mutter  verließ  ihn  nie.  „Piet,  mein  liebster 
Sohn",  schreibt  er  an  Peter  Doyle,  „ich  denke  immer  noch,  ich 
werde  durchkommen,  aber  die  Zeit  allein  kann  das  entscheiden. 
Mutters  Tod  liegt  mir  noch  immer  auf  der  Seele,  die  Zeit  lüftet 
diese  Wolke  nicht  von  mir."  Und  einen  Monat  später:  „Ich  habe 
das  Gefühl,  als  ob  ich  wieder  kräftiger  werde  und  freier  im  Kopf 

—  beinahe  so,  wie  ich  vor  Mutters  Tod  war,  —  aber  ich  kann 
mich  damit  noch  nicht  versöhnen  —  es  ist  die  große  Wolke  meines 
Lebens  —  nichts,  was  je  vorher  geschah,  hat  mich  so  getroffen." 

—  „Nichts,  was  je  vorher  geschah"  —  wenn  wir  das,  nach  diesem 
gedrängten  Bericht  über  sein  Leben,  durchdenken,  werden  wir  die 
unendliche  Kindesliebe  spüren,  die  hier  in  verzweifelter  Ohnmacht 
ringt.  Nach  Jahren  setzte  er  gleichsam  als  Gedenkstein  dieses  Ge- 
dicht in  die  „Grashalme"  : 

• 

Gleichsam  an  deinen  Toren  selber,  Tod, 

Am  Eingang  zu  den  grenzenlosen  Dämraergründen  deiner  Herrschaft, 
Für  das   Gedächtnis  meiner  Mutter,    für   die  heilige  Einheit  der 
Mutterschaft, 

Für  sie,  begraben  und  hingeschieden,  doch  nicht  begraben,  nicht  ge- 
schieden von  mir 

(Ich  sehe  wieder  das  stille,  gütige  Antlitz,  noch  immer  frisch  und 
schön. 

Ich  sitze  bei  der  Gestalt  im  Sarg, 


XC 


Ich  küsse  und  küsse  wiederum  krampftiaft  die  lieben  alten  Lippen, 
die  Wangen,  die  geschlossenen  Augen  im  Sarg): 

Für  sie,  das  vollkommene  Weib,  tätig,  geistig,  mir  von  aller  Erde, 
von  Leben  und  Liebe  das  Teuerste, 

Grabe  ich  eine  Inschrift  hier,  bevor  ich  scheide,  inmitten  dieser 
Gesänge, 

Und  setze  einen  Grabstein  hier. 

Im  Sommer  1874  wurde  Whitman  von  einem  neuen  Chef  seines 
bescheidenen  Postens  in  Washington  enthoben,  was  freilich  vom 
Standpunkt  der  Behörde  aus  zu  begreifen  war,  da  er  nun  seit  acht- 
zehn Monaten  krank  war  und  keine  Aussicht  bestand,  daß  er  in 
absehbarer  Zeit  sein  Amt  wieder  würde  übernehmen  können. 

Seine  materielle  Lage,  die  an  sich  bescheiden  genug  gewesen 
war,  wurde  dadurch  bedenklich.  Er  hatte  einige  geringe  Erspar- 
nisse zurückgelegt,  aber  sie  gingen  nun  rasch  auf  die  Neige.  Er 
war  jetzt  in  klareren  Stunden  damit  beschäftigt,  seine  Kriegstage- 
bücher zur  Herausgabe  vorzubereiten,  und  schrieb  auch  kleine 
Aufsätze  für  Zeitungen  und  Zeitschriften,  —  ein  Verdienst  so  recht 
von  der  Hand  in  den  Mund.  Der  Ertrag  der  „Grashalme"  blieb 
immer  noch  sehr  gering,  und  selbst  um  ihn  wurde  er,  wie  es  zu 
jener  Zeit  noch  möglich  war,  von  den  Buchhändlern  zum  Teil 
betrogen. 

Trotz  allem  und  allem  aber  rang  er  sich  zu  zwei  seiner  er- 
schütterndsten Gedichte  durch,  in  denen  er  das  Leid  in  sinnbildliche 
Gestalt  zwang:  zu  dem  „Gebet  des  Kolumbus"  und  dem  „Gesang 
vom  Rotholzbaum",  die  das  Vertrauen  auf  den  göttlichen  Plan  und 
das  „wahre  Licht"  und  den  freudigen  Untergang  des  Gegenwärtigen 
um  des  vollkommeneren  Zukünftigen  willen  verherrlichen. 

Im  Frühjahr  1876  begann  sich  der  furchtbare  Bann,  der  über 
ihm  lag,  allmählich  zu  lösen.  Am  i3.  März  war  in  der  englischen 
Zeitung  „Daily  News"  ein  Brief  von  Robert  Buchanan  erschienen, 
der  die  Vereinsamung  und  Verarmung  des  kranken  Dichters  warm 
und  eindringlich  beschrieb  und  weitgehende  Teilnahme  wachrief. 
Rossetti  wandte  sich  an  Whitman  mit  einer  Anfrage,  auf  welche 
Weise  seine  englischen  Freunde  ihm  am  besten  helfen  könnten. 
Er  antwortete  würdig  und  schlicht  und  teilte  mit,  daß  er  eben 
eine  neue  Auflage,  die  sogenannte  Zentenarausgabe  der  „  Grashalme " , 


XCI 


vorbereite,  und  wenn  die  Freunde  ihm  helfen  wollten,  so  könn- 
ten sie  es  am  besten  dadurch,  daß  sie  das  Buch  kauften.  Dar- 
auf traf  sofort  eine  überaus  herzliche  Antwort  ein,  samt  einem 
größeren  Barbetrag  und  der  Liste  zahlreicher  Subskribenten.  Das 
war  eine  gute  Medizin,  wie  Whitman  selber  schrieb.  Vor  allem 
jedoch  fand  er  in  diesem  Frühjahr  den  Weg  zu  dem  Arzt,  der  ihn 
in  Wahrheit,  wenigstens  soweit  es  noch  möglich  war,  heilen  sollte: 
zur  Natur.  Seine  Gesundheit  hatte  sich  so  gebessert,  daß  er  gegen 
Ende  April  aufs  Land  fahren  konnte,  auf  die  Farm  einer  befreun- 
deten Familie  Stafford,  und  hier  sog  er  während  sechs  Jahren,  in 
immer  wiederholten  Besuchen  von  Camden  her,  die  Heilkraft  der 
Stille  und  der  Gemeinschaft  mit  Bäumen,  Vögeln,  Himmel  und 
Bach  in  seinen  noch  immer  halb  gelähmten  Körper  ein.  Von 
1876  bis  1882  schrieb  er  hier  jene  von  kindlich-panischer  Einheit 
mit  der  Natur  sanft  leuchtenden  Tagebuchblätter  im  Freien  nieder, 
über  denen  das  Wort  Mark  Aurels  stehen  könnte:  Tugend  ist  eine 
lebendige,  begeisterte  Sympathie  mit  der  Natur.  Hier  an  dem 
klaren  Timberbach,  von  Grillen  umzirpt,  von  Schmetterlingen 
und  Vögeln  umflogen,  saß,  lag  oder  badete  er  in  der  Sonne,  rang 
mit  den  schlanken  jungen  Baumstämmen,  wie  mit  lebendigen 
W^esen,  und  nahm  ihre  elastische  Kraft  in  sich  auf.  Klare  Sternen- 
nächte, erhellt  von  den  geliebten  Fixsternbildern,  die  er  alle  bei 
Namen  kannte,  und  von  den  wandelnden  Planeten,  gingen  über 
ihm  auf  und  atmeten  ihm  die  alte,  vertraute  Luft  der  Unendlich- 
keit zu.  Das  reine  Vertrauen  zum  Wunder  der  Wirklichkeit  blühte 
wieder  voll  in  ihm  auf. 

Es  wäre  falsch,  sich  Whitman  in  dieser  Spätzeit  seines  Lebens 
etwa  als  einen  durch  Leiden  Gezähmten,  Resignierten  zu  denken. 
Das  Kindliche  in  ihm,  das  immer  ein  starker  Einschlag  seines 
Wesens  war,  offenbarte  sich  vielleicht  jetzt  noch  unmittelbarer  in 
der  sanften  Lockerung  des  Alters.  Aber  allezeit  blieb  in  ihm  ein 
männlich  Machtvolles,  ein  geheimnisvolles  Feuer  panischer  Art, 
eine  im  Untergrund  brennende  Flamme  einsamer  Wildheit  und 
Größe,  die  auf  alle  Besucher  dieser  Zeit  eine  irgendwie  er- 
schütternde Wirkung  übte.  Noch  eben  hatte  er  selber  in  der  Vor- 
rede zur  Zenienarausgabe  von  der  „furchtbaren,  unwiderstehlichen 
Begier  nach  Sympathie"  gesprochen,  die  ihn  durchglühte.  Der 
glänzende  junge  englische  Gelehrte  Edward  Carpenter,  der  ihn 


xcu 


aufsuchte,  schilderte  ihn  als  höflich  und  von  großer  persönlicher 
Anmut,  aber  doch  elementar  und  „adamitisch"  von  Charakter: 
dreifach  sich  offenbarend,  im  magnetisch  ausstrahlenden  Geist  des 
Mannes,  in  der  umfassenden,  in  unsichtbaren  Bereichen  wohnen- 
den Weite  der  Seele  und  zugleich  in  einer  Art  von  furchtbarer 
Majestät,  „als  ob  in  ihm  das  Gericht  sich  offenbarte  —  eine  zeus- 
gleiche Erscheinung  voll  Donners".  Mrs.  Gilchrist,  die  1876  nach 
Philadelphia  übergesiedelt  und  in  deren  Heim  Whitman  ein 
häufiger  Gast  war,  selber  eine  herrliche,  feurige  Frau,  sagte,  wen 
dieses  Element  in  Wbitmans  Wesen  einmal  erfaßt  habe,  für  den 
gebe  es  kein  Verbergen  mehr  vor  der  schrecklichen  Flamme  dieser 
Persönlichkeit.  Dr.  R.  M.  Bücke,  selber  ein  Mann  voll  höchster 
Tatkraft  und  Energie,  der  nach  einer  abenteuerlichen  Jugend  ein 
bedeutender  Arzt  und  Leiter  einer  Irrenanstalt  geworden  war  und 
später  die  erste  grundlegende  Biographie  Wbitmans  schrieb,  schil- 
derte seinen  ersten  Eindruck  von  Whitman  als  eine  Art  von  „gei- 
stigem Rausch",  der  auf  Monate  hinaus  in  ihm  nachwirkte  und 
ihm  die  Gestalt  des  greisen  Dichters  über  menschliche  Erschei- 
nung hinaushob. 

Wbitmans  Lebenskraft  nahm  in  diesen  Jahren  ständig  wieder 
zu;  er  ging  in  die  Theater,  besuchte  Freunde  und  trug  u.  a.  im 
Jahre  1879  ^"  Steck  Hall  in  New  York  sein  „Andenken  an 
Lincoln"  vor.  Und  Milte  September  desselben  Jahres  entschloß  er 
sich,  mit  einigen  Freunden  eine  große,  sechzehnwöchige  Reise  über 
den  Mississippi  hinaus  in  den  Westen  bis  zu  den  Rocky  Mountains 
zu  unternehmen.  Er  freute  sich  wie  ein  unbändige?  Kind  an  der  Fahrt 
in  dem  bequem-imposanten  Schlafwagenzug  und  an  der  unermüd- 
lichen Lokomotive,  die  sie  durch  die  riesigen  Strecken  hinführte 
und  der  er  schon  vorher  den  feurigen  Gesang  ihrer  Wesenheit,  „An 
eine  Lokomotive  im  Winter",  gedichtet  hatte: 

Dich  für  mein  Rezitativ! 

Dich  in  dem  treibenden  Sturm,  wie  jetzt,  der  Schnee,  der  sinkende 
Wintertag, 

Dich  in  all  deiner  Rüstung,  dein  regelmäßiger  Doppelpulsschlag, 

dein  zuckendes  Pochen, 
Dein  schwarz  zylindrischer  Leib,  goldenes  Messing  und  silbriger 

Stahl, 


XCIII 


Dein  schweres  Seitengestänge,  gleichlaufendes  Zwillingsgestänge,  wir- 
belnd, hin  und  her  schießend  an  deinen  Flanken, 

Dein  metrisches  Keuchen  und  Brausen,  bald  schwellend,  bald  in  die 
Ferne  verhallend, 

Dein  großes,  vorspringendes  Licht  ganz  vorn. 

Deine  langen,   bleichen,  schwebenden  Dampfwimpel,  von  zartem 

Purpur  durchhaucht. 
Die  dicken,  finsteren  Wolken,  aus  deinem  Schornstein  gespieen. 
Dein  vielverklammerter  Leib,  deine  Ventile  und  Federn,  der  bebende 

Blitz  deiner  Räder, 
Der  Zug  dahinter,  bald  jäh,  bald  schlaff,  doch  unablässig  vorwärts 

getragen ; 

Urbild  der  neuen  Zeit  —  Sinnbild  von  Kraft  und  Bewegung  —  Puls 

du  des  Kontinents, 
Einmal  nur  komm  und  diene  der  Muse  und  tauch  in  Gesang,  so 

wie  ich  dich  hier  leibhaftig  sehe. 
Mit  Sturm  und  schüttelnden  Windstößen  und  wirbelndem  Schnee, 
Bei  Tag  mit  warnender,  läutender  Glocke  laut. 
Bei  Nacht  mit  schwingender  Lampen  stummem  Signal. 

Rauh-kehlige  Schönheit ! 

Rolle  durch  meinen  Gesang  mit  all  deiner  unbändigen  Musik,  deinen 
schwingenden  Lampen  bei  Nacht, 

Deinem  tollen  Pfeifengelächter,  widerhallend,  schütternd  wie  Erd- 
beben, alles  aufstörend  ringsumher, 

Gesetz  in  dir  selber  ganz,  fest  deine  eigene  Spur  verfolgend, 

(Nicht  schwächliche  Süße  tränenseliger  Harfe  in  dir  noch  glattes 
Piano,) 

Deine  Trillerschreie  von  Felsen  und  Hügeln  erwidert, 

Hingejagt  über  die  Steppen  weit  und  über  die  Seen, 

Zu  den  freien  Himmeln  uneingepfercht  und  froh  und  stark. 

Noch  einmal  tauchte  Whitman  auf  dieser  Reise  in  weite,  ihm 
bisher  unbekannte,  aber  wie  aus  innerer  Schau  längst  vertraute 
Bereiche  der  Neuen  Welt.  Fast  in  allen  Städten,  in  die  er  kam, 
fand  er  alte  Freunde  aus  der  Kriegszeit,  junge  Männer,  die  er 
selber  in  den  Lazaretten  und  Feldlagern  gepflegt  hatte  und  die 
inzwischen  zu  tüchtigen  Handwerkern  oder  Farmern  herangereift 


XCIV 


waren.  Die  zwei  ^ewaltig[Sten  Erlebnisse  dieser  Fahrt  waren  ihm 
die  wesdichen  Prärien  und  das  wilde,  phantastisch  zerklüftete 
Felsgebirge.  Empfand  er  in  der  unter  riesigen  Lufträumen  schwei- 
genden Weite  der  Steppen  das  Element  tiefsten,  amerikanischen 
Charakters,  ein  Sinnbild  ruhender  Verschmelzung  des  Idealen  und 
Realen,  so  rief  sein  Herz  beim  ersten  Anblick  des  in  vielgestaltiger 
Fülle  gedrängten  Hochgebirges,  daß  er  hier  gleichsam  die  Land- 
schaft seiner  Seele  und  das  Gesetz  seiner  eigenen  Gesänge  gefunden 
habe.  Diese  in  einer  riesigen  Einheit  brüderlich  emporgeschichtete 
Mannigfaltigkeit,  in  der  doch  immer  dieselben  Formen,  Felswand, 
Gipfel,  Wildstrom,  Schneefeld,  sich  unermüdhch  wiederholten,  war 
ihm  das  Abbild  der  Welt,  die  er  selber  geschaffen  und  in  der  er 
dieselben  Gedanken  immer  wieder  in  hundertfacher  Form  wie  ein- 
tönigen Adlerschrei  wiederholt  hatte.  In  St.  Louis,  im  Herzen 
des  Kontinents  und  des  mächtigen  Mississippitals,  nahm  er  längeren 
Aufenthalt  im  Heim  seines  dorthin  übersiedelten  Bruders  Jefferson. 
Hier  schrieb  er  jene  Tagebuchzeilen  über  eine  „Literatur  des  Mis- 
sissippitals", die  dieses  „Vaters  der  Gewässer"  und  dieses  Tales  wür- 
dig wäre,  das  sich  breit,  fruchtbar  und  nach  Menschen  rufend  in 
die  Zukunft  öffnete.  Er  war  des  fast  religiösen  Glaubens,  daß  hier 
das  wahre  Zentrum  neuer  amerikanischer  Menschheit  sei,  und  pro- 
phezeite, daß  in  wenigen  Jahrzehnten  hier  die  wahre  Hauptstadt  der 
Union  sich  türmen  würde.  Wir  fühlen  in  all  seinen  Tagebuchblättern 
dieser  Zeit  den  Atem  der  wie  Champagner  berauschenden,  klaren 
und  leichten  Luft  dieser  glücklichen  Zone.  In  St.  Louis  besuchte 
er  mit  Vorliebe  die  Kindergärten,  wie  er  denn  zeit  seines  Lebens 
die  Kinder  vor  allen  liebte;  und  der  riesige,  weißbärtige  Mann  mit 
dem  frischen  Gesicht  war  bald  unter  dem  Namen  „Kris  Kringle", 
was  etwa  soviel  wie  „Weihnachtsmann"  ist,  bei  den  kleinen 
Leuten  bekannt  und  geliebt. 

Neujahr  1880  kehrte  er  nach  Camden  zurück,  immer  wieder  bei 
jeder  Gelegenheit  auf  die  geliebte  Staffordfarm  hinausflüchtend,  an 
den  Timberbach,  dessen  Plätschern  ihm  in  die  ersten  Jahre  der 
Gesundung  geschwatzt  hatte.  Er  besuchte  Dr.  Bücke  und  die  von 
ihm  geleitete  Irrenanstalt  in  Südkanada  und  machte  von  da  aus 
noch  eine  zweite  kürzere  Reise  in  dieses  Land.  Den  Winter  ver- 
brachte er  wieder  in  Camden  und  auf  dem  Lande  und  ging 
im  Frühjahr  nach  Boston,  wo  er  am  14.  April  wiederum  sein 


xcv 


„Andenken  an  Lincoln"  öffentlich  vortrug.  Er  beschloß,  von  nun  ab 
jedes  Jahr  eine  solche  Erinnerungsfeier  an  den  Retter  der  Union 
zu  halten,  und  führte  das  auch,  mit  wenigen  Unterbrechungen, 
bis  zuletzt  aus.  Im  Hause  Emersons  verlebte  er  in  einem  der  edel- 
sten geistigen  Kreise  Bostons  viele  Stunden.  Es  war  sein  letztes 
Zusammensein  mit  dem  Philosophen  von  Concord,  der  im  Jahre 
darauf  starb. 

Die  Bostoner  Verlagsfirma  Osgood  and  Co.  trat  an  ihn  heran 
mit  Vorschlägen  zu  einer  neuen,  umfassenden  (siebenten)  Auflage 
der  „Grashalme".  Auf  diese  Ausgabe  setzte  Whitman  große  Hoff- 
nungen. Er  vereinte  in  ihr  den  gesamten  dichterischen  Stoff  der 
vorigen  Ausgabe  sowie  der  Broschüren,  vor  allem  der  „Durch- 
fahrt nach  Indien",  die  u.  a.  das  „Andenken  an  Lincoln"  ent- 
halien  hatte.  Es  wurde,  abgesehen  von  der  Ausgabe  von  1860,  die 
erste  äußerlich  würdige  Ausgabe  seines  Werkes.  Im  Winter  1881 
wurden  etwa  2000  Exemplare  abgesetzt.  Anfang  1882  jedoch  spielte 
ihm  amerikanische  Engherzigkeit  wiederum  einen  argen  Streich: 
der  Distriktsanwalt  von  Boston  verbot  die  Veröffentlichung  auf 
Ersuchen  einiger  Agenten  der  „Gesellschaft  zur  Unterdrückung 
des  Lasters",  falls  nicht  eine  Reihe  beanstandeter  Stellen  ausge- 
merzt würde.  Da  sich  Whitman  energisch  widersetzte,  zogen  Os- 
good and  Co.  am  9.  April  die  Ausgabe  wieder  ein,  was  ihnen  aller- 
dings heftige  literarische  Angriffe  eintrug.  Sie  stellten  jedoch  Whit- 
man die  gedruckten  Bogen  und  die  Platten  zur  Verfügung,  die  er 
im  Sommer  der  Philadelphier  Firma  David  Mc  Kay  übergab,  die 
un verweilt  eine  neue,  achte  Auflage  herausbrachte.  Sie  wurde  in 
einem  Tage  verkauft  und  auch  weitere  Neudrucke  fanden  so  viel 
Nachfrage,  daß  Whitman  am  Jahresende  einen  Ertrag  von 
5oo  Dollar  daraus  hatte.  Derselbe  Verlag  veiöffentlicbte  noch  im 
gleichen  Jahre  die  gesammelten  Tagebücher. 

Weihnachten  1882  brachte  ihm  die  besonders  innige  Freundschaft 
einer  Quäkerfamilie  aus  Philadelphia,  der  Familie  des  reichen  und 
frommen  Glashändlers  Pearsall  Smith.  Dessen  Tochter  Mary  war  von 
der  Universität  Neu-England  mit  dem  begeisterten  Entschluß  nach 
Hause  gekommen,  Whitman  persönlich  kennenzulernen,  obwohl 
ihre  Eltern,  denen  Whitman  bis  dahin  nur  der  Verfasser  eines  un- 
moralischen Buches  War,  sich  einigermaßen  entsetzt  darüber 
zeigten.  Der  alte  Smith  fuhr  jedoch  mit  dem  Freimut  des  Quäkers 


XCVl 


I 

eines  Tages  mit  seiner  Tochter  in  seiner  schönen  Equipage  nach 
Camden  hinaus  und  besuchte  Whitman  kurzerhand,  und  die  Folge 
war  ein  jahrelanger,  herzlicher  Verkehr  zwischen  ihnen.  Whitman 
nannte  später  Miß  Mary  nächst  der  t885  verstorbenen  Mrs.  Gil- 
christ  seine  „treueste,  lebende  Freundin".  Das  warme  Licht  jugend- 
licher Verehrung  eines  schönen  Mädchens  war  wohl  angetan, 
seinem  alten,  immer  jungen  Herzen  wohlzutun,  wie  denn  allezeit 
viel  junges  Volk  kameradschaftlich  mit  ihm  umging. 

Die  Erträge  der  beiden  Philadelphia-Ausgaben  ermöglichten  ihm 
im  März  1884,  einen  alten  Lieblingsplan  zu  verwirklichen  und 
sich  ein  bescheidenes  zweistöckiges  Häuschen  in  der  Mickle-Street 
in  Camden,  nahe  dem  Hause  seines  Bruders,  zu  kaufen.  Mrs.  Mary- 
Davis,  eine  brave  Witwe,  führte  ihm  die  Wirtschaft  und  schuf 
ihm  die  behagliche  Atmosphäre,  die  Whitman  im  Grunde  so  liebte. 
Es  war  seit  jeher  viel  holländische  Art  in  ihm  und,  bei  aller  Rück- 
sichtslosigkeit gegen  materielle  Interessen,  wenn  es  sich  um  Gei- 
stiges handelte,  dennoch  viel  natürliche  Neigung  dazu,  ein  ordent- 
licher Haushälter  seines  Leibes  zu  sein.  Er  war  für  seine  Person 
immer  sparsam  gewesen,  so  freigebig  er  auch  immer  für  andere 
bis  an  sein  Ende  blieb.  Bis  zuletzt  führte  er  ganze  Listen  von 
Hilfsbedürftigen,  denen  er  mit  seinen  kleinen  Ersparnissen  allezeit 
beisprang,  mit  der  Selbstverständlichkeit  und  Kameradschaft,  die 
jede  Demütigung  ausschloß,  wie  er  selber  auch  Gaben  seiner 
Freunde  immer  mit  reinster  Freude  und  Natürlichkeit  annahm. 

Der  lange,  still  leuchtende  Abend  seines  Lebens,  der  bis  in  das 
Frühjahr  1892  hineinglomm,  ist  arm  an  äußeren  Ereignissen,  ob- 
wohl gerade  jetzt  die  Berichte  über  sein  Leben  anschwellen  und 
fast  jeden  Tag  und  jede  Stunde  verzeichnen  *.  Was  er  für  das 
äußere  Leben  als  wünschenswert  und  genügend  erklärt  hatte,  be- 
saß er  nun :  vier  eigene  Wände  und  ein  Dach  auf  amerikanischem 
Boden,  die  geringen  Einkünfte,  die  für  die  Notdurft  des  Lebens 
unerläßlich  sind,  und  einen  Sparpfennig  auf  der  Bank.  Bei  ständig 

Ich  verweise  auf  die  breite  und  gewissenhafte  Biographie  von  Henry  Bryan 
Binns,  die  einzige  bisher  ins  Deutsche  übertragene  (H.  Haessel  Verlag,  Leipzig  1907, 
übersetzt  von  Johannes  Schlaf).  Es  würde  den  Rahmen  dieser  kurzen  Darstellung 
überschreiten,  die  Hunderte  von  kleinen  Erzählungen,  Erinnerungen,  Anekdoten 
wiederzugeben,  die  alle  sich  in  das  Bild  des  greisen  Whitman  fügen  —  das 
Bild,  in  dem  er  volkstümlichem  Gedenken  so  recht  eigentlich  erscheint. 


Ml     VVl,itni(«n  1 


XCVII 


sinkenden  Kräften  des  Leibes  blieb  er  geistig  rege,  las  viel,  vor 
allem  jetzt  Garlyles  Schriften,  und  nahm  in  kleineren  Aufsätzen  leb- 
haft Stellung  dazu.  Nachdem  er  einen  Sonnenstich  erlitten  hatte 
und  fast  gar  nicht  mehr  ausgehen  konnte,  schenkten  seine  Freunde 
ihm  ein  Wägelchen  und  Pferd.  Das  Fahren  hatte  er  von  jeher  ge- 
liebt, und  so  kutschierte  er  nun  täglich  auf  dem  Lande  umher, 
freilich  nicht  wie  ein  gemächlicher  Greis,  sondern  immer  in  schnell- 
ster Karriere.  Er  vertauschte  das  erste  Pferd,  das  ihm  zu  langsam 
lief,  mit  einem  feurigeren.  Seine  Geburtstage  pflegten  die  Freunde 
mit  besonderen  Festmahlzeiten  zu  feiern,  bei  denen  er  selber  aus 
seinen  Gedichten  vorzutragen  liebte  und  dabei  auch  jetzt  mit 
besonderem  Genuß  und  kräftig  dem  Champagner  zusprach.  Er 
sträubte  sich  allezeit  dagegen,  lebendigen  Leibes  etwa  als  eine 
Art  von  Heiligem  mumifiziert  zu  werden.  „Sprecht  von  mir", 
trug  er  einigen  jungen  Besuchern  aus  England  auf,  „nicht  als 
von  einem  Heiligen  oder  überhaupt  etwas  irgendwie  endgültig  Fer- 
tigem. "  Das  Bewußtsein  der  elementaren  Fülle  und  Gegensätzlich- 
keit in  der  Tiefe  seines  Wesens  war  bis  zuletzt  in  ihm  lebendig,  jene 
naturhafte  Vieldeutigkeit,  die  ihn  von  jeher  gedrängt  hatte  zu  den 
immer  wiederholten  Warnungsrufen  seiner  Gesänge,  er  sei  nicht  das, 
als  was  er  vielleicht  erscheine,  er  wirke  vielleicht  ebensoviel  Böses 
wie  Gutes,  sein  wahres  Ich  stehe  hinter  all  seinen  Worten :  jene 
Bedingtheit,  trotz  der  wahre  Größe  etwas  auszusagen  wagt.  Der 
von  dämonischem  Wissen  um  die  Vielspältigkeit  der  Menschen- 
seele zerklüftete,  freilich  nicht  naturhaft  wiederum  zusammenge- 
schlossene, große  dänische  Denker  Kierkegaard  schreibt:  „In  einem 
Leben  von  siebzig  Jahren  alle  möglichen  Wesenheiten  gehabt  zu 
haben  und  sein  Leben  wie  ein  Musterbuch  zu  hinterlassen,  das 
man  zur  gefälligen  Auswahl  aufschlagen  kann,  ist  nicht  so  schwierig. 
Aber  die  eine  Wesenheit  voll  und  reich  und  dabei  zugleich  die 
entgegengesetzte  zu  haben  und,  indem  man  der  einen  Wesenheit 
das  Wort  und  das  Pathos  gibt,  da  hinterlistig  die  entgegengesetzte 
unterzuschieben :  das  ist  schwierig. "  —  „Hinterlistig  unterzuschieben" 
ist  charakteristisch  für  Kierkegaard ;  für  Whitman  gilt,  daß  in  ihm 
sich  die  verschiedenen  Wesenheiten  naturhaft  als  Eines  ineinander- 
fügten, mit  kindhaft  elementarer  Selbstverständlichkeit,  immer  in 
warmer,  Kraft  und  Liebe  ausströmender  Einheit  des  Seins,  die 
immer  wieder  und  bis  in  die  letzten  Tage  jene  oft  angedeutete. 


XCVIII 


wunderbare  Erregung  in  den  Besuchern  wachrief.  Der  englische 
Gelehrte  Dr.  Johnston  schreibt,  nach  einer  eingehenden  Schilde- 
rung der  Erscheinung  des  greisen,  in  seinem  Armstuhl  majestätisch 
sitzenden  Dichters:  „Aber  sein  Zauber  lag  nicht  so  sehr  in  diesen 
Einzelzügen  als  in  seinem  Gesamtwesen  und  in  dem  unwidersteh- 
lichen Magnetismus  seiner  milden,  aromatischen  Gegenwart,  die 
Gesundheit,  Reinheit  und  Natürlichkeit  auszuströmen  schien  und 
eine  Anziehung  auf  mich  übte,  die  mich  in  Wahrheit  erstaunte, 
und  eine  Exaltation  von  Geist  und  Seele  in  mir  wachrief,  wie 
keines  Menschen  Erscheinung  je  zuvor.  Ich  fühlte,  daß  ich  hier 
Angesicht  zu  Angesicht  war  mit  der  lebendigen  Verkörperung  alles 
dessen,  was  gut,  edel  und  liebenswert  an  der  Menschheit  ist." 

Im  November  1888  wurde  Whitman  aufs  neue  von  einem  Schlag- 
anfall betroffen,  der  ihn  dem  Tode  nahebrachte.  Er  verlor  zum 
erstenmal  für  eine  Zeitlang  die  Sprache.  Mitten  in  dieser  Krise 
fand  er  jedoch  noch  die  Kraft,  ein  neues  Bändchen,  aus  Gedichten 
und  Prosa  gemischt,  die  „Novemberzweige",  zu  redigieren,  kurze 
Gedichte,  die  alle  „im  frühen  Kerzenlicht  des  Alters"  seine  Ver- 
trautheit mit  Tod  und  Unendlichkeit  in  gestilltem  Tonfall  spiegeln. 
Alles,  was  er  jetzt  anrührte,  bekam  diese  stille  Transparenz  und 
diesen  Jenseitsschimmer.  Im  Jahr  darauf  war  er  noch  einmal  so 
weit  gekräftigt,  daß  er  dem  Diner,  das  zu  Ehren  seines  siebzigsten 
Geburtstages  in  einem  großen  Camdener  Saal  gegeben  wurde,  bei- 
wohnen konnte,  hinter  einem  riesigen  Blumenstrauß  fast  verborgen 
und  sich  an  seinem  Champagner  erfreuend.  Im  Oktober  1891 
hielt  der  Philosoph  Oberst  Ingersoll  in  Philadelphia  vor  zwei- 
tausend Menschen  einen  Vortrag  über  Whitman,  dessen  Ertrag  für 
den  Dichter  bestimmt  war.  Whitman  war  in  seinem  Rollstuhl  da- 
bei, und  als  Ingersolls  Rede  beendet  und  der  mächtige  Beifall  ver- 
rauscht war,  wandte  er  sich  im  Sitzen  selber  mit  ein  paar  in  ihrer 
Unmittelbarkeit  wunderbaren  Worten  an  die  Zuhörer:  „Da  letzten 
Endes,  meine  Freunde,"  sagte  er  mit  seiner  merkwürdig  jungen 
und  wohllautenden  Stimme,  „das  Wesentliche  in  dem  seltsamen 
Zeugnis  liegt,  das  wir  persönliche  Gegenwart  und  Begegnung  von 
Angesicht  zu  Angesicht  nennen,  so  bin  ich  hierher  gekommen,  um 
bei  Ihnen  zu  sein  und  mich  Ihnen  zu  zeigen  und  Ihnen  mit  meiner 
lebenden  Stimme  für  Ihr  Kommen  und  Robert  Ingersoll  für  seine 
Worte  zu  danken.    Und  so,  mit  diesem  kurzen  Zeugnis  meines 


vir 


XCIX 


Hierseins,  und  in  solchem  guten  Willen  und  Dankbarkeit  biete  ich 
Ihnen  meinen  Gruß  und  Lebewohl." 

Das  letzte  Geburtstagsfest  wurde  in  des  Dichters  eigenem  Hause 
im  Jahre  1891  gefeiert,  bei  dem  Whitman  einen  Gedenktoast  auf 
Emerson  ausbrachte  und  trotz  größter  körperlicher  Schwäche  sich 
lebhaft  an  einem  politischen  Gespräch  beteiligte,  das  seine  nie  er- 
loschene Teilnahme  am  Schicksal  Amerikas  bezeugt.  Er  verurteilte 
darin  aufs  heftigste  die  protektionistische  Doktrin  „Amerika  den 
Amerikanern"  und  sprach  für  den  Gedanken  der  gegenseitigen 
Abhängigkeit  aller  Völker,  die  einander  in  geistigem  und  wirt- 
schaftlichem Austausch  offenstehen  sollten,  da  sie  nichts  anderes 
wären,  als  eine  einzige  Schiffsmannschaft  an  Bord.  „Die  letzte  Wahr- 
heit von  der  menschlichen  Rasse",  sagte  er,  „ist  die  Solidarität  der 
Interessen."  —  „Nach  diesen  Worten  rief  er  nach  seinem  Rock 
und  seinem  Wärter,  segnete  alle  und  stieg  langsam  die  Treppe 
hinauf."  (H.  B.  Binns.) 

Im  Dezember  veröffentlichte  er  das  kleine  gemischte  Bändchen 
„Ade,  Phantasie!"  sein  „letztes  Gezirp",  wie  er  es  nannte  (später 
in  den  „Grashalmen"  und  „Prosaschriften"  enthalten),  und  end- 
lich die  zehnte  Auflage  der  „Grashalme",  deren  Druckbogen  er 
auf  dem  Sterbebette  las.  Im  Januar  1892  erschienen  die  „Ge- 
sammelten Prosaschriften".  Vor  „Ade,  Phantasie"  war  das  Bildnis 
wiedergegeben,  das  Whitman  als  Zweiundsiebzigjährigen  zeigt,  — 
„das  Bildnis  eines  Patriarchen,  gebeugt  unter  einer  Weltwucht  von 
Erfahrungen"  (H.  B.  Binns). 

Neben  diesen  abschließenden  Arbeiten  an  seinem  dichterischen 
Werk  widmete  er  sich  dem  Gedanken  an  sein  eigenes  Grabmal. 
Er  selber  machte  den  Entwurf  dazu  nach  einer  Zeichnung  Blakes 
und  ließ  es  im  Herbst  1891  auf  einem  neuen  Friedhof  in  der  Nähe 
von  Camden  unter  jungen  Buchen  und  Nußbäumen  auf  seine  Kosten 
errichten  und  ließ  auch  die  Gebeine  seiner  Eltern  herbeischaffen,  die 
ihm  zur  Seite  ruhen  sollten. 

Die  Wintertage  des  neuen  Jahres  1892  brachten  ihm  die  letzte, 
mit  immer  gleicher  Geduld  ertragene  Leidenszeit  inmitten  lieb- 
reicher Pflege  seines  Bruders  und  seiner  Freunde,  vor  allem  des 
jungen,  ihm  innig  ergebenen  Horace  Träubel,  der  später  der  Ver- 
walter seines  literarischen  Nachlasses  und  Begründer  des  „Walt 
Whitman-Bundes"  wurde  und  von  dem  Whitman  sagte,  daß  er 


C 


Whitman  im  zweiuiidsiebzigsteii  Lebensjahre 


ihm  „unaussprechlich  treu"  sei.  In  einer  der  letzten  iNächte  beugte 
sich  Träubel  über  ihn,  küßte  ihn  und  sagte:  „Geliebter  Walt,  du 
kannst  dir  nicht  vorstellen,  was  du  uns  gewesen  bist",  und  er  er- 
widerte schwach:  „Noch  ihr,  was  ihr  mir  gewesen  seid."  Er  wurde 
zu  seiner  Erleichterung  in  ein  Wasserbett  gebracht  und  machte 
einen  Versuch  zu  lachen,  als  er  sich  darin  umwandte  und  das 
Wasser  plätscherte.  Während  draußen  kalter,  grauer,  tief  ver- 
schneiter Winter  alles  umklammerte,  löste  sich  sein  Leiden  in  der 
letzten  Wohligkeit  des  nahen  Todes,  und  endlich,  am  26.  März,  in 
der  siebenten  Stunde  des  Nachmittags,  glitt  er,  Traubeis  Hand  in 
der  seinen  haltend,  ruhevoll  und  still  in  das  Unbekannte  hin- 
weg. — 

Am  3o.  März  wurde  Walt  Whitman  zu  Grabe  getragen.  Ohne 
kirchliche  Zeremonie  —  aber  in  der  stillen  Erhabenheit  der  Teil- 
nahme Tausender.  Als  die  Leiche  noch  aufgebahrt  in  dem  kleinen 
Haus  in  der  Mickle-Street  lag,  zog  von  elf  Uhr  früh  bis  zwei  Uhr 
nachmittags  ein  Strom  von  Menschen  an  ihr  vorüber,  die  dieses 
Antlitz  noch  einmal  sehen  wollten,  einfache  Leute  aus  dem  Volk 
zumeist;  ähnlich  wie,  in  einer  tragischeren  Sphäre,  die  russischen 
Bauern  jenes  einsamen  Dorfes  und  von  weither  an  der  Leiche  Leo 
Tolstois  stumm  vorüberzogen;  der  Weg  zum  Friedhof  war  von 
trauernden  Menschen  gesäumt,  und  auf  dem  Friedhof  selber,  über 
den  Hügel  hin  und  bis  an  den  Teich  hinab,  der  ihn  begrenzte, 
stand  eine  zahllose  Menge,  um  den  Worten  Ingersolls  und  der 
anderen  Freunde  zu  lauschen,  die  ihm  den  Gruß  der  „Liebe,  die 
das  Rätsel  der  Sterblichkeit  überwindet",  nachsandten. 


PROSASCHRIFTEN 


VORBEMERKUNG 


Walt  Whitman  pflegte  seine  Piosaschriften  zum  Teil  in  die  Ge- 
dichtbändchen  aufzunehmen,  aus  denen  sich  die  „Grashalme"  in 
ihrer  jetzigen  Gestalt  und  der  —  nunmehr  von  ihnen  getrennte  — 
Prosaband  der  Standardausgabe  1891/92  entwickelten,  die  Whitman 
noch  auf  seinem  Sterbebett  redigierte  und  die  in  Philadelphia  bei 
McKay  erschien.  ISach  seinem  Tode  ging  sein  Werk  in  den  Verlag 
von  Small,  Maynard  &  Comp.,  Boston,  über,  wo  1897/98  die  elfte 
Auflage  der  „Grashalme"  und  der  „Prosaschriften"  erschien. 

Whitmans  erste  bedeutungsvolle  Prosaschrift,  die  Vorrede  zur 
Erstausgabe  der  „Grashalme"  (i855,  Selbstverlag,  Brooklyn,  New 
York)  verschwand  bereits  wieder  in  der  zweiten  Ausgabe  von  i856 
(New  York,  Selbstverlag),  da  ihr  Inhalt  größtenteils  als  „Steinbruch 
für  neue  Gedichte"  verwendet  worden  war. 

1871  veröffentlichte  Whitman  seine  umfangreichste  und  berühm- 
teste Prosaschrift,  die  „Democratic  Vistas"  („Demokratische  Aus- 
blicke"), zunächst  als  Sonderbroschüre  (Washington,  Selbstverlag), 
dann  im  selben  Jahr  innerhalb  der  fünften  Auf  läge  der  „Grashalme" 
(Washington,  Selbstverlag). 

1876  erschien  gleichzeitig  mit  der  sechsten  Auflage  der  „Gras- 
halme" ein  Bändchen,  „Two  Rivulets"  („Zwei  Bächlein"),  aus 
Gedichten  und  Prosa  gemischt  (Camden,  Selbstverlag).  Die  darin 
enthaltenen  Aufsätze  gingen  mit  über  in  den  1882  erscheinenden, 
lediglich  Prosa  enthallenden  Band  „Specimen  Days  and  Collect" 
(„Tagebuchblätter"  oder  eigentlich  etwa  „Mustertage  und  Ge- 
sammeltes"; Philadelphia,  McKay).  In  „Collect"  waren  nun  auch 
die  „Demokratie  Vistas"  sowie  jene  Vorrede  zur  Erstausgabe  mit- 
aufgenommen. 


I     Wliitman  I 


i888  erschien  ein  wiederum  aus  Poesie  und  Prosa  gemischtes  Bänd- 
chen, „November  Boughs"  (Novemberzweige";  Philadelphia,  Mc Kay), 
und  im  gleichen  Jahr,  von  Whitman  selbst  verlegt  und  vertrieben, 
ein  Band  „Complete  Poems  and  Prose".  Endlich  1891,  im  Winter 
vor  seinem  Todesjahr,  das  gleichfalls  gemischte  Bändchen  „Good- 
bye  my  Fancy"  („Ade,  Phantasie";  Philadelphia,  Mc  Kay). 

Unmittelbar  vor  seinem  Tode  redigierte  Whitman  dann  die  zehnte 
Auflage  der  „Grashalme"  (1891,  Philadelphia,  Mc  Kay)  und  der 
„Gesammelten  Prosaschriften"  (1892,  ebenda)  in  je  einem  Band. 
Am  26.  März  1892  starb  er. 

Diese  Ausgabe  letzter  Hand  enthält  die  Prosaschriften  in  dieser 
Reihenfolge:  „Specimen  Days",  „Collect",  „November  Boughs"  und 
„Good-bye  my  Fancy". 

Ich  habe  die  zeitlich  jüngste  Schrift,  die  Vorrede  zur  Erstausgabe, 
an  den  Anfang  dieses  ausgewählten  Bandes  gestellt  und  darauf  gleich 
die  „Demokratischen  Ausblicke"  folgen  lassen,  um  diese  kühn  um- 
rissene  Gedankenwelt  von  Anfang  an  einheitlich  und  in  aller  Breite 
und  Fülle  wirken  zu  lassen. 

Darauf  folgen  die  Tagebuchblätter,  zunächst  die  aus  dem  Se- 
zessionskriege (1862 — 64)  und  danach  die  aus  den  Jahren  1876 — 82, 
die  Whitman  als  halb  Gelähmter  auf  Long  Island,  seiner  Heimat, 
während  langsamer  seelischer,  wenn  auch  körperlich  nie  völliger 
Gesundung  im  Wald,  am  Bach,  an  der  atlantischen  Küste  und  zum 
Teil  auch  während  einer  Reise  in  die  Weststaaten  niederschrieb. 

Den  Beschluß  bilden  einige  Stücke  aus  den  „Novemberzweigen" 
und  „Ade,  Phantasie",  —  nur  wenige,  da  die  meisten  der  in  diesen 
beiden  Bändchen  enthaltenen  Aufzeichnungen  Themen  behandeln, 
die  uns  ferner  liegen,  wie  etwa  eine  Studie  über  Robert  Burns,  den 
Quäker  Elias  Hicks,  über  das  spanische  Element  in  Amerika  oder 
persönliche  Erinnerungen  des  greisen  Whitman  an  Brooklyner  und 
New  Yorker  Jugendeindrücke,  wie  etwa  an  das  alte  Bowery-Theater 
in  New  York  u.  a.  m. 

In  die  Kriegstagebücher  habe  ich  Auszüge  aus  zwei  Berichten 
Whitmans  an  den  „Brooklyn  Eagle"  und  die  „New  York  Times" 
aufgenommen,  sowie  aus  den  Briefen,  die  er  während  dieser  Zeit  an 
seine  Mutter  schrieb.  Sie  sind  dem  Bande  „The  Wound  Dresser" 
(„Der  Wundpfleger")  entnommen,  den  Dr.  R.  M.  Buke  1898  bei 
Sraall,  Maynard  &  Comp.,  Boston,  herausgab.  H.  R. 


VORREDE  ZUR  ERSTAUSGARE  DER  GRASHALME 


BROOKLYN,  N.  Y.,  i855 

Amerika  verschließt  sich  nicht  gegen  die  Vergangenheit  und 
gegen  das,  was  sie  unter  anderen  Formen  und  poHtischen  Zuständen 
hervorgebracht  hat,  auch  nicht  gegen  die  Idee  der  Kaste  oder  die 
alten  Religionen,  —  es  hört  gelassen  an,  was  die  Vergangenheit  ihm 
zu  sagen  hat,  —  es  ist  nicht  ungeduldig,  weil  die  träge  Masse  in 
der  Literatur  noch  an  Anschauungen  und  Formen  hängt,  aus  denen 
das  Leben,  das  sie  einst  erfüllte,  geschwunden  und  in  ein  neues 
Leben  in  neuen  Formen  übergegangen  ist,  —  es  ist  sehr  wohl  ge- 
wahr, daß  der  Leichnam  allgemach  aus  den  Eß-  und  Schlafzimmern 
des  Hauses  hinausgetragen  wird,  —  daß  er  just  in  der  Tür  noch 
ein  wenig  verweilt,  —  daß  er  für  seine  Zeit  der  Rechte  war,  —  daß 
seine  Tatkraft  übergegangen  ist  auf  den  starken,  Wohlgestalten  Erben, 
der  jetzt  naht  und  der  für  seine  Zeit  der  Rechte  sein  soll. 

Die  Amerikaner  haben  von  allen  Völkern  aller  Zeiten  der  Erde 
wahrscheinlich  die  vollste  dichterische  Natur.  Die  Vereinigten 
Staaten  selbst  sind  im  Grunde  das  größte  Gedicht.  Die  umfang- 
reichsten und  unternehmungslustigsten  Staaten  in  der  bisherigen 
Geschichte  der  Erde  erscheinen  zahm  und  ruhig  neben  ihrem  viel 
größeren  Umfang  und  Unternehmungsgeist.  Hier  endlich  ist  im 
Tun  der  Menschen  etwas,  was  mit  den  gewaltigen  Vorgängen  von 
Tag  und  Nacht  sich  messen  kann.  Hier  ist  Tatkraft,  aller  Fesseln 
ledig,  notwendigerweise  blind  für  Resonderheiten  und  Einzelheiten, 
aber  voll  mächtigen  Antriebs  auf  die  Massen.  Hier  ist  Gastlich- 
keit immer  das  Merkmal  heroischen  Geistes.  Hier  breitet  sich  die 
Fülle  des  Lebens,  alles  Kleinliche  verachtend,  unvergleichlich  in 
der  gewaltigen  Kühnheit  ihrer  Menschenanhäufung,  in  ungehemmter 


3 


lind  flutender  Weite  aus  und  verströmt  ihren  fruchtbaren,  herr- 
lichen Überfluß.  Diesem  Lande  gehören  die  Schätze  von  Winter 
und  Sommer,  und  es  kann  niemals  zugrunde  gehen,  solange  Korn 
aus  dem  Boden  wächst  und  Früchte  von  den  Obstbäumen  fallen 
und  Fische  in  den  Buchten  schwimmen  und  Männer  mit  Frauen 
Kinder  zeugen. 

Andere  Staaten  sind  verkörpert  in  ihren  führenden  Männern,  — 
aber  der  Genius  der  Vereinigten  Staaten  offenbart  sich  nicht  am 
besten  oder  reichsten  in  ihren  Exekutiv-  oder  Legislativgewalten, 
noch  in  ihren  Gesandten  oder  Schriftstellern,  Universitäten,  Kirchen 
oder  Salons,  auch  nicht  in  ihren  Zeitungen  oder  in  ihren  Erfindern, 
—  sondern  immer  und  zumeist  im  gewöhnlichen  Volk  aller  Staaten 
des  Nordens,  Südens,  Ostens  und  Westens,  auf  ihrem  ganzen  mäch- 
tigen Gebiet.  Die  Größe  der  Nation  wäre  indessen  nur  ein  Mon- 
strum ohne  eine  entsprechende  Größe  und  Großmut  des  Geistes 
ihrer  Bürger.  Weder  dichtbewohnte  Staaten,  noch  Straßen  und 
Dampfschiffe,  noch  blühender  Handel,  noch  Farmen,  Kapital  und 
Schulen  können  dem  idealen  Mann  genügen,  —  und  können  auch 
dem  Dichter  nicht  genügen.  Ebensowenig  können  Traditionen  ge- 
nügen. Eine  lebendige  Nation  kann  sich  allezeit  selber  ihr  tiefstes 
Gepräge  geben  und  kann  sich  die  höchste  Autorität  auf  dem  ein- 
fachsten Wege  schaffen:  nämlich  aus  ihrer  eigenen  Seele  heraus. 
(Als  ob  es  nötig  wäre,  den  Weg  der  Überlieferung  des  Ostens  Gene- 
ration um  Generation  zurückzutrotten!  Als  ob  die  Schönheit  und 
Heiligkeit  des  gegenwärtig  Vorhandenen  hinter  der  des  Mythischen 
zurücktreten  müßte!  Als  ob  die  Menschen  nicht  in  jeder  Zeit  sich 
ihr  eigenes  Gepräge  geben  könnten!  Als  ob  die  Erschließung  des 
westlichen  Kontinents  durch  Entdecker  und  das,  was  aus  Nord- 
und  Südamerika  geworden  ist,  geringer  wäre  als  der  kleine  Schau- 
platz der  Antike  oder  das  ziellose  Schlafwandeln  des  Mittelalters!) 
Der  Stolz  der  Vereinigten  Staaten  kehrt  dem  Wohlstand  und  der 
Verfeinerung  der  Städte,  allen  Segnungen  von  Handel  und  Land- 
wirtschaft und  aller  geographischen  Größe  und  dem  Glanz  äußerer 
Siege  den  Rücken,  um  sich  zu  weiden  an  dem  Anblicke  von  leib- 
haftigen, vollentfalteten  Menschen,  oder  eines  vollentfalteten,  un- 
bezwinglichen,  einfachen  Menschen. 

Die  amerikanischen  Dichter  müssen  Altes  und  Neues  umschließen, 
denn  Amerika  ist  die  Rasse  der  Rassen.  Die  Ausdrucksform  des 


4 


amerikanischen  Dichters  muß  transzendent  und  neu  sein.  Sie  muß 
indirekt  sein,  nicht  direkt  oder  beschreibend  oder  erzählend.  Seine 
Kraft  ist  auf  viel  Höheres  gerichtet.  Mögen  die  Zeiten  und  Kriege 
anderer  Völker  besungen  und  ihre  Geschichte  und  ihre  Charaktere 
dargestellt  und  in  Verse  gebracht  werden.  Anders  der  große  F*salm 
der  Republik.  Hier  ist  das  Thema  schöpferisch  und  voll  von  Ausblicken 
in  die  Zukunft.  Mag  alles  in  flacher  Gewohnheit,  in  Gehorsam  und 
Gesetz  erstarren,  —  der  große  Dichter  erstarrt  nie.  Gehorsam  knebelt 
ihn  nicht,  er  ist  Herr  darüber.  Unerreichbar  hoch  steht  er  und 
sendet  die  Strahlen  eines  konzentrierten  Lichtes  in  die  Runde,  — 
er  lenkt  sie  mit  seinem  Finger,  —  er  siegt  im  Stehen  über  die 
schnellsten  Läufer  und  überholt  und  überwältigt  sie  leicht.  Er 
hält  die  Zeit,  die  auf  den  Wegen  der  Ungläubigkeit,  Äußerlich- 
keit und  Spottsucht  irrt,  durch  seinen  festen  Glauben  zurück.  Glaube 
ist  das  Antiseptikum  der  Seele,  —  er  durchdringt  das  einfache  Volk 
und  schützt  es;  —  das  Volk  hört  niemals  auf,  zu  glauben,  zu  hoffen 
und  zu  vertrauen.  Es  liegt  eine  unbeschreibliche  Frische  und  Un- 
bewußtheit  über  einem  ungebildeten  Menschen,  die  die  Macht  des 
stolzesten  gestaltenden  Genies  demütigt  und  ihrer  spottet.  Der 
Dichter  erkennt  mit  unzweifelhafter  Gewißheit,  daß  einer,  ohne 
ein  großer  Künstler  zu  sein,  doch  ebenso  geheiligt  und  vollkommen 
sein  kann,  wie  der  große  Künstler. 

Der  größte  Dichter  übt  oft  seine  Macht,  zu  zerstören  und  neu 
zu  gestalten,  aus,  aber  nur  selten  die  Macht  des  Angriffs.  Was  ver- 
gangen ist,  ist  vergangen.  Wenn  er  nicht  neue,  höhere  Vorbilder 
aufstellt  und  sich  nicht  selber  beweist  durch  jeden  Schritt,  den  er 
tut,  so  ist  er  nicht,  was  er  sein  soll.  Die  bloße  Gegenwart  des  großen 
Dichters  bezwingt,  —  kein  Verhandeln,  Streiten  oder  sonst  welche 
absichtlichen  Bemühungen.  Hier  ist  er  vorbeigegangen!  Sieh  ihm 
nach!  Da  ist  keine  Spur  von  Verzweiflung  oder  Menschenhaß  zu 
sehen,  oder  von  List,  oder  Hochmut,  oder  von  Schande  der  Ab- 
stammung oder  Farbe,  kein  Wahnbild  von  Hölle,  kein  Bedürfnis 
nach  einer  Hölle:  —  sondern  hinfort  soll  kein  Mensch  wegen  seiner 
Unwissenheit  oder  Schwachheit  oder  Sünde  verachtet  werden.  Der 
größte  Dichter  kennt  nichts  Kleinliches  und  Gemeines.  Wenn  er 
in  etwas,  das  vorher  als  klein  galt,  seinen  Atem  bläst,  so  füllt  es 
sich  an  mit  der  Größe  und  Lebenskraft  des  Universums.  Er  ist  ein 
Seher,  —  er  ist  individuell,  —  er  ist  vollkommen  in  sich  selbst,  — 


5 


die  andern  sind  ebensogut  wie  er,  nur,  er  sieht  es,  und  sie  nicht. 
Er  gehört  nicht  zum  Chorus,  er  macht  nicht  halt  vor  irgendeiner 
Vorschrift,  er  gibt  Vorschriften.  Was  die  Sehkraft  für  die  andern 
Sinne  ist,  das  ist  er  für  die  andern  Menschen.  Wer  kennt  das 
wunderbare  Geheimnis  der  Sehkraft?  Die  andern  Sinne  bekräftigen 
sich  einander,  aber  sie  ist  jedem  Beweis,  als  nur  dem  durch  sich 
selbst,  entrückt  und  ist  ein  Vorläufer  der  Identitäten  der  geistigen 
Welt.  Ein  einziger  Blick  von  ihr  spottet  aller  Forschungen  der 
Menschen,  aller  Instrumente  und  Bücher  der  Erde  und  allen  Ver- 
standes. Was  ist  noch  wunderbar,  was  noch  unwahrscheinlich, 
unmöglich,  grundlos  oder  vag,  —  nachdem  du  einmal  durch  einen 
Spalt  deiner  Lider,  nicht  größer  als  die  Narbe  eines  Pfirsichs,  alle 
Nähe  und  Ferne  in  dich  aufgenommen  hast  und  der  Sonnenuntergang 
und  alle  Dinge  in  dich  eingedrungen  sind  mit  elektrischer  Schnelle, 
zart  und  in  aller  Ordnung,  ohne  Verwirrung,  Stoßen  oder  Drängen? 

Land  und  Meer,  die  Tiere,  Fische  und  Vögel,  der  Himmel  und 
seine  Weltkugeln,  die  Wälder,  Gebirge  und  Flüsse  sind  keine 
kleinen  Themen,  —  aber  die  Menschen  erwarten  von  dem  Dichter 
mehr,  als  daß  er  nur  die  Schönheit  und  Würde  weist,  die  allen 
stummen,  leibhaftigen  Dingen  zu  eigen  sind,  —  sie  erwarten  von 
ihm,  daß  er  den  Pfad  weise  zwischen  der  Wirklichkeit  und  ihren 
Seelen.  Männer  und  Frauen  gewahren  die  Schönheit  sehr  wohl,  — 
vielleicht  ebensogut  wie  er.  Die  leidenschaftliche  Ausdauer  von 
Jägern,  Wäldlern,  Frühaufstehern,  Garten-,  Obst-  und  Feldbauern, 
die  Liebe  gesunder  Frauen  zur  männlichen  Gestalt,  die  Lust  an 
der  Seefahrt,  am  Pferdelenken,  die  Leidenschaft  für  Licht  und 
Luft,  —  all  das  ist  ein  altes,  mannigfaltiges  Merkmal  des  unfehlbaren 
Schönheitssinnes  und  einer  dichterischen  Uranlage  in  Menschen, 
die  im  Freien  leben.  Sie  brauchen  nicht  die  Hilfe  des  Dichters,  um 
wahrzunehmen.  Das  Wesen  der  Dichtkunst  liegt  nicht  in  Reim 
oder  Gleichmaß  oder  in  abstrakter  Anrede  der  Dinge,  noch  in 
melancholischen  Klagen  oder  guten  Lehren,  sondern  es  ist  das  Leben 
solcher  Menschen  und  noch  viel  mehr  und  liegt  in  der  Seele.  Der 
Vorteil  des  Reimes  ist,  daß  er  die  Saat  eines  noch  lieblicheren  und 
üppigeren  Reimes  ausstreut,  und  der  Vorteil  des  Gleichmaßes,  daß 
es  sich  selbst  in  seine  eigenen  Wurzeln  überträgt,  die  in  unsicht- 
barem Grunde  ruhen.  Der  Reim  und  das  Gleichmaß  vollkommener 
Gedichte  zeigen  das  freie  Wachstum  metrischer  Gesetze  an  und 


6 


sprossen  aus  ihnen  so  unfehlbar  und  ungezwungen  wie  Flieder- 
blüten und  Rosen  aus  einem  Busch,  und  nehmen  Formen  an  so 
fest  wie  die  Formen  von  Kastanien  und  Orangen,  Melonen  und 
Birnen,  und  verströmen  ihren  Duft,  der  sich  nicht  in  Form  fassen 
läßt.  Der  Wohllaut  und  die  Form  der  schönsten  Dichtungen, 
Kompositionen,  Reden  oder  Vorträge  ist  nicht  unbedingt,  sondern 
bedingt.  Alle  Schönheit  kommt  aus  schönem  Blut  und  einem 
schönen  Gehirn.  Wenn  alles,  was  groß  ist,  in  einem  Mann  oder 
einer  Frau  sich  zusammenfindet,  so  ist  es  genug,  und  diese  Tatsache 
wird  durch  das  ganze  Weltall  hin  in  Geltung  bleiben;  aber  die 
Künsteleien  und  Vergoldungen  von  Millionen  Jahren  werden  nicht 
in  Geltung  bleiben.  Wer  sich  Sorge  darum  macht,  daß  seine  Ge- 
dichte reich  verziert  sind  und  schön  klingen,  ist  verloren.  Was  du 
tun  sollst,  ist  dies:  Liebe  die  Erde,  die  Sonne  und  die  Tiere,  ver- 
achte Reichtümer,  gib  Almosen  jedem,  der  dich  darum  bittet,  stehe 
auf  für  die  Unwissenden  und  Blöden,  gib  dein  Einkommen  und 
deine  Arbeit  anderen,  hasse  Tyrannen,  streite  nicht  über  Gott,  habe 
Geduld  und  Nachsicht  mit  den  Menschen,  nimm  deinen  Hut  vor 
nichts  Bekanntem  oder  Unbekanntem  ab  und  vor  keinem  Menschen 
und  keiner  Anzahl  von  Menschen,  —  verkehre  frei  mit  starken, 
schlichten  Menschen  aus  dem  Volke  und  mit  jungen  Leuten  und 
mit  Müttern  von  Familien,  —  prüfe  alles  nach,  was  du  in  der 
Schule  oder  Kirche  oder  aus  irgendeinem  Buche  gelernt  hast,  und 
verwirf  alles,  was  deiner  eigenen  Seele  zuwider  ist;  und  dein  leib- 
haftiges Fleisch  und  Blut  soll  ein  erhabenes  Gedicht  sein  und  den 
reichsten  Wohllaut  haben,  nicht  nur  in  Worten,  sondern  in  den 
stummen  Linien  deiner  Lippen  und  deines  Gesichts,  und  zwischen 
den  Wimpern  deiner  Augen,  und  in  jeder  Bewegung  und  jedem 
Gelenk  deines  Körpers.  Der  Dichter  soll  seine  Zeit  nicht  auf  un- 
nütze Arbeit  verschwenden.  Er  soll  wissen,  daß  der  Boden  bereits 
gepflügt  und  gedüngt  ist;  andere  mögen  es  nicht  wissen,  aber  er 
soll  es  wissen.  Er  soll  geradenwegs  an  die  Schöpfung  herangehen. 
Sein  Vertrauen  soll  das  Vertrauen  aller  Dinge,  die  er  berührt,  und 
alle  Neigung  an  sich  heranziehen. 

Im  ganzen  bekannten  Universum  lebt  ein  wahrhaft  Liebender, 
und  das  ist  der  größte  Dichter.  Er  brennt  in  ewiger  Leidenschaft, 
ist  unbekümmert  darum,  was  ihm  das  Schicksal  bringt,  Zufall, 
Glück  oder  Unglück,  und  empfängt  täglich  und  stündlich  seinen 


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köstlichen  Lohn.  Was  andere  hemmt  oder  zerbricht,  ist  ihm  nur 
Nahrung  für  das  Feuer  seines  Suchens  nach  Vereinigung  und 
Liebeslust.  Niemand  in  der  Welt  hat  eine  solche  Fähigkeit  zur 
Freude  wie  er.  Alles,  was  man  nur  vom  Himmel  oder  von  dem 
Höchsten  erwarten  kann,  empfängt  er  innig  im  Anblick  der  Mor- 
gendämmerung oder  des  Winterwaldes  oder  in  der  Gegenwart 
spielender  Rinder  oder  wenn  er  seinen  Arm  um  den  Nacken  eines 
Mannes  oder  Weibes  legt.  Seine  Liebe  hat  vor  aller  andern  Liebe 
Muße  und  Raum  noch  über  ihn  selbst  hinaus.  Er  ist  kein  zag- 
hafter oder  argwöhnischer  Liebhaber  —  er  ist  zuversichtlich  —  er 
spottet  der  Entfernung.  Seine  Erfahrung,  seine  Schauer  und  Er- 
schütterungen sind  nicht  umsonst.  Nichts  kann  ihn  wankend 
machen,  weder  Leiden  noch  Finsternis,  weder  Tod  noch  Furcht. 
Für  ihn  sind  Klage,  Eifersucht  und  Neid  Leichen,  begraben  und 
verfault  in  der  Erde,  —  er  sah  sie  in  die  Grube  fahren.  Das  Meer 
ist  der  Küste  und  die  Küste  des  Meeres  nicht  sicherer,  als  er  des 
Genusses  seiner  Liebe  und  aller  Vollkommenheit  und  Schönheit 
sicher  ist. 

Der  Genuß  der  Schönheit  ist  kein  Spiel  auf  Verlust  oder  Ge- 
winn, —  er  ist  so  unvermeidlich  wie  das  Leben,  so  streng  gesetz- 
mäßig wie  die  Gravitation.  Hinter  dem  Sehen  liegt  ein  anderes 
Sehen  und  hinter  dem  Hören  ein  anderes  Hören  und  hinter  der 
Stimme  eine  andere  Stimme,  die  in  Ewigkeit  suchen  nach  der 
Harmonie  der  Dinge  mit  dem  Menschen.  Diese  verstehen  das  Ge- 
setz der  Vollkommenheit  in  allem,  was  auf  Erden  flutet  und  ruht, 
und  wissen,  daß  es  verschwenderisch  und  gerecht  ist,  daß  es  in 
jeder  Minute  von  Licht  und  Dunkelheit  und  in  jedem  Fußbreit 
Erde  oder  Meer  lebt,  und  in  jeder  Himmelsrichtung,  und  in  jedem 
Geschäft  oder  Beruf  und  in  allem,  was  auf  Erden  geschieht.  Das 
ist  der  Grund,  weshalb  dem  richtigen  Ausdruck  von  Schönheit 
Bestimmtheit  und  Gleichgewicht  zu  eigen  ist.  Ein  Teil  muß  nicht 
über  den  andern  gestellt  werden.  Der  beste  Sänger  ist  nicht  der, 
der  das  geschmeidigste  und  mächtigste  Organ  hat.  Die  wahre  Lust 
an  Gedichten  wird  nicht  durch  die  erweckt,  die  das  beste  Versmaß 
haben  und  am  schönsten  klingen. 

Ohne  Anstrengung  und  ohne  daß  man  im  geringsten  merkt, 
wie  es  geschieht,  wirkt  der  größte  Dichter  durch  den  Geist  eines 
oder  aller  Ereignisse  und  Leidenschaften,  Szenen  und  Personen, 

(S 


die  er  schildert,  mehr  oder  weniger  auf  den  individuellen  Charakter 
dessen  ein,  der  ihn  hört  oder  liest.  Das  in  der  rechten  Art  zu  tun, 
heißt  mit  den  Gesetzen  wetteifern,  die  der  Zeit  nachstreben  und 
folgen.  Hierin  muß  aller  Zweck  und  der  Schlüssel  zu  allem  liegen,  — 
und  der  leiseste  Hinweis  ist  der  beste  und  letzten  Endes  der  klarste. 
Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  sind  nicht  getrennt,  son- 
dern vereint.  Der  größte  Dichter  gestaltet  das,  was  sein  wird, 
folgerichtig  aus  dem,  was  ist  und  war.  Er  zieht  die  Toten  aus 
ihren  Särgen  und  stellt  sie  wieder  auf  ihre  Füße.  Er  sagt  zur  Ver- 
gangenheit: Stehe  auf  und  wandle  vor  mir,  daß  ich  dich  erkenne! 
Er  lernt  von  ihr,  —  er  stellt  sich  dorthin,  wo  die  Zukunft  zur 
Gegenwart  wird.  Der  größte  Dichter  wirft  nicht  nur  seine  Strahlen 
über  Charaktere,  Szenen  und  Leidenschaften,  —  er  steigt  zum 
Schluß  höher  und  vollendet  alles,  —  er  läßt  die  höchsten  Zinnen 
sehen,  von  denen  niemand  sagen  kann,  wozu  sie  da  sind  oder  was 
jenseits  von  ihnen  liegt,  —  er  erscheint  einen  Augenblick  leuchtend 
auf  dem  äußersten  Rand.  Wundervoll  ist  sein  letztes  halb  verbor- 
genes Lächeln  oder  Stirnrunzeln;  durch  diesen  Blitz  im  Augenblick 
des  Scheidens  wird  der,  der  ihn  sieht,  noch  für  viele  Jahre  später 
ermutigt  oder  erschreckt.  Der  größte  Dichter  predigt  nicht  Moral 
und  gibt  keine  Regeln  für  die  Anwendung  von  Moral;  er  kennt 
die  Seele.  Die  Seele  ist  von  dem  grenzenlosen  Stolz  erfüllt,  niemals 
eine  Lehre  oder  Erfahrung  anzuerkennen,  als  nur  ihre  eigene. 
Aber  ebenso  grenzenlos  wie  ihr  Stolz  ist  auch  ihr  Mitgefühl,  eines 
gleicht  das  andere  aus,  und  keines  von  beiden  kann  jemals  übers 
Ziel  schießen,  solange  es  mit  dem  andern  vereint  ist.  Die  innersten 
Geheimnisse  der  Kunst  schlummern  in  diesem  Zvvillingsbunde.  Der 
größte  Dichter  hat  dicht  zwischen  ihnen  beiden  gelegen,  und  sie 
leben  in  seinem  Stil  und  in  seinen  Gedanken. 

Die  Kunst  der  Künste,  der  Ruhm  der  Darstellung  und  der 
Sonnenschein  der  Literatur  ist  Einfachheit.  Nichts  ist  besser  als 
Einfachheit,  —  nichts  kann  Übertreibung  oder  Unbestimmtheit 
wieder  gutmachen. 

Auf  der  Woge  der  Leidenschaft  hinzutreiben,  in  gedankliche 
Tiefen  zu  tauchen  und  allen  Gegenständen  Ausdruck  zu  verleihen, 
das  sind  weder  sehr  gewöhnliche  noch  sehr  ungewöhnliche  Gaben. 
Aber  in  der  Literatur  mit  der  vollkommenen  Geradheit  und  ün- 
bekümmertheit  der  Bewegungen  von  Tieren,  mit  der  Unantastbarkek 


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der  Stimmung  von  Bäumen  im  Wald,  von  Gras  am  Wege  zu 
sprechen,  das  ist  der  vollkommene  Triumph  der  Kunst.  Hast  du 
einen  gesehen,  dem  das  gelungen  ist,  dann  hast  du  einen  Meister 
unter  den  Künstlern  aller  Völker  und  Zeiten  geschaut.  Nicht  den 
Flug  der  grauen  Möve  über  der  Bucht,  noch  die  feurige  Ungeduld 
des  Vollblutes,  noch  Sonnenblumen,  die  sich  vom  hohen  Stengel 
neigen,  noch  die  Erscheinung  der  Sonne  in  ihrem  Lauf  am  Himmel 
hin,  noch  die  Erscheinung  des  Mondes  danach  wirst  du  mit  größerem 
Wohlgefallen  betrachten  als  ihn.  Der  große  Dichter  hat  eigentlich 
keinen  ausgesprochenen  Stil,  vielmehr  ist  er  der  Kanal  von  Gedanken 
und  Dingen  ohne  Zugabe  oder  Verkürzung  und  der  freie  Kanal 
seiner  selbst.  Er  schwört  seiner  Kunst:  Ich  will  mich  nicht  auf- 
drängen, noch  will  ich  in  meinen  Arbeiten  Glätte  oder  Effekt- 
hascherei oder  Originalität  haben,  die  wie  ein  Vorhang  zwischen 
mir  und  den  andern  hinge.  Ich  will  nichts  zwischen  uns  haben, 
nicht  den  üppigsten  Vorhang.  Was  ich  sage,  bedeutet  genau  das, 
was  ich  sage.  Meinetwegen  mögen  andere  begeistern,  verblüffen, 
bezaubern  oder  schmeicheln,  —  meine  Zwecke  sollen  sein  wie  die 
von  Gesundheit  oder  Hitze  oder  Schnee  und  sich  ebensowenig  wie 
sie  um  Beobachtung  kümmern.  Was  ich  erlebe  oder  schildere,  soll 
aus  meiner  Arbeit  hervorgehen,  ohne  eine  Spur  meines  Arbeitens. 
Du  sollst  bei  mir  stehen  und  mit  mir  in  den  Spiegel  schauen. 

Das  alte  rote  Blut  und  der  reine  Adel  großer  Dichter  erweist  sich 
durch  ihre  Zwanglosigkeit.  Ein  heroischer  Mensch  übergeht  und 
verläßt  unbekümmert  Sitte  oder  Vorbild  oder  Autorität,  die  ihm 
nicht  passen.  Unter  den  Kennzeichen  der  Bruderschaft  von  Schrift- 
stellern, Gelehrten,  Musikern,  Erfindern  und  Künstlern  ersten  Ranges 
ist  keines  schöner,  als  der  schweigsame  Trotz,  der  von  neuen,  freien 
Formen  aus  vorwärts  schreitet.  Wo  man  Dichtungen,  Philosophie, 
Politik,  Mechanik,  Naturwissenschaft,  Sitte,  Kunsttechnik,  würdige 
Nationaloper,  Schiffbaukunst  oder  eine  andere  Kunst  braucht,  da 
wird  immer  und  ewig  derjenige  der  größte  sein,  der  das  größte 
ursprüngliche  praktische  Vorbild  gibt.  Die  reinste  ilusdrucksform 
ist  die,  die  keine  ihrer  würdige  Sphäre  findet  und  sich  eine  schafft. 

Die  Botschaft  großer  Dichtungen  an  alle  Menschen  ist  die:  Kommt 
als  Gleichberechtigte  zu  uns,  nur  dann  könnt  ihr  uns  verstehen. 
Wir  sind  nicht  besser  als  ihr,  was  wir  enthalten,  enthaltet  ihr;  was 
wir  genießen,  könnt  ihr  genießen.  Habt  ihr  gemeint,  es  könne  nur 


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einen  Höchsten  geben?  Wir  behaupten,  daß  es  zahlreiche  Höchste 
geben  kann,  und  daß  der  eine  den  anderen  ebensowenig  ersetzt 
als  ein  Auge  das  andere,  und  daß  die  Menschen  nur  durch  das 
Bewußtsein  ihrer  eigenen  Hoheit  gut  und  groß  sein  können.  —  Stürme 
und  Zerstörungen,  die  tödlichsten  Schlachten  und  Schiffbrüche,  die 
wildeste  Wut  der  Elemente,  die  Gewalt  des  Meeres,  der  Kreislauf 
der  Natur,  das  Weh  menschlichen  Sehnens,  Würde,  Haß  und  Liebe, 
—  worin  glaubt  ihr,  liegt  die  Größe  von  all  dem?  Es  ist  jenes  Etwas 
in  der  Seele,  das  sagt:  Wüte  fort,  wirble  fort,  ich  wandle  als  Herr 
hier  und  überall  —  Herr  über  die  Zuckungen  des  Himmels  und 
den  Anprall  der  See,  Herr  über  Natur  und  Leidenschaft  und  Tod 
und  alle  Schrecknisse  und  Schmerzen. 

Die  amerikanischen  Dichter  sollen  sich  auszeichnen  durch  Groß- 
mut und  Liebe  und  Ermutigung  von  Mitstrebenden.  Sie  sollen  Kos- 
mos sein,  ohne  Monopol  oder  Geheimnis,  mit  Freuden  alles  weiter- 
geben —  hungrig  nach  Ebenbürtigen  Tag  und  Nacht.  Sie  sollen  sich 
nicht  um  Reichtümer  kümmern  und  Privilegien,  —  sie  sollen  selbst 
Reichtümer  und  Privilegien  sein.  Sie  sollen  wissen,  wer  der  reichste 
Mann  ist.  Der  reichste  Mann  ist  der,  der  aller  Pracht,  die  er  sieht. 
Gleichwertiges  aus  dem  größeren  Vorrat  seines  eigenen  Selbst  ent- 
gegenstellt. Der  amerikanische  Dichter  soll  keine  Kaste  schildern, 
noch  eine  oder  zwei  Interessensphären,  noch  vorwiegend  Liebe,  noch 
vorwiegend  Wahrheit,  noch  vorwiegend  die  Seele,  noch  vorwiegend 
den  Körper,  —  auch  soll  er  für  die  östlichen  Staaten  nicht  mehr 
sein  als  für  die  westlichen,  noch  für  die  südlichen  Staaten  mehr  als 
für  die  nördlichen. 

Exakte  Wissenschaft  und  ihre  praktische  Entwicklung  ist  für  den 
größten  Dichter  kein  Hindernis,  sondern  immer  eine  Ermutigung 
und  Stütze.  Anfänge  und  Erinnerungen  sind  dort,  —  dort  die  Arme, 
die  ihn  zuerst  emporhoben  und  ihn  am  besten  hielten,  —  dorthin 
kehrt  er  nach  all  seinem  Gehen  und  Kommen  zurück.  Der  Seemann 
und  Reisende  —  der  Anatom,  Chemiker,  Astronom,  Geolog,  Phreno- 
log,  Spiritualist,  Mathematiker,  Historiker,  Lexikograph  sind  keine 
Dichter,  aber  sie  sind  die  Gesetzgeber  der  Dichter,  und  ihr  Bau  liegt 
dem  Bau  jedes  vollkommenen  Gedichtes  zugrunde.  Gleichgültig, 
was  emporwächst  oder  ans  Tageslicht  kommt,  sie  gaben  den  Samen 
zur  Konzeption,  —  aus  ihnen  kommen  oder  bei  ihnen  stehen  die 
sichtbaren  Zeichen  von  Seelen.  Wenn  Liebe  und  Eintracht  sein  soll 

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zwischen  Vater  und  Sohn,  und  wenn  die  Größe  des  Sohns  die  Aus- 
strahlung von  der  Gröfie  des  Vaters  ist,  dann  soll  auch  Liebe  bestehen 
zwischen  dem  Dichter  und  dem  Mann  der  exakten  Wissenschaft. 
Die  Schönheiten  der  Dichtung  sollen  künftig  den  Schmuck  und  die 
letzte  freudige  Bestätigung  der  Wissenschaft  bilden. 

Groß  ist  der  Glaube  an  das  Gedeihen  der  Wissenschaft  und  an 
die  Erforschung  der  Tiefen  von  Eigenschaften  und  Dingen.  Hier  zu 
weilen,  hier  sich  zu  bewegen,  begeistert  die  Seele  des  Dichters,  und 
doch  bleibt  sie  stets  Herrin  ihrer  selbst.  Die  Tiefen  sind  unergründ- 
lich und  deshalb  ruhig.  Unschuld  und  Nacktheit  kehren  wieder,  — 
sie  sind  weder  anständig  noch  unanständig.  Die  ganze  Theorie  vom 
Übernatürlichen  und  alles,  was  damit  verknüpft  oder  daraus  ab- 
geleitet ist,  schwindet  wie  ein  Traum.  Was  je  geschehen  ist,  was 
geschieht  und  was  geschehen  kann  und  soll:  die  Naturgesetze 
schließen  alles  in  sich.  Sie  genügen  für  jeden  einzelnen  Fall,  — 
keiner  darf  übereilt  oder  verzögert  werden,  —  für  besondere  Wun- 
der an  Dingen  oder  Menschen  ist  kein  Raum  in  dem  weiten  klaren 
System,  wo  jede  Bewegung  und  jeder  Grashalm  und  die  Körper  und 
Geister  von  Männern  und  Weibern  und  alles,  was  sie  betrifft,  un- 
aussprechlich vollkommene  W^under  sind,  alle  unter  sich  zusammen- 
hängend und  doch  jedes  gesondert  und  an  seinem  Platz.  Auch  läßt 
sich  die  Annahme,  als  gäbe  es  in  dem  uns  bekannten  Universum 
etwas  Göttlicheres  als  Männer  und  Weiber,  nicht  vereinen  mit  der 
Realität  der  Seele. 

