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Wolfstieg
Ursprung und Entwicklung
der
Freimaurerei
Erster Band
Ursprung und Entwicklung
der
Freimaurerei
Ihre geschichtlichen^ sozialen
und geistigen Wurzeln
Von
August VC^olfstieg
In drei Bänden
L: Die allgemeine Entwicklung der Politischen,
Geistigen, Sozialen und WirtschaftlichenVer-
hältnisse
IL: Das Baugewerbe in England und die Brüder-
schaft der Steinmeti^en
III.: Die Ausbreitung des Londoner Systems der
Freimaurexei
Erster Band
Berlin
Verlag von Alfred Unger
Die
Allgemeine Entwickltmg
der
Politischen, Geistigen, Sozialen
und
Wirtschaftlichen Verhältnisse
vom Xm. bis zum XVIII. Jahrhwidert,
vornehmlich in England
Von
August Wolfstieg
Berlin
Verlag von Alfred Unger
Beabsichtigt ist ein Ergänzungsband:
^Die geistigen Werte der Freimaurerei**
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1920 by Alfred Unger, Berlin
Dniek von Gerhard Stalling, Oldenburg 1. O.
Inhalt
Kapitel 1.. Seite
Übersicht über die englische Geschichte im
Mittelalter:
1. Die Angelsachsen 1
2. Die Normannen 3
3. Das Zeitalter der Eduards und Richards II 6
4. Der Kampf der weißen und der roten Rose 12
5. Das Haus York 17
6. Verfassungsgeschichte 18
Kapitel 2,
Die staatliche Entwicklung unter den Tudors:
1. Heinrich VII 20
2. Heinrich VIII 24
3. Die Kinder Heinrichs VIII P?
4. Verfassungsgeschichte 33
Kapitel 3.
Die staatliche Entwicklung unter den Stuarts:
1. Das Haus Stuart 35
2. Jacob 1 35
3. Kari I 38
4. Die Revolution 39
5. Baugeschichte 41
6. Karl 11 43
7. Jacob IL .... • 46
8. Wirtschaftsgeschichte 47
Kapitel 4.
Nach der glorreichen Revolution, Thronbesteigung des
Hauses Hannover:
1. WÜhehn EI 50
2. Anna und das Haus Hannover 52
VI Inhalt.
Kapitel 5. Sehe
Die geistige Entwicklung Englands bis zur Reformation:
»
1. Einleitung 55
2. Der Universalienstreit 58
3. Roger Bacon 60
4. Die Lollarden und Wiclif 61
5. Die Renaissance 68
6. Die Reformation 69
7. Die Toleranz 73
Kapitel 6.
Die Aufklärung in England:
1. Einleitung 75
2. Die Naturwissenschaft 78
3. Die praktische Richtung 91
4. Die Vertiefung des Lebens 95
Kapital 7.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten:
1. Allgemeines 103
2. Das Freidenkertum 112
3. Die Libertiner und Atheisten 116
4. Shaftesbury und die Moralisten 120
5. Die moralischen Wochenschriften 124
6. Die Geheimen Gesellschaften 125
7. Festländische Einflüsse 133
8. Die Kölner Urkunde, die Steinmetzen und die Johannes-Brüder-
schaften ' 135
9. Die auf gefreiten Steinmetzen in Deutschland .... .147
10. Die Sprachgesellschaften 156
11. Die Orden 166
12. Schluß 177
Kapitel 8.
Die wirtschaftliche Entwicklung, vornehmlich Englands:
1. Einleitung ...'.... 178
2. Handel und Handwerk 179
3. Arbeiter und Kapitalisten 183
4. Verfassungskämpfe 188
5. Der Lehrling 194
6. Gesellen und Meister 197
7. Ungelernte Arbeiter 200
8. Arbeiter- (Gesellen-) Verbände 202
Inhalt. Vn
Kapitel 9. Seite
Die Handwerker-Verbände:
1. Vorbemerkungen 209
2. Die Brüderschaften 213
3. Die Gilden 216
4. Die Handwerkerzünfte 231
5. Entartung der Zünfte 246
Kapitel 10.
Die Einziehung der Kirchengüter und die Reform
der Brüderschaften:
1. Das Gesetz von 1545 249
2. Das Gesetz von 1547 251
3. Die Folgen des Gesetzes 252
4. Das Problem 255
Vorwort-
Nach den großen, die ganze deutsche Maurerwelt auf-
regenden und die K, K. sehr schädigenden Streitigkeiten
aber die freimaurerische Geschichtsforschung, welche- sich
zwischen meinen beiden, nun heimgegangenen Brüdern
uüd Freunden, dem Schuldirektor Dr, Begemann und dem
Geh. Archivrat Dr> Keller, seit 1905 erhoben und jahre-
lang andauerten, glaubte ich schließlich insofern in ver-
söhnlich gemeintem Sinne eingreifen zu müssen, als ich durch
einen Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern (1911 Bd. 1
S. 532 ff.) zunächst erst einmal den Versuch machte, den Gang
der geistesgeschichtlichen Methode festzustellen. Leider
wurden diese Ausführungen von beiden Seiten nur wider-
willig und, wie mir scheint, nur mit halbem Verständnisse
aufgenommen; die Arbeit befriedigte *nur einzelne Außen-
stehende. Begemann polemisierte sogar in der Vorrede zu
seiner „Vorgeschichte und Anfänge der Freimaurerei in Schott-
land'* sehr scharf gegen den Aufsatz, ohne allerdings m. E, den
Kern der Sache zu treffen. Dieser besteht in einem doppel-
ten Problem: einmal in der Beantwortung der Frage, ob
es bei geistesgeschichtlichen Forschungen genügt, sich auf
eine philologisch-historische Interpretation der sorgsam zu-
sammengebrachten, aber doch nur zufällig erhaltenen und
oft wissentlich entstellten Akten und Überbleibsel zu be-
schränken (induktive Methode), indem man dabei alle auf
deduktivem und spekulativem Wege gefundenen Schlüsse aus
den geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Strömungen der
Epochen geflissentlich beiseite läßt, oder müssen diese
Strömungen selbst als gleichwertige Geschichtsquellen be-
X Vorwort.
trachtet und sorgfältig beachtet, ja vor den zufälligen
Niederschlägen und Reliquien bevorzugt werden (deduktive,
spekulative bzw. induktiv-deduktive Methode); zweitens
in der Beantwortung der Frage, ob es angängig ist, einen
Akt geistesgeschichtlicher Gestaltung, wie etwa die Ent-
stehung des Christenttuns, das Auftreten der Scholastik, die
Geschichte der Freimatu-erei u. dgl. isoliert zu betrachten,
oder ob man ihn nicht vielmehr mitten hineinstellen muß
in die bewegenden Ideen des Zeitalters, deren vereinzelter
Ausfluß er doch zu sein scheint, und von denen er, wenn
nicht hervorgerufen, so doch mindestens auf alle Fälle stark
beeinflußt worden ist. Alle führenden Männer, selbst der
Weise von Nazareth, sind nur Kinder ihrer Zeit. Wer etwa
im Zeitalter des Deismus gelebt hat, atmete gleichsam diese
Luft, mochte er sie für gut oder schlecht, zuträglich oder
schädlich halten. Bewußt oder unbewußt, mit Eifer oder
Widerstreben beschäftigte jeder Gebildete sich damals mit
den Problemen, die diese Geistesbewegung mit sich brachte.
Ein Mann wie Anderson ist m. E. ohne den Deismus gar
nicht zu verstehn. Besonders die Freimaurer waren in aller-
erster Linie immer erst Mitglieder ihrer Geistesepoche und
dann erst Freimaurer. Die Generation arbeitete ungewollt
für sie mit und gestaltete mit ihnen ihr Idesd und das Ziel
und den Weg ihrer Arbeit, wie sie ihrerseits immer nur für
die Menschen ihrer Zeit und in deren Sinne wirkten. Nie
war ihr Streben, ihr Schaffen, die Auffassung von ihrer
Aufgabe, ihre Anschauung, der Betrieb ihrer Kunst gleich-
mäßig in den Abschnitten ihrer Geschichte. Ihre Wirksamkeit
änderte sich mit der Welt- und Lebensanschauung der Zeit-
genossen und gleicherweise ihre Ritualistik und die Auf-
fassung von ihrer teilweise erstarrten Symbolik. Nie ist die
Freimaurerei einer Geschichtsepoche gleich der der andern.
Ilavta psT heißt es auch hier. Darum erscheint der zufällige
Niederschlag der Kunde von derselben auch so unvoll-
kommen und ungenügend, deren Art, Intensität tmd Erfolg
zu erkennen, oft genug sogar falsch und irreführend, weil
Vorwort. XI
er Stehengebliebenes tmd nur Unverstandenes überliefert,
Neues und für die Folgezeit direkt Bestimmendes nicht
genügend bucht und verwertet. Wieviel Samen, aus dem
nachher ein gewaltiger, Früchte tragender Baum wurde,
hat man zwar ausgesäet oder durch günstigen Wind ver-
wehen lassen, aber gar nicht der Mühe für wert gehalten,
erst etwas über den Akt der Pflanzung zu notieren, wie
Vieles hat man entstellt, vergessen, ja mit Wissen und
Willen unter dem Einverständnisse Aller verschleiert und
verfälscht! Wenn irgendwo, so ist bei der Erforschung
der Geistesgeschichte der Satz falsch: quod non in actis,
non est in mimdo. Hier gilt es, der Zeit den Puls zu be-
fühlen, ihre Psychologie zu verstehen und von ihrer Ein-
' sieht und Ansicht aus Schlüsse auf das zu ziehen, was
unsere Väter mit der Begründtmg der K.K. wollten und
was sie in ihren Bauhütten trieben und erstrebten. Wer
in geistesgeschichtlichen Dingen eine gradlinige Entwick-
lung annimmt, täuscht sich; der Strom fließt in ewigen
Windungen, so starr auch seine Richttmg ist. Generation
für Generation, Epoche nach Epoche arbeitete nach eigener,
von der Epoche selbst beeinflußter Weise, sang ihre eigene,
nur ihr gemäße tmd gefällige Melodie. Es ist die Kunst
des Geschichtsschreibers, hier sehr hellhörig zu sein und
sein Anempfinden intuitiv dem anzupassen, was die Gene-
ration erreichen wollte. Dem gerade haben sich die alten
Freimaurer auch angepaßt, und dazu haben sie einst positiv
oder negativ ihrerseits Stellung genommen, meist ohne über-
haupt davon zu reden. Was von ihrer Anschauung und
ihrer Art zu arbeiten überliefert ist, ist oft genug entweder
verwischt und täuscht, oder es stammt aus den Federn
Fernstehender, die die Glocken läuten hörten, aber doch
nicht wußten, wo sie hingen und in welcher Tonart ihr
Dreiklang erschallte. Oft war es auch bei den Freimaurern
nur der Glaube, nicht die Tatsache, welche ihre Arbeit
leitete. Ob es eine Religion, „in welcher alle Menschen
übereinstimmen", je gab oder jemals geben wird, ist für
Xn Vorwort.
deren Bewertung in der Geschichte ganz gleichgültig; die
Leute — auch die Gebildeten unter ihnen, und vielleicht
gerade diese am meisten — haben doch an die Möglichkeit
einer solchen Religion geglaubt und sie herzustellen sich
bemüht, aber nicht mit unseren geübten kritischen Augen
des 20* Jahrhunderts darauf geschaut und darum auch nicht
erkannt, daß eine solche Religion der reine Dunst ist*
Das ist der methodische Fehler, den Begemann_ immer
wieder macht, daiß er von seinen „Tatsachen", wie die
Quellen sie überliefern, nicht lassen will, ja diese „Tat-
sachen" und ihre Interpretation noch bewußt auf das be-
schränkt, was die Freimaurerei allein angeht. Was kümmern
ihn die Lollarden, Wiclif , die Renaissance, der PuritanimuSi
die Rosenkreuzer-Bewegung und der Deismus! Fort mit
ihnen! Heraus mit den Protokollbüchem und den alten
Manuskripten, ganz gleich, ob diese je im Besitze einer
Loge und zu deren Gebrauche bestimmt waren oder nicht«
Was notieren diese denn? Oft Dinge, die sehr nichtig sind,
und diese noch falsch oder halb, während sie die wichtig-
sten Vorgänge stillschweigend übergehen und entstellen»
Wie oft sind solche „Privatakten" in Form und Inhalt
subjektiv beeinflußt, entstellt, formelhaft, schief, tendenziös,
zielstrebig; sie drücken nicht aus, was sie sollen, sondern
notieren das, mit dem sie eine bestimmte Wirkung hervor-
bringen wollen und so, daß sie diese gewollte Wirkung
unter Verschleierung der Absicht und des Endzweckes, ja
selbst von Tatsachen, hervorbringen; indem sie Legenden
bilden oder weiter tragen. Die Kritik ist da sehr schwer,*
oft ist der ganze Text, wenn auch alt und echt, doch für
die Feststelltmg der Wahrheit wertlos. Man darf sich oft
genug nicht an die „Akten" halten, wie Begemann das will.
Er weigert sich sogar, bestimmte Ausdrücke wie freemason,
craft, libertine usw. anders zu verstehn,' als philologisch
gebräuchlich ist, obgleich ihm doch als feststehend gelten
mußte, daß es sich hier in den Handschriften um technische
oder rein bundgemäße Ausdrücke handelt.
Vorwort. XIII
Worte sind Schall und Rauch und oft irreführend,
namentlich als technische Begriffe; mit demselben Worte
werden oft die heterogensten Dinge bezeichnet. Nur die
Erforschung der Geschichte und der gewerblichen Verhält-
nisse auf der Insel insbesondere des Gilden- und Zunft-
systems hätte ihn zu richtigem Verständnisse des Begriffes
z. B. „craft" führen können. Hätte Begemann mit Hilfe der
richtigen Interpretation solcher Ausdrücke den gewaltigen
Unterschied zwischen „Brüderschaft" und „Werkstatt-
Vereinigung", zwischen „Loge" vor der Aufhebung der
Brüderschaft (1547) und „Loge" nach Aufhebung derselben
vorher festgestellt, dann war allerdings seine mit soviel
Liebe festgehaltene und soviel Heftigkeit verteidigte Werk-
maurer-Hypothese ganz unmöglich«
Auf der anderen Seite ist aber auch ^^IJgrs, deduk-
tive und mit reichUd ier-Phantasie gehanmiabte Methode
der bloßen Intuition so grtmdverkehrt wie nur möglich,
weil sie den nach d<^ Quellen doch feststehenden Tat-
sachen im einzelnen Gewalt antut, die Urkunden also
meistert, statt sie auszuholen. Ging Begemann von der
Philologie aus, so daß er nie zu dem Resultate einer
Geschichte der Freimaurerei, sondern nur zu dem einer
philologischen Vorarbeit einer solchen Geschichte ge-
langen konnte, so ging Keller überall von der Archäologie
aus und geriet damit um so mehr in eine falsche Richtung,
als er mit der Zeit methodisch immer mehr übersichtig f
wurde und schließlich ixx jedem Nebel Elfenrei^en sah. #
Hätte man Begemann gefragt, ob er auf seinem Wege
nicht durch einen Wald gekommen sei, so hätte er die
Frage mit nein beantwortet: es waren da wohl allerlei
Bäume, Eichen, Buchen und Tannen, und die habe ich alle
einzeln untersucht auf Wurzel, Stamm, Blätter und Blüten,
aber ein Wald war da nicht. Und Keller sah überall den
Wald, wo auch nur drei Bäume und ein paar Büsche zu-
sammenstanden. Beider Forschungen konnten also auch
niemals ein richtiges Bild von der Entstehung und Ent-
XIV Vorwort.
Wicklung der Freimaurerei ergeben, soviel schöne tmd
wertvolle Entdeckungen Begemanns scharfe kritische Inter-
pretation und Klassifikation und Kellers sichere Ahnung
auch zutage gefördert haben; darin besaßen beide Freunde
eine wirklich großartige Begabung. Aber Kellers Mangel
an rein objektiver Kritik der Quellen, die teilweise so weit
ging, daß er, obgleich Archivar von Beruf, echte Urkunden
von Fälschungen nicht zu unterscheiden vermochte, seine
Freude am bunten Bilde der Entwicklung, sein Eifer, Neu-
land zu suchen und zu finden, führten ihn doch oft weit
in die Irre. Eine dritte, jetzt auch verwendete falsche
Methode ist die rein spekulative, welche sich nur auf die
Interpretation der Symbole und des philosophischen Ge-
dankeninhalts der Freimaurerei verlassen möchte. So schöne
und wirklich auf der Höhe stehende Ausblicke unter der
Führung eines geistreichen Mannes diese Art Geschichte
zu schreiben auch ergibt, so werden die Resultate der
Arbeit doch zu unsicher und zu einseitig, als daß sie für
befriedigend angesehen werden könnten. Erst die Ver-
einigung aller drei Methoden, wie sie Kloß und Sonnen-
kalb verwendet haben, kann uns vorwärts bringen und muß
zu einem richtigen Bilde von der geschichtlichen Entwick-^
lung unserer Königlichen Kunst führen.
Iqh hatte zunächst nur die Absicht, mich mit längeren
theoretischen Auseinandersetzungen vorstehender Art,.
ev. erläutert durch angehängte oder eingelegte Beispiele,
zu begnügen; allein verschiedene Umstände brachten,
den Entschluß zum Reifen, ein Bild des Ganzen der Ent-
wicklung der Freimaurerei innerhalb des Rahmens der
Geistes-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Jahrhunderte
zu entwerfen, wozu Manches mich zu ermuntern schien«
Ich war mir dabei der Schwierigkeit der Unternehmung
und meiner unzulänglichen Kräfte für eine solche Aufgabe
voll bewußt, aber der Versuch mußte nun irgendwo doch
einmal gemacht werden; ich glaubte sogar, die Pflicht zu
einem solchen Versuche zu haben, weil ich aus Freund-
Vorwort. XV
schalt mich in den Streit Begemanns und Kellers geworfen
hatte. Ich hörte gleichsam die beiden heimgegangenen
Freunde rufen: Mach's be sser, wenn du kannst; versuch
es nur einmal, " dann wirst du schon sehn, wie -^ ele und
große Schwierigkeiten du auf deinem Wege und bei deiner
Arbeit finden wirst. Ob der Versuch, die Geschichte der
Freimaurerei unter Zugrundelegung der neueren For-
schungen in die Geistes-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
hineinzuzeichnen und ihren Verlauf und ihre Motive auf
diesem Hintergrunde deutlicher zu machen, nun geglückt
istf das zu beurteilen, muß ich dem Leser überlassen.
Wahrscheinlich war ich nur allzu kühn«
.Natürlich fielen auch die schweren Zeiten des Welt-
krieges sehr ^hindernd ins Gewicht. Es erschwerte die
Ausführung und Durchführung des Werkes auch außer-
ordentlich, daß gewisse Umstände es erforderten, daß be-
reits gedruckt werden mußte, ehe das Werk ganz vollendet
war. Namentlich hatte der Verleger, Herr Alfred Unger,
auf dessen Anregtmg dieses Werk entstand und dem
ich für seinen Wagemut, seine Opfer und seine werktätige
Hilfe während der ganzen Zeit der Arbeit nicht genug^
danken kann, schwer zu leiden ; und er mußte viel Geduld
und Nachsicht üben, um das Zustandekommen des Werkes
überhaupt zu ermöglichen. Vielleicht wäre es aber trotz-
alledem nicht zur Vollendung gelangt, wenn nicht Herr
Oberamtsrichter Dr. F. Sonnenkalb in Hamburg die große
Güte gehabt hätte, Kapitel für Kapitel des Werkes durch-
zusehen und mit seinen kritischen, stets wertvollen Be-
merkungen zu begleiten. Ihm sei daher vor allen DingeiL
hier mein herzlichster Dank dargebracht. Nächstdem
danke ich auch allen den Brm, welche mich durch Ver-
abfolgung von Büchern, oft genug mit geschenkweise dar-
gebotenen, unterstützt haben; denn die Beschaffung der
Literatur machte mitten in den Unruhen des Krieges natür-
lich keine geringen Schwierigkeiten, und wexm der Leser
hier Lücken findet, so möge er Nachsicht üben, weil es
XVI Vorwort.
mir nicht an Kenntnis dessen gefehlt hat, was noch notig
gewesen wäre, sondern nur an der Möglichkeit, das oder
jenes zu erhalten.
So möge denn dieses Werk hinausgehen und wenigstens
seinen nächsten Zweck erfüllen, die Methode geistes-
geschichtlicher Forschung an diesem Gegenstande aufzu-
zeigen. Vielleicht hilft es dem einen oder dem andern auch
zu einem Verständnisse für das Wesen der Freimaurerei
und das Leben und Treiben der alten Brüderschaft in ihren
stillen Tempeln und Draußen, jedenfalls zu einer Einsicht
in ihr Wollen und Streben, ihr Kämpfen und Leiden. Genug
ist es vielleicht schon, wenn das Werk anregt zur Diskussion
über die Geschichte der Königlichen Kunst.
WoUstieg.
Kapitel 1*
Übersicht über die englische Geschichte
im Mittelalter.
L England h^t in alter Zeit geographisch und historisch
eng mit dem Kontinent zusammengehangen, am engsten natür-
lich mit Frankreich, Nacheinander haben die Römer, von
Gallien aus über den Ärmdkanal kommend, die Angelsachsen
und die Dänen, beide von der Nordsee aus, und schließlich die
Normannen aus Frankreich die Insel beherrscht, die Ursprung-'
lieh keltische Bevölkerung vertrieben tmd teilweise aufgesogen,
jedenfalls England ihre Eigenart aufgeprägt. Am stärksten war
der angelsächsische Einfluß, der auch für die Verfassung des
Landes von grundlegender Bedeutimg geworden ist England,
damals noch nicht mit Schottland und Irland vereinigt, bestand
aus einer Reihe von kleinen Königreichen* Erst dem König
Alfred (f 911) gelang es, die Dänen zu vertreiben, den
größten Teil der Stammesherzogtümer zu vereinigen und einen
wirklichen Staat herzustellen. Auch auf die Kultur des Landes
Wirkte er entscheidend ein, indem er selbst literarisch tätig
war und eine Reihe von Gelehrten an seinen Hof berief, sowie
dadurch, daß er durch Gründung von Klöstern dem Wissen-
schaftstrieb der Angelsachsen, der einst sehr bedeutend, seit
den EinfäUen der Dänen aber ganz verkommen war, wieder
aufzuhelfen suchte. Sein Enkel, König Athelstan (925—940),
v/ar wie der Großvater eine gewaltige Persönlichkeit, die
auch in der Geschichte der Freimaurerei eine bedeutende Rolle
spielt. Seine Mutter war vielleicht von geringer Geburt, sicher
von geringerer als seines Vaters zweite und dritte Gemahlin;
mö^cherweise war ihre Ehe nicht legitim, was viele sächsische
Edle veraiJaßte^ Athelstans Wahl und Krönung entgegen-
zutreten. Doch gewann der König bald die Oberhand, blieb
aber mißtrauisch, so daß er fürchtete, daß sein jüngerer, kgitini
2 Kapitel 1.
geborener Bruder Edwin^Qm vom Throne stoßen werde«
Als man im Jahre 933 sich zu einem Kriegszuge gegen Nord*
hmnbrien und Schottland rüstete, ließ der König den Prinzen
ergreifen« Da aber Edwin fortgesetzt seme Unschuld beteuerte«
wurde er wieder sdiwankend, ob er wirklich, wie man be-
hauptete, auf Verrat sinne« Er griff — echt germanisch — zu
dem so beliebten Auskunftsmittel des Gottesurteils, ließ ihn
auf einem alten Steuer- und ruderlosen Boote aussetzen, wobei
dann Edwin ums Leben kam^). Eine andere Version (Folquins
Annalen von St Bertin) erzahlt, daß Edwin, durch Unruhen
in England gezwungen, bestrebt gewesen sei, an die flandrische
Küste zu gelangen, aber mitten im Kanal umgekonunen sei, da
sein Schiff scheiterte. Athelstan, dem wohl die Grundlosigkeit
seines Verdachtes zum Bewußtsein konunen mochte, bereute
sein Verfahren und nahm deshalb die siebenjährige Buße, die
übliche Kirchenbuße für eine Todsünde, auf Adu Edwins
Leichnam wurde an die flandrische Küste gespült und im
Kloster St Bertin begraben, was wiederum Athelstan ver-
anlaßte, dem Kloster reiche Geschenke für den Almosenfonds
zu senden« — Im übrigen war Athelstan ein kraftvoller und in
seinen Unternehmungen sehr glücklicher Herrscher, dessen
Taten in Sage und Lied viel gerühmt werden« Auch ordnete
er seines Reiches Verfassung und Recht, so daß es später Sitte
wurde, sich für allerlei Rechte und Privilegien, die man vorgab
zu besitzen, auf ihn zu berufen« Das taten dann später auch
die Masonen, die an sich mit ihm und Edwin nicht das geringste
^) Die ganze Athelstan-Edwin-Frage hat Bn Baume in: ZC. N. F. I,
3. 1904« S. 2 €(., darauf Sonnenkalb von neuem untersucht in: ZC
N. F. 2. 1909. S. 174 ff. Bn S. polemisiert dabei gegen den Aufsatz
Br« BaumeSf der aus dem Prinzen einen Benediktiner-Mönch machen
wilL Sonnenkalbs Resultate sind aber ganz sicher, so daß ich sie
einfach übernehme. Woodford's Vermutung, es handle sich um den
König Edwin von Northumbrien, ist falsch. Über die Zunftsage betr.
Edwin, der zuerst im William-Watson-Ms (citiert: WW.) namhaft ge-
macht wird, sprechen wir später, s. Anderson; Constitutionenbuch.
1. Aufl. 1723 (citiert: A*) S. 35; 2. Aufl. 1738 (citiert: A") S. 63j
3. AufL 1756 (citiert: E.) S. 84.
Übersicht über die englische Geschichte im Mittelalter.
ZU tun haben; doch sind Athelstsin's Verdienste um die Bau-
kunst in England unbestritten^].
2. Seine immer schwächer werdenden Nachfolger, die sehr
schnell wechselteui konnten die Höhe von Athelstans Arbeit
nicht halten und fielen endlich 1066 der normannisch-
französischen Eroberung anheinii die dann die ziemlich ab-
gebrochene Verbindung Englands mit dem Kontinent wieder-
herstellte, ohne* daß diese normannischen Könige es ver-
mochten, die starke Überlegenheit der Völker des Festlandes
über England in wirtschaftlicher, künstlerischer und wissen-
schaftlicher Beziehung wett zu machen. Denn man darf nicht
vergessen, daß die normannischen Eroberer nur eine dünne
Oberschicht der Bevölkerung bildeten tmd trotz ihrer hohen
Bildung nicht imstande waren, das an eigener Sitte, Sprache und
Kultur trotz der Unterdrückung starr festhaltende angel-
sächsische Volk mehr als oberflächlich zu beeinflussen« Nur
die Baukunst, in der ja der König, die sehr baulustigen fran-
zösisch-normannischen Bischöfe und Äbte und der mit Wilhelm
dem Eroberer herübergekommene Hochadel bestimmend waren,
zeigt seit dem 11. Jahrhundert bis zum Schlüsse des 12. Jahr-
hunderts normannischen Geschmack, da man die Baumeister
aus Frankreich berief« Aber auch diese brachen mit der
sadifflschen tlberlieferung nicht vollständig, sondern fügten sich
vielfach der in England herrschenden Bausitte').
^) E. erzählt, daß er die Stadt Exeter wiederherstellte und die
alte Kirche der Culdeer zu York wiederaufbauen ließ. Diese hält
Kugler für die Basilika von St. Peter, die der berühmte Alcuin einst
baute und 780 einweihen ließ.
') Springer: Kunstgeschichte. Bd 2 S. 156. A' bringt bei den
einzelnen Königen regelmäßig dessen Bauten, s. Keller in: Frmr.-
' Zeitung 1861. Nr. 11 £f. bis 1864. wo die Vergleichung von A' mit den
Kunstgeschichten von Kugler und Lübke durchgeführt ist. Zu be-
rücksichtigen ist auch E., wo noch weitere Ausführungen über die Bau-
kunst in England gemacht sind. s. A* S. 67. E. S. 89. — Seit der
Regierung Eduards d. Bekenners (1042—1066) bürgert sich der
romanische Stil ein, für den die alten Teile von Westminster Abbey
und die Klosterkirche von Waltham Beispiele sind. Vergl. auch
Schnaase: Geschichte der bildenden Künste. 2. AufL Bd 5. 6.
1^
4 Kapitel 1.
Sonst ist die Epoche des Reichs der Könige aus dem nor-
mannischen Hause Anjou-Plantagenet (1154 — 1399)
eine Zeit des Überganges, in dem sich das Neue erst bildete;
noch legen der König und seine Großen den Hauptakzent ihrer
Macht nicht auf das eroberte England, sondern auf ihre nor-
mannisdien Besitzungen, noch blicken sie geringschätzig auf
das Volk auf dem Lande und in den verhältnismäßig wenigen
Städten, meist hörige Leute, deren Sprache man ebensowenig
versteht wie das Latein der Mönche. Aber nach dem
Waffenstillstand von Thouars 1206, in dem man
die wichtigsten Besitzungen in Frankreich preisgab, und nach
der Schlacht von Bouvines 1214 wurden die englischen
Guter für die englischen Normannen doch wertvoller« Die Be-
völkerungsschichten in England rücken einander näher, be-
ginnen sich zu verstehen und allmählich zu verschmelzen. Um
nur die französische Sprache für den normannischen Adel
einigermaßen zu erhalten, sah dieser sich schon im 12. Jahr-
hundert gezwungen, die Universitäten Oxford tmd Cambridge
zu begründen. Bald begann auch der Adel angelsächsisch zu
sprechen, nicht ohne eine Menge französischer Wörter und den
im Sächsischen unbekannten Artikel in die Volkssprache hin-
einzuschwärzen. Denn die Not der Zeit, namentlich tmter König
Johann, trieb die verschiedenen Volksschichten immer näher
aneinander. Durch einen Aufstand im Jahre 1215 trotzten die
englischen Barone dem Könige . die Magna charta libertatum,
die Sicherung ihrer Rechte, ab, eine Urkunde, die der Geist-
lichkeit die freie Wahl der Bischöfe tmd Äbte, dem Adel die
Erblichkeit der Lehen, dem Volk aber das Gerichtetwerden
nur durch seinesgleichen und viele städtische Privilegien, vor
allem aber den freien Verkehr garantierte. Mochte es auch
auf dem Lande noch viele Hörige geben, Ackerbauer und Hand-
werker, in den Städten wird nun allmählich alles frei, und der
Adel gönnt das dem Städter.
Seit 1265 tagte ein englisches Parlament, zu dem auch
Ritter und Städte ihre Vertreter sandten; nun beginnt die
eigentliche englische Geschichte.
\
Übersicht über die englische Geschichte im Mittelalter. 5
Die Baukunst machte in dieser Zeit in England einen
Übergang durch, der am Ende des 11. Jahrhunderts be^nnt
und bis etwa 1270 andauert Zwischen 1215 und 1260 war die
größte Bautätigkeit in England Es ist kein Wunder« daß in
dieser Zeit auch die Kunde von den Bauleitern beginnt Auch
die Menge der Bauten ist recht bedeutend^). Man wandte vor
allem den sogenannten normannischen Stil« eine Form des
romanischen Stils, viel an, dessen erstes bedeutendes Gebäude
die alte Kathedrale von St. Pauls in London war^). Eine Menge
von IGrchen wurden danach gebaut, ja fast alle älteren, nach
dem Jahre 1190 bis in das erste Drittel des 13. Jahrhunderts
hinein gebauten danach umgebaut Auch Burgen der Adligen
und selbst einzelne Privathäuser folgten in diesem normannisch-
romanischen Stile, so daß für die Steinmetzen viel Arbeit vor-
handen war und das Gewerbe blühte.
^) Mertens: Die Baukunst des Mittelalters. Berlin 1850. S. 142.
Es sind schon damals viele deutsche Baumeister nach England ge-
kommen, z. B. der von Anderson genannte Wilh. Almain (Wilhelm
V. Sens), der den Chorßau der Kathedrale von Canterbury leitete.
Dieser heißt auch Wilh. v. Xaintes, d. i. v. Xanten; war also Deutscher.
') Ebendaselbst S. 104; Cunningham: Entwicklung der Industrie
und des Handels. Halle 1912. S. 218. sagt: „Viele Denkmäler sind
noch vorhanden, die unwiderleglich bezeugen, daß jedenfalls eine
starke Einwanderung von Baumeistern stattgefunden hat. Die
wenigen Steinbauten, die aus der Zeit vor der Eroberung stammten,
sind in Stil und Ausführung verschieden von denen, die im 12. Jahr-
hundert errichtet wurden. Das 12. Jahrhundert war eine Zeit außer«
Ordentlicher Bautätigkeit auf allen Gebieten. Zahllos sind die Abtei-
kirchen und Kathedralen, die von der Tätigkeit normannischer Bau-
meister noch heute Zeugnis ablegen, und doch geben sie uns nur
eine kleine Idee von der Menge der Arbeit, die zu jener Zeit geleistet
wurde. Die Bauart sehr vieler Pfarrkirchen Englands — so sehr sie
inzwischen auch verändert sein mögen — beweist noch heute, daß die
vorhandenen Gebäude zuerst im 12. Jahrhundert errichtet wurden.
Möglich, daß vor dieser Zeit die Kirchen in der Regel aus Holz auf-
geführt zu werden pflegten: weit und breit aber, in ganz England,
scheinen die Pfarreien miteinander gewetteifert zu haben, um Kirchen
aus Stein an ihre Stelle zu setzen. Neben diesen Kirchenbauten
wurden aber auch Burgen errichtet. Von Rochester bis Carlisle»
6 Kapitel 1.
Unterdessen hatte aber in Frankreich der sogenannte
gotische Baustil (Pointed style) mit seiner sdilanken«
vertikalen Linie begonnen und war bald nach der Normandie
und von dort nach England hinübergegangen. Schon 1174 wird
ein franzosischer Baumeisteri Wilhehn von SenSg nach England
berufeui der nach dem Brande der Kathedrale von Canterbury
den Chor im neuen Stil (Lanzettstil) erbaute^),
3. Eine eigenartigCi aber durdiaus mannliche Persönlich-
keit war König Eduard L (1272—1307), Ritterlich war sein
Sinn, klar und scharf sein Verstand; sein sorgender Geist blieb
durchaus auf das Praktische gerichtet^). Er war der populärste
aller englischen MonarcheUi von dessen bedeutenden staats-
mannischen Talenten seine Gesetzgebung Kunde gibt, die sich
auf fast alle wirtschaftlichen Gebiete, auf Münze und Handel«
auf Übertragung von Grundbesitz an die tote Hand, auf Schutz
Yon Hedingham bis Ludlow war das Land dicht besäet mit riesigen
Besitzungen. Sowohl in der Anlage wie in den Einzelheiten bezeugt
das Mauerwerk der Zeit, daß es aus den Händen yon Männern her-
vorgegangen ist, die ihre Kunst ausübten, wie sie in Caen betrieben
wurde. Wenn wir die Zahl dieser Bauten bedenken, die, wenn auch
mit mehr oder weniger Abänderungen aus späterer Zeit, noch heute
bestehen, und die langwierige Arbeit, die zu ihrer Ausführung er-
forderlich war, so drängt sich uns die Überzeugung auf, daß eine sehr
große Menge von Maurern und Baumeistern^ mit dem Eroberer ins
Land gekommen sein muß." Dann S. 168: „Von der tatsächlichen
Bauarbeit, die unter den Normannen und den ersten Plantageneta
geleistet worden ist, können wir uns schwer einen Begriff machen;
die damals entstandenen Abteien und Kathedralen kann man nach
Zehnen, die Pfarrkirchen nach Tausenden zählen." A' S. 69 f. E.
S, 90 ff.
^) Mertens a. a. O. S. 52. Danach baute man die Kathedralen von
Lincoln, Ely, Worcester, Winchester und Wels (Mertens S. 104).
Nach Kugler wurde zwischen 1280 und 1370 auch die Kathedrale von
Exeter gebaut, der eigentliche Typus des eigentlichen .englischen Stils
(decorated style) mit Ausnahme natürlich des schon früher erbauten
romanischen Querschiffes. Freeman leitet den Stil von den Sarazenen
her. Über Wilhelm v. Sens s. S. 5. Anm. 1.
*) Über ihn s. Pauli: Englische Geschichte. Bd 4. 1855. S. 1 ff.
Neue Bauten A' S. 69. E. S. 91.
Übersicht über die englische Geschichte im Mittelalter. ^
des Eigentums und des Friedens bezieht Er bekümmerte sicU
persönlich um die Schiffbarmachung der Themse, um den Bau
von Brücken und Straßen und wandte den Städten und nament-
lich London eine derartige Fürsorge zu, daß diese eine Macht im
Lande wurden und bald genug ihren Reichtum tmd ihren Ein-
fluß steigen sahen. Es wurde unter ihm Ordnung im Lande.
Er war es, der die niederen sozialen Schichten, um die Begehr-
lichkeit des höheren Adels emzudämmen, vor allem die Städte
und die Ritter zu stärkerer Beteiligung im Parlament heranzog«
Da er den Wert dieses Staatsorgans als Stütze des Thrones klär
erkannte, machte er es zu einer ständigen nationalen Hn-
richtung. So wurde gerade er der Begründer und Baumeister
des englischen Staatsbaues* Auch verdankt England diesem
Könige eine Erweiterung seiner Macht nach außen, da er Wales
eroberte und Schottland im Zaume hielt. Immer weder machte
er die Rechte des Staates gegen alle anmaßenden Eingriffe von
Seiten Roms und der Prälaten geltend, so daß sich Widif später
bei seinen Reformbestrebungen ganz auf ihn und seine Statuten
beziehen konnte.
Sein Nachfolger Eduard ü. (1307 — 1327) war ein un-
glücklicher und leichtfertiger Mensch, der zuletzt abgesetzt und
ermordet wurde ^). Um so heller strahlt der Stern seines
Sohnes, Eduard m. (1327—1377). Unter ihm beginnen jene
hundertjährigen Kämpfe um die Krone und den englischen
Besitz in Frankreich, welche doch fiir England den Vorteil
hatten, daß die Nation völlig zusammengeschweißt wurde.
Auch wurde er nach der schwachen Regierung seines Vaters
der Reorganisator der inneren Verwaltung^), was um so
^) Das für uns bedeutsamste Ereignis seiner Regierung war die
Unterdrückung des Templerordens.
*) Uns interessiert das Gesetz Eduards IH aus seinen letzten
Regierungsjahren: „Es wird bestimmt, daß sämtliche Gewerke der
Stadt London — jedes nach seiner Art — gesetzlich geregelt und
beaufsichtigt werden sollen, so dafi nicht Büberei, schlechte Arbeit
oder Betrug irgendwelcher Art in besagten Gewerken vorkommen,
zu eigener Ehre der guten Leute besagten Gewerkes und zum all-
gemeinen Besten des Volkes." fehlt A^ A*. S. 70 f. E. S. 92 f.
S Kapitel 1.
nötiger wurde, als unter seiner Regierung jene gewaltige Pest
nach England kam, die man als den schwarzen Tod zu
bezeichnen pflegt^). Die Seuche, die seit 1348 auf dem
Kontinent wütete, kam 1349 nach England, wo sie die entsetz-
lichsten Verwüstungen anrichtete. Die Leute wußten keinen
Rat und kannten keine Hilfe gegen die Epidemie und die Not,
die sie mit sich brachte; sie waren einfach verzweifelt. Nach
Knightons^) Bericht starben ganze Dörfer aus, die Häuser
stüizten zusammen; niemand wollte arbeiten, außer gegen über-
imäßigen Lohn. Die Ernte war ausgezeichnet geraten, aber sie
verdarb auf den Feldern, da keine Schnitter sich fanden«
Alles ging in völlige Auflösung über. In den Städten war die
Lage noch schlimmer, da die Bevölkerung gedrängter saß, die
hygienischen Einrichtungen und die Räumlichkeiten sehr mangel-
haft und der Seuche förderlich waren und für die gesunde Er-
nährung der Bevölkerung außerordentliche Schwierigkeiten be-
standen. Namentlich die junge, kräftige Bevölkerung erlag der
Seuche, so daß es überall an Arbeitern fehlte. Die unausbleib-
lidie Folge war eme gewaltige Steigerung der Lebensmittelpreise
und der Arbeitslöhne. Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern waren an der Tagesordnung, selbst die Hörigen
waren nicht zur Arbeit zu zwingen. Bettelei und Landstreicherei
nahmen erschreckend zu. Rogers hat nachgewiesen, daß der
schwarze Tod die Arbeiter dazu führte, einen um 50 % höheren
Lohn zu fordern, und daß es ihnen trotz der zahlrdchen
Arbeiterverordmmgen gelang, ihre Forderungen durchzusetzen.
Die Regienmg war fast machtlos gegen die Not; der König und
die Magistrate suchten wenigstens die Folgen der Seuche, so
gut es ging, zu mildem. Es ergingen von Seiten Eduards m.,
der überdies noch eines Einfalls der Schotten sich zu erwehren
hatte, seit 1350 jene großartigen sozialen Gesetze, Statutes of
^) R. Hoeniger: Der schwarze Tod; Pauli: Geschichte v. Eng-
land. Bd 4. S.417; Ashley: Englische Wirtschaftsgeschichte, deutsch
^f. Oppenheim. Bd 2. S. 281, 356, 361/62. — s. auch S. 63 f .
*) Knightpn: Chronicle in Historiae Anglicanae scHptores X.
London 1652. p. 2599^2601, citiert bei Ashley S. 281.
Übersicht über die englische Geschichte im Mittelalter.
labourers, in welchen im allgemeinen für alle Arbeiter, vor
allem aber für die ländlichen und für die in den Baugewerben
beschäftigten Leute festgesetzt wurde, daß kein Arbeiter mehr
Lohn nehmen und kein Arbeitgeber mehr geben sollte, als vor
der Pest üblich gewesen war^). Der König hatte dabei mehrere
Absichten: er wollte die augenblicklich Schwachen stützen, die
Folgen der Pest mildem und schließlich der Landstreicherei
steuern^). Man hat diese Arbeitergesetze oft genug nicht ver-
standen und geschmäht, imd doch sind sie gerecht und damals
wohl das emzige Mittel gewesen, das Volk zu beruhigen
imd Ordntmg zu schaffen, wenn sie auch weder die Welt-
geschichte hemmen noch die volkswirtschaftlichen Gesetze in
ihrem regelrechten Verlauf aufhalten konnten; sie steuerten
aber doch dem Wuchergeiste, der aus dem allgemeinen Elend
Nutzen ziehen wollte. Der König setzte mit Fug tmd Recht
diese soziale Gesetzgebung trotz allem Widerstände fort, und
die Städte folgten ihm: 1350 legte der Bürgermeister von
London Löhne und Preise in allen Gewerben der City von
London fest^). Daß der König durch Luxusgesetze seine
Untertanen zur Sparsamkeit zwang, gehört ebenfalls in das
Kapitel seiner sozialen Fürsorge» Auch in bezug auf die
Handelspolitik und die Förderung des Gewerbfleißes war
Eduard m. vorbildlich. Er sah ein, daß, wenn England mit den
flandrischen Gewerben später konkurrieren sollte, man nicht
sowohl Einfuhrverbote erlassen oder Schutzzölle auferlegen
dürfe, sondern sich flämischer Fabrikationsmethoden und
flämischer Produktionsweise bedienen müsse. So zog der König
^) Brentano: Arbeit er gilden. Bd I. S. 63. Das Nähere über diese
Arbeiterstatuten später in dem Kapitel der wirtschaftlichen Ent-
wicklung
*) „Da viele kräftige Bettler, so lange sie vom Betteln zu leben
rermögen, sich der Arbeit weigern und dem Müßiggange und dem
Laster, zuweilen sogar dem Diebstahl und anderen schlimmen Dingen
fröhnen, so soll niemand unter dem Vorwande des Mitleids oder des
Wohltuns solchen Leuten etwas darreichen, damit sie gezwungen
werden, sich ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen."
*) Brentano a. a. O. S. 84.
10 Kapitel 1.
denn Arbeitskräfte, Meister und Geselleni aus Flandern
heran und nahm sie unter seinen ausdrücklichen Schutz.
Hunderte und Tausende geflüchteter und verbannter Hand-
werker kamen seit den 30er Jahren des 14« Jahrhunderts
nach England und vermehrten dort den Wohlstand^), so scheel
auch die Gilden anfangs auf die Fremdlinge sahen« Selbst Bau-
handwerker scheint der Konig herangezogen zu haben« Er stand
mit Deutschland in standiger Verbindung, zumal Kaiser
Ludwig der Bayer sein Schwager war. Wiederholt war
Eduard IIL in Deutschland« Nun ist die Bautätigkeit unter den
Eduards nicht gering gewesen, wenn auch etwas geringer als im
13. Jahrhtmdert^); namentlich unter Eduard HL, der ein sehr bau-
lustiger Herr war, stieg sie sehr« Es war der sogenannte spät-
gotische Baustil, den man verwandte, in dem eine Menge schöner
Bauten ausgeführt sind^). Der frühgotische Stil, der sogenannte
Lanzettstil, war ntm bereits überwunden, und man war schon
in der Hochblüte der englischen Gotik angelangt, in der das
prachtvolle Fenstermaßwerk zur Anwendung kommt, das ganz
auf geometrischen Proportionen beruht. Mehrmals hat dieser
Herrscher Bauerlasse herausgegeben, so namentlich, als er den
Palast von Westminster baute« Wenn wir nun bedenken, daß
die Pest auch in dem Steinmetzen-Gewerbe aufgeräumt haben
muß, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß Eduard lU. viele Bau-
leute aus Deutschland heranzog, ztunal er mit Frankreich in
schwerem Kriege lag, also von dorther schwerlich Bauarbeiter
erhalten haben kann« Wenigstens wird seit Eduard III. der
deutsche Einfluß im englischen Baugewerke merklich^).
Nicht unerwähnt dürfen wir lassen, daß unter diesem
Konige Widif auftrat und jene große Bewegung begann, die
^) 8. über diese Dinge: Ashley a. a. 0. IL S. 206 ff.
•) Mertens a. a. 0. S. 145. A" S. 70. E. S. 92.
*) So der Ausbau von Teilen der Kathedralen von York« von
Exeter und die prachtvolle Lady Chapel und andere Teile der
Kathedrale von Ely, Bauten in Winchester usw. durch den Kschof
William v. Edington (v. Wickeham), Henry Yvele u. a. m.
*) s. Freeman: Zur Geschichte der Baukunst in England. A'
S. 70. E. S. 92.
Übersicht über die englische Geschichte im Mittelalter. H
wir als die 2^it der LoUarden^) zu bezeichnen gewöhnt sind. Das
Land wurde unruhig, als Eduard lH. ein leider unrühmliches
Ende nahm; denn das Resultat seiner Regierung war doch un-
abgeschlossen. Ein französischer Chronisti Froissard« charakte-
risierte damals das englische Volk als das gefährlichste und
anmaßendste der Welt.
Mit 11 Jahren bestieg Eduards III. Enkel« König
Richard ü. (1377—1399) den Thron, da sein Vater, der
schwarze Prinz, nach seinen vielen siegreichen Feldzügen in
Frankreich schwer erkrankt und vor seinem Vater heim-
gegangen war. Ein großes Unglück für das Land, über das nun
schwere Unnihen kamen« Auch als der König zu seinen Jahren
gekommen war, hörten diese nicht auf. Die Bewegung der
LoUarden kam auf ihre Höhe; im Jahre 1384 brach auch ein
Bauernaufstand aus, wie ihn die Insel noch nicht erlebt hatte^);
er rief auch unter den Gesellen in den Städten eine ähnliche
Bewegtmg hervor. Die Bauern wollten nicht in die alte Ordnung
der Dinge, wie sie vor der Ablösung der Frondienste
gewesen waren, zurückkehren, was die Gnmdherren ver-
engten, ja sie wollten nicht einmal mehr die Arbeitsleistungen
vollziehen, zu denen sie noch verpflichtet waren'). Es
waren einige gefährliche Tage, als sich der Pöbel Londons
bemächtigt hatte und die Stadt plünderte, bis man wieder
Herr der City wurde und das Strafgericht beginnen konnte.
Und doch stützte sich der König auf die niedere Volksmasse
gegen den hohen Adel und die Kirche. Als unter solchen Um-
ständen fast alles in Frankreich verloren ging, was Richards
Vater erobert hatte, und die Barone durch die innere Politik
des Königs äußerst erbittert waren, bemächtigte man sich dtirch
Verrat des Herrschers und sperrte ihn in den Tower, wo man
ihn im Jahre 1400 auf das gräßlichste ermordete. Damit war
das Haus Anjou-Plantagenet ausgestorben.
^) über diese wird später mehr zu reden sein. s. S. 61 ff.
*) Außer Pauli: Geschiclite Englands. Bd 4. s. Ashley a. a. O.
Bd 2. S. 180 ff.
*) Man muß das Sittengedicht Piers Plowman (Peter der Pflüger)
lesen, wenn man die Zeit verstehen will.
12 Kapitel 1.
•Die Bautätigkeit, die der frühere König begonnen hatte,
hielt an. Die spätere Gotik Ist jetzt vorherrschend. Ihre Aus-
bildung geht auf Meister Wilhehn von Wykeham zurück, der
später Bischof von Winchester wurde, der also ein Geistlicher
war.^) Man sieht, wie stark noch immer, wie faiiher durchaus,
die Baukunst Sache der Geistlichkeit war; aber Meister und
Gesellen fanden ihr schönes Brot in diesen Tagen tmd die
Löhne stiegen.
4. Es wäre wohl schwerlich gelungen, den König zu be-
seitigen, wenn nicht des Königs Vetter, Heinrich von Lancaster,
mit einem Heere von Frankreich aus herübergekommen wäre
und der Staatsstreich nicht die Billigtmg des Parlaments ge-
funden hätte. Dieses hielt sich nicht nur für befugt, die Ab-
setzung des Königs zu verfügen, sondern auch über das
Sukzessionsrecht der Krone eigenmächtig Vorsorge zu treffen«
Die Verseunmlung beschloß, Herzog Heinrich von Lancaster
solle König sein. Der Rechtstitel des neuen Königshauses wurde
von vornherein em parlamentarischer. So bestieg das Haus
Lancaster mit Heinrich IV. (1399 — 1413) den Thron. Sein
Haus befleckt von vornherein die Neigung zur Untreue gegen
die Verwandten. Es war durch den Hochadel und die hohe
Geistlichkeit emporgekonunen tmd mußte an diesem festhalten;
so wurde das Oberhaus übermächtig. Aber das Unterhaus trat
sofort dagegen in Opposition tmd suchte den König zu ver-
führen, die alten kgl. Souveränitätsrechte geltend zu machen.
Das geschah auch in gewisser Weise, wobei sich der König
auf die Gemeinen stützen mußte: so kam die Krone wieder in
die Hand des Parlaments, zumal sie bei den sich erneuernden
Kämpfen mit Frankreich ständig Geld benötigte, das das Unter-
haus bewilligen mußte. Aber die hohe Geistlichkeit verlangte
vom Könige, daß er der Bewegung der LoUarden entgegentrete,
was er nicht weigern konnte, obgleich diese an seiner Thron-
besteigtmg einigen Anteil gehabt hatten. Allein den mittleren
^) über ihn s. Schnaase a. a. O. £d 6^. S. 16S ff. Er erfai^d ^en
sogen. PerpendicularstiL
/
Übersicht über die englische Geschichte im Mittelalter. 13
Bärgerstand nahm Heinrich IV. doch stets in seinen Schutz.
Es war die 2^it der Umwandlung der Zünfte von der
demokratischen nach der aristokratischen Seite hin, als die
reicheren Ztmftgenossen, die sich das Tragen einer besonderen
Ztmfttracht leisten konnten, die ärmeren Meister, wenn nidit
aus der Company heraus-, doch innerhalb derselben herab-
zudrücken versuchen durften. Schon 1389 hatten die Kampfe
um die Ztmfttracht (Livery) im Parlament eine Rolle gespielt;
1392/93 legte das Parlament eine Verwahrung beim König gegen
das Tragen der Trachten ein und so fort. Die Regierung verbot
es, es half nichts: man bediente sich fürderhin der Ztmfttracht
als Ausdruck der aristokratischen Bewegung. Endlich wurden
1406 „die Zünfte und Brüderschaften und ebenso alle Gewerbe,
die in guter Absicht und zu gutem Zwecke gegründet sind", von
dem Verbot, Zunfttracht zu tragen, sogar ausgenommen. Die
aristokratisch-oligarchische Bewegung innerhalb der Zünfte
hatte gesiegt; denn man hatte deren schon gewaltig gewordene
Macht gebraucht, um Regierung und Parlament zum Nachgeben
zu zwingen^).
Heinrichs IV. Nachfolger, Heinrich V. (1413—1422),
hatte für die innere Entwicklung Englands nicht diejenige hohe
Bedeutung, die dieser machtvollen Persönlichkeit zukam. Er
war allzusehr in die Kämpfe mit Frankreich verwickelt und
starb zu früh an einer tückischen Krankheit, als er gerade auf
der Höhe seines Ruhmes stand'). Der Erbe war ein Knabe
von 9 Monaten.
In Heinrich VI. Regierung (1422—1461) beginnen nun
jene furchtbaren Kampfe, die man als die Kriege der weißen
und roten Rose, der Hauser Lancaster und York bezeichnet.
Sie haben den Hochadel Englands derartig vernichtet, daß heute
^] s. über diese Kämpfe Ashley a. a. O. Bd 2. S. 130 f.
^ Der König, der in der Jugend sehr leichtsinnig gewesen war
und sich in schlechter Gesellschaft in den Kneipen Londons herum-
trieb, wandelte sich mit dem Augenblicke, als er König wurde. Er
genofi die Achtung von ganz Europa, in dem er nicht geringen Einfluß
ausübte. „Die Franzosen wie die Engländer", sagt Ranke, „erschraken
14 Kapitel 1.
<. ^
kein Haus aus der Reihe der Lords älter ist als das 1& Jahr-
hundert« Die Regierung für den unmündigen König ffihrte
zuerst der Herzog v. Bedford, der die Kämpfe in Frankreidi
siegreich erneuerte, aber dabei auf jenes Mädchen stieß« das
unter dem Namen der Jungfrau von Orleans bekannt ist Eng-
land mußte Frieden machen und behielt nur einen schmalen
Küstenstrich mit Calais. Nach dem Tode des viel an-
gefeindeten Herzogs übernahm der Herzog v. Suffolk die
Regierung, später andere; die Intriguen gingen hin und her, die
Parteien stritten miteinander, und der Konig war der Spielball
derer, die ihn gerade in den Händen hatten« Aufstände folgten:
1450 hatten wieder einmal Rebellen London besetzt; es war
eine furchtbare Zeit voll Blut und Mord,, Verrat und Tücke.
1453 wurde der König geisteskrank, und Herzog Richard
V. York nahm das Szepter als Protektor des Reichs in seine
Hand; 1455 wiederholte sich die Krankheit des schwachen und
sicher blödsinnigen Souveräns. Nach Richard v. Yorks gewalt-
samem Tode im Jahre 1460 übernahm sein Sohn Eduard seine
Ansprüche, setzte Heinrich ab, dessen Restitution 1470 für kurze
Zeit gelang; aber der König eilte dann schnell seinem Schicksal
entgegen: 1471 ist er im Tower ermordet worden.
Heinrich, der übrigens ein frommer und gütiger Herr war,
hat niemals selbständig zu handeln vermocht; ein so
schwankender Charakter und unglücklich veranlagter Geist
hatte in diesem Jahrhundert nicht Boden genug. Und doch hat
dieser Fürst oder vielmehr seine Regierung in die inneren An-
gelegenheiten des Reiches mehr eingegriffen, als viele andere
Fürsten vor und nach ihm. Auch in der Freimaurerei spielt
Heinrich VI. eine große Rolle. Bis in die hohe Politik, bis in
die Streitigkeiten zwischen dem Herzog von Glocester und dem
vor der Schärfe seines Ausdrucks, aber sie würdigten seinen hohen
Mut, seine Tapferkeit und Wahrhaftigkeit. Alle seine Geschäfte, so
hieß es von ihm, führe er selbst; er berechne sie wohl, ehe er sie
unternehme; er tue nie etwas ohne Frucht . . . nie lasse er sich von
Gemeinem ergreifen. Auf seinem Antlitz erscheine Würde und
Herrschermacht." Shakespeare hat ihm bekanntlich ein hervor-
ragendes Denkmal gesetzt.
Übersicht über die englische Geschichte im Mittelalter« 15
^ ■■ ■ ,
Bischof von Winchester zerrte man die Angelegenheiten der
Steinmetzen und die Lohnunruhen von 1425/26 hinein^). Ich
übergehe hier die Gesetze wider die fremden Händler, die
allgemeine Gewerbepolitik it a, nL und wende mich zur Bau-
tätigkeit des Königs. Der Stil begann künstlerisch freilich in
dieser Zeit zu verfallen, doch war die Baulust mindestens bis
1450 für den Bau von Schlössern und Bürgerhäusern ziemlich
rege und des warmherzigen Königs Sorge für die Bauarbeiter
war groß. Hierbei hat Heinrich oder seine Regierung mehrmals
in die Verfassung der Steinmetzen eingegriffen, was ein
steigendes Interesse gerade für dieses aufstrebende Gewerbe zu
beweisen scheint. Man hat sogar Heinrich VI. eine merkwürdige
maurerische Urkunde zugeschrieben, über die es eine ganze
Literatur gibt^), nämlich das Freimaurerverhör. Dieses soll der
Bodleianischen Bibliothek in Oxford entstammen, wo es aber
nicht auffindbar ist, und wurde angeblich zuerst 1748 zu Frank-
furt a. M., dann 1753 im Gentleman's Magazine veröffentlicht,
später, von der dritten Auflage an, sogar in das Konstitutionen-
buch aufgenommen. Allein schon früh wurde die Echtheit der
Urkunde angezweifelt^), später aber von Krause, Fichte u. a«
verteidigt, ja jetzt nodi von Katsch in seiner Geschichte der
Freimaurerei als ein Machwerk des 17. Jahrhunderts wiederum
benutzt und zur Stütze seiner Theorie der Abhängigkeit der
Freimaurerei von den Rosenkreuzem gebraucht. Dazu ist dieses
Fragstück nun allerdings gar nicht geeignet. Es handelt sich
hier um eme kleine Arbeit, der der Verfasser gern ein hohes
Alter geben möchte, die aber tatsächlich erst der Mitte des
18. Jahrhunderts angehört. Die Antwort auf Frage 5 und 6 setzt
die natunyissenschaftliche Bewegung seit etwa 1650, die viele
Rederei von der Tugend die Shaftesburysdie Bewegtmg um
1710 voraus, und die Antwort auf die 12. Frage beweist, daß
^) Rotuli Pari. Vol. 4. cap. 43. S. 292; cap. 12 ff. S. 297 f..
s. auch Preston: Illustrations, übers, v. Meyer. Stendal 1780. S. 90 ff. ,
A^ S. 38, A*. S. 73 ff. E. S. 96 ff.
•) Wolfstieg! Bibliographie Nr. 33395 ff. Abgcdr. im Urk.-Anh. 1.
') Lessing sagte von ihr: „Staub, nichts als Staub."
1^ Kapitel 1.
4er Verfasser den § 1 des Andersonschen Konstitiitioneiibuches
bereits vor sich gehabt haben muß. Auch andere Dinge dürften
die Unechtheit der Schrift i beweisen, vor allem aber die
hanebüchene Antwort, die der Freemason dem König auf seine
Frage: Wollt Ihr mich die Künste lehren? erteilt: Man wird
es tim, wenn Ihr dessen würdig tmd fähig seid So hat nie
jemand zu einem Konige geredet, am wenigsten im 15. Jahr-
hundert. Außerdem ist es auffallend, daß in den Verzeichnissen
Lelands, der das Stück entdeckt und an die Bodleianische
Bibliothek weitergegeben haben soll, sich nirgends eine Spur
davon findet; aych daß die Bibliothekare der Bibliothek eine
eigenhändige Handschrift des Königs direkt verkommen ließen^
ist schwer zu glauben. Bis zum Beweise der Echtheit wird man
das Verhör also für unecht halten müssen; die Schlüsse, welche
die Verteidiger des Schriftstücks und namentlich Katsch aus
dieser Urktmde ziehen, sind hinfällig^).
Sehr bemerkenswert für diese Zeiten bis an das Ende
des Jahrhunderts ist es, daß in den höheren Schichten tmd
namentlich bei allen Führern in Kirche und Staat die
Religiosität stark schwand. Zwar hielt man an den äußeren
Formen des Gottesdienstes gewissermaßen fest, aber innerlich
war — religiös und moralisch — alles haltlos^). Mord, Dieberei
und Betrug waren an der Tagesordntmg; selbst in den Familien
war der Vater vor dem Sohne, der Bruder vor dem Bruder nicht
^) Katsch gibt nicht das ganze Schriftstück wieder, sondern nur
das, was ihm paßt. Seine Behauptung, es stehe im Frmrverhör nichts
▼on Alchemie, ist nur darum möglich, weil er das Stück, in dem von
hermetischer Kunst die Rede ist, wegläßt; umgekehrt ist von Kabbaia,
die Katsch darin entdecken will, nicht die leiseste Andeutung zu
finden. Seine Ansicht, es handle sich hier zwar nicht um ein kgl.
Verhör, sondern um die Katechisation mit soeben Initiierten, welche
ein alter Br. Präparator vorzutragen hatte, ist einfach lächerlich.
Die Fragen nach der Geschichte der Freimaurerei werden ja hier ganz
afnders erklärt als in der History der Old Charges. Aber freilich: die
Fragen 3 und 4 läßt Katsch wieder aus. Dieses ganze Fragstück ist
nieüuals Urkunde gewesen.
^] Pauli: Geschichte Englands. Bd 5. S. 446.
1
Übersicht über die englische Geschichte im Mittelalter, 17
sicher; Unmenschlichkeiten gab es in diesen Kämpfen zwischen
der weißen tmd roten Rose übergenug auf beiden Seiten. Eng-
land hat Zeiten wie die von 1450 bis 1485 nicht wiedergesehen.
Wer das genauer studieren will| mag Shakespeares Königs-
dramen lesen.
5. Heinrichs Nachfolger, Eduard IV. (1461—1483), mit
dem das Haus York den Thron bestieg, war eine der
glänzendsten Erscheinungen unter den Fürsten Europas: schön,
geistvoll, lebenslustig, ein Fretmd der Frauen und der Tafel und
dabei doch tatkräftig, tüchtig und tapfer. Er verachtete geradezu
das Parlament und zwang es durch allerlei Machenschaften«
ihm die Erhebung des Pfund- und Tonnengeldes zuzugestehen.
Auch war er ein Freund des Mittelstandes, wie es auch die
Mitglieder des Hauses Lancaster gewesen waren; so lud er den
Lord Mayor und die Aldermen von London zu fröhlicher Jagd
ein tmd sandte ihren Frauen Wildpret tmd Wein, was ihnen
sehr schmeichelte. Gerade Eduard IV. stützte sich während der
ganzen Zeit seiner Regierung auf die gewerbetreibende Klasse
tmd auf die Kaufleute und konnte sich auf sie verlassen. Man
mußte ihm hohe Subsidien bewilligen, und der König veranlaßte
durch Druck Geistliche imd Laien, ihm „freiwillig" Vermögens-
steuern zu entrichten, die d£U'um den Namen Benevolenzien
erhielten, obgleich jedermann über die unerhörte Last stöhnte
und schalt; trotzdem war der König beliebt. Seine Prachtliebe
war ebenso groß wie seine Vorliebe für Tändeleien. In Bauten
suchte er es Eduard m. gleichzuttm. Unter ihm ist die geradezu
glänzende St. Georgskapelle zu Windsor errichtet, tmter ihm
wurden Anbauten und Umbauten an den Schlössern zu
Nottingham tmd Dover, im Tower zu London tmd in Westminster
vorgenommen. Auch der Adel baute damals viel und ver-
wandelte die Burgen in wohnliche Schlösser.
Cünningham (S. 513) weist nun darauf hin, daß auch die
reichen Tuchhändler, deren Gewerbe gerade im 15. Jahrhundert
außerordentlich blühte, große Summen für Bauten ausgaben.
,J)as Vorkonmien der schönsten Beispiele spätgotischer
Architektur in England trifft, wenn nicht genau, so doch nahe
18 Kapitel 1.
mit den Gegenden zusammeni wo sich die Tuchindustrie fest-
gesetzt hatte/' In der Tat sind die großen Kirchen in Suffolk
usw« durch die Freigebigkeit reicher Tuchhändler erbaut«
Während das Volk in diesem Jahrhundert verarmte, der Acker*
bau zurückging, die Städte über Mangel an Arbeit für Industrie
und Handel jammerten, ja selbst einer Stadt wie Cambridge auf
Grund ihrer Verarmung imd Verödtmg Steuerfreiheit gewährt
werden mußte, hatten die Steinmetzen durch Regierung und
reiche Privatleute reichlich zu ttm. Die schönen Bauwerke jener
Zeit sind Denkmäler des wunderbaren Geschmacks und des
Könnens der damaligen Meister des Gewerkes«
Kirchlich gesinnt, wie Eduard trotz aller Weltfreude war,
hielt er die Lollarden, die wieder das Haupt erhoben, nieder
und verschaffte, indem er sich von Parlament tmd Geistlichkeit
immer unabhängiger machtej der königlichen ^Prärogative Raum.
Aber die Wut des Geschlechts gegen die eigenen Verwandten
wurde auch seiner Familie verderblich« Der König selber hat
seinen Bruder Qarence töten lassen, imd sein jüngster Bruder,
Richard DL (1483 — 1485), ließ wiederum Eduards beide
Söhne, den rechtmäßigen König Eduard V« und Richard
V. York, im Tower erwürgen. Er war ein Scheusal in Menschen-
gestalt; man lese Shakespeare.
6. Die städtischen Verfassungen in England, die für uns
wesentlich sind, gestalteten sich seit Eduards 131. Reform so
bunt wie nur irgend möglich, zumal die Staatsgewalt in merk-
würdiger PsLSsivität es den sozialen Gruppen überließ, sie ohne
die Regierung „autonomisch" zu gestalten^).
Meist haben die Städte gegen Zahlung von Geldsummen
an den König sich das Recht erkauft, an Stelle des königlichen
Bailiff einen von der Gesamtheit der Bürger gewählten Mayor
als Oberhaupt der Stadt zu setzen« Heinrich VL machte dann
die Städte zu juristischen Personen« In den darauffolgenden
Kämpfen zwischen der roten und der weißen Rose haben die
Städte die volle kommunale Freiheit erlangt
^) Gneist: Englische Verfassungsgeschichte S. 440.
Obersicht Über die englische Geschichte im Mittelalter. 19
Am meisten hat die merchant's guild (Kaiifmannsgilde) die
Verfassung bestimmt: ihre Beamten, die Aldermen, erscheinen
als die maßgebenden Personen der städtischen Behörden über-
haupt^). Seit dem 13. Jahrhundert war die kaufmännische Gilde
tatsächlich eins geworden mit dem städtischen Verwaltungs-
kSrper; es hatte sich eine Verfassung herausgebildet, welche
die Rechte der ausübenden Gerichtsbarkeit, der Schöffenbank,
mit den Handelsberechtigungen der kaufmännischen Gilde ver-*
einte'). Erst nach schwerem Kampfe, der bis in das 14. Jahr-
hundert dauerte, haben die Handwerkergilden die Teilnahme
am Stadtregimente erstritten, so daß die Kaufmannsgilde nicht
mehr über, sondern neben den Handwerkergilden und Zünften
stand.
A^ele Privilegien und sonstige Umstände kamen hinzu,
um die Entwicklung der Städte ganz besonders individuell und
verschieden zu gestalten. Oft gelang es sogar, die normale
Stadtverfassung durch eine Art von reiner Zunftverfassung zu
durchbrechen, meist aber behielten alle Korporationen zu-
sammen das Stadtregiment in der Hand. Namentlich in London
war der gewerbliche Besitz so massenhaft aufgehäuft und der
Industriefleiß so rege, daß das Zünftewesen das Gemeinde-
wesen zu überwältigen bestrebt war. Nach einem Versuche schon
unter Heinrich DL war unter Eduard m. 1362 das städtische
Wahlrecht den Zünften verliehen worden« Die Neuenmg wider-
sprach indessen so sehr den Grundlagen der städtischen und
der Landesverfassung, daß durch eine Verordnung Richards IL
die alte Ordnung wieder hergestellt und die Bürgerversammlung
(wardmote) wieder in ihr altes Recht eingesetzt wurde. Allein
der Kampf der Zunft- und Kommunalverbände dauerte hier
ununterbrochen fort: die Zünfte behielten einen stetigen Einfluß
auf die Wahlen in der Stadt und errangen von Zeit zu Zeit
königliche Konzessionen, die ihre Macht steigerten. Sicher ist,
daß seit dem 15. Jahrhundert der Besitz des Bürgerrechtes in
^) Wir kommen darauf unten des Weiteren zurück.
*) Athley: Englische Wirtschaftsgeschichte, übers, v. Oppen-
heimer. Bd 1. S. 80.
20 Kapitel 2.
jeder größeren Stadt an die Mitgliedschaft bei Zünften (Gilden)
geknüpft war, und daß der städtische Rat meist vollständig
oder doch zum größten Teil aus den gewählten Ver-
tretern dieser Körperschaften bestand. Das Rathaus ist die
Guildhall. Aber innerhalb der Zünfte begann ntnmiehr jene
aristokratische Bewegung, von der wir oben sprachen« Es
scheiden sich die größeren Zünfte — in London 12 — von den
kleineren und innerhalb der Zünfte die liverymen von den
übrigen Mitgliedern. So lange das Mittelalter dauert, tritt das
noch nicht so schroff hervor, aber die Kämpfe um das städtische
Wahlrecht innerhalb der Zünfte beginnen schon im 14« und
15. Jahrhundert. Die Autorität des Rates ist noch sehr groß;
Bürgermeister und Rat können jeden Bürger bei Vergehen in
Strafe nehmen, da sie das Amt und die Befugnis der Friedens-
richter haben und als Schiedsrichter in Arbeitsangelegenheiten
auftreten; sie ernennen die Aufseher für Handel und Gewerbe
in der Stadt, ja jeder Lehrling mußte dem Stadtkämmerer vor-
geführt sein, wenn man ihn ein- tmd ausschrieb.
Kapitel 2.
Die staatliche Entwicklung unter den Tudors«
1. Seit in der Schlacht von Bosworth 1485 der Graf von
Richmond, aus einer Nebenlinie des Hauses Lancaster, dem
Hause Tudor, stammend den letzten Sprossen des fluch-
beladenen Hauses York, eben jenen Richard ID., besiegt und
den erledigten Thron als König Heinrich VH. (1485—1509)
bestiegen hatte, war Ruhe im Lande, und Handel und Wandel
begannen wieder zu gedeihen. Der furchtbare Bürgerkrieg der
weißen und roten Rose hatte ein Ende; er hatte wahrlich Ver-
Lzj
Die staatliche Entwicklung unter den Tudors. 21
Wüstungen genug mit sich gebracht und die fortschreitende Ent-
wicklung des Landes gründlich gestört. Nicht nur der Wohl-
stand Englands war sehr geschädigt, sondern auch die Be-
völkerungsziffer war stark zurückgegangen. Der hohe Adel
war, soweit er nicht der Vernichtung anheimfiel, völlig matt-
gesetzt. Die neu ernannten Lords und die Geistlichkeit waren
sehr abhangig von der Krone. Nur die Städte hatten ver-
hältnismäßig wenig gelitten und blieben äußerlich noch einiger-
maßen in blühendem Zustande, obgleich sie einem' inneren Ver-
falle bereits entgegengingen, was allerdings nur auf die
Regierungsform, nicht auf den Wohlstand ihrer Bürger zutrifft.
Auf dem Lande hatten Räuberei, Bettel- und Landstreichertum
gute Zeit. Das fahrende Volk und das Gesindel hatte sich im
14. und 15. Jahrhundert in England so vermehrt, daß es zu
einem wahrhaften Schrecken für friedliebende Leute geworden
war. Audi der Niedergang der Sitten war überall offensichtlich.
Dem Verfalle tat Heinrich VII. kräftig Einhalt, soweit er nur
konnte. Der König hatte überhaupt eine starke Hand und ein
kl^es Auge. Er sah, wo es not tat tmd war klug genug, um
zu wissen, welche Wege er einzuschlagen hatte, um seine
Zwecke und Ziele zu erreichen. Es war ein Glück für Eng-
land, daß die Macht des Königtumes dem Parlamente gegen-
über gewachsen war. Das Bürgertum wünschte vor allen
Dingen Ruhe und keine Streitigkeiten, Parteiungen und
parlamentarische Debatten. Das nächste war, daß Heinrichs
Regierung alles tat, um die Finanzen in Ordnung zu bringen«
was zugleich dem Staate und dem Bürgertume zugute kam. Der
hohe Adel war, wie gesagt, zu matt, als daß er dem Königtume
viel hätte anhaben können. Die Versanmilung der Lords, das
Oberhaus, nahm eme gewisse Beiseiteschiebung ruhig tmd ohne
Murren hin. Heinrich verbot dem Adel überdies, ein größeres
Gefolge zu halten und richtete einen Gerichtshof, die Stem-
kammer, ein, die die Aufgabe hatte, jeden Versuch eines Auf-
ruhrs zu tmterdrücken. Und der Begriff des Aufruhrs war sehr
dehnbar; er umfaßte jeden ernstlichen Widerstand gegen d^
freien Willen des Königs. Einer seiner Grtmdsätze war, sagt
22 Kapitel 2.
Ranke^), daß seine Gesetze unter keinen Umstanden verletzt
werden dürften. Im Notfall half das Parlament mit einer Bill of
attainder oder durch besondere Beschlüsse nach, deren Folge
dann war, daß Henker tmd Richtbeil in Tätigkeit traten« Es gab
wieder Richter und Gerechtigkeit im Lande; der Niedere war vor
dem Hohereni der Arme vor der Willkür und Übermacht des
Reichen sicher. Mit Stolz horte Heinrich« daß man ihn den «,K5nig
der Armen" nannte. Seine Maßregeln hatten in der Tat einen
stark sozialen Charakter, da sie versöhnten und zugleich zu ver-
einigen strebten. So wurde die Stellung des Königs immer fester
und sicherer. Freilich beschränkte trotz aller Gefügigkeit in
wichtigen Dingen das Parlament — das einzige in Europa —
noch immer des Königs Macht sehr, da man in der Regierung
beständig Rückächt auf seine Beschlüsse nehmen mußte tmd
das Recht der Geldbewilligimg nach wie vor ihm zustand; aber
der sparsame König brachte die Finanzen sehr schnell in
Ordnung, so daß er des Parlaments in dieser Hinsicht nidit
bedurfte. Es war ein anderer Grundsatz Heinrichs, daß ein
Fürst, welcher Ansehen genießen wolle, immer bei Gelde sein
müsse; er sammelte alsbald lediglich durch strenge Ordnung
im Finamswesen einen großen Staatsschatz an.
Indem Heinrich die Gentry, den niederen Adel, durch
Landverkäufe, das Bürgertum durch Ordmmg und weise Be-
fördenmg von Handel tmd Wandel befriedigte, hatte er bald
ein Parlament neben sich, das ihm persönlich in allem zu Willen
war. Und er war klug genug, den Schein zu wahren; er über-
schritt die gesetzlichen Bestimmungen selten oder nie, beleidigte
in keiner Weise den regen, geschäftlichen Sinn des Volkes, den
er vielmehr für seine Zwecke ausnutzte, wo er konnte, tmd
hütete sich, den Gnmdstein der Freiheit tmd den Stolz seiner
Untertanen, das Selfgovemment, anzutasten. Die laufende
Rechtspflege, die Polizei und die lokale Verwalttmg überließ er
ohne Neid tmd kleinliche Quälereien tmd Nadelstiche den ört-
^) Englische Geschichte Bd L S. 134. In der Aufl. von 1870 S. 100:
„Das Prinzip des Königs war, die Gesetze auf das strengste zu toII-
strecken."
Die staatliche Entwicklung unter den Tudors. 23
liehen Gewalten ganz und gar. So erzog er den Bürgersinn der
Untertanen und schuf zugleich in den Engländern jenes
personliche stolze Selbstbewußtsein, das wir an ihnen früher so
oft bewundert haben.
Der stärker werdende Handel Englands nach dem Aus-
lande hatte auf die Städte und den Wohlstand der Bürger einen
ausgezeichneten Einfluß ausgeübt* Man gewinnt bei der Be-
trachtung des Zeitraumes von 1450 bis 1550 den Eindruck eines
fortwährenden Steigens des städtischen Reichtums^). Auch das
Handwerk blühte auf« da allen die Ruhe wohltat und förderlich
war. Man baute in der Zeit Heinrichs VII. und seiner Nach-
folger nicht nur in den Städten sehr viel, sondern es wurde,
als unter Heinrich VIL das Vertrauen der Leute auf den Bestand
der Regierung zurückgekehrt war, bei den wohlhabenderen
Bürgern Sitte, sich außerhalb der Stadt Häuser zu bauen« Die
Kaufleute drängten in die Reihen des Landadels, erwarben Land
und machten es sich draußen wohnlich. Die Baukunst freilich
wurde seit ca. 1450 starr und schritt nicht vorwärts, selbst die
langsam in England eindringende Renaissance vermochte dem
national gewordenen spätgotischen Stil wenig oder nichts an-
zuhaben^). Indessen war der Tudorstil mit dem flachen Tudor-
bogen und der reichen Wandtäfelung auch so reizend, daß man
gern über den Mangel an Fortschritt hinwegsieht. Vielfach tritt
jetzt — namentlich in Pfarrldrchen — die charakteristische,
spezifisch englische Holzdecke auf; dazu das rechteckig ab-
geschlossene Fenster, das allerdings besser in die Wohnungen
als in Kirchen paßt. Aber gerade die häusliche Architektur
machte unter den Tudors einige Fortschritte. Heinrich VII.
selber beteiligte sich an der Bautätigkeit durch die Erbauung
der reich ausgestatteten Kapelle in der Westminsterabtei, der
^) Ashley a. a. O. 2 S. 50 £E.