Männer  und  W^eiber  und  die  Erde  und  alles,  was  darauf  ist, 
müssen  so  genommen  werden,  wie  sie  sind,  und  die  Erforschung 
ihrer  Vergangenheit  und  Gegenwart  und  Zukunft  soll  nicht  unter- 
brochen werden  und  soll  mit  völliger  Unbefangenheit  geschehen. 
Auf  dieser  Basis  spekuliert  die  Philosophie,  immer  im  Hinblick  auf 
den  Dichter,  immer  mit  Rücksicht  auf  das  ewige  Streben  aller  nach 
Glück,  niemals  im  Gegensatz  zu  dem,  was  für  die  Sinne  und  für 
die  Seele  klar  ist.  Denn  das  ewige  Streben  aller  nach  Glück  bildet 
den  einzigen  Kern  gesunder  Philosophie.  Was  weniger  umfaßt  als 
das,  —  was  weniger  ist  als  die  Gesetze  von  Licht  und  astronomischer 
Bewegung  —  oder  weniger  als  die  Gesetze,  die  den  Dieb,  den  Lügner, 
den  Fresser,  den  Säufer  in  diesem  und  zweifellos  auch  in  jenem  Leben 
verfolgen  —  oder  was  weniger  ist  als  weite  Zeiträume  oder  langsame 
Verdichtung  oder  geduldiges  Aufeinanderlagern  von  Erdschichten, 

I  2 


—  das  hat  keinen  Wert.  Alles,  was  Gott  in  eine  Dichtung  oder  in 
ein  philosophisches  System  bringen  will,  gleichwie  als  ein  Geschöpf 
oder  einen  Einfluß,  der  bekämpft  wird,  hat  gleichfalls  keinen  Wert. 

Gesundheit  und  Einheitlichkeit  charakterisieren  den  großen  Mei- 
ster, —  wird  in  einem  Prinzip  gefehlt,  so  ist  alles  verfehlt.  Der  große 
Meister  hat  mit  Wundern  nichts  zu  tun.  Er  sieht  seine  eigene 
Gesundheit  in  der  Gemeinschaft  mit  der  Masse,  —  er  sieht  einen 
Mangel  in  besonderem  Hervorragen.  Vollkommene  Gestalt  wächst 
auf  allgemeinem  Boden.  Unter  dem  allgemeinen  Gesetz  zu  stehen, 
ist  groß,  denn  das  heißt  damit  harmonieren.  Der  Meister  weiß, 
daß  er  unbeschreiblich  groß  ist,  und  daß  alle  unbeschreiblich  groß 
sind,  —  daß  zum  Beispiel  nichts  größer  ist,  als  Kinder  zu  empfangen 
und  gut  zu  erziehen  —  daß  Sein  gerade  so  groß  ist  wie  Beobachten 
oder  Erzählen. 

Für  das  Werden  großer  Meister  ist  die  Idee  der  politischen  Frei- 
heit unerläßlich.  Freiheit  findet  Helden  als  Anhänger,  wo  immer 
Männer  und  Frauen  leben,  —  aber  sie  findet  keine  treueren  An- 
hänger und  kein  freudigeres  Willkommen  als  bei  den  Dichtern. 
Sie  sind  die  Stimme  und  die  Verkörperung  der  Freiheit.  Sie  sind 
seit  Urzeiten  dieser  großen  Idee  würdig,  ihnen  ist  sie  anvertraut, 
und  sie  müssen  sie  bewahren.  Nichts  hat  den  Vorrang  vor  ihr,  und 
nichts  kann  sie  entstellen  oder  erniedrigen. 

Da  die  Eigenschaften  der  Dichter  des  Kosmos  in  ihrem  leibhaf- 
tigen Körper  verdichtet  sind  und  in  der  Lust  an  den  Dingen,  so 
besitzen  sie  den  Vorteil  der  Echtheit  vor  aller  Erfindung  und 
Romantik.  Wenn  sie  sich  verströmen,  so  werden  alle  Dinge  von 
Schauern  Lichts  überflössen,  —  das  Tageslicht  wird  von  fliegenderem 
Glänze  erleuchtet,  —  die  Tiefe  zwischen  Sonnenauf-  und  -Untergang 
wird  vielmals  tiefer.  Jeder  bestimmte  Gegenstand,  jeder  Zustand, 
jede  Kombination,  jeder  Vorgang  entfaltet  eine  besondere  Schön- 
heit, —  das  Einmaleins  die  seine,  —  das  Alter  die  seine,  —  das  Zim- 
mermannshandwerk die  seine,  —  die  Große  Oper  die  ihre,  —  der 
riesige,  scharfgeschnittene  New  Yorker  Klipper  auf  See  unter  Dampf 
oder  vollen  Segeln  leuchtet  in  unvergleichlicher  Schönheit,  —  die 
weiten,  ineinander  wirkenden  Kreise  der  Regierung  Amerikas  leuch- 
ten in  gleicher  Schönheit,  —  und  die  gewöhnlichsten  klaren  Ent- 
schlüsse und  Handlungen  in  gleicher  Schönheit.  Die  Dichter  des  Kos- 
mos schreiten  durch  alle  Hindernisse  und  Barrikaden  und  Unruhen 


i3 


und  Kriegslisten  hindurch  zu  den  Hauptprinzipien.  Sie  stiften 
Nutzen,  —  sie  erlösen  die  Armut  von  ihrer  Not  und  die  Reichen 
von  ihrem  Hochmut.  Du  stolzer  Besitzender,  sagen  sie,  sollst  nicht 
mehr  gewinnen  und  genießen  als  irgendein  anderer.  Der  Eigen- 
tümer der  Bibliothek  ist  nicht  der,  der  einen  Rechtsanspruch  auf 
sie  hat,  weil  er  sie  gekauft  und  bezahlt  hat.  Jedweder,  Mann  oder 
Weib,  ist  Eigentümer  der  Bibliothek,  der  all  die  verschiedenen 
Zungen,  Themen  und  Stilarten  zu  lesen  vermag  und  sie  ohne  Mühe 
in  sich  aufnimmt,  und  den  sie  geschmeidig,  stark,  reich  und  weit 
machen. 

Diese  amerikanischen  Staaten,  stark,  gesund  und  vollkommen, 
sollen  kein  Vergnügen  an  Verzerrungen  der  natürlichen  Vorbilder 
haben  und  dürfen  sie  nicht  zulassen.  In  Gemälden,  Bildwerken  oder 
Schnitzereien  in  Stein  oder  Holz,  in  Illustrationen  von  Büchern  und 
Zeitungen,  in  den  Mustern  von  Geweben,  in  allem,  was  Räume, 
Möbel  oder  Kleider  schmücken  oder  auf  Gesimsen  oder  Denkmälern 
stehen  soll  oder  auf  dem  Bug  von  Schiffen  oder  sonst  irgendwo  vor 
Menschenaugen  im  Haus  oder  draußen,  ist  alles,  was  die  recht- 
schaffene Form  verzerrt  oder  unirdische  Wesen,  Ortlichkeiten  oder 
Umstände  darstellt,  ein  abscheulicher  Unfug.  Die  menschliche 
Gestalt  vor  allem  ist  so  erhaben,  daß  sie  niemals  ins  Lächerliche 
gezogen  werden  sollte.  Übertriebene  Ornamente  zu  einem  Werk 
dürfen  nicht  geduldet  werden,  sondern  nur  die,  die  den  vollkom- 
menen Erscheinungsformen  der  freien  Natur  entsprechen  und  un- 
widerstehlich aus  der  Natur  des  Werkes  selber  quellen  und  zu  seiner 
Vollendung  nötig  sind.  Die  meisten  Schöpfungen  sind  am  schönsten 
ohne  Ornament.  Übertreibungen  rächen  sich  an  der  Physiologie 
des  Menschen.  Reine  und  starke  Kinder  werden  nur  in  den  Ge- 
meinwesen erzeugt  und  empfangen,  wo  die  Vorbilder  natürlicher 
Formen  am  Licht  jedes  Tages  stehen.  Der  große  Genius  und  das 
Volk  dieser  unserer  Staaten  darf  nicht  ins  Romanhafte  erniedrigt 
werden.  Wenn  wirkliche  Geschehnisse  richtig  erzählt  werden,  be- 
darf es  keiner  Romane  mehr. 

Die  großen  Dichter  sind  kenntlich  an  dem  Wegfall  aller  Kunst- 
griffe und  an  der  Offenbarung  vollkommener  persönlicher  Lauter- 
keit. Hinfort  soll  keiner  von  uns  mehr  lügen,  denn  wir  haben 
erkannt,  daß  Aufrichtigkeit  die  innere  und  äußere  Welt  gewinnt, 
ohne  jede  Ausnahme,  und  daß  noch  nie,  seit  unsere  Erde  sich  zur 

i4 


Weltkugel  geballt  hat,  Betrug,  Ränke  und  Verschlagenheit  auch 
nur  ein  Körnchen  von  ihr,  auch  nur  den  Hauch  eines  Schattens 
an  sich  zu  ziehen  vermochten,  —  und  daß  ein  falscher,  kriecherischer 
Mensch  sich  auch  hinter  dem  Reichtum  und  der  Macht  eines  Staates 
oder  der  ganzen  Staatenrepuhlik  nicht  zu  verbergen  vermag,  son- 
dern entdeckt  und  der  Verachtung  ausgeliefert  wird,  —  und  daß  die 
Seele  sich  niemals  narren  läßt  und  nicht  genarrt  werden  kann,  — 
und  daß  Wohlstand  ohne  die  liebende  Zustimmung  der  Seele  nur 
eine  stinkende  Blähung  ist,  —  und  daß  es  noch  nie  ein  Wesen  ge- 
geben hat,  das  von  Natur  die  Wahrheit  haßt:  auf  allen  Kontinenten 
dieser  Erde  nicht  und  auf  keinem  Planeten  und  Satelliten,  nicht  in 
der  Dunkelheit  vor  der  Geburt,  noch  irgendwann  im  Wechsel  des 
Lebens,  noch  irgendwo  im  Verborgenen  oder  im  lebhaftesten  Treiben, 
noch  in  irgendeiner  Gestalt  oder  Umgestaltung. 

Höchste  Vorsicht  und  Klugheit,  festeste  organische  Gesundheit, 
starke  Hoffnungskraft,  Liebe  zu  Frauen  und  Kindern,  die  Kraft, 
aus  allem  Nahrung  zu  ziehen.  Störendes  zu  vernichten,  Sinn  für 
Kausalität  und  für  die  vollkommene  Einheit  der  Natur,  und  die 
Fähigkeit,  diesen  selben  Sinn  auch  auf  die  menschlichen  Angelegen- 
heiten anzuwenden,  —  all  das  wird  an  die  Oberfläche  des  Welt- 
bewußtseins heraufbeschworen,  um  Teil  des  größten  Dichters  zu 
werden,  von  seiner  Geburt  aus  Mutterleib  und  von  der  Geburt 
seiner  Mutter  aus  Mutterleib  an.  Klugheit  geht  selten  weit  genug. 
Man  hielt  den  Bürger  für  klug,  der  auf  soliden  Gewinn  bedacht 
war  und  für  sich  und  seine  Familie  gut  sorgte  und  ein  ehrbares 
Leben  führte  ohne  Schuld  und  Vergehen.  Der  größte  Dichter  sieht 
und  würdigt  diese  haushälterischen  Notwendigkeiten,  wie  er  die 
Notwendigkeit  von  Essen  und  Schlafen  sieht,  aber  er  hat  einen 
höheren  Begriff  von  Klugheit  und  begnügt  sich  nicht  damit,  nur  die 
Hand  auf  die  Klinke  der  Pforte  zu  legen.  Das  wahre  Wesen  der 
Lebensklugheit  besteht  nicht  darin,  daß  man  sich  das  Leben  behag- 
lich gestaltet  und  zu  Reife  und  Ernte  führt.  Es  genügt,  daß  man, 
um  unabhängig  zu  sein,  eine  kleine  Summe  als  Sterbegeld  auf  die 
Seite  legt,  ein  paar  Balken  um  sich  her  und  ein  paar  Schindeln 
über  dem  Kopfe  hat  auf  einem  eigenen  Fleckchen  amerikanischer 
Erde  und  die  paar  Dollars  verdient,  die  man  jährlich  zur  Kleidung 
und  Nahrung  braucht.  Aber  eine  traurige  Lebensklugheit  ist  es, 
ein  so  erhabenes  Wesen,  wie  den  Menschen,  an  die  jahrelange, 


10 


bleiche  Hast  des  Gelderwerbes  hinzuwerfen,  mit  all  ihren  sengen- 
den Tagen  und  eisigen  Nächten,  all  ihren  würgenden  Enttäu- 
schungen und  heimlichen  Ränken,  mit  ihrer  ewigen  Hetzjagd  durch 
Geschäftsräume  und  Salons,  oder  schamlosem  Prassen,  wenn  andere 
verhungern;  mit  all  ihrer  Gefühllosigkeit  für  Blüte  und  Duft  der 
Erde,  für  Blumen  und  Luft  und  Meer,  für  die  wahre  Freude  an 
den  Frauen  und  Männern,  denen  du  begegnest  oder  mit  denen  du 
zu  tun  hast,  in  Jugend  und  mittlerem  Alter,  und  mit  Krankheit 
und  verzweifeltem  Ekel  am  Ende  eines  Lebens  ohne  Erhebung  und 
Unschuld  (magst  du  es  auch  zu  einer  Rente  von  zehntausend  Dollars 
im  Jahre  oder  zu  einem  Sitz  im  Kongreß  oder  in  der  Regierung 
gebracht  haben),  und  schließlich  mit  dem  gräßlichen  Zähneklappen 
eines  Todes  ohne  Heiterkeit  und  Majestät.  Das  ist  der  große  Selbst- 
betrug in  der  modernen  Zivilisation  und  ihrem  Streben,  der  die 
Oberfläche  und  die  unleugbar  an  sich  bedeutende  Erscheinungs- 
form der  Zivilisation  entstellt  und  ihre  riesigen  Züge,  die  immer 
schneller  und  schneller  wachsen,  mit  Tränen  feuchtet,  da  noch 
die  Küsse  der  Seele  sie  nicht  erreichen  können. 

Noch  ist  die  rechte  Erklärung  nicht  gegeben,  was  Klugheit  sei. 
Die  Klugheit  bloßer  Wohlhabenheit  und  Ehrbarkeit  eines  hoch- 
geachteten Lebens  ist  zu  schwach  erkennbar  für  das  Auge,  um 
überhaupt  beurteilt  zu  werden,  da  alle  Maße  von  klein  oder  groß 
spurlos  verschwinden  bei  dem  Gedanken  an  die  Klugheit,  die  die 
rechte  ist  für  die  Unsterblichkeit.  Was  ist  die  Weisheit,  die  den 
spärlichen  Raum  eines  Jahres  oder  von  siebzig  oder  achtzig  Jahren 
ausfüllt,  verglichen  mit  der  Weisheit,  die  durch  Jahrtausende  sich 
breitet  und  zu  bestimmten  Zeiten  mit  gewaltiger  Verstärkung  und 
reicher  Gegenwart  wiederkehrt,  mit  den  hellen  Gesichtern  von 
Hochzeitsgästen,  die  von  überallher,  soweit  du  sehen  kannst,  fröhlich 
auf  dich  zu  eilen?  Nur  die  Seele  ist  selbstherrlich,  —  alles  andere 
steht  in  Beziehung  zu  dem,  was  nachfolgt.  Alles,  was  ein  Mensch 
tut  oder  denkt,  hat  seine  Folgen.  Klein  oder  groß,  gebildet  oder 
ungebildet,  weiß  oder  schwarz,  gesetzlich  oder  ungesetzlich,  krank 
oder  gesund,  —  alles  was  ein  Mann  oder  Weib,  vom  ersten  Atem- 
zug bis  zum  letzten,  Kraftvolles,  Gütiges,  Wahrhaftiges  tut,  ist 
sicherlich  für  ihn  oder  sie  von  Nutzen  in  der  unerschütterlichen 
Ordnung  des  Weltalls  in  alle  Ewigkeit.  Die  Klugheit  des  größten 
Dichters  antwortet  letzten  Endes  der  Sehnsucht  der  übervollen 


16 


Seele,  weist  nichts  von  sich,  übergeht  nichts  aus  Rücksicht  auf  sich 
oder  andere,  kennt  keinen  besondern  Sabbat  oder  Gerichtstag, 
scheidet  die  Lebenden  nicht  von  den  Toten  oder  die  Gerechten 
von  den  Ungerechten,  ist  zufrieden  mit  dem  Gegenwärtigen,  fügt 
zu  jedem  Gedanken  und  jeder  Tat  das  entsprechende  Gegenteil 
und  kennt  weder  Vergebung  noch  Buße! 

Die  Probe  darauf,  ob  er  er  der  größte  Dichter  ist,  muß  er  jetzt 
und  heute  bestehen.  Wenn  er  sich  nicht  von  der  unmittelbaren 
Gegenwart  wie  von  gewaltiger  Meerflut  durchströmen  läßt,  —  wenn 
er  nicht  selbst  die  Gegenwart  in  übertragener  Form  ist  und  wenn 
ihm  die  Ewigkeit  nicht  offen  steht,  die  alle  Epochen,  Schauplätze 
und  Vorgänge,  alle  belebten  und  unbelebten  Formen  miteinander 
verschmilzt,  die  alle  Zeiten  umschließt,  die  aus  ihrer  unfaßbaren 
Unbestimmtheit  und  Grenzenlosigkeit  in  die  dahingleitenden  Er- 
scheinungsformen des  „Heute"  emportaucht  und  von  den  lenksamen 
Ankern  des  Lebens  festgehalten  wird,  die  das  Fleckchen  Gegenwart 
zum  Ubergang  macht  von  dem,  was  war,  zu  dem,  was  sein  wird, 
und  sich  in  der  Welle  just  dieser  Stunde  und  just  dieses  einen  von 
den  sechzig  schönen  Kindern  dieser  Stunde  offenbart,  —  so  mag 
er,  der  der  größte  Dichter  sein  wollte,  noch  einmal  untertauchen 
in  den  allgemeinen  Strom  und  seine  Entwicklung  abwarten. 

Der  letzte  Prüfstein  jeder  Dichtung,  jedes  Charakters  oder  Werks 
bleibt  immer  derselbe.  Der  vorausschauende  Dichter  versetzt  sich 
selbst  um  Jahrhunderte  voraus  und  beurteilt  alles  Vollbringen 
unabhängig  vom  Wechsel  der  Zeit.  Überlebt  er  sie?  Dauert  er 
ungeschmälert  fort?  Wird  derselbe  Stil  und  das  Streben  des  Genius 
nach  solchen  Zielen  auch  dann  noch  genügen?  Ist  der  Marsch  von 
zehn,  hundert  und  Tausenden  von  Jahren  willig  nach  rechts  oder 
links  abgewichen  um  seinetwillen?  W^ird  er  noch  lange  nach 
seinem  Tode  geliebt?  Denkt  der  junge  Mann  und  das  junge  Weib 
oft  an  ihn?  und  denken  die  Reifen  und  die  Alten  an  ihn? 

Eine  große  Dichtung  ist  für  alle  Zeiten  Gemeingut  und  für  alle 
Stände  und  Rassen,  alle  Klassen  und  Sekten,  und  für  das  Weib 
ebenso  wie  für  den  Mann  und  für  den  Mann  ebenso  wie  für  das 
Weib.  Eine  große  Dichtung  ist  kein  Abschluß  für  Mann  oder  Weib, 
sondern  ein  Anfang.  Hat  sich  jemand  gedacht,  er  könne  sich  endlich 
unter  einer  unanfechtbaren  Autorität  niederlassen,  sich  bei  ihren 
Erklärungen  beruhigen,  diese  sich  zu  eigen  machen  und  völlig 


2    Whitman  J 


17 


befriedigt  sein?  Zu  keinem  solchen  Ziel  fühii;  der  größte  Dichter  — 
er  bringt  weder  Abschluß  noch  behagliches  Ausruhen  und  Fett- 
werden. Sein  Einfluß  äußert  sich,  wie  der  der  wirkenden  Natur. 
Wen  er  mit  sich  nimmt,  den  führt  er  mit  festem,  sicherem  Griff 
in  lebendige,  bis  dahin  unerreichte  Regionen,  —  von  nun  an  gibt 
es  keine  Ruhe  mehr,  —  sie  sehen  den  Raum  und  unaussprechlichen 
Glanz,  der  die  alten  Plätze  und  Lichter  in  tote  Leeren  verwandelt. 
Nun  soll  ein  Mensch  entstehen  aus  Aufruhr  und  Chaos,  —  der 
ältere  ermutigt  den  jüngeren  und  unterweist  ihn,  —  die  zwei 
sollen  furchtlos  zusammen  ausziehen,  bis  die  neue  Welt  sich  selbst 
eine  Himmelsbahn  schafft,  selbstbewußt  auf  die  kleineren  Sternen- 
bahnen schaut  und  durch  die  endlosen  Kreise  schwingt,  um  nie 
wieder  stillzustehn. 

Rald  wird  es  keine  Priester  mehr  geben.  Sie  haben  ihre  Arbeit 
getan.  Ein  neuer  Orden  wird  kommen,  und  seine  Mitglieder  sollen 
Menschenpriester  sein  und  jeder  Mensch  soll  sein  eigener  Priester 
sein.  Sie  sollen  ihre  Inspiration  in  den  realen  Objekten  von  heute 
finden,  die  die  Symptome  der  Vergangenheit  und  Zukunft  sind.  Sie 
sollen  nicht  die  Unsterblichkeit  oder  Gott  verteidigen  wollen  oder 
die  Vollkommenheit  der  Dinge  oder  die  Freiheit  oder  die  köstliche 
Schönheit  und  Wirklichkeit  der  Seele.  Sie  sollen  aus  Amerika 
hervorgehen  und  Widerhall  finden  in  aller  Welt. 

Die  englische  Sprache  ist  der  großen  amerikanischen  Ausdrucks- 
form günstig,  —  sie  ist  sehnig  genug  und  geschmeidig  und  voll- 
ständig genug.  Auf  dem  zähen  Stamm  einer  Rasse  gev>^achsen,  die 
durch  allen  Wechsel  der  Verhältnisse  nie  ohne  den  Gedanken  poli- 
tischer Freiheit,  den  Lebensodem  aller  Freiheit,  gewesen  ist,  hat 
sie  Bestandteile  von  feineren,  anmutigeren,  zarteren  und  glätteren 
Sprachen  in  sich  aufgenommen.  Sie  ist  die  mächtige  Sprache  des 
Trotzes,  —  sie  ist  das  Idiom  des  gesunden  Menschenverstandes.  Sie 
ist  die  Sprache  der  stolzen  und  melancholischen  Rassen  und  aller, 
die  vorwärtsstreben.  Sie  ist  die  auserwählte  Sprache,  um  Entwick- 
lung auszudrücken  und  Glauben,  Selbstachtung,  Freiheit,  Recht, 
Gleichheit,  FreundHchkeit,  Fülle,  Klugheit,  Entschiedenheit  und 
Mut.  Sie  ist  das  Mittel,  das  das  Unaussprechliche  annähernd  aus- 
drücken soll. 

Keine  große  Literatur,  keine  Stil-  oder  Redekunst,  keine  Um- 
gangssitten, kein  gesellschaftlicher  Verkehr  oder  Haushalt  oder 


i8 


öffentliche  Einrichtungen  oder  das  Verhalten  von  Arbeitgehern 
gegen  ihre  Angestellten,  kein  Vorgang  in  der  Exekutive  oder  in 
Heer  und  Flotte,  in  Gesetzgebung  oder  Rechtsprechung,  keine 
Polizei,  Schule  oder  Architektur  noch  Lieder  und  Vergnügungen 
können  auf  die  Dauer  dem  eifernden  und  leidenschaftlichen  Instinkt 
des  amerikanischen  Grundgefühls  entgehen.  Mag  es  vom  Munde 
des  Volkes  ausgesprochen  werden  oder  nicht,  —  es  klopft  im  Herzen 
jedes  freien  Mannes  und  Weibes  als  lebendige  Frage  nach  dem, 
was  vergänglich  ist  oder  was  bestimmt  ist,  zu  dauern.  Ist  es  gleich- 
bedeutend mit  meinem  Lande?  Übt  es  seine  Wirkungen  ohne 
schändliche  Parteilichkeit  aus?  Ist  es  bestimmt  für  die  immer 
wachsende  Gemeinschaft  von  Brüdern  und  Geliebten,  groß,  fest 
vereint,  stolz,  edelmütig  wie  keine  je  zuvor?  Ist  es  etwas  frisch 
aus  den  Feldern  Gewachsenes  oder  aus  der  See  Gefischtes,  für  mich 
hier  und  heute?  Ich  weiß:  was  für  mich,  einen  Amerikaner,  in 
Texas,  Ohio,  Kanada  antwortet,  muß  auch  für  jedes  Individuum 
und  jede  Nation  antworten,  die  mit  zu  meinem  Stoff  gehören.  Ist 
das  eine  Antwort?  Ist  es  bestimmt,  die  Jungen  der  Republik  zu 
säugen?  Löst  es  sich  willig  auf  in  der  süßen  Milch  der  Brüste  der 
Mutter  vieler  Kinder? 

Amerika  rüstet  sich  in  ruhiger  Haltung  und  Wohlwollen  für  die 
Besucher,  die  sich  angesagt  haben.  Nicht  Intellekt  wird  ihre  Be- 
glaubigung sein  und  sie  willkommen  machen.  Der  Begabte,  der 
Künstler,  der  Erfinder,  der  Verleger,  der  Staatsmann,  der  Gelehrte, 
—  sie  alle  werden  nicht  gering  geschätzt,  —  sie  kommen  an  ihren 
rechten  Platz  und  verrichten  ihr  Werk.  Auch  die  Seele  der  Nation 
verrichtet  ihr  Werk.  Sie  weist  keinen  zurück,  läßt  alle  zu.  Aber 
nur  denen,  die  ihresgleichen  sind,  wird  sie  auf  halbem  Wege  ent- 
gegengehen. Ein  einzelner  Mensch  ist  so  herrlich  wie  eine  Nation, 
wenn  er  die  Eigenschaften  hat,  die  eine  herrliche  Nation  schaffen. 
Die  Seele  der  größten,  reichsten  und  stolzesten  Nation  mag  wohl 
auf  halbem  Wege  der  ihrer  Dichter  entgegengehen. 


DEMOKRATISCHE  AUSBLICKE 


Die  gewaltigste  Lehre  der  Natur  im  ganzen  Weltall  ist  vielleicht 
die  Lehre  von  der  Vielfältigkeit  und  der  Freiheit;  und  so  muß  sie  auch 
für  Politik  und  Fortschritt  der  Neuen  Welt  gelten.  Wenn  jemand  zum 
Beispiel  gefragt  würde,  welches  die  wesentlichen  Unterscheidungs- 
merkmale zwischen  dem  politischen  und  allgemeinen  Leben  Euro- 
pas und  Amerikas  seien  gegenüber  der  alten  asiatischen  Kultur, 
wie  sie  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag  in  China  und  der  Türkei 
fortgeerbt  hat,  so  könnte  er  die  Antwort  in  John  Stuart  Mills  tiefem 
Essay  über  „Freiheit  in  der  Zukunft"  finden,  wo  zwei  Haupt- 
bestandteile oder  Grundlagen  für  eine  wahrhaft  große  Nation  ge- 
fordert werden:  erstens  eine  reiche  Vielfältigkeit  des  Charakters, 
und  zweitens  freier  Spielraum  für  die  menschliche  Natur,  um  sich 
in  zahllosen,  ja  widerstreitenden  Richtungen  zu  entfalten  (was  für 
die  ganze  Menschheit  vielleicht  etwas  Ähnliches  bedeutet  wie  die 
Einflüsse,  die,  auf  grenzenlosem  Feld,  jene  immerwährende  Heil- 
wirkung der  Luft  bewirken,  die  wir  das  Wetter  nennen:  jene  un- 
endliche Zahl  von  Strömungen  und  Kräften,  Einflüssen,  Tempera- 
turen, sich  kreuzenden  Wirkungen,  deren  unablässiges  Gegenspiel 
beständige  Neubelebung  und  Vitalität  bringt).  Mit  diesem  Gedanken 
und  allem,  was  notwendigerweise  aus  ihm  folgt,  will  ich  meine 
Betrachtungen  beginnen. 

Amerika,  das  die  Gegenwart  mit  den  gewaltigsten  Taten  und 
Problemen  erfüllt  und  die  Vergangenheit  samt  dem  Feudalismus 
frohen  Mutes  in  sich  aufnimmt  (da  in  der  Tat  ja  die  Gegenwart 
nur  der  gesetzliche  Erbe  der  Vergangenheit  ist,  den  Feudalismus 
inbegriffen),  —  Amerika  zählt  meines  Erachtens  für  seine  Recht- 
fertigung und  seinen  Erfolg  (denn  wer  dürfte  jetzt  schon  von 


20 


Erfolg  sprechen?)  fast  ausschließlich  auf  die  Zukunft.  Diese  seine 
Hoffnung  ist  nicht  unberechtigt.  Wir  sehen  heute  vor  uns,  wenn 
auch  erst  in  ahnungsvollem  Dämmer,  eine  zahlreiche,  gesunde, 
gigantische  Nachkommenschaft.  Ich  halte  alles,  was  unsere  Neue 
Welt  bisher  geleistet  hat  und  was  sie  jetzt  ist,  für  wesentlich  un- 
wichtiger als  das,  was  sie  in  Zukunft  erreichen  wird.  Als  einzige 
von  allen  Nationen  haben  diese  Staaten  den  Versuch  unternommen, 
die  lang,  lang  hinausgeschobenen  moralisch-politischen  Gedanken 
von  Jahrhunderten,  das  republikanisch-demokratische  Prinzip  und 
die  Theorie  von  Entwicklung  und  Vervollkommnung  durch  frei- 
willige Einrichtungen  und  Selbstvertrauen  in  Formen  von  dauern- 
der Macht  und  Brauchbarkeit  zu  bringen,  und  zwar  auf  Gebieten, 
die  an  Weite  mit  den  Maßen  des  physikalischen  Kosmos  wetteifern. 
Wer  in  der  Tat  außer  den  Vereinigten  Staaten  hat  je  in  der  Ge- 
schichte sich  diese  Gedanken  in  unbekümmertem  Glauben  zu  eigen 
gemacht  und  steht  auf  ihnen,  handelt  nach  ihnen  und  setzt  sich 
für  sie  ein  so  wie  sie? 

Doch  genug  des  Vorspiels.  Laßt  mich  nunmehr  den  Grundton 
der  folgenden  Melodie  anschlagen.  Vorausschicken  will  ich  nur 
noch  dies:  Wenngleich  die  einzelnen  Teile  dieser  Schrift  zu  ganz 
verschiedenen  Zeiten  niedergeschrieben  wurden  und  mir  vielleicht 
vorgeworfen  werden  kann,  daß  sie  teilweise  einander  widersprechen, 
—  denn  die  große  Frage  der  Demokratie  hat,  wie  alle  großen 
Fragen,  ihre  verschiedenen  Seiten,  —  so  fühle  ich  diese  Teile  doch 
in  meinem  eigenen  Bewußtsein  und  in  meinen  Überzeugungen 
harmonisch  verschmolzen  und  möchte  sie  nur  aus  solcher  Einheit 
heraus  verstanden  wissen,  jede  Seite,  jede  Forderung,  jede  Be- 
hauptung bedingt  und  gemäßigt  durch  die  anderen.  Man  vergesse 
auch  nicht,  daß  sie  nicht  das  Ergebnis  eines  Studiums  politischer 
Ökonomie  sind,  sondern  des  schlichten  Menschenverstandes  und 
vieler  Beobachtungen  und  Wanderungen  unter  Menschen  in  diesen 
Staaten,  in  Krieg  und  Frieden  dieser  aufwühlenden  Jahre. 

Ich  will  nicht  herumreden  um  die  furchtbaren  Gefahren  des 
allgemeinen  Wahlrechts  in  den  Vereinigten  Staaten.  In  der  Tat, 
ich  schreibe,  um  diesen  Gefahren,  die  ich  zugebe,  ins  Auge  zu 
sehen.  Ich  schreibe  für  die,  in  deren  Geist  die  wechselvolle  Schlacht 
tobt  zwischen  den  demokratischen  Überzeugungen  und  Bestrebun- 
gen und  dem  Bewußtsein  von  der  Roheit,  Lasterhaftigkeit  und 


21 


Launenhaftigkeit  des  Volkes.  Ich  werde  die  Worte  Amerika  und 
Demokratie  als  gleichbedeutende  Ausdrücke  gebrauchen.  Das  Er- 
gebnis, um  das  es  sich  handelt,  ist  kein  geringes.  Die  Vereinigten 
Staaten  sind  bestimmt,  entweder  über  die  glanzvolle  Geschichte  des 
Feudalismus  hinauszukommen  oder  sich  als  den  furchtbarsten 
Fehlschlag  aller  Zeiten  zu  erweisen.  Nicht  die  mindeste  Sorge  habe 
ich  um  die  Aussichten  für  ihren  materiellen  Erfolg.  Ihren  geo- 
graphischen, Geschäfts-  und  Produktionsmöglichkeiten  ist  eine 
triumphale  Zukunft  gewiß.  In  dieser  Hinsicht  wird  die  Republik 
sicherlich  bald  (wenn  es  nicht  jetzt  schon  der  Fall  ist)  alle  bisher 
bekannten  Beispiele  überholen  und  die  Welt  beherrschen. 

All  das  zugegeben,  auch  den  unschätzbaren  Wert  unserer  poli- 
tischen Institutionen  und  des  allgemeinen  Wahlrechts  (überhaupt 
sollen  grundsätzlich  alle  Türen  so  weit  wie  möglich  geöffnet  wer- 
den!), sage  ich  dennoch  aus  einer  viel  größeren  Tiefe  heraus:  um 
aus  unserer  westlichen  W^elt  eine  Nation  zu  schaffen,  die  allen  bis- 
her bekannten  überlegen  ist  und  alle  Vergangenheit  überwindet, 
brauchen  wir  vor  allem  eine  starke,  doch  unbeargwöhnte  Literatur, 
vollkommene  Persönlichkeiten  und  Gesellschaftsformen,  die  ur- 
sprünglich und  transzendental  und  der  Ausdruck  der  Demokratie 
und  des  modernen  Lebens  sind,  —  ein  Ausdruck,  der  bisher  über- 
haupt noch  nicht  gefunden  worden  ist.  Aus  ihnen  heraus  muß 
zugleich  eine  neue  Rasse  von  Lehrern  und  von  vollkommenen 
Frauen  entstehen,  unerläßlich  als  Stamm  für  die  Fortpflanzung 
einer  Neuen  Welt.  Denn  Feudalismus,  Kastengeist  und  die  kirch- 
liche Überlieferung  schwinden  zwar  merklich  aus  unsern  politischen 
Institutionen,  aber  halten  die  wichtigeren  Gebiete  der  Erziehung, 
des  sozialen  Lebens  und  der  Literatur,  die  die  wahre  Grundlage 
der  Nation  sind,  auch  in  diesem  Lande  geistig  in  festem  Besitz. 

Ich  sage,  daß  die  Demokratie  sich  nicht  selber  einwandfrei  recht- 
fertigen kann,  ehe  sie  nicht  ihre  eigenen  Formen  von  Kunst,  Dich- 
tung, Erziehung  und  Theologie  findet  und  in  einer  gewissen  Fülle 
entfaltet  und  alles  Bestehende,  alles,  was  irgendwo  in  der  Ver- 
gangenheit unter  entgegengesetzten  Einflüssen  entstanden  ist, 
ausschaltet.  Es  erstaunt  mich,  daß  so  viele  Stimmen,  Federn, 
Geister  in  der  Presse,  in  Hörsälen,  in  unserm  Kongreß  usf.  intellek- 
tuelle Themen  diskutieren,  Finanzschwierigkeiten,  Probleme  der 
Gesetzgebung,  Stimmrecht,  Tarif-  und  Arbeiterfragen  und  all  die 


22 


Geschäfts-  und  Wohlfahrtsbedürfnisse  Amerikas  nebst  Vorschlägen 
zur  Abhilfe,  die  oft  ernster  Beachtung  wert  sind,  —  während  ein 
Bedürfnis,  eine  tiefste  Lücke  besteht,  die  kein  Auge  zu  bemerken, 
keine  Stimme  zu  nennen  scheint.  Unser  Grundbedürfnis  in  den 
Vereinigten  Staaten  von  heute,  im  engsten,  umfassendsten  Anschluß 
an  die  gegenwärtigen  Verhältnisse  und  an  die  Zukunft,  ist  eine 
Klasse  und  die  klare  Idee  einer  Klasse  von  einheimischen  Autoren, 
eine  Literatur,  ganz  anders  und  viel  höher  geartet  als  alle  bisher 
bekannten:  priesterlich,  modern,  fähig,  sich  zu  messen  mit  den 
Möglichkeiten  unserer  Länder,  die  ganze  Fülle  amerikanischer 
Mentalität,  amerikanischen  Geschmacks  und  Glaubens  durchdrin- 
gend und  ihr  einen  neuen  Odem  einhauchend,  ihr  Entscheidungs- 
kraft verleihend;  eine  Literatur,  die  auf  die  Politik  eine  tiefere 
Wirkung  ausübt  als  das  oberflächliche  Volkswahlrecht  und  letzten 
Endes  auch  von  innen  her  und  indirekt  die  Wahlen  der  Präsidenten 
und  Kongresse  beeinflußt,  —  die  nach  allen  Richtungen  ausstrahlt, 
würdige  Lehrer,  Schulen,  Umgangsformen  erzeugt  und  als  größtes 
Ergebnis  das  schafft,  was  weder  die  Schulen  noch  die  Kirchen  und  ihr 
Klerus  bisher  geschaffen  haben  und  ohne  das  diese  Nation  ebensowenig 
dauernd  und  fest  stehen  kann  wie  ein  Haus  ohne  Grundmauern: 
nämlich  einen  religiösen  und  moralischen  Charakter  unterhalb  der 
politischen,  wirtschaftlichen  und  intellektuellen  Grundlagen  der  Ver- 
einigten Staaten.  Denn,  nicht  wahr,  lieber,  ernsthafter  Leser?  —  die 
Bewohner  unseres  Landes  mögen  allesamt  lesen  und  schreiben  können 
und  allesamt  das  Wahlrecht  besitzen,  und  doch  kann  es  ihnen  an 
der  Hauptsache  gänzlich  fehlen  —  und  diese  will  ich  hier  andeuten. 

Das  Problem  der  Menschheit  in  der  ganzen  zivilisierten  Welt 
von  heute  ist,  von  genügend  hoher  Warte  aus  betrachtet,  sozial 
und  religiös  und  muß  letzten  Endes  von  der  Literatur  in  Angriff 
genommen  und  behandelt  werden.  Nie  war  ein  solches  Bedürfnis 
nach  etwas  vorhanden  wie  hier  in  den  Staaten  nach  dem  Dichter 
der  Moderne  oder  dem  großen  Literatus  der  Moderne.  Zu  allen 
Zeiten  vielleicht  ist  der  Kernpunkt  jeder  Nation,  von  dem  aus  sie 
am  stärksten  gelenkt  wird  und  andere  lenkt,  ihre  nationale  Lite- 
ratur, besonders  ihre  urtümlichen  Dichtungen.  Vor  allen  älteren 
Ländern  wird  in  Amerika  eine  große  originale  Literatur  sicherlich 
die  Rechtfertigung  und  Bürgschaft  (in  mancher  Hinsicht  die  ein- 
zige Bürgschaft)  der  Demokratie  werden. 


23 


Nur  wenige  erkennen,  wie  die  große  Literatur  alles  durchdringt, 
allem  Farbe  gibt,  Vielheiten  und  Individuen  gestaltet  und  auf 
feinsten  Wegen  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  nach  ihrem  Willen 
aufbaut,  erhält  oder  zerstört.  Warum  ragen  in  der  Erinnerung 
über  allen  Nationen  der  Erde  zwei  besondere  Länder  empor,  win- 
zig an  sich  und  doch  unsagbar  gigantisch,  schönheitstrahlend, 
Säulenhaft?  Unsterblich  lebt  Juda,  und  Griechenland  unsterblich, 
in  ein  paar  Gedichten. 

Näher  als  das.  Es  ist  nicht  allen  bewußt,  aber  es  ist  wahr,  daß, 
wie  der  Genius  Griechenlands  samt  aller  Gesellschafts-  und  Persön- 
lichkeitsbildung, aller  Politik  und  Religion  dieser  wunderbaren 
Staaten  auf  ihrer  Literatur  und  Ästhetik  beruhte,  daß,  sageich,  ebenso 
späterhin  die  Literatur  der  Hauptträger  des  europäischen  Rittertums, 
der  feudalen,  geistlichen,  dynastischen  Welt  dort  drüben  war,  ihr 
Knochenbau,  der  sie  auf  Hunderte  und  Tausende  von  Jahren  zu- 
sammenhielt, ihr  Fleisch  und  ihre  Blüte  trug,  ihr  Form  und  Rich- 
tung gab,  sie  abrundete  und  sie  bewußt  und  unbewußt,  in  Blut, 
Rasse  und  Glauben  ihrer  Menschen,  so  durchtränkte,  daß  sie  bis 
auf  den  heutigen  Tag  ihre  Vorherrschaft  erhalten  hat,  dem  mäch- 
tigen Wechsel  der  Zeit  zum  Trotz,  —  die  Literatur,  die  bis  ins 
Mark  drang,  vor  allem  ihr  bedeutendster  Teil,  ihre  bezaubernden 
Lieder,  Balladen  und  Gedichte. 

Die  Einflüsse,  die  nach  dem  bloßen  Urteil  der  Sinne  und  Augen 
die  Weltgeschichte  prägen,  sind,  ich  weiß  es  wohl,  vor  allem  die 
Kriege,  das  Aufsteigen  und  Sinken  der  Dynastien,  die  Verschie- 
bungen des  Handels,  wichtige  Erfindungen,  Schiffahrt,  militärische 
und  bürgerliche  Regierungen,  das  Erscheinen  machtvoller  Persön- 
lichkeiten, Eroberer  usf.  All  das  spielt  natürlich  eine  Rolle;  und 
doch  wird  vielleicht  ein  einziger  neuer  Gedanke,  eine  Idee,  ein 
abstraktes  Prinzip,  ja,  eine  literarische  Stilform,  die  für  ihre  Zeit 
paßt  und  von  einem  großen  Autor  in  Form  gebracht  und  in  die 
Menschheit  geworfen  wird,  im  rechten  Augenblick  Veränderungen, 
Werden  und  Vergehen  bewirken,  weit  stärker  als  die  längsten  und 
blutigsten  Kriege  oder  der  gewaltigste  lediglich  politische,  dynastische 
oder  kommerzielle  Umsturz. 

Kurz  gesagt:  wie  es  außer  allem  Zweifel  ist,  —  wenn  es 
auch  nicht  alle  sehen,  —  daß  eine  Handvoll  Dichter,  Philosophen 
und  Autoren  ersten  Ranges  der  gesamten  Religion,  Erziehung, 


24 


Gesetzgebung,  Gesellschaftsordnung  usf.  der  zivilisierten  Welt  im 
wesentlichen  Form  und  Bestand  gegeben  haben,  indem  sie  die  Atmo- 
sphäre bestimmten  und  schufen,  aus  der  heraus  jene  entstanden 
sind,  —  so  muß  auch  der  innere,  wahre  demokratische  Aufbau  des 
amerikanischen  Kontinents  heute  und  in  Zukunft  von  solchen 
Männern  geprägt  werden,  und  zwar  mehr  als  je.  Dabei  ist  eines 
wichtigen  Unterschiedes  zu  gedenken:  während  im  Altertum  und 
Mittelalter  die  höchsten  Gedanken  und  Ideale  sich  aus  sich  selbst 
heraus  verwirklichten  und  Ausdruck  und  Verbreitung  ebensosehr 
und  vielleicht  mehr  durch  andere  Künste  fanden,  als  durch  die 
Literatur  im  eigentlichen  Sinne,  die  der  Masse  der  Menschen,  ja 
sogar  auch  den  meisten  hervorragenden  Menschen,  verschlossen 
war,  ist  im  Gegenteil  die  Literatur  unserer  Tage  nicht  allein  inni- 
ger mit  den  Anforderungen  der  Zeit  verbunden,  sondern  hat  sich 
zu  dem  einzigen  und  allgemeinen  Mittel  zur  moralischen  Beein- 
flussung der  Welt  entwickelt.  Malerei,  Bildhauerei  und  Theater 
spielen  offenbar  keine  unersetzliche  oder  auch  nur  wichtige  Rolle 
mehr  in  den  Auswirkungen  und  der  Mittlerschaft  des  Intellekts, 
der  lebendigen  Nützlichkeit  und  selbst  der  hohen  Ästhetik.  Die 
Architektur  hat  zweifellos  noch  gewisse  Fähigkeiten  und  eine 
wirkliche  Zukunft.  Die  Musik,  die  große  Verknüpferin,  das  Ver- 
geistigtste und  zugleich  Sinnlichste,  was  es  gibt,  eine  Göttin,  aber 
doch  ganz  menschlich,  schreitet  fort  und  behält  ihre  hohe  Stellung; 
in  einem  gewissen  Bereich  gibt  sie,  was  nichts  außer  ihr  zu  geben 
vermag.  Aber  es  ist  unleugbar,  daß  in  der  Zivilisation  von  heute 
vor  allen  anderen  Künsten  die  Literatur  die  Herrscherin  ist,  die 
lebendigen  Nutzen  wirkt,  die  den  Charakter  von  Kirche  und  Schule 
gestaltet  oder  wenigstens  fähig  wäre,  es  zu  tun.  Rechnet  man  die 
wissenschaftliche  Literatur  hinzu,  so  ist  ihr  Wirkungskreis  in  der 
Tat  ohnegleichen. 

Ehe  ich  weitergehe,  ist  es  vielleicht  von  Bedeutung,  gewisse 
Punkte  klarzustellen.  Die  Literatur  baut  ihren  Weizen  auf  vielen 
Feldern,  und  die  einen  mögen  gedeihen,  während  die  andern  zu- 
rückbleiben. Was  ich  in  diesen  Ausblicken  sage,  gilt  hauptsächlich 
für  die  imaginative  Literatur,  die  Dichtung  besonders,  die  der 
Grundstock  aller  Literatur  ist.  Im  Bereich  der  Wissenschaft  und 
auf  dem  Sondergebiet  des  Journalismus  sind  in  diesen  Staaten  viel- 
versprechende Anzeichen,  ja  vielleicht  schon  Erfüllungen  voll 


25 


höchsten  Ernstes,  voll  Wirklichkeitskraft  und  Leben  zu  erkennen. 
Diese  sind  natürlich  modern.  Aber  in  dem  Bereich  der  Einbildungs- 
kraft und  innersten  Wesenheit  besteht  für  unser  Zeitalter  und  unser 
Land  das  gebieterische  Bedürfnis  nach  schöpferischer  Kraft.  Denn 
es  ist  nicht  nur  nicht  genug,  daß  das  neue  Blut,  der  neue  innere 
Bau  der  Demokratie  lediglich  durch  politische  Mittel,  oberfläch- 
liches Wahlrecht,  Gesetzgebung  usw.  belebt  und  zusammengehalten 
wird,  sondern  es  ist  mir  völlig  klar,  daß  seine  Kraft  unzureichend, 
sein  Wachstum  fraglich  und  sein  wesentlicher  Zauber  unentfaltet 
bleiben  muß,  wenn  dieses  Neue  nicht  tiefer  geht,  nicht  mindestens 
ebenso  fest  und  warm  in  den  Menschenherzen  und  ihrem  Fühlen 
und  Glauben  Wurzel  faßt,  wie  der  Feudalismus  oder  die  Kirchlich- 
keit zu  ihrer  Zeit,  und  wenn  es  nicht  seine  eigenen  ewigen  Quellen 
eröffnet,  die  je  und  je  aus  dem  Mittelpunkt  fluten.  Daher  halte 
ich  es  für  möglich,  daß,  wenn  zwei  oder  drei  Dichter  (oder  auch 
Künstler  oder  Redner)  wirklich  amerikanischen  Ursprungs  am 
Horizont  aufsteigen  würden  wie  Planeten,  Sterne  erster  Größe,  die 
durch  ihre  Überlegenheit  alles,  was  die  einzelnen  Rassen  und  Länder 
zu  geben  haben,  zusammenschweißen  würden,  —  daß  diese  den  Ver- 
einigten Staaten  mehr  Zusammenhalt  und  moralische  Einheit  (die 
Eigenschaft,  die  uns  heute  am  nötigsten  ist)  geben  würden,  als  alle 
ihre  Verfassungen,  alle  Bande  der  Gesetzgebung  und  Rechtsprechung, 
alle  bisherigen  politischen,  kriegerischen  oder  materiellen  Erfah- 
rungen. Es  wäre  von  größtem  Nutzen  für  die  Staaten  mit  all  ihrer 
Verschiedenheit  des  Klimas,  ihrer  Städte  und  Lebensformen  usw., 
einen  allen  gemeinsamen,  für  alle  typischen  Besitzstand  an  Helden, 
Charakteren,  großen  Taten,  Leiden,  Glück  und  Unglück,  Ruhm 
und  Schmach  zu  haben;  noch  viel  wichtiger  aber  wäre  es  für  sie, 
eine  geschlossene  Gruppe  machtvoller  Dichter,  Künstler  und  Lehr- 
meister zu  besitzen,  die  für  uns  passen  und  der  Nation  Ausdruck 
verleihen  und  alles  das  in  sich  vereinen  und  wieder  ausströmen 
würden,  was  allgemeingültig,  eingeboren  und  allen  gemeinsam  ist, 
im  Binnenland  und  an  den  Küsten,  in  Nord  und  Süd.  Die  Ge- 
schichtschreiber sagen  von  dem  alten  Griechenland  mit  seinen 
ewig  eifersüchtigen  Selbstregierungen,  Städten  und  Staaten,  daß 
die  einzige  positive  Einheit,  die  es  je  besaß  oder  empfing,  die  trau- 
rige Einheit  einer  schließlichen  gemeinsamen  Unterwerfung  unter 
fremde  Eroberer  war.    Unterwerfung,  Zusammenschluß  solcher 


26 


Art  ist  für  Amerika  undenkbar;  aber  die  Furcht  vor  un versöhn- 
baren Konflikten  im  Innern  und  vor  dem  Mangel  an  einem  ge- 
meinsamen Gerippe,  das  alle  zusammenhält,  verfolgt  mich  beständig. 
Jedenfalls  liegt  für  eine  lange  Periode  der  Zukunft  die  Notwendig- 
keit deutlich  zutage,  die  Staaten  in  der  einzig  zuverlässigen  Einheit, 
der  moralischen  und  künstlerischen,  zu  verschmelzen.  Denn  ich 
sage:  die  wahre  Nationalität  der  Staaten,  die  echte  Union  im  Falle 
einer  moralischen  Krisis,  ist  und  wird  letzten  Endes  weder  das  ge- 
schriebene Gesetz  sein,  noch  (wie  man  gewöhnlich  glaubt)  Selbst- 
erhaltungstrieb oder  gemeinsame  finanzielle  oder  materielle  Inter- 
essen, —  sondern  die  Glut  und  Macht  der  Idee,  die  alles  andere 
unwiderstehlich  in  sich  verschmilzt  und  alle  untergeordneten, 
beschränkten  Unterschiede  in  der  umfassenden,  unbeschränkten 
Gewalt  von  Geist  und  Gefühl  löst. 

Man  mag  einwenden  (und  ich  gebe  die  Stärke  dieses  Einwandes 
zu),  daß  ein  allgemeines  physisches  Gedeihen  und  eine  werktüchtige 
Bevölkerung,  die  sich  allen  materiellen  Komfort  des  Lebens  schafft, 
die  Hauptsache  und  genügend  sei.  Man  mag  ins  Feld  führen,  daß 
unsere  Republik  durch  ihre  Taten  in  Wahrheit  heute  die  gewal- 
tigsten Kunstwerke,  Gedichte  usw.  hervorbringt,  indem  sie  die 
Wildnis  in  fruchtbare  Farmen  verwandelt  und  Eisenbahnen,  Schiffe, 
Maschinen  usw.  schafft.  Und  man  mag  fragen:  Ist  all  das  nicht 
in  der  Tat  besser  für  Amerika  als  irgend  welche  Äußerungen  des 
Rhapsoden,  Künstlers  oder  Literaten? 

Auch  ich  grüße  diese  Leistungen  mit  Freude  und  Stolz:  und 
antworte  dann,  daß  die  Seele  des  Menschen  nicht  durch  solche 
Dinge  allein  —  nein,  überhaupt  nicht  durch  solche  Dinge  end- 
gültig befriedigt  werden  kann,  sondern  nur  auf  ihnen  und  allen 
Dingen  steht,  wie  die  Füße  auf  dem  Boden  stehen  und  einzig  dessen 
wahrhaft  bedarf,  was  sich  auf  das  Höchste:  auf  sie  selbst  allein 
richtet. 

Aus  solchen  Erwägungen,  solchen  Wahrheiten  heraus  erhebt 
sich  als  Gegenstand  dieser  Ausblicke  die  wichtige  Frage  nach  dem 
Charakter,  nach  einer  ur-amerikanischen  Persönlichkeit,  für  die  die 
Kunst  und  Literatur  Ausdruck  und  Echo  ist  und  die,  in  Grenzen, 
die  allen  gemeinsam  sind,  mit  allen  in  Wechselwirkung  steht. 
Diesem  Hauptpunkt  haben  die  Denker  der  Vereinigten  Staaten, 
sonst  so  scharfsinnig,  entweder  nur  sehr  schwache  Beobachtung 


27 


geschenkt,  oder  sie  verharrten  und  verharren  ihm  gegenüber  in 
Schlafsucht. 

Ich  für  meinen  Teil  möchte  auch  die  Politiker  und  Geschäfts- 
leute unter  meinen  Lesern  aufs  eindringlichste  warnen  vor  dem 
herrschenden  Wahn,  daß  die  Begründung  freier  politischer  Ein- 
richtungen und  eine  hochentwickelte,  rein  verstandesmäßige  Ge- 
schicklichkeit samt  allgemeiner  Ordnung,  materieller  Fülle,  Ge- 
werbefleiß usw.  (so  wünschenswerte  und  kostbare  Güter  sie  auch 
sein  mögen)  an  sich  schon  genüge,  um  unserem  demokratischen 
Experiment  den  Erfolg  zu  sichern.  Obwohl  die  Union  sich  im 
vollen  oder  nahezu  vollen  Besitz  aller  dieser  Vorteile  sieht  und 
eben  erst  siegreich  aus  dem  Kampf  mit  den  einzigen  Feinden  her- 
vorgegangen ist,  die  sie  überhaupt  zu  fürchten  braucht,  nämlich 
denen  in  ihrem  eigenen  Innern,  —  ist  dennoch  die  Gesellschaft  der 
Vereinigten  Staaten  angefault,  unreif,  abergläubisch  und  verderbt. 
Und  zwar  die  politische,  durch  Gesetze  geschaffene  Gesellschaft 
ebenso  wie  die  private,  freiwillige.  In  jeglicher  Äußerung  ihrer 
Energie  scheint  mir  das  W^ichtigste,  das  Rückgrat  von  Staat  oder 
Einzelmensch,  das  moralische  Gewissen,  entweder  gänzlich  zu  fehlen 
oder  doch  bedenklich  geschwächt  oder  unentwickelt  zu  sein. 

Ich  meine,  wir  täten  am  besten,  unserer  Zeit  und  unserem  Lande 
scharf  ins  Gesicht  zu  blicken,  wie  ein  Arzt,  der  die  Diagnose  einer 
tiefen  Krankheit  stellt.  Nie  vielleicht  gab  es  so  viel  Herzenshohlheit, 
wie  jetzt  in  den  Vereinigten  Staaten.  Der  Erstlingsglaube  scheint 
uns  verlassen  zu  haben.  Wir  glauben  nicht  mehr  ehrlich  an  das 
Grundprinzip  der  Staaten  (trotz  aller  hektischen  Begeisterung  und 
melodramatischem  Geschrei),  noch  an  die  Menschheit  überhaupt. 
W^elches  durchdringende  Auge  sähe  nicht  überall  durch  diese  Maske 
hindurch?  Es  ist  ein  erschreckendes  Schauspiel.  Wir  leben  durch- 
weg in  einer  Atmosphäre  von  Heuchelei.  Die  Männer  glauben  nicht 
an  die  Frauen  und  die  Frauen  nicht  an  die  Männer.  Eine  An- 
maßung ohne  Ehrfurcht  herrscht  in  der  Literatur.  Das  Bestreben 
aller  „Literaten"  ist  es,  etwas  zu  finden,  womit  sie  ihren  Spaß 
treiben  können.  Ein  Haufen  Kirchen,  Sekten  usw.,  die  traurigsten 
Phantasmen,  die  ich  kenne,  maßt  sich  den  Namen  Religion  an.  Unter- 
haltung ist  Geschwätz.  Die  Unwahrheit  im  Geist,  die  Mutter  aller 
falschen  Taten,  hat  bereits  unabsehbare  Folgen  gezeitigt.  Eine  scharf- 
sinnige und  aufrichtige  Persönlichkeit  aus  dem  Zoll-Departement 


28 


in  Washington,  die  ihr  Amt  zu  regelmäßigen  Besuchen  in  die 
Städte  des  Nordens,  Südens  und  Westens  führt,  um  Betrügereien 
auf  die  Spur  zu  kommen,  hat  viel  mit  mir  über  ihre  Entdeckungen 
gesprochen.  Die  Verderbtheit  unserer  Geschäftskreise  ist  nicht  ge- 
ringer, sondern  unendlich  viel  größer,  als  man  angenommen  hatte. 
Die  nationalen,  staatlichen  und  städtischen  Behörden  Amerikas  in 
allen  ihren  Zweigen  und  Abteilungen,  die  Gerichte  ausgenommen, 
sind  durch  und  durch  zersetzt  von  Korruption,  Bestechung,  Unehr- 
lichkeit, Mißwirtschaft;  und  auch  die  Gerichte  sind  bereits  ange- 
fressen. Die  Räuberei  und  Schurkerei  in  den  Großstädten,  ob  äußer- 
lich anständig  oder  nicht,  stinkt  zum  Himmel.  Geschwätzigkeit, 
laue  Liebeshändel,  schwächliche  Treulosigkeit,  dürftige  Ziele  oder 
überhaupt  keine  Ziele  in  der  eleganten  Welt.  In  der  Geschäftswelt 
(Geschäft,  —  dieses  allesverschlingende  moderne  Wort!)  ist  das 
einzige  Ziel,  mit  allen  Mittel  Geld  zu  machen.  Die  Schlange  des 
Zauberers  im  Märchen  fraß  alle  anderen  Schlangen  auf;  Geldgier 
ist  unsere  Zauberschlange,  die  heute  allein  das  Feld  behauptet.  Die 
beste  Klasse,  die  wir  aufzuweisen  haben,  ist  nur  ein  Haufe  von 
elegant  gekleideten  Spekulanten  und  Pöbel.  Wahr  ist  freilich,  daß 
hinter  dieser  phantastischen  Posse,  die  sich  auf  der  Schaubühne  der 
Gesellschaft  abspielt,  solide  Dinge  und  erstaunliche  Arbeitsleistungen 
erkennbar  sind,  noch  in  rohen  Formen  und  im  Hintergrund,  aber 
bereit,  nach  vorn  zu  kommen  und  für  sich  selber  zu  zeugen,  wenn 
ihre  Zeit  gekommen  ist.  Aber  die  Wahrheit  ist  darum  nicht  weniger 
furchtbar.  Ich  sage,  daß  die  Demokratie  unserer  Neuen  Welt,  — 
mit  so  großem  Erfolge  sie  auch  die  Massen  aus  ihrem  Sumpf  empor- 
gehoben und  materiellen  Fortschritt  und  Produktionskraft  und  eine 
gewisse,  freilich  höchst  trügerische,  oberflächliche  Volks-Intelligenz 
geschaffen  hat,  —  dennoch,  so  weit  man  sieht,  ein  fast  völliger 
Fehlschlag  in  sozialer  Hinsicht  und  in  Hinsicht  wahrhaft  großer 
religiöser,  moralischer  und  literarischer  Ergebnisse  ist.  Vergebens 
marschieren  wir  in  nie  gesehenem  Sturmschritt  auf  die  Bildung 
eines  Reiches  zu,  kolossaler  als  die  des  Altertums,  als  das  Reich 
Alexanders  und  die  stolzeste  Entfaltung  Roms.  Vergebens  haben 
wir  Texas,  Kalifornien,  Alaska  annektiert  und  langen  im  Norden 
nach  Kanada  und  im  Süden  nach  Kuba.  Es  ist,  als  wären  w  ir  mit 
einem  riesigen,  immer  vollständiger  sich  auswachsenden  Körper 
ausgestattet,  und  es  bliebe  uns  nur  eine  kleine  oder  gar  keine  Seele. 


29 


Ich  möchte  meine  Behauptungen  noch  mit  weiteren  Beobach- 
tungen, Lokalbeispielen  usw.  belegen.  Der  Gegenstand  ist  wichtig 
und  verträgt  Wiederholungen.  Nach  einiger  Abwesenheit  bin  ich 
jetzt  (September  1870)  wieder  für  ein  paar  Ferienwochen  in  New 
York  und  Brooklyn.  Der  Glanz,  die  malerische  Erscheinung  und 
die  ozeanische  Weite  und  Belebtheit  dieser  beiden  großen  Städte, 
die  unvergleichliche  Lage,  die  Flüsse  und  die  Bai,  die  glitzernde 
See,  kostspielige,  stolze,  neue  Gebäude,  Fassaden  aus  Marmor  und 
Eisen  von  eigenartiger  Größe  und  eleganter  Zeichnung,  dazu  eine 
Menge  heiterer  Farben,  vorwiegend  weiß  und  blau,  wehende  Flaggen, 
zahllose  Schiffe,  die  brausenden  Straßen,  Broadway,  das  schwere, 
tiefe,  musikalische  Dröhnen,  das  kaum  jemals  aussetzt,  auch  nicht 
bei  Nacht;  die  Häuser  der  Makler,  die  reichen  Läden,  die  Werften, 
der  große  Zentralpark  und  Brooklyn-Park  auf  dem  Hügel  (wo  ich 
in  diesem  wundervollen  Herbstwetter  spaziere,  nachdenklich,  beob- 
achtend, alles  in  mich  aufnehmend),  —  die  Versammlungen  der 
Bürger  in  Gruppen,  zur  Unterhaltung,  beim  Handel,  bei  den  Abend- 
vergnügungen oder  vor  ihren  Quartieren,  —  all  das,  sage  ich,  und 
Ähnliches  befriedigt  vollkommen  meinen  Sinn  für  Macht,  Fülle, 
Bewegung  usw.  und  versetzt  mich,  durch  diese  meine  Sinne  und 
Neigungen  und  mein  ästhetisches  Bewußtsein,  in  eine  beständige 
Gehobenheit  und  in  das  Gefühl  absoluter  Erfüllung.  Ich  fahre  über 
die  Flüsse  im  Osten  und  Norden,  auf  den  Fähren  oder  mit  den 
Lotsen  in  ihren  Lotsenhäusern,  oder  verbringe  eine  Stunde  in  Wall- 
street oder  in  der  Goldbörse:  und  immer  mehr  und  mehr  wird  es 
mir  bewußt,  daß  (wenn  wir  überhaupt  eine  solche  Zweiteilung 
zugeben)  die  Natur  groß  ist  nicht  allein  in  ihren  Bereichen  der 
Freiheit  und  der  frischen  Luft,  in  ihren  Stürmen,  in  den  Herr- 
lichkeiten von  Tag  und  Nacht,  den  Bergen,  Wäldern  und  Meeren, 

—  sondern  ebenso  groß  in  den  künstlichen  Schöpfungen  der  Men- 
schen, —  in  dieser  Überfülle  wimmelnder  Menschheit,  —  in  diesen 
sinnreichen  Erfindungen,  diesen  Straßen,  Gütern,  Häusern,  Schiffen, 

—  diesen  hastenden,  fiebernden,  elektrischen  Menschenmassen  und 
ihrem  komplizierten  Geschäftsgenius  (nicht  dem  geringsten  unter 
den  Geniussen)  und  all  diesem  mächtigen,  vielverstrickten  Wohl- 
stand und  Gewerbefleiß,  der  hier  vereinigt  ist. 

Aber  wenn  wir  unsere  Augen  vor  dem  Glanz  und  der  Größe 
des  allgemeinen  oberflächlichen  Eindrucks  schließen,  ihn  streng 


3o 


ausschalten  und  uns  in  sorgfältiger  Prüfung  an  das  halten,  was 
allein  von  wirklicher  Bedeutung  ist,  an  die  Persönlichkeiten, 
so  forschen  und  fragen  wir:  gibt  es  bei  uns  Männer,  die  würdig 
dieses  Namens  sind?  athletische  Männer?  Gibt  es  vollkommene 
Frauen,  die  der  verschwenderischen  materiellen  Üppigkeit  gewachsen 
sind?  Ist  eine  alles  durchdringende  Atmosphäre  edler  Sitten  vor- 
handen? Gibt  es  ein  Wachstum  schöner  junger  und  majestätischer 
alter  Menschen?  Gibt  es  Künste,  würdig  der  Freiheit  und  eines 
reichen  Volkes?  Gibt  es  eine  große  moralische  und  religiöse  Kultur, 
—  die  einzige  Rechtfertigung  einer  großen  materiellen  Kultur?  Man 
muß  mir  zugeben,  daß  vor  strengen  Augen,  die  die  Menschheit 
unter  das  moralische  Mikroskop  nehmen,  eine  Art  von  dürrer  und 
flacher  Sahara  erscheint:  diese  unsere  Städte,  dicht  gefüllt  mit 
kläglichen  Zerrbildern,  Mißgestalten,  Phantomen,  die  sinnlose  Possen 
reißen.  Man  muß  mir  zugeben,  daß  allenthalben,  im  Verkaufs- 
laden, auf  der  Straße,  in  Kirche,  Theater,  Restaurant  und  Amts- 
zimmer, Geschwätzigkeit  und  Gemeinheit,  niedrige  Verschlagenheit 
und  Treulosigkeit  herrschen,  —  allenthalben  eine  schwächliche, 
freche,  gezierte,  frühreife  Jugend,  —  allenthalben  eine  unnormale 
Lüsternheit,  ungesunde  Erscheinungen,  männliche  wie  weibliche, 
geschminkt,  wattiert,  gefärbt,  frisiert,  mit  unreiner  Gesichtsfarbe 
und  schlechtem  Blut,  —  die  Befähigung  zu  gesunder  Mutterschaft 
überall  verkümmert  oder  schon  gänzlich  geschwunden,  hohle  Be- 
griffe von  Schönheit  und  dazu  eine  Art  von  Umgangsformen  oder 
vielmehr  Mangel  an  Umgangsformen,  wie  sie  (bedenkt  man  die 
gebotenen  Vorteile)  wohl  kaum  gemeiner  in  der  Welt  zu  sehen 
sind*. 

*  Von  diesen  kurz  angedeuteten  Übeln  scheinen  mir  zwei  die  bedenklichsten 
zu  sein:  erstens  der  Zustand  oder  das  Fehlen  oder  vielleicht  besser  das  seltsame 
Ausgeschaltetsein  des  moralischen  Gewissensnervs  in  der  gesamten  amerikanischen 
Gesellschaft;  und  zweitens  die  erschreckende  Erschöpfung  der  Frauen  in  ihrer 
Fähigkeit  zu  gesunder,  athletischer  Mutterschaft,  der  Eigenschaft,  die  die  Krö- 
nung ihres  Seins  ist  und  die  das  Weib  für  ewig  in  höchster  Sphäre  über  den 
Mann  erhebt. 

Ich  habe  manchmal  in  der  Tat  gedacht,  daß  der  einzige  Weg  und  das  einzige 
Mittel  zum  Wiederaufbau  der  Gesellschaft  in  allererster  Linie  die  Neugeburt, 
Aufzucht,  Entfaltung  und  Kräftigung  von  Frauen  wäre,  die  für  künftige  Rassen 
(da  die  Bedingungen,  die  der  Geburt  vorangehen,  von  entscheidender  Bedeutung 
sind)  eine  vollkommene  Mutterschaft  gewährleisten.  Groß,  groß,  wahrlich,  viel 
größer,  als  sie  selbst  wissen,  ist  die  Sphäre  der  Frauen. 


3i 


Und  nun  sage  ich:  Um  in  all  diese  beklagenswerten  Zustände 
den  heilkräftigen  Atem  gesunden,  heroischen  Lebens  zu  blasen, 
brauchen  wir  eine  auf  neuem  Boden  gegründete  Literatur!  —  eine 
Literatur,  die  nicht  nur  die  vorhandenen  Oberflächen  der  Erschei- 
nungen kopiert  und  spiegelt  oder  sich  zur  Kupplerin  des  sogenannten 
Geschmacks  macht;  die  nicht  nur  zum  Amüsement  und  Zeitver- 
treib da  ist  und  das  Schöne,  Verfeinerte,  der  Vergangenheit  An- 
gehörige feiert  oder  technische,  rhythmische  und  grammatische 
Geschicklichkeit  zur  Schau  stellt,  —  sondern  eine  Literatur,  die  dem 
Leben  zugrunde  liegt,  die  religiös  ist  und  in  festem  Zusammenhang 
mit  der  Wissenschaft  steht,  die  die  Elemente  und  Kräfte  mit  eben- 
bürtiger Gewalt  handhabt,  die  eine  Lehrerin  und  Erzieherin  von 
Männern  ist  und  berufen,  das  Allerwichtigste  zu  vollenden:  die 
völlige  Erlösung  der  Frau  aus  diesen  unglaublichen  Schlingen  und 
Geweben  einer  albernen  Putzmacherwelt  und  aller  Art  von  dys- 
peptischer  Erschlaffung,  —  um  so  den  Staaten  eine  starke  und 
holde  weibliche  Rasse  zu  sichern,  eine  Rasse  vollkommener  Mütter. 

Und  nun,  in  vollem  Bewußtsein  dieser  Tatsachen  und  Gesichts- 
punkte und  aller  Für  und  Wider,  die  sie  einschließen,  in  noch 
immer  unerschüttertem  Glauben  an  die  Urstoffe  in  den  amerika- 
nischen Massen,  in  beiden  Geschlechtern,  auch  als  Individuen  be- 
trachtet, und  in  der  Erkenntnis,  daß  sie  die  breiteste  Grundlage  für 
die  beste  literarische  und  ästhetische  Würdigung  sind,  fahre  ich 
mit  meinen  Betrachtungen,  meinen  Ausblicken  fort. 

Zuerst  wollen  wir  sehen,  was  sich  aus  einer  kurzen,  allgemeinen, 
gefühlsmäßigen  Betrachtung  der  politischen  Demokratie  und  ihres 
Ursprungs  ergibt,  mit  Rücksicht  auf  einige  ihrer  allgemeinen  Eigen- 
schaften als  Aggregat  und  als  Basis  für  unsere  zukünftige  Literatur 
und  Autorschaft.  Wir  w^erden  allerdings  bald  finden,  daß  die  Ur- 
Idee des  Einzelseins  des  Menschen,  Individualismus,  sich  allent- 
halben geltend  macht  und  sogar  aus  den  entgegengesetzten  Ideen 
herausspringt.  Aber  die  Masse,  der  Gesamtcharakter  muß  dennoch 
aus  gebieterischen  Gründen  stets  sorgfältig  in  Erwägung  gezogen, 
im  Sinne  behalten  und  berücksichtigt  werden*. 

*  Die  hier  angedeutete  Frage  kann  die  Zeit  allein  beantworten.  Muß  nicht 
die  Tugend  des  modernen  Individualismus,  der  beständig  wächst  und  alles  er- 
greift, in  Amerika  die  alte  Tugend  des  Patriotismus,  der  glühenden,  ausschließ- 
lichen Liebe  zu  dem  ganzen  Lande  ernstlich  beeinträchtigen  und  vielleicht  völlig 


32 


Die  [)oliüsclie  Geschichle  der  N  er^jaii^jenlieit  isl  alles  in  allem 
hei voi gewachsen  aus  dem,  was  den  Worten  „Ordnung",  „Sicher- 
heit", „Kaste"  zugrunde  liegt,  und  besonders  aus  dem  Bedürfnis 
nach  einer  prompt  entscheidenden  Autorität  und  einem  Zusammen- 
halt auf  alle  Fälle.  Wir  überspringen  eine  Zeit  und  kommen  zu 
der  Periode,  die  noch  in  dem  Gedächtnis  der  heutigen  Völker  lebt 
und  in  der,  wie  aus  einer  Höhle,  in  der  sie  geschlummert  und  Wut 
in  sich  aufgespeichert  hatten,  jene  lärmenden  Empörungen  und 
bilderstürmerischen  Ausbrüche  voll  leidenschaftlichen  Gefühls  für 
alles  Unrecht  aufsprangen,  die  noch  heute  nachwirken  (von  1790 
bis  zur  Gegenwart,  1870)  und  die  die  Form  der  Staaten  veränderten, 
wohlbekannt  aus  der  Geschichte  der  alten  Welt,  von  vielem  Blut 
befleckt  und  begleitet  von  dem  wilden  Geschrei  und  den  Forde- 
rungen der  Reaktion.  Fast  alle  diese  Bewegungen  entsprangen  einem 
innersten  Bedürfnis. 

Denn  wenn  alles  andere  gesagt  ist,  —  wenn  alle  die  vorüber- 
gehend oder  dauernd  gültigen  Lehren  von  Unterordnung,  Erfahrung, 
Besitzrecht  usw.  angehört  und  anerkannt  wurden,  —  wenn  die 
wertvolle  und  wohlbegründete  Regelung  unserer  Pflichten  und 
Beziehungen  innerhalb  der  Gesellschaft  sorgfältig  durchdacht  und 
erschöpft  ist,  —  dann  erhebt  sich  das  Verlangen,  alles  dies  fort- 
zuentwickeln und  umzugestalten  nach  der  Idee  jenes  Etwas,  das 
ein  Mensch  ist  (letzter  kostbarer  Trost  des  geplagten  armen  Volkes), 
und  das  abseits  von  allem  andern  steht,  göttlich  aus  eigenem  Recht, 
gleichviel  ob  Mann  oder  Weib,  einsam  und  unantastbar  für  alle 
Kanonen  und  alle  Obrigkeit  der  Welt  und  für  jegliche  Satzung, 
die  aus  der  Vergangenheit,  aus  der  Staatsraison  und  den  Akten  der 
Gesetzgebung  hergeleitet  ist  oder  selbst  aus  dem,  was  sich  Religion, 
Demut  oder  Kunst  nennt.  Die  Ausstrahlungen  aus  dieser  Wahr- 
heit sind  der  Schlüssel  zu  den  bedeutungsvollsten  Taten  der  jüngsten 
drei  Jahrhunderte  und  haben  das  politische  Werden  und  Leben 
Amerikas  geschaffen.  Sie  schreitet  sichtbar  und  noch  viel  mehr 
unsichtbar  fort.  Unterhalb  der  Strömungen  der  Gesellschaftsbildung 
sowohl  wie  unterhalb  der  Bewegungen  der  Politik  der  führenden 

ersticken?  Ich  selbst  zweifle  nicht,  daß  beide  ineinander  aufgehen  und  gegenseitig 
Kraft  und  Nutzen  aus  sich  ziehen  werden  und  daß  aus  ihnen  ein  größeres  drittes 
Ergebnis  erwachsen  wird.  Aber  ich  fühle  wohl,  daß  sie  beide  und  ihr  Wider- 
streit ein  ernstes  Problem  und  Paradox  für  die  Vereinigten  Staaten  bilden. 

3    Whiimuii  I  33 


Nationen  der  Welt  sehen  wir,  selbst  inmitten  der  mächtigsten  Ten- 
denzen zur  Gemeinschaft,  dieses  Bild  der  Vollkommenheit  in  der 
Vereinzelung  ständig  vordringen  und  an  Stärke  zunehmen,  dieses 
Bild  individueller  persönlicher  Würde  eines  Einzelmenschen,  Mann 
oder  Weih,  im  wesentlichen  charakterisiert  nicht  durch  äußerlich 
Erworbenes  und  äußere  Stellung,  sondern  durch  den  eigenen  Stolz; 
und  aller  Weisheit  endgültiger  Schluß  ist  die  einfache  Idee,  daß 
das  Letzte  und  Beste,  worauf  man  sich  verlassen  kann,  die  Mensch- 
heit selber  ist  und  ihre  eingeborenen,  natürlichen,  vollentfalteten 
Eigenschaften,  ohne  irgendwelche  abergläubischen  Hilfsmittel;  denn 
andernfalls  wäre  die  gesamte  Ordnung  der  Dinge  ziellos,  ein  Be- 
trug, ein  Zusammenbruch.  Diese  Idee  des  vollkommenen  Indivi- 
dualismus ist  es  in  der  Tat,  die  der  Idee  der  Gemeinschaft  am 
tiefsten  Charakter  und  Farbe  gibt.  Denn  wir  begünstigen  eine 
starke  Vergemeinschaftung  und  einen  starken  Zusammenschluß 
hauptsächlich  oder  ausschließlich  deshalb,  um  die  Unabhängigkeit 
des  Einzelmenschen  zu  stärken,  gleichwie  wir  auf  der  Einheit  der 
Union  unter  allen  Umständen  bestehen,  um  den  Rechten  der  Ein- 
zelstaaten die  vollste  Lebensfähigkeit  und  Freiheit  zu  sichern,  deren 
jedes  genau  so  wichtig  ist  wie  das  Recht  der  Nation,  der  Union. 

Die  Demokratie,  die  den  alten  Glauben  an  die  notwendige  Un- 
umschränktheit der  bestehenden  dynastischen  Herrschaft  auf  welt- 
lichem, geistlichem  und  scholastischem  Gebiet  als  an  die  einzige 
Sicherung  gegen  Chaos,  Verbrechen  und  Unwissenheit  verdrängt, 
hat  das  Ziel,  durch  viele  Umwandlungen  hindurch  und  inmitten 
endloser  Torheiten,  Streitigkeiten  und  offensichtlicher  Fehlschläge 
um  jeden  Preis  jene  Theorie  oder  Doktrin  zu  beweisen,  daß  der 
in  gesundester,  vollster  Freiheit  erzogene  Mensch  zu  seinem  eigenen 
Gesetz  werden  kann  und  muß,  das  seine  Wirkungen  auf  ihn  selbst 
und  seine  eigene  Disziplin  sowie  auf  alle  seine  Beziehungen  zu  den 
anderen  Individuen  und  zum  Staat  ausübt,  und  daß,  wie  andere 
Theorien  sich  in  der  bisherigen  Geschichte  der  Völker  als  weise 
genug  und  vielleicht  unerläßlich  für  die  damaligen  Verhältnisse 
erwiesen  haben,  diese  Theorie  in  dem  augenblicklichen  Zustand 
unserer  zivilisierten  Welt  das  einzige  Ideal  ist,  für  das  zu  wirken 
es  sich  lohnt,  weil  sie  Ergebnisse  gewährleistet,  die  den  Natur- 
gesetzen entsprechen  und  denen  man  zutrauen  kann,  daß  sie,  einmal 
zur  Geltung  gebracht,  aus  sich  selbst  heraus  weiterwachsen  werden. 


34 


Was  das  politische  Gebiet  der  Demokratie  angeht,  das  Weg  und 
Boden  für  andere,  umfassendere  Gebiete  vorbereitet,  so  gibt  es  wahr- 
scheinlich selbst  in  diesen  republikanischen  Staaten  nur  wenige 
Geister,  die  das  Zutreffende  des  Satzes  begreifen,  den  uns  Abraham 
Lincoln  hinterlassen  hat:  „Die  Regierung  über  das  Volk,  durch 
das  Volk,  für  das  Volk";  eine  Formel,  deren  Fassung  wie  ein  simp- 
les Wortspiel  klingt,  deren  Sinn  aber  die  Gesamtheit  und  alle  Ein- 
zelheiten der  Theorie  umfaßt. 

Das  Volk!  Gleichwie  unsere  riesige  Erde  selber  für  einen  ge- 
wöhnlichen Betrachter  voller  brutaler  Widersprüche  und  Ärgernis 
ist,  so  hat  auch  der  Mensch,  als  Masse  betrachtet,  etwas  Abstoßen- 
des und  ist  ein  beständiges  Rätsel  und  eine  Herausforderung  für 
die  gebildeten  Klassen.  INur  der  seltene,  kosmisch  fühlende  Künstler- 
geist, der  vom  Licht  der  Unendlichkeit  erleuchtet  ist,  vermag  den 
mannigfachen,  ozeangleichen  Eigenschaften  der  Masse  gegen  über- 
zutreten, —  aber  Geschmack,  Intelligenz  und  Bildung  (sogenannt!) 
sind  ihr  immer  feindlich  gewesen  und  werden  es  immer  sein.  Es 
liegt  immer  noch  ein  gewisser  Glanz  auch  über  den  verruchtesten 
Verbrechen  und  tierischsten  Gemeinheiten  der  feudalen  und  dyna- 
stischen alten  Welt  mit  ihrem  Ensemble  so  schöngekleideter  und 
stattlicher  Lords,  Königinnen  und  Höfe.  Aber  das  Volk  ist  unge- 
bildet, ungepflegt,  und  seine  Sünden  sind  hager  und  schlecht  ernährt. 

Die  Literatur  hat  sich,  streng  genommen,  niemals  um  das  Volk 
gekümmert,  und  sie  tut  es  auch  heute  nicht,  was  immer  man  sagen 
mag.  Allgemein  gesprochen  haben  die  bisherigen  Tendenzen  der 
Literatur  nur  dazu  gedient,  kritische  und  unzufriedene  Menschen 
zu  schaffen.  Es  scheint,  als  bestände  bis  dato  ein  natürlicher  Wider- 
wille zwischen  einem  literarischen  oder  beruflichen  Dasein  und 
dem  rauhen,  starken  Geist  der  Demokratie.  Zwar  ist  in  der  jüngeren 
Literatur  häufig  genug  eine  gewisse  wohlwollende  Haltung  und 
geschäftige  Nächstenliebe  zu  finden;  aber  ich  weiß  nichts,  was, 
selbst  in  unserem  Lande,  seltener  wäre  als  eine  wissenschaftliche 
Wertung  und  ehrfürchtige  Schätzung  des  Volkes  und  seines  un- 
ermeßlichen Reichtums  an  verborgenen  Kräften  und  Fähigkeiten, 
seiner  Ungeheuern,  künstlerischen  Kontraste  von  Licht  und  Schatten, 
seiner  absoluten  Verläßlichkeit  in  allen  Notfällen  (zumal  in  Amerika) 
und  eines  gewissen  Hauchs  von  geschichtlicher  Größe  in  Krieg  und 
Frieden,  die  alle  vielgerühmten  Beispiele  der  Heldenbücher,  alle 


3" 


35 


hochtönenden  Überlieferungen  aller  Kolerien  der  Welt  weit  über- 
trifft. 

Die  Ereignisse  des  verflossenen  Sezessionskrieges  und  ihre  Ergeb- 
nisse erweisen  für  jeden,  der  sie  sorgfältig  studiert  und  versteht, 
daß  die  volkstümliche  Demokratie  trotz  all  ihren  Mängeln  und 
Gefahren  sich  praktisch  durch  sich  selbst  rechtfertigt,  weit  über  die 
stolzesten  Forderungen  und  wildesten  Hoffnungen  ihrer  begeistertsten 
Vorkämpfer  hinaus.  Vielleicht  wird  keine  Zukunft  es  je  wissen,  aber 
ich  weiß  es  wohl,  daß  der  Kernpunkt  dieser  grimmigsten  und  ent- 
schlossensten aller  kriegerischen  Unternehmungen  der  Welt  aus- 
schließlich in  der  namenlosen,  unbekannten  Truppe  lag,  und  daß 
ihre  heiße  Blutarbeit  in  jeder  w^esentlichen  Hinsicht  freiwillig  war. 
Das  Volk  kämpfte  und  starb  aus  eigener  Wahl,  für  seine  eigenen 
Ideen  gegen  den  übermütigen  Angriff  der  Vormacht  der  Sklaverei, 
die  seine  eigene  innerste  Existenz  bedrohte.  In  alle  Einzelheiten 
tauchend,  bei  allen  Armeen,  im  persönlichen  Umgang  mit  den 
Soldaten,  habe  ich  die  erhabensten  Eindrücke  erlebt.  Ich  habe  die 
Bereitwilligkeit  gesehen,  mit  der  das  eingeborene  amerikanische 
Volk,  die  friedlichste  und  gutmütigste  Rasse  der  Welt,  die  persön- 
lich unabhängigste  und  intelligenteste,  die  am  wenigsten  geeignet 
ist,  sich  all  dem  erbitternden  Verdruß  militärischer  Disziplin  zu 
unterwerfen,  beim  ersten  Trommelschlag  zu  den  Waffen  sprang,  — 
nicht  für  Gewinn  noch  Ruhm,  noch  um  eine  Invasion  zurück- 
zuschlagen, —  sondern  für  ein  Sinnbild,  eine  bloße  Abstraktion,  — 
für  das  Leben  und  die  Sicherheit  der  Flagge.  Ich  habe  die  Gelehrig- 
keit und  den  Gehorsam  ohnegleichen  dieser  Soldaten  gesehen.  Ich 
habe  sie  durch  lange  Zeiten  hindurch  unter  dem  Druck  von  Hoff- 
nungslosigkeit, schlechter  Führung  und  Niederlagen  gesehen;  habe 
die  unglaubliche  Schlächterei  gesehen,  in  die  sich  die  Armeen  (wie 
zuerst  bei  Fredericksburg  und  später  in  der  Wildnis)  immer  wieder 
ohne  Zögern  stürzten,  wenn  der  Befehl  zum  Vorgehen  kam.  Ich 
habe  sie  im  Schützengraben  gesehen  oder  hinter  Brustwehren 
kauernd  oder  durch  tiefen  Schmutz  marschierend,  oder  in  strö- 
mendem Regen  oder  dichtem  Schneegestöber,  oder  auf  Eilmärschen 
im  heißesten  Sommer  (wie  auf  dem  Marsch  nach  Getysbury),  — 
ungeheure,  erdrückende  Massen,  Divisionen,  Armeekorps,  jeder 
einzelne  Mann  so  schmierig  und  schwarz  von  Schweiß  und  Staub, 
daß  seine  eigene  Mutter  ihn  nicht  erkannt  haben  würde,  —  die 


36 


ganze  Uniform  schmutzig,  blutbefleckt  und  zerrissen,  stinkend  nacli 
altem  saurem  Schweiß,  —  manch  ein  Kamerad,  vielleicht  ein  Bruder 
vom  Hitzschlag  getroffen,  aus  Reih  und  Glied  beiseite  wankend 
und  vor  Erschöpfung  am  Wege  sterbend,  —  aber  die  große  Masse 
unbeirrt  weitermarschierend,  guten  Muts,  von  Hunger  ausgehöhlt, 
aber  stählern  in  unbesiegbarer  Entschlossenheit. 

Ich  habe  diese  Rasse  in  ihrer  Gesamtheit  noch  furchtbarere, 
wenn  auch  einförmigere  Prüfungen  bestehen  sehen:  —  die  Ver- 
wundungen, die  Amputationen,  die  zerschmetterten  Gesichter  und 
Glieder,  das  schleichende  Fieber,  das  lange  ungeduldige  Liegen  im 
Bett  und  alle  die  Arten  von  Verstümmelung,  Operationen  und 
Krankheit.  Ach,  ich  sah  Amerika  noch  in  seiner  frühen  Jugend 
schon  ins  Lazarett  geschleppt!  Dort  habe  ich  diese  Soldaten  be- 
obachtet, viele  von  ihnen  erst  Knaben  an  Jahren,  und  ihren  Anstand, 
ihre  religiöse  Natur  und  Tapferkeit  und  ihre  liebevolle  Herzlichkeit. 
Wirklich  in  ihrer  Gesamtheit.  Denn  an  der  Front  und  in  allen 
Lagern  standen  in  zahllosen  Zelten  die  Regiments-,  Brigade-  und 
Divisionslazarette,  während  zugleich  überall  im  Lande,  in  oder  bei 
den  Städten,  sich  Scharen  von  riesigen,  weißgewaschenen,  über- 
füllten, einstöckigen  Holzbaracken  erhoben;  und  dort  schlich  der 
Tod  bei  Tag  und  Nacht  durch  die  schmalen  Gänge  zwischen  den 
Reihen  der  Feldbetten  oder  an  den  Matratzen  am  Boden  vorbei  und 
berührte  leise  manch  einen  armen  Dulder,  oft  mit  gesegneter,  will- 
kommener Hand. 

Ich  weiß  nicht,  ob  man  mich  verstehen  wird,  aber  ich  bin  mir 
bewußt,  daß  ich  letzten  Endes  diese  Zeilen  hier  schreibe  aus  dem 
heraus,  was  ich  lernte,  indem  ich  persönlich  solchen  Szenen  bei- 
wohnte. Eines  Nachts  während  der  düstersten  Zeit  des  Krieges,  im 
Lazarett  des  Patentamts  von  Washington,  als  ich  am  Bett  eines 
Soldaten  aus  Pennsylvania  stand,  der  im  vollen  Bewußtsein  des 
ganz  nahen  Todes  vollkommen  ruhig  dalag,  mit  edlem,  vergeistigtem 
Anstand,  sagte  der  erfahrene  Wundarzt,  beiseite  gewendet,  zu  mir, 
daß  er  viele,  viele  Male  Zeuge  des'Sterbens  von  Soldaten  gewesen 
sei,  und  daß  er  bei  Bull  Run,  Antjetam,  Fredericksburg  usw.  tätig 
gewesen  sei,  aber  daß  er  noch  nie  auch  nur  in  einem  einzigen  Fall 
gesehen  habe,  daß  ein  Mann  oder  Bursch  die  nahende  Auflösung 
mit  feiger  Schwäche  oder  Angst  erwartet  hätte.  Meine  eigene  Be- 
obachtung bestätigte  diese  Bemerkung  voll. 


37 


Was  haben  wir  hier,  wenn  nicht,  hoch  über  allem  Gerede  und 
allen  Streitfragen,  die  vollgültige,  letzte  Probe  auf  die  Demokratie, 
offenbart  in  ihren  Persönlichkeiten?  Seltsam  genug:  diese  Probe 
hat  der  Süden  in  allen  Stücken  genau  so  bestanden  wie  der  Norden. 
Obwohl  ich  nur  von  dem  letzteren  sprach,  schließe  ich  doch  beide 
mit  voller  Überlegung  ein.  Großer,  gemeinsamer  Stamm!  Für  mich 
die  vollendete,  überzeugende  Gewähr  für  die  Zukunft:  unleugbarer 
Beweis,  auch  für  das  schärfste  Urteil,  von  vollkommener  Schönheit, 
Zartheit  und  Tapferkeit,  die  kein  feudaler  Lord  noch  die  griechische 
oder  römische  Rasse  je  übertroffen  hat.  Keine  Zunge  soll  jemals 
geringschätzig  von  den  Rassen  Amerikas,  Nord  oder  Süd,  sprechen 
zu  einem,  der  den  Krieg  in  den  großen  Armeelazaretten  durch- 
gemacht hat. 

Indessen  freilich  ist  die  Menschheit  im  allgemeinen  auf  allen 
Gebieten  immer  voller  verstockter  Bosheit  gewesen  und  ist  es  noch. 
In  Stunden  der  Niedergeschlagenheit  meint  die  Seele,  das  werde 
ewig  so  bleiben,  —  aber  sie  erholt  sich  schnell  von  solchen  schwäch- 
lichen Stimmungen.  Ich  selbst  sehe  deutlich  genug,  was  in  allen 
Schichten  des  gemeinen  Volkes  noch  unreif  und  mangelhaft  ist; 
die  große  Zahl  der  Unwissenden,  Leichtgläubigen,  der  Untauglichen 
und  Ungeschickten  und  der  ganz  niedrig  Stehenden  und  Armen. 
Eine  hervorragende  Persönlichkeit  des  Auslands*  fragt  spöttisch, 
ob  wir  die  Politik  einer  Nation  zu  erhöhen  und  zu  verbessern  ge- 
denken, indem  wir  all  diese  morbiden  Elemente  samt  ihren  Eigen- 
schaften absorbieren.  Die  Frage  ist  in  der  Tat  furchtbar,  und  es 
wird  zweifellos  immer  eine  große  Zahl  solider  und  denkender 
Bürger  geben,  die  nie  darüber  hinwegkommen  werden.  Unsere 
Antwort  ist  allgemein  und  in  dem  Zweck  und  Sinn  dieses  Essays 
enthalten.  Wir  glauben,  daß  die  höhere  Aufgabe  politischer  und 
sonstiger  Regierung  (nachdem  sie  natürlich  zunächst  für  Polizei, 
Sicherheit  des  Lebens  und  Eigentums  und  für  die  grundlegende 
Satzung  und  das  allgemeine  Gesetz  und  seine  Anwendung  gesorgt 
hat)  im  übrigen  darin  besteht,  nicht  nur  zu  herrschen,  Unordnung 
zu  bekämpfen  usw.,  sondern  die  Möglichkeiten  aller  wohltätigen, 
männlichen  Entfaltung,  allen  Strebens  nach  Unabhängigkeit  und 
den  Stolz  und  die  Selbstachtung,  die  in  allen  Charakteren  schlum- 
mern, zu  entwickeln,  auszubilden  und  zu  ermutigen. 

*  Carlyle  in  seinem  Aufsatz  „Shooting  Niagara". 


38 


Ich  sage,  die  Mission  einer  Regierung  in  zivilisierten  Ländern 
besteht  hinfort  nicht  allein  mehr  in  Unterdrückung  und  nicht  allein 
in  Wahrung  der  Autorität,  selbst  nicht  der  des  Gesetzes,  noch,  — 
um  das  Lieblingsargument  jenes  hervorragenden  Autors  zu  nennen, 
—  m  der  Aufrichtung  der  Herrschaft  der  besten  Männer,  der  ge- 
borenen Helden  und  Führer  der  Rasse  (als  ob  diese  je,  oder  auch 
nur  einmal  unter  hundert,  an  die  höchsten  Stellen  kämen,  sei  es 
durch  Wahl  oder  Erbrecht),  —  sondern  darin,  Gemeinwesen  in 
allen  ihren  Entwicklungsstufen  zu  züchten,  beginnend  mit  Indi- 
viduen und  wiederum  endend  bei  Individuen,  die  alsdann  —  höher 
als  die  höchste  Willkürherrschaft  —  über  sich  selber  herrschen 
sollen.  Die  Lehre,  um  derentwillen,  auf  moralisch-geistigem  Gebiet, 
Christus  für  die  Menschheit  erschien,  nämlich  die  Lehre,  daf3  in 
der  absoluten  Seele,  die  jedem  Individuum  zu  eigen  ist,  etwas  so 
Transzendentes,  so  über  alle  Abstufungen  Erhabenes  liegt,  daß  in 
dieser  Hinsicht  alle  Wesen  auf  derselben  gleichen  Höhe  stehen  und 
alle  Unterschiede  von  Intellekt,  Tugend,  Stellung  oder  überhaupt 
irgendwelcher  Höhe  oder  Tiefe  völlig  belanglos  sind,  —  diese  Lehre 
hat  ihr  Seitenstück  in  dem  Grundsatz  der  Demokratie,  daß  die 
Nation,  als  eine  Gemeinschaft  lebendiger  Einzelexistenzen,  jedem 
ihrer  Angehörigen  den  Anspruch  auf  Freiheit,  auf  irdisches  Ge- 
deihen und  Glück,  auf  Förderung  seines  Wachstums  und  bürger- 
lichen Schutz  gewähren  muß,  und  daß  daher  die  Menschen,  zum 
mindesten  in  Hinsicht  des  politischen  Wahl-  und  Stimmrechts,  aber 
auch  darüber  hinaus  im  einzelnen  und  allgemeinen  auf  eine  breite, 
elementare,  universelle,  gemeinsame  Plattform  gestellt  werden 
müssen. 

Diese  W^irkung  ist  nicht  immer  direkt,  sondern  vielleicht  zumeist 
indirekt.  Denn  die  Demokratie  rechtfertigt  sich  nicht  erschöpfend 
in  sich  selbst,  ja  vielleicht  überhaupt  nicht,  gleich  der  Natur.  Sie 
ist  nur,  soweit  wir  sehen,  das  beste,  vielleicht  einzige  wirklich 
geeignete  Mittel,  die  einzige  Bildnerin,  Erweckerin,  Erzieherin  für 
die  Millionen,  und  zwar  nicht  nur  für  große  Persönlichkeiten  von 
Fleisch  und  Blut,  sondern  für  unsterbliche  Seelen.  Sein  Wahlrecht 
zusammen  mit  allen  andern  auszuüben,  ist  nicht  so  viel;  und  diese 
Institution  wird,  wie  jede  andere,  immer  ihre  Unvollkommenheiten 
haben.  Aber  ein  freier  Mensch  zu  werden  und  nun,  da  alle  Schranken 
gefallen  sind,  ohne  Demütigung  und  ebenbürtig  allen  anderen 


39 


dazustehen  und  den  Weg  frei  zu  haben,  um  das  große  Experiment 
der  Entwicklung  zu  beginnen,  deren  Ziel  (vielleicht  erst  nach 
mehreren  Generationen)  die  Erschaffung  des  vollentfalteten  Mannes 
oder  Weibes  ist,  —  das  ist  etwas! 

Wir  begründen  das  nicht  (oder  wenigstens  ich  begründe  es  nicht) 
mit  der  besonderen  Verständigkeit  oder  Vortrefflichkeit  des  Volkes, 
der  Massen,  selbst  der  besten,  noch  auch  mit  ihren  Rechten;  sondern 
damit,  daß,  ob  gut  oder  schlecht,  im  Recht  oder  nicht  im  Recht, 
die  demokratische  Formel  die  einzige  Sicherheit  und  der  einzige 
Schutz  für  kommende  Zeiten  ist.  Wir  geben  den  Massen  das 
Wahlrecht  um  ihrer  selbst  willen,  zweifellos;  aber  vielleicht  noch 
viel  mehr,  von  einem  anderen  Gesichtspunkt  aus,  um  der  Gemein- 
schaft willen.  Alles  andere  überlassen  wir  den  Schwärmern:  uns 
genügt  es,  die  Freiheit  von  ihrer  wissenschaftlichen  Seite  zu  zeigen, 
kalt  wie  Eis,  verstandesmäßig,  logisch,  klar  und  leidenschaftslos 
wie  Kristall. 

Auch  die  Demokratie  bedeutet  Gesetz,  und  zvsar  im  strengsten, 
weitesten  Sinn.  Viele  glauben  (und  oft  herrscht  dieser  Irrtum  in 
ihren  eigenen  Reihen),  daß  sie  Abschaffung  des  Gesetzes  und  Auf- 
ruhr bedeute.  Sie  ist,  kurz  gesagt,  das  höhere  Gesetz  des  Geistes, 
das  das  Gesetz  der  physischen  Kraft,  des  Körpers,  verdrängt.  Gesetz 
bedeutet  die  unerschütterliche,  ewige  Ordnung  des  Universums;  und 
das  Gesetz,  das  über  allen  anderen  steht,  das  Gesetz  der  Gesetze, 
ist  das  der  Aufeinanderfolge,  welches  besagt,  daß  das  höhere  Gesetz 
zu  seiner  Zeit  das  niedrigere  allmählich  ersetzt  und  überwindet. 
Für  hochstrebende  Seelen  ist  auch  die  ästhetische  Seite  der  Frage, 
die  in  jedem  Falle  wichtig  ist,  von  Bedeutung:  im  allgemeinen 
besteht  der  Ehrgeiz,  sich  aus  der  Masse  herauszuheben,  um  eine 
privilegierte  Sonderstellung  zu  gewinnen.  Der  wahre  Meister  des 
Lebens  aber  sieht  Größe  und  Gedeihlichkeit  darin,  nur  ein  Teil 
der  Masse  zu  sein;  nichts  tut  so  gut  als  ein  gemeinsamer  Grund 
und  Boden.  Willst  du  das  göttliche,  große,  allgemeine  Gesetz  in 
dir  haben?  So  tauche  in  ihm  unter! 

Das  Höchste  aber  und  die  Krönung  der  Demokratie  ist,  daß  sie 
allein  alle  Nationen,  alle  Menschen  noch  so  verschiedener  und 
entfernter  Länder  zu  einer  Bruderschaft,  einer  Familie  vereinen 
kann  und  immer  zu  vereinen  bestrebt  ist.  Sie  ist  der  alte,  immer 
wieder  neue  Traum  der  Erde,  der  Traum  ihrer  ältesten  und  jüngsten 

40 


Völker  und  liebsten  Philosophen  und  Dichter.  Nicht  nur  das  halbe 
Ziel  des  Individualismus,  der  isoliert;  sondern  auch  die  andere 
Hälfte,  die  da  ist  Zusammengehörigkeit  und  Liebe,  die  verschmilzt, 
bindet  und  einigt  und  alle  Rassen  zu  Kameraden  und  Brüdern 
macht.  Beide  müssen  lebendig  gemacht  werden  durch  die  Religion 
(die  einzige,  würdigste  Erhöherin  von  Mensch  und  Staat),  die  in  die 
stolzen  Gewebe  der  Materie  den  Atem  des  Lebens  haucht.  Denn 
im  Herzen  der  Demokratie  ruht  letzten  Endes  das  religiöse  Element. 
Alle  Religionen,  alte  wie  neue,  wohnen  dort.  Und  die  Idee  der 
Demokratie  kann  sich  nicht  eher  in  strahlender  Schönheit  und 
Gewalt  verwirklichen,  als  bis  jene,  die  die  beste  und  letzte,  die 
geistige  Frucht  tragen,  in  volle  Erscheinung  getreten  sind. 

Ich  möchte  einige  Worte  nicht  so  sehr  für  unser  Land,  sondern 
mit  Bezug  auf  Europa  sagen,  besonders  den  britischen  Teil  von 
Europa.  Aber  die  ganze  Frage  ist  zusammenhängend  und  umfafk 
alle  Völker.  Der  Liberale  von  heute  hat  vor  Antike  und  Mittelalter 
den  Vorteil  voraus,  daß  seine  Doktrin  nicht  allein  zu  individualisieren, 
sondern  zu  universalisieren  sucht.  Das  große  Wort  Solidarität  ist 
gesprochen.  Unter  heutigen  Verhältnissen  kann  es  unter  allen 
Gefahren  für  eine  Nation  keine  größere  geben,  als  daß  gewisse 
Volksteile  von  den  übrigen  durch  einen  Trennungsstrich  geschieden 
sind,  daß  sie  nicht  die  gleichen  Rechte  wie  die  andern  haben, 
sondern  degradiert,  erniedrigt  sind  und  gar  nicht  in  Betracht  ge- 
^zogen  werden.  In  Gott  —  wenn  ich  so  sagen  darf  —  zu  wirken 
und  von  ihm  und  seinem  göttlichen  Gemeinschaftsgebilde,  dem 
Volk,  zu  zeugen  (oder  meinetwegen  auch  von  dem  leibhaftigen, 
gehörnten  und  geschwänzten  Teufel  und  seinem  Gebilde,  wenn 
einige  krampfhaft  darauf  bestehen !),  —  das,  sage  ich,  ist  der  Sinn 
der  Demokratie;  und  das  ist,  was  unser  Amerika  bedeutet  und 
vollbringt,  —  darf  ich  nicht  sagen,  schon  vollbracht  hat?  Andernfalls 
würde  es  nicht  mehr  bedeuten  und  vollbringen  als  jedes  beliebige 
andere  Land.  Und  gleichwie  der  Magen  der  Natur,  dank  seiner 
kosmisch-antiseptischen  Kraft,  vollkommen  stark  genug  ist,  nicht 
nur  alle  ihm  beständig  zugeführten  Krankheitsstoffe  zu  verdauen, 
ihnen  nicht  auszuweichen,  sondern  eher  vielleicht  sie  ganz  besonders 
bereitwillig  in  sich  aufzunehmen,  um  sie  in  Nährstoffe  für  die 
höchsten  Zwecke  und  für  neues  Leben  zu  verwandeln,  —  so  auch 
die  Demokratie  Amerikas.  Das  ist  die  Lehre,  die  wir  Heutigen  zu 

41 


den  europäischen  Ländern  hinübersenden,  mit  jedem  Hauch  des 
Westwinds. 

Was  man  auch  in  abstrakten  Argumenten  für  oder  gegen  die 
Theorie  umfassenderer  Demokratisierung  in  irgendeinem  Lande 
sagen  mag,  sicher  ist,  daß  alle  europäischen  Länder  sich  viele  Un- 
ruhen ersparen  könnten,  wenn  sie  die  handgreifliche  Tatsache  (denn 
sie  ist  handgreiflich)  erkennen  würden,  daß  eine  solche  Demokra- 
tisierung in  irgendeiner  Form  so  ziemlich  das  einzige  Hilfsmittel 
ist,  das  sie  noch  haben.  Dies,  —  oder  weitere  chronische  Unzu- 
friedenheit, von  Jahr  zu  Jahr  lauter  werdendes  Murren,  bis  zu  der 
unvermeidlichen,  in  den  meisten  Fällen  sehr  schnell  herannahenden 
Krisis,  dem  Zusammenbruch  und  dynastischen  Ruin.  Eine  Staats- 
kunst, die  so  genannt  zu  werden  verdient,  erörtert  heutzutage  nicht 
mehr,  ob  sie  haltmachen,  sich  auf  die  Vergangenheit  stützen  und 
die  Monarchie  verteidigen,  oder  ob  sie  in  die  Zukunft  blicken  und 
demokratisieren  solle,  —  sondern  nur  noch,  wie  und  in  welchem 
Grad  und  welcher  Folge  sie  am  weisesten  demokratisieren  könne. 
Und  ich  meine,  daß  sich  in  der  Alten  Welt  unter  den  Schülern  und 
Adepten  des  Fortschritts  und  allen  Männern  von  einigem  gesunden 
Verstand  Träger  einer  solchen  Staatskunst  finden  müßten. 

Die  eifrigen  und  oft  unüberlegten  Forderungen  von  Reformern 
und  Revolutionären  sind  unentbehrlich,  um  die  Trägheit  und  Ver- 
steinerung, der  ein  so  großer  Teil  der  menschlichen  Einrichtungen 
verfällt,  auszugleichen.  Diese  letzteren  werden  stets  für  sich  selber 
sorgen,  —  die  Gefahr  ist  nur,  daß  sie  geeignet  sind,  uns  sehr  rasch 
zu  verknöchern.  Jene  aber  müssen  mit  Nachsicht,  ja  mit  Achtung 
behandelt  werden.  Was  Zirkulation  für  die  Luft,  das  ist  Agitation 
und  ein  reichliches  Maß  spekulativer  Willkür  für  die  politische 
und  moralische  Gesundheit.  Indirekt,  aber  sicher  erwachsen  Güte, 
Tugend,  Gesetz  (und  zwar  das  allerbeste)  aus  der  Freiheit.  Diese 
sind  für  die  Demokratie,  was  der  Kiel  für  das  Schiff  ist,  oder  das 
Salz  für  den  Ozean. 

Der  Liberalismus  wird  in  den  Vereinigten  Staaten  seine  rechte 
Schwerkraft  durch  eine  allgemeinere  Teilnahme  am  Besitz,  an 
Wohnstätten  und  Komfort,  —  durch  eine  weite,  bindende  Veräste- 
lung des  Wohlstands  gewinnen.  Wie  der  menschliche  Körper,  und 
überhaupt  alle  Dinge  in  diesem  vielfältigen  Universum,  am  besten 
zusammengehalten  w  ird  durch  das  einfache  Wunder  seiner  eigenen 


42 


Kohäsion  und  ihrer  Nutzanwendung,  so  wird  auch  eine  große, 
mannigfache  Volksgemeinschaft,  die  sich  über  MilHonen  Quadrat- 
meilen erstreckt,  am  festesten  gehalten  und  verbunden  durch  das 
Prinzip  der  Sicherheit  und  Dauerhaftigkeit  des  Zusammenhalts  ihrer 
mittleren  Besitzstände:  so  daß,  anders  herum  gesehen,  die  Demo- 
kratie, so  hart  und  dem  zuvor  Gesagten  widersprechend  es  auch 
klingen  mag,  mit  mißtrauischen,  unzufriedenen  Augen  auf  die  ganz 
Armen,  Unwissenden  und  Erwerbslosen  blickt.  Sie  verlangt  nach 
Männern  und  Frauen,  die  einen  Beruf  haben  und  in  guten  Ver- 
hältnissen sind,  nach  Eigentümern  von  Haus  und  Grund,  mit  Geld 
auf  der  Bank,  —  und  auch  mit  einem  gewissen  Bedürfnis  nach 
Literatur;  sie  braucht  sie  und  beeilt  sich,  sie  zu  schaffen.  Zum 
Glück  ist  die  Saat  bereits  gesät  und  hat  unausrottbare  Wurzeln 
geschlagen. 

In  ein  paar  Jahren  wird  das  Herrschaftszentrum  Amerikas  tief 
im  Inland,  nach  Westen  zu,  liegen.  Unsere  Bundeshauptstadt  der 
Zukunft  wird  vielleicht  anderswo  zu  finden  sein,  wie  die  gegen- 
wärtige. Es  ist  möglich,  nein,  wahrscheinlich,  daß  sie  in  weniger 
als  fünfzig  Jahren  ein-  oder  zweitausend  Meilen  weiter  wandern  und 
neugegründet  werden  wird,  und  daß  alles,  was  zu  ihr  gehört,  nach 
einem  ganz  anderen,  ureigenen  und  viel  stolzeren  Plan  wieder 
aufgebaut  werden  wird.  Das  soziale  und  politische  Hauptrückgrat 
der  Staaten  wird  wahrscheinlich  entlang  dem  Ohio,  Missouri  und 
Mississippi  laufen  und  westlich  und  nördlich  von  ihnen,  einschließ- 
lich Kanada.  Diese  Gebiete,  samt  den  mächtigen  Bruderslaaten  nach 
dem  Pazifik  hin  (zur  Herrschaft  über  diesen  Ozean  und  seine  zahl- 
losen Inselparadiese  bestimmt),  werden  alle  Wesenszüge  Amerikas 
zusammenschließen  und  -halten,  auch  alle  von  früher  her  bewahr- 
ten, die  aber  nun,  zur  reicheren  Entfaltung,  auf  einen  neuen, 
kühneren,  rein  einheimischen  Stamm  gepfropft  sein  werden.  Ein 
ungeheures  Wachstum,  verwurzelt  in  allen,  genährt  von  allen,  in 
sich  aufnehmend  alle,  um  sie  in  Herrlichkeit  zu  verwandeln:  vom 
Norden  Verstand,  die  Sonne  aller  Dinge,  und  unbeugsamen  Gerech- 
tigkeitssinn, den  Anker  in  den  letzten,  wildesten  Stürmen;  vom 
Süden  die  lebendige  Seele,  das  Gefühl  für  gut  und  böse,  so  stolz, 
daß  es  keine  andere  Überzeugung  gelten  läßt,  als  die  seine;  und  vom 
Westen  selber  die  feste  PersönHchkeit,  warmblütig  und  nervig  und 
mit  der  tiefen  Fähigkeit  zu  alles  in  sich  aufnehmender  Verschmelzung. 


43 


Politisclie  Demokratie  in  ihrer  gegenwärtigen  Form  und  Wirkung 
in  Amerika  ist,  trotz  all  ihren  bedrohhchen  Übelständen,  eine  Schule 
zur  Züchtung  erstklassiger  Menschen.  Sie  ist  das  Gymnasion  des 
f  jcbens  in  allen  Dingen.  Trotz  Fehlschlägen  versuchen  wir  es  immer 
wieder  aufs  neue.  Wagemutige  Lust  erfüllt  diese  Arena,  so  recht 
nach  dem  Herzen  der  Vorkämpfer  für  die  Freiheit,  und  gewährt 
tiefe  Befriedigung  an  sich,  unabhängig  von  Erfolg.  Mögen  wir  vieles 
nicht  erreichen,  eines  erreichen  wir  sicherlich :  Erfahrung  im  Kampf, 
Abhärtung  vor  dem  Feind.  Wir  pulsieren  im  Strom  der  Entwick- 
lung. Die  Zeit  ist  grenzenlos.  Mögen  die  Sieger  nach  uns  kommen. 
Es  hat  sicherlich  seinen  Grund,  daß  das  Schlechte  noch  Macht  unter 
uns  hat.  Nach  den  Hauptabschnitten  der  Weltgeschichte  zu  ur- 
teilen, ist  die  Gerechtigkeit  jederzeit  in  Gefahr,  der  Friede  ist 
stündlich  von  Fallstricken  umgeben,  von  Sklaverei,  Elend,  Gemein- 
heit, Tyrannenlist  und  Leichtgläubigkeit  des  Volkes  in  irgendeiner 
ihrer  proteischen  Formen;  niemand  kann  ja  sagen,  sie  seien  über- 
wunden. Die  Wolken  zerreißen  ein  wenig,  und  die  Sonne  scheint 
hervor,  —  aber  bald  und  unausbleiblich  senkt  sich  die  Finsternis 
wieder  herab,  gleich  als  wie  für  ewig.  Aber  dennoch  lebt  in  jeder 
gesunden  Seele  ein  unsterblicher  Mut  und  eine  prophetische  Ahnung, 
die  unter  keinen  Umständen  kapitulieren  kann  und  darf.  Vivat  dem 
Angriff!  —  dem  ewigen  Sturmlauf!  —  Vivat  der  bedrängten  Sache, 
—  dem  Geist,  der  kühne  Ziele  hat,  —  dem  unermüdlichen  Streben 
inmitten  aller  Feindschaft  des  Gewohnten! 

Früher,  vor  dem  Kriege  (ach,  ich  wage  nicht  zu  sagen,  wie  oft!  i 
war  auch  ich  von  Zweifel  und  Trübsinn  erfüllt.  Ein  Ausländer, 
ein  scharfblickender,  edler  Mann,  sagte,  eigentlich  nur  meine  eigenen 
Beobachtungen  in  Worte  fassend,  sehr  eindrucksvoll  zu  mir:  „Ich 
bin  viel  in  den  Vereinigten  Staaten  gereist,  habe  ihre  Politiker  beob- 
achtet, den  Reden  der  Kandidaten  zugehört,  die  Zeitungen  gelesen, 
die  öffentlichen  Gebäude  besucht  und  den  Gesprächen  von  Männern 
gelauscht,  die  sich  unbeobachtet  glaubten.  Und  ich  habe  Ihr  ge- 
rühmtes Amerika  von  Kopf  bis  zu  Fuß  durchlöchert  gefunden  von 
Treulosigkeit,  sogar  gegen  sich  selbst  und  das  eigene  Programm. 
Ich  habe  die  frechen  Höllenfiatzen  der  Sezession  und  Sklaverei 
herausfordernd  aus  allen  Fenstern  und  Türen  grinsen  sehen.  Ich 
habe  überall  an  erster  Stelle  Diebe  und  Schalksgesindel  die  Besetzung 
der  Ämter  bestimmen  und  zuweilen  selber  die  Ämter  füllen  sehen. 


44 


Ich  iand  den  ISorclen  (jeiiaii  so  voller  Giltstolie  wie  (Jcui  Süden. 
Was  die  Inhaber  öffentlicher  Ämter,  nationaler,  staatlicher  und 
kommunaler,  angeht,  so  habe  ich  gefunden,  daß  nicht  einer  unter 
hundert  durch  freiwillige  Wahl  der  Außenseiter,  des  Volkes  gewählt 
worden  ist,  sondern,  daß  alle  durch  kleine  oder  große  Schiebungen 
der  Berufspolitiker  nominiert  und  durchgebracht  worden  sind  und 
ihre  Stellung  erhalten  haben  nicht  durch  Fähigkeit  und  Verdienst, 
sondern  durch  korrupte  Cliquen  und  Wahlmanöver.  Ich  habe  ge- 
sehen, wie  auf  diese  Weise  die  Millionen  biederer  Farmer  und 
Handwerker  nur  die  hilflosen  Gummipuppen  einer  verhältnismäßig 
kleinen  Anzahl  von  Politikern  sind ;  und  habe  mehr  und  mehr  das 
beunruhigende  Schauspiel  wahrgenommen,  daß  die  Parteien  sich 
der  Regierung  bemächtigen  und  sie  offen  und  schamlos  für  ihre 
Parteizwecke  ausbeuten. " 

Traurige,  ernste,  tiefe  Wahrheiten.  Dennoch  bestehen  andere, 
noch  tiefere,  entgegengesetzte,  beherrschende  Wahrheiten.  Über 
diese  Politiker  und  großen  und  kleinen  Cliquen  und  all  ihre 
Frechheit  und  Tücke  und  über  die  mächtigsten  Parteien  er- 
hebt sich  eine  Macht,  die,  wenn  auch  vielleicht  ein  wenig  zu 
träge,  dennoch  alle  Entscheidungen  und  Beschlüsse  in  der  Hand 
hält,  bereit,  sie  in  strengem  Verfahren  durchzuführen,  sobald  es 
wirklich  nötig  ist,  und  zuzeiten  die  mächtigsten  Parteien  summa- 
risch in  Atome  zu  zerschmettern,  vielleicht  just  in  der  Stunde  ihres 
Triumphes. 

In  zuversichtlicheren  Stunden  sehen  sich  diese  Dinge  alles  in  allem 
ganz  anders  an  als  auf  den  ersten  Blick.  Obschon  es  zweifellos 
wichtig  ist,  wer  zum  Gouverneur,  Bürgermeister  oder  Gesetzgeber 
erwählt  wird  (und  unheilvoll,  wenn  Unfähige  oder  Schurken  ge- 
wählt werden,  wie  es  zuweilen  vorkommt),  so  gibt  es  doch  andere, 
stillere,  unendlich  viel  wichtigere  Tatsachen.  Falschheit  und  der- 
gleichen wird  sich  wie  der  Schaum  des  Meeres  immer  nur  an  der 
Oberfläche  zeigen;  genug,  wenn  tiefes  und  klares  Wasser  darunter 
ist.  Genug,  daß  die  verborgene  Kette  und  Einschlag  des  Gewebes 
echt  und  ewig  dauerhaft  sind,  mag  auch  die  mit  Stickerei  über- 
ladene Pracht,  die  sich  dem  oberflächlichen  Auge  darbietet,  nur 
Schund  sein.  Genug  kurzum,  daß  die  Rasse,  das  Land,  das  eine 
solche  Rebellion  wie  die  jüngst  erlebte,  hervorbringen  konnte,  sie 
auch  niederzuschlagen  vermochte. 


Der  Durchschnittsmensch  eines  Landes  ist  letzten  Endes  das  einzig 
Wichtige.  Er  bleibt  in  diesen  Staaten  der  unsterbHche  Eigentümer 
und  Meister.  Eine  Nation  wie  die  unsrige,  die  sich  in  einer  Art 
geologischen  Werdezustands  befindet  und  beständig  neue  Experi- 
mente macht,  neue  Abordnungen  erwählt,  zieht  Nutzen  nicht  nur 
aus  den  Diensten  der  besten  Männer,  sondern  manchmal  noch  mehr 
aus  denen,  die  sie  herausfordern,  und  aus  den  Kämpfen,  die  sie  da- 
durch verursachen.  In  solchem  Sinne  ist  nationale  Wut,  Haß,  Streit 
usf.  besser  als  Zufriedenheit.  Und  in  solchem  Sinne  sind  auch  jene 
Warnungssignale  unschätzbar  für  spätere  Zeiten. 

So  taucht  immer  wieder  wie  ein  Leitmotiv  der  Gedanke  auf,  der 
diesen  Seiten  Ton  und  Echo  gibt.  W^enn  ich  im  Geist  hin  und  her 
reise  durch  verschiedene  Breiten,  verschiedene  Jahreszeiten  und  das 
Gedränge  der  großen  Städte  überschaue,  New  York,  Boston,  Phila- 
delphia, Cincinnati,  Chicago,  St.  Louis,  San  Francisko,  New  Orleans, 
Baltimore,  —  wenn  ich  untertauche  in  diese  endlosen  Schwärme 
lebhafter,  ungestümer,  gutherziger,  freiheitliebender  Bürger,  Hand- 
werker, Schreiber  und  jungen  Volks,  —  so  befällt  mich  bei  dem 
Gedanken  an  diese  Masse  so  frischer  und  freier,  so  liebender  und 
stolzer  Männer  eine  sonderbare  Ehrfurcht.  Ich  fühle  mit  Nieder- 
geschlagenheit und  Verwunderung,  daß  unter  unseren  genialen  oder 
talentierten  Schriftstellern  oder  Rednern  bisher  nur  wenige  oder 
gar  keiner  wirklich  zu  diesem  Volke  gesprochen  oder  ihm  ein  ein- 
ziges, vorbildliches  Werk  geschaffen  oder  seinen  innersten  Geist  und 
seine  eigenste  Gedankenwelt  in  sich  aufgenommen  hat,  die  infolge- 
dessen bislang  in  der  höchsten  Sphäre  noch  gar  keinen  Ausdruck, 
keine  Verherrlichung  gefunden  hat. 

Stark  ist  die  Herrschaft  des  Leibes,  stärker  die  Herrschaft  des 
Geistes.  Was  bisher  unseren  Intellekt,  unsere  Phantasie  ausgefüllt 
hat  und  sie  noch  heute  ausfüllt  und  ihre  Normen  bestimmt,  kommt 
aus  dem  Ausland.  Die  großen  Dichtungen,  Shakespeare  inbegriffen, 
sind  Gift  für  die  Idee  von  Stolz  und  W^ürde  des  gewöhnlichen 
Volkes,  die  das  Lebensblut  der  Demokratie  ist.  Die  Vorbilder 
unserer  Literatur,  wie  wir  sie  von  anderen  Ländern  über  das  Meer 
her  beziehen,  sind  an  Fürstenhöfen  geboren  und  im  Sonnenschein 
von  Schlössern  erwärmt  und  herangewachsen;  alles  riecht  nach 
Fürstengunst.  Wir  haben  zwar  eine  ganze  Menge  einer  gewissen 
Sorte  von   Handwerkern  der  Literatur,  die  sich  auf  ihre  Art 


46 


bemühen;  viele  elegant,  viele  gfelehrt,  alle  gefällig.  Aber  von  dem 
nationalen  Prüfstein  berührt  oder  an  dem  Maßstab  demokratischer 
Persönlichkeit  gemessen,  welken  sie  zu  Asche.  Ich  behaupte,  daß 
ich  keinen  einzigen  Schriftsteller,  Künstler,  Redner  oder  was  sonst 
gesehen  habe,  der  sich  mit  dem  stummen,  aber  stets  aufrechten 
und  tätigen,  alles  durchdringenden,  allem  zugrunde  liegenden 
Willen  und  typischen  Streben  des  Landes  in  wesensverwandtem 
Geiste  auseinandergesetzt  hätte.  Soll  man  diese  feinen  Kreatürchen 
amerikanische  Dichter  nennen?  Soll  man  diese  ewige  kleinliche 
Rleistertopfarbeit  als  amerikanische  Kunst,  als  das  Drama,  die  Lyrik, 
die  Ästhetik  Amerikas  bezeichnen?  Es  ist  mir,  als  hörte  ich  von 
einem  Berggipfel  im  fernen  Westen  her  das  Hohngelächter  des 
Genius  unserer  Staaten. 

Die  Demokratie  wartet  ihre  Zeit  ab  in  schweigendem  Sinnen 
über  ihr  eigenstes  Ideal,  nicht  allein  in  Literatur  und  Kunst,  — 
auch  nicht  im  Mann  aliein,  sondern  ebenso  im  Weibe:  das  Ideal- 
bild der  amerikanischen  Frau  (befreit  von  dem  Dunst,  von  der 
stockenden,  ungesunden  Luft,  die  um  das  W^ort  „Dame"  hängt), 
entwickelt,  erhoben  zur  starken,  gleichberechtigten  Mitarbeiterin 
des  Mannes,  auch  bei  praktischen  und  politischen  Entscheidungen, 
—  größer  als  der  Mann  vielleicht  durch  ihre  göttliche  Mutterschaft, 
ihr  ewig  erhabenes,  sinnbildliches  Eigen,  —  jedenfalls  aber  ebenso- 
groß wie  der  Mann,  in  jeder  Hinsicht;  oder  besser  gesagt,  fähig 
ebensogroß  zu  sein,  sobald  sie  sich  dessen  bewußt  wird  und  es  über 
sich  vermag,  allen  Tand  und  Schein  aufzugeben  und,  gleich  den 
Männern,  mitten  in  das  wirkliche,  unabhängige,  stürmische  Leben 
zu  treten. 

Glaubtest  auch  du,  o  Freund,  Demokratie  sei  nur  eine  Wahl- 
parole und  politisches  Schlagwort  und  Name  für  eine  Partei?  Als 
solche  kann  sie  nur  von  Nutzen  sein,  wenn  sie  sich  zu  ihrer  vollen 
Blüte  und  Frucht  entwickelt  in  der  gesamten  Lebenshaltung,  in 
den  höchsten  Formen  des  Umgangs  von  Menschen  miteinander 
und  ihrer  Überzeugungen,  —  in  Religion,  Literatur  und  Schule,  — 
Demokratie  im  gesamten  öffentlichen  und  privaten  Leben,  auch  in 
Heer  und  Flotte.  Ich  habe  angedeutet,  daß  sie,  als  oberster  Grund- 
satz, bisher  nur  geringe  oder  gar  keine  Verwirklichung  oder  gläu- 
bige Anhängerschaft  gefunden  hat.  Soweit  ich  sehe,  hat  sie  bis- 
her auch  keine  nennenswerte  Hilfe  durch  die  Propaganda  ihrer 


47 

t 


Vorkämpfer  (jeliabi,  die  ihr  im  Ge^jenteil  oft  nur  geschadel  haben. 
Sie  wurde  und  wird  gefördert  durch  alle  Kräfte  der  Moral  und 
durch  Handel,  Finanzwirtschaft,  Maschinen,  Verkehr  und  allen 
Fortschritt  der  Geschichte  und  kann  ebensowenig  wie  die  Gezeiten 
des  Meeres  oder  die  Erde  in  ihrem  Kreislauf  aufgehalten  werden. 
Auch  herrscht  sie  zweifellos,  noch  unenlfaltet  und  verborgen,  tief 
in  den  Herzen  des  guten  Durchschnitts  des  amerikanisch  geborenen 
Volkes,  vor  allem  in  den  ackerbauenden  Gebieten.  Aber  sie  ist 
weder  dort  noch  sonstwo  das  mit  vollem  Bewußtsein  angenommene, 
leidenschaftliche,  absolute  Glaubensbekenntnis. 

Ich  glaube  daher,  daß  die  Blütezeit  der  Demokratie  in  der  Zu- 
kunft liegt.  Gleichwie  wir,  bei  tiefer  und  umfassender  Betrachtung, 
die  reichgegliederte  Feudalwelt  als  das  in  langen  Jahrhunderten 
erreichte  Ergebnis  eines  tiefen,  ihr  innewohnenden,  menschlich- 
göttlichen Prinzips  erblicken,  oder  einer  Quelle,  aus  der  Gesetze, 
Kirche,  Umgangsformen,  Einrichtungen,  Sitten,  Persönlichkeiten 
und  (bisher  unerreichte)  Dichtungen  entsprangen,  —  so  soll  auch 
nach  langen  Jahrhunderten  dem  berufenen  rückschauenden  Histo- 
riker und  Kritiker  das  demokratische  Prinzip  ein  ebensolches  Bild 
bieten,  in  der  reichen  Fülle  seiner  Ergebnisse,  —  wenn  es  erst 
einmal  mit  unumschränkter  Macht  und  lange  Zeit  die  Menschheit 
beherrscht  hat,  —  Ursprung  und  Prüfstein  aller  moralischen, 
ästhetischen,  sozialen,  politischen  und  religiösen  Formen  und  Ein- 
richtungen gewesen  ist,  —  sie  in  Geist  und  Gestalt  erzeugt  und  zu 
ihrer  höchsten  Höhe  geführt  hat,  —  wenn  es  vielleicht  seine 
Ordensbrüder  und  Asketen  gehabt  hat,  zahlreicher  und  inbrün- 
stiger als  die  Mönche  und  Priester  aller  früheren  Glaubensbekennt- 
nisse, —  wenn  es  ganze  Zeitalter  mit  einer  klaren  Großzügigkeit 
beherrscht  hat,  die  mit  der  der  Natur  wetteifert,  und  in  seinem 
eigensten  Interesse  und  mit  unvergleichlichem  Erfolge  eine  neue 
Erde,  einen  neuen  Menschen  geschaffen  und  nach  seinem  Plan  zu 
einem  triumphierenden  Ende  geführt  hat. 

So  wagen  wir  es  also,  über  Dinge  zu  schreiben,  die  noch  nicht 
ins  Dasein  getreten  sind,  und  an  Hand  von  Landkarten  zu  reisen, 
die  noch  unbeschrieben  und  leer  sind.  Aber  die  Wehen  der  Neu- 
geburt schütteln  uns,  und  wir  haben  den  Vorteil  der  Zeiten  starker 
Neugestaltung,  Ahnung,  Ungewißheit  für  uns,  nämlich  den  Geistes- 
hauch solcher  Aufgaben,  der  uns  umweht;  und  unsere  Sprache, 


48 


heiß  von  Kampf  und  Aufruhr  ringsum,  ohne  wohlgeglätteten  Zu- 
sammenhang zwar  und  verfehlt  nach  dem  Maßstab  der  sogenann- 
ten Kritik,  bricht  dennoch  aus  uns  hervor,  so  wirklich  wie  die 
Blitze. 

Nachdem  wir  nun  so  viel  beigebracht  haben,  was  wohl  überlegt 
werden  und  helfen  soll,  unser  Gebäude,  unsere  geplante  Idee  vor- 
zubereiten und  stark  zu  machen,  gehen  wir  noch  weiter  und  geben 
dem  Bau  nach  einer  andern  Seite  hin  vielleicht  seine  Hauptfassade. 
Denn  mit  der  Demokratie,  der  Ausgleicherin,  dem  unnachgiebigen 
Prinzip  des  Durchschnitts,  ist  ohne  Zweifel  ein  anderes  Prinzip 
verbunden,  ebenso  unnachgiebig,  dem  ersten  auf  dem  Fuße  folgend, 
ihm  unentbehrlich,  entgegengesetzt  (so  wie  die  Geschlechter  ein- 
ander entgegengesetzt  sind),  ein  Prinzip,  das  dem  andern  entgegen- 
wirkt und  es  modifiziert,  und  dennoch  ohne  das  andere  niemals 
zu  seiner  höchsten  Geltung  kommen  kann  und  das  zu  unserer 
weltgroßen  Politik  und  den  aufsteigenden  tödlichen  Gefahren  der 
Republik  jenes  Gegengewicht  gibt,  mit  dem  die  Natur  die  ur- 
sprüngliche, furchtbare  Unbarmherzigkeit  aller  ihrer  obersten  Ge- 
setze mildert.  Dieses  zweite  Prinzip  ist  der  Individualismus,  die 
stolze,  zentripetale  Isoliertheit  des  menschlichen  Wesens  in  sich 
selbst,  —  Identität,  —  Persönlichkeit.  Wie  immer  man  es  nennen 
mag,  seine  innige  Verschmelzung  mit  der  gesamten  Organisation 
politischer  Gemeinschaft,  die  jetzt  wie  mit  Strahlen  der  Morgenröte 
über  alle  Welt  emporsteigt,  ist  von  höchster  Bedeutung,  wie  denn 
überhaupt  dieses  Prinzip  an  sich  eine  Lebensnotwendigkeit  ist.  Es 
stellt  gewissermaßen  das  Schwungrad  dar,  das  der  so  erfolgreich 
arbeitenden  Maschinerie  des  Gemeinlebens  Amerikas  das  Gleich- 
gewicht gibt. 

Und  wenn  wir  es  richtig  bedenken,  worauf  ruht  die  Zivilisation 
selber,  und  welchen  andern  Zweck  hat  sie  und  alle  ihre  Religionen, 
Künste,  Schulen  usw.,  als  einzig  und  allein  die  Züchtung  reicher, 
überquellender,  vielfältiger  Persönlichkeiten?  Darauf  zielt  alles  hin; 
und  weil  die  Demokratie  allein  im  gegenwärtigen  Stand  der  Ent- 
wicklung um  dieses  Zieles  willen  das  unendliche  Brachfeld  der 
Menschheit  aufpflügt  und  die  Saat  hineinpflanzt  und  ihr  freies 
Wachstum  gibt,  deshalb  allein  gehen  ihre  Ansprüche  allen  anderen 
vor.  Literatur,  Dichtung,  Ästhetik  eines  Landes  sind  hauptsächlich 
deshalb  von  Bedeutung,  weil  sie  den  Frauen  und  Männern  dieses 


4    Wbitman  I 


49 


Landes  Stoff  und  Anregung  zur  Persönlichkeitsbildung  geben,  auf 
tausenderlei  wirksame  Weise.  Gleichwie  für  eine  starke  Festigung 
der  Nationalität  unserer  Einzelstaaten  der  oberste  Grundsatz  gilt, 
daß  nur  ein  so  machtvoller  Zusammenschluß  ihnen  den  vollen, 
freien  Spielraum  innerhalb  ihrer  eigenen  Sphäre  gewährleisten 
kann,  so  wird  auch  der  Individualismus  in  ungehemmter  Verzwei- 
gung am  reichsten  blühen  unter  gebieterisch  republikanischen  For- 
men. Das  Wort  Demokratie  ist  oft  gedruckt  worden.  Aber  ich  kann 
nicht  oft  genug  wiederholen,  daß  sein  Wesenskern  noch  unerweckt 
schlummert,  ungeachtet  des  Widerhalls  und  der  vielen  wütenden 
Stürme,  unter  denen  seine  Silben  von  Feder  oder  Zunge  gebraucht 
wurden.  Es  ist  ein  großes  Wort,  dessen  Geschichte  meines  Er- 
achtens noch  ungeschrieben  ist,  weil  sie  noch  nicht  Ereignis  ge- 
worden ist.  Es  ist  in  gewissem  Sinne  der  jüngere  Bruder  eines 
anderen  oft  gebrauchten  Wortes,  Natur,  dessen  Geschichte  ebenfalls 
noch  seines  Schreibers  wartet.  Nach  meiner  Beobachtung  ist  die 
Tendenz  unserer  Zeit  in  den  Staaten  auf  jene  weitumfassenden 
Bewegungen  und  Einflüsse  der  Menschheitsidee  gerichtet,  moralische 
wie  physische,  die  jetzt  und  immer  über  den  Planeten  laufen  mit 
der  Triebkraft  von  Elementen.  Daher  ist  es  gut,  die  ganze  Frage 
auf  die  Betrachtung  des  einzelnen  Ich  eines  Mannes  oder  Weibes 
und  somit  auf  ihre  ewige  Grundlage  zurückzuführen.  Selbst  bei 
der  Betrachtung  des  Universellen,  in  Politik,  Metaphysik  und  allem 
andern,  kommen  wir  früher  oder  später  auf  die  einzelne,  einsame 
Seele  zurück. 

In  unsern  besten  Stunden  steigt  ein  Bewußtsein,  ein  Gedanke  in 
uns  auf,  unabhängig,  hoch  über  allem  andern,  gelassen  wie  die 
Sterne,  in  ewigem  Glanz.  Das  ist  der  Gedanke  der  Identität  —  der 
deinigen  für  dich,  wer  du  auch  seist,  wie  der  meinigen  für  mich. 
Wunder  der  Wunder,  über  allen  Ausdruck  erhaben,  geistigster  und 
duftigster  aller  Erdenträume,  und  doch  die  festeste  Grundtatsache 
und  der  einzige  Zugang  zu  allem  Geschehen.  In  solchen  andäch- 
tigen Stunden,  inmitten  der  bedeutsamen  Wunder  von  Himmel 
und  Erde  (bedeutsam  nur  wegen  meines  Ich  im  Mittelpunkt),  fallen 
alle  Glaubensbekenntnisse  und  Konventionen  ab  und  werden  be- 
langlos vor  dieser  einfachen  Idee.  In  der  Erleuchtung  wirklichen 
Schauens  nimmt  sie  allein  Besitz  von  uns  und  hat  allein  Wert  für 
uns.  Wie  der  schattenhafte  Zwerg  im  Märchen  dehnt  sie  sich, 


5o 


einmal  entfesselt  und  erkannt,  über  die  ganze  Erde  aus  und  reicht 
bis  ans  Dach  des  Himmels. 

Die  Eigenschaft  des  „Seins"  im  eigenen  Selbst,  entsprechend 
seiner  eigenen  zentralen  Idee  und  Bestimmung,  und  wie  wir  aus 
ihr  und  für  sie  wachsen  mögen,  ohne  jede  Kritik  nach  andern 
Maßstäben  und  jede  Anpassung  an  sie,  —  das  lehrt  uns  die  Natur. 
Gewiß,  der  vollentwickelte  Mensch  sammelt,  sucht,  absorbiert 
weislich;  wer  sich  aber  unverhältnismäßig  viel  damit  abgibt  und 
die  kostbare  Idiokrasie,  die  Urbestimmung,  zu  der  er  geboren  ist, 
nämlich  das  eigene  Ich,  die  Hauptsache,  übersieht  oder  unterdrückt, 
hat  seine  Bestimmung  verfehlt,  so  umfassend  auch  seine  Allgemein- 
bildung sein  mag.  So  bemüht  man  sich  heute  um  Bildung  und 
Verfeinerung  nicht  nur  vollauf  zur  Genüge,  sondern  diese  drohen 
uns  aufzufressen  wie  ein  Krebsgeschwür.  Schon  beobachtet  der 
demokratische  Genius  diese  Tendenz  mit  Mißfallen.  Ein  bißchen 
gesunde  Roheit,  wilde  Tüchtigkeit,  Bewährung  dessen,  was  man 
im  eigenen  Ich  hat,  sei  es  was  es  wolle:  das  tut  uns  not.  Negative 
Eigenschaften,  sogar  Mängel,  wären  eine  Erleichterung.  Verein- 
zelung, normale  Einfachheit  und  Unabhängigkeit  inmitten  dieses 
mehr  und  mehr  komplizierten,  mehr  und  mehr  verkünstelten  Zu- 
standes  der  Gesellschaft,  —  wie  sehnen  wir  uns  in  Gedanken  danach! 
wie  wäre  uns  ihre  Wiederkehr  willkommen! 

Amerika  hat  moralisch  und  künstlerisch  noch  nichts  Eigenes 
zustande  gebracht.  Es  scheint  sich  seltsamerweise  dessen  nicht  be- 
wußt zu  sein,  daß  die  Vorbilder  von  Persönlichkeiten,  Büchern, 
Lebensformen  usw.,  die  früheren  Verhältnissen  und  europäischen 
Ländern  naturgemäß  waren,  hier  nur  Fremdlinge  im  Exil  sind. 
Reine  einzige  Strömung  seines  Lebens,  soweit  sie  sich  an  der  Ober- 
fläche seiner  sogenannten  Gesellschaft  zeigt,  nimmt,  sozial  oder 
ästhetisch,  den  demokratischen  Gedanken  in  sich  auf  oder  mündet 
in  ihn;  vielmehr  laufen  alle  Strömungen  ihm  geradenwegs  zuwider. 
Niemals  war  in  der  Alten  Welt  sorgfältig  aufgepolsterter  äußerer 
Schein,  in  geistiger  und  anderer  Hinsicht  (lediglich  beruhend  auf 
der  Idee  der  Kaste  und  der  Hinlänglichkeit  von  rein  äußerlich  Er- 
worbenem), —  niemals  war  Zungenfertigkeit  und  bloßer  Wort- 
intellekt in  höherem  Grade  der  Prüfstein  alles  Strebens  und  das 
höchste  Ziel  und  Beispiel  als  an  der  Oberfläche  unserer  republi- 
kanischen Staaten  von  heute.  Die  Schriftsteller  jeder  Epoche  nennen 


4* 


5i 


das  Motto  ihrer  Götter.  Das  Wort  der  Moderne,  sagen  diese  Stim- 
men, ist  das  Wort  Kultur. 

Hier  stehen  wir  plötzlich  dicht  an  feindlichem  Gebiet.  Dieses 
Wort  Kultur  oder  der  Sinn,  den  es  angenommen  hat,  enthält  als 
Gegensatz  unser  ganzes  Thema  und  ist  in  der  Tat  der  Ansporn 
gewesen,  der  mich  zum  Angriff  getrieben  hat.  Bestimmte  Fragen 
erheben  sich.  Erzeugen  nicht  die  Fortschritte  der  Kultur,  nach 
allem,  was  wir  jetzt  nachgewiesen  und  ausgeführt  haben,  in  kürzester 
Zeit  eine  Klasse  von  oberflächlichen  Zweiflern,  die  an  nichts  mehr 
glauben?  Soll  ein  Mensch  sich  selber  in  hundertfältiger  Anpassung 
verlieren  und  aus  Rücksicht  auf  dies  und  das  und  jenes  so  umge- 
modelt werden,  daß  alles  Einfach-Gute,  Gesunde  und  Starke  an 
ihm  verdrängt  und  beschnitten  wird  wie  Buchsbaumhecken  in 
einem  Garten?  Man  kann  Getreide  und  Rosen  und  Obstbäume 
kultivieren,  —  aber  wer  will  die  Berggipfel,  das  Meer  und  die  ge- 
ballte Pracht  der  Wolken  kultivieren?  Und  endlich:  ist  die  schnell 
bereite  Antwort,  daß  Kultur  nur  helfen,  ordnen  und  die  Elemente 
von  Fruchtbarkeit  und  Kraft  gehörig  verteilen  will,  eine  gültige 
Antwort? 

Ich  habe  nichts  gegen  den  Namen  oder  das  Wort,  aber  ich  würde 
unbedingt,  um  des  Endzwecks  dieser  Staaten  willen,  auf  einem 
radikalen  Wechsel  der  Klasse  bei  der  Verteilung  des  Erbes  der 
Vergangenheit  bestehen.  Ich  würde  ein  Kulturprogramm  fordern, 
das  nicht  für  eine  einzelne  Klasse  oder  für  die  Salons  und  Hörsäle 
entworfen  wäre,  sondern  mit  Verständnis  für  das  praktische  Leben, 
für  den  Westen,  für  das  arbeitende  Volk,  für  Farmer,  Handwerker 
und  Ingenieure  und  für  die  breite  Masse  der  Frauen  auch  aus  den 
mittleren  und  arbeitenden  Schichten  und  mit  Rücksicht  auf  die 
völlige  Gleichheit  der  Frauen  und  der  erhabenen,  mächtigen  Mutter- 
schaft. Ich  würde  von  diesem  Programm  oder  dieser  Theorie  einen 
Gesichtskreis  fordern,  weitherzig  genug,  um  das  ganze  Areal  der 
Menschheit  zu  umfassen.  Sein  Hauptziel  muß  die  Bildung  eines 
typischen  Persönlichkeitscharakters  sein,  der  für  den  guten  Durch- 
schnitt der  Menschen  erreichbar  und  nicht  durch  Bedingungen 
beschränkt  ist,  die  ihn  für  die  Massen  unerreichbar  machen.  Die 
beste  Kultur  wird  immer  die  der  männlichen,  tapferen  Instinkte, 
liebender  Aufnahmefähigkeit  und  Selbstachtung  sein,  bestrebt,  über  ^ 
diesen  ganzen  Kontinent  hin  eine  universelle  Idiokrasie  zu  schaffen. 


52 


die  als  echtes  Kind  Amerikas  zur  Freude  seiner  Mutter  in  ihrem 
eigenen  Geist  zu  ihr  zurückkehren  und  ihr  Myriaden  von  Nach- 
kommen bringen  wird,  tüchtig,  natürlich,  aufnahmefähig,  duld- 
sam, voll  frommen  Glaubens  an  sie,  die  Mutter  Amerika,  und  klar 
bewußt,  warum  und  wofür  sie,  die  umfassendste,  gewaltigste  Neu- 
schöpfung der  Geschichte,  erstanden  ist  und,  jetzt  und  hier,  mit 
herrlichem  Schritt  durch  die  Zeit  schreitet  .  .  . 

Wenn  wir  es,  obwohl  nur  in  rohen  Umrissen,  versuchen  wollen, 
ein  grundlegendes  Vorbild  oder  Porträt  wahrer  Persönlichkeit  zum 
allgemeinen  Gebrauch  für  die  Mannheit  der  Vereinigten  Staaten 
zu  entwerfen  (und  zweifellos  wird  dasjenige  am  nützlichsten  sein, 
das  am  einfachsten  und  für  alle  verständlich  und  nicht  zu  hoch 
gegriffen  ist),  so  sollten  wir  zuvor  die  Leinwand  gut  vorbereiten. 
Die  Abstammung  müßte  zuerst  in  Betracht  gezogen  werden.  (Wird 
wohl  die  Zeit  bald  kommen,  wo  Vater-  und  Mutterschaft  eine 
W^issenschaft,  und  zwar  die  vornehmste  Wissenschaft,  sein  wird?) 
Für  unser  Vorbild  ist  eine  reinblütige,  kraftvolle  physische  Grund- 
lage unerläßlich;  die  Fragen  des  Essens  und  Trinkens,  der  Luft, 
der  körperlichen  Übung,  der  Anpassungsfähigkeit  und  Verdauung 
dürfen  nie  außer  acht  gelassen  werden.  Aus  diesen  Vorbedingungen 
heraus  denken  wir  uns  eine  wohlgeschaffene  Selbstheit,  —  in  der 
Jugend  frisch,  feurig,  gefühlsstark,  hochstrebend,  voll  Abenteuer- 
lust; in  der  Reife  tapfer,  urteilsfähig,  selbstbeherrscht,  weder  allzu 
redselig  noch  allzu  verschlossen,  weder  vorlaut  noch  verdrossen; 
in  ihrer  körperlichen  Erscheinung  von  anmutigen  Bewegungen,  die 
Gesichtsfarbe  von  reinstem  Blut  belebt,  leicht  durchglüht,  die  Brust 
breit,  die  Haltung  aufrecht,  eine  Stimme,  deren  Klang  wohllauten- 
der ist  als  Musik,  ruhig  und  fest  blickende  Augen,  die  aber  auch 
fähig  sind.  Blitze  zu  schleudern,  —  ein  Auftreten  alles  in  allem, 
das  auch  in  Gesellschaft  der  Höchsten  seine  Eigenart  zu  bewahren 
weiß.  (Denn  angeborene  Persönlichkeit  allein  befähigt  einen  Mann, 
auch  vor  Präsidenten  und  Generalen  oder  in  sonst  welchem  her- 
vorragenden Kreis  mit  Gelassenheit  zu  stehen,  —  und  nicht  die 
„Kultur"  oder  irgendwelche  Bildung  oder  irgendwelches  Wissen.) 

Was  die  geistige  Erziehung  unseres  Vorbildes  angeht,  die  Ent- 
wicklung seines  Intellekts,  die  Bereicherung  seines  rein  verstandes- 
mäßigen Wissens  usw.,  so  sind  alle  Bemühungen  unserer  Zeit,  be- 
sonders in  Amerika,  so  sehr  darauf  gerichtet  und  tun  sich  so  viel 


53 


zugute  darauf,  für  diesen  Teil  der  Erziehung  ausgiebig  zu  sorgen, 
daß  wir,  so  wichtig  und  nötig  er  auch  ist,  unsererseits  nichts  dazu 
zu  bemerken  brauchen,  —  außer  vielleicht  ein  Wort  der  Warnung 
und  Einschränkung.  Auch  bei  den  Umgangsformen  und  Sitten 
brauchen  wir  uns  hier  nicht  aufzuhalten.  Sie  sind,  ebenso  wie 
Schönheit,  Anmut  usf.,  lediglich  Folgeerscheinungen.  Wenn  die 
Ursachen,  die  wesentlichen  Dinge  beachtet  werden,  so  folgen  die 
rechten  Umgangsformen  unfehlbar  nach.  Viel  ist  unter  Künstlern 
geredet  worden  von  dem  „hohen  Stil",  als  ob  er  ein  Ding  für  sich 
wäre.  Wenn  ein  Mann,  ein  Künstler  oder  sonst  jemand,  Gesund- 
heit, Stolz,  scharfe  Sinne  und  ein  edles  Streben  hat,  so  hat  er  die 
Grundelemente  des  höchsten  Stils.  Alles  übrige  ist  nur  eine  Frage 
der  Anwendung  (freilich  auch  nichts  Geringes).  Ich  übergehe  eine 
ganze  Reihe  wesentlicher  Züge,  die  ein  Vorbild  der  amerikanischen 
Zukunftspersönlichkeit  haben  muß,  und  muß  nur,  wieder  und 
immer  wieder,  einen  erwähnen,  der  vielleicht  im  modernen  Leben 
am  wenigsten  beachtet  wird,  —  einen  Mangel,  der  vielleicht  die 
düstersten  Folgen  für  unsere  Nachkommen  haben  wird.  Ich  meine 
das  einfache,  unverfälschte  Gewissen,  das  Urelement  aller  Moral. 
Würde  ich  gefragt,  wo  nach  meiner  Ansicht  der  Grund  zu  der 
schwärzesten  Befürchtung  für  das  Amerika,  das  wir  erhoffen,  liege, 
so  müßte  ich  auf  diesen  besonderen  Punkt  hinweisen.  Ich  müßte 
die  unwandelbare  Anwendung  dieser  alten,  ewig- wahren  Grund- 
regel aller  Menschen,  Zeiten  und  Völker  auf  den  Individualismus 
fordern,  heute  und  immerdar.  Unsere  triumphierende  moderne 
Zivilisation  mit  all  ihrer  Erziehungskunst  und  all  ihren  wunder- 
vollen Vorrichtungen  wird  sich  dennoch  als  bloßes  Stückwerk  er- 
weisen, wenn  dieser  Mangel  bestehen  bleibt.  Schon  jetzt  ist  (um 
einen  etwas  hoffnungsvolleren  Ton  anzuschlagen)  von  der  Welt 
des  amerikanischen  Westens  zu  sagen,  daß  einzig  und  allein  ihre 
alles  durchdringende  Religiosität  das  Rückgrat  einer  männlichen 
oder  weiblichen  Persönlichkeitsbildung  sein  kann  und  hoffentlich 
auch  sein  wird. 

Es  ist  zweifellos  eine  der  Hauptaufgaben  des  Individualismus, 
wahre  Religion  zur  Reife  zu  bringen;  eine  Aufgabe,  zu  der  keine 
Organisation  oder  Kirche  imstande  ist.  Gleichwie  die  Geschichte 
nur  zu  einem  kümmerlichen  Teil  in  dem,  was  die  Fachleute  Ge- 
schichte nennen,  enthalten  ist  und  sich  nicht  aus  ihren  Büchern 

54 


offenbart,  außer  wenn  der  Leser  in  sich  selbst  den  Sinn  für  die 
eigentliche,  noch  nie  geschriebene  und  vielleicht  nie  zu  schreibende 
Geschichte  hat,  —  so  ist  auch  die  Religion  nur  in  einer  gewissen 
zufälligen  Form  in  den  Kirchen  und  Glaubensbekenntnissen  ent- 
halten und  festgelegt  und  in  Wahrheit  ganz  unabhängig  von  ihnen; 
vielmehr  ist  sie  ein  Teil  der  ihres  Seins  bewußten  Seele,  die  auf 
ihrer  höchsten  Stufe  keine  Bibeln  im  alten  Sinn,  sondern  in  einem 
neuen  Sinn  kennt,  —  der  ihres  Seins  bewußten  Seele,  die  erst  dann 
wahrer  Religion  gegenüberzutreten  vermag,  wenn  sie  sich  gänzlich 
von  allem  Kirchenglauben  befreit  hat. 

Individualismus  schließt  das  ein  und  fördert  es.  Ich  möchte  in 
der  Tat  behaupten,  daß  einzig  in  der  vollkommenen,  unbefleckten 
Einsamkeit  der  Individualität  die  eigentliche  Geistigkeit  der  Religion 
wirklich  in  Erscheinung  zu  treten  vermag.  Nur  in  ihr  ist  tiefe 
Betrachtung,  andächtige  Ekstase  und  Aufschwung  der  Seele  mög- 
lich; nur  in  ihr  eine  wahre  Kommunion  mit  den  Mysterien,  den 
ewigen  Rätseln  des  Woher?  und  Wohin?  Aus  einsamer,  andäch- 
tiger Versenkung  in  das  Gefühl  der  Identität  schwingt  sich  die 
Seele  empor,  und  alle  Satzungen,  Kirchen,  Predigten  verwehen  wie 
Dunst.  In  einsamen,  schweigenden  Gedanken  der  Ehrfurcht  und 
Sehnsucht  läßt  das  innere  Bewußtsein  seine  wunderbaren  Linien, 
gleichwie  eine  bisher  unsichtbare  Schrift  in  magischer  Tinte,  auf- 
leuchten für  den  Geist.  Bibeln  mögen  Überlieferung  bringen  und 
Priester  mögen  sie  auslegen,  aber  einzig  und  allein  dem  lautlosen 
Wirken  des  einsamen  Ich  ist  es  vergönnt,  in  den  reinen  Äther  der 
Anbetung  einzugehen,  die  Höhe  Gottes  zu  erreichen  und  mit  dem 
Unaussprechlichen  Zwiesprache  zu  pflegen.  — 

Eine  wichtige  Seite  des  amerikanischen  Individualismus  ist  die 
Beteiligung  an  der  Politik.  Jedem  jungen  Mann  in  Nord  und  Süd, 
der  sich  ernstlich  in  diese  Fragen  vertieft,  möchte  ich  hier,  als 
ein  Gegengewicht  zu  meinen  früheren  Äußerungen,  sagen,  daß, 
von  einem  höchsten  Standpunkt  aus  betrachtet,  letzten  Endes  das 
politische  (vielleicht  auch  das  literarische  und  soziale)  Amerika  in 
seiner  Entwicklung  am  besten  seine  eigenen  Wege  geht,  so  bedenk- 
lich sie  auch  einer  bloß  zeitlichen  Beurteilung  erscheinen  mögen. 
Es  ist  jetzt  bei  Dilettanten  und  Gecken  Mode  (und  vielleicht  bin  ich 
selbst  nicht  frei  von  Schuld),  die  gesamte  Form,  die  die  aktive 
Politik  Amerikas  angenommen  hat,  als  hoffnungslos  zu  verrufen 


55 


und  als  etwas,  wovon  man  sich  sorgfältig  fernhalten  müsse.  Sieh 
zu,  daß  nicht  auch  du  diesem  Irrtum  verfällst.  Vielleicht  ist  Amerika 
doch  alles  in  allem  auf  dem  rechten  Wege,  trotz  all  dieser  Possen 
seiner  Parteien  und  Parteiführer,  diesen  schwachköpfigen  Nomi- 
nierten, diesem  unwissenden  Stimmvieh  und  all  den  untauglichen 
Gewählten.  Die  Dilettanten  und  alle,  die  sich  vor  ihrer  Pflicht 
drücken,  sind  nicht  auf  dem  rechten  Wege.  Ich  rate  dir,  dich  im 
Gegenteil  noch  viel  lebhafter  an  der  Politik  zu  beteiligen.  Jedem 
jungen  Manne  rate  ich  das.  Informiere  dich  immer  selbst;  tue 
immer  dein  möglichstes;  übe  immer  dein  Wahlrecht  aus.  Mache 
dich  los  von  Parteien.  Sie  waren  von  Nutzen  und  sind  es  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  heut  noch;  aber  die  freie  Masse  der  unbe- 
einflußten Wähler:  Farmer,  Schreiber,  Mechaniker,  die  über  den 
Parteien  stehen,  alles  überschauen  und  den  Ausschlag  geben,  ob 
der  Sieg  sich  auf  die  oder  jene  Seite  neigen  soll,  —  das  sind  die 
Männer,  die  die  Gegenwart  und  die  Zukunft  am  nötigsten  braucht. 
Was  Amerika  angeht,  so  kann  es,  falls  überhaupt  die  Möglichkeit 
eines  Niedergangs  und  Ruins  besteht,  nur  von  innen  her  bedroht 
werden,  nicht  von  außen;  denn  es  ist  mir  klar,  daß  auch  das  ver- 
einte Ausland  es  nicht  niederzwingen  könnte.  Aber  diese  wilden, 
wölfischen  Parteien  beunruhigen  mich.  Sie  kennen  kein  anderes 
Gesetz  als  ihren  eigenen  Willen  und  werden  immer  streitsüchtiger 
und  immer  unduldsamer  gegen  den  Gedanken  der  Gemeinschaft 
und  Brüderlichkeit  aller  und  der  vollkommenen  Gleichheit  unserer 
Staaten,  diesen  Gedanken,  der  ganz  Amerika  ewig  überwölbt.  Daher 
darfst  du  dich  nicht  unbedingt  einer  Partei  verschreiben  und  dich 
nicht  blindlings  ihren  Diktatoren  unterwerfen,  sondern  mußt  un- 
beirrt selber  Richter  und  Herr  über  sie  bleiben. 

So  viel  (in  Eile,  das  meiste  bleibt  noch  ungesagt)  über  ein  Ideal- 
bild, oder  Andeutungen  für  ein  Idealbild  amerikanischer  Männlich- 
keit. Aber  auch  das  andere  Geschlecht  bedarf  in  unserem  Lande 
zum  mindesten  einiger  grundsätzlicher  Winke. 

Ich  habe  ein  junges  amerikanisches  Mädchen  gesehen,  eine  von 
den  vielen  Töchtern  einer  Familie,  die  vor  mehreren  Jahren  aus 
ihrem  ärmlichen  Landheim  in  eine  der  Städte  des  Nordens  aus- 
wanderte, um  sich  ihren  Lebensunterhalt  zu  verdienen.  Sie  wurde 
bald  eine  tüchtige  Näherin,  aber  da  sie  diesen  Beruf  zu  ungesund 
und  wenig  einträglich  fand,  begann  sie  mutig,  in  fremdem  Dienst 


56 


zu  arbeiten,  als  Wirtschafterin,  Köchin,  Haushäherin  usw.  Nach- 
dem sie  es  in  mehreren  Stellungen  versucht  hatte,  erhielt  sie  schließ- 
lich eine,  die  ihr  zusagte.  Sie  sagte  mir,  daß  sie  nichts  Erniedrigendes 
in  dieser  Stellung  findet;  sie  sei  nicht  unvereinbar  mit  persönlicher 
Würde,  Selbstachtung  und  der  Achtung  der  anderen.  Sie  leistet 
etwas  und  empfängt  daher  Gegenleistungen.  Sie  ist  gesund;  ihre 
bloße  Gegenwart  ist  stärkend  und  gesund;  ihr  Charakter  ist  makel- 
los; sie  hat  sich  durchgesetzt  und  bewahrt  ihre  Unabhängigkeit 
und  konnte  ihren  Eltern  helfen  und  für  Erziehung  und  Anstellung 
ihrer  Schwestern  sorgen.  Ihr  Leben  bietet  ihr  auch  Möglichkeiten 
zu  geistiger  Fortbildung  und  zu  viel  ruhigem,  einfachem  Glück 
und  Liebe. 

Ich  habe  eine  andere  Frau  gesehen,  die,  aus  Neigung  und  Not 
zugleich,  in  das  praktische  Leben  eingetreten  ist  und  ein  Mecha- 
nikergeschäft betreibt.  Sie  arbeitet  teilweise  selbst  darin  und  gerät 
immer  mehr  und  mehr  in  das  wirkliche,  harte  Leben.  Sie  läßt  sich 
nicht  zurückschrecken  durch  die  Rauheit  seiner  Berührung,  ver- 
steht es,  zugleich  standhaft  und  schweigsam  zu  sein,  wahrt  ihre 
Stellung  mit  unveränderlichem  Gleichmut  und  Anstand  und  kann 
es  jederzeit  aufnehmen  mit  den  tüchtigsten  Zimmerleuten,  Farmern, 
ja  selbst  Schiffern  und  Rutschern.  Bei  alledem  hat  sie  den  Zauber 
der  weiblichen  Natur  nicht  verloren,  sondern  bewahrt  und  übt  ihn 
ungeschmälert  auch  unter  so  rauhen  Verhältnissen. 