*) Knackfuß & Zimmermann; Allgemeine Kunstgeschichte Bd 2.
A*. S. 78 f. E. S. 105 ff. Unter Heinrichs Regierung wurde der Bau
von Westminster-Abbey 1493 vollendet; er begann denn auch die
höchste Leistung des gotischen Stils in England, das Ostende der
Kirche von Westminster (1502—1520).
'■);
24 Kapitel 2.
Schloßkapelle zu Windsor und einiger Landsitze, vor allem des
herrlichen Schlosses von Richmond
Heinrich VH war ein frommer und sittenstrenger Mann«
der natürlich auf seine Zeit den nötigen sittlichen und religiösen
ßnfluß ausübte. Das sittliche Niveau begann sich wieder zu
heben, auch die Kirche erholte sich langsam wieder von ihrem
Tiefstande, da der König gegen Geistliche, die sich eines Ver-
brechens schuldig gemacht hatten, sehr streng einschritt. Die
Lollardische Ketzerei glimmte noch weiter, aber verschwand
allmählich; der König verhängte nur selten die Todesstrafe gegen
LoUarden, begnügte sich vielmehr mit öffentlicher Abbitte, An>
binden der Ketzer an den Schandpfahl usw. Mit der päpstlichen
Kurie verstand Heinrich ausgezeichnet umzugehen, so daß
schwerere Irrungen unter seiner Regierung nicht vorkamen.
2, Im großen tmd gemzen folgte ihm in dieser weisen Politik
sein Sohn Heinrich VIII. (1509 — 1547); doch wich er
insofern vom Vater ab, als er sich mehr als dieser in die aus-
wärtigen Dinge verstricken ließ und weniger mit seinem ge-
heimen Rate Sitzungen hielt und Beratungen pflog. Er trat noch
mehr als Selbstherrscher auf als Heinrich VII. So sinnlich und
grausam tmd leichtsinnig dieser König auch war — es war das
ein Erbteä seines Großvaters von mütterlicher Seite, König
Eduards IV. — , er hütete sich doch, in Regierungssachen die-
jenigen Grenzen zu überschreiten, die die Neigungen seines
Volkes oder die Verfassung verletzten. Heinrich hat auf die
öffentliche Meinung in England stets die gebührende Rücksicht
zu nehmen gewußt, oder doch wenigstens den Schein erweckt,
als achte er sie. Wenn er konnte, setzte er sich bei seinen Maß-
nahmen in das Einverständnis mit den maßgebenden Persön-
lichkeiten; anderenfalls tat er so, als ziehe er unliebsame Ent-
Schlüsse durch seine Gnade zurück, £ils wolle er dem Volke
etwas Liebes erweisen. Seine Regierung führte er aber durchaus
selber wie einst der Vater. So faul ihn auch seine Genuß-
sucht zu Zweiten machte, der König behielt doch inuner
seine Räte durch starken Willen in der Hand und ließ persönlich
die Sorge für die Untertanen niemals ganz aus dem Auge.
Die staatliche Entwicklung unter den Tudors. 25
Trotz aller Willkür des Königs hatte deshalb das Volk
nicht das Gefühl, tyrannisdi regiert zu werden« Und Heinrich
hatte das Glück, immer bedeutende Männer wie Kardinal
Wolsey, Thomas Monis u. a. an seiner Seite zu sehen« Ja, seine
Stelltmg als Monarch erhob sich noch über die des Vaters
dadurch um ein bedeutendes, daß er durch die Einführung der
Reformation in England an die Spitze der Kirdie trat und mit
der souveränen Gewalt des Monarchen die des Oberhauptes
der Hochkirche von England m einer Hand vereinigte. Nicht
als ob der König sich um religiöse oder kirchliche oder gar tmi
theologische Dinge viel gekümmert hätte: aus rein persönlichen
Motiven heraus hat Heinrich sich von Rom losgesagt, und das
Volk und die Geistlichkeit half ihm dabei. Es entsprach ebenso-
wohl der individualistischen Auffassung der Engländer, die in
nominalistischer Betrachtung der Welt (Wilhelm v. Occam) und
in religiöser Kritik (Roger Baco tmd Wiclif) erzogen tmd auf-
gewachsen waren, frei zu sein von einem ,J*'remden * und von
religiösen Vorschriften, die nicht von ihnen selbst ausgingen,
als es den Wünschen der englischen Geistlichkeit entsprach,
n.:r dem Könige und den von ihm verordneten Kirchenbehörden
hold imd gewärtig sein zu müssen« Der englische Stolz litt ein
acderes Oberhaupt nicht, als ein englisches. An der Dogmatik
änderten die „6 Artikel" der Reformation nichts; nur der König
trat an Stelle des Papstes an die Spitze der englischen Kirche^).
Welche Stellung nahm Heinrich VHI. eini Alles eilte, ihm den
befohlenen „Suprematseid" zu leisten; die wenigen« die sich aus
Gewissensbissen weigerten, wie Thomas Monis, bestiegen das
Schaffot. Der Absolutismus der Monarchie war in England
trotz dem Parlamente eher tmd weiter ausgebildet als in urgend-
einem anderen Lande der Welt Und das war allein möglich«
weil das Oberhaus, das 1539 nur 11 weltliche und 20 geistliche
Lords zählte, kaum in Betracht kam, im Unterhause und beim
Volke aber der König sehr beliebt war, weil er für den Mittel-
^) über die englische Relonnation wird unten in Kap. 5 das
Weitere besprochen werden.
26 Kapitel 2.
stand in Stadt und Land außerordentlich sorgte: man regelte
das Armenwesen, schuf neue Freisassen, was die massenhafte
Einziehung der geistlichen Gfiter gestattete, und erweiterte das
Selfgovemment in geeigneter Weise durch Verbesserung der
Gemeinde-, Stadt- und Grafschaftsverfassung*
Unter Heinrich VUI. begann aber jenes Emhegen der
Grundstücke und jene Umwandlung von Ackerland in Weide-
land, welche den Ruin von tarnenden kleiner Leute auf dem
Lande herbeiführte. Das Elend war z. T. grenzenlos; zu Straßen-
räubern tmd Bettlern geworden, durchzogen die armen Leute das
Land; ganze Familien lagen, zum Fortzuge von Haus und Hof
gezwungen, auf der Straße^)« Der Konig griff hier durch efaien
Erlaß von 1536 ein, der die Armenunterstützung regelte, indem
er sie den Gemeinden zuschob. Doch stieg der Wohlstand der
Städte trotz des Räuberunwesens infolge des zunehmenden
Handels immer mehr. Es wurden zwischen 1534 und 1543
mehrere Verordntmgen erlassen, durch welche der Wieder-
aufbau verfallener Häuser erzwungen werden sollte^). Die
Städte bekamen dadurch ein besseres Ansehen, die Aufsicht
wurde erleichtert, die Hygiene gebessert. Die Bautätigkeit blieb
also ziemlich rege und die Batdust wurde noch besonders
dadurch yerstärkt, daß Kardinal Wolsey, der allmächtige
Minister Heinrichs VDI,, viel Sinn für Kunstangelegenheiten
besaß und die Architektur sehr liebte. Er baute fast noch mehr
als der Konig selber, dem wir doch viele bewunderungswürdige
Werke verdanken. So gab es für die Bauhandwerker in dieser
Zeit viel Arbeit, was dann allerdings auch eine Menge von Lohn-
Streitigkeiten hervorrief, da die Leute bei den steigenden Preisen
^) S, Ashley a. a. O. 11 S. 475 ff. Wunderbar werden im negativen
Bilde diese Zustände in Thomas Morus; Utopia geschildert.
*) Ebendas. S, 52 f. In Calais wird 1535 der Comptroller er-
mächtigt, zweimal im Jahre 6 Zimmerleute und 6 Maurer vor sich
zu laden und sie daraufhin zu vereidigen, daß sie alle Häuser, die
baufällig und dem Einstürze nahe seien, eifrig aufsuchen, besichtigen
und anzeigen. Die Bewohner müssen dann die Häuser in 2 Jahren
neu bauen oder ausbessern, widrigenfalls sie dem Könige verfallen.
Die staatliche Entwicklung unter den Tudors. 27
der Lebensmittel zu den bisherigen Lohnen nicht mehr arbeiten
wollten« Für die Frmr-Brüderschaft wm'de Heinrichs Regierung
entscheidend
Heinrichs Vm. Re^erung zeigt überall in England das Bild
des Aufstiegs« Daß der Konig in seinem Privatleben so liederlich
war und durch häufige gewaltsame Auflosungen seiner Ehen
der Moral sehr schadete, war bedauerlich; indessen lenkte et
doch durch Betonung der auswärtigen Fragen, durch die
Reformation und durch die Entfaltung gehöriger königlicher
Pracht die Augen der Leute von der Fäulnis des Hofes ab; und
der König besaß — das ist nicht zu leugnen — eine Menge von
pi aktischer Intelligenz, die ihm bei allem Abscheu vor seiner
Moral doch die Bewunderung seiner Zeitgenossen eintrug«
3« Die drei Kinder Heinrichs Vm«^) kamen alle nacheinander
zur Regierung und trugen Englands Krone: Eduard, Maria und
Elisabeth, mit der dann das Geschlecht der Tudors ausstarb«
Eduard VI«, der im Alter von 10 Jahren, 1547, den
Thron bestieg, starb bereits 1553 an der Schwindsucht« Das
Reichsregiment führte für ihn zuerst der Herzog von Somerset,
später der Graf von Warwick, der zum Herzog von Northumber-
land erhoben wurde« Nach Eduards Regierungsantritt fühlte
man alsbald heraus, daß man bei der noch großen katholischen
Partei im Lande den Bruch mit Rom nicht werde aufrecht-
erhalten können, wenn man die Kluft zwischen beiden Kirchen
nicht erweiterte« „So geschah es, daß durch den einmütigen
Beschluß der Konvokation, welchen das Parlament bestätigte,
die Neuerung gebilligt ward, die von allen Einrichtungen der
römischen Kirchen wohl die größte Abweichung darstellt:
die Austeilung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt
Eigentlich davon ist m England die Umgestaltung des gesamten
Gottesdienstes .ausgegangen^)," 1552 wurden 42 Glaubens-
artikel festgesetzt, die in Wirklichkeit eine völlige Umgestaltung
des Dogmas der anglikanischen Kirche bedeuteten« Zugleich
^) Die ganze Periode der Tttdors leUt AS A*. S« 78 ff.
') Ranke: Englische Geschichte« Bd L S. 229«
28 Kapitel 2.
erhielt diese im Common Prayer Book eine Agende« welche die
litur^e beim Gottesdienste regelte, was erneut eine Vertiefox]^
der Kltift zwischen den beiden Kirchen herbeiffihrte. Die
bischöfliche Verfassmig behielt man aber doch noch beL So
wurde die Regierung dieses Knaben der eigentliche Ausgang
der Reformation in England überhaupt
Auch im die Freimaurerei ist sie von der höchsten Be-
deutung geworden. Indem man infolge der fortschreitenden
Reformation die bisherigen Brüderschaften auf-
hob, zwang man die Brüderschaft der Steinmetzen, wenn sie
nicht verschwinden wollte, andere Formen anzunehmen und
unter dem schützenden Dache der städtischen Zünfte als be-
sondere „Society" Deckung zu suchen, um von nun an gleichsam
als „ein innerer Ring** der Zunft in besonderen Gruppen (Logen)
ihre rein soziale tmd geistige Arbeit fortzusetzen. Davon unten
Näheres.
Hier sei noch angemerkt, daß tmter Eduard VI die Lohn-
streitigkeiten immer heftiger und schließlich bedenklich wurden.
Da infolge des Einströmens des Silbers aus dem neuentdeckten
Amerika der Geldwert sank, also die Lebensbedürfnisse teurer
wurden, andererseits durch die Weidewirtschaft wemger
Getreide gebaut werden konnte, also die Getreide- und Brot-
preise stiegen, wurde eine Erhöhung der Löhne dringend nötig.
Diese sanken aber trotzdem, weil ein gewaltiges Arbeitsangebot
vom Lande kam^}. Da waren ernstliche Lohnkämpfe natürlich
unvermeidlich, die damals aber deshalb einen so schroffen
Charakter annahmen, weil die Regierung tmd das Parlament
sich ganz und gar auf die Seite der Besitzenden stellte.
Eduards ältere Schwester Maria (1553 — 1558), die
Gemahlin des Spaniers Philippe], des ersten Verfechters des
katholischen Glaubens in Europa, wurde seine Nachfolgerin auf
dem Throne und stellte sofort nach ihrem Regierungsantritte die
allein seligmachende Kirche in England wieder her; aber der
^) Brosch: Geschichte von England. Bd VL S. 399 f.
') Es suhlen ihre Regierungsjahre offiziell immer als ««Philipp
imd Maria".
Die staatliche Entwicklung unter den Tudors. 29
Versuch mißlang trotz der drakonischen Strenge, mit der er
gemacht wurde, ein VerfahreUi welches Maria überdies noch
den Namen der „blutigen" eingebracht hat Daß sie sich durch
ihren Gemahl tmi des Glaubens willen in einen Krieg mit
Frankreich verwickeln ließ, kostete dem Reiche das letzte
Stückchen französischer Erde, das man noch b^esaß, die Festung
Calais. Schlimm war es auch, daß durch die Gegenreformation
Marias diejenigen in Mitleidenschaft gezogen werden sollten«
welche kirchliche Güter erworben hatten: 40QQ0 Besitzer
wurden dadurch von ihrer Scholle wieder vertrieben. Man
kann sich die Unruhe vorstellen, welche sich des Volkes be-
mächtigte. Das Parlament rüstete sich zu kräftigem Wider-
stände. Da starb Maria im November 1558, wenig betrauert
von einem Volke, das weder Lust hatte, sich von Spanien, noch
auch vom Papste leiten zu lassen, und das sich von seiner
eigenen Königin verraten fühlte.
Mit Jubel wurde ihre Schwester Elisabeth (1558 — 1603)
begrüßt. Sie lehnte die Teilnahme an der Messe ab und
stellte die von Eduard VI. beschlossene Kirchenordnung wieder
her, ohne daß sie je tiefere religiöse Interessen gezeigt hätte.
Aber es war nicht ihre Meinung, ntm in den umgekehrten
Fehler zu verfallen, wie ihre Schwester Maria, und die
Katholiken ihres Landes zugunsten der von ihr gewünschten
Form der englischen Staatskirche, der High Church, zu ver-
folgen, was viele fürchteten. Sie ging auch nicht einfach auf
die protestantischen Formen ihres Bruders Eduard zurück«
sondern suchte neue, behutsam, aber entschieden. So beruhigte
sich das Volk allmählich und einigte sich ziemlich in einem
Glauben und in Kirchenformen, die beide die Zustimmtmg des
Parlaments, wenn auch den Widerspruch der höchsten kirch-
lichen Synode, der Konvokation, gefunden hatten. Nur heimlich
konnten allerdings die weiiigen Nonkonformisten, denen der
Caesaropapismus der High Church zuwider war, namentlich die
Puritaner, ihre Meinung äußern, nur mit Gefahr vermochten
Katholiken Gottesdienst zu halten. Als die Macht der römischen
Kirche wieder etwas fühlbarer zu werden begann, erließ das
30 Kapitel 2.
Parlament 1571 sogar Antikatholiken-Gesetze, denen der Herzog
von Norfolk zum Opfer fiel, obgleich Elisabeth nm* migem das
Todesmieil unterzeichnete; aber die anglikanische Kirche ivar
national und populär — die Königin wagte nicht zu wider-
streben, tfias Staatskirchentum", sagt F, Salomon^ ,|bat in ge-
wissem Sinne verhütet^ daß der auswandernde Engländer der
Gemeinschaft verloren ging. Das Recht half den Zusammen-
hang wahren, indem es die These aufteilte, daß der aus-
wandernde Engländer allezeit Engländer bleibe/' Auch die
Volkswirtschaft hau dazu, das Volk zu einigen. Von den ersten
Tagen ihrer Regienmg ab wandte die kluge Frau ihre ganze
Aufmerkssunkeit den wichtigen wirtschaftlichen Fragen tmd den
Wandltmgen der auswärtigen Politik zu, deren Ziel die Zer-
trümmerung der spanischen Weltmacht war. Im Innern wußte
sie dabei gewandte Räte und tapfefte Führer ihrer Heere und
Flotten unter dem hohen Adel zu finden, wie Lord Burleigh,
Lord Leicester, Lord Essex, Gresham u. a., Männer, die sie
dadurch in Schach hielt, daß sie keinem ganz ihr Vertrauen
schenkte, keinem ganz die Regierung in die Hand gab, sondern
sie vielmehr stets einen gegen den anderen ausspielte. Das
„divide et impera" gelang ihr vorzüglich. Die Eingriffe in die
verworrenen Handel Schottlands brachten ihr auch hier ein
Übergewicht, das England gegen dieses Land sicherte. In
Irland, in dem schon ihr Vater wieder festen Fuß gefaßt hatte«
richteten der ältere Lord Essex und später andere Herren das
englische Regiment ein. Daß Elisabeth den bedrängten Nieder-
landen Hilfe sandte, verwickelte sie zwar in einen Krieg mit
Spanien, aber ihre immer stärker ausgebaute Flotte besiegte
Philipps stolze Armada tmd machte für England das Meer frei.
England trieb von jetzt ab dauernd anti-spanische Politik um
seiner geistigen tmd materiellen Interessen willen. Alsbald be-
gannen Handel tmd Gewerbe in England wieder zu blühen wie
nie zuvor. Elisabeth brach die Privilegien der Hanse — 1598
wurde der Stalhof der Hanseaten ganz geschlossen — legte
den Venetianem eine Navigationsakte auf tmd zwang Flandern
sein Monopol auf die Tuchfabriken ab. Schon 1568 wurde m
Die staatliche Entwicklung unter den Tudors. 31
London die Börse eröffnet Zeit ihres Lebens hat deshalb die
Köni^ sich zur Befriedigung ihrer Kreditverhältnisse mit Aus-
schaltung der ausländischen Geldmärkte ganz an ihre Landes-
kinder halten können. Der englische Handel kam immer
mehr in Schwimg, da England bisher, solange der Handel
außer auf dem Mittelmeere nur in der Nord- tmd Ostsee be-
trieben war, eigentlich weitab von der Straße oder höchstens
an dem Rande des eigentlichen Handelsgebietes gelegen hatte
tmd der. Hanse stets wenig oder gar keine Konkurrenz hatte
machen können, nun mit der Entdecktmg Amerikas und des
Seeweges nach Indien mit einem Male in der Mitte auf dem
Wege von Lübeck, Bergen, Brügge und Amsterdam nach der
neuen Welt lag. Man benutzte die günstige Lage, den schön-
errungenen Sieg über Spanien tmd die Hilfe, die die Nieder-
lande und Frankreich soeben von England brauchten, um sich
Kolonien zu sichern tmd einen großen Teil des Goldstromes
auch in die eigenen Kassen zu leiten^). Die kluge Handelspolitik
Elisabeths, die namentlich Sir Thomas Gresham leitete, hatte
das Resultat, den Handel der Fremden zu tmterbinden, das
Eindrängen des englischen Aktivhandels in das deutsche, nieder-
ländische tmd französische Handelsgebiet durchzusetzen oder
doch wesentlich zu iördem. Es war das Streben Elisabeths,
das wirtschaftliche Gleichgewicht in Europa herzustellen tmd
vor allem England als gleichberechtigten Faktor in die Welt-
wirtschaft einzuführen tmd ihm seinen Platz an der Sonne zu
sichern. Das hat Elisabeth vollkommen erreicht. — Auch auf
dem gewerblichen Gebiete wturde durch eine vereinheitlichende
Gewerbegesetzgebtmg tmd durch die Einführung neuer
^) S. die schöne kleine Schrift von Hugo Dietze: Sir Thomas
Gresham« Dresden 1913. Worauf es dieser Politik ankam, war das:
Englands Geldreichtum zu erhöhen, England vom Auslande wirt-
schaftlich unabhängig zu machen und die maritime Macht Englands
zu heben. Elisabeth war der erste Realpolitiker, den England be-
sessen hat, ein Politiker, der ganz und gar von allen Gefühlswerten
absah und nur den Nutzen Englands ohne jeden Skrupel verfolgte.
Elisabeth war — bewußt oder unbewußt — stets eine Schülerin
Macchiavellis.
32 Kapitel 2.
Industrien wirksam gearbeitet Im Jahre 1562 erließ die Königin
jenes Gesetz, das tmter dem Namen ,|Lehrlingsgesetz*'^) bekannt
geworden ist. Es bezweckte eine Versöhnung und Ausgleichung
der gegensätzlich gewordenen Interesseii der Arbeitgeber und
Arbeitnehmer durch Regelung der Arbeits- und Lohn-
verhältnisse und die Ausbildimg tüchtiger Arbeitskräfte zum
Nutzen der englischen Industrie. Die Monopol- und Privile^en-
politik, welche die Königin zuerst als Lockmittel angewandt
hatte, imi Geldleute und Gewerbetreibende zu gewinnen^), gab
sie gegen Ende ihres Lebens wieder auf, weil sie einsah, dafi
sie dadurch nur hohe Warenpreise hervorrief* Es war aber
ihrer Regierung stetiges Bestreben, die Preise und namentlich
die Lebensmittelpreise, recht niedrig zu halten. Das gelang, iveil
die von Elisabeth sehr geförderte rationelle Bodenkultur, die
die Sicherung der Besitzverhältnisse in England ermöglichte
und begünstigte, einen reichlichen jährlichen Ertrag lieferte,
und femer weil eine konsequente Armengesetzgebung') nicht
nur den Bettel tmterdrückte, sondern auch zuerst einen Unter-
schied zwischen einem Arbeitsscheuen und einem Arbeitslosen
imd Arbeitsunfähigen machte. Es wurden Armenbezirjce er-
richtet, den Gemeinden Armensteuem auferlegt, aber bloße
Vagabtmden zur Arbeit angehalten. Infolgedessen verschwand
die Bettelplage, imd die Wohlhabenheit in Stadt und Land
wurde deutlich und sichtbar. Der Luxus nahm am Ende des
16. Jahrhimderts immer mehr zu.
Offizielle Bauten sind in England unter Elisabeth wenige
aufgeführt^), aber die Bautätigkeit der Privaten muß unter ihrer
Regierung sehr rege gewesen sein; denn im Jahre 1615 erließ der
^) Ashley a. a. O. Bd 2. S. % £f. Statutes at large. Bd 2. S. 525 ff.
') Unter Elisabeth fand die sogenannte zweite Einwanderung in
England statt (unter Eduard III. die erste), welche allerdings meist
der Wollindustrie zugute kam. S. Ashley a. a. 0. Bd 2. S. 248 ff .
*) Die Armengesetze von 1563, 1572, 1597 und 1601. s. Ashley
a. a. O. Bd 2. S. 381 ff.
*) Das Börsengebäude wurde von einem Flamen als Baumeister
vcd von flamischen Arbeitern aufgeführt. Unter ihrer Regierung
drang der Renaissanestil in England ein. A'. S. 81. E. S. 107.
Die staatliche Entwicklung unter den Tudors. 33
Nachfolger der Königin, Jakob L, eine später öfter wiederholte
Proklamation, in der die Errichtung neuer Häuser in London
verboten wurde, weil die Stadt sonst zu groß werde. Die Städte
wuchsen schnell, zumal Stadt- und Landbevölkerung sich
immer mehr vermischten« Brosch weist mit Recht darauf hin^),
daß städtische Kaufleute Grundbesitz in den Grafschaften er-
warben und daß adlige Großgrundbesitzer, wenn sie von
Spekulanten, Seefahrern tmd Abenteurern nicht m Schatten
gestellt werden wollten, behufs Erhöhung ihres Einkommens
sich zu kaufmännischer Hantierung bequemen mußten«
4. Es ist den Bestrebtmgen des Hauses Tudor gelungen,
den gesunkenen Staat England wieder aufzurichten und zu
hohem Glänze zu erheben; die englische Burgersdiaft dankt
diesen Regenten sehr viel, vor allem ihre Reformation und
die Grundlage ihres Reichtums, ihren Handel. Dabei war
die Stellung der Könige aus dem Hause Tudor immer mehr
zu der eines absoluten Königttuns herangewachsen. Zwar
hielten sie alle durchaus am Parlament fest und ließen ihm
seine Vorrechte in Gesetzgebung, Steuerbewilligung und
Kontrolle der Verwaltung, da sie zu ihren Reformen die Zu-
stimmung ihrer Landstände ebensowenig entbehren konnten,
wie die deutschen Fürsten die der ihrigen; aber die Fürsten dieses
Hauses hatten die Verwaltung des Landes« soweit sie nicht dem
Selfgovemment anheimgegeben war, fest in der eigenen Hand
und das Parlament blieb dauernd in Abhängigkeit von ihnen*
„Die königliche Prärogative", so wurde in den Parlaments-
verhandlungen von 1601 geäußert, ,4cönne weder untersucht
noch bestritten werden und leide auch keinerlei Bnschränkung;
tmmnschränkte Fürsten, wie die englischen Monarchen, wären
eine Art von Gottheit, es wäre vergebens, die Hände der
Königin durch Gesetze und Verordnungen binden zu wollen,
weil sie durch ihre lossprechende Kraft nach Belieben lösen
könne')." Namentlich in Kirchensachen ließ sich die Kröne
^) Geschichte Englands Bd 6. S. 631.
*) Ich entnehme diese Zusainmenstellung dem Werke Droysens
Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege, 2. Aufl. T. L S. 26 L
34 Kapitel 3.
nicht hineinredeiL Elisabeth verwies dem Parlamenti als es
auf WeiterfQhrung der Kirchenreformation antrug, daß es sidi
in Dinge mische, die sein Begriffsvermögen überstiegen. Im
35^ Jahre dieser Königin eröffnete der Sprecher dem Hause:
JEs sei der ausdrückliche Befehl Ihrer Majestät, daß keine Bill,
die Staatssachen oder Veränderung in kirchlichen Dingen be-
treffend^ eingereicht werden solle, und ihm, dem Sprecher, sei
auf seinen Eid befohlen, wenn solche Bills eingereicht würden,
sie nicht zu lesen." Es kam noch der Krone zugute, daß die
Debatten des Parlaments nicht öffentlich waren, auch bei der
bestehenden Zensur und bei dem Mangel jedweder iZeitung tmd
Zeitschrift wenig bekannt wurden, also die Opposition nur dann
auf eine Unterstützung außerhalb des Hauses rechnen konnte,
wenn ihr Wille und Streben mit einer starken allgemeinen
Stimmung im Volke direkt zusammentraft). So gelang es auch
den Tudors, eine landesherrliche Verwaltung und ein be-
sonderes Verwsdttmgsrecht zu schaffen^); doch, ließen sie das
Selfgovemment (d. L eine innere Landesverwaltung der Kreise
und der Ortsgemeinden nach den Gesetzen des Landes durch
ehrenamtliche Personen unter Aufbringung der Kosten durch
kommunale Grundsteuern) nicht nur unangetastet, sondern
sie haben es, wo sie konnten, noch weiter ausgebaut Es
war ein Glück für das Volk, daß man in England von einer
scharfen Sonderung des hohen und niederen Adels nichts
wußte tmd eine Trennung von dem damals den Ton angebenden
niederen Adel, der Gentry, tmd dem Bürgertum nicht kannte.
Diese beständigen Übergänge von einem Stand in den anderen
erleichterten der Krone ihre Aufgabe sehr, ermöglichten es aber
tüchtigen Männern aus dem Volke, bis zu den höchsten Stellen
im Staate empor zu steigen. Das ganze Streben dieses Königis-
hauses ging dahin, die Macht der Stände zu brechen tmd dafür
einen einheitlichen Untertanenverband, repräsentiert im Parla-
ment, geleitet dtorch ein einheitliches Beamtenttmi, das /lern
*) Gneist: Englische Verfassungsgeschichte S* 483.
*) Redlich: Englische Lokalverwaltimg 1901. S. 771.
Die staatliche Entwicklung unter den Stuarts. 35
Willen der Krone ohne weiteres gehorchte, einzusetzen« ohne
doch den Büi^em des Reiches das Gefühl der Freiheit und der
persönlichen Mitwirkung an Staatsdingen im einzelnen ganz zu
nehmen, em Gefühl, das in der Teilnahme am Selfgovemment
und im aktiven und passiven Wahlrechte zum Parlamente
ebenso begründet war, wie in dem Beisitze im Geschworenen-
Gerichte.
Kapitel 3.
Die staatliche Entwickltmg unter den Stuarts.
1. Als Elisabeth auf dem Totenbette lag, bezeichnete sie
durch Worte tmd Gebärden den König Jakob V. von Schott-
land als ihren Nachfolgen Klar ausgesprochen hat sie sich dar-
über nicht Der Thronwechsel vollzog sich aber doch ohne
Schwierigkeit. Adel, Parlament und Volk beeilten sich, den
neuen König anzuerkennen. Das Haus der Stuarts, das im
17. Jahrhundert Englands Thron inne gehabt hat, ist für das
Land kern Segen geworden« Dennoch ist die Epocne seines
Regunents von außerordentlicher Wichtigkeit für * Groß-
britannien geworden. Es ist die Zeit, in der das Volk in mannig-
fachen Kämpfen sich seine Lebens- und Weltanschautmg errang,
in der es seinen nationalen Charakter, seine Freiheit tmd die
Richtung seiner Politik festsetzte und erkämpfte. Auch die
Frmrei hat in dieser Epoche vornehmlich diejenige Gestalt
angenommen, die es ihr ermöglichte, ihre Weltmission zu er-
füllen, indem sie alle die Elemente der Zeitgedanken in sich
aufnahm, die sie zur modernen Frmrei gemacht haben. Die wirk-
liche Geschichte der Frmrei beginnt erst mit dem Jahre 1620.
2. Seit der Thronbesteigung der Stuarts war England mit
Irland und Schottland unter einem Oberhaupte, Jakob L
(1603 — 1625), vereinigt. Der neue König war ein Regent von
größtem Wohlwollen, geistiger Regsamkeit und äußerst fried-
36 Kapitel 3.
Hebendi aber, obgleidi er vor seiner Tlironbesteigting bereits
25 Jahre in Schottland re^ert hatte, verstand er sieh doch so
schlecht auf die Führung des Staatsniders, daß ein
venetianischer Diplomat bei semem Tode schrieb, daB Jakob
veränderlich, hinterlistig, verschlossen, von der Furcht allein
beherrscht, der Urgrund alles Übels fOr England sei^)« Niemals
ist er in der auswärtigen Politik zu einer, den Interessen des
Volkes entsprechenden Richtung gelangt Danach muß ntian
gerade ihn für die erbitterten Kämpfe verantwortlich machen«
die ntm ein halbes Jahrhundert die beiden Inseln durchtobten«
,Jn dreifacher Richtung", sagt D. Schäfer*), „waren Englands
Lebensäußerungen unter Elisabeth festgelegt worden: sie waren
protestantisch, sie drängten nach Betätigung zur See und ae
waren durch beides antispanisch/' Wer an diesen drei Dingen
zu rühren wagte oder rie in andere Richtung zu drängen ver-
suchte, schwamm gegen den Strom der öffentlichen Meinung
und brachte die Volksstunmung ohne Frage gegen sich auf.
Das wagte aber Jakob L und alsbald zeigten sidi die Folgen*
Dazu kam ein anderes: es loste sich jenes Bündnis zwischen
Königtum und Nation, das unter den Tudors so wirksam ge-
wesen war und dem Königtume eine so hervorragende Stellung
gegeben hafte« — Nichts kann den Engländer mehr erbittern«
als unordentliche Finanzwirtschaft; dazu ist er zu sehr Krämer«
Nun hat Jakob aber nicht nur hiergegen, sondern gegen alle
Interessen, Neigungen tmd Meinungen seines Volkes aus den
verschiedensten Grfinden verstolfen« Er erweckte, obgleich er
Protestant und zur anglikanischen Kirche übergetreten war,
Hoffnungen bei Katholiken tmd Puritanern, daß er ae be-
günstige, und täuschte beide, erbitterte aber nicht nur sie,
sondern auch die Angehörigen der I£gh Churdi, die beständig
für ihre Prärogative bangen mußten; er knüpfte mit den
katholischen Mächten, Spanien und Frankreich, Verbindungen
an und ließ einen Mann wie Walter Ralei]^ wegen unbefugter
.^— — ___^— ^^— ^^■^— ^
^) Depesche des Valaresso vom 29. März 1624 bei Brosch:
GeschicHte von England Bd 7. S. 84.
*) Scli&fer: Weltgeschichte der Neuzeit Bd 1. 1907. S. 265.
Die staatliche Entwicklung unter den Stuarts. 37
Kriegffilinmg gegen die spanische Macht hinrichten« obgleidi
er wußte, daß Englands Interessen durchaus antispanisch waren.
Welche Erregung darüber hn Volke war, kann man sich leicht
vorstellen. Die Erregung wurde noch großer, als dann Jakob
den Konig Christian von Danemark zum Kriege gegen den
Kaiser reizte, uin seinen calvinistischen Schwiegersohn, den
Pfalzgrafen Friedrich, zu retten, und ihn doch nachher schmäh-
lich im Stidie ließ. Ja, Jakob brachte es dahin, daß englische
Protestanten vor Rochelle gegen Hugenotten kämpften, eine
Schandtat, die ihm das protestantisdie Volk — die Calvinisten
namentlich — niemals wieder vergaßeiL Dem Handel machte
der König unnütze Schwierigkeiten, die einträgliche Kaperei
verbot er und der englischen Piraterei, die die Engländer immer
nur bei anderen Nationen abscheulich finden, suchte er ziemlich
ein Ende zu machen. So brachte er durch falsche Politik, die
den englischen Interessen und Gefühlen zuwider lief, alle Kreise
gegen sich auf. Günstlingswirtschaft und Willkürlichkeiten
aller Art waren an seinem Hofe an der Tagesordnung und taten
ein Übriges, um ihn in jedem Hause seines Reiches unbeliebt
zu machen. Auch mit dem Parlamente kam Jakob sehr bald
in Konflikt. Holte der Hof das göttliche Recht der Krone her-
vor, so betonte die neue Partei der Whigs das uralte
Recht des Parlamentes. Am 18. Dezember 1621 erklärten die
sonst so . gefügigen Herren: „Die Freiheiten, die Madit,
Privilegien und Gerechtsame des Parlaments seien ein altes
und unstreitiges Geburtsrecht der Untertanen von England.**
Man bestritt dem Könige das Recht, Pfund- und Tonnengeld,
d. h. Zölle, in beliebiger Höhe einzuziehen, obgleich dies schon
seit Eduard IV. ungehindert geschehen war; man wei^rte ach,
Subsidien zu bewilUgen für einen Krieg, den das Parlament
nicht billigte. Namentlich waren es, wie F. Salomon zeigt, die
wirtschaftlichen Int^essengruppen, „welche die Epoche des
verfassungsmäßigen Absolutionus als Lehrzeit auffaßten, diese
Lehrzeit als beendet betrachteten und die weiteren Wege
selbständig und frei zu wandeln wünschten," die Jakob haßten.
Die Selbständigkeit der ISnzelpersönlichkett, die Unantastbar-
38 Kapitel 3.
keit der politischen Rechte und der wirtschaftUdien Interessen,
die Heiligkeit der Hi^ Churcfa gegenüber dem neuen
schottischen Presbyterianertume waren die Hauptpunkte des
Progranuns . des neuen« durch die Whigs vertretenen
Liberalismus. Als Jakob starb, war die Erbitterung gegen ihn
und seinen allmächtigen Gfinstlingi den noch jugendlichen
Herzog von Buckingham, allgemeuL
3« Und auf diesen Günstling stutzte ach der beim Tode
des Vaters 25jährige Karl L (1625—1649), der Gemahl der
katholischen Marie Henriette von Frankreich. Das Volk be-
gegnete ihm zunächst mit großem Vertrauen, aber er kam mit
dem Parlamente sehr bald in Konflikt, löste es mehrmals auf und
versuchte von 1629 bis 1640 ganz ohne Volksvertretung zu
regieren. Die großen Tendenzen der Zeit, französisch oder
spanisch, katholisch oder protestantisch, ständisch oder absolut,
drängte das Volk sehr auf die französisch-protestantisch-
standische Seite, während der König die andere Partei nabnL
So kam der Konflikt immer deutlicher heran« Als im August
1628 Buckingham ermordet wurde, begegnete die Kunde im
Lande großem Jubel« Trotzdem hätte der Hof, beraten durch
drei entschlossene Männer, nämlich Thomas Wentworth Earl
of Strafford, den Erzbischof Land v. Canterbury tmd den
Schatzsekretär Weston, der Schwierigkeiten wohl Herr werden
können, wenn der König auf Lands Anregung nicht versucht
hätte, die bischöfliche Verfassung der orthodox-anglikanischen,
gegenüber den Presbyterianem völlig unduldsamen Kirche
auch in Schottland einzufahren. Es weiren eben die schottischen
Presbyterianer, die zu den Waffen griffen und dem heimat-
lichen Hause der Stuarts den Gehorsam versagten; in England
waren es unzufriedene Handwerker von London, die rebellierten
und zu diesem Zwecke ihren Lehrlingen freie Hand ließen^). Die
Unruhen wurden^ bedrohlich. In diesen Schwierigkeiten wußten
der König und seine Ratgeber keinen anderen Ausweg, als die
Wiedereinberufung des Parlaments. Als dieses im April 1640
^) Ranke: Englische Geschichte Bd 2. S. 541.
Die staatliche Entwicklung unter den Stuarts. 39
zusammentrat, machte sich die Erbitterung des Volkes in einer
schreienden Opposition kund. Es begann die RevoluBoUi die
Verbindung der Whigisten mit den SchotteUi der furchtbare
Bärgerkrieg, endlich nach langen Kämpfen die Hinrichtung des
Königs« Es waren aber doch nicht eigentlich die Presbyterianer
und das whigistische Parlament — das spaltete sich im Januar
1644 — I die gesiegt hatten, sondern eine radikale politisdie
und religiöse Partei, die Independenten, die Gottesstreiter, ge-
wannen unter Cromwells und Miltons Führung die Oberhand«
Republikanisch, wie sie waren, leugneten sie die Göttlichkeit
des Königsttuns, an der doch die Schotten tmd em großer
Teil der Engländer selbst festhielten, Presbyterianer und
Independenten standen sogar im Verlaufe des Kampfes einander
gegenüber; daß der König es nicht verstanden hatte, sich mit
jenen zu vertragen, war sein Unglück geworden. Selbst das
von den Independenten bedrückte Parlament hätte sich gerne
mit dem Könige geeinigt Es war zu spät: die entschlossenen
Radikalen jagten, obgleich in der Mmderheit, zwei Drittel des
Parlaments aus dem Hause hinaus und der Rtmipf beschloß
den Tod des Königs* Am 30, Januar 1649 betrat er das Schaffot;
ein jtmges Mädchen reichte ihm eine Rose hinauf. Die Stunmtmg
des Volkes für ihn war während der Kämpfe umgeschlagen. —
Mit eiserner Energie imd entschlossener Folgerichtigkeit hatte
aber Cromwell die Repubfik geschaffen und hielt sie aufrecht;
doch die Engländer ertrugen sie nur unter Zwang.
4. Es legt« sich nun der Geist des finsteren Puritanismus
über das fröhliche alte England, wie der Mehltau auf die Blüten«
Es waren furchtbare Zeiten. Aber die Republik führte zu einer
Schärfe und Einheitlichkeit der staatlichen Gewalt, wie sie kein
Land des Kontinents, selbst Frankreich nicht, jemals erreicht
hat. Das Ergebnis war eme völlige Auflösung der alten Stä,nde
und deren Verschmelzung zu einem Volke. Und dieses^ Volk
regierte sich nun selbst; wenn auch die Form, unter .d^r^ es
sich re^erte, keinen Bestand hatte: es stand doch ein^für; alle
mal fest, daß das Volk von nun an sein Geschick selbst in
seine Hand genommen habe und es nicht wieder aus der Hand
40 Kapitel 3.
geben werde« Vorerst aüerdiiigs re^erte der Lord-Protektor
mit Sdirecken^), aber Cromwell knfipfte bewußt an die
Zeiten der Elisabeth wieder an und der en^ische Imperialismus
blühte wieder. Da in den V(^en des Bfirgerkrieges Gewerbe
und Handel gestockt hatten« was den Hollandem ermöglichte,
den Welthandel an sich zu reißen'), erließ Cromwell 1651
Navigationsakte, d L ein Monopol ffir die englischen
auf Transport von und nach britischem Gebiete. Die Akte war
nicht sowohl in merkantilistischem Interesse gegeben, als un
englisch-imperialistischen; Cromwell strebte nach der Schaffung
einer Flotte und der engeren Vereinigung der Kolonien mit
dem Mutterlande, dem natürlich eine zentrale Stellung zu-
gedacht war, Cromwell war fiberzeugt, und er bewies das
aus der heiligen Schrifti daß die Engländer das auserwäUte
Volk Gottes seien, das berufen wäre, der Welt die echte
Religion, aber auch die Freiheit, namentlidb die des Gewissens
zu bringen. Das „Reich Gottes" glaubte er zu fordern« indem
er die englischen Interessen wahrnahm. Allein die Nation er-
kannte den Wert der Navigationsakte nicht sogleich; das Fort-
bleiben der Fremden brachte zunächst große Verluste und nach
zwei Jahren war bereits der gesamte baltische und Grönlands-
handel für England verloren. Diese staatliche Umwälzung war
die größte Revolution auf dem Gebiete der gewerblichen und
der Handelsinteressen, die die Insel jemals betroffen hat. Damals
begann zwar die Ausdehnung der Handelsbeziehungen und die
feste Begründung des Kolonialreiches, aber auch die furcht-
baren Kriege mit Holland fingen an und setzten sich jahrelang
fort, bis die Engländer dadurch schließlich doch die Oberhand
behielten, daß man es in London meisterhaft verstand, den
Holländern die Franzosen so lange auf den Hals zu hetzen.
^) Der war dringend nötig wegen der kommunittischen Gleich-
macher, die alle gesellschaftlichen und EigentumsveihSltnisse um-
instarsen drohten.
*) Von den 20 000 Schiffen der europäischen Kauffahrtei, sagte
Cdbert. sind 16000 Holunder.
Die staatliche Entwicklung unter den Stuarts. 41
bis man selber gerüstet war. Nie wurde England fester mit
Irland und Schottland verbimden als damals; nie wurden Handel
und Industrie mehr gefördert, als unter dem Protektor, Als
Cromwell 1658 starb, waren sowohl die merkantilistischen als
auch die imperialistischen Interessen endgültig gesichert, und
ihnen folgte langsamer, aber erhobenen Hauptes Industrie und
Handwerk. Man hat in jenen Zeiten immer die Ansicht gehabt,
daß die Kolonien nicht um ihrer selbst willen, sondern um des
Mutterlandes willen da seien. Sie lieferten die Rohmaterialien,
während ihnen das Mutterland die fertigen Fabrikate au^Ewang,
welche man in England daraus erzeugt hatte. Das mußte
natürlich Handwerk und Industrie nicht nur reichlich be-
schäftigen, sondern auch in hohem Maße zur Weiterarbeit an-
spornen. Die Niederlande und Frankreich waren in dieser Zeit
wirtschaftlich und technisch noch immer weit vor England vor-
aus. Aber die Regierung verstand es, durch allerlei künstliche
Mittel, durch Monopole und Zolle, durch Verbote und Prämien
überall der heimischen Produktion nachzuhelfen und die der
Konkurrenten zu dämpfen, niederzuhalten oder sogar ganz zu
ruinieren. So kam England vorwärts und seine Wohlfahrt be-
gann aufzublühen. Die Lohne stiegen, die Städte blühten, die
Bevölkerung nahm zu und wurde zusehends reidier. Es kam
das Kreditwesen in Gang und überwand selbst die gewaltige
Krise von 1640, die Karl I. dadurch hervorgerufen hatte, daß
er sich der Bardepositen der Kaufleute im Tower, in Hohe von
etwa 130,000 & , einfach bemächtigte^). Unter dem Protektor
ging es auf allen Gebieten schnell vorwärts.
5. Auch das Baugewerk blühte, weniger vielleicht das
Steinmetzen-Handwerk, als die übrigen Teilgewerke der Bau-
handwerker. Macaulay^ zeigt gerade an den Ziegeldeckem,
Zimmerleuten usw., daß die Löhne im Laufe von 120 Jahren
^) Bouniatian: Geschichte der Handelskrisen in England S. 3.
Diese Krise führte zur Organisation des Bankwesens, zum Entstehen
der sogenannten Goldschmiedsbanken.
') Englische Geschichte übers, v. Bülau. Leipzig 1849. Bd 1.
S, 380: Im Laufe von 120 Jahren stieg der tägliche Verdienst des
/
42 Kapitel 3.
um ein Gewalliges gestiegen sind, und zwar hauptsäcfalidi in
dieser Zeit; das läßt auf eine große Bautätigkeit schließen«
Schon in der Mitte des XVI. Jahrhunderts begann die
gotische Architektur zu verfallen und langsam der Renaissance
oder dem ««Revived Italian Style'\ dem , Augustischen" Stü« wie
Anderson sagt« Platz zu macheui zuerst in der Kleinkunst und
dem Kunstgewerbe, dann immer mehr auch in der Architektur;
namentlich in den Staatsgebäuden, den Schlossern und den
Privathäusem wurde er verwandt. Denn der Kirchenbau sank
seit dem Zeitalter der Elisabeth fast ganz dahin, während welt-
liche Gebäude jeder Art an Zahl und Bedeutung stetig zu-
nahmen. Zunächst trat allerdings eine Vermischung der Stil-
arten ein, die unter Jakob L den höchsten Punkt erreichte; aber
im Jahre 1615 wurde Inigo Jones^), der ganz in Italien gebildet
war, an Stelle von Simon Basil „Surveyor-general of the
works'* (d h. staatlicher Oberbaudirektor). Jones war ein
Künstler, welcher den Renaissancestil in seiner Reinheit durch-
setzte. Er haßt unnützen Zierat, legt den Wert auf den
mächtigen Gesamteindruck, ist aber liebevoll in den Details.
Seinem Wirken verdankt England nicht nur die Einführung,
sondern auch die Vollendung der Renaissance. Nicht als ob
er den gotischen Stil ganz verdrängt hätte, — dazu war dieser
zu spezifisch englisch — aber Jones fiberwand ihn doch und
Ziegeldeckers von einer halben Krone auf 4 Sk 10 p., der des Maurers
von einer halben Krone auf 5 Sh. 3 p,, der des Zimmermanns von
einer halben Krone auf 5 Sh« 5 p. usw.
^) S, über ihn Stephen and Lee: Dictionary of national bio^raphy
Bd 10. S. 999 ff. Er lebte 1572—1652 und war ein echter Schfiler
des Palladio. Lübke sagt in der Gesch. d. Architektur: „England hat
▼on allen Ländern nicht bloß im staatlichen und gesellschaftlichen
Leben, sondern auch in der Architektur mit größter Zähigkeit an den
mittelalterlichen Traditionen festgehalten. Gänzlich ist der gotische
Stil in seiner eigentümlichen, etwas nüchtern schematischen Weise
bis auf den heutigen Tag dort niemals verdrängt worden.. Charakte-
ristisch ist besonders, daß jene phantasievolle germanische Früh-
renaissance hier keine Stätte gefunden hat. Erst mit dem 17. Jahrb.
machte sich der italienische Stil auf dem Insellande geltend und wird
durch Inigo Jones, einem eifrigen Palladianer, ausgebreitet."
Die staatliche Entwicklung unter den Stuarts. 43
bildete den Geschmack des englischen Publikums völlig tmi«
Jones war seit Jahrhunderten wohl das größte künstlerische
Talent auf dem Gebiete der Baukunsti bei Hofe hoch angesehen
und fast ein personlicher Freund Karls L Seine Bauten, wie
das Bankethaus zu Whitehalli the Queen's House in Greenwicfa,
die Tuscan Church of St, Patd in Covent Garden, das Theater
of the Barber Surgeons usw. waren Wahrzeichen sicheren und
reinen Geschmacks und wurden viel nachgeahmt. Aber* diese
,,Reformation" der Baukunst muß den Steinmetzen einen
schweren Schlag versetzt haben, wenn sie auch wieder den
Maurern, Zimmerleuten usw. viel Arbeit gab^). Hatte schon die
beginnende Änderung des Materials und das Ersetzen des be-
hauenen Steines durch Backstein und Stuck den Masons viel
geschadet, so muß die Ersetzung ihrer alten Tradition durch
eine neue, des schwierigeren gotischen Baues durch den viel
einfacheren Renaissancebau ihnen viel Abbruch getan haben«
Wu: hören nun auch seit 1650 sehr viel von dem Verfall der
Logen, deren handwerksmäßige Ktmst damals wohl ziemlich
erstarb.
6. Es war von vornherein Idar, daß Cromwells viel
schwächerer Sohn sich nicht wurde halten können; denn es war
in England, als der Protektor starb, ein wpster Haufen von-
einander sich bekämpfenden Parteiungen und Gruppen vor-
handen, die nur eine sehr kräftige Hand hätte zusammenhalten
und lenken können. Da waren zunächst noch die starren konser-
vativen Elemente, die Tories, welche am liebsten das alte
^) Anderson, der den gotische» Stil — er war ja der Stil der
katholischen und anglikanischen Kirche — als Presbyretianer nicht
leiden kann, rühmt Inigo Jones sehr, aber er erklärt in seiner History
(A^ S. 26. Begemann a. a. 0., Bd 2. S, 185): „Man sollte nicht ver-
gessen, daß sowohl Maler, wie Bildhauer, immer als gute Masons an-
gesehen wurden, ebenso wie Bauleute, Steinhauer, Maurer, Zimmer-
leute, Tischler, Tapezierer oder Zeltmacher/' Sehr bezeichnend! Man
vergesse das nicht. A^ S. 38 ff. A*. S. 97. E. S. 125 ff. — Be-
zeichnend ist auch, daß Anderson seine Geschichte der Baukunst mit
Karl L abbricht und erst mit Karl IL wieder aufnimmt, also die
Bürgerkriege übergeht.
44 Kapitel 3.
ständische Regimenti wie es vor der Revolution gewesen war,
wiederhergestellt hätten, die aber jedenfalls an der Monarchie
und an der orthodoxen anglikanischen Kirche zäh festhielten;
dann ihre Gegner, die Whigs, die wieder in sich vielbch ge-
spalten waren und Männer von den konstitutionellen Mon-
archisten bis zu den radikalsten Republikanern (Independenten)
unter sich zählten. Auch kirchlich schieden Ach, die Whigs^)
in verschiedene Fraktionen: Die Puritaner betonten die prak-
tische Betätigung ihres innerlich erlebten Christentums imd
wünschten selbst das Tagewerk zu heiligen, legten jedenfalls den
sittlichen Maßstab an jede Handlung; tmd es war nur ein Schritt«
daß sie von ihren sittlichen Forderungen vorwärts gingen zum
religiösen Verhalten, so daß man das ganze religiöse Denken«
Fühlen und Handeln bei ihnen in Moral eingetaucht sah. Die
Quäker, mit Fox an ihrer Spitze, suchen allein das innere Licht
und verwerfen allen äußeren Buchstabenglauben und jede
Autorität der Schrift und das Dogma jeder Kirche, Der Einzelne,
seine Erleuchtung, seine Vernunft ist allein maßgebend« Die
Leveller, aus den politischen Independenten hervorgegangen«
predigen fanatisch die Trennung von Staat und Kirche, Nur
keine Autorität, nur keine Gemeinsamkeit! Jeder für sich,
jede Gemeinde fiLr sich. Kein Gewissenszwang! Freiheit in
Religion und Sitte! Wie im Staatsleben der Wille des Volkes
maßgebend sein muß, so in der Religion und Sitte Herz und
Vernunft des Einzelnen, Über die Deisten, die auch wieder
keine geschlossene Gruppe bildeten, sondern gespalten waren,
wird später noch ausführlich die Rede sein müssen. Alle diese
Parteien, Fraktionen und Gruppen zusammenzuhalten tmd zu
lenken, dazu war Richard Cromwell. nicht stark genug.
Vom Heere aus begann die Restauration, welche die Billigung
der Bürger fand. Am 29. Mai 1660 hielt Karl n. (1660^1685),
vom Jubel der Bevölkerung begrüßt, an der Seite des
General Monk seinen Einzug in London, Krone, Volk und
^) Pünjer: Religionsphilosophie S. 209 ff.; Herzogs Realenzyklo-
pädie 3, Aufl. unter verschiedenen Stichworten: Leveller. Kongre-
gationalisten usw.
Die staatliche Entwicklung unter den Stuarts. 45
Parlament waren eini£« ,,Wo sind denn meine Femde?" fragte
der König erstaun! Sie waren in ihm selbst. Denn mit ihm kam
das französische Wesen in das Land, die Sittenlosigkeit, die
Verschwendtmgi der Katholizismus« Zwar lenkte der König das
Staatsschiff vorläufig in den Bahnen des Protektors weiter, aber
die überstürzte Kolonisationi die langen Kriege Englands an
der Seite Frankreichs gegen Holland und der Mangel an volks-
wirtschaftlicher Erkenntnis riefen Krisen hervor. Auch das durch
die Restauration wieder hergestellte Einvernehmen zwischen
Krone und Parlament tmd das gute Verhältnis zwischen dem
Hofe und dem Volke dauerte nicht lange. Daß Karl den letzten
Besitz Englands auf französischen Boden, Dünkirchen, an
Ludwig XIV. verkaufte und von Paris Jahrgelder nahm, er-
bitterte das national-stolze Volk. Auch der steigende Katho-
lizismus des Hofes regte die Leute auf. Als Karl zu Gunsten
seiner katholischen Freunde die Indulgenzakte erließ, setzte
das Parlament 1673 die Testakte durch, welche jeden Engländer,
der ein Amt bekleiden wollte, zur Anerkennung der kirchlichen
Suprematie des Königs und zu einer Erklärung wider den katho-
lischen Glauben, insbesondere die Transsubstantationslehre,
zwang. Von Jahr zu Jahr stieg die Erbitterung des arg ent-
täuschten Volkes gegen den König und seine Umgebung. Die
Skandalgeschichten am Hofe gaben dem Hasse immer neue
Nahrung. Mit Schrecken sah man einen neuen Konflikt sich
nahen. Da Karl kinderlos war, kam die Sorge wegen der
Thron^lge hinzu. Der Bruder des Königs, Jakob, war offen zur
katholischen Kirche übergetreten: er war nur allzu bekaxmt als
rachsüchtig, hinterlistig und grausam. Es trat die Frage auf, ob
man das Thronrecht festhalten und sich der Gefahr aussetzen
solle, die Zeiten der blutigen Marie wiederkehren zu sehen, oder
ob man eine neue Thronfolgeordnung aufstellen und dadurch den
Protestantismus retten solle. Die Parteien spalteten sich, das
Volk war wild erregt: die „Tones" hielten an Jakob und am
Katholizismus fest, die „Whigs" am Protestantismus. Dazu
kamen die wirtschaftlichen Faküonen, die Bankerotte, die wüßten
Szenen in London. Die Ausschließungsbill Jakobs, die man ein-
46 Kapitel 3.
zubringen wagte, ging im Unterhaus durch« aber die Lords ver-
warfen sie. Das Volk tobte. Wenigstens das nackte Leben
wollte man retten. Unter dem Ministerium Shaftesbury erließ
1679 das Parlament die i,Habeas Corpus Akte", die Schutz gegen
willkürliche Verhafttmgen bot und die personliche Freiheit
sichern sollte^), tmd der König wagte nichti sein Veto einzulegen.
7. Man konnte nicht eimnal aufatmen, als Karl H.
starb; Jakob TL. (1685 — 1688) war schlimmer, als man ge-
glaubt hatte. Der gescheiterte Aufstand des Herzog von
Monmouth und die zahlreichen Hinrichtungen zeigten, wessen
man sich zu versehen hatte. Es folgten Dispensationen des
Konig von der Testakte, der Erlaß einer neuen Indulgenzakte,
die Weigenmg von sieben Bischöfen sie zu verkünden, Prozesse,
Bestrafungen, gelegentliche Freisprechungen durch die Jury, die
tmgeheuren Jubel hervorriefen, Hemmtmgen von Englands
Wohfahrt und seines Fortschrittes in den allgemeinen Welt-
verhältnissen. Als am 20. Jtmi 1687 dem Konige aus dessen zweiter
Ehe ein Sohn geboren wurde, entschlossen sich die Parteien ge-
meinsam zu handeln. Tories und Whigs, Geistliche tmd Welt-
liche, Anglikaner tmd Presbyterianer, in dem Ptmkte einig, daß
man die Bedrücktmg, Ungesetzlichkeit tmd Sittenlosigkeit dieses
Hofes nicht länger dulden dürfe, verbanden sich mit den
protestantischen Mächten, insbesondere mit den Niederlanden
und Brandenburg, um den Londoner Skandalen ein Ende zu
machen. Amsterdam tmd London war die letzte militärische
Parole, die der große Kurfürst an seinem Todestage ausgab.
Eine Akte, die sieben Mitglieder hochgestellter Familien und
der Bischof von London tmterzeichnet hatten, ging nach dem
Haag an den Generalstatthalter Wilhelm von Oranien, daß er
kommen möge, um England zu retten. Am 5. November 1688
^) Gneist a. a. O. S. 658, Da die Haft nach englischem Systeme
das ordentliche Zwangsmittel für die gesetismäßigen Anordnungen
der Verwaltung bildete, so gestaltete sich das Habeas corpus bei den
Reichsgerichten zu einer allgemeinen Rechtskontrolle der Ver-
waltung im"" Stadium der Zwangsvollstreckung in Polizei-, Finanz- und
anderen Sachen.
Die staatliche Entwicklung unter den Stuarts. 47
landete Wilhelm, der Gemahl der ältesten Tochter Jakobs aus
dessen erster Ehe, mit einem kleinen Heere in England; auf
seinem Admiralschiffe standen die Worte: je maintiendrai: „ich
werde protestantische Religion und die Freiheit Englands atd-
recht erhalten". Heer und Nation jubelten ihm zu tmd die könig-
liche Familie rettete sich nur durch die Flucht aus England«.
8. Hatten die ersten Stuart-Könige sich mehr und mehr auf
die unteren und mittleren Erwerbsklassen gestfitzt, so war
Karl n. von vornherein genötigt gewesen« sich den wirtschaftlich
gehobeneren Klassen zu nähern. Darin waren er und sein Nach-
folger ganz einig und darauf arbeiteten Könige und Parlament
in gleicher Weise hin, Handel und Industrie mit allen Mitteln
in die Höhe zu bringeiL Dazu war ihnen auch kein Mittel
zu schlecht, auch den späteren Königen nicht Auf eine Adresse
des englischen Parlaments antwortete einst Wilhelm III: ,Jch
werde Alles tun, was in meinen Kräften ist, um der Woll-
manufaktur in Irland den Mut zu benehmen." Mochten die
Irländer hungern, wenn es nur dem glücklichen England gut
ging. Und es ging ihm tatsächlich sehr gut. Trotz der inneren
Unruhen und der schweren Kriege mit Holland blühte der
Wohlstand des Reiches. Beim Regierungsantritt Karls 11. hatte die
britische Handelsflotte 95266 Tonnen Frachtraum, 1688 aber
190533 Tonnen; die Ausfuhr fiberstieg die Emfuhr um ein Ge-
waltiges, und wenn auch iin Innern die Armenlasten stiegen
und die Staatsschuld sich vervielfachte, es stiegen doch auch die
Bankeinlagen^ und der Kredit verbilligte sich. Der Wohlstand
des Landes war groß genug, um nicht nur die großen Handels-
krisen von 1667 und 1672 zu überstehen, sondern auch um
die Pest von 1666^) und den großen Brand von London in dem-
selben Jahre') ohne Schwierigkeit zu fiberwinden. Damals
^) Macanlay a. a. O. L S. 173. Die Pest raffte In 6 Monaten
100000 Menschen hin.
*) Ebendas. L S. 173, 316. Die ganze City, vom Tower bis zum
Tempel, von der Themse bis zu den Bezirken von Smithfield wurde
in Asche gelegt 89 Kirchen und 13000 Hftuser waren verbrannt
i
48 Kapitel 3.
müssen große Mengen von Bauhandwerkem aller Art nadi
der Hauptstadt zusammengeströmt sein, da die Stadt mit großer
Sdmelligikeit und viel schöner und praktischer, als sie gewesen
war^), wieder aufgebaut wurde/ Den Mittelpunkt bildete der
Neubau der alten Kathedrale von London, St Pauls, der dem
größten Baumeister der Zeit, Sir Christopher Wren (1632 — 1723),
anvertraut war*). Dieser hat nicht nur dieses bedeutendste
Bauwerk Londons geschaffen, sondern außerdem mehr als 50
Pfarrkirchen, 36 Zunfthallen und das Finanzgebäude, ganz ab-
gesehen von einigen Privathäusem und einer Reihe von Werken
in der Provinz, von denen das Ashmole Museum in Oxford
wohl das beste ist. Zweifellos war Wren ein bedeutender,
schaffensfroher Kunstler und em Mann von Geschmack, der an
den Griechen gebildet war. Auch als Gelehrter stand er hoch,
wenn ihn als Naturwissenschaftler auch Newton vielleicht über-
traf, jedenfalls aber überstrahlte. In den Einzelheiten kommt er
zwar — auch als Baumeister — dem Inigo Jones nicht gleich,
aber in der Großartigkeit und Kühnheit der Entwürfe erreichte
ihn niemand in der Zeit. Ob Wren jemals Freimaurer war, blieb
lange zweifelhaft; Aubry hat in seinem Memorandtmi berichtet,
daß Wren am 18.. Mai 1691 in einer großen Versammlung in
der St. Pauls-Kathedrale als Bruder aufgenommen wurde '^}.
Begemann sieht keinen Grund, diese Nachricht unglaubwürdig
zu finden, während Gould sie entschieden bestreitet, weil
^) Leider behielt man die alten Strafienlinien bei und verbreiterte
^ie auch nicht.
*) Über ihn s. Stephen & Lee: Dictionary of biography Bd 21.
S. 995 ff.; Gould, History of freemasonry. 3. S. 34 ff.; Bergmann;
Freimaurerei in England Bd 1. S. 401 E; Nagler: Künstlerlexikon. Bd 22.
S. 110 ff.
') Es ist sehr wichtig, daß Aubry zuerst schrieb, of the Fratemity
of the Free-Masons, dann das Free durchstrich und darüber schrieb;
accepted. Nun war zwar Aubry selbst nicht Frmr, aber er hatte
offenbar manches von der Gesellschaft gehört und wußte sicher,
daß zwischen freemasons und accepted masons ein großer Unter-
schied war. Begemann übergeht das Faktum leichthin.
Die staatliche Entwicklung unter den Stuarts. 49
niemand von den alten und aktiven Maurenii welche mit Wren
zusammen gewesen sind, sich der Tatsache^ seiner Aufnahme
erinnerte, tmd andere Grunde vorliegen, dieses Fakttmi über-
haupt zu bezweifeln. Doch muß man auch wieder in Betracht
ziehen, daß von den sechzehn Zeitungen, die seinen Tod 1723
meldeten, zwei von ihm als einem freemason sprechen« Jeden-
falls hat Wren als Freimaurer nie eme große Rolle gespielt, und
es ist sicher, daß Andersons Darstellung in der zweiten Auflage
seines Konstitutionenbuches: „darum hielten es die wenigen
Logen, da sie sich von Sir Christopher Wren vernachlässigt
fanden, für zweckmäßig, unter einem Großmeister als dem
Mittelpunkt der Einigkeit imd Harmonie sich fest zu verbinden^)"
wahrscheinlich falsch ist, da Wren niemals ein Amt in der Loge
bekleidet zu haben scheint Auch die übrigen Angaben, die
Anderson über Wrens frmrische Laufbahn macht') und Prestons
Erzähltmgen beruhen auf Irrtum, nur sieht man nicht recht,
woher sie stammen*). Wunderbar ist es auch, daß gerade zu
Wrens Zeit, der Hochblüte des Baugewerbes in London, die
Logen verfielen. Da alle Nachrichten darüber aber einig sind,
so kann man nur annehmen, daß sich das künsÜerische und das
gesellige Leben der zahlreich beschäftigten Architekten, Bau-
handwerker, Gesellen und Arbeiter mehr in den Ztmfthäusem
und in den Kneipen, als in den Bauhütten abspielte, zumal die
Steinmetzen, die doch allein von allen Bauleuten zum Logen-
leben hinneigten, wohl nur einen geringen Teil der schaffenden
Bauhandwerker darstellten. Es sind 1717 nur noch vier Logen,
die in London nach der alten Art der Society arbeiteten.
^) Begemann Bd 2, S. 33; A'. S. 109.
^] Begemann Bd 1. S. 401 £(; A*. S. 1Q2 f., 105.
') Begemann hält Anderson ffir einen Schwindler. Das ist er
sicher nicht, da dieser Prediger der Presbyterianer gar keinen Grund
hatte zu Ifigen. Er ist oft kritiklos, leichtgläubig und ein echtes Kind
■einer Zeit, aber weder ein Phantast noch ein Lügner.
50 Kapitel 4.
Kapitel 4.
Nach der glorreichen Revolution. Thronbesteigung
des Hauses Hannover.
L Erst nachdem Wilhelm IIL von Oranien (1689—1702)
die Parlamentsakte, die ihn auf den Thron erhob, eine Akte,
welche die Verfassung festsetzte und die Erbfolge regelte
(declaration of rights), unterzeichnet hatte, empfingen er und
seine Gemahlin Marie am 13« Februar 1689 gemeinsam die
Krone Englands. König VC^elm war dturch die freie Wahl
des Parlaments auf den Thron gekommen; darin lag ein ent-
scheidender Sieg der Volkssouveränität und des darauf auf-
gebauten Konstitutionalismus, aber auch ein entscheidender Sieg
des toleranten Protestantismus über den Katholizismus und die
unduldsame Orthodoxie der anglikanischen Hochkirche, deren
Macht seitdem gebrochen war* Die beiden Parteien, die Whigs
und Tories, hatten sich auf Wilhelm geeinigt, obgleich ihre
Ziele und Wege sehr weit auseinander gingen, weil Jakob durch
seine katholisierenden und absolutistischen Tendenzen den Kon-
stitutionalismus und die Erbschaft aus der Zeit der Revolution
zu vernichten gedroht hatte; sie konnten sich auf Wilhelm
einigen, weil er der Gemahl der ältesten Tochter Jakobs IL
war« Aber nach seiner Thronbesteigung gingen die Parteien
sofort wieder auseinander und ein erbitterter Kampf begann«
Der König neigte entschieden zu den Whigs hinüber« Denn er
war recht eigentlich ein König von Parlaments Gnaden, war auf
die Whigs smgewiesen, die ihn doch im Wesentlichen erhoben
hatten tmd jetzt gleich ihm auf der protestantischen Erbfolge,
dem Konstitutionalismus und der Aufrechterhaltung der
„Freiheit" bestanden. So war er den Gesetzen und der Religion
Nach der glorreichen Revolution. 51
des Laxides unterworfen, gleich jedem Untertani aber er war
doch frei in den Sphären seiner königlichen Macht und benutzte
das mit Klugheit und Geschick. Sein Privathaushalt war von
dem des Staates getrennt« und über den letzteren übte das
Unterhaus strenge Kontrolle. Das gab gegen das Übergewicht
der Krone dem Volke eine gute Stütze. Sicherheit vor Ver-
folgung wegen religiöser Überzeugung bot die Toleranzakte« die
allerdings Papisten und Gottesleugner von den Staatsamtem
ausschloß. Das freie Wort wurde durch die vollige Freiheit der
Presse gewährleistet, nadidem die Zensur durch eine Akte von
1693 völlig abgeschafft worden war. Der König hielt, was er ver-
sprochen: je maintiendrai. Trotzdem war der Oranier nicht be-
liebt. Das eben verschlimmerte nur die Stellung WOhelmSi
welcher schon als Fremder den Engländern verdächtig war,
bei seinen Untertanen noch sehr viel mehr, daß er beide Parteien
in gleicher Weise gerecht und gütig behandelte. Trotz seiner
Whig-Neigungen war er immer sachlich. Beide Parteien waren
aber reine Koterien, die nur Gruppeninteressen verfolgten
und einander auszuschließen strebten. Zu den Whigs hielt der
größte TeO des Hochadels und die reiche und bewegliche Kauf-
mannschaft der Städte, zu den Tones der niedere Landadel, die
Gentry, und die Geistlichkeit der anglikanischen Kirdbe,
namentlich die Landgeistlichen, während die Dissenters, voran die
Presbyterianer, wohl meist sich wieder auf die andere Seite, die
der Whigs, schlugen. Wilhelm suchte zwischen den beiden
Parteien hindurchzusteuem und einen unabhängigen Standpunkt
zu gewinnen, verdarb es aber mit beiden. Allein er hielt äe doch
in einem gewissen Gleichgewicht und erreichte viel, da er ein
Mann von Geschicklichkeit und Energie war. Es kamen die
schwierigen und kostspieligen Kriege mit Ludwig XIV.; de
wurden den englischen Handelsherren fast zu viel und kosteten
dem Könige seine Volkstümlichkeit; aber nichts gereichte wieder
dem Oranier mehr zum Vorteil, als der Umstand, daß man in
Paris nicht nur Jakob IL noch immer als rechtmäßigen König von
England anerkannte, sondern auch nach dessen Tode (1701) den
jungen Sohn desselben als Jakob DI. zum Könige von England
52 Kapitel 4«
ausrief). Wflhelm sprach es wiederholt in Parlamentsreden atis«
daß der Kampf g^en den absoluten Sonnenkönig und seinen
Schützling die Aufgabe sei^ die England zur Wahrung der
«»europäischen Freiheit" überkommen habe; aber viele sahen
darin, kurzsichtig wie sie waren, nur eine Preisgabe eng^sdier
Interessen und eilten ihren Frieden mit Jakob zu machen« In
den neun Jahren des Krieges 1688—97 war Englands Wohl-
stand und Bevölkerung sehr gesunken. Die Stellung WSfaelms
wurde inmier schwieriger, namentlich seit die Königin am
27* Dezember 1694 gestorben war. Die Friedenssehnsucht wurde
in England allgemein, während Wilhelm ununterbrochen an dem
Zustandekommen emer neuen europäischen Koalition gegen
Frankreich und auf die Erneuerung des Krieges hinarbeitete. Als
1700 der letzte König von Spanien aus dem Hause Habsburg
starb, wurde die Energie des Königs, den Krieg zu organisieren,
bis ins Großartige gesteigert. Er hat dann noch, immerfort Plane
gegen Frankreich schmiedend, bis zum 8. März 1702 gelebt; sein
Tod trat in dem Augenblicke ein, als er endlich, jetzt unter Beifall
von Volk und Parlament, die große Allianz gegen Ludwig XIV.
gesdilossen hatte und in großen Rüstungen begriffen war, die
Frankreich niederzuwerfen bestimmt schienen.
Wilhelm m. ist zweifellos einer der bedeutendsten Regenten
die England je gehabt hat. Allein die Ungunst der Zeit und seiner
Stellung, sowie die Notwendigkeit, den Blick nach außen ge-
richtet zu halten, hat seine sorgsame Arbeit vielfach beein-
trächtigt und sein früher Tod — er ist, noch nicht 51 Jahre alt,
gestorben — hat ihn vielfach um den Erfolg gebracht, den er
verdient hatte.
2. Ihm folgte auf dem Throne die zweite Tochter Jakobs,
Anna (1702 — 1714), eine Frau, die niemals selbständig ge-
worden ist, sondern sich immer in den Händen von geHebten
^) Aul das Tun und Treiben dieses Hofes der Stuarts in Frank-
reich ist sehr zu achten; sie haben später auch den Versuch gemacht,
die Frmrei für ihre Zwecke zu benutzen. Wir werden in dem Folgenden
öfter auf die Intriguen der sogenannten nJakobiten" in England und
in Frankreich stoßen.
Nach der glorreichen Revolution. 53
Freundinnen befand, erst der Lady Marlboroug)i| dann der Lady
Masham. Die ganze Zeit ilirer Regierung wurde mit den
Kämpfen um die Frage der Erbfolge in Spanien und den inneren
Kämpfen um die Thronfolge in England ausgeffillL Die Tories
hatten nicht ungern die Restauration der Stuarts gesehen« aber
diese war doch deswegen unmöglich, weU Jakob IQ. sich
weigerte, zur anglikanischen Kirche überzutreten. Die Whigs
hatten einen Augenblick die Idee, Anna ganz von der Regierung
auszuschließen und sogleich das Haus Hannover auf den Thron
zu berufen; aber das wurde aufgegeben, weil die Prinzessin das
zweifellose Erbrecht für sich hatte. Anna stützte sich zuerst auf
die Tories, als deren Vertreter damals der Herzog von Marl-
borough galt. Mit einer wahren Wut traten nun die Anglikaner
gegen die Presbyterianer in die Schranken; „das vornehmste
Argument dafür, sagt Ranke^), zogen sie aus dem Überhand-
nehmen freidenkerischer Memungen, denen die (anglikanische)
Kirche unüberwindliche Bollwerke entgegenzusetzen im Stande
sein müßte," Aber es gelang doch nicht, die Whigs, d. h. die
Presbyterianer'), aus den stadtischen Ämtern, wo sie den maß-
gebenden Einfluß hatten, zu entfernen; es gelang auch nicht, eine
Bill durchzubringen, welche die Toleranzakte beseitigen sollte.
Immer sahen sich Marlborough und seine Freunde in der Ver-
waltung durch die Antipathien und die Reaktionsgelüste der
Hochtories auf die Seite der Whigs gedrängt, ohne die eine ver-
nünftige Regierung in dieser Zeit nicht zu Stande zu bringen war,
zumal die Whigs doch klug genug waren, den Krieg mit Frank-
reich sehr eifrig zu betreiben und den Herzog als General zu
unterstützen. Das lag auch in ihrem Interesse, weil Frankreich'
fortdauernd den Prätendenten Jakob gegen England ausspielte.
Man bildete 1705 em Koalitionsmmisterium aus beiden Parteien«
ging aber, da dieses sich doch nicht halten konnte, unter Marl-
borou^ Führung immer mehr zur reiiien Whigregierung über,
nachdem die Wahlen 1705 in dieser Richtung ausgefallen waren.
^) EngHsche Getchichte Bd 7. S. IZ
*) Beide Ausdrücke gebrauchen die Schriftsteller der Zeit und
die Gesandten in ihren Berichten oft als ganz ^eichbedeutend«.
54 Kapitel 4.
Es war ein besonderer Ruhmestitel dieser Whigre^erung,
daß es ihr gelang, England und Schottland auf immer zu ver-
einigen; durch die Union vom Juli 1707 wurde das Wort Groß-
britannien eine Wirklichkeit. Trotzdem konnte sich die Whig-
regierung auf die Dauer nicht halten« Noch war die Stelltn^
der Konigin zu mächtig, als daß sie hätte lediglich ihr Ministeriums
nach den Wünschen des Parlaments wählen müssen. Und sie
war torystisch von ganzem Herzen: die königliche Krone war
ihr nach ihrer Meinung von Gottes Gnaden geworden; jeder
Dissenter war in ihren Augen ein Ketzer und Duldsamkeit sah sie
als eine unverzeihliche Schwäche an« Endlich gelang es ihri die
Whigs zu stürzen. Nachdem es im Mai .1710 zu einer Ver-
ständigtmg zwischen dem Hofe und den gemäßigten Tories ge-
kommen war, welche sich verpflichteten, die königliche Präroga-
tive, das Vorrecht der anglikanischen Kirche und die Thronfolge
des Hauses Hannover aufrecht zu erhalten, entließ die Konigin
allmählich die whigistischen Beamten und nahm ein Tory-
Ministerium mit Lord Bolingbroke an der Spitze. Nun fielen
auch die Wahlen zu Gunsten der Tories aus, so daß die Regierung
sich halten konnte. Aber die inneren Kämpfe hörten darum nicht
auf, da die Presbyterianer fürchten mußten, daß aus der intimen
Verbindtmg zwischen Kirche und Monarchie die schwerste
Unbill für sie entstehen könnte^). Zu ihrem Glücke entzweiten
sich die Mitglieder des Ministeriums bald und gerade in der Zeit,
in welcher sie sich über die Zusammensetzung des neuen
Kabinetts entscheiden sollte, erlitt die Königin einen Schlagfluß,
der nach einigen Tagen ihren Tod herbeiführte. Eine Tory-
regierung war jetzt auf lange Zeit überhaupt unmöglich ge-
^) Die Re^enin^ brachte eine Akte ein, durch welche die
Presbyterianer von dem Lehrfache ausgeschlossen werden sollten.
(Ranke: En^ische Geschichte Bd 7. S. 56), Man vermutete auch,
daß die Toryminister den Prätendenten auf den Thron bringen
möchten, was Prinz Eugen nach einem Besuche in London ganz offen
aussprach. (Brosch. Engl. Geschichte Bd 8. S. 176). Denn zwischen
den Jakobiten diesseits und jenseits des Kanals hatte sich ein reger
Verkehr entwickelt, an dem selbst die Kreise um die Königin teil-
nahmen. (Ebendas. S. 192).
Kap. 5. Die geistige Entwickelung Englands bis zur Refonnation. 55
worden« Das Volk jubelte, der Kurfürst von Hannover wurde
obne Widerspruch zum Könige von England ausgerufen und der
Kurs der englischen Konsols stieg am Tage von Annas I£n-
scheiden um 3 Prozent, Das Haus Hannover, ganz tmd gar auf
die Whigs angewiesen, wie es war, mußte alle freiheitlichen Be-
strebungen unterstützen, wo immer sie sich fanden. Die
Dissenters, die Freidenker, die WissenschafÜer und wer sonst
noch Feind der anglikanischen Orthodoxie war, konnten in
der Hoffnung leben, daß trotz der vielen Anfeindungen, denen
Georg L ausgesetzt war, dieser Konig sie schützen und sich auf
sie stützen mußte. Drei Jahre nach seinem Regierungsantritt
wagten es auch die Freimaurer, an die Öffentlichkeit zu treten;
sie beauftragten bald darauf einen Dissenter-Prediger aus ihren
Reihen mit der Abfassung ihres Gesetzbuches.