Dann  ist  da  die  Frau  eines  Mechanikers,  Mutter  zweier  Kinder, 
eine  Frau  von  nur  mittelmäßiger  englischer  Erziehung,  aber  voll 
feinen  Verstandes,  mit  all  der  Anmut  und  Feinfühligkeit  ihres 
Geschlechts;  in  der  Tat  eine  so  edle  weibliche  Persönlichkeit,  daß 
ich  glücklich  bin,  sie  hier  erwähnen  zu  können.  Niemals  ihre  eigene 
Unabhängigkeit  verleugnend,  sondern  sie  immer  heiter  bewahrend 
samt  allem,  was  dazu  gehört,  —  Kochen,  Waschen,  Kinderpflegen, 
Haushalten,  —  strahlt  sie  Sonnenschein  aus  auf  all  diese  Pflichten 
und  verklärt  sie.  Körperlich  frisch  und  gesund,  arbeitsliebend, 
praktisch,  weiß  sie  doch,  daß  es  ab  und  zu  auch  Ruhepausen  geben 
muß,  die  der  Erholung,  der  Musik,  der  Muße  und  Gastlichkeit 
gewidmet  sind,  und  sorgt  für  solche  Ruhepausen.  Was  sie  auch 
tut  und  wo  sie  auch  ist,  ist  dieser  Zauber,  dieser  unbeschreibliche 
Duft  echter  Weiblichkeit  um  sie  her,  begleitet  sie  und  strömt  von 
ihr  aus,  der  von  Rechts  wegen  dem  ganzen  weiblichen  Geschlecht 


57 


zu  eigen  ist  und  der  die  unveränderliche  Atmosphäre  und  gemein- 
same Aureole  aller  alten  und  jungen  Frauen  ist  oder  sein  sollte. 

Meine  liebe  Mutter  beschrieb  mir  einmal  eine  wundervolle  Person, 
drüben  in  Long  Island,  die  sie  in  ihrer  Jugend  kannte.  Sie  war 
bekannt  unter  dem  Namen  der  „Friedensstifterin".  Sie  war  gut 
etwa  achtzig  Jahre  alt,  von  glücklicher,  sonniger  Gemütsart,  hatte 
immer  auf  einer  Farm  gelebt  und  war  eine  vortreffliche  Nachbarin, 
verständig  und  verschwiegen,  bei  allen  immer  gleich  willkommen 
und  beliebt,  besonders  bei  Jungverheirateten  Frauen.  Sie  hatte 
zahlreiche  Kinder  und  Enkelkinder.  Sie  war  ungebildet,  besaß  aber 
eine  angeborene  Würde.  Sie  war  im  ganzen  Lande  die  stillschweigend 
anerkannte  häusliche  Ordnungstifterin ,  Richterin,  Helferin,  Hirtin 
und  Versöhnerin  geworden.  Sie  war  eine  Erscheinung,  die  alle 
Blicke  anzog,  mit  ihrer  großen  Gestalt,  ihrem  vollen,  schneeweißen 
Haar  (das  nie  von  einer  Kopfbedeckung  verhüllt  war),  ihren  dunklen 
Augen,  ihrer  reinen  Gesichtsfarbe,  ihrem  frischen  Atem  und  be- 
sonderem persönlichen  Magnetismus. 

Ich  gebe  zu,  daß  diese  Frauenbilder  unendlich  verschieden  sind 
von  jenen  importierten  Modellen  weiblicher  Persönlichkeit,  —  den 
üblichen  Frauencharakteren  der  gangbaren  Romanschreiber  oder 
der  höfischen  Dichtungen  des  Auslands  mit  all  ihren  Ophelias, 
Prinzessinnen  und  Ladys,  die  die  neidischen  Träume  so  mancher 
armen  Mädchen  erfüllen  und  auch  von  unsern  Männern  als  höchste 
begehrenswerte  Ideale  weiblicher  Vortrefflichkeit  hingenommen 
werden.  Aber  ich  biete  die  meinigen  einmal  zur  Abwechslung  an. 

Es  machen  sich  überdies  Anzeichen  von  etwas  noch  Revolutio- 
närerem bemerkbar  (wir  wollen  uns  jetzt  nicht  dabei  aufhalten, 
sie  zu  berücksichtigen,  aber  sie  müssen  berücksichtigt  werden). 
Der  Tag  ist  im  Anzug,  wo  die  tiefe  Frage  des  Eintritts  der  Frauen 
in  die  Arena  des  praktischen  Lebens,  der  Politik,  des  Wahlrechts  usw. 
nicht  nur  rings  um  uns  her  erörtert,  sondern  vielleicht  zur  Ent- 
scheidung gebracht  und  praktisch  erprobt  werden  wird. 

Natürlich  müssen  wir  in  den  Vereinigten  Staaten,  hinsichtlich 
der  Männer  sowohl  wie  der  Frauen,  die  Typen  höchster  Persönlich- 
keit gänzlich  umformen,  die  uns  die  östliche,  feudale,  ekklesiastische 
Welt  vermacht  hat  und  die  noch  heute  malerisch  und  melodrama- 
tisch die  Einbildungskraft  und  den  Geschmack  der  Vereinigten  Staaten 
beherrschen  und  die  zwar  für  Studienzwecke  von  Nutzen  sind,  aber  im 


58 


Leben  eine  traurige  Wirkung  ausüben  und  einen  wunderlichen  Ana- 
chronismus zu  den  Erscheinungen  und  Bedürfnissen  um  uns  her 
bilden.  Die  alten,  unsterblichen  Elemente  bleiben  natürlich  bestehen. 
Die  Aufgabe  ist,  sie  den  neuen  Bedingungen  unserer  Tage  erfolgreich 
anzupassen.  Das  ist  auch  nicht  etwas  so  Unglaubliches.  Ich  kann 
mir  ein  Gemeinwesen  denken,  heute  und  hier,  wo,  auf  ausreichender 
Grundlage,  die  vollkommenen  Persönlichkeiten  ohne  großes  Auf- 
heben sich  zusammenfinden;  sagen  wir,  in  irgendeiner  hübschen 
Ansiedlung  oder  Stadt  des  Westens,  wo  ein  paar  hundert  der 
besten  Männer  und  Frauen,  aus  allen  möglichen  gewöhnlichen 
Stellungen,  durch  günstige  Umstände  vereint  worden  sind,  Menschen 
ohne  irgend  welches  besondere  Genie  oder  besonderen  Reichtum, 
aber  tüchtig,  keusch,  fleißig,  fröhlich,  entschlossen,  kameradschaft- 
lich und  ehrfürchtig.  Ich  kann  mir  ein  solches  Gemeinwesen  regel- 
recht organisiert  denken,  mit  rechtmäßig  eingesetzter  Obrigkeit, 
und  so,  daß  für  Landbau,  Häuserbau,  Handel,  Gerichtswesen,  Post, 
Schulen  und  Wahlen  gesorgt  ist,  und  alles  sonstige  Leben,  die 
Hauptsache,  sich  in  jedem  Individuum  frei  entfaltet  und  Blüten 
treibt  und  goldene  Früchte  trägt.  Ich  kann  mir  so,  in  jedem  jungen 
und  alten  Mann  nach  seiner  Eigenart  und  in  jedem  Weibe  nach 
seiner  Art,  eine  wahre  Persönlichkeit  denken,  vollentfaltet  und 
gleichmäßig  entwickelt  an  Körper,  Verstand  und  Geist.  Ich  kann 
mir  eine  solche  Möglichkeit  denken,  nicht  nur  als  eine  Ausnahme 
oder  als  etwas  besonders  Schwieriges,  sondern  in  heiterem  Einklang 
mit  den  städtischen  und  allgemeinen  Bedürfnissen  unserer  Zeit. 
Und  ich  kann  sie  mir  vorstellen  als  höchste  Entfaltung  von  etwas, 
was  besser  ist  als  aller  herkömmliche  Glanz  der  Geschichte  und 
Dichtung.  Vielleicht  existiert  —  unbesungen,  in  keinem  Drama 
verherrlicht,  unerwähnt  in  Essays  oder  Biographien  —  vielleicht 
existiert  sogar  bereits  ein  solches  Gemeinwesen,  in  Ohio,  Illinois, 
Missouri  oder  sonstwo,  in  praktischer  Erfüllung  und  übertrifft  so 
bereits,  im  gewöhnlichsten  einfachen  Leben,  alles,  was  je  bisher  in 
den  schönsten  Idealbildern  ausgemalt  wurde. 

Um  kurz  zusammenzufassen:  Will  Amerika  sich  daran  machen, 
formgebend  zu  wirken  (und  es  ist  hohe  Zeit,  von  bloßen  windigen 
Versprechen  zu  soliderer  Leistung  überzugehen),  so  muß  es, 
um  seine  Zwecke  zu  erreichen,  zunächst  einmal  aufhören,  eine 
Auffassung  von  Charakter  anzuerkennen,  die  aus  den  feudalen 


^9 


Aristokratien  erwachsen  oder  lediglich  durch  literarische  Maßstäbe 
oder  irgendwelche  von  drüben  kommende,  fixundfertige  Formeln  für 
Kultur,  Schliff,  Kaste  usw.  gebildet  ist.  Es  muß  streng  seinen  eigenen, 
neuen  Maßstab  einführen,  der  im  Grunde  sehr  alt  ist  und  die  alten, 
einzigen  Elemente  enthält  und  sie  in  Gruppen  und  Einheiten  faßt, 
die  für  die  moderne  Welt,  die  Demokratie,  den  Westen  passen  und 
für  die  praktischen  Verhältnisse  und  Bedürfnisse  unserer  eigenen 
Städte  und  ackerbauenden  Distrikte.  Das  Wertvollste  liegt  allezeit 
im  Allgemeinen.  Die  frische  Luft  von  Feld,  Hügel  oder  See  ist 
allezeit  besser,  als  alles  Fächeln  mit  Fächern,  mögen  sie  auch  aus 
Elfenbein  sein  und  nach  Parfüm  duften;  die  Luft  ist  besser  als  das 
kostbarste  Parfüm. 

Und  nun,  um  nicht  mißverstanden  zu  werden,  wollen  wir  nicht 
unterlassen,  uns  Absolution  zu  erbitten  von  alledem,  was  wahrhafte 
Kultur  oder  Begleiterscheinung  von  ihr  ist.  Vergib  uns,  ehrwürdiger 
Schatten,  wenn  wir  scheinbar  leichtfertig  von  deiner  Aufgabe 
gesprochen  haben !  Die  gesamte  Zivilisation  der  Erde  mit  all  ihrem 
Ruhm  und  laicht  ist,  wir  wissen  es  wohl,  dein  Werk.  Es  geschieht 
in  der  Tat  in  deinem  Geiste  und  in  dem  Bestreben,  mit  deinen 
erhabensten  Lehren  zu  wetteifern,  wenn  wir  diese  bescheidenen 
Äußerungen  wagen.  Denn  auch  du,  mächtige  Priesterin!  wisse, 
daß  es  etwas  Größeres  gibt,  als  dich,  nämlich  die  frischen,  ewigen 
Kräfte  des  Seins.  Aus  ihnen  und  durch  sie  beschwören  wir  — 
gleichwie  du  selbst  in  deinen  besten  Zeiten  —  die  letzte,  notwendige 
Hilfe  herbei,  um  unser  Land  und  unsere  Zeit  zu  beleben.  Daher 
reden  wir  nicht  so  sehr  gegen  das  Prinzip  der  Kultur;  wir  beauf- 
sichtigen es  nur  und  verbreiten  zugleich  mit  ihm  ein  ebenso  tiefes, 
vielleicht  tieferes  Prinzip.  Wie  wir  gezeigt  haben,  daß  die  Neue 
Welt  in  sich  das  alles  ausgleichende  Gemeinschaftsprinzip  der 
Demokratie  enthält,  so  zeigen  wir  auch,  daß  sie  das  allfältige,  all- 
gewährende, allfreie  Theorem  des  Individualismus  enthält  und  somit 
ein  hochragendes,  bislang  noch  unbenutztes  Gerüst  oder  eine  Platt- 
form errichtet,  breit  genug  für  alle,  zugänglich  für  jeden  Farmer 
und  Arbeiter  —  für  Männer  und  Weiber  —  eine  erhabene  Selbst- 
heit,  die  nicht  allein  physisch  vollkommen  ist,  nicht  befriedigt  allein 
mit  den  Schätzen  des  Geistes  und  Wissens,  sondern  religiös  und  von 
der  Idee  des  Unendlichen  erfüllt  (dem  sicheren  Steuer  und  Kompaß 
auf  dieser  ruhelosen  Reise  des  Fortschritts  von  Mensch  und  Volk 


60 


über  schwärzeste,  wildeste  Wogen  und  durch  gefährlichste  Stürme), 
—  und  die  sich  vor  allem  andern  dessen  bewußt  ist,  daß  Menschen- 
tum im  tiefsten  Sinne  und  soweit  wir  es  kennen,  ehrliche  Treue  zu 
sich  selber  ist  um  jenseitiger  Ziele  willen,  —  und  daß  letzten  Endes 
das  Persönlichkeitsgefühl  des  sterblichen  Lebens  seine  größte  Be- 
deutung erst  in  Beziehung  auf  die  Unsterblichkeit  hat,  auf  das 
Unbekannte,  Geistige,  die  einzig  dauernde  Wirklichkeit,  die,  wie 
der  Ozean  auf  seine  Ströme  wartet  und  sie  in  sich  aufnimmt,  auf 
jeden  und  alle  von  uns  wartet. 

Vieles  andere  noch  müßten  wir  in  diesen  „Ausblicken"  ausführen 
oder  wenigstens  im  Umriß  andeuten,  nicht  allein  über  diese  Gegen- 
stände, sondern  auch  über  andere,  noch  nicht  erwähnte.  Wir  könn- 
ten in  der  Tat  ein  Leben  lang  über  diese  Materie  reden  und  sie 
ausspinnen.  Aber  wir  müssen  zu  unserm  ursprünglichen  Ausgangs- 
punkt zurückkehren.  In  dieser  Hinsicht  müssen  wir  noch  einmal 
ausdrücklich  bekennen,  daß  alle  objektive  Größe  der  Welt  im  höch- 
sten Sinn  allein  auf  Geistigkeit  beruht  und  von  ihr  abhängt.  Hier, 
und  hier  allein,  liegt  das  Gleichgewicht  und  der  Ruhepunkt  von 
allem.  Denn  der  Geist,  der  allein  das  dauernde  Gebäude  baut,  baut 
es  stolz  für  sich  selbst.  Durch  ihn  und  was  aus  ihm  folgt,  werden 
dem  sterblichen  Sinn  die  Höhepunkte  des  Materiellen,  des  Bekann- 
ten vermittelt  und  Ahnung  des  Unbekannten.  Ausdruck  und  Ver- 
körperung zu  finden,  eine  Literatur  mit  erhabenen,  urtypischen 
Vorbildern  zu  versehen,  —  alle  Empfänglichen  mit  Stolz  und  Liebe 
zu  erfüllen,  soviel  sie  nur  fassen  können,  geistige  Ziele  zu  vollenden 
und  die  Zukunft  fühlbar  zu  machen,  —  dies,  und  dies  allein,  be- 
friedigt die  Seele.  Wir  sagen  kein  Wort  gegen  die  reale  Materie; 
aber  die  W^eisen  wissen,  daß  sie  nicht  eher  wahrhaft  real  wird,  als 
bis  Gefühl  und  Geist  sie  berührt  haben.  Ist  nicht  Geist  etwas  Un- 
wägbares? O  wir  wollen  lieber  sorgen,  daß  der  zarteste  Ton  eines 
Liedes,  die  zahllosen  flüchtigen  Regungen  der  Leidenschaften,  die 
von  Rednern  oder  Erzählern  erweckt  werden,  mehr  Dichtigkeit 
und  Gewicht  haben,  als  die  Maschinen  dort  in  den  großen  Fabriken 
oder  die  Granitblöcke  in  ihren  Fundamenten. 

Indem  wir  uns  so  den  Bereichen  nähern ,  die  der  eigentliche 
Gegenstand  dieser  Betrachtungen  sind,  und  im  Hinblick  auf  eine 
neue  und  höhere  Persönlichkeitsbildung  die  Bedürfnisse  und  Mög- 
lichkeiten schöpferischer  amerikanischer  Literatur  im  Lichte  dessen. 


6i 


was  wir  zuvor  besprochen  haben,  betrachten,  wird  sogleich  offen- 
bar sein,  daß  eine  tiefe  Kluft  den  gegenwärtig  anerkannten  Zustand 
dieser  Bereiche  samt  allem,  was  sich  in  ihnen  regt,  von  einem  Zu- 
stand trennt,  der  der  Welt,  dem  Amerika  wirklich  angepaßt  wäre, 
nach  dem  im  gegenwärtigen  Zustand  nur  getastet  wird,  und  an- 
gepaßt der  Fülle  von  Rassen  vollkommener  Männer  und  Frauen, 
die  in  diesen  Ausblicken  mit  groben  Strichen  entworfen  ist.  Es  ist 
in  gewissem  Sinne  kein  geringerer  Unterschied  als  zwischen  dem 
langandauernden,  nebeiförmigen,  gestaltlosen  Zustand  der  astrono- 
mischen Weltkörper  und  dem  darauf  folgenden  Zustand,  den  end- 
gültig geformten  Weltkugeln  selbst,  nachdem  sie  sich  gehörig  ver- 
dichtet und  in  Systeme  geordnet  haben  und  nun  dort  droben  hängen, 
Kronleuchter  des  Weltalls,  verbunden  und  erleuchtet  durch  ihr 
gegenseitiges  Licht,  als  fester  Grund  für  alles  Stoffliche  und  zur 
Benutzung  für  das  gewöhnlichste  Leben,  aber  noch  mehr  als  unver- 
gängliche Kette  und  Staffel  aller  geistigen  Schau  und  Offenbarung. 
Ein  grenzenloses  Feld  ist  auszufüllen !  Eine  neue  Schöpfung  ersehnter 
Werke,  ausgesendet  wie  WMtkörper,  um  in  freien,  gesetzmäßigen 
Umläufen  zu  kreisen,  in  sich  selbst  ruhend  durch  den  Äther  zu 
wandeln  und  wie  des  Himmels  Sonnen  selber  zu  scheinen!  Nichts 
Geringeres  als  dies  meinen  wir,  wenn  wir  von  der  Literatur  der 
Neuen  Welt  reden,  die  sich  aus  diesen  Staaten  in  inniger  Einbeit  mit 
ihnen  erheben  soll,  zur  rechten  Zeit  sich  verkündend. 

Was  verstehen  wir  indessen  genauer  unter  Literatur  der  Neuen 
Welt?  Tun  wir  hier  nicht  schon  des  Guten  genug?  Haben  die  Ver- 
einigten Staaten  heute  nicht  mehr  Setzer  und  Pressen  in  eifrigem 
Betrieb  als  irgendein  anderes  Land?  Veröffentlichen  und  verbrauchen 
sie  nicht  mehr  Gedrucktes  als  andere  Länder?  Werden  unsere  Ver- 
leger nicht  schneller  und  gründlicher  fett?  —  Sicherlich  sind  viele 
in  dieser  Täuschung  befangen,  aber  es  ist  meine  Absicht,  sie  zu  zer- 
stören. Ich  behaupte,  eine  Nation  mag  ganze  Ströme  und  Ozeane 
von  sehr  lesenswerten  Druckschriften  haben  und  in  Umlauf  bringen, 
Zeitungen,  Zeitschriften,  Romane,  Leihbibliotheken,  „Poesie"  usf., 
—  wie  sie  die  Vereinigten  Staaten  heute  in  der  Tat  besitzen  und  in 
Umlauf  bringen,  —  von  unbestreitbarem  Nutzen  und  Wert,  —  hundert 
neue  Bücher,  die  jedes  Jahr  geschrieben  und  herausgebracht  werden, 
sehr  anerkennenswert,  unübertroffen  an  Können  und  Wissen,  —  und 
noch  Hunderte  oder  gar  Millionen  mehr,  die  durch  Raubverlage 


62 


auf  den  Markt  geworfen  werden,  —  und  dennoch  wird  vielleicht, 
trotz  alledem,  besagte  Nation  streng  genommen  überhaupt  keine 
Literatur  besitzen. 

Was  also  —  wiederholen  wir  —  verstehen  wir  unter  wahrer  Lite- 
ratur? im  besonderen  unter  der  demokratischen  Literatur  der  Zu- 
kunft? Schwierige  Fragen!  Die  Antwort  kann  nur  indirekt  gegeben 
werden  und  weist  uns  an  die  Vergangenheit.  Im  besten  Fall  können 
wir  nur  Andeutungen,  Vergleiche  auf  Umwegen  geben. 

Es  muß  als  die  tiefste  Lehre  der  Zeit  und  der  Geschichte  um  des 
Zweckes  dieser  Aufzeichnungen  willen  nochmals  wiederholt  werden, 
daß  alles,  was  eine  Nation  oder  Epoche  an  politischen  und  mate- 
riellen Errungenschaften,  heroischen  Persönlichkeiten,  militärischer 
Machtentfaltung  usw.  hervorbringt,  bei  genauer,  tiefgehender  Be- 
trachtung unvollkommen  bleibt  und  nur  hemmend  wirkt,  ehe  es 
nicht  durch  nationale,  urwüchsige  Wesensvorbilder  in  der  Literatur 
mit  wahrem  Leben  erfüllt  wird.  Sie  allein  gestalten  die  Nation, 
bringen  alles  letztgültig  zum  Ausdruck,  beweisen,  vollenden  alles  und 
geben  allem  Bestand.  Zweifeilos:  einige  der  blühendsten,  mächtig- 
sten und  volkreichsten  Gemeinwesen  der  antiken  Welt  und  einige 
der  größten  Persönlichkeiten  und  Ereignisse  haben  der  Nachwelt 
bis  auf  heute  keinerlei  Erbschaft  hinterlassen.  Zweifellos  waren  unter 
diesen  Ländern  Heldentaten,  Persönlichkeiten,  von  denen  uns  nichts 
überliefert  ist,  nicht  einmal  Name,  Zeit  oder  Ort,  solche,  die  größer 
waren  als  alle  uns  überlieferten.  Andere  wieder  sind  heil  angelangt 
wie  Aon  Reisen  über  Jahrhundert  weite  Meere.  Die  kleinen  Schiffe, 
die  Wunderdinger,  die  sie  trugen  und  durch  unerhörte  Glücksfälle 
wohlbehalten  zu  uns  brachten  (oder  wenigstens  das  Beste  von  ihnen, 
ihren  Sinn  und  Extrakt)  über  weite  Einöden  hin,  durch  Finsternis, 
Stumpfheit,  Unwissenheit  usw.,  —  diese  kleinen  Schiffe  waren  ein 
paar  Schriften,  —  ein  paar  unsterbliche  Dichtungen,  gering  an  Um- 
fang, doch  voll  welcher  unermeßlichen  Werte  der  Erinnerung, 
voller  Charaktere,  Sitten,  Sprachen  und  Glauben  ihrer  Zeit,  voll 
tiefster  Beziehungen,  Hinweise,  Gedanken,  genug,  um  den  alten,  ewig 
neuen  Körper  und  die  alte,  ewig  neue  Seele  innig  zu  verschmelzen! 
Sie!  und  noch  einmal  sie!  —  die  diese  so  teure  Fracht  zu  uns  trugen, 
teurer  als  Stolz,  teurer  als  Liebe!  Alle  kostbarste  Erfahrung  der 
Menschheit,  in  kleinsten  Raum  gefaltet,  haben  sie  gerettet  und  zu 
uns  gebracht.  Einige  dieser  winzigen  Schiffe  nennen  wir  Altes  und 


63 


Neues  Testament,  Homer,  Äschylos,  Plato,  Juvenal  usf.  —  Kostbare 
Winzigkeiten!  Ich  glaube,  wenn  wir  wählen  müßten,  so  würden 
wir  es  eher  ertragen,  so  furchtbar  es  wäre,  alle  wirklichen  Schiffe, 
die  heute  auf  Werften  liegen  oder  auf  See  schwimmen,  zu  verlieren 
und  mit  ihrer  ganzen  Fracht  leck  in  die  Tiefe  sinken  zu  sehen,  als 
euch  und  euresgleichen  und  was  zu  euch  gehört  und  aus  euch  er- 
wachsen ist,  vernichtet  und  ausgelöscht  zu  sehen. 

Zusammengefaßt  durch  die  Genies  einer  Stadt,  Rasse  oder  Epoche 
und  durch  sie  in  die  höchste  aller  künstlerischen  Formen,  die  lite- 
rarische, gebracht,  ist  die  besondere  Wesens-  und  Erscheinungsart 
dieser  Stadt,  Rasse  oder  Epoche,  ihre  besondere  Verkörperung  der 
allgemein  menschlichen  Eigenschaften  und  Leidenschaften,  ihr 
Glaube,  ihre  Helden,  Liebenden  und  Götter,  ihre  Kriege,  Überliefe- 
rungen, Unruhen,  Verbrechen,  Erregungen,  Freuden  (oder  doch 
der  geistige  Hauch  von  alledem)  auf  uns  gekommen,  um  unser 
eigenes  Sein  und  seine  Erfahrungen  zu  erleuchten.  Würde  das,  was 
sie  uns  geben,  all  dieses  nicht  mehr  Entbehrliche,  Höchste  uns  ge- 
nommen, so  könnte  nichts  anderes  im  ganzen  grenzenlosen  Vorrats- 
speicher der  Welt  uns  einen  Ersatz  dafür  bieten. 

Für  uns  ragen  diese  Denkmäler  entlang  den  großen  Heerstraßen 
der  Zeit,  —  diese  Gebilde  der  Hoheit  und  Schönheit.  Für  uns  brennen 
diese  Leuchtfeuer  durch  alle  Nächte.  Unbekannte  Ägypter,  Hiero- 
glyphen grabend;  Hindus  mit  ihren  Hymnen,  W^eisheitssprüchen 
und  endlosen  Epen;  hebräischer  Prophet,  vom  Geist  erleuchtet  wie 
in  Blitzen,  mit  einem  Gewissen  wie  rotglühendes  Eisen,  mit  Klage- 
liedern und  Racheschreien  gegen  Tyrannen  und  Sklaverei;  Christus 
mit  geneigtem  Haupt,  wie  eine  Taube  brütend  über  Liebe  und 
Frieden;  der  Grieche,  ewige  Gestalten  schaffend  voll  Ebenmaß  des 
Körpers  und  Gefühls;  der  Römer,  der  Herr  der  Satire,  des  Schwerts 
und  Gesetzbuchs;  einige  der  Gestalten  fern  und  im  Dämmer,  andere 
näher  und  sichtbar;  Dante,  einherschreitend  mit  magerer  Gestalt, 
nichts  als  Sehnen,  kein  Gran  überflüssigen  Fleisches;  Angelo  und 
die  großen  Maler,  Baumeister,  Musiker ;  der  reiche  Shakespeare,  ver- 
schwenderisch wie  die  Sonne,  Gestalter  und  Sänger  des  Feudalismus 
in  seinem  Sonnenuntergang,  mit  all  seinen  glühenden  Farben,  über 
die  er  mit  souveräner  Willkür  verfügt;  und  so  zu  den  Deutschen 
Kant  und  Hegel,  die,  obwohl  nahe  bei  uns,  so  doch  wiederum,  Zeit- 
alter überspringend,  leidenschaftslos  und  unerschütterlich  sitzen 


64 


wie  die  ägyptischen  Götter.  Ist  es  nun  wirklich  zu  viel,  wenn  wir 
von  diesen  und  ihresgleichen  wieder  auf  unser  Lieblingsbild  zurück- 
kommen und  sie  sehen  wie  Weltkörper  und  Systeme  von  Welt- 
körpern, die  auf  freien  Bahnen  durch  die  Räume  jenes  zweiten 
Himmels,  des  kosmischen  Geistes,  der  Seele,  wandeln? 

Ihr  Gewaltigen  und  Strahlenden!  Ihr  seid,  in  euren  Bereichen, 
nicht  für  Amerika  erwachsen,  sondern  eher  für  seine  Feinde,  das  Feu- 
dale und  Alte,  —  während  unser  Genius  demokratisch  und  modern 
ist.  Und  doch,  —  o  könntet  ihr  euern  Lebensodem  in  die  Nüstern 
unserer  Neuen  Welt  blasen,  —  nicht  um  uns,  wie  jetzt,  zu  ver- 
sklaven, sondern  um  in  uns  und  für  uns  einen  Geist  zu  erwecken 
gleich  dem  euern,  —  vielleicht  (wagen  wir  es  auszusprechen?)  um 
zu  überwinden,  ja  zu  zerstören,  w^as  ihr  selbst  hinterlassen  habt! 
Auf  eurer  Höhe,  nicht  tiefer,  sondern  eher  noch  höher  und  weiter, 
müssen  wir  uns  treffen  und  messen,  heute  und  hier.  Ich  fordere 
Rassen  von  Sängern,  die  mit  der  Macht  von  Weltkörpern  unbeirrt 
und  sicher  ihre  Bahn  fliegen.  Erscheint,  ihr  süßen  demokratischen 
Beherrscher  des  Westens! 

Durch  Hinweise  wie  diese  deuten  wir  mittelbar  an,  was  wir  unter 
wahrer  Literatur  eines  Landes  oder  Volkes  verstehen.  Und  so  ver- 
glichen und  gemessen  an  den  erhabensten  Schöpfungen  allein,  was 
stellen  unsere  reichen  Mengen  von  Druckschriften,  die  in  mannig- 
fachen Formen  die  Vereinigten  Staaten  bedecken,  Besseres  dar  als 
vergleichsweise  jene  über  gewisse  Strecken  des  Meeres  verbreiteten, 
hin  und  her  wogenden  Ansammlungen  von  Tintenfischen,  die  der 
mit  halb  emporgetauchtem  Kopf  hindurchschwimmende  Wal  ver- 
schlingt? 

Zwar  mag  unsere  landläufige  sogenannte  Literatur  (gleichsam 
wie  ein  unendlicher  Vorrat  von  kleiner  Münze)  einen  gewissen 
Nutzen  haben,  vielleicht  sogar  gerade  das  bieten,  was  unsere  Zeit 
braucht  (eine  Vorbereitung,  ähnlich  wie  Kinder  lernen  müssen  zu 
buchstabieren).  Jedermann  liest  und  nahezu  jedermann,  in  der  Tat, 
schreibt,  seien  es  Bücher,  sei  es  für  die  Zeitschriften  und  Zeitungen. 
In  gewissem  Sinn  hat  auch  dieser  Zustand  seine  Großzügigkeit. 
Aber  bringt  er  Fortschritt?  oder  hat  er  seit  langem  irgendwelchen 
Fortschritt  gebracht?  Es  liegt  etwas  Imponierendes  in  den  riesigen 
Auflagen  der  Tageszeitungen  und  Wochenschriften,  den  Bergen 
weißen  Papiers,  die  in  den  Gewölben  der  Druckereien  aufgestapelt 


Whiunan  I 


65 


sind  iiud  in  den  stolzen,  dröhnenden  Zehn-Zylinder-Pressen,  vor 
denen  ich  jederzeit  stundenlang  stehen  kann,  um  ihnen  zuzuschauen. 
Auch  wird  (obwohl  die  Vereinigten  Staaten  auf  dem  Gebiete  der 
F*hantasie  nicht  ein  einziges  Werk  ersten  Ranges,  nicht  einen  ein- 
zigen großen  Schriftsteller  aufzuweisen  haben)  der  Hauptzweck  immer 
noch  erreicht,  und  immer  wieder  bis  ins  Unendliche,  nämlich  zu 
amüsieren,  zu  kitzeln,  die  Zeit  zu  vertreiben,  Neuigkeiten  und  Ge- 
rüchte von  Neuigkeiten  in  Umlauf  zu  bringen  und  Verse  zu  reimen 
für  den  Geschmack  der  Leser.  Heutzutage  gehört  bei  all  dem 
Bücherschreiben  und  dem  Wetteifer  der  Schriftsteller,  insbesondere 
der  Romanschriftsteller,  der  (sogenannte)  Erfolg  demjenigen  oder 
derjenigen,  die  den  Geschmack  des  gemeinen,  flachen  Durchschnitts 
trelfen,  die  sensationelle  Gier  nach  Aufreizung,  Geschehnis,  Satire  usf., 
und  die  das  sinnliche,  äußere  Leben  gewöhnlichen  Schlages  be- 
schreiben. Für  Autoren  solcher  Art  oder  wenigstens  für  die  glück- 
lichsten von  ihnen  ist,  soviel  wir  sehen,  die  Zuhörerschaft  unbegrenzt 
und  gewinnbringend;  aber  sie  schwindet  bald.  Während  heute  und 
jederzeit  für  die,  die  das  innere  oder  spirituelle  Leben  darzustellen 
suchen,  die  Zuhörerschaft  begrenzt  ist  und  oft  nur  zögernd  sich 
bildet,  aber  für  ewig  bestehen  bleibt. 

Verglichen  mit  der  Vergangenheit  hat  unsere  moderne  Wissen- 
schaft einen  hohen  Aufschwung  genommen  und  erfüllen  unsere 
Zeitungen  einen  nützlichen  Zweck,  —  aber  die  ideelle  Literatur, 
oder  auch  nur  die  gewöhnliche  Romanliteratur,  macht  meines  Er- 
achtens keine  wesentlichen  Fortschritte.  Man  sehe  sich  die  frucht- 
baren Erzeugnisse  des  zeitgenössischen  Romans,  der  Novelle,  des 
Dramas  usw.  an.  Dasselbe  endlose  Gespinst  verwickelter,  über- 
triebener Liebesgeschichten,  die  offenbar  von  den  Amadissen  und 
Palmerins  des  dreizehnten,  vierzehnten  und  fünfzehnten  Jahrhun- 
derts drüben  in  Europa  herstammen.  Die  Kostüme  und  alles  son- 
stige Zubehör  auf  moderne  Form  gebracht,  die  W^ürze  heißer  und 
abwechslungsreicher,  die  Drachen  und  Menschenfresser  weggelassen, 

—  aber  der  eigentliche  Inhalt,  meine  ich,  ist  nicht  fortgeschritten, 

—  ist  just  so  sensationell,  just  so  verrenkt  und  so  ziemlich  der- 
selbe geblieben,  nicht  mehr  und  nicht  weniger. 

Was  ist  der  Grund,  daß  wir  in  unserer  Zeit,  in  unserem  Lande 
keinen  frisch  aus  unserer  Umgebung  geborenen  Mut,  keine  eigene 
gesunde  Kraft,  —  nicht  den  Mississippi,  die  handfesten  Männer  des 


Westens,  des  Südens,  keine  geistigen  und  physischen  Tatsachen  usF. 
in  der  Gesamtheit  unserer  Literatur,  zumal  in  ihrem  dichterischen 
Teil,  sehen,  —  sondern  anstatt  dessen  immer  nur  eine  kleine 
Minderheit  von  Dandys  und  Blasierten,  feine  Herrchen,  die  vom 
Ausland  importiert  sind  im  fünfhundertsten  Aufguß  und  uns  über- 
fluten mit  ihren  dünnen  Salongefühlen,  die  sich  an  Sonnenschirmen, 
Schmachtliedern  und  Reimgeklingel  erregen,  —  oder  die  über 
irgend  etwas  winseln  und  flennen,  von  einem  fehlgeborenen  Einfall 
zum  andern  jagen  und  ewig  beschäftigt  sind  mit  irgendeiner  dys- 
peptischen  Verliebtheit  in  dyspeptische  Frauenzimmer.  Während, 
in  niegesehenem  Strom,  die  größten  Ereignisse  und  Umwälzungen, 
die  stürmischsten  Leidenschaften  der  Geschichte  heute  mit  unver- 
gleichlicher Schnelligkeit  und  Großartigkeit  sich  auf  dem  Schau- 
platz unseres  und  aller  Kontinente  kreuzen,  neuen  Stoff  darbieten, 
neue  Ausblicke  voll  neuer  Bedürfnisse  eröffnen  und  kühn  auf- 
springende Schöpfungen  der  Literatur  herausfordern,  die,  begeistert 
durch  sie,  sich  in  höchste  Höhen  aufschwingen  und  der  Kunst  in 
aller  ihrer  Erhabenheit  dienen  (was  nur  ein  anderer  Name  ist  für 
„Gott  dienen"  oder  „der  Menschheit  dienen").  Wo  ist  der  Mann 
der  Literatur,  wo  ist  das  Buch,  dem  ein  edleres  Ziel  vorschwebt, 
als  im  alten  Geleise  zu  trotten,  längst  Gesagtes  zu  wiederholen 
und  —  höchster  Triumph!  —  gut  gekauft  zu  werden  und  gelehrt 
und  elegant  zu  sein? 

Man  betrachte  die  Wege  des  Fortschritts,  die  diese  Staaten  zu- 
rückgelegt haben,  bis  sie  nun  heute  frei,  gleichberechtigt  für  immer, 
fest  zusammengefügt  für  immer  an  ihrem  Platze  stehen.  Europäische 
Abenteuer?  Die  Antike?  Asien  und  Afrika?  Alte  Geschichte  — 
Wunder-Romantik?  —  Nein,  unsere  eigenen  unanzweifelbaren  wirk- 
lichen Taten!  Sie  jagen  einander,  unerhört,  strahlend  wie  Feuer! 
Wenn  ich  ihre  Geschichte  lese,  von  den  Taten  und  Tagen  des 
Kolumbus  an  bis  auf  die  Gegenwart  und  einschließlich  der  Gegen- 
wart —  vor  allem  den  letzten  Sezessionskrieg,  —  so  ist  mir  bei 
jeder  Seite  zumute,  als  müßte  ich  innehalten  und  mich  besinnen, 
ob  ich  mich  nicht  geirrt  habe  und  unter  die  leuchtenden  Phantasie- 
bilder eines  Traums  geraten  bin.  Aber  es  ist  kein  Traum.  Wir 
stehen,  leben,  bewegen  uns  in  dem  ungeheuren  Strom  des  Materia- 
lismus und  Spiritualismus  unseres  Zeitalters.  Das  positivste  aller 
Reiche  ist  für  uns  gegründet  worden.  Die  Gründer  sind  in  andere 


67 


Sphären  übergegangen,  —  aber  welches  sind  die  furchtbaren  Pflich- 
ten, die  sie  uns  hinterlassen  haben? 

Ihre  Politik  haben  die  Vereinigten  Staaten  meines  Erachtens, 
trotz  all  ihren  Fehlern,  bereits  im  wesentlichen  und  ein  für  allemal 
auf  ihre  eigenen,  eingeborenen,  gesunden,  weit  vorausschauenden 
Grundsätze  gegründet,  die  nie  wieder  umgestürzt  werden  können 
und  ein  sicheres  Fundament  für  alles  übrige  bilden.  Zusammen 
mit  ihr  müssen  natürlich  auch  ihre  zukünftigen  religiösen  Formen, 
ihre  Soziologie,  Literatur,  ihre  Lehrer,  Schulen,  die  Art  der  äuße- 
ren Erscheinung  usw.  ein  geschlossenes  einheitliches  Ganzes  bilden, 
auf  ebensolchen  Grundsätzen.  Denn  wie  könnten  wir  so  zerspalten, 
so  uns  selbst  widersprechend  bleiben,  wie  jetzt?  Ich  sage,  wir 
können  Harmonie  und  Beständigkeit  erlangen,  indem  wir  die  Ein- 
heit aller  Dinge  und  die  ethischen  Inhalte  berücksichtigen  und 
vertrauensvoll  auf  ihnen  weiterbauen.  Ich  sehe  in  der  Tat,  daß 
für  die  Neue  Welt  nach  zwei  Epochen  vorbereitender  Schichtungen 
jetzt  eine  dritte  Epoche,  ohne  die  die  andern  beiden  nutzlos  wären, 
bereit  steht  und  sich  in  unverkennbaren  Zeichen  ankündigt.  Die 
Erste  Epoche  war  der  Entwurf  und  die  Festlegung  der  politischen 
Grundrechte  für  ungeheure  Volksmassen,  ja  für  alles  Volk,  in  der 
Organisation  republikanischer  National-,  Staats-  und  Kommunal- 
regierungen, alle  aufgebaut  in  Beziehung  zu  jeder  einzelnen  und 
jede  einzelne  in  Beziehung  zu  allen.  Dies  ist  das  amerikanische 
Programm,  nicht  für  Klassen,  sondern  für  den  Menschen  im  all- 
gemeinen, und  ist  verkörpert  in  den  Grundsätzen  der  Unabhängig- 
keitserklärung und,  in  seiner  späteren  Entwicklung,  in  der  Bun- 
desverfassung sowie  in  den  Regierungen  der  Einzelstaaten  mit  all 
ihren  inneren  Angelegenheiten  und  dem  allgemeinen  Wahlrecht; 
die  Bedeutung  all  dieser  Grundlagen  liegt  nicht  nur  in  dem,  was 
sie  selbst  enthalten,  begründen  und  pflanzen,  sondern  auch  in  allem, 
was  mit  Notwendigkeit  aus  ihnen  folgt.  Die  Zweite  Epoche  ist  die 
des  materiellen  Gedeihens  und  Wohlstandes,  die  Epoche  der  Pro- 
duktion, der  arbeitsparenden  Maschinen,  des  Eisens,  der  Baum- 
wolle, der  lokalen,  staatlichen  und  kontinentalen  Eisenbahnen,  des 
Verkehrs  und  Handels  mit  allen  Ländern,  der  Dampfschiffe,  Gruben, 
des  Arbeitsmarkts,  der  Organisation  der  Großstädte,  der  Verbilli- 
gung  des  Komforts,  zahlloser  technischer  Lehranstalten,  Bücher, 
Zeitungen,  der  Währung  für  den  Geldumlauf  usf.    Die  Dritte 


68 


Epoche,  die  aus  den  vorhergehenden  beiden  sich  erhebt,  um  sie 
und  alles  zu  verklären,  verkünde  ich  nun  hier,  als  einer  für  viele. 
Ich  verkünde  den  eingeborenen  Geist,  der  Ausdruck  und  Form  an- 
nimmt für  diese  Staaten,  gereift,  vergeistigt,  selbstbeherrscht,  ver- 
schieden von  allen  anderen,  expansiver,  reicher,  freier,  —  einen 
Geist,  der  durch  ursprüngliche  Autoren  und  Dichter  der  Zukunft 
dargestellt  werden  soll,  durch  amerikanische  Persönlichkeiten,  deren 
viele,  Männer  und  Frauen,  bereits  ungekannt  überall  in  den  Staaten 
leben;  —  und  durch  eine  viel  herrlichere,  einheimische  Entfallung 
von  Sprache,  Gesängen,  Opern,  Reden,  Vorlesungen,  Bauten  —  und 
durch  eine  erhabene,  feierliche  religiöse  Demokratie,  die  ent- 
schlossen die  Herrschaft  ergreift,  das  Alte  auflöst,  alle  Oberflächen 
abschält  und  aus  ihrem  eigenen  inneren  Lebensprinzip  heraus  die 
Gesellschaft  neu  aufbaut  und  demokratisiert. 

Nur  wenige  ahnen,  wie  tief,  wie  tief  die  Bedeutung  Amerikas 
ist,  des  Vorbildes  allen  Fortschritts  und  wahren  Glaubens  an  den 
Menschen,  trotz  aller  Irrtümer  und  Bosheit.  Die  Welt  glaubt 
offenbar,  und  auch  wir  haben  offenbar  geglaubt,  daß  die  Vereinig- 
ten Staaten  nur  dazu  da  seien,  um  die  Gleichheit  der  Gerechtsamen 
Aller  und  eine  Wahlregierung  durchzuführen,  —  um  die  Würde 
der  Arbeit  einzuweihen  und  eine  Nation  praktisch  tätiger,  den  Ge- 
setzen gehorsamer,  ordentlicher  und  wohlhabender  Menschen  zu 
werden.  Ja,  dies  sind  in  der  Tat  Teile  der  Aufgabe  Amerikas; 
aber  sie  erschöpfen  nicht  nur  nicht  den  Begriff  von  Fortschritt, 
sondern  sind  darüber  hinaus  auch  die  Vermittler  eines  viel  tieferen, 
höheren  Fortschritts,  mit  dem  sie  schwanger  gehen.  Tochter  einer 
physischen  Revolution,  —  Mutter  der  wahren  Revolutionen,  näm- 
lich der  des  inneren  Lebens  und  der  Kunst.  Denn  solange  der 
Geist  sich  nicht  wandelt,  ist  jeder  Wandel  der  Erscheinung  be- 
langlos. 

Ich  erinnere  mich,  als  ich  ein  Knabe  war,  sprachen  die  alten 
Leute  immer  von  amerikanischer  Unabhängigkeit.  Was  ist  Unab- 
hängigkeit? Freiheit  von  allen  Gesetzen  und  Schranken,  außer 
denen  des  eigenen  Ich,  die  von  denen  des  Universums  beherrscht 
werden.  Was  ist  Ländern,  Männern,  Frauen  letzten  Endes  zu  eigen, 
als  einzig  und  allein  ihre  innewohnende  Seele,  Ursprünglichkeit, 
ihr  Sein  in  sich  selbst,  frei,  im  höchsten  Gleichgewicht,  sich  auf- 
schwingend zu  eigenem  Fluge,  sich  selbst  getreu? 


69 


Gegenwärtig  weiden  die  Vereinigten  Staaten  in  ihrer  Theologie 
und  ihren  sozialen  Anschauungen  (die  wichtiger  als  ihre  politischen 
Institutionen  sind)  gänzlich  von  fremden  Ländern  beherrscht.  Wir 
sehen,  wie  die  Söhne  und  Töchter  der  Neuen  Welt,  ihres  Genius 
nicht  bewußt,  das  Einheimische,  Universelle,  Nahe  noch  nicht  ent- 
deckt haben,  sondern  immer  noch  das  Entlegene,  Partielle,  Tote 
importieren.  Wir  sehen  London,  Paris,  Italien  —  nicht  in  ursprüng- 
licher Schönheit  wie  dort,  wohin  sie  gehören,  sondern  aus  zweiter 
Hand  hier,  wo  sie  nicht  hingehören.  Wir  sehen  die  Brocken  der 
Juden,  Römer,  Griechen;  aber  wo  sehen  wir,  auf  seinem  eigenen 
Boden,  in  irgendwelcher  getreuen,  höchsten,  stolzen  Verkörperung 
Amerika  selbst?  Ich  frage  mich  manchmal,  ob  ihm  auch  nur  ein 
Winkel  im  eigenen  Hause  gehört. 

Nicht  als  ob  in  einem  gewissen  Sinne,  und  zwar  in  einem  sehr 
hohen,  wahre  Theologie,  wahre  Kunst  und  wahre  Literatur  nicht 
gewisse  Züge  gemeinsam  hätten.  Sie  sind  verbrüdert  und  binden  die 
Rassen  untereinander,  sie  sind  in  vielen  Einzelheiten,  unter  Gesetzen, 
die  auf  alle  unterschiedslos  anwendbar  sind,  unabhängig  von  Klima 
und  Zeit  und  wenden  sich,  aus  welcher  Quelle  sie  auch  stammen 
mögen,  an  Gefühle,  —  Stolz,  Liebe,  Geistigkeit,  —  die  dem  Men- 
schengeschlecht gemeinsam  sind.  Nichtsdestoweniger  berühren  sie 
selbst  da  einen  Menschen  am  innigsten  (oder  vielleicht  überhaupt 
nur),  wenn  sie  ihren  Ausdruck  finden  durch  die  autochthonen 
Lichter  und  Schatten  hindurch,  durch  den  Geschmack,  die  Vorlie- 
ben, Abneigungen,  besonderen  Ereignisse  und  Eigenheiten  hin- 
durch, die  aus  der  eigenen  Nationalität,  Geographie,  Umgebung, 
Uberlieferung  usw.  dieses  Menschen  geboren  sind.  Geist  und  Form 
sind  eins  und  hängen  viel  mehr,  als  man  glaubt,  von  Gemeinschaft, 
Identität  und  Ort  ab. 

Mit  der  Körperlichkeit  und  Persönlichkeit  eines  Landes,  einer 
Rasse  —  teutonisch,  türkisch,  kalifornisch  oder  was  sonst  —  ist 
immer  ein  Etwas  verwoben  —  ich  kann  schwerlich  sagen,  was  es 
ist  —  die  Geschichte  beschreibt  nur  seine  Ergebnisse  —  es  ist  das- 
selbe wie  der  unaussprechliche  Ausdruck  mancher  Menschen- 
gesichter. Auch  die  Natur  in  ihren  stumpferen  Formen  ist  voll 
davon,  —  aber  für  die  meisten  ist  es  da  ein  Geheimnis.  Dieses 
Etwas  ist  verwurzelt  in  den  unsichtbaren  Wurzeln,  in  dem  tiefsten 
Sinn  dieses  Ortes,  dieser  Rasse  oder  Nationalität;  und  es  in  sich 


70 


autzunehmen  und  wieder  auszuströmen,  Worte  und  Werke  aus 
seinem  innersten  Kern  heraus  zu  gestalten  und  in  höchste  Bereiche 
zu  tragen,  das  ist  die  Aufgabe  oder  ein  Hauptteil  der  Aufgabe  der 
wahren  Schriftsteller,  Dichter,  Historiker,  Gelehrten  und  vielleicht 
sogar  Priester  und  Philosophen  eines  jeden  Landes.  Hier,  und  hier 
allein,  sind  die  Grundelemente  für  eine  wirklich  wertvolle  und 
dauerhafte  lyrische  und  dramatische  Kunst  Amerikas. 

Aber  gegenwärtig  sind  all  die  Schwärme  von  Gedichten,  von 
literarischen  Zeitschriften,  Theaterstücken,  die  bislang  dem  ameri- 
kanischen Intellekt  und  unseren  besten  Ideen  entsprungen  sind, 
zwecklos  und  ein  Hohn,  wenn  man  sie  beurteilt  nach  einem 
höheren  Maßstab  als  dem,  der  die  Hauptzwecke  des  Daseins 
darin  sieht,  während  der  einen  Hälfte  des  Lebens  fieberhaft  Geld 
zu  machen  und  während  der  andern  vielleicht  durch  „Amüse- 
ment", Reisen  ins  Ausland  und  Geschwätz  die  Zeit  totzuschlagen, 
—  wenn  man  sie  beurteilt  im  Hinblick  auf  die  Ziele  von  Patrio- 
tismus, Gesundheit,  edler  Persönlichkeit,  Religion  und  demokra- 
tischer Kultur!  Sie  stärken  und  nähren  keinen,  bringen  nichts 
Charakteristisches  zum  Ausdruck,  geben  niemandem  Richtung  und 
Ziel  und  befriedigen  nur  den  niedrigsten  Geschmack  hohler 
Geister  .  .  . 

Amerika  braucht  eine  Poesie,  die  kühn,  modern,  allumfassend 
und  kosmisch  ist,  wie  es  selbst.  Diese  Poesie  darf  in  keiner  Hin- 
sicht die  Wissenschaft  und  das  Moderne  ignorieren,  sondern  muß 
aus  der  Wissenschaft  und  dem  Modernen  Inspiration  schöpfen. 
Sie  muß  mehr  in  die  Zukunft  als  in  die  Vergangenheit  schauen. 
Wie  Amerika,  muß  auch  sie  sich  von  den  Vorbildern  der  Ver- 
gangenheit, und  wären  es  die  höchsten,  freimachen  und,  bei  aller 
Achtung  vor  ihnen,  den  vollen  Glauben  an  sich  selbst  und  an  die 
Erzeugnisse  ihres  eigenen,  demokratischen  Geistes  haben.  Wie 
Amerika,  muß^auch  sie  das  Banner  des  göttlichen  Selbstbewußt- 
seins (der  tiefsten  Grundlage  der  neuen  Religion)  in  das  Vorder- 
treffen stellen  und  unter  allen  Umständen  hochhalten.  Lange  ge- 
nug hat  das  Volk  Dichtungen  angehört,  worin  die  Durchschnitts- 
menschheit sich  unterwürfig  duckt  und  demütig  Höhere  über  sich 
anerkennt.  Amerika  aber  hört  nicht  auf  solche  Dichtungen.  Auf- 
recht, von  stolzer  Selbstachtung  geschwellt  sei  der  Gesang,  dann 
wird  ihm  Amerika  mit  Wohlgefallen  lauschen. 

7> 


Das  echte  Gold,  die  Edelsteine  werden,  wenn  sie  endlich  ans 
Licht  kommen  werden,  wahrscheinlich  nicht  aus  den  Bereichen 
stammen,  von  denen  man  sie  heute  für  gewöhnlich  erwartet.  Der 
unmündige  Genius  amerikanischer  Dichterkraft  schlummert  heute 
zweifellos  in  weiter  Ferne,  zum  Glück  unentdeckt  und  unbehelligt 
von  den  Koterien  der  Kunstschreiber,  der  Schwätzer  und  Kritiker 
der  Salons  oder  der  Sprecher  in  Hörsälen,  —  schlummert  abseits, 
seiner  selbst  nicht  bewußt,  in  irgendeinem  Dialekt  des  Westens, 
in  irgendeiner  einheimischen  Ausdrucksweise  in  Michigan  oder 
Tennessee,  oder  in  irgendeiner  ländlichen  Wahlrede  —  oder  in 
Kentucky,  Georgia  oder  auf  den  Karolinen  —  oder  in  dem  Slang 
oder  Volkslied  oder  einer  Redensart  der  Arbeiter  von  Manhattan  *, 
Boston,  Philadelphia  oder  Baltimore  —  oder  oben  in  den  Wäldern 
von  Maine  —  oder  fern  in  der  Hütte  des  kalifornischen  Goldgräbers 
oder  in  den  Rocky  Mountains  oder  längs  der  pazifischen  Bahn  — 
oder  in  der  Brust  der  jungen  Farmer  des  Nordwestens  oder  in 
Kanada  oder  der  Fischer  auf  den  Seen.  Rauhe  und  grobe  Wiegen 
dies!  Aber  einzig  aus  solchen  Anfängen  und  eingeborenen  Stämmen 
werden  vielleicht  Blüten  von  echt  amerikanischem  Arom  aufbrechen 
und  sprießen,  wenn  ihre  Zeit  da  ist,  und  Früchte,  die  wahrhaft  und 
voll  unser  eigen  sind  .  .  . 

Lange  vor  unserer  zweiten  Jahrhundertfeier  werden  wir  einige 
vierzig  oder  fünfzig  große  Staaten  haben,  darunter  Kanada  und 
Kuba.  Am  Ende  des  gegenwärtigen  Jahrhunderts  wird  unsere  Be- 
völkerung sechzig  oder  siebzig  Millionen  betragen.  Der  Pazifische 
Ozean  wird  uns  ganz  und  der  Atlantische  größtenteils  gehören. 
Wir  werden  in  täglicher  elektrischer  Verbindung  sein  mit  allen 
Teilen  des  Globus.  Was  für  ein  Zeitalter!  Was  für  ein  Land!  Wo 
sonst  ein  so  großes?!  Die  Individualität  einer  einzelnen  Nation  muß 
dann,  wie  immer,  die  Welt  leiten.  Kann  es  zweifelhaft  sein,  wer 
der  Führer  sein  sollte?  Man  bedenke  aber,  daß  immer  nur  die 
mächtigste,  ursprünglichste,  ungeknechtete  Seele  in  Wahrheit  und 
glorreich  geführt  hat  und  je  führen  kann.  (Diese  Seele  —  ihr  an- 
derer Name  in  diesen  Ausblicken  ist  Literatur.) 

In  einem  schönen  Traum  wollen  wir  diese  hundert  Jahre  über- 
springen und  die  Schöpfungen,  Gedichte  und  Philosophien  Amerikas 

*  New  York.    (Anmerkung  des  Übersetzers.) 


72 


überschauen,  wenn  sie  alle  Prophezeiungen  erfüllt  und  höchsten 
Idealen  endgültige  Gestalt  gegeben  haben  werden.  Vieles,  was  v/ir 
jetzt  noch  nicht  ahnen,  wird  dann  vielleicht  in  üppigem  Wachstum 
dastehen,  Reichtum  und  Kraft  literarischer  und  künstlerischer  Dar- 
stellung, wobei  Charakter  als  Hauptelement  gelten  wird  und  nicht 
bloße  Bildung  und  Eleganz. 

Inbrünstige  und  liebevolle  Kameradschaft  wird  dann  zu  vollem 
Ausdruck  kommen,  persönliche  und  leidenschaftliche  Liebe  von 
Mann  zu  Mann,  die,  schwer  definierbar,  den  Lehren  und  Idealen 
der  tiefsinnigen  Erlöser  aller  Länder  und  Zeiten  zugrunde  liegt, 
und  die  vielleicht  die  wesentlichste  Sicherheit  und  Hoffnung  für 
die  Zukunft  unserer  Staaten  zu  bilden  verspricht,  wenn  sie  einmal 
in  Sitte  und  Literatur  voll  entwickelt,  gepflegt  und  anerkannt  sein 
wird. 

In  der  Entwicklung,  dem  Bewußtwerden  und  der  allgemeinen 
Geltung  dieser  feurigen  Kameradschaft  (der  Freundschaftsliebe,  die 
der  die  Literatur  jetzt  beherrschenden  Geschlechtsliebe  ebenbürtig, 
wenn  nicht  überlegen  ist)  erhoffe  ich  das  ausschlaggebende  Gegen- 
gewicht und  die  Vergeistigung  unserer  materialistischen  und  vul- 
gären amerikanischen  Demokratie.  Manche  werden  sagen,  das  sei 
nur  ein  Traum,  und  werden  meinen  Schlußfolgerungen  nicht  bei- 
stimmen: ich  aber  erwarte  zuversichtlich  eine  Zeit,  wo  durch  all 
die  Myriaden  hörbarer  und  sichtbarer  weltlicher  Interessen  Amerikas 
die  Fäden  männlicher  Freundschaft,  wie  ein  halbverborgener  Ein- 
schlag, durchschimmern  werden,  warm  und  zärtlich,  rein  und  süß, 
stark  und  lebenslang,  in  bisher  unbekanntem  Maße  —  eine  Kamerad- 
schaft, die  nicht  nur  den  individuellen  Charakter  bestimmen  und 
ihn  gefühlsreich,  muskulös,  heroisch  und  innig  machen,  sondern 
auch  auf  die  allgemeine  Politik  den  nachhaltigsten  Einfluf^  aus- 
üben wird.  Ich  behaupte,  die  Demokratie  bedingt  eine  solche  liebende 
Kameradschaft  als  ihr  unentbehrlichstes  Zwillingsgegenspiel,  ohne 
welches  sie  unvollständig  und  unnütz  ist  und  unfähig  zu  dauern. 

Starkherzige  Fröhlichkeit  und  Gläubigkeit  und  Sinn  für  Gesund- 
heit al  fresco  soll  eine  der  Vorbedingungen  edlen  amerikanischen 
Schrifttums  der  Zukunft  sein.  Eines  der  Merkmale  des  großen 
Schriftstellers  soll  sein,  daß  ihm  der  Sinn  fehlt  für  das  Verschleierte, 
Düstere,  Böse,  den  Teufel,  die  von  den  Puritanern  ererbten  grim- 
migen Vorurteile,  Hölle,  angeborene  Verderbtheit  und  desgleichen. 


73 


Der  große  Schrittsteller  wird  vor  allen  andern  kenntlich  sein  an  seiner 
heiteren  Einfachheit,  seinem  Festhalten  an  natürlichen  Maßstäben, 
seinem  unbegrenzten  Glauben  an  Gott,  seiner  Ehrfurcht  und  daran, 
daß  in  ihm  kein  Raum  ist  für  Zweifel,  Blasiertheit,  Possen,  Spott- 
sucht oder  irgendwelche  unnatürliche  und  flüchtige  Mode. 

Ich  darf  nicht  verfehlen,  unermüdlich  immer  wieder  und  wieder 
und  noch  deutlicher  als  bisher  auf  das  erhabene  Ziel  zurückzu- 
kommen, sicherlich  das  stolzeste  und  reinste,  in  dessen  Dienst  der 
Schriftsteller  der  Zukunft,  auf  welchem  Gebiete  immer,  freudig 
wirken  mag.  (O  möchte  doch  in  der  Tat  ein  solcher  Fernblick, 
wie  wir  ihn  träumen,  uns  auch  dieses  Ideal  zu  seiner  Zeit  verwirk- 
licht sehen  lassen !)  Das  Gegengewicht  zu  der  materiellen  Zivilisation 
unserer  Rasse,  unserer  Nation,  ihres*  Wohlstands,  ihrer  Territorien, 
Fabriken,  Bevölkerung,  Erzeugnisse,  ihres  Handels  und  ihrer  Heeres- 
und Seemacht  und  der  lebendige  Atem,  der  durch  all  das  atmet, 
muß,  wie  gesagt,  ihre  moralische  Zivilisation  sein  —  deren  For- 
mulierung, Darstellung  und  Förderung  die  höchste  Aufgabe  der 
Literatur  ist.  Der  höchste  Gipfel  dieser  erhabenen  Höhe  der  Zivili- 
sation, die  sich  über  alle  Herrlichkeiten  und  Schätze  von  Wohl- 
stand, Intellekt,  Macht  und  Kunst  als  solcher  erhebt,  —  ja  sogar 
über  Theologie  und  religiösen  Eifer,  —  muß  ihre  Entwicklung 
zum  absoluten  Gewissen,  zu  moralischer  Gesundheit  und  Gerechtig- 
keit sein,  als  deren  Verkörperung  sie  aus  ewigen  Tiefen  empor- 
taucht. Selbst  in  religiösem  Eifer  liegt  noch  ein  Hauch  anima- 
lischer Glut.  Aber  moralische  Gewissenhaftigkeit  —  kristallklar, 
fleckenlos,  nicht  nur  gottgleich,  sondern  vollkommen  menschlich 
—  weckt  ewig  Ehrfurcht  und  Entzücken.  Groß  ist  fühlende  Liebe, 
selbst  in  der  Ordnung  des  rationalen  Universums.  Aber  wenn  wir 
Abstufungen  machen  sollen,  so  bin  ich  überzeugt,  daß  es  noch 
etwas  Größeres  gibt.  Kraft,  Liebe,  Verehrung,  Wohlstand,  Genie, 
Schönheit:  sie  alle  versagen  irgendwie  bei  schärfster  Betrachtung 
und  Untersuchung  in  klarsten  Stunden,  werden  irgendwie  nichtig. 
Alsdann  kommt  geräuschlos,  mit  schwebenden  Schritten,  die  höchste 
Herrin,  die  Sonne,  das  letzte  Ideal.  Mit  den  Namen  Recht,  Ge- 
rechtigkeit, Wahrheit  deuten  wir  sie  nur  an,  aber  beschreiben  sie 
nicht.  Für  die  Welt  der  Menschen  bleibt  sie  ein  Traum,  eine  Idee, 
wie  sie  es  nennen.  Aber  kein  Traum  ist  sie  dem  Weisen,  —  son- 
dern das  Stolzeste,  fast  das  einzig  Verläßliche  und  Dauernde  in 


aller  Welt.  Ihre  Analogie  im  materiellen  Universum  ist  dasjenige, 
was  diese  Welt  und  alle  Dinge  auf  ihr  zusammenhält  und  ihre 
Kräfte  ewig  sicher  und  wohlbehalten  vorwärts  trägt.  Weil  sie  im 
Leben,  in  der  Soziologie,  Literatur,  Politik,  im  Geschäftsleben  und 
selbst  im  Gottesdienst  fehlt  und  man  ihr,  heute  wie  je,  beständig 
ausweicht,  —  daher  der  Abgrund,  die  tödliche  Kluft  und  der  schwarze 
Fleck,  der  der  Zivilisation  von  heute  mit  all  ihren  unbestreitbaren 
Triumphen  und  überhaupt  aller  bisher  bekannten  Zivilisation 
Hohn  spricht. 

Die  Literatur  der  Gegenwart  ist,  obwohl  sie  gewisse  populäre 
Ansprüche  vortrefflich  und  mit  einer  Fülle  von  Sachkenntnis  und 
Wortgewandtheit  erfüllt,  dennoch  im  tiefsten  Grunde  verfälscht 
und  ungesund,  und  selbst  ihre  Fröhlichkeit  ist  angekränkelt.  Es 
tut  ihr  not,  den  Einklang  mit  der  Natur  und  dem  Geist  der  Natur 
zu  finden  und  ihn  wiederzugeben  und  seine  Gesetze  zu  erkennen 
und  zu  befolgen.  Ich  behaupte,  die  Frage  der  Natur,  im  großen 
gesehen,  schließt  die  Fragen  der  Ästhetik,  des  Gefühls  und  der 
Religion  in  sich,  und  schließt  Glückseligkeit  in  sich.  Eine  gesund 
geborene  und  auferzogene  Rasse,  aufwachsend  im  Haus  und  im 
Freien  unter  den  rechten  harmonischen  Bedingungen  für  Tätigkeit 
und  Entwicklung,  würde  wahrscheinlich,  infolge  dieser  Bedingungen, 
Genüge  darin  finden,  zu  leben,  —  und  würde  in  ihren  Beziehungen 
zu  Himmel,  Luft,  Wasser,  Bäumen  usw.  und  zu  all  dem  Zahllosen, 
was  es  an  jedem  Tag  zu  sehen  gibt,  und  in  der  Tatsache  des  Lebens 
selber  Glückseligkeit  entdecken  und  genießen,  —  und  dies  ihr  Sein 
wäre  Tag  und  Nacht  durchflutet  von  gesunder  Entzückung,  weit 
über  allen  Freuden,  die  Reichtum,  Vergnügungen  oder  selbst 
befriedigter  Intellekt,  Bildung  oder  Sinn  für  Kunst  zu  gewähren 
vermögen. 

Wer  meine  Betrachtungen  liest,  wird  ihren  Hauptgehalt  nicht 
erfassen,  wenn  er  nicht  den  Punkt  wohl  beachtet,  daß  eine  neue 
Literatur,  vielleicht  auch  eine  neue  Metaphysik,  sicherlich  eine  neue 
Poesie  meines  Erachtens  die  einzig  festen  und  würdigen  Stützen 
und  Ausdrucksmittel  der  amerikanischen  Demokratie  sein  können. 
In  der  Zukunftsliteratur  dieser  Staaten  muß  daher  vor  allen  Dingen 
die  lang  vernachlässigte  Natur,  die  echte  Natur,  die  wahre  Idee  der 
Natur  wieder  völlig  zur  Geltung  und  Herrschaft  gelangen,  den 
Dichtungen  die  alles  durchdringende  Atmosphäre  einhauchen  und 


75 


den  Maßstab  bilden  für  alle  bervorragenden  literariscben  und  äs- 
tbetischen  Scböpfungen. 

leb  meine  nicbt  die  glatten  Wege,  gestutzten  Hecken,  Bosketts 
und  Nacbtigallen  der  engliscben  Poeten,  sondern  den  ganzen  Erd- 
ball mit  seiner  geologiscben  Gescbichte,  den  Kosmos,  wie  er  Feuer 
und  Scbnee  trägt  und  durcb  den  grenzenlosen  Raum  rollt,  leicbt 
wie  eine  Feder  und  docb  Billionen  Tonnen  scbwer.  Ferner  —  da 
das,  was  wir  gegenwärtig  unvollkommen  als  Natur  bezeicbnen, 
höcbstens  soviel  bedeutet,  wie  von  dem  physischen  Gewissen,  dem 
Sinn  für  Materie  und  animalische  Gesundheit  erfaßt  werden  kann 

—  so  muß  darüber  hinaus  entschieden  das  Bewußtsein  gepflanzt 
und  entwickelt  werden,  daß  der  Mensch  etwas  unendlich  Höheres 
besitzt,  als  das  physische  Gewissen,  nämlich  das  ethische  und  geistige 
Gewissen,  das  ihn  auf  seine  Bestimmung  jenseits  des  Sichtbaren, 
Sterblichen  hinweist. 

Indem  wir  nun  wirklich  zu  den  Höhen  einer  solchen  Natur- 
anschauung emporsteigen,  schreiten  wir,  reinste  Luft  atmend,  in 
den  Betrachtungen  dieser  unserer  „Ausblicke"  fort. 

Höhepunkt  und  Endziel  literarisch-künstlerischen  Ausdrucks  und 
seine  tiefsten  Genußquellen  für  die  Menschenseele  liegen  in  der 
Metaphysik,  die  die  Mysterien  der  Geisteswelt,  der  Seele  selbst,  der 
Frage  nach  der  ewigen  Fortdauer  unserer  Identität  in  sich  schließt. 
Zu  allen  Zeiten  war  der  menschliche  Geist  auf  diese  Höhen  gerichtet 
und  wird  es  immer  sein.  Hier  wenigstens  stehen  wir  auf  gemein- 
samem Boden,  welcher  Rasse  oder  Epoche  wir  auch  angehören. 
Auch  der  Beifall  ist  einmütig,  handle  es  sich  um  Altertum  oder 
Neuzeit.  Die  Autoren,  die  auf  diesem  Gebiet  Gutes  leisten,  werden 
der  Menschheit  am  liebsten  sein,  und  ihre  Werke  werden  immer 
geschätzt  bleiben,  sie  mögen  ästhetisch  noch  so  unvollkommen  sein, 

—  mag  auch  der  äußere  Erfolg  statt  in  einem  schönen  Prozentsatz 
oder  Honorar  einfach  in  dem  Lorbeerkranz  der  Sieger  bei  den  großen 
Olympischen  Spielen  bestehen. 

Der  Gipfel  der  Literatur  und  Poesie  ist  immer  die  Religion  gewesen 
und  wird  es  immer  sein.  Die  indischen  Vedas,  die  Nackas  Zoroasters, 
der  jüdische  Talmud,  das  Alte  Testament,  das  Evangelium  Christi 
und  seiner  Jünger,  Piatos  Werke,  Mohammeds  Koran,  Snorres  Edda 
und  so  fort  bis  auf  unsere  Zeit,  bis  auf  Swedenborg  und  die  unschätz- 
baren Schöpfungen  von  Leibniz,  Kant  und  Hegel,  —  diese  sowie 


76 


solche  Dichtungen,  worin  zwar  Menschen  und  Dinge,  die  mensch- 
lichen Leidenschaften  und  die  Erscheinungen  des  stofflichen  Uni- 
versums besungen  werden,  worin  aber  der  religiöse  Grundton,  das 
Bewußtsein  vom  Mystischen,  die  Anerkennung  der  Zukunft,  des 
Unbekannten,  der  göttlichen  Allgegenwart  und  des  göttlichen  Planes 
nie  fehlt,  sondern  indirekt  allem  die  Färbung  gibt,  —  solche  Werke 
allein  stellen  die  wirklichen  Höhen  und  Gipfel  der  Literatur  dar 
und  ragen  empor  wie  die  großen  Berge  der  Erde. 

Wenn  wir  auf  diesem  Grunde  stehen  —  dem  letzten,  höchsten, 
einzig  dauernden  Grund  —  und  von  da  aus  alle  Werke  der  lite- 
rarischen und  sonstigen  Kunst  streng  beurteilen,  müssen  wir  jedes 
prätentiöse  Werk  —  seine  ästhetischen  oder  intellektuellen  Fein- 
heiten mögen  noch  so  groß  sein  —  entschieden  ablehnen,  wenn  es 
die  göttliche  Zentralidee  vom  All  verletzt  oder  ignoriert  oder  auch 
nur  nicht  preist,  —  die  Idee,  die  das  Universum  durchflutet  mit 
einer  ewigen  Stufenfolge  von  Zweck  in  der,  wenn  auch  noch  so 
langsamen  Entwicklung  des  physischen,  moralischen  und  geistigen 
Kosmos. 

Ich  sage,  wer  dieses  einfache  Bewußtsein  und  diesen  Glauben 
nicht  in  sich  aufgenommen  hat,  der  hat  vergeblich  philosophiert 
und  studiert,  wie  groß  auch  seine  äußere  Bildung  sein  mag.  Dieser 
Gedanke  ist  nicht  ganz  neu,  —  aber  es  ist  die  Aufgabe  der  Demo- 
kratie, ihn  auszuführen  und  dafür  zu  sorgen,  daß  er  mit  entschiedener 
Konsequenz  weiter  ausgebaut  wird.  Uber  den  Türen  alles  Unter- 
richts muß  die  Inschrift  stehen:  „Obschon  man  wenig  oder  nichts 
absolut  wissen  oder  erkennen  kann,  außer  von  einem  vergänglichen 
Gesichtspunkte  aus,  so  wissen  wir  doch  ein  Dauerndes,  nämlich 
daß  Raum  und  Zeit  nach  dem  Willen  Gottes  fortlaufende  Ketten, 
Vollendungen  materieller  Geburten  und  Anfänge  bilden,  allen 
Widerspruch,  Zweifel  und  Furcht  lösen  und  schließlich  Glück- 
seligkeit bringen  —  und  daß  die  Verkündigung  dieser  Geburten  als 
der  Keime  geistiger  Früchte  den  wirklichen  Verbindungsbogen 
spannt  über  allen  Unterricht,  alle  Wissenschaft." 

Die  örtlich  bedingten  Anschauungen  von  Sünde,  Krankheit,  Miß- 
gestalt, Unwissenheit,  Tod  usw.  und  ihre  Beurteilung  durch  den 
oberflächlichen  Verstand,  durch  gewöhnliche  Gesetzgebung  und 
Theologie  müssen  bekämpft  werden  durch  eine  Wissenschaft,  die 
jenen  Glauben  kühn  annimmt,  verbreitet  und  den  Samen  pflanzt 


77 


tür  höhere  Gesetze  —  (ür  die  Erklärung  des  physischen  Universums 
durch  das  geistige  —  und  die  den  Weg  bahnt  für  eine  Rehgion, 
süß  und  unanfechtbar  gleichermaßen  für  kleine  Kinder  wie  für 
große  Gelehrte. 

Die  erhebenden  und  vergeistigenden  Ideen  vom  Unbekannten 
und  Unwirklichen  müssen  mit  Nachdruck  zur  Geltung  gebracht 
werden,  da  sie  die  legitimen  Erben  des  Bekannten  und  Wirklichen 
und  mindestens  ebenso  groß  wie  ihre  Eltern  sind.  Ohne  Furcht 
vor  Spott  und  vor  der  prahlerischen  Wirklichkeit  wollen  wir  auf 
unserm  Platz  und  festen  Grunde  stehen  und  ihn  niemals  verlassen 
und  dem  wachsenden  Übermaß  und  Übermut  dieser  Wirklichkeit 
die  Stirn  bieten.  Dem  zur  Zeit  triumphierenden  Schrei  der  Sinnen- 
welt, der  Wissenschaft,  des  Fleisches,  —  dem  Schrei,  der  die  Herrlich- 
keiten von  Reichtum,  Handel  und  Landwirtschaft,  von  Logik,  In- 
tellekt und  Beweisführung,  von  unvergänglichen  Werken,  Bauten 
aus  Stein  und  Eisen  oder  selbst  die  wundervolle  Wirklichkeit  von 
Bäumen,  Erde,  Felsen  usw.  verkündet,  —  fürchtet  euch  nicht,  meine 
Brüder  und  Schwestern,  diesem  Schrei  mit  ebenso  zuversichtlicher 
Stimme  die  Überzeugung  entgegenzurufen,  die  im  tiefsten  Innern 
jeder  erleuchteten  Seele  lebt:  „Ihr  alle  seid  nichts  als  Illusionen! 
Erscheinungen!  Träume!"  —  Sicherlich  dürfen  wir  die  Wirklich- 
keit nicht  verdammen  oder  völlig  leugnen,  da  der  in  ihr  liegende 
Sinn  unerläßlich  ist;  aber  wie  klar  erkennen  wir,  daß  sie  durch 
die  Seele  hindurch  auf  ein  Ziel  hin  wandert,  das  wir  von  höheren, 
geistigen  Gesichtspunkten  aus  bereits  wahrnehmen  können;  und 
daß  sie,  so  greifbar  sie  unter  gegenwärtigen  Verhältnissen  erscheinen 
mag,  mit  allem,  was  zu  ihr  gehört,  vielleicht,  nein  sicherhch  ver- 
sinken und  verschwinden  wird. 

Ich  grüße  mit  Freuden  die  ozeangleiche,  vielfältige,  hochgespannte 
praktische  Energie,  das  Verlangen  nach  Tatsachen  und  selbst  den 
Geschäftsmaterialismus  unseres  Zeitalters,  unserer  Staaten.  Aber 
wehe  dem  Zeitalter  oder  Lande,  in  dem  diese  Dinge  und  Entwick- 
lungen bei  sich  selber  haltmachen  und  nicht  nach  Ideen  streben. 
Wie  Brennstoff  in  die  Flamme  und  Flamme  in  den  Himmel  ver- 
geht, so  muß  Wohlstand,  Wissenschaft,  Materialismus,  —  ja  auch 
diese  Demokratie,  auf  die  wir  uns  so  viel  zugute  tun,  —  unfehlbar 
aufgehen  in  die  höchste  Geistigkeit,  die  Seele.  Unendlicher  Flug! 
Unergründliches  Geheimnis!  Der  Mensch,  so  winzig,  schwillt  über 


7« 


das  wahrnehmbare  Cniversuiii  hinaus  und  überwindet  und  über- 
wölbt Raum  und  Zeit,  wenn  er  auch  nur  über  eine  große  Idee 
nachsinnt.  So,  und  nur  so,  vermag  ein  menschliches  Wesen,  sein 
Geist,  über  die  objektive  Natur  sich  zu  erheben  und  sie  zu  recht- 
fertigen, sie,  die  vielleicht  an  sich  ein  bloßes  Nichts,  aber  hierin 
über  alles  Verstehen  und  in  göttlichem  Sinne  dienlich,  unent- 
behrlich und  wichtig  ist.  Und  wie  der  Sinn  der  objektiven  Natur 
zweifellos  irgendwie  hierin  gefaltet  und  verborgen  liegt,  —  und  wie 
irgendwie  hierin  der  Daseinszweck  dieses  Erdballs  und  seiner 
mannigfachen  Formen  und  des  Tageslichts  und  der  Finsternis  der 
Nacht  liegt,  —  so  muß  auch  der  große  Schriftsteller,  und  vor  allem 
der  Dichter,  hieraus  seine  Inspiration  und  den  Pulsschlag  seines 
Blutes  holen.  Dann  mögen  wir  zu  einer  Dichtung  gelangen,  die 
der  unsterblichen  Seele  des  Menschen  würdig  sein  wird;  die  alle 
Materie  und  alle  Schau  der  Natur  in  ihrem  eigenen  Sinne  in  sich 
aufnehmen  und  dennoch,  über  all  das  hinaus,  mittelbar  und  un- 
mittelbar einen  befreienden,  lösenden,  erweiternden,  religiösen 
Charakter  haben  wird,  —  eine  Dichtung,  die  mit  der  Wissenschaft 
frohlocken,  die  moralischen  Kräfte  befruchten  und  das  Trachten 
nach  dem  Unbekannten  und  die  geistige  Versenkung  in  das  Un- 
bekannte beleben  wird  .  .  . 

„Die  wesentliche  Frage",  sagte  der  Bibliothekar  des  Kongresses 
in  einem  Vortrag  vor  der  sozial  wissenschaftlichen  Vereinigung  in 
New  York,  Oktober  1869,  „die  wesentliche  Frage  bei  der  Beur- 
teilung eines  Buches  ist:  Hat  es  irgendeiner  Menschenseele 
geholfen?"  —  Darin  liegt  der  Prüfstein  nicht  nur  für  jeden  großen 
Schriftsteller  und  sein  Buch,  sondern  für  jeden  großen  Künstler. 
Mag  sein,  daß  alle  Kunstwerke  in  erster  Linie  nach  ihren  künst- 
lerischen Qualitäten  beurteilt  werden  müssen,  nach  ihrer  Gestaltungs- 
kraft, ihren  dramatischen  oder  malerischen  Fähigkeiten,  ihrer 
Kunst,  eine  Handlung  zu  schürzen,  oder  ihrem  Wohllaut  usw. 
Aber  wenn  sie  den  Anspruch  erheben,  Werke  ersten  Ranges  zu 
sein,  so  müssen  sie  streng  und  scharf  danach  beurteilt  werden,  ob 
sie,  im  höchsten  Sinn  und  immer  nur  mittelbar,  in  den  ethischen 
Prinzipien  wurzeln  und  deren  Ausstrahlung  sind,  und  ob  sie  die 
Kraft  haben,  zu  befreien,  zu  erheben,  zu  erweitern. 

Gleichwie  im  Wirken  des  Kosmos  eine  sittliche  Tendenz  lebt, 
eine  sichtbare  oder  unsichtbare,  allem  zugrunde  liegende  Absicht, 


79 


deren  Ergebnis  und  Rechtfertigung  wir  geduldig  abwarten  müssen 
und  die  alle  Meteorologie,  alle  Fülle  der  Erscheinungen  in  Mineral-, 
Pflanzen-  und  Tierreich  belebt,  —  all  das  physische  Wachstum  und 
Werden  des  Menschen  und  die  gesamte  Geschichte  der  Rassen  in 
Politik,  Religion,  Krieg  usw.,  —  so  auch  in  dem  Werk,  in  der  Fülle 
der  Werke  des  größten  Schriftstellers.  Dies  ist  der  letzte,  tiefste 
Maßstab  und  Prüfstein  einer  literarischen  oder  künstlerischen 
Leistung  ersten  Ranges,  der,  wenn  richtig  verstanden  und  ange- 
wendet, sicherlich  zu  Werken  und  Büchern  führen  muß,  edler  als 
alle  bisher  bekannten.  Sieh  auf  die  Natur  (dieses  einzige  voll- 
kommene, wirkliche  Gedicht),  die  so  gelassen  inmitten  des  göttlichen 
Planes  ruht,  allumfassend,  zufrieden,  unbekümmert  um  alle  Eintags- 
kritik und  alle  die  endlosen,  wortreichen  Schwätzer.  Und  höre  auf 
das  Bewußtsein  der  Seele,  die  ewige  Identität,  den  Gedanken,  das 
Etwas,  vor  dem  selbst  die  Bedeutung  von  Demokratie,  Kunst, 
Literatur  usw.  zusammenschrumpft  und  partiell  und  meßbar  wird, 
—  das  Etwas,  das  vollkommen  befriedigt  (was  jene  nicht  tun). 
Dieses  Etwas  ist  das  All  und  das  Bewußtsein  des  Alls,  zugleich 
mit  dem  Bewußtsein  der  Ewigkeit  und  dem  Bewußtsein  der  Seele 
von  sich  selbst,  die,  immerdar  unzerstörbar,  fröhlich  obenauf  durch 
den  Raum  segelt  zu  allen  Bereichen  hin  wie  ein  Schiff  auf  See. 
Und  nochmals  höre  auf  den  Herzschlag  in  aller  Materie  und  allem 
Geist,  wie  er  unablässig  klopft,  —  die  ewigen  Pulsschläge,  die  ewige 
Systole  und  Diastole  des  Lebens  in  den  Dingen,  —  daran  ich  fühle 
und  erkenne,  daß  Tod  nicht,  wie  man  glaubte,  das  Ende  ist,  sondern 
der  wahre  Anfang,  —  und  daß  nichts  je  verloren  gegangen  ist  oder 
verloren  gehen  und  sterben  kann,  weder  Seele  noch  Stoff. 

In  der  Zukunft  dieser  Staaten  müssen  unermeßlich  größere  Dichter 
erstehen,  die  die  großen  Gedichte  des  Todes  schaffen.  Die  Gedichte 
des  Lebens  sind  grof3,  aber  wir  brauchen  die  Gedichte  vom  Zweck 
des  Lebens  nicht  nur  in  ihm  selbst,  sondern  über  es  hinaus.  Ich 
habe  Homer  gepriesen,  die  heiligen  Sänger  des  Judentums,  Aschy- 
lus,  Juvenal,  Shakespeare  usw.  und  ihren  unschätzbaren  Wert  an- 
erkannt. Aber  ich  sage  (vielleicht  mit  Ausnahme  der  zweitgenannten, 
in  mancher,  nicht  jeder  Hinsicht):  es  müssen,  für  die  Zwecke  der 
Zukunft  und  der  Demokratie,  Dichter  erscheinen  (wage  ich  es  aus- 
zusprechen?) von  höherem  Rang  als  jene  alle,  —  Dichter,  die  nicht 
nur  von  der  religiösen  Glut  und  Hingabe  Jesaias  erfüllt  sind  oder 


80 


von  dem  Reichtum  des  epischen  Talents  Homers  oder  der  stolzen 
Charaktere  Shakespeares,  sondern  die  auch  mit  den  Prinzipien  der 
Philosophie  Hegels  und  mit  moderner  Wissenschaft  in  Einklang 
stehen.  Amerika  und  die  Welt  braucht  ein  Geschlecht  von  Sängern, 
die  jetzt  und  immerdar  das  nationale  physische  Sein  des  Menschen 
mit  der  Gesamtheit  von  Zeit  und  Raum,  mit  der  vielfältigen  Er- 
scheinungsfülle der  Natur,  die  ihn  umgibt  und  ihn  ewig  beun- 
ruhigt, da  sie  zugleich  ein  Teil  von  ihm  und  doch  kein  Teil  von 
ihm  ist,  so  verknüpfen  und  in  Einklang  bringen,  daß  sie  ihn  mit 
völliger  Harmonie,  Befriedigung  und  Ruhe  erfüllen. 

Uralter  Glaube,  den  die  Wissenschaft  jetzt  verscheucht  hat,  muß 
wiederhergestellt,  durch  dieselbe  Macht,  die  sein  Schwinden  ver- 
ursachte, wiedergebracht  werden  -—  wiederhergestellt  zu  neuem 
Schwung,  tiefer,  weiter,  höher  als  je.  Wahrlich,  diese  allgemeine 
Blasiertheit,  diese  feige  Ängstlichkeit,  dieses  Schaudern  vor  dem  Tode, 
diese  niedrigen,  entwürdigenden  Anschauungen  dürfen  den  Geist, 
der  die  zukünftige  Gesellschaft  durchdringen  soll,  nicht  auf  immer 
beherrschen,  wie  es  in  der  Vergangenheit  der  Fall  war  und  jetzt 
ist.  Was  der  Römer  Lukretius  in  edelster  Absicht,  aber  allzu  blind- 
lings für  seine  und  die  folgende  Zeit  negativ  zu  tun  versuchte, 
muß  positiv  von  einem  großen,  künftigen  Schriftsteller,  besonders 
Dichter  geleistet  werden,  der,  immer  ganz  Dichter  bleibend,  dennoch 
zugleich  alle  Erkenntnisse  der  Wissenschaft  in  seine  Geistigkeit  auf- 
nehmen und  aus  beiden  Elementen  und  seinem  eigenen  Genius  heraus 
das  große  Gedicht  vom  Tode  schaffen  wird.  Dann  wird  der  Mensch 
in  Wahrheit  der  Natur  und  Raum  und  Zeit  wissenschaftlich  und 
liebend  zugleich  gegenübertreten  und  seinen  richtigen  Platz  ein- 
nehmen, gerüstet  fürs  Leben,  Herr  über  Glück  und  Unglück.  Und 
dann  wird  das  lang  Ersehnte  erfüllt  sein  und  das  Schiff  einen  Anker 
haben,  der  ihm  auf  all  seinen  früheren  Fahrten  gefehlt  hat. 

Noch  andere  Normen  und  Weisungen  gibt  es  für  die  Werke 
großer  Schriftsteller.  Das,  was  in  Wahrheit  die  soziale  und  poli- 
tische Welt  im  Gleichgewicht  erhält,  ist  nicht  so  sehr  Gesetzgebung, 
Polizei,  Verträge  und  Furcht  vor  Strafe,  sondern  der  heimliche, 
ewige,  intuitive  Sinn  der  Menschheit  für  Redlichkeit,  Männlichkeit, 
Anstand  usf.  Diese  beständige  Regulierung,  Kontrolle  und  Aufsicht 
auf  dem  Wege  der  Selbsthilfe  ist  in  der  Tat  die  conditio  sine  qua 
non  der  Demokratie;  und  eines  der  höchsten  und  wichtigsten  Ziele 


6    Whitman  I 


8i 


demokratischer  Literatur  wäre  es,  diesen  Sinn  in  Individuen  und 
Gesellschaft  zu  entwickeln,  zu  pflegen  und  zu  stärken.  Eine  starke 
Meisterschaft  des  überlegenen  Ich  über  die  schwächere  Allgemein- 
heit muß  durch  die  Schriftsteller  unterstützt  und  sichergestellt 
werden,  wenn  auch  nur  indirekt  dadurch,  daß  er  in  seinen  Werken 
für  die  demokratischen  Individualitäten  sowohl  wie  für  die  demo- 
kratische Gemeinschaft  das  Vorbild  erhabener,  leidenschaftlicher 
Körperlichkeit  und  in  und  mit  ihr  das  eines  erhabenen,  gebiete- 
rischen Geistes  schafft. 

Ich  gehe  noch  weiter  und  blicke  —  für  alle  Fälle  —  der  Tat- 
sache in  die  Augen,  daß  die  Vereinigten  Staaten  machtvolle  ein- 
heimische Philosophen,  Redner  und  Dichter  brauchen  werden  als 
zusammenhaltende  Kräfte  in  kommenden  Zeiten  der  Gefahr,  zum 
Schutz  gegen  Zerstörung  und  Zerfall.  Denn  die  Geschichte  ist  lang, 
lang,  lang.  Man  mag  die  Möglichkeiten  drehen  und  wenden  wie 
man  will,  das  Problem  der  Zukunft  Amerikas  ist  in  gewissen  Be- 
ziehungen ebenso  dunkel  wie  umfangreich.  Stolz,  Wettbewerb, 
Sonderinteressen,  frevelhafter  Eigensinn  und  beispiellose  Willkür 
brüten  schon  über  uns.  Wer  soll  das  schwerfällige  Ungeheuer  — 
wer  soll  Behemoth  aufhalten?  wer  Leviathan  zügeln?  —  Wir  mögen 
es  bemänteln,  wie  wir  wollen,  quer  über  den  Wegen  unseres  Fort- 
schritts erhebt  sich  riesig  und  dämmerig  die  Ungewißheit  und  furcht- 
bares, drohendes  Dunkel.  Es  ist  zwecklos,  es  zu  leugnen:  die  Demo- 
kratie treibt  in  geiler  Fülle  die  dichtesten,  tödlichsten  Giftpflanzen 
und  -früchte  von  allen,  lockt  immer  schlimmere  und  schlimmere 
Eindringlinge  herbei  —  und  braucht  neuere,  reichere,  stärkere, 
kühnere  Verteidiger  und  Bezwinger.  Unsere  Länder,  die  so  viel  um- 
fassen (die  in  der  Tat  alle  aufnehmen  und  keinen  zurückweisen), 
tragen  in  ihrer  Brust  auch  die  Flamme,  die  fähig  ist,  sie  selber  zu 
verzehren  und  uns  alle.  So  kurz  auch  die  Spanne  unseres  natio- 
nalen Daseins  erst  ist,  so  sind  doch  schon  Tod  und  Niedergang  bis 
in  dichteste  Nähe  über  uns  gekommen,  und  werden  wiederum 
kommen,  ohne  Zweifel,  wenn  sie  auch  jetzt  abgewehrt  sind.  Künf- 
tige Geschlechter  werden  vielleicht  nie  wissen,  aber  ich  weiß,  mit 
wie  knapper  Not  im  verflossenen  Sezessionskrieg  unsere  National- 
einheit (in  der,  wie  in  einem  Schiff  im  Sturm,  all  unser  bestes  Sein, 
Hoffen  und  Können  auf  Gedeih  oder  Verderb  verfrachtet  war  und 
noch  verfrachtet  ist)  mehr  als  einmal  und  mehr  als  zwei-  und 


82 


dreimal  just  um  ein  Haar  der  Vernichtung  entging.  Ach,  daran 
zu  denken!  an  die  Todesangst  und  den  blutigen  Schweiß  mancher 
dieser  Stunden!  an  diese  grausamen,  scharfen,  hangenden  Ent- 
scheidungsstunden ! 

Und  heute?  wo  es  inmitten  dieser  Wirbelstürme  von  unglaub- 
licher Schwätzerei,  blinder  Parteiwut,  Unglauben  völlig  an  Kapi- 
tänen und  Führern  ersten  Ranges  fehlt,  bei  höchster  Gemeinheit 
und  Niedrigkeit  der  sich  an  der  Oberfläche  breitmachenden  Massen, 
und  wo  jenes  furchtbare  Problem,  die  Arbeiterfrage,  sich  wie  eine 
gähnende  Kluft  zu  öffnen  beginnt,  die  mit  jedem  Jahr  zusehends 
weiter  wird  —  was  für  Aussichten  haben  wir  da?  Wir  segeln  auf 
einer  gefährlichen  See  voll  kochender,  sich  kreuzender  Ströme  und 
Unterströme  und  Strudel  —  alle  so  finster  und  unerprobt  —  und 
wohin  sollen  wir  wenden?  Es  ist,  als  hätte  der  Allmächtige  vor 
diese  Nation  Seekarten  gebreitet,  um  ihr  die  Wege  zu  weisen  zu 
einem  Herrscherschicksal,  strahlend  wie  die  Sonne,  aber  voll  tiefer 
innerer  Schwierigkeiten  und  schwärender  Leiden  menschlicher  Un- 
vollkommenheit  —  als  wollte  er  sagen:  Hab  acht!  die  einzigen 
W^ege,  die  dich  zur  Entwicklung  führen,  sind  lang,  voll  mannig- 
facher furchtbarer  Hindernisse  und  Stürme!  —  Ihr  spracht,  o 
Länder  Amerikas,  in  eurer  Seele  zu  euch:  Wir  wollen  das  Reich 
aller  Reiche  sein,  wir  wollen  alles  andere.  Vergangenes  und  Gegen- 
wärtiges, überschatten  und  die  Geschichte  der  Dynastien  der  Alten 
Welt  und  ihre  Eroberungen  als  etwas  Überwundenes  hinter  uns 
lassen  —  wir  wollen  eine  neue  Geschichte  machen,  eine  Geschichte 
der  Demokratie,  neben  der  die  alte  Geschichte  zwergenhaft  er- 
scheinen soll  — ,  wir  allein  wollen  der  Beginn  von  etwas  viel  Um- 
fassenderem und  die  Krönung  unserer  Zeit  sein.  Wenn  das,  ihr 
Länder  Amerikas,  der  Entschluß  eurer  Seele  ist  und  der  Preis,  um 
den  ihr  ringt,  dann  sei  es  so!  Aber  bedenkt,  was  es  euch  kosten 
wird  und  schon  jetzt  kostet.  Glaubtet  ihr,  daß  Größe  für  euch 
reifen  würde  wie  eine  Birne?  Wollt  ihr  Größe  erlangen,  so  wisset, 
daß  ihr  sie  erobern  müßt  durch  Generationen  und  Jahrhunderte 
hindurch  —  daß  ihr  dafür  bezahlen  müßt  mit  einem  entsprechenden 
Preis.  Auch  euer  wie  aller  Länder  Teil  ist  Kampf  und  Verrat, 
Unehrlichkeit  der  Ämter,  innerlich  fauler  Wohlstand,  Übersätti- 
gung im  Reichtum,  der  Dämon  der  Gier,  die  Hölle  der  Leiden- 
schaft, Verfall  des  Glaubens,  ermüdender  Aufschub,  versteinerte 


83 


Trägheit,  immer  neue,  unvermeidliche  Revolutionen,  Heilsverkünder, 
Gewitter,  Tode  und  Geburten,  immer  neuer  Aufschwung  zu  immer 
stärkeren  Ideen  und  Menschen. 

Und  dennoch  —  versunken  in  das  dunkel- verworrene  Rätsel 
unserer  Zukunft,  dessen  langwierige  Lösung  sich  geheimnisvoll 
durch  die  Zeiten  erstreckt  —  habe  ich  von  einer  kleinen  oder  viel- 
leicht schon  größeren  Schar  geträumt,  ja  sie  bereits  in  Andeutungen 
geschildert  —  eine  Schar  von  Tapferen  und  Wahrhaftigen,  wie  die 
Welt  sie  noch  nicht  sah  —  voll  gewappnet  und  gerüstet  —  vielleicht 
getrennt  durch  verschiedene  Zeiten  und  Staaten,  im  Süden,  Norden, 
Osten  oder  Westen  —  an  der  pazifischen  oder  atlantischen  Küste,  in 
den  Südstaaten  oder  in  Kanada  —  in  dem  einen  Jahr  oder  Jahrhundert 
hier,  in  anderen  Jahrhunderten  dort  —  aber  immer  in  Einheit,  in 
seelischer  Geschlossenheit,  mit  wachem  Gewissen  und  Gott-Bewußt- 
sein, erleuchtete  Vollbringer,  nicht  nur  in  der  Literatur,  der  größten 
Kunst,  sondern  in  jeder  Kunst  —  ein  neuer  unsterblicher  Orden, 
eine  neue  Dynastie,  von  Generation  zu  Generation  überliefert  — 
eine  Schar,  eine  Klasse,  mindestens  ebenso  fähig,  sich  mit  den  Ge- 
fahren und  Nöten  unserer  Zeit  zu  messen,  wie  jene,  die  zu  ihrer 
Zeit  so  lange  und  erfolgreich  in  Harnisch  oder  Kutte  die  feudale 
oder  priesterliche  Welt  aufrechthielten  und  ruhmvoll  machten.  Im 
Gegensatz  zum  Rittertum  und  all  den  geschwundenen,  zahllosen 
höfischen  Helden,  alten  Altären,  Abteien,  Priestern  vergangener 
Geschlechter  und  Reihen  von  Geschlechtern  ruft  heute  eine  viel 
ritterlichere  und  heiligere  Sache  in  einer  Neuen  Welt  zu  größerer, 
erhabenerer  Tat,  die  sie  auch  vollbringen  wird,  und  die  mehr  sein 
wird  als  das  bloße  Widerspiel  oder  Seitenstück  dazu. 

Nachdem  wir  nun  endgültig  auf  einem  Höhepunkt  dieser  „Aus- 
blicke" angelangt  sind,  gestehe  ich,  daß  die  Verkündigung  einer 
solchen  Klasse  und  Institution  —  eines  neuen  und  größeren  Ordens 
der  Literatur  —  und  der  Glaube  an  sie  und  ihre  Möglichkeit  (nein, 
Gewißheit)  all  diesen  Spekulationen  zugrunde  liegt,  und  daß  alles 
übrige,  all  ihre  andern  Teile,  darauf  aufgebaut  und  gegründet 
sind.  Die  Schöpfung  einer  solchen  Institution  erscheint  mir  in 
der  Tat  als  die  Vorbedingung  nicht  nur  für  unsere  künftige  natio- 
nale und  demokratische  Entwicklung,  sondern  überhaupt  für  unsern 
dauernden  Bestand.  Die  höchst  verkünstelten,  materialistischen 
Grundlagen  der  modernen  Zivilisation  mit  ihren  entsprechenden 


84 


Lebenseinrichtungen  und  -methoden,  mit  ihrer  übermäßigen  Geltung 
boßen  Intellekts,  mit  den  verderblichen  Einflüssen  von  Reichtum 
sowohl  wie  Armut  und  dem  Fehlen  aller  hohen  Charakterideale, 

—  mit  all  der  Fülle  von  Tendenzen  und  Lebensformen,  denen  zu 
widerstehen  nur  wenige  stark  genug  sind  und  die  jetzt  mit  maschinen- 
hafter  Geschwindigkeit  die  Menschengeschlechter  nur  noch  ein- 
förmig wie  gußeißerne  Ware  auszuformen  scheinen,  —  und  die  wir 
doch  alles  in  allem,  im  Vergleich  zum  feudalen  Zeitalter,  schließ- 
lich hinnehmen  und  willkommen  heißen  müssen  und  aus  denen 
wir  das  Beste  machen  müssen  um  ihrer  ozeangleichen  realen  Groß- 
artigkeit willen  und  weil  sie  die  Massen  im  großen  und  ganzen 
unwiderstehlich  durchkneten,  —  ich  sage,  all  diese  furchtbare  Herr- 
schaft lediglich  materialistischer  Einflüsse  auf  das  jetzige  Leben  der 
Vereinigten  Staaten  mit  all  ihren  bereits  sichtbaren  Ergebnissen, 
die  sich  immer  mehr  häufen  und  weit  in  die  Zukunft  hinein  wirken, 

—  all  das  muß  entweder  durch  mindestens  ebenso  subtile  und  mäch- 
tige Einflüsse  wettgemacht  werden,  die  auf  Vergeistigung,  reines 
Gewissen,  echtes  Schönheitsgefühl  und  unabhängige,  erstlingsfrische 
Mannheit  und  Weibheit  abzielen;  —  oder  aber  unsere  moderne 
Zivilisation  mit  all  ihren  Errungenschaften  ist  umsonst,  und  wir 
sind  auf  dem  Wege  zu  einem  Schicksal,  einem  Zustand,  der,  in 
dieser  ihrer  realen  Welt,  dem  der  Verdammten  des  Fabelreichs 
gleicht. 

Wenn  wir  so  auf  die  kommenden,  in  aller  Gelassenheit  nahen- 
den Zeiten  blicken  und  auf  diesen  neuen  Orden,  der  in  ihnen  er- 
wachsen soll,  und  auf  die  endlose  Kette  von  Heranbildung,  Ent- 
wicklung, Entfaltung  in  Nation  und  Mensch,  die  der  Sinn  des  Lebens 
ist,  so  sehen  wir,  in  Vorzeichen,  inmitten  dieser  Ausblicke  und  Hoff- 
nungen, neue  gesetzschaffende  Kräfte  gesprochener  und  geschriebener 
Sprache,  —  nicht  nur  pädagogischer  Formen,  korrekt,  regelrecht, 
in  aller  Uberlieferung  bewandert,  geschaffen  für  äußere  Richtig- 
keit, schöne  Worte,  endgültig  geprägte  Gedanken,  —  sondern  eine 
Sprache,  die  umweht  ist  vom  Hauch  der  Natur,  die  Sprünge  macht 
kopfüber,  der  es  vor  allem  auf  Impuls  und  Wirkung  ankommt  und 
auf  das  Wachstum  dessen,  was  sie  pflanzen  und  zu  starker  Ent- 
wicklung bringen  will,  —  die  mit  Leben  und  Charakter  wetteifert 
und  die  Dinge  nicht  so  sehr  ausspricht,  als  andeutet  und  zu  ihnen 
hinzwingt.  In  der  Tat,  eine  neue  Theorie  literarischen  Schaffens 


für  höchste  Werke  der  Einbildungskraft,  besonders  für  höchste  Dich- 
tung, ist  der  einzige  Weg,  der  den  Vereinigten  Staaten  offen  ist. 
Bücher  müssen  verlangt  und  beschafft  werden  von  der  Voraussetzung 
aus,  daß  Lesen  kein  Halbschlaf  ist,  sondern  im  höchsten  Sinn  eine 
Geistesübung,  ein  gymnastisches  Ringen;  daß  der  Leser  selbst  etwas 
dabei  tun  muß,  daß  er  wachsam  sein  muß,  daß  er  oder  sie  in  der 
Tat  selbst  das  Gedicht,  die  Beweisführung,  die  Geschichte,  den 
metaphysischen  Essay  mit  aufbauen  muß  und  der  Text  nur  die  An- 
deutungen, den  Schlüssel,  den  Ausgangspunkt  oder  das  Gerippe 
gibt.  Nicht  so  sehr  das  Buch  muß  komplett  sein,  sondern  der  Leser. 
Auf  solche  Weise  könnte  eine  Nation  geschmeidiger  und  athletischer 
Geister  sich  bilden,  wohl  trainiert,  intuitiv,  gewöhnt,  sich  auf  sich 
selber  zu  verlassen  und  nicht  auf  ein  paar  Koterien  von  Schrift- 
stellern. 

Wenn  wir  diesem  Gedanken  nachgehen,  so  sehen  wir,  nicht  daß 
alle  unsere  ererbten  Bibliotheken ,  all  die  zahllosen  Bücher  in 
Schränken,  alle  die  Urkunden  usw.  etwas  Geringes  sind,  —  son- 
dern wie  groß  die  Gefahr  ist,  sich  ganz  von  ihnen  abhängig  zu 
machen,  von  den  Adern  ohne  Blut,  den  Muskeln  ohne  Nerv,  der 
falschen  Anwendung  aus  zweiter  und  dritter  Hand.  Wir  sehen,  daß 
das  wahre  Interesse  dieses  unseres  Volkes  an  der  Theologie,  Ge- 
schichte, Dichtung,  Politik  und  den  persönlichen  Vorbildern  der  Ver- 
gangenheit (der  britischen  Inseln  zum  Beispiel,  aber  überhaupt  der 
gesamten  Vergangenheit)  nicht  notwendig  darin  liegt,  uns  selbst  oder 
unsere  Literatur  nach  ihnen  zu  modeln,  sondern  uns  mit  ihnen, 
als  mit  etwas  Abgeschlossenem,  Gültigerem,  zu  vergleichen,  ihre 
Warnungen  zu  hören  und  durch  sie  einen  Einblick  in  uns  selbst, 
in  unsere  eigene  Gegenwart  und  unsere  viel  größere,  andersartige 
Geschichte,  Religion  und  Gesellschaftsform  der  Zukunft  zu  gewinnen. 
Wir  sehen,  daß  fast  alles,  was  bisher  mit  bezug  auf  die  Mensch- 
heit unter  der  Herrschaft  der  feudalen  und  östlichen  Institutionen 
und  Religionen  und  für  andere  Länder  geschrieben,  gesungen  oder 
festgestellt  worden  ist,  von  neuem  geschrieben,  gesungen  und  fest- 
gestellt werden  muß  in  Ausdrucksformen,  die  der  Institution  dieser 
unserer  Staaten  entsprechen  und  sich  ihr  gehorsam  einfügen  und 
anpassen. 

Gleichwie  im  physischen  Kosmos  nach  meteorologischen,  pflanz- 
lichen und  tierischen  Zeitaltern  zuletzt  der  Mensch  sich  erhebt, 


86 


der  aus  ihnen  geboren  ist  und  bestimmt,  sie  zu  erproben,  in  sich 
zu  konzentrieren,  mit  Staunen  und  Liebe  auf  sie  zu  blicken,  über 
sie  zu  herrschen,  sie  zu  krönen  und  sie  in  höhere  Reiche  empor- 
zutragen, —  so  sehen  wir  auch  aus  den  sozialen  und  politischen 
Zeitaltern  der  Vergangenheit  jetzt  diese  Staaten  sich  erheben.  Wir 
sehen,  daß  nicht,  wie  viele  meinten,  alles  bereits  erreicht  und  vollendet 
ist,  sondern  daß  in  Wahrheit  das  Größte  immer  noch  zu  tun  bleibt, 
und  wir  entdecken,  daß  das  Werk  der  Neuen  Welt  nicht  beendigt, 
sondern  nur  eben  erst  begonnen  ist. 

Wir  sehen  unser  Land,  Amerika  und  seine  Literatur,  Ästhetik 
usf.  im  wesentlichen  an  als  die  werdende  Ausdrucksform  oder  als 
die  breiteste  Offenbarung  der  tiefsten  Grundelemente  und  der  höch- 
sten Endziele  der  Geschichte  und  des  Menschen  —  als  die  Bildnerin 
unserer  eigensten  Physiognomie  (nach  den  ewigen  Gesetzen  und 
Bedingungen  der  Schönheit),  die  subjektive  Bindung  und  den  Aus- 
druck des  Objektiven,  hervorgehend  aus  unserer  besonderen  Zu- 
sammensetzung, Überlieferung  und  Anschauung  —  und  als  Nieder- 
schlag und  Zusammenfassung  der  nationalen  Mentalität,  Charakter- 
eigenart, Berufung,  der  nationalen  Heldentaten,  Kämpfe  und  Frei- 
heiten —  wo  alles  das  in  einer  einheimischen  literarischen  und 
künstlerischen  Formulierung  seinen  höchsten  Ausdruck  findet,  der 
unsere  Nation  davor  bewahren  wird,  ziellos  herumzutappen  und 
all  ihre  materielle  Größe,  so  imposant  und  gewaltig  sie  ist,  nach 
flüchtigem  Glänze  schwinden  zu  sehen,  sondern  der  Amerika  dazu 
verhelfen  wird,  sich  selbst  zu  verstehen,  hochherzig  zu  leben  und 
aus  seiner  Fülle  zu  spenden  und  eine  vollgestaltete  Welt  zu  werden, 
die,  sicher  in  sich  selber  ruhend,  erleuchtet  und  erleuchtend,  ihre 
Bahn  durchläuft,  —  göttliche  Mutter  nicht  allein  körperlicher,  son- 
dern geistiger  anderer  Welten,  in  endloser  Nachfolge  durch  die 
Zeiten  —  gegründet  immer  auf  das  eine,  Wesentliche:  den  Durch- 
schnitt, das  leibhaftig  konkrete,  demokratische  Volkstümliche,  auf 
dem  aller  Aufbau  der  Zukunft  für  alle  Zeiten  ruhen  muß. 


TAGEBUCH  1862-1864 


An  der  Front 

Falmouth,  Virginia,  g^eg^enüber  Fredericksburg 
21.  Dezember  1862. 
Beginne  mit  meinen  Besuchen  in  den  Feldlazaretten  der  Potomac- 
Armee.  Verbringe  einen  großen  Teil  des  Tages  in  einem  geräumigen 
Backsteingebäude  am  Ufer  des  Rappahannock,  das  seit  der  Schlacht* 
als  Lazarett  dient;  scheint,  daß  nur  die  am  schwersten  Verwundeten 
hier  aufgenommen  sind.  Draußen  unter  einem  Baum,  zehn  Schritt 
von  der  Front  des  Hauses,  bemerke  ich  einen  Haufen  amputierter 
Füße,  Beine,  Arme,  Hände  usw.,  eine  volle  Ladung  für  einen  ein- 
spännigen Karren.  Mehrere  Tote  liegen  dabei,  jeder  mit  seiner 
braunwollenen  Decke  zugedeckt.  Im  Hof,  gegen  den  Fluß  hmab, 
sind  frische  Gräber,  meistens  von  Offizieren;  die  Namen  auf  Faß- 
dauben oder  Holzlatten,  die  in  den  schmutzigen  Boden  gesteckt  sind. 
(Die  meisten  dieser  Leichen  wurden  später  ausgegraben  und  zu 
ihren  Angehörigen  nach  Norden  geschafft.)  Das  große  Gebäude  ist 
im  unteren  und  oberen  Stockwerk  gedrängt  voll ;  alles  improvisiert, 
kein  System,  alles  ziemlich  schlecht,  aber  zweifellos  so  gut,  als  es 
sich  eben  machen  läßt;  alle  Wunden  sehr  schwer,  einige  furchtbar; 
die  Leute  noch  in  ihren  vertragenen  Uniformen,  schmutzig  und 
blutig.  Unter  den  Verwundeten  sind  auch  gefangene  Rebellen,  Sol- 
daten und  Offiziere.  Mit  einem  von  ihnen,  einem  Mississippier, 
einem  Hauptmann,  der  einen  bösen  Schuß  im  Bein  hatte,  unter- 
hielt ich  mich  eine  Zeitlang;  er  bat  mich  um  Zeitungen,  die  ich 
ihm  gab.  (Ich  sah  ihn  ein  Vierteljahr  nachher  in  Washington;  das 

*  Bei  Fredericksburg.    (Anmerkung  des  Übersetzers.) 


88 


Bein  war  amputiert;  sonst  ging  es  ihm  gut.)  Ich  ging  durch  die 
unteren  und  oberen  Zimmer.  Einige  von  den  Leuten  lagen  im 
Sterben.  Ich  hatte  bei  diesem  Besuch  nichts  zu  verschenken,  son- 
dern schrieb  nur  im  Auftrag  der  Verwundeten  ein  paar  Briefe  an 
Verwandte  zu  Hause,  Mütter  usw.  Sprach  auch  mit  dreien  oder 
vieren,  die  am  empfänglichsten  schienen  und  es  nötig  hatten. 

2  3.  bis  3i.  Dezember. 

Die  Folgen  der  letzten  Schlacht  sind  hierherum  überall  wahr- 
zunehmen, an  Tausenden  von  Fällen  (Hunderte  sterben  täglich)  in 
den  Feld-,  Brigade-  und  Divisionslazaretten.  Das  sind  nur  Zelte,  und 
zwar  zum  Teil  sehr  ärmliche.  Die  Verwundeten  liegen  am  Boden, 
glücklich,  wenn  ihre  Decken  auf  Schichten  von  Tannen-  oder  Fich- 
tenzweigen oder  kleinen  Blättern  ausgebreitet  sind.  Keine  Betten; 
selten  auch  nur  eine  Matratze.  Es  ist  ziemlich  kalt.  Der  Boden  ist 
hart  gefroren  und  es  schneit  mitunter.  Ich  gehe  von  einem  zum 
andern.  Ich  weiß  nicht,  ob  ich  diesen  Verwundeten  und  Sterbenden 
viel  helfe;  aber  ich  kann  sie  nicht  verlassen.  Dann  und  wann  hält 
sich  ein  junger  Mensch  krampfhaft  an  mir  fest,  und  ich  tue  für  ihn, 
was  ich  kann;  auf  jeden  Fall  bleibe  ich  bei  ihm  und  sitze  stunden- 
lang neben  ihm,  wenn  er  es  haben  will. 

Da  liegen  sie  auf  einem  freien  Platz  im  Walde,  zwei-  bis  drei- 
hundert arme  Kerls  —  das  Ächzen  und  Schreien  —  der  Blutgeruch 
vermischt  mit  dem  frischen  Duft  der  Nacht,  des  Grases,  der  Bäume 

—  dieses  Schlachthaus !  Oh,  gut  ist  es,  daß  ihre  Mütter,  ihre  Schwe- 
stern sie  nicht  sehen  können,  —  daß  sie  sich  das  nicht  vorstellen 
können,  nie  vorgestellt  haben.  Ein  Mann  ist  von  einem  Granat- 
splitter getroffen,  ins  Bein  und  in  einen  Arm  —  beide  sind  ampu- 
tiert —  da  liegen  die  abgetrennten  Glieder.  Andern  sind  die  Beine 
abgeschossen  —  andere  haben  Kugeln  in  der  Brust  —  andere  un- 
beschreiblich fürchterliche  Wunden  im  Gesicht  oder  im  Kopf,  alle 
verstümmelt,  ekelerregend,  zerfleischt,  aufgerissen,  —  manche  im 
Unterleib  —  manche  sind  noch  Knaben  —  viele  Rebellen  dabei, 
schwer  verletzt  —  die  Reihe  kommt  an  sie  wie  an  die  übrigen  — 
die  Arzte  behandeln  sie  gerade  so.  So  sieht  es  im  Verwundetenlager 
aus  —  ein  Fragment,  ein  entfernter  Widerschein  der  blutigen  Szene 

—  während  über  das  Ganze  der  klare  große  Mond  hin  und  wieder 
sein  weiches,  ruhiges  Licht  ausgießt.  Mitten  im  Walde  diese  Szene 


89 


fliehender  Seelen  —  unter  dem  Knattern  und  Krachen  und  gellenden 
Geschrei  —  der  leise  Duft  des  Waldes  —  und  doch  der  beißende, 
erstickende  Rauch  —  der  Glanz  des  Mondes,  der  immer  wieder  so 
friedlich  vom  Himmel  herabblickt  —  das  Gewölbe  so  himmlisch  — 
das  Helldunkel  dort  oben,  diese  schwimmenden  oberen  Meere  — 
einige  große,  friedliche  Sterne  dahinter,  die  schweigend  und  ge- 
lassen hervorkommen  und  dann  verschwinden  —  die  melancholische, 
verhängte  Nacht  droben  und  ringsumher.  Und  dort,  auf  den  Wegen, 
den  Feldern  und  in  den  Wäldern  dieser  Kampf  —  niemals  und 
nirgends  ein  so  erbitterter  —  beide  Parteien  jetzt  in  voller  Wucht  — 
Massen  —  kein  Scheingefecht,  kein  halbes  Spiel,  sondern  grimmige, 
wilde  Dämonen  kämpfen  hier  —  Tapferkeit  und  Todesverachtung 
die  Regel,  Ausnahmen  so  gut  wie  keine. 

Welche  Geschichte  kann  je  —  denn  wer  weiß  alles  —  das  wütend 
entschlossene  Ringen  der  Armeen  in  all  ihren  einzelnen  großen  und 
kleinen  Abteilungen  darstellen  —  wo,  wie  hier,  jede  von  Kopf  bis 
Fuß  in  verzweifelten,  tödlichen  Willen  getaucht  ist?  Wer  weiß 
etwas  von  den  Nahkämpfen,  von  den  vielen  Kämpfen  im  Dunkeln, 
in  diesen  schattenverwobenen,  mondstrahlendurchblitzten  Wäldern 
—  die  hin  und  her  wogenden  Gruppen  und  Rotten  —  das  Schreien, 
der  Lärm,  das  Knattern  der  Gewehre  und  Pistolen  —  der  ferne 
Kanonendonner  —  Hurrarufen,  Schreie,  Drohungen  und  die  schreck- 
liche Musik  der  Flüche  —  das  unbeschreibliche  Durcheinander  — 
Befehle,  Ansporn  und  Zuspruch  der  Offiziere  —  alle  Teufel  im 
menschlichen  Herzen  losgelassen  —  der  starke  Ruf:  „Vorwärts,  Leute ! 
Vorwärts!"  —  das  Blitzen  des  bloßen  Säbels  und  Gewühl  von  Flam- 
men und  Qualm?  Und  noch  immer  der  klare,  wolkenumzogene 
Himmel  und  noch  immer  wieder  das  Mondlicht,  das  silbrig  weich 
seine  strahlenden  Lichtflecken  über  alles  gießt.  Wer  will  die  Szene 
malen,  die  plötzliche  teilweise  Panik  am  Nachmittag  in  der  Däm- 
merung ?  Wer  den  unwiderstehlichen  Vormarsch  der  zweiten,  plötz- 
lich herbefohlenen  Division  des  dritten  Korps  unter  Hooker  selbst  — 
diese  rasch  aufrückenden  Phantome  durch  die  Wälder  hin?  Wer 
zeigt,  was  sich  da  im  Schatten  heranbewegt,  fließend  und  fest  — 
die  Ehre  der  Armee,  vielleicht  der  Nation  zu  retten?  —  Und  es  war 
die  Rettung.  Dort  behaupten  die  Veteranen  das  Feld. 


90 


üng^enannt  bleibt  der  tapferste  Soldat 


Wer  schreibt,  sage  ich,  wer  kann  die  Geschichte  solcher  Szenen 
schreiben?  Wer  erzählt  von  den  vielen  Dutzenden  —  nein  Tausenden 
ungenannter  Helden  aus  Norden  und  Süden,  unbekannten  Helden- 
taten, unglaublicher,  spontaner,  äußerster  Verzweiflungskraft?  Keine 
Geschichte,  kein  Gedicht  verherrlicht,  kein  Lied  besingt  diese  Tapfer- 
sten von  allen  —  diese  Taten.  Kein  offizieller  Generalstabsbericht,  kein 
Bibliothekbuch,  keine  Zeitungsspalte  weiht  dem  Tapfersten  aus 
Nord  oder  Süd,  Ost  oder  West  den  Nachruf.  Ungenannt,  unbekannt 
bleiben  für  immer  die  tapfersten  Soldaten.  Unsere  Männlichsten  — 
unsere  Jungen  —  unsere  kühnen  Lieblinge:  in  keinem  Bilde  leben 
sie  fort.  Ihr  Urbild  (ohne  Zweifel  gibt  es  Hunderte,  Tausende  wie 
er)  kriecht  vielleicht  zur  Seite  unter  einen  Strauch  oder  Farrenbusch, 
zu  Tode  getroffen  —  sucht  dort  Obdach  für  kurze  Zeit  —  tränkt 
Wurzeln,  Gras  und  Boden  mit  rotem  Blut  —  die  Schlacht  rückt 
vor,  kehrt  wieder,  huscht  von  der  Szene,  fegt  vorbei  —  und  dort, 
vielleicht  unter  Schmerz  und  Qual  (doch  geringer,  weit  geringer  als 
man  denkt)  windet  sich  die  letzte  Lethargie  wie  eine  Schlange  um 
ihn  —  die  Augen  verglasen  im  Tod  —  niemand  kümmert  sich  darum  — 
vielleicht  lassen  eine  Woche  später  bei  Waffenruhe  die  Begräbnis- 
kommandos den  abgelegenen  Platz  undurchsucht  —  und  dort  zer- 
fällt endlich  der  tapferste  Soldat  zu  Erde,  unbegraben  und  un- 
bekannt. 


Meine  Vorbereitung  für  Besuche 

Bei  meinen  Besuchen  in  den  Lazaretten  habe  ich  gefunden,  daß 
ich  durch  die  bloße  Tatsache  meiner  persönlichen  Gegenwart,  durch 
die  Ausströmung  von  einfachem  Frohsinn  und  Magnetismus  mehr 
Erfolg  hatte  und  nützte  als  durch  ärztliche  Pflege  oder  Lecker- 
bissen oder  Geldgeschenke  oder  irgend  etwas  anderes.  Während  des 
Krieges  besaß  ich  vollkommene  körperliche  Gesundheit.  Es  war 
meine  Gewohnheit,  wenn  es  sich  machen  ließ,  mich  auf  jeden  meiner 
täglichen  oder  nächtlichen  Rundgänge,  die  zwei  bis  vier  oder  fünf 
Stunden  dauerten,  dadurch  vorzubereiten,  daß  ich  mich  zuvor  durch 
Ruhe,  Baden,  frische  Kleidung,  eine  gute  Mahlzeit  und  ein  möglichst 
heiteres  Aussehen  stärkte. 


91 


Aus  einem  Bericht  im  „Brooklyn  Eagle",  19.  März  i863 


So  werde  ich  besser  vertraut  mit  den  einzelnen  Fällen  und  lerne 
jeden  Tag  einen  besonderen,  interessanten  Charakter  kennen  und 
komme  in  ein  vertrautes  und  oft  zärtliches  Verhältnis  zu  edlen 
jungen  amerikanischen  Männern ;  und  dann  erst  beginnt  das  eigent- 
liche Gute,  das  man  tun  kann.  Und  dann  erst,  das  gestehe  ich 
egoistischerweise,  bin  ich  so  recht  in  meinem  Element.  Selbst  vom 
ärztlichen  Standpunkt  aus  ist  das  von  größter  Bedeutung ;  ich  kann 
bezeugen,  daß  Freundschaft  buchstäblich  ein  Fieber  und  die  Arznei 
täglicher  Zärtlichkeit  eine  schlimme  Wunde  geheilt  hat.  In  dem, 
was  ich  da  sage,  liegt  das  letzte  Geheimnis  einer  erfolgreichen  Tätig- 
keit als  Krankenpfleger  unserer  Soldaten,  und  ich  spreche  es  aus 
für  die,  die  es  verstehen  können. 

Washington,  3o.  Juni  i863. 

Liebste  Mutter! 

Ich  habe  die  letzten  Tage  bis  gestern  Abend  mit  einem  ziemlichen 
Anfall  von  Halskatarrh  und  Kopfweh  zu  tun  gehabt;  aber  heute 
fühle  ich  mich  beinahe  wieder  ganz  wohl.  Ich  war  fast  wie  sonst 
in  der  Stadt  —  in  den  Lazaretten  usw.  meine  ich.  Man  sagt  mir, 
daß  ich  mich  zu  viel  an  den  Krankenbetten  aufhalte,  bei  Fieber- 
kranken, eiternden  Wunden  usw.  Einen  Soldaten,  der  schwer  typhus- 
krank vor  etwa  vierzehn  Tagen  hierhergebracht  wurde,  habe  ich 
in  meine  ganz  besondere  Obhut  genommen,  da  ich  ihn  in  einem 
Zustand  fand,  der  nahe  am  Sterben  war,  infolge  von  Vernachläs- 
sigung und  einer  furchtbaren  Reise  von  vierzig  Meilen,  schlechten 
Wegen  und  schnellem  Fahren;  und  dann  wurde  er,  als  er  hierher 
kam,  ebenfalls  vernachlässigt,  da  er  ein  einfacher  Junge  vom  Lande 
ist,  sehr  scheu  und  schweigsam  und  sich  nie  beklagte.  Ich  machte 
den  Arzt  auf  ihn  aufmerksam,  setzte  die  Pflegerinnen  in  Bewegung, 
ließ  ihn  mit  Spiritus  waschen,  gab  ihm  Stücke  Eis  zu  schlucken 
und  Eis  auf  den  Kopf ...  Er  war  sehr  ruhig,  ein  sehr  vernünftiger 
Mensch,  altmodisch;  er  wollte  nicht  sterben,  und  ich  mußte  ihn 
fortwährend  belügen,  denn  er  glaubte,  ich  wisse  alles.  Und  ich  tat 
natürlich,  als  ob  ich  ihm  stets  die  volle  Wahrheit  sagte  und  es  ihm 
mitteilen  und  nicht  verheimlichen  würde,  wenn  es  einmal  gefährlich 
um  ihn  stehen  sollte.  Schwer  Fieberkranke  werden  in  der  Regel 


92 


aus  den  allgemeinen  Sälen  in  eine  besondere  Baracke  geschafft,  und 
wie  mir  der  Arzt  sagte,  sollte  er  auch  dorthin  gebracht  werden.  Ich 
brachte  es  ihm  schonend  bei,  aber  der  arme  Junge  bildete  sich  sofort 
ein,  daß  er  als  hoffnungslos  aufgegeben  sei  und  deshalb  dorthin 
gebracht  werde.  Dieser  Gedanke  erschütterte  ihn;  und  obwohl  ich 
ihm  diesmal  die  Wahrheit  sagte,  hatte  ich  damit  weniger  Erfolg  als 
vorher  mit  meinem  Flunkern.  Ich  überredete  den  Arzt,  ihn  dazu- 
lassen. Drei  Tage  lang  schwebte  er  zwischen  Leben  und  Tod,  eher 
noch  näher  dem  Tode.  Um  es  aber  endlich  kurz  zu  machen,  liebe 
Mutter,  er  ist  jetzt  über  die  größte  Gefahr  hinaus.  Die  ganze  Zeit 
über  war  er  bei  vollem  Bewußtsein.  —  Jetzt  beginnt  er  ein  wenig 
Nahrung  zu  sich  zu  nehmen  (eine  Woche  lang  aß  er  nichts;  ich 
mußte  ihn  zwingen,  dann  und  wann  eine  Viertel-Orange  zu  nehmen), 
und,  mag  man  es  nun  Anmaßung  nennen  oder  nicht,  ich  möchte 
sagen,  daß,  wenn  er  wieder  aufkommt  und  gesund  wird,  ich  ihm 
das  Leben  gerettet  habe. 

Mutter,  wie  ich  Dir  schon  schrieb.  Du  kannst  Dir  keine  Vor- 
stellung davon  machen,  wie  diese  kranken  und  sterbenden  Jünglinge 
sich  an  einen  anschließen  und  wie  bezaubernd  das  ist,  trotz  all  dem 
Traurigen,  trotz  Schrecken  und  Tod,  die  einen  hier  umgeben.  In 
diesem  selben  Lazarett,  wo  dieser  Kavallerist  liegt,  habe  ich  noch 
etwa  fünfzehn  oder  zwanzig  Fälle,  um  die  ich  mich  besonders  küm- 
mere und  zum  Teil  nicht  weniger  als  um  ihn.  Es  sind  zwei  von 
East  Brooklyn  da  .  .  .  Beide  sind  ziemlich  schwer  verwundet,  beides 
Jünglinge  unter  neunzehn  Jahren.  O  Mutter,  wenn  ich  so  durch 
die  Bettreihen  gehe,  scheint  es  mir,  als  wäre  es  ein  Unrecht,  diese 
Kinder  ins  Heer  aufzunehmen  und  sie  so  vorzeitigen  Erfahrungen 
auszusetzen.  Ich  widme  mich  hauptsächlich  dem  Armory-Square- 
Lazarett,  weil  hier  bei  weitem  die  schlimmsten  Fälle,  die  entsetz- 
lichsten Wunden,  das  größte  Leiden  zu  finden  ist,  weil  hier  Trost 
am  meisten  nottut.  Ich  gehe  jeden  Tag  ohne  Ausnahme  und  oft 
bei  Nacht  —  bleibe  manchmal  sehr  lange.  Niemand  legt  mir  etwas 
in  den  Weg,  weder  Wachtposten,  Wärter,  Ärzte  noch  sonst  jemand. 
Man  läßt  mir  vollständig  freie  Hand. 

Washington,  8.  September  i863. 
Ich  gehe  jeden  Tag  und  jede  Nacht  in  die  Lazarette  —  ich  glaube 
nicht,  daß  sich  Menschen  je  so  liebten,  wie  ich  und  einige  dieser 


93 


armen  verwundeten,  kranken  und  sterbenden  Männer  einander 
lieben.  —  Mutter,  ich  bin  wirklich  stolz  darauf,  Dir  zu  sagen,  daß 
ich  mir  bewußt  bin,  eine  ganze  Anzahl  von  Leben  zu  retten,  da- 
durch, daß  ich  sie  davor  bewahre,  sich  selber  aufzugeben,  und  daß 
ich  so  viel  wie  möglich  bei  ihnen  bin;  die  Leute  sagen,  es  sei  so, 
und  die  Ärzte  sagen,  es  sei  so  —  und  ich  kann  mit  gutem  Gewissen 
bekennen,  daß  es  wahr  ist,  obwohl  ich  es  von  mir  selber  sage.  Ich 
weiß,  Du  wirst  es  gern  hören,  Mutter,  deshalb  sage  ich  es  Dir. 

Washington,  2.  März  1864. 
Oh,  ich  wünschte.  Du,  Mutter  —  oder  überhaupt  Frauen  wie  Du 
und  Mat*  —  wären  hier,  so  viele  wie  möglich,  als  Hausmütter  für 
die  armen  kranken  und  verwundeten  Männer.  Eure  bloße  Gegen- 
wart würde  schon  genügen  —  oh,  wie  gut  würde  es  ihnen  tun. 
Mutter,  es  macht  mich  krank,  zu  sehen,  welche  Art  von  Menschen 
hier  mit  ihrer  Pflege  betraut  sind  —  so  kalt  und  förmlich,  sie 
fürchten  sich,  sie  anzufassen. 

Washington,  3.  Juni  1864. 
Du  weißt  nicht,  wie  sehr  ich  mich  danach  sehne,  nach  Hause 
zu  kommen  und  euch  alle  wiederzusehen;  Dich,  liebe  Mutter,  und 
Jeff  und  Mat  und  alle.  Ich  glaube,  ich  habe  Heimweh  —  ein 
neues  Gefühl  für  mich  —  dazu  kommt,  daß  ich  alles  Grauen  des 
Soldatenlebens  gesehen  habe,  ohne  jedoch  das  kriegerische  Erleben 
mitzumachen,  das  mich  abgelenkt  hätte.  Es  ist  schrecklich,  so  viel 
zu  sehen  und  nicht  helfen  zu  können. 

Ein  New  Yorker  Soldat 

Heute  Nachmittag,  am  11.  Juli,  blieb  ich  lange  bei  Oskar  F.Wil- 
bur,  Kompagnie  G,  i54  Rgt.  New  York,  der  an  Dysenterie  und  auch 
einer  schlimmen  Wunde  daniederliegt.  Er  bat  mich,  ihm  ein 
Kapitel  aus  dem  Neuen  Testament  vorzulesen.  Ich  willigte  ein 
und  fragte  ihn,  was  ich  lesen  solle.  Er  sagte:  „Wähle  selbst!"  Ich 
schlug  den  Schluß  eines  der  ersten  Evangelien  auf  und  las  die 
Kapitel  vor,  worin  die  letzten  Stunden  Christi  und  die  Vorgänge 

*  W.'s  Schwägerin,  Frau  seines  drittjüngsten  Bruders  Thomas  Je£ferson  W. 
(Anmerkung  des  Ühersetzers.) 


94 


bei  der  Kreuzigung  beschrieben  sind.  Der  arme  verfallene  junge 
Mensch  bat  mich,  auch  das  folgende  Kapitel  vorzulesen,  wo  Christus 
wieder  auferstand.  Ich  las  sehr  langsam,  denn  Oskar  war  schwach. 
Es  gefiel  ihm  sehr  gut,  aber  die  Tränen  standen  ihm  in  den  Augen. 
Er  fragte  mich,  ob  ich  auf  Religion  etwas  halte.  Ich  sagte:  „Viel- 
leicht nicht  in  der  Weise,  wie  du  meinst,  mein  Lieber,  und  doch 
kommt  es  wohl  auf  dasselbe  hinaus."  Er  sagte:  „Sie  ist  mein 
ganzer  Trost."  Er  sprach  vom  Tode  und  sagte,  er  fürchte  ihn 
nicht.  Ich  sagte:  „Wie,  Oskar,  glaubst  du  denn  nicht,  daß  du  wie- 
der gesund  wirst?"  Er  sagte:  „Mag  sein;  aber  wahrscheinlich  ist 
es  nicht."  Er  sprach  mit  Fassung  von  seinem  Zustand.  Die  Wunde 
war  sehr  schlimm,  sie  eiterte  stark.  Dann  hatte  ihn  die  Dysenterie 
sehr  mitgenommen,  und  ich  fühlte,  daß  er  schon  in  diesem  Augen- 
blick so  gut  wie  im  Sterben  lag.  Seine  Haltung  war  sehr  mann- 
haft und  zärtlich.  Den  Kuß,  den  ich  ihm  beim  Abschied  gab,  er- 
widerte er  vierfach.  Er  gab  mir  die  Adresse  seiner  Mutter.  Ich 
war  öfter  so  mit  ihm  zusammen.  Er  starb  wenige  Tage  nach  dem 
eben  Beschriebenen. 

Bescheidenheit  der  Soldaten 

Ich  kann  mich  immer  wieder  nicht  genug  darüber  wundern, 
unter  diesen  altjungen  amerikanischen  Soldaten  so  wenig  Prahler 
und  Prahlerei  zu  finden.  Ich  habe  Leute  gefunden,  die  seit  Beginn 
des  Krieges  in  jeder  Schlacht  gewesen  sind,  und  habe  mit  ihnen 
über  alle  Schlachten  in  den  verschiedensten  Gegenden  der  Ver- 
einigten Staaten  und  über  viele  Gefechte  auf  den  Flüssen  und  in 
den  Häfen  gesprochen.  Ich  finde  hier  Leute  aus  allen  Staaten  der 
Union,  ohne  Ausnahme.  (Es  gibt  in  der  Unionsarmee  mehr  Süd- 
länder, besonders  aus  den  Grenzstaaten,  als  man  gewöhnlich  an- 
nimmt.) Ich  bezweifle  jetzt,  ob  man  eine  richtige  Vorstellung  von 
dem  bekommen  hat,  was  dieser  Krieg  in  Wirklichkeit  ist,  oder 
was  das  eigentliche  Amerika  und  sein  Charakter  ist,  ohne  solche 
Erfahrungen,  wie  ich  sie  jetzt  mache. 

Virginia 

Zerstört,  schutzlos,  vom  Krieg  zerstampft,  wie  Virginia  ist,  werde 
ich  doch  überall,  wohin  ich   komme,   von  Überraschung  und 


95 


Bewunderung  überwältigt.  Welche  Möglichkeiten  sind  hier  für  Land- 
bau, Verbesserungen,  menschliches  Leben,  Ernährung  und  Ent- 
wicklung. Der  Boden  ist  noch  immer  weit  über  dem  Durchschnitt 
aller  Nordstaaten.  Und  die  Landschaft,  wie  weiträumig,  überall 
Gebirge  in  der  Ferne,  überall  günstig  gelegene  Ströme.  Auch  jetzt 
noch  Wälder  in  Fülle  und  Reichtum  an  Blumen,  Obst  und  Früchten 
aller  Art.  Himmel  und  Luft  voller  Leuchtkraft  und  sicherlich  im 
allgemeinen  sehr  gesund.  Etwas  Reiches,  Elastisches  ist  überall  bei 
Tag  und  Nacht  zu  fühlen.  Die  Sonne,  ihrer  Kraft  froh,  strahlt  und 
brennt  und  ist  doch,  wenigstens  für  mich,  niemals  lästig  und 
ermüdend.  Es  ist  nicht  die  lechzende  tropische  Hitze,  sondern 
eine  stärkende  Glut.  Der  Nordwind  mäßigt  sie.  Die  Nächte  sind 
oft  unvergleichlich.  Gestern  abend  (8.  Februar)  sah  ich  zum  ersten- 
mal den  neuen  Mond,  mit  dem  klaren  Umriß  der  vollen  Scheibe; 
Himmel  und  Luft  so  klar,  so  durchsichtige  Färbungen,  es  war 
mir,  als  hätte  ich  den  Neumond  nie  zuvor  wirklich  gesehen.  Die 
Sichel  war  ganz,  ganz  schmal.  Sie  hing  zart  grade  über  dem  düstern 
Schatten  der  Blauen  Berge.  Ach,  möchte  sie  ein  gutes  Omen  für 
diesen  unglücklichen  Staat  bedeuten. 


Sommer  i864 

Ich  bin  wieder  in  Washington  und  mache  meine  täglichen  und 
nächtlichen  Rundgänge.  Allenthalben  in  den  Lazaretten  gibt  es 
Fälle,  wo  arme  Burschen  schon  lange  liegen  und  an  hartnäckigen 
Wunden  leiden  oder  schwach  und  mutlos  sind  von  Typhus  und 
dergleichen  und  besondere,  mitfühlende  Pflege  brauchen.  Zu  diesen 
setze  ich  mich  ans  Bett  und  plaudere  mit  ihnen  oder  tröste  sie 
schweigend.  Sie  haben  das  ungeheuer  gern  (und  ich  auch).  Jeder 
Fall  hat  seine  Besonderheit  und  verlangt  neue  Anpassung.  Ich 
habe  gelernt,  mich  darauf  einzurichten  —  ich  habe  ein  gut  Teil 
Lazarettweisheit  gelernt.  Manche  unter  den  jungen  Burschen,  die 
zum  erstenmal  im  Leben  von  Hause  fort  sind,  hungern  und 
dürsten  nach  Zärtlichkeit;  das  ist  oft  das  einzige,  was  ihnen  hilft. 
Die  Leute  wollen  gern  Bleistifte  haben  und  Schreibpapier.  Ich 
habe  ihnen  billige  Taschenbücher  gegeben  und  Kalender  für  das 
Jahr  1864,  clic  mit  leerem  Papier  durchschossen  sind.  Zum  Lesen 
bringe  ich  gewöhnlich  ein  paar  alte  illustrierte  Zeitschriften  oder 


96 


Geschichtenbücher  —  sie  sind  immer  beliebt.  Auch  die  Morgen- 
und  Abendblätter  der  Tageszeitungen.  Die  besten  Bücher  ver- 
schenke ich  nicht,  sondern  leihe  sie  im  ganzen  Lazarett  herum  aus  Die 
Leute  sind  immer  sehr  pünktlich  mit  dem  Zurückgeben.  In  diesen 
Lazaretten  oder  auf  freiem  Feld  mache  ich  so  beständig  die  Runde; 
ich  habe  gelernt,  mich  jedem  Bedürfnis  anzupassen  nach  seiner 
Art  und  Weise  und  werde  jedem  gerecht  nach  seinen  Umständen, 
so  trivial  oder  feierlich  sie  sein  mögen  —  nicht  nur  Besuche  und 
erheiternde  Gespräche  und  kleine  (iaben  —  nicht  nur  Waschen 
und  Verbinden  von  Wunden  (ich  habe  einige  Fälle,  wo  der  Patient 
es  von  keinem  andern  getan  haben  will,  als  von  mir)  —  sondern 
ich  lese  auch  Stellen  aus  der  Bibel  vor,  erkläre  sie,  bete  mit  ihnen 
am  Bett,  spreche  über  die  christliche  Lehre  mit  ihnen  usw.  (Ich 
glaube,  ich  sehe  meine  Freunde  über  dieses  Geständnis  lächeln, 
aber  ich  war  nie  im  Leben  ernster.)  Im  Lager  und  überall  hatte 
ich  die  Gewohnheit,  vorzulesen  oder  den  Leuten  etwas  vorzutragen. 
Sie  hatten  das  sehr  gern  und  liebten  deklamatorische  poetische 
Stücke.  Wir  rückten  dann,  nach  dem  Abendbrot,  in  einer  großen 
Gruppe  zusammen  und  vertrieben  uns  die  Zeit  mit  solchen  Vor- 
lesungen oder  mit  Gesprächen  oder  auch  mit  einem  unterhaltenden 
Spiel,  genannt  das  Spiel  der  „Zwanzig  Fragen". 


Aus  einem  Bericht  in  den  „New  York  Times", 
II.  Dezember  i864 

Für  viele  von  den  Verwundeten  und  Kranken,  besonders  unter 
den  jüngsten  Leuten,  liegt  in  persönlicher  Liebe  und  Liebkosung, 
in  der  magnetischen  Ausströmung  von  Sympathie  und  Freund- 
schaft etwas,  was  in  seiner  Weise  mehr  Gutes  tut  als  alle  Arznei 
der  Welt.  Ich  sprach  von  meinen  regelmäßigen  Gaben :  Leckerbissen, 
Geld,  Tabak,  bestimmten  Nahrungsmitteln,  allerhand  Kleinigkeiten 
usw.  usw.  —  aber  ich  fand  immer  mehr  und  mehr,  daß  ich  in  einer 
merkwürdig  großen  Zahl  von  Fällen  am  meisten  durch  jene  hier 
angedeuteten  Mittel  helfen  und  die  Wagschale  zugunsten  der  Hei- 
lung beeinflussen  konnte.  Der  amerikanische  Soldat  ist  voller 
Zärtlichkeit  und  liebebedürftig  Und  er  ist  wundersam  dankbar 
dafür,  wenn  dieses  Bedürfnis  gestillt  wird,  während  er  fern  von 
Hause,  unter  Fremden,  mit  schmerzhaften  Wunden  daniederliegt. 


7    Whitman  f 


97 


Viele  werden  das  nur  für  Sentimentalität  halten,  aber  ich  weiß, 
es  ist  Tatsache.  Ich  glaube,  daß  die  bloße  Anwesenheit  und  das 
Umhergehen  einer  herzhaften,  gesunden,  reinen,  starken,  edel- 
mütigen Persönlichkeit,  Mann  oder  Weib,  unter  den  Verwundeten 
und  im  Lazarett  beständige,  unsichtbare  Ströme  aussendet  und 
dadurch  den  Kranken  und  Verwundeten  unermeßlich  wohltut. 

Abraham  Lincoln 

Ich  sehe  den  Präsidenten  fast  täglich,  da  ich  zufällig  dort  wohne, 
wo  er  auf  dem  Hin-  und  Rückweg  zu  seinem  Landhaus  vor  der 
Stadt  vorbeikommt  .  .  .  Ich  sah  ihn  heute  morgen  gegen  halb  neun 
Uhr  hereinkommen  und  die  Vermont  Avenue  entlangreiten.  Er 
hat  immer  ein  Gefolge  von  26  bis  3o  Mann  Kavallerie,  mit  ge- 
zogenen Säbeln  über  den  Schultern.  Man  sagt,  diese  Garde  ist 
gegen  seinen  persönlichen  Wunsch,  aber  er  läßt  seine  Räte  ge- 
währen. Weder  ihre  Uniformen  noch  ihre  Pferde  sind  sonderlich 
stattlich.  Mr.  Lincoln  reitet  gewöhnlich  ein  gut  aussehendes,  leicht 
gehendes  graues  Pferd,  ist  in  schlichtes  Schwarz  gekleidet,  einiger- 
maßen abgetragen  und  staubig,  trägt  einen  steifen  schwarzen  Hut 
und  sieht  alles  in  allem  so  einfach  aus,  wie  der  gewöhnlichste 
Mann  .  .  .  Ich  sehe  ganz  deutlich  Abraham  Lincolns  dunkelbraunes 
Gesicht  mit  den  tiefgefurchten  Linien,  mit  den  Augen,  in  deren 
Ausdruck  für  mein  Gefühl  immer  eine  tiefe  verborgene  Trauer 
liegt.  Wir  sind  so  weit  gekommen,  daß  wir  Grüße  miteinander 
tauschen,  und  zwar  sehr  herzliche.  Manchmal  fährt  der  Präsident 
in  einer  offenen  Equipage  .  .  .  Sie  kamen  einmal  sehr  nahe  an  mir 
vorbei,  und  ich  blickte  dem  Präsidenten  voll  ins  Gesicht,  als  sie 
langsam  vorüberfuhren,  und  sein  Blick,  obwohl  abwesend,  war  zu- 
fällig unverwandt  in  meine  Augen  gerichtet.  Er  verbeugte  sich 
und  lächelte,  doch  tief  hinter  diesem  Lächeln  bemerkte  ich  wohl 
jenen  Ausdruck,  den  ich  andeutete.  Kein  Künstler  hat  in  seinen 
Porträts  den  tiefen,  obwohl  zarten  und  indirekten  Ausdruck  des 
Gesichts  dieses  Mannes  festgehalten.  Da  ist  noch  etwas  ganz  anderes. 
Einer  der  großen  Bildnismaler  des  vorigen  oder  vorvorigen  Jahr- 
hunderts müßte  das  malen. 


98 


Präsident  Lincolns  Tod 


i6.  April  i865. 

Er  hinterläßt  den  Geschichtschreibern  und  Biographen  Amerikas 
nicht  allein  die  dramatischste  Erinnerung  unseres  Landes,  —  son- 
dern, nach  meiner  Überzeugung,  die  größte,  beste,  eigenartigste, 
künstlerischste  und  moralischste  Persönlichkeit.  Nicht  als  ob  er 
keine  Fehler  gehabt  und  während  seiner  Präsidentschaft  begangen 
hätte;  aber  Rechtlichkeit,  Güte,  Scharfsinn,  Gewissenhaftigkeit  und 
(eine  neue  Tugend,  unbekannt  in  anderen  Ländern  und  auch  bei 
uns  kaum  noch  wahrhaft  bekannt,  aber  der  Grund  und  das  Band, 
das  alles  zusammenhält,  wie  die  Zukunft  im  größten  Maßstab  er- 
weisen wird)  Unionismus  im  wahrsten  und  weitesten  Sinne  bil- 
deten das  Rückgrat  seines  Charakters.  Das  besiegelte  er  mit  seinem 
Tode.  Der  tragische  Glanz  seines  Todes  wirft,  alles  läuternd  und 
verklärend,  um  seine  ganze  Gestalt  und  sein  Haupt  eine  Aureole, 
die  dauern  und  durch  die  Zeit  nur  noch  leuchtender  werden  wird, 
da  die  Geschichte  lebt  und  die  Liebe  des  Landes  nicht  vergeht. 
Viele  haben  mitgeholfen,  diese  Union  zu  schaffen;  aber  wenn  ein 
Name,  ein  Mann  besonders  genannt  sein  soll,  so  ist  er  vor  allen 
ihr  Bewahrer  für  die  Zukunft.  Er  wurde  ermordet  —  aber  die 
Union  ist  nicht  ermordet  —  ca  ira!  Der  eine  fällt  und  der  andere 
fällt.  Der  Soldat  bricht  zusammen  und  sinkt  wie  eine  Welle  — 
aber  die  Wogenreihen  des  Ozeans  drängen  ewig  nach.  Der  Tod 
verrichtet  sein  Werk,  löscht  Hunderte,  Tausende  aus  —  Präsident, 
General,  Kapitän  und  jedermann  —  aber  die  Nation  ist  unsterblich. 


TAGEBÜCH  1876-1882 


Mai,  Juni  1876. 

Ich  finde,  daß  der  Wald  im  späten  Mai  und  frühen  Juni  mein 
bester  Aufenthalt  zum  Schreiben  ist.  Dort  zeichnete  ich  mir  fast 
alles  auf,  was  nun  folgt,  auf  Baumstämmen  oder  -Stümpfen  sitzend 
oder  auf  Zäunen  hockend. 

Wohin  ich  auch  gehe  im  Winter  oder  Sommer,  in  Stadt  oder 
Land,  allein  zu  Haus  oder  auf  Reisen,  —  überall  muß  ich  Notizen 
machen;  es  ist  meine  vorherrschende  Leidenschaft  in  der  Zeit  des 
Alters  und  der  körperlichen  Schwäche. 

Wenn  ich  so  die  t-Striche  und  die  i-Punkte  gewisser  beschränk- 
ter Bewegungen  der  letzten  Jahre  nachmale,  so  will  es  mir  scheinen, 
als  stecke  in  den  folgenden  Auszügen  so  recht  das  Abc  einer  neu- 
gelernten  Lektion.  Wenn  du  ausgekostet  hast,  was  auszukosten 
war  in  Geschäft,  Politik,  Geselligkeit,  Liebe  und  so  fort,  —  und 
fandest,  daß  keines  von  diesen  restlos  befriedigt  oder  auf  die  Dauer 
taugt,  —  was  bleibt  dann?  Die  Natur  bleibt  und  ihre  Kraft,  aus 
dumpfer  Verborgenheit  hervorzulocken,  was  in  Mann  oder  Weib 
an  Verwandtem  steckt  mit  freier  Luft,  mit  Baum  und  Feld,  mit 
dem  Wechsel  der  Jahreszeiten  —  dem  Sonnenschein  bei  Tage  — 
dem  Sternenhimmel  bei  Nacht.  Von  dieser  Überzeugung  wollen 
wir  ausgehen.  Die  Literatur  fliegt  so  hoch  und  ist  so  heiß  gewürzt, 
daß  unsere  Aufzeichnungen  vielleicht  nur  erscheinen  werden  wie 
ein  paar  Atemzüge  gewöhnlicher  Luft  oder  ein  paar  Züge  frischen 
Wassers.  Aber  das  gehört  zu  unserer  Lektion. 

Teure,  beruhigende,  gesunde  Stunden  der  Erholung  —  nach  drei 
Kerkerjahren  der  Lähmung  —  nach  dem  langen  Druck  des  Krieges, 
seinen  Wunden,  seinem  Sterben. 


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Wer  weiß,  vielleicht  (ich  träume  und  wünsche  es  mir)  bringen 
die  folgenden  Seiten  Sonnenstrahl  oder  Gras-  und  Weizengeruch, 
oder  Vogelruf,  Sternflimmer  bei  Nacht,  Schneeflockenfall  frisch  und 
mystisch  irgendeinem  Bewohner  schwülen  Stadthauses  oder  müdem 
Arbeiter  oder  Arbeiterin?  —  oder  auch  in  ein  Krankenzimmer  oder 
Gefängnis,  —  als  kühlenden  Hauch  oder  Arom  der  Natur  für  einen 
fiebernden  Mund  oder  matten  Pulsschiag. 

Beim  Betreten  eines  langen  Farmweges 

Jeder  hat  sein  Steckenpferd,  meines  ist  ein  richtiger  Farmweg, 
eingezäunt  mit  altem  graugrünen,  moos-  und  flechtenbewachsenen 
Kastanienholzwerk,  reichliches  Unkraut  und  Gesträuch  fleckenweis 
zwischen  den  Steinen,  die,  hier  und  da  angehäuft,  das  Geländer 
stützen:  —  regellos  ausgetretene  Pfade  dazwischen,  Roß-  und  Rin- 
derfährten, —  alle  Merkmale  jeglicher  Jahreszeit  sichtbar  und 
duftend  ringsumher  in  der  Nachbarschaft.  —  Apfelblüte  im  frühen 
April  —  Schweine,  Geflügel,  ein  Buchweizenfeld  im  August,  ein 
andres  voll  langer,  wehender  Maisbüschel  —  und  schließlich  der 
Teich  (die  Erweiterung  des  Baches),  der  verborgen-schöne,  mit 
jungen  und  alten  Bäumen  und  was  für  Schlupfwinkeln  und  Aus- 
blicken ! 

Zu  Quelle  und  Bach 

So  schlendere  ich  immer  weiter,  bis  zu  der  Quelle  unter  den 
Weiden  —  die,  musikalisch  wie  zartes  Gläserklingen,  einen  kräftigen 
Schwall  ergießt.  Dort,  wo  das  Ufer  überhängt  wie  eine  große 
braune,  struppige  Augenbraue  oder  Oberlippe,  strömt  sie  aus  der 
Öffnung,  so  dick  wie  mein  Hals,  rein  und  klar.  Gluckst  und  gluckst 
in  einem  fort  —  meint  etwas,  sagt  etwas,  zweifellos!  (könnte  man 
es  nur  übersetzen)  —  gluckst  dort  immer,  das  ganze  Jahr  hindurch 
—  setzt  nie  aus;  —  Unmengen  von  Pfefferminze,  von  Brombeeren 
im  Sommer,  —  Licht  und  Schatten  nach  Belieben  —  just  der  rechte 
Platz  für  meine  Juli-Sonnenbäder  und  auch  Wasserbäder;  —  aber 
vor  allem  immer  dies  unnachahmliche,  weichtönende  Glucksen, 
wenn  ich  an  heißen  Nachmittagen  hier  sitze.  Wie  dies  und  alles 
in  mich  hineinwächst,  Tag  um  Tag,  —  alles  so  einheitlich  —  der 


lOI 


wilde,  eben  spürbare  Duft,  die  sprenkeligen  Blätterscbatten  und  die 
ganzen  naturbeilkräftigen,  elementar-moraliscben  Einflüsse  dieses 
Platzes. 

Plaudre  weiter,  o  Bacb,  in  dieser  deiner  Sprache!  Aucb  icb  will 
aussprechen,  was  icb  in  meinen  Tagen  und  auf  meinen  Wegen,  den 
heimischen,  unterirdischen,  verflossenen  —  in  mich  aufgenommen 
habe  —  und  nun  dich.  Hüpfe,  winde  deinen  Weg  —  ich  begleite 
dich  wenigstens  ein  Weilchen.  Ich  besuche  dich  so  häufig,  Jahr 
um  Jahr,  und  du  weißt,  ahnst  nichts  von  mir,  (doch  warum  dies 
behaupten?  wer  kann  es  wissen?)  —  aber  ich  will  von  dir  lernen,  bei 
dir  verweilen,  von  dir  empfangen,  dir  nachahmen,  von  dir  abschreiben. 

Erwachen  an  einem  frühen  Sommermorgen 

Hinweg  denn,  den  göttlichen  Bogen  gelöst,  entspannt  den  so 
lange  gestrafften!  Hinweg  von  Vorhang,  Teppich,  Sofa,  Buch  — 
von  „Gesellschaft"  —  von  Stadthaus,  Straße,  modernen  Bequem- 
lichkeiten und  Luxus,  —  fort  zu  meinem  frei  sich  windenden  Bach 
mit  seinem  ungestutzten  Gebüsch  und  grasigen  Ufern  —  fort  von 
Binden,  engen  Stiefeln  Knöpfen,  dem  ganzen  gußeisernen  zivilisier- 
ten Leben  —  von  der  Umgebung  künstlicher  Läden,  Maschinen, 
Ateliers,  Bureaus,  Empfangsräume  —  von  Schneiderherrschaft  und 
Modekleidern  —  am  besten  vielleicht  von  jeglicher  Kleidung,  jetzt 
bei  der  steigenden  Sommerglut,  hier  in  der  wasserfrischen,  schatti- 
gen Einsamkeit.  Hinweg,  du  Seele  (laß  mich,  lieber  Leser,  dich 
einzeln  beiseitenehmen  und  ganz  frei,  lässig,  vertraulich  zu  dir 
reden),  und  kehre  zumindest  für  einen  Tag  und  eine  Nacht  zurück 
zu  unser  aller  nackter  Lebensquelle,  an  die  Brust  der  großen, 
schweigenden,  ungezähmten,  allempfangenden  Mutter.  Ach!  wie 
viele  von  uns  sind  so  verhärtet  —  wie  viele  so  weit  hinweggewan- 
dert —  daß  eine  Umkehr  fast  unmöglich  ist. 

Was  meine  Notizen  betrifft  —  die  nehme  ich,  wie  sie  kommen, 
aus  dem  Haufen,  ohne  eigentliche  Beihenfolge.  Es  ist  wenig  Zu- 
sammenhang in  den  Daten.  Sie  erstrecken  sich  wahllos  über  fünf, 
sechs  Jahre.  Alle  sind  nachlässig  aufgezeichnet,  im  Freien  —  an 
Ort  und  Stelle.  Dies  werden  die  Drucker  vielleicht  zu  ihrem  Arger 
gewahr  werden,  denn  ihr  Manuskript  besteht  zum  großen  Teil  aus 
diesen  schnell  gekritzelten  ersten  Zetteln. 


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Zugvögel  um  Mitternacht 

Hast  du  je  den  Mitternachtsflug  von  Vögeln  belauscht,  wenn  sie 
in  zahllosen  Heerscharen  durch  Luft  und  Dunkelheit  droben  dahin- 
ziehen, um  ihren  frühen  oder  späten  Sommerwohnsitz  zu  wechseln? 
Das  ist  etwas,  was  man  nicht  vergißt.  Ein  Freund  weckte  mich 
vorige  Nacht  kurz  nach  zwölf,  um  das  eigenartige  Geräusch  un- 
gewöhnlich großer  Flüge  zu  beobachten,  die  nach  Norden  zogen 
(etwas  spät  dies  Jahr).  In  der  Stille,  dem  Schatten  und  dem  köst- 
lichen Wohlgeruch  jener  Stunde,  (dem  natürlichen  Duft,  der  der 
Nacht  allein  eigen  ist),  schien  es  mir  wundersame  Musik.  Man 
konnte  die  charakteristische  Bewegung  hören  —  ein  paar  Mal  das 
„Brausen  mächtiger  Schwingen",  aber  oft  ein  langgedehntes, 
samtenes  Rauschen  —  zuweilen  ganz  nah  —  mit  andauerndem 
Rufen  und  Zwitschern  und  ein  paar  Tönen  Gesang.  Das  Ganze 
dauerte  von  zwölf  bis  nach  drei.  Einzelne  Male  war  die  Gattung 
deutlich  zu  unterscheiden,  ich  konnte  den  Paperlink  erkennen,  den 
Tangar,  die  Wilson-Drossel  —  den  weißköpfigen  Sperling,  und 
manchmal  kam  hoch  aus  den  Lüften  der  Ruf  des  Regenpfeifers. 

Hummeln 

Monat  Mai  —  der  Monat  der  schwärmenden,  singenden,  paaren- 
den Vögel  —  der  Monat  der  Hummeln  —  Fliedermonat  —  (und 
auch  mein  eigner  Geburtsmonat).  Diesen  Abschnitt  kritzle  ich 
im  Freien,  kurz  nach  Sonnenaufgang,  auf  dem  Weg  zum  Bach. 
Die  Lichter,  Düfte,  Melodien,  die  Blaumeisen,  Grasmücken  und 
Rotkehlchen  in  jeder  Richtung,  dies  lärmende,  vielstimmige  Natur- 
konzert! Als  Untertöne  das  Klopfen  eines  nahen  Spechtes  auf  seinem 
Baum  und  ferner  Hahnenschrei.  Und  dann  der  frische  Erdgeruch 
—  die  Farben,  das  zarte  Graugelb  und  dünne  Blau  des  Horizontes. 
Das  leuchtende  Grün  des  Grases  ist  noch  leuchtender  geworden 
durch  die  Milde  und  Feuchtigkeit  der  letzten  zwei  Tage.  Wie 
steigt  die  Sonne  schweigend  in  den  weiten,  klaren  Himmel  auf 
ihrem  Tagesweg!  Wie  baden  die  warmen  Strahlen  alles  —  und 
kommen  küssend  und  beinahe  heiß  über  mein  Gesicht  geströmt. 