Künstlerisch ist diese ganze Periode nur von geringer Be-
deutung gewesen. Anderson zählt (A*. S. 107 f.) eine Reihe von
Bauten auf, welche damals ausgeführt wurden, aber sie können
nur sehr bedingt als schöpferische Taten in Betracht kommen.
Doch wurde in jener Zeit verhältnismäßig viel gebaut, und
London begann sich nicht nur stark zu erweitem, sondern auch
sichtlich zu verschönem.
Kapitel 5.
geistige Entwickelung Englands bis zur
Reformation.
L Einleitung« Das Mittelalter hat fiberall in Europa
einen starren Blick^). Es sieht fiberall nur Unvernunft und Leid«
^) Eicken: Geschichte und System der mittelalterl. Weltanschauung.
2. AufL Stuttgart u. Berlin 1913; Ueberweg: Grundr. der Geschichte
der Philosophie. 10. Aufl. Bd 2. Berlin 1915; White: Geschichte
der Fehde zwischen Wissenschaft und Theologie in der Christenheit.
Bd 1. Z Leipzig: Thomas o. J.; Buckle: Geschichte der Zivilisation
in England, deutsch von Ritter. Bd 1 — 5. Berlin: Heimann o. J. —
VergJ. auch Zecky: Geschichte Englands im 18. Jh. übers, von Löwe.
Bd L S. 271 ff.
56 Kapitel 5.
80 daß man zum Guten nur mit Gottes I£lfei nicht aber aus
eigener Kraft kommen kamt Darum ist der Blick immer auf
den Himmel gerichtet. Der Pessimismus des Mittelalters ruft
ein immerwährendes Heilsbedfirfnis und eine immer sich
steigernde Weltflüchtigkeit hervor. Und doch ist man fiberzeugti
daß man auch hienieden eme schwere Aufgabe hat« namlidi
die, das moralische Ideal des ChristentumSi für das die Kardinal-
tugenden den vollkommenen Ausdruck geben« zu verwirk-
lichen, soweit sich diese Aufgabe der Menschheit« — der Ein-
zelne« das Individuum wird ganz übersehen — das Reich Gottes
auf Erden zur volligen Wahrheit za madben« überhaupt auf die
Welt hienieden bezieht. Allein es gibt noch einen anderen Teil
dieser Aufgabe der Menschheit« d. h. in Wahrheit der Kirche«
nämlich die« die Seelen durch Gebet tmd gute Werke« durch
moralisches Handeln und Übung in der Tugend für die eigent-
liche Heimat der Sterblichen« für das Jenseits vorzubereiten.
Wie man aber auch die Sache betrachtet, ob von der
moralischen oder von der religiösen Seite« -r- die beiden Seiten
bilden eigentlich nach Ansicht des Mittelalters eine Einheit, da
Moral und Religion eigentlich dieselbe Sache ist, nur von zwei
verschiedenen Seiten betrachtet — die große gewaltige Auf-
gabe gestattet der Menschheit keinen oder nur sehr wenig
Raum und Zeit für die Mitarbeit an den Werken der Kultur.
Nicht als ob man im Mittelalter nicht auch gedacht und gegrübelt
hätte, — im Gegenteil« man treibt eher zu viel als zu wenig
Denkarbeit und Philosophie — oder als ob man keine Ktmst-
erzeugnisse oder kulturelle Werte geschaffen hätte« — sie bilden
noch heute einen großen Schatz aQer Nationen — aber das
Denken« Bilden, Schaffen richtet sich allein auf die großen Auf-
gaben, die Moral und das Jenseits, und stellt das praktische
Leben ganz in ihren Dienst, dessen Leiter und Aufseher die
Stellvertreterin Gottes auf Erden« die heilige Kirche« ist. Es
geschieht nichts um des Lebens und um der Kultur selbst willen,
sondern alles zur Ehre Gottes und zum Besten der Kirche.
Diese verwaltet auch das gewonnene Kulturgut der Mensch-
heit« so daß selbst von dem geistigen Inhalt des gewaltigen
Die geistige Entwickelung Englands bis zur Reformation. 57
antiken Bildungslebens nur das lebendig bleibt, was sie für wert
hält, errettet zu werden; sie ist es, welche den Blick weg lenkt
von den Grundlagen realer Kenntnis der Natur und des Lebens
auf abstrakte Gedankendinge; sie lehrt die Erfahrung, welche
in der Geschichte enthalten ist, ganz und gar als eine einzige
fortlaufende Entwickelung zum Reiche Gottes auf Erden ver-
stehen« Es kann von wirklicher Forschtmg und Wissenschaft
im empirischen Sinne während des Mittelalters gar nicht die
Rede sein, da nach der Kirchenlehre die natürlichen Dinge
an sich gar keinen Wert haben. Man kennt nur eine Methode
für den Wissenschaftsbetrieb, die Dialektik. Und dann: Roma
locuta, non est disputandum! Die Tatsachen an sich brauchen
nicht erst erforscht zu werden, sie stehen sämtlich fest, durch
die Bibel und die Schriften der Kirchenväter. Daran ist nicht
zu zweifeln; es kommt höchstens auf die Auslegung an. Auch
die Universitäten sind nicht dazu da, die Natur, die Geschichte,
die philosophischen Probleme usw. zu dturchforschen, sondern
lediglich dazu, den gewaltigen Glaubens- tmd Wissenschafts-
stoff, den die Kirche festgestellt hat, lehrend oder durch
Disputation an die folgende Generation weiter zu geben. Die
Theologie ist dabei die Führerin; die anderen Wissenschaften,
namentlich die Philosophie, haben lediglich die Aufgabe, durch
die Vernunft die Erkenntnis der göttlichen Wahrheiten zu über-
mitteln tmd zu vermehren. Die rechte Ordntmg, so erklärt
Anselm von Canterbury, fordert, daß wir aus ganzer Seele die
christliche Lehre glauben, bevor wir uns vornehmen, sie mit
den Mitteln der Vemtmft zu erörtern^).
Auch die Kunst hat einzig und allein den Zweck, die
religiöse Idee oder den göttlichen Heilsweg in der Geschichte
zu einem möglichst vollendeten bildlichen Ausdrucke zu bringen.
Auch hier g3t die Natur und das Individuum so wenig, daß man
es niemals gewagt haben würde, einen Menschen, den man
vor sich hatte, porträtähnlich zu zeichnen*), obgleich viele Maler
^) Siehe Eicken a. a. O. S. 725 ff.
*) Ebendaselbst S. 518 ff.
58 Kapitel 5.
dazu imstande gewesen wareoi da der Zweck der Darstdfamg
lediglich der war, einen zarten, seelenvollen Ausdruck zu er-
reichen. Alles ist Abstraktion, nirgends herrscht Realität« In
der Baukunst hatte hier die Gotik den Treffer^); ^e vemeiiit
geradezu in Stil und Technik jeden materiellen Gedanken und
weist mit ihrer stets vertikalen Linie, die sich im Spitzbogen
fortzusetzen schdnt, und mit ihren hohen, schlanken Türmen
wie mit Zeigefingern nach oben, auf Gott.
Von vornherein liegen in der mittelalterlichen Theologie
schon seit Augustin zwei Richtungen: Scholastik un^ Mystik,
Je nachdem man die Wahrheiten objektiv von der Seite der
damals geltenden wissenschaftlichen Regeln oder subjektiv von
der Seite des inneren Erlebens und der Erfahrung aus be^
trachtet, geht man den breiten Weg der einen oder den sdhmalen,
steinigen Pfad der anderen zur Hohe. Scholastik und Mystik
sind eigentlich keine Gegensatze, sondern nur zwei verschiedene
Methoden, denselben Gegenstand oder dieselbe Wahrheit von
verschiedenen Seiten aus zu betrachten*). Oft sind beide
Richtungen in einer Person vereinigt, meist aber, je nach
Temperament und Gewöhnung, geht der Einzelne diesen oder
jenen Weg. In dem enthusiastischen Frankreich und Italien,
in dem tiefinnerlichen Germanentum ist die Mystik häufiger,
als in dem kalten, nüchternen, vernünftigen England, wo die
Scholastik tmter den Theologen so recht zu Hause ist.
2. Unter den Scholastikern war aber schon lange ein
heftiger grundsätzlicher Streit fiber die sogenannten
Universalien'), d. h. über eine Anzahl von Gattungs»
begriffen, welche die einen als wirkliche Dinge (res), die anderen
als bloße Begriffe ohne jede substantieDe Existenz (nomina) auf-
gefaßt wissen wollten. Mit einer fast unverständlichen 2^ähig-
keit bearbeitete in zahllosen Schriften und unendlichen
Diskussionen das Mittelalter gerade dieses Problem, und der
^) Y. Eicken S. 729 ff.
*) Ueberw^eg a. a. O. S. 328.
*) Ebendas. S. 234 ff. Windelband: Lehrbuch der Geschichte
der Philosophie. 3. AuiL 1903. S. 236 ff.
Die geistige Entwickelimg Englands bis zur Refonnation. 99
Zank zwischen Realisten und Nominalisten nahm kein Ende.
Ab^r es kam dabei dodi mehr heraus, als man zuerst annehmen
mochte. Es gab dabei eine Unterfrage, die weiter führte, die
Frage nach dem Seinsgrunde des Individuums« Dieses ver-
teidigte als etwas Wirkliches der Nominalismus nadihaltig mit
Scharfe und Kraft So stieg aus der Masse der verschwommenen
Allgemeinheiten, aus den Problemen sieghaft, wie Minerva aus
dem Haupte des Zeus, der Begriff des Bnzelwesens empor, zu-
gleich Rechte und Pflichten erjieisdiend« Es waren namentlich
die Englander, welche den Kampf für den Nominalismus auf-
nahmen und durchführten« Freilich war der bedeutende
Theologe, Anselm Erzbischof von Canterbury (f 1109), der ihn
begründete, noch im strengsten Sinne des Wortes Realist, aber
mit seinem Glaubenssatze: Credo ut intelÜgam (ich glaube, damit
ich Einsicht erhalte) fordert er energisch den Fortgang vom
Glauben zur vemunftgemSBen Bnsicht^)« Seitdem mehren sich
in England die Klagen fiber diejenigen, welche nur glauben
wollen, was sie begreifen und beweisen k5nnen, und endlich
griff, gerade als die realistische Sdiolastik mit Thomas
V. Aquino in die Vollblute trat, Wilhekn v. Occam (f 1349)')
das Problem wieder auf und führte es aegreich durcL Er wurde
der Bahnbrecher der modernen Erkenntnistheorie und der
Schurer der geistigen Garung der ganzen Folgezeit in England.
Er war es auch, der von dem Rechte des Staates und dem
Unrecht der Kirche zu reden die Kfihnheit hatte, und der selbst
dem Kaiser zurief: ^tu me defendas gladio, ego te defendam
calamo" und ihn so in s«nem Kampfe gegen das Papsttum
zu bestarken suchte« Wemgstens fGr (fie PhOosophie wandte
er die Autorität der Kirche nicht mehr an und forderte absolute
Denkfreiheit, und darum wagte er es, £e von der Universität
Oxford aus erfolgte Verurteilui^ gewisser naturphilosophischer
^) Er war der erste« der einen streng logischen Beweis ffir das
Dasein Gottes zn ffihren Tersttchte (ontologischer Gottesbeweis).
Ueberweg a. a« O. S« 26L
*) Ober ihn s. UeberwiSg a. a. O, S. 396 ff« und Seeberg hf.
Herzogs Realenzyklop&die. 3. AnflL Bd 14. S. 260 ff.
60 Kapitel 5.
Thesen einen i^unverschäfaiten Spruch*' zu nennen. Seine Lebre
breitete sich trotz seiner Exkommunikatian von seiten Roins
immer weiter in England aus, so daß man von ihm mit Recht
sagen kann, daß er der Totengräber der mittelalterlichen
realistischen Scholastik geworden ist, aus deren Grabe dann
der fruchtbare Baum der englischen individuellen Freiheit
erwuchs.
3. Damit war nun der feste Baugrund für die Ausarbeitung
der naturwissenschaftlichen und der volkswirtschaftlichen Er-
keniitd s in ^gland gelegt Man merkt hier den 'EinBuß des
Nominalisten Roger B a c o n (f ca. 1300). Er hat bereits die
ersten Ausschachtungen zu dem Neubau der Wissenschaft auf
der hisel gemacht, indem er die Menschen „von den Autoritäten
zu den Sachen, von den Meinungen zu den Quellen, von der
Dialektik zur Erfahrung, von den Bfichem zur Natur gerufen
hat"^). Bacon ging durchweg vom naturwissenschaftlichen
Standpunkte aus und übte von hier aus eine ungemein scharfe
Kritik an der theologischen Methode seiner 2^ii Das
Experimentieren war seine Freude und dessen Ergebnisse
wunderbar. Ich übergehe hier, welche großartigen Folgerungen
sich für ihn daraus für die Erkenntnistheorie ergaben, auch das
Gebäude seiner Metaphysik lasse ich außer acht, um lediglidi
darauf noch hinzuweisen, daß er der eigentliche Entdecker des
Wertes der Mathematik ist. Diese hielt er für das Fundament
aller wissenschaftlichen Bildung'), für die Idealwissenschaft,
^) Windelband a. a. O. S. 283.
') Diese Wertschätzung ging von ihm und von den gewaHigen
Streitigkeiten, die sich an seine Person und seinen Wissenschafts-
betrieb knüpften, in den Besitz der damaligen Gebildeten, vornehm-
lich der Geistlichkeit, über. Von da aus stammt wohl auch die
Kenntnis über den Wert der Mathematik, insbesondere der
Geometrie, welche diejenigen Geistlichen kundgeben, welche die
maurerische „History" vor den „Old Charges" in den Mannskripten
verfaßt haben. Diese werten die Geometrie über alle Maßen hoch, so
daß diese Schätzung unmöglich aus der Praxis der Werkmaureret
stammen kann« Die Verfasser der History operieren zum Teil mit
denselben Beweisen wie Bacon. Euclid war allerdings schon vor
Die geistige Entwickelung Englands bis zur Reformation. ^1
die uns glddisain ai^eboren und deshalb die erste unter den
Wissenschaften ist, die allen anderen Geistestätigkeiten voran-
geht^)« Er zieht sie allen physikalischen Wissenschaften« von
denen er Medizin, Astronomie und Alchemie trieb, bei weitem
vor, entging aber darum doch nicht der Anklage der Magie und
der Zauberei. Sicher ist, daß er und Wilhelm von Occam die
eigentlichen Begründer der später so emflußreichen Naturwissen-
schaften in England gewesen sind Wir kommen im Folgenden
darauf noch zurück.
4. Unterdessen war eine gewaltige religiöse Bewegung
durch das Land gegangen, die das Volk fast zwei Jahrhunderte
in Atem hielt, die der Lollarden'). Die Bruderschaft gehört
zu jenet Gruppe altevangelischer Gemeinden'), die aus der
Innerlichkeit religiöser Überzeugung heraus der Ansicht waren,
daß die verweltlichte Kirche zu den einfachen Formen der alt-
christlichen Gemeinden zurückkehren u^d den alten remen
Glauben der ersten Christen wieder annehmen müsse« Die
Kirche, die die Lollarden eifrig verfolgte, benannte die Leute
nut dem Sammelnamen „Katharer" (Ketzer); sie selber nannten
sich aber Brüder, das Volk hieß sie verschieden: Waldenser,
Albigenser, Lollarden usw. Über den Namen Lollarden steht
nichts Sicheres fest; sie erscheinen zuerst bei dem Ausbruche
einer Seuche in Antwerpen im Jahre 1300; dann geht die Be-
wegung nach England hinüber, wo später der Hauptschauplatz
ihrer Wirksamkeit war. Die Lollarden waren fromme Männer,
die sich mit Beten und Krankenpflege beschäftigten, die aber
früh wegen der Verachtung, ja Verwerfung der reichen, satten
ihm durch die Übersetzung von dessen Elementen durch Adelard
V, Bath (ca. 1115) bekannt geworden, (siehe Begemann: Vorgeschichte!
S. 168 i) aber Bacon hat den Wert des Mannes und seines Werkes die
Engländer erst recht schätzen gelehrt.
^) S. Ueberweg a. a. 0. S. 569: Qua propter per hanc oportet
omnes alias scientias sciri et certificarL
") S. Ober sie den Aufsatz von Buddensieg in: Herzogs Real-
enzyklopädie. 3. AuiL Bd 11. S. ^16, dem ich hier im wesentlichen
folge.
*) KeUer: Reformation 1885. S. 27. 124. 263 ff. 303.
62 Kapitel 5.
uxxi entsittUchten damaligen Kirche in den Verdacht der
Ketzerei kamen. Sie wendeten sich fiberaü an das Herz des
gemeinen Mannes, brachten die kirchenfeindliche Armuts-
bewegmig, die schon seit 1175 durch Emx>pa ging, wieder in
den Gang und predigten in kräftigem Wirklichkeitssinne und
immer packender Bauern- und Handwerkersprache: die Bibel
allein ist Richtschnur des Glaubens und Maß des Lebens» Nun
stieß ihre Bewegung auf jene geradezu mächtige, tiefe und weite
Erregung, die im 14 Jahrhundert das englische Volk stark er-
griffen hatte, die nominalistische und ihre praktischen
Folgerungen« Diese Erregung war wissenschaftÜch, reli^os,
national und sozial zugleich» Es war das Erwachen des Volkes
aus dem Schlafe des Mittelalters. ,^Alte stille Ahnungen dnes
kommenden Neuen, Überwindung der Gegenwartsnote und Um-
gestaltung des religiösen und sozialen Lebenstandes zudrten,
zitternd in Bangen und Hoffen in den Herzen der Beröhrten".
Denn nirgends waren die Mißverhältnisse zwischen Reichtum
und Leisttmg des Klerus so stark wie in England. Der Besitz
der toten Hand stieg von Jahr zu Jahr und drohte alles zu ver-
schlingen^). Vergebens erließ Eduard L 1279 em Gesetz (statuie
of mortmain), daß die Kirche weder etwas ererben noch er-
kaufen noch ertauschen dürfe; sie wußte es doch zu machen,
ihre Reichtümer zu vermehren. Funhnal soviel als der Konig,
so hieß es, weiß der Papst aus England zu beziehen. Als das
Papsttum ganz in franzosische Hände geriet, regte sich dazu
noch der nationale Stolz der Engländer. Das Volk, vornehmlich
die kleinen Leute, Feldarbeiter und Handwerker, scharten sich
um die Lollarden und die Nominalisten und hörte andächtig
ihre Predigt. Wie oft mögen die masons in ihren Bauhütten
neben den Kirchen und in den Kirchen diesen Reden gelauscht
haben').
^) Flathe: Geschichte der Vorläufer der Reformation H. 2. 1S36.
S. 171 ff.
*) Man beachte ja, ffir wie nötig es die Geistlichen, welche die
alten freimaurerischen Manuskripte verf^t haben, hielten, die masons in
den „Pflichten" vor der Ketzerei zu warnen. Warum tun sie das? Waren
die masons von der Ketzerei besonders erfaßt? Fast scheint es so.
Die geistige Entwickelung Englands bis zur Reformation. (ß
Es half diesen „simple priests" ein doppeltes: der furchtbare
„Schwarze Tod"^) und das Auftreten John Widifs. Die Seuche«
die seit 1348 auf dem Kontinent wütete, kam Anfang August
1349 nach England, wo sie die entsetzlichsten Verwüstungen
anrichtete« Die Bevölkerung der Insel war damals einfach ver-
zweifelt und schob natürlich vieles auf die Kirche, zumal die
Priester sich außerordentlich töricht benahmen und durch Er-
höhung der Preise für das Lesen von Seelenmessen das schon
erbitterte Volk unnötig noch mehr erbitterten*)« Man ließ alles
liegen und stehen, wie es wollte, lag in den Kirchen und auf den
Treppen zu den Tempeln auf den Knien, zog durch die Straßen
und geißelte sich und schimpfte auf Kirche, Papst und Priester.
Die Erregung in den Massen war einfach furchtbar« Die
religiösen Instinkte wuchsen orkanartig an; der Glaube und der
Aberglaube trieb die wunderlichsten Blüten, aber auch alle
Autorität der weltlichen und der geistlichen Gewalten hörte auf
zu wirken« Die Not der Zeit schädigte auch die Sittlichkeit
außerordentlich; es trat dazu eine unglaubliche Verschwendtmg
der Almosen ein, die nicht half, sondern nur Vagabondage und
Bettel großzog« Die Leute wurden daran gewöhnt zu glauben,
man könne gut leben, wenn man nur aller Sittlichkeit und
aller Obrigkeit Widerstand entgegensetze; die Ansicht tritt
zutage, daß es leicht und zugleich schön sei ohne Arbeit
zu leben, kurz: es war alles Nötige gegeben, einen ordent-
lichen Menschen zu einem Vagabunden zu machen« Und dabei
infolge des massenhaften Sterbens der Mangel an Arbeits-
kräften*)« Mit Gewalt mußte man auch in dieser Zeit die unver-
ständige Flucht der Menschen von der Insel ins Ausland hindern«
Denn es schien allen der sichere Tod zu drohen, da die ärztliche
Kunst gegen die Seuche vollkommen machtlos war und auch
die Prozessionen, Geißelungen, Gelübde usw« nichts halfen, im
^) G. R. Hoeniten Der Schwarze Tod 1882; Pauli: Geschichte von
England. Bd 4, Gotha 1885. S. 417. s. auch S. 8 f.
') S. das charakteristische Epos Piers the Plowman.
*) S. Ashley: Englische Wirtschaftsgeschichte, fibers. v. Oppen-
heim. Bd Z & 327 &
64 Kapitel 5l
GegenteQ alle geistlichen imd weltlichen Maßregeln die Kraxik-
heit und die Not nur vergrößerten« Stumpf oder vor Ver-
zweiflung schreiend^ oder frech-trotadg und fluchend Bah das
Volk all dem Treibeni den Begräbnissen« den Schll^ereien zu
und scharte sich dann um die tapferen Brüder in dem rotbraanen
härenen Gewände, um die LoUarden« die es zu beruhigen« zu
trösten und zur Vemimft zu bringen versuchten. Sie waren die
einzigen« auf die die Masse noch einigermaßen hörte« während
ihre Hauptgegner« die Bettelmönche, kein Gehör mehr fanden«
Endlich im Hochsommer 1349 ließ die Wut der Krankheit
nach« Viele wollten nun zum Jubiläum pilgern« welches der
Papst nach Rom ausgeschrieben hatte« eine Reise« zu der aller-
dings die Erlaubnis des Königs nötig war; aber die meisten
standen doch schließlich davon ab« so schwer sie auch ihre
wirklichen oder vermeintlichen Sunden drücken mochten« weil
die Habgier der damaligen Kirche nach dem Ablaßpfennig in
dem Jubiläumsausschreiben denn doch gar zu deuüich war.
.Und gerade in diesem Punkte« der Besteuerung durch die Kirchef
waren die Engländer empfindlich«
Seit den Tagen König Johann's hatte man in England neben
den Armen-Opfern noch einen Tribut in Form eines ««Lehns-
zinses" an die Kurie zu bezahlen« aber diese Zahlung war seit
etwa 1330 von Eduard m. eingestellt worden. Im Jahre 1365
forderte mm Papst Urban V. den Lehnzins in drohendem Tone
wiwder ein. Allein er biß auf Granit. Die nationale Bewegung
gegen diesen Anspruch wurde im Volke und im Parlamente so
groß und so nachhaltig« daß der Papst erschreckt seinen An-
spruch stillschweigend fallen ließ. Eben in dieser Zeit trat ein
Mann langsam in den Vordergrund« der später der Volks-
bewegung gegen das Papstttun und das verhaßte Mönchtum
ein besonnener« aber höchst energischer Führer werden sollte«
der Professor in Oxford« M. John Wiclif (ca. 1320—1384)').
Der hatte schon als Student in Oxford nicht allein sehr tiefe und
^) S. Loser th in: Herzogt Realenzyklopädie. 3. AufL Bd 21.
S, 226 E; Troeltsch: Gesammelte Schriften. Bd 1. S. 393 B.; Pauli:
Die geistige Entwickelung Englands bis zur Reformation. 65
ausgebreitete theologische Studien getriebeui sondern auch den
Naturwissenschaften und der Mathematik fleißig obgelegen«
Den Schriften Occams verdankte er reiche Belehrung. Zugleich
aber hatte er auf der Universität jenen frischen nationalen Geist
eingesogeUi der Oxford damals auszeichnete« Auch für ihn war
der Ausgangspunkt seiner Opposition gegen die offizielle Kirche
der „Gegensatz gegen den päpstlichen Absolutismus und seine
Einwirkungen auf die politischen und ökonomischen Ver-
haltnisse des Landes wie der Gemeinden" (Troeltsch). Gerade
als er den Gesandten fiir den Friedenskongreß in Brügge 1374
als Theologe beigegeben war^ erkannte er, in wie arger Weise
das Papsttum in Niedrigkeit versunken war« und wie weit es
von den Grundfesten der Bibel abwick Auch Widifs Ideale
fußten auf den Zuständen der Zeit des ersten Christenttmis, als
die Kirche noch arm war, aber einer vollständig selbständigen
Staatsgewalt charaktervoll, wenn auch demütig gegenüberstand^).
Diese arme Kirchengemeinde wieder heraufeuführen war ebenso
sein Streben, wie das, die Machtstellung des nationalen Staates
gegenüber dem internationalen Papsttum zu erhohen, das da-
mals ganz am Gängelbande Frankreichs lief. Als seine Gegner
traten vornehmlich die geistlichen Soldaten der Kurie, die
Bettelmonche, auf. Er fand aber Gönner nicht nur im Volke,
sondern auch im Parlamente und unter den großen Herren, bei
denen sein Gedanke einer Säkularisienmg des englischen
Kirchengutes bedeutenden Anklang fand, und selbst bei der
Krone, deren Rechte er furchtlos verteidigte. Sein Auftreten
gegen den Klerus wurde im Laufe des Streites nur immer
schärfer, je mehr man ihn verketzerte, und dem Volke immer
Geschichte Englands. Bd 4. Gotha 1855. S. 479 ff.; Keller: Die Refor-
mation und die älteren Reformparteien. 1885. S. 100 f.; Pauli: Bilder
aus Alt-England. 2. Ausg. 1876. S. 227 ff . .
^) Nach 1375 erklärte die Kurie die Lehren Wiclifs für Ketzerei,
und zwar als eine Erneuerung der Lehren, die det Ittr die Kirche
und das Papsttum so sehr gefährliche Marsilius ▼• Padua» der Leib-
arzt Kaiser Ludwigs des Bayern gewesea war, aufgestellt hatte.
Marsilius hatte Beziehungen nach fngUtid.^
1 4' ^ « ■ • 1
66 Kapitel 5.
verständlicher« je mebr er sidi statt der lateinischen der eng-
lisöhen Sprache in Wort und Schrift bediente. Bedrai^t,
zweimal vor das geistliche Gericht gestellt, berief er sich auf
die heilige Schrift als die einzige Nonü für den Glauben« Mit
tiefem sittlichen Ernste riß er sich 1378 vom Papsttum ganz los.
Der Kampf wurde immer gewaltiger, lauter und tie^reifender;
Sie Teilnahme des Volkes, und zwar gerade der Handwerker
in den Städten, immer größer und herzlicher. Denen imponierte
nicht sowohl Wiclifs große Gelehrsamkeit und seine hervor-
ragende Beredsamkeit, als vornehmlich die Reinheit seiner
Sitten und sein echt christlicher Lebenswandel. Man drängte
ihn, seinen Standpunkt durchzuhalten und im Kampfe vreiter
fortzuschreiten. Er hielt Stand, aber er widerstand auch der Ver-
suchung, eine neue Sekte oder gar eine englische National-
kirche zu bilden; die Kirche, so sagte er, bedürfe deren nidit, da
die Religion Christi, wie sie in den ersten drei Jahrhunderten
ihres Bestandes gewesen sei, vollkommen genüge. Dahin müsse
man zurückkehre^^ In den Jahren 1379 und 1380 übersetzte er
die lateinische Bibel (Vulgata) in das Englische, so daß jeder, der
lesen konnte oder lesen lernte — das letztere geschah damals
massenhaft — die Urquelle selbst lesen und verstehen konnte^).
Als Wiclif 1381 seine Lehren, namentlidi die vom Abendmahl in
12 kurze Thesen zusammengefaßt hatte, verketzerte ihn auch
«die offizielle englische Kirche, und der Rektor der Universität
las ihm das Urteil in seinem Hörsaal inmitten seiner Studenten
vor. Aber das hinderte die Mehrzahl seiner Hörer nicht« bei
ihm zu bleiben. Er appellierte, doch nicht etwa an den Papst
oder die geistlichen Behörden in Rom, sondern an seinen
gnädigen König. Der wußte ihn trotz der Exkommunikation, die
^) Ich mache hier darauf aufmerksam, daß das damals verfaßte
lialliwell-Gedicht, d. h. die älteste maurerische Urkunde, in Versen
'a1)i{<3faßt Jsf , . ,s(lso für das Auswendiglernen bestimmt wurd^. Das
X3.6oke-Ms^ (c^. 14^) ist in Prosa geschrieben. Es gab woKl nun sdion
unter den ftasoi^s genüg Leute, die l^sen konnten. Diese TVlaniiskripte
wWden bei der 'Aufnähme gebraucht. Halliwell hattb man aufgesagt»
Cooke las der Meister schon vor.
9
Die geistige Entwickelung Eaglands bis zur Reformation. 5^
(plgtei ZQ halten und zu schützen. Seine Scbrif(stellerei wur4e
nun fieberhaft. Um seine eindringlichen Predigten und seix^
scharfen^ schlagenden Traktate zu verbreiten^ bemitzte er nui^
die innere Mission der Lollarden. Hier i^t der Wendepunkt meiner
Politik und der der ganzen Bewegung. Er läßt ruhig das
Priestertum bestehen^ aber er verwandelt die Lol]arden
gleichsam in Volks-Missionare, ,,die arm und mildtätig un^ier-
ziehend das Gesetz Gottes verkünden sollten V (Troeltzsch.)
Audi Laien beteiligten sich an dieser Mission und zogen im
Mantel der Loillarden umher. Von Oxford aus, als dem Zentral-
punkte der neuen Bewegung, wurde alles geleitet; das blieb auch
nach dem Tode des tai^eren Reformators so. Jeder zweite
Mann, so klagte die Gei^chkeit, sei ein Lollarde. Wir gehen
wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß die wandernden
Steinmetzen, die ja ihr Gewerbe oft von Ort zu Ort zog, sich
auch hieran beteiligten, obgleidi uns nichts davon überliefert
ist. Aber diese LoQarden überschätzten leider ihre Kraft imd
unterschätzten die Gefahr^ in der sie durch die beständigen
Angriffe der Hierarchie schwebten. Unter Eduard m. waren
sie sicher, aber der starb 1377. Der neue Konig Richard ü. war
nicht ein Mann, wie sem Großvater gewesen war. Man machte
die Lollarden von oben her verantwortlich für den wüsten
Bauernaufstand, der 1381 ausgebrochen war, obgleich dessen
Leitung durdi Bettelmönche, die größten Feinde der Lollarden,
das Gegenteil hätte beweisen müssen. Seit der Parlaments-
sitzung von 1395, wo über die Lollarden verhandelt wurde,
war ihre Kraft gebrochen; Heinrich IV., der 1399 durch die
hierarchisch-aristokratische Verschwörung in die Höhe ge-
koimnen war, war ihr natürlicher Feind, da er sich nur durch
die Kichengei^ichkeit halten konnte. Es begann jetzt das
hundertjährige Martyrium der ,3ibelleute", die man aber trotz-
dem nie ganz besiegte. Denn die ,Jd.emen" Leute standen
dauernd — seit 1417 verbrannte man wieder ,JCetzer wegen
des Besitzes biblischer und widifitischer Schriften in en^sdier
Sprache^ wegen Bibelle^ens, Verwerfung der Lehre ibq. der
Wandfajog (von Wehj und Prot), Ohrenbeichte; K[e$,ijto07:
68 Kapitel 5.
verehnmg und Wallfahrten"' — unter Galgen« Beil und Scheiter-
liauf en« Aber die , prüder in Christo" hielten sich doch bis in
das 16. Jahrhundert hinein; sie wuBten sich zu verbergen und
zu decken. Dazu haben die alten Handwerksbniderschaften^
wahrscheinlich auch die der masons, mehr getan« als wir aus den
Urkunden und den sonstigen Überlieferungen ersehen können..
Bestanden doch die Lollarden wesentlich aus Handwerkern,
5. Bei weitem nicht so tief, wie die Bewegung der Lollarden,
drang die Renaissance^) in das englische Volk; sie ergriff
nur die oberen Schichten der Gesellschaft und höchstens eine
Reihe von Gelehrten und Dichtem« aber nicht einmal die Uni-
versitäten und Schulen. Zwar war Chaucer mit Petrarca und
Boccaccio selbst bekannt gewesen« aber sein Einfluß auf die
2eit war nicht bedeutend. Als Poggio nach England kam»
jammerte er über die geringe Lust der Engländer zu klassischen
Studien und witzelte beständig über die Völlerei un Essen und
Trinken« der des kalten Landes Bewohner« Prälaten und Edel-
leute« frönten. Indessen hat er aus Ärger« daß ihm nichts wurde»
die Lage der Dinge wohl zu schwarz geschildert. Die Bewegung
Italiens ergriff doch auch England. Der eigentliche Mäcen nach
dem Herzen der Italiener war der Herzog Humfried v. Glocester»
ein Bruder Heinrichs V.« der ein wißbegieriger Mann war und
einige Anregungen zu Studien und zu Fortschritt auf dem Ge-
biete der Wissenschaften gab« indem er fremde Gelehrte in das
Land zog. Auch sein Neffe Heinrich VI. tat gern etwas für die
Schulen und den Humanismus« aber noch 1519 predigten fana-
tische Geistliche in Oxford wie bei Hofe gegen das Studium des-
Griechischen. Nun gingen wohl in der 2. Hälfte des 15. Jahr-
hunderts eine Anzahl vornehmer junger Leute nach Italien^
namentlich in Guarinos Schule xiach Ferrarä^)«aber von großem.
^) über die englische Renaissance s. Voigt: Wiederbelebtuig des-
klassischen Altertums. 3. Aufl. Bd 2, Berlin 1881. S. 250 £f.; Paulh Ge-
schichte V. England. Bd 5. 1858. S. 664 ff.; Brosch: Geschichte
Englands. Bd ei. S^ 26 H.
^ Battista Guiarino rühmt, wieviele Jünglinge in seines Vaters:,
Schtd^ geströmt seien, „selbst aus dem außerhalb des Erdkreise»
Die geistige Entwickelung Englands bis zur Reformation. g9
Einflüsse auf das eigentliche Volk in England war audi das
nicht Das Latein und die scholastischen Disputationen der seit
der Unterdrückung der Lollarden ganz verkommenen Universität
Oxford waren wegen ihrer Janunerlichkeit und Inhaltlosi^eit
überall berüchtigt und zum Spott der Hmnanisten geworden«
tmd das wurde auch in den nächsten hundert Jahren kaum
besser. Man muß die Satiren von Shelton lesen, um zu sehen«
wie es in England noch etwa 1525 um die Bildung bestellt war«
Die von König Heinrich VL gegründeten Schulen in London
und Eton taten wenigstens soviel, daß ntm sehr viele EKirger
der Hauptstadt lesen und schreiben konnten. Erst die Buch-
druckerkunst und die Reformation haben in England einigen
Wandel geschafft und die Studien so gehoben, daß die reiche
englische Literatur am Ende der Renaissance-Epoche guten
Boden fand, auf den sie aufbauen konnte.
6. Weit tiefgreifender und nachhaltiger war die Refor-
mation in England und die Begründung der anglika-
nischen Kirche^). Den Anlaß zur Lossagtmg von Rom
bot in England allerdings eine ganz schmutzige Ehescheidungs-
geschichte König Heinrichs VIIL; aber der Wunsch, vom Papst-
tum unabhängig zu werden, war in England langst allgemein
und wurde um so sehnsüchtiger gehegt, je mehr die damalige
Kurie sittlich verkonmien tmd habsüchtig geworden war und je
mehr der hohe Klerus tmd die Mönche sich beim Publikton ver-
haßt gemacht hatten. Zudem strätibte sich das englische
Nationalgefühl, sich von einem auswärtigen Souverän, wie der
Papst es war, Vorschriften machen zu lassen, und der englische
Unabhängigkeitssinn, Steuern (Annaten, Präbenden usw.) zu be-
zahlen, deren Erhebtmg nicht die Zustimmtmg des vom Volke
gewählten Parlaments gefunden hatte.
gelegenen Britannien." So schätzten gelehrtie Italiener damals Eng-
land ein.
^) Schoell - Kattenbuscli: Anglikanische Kirche, in: Herzogs
Realenzyklopädie. 3. Aufl. Bd 1. S. 525 ff., woselbst auch die ganze
reichhaltige Literatur. Von katholischer Seite: Spillmann: Diie Blut-
zeugen unter Heinrich Vin. Freiburg 1910.
70 Kapitel 5.
Die Reformation griff ztmäclist ledi^ch das bestehende
r&nische Kirchenrecbt ani nicbt die Kirdienlefare« Der Angriff
richtete sich im wesentlichen auf die Beschränkung der papst-
fichen Macht und wünschte die Herstellung einer allgemeinen
englischen Landeskirche. Heinrich VHI« gjng ganz folgerichtig
vor. Vermittelst eines alten Gesetzes von 1392 (Praemunire)
^wang er 1531 seinen hohen Klerus ihn als tA^n vorzuglicfaen
Beschützer, einzigen und obersten Herrn und Oberhaupt der
englisdien Kirche, soweit es das Gesetz Christi gestattet*' an-
zuerkennen, wozu 1532 das Parlament beschloß, den i,Er-
pressungen und Bedrückungen" der Kurie ein Ende zu machen«
1533 wurden durch Reichsgesetz die „Appellationen nach Rom"
verboten und 1534 entkleidete das Parlament in 14 Tagen das
Papsttum fast aller seiner Rechte, die nichts seien, als ein Usher
geduldetes, zurücknehmbares Recht. Das älteste Zeugnis der
Unterwerfung der Angelsachsen unter den romischen Stuhl, der
Pßterspfennig, wurde abgeschafft, die Annaten zog man für den
Kc^g ein. Aber an der bischöflichen Verfassung und an der
herkömmlichen Lehre sollte festgehalten werden. Ja, am
3« November 1534 ging die sogenannte Suprematsakte durch,
welche die englische Kirche als eine von Rom tmabhängige
katholische^) Landeskirche unter Oberhoheit des Königs an-
richtete tmd den Klerus, die Universitätsangehörigen und alle
weltlichen Beamten zwang, dem Könige den sogenannten
Suprematseid zu leisten« Wer sich weigerte, hatte eine Be-
strafung vor der Stemkammer zu gewärtigen, und der Henker
bekam viel Arbeit. Die reichen Klöster wurden au^ehoben
und ihr Vermögen dem Könige zugesprochen«
Unter Heinrichs Nachfolger, Eduard VI«, ging man aber
doch daran, auch die Lehre der Kirche zu verändern und im
protestantischen Sinne umzugestalten« Im Mai 1553 wurde ein
Glaubensbekenntnis in 42 Artikeln verfaßt, das die Lehren der
^) Seitdem k^i das Wort „katholische Kirche" und „Icatholische
Religion" in Britannien eine doppelte Bedeutung, was wohl zu )»'
achten ist. Wir werden später sehen, daB der Begriff catholick ^eUgipn
sogar noch eine dritte Bedeutung erhält.
Die geistige Entwickelung Englands bis zur Reformation. 71
neuto Kirche aufzeichnete. Nachdem man dami unter Philipp
und Maria eine kurze, aber recht blutige Reaktion in katho-
lischer Richtung erlebt hatte, stellte Elisabeth den Anglikanis-
mus wieder her, ließ das allgemeine Gebetbuch revidieren und
führte es durch die Uniformitätsakte von 1559 för ganz England
schon im ersten Jahre ihrer Regierung wieder ein. Nun waren
alle diejenigen, weldie diese Akte nicht beschworen, zu
,J)issenters", zu ,Jfonkonformisten" gestempelt, die man auch
im bürgerlichen Leben dadurch schädigte, daß man sie zu
keinem Amte in England zuließ; die Katholiken, die man durch
die sogenannte Testakte vom 20. März 1673^) — sie war erst
nach zähem Widerstände des Königs durchgegangen — sogar
von der ,Jbdulgenz" Puldung) aussdiloß^), wurden noch
schlechter gestellt, indem ihned nicht nur der Zutritt zu
den Ämtern, sondern auch zu jeder Gtmst der Fürsten
versagt blieb. Sie erlitten oft genug die rohesten Verfolgungen,
wenn der furchtbare Ruf „no popery" durch die Gassen hallte.
In Schottland hatte sich unter dem ESnflusse von John
Knox die Reformation in calvinistischer Form durchgesetzt und
war in diesem Lande zur Staatskirdie geworden. Von hier aus
griff die Richtung der Presbyterianer^) auch nach Eng-
land über, wo sie nach und nach immer mehr Anhänger er-
hielt Obgleich nun diese Reformpartei auch hier — genau
wie in Schottland — danach strebte, die herrsdiende Staats-
kirche zu werden, so hat sie doch dieses Ziel nie ganz erreicht,
^) Ranke: Engl. GeschicHte. Bd 4. S. 412 ff.
^ Man beklagte sich sehr, daß die Gnade des K6nigs von den
Katholiken gemißbraucht würde; wo man gehe und stehe, finde man
sie in Bewegung; kein Gesetz werde gegen sie in Ausführung ge-
bracht. Eine Petition bat den König, der die Katholiken in der Tat
sehr begünstigte, um Entfernung der römisch-katholischen Priester
und besonders der Jesuiten. Mr. Nikolas Carew M. P. sagte:* Man
verfolge den Zweck, die protestantische Kirche so stark zu machen,
daß sie nicht etwa einmal Toleranz seitens der katholischen bedürfe.
^ Scholl - Kattenbusch; Puritaner und Presbyterianer. in:
Herzog's Realenzyklop&die. 3. Aufl. Bd 16. S. 323 ff., wo auch die
Literatur über den Gegenstand zusammengestellt ist.
72 Kapitel 5.
da ihr in dem Augenblicke, wo sie — um das Jahr 1645 —
siegreich war, die Frfichte eines langen heftigen Kampfes von
den Radikalen unter ihren Mitgliedern den ««Independenten" aus
den Fingern gerissen wtfirden« So blieb der Presbyterianismus
immer in der Minderheit, so schwerwiegend sein Bnfluß auf die
geistige Entwickelung in England auch war; alle Anhanger
dieses Glaubens mit ihren Ältesten und ihren Predigern zahlten
in England stets zu den ,|Dissenters"«
Eine dritte Reformpartei in England sind die P u r i t an e r.
In ihren Reihen fanden sich alle diejenigen, welche die
Reformation ernst nahmen, eine „reinere" Lehre und eine wahr-
haft evangelische Lebensfühnmg erstrebten« Es waren die
„Stillen im Lande", die ,JIeiligen", die die Kunst und das
Theater als Sünde verabscheuten, die ,3eter", die den Sonntag
in ,JErbauung" zubrachten, die Lustbarkeiten mieden und allem
Luxus entsagten. Sie waren niemals einheitlich oder gesdilossen,
so daß man von ihnen eigentlich nicht als besonderer Partei
reden kann, und sie vermieden es, an eine „Staatskirche'* zu
denken oder sie gar zu erstreben« Sie hatten von vornherein
schon eine zweifache Wurzel: den strengen Qdvinismus, den sie
radikal tmd konsequent auffaßten und voll und ganz in seinen
Folgerungen auslebten, tmd das Wiedertäufertum« Dieser
doppelte Ursprung zeigte sich sofort, als sie über das eigentliche
Presbyterianertum hinausgehend den Sieg errangen; damals,
ca. 1650, auf dem Gipfel ihrer Macht spalteten sie sich ynd
verloren Macht und Haltung, Die Enthusiasten tmter ihnen
waren zufrieden, die Kraft der anglikanischen; und
presbyterianischen Staatskirchen, wenn auch nicht gebrochen,
so doch beiseite geschoben zu haben; die Radikalen aber, die
Independenten, welche nicht nur kirchliche, sondern auch
politische Ziele erstrebten und in erbitterter Opposition mder
das englische KSnigstum und die von ihnen geschaffene Staats-
kirche standen, gingen bis zur Vernichtung ihrer Feinde heran,
gerecht oder ungerecht: im Namen Gottes.
Zu den Dissenters gehören außerdem noch eine Anzahl
Sekten, unter denen namentlich die Q u ä k e r hervorragten, die
Die geistige Entwickelung Englands bis zur Reformation. 73
mit manchen Gnmdsätzen der V(^edertaufer eine eigentümliche
Theorie der inneren Offenbanmg verbanden« der sie das ge-
schriebene Wort miterordneten^). Ihr Patriarch war jener
Georg Fox (f 1691)'), dessen tiefe und echte Innerlichkeit auf
Cromwell einen großen Eindruck machte.
Diese und andere Gruppen rechneten die Leute des 17. Jahr-
htmderts gern zu den Puritanern, obgleich sie in Wesen und
Denkart ganz verschieden waren tmd in Lehre, Symbol und
Ritual voneinander abwichen. Ihr Geist aber war durchaus ein-
heitlich weitabgewandt« pietistisch, starrkopfig und zur Opposition
immer bereit Es ist in Literatur und Leben in dem England
der ersten Stuarts ^zu merken, wie der Puritanismus drückte.
Der Presbyterianismus hatte aber nut dem Augenblicke seine
Rolle ausgespielt, als er sich um 1700 völlig dem Deismus, ja
dem Freidenkertum ergab. Den Independenten, denen die
Gewissensfreiheit des Individiums über alles ging, verdankten
die Engländer aber ein großes geistiges Geschenk, die Durch-
führung der Töleranz.
7. Von der Toleranz schloß der englische Protestanti
welcher Richtung er auch huldigte, den Atheisten und den
Katholiken vollständig aus.
Dieses Verfahren widersprach für den echten Engländer
dem Begriffe der Toleranz durchaus nicht. Denn dieser Begriff
ist eben eine Errungenschaft der späteren, radikalen
Reformationszeit in England, deren Führer durch die lang-
wierigen Kämpfe gezwungen, eigentlich ebenso unduldsam
waren, wie ihre Gegner. Ln Augsburger Religionsfrieden 1555
wurde jene Befugnis der Landesobrigkeit festgestellt, die „reme
Lehre" festzustellen und zu schützen, einen Satz, den man später
in die Norm einpreßte: Cuius regio, ejus religio*). Der west-
fälische Friede machte später einen weiteren Fortschritt, indem
er zur wirklichen Toleranz übergmg, und auch zuerst offiziell
^) Ranke: Englische Geschichte, Bd 3. S. 499 ff.
*) Über Quäker s. Herzog's Realenzyklopädie. 3. AufL Bd 16.
S. 356 ff .
') Vgl. dazu die von Anderson verfaßten Konstitutionen S 1.
74 Kapitel 6.
den Namen gebraudite^). In England ist der Begriff als ein Ruck-
schlag gegen das übertriebene Suprematsbewußtsein der Stuarts
und ihre katholisierenden Neigungen aufgekommeui und zwar
dmch die Levellers und die Deisten; von gewissen Kreisen 'wie
denen des ComeniuSi Hartlib usw. eifrig gepflegt und sdblieBIich
von Leuten wie Oliver Cromwell und Milton und ihren Freunden
als eine wichtige Staatsmaxime anerkannt und gebraucht')i drang
der Gedanke der Toleranz in das ganze Volk als Lebensprinzip
ein. Lehrten jene die Theorie der Toleranz als gerecht und
nützlich, so waren diese deren Träger und Vollender vom poli-
tischen Nützlichkeitsstandpunkte aus« Man war im Publikum
aber sehr zufriedeui daß diese Independenten so dachten.
Würden die anglikanischen Royalisten oder die Presbyterianer
ans Ruder gekommen sein, so würden sie nach ihrer Gewohn-
heit Andersdenkende verfolgt haben, meinte man; „wir haben
uns nicht über religiöse Verfolgung zu beklagen", schrieb
Richardson in seiner Apologie für die gegenwärtige Regierung,
„wir haben Gewissensfreiheit . . . Das Glück des Volkes Uegt
nicht in dem Besitz dieser und jener Regierungsform, sondern
in der Gerechtigkeit und Redlichkeit der Regierenden '. Und
in dieser Hinsicht konnte man sich auf Cromwell verlassen,
obgleidi auch er, wie Milton den Katholiken jede Toleranz zu
versagen geneigt war*). Denn ihnen, den jetzigen Machtinhabem,
den hidependenten, ging die politische Wirkung der
religiösen Überzeugung völlig über das Recht oder Unrecht der
Religion selbst; allen anderen Sekten in England aber lag vor
allem daran, die höchste weltliche Gewalt von den religiösen Ein-
richtungen überhaupt zu trennen, imd sie unterstützten schon
deswegen jede tolerante Wendimg m Politik und Kirche, außer
vielleidit den Presbyterianem. Aber auch diese bekehrten sich
allmählich, je mehr sie sich dem Deismus näherten. Denn die
^) Herzog's Realenzyklopädie. 3. Aufl. Bd 19. S. 827.
') Ranke: Englische Geschichte. Bd 3. S. 485 fl.
'] Ranke S. 497: Es gehört zu den politischen Gesichtspunkten
des Protektors, seiner Verwaltung einen ausschließend pro-
testantischen Charakter zu vindizieren. Vgl. auch Stern: Milton und
seine Zeit.
Die Aufklärung in England. 75
Deisten waren schon deswegen tolerant, weil sie die Streitig-
ketten über Glaubenssachen für vernunftwidrig hielten. Es ist
der deistische Philosoph Locke gewesen, der in seinen Letters
of toleration das ganze Problem seit 1667 ausgiebig theoretisch
behandelte^) und in seinen praktischen Folgerungen beleuditete.
Seit 1689 ist endlich der fürditerliche Suprematseid weggefallen
und durch einen allgemeinen Untertaneneid ersetzt worden; ja
im Mai desselben Jahres wurde die englische Toleranzakte er-
lassen, durdi welche die Dissenters von den Strafgesetzen befreit
und außer Verfolgung gesetzt werden. Den Katholiken ist aber
erst 1791 die Einrichtung eines Gottesdienstes in England ge-
stattet worden, und zwar unter mannigfachen Beschränkungen«
Kapitel 6.
Die Aufklärung in England.
L Indessen war im 17. Jahrhundert in England eine geistige
Richtung in die Höhe gekommen, die man als A/ufklärung
zu bezeichnen pflegt. Sie ist viel älter, als sie zu sein scheint
und hat ihre Wurzeln in Unteritalien, wo man sie bis in das
12. ja bis ins 11. Jahrhundert zurück verfolgen kaim. Die Auf-
klärung ist eine philosophische Weltansdiauung, welche die
Befreiung der Persönlichkeit von den Banden sowohl des
antiken Denkens als auch der scholastisch-theologis^en
Doktrin des Mittelalters anstrebt tmd alle Kräfte daran setzt,
die „Vernunft" in allen Dingen zur Geltung zu bringen. Die
Aufklänmg ist also ganz rationalistisdi. Wie sich die
Renaissance auf das Altertum stützte, so lehnte sich die neue
Richtung an die Fortschritte der Naturwissenschaften und die
Mathematik an, deren wir oben gedachten. Das Interesse für
^) Er selber war als Dissenter geboren und hatte die plaffische
Toleranz der anglikanischen Kirche am eigenen Leibe kennen gelernt.
76 Kapitel 6,
das Dogmatische beginnt etwa seit 1625 gewaltig abzunehmea;
man verlangt ftir alles Beweise« womöglich solche nach f^mathe-
matischer Formel". Der Forschmigseiferi angestachelt durch die
großartigen Entdeckungen eines Copemicus, Kepler; Galileo
Galilei u. a,, erwachte auf allen Gebieten. So erhob sich aus der
naturwissenschaftlich-mathematischen Arbeit heraus ein neues
Weltbild, das allmählich in schroffen Gegensatz zu den
wichtigsten Punkten des kirchlichen Dogmas trat Empi-
rismus und induktives Verfahren, das allerdings der Zeit-
genosse ShakespeareSi Lord Francis Bacon, erst entdedcte, ver-
tiefte und weiter ausbildete, wurden die Losungsworte der Zeit;
die Vernunft, das ,4umen naturale", erstrahlte wieder im
hellsten Lichte: der Mensch wurde, wie zur Zeit der antiken
Sophisten, durch seine Vernunft das Maß aller Dinge. Nicht
der Glaube versetzt Berge, sondern Wissen ist Macht^), So
entsteht zum Zwecke des Wissens oder, anders ausgedrückt, zum
Zwecke der Aufklärung eine neue Wissenschaft, deren Objekt
die Natur, deren Methode die Induktion, deren Werkzeug die
Vernunft ist Darin liegt der große Unterschied zwischen Mittel-
alter und Neuzeit, daß jene den mangelhaften Analogie-Schluß,
diese die induktive Methode in physischen Dingen anwandte^),
und daß die Objekte der neuen Forschung inuner ganz und gar
innerhalb der Erscheinungswelt lagen. Die transzendente Welt
der Religion scheint allerdings bei d^i Aufklärern nicht ganz
ausgesdialtet zu sein, aber sie tritt an Wert hinter der Er-
scheintmgswelt zurück; die sittliche Welt muß erst dadurch
wieder erobert werden, daß man die Philosophie der antiken
^) Ein Ausspruch Bacons (sdentia est potentia).
*) Da diese Forschung also fast ganz der Physik und Mechanik,
auch der Astronomie und Chemie, weniger aber dex^ beschreibenden
Naturwissenschaften zu Gute kam, so erklären sich auch die vielen
Entdeckungen imd die Erfindung von Instrumenten. 1590 wurde das
Mikroskop, 1608 das Femrohr hergestellt, 1614 hatte Lord Nai»er das
Prinzip der Logarithmen dargetan, 1620 spricht Lord Bacon vom
Thermometer als einer bekannten Sache, 1643 ist das Barometer
vorhanden usw.
Die Aulklärung in England, ^^
Stoa mit der Aufklärungsphilosophie verbindet ,|Die Rationalität
des Universums wurde die metaphysische Formel der Zeit"i sagt
Dilthey, und, so kann man hmzusetzen, , Aufklärung" ihr LosungSf-
wort. Von allen Seiten aber wird verlangt, daß alle Resultate der
neuen Forschung auf eine möglichst kurze mathematische Formel
gebracht werden^).
Die große Bewegung beginnt in Italien, nimmt ihren W^g.
über Deutschland und Holland und konmit um 1600 nach Eng-
land; sie war von vornherein international, aber sie nahm in
jedem Lande eine besondere nationale Färbung an« In England
bekam sie gemäß dem Charakter des englischen Volkes und
dem Verlaufe seiner Geschichte eine ganz eigenartige meta-
physische Gestalt Man muß im Auge behalten, daß sie äch hier
in der Zeit zwischen dem Anfange der Revolution gegen Karl L
und dem Aufstande gegen Jakob 11« zu voller Blüte entfaltete«.
Bei diesen Bewegungen handelte es sich aber nicht nur um
praktische staatsrechtliche Dinge, sondern um die völkische
Weltanschauung, um einen Kampf des calvinistisch gefärbten
Puritanismus im Bunde mit strenger, am Stoizismus orientierter
Moral gegen die verknöcherte und mtolerant^ Orthodoxie der
katholischen und anglikanischen Kirche innerhalb einer ganz
frivolen Gesellschaft. So nahm denn die Aufklärung, indem sie
sich an die Seite der Whig-Kreise stellte und die Sache der
Toleranz und der inneren Freiheit ergriff, in England nicht nur
einen naturwissenschaftlichen, sondern wegen ihrer religiös-
moralischen Seite auch einen stark geisteswissenschaftlidi-meta^
physischen Zug an* Die Naturwissenschaft wird also hier be-
gleitet „von einer rationalen Metaphysik und Ethik von schroff
intellektualistischem Charakter" (Troeltsch); sie beschäftigt sich
auch vernünftig und von Vernunft wegen mit Gott, Religion,
Tugend und Unsterblichkeit; oder mit anderen Worten: die
durchaus rationalistische Aufklänmg beruht in England auf
^) Man ahnt heute nicht mehr, welche ungeheure Rolle die
Mathematik in der Zeit der Aufklärung spielte. Man sieht einen Ab-
glanz von dieser Hochschätzung in der Htstory unserer Old Charges.
78 Kapitel 6.
zwei Säulen^ Naturwissenschaft und Deismus« Beide
werden aber überstrahlt durdi die auf Vernunft und allgemeine
Mensdienfiebe aufgebaute Toleranzi von der wir oben
bereits gesprochen hal^n. Wer diese ganze Geistesriditung in
England recht erkennen will, muß den Philosoi^en John Locjce
studieren, der wie in einer lAnsB die Strahlen des Uchtes jener
Zeit auffand und sie in seiner Philosophie nach englischer
Tradition ffir Engländer fixiert und fibermalt
2. Die Naturwissenschaft hat, wie wir sahen,
in England entschieden eine vollständige Umwandlung erfahren,
die von weitreichendstem Einflüsse auf die Zeitgenossen ^irar^
Berufene und Unberufene drängten sich in die Laboratorien imd
zu der Lektüre der zeitgenossischen Physiker; sie war neben
der Mathematik, mit der sie damals stark zusammenhing, die
Lieblingswissenschaft der Zeit. Die neue Naturwissenschaft hat
von vornherein hier eine dreifache Richtung: eine rein wissen-
schaftliche, eine mystische tmd eine praktische.
Die wissenschaftliche beginnt in England in
vollstem Maße mit Lord Francis Bacons treuer und un-
befangener Beobachtung der Erscheinungswelt. Hier ninmit in
Wahiheit die Analysis der Natur ihren Anfang. ,Jn Bacons
disseeare naturam, seinem tiefsten Begriffe, war die Formel
dieser Analysis gegeben" (Dilthey). Er führte das Werk, das
Copemicus begcnmen, Kepler, Brimo, Galilei und der große
Niederländer Huyghens weiter ausgestaltet hatten, zur voU-
ei^eten Methode des ibodemen Naturerkennens. Bacons Schuler
Robert Boyle (f 1691) führte fömilich Tagebuch über die
Ausführung seiner zahlreichen Experimente. In ihm zeigte sich
so recht jene Kraft, die nach Diltheys klassischem Zeugnisse die
Herrschaft der Vernunft herauf gefuhrt hat: die Verbindung der
arbeitenden Hand mit deni forschenden Geiste im Schede einer
freien bürgerlichen Gesellschaft, hi der Chemie und in der
Physik, deren Zusammenhang er begriff, machte er die wichtigsten
Endeckungen; in der Chemie beginnt mit ihm direkt ein neues
Zeitalter, weil er den Bruch mit der Alchemie und mit den
i
Die Aufklärung in England. 79
aristotelischen Begriffen in dieser Wissenschaft vollendete^)*
Auch sein Freund Isaac Newton (f 1727) hat auf dem Ge*
biete der Physik, aber noch mehr auf dem der Mathematik die
bedeutendsten Verdienste« Auf dem stolzen Grabstein, der an
ihn in der Westminster Abtei erinnert, steht nur sein Name
und der binomische Lehrsatz, den er entdeckt hat Er fand die
Fluxionsrechnung, stellte die Gesetze über die Anziehungskraft
fest, und es glückte ihm der Beweis der Einheit der Fall-
bewegtmg und der Anäehtmgskraft der Kinmielskörper« Die
Mathematik eilte bei ihm der Physik um ein gutes Stück voraus»
Darum vielleicht geriet er nie in den Materialismus, sondern
blieb ein frommer Mann, ja er suchte für das Dasein Gottes
sogar nach der mathematisch-physikalischen Methode seiner
Zeit eben neuen Beweis aufzustellen, der sich allerdings durch-
aus in den deistischen Bahnen seiner Zeit bewegte. Sein älterer
Zeitgenosse Thomas Hobbes (t 1679) vertrat dagegen die
Ansicht, daß in der Natur alles auf mechanische Weise geschehe*
Wissenschaftlich untersuchte er nur die Körper, tmd auch Philo-
sophie war ihm lediglich Körperlehre. Indem er nun das Uni-
versum betrachtete, entstand in ihm der Gedanke des Zu-
sammenhanges der ganzen physischen Welt, in welchem jedes
Glied mit dem anderen kausal verknüpft ist. Das übertrug er
auch auf den sozialen Körper. Seine ureigenste Tat beruht eben
auf der Anwendung des naturwissenschaftlichen Denkens auf
Geist und Gesellschaft, so daß auch die Erforschung der
Soziologie für ihn eine Aufgabe der Naturwissenschaft wurde;
auch das menschliche Denken und die menschlichen Handlungen
sind nach ihm gesetzmäßig.
3. Die Forschung auf dem Gebiete der Naturwissenschaften
hatte aber nidit, so groß der Fortschritt auch war, den man
machte, sogleich die Wirktmg, den Aberglauben zu vertreiben
und die Mystik zu bannen, die durch das Betreiben der
mit Astrologie, Magie und oft auch Zauberei verbundenen
^) über ihn und Newton s. Lange: Geschichte des Materialismus.
Leipzig: Reclam o. J. Bd 1. S. 341 ff.
80 Kapitel 6.
Alchemie^) in den letzten drei oder vier Jahrhunderten besonders
ins Kraut geschossen war. Gerade im 17. Jahrhundert erlebte
diese Pseudowissenschaft eme Nachblute und verwirrte viele
Köpfe in Fnglandi noch während die Studien Boyle's und
Newton's sdion ein neues Weltbild herauffuhrten.
Unter Alchemie verstand man von jeher zunächst die Kunst
unedle Metalle in edle, namentlich m Gold und Silber zu ver-
wandeln. Man wollte sich dazu eines Geheimmittels bedienen,
das man den „Stein der Weisen" nannte, eine Substanz, durch
die es nicht nur möglich sein sollte, Blei oder Quecksilber in
Gold umzusetzen, sondern auch den Menschen selber zu ver-
edeln, ihn körperlich durch eine besondere, mit Hilfe des Steins
der Weisen herzustellende Mixtur (Elixir vitae) zu verjungen
und ihm ein sehr hohes, geistig und körperlich frisches Alter
zu verschaffen, ja, ihm Glück hienieden und ein emges Leben
drüben zu sichern. AllmähBch kam noch ein drittes Ziel hinzu,
nämlich die Entdecktmg des Alcahest'), das ein Atiflösungsmittel
für alle Stoffe sein sollte. Die ersten Versuche, diese wunder-
bare Mixtur des Steins der Weisen herzustellen, stammen aus
Ägypten; sie wurden in der Zeit des Hellenismus im 2. Jahr-
hundert n. Chr. gemacht und schlössen sich an den Namen des
Gottes Thoth oder Hermes Trismegistos an, der ja den Leuten
bis ins 18. Jahrhundert hinein als der allweise Meister jeder
tieferen Erkenntnis galt. Es waren dann die Araber, meist
Ärzte, die eine Universalmedizin erstrebten und die Kenntnis
des Problems und seiner möglichen Wege dem Abendland etwa
im 11. Jahrhtmdert durch die spanischen Hochschulen, deren
Lehrer sie waren, übermittelt haben. Seitdem war kein Halten
/) Literatur bei WoUstieg, Bibliographie Nr. 42154 ff. Hier sind
hauptsächlich verwendet: Kopp: Alchemie, T. 1. 2. Heidelberg 1886;
H. W. Schäfer: Die Alchemie. Flensburg, Kgl. G. 0. P. 1887 (260); Riess;
Alchemie in: Pauly's Realenzyklopädie. Bd 1. S. 1338 ff.; Schuster:
Geheime .Gesellschaften. Bd 1. S. 506 ff.; Strunz: Beiträge und
Skizzen zur Geschichte der Naturwissenschaften. 1909 Keller in
Monatshefte der Com.-Ges. Bd 18. 1909. S. 170 ff. .
*] Das Wort ist' wahrscheinlich aus All-Geist entstanden s.
Gould: History of Freemasonry. Bd 3. S. 123.
Die Aufklärung in England. 81
mehr» Ernste Leute und viele Betrüger oder betrogene Betrüger,
sowie Leichtfertige und Abenteurer beschäftigten sich mit
Alchemie, der Herstellung des Steins der Weisen tmd des
Alcahest*
Einen geivissen Wendepunkt in dieser vermeintlichen
Wissenschaft bezeichnet der große Physiker und Arzt
Paracelsus (1493 — 1541)^) dadurch, daß er die Alchemie
auch auf die Naturerklärung und auf die Praxis der Medizin an-
wandte. Zum Teil blieb auch er so sehr in den mystischen Aben-
teuerlichkeiten der schwarzen Kunst stecken, daß er bisweilen
zum Scharlatan wurde. Seit seinem Auftreten nahmen aber die
alchemistischen Studien eine doppelte Richtung, einmal eine
solche, die in mystische Naturphilosophie führte, und eine solche,
welche nützliche Dinge auf ihrem Wäge suchte und fand. Dem
utilitaristischen Sinne der Engländer lag der letztere Weg am
nächsten.
Einer der ersten, welche die Alchemie nach England ge-
bracht haben, war ein im 11. Jahrhundert lebender Gelehrter,
namens H o r t u 1 a n u s. Er ist für die Entwicklung der Alchemie
selbst von weittragender Bedeutung gewesen, weil er ein später
gern von den Alchemisten zitiertes Buch über die sogenannte
Smaragdtafel des Hermes herausgegeben hatte'). Dann be-
schäftigte sich der große Philosoph Roger Bacon (1214 bis
ca. 1294)') sehr viel mit dem alchemistischen Problem, das er
wahrscheinlich in Paris als Student kennen gelernt hatte. Ob-
gleich Bacon den Aberglauben seiner Zeit heftig geißelte, glaubte
er doch fest an die Wahrhaftigkeit der Alchemie^), vor allem
an die Möglichkeit der Verwandlung unedler Metalle in Gold.
Seinem Zeitgenossen, dem Spanier RaymundLull(t 1315),
^) 8. fiber ihn Strunz a. a. 0. S. 47 ff.
*) Commentaritts in Hermetis Tabulam smaragdinam. Nürnberg
1541 zuerst gedruckt.
') 8. Über ihn Überweg-Heinze; Grundriß der Geschichte der
Philosophie. 2^^ S. 564 ff.
*) S. Kopp I. S. 23; s. vornehmlich Bacons Schrift Sylva sylvattim
or a Natural History,
6
82 Kapitel 6l
welcher in teiaem tmstateii Leben audi mit Eduard IIL yan
En^and in Verbindung getreten sein soll, wird nadigesagt^^daß
er sich gerfihmt habe, ein ganzes Meer von. Quecksilber mit
seiner Tinktur in Gold verwandehi zu können, und daß er dem
K5nige von England tatsachlich 50000 Phmd Quecksilber in
dieses edle Metall verwandelt habe ^). Auch die wunderbarsten
arzneilichen Wirkungen des Steines der Weisen stellte LuQus
dar; dazu fanden sich in seinen Schriften noch Angaben, wie
man Edelsteine und Perlen kfinstlich bereiten, wie man hanomer-
bares und unzerbrechliches Glas herstellen könne und dgL nou —
Auch Thomas v* Aquino huldigte der Alchemie und mit
ihm viele andere angesehene Manner in Europa« Im ganzen
England verbreitete sich nun die Sucht, alchemistische Studien
zu betreibeui ja selbst die alchemistisch-theosophische Natur-
anschauung der Kabbala gewann gerade in aristokratischen und
gelehrten Kreisen immer mehr an Boden; mehrere Konige haben
eine Menge Geld dafür verschwendet, den Stein der Weisen
zu finden« Der Unfug wurde schließlich so groß, daß König
Heinrich IV. einem Parlamentsbeschlusse gemäß 1404 die Geld-
macherei ganz verbot').
Aber schon Heinrich VI. oder vielmehr die vormundschaft-
liche Regierung tmter ihm forderte wieder in mehreren Erlassen
u J, 1423 alle Geistlichen und Gelehrten des Reiches auf % den
^) t. Kopp I. S. 24; Schäfer S. 26; Überweg-Heinze 2^^ S. 531.
Seins Hftuptschriften über die Alchemie sind die Clavis und die
EpittoU accurtstionis lapidis, de alchymia, compendium de transmu-
tatione animae metaUorum und das Testamentum. Unverständlich ist,
wie J. H. Probst in Charaktere S. 169 gleich vielen Spaniern behaupten
kann, LuUus sei niemals Alchemist gewesen. — Daß Lullo^ mit
Eduard III. in Verbindung gestanden habe, ist natürlich unmögUdi«
da dieser erst 1312 geboren ist. Es könnte sich höchstens um Eduard L
handeln.
*) Nicht in den Statutes; die Existenz der Order ist aber nicht
zu bezweifeln; s. Schäfer a. a. O. S. 28.
*) Statutes. Bd i. S. 524 ff.; Kopp a. a. 0. L S. 106 behauptet,
es seien auch an eine größere Anzahl vbn uns nur noch dem Hsm^n
nach bekannter Individuen dafür besondere Privilegien erteilt worden.
Die Aufklärung in England. 83
Stein der Weisen zu suchen, um die ungeheui^e Staatsschulden-
last zu mildem. Und das wiederholte sich unter Eduards IV.
Regierung, wo man Patente auf das Recht erteilte, „in allen
Metallen und Mineralien Alchemie zu treiben" oder ,,natürlidie
Philosophie zu tteiben imd Gold aus Quecksilber zu machen*)/'
Man kann sich daher nicht wundem, wenn das Fieber, den
Steih der Weisen zu finden, immer größere Volkskreise in Eng-
land ergriff, obgleich Papst Johann XXII« schon 1317 gegen den
Unfug durch eine eigene Konstitution einschritt^). Aber trotz-
dem nahm die alchemistische Krankheit in den Köpfen der
Menschen eher noch zu, namentlich seit Paracelsus die Kunst
gleidisam auf einen wissenschaftlichen Standpunkt gebracht und
durch Übertragung auf die ärztliche Praxis sinnfällig ihren
greifbaren Nutzen bewiesen hatte. Selbst ein so bedeutender
und besonnener Naturwissenschaftler, wie Lord Francis
B a c o n , war fest von der Möglichkeit, Gold zu machen, über-
zeugt, nur daß er die Methoden, die in der Praxis bisher an-
gewandt wurden, für reich an Irrtümern und Betrug hielt und
glaubte, daß man in der Theorie mit tmgesunden Einbildungen
erfüllt sei. Man meinte immer wieder der Lösung des
Problems nahe zu sein, oder sie bereits geftmden zu haben«
Em englischer Geistlicher Namens P o r d a g e (gest. 1626) preist
in seinem „Philosophischen Sendschreiben" das Glück, daß er
den Stein der Weisen gefunden: ,JN[tmmehr ist der Stein fixiert,
das Elixier des Lebens bereitet, das liebe Kind geboren, fahr
hin Fall, Hölle, Fluch, Todi Drache, Tier und Schlange. Gute
Nacht Sterblichkeit, Furcht, Trauern und Elend . . . Die alten
Philosophen nennen ihn ihren weißen und roten Löwen, die
Schrift nennt ihn den Löwen des Hauses Israels oder Judas
oder Davids." Im 17. Jahrhundert war die Alchemie geradezu
eine Seuche geworden, die nicht nur die Gelehrten, sondem
*
^) S. Kopp a. a. 0. L S. 148.
*) Kopp a. a. 0. I. S. 254.
') Die Constitution „Spondent quas non exhibent", abgedruckt im
Corpus iuris canonici Extravag. lib. V. Tit. 6 in der Kölner Ausg.
V. 1670 Lib. VL S. 386 f.
9*
84 Kapitel 6.
auch Schuster und Schneider ergriff), so daB man selbst auf
der Bühne die Alchemisten verspottete'). Denn wie die Masse
der Glaubigen zunahm, so mehrten sich auch diejenigeui ivelche
infolge der sichtbaren Verarmung der alchemistischen Streber
und der nur allzu häufig auftretenden Betruger der ganzen
Sache mißtrauten oder gar keinen Glaid>en mehr schenkten.
Schließlich machte der Widerspruch der wissenschaftlichen
Chemiei namentlich der des Engländers Boyle dem Glauben
an die Alchemie um 1720 un wesentlichen ein Ende; aber
einzelne Alchemisten gab es noch am Ende des 18. Jahrhunderts,
trotz der Aufklärung.
Will man die Bedeuttmg der Alchemie recht verstehen, so
muß man, wie Th. Schäfer*) richtig bemerkt, unterscheiden
zwischen den Philosophen und Praktikern der Alchemie. Die
letzteren sind freilich oft genug Laien, deren Habgier sie ver-
führte, ihr echtes Gold und Silber um Chimären willen durch den
Schornstein zu jagen, oft Betrüger, oft Betrogene; aber mit den
Philosophen der Alchemie liegt die Sache doch anders. Ihr
Bestreben war es, Gott aus der Natur zu erkennen und dann
zu lernen, wie man durch Veredlung der eigenen Seele den
Körper sich Untertan machen und gleichsam alle Materie in
Geist verwandeln könne. Idealisten und Mystiker sind diese
Philosophen freilich allesamt, aber sie sind meist fromme und
ehrliche Leute. ,JDie unbedingte Anerkennung der Autorität der
heiligen Schrift als der Offenbarung Gottes war auch die erste
Glaubensvorschrift eines wahren philosophischen Alchemisten.''
(Th. Schäfer.) Diesen Leuten steht zwar der Glaubenssatz fest,
daß Extreme sich vereinigen lassen, aber nur dann, wenn ein
Bindemittel (medium) hinzutritt, welches an den beiden ver-
^) S. die prachtvolle und vorzüglich der Wahrheit nach-
empfundene Darstellung in Kolbenheyers Roman: Meister
Pausewang. München: Müller. 1910.
*) Bekannt ist Ben. Jonsons prachtvolles Lustspiel: The
Alchemist, das 1610 zuerst aufgeführt wurde.
*) Schäfer: Die Bedeutung der Alchemie. Bremen, Haupt-
schule P. 1S85 (653).
Die Aufklärung in England. 85
schiedenen Naturen der Extreme gleichen Antefl hat^). Dieses»
Medium ist die y^Weltseele", der göttliche Geist'). Das ist freilich
Pantheismus und unkirchlichi aber fromm; schlimmerer Deisititus
ist es, wenn gefordert wird, man solle sich nicht auf den Ver-
söhnungstod Christi verlasseui auch nicht auf den Glauben und
die guten Werke, sondern allein auf die durch Arbeit erlangte
Umwandlung im Herzen« Allein es ist in hohem Maße christliche
Maxime, so zu denken, nur ließ sich diese Ansicht in der
damaligen Zeit der kirchlichen Strafgewalt wegen nicht unver-
hullt vortragen; darum verbargen sie solche Gedanken unter
geheimnisvollen Andeutungen. Auch das hätte als Ketzerei ge-
golten, wenn die Philosophen ganz offetf behauptet hätten,
Geburt und Tod sei nur eine Umwandlung der Materie. Und
so geht das fort mit vielen Gedankengängen, die uns heute
naheliegen^]. Diese Dinge sind höchst interessant tmd haben
sichtlich auf den inneren Ausbau der Freimaurerei im 17. Jahr-
hundert eingewirkt Wir treffen bis auf den heutigen Tag in
manchen Systemen auf solche tmd ähnliche Gedanken, wenn-
^) Kunraih; Amphitheatnim sapientiae, Lipsiae 1602.
') Hennes sagt; „Siehe nun habe ich Dir auseinandergesetzt,
was bisher verborgen war; beachte aber, daß das eine Arbeit mit
Dir und bei Dir ist, die Du innerlich verstehen und beharrlich aus-
fahren mußt, die Du ebenso gut auf dem Lande wie auf dem Meere
tun kannst" Man beachte den Ausdruck; die Arbeit, Blei des
sündigen Herzens in Gold zu venvandeln; die Freimaurer sagen: die
Arbeit am rauhen Stein. Es ist ganz dasselbe gemeint.
') So sagt der Alchemist Gerh. Dom, ein begeisterter Anhänger
des Paracelsus, der Ende des 16. Jahrhunderts lebte, in de artificio
supematurali: „Zuerst soll aus der Erde deines Körpers Wasser
werden, d. h. dein steinernes und hartes Herz soll weich werden,
wie Wadis und achtsam auf die Lehren Gottes, damit der Geist sein
Siegel eindrücken könne; dann wandle es um in Luft, d. h. wende
dein nun demütig gewordenes Herz aufw&rts zum Himmel, zu dem
der Schöpfer dich erschaffen hat, und strebe gleich der Luft stets
nach oben, suche ihn, so wirst du ihn finden, bete zu ihm, so wird er
dir seinen Geist geben, klopfe an, so wird dein Verstand geöffnet
werden, um das zu erkennen, was göttlich ist. Dann wandle deine
Luft in Feuer um, d. h. in brennendes Verlangen und in heiße Liebe
zu Gott und deinen Nächsten, die nie verlöschen darf."
86 Kapitel 6.
^rdi man darum nicht bdiaiqiten darf, vne Katsch das in
seiner Geschichte der Freimaurerei tut, daß deren Arbeit nichts
sei als eme Fortsetzung der Rosenkreuzerei und Aldiemie.
Wichtig ist auch die Ansicht der Alchemisten, dafi selbst
alle diejenigen selig werden konnten, welche ohne die Kenntnis
Christi und des Evangeliums in Wahiheit und Liebe ein geistiges
reines Leben gefuhrt hatten« wie die Propheten, Sokrates usrv/).