Vor  noch  gar  nicht  langer  Zeit  kam  das  erste  Quaken  aus  den 
Froschteichen  und  zeigte  sich  das  erste  Weiß  der  blühenden  Kornel- 
kirsche.  Jetzt  ist  der  Boden  überall  besät  von  der  endlosen  Üppigkeit 


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des  Löwenzahnes.  Die  weißen  Kirschen-  und  Birnenblüten  — 
die  wilden  Veilchen,  die  mit  ihren  blauen  Augen  aufsehen  und 
sich  vor  meinen  Füßen  verneigen,  wie  ich  am  Waldrand  entlang- 
schlendere —  der  rosa  Hauch  auf  den  knospenden  Apfelbäumen  — 
das  leuchtendhelle  Smaragdgrün  der  Weizenfelder  —  das  dunklere 
Grün  des  Roggens  —  eine  warme  Spannkraft  in  der  Luft  —  die 
Zederbüsche  über  und  über  bedeckt  mit  ihren  kleinen,  braunen 
Früchten  —  der  Sommer,  voll  erwachend  —  die  Amselgesellschaft, 
ein  ganzer  geschwätziger  Hauten  auf  irgendeinem  Baume  ver- 
sammelt, den  Raum  mit  Lärm  erfüllend  und  die  Stunde,  da  ich 
hier  sitze. 

Später. 

Die  Natur  schreitet  in  Marschordnung  vorwärts,  in  Sektionen, 
wie  ein  Armeekorps.  Jede  hat  viel  für  mich  getan  und  tut  es  noch. 
Aber  in  den  letzten  zwei  Tagen  war  es  die  große,  wilde  Biene,  die 
Hummel  (oder  Brummelbiene,  wie  die  Kinder  sie  nennen).  Wenn 
ich  vom  Farmhaus  zum  Bach  hinuntergehe  oder  humple,  komme 
ich  durch  den  vorhin  erwähnten  Weg  mit  seiner  Einfassung  von 
rissigen,  splitterigen,  brüchigen,  zerlöcherten  alten  Latten,  dem 
Lieblingsaufenthalt  dieser  summenden,  haarigen  Insekten.  Auf  und 
nieder,  neben  und  zwischen  diesen  Latten,  schwärmen,  schießen 
und  fliegen  sie  in  unzählbaren  Myriaden.  Bei  meinem  langsamen 
Schlendern  begleiten  sie  mich  oftmals  gleich  einer  beweglichen 
Wolke.  Sie  spielen  eine  Hauptrolle  auf  meinen  Streifzügen,  mor- 
gens, mittags  und  bei  Sonnenuntergang,  und  beherrschen  oft  die 
Landschaft  in  einer  Weise,  die  ich  mir  nie  hätte  träumen  lassen  — 
füllen  den  langen  Weg  nicht  nur  in  Scharen  von  vielen  hundert, 
nein  zu  Tausenden.  Groß,  lebhaft  und  geschwind,  mit  wunder- 
barer Triebkraft  und  einem  andauernden,  lauten,  schwellenden 
Summen,  das  zeitweilig  durch  einen  Laut,  fast  wie  ein  Schrei, 
unterbrochen  wird,  schießen  sie  hin  und  her,  schnell  wie  der  Blitz, 
jagen  einander  und  vermitteln  mir  (so  winzige  Dinger  sie  sind) 
ein  neues,  ganz  bestimmtes  Gefühl  von  Kraft,  Schönheit,  Vitalität 
und  Bewegung.  Ist  es  ihre  Paarungszeit?  Oder  was  bedeutet  diese 
Fülle,  Schnelle,  Emsigkeit,  dieser  Aufwand?  Beim  Gehen  glaubte 
ich,  mir  folge  ein  besonderer  Schwärm,  aber  bei  näherer  Betrach- 
tung waren  es  rasch  aufeinanderfolgende,  wechselnde  Schwärme. 

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Ich  habe  mich  zum  Schreiben  unter  einen  großen,  wilden  Kirsch- 
baum gesetzt  —  die  Warme  des  Tages  ist  durch  einige  Wolken 
und  eine  frische  Brise  gemildert;  nicht  zu  heiß  und  nicht  zu  kühl 
—  und  hier  sitze  ich  lange  und  immer  länger,  eingehüllt  in  das 
tiefe  musikalische  Gedröhn  dieser  Hummeln,  die  zu  Hunderten  um 
mich  herumgleiten,  schweben,  sausen  —  große  Burschen,  mit  hell- 
gelber Jacke,  großem  glänzendem  schwellendem  Rumpf,  plumpem 
Kopf  und  hauchdünnen  Flügeln,  und  ihrem  unausgesetzten  üppigen, 
weichen  Gebrumm.  (Wäre  das  nicht  ein  Vorwurf  zu  einer  Ton- 
dichtung, zu  der  es  den  Hintergrund  geben  könnte?  Einer  Art 
Hummelsymphonie?  — ) 

Wie  nährt  mich  dies  alles,  lullt  mich  ein,  just  in  der  Art,  wie 
ich  es  brauche:  die  frische  Luft,  die  Roggenfelder,  die  Apfelgärten. 
Die  beiden  letzten  Tage  waren  makellos  schön  an  Sonne,  Wind, 
Temperatur  und  allem  —  nie  erlebte  ich  zwei  vollkommenere  Tage, 
und  ich  habe  sie  unendlich  genossen.  Mein  Befinden  ist  etwas  besser, 
und  meine  Seele  hat  Ruhe.  (Und  doch  ist  der  Jahrestag  von  meines 
Lebens  schwerstem  Verluste  und  Schmerz  ganz  nah*.) 

Wieder  eine  Aufzeichnung,  wieder  ein  vollkommener  Tag:  Vor- 
mittag von  sieben  bis  neun,  zwei  Stunden  ganz  eingehüllt  in  den 
Klang  von  Hummelgebrumm  und  Vogelmusik.  Drüben  in  den 
Apfelbäumen  und  in  einer  hohen  nahen  Zeder  saßen  drei  oder  vier 
rotrückige  Drosseln.  Jede  sang  ihr  bestes  Lied  und  schmetterte 
die  Läufe,  wie  ich  sie  schöner  niemals  hörte.  Zwei  Stunden  lang 
höre  ich  ihnen  zu,  dem  Lauschen  hingegeben  und  lässig  die  Land- 
schaft in  mich  aufnehmend.  Fast  jeder  Vogel,  habe  ich  bemerkt, 
hat  seine  bestimmte  Zeit  im  Jahr  —  manchmal  sind  es  nur  ein 
paar  Tage  —  wo  er  am  schönsten  singt;  und  jetzt  ist  die  Zeit  dieser 
Rotrücken.  Gleichzeitig  wegauf,  wegab  die  hin  und  her  schießenden, 
dröhnenden  musikalischen  Hummeln.  Auf  dem  Heimweg  umgibt 
mich  ein  großer  Schwärm  als  Hofstaat,  zieht  mit  mir  wie  zuvor. 

Sommerbilder  —  Sommerfaulheit 

Nichts  kann  die  stille  Pracht  und  Frische  übertreffen,  die  mich 
hier  am  Bach,  abends  halb  sechs  Uhr,  beim  Schreiben  umgibt. 
Mittags  hatten  wir  einen  heftigen  Regenschauer,  mit  kurzem  Donner 

*  Der  Todestag  seiner  Mutter,  23.  Mai  1873.   (Anmerkung  des  Übersetzers.) 

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und  Blitz;  und  danach  nun  dieser  nicht  außergewöhnliche  aber 
(im  Ganzen,  nicht  in  Form  oder  Einzelheit)  unbeschreibliche  Himmel 
vom  klarsten  Blau,  mit  rundgeballten,  silberumsäumten  Wolken 
und  blendend  reiner  Sonne.  Unten  Bäume  in  der  Fülle  zarten 
Laubes  —  von  Wasser  und  Röhricht  kommende,  langgedehnte 
Vogelstimmen  —  am  deutlichsten  das  jämmerliche  Miauen  eines 
klagenden  Katzenvogels  und  das  vergnügliche  Krähen  von  zwei 
Eisvögeln.  Die  letzteren  habe  ich  jetzt  eine  halbe  Stunde  bei  ihrem 
üblichen  Abendspiel  über  und  in  dem  Wasser  beobachtet;  offen- 
bar ein  herrlicher  Spaß.  Sie  jagen  einander,  wirbeln  und  kreisen 
rundherum,  oft  fröhlich  ins  Wasser  hinunter,  wobei  der  Gischt  in 
Diamanten  zersprüht,  —  und  dann  schießen  sie  weg,  mit  schrägen 
Flügeln,  in  anmutigem  Fluge,  manchmal  so  nah  an  mir  vorbei, 
daß  ich  ihre  dunkelgrau  gefiederten  Leiber  und  ihre  milchweißen 
Hälse  deutlich  sehen  kann. 

Als  ich  mich  zum  Heimgehen  erhebe,  verweile  ich  noch  und 
lausche  lange  einem  köstlichen  Sanges-Epilog  (ist  es  die  Einsiedler- 
drossel?). Aus  einem  der  buschigen  Verstecke  drüben  am  Moor 
kommt  es  —  langsam  und  träumerisch,  wieder  und  immer  wieder. 
Und  dazu  die  Ringelspiele  der  Schwalben,  die  zu  Dutzenden  in 
konzentrischen  Kreisen  durch  die  letzten  Strahlen  des  Abendrots 
flitzen  —  wie  Blitze  eines  Luftrads. 

Ein  Julinachmittag  am  Teich 

Hitze,  intensiv,  doch  um  vieles  erträglicher  in  so  reiner  Luft  — 
weiße  und  rosa  Teichblumen  mit  großen,  herzförmigen  Blättern  — 
glasklares  Wasser  in  der  Bucht,  Ufer  mit  dichtem  Gebüsch  und 
malerischen  Buchen,  —  Schatten,  —  Rasen;  aus  Schlupfwinkeln 
hervor  der  tremolierende,  schwirrende  Ruf  irgendeines  Vogels,  der 
die  warme,  träge,  fast  wollüstige  Stille  zerreißt;  —  gelegentlich 
eine  W'espe,  eine  Hornisse,  eine  Biene  oder  Hummel  (die  fliegen 
mir  um  Gesicht  und  Hände,  stören  mich  aber  nicht,  und  ich  sie 
auch  nicht;  denn  es  scheint,  als  untersuchten  sie  mich,  fänden  aber 
nichts,  und  —  fort  sind  sie!)  —  der  Himmel  über  mir  so  weit  und  klar, 
und  der  Bussard  dort  oben,  der  seinen  langsamen  Flug  in  majestäti- 
schen Spiralen  und  Kreisen  zieht  —  gerade  über  dem  Wasserspiegel 
zwei  große,  schieferfarbene  Wasserjungfern  mit  Hauchflügeln,  sie 

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kreisen  und  schießen  dahin  und  stehen  manchmal  regungslos  im 
Gleichgewicht,  nur  ihre  Flügel  zittern  leise  ohne  Unterlaß  (pro- 
duzieren sie  sich  zu  meinem  Vergnügen?).  —  Der  Teich  selber,  mit 
dem  schwertförmigen  Kalmus;  — Wasserschlangen  —  zuweilen  eine 
Amsel,  rote  Tupfen  auf  den  Schultern,  schräg  vorbeifliegend;  — 
Geräusche,  die  in  Einsamkeit,  Wärme,  Licht  und  Schatten  hörbar 
werden  —  das  Schnattern  einer  Teichente  —  (die  Grillen  und  Gras- 
hüpfer sind  verstummt  in  der  Mittagshitze,  doch  höre  ich  das  Lied 
der  ersten  Zikaden;)  —  dann,  in  ziemlicher  Entfernung,  das  Rasseln 
und  Schwirren  einer  Mähmaschine,  die,  am  anderen  Ufer  der  Bucht, 
in  raschem  Tempo  von  Pferden  durch  ein  Roggenfeld  gezogen 
wird  —  (was  war  das  für  ein  gelber  oder  hellbrauner  Vogel,  so 
groß  wie  ein  junges  Huhn,  mit  kurzem  Hals  und  langgestreckten 
Beinen,  den  ich  eben  in  flatterndem,  ungeschicktem  Flug  drüben 
zwischen  den  Bäumen  sah?)  —  in  meiner  Nase  der  stetige,  zarte, 
doch  intensive,  würzige  Gras-  und  Kleeduft.  Und  alles  deckend, 
alles  umfassend,  für  Auge  und  Seele  der  freie  Himmel,  durchsichtig 
und  blau  —  und  drüben  im  Westen  geballt,  ein  Haufen  weißgrauer 
Schäfchen  wölken,  die  der  Seemann  „Makreelenzüge"  nennt.  Mit 
silbernem  Gekräusel,  gleich  wirren  Locken,  breitet,  dehnt  sich  der 
Himmel  —  ein  weites,  lautloses,  gestaltloses  Trugbild  —  und  doch, 
vielleicht  die  wirklichste  Wirklichkeit  und  der  Gestalter  aller  Dinge 
—  wer  weiß  — ? 

4.  August,  nachmittags  sechs  Uhr. 
Lichter,  Schatten  und  seltene  Wirkungen  auf  Laub  und  Gras  — , 
durchsichtiges  Grün,  Grau  usw.,  alles  in  der  Pracht  und  Glut  des 
Sonnenuntergangs.  Die  klaren  Strahlen  fallen  jetzt  auf  viele  neue 
Stellen,  auf  die  faltigen,  rissigen,  bronzebraunen  unteren  Baum- 
stämme, die  zu  jeder  anderen  Stunde  im  Schatten  stehen  —  baden 
die  alten  und  jungen  knorrigen  Säulen  in  starkem  Licht,  enthüllen 
mir  neue,  wundersame  Züge  stummer,  rauher  Anmut,  die  starke 
Rinde,  den  Ausdruck  leidloser  Unberührbarkeit,  dazu  viele  nie 
zuvor  bemerkte  Knorren  und  Zapfen.  In  der  Offenbarung  solchen 
Lichtes,  solch  ungewöhnlicher  Stunde,  solcher  Stimmung,  wundert 
man  sich  nicht  mehr  über  die  alten  Fabeln  (ja,  warum  denn  Fabeln?) 
von  Menschen,  die  krank  wurden  aus  Liebe  zu  Bäumen  und  in 
Verzückung  gerieten  über  die  mystische  Wirklichkeit  der  stummen 


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unwiderstehlichen  Kraft  in  ihnen,  —  Kraft,  die  am  Ende  viel- 
leicht die  letzte,  vollkommenste,  höchste  Schönheit  ist. 

Heuschrecken  und  Grillen 

2  2.  August. 

Schnarrender,  einförmiger  Laut  von  Heuschrecken  oder  Grillen, 
diese  höre  ich  bei  Nacht,  jene  so  nachts  wie  tags.  Der  Morgen- 
und  Abendgesang  der  Vögel  hat  mich  von  je  entzückt;  aber  ich 
merke,  daß  ich  mit  ebensoviel  Freude  diesen  seltsamen  Insekten 
lauschen  kann.  Jetzt  um  die  Mittagszeit,  eben  da  ich  schreibe,  läßt 
eine  einzelne  Heuschrecke  sich  hören,  aus  200  Schritt  Entfernung 
von  einem  Baum  herab,  ein  langanhaltendes  Schwirren,  gehörig 
laut,  abgestuft  in  verschiedene  Wirbel  oder  Schwingungskreise, 
die  an  Kraft  und  Schnelligkeit  wachsen  bis  zu  einem  gewissen 
Punkt,  —  und  dann  ein  flatterndes,  sanft  auslaufendes  Sinken.  Jede 
Strophe  dauert  ein  bis  zwei  Minuten.  Das  Lied  der  Heuschrecke 
paßt  vortrefflich  zu  dieser  Landschaft  —  es  hat  Fülle,  Ausdruck 
und  Männlichkeit;  es  ist  wie  ein  feiner  alter  Wein,  nicht  süß,  aber 
weit  besser  als  süß. 

Aber  die  Grille  —  wie  soll  ich  ihre  reizvollen  Laute  beschreiben? 
Eine  singt  in  einem  Weidenbaum,  nur  20  Meter  von  meinem 
offenen  Schlaffenster  entfernt,  seit  vierzehn  Tagen  singt  sie  mich  jede 
klare  Nacht  in  Schlaf.  Neulich  abends  fuhr  ich  wohl  einen  halben 
Kilometer  weit  durch  den  Wald  und  hörte  Myriaden  von  Grillen 
auf  einmal  —  ein  eigenartiger  Eindruck;  jedoch  gefällt  mir  mein 
einzelner  Nachbar  auf  dem  Baume  besser. 

Laßt  mich  jedoch  über  den  Gesang  der  Heuschrecken  noch  mehr 
sagen,  wenn  ich  mich  auch  wiederhole;  ein  langes,  chromatisches, 
tremolierendes  Crescendo,  wie  von  einer  ehernen  Scheibe,  die,  im 
Kreise  geschwungen,  Schallwelle  auf  Schallwelle  hervorbringt,  be- 
ginnend mit  einem  gewissen  mäßigen  Takt  oder  Rhythmus,  der  schnell 
an  Tempo  und  Inbrunst  zunimmt,  einen  hohen  Grad  von  Energie 
und  Ausdruckskraft  erreicht  —  und  dann  rasch  und  graziös  sinkt 
und  erlischt.  Nicht  die  Melodie  des  Singvogels  —  weit  davon  — ; 
dem  Durchschnittsmusikanten  würde  dieser  Gesang  vielleicht  jeder 
Melodie  bar  erscheinen,  doch  hat  er  für  das  feinere  Ohr  gewiß 
seine  eigene  Harmonie;  eintönig  zwar  —  doch  welch  ein  Schwung 

108 


in  diesem  ehernen  Dröhnen,  um  und  um,  wie  Zymbeln  oder  wie 
das  Schwingen  eherner  Wurfscheiben. 

Was  uns  ein  Baum  zu  sagen  hat 

I.  September. 

Ich  möchte,  um  das  zu  erklären,  weder  den  größten  noch  den 
malerischsten  Baum  wählen.  Hier  vor  mir  steht  einer  meiner  Lieb- 
linge —  eine  schöne,  kerzengerade  gelbe  Pappel,  etwa  90  Fuß  hoch 
und  vier  Fuß  breit  an  der  Wurzel.  Wie  stark,  lebendig,  dauerhaft! 
Wie  wortlos  beredt:  Wie  vermittelt  sie  das  Gefühl  von  ünbeirrbar- 
keit  und  Sein,  im  Gegensatz  zu  der  Menschenart  des  bloßen 
Scheinens.  Dann  die  nahezu  seelischen,  fühlbar  künstlerischen, 
heroischen  Eigenschaften  emes  Baumes;  so  unschuldig  und  harmlos 
und  doch  so  wild.  Er  ist,  aber  er  sagt  nichts.  Wie  beschämt  er 
mit  seiner  zähen,  gleichmäßigen  Heiterkeit  in  jedem  Wetter  dieses 
flatterhafte  Wichtchen  Mensch,  das  beim  geringsten  bif3chen  Regen 
und  Schnee  unter  Dach  eilt!  Die  Wissenschaft  (oder  besser  Halb- 
wissenschaft) spottet  über  den  Gedanken  an  Dryaden,  Hamadryaden 
und  sprechende  Bäume.  Aber  wenn  sie  auch  nicht  sprechen,  so 
tun  sie  doch  etwas,  das  gerade  so  gut  ist  wie  das  meiste  Reden 
und  Schreiben,  Dichten  und  Predigen  —  oder  noch  viel  besser. 
Ich  möchte  wirklich  sagen,  daß  die  alten  Dryadengeschichten  so 
wahr  sind  wie  nur  irgendwelche  und  tiefer  als  die  meisten  Über- 
lieferungen. („Schneide  dies  aus,"  wie  der  Quacksalber  sagt  — 
„und  bewahre  es  auf.")  Geh  und  setze  dich  in  einen  Hain  oder 
Wald  zu  einem  oder  mehreren  dieser  stummen  Gefährten  und  lies 
das  Gesagte  und  denke  nach. 

Eine  Lehre,  die  die  Verschwisterung  mit  einem  Baum  —  viel- 
leicht überhaupt  die  größte  moralische  Lehre,  die  Erde,  Felsen 
und  Tiere  uns  geben  können,  ist  eben  diese  Lehre  des  Eigen wesens, 
des  Seins  ohne  die  geringste  Rücksicht  auf  das,  was  der  Zuschauer 
(der  Kritiker)  meint  oder  sagt  und  ob  es  ihm  gefällt  oder  nicht. 
Welche  schlimmere,  welche  verbreitetere  Krankheit  durchseucht  uns 
alle,  unsere  Literatur,  unsere  Erziehung,  unser  Verhalten  zuein- 
ander (ja  zu  uns  selbst),  als  eine  ungesunde  Sorge  um  den  Schein 
(noch  dazu  meist  ganz  flüchtigen  Schein)?  Und  gleichzeitig  kümmern 
wir  uns  gar  nicht  oder  kaum  um  die  gesunden,  langsam  reifenden, 

109 


überdauernden,  wirklichen  Seiten  von  Charakter,  Büchern,  Freund- 
schaft, Ehe  —  die  unsichtbaren  Grundlagen  und  Haften  der  Mensch- 
heit! (Denn  die  gemeinsame  Basis,  der  Nerv,  der  große  Sympathi- 
kus, das  Plenum  der  Menschheit,  das  jedem  Dinge  sein  Gepräge 
gibt,  ist  notwendigerweise  unsichtbar.) 

Der  Himmel.   Tage  und  Nächte.  Glück 

20.  Oktober. 

Ein  heller,  klarer,  frostiger  Tag  —  trockne  und  frische  Luft  voll 
Sauerstoff.  Von  all  den  gesunden,  schweigenden,  köstlichen  Wun- 
dern, die  mich  umgeben  und  durchdringen  —  (Bäume,  Wasser, 
Gras,  Sonnenlicht,  erster  Frost)  —  ist  es  der  Himmel,  den  ich  heute 
am  meisten  betrachte.  Er  zeigt  das  zarte,  durchsichtige  Blau,  das 
dem  Herbste  eigen  ist,  mit  nur  weißen  Wolken,  kleinen  und  größeren, 
die  der  großen  Halbkugel  ihre  stille,  seelenhafte  Bewegung  verleihen. 
Den  ganzen  Morgen  über  (sagen  wir  von  sieben  bis  elf  ühr),  behält  er 
dieses  klare,  doch  intensive  Blau.  Doch  wie  der  Mittag  heranrückt, 
wird  die  Farbe  heller  —  zwei,  drei  Stunden  lang  ganz  grau  —  dann 
noch  um  einen  Schein  blasser  bis  zum  Sonnenuntergang,  dessen 
blendende  Pracht  ich  durch  die  Lichtungen  einer  Gruppe  großer 
Bäume  hindurch  beschaue:  —  Feuerzungen  und  eine  üppige  Ent- 
faltung von  Hellgelb,  Violett  und  Rot,  mit  einem  weiten  Silber- 
glanz schräg  über  dem  Wasser;  —  die  durchsichtigen  Schatten, 
Lichtstreifen,  Blitze  und  lebhaften  Farben  übertreffen  weit  alle 
Gemälde  der  Welt. 

Ich  weiß  nicht  warum  und  wieso,  doch  mir  scheint,  als  verdankte 
ich  hauptsächlich  diesen  Himmeln  (und  manchmal  will  mich  dün- 
ken, obwohl  ich  den  Himmel  natürlich  jeden  Tag  meines  Lebens 
sah,  als  hätte  ich  ihn  zuvor  nie  wirklich  erblickt)  in  diesem  Herbste 
manche  wunderbar  zufriedene,  fast  möchte  ich  sagen  vollkommen 
glückliche  Stunde.  Ich  las  einmal,  daß  Byron  kurz  vor  seinem 
Tode  einem  Freunde  erzählte,  er  habe  in  seinem  ganzen  Leben 
nur  drei  glückliche  Tage  gekannt.  Auch  gibt  es  die  alte  deutsche 
Legende  von  des  Königs  Glocke,  die  auf  das  gleiche  hinzielt.  Wie 
ich  da  draußen  im  Walde  das  wundervolle  Abendrot  durch  die 
Bäume  erblickte,  fielen  Byrons  Worte  und  die  Glockengeschichte 
mir  ein,  und  es  erwachte  in  mir  das  Bewußtsein,  daß  ich  eine 


HO 


glückliche  Stunde  erlebte.  (Meine  besten  Augenblicke  jedoch  bringe 
ich  wohl  nie  zu  Papier;  wenn  sie  über  mich  kommen,  mag  ich 
nicht  durch  Aufzeichnungen  den  Zauber  zerstören.  Dann  gebe  ich 
mich  nur  ganz  der  Stimmung  hin  und  lasse  mich  auf  den  Fluten 
ihrer  stillen  Entzückung  tragen.) 

Was  ist  überhaupt  Glück?  Ist  dies  eine  seiner  Stunden  oder  ihm 
ähnlich?  So  unfaßbar  —  ein  bloßer  Hauch,  ein  verschwindender 
Lichtschein?  Ich  bin  nicht  sicher  —  so  laßt  mir  die  Wohltat  der 
Ungewißheit.  Hast  du.  Durchsichtiger,  in  deinen  azurblauen  Tiefen 
Arznei  für  Kranke,  wie  mich?  (Oh,  die  körperliche  Zerrüttung  und 
seelische  Unruhe  der  letzten  drei  Jahre!)  Und  träufelst  du  sie  nun, 
leise,  mystisch,  unsichtbar  durch  die  Luft  auf  mich  herab? 

Ein  Wintertag  am  Meeresstrand 

Jüngst  verbrachte  ich  einen  schönen  Dezembermittag  an  der 
Seeküste  von  New  Jersey,  die  ich  durch  eine  kaum  mehr  als  ein- 
stündige Eisenbahnfahrt  über  Old  Camden  und  Atlantic  erreichte. 
Ich  war  zeitig  aufgebrochen,  gestärkt  durch  schönen,  starken  Kaffee 
und  ein  gutes  Frühstück  (von  geliebten  Händen,  von  meiner  lieben 
Schwester  Lou  zubereitet  —  wie  viel  besser  schmecken  doch  dann 
die  Speisen,  und  wie  viel  besser  nähren  und  stärken  sie  einen  und 
machen  vielleicht  noch  den  ganzen  Tag  angenehm.) 

Mindestens  fünf  bis  sechs  Meilen  liefen  unsere  Geleise  durch  weit- 
gedehnte Wiesen  von  Dünengras,  dazwischen  kleine  Lagunen  und 
Rinnsale  überall.  Der  Schilfgeruch  —  meiner  Nase  eine  Wonne  — 
brachte  Erinnerungen  an  die  Südbucht  meiner  Heimatinsel.  Ich 
wäre  gern  noch  bis  zur  Nacht  durch  diese  flachen,  duftenden  See- 
prärien gereist.  Von  halb  zwölf  bis  zwei  Uhr  war  ich  fast  ständig 
nahe  am  Strand  oder  in  Sehweite  des  Ozeans,  lauschte  seinem  hei- 
seren Murmeln,  trank  die  willkommene,  belebende  Brise.  Zuerst 
eine  schnelle  Wagenfahrt  über  fünf  Meilen  harten  Sand  —  unsere 
Räder  hinterließen  kaum  eine  Spur;  —  dann  nach  Tisch,  da  noch 
zwei  Stunden  übrig  waren,  ging  ich  zu  Fuß  in  einer  anderen  Rich- 
tung —  (sah  und  traf  kaum  jemand)  —  ergriff  Besitz  von  etwas,  das 
wohl  einst  der  Gesellschaftsraum  von  einer  alten  Badehausanlage 
gewesen  sein  mochte  und  hatte  einen  weiten  Ausblick  —  reizvoll, 
erquickend,  unbegrenzt  —  ganz  für  mich  allein.   Unmittelbar  vor 


III 


und  neben  mir  eine  dürre  Strecke  Schilf  und  indisches  Gras  —  und 
Weite,  einfache,  schmucklose  Weite.  Ferne  Boote  und  von  weither 
eben  noch  sichtbar  die  schleppende  Rauchwolke  eines  heimkehren- 
den Dampfers;  etwas  deutlicher  Schiffe,  Briggs,  Schoner;  die 
meisten  hatten  alle  Segel  vor  dem  steifen,  stetigen  Wind  gesetzt. 

W^ie  anziehend,  wie  fesselnd  sind  doch  Meer  und  Strand!  Wie 
verliert  man  sich  in  ihre  Einfachheit,  ja  in  ihre  Leere! 

Was  ist  das  in  uns,  daß  durch  diese  Richtungslosigkeiten  und 
Richtungen  geweckt  wird?  Dieser  Wellenschlag,  dieser  grauweiße, 
salzige,  eintönige,  leblose  Strand  —  diese  gänzliche  Abwesenheit 
von  Kunst,  Büchern,  Unterhaltung,  Eleganz  —  wie  unbeschreib- 
lich wohltuend,  selbst  an  einem  Wintertag  wie  heut:  rauh  und 
doch  so  zart  anzuschauen,  so  vergeistigt,  an  unfaßbare  Tiefen  des 
Gefühls  rührend,  inniger  als  alle  Gedichte,  Gemälde,  Musik,  die 
ich  je  gelesen,  gesehen,  gehört.  (Doch  will  ich  gerecht  sein  —  viel- 
leicht ist  es  nur  deshalb  so,  weil  ich  diese  Gedichte  gelesen,  diese 
Musik  gehört  habe.) 

Strandträume 

Schon  als  Knabe  hatte  ich  den  Gedanken,  den  Wunsch,  etwas, 
ein  Gedicht  vielleicht,  über  die  Seeküste  zu  schreiben,  —  über  diese 
vielsagende  Trennungslinie,  die  zugleich  Berührung  und  Verbindung 
ist  und  das  Feste  mit  dem  Flüssigen  vermählt,  —  dieses  seltsame, 
lauernde  Etwas,  (als  welches  zweifellos  jede  objektive  Form  schließ- 
lich einmal  dem  subjektiven  Geiste  erscheint,)  das  weit  mehr  be- 
deutet, als  sein  bloßer,  erster  Anblick  verrät,  ist  er  auch  noch  so 
großartig,  und  Reales  und  Ideales  verschmilzt  und  jedes  zu  einem 
Teil  des  anderen  macht.  In  meiner  Jugend  und  frühem  Mannes- 
alter auf  Long  Island  streifte  ich  stunden-  und  tagelang  an  den 
Küsten  von  Rockaway  und  Conney  Island  entlang,  oder  ostwärts 
nach  Hampton  oder  Montauk.  Einmal,  an  dem  letzteren  Ort  (beim 
alten  Leuchtturm:  in  jeder  Richtung,  soweit  das  Auge  reichte, 
nichts  als  wogende  See)  fühlte  ich  — ,  ich  weiß  es  noch  genau  — , 
daß  ich  eines  Tages  ein  Buch  schreiben  müsse,  das  diesem  flu- 
tenden, mystischen  Thema  Ausdruck  verliehe.  Ich  erinnere  mich, 
wie  mir's  dann  später  kam,  daß  die  Seeküste  nicht  das  Thema 
eines  bestimmten,  lyrischen,  epischen  oder  literarischen  Versuches, 


112 


sooderD  vielmehr  ein  unsichtbarer  Einfluß  werden  sollte,  ein  alles 
durchdringendes  Maß  und  Vorbild  mir  und  meiner  Dichtung.  (Ich 
möchte  hier  jungen  Schriftstellern  einen  Wink  geben.  Ich  glaube, 
ich  habe  die  gleiche  Regel  unbewußt  auch  auf  andere  Mächte  als 
Meer  und  Küste  angewandt,  —  ich  habe  es  vermieden,  sie  nach 
einer  toten  Schablone  zu  bedichten,  da  sie  mir  zu  groß  für  bloß 
formale  Behandlung  waren ,  und  war  zufrieden,  wenn  ich  indirekt 
zeigen  konnte,  daß  wir  einander  kennengelernt  und  durchdrungen 
haben,  wenn  auch  nur  einmal,  so  doch  zur  Genüge,  —  daß  wir 
wirklich  ineinander  aufgegangen  sind  und  einander  verstanden 
haben.) 

Ein  Traum,  ein  Bild  taucht  seit  Jahren  von  Zeit  zu  Zeit  (manch- 
mal lange  nicht,  aber  ganz  sicher  immer  wieder  einmal)  leise  vor 
mir  auf  und  hat,  glaube  ich,  obwohl  es  nur  eine  Vorstellung  ist, 
mein  praktisches  Leben  stark  beeinfl  ußt,  —  sicherlich  meine  Schriften, 
denen  es  Form  und  Farbe  gegeben  hat.  Es  ist  nichts  mehr  und 
nichts  weniger  als  eine  unermeßliche  Strecke  weißbraunen  Sandes, 
hart  und  glatt  und  breit;  der  Ozean  rollt  unablässig  majestätisch 
darauf  zu,  mit  langsamem,  abgemessenem  Schwung,  mit  Rauschen 
und  Zischen  und  Schäumen  und  dumpfen  Stößen  dazwischen  wie 
von  tiefen  Pauken.  Die  Szene,  dieses  Bild,  steigt,  wie  gesagt,  seit 
Jahren  von  Zeit  zu  Zeit  vor  mir  auf.  Manchmal  erwache  ich  bei 
Nacht  und  kann  es  deutlich  hören  und  sehen. 

Frühlings  vor  spiel,  Wiedergeburt 

lo.  Februar  1877. 
Heute  das  erste  Zwitschern,  fast  Singen  eines  Vogels.  Dann  sah 
ich  am  offenen  Fenster  in  der  Sonne  zwei  Honigbienen  herumflitzen 
und  summen. 

I  I .  Februar. 

An  diesem  wundervollen  Abend,  in  dem  sanften  Rosa  und  blassen 
Gold  des  schwindenden  Lichtes,  hörte  ich  das  erste  Wispern  und 
Sich-Regen  des  erwachenden  Frühlings  —  ganz  leise  —  ich  weiß  nicht, 
ob  aus  Erdboden  oder  Wurzeln,  oder  von  der  Bewegung  von  In- 
sekten, —  doch  war  es  hörbar,  wie  ich  so  an  einen  Zaun  gelehnt 
stand  und  lange  in  den  westlichen  Horizont  sah.  Im  Osten  erschien 
der  Sirius,  als  die  Schatten  wuchsen,  in  blendender  Pracht.  Und 


8    Wbiuaao  1 


ii3 


der  große  Orion ;  und  ein  bißchen  nach  Nordosten  der  Große  Bär, 
kopfabwärts. 

20.  Februar. 

Sonnenuntergang.  Eine  einsame,  lustige  Stunde  am  Teich;  ich  übe 
Arme,  Brust,  meinen  ganzen  Körper  an  einer  zähen,  jungen  Eiche 
(faustdick,  12  Fuß  hoch),  ziehe  und  stemme  und  atme  die  gute  Luft. 
Nachdem  ich  eine  Weile  mit  dem  Baum  gerungen  habe,  kann  ich 
spüren,  wie  sein  junger  Saft  und  seine  Lebenskraft  aus  dem  Boden 
quillt  und  mich  vom  Scheitel  bis  zur  Sohle  durchglüht  wie  Wein 
der  Gesundheit.  Zur  Abwechslung,  als  Dreingabe,  lasse  ich  dann 
laute  Stimmübungen  vom  Stapel.  Deklamatorisches,  Sentimentales, 
Schmerz,  Zorn  aus  dem  Vorrat  unserer  Dichter  und  Dramatiker  — 
oder  fülle  meine  Lungen  und  singe  wilde  Lieder  und  Kehrreime, 
die  ich  bei  den  Schwarzen  im  Süden  horte,  —  oder  patriotische 
Lieder,  die  ich  von  den  Soldaten  lernte.  Ich  lasse  das  Echo  dröhnen, 
kann  ich  euch  sagen!  Zwischen  zwei  derartigen  Kraftausbrüchen, 
im  sinkenden  Zwielicht,  schrie  ein  Käuzchen  am  anderen  Ufer  der 
Bucht  vier-,  fünfmal  hintereinander  sein  tu-u-u-u  —  leise,  nach- 
denklich (wie  mir  schien,  auch  ein  wenig  spöttisch)  entweder  als 
Applaus  für  die  Negerlieder  oder  vielleicht  als  ironischen  Kommen- 
tar zu  dem  Schmerz,  Zorn  oder  Stil  unserer  Dichter. 

Eine  der  Wunderlichkeiten  des  Menschen 

Wie  kommt  es,  daß  man  in  all  der  heiteren,  verlassenen  Einsam- 
keit, allein,  tief  in  diesem  Waldesschweigen,  —  oder,  wie  ich  fand, 
in  der  wilden  Prärie,  in  der  Bergesstille  —  nie  ganz  frei  ist  von 
dem  Instinkt  (ich  verliere  ihn  nie,  und  andere  sagen  mir  im  Ver- 
trauen das  gleiche  von  sich),  sich  umzuschauen,  ob  nicht  jemand 
erscheinen,  aus  dem  Boden  wachsen,  oder  hinter  einem  Baum, 
einem  Felsen  hervortreten  werde?  Ist  das  ein  unterbewußtes,  ver- 
erbtes Überbleibsel  von  der  ür -Wachsamkeit  des  Menschen,  das 
von  den  wilden  Tieren  herstammt?  oder  von  seinen  wilden  Vor- 
fahren von  einst?  Es  ist  durchaus  weder  Nervosität  noch  Angst. 
Es  ist,  als  lauere  vielleicht  etwas  Unbekanntes  in  diesen  Büschen 
und  einsamen  Orten.  Nein,  ganz  sicherlich  ist  da  irgend  etwas 
lebendig  unsichtbar  Gegenwärtiges. 


114 


Ein  Nachmittagsbild 


2  2.  Februar. 

Gestern  Nacht  und  heute  schwer  und  regnerisch,  bis  zum  halben 
Nachmittag,  wo  der  Wind  sich  plötzlich  drehte,  die  Wolken  wie 
Vorhänge  rasch  fortzogen  und  der  klare  Himmel  durchkam  und 
mit  ihm  zugleich  der  schönste,  erhabenste  wunderbarste  Regen- 
bogen, den  ich  jemals  sah ;  ganz  vollständig,  sehr  farbig  an  seinen 
Erdenenden  und  in  der  Höhe  nach  allen  Richtungen  einen  leuch- 
tenden violetten,  gelben,  grünen  Dunst  ausstrahlend,  durch  den  die 
Sonne  leuchtete  —  ein  unbeschreiblicher  Licht-  und  Farbenaus- 
bruch, so  üppig  und  doch  so  zart,  wie  ich  es  nie  zuvor  erblickte. 
Dann  das  Nachspiel:  eine  volle  Stunde  verging,  ehe  das  letzte  dieser 
Erdenenden  verschwand.  Dahinter  der  Himmel:  ein  durchsichtiges 
Blau,  mit  vielen  kleinen  weißen  Wolken  und  Flocken.  Dazu  ein 
Abendrot,  das  alle  Sinne  der  Seele  verschwenderisch,  zärtlich,  voll 
erfüllte  und  beherrschte.  Ich  schließe  diese  Zeilen  am  Teich;  durch 
die  Abendschatten  fällt  eben  noch  genug  Licht,  um  den  westlichen 
Widerschein  auf  dem  Wasserspiegel  zu  sehen,  mit  dem  umgekehrten 
Bild  der  Bäume.  Hin  und  wieder  höre  ich  das  klatschende  Geräusch 
eines  Hechtes,  der  herausspringt  und  das  Wasser  kräuselt. 

Die  Tore  öffnen  sich 

6.  April. 

Ich  fühle  leibhaftig  den  Frühling,  oder  doch  seine  Vorboten.  Ich 
sitze  im  hellen  Sonnenschein,  am  Rande  des  Baches,  der  Wind 
kräuselt  leise  das  Wasser.  Nichts  als  Einsamkeit,  Morgenfrische, 
Lässigkeit.  Meine  zwei  Eisvögel  leisten  mir  Gesellschaft,  segeln, 
wenden,  stoßen,  tauchen,  manchmal  launisch  getrennt,  und  gleich 
wieder  vereint.  Wieder  und  wieder  höre  ich  ihre  zwitschernden 
Kehllaute;  eine  ganze  Zeit  lang  nichts  als  diesen  eigenartigen  Ton. 
Gegen  Mittag  werden  auch  andere  Vögel  warm;  ich  höre  die  schnar- 
renden Laute  des  Rotkehlchens  und  eine  Musik  zweier  Stimmen, 
davon  eine  ein  köstliches,  helles  Glucksen,  und  mehrere  andere 
Vögel,  die  ich  nicht  unterzubringen  weiß.  Dazu  kommt  noch  von 
Zeit  zu  Zeit  (ja,  eben  höre  ich's)  ein  leises  Quarren  von  ein  paar 
ungeduldigen  Fröschen  am  Rande  des  Teiches.  Hie  und  da  rauscht 

8*  Il5 


zischend  ein  ziemlich  starker  Wind  durch  die  Bäume.  Ein  armes, 
kleines  totes  Blatt,  lang  vom  Frost  gefesselt,  wirbelt  plötzlich  von 
irgendwoher  im  wilden  Taumel  neuer  Freiheit  hoch  in  die  Lüfte, 
in  Raum  und  Sonnenlicht,  und  stürzt  dann  plötzlich  hinab  aufs 
Wasser,  wo  es  festgehalten  wird  und  bald  versinkend  dem  Blick 
entschwindet.  Noch  sind  Büsche  und  Bäume  kahl,  doch  haben  die 
Buchen  noch  zum  großen  Teil  die  verschrumpelten,  gelben  Blätter 
vom  vorjährigen  Laube,  viele  Zedern  und  Fichten  sind  noch  grün, 
und  das  Gras  zeigt  schon  Spuren  kommender  Üppigkeit.  Und  über 
dem  Ganzen  ein  wundervoller  Dom  vom  reinsten  Blau,  ein  Spiel 
von  kommendem  und  gehendem  Licht,  und  große  Herden  von 
weißen,  still  dahinschwimmenden  Wolken. 

Der  gewöhnliche  Erdboden 

Auch  der  Erdboden  —  laßt  andere  See  und  Luft  beschreiben  — 
(wie  ich  es  zuweilen  versuche)  —  doch  ich  will  nun  den  einfachen 
Erdboden  zum  Thema  nehmen,  und  weiter  nichts.  Dieser  braune 
Boden  hier,  just  zwischen  Winterende  und  Frühlingsanfang  und 
Wachstum  —  der  Regenschauer  des  Nachts  und  der  frische  Duft 
am  nächsten  Morgen  —  die  roten  Würmer,  die  sich  aus  dem  Boden 
hervorwinden  —  die  toten  Blätter,  das  keimende  Gras  und  das  heim- 
liche Leben  darunter  —  der  Wille  zu  neuem  Beginn  —  an  geschützten 
Stellen  bereits  einzelne  kleine  Blumen  —  der  ferne  Smaragdglanz 
des  Winterweizens  und  der  Roggenfelder  —  die  noch  nackten  Bäume 
mit  hellen  Durchblicken,  die  im  Sommer  verdeckt  sind,  —  das  zähe 
Brachfeld,  das  Pflug-Gespann,  der  kräftige  Bursch,  der  seinen  Pferden 
aufmunternd  zupfeift  —  und  dort,  in  langen,  schräg  aufgeworfenen 
Streifen,  die  dunkle,  fette  Erde. 

Vögel,  Vögel,  Vögel 

Etwas  später.  Strahlendes  Wetter. 
Ungewöhnlich  sangesreich  sind  in  diesen  Tagen  (den  letzten  des 
April,  den  ersten  des  Mai)  die  Amseln;  überhaupt  schwirren,  pfeifen 
und  hocken  alle  möglichen  Vögel  hoch  in  den  Bäumen.  Nie  sah 
und  hörte  ich  sie  so,  war  so  mitten  unter  ihnen,  so  von  ihnen  und 
ihrem  Treiben  umdrängt,  überschwemmt,  wie  in  diesem  Monat. 

ii6 


Laßt  mich  aufzählen,  was  ich  hier  finde:  Amseln  (in  Mengen), 
Ringeltauben,  Eulen,  Spechte,  Königsvögel,  Krähen  (in  Mengen), 
Wachteln,  Eisvögel,  Hühnerhabichte,  Gelbvögel  (auch  Beutelstare 
genannt),  Bussarde,  Zaunkönige,  Drosseln,  Rohrdommeln,  Feld- 
lerchen (in  Mengen),  Kuckucke,  Teichschnepfen,  Rotkehlchen,  ' 
Raben,  Grauschnepfen,  Adler,  Fischreiher,  Waldtauben. 

Schon  früh  kamen  Blaukehlchen,  Killdeer,  Regenpfeifer,  Rot- 
kehlchen, Waldschnepfen,  Feldlerchen,  vveißbauchige  Schwalben, 
Sandpfeifer,  Wilson-Drosseln. 

Sternhelle  Nächte 

1 1 .  Mai. 

Wieder  bricht  eine  jener  ungewöhnlich  durchsichtigen,  schwarz- 
blauen Sternennächte  an,  die  gleichsam  zeigen  wollen,  daß,  so  strah- 
lend und  prächtig  der  Tag  sein  mag,  dennoch  dem  Nicht-Tag  etwas 
zu  eigen  bleibt,  was  ihn  übertrifft.  Das  seltenste,  schönste  Beispiel 
eines  langanhaltenden  Helldunkels  von  Sonnenuntergang  bis  neun 
Uhr.  Ich  ging  zum  Delaware  hinunter  und  fuhr  immer  wieder  hin- 
über und  herüber.  Venus  wie  leuchtendes  Silber  hoch  im  Westen. 
Die  große,  dünne,  blasse  Sichel  des  Neumonds,  eine  halbe  Stunde 
hoch,  langsam  hinter  eine  düstere  W^olkenwand  sinkend  und  dann 
wieder  hervortauchend.  Arktur  gerade  über  mir.  Ein  leiser,  wür- 
ziger Meeresduft  von  Süden  her.  Die  dämmerige  milde  Kühle;  jede 
Einzelheit  der  unbeschreiblich  beruhigenden  und  stärkenden  Sze- 
nerie deutlich  zu  erkennen;  —  eine  jener  Stunden,  die  der  Seele  zu- 
raunen, was  sich  nicht  in  Worte  fassen  läßt.  (Oh,  wo  fände  Geistig- 
keit ihre  Nahrung  ohne  Nacht  und  Sterne?)  Die  gestaltlose  Weite 
der  Luft  und  das  verschleierte  Blau  des  Himmels  schienen  Wunder 
genug. 

Als  die  Nacht  vorrückte,  wandelte  sich  ihr  Geist  und  Kleid  zu 
noch  umfassenderer  Pracht.  Ich  wurde  mir  fast  einer  deutlich  be- 
stimmten Gegenwart  bewußt:  der  schweigenden  Nähe  der  Natur. 
Das  große  Sternbild  der  Wasserschlange  streckte  seine  Windungen 
über  mehr  als  den  halben  Himmel.  Der  Schwan  flog  mit  aus- 
gebreiteten Schwingen  die  Milchstraße  hinab.  Die  nördliche  Krone, 
der  Adler,  die  Leier,  alle  an  ihrem  Platz  dort  oben.  Aus  dem  ganzen 
Gewölbe  schössen  Lichtblitze,  Grüße  an  mich,  durch  das  klare 


117 


Blauschwarz  herab.  Jedes  gewöhnliche  Bewußtsein  von  Bewegung, 
jedwedes  animalische  Leben  schien  ausgeschaltet,  schien  ein  Traum; 
eine  seltsame  Macht,  gleich  der  gelassenen  Ruhe  ägyptischer  Gott- 
heiten, ergriff  die  Herrschaft,  durch  ihre  Unfaßbarkeit  um  nichts 
weniger  gewaltig.  Zuvor  hatte  ich  viele  Fledermäuse  gesehen,  die 
sich  in  dem  hellen  Zwielicht  wiegten  und  ihre  schwarzen  Gestalten 
hin  und  her  über  den  Fluß  schnellten;  doch  jetzt  waren  sie  ganz 
verschwunden.  Der  Abendstern  und  der  Mond  waren  fort.  Regsam- 
keit und  Friede  waren  ruhig  beisammengelagert  in  den  flutenden 
Schatten  des  Alls. 

26.  August. 

Hell  war  der  Tag,  und  mein  Geist  gleichfalls  im  „sforzando". 
Nun  kommt  die  Nacht,  ganz  anders,  unsagbar  nachdenklich  mit 
ihrer  eigenen,  zarten  und  milden  Pracht.  Venus  verharrt  im  Westen 
mit  einem  wollüstigen  Glänze,  wie  sie  ihn  im  ganzen  Sommer  noch 
nicht  zeigte.  Mars  geht  früh  auf,  und  der  düster-rote  Mond,  zwei 
Tage  nach  Vollmond;  Jupiter  im  nächtlichen  Meridian,  und  der 
lange,  gekrümmte  Skorpion  dehnt  sich  voll  sichtbar  im  Süden,  den 
Antares  am  Halse.  Mars  durchschreitet  jetzt  als  oberster  Herrscher 
den  Himmel;  den  ganzen  Monat  über  gehe  ich  nach  dem  Abend- 
essen hinaus,  um  ihn  zu  beobachten ;  manchmal  stehe  ich  um  Mitter- 
nacht auf,  um  noch  einmal  einen  Blick  auf  seinen  unvergleichlichen 
Glanz  zu  werfen.  (Ich  lese,  daß  kürzlich  ein  Astronom  durch  das 
neue  Teleskop  von  W^ashington  feststellte,  daß  der  Mars  jedenfalls 
einen  Mond,  vielleicht  sogar  zwei,  hat.*)  Blaß  und  fern,  doch  im 
Himmelsraum  nahe,  geht  Saturn  ihm  voran. 

Königskerzen 

Große,  sanfte  Königskerzen,  von  samtenem  Gewebe  und  heller, 
bräunlich-grüner  Farbe,  wachsen  überall  auf  den  Feldern,  je  weiter 
der  Sommer  vorrückt.  Anfangs,  wenn  sie  noch  niedrig  und  unent- 
faltet  sind,  wirken  sie  mit  ihren  breiten  Blättern  (acht,  zehn,  zwanzig 
Blätter  an  jeder  Pflanze)  wie  Rosetten  auf  dem  Erdboden.  Auf  den 
zwanzig  Morgen  Brachland,  am  Ende  des  Feldweges,  und  besonders 
in  den  Furchen  längs  der  Zäune,  stehen  sie  in  Menge,  erst  dicht 

*  A.  Hall  im  Jahre  1877.    (Anmerkung  des  Übersetzers.) 


118 


über  dem  Boden,  doch  bald  schießen  sie  hoch,  schon  sind  die  Stengel 
vier,  fünf,  ja  sieben  und  acht  P'uß  hoch;  die  Blätter  so  breit,  wie 
meine  Hand,  die  untersten  doppelt  so  lang  —  so  frisch  und  tauig 
in  der  Frühe.  Ich  höre,  daß  der  Farmer  die  Königskerze  für  ein 
gemeines,  nutzloses  Unkraut  hält;  doch  mir  ist  sie  lieb  geworden. 
Jedes  Ding  enthält  seine  Lehre,  in  der  der  Hinweis  auf  alle  anderen 
Dinge  enthalten  ist  —  und  in  letzter  Zeit  scheint  mir's  manchmal, 
als  konzentriere  sich  für  mich  alles  in  diesem  wetterharten,  gelb- 
blumigen Unkraut.  Wenn  ich  am  frühen  Morgen  den  Feldweg 
daherkomme,  verweile  ich  stets  vor  ihrem  weichen,  wolligen  Vlies, 
ihren  Stengeln  und  breiten  Blättern,  die  von  zahllosen  Diamanten 
glitzern.  Zusammen  kehren  wir,  sie  und  ich,  nun  seit  drei  Jahren 
in  jedem  Sommer  schweigend  zurück;  nach  so  langen  Pausen  stehe 
oder  sitze  ich  immer  wieder  bei  ihnen  und  träume  —  verwoben 
mit  all  den  andern  Stunden  und  Stimmungen  der  Erholung  meines 
gesunden  oder  kranken  Geistes,  der  hier  dem  Frieden  so  nahe  ist,  wie 
nur  möglich. 

Ferne  Geräusche 
Die  Axt  des  Holzhauers  —  der  gleichmäßige  Fall  eines  einzelnen 
Dreschflegels  —  das  Krähen  des  Hahnes  im  Hühnerhof  (mit  den 
unvermeidlichen  Antworten  aus  anderen  Hühnerhöfen)  —  das  Brüllen 
der  Rinder  —  doch  vor  allem,  fern  und  nah,  der  Wind  —  hoch  in 
den  Baum  wipfeln,  tief  in  den  Büschen,  oder  auf  Gesicht  und  Händen 
so  leise  streichelnd,  in  diesem  mild-leuchtenden  Mittag,  dem  kühlsten 
seit  langer  Zeit  (2.  Sept.);  —  ich  will  es  nicht  Seufzer  nennen,  denn 
für  mich  hat  der  Wind  immer  einen  festen,  gesunden,  fröhlichen 
Ausdruck,  abwechslungsreich  bei  aller  Einförmigkeit,  bald  rasch, 
bald  langsam,  bald  rauh,  bald  zart.  Wie  zischelt  der  Wind  in 
dem  Fichtenwäldchen  dort  drüben.  Oder  auf  See,  —  ich  kann  mir 
im  Augenblicke  vergegenwärtigen,  wie  er  die  Wogen  peitscht,  wie 
weithin  Schaumgeister  spritzen,  und  das  freie  Pfeifen  und  den  Salz- 
geruch, —  und  dieses  weite  große  Paradoxon,  das  bei  all  seiner 
Bewegung  und  Rastlosigkeit  ein  Gefühl  von  ewiger  Ruhe  vermittelt. 

Andere  Begleiter 

Sonne  und  Mond  jedoch,  hier  und  zu  dieser  Zeit!  Nie  schien  das 
prächtige,  königliche  Gestirn  am  Tage  so  wunderbar,  so  groß,  so 

119 


glühend  und  liebevoll,  —  nie  bei  Nacht  ein  so  blendender  Mond, 
wie  gerade  in  den  letzten  drei,  vier  Nächten. 

Ein  Sonnenbad.  Nacktheit 

Sonntag,  9,7.  August. 
Wieder  ein  Tag  ganz  frei  von  ausgesprochner  Hinfälligkeit  und 
Schmerzen.  Es  scheint  wirklich,  als  flösse  ungesehen  Friede  und 
Stärkung  auf  mich  herab,  wie  ich  so  langsam  in  der  guten  Luft 
durch  diese  Wiesen wege  und  Felder  humple  —  wie  ich  hier  einsam 
mit  der  Natur  sitze  —  der  offenen,  stummen,  mystischen,  fernen, 
doch  fühlbaren,  beredten  Natur.  Ich  lasse  mich  versinken  in  die 
Landschaft,  in  den  vollkommenen  Tag.  Ich  hocke  an  dem  klaren 
Wasserlauf  und  trinke  die  Ruhe,  —  hier  aus  seinem  leisen  Glucksen, 
dort  aus  dem  tieferen  Rauschen  seines  drei  Fuß  hohen  Wasserfalls. 
—  Kommt,  oh,  ihr  Trostlosen,  wenn  noch  Entschlußkraft  in  euch 
schlummert,  —  kommt  zu  der  unfehlbaren  Heilkraft  von  Rachufer, 
Wald  und  Feld.  Zwei  Monate  lang  (Juli  und  August  77)  hab'  ich 
sie  nun  in  mich  aufgenommen,  und  sie  beginnen  einen  neuen 
Menschen  aus  mir  zu  machen.  Jeden  Tag  Einsamkeit  —  jeden 
Tag  mindestens  zwei  oder  drei  Stunden  Freiheit,  Rad,  kein 
Geschwätz,  keine  Fesseln,  keine  Kleider,  keine  Rücher,  kein 
„  Renehm  en"  ! 

Soll  ich  dir  sagen,  Leser,  worauf  ich  meine  schon  fast  wieder- 
hergestellte Gesundheit  zurückführe?  Darauf,  daß  ich  seit  fast 
zwei  Jahren,  mit  wenigen  Unterbrechungen,  ohne  Arzneimittel  und 
täglich  in  der  frischen  Luft  bin.  Vorigen  Sommer  fand  ich  eine 
besonders  geschützte  kleine  Schlucht,  etwas  abseits  von  meinem 
Räch;  ursprünglich  eine  große,  ausgeschachtete  Mergelgrube,  nun 
verlassen  und  ausgefüllt  von  Rüschen,  Räumen,  Gras,  einer  Weiden- 
gruppe, einer  einzelnen  Erhöhung  und  einer  Quelle  mit  köstlichem 
Wasser,  die  mitten  hindurch  fließt  mit  zwei  oder  drei  kleinen 
Wasserfällen.  Hierher  flüchtete  ich  mich  an  jedem  heißen  Tage, 
und  so  mache  ich  es  auch  in  diesem  Sommer.  Hier  begreife  ich, 
was  jener  Alte  meinte,  der  sagte,  er  sei  selten  weniger  allein,  als 
wenn  er  allein  sei.  Nie  zuvor  kam  ich  der  Natur  so  nahe,  noch  sie 
so  nahe  zu  mir.  Eine  Stunde  oder  so  nach  dem  Frühstück  schlenderte 
ich  zu  der  Verborgenheit  besagter  Schlucht  hinab,  die  ich  und 


120 


einige  Drosseln  usw.  ganz  für  uns  allein  hatten.  Ein  leichter  Süd- 
west blies  durch  die  Wipfel.  Es  war  just  der  Ort  und  die  Stunde 
für  mein  adamitisches  Luftbad  nebst  Bürsten  des  Körpers  von  Kopf 
bis  Fuß.  So  hing  ich  denn  die  Kleider  auf  einen  nahen  Zaun, 
behielt  den  alten,  breitrandigen  Strohhut  auf  dem  Kopf  und  be- 
queme Schuhe  an  den  Füßen  und  hatte  zwei  herrliche  Stunden! 
Zuerst  Arme,  Brust  und  Seiten  mit  den  steif-elastischen  Borsten 
gebürstet,  bis  sie  feuerrot  waren  —  dann  ein  teilweises  Bad  im 
klaren  Wasser  des  rinnenden  Baches  —  alles  sehr  gemächlich,  mit 
vielen  Ruhepausen  —  alle  paar  Minuten  barfuß  herumgelaufen  im 
nahen,  schwarzen  Schlamm,  als  fettes  Moorbad  für  meine  Füße,  — 
ein  zweites  und  drittes  Mal  in  dem  kristallklaren  Wasserlauf  kurz 
abgespült  —  mit  dem  duftenden  Handtuch  abgerubbelt  —  langsame, 
lässige  Promenaden  auf  dem  Rasen  auf  und  ab  in  der  Sonne,  ab- 
wechselnd mit  Ruhepausen  und  dann  wieder  Abreibungen  mit  der 
Bürste.  Manchmal  nehme  ich  meinen  Feldstuhl  von  Ort  zu  Ort 
mit,  da  mein  Bereich  hier  ziemlich  ausgedehnt  ist  (fast  hundert 
Ruten)  und  ich  mich  ganz  sicher  fühle  vor  Störungen  (und  das 
würde  mich  auch  keineswegs  aus  der  Fassung  bringen,  wenn  es 
zufällig  einmal  vorkäme). 

Wie  ich  langsam  über  das  Gras  ging,  schien  die  Sonne  hell  genug, 
daß  ich  meinen  mitgehenden  Schatten  sehen  konnte.  Irgendwie 
schien  es  mir,  als  würde  ich  eins  mit  all  und  jedem  Ding  um  mich 
her,  je  nach  seinem  Wesen.  Die  Natur  war  nackt  und  ich  auch. 
Es  war  eine  zu  lässige,  einschläfernde,  wonnige  und  ausgeglichene 
Stimmung,  um  darüber  nachzugrübeln.  Doch  mag  ich  mir  etwa 
die  folgenden  Gedanken  gemacht  haben :  Vielleicht  ist  unser  innerer, 
nie  verlorner  Zusammenhang  mit  Erde,  Licht,  Luft,  Bäumen  usw. 
nicht  durch  Augen  und  Gemüt  allein  zu  erfassen,  sondern  mit  dem 
ganzen  fleischlichen  Körper,  den  ich  ebenso  wenig  wie  die  Augen 
geblendet  und  verbunden  haben  will.  Süße,  gesunde  stille  Nackt- 
heit in  der  Natur!  —  oh,  könnte  die  arme,  kranke,  geile  Stadt- 
menschheit dich  nur  einmal  wieder  wirklich  kennenlernen!  —  Ist 
also  Nacktheit  nicht  unanständig?  —  Nein,  an  sich  nicht.  Eure 
Gedanken,  eure  Heuchelei,  eure  Furcht,  euer  Ehrbartun:  die  sind 
das  Unanständige.  Es  kommen  Stimmungen,  wo  diese  unsere  Klei- 
dung nicht  nur  zu  lästig  wird  zum  Tragen,  sondern  in  sich  selbst 
unanständig.  Vielleicht  hat  der  Mann  oder  das  Weib,  die  das  freie 


121 


heitere  Hochgefühl  der  Nacktheit  in  der  Natur  nie  kennenlernen 
durften  (und  wie  viele  Tausende  sind  das!),  nie  wirklich  gewußt, 
was  Reinheit  ist  —  noch  was  Glauben,  Kunst  und  Gesundheit 
eigentlich  ist.  (Wahrscheinlich  entsprang  der  ganze  Schatz  an 
höchster  Philosophie,  Schönheit,  Heroismus,  Form,  wie  die  alte 
hellenische  Rasse  ihn  aufweist,  —  die  höchste  Höhe  und  tiefste 
Tiefe,  die  die  Kultur  auf  diesen  Gebieten  kennt,  —  aus  ihrer  natür- 
lichen und  religiösen  Idee  der  Nacktheit.) 

Die  Eichen  und  ich 

5.  September  77. 

Ich  schreibe  dies,  elf  Uhr  vormittags,  unter  einer  dicht  belaubten 
Eiche  am  üfer,  unter  der  ich  vor  plötzlichem  Regen  Schutz  suchte. 
Ich  kam  hierher  (es  war  den  ganzen  Morgen  trüb  und  regnerisch, 
doch  vor  einer  Stunde  hörte  es  etwas  auf)  zu  der  schon  erwähnten, 
täglichen,  einfachen  Leibesübung,  die  ich  so  liebe:  um  an  diesem 
jungen  Eichbäumchen  hier  zu  ziehen  und  von  ihm  gezogen  zu 
werden,  mitzuschwingen  mit  der  zähen  Geschmeidigkeit  seines  auf- 
rechten Stammes,  —  vielleicht  etwas  von  seiner  elastischen  Faser, 
seinem  klaren  Safte  in  meine  alten  Sehnen  hineinzubekommen.  Ich 
stehe  auf  dem  Rasen  und  übe  dies  Gesundheitsstemmen  mäßig 
schnell  und  mit  Unterbrechungen  fast  eine  Stunde  lang,  und  atme 
dabei  die  frische  Luft  in  tiefen  Zügen.  An  dem  Bach  entlang  habe 
ich  drei  oder  vier  von  Natur  günstige  Ruheplätze  —  außerdem 
trage  ich  einen  Stuhl  mit  mir  und  benütze  ihn  für  bedachtsamere 
Gelegenheiten.  An  anderen  geeigneten  Stellen  habe  ich,  außer  dem 
eben  erwähnten  Eichbäumchen,  in  bequemer  Reichweite  starke 
und  geschmeidige  Stämme  von  Buchen  und  Stechpalmen  ausgesucht 
zu  meiner  Naturgymnastik  für  Arm-,  Brust-  und  Rumpfmuskeln. 
Bald  fühle  ich  Saft  und  Kraft  in  mir  aufsteigen,  wie  Quecksilber 
in  der  Wärme.  Dort  in  Sonne  und  Schatten  halte  ich  Äste  oder 
schlanke  Stämme  zärtlich  umfaßt,  ringe  mit  ihrer  harmlosen  Stärke 
und  weiß,  daß  die  Lebenskraft  von  ihnen  auf  mich  übergeht. 
(Oder  vielleicht  ist  es  ein  Austausch  zwischen  uns  —  vielleicht  ge- 
wahren die  Bäume  von  alldem  mehr,  als  ich  mir  je  träumen  ließ.) 

Nun  aber  in  vergnüglicher  Gefangenschaft  hier  unter  der  großen 
Eiche  —  der  Regen  strömt,  der  Himmel  ist  mit  bleiernen  Wolken 


122 


bedeckt  —  auf  der  einen  Seite  nichts  als  der  Teich,  auf  der  andern 
ein  Grasflecken,  besät  mit  den  weißen  Blüten  der  wilden  Möhre  — 
Axtklänge  von  einem  fernen  Holzschlag  her:  —  warum  bin  ich  so 
(beinahe)  glücklich,  ganz  allein  hier  in  dieser  nichtssagenden  Um- 
gebung (wie  die  meisten  Leute  es  nennen  würden)?  Warum  würde 
jede  Störung  —  selbst  durch  Leute,  die  ich  gern  habe,  —  den 
Zauber  vernichten?  Aber  bin  ich  denn  allein?  Zweifellos  kommt 
eine  Zeit  —  vielleicht  ist  sie  für  mich  gekommen  —  wo  man  mit 
seinem  ganzen  Wesen,  vornehmlich  im  Gemüt,  jene  Identität  fühlt 
zwischen  dem  subjektiven  Ich  und  der  objektiven  Natur,  die 
Schelling  und  Fichte  so  gerne  betonen.  Wie  es  ist,  weiß  ich  nicht, 
aber  oft  werde  ich  mir  hier  einer  Gegenwart  bewußt  —  in  klaren 
Stimmungen  bin  ich  mir  ihrer  gewiß,  und  weder  Chemie  noch 
Logik  noch  Ästhetik  kann  die  geringste  Erklärung  dalür  geben. 
Die  ganzen  beiden  letzten  Sommer  hat  sie  meinen  kranken  Leib 
und  meine  kranke  Seele  gestärkt  und  genährt,  wie  nie  zuvor. 
Dank,  unsichtbarer  Arzt,  für  deine  stumme,  köstliche  Arznei, 
deinen  Tag  und  deine  Nacht,  deine  W^assc  und  deine  Lüfte,  für 
die  Ufer,  das  Gras,  die  Bäume  und  sogar  für  das  Unkraut! 

Schmetterlinge 

20.  August  1878. 
Schmetterlinge,  nichts  als  Schmetterlinge  flattern  beständig  hin 
und  her  (statt  der  Hummeln  der  letzten  drei  Monate,  die  ganz  ver- 
schwunden sind)  —  alle  Arten,  weiße,  gelbe,  braune,  purpurne  — 
hin  und  wieder  glitzert  ein  prächtiger  Bursche  lässig  vorbei  auf 
Flügeln,  getupft  mit  allen  Farben  wie  die  Paletten  der  Maler. 
Über  der  Brust  des  Teiches  sehe  ich  viele  weiße  kreuz  und  quer 
ihren  müßigen,  launischen  Flug  verfolgen.  Nah  dem  Platz,  wo  ich 
sitze,  wächst  ein  hochstengeliges  Kraut,  verschwenderisch  gekrönt 
mit  tiefroten  Blüten,  auf  die  die  schneeigen  Insekten  sich  nieder- 
lassen und  verweilen,  manchmal  vier  oder  fünf  zur  selben  Zeit. 
Dann  besucht  sie  ein  Kolibri  und  ich  beobachte  ihn,  wie  er  kommt 
und  fortfliegt,  zierlich  sich  wiegt  und  vorbeischimmert.  Diese  weißen 
Schmetterlinge  geben  neue,  schöne  Kontraste  zu  dem  reinen  Grün 
des  Augustlaubs  (wir  haben  kürzlich  reichlichen  Regen  gehabt) 
und  zu  der  gleißenden  Bronze  des  W^asserspiegels.  Man  kann  sogar 


123 


manche  von  diesen  Insekten  zähmen;  ich  habe  da  einen  großen, 
schönen  Faher,  der  kennt  mich  und  kommt  zu  mir  und  hat  es  gern, 
wenn  ich  ihn  auf  meiner  ausgestreckten  Hand  halte. 

Ein  anderes  Mal,  später 

Ein  zwölf  Morgen  großes  Feld  reifer  Kohlköpfe  mit  ihrer  vor- 
herrschenden Farbe  von  Malachitgrün;  und  darüber  und  dazwischen 
schweben  und  fliegen  nach  allen  Richtungen  Myriaden  dieser 
weißen  Schmetterlinge.  Als  ich  heute  den  Feldweg  heraufkam, 
sah  ich  eine  lebendige  Kugel  aus  ihnen,  drei  oder  vier  Fuß  im 
Durchmesser,  viele  Dutzende  zusammengeballt,  die  rollten,  immer 
ihre  Kugelform  bewahrend,  durch  die  Luft,  sechs  bis  acht  Fuß 
über  dem  Erdboden. 

P]rinnerung  aus  einer  Nacht 

9.5.  August,  neun  bis  zehn  Uhr  vorm. 
Ich  sitze  am  Teich,  alles  ist  still,  die  breite,  glänzende  Fläche 
liegt  vor  mir.  —  Das  Blau  des  Himmels  und  die  weißen  Wolken 
spiegeln  sich  darin  —  darüber  huscht  hie  und  da  der  Schatten  eines 
fliegenden  Vogels.  Letzte  Nacht  war  ich  hier  unten  mit  einem 
Freund  bis  nach  Mitternacht;  alles  ein  Wunder  an  Glanz  —  die 
Pracht  der  Sterne  und  der  vollkommen  runde  Mond  —  die  ziehenden 
Wolken,  Silber  und  lichtes  Gelbbraun  —  manchmal  Massen  von 
dunstig  erleuchtetem  Windgewölk  —  und  schweigend  an  meiner 
Seite  mein  lieber  Freund.  Die  Schatten  der  Bäume  und  Streifen 
Mondlichts  auf  dem  Gras  —  die  leicht  bewegte  Luft  und  der  kaum 
spürbare  Duft  des  nahen  reifenden  Kornes,  die  unbewegte  durch- 
geistigte Nacht,  unaussprechlich  reich,  zärtlich,  inhaltvoll  —  alles 
in  allem  etwas,  das  die  Seele  durchdringt  und  noch  lange  nachher 
die  Erinnerung  stärkt,  nährt  und  beruhigt. 

Wilde  Blumen 

Das  war,  und  ist  noch,  eine  Festzeit  für  wilde  Blumen;  ganze 
Meere  von  ihnen  stehen  an  den  Wegen  durch  die  Wälder,  säumen 
die  Ränder  der  Bäche,  wachsen  an  all  den  alten  Zäunen  entlang 

124 


und  sind  verschwenderisch  über  die  Felder  verstreut.  F^ine  acht- 
blättrige, goldgelbe  Blüte,  hell  und  licht,  mit  einem  braunen 
Büschel  in  der  Mitte,  fast  so  groß  wie  ein  silbernes  Halbdollarstück, 
ist  sehr  verbreitet;  auf  einer  langen  Fahrt  gestern  sah  ich  sie  in 
Massen  an  den  Ufern  jedes  Baches  stehen.  Dann  gibt  es  ein  schönes, 
mitblauen  Blüten  bedecktes  Kraut  (von demBlau  der  alten  chinesischen 
Teetassen,  die  unsere  Großtanten  sammelten),  bei  dem  ich  immer 
stehenbleibe,  um  es  zu  bewundern;  es  ist  ein  wenig  größer  als  ein 
Zehncentstück  und  sehr  verbreitet.  Weiß  jedoch  ist  die  vor- 
herrschende Farbe.  Von  den  wilden  Möhren  habe  ich  gesprochen; 
auch  von  dem  wohlriechenden  Immergrün.  Aber  alle  Farben  und 
Schönheiten  sind  vertreten  besonders  an  den  oft  vorkommenden 
Strecken  sprossender  Zwergeichen  und  Zvvergzedern  hier  herum. 
Wilde  Astern  in  allen  Farben.  Trotz  des  Frosthauchs  halten  sich 
die  abgehärteten  kleinen  Dinger  in  all  ihrer  Blütenpracht.  Ebenso 
die  Blätter  der  Bäume,  manche  fangen  an,  gelb  oder  braun  oder 
graugrün  zu  werden.  Die  tiefe  Weinfarbe  der  Färberbäume  und 
Gummibäume  läßt  sich  schon  sehen  und  das  Strohgelb  der  Birke. 

Der  Delaware  —  Tage  und  Nächte 

5.  April  1 87g. 

Mit  der  Rückkehr  des  Frühlings  zu  den  Wolken,  den  Lüften, 
den  Wassern  des  Delaware  kommen  auch  die  Seemöwen  wieder. 
Ich  werde  es  niemals  müde,  ihrem  weitausladenden,  leichten, 
spiralenförmigen  Flug  zuzusehen  oder  wie  sie  schweben  mit  lang- 
samen, unbewegten  Flügeln  oder  herunteräugen  mit  ihrem  ge- 
bogenen Schnabel  oder  nach  Nahrung  ins  Wasser  tauchen.  Die 
Krähen,  deren  es  übergenug  den  Winter  hindurch  gab,  sind  mit 
dem  Eise  verschwunden.  Nicht  eine  ist  jetzt  zu  sehen.  Die  Dampf- 
boote sind  wieder  zum  Vorschein  gekommen  —  stattlich  daher- 
schnaufend,  frisch  bemalt  für  die  Sommerarbeit. 

Aber  laßt  mich  das  Ganze  zusammenfassen  und  aufzählen:  — 
den  Fluß  selbst,  den  ganzen  Weg  vom  Meer  her  —  Cape  Island 
auf  einer  Seite  und  Henlopen-Leuchtturm  auf  der  anderen,  die 
breite  Bucht  hinauf  nach  Norden,  und  so  bis  Philadelphia  und 
weiter  bis  Trenton;  —  die  Gegenden,  die  ich  am  besten  kenne  (da 
ich  einen  großen  Teil  der  Zeit  in  Gamden  zubringe,  sehe  ich  die 


I2D 


Dinge  von  diesem  Aussichtspunkt)  —  die  großen,  hochmütigen, 
schwerbeladenen  Ozeandampfer,  die  ein-  oder  auslaufen  —  die 
mächtige  Breite  hier  zwischen  den  zwei  Städten,  durchschnitten 
von  dem  Windmühleneiland  —  gelegentlich  ein  Kriegsschiff,  manch- 
mal ein  fremdes,  vor  Anker,  mit  seinen  Geschützen  und  Stück- 
pforten, und  die  Boote  und  braungebrannten  Schiffer,  und  die 
regelmäßigen  Ruderschläge,  und  die  fröhlichen  Schwärme  von 
Ausflüglern  —  die  häufigen  großen,  schönen  Dreimaster,  einige 
neu  und  sehr  schmuck  mit  ihren  weißgrauen  Segeln  und  gelbem 
Fichtengestänge  —  die  Schaluppen,  die  mit  günstigem  Wind  daher- 
rauschen  —  (ich  sehe  eben  eine,  wie  sie  herbeikommt  mit  breiten 
Segeln,  ihr  Gaffeltoppsegel  leuchtet  in  der  Sonne,  hoch  und  malerisch 
—  wie  schön  zwischen  Himmel  und  Wasser!)  —  die  wimmelnden 
Werften  und  Anlegeplätze  die  Stadt  entlang  —  die  Flaggen  der 
verschiedenen  Nationen,  das  starke,  englische  Kreuz  auf  seinem 
Grund  von  Blut,  die  französische  Trikolore,  das  Banner  des  großen 
deutschen  Kaiserreiches  und  die  italienischen  und  spanischen  Far- 
ben; —  manchmal  am  Nachmittag  die  ganze  Szenerie  belebt  von 
einer  Flotte  von  Yachten,  die  mit  halber  Fahrt  langsam  vom  Ren- 
nen in  Gloucester  heimkehren,  und,  wenn  man  den  Blick  nord- 
wärts w^endet,  die  langen  Streifen  weißflockigen  Dampfes  oder 
schmutzigschwarzen  Rauches  von  der  Küste  von  Kensington  oder 
Richmond  her,  fächerförmig,  schräg  sich  herüberziehend  im  West- 
südwestwind. 


Szenen  auf  Fähre  und  Fluß  —  Winternächte 

Dann  die  Camdenfähre!  Welche  Fröhlichkeit,  Abwechslung, 
Belebtheit,  Geschäftigkeit  bei  Tag.  Was  für  beruhigende,  schwei- 
gende, wunderbare  Stunden  bei  Nacht,  wenn  ich  im  Boot  über- 
fahre, fast  niemand  außer  mir  darin,  und  allein  auf  dem  Deck 
hin  und  her  gehe,  vorn  oder  achtern.  Welche  Zwiesprache  mit 
dem  Wasser,  der  Luft,  dem  köstlichen  chiaroscuro  —  der  Himmel 
und  die  Sterne,  die  nichts,  kein  Wort  zu  dem  Intellekt  sprechen, 
und  doch  so  beredt,  so  mitteilsam  zu  der  Seele  sind.  Und  die  Fähr- 
leute —  wie  wenig  wissen  sie,  was  sie  mir  gewesen  sind,  Tag  und 
Nacht,  —  wie  viele  Wolken  von  Verdrossenheit,  Langerweile, 
Schwäche  sie  in  ihrer  rauhen  Art  mir  vertrieben  haben.  Und  die 


126 


Lotsen  —  die  Kapitäne  Hand,  Walton  und  Giberson  am  Tag;  und 
Kapitän  Olive  nachts;  Eugen  Crosby,  der  mich  mit  seinen  starken 
jungen  Armen  so  oft  stützte,  umfing,  sicher  auf  das  Schiff  geleitete 
über  die  Löcher  auf  der  Brücke,  über  alle  Hindernisse. 

Ich  habe  von  den  Krähen  gesprochen.  Ich  beobachte  sie  immer 
vom  Boot  aus.  Ihre  schwarzen  Flecken  heben  sich  gegen  Schnee 
und  Eis  in  dieser  Jahreszeit  überall  ab  —  fliegend  und  flatternd 
oder  auf  kleinen  oder  größeren  Schollen  den  Strom  hinauf  und 
hinab  schwimmend.  An  einem  Tag  war  der  Fluß  beinahe  eisfrei 
—  nur  eine  einzige  lange  Scholle  abgebrochenen  Eises  bildete  einen 
schmalen  Streifen,  der  schnell  die  Strömung  hinunterschwamm, 
über  eine  Meile  weit.  Auf  diesem  weißen  Streifen  waren  die  Krähen 
versammelt,  Hunderte  von  ihnen  —  eine  spaßige  Fahrt. 