Ganz deutlich sagt das em Anonymus'): ^Aber du wirst fragen:
wo sind demi die wahren Christen, die von aller Sektirerei sich
frei gehalten haben? Wisse, nicht auf den Bergen Samarias,
nicht in Jerusalem, nicht in Rom, nicht in Genf, nidit in Leipzig,
Krakau, Prag oder Olmutz, sondern überall in der Welt zer-
streut, in der Türkei, in Persien, Italien, Gallien, Deutschland,
Polen, Böhmen, Mähren, England, in Amerika, ja selbst im
fernen Indien; aus aUen Nationen wird sich Gott seine Gemeinde
sammeln, nämlich die, weldie ihn anbeten im Geiste und in
der Wahrheit, denn Gott ist Geist und Gott ist Wahiheit." Diese
Gesinnung ist der Ursprung der Toleranz in einer Zeit ge-
worden, die von engherzigster Intoleranz geradezu erfüllt ^war.
Es gehört zu den größten Verdiensten, die ach die Alchemie
um die Menschheit erworben hat, daß sie auf diese Forderung
der Toleranz, deren Notwendi^eit de nicht mfide vnirde auf-
zuweisen, mit allem Nadidrucke hinmes. Sicher ist Frömmig-
keit die Grundlage des Strebens jedes Alchemisten dieser Art
Fludd sagt in der Qavis philosophiae et alchymiae: „Allerdings
ist jeder fromme und gerechte Mensdi ein geistiger Alchemist . . .
Wir verstehen darunter einen Mann, der das Falsche vom
Wahren, das Laster von der Tugend, das Dunkel vom Lichte,
der die Verunreinigungen des Lasters von der Reinheit der Gott
nacheifernden Seele nicht nur zu unterscheiden, sondern durch
das Feuer des göttlichen Geistes auch abzusdieiden versteht*)/*
^) A. Kimrath a. a. O.: „So kann der Naturmensch oder der
Türke, der die heilige Schrift für nichts achtet, ans dem Stande der
Natur zur Vernunft gebracht und zum Christentum bekehrt werden,
so auch der Jude. So auch das fromme und reli^öse Altertum . . ."
*) S. Hl Sch&fer a. a. 0. S. 3a
*) P. 77. V^L KaUch: Freimaurerei S. 459.
Die Aufklärung in England. g7
Man sieht, wie auch diese Gedanken auf den inneren Ausbau
der freimaurerischen Denkweise stark eingewirkt haben.
Das häufige Fehlschlagen der alchemistischen Versuche
führte im 17. Jahrhundert in allen Landern zur Begründung
von aJchemistischen Gesellschaften; man hoffte,
durch gemeinschaftliche Arbeit die Gewinnimg des Steins der
Weisen zu fördern. Manche dieser GeseUschaften, die alle ge-
heim gewesen sind, treiben nicht Alchemie im Sinne der Gold-
macherei, sondern suchen im Sinne der philosophischen Alche-
misten das innere Gold des Christentums, das in der Natur offen-
bar wirdf und das Gold des Herzens im Mikrokosmus des
Menschen. Sie sind Kultgesellschaften im alten Sinne des
Wortes^). In Deutschland ragten die aldiemistischen Gesell-
schaften von Hamburg tmd Nürnberg unter manchen anderen
hervor. Die erstere war eine jener „Rosen-Gesellschaften ', die im
Westen Europas weit verbreitet waren; in der letzteren war der
große Philosoph L e i b n i z , der bis in sein spätes Alter alche-
mistischen Studien geneigt blieb, so scharf er auch das Streben
des Goldmachens verurteilte, in den Jahren 1666 und 1667
Sekretär. Nach der Ansicht jener Zeit glaubte dieser Denker
nicht nur, daß die Menschheit von der Alchemie heilkräftige
Arzneien erhalten werde, sondern er hoffte auch, das Geheunnis
der Lebenstätigkeit selbst entdecken zu können. Wie immer
versuchte der große Gelehrte diese Studien dadurch in die Praxis
umzusetzen, daß er Vereine zu ihrer Durchführung begründete
oder, wenn solche schon bestanden, wie hier in Nürnberg, ihr
Mitarbeiter und Gesellschafter wurde. So hat er damals und
später sehr energisch an der Lösung der Probleme der Alchemie
mitgearbeitet. Auch in diesen Vereinen verquickte sich eben
die bisherige „reine" Alchemie nicht nur mit einer oft recht
fruchtbaren Naturphilosophie, sondern auch mit allerlei Mystik'),
^) S. Keller: Akademien, Logen und Kammern des 17. und
18. Jahrhunderts. Jena: Diederichs 1912. 8®.
• ') Schweighart spricht, im Speculum von dem „so offt gemelten
köstlichen Büchlein Thomae a Kempis", das er den Lesern sehr
empfiehlt.
88 Kapitel 6^
die die chemischen Operationen mit chrisüicfaen Voratdliiii^n
völlig durchtränkte. EBerbei spielt die heilige SiebenzaU eine
große Rolle, die auch schon von alter Zeit het der £rdh
maurerischen Ritualistik nicht fremd war; die christlidien Heils-
lehren werden mit der Schmelzung und Veredlung der Metalle
im chemischen Ofen in den sieben Stufen der Läuterung ver-
glichen^). Es ist in diesen Gesellschaften also durchweg woU
weniger praktische, als vornehmlich philosophische Alchemie
betrieben worden.
In England ist es aber zur Begründung irgendwie nennens-
werter alchemistischer Gesellschaften nicht gekommen; denn
die Zeit der Königin Elisabeth war wenig geeignet dazu und
nachher trat eine Gesellschaft ins Leben, welche alle die für
die Alchemie geeigneten Kräfte au&og und in sich aufnahm.
Es ist das die „Bniderschaft" der Rosenkreuzer^) .
Diese verdanken einem müßigen Spiel, einer Satire, die
ernst genommen wurde, ihr Dasein. Im Jahre 1614 erschien
unter dem Titel: Allgemeine und General-Reformation der
ganzen weiten Welt. Beneben der Fama Fratemitatis, dess
Loblichen Ordens des Rosenkreutzes . . . Cassel: W. Wessell
1614, ein kleines Buch, das in wenigen Jahren bis 1617 netm
Auflagen bzw. Nachdrucke erlebte; schon das ist ein Zeichen,
welch ein ungeheures Aufsehen das Buch erregte. Der Inhalt
des Buches besteht aus 2 Teilen: der erste ist eine Übersetzung
einer Satire des Italieners Boccalini, was aber damals kaum
jemand merkte; der zweite berichtet von den Abenteuern eines
^) S. Schäfer: Alchemie. Flensburg, Kgl G. 0. P. 1887. S. 29.
Seh. führt dafür den Satz an: Wir armen Menschen werden wegen
unserer Sünde allhier durch den Tod, den ¥rir wohl yerdient, in
das Irdische, n&nllich das Erdreich, eingesalzen, bis so lange wir
durch die Zeit purifiziret werden und verfaulen, und dann hin-
wiederum endlich durch das himmlische Feuer und Wärme attf-
erweckt, clarificirt imd erhoben werden zu der himmlischen
Sublimation und Erhöhung.
') Die Literatur findet sich zusammen in Wolfstiegs Bibliographie.
Bd 2. Nr. 42 171 ff., namentlich auch bei Katsch: Entstehung der Frei-
maurerei 1897. Dagegen bei Begemann an den verschiedensten Orten.
Die Aufklärung in England, 89
fabelhaften Christian Rosencreutz und des Hochlöblidien
Ordens d« G. d R. C: er bringt Nachrichten über eine geheime
Gesellschaft, deren Haus »St Spiritus" irgendwo in Deutsch-
land liegen sollte, und welche den Zweck hatte, die kranke
Zeit zu heilen. Im folgenden Jahre erschien dann das dritte
Stüdci die Confessio, eine scharfe Streitschrift wider den Papstf
dessen Vernichtung als einer der Plane des Ordens hingestellt
wird, während man den Katholizismus nicht angreift« Das Ganze
war eine gewaltige Mystifikation. Denn daß die Gesellschaft
in Deutschland nicht bestand, ist sicher. Das Ziel, welches sich
die „General-Reformation ' und die ,J^ama" steckt, ist auch in
Wirklichkeit nicht das, über etwas wirklich Geschehenes zu
berichten und über einen „Orden" Auskunft zu geben, der
damals ans Licht trat, sondern vielmehr das, durch eme kräftige
Kritik der Zustände in Deutschland alle diejenigen patriotischen
Kreise der Gebildeten zu sammeln,, welche sich dafür inter-'
essierten, in der gewitterschwangeren Zeit kurz vor dem dreißig-
jährigen Kriege die Abwehr des Unheils zu versuchen, wenn
nicht auch das dem Verf. nur „Spiel" gewesen ist, wie Herder
meinte. Das Medikament, das man dem Kranken reichen wollte,
entstammte dem alchemistisch-philosophischen Laboratorium;
die oder der Verfasser verwerfen zwar das „verfluchte Gold-
machen", „derengleichen sie noch wol andere, etlich tausend
bessere Stücklein haben", aber der Verf. will Toleranz übeii,
Selbsterziehung empfehlen durch eine Theosophie^), wie wir
sie oben bei den Alchemisten kennen gelernt haben, und
^) H« • • ftuch ist unsere Philosophia nichts neues, sondern wie
sie Adam nach seinem Fall erhalten, und Moses und Salomon geübet,
also solle sie nicht viel dubitiren oder andere Meynungen wider-
legen, sondern weil die Wahrheit einig, kurtz und ihr selbst immerdar
gleich, besonders aber mit Jesu ex omni parte und allen membris
fiberein kömpt, wie er dess Vaters Ebenbild, als so sie sein
Conterfeyet ist, So soll es nicht helBen: Hoc per Philosophiam
▼erum, sed per Theologiam falsum; Sondern worinnen es Plato,
Aristoteles, Pythagpras und andere getroffen, wo Enoch, Abraham,
Moses, Salomoii den Ausschlag geben, besonders das große Wunder-
buch der Biblia concordiret, das kommet zusammen und wird eine
<90 Kapitel 6.
praktisches Christentum (Krankenpflege usw.) treiben. Gedacht
ist das ak Polemik eigentlich in gleicher Weise gegen alle
orthodoxen Kirchen« wie sie auch heißen« ob^eich auf dem
Titel nur angedeutet war« daß das Buch wider die Jesuiten
kämpfe.
Der Verhsser des Buches war aller Wahrscheinlichkeit
nach der Wfirttembergische Theologe Johann Valentin Andreae
(1586 — 1654)^); jedenfalls bezeichnete ihn die damalige Zeit fast
einstimmig als Autor der Schrift, obgleich er selber sich nicht
dazu bekennen wollte'). Andreae war ein Mann« der in seiner
Jugend ebenso übermütigi wie in seinem Alter griesgrämlich
und verbittert war. Seine Schaffensfreudigkeit« die in der
Jugend überzusprudeln schien« erlosch etwa in seinem
35. Lebensjahre fast gänzlich und artete in Projektenmachercd
aus. So ist er sein Lebenlang geneigt gewesen zu Geheim-
bündelei« wie er denn auch den Herzog August den Jüngeren
von Braunschweig zu der Stiftung einer theosqphischen oder
pansophischen Sozietät zu überreden versuchte^). Es liegt auch
nicht der geringste Anlaß vor« seine Autorschaft an der Fama und
anderen Rosenkreuzerschriften zu bestreiten; zu der ««Chy-
mischen Hochzeit Christiani Rosenkreuz" hat er sich später als
Vater bekannt.
' Die Rosenkreuzerschriften, freundliche und feindliche« gingen
hin und her und regten die damalige Welt gewaltig auf; nach
$phaera oder globus, dessen omnes partes gleiche weit vom Centro,
wie hiervon in Christlicher CoUation weiter und ausführlicher'*
(Katsch S. 152). Je stärker der Universalismu» der Zeit stieg, um
so mehr nahm diese Theosophie pansophischen Charakter an« wie
ihn vor allem Comenius zeigte,
^) S. über ihn Hossbach: J. V. Andreae. Weitere Literatur in:
Wolf stieg's Bibliographie. Bd 3. Register S. 11.
') Katsch bestreitet ebenso heftig seine Autorschaft, wie Hege-
inann sie in den Monatsheften der Comenius-Gesellschaft. Bd 6.
S. 204 fr. Bd 8, 1899, S. 145 ff. mit gut6n Gründen verteidigt Auch
KvaSala: J. V. Andreae's Anteil an den geheimen GeseUschäften»
Jurjew 1899, glaubt nicht an A's Verfasserschaft.
') s. Wolf stieg in: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft. 1917;
Juli-Heft.
Die Aufklärung in England. 91
einem Jahrzehnt war aber in Deutschland der SchuB verpufft
und der Lärm verstummte allmählich. Nicht so in Englasd. Hier
ersdiienen zwar erst 1652 und 1653 Übersetzungen der Famai
aber die Kenntnis von der Rosenkreuzer-Bewegung war viel
früher hier ausgebreitet als 1650. Ja, Keller behauptet (Hohen-
zollem-Jahrbuch 1906 S. 221 ff.), daß die Briiderschaft der Rose,
der fJEglantier", schon im 16. Jahrhundert in London bestanden
habe und daß von dort aus eine Zweiggesellschaft im Haag
begründet wurde, die am 8. März 1519 durch John AHen ihre
Stiftungsurkunde aus London erhalten haben soll. Freilich ist auch
für England kaum anzunehmen, daß es dort jemals eine Rosen-
kreuzer-Gesellschaft als geschlotoenen Kreis gegeben hat^), aber
es existierten auf der Insel einige wirkliche „Rosenkreuzer" im
Geiste der Fama, die auch eine gewisse Verbindung miteinander
unterhielten. Es gab eine Schule in Oxford, der ein bekannter
Rosenkreuzer, Elias Ashmole (1617 — 1692), vorstand. Diese
Schule wirkte sehr in tolerantem Sinne und verbreitete sehr
stark die alchemistisch-rosenkreuzerischen Gedankengänge unter
den Studenten. Auch der berfihmte> Londoner Arzt, Robert
F 1 u d d (1574 — 1637), war in Oxford gewesen und bekamit als
Alchemist und Rosenkreuzer. Fludd war schon auf seinen Reisen
in Deutschland mit den rosenkreuzerischen Ansichten vertraut
geworden, besonders nachdem er den Leibarzt Kaiser Rudolf 11.,^
Michael Maier in Nürnberg, aufgesucht hatte, einen eifrigen
Förderer dieses Ordens oder vielmehr seiner Ideen; Maier kam
später sogar zu Fludd nach London. Aber trotz alledem scheint
es nicht zu der Begründung einer eigentlichen Rosenkreuzer-
Gesellschaft gekommen zu sein.
Es laßt sidi schlechterdings nicht leugnen, daß gewisse
Gedankengänge der Rosenkreuzer genau wie die der Alcfae-
misten, mit denen sie sehr verwandt sind, auf die Gestaltung der
^) Gould a. a. O. Bd 3. S. 120 ist allerdings der Ansicht, es habe
wirklich eine Rosenkreuzer-Gesetlsohaft in En^and gegeben, was
aber sehr schwer werden dürfte zu beweisen. Dafi Katsch die
Existenz einer Ro8enkreuzer««G«sellschaft in England für gewifi hält,
ist bei seiner Hypothese sdbttveOT i fadM A
92 Kapitel 6.
späteren Freimaurerei eingewirkt haben; Katsdi hat dafOr die
genügenden Beweise m, E« erbracht. Das lag ja auch zu nahe.
Die Schriften Fludds und anderer rosenkreuzerischer Großen
lagen vor und waren den Reformatoren der Gesellschaft der
Freimaurer sicher bekannt Elias Ashmole war Rosenkreuzer
und Freimaurer zugleich, tmd das mag öfter in diesen Kreisen
der Fall gewesen sein, daß Rosenkreuzer in die Sodety of
Freemasons emtraten. Es wäre nun ja direkt wunderbar, -wenn
diese nicht — bewußt oder unbewußt — braudibare Symbole
imd Sätze der RC mit in ihre Arbeit als Freimaurer hinüber-
genommen und sie den Brüdern empfohlen hätten« Daß die Frei-
niaurer alles abgewiesen hätten, was die Rosenkreuzer an Ge-
danken und Ideen herzutrugen, was also der Society und später
Anderson und seinen Mitarbeitern als Material vorlag, kann man
von vornherein nicht annehmen« Wir sehen aber auch akten-
mäßig in den uns vorliegenden Konstitutionen des 17. Jahr-
hunderts gegenüber den früheren Fassungen eine Menge von
Verändertmgen, namentlich Vergeistigungen von Symbolen und
Ausdrücken, deren Quelle und Veranlassung uns unbekannt ist
Sollten hier nicht rosenkreuzerisch-theosophische Einflüsse mit
im Spiele gewesen sein? Nur darf man die Abhängigkeit der
einen von der anderen nicht dadurch übertreiben, daß man jede
zufällige Übereinstimmtmg in den beiderseitigen Ideen für eine
Entlehnung ansieht; am wenigsten ist man berechtigt, wie Katsch
das tut, die ganze Freimaurerei von dem Rosenkreuzertum her-
zuleiten. Das geht viel zu weit. Umgekehrt ist Begemanns
heftige Abweisung „rosenkreuzerischer Infusorien^)" in den
Konstitutionen des 17. Jahrhunderts auch nur aus der Vorein-
genommenheit des Verfassers erklärlich, mit der er jeden gei-
stigen Tropfen in dem reinen Wasser englischer Werkmaurerei
ausschließt. Vielmehr scheint mir trotz Begemanns Schelten F.
Sonnenkalb') Recht zu haben, daß der als Schenker eines
^) Vorgeschichte. Bd 1. S. 348. Nach L. Kellet a. a. O. S. 177
sollen in einem als Ms. gedrucktem Buche yon Wilhelm Hohler:
Hermetische Philosophie und Freimaurerei die geistigen Zusammen-
hänge der beiden historischen Erscheinungen ^dargetAn sein.
») ZC. 1898 S. 189 f.
Die Aufklärung in England. 93
Konstitutionsbuches in einem Inventar der Londoner Mason's
Hall genannte Mr. Fflood kein anderer ist als der Rosenkreuzer
Robert Fludd, woraus dann die unmittelbare Quelle verständlich
würde, aus der die Veränderungen stammen. ,|Von Fluddscher
Seite sind Änderungen im Text der alten Konstitutionen vor-
genommen tmd die so gefärbten Exemplare den Logen und
Zünften zugegangen." (Sonnenkalb.)
4. Die praktische Richtung der Naturwissenschaft
beginnt, soweit sie sich nicht mit der Herstellung von Gold be-
schäftigt, mit dem medizinischen Studium des vorhin genannten
deutschen Arztes Paracelsus, dessen leidenschaftlicher
Drang nach Natur- und Erfahrungserkenntnis den neuen Betrieb
der Naturwissenschaften einleitete. Aber er richtete alles so
ein, daß es seine preiktische Verwendung fand; in seiner Hand
erhielt selbst die Alchemie jene neue Aufgabe, dem Menschen
die Medikamente für den Fall der Anormalität der Funktion
seiner inneren Organe zu bieten. Er erkannte, daß bei
Stöningen der Arbeit dieser Organe chemische Veränderungen
stattfinden, denen er entgegenwirken wollte. Im Mittelpunkte
seines Denkens stand unbeweglich der Gedanke von der Ein-
heitlichkeit alles Lebens, von dem aus er auch den Zusammen-
hang des ganzen Universums begriff. So betrieb er die ver-
schiedensten Wissenschaften, die er alle mit der Medizin in
Verbindung brachte, und wurde auch deren Reformator. Der
Niederländer Vesalius (f 1564) vermittelte die Keimtnis der
Anatomie des Menschen, während sein Landsmann
Leeuwenhook (f 1723) erst die Blutkörperchen, dann^die
Inhisörien entdeckte, kleine Lebewesen, die, wie er meinte,
durch Aufguß von Wasser auf faulende Stoffe durch die Sonnen-
wärme entständen. Es gab kaum ein Gebiet 'der Naturwissen-
schaften, auf dem dieser Mann nicht zu Hause war, und aus
welchem er nicht praktische Vorteile für Menschheit, Staat und
Gesellschaft zu ziehen wußte. Endlich entdeckte der Engländer
Härvey (f 1658) den Kreislauf des Blutes im mensdilichen
und tierischen Korper und legte damit den Grund zu einer
gesunden Ansicht der Physiologie unserer Organe, so daß nun
94 Kapitel 6^
- — ■ — ^^^^^f
wissenschafüidie Medizm erst mo^ch' wurde« Sm üfSa J^^ick
in die Natur und vor allem in die Struktur dea lel^mien
organischen Wesens ließ ihn auch die Grundlage aflgr Pprt-
pflanzung finden, die er in dem Satze zusammenfaßte: osime
vivum ex ovo^).
Auch auf das Handwerk äußerte die praktische SeHe der
erwachenden und erstarkenden Naturwissenschaften ihre Kraft
und ihren Einfluß. Buckle macht darauf aufmierksana^f daß
der Fortschritt des Handwerks nicht nur durch FörderUQg des
Nationalreichtums, sondern auch durch Erfullux^ der
arbeitenden Menschen mit Kenntnissen und Vertrauen auf seh
selbst vor sich geht. Die Werkmaurer des 17. Jahrhunderts
sind andere Menschen als die des 15. und 16.; ihre Kennfnißse
sind größer, ihr Aberglauben ist geringer, ihr Streben geht faSher.
Sie sind mit einem Worte gebildeter geworden und darum
fähiger, geistige und sittliche Probleme zu erfassen; daher stammt
ihr Streben, sich jenen Klassen zu nähern, die wir die oberen
Zehntausend zu nennen pflegen. Mit dem Unterschiede in der
Zivilisation steigen die Schranken zwischen den sozialen Klassen,
umgekehrt fallen sie. So übten die Naturwissenschaften auch
in der sozialen Praxis ihre Macht und haben auch so zu dem
Zustandekommen der Freimaurerei beigetragen.
5. Wir könnten diese Übersicht leicht erweitem, aber es
genügt für unsere Zwecke, daran erinnert zu haben, daß in
dieser Zeit der Aufklärung das Studium der Naturwissenschaft,
das man von allen Seiten zugleich angriff und das rasch in
das Volk drang, ein äußerst fruchtbares war tmd geradezu dazu
drängte, das ganze Weltbild, das man gewonnen hatte^ zu-
sammenzufassen und die Lebensanschauung und die Lebens-
forderung zu vertiefen. Solche Zusammenfassungen liefertei^
wie bekannt, Mäimer wie Descartes, Spinoza, Leibniz, Hc4>bes
u. a. Das Leben wur4e zum Problem, seine Gestaltung zva
Kuzist; Erziehung erhielt Wert.
^) 8. über diese geistiten Richtungen dat td»6ne £ii<^ Ton
F. A. Lan^e: Geschichte des Materialismus. Bd 1^
') Buckle: Geschichte der Zivilisation in Englai^. Oeuttch
V. Ritter. Bd 2. S. 67 f.
Die Aufklärung in England. 95
Die Vertiefung des Lebens ging aber <ioch weniger
von Einzelnen aus, als von Gesellschaften« Diese schienen jenei"
Zeit auch für das Studium selbst von Noten zu sein. Um die
Resultate der Forschtmgen auf naturwissenschaftlichem Gebiete
bis zur Reife zu bringeui verbreitete man vielfach über diese den
Schleier eines Geheimnisses, der nach unseren heutigen Begriffen
ganz timmtz ist« So wurden alle diese Gesellschaften zu kleinen
Kreisen, die sich in Geheimnis und Dunkel hüllten. Die Sucht
der damaligen Zeit, alles MogUche und Unmögliche von
Sorietäten zu erwarten, führten auch in Deutschland und Eng-^
land im 17. Jahrhundert zu der Begrmldung sehr zahlri^icher
Gesellschaften der Art, die sich in Form und Zielen meist an
die italienischen Akademien anschlössen^)« Diese waren
anfangs aus dem Bestreben erwachsen, die Ideen der
Renaissance, namentlich deren humanistische und naturwissen-
schaftliche Anschauungen gegenüber den sich den neuzeitlichen
Ideen versagenden Universitäten durchzusetzen und zu fördern,
trieiben aber nebenher nach dem Vorgange Platos mancherlei
kultische Zeremonien, um sich der Fördenmg der Lebenskunst
hinzugeben tmd sich in der Richtimg der Humanität, der
Toleranz und der Einführung eines rein auf brüderlicher Liebe,
nicht auf Kirchenglauben basierten Christentums gegenseitig zu
stärken*); in dieser Hinsicht mußten sie damals geheim sein
^ Keller, der die Bedeutung dieser Akademien stark überschätzt,
hat eine gan^ Reihe von Arbeiten darüber geschrieben. Wir nennen:
Die Anfange der Renaissance und die Kultgesellschalten des
Humanismus im 13. u. 14. Jh. Jena: Diederichs 1903; G. W. Leibniz
und die deutschen Sozietäten des 17. Jh. Berlin: Weidmann 1903;
Die Sozietät der Maurer und die älteren Sozietäten. Berlin: Weid-
mann 1904, und verweise im übrigen auf meine Bibliographie
Nr. 5514 ff.
^ Die Idee der Toleranz ist in dieser Zeit energisch und be-
wufit zum Durchbruch gebracht worden von dem Franzosen Jean
Bofliil, dessen Heptaplomeres 1593 deh Standpunkt verteidigt. Der
Gedaüke ist also ursprunglich nicht religiös, sondern politisch; so
faßten ihn auch Cromwell und Milton auf. Er entspringt der Friedens-
sehnsucht. Siehe Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd 2. S. 145 ff.
% Kapitel 6.
und Ueiben, damit sie nicht mit der Kirche und deren Organen«
die sehr scharf auf solche, wenn auch nicht antikirchlicheni so
doch nebenkirchlichen Kultvereine aufpaßteui in Konffikt
gerieten^). Nachher in Italien von den klehien Staaten und Stadt-
regierungen mehr und mehr beschützt, unter deren Schutze
aber entartet, trieben von den Akademien die einen reine
Sprachstudien, wie die Academia della crusca, die anderen nur
naturwissenschaftliche Experimente, wie die Academia dei
lyncei in Rom. Die kultischen Übungen verfielen entweder ganz
oder wurden zur Spielerei, wie in der Sozietät der Maurer in
Florenz. In Deutschland, Holland und Frankreidh ahmte man
diese italienische Organisation einfach nach; in England be-
mächtigten sich nicht nur die Jfinger der Naturwissenschaften
dieser Akademien, sondern es warf sich auch der Drang dieser
Zeit, die Welt zu verbessern, im Anfange des 16« Jahrhunderts
stark auf diese Form der geheimen Gesellschaften, um unter
deren Prätext tmd Decke die soziale und politische Frage
zu lösen, ohne daß man dodi über bloße Versuche recht
herauskam«
In London war um die Zeit der beginnenden Revolution
ca. 1640 die treibende Kraft in dieser Hinsicht ein Deutscher,
Sam. Hart Hb'), ein Danziger oder vielmehr Elbinger Kauf-
mannssohn, der vor 1628 nach England gekommen war und sich
in London ansässig gemadit hatte; er besaß dort Verwandte
seiner Mutter. In der britischen Hauptstadt trieb er nun allerlei,
vornehmlich suchte er aber Verbindungen, um eine Grundlage
für die Dturchführung einer Reihe von humanitären Ideen zu ge-
wiqnen, die dieser sanguinische Mann von tiefreligiSsem Gef&U
und humanistischer Sinnesweise, aber auch von stark opti-
mistischer Weltanschauung h^te und durdizusetzen sich be-
^) Siehe Keller: Die Anfänge der Renaissance. Jena. 1903.
namentlich S, 9 fif.
*) F. Althaus: Samuel Hartllb in: Maurenbrechert Taschenbudi
6 F, Jg. 3. 1884. S. 191 ff. Vgl Begemann in: Monatsh. d. Comeniua-
Ges. Bd 8. 1899. S. 145 ff. und namentlich Geschichte der FrmreL
Bd 2 Einleitung.
Die Aufkl&nmg in England. 97
strebte^)« Er stand mit vielen bedeutenden Männern der Zeit
im Briefwechsel und wirkte durch seine unruhige Projekt-
macherei stark anregend, aber auch vielfach verwirrend Sein
echt deutscher Idealismus war unerschöpflich; da ihm aber doch
die wissenschaftlichen Vorkenntnisse abgingen/ war er mehr
Dilettant als Gelehrter, mehr Mystiker als Wettweiser. So sah
er das erhoffte Gläck für die Menschheit eher durch eine Art
von Wunder herankommen, als durch strenge nachhaltige
Arbeit, und sein Treiben umgab er mit viel Geheimtuerei. Mit-
unter fiel er ganz imd gar in den Aberglauben des Mittelalters
zurück. Naturwissenschaftlich war er zweifellos ein Schüler
Francis Bacon's, was ihn namentlich dem jungen Boyle empfahl,
der aus derselben Richtung stammte; politisch hielt er sich
ziemlich zurück, was ihm gestattete mit Milton und Cromwell
in nahen Beziehungen zu bleiben, aber auch die Stuarts für
seine Sache einigermaßen zu interessieren, obgleich er diesen
als zahmer Anhänger der Revolution mindestens verdächtig
blieb; pädagogisch, sozial tmd religionspolitisch stand er ganz
auf dem Standpunkte des Comenius. Aus seinen geheimen
Gesellschaften, die er plante, wurde meist nichts; er hat in dieser
Hinsicht vieles versucht und viele Enttäuschungen erlitten. Zu-
nächst suchte er aber den Comenius selbst für seine Welt-
Verbesserungspläne zu gewinnen. Da sich das Komitee des
Parlaments sehr günstig über einen von Hartlib vorgelegten
^) In einer Petition an das Parlament aus dem Jahre 1660 sagte
er, daß er sich die besondere Aufgabe gestellt habe, eine kleine
Akademie zur Erziehung der höheren Klassen zu errichten, um
Frömmigkeit, Bildung, Moral und andere Übungen des Geistes zu
befördern, vertriebenen gottesfürchtigen protestantischen Geistlichen
eine Freistatt in England zu bereiten und mit den angesehensten
Männern in fremden Lindern eine menschenfreundliche Korrespondenz
zu unterhalten, so dafi ein beständiger Gedankenaustausch in Sachen
der Religion, der Tugend und der Gelehrsamkeit mit sinnverwandten
Männern in England wie im Auslande zum allseitigen Wohle der
Menschheit zu Stande käme. Hartlib sammelte Bücher, beteiligte
sich an allen möglichen Unternehmungen und Experimenten, trieb aber
auch Alchemie, in der sein Schwiegersohn Clodius sehr bewandert war.
98 Kapitel 6.
Plan einer Gelehrtengesellschaft zu pansophischen Zwecken —
das Wort Pansophie spielte in jenem universalistischen Zeitalter
eine große Rolle — geäußert hatte und man auf Geldunter-
stützung rechnen zu können glaubte, veranlaßte Hartlib den
Cpmenius nacH Lcmdon zu konmien^ wo er am 21. September
1641 auch wirklich eintrat). Aber die Ausführung des Planes
zog sich hin« und schon 1642 reiste Comenius, der die Hoffnung
verloren hatte« daß die Sozietät unter seiner Leitung zustande
kommen werde, nach Schweden ab')* Allein Hartlib war nicht
entmutigt. Er betrieb die Begrfindtmg einer Gesellsduit der
„Guten und Weisen ' weiter, mußte aber schließlich doch audi
die Erfahrung machen, daß die Sache auf sehr große Schwierig-
^) über Comenius gibt es eine ganze Literatur. Das Beste ist
das Buch von J. Kva^sala: Comenius, Leipzig 1892.> Vgl. auch Ludw.
Keller in: Monath. d. Comen.-Ges. 1895, S. 1 H, Nachdem Herder in
den Briefen zur Beförd, der Humanität die Aufmerksamkeit wieder auf
ihn gelenkt hatte, hat Krause in: Kunsturk. I, 2. S. 139; II, 2, S. 15 S,
die Zusammenhänge zwischen Comenius tmd der Freimaurerei auf das
Bestimmteste betont. Seitdem herrschte hier in Deutschland die
Meinung, daß diese Zusammenhänge sicher beständen. Neuerdings
hat das aber Begemann: Comenius und die Freimaurer. Berlin 1896
wieder zweifelhaft gemacht, wie ich glaube, mit Unrecht. Nur sind die
Beziehungen keine direkten, sondern indirekte gewesen.
'] Stern: Milton und seine Zeit. Bd 1, 2. S, 279 f. Die Wirksamkeit
des Comenius in London war in der Tat mindestens sehr gering*
fügig, wenn er auch als Paedagoge und Gelehrter hoch geachtet war.
Ein Verzeichnis seiner Werke mit englischen Übersetzungen befindet
sich bei Kvaösala: Comenius im Anh. S. 69 ff. Merkwürdig ist, daß die
Via lucis, die C. 1642 in London vollendete, erst 1668 in Amsterdam
erschien. Viele Werke des C. hatten nie eine englische Über-
setzung. Lowndes verzeichnet den Comenius überhaupt nicht; die
Londoner Stadtbibliothek besitzt von ihm: Kleinere Schriften, Amster-
dam 1662, die Janua von Hörn, emend. by Robotham 1659. An die
Ausführung von Comenius Plänen war in England doch nicht zu denken.
Die Hauptwirksamkeit des großen Gelehrten und Denkers in London
bestand also in seiner Einwirkung auf Hartlib und Milton. Begemann
übertreibt aber, wenn er Comenius jeden Einfluß abspricht; man hat
ihn doch im Parlament gekannt und ihn nach London berufen, also
ihn mindestens dort wegen seiner Schul-Schriften und seiner pan-
sophischen Arbeiten wie im ganzen gebildeten Europa hochgeschätzt.
Die Aufklärung in Entfhmd. 99
keiten stieB. Am 15« Oktober 1660 schrieb er an Dr. Worthing-
ton: „yffic pflegten die wünschenswerte Gesellschaft mit dem
Namen Antilia und zuweilen Makaria zu benennen; aber Namen
und Sache sind so gut wie versdiwunden/* Als Worthington
dann nach den näheren Umstanden der Pläne gefragt und dabei
erwähnt hatte: it seems, Antilia was a secret tessera (Zeichen),
schrieb Hartlib: «J^as Wort Antilia gebrauchte ich im Hmblick
auf eine frühere Gesellschaft, die fast zu demselben Zwecke
etwas vor dem Ausbruch des böhmischen Krieges wirklich
gegründet wurde. Es war ein Geheimname jener Gesellschaft,
dessen nur die Mitglieder sich bedienten. Ich fragte nie nach
der Bedeutung desselben. Sie wurde unterbrochen und zerstört
durch die nachfolgenden böhmischen und deutschen Kriege.
Hätte ich aber gewußt, daß sie [die neue englische Gesellschaft]
sich als ein großes Nichts erweisen würde, so würde ich nie,
wie ich früher zu tun pflegte, diesen Namen der Gesellschaft
gegeben haben, von der ich wußte, daß sie wirklich bestand.
Die Betrüger der Brüderschaft des heiligen Kreuzes [sicher
wohl; Ro^enkreuzer, was aber Begemann bestreitet] haben sich
endloser Verkleidungen und Ausflüchte bedient. Die Internuntien
der Antüier sind jedenfalls größerer Sünden schuldig^)". Diese
frühere deutsche Antilia, die also, wie Begemann richtig hervor-
hebt (Monatsh. der Com.Ges. 1899 S. 149), nicht mit der zwar
angekündigten, aber nicht wirklich ins Leben getretenen Gesell-
schaft in England unter dem Namen Antilia oder Makaria ver-
wechselt werden darf, hatte ihren Sitz wahrschemlich in Nürn-
berg gehabt. Vielleicht ist es dieselbe Gesellschaft, der Leibniz
angehörte. Die englische Gesellschaft, deren Zustandekommen
Hartlib sehnsüchtig erwartete, scheint durch die Übertreibungen
der Unterhändler gescheitert zu sein und Hartlib war wieder
um eine Hoffnung ärmer. Mit anderen Versuchen und Hoff-
nungen ging es ihm ähnlich. So verfloß das Leben und Streben
dieses Mannes in steten Versuchen. Und doch war das Wirken
Hartlibs nicht vergeblich, da er den Ruf nach sozialer Reform,
^) Althaus a. a. O. S. 269; Wolf stieg in: Monatsh. der Com.-Ges.
Bd 26. 1917. S. % ff.
7*
100 Kapitel 6.
die mit dem Streben nach Erziehungsrefonn, nadi der Organi-
sation der naturwissenschaftlichen Forschung und der pan-
so{^chen Philosophie Hand in Hand ging, nicht müde wurd^
zu wiederholen. Immer schrieb er, korrespondierte er« petiti-
onierte er. Dadurch gewann er Einfluß auf seine Zeit; auch atrf
die Freimaurerei des 17. Jahrhunderts sind diese Bestrebungen
nicht ganz ohne Eindruck geblieben. Namentlich aber Miltons
Sinnes- und Denkungsweise trägt vielfach H^ib's Züge. In
seiner Areopagitica führte der Dichter eine Sprache, die an
Hartlib erinnert: ^^Em wenig edelmütige Klugheit, ein wenig
gegenseitige Schonung und einige Gran Nächstenliebe" müsse
alle Streitenden zu „einem brüderlichen Suchen nach Wahr-
heit" verbinden^). Und Miltons Einfluß auf die Zeit war ge-
waltig, da sich niemand dem Zauber seiner Dichtung und der
Kraft seines Denkens entziehen konnte, wenn man auch im
einzelnen diesen Einfluß schwer nachweisen kann. Wie er,
dachte sich auch Hartlib seinerseits den Kulturfortschritt, wenn
er ihn auch mehr auf eine wissenschaftliche oder vielmehr pan-
sophische Basis zu stellen wünschte, als Milton das tat. Immer-
fort war er auf der Suche nach gleichgesinnten ,3riidem", um
den Kulturfortschritt zu betreiben und zu sichern. Endlich ge-
lang es ihm aber doch bei emer Bildung mitzuwirken, die
bleibenden Charakter hatte, ja aus der zuletzt die englische
Akademie der Wissenschaften entsprungen ist.
Ein Deutscher aus der Pfalz, Namens Theodor Haak
(1605 — 1690) war 1625 nach England gekommen und lebte als
freier Gelehrter erst in Oxford, dann in London^). Dieser regte
1645 dazu an, daß die namhaftesten Naturforscher wöchentlich
in einem bestimmten Hause zusammen kämen, dort sich über
den Stand der naturwissenschaftlichen Forschtmg tmterhielten
und von neuen Experimenten berichteten^). Es war das zunächst
^) Stern: Milton und seine Zeit I, 2 S. S09.
') Siehe Stephen and Lee: Dictionary of national bio^aphy Bd 8.
S. 855.
*) Harnack: Geschichte der preußischen Akademie der Wissen-
schaften Bd 1, 1. S. 24.
Die Aufklärung in England, 101
eine private geheime Gesellschaft, ein „unsichtbares Kollegium",
zu dem auch Hartlib gehörte; Boyle spricht von ihm in ver-
schiedenen Briefen 1646 und 1647 als einem iJE'hilosophischen
Kollegium", das sich in einer Sitzung vom 28. November 1660
zu einem „College for the Promotion ot Physico-Mathematical
Experknental Learning" umwandelte. Am 17. Dezember 1660
schreibt Hartlib an Dr. Worthington: »Jch habe einige andere
Papiere erhalten, die mir anvertraut sind und die fast dieselbe
Sache befürworten wie die Antilia, aber wie ich hoffe mit
besserem Erfolg." Im Oktober 1661 wurde der König Karl ü.
Mitglied der Gesellschaft und gab ihr am 15. Juli 1662 unter
dem Namen der Royal Society einen Freibrilsfi der etwas ab-
geändert im nächsten Jahre wiederholt wurde^). Damit war
ein großer Teil der Wfinsdie der Reformfreunde erfüllt, die,
wie die ganze damalige Zeit, sich einen Fortschritt der Wissen-
schaften ohne einen allgemeinen Fortschritt der Menschheit, ohne
„Pansophie" und ohne „geheime Gesellschaft" gar nidit vor-
stellen konnten.
Daß also Alchemie, Rosenkreuzerei und die Ideen der
htmianitären oder pansophischen Gesellschaften nicht ohne Ein-
fluß auf die in der Freimaurerei tätigen gebildeten Männer
bleiben konnten, ist zwar von tms von vornherein angenommen,
wir haben aber auch einige Spuren direkter Beweise dieser
Einwirktmg. Vor allem in Personen: so in Elias Ashmole, einem
hervorragenden Philosophen, Chemiker und Antiquar des
17. Jahrhunderts*), und in Robert Samber, der ebenfalls zugleich
^) Siehe Encyclopaedia Britannica unter dem Artikel: Royal
Society.
^ V. Campbell in: Biographia Britannica Vol. 1; Gould: History
of freemasonry. Bd 3. S. 129 ff.; Katscfa: Entstehung der Freimaurerei.
S. 477 ff.; Begemann: Vorgeschichte. I. S. 358 ff.; Stephen & Lee:
Dictionary. L S. 644. A. ist 1617 geboren und 1692 gestorben. Wenn
Begemann bestreitet, daß er Alchemist und Rosenkreuzer war, so tut
er Unrecht. Nicht nur, daB A. mehrere alchemistische Werke 1650
und 1652 herausgab, er hat auch mit dem Rosenkreuzer Backhouse den
freundschaftlichsten Verkehr gepflogen, so d«B dieser ihn „seinen
102 KapUd 7.
Aldiemist und Freimanrer war. KSonte man heute nodi ans
Mi^bedenrerzeidmisieii nadiweisen, an wekiien ^dieimen
GeseDsdiaften die einzelnen bedeutenden Manner unter den
Freimaurern teilgenommen haben« so wurden ädi ifiese Bei-
spiele wahrscfaeinlicfa nodi stark vermdnren lassen. Der Haiqyt-
nachweis, daß und wie beide Grtqipen« Natur|diiIoaophen und
Freimaurer, sich gegenseitig innerlidi beeinflußten, liegt aber in
der Übertragung von Symbolen, gewissen Kunstausdrudcen und
bildlidien Darstellungen auf die Freimaurerei; soweit wir das
heute übersehen kSnnen, stammen zweifelsdme dni^ der-
selben aus dem Laboratorium der Rosenkreuzer oder der
Alchemistenf andere auch aus den pansophischen Kreisen^).
Ganz ohne abzufärben hat man sidi eben nicht in freimaure-
risdien Logen mit den aldiemistischen und den Humanitats-
gesellschaften des 16. und 17. Jahrhunderts berührt.
Vor allen Dingen stammt der Toleranzgedanke der Frei-
maurerd ganz aus diesen Kreisen« Wir sahen schon, wie gerade
dieser Gedanke von den Freunden um Cromwell und Milton,
in denen Boyle und auch Hartlib verkehrte'), sehr gepflegt
wurde. So übernahm ihn denn audi die neue Geistesrichtung,
die unmittelbar nach den Bürgerkriegen in England auftauchte,
die der Deisten. Von diesen, wenn nicht schon von Hartlib und
Sohn" nannte und ihn in die ^öBten Geheimnisse einweihte, wie A.
selber erz&hlt. B. hinterließ ihm anch, wie A. am 13. Mai 1653 in
sein Tagebuch schreibt, das wirkliche Rezept für die Herstellung des
Steins der Weisen. Außerdem verkehrte A. sehr intim mit dem
Alchemisten Lilly. A. wurde am 20. Mai 1641 Freimaurer.
^) Sie sind ziemlich zahlreich, namentlich auch in den Hoch-
graden. Der Tempel Salomos, das Siegel Salomos, das Kreuz und
die Rosen, der rauhe Stein usw. stammen aus diesen Quellen. Keller **
hat einige Bilder, Zeichen und Darstellungen veröffentlicht, die einen
gewissen Zusammenhang der pansophischen, alchemistischen und frei-
maurerischen Symbole erkennen lassen, s, auch die letzten Kap. des
2. Bdes.
') In dem Briefwechsel Hartlibs und Boyle's tritt dieser Verkehr
stark zutage. Es ist da auch von einem Geheimnis die Rede, das
Milton mitgeteilt werden soll.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 103
Comeniüs über Boyle und Ashmole^ ist er in die Freimaurerei
gelangt.
Kapitel 7.
Der Deismus in England und seine
Geistesverwandten.
1. Allgemeines. Das eigentliche Charakteristikum der
Aufklärung in England bildet der Deismus. Dieser ist eine
Religionsphilosophie, welche darauf ausging, eine aUgemeine«
überall gleiche, jedermann erkennbare religiöse Normalwahrheit
zu suchen^). Es war das; wie Pünjer richtig bemerkt'), kein
eigentliches System, sondern eine eigentümliche Lebensauf-
fassung. Der Deismus ist in England und Schottland durch die
Fragen über Religion, Kirchenverfassung tmd Kircheiizucht
s6hon im 16., sicher im Anfange des 17. Jahrhtmderts ent-
standen, als eine Zersplitterung der protestantischen Gemeinde
in Kirchen, Parteien und Sekten eintrat, die einander auf das
beftigste bekämpften« Die neue Lebensauffassung hat einen
„ernst religiösen Charakter, freilich nicht den eines un-
gebrochenen Glaubens an die positive Religion, sondern den
eines tmablassigen Suchens, Unter dem als unhaltbar erkannten
Positiven etwas Festes und Sicheres zu finden. Eine der wich-
tigsten Fragen ist dabei die, wie die Religionen entstanden
sind')". — Als Grundlage für die religiöse Diskussion diente die
Frage nach dem Ofienbarungsgehalt der Bibel, zu deren Inter-
pretation weder die theologische Exegese noch die philologische
Kritik, noch auch die philosophische Spekulation hinzureichen
i*). Der Streit gmg wirr durcheinander, so daß alle Ein-
^) Troeltsch in: Herzogs Realencyldopädie 3. Aufl. Bd 4. S, 533;
Lechler: Geschichte des englischen Deismus. Stuttgart u. Tübingen
1841. 8*.
*) Pnnjer: Religionsphilosophie S. 212.
^) Pfinier S. 214.
*) Nach und nach beseitigte man die Offenbarung ganz.
hk
man alle
alle {icfifiKfaeQ.
lidie Syrtem"
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Rzc&teratnU
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^i/t xAffb&tn Uttn der RcfcxoHdiQny £e
^WKOrWIflKflBCtUutf CBS ^*w Cj^^COSBIz ZD
m Fi^nd, vie wir sfaen» im 17.
axifieronkiiffidi anfHnhfp and eine ganz neae Wi
trzeo^, Ei trat damals mfal^ tob Lord Bacoos FondmageB
itndem ein voD^er Umsdiwiiiig der AnschaooBten ubi
1625 em. Auch & pfaüosopliiadie B cwcf uii g der JkdUSbnaB^
oift 2tr atioBODi^ von Veiiiuuit mn Moral kaoa dem zo
H3fe. See wurde zuent in den poKtisdien Fragen der Zeit
iciir einfltmreicii, wobei iimncr die y^reineif des Menschen
m aOen seinen Ai^elegenhexten als das hodiste Gut betont
wurde. Die AxdUinmg griff dann auf das rdgjiSae GeUet
fdmell fiber« wo cBe Freiheit — hier Freiheit des Gewissens —
') Wtflbebi DOthey: GesaMielte Schriftcii. Bd Z S. 93L
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten, 105
erst recht am Platze zu sein schioi. Denn diese konnte die
natürliche Vernunft doch vor allem rechtfertigen« Schon Hooker
beruft sidi in seiner Schrift über Kirchenverfassung im Jahre
1594 auf die »luitürliche Vernunft", nicht auf Autoritateni und
verteidigt die Freiheit der Kritik; Chillingworth *) fand in seinem
berühmten apologetischen Buche über die Religion der Prote-
stanten 1637 den vollendetsten Ausdruck für diese Meinung. Wie
Milton Gewissensfreiheit und Toleranz mit reinen Vemtftift'
gründen und aus politischen Motiven heraus forderte und ver-
teidigte, hörten wir schon; auch Roger Williams redete in seiner
Sdirift: ,J)ie blutige Verfolgung wegen Gewissensfragen'* im
Jahre 1644 ganz wie der große Dichter^], der Vernunftkritik
und der natürlichen, rein auf Moral gestützten Religion das
Wort, welche die Toleranz und die Gewissensfreiheit notwendig
im Gefolge haben müsse. Und so ging das fort: Vernunft und
Moral!
Diese neue Ansicht fand viele Anhänger, namentlich als der
Bürgerkrieg immer mehr und immer blutigere Opfer forderte'^).
Die rationalistische (Auflclärungs-) Bewegung warf sich nach
der Revolution in England fast ausschließlich auf das religiöse
Gebiet, wo sie starke Wirkung ausübte. Die Religion, so
lehrten die Führer der Aufklärung, ist einfacher Gottesglaube;
also ist in jeder Religion ein Kömchen Wahrheit. Denn die
Wahrheit ist einheitlich und an sich allen Religionen gemeinsam.
Die Verschiedenheit der Religionen ist ja überhaupt unnatürlich;
sie ist nicht entstanden, nicht erwachsen, sondern gemacht, z. T.
durch mißverständliche theologische Auslegung des Rechten und
^) Ebendaselbst S. 104; „Gott hat uns unsere Vernunft gegeben,
Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden. Wer nicht von ihr diesen
Gebrauch macht, vielmehr Dinge glaubt, ohne zu wissen, warum,
der glaubt nur zufällig etwa die Wahrheit und nicht mit Auswahl, und
ich fürchte, Gott wird dieses Narrenopfer nicht annehmen."
*) „Heiden, Juden, Türken und Antichristen sind in bezug auf
die bürgerlichen Angelegenheiten und Rechte jeder christlichen
Konfession gleichberechtigt."
*) Daß die ganze Bewegung der Aufklärung und ihrer Tochter
„Deismus" mit aus politischen Motiven entstand, ist aufier Zweifel.
Man hatte die Streitigkeiten gründlich satt.
106 Kapitel 7.
Echten, vor allem aber durdi Betrügerei der Priester, die ihre
Rechnung dabei fanden, das Voljk zu täuschen« Schon Bodin be-
hauptete 1593 den Satz von der Verwandtschaft aller Religionen,
die allesamt Töchter derselben Mutter seien^ nämlich der ersten
ursprünglichen „natürlichen Religion", als deren nachträgliche
Form die zehn Gebote angesehen werden müßten. Gerade in
diesem Gemeingut, in dieser Wahrheit allein liege das für die
Beseeligung der Menschen Notwendige und Hinlängliche. Alle
Ideen sind den Menschen angeboren, also auch die religiösen und
die moralischen, mag das Bild von ihnen in manchen Seelen noch
so dunkel geworden und verschleiert sein. Daher besäßen im
Laufe der Jahrtausende alle Menschen auch die Wahrheit trotz
der verschiedenen Entwickelung und teilweisen Verdunkelung
doch noch gleichmäßig, da die Wahrheit in der Natur des
Menschen begründet \sei. Gerade die allgemeine Überein-
stimmung sei das Merkmal der Ewigkeit der Wahrheiten. Das
ist nun der Punkt, in den die neuen Strömungen in die soeben
erneuerte griechisch-römische Stoa einmündeten^ die seitdem
einen gewaltigen Einfluß auf die beginnende deistische Religions-
philosophie geltend machte. Ihre Lehre von den allen Menschen
gemeinsamen Begriffen, von den natürlichen moralischen und
religiösen Anlagen tmd ihre hierauf gegründete Theologie sind
das entscheidende Mittelglied in der Verkettung dieser großen
Ideen^). Nun wissen wir aber lange, daß der Stoizismus auf
nichts mehr Wert legte, als auf die Ethik. Die sittliche Voll-
kommenheit ist das höchste Gut der Stoiker, sie wurde auch jetzt
das Zentrum dieser neuen „universellen natürlichen Religion", in
welcher alle Menschen übereinstimmen. Von hieraus setzte
negativ die deistische Kritik der Offenbarung der Bibel und der
orthodoxen Theologie aller Sekten und Religionen ein; auf
diesem Grunde baute sich dann die Zeit positiv die neue tolerante
*) Dilthey a. a. O. S. 107. Wcndland:^ Hellenistisch - römische
Kultur. 2. AufL 15^12. S. 41 ff.. 110 ff. Der einseitige hitellektualismus.
die rationale Nivellienmg und Ausgleichung der Gegensätze, die An-
nahme einer allen Menschen gemeinsamen Gotteserkenntnis, die
Übertragung alles Religiösen auf das Sittliche sind in Stoa und
Deismus gleich.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 107
und Gewissensfreiheit garantierende, auf stoische Moral und
Theologie begründete allgemeine Religion auf, jene unatürliche'*
Religion, welche die den Kern aller Religionen enthaltenden
Wahrheiten in sich faßte, jene „catholick religion, in which all
men gree^)". Die Kritik der Bibel und der christlichen
Glaubenssätze war schon von Holland vorbereitet, wo die
Sozinianer und Arminianer, so heftig sie sich auch bekämpften,
in gemeinschaftlicher Arbeit die alte Kirchenlehre ganz auf-
lösten, die Dogmen von der Trinität und der Gottheit Qiristi,
die Satisfaktions- und Opferlehre, die Lehre von der Erbsünde
und das Dogma von der Gnadenwahl völlig vernichteten').
Descartes verwarf allen Autoritätsglauben tind bestritt jede Art
von psychischen Kräften in der Natur« Daher befremdet es
nicht, daß es ein Cartesianer, Balthasar Bekker, war, der alle
Wunder, Hexen, Teufel, Engel, allen magischen Zauber und alle
Übematürlichkeiten in der Religion tapfer bekämpfte und aus-
trieb. So hatte man es in England leicht, an allen Kirchenlehren
„vemunftmäßige" Kritik zu üben.
Das war die negative Seite, der Abbau. Der positive Auf-
bau beruht auf dem alttestamentlichen^) Ausspruche: Gott ist der
Herr. Damit wäre auch die Stoa ganz einverstanden gewesen,
nur hätte sie den Wert des Gedankens mehr in die Vorsehung
und auf die Regierung der Welt gelegt*), während die alt-
^) Bejemann behauptet dagegen, solche Religion habe es nie ge-
geben. Ganz richtig, aber die Leute haben damals doch an sie ge-
glaubt. Hexen hat es auch nie gegeben, aber wieviel Hexen sind
verbrannt«
*) Der kritische Ansturm dagegen war sogar schon von den
Italienern begonnen und in Sfidfrankreich fortgeführt« Man denke an den
Kongreß von Venedig 1519. Von dort ging die Kritik nach Polen und
Holland, wo sie wissenschaftlich und aggressiv wurde. Dilthey sagt
a. a. 0. S. 136: „Die Dogmenkritik d^r Arminianer und Sozinianer
ist der Ausdruck der Mündigkeit der menschlichen Vernunft, welche
sich vorbereitet, alle Tradition der Prüfung zu unterwerfen."
') Ich weise ausdrücklich darauf hin, daß die Puritaner und vor
allem die In^ependenten das Alte Testament vor dem Neuen sehr
bevorzugten.
*) Siehe Cicero: De natura deorum.
108 Kapitel ^.
testamentliche Bibel doch mehr den Gedanken der Schöpfung
betont und festhält; Gott ist der große Baumeister aller Welten^).
Aber das Heß sich ja imschwer vereinigen« da es sich nicht
direkt wider^racfa. Und man vereinigte das auch, und so über-
nahm nun die neue Richtung den Weltemneister-Gedanken in
beiden Fonnen um so lieber, je allgemeiner dieser Gottesbegnff
war. Jede Mystik verschwand nun vor der Sonne der Auf-
klärung, wie der Nebel um Mittag. Es schien sich die neue
Religion auch durch die Wahrbeiten der Naturwissenschaften zu
bestätigen. Zusammen erkennen Stoa tmd Naturwissenschaft, die
man so vereinigte, die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens tmd
die Harmonie nicht nur m der Natur, sondern auch in der
menschlichen Gesellschaft und im menschlichen Geiste an.
Alles Geschehen geht auf ein naturliches System hinaus. Freut
euch nur der Welt tmd des Lebens, denn droben über dem
Hmmelszelte wohnt ein guter Vater, der Schöpfer, der alles so
schön gemacht. Die geistige Entwickltmg wird weltfreudig tmd
seit dem 17. Jahrhtmdert durch den Gedanken des festen, tm-
veränderlichen Naturgesetzes und der tmverrückbaren Harmonie
des Weltgetriebes völlig beherrscht.
Diese Auffasstmg zersetzt aber allmählich den Begriff der
Person oder des Persönlichen gänzlich; schon Giordano Brtmo,
noch mehr Spinoza kam in seinem Pantheismus eigentlich nicht
auf einen Gott, sondern auf den Begriff der Substanz, also für
das All aufeineSache. So wird auch in dieser ^natürlichen
Religion" fotgeriditig Gott nadi der einmaligen großen Tat, der
Schöpftmg aus sich heraus, einfach matt gesetzt. Er ist im Himmel,
seine Schöpfung ist außer ihm. Die Naturgesetze, der Ausdruck
der Harmonie des Weltalls, laufen von Ewigkeit her. Gott stört
sie nicht, ändert sie nicht; sie latifen, er ruht« Es war Lord
Edward Herbert Baron v. Cher'bury^), der die neue
^) Darüber besitzen wir jetzt die schöne eingehende Arbeit von
Felix ^onnenkalb: ZC. N. F. IV. 3. S. 179 ff/
*) 1581 — 1648. Er war eine sehr originelle Erscheinimg: Offizier,
Diplomat, Kavalier, später Philosoph, s. über ihn Hettner: Literatur-
geschichte des 18. Jahrhunderts. Bd 1: England S. 31, sowie den Auf-
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 109
deistische Gottesidee unter Beseitigung aller Kraft der per-
sönlichen Offenbarung außer in der Natur und im Mensdien-
innem^) in ein festes System brachte. Seine Schriften tragen
alle die Merkmale der neuen Religion des «JDeismus": Es gibt
einen Gott, einen Weltenbatuneister, der verehrt werden muß«
und zwar durch Tugend« d. h. durch einen streng moralischen
Lebenswandel; daneben ist uns das teuerste der Begriff der
Freiheit und der Unsterblichkeit, oder besser: der Sehnsucht
nach einem ewigen Leben und einem seligen Zustand, einer Un-
sterblichkeit, die allerdings nichts weiter ist als eine Wieder-
vergeltung des Guten hienieden im Jenseits gemäß der Gott
innewohnenden Gerechtigkeit Die gebildeten Menschen des 17.
Jahrhunderts empfanden in ihrer größten Masse dieses dürre
Gewäsch Herberts mit seinen ftinf Religionswajhrheiten —
Artikel sagt er — wirklich als eine neue beseligende Wahrheit,
ja, als die glücklich aus dem „Priesterbetrug" wieder heraus-
gefundene, ursprüngliche, allgemeine Religion; er selbst schätzte
sich glücklicher, als einen Archimedes, daß er den festen Boden
gefunden hatte, um die Zeitgenossen zu einer die ganze Mensch-
heit umfassenden ecclesia vere catholica führen zu können, von
der aus alle geschichtlich gewordenen Religionen normal 'aus-
gegangen sind und zu der hin nun alle Religionen und Sekten
zurückkehren müssen. Daß diese historischen Religionen:
Christentum, Judentum, Muhamedanismus so geworden sind,
wie sie sind, beruht nach der Meinung aller damaligen Deisten
auf künstlicher Fälschung des Ursprünglichen, also auf Betrug.
Und aUe Herbert folgenden ,J)eisten ', so verschieden auch ihre
Ansichten im Einzelnen sein mochten, haben an diesen Grund-
sätzen festgehalten.
satz von Troeltsch in: Herzog's Realenzyklopädie. 3. Aufl. Bd 4.
S. 532 ff., woselbst auch alle weitere Literatur; Lechler: Geschichte
des englischen Deismus. 1841. S. 26 ff. *
1) Eine übernatürliche Offenbarung hält Herbert zwar noch nicht
geradezu für unmöglich, aber er stellt schon sehr starke Bedingungen,
unter welchen allein eine Offenbarung Glauben verdiene; er glaubt
seinerseits nicht mehr an sie.
110 Kapitel 7.
Dieser Deismus, der eben Gott auBerweKIich (traiisceiulent)i
nidit aber auch zugleich iimerweltlidi ßminaiieiit) au£hßt, ist,
wie man siefati ganz ungeschichtlich« ein reiner metaphysischer
Dunst ohne jeden Wert, aber durdiaus englisch; er ist acfaer
ein Bedurinis der Z^ gewesen, wie kein anderes^).
Ausgebildet und mit anderen als nur religiösen Gedanken-
gängen in organische Verbindung gebracht wurde das ganze
System namentlich durch den großen Philosophen John
Locke (1632 — 1704), der diese Probleme energisch von dem
Standpunkte seiner sensualistisch-empiristischen Erkenntnis-
theorie aus suigrifP). Er selbst verwarf die Offenbarung noch nicht
ganz, aber er erkannte sie nur insoweit an, als sie durch die
naturliche Vernunft bewahrheitet wird AuBerchristliche Völker
sind naturlich nur auf die Vernunft angewiesen, wahrend das
Christentum eine mehr in der Mitteilung der Anderen gewordenen
Offenbarung besitzt, was aber immer eine ungewisse Sache
bleibt Die Wahrheit religiösen Gehalts und die relative Gleich-
wertigkeit aller Religionen sind für Locke daher ganz selbst-
verständlich. Nur dem törichten Erheben des Glaubens, der
an sich der Vernunft gar nicht entgegengesetzt ist, fiber die
Vernunft dürfen wir die Widersinni^eiten zuschreiben, die zum
Teil den Inhalt der heutigen Religion ausmachen. Wer nicht
annehmen will, daß durdi den Sändenfall des l^en alle
Menschen Sunder geworden seien, dem sei Christus nicht der Er-
löser, sondern nur der Wiederhersteller der natürlichen Reli^on.
So wird Jesus zum Messias, der eine Reform des veräuBerlichten
Kultus zur Anbetung im Geist tmd in der Wahrheit durchführte.
Das Wesen des Christentums wird des Religiösen fast entkleidet
^) Troeltsch: „Die Revolution (in England) selbst ergab eine
unaustilgbare Richtung auf die Forderung freier Aussprache über
religiöse Fragen, eine dauernde Gereiztheit gegen das Staats- und
Zwangskirchentum, einen vielfachen Umschlag der religiös-en-
thusiastischen Subjektivität in rationalistische und das Bedürfnis in
praktisch-moralischen Grundsätzen."
*) Namentlich in seinen Briefen über die Toleranz (Letters of
toleration) und dem Buche über das vernunftgemäße Christentum (The
reasonableness of christlanity).
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. ÜI
und beinahe ganz auf die Moral zuräckgeffihrt* Die Ver-
bindung von Glauben an Gott, Reue über die Sünde und
moralischem Leben gibt dem Menschen erst die rechte Würde*
Die Religion selbst beginnt sich zu verflüchtigen und macht
auch bei Locke mehr einer bloßen Religionsphilosophiei Meta-
physik und Ethik Platz. Von Übematürlichkeit des Christen-
tums« von Wundem und Mysterien kann für ihn keine Rede
sein, nur eine bestimmte Aussicht auf Unsterblichkeit und Ver-
geltung ist sicher. Dazu kommt noch ein anderes: Lockes Briefe
über Duldung fordern die schärfste Trenntmg von Staat und
Kirdie. Der Grundgedanke dieser Schrift ist der, daß Duldtmg
gegen jede religiöse Ansicht und Gemeinschaft, imd zwar un-
beschränkte und gleichmäßige Duldtmg, Recht, Pflicht tmd
Bedürfnis, ja: das Hauptmerkmal der wahren Kirche sei^). Denn
der Zweck aller Religion ist der, das Leben des Menschen nach
den Gesetzen der Tugend tmd Frömmigkeit zu regeln, wobei
Bruderliebe unerläßlich ist, und den natürlich deistisch gedachten
Gott zu verehren. Diesen Zweck zu erfüllen sind die nun ein-
mal vorhandenen Kirchen da, die aber freie Vereine sind, wie
andere Gemeinschaften auch'). Gott hat nie einen Menschen
atxtorisiert, daß er einen Anderen zu einer bestimmten Religion
zwingen dürfte, da Religion ganz imd gar Sache innerer Über-
zeugung ist.
Dazu kommt der Gedanke der Humanität, der
Wertschätzung der allgemeinen Menschlichkeit, weil alle
Menschen Kinder des einen Vaters, des Schöpfers des Himmels
und der Erden sind. Es würde der Gerechtigkeit Gottes wider-
sprechen^ wenn er den einen mehr liebte, als den andern. Auch
dem Menschen steht es an, den Bruder zu lieben und in ihm
den Menschen zu achten. Das ganze Zeitalter ist erfüllt von dem
^) Vorrede zu den Briefen.
*) LecUer: Geschichte des Deismus. S. 178, dessen Ausführungen
ich hier vielfach folge. Locke hatte schon in der Verfassung, die er
für die Kolonie Carolina entwarf (ca« 1667) diese Grundsätze der
Toleranz, der völligen Trennung von Staat und Kirche und des Schutzes
jeder ernsten Überzeugung praktisch durchgeführt. Nur Atheisten
schlofi er von der Duldung aus.
112 Kapitel 7.
Humanitätsgedanken« dem Comenius u« a. einen so beredten
Ausdruck gaben. Auch Milien sprach es aus« daß „ein wenig
edehnätige Klugheit, ein wenig gegenseitige Schonung und einige
Gran Nächstenliebe" alle Streitenden zu „einem brüderlichen
Suchen nach Wahrheit verbinden würde" ^). Humanität ist die
Universalmedizin^ die die kranke Zeit heilen soll, der Kitt, der
die so bitter Getrennten wieder vereinigen muß, der Antrieb
zu Wahrheit, Glück und Unsterblichkeit.
2. Stark verschieden von dieser rein philosophischen Art
des humanitären Deismus ist eine Geistesrichtung, die ebenr
falls englischen Ursprtmgs ist und die gewöhnlich den Namen
des Freidenkertums^) führt; trotzdem liegen ihre Ge-
dankengänge innerhalb der deistischen Bestrebungen. Das Frei-
denkertum ist aktiv, zwingend, angriffslustig. Sein eigentlicher
Ursprung liegt in der gleichen Zeit und im Volke selbst, sein
System hat es aber durch den Philosophen Thomas Hobbes
(1588 — 1679) ^) erhalten, den man wenigstens oft als den
„Großvater des Freidenkertums" bezeichnet hat. Dieser tritt
in einen sehr energischen Gegensatz gegen die supranatura-
listische Ansicht der Scholastiker jeder 2^it und kämpft
gegen jede Art von theologisch beeinflußter Religion. Doch
hält er für seine Person wenigstens noch äußerlich am
Christentume fest und verlangt eine vom Staate festgelegte
Nationalreligion. Der Standpunkt, den er einnimmt, ist ein
anthropologischer, also rein menschlicher, eher^ staatsrecht-
licher als religiöser; er geht vom Menschen, seiner Unfreiheit
des Willens und semer Bedingtheit V09 der örtKchcn, zeitHchcn,
^) Stern: Milton und seine Zeit. 1, 2« S. 309. Aber man denke
noch nicht an Humanität im Sinne Herders. Soweit war die Zeit noch
nicht.
*) Nicht nur die Politik, sondern auch die Philosophie ist in dieser
Geistesrichtung der Religion und Kirche entgegengesetzt, also nicht
mehr, wie bei Locke, mit der religiösen Tradition in irgendwelche
Übereinstimmung zu bringen; sie stützt dich — echt rationalistisch —
nur auf die natürliche Vernunft. Siehe Lange: Geschichte des Materiaiis-
mus. 1, S. 324. Anderson sagt zu dieser Gruppe: irreligious libertine.
s) Siehe Tönnies: Hobbes 2. Aufl. Leipzig 1912.
Der Deismus in En^and und seine Geistesverwandten. 113
ökonomischeiif klimatischeii usw. Lage aus. Um nicht in einen
Krieg aller gegen aUe zu verfallen und um das Recht zu
schötzeni da rechtlich der Natur nach Individuum gegen
Individuum als Macht stehe, und zwar prinzipiell aul dem Ful^e
der Freiheit und Gleichheit, so schlössen cHe Mensdien schon
vor grauen Zeiten einen Vertrag zur BegründoBg des Staates,
den Hobbes ak eine „Person" definiert, deren Wille, aus den
Verträgen mehrerer Menschen entstanden, für den Willen ihrer
aller zu halten ist. Der Wille der Staatsbürger wird also in dem
Willen des Souveräns repräsentiert,^ sei dieser nun eine Einzel-
person (König) oder eine künstliche Person (Republik)« Dieser
Souverän ist von einer unbeschränkten Autorität (salus publica
suprema lex); er bestimmt auch, welche Kirche^) die geltende
ist« Denn das Volk bildet ein Gemeinwesen, das Staat heißt,
sofern seine Untertanen Menschen sind, das Kirche heißt, sofern
seine Untertanen Christen sind (Cuius regio, ejus religio).
Hobbes unterscheidet zwischen Staatsreligion nebst ihrer zu
ewigen ^eitigkeiten führenden Theologie und dem Glauben
der Privatleute, also des einzelnen In(Uvidüums; mit diesem ist
es etwas anderes als mit dem der Staatskirche. Der Glaube
des Einzelnen richtet sich nie nadi dem Gebote eines Menschen«
sondern ist eine Gabe des ganz tmbegreifllchen Gottes,
welche der Mensch sich oder anderen weder geben noch durch
Versprechungen und Dtohtmgen nehmen kann. Zum Heile not-
wendig ist aber nur ein einziger Gkubensartikel: Jesus ist der
von Moses und den Propheten verkündigte Christus, Alles
andere ist Privatmeinus]^ und kann ausgesprochen werden,
sofern nicht die Gesetze es verbieten. Der Glaube an eine zu
verehrende Gottheit, d. h. Religion, ist lediglich entstanden aus
Wißbegierde und Furcht. Die Neigtmg, zufällige Dinge als
günstige oder ungünstige 'Vorzeichen zu nehmensp ist der Keim
^) Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen, welche sich
zur christlichen Reli^on bekennen, vereinigt in der Person
eines SouverSns, auf dessen Befehl Sie sieh versammeln und ohne
dessen Autorität sie sich nicht versammeln dihrfen. s. Lechler a. a. O.
S. 94.
8
114 Kapitel 7.
des reli^ösen GlaubenSf aus dem dann wieder der Kultus und
schließlich die Kirchen hervorgehen« Diese haben aber keinerlei
Gewalt und niemand schuldet ihnen Gehorsam« Gehorsam
kann vielmehr nur der Staat verlangen« Gehorsam gegen alle
bürgerlichen Staatsgesetze und gegen alle Naturgesetze, welche
zugleich die Gesetze Gottes enthalten, sind die erste Pflicht des
Menschen^)« Was die Moral betrifft, so setzt Hobbes die Moral-
philosophie und das Naturrecht gleich. Du sollst nach Frieden
streben, sagt seine „goldene Regel", und sollst mit so vieler
Freiheit anderen Menschen gegenüber zufrieden sein, wie du
anderen gegen dich selber einzuräumen .willens bist« Im
übrigen ist Hobbes' Moral stark sozial und auf das Prinzip der
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hin orientiert, fordert
vor allem Selbstbeherrschung, läuft aber auch schließlich nicht
mehr auf Stoizismus, sondern auf Epikuräismus hinaus«
Man wird es nicht verwunderlich finden, daß der „schreck-
liche Hobbes" — die Kirchen verhüllten ihr Haupt — viele
Gegner in allen GeseQschaftsklassen fand, die gegen seine Frei-
geisterei, seinen angeblichen Atheismus und seine Moral Front
machten; aber es fehlte ihm auch nicht an Freunden, denen
z. T« seine Art von Deismus sogar noch nicht weit genug
ging« In der folgenden Generation wurde das Freidenkertum
immer radikaler und angrifislustiger« "Ein junger Mann,
Anthony Collins (1676 — 1729), mit dem Locke noch als
Greis im Briefwechsel stand, zog in einer bedeutenden Schrift
^) Die ganze Philosophie de» Philosophen Hobbes, die er
namentlich in den Büchern de cive und Leviathan niedergelegt hatte»
war ein gewaltiger Angriff gegen die Geistlichkeit und die Kirchen
und wurde auch so empfunden. Lord Clarendon schrieb, es laufe
durch das Buch von einem Ende zum anderen ein Faden von
schlauen und bitteren Verdächtigungen gegen die Geistlichkeit aller
Arten, protestantische und papistische, insbesondere sei es erfüllt
▼on Bosheit und Schärfe gegen die Kirche von England, die damals
,jn ihren eigenen Trümmern um ihr Dasein rang". Hobbes hat
niemals ein absolutes Königtum vertreten, noch weniger das Prinzip
der Legitimität, sondern nur die Allmacht des Staates gegenüber
den Kirchen und dem Bürger« Tönnies a« a. O. S. 215.
I
II
■
Der Deismtts in England und seine Geistesverwandten. 115
Über das Freidenken selbst^) die Konsequenz aus dem Offen-
barungskriterium Lockes, indem er diesen Begriff ganz über
Bord warf und die Unabhängigkeit der Moral von allen
Mysterien zu verteidigen suchte. Er nahm die Propheten, Jesus
und die Apostel als Freidenker für sich in Anspruch und be-
urteilte die Religion rein nach dem Maßstabe der natürlichen
Vernunft« Unter Freidenken versteht Collins einfach den
Gebrauch des Verstandes im Gegensatze zum Autoritäts-
glauben'); die Nichtdenkenden oder Halbdenkenden sind ihm
Feinde des Freidenkens« vor allem aber die Priester, denen er
ein ganzes Sündenregister vorhält')* Daß aber die Freidenker
moralisch keine schlechten Leute seien, zeigt er an Sokrates,
Plato, Aristoteles, dem ,4rommen und tugendhaften" Epikur,
Origenes usw», die für ihn alle Freidenker waren.
Der Einfluß dieser Radikalen stieg nun weiter; es kam zu
heftigen Schriften und Gegenschriften, tmd alle Welt verfolgte
gespaimt die Debatten über Weissagungen und Wtmder, die
um 1710 geführt wurden, bis dann endlich Tindal (f 1783)
erklärte, das Christentum sei so alt wie die Schöpfung, aber
das Evangelium verkündige nichts als die natürliche Religion«
Das echte Christentum bestehe in der reinen lex naturae ohne
jedes plus irgendwelcher Mysterien, sei nur eine Moral-
praxis im Gehorsam gegen den Willen Gottes ^)# Man kann sich
^) Discourse of freethinking occasioned by the rise and growth
of a sect, called freethinkers. London 1713, Oft wird er darum
als Vater der Freidenkerei bezeichnet; richtig, wenn man im Auge
behält, daß die Freidenkerei schon lange vor ihm bestand, von ihm
also nur beschrieben wurde,
*) Siehe Lechler a. a. O. S. 222 ff. und Hettner a, a. O. L S, 154 f,
') „Wegen dieses Benehmens der Priester haben wir keinen
anderen Weg, um zur richtigen Erkenntnis Gottes, zur rechten Be-
handlung der Schrift usw. zu kommen, als daß wir aufhören, auf
Priester uns zu verlassen und frei für uns selbst zu denken/'
*) Lechler a. a. O. S. 328: Sittlichkeit ist der Zweck, Religion
das Mittel für die Ehre Gottes und das Wohl der Menschen. Was
sich nicht darauf bezieht, ist Aberglaube. Religion besteht in
Moralität. Und was ist das? Die Erfüllung der zu unserem Glücke
führenden Pflichten,
8*
116 Kapitel 7.
heute kaum noch vorstellen, welchen Anteil alle Welt an diesen
Fragen nahm, und wie man sich in immer steigendem
Radikalismus erhitzte« Es wäre das Umsichgreifen der Frei-
denkerei tmd die Tiefe ihres Einflusses seit 1700 auch ganz
unverständlich, wenn nicht ihre Lehre durch die ganze geistige
Entwicklimg und von den philosophischen Deisten her in den
gebildeten Klassen so außerordentlich gut vorbereitet gewesen
wäre, bevor sie literarisch erfaßt und in das Publikum als ein
Manifest des geistigen Umsturzes geworfen wtarde. Die Höhe
des Libertinismus — so nannte man diese Art von Freidenker-
tum — erklomm aber Thomas Chubb (1679 — 1747}
dadurch, daß er nachzuweisen suchte, Christus habe nur den
Zweck gehabt, dem ganzen Menschengeschlecht die größte und
dauerndste Glückseligkeit zu bringen, indem er uns befahl, dem
Gesetze der Natur, dem sittlichen praktischen Gesetze, der Moral
nämlich, zu gehorchen; das sei der wesentlichste Inhalt des
ganzen Evangeliums. Um diesen Zweck zu erreichen, legte
Christus den Grund zu freundschaftlichen Vereinen oder
Liebesfamilien, deren einziges Ziel es war, Tugend zu tiben^).
Diese Klubs lebten in brüderlicher Liebe und Gleichheit, ihr
Panier war nicht das Bekenntnis, sondern ein Leben gemäß
dem Evangelium, nicht das Bild des Gekreuzigten, sondern ein
tugendhafter Wandel, Die Regierung hat Christus diesen
societies selbst überlassen, aber er gab ihnen gewisse
Rituale, damit sein Evangelium einen sinnlichen Eindruck
machen möchte, z. B. das Untertauchen unter das Wasser und
das Liebesmahl, welches, obgleich an sich deutlich und einfach,
dennoch infolge der priesterlichen Machenschaften zu einer
Mannigfaltigkeit VQn„Geheimnissen' Veranlassung gegeben habe.
Allein das sei nur Spiegelfechterei; das Evangeliiun Christi selbst
wisse davon nichts, da es lediglich auf „Vernunft" gegründet seL
3. Die Begründung von Gesellschaften für religions-
philosophische imd moralische Zwecke saß der damaligen Zeit
^) Lechler a. a. O. S. 344 {. Die Beschreibtm^ dieser Vereine
ist lange noch nicht genügend beachtet; sie helfen die frei-
maurerische Forschung auf den richtigen Weg zu fuhren.
Der Deismus in Englmnd und seine Geistesverwandten. 117
tief im Blute; ja bis zur Begründung wirklicher Kultvereine
getraute man sich am Ende des 17. Jahrhunderts vorzugehen.