Dann  der  Warteraum,  ein  genaues  Bild  des  Lebens.  Nachmittags, 
gegen  halb  vier  Uhr;  es  beginnt  zu  schneien.  Im  Theater  hat  eine 
Nachmittagsvorstellung  stattgefunden,  von  halb  fünf  bis  fünf  Uhr 
kommt  der  Strom  der  heimkehrenden  Damen.  Ich  habe  niemals 
in  dem  geräumigen  Zimmer  eine  frohere,  lebendigere  Szene  sich 
abspielen  sehen  —  schöne,  gutgekleidete  Frauen  und  Mädchen  aus 
Jersey,  Dutzende  von  ihnen,  die  eine  Stunde  lang  hereinströmen, 
mit  hellen  Augen  und  glühenden  Gesichtern,  aus  der  frischen  Luft 
kommend  —  ein  paar  Sternchen  Schnee  auf  den  Kleidern  und 
Hüten,  wenn  sie  eintreten.  —  Die  Wartezeit  von  fünf  oder  zehn 
Minuten  —  das  Plaudern  und  Lachen  —  (Frauen  können  sich 
köstlich  untereinander  amüsieren,  mit  vielen  witzigen  Einfällen,  in 
fröhlicher  Hingegebenheit)  —  dazu  die  Laute  der  Glockenzeichen, 
der  Dampfpfeifen  der  abfahrenden  Schiffe  mit  ihren  rhythmischen 
Pausen  und  Untertönen,  —  die  vertraulichen  Bilder,  Mütter  mit 
ihrer  Schar  Töchter  (ein  reizender  Anblick),  Kinder,  Bauern,  — 
die  Bahnbeamten  mit  ihren  blauen  Röcken  und  Kappen  —  alle  die 
verschiedenen  Charaktere  aus  Stadt  und  Land  dargestellt  oder  an- 
gedeutet. Dann  draußen  ein  verspäteter  Reisender,  der  sinnlos  dem 
Boot  nachrennt,  nachspringt.  Gegen  sechs  Uhr  verdichtet  sich  der 
menschliche  Strom  allmählich  —  jetzt  ein  Gedränge  von  Fuhr- 
werken, Karren,  aufgehäuften  Kisten,  jetzt  ein  Zug  Rindvieh,  der 
große  Aufregung  hervorruft,  die  Treiber  mit  schweren  Stöcken, 
mit  denen  sie  die  dampfenden  Flanken  der  verängstigten  Tiere 
bearbeiten. 


127 


Eine  Januar nacht 

Schöne  Fahrten  über  den  breiten  Delaware  heute  nacht.  Der 
Fluß  kurz  nach  acht  Uhr  voll  von  größtenteils  aufgebrochenem 
Eis,  aber  ein  paar  große  Schollen  machen  unser  stark  gebautes 
Dampfboot  dröhnen  und  erzittern,  als  es  gegen  sie  stößt.  Im  klaren 
Mondlicht  breiten  sie  sich  aus,  seltsam,  unirdisch,  silberig,  matt- 
glänzend, so  weit  ich  sehen  kann.  Stoßend,  zitternd,  manchmal 
wie  tausend  Schlangen  zischend,  gibt  die  steigende  Flut,  wie  wir 
mit  ihr  oder  durch  sie  hindurchfahren,  einen  mächtigen  Grundton, 
im  Einklang  mit  dem  ganzen  Bild.  Die  Pracht  zu  Häupten  droben 
ist  unbeschreiblich;  aber  es  ist  etwas  Hochmütiges,  fast  Anmaßen- 
des in  der  Nacht,  niemals  noch  bin  ich  mir  so  des  verborgenen 
Gefühls,  ich  möchte  beinahe  sagen  der  Leidenschaftlichkeit 
der  schweigenden,  unendlichen  Sterne  da  oben  bewußt  geworden. 
In  solcher  Nacht  kann  man  verstehen,  warum  seit  den  Tagen  der 
Pharaonen  oder  des  Hiob  in  dem  mit  Planeten  besäten  Himmels- 
dom die  feinste,  tiefste  Kritik  am  menschlichen  Stolz,  Ruhm,  Ehr- 
geiz empfunden  wurde. 

Eine  andere  Winternacht 

Ich  kenne  nichts  „Erfüllenderes",  als  in  einer  klaren,  kühlen 
Mondnacht  auf  dem  weiten,  festen  Verdeck  eines  starken  Schiffes 
zu  stehen,  das  stolz  und  unwiderstehlich  durch  dieses  dicke,  mar- 
morne, glänzende  Eis  stößt.  Der  ganze  Fluß  ist  jetzt  davon  be- 
deckt —  einige  ungeheure  Schollen.  Es  liegt  etwas  so  Verzau- 
bertes über  der  Szene  —  zum  Teil  durch  die  Art  des  bläulichen 
Lichtes,  des  Mondzwielichtes;  —  nur  die  großen  Sterne  können  sich 
in  dem  Leuchten  des  Mondes  durchsetzen.  Die  Luft  ist  scharf,  an- 
genehm für  Bewegung,  trocken,  voll  Sauerstoff'.  Und  das  Gefühl 
von  Kraft  —  der  feste,  zornige,  gebieterische  Eifer  unserer  starken, 
neuen  Maschine,  indes  sie  ihren  Weg  durch  die  großen  und  kleinen 
Schollen  pflügt! 

Eine  andere 

Zwei  Stunden  lang  fuhr  ich  über  den  Fluß,  hin  und  her, 
nur  zum  Vergnügen  —  zu  stiller  Erregung.   Himmel  und  Fluß 


veränderten  sich  öfters.  J)er  Himmel  hielt  eine  Zeitlaiip  zwei  jj^ruße 
Fächer  heller  Wolken  ausgebreitet,  durch  die  der  Mond  hindurch- 
ging, leuchtend  jetzt  und  eine  Aureole  von  durchsichtigem  Gelb- 
braun mit  sich  führend,  und  jetzt  die  ganze  Weite  mit  hellem, 
dunstigem  Lichtgrün  überflutend,  durch  das  er,  wie  durch  einen 
erleuchteten  Lichtschleier,  mit  gemessener,  frauenhafter  Bewegung 
zog.  Dann  bei  einer  anderen  Fahrt  ist  der  Himmel  vollkommen 
klar  und  Luna  in  all  ihrem  Glanz.  Der  Große  Wagen  im  Norden 
mit  dem  Doppelstern  an  der  Deichsel,  viel  deutlicher  als  gewöhnlich. 
Dann  die  glänzige  Lichtspur  auf  dem  Wasser,  tanzend  und  sich 
kräuselnd.  Verwandlungen,  Bilder,  Gedichte  —  unnachahmlich. 

Eine  andere 

Ich  studiere  bei  der  Überfahrt  heute  nacht  die  Sterne  unter 
günstigen  Umständen.  Es  ist  spät  im  Februar  und  wieder  beson- 
ders klar.  Hoch  im  Westen  die  Plejaden,  zitternd  mit  feinem  Ge- 
funkel  im  sanften  Himmel  —  der  Aldebaran,  der  die  V-förmigen 
Hyaden  führt  —  und  droben  im  Süden  die  Capella  mit  ihren  Zick- 
lein. In  voller  Entfaltung  im  hohen  Süden  der  majestätischste  von 
allen,  Orion,  weit  ausgebreitet,  mächtig,  der  Hauptakteur  auf  die- 
ser Bühne,  mit  der  blitzenden,  gelben  Rosette  an  seiner  Schulter 
und  seinen  drei  Königen  —  und  etwas  gegen  Westen  Sirius,  voll 
ruhigen  Stolzes,  der  wunderbarste  Einzelstern.  Ich  ging  spät  an 
Land  (ich  konnte  mich  von  der  Schönheit  und  Lindigkeit  der 
Nacht  nicht  trennen)  und  während  ich  herumstand  oder  langsam 
weiterwanderte,  hörte  ich  die  hallenden  Rufe  der  Bahnleute  in  dem 
Hof  des  Westjersey  Depots,  das  Schieben  und  Rangieren  der  Züge, 
Lokomotiven  usw.  inmitten  der  allgemeinen  Stille,  und  ein  Etwas 
in  der  akustischen  Beschaffenheit  der  Luft,  musikalische,  ergreifende 
Effekte,  wie  ich  sie  nie  zuvor  wahrgenommen.  Ich  verweilte  lange, 
lange  und  lauschte. 

Nacht  vom   i8.  Marz  1879. 

Eine  jener  ruhigen,  angenehm  kühlen,  köstlich  klaren  und 
wolkenlosen  ersten  Frühlingsnächte  —  die  Atmosphäre  wieder  von 
dem  seltsamen,  gläsernen  Blauschwarz,  das  den  Astronomen  so 
willkommen  ist.  Genau  acht  Uhr  abends;  die  Szenerie  droben  von 


9    Whituiaii  1 


feierlichster,  unvergleichlicher  Schönheit.  Venus  fast  unten  im 
Westen,  von  einer  Größe  und  einem  Glanz,  als  wollte  sie  sich  vor 
ihrem  Untergehen  selbst  übertreffen.  Schwellender,  mütterlicher 
Himmelskörper,  —  ich  nehme  dich  wieder  in  mich  auf.  Ich  denke 
zurück  an  jenen  Frühling  vor  Abraham  Lincolns  Ermordung,  als 
ich  ruhelos  die  Ufer  des  Potomac  um  Washington  durchstreifte 
und  dich  beobachtete,  hoch  dort  oben,  schwermütig  wie  ich  selbst: 

„Als  wir  wanderten  auf  und  ab  in  dem  mystischen  Dunkelblau, 
Als  wir  in  Schweigen  wanderten  in  der  durchsichtigen,  schattigen  Nacht, 
Als  ich  sah,  du  habest  mir  etwas  zu  sagen,  da  du  Nacht  für  Nacht  dich  mir 

neigtest, 

Da  du  dich  tief  vom  Himmel  herniedersenktest  als  wie  an  meine  Seite  (indes 

die  anderen  Sterne  alle  zuschauten), 
Da  wir  miteinander  wanderten  in  der  feierlichen  Nacht." 

Mit  der  scheidenden  Venus,  groß  bis  zuletzt  und  bis  zum  Rande 
des  Horizontes  leuchtend,  welch  ein  Schauspiel  bietet  das  weite 
Gewölbe  in  diesem  Augenblick!  Merkur  war  just  nach  Sonnen- 
untergang sichtbar  —  ein  seltener  Anblick.  Arkturus  ist  jetzt  auf- 
gegangen, genau  im  Nordosten.  In  ruhiger  Pracht  strahlen  alle  die 
Sterne  des  Orion  an  ihrem  Platz  im  Meridian  gegen  Süden  mit 
dem  Sternbild  des  Hundes  ein  wenig  links.  Und  jetzt  steigt  eben 
Spica  auf,  spät,  tief  und  leicht  verschleiert.  Castor,  Regulus  und 
die  übrigen  alle  leuchten  ungewöhnlich  hell  (weder  Mars  noch 
Jupiter  noch  Mond  bis  zum  Morgen).  Am  Rand  des  Flusses  blin- 
ken viele  Lichter  —  zwei  oder  drei  ungeheure  Schlote  zwei  Meilen 
aufwärts,  die  dicke  Schmelzflammen  ausstoßen,  vulkanartig,  die 
ganze  Umgebung  erleuchtend  —  und  manchmal  ein  elektrisches 
oder  Karbidlicht  mit  dantesken  Infernostrahlen,  weitausgereckten 
Speichen,  furchtbar,  geisterhaft  mächtig. 

Zwei  Stadtteile 

New  York,  Mai  1879. 
Kein  Viertel  dieser  Stadt  bietet  an  diesen  schönen  Mainachmit- 
tagen ein  glänzenderes,  lebhafteres,  gedrängteres  Menschenschau- 
spiel als  die  Gegend,  die  die  14.  Straße  (besonders  das  kurze  Stück 
zwischen  Broadway  und  5.  Avenue)  samt  Union  Square  und  Um- 
gebung umfaßt.   Alle  die  Straßen  sind  hier  breit  und  die  Plätze 

i3ü 


groß  und  frei  —  jetzt  überflutet  vom  flüssigen  Gold  des  machtvollen 
Sonnenscheins  der  letzten  zwei  Nachmittagsstunden.  Gegen  fünf 
Uhr  muß  der  ganze  Stadtteil  an  den  Tagen  meiner  Beobachtung 
3o  bis  40000  schön  gekleidete  Menschen  enthalten  haben,  alle  in 
Bewegung,  viele  gut  aussehend,  viel  schöne  Frauen,  oft  junges  Volk 
und  Kinder,  die  letzteren  in  Gruppen  mit  ihren  Bonnen  —  die  Trot- 
toirs  überall  gedrängt  voll  dichten  Gewühls  (aber  keine  Zusammen- 
stöße, keine  Störung),  voll  Massen  leuchtender  Farben,  Bewegung, 
geschmackvollen  Toiletten  (die  Frauen  kleiden  sich  zweifellos  besser 
als  früher  und  ebenso  die  Männer).  Es  ist,  als  ob  New  York  an 
diesen  Nachmittagen  zeigen  wollte,  was  es  an  erlesenen  mensch- 
lichen Gestalten  und  Physiognomien,  an  unnachahmlicher  Verschwen- 
dung von  Fahrzeugen,  Waren,  Glanz,  Magnetismus  und  Glück  zu 
bieten  hat. 

Ein  anderes  Bild,  ebenfalls  von  fünf  bis  sieben  Uhr  nachmittags. 
Die  ganze  5.  Avenue  entlang  und  den  ganzen  Weg  von  den  Aus- 
gängen des  Zentralparks  in  der  69.  Straße  bis  hinunter  zur  14.  ein 
Mississippi  von  Pferden  und  reichen  Fahrzeugen,  nicht  ein  oder 
zwei  Dutzende,  sondern  Hunderte  und  Tausende.  Die  breite  Straße 
ist  von  ihnen  erfüllt  und  vollgepfropft  —  ein  regsames,  blendendes, 
hastiges  Gewühl,  mehr  als  zwei  Meilen  lang.  (Ich  möchte  wissen, 
ob  es  nie  ins  Stocken  kommt,  aber  ich  glaube,  das  geschieht  nie.) 
All  dies  zusammen  ist  für  mich  das  märchenhafte  Bild  von  New 
York.  Ich  liebe  es,  einen  der  Omnibusse  in  der  5.  Avenue  zu  be- 
steigen und  der  reißenden  Prozession  entgegenzufahren.  Ich  glaube 
nicht,  daß  London  oder  Paris  oder  irgendeine  andere  Stadt  der  Welt 
einen  derartigen  Wagenkorso  aufzuweisen  hat,  wie  ich  ihn  hier 
fünf-  oder  sechsmal  an  diesen  schönen  Mainachmittagen  gesehen 
habe. 


Ein  schöner  Nachmittag  von  vier  bis  sechs  Uhr 

Zehntausend  Fahrzeuge  eilen  durch  den  Park  an  diesem  voll- 
kommenen Nachmittag.  Welch  ein  Schauspiel!  Und  ich  habe  alles 
gesehen  und  genau  und  mit  Muße  beobachtet.  Privatkalescheu , 
Droschken  und  Coupes,  schöne  Pferde,  Schoßhunde,  Bediente, 
modische  Kleider,  Ausländer,  Kokarden  an  Hüten,  Federbüsche  — 
die  ganze  ozeangleiche  Flut  von  New  Yorks  Reichtum  und  „Adel". 


Es  war  ein  imposanter,  reicher,  endloser  Zirkus  in  größtem  Maß- 
stab, voll  Bewegung  und  Farbe  in  der  Schönheit  des  Tages,  in  der 
klaren  Sonne  und  milden  Luft.  Familiengruppen,  Paare,  einzelne 
Fahrer  —  natürlich  meist  elegant  gekleidet  —  viel  Stil  (aber  viel- 
leicht wenig  oder  nichts,  selbst  hierin,  durch  sich  selbst  voll  gerecht- 
fertigt). Durch  die  Fenster  von  zwei  oder  drei  der  vornehmsten 
Wagen  sah  ich  Gesichter,  fast  leichenhaft,  so  aschfarben  und  schlaff. 
In  der  Tat  ließ  die  ganze  Angelegenheit  in  Geist  und  Haltung 
weniger  vom  echten  Amerika  erkennen,  als  ich  von  einem  so  er- 
lesenen Massenschauspiel  erwartet  hätte.  Ich  glaube,  daß  es  als 
Beweis  für  den  grenzenlosen  Reichtum  und  Luxus  des  schon  erwähn- 
ten Adels  überwältigend  war.  Aber  das,  was  ich  in  diesen  Stunden 
sah,  ich  benutzte  zwei  andere  Gelegenheiten,  zwei  andere  Nachmit- 
tage, um  dieselbe  Szene  zu  beobachten),  bestärkte  mich  in  einem 
Gedanken,  der  bei  jedem  neuen  Blick,  den  ich  auf  die  höchsten 
Schichten  unserer  reichen  und  vornehmen  Welt  werfe,  immer  wieder 
in  mir  auftaucht  —  nämlich  der  Gedanke,  daß  sie  sich  nicht  behag- 
lich fühlen,  daß  sie  sich  ihrer  selbst  zu  bewußt  sind,  in  viel  zu  viele 
Wachshüllen  eingeschlossen  und  weit  davon  entfernt,  glücklich  zu 
sein,  —  daß  nichts  in  ihnen  ist,  worum  wir,  die  wir  arm  und  einfach 
sind,  sie  zu  beneiden  brauchen,  und  daß  sie  statt  des  ewigfrischen 
Duftes  von  Gras  und  Wald  und  Küste  immer  nur  den  Geruch  von 
Seifen  und  Parfüm. atmen,  der,  so  erlesen  er  sein  mag,  doch  an  den 
Friseurladen  erinnert,  —  an  etwas,  das  irgenwie  in  wenigen  Stunden 
schal  und  dumpfig  wird. 

Schwalben  am  Fluß 

3.  September. 

Bewölkt  und  naß  und  Ostwind,  die  Luft  ohne  sichtbaren  Nebel, 
aber  sehr  schwer  von  Feuchtigkeit.  Als  ich  vormittags  über  den 
Delaware  fuhr,  sah  ich  eine  ungewöhnliche  Menge  fliegender  Schwal- 
ben, kreisend,  hin  und  her  schießend,  anmutig  über  jede  Beschrei- 
bung, dicht  überm  Wasser.  In  dichten  Schwärmen  flogen  sie  um 
den  Bug  des  Fährbootes,  als  es  an  seinem  Tau  festgebunden  lag, 
und  als  wir  losfuhren,  beobachtete  ich  ihre  flink  wendenden,  sich 
schneidenden  und  kreuzenden  Schleifenflüge  über  den  Landungs- 
pfeilern und  hin  und  her  über  dem  breiten  Strom  und  bis  dicht  an 


l32 


ihn  herab.  Obwohl  ich  Schwalben  mein  Leben  lang  gesehen  hatte, 
war  es  mir,  als  hätte  ich  mir  nie  zuvor  ihre  besondere  Schönheit 
und  Eigenart  in  der  Landschaft  klar  gemacht.  Als  ich  vor  einiger 
Zeit  in  einer  riesigen  alten  Scheune  eine  Stunde  lang  den  Flug  dieser 
Vögel  beobachtete,  wurde  ich  an  das  11.  Buch  der  Odyssee  erinnert, 
wo  Odysseus,  sich  offenbarend,  die  Freier  erschlägt  und  Minerva 
in  Gestalt  einer  Schwalbe  sich  durch  die  Höhe  der  Halle  empor- 
schwingt, hoch  oben  auf  einem  Balken  sitzt,  wohlgefällig  auf  das 
Gemetzel  blickt  und  sich  in  ihrem  Element  fühlt,  frohlockend, 
freudig. 

Die  Prärien 

(Rede  vor  einer  Volksversammlung  in  Topeka,  Kansas) 

Wenn  euch  daran  liegt,  ein  Wort  von  mir  zu  hören,  will  ich 
über  diese  eure  Prärien  zu  euch  sprechen;  sie  machen  mir  den  tief- 
sten Eindruck  von  all  den  Bildern,  die  ich  auf  diesem  meinem  ersten 
leibhaftigen  Besuch  im  Westen  sehe  oder  gesehen  habe.  Als  ich  in 
rasendem  Tempo  hierher  fuhr,  mehr  als  tausend  Meilen  weit,  durch 
das  schöne  Ohio,  durch  das  brotspendende  Indiana  und  Illinois, 
durch  das  weite  Missouri,  das  alles  hervorbringt,  was  es  nur  gibt; 
als  ich  eure  reizende  Stadt  teilweise  in  den  letzten  zwei  Tagen 
durchforschte  und  als  ich  auf  dem  Oreadenhügel  bei  der  Univer- 
sität stand  und  meine  Augen  über  weite  Flächen  lebendigen  Grüns 
nach  allen  Richtungen  hin  schweifen  ließ  —  war  ich  tief  ergriffen, 
sage  ich,  und  werde  es  für  den  Rest  meines  Lebens  bleiben,  von 
diesem  Wesenszug  der  Topographie  eurer  westlichen  zentralen  Welt 
—  diesem  ungeheuren  Etwas,  das  sich  nach  seinen  eigenen  unbe- 
grenzten Maßen  unbeschränkt  ausstreckt  und  das  in  diesen  Prärien 
lebendig  ist  und,  schön  wie  Träume,  das  Reale  und  Ideale  mitein- 
ander vereint. 

Ich  frage  mich,  ob  die  Menschen  dieses  kontinentalen  inneren 
Westens  wissen,  wieviel  Kunst  sie  in  diesen  Prärien  haben  —  wie 
urwüchsig  und  ganz  euer  eigen  —  wieviel  Einwirkung  auf  die  Bil- 
dung eines  Charakters  für  euer  zukünftiges  Menschentum,  breit, 
patriotisch,  heroisch  und  neu?  wie  ganz  sie  zu  der  Größe  und 
stolzen  Monotonie  des  Himmels  und  zu  dem  Ozean  mit  seinen 
Wassern  passen?  wie  befreiend,  beruhigend,  nährend  sie  für  die 
Seele  sind? 


i33 


Denn  sind  nicht  sie  es  eigentlich,  die  uns  unsere  führenden  mo- 
dernen Amerikaner  gegeben  haben,  Lincoln  und  Grant?  —  Männer 
aus  dem  breiten  Durchschnitt,  im  Vordergrunde  ihres  Charakters 
ganz  praktisch  und  real,  aber  dennoch  (für  diejenigen,  die  Augen 
haben  zu  sehen)  mit  den  feinsten  Untergründen  eines  Ideals,  das 
sich  so  hoch  wie  nur  irgendeines  erhebt.  Und  sehen  wir  in  ihnen 
nicht  die  vorausgeworfenen  Schatten  der  zukünftigen  Rassen,  die 
diese  Prärien  füllen  werden? 

Nicht  als  ob  die  Yankee-  und  Atlantischen  Staaten  und  jeder 
andere  Teilstaat  —  Texas  und  die  Staaten  im  Südosten  und  am 
Golf  von  Mexiko,  das  Reich  an  der  pazifischen  Küste,  die  Territorien 
und  Seen  im  kanadischen  Grenzstrich  (noch  ist  der  Tag  nicht,  an 
dem  ganz  Kanada  dazu  gehört,  aber  er  wird  kommen)  —  nicht,  als 
ob  sie  alle  nicht  ebenbürtige,  ungeteilte  und  untrennbare  Glieder 
dieser  Nation  wären,  die  conditio  sine  qua  non  der  menschlichen, 
politischen  und  kommerziellen  Neuen  Welt.  Aber  dieses  bevorzugte 
zentrale  Flachland  von  rund  2000  Meilen  im  Geviert  scheint  vom 
Schicksal  bestimmt  zu  sein,  die  Heimat  von  dem  zu  werden,  was 
ich  Amerikas  charakteristische  Idealität  und  charakteristische  Reali- 
tät nennen  möchte. 

Ein  egoistischer  „Fund" 

„Ich  habe  das  Gesetz  meiner  eigenen  Gedichte  gefunden",  war 
das  unausgesprochene,  aber  immer  entschiedenere  Gefühl,  das  in 
mir  erwachte,  als  ich  Stunde  um  Stunde  durch  all  diese  grimme, 
doch  freudige,  elementare  Einsamkeit  fuhr  —  diese  Fülle  von  Stoff, 
diese  völlige  Abwesenheit  von  Kunst,  dieses  fessellose  Spiel  urwüch- 
siger Natur  —  Spalt,  Schlucht  und  kristallener  Bergstrom  zahllose 
Male  wiederholt,  auf  hunderte  von  Meilen  hin  —  die  Breite  und 
absolute  Ungebundenheit,  mit  der  alles  gefügt  ist  —  die  phantastischen 
Formen,  gebadet  in  durchsichtigem  Braun,  zarten  Rots  und  Graus, 
manchmal  tausend,  manchmal  zwei-  oder  dreitausend  Fuß  hoch 
emporragend  —  auf  ihren  Gipfeln  sind  zuweilen  riesige  Massen  ge- 
lagert, in  die  Wolken  tauchend,  bloß  ihre  Umrisse  aus  dunstigem 
Lila  zu  erkennen.  —  („Inmitten  der  erhabensten  Bilder  der  Natur," 
sagt  ein  alter  holländischer  geistlicher  Schriftsteller,  „inmitten  der 
Tiefen  des  Ozeans,  wenn  das  möglich  wäre,  oder  unter  den  zahllosen 


i34 


rollenden  Welten  droben  in  der  Nacht  denkt  der  Mensch  an  sie 
und  beurteilt  sie  nicht  abstrakt  an  sich,  sondern  immer  mit  Be- 
ziehung auf  seine  eigene  Persönlichkeit  und  darauf,  wie  sie  etwa 
auf  ihn  einwirken  oder  sein  Schicksal  bestimmen  könnten.") 

Künstlerischer  Charakter  der  Landschaft 

Redet  mir  noch  einmal  davon,  nach  Europa  zu  gehen,  um  die 
Ruinen  feudaler  Burgen  oder  die  Überreste  des  Kolosseums  oder  die 
Schlösser  von  Königen  zu  besuchen,  wenn  ihr  hierher  kommen 
könnt!  Auch  Abwechslung  gibt  es  hier;  nach  den  tausend  Meilen 
weiten  Prärien  von  Illinois  und  Kansas  —  sanftem,  ergiebigem  Flach- 
land für  Korn  und  Weizen  von  zehn  Millionen  demokratischer 
Farmen  der  Zukunft  —  türmen  sich  hier  in  allen  nur  denkbaren 
Formen  diese  gar  nicht  nutzbaren  Bergriesen  auf,  sich  in  den  Him- 
melsraum wölbend,  Schönheit,  Schrecken,  Macht  ausströmend,  mehr 
als  Dante  oder  Angelo  jemals  ahnten.  Ja,  ich  meine,  der  Milchsaft 
einer  Dichtung,  Malerei,  Beredsamkeit,  ja  selbst  einer  Metaphysik 
und  einer  Musik,  die  für  die  Neue  Welt  passen  soll,  muß  erst  aus 
dem  Anblick  dieser  Berge  seine  Kraft  ziehen,  ehe  er  endgültig  stark 
genug  wird. 

Bergströme 

Die  spirituelle  Belebtheit  und  Durchgeistigung  dieser  ganzen 
Region  besteht  für  mich  großenteils  in  ihren  eigenartigen  Strömen, 
denen  man  überall  begegnet,  da  der  Schnee  der  unzugänglichen 
oberen  Gebiete  beständig  schmilzt  und  durch  die  Schluchten  herab- 
fließt. Nicht  wie  die  Gewässer  ländlicher  Ebenen  oder  Bäche  mit 
bewaldeten  Ufern  und  Rasen  oder  dergleichen.  Die  Formen,  die 
das  Element  des  Wassers  auf  der  Erdkugel  annimmt,  können  erst 
dann  von  einem  Künstler  voll  verstanden  werden,  wenn  er  diese 
einzigartigen  Bergströme  studiert  hat. 

Ätherische  Eindrücke 

Aber  der  seltsamste  Eindruck,  wenn  ich  mich  umschaue,  liegt 
vielleicht  in  den  atmosphärischen  Farbtönen.  Die  Prärien,  durch 
die  ich  auf  meiner  Reise  hierher  fuhr,  und  diese  Berge  und  Wälder 


i35 


scheinen  mir  neue  Lichter  und  Schatten  liervorzubringen.  Überall 
diese  unnachahmhche  Luft  —  Abstufungen  und  Himmelstönungen; 
noch  nirgends  sah  ich  solche  durchsichtigen  Lilas  und  Graus.  Ich 
konnte  mir  einen  hervorragenden  Landschaftsmaler  denken,  einen 
feinen  Koloristen ,  der,  nachdem  er  eine  Zeitlang  hier  gezeichnet 
hätte,  seine  ganze  frühere  Arbeit  (das  Entzücken  der  üblichen  Aus- 
stellungsbesucher) als  schmutzig,  roh  und  gekünstelt  verwerfen 
würde.  Dicht  vor  unseren  Augen  dehnt  sich  eine  unendliche  Mannig- 
faltigkeit aus,  hoch  droben  das  nackte  Weißbraun,  über  der  Baum- 
grenze; fern  an  nianchen  Stellen  Schneeflecken  das  ganze  Jahr 
über  (keine  Bäume,  keine  Blumen,  keine  Vögel  in  diesen  eisigen 
Höhen).  Während  ich  schreibe,  sehe  ich  den  Snowy  Range  durch  den 
blauen  Duft,  herrlich  und  fern.  Ich  sehe  deutlich  seine  Schneefelder. 

liine  Literatur  des  Mississippitales 

Herbst  1879. 

Als  ich  an  einem  Regentag  in  Missouri  lag  und  ausruhte,  nach- 
dem ich  lange  umhergelaufen  war,  um  mir  alles  anzuschauen,  ge- 
riet ich  über  ein  dickes  Buch,  das  ich  da  fand,  „Milton,  Young, 
Gray,  Beattie  and  Collins",  hatte  aber  bald  genug  davon,  erfreute 
mich  indessen,  wie  schon  so  oft,  eine  Weile  an  W.  Scotts  Dich- 
tungen „Lay  of  the  last  Minstrel",  „Marmion"  usw.,  —  hörte  dann 
auf,  legte  das  Buch  weg  und  beschäftigte  mich  mit  dem  Gedanken 
an  eine  Poesie,  die  im  Lauf  der  Zeit  der  fruchtbaren  Gegend,  in 
deren  Mitte  ich  mich  befand,  Ausdruck  und  Nahrung  geben  könnte. 
Überall  in  den  Vereinigten  Staaten  braucht  es  nur  einen  Augen- 
blick Überlegung,  um  klar  zu  erkennen,  daß  all  die  populären 
Buch-  und  Bibliothekdichter,  wie  sie  entweder  von  England  impor- 
tiert werden  oder  hierzulande  ihre  Nachahmer  und  Doppelgänger 
finden,  unseren  Staaten  fremd  sind,  soviel  sie  auch  von  uns  allen 
gelesen  werden.  Um  aber  völlig  zu  verstehen,  wie  absolut  im  Gegen- 
satz zu  unserer  Zeit  und  unserem  Land,  und  wie  kleinlich  und 
beschränkt  sie  sind  und  welche  Anachronismen  und  Absurditäten 
sie  —  vom  amerikanischen  Standpunkt  aus  —  vielfach  enthalten, 
muß  man  eine  Zeitlang  in  Missouri,  Kansas  und  Colorado  wohnen 
oder  reisen  und  mit  Land  und  Volk  dieser  Staaten  in  Fühlung 
kommen. 


i36 


Wird  je  der  Tag  koniiiieii  —  gleichgültig  wie  spät  — ,  da  diese 
Modelle  und  Gliederpuppen  von  den  britischen  Inseln,  ja  auch  die 
kostbaren  Traditionen  der  Klassiker,  nur  Reminiszenzen,  Studien- 
objekte sein  werden?  Der  reine  Atem,  die  Ursprünglichkeit,  die 
grenzenlose  Fruchtbarkeit  und  Weite,  die  seltsame  Mischung  von 
Zartheit  und  Kraft  und  Mäßigung,  von  Realem  und  Idealem,  von 
all  den  eigentümlichen  und  tüchtigen  Elementen  in  diesen  Prärien, 
den  Rocky  Mountains,  dem  Mississippi  und  Missouri  —  wird  das 
alles  je  in  unserer  Poesie  und  Kunst  Gestalt  erlangen  und  irgend- 
wie zum  Maßstab  werden? 

Vor  kurzem  war  ich  auf  einem  Dampfer  im  New  Yorker  Hafen, 
sah  den  Sonnenuntergang  über  den  dunkelgrünen  Hügeln  von 
Navesink  und  betrachtete  den  unvergleichlichen  Kranz  von  Küste, 
Hafen  und  Meer  um  Sandy  Hook.  Aber  kaum  eine  oder  zwei 
Wochen,  und  mein  Blick  fällt  auf  die  dunklen  Gipfelkonturen  der 
„Spanish  Peaks".  In  dem  mehr  als  2000  Meilen  weiten  Zwischen- 
raum findet  trotz  einer  unendlichen  und  widerspruchsvollen  Mannig- 
faltigkeit zweifellos  eine  merkwürdige,  völlige  Verschmelzung  statt, 
in  der  nach  und  nach  alles  ausgeglüht,  verdichtet  und  vereinheit- 
licht wird.  Aber  eindringlicher,  umfassender  und  dauerhafter  als 
durch  die  Gesetzgebung  der  Einzelstaaten  oder  den  gemeinsamen 
Boden  des  Kongresses  und  des  höchsten  Gerichtshofs  oder  durch 
die  grausame  Schweißung  unserer  Nationalkriege  oder  durch  die 
Stahlbande  unserer  Eisenbahnen  oder  durch  alle  Verkittungs-  und 
Schmelzprozesse  unserer  materiellen  und  kommerziellen  Geschichte 
in  Vergangenheit  und  Gegenwart  würde  meines  Erachtens  eine 
solche  Verdichtung  durch  eine  große,  pulsierende,  lebenskräftige 
Dichtung  oder  eine  Reihe  von  Dichtungen  oder  eine  ganze  Literatur 
erzielt  werden.  Die  Ebenen,  die  Prärien  und  der  Mississippistrom 
mit  der  ganzen  Weite  seines  vielgestaltigen  Tales  müßten  den  kon- 
kreten Hintergrund  dieser  Literatur  bilden.  Und  Amerikas  Bevöl- 
kerung, Leidenschaften,  Kämpfe,  Hoffnungen  —  wie  sie  sind  — 
müßten  die  lodernde  Flamme,  das  Ideal  dazu  sein. 


Amerikas  GrölJe 


Die  Überlegenheit  und  Lebenskraft  unseres  Amerika  liegt  in 
der  Masse  des  Volkes,  nicht  in  einer  Aristokratie,  wie  in  der  alten 


Welt.  Die  Größe  unseres  Heeres  während  des  Bürgerkrieges  lag 
in  der  Linie;  und  so  ist  es  auch  bei  der  Nation.  Andere  Länder 
ziehen  ihre  Lebenskraft  aus  Wenigen,  aus  einer  Klasse,  wir  aber 
aus  der  Gesamtheit  des  Volkes.  Unsere  Führer  sind  nicht  gerade 
bedeutend  und  sind  es  nie  gewesen;  aber  der  Durchschnitt  des 
Volkes  ist  gewaltiger  als  alles  in  der  bisherigen  Geschichte.  Ich 
denke  manchmal,  daß  sich  unsere  Überlegenheit  auf  allen  Gebieten, 
einschließlich  Literatur  und  Kunst,  in  dieser  Weise  zeigen  wird: 
Wir  werden  keine  großen  Individuen  haben,  aber  ein  großes,  un- 
vergleichlich großes  Durchschnittsvolk. 

Die  Frauen  des  Westens 

Kansas  City. 

Von  dem,  was  ich  von  den  Frauen  der  Präriestädte  zu  sehen 
bekomme,  bin  ich  nicht  so  befriedigt.  Ich  schreibe  dies,  während 
ich  gemütlich  in  einem  Laden  an  der  Hauptstraße  von  Kansas 
sitze  und  ein  Menschenstrom  auf  den  Trottoirs  an  mir  vorüber- 
flutet. Die  Damen  (ebenso  wie  in  Denver)  sind  alle  elegant  ge- 
kleidet und  erscheinen  vornehm  an  Gesicht,  Benehmen  und  Tun, 
aber  sie  haben  weder  in  Gestalt  noch  Geistigkeit  eine  irgendwie 
in  ihrer  Art  hohe  angeborene  Eigenart  (wie  die  Männer  sie  zweifel- 
los in  ihrer  Art  haben).  Sie  sehen  „intellektuell"  und  elegant,  aber 
dyspeptisch  und  im  großen  Ganzen  puppenhaft  aus.  Sie  haben  offen- 
bar den  Ehrgeiz,  ihre  Schwestern  im  Osten  zu  kopieren.  Etwas 
ganz  anderes  und  Höheres  muß  kommen,  um  mit  der  herrlichen 
Männlichkeit  des  Westens  zu  wetteifern,  sie  zu  ergänzen,  zu  er- 
halten und  fortzupflanzen. 

Das  Boston  von  heute 

In  den  interessanten  aber  fragwürdigen  Briefen  Dr.  Schliemanns 
über  seine  Ausgrabungen  aus  der  alten  homerischen  Zeit  lese  ich, 
daß  die  Städte,  Ruinen  usw.,  die  er  aus  ihren  Gräbern  schaufelt, 
zweifellos  in  Schichten  gelagert  sind,  —  das  heißt,  daß  auf  den 
Fundamenten  eines  alten,  sehr  tief  gelegenen  Komplexes  immer 
eine  zweite  Stadt  oder  ein  zweiter  Ruinenkomplex  und  über  diesem 
wieder  ein  anderer  ruht  —  und  zuweilen  noch  ein  anderer  darüber 


i38 


—  deren  jeder  das  Ergebnis  einer  langen  oder  auch  rapiden  Ent- 
wicklung darstellt,  die  von  der  vorigen  verschieden  ist,  aber  un- 
zweifelhaft aus  ihr  hervorgewachsen  ist  und  auf  ihr  ruht.  In  der 
moralischen,  gefühlsmäßigen,  heroisch-menschlichen  Entwicklung 
(die  nach  meiner  Meinung  das  Wesentliche  einer  Rasse  ist)  hat 
etwas  Ähnliches  sicherlich  in  Boston  stattgefunden.  Wie  die  Metro- 
pole Neu-Englands  heute  ist,  kann  man  sie  als  sonnig  beschreiben, 
als  heiter,  aufnahmefähig,  voll  Glut  und  Glanz,  mit  einem  gewissen 
Element  von  Sehnsucht,  von  großartiger  Toleranz,  mit  der  sich 
aber  nicht  spaßen  läßt.  Man  liebt  hier  gut  zu  essen  und  zu  trinken 

—  die  äußere  Erscheinung  so  kostbar,  als  es  die  Mittel  erlauben. 
An  Häusern,  Straßen,  Menschen  ist  in  ihrem  besten  Durchschnitt 
jenes  feine  Etwas  (gewöhnlich  dem  Klima  zugeschrieben;  es  ist 
aber  nicht  das  —  es  ist  etwas  Undefinierbares  in  der  Rasse,  im 
Verlauf  ihrer  Entwicklung),  das  hinter  all  dem  Trubel  von  Tätig- 
keit, Studium,  Geschäft  einen  glücklichen  und  frohen,  im  Gegen- 
satz zu  einem  schwerfälligen  und  finsteren  Gemeingeist  ausströmt. 
Es  erinnert  mich  an  die  Leuchtkraft,  die  von  den  altgriechischen 
Städten  zu  uns  kommt.  In  der  Tat  ist  sehr  viel  Hellenisches  in 
Boston,  und  die  Menschen  werden  auch  stattlicher,  voller,  mit 
freieren  Bewegungen  und  Farbe  im  Gesicht.  Ich  habe  nirgends 
(dies  ist  nun  zwar  nicht  griechisch)  so  viele  schöne  grauhaarige 
Frauen  gesehen.  Während  meines  Vortrages  ertappte  ich  mich 
mehr  als  einmal  dabei,  daß  ich  eine  Pause  machte,  um  sie  mir  an- 
zusehen. Es  waren  viele  unter  den  Zuhörern,  —  gesund,  frauenhaft 
und  mütterlich,  wunderbar  anmutig  und  schön  —  so,  wie  sie,  glaube 
ich,  keine  Zeit  und  kein  Land  außer  dem  unsrigen  aufzuweisen  hat. 

Millets  Gemälde 

i8.  April. 

Besuchte  das  Haus  von  Quincy  Shaw,  drei  oder  vier  Meilen  weit, 
um  eine  Sammlung  von  J.  F.  Millets  Gemälden  zu  sehen.  Zwei 
Stunden  der  Entzückung.  Noch  nie  war  ich  so  überwältigt  von 
solcher  Ausdrucksform.  Ich  stand  lange,  lange  vor  dem  „Säemann". 
Ich  glaube  die  Kunsthändler  nennen  das  Bild  den  „Ersten  Säe- 
mann", da  der  Künstler  noch  eine  oder  zwei  Kopien  davon  machte 
und,  wie  manche  meinen,  sich  in  jeder  wieder  vervollkommnete. 


i39 


Ich  bezweifle  es  aber.  Es  ist  etwas  darin,  das  kaum  wieder  zu  er- 
reichen sein  dürfte,  eine  erhabene  Düsterkeit  und  urwüchsige  ge- 
bundene Wildheit.  Außer  diesem  Meisterstück  waren  noch  viele 
andere  da  (ich  werde  die  einfache  Abendszene,  „Tränken  der  Kuh", 
nie  vergessen),  alle  unvergleichlich,  alle  vollkommen  als  Bilder,  als 
Kunstwerke  an  sich;  und  dann  glaubte  ich  jenen  undefinierbaren 
ethischen  Endzweck  des  Künstlers  (ihm  selbst  wahrscheinlich  un- 
bewußt) darin  zu  entdecken,  wonach  ich  immer  suche.  Mir  er- 
zählten sie  alle  die  ganze  Vorgeschichte  und  die  Ursache  der  großen 
französischen  Revolution,  das  vorherige  lange  An-die-Erde-Drücken 
der  Massen  eines  heroischen  Volkes  zu  elendem  Hungern  und  Darben 

—  die  Vorenthaltung  aller  Rechte,  den  Versuch,  die  Menschheit 
um  Generationen  zurückzuhalten  —  und  doch  die  Naturgewalt, 
titanisch,  nur  um  so  stärker  und  zäher  durch  solche  Unterdrückung 

—  furchtbar  lauernd,  um  hervorzubrechen,  rachebrütend  —  der 
Druck  gegen  die  Dämme,  das  endliche  Bersten,  die  Erstürmung 
der  Bastille  —  die  Hinrichtung  des  Königs  und  der  Königin  —  der 
Wettersturm  von  Mord  und  Blut.  Doch  wer  wird  sich  wundern? 

„Könnten  wir  die  Menschheit  anders  wünschen? 
Wollen  wir  ein  Volk  von  Holz  und  Stein? 
Keine  Gerechtigkeit  in  Schicksal  und  Zeit?" 

Das  echte  Frankreich,  sein  Grundelement,  lebt  sicherlich  in  diesen 
Bildern  .  .  .  Abgesehen  von  allem  anderen  werde  ich  meines  kurzen 
Aufenthalts  in  Boston  immer  gedenken,  weil  er  mir  die  Neue  Welt 
von  Millets  Bildern  eröffnete.  Wird  Amerika  je  einen  solchen  Künst- 
ler haben,  der  aus  des  Landes  eigenstem  Lebenskern,  aus  seinem 
Körper  und  seiner  Seele  hervorginge? 

Vögel  —  und  eine  Warnung 

i4.  Mai  i88i. 

Wieder  daheim;  auf  eine  Weile  unten  in  den  Wäldern  von  Jersey. 
Zwischen  acht  und  neun  Uhr  vormittags  ein  ganzes  Vogelkonzert, 
von  allen  Seiten  her,  zusammenklingend  mit  dem  frischen  Duft, 
dem  Frieden,  der  Natürlichkeit  rings  um  mich  her.  Seit  kurzem 
sehe  ich  die  Rotdrossel,  von  der  Größe  des  Rotkehlchens*,  oder  ein 

*  Das  amerikanische  Rotkehlchen  ist  etwa  dreimal  so  groß  wie  das  unsrige. 
(Anmerkung  des  Übersetzers.) 

1 4o 


bißchen  kleiner,  Brust  und  Schultern  hell,  mit  unreßehnäßig;en 
dunklen  Streifen,  langem  Schwanz,  —  sie  kauert  zur  Zeit  stunden- 
lang oben  auf  einem  hohen  Busch  oder  einem  Baum,  lustig  singend. 
Ich  gehe  oft  nahe  zu  ihr  hin  und  höre  ihr  zu,  da  sie  nicht  scheu 
zu  sein  scheint.  Ich  liebe  es,  zuzusehen,  wie  ihr  Schnabel  und  ihre 
Kehle  arbeitet,  wie  der  Körper  sich  seitwärts  hin  und  her  bewegt 
und  der  lange  Schwanz  wippt.  —  Ich  höre  den  Specht;  bei  Nacht 
und  am  frühen  Morgen  das  Weben  des  Ziegenmelkers  —  mittags 
das  köstliche  Gurgeln  der  Drossel  und  das  Mio-o-o  des  Katzen vogels. 
Viele  kann  ich  nicht  mit  Namen  nennen;  ich  erkundige  mich  aber 
auch  nicht  besonders  danach.  Man  darf  nicht  zu  viel  wissen  oder 
zu  genau  und  »wissenschaftlich  sein  bei  Vögeln  und  Bäumen  und 
Blumen  und  Gewässern;  eine  gewisse  Freiheit,  ja  sogar  Unbestimmt- 
heit, vielleicht  Unwissenheit,  Gläubigkeit  erhöht  die  Freude  an 
diesen  Dingen  und  an  dem  Gefühl  für  Vögel,  Wald,  Fluß  und  See 
überhaupt.  Ich  wiederhole  es  —  man  soll  nicht  alles  zu  genau 
wissen  wollen  oder  die  Gründe,  warum.  Meine  eigenen  Aufzeich- 
nungen sind  aus  dem  Stegreif  hingeschrieben  unter  der  Breite  von 
Mittel-New  Jersey.  Wenn  sie  auch  beschreiben,  was  ich  sah,  was 
mir  vor  Augen  kam,  so  dürfte  doch  der  gelernte  Ornithologe,  Bota- 
niker oder  Entomologe  mehr  als  einen  Schnitzer  darin  entdecken. 


Boston  Common*  —  Emerson 

IG.  bis  I  3.  Oktober. 

An  diesen  schönen  Tagen  und  Nächten  verbringe  ich  ein  gut 
Teil  meiner  Zeit  im  Stadtpark  —  jeden  Mittag  von  halb  zwölf  bis 
gegen  eins  —  und  fast  an  jedem  Abend  bei  Sonnenuntergang  noch 
eine  Stunde.  Ich  kenne  all  die  großen  Bäume,  besonders  die  alten 
Ulmen  an  der  Tremont-  und  Beacon-Straße,  und  habe  mit  den 
meisten  eine  schweigend-vertraute  Freundschaft  geschlossen,  wäh- 
rend ich  so  in  der  durchsonnten,  aber  ziemlich  kühlen  Luft  auf 
den  weiten  ungepflasterten  Wegen  umhergehe. 

In  dieser  Gegend  an  der  Beacon-Straße,  zwischen  denselben  alten 
Ulmen,  ging  ich  vor  einundzwanzig  Jahren  an  einem  klaren,  kalten 
Februarmittag  mit  Emerson  zwei  Stunden  lang  auf  und  ab.  Er 


*  Der  Stadtpark  in  Boston.    (Anmerkung  des  Übersetzers.) 


war  damals  im  besten  Alter,  scharf,  physisch  und  moralisch  magne- 
tisch, gegen  alles  gewaffnet  und  ließ,  wenn  er  wollte,  das  Seelische 
ebenso  wirkungsvoll  wie  das  Intellektuelle  spielen.  Während  jener 
zwei  Stunden  war  er  der  Sprecher  und  ich  der  Zuhörer.  Es  war 
eine  Beweisführung,  ein  Auskundschaften,  Besichtigen,  Angreifen, 
Bedrängen  (ein  Armeekorps  in  Schlachtordnung,  Artillerie,  Ka- 
vallerie, Infanterie)  von  allem,  was  gegen  jenen  Teil  (einen  Haupt- 
teil) in  der  Komposition  meiner  Gedichte,  die  „Kinder  Adams", 
vorgebracht  werden  konnte.  Für  mich  kostbarer  als  Gold,  diese 
Abhandlung  —  sie  gab  mir  für  alle  Zukunft  die  seltsame  und 
widerspruchsvolle  Lehre:  jeder  einzelne  Punkt  von  Emersons  Be- 
weisführung war  unwiderleglich;  keines  Bichters  Anklagerede  je 
vollständiger  und  überzeugender;  ich  könnte  die  Beweise  nie  besser 
formulieren  hören  —  und  dann  fühlte  ich  auf  dem  Grund  meiner 
Seele  die  klare  und  unverkennbare  Überzeugung,  daß  ich  allem 
trotzen  und  meinen  eigenen  Weg  gehen  müsse.  „Was  haben  Sie 
nun  auf  das  alles  zu  sagen?"  sagte  Emerson,  als  er  schließlich  inne- 
hielt. „Nur,  daß  ich  zwar  nichts  dagegen  erwidern  kann,  aber  mich 
doch  entschlossener  fühle  als  je,  an  meiner  eigenen  Theorie  fest- 
zuhalten und  sie  zu  betätigen",  war  meine  freimütige  Antwort. 
Worauf  wir  weggingen  und  ein  gutes  Mittagessen  im  „American 
House"  einnahmen.  Und  von  da  an  schwankte  oder  zweifelte  ich 
nie  mehr  (wie  es,  offen  gestanden,  vorher  zwei-  oder  dreimal  der 
Fall  gewesen  war). 

Nur  ein  neues  Fährboot 

I  2.  Januar. 

Ein  solcher  Anblick,  wie  ihn  der  Delaware  gestern  abend  eine 
Stunde  vor  Sonnenuntergang  bot,  auf  der  ganzen  Strecke  zwischen 
Philadelphia  und  Camden,  ist  der  Aufzeichnung  wert.  Es  war 
Flutzeit,  eine  gute  Brise  von  Südwest,  das  Wasser  blaß,  lohfarben 
und  gerade  genug  bewegt,  um  alles  frisch  und  fröhlich  zu  beleben; 
ein  beginnender  Sonnenuntergang  von  ungewöhnlichem  Glanz,  ein 
breites  Wolkengewühl  ganz  in  goldenem  Dunst,  aus  dem  blendende 
Lichtstrahlen  hervorschossen.  Mitten  in  alledem,  in  dem  klaren 
Graugelb  des  Abendlichtes,  dampfte  das  große  neue  Boot  den 
Fluß  herauf,  die  „Wenonah",  so  schön,  wie  man  sich  nur  etwas 

142 


vorstellen  kann;  leicht  und  schnell  daherschäumend,  ganz  blank  und 
weiß,  voll  leuchtend  roter  und  blauer  Flaggen,  die  in  der  Brise 
flatterten.  Nur  ein  neues  Fährboot,  und  doch  in  seiner  Zweck- 
mäßigkeit dem  Schönsten,  was  die  Geschicklichkeit  der  Natur 
hervorbringt,  vergleichbar  und  ebenbürtig.  Hoch  oben  im  unsicht- 
baren Äther  wiegten  sich  und  kreisten  vier  oder  fünf  große  See- 
falken anmutig,  während  hier  unten,  inmitten  der  malerischen 
Pracht  von  Himmel  und  Fluß,  diese  Schöpfung  technischer  Schön- 
heit, Bewegung  und  Kraft  schwamm,  in  ihrer  Art  nicht  weniger 
vollkommen. 

Nach  dem  Versuch,  ein  gev^isses  Buch  zu  lesen 

Ich  habe  versucht,  ein  prachtvoll  gedrucktes  und  gelehrtes  Buch 
über  die  „Theorie  der  Dichtkunst"  zu  lesen,  das  ich  heute  früh 
von  England  zugeschickt  bekam,  —  habe  es  aber  schließlich  als 
verlorene  Mühe  aufgegeben.  Hier  ein  paar  willkürliche  Notizen, 
die  sich  daraus  ergaben,  die  ich  daraufhin  niederschrieb,  wie  ich 
sie  eben  in  meinen  Papieren  finde: 

In  der  Jugend  und  im  Mannesalter  sind  alle  Gedichte  angefüllt 
mit  Sonnenschein  und  mit  dem  wechselreichen  Prunk  des  Tages. 
Wie  aber  das  Seelische  mehr  und  mehr  die  Oberhand  gewinnt  (das 
Sinnliche  immer  noch  dabei),  wird  die  Dämmerung  die  Atmosphäre 
des  Dichters.  Auch  ich  habe  die  strahlende  Sonne  gesucht  und 
suche  sie  noch  immer  und  mache  meine  Gedichte  entsprechend. 
Aber  jetzt,  da  ich  alt  werde,  bedeuten  die  Halblichter  des  Abends 
viel  mehr  für  mich. 

Das  Spiel  der  Einbildungskraft  mit  den  sinnlichen  Gegenständen 
der  Natur  als  Symbolen  —  mit  Glauben,  Liebe  und  Stolz  als  dem 
unsichtbaren  Antrieb,  den  Bewegkräften  von  allem  — ,  daraus  setzt 
sich  das  seltsame  Schachspiel  eines  Gedichts  zusammen. 

Die  gewöhnlichen  Lehrer  oder  Kritiker  fragen  immer:  „Was 
bedeutet  es?"  Eine  schöne  Musiksymphonie  oder  ein  Sonnenunter- 
gang oder  Meerwogen,  die  sich  auf  den  Strand  wälzen  —  was  be- 
deuten sie?  Gewiß,  im  innerlichst-unfaßbaren  Sinn  bedeuten  sie 
etwas  —  wie  Liebe  und  Religion  und  das  beste  Gedicht  auch;  aber 


143 


wer  kann  diese  Fiedeiitunf^  ergründen  nnd  definieren?  Dies  soll 
kein  Freibriet  sein  für  Willkür  und  verrückte  Eskapaden  —  es  soll 
nür  die  Tatsache  rechtfertigen,  daß  die  Seele  sich  häufig  über 
etwas  freut,  was  für  Vernunft  und  Überlegung  unerklärlich  bleibt. 

Im  besten  Fall  ist  eine  Lehre  der  Poetik  so  viel,  als  von  einer 
Unterhaltung  ferner  oder  verborgener  Sprecher  im  Dunkeln  zu 
hören  ist,  von  der  wir  nur  ein  abgebrochenes  Gemurmel  ver- 
nehmen können.  Was  nicht  zu  uns  dringt,  ist  weit  mehr,  vielleicht 
die  Hauptsache. 

Erhabenste  Stellen  von  Dichtungen  sind  nur  in  freiem  Abstand 
zu  genießen,  wie  wir  manchmal  bei  Nacht  nach  Sternen  schauen, 
nicht  indem  wir  direkt  auf  sie  blicken,  sondern  etwas  zur  Seite. 

(Einem  poetischen  Schüler  und  Freund.)  —  Ich  versuche  nur, 
dich  in  Beziehung  zur  Dichtkunst  zu  bringen.  Dein  eigenes  Hirn, 
Herz  und  deine  eigene  Fortentwicklung  muß  die  Sache  nicht  nur 
verstehen,  sondern  selbst  reichlich  dazu  beitragen. 

Ich  habe  mir  Meer,  Tageslicht,  Berg  und  Wald  vorgestellt,  daß 
ihr  Wesen  Richter  sei  über  unsere  Literatur.  Ich  habe  mir  eine 
entkörperte  Menschenseele  vorgestellt,  daß  sie  ihr  Urteil  darüber 
spreche. 

Edgar  Poes  Bedeutung 

I .  Januar  1 880. 

Wenn  ich  die  Krankheit  diagnostiziere,  die  „Menschheit"  ge- 
nannt ist  —  (um  einmal  aus  der  Geistesverfassung  heraus  zu 
sprechen,  die  die  beherrschende  in  der  Persönlichkeit  und  den 
Schriften  des  Mannes  zu  sein  scheint,  von  dem  ich  rede)  —  so  will 
es  mir  scheinen,  daß  die  Dichter  irgendwie  ihre  ausgeprägtesten 
Symptome  sind.  Wenn  wir  die  Künstler  —  Musiker,  Maler,  Schau- 
spieler usw.  als  ein  Ganzes  nehmen  und  sie  allesamt  als  Aus- 
strahlungen oder  Speichen  dieses  wild  wirbelnden  Piades  betrach- 
ten und  die  Dichtung  als  Mittelpunkt  und  Achse  des  Ganzen,  — 
wo  in  der  Tat  könnten  wir  besser  als  hier  die  Urbe weggründe, 
Triebkräfte  und  Merkmale  unserer  Zeit,  den  Krankheitsfall  unserer 
Epoche  studieren? 


'44 


Nach  einstimmigem  Urteil  gibt  es  nichts  Besseres  für  einen 
Mann  oder  ein  Weib,  als  ein  vollkommenes,  edles  Leben,  moralisch 
fleckenlos,  mit  einem  glücklichen  Gleichmaß  von  Tätigkeit,  phy- 
sisch gesund  und  rein,  ein  Leben,  das  auch  dem  sympathischen, 
menschlich-gefühlsmäßigen  Element  sein  Recht  und  nicht  mehr 
als  sein  Recht  gewährt,  —  ein  Leben  bei  alledem,  das  weder  hastet 
noch  ruht  noch  ermüdet  bis  ans  Ende.  Und  dennoch  gibt  es  noch 
eine  andere  Form  von  Persönlichkeit,  die  dem  künstlerischen  Sinn 
weit  lieber  ist  (da  er  das  Spiel  der  stärksten  Lichter  und  Schatten 
liebt),  —  die  den  höchstvollkommenen  Charakter,  das  Gute,  Hero- 
ische, zwar  niemals  erreicht,  aber  dennoch  nie  aus  dem  Auge  ver- 
liert, sondern  durch  Fehlschläge,  Sorgen,  zeitweiligen  Zusammen- 
bruch hindurch  immer  wieder  zu  ihm  zurückkehrt  und  —  mag  sie 
auch  oft  dagegen  sündigen  —  leidenschaftlich  danach  rmgt,  solange 
Geist,  Muskeln  und  Stimme  der  Kraft  gehorchen,  die  wir  Willen 
nennen.  Diese  Art  von  Persönlichkeiten  sehen  wir  mehr  oder 
weniger  in  Bums,  Byron,  Schiller  und  George  Sand.  Aber  nicht 
in  Edgar  Poe.  Dagegen  liegt  der  Dienst,  den  Poe  dem  zuerst  be- 
zeichneten Charakter  erweist,  sicherlich  darin,  daß  er  einen  abso- 
luten Kontrast  und  Widerspruch  dazu  schafft,  was  beinahe  ebenso 
wertvoll  ist,  als  wenn  er  ein  vollkommenes  Beispiel  davon  dar- 
stellen würde. 

Beinahe  ohne  jede  Spur  von  einem  moralischen  Prinzip  oder  von 
dem  Realen  und  seiner  Größe  oder  von  den  einfacheren  Herzens- 
regungen, weisen  die  Gedichte  Poes  ein  intensives  Talent  für  tech- 
nische und  abstrakte  Schönheit  auf,  mit  einer  bis  zum  Ubermaß 
getriebenen  Reimkunst,  einer  unverbesserlichen  Vorliebe  für  Nacht- 
motive, einem  dämonischen  Unterton  hinter  jeder  Seite,  —  und  das 
Endurteil  über  sie  wird  wahrscheinlich  sein,  daß  sie  zu  den  elek- 
trischen Lichtern  der  phantastischen  Literatur  gehören,  glänzend 
und  blendend,  aber  ohne  Wärme  .  .  . 

Lange  Zeit  und  bis  vor  kurzem  fand  ich  keinen  Geschmack  an 
Poes  Schriften.  Ich  wollte  und  will  noch,  daß  in  der  Dichtung  die 
klare  Sonne  scheint  und  frische  Luft  weht  —  daß  Kraft  und  Ge- 
sundheit auch  in  den  stürmischsten  Leidenschaften  waltet,  nicht 
Delirium  —  und  daß  die  ewigen  Sittengesetze  hinter  allem  stehen. 
Obwohl  Poes  Genius  diese  Forderungen  nicht  erfüllt,  so  hat  er  es 
doch  zu  einer  Anerkennung  seiner  Eigenart  gebracht,  und  auch 


lo    Whituiau  1 


ich  hin  dahin  {jelangt,  diese  Anerkennung  zu  hilHgen  und  seinen 
Wert  zu  schätzen. 

In  einem  Traum,  den  ich  einmal  hatte,  sah  ich  ein  Schiff  auf 
See  im  Sturm  um  Mitternacht.  Es  war  kein  großes,  vollgetakeltes 
Schiff  noch  stolzer  Dampfer,  der  sicher  durch  das  Geheul  steuerte, 
sondern  es  schien  eine  jener  wundervollen  kleinen  Schonerjachten 
zu  sein,  die  ich  oft  so  munter  hüpfend  im  Hafen  von  New  York 
oder  im  Long  Island-Sund  hatte  vor  Anker  liegen  sehen,  —  und 
die  jetzt  steuerlos,  mit  zerfetzten  Segeln  und  geknickten  Spieren 
durch  die  wilden  Schloßen  und  Winde  und  Wellen  der  Nacht 
dahinflog.  An  Deck  stand  eine  schlanke,  zarte,  schöne  Gestalt,  ein 
dunkler  Mann,  der  offenbar  all  das  Grausen,  die  Finsternis  und 
Zerstörung  mit  Lust  genoß,  deren  Mittelpunkt  und  Opfer  er  war. 
Diese  Gestalt  meines  düsteren  Traumes  mag  ein  Bild  Edgar  Poes 
sein,  seines  Geistes,  seines  Geschicks  und  seiner  Dichtungen,  die 
selber  allesamt  düstere  Träume  sind. 


Ein  Wink  der  wilden  Natur 

I  3.  Februar. 

Als  ich  heute  über  den  Delaware  fuhr,  sah  ich  einen  großen 
Flug  wilder  Gänse,  gerade  über  mir,  nicht  sehr  hoch,  in  V-Form 
geordnet,  sich  abhebend  gegen  die  hell  rauchfarbenen  Mittags- 
wolken. Ich  sah  sie  ganz  deutlich,  obwohl  nur  einen  Augenblick,  und 
wie  sie  dann  weiterflogen  nach  Südosten,  bis  sie  allmählich  ver- 
schwanden. —  Seltsame  Gedanken  lösten  sich  in  mir  in  diesen 
kaum  zwei  oder  drei  Minuten,  als  ich  diese  Geschöpfe  durch  den 
Himmel  ziehen  sah  —  durch  das  weite,  luftige  Reich  —  überall 
nur  dieses  Rauchgrau  ohne  Sonne  —  das  Wasser  unten  —  der 
rapide  Flug  der  Vögel,  just  für  einen  Augenblick  auftauchend  — 
mir  einen  Wink  zublitzend  von  der  ganzen  Weite  der  Natur  mit 
ihrer  ewigen,  unverfälschten  Frische,  ihren  nie  von  Menschen 
besuchten  Bereichen  von  See,  Himmel  und  Küste  —  und  dann 
verschwindend  in  der  Ferne. 

Carlyle  von  amerikanischen  Gesichtspunkten  aus  beurteilt 

Es  besteht  gegenwärtig  sicher  eine  unerklärliche  Wechsel- 
beziehung —  ob  sie  nun  andauert  oder  nicht,  ist  gleichgültig  — 

i46 


zwischen  diesem  verstorbenen  Autor  und  unsern  Vereinigten  Staaten 
von  Amerika.  In  dem  Maße,  wie  wir  Westler  endgültige  Gestalt 
annehmen  und  bisher  unbekannte  Formen  und  Ergebnisse  erzielen, 
ist  es  interessant,  zu  beobachten,  mit  welch  neuen  Sinnen  wir  auf 
repräsentative  Persönlichkeiten  und  Ereignisse  blicken,  die  aus  der 
Alten  Welt  erwachsen  sind.  Ohne  Frage  ist  seit  Carlyles  Tode 
nicht  nur  das  Interesse  an  seinen  Büchern,  sondern  an  jeder  per- 
sönlichen Einzelheit,  die  den  berühmten  Schotten  betrifft,  heute  in 
unserem  Lande  lebhafter  und  allgemeiner  als  in  seiner  eigenen 
Heimat.  Ob  es  mir  nun  gelingt  oder  nicht,  —  auch  ich  möchte  über 
den  Ozean  reichen,  die  dunkeln  Wahrsagungen  des  Mannes  über 
Menschheit  und  Politik  prüfen  und  alles  (das  ist  die  Idee,  die  mir 
kommt)  widerlegen  durch  einen,  der  diesen  Fragen  viel  gründlicher 
das  Horoskop  gestellt  hat  —  G.  F.  Hegel.* 

...  Es  war  das  grausame  Schicksal  Carlyles,  das  Kreißen  und 
die  Wehen  einer  alten  Ordnung  mitzuerleben  und  m  hohem  Maße 
selbst  zu  verkörpern,  die  inmitten  einer  erstickenden  Fülle  von 
Morbidität  eine  neue  Ordnung  gebar  .  .  .  Aber  man  stelle  sich  vor, 
daß  er,  oder  seine  Eltern  vor  ihm,  nach  Amerika  gekommen,  durch 
die  aufmunternden  Wirklichkeiten  und  die  Tatkraft  unseres  Lan- 
des und  Volkes  erfrischt  worden  wäre,  —  daß  er  unter  uns,  beson- 
ders im  Westen,  aufgewachsen  wäre  und  Auge  in  Auge  mit  dem 
Leben  gerungen  hätte,  —  daß  er  die  unbegrenzte  Luft,  die  schran- 
kenlosen Möglichkeiten  bei  uns  ein-  und  ausgeatmet  hätte,  geistig 
hingegeben  an  die  Theorien  und  Entwicklungen  unserer  Republik, 
inmitten  praktischer  Tatsachen,  wie  sie  einem  in  Kansas,  Missouri, 
Illinois,  Tennessee  oder  Louisiana  entgegentreten.  Ich  sage  Tat- 
sachen, Dinge,  denen  man  Auge  in  Auge  gegenübersteht,  so  ver- 
schieden von  Büchern  und  von  all  den  Bagatellen  und  bloßen 
Berichten  in  den  Bibliotheken,  von  denen  der  Mann  beinahe  ganz 

*  Besonders  erwähnenswert  ist  hierbei  (vielleicht  ein  Fall  jenes  Humors,  womit 
Geschichte  und  Vorsehung  ihren  Ernst  zu  kontrastieren  pflegen),  daß,  obwohl 
keine  meiner  großen  Autoritäten  zu  ihren  Lebzeiten  die  Vereinigten  Staaten  ernst- 
licher Erwähnung  würdigte,  alle  Hauptwerke  beider  heute  mit  Fug  und  Recht 
gesammelt  und  unter  dem  fettgedruckten  Titel  zusammengebunden  werden  könn- 
ten: „Spekulationen  für  den  Gebrauch  Nordamerikas  und  der  dortigen  Demokratie 
in  ihren  Beziehungen  zur  Metaphysik,  einschließlich  Lehren  und  \Varnung-;n 
(auch  Ermutigungen,  und  zwar  im  weitesten  Sinne)  von  der  Alten  Welt  für  die 
Neue." 


i47 


zehrte,  und  die  selbst  sein  starker  und  lebendiger  Geist,  wenn  es 
hoch  kommt,  nur  reflektierte.  (Ein  Witzwort  sagte  über  den  Drei- 
ßigjährigen, daß  es  in  Schottland  niemand  gäbe,  der  so  viel  auf- 
gelesen und  so  wenig  gesehen  habe.)  .  .  . 

Carlyles  Schaffen  auf  dem  Gebiete  der  Literatur  gleicht  nach 
Anlage  und  Ausführung  in  ein  oder  zwei  Hauptpunkten  dem 
Wirken  Immanuel  Kants  auf  dem  Gebiete  der  spekulativen  Philo- 
sophie. Aber  der  Schotte  hatte  nichts  von  dem  magenstarken 
Phlegma  und  der  unerschütterlichen  Gelassenheit  des  Königsberger 
Weisen;  auch  erkannte  er  nicht  wie  dieser  seine  eigenen  Grenzen, 
vor  denen  er  haltgemacht  hätte.  Er  schafft  Gestrüpp,  Giftranken 
und  Gesträuch  weg  —  wenigstens  haut  er  tapfer  darauf  ein  und 
schlägt  alles  kurz  und  klein.  Kant  tat  etwas  Ähnliches  auf  seinem 
Gebiete,  und  das  war  auch  alles,  was  er  tun  wollte;  seine  Arbeit 
hat  den  Boden  für  immer  völlig  geebnet  —  und  wahrscheinlich 
hat  kein  anderer  Sterblicher  der  Menschheit  je  einen  größeren 
Dienst  erwiesen.  Der  schmerzlichste  Fehler  Carlyles  aber  scheint 
mir  darin  zu  bestehen,  daß  er  offenbar  inmitten  eines  Wirbels  von 
Nebel,  Leidenschaft  und  sich  kreuzenden  Absichten  immer  fest 
glaubte,  er  besitze  zur  Heilung  der  Weltübel  ein  Universalmittel, 
und  es  sei  sein  Lebensberuf,  es  zu  verbreiten. 

Carlyle  hatte  zwei  Anker,  oder  Rüstanker,  um  sein  Schiff'  im 
äußersten  Notfall  im  Gleichgewicht  zu  erhalten.  Von  dem  einen 
wird  sogleich  des  Näheren  die  Rede  sein.  Den  anderen,  vielleicht 
den  wichtigeren,  konnte  er  nur  in  einer  ausgesprochenen  Form 
persönlicher  Energie,  in  einem  außerordentlichen  Grade  von  ent- 
scheidender Willens-  und  Tatkraft  finden,  in  Menschen,  die  „zum 
Herrschen  geboren"  sind.  Wahrscheinlich  floß  dem  Schotten  in 
allen  Adern  ein  Element,  das  sich  für  diese  Art  Charakter  vor 
allem  andern  in  der  Welt  erwärmte  und  das  ihn  meines  Erach- 
tens zum  Hauptverherrlicher  und  -verkünder  solcher  Charaktere 
in  der  Literatur  machte,  —  mehr  als  Plutarch  und  Shakespeare.  Die 
großen  Massen  der  Menschheit  sind  ihm  nichts,  wenigstens  nichts 
weiter  als  chaotisches  Rohmaterial;  für  ihn  gelten  nur  die  großen 
Planeten  und  glänzenden  Sonnen !  Gegen  Ideen  fast  unveränderlich 
gleichgültig  und  kalt,  wurde  er  unfehlbar  durch  eine  kraftvolle 
Persönlichkeit  ersten  Ranges  zu  leidenschaftlichen  Lobpreisungen 
und  wildem  Entzücken  hingerissen.  In  solchem  Falle  wurde  auch 

148 


der  Anspruch  an  Pflichterfüllung  herabgeschraubt  und  vertuscht. 
Alles,  was  man  unter  den  Worten  Republikanismus  und  Demo- 
kratie versteht,  war  von  Anfang  an  nicht  nach  seinem  Geschmack 
und  wurde  ihm  bei  zunehmendem  Alter  verhaßt  und  zum  Abscheu. 
Bei  einem  so  zweifellos  aufrichtigen  und  gewissenhaften  Geist  wie 
dem  seinen  ist  es  erstaunlich,  welche  wichtigen  Faktoren  er  hart- 
näckig ignorierte. 

Zum  Beispiel  die  Aussicht,  nein  Gewißheit,  daß  das  demokratische 
Prinzip  jedem  einzelnen  Staate  der  heutigen  Welt  nicht  sowohl  zu 
vollkommenen  Gesetzgebern  und  Beamten  verhelfen  wird,  sondern 
daß  es  das  einzig  wirksame  Mittel  ist,  um  sicher,  wenn  auch  noch 
so  langsam,  das  Volk  im  großen  Maßstabe  zu  freiwilliger  Selbst- 
regierung und  Selbstverwaltung  zu  erziehen  (das  Endziel  der  poli- 
tischen und  aller  übrigen  Entwicklung),  das  „Regieren"  allmählich 
auf  ein  Minimum  zu  beschränken  und  die  ganze  Bureaukratie  und 
all  ihr  Tun  den  Teleskopen  und  Mikroskopen  von  Parteien  und 
Komitees  zu  unterwerfen  —  und,  was  das  Größte  von  allem  ist, 
^  jenen  Gewässern  der  großen  Tiefe,  die  offenbar  ein  für  allemal  ihre 
alten  Schranken  durchbrochen  haben,  eine  umfassende,  gesunde, 
immer  wiederkehrende  Bewegung  von  Ebbe  und  Flut  zu  ermög- 
lichen, nicht  Stagnation  und  gehorsame  Genügsamkeit,  mit  der  man 
bei  dem  Feudalismus  und  Klerikalismus  der  antiken  und  mittel- 
alterlichen Welt  auskam,  —  daran  scheint  Carlyle  nie  gedacht  zu 
haben.  Es  war  prachtvoll,  wie  er  bis  zuletzt  jeden  Kompromiß 
ablehnte.  Er  war  merkwürdig  antik.  Seine  barsche,  malerische, 
höchst  machtvolle  Erscheinung  und  Stimme  versetzt  einen  aus  dem 
England  der  Gegenwart  um  mehr  als  2000  Jahre  zurück  in  die 
Gegend  zwischen  Jerusalem  und  Tarsus  .  .  . 

Der  zweite  Hauptpunkt  in  Carlyles  Lehre  war  die  Idee  der  Pflicht- 
erfüllung. (Das  ist  einfach  ein  neues  Kodizill  —  wenn  es  besonders 
neu  ist,  was  keineswegs  feststeht  —  des  altehrwürdigen  Vermächt- 
nisses der  Monarchie,  der  vermoderten  Gesetze  von  Legitimität  und 
Königtum.)  Er  scheint  sich  manchmal  bis  zum  Wahnsinn  aufgeregt 
zu  haben,  wenn  Leute,  die  mindestens  ebenso  tief  dachten  wie  er, 
ihn  darauf  aufmerksam  machten,  daß  diese  Formel  zwar  wertvoll, 
aber  ziemlich  vage  sei,  und  daß  es  für  philosophische  Betrachtung 
auf  jedem  Gebiet,  sei  es  Weltgeschichte  oder  individuelle  Angelegen- 
heiten, noch  viele  andere  Gesichtspunkte  gebe  .  .  . 


■  49 


Es  gibt,  abgesehen  vom  bloßen  Intellekt,  im  Wesen  jeder  hervor- 
ragenden menschhchen  Identität  (in  ihrer  moralischen  Gesamtheit, 
einheitlich  betrachtet,  nicht  nur  im  eigentlichen  moralischen  Sinn, 
sondern  als  Ganzes  einschließlich  des  Körpers)  ein  wunderbares 
Etwas,  das  ohne  Bew^eis,  häufig  ohne  sogenannte  Bildung  (es  wäre 
zwar  das  Ziel  und  die  Krone  aller  Bildung,  die  diesen  Namen  ver- 
diente) zu  einer  Ahnung  der  absoluten  Ausgleichung  in  Raum  und 
Zeit  gelangt,  der  Ausgleichung  dieses  ganzen  vielgestaltigen  rasen- 
den Chaos  von  Falschheit,  Frivolität,  Geilheit,  —  dieser  Narren- 
schwärmerei, unglaublichen  Heuchelei  und  allgemeinen  Unbeständig- 
keit, die  wir  „die  Welt"  nennen;  ein  inneres  Schauen  jenes  gött- 
lichen Fadens  und  unsichtbaren  Bandes,  das  das  gesamte  Wirrsal 
der  Dinge,  die  ganze  Geschichte  und  Zeit,  alles  Geschehen,  sei  es 
noch  so  trivial  oder  noch  so  wichtig,  wie  einen  angekoppelten  Hund 
an  der  Hand  des  Jägers  festhält.  Eine  solche  innere  Schau,  ein 
solches  tiefes  geistiges  Zentrum  —  bloßer  Optimismus  erklärt  nur 
die  Oberfläche  oder  den  äußern  Rand  der  Sache  —  fehlte  Carlyle 
großenteils,  vielleicht  ganz.  Er  scheint  vielmehr  im  Spiel  seiner 
Geistesfunktionen  von  einem  Gespenst,  das  er  während  seines  ganzen 
Lebens  nicht  bannen  konnte,  verfolgt  worden  zu  sein  —  griechische 
Philologen  finden,  glaube  ich,  dieselbe  phantastische  Trugerschei- 
nung bei  Aristophanes  in  seinen  Komödien  —  von  dem  Gespenst  des 
Weltuntergangs. 

Wie  höchster  Triumph  oder  größtes  Mißlingen  im  Menschen- 
leben, in  Krieg  oder  Frieden,  von  einem  kleinen,  verborgenen  Zentral- 
punkt, kaum  mehr  als  ein  Blutstropfen,  einem  Pulsschlag  oder 
Lufthauch  abhängen  kann !  Es  ist  sicher,  daß  alle  diese  gewichtigen 
Fragen,  Demokratie  in  Amerika,  Carlyleismus  und  der  Drang  zu 
tiefster,  politischer  oder  literarischer  Forschung  sich  um  einen  ein- 
fachen Punkt  in  der  spekulativen  Philosophie  drehen. 

Das  tiefste  Problem,  das  den  Menschengeist  beschäftigen  kann, 
auf  dessen  Lösung  Wissenschaft,  Kunst,  die  Grundlagen  und  Be- 
strebungen von  Nationen  und  überhaupt  alles  vernünftige  Menschen- 
glück (heute  1882  hier  in  New  York,  Texas,  Kalifornien  ebenso  wie 
zu  allen  Zeiten  in  allen  Ländern)  im  innersten  und  letzten  Grunde 
beruht  und  wovon  alles  ausgehen  muß,  sofern  es  entscheidende  Be- 
weiskraft haben  soll  —  dieses  Problem  liegt  ohne  Zweifel  in  der 
Frage:  Was  ist  die  alles  verschmelzende  Erklärung,  das  Band,  das 


i5o 


Verhältnis  von  dem  (radikalen  demokratischen)  Ich,  der  mensch- 
lichen Identität  von  Verstand,  Gemüt,  Geist  usw.  einerseits,  zu  dem 
(konservativen)  Nicht-Ich,  zu  der  Gesamtheit  des  materiellen,  objek- 
tiven Universums  und  seiner  Gesetze  samt  ihrer  letzten  Ursache  in 
Raum  und  Zeit  andererseits? 

Immanuel  Kant  hat  diese  Frage  offen  gelassen,  obschon  er  die 
Gesetze  der  menschlichen  Vernunft  erklärte,  oder,  kann  man  auch 
sagen,  teilweise  erklärte.  Schellings  Antwort  oder  Andeutung  einer 
Ä.ntwort  (sehr  wertvoll  und  wichtig,  soweit  sie  geht)  ist  die:  Die 
gleiche,  allgemeine  Vernunft,  Leidenschaft,  ja  auch  die  Maßstäbe 
von  Recht  und  Unrecht,  die  bewußt  und  ausgesprochen  im  Menschen 
leben,  existieren  unbewußt  oder  als  wahrnehmbare  Analogien  auch 
im  ganzen  Universum  der  äußeren  Natur,  in  all  ihren  Gegenstän- 
den, groß  oder  klein,  und  in  all  ihren  Bewegungen  oder  Prozessen,  — 
so  daß  also  der  ungreifbare  Menschengeist  und  die  konkrete  Natur, 
trotz  Dualität  und  Trennung,  im  innersten  und  wesentlichen  gleich- 
bedeutend und  eins  wären. 

Aber  G.F.Hegels  umfassendere  Darstellung  der  Sache  bleibt  wohl 
das  letzte  und  beste  Wort,  das  bis  jetzt  darüber  gesagt  worden  ist. 
Er  übernimmt  in  der  Hauptsache  das  eben  auszugsweise  erwähnte 
System,  aber  er  führt  es  aus,  befestigt  es,  bringt  alles  darin  unter, 
wobei  er  gewisse  ernstliche  Lücken  jetzt  zum  erstenmal  ausfüllt,  so 
daß  es  ein  zusammenhängendes  metaphysisches  System  wird,  eine 
wirkliche  Antwort,  (soweit  es  überhaupt  eine  Antwort  geben  kann), 
auf  die  obige  Frage,  ein  System,  das,  wie  ich  entschieden  zugebe, 
durch  zukünftige  Gehirne  erweitert,  revidiert  und  sogar  ganz  neu 
aufgebaut  werden  mag,  das  aber  auf  jeden  Fall,  als  Ganzes  betrach- 
tet, heute  in  hellem  Glänze  erstrahlt,  den  Gedanken  des  Universums 
erleuchtet  und  sein  Geheimnis  dem  menschlichen  Geist  deutet  — 
mit  tröstlicherer  wissenschaftlicher  Sicherheit  als  irgendein  früheres 
System. 