Ich weise hier, ohne auf andere derartige Vereme zu achten,
nur auf jene Verbindungen hin, die von den Deisten her kamen
und bis zum fast religionslosen Pantheismus und
Materialismus, selbst bis an die Grenze des . Atheismus fort-
schritten, ja diese Grenze z. T, sogar noch überschritten^). Der
junge Ire John Toland (1670 — 1722) rühmte sich schon im
halben Knabenalter, er wolle das Haupt einer Sekte werden,
ehe er dreißig Jahre zählen werde. In einer seiner Ab-
handlungen') erwähnt er die Sitte der alten Philosophen, eine
exoterische und eine esoterische Lehre aufzustellen, von denen
die erstere für das große Publikum, die letztere aber nur
für ' den Schülerkreis Gelttmg hatte. Darauf wollte auch er
hinaus in seinem „Pantheistikon ', das völlig anonym Cosmopoli
1720 in nur wenigen Exemplaren erschien. In diesem Buche
redet er von einer sokratischen Gesellschaft"), die in einem
völligen Ritual mit Dreigespräch und Tafelloge arbeitet^), also
^) Auch dieser Pantheismus, den man nicht mit dem frommen
Pantheismus eines Bruno oder Spinoza verwechseln darf« hat doch
immer eine rationale deistische Färbung. Gott ist Kraft und Wirk-
samkeit des Alls, der Schöpfer und Lenker aller Dinge, der immer
zum besten Ende strebt. Wie weit ist das von der Alleinslehre des
Spinoza entfernt 1
*) Clidophoros d. h. Schlüsselträger.
^) Lechler: Geschichte des engl. Deismus. S. 473 bemerkt dazu,
daß die Arbeit nicht eigentlich den Vorschlag, eine
pantheistische Gemeinde zu begründen, enthält, sondern sich als
Beschreibung von etwas schon Bestehendem gibt, und zwar
von einer philosophischen, nicht theologischen Sodalität. Ganz
richtig!
*) Das Ritual ist in deutscher Obersetzung bei Hettner:
Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts T. 1 * 1894. S. 164 ff. wieder-
gegeben. Nach einigen Emleitungsworten sagt der Vorsteher:
Heilig seien die Wahrheit. Freiheit und Gesundheit, die drei
höchsten Güter der Weisen. Antwort: Jetzt und immerdar.
Vorsteher: Wir heißen Genossen und Brüder.
Antwort: Und Freunde und Mitmenschen. . .
118 Kapitel 7.
eine vollständige Liturgie hat. Auf diese folgt dann das Mahl,
bei dem weise Gespräche gehalten werden, die zugleich be-
lehrend und erheiternd wirken sollen« Kunst, Wissenschaft und
Tugend soll der Weise üben, damit er ein tüchtiger Bürger
werde. Diese Symposien, die übrigens sehr mäßig und mehr
der geistigen Unterhaltung als dem körperlichen Behagen ge-
widmet waren, wiederholten sich in bestinmiten Zeitabsdmitten;
auch Feste wurden in der sokratischen Gesellschaft gefeiert,
reine Naturfeste, wie die Äquinoktien und die Sonnenwend-
tage. Daß inhaltlich Toland nicht eigentlich von Hobbes,
sondern von Locke ausging, bewies schon seine erste Schrift,
Christianity not mysterious 16%; aber er ging soweit über den
Meister hinaus, daß Locke es doch für geraten hielt, in zwei
offenen Sendschreiben an den Bischof von Worcester gegen die
Identifizierung mit Toland zu protestieren. Dieser will im
C. n. m. beweisen, daß die wahre Religion ebenso vernunft-
gemäß wie begreiflich sei und daß das Christentum diese Eigen-
schaften besitze. Aber das Christentum wurde immer ge-
heimnisvoller und tmverständlicher für das Volk durch seine
Priester. „Als die höchste Obrigkeit das Christentum offen
schützte, wurde es vollends paganisiert, also heidnisch gemacht,
sofern die neu erfundenen christlichen Mysterien den alten
Mysterien der heidnischen Religion nicht bloß in dem Namen,
sondern auch in den Vorbereittmgen und Stufen der Einweihung
Wie hoch schätzte man doch die Humanität! Nachher ver-
wirft das Ritual alle Autorität:
Vorsteher: Schwort auf keines Meisters Worte.
Antwort: Selbst nicht auf die Worte des Sokrates.
Vorsteher: Forschen wir nach dem Grunde ^er Dinge, damit
wir das Leben heiter und den Tod ruhig ertragen usw.
Der zweite Teil beginnt:
Vorsteher: Haltet den Pöbel fem.
Antwort: Das Haus ist geschlossen und sicher.
Dann sagt der Vorsteher nach längeren Auseinandersetzungen
tmd nachdem ein Lied zum Preise des „All" gesungen ist, zum Glück
des Lebens gehört allein die Tugend; sie hat ihren Lohn in sich
selbst . . . Später aus Cicero: Das wahre Gesetz ist die rechte Ver-
nunft. Dies Gesetz ist der Natur angemessen und ist ewig dasselbe.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 119
völlig gleich wurden«'' Ursprünglich gibt es im Christentume
weder etwas Unvernünftiges noch etwas Übervemünftiges;
selbst Offenbarung und Wunder sind das nicht, aber sie wurden
das durch gewisse Zusätze und Lehren, durch Vermischung
von Religion und Philosophie, so daß nach Toland nur Gelehrte
es richtig auffassen können« Die Kirchen smd voll von Miß-
bräuchen und falschen Lehren, — Das „Pantheistikon" war ohne
Zweifel skandalös. Das Parlament griff ein und warf dem Ver-
i^sser unter anderem vor, er habe die Sakramente herabgesetzt,
indem er sie zu bloßen Zeremonien gemacht und das Christen-
tum mit den Orgien des Bacchus verglichen habe. Vergebens
verteidigte sich Toland; nur durch Zufall entging er der Ver-
hafttmg tmd Schlimmerem, Aber er beruhigte sich nicht, ging
vielmehr auf dem abschüssigen Wege inmier abiyärts; er wurde
auch inmier weiter durch die Resultate der Naturwissenschaften
zum Radikalismus verführt und bald ganz materialistisch^),
dann im Pantheistikon, wie wir sahen, grob pantheistisch,
zuletzt der reine Atheist^), Die Mitwelt verdammte ihn'),
^ ■ --W^
^) Vornehmlich in zwei Briefen an eine Spinozistin, welche den
Letters to Serena, London 1704 angehängt sind. s. F. A. Lange:
Geschichte des Materialismus, Leipzig: Reklam B^. Buch 1. S. 363.
*) S. Hettner: Lit.-Gesch. d. 18. Jhs. 1 " 1894. S. 170; Lechler
a. a. O. S. 207.
^) Schon in einem Berichte, den das Unterhaus an das Ober-
haus über iiChristianity not mysterious" richtete, wurde das Buch
selbst ein „abscheuliches", der Verfasser mehr als einmal ein
„Altheist" genannt. In der Presse hieß es, die geheiligte Majestät
der Könige, der ehrwürdige Stand der Bischöfe, die best-
konstituierte Kirche von der Welt, die heilige Liturgie, die
Autorität der Concilien, das Zeugnis der Väter tmd hundert andere
Dinge, die man hoch verehre, seien angegriffen (Lechler a. a. 0.
S. 202). Der Tatler vom 24. Dezember 1709 hat unter dem Motto
Procul, o procul este profan! die Freidenker und namentlich Toland
gegeiBelt: „Kaum hat einer einige Büchertitel sich ins Ge-
dächtnis geprägt, so erklärt er sich sofort in religiösen Dingen für
ungläubig; kaum versteht er ein Rezept zu verschreiben oder einen
Hund zu sezieren, sogleich eifert er gegen die Unsterblichkeit der
Seele. Über solche Narren kann man lachen. Ernste Männer aber.
120 Kapitel 7.
aber Herder^) hat ihn in der Adrastea doch wieder zu
rehabilitieren versucht. Ihn zog der von Toland häufig ver-
wendete Begriff Humanität axL
4, Die Bewegung wider die Kirdie wurde immer starker,
die Diskussion immer heftigen Es versteht sich von selbst, daß
die Kirchen sich energisch zur Wehr setzten. Der religiöse
Friede schien wieder ernstlich bedroht. Da trat ein Mann in
die Arena, der die Strömung vom religiösen und dem ethischen
in das ästhetische Gebiet abzulenken wußte, indem er die ganze
Masse gelehrter und ungelehrter Kritik und die kraft-
strotzenden, willensstaricen, schließlich also doch gesunden
Ideen religiösen Widerstandes des philosophischen Deismus in
ein Jungbad von Schönheit zu tauchen suchte; es war Anthony
die all ihr Wissen und all ihre Zeit ntir dazu benutzen, um sich
und andere zu überreden, daß die Menschen nicht besser seien
als die Tiere, diese müssen von der Regierung gepeitscht werden,
denn sie sind eine Schmach für die ganze Menschheit. Es ist dabei
völlig gleichgültig, ob er sich Deist oder Atheist
oder Freidenker nennt. Was ist lächerlicher, als ein
solcher Atheist? Sein Geist kennt keine Begeisterung und keine
Erhebung, er muß sich vorkommen wie das niedrigste Tier, denn
er ist der Sterblichkeit unterworfen wie dieses, nur mii dem Unter-
schied, daß er das einzige Tier ist, das von dieser Sterblichkeit
weiß. In Unglücksfällen ist er hilflos und verloren, er fühlt den
ganzen Druck seines Unglücks undl hat doch keine Hoffnung auf
eine bessere Zukunft. Vernichtung ist der einzige Segen, den er
wünschen kann; ein Strang oder eine Pistole ist die einzige Zuflucht,
die ihm bleibt. Nur in der Todesstunde kennt er Kleinmut und
Verzweiflung." (Hettner a. a. Q. 1 '^ S. 170.) Man muß bedenken,
daß das in einem Blatte geschrieben war, das entschieden eine freie
Richtung vertrat.
^) Sämtliche Werke, Ausg. v. Suphan. Bd 24. S. 91 ff. Herder hält
die Freidenker und Pantheisten für lange nicht so gefährlich, als
man sich in dem ersten panischen Schrecken einbildete. Sie er-
weckten die Kritik. Er nennt Toland einen viel belesenen Mann,
einen hellen Kopf, einen warmen Prüfer. „Da niemand der Lebenden
ihm Gerechtigkeit widerfahren ließ, verschaffte er sich dieselbe
selbst durch ein Bekenntnis auf seinem Grabe."
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 121
Ashley Cooper Graf v, Shaftesbury (1671—1713)^). „Sein
Leben war kurz/* sa^ Macaulay (Bd 4« S. 617), ,,aber er lebte
lange genug, um der Gründer einer neuen Sekte engUscher Frei-
denker zu werden, die in Meinungen und GefOhlen jener Sekte
von Freidenkern, deren Orakel Hobbes war, direkt en^egen-
gesetzt war."
Der Großvater des Grafen war ein sehr bedeutender Staats-
mann gewesen imd wegen seiner Verdienste um Land und
Königshaus im Jahre 1672 von Karl U. zum Grafen v. Shaftes-
bury erhoben worden. Er war ein sehr intimer Freund Lockes,
den er bewog, die Erziehung seines Sohnes und später auch des
Enkels, eben unseres Anthony, zu leiten. Von dem alten Grafen
erzahlt Toland eine hübsche Anekdote, welche die Lage blitz-
lichtartig erleuchtet: ,Als Lord Shaftesbury sich eines Tages mit
Major Wildmaim über mancherlei Religionen in der Welt unter-
hielt, kamen sie zuletzt zu dem Schlüsse, daß ungeachtet jener
tmzahligen, durch das Interesse der Priester und die Unwissenheit
der Völker geschaffenen Teiltmgen doch alle weisen
Männer der nämlichen Religion angehörten.
Da tat eine Dame, die bisher mehr auf ihre Handarbeit als auf
die Unterhaltung zu achten schien, mit einiger Be-
kümmernis die Frage, welche Religion das sei? worauf
Lord Shaftesbury rasch zur Antwort gab: Madame, das sagen
die weisen Männer niemals ^).
Man kann daraus auch ersehen, in welcher geistigen
Atmosphäre der junge Anthony aufwuchs. Aber nicht völlig
gab er sich Locke geistig hin. Ein gewisser dem Deismus nahe
^) über ihn erschien neuerdings eine hochbedeutende Einzel-
untersuchung von Chr. Fried. Weiser: Shaftesbury und das deutsche
Geistesleben. Leipzig: Teubner 1916 8^. Vgl. auch Begem«nn in:
Mecklenburg. Logenbl. Jg 23. 1895. S. 101; Hettner: Literaturgesch.
d. 18. Jhs. l^ S. 172 ff.; Spranger in: Internat. Wochenschrift. Jg 11.
1917. S, 1478 £f.
') Lange a. a. O. I S. 362 f. Nach einer anderen Version, die
Hettner a. a. O, 1 ^ S. 28 erzählt, lautete die Antwort: Meine Beste,
von dieser Religion sprechen verständige Männer
nur unter sich. Diese Antwort ist noch charakteristischer.
122 Kapitel 7.
verwandter Pantheismus haftete ihm von vornherein an^): die ur-
sprüngliche, alles belebende Seele des Universums wirkt durch
eine unendliche Menge von Körpern hindurch als eine künst-
lerisch bildende Kraft in vollendeter Harmonie tmd Schönheit
Gewiß ist auch ihm wie Locke die Vernunft einer der wichtigsten
Faktoren des Lebens und derjenige müßte nach seiner Meinung
sehr töricht sein, der durch übermäßige Betontmg des Glaubens
und durch Verleugnung der Vernunft Anspruch auf eine be-
sondere Gtmst im Jenseits erlangen zu können wähnte; aber er
ist wiederum der Ansicht, daß in der Lockeschen Philosoi^e
der Tugend völlig der feste Boden entzogen sei* Nim hält er es
aber für seine vornehmste Aufgabe, die Wirklichkeit des Sitt-
lichen zu beweisen, dieses aber nicht an eme bestimmte Meta-
physik zu binden, noch weniger mit Religion gleichzusetzen*
Denn ihm ist philosophieren nicht Spekulation, sondern Lebens-
ktmst. Eine innere Kraft sich selbst zu einer harmonischen
Persönlichkeit zu gestalten, wohnte ihm inne. Der Mann gleicht
ein wenig dem griechischen Philosophen und Dichter Plato»
Leben tmd Kirnst sind ihm schlechterdings ein tmd dasselbe, da
Ktmst und Tugend eng befretmdet sind* Ethik ist sittliche
Schönheit, Tugend ist die innere Einheit tmd Ordnung, das
glückliche Gleichgewicht aller Neigtmgen tmd Kräfte: Tugend
ist Lebensharmonie ^). Das Schöne und Gute ist bei Shaftesbury
wie bei den Griechen wieder voll tmd ganz verbunden^). Aber
er will auch das Moralische vom Religiösen nicht völlig trennen,
vielmehr ist die höchste Vollkommenheit der Tugend bedingt
^) Daß wir die Welt als Einheit sehn, ist eine Wirkung der
in der Seele lebendigen Formkraft (Weiser S. 100).
^ Weiser a. a. O. S. 529 sagt: „Es wird deutlich, daß das Tiefste
des Christentums und der Stoa in Shaftesbury zu der Einheit einer
sittlich-religiösen Lebensmacht sich verbunden hatte."
') Herder: Adrastea. Stück 2 (Werke, hrsg. v. Suphan. Bd 23.
S. 145) sagt: Für Shaftesbury ist die „Schönheit des Menschen und im
Menschen nichts als reiner Charakter. Ohne Rückblick auf Lohn oder
Bequemlichkeit fordert sie diesen als Menschencharaktef) als Ziel
und Genuß eines würdigen Menschenlebens." Spranger: „Der Sinn
für das Gute fällt für S. zusammen mit dem ästhetischen Geschmack:
der Tugenhafte ist der, Virtuoso, der Lebenskünstler . . ."
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 123
durch die Religion. Nur darf diese die Tugend nicht lohnsüchtig
machen, sonst geht unter den falschen Motiven für die gute
Handlung der ganze sittliche Gehalt der Tugend davon. Auch
ist diejenige Religion zu verwerfen« die Intoleranz und Inhumani-
tät aufweist, wie das Christentimi der Orthodoxen seiner Zeit,
das er übrigens mit allen Mitteln des Ernstes und des Humors
bekämpft. Er betont inmier wieder, daß das höchste Prinzip aller
Religion die Liebe sein müsse. Religion ist ihm wie Plato
Seelenerhebung, Enthusiasmus^). Das Christentum habe also
nicht nur für das Jenseits vorzubereiten, sondern vor allem
im Diesseits zu wirken; denn es werden leider oft die nächst-
liegenden Pflichten der Gegenwart und der menschlichen Gesell-
schaft ganz übersehen und gar nicht als Pflichten betrachtet,
was doch nicht angeht. In dieser Diesseitswendung der Religion
zeigt sich vor allem der Deismus des Grafen. Shaftesbury sah,
wie Weiser feinsinnig bemerkt, das Gemüt darben zwischen
einem religionsfeindlichen Materialismus (der Freidenker) tmd
einem geistfremden, orthodoxen Kirchenchristentum (sowohl der
Anglikaner als auch der Presbyterianer), und so tmtemahm er, die
Religion aufs neue zu erwecken. Er wollte wieder das religiöse
Erlebnis in das Bewußtsein der Zeit zurückrufen und der
frommen und sittlichen Persönlidikeit ihr Recht zukommen
lassen. Es gibt zwar eme Autonomie des Sittlichen, das mit dem
Schönen identisch ist, aber keine Autonomie der Religion; dazu
ist diese zu subjektiv und würde bald einen Gegensatz aus-
bilden, der weder in der Offenbanmg noch in der Vemtmf t be-
gründet ist. „Shaftesbury," sagt Weiser, „sieht den Verderb des
Christentums dort beginnen, wo der Intellektualismus der grie-
chischen Philosophie, wo das Wissen sich der religiösen Inhalte
bemächtigte, um Gefühle in Begriffen auszudrücken, Gefühle
durch Begriffe zu ertöten . . ." War das in semem durch Ver-
nunft geleiteten Zeitalter nicht wieder der Fall? Er sträubte
sich dagegen« Sein ganzes System verabscheut die Einseiti^eit
und trägt den Charakter des Harmonisdien, Friedlichen, den
^) Ober S's. Stellung zum Christentum macht Wetter S. 535
außerordentlich feine psychologische Bemerkungen,
' 124 Kapitel 7.
Charakter eines moralisch-ästhetisch-optimistischen Pantheismus,
religiös genommen: des einfachen altevangelischen Gebotes der
Liebe. Und dennoch hat er gefordert, daß der Staat sich der
Kirche annehmen müsse, weil das Volk auch in religiöser Hin-
sicht der Fuhrung bedürfe. Nur verabscheut er die Gewalt,
weil sie die Tugend unmöglich mache; in dem Staate sah er wie
unsere deutschen Klassiker nur den letzten Ausläufer der
Humanität
Shaftesbury's Schriften gewannen durch ihren Inhalt, der
dem tiefsten Denken und Sehnen der Zeit Ausdruck verlieh, und
durch ihre für die gebildete Welt so anziehende und gewinnende
Form einen gewaltigen Einfluß auf seine Zeit und auch auf die
Folgezeit, Leibniz, Voltaire, Diderot, Lessing, Mendelssohn,
Wieland imd Herder haben aus ihm die kräftigste Nahrung
gezogen^).
5. In der damaligen Zeit, schon seit 1711, entsprossen
aber aus Shaftesbury's Gedankenwelt jene moralischen
Wochenschriften-), die bei aller Abneigung gegen das
Freidenkerttmi und den radikalen Pantheismus oder Atheismus
Tolands sich doch auch von der kirchlidien Orthodoxie ab-
wenden, um desto eifriger auf die strengste, aber mit der Schön-
heit der Form verbundene Sittlichkeit zu dringen und die Prin-
zipien der Toleranz tmd Humanität, sowie die Herrschaft der
Vernunft immerfort zu predigen. Steele und Addison haben
durch den Tatler, Spectator und ähnliche 2^itschriften — sie
^) Siehe Hettner a« a. 0. S. 172. Auch au! Schiller und Goethe
übte er grofien Einfluß aus; s. darüber Dilthey:. Gesammelte Schriften
2. S. 398; Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität I, 33 nennt
ihn einen „ Virtuose der Humanität"; Begemann rennt offene Türen
ein, wenn er weitläufig beweist, dafi S. auf christlichem Boden steht
und daß er die Juden wegen ihres eingefleischten Hasses gegen
„unseren Erlöser" verachtet. Er ist eben ein englischer Aristokrat,
der in der christlichen Religion eine würdigere Ansicht vom Menschen
sah, als in allen anderen Religionen. B. leugnet den Einfluß S*s. auf
seine englischen Zeitgenossen, insbesondere auf die Freimaurerei von
1717, ein Einfluß, der doch klar am Tage liegt.
') Hettner a. a. O. S. 246 ff.; Keller in: Monatshefte der Com.«
Ges. Bd 14. 1905. S. 46 ff.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 125
sprossen später wie Pilze aus der Erde — nicht nur England«
sondern auch die ganze gebildete Welt völlig beherrscht« da diese
Blätter überall gelesen und nachgeahmt wurden« Sie atmen
den Geist Shaftesbury*s, alle arbeiten mit soviel Geist, Htmior
imd WitZi als sie fähig waren, nach dem einen Ziele: Vemtmft«
Sittlichkeit und Schönheit in der Welt zur Gelttmg zu bringen«
,«So verschwinden'i sagt Hettner, „jetzt die politischen Be-
trachtungen gänzlich. Auch die Theater und die Tages-
erscheintmgen der Literatur treten immer mehr zurück,
Schilderungen von Welt und Menschen, Sitten und Gewohn-
heiten, Torheiten, Lastern und Tugendejti werden das haupt-
sächlichste, wenn nicht ausschließliche Thema . . ., so daß man
ohne Bedenken behaupten kann, daß die detaillierte Schilderung
und auch eine gewisse Veredltmg der Sitten, die um diese Zeit
in England Platz greift, auf Rechnung dieser moralischen
Wochenschriften zu schreiben ist/' Auch auf die Ausgestaltung
der Freimaurerei haben sie ohne Zweifel stark gewirkt: Steele*s
Bildnis erschien in der Logenliste von 1730 neben dem des
Großmeisters.
6. Es ist nun die Frage aufgeworfen, ob tmd in wieweit die
deistische Bewegung des 17. Jahrhtmderts — in welchen Formen
sie auch immer auftrat — auf die geheimen Gesellschaften
des Kontinents und Englands, seien es die Akademien der Natur-
philosophen oder die geplanten Sozietäten der Theosophen
(Pansophische Gesellschaften), wie sie Andreae und Comenius
sich dachten, oder die Rederykerkamers, die Rosengesellschaften
und die Logensysteme des 17. und 18. Jahrhunderts, ja, ob
und wieweit sie schließlich auf die Freimaurerei selbst be-
stinmiend eingewirkt haben. Begemann hat in zahlreichen
Schriften jeden Einfluß des Deismus, namentlich den auf die
Freimaurerei geleugnet, der Philosoph Krause, Schwalbach,
Boos und Ludwig Keller dagegen haben immer wieder den
Versuch erneuert, ihn in Schriften und Symbolen^) der damaligen
^] Es ist ein wahres Verhängnis für unsere Forschung, daß
Begemann an der Überschätzung der reinen Oberlieferung leidet und
vdie archäologische, psychologische und Symbolforschung bei Seite läßt
126 Kapitel 7.
Zeit nachzuweisen« Es ist nun die eigentliche Aufgabe dieses
Buches, diese viel umstrittene Frage zu prüfen und womöglich
zu entscheiden.
Begemann behauptet^): Von Rosenkreuzenii Andreae imd
Comenius gibt es keine Brücke zum englischen Deismus, von
diesem keine zur Freimaurerei. Das ist vcm vornherein ent-
schieden tmwahrscheinlich und zu bezweifeln^). Denn jene
Männer und jene Gesellschaften wirkten doch auf ihre Zeit,
tmd den Zeitstromungen kann sich niemand entziehen, nidit
einmal der Mqde. B. würde den Ausspruch auch wahrscheinlich
so gar nicht getan haben, wenn er nicht unter Deismus fälschlich
eine absolut „unchristliche" — es müßte richtiger heißen: un-
geschichtliche — Allerweltsreligion, eine Art Humanitätsreligion,
wie sie die humanitäre Freimaurerei heute anstrebt, verstanden
hätte. Hui6anität als Religion spielt aber nur bei einer der dei-
stischen Gruppen, nämlich den Freidenkern, eine gewisse Rolle,
während andere zunächst lediglich die Quellen des Christentums
nur auf ihren Offenbarungsgehalt tmd auf ihre reli-
giöse Normalwahrheit hin prüfen und sie vor dem
Richterstuhle der Vemtmft sich rechtfertigen lassen wollten. Der
Deismus ist an sich absolut nicht imchristlich. Herbert von
Cherbury, Locke, Shaftesb)iry, die Moralisten u. a. sind durchaus
von christlicher Gesinntmg tmd Überzeugtmg; sie . sehen nur
nicht in der Offenbarung allein die Quelle ihres Glauben,
sondern auch vor allem in der Natur tmd in der menschlichen
Verntmft. Niemand aus dieser Gruppe hat die christliche Kirche
verlassen. Das Objekt der Verehnmg dieser Deisten ist allerdings
nicht Christus — der Stein Aben, wie die Rosenkreuzer sagen —
also Christus der Herr und Erlöser,, sondern allein Gott»
und, wie es scheint, auch mißachtet. Immer wieder philologische Text-
erklärung, auf weiteres läßt er sich nicht ein« Innere Grunde sind
für Begemann nicht vorhanden; quod non in actis, non est in mundo.
*) Mecklenburger Logenbl Jg 23. 1894. S. 41 ff.
^) Es läßt sich im Gegenteil beweisen, daß Stellen der Pansophie
z. T. wörtlich mit ihren Bildern, Symbolen und Bibelstellen in die
englische Frmrei des 17, u. 18 Jh. übergegangen sind.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten, 127
Jesus ist ihnen der Bringer modemer Kultur, der Weise von
Nazarethf der Religionsstifter; gottlidies Ansehen genießt nur der
große Baumeister des Weltalls, Gott, den Newton schlankweg
aus der Natur bewies (physikoteleologischer Gottesbeweis) und
den man in der einen Gruppe als rein transzendent, in der
anderen pantheistisch als alleins mit der Natur begriff, tmd
meist allerdings äußerlich in englischem Cant kirchlich verehrte,
selten wirklich mit frommem Herzen anbetete. Denn der Glaube
der Deisten ist stark diesseits gewandt und weniger aus der Ehr-
furcht vor Gott, als aus der Furcht vor ihm oder besser aus der
Vemtmft heraus geboren, um sich emen guten Platz im Jenseits
zu sichern; das Gebet der Deisten war meist weder innerlichen,
noch äußerlichen Motiven entspnmgen, sondern praktischen und
oft in die bloße Ausäbung der Tugend gelegt; ihre religiöse und
sittliche Weisheit ist universalistisch (pansophisch) gerichtet, wie
ja das ganze Zeitalter einen universalistischen Zug hatte, auch in
der Wissenschaft. Aber der Kampf dieser Männer galt nicht
sowohl dem Christentum als allein der Orthodoxie, sowohl der
der anglikanischen wie der der presbyterianischen Kirche, — die
katholische Kirche streng ausschließend — tmd diesen Kampf
fährten sie ganz und gar im Namen der Menschheit mit den
Waffen der Vernunft und mit dem Ziele der Aufrichtung der
Toleranz durch den Staat und der Wiederherstellung der natür-
lichen Religion, in der Christ, Jude und Muhamedaner zu gleicher
Zeit zu recht kommen tmd sich als Brfider vereinigen können.
Daß diese Menschheitsreli^on innerhalb des vernünftig ver-
standenen Qiristenttims liegen müsse, bezweifelte aber von den
gemäßigten Deisten kein MenscL So begriffen, wird man minde-
stens die Ztisammenhänge des Deismus mit der Atifiassung des
Comenius schwerlich leugnen können. Comenius — christlicher
Bischof, wie er war — , hoffte gewiß auf eine Bekehrung aller
Menschen ztu: christlichen Reli^on^), deren Wahrheitsgehalt^
wie er ihn verstand« den aller anderen Religionen bei weitem
^) Siehe Begemann: Comeniiis tud die Freimaurer, Berlin 1906
S. 16 ff.
128 Kapitel 7.
übertraf; aber er stand dem Deismus doch gefährlich nahe^);
niemand wird bei ihm die ,,catholick religion" verkennen können.
Er spricht selbst von ^^einer allgemeinen« rein menschlidien«
christlichen Gesellschaft aller Menschen für alles Menschliche".
Gerade in der Panegersia, die Herders Aufmerksamkeit auf den
vielverspotteten Mann lenkte, hat er sich im Sinne einer christ-
lichen Humanität ausgesprochen: „Mein Vorhaben ist, dem
Menschengeschlechte sein ganzes Heil zu zeigen. Ich unter-
nehme das Größte, was es unter dem Himmel gibt, was alles
Menschliche betrifft tmd alle Menschen angeht, in allseitiger
Hinsicht für diese und für das zukünftige Leben * « . Mensch-
liche Dinge sind die, so zur Erhabenheit der menschlidien
Natur, zum Ebenbilde Gottes gehören tmd sich auf Verstand
tmd Vernunft, auf den Willen und die auf alles sich erstreckenden
wirksamen Kräfte gründen . . . Allein tms fehlt noch gänzlich
eine allgemeine Sprache als gemeinsames Band für tmsere g^rößte
Gesellschaft oder Genossenschaft, welches das über die ganze
Erde verbreitete Menschengeschlecht ist • . . Dexmoch dürfen
wir tmserem Unglücke nicht tmterliegen. Könnte den Menschen
ihr ganzes wahre Gute gezeigt werden, könnte man die wahren
Mittel angeben, die gelähmten Kräfte zu befreien, so würde eine
wahre Philosophie, Religion und Staatsverfassimg ge-
funden werden^). Die Welt ist natürlich ein Ganzes, warum
sollte sie es nicht sittlich werden? * . , Die Menschen tmd alle
menschlichen Dinge in Harmonie zu brmgen, hat uns Gott einen
dreifachen leichten angenehmen offenen Weg gezeigt: den Weg
der Einheit, der Einfachheit tmd den Weg der Freiwilligkeit • . .
die Einheit tmd die auf sie gegründete Vereinigtmg ist das Eben-
bild der Gottheit Deim Gott ist Ein Wesen und doch
Alles, er ist Alles und doch Eines ... So kommt
^) Krause: Kunsturkunden 2. Aufl. Bd 2, Abt. 2. S. 3 ff. VgL
Keller in: Monatsh. d. Comenius-Ges. Bd 15. 1906. S. 125 ff.
') Comenius war also überzeugt, daß man Religionen und Sprachen
erfinden könne, wie' Maschinen. Das glaubte der Deismus auch.
Comenius und seine Freunde sind gänzlich ungeschichtlich denkende
Menschen, genau wie die Deisten.
Der Deisaaos in England und seine GeistesTerwandten. 129
denn aBe. denen euer und euer Geschlechtes Wohl am Hen^n
Ee^ die ihr Gott fSrditet aus jedem Volke, von jeder
Zunge and Sekte« denen die mensdüichen Verirrungen
dn Absdiea sind . . . Vor allem aber erwachet ihr, denen ver-
lidien ist, den mensdilidien Dingen vorzustehen: ihr Erzieher
des Menschengeschlechts, ihr Philosophen; ihr, die ihr Seelen
von der Erde zum Himmel fuhrt, ihr Theologen; ihr einst*
weiHgen Beherrscher der Erde, ihr Verwalter und Statthalter
des Friedens, ihr weltlichen Oberherrenl Ihr alle zugleich seid
die Ärzte der Menschheit! Laßt uns alle miteihander einen
heiligen Vertrag schließenl Zuerst, daß uns allen nur
einZielvorAugen stehe: das HeilderMensch-
heit; daß ferner das Ansehen der Personen, der
Nationen, der Sprachen, der Sekten hierbei
gänzlich zur Seite gesetzt werde, damit sich nicht
Liebe oder Haß, Neid oder Verachtung einmische . . .*' An
einer anderen Stelle der Panegersia sagt Comenius^ obgleich
nichts so wichtig sei, wie die Religion, da Seele und Seli^eit
davon abhänge, so nahmen die Menschen es doch sehr leicht
mit ihr; sie möchten doch bedenken, daß es nur einen Gott
gäbe und daher nur eine Möglichkeit, ihm recht zu dienen;
alle Religionen müßten falsch sein außer einer.
Jeder meine, die seinige sei die richtige, dies sei aber ein
schmachvoller Zustand; man solle wenigstens Dul-
dung ubea — Aber genug! Nimmt man noch hinzu, daß
Comenius für die allernächste Zeit ebe ecdesia catholica, die er
die aDgemefaie Gememde Christi nennt, erwartet, in der alle
Menschen sich zu einer, der ursprfinglichen
christlichen Religion bekennen werden, daß er einen
Tempel der Allweisheit erbauen will, ,4^ nach des hödisten
Baumeisters, des allmächtigen Gottes eigenen Gedanken, Regeln
und Gesetzen zu erbauen und dem Nutzen der all-
gemeinen, aus allen Geschlecktem, Stämmen,
Volkern und Sprachen gesammelten und zu
sammelnden Kirche Jesu Christi zu widmen ist'' —
das ist der galante Titel seiner Pansophie — , so haben wir wohl
130 Kapitel 7.
die Verwandtschaft des Deismus mit den Ansichten des Comenius
klar zutage gelegt« Er fordert zu einer allgemeinen Beratung
über die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten
auf, um das ganze Menschengeschlecht zur Erörterung der
Probleme zu bringen, welches die beste Philosophie, die
beste Religion, das beste Staatswesen sei; das Ge-
wordene kümmert ihn nicht. Wenn irgend etwas, so liegt doch
das in Wahrheit im Sinne des Deismus und ist deren ««König-
licher Weg"^). Diesen beschreibt er in der Pansophie, das Sei
ist die Erlangtmg des „wahren Lichtes", das die sehen werden«
i,die Gott suchen." Der reine Deismus! Wenn ich nun
auch nicht so weit gehe, wie Loesche'), welcher behauptet, daß
^) Comenius erzählt uns auch, daß die gesetzliche Vertretung der
Unität, deren Bischof er war, die Synode, ihn zur Rechtfertigung gegen
die Anklage aufforderte, daß er das Göttliche mit dem Menschlichen,
das Christentum mit dem Judentum, die Finsternis mit dem Lichte
vereinige. Übrigens kannte Comenius schon jene Gruppe von Deisten,
die man allgemein Libertiner nannte, die die religiöse Toleranz hi»
zur Gleichgültigkeit gegen die Religion trieben, Libertiner, die deutlich
insofern von den späteren englischen Freethinkers verschieden sind«
als die Libertiner des Comenius den Renaissance-Gedankenreihen
entstammen, die Freethinker» aber dem Systeme der Aufklärung.
Comenius sagt in der Janua aperta: „Es ist zu beklagen, daß wir
hierin nicht fibereinstimmen, wo es uns zukäme, daß die größte
Übereinstimmung stattfände: in der Verehrung jenes einen Bau-
meisters aller Dinge. Nicht weniger unzulässig ist es doch
auch, was die Libertiner tun, daß sie alle Religionen bilUges
und irgendeiner anhangen; denn dabei ist Selbstbetrug, und der eifrige
Gott will, daß wir in seiner Verehrung eifrig seien, daß alle Lauigkeit
uns dabei fem sei." Also Toleranz als Gleichgültigkeit gegen Religion
verwarf er; soweit wollte auch er in seiner Toleranz nicht gehen, daß
alle Religionen gleichwertig seien, sondern die christliche
Religion, und zwar die altevangelische Form derselben —
Begemann sagt falscfi; die protestantische — ist i^m die Religion,
auf die hin sich alle Völker einigen müssen und auch bald einigen
werden. Aber, so sagt Comenius, er lehre nicht diese oder jene
Theologie, wie sie die Konfessionen lehren, sondern die all-
gemeine Wahrheit,
*) Jahrbuch d. Ges. f. Gesch. d, Protestantismus in Österreich
Jg 10. 1889. S. 123.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 131
Allerweckungsgedaxiken des Comemus z. T. durch die
englischen Freimaurer in ihm angeregt seien, in ihrer Aus-
gestaltung durch diesen wiederum den Artikeln der Grolien Loge
zugrunde gelegt wären, so glaube ich doch, daß eme gegen-
seitige Beeinflussung der beiden Kulturfaktoren entschieden
stattgefunden hat.
Und wie Comenius, so dachten alle die Freunde, die er in
England besaß, und die waren sehr zahlreich; nicht nur Haak,
Hartlib, Boyle u. a. sind dahin zu rechnen, sondern auch
viele Mitglieder des Parlaments und Milton, der ihn in seiner
Schrift über die Erziehung gerühmt hat^). Diese Denkweise
'ging auch auf die folgende Generation über. Denn die Ge-
sinnungsgenossen der Menschheits- und Vemunftfreunde, wie
Anderson, Desaguliers usw. haben viel von dieser Gruppe über-
nommen, wie Krause unwiderleglich nachgewiesen hat^). Es
fuhrt eine Brücke — die Freunde sind deren Pfeiler — nicht
nur von Comenius zum Deismus, sondern auch von beiden bis
zur Freimaurerei von 1717 hin.
7. Festländische Einflüsse* Comenius war ein
Schüler Joh. Val. Andreae's, jedenfalls verdankt er dem
Württemberger viel. Daß dieser als der Vater der Rosen-
kreuzerei anzusehen ist, zeigten wir schon oben, wo wir auch
nachwiesen, auf welche Weise imd wann dieser eigentümliche
Versuch einer christlichen Union von Deutschland nach England
hinüberkam. Ohne soweit zu gehen, wie Katsch, welcher die
ganze Freimaurerei von der Rosenkreuzerei ableiten wollte, läßt
sich doch auf keine Weise ein Einfluß auch dieser Gruppe in
England auf die Zeit und auf die Ausgestaltung der Freimaurerei
leugnen'). Daß durch Fludd, Ashmole u. a. gerade in der ent-
scheidenden Periode der Umformung der Maurerei, als die Ztmft
(Company of masons) in London ihren Höhepunkt überschritten
^) Ob die Engländer davon heute noch ein Bewußtsein haben,
wie man einst Comenius in ihrem Lande verehrte und was man ihm
verdankt, ist m. A, n. gleichgültig, Begemann legt darauf allerdings viel
Gewicht, s. Kva^sala: Comenius S, 296.
^ Krause: Kunsturkunden 2 Aufl. Bd 2, 2. S. 7 ff.
') s. Sonnenkalb in: ZC. 1897. S.248fiF.
132 Kapitel 7-
hatte und eine verhältnismäßig unbedeutende Gesellschaft war^),
und auch die Society of freemasons zusehends verfieli als sich die
englische Kultur ihrem Geiste nach umbildete tind die Leute
für das Neue aufnahmefähig wurden, sehr viel Einfluß auf die
Neugestaltung der Dinge ausgeübt wurde, ist von vornherein
anzunehmen, wird aber auch anderweit bestätigt*).
Von noch größerer kultureller Bedeutung als die Rosen-
kreuzerei sind aber die dem Deismus ähnlichen und seiner Ent-
wicklung günstigen Einflüsse geworden, welche im 17. Jahr-
hundert von Holland aus nach England kamen. Diese sind zwar
nicht durchweg erdwüchsig niederländische Produkte gewesen,
sondern zum Teil französische, zum größten Teil eben deutsche
Geistesfunken, aber die Generalstaaten waren doch der Stapel-
platz für diese Ideen, und die gebildeten Leute im Haag und in
Amsterdam die getreuen Makler, die sie weiter nach England
importierten und Rückfracht von dort empfingen« Es fand im
17. Jahrhundert vom Kontinent aus nach England hin ein leb-
hafter Gedankenaustausch über Holland statt.
Die Niederlande waren seit dem siegreichen Ausgange der
Freiheitskriege (ca. 1575) überhaupt der Hort der Freiheit, so
daß sich sogar viele Elemente, die in Deutschland und Frank-
reich wegen ihrer Gesinnung keine rechte Wirkungsstätte und
keine Ruhe vor Anfeindung und Verfolgung mehr fanden, hier-
her flüchteten. Nun war aber in den Generalstaaten — nament-
lich seit der Gründung der Universität Leyden — das geistige
Leben mehr auf die Theologie und die Sprachstudien gerichtet^
als auf die Naturwissenschaften, wenngleich diese auch hier
^) Conder: Records of the hole craft and fellowship of masons
1S94. S. 171. Sonnenkalb in: ZC 1897. S. 423.
') Katsch hat in seinem Buche: Die Entstehung und der wahre
Endzweck der Freimaurerei. Berlin 1899, alles zusammengetragen,
was sich hierzu sagen ließ. Wenn er in seinen Schlußfolgerungen
auch weit über das Ziel hinausschießt, so wird man ihm doch die
Gerechtigkeit und das Zugeständnis nicht versagen können, daß ihm
wenigstens der Nachweis der Einwirkung der Rosenkreuzer auf die
Freimaurerei gelungen ist. S. auch Gould a. a. 0. Bd 3. S. 79 ff.,
namentlich S. 84 ff. u. S. 98. 110 f. 123.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 133
nie ganz vernachlässigt wurden^). Es ist darum kein Wunder,
daß sich in Holland nach dem Vorgange von Coomhert*) auf
dem Gebiete der Philosophie und Bibelforschung, der Scaliger
auf dem der philologischen Kritik nach dem Muster der
italienischen Akademien der Renaissance kleine oder größere
Vereine bildeten, die nach der Mode der Zeit ihre Ge-
heimnisse tmd ihre Symbole hatten* öffentlich trieben diese
Rederykerkamers — so hießen sie — wie die floren-
tinische und romische Akademie Sprachstudien, machten Verse
und schienen sich um nichts als um literarische Dinge^ zu
kOnunem; im Geheimen aber Schemen sie, — oder wenigstens
ein Teil von ihnen — doch eine irenisch-imionistische Welt-
anschauung unter gewissen Kulthandlungen vertieft und in die
Praxis umgesetzt zu haben, eine Weltanschauung, die weitab
von der der Kirchenlehren lag und die darum die katholische
und später die orthodoxe calvinistische Kirche in den General-
staaten unter keinen Umständen gebilligt und geduldet haben
würde, wenn sie öffentlich hervorgetreten wäre. Es ist
bezeichnend, daß der Herzog v, Alba nach seinem Siege
1567 allerlei Vereine und Verbände in Brüssel usw. bestehen
ließ, aber gegen diese Kamers energisch vorging; einen
politischen Grund hatte dies nicht und konnte diese Maß-
regel auch gar nicht haben. Wenzelburger*], der Geschichts-
schreiber der Niederlande, sagt von diesen Rederykerkamers:
„Ursprünglich zu dem Zwecke, um Passionsspiele oder andere
kirchliche Mysterien darzustellen, gegründet und ebenso wie
die Zünfte in Brüderschaften organisiert, wandten sie sich später
vorherrschend weltlichen Stoffen zu und wurden bei dem mehr
und mehr zutage tretenden Verfall der Kirche die eigentlichen
Träger des Widerstandes gegen die Geistlichen und damit die
Hauptstütze der Reformation/* Sie waren also Organisationen,
bei denen die Sprachstudien nur Vorwand oder eine Lieb-
haberei waren, deren Hauptzweck aber ein religiöser war; bei
^) Man denke z. B. an Huygens, Swammerdam, Vesalius u. a.
'') üb. ihn s. Diltey: Schriften 2. S. 95 ff.
') Geschichte der Niederlande Bd 1. S. 816.
134 Kapitel 7.
ihnen lag der Akzent auf den „inneren Ringen'^ die sie
wenigstens z. T. besaßen« wie Keller nachgewiesen hat
Vor allem ist es merkwürdigi daß sich selbst in den Gilden
der niederländischen Handwerker und Künstler, genau wie in
England, abgezweigte, angeblich soziale (?) Gesellschaften
bildeten oder sich bestehenden Gilden als Brüderschaften an-
schlössen, — als innere Ringe, sagt auch hier Keller — die an
sich zwecklos und unverständlich zu sein scheinen, die doch
aber irgendeinen vernünftigen Entstehungs- und Erhaltungs-
grund gehabt haben müssen^): sie hatten mit der Gilde zwar
gemeinsame Verwaltung, dieselbe Kapelle, dieselben Vorsteher
tmd feierten mit jener gememsam den Festtag des Patrons der
Gilde, aber die Ringe sind Vereine oder Gruppen für sich inner-
halb der Gilde mit besonderen Zielen und Zwecken. So ist es
auch zum Teil in den Rederykerkamers gewesen: die alte
Kammer in Amsterdam, die den Namen „Der Eglantier" (die
Rose) führte und nach Theodor Rodenburg^) am 17. September
1519 eingeweiht worden war, nachdem sie am 8. März des-
selben Jahres von London aus durch John Allen') ihre Stiftungs-
^) So ist das sicher in der St. Lukasgilde in Antwerpen, einer
Körperschaft von Künstlern und Handwerkern, mit der die „Violiere**
fLevkoje) seit 1480 vereinigt war. Die Kammer der Violiere war, wie
Max Boose: Geschichte der Malerschule Antwerpens behauptet, ein
Verein zu geselligen Zusammenkünften und literarischen Unter-
haltungen. Wozu dafür ein besonderer Verein? Das glaubt doch kein
Mensch, der das Leben in einer Malergilde des 16. und 17. Jahr-
hunderts kennt. Es war natürlich ein religiös-humanitärer Verein
innerhalb der Gilde, wie die inneren Ringe der Kammern auch. Vgl.
Begemann: Die Haager Loge von 1637. Berlin 1907. S. XIII.
') Eglentiers nieuwe Jaersgift In liefde bloeyende opt Jaer 1916.
') Warum der Name John Allen aus Fitz-Allen zurecht-
gemacht sein soll, wie Begemann: Die Haager Loge S. 46 be-
hauptet, ist ganz unerfindlich. Es gab doch 1519 genügend Leute in
England, die John Allen hieß«n und Meister einer humanitären Ge-
sellschaft . gewesen sein könnten, so daß wir nicht notwendig an den
Erzbischof von Dublin zu denken brauchen; dieser war übrigens 1519
Rektor in South Ockendon Essex (dicht bei London) und könnte
recht gut Stuhlmeister der Loge gewesen sein. s. Stephen & Lee:
Dictionary. Bd 1. S. 305.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 135
Urkunde von der dortigen RosengeseUschafti von der wir aller-
dings nichts Näheres wissen, erhalten hatte ^), besaß solchen
,4nneren Ring" d. h. eine Loge, die den Namen: „Het Vreeden-
dall" und den Wahlspruch: In Liefde Bloeyende führte.
8. Die Kölner Urkunde, die Steinmetzen
und die Johannes-Brüderschaften. Mit diesen
Rederykerkamers und ihren «inneren Ringen" und Logen
hangt die schwierige Frage der Echtheit der Kölner
Urkunde von 1535 imd der Haager Protokolle von
1637/38 auf das Engste zusammen^). Begemann hat diese beiden
Aktenstücke als unzertrennlich verbunden erklärt, so daß sie
miteinander stehen und fallen müssen, ohne den geringsten Be-
weis dafür zu erbringen^).
^) Wir folgen in diesen Ausführungen L. Keller: Akademien,
Logen und Kammern des 17. und 18. Jahrhunderts in: Monatsh. der
Comenius-Ges. 1912. S. 15 f. Das Wort Eg}antier ist ursprünglich alt-
franzosisch; kommt auch im Neufranzösischen als „wilde Rose" vor,
ist also nicht, wie Keller behauptet, aus dem Englischen, sondern aus
dem Französischen nach den Niederlanden gekommen, genau wie der
Name Rederykerkamer, der auch nicht niederl&ndiach« sondern fran-
zösisch ist und Chambre rh^torique heißt.
') Literatur über diese Frage s. Wolfstieg: Bibliographie 5495 tf.
5531 ff. Die Frage ist von mir von neuem untersucht in: Am Rauhen
Stein 1917 Juliheft. Vor allem ist die Schrift von Begemann: Die
Haager Loge von 1637 und der Kölner Brief von 1535. Berlin 1907. 8®
und Kellers Erwiderung darauf in den Monatsh. der Comen.-Ges. 16.
1907. S. 1 ff. und 17. 1906. S. 129 ff. nachzusehen. Vgl. meine Aus-
führungen ebendas. Jg^ 1917 in den „Streiflichtem".
') IL a. O. S. XI und S. 55. B. behauptet: Der (Kölner) Brief ist
das Hauptstück und die Protokolle sind gleichsam der Rahmen, von
dem jener gehalten wird, d. h. sie sollen die Möglichkeit echter Über-
lieferung gewahrleisten, indem sie das Vorhandensein einer Loge v. J.
1519 im Jahre 1535, dem Datum des Briefes, voraussetzen und bei
ihrer Wiederbelebung L J. 1637 den Brief mit anderen Dokumenten
zusammen von überlebenden l^tgliedem aufbewahrt sein lassen. —
Dies und das Folgende, was Begemann weiter anführt, ist die reine
Phantasie. Ein Fälscher hatte sich die Sache einfacher und ungefähr-
licher gemacht, hätte die Loge in das Jahr 1535 oder 1536 verlegt und
<lie Protokolle ebenfalls lateinisch abgefaßt. Das hat Verf. aber nicht
igetan, sondern hat sich der Gefahr ausgesetzt, durch ein falsches
136 Kapitel 7.
Beide Urktmdeiii der Kölner Brief und die Haager Proto-
koBe, müssen m. E. gesondert betrachtet werden« weil sie nichts
miteinander zu tun haben« als daß sie zufällig zusammen gefunden
sind und der Kölner Brief in den Protokollen einmal erwähnt
wird« und zwar nur im Inventar,
Im Jahre 1818 oder schon 1816 sandte eine Dame« die sich
C, geb* y. T. nannte, dem National-Großmdster der Niedethöde,
Prinz Friedrich der Niederlande, eine Reihe von Akt^i zu^)« die
sie in dem Nachlasse ihres Vaters gefunden haben will; dieser
habe die Akten immer sehr sorgfaltig verwahrt, nachdem er sie,
wie sie glaube, von Herrn van Boetzelaer, dem früheren
National-Großmeister, empfangen habe^). Die Sendung enthielt
eme Anzahl unbedeutender Papiere, eine Urkunde auf Perga-
ment in Quadrat-Chiffre geschrieben, und etliche Lagen einer
Papier-Handschrift, die offenbar aus einem Buche heraus-
gerissen waren, Brandspuren und hinten noch den Buchbinder-
leim aufwiesen, mit dem sie einst zusanunengeleimt gewesen
waren®.) Der Prinz zeigte die Akten dem Archivar van Wyn
tmd dieser erklärte, die Sachen rührten aus jener Zeit her, die
sie selber angäben; Unterschriftsvergleichungen seien auch zu-
gunsten der Urkunden ausgefallen^).
Holländisch sich zu verraten. Aber die Protokolle zeigen genau das
Holländische, das man 1637 sprach; sie sind also echt, wenn keine
anderen Gründe für ihre Unechtheit vorhanden sind. — Obrigens
folgt Begemann mit seiner Behauptung der unzertrennlichen Ver-
bindung der Haager Protokolle und der Kölner Urkunde nur den
Spuren von Gieseler.
^) Die Übergabe der Akten wird auch so erzählt, daß der Prinz
sie von „vertrauenswürdiger Seite", wahrscheinlich dem' Grafen
V. Wassenaar erhalten habe.
^) Dieser war um 1780 National-Großmeister der Frmr in den
Niederlanden gewesen und der Vorgänger eines Herrn van Teylingen,
was mit „geb. v. T." stimmen würde.
*) Man beachte: es waren nicht nur die beiden angeblich ge-
fälschten Stücke, sondern auch eine ganze Menge anderer Papiere
dabei. Waren die auch gefälscht?
*) Würde der gewiegte Fachmann sich haben täuschen lassen?
Kaum glaublich 1 Heute, sind die Sachen leider nicht mehr vorhanden,
da man sie mit dem Nachlasse des Prinzen verbrannt hat.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 137
Nach Begemann u. a« sind £e Akten um das Jahr 1780 her-
gestellt, also glatt gefälscht')- In solchem Falle hat man zuerst
zu fragen« wer war der Fälscher und zu welchem Zwecke
fälschte en Auf die erste Frage weiß B. gar keine Antwort zu
geben, Bobrik ^) aber meinte, die Jesuiten für die Fälschung ver-
antwortlich machen zu können. Unmöglich, da man dann gar
nicht erklären könnte, wie die Akten in die Hände der Frei-
maurer gekommen wären. Kloss glaubte, der Verfasser habe
wohl die im Jahre 1780 hergestellte Verbindung der Großloge der
Niederlande mit der strikten Observanz bekämpfen wollen. Da
aber, so fügt Begemann diesem „guten Gedanken" lunzu, der
Wilhelmsbadener Konvent bereits 1782 der Templerei der str.
Obs. ein unrühmliches Ende bereitete, so hat man die Stücke
unbenutzt beiseite gelegt. Trotzdem haben sie die Herren van
Boetzelaer und van Teylingen sehr sorgfältig aufbewahrt. Sie
mindestens müssen doch nichts von deren Fälschung gewußt
haben, sonst hätten sie doch die greulichen Dinger vernichtet, die
nur der Großloge Spott tmd Schande einbringen konnten, wenn
die Fälschung herauskam. Was wollten sie damit noch? Woher
hatten Ae sie? Wußten sie oder der Großlogen- Archivar
nicht, daß diese Akten vor 1780 nicht im Archiv gewesen
waren? Und wie dtunm von den Fälschern, sie nicht vor 1782
^) Begemanns Arbeit ist sehr schwach. Was er vorbringt, sind
lauter Scheingründe. Ich verweise auf meine Ausführungen zur Sache
in den Monatsh. der Comen.-Ges. 1917. Märzheft. Hier zeigt sich so
recht B's fehlerhafte Methode: Quod non in actis, non est in mundo.
Auch arbeitet er nur philologisch richtig, niemals historisch ohne
Fehler, verwendet das methodisch ganz verbotene argumentum ex
silentio und macht Schnitzer über Schnitzer. Aber freilich: wenn diese
fatalen Akten, die das Bestehen einer rein spekulativen Loge des
17. Jhs. beweisen, nicht aus der Welt geschafft werden, dann ist
seine ganze Theorie, die Freimaurerei sei aus der Werkmaurerei ent-
standen und nichts als ein geselliger Klub gewesen, einfach über den
Haufen geworfen. Darum müssen diese dummen Dinge beseitigt
werden. Hier ist B. nicht unparteiisch gewesen und nicht wissen-
schaftlich verfahren.
') Text, Übersetzung und Beleuchtung der Kölner Urkunde.
Zürich 1840, in meiner Bibliographie 5502.
138 Kapitel 7.
zu veröffentlichen! Die Fälscher konnten doch nicht wissen«
wie der Konvent auslief. Wollten sie ihre angebliche Absicht
erreichen« so mußten sie doch die Urkunden in die freimaure-
rische Welt hinausschreien, ehe der Konvent begann, aber sie
nicht unter die Akten legen« Da hatten sie doch keinen Sina
mehr.
Der oder die Fälscher müßten übrigens sehr kluge, vor-
sichtige und gewandte Leute gewesen sein. Sie verstanden es«
sich genau solches Pergament und solches Papier zu verschaffen,
wie es die Zeit besaß, in welche sie ihre Fälschung zurück-
verlegten. Das war freilich für das Pergament leichter als für
das Papier. Das Papier zu beschaffen muß für die Fälscher keine
leichte Aufgabe gewesen sein^). Dann müssen die Fälscher,
auch wenn sie Holländer waren, daran gegangen sein, die
werdende holländische Sprache und Orthographie von vor ISO
Jahren zu erlernen, was ihnen so gut gelang, daß auch Br Bege-
mann bei seiner mikroskopischen Untersuchung nichts Falsches
von Belang entdecken konnte'), sondern S. 28 zugeben muß,
daß der oder die Verfasser der Protokolle trotz mancher an-
stößigen Formen im ganzen die Sprache von 1637 getroffen
^) Ich bitte es einmal zu versuchen, sich heute ein Buch reines
Schreibpapier aus der Zeit Friedrichs des Großen zu verschaffen.
Man muß sich über die Arbeit eine ganz klare Vorstellung machen;
es war doch ganz undenkbar, daß die Fälscher irgendwo noch Papier
von 16^ im Jahre 1780 kaufen konnten. Und das Papier war echt,
sagte der Fachmann van Wyn. Man kann höchstens annehmen, daß
die Fälscher in einem alten Buche das Papier rein vorfanden und
herausschnitten. Das wäre doch sehr schnell gemerkt worden.
') Die paar Schnitzer, die er zu entdecken glaubte, fallen wohl
mehr Br Begemanns eigener Unkenntnis der Nebenformen und der
damals recht schwankenden Orthographie zur Last, als den Proto-
kollen. Denn wer will noch heute mit Sicherheit sagen, ob man nicht
auch waereldt für werelt schrieb und es nicht eine Nebenform
clyndere für cleyndere gab. Wir schreiben auch manches, was wir
nicht verantworten können; auf solche Philologica ist rein gar nichts
zu geben. Man sehe sich deutsche LogenprotokoUe des 18. Jht.
daraufhin an« ' '^i
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten, 139
haben^). Wenn dieser Kritiker dann weiter erklart, daß er iladi
Vergleichung von zwei gleichzeitigen Urkunden des Staats-
archivs im Haag gezeigt habe, daß die Protokolle in zahllosen
Fällen allerdings von der Weise jener Urkunden abweichen«
so bedenkt er nicht, daß die Urkundensprache von der Aus-
drucksweise in Protokollen immer verschieden ist und daß
Menschen, die an Formelsprechen gewöhnt sind, wie die Ver-
fasser vonUrkunden, inuner anders schreiben, als rechtsunkundige
Leute, die zufällig ein Protokoll niederschreiben, womöglich
ivährend der Vorgänge selbst, aber die die Protokolle berichten.
Schließlich müssen die Fälscher die Details der Geschichte
atißerordentlich gut beherrscht haben, da sie nicht nur nicht
kleinere oder größere Schnitzer gemacht haben, sondern sich
auch im Besitze von Kenntnissen befanden, die wir erst mit
Mühe und nach langer Forschung wieder als richtig haben
feststellen können. Freilich sucht Begemann den Fälschern
direkte Fehler nachzuweisen, aber die9e fallen nur Begemanns
Überkritik zur Last, nicht den Verfassern der Protokolle; die
Fehler liegen nicht an ihnen, sondern an der falschen Methode
ihres Kritikers* Punkt 1, 2, 6, die Begemann anführt^), erledigen
sich von selbst. Warum soll der Franzose Blondel, der in Paris
seinen Wohnsitz hatte, nicht 1637 als Gast in einer Haager Loge
anwesend sein? Warum soll Graf Dohna mit 16^ Jahren nicht
Mitglied der Loge werden, da er doch unter Prinz Friedrich
Heinrich in diesem Alter schon als Offizier diente? Warum
müssen Stiftungsbriefe und Mitgliederverzeichnis, die erwähnt
werden, eine plumpe Erfindung sein? Weil sie sich unter den
Akten nicht mehr fanden? Das sind alles keine Beweise. Punkt 4
wird bemängelt, weil es einen Großmeister Bedford tmter
Englands Freimaurern nicht gegeben habe. Ja, es handelt sich
ja auch gar nicht tun eine Freimaurer-Loge im Sinxie der Frei-
^) Wenn B. hinzusetzt, daß das bei der reichen niederländischen
Literatur des 17. Jhs. für einen Niederländer nicht schwer war, so
irrt er sehr. Protokolle haben ihre eigene Sprache.
•) in: ZC. Jg. 40. 1911. S. 85 ff.
140 Kapitel 7.
maurer von 1717, sondern um eine Loge der Unzertrennlichen^).
Punkt 5 soll gefälscht sein, weil die „Geschichte** von der
Sendung des Br»; Stanhope betr, Anerkennung der Londoner
Loge als Hauptloge unsinnig sei. Ich bin dieser Ansicht nicht.
Die Protokolle sagen femer, daß der Prinz Friedrich Heinrich
am 7. Mai 1637 an die Front gehen wollte; er ist erst am
7. Juli gegangen, weil er einen Anfall von Podagra bekam
und bettlägerig wurde. Woher wußten die Fälscher von der
Absicht des Prinzen? Begemann sagt, aus den Memoiren des
Prinzen. Nein! Da steht falsch, daß er am 7. Mai wirklich
angebrochen sei; also hier haben wir allein den richtigen Sach-
verhalt, entgegen den Memoiren des Prinzen, daß er damals
aufbrechen wollte. Dazu Punkt 3: Am 27. Dezember ist ein
Graf Jan (Johann) v. Nassau als anwesend in der Loge genannt.
Unmöglich, sagt Begemann, denn der Graf war ein Verräter,^
trat zu den Spaniern über und war der ärgste Feind Friedrich
Heinrichs. Und doch haben die Protokolle recht. Der Gast der
Loge war nicht dieser Graf Jan v. Nassau, sondern ein anderer
gleichen Namens aus der Linie Idstein, der flüchtig in Europa
umherirrte, am 11. Dezember am Hofe Ludwigs Xm. in Paris
lebte und zu Weihnachten 1637, wie es scheint, im Haag war,
wahrscheinlich um den reichen tmd mächtigen Vetter imi Hilfe
^) Freilich nennen sich die Mitglieder broederen uytverkoore
meesteren van de Sint Jans broderschap of te vryemetselaeren,
aber es wäre ein schwerer Fehler, das vom Standpunkte der Grofi-
löge von England 1717 verstehen und mit den englischen Freimaurern
der späteren Zeit nach 1717 gleichstellen zu wollen. Hier ist vielmehr
ein System von „aufgefreiten Steinmetzen" Deutschlands und Hollands
gemeint, das an sich mit England und seiner Freimaurerei von 1717
gar nicht zusammenhängt. Es ist ein deutscher „Orden" der Unzer-
trennlichen" (inseparabiles oder indissolubiles), der, wie wir aus den
Protokollen hören, von einer englischen Gesellschaft, vielleicht der
Society of freemasons, vielleicht auch irgendeiner anderen, z. B. einer
Rosen-Gesellschaft, 1517 einen Stiftungsbrief erhalten hat. Die
Kölner Urkunde redet von Magistri venerandae Joannique sacrae
societatis sive liberorum caementariorum o r d i n i s socii und spricht
von einer Edinburger Herberge und den ihr angeschlossenen Hütten.
Auch hier kann nicht an englische oder schottische Freimaurer im
Sinne von 1717 gedacht werden.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten« 141
anzugehen cxler um eventuell in das Niederländische Heer ein-
zutreten« das gegen die verhaßten Spanier und den Kaiser focht,
der ihn geächtet und um Hab tmd Gut gebracht hatte.
Also tmi die sachlichen Beweise unseres Kritikers steht es
ebensoschlechti wie um die sprachlichen. Was müssen die
Fälscher bei den schwachen Hilfsmitteln zu Ausgang des
18. Jabrhunderts für gelehrte Geschichtsforscher gewesen sein«
wenn es selbst einem so sorgfältigen Forscher, wie Begemann,
mit den Hilfsmitteln des 20. Jahrhtmderts nicht gelingen will,
ihnen auch nur einen einzigen Fehler in ihrem Werke nachzu-
weisen. Nein! Die Protokolle ^d sicher echt und beweisen,
daß im Jahre 1637 im Haag eme Loge Fredericks Vreedendall
im System des Ordens Indissolubilis^) begründet wurde tmd
mindestens 1638 noch bestand. Die Ordens-Loge hatte 1517 bis
1601 in Amsterdam als iimerer Ring der Rosengesellschaft ge-
arbeitet, ruhte seitdem tmd war 1637 im Haag wieder eröffnet
worden.
Im Jalure 1637 waren von dieser alten Loge, so erzählen
die Protokolle, noch 4 Brr vorhanden. Unter dem Eigentume der
Vreedendall-Loge, das einer der alten Brr hinter sich hatte und
das er dem neuen Orden übergab — es ist Stück für Stück ver-
zeichnet — war das Ardiiv wohl das wichtigste. Hierin befand
sich imter anderem der „Kolner Brief von 1535. Wie steht es
nun mit dessen Echtheit? Begemann dekretiert: Fällt der
Mantel, so muß der Herzog nach; sind die Protokolle falsch, so
ist es auch die Urkunde'}. Aber so einfach ist die Frage nicht;
überdies wäre nach unserer Meinung ja dann die Echtheit des
Briefes schon bewiesen. Allein wir müssen daran festhalten:
Protokolle und Brief haben keinen innem Zusanunenhang.
Die Urktmde gibt sich als ein Schreiben (Brief), welches
von 19 angeblich am 24. Juni 1535 zu Köln versanmielt ge-
wesenen Vertretern ebensovieler Haupthütten der „aufgefreiten
^) Wir kommen auf diesen Orden in diesem Kapitel S. 172 noch
zu sprechen. Der Orden heißt auch Veneneranda Confoederatio
Inseperabilium,
*) Keller hat sich zu dieser Frage niemals geäußert. Vgl. nun
meine Ausführungen in: Am Rauhen Stein. Jg 1917. Juli-Heft.
142 Kapitel 7.
Steinmetzen" in Eurqpa abgefaßt und das angeblich in 19 Aus-
fertigungen, von denen hier eine vorliegti hergestellt sein soll*
Der Brief ist also nicht das Original, das der Obermeister wohl
behielt, sondern sicher eine Abschrift^). Diese ist diifiriert, und
zwar hat der Chiffreur die richtige Chiffre nicht verwendet^
sondern nach einer selbst verbesserten oder verschlechterten
Chiffre gearbeitet. Darum ist der Text so verderbt und
winunelt von Fehlem, Mißverstandnissen und Mißdeutungen« Die
Unterzeichner haben dann die einzelnen fertig abgeschriebenen
Stücke vielleicht nicht selbrt wieder unterschrieben,
sondern ihre auf dem Originale gegebenen Unterschriften sind
auf der hier vorliegenden chiffrirten Abschrift schlecht nach-
geahmt und auch voll von Fehlern. Zu den Unterzeichnern
gehört Philipp Melanchthon, der Wittenberger Reformator').
Der Inhalt der Urkunde ist kurz der: Die Versammlung wehrt
^) Und diese liegt aucb nicht mehr vor, sondern nur ein
schlechter Stich davon.
') Auf ihn vornehmlich richten sich alle Versuche, die Urkunde
für unecht zu erklären. Er könne unmöglich, so sagt man, mitten im
Semester nach Köln gereist sein, könne unmöglich (I) Vertreter der
Haupthütte in Danzig gewesen sein, seine Unterschrift habe mit der
echten gar keine Ähnlichkeit, er hätte sicher ein in so fehlerhaftem
Latein geschriebenes Schriftsück nicht unterschrieben usw. Alles
fadenscheinige Gründe für die Unechtheit der Urkunde. Denn die
Abschrift in Chiffem hat er gar nicht gelesen, seine Unterschrift ist
nachgeahmt, er konnte auch von Wittenberg aus die Danziger Haupt-
hütte leiten und für eine Reise nach Köln Urlaub erbeten und er-
halten haben. Auch ist ein Brief Melanchthon« von Anfang Juli
1535, der nach Begemann dafür sprechen soll, dafi M. Philippus
damals in Wittenberg war, also am 24. Juni nicht noch in Köln ge-
wesen sein könne, aus vielen Gründen nicht beweisend Bedenklich
für die Echtheit der Urkunde ist allerdings der Umstand, daß
Melanchthon sich überhaupt darauf eingelassen haben soll, mit den
Hütten in Verbindimg zu treten, was bei «einem Charakter schwer
glaublich ist, und, wie Sonnenkalb mir schreibt, der Zweck der
Versammlung, der die«em Forscher kaum möglich erscheint
Ich halte die«en Grund nicht für «o entscheidend wie er; es ist die
regelmäßige Jahresversammlung der Hütten, auf der unter an-
derem auch die Herstellung der Urkunde beschlossen wurde.
Der Deismus in En^and und seine Geistesverwandten. 143
sich gegen den Vorwurf mit den Templern zusammenzuhängen«
da der Orden viel alter sei, als der der Tempelherren tmd von
den alten „Johannisbrüderschaften" abstamme. Sein Zweck
sei« die den Gemütern der Menschen eingepflanzten ethischen
Grundsätze der nicht verunreinigten Religion aufrecht zu er-
halten, damit sich auf solche Weise mehr und mehr das wahre
Licht aus der Finsternis erhebe, femer dahin zu wirken, den
Abexglauben zu bekämpfen und durch Pflege aller menschlichen
Tugenden Frieden und Wohlfahrt unter den Menschen zu be-
festigen und endlich Werke christlicher Nächstenliebe zu ttm.
Diese Grundsätze werden dann im einzelnen bekannt gegeben
und die Verfassung des Ordens nebst den Pflichten der Brr
auseinandergesetzt. Der Inhalt liegt ganz in der Richtung des
damaligen htmianitären Universalismus, kann also nicht von
den Jesuiten verfertigt sein (wie Bobrik meinte), entspricht viel-
mehr ganz und gar der Denkweise Melanchthons^), der doch
wie kein anderer der Vertreter der Union, der praktischen
Vernunft in religiösen Dingen tmd des christlichen Humanismus
in Deutschland war, eines Geistes, der auch in der Urktmde
atmet Allerdings enthält die Urkunde eine Menge von Un-
gereimtheiten'), die beweisen, daß sie so, wie sie vorliegt,
schlechterdings nicht echt sein, wohl aber von einer echten Ur-
kunde abgeschrieben und durch Nachlässigkeit und Besser-
wissen des Schreibers verdorben sein kann.
Es ist m. E. sicher, daß die Urkunde vielfach deswegen
von den neueren Kritikern falsch beurteilt worden ist, weil
diese annahmen, es handele sich um Freimaurer im Sinne von
^) 8. Dilthey: Gesammelte Schriften Bd 2. S. 162 £f. Dilthey sagtr
i,Melanchthon ist für Deutschland das Mittelglied, welches die alten
Philosophen und deren Tradition in den mittelalterlichen Schrift-
steilem verbindet mit dem natürlichen System des 17. Jahrhunderts. . .
Die Sittigung Deutschlands durch eine ideale Auffassung der mensch-
lichen Dinge, wie das Studium der Alten und ein einfaches inniges
Christentum sie gewähren, das war das ganze Ziel aller erschöpfenden
Arbeit dieses großen Lebens."
') s. Handbuch der Freimaurerei. 3. AufL Bd 1. S. 552 ff. Schon
der Ausdruck Orden- ist eine solche, da es sich um Bauhütten von
Steinmetzen handelt.
144 Kapitel 7.
1717. Das ist ganz falsch. Es handelt sich lediglich um eine
Gesellschaft von „aufgefreiten Steinmetzen" (liberi caementarii),
die sich als eine norddeutsche Organisation gebildet haben
muß tmd welche der englischen Freimaurereii aber auch
den deutscheui in Regensburg und in Straßburg organisierten
Bauhütten nicht notwendig nahestand Dadurch erledigen sich
viele Bemängelungen der Urkunde von selbst« andere Fehler
kommen auf die Rechnung der Abschrift oder des Stechers^)«
Da man aber nicht einzusehen vermag, warum, von wem und
wann die Urkunde gefälscht sein kann, so mtiß man bis auf Bei-
bringung weiterer Beweise annehmen, daß man es hier mit einer
schlechten, vielleicht interpolierten und vielfach verbalhomi-
sierten Abschrift einer alten, echten Urkunde zu tun hat, deren
Text man nicht mehr genau wieder herzustellen vermag. Darum
ist es äußerst gefährlich, aus der Urkunde im Guten oder Bösen
Schlüsse zu ziehen. Sicher scheint mir aber, daß sowohl diese
Urkunde, wie die Haager Protokolle von vornherein nicht für
die Öffentlichkeit, sondern für die stille Verschwiegenheit eines
Logenbetriebes bestimmt waren. Sie hatten ja auch dem großen
Publiktmi rein gar nichts zu erzählen und von Angriff oder
Abwehr findet sich in ihnen keinerlei Spur.
Zu schließen ist aus allem, was hier von dem geistig
kulturellen Leben der Niederlande und Deutschlands mitgeteilt
wird, daß die Tätigkeit dieser Brr rege war und mit englischen
und schottischen ähnlichen Bestrebtmgen in naher Beziehung
und in beständigem Austausch stand. Daß es in England ähnliche
Gesellschaften in Formen gab, die mit der offiziellen Organi-
sation der Freimaurerei des 17. und 18. «Ihs in London in
keiner Verbindung standen, zeigen viele Spuren, namentlich das
Vorhandensein von Gesellschaften im Sinne der Rosenkreuzer
und der Freunde Hartlibs, isolierter Logen u. a. m. Freimaurer
im Sinne Andersons waren diese Leute also nicht, wenn sie
sich vielleicht auch Freimaurer nannten. Solche Jc^annis-
^) Prinz Friedrich liefi die nunmehr verbrannte Urkunde durch
Stich vervielfältigen.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 145
Bruderschaften^ Steinmetzen- oder Künstler- Vereine kurz: solche
nicht der Großloge bzw. der Society angehörenden Sozietäten,
die sich äußerlich mit Kunst (Musik, Baukunst, Geisteswissen-
schaften, Dichtkunst oder dgl) beschäftigten oder zu beschäftigen
vorgaben, innerlich aber unter Vornahme von Kulthandlungen
oder Ritualen zu erziehlichen tmd religiösen Zwecken gearbeitet
zu haben scheinen, hatessicherinEng landmehr ge-
geben, als diese zur Blüte gekommene Society of free and
accepted masons. Sogar von Freimaurer-Logen hören vm um
1720, die nicht zum Großlogen-Systeme in London gehören, was
schon Sonnenkalb sah^). So tritt 1736 eine völlig unabhängige
Loge zu Haxham in Erscheinung'), zwei weitere unabhängige
Logen existierten vor und nach 1750 in Durham und Sunder-
land*). Die in der Daily Post vom 25* März 1721 erwähnte, schon
lange bestehende Freimaurer-Loge zuHampstead*), die zu einem
„Kapitel" einladet, zählte auch nicht zur Großloge von
London, ebensowenig die St. Stephansloge^), die zur St* Stephans-
kirche in London gehörte, welche erst von Wren erbaut wurde.
Die Beispiele ließen sich noch Unehren, doch genügt das, um zu
beweisen, daß es außer dem Großlogen-Systeme in England eine
zweite Gruppe von Logen gab, die nicht der Society of Freema-
sons entstammte, sondern zu anderen Systemen gehörte, die gar
nichts damit zu tun hatten und doch aufgefreite Steinmetzen
zu ihren Mitgliedern zählte. Wir kommen noch darauf zurück.
^) in: ZC. 1911. S. 375: „• • ' es bestanden doch neben diesen
Logen [der Großloge] nicht nur in Irland und Schottland, sondern
auch in allen Teilen Englands eine große Anzahl einzelner Logen und
isolierter alter Brr.: welche sich erst sehr allmählich, z. T. niemals
der großen Loge angegliedert haben."
*] Begemann a. a, 0. U. S. 364 f.
') Ebendaselbst S. 365.
*) Ebendaselbst S. 51, Anm.
*) Schwalbach: Geschichte des älteren maurerischen Ge-
brauchstums TL 1. S. 13. Wenn Schw. behauptet, es sei dies Vor-
kommen der Loge in einem Rituale (der sogen. Maurerprüfung) ein
Beweis dafür, daß dieses Ritual den Kreisen der Handwerksmaurerei
entstamme, so halte ich den Schluß für irrig; es kann ebensogut einem
anderen Systeme entstammen.
10
146 Kapitel 7.
Diese nicht mehr urkundlich nachweisbaren Vereme und die
l^nannten Logen passen also ganz genau in das System der
Köher Urkunde, die ja das Bestehen dieser oder ähnlicher
GeseBscJwften in England und Schottland voraussetzt. Aus alle-
dem geht wohl hervor, daß es schon lange vor dem 15* JL — die
Kölner Urkunde sagt seit Jahrhunderten — euien Bund der
Johannes-Brüder gegeben hat, der in Europa weit ver-
breitet war, sich unter den Formen von Logen, Künstler-
Genossenschaften, vielleicht der Rederykerkamers, Sanger-
gesellschaften ') oder welchen Deckmänteln auch immer mit der
„Sittigung" der menschlichen Gesellschaft und der Befestigung
des einfachen altevangelischen Glaubens: liebe und schätze alle
Menschen wie Brüder tmd Angehörige tmd du sollst Gott ge-
währen, was Gottes und dem Kaiser, was des Kaisers ist, in
ernster Weise beschäftigten. Dürften wir der Kölner Urkunde
unbedingt trauen, so würden wir sagen können, daß diese Ge-
sellschaft alt sei, ihren Ursprung oder richtiger ihre Moderni-
sierung im 15« Jahrhundert in Flandern, namentlich in V a 1 e n -
ciennes und einigen Flecken des Hennegaues erhalten
habe, als 1440 „mit EBlfe und auf Kosten jener Brüder
(Johannes - Brüder) zuerst Krankenhäuser gebaut wurden«
zur Heiltmg der Dürftigen, die am heiligen Feuer, dem
sogenannten Antonius-Feuer^) litten*. Die Gesellschaft hat
nach der Kölner Urkunde 19 Herbergen oder Hütten, ist
besonders stark in Flandern^ in den Niederlanden und am
Rhein vertreten, hat aber Sitze bis Edinburg und Venedig, bis
Danzig tmd Wien, auf der anderen Seite bis Paris und Lyon; sie
ist zufolge der Kölner Urkunde aus Schülern, Genossen und
Meistern zusanmiengesetzt, über denen ein Senat von aus-
erwählten Meistern steht. An der Spitze jeder „Herberge oder
^) Hierzu würden auch die Meister-Singer wahrscheinlich zu
rechnen sein, die solche geheime Gesellschaft bildeten, s. Keller in:
Monatsh. d. Comen.-Gesellsch. Jg 11. 1902. S. 274 ff.; Hampe, Ebendas.
Bd % 1898. S. 148 ff. Es ist wichtig, zu beachten, daß in den Meister-
Singer-Stuben die Legende von den vier Gekrönten lebendig war.
*\ Eine brandige Form der Kriebelkrankheit. s. Eulenburg'a
Encyclopaedie 1880. Bd 2. S. 222 (Brand).
Der Deismus in En^and und seine Geistesverwandten, 147
Hfitte'* steht ein supremus magister^). Die einzelnen Haupt-
hütten, wie Het Vreedendall eine ist, die provinziell geordnet
zu sein scheinen, zerfallen dann wieder m einzelne örtliche
Logen, als eigentliche Arbeitsstätten der Gesellschaft, So erzählt
uns die Kölner Urkunde, die man aus d^ Haager Protokollen
ergänzen mag; ein Widerspruch zwischen beiden und dem, was
wir von den Londoner Nebenlogen erfahren, existiert nicht.
Überblicken wir diese ganze Masse von Einzelheiten, so
sehen wir, wie im 17. Jahrhundert die geistigen Fäden zwischen
England und dem Kontinente über die Niederlande hinweg hin
und her gesponnen werden. Es ist eine gährende 2!eit hüben
und drüben; alle am Frieden^ an Toleranz und Menschlichkeit
Interessierten strengen sich an, allein oder in Gruppen die
werdende Zeit zu beeinflussen, die Seelen zu erwecken und die
Ideen der Humanität und der Freiheit zum Ziele zu führen. Sicher ,
ist eine Gesellschaft, wie die Society of the Freemasons davon
nicht unberührt geblieben. Mochten viele Brr. von all diesen
Gedankenreihen wenig oder nichts verstehen, andere werden
doch ergriffen gewesen sein und versucht haben, mitzuwirken.
Im Einzelnen wissen wir gar nichts darüber; wir müssen uns
begnügen den Geist der Zeit und die Fäden, die gesponnen
werden« kennen zu lernen.
9. Indessen haben in Deutschland die aufgefreiten
Steinmetzen eine ganz andere Entwickelung durchgemacht
als die englischen Genossen. Zur Zeit des Überganges der kirch-
lichen Baukunst in Laienhände, also um das Jahr 1250, waren die
übrigen Bauhandwerker in den Städten, deren Häuser meist
aus Lehm- und schmucklosen Fachwerkbauten bestanden, längst
zünftig geworden, d. h. die Maurer, Zimmerleutc usw. bildeten
in Deutschland Zünfte, wie andere Handwerker auch ^). Aber
^) Ich verstehe nicht, wie Begemann: Haager Loge S. 79 aus der
Ausdruckweise Widersprüche konstruieren will. Diese Organisation
und die Sprache der Urkunde darüber ist zwar nicht formelhaft, aber
doch ganz klar.
») Maurer: Städte Verfassung. Bd 2. S. 479 ff.; Kloss: Die Frmrei
in ihrer wahren Bedeutung, ein Werk, welches wegen der Zusammen-
stellung aller deutschen und englischen Brüderschaftsgesetze von
10»
148 Kapitel 7.
die Steinmetzeiii die bisher als Laienbruderschaften ^) meist den
Klöstern und Stiften angegliedert gewesen waren und nun beim
Übergange des Bauwesens von geistlichen Händen in die von
Laien, den Kirchenbau als geheime Kunst betriebeui wurden nicht
zünftig^), bildeten auch keine Gilde, sondern hielten sich als
freie Brüderschaften. Die lokale Zunft-Organisation war ftir sie
schon deswegen ganz unmöglich, weil die alte, von der Kirche
stets geschützte Freizügigkeit des Gewerkes eine derartige
städtische Festlegtmg in Deutschland von selber hinderte.
Dazu kam, daß die uralte Verbindtmg des Steinmetzen-
gewerkes mit der Kirche sich ja nie völlig lösen ließ, da die
Aufgabe des Steinmetzengewerbes eben der Kirchenbau war.
Die Kirchenbehörde war fast immer der Bauherr« So blieb das
Laienbrüderschaftliche am Gewerk haften und die Verbindung
mit der Kirche wenigstens äußerlich erhalten. Jede einzelne
Bauhütte war also sowohl in Nord- wie in Süddeutschland ein
Teil der Brüderschaft, solange sie zum Bau zusammen war^)
denn es standen alle Bauhütten diu-ch Gebrauchtum und ge-
wisse Ordntmgen wohl schon früh miteinander in gewisser Ver-
bindtmg, weil, wie Maurer ganz richtig bemerkt^), die ältesten
bleibender Bedeutung ist; Janner: Die Bauhütten des deutschen
Mittelalters. Leipzig 1876; Kessler: Geschichte der Organisation der
Steinarbeiter Deutschlands; Fallou: Mysterien der Freimaurer.
2. Aufl. 1848. 80. s. auch Wolfstiegs Bibliographie. Bd 1. Nr. 5403 ff.
^] R. Waiden: Die Laienbrüderschaften und die Logen unter-
scheidet die Gilden von den Brüderschaften religiöser Art zu wenig.
• ') Das einzige Zunft-Beispiel (Straßburg), welches Seeberg: Die
Junker von Prag und der Straßburger Münsterbau S. 35 ff. anführt,
widerlegt Janner a. a. O. S. 35 f. klar als eine falsche Schluß-
folgerung.
') Nach Art. 47 der Urkunde von 1459 geht eine Hütte ein,
sobald keine Arbeit mehr vorhanden ist: „Und welcher Meister auch
ein Buch hett, ginj dem sin Beuwe abe und hett kein Werck nie, do
er gesellen uffgefürdem möchte: der sol sin Buch und was Geltz er
hett, das in die Ordenunge gehört, gen- Strossburg dem Werkmeister
schicken. Janner S. 263.
*) a. a. 0. S. 482. Auch Janner beschäftigt sich S. 43 ff. mit
dieser Frage und kommt zu dem gleichen Resultate: „schon früher be-
st r.nden Brüderungen von Hütten und diese haben sicher wegen des
Der Deinnis m Fji^hii «ad atme G«klcsv«fwaadttta. 149
SteiniiifeLteiiofdiwifigen. ans dem 15. Jafanniiidert bereits altes
Herkommen, dte Gebrandie und ahe Satamgea eodialtea (also
derea Inhalt einer weit früheren Zeit an^diort). nnd alte Ver-
bindungen der Bauhfitten untereinander voraussetzen, und zwar
aller deutschen Steinmetzen-Ifötten. Mitte des 15. Jahr*
hunderts einigte man sich dann ausdrücklich zu
festerem Verbände. Wäre die Kölner Urkunde ganz sicher,
so würde man ohne weiteres behatqyten können, daß in Deutsch-
land nicht ein Verband, wie Ixisher immer angenommen ist,
sondern deren zwei im Süden und Norden entstanden sind:
1440 ein Niedersachsisch-Rheinisch-Niederlandischer Verband in
Valenciennes und 1459 auf dem Tage von Regensburg ein
wesentlich Süddeutscher Verl>and, dem äch 1462 auch die
Meister von Sachsen anschlössen^). Doch hören wir außer in der
Kölner Urkunde immer nur von dem Süddeutschen Bunde.
Es ist ganz auffallend, daß weder auf dem Steinmetzen-Tage
von Regensburg noch auf dem von Speyer 1462 auch nur ein
einziger Meister aus Norddeutschland oder aus den Nieder-
landen anwesend war'), selbst nicht eimnal einer aus Köln, das
eigentlich der Hauptort des Steinmetzen-Gewerkes in ganz
für die Sache selbst resultierenden Nutzens zur Nachahmung ver-
leitet", s. den Eingang der Straßburger Urkunde von 1459
„wider soliche gutte Gewohnheit und alt herkommen, so altfordern
und liebhaber des Handwerks vor alten Zitten in gutter meynunge
gehendhabt und harbrocht habent, ... So haut Wir Meister und Ge-
sellen desselben Handwercks alle . . . Solich alt Harkummen ernüwert
und geluttert . . ." Janner S. 251.
^) Das ist schon Kloss aufgefallen, daß der Straßburger Verband
keine niederdeutschen Meister hatte.
') Janner a. a. 0. S. 263 f.: Es ist erkannt uff dem Tage zu
Regenssburg, 4 Wuchen nach Ostern Im Jor do man zält von Gottes
Geburt: Tusentvierhundertfünfzig und nun Jore, uff St. Marx Tage:
daß der Werkmeister Jost Dotzinger von Wurms, des Baues unser
lieben Frautiren Münsters der Meren Styfft zu Strossburg und alle
sine Nochkumen, desselben Wercks unser Ordenunge des Steyn-
wercks oberster Richter sin sol. [späterer Zusatz: desselben glichen
ist auch vor zu Spyr, zu Strossburg und aber zu Spyr im Jor 1464 uff
dem Nfinden Tage des Abrillen erkennt worden.] — Item; Meister
Lorenz Spenning von Wyen sol auch zu Wyen in dem Lande Oeberster
150 Kapitel 7.
Deutschland war^). So erscheinen denn in § 48 der Regens-
burger Urkunde Straßburg, Wien und Köln als Hauptfaütten tuid.
als Oberste Richter des Säddeutsdien Verbandes, aber Köln be-
kümmert sich offenbar um die Sache gar nichti so daß Straßburg
daneben mindestens seit 1498 für die allererste Instanz gilt und
als Vorsitzender des ganzen Süddeutschen Verbandes fungiert
Für den Kolner Bezirk bleibt zwar auch später ganz sicher ein
Rest von Hütten bei Straßburg, aber die Hauptmasse trat nicht
in den Straßburger deutschen Verband ein, wenn wir audi
leider nicht erfahren, Wie stark der Prozentsatz ist, der außen
bleibt, und welche Hütten das sind- Wenn nun auch auf dem
Tage zu Straßburg im Jahre 1498 beschlossen und daraufhin in
der Konfirmationsurktmde des Kaisers aus demselben Jahre
angeordnet wird: „daß sich ein jeder Stainmetz in dise Bruder-
schaft sol gebrüderen, der anders sich Stainwerks gebrauchen
will'* . . ., femer: „das die selben Ordnungen, einigung vnd
verpflicht krefftig vnd bestendig sein vnd denen von allen vnd
jeden personen, so die berüeren Stracks nachgevolgt werden
soll*', so scheint es doch nicht, als ob man in Niederdeutschland
nördlich von Koblenz und der Mosel damit durchdrang; denn
im Jahre 1563 wiederholt der Artikel 41 der kaiserlichen Kon-
Rychter sin. [Also: kein Wort von Köln. Nun folgt ein Absatz, der
ganz deutlich später eingefügt ist:] Und also ein Werkmeister nuntzu-
mal oder alle sine nochkumen zu Strossburg, Wyen und Köln: die
drige sint die Oebersten Rychter und Hauptlütte der Ordenunge; die
Sol man nit entsetzen one redelich Ursach. — In Art. 49 werden die
Gebiete abgegrenzt. Straßburg und Wien genau, wobei man von Wien
nur die Eidgenossenschaft als besonderes Untergebiet abscheidet, von
Köln wird nur gesagt, es solle alles übrige Gebiet haben, was da von
Förderungen und Hütten liege, soweit sie an der Ordnung
teilnehmen oder noch dazu kommen möchten. Also gab es da
noch Hütten in dem Kölner Gebiete, die an der allgemeinen Ordnung
nicht teilnahmen und abseits blieben. Ist das der flandrisch-nieder-
ländische Verband?
^) Der Dombaumeister und seine Leute gehörten wohl stets zum
Straßburger Verbände. Oder sollte dieser Kölner Bezirk überhaupt
nur eine Fiktion, eine Hütte in partibus infidelium gewesen sein?
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 151
firmation die Formel der Akte von 1459^) und nennt unter den
Orten, ,|da bücher sollend sein der Haupthütten zu Strassburg
underworffen", Stift Köln, aber keine einzige niederdeutsche
oder niederländische Stadt, nicht einmal Köln selbst, während
sonst alle Gebiete inbegriffen sind, bis nach Dresden, Salzburg
und Zürich hin'). Es muß sich also wohl ein niederdeutsch-
niederländischer Verband oder ein ähnliches Gebilde abseits
von dem süddeutschen Verbände gehalten haben, so daß es in
Köln zwei Haupthütten gab, eine norddeutsche und eme süd-
deutsche, Stift und Stadt,
Gewiß war unter den deutschen Steinmetzen das Bewtißt-
sein lebendig, daß man im ganzen Reiche, ja in der ganzen Welt,
einen einzigen großen Bruderbund bilde, aber in der Organisation
scheint man sich im 15. Jahrhundert zwischen Nord- tmd Süd-
deutschland nicht haben einigen zu können« Was anderes ist es
mit dem Gebrauchtume. Dieses ist sicher unter sämtlichen
deutschen Steinmetzen immer ganz dasselbe gewesen.
Es wurde mündlich fortgepflanzt und hat seine Starrheit bis in
das 19. Jahrhundert hinein nicht emgebüßi Es war bis ins 17.
Jahrhundert ganz Eigentum der „aufgefreiten Steinmetzen", das
^) Dieses gebiet gehört gehn CölbL Item: Ein Werckmeister zu
CöUn der Stifft unnd alle seine nachkommen, dem sollen gleicher weiss
gehorsam sein und zugehören: das übrig gebiet hinab, was da auff
steht von ffirderung und Hütte, die in diser Ordnung seind, oder darein
kommen möchten. Janner a. a. O. S. 286. — Auf S, 91 bemerkt
Janner: „Von Köln fehlen alle Nachrichten, erklärlicherweise, da, wie
Kreuser uns in den „Dombriefen" S. 289 versichert, diese Hütte schon
im 16. Jahrhundert erlosch. Unrichtig sagt Schnaase, dass Köln eine
der am längsten erhaltenen Hütten gewesen sei.*' Sollten nicht beide
recht haben? Es bestanden hier eben zwei Hütten, die des nord-
deutschen Verbandes erlosch früh.
*) Wenn Art. 23 dieser Ordnung von 1563 wiederholt, daß sich
ein jeder Meister nach dieser Ordnung halten und richten solle, so
kann das nur so verstanden werden: jeder Meister, der im Verbände
ist. Auch stört das formelhaft im Eingange der Urkunde Gesagte:
„Gesell und Brüderschafft aller Steinmetzen in Teutschen Landen"
schwerlich unsere Ansicht, daß noch viele Hütten außerhalb des
Straßburger Verbandes waren. Oder war der Verband norddeutscher
Hütten damals schon erloschen?
152 Kapitel 7.
man nicht einmal den „zünftigen Bauhandwerkem* zugängKch
machte. Wohl haben es aber wandernde Gesellen über das
Meer gebracht« und wir spüren den Einfluß des deutschen Ge-
brauchtums auf das der englischen Steinmetzen nicht nur unter
Eduard lü., sondern einfach fortdauernd^), so selbständig
sich auch das englische Gebrauchtum und die englische Organi-
sation entwickelte.
Nun gehörten auch in Deutschland zu den Steinmetzen-
Hütten nicht nur Stehunetzen tmd Architekten, sondern auch
viele Liebhaber des Handwerks^), namentlich Künstler,
hauptsächlich Maler, Formschneider, die in Buchdruckereien be-
schäftigten Leute, Illustratoren, Rubrikatoren usw«, auch viele
vom Adel, wie die Frh« von Tucher, ja selbst Kaiser Max haben
sich in die Hütten aufnehmen lassen. Solche Einbrüderungen
Handwerksfremder kommen auch in den Gilden, ja selbst in den
Zünften vor, sind aber da nicht so zahlreich, wie bei den
Hütten. Es ist keine Frage, daß der Grund dafür nicht allein
in dem Wunsche gelegen haben kann, mit Bauleuten in irgend-
welcher Foim verbunden zu sein, sondei^ man wird im Gegen-
teil annehmen müssen, daß die geistigen Ziele des Btmdes das
Lockmittel für jene Künstler und großen Herrn waren, den
Hütten sich zuzugesellen. Diese hatten überhaupt seit langem
jenen Elementen als Unterschlupf gedient, welche mit der
herrschenden und strafenden Kirche unzufrieden, aus sich heraus
altevangdische Gemeinden gebildet hatten, die aber seit dem
Tode Ludwigs des Bayern, der sie schützte, von der Kirche
grimmig verfolgt worden waren. Man drückte diese ,3nider-
schaften" geradezu aus der Kirche heraus. „Wie gescheuchte
^) G. Kloss: die Frmrei in ihrer wahren Bedeutung, wo die Ver-
gleichung besonders gut durchgeführt ist.
') Urk. von 1496: „So Ir altfordnen vnd liebhaber des Hant-
werkhs vor alten Zeiten In gueter Meinung gehanthabt vnd gebracht
haben. . . ." Dürer war Hüttenbruder, auch Kaiser Max, was Waiden:
Beiträge für Vorgeschichte der FrmreL H. 3. S. 20 ff. bestreitet W.
' führt die betr. Stelle aus dem Weisskunig an, um zu beweisen, daß
darin von der Zugehörigkeit des Kaisers zu dem Bunde gar nichts
stehe. Der Nachweis ist m. E. mißlungen.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 153
Lämmer drängen sich die Verfolgten aneinander und da es keine
Gesetze gab, welche auf die Zugehörigkeit zu einer Gilde [oder
Hütte] (Brüderschaft) Strafe setzten, so konnte die Bauhütte un-
gehindert den Brüdern einen Ersatz für die verlorene Brüderschaft
gewähren"^). Wenn es nun auch gewiß nicht richtig ist, sich die
Bauhütten von nun ab als Gesellschaft von Ketzern zu denken,
so standen diese Laienbrüderschaften der Steinmetzen seit ihrer
Parteinahme für Kaiser Ludwig doch in einem gewissen fron-
dierenden Gegensatze zu der verweltlichten Kirche. Aber trotz
der V9n der kirchlichen abweichenden religiösen und sozialen
Anschauung, die der eines Albertus Magnus, eines Berthold
V. Regensburg und der „Armutsbewegtmg" nahe gestanden zu
haben scheint, haben die Bauhütten die Formen und Gebote
der Kirche immer festgehalten und sich nie mit der Kirche
ernstlich entzweit; die Mitglieder haben, wie es vorgeschrieben
war, stets ihre gemeinsamen Gottesdienste alle Jahre gefeiert,
„zu den heiligen vier Fronfasten und am Tage der heiligen vier
gekrönten Märtyrer"'), haben ihre Vigilien, Messen und Seelen-
messen lesen lassen und waren wohl, wie die Torgauer Ordnung
anordnet, auch alle Jahre jeder einmal oder zweimal zu dem
heiligen Sakrament gegangen; im übrigen scheinen sie sich aber
auf christliche Ordnung und christliche Taten zur Unterstützung
von Kranken tmd Armen, auf Teilnahme an Begräbnissen und
auf Hilfe für die, welche in Gefangenschaft geraten waren, u. dgl.
beschränkt zu haben. ,JDer Kosmopolitismus und das fahrende
Wesen ist kein rechter Freund der Religiosität", meint Janner.
Im Gegenteil, nur kein Freund des offiziellen kirchlichen Wesens.
In den Hütten scheint man sich sogar ziemlich viel um derartige
religiöse und kulttu-elle Fragen, allerdings in praktisch christ-
licher, nicht in theoretischer Weise bekümmert zu haben.
^) L. Keller: Die Reformation und die älteren Reformparteien
1885 S. 237. Vgl auch S. 224 f. Daß Keller hier übertreibt, ist keine
Frage; aber Waiden a. a. 0. unterschätzt auch wieder dieses Element
S. 30i
») Janner a. a. O. S. 165 ff. Vgl. Kloss: Die Frmrci in ihrer
wahren Bedeutung S. 189 ff.
154 Kapitel 7.
schon weil diese Fragen die ganzen Generationen des 14. und
15. Jahrhunderts auf das Tiefste erregten^). Wie gesagt« hüteten
die Steinmetzen sich aber sehr vor direkter Ketzerei und Irrlehre,
vor der ihre Ordnungen, namentlich auch die englischen« ein-
dringlich warnen« Man trieb in den Bauhütten« auch in den
Hammerhätten« nach der Mode der Zeit einfach den geistigen
Bau« indem man aus Mensdbenseelen Tempel Gottes errichten
wollte'). Jedenfalls klagte die ««Reformation des Kaisers
Sigmund" sehr über die Hütten« und sobald die lutherische
Reformation den Sonnenschein der Freiheit herauffährte« hörte
alsbald der Kirchen-Gottesdienst für die Bauhütten offiziell
überhaupt auf. Das Bruderbuch von 1563 redet nicht mehr davon«
sondern sagt nur «,vnd wo auch ein paue ist« do man gesellen
fördern mag« da soll auch ein Gottzdienst gehalten werden« von
wegen unser Bruederschafft nach Irem vermegen" und hält
nur ganz neutral darauf« daß man christlich lebe und Jahrs zum
heiligen Sakrament gehe^). Die Religionsspaltung wirkte natür-
lich auch hier und zerriß dann schließlich die Verbindtmg der
Hüttenverbände mit der Kirche vollkommen. In bezug auf die
religiösen Angelegenheiten wurde der deutsche Steinmetzen-
Verband allmählich indifferent.
Auch politisch hielt er seit dem dreißigjährigen Kriege kaum
noch zusammen« und zwar um so weniger« als der Bund wohl
Angehörige aller Religionen tmd Länder in sich hatte; im
16. Jahrhundert begaim der Straßburger Hüttenverband schon
/) Diejenigen, welche» wie Waiden, solche geistigen Bestrebungen
in den Bauhütten ganz leugnen, sollten sich doch einmal Torstellen,
ob es für irgend jemand möglich ist, an den Zeitfragen unberührt
vorüberzugehen. Diese Bauleute hatten doch die Kirchenstrafen und
die Ketzerbrennerei alle Tage vor Augen und sollten davon nicht
berührt gewesen sein, sich keine Meinung gebildet haben? Unmöglich!
') Keller a. a. O. S. 165 ff.; s. Heideloff: Die Bauhütte des
Mittelalters. Nürnberg 1844. S. 15 ff.; Keller in: Monatsh. d. Comenius-
Ges. Bd 7. 1896. S. 26 ff., besonders S. 38i. Gierke: Genossenschafts-
theorie. Bd 1. S. 408, 434.
') Kloss: Die Frmrei in ihrer wahren Bedeutung S. 136. Dort sind
auch alle anderen einschlägigen Stellen zusammengestellt.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 155
ZU verfallen, im 17. Jahrhundert ^g er rasch seinem Ende ent^
gegen, als er die früher streng femgehaltenen Zunftleute (Maurer,
Zimmerleute, usw.) aufnahm und schließlich auch sein eigent'-
liches Haupt verlor, da StraBburg 1681 von den Franzosen ge-
raubt wurde. In der Eidgenossenschaft wurden schon im
Dezember 1522 die Brüderschaften der Steinmetzen verboten.
Am 16. März 1707 veranlaßte der Reichstag zu Regensburg
einen Erlaß, der die Zitation und Evokation vor das Haupthütten-
gericht zu Straßburg für unzulässig erklärte, ein ferlaß, der am
13. Mai 1727 vom Kaiser ratifiziert wurde. Nach einigen
weiteren Reichs-Gesetzen im 18. Jahrhtmdert nahmen sich die
einzelnen Staaten und Städte der Steinmetzenordnung an tmd
allmählich erlosch das Leben in den Batihütten Deutschlands
ganz. Der nordische Verband hat sich^ wenn er je bestand, wohl
schon im 17. Jahrhundert aufgelöst; wir hören nach den Haager
Protokollen nichts mehr von ihm.
Auch andere Handwerke haben neben den alten Stein-
metzenverbänden an der Vorbereitung und Beackerung des
deutsdien Bodens für die Aufnahme des Samens der späteren
englischen Freimaurerei teilgenonunen. Sie waren alle mehr
oder weniger interessiert, nicht nur an den politischen und
religiösen, sondern natürlich auch an den kulturellen Fragen der
Zeit, die sie tmd ihre „Ztmftverwandten ' jeder in seiner Art
zu lösen versuchten. Gerade Detitschland hat darin sehr tief-
gründig gearbeitet. Unter den Gewerken* hatten aber nament-
lich die Hanmierhütten, d. h. die Bergwerke und Schmelz-
hütten ^), denen die Korporation der Mfinzer wieder nahe-
stand, ihre besondere Symbolik, die natürlich von der der Bau-
hütten verschieden war, aber ihr doch ähnelte; hier wurde sehr
die „Scheidektmst" (Chemie-Alchemie) betrieben, so daß man in
den Hammerhütten den praktische^ und philosophischen Aldie-
misten nahe kam und mit den naturphilosophischen Gesell-
^) JEs existierten Korporationen der silvani und montani. Für
Goslar s. Wolfstieg: Verfassungsgeschichte von Goslar; Neuberg: Der
Bergbau von Goslar, wo auch weitere Literatur; Gierke: Genossen-
schaftsrecht. Bd 1. S. 442 £f.
156 Kapitel 7.
Schäften des 17. Jahrhunderts vielfach m Verbindung trat^). Aber
auch diese ,3^imlichkeiten** scheinen zu Zwecken ,4^r alt-
evangelischen Gemeinden" benutzt zu sein. Jedenfalls sind diese
Hammerhütten auf die Vorbereitung und spätere Ausbreitui^
der Frehnaurerei in Deutschland gewiß nicht ganz ohne EhifiuB
geblieben.
10. Sprachgesellschaften. Auch in Deutschland
gab es im 17. Jh. aus den Renaissance-Akademien entstandene
Sozietäten, wie die Rederykerkamers in Holland waren, Sozie-
täten, die auch hier die Form der Sprachgesellschaften annahmen
und unter den verschiedensten Namen, meist aber tmter dem
Titel von Rosen-, Lilien- usw. Brüderschaften oder Zünften auf-
traten. Daß diese Sozietäten lediglich sich mit Versemachen
und sprachlichem Purismus beschäftigt hätten, kann man nach
dem heutigen Stande der Forschung nicht mehr behaupten; jeden-
falls hatten sie ihre Geheimnisse, so groß oder gering sie auch
immer sein mochten^). ,Jnnere Ringe", wie in den Rederyker-
kamers lassen sich allerdings nicht nachweisen; die Mitglieder
kamen selten oder nie zu größeren Versammlungen zu-
sammen, weil sie über ganz Deutschland verstreut waren, unter-
hielten aber eifrige Korrespondenz mit dem Vorsitzenden ihrer
Gesellschaft und tmtereinander und gaben Schriften heraus, die
meist der Überwachung des Vorsitzenden unterlagen, sicher von
^) 8. Keller in: Hohenzollem- Jahrbuch 1906. S. 233 £f,, Märker in:
Zeitschrift L Preuß. Geschichte und Landesurkunde. Bd 3. 1866.
S. 137 £F.. 236 ff.
*) Über die Sprachgesellschaften gibt es eine sehr umfangreiche
Literatur, die man bei Gödeke: Grundriß der Geschichte der deutschen
Dichtung, 2. Aufl. Bd 3. S. 5 ff. verzeichnet findet. Dann schnitt Keller
die Frage wieder an in den Monatsh. d. Comenius-Ges. Jg 16. 1907.
S. 189 ff., worauf Begemann in: ZC. Jg 40. 1911. S. 56 ff. erwiderte.
Sp&ter hat Keller die Frage von Neuem in: Akademien, Logen und
Kammern des 17. und 18. Jh. Jena: Diederichs 1912 behandelt. Auch
die Monatsh. sind voll von größeren und kleineren Beiträgen zu der
Frage. Daß Geheimnisse vorhanden waren, leugnet auch Begemann
nicht ganz; er möchte sie aber verkleinem und als nichtig hinstellen;
Keller vergrößert sie wieder ungebührlich, so daß die Wahrheit in
der Mitte liegt.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 157
ihm zur Keimtiiis genommen, gelobt und getadelt wurden« Die
Gesellschaften übten sowohl durch ihre wissenschaftlichen Werke,
als auch durch ihre Verse, Ratsel^iele, symbolischen Dar-
stellungen und BAder, kurz durch eine eifirig betriebene zweck-
mäßige Agitation in ihrem Sinne einen nicht geringen Einfluß
auf £e Zeitgenossen aus. Sie hingen weder mit den Akademien
der Naturphilosophen, noch mit den im eigentlichen Sinne des
Wortes humanitären Vereinen eines Andreae, 0)menius usw.,
noch auch mit den Bauhütten näher zusammen, wohl aber
standen sie mit den holländischen Kammern schon des gleichen
Ursprunges tmd des gleichen Zweckes wegen in gewissen Ver-
bindtmgen, die wir z. B. bei der Rosen-Gesellschaft des Philipp
V. Zesen direkt nachweisen können^). Wie die Rederykers ver-
treten die Sprachgesellschaften tolerante Gesinnung tmd alt-
evangelischen Glauben und fielen durch, freies Wort und
tugendreiche Tat den Zeitgenossen vorteilhaft auf; die Mit-
glieder nannten sich untereinander Brüder^). Daß sie Zeichen,
Griff und Losungswort hatten, Aufnahme-Gebräuche tmd Ge-
wohnheiten bei Gelegenheiten, z, B. kleineren Zusammen-
künften übten, ist ohne Frage ^); sie scheinen sich dabei stark an
^) Aber auch an anderen Stellen, s. Keller in: Monatsh. d. Comen.-
Ges, 1907. S. 189 ff.
') In einem Briefe an die Frau Christians I. von Anhalt betont
das Fürst Ludwig von Anhalt ausdrücklich: „Insonderheit aber ^immt
es der gantzen Fruchtbringenden Gesellschaft höchlich wunder, das die
Unverenderliche, die lange Zeit über, so sie in diesem Fürstentum
gewonet, so viel sich noch nicht erbauet oder erlernet, das wir in
diesem Lande keine Calvinisten seind noch heißen, ob schon andere
sich Lutheraner und nach Menschen nennen. Ja, es ist bisher
noch keiner mit dem nahmen eines Calvinisten, sondern als ein guter
Christ in die geselschaft auf und eingenommen worden, wird auch
hinfüro mit dem Rottischen Nahmen keiner eingenommen werden."
*) Das gibt selbst Begemann a. a. O. S. 127 Anm. zu, aber er
zieht diese Gebräuche ins Lächerliche und unterstreicht die Hanse -
lung nach der Aufnahme oder bei Tische; man könne solche Gebräuche
unmöglich ernst nehmen. Das verwischt doch nur das Problem. Wenn
Aufnahme-Gebräuche vorhanden gewesen sind, so waren sie auch ernst
und feierlich; die Hänselung entspricht alten Handwerksgebräuchen»
158 Kapitel 7.
die Zunftgebräuche angelehnt zu haben, schlössen wie diese die
Feier mit einem Male, wobei dann der Neuaufgenommene —
wenigstens in der Fruchtbringenden Gesellschaft ist das der Fall
— sich Neckereien gefallen lassen maßte (das sogenannte
Hanseln),
Unter solche literarischen Sozietäten hatten sich, wie
d'Elvert nachweist, die böhmischen Brüder seit dem 15. Jahr-
hundert versteckt Sie befleißigten sich dabei der Musik, der
Literatur und der Dichtung, suchten aber . -yjmehmlich ihr
Streben auf die Förderung der Ehre Gottes, der Tugend und
der guten Sitten zu richten und wünschten mit allen Kräften,
die Eintracht und Liebe unter den Menschen zu vermehren und
auszubreiten^). Der jeweilige Leiter der Societas musica oder
Sodetas poetica in Böhmen hieß Senior und wurde durch (lie
Anrede „Ehrwürden ' ausgezeichnet! Es ist darum kein Wunder,
daß die Kirche seit 1619 energisch gegen sie vorging und sie
zwangsweise in kirchliche Brüderschaften umwandelte.
Die älteste der deutschen Sprachgesellschaften war die
„Fruchtbringende Gesellschaft" später audb der „Teutsche
Palmbaum", im Volke schon früh meist der Palmen-Orden ge-
nannt. Diese Sozietät ist am 24. August 1617 auf dem Schlosse
Homstein von einigen fürstlichen und adligen Herren gegründet
worden und hat sich „anfangs in der enge gehalten", ist aber
bis zum Jahre 1680 bis auf über 800 Mitglieder aus den Reihen
der Fürsten, des Adels, der Gelehrten und der Dichter vermehrt
wordc^. Der Vorsitzende war zuerst bis zu seinem Tode im
Jahre 1629 Herr Kaspar v. Tcutleben, dann der Fürst Ludwig
v. Anhalt (1579 — 1650)*), unter dessen Führung die Gesellschaft
die höchste Blüte erlebte, schließlich Herzog Wilhelm v. Weimar
und Kurfürst August von Sachsen, bei dessen Tode (4. Juni 1680)
der „Palmbaum" erlosch; er soll 1681 mit dem „Orden der Un-
^).s, Keller in: Monatsh. der Comenius-Ges. Bd 11. 1902. S. 234.
') s. über ihn Allg. deutsche Biographie. Bd 19. S. 476 ff. Auch
Ludwig war längere Zeit in Holland und England gewesen. (1596/7.
1604.) Während seines Aufenthalts in Italien wurde er in die Academia.
della crusca aulgenommen (1596).
Der Deismuf in England und seine Geistesverwandten« 159
zertreimlichen*' vereinigt worden sein^). Der wirkliche Zweck
der Gesellschaft ist aus folgenden Worten zu ersehen: Ist also
zu wissen« das . . . tfier&izvaig der löblichen Jugend zu allerley
hohen Tugenden« unterschiedene Academien, die in frembden
L anden« beydes zu erhaltung guten Vertrauens, erbauung wol-
anstandiger Sitten, als nützlicher ausfibung iedes Voldkes
Landes-Sprachen aufgerichtet erwennung geschehen: Dabey
aber femer erwogen worden, weil unsere weitgeehrte hoch-
deutsche Muttersprache, so wol an alter, schonen und zierlichen
Reden« als auch am Überflüsse eigentlicher und wolbedeutlicher
Wort, so iede Sachen besser, als die frembden recht zu ver-
stehen geben können« einen nicht geringen Vorzug hat: das
ebener gestalt darauf mochte gedacht werden, wie eine sothane
Geselschaft zu erwecken und anzustellen, darinnen man in gut
rein deutsch reden« schreiben auch anders, so bey dergleidien
Zusammensetzung und erhebung der Muttersprache (darzu ieder
von Natur verpflichtet) gebräudilich und dienlich vomemen
möchte')."
Also hat die Gesellschaft einen durchaus erziehlichen
Zweck zu der Ausfibtmg der Tugend und zu tadellosem Ge-
brauch der Muttersprache gehabt. Diesem Endzwecke entspricht
auch der Name «^fruchtbringende Gesellschaft", das Symbol
(Gemälde): „ein indianischer Palmen- oder Nußbaum" und das
Motto: ,^Alles zu nutzen." Nichts lehnte Fürst Ludwig eifriger
ab« als eine ««Ordens-Bildung"« wie man sie damals in anderen
') Begemann hat die betreffenden Schriftstücke, die über die
Vereinigung der beiden Gesellschaften sprechen, in: ZC. Jg 40. 1911.
S. 78 für eine Fälschung erklärt; ich komme unten darauf zurück, s.
auch § 6 des Geheimnisses der Meister, wo 1681 für 1671 verbessert
ist. Leibniz war der Ansicht, daß das Streben der Gesellschaft nur
deswegen gescheitert sei, weil sie die deutsche Sprache wohl in der
Dichtkunst, nicht aber in den Wissenschaften und Hauptmaterien ge-
übet und zur Anerkennung gebracht hätte. (Keller in: Mh. d. Com.-
Ges. Bd 12. 1903. S. 152). Das war höchstens einer der Gründe ihres
Unterganges, nicht der Grund.
*) Aus Ludwigs v. Anhalt Vorwort zu dem 1646 erschienenen
Stammbuche der Gesellschaft bei Begemann a. a. 0. S, 88 f.
160 Kapitel 7.
Gesellschaften wohl hatte^), weil er nicht mit ^esen^ aber auch
nicht — das betont er ausdrücklich — mit den bestehenden
Brüderschaften in Gegensatz oder Gemeinschaft geraten wollte').
Aber von einer Sprachgesellschaft allein im wörtlichen Sinne
kann hier auch nicht die Rede sein, weil man nie von sprach-
lichen Leistungen dieser Gesellschaft etwas gehört hat, wie etwa
die der gleichzeitigen Academia della crusca oder der Academie
f rancaise waren, die ein Wörterbuch herausgaben, und weil es
ganz unerklärlich wäre, was die vielen Ausländer, wie König
Gustav Adolf, Bauer, Oxenstiema, Stalhans, Douglas, Sala,
Piccolomini, viele Böhmen tisw. in einer reinen deutschen Ge-
sellschaft anfangen sollten, da sie alle ja gar kein Interesse,
oft sogar wohl gar keine Kenntnis von der deutschen Sprache
hatten« Hille'), welcher fühlen mochte, daß man der Gesellschaft
das entgegenhalten würde, wenn diese etwa behauptete, daß sie
sich lediglich der Sprachreinigimg (Purismus) und des Studiums
der deutschen Sprache tmd Literatur befleißige, wehrte sich aus-
drücklich gegen das «^Ansehen, als ob man durch diese Teutsch-
hertzige Gesellschaft heimliche Verstandniss, so noch zu gemeiner
^) „Den Nahmen des ordens liat man darum von anfang her tind
noch gemieden, von wegen des wortes, das eigentlich nicht deutsch,
und das man nicht in den neid und die misgunst anderer hohen und
niedrigen Vereinigungen und Brüderschaften fallen möchte. Der
Zweck ist allein auf die deutsche spräche und löbliche tugenden, nicht
auf Ritterliche thaten alleine gerichtet, wiewohl auch solche nicht
ausgeschlossen. (Krause: Ertzschrein S. 98). Vgl. auch Begemann
a. a. 0. S. 90 f.
') Begemann a. a. O. S. 91 zieht das zusammen in „Ordens-
brüderschaften", was im Texte nicht steht. „Hohe und niedrige Ver-
einigungen" (Orden) und Brüderschaften sind ansdrücklich
unterschieden. Das ist wichtig. Orden sind offenbar Ritter-
orden und Vereine, die sich als Ritter fühlten und gerierten, z. B. der
Orden der Unzertrennlichen u. a.; als Brüderschaften hat Ludwig die
Hütten (Steinmetzen), die Gilden, die religiösen Brüderschaften usw.
im Auge gehabt. Zwischen beiden wollte er offenbar mitten hindurch,
sich weder von der einen noch von der anderen Gruppe umgarnen
lassen.
') ins der Teutsche Palmbaum. Nürnberg 1647. S. 188.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 151
Wohlfahrti noch der Teutschen Sprache Aufnahme gereichen
möchte, verbindlich auswürken wollte", obgleich damals niemand
die Gesellschaft darum angeklagt hatte. Hier paßt, wie an keinem
anderen Orte das Sprichwort: wer sich entschuldigt, eh' man
klagt . • « . Man hatte eben gerade solche ,4ieimliche Ver-
ständniss", und zwar bestand diese in dem Verfolgen be-
stimmter religiöser oder doch moralischer und sozialer Inter-
essen, vor allem der Durchdringung Deutschlands mit Toleranz
und Frieden tmd der Erziehung der erwachsenen Jugend Wenn
man die Mitgliederliste der Gesellschaft dtu*digeht^), so findet
man darin die Namen der fahrenden Männer, welche den
toleranten und irenischen Ideen der Zeit huldigten, von dem
Brandenburger Kurfürsten bis zu Opitz und Friedrich Logau
hinab^). Diese Gesellschaft war inmitten des dreißigjährigen
Krieges der Mittelpunkt und der Vertreter der Frieden
wünschenden und religiös toleranten, meist protestantischen
Parteigenossen in Deutschland, ja in Europa der Erzieher zur
Tugend inmitten^ wüster Verwilderimg der Nation, die Spitze
einer Partei, die nicht lutherisch und nicht calvinistisch, sondern
evangelisch war: fromme Christen, die jedem christlichen Ge-
bildeten und Leistungsfähigen, wes Standes und Gebtui er auch
war, die Bruderhand zu reichen wünschten, wenn er nur im
altevangelischen Sinne das gleiche Ziel anstreben wollte; auch
toleranten Katholiken öffnete man die Pforten des Rittersaales
in Köthen. Daher auch die vielen Ausländer in diesem Kreise.
Und diesen Zweck hat man im Palmbaum innerlich unermüdlich
verfolgt in Prosa und Dichtktmst, in Rätseln und Bildern, in
^) Sie steht auch in dem leicht zugänglichen Buche von Gödeke:
GrundriB zur Geschichte der deutschen Dichtung, 2. Aufl. Bd 3. S. 7 £f.
') Man wunderte sich in Europa sehr, als die Mitgliederliste ver-
öffentlicht wurde, wie viele Fürsten an dieser Gesellschaft beteiligt
waren. Ob wohl der Große Kurfürst oder der Pfalzgraf, der gerade
das Mittelglied für die Einströmung französischer Sitten und Sprache
war, aus Liebe zur deutschen Sprache oder zur Übung ihrer eigenen
Tugend der Gesellschaft beigetreten sind? Man beachte die Sinn-
gedichte Logaus.
11
162 Kapitel 7.
Zeichen und Symbolen^). Wenn man äußerlich sich auch den
Anschein gab, als achte man auf nichts als auf die Fonn, auf
die Reinheit der Sprache und die Richtigkeit der Orthographie,
als komme man bei den schlechten Zeiten lediglich deswegen
zusammen, um beim Mahle „gütig, frolich, lustig und verträglich
in Worten und wercken [zu] seyn", man hatte tieferliegende
Zwecke. Die Mitglieder besaßen sicher, wie gesagt, ihre „Ge-
heimnisse", die allerdings nicht darin bestanden« daß man
„Niemandem" den Ordenssaal im Kothener Schlosse zeigte oder
daß man die Mitgliederliste sorgsam verbarg, auch nicht darin,
wie man das Glas anfaßte, oder in ,JCulthandlungen"[7]') sich
erlabte, sondern die in dem Ziele der stillen, tmeimüdlichen
Propaganda für ein verständiges, gemutsstärkendes, unpartei-
isches und friedliebendes Christentum lagen, das mehr Wert auf
Tugend als auf Glauben, mehr Wert auf christlichen Wandel
als auf Parteizugehörigkeit legte.
Als der bekannte deutsche Dichter Philipp v. Zesen
(1619 — 1682) von einer Reise nach Holland zurückgekehrt war,
stiftete er mit zwei Freunden am 1. Mai 1643 die „Deutsch-
gesinnte Genossenschaft"^), eine echte Rosengeseü-
^) L, Keller hat das Verdienst, auf diese energisch hingewiesen
zu haben, wenn er auch in ihrer Deutung oft genug fehlgegangen ist.
Namentlich beachte man darauf hin Knesebecks Dreiständige Sinn-
bilder zu fruchtbringendem Nutz. Braunschweig 1643.
*) Von diesen und von einem „Lehrinhalt des Systems", die Keller
herauskonstruieren möchte, kann natürlich gar keine Rede sein, darin
hat Begemann recht. Einige Formen bei Zusammenkünften und Auf-
nahmen haben sie geübt, Decknamen, Worte, Zeichen und vielleicht
auch Griffe haben sie gehabt und geheim gehalten, aber von Kult-
handlungen kann hier keine Rede sein. Die Gesellschaft will ihre
Mitglieder und andere zu Menschentume und Christentume, zu Höflich-
keit und Vaterlandsliebe, zu nationaler Denkweise und nationalem
reinem Schrifttume erziehen.
') s. die schöne Arbeit von Dissel: Philipp v. Zesen und die
deutschgesinnte Genossenschaft. Hamburg. Wilhehnsgymn. OP 1890 BeiL
(715). Daß das Vorbild der Palmenorden gewesen sei, ist nur halb
richtig; wenn der Verf. aber annimmt, die Rosengesellschaft heifie so
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten«^ 163
sdiaft, die sich bis 1708 hielt und 182 Mitglieder gehabt hat«
darunter viele vom Adel, einige Ausländer und auch zwei
Damen ^) ; das niederdeutsche Element ist vorherrschend. Dichter
wie Moscheroschi Joost v« d Vondel, Harsdörffer u. a. gehörten
dieser Gesellschaft an, dagegen kein Fürst, was doch sehr be-
zeichnend ist. Nach Zesens Tode im Jahre 1689 verfiel die
Gesellschaft zusehends. Die Sozietät hatte vier Zünfte: Die
Rosen-, Lilien-, Näglein- und die Rauten-Ztmft'). Interessant ist
es, daß Nicolaus Jungius aus Hamburg 1678 eine poetische Zu-
schrift an Zesen richtete, worin er ihn auffordert, endlich den
Worten die Tat folgen zu lassen, d. h. es möge die Gesellschaft
sich endlich doch an Werken christlicher Liebe betätigen ]. Wie
man diese Gesellschaft doch schon zu ihrer Zeit mißverstand!
Derartige Absichten hatte sie gar nicht oder doch nur ganz
nebenbei. Nach ihren Satztmgen wollte sie die „Allertugend-
baftesten und Allertüchtigsten" gewinnen, um Wissenschaften
und Künste zu pflegen, insbesondere die Pflege der deutschen
Sprache sich angedeihen lassen. Natürlich machte sie die
Übung der Tugend und das Verhältnis brüderlicher Freund-
schaft unter ihren Mitgliedern, die allerdings oft wunderlich
genug aussah^), ihren Genossen zur Pflicht. Aber das war alles
nach dem Orte der Stiftung, einem Garten in Hamburg, so irrt er
direkt. Zesen — der ,,Färtige" nach seinem Gesellschaftsnamen —
hatte wohl Egiantier-Logen in England oder Holland kennen gelernt.
Dissel hat auch die Statuten der Gesellschaft S. 25f, im Auszuge
veröffentlicht, die an sich kaum etwas Merkwürdiges enthalten, außer
daß § 14 von „Rosen- und Liliengenossen" spricht.
^) Auch im Palmbaum waren einige Damen, so die Gemahlin
Herzog August d. J. von Braunschweig, Sophia Elisabeth v. Mecklen-
burg-Güstrow.
^ Ob diese Zünfte Grade sind, wie Keller und Schuster glauben,
wage ich zu bezweifeln; es sind einfach Abteilungen.
*) Dissel a. a. O. S. 47.
*) Es ist erstaunlich, über welchen Quark sich diese „erleuchteten
Geister der Nation" herumzankten. Über die Streitigkeiten, die Zcscn
mit Rist und Harsdörffer (s. über diese Gödeke: Grundriß der Gc-
164 Kapitel 7,
wohl nur Vorwand oder Rückendeckung für den FaU der Not.
Auch hier war der Kampf für Glaubens- und Gewissensfreiheit
und für Beseitigung der trennenden nationaleni kirchlichen und
sozialen Gegensätze die Hauptsache. Denn gerade dafür trat
Zesen in seinen Schriften besonders ein und für solche Ziele
Propaganda zu macheUi war der tmruhige und wanderlustige
Gelehrte und SchriftsteiDer' auch der richtige Mann« In Amster-
dam war er wie zu Hause, verkehrte dort nicht nur mit dem
Bürgermeister Bakker sehr freundschaftlichi sondern auch in
den Kreisen der dortigen Rosengesellschaften tmd Rederyker-
kamers* Er war die Seele der ganzen Sprachreinigungs- und
Toleranzbewegung in Niederdeutschland und blieb der lebendige
Vermittler des Gedankenaustausches zwischen Ost und West.
Selbst bis nach Süddeutschland erstreckte sich sein Einfluß«
Zesen trat auch der «»Fruchtbringenden Gesellschaft" bei, in die
ihn Fürst Ludwig allerdings nur zögernd aufnahm. Es müssen
zwischen ihm tmd dem Fürsten schon bei seiner Aufnahme
Gegensätze bestanden haben, die tiefer gingen, als jene Streite-
reien über Orthographie, die schließlich die Trenntmg Zesens
vom , J'ahnbaum" bewirkten. Der Meister selbst war ein frommer
Mann von entschieden christlicher, aber sehr toleranter Ge-
sinnung, der es wagte, in mehreren Schriften für Glaubens- tmd
Gewissensfreiheit auch offen einzutreten« Bezüglich seines
Lebenswandels sagten ihm seine Feinde und Neider, namentlich
Rist und Harsdörffer viel Böses nach, doch konnte ihm nie
Nachteiliges bewiesen werden. In der Literaturgeschichte nimmt
er keinen hohen Rang ein, doch wird ihm die Geistesgeschichte
dauernd ein Andenken bewahren müssen, weil sein Streben
gesund tmd erfolgreich und seine Stellung mitten zwischen
Deutschland, Holland und England doch ziemlich bedeutend war.
Man könnte hier noch einige andere derartige Tugend-
Gesellschaften mit literarisch-puristischer Außenseite nennen,
wie den „löblichen Hirten tmd Blumen-Orden an der Pegnitz",
schichte der deutschen Dichtung. 2. Aufl. Bd 1 S. 95 ff., 79 ff., 107 ff.)
hatte, mag man bei Dissel a. a, 0. 27 ff. nachlesen.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten, 165
welchen Georg Philipp Harsdörffer im Jahre 1644 in Nürnberg
begründete^), den Elbschwanenorden Rist's') u. a« m.') Aber sie
bieten kaum etwas besonderes dar mid sind, nicht von so be-
deutendem Einflüsse gewesen, wie jene Gesellschaften, die wir
behandelt haben- Daß auch die sogenannte 2. schlesische
Dichterschule solche Sprachgesellschaft mit br* Namen, Geheim-
nissen usw. war, konstatierte schon Direktor Schmidt*). Es ist
überall dasselbe Bild: äußerlich Betrieb deutscher Dichtkunst
und Reinigung der Muttersprache, esoterisch: Pflege löblicher
Tugenden, vornehmlich der Toleranz tmd des reinen Christen-
tums, von denen eben in der Zeit viel die £ede isf^).
In England hat es derartige Sprachgesellschaften wohl
niemals gegeben, da man zu Schäferei, Mummerei und der-
^) Ober Harsdörffer s. Allg. Deutsche Biographie. Bd 10. S. 644,
wo auch weitere Literatur; Goedeke: Grundriß 3' S. 107 £f.; Schuster
a. a. O. Bd 1. S. 546 £f.
') Hansen: Joh. Rist. 1872. S. 16 ff.
') In Jena und Tübingen bestanden Rosengesellschaften, Das
Interessanteste ist wohl, daß Leibniz den Plan zu einer Allgemeinen
Deutschen Gesellschaft gefaßt hat. 1717 gab sein Sekretär Eccard eine
viel früher entstandene Denkschrift heraus: Unvorgreif liehe Ge-
danken betr. Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache,
die vorher den Titel gehabt hatte: betr. die Aufrichtung eines
deutschen Ordens. Dieser Denl^schrift war schon eine andere vorher-
gegangen: Ermahnung an die Teutschen, ihren Verstand und Sprache
besser zu üben, nebst Vorschlag einer teutschgesinnten Gesellschaft.
Aus der Begründung solcher Gesellschaft wurde aber nichts (s. Mh.
d. Comenius-Ges. Jg 12. 1903. S. 149 ff.). Leibniz spricht in seinen
Denkschriften^ die Ansicht aus, daß es vor allem notwendig sei, das
verzagte Gemüt der Deutschen wieder aufzurichten, und deshalb gehe
sein Vorschlag dahin, daß etliche wohlmeinende Personen zusammen-
treten und unter höherem Schutze eine „deutschgesinnte Gesellschaft"
stiften möchten, die dahin zu trachten habe, wie „allerhand nach-
drückliche, nützliche, auch annehmliche Kemschriften in deutscher
Sprache veröffentlicht werden möchten."
*) Monatshefte der Comenius-Gesellschaft, Jg 3. 1912. S. 212.
^) In den Statuten der Deutschgesinnten Gesellschaft bestimmt
der § 3, daß sich jeder Zunftgenosse bemühen soll, „die allertugend-
haftigsten und allertüchtigsten" Leute für die Genossenschaft zu ge>
winnen.
166 Kapitel 7.
artigem Rrlefanz dort zu nüchtem war trnd zu Purismus in der
Sprache sich kein Anlaß fand. Zudem lenkte der Ernst der
Zeit den Blick der Leute auf die Politik lind die religiösen
Kämpfe, Aber die Übung in löblicher Tugend fand auch drüben
Anklang, vor Allem bei den Puritanern und den Deisten, die
ja von Tugend trieften. Die Quäker oder die Gesellschaft der
Freunde, wie sie sich nannte, wollten im Grunde auch nichts
anderes, als diese Dichter tmd Schäfer, nur in anderer Form,
wenn sie durch die Straßen der Städte zogen tmd auf den
Märkten Buße und Evangelium predigten und ein neues Gottes-
reich verkündigten: Erziehung des Volkes zu tüchtigem Leben,
zu nationalem Cluu'akter und religiös-sozialem Empfinden«
IL Eine ganz andere Art von geheimen Gesellschaften des
17. Jahrhunderts waren die sogenannten Orden, deren damals
viele entstanden. Sie waren von größtem Einflüsse für das
Geistesleben in Deutschland und Europa, da sie, wie k^um eine
andere Gemeinschaft, den Boden bereiteten und beackerten, auf
dem nachher die Saat der Humanität ausgesäet werden und flott
erblühen konnte. Diese Orden waren echte Kinder ihres Jahr-
himderts und hatten fast allein im Bürgertume ihre Wurzel. Sie
bilden eine bürgerliche Nachahmung der geistlichen Ritterorden,
find halb Spielerei, halb ernsthaft, haben aber die Zeit begriffen
und wurden von der „Mode" getragen. Denn sie waren ein
Bedürfnis zu emer Zeit, in der die reich und anspruchsvoll ge-
wordenen ritterlichen Verbindungen ihre ursprünglich htunani-
tären Interessen in oft brutale Standesvertretungen verwandelt
hatten und alles von ihrer Fürsorge ausschlössen, was nicht
16 Ahnen au&:uweisen hatte, zu einer Zeit, in der Gilde tmd
Ztmft im Niedergang begriffen waren tmd es eine andere
organische Vertretung modemer bürgerlicher Interessen auf
sozialem und geistigem Gebiete nicht gab.
Die bürgerlichen Ordensgesellschaften dnd in Deutschland
cnf standen und haben, weim wir auf ihren letzten Gnmd zurück-
gehen und uns nicht von der Form täuschen lassen, in der alten
Gilde oder vielmehr in einer Verbindtmg von Zunft und Gilde
ihren Ursprung.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 167
Schon sehr früh war in den reli^ös-sozialen Gilden eine
^wisse Scheidung der geistlichen und weltlichen Elemente, die
beide in ihnen vereinigt waren, eingetretexii indem entweder das
eine oder das andere Element in der einzelnen Gilde mehr in
den Vordergrund trat^). Die Scheidung war jedoch nie voll-
standig und klar. Umgekehrt machte sich in den zuerst rein
gewerblichen Zünften, denen allerdings auch wohl gelegentlich
Nichthandwerker oder Handwerker anderer Gattung beitraten,
in Nachahmung der schon sich umbildenden Gilden das religiöse
Element stärker geltend, so daß schließlich jede Zunft neben
einer gewerblichen auch eine religiöse Einheit bildete mit
eigenem Schutz-Patrone, meist sogar mit einem eigenen Altar
in der Kirche tmd eigenem Geistlichen. Aber in der religiös-
sozialen Gruppe trat dann auch allmählich wieder eine gewisse
Trennung des geistlichen tmd weltlichen Elements ein^), indem
man für die Bräderschaft, die auch den geselligen Teil in der
Zunft leitete und oft mit sinnigen Formen umgab, eigene Be-
amte wählte tmd eigene Statuten bildete. Gilde tmd Zimft waren
tim 1500 kaum noch zu unterscheiden. Auch das künstlerische
Wesen — z. B. der schon genannte Meistergesang') — knüpfte
schon an die Brüderschaft, nicht an die gewerbliche Seite der
Ztmft an. Aber es entwickelte sich ein starker Unterschied
zwischen Gilden und Zünften einerseits und den Bauhütten
andererseits: in diesen standen Meister und Gesellen sozial und
rechtlich gleich, in jenen nicht. Nun bildete aber das Wandern
der Gesellen in Deutschland den Gedanken aus, daß nicht nur die
Steinmetzen, sondern jede Kunst und jedes Gewerk durch das
ganze Reich nur eine große Brüderschaft bilde. Das bewirkte
dann, daß gewissermaßen ein gemeines deutsches Handwerker-
^) Gierke: Genossenschaftsrecht. Bd 1. S. 237.
^) Ebcndas. S. 385 ff.
') s. Keller: Die Kultgesellschaften der deutschen Meistersinger
in: Monatsheft, d. Comen.-Ges. Jg 11. 1902. S. 274 ff. Es ist wichtig,
daß in den Meister-Singer-Gesellschaften die Legende von den vier
Gekrönten wach war. Vergl. Herders feine Bemerkungen darüber
^erke, hrsg. v. Suphän. Bd 24. S. 176.
168 Kapitel 7.
recht und fester Gebrauch in den Formen auch in den
entstand, ein Brauch, dessen Former und Träger aber weniger
die Meister, als viehnehr die Gesellen waren. Dazu kam« daß
man die Macht im Stadtregiment hatte* Jedenfalls stieg das
Selbstbewußtsein des ganzen Handwerkerstandes im 15. und
16. Jahrhundert sehr, beides bei Meister und Gesellen, in Werkstatt
und Rat; man begann sich zu fühlen. Das Handwerk war reich«
organisiert, formensicher — man durfte sich dem „armen Ritter'*
schon ^eichschätzen und gleich halten.
In dieser Zeit änderte sich aber auch der Geist in den hand-
werksmäßigen Brüderschaften und Zünften. In jenen trat ein
Verlangen nach Reformation der Kirche und Vereinfachung des
Glaubens zutage, welches Streben in seinen beiden Seiten die
Kirche als ketzerisch verfolgen zu müssen glaubte^). Die Ge-
sellenschaft wurde um 1500 überhaupt unruhig. Die soziale
Frage klopfte zugleich mit der religiösen an die Pforte der
Herbergen und Werkstätten. Denn in den Zünften und Gilden
trat an die Stelle der freien Einung der Berufsgenossen der Zunft-
geist, die Monopolsucht, das Privileg und die Abgeschlossen-
heit; der Gemeinsinn schlug in Korpsgeist, Egoismus, Ge-
winnsucht tmd Eitelkeit um. Die gewerblichen Genossen-
Schäften entarteten; Reichsgewalt tmd Landesherm hatten in
gleicher Weise oft genug Ursache hier einzugreifen. Auch in
sittlicher und geselliger Beziehung wurde das Zunftleben be-
denklich^); vor allem mußte man von Seiten der Regierungen
gegen die Schmausereien und den Kleiderluxus, gegen die
„läppischen Zeremonien und Komplimente" und die teQs ab-
geschmackten, teils unehrbaren Gebräuche und Possen in dem
Gebahren nicht selten vorgehen. Einsichtige Kreise in der
Bürgerschaft selbst suchten zu bessern tmd zu helfen, so gut sie
^) Vgl. Die Verfolgung der freien Brüderschaften, wie der aus den
Niederlanden stammenden Beghmen und Begharden, der Lollarden,
der Brüder des gemeinsamen Lebens, der böhmischen Brüder usw.
s, Keller: Die Reformation und die älteren Reformationsparteien und
die einzelnen Artikel in Herzogs Realenzyklopädie.
T Gierke a. a. 0. Bd 1. S. 942 H.
Der Deismus in En^and und seine Geistesyerwandten. 1(9
konxiten. Man wollte das wieder durch Veremsgriindungen er-
reichen« Es begann fetzt die Ordensspielerei in dem Bfirgertume
und die „Zunft der Gelehrten ' folgte nicht nur, sondern ging
geradezu voran* Professoren und Dichter bildeten sogar meistens
den Kern dieser nun (um 1500) sich bildenden Orden. So
wunderlich uns heute auch diese Form von sittlich-ernsten
Besserungsversuchen, diese Mischung von Mystik, Alchemie,
Moralphilosophie und mißverstandener theologischer Weisheit
erscheinen mag, es steckte doch tüchtige deutsche Kraft in diesen
Orden und unter den lächerlichen Gebräuchen verbarg sich oft
nicht nur ein gestmder Konservativismus und fromme alt-
evangelische Gesinnung, sondern auch sittliches Bewußtsein und
Streben nach innerer Genesung der kranken Zeit und nach
Befreitmg von staatlicher und kirchlicher Bevormundung und
Tyramiei; gerade in den Orden und Gesellschaften der Bürger
tauchten auch die altevangelischen Gemeinden von dem Beginne
ab bis zur Unitätsbewegimg gern tmter und sie wurden hier
auch verständnisvoll als Brüder aufgenommen tmd geschützt.
Manche Orden haben lange bestanden.
im. Eim^elnen auf diese bürgerlichen Orden und Gesell-
schaften einzugehen, lohnt sich kaum; viel erreicht haben sie
nicht, aber sie haben doch geholfen, die soziale Frage zu lösen
und das Volk zu beruhigen, zum Teil haben sie gelegentlich
Samen ausgestreut, der hie und da aufging, dessen Ernte
aber dann meist andere wieder zertraten und zerstampften.
Denn die Kirchen versagten im 16. Jh. überall, und erst im
dreißigjährigen Kriege haben wir wieder Ursache, den Dorf-
pastoren für ihre treue, selbstlose Fürsorge für ihre Gemeinden
zu danken. Mit der späteren Freimaurerei haben diese bürger-
lichen Orden direkt gar nichts zu tun, höchstens könnten einzelne
Mitglieder derselben später in die Logen eingetreten sein oder
umgekehrt, so daß eine Wechselwirkung an einzelnen Stellen
stattfand.
Interessant sind diese bürgerlichen Orden lediglich in den
Universitätsstädten. Hier entstand eine doppelte Art der-
selben, Studentenorden und akademische Orden. Die ersteren
170 Kafitd 7.
Kod die faofßTCH ttod tretcmwrhf iror dem 18L JJaliilnDdeft an^
aber sie find oe bedeotraderea tnd ▼eraieiie& dfdhalb hier eine
ErwähiiUD^ ww nuui se nut der Freuiuuiieiei n VeiUBdoB^
^bracot hal^ ob^dch ne damit niclits za tmi habpn. Die Shi-
deotoi warn left d^m 13L Jahrlnmdert anf fast aDen Umpuu
taten in Nationen geteilt, ans deom sicfa spSder £e sogenannten
nnd aber« wie Mdners ridit^ bemerkt^ ^mz etwas anderes,
als ds^en^m« anf deroi Knteiinng sicfa &e Verfassm^ der
ältesten itznxzönwAßSi und deutschen Universitäten ^rundete,
und audi ^mz etwas anderes ab die heutigen T . andymannsrJiafif gi
im Verbände des Koburger L. C IXe T-iinHgmjmnarliaftgn des
17. Jahiiuinderts sind vidnidir freie Veririndm^m von Stu-
deuten, meist aus deneVben Gegend unseres Vaterlandes, deren
Prinzip die Freundsdiaft und die g^enseitige Hufe in Krankheit,
Not und Gefahr war. Sie bildeten aus ach heraus — mdst
Sonntags — sogenannte Kranzchen, um zu fediten, zu kneq>en
und jugendlichen Unfug zu treiben. Vielfach von den Ifaiiver-
sitätsbehörden verfolgt, schufen diese Kranzchen, vielldcht
unter geringem Bnflusse der sich ausbildenden deutschen Frei-
maurerei, jedenfalls der 2^it nadi spater als diese*), sogenannte
i^tudenten-Orden", geheime Gesellscfaaften^), mit geheimen oder
öffentlichen Z^dhen, gewählten Beamten, gemeinsamen Kassen,
bestimmten Versammlungen usw. Sie sind aber Gesellschaften,
die niu' Studenten aufnahmen, geheim nur, um ihr mehr oder
weniger wüstes Treiben unter freimaurerisdien, teilweise mißver-
standenen oder halbverstandenen, teilweise absichtlich ver-
änderten oder den Verhältnissen angepaßten Formen fortsetzen
') Fabriciut: Die Studentenorden des 18. Jahrhunderts. Jena
1891; t. auch Wolf stieg's Bibliographie Bd 2. No 42632 ff.
') Meiners: Verfassung und Verwaltung der deutschen Univer-
sitäten. Bd 2. S. 2%.
') Meiners a, a. O. S. 2% sagt: „Auf unserer hohen Schule
(Göttingen) finde ich kein früheres Verbot von Studenten-Orden als
a. d. J. 1748."
*) Meiners a. a. O. S. 297.
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 171
ZU konneiL Mit diesen Studentenorden, den Amicisten^ Esperan-
tisten usw., die sich also nur in den Universitätsstädten finden
und neben den Freimaurer-Logen für sich bestehen, haben wir
kaum etwas zu tun, schon weil sie später sind als die Logen-
Freimaurerei und höchstens von dieser beeinflußt worden sind«
nicht sie beeinflußt haben«
Etwas anderes sind die sogenannten akademischen
Orden, die so wie sie tms entgegentreten, katmi etwas älter
zu sein scheinen, als die Studentenorden. Sie sind aber keine
rein studentischen Verbindungen, sondern vereinigen Professoren,
Studenten und „Philister", welche meist allerdings wohl aus den
Landsmannschaften hervorgegangene, aber ins Philistertum
zurückgekehrte alte Herren sind; inunerhin können auch einige
inunature Bürger der Stadt oder nichtakademische junge Leute
aus den Universitätsstädten unter denen gewesen sein, die da-
mals an den ,J^en" der akademischen Orden teilnahmen«
Wie es scheint, hat man von Braunschweig aus um das Jahr
1740 zur Bildung dieser Orden — wenigstens des Harmonisten-
Orden oder der Schwarzen Brüder — Anstoß gegebexL
Fabricius^) irrt aber, wenn er glaubt, daß auch diese Orden ihren
Ursprung in der Freimaurerei haben. Er nennt die Loge „Crotona
zur Quelle" in Braunschweig als die Mutterloge des Systems;
eine Freimaurer-Loge dieses Namens hat es aber in der
Weifenstadt nie gegeben, es könnte sich also höchstens um eine
Winkelloge oder um ein Gebilde der strikten Observanz
handeln; vielleicht liegt auch nur eine Verwechslung von Haupt-
stadt imd Land Braunschweig vor und der Anstoß ging nicht von
Freimaurern der in der Stadt Braunschweig ansässigen Logen,
sondern von Studenten der Universität Helmstädt aus, die
die freimaurerischen Glocken hatten läuten hören imd nun
einen logenartigen Klub „Crotona" eingerichtet hatten. Der
als Sekretär fungierende Freiherr v. G. ist vielleicht als ein
Girsewald anzusprechen. Die Sache bedarf aber noch dringend
der Untersuchung. Auch sind diese akademischen Orden
^) a.a. O. S. 33; s. auch S. 70 ff.
172 Kapitel 7.
; 7
übrigens älter, als ihr Jenenser Auftreten in den vierziger Jahren
des 18. Jahrhunderts schließen läßt. Sie hängen wahrscheinlich
mit einem Ordenssysteme zusammen, von dem uns neulich der
Zufall^) eine* Gruppe, den Orden der Unzertrennlichen, an zwei
Stellen enthüllt hat. Es fiel uns zuerst ein Gesetzbuch des
Ordens der Unzertrennlichen (Inseparabiles) in die
Hände, das vom höchsten Interesse ist und uns manche Zu-
sammenhänge entschleiern würde, wenn es ganz zuverlässig
wäre. Darin wird Folgendes über die Stiftung der ersten drei
Grade des Ordens behauptet: Der Stiftungstag ist der 24« August
1617 „auf dem Schlosse zu Weimar von dem Durchlauchtigsten
Fürsten tmd Herren, Herrn Johann Ernst dem Jüngeren, Herrn
Friedrich und Herrn Wilhelm Gebrüdem, allerseits Herzogen
zu Sachsen-Weimar, Herrn Ludwig und Herrn Johann-Kasimir,
Fürsten zu Anhalt, dann vom Herrn Dietrich von dem Werther
Obristen, Herrn Friedrich v. Kospoth, Fürstl. Sachs. [Weima-
rischer Kammerrat, Herrn Caspar von Teutleben, Fürstl.]
Sächsischen Hofmeister und Herrn Christoph von Krosigk'). Das
^) Im April 1904 kaufte der J. 0. der Gr. L z. Fn ein Ms. von
einem Herrn A. zu Frankfurt a. M., der es aus den Händen seines
Vaters erhalten hat. Dieser hat es nach des Enkels Wissen wieder
von seinem Vater, dem Hofprediger A. in Dessau, geerbt. Es ist eine
Papierhandschrift in Quer 8°, gebunden in grüner Seide mit der Auf-
schrift VRCI. (Venerabilis Reverenda Confoederatio Inseperabüium)^
mit Kreuz, Totenkopf und Jahreszahl 1778. Die Hds. enthält
Originale und Kopien durcheinander, s. Keller in: Hohenzollem-
Jahrbuch 1906. S. 221 ff. und an vielen Stellen der späteren Monats-
hefte der Comenius-Gesellschaft. Begemann in: ZC. Jg 40. 1911. S. 56 ff.
B. hat alle Aktenstücke, soweit sie Abschriften sind, für gefälscht er-
klärt. Man sieht nicht ein, weshalb; aber es sind einige Abschriften
von echten Akten darin, die auf falsche Dinge [absichtlich?] bezogen
sind, wofür die obige Identifizierung der Fruchtbringenden Gesell-
schaft mit dem Orden der Unzertrennlichen ein Beispiel ist.
') Die in [ ] gesetzten Worte fehlen in unserer Ab-
schrift, stehen aber im Original, das Neumark in seinem Buche „der
Neu-Sprossende Teutsche Palmbaum"« Nürnberg 1668/1673 als Sekretär
der Fruchtbringenden Gesellschaft noch vor sich hatte. Nun behauptet
Begemann, der Verf. habe das Stück aus Neumark abgeschrieben,
also sei das ganze unecht. Die Schlußfolgerung halte ich für falsch;
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten« 173
wären also dieselben Herren, welche die Fruchtbringende Ge-
sellschaft gestiftet haben. Daher sagt auch unser Gesetzbuch:
„Sein eigentlicher Name ist der Palm-Orden oder die Frucht-
bringende Gesellschaf t, mit welcher sich der Orden der Unzer-
trennlichen zu Marburg am Iten May 1671 vereinigte^)/* Der
Orden der Unzertrennlichen gibt sich also als ebenso alt als die
Fruchtbringende Gesellschaft* Ja, das Gesetzbuch behauptet
ßl. 43), daß der 4. Grad Anno 1612 von Henrik Schlick, Graff
zu Passau und Herr zu Weysskirchen gestiftet sei und von ihm
seine Gesetze erhalten habe, und daß 4^r Meister-Grad gar seit
dem 25. August 1577 existiere ßL 39). Im Jahre 1671 soll Dr.
Gerhard Titius SS TheoL Prof. in Acad. Julia: Ord. Fr. Insep.
Praes. d. 30ten Dec. die Vorschriften „Vor die Residenten" er-
lassen haben,' was mit dem angeblichem Datum der Ver-
schmelzung leidlich übereinstimmen würde. Auch liegt tmserem
Gesetzbuche ein chiftrierter Zettel bei, der die Geheimnisse des
5. Grades enthalt und von L C. Baro a Boenebourg') Ord fratr.
man kann auch daraus schließen, daß der Abschreiber dasselbe
Original vor sich hatte, wie Neumark, nur lalsch abschrieb. Recht
scheint Begemann zu haben, wenn er meint, daß diese historische
Darstellung, diese Legende der Herleitung der drei unteren Grade
der Gesellschaft von der Fruchtbringenden Gesellschaft apokryph sei,
was ich allerdings auch glauben möchte. Ebenfalls ist die behauptete
Tatsache der Verschmelzung des Ordens der Unzertrennlichen mit
dem Palmorden am 1. Mai 1671 unhistorisch, weil die Fruchtbringende
Gesellschaft noch bis 1680 Mitglieder aufnahm und in ihren letzten
andere in der Handschrift trägt doch den Charakter des Echten. Das
Ms ist daher als historisches Material sehr vorsichtig zu bewerten.
^) Auch das soll nach Begemann aus Neumark abgeschrieben
sein, weil die Benennung „Palmen-Orden" oder „Palm-Orden" vor
Neumark niemand gebraucht habe, erst durch ihn diese Benennung
widerrechtlich eingeführt und allmählich in der Folgezeit eingebürgert
worden sei. Neumark war doch aber Sekretär der Gesellschaft und
hat sich den Namen Palm-Orden sicher nicht aus den Fingern ge-
sogen. Das Volk hat die Gesellschaft lange vorher so genannt. Aber
unsicher ist diese Nachricht in unserer Hs. auch, s. vorige S. Anm, 2.
*) Es ist der bekannte Freund Leibnizens, der aber bereits am
8. Dez. 1672 verstorben i»t, Ist nun das Datum falsch oder die
Tatsache?
174 Kapitel 7.
iosep. Magister Gotha am 9ten Jtily im Jahre 1676 [!] beg}au1
ist, AuE diesem Zettel steht am Sdiltisse; ,,claB dieser Orden
im Jahre 1580 gestiftet worden, seine Stifter sind: Hehvidb
GraS zu Sdilück, Heinrich Graff Reuss zu Gera und Günther
Graff zu Schwartzburg-RudolfEstadt/' Ferner erfahren wir, „daB
nachstehende Logen ^) im Jahre 1680 errichtet und Ihnen die
benannten Personen vorgesetzt worden als:
Eine Loge zu Jena unter dem Namen Optimae Conf. und
ist als Logen-Meister dahin abgegangen Herr Ernst v. RiedeseL
Zu Helmstaedt ist die Loge unter dem Logen-M« Herren
V. Stein errichtet worden und führet den Namen Vera fratrum
amidtia; die Hauptloge, welche allemal diejenige ist, wo sich der
OrA-M. oder Ober- Vorsteher dieser Gesellschaft der Unzer-
trennlichen befindet, führet den Namen Div.Fr.-),
In Halle ist den 6ten Juny 1680 eine Loge unter dem
Namen Sincera Confoederatio von dem L.-M, Herren Obrist
Lieutnant v. Vitgenhofen [v. Vietinghof] errichtet worden.
Zu Leipzig ist die Loge benant Intima Fratemitas tmter
dem Logen-Meister Herren v. Minckwitz,
Zu Wittenberg heißt die Loge Optima Concordia, welche
von dem Logen-Meister Herren v, Ponickau errichtet worden.
Zu Ronnebiu-g^] ist im Jahr 1680 den 6ten Jan. in der
Loge Felicis Fratemitatis ein von dem damaligen Log.-Meister
Herren Johan Prescher Hoff-Prediger zu gedachtem Ronnburg
verfaßtes und mit Charakteren geschriebenes Ordens-Buch vor-
gefunden worden, in welchem sich viele unserer Brüder mit
schönen Denkäprüchen verewiget schließlich stiftete im
Jahre 1770 der Hochfürstl. Chartoriskische Leib-Medicus und
^) Ich sehe nicht ein, zu welchem Zwecke das alles erlogen sein
sollte. Nur die Daten sind falsch; die Gründung dieser Logen scheint
vordatiert zu sein. Es bedarf noch der Nachprüfung der einzelnen
hier genannten Personen.
') Bedenklich ist, daß die Haupthütte sonst emige Male Divina
Amicitia nicht Divina Fratemitas heiBt. z. B. Bl. 39.
') Ein kleiner Ort im Herzogtum Sachsen-Altenburg. Warum
sollte man gerade diesen Ort bei der Fälschung gewählt haben?
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten* 175
-Physicus zu Corsetz, Herr Dr. Friedrich Erhard Loeber, als
Ordens-Meister dieses Ord d. Unzertrennlichen zu Erfurth eine
Loge unter dem Namen Sincera Concordia und [hat] am
19, Febr. vorgenannten Jahres seinem Vetter, Herren Dr.
Christian Loeber, der bereits im Jahre 1764 zu Dresden in der
Loge Gloriosae Amicitiae, von dem damaligen, nun aber seeligen
Logen-Meister, Herren v. Zettlitz, aufgenonmien worden, laut
nadistehenden Documentisi die Würde eines Ordens-Meisters
kurz vor seinem Ende übertragen . . ." An einer anderen Stelle
des Buches (Bl. 13 v.) hören wir auch noch, daß der Dichter
Geliert Mitglied des Ordens der Unzertrennlichen gewesen ist
und daß man seinen Sterbetag, den 13. Dez., als Gedenktag in
den Logen feiern soll. Dieser ist 1769 gestorben« so daß die
y,Geheinmisse" des 1. Grades auf keinen Fall älter sein können
als 1770, wahrscheinlich aber erst 1777 oder 78 abgefaßt sind.
Wir haben hier also ein vollständiges System eines Ordens
in 5 Graden vor uns, der ursprünglich aus einer der Alchymisten-
(Schmelz-Hütten-)Gruppen entstanden sein soll^), sich nach
lOOjährigem Bestehen an eine der Sprachgesellschaften, wie er
behauptet, anlehnt, mit ihr dann verschmolzen sein will, um
später als akademischer Orden^) weitere htmdert Jahre zu be-
stehen. An sich allerdings ziemlich unwahrscheinlich, aber es
braucht nicht alles erftmden zu sein. Aufnahmen und Beförde-
rungen gehen nicht weiter als bis zum Jahre 1784.
Alfred Tittel veröffentlichte im Jahre 1907 aus dem Archive
der Loge Archimedes in Altenburg ein ganz ähnliches Gesetz-
buch, das die Gesetze des ersten Grades und allgemeine Be-
stimmungen des Ordens der Unzertrennlichen enthält, dem eia
^) Die Schlick in Böhmen, die Renas und die Schwarzburg be-
saßen bedeutende Gruben und Hütten.
') In dem Eide des 1. Grades schwört der Eintretende, daß er
ohne Vorwissen des Ober-Vorstehers (Ordens-Meisters) und des
Direktors (Logen-Meisters) und von ihnen erhaltener Erlaubnis in
keinen akademischen Orden gehen wilL Das bezieht sich
aber nur auf Studenten orden, nicht auf die von uns so genannten
akademischen Orden, die sich selbst ja nicht so nennen.