Nach  Hegel  ist  die  ganze  Erde  mit  ihrer  unendlichen  Mannig- 
faltigkeit —  Vergangenheit:  gegenwärtige  Zustände,  zukünftige  Ge- 
schehnisse, die  Gegensätze  von  Materiellem  und  Spirituellem,  von 
Natürlichem  und  Künstlichem  —  all  das  sind  nach  der  Anschauung 
des  Kollektivisten  nur  notwendige  Seiten  und  Entfaltungen,  verschie- 
dene Stufen  und  Glieder  in  dem  endlosen  Prozeß  der  schöpferischen 
Idee,  die  trotz  unzähliger  scheinbarer  Mißerfolge  und  Widersprüche 


i5i 


durch  eine  zentrale  und  ununterbrochene  Einheit  zusammen- 
gehalten wird  —  es  gibt  überhaupt  keine  Widersprüche  oder  Miß- 
erfolge, sondern  nur  Ausstrahlungen  eines  einheitlichen,  folge- 
richtigen und  ewigen  Zwecks.  Die  gesamte  Masse  des  Seins  strebt 
und  fließt  stetig,  unbeirrbar  dem  dauernden  Utile  und  Morale  zu, 
wie  die  Flüsse  zum  Meer.  Wie  das  Leben  das  Allgesetz  und  das 
unaufhörliche  Wirken  des  sichtbaren  Universums,  der  Tod  aber  nur 
die  andere  oder  unsichtbare  Seite  desselben  ist,  so  sind  das  „Utile", 
die  Wahrheit  und  die  Gesundheit  die  zusammenhängend -unver- 
änderlichen Gesetze  des  moralischen  Universums,  und  Laster  und 
Krankheit  mit  all  ihren  Störungen  nur  vorübergehende,  wenn  auch 
noch  so  vorherrschende  Erscheinungsformen. 

Auf  die  Politik  wendet  Hegel  überall  den  gleichen  alles  umfassen- 
den Maßstab  und  Glauben  an.  Nicht  eine  einzelne  Partei  oder  eine 
einzelne  Regierungsform  ist  absolut  und  ausschließlich  die  wahre. 
Die  Wahrheit  beruht  in  dem  richtigen  Verhältnis  der  Dinge  zuein- 
ander. Eine  Mehrheit  oder  Demokratie  kann  so  schmählich  regieren 
und  so  viel  Unheil  anrichten  wie  eine  Oligarchie  oder  wie  Despo- 
tismus, —  wenn  auch  mit  weit  weniger  Wahrscheinlichkeit.  Das 
große  Übel  ist  aber  eine  Verletzung  entweder  des  eben  erwähnten 
Verhältnisses  oder  des  Moralprinzips.  Das  Trügerische,  Ungerechte, 
Grausame  und  sogenannte  Unnatürliche  ist  —  obwohl  in  einem 
gewissen  Sinne  zugelassen  (wie  Schatten  zum  Licht)  und  unvermeid- 
lich im  göttlichen  Plane  —  im  Gesamtsinne  dieses  Planes  nur  par- 
tiell, unwesentlich,  zeitweilig  und  trotz  noch  so  großem  scheinbaren 
Übergewicht  sicherlich  bestimmt,  zugrunde  zu  gehen,  nachdem  es 
viele  große  Leiden  verursacht  hat. 

Die  Theologie  überträgt  Hegel  in  die  Wissenschaft.  Alle  schein- 
baren Widersprüche  in  der  Auffassung  des  göttlichen  Wesens  durch 
verschiedene  Zeitalter,  Nationen,  Kirchen,  Anschauungen  sind  nur 
unvollständige  und  unvollkommene  Darstellungen  einer  einzigen 
Wesenseinheit,  von  der  alle  ausgehen,  —  rohe  Versuche  oder  aus- 
einandergezogene Teile,  die  zugleich  als  unter  sich  verschieden  und 
zusammengehörig  betrachtet  werden  müssen.  Kurz  (um  es  in  unserer 
eigenen  Sprache  auszudrücken  oder  zusammenzufassen),  der  Denker 
oder  Analytiker  oder  Betrachter,  der  infolge  einer  unerforschlichen 
Verbindung  von  geschulter  Weisheit  und  natürlicher  Intuition  die 
moralische  Einheit  und  Wohlbeschaffenbeit  des  Schöpfungsplanes  in 


ID2 


Geschichte,  Wissenschaft,  in  allem  Leben  aller  Zeit,  Gegenwart  und 
Zukunft  am  uneingeschränktesten  und  in  vollkommenem  Glauben 
annimmt,  der  ist  der  wahrste  Kosmosanbeter  und  der  Fromme  und 
der  tiefste  Philosoph  zugleich.  Wer  aber  unter  dem  Bann  seiner 
selbst  und  seiner  Verhältnisse  in  dem  gesamten  Walten  der  gött- 
lichen Vorsehung  Dunkelheit  und  Verzweiflung  sieht,  und  wer  in 
dieser  Beziehung  leugnet  oder  Ausflüchte  sucht,  der  ist  der  ärgste 
Sünder  und  Ungläubige,  gleichgültig,  wieviel  Frömmigkeit  auf  seinen 
Lippen  gaukelt. 

Ich  fühle  mich  um  so  mehr  berechtigt,  Hegel  hier  ein  wenig  frei 
zu  zitieren*,  als  ich  damit  nicht  nur  Geist  und  Buchstaben  Carlyles 
widerlegen  und  mit  Wurzel  und  Boden  im  Ganzen  und  Einzelnen 
ausrotten,  sondern  auch  den  Lehrsätzen  der  Evolutionisten  das 
Gleichgewicht  halten  kann,  nachdem  Darwin  kürzlich  gestorben 
und  verdientermaßen  verherrlicht  worden  ist.  So  unaussprechlich 
wertvoll  diese  Lehrsätze  für  die  Biologie  und  so  unentbehrlich  sie 
einem  zielbewußten  Studium  für  alle  Zukunft  auch  sind,  sie  um- 
fassen und  erklären  durchaus  nicht  alles  —  und  das  letzte  Wort 
oder  Flüstern  ist  noch  über  keinen  Mund  gekommen,  das  auf  die 
höchsten  jener  Sätze  folgen  und  immerdar  hoch  über  ihnen  und 
über  technischer  Metaphysik  schweben  muß.  Gewiß,  die  Schätze, 
die  von  den  Deutschen  Kant,  Fichte,  Schelling  und  Hegel  und  auch 
von  dem  Engländer  Darwin  auf  seinem  Gebiet  der  Menschheit  ver- 
erbt wurden,  sind  für  die  Heranbildung  von  Amerikas  Zukunft 
unentbehrlich.  Und  doch  möchte  ich  behaupten,  daß  ihnen  allen, 
auch  den  besten,  im  Vergleiche  zu  den  leuchtenden  Blitzen  und  dem 
hohen  Schwünge  der  alten  Propheten  und  Seher,  der  geistlichen 
Dichter  und  Dichtungen  aller  Länder  (wie  in  der  hebräischen  Bibel) 
etwas  zu  fehlen  scheint,  nein  sicherlich  fehlt.   Es  ist  ihnen  eine 

*  Ich  habe  absichtlich  alles  wiederholt,  nicht  nur  um  den  ewig  lauernden  Pessi- 
mismus und  Weltschmerz  Carlyles  zu  widerlegen,  sondern  weil  es  die  amerika- 
nischsten Gesichtspunkte  sind,  die  ich  kenne.  Meines  Erachtens  sind  die 
obigen  Grundsätze  Hegels  eine  wesentliche  und  krönende  Rechtfertigung  der 
Demokratie  der  Neuen  Welt  in  den  schöpferischen  Gebieten  von  Raum  und  Zeit. 
Sie  haben  das  Element  in  sich,  das  anscheinend  nur  die  Größe,  die  Mannigfaltig- 
keit und  Lebenskraft  Amerikas  zu  fassen,  auf  breitem  Raum  zu  verkörpern  oder  zu 
assimilieren  oder  auch  nur  hervorzubringen  vermag.  Es  scheint  mir  merkwürdig, 
daß  sie  in  Deutschland  oder  überhaupt  in  der  Alten  Welt  entstanden;  während  ein 
Carlyle,  möchte  ich  sagen,  ganz  das  zu  erwartende,  legitime  Produkt  Europas  ist. 


i53 


{^jewisse  Kalte  eigen,  ein  Unbefriedigtlassen  des  innersten  Gemüts, 
ein  Mangel  an  lebendiger  Glut,  Liebe,  Wärme,  wie  sie  von  den  alten 
Sehern  und  Dichtern  ausströmt  und  von  der  bei  den  scharfsinnigsten 
modernen  Philosophen  bis  jetzt  nichts  zu  spüren  ist. 

Carlyles  Name  ist  für  unsere  Zwecke  im  großen  ganzen  der  Reihe 
der  eben  genannten  hervorragendsten  Sittenärzte  unserer  Zeit  bei- 
zuzählen, —  mit  Emerson  und  noch  zwei  oder  drei  anderen,  —  wenn 
auch  sein  Rezept  drastisch  ist  und  vielleicht  zerstörend  wirkt,  wäh- 
rend das  der  anderen  assimilierend  und  auf  natürliche  Weise  stärkend 
ist.  Feudalistisch  im  Innersten,  wie  seine  Werke  sind,  geistige 
Erzeugnisse  und  Ausstrahlungen  des  Feudalismus,  enthalten  sie 
doch  für  das  demokratische  Amerika  ewig  wertvolle  Lehren  und 
Beziehungen.  Nationen  oder  Individuen,  wir  lernen  sicherlich  am 
gründlichsten  von  Ungleichartigem,  von  einem  aufrichtigen  Gegner, 
von  dem  Licht,  das,  wenn  auch  aus  Verachtung,  auf  gewisse  wunde 
Punkte  und  Verpflichtungen  geworfen  wird. 

In  vielen  Einzelheiten  war  Carlyle  in  der  Tat  einem  der  hebrä- 
ischen Propheten  der  Vorzeit  vergleichbar,  ein  neuer  Micha  oder 
Habakuk.  Seine  Reden  sprudeln  manchmal  hervor  aus  abgrund- 
tiefer Inspiration.  Immer  wertvoll,  solche  Männer;  jetzt  so  wert- 
voll wie  je.  Seine  rauhen,  polternden,  höhnischen,  widerspruchs- 
vollen Töne,  —  was  täte  mehr  Not  unter  den  geschmeidigen,  ab- 
geschliffenen, goldanbetenden,  Jesus  und  Judas  gleichsetzenden, 
Stimmrecht-übermütigen  Lauten  des  heutigen  Amerika.  Er  hat 
unser  19.  Jahrhundert  mit  dem  Lichte  eines  mächtigen,  durch- 
dringenden und  vollkommen  ehrlichen  Intellektes  erster  Ordnung 
erhellt,  das  er  auf  Politik,  soziales  Leben,  Literatur  und  hervor- 
ragende Persönlichkeiten  Englands  und  des  Kontinents  warf,  —  tief 
unzufrieden  mit  allem  und  erbarmungslos  das  Kranke  an  allem 
enthüllend.  Während  er  aber  die  Krankheit  bezeichnet  und  darüber 
tobt  und  schimpft,  ist  er  selbst  in  der  gleichen  Atmosphäre  ge- 
boren und  aufgewachsen,  ein  charakteristisches  Symptom  dieser 
Krankheit. 

Natur  und  Demokratie 

Demokratie  ist  vor  allem  andern  mit  der  frischen  Luft  verwandt, 
ist  sonnig  und  stark  nur  in  Verbindung  mit  der  Natur  —  genau 
so  wie  die  Kunst.  Etwas  ist  erforderlich,  um  beide  zu  mäßigen. 


sie  im  Zaum  zu  halten  und  sie  vor  Ausschreitung  und  Verfall  zu 
bewahren.  Ich  wollte  zum  Schluß  Zeugnis  ablegen  für  eine  sehr 
alte  Weisheit  und  Notwendigkeit.  Die  amerikanische  Demokratie 
mit  ihren  Myriaden  von  Einzelpersönlichkeiten,  mit  ihren  Fabriken, 
Werkstätten,  Läden,  Bureaus,  mit  all  den  dichtgedrängten  Straßen 
und  Häusern  ihrer  Städte  und  all  ihren  mannigfachen  verkünstelten 
Lebensbedingungen  muß  entweder  gestärkt  und  belebt  werden 
durch  regelmäßigen  Kontakt  mit  Licht,  Luft  und  Wachstum  unter 
freiem  Himmel,  mit  Landleben,  Tieren,  Feldern,  Bäumen,  Vögeln, 
Sonnenwärme  und  weiten  Räumen  droben,  oder  sie  wird  sicherlich 
verdorren  und  verblassen.  Wir  können  keine  starken  Rassen  von 
Handwerkern  und  Arbeitern  und  keine  wahre  Gemeinschaft  (der 
einzige  eigenste  Zweck  Amerikas)  haben,  wenn  diese  Bedingung 
nicht  erfüllt  wird.  Ich  kann  mir  keine  blühenden,  heroischen, 
demokratischen  Kräfte  in  den  Vereinigten  Staaten  oder  überhaupt 
keine  dauerhafte  Demokratie  denken,  ohne  daß  die  Naturkräfte 
einen  ihrer  Hauptbestandteile  bilden,  die  die  Quelle  aller  Gesundheit 
und  Schönheit  sind  und  aller  Politik,  Wohlfahrt,  Religion  und 
Kunst  der  Neuen  Welt  zugrunde  liegen. 


GESAMMELTES 


Aus  der  Vorrede  zu: 
„Wie  ein  starker  Vogel  auf  Schwingen  frei  .  .  ." 

Als  ich  vor  Jahren  den  Plan  zu  meinen  Gedichten  auszuarbeiten 
begann  und  ihn  lange  Zeit  (vom  28.  bis  35.  Lebensjahr)  immer 
wieder  überdachte  und  umgestaltete,  wobei  ich  viel  experimentierte, 
niederschrieb  und  vieles  wieder  fallen  ließ,  lag  allem  andern  ein 
tiefes  Motiv  zugrunde  und  hat  dem  Plan  und  seiner  Ausführung 
seither  zugrunde  gelegen,  —  das  religiöse.  Trotz  vieler  Wechsel 
und  obwohl  die  Ausdrucksform  ganz  andere  Gestalt  angenommen 
hat,  als  ich  sie  mir  ursprünglich  gedacht  hatte,  bin  ich  in  der  Aus- 
arbeitung meiner  Gedichte  von  diesem  Grundmotiv  nie  abgewichen. 
Selbstverständlich  nicht,  um  es  in  der  hergebrachten  Weise  zur 
Schau  zu  stellen  oder  etwa  mit  einem  Blick  auf  die  Kirchensitze 
Hymnen  oder  Psalmen  zu  schreiben  oder  konventionellem  Pietismus 
und  dem  krankhaften  Schmacht  von  Frömmlern  Ausdruck  zu 
geben,  —  vielmehr  auf  neue  Art,  abzielend  auf  die  breitesten  Grund- 
lagen und  Gebiete  der  Menschheit,  in  Einklang  mit  der  frischen 
Luft  von  Meer  und  Land.  Ich  will  sehen,  sagte  ich  zu  mir,  ob  für 
meine  dichterischen  Zwecke  in  der  Durchschnittsmenschheit,  wenig- 
stens in  deren  moderner  Entwicklung  bei  uns,  in  dem  kräftigen 
Gemeingefühl,  in  den  eingeborenen  Sehnsüchten  und  Elementen 
nicht  eine  Religion,  ein  gesunder  religiöser  Keim  liegt,  —  tiefer  und 
größer  und  fruchtbarer  als  alle  bloßen  Sekten  und  Kirchen,  —  so 
grenzenlos,  freudig  und  lebenskräftig  wie  die  Natur  selbst,  —  ein 
Keim,  der  zu  lange  ohne  Pflege,  unbesungen,  beinahe  unbekannt 

i56 


geblieben  ist.  Mit  dem  Aufblühen  der  Wissenschaft  beginnt  er- 
sichtlich die  alte  Theologie  des  Ostens,  schon  längst  kindisch  ge- 
worden, zu  sterben  und  zu  verschwinden.  Die  Wissenschaft  aber 

—  und  das  wird  sich  vielleicht  als  ihr  Hauptverdienst  erweisen  — 
bereitet  ebenso  ersichtlich  den  Weg  für  ein  unbeschreiblich  Höheres, 

—  für  den  jungen,  aber  vollkommenen  Sprößling  der  Zeit  —  die 
neue  Theologie  —  Erbin  des  Westens  —  stark  und  liebevoll  und 
wunderbar  herrlich. 

Für  Amerika,  und  für  jetzt  und  allezeit,  ist  die  höchste  und  ab- 
schließende Wissenschaft  die  von  Gott,  —  und  was  wir  Wissen- 
schaft nennen,  ist  nur  ihr  Diener,  wie  es  auch  die  Demokratie  ist 
oder  sein  soll.  Und  ein  Dichter  Amerikas  (sagte  ich  zu  mir)  muß 
sich  mit  solchen  Gedanken  erfüllen  und  sein  Allerbestes  aus  ihnen 
heraus  singen.  —  Gleichwie  es  meines  Erachtens  keine  gesunde 
und  vollkommene  Persönlichkeit  noch  eine  große  elektrische  Natio- 
nalität gibt,  wenn  nicht  die  Religion  als  Grundelement  alle  anderen 
Elemente  durchdringt  (wie  die  Wärme  in  der  Chemie,  selbst  un- 
sichtbar, dennoch  das  Leben  alles  sichtbaren  Lebens  ist,  so  kann 
es  keine  Poesie  geben,  die  dieses  Namens  würdig  wäre,  ohne  daß 
jenes  Element  allem  zugrunde  liegt.  Sicherlich  ist  die  Zeit  ge- 
kommen, wo  die  Religionsidee  in  den  Vereinigten  Staaten  entlastet 
wird  von  bloßem  Klerikalismus,  von  Sonntagsheiligung  und  Kirchen 
und  Kirchenbesuch,  und  wo  ihr  jene  allgemeine,  wichtigste,  un- 
entbehrlichste und  heiterste  Stellung  zugewiesen  wird,  der  sich  alles 
anzupassen  hat,  Charakter,  Bildung  und  Tun  der  Menschen. 

Das  Volk,  besonders  die  jungen  Männer  und  Frauen  Amerikas, 
müssen  anfangen  zu  lernen,  daß  Religion  wie  Poesie  etwas  ganz, 
ganz  anderes  ist,  als  sie  dachten.  Sie  ist  in  der  Tat  für  die  Macht 
und  Fortdauer  der  neuen  Welt  zu  wichtig,  als  daß  sie  noch  länger 
den  Kirchen,  alten  oder  neuen,  katholischen  oder  protestantischen, 
dieses  Heiligen  oder  jenes,  überlassen  werden  dürfte.  Sie  muß  von 
nun  an  der  Demokratie  en  masse  und  der  Literatur  überantwortet 
werden.  Sie  muß  in  die  Dichtungen  der  Nation  eingehen.  Sie 
muß  die  Nation  erschaffen. 


.57 


Eine  Notiz  auf  ^ut  Glück 
(Zuerst  v'eröffentlicht  in  der  „North  American  Review"  1881) 

Soll  die  Erwähnung  von  Dingen,  wie  ich  sie  kurz,  aber  deut- 
lich und  entschlossen  in  dem  Kapitel  „Kinder  Adams"  meiner 
„Grashalme"  zur  Sprache  gebracht  habe,  in  Poesie  und  Literatur 
erlaubt  sein?  Sollte  die  Neuerung  nicht  vielmehr  durch  Kritik 
und  öffentliche  Meinung  verurteilt  werden?  Und  wenn  das  nichts 
nützt,  durch  den  Staatsanwalt?  —  Zweifellos,  ohne  jenes  Kapitel 
mit  einzuschließen,  konnte  ich  nicht  ein  Werk  verfassen,  das  er- 
klärtermaßen, wie  nie  zuvor,  die  vollständige  menschliche  Identität, 
die  physische,  moralische,  seelische  und  intellektuelle,  behandelte 
(in  gewissem  Sinne  gab  ich  der  physischen  den  Vorrang  und  die 
Führung);  auch  hätte  ich  sonst  nicht  die  bona  fides,  die  Lauterkeit 
und  Vollständigkeit  der  Darstellung  erreichen  können,  die  zu 
meinem  Plane  gehörte.  Aber  ich  möchte  meinen  Standpunkt  noch 
mehr  als  bisher  befestigen  und  erweitern.  Und  wenn  ich  auch  von 
niemandem  verlange,  meiner  Theorie  beizupflichten,  liegt  mir  doch 
offen  gestanden  etwas  daran,  meine  dichterischen  Versuche  und 
meine  Prinzipien  von  ihrem  eigenen  Boden  aus  wenigstens  teil- 
weise verstanden  zu  wissen.  Es  scheint  mir  am  besten,  der  Frage 
mit  völligem  Freimut  gegenüberzutreten. 

Es  gibt,  allgemein  gesprochen,  zwei  Gesichtspunkte,  nach  denen 
sich  die  Welt  zu  diesen  Dingen  verhält.  Der  erste,  der  konven- 
tionelle biederer  Leute  und  biederer  Literatur  überall,  unterdrückt 
jede  direkte  Benennung  und  macht  nur  ganz  verblümte  Andeu- 
tungen —  (wie  es  die  Griechen  mit  dem  Tod  machten,  der  in  der 
gebildeten  Gesellschaft  Griechenlands  nicht  gerade  heraus  benannt, 
sondern  euphemistisch  umschrieben  wurde).  In  der  heutigen  Ge- 
sellschaft hat  dies  Verhalten  —  ohne  auf  die  Argumente  und  Ein- 
zelheiten, die  zahlreich,  verschiedenartig  und  verwirrend  sind, 
näher  einzugehen  —  zu  einem  Zustand  von  Unwissenheit,  Ver- 
tuschung, verborgen  gehaltener  Krankheit  und  Schwäche  geführt, 
der  sicherlich  einen  Hauptfaktor  des  Weltübels  bildet.  Diesem 
unwissenschaftlichen,  unästhetischen  und  durchaus  unreligiösen 
Verhalten,  das  uns  die  Vergangenheit  vererbt  hat  (die  Ursachen 
sind  verschieden;  eine  liegt  in  uralten  Lehren  menschenfreund- 
licher Weiser,  die  damit  die  herrschende  Roheit  und  Animalität 


i58 


des  INoinadeiizeitahcrs  bändigen  wollten;  eine  andere  im  Puritaner- 
tum  oder  vielleicht  Protestantismus  selbst;  eine  dritte  wird  am 
Schluß  dieser  Ausführungen  bezeichnet  werden)  —  diesem  Ver- 
halten sind  wohl  größtenteils  die  Mißgeburten,  die  ungenügende 
Reife,  der  frivole  Sinnenkitzel  und  jenes  pathologische  Hinsiechen 
und  Kränkeln  der  Menschen  zu  verdanken,  das  meines  Erachtens 
der  Grund  und  Ursprung  jeder  Art  von  Übel  und  Kränklichkeit 
ist.  Sein  Geruch,  wie  von  etwas  Schleichendem,  Tückischem,  Pest- 
artigem scheint  nach  und  nach  alle  moderne  Literatur,  Konver- 
sation und  Sitte  zu  durchseuchen. 

Der  zweite  Gesichtspunkt,  und  zwar  der  weit  umfassendere  — 
wie  denn  die  Welt  im  Werktagskleid  die  in  Salontoilette  an  Zahl 
weit  übertrifft  —  ist  der  des  gewöhnlichen  Lebens,  von  den  ältesten 
Zeiten  her  und  besonders  in  England  (vgl.  die  ersten  Kapitel  von 
Taines  Englischer  Literaturgeschichte  und  Shakespeare  beinahe 
überall) ;  ein  Gesichtspunkt,  den  unser  heutiges  Zeitalter  von  einem 
lachlustigen  Geschlecht  ererbt  hat  in  dem  W^itz  (oder  was  als  Witz 
gilt)  in  Männergesellschaft,  in  den  erotischen  Geschichten  und  Ge- 
sprächen, die  jene  bloß  lüsterne  Sinnlichkeit,  die  nach  Viktor  Hugo 
die  allgemeinste  Eigenschaft  aller  Zeiten  und  Länder  ist,  erregen, 
ausdrücken  und  ausmalen  sollen.  Dieser  zweite  Zustand,  so  schlimm 
er  ist,  gleicht  wenigstens  einer  Krankheit,  die  zum  Vorschein  kommt 
und  deshalb  weniger  gefährlich  ist  als  eine  verheimlichte. 

Mir  scheint  für  eine  weitere  Stufe,  einen  dritten  Gesichtspunkt, 
die  Zeit  gekommen  und  Amerika  der  Platz  dafür  zu  sein.  Derselbe 
Freimut,  Glaube  und  Ernst,  den  nach  Jahrhunderten  von  Ablehnung, 
Kampf,  Unterdrückung  und  Märtyrertum  die  Gegenwart  der  Be- 
handlung von  Politik  und  Religion  entgegenbringt,  muß  für  diese 
Frage  einen  Plan  und  Maßstab  schaffen,  nicht  so  sehr  im  Hinblick 
auf  das,  was  man  Gesellschaft  nennt,  als  auf  nachdenklichste  Männer 
und  Frauen  und  auf  gedankenreichste  Literatur.  Denselben  Geist, 
der  in  dieser  Beziehung  den  physiologischen  Schriftsteller  und 
Demonstrator  auf  seinem  wichtigen  Gebiet  charakterisiert,  glaubte 
ich  einmal  auf  einem  gewiß  nicht  weniger  wichtigen  Gebiet  be- 
kunden zu  müssen. 

In  der  vorliegenden  Notiz  wage  ich  diesen  Plan  und  diese 
Anschauung  nur  anzudeuten,  für  die  ich  mich  in  meiner  eige- 
nen literarischen  Tätigkeit  schon  vor  mehr  als  zwanzig  Jahren 

i59 


entschieden  und  die  ich  in  meinen  gedruckten  Gedichten  deuthch 
lormuliert  habe  (wie  denn  Bacon  sagt,  eine  abstrakte  Idee  oder 
Theorie  sei  wertlos,  wenn  sie  nicht  zu  einer  Tat  oder  einem  Werk 
als  konkretem  Beispiel  führe)  —  die  Anschauung  nämlich,  daß  der 
Geschlechtstrieb  an  sich,  solange  er  normal  und  gesund  bleibt, 
seinem  Wesen  nach  zu  Recht  besteht,  anerkannt  werden  muß  und 
kein  unbedingt  unpassendes  Thema  für  den  Dichter  ist,  ebensowenig 
wie  zugestandenermaßen  für  den  Naturforscher;  —  daß  ferner,  was 
den  ganzen  Aufbau,  den  Organismus  und  Endzweck  der  „Grashahiie" 
anbelangt,  alles  auf  einer  schwachen  oder  gar  keiner  Grundlage 
beruhen  würde,  wenn  ich  jenem  Thema  ausgewichen  wäre  und 
mich  nicht  offen  dazu  bekannt  hätte,  als  zu  der  alles  umfassenden 
Basis  (die  gesunde  Natürlichkeit  von  allem  sollte  ja  die  Atmosphäre 
der  Gedichte  sein).  Ich  möchte  also  die  Frage  im  bedeutsamsten 
Sinne  stellen  und  auf  ihre  äußerste  Konsequenz  hin,  so  anmaßend 
das  auch  erscheinen  mag. 

Kurz  gesagt,  wie  die  Anerkennung  der  gesunden  Natürlichkeit 
von  Geburt,  Natur  und  Menschheit  der  Schlüssel  ist  zu  jeder  wahren 
Theorie  vom  Leben  und  Universum,  wenigstens  der  einzigen 
Theorie,  aus  der  heraus  ich  geschrieben  habe,  so  ist  sie  auch, 
und  zwar  unbedingt,  der  einzige  Schlüssel  zu  den  „Grashalmen" 
und  zu  jedem  einzelnen  Teil  derselben.  Das  ist  der  Grund,  warum 
ich  gerade  für  diese  Gedichte  zwanzig  Jahre  lang  eingetreten  bin 
und  sie  bis  zum  heutigen  Tage  aufrecht  erhalte.  Das  ist  es,  was 
ich  im  innersten  Geist  und  Gemüt  fühlte,  als  ich  unter  den  alten 
Ulmen  des  Bostoner  Stadtparkes  auf  Emersons  heftige  Argumente 
nur  mit  Stillschweigen  antwortete. 

In  der  Tat,  sollte  nicht  jeder  Physiologe  und  jeder  gute  Arzt 
dafür  beten,  daß  diese  Frage,  die  bisher  dem  Geschwätz  und  Ge- 
schreibsel von  Schuften  überantwortet  war,  aus  ihrer  Verbannung 
erlöst  und  wenigstens  einmal,  wenn  nicht  öfter,  kühn  in  den  Be- 
reich der  Poesie  und  Gesundheit  gestellt  Wierde  —  als  etwas,  das 
nicht  an  sich  unanständig  und  uhrein,  sondern  mit  edelster  Männ- 
lichkeit und  Weiblichkeit  durchaus  vereinbar  und  beiden  unent- 
behrlich ist?  Sollte  nicht  jede  Gattin  und  Mutter  und,  wenn  es 
möglich  wäre,  jeder  Säugling,  der  auf  die  Welt  kommt,  und  jede  Ehe 
(das  Fundament  und  die  conditio  sine  qua  non  des  Kulturstaates) 
loben  und  danken  dafür,  wenn  gezeigt  oder  als  selbstverständlich 

160 


angesehen  würde,  daß  Mutterschaft,  Vaterschaft,  Geschlechthchkeit 
und  alles,  was  dazu  gehört,  offen,  freudig,  stolz,  ohne  daß  man 
sich  schämt  oder  zu  schämen  braucht,  von  den  höchsten  künst- 
lerischen und  menschlichen  Gesichtspunkten  aus  bekräftigt  werden 
kann,  wo  immer  es  darauf  ankommt?  Ja,  in  aller  Ehrfurcht  sei  es 
gesagt,  sollte  nicht  auch  die  Schöpferkraft  selbst  sich  herablassen, 
auf  einen  solchen  Versuch,  die  Basis  und  den  Anfang  des  ganzen 
göttlichen  Planes  in  der  Menschheit  zu  rechtfertigen,  mit  einem 
Beifallslächeln  zu  blicken? 

In  der  Bewegung  für  die  Befähigung  und  die  Zulassung  der 
Frauen  zu  neuen  Gebieten  des  Geschäftswesens,  der  Politik  und  des 
Stimmrechts  bildet  die  herrschende  Lüsternheit  und  Konvention 
in  der  Behandlung  des  Geschlechtlichen  das  furchtbare  Haupt- 
hindernis. Die  wachsende  Flut  der  Frauenbewegung,  die  von  Jahr 
zu  Jahr  mehr  anschwillt  und  weiter  vorrückt,  weicht  bestürzt  davor 
zurück.  Meines  Erachtens  wird  es  in  dieser  Bewegung  keinen  all- 
gemeinen Fortschritt  geben,  bis  eine  vernünftige,  philosophische, 
demokratische  Behandlungsweise  an  die  Stelle  jener  Konvention 
getreten  ist. 

Die  ganze  Frage,  die  viel,  sehr  viel  tiefer  geht,  als  die  meisten 
denken  (und  zweifellos  ist  auf  jeder  Seite  etwas  zu  sagen),  ist  von 
besonderer  Wichtigkeit  für  die  Kunst,  —  es  ist  erstens  eine  ethische 
und  dann  noch  mehr  eine  ästhetische  Frage  .  .  . 

Nicht  das  Gemälde  oder  die  nackte  Statue  oder  der  Text  ist 
unanständig,  sofern  der  künstlerische  Zweck  ein  lauterer  ist,  es  ist 
vielmehr  des  Beschauers  eigener  Gedanke,  seine  eigene  verzerrte 
Auffassung.  Wahre  Sittsamkeit  ist  eine  der  köstlichsten  Eigen- 
schaften, ja  Tugenden;  aber  in  nichts  Hegt  mehr  Heuchelei,  mehr 
Falschheit,  als  wenn  sie  überflüssigerweise  betont  wird.  Infolge 
von  Erziehung  und  Selbsterkenntnis  weiß  der  Mensch  schon  lange 
genug,  wie  schlecht  er  ist.  Ich  möchte  dieses  Bewußtsein  nicht 
sowohl  stören  oder  vernichten,  vielmehr  nur  wieder  auf  die  innerste 
Bedeutung  des  Schriftwortes  hinweisen  und  es  unwiderleglich 
daneben  stellen:  „Und  Gott  sah  an  alles,  was  er  gemacht  hatte", 
(samt  dem  Gipfelpunkt  des  Ganzen  —  der  Menschheit  mit  ihren 
Elementen,  Leidenschaften,  Begierden),  „und  siehe,  es  war  sehr  gut." 

Wird  die  Schöpfung  nicht  durch  alles,  was  jenen  dritten  Ge- 
sichtspunkt nicht  gelten  läßt,  von  Anfang  an  negiert,  —  wenn  man 

II    Whitman  I  I  6  I 


sich  die  Sache  ernstlich  und  von  allen  Seiten  überlegt?  Lebt  die 
in  diesen  Gesichtspunkten  liegende  Überzeugung,  so  verdunkelt  und 
ihrer  selbst  unbewußt  sie  sein  mag,  in  der  Tat  nicht  ewig  im 
Zentrum  der  ganzen  Gesellschaft,  der  Geschlechter  und  der  Ehe? 
Ist  sie  in  Wahrheit  nicht  eine  Intuition  des  Menschengeschlechts? 
Denn  so  alt  die  Welt  ist  und  so  unbeschreiblich  die  unzähligen  und 
glänzenden  Früchte  ihrer  Kultur  und  Evolution,  —  vielleicht  die 
besten  und  frühesten  und  reinsten  Intuitionen  des  Menschen- 
geschlechtes müssen  sich  erst  noch  entwickeln. 

Emersons  Werke  (ihre  Schatten) 

Die  Regionen,  die  wir  Natur  nennen,  die  über  alles  Maß  hinaus- 
ragen, von  unendlicher  Ausdehnung,  unendlicher  Tiefe  und  Höhe, 
—  diese  Regionen,  einschließlich  des  Menschen  in  seinen  sozialen, 
historischen  und  moralisch-gefühlsmäßigen  Beziehungen,  —  einen 
wie  geringen  Teil  von  ihnen  (das  kam  mir  heute  zum  Bewußtsein) 
hat  die  Literatur  wirklich  dargestellt,  —  selbst  wenn  man  ihre  Er- 
zeugnisse aller  Zeiten  summiert.  Sie  erscheint  im  besten  Fall  wie 
eine  kleine  Flotte  von  Schiffen,  die  sich  an  die  Küsten  einer  unend- 
lichen See  schmiegen  und  sich  niemals  hinauswagen,  um  zu 
erforschen,  was  noch  nicht  auf  Karten  verzeichnet  ist,  —  nie 
kolumbusgleich  nach  neuen  Welten  aussegeln,  um  die  Rundung 
des  Erdballs  zu  durchmessen. 

Emerson  schreibt  oft  aus  solchem  Gedankenkreis  heraus.  Seine 
Bücher  berichten  das  eine  oder  das  andere  eben  aus  jenem  Meeres- 
und Luftraum;  und  richten  sich  verständlicher  an  unsere  Zeit  und 
an  das  amerikanische  Staatswesen  als  die  Schriften  irgendeines 
Mannes  vor  ihm.  Aber  ich  will  damit  beginnen,  daß  ich  seine 
Schwächen  hervorhebe  —  und  so  beweisen,  daß  ich  für  seine  tiefsten 
Lehren  nicht  unempfänglich  bin.  Ich  will  seine  Werke  vom  demo- 
kratischen und  westlichen  Gesichtspunkt  aus  betrachten.  Ich  will 
die  Schatten  der  sonnigen  Räume  bezeichnen  .  .  . 

Erstens  also:  diese  Schriften  sind  vielleicht  zu  vollkommen,  zu 
konzentriert.  (Wie  gut  ist  z.  B.  gute  Butter,  guter  Zucker.  Aber 
immer  nur  Zucker  und  Butter!  Mögen  sie  noch  so  gut  sein!)  Und 
obschon  der  Autor  viel  zu  sagen  weiß  von  Freiheit  und  üngebunden- 
heit  und  Einfachheit  und  Selbstherrlichkeit,  so  war  doch  noch  nie 


162 


ein  Werk  mehr  auf  künstliche  Gelehrsamkeit  und  Wohlanständig- 
keit im  dritten  oder  vierten  Aufguß  (er  nennt  es  Bildung)  gegründet 
und  darauf  aufgebaut.  Es  ist  immer  etwas  Gemachtes,  nie  ein  un- 
bewußt Gewachsenes.  Es  ist  die  Porzellanfigur  oder  Statuette  eines 
Löwen  oder  Hirsches  oder  indianischen  Jägers  —  freilich  von  vor- 
züglicher Arbeit  —  für  den  Rosenholz-  oder  Marmorständer  in 
Salon  oder  Bibliothek;  nie  das  Tier  oder  der  Jäger  selbst.  Wer 
w^ill  auch  das  Tier  oder  den  Jäger?  Was  ließe  sich  damit  anfangen 
inmitten  von  Astrallicht  und  Nippes  und  Gobelins  und  Damen  und 
Herren,  die  mit  gedämpften  Stimmen  von  Browning  und  Long- 
fellow  und  Kunst  sprechen?  Vor  dem  geringsten  Verdacht  eines 
wirklichen  Bullen  oder  Indianers  oder  sich  selbst  auswirkender 
Naturkraft  würden  all  diese  guten  Leute  in  panischem  Schrecken 
davonlaufen. 

Emerson  ist  meines  Erachtens  nicht  als  Dichter  oder  Künstler 
oder  Lehrer  am  bedeutendsten,  obwohl  wertvoll  in  alledem.  Sein 
Bestes  gibt  er  in  der  Kritik  oder  Diagnose.  Nicht  Leidenschaft  oder 
Phantasie  oder  Nebeninteresse  oder  Schwäche  oder  irgendein  aus- 
gesprochenes Motiv  oder  eine  besondere  Vorliebe  beherrscht  ihn. 
(Ich  weiß,  Feuer,  Gemüt,  Liebe,  Selbstheit  glühen  tief  und  unver- 
gänglich in  ihm,  wie  in  allen  Neu-Engländern,  aber  die  Fassade 
verbirgt  sie  völlig,  es  ist  nichts  von  ihnen  zu  merken.)  Er  sieht 
oder  ergreift  nicht  nur  oder  vorwiegend  eine  Seite,  eine  Ansicht 
(wie  alle  Dichter  oder  die  meisten  guten  Schriftsteller  überhaupt), 
er  sieht  alle  Seiten.  Seine  Schüler  hören  unter  seinem  Einfluß 
schließlich  auf,  irgend  etwas  zu  verehren,  ja  beinahe  an  irgend 
etwas  zu  glauben,  was  außerhalb  ihrer  selbst  ist.  Emersons  Werke 
füllen  gewisse  Lebensperioden  und  Entwicklungsstufen  aus,  und 
zwar  gut,  —  sie  sind  (wie  die  Lehre  oder  Theologie  des  Autors, 
die  er  als  junger  Mann  predigte)  unbeschreiblich  wertvoll  und 
kostbar  als  Durchgangsstadium.  Aber  im  Alter  oder  in  reizbaren 
oder  feierlichsten  Stunden  oder  im  Sterben,  wenn  man  die  ungreit- 
bar  beruhigenden  und  belebenden  Einflüsse  abgrundtiefer  Natur 
oder  naturähnliche  Elemente  in  der  Literatur  und  menschlichen 
Gesellschaft  braucht  und  die  Seele  das  schärfste  bloß  verstandes- 
mäßige Erkennen  ablehnt,  wird  man  nicht  nach  ihnen  verlangen. 

Emerson  hat  eine  für  einen  Philosophen  seltsam  stutzerhafte 
Anstandstheorie.   Er  scheint  keine  Ahnung  davon  zu  haben,  daß 


i63 


äußere  Manieren  einfach  die  Zeichen  sind,  an  denen  der  Chemiker 
oder  Metallurg  seine  Metalle  erkennt.  Für  den  bedeutenden  P'orscher 
sind  alle  Metalle  bedeutend,  so  wie  sie  es  auch  wirklich  sind.  Der 
Unbedeutende  wird,  wie  die  konventionelle  Welt,  nur  auf  Gold 
und  Silber  viel  halten.  Dem  wirklichen  Menschheitsbildner  also 
erscheinen  sogenannte  schlechte  Manieren  oft  am  malerischsten  und 
bedeutsamsten.  Man  stelle  sich  vor,  Emersons  Werke  würden  ab- 
sorbiert als  dauernder  Lebenssaft  des  amerikanischen  Charakters 
im  allgemeinen  und  besonderen,  —  was  für  eine  wohlgewaschene 
und  grammatische,  aber  blut-  und  hilflose  Rasse  würden  wir  dann 
werden!  Nein,  nein,  lieber  Freund;  die  Staaten  brauchen  zwar  ohne 
Frage  Gelehrte  und  vielleicht  auch  Damen  und  Herren,  die  häufig 
baden  und  nie  laut  lachen  oder  unrichtig  sprechen,  aber  sie  brauchen 
nicht  Gelehrte  oder  Damen  und  Herren  auf  Rosten  alles  übrigen. 
Sie  brauchen  gute  Farmer,  Seeleute,  Handwerker,  Beamte,  Bürger, 
—  gesunde  geschäftliche  und  soziale  Verhältnisse,  —  vollkommene 
Väter  und  Mütter.  Wenn  wir  nur  solche  oder  annähernd  solche 
haben  könnten,  in  Fülle,  schön  und  stattlich  und  gesund  und 
großmütig  und  patriotisch,  so  könnten  sie  ihre  Verba  und  Nomi- 
nativa  falsch  konstruieren  und  wie  Musketensalven  lachen,  wenn 
es  ihnen  Spaß  machen  würde.  Solche  Menschen  sind  natürlich 
nicht  alles,  was  Amerika  braucht,  aber  sie  müssen  wir  uns  vor 
allen  Dingen  in  großer  Anzahl  verschaffen.  Und  trotz  fürchter- 
licher Fehler  und  Irrgänge  scheint  der  Instinkt  der  Staaten  wesent- 
lich und  hauptsächlich  darauf  gerichtet  zu  sein  und  abzuzielen.  Das 
Streben  nach  einer  erlesenen,  überfeinerten,  von  allen  anderen 
abgegrenzten  Klasse,  das  Streben  der  Länder  und  Literaturen  der 
Alten  Welt,  ist  nicht  sowohl  an  sich,  als  weil  es  unser  eigenes 
Streben  erstickt  und  in  der  Tat  sein  Tod  ist,  zu  tadeln.  Was  eine 
solche  abgesonderte  Raste  betrifft,  so  können  die  Vereinigten  Staaten 
den  glanzvollen  Beispielen  der  ersten  Nationen  Europas  in  Ver- 
gangenheit und  Gegenwart  (weit,  weit  über  allem  Vergleich  und 
Wettbewerb  mit  uns)  niemals  etwas  Gleichwertiges  gegenüberstellen. 
Aber  eine  ungeheure  und  eigenartige,  über  unser  weites  und  mannig- 
faltiges Gebiet,  W^est  und  Ost,  Süd  und  Nord,  ausgebreitete  Gemein- 
schaft —  in  der  Tat  zum  erstenmal  in  der  Geschichte  ein  großes, 
zusammengeschlossenes,  wirkliches  Volk,  das  diesen  Namen  ver- 
dient und  das  aus  vollentwickelten  heroischen  Individualitäten 


i64 


beiderlei  Geschlechtes  besteht,  —  das  ist  Amerikas  wichtigster, 
vielleicht  einziger  Daseinsgrund.  Wenn  wir  dieses  Ziel  erreichen, 
so  wird  es  mindestens  ebensosehr  (seit  kurzem  denke  ich,  zwei- 
mal mehr)  das  Ergebnis  einer  für  uns  passenden  demokratischen 
Soziologie,  Literatur  und  Kunst  sein,  —  wenn  wir  die  je  haben 
werden,  —  als  unserer  demokratischen  Politik. 

Zeitweilig  habe  ich  daran  gezweifelt,  ob  Emerson  wirklich  weiß 
oder  fühlt,  was  Poesie  höchster  Art  ist,  wie  z.  B.  in  der  Bibel  oder 
in  Homer  oder  Shakespeare.  Ich  sehe,  daß  er  heimlich  oder  offen 
höchstvollendete  Formglätte  oder  das,  was  alt  oder  seltsam  ist,  be- 
vorzugt, —  Wallers  „Go  lovely  rose"  oder  Lovelaces  Verse  an 
„Lacusta",  die  sonderbaren  Einfälle  der  altfranzösischen  Barden 
und  ähnliches.  Für  Kraft  scheint  er  die  Bewunderung  eines  Gentle- 
man zu  haben,  —  aber  in  seinem  innersten  Herzen  stehen  ihm 
kunstvolle  Versformen,  geistreiche  Einfälle,  elegante  Schnörkel  und 
Worte  immer  höher  als  die  erhabensten  Eigenschaften  Gottes  und 
der  Dichter. 

Daß  ich,  wie  die  meisten  jungen  Leute,  vor  Jahren  einen  be- 
ginnenden Anfall  (spät  zwar  und  nur  an  der  Oberfläche)  von 
Emersonmanie  hatte,  —  daß  ich  seine  Schriften  ehrfürchtig  las  und 
ihn  in  den  meinen  als  „Meister"  anredete  und  ihn  einen  Monat 
lang  oder  so  auch  dafür  hielt,  —  daran  erinnere  ich  mich  nicht 
nur  mit  Gelassenheit,  sondern  mit  wirklicher  Genugtuung.  Ich 
habe  bemerkt,  daß  die  meisten  jungen  Leute  von  strebsamem  Geist 
durch  derlei  Übungsstadien  hindurch  müssen. 

Das  beste  am  Emersonianismus  ist,  daß  er  den  Riesen  erzeugt, 
der  sich  selbst  vernichtet.  „Wer  will  bloßer  Epigone  eines  Mannes 
sein?"  —  diese  Frage  lauert  hinter  jeder  Seite.  Nie  hat  es  einen 
Lehrer  gegeben,  der  so  dafür  gesorgt  hätte,  daß  seine  Schüler 
selbständig  werden,  —  nie  einen  echteren  Evolutionisten. 

Neue  Poesie  —  Kalifornien,  Kanada,  Texas 

Meiner  Ansicht  nach  ist  die  Zeit  gekommen,  um  die  formalen 
Schranken  zwischen  Prosa  und  Poesie  gänzlich  niederzubrechen. 
Ich  behaupte,  die  letztere  muß  von  nun  an  ohne  Rücksicht  auf 
den  Reim  und  die  rhythmischen  Regeln  von  Jambus,  Spondaeus, 
Dactylus  usw.  ihren  Charakter  gewinnen  und  wahren.  Mag  auch 


i65 


der  Reim  samt  den  genannten  Maßen  für  geringere  Schriftsteller  und 
Themen  weiterhin  als  Ausdrucksmittel  dienen  (besonders  für  Paro- 
distisches  und  Komisches,  da  der  Reim  an  sich  und  überhaupt  für 
den  vollendeten  Geschmack  in  Zukunft  etwas  unvermeidlich  Romi- 
sches zu  haben  scheint),  echteste  und  erhabenste  Poesie  (innerlich 
und  notwendigerweise  zwar  immer  rhythmisch  und  leicht  genug 
von  Prosa  zu  unterscheiden)  kann  in  der  englischen  Sprache  nie 
wieder  in  willkürlicher  und  reimender  Strophenform  Ausdruck 
finden,  ebensowenig  wie  die  größte  Reredsamkeit  oder  die  echteste 
Kraft  und  Leidenschaft.  Zwar  gebe  ich  zu,  daß  die  ehrwürdigen 
und  himmlischen  Formen  melodischen  Versbaues  zu  ihrer  Zeit 
eine  große  und  angemessene  Rolle  gespielt  haben,  —  daß  schwer- 
mütige Klage,  Ralladen,  Kriege,  Liebesgeschichten,  Sagen  Europas 
usw.  vielfach  unnachahmlich  schön  in  Reim  und  Strophe  dar- 
gestellt worden  sind,  —  daß  es  sehr  hervorragende  Dichter  ge- 
geben hat,  deren  Gestalten  wundervoll  und  passend  der  Mantel 
solcher  Versform  umhüllte  und  daß  dieser  ihr  Mantel  vielleicht  in 
noch  größerer  Schönheit  auf  einige  Dichter  unserer  Zeit  gefallen 
ist.  Trotz  alledem  glaube  ich  sicher,  daß  die  Zeit  solchen  Reimes 
zu  Ende  ist.  In  Amerika  jedenfalls  und  als  Mittel  höchsten  ästhe- 
tischen, praktischen  oder  geistigen  Ausdrucks,  in  Gegenwart  und 
Zukunft,  versagt  er  offenbar  und  muß  versagen. 

Die  Muse  der  Prärien  von  Kalifornien,  Kanada,  Texas  und  der 
Rerggipfel  Kolorados  entledigt  sich  sowohl  der  literarischen  als 
sozialen  Etikette  des  transatlantischen  Feudalismus  und  Kasten- 
wesens, dehnt  sich  fröhlich  aus,  macht  sich  bereit,  den  Umfang  des 
ganzen  Volkes  zu  umfassen,  samt  dem  freien  Spiel  aller  Gefühle, 
Stolz,  Leidenschaften,  Erfahrungen,  die  zu  ihm  in  Körper  und 
Geist  gehören,  —  den  ganzen  Erdball  zu  umfassen  und  all  seine 
astronomischen  Reziehungen,  wie  sie  uns  von  den  Gelehrten  ge- 
schildert werden,  —  das  moderne,  geschäftige  19.  Jahrhundert  (so 
erhaben  poetisch  wie  je  eines,  nur  anders)  mit  seinen  Dampf- 
schiffen, Eisenbahnen,  Fabriken,  Telegraphen,  Zylinderpressen,  — 
den  Gedanken  von  der  Solidarität  der  Nationen  und  von  der  Brüder- 
schaft und  der  Schwesterschaft  der  ganzen  Erde,  —  die  Würde  und 
den  Heroismus  der  praktischen  Arbeit  in  Farmen,  Fabriken,  Gieße- 
reien, Werkstätten,  Bergwerken  oder  auf  Schifl'en,  Seen  und  Flüssen. 
Diese  Muse  wählt  jenes  andere,  geschmeidigere,  angemessenere 


166 


Ausdrucksmittel  und  schwingt  sich  empor  zu  dem  freien,  weiten, 
göttlicheren  Himmel  der  Prosa. 

Bei  Gedichten  dritter  oder  vierter  Ordnung  (vielleicht  sogar  hei 
manchen  zweiter  Ordnung),  hat  es  wenig  oder  gar  nichts  zu  besagen, 
wer  sie  verfaßt,  —  sie  sind  gut  genug,  so  wie  sie  sind;  auch  brauchen 
sie  nicht  tatsächliche  Ausströmungen  von  Persönlichkeit  und  Leben 
der  Verfasser  zu  sein.  Das  gerade  Gegenteil  wirkt  manchmal  reiz- 
voll. Aber  Dichtungen  erster  Ordnung  (Gedichte  der  Tiefe  im 
Unterschied  von  Gedichten  der  Oberfläche)  sind  streng  an  den 
Dichtern  selbst  zu  messen,  an  ihrer  Persönlichkeit  und  ihrem  Leben 
zu  prüfen.  Wer  will  Verherrlichung  von  Mut  und  männlichem 
Trotz  aus  dem  Munde  eines  Feiglings  oder  Schleichers?  Wer 
ein  Lied  auf  Mildtätigkeit  oder  Keuschheit  von  einem  verseschreiben- 
den Knicker  oder  einem  unzüchtigen,  schlüpfrigen  Roue? 

In  diesen  Staaten  wird  es  die  Poesie  über  alles  bisher  Dagewesene 
hinaus  mit  den  wirklichen  Tatsachen  zu  tun  haben,  mit  den  kon- 
kreten Staaten  und  —  denn  wir  sind  nicht  viel  weiter  als  am  An- 
fang —  mit  der  endgültigen  Ausgestaltung  der  Union.  Manchmal 
denke  ich  sogar,  sie  allein  wird  die  Union  gestalten  müssen  (d.  h. 
ihr  künstlerischen  Charakter,  Geistigkeit,  Würde  geben  müssen). 
Was  der  amerikanischen  Bevölkerung  am  gefährlichsten  ist,  das 
ist  das  Übermaß  von  Wohlstand,  Geschäft,  Weltlichkeit,  Mate- 
rialismus; was  am  meisten  fehlt,  in  Ost,  West,  Nord,  Süd,  das  ist 
ein  warmes  und  glühendes  Nationalgefühl,  ein  Patriotismus,  der 
alle  Teile  zu  einem  Ganzen  vereinigt.  Wer  anders  kann  jene  Ge- 
fahr in  Zukunft  abwehren,  diesen  Mangel  ausfüllen,  als  eine  Klasse 
erhabenster  Dichter? 

Obgleich  die  Vereinigten  Staaten  noch  keine  Dichter  von  irgend- 
wie überragender  Größe  hervorgebracht  haben,  so  importieren, 
drucken  und  lesen  sie  doch  mehr  Poesie  als  eine  gleich  große 
Anzahl  Menschen  sonstwo  — ja  wahrscheinlich  mehr  als  die  ganze 
übrige  Welt  zusammengenommen. 

Die  Poesie  ist  (wie  eine  große  Persönlichkeit)  die  Frucht  vieler 
Generationen  —  des  seltenen  Zusammentreffens  vieler  Umstände. 

Um  große  Dichter  zu  haben,  braucht  es  auch  eine  große  Zu- 
hörerschaft. 


,67 


Darwinismus 


—  dann  Weiteres 


Durch  die  vorgeschichtlichen  Zeiten  bis  herein  in  die  Morgen- 
dämmerung unserer  Überheferungen,  die  Theologie  begründend, 
die  Literatur  durchdringend  und  so  immer  weiter  verbreitet,  er- 
scheinen die  ehrwürdigen  Ansprüche  auf  Abstammung  von  Gott 
selbst  oder  von  Göttern  und  Göttinnen,  auf  Abkunft  von  gött- 
lichen Wesen,  die  größere  Schönheit,  Gestalt  und  Macht  besaßen 
als  wir.  (Dieser  Glaube  bildet  gewissermaßen  Wirbelsäule  und 
Mark  aller  antiken  Rassen  und  Länder,  Ägyptens,  Indiens,  Griechen- 
lands, Roms,  Chinas,  Judäas  usw.,  und  gibt  ihrer  Kunst,  Dichtung 
und  Politik  wie  auch  ihrem  Kirchenwesen  (von  all  dem  haben 
wir  mehr  oder  weniger  geerbt)  Form  und  Farbe.  In  der  neuesten 
Zeit  aber  lehrt  diejenige  Abstammungstheorie,  die  die  tiefste  Wir- 
kung ausgeübt  zu  haben  scheint  (in  seltsamem  Gegensatz  zur  an- 
tiken), daß  wir  von  Affen,  von  Pavianen  herkommen  und  uns  aus 
ihnen  entwickelt  haben,  —  eine  Theorie,  deren  indirekte  Wirkungen 
oder  Konsequenzen  vielleicht  wichtiger  sind  als  sie  selbst.  (Diese 
zwei  Theorien,  so  grundverschieden  sie  zu  sein  scheinen  und  so 
heftig  ihre  widerstreitenden  Fürsprecher  heute  einander  bekämpfen, 
—  ließen  sie  sich  nicht  vielleicht  miteinander  versöhnen,  ja  sogar 
verschmelzen?  Können  wir  denn  eine  davon  entbehren?  Besser 
noch:  wird  sich  nicht  aus  beiden  noch  eine  dritte,  die  wahre,  oder 
eine  die  wahre  andeutende  Theorie  herausbilden?) 

Die  alte  Theorie  von  der  Evolution,  wie  sie  von  Darwin  mit 
verdreifachter  W^ucht,  mit  wahrhaft  alles  absorbierenden  Ansprüchen 
neu  aufgestellt  worden  ist,  enthält  so  viel  und  ist  so  notwendig  als 
Gegengewicht  gegen  den  noch  weitverbreiteten  und  unsagbar  zähen, 
entnervenden  Aberglauben,  —  sie  ist  von  dem  neuen  Mann  in  so 
großartigen,  bescheidenen,  wahrhaft  wissenschaftlichen  Folgerungen 
ausgeprägt  worden,  daß  die  Welt  ethischer  und  physikalischer 
Forschung  durch  das  Erscheinen  des  Darwinismus  in  ihren  Speku- 
lationen schließlich  vervollkommnet  und  erweitert  werden  muß. 
Und  doch  ist  das  Problem  des  menschlichen  und  sonstigen  Ur- 
sprungs der  Lösung  um  keinen  Zoll  näher  gekommen.  Mit  der 
Zeit  wird  die  Evolutionstheorie  ihre  Heftigkeit  mildern  müssen, 
sie  darf  nicht  alles  andere  beherrschen,  sie  wird  ihren  Platz  als 
ein  Segment  des  Kreises,  der  ganzen  Masse,  einnehmen  müssen, 


168 


als  nur  eine  von  vielen  Theorien,  von  vielen  Ideen  tiefsten  Gehalts,. 
—  sie  wird  vieles  zu  berichtigen  und  zu  differenzieren  haben  und 
doch  die  göttlichen  Geheimnisse  ebenso  unerklärlich  und  unerreich-- 
bar  lassen  wie  zuvor,  —  vielleicht  noch  mehr. 

Dann  Weiteres 

Was  letzten  Endes  von  Priestern  oder  Dichtern,  und  nur  von 
Priestern  oder  Dichtern  vollbracht  werden  muß,'  —  trotz  all  der 
erstaunlichen  und  blendenden  Errungenschaften  unseres  Jahr- 
hunderts, dem  Auftreten  Amerikas,  der  Naturwissenschaft  und 
der  Demokratie,  —  das  bleibt  nach  wie  vor  unentbehrlich,  nach 
allen  Leistungen  der  großen  Astronomen,  Chemiker,  Linguisten, 
Historiker,  Forscher  und  der  wunderbaren  deutschen  und  sonstigen 
Metaphysiker  in  den  letzten  hundert  Jahren  —  und  es  wird  ein  Be- 
dürfnis bleiben,  hier  in  Amerika  genau  so  wie  in  der  Welt  Europas 
oder  Asiens  vor  hundert,  tausend  oder  mehreren  tausend  Jahren,  — 
ich  glaube  sogar,  es  wird  notwendiger  sein  als  je,  um  unseren 
heutigen  Anschauungen  Ausdruck  zu  verleihen,  aus  dem  erweiterten 
Hintergrund  und  dem  unbeschreiblich  größeren  Ausblick  der  Jetzt- 
zeit heraus.  Einzig  den  Priestern  und  Dichtern  der  Neuzeit,  die 
mindestens  ebenso  erhaben  sind  wie  die  der  Vergangenheit,  ist  es 
in  der  Tat  vorbehalten,  die  Ergebnisse  der  Vergangenheit,  der  Ge- 
meinschaft aller  Menschen  und  Zeiten  in  sich  aufzunehmen,  zu 
würdigen  und  das  alte  Metall,  das  bereits  gestaltete  Material,  um- 
zugießen in  neue  zeitgemäße  Formen  und  Bildungen.  (Die  Haupt- 
resultate sind  bereits  gegeben,  denn  es  gibt  vielleicht  nichts  Neues, 
jedenfalls  nicht  viel  eigentlich  Neues,  nur  wichtigere  moderne  Kom- 
binationen und  neue  entsprechende  Anpassungen.) 

Mittlerweile  warten  die  höchsten  und  feinsten  und  umfassendsten 
Wahrheiten  der  modernen  Wissenschaft  —  wie  auch  die  Demo- 
kratie —  auf  ihre  wahre  Aufgabe  und  die  letzten  lebendigen  Licht- 
blitze durch  große  Metaphysiker  und  spekulative  Philosophen,  die 
die  Fundamente  und  Grundlagen  bauen  für  jene  neuen,  umfassen- 
deren, harmonischeren,  melodischeren,  freieren  amerikanischen 
Dichtungen. 


169 


Unser  wirklicher  Höhepunkt 

Der  Höhepunkt  in  der  Entwicklung  dieser  großen  und  viel- 
gestaltigen Republik  wird  in  der  Schaffung  und  dauerhaften  Be- 
gründung von  Millionen  behaglicher  Stadtheimstätten  und  mäßig 
großer  Farmen  bestehen,  gesund  und  unabhängig,  in  abgesondertem 
Einzelbesitz  mit  Eigentumsrecht,  wohlfeil  versorgt  mit  allem,  was 
man  zum  Leben  braucht,  und  für  alle  erwerbbar.  Außergewöhn- 
licher Reichtum,  Prunk,  zahllose  Industrien,  ein  Übermaß  von  Export, 
Riesenkapitale  und  -kapitalisten,  vollbesetzte  Fünf-Dollar-Hotels, 
künstlicher  Komfort,  ja  selbst  Bücher,  Universitäten  und  das  Wahl- 
recht —  all  das  bildet  an  sich,  in  mancher  Hinsicht  (so  hart  es 
auch  klingen  mag,  und  scharf  wie  das  Messer  eines  Chirurgen), 
mehr  oder  weniger  eine  Art  antidemokratischer  Krankheit  und 
Ungeheuerlichkeit  und  scheint  mir  in  der  Hauptsache  nur  von 
Wert  oder  von  Bedeutung  zu  sein,  sofern  es  zu  jenem  Höhepunkt 
Beziehungen  bat  und  auf  seltsamen  Umwegen  dazu  beiträgt,  daß 
er  erreicht  wird. 

In  dem  gewöhnlichen  Erdboden,  in  Getreide,  Vieh,  Luft,  Bäumen 
usw.  und  darin,  daß  man  aas  erster  Hand  mit  ihnen  zu  tun  hat, 
liegt  ein  subtiles  Etwas,  das  das  einzige  reinigende  und  dauernde 
Element  für  Individuen  und  Gesellschaft  bildet.  Ich  muß  gestehen, 
es  wäre  mein  W^unsch,  daß  in  Amerika  die  Beschäftigung  mit  der 
Landwirtschaft  aus  erster  Hand  immer  allgemeiner  würde.  Ihre 
Erträge  sind  die  einzigen,  auf  denen  das  Lächeln  Gottes  zu  ruhen 
scheint.  Welche  anderen  —  welches  Geschäft,  welcher  Profit  und 
Reichtum  ist  ohne  Makel?  Welche  Glücksgüter  sonst  sind  nicht,  in 
jedem  Dollar,  mehr  oder  weniger  Zeichen  und  Frucht  von  Betrug, 
Lüge,  Unnatur? 


AUS  „NOVEMBERZWEIGE« 
UND  „ADE,  PHANTASIE« 


Die  Arbeitslosen-  und  Streikfrag^e 

Zwei  grimmige  und  gespenstische  Gefahren  —  gefährlich  für 
Frieden,  Gesundheit,  Fortschritt  und  soziale  Sicherheit,  den 
Regierungen  der  Alten  Welt  längst  leibhaftig  bekannt,  denn  sie 
spielten  dort  mehr  als  einmal  bei  dynastischen  Umstürzen,  Blut- 
bädern, in  Tagen  und  Monaten  des  Schreckens  eine  Rolle,  — 
scheinen  sich  seit  einigen  Jahren  der  Neuen  Welt  zu  nähern,  ja 
sich  allmählich  bei  uns  einzunisten.  Was  wollen  diese  Phantome 
hier?  (Ich  personifiziere  sie  in  dichterischer  Form,  aber  sie  sind 
sehr  real.)  Soll  das  frische  und  weite  Gebiet  Amerikas  ihnen  auch 
Standort  und  Herberge  und  dauernden  Wohnsitz  geben? 

Was  im  Untergrunde  der  ganzen  politischen  Welt  heute  am 
meisten  drängt  und  verwirrt  und  die  wichtigsten  Folgen  für  die 
Zukunft  hat,  ist  nicht  die  abstrakte  Frage  dei'  Demokratie,  sondern 
die  Frage  sozialer  und  wirtschaftlicher  Organisation,  die  Behand- 
lung der  Arbeiter  durch  die  Arbeitgeber  und  alles,  was  hier  her- 
einspielt —  nicht  nur  die  Lohnfrage,  sondern  ein  gewisser  Geist 
und  ein  gewisses  Prinzip,  wodurch  die  Verhältnisse  neu  belebt 
werden  müssen  — ,  alle  die  Fragen  von  Fortschritt,  Leistungsfähig- 
keit, Tarif,  Finanzen  usw.,  die  in  Wirklichkeit  mehr  oder  weniger 
direkt  aus  der  Armutsfrage  hervorgehen.  Ich  will  zunächst  den 
Leser  auf  einen  Gedanken  über  diese  Angelegenheit  aufmerksam 
machen,  der  ihm  bisher  vielleicht  noch  nicht  zum  Bewußtsein  ge- 
kommen ist:  —  Der  Reichtum  der  zivilisierten  Welt  im  Gegensatz 
zu  ihrer  Armut  —  woraus  ist  er  herzuleiten?  und  was  stellt  er 


171 


dar?  Ein  Reicher  sollte  eigentlich  einen  guten  Magen  haben.  Wie 
in  Europa  der  Reichtum  von  heute  in  der  Hauptsache  das  Ergebnis 
und  die  Frucht  ist  von  Raub,  Mord,  Gewalttat,  Verrat,  Habgier 
vergangener  Jahrhunderte  und  immer  so  fort,  so  auch  in  Amerika, 
unter  demselben  Zeichen  —  (vielleicht  noch  nicht  so  schlimm  oder 
wenigstens  nicht  so  fühlbar;  —  wir  existieren  noch  nicht  lange  genug, 
aber  wir  tun  offenbar  alles,  um  Europas  Vorsprung  einzuholen). 

So  seltsam  es  klingt,  gerade  in  den  sogenannten  ärmlichsten, 
niedrigsten  Charakteren  wird  man  zuweilen,  nein  gewöhnlich, 
Lichtseiten  erhabenster  Tugenden,  Begabungen,  Heroismen  finden. 
Es  ist  also  zweifelhaft,  ob  der  Staat  in  den  langen,  einförmigen 
Zeiten  der  Entwicklung  oder  in  furchtbaren  besonderen  Krisen 
nur  durch  seine  guten  Bürger  erhalten  wird.  Wenn  der  Sturm 
am  tödlichsten  und  die  Krankheit  am  drohendsten  ist,  kommt  die 
Hilfe  oft  aus  merkwürdigen  Gegenden  —  (man  erinnere  sich  an 
den  homöopathischen  Spruch:  „Heile  den  Biß  mit  einem  Haar  vom 
selben  Hund")  .  .  . 

W^enn  auch  die  Vereinigten  Staaten,  ebenso  wie  die  Länder  der 
Alten  Welt,  große  Massen  von  Armen,  Verzweifelten,  Unzufriede- 
nen, Heimatlosen,  Schlechtbezahlten  hervorbringen  sollten,  wie  es 
uns  seit  einigen  Jahren  zu  drohen  scheint,  die  stetig,  wenn  auch 
langsam,  sich  in  sie  hineinfressen  wie  ein  Krebs  in  Magen  und 
Lungen,  —  dann  ist  unser  republikanisches  Experiment  trotz  all 
seiner  äußeren  Erfolge  im  Kern  nicht  lebensfähig  und  ein  Fiasko. 

Februar  1879. 

Ich  sah  heute  ein  Bild,  das  ich  noch  nie  zuvor  gesehen  habe,, 
und  es  bestürzte  mich  und  machte  mich  ernst.  Drei  recht  statt- 
liche amerikanische  Männer  von  ehrbarer  Erscheinung,  zwei  davon 
jung,  trugen  Lumpensäcke  auf  den  Schultern  und  die  üblichen 
langen  Eisenhaken  in  den  Händen  und  trotteten  die  Straße  entlang, 
die  Augen  auf  den  Boden  gerichtet,  um  nach  Brocken,  Lumpen, 
Knochen  usw.  zu  spähen. 

Wer  bekommt  die  Beute? 

Die  Protektionisten  blenden  die  Augen  des  Publikums  gern  mit 
der  glänzenden  Vorspiegelung  grof3er  Einkünfte  aus  Industrie, 


172 


Bergbau,  künstlich  hochgetriebenem  Export:  so  viele  Millionen  aus 
dieser  Quelle  und  so  viele  aus  jener,  —  welch  verführerisches,  un- 
widerlegliches Lockbild:  ein  ungeheurer  jährlicher  Barertrag  aus 
Eisen-,  ßaumwoll-,  Woll-,  Lederwaren  und  hundert  anderen 
Dingen,  alles  aufgepäppelt  durch  „Schutzzoll"!  Aber  der  wirklich 
wichtige  Punkt  bei  all  dem  ist:  in  wessen  Taschen  fließt 
diese  Beute  eigentlich?  Es  würde  einige  Entschuldigung  und 
Befriedigung  gewähren,  wenn  auch  nur  ein  angemessener  Teil  den 
Arbeitermassen  zugute  käme,  —  wenn  daraus  Heimstätten  für 
Männer,  Frauen  und  Rinder  entstünden,  Myriaden  wirklicher 
Heimstätten  mit  Eigentumsrecht  in  jedem  Staat,  —  nicht  das  täu- 
schende Geschrei  von  dem  erstaunlichen  Reichtum,  wie  er  in  Zen- 
sur, Statistik  und  Zeitungslisten  prangt,  sondern  eine  ehrliche  Ver- 
teilung und  ein  anständiger  Durchschnitt  für  Arbeiter  und  Arbei- 
terinnen: —  das  wäre  etwas.  In  Wahrheit  ist  es  aber  ganz  anders. 
Den  Profit  vom  „Schulzzoll"  haben  nur  ein  paar  Dutzend  Bevor- 
zugte, die  durch  Protektion  von  Kongreß,  Landtag,  Banken  und 
durch  andere  Sondervorteile  eine  vulgäre  Aristokratie  bilden,  genau 
so  schlimm  wie  die  englischen  und  kontinentalen  Adelskasten  oder 
Dynastien  der  Vergangenheit.  Wie  Sismondi  gezeigt  hat,  besteht 
das  wahre  Gedeihen  eines  Volkes  nicht  in  dem  großen  Reichtum 
einer  einzelnen  Klasse,  sondern  kann  nur  verwirklicht  werden, 
wenn  die  große  Masse  des  Volkes  mit  Heimstätten  und  Land  ver- 
sorgt wird,  an  denen  es  Eigentumsrecht  hat.  Das  mag  nicht  das 
glänzendste  Schauspiel  sein,  aber  es  ist  die  beste  Wirklichkeit. 


Führer  aus  dem  wirklichen  Volk 

.  .  .  Keine  Gemeinschaft  von  Männern  ist  fähig,  Präsidenten, 
Richter  und  Heerführer  zu  ernennen,  wenn  sie  nicht  aus  sich  selbst 
heraus  die  besten  Muster  hervorbringen  kann;  und  bringt  sie  ein 
oder  zwei  solcher  Muster  hervor,  so  ist  die  ganze  Gemeinschaft 
dadurch  auf  tausend  Jahre  ausgezeichnet.  Ich  hoffe  eine  Zeit  zu 
erleben,  wo  alles,  was  so  aussieht,  wie  unser  jetziges  Personal  von 
Regierungsbeamten, —  ünions-,  Staats-,  Stadt-,  Militär-  und  Marine- 
beamten, —  nur  noch  zum  Gespött  dient,  und  wo  bewährte  Hand- 
werker und  junge  Männer  in  den  Kongreß  und  zu  anderen  amt- 
lichen Stellungen  berufen  werden,  im  Arbeitsanzug,  frisch  von 


173 


Hobelbank  und  Werkzeug  wegf,  wohin  sie  wieder  in  Ehren  zurück- 
kehren. Die  jungen  Männer  müssen  sich  darauf  vorbereiten,  einer 
solchen  Bestimmung  Ehre  zu  machen,  denn  das  Zeug  dazu  haben 
sie.  Nichts  anderem,  das  bedenke  man,  gebührt  je  der  Vorrang, 
als  blanker  Überlegenheit. 

In  den  Handwerkern  und  jungen  Männern  Amerikas  steckt 
gegenwärtig  mehr  rauhe  und  unentwickelte  Tüchtigkeit,  Kamerad- 
schaftsgefühl, Pflichttreue,  klarer  Blick  und  praktische  Begabung 
für  jede  Art  von  Tätigkeit,  selbst  die  höchste  und  umfassendste, 
als  unter  all  unseren  Staatsbeamten  in  Legislative,  Exekutive, 
Rechtsprechung,  Heer  und  Flotte  und  auch  mehr,  als  unter  allen 
literarischen  Persönlichkeiten.  Es  wäre  mir  eine  große  Freude, 
wenn  ich  irgendeinen  heroischen,  klugen,  wohlunterrichteten,  ge- 
sunden, bärtigen  amerikanischen  Grobschmied  oder  Schiffer  mittle- 
ren Alters  sehen  würde,  der  vom  Westen  her  über  die  Alleghanies 
käme  und  die  Präsidentschaft  anträte,  mit  einem  reinlichen 
Arbeitsanzug  bekleidet,  Gesicht,  Brust  und  Arme  gebräunt.  Ich 
würde  sicher  einem  solchen  Manne,  der  die  erforderlichen  Eigen- 
schaften besäße,  vor  jedem  anderen  Kandidaten  meine  Stimme 
geben. 

Daß  Arbeiter  und  Handwerker  von  ihrem  Beruf  weg  —  Lincoln, 
Johnson,  Grant,  Garfield  —  aus  den  Massen  emporgehoben  wur- 
den, die  Präsidentschaft  übernahmen  und  die  gewaltige  Macht  des 
Amtes  mit  fester  Hand  ausübten,  tatsächlich  mit  größerer  Kraft 
und  Tüchtigkeit  als  irgendein  König  der  Geschichte:  —  erkennen 
wir  nicht,  daß  diese  Tatsachen  eine  Bedeutung  haben,  weit,  weit 
über  politische  und  Parteiinteressen  hinaus? 

Letzte  Aufzeichnungen 

Auf  ihrer  höchsten  Warte  und  in  ihren  erhabensten  Schöpfungen 
ist  echte  Poesie  der  Ausdruck  und  die  Begleiterscheinung  echter 
Religion,  —  war  und  ist  eine  bessere  Helferin  wahrer  Religion  und 
hat  sie  mehr  gefördert  (es  gibt  natürlich  auch  eine  falsche,  und  mehr 
als  genug)  als  alle  Priester  und  Glaubensbekenntnisse  und  Kirchen, 
die  heute  existieren  oder  jemals  existiert  haben,  —  trotzdem  die 
heutzutage  herrschende  Theorie  und  Praxis  der  Poesie  ganz  ein- 
seitig und  nur  ornamental  und  elegant  ist,  —  ein  Liebesseufzer,  ein 


•74 


Juwel,  eine  feudalistische  Liebhaberei,  eine  geistreich  ersonnene 
Geschichte  oder  eine  intellektuelle  Finesse,  angepaßt  dem  niedrigen 
Geschmack  und  Maßstab,  der  immer  so  ziemlich  allgemein  gelten 
wird  —  (notwendige  Vorstufe  zu  etwas  Höherem), 

★ 

Alle  die  Sekten,  Kirchen  und  Doktrinen,  Tollheiten,  Verbrechen, 
Fanatismus  der  Masse  und  der  Einzelnen,  so  häufig  in  aller  Ge- 
schichte, sind  in  ihrer  Art  ebenfalls  Beweise  von  der  Ursprünglich- 
keit und  Allgemeinheit  des  unzerstörbaren  Elementes  menschlicher 
Religiosität  und  sind  nur  die  Kehrseite  davon.  Genau  so  wie 
Krankheit  der  Beweis  der  Gesundheit  und  ihre  Kehrseite  ist  .  .  . 
Die  Philosophie  Griechenlands  lehrte  die  Natürlichkeit  und  Schön- 
heit des  Lebens.  Das  Christentum  lehrt  Krankheit  und  Tod  er- 
dulden. Ich  habe  mich  besonnen,  ob  sich  nicht  eine  dritte  Philo- 
sophie entwerfen  ließe,  die  beide  verschmelzen  und  beiden  völlig 
gerecht  werden  würde. 

★ 

Die  Natur  schien  mich  lange  Zeit  zu  gebrauchen,  —  als  ich  selbst 
gesund,  tüchtig,  stark  und  glücklich  war,  —  damit  ich  Kraft,  Frei- 
heit, Gesundheit  darstelle.  Seit  einiger  Zeit  aber  scheint  sie  zu 
glauben,  ich  könne  das  alles  vielleicht  besser  sehen  und  verstehen, 
wenn  ich  dessen  größtenteils  beraubt  wäre 

★ 

Wie  schwierig  ist  es,  die  Literatur  mit  irgend  etwas  Neuem  zu 
bereichern  —  und  wie  unbefriedigend  für  einen  ernsten  Geist,  nur 
dem  Vergnügen  der  Menge  zu  dienen!  (Es  scheint  mir  sogar,  sagte 
H.  Heine,  erfrischender,  etwas  Schlechtes  zu  vollbringen,  als  etwas 
Nichtiges.) 

★ 

Der  Höchste  sagte:  Laß  uns  nicht  so  weit  unten  beginnen,  —  ist 
unser  Grund  nicht  zu  rauh,  zu  grob?  —  Die  Seele  antwortete: 
Nein,  nicht,  wenn  wir  bedenken,  wozu  das  alles  dient,  —  das  Ziel, 
in  Raum  und  Zeit  verborgen. 

★ 


176 


Im  Grande  sind  meine  Veröffentlichungen,  alle  meine  Werke, 
zweifellos  nur  Stegreifäußerungen  spontaner  Persönlichkeit,  blind- 
lings dem  unerforschlichen  Rufe  folgend,  von  dieser  Persönlichkeit 
beherrscht  —  nur  undeutlich,  doch  entschieden  —  und  fast  ohne 
alle  Planmäßigkeit,  Kunst,  Bildung  usw.  Wenn  ich  mich  ent- 
schlossen habe,  die  Zügel,  die  Leitung  in  der  Hand  zu  behalten, 
so  geschah  es  hauptsächlich,  um  den  unsichtbaren  Rossen  die 
Richtung,  den  Antrieb,  den  Weg  zu  geben.  (Ich  wollte  sehen,  wie 
ein  Mensch  in  Amerika  in  der  letzten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts 
erscheinen  würde,  aber  ganz  frei  und  ehrlich,  in  wahrhaftigem 
Abbild.) 


INHALT 


Einleitung   IX 

Vorbemerkung   i 

Vorrede  zur  Erstausgabe  der  „Grashalme"   3 

Demokratische  Ausblicke   20 

Tagebuch  1862— 1864   88 

Tagebuch  1876— 1882   100 

Gesammeltes 

Aus  der   Vorrede    zu:    „Wie   ein   starker    Vogel  auf 

Schwingen  frei"   i56 

Eine  Notiz  auf  gut  Glück   l58 

Emersons  V^erke  (ihre  Schatten)   162 

Neue  Poesie  —  Kalifornien,  Kanada,  Texas    .    .  i65 

Darwinismus  —  dann  Weiteres   168 

Dann  Weiteres   169 

Unser  wirklicher  Höhepunkt   170 

Aus  „Novemberzweige"  und  „Ade,  Phantasie" 

Die  Arbeitslosen-  und  Streikfrage   171 

Wer  bekommt  die  Beute   172 

Führer  aus  dem  wirklichen  Volk   178 

Letzte  Aufzeichnungen   174 


Druck    der    S  p  a  m  e  r  s  c  h  e  n    B  u  c  h  d  r  u  c  k  e  r  e  i    i  u  Leipzig 


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