176 Kapitel 7.
Mitgliederverzeichnis von Brm des ersten Grades aus dem Jahre
1774 bis 1783 angehängt ist. Dieses Buch war 1829 von einem
Amtsrichter Liebing nebst einigen Dokumenten eingesandt
worden, die sich auch auf den Orden der Hoffnung (Esperance-
Loge) tmd den Orden Virtus et honor beziehen. Unter dem
Titelblatte des Gesetzbuches steht die Notiz von anderer Hand:
,iSB, Nachstehende Gesetze der unzertrennlichen Brüder sind
nicht aecht, sie wurden bey Errichtung einer Loge denen Be-
kennem hierzu auf eine gute Art entrissen, um allen ferneren
Mißbrauch zuvorzukommen. Cahla dt. 19. Febr. 1786 in R. L F.
Johann Christian Friedrich Stopfel L. Secretair." Daß es sich
hier um einen rein akademischen Orden handelt, sieht man in
den Gesetzen an den verschiedenen Stellen.
Der Zweck des Ordens, dessen angebliche Gesetze und
Geheimnisse wir vor uns haben, ist Bruderliebe, Übtmg in der
Tugend und deren praktische Betätigtmg. Religion, Tugend und
Freundschaft ist die eigentliche Losung der Gesellschaft Auf
Herkunft, Stand tmd Religionsbekenntnis der Mitglieder wird
kein Wert gelegt. Daß der Orden besondere Kulthandlungen
vollzogen hat, ist dadurch sicher gestellt, daß ein Ordens-Altar
im Berliner Gesetzbuche mehrere Male erwähnt wird. Jeder
Grad scheint nun außer der allgememen Aufgabe ein besonderes
Ziel gehabt zu haben; der 1. Grad lehrt die allgemeinen Prin-
zipien des Ordens, der 2. befestigt sie, fuhrt tüchtige Leute der
Gesellschaft zu tmd sorgt für die Atifnahme in die Gesellschaft,
daneben sollen die Brr. deutsche Reden halten tmd Gedichte
machen. Vom 3. Grade wird verlangt, daß seine Mitglieder
Brüder atifnehmen und Logen an Orten errichten, wo noch keine
sind; in den Gesellschaften soll es ihnen obliegen, „tmsere hoch-
geehrte Mutter-Sprache ohne Einmischtmg fremder auswärtiger
Flickwörter sowohl in Reden, Schreiben tmd Gedichten aufs
allerzier- tmd deutlichste zu erhalten tmd auszuüben . . ." Hier
tritt jene Aufgabe hervor, welche die Sprachgesellschaft den
Unzertrennlichen hinterlassen haben soll. Der 4. Grad, welcher
den Senat bildet, erhält in Vorschrift Nr. VI und VII den Atiftrag:
,J)aß die Stifter dieses Btmdes tmd vorzüglich des IV. Grades
Der Deismus in England und seine Geistesverwandten. 177
die Verehrung GotteSi die Ausbreitung der Religioni Freund-
schaft und Wissenschaften gehabt und dch bemühet Gott aus
den Wercken der Natur zu erlernen. — Eben daher haben Sie
die Scheidekunst und höhere Behandlung der Erzte [siel] fleißig
betrieben und sind oft glücklich gewesen« in das Innere der
Natur emzudringen/' Der fünfte Grad hat eigentlich nicht recht
Sinn und Platz und scheint in späterer Zeit auch nicht ins Leben
getreten zu sein; er hat nur ganz allgemeine Aufgaben«
Was die Verfassung betrifft, so hat der Orden seinen
Ordens-Meister, neben dem der Senat seines Amtes als höchster
Ordensrat waltet Jede Loge hat ihren Logbnmeister, Redi^er
und Sekretär, daneben aber ist auch in jeder Loge einem jeden
Grade ein Vorsteher (Senior, Altbruder) vorgesetzt, welcher im
Senate des Ordens Sitz und Stimme hat
Es ist klar, daß der historische Teil des Berliner Gesetz-
buches zum größten TeUe auf Legende beruht; doch ist ein
höheres Alter des Ordens der Unzertrennlichen, als das Jahr
1774 nicht ausgeschlossen* Daß gewisse Zusammenhänge
zwischen den Sprachgesellschaften tmd den Gesellschaften der
Naturphüosophen auf der einen Seite und diesem späteren aka-
demischen Orden auf der anderen besteh*en, scheint sicher zu
sein und nimmt auch Fabridus^) als wahrscheinlich an.
12« Das so reiche und bunte Leben der geheimen Gesell-
schaften in Deutschland und Holland hat ebensowenig verfehlt
ESnfluß auf England auszuüben, wie das Umgekehrte der Fall
Ist. Die Fäden liefen im 16* und noch mehr im 17. Jahrhundert
hin und her. Schiffer, Studenten und Gelehrte — viele Eng-
länder studierten in Leyden — tmd wandernde Handwerks-
gesellen, schließlich auch Soldaten und Flüchtlinge vermittelten
den Verkehr. Welchen Einfluß hat nicht ein Mann wie Prinz
Kupprecht von der Pfalz allein auf das Geistesleben Englands
ausgeübt! Die Korrespondenzen, die Zeitschriften, endlich die
Zeitungen beginnen zu wirken. Es findet ein lebhafter Austausch
von Geistesprodukten statt, deren Wirkung auf Zeit und Ent-
^) a. a. 0. S. 33; v^. auch S. 70 ff.
12
178 Kapit«! 8.
widLelung immer deuQicher wird Und aUe Welt erfBllt sich
mit irenischen mid deistischen Ideen; die Atifldärung tritt um
1650 in ihre Mittagshöhe^ Schlagworte wie Freiheit und Humani-
tät sind im Munde aller Gebildeten, Sie herrsdien« wirken und
tragen ihre Frfichte.
Kapitel 8.
Die wirtschaftliche Entvdckelung, vornehmlich
Englands.
1, Einleitung. Wie überall, so war auch in England in
der ersten Hälfte des Mittelalters die EntwickeluBg eine rein
agrarische gewesen. Der Landbau ernährte die Bevölkerung,
die Städte waren wenig zahlreich und eigentlich mehr größere
Marktflecken als wirkliche Städte. Von Handel, Schiffahrt und
Industrie war in England noch wenig die Rede; auch in den
Städten waren außer den Geistlichen und den Rittern die meist^i
Bewohner Ackerbfirger, selbst in dem Falle, daß sie nebenbei
ein Handwerk trieben. Handwerker gab es überdies auch auf
allen Dörfern, aber m Stadt und Land arbeiteten diese nur auf
Bestellung, selten auf Vorrat,
Die Bevölkerung des platten Landes bestand um d. J. 1000
zum größten Teile aus hörigen oder halbhörigen Leuten, die auf
den Höfen der Gnmdherm als Knechte oder von ihren Kötten
aus als dienstpflidhtige Mannen oder als Pächter ihr eigenes ge-
ringes Land und die Fluren des Grundherrn bearbeiteten. Frei-
sassen gab es ver^dtnismäßig nur wenige; der Grundherr besaß
aber auch über diese, wie fiber alle anderen Einwohner des
Dorfes gewisse wichtige tmd wesentliche Rechte. Doch nahm
die Zahl der Freisassen allmählich zu; das Wochenwerk und die
Frontage des Halbhörigen wurden in Geldleisttmg umgewandelt,
womit eine Erhebung der Dienstlehen in freie Lehen Hand in
/
Die wirtschaftliche Eatwickelimg, voniehmlich Enilands. 179
Hand gixig. Mit der Freiheit und Verantwortlichkeit begann
aber auch, namentlich bei Mißernten und in Kriegszeiten die
wirtschaftliche Not der Leute. Es tauchte allmählich eine Klasse
von Bauern auf, die sich von den Erträgen ihres Besitzes nicht
ernähren konnten und ganz oder zum Teil doch auf den Lohn
angewiesen waren, den sie ffir ihre Feldarbeit auf den Feldern
des Grundherrn oder auf dem Hofe als Handwerker empfingen^).
Dennoch drängte man immer vorwärts zur Losl5sung der Halb-
freien und Hörigen von der Herrschaft. Dieser Umwandlungs-
prozeB begann schon vor der Eroberung der Normannen, die
diese Entwickelung zur Freiheit wunderbarer Weise eher be-
gfinstigt, als verhindert haben. Ja, mit Beginn des 13. Jahrhtmderts
werden durch Ablösung aller Dienstleistungen durch Geld
xnimer mehr Dienstbauem zu Freibauern; viel Weideland wird
verpachtet und selbst die Herren geben Teile ihres Sallandes
in Pacht oder Erbpacht. Das vollzog sich in den Flecken und
Städten noch früher als auf dem Lande, aber auch hier zeigte
sich ein leidlicher Fortschritt in dieser Hinsicht. Jedes Dorf
hatte seit dem 12. Jahrhundert seine .Kirche und seit dem
13« Jahrhundert meist sogar seinen Kramladen, wenn auch
Handel und Wandel noch eingeschränkt tmd schwach blieb.
Das Mehr an Produkten tmd Vieh, das der landwirtschaftliche
Betrieb auf dem Lande erzeugte, sowie die geringen Erzeugnisse
der Hausindustrie, meist Wollen- und Leinenwand und Leder,
schickte man einfach auf den Markt der nächsten Stadt oder
auf die Messe zum freihändigen Verkai ?e direkt an den Konsu-
menten, kaum je weiter hinaus. So ist der Handel selbst noch
im 12. Jahrhundert mehr munizipal als national^).
2. Handel und Hand'werk, Seit dem 11. Jh. zu-
nehmend bis zum 13. Jh. beginnt aber auch in England die
^) 8. über diese Dinge Ashley: Englische Wirtschaftsgeschichte,
übers, von Oppenheim. Bd 1. 18%. S, 3 ff.; Cunningham: Ent-
wickelung der Industrie und des Handels in England, übers, von
Wilmanns. Halle 1912. S. 3. 251 ff.
*) Cunningham a. a. 0. S. 217,
12*
180 Kapitel 8.
wichtigste Veränderung der ganzen europäischen Welt, der Über-
gang der Naturalwirtschaft in Geld Wirtschaft^). Diese
Umwandlung bewirkte namentlich der Einfluß und das An-
wachsen der Städte. Es gab in England zur Zeit der nor-
mannischen Eroberung etwa 80 Städte, tmter denen London^
Winchester, Bristol, Norwich, York imd Lincoln die größten
waren; die anderen sind nur etwas bedeutendere Dörfer mit
Märkten gewesen. Diese Städte waren der Mittelpunkt des noch
sehr geringen Binnenhandels, der sich, wie wir sahen, damals
erst langsam entwickelte. Gewisse Erzeugnisse, welche früher
allein die Hausindustrie fabrizierte, allmählich aber nicht mehr
in zureichendem Maße herzustellen vermochte, stellten in den
Städten ntm im Laufe der Zeit fachmännisch gewordene Hand-
werker her, obgleich bis zum Ende des Mittelalters das meiste
nach England noch von fremden Kaufleuten aus Flandern«
Frankreich und vornehmlich aus Deutschland eingeführt
wm-de^). Denn so gering auch der Handel von England nach
dem Kontinent noch im 13. und 14 Jahrhundert war, so stark
war er umgekehrt vom Kontinent nach der Insel, so daß
England in kommerzieller und industrieller Hinsicht während
des ganzen Mittelalters dem mittleren und westlichen Europa
nachstand tmd unterlegen blieb. Doch schädigte das die
englischen Kaufleute nicht allzu sehr, da diese in den
Städten Englands damals noch Handelsmonopol genossen«
so daß ihnen der Binnenhandel tmd der Detailhandel auf jeden
Fall ungeschmälert blieb. Solche Leute in der Stadt, die dem
Stande der mercers oder grocers nicht angehörten, — mochten
sie nun fremde Kaufleute oder einheimische Handwerker sein —
hatten lediglich die Befugnis zum Ein- und Verkaufe vonLebens-
^) Der deutsche Nationalökonom Hildebrand, der zuerst auf diese
wichtige Tatsache aufmerksam machte, versteht darunter die Ent-
wickelung einer Gesellschaft, in welcher der Austausch und die Ver-
teilung von Gütern gewöhnlich durch Metall als Umlaufsmittel bewirkt
oder durch Ausdrücke zur Anschauung gebracht wird, die solche
Werte bezeichnen. Ashley L S. ^4.
') Cunningham a. a. 0. S. 226.
Die wirtscHaftliclie Entwickelunj, vornehmlich Englands. 181
^ ' 4
mittein ^). Namentlich die Londoner Kaufleute achteten auf ihr
Handelsmonopol in der Stadt und nach dem Lande eifersüchtig.
Mochten die deutschen, die flandrischen und die venetianischen
Kaufleute Waren einführen, soviel und welche sie wollten, die
Londoner Kaufleute ließen sich den Zwischenhandel nicht
nehmen und führten die Waren so schnell als möglich mit vielem
Gewinne nach dem Inlande ab, wo wieder kleinere mercatores
sie auf den Märkten der Grafschaften ins Publikum brachten.
Darum wurden die Kaufleute schnell die reichste, vornehmste
und einflußreichste Klasse der städtischen Bevölkerung Eng-
lands^). Die Handwerker, die Leute „mit der schmutzigen Hand"
und „mit den blauen Nägeln"^) galten sozial weniger und waren
wirtschaftlich weniger leistungsfähig als die Kaufleute. Un-
zweifelhaft ist übrigens auch die große Masse der Handwerker
in den Städten ursprünglich aus Hörigen oder Halbhörigen
hervorgegangen*); sie waren also von vornherein ungünstiger
gestellt tmd auf schwächerer Grundlage stehend, als die freien
Handler; aber es waren doch nicht bloß Unfreie, die das Hand-
werk in den Städten betrieben, sondern auch freie Vollbürger,
IXese Leute hatten den Gewerbebetrieb dann aus eigenem Recht
und besaßen vollkommene Gewerbefreiheit wenigstens innerhalb
der Stadtmauern oder in ihrem Bezirke, während die fremden
Handwerker und die Unfreien, die vom Lande in die Stadt
kamen, tun ein Handwerk zu betreiben, sich das Recht des
Gewerbebetriebes von dem Herrn der Stadt — also dem König,
^) Doch bezeichnet es Below (Hi§tor. Zeitschr, Bd 109. 1912.
S. 38) als ein altes Recht der Handwerker, sich die Rohstofie selber
zu beschaffen, was nach einer Urkunde für die Basler Kürschner 1226
den Zunftmitgliedem ausdrücklich zuerkannt wird.
') Es war namentlich Eduard lü., der eine zielbewußte Handels-
politik trieb, einmal weil er aus den steigenden Zöllen starke Ein-
nahmen für die Staatskasse erhoffte, dann aber, weil er darin ein
Mittel sah, alle Arten von Gütern, die England selbst nicht erzeugte,
zu billigen Preisen zu erwerben. Pauli: Bilder aus Alt-England.
2. Aufl. S. 393.
') Brentano: Arbeitergilden, Bd 1. S. 36.
*) Cunningham a. a. O. S. 348.
laZ Kapitel B.
■ -- - - - — - — — - — ■ —
dem Grundherrn oder dem Bischof — nidht nm- erst sdiwer
erkaufen mußteni sondern auch meist erst lange, vielleicht oft
ihr ganzes Leben lang als Arbeiter, Knechte und dgl. bei Hand-
werkern dienen, weil sie sich nicht selbständig zu machen ver-
mochten« Denn die ansässigen Handwerker in der Stadt hatten
immer das Bestreben, unbequeme Konkurrenz, sei es von neu
anziehenden Gewerksgenossen, sei es von Fremden oder von
Mitgliedern der Stadtgemeinde, die sich ihrem Handwerke zu-
wandten, von sidh fernzuhalten«
Der Handwerksbetrieb war zuerst der reine Familien-
betrieb gewesen, aber schon im 11« und 12. Jahrhundert ging
man zu fachmannischem Meisterbetrieb fiber. Der Handwerker
hatte nun seine Werkstatt, oft fachkundige Gesellen, sicher Lehr-
linge und Knechte, empfing aber noch von dem Besteller meist
das Rohmaterial zur Bearbeitung und gab ihnen die daraus ver-
fertigte Ware zurfick* Erst später arbeitete man mit eigenem
Material« In dieser Zeit des Überganges von einem zum anderen
Systeme beginnt auch die strenge Teilung der Besdiäftigungs-
arten; es trennte sich z. B. der freemason vom rough mason,
Zimmermann und Dachdecker, der Schmied vom Schlosser usw«
Es konnten sich sogar im 12. Jahrhundert Keime bilden, die
langsam zu einer wirklichen Industrie führten, welche es wagte,
nicht nur auf Bestelltmg, sondern auch auf Vorrat zu arbeiten«
In England waren wie in Deutschland in dieser Hinsicht die
Weber allen voran, die die Mitte hielten zwischen Kaufleuten
und Handwerkern, Indem diese das Hauptprodukt der Land-
wirtschaft, die Wolle, aufkauften und in größeren Massen ver-
arbeiteten, wurden sie zu Tuchfabrikanten, die naturlich ihre
Fabrikate auch weiterhin zu verhandeln trachteten^)« Für den
so vergrößerten Betrieb benötigten sie aber eine ^roße Menge
von Arbeitskräften, die sie nur vom Lande beziehen konnten
tmd tatsächlich auch daher bezogen; viele der übrigen Gewerke
I ^) Sie verteidigten damit auch nur ein altes Recht der Hand-
werker, ihre eigenen Produkte frei zu verkaufen, was ihnen aber
die Kaufleute bestritten, indem sie sie vom Markt zu verdrängen ver-
Jauchten. Below a. a. 0. S< 37.
Die wirUchaftliclie Eatwickeltmtf, vornehmlicli Englands« 183
folgten durch Ausdehnung ihres Betriebes ihrem Beispiele.
MLenhaft strömten nun wieder Lohnarbeiter vom La2 in
die Städte, Leute, die für ihr tagliches Brot in Werkstätten und
Fabriken anderer verdienten und ^niemals Recht und Aussicht
hatten, selbständig und freie Meister zu werden« ja die man auch
mit aller Kraft verhinderte, sich selbständig zu machen^). So
entstand neben reicher werdenden Industriellen und selb-
ständigen Handwerkern ein Proletariat, d« h, ein städtischer
Arbeiterstand, der seit dem 14. Jahrhtmdert dauernd unruhig
wurde und besondere Maßregeln erheischte^).
3. Arbeiter und Kapitalisten. Als im Jahre
1349 der schwarze Tod, die Pest durch ganz Europa zog,
wollte, wie wir schon sahen, fast niemand auf der Insel
mehr arbeiten außer um enormen Lohn. AUe bestehenden Ver-
hältnisse drohten sich aufzulösen^). Die Preise der Lebensmittel
stiegen sehr, und infolgedessen auch die Löhne. Die Fest-
setzung der Lohntaxen war damals eigentlich Sache der städti-
schen Behörden — wir besitzen z. B. noch den Tarif, der nach
dem großen Londoner Brande von 1212 für die Bauhandwerker
erlassen wurde^) — , aber seit dem 14. Jahrhundert wurde die
Lohnpolitik von der Regierung tmd dem Parlament im Ganzen
in die Hand genommen. Bis in die achtziger Jahre hinein verlief
last keine Parlaments-Session, in der nicht die Lohnfrage be-
handelt wurde. Durch die Pest wurde nun die Arbeiter- imd
Lohn-Frage besonders brennend. Damals müssen jedenfalls eine
^roBe Menge deutscher Handwerker tmd Arbeiter, namentlich
^) Brentano: Arbeitergilden L S, 61 f. Die Artikel der Londoner
Klingenschmiede von 1406 bestimmen, daß niemand von dem be-
sagten Gewerbe seinen Arbeitern das Gewerbe-Geheimnis lehren
soll, wie er es seinem Lehrling lehren wfirde, bei der vor-
gesagten Strafe. Das bestimmen dann auch alle Statuten der Gewerke
und auch die Steinmetzen betonen das wiederholt.
*) 8. Cunningham a. a. 0. S. 511 ff.
*) Brentano: Arbeitergilden L S. 63. s. auch Cunningham a. a. O.
S. 386 ff. Dieser behauptet« daß fast die Hälfte der Bevölkerung
En^ands 1349 hinweggerafft wurde.
«) s. Sonnenkalb in: ZC. NF. DI. 1911. S. 61 ff.
184 Kapitel 8.
auch Steinmeta^en, nach England gewandert sein, da für diese bei
der Batilust Eduards und auch Richards für lange Zeit Arbeit und
hoher Verdienst vorhanden war. Die deutschen Namen nehmen
in den Urkunden der Zeit gewaltig zu^). Die Lohnstreitigkeiten
verschwanden aber trotz der Vermehrung des Arbeitsangebots
nicht wieder von der Tagesordnung und der Kampf darum findet
auch in den Urktmden der Steinmetzen immer wieder seinen
Ausdruck« Man gab schließlich den Forderungen der Arbeiter
in etwas nach und ließ den Friedensrichtem Vollmachten zu-
stellen, daß sie den ortsüblichen Tagelohn von sich aus fest-
zusetzen vermochten'). Das machte die Losung der Frage
leichter.
Die Zeit des 15. Jahrhunderts war die Blüte der Volks-
wirtschaft in England, wenigstens in den Städten'); dadurch
wuchs aber nur die Ungleichheit in der Einwohnerschaft. Schon
während des 14. Jahrhunderts war eine Klasse reicher Bürger
über die andern sichtlich emporgekommen und diese mehrte
sich im 15. Jahrhundert zusehends. Handel und Gewerke
blühten tmd die Bevölkerung in den Städten nahm gewaltig zu,
ohne daß die Vermehrung der Arbeitsgelegenheit von einer
wesentlichen Vervollkomnmung der Produktionsmittel begleitet
gewesen wäre*). Während also eine erhöhte Nachfrage nach
Waren entstand, die man nicht durch maschinelle Ein-
richtungen herzustellen wußte, wurden immer mehr Arbeiter
gebraucht und die Verhältniszahl von Kapitalisten zu Arbeitern,
der Abstand von Arm und Reich wurde inuner ungünstiger und
ungesunder, auch unter den beim Bau beschäftigten Personen.
Die großen Bauten, namentlich die Staats- und Kirchenbauten,
nahmen ebenfalls noch immer gewaltig zu, so daß dauernd
mehr Bauarbeiter und Bauhandwerker gebraucht wurden. Bn
sicheres Kennzeichen für das stetige Anwachsen der Bevölkerung
*) s. Schanz: Englische Handelspolitik. Bd 1, S. 659.
'') 13. Rieh. n. stat. 1 cap. 8. 1389/90. Schanz a. a. 0. 1. S. 66U
') Ashiey a. a. O. ü. S. 50. Der Zeitraum von 1350 bis 1550 ist
der eines fortdauernden Anwachsens des städtischen Wohlstandes.
*) Cunningham a. a. O. S. 516.
Die wirtschaftliche Entwickelung, vornehmlich Englands. 185
in den Städten ist die immer zunehmende, ein Merkmal für das
Größerwerden der sozialen Kluft die immer reicher werdende
Ausgestaltung der privaten Bautätigkeit Diese Anzeichen waren
in jener Periode beide vorhanden. Allein bei dieser privaten
Bautätigkeit werden weniger Steinmetzen« Architekten und
Kunstler Verwendung gefunden haben, als bloße Maurer und
Zimmerleute; denn, wie Macaulay zeigt, bestand London noch
beim Brande von 1^66 aus lauter Lehmhäusem tmd Fach-
werkbauten, die in ihrer größten Mehrzahl im 14. und 15. Jahr-
hundert entstanden sein müssen^). In anderen Städten wird
der Zustand der Privathäuser kaum besser gewesen sein, als
in der Hauptstadt. Aber ein Emporblähen des Steuimetzen-
werkes zeigte sich doch überall. Glücklicherweise würde
wenigstens damals der soziale Abstand zwischen den einzelnen
Klassen der Bauhandwerker, namentlich unter den Steinmetzen
nidht so schroff, wie in anderen Gewerben; aber Lohnstreitig-
keiten und Schwierigkeiten hat es auch hier genug gegeben^
Wir kommen im Einzelnen unten im § 8 darauf zurück.
3. Im 15. Jahrhundert trat den Fremden gegenüber eine
Änderung der englischen Politik ein. Diese, vor allem die aus-
landischen Kaufleute, waren unter den Plantagenets, wie wir
sahen, den englischen Bürgern keineswegs unwillkommen ge-
wesen, da sie viele Vorteile brachten; doch betrachteten die
englischen Kaufleute sie mit beständigem Argwohne, damit es
jenen nicht etwa gelänge, ihnen das Monopol des einheimischen
Binnenhandels zu entreißen, was sie natürlich immer und immer
wieder versuchten*). Auch die Handwerker begannen allmählich
auf die Konkurrenz der Fremden eifersüchtig zu werden, so daß
auf ihre Veranlassung endlich das Parlament den Fremden ver-
bot, als Arbeitgeber ein Gewerbe zu betreiben. Doch nahmen
die Könige tmd die Agrarier sich nach wie vor der Fremden
sehr an, weil die Fremden gute Preise für die Bodenerzeugnisse
^) So auch bei Harrison zur Zeit der Elisabeth, s. Ehrenbergr
Hamburg und England, 1896, S. 2. '
*) Ashley a. a. O. L S. 104. Cunningham a, a. O. 459. 502.
186 Kapitel &
und bedeutende Steuern und Scfautzgelder zahlten. Um 1140
schon sagt Wilhehn v. Mc^Imesbury, daB London angefüllt sei
mit Kaufleuten aus der Fremde, vomehmtich aber aus Deutsch-
land; ja bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts lag die Ausfuhr
der englischen Landesprodukte fast ganz in ihren Händen; dann
begannen allerdings auch die Engländer selbst sich ihrerseits
mit dem Ausfuhrgeschäfte zu befassen« Immer aber blieb auch
damals noch der Handel der Fremden ganz bedeutend; sie ge-
nossen noch im 14. Jahrhtmdert völlige Handelsfreiheit tmd das
Stapelrecht, das sich die Deutschen allerdings nicht zum
wenigsten dadurch erkauften« daß sie den Konigen in ihrer
Geldnot mit ihren reichen Mitteln beisprangen ^). Die Fremden
\katten lange Jahrhunderte eigene Niederlasstmgen, so die
Deutschen im „Stalhof in London". Aber es wurde immer
deutlicher, daß ihre Privilegien den Wohlstand Englands stark
beeinträchtigten, die Städte klagten; endlich gelang es im Jahre
1393 ein Gesetz durchzubringen, das den Fremden verbot«
untereinander in Handelsverbindungen zu treten tmd Klein-
handel zu betreiben. Andere Gesetze folgten. J)as traf sie
allerdings noch nicht schwer; denn die Fremden trachteten
doch weniger nach dem Detailljandel, als nach dem Großhandel:
die Lombarden nach demBankgeschäfte, dieHanseaten nach dem
Seehandel von Lande zu Land und nach dem Speditionsgeschäfte«
Der Anfang des 15- Jahrhunderts war sogar noch eine Blütezeit
deutschen Handels in En^and, aber der Wurm war doch durch
jene Gesetze des ausgehenden 14. Jahrhunderts in den stolzen
Bau ihrer englischen Beziehungen hineingekommen. Das Ver-
Mltnis der deutschen Kaufleute und Handwerker zu der Krone,
dem Parlamente und den Bürgern gestaltete sich zusehends
unfreundlicher. Unter Richard DI. wurde auf eine Petition der
Bürger hin den Fremden schließlich ganz untersagt, Handwerk
in England auszuüben, und sie sahen sich gezwungen« ihre Waren
^) Pauli: Bilder aus Alt-England. S. 164 und 176 ff. 1342 lösten
dem Könige Eduard IIL die Hanseaten hochherzig seine in Köln ver-
pfändeten, aber verfallenen Kronjuwelen aus und nahmen seine
Schulden in Deutschland ganz auf sich.
Die wirtsdufüidie Eotwiekcfanig, ▼omclmilidi EnflanH«, 187
im Grofihandel bumen 8 Mcmaten vom Landm^sta^ ab zu
verkaufen^). Seitdem nahm der ZuflnB der Fremden mid ihre
Bnwirkuig ab; endDidi im Jahre 1598 wurde der Stalhof ganz
au^ehoben und damit der Handel der mäditigsten Verbindung
vollständig unterbunden« Was müssen dBese deutsdien Kaufleute
und Handwerker im 14,, 15. und 16. Jahrhundert (fir einen Bn-
fluß in England ausgeübt haben, wenn das Volk ein ganzes Jahr-
hundert zu kampien hatte« um ihre Konkurrenz zu bedegenl')
Audi die englisdien Steinmetzen konnten sidi dem deutsdien
Einflüsse nidit entziehen, sdion weil die deutsdie Kunst im
Bauwerke als die beste galt und die deutsdien Stemmetzen als
die tfiditi^ten angesehen wurden. Der Baumeister Eduards DL,
Yevelei tragt nodi einen markant suddeutsdien Namen. Man
kann sidi danadi leidit vorstellen, weldie kulturelle Bn-
wirktmg dieser lebhafte Verkehr mit dem Auslande auf die
Anschauung, auf die ästhetisdie Auffassung und namentlidi
auf die Tedmik in England ausübte. Idi weise darauf hin des
Bauhandwerks wegen« Wenn man mandie gesdiiditlidien Dar-
stellungen der Freimaurerei liest, so hat man immer das Ge&Qil,
als sei England ein voll^ isoliertes Land gewesen und habe sidi
selbständig von innen heraus, ohne jede fremde Beeinflussung
^) Cimniii^am a« a. O. S. 503.
*) Im Jalire 1577 legte schon die Mickleton Jury zu Nottingham
sogar Einspruch dagegen ein, daß Fremde zu englischen Bürgern ge-
macht wurden, wie das früher oft geschehen war. „Wir tragen hiermit
darauf an, daß Fremde ffirderhin nicht zu Bfirgem gemacht werden,
es sei denn, daß sie 10 £ bezahlen und keinen Pfennig weniger;
denn es gibt der Bürger schon yiele, und durch die Zulassung neuer
Bürger wird das Gemeindeland der Armen ausgesogen zum großen
Nachteil aller. Wir verlangen daher, Herr Bürgermeister, daß keiner
zum Bürger gemacht werde, der nicht einem hiesigen Handweik
angehört Wenn Ihr aber einen zum Bürger machet, der nicht in die
Lehre gegangen ist, so soll er 10 £ bezahlen ohne Ausnahme."
(Public Records IV 170 citiert bei Ashley YL S. 41.) Aber umgekehrt
versuchten seit den Tudors die Engländer ihrerseits in der Fremde
festen Fuß zu fassen; eine große Gilde englischer Kaufleute bat in
den deutschen Städten an der Ostsee und in livland zugelassen zu
werden.
188 Kapitel 8.
entwickelt, namentlich auch in seinen Sitten, in semen Ge-
bräuchen und in seiner Kunst» Das ist durchaus falsch. Noch
beim Beginn der Neuzeit war unser Vaterland kulturell und
wirtschaftlich den Vettern jenseits des Kanals gewaltig überlegen
und befruchtete es allüberall^), England besaß noch unter
Elisabeth kaum ein eigenes Kunstgewerbe und war auch m der
Architektur inuner noch stark auf das Ausland angewiesen,
obgleich es damals schon begonnen hatte, wenigstens den bei
ihm importierten gotischen Bau einigermaßen selbständig fort-
zubilden, „Und was hat'*, so sagt Ehrenberg mit Recht, „Eng-
land voDends in der bildenden Kunst, dieser feinsten Blüte
hoher wirtschaftlicher Kultur gegenüber den großen deutschen
Meistern aufzuweisen?')*'
4, Verfassungskämpfe. Gerade die Entwickeltmg
des englischen Handwerks haben ^ie Fremden durch ihre Kennt-
nisse und ihren Geschmack erst zur Reife gebracht^ wir ge-
winnen um 1500 folgendes Bild seines Bestandes tmd seines
Betriebes. Die Handwerker, die eng zusanunengedrängt, jedes
Gewerk in einer besonderen Straße wohneui bilden einen
wichtigen TqQ der freien Bürgerschaft, Der Meister arbeitet in
der Werkstatt meist nur mit einem Gesellen, einem oder zwei
Lehrlingen, mit Frau und Tochter, die meist helfen"), und
wenigen ungelernten Arbeitern. Einen eigentlichen Gesellen-
stand und Wanderschaft, wie in Deutschland, gibt es in England
aber nicht; wenn der Lehrling ausgelernt hat, wird er sogleich
Meister; nur daß viele aus pekuniären oder sonstigen Gründen
sich nicht sogleich ansässig imd selbständig machen können
und daher gezwungen sind, bei einem andern Meister als Ge-
nosse zu arbeiten. Die selbständigen Meister haben noch ihre
schweren Sorgen: die Lasten sind groß, die schreckliche Münz- ^
frage, die die Leute plagt, wird nicht zur Erledigung gebracht^),
^) Ehrenberg: Hamburg und England. Jena 18%. S. 1 ff.
') Ebendas. S. 3.
') Cunningham a. a. 0. S. 413. Andere Frauen zu beschfiftigen
ist den Handwerkern verboten.
*) Cunningham a. a. 0. S. 417 ff.
Die wirtschftftliche Entwickelung« vornehmlich Eniflands. 189
Kredit ist sehr schwer zu erlangen und Darlehn überhaupt nur
zu einem unglaublich hohen Zinsfüße^). Die Konkurrenz wird
immer größer; denn nicht nur ziehen« obgleich es keine »JF^rei-
zägigkeit im ganzen Lande" m England gibt, landfremde tmd
stadtfremde englische Handwerker in die Stadt« wie nie ganz zu
vermeiden war, sondern auch sehr viele Lehrlinge lassen sich
nach Ablauf ihrer Lehrzeit mit ganz ungenügendem Kapitale als
Meister nieder, vermehren die Not durch billiges Angebot und
liefern oft schlechte Arbeit, um schließlich bankerott zu machen.
Die Gewerke streben also danach sich nicht nur gegeneinander,
sondern auch in sich selbst abzuschließen und Niemanden zum
Gewerk zuzulassen, der nicht als Meistersohn o. dgL ihnen ge-
nehm war. Schon im Jahre 1321 hatte man die Londoner Weber
beschuldigt, ihre ihnen eingerätunte Macht dadurch zu miß-
brauchen, daß sie unerschwingliche Eintrittsgelder für den Ein-
tritt in ihre Zunft verlangten'); andere machten es ebenso. Im
14. Jh. findet sich eine ganz tmverkennbare Neigung, den Wett-
bewerb dadurch zu beschränken, daß man dem Zuzug neuer Ge-
werbetreibender energisch vorbeugt, das außerzünftige Handwerk
hintertreibt und nicht zuläßt, daß die Gewerke sich spalten und
spezialisieren. Fast nur Meistersohne, denen man die Aufnahme-
Schwierigkeiten sehr wesentlich verringerte, konnten seitdem
in die Zünfte eintreten. Die Zunft wird zum Klüngel. Zu-
meist mußten sechs achtbare Leute aus dem Gewerk Bürgschaft
für jeden Netding leisten, Bürgen, die zwar nicht für den
Meistersohn, wohl aber natürlich dann schwer aufzutreiben
waren, wenn der Ansuchende dem Gewerke nicht willkonunen
war; dazu die furchtbaren Kosten, die dem Meistersohne er-
lassen oder stark verringert wurden« So entstand aber all-
mählich auch unter den gelernten Handwerkern ein städtisches
Proletariat, Leute, die trotz aller Anstrengung nicht vorwärts
konunen, nicht Meister und selbständig werden konnten, die
also Rechte durch die absolvierte Lehrzeit haben, die sie doch
^) Ebendas. S. 421.
*) Ich folge in diesen Auseinandersetzungen immer Ashley,
Brentano, Sonnenkalb in: ZC 1897. S. 248 ff. und Cunningham.
190 KapiUl 8,
mcht ausnutzen durften« und die um so mehr pdOieni als ihre
gläddidieren Mitmeister, bei denen sie nun um Lohn arbeilen
müssen, um leben zu können« ihnen noch dazu das Leben
mS^cfast sauer zu machen pflegten«
Dadurch stockt auch die Tedmik, entwickri t ach nur
langsam und Ueibt immer hinter der deutschen und flandrischen
zurück. Ohne Nachhilfe und «starken Schutz durch die Behörden
wäre das englische Handwerk auch im 16* Jahrhundert noch
ijücht konkurrenzfähig gewesen.
Solange das Handelsmonopol bestand, und die Kaufleute
den Handwerkern mit einigem Erfolge das Recht bestritten, Roh-
stoffe, deren sie bedurften, selbst zu kaufen, war es für den
Handwerker auch schwer oder mindestens teuer, brauchbare
Rohmaterialien zu «rlangen« Das Beschaffen derselben war aller-
dings nicht druckend gewesen, solange die Sitte bestand, daß der
Besteller dem Handwerker bei der Bestellung die Rohmaterialien
selbst übergab. Diese Sitte blieb namentlich im Bat^ewerbe sehr
lange. Die Kirchengemeinde oder das Kloster, welches bauen
wollte, kaufte Steine, Mörtel, Holz usw. selber und stellte auch
die Baufuhren. Der Meister, der den Bau ausführte — ent-
worfen wurde er gewöhnlich vom Bauherrn selbst oder auf seme
Veranlassung von einem Künstler, oft einem Geistlichen —
trat mit seinen Leuten einfach für die Zeit des Baues in den
Dienst des Bauherrn und empfing ntir höheren Lohn als seine
Leute, d. h. Genossen, Lehrlinge und Handlanger. Als aber diese
Sitte im 11. Jahrhundert mehr der freien Produktion wich^],
wurde das angemaßte Handelsmonopol der Kaufleute bei der
Beschaffung der Rohmaterialien den Handwerkern sehr lästig,
noch lästiger, als die Handwerker anfingen, auf Vorrat zu
arbeiten. Denn die Kaufleute standen zwischen Produzenten und
Konsumeni^en nun wie eine Schicht, die nur hindert und ver-
teuert. Auch die fertigen Fabrikate konnte der Produzent ohne
den Kaufmann nicht loswerden, da der Kaufmann ihn an der
^) Auch die Bauhandwerker fingen an, ganze Bauten in Enterprise
zu übernehmen.
Die wirUcliaftliclie EAtwickelung, vorBehmlicIi En^hBdi. 191
Beschaffung von Verkaufsstellen zu hindern suchte* So wollen
die KaufTeute z. B. nicht dulden, daß die Weber die Tuche^
welche sie hergesteUt haben« im Einzelverkauf verkauften« da
sie selber das Recht daffir vom König erworben hätten. Eben
dieses Vorrecht brachte die Kaufleute etwa im Jahre 1100
zuerst mit den Webern« dann spater mit den Zünften fiberhanpt
in Konflikt; diese gevrannen aber bald die Oberhand und um
1250 spätestens war das Handelsmonopol ffir die Kaufleute
verloren ^].
Sofort begannen nun die Handwerker ihrerseits Vorteile
aus ihrer neuen Stellung zu ziehen. Kaum hatten sie festen Fuß
gefaßt« als sie versuchten« ihrerseits sich abzuschließen und
vereitere Privilegien zu erwerben« die Preise zu 'treiben und
durch Limitierung der Fabrikate zu erhohen. Das war schon
geg^i Ende des 13. Jahrhunderts eine wahre Gefahr für den
Volkswohlstand Englands, Die Weber wollten sogar schon
20 Jahre nach ihrem endgültigen Siege die Menge des \ herzu-
stellenden Tuches und die ZaU der Gewerksgenossen be-
schränken. In London erlangte die Zimmermannszunft das Recht,
daß kein Gebäude irgendwelcher Art und von wem es auch
sei« ohne Zustimmtmg ihrer Zunft ausgeführt werden durfte.
Und so geht das fort.
Damals entstand ein weiterer wirtschaftlicher Kampf« den
die Handwerker ausfechten mußten. Die Beschaffung guter Roh-
materialien war immer noch mcht leicht und blieb oft teuer.
Die gelieferten Waren sollten von guter Qualität sein« darauf
hielt das Mittelalter überhaupt sehr und darin lag auch die Ehre
des Gewerks. Bei der Beschaffung billigerer Rohstoffe ließ
^) Cunningham will diesen Kampf nicht anerkennen, er hat aber
stattgefunden« Die Weber waren zweifellos die Angegriffenen, da sie
mit Fug und Recht das alte Recht der Handwerker verteidigten, ihre
eigenen Produkte frei zu verkaufen. Auch sie behaupteten Kaufleute
zu sein, da sie, wie alle Kaufleute, in der großen Gilde und Hand-
wesker seien, also zu dem Detailhandel auf dem Markte berechtigt
waren. Denn wer sind ursprünglich in der Stadt die Detailh&ndler
anders, als die Handwerker, die man vom Markte abgedrängt hatte.
B. Below a. a. 0. S. 36 ff.
192 Kaiutel 8.
- - ■ - — - — - --- — - — — — —
sich die durchaus gute Qualität der Fabrikate nur erreichexii
wenn eine sehr eingehende Gewerbe - Aufsicht stattfand.
Diese hatte sich nicht nur darauf zu erstrecken, daß die
Materialien und die Arbeit gut war, sondern auch darauf,
daß der Arbeiter geschickt war und daß er nach richtiger
zunftiger Methode und Schicht arbeitete. Um den oft kargen
Verdienst zu mehren, machten viele Handwerker gern Über-
stunden, arbeiteten zur Nachtzeit, sicher über ihre Kraft«
Das gab schlechte Arbeit und förderte den Betrug, den
sich der Handwerker des Mittelalters nicht übelnahm. Auch
gab der ruhestörende Lärm der Nachtarbeit oft Anlaß zu Ein-
sprüchen. Hier mußte die Gewerbc^aufsicht eingreifen und griff
ein: Nachtarbeit und Überstunden wurden verboten, auch in
den Statuten der Steinmetzen. Die Arbeitszeit war ohnehin lang
genug: ein Arbeiter hatte im Sommer von 5 Uhr morgens bis
la Uhr abends zu arbeiten mit hödistens 2 bis 2 }^ Stunden
Essenszeit^). Ohne die vielen Feiertage der Kirche wäre das
gar nicht durchzuführen gewesen. Diese erhielten die Leute
aber nicht bezahlt. Daher erstrebten sie immer Stücklohn und
möglichst geringe imd möglichst nachsichtige Aufsicht der Ge-
werbepolizei, was nur zu erreichen war, wenn nicht die Zunft
selbst diese in die Hand bekam. Die Aufsicht über die Ge-
werke und ihre Arbeit führten damals nur die städtischen Be-
hörden; sie hielten die „Warenschau" auf dem Markte ab und
besorgten die Gewerbe-Inspektion in den Werkstätten. Es mag
noch manchen Kampf gekostet haben, ehe die städtischen Be-
hörden das Recht darauf aufgaben; aber sie wurden dazu ge-
zwtmgen, sie an die Organisationen der Gewerke abzugeben.
Zunächst wurde 1363 vom Parlamente verfügt, daß zu diesem
Zwecke „zwei Leute aus jedem Gewerke zu wählen seien, die
darauf zu achten hätten, daß niemand ein anderes Gewerk
ausübe, als das von ihm erlernte"'). Dann bestimmte Eduard ü.,
daß jeder Bürger einer Gewerbsgilde angehören müsse, was
^) Cunningham. S. 457.
') Statute» I. 315. 37. Eduard m. Kap. 6.
Die wirtschafUiche Eatwidwliml, Tomehmlidi Fufl^^^^r 193
die Aubidit über aDe BSxi^ und ihr Tun erleiditerte. Wahr*
sdiemKch aus dem letzten Re^enmgqahre Eduards IIL stammt
dann der bereits erwähnte ErlaB ^), in dem es hdBt: JEs wird
bestimmt, daß samtlicfae Gewerke der Stadt London — jedes
nach seiner Art — gesetzlich geregt und beauUdit*gt werden
sollen, so daß nicht Buberei, schlechte Arbeit oder Betrug
irgendwelcher Art in besagten Gewerken vorkommen, zu eigener
Ehre der guten Leute besagten Gewerkes und zum allgemeinen
Besten des Volkes/' Und in jedem Gewerke sollen je nach Be-
darf einer oder sechs auch mehr oder weniger Leute gewählt
und vereidigt werden, und die so Erwählten und Vereidigten
sollen vom Burgermeister Vollmacht erhalten, die Aubicht gut
und dem Gesetze entsprechend auszufiben und zu vollfuhren*
fifolgedessen wurden Zunf lleute zu Au&ehem (wardens) fiberaS
in den Gewerken gewählt*)* Die Aufsicht über die Gfite der
Waren usw* wurde nun in London und in den größeren Städten
seitdem von den Wardens ausgeübt; in kleineren Städten und
auf dem Lande, wo es natürlich keine oder nur wenige Zünfte
und daher keine Wardens gab, trat die Reichsregierung ergänzend
ein imd ließ die Gewerbeaufsicht durch die Königlichen Be-
amten weiter ausführen, Beamte, die natürlich kerne großen
Schwierigkeiten den Handwerkern gemacht haben werden.
Es ist aber selbstverständlich, daß die Gewerke diese er-
worbenen Rechte auch zu ihrem Vorteile benutzten, z. B. um
sich in ihrer Zunft noch mehr abzuschließen. Diese Entwickelung
war im 15. Jahrhundert vollständig durchgeführt; die Verfassung
inuB nun in jedem Gewerke ungefähr die gleiche gewesen sein,
nur das Baugewerk machte gewisse Au9nahmen und hatte
^) Ashley a. a. O. IL S. 75.
*) In Schottland verfügte ein Erlaß von 1424: Es wird hierdurch
verfügt, daß in jeder Stadt des Reiches und in jedem daselbst be*-
itehenden Gewerke ein erfahrener Mann des betreff enden * Gewerkes
gewählt, und seine Wahl von dem obersten Beamten der Stadt be-
stätigt werde. Selbiger Mann aber soll für eine bestimmte Zeit von
den übrigen Mitgliedern des Gewerkes als Vorsteher und Meister
vigestellt werden usw.; die Leute heißen hier Deacon.
13
194 Kapitel 8.
Besonderheiten! die wir unten noch kennen lernen werden»
Überall in den Zünften waren gewählte Zunftbeamte als Auf^
Sichtsbeamte und Leiter der Zunft, fiberall gab es besondere
I)olizeiliche Rechtei Gerichtsverhandlungen, Strafen, Sitzungen
über gemeinsame Angelegenheiten und Streitigkeiten mit den
Nachbargewerben, mit den stadtischen Behörden und namentlich
mit den Arbeitern und denjenigen Mitgliedern der Zunft, die
sich aus irgendeinem Grunde nicht selbständig machen konnten.
Diese ließ man nicht nur nicht zu den Ämtern zu, sondern
suchte ihnen mit aller Macht noch die wenigen Rechte zu ent-
wenden, die sie in der Zunft und durch sie besaßen, vor allem
das Wahlrecht und das Recht der Teilnahme an der Verwaltung
der gemeinsamen Angelegenheiten*
Die Verfassung der geschlossenen Gewerke, die wir in
folgendem Kapitel noch genauer betrachten werden, war in
England, wie überall im westlichen Europa, ursprünglich eine
demokratische gewesen« Die Handwerkerzünfte entstehen auf
Gleichberechtigung aller Mitglieder hin; der Bau der Gewerke
ist innerlich zwischen 1150 und 1200, spätestens unter Konig
Johann fertig; nur die Steinmetzen haben eine solche zünftige
Organisation erst sehr spät angenommen« Die ganz lokalen
Zünfte, an die Stadt gebunden, wo sie sind, knüpften wohl
schwerlich an die alten hofrechtlichen Handwerkerinnungen am
und trugen auch nicht deren Antlitz, wenn auch deren Namen
(mistery = Ministerium = Amt). Indessen faßte ja jeder Hand-
werker im Mittelalter seinen Beruf als ein ihm übertragenes Amt
auf, das er nach bestem Wissen und Gewissen zu verwalten
hatte; er arbeitete nicht allein des Erwerbs wegen«
5. Lehrling. Der Eintritt in die Zunft, bei welchem
jedes neue Mitglied einen körperlichen Eid ablegen mußte, dem
Zunftvorstande und den Statuten gehorsam zu sein, konnte auf
viererlei Weise geschehen, durch Lehre (by apprenticeship),
durch Erbsdiaft (by patrimony), durch Kauf (by redemption) und
durch Verleihung (by gift).
Der Handwerker hat gewohnlich eine siebenjährige Lehr-
zeit, doch sind Lehrzeiten von noch längerer Dauer nicht selten.
Die wirtschaftliche Entwickeliing, Yomehmlich Englands. 19S
Während dieser Zeit lebt der Lehrling gaxiz in der Familie seines
Meisters, der für alle Bedürfnisse des jungen Mannes Sorge zu
üagen hat* Ohne Erlaubnis des Meisters darf der Lehrling sich
nicht aus dem Hause entfernen, Verbindungen anknüpfen usw^
selbst nicht einmal heiraten; denn der Meister ist nicht nur für
ein ordentliches Betragen seines Schutzbefohlenen, sondern für
dessen ganze privaten Verhältnisse durchaus verantwortlich und
kann ihn, wenn nötig, durch Strafen, namentlich durch Züchti-
gung, dazu zwingen, ihm zu gehorchen; auch die Meisterin hat
das Züchtigungsrecht In den letzten Jahren seiner Lehrzeit
erhält der Lehrling außer Wohnung, Kleidung und Kost auch
ein kleines Taschengeld. Die Zahl der Lehrlinge, die der Meister
halten darf, ist beschränkt; oft genug wird betont, daß er nicht
mehr Lehrlinge annehmen soll, als er Arbeit für sie hat; ein
Meister hat nur selten mehr als zwei Lehrlinge. Auch in der
Auswahl der Personen ist der Meister gebunden, da er keinen
Unfreien oder den Sohn eines Unfreien, keinen Krüppel, keinen
Dieb usw. als Lehrling annehmen darf. Daher werden junge
Leute vom Lande als Unfreie nur selten ztim angeordneten
Stufengange im Handwerke fähig und tauglich gewesen sein. Der
junge Mann, der dem Landleben entlief tmd in die Stadt kam,
um Handwerker zu werden, war weder sofort frei, noch konnte
er meist auch wohl die hohen Kosten tragen, die mit dem
Eintritte in das Gewerbe verbunden waren. Solche Leute werden
in den meisten Fällen eben jenen „ungelernten * Arbeiterstand
im Handwerk gefüllt haben, von dem oben schon die Rede war.
Da femer nur Leute von „gutem Rufe" in das Handwerk auf-
genommen werden sollen, wird das Aufsteigen auch des
städtischen Proletariats in die Handwerkerschaft energisch ver*
hindert worden sein. Zudem waren das Lehrgeld und die Ab-
gaben und Gebühren an die Zunft für Einschreiben und Los-
sdireiben sehr hoch und stiegen je länger, je mehr^), namentlich
^) Das Lehrgeld stieg bis au! 100 £, fa auf mehr; unter Jakob L
klagte man, dafi einzelne Lehrlinge 500 bis 800 £ bezahlten. Durch
ein Gesetz von 1405/06 wird allen Personen, welche nicht ein |Shr-
liehet Einkommen von mindestens 20 sh, aus Grundbesitz oder Renten
13*
196 Kapitel S.
seit die Zünfte zu KIfingeln geworden waren« Die Gesetzgebung
der Elisabeth über die Aufnahme von Lehrlingen geht schließlich
so weiti daß wir heute kaum noch begreifen, wie es möglich
war« überhaupt noch die notige Anzahl von Lehrlingen für das
Handwerk auhubringen: ntir reiche Bürgersohne oder Meister-
sohne vermögen offenbar noch die Bedingungen zu erfüllen, die
für den Eintritt in die Ztmft by apprenticeship gestellt wurden.
So wurde die Zunft ein ganz enger Kreis von alteingesessenen
Leuten der Stadt und von selbst inmier aristokratischer und
zopfiger«
Sobald der Lehrling durch Freisprechung, die vor der
Zunft und dem Känmierer der Stadt stattfand, Meister und Mit-
glied (fellow) der Zunft geworden war, erhielt er zugleich
rechtlich auch das Bürgerrecht der Stadt; er wurde freeman*).
Es war im Steinmetzengewerk Sitte, ihn kurze Zeit nach der Frei-
sprechung auch in die Brüderschaft des Gewerkes aufzunehmexi,
was später bei Strafe bmnen 40 Tagen geschehen sein mußte.
Nunmehr war der junge Mann nach dem Rechte für den voll-
ständig selbständigen Gewerbebetrieb ausgestattet una
konnte sich als Meister niederlassen, seinerseits wiederum Lehr-
linge annehmen und ausbilden usw. Aber dazu hatte er, wie
gesagt, wenn er nicht sehr reich oder Meistersohn war, eine
Meistertochter heiratete oder dgl. meist nicht die Möglichkeit.
Diese Meistersohne aber haben nicht nur Erleichterungen in der
Lehrzeit, sondern sie können auch durch bloße Erbschaft (by
patrunony) oder durch Kauf (by redemption) das volle Recht
der Mitgliedschaft der Zunft und damit das Recht zum Gewerbe-
betrieb selbst ganz ohne Lehrzeit erlangen. Zwar wurde durch
ein Statut (5. Elis. c. 4) im allgemeinen bestinmit, daß zur Aus-
haben, yerboten, ihre Kinder einem Gewerbetreibenden in die Lehre
itt geben.
^) Nicht jeder Einwohner der Stadt ist also ein freeman, sondern
iiiir der, welcher Von dem Stadtkämmerer infolge seiner Zugehörigkeit
SU einer Zunft in die Bürgerlisten eingetragen war; also nicht die
Stadtfremden, nicht die Besitzlosen und nicht die, welche in keiner
Zunft wat'en. s. Redlich: Lokalverwaltung S. 53. 156.
191
Masse der
der Clicf inid der Hf wligi der FTroBa, vibresd
als sexn Vcrirefer cfie wexksbft ifilflf . JCc . nl sdfsloweoijtr
kannte der fWiiliri in &aem FaEe by^ patrimoey oder hj
redeoapfioQ Mit^ed der Zooft und trecasaA der Sadt werdtOt
was selbst iride Stadtbemde ^eranlafite« £e JUt^cdsdiaft
diirdi Kauf za ei w eihen , oft fewB nor, am der Voriwk ii8-
liaftrg za werden, Ae wSL der FeDowdiq» and damil dem BSrftr»
rechte der Stadt v e tbun den waren, mdit am das Gewerbe
wirklich zu beirriben.
Wahrend die &bmgtn« der MH^edsdiaft der Zunft aul
die ersten drei Arten das GewohnBdie war, ist der Erwerb
der Mitgliedschaft derselben durdi Verldhung (by ^) die
Form der Ehrenmitgliedschaft einer Zunft, weldie die Zunft
selbst an verdiente Leute, die dem Handwerke lücht notwendig
anzugehören brauchten, oder an hohe WOrdentrCger, selbst an
den Konig gelegentlich austeilt. Es ^d diese Ehrenmitglieder
und die Mitglieder by redemption wohl hauptsächlich die
Gruppe, welche m den Zünften, Gilden und Brüderschaften
die nicht dem Handwerke zugehörigen Mitglieder derielbtn
ausmachten.
6. Gesellen und Meisten Meist werden aber die
englischen zünftigen Gewerbetreibenden in den Städten ihre
siebenjährige Lehrzeit doch regelrecht durchgemacht haben'),
^) Die Lehrlingschaft beruhte zuerst auf privatim Abkommtii
(Cunningham S. 409 ff. bringt einen ganzen Lthrvfrtrag)i ifit dam
i4L Jh. war sie einer öffentlichen Kontrolle ante rworftn.
198 Kapitel 8.
wenn Meistersöhne auch wohl mebt in der Werkstatt des Vaters
mit starken Erleichterungen« Die Leute, welche sich nach der
Lehrzeit nicht selbständig zu machen vermochten^ mußten dasfl
wieder bei emem anderen Meister in Dienst treten. Diese Ge-
hilfen oder Genossen der Meister (yeomen oder joürneymeUt
kurz oft fellows genannt) waren nicht, wie die deutschen Ge-
sellen, untergeordnete Arbeitnehmer, sondern mehr seine —
dem Meister — gleichgestellten Gefährten und wurden meist nicht
vom Meister, sondern durch Unternehmer oder Auftraggeber ent-
lohnt, wie der Meister selber. Nur daß der Meister das Doppelte
der Lohnsunmie zu erhalten pflegte, wie der Genosse, welcher
überdies sein Geld nut durch des Meisters Vermittelun^
empfing. Es wurde später Regel und durch das sogenannte
Lehrlingsgesetz der Elisabeth ausdrücklich angeordnet, daft
neben einem oder mehreren Lehrlingen bei einem Meister
eine entsprechende Anzahl solcher yeomen vorhanden seis
müsse, damit die Meister nicht — was sehr beliebt gewesen
zu sein scheint — die billige Lehrlingsarbeit ausnutzten und
als Gesellenarbeit anreöhneten; denn die Lehrlingsarbeit wurde
vom Auftraggeber natürlich geringer bezahlt Es änderte sieb
das Verhältnis dieser Leute zu dem Meister aber sehr, als dieser
nach Abschaffung des Monopols der Kaufleute um 1300 herum«
selbst Unternehmer wurde. Damals wurden die yeomen wirk-
liche Gesellen, d. h. bloße Arbeitnehmer, und alsbald trat ein
gespaimtes Verhältnis dieser Massen zu den geschäfts^
betreibenden Meistern ein. Sie waren aber und blieben Mit-
glieder der Zunft. Nun wurde nicht nur der Versuch gemacht,
diese fellows in der Zunft auf alle Weise zu bedrängen oder
ganz herauszudrücken, sondern es kam auch die Lohndrückerei
auf, dann die Streiks dagegen, es entstanden Gesellenverbände,
schwere soziale Kämpfe in den Gewerken, es kam endlich
zum Eingreifen des Königs, des Parlaments, des Rates, zur
Festsetzung von Lohntarifen usw. Die Gesellen wtu-den seit
dem 14. Jahrhundert also ein eigener Stand, der unzufrieden
mit seiner Lage, wie er war, bei den Behörden und dem Parla-
mente ewig klagte, daß die Meister angehalten werden möchten,
Die wirtschaftliche EntwIckelunC» vornehmlich Englands« 199
änen ihre Rechte und Verträge zu halteiii während die Meister
wieder über die Maßlosigkeit der Forderungen der Gesellen
fämmerten. Man sah deutlich« daß die Interessen beider Stande
in Widerspruch gerieten.
Namentlich nach der großen Seuche von 1348/49 wurde
dabei die Lage bedrohlich. Jahrzehnte lang hat sich die
Gesetzgebung mit der Regelung der sozialen und wirtschaftlichen
Verhältnisse beschäftigt, ohne ihrer Herr werden zu können«
Penn die Meister in den Zünften, welche damals schon das^
Stadtregiment in der Hand hatten« waren nicht zu bewegen, den
Forderungen der kleinen Leute gerecht zu werden« Diese
rotteten sich zu dauernden Verbänden zusammen, aber das
Parlament versagte ihnen das Koalitionsrecht Nach der Pest
traten Priester an die Spitze der „armen Leute", namentlich auf
dem Lande, wo Hörige, Handwerker, freie Pächter, kleme Frei-
sassen in gleicher bitterer Not durcheinander saßen. Auch
fiterarisdi klingt uns die dumpfe Verzweiflung der Zeit in dem
Qa« 1362 gedichteten Klagelied „Peters des Pflfigers" entgegen^).
Gegen Ritter, Mönche und Pfaffen soll es gehen und in den
3tädten gegen die Lohndrücker, die Meisten Auf den König
hofft man, der bald kommen wird und Gerechtigkeit walten
laßt« Die Bewegung ist^ schwärmerisch,, aber durchaus
monarchisch« Der Groll wird noch verhalten, wächst nun aber
i^nmer mehr, bis endlich 1381 der Sturm losbricht. „Wütende
Demagogen aus dem Handwerkerstande, gewählte Priester aus
dem Volke, von der sozialen Berechtigung ihrer Brüder und
Vettern überzeugt, mit einfachen, die Menge zum Losbruch an^
feuernden Schlagworten erschemen an der Spitze/* (Pauli.)
Einige Tage ist der Pöbel Herr selbst der Stadt London, die
blutige Szenen erlebt, dann tritt die Reaktion ein und ein furcht-
bares Blutgericht trifft die Rädelsführer und ihre tätigen Freunde.
^) 8. darüber in: Pauli: Bilder aus Alt-England. 2. AuiL S. 254.
Adel und Klerus« so sagt das Lied, sind verdorben, allein der Ackers-'
mann, der an die Scholle gebunden ist, und für Andere im Schweiße
seines Angesichts das Feld bebauen muß, hat sich unbefleckt er^
fialten. Dazu gehörten auch die ländlichen Handwerker.
:200 Kapitels.
Die Empörung ist bald gebrochen und die Ruhe des Kirchhofs
liegt für ein'ge Jahre über Stadt und Land Aber das dauert
nicht lange. Dann treten die Gesellenverbande wieder auf und
die alten Klagen werden wieder laut.
7. An dem Au&tande hatten sich auch diey^ungelernten
Arbeiter'* (servants, servingmen) beteiligt und vielleicht
wären s:e es gerade gewesen, die in jenen furchtbaren. Stunden
in London in Blut und Wein und Ausschweifungen gewütet
hatten. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts wird es, wie gesagt,
Sitte, sie nicht nur in der Hausarbeit, sondern auch im Gewerbe
selbst zu beschäftigen. Die Gesetze verbieten das nicht, aber
ae verlangen, daß sie nicht, wie die Lehrlinge, in der Technik
unterwiesen werden. Diese ganze Masse der bloßen Hand-
arbeiter und Handlanger, Halbalisgelemte, vom Lande enüaufene
Knechte, Arme, Sieche, Vagabunden, kurz: Proletariat aller Art,
Leute, die nun die schwere Arbeit bei Betrieben verrichteten
und die meist ohne jede Hoffaiung waren, ihre Stellung fe
bessern zu können, machten den Bfirgem schwer zu schaffen.
"Eins war nur ein Gluck: Soviel Berührungspunkte jetzt die
Interessen der Gesellen mit diesen ungelernten Arbeitern auch
haben mochten, so haben jene sich doch inuner von ihnen fem
gehalten; die Genossen waren und hielten sich für etwas
Besseres, namentlich im Baugewerbe. Solcher Handlanger, auch
wenn er etwas durch lange Praxis von der Kunst erlernt hatte,
bleibt doch auch für den Gesellen meist der verächtliche labourer
oder cowan^). Etwa zur Zeit Eduards m. nach der Pest und den
Aufständen setzte sich diesbezüglich eme Veränderung des
sozialen Aufbaues in England durch. Die Gesellen und Arbeiter
begannen sich einander etwas zu nahem, die Stände schichteten
^) Die Leute haben aber ebenfalls wohl oft, wie die nicht aus-
gelernten oder aus der Lehre gelaufenen Lehrlinge Winkelbuden er-
öffnet, in denen sie ^Is Pfuscher (Bönhasen) Waren verfertigten und
billig an den Mann brachten. Auf solche Bönhasen (loses oder cowaas)
machten die Zünfte gern Jagd. Die Gesetze sprechen oft von ihnen:
Der Meister soll keinen Bönhasen einstellen, wenn er einen Gesellen
haben kann usw.
Die wirtschaftliclie Eatwickeltmf » yornehmlich Englands, 201
sich, nach anderen Gesichtspunkten* War bisher. Geistlicher^
Ritter, Kaufmann, Handwerker und Bauer unterschieden, so
traten jetzt niehr Scheidungen nach dem Wohlstande ein, eine
Scheidung zwischen Kapitalisten, kleinerem sicheren Mittel-
stand und Arbeitern^)* Es ist das vielleicht eine der wichtigsten
Veränderungen, die volkswirtschaftlich in England je geschehen
ist, zumal zugleich der Prozeß des Überganges der Natural-
wirtschaft in die Geldwirtschaft reißend Fortschritte machte,
und die Städter überall Gelegenheit fanden, sich an den Finanz-
operationen Einzelner oder ganzer Gesellschaften zu beteiligen.
Die Masse der Arbeiter, die sich so zurückgedrängt sah, ballte
sich zusammen und wollte vor allen Dingen gute Löhne erringen«
Diese müssen sich aber im Verhältnis zu dem Preise der Lebens-
mittel bewegen, wenn sie nicht ungesund werden sollen. Nun
glaubte das Mittelalter und z. T« noch d:e neuere Zeit, beider
gesetzlich festsetzen zu können. Solange das auf kurze Fristen
hm geschieht, mag es angehen, aber bald folgt der Lohntarif-
wieder seinen eigenen natürlichen Gesetzen. Damals glaubte
man aber das Verhältnis ohne Rücksicht auf den Wandel der
Zeit ein für allemal festlegen zu können. Später ging man auf
jährliche Festsetzungen ein, die sich dann lange erhielten. Das
Lohngesetz der Elisabeth bestimmt, daß der Lohn jährlich von
den Friedensrichtern und Stadtmagisträten auf den ersten all-
gemeinen Sitzungen nach Ostern festgesetzt werden solle, em
Modus, den ein Gesetz Jakobs L (1. Jakob L Kap^ 6) noch
einmal bestätigte und sogar erweiterte^). Die Bestimmungen über
die Lebensmittelpreise hingen mit dem Rechte der Über-
wachung und Prüfung der Lebensmittel zusanunen, das den
örtlichen Behörden ebenfalls zustand. Den „angemessenen*
Preis sicherte man nicht nur durch den sogenannten ,3ürger-
meisterpreis", sondern auch durch Maßregeln gegen Aufkäufer
und gegen Vermittler und Wucherer'). So suchte man alles^
„von oben" zu regeln, zu überwachen, zu befehlen; aber die
^) Cunningham a. a. O. S. 443.
'> Brentano; Arbeitergilden. Bd 1« S. 92.
>) Ashley a. a. O. Bd 2. S. 30 ff. 47 ff.
202 Kapital a
ganze Art der volkswirtschaftlichen Fürsorge der Regierung war
zu augenfällig willkürlich und ungerecht« als daß sie nicht hätte
Unzufriedenheit erregen und dauernd erhalten sollen.
Nun wurde aber die Aufsicht über den Handel mit Lebens-
nutteln allmählich immer loser gehandhabt; gerade die
Regierungszeit der Tudors ist voll von Klagen über das Sinken
der Straffheit in der Marktaufsicht und den Eigennutz und die
Selbstsucht der Einzelnen« Überall schwankten je nach dem
Verhältnisse von Angebot und Nachfrage die Lebensmittelpreise
und stiegen andauernd in die Höhe. Dadurch wurden die Löhne
aber schlechter, weil sie mit den Lebensmittelpreisen nicht
gleichen Schritt hielten, was naturgemäß die nun einmal zu-
sammengeschichteten Arbeitermassen immer mehr erregte.
8. Die sich nun bildenden Arbeiter verbände scheinen
nie eigentlich dauernden Charakter gehabt zu haben^). Indessen
da, wie in Deutschland so auch in England, die religiöse Brüder»
Schaft die übliche Form der Gesellenverbände war« so könnes
sie auch nicht eine ganz vorübergehende Erscheinung gewesen
sein'), weil diese kirchlichen Institutionen ja immer bestehen
blieben. Natürlich war der eigentliche Zweck dieser Verbände
kein religiöser, sondern ein rein materielleri nämlich der, sich
gememsam und geschlossen höhere Löhne zu verschaffen und
^) Das behaupten wenigstens die beiden Webb: Geschichte des
Britischen Trade Unionismus, übers, von Bernstein. 2, Aufl. 1906.
S. 3 ff., während Ashley a. a. O. Bd 2. S. 110 ff. die Dauer der Ver-
bände durchaus annimmt. Dieser macht auch darauf aufmerksam, daß
die Unterschiede in der Entwickelungsgeschichte englischer Gesellen-
verbände einerseits und der der französischen und deutschen anderer^
teits in dieser Hinsicht sehr gering sind, (S. 111) was aber doch sehr
zweifelhaft ist.
*) Das bestätigen doch eigentlich auch die Urkunden. Selbst
wenn der Verband der Schneider (1413—16%) kein reiner Gesellen-
verband gewesen sein sollte, wie die Webb annehmen, so bestanden
doth sehr viele Genossenschaften der Art fiber 50 Jahre (s. Ashley
a. a. O. Bd 2. S. 126). Allerdings haben die englischen Gesellenverbände
nie eine so grosse Rolle gespielt, wie die in Deutschland und Frank-
reich, namentlich nicht Im Hinblick auf die Ausbildung der Ge-
bräuche.
Die wirtschaftliche Eatwidkelung, vornehmlich Englands. 203
ach die Konkurrenz Fremder^ Landfremder tmd Stadtfremder«
vom Leibe zu halten« Die Sattler in London sprechen es einmal
geradezu aus: „Unter dem Vorwande der Frönmiigkeit, hatten
die Gesellen sich zu Verschwörungen (covins) zusammengetan«
um ihre Lohnforderungen übermäßig hinaufzuschrauben^)/*
Sowohl die Staatsregierung als die konuntmalen Verwaltungen
schritteil auf die Klagen der Meister und des konsumierenden
Publikums hin wiederholt dagegen ein; schließlich wtnrden die
Versammlungen, Konventikel und Zusammenkünfte der Ge-
sellen tmd Arbeiter ohne Vorwissen des Bürgermeisters über-
haupt streng untersagt und die Zuwiderhandelnden mit Strafen
bedroht, aber es half nicht viel Sie sollten schließlich nicht
einmal beieinander wohnen, sagt eine Verordnung des Mayors
von London von 1415 wider die Schneidergesellen'), sondern
in Zukunft „tmter der Leitung tmd Herrschaft der Meister und
Wardens der Gilde stehen, gleich wie es die anderen Gesellen
der anderen Gewerke der Stadt ttm tmd zu ttm verpflichtet
sind; auch sollen sie in Zukunft keine Zunfttracht anlegen*'. Aber
man hatte gut befehlen! Ntu- wenige beruhigten sich« Im
Jahre 1446 erscheint der Gesellenverband der Schneider in
London als ein tmtergeordnetes, aber anerkanntes Glied der
Zunft der Schneider tmd seit 1458 wird ein von der Zunft be-
soldeter Beamter als Vorsteher der Gesellenschaft') genannt
Hier hatte man sich also einmal friedlich geeinigt, bei anderen
Zünften wird aber der Gegensatz statt schwächer inmtier
schärfer; gelegentlich mußten der Bürgermeister und die Vor-
steher der Zunft auch woU ernstlich die Meister zu Ruhe und
Besonnenheit mahnen, da die Gesellen doch auch Zunftmitglieder
seien*), l^lan wollte diesen wenigstens in etwas Erleichterung
schaffen.
^) Ashley a. a. O. Bd 2. S. 114.
') Riley: Memorials of London S. 611« Es sind sowohl journeymen
als auch servingmen, die so widerspenstig sind, also Gesellen und
Arbeiter gemeinsam.
») Ashley a. a. O. Bd 2. S. 116.
*) Das scheint allerdings nicht überall der Fall gewesen zu sein.
In Oxford wird die Genossenschaft der Schuhmacher als „Meister-
204 Kapitel 8.
Wie das auch im einzelnen gewesen sein mag, der Gegen-
satz zwischen Meister mid Gesellen war seit ca. 1375 vorhanden
mid die Arbeitermassen hatten eine Form gefunden, sich zir
veremigen und zu organisieren« Sie forderten unentwegt Lohn-?
erhöhungen. Schanz^) weist nach, daß die englischen Gewerks-
ieute im Mittelalter verhältnismäßig noch ganz guten Verdienst
hatten, aber unter den Tudors in der Tat anfingen, bitter not
zu leiden« Unter Heinrich VIL verdiente ein Arbeiter noch in
20 Tagen einen Quarter Weizen, unter Elisabeth in 48 Tagen.
Unter den fordernden Arbeitern waren die Bauhandwerker
in London die hartnäckigsten in ihren Forderungen; sie ver-
langten immer wieder einen honetten und ausreichenden Lohn*
tarif, fJso nicht nur von ausreichender Hohe, sondern eines
Tarif, der würd'g ihrer Kunstferti^eit seL In ihren Manu-
skripten ist immer wieder davon die Rede, daß schon die alten
Könige wie David, Salomo usw, den masons einen guten Lohn-
tarif als ihnen zukommend anerkannt hätten, und niemals ver*
gißt eine Zusammenstellung ihrer Artikel und Punkte das zu
betonen, daß man einen guten Lohntarif verlangen könne und
müsse: die Meister sollen ihn bewilligen oder vom Bauherrn er-
pressen, wenn der Bau auf Lohn des Bauherrn hin ausgeführt
wird. Im Vertrauen auf ihre festen Organisationen übertrieben
sie dann ihre an sich gerechten Lohnforderungen, was natürlich
nicht allein das bauende Publikum, insbesondere die Kirchen-
vorstände, sondern auch die weltlichen Behörden gegen sie in
den Harnisch brachte. Seit 1349 griff gegen sie das Parlament^
seit 1350 die Stadt London mit Verfügungen über Lohne
und Warenpreise ein'), ohne daß man damit trotz der hohen
zunft" bezeichnet, was darauf schließen läßt, daß die Gesellen 1512
dort nicht mehr als Mitglieder der Zunft, sondern als abhängig ron
ihr angesehen wurden.
^) Schanz: Englische Handelspolitik, ein Werk, das ich im Fol-
genden als Leitstern benutze.
^) s. Begemann: Vorgeschichte. Bd 1. S. 78. wo die Quellenstellen
überall angegeben sind; Gould: Hist. of freemas. Bd 2, S. 336 ff.;
Schanz: Enjfl. Handelspolitik. Bd 1. S. 662 ff.; Rüey a. a. O.: Tarif ffir
1350, 8. S. 253 ff.
Die wirtschaltlidie Eniwickelimt, vornehmlich Englands* 205
Strafen die Leute zur Ruhe gebracht hätte. Endlich hob man
1425 die Koalitionen der masons ganz auf. Vergeblichl Die Zu*
Bammenrottungen bliebeui die Lohnforderungen auch und die
Gegensätze wurden inuner schärfer, so sehr auch Meister und
Genossen im Steinmetzenhandwerke brüderlich zusammen
hielten« Ein Glück noch« daß in den Bauhütten die Gesellen-
schaft verhältnismäßig gering war, da solche Steinmetzenloge
selten mehr als Meister, Aufseher, 4 — 5 Gesellen und höchstens
2 oder 3 Lehrlmge enthielt; die Arbeiter (servingmen) allerdings
nicht eingerechnet, da sie nicht zur Loge gehörten; selbst diese
können aber nicht sehr zahlreich gewesen sein^). Die Meister
standen hier also keiner Masse von Arbeitern gegenüber. Auch
-war nicht eigentlich ein Gegensatz zwischen Meister und Ge-
sellen, sondern eher von Meister tmd Gesellen auf der einen
und dem Bauherrn auf der anderen Seite vorhanden. Das
Steinmetzengewerbe ist das Einzige, in dem Meister und Ge-
sellen infolge der Logenverfassung ganz eng verbunden sind und
In gewisser Beziehung auch bleiben; selbst die Zunftverfassung,
in die sie ca. 1300 hineingetrieben waren, störte das schöne Ver-
üältnis nie ganz; wenn irgendwo, war hier der Brüderschafts-
gedanfte lebendig. Aber trotzdem finden sich auch hier wohl
einige Gegensätze zwischen Meistern und Genossen, jedenfalls
sind 1425 Gesellen-Verbände, Lohnforderungen, Streikes usw.
auch im Steinmetzengewerbe an der Tagesordnung. Der Lohn-
iaxü der Leute stieg im Verhältnisse zu den Lebensmittelpreisen
sehr wenig. Es stand der Tagelohn:
Im Lsnde: ^- 1^^ * ^ ca. 1445 ca. 1495
mit Koat ohne Koft mit Koit ohne Kott mit Kott ohne Kost
Ziliimerer
Rottghmason M^-fg- — Somm«r3d Som.3d 4Vid Som.4d 6d
Ziegeidecker —Winter weniger Wint. 2 Vjd 4d Wint.3d 5d
Dachdecker
Gesellen — 2d (stieg sehr wenig, höchstens auf 3 dl
^) Man heachtet gewöhnlich viel zu wenig, wie langsam solche
Bauten vorwärts gingen; ein Kirchenbau überdauerte oft viele Gene-
rationen. Der Bau war also mit Bauleuten nur sehr spärlich besetzt,
sonst wäre es schneller vorwärts gegangen. Auch später machen
nach den Pflichten 5—6, höchstens 6 — 1 eine Loge.
206 Kapitels/
• « « ea. 1350 ca. 1445 ca, 1495
Im Laaae: attKo«t olmsKott mttKott ohnaKott nitKott ohn^KoKt
Freemason: SoiBua«r4d Soin.4d 5^'fd*) Som.4d 6d
Meister "^Winür weniger Wint 3 d 47ad WiDt3d 5d
/>^.^n* — Somin«3d Som.— [,^^ ^j^ wenig,
^*^*"* Winter weniger Wint — höchstens auf 3'/, d].
Gewöhnliche S<nn.2d 3Vid 5oni.24 4d
Baui^beiter ~ " WintlV.d 3d WintlVtd 3d
iä Londloa:
Zimmerer > Meister — l ""''c j
Steinsetzer J ' (stieg nnr ganz weni^
{Sommer 5Vi d
Wmter 4V.d
^ I Sommer 3Vid
Gesenen - ^ \ Winter 3 d
Niemand soll höhere Sätze fordern« niemand höhere Löhne
gewahren; oft wurden hohe Strafen« meist Gefängnis, angedroht
wenn die Sätze überschritten würden. Im Jahre 1351 wird an-
geordnet« daß die Richter in allen Grafschaften Verhöre ver-
anstalten sollen« um etwaige Überschreitungen zu ermitteln und
zu besfarafen« 1360 heißt es') ««daß Zimmerer und masons is
diese Verordntmg [wider die Vereinbarung der Rauhandwerker»
nicht unter einem bestimmten Lohnsatz zu arbeiten] einge-
schlossen seien« ebenso andere Arbeiter« Diener und Hand-
werker (touz autres laborers« servantz et artificers); daß die
Zimmerleute und die masons fortan für den Tag und nicht ffir
die Woche noch auf andere Weise Lohn nehmen'), daß die
Hauptmeister der Zimmerer und masons 4d für den Tag
erhalten« die anderen 3d oder 2d« je nach ihrer Leishmg^)
^) Diese Löhne soll auch der master carpenter (ZimmermeisterJ
erhalten.
') Übersetzung nach Begemann I. S, 81 Orig: Statutes at large
Bd 1. S. 302.
') Gemeint ist wohl der so oft geforderte Stücklohn, statt des
Tagelohns.
*] Jüngere Gesellen und die älteren Lehrlinge erhielten natürlich
geringeren Lohn als erfahrene ältere Gesellen; für die ganz {ugend-
lichen Lehrlinge konnte der Meister wahrscheinlich nicht mehr
liquidieren als ungefähr ihr Lebensunterhalt betrug.
Die wirttdiafÜidie Fntwickelimg, voraehmlicli Englands. 207
und daß alle Veibindnngen und Verabredungen (aDiances
et covi^es) von masons und 23mmerleuten« Versammlungen«
Kapitel« Verordnungen und Bde (congregadons, chapitres,
ordinances et serementz) untereinander oder 21ettelungen ')
fortan null und nichtig sein sollen, so daß jeder mason und
Zimmermann, in welchem Verhältnis er auch stehen mag, von
sdnem Meister, dem er dient, gezivungen werden kann, jede
ihm zukommende Arbeit zu tun, entweder am Freistem oder am
Baustein (ou de fraunche pere ou de grosse pere) *] und ebenso
jeder Zimmermann nach seiner Stufe; aber es soll jedem Bau*
lierm oder einem andern freistehn, einen Vertrag oder eine
Vereinbarung fiber ihre Arbeiten im Ganzen mit solchen
Arbeitern und Handwerkern zu machen*), wenn es diesen gefSllt,
«o daß sie solche Bauten nach dem Vertrage und der Verein-
barung gut und gesetzmäßig ausfuhren«*' Kein Arbeiter oder
Handwerker, so wird in demselben Jahre bestimmt^), dar! seine
Arbeit verlassen und in eine andere Stadt oder eine andere
Grafschaft gehen» Immer schärfer ziehen Parlament und Konig
gegen die Zusammenrottungen der Arbeiter und Gesellen im
Bauhandwerke zu Feldci fast Jahr für Jahr beschäftigt sich das
Parlament mit den rates of labourers wages, aber um sie zu
beruhigen, wird wenigstens 1389 festgesetzt^), daß die Friedens-
fichter in jeder Grafschaft zwischen Ostern und Michaelis den
Kompreis und die Preise anderer Lebensmittel öffentlich bekannt
machen sollen und daß danach bestimmt werden soll, wieviel
Lohn jeder mason, Zimmermann, Ziegeidecker oder anderer Bau-
liandwerker. Werkmann (Geselle) und anderer Arbeiter am Bau
^) ou affaires fehlt bei Begemann, ist aber wichtige
'] Das sind also freistehende verzierte Formsteine (Kapitale.
Zierate, Wappen, Fenster u. dgl.) im Gegensatze zu glatten kubischen
oder runden einfach besäumten Steinen.
*) Also den ganzen Bau in Enterprise zu geben, wobei dann
Meister und Gesellen den Bau übernehmen und auf Gewinn und Ver-
Itttt nach einem bestimmten Teilungsplane arbeiten.
*) Statutes at large Vol. L S. 302.
•) Ebenda Vol L S. 386.
208 Kapitel a
-sowohl im Herbste als auch in den anderen Jahreszeiten pro
Tag mit oder ohne Essen und Trinken zwischen den beiden
Abschnitten des Jahres (Sommer tmd Winter) erhalten soll.
Verordntmg auf Verordnung erfolgte, aber die Bauhandwerker
beruhigten sich nicht« Noch Heinrich VII. erließ 1494/95 ein
Oesetz^), das allen Gesellen die Zimfttracht und den Gebrauch
von Zeichen, d L Abzeichen, untersagte und den Kontraktbrüch
der Bauhandwerker unter Strafe stellte, also den Streik verbot.
Arbeiter, welche sich gegen einen Meister oder Bauherrn zü^
sammenrotteten oder ihn angriffen, sollten ein Jahr Gefängnis er*
Jialten« Die tägliche Arbeitszeit wird vom 15. März bib
15« September auf 5 Uhr bis zum Dunkelwerden zwischen 6 und
7 Uhr abends, in der übrigen Zeit von Tagesanbruch bis iuin
Dunkelwerden angesetzt mit 1 M St. Mittagszeit und H St. Früh«-
^tück und Vesper. Doch darf an Sonn- und Festtagen, deren es
ja eine große Menge gab, nicht gearbeitet werden^). Aber alTe
Akte stießen auf Widerstand tmd Schwierigkeiten bei ihrer
Durchführung, so daß der Konig mit dem neu berufenen Farial
mente im folgenden Jahre den erst 1495 festgesetzten Lohntarif
ganz wieder aufgeben mußte. Die Leute forderten nun offräbar
sehr stürmisch Stücklohn, statt des Tagelohns, isiuch spezielle
Forderungen tauchten auf. Schanz sagt'): „Am ineistien lärmten
die Londoner Bauhandwerker. Sie legten dar, daß es unbillig
!sei, ihnen den nämlichen Lohn zu diktieren, wie im übrigein
^gland, obgleich sie höhere Miete, teurere Xebensmittelpreise,
weit beträchtlichere Abgaben und Steuern zahlen müßten und
dazu noch mit verschiedenen Ämtern und Diensten belastdt
würden." Man mußte endlich nachgeben, experimentierte aber
zunächst noch hin und her; so gingen nur sehr langsam, gleich-
sam schrittweise und ganz ungenügend die Löhne auch unter
^Angezogen b«i Schanz a. a. O. Bd 1. S. 663. 11 Henry VII,
Kap. 22 in den Statutes at large nicht völlig abgedruckt. Bei Goidd
erwähnt I, 2. S. 366. ••?
') Es gab für diese Tage aber auch keinen Lohn. '
•) Bd I. S. 665,
Die Handwerker-Verbände. 209
den Tudors und den ersten Stuarts in die Hohe. Die Leute Itten
sicher Not| und das erklärt wieder den wtmdervollen Brandstoff
für die poh'tische Revolution von 1640, aber auch den Verfall
des sonst so vornehmen Baugewerbes in dieser Zeit^)*
Kapitel 9.
Die Handwerker-Verbände.
L Vorbemerkungen. Diese Genossenschaftsbildungen
amd die sich im Gegensatze dazu ergebenden Arbeiterverbands-
bildungen sind nicht die einzigen Organisationen im englischen
Handwerke, ja nicht einmal die urspränglichsten. Denn die Hand-
werker, die doch den Mittelstand in England bildeten, haben
mannigfache Interessen gehabt, soziale, geistige und religiöse, die
sie vertreten und gewahrt wissen wollten, die aber die Zunft
nicht genügend vertreten konnte. Nun ist im Mittelalter außer
der Kirche die Gesellschaft (Gemeinschaft) die einzige Form, die
man kannte, um einen wirksamen Einfluß auszuüben, da man
weder die Macht des Kapitals, noch die der willensstarken
großen Persönlichkeit richtig würdigte. Der Einzelne, selbst die
Familie, ist damals zu schwach und zu hilflos, um Ansprüche
durchzusetzen und sich gegen Angriffe wirksam zu verteidigen«
Die Individualität ist im Mittelalter nach unseren Begriffen
überhaupt furchtbar gerbg bewertet. Fast alles wurde durch die
Sippe, den Stand, die Korporation oder die Kommune, kurz
durch die Gemeinschaft gemacht tmd ausgeübt« Dazu kam, daß
die Regierung sich auch viel zu wenig vom Standpunkte des
Rechtes und der allgemeinen Wohlfahrt leiten ließ, daß Geld
auf sie einen sehr großen Eindrück machte, und daß es keine
festen Grundsätze und Nonnen für sie gab« Alles wurde durch
die Stände und Gemeinschaften vermittels Geldspenden besorgt,
^) Natürlich war das nicht der einzige Grund für den Verfall«
nicht einmal der wichtigste, aber doch einer unter andern.
14
210 Kapitel 9,
Pnvilegien erworben/ die doch die allgemeinen Gesetze durch-
löcherten und durchbrachen« und die Wirksamkeit der öfient^
liehen Beamten und der Gerichte oft lahm legten, ja schließlich
ganz mäit setzten, und Rechte errungen, die Private niemals
hätten erlangen dürfen, weil sie öffentlicher Natur waren^). Solche
Privilegien und Rechte zu erwerben, war. der Einzelne außer-
stande« Denn dazu gehörte eben viel Geld. Der König und
seine Großen waren eben ewig geldbedürftig; denn von Staats-
haushalts-Etat, Übersicht über die Finanzen, Staatsschatz usw*
war im Mittelalter noch gar ke:ne Rede. Es wurde verbrauchtt
was einkam, und meist noch Schulden gemacht. Da war der
Privilegienverkauf eine beliebte und immer wieder ergiebige
Quelle, um den leeren Beutel zu füllen. Ja, man verkaufte nicht
nur einmal das Privilegium (charter), sondern erpreßte durch
Bestätigungen der Urkunden immer wieder von neuem Geld
von dem Privilegierten. Darunter litten gerade die Handwerker-
Verbindungen am meisten. Das spätere Mittelalter ist in
England oft die Zeit emer völligen Ausraubung der Leute durch
den Zwang der Erneuerung ihrer Charters gewesen« Namentlich
wenn die Interessen der einzelnen Gemeinschaften sich wider-
sprachen, floß die Geldquelle des Privilegienverkaufs sehr reich-
lich. Dann begann nämlich ein Wettbieten um die Wahrung
berechtigter Interessen und um die Eroberung der gewünschten
Urkunden. Die Summen, die man bot, sind oft erstaunlich«
Denn wer das meiste bot und zahlte, erlangte das Recht und
die Urkunde als Beweismittel desselben. Wie hätte der Einzelne
das in dieser „guten, alten Zeit", wo derartige Regierungs-
grundsätze herrschten, aufbringen können. Schutz und I£lfe
boten da also nur die Gememschaften, die Genossenschaften«.
Auch gegenüber der Kirche war der ,JKauf ' das einzige
Schutzmittel für d:e Laien; denn diese hat immer „einen
guten Magen" im Mittelalter gehabt; dazu kam die Lehre von
den guten Werken. Man mußte fast für jede geistliche Handlung
zugunsten des Einzelnen, der Familie usw. zahlen; um die
^) Below: Der deutsche Staat im Ma. Bd 1. S. 261 8.
Die Handwerker-Verbände. 211
Gnadenmittel der Kirche zu erlangezii viele gute Werke tum
Kapellen oder Altäre und Geistliche unterhalten, Lichter brennen
und fromme Stiftungen machen. Dazu war der Einzelne aber
auch nicht in der Lage; die kirchlichen Pflichtesn waren sehr
kostspiel-g. Dafür konnte nur die Gemeinschaft helfen, namentlidi
im Mittelstande unter den Handwerkern* Auch vergesse man
iiicht, daß es im Mittelalter kein Versicherungswesen gab, so daß
der Einzelne in Krankheit, Not, Unfall und Gefahr dem Unheil
ohne jeden Schutz preisgegeben war* Nur Genossenschaften boten
dem Hilflosen Rettung, wenn er sich nicht der Barmherzigkeit
der Kirche, die diese allerdings in weitem Maße übte, oder
einzelner fremder Leute von einigem Reichtume anheimgeben
ivollte* Die einigermaßen wohl situierten Bürger hätten also
ihrerseits immerzu für Kranke und Arme, für Kirche tmd Kloster
zahlen müssen, wenn sie nicht hätten auf die Gemeinschaft ver-
'weisen und zurückgreifen können* Denn das Armenwesen war
noch wenig geregelt, die Armut und die Landstreicherei aber,
-wie wir sahen, groß^); es mehrte sich die Armut noch, sobald
eine Umwälzung oder Krse in der Volkswirtschaft eintrat, wie
bei Änderung der Betriebsformen in der Landwirtschaft oder im
Handwerke, bei Störungen im Handel, oder bei Brand, Pest und
Krieg* Und es kam fast in jeder Generation bei den mangel-
liaften Abwehrmaßnahmen und dem Mangel an Voraussicht
etwas vor* Namentlich die Arbeiter litten fürchterlich danmter*
Wenn ihr Herr starb, oder wenn sie selbst von Krankheit heim-
jgesucht wurden oder wenn sie gar arbeitsunfähig wurden, setzte
man sie ohne jedes Erbarmen auf die Straße** Dann waren sie
entweder dem Hungertode preisgegeben oder sie spielten, wenn
ftie noch einigermaßen kräft'g blieben, tapfer den Gauner;
mindestens aber bettelten sie ^). Die öffentliche Armenpflege war
^) Ashiey a. a. 0. U. S. 375 ff.
■) Der Prediger Lever sagte 1547 in einer Predigt vor dem
Könige: O du gütiger Gott, welch eine Menge Armer und Elender, vrie
Tiele Krüppel, Blinde, Lahme und Sieche, unter ihnen freilich auch
träge Landstreicher, und heuchlerische Schurken, kriechen und liegen
bettelnd in den kotigen Straßen ^mherl
14«
212 Kapitel 9.
sehr mangelhaft und vor allen Dingen ungleich, ja so unver-
ständig durchgeführt, daß sie der Verbreitung der Verarmung
eher Vorschub leistete, statt sie zu vermindern. Jedenfalls taten
d)e politischen Körperschaften, also Staat und Kommunen, für
die Armenpflege im Mittelalter so gut wie nichts. Die Armen-
pflege lag also fast ganz den Privaten oder den Kirchen und
Klöstern ob, war aber nicht ausreichend« So halfen denn nur
eigene Stiftungen und Spitäler^), d h. wieder die Gemeinschaft
der Privaten. Tanners Noticia Monastica (citiert bei Ashley)
fuhrt 509 solcher milden Stiftungen der Handwerker in England
auf, in denen sich in Wahrheit die eigentümlichste Form christ-
licher Nächstenliebe offenbart. Die Spitäler namentlich waren
die Zuflucht der Ärmsten, zugleich auch die Kranken- und
Armenhäuser der schiffbrüchigen Angehörigen des eigenen-
Standes. Man hatte hierzu eigene soziale Organisationen, die
das soziale und wirtschaftliche Elend zu mildem suchten; sie
trafen mit den Gemeinschaften zusammen, welche die Interessen
des Standes vertreten sollten.
Die so zahlreichen Verbindungen der produktiven Be-
völkerung in England, also der, Kaufleute, Handwerker und
Landwirte und späterhin auch die der Arbeiter sind so
mannigfaltig, so bunt und so verschieden in ihren Zwecken und
Zielen, daß man sich bei der Menge derselben sehr hüten muß^
sie miteinander zu verwechseln oder sie zu vermischen, was
um so leichter geschehen kann, als sie fast niemals ein ganz
reines und normales Schema zeigen: sie vereinigen sich mitral-
ander, trennen sich wieder voneinander und bieten dem Forscher
ein schier unentwirrbares Knäuel von Individualitäten. Oft ist
auch ihre Entstehung dunkel, oft werden dieselben Namen für
verschiedene Verbindungen gebraucht, oft endlich verkriechen
sich unter alten Formen neue Zwecke und befördern innerhalb
älterer Verbindungen die Bildung besonderer Kreise, die daxm
schwer zu erkennen und noch schwerer auseinander zu halten
') Ashley a. a. O. IL S. 340 ff.
Die Handwerker-Verbände. 213
sind« Im Ganzen kann man drei groBe Gruppen von Vereini-
gungen unterscheiden: die Brüderschaften, die Gilden und die
Zünfte« Das Hauptkontingent zu allen dreien stellen Kaufleute
und Handwerker; doch kommen bei ihnen allen, namentlich in
q>äterer Zeit, auch Geistliche, Gentlemen und Adlige von
Brüderschaften und Gilden haben aber mit dem Handel und
dem Gewerbe eigentlich gar nichts zu tun, da sie keine Berufs-
organisationen sind, doch nehmen die Gilden seit dem 13. Jahr*
hundert langsam fachmännischen Charakter an, um schließlich
mit der Zunft vielfach vermischt zu werden, so daß der Volks-
mund das Wort Gilde ganz gleichbedeutend mit Zunft
gebrauchte.
2. Die Brüderschaften sind religiöse, oder besser
gesagt: religiös-soziale Vereinigungen von allerlei Leuten, welche
ursprünglich ganz aus Geistlichen und zugewandten Brüdern be-
standen, später mit Unterstützung, oft genug wohl auch auf Ver-
anlassung der Kirche gegründet wurden, um fromme Werke zu
tun, etwa Seelenmessen zu lesen, Kerzen zu unterhalten,
Kapellen zu erbauen. Kranke und Sieche zu verpflegen, Arme
2u unterstützen, Begräbnisse und Requien zu veranstalten und
dgl. m.% Wir hörten schon, wie viele Stiftungen man gerade
diesen Brüderschaften verdankte und in wie enger Verbindung
sie gerade mit den Spitälern und Armen- und Siechenhäusem
standen. Im Großen tmd Ganzen sind also ihre finanziellen
^) Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie solche Brüderschaften
eiotstehen, bietet das Testament des Sir John Fastolf aus dem Jahre
1459. (s. Ashley a, a. O. IL S. 139). Dieser begründete in dem kurze
Zeit vorher von ihm erbauten Edelsitze zu Castre eine aus sechs
Geistlichen und sechs armen Leuten und natürlich ihm selbst und
feiner Familie bestehende Brüderschaft zu dem Zwiecke, daß für sein
und seiner Gattin, für seines Vaters, seiner Mutter und anderer ihm
verbundener Leute Seelenheil in Ewigkeit gebetet werden soll. Das
Grundkapital dieser Brüderschaft, die dann durch Hinzutritt anderer
Leute fortgesetzt wurde, bildet ein Landbesitz, dessen Erträgnis zur
Bezahlung der Kosten des Bundes und zu Armesunterstfitzungen hin-
reicht Die Mitglieder der Brüderschaft nennen sich Brüder,
214 Kapitel 9.
Kräfte gottesdienstlichen und sozialen Zwecken geweiht; sie
bezahlen einen oder mehrere Priester, sie ersetzen auch emiger-^
maßen unsere heutigen Kranken-i Alters- und Invalidenkassen^
widmen bei mangelnder SchulpfEcht ihre Sorge der Erziehung
armer Kinder, errichten Schulen und bezahlen den Lehrer,
Auch iäi die Witwen und Waisen der Brüder wurde gesorgt
Sehr wichtig ist femer die Unterstützung der Mitglieder unter-
emander in Not und Unglück« Namentlich der Loskauf der in
Gefangenschaft geratenen Brüder ist Pflicht der Brüderschaft;
In einigen vereinzelten Fällen wird es auch den Mitgliedern g(^
stattet, der Kasse der Brüderschaft einen genügenden Betrag zu
entlehnen, um damit ihrem im Niedergang begriffenen profanes
Geschäfte i/^eder aufzuhelfen^)« Doch handelte es sich, wie
Ashley nachweist, bei Unterstützungen armer Mitglieder selten
um fortlaufende Spenden; jedenfalls hatten die Brüder auf solche
keinerlei Anspruch«
Diese Brüderschaften haben oft nicht alle diese Zwecke zu-*
sammen, sondern nur einen einzigen oder zwei aus der ganzen
Gruppe: sie sind z« B, nur Begräbnisbrüderschaften, nur Spital-
brüderschaften, oder wie bei dem Beispiel des Sir John FastoK
nur für eine Familie und deren Freunde gegründet Die -Be-
schränkung der Zwecke auf ein einziges Objekt oder einen be-
stimmten Kreis wird immer häufiger. So entstehen innerhalb
der Städte oft Brüderschaften nur von Handwerkern, imd zwair
dann meist unter Handwerkern desselben Gewerkes« An sidi
haben die Brüderschaften also mit dem Handwerk als solchen
xiicht das geringste zu tun; aber da die Handwerker als Nährstand
gerade am meisten geneigt waren, für solche religiös-sozialen
Zwecke das zu geben, was sie konnten imd was ihrem Ver-
mögen gemäß war, weil in ihnen das fromme Bedürfnis, die
notige soziale Einsicht und das gutmütige Mitgefühl ani
kräftigsten lebte, so sind Brüderschaften bei ihnen gerade am
häufigsten«
^) Ashley: Englische Wirtschaftsgeschichte. Bd 2. S. 347.
Die Handwerker-Verbä&de. 215
Aue Bruderschaften schließen sich an bestimmte Kirdien
«n; doch sind sie trotzdem nicht eigentlich lokaler Natur, sondern
verbreiten sich oft über das ganze Land; mindestens halten sie
gute Verbindung untereinander mit gleichartigen Brfiderschaf ten
in den verschiedenen Orten^). Alle haben einen bestinunten
Schutzheiligen; sie besitzen oft trotz ihrer großen Ausgaben, die
iae für ihre frommen und s(malen Zwecke, für Feste und Sffent-
Sdie Veranstaltungen haben, em beträchtliches VermogeiL Bei
Streitigkeiten zwischen den Brüdern ist es verboten, vor den
ordentlichen Richter zu gehen, da die gewählten Beamten der
Genossenschaft die Klage schlichten und den Schuldigen bfißea
lassen. Aber selbst wenn die Brüderschaft im Wesentlichen von
einem bestimmten Handwerke ausgeht, und ihre Mitglieder
vornehmlich unter den Gewerksgenossen sucht, so ist die Er-
werbung der Mitgliedschaft doch nicht notwendig an den Betrieb
des Handwerkes gebunden, sondern es kann jeder sittlich und
religiös korrekte imd unbescholtene Mann, wes* Standes er auch
sei, mit Wissen und Willen der Brüder in die Brüderschaft ein-
treten, sobald er die Zwecke der Brüderschaft ernsthaft mit zu
verfolgen verspricht und sich verpflichtet, die Gebühren zu
zahlen, die Statuten zu halten und an den Lasten der Gesell-
scihaft teilzunehmen. Das Beitreten des Ansuchenden ist aber
immer freiwillig. Audi ideell sind alle Mitgliedier verbunden,
ihren durch die Brüderschaft entstandenen kirchlichen und sozi-
alen Pflichten nachzukommen, also zu beten, der Messe für das
Seelenheil verstorbener Mitglieder und der Stifter beizuwohnen,
kranke Brüder zu besuchen und zu pflegen u. dergl. m. Die
') über sie s. Ashley: Englische Wirtschaftsgeschichte. Bd. 2.
S. 138 B.; Eberstadt: Magisterium und Fratemitas. S. 171 ff.; Totdmin
Smith: English gÜds 1870. S. LXXXI.
') Man kann also in Norwich wohnen und ist aus irgendeinem
Grunde Mitglied einer Brüderschaft in London. Manche Brüder«
Schäften erstrecken sich über das ganze Land, z. B. die Steinmetzen-
Brüderschaft. Natürlich haben diese dann lokale Organisationen« aber
alle Brüder können in jede dieser Unterabteilungen als Brüder ela-^
treten und wirken.
216 Kapitel 9;
Brüder vereinigen sich in vierteljährlichen oder doch in jahrlich«
Versammlungen, mn ihre eigenen Angelegenheiten zu beraten
und zu besoigen. Daran schließt sich dann meist ein Fest. Die
Mitglieder tragen besondere Kleidung ode^r Abzeichen an ihrenr
Anzüge und haben geheime Zeichen, um sich untereinander zu
erkennen; sonstige Geheimnisse pflegen sie nicht zu haben« vor
altem keine geheimen Gebräuche und Kulthandlungen, so daft
von feierlichen Aufnahmegebräuchen usw, hier zunächst nicht'
die Rede sein kann. Auch bei der Brüderschaft der Steinmetzen^
die ihre starken Besonderheiten hat, ist im Anfange davon gar
keine Spur zu finden; erst später haben sich, wahrschemlicrh
unter deutschem Einflüsse^), Steinmetzengebräuche bei der Auf-
nahme emgeschlichen, allein auch nur bei der Brüderschaft der
Steinmetzen, bei keiner anderen. Wohl aber besitzen viele
Brüderschaften eine bestimmte Geschichte ihres Ursprungs, die
nach der Sitte der Zeit lediglich Legende ist.
3. Die Gilde') ist eme uralte, schon in der heidnischen
Zeit im Norden Europas entstandene Vereinigung von Familien-
angehörigen oder Mitgliedern einer tmd derselben Sippe, später
auch von Freunden und schließlich von allerlei Leuten, nament-
lich Nachbarn zu gottesdienstlichen Handlungen und zu Gelagen^
welche sich an Opfer, Eheschließungen, Totenfeiern usw. anzu-
schließen pflegten'). Die Gilden sind also zunächst lokaler Natur,
^) Dagegen Baume in: ZC. Jg. 27. 1898. S. 325 ff.
*) Die Literatur s. in dem Handwörterbuch für Staatswissen-
schaften. 3. Aufl. Bd 5. S. 11 ff.; vor allem s. Wilda: Das Gildewesen
d. Ma.; Maurer: Städteverfassung; Gierke: Genossenschaftsrecht Bd 1.;
Brentano: Arbeitergilden. Bd 1; Toulmin Smith: English gilds; Gross:
Gilda Mercatoria. 1883; Gross: Gild Merchant. Bd 1. 2. Oxford 1890.
Sieber. in: Archiv für Kulturgeschichte Bd 11. 1914. S. 453 ff., Bd 12.
1914. S. 56 ff.; Waiden: Beiträge z. Vorgesch. d. FrmreL H. 1.
') H. Paul im Wörterbuch: Gilde bezeichnet ursprünglich eine
zu gegenseitigem Rechtsschutz geschlossene Verbindung. Das Wort
ist aus „gelten" abzuleiten, nach dem gemeinsamen Opfergelage,
welches zu der Institution gehörte; Weigand: Deutsches Wörterbuck
sagt: Gilde ist eine zu gleichem .Geschäft und Zwecke verbundene
Körperschaft. Das Wort stammt von ghilde, gelten = opfern, be-
deutet also Opferschmaus.
Die Handwerker-Verbände« 217
werden aber schnell intermunizipal, ja europäisch; alle Gilden
-verfolgen neben Wahrnehmung berechtigter Interessen auch ge-
sellige und religiöse Zwecke*] und schließen sich sozial voll-
sfandig ab.
Die ältesten Gilden sind die sogenannten Opfergilden;
sie haben sich lange erhalten, bis tief in die christliche Zeit hinein,
^verschwinden dann aber, w:ahrscheinlich, weil sie anderen Ge-
bilden ähnlicher Art Platz machten oder in ihnen aufgingen. Ihr
Zweck war die Darbringung von Opfern, Rechtsschutz und
Gelage.
Hierhin gehören namentlich die ihnen ähnlichen Nach-
1) arg il den'), welche die Vollfreien auf dem Lande innerhalb
gewisser Bezirke zusammenfaßten. Ihre Zwecke waren Rechts-
schutz, wirtschaftliche Hilfe, namentlich bei Brand, Krieg und
Teuerung, Geselligkeit und gemeinsame religiöse Übungen. Die
Gemeinschaft war so eng und vollständig, daß Gilde und Bauer-
sdiaf t oft ganz identisch war, so daß sie der späteren Vollbürger-
güde in den Städten, die aus den Nachbargilden wohl auch
hervorgegangen sind, völlig gleichen. Das heidnische Wesen bei
Gelagen und Leichenfolgen dieser Gilden war noch sehr stark
und erhielt sich auch in ihrem übrigen gesell'gen Leben deutlich,
so daß Bischof Hinckmar v. Rheims noch 852 sich genötigt sah,
in einem besonderen Erlasse sich dagegen zu wenden. Die Gilde-
brüder band ein Eid.
Bei der Entwicklung dieser Gilden sind nach Sieber vor-
nehmlich drei Kräfte wirksam gewesen: Christentum, der staat-
fiche Verfall und die wirtschaftlichen Wandlungen im 10. und
11. Jh. Namentlich in Dänemark und England wurde der Rechts-
sdiutz immer notwendiger und darum in den Gilden immer
mehr betont. In späterer christlicher Zeit also, als der Ge-
^) Gross: Gilda mercatoria S. 10 Anm. 2 sagt: Folgender kurzer
Satz umfaßt den ganzen Zweck der Gilden: securitatem enim et
salutem tum in hac tum in futura vita tamquam propositum pro-
fitebantur.
') Über diese Nachbargilden s. namentlich Sieber a. a» O.
S. 470 ff.
218 Kapitel 9.
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schlechterverband sich aufgelost hatte, aber weder die Lehns-
Verfassung noch das Städtewesen genügend Schutz gegen
Raubereien und Anfalle aller Art boten, bildeten sie den Ersatr
für den Staat und waren eine Notwendigkeit Indem die Nachbarn
sich so zu Schutzgruppen zusammenschlössen, bekam die Gilde
eine neue mehr einseitige Aufgabe und ihr Zweck eine neue
Riditung. Diese neue Art Gilden, gewohnlich Friedend*^
oder Schutzgilden^) genannt, ist gerade in England sehi^
alt (vor der normannischen Eroberung) und weit verbreitet ge-
wesen« Sie sind echtes nordisches Eigentum und finden sich in
England schon in den Gesetzen der Könige Alfred, Ina, Athelstan
und Heinrich I. erwähnt; sie sind uns aus den Statuten detf
Schutzgilde zu Cambridge gut bekannt'). So wirkungsvoll audi.
der Königsfriede in England gewesen sem mag, in den bösen
Zeiten des Verfalles der Königlichen Macht sind die Gilden
doch zweifelsohne der einzige Hort und Hüter des Landfriedens
überall im nordischen und mittleren Europa gewesen« Es bt
bekannt tmd auch in der Einleitung zu Smith: English Gilds
ausdrücklich erwähnt, daß die Judicia Civitatis Londoniae nichts
weiter sind als autonomisch verfaßte und vom Könige bestätigte,
meist aus Athelstans Regierungszeit stammende Satzungen für
die Londoner Schutzgilden; diese hat der König nun aus Zweck-
mäßigkeitsgründen zu einer einzigen großen Gilde veremigt Es
ist sogar nicht unwahrscheinlich, daß die Schutzgilden wenigstenii'
indirekt schon durch König Alfred den Großen, vielleicht schon
durdi Ina als öffentliche Rechtsinstitute anerkannt worden sind*)«
Die Gesetze (Judicia) zeigen die Schutzgilden noch als reine
Nachbargenossenschaften*), welche neben dem Hauptzwecke,
^) 8. über diese in England: Cunningham: Industrie und Handet
Englands, übers, von Wilmanns. Halle 1912. S. 222. C. schätzt diese
Gilden in England nicht so hoch, wie die gleiche Institution ia
Frankreich.
*) s. Smith: English guilds.
*) Sonnenkalb in: ZC. NF. DL S. 280, wo auch die ganze Literattir
angegeben ist.
■ ) ^) Sinith sagt a. a. O.: Guilds wer« associations of those liviag
in the same neighbourhood.
Die Hanihrerker-Verbände. 219
den Mi^edem S^utz gegen den Feind tmd auf Rmsen zu ge-
wahren« auch noch immer reli^Gse und soziale Zwecke als
Wesenfliche Nebenaufgaben haben, nämlich die, für das Seelen-
heil der Gfldebrfider und für die Beständigkeit des Gefühls der
Liebe zu Gott unter ihnen zu sorgen« sich gegenseitig in der Not
zu unterstützen und gute Freundschaft und Nachbarschaft
imtereinander zu halten« Dieser Charakter der religiösen Ge-
meinschaft ist dami auch den späteren englischen Gilden« wie
Tersdiiedenartige Färbung sie auch annehmen« immer geblieben;
sie führen in ferneren Jahrhunderten« als von Schutzgilden schon
gar keine Rede mehr sein kann« fast alle ohne Ausnahme ihren
Kamen nach Kirchen und Heiligen« Der Unterschied zwischen
Gilde und Brüderschah ist schließlich in dieser Hinsicht allein
der« daß jene auch Frauen als Schwestern aufnahm« diese aber
nicht« wenigstens in späteren Jahren sicher nicht mehr. Außer-
dem unterscheiden sich beide dadurch« daß die Brüderschaften
sich über das ganze Königreich« ja oft über das ganze christliche
Europa erstreckten« die Gilden aber lokal sind Daß in den Zu-
sammenkünften der Gilden — meist 3 oder 4mal im Jahre« um
die Angelegenheiten der Gilde zu erledigen — für die nötigen
Mahlzeiten und Trinkgelage gesorgt wurde« versteht sich bei
dem germanischen Charakter der Einrichttmg von selber.^)
Koch heute bestehen Reste dieser Schutzgilden in den
Schützengilden.
Zu den Schutzgilden gehört auch die sogenannte C n i h t e -
g ! 1 d e (Groß: Gilda mercatoria S. 19 ff.)« eine Gilde der Mini-
sterialen von London und wahrscheinlich auch anderer Städte
^) Sieber a. a. O. S. 476 f. bemerkt, daß die Londoner Friedens-
^den unter Athelstan womöglich alle Monate Trinkgelage unter
Kttltgebräuchen [?] abhielten. Oft dauert das Gelage 3 Tage.
Am 1. Tage fand ein Hochamt statt, am 2. erfolgte die Aufnahme von
neuen Gildebrüdem und die Berechnung der Abgaben, und am 3. verlas
»an die Gildegesetze und traf eventuelle Änderungen und Ent-
scheidungen. Die Schwestern hatten Zutritt zum Gelage, aber nicht
^n den Beratungen. Noch im Jahre 1070 sollen in England Gildehäuser
einsam im hügligen Gelände gestanden haben, was auf ihren Ursprung
von den Bauernschaften hinweist.
220 Kapitel 9.
zum Schutze ihrer Interessen und der öffentlichen Sicherheit^
Diese Gilde bildet den Übergang zu den Gilden der norman-
nischen Periode und umfaßt zunächst nur Leute dieses Standest
Die Cnihtegilde löste sich später auf, was vielleicht damit im
Zusanunenhang steht, daß die Gilde den Ausgangspunkt üir did
spätere Gilda Mercatoria bildete und dann vollkonmien in diese
oder die Vollburgergilde aufging.
Entstanden waren die Schutzgilden zur angelsächsischen
Zeit ganz tmabhängig vom Städtewesen unter den Freien des
Landes, gleichsam bezirksweise, in Stadt und Land. Als dann
die Städte sich vom flachen Lande abhoben'), vereinigten sich
hier die Schutzgilden über das ganze Weichbild, so daß sie
wie wir an dem Beispiele Londons zur Zeit Athelstans sehen,
bald alle Vollbürger umfaßten, d. h. alle Freien, welche
Grundbesitz in der Stadt besaßen^). So wird aus den bloßen
^) über die Entstehung der Städte und deren Verfassung gibt
es eine ganze Literatur. Below (Vierteljahrsschrift für Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte Bd 7. 1909. S. 411 £f.) sagt, daB in der ma. Stadt-
verfassung hauptsächlich 5 Bestandteile als unterscheidend hervor-
treten: Am Orte der Stadt existiert ein Markt. Der Ort ist befestigt
Für das Gebiet der Stadtgemeinde ist ein besonderer Gerichtsbeziric
abgegrenzt. Die Stadt ist selbständiger als die Landgemeinde und hat
mehr kommunale Organe als diese. Die Stadt hat in militärischer und
finanzieller Hinsicht Privilegien. Dazu kommt als sechstes das Recht:
Stadtluft macht frei, ein Recht, das sich aber erst im 12. Jh. bildete.
Über die Entstehung der städtischen Verfassung gibt es die ver-
schiedensten Theorien. Viele sind beseitigt; die wichtigsten sind heute:
Die Stadtverfassung entsteht aus der Vollbürgergilde (Joachim). Dann
die von Below: Die aufkommende Stadtgemeinde hat sich an die
ländliche Ortsgemeinde angelehnt; die städtische Gemeinde ist die
Burschaft, das städtische Bürgerrecht wird als Burrecht bezeichnet
usw. — Ich finde, daß diese Ansichten sich beide gut vereinigen
lassen. Denn da Nachbargilde und Burschaft sich allmählich voll-
ständig decken, so ist es ganz gleich, ob man die Stadtverfassung au»
der einen oder andern herleitet; es sprechen für beide Theorien gleich
viel Gründe. «
') Der Grundbesitz und die persönliche Freiheit ist überhaupt
lange Zeit das Hauptmerkmal des Vollbürgertums. in der Stadt, nicht
der Stand.
Die Handwerker- Verbände. 221
Nachbargilden eine einzige große Vollbürgergilde in der
Stadt; es war das also eine Vereinigung der Vollfreien zu
Rechtsschutz und Frieden in der Stadt.
Aus dieser Bürgergilde heraus entsteht nun in allen Ländern
niedersächsischer Zunge, vornehmlich aber in England nach der
normannischen Eroberung am Ende des 11. und im 12. Jahr-
hundert, nach wechselnden Schicksalen und wahrscheinlich nicht
unerheblichen Kämpfen eine große Kaufmannsgilde,
also eine Vereinigung von Nur-Kaufleuten und auf dem Markte
Waren feilbietenden Detaillisten, eine Gilde, die in England den
Namen „guild merchant" führt'). Die Normannen hatten
für den Engländer Europa gleichsam entdeckt, den Verkehr nach
den normannischen Häfen frei gemacht und den Handel mächtig
gehoben« Da aber die dadurch entstehenden Überseehandel trei-
benden Kaufleute bei dem unsicheren binnenländischen und
überseeischen Verkehre besonderen Schutz und Sicherung nötig
hatten, schlössen sie unter Gildeformen besondere, wenn
nicht internationale, so doch intermunizipale Standes- oder
Berufs-Vereln'gungen zur Aufrechterhaltung von Schutz,
Frieden und Rechtssicherheit des überseeischen und binnen-
ländischen Handels in heimischen und fremden Ländern,
Zwecke, zu denen dami bald die Aufrechterhaltung des durch
besondere Privilegien wohl gesicherten Handelsmonopols und
der Marktpolizei in den Städten kam^). Das Letzte
wurde bald die Hauptsache, da die Rechtssicherheit unter
dem starken Königtume wuchs« Die Kaufleute suchen bald
eine Grenze zwischen sich und Handwerkern zu ziehen«
^) Man verwechsle diese niclit mit der Company of Merchants,
die eine ganz gewöhnliclie Berufsvereinigung (Zunft) der Kaufleute ist.
Die Guild merchant, auch wohl Commonguild genannt, umfaßte von
vornherein alle auf dem Markte Waren feilbietenden Vollbürger, also
auch Handwerker, Krämer, Fischhändler usw.
*) Nitzsch in den Monatsberichten der Akademie der Wiss.
in Berlin 1879. Die Resultate dieser feinen Untersuchungen sind sehr
stark angefochten worden und z. T. heute beseitigt; in der Haupt-
sache hat N. aber wohl Recht, was auch Schmoller namentlich für die
niederländische und englische Gilde zugab. Vgl. Smith a. a. 0.
222 Kapitel 9.
Die älteste aller Kaufmaxmsgilden in England ist die Gese]l$cha{t
der deutschen Kaufleute oberhalb der London Bridge die
^Steelyard Merchants Guild'\ die älter ist« als irgendeine ähn-
liche Gilde in England, weswegen auch nachher nach dieser
hanseatischen Gilde die englischen Kaufmannsgilden 9,gu3d
merchant or hanse" heißen; die ältesten Kaufmannsgilden« die
ganz aus Engländern bestanden« dürften die von Burford und
Canterbury sein« die beide noch aus dem Ende des 11. Jhflu
stammen. Oft hat man sie — wenn man Gross (Gilda mercatoria
S. 32) glauben darf — wohl einfach dadurch begründet« daß man
die schon vorhandene Cnihtegilde in eine Gilda Mercatoria um-
wandelte« da die Ministerialen vielfach Handel trieben und die
Grundmauer der Kaufmannschaft bildeten. Diese Gilden ver-
mehrten sich schnell: aus dem Anfange des 12. Jahrhunjderts
kennen wir solche Gilden« — nicht in London« wo eine Guild
Merchant merkwürdigerweise überhaupt nicht vorkommt —
bereits in vielen Städten^). Es gab aber wohl damals schon noch:
S. XXXm ff.; Ashley a. a. O. Bd 1. S. 69 &.; Gross: Gilda mercatorU
Göttinnen 1883; derselbe: Guild merchant Bd. 1. 2. 1890. Die wichtigstem
Vorrechte der Gildebrüder sind: das Vorrecht, jede Art von Handel
innerhalb der Stadt zu treiben, Zollfreiheit innerhalb der Stadt und an
allen Kgl. Zollstellen außerhalb der Stadt, Gerichtsexemption der Gilde-
bnider und das alleinige Recht, Waren im Ausschnitt zu verkanlen«
Gross a. a. O. L S. 43 ff. Arundell behauptet, daß eine solche Gilde
schon in d^r angelsächsischen Zeit in einer Urkunde von 967 vor-
komme, was aber wohl 997 heißen muß; und das ist auch kaum
glaublich.
^) Nach Gross: Guild merchant. I. S. 5 geschieht die älteste
deutliche Erwähnung einer Guild Merchant in einer von Robert Fitz
Hftmon den Bürgern von Burford verliehenen Charter (1087 — 1107)
(abgedr. Bd IL S. 29) und in einer von Anselm v. Canterbury (1093
bis 11C9) ausgestellten Urkunde (abgedr. 11. S. 37), in welcher die Chap*
man Guild (Kaufmannsgilde) von Canterbury 8 Häuser gegen 9 andere
vertauscht. Die Gilde war damals also schon sehr wohlhabend. Bd L
S. 9 ff. gibt Gross eine Liste aller Städte, in denen er Guilds merchant
gefunden hat: 102 in England, 30 in Wales, 38 in Irland. — Das Eish»
Irittsgeld in die Gilde heißt zuweilen Hanse z. B. in Leicester. In
Andover gab es 2 Guilds merchant, eine höhere, die man freeguild
Die HuiilwcriLer*VerbiBde. OO^
nelir Guild Mercilaiit's, ab wir aus den Urknodeii kenseo
lernen, jedenfalls entstanden spater immer mehr davon. IXese
Gilden mußten sich nun mit den Voüburger^lden in den Städten
auseinandersetzen« da sie diese durdi die Intermmiizipalitat
durchschnitten; sie haben das getan, indem sie die.VoIIbarger-
flden glelcfasiam für sich eroberten und zu KauhnannsgQden
machten. S:e drängten dabei die Handwerker aus der VoD-
bfirgergilde fast vollslandig heraus. Wollte ein Handwerker in
der Gilde bleiben oder neu eintreten, so mußte er das Hand-
werk abschworen. Diese Guüd merchant bemächtigte sich also
um 1100 der Vorteile und Privflegien der alten VoIIburgergilde,
wenn diese mcht, wie in London, fiberhaupt bestehen bGeb, so
daß schon um diese Zeit guild merchant und VoDburgergilde
fiast vollkommen identisch war^). Die herausgedrfickten Hand-
aannte nnd eine niedere, lianse guild geheißen. (Gross L S. 31). — Ich
verdanke diese Angaben z. T. Herrn Oberamtsrichter Sonnenkalb,
welcher über diese Angelegenheit sehr eingehende Stndien gemacht
hat, die er hoffentlich bald selbst yeroffentlichen wird.
. '] 8, Gross a. a. O. L S« 43. In einem Freibriefe Eduards I. von 1294
Ifir Lyme Regis heiBt es: quod Villa nostra de Lime in Comitatu Dorset
de cetero Über burgus sit et quod homines efusdem Villae sint liberi
bnrgenses. Jta qnod Gildam habeant mercatoriam cum omnibus ad
hmusmodi Gildam spectantibus in Burgo predicto et alias Libertates
et liberas consuetudines per totam Angliam .... — Es müssen
da heftige Kämpfe stattgefunden haben, die Brentano und Ashley
auch erwähnen, Cunningham (S. 402 ff.) aber nicht anerkennen wilL
Es scheint aber doch so, daß die guild merchant erst Schwierigkeiten
tiatte 9ich durchzusetzen, s. auch Cunningham S. 257: „wir befinden
uns auf ziemlich festem Boden, wenn wir sagen, daß die Kaufmanns-
gilden nicht kapitalistisch, auch nicht mit der Stadt identisch waren
und keine Zivilgerichtsbarkeit ausübten." Das hat niemand bestritten.
Lu Ganzen ist das Verhältnis von Kaufmannsgilde zu den Hand-
werkergilden viel umstritten; ich gebe also hier meine perspnliche An-
sicht wieder, die sich sehr an die meines Lehrers Nitzsch anlehnt.
Gross a. a. 0. Bd 1. S. 106 ff. bestreitet entschieden, daß allgemein die
Handwerker, insbesondere die Weber und Färber aus der guild mer-
chant ausgeschlossen gewesen seien; gewisse Weber und Walker
hatten allerdings in London. Beverley, Oxford, Marlborough und
Winchester nicht das volle Bürgerrecht besessen und seien darum
224 Kapitel 9.
weii^er waren damit in ihren Rechten sehr gemindert, nameni-
Cch im Verkaufe ihrer Waren beschränkt mid vom Markte so
gut wie ganz verdrängt; da sich die Mitglieder der Guild
merchant einfach des Handelsmonopols bemächtigten, ist es
kein Wunder, daß die Handwerker sich alsbald zur Wehre
setzten«
Die Statuten dieser Kaufmannsgilden^) s:nd in allen Städten
fast ganz gleichartig, wie audi ihre Verbssung. An der Spitze
steht ein alderman pn Chichester ein Magister, der stets der
ansgeschlossen gewesen [???]. Das ist für das 14. Jahrhundert richtig,
nicht aber für das 11. und 12. Gross übersieht' ganz die Vollbürger-
gilde, die Nitzsch und Ashley so sehr betonen. In London, wo es nie
eine Guild Merchant gab, ist diese Vollbürgergilde von Athelstan ge-
schaffen und immer bestehen geblieben, in anderen Städten ist es
wahrscheinlich ebenso gewesen« Das ist keine Ausnahme. Die Er-
richtung einer Guild Merchant ist ein Recht, das der König an die
Liberi Burgi verleiht (Gross: Gilda Mercatoria S. 33; Urk. König
Johanns für Ipswich, 25. Mai 12C0: et quod habeant gildam mercatoriam
et hansam suam; Ibid. S. 34), was Gross ganz übersieht. Wo keine
Gilda mercatoria entsteht bzw. geschaffen wird, da sie immer ver-
liehen wird, bleibt offenbar die Vollbürgergilde, aber das Resultat
ist dasselbe: Überwiegen von Kau^annsstand und Ministerialen.
Verdrängen des Handwerkers von den Verkaufsständen des Marktes,
Verbieten des Verkaufs von Waren im Ausschnitt, namentlich von
Tuchen, und weitere Übergriffe, namentlich der, daß die Kaufleute
fertige Waren ihrer Branchen verkauften, wie die Handwerker selbst.
Dagegen wenden sich die Handwerker und setzen ihren Willen durch.
Nun ist die Verfassung ganz demokratisch. So sind später, wie
Gross: Guild Merchant Bd 1. S. 107 richtig sagt, alle Handwerker
als Kaufleute angesehen und verkaufen ihre Waren im Laden (Werk-
statt) und auf offenem Markte; nun sind Handwerker z. T. in der
Stadtverwaltung usw. Übrigens waren von vornherein nicht alle
Einwohner der Stadt in der Guild Merchant; man konnte sogar Bürger
einer Stadt sein, ohne ihr anzugehören (s. Gross: Gilda mercatoria
S. 47).
^) Wir kennen solche von 4 Städten, Totnes, Southampton, Lei-
cester und Berwick s. Ashley a. a. 0. Bd 1. S. 69. Gross führt noch
weitere aus späterer Zeit an.
Die Handwerker-Verbände. 2? !5
Mayor der Stadt ist), neben ilim 2 — 4 Aufeeher (wardens) ^) oder
auch Schöffen (echevins); hin und wieder finden sich auch
Stewards. Diese Gildebeamten äbten im Namen und unter Auf-
sicht des stadtischen Magistrats das Aufsichtsrecht in Handels-
sachen und die volle Gerichtsbarkeit in dieser Materie als Gilde-
recht aus. Die Gilda mercatoria ist damit ein organischer Be-
standteil der Stadtverfassung« Es war nicht ausgeschlossen, daQ
etadtfremde Kaufleute mit Zustimmung der Gildemitglieder gegen
Zahlung eines ziemlich hohen Eintrittsgeldes Mitglieder der eng-
lischen Gilda mercatoria wurden, vorausgesetzt natürlich, daß
M Grundbesitz in der Stadt besaßen oder erwarben. Indessen
wurde eine wirkliche Niederlassung des „Fremden" in der Stadt
xiicht gefordert. Das Handelsmonopol besaß die Gilde als Recht
und suchte dieses, wie wir sahen, durch Verengerung des Be-
griffes ,JCaufmann" auszudehnen^); Freisassen aller Art behielten
allerdings das Recht, in allen englischen Städten Lebensmittel
mautfrei zu kaufen oder zu verkaufen, sonst wachte die Gilde
aber sehr streng über ihrem Monopole tmd hinderte die Hand-
werker, namentlich die Weber, an dem Verkaufe von Aus-
schnitten ihrer Waren auf dem Markte^), ja, die Gilde zwang
fedes ihrer Mitglieder durch Eid, Jeden anzuzeigen, „der inner-
halb der Freiheiten der Stadt Handel treibt und im Stande ist«
in die Gäde einzutreten *. Fremde Kaufleute, die Nichtmitglieder
^) Ward ist nicht unser worth, warden ist vielmehr wart =
Tumwart usw. Wardens sind also nicht, wie manche annehmen,
nrsprunglich die ^ Viertelmeister, Quartier-Bürgermeister, Polizei-
meister des Bezirks, sondern Aufseher. In dieser Bedeutung heißen
die warden custodes oder guardiani. Manche z. B. das Grimmsche
Wörterbuch leiten das Wort von dem angelsächsischen weard = alt-
hochdeutsch wart = Wächter, Hüter, ab.
*) Cunningham a. 'sl, 0, S, 257»
*) In Wirklichkeit stand ja der Einkauf von Rohstoffen und der
freie Verkauf der eigenen Fabrikate dem Handwerkej: von Rechts
wegen zu und wurde nicht bestritten; es handelte sich also wesentlich
um den Verkauf von Ausschnitten, Einzelstücken und fremden
Fabrikaten«
15
226 Kapitel 9.
— / .
der Gilde waren, durften ,,init Qnwilligung der Bürger * *) Handd
in der Stadt treiben« eine Erlaubnis, die sie zunächst deswegen
oft erhielten, weil man von ihrer Einfuhr Vorteile für den
Handel selbst erhoffte und auch tatsächlich dadurch erzielte^
daß man ihnen einen gehörigen Zoll auferlegte. Einzelnen Gilde-
mitgliedem, die alle den Vorteil hatten, zollfrei innerhalb dei
Stadt zu sein und alle Produkte im Kleinen verhandeln zu
können'), vrai es aber nicht erlaubt, Handelsvorteile für sick
selber zu suchen, da diese der ganzen Gilde zugute
kommen müßten«
Selbstverständlich übte die kaufmännische Gilde auch
Werke der christlichen Liebe, namentlich den Loskauf von Ge*
fangenen, Krankenpflege, Vornahme von Begräbnissen und Lesen
von Seelenmessen, ktuz alles, was schon in dem Wesen der
Gilde-Institution lag. Auch feierten die Mitglieder der Gilde den
Festtag ihres Patrons gemeinsam.
Nachdem nach und nach die gilda mercatoria als Macht-
faktor an die Stelle der „Vollbürgergilde*' getreten war, be-
mächtigte sie sich selbst, wenn auch nicht de jure, so dodk
de facto der gesamten Stadtverwaltung^) Die Guild merchant
wrd recht eigentlich zur Kommune. Diese erweiterte bald
ihre Rechte. Die Königlichen Beamten müssen immer mehr
zurückweichen. Recht auf Recht geht an die neu erstehende
Selbstverwaltung in der Stadt verloren und wird von der Gilde
oder, wenn man so will, von der Kommune auf irgendwelche
Weise erworben, meist dem Könige abgekauft Die Aldermen
^) Die Urkunden sagen Bürger, gemeint sind natürlich die Mit-
glieder der Gilde. Man sieht daraus, wie sich diese Leute der Gilde
mit der Stadt*Bürgerschaft selbst gern identifizierten.
*) Man halte aber immer fest, daß man eine Zeitlang das den
Handwerkern unter den Gildebrüdem bestritten hatte.
*) Gross führt allerdings auch Fälle an, wo es zu Reibungen
zwischen Stadtverwaltung und Gilde kam, so in Derby noch unter
Eduard m.
Die Handwerker-Verbände. 227
der Gflde werden die Ratmannen der Stadt ^), die Guildhall
wird das Ratha^us^) SchriftsleUer und Urktmden sprechen tun
1200 von Stadtverwaltung und Gilde oder Hanse schon als
ganz gleichbedeutend").
Daß die Handwerker, soweit sie freie grundbesitzende
Bürger der Stadt und daher als solche zugleich Mitglieder der
alten Vollbürgergilde gewesen waren, es außerordentlich schwer
empfanden, vom Markte und aus der Stadtverwaltung verdrängt
zu sem, versteht sich wohl von selbst; spater zuziehende und
sich ansiedjslnde Handwerksleute müssen erhebliche Schwierig-
keiten gehabt haben, in die Stadt überhaupt hineinzukommen^),
da das Bürgerrecht von dem Erwerbe der Mitgliedschaft der
Gilde abhängig war« Ja, es sahen sich selbst die angesiedelten
und lange ansäss'gen Handwerker, durch eine mächtige aristo-
kratische Bewegung, die seit 1100 durch das ganze Land ging,
in der freien Ausbeutung der Betriebe ihres Handwerks und in
dem Genüsse ihrer vollen Bürgerrechte zugleich gefährdet,
während Technik und die günstige Entwickelung der Lage der
Volkswirtschaft ihr Fortkommen begünstigte, Sie waren also ge-
^) Die Gesamtheit der aldermen, d. h. Court of aldermen
bildet gleichsam den Rat oder besser das Oberhaus der Stadt, dem
der gewählte Mayor, welcher vorher, ehe er zu diesem Amte
gewählt werden konnte, schon Kgl. Sheriff gewesen sein mußte, einem
Citykönige vergleichbar, präsidierte, (s. Pauli: Bilder aus Altengland,
S. 387). Das Unterhaus bildeten dann die Councillors, etwa unsere
Stadtverordneten (s. Redlich: Englische Lokalverwaltung).
^ Cooper: Annais of Cambridge II, 2; citiert bei Ashley a. a. O.
Bd n. S. 56. Vgl. auch Brentano: Arfoeitergilden Bd 1. Femer Ochen-
kowsky a. a. O. und Sonnenkatb in: ZC. 1897. S. 248 ff.
') Unter Heinrich IL 1154—1189 schreibt der Rechtsgelehrte
Glanvilla: Si quis nativus quiete per unum annum et unum diem in
aliqua villa privilegiata manserit, ita quod in eorum communam,
scilicet gildam, tamquam civis receptus fuerit usw. In England wird
man also erst gildmann, dann erst Bürger, in Deutschland ist das
umgekehrt.
*) Sie müssen, wie wir schon sahen, sogar ihr Handwerk ab-
schwören, wenn sie Gildemitglieder der Hanse oder guild merchant
werden wollen, s. Ashley a. a. O. Bd 2. S. 80.
15»
228 Kapitel 9.
zwungen« ihre ursprünglicheiii nunmehr stark geminderten
Rechte zu verteidigen, um der Verschlechterung ihrer Lage und
Ihres Einkommens ein Ende zu bereiten, und haben wohl bald
erkannt, daß sie das am besten vermöchten, wenn sie sich
ebenfalls gruppenweise als „Gewerke" vereinigten und als Be-
rufsgilden auch ihrerseits Rechte geltend machten« Das muß nun
bald nach 1100, hier früher dort später, geschehen sein. Durch
die Begründung von Berufsgilden schützten sich also
die Handwerker in den größeren Städten gegen „den Miß-
brauch der Macht seitens der Stadtherm, die die Freien zur
Abhängigkeit der Unfreien herabzudrücken versuchten" (Bren-
tano), und fanden dabei auch die Unterstützung der Könige des
12., 13« und 14. Jahrhunderts, namentlich der drei Eduarde^)«
Gross und Ctmingham behaupten allerdings, daß diese Beru&-
gilden „ins Dasein gerufen wxurden, nicht im Gegensatze gegen
bestehende Autoritäten, sondern als neue Einrichtungen, denen
von den städtischen Beamten oder dem lokalen Gilden-Kauf-
mann bestimmte Teile ihrer Pflichten zugeschoben wurden"
(Cuningham), aber diese Auffassung ist schwerlich für die frühere
Zeit richtig, mag aber im 13. und 14. Jahrhtmdert, als die städti-
schen Behörden ohne weiteres nachgaben tpd die Handwerker-
^) Berufsgilden der Handwerker werden zuerst erwähnt in einer
Urkunde Heinrichs L für Oxford vom Jahre 1131, wo Gilden der
Weber in Oxford, Huntingdon usw., der Walker in Winchester und
der Qordunanarbeiter in Oxford erwähnt werden. (Gross I, 114). Die
Gilden sind Privatgemeinschaften und durchaus nicht der Guild Mer-
chant gleichgestellt, haben zunächst auch keinen Teil an der städti-
schen Verwaltimg. Die Gildebrüder, welche in der Guild Merchant
waren, blieben darin; die Handwerkergilden waren eigentlich nur ge-
duldet und dies nur, weil sie an die Krone ansehnlich dafür zahlten«
der beste Beweis, daß die Begründung der Berufsgilden für die Hand-
werker ein starkes Bedürfnis war. Gross (I, S. 114) meint, sie h&tteft
den Zunftzwang, das Monopol, Waren ihrer Branche anzufertigen und
zu verkaufen, durchsetzen wollen. Nun eben! Auch die immer-
währende Spezialisierung der Handwerke drängte auf Zunftzwang.
Eduard m. namentlich war der beste Förderer des Handwerks und
iieiner Gilden (Gross L S. 116).
Die Handwerker-Verbände. 229
gilden sich schnell vermehrten und in ihrer Macht wuchsen«
wohl zutreffen. Der Hergang war in den verschiedenen Städten
sehr verschieden* Bei den nun beginnenden Kämpfen bzw, Eini-
gtzngen zwischen der gilda mercatoria und den neu sich
bildenden Handwerkergilden, die, wie es scheint, in manchen
Orten eine Zeitlang nebeneinander bestanden, gingen, wie gesagt,
die Weber voran. Sie waren schon um 1100 in Begriff, aus
ihrem Gewerbe eine sehr blähende Industrie zu schaffen, und
hatten das größte Interesse daran, sich nicht durch Konkurrenz
der Kaufleute beeinträchtigen und durch Hindern am Klein-
verkauf ihrer Leinwand und ihrer Tuche sich halb oder ganz
vom Markte verdrängen zu lassen. Das setzten sie wahr-
scheinlich in heftigen Kämpfen oder Verhandlungen durch und
veranlaßten die Anerkennimg ihrer Gilde. Die anderen Hand-
werker folgten. Nun ist es aber sehr merkwürdig, daß die Kauf-
manns-Gilde schnell ein Verständnis fär die Lage bekonmien zu
haben scheint und jetzt freiwillig tat, was sie ja nicht hindern
konnte, daß es über kurz oder lang doch geschah. Indem die
Guild merchant praktisch in die Stadtverwaltung aufging, also
die Macht über die Bürger als Kommunalbehorde ausübte, loste
sie sich gleichsam auf oder erkannte wenigstens die übrigen
Gilden als gleichberechtigt an, ja sorgte sogar schließlich selber
dafür, daß nunmehr jedes Gewerbe eine feste Organisation er-
, hielt tmd Korperschaft wurde, über welche sie als Kommune das
Regiment doch führte^). So entstehen die Handwerkergilden
^) Cunningham a. a. 0. S. 402; Gross I S. 117. Gross setzt diese
„Transference of authorithy from the ancient general Guild Merchant
to a number of distinct bodies" zu spät an. In Coventry war die
BSckerzunft allerdings schon seit mehr als hundert Jahren eingesetzt
gewesen, ehe eine gilda mercatoria in der Stadt bestand. Diese Zeit-
folge ist aber eine Ausnahme. Richtig ist, daß in manchen Städten
Kaufmannsgilde und Handwerkergilden eine Zeitlang nebeneinander
bestanden. In vielen Orten traten die Gewerksgilden (oder Zünfte) der
Handwerker und Handeltreibenden ganz an die Stelle der Guild
merchant, so daß diese verschwand; in wieder anderen Städten be-
stand diese zwar fort, aber nicht mehr als geschlossene Vereinigung,
sondern als ein Sammelname der Zfinfte; in noch anderen Kommunen,
>
230 Kapitel 9.
(oder Zünfte) in England wahrend des 12. und 13. Jahr-
hunderts'), bis Eduard ü. verordnete, daß jeder Bürger einer
Gilde angehören müsse.
Dabei ist es aber beachtenswert, wie diese Handwerker-
gilden immer an der Fiktion festhielten oder doch ein starkes
Bewußtsein davon behielten, daß sie eigentlich nichts weiter
seien, als abgezweigte Abteilungen der großen Vollbürger-
Gilde ^), bzw. der Guild Merchant Darauf beruhte ihr Rechts-
anspruch, daß sie mit der Kaufmannsgilde eigentlich ganz
gleichen Ursprungs und ganz gleichen Rechtes seien, da auch
diese nichts weiter beanspruchen könne, als eine Abteilung der
großen VoUbürger-Gilde zu bilden, der sie einst alle angehört
hatten und von Rechts wegen noch angehörten, und auf dieser
Grundlage ist wohl schließlich auch der Friede nach langem
Kampfe paktmäßig oder stillschweigend zustande gekommen.
Die Kaufleute haben den Handwerkergilden die Gleich-
namentlich in Nordengland wird aus der Guild merchant eine in regel-
mäßigen Zwischenräumen wiederkehrende öffentliche Bürgerver-
sammlung zur Beratung und Beschlußfassung über allgemeine An-
gelegenheiten; in einer letzten Gruppe von Städten endlich wurde
die alte Guild merchant dadurch ersetzt, daß die Gesamtheit der
vorhandenen Zünfte sich als eine einheitliche Genossenschaft ganz
neu organisierte. Hie und da blieb die Guild merchant auch bestehen,
wie in Alnwick, wo sie 1611 noch eine neue Charter erwarb. Wie
man sieht, ist die Entwickelung sehr verschieden. Aus: Mecklenb. *
Logenbl. Jg 37. 1906/09 S. 198. (Sonnenkalb) s. auch Gross I. S. 118 ff.
Zur Zeit Philipp und Marias ist alle Entwickelung zu Ende. Damals
wird verordnet, daß niemand Waren im Kleinverkauf verhandeln soll,
„unless they or any of them shal bee free of any of the Guildes and
Liberties of any the said Cities, Boroughes, Townes Corporate or
Market Townes". Früher hieß es: unless he be in the Guild merchant.
^) Poulson: Beverl&c I, 112 (citiert bei Cunningham S. 403) sagt:
Eine andere Einrichtung, die diese Gilda mercatoria oder Brüder-
schaft von Kaufleuten traf, bestand darin, kleinere Zünfte zu er-
richten, jede mit einem Ältesten oder Vorsteher, so daß jede Art von
Gewerbe nach ihren eigenen besonderen Regeln, mit Unterwerfung
unter die Genehmigung und Kontrolle der 12 Gouverneure geleitet
wurde,
^) Cunningham a. a. O. S. 404 ff.
Die Handwerker-Verbände. 231
l)erechtigi]ng jedenfalls zugestehen müssen und zugestanden. Sie
Inben diese Gilden aber sofort wieder für ihre Zwecke benutzt,
indem sie sie zu einer von ihnen als stadtischer Oberbehörde, als
Ma^strat abhangigen Gewerbe-Behörde der Stadt machten«
durch die sie die Handwerks-Werkstätten und die Fabrikräume
der wachsenden Industrie beaufsichtigten, sowie den Markt und
die Preise im Interesse der Konsumenten regulierten. Die Hand-
wetker-Gilden entwickelten sich aber, worauf wir oben auch
schon hinwiesen, schnell zu sich selbst regierenden Korpora-
tionen, die sich die Gewerbe-Aufsicht als selbständiges Institut
mit eigenem Rechte aneigneten. Selbstverständlich haben die
Handwerker femer auch das Recht für sich behauptet und durch-
gesetzt, daß Neulinge und Fremde auch mit dem Eintritte in ihre
Gilden Freemen der Stadt würden, und daß es ihnen freistehe«
ihr Gewerbe so oft zu wechseln, als es ihnen beliebe. Dieses
Recht, das oft angegriffen, niemals aufgegeben oder aufgehoben
ist, würde nicht verständlich sein, wenn man mcht an der Vor-
aussetzung festzuhalten berechtigt wäre, daß die Handwerker
immer Mitglieder der „Gilde" waren tmd geblieben sind^). Die
Handwerker-Gilden haben niemals den Gilde-Charal^ter ihrer
Genossenschaft aufgegeben, der an sich nichts Berufliches an
sich hatte, auch dann nicht, als sie zu Zünften wurden.
4. Die Handwerkerzünfte (Companies) oder, wie
auch sie im Volksmunde zuerst heißen, guilds oder craft-guilds,
baben ein doppeltes Vorbild, die alte Gilda mercatoria imd di^
alte Innung gehabt. Von beiden haben sie Stücke übernommen,
am meisten von der Gilde^). Die Zünfte geben noch 1388/89
bei einer Umfrage selber an, sie seien Vereinigungen ein und
desselben Gewerbes in einer Stadt, die den Zweck hätten, daß
^) Beweise bei Cunningham. „Das Handwerk legen", „Das Hand-
werk abschwören" ist häufig. Die Leute wechseln oftmals im Berufe«
namentlich später, als man die Mitgliedschaft einer Gilde oder Zunft
auch durch Kauf, Erbschaft, Heirat und dgl. erwerben konnte.
^ Sieber a. a. 0. S. 69 sagt kaum richtig: Wo die Gesamtheit
der Angehörigen eines Gewerkes eine Brüderschaft begründet, da
«st eine Zunft vorhanden. Nein, Zwang gehört dazu.
232 Kapitel 9.
ihre Mitglieder sich gewisse himmlische Güter sichern wollten;
sie wünschten Stiftungen und Priester zu unterhalten'). Daß sie
daneben oder vielmehr in der Hauptsache berufliche und
kommtmalpolitische Interessen verfolgten, verschwiegen sie« ver-
steht sich aber von selbst; es zeigte sich das bisweilen in sehr
schroffer Weise, namentlich in der Schwächtmg des Handels-
monopols der Kaufleute und in dem Streben nach Erweiterung
der Gewerbeaufsicht.
4
Der Unterschied von Handwerkergilde und Zunft ist sehr
gering; er besteht wohl wesentlich darin, daß der Beitritt zu
einer Gilde freiwillig war, daß aber bei letzterer Zunftzwangs
d, h. das Recht der Zunft, jeden einzelnen Gewerbetreibendes
ihrer Branche zum Eintritt in die Ztmft zu zwingen, stattfand^
femer daß die Gilde, wie die Brüderschaft, mehr auf die
religiösen und sozialen Pflichten, die Zunft auf die Wahrung,
der materiellen Interessen Wert legte* Sicher hat Below recht«
wenn er die Regelung und Wahrnehmung der materiellen Inter-
essen sogar für das eigentliche Motiv der Zunftbildtmg erklärt
Dahin gehört der Erwerb von Verkaufsgelegenheit, die Regeltmg
der Leistungen, zu denen die Handwerker gegenüber dem
Stadtherm tmd seinen Organen oder der Stadtgemeinde ver-
pflichtet waren, und die rechtliche Regelung des Erwerbslebens
der Genossen, vor allem der Erwerb der gewerblichen Ge-
richtsbarkeit; um die letztere, die die Jurisdiktion der städti-
schen Behörden wieder durchbrach, ist wahrscheinlich lange
Zeit gestritten worden; doch gehörten Schuldklagen, Vertrags-
brüche, nicht innegehaltene Vereinbanmgen und kleine Ver-
gehen später sicher vor das Zunftgericht der Handwerker^)
^) 8. Toulmin Smith a. a. 0. Einleitung. Vgl. Ashley a. a, 0. IL
S. 141. Auch Cunningham führt das Beispiel von Wisbeach an, wo eine
Bruderschaft die Mutter einer Korporation der Handwerker war, di^
nachher sich sogar des ganzen Stadtregiments bemächtigte; sie erhielt
von Eduard VI. ihre Charter.
') Die englische Entwickelung der Handwerkergenossenschaften
— ähnlich b'ei den Krämern — unterscheidet sich von der der
deutschen und französischen Zünfte namentlich durch zweierlei; 1. sie
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imd den tcb» Volksiaircde sc^er.*iiTit<'» VmU^*'^ U>>«KU) ^^\ Ua\\>^\\\ \X\-\
234 Kapitel 9.
und faustdicken« wohlverstandenen materiellen Interessen« Der
Handwerksmeister, der seine Ware in seiner Werkstatt selbst
herstellte und dieses sein Arbeitsprodukt, seinen Herstellungs-
prozeß tmd seinen Verkauf von Zunft wegen im Wesentlichen
selbst kontrollierte, war der maßgebende Faktor in Gilde und
Zunft und wußte für seinen und der Zunft Vorteil zu sorgen.
Der „Geselle" (fellow), welcher zwar auch Mitglied der Gilde,
also Genosse des Meisters war, aber um Lohn arbeitete, hatte
in der craft-guild nicht den Einfluß des ansässigen Meisters. In-
dessen der Brüderlichkeitsgedanke zwischen allen Mitgliedern
der Zunft wurde doch festgehalten, der religiös-soziale Charakter
derselben fortdauernd betont, und es blieb bei der Annahme, daß
die Gilde nichts sein wolle, als eine Gemeinschaft, die das
Interesse der Konstmienten, Produzenten und Arbeiter vereinigte
und wahrte tmd das irdische Wohl aller Mitglieder und deren
Seelen Seligkeit erstrebte und förderte. Man verquickte und
verfilzte die uns heute völlig unvereinbar erscheinenden Dinge.
Später wußten jedenfalls-die Beamten kaum mehr dturchzufinden,
was eigentlich von ihnen zu halten war. In vielen Zünften be-
standen — ebenso wie in den deutschen Städten bis in das
16. Jh. hinein — allerdings noch besondere Brüderschaften
neben den Zünften oder Gilden und in den Gilden bis-
weilen besondere Kapellengenossenschaften, Seelenmeßbrüder-
schaften usw., die dann dort eme eigenartige Rolle spielten«
wovon noch oft die Rede sein wird.
Jm Jahre 1388 tagte das Parlament in Cambridge. Aus
irgendeinem Grunde — wahrscheinlich steuerlicher Natur — ^)
beschloß man in dieser Session, die Regierung zu ersuchen, so-
wohl von den reinen Gilden und Brüderschaften, als auch von
den Zünfte-Gilden Bericht darüber einzufordern, wie imd wann
meist ein tatsächlicher Zusammenhang bestand. Späterhin waren sie
sogar meist ganz identisch,
^) Sonnenkalb (Mecklenb. Logenbl. Jg 36. 1907/08. S. 91) sagt:
Die Umfrage hatte drei Zwecke, die Zünfte zurückzudrängen, die
adligen Brüderschaften zu demaskieren 'und die begüterten Brüder-
schaften zu den Umlagen heranzuziehen.
Die Handwerker-Verbände. 235
und tinter welcher Form sie entstanden seien« welches ihre Eide«
Feste, Generalversammlungen und überhaupt ihre Organisation
seil welche Freiheiten, Pri^dlegien, Satzungen und Statuten sie
hätten, welches ihre Gebräuche und Gewohnheiten wären, und
schließlich welchen Grundbesitz, Einkünfte, Renten usw. sie
besäßen. Daraufhin erließ der König am 1« November 1388
zwei Befehle an die Sberifis der Grafschaften: erstens, daß diese
Beamten entsprechende öffentliche Aufiorderungen an die
Masters and Wardens of all guilds and brotherhoods erließen;
zweitens, daß sie an Masters and Wardens and Overlookers of
all the Mysteries and Grafts (Gewerke) Aufforderungen ergehen
lassen sollten, daß die Handwerkergilden und Genossenschaften
die entsprechenden Angaben machen, die Gilden und Brüder-
schaften auch ihre Etats, die Zünfte ihre charters einsenden, und
daß diese Berichte nebst den Urkunden und den in ihren Händen
befindlichen charters, letters patents, granted by us or any of
our forfathers bis zum Fest zu Maria Reinigung 1389 einsenden
seilten'), bei Verlust der Freiheit und ihrer Patente^). Man ge-
horchte. Ein einziges Bündel dieser „retums" ist uns erhalten,
die anderen sind verschwunden, leider auch die der masons. Die
Antworten fallen nun natürlich ganz verschieden aus, aber alle
Gilden erklären, sie hätten lediglich religiöse und soziale
Zwecke: Kerzen abzubrennen, einen Priester zu gewinnen oder
zu unterhalten, gegenseitige Hilfe in Not, gemeinsame Kirch-
gänge, Veranstaltung von Begräbnissen u. dgl. m. Die Guild of
the Lords Prayer in Yorkshire schreibt, sie kämen unter anderem
auch alle, sechs Wochen zusammen, tmi für den König und
Englands Regierung, für alle Brüder und Schwestern der Gilde,
lebende und tote, sowie für alle Wohltäter der Gilde und der
Gildebrüder zu beten; einmal im Jahre hätten sie einen großen
allgemeinen Gottesdienst für die toten Bruderbund Schwestern.
^) 8. T. Smith: English guilds S. 127 ff.
*) Man bemerke, daß hier noch ganz scharf zwischen Gilden und
Brüderschaften einerseits und Zünften anderseits unterschieden wird«
Jene haben Berichte auch über Vermögen und Einkünfte und Organi-
sation, diese nur ihre Charters einzusenden.
236 Kapitel 9.
Im Falle von Räubereieni Feuer, ungerechter Einkerkerung
oder anderen Heimsuchungen hülfen sie sich untereinander, auch
sei einer ihrer Zwecke die Unterhaltung eines Kronleuchters
von 7 Lichtem in der Kathedrale in York. Alljährlich werde
auch ein großes Fest abgehalten, auf dem dann unter anderem
die neuen Wardens gewählt würden und Bericht erstattet würde«
Wenn das Spiel von Lord Prayer in York gespielt werde, dann
mache die Gilde einen öffentlichen Umzug in der Stadt, alle in
Gildetracht gekleidet. Land habe die Gilde nicht, auch keine
sonstigen Einkünfte, als die Beiträge der Mitglieder. Die Gilde
von St. Johannes in York schreibt ganz ähnlich. The first charge
of this guild is, to cherish brotherly love und fügt hinzu: Die
Angelegenheiten der Gilde sollen Niemandem erzählt werden^
es sei denn zum Besten der Gilde^). Solches Schweigegebot ist
nicht selten. Die Guild of the Blessed Virgin Mary in Kingston
upon Hüll war 1357 von 22 Stiftern gegründet, von diesen waren
10 Männer und 12 Frauen. Der Beitrag beträgt jährlich 2 s. 2 d.
pro Person. Der Vorstand besteht aus einem alderman, einem
Steward und zwei Beisitzern (helpmen); Zweck ist gegenseitige
Hilfe und Unterstützung bei einer Pilgerfahrt zum heiligen Lande
durch Zahlungserlaß des Beitrages usw. Dann folgen Be-
sUmmtmgen über das jährliche Fest der Gilde an Maria Himmel-
fahrt, über das sittliche Betragen der Mitglieder usw. Der Neu-
ling leistet den Eid, alle Ordonnanzen beobachten zu wollen')*
So geht das fort; es werden diese Proben genügen, um ein Bild
von dem damaligen Stande und dem Zwecke der Brüderschaften
und Gilden zu geben: sie sind religiös-soziale Gebilde; Von den
Zünften liefen nicht so viele Antworten ein^), oder besser ge-
^) Smith, dessen Buch aus den erhaltenen retums besteht, a. a. O.
S. 146 l
») Smith a. a. 0. S. 155.
*) Bei Smith a. a. 0. S. 151 ff. für the Great Guild of St John of
BeVerley of the Hanshouse. Das ist noch eine Gesamtgilde, in der
Kaufleute und auch Handwerker sind. Sehr interessant ist eine Ur-
kunde vom 14. Febr. 1406 für die Masters and good men of the craft
of fuUers (Walker) in Bristol (s. S. 283 ff,), in der sie> vor dem Mayer
Die Handwerker-Verbände. 237
sagt: es sind nicht so viel Akten von ihnen erhalten; diese er-
geben aber die sichere Tatsache, daß im Jahre 1389 Brüder-
schaften oder Gilden der Handwerker tmd die Zünfte derselben
auf dem Wege waren, miteinander ganz und gar zu ver-
schmelzen. In Lincoln sind drei solcher Handwerkergilden und
Zünfte, nämlich die Walker (gestiftet 1297) by all the bretheren
and sisteren df the fuUers in L, die Schneider (gestiftet 1328) und
die Dachdecker (gestiftet 1346) gerade in diesem Stadium der
Verschmelzung begriffen. Die Walker geben als Zweck ihrer
Vereinigung die Unterhaltung eines Wachslichtes vor dem
Heiligen Kreuze an, dann folgen aber rein zunftmäßige Be-
stimmungen, dann wieder soziede Regeln, Begräbnis- tmd Unter-
stützungsangelegenheiten, bis dann das Ganze mit neuen Sta-
tuten über die Wahl der Zunftbeamten, über Festgelage usw«
schließt» Die Schneider haben in ihren Statuten erst lauter
religiöse und soziale Bestimmungen, um dann tmvermittelt auf
die Quartalversammlung und die Annahme von Lehrlingen über-
zugehen« Die Dachdecker endlich, welche zu dem Zwecke eine
Gilde gebildet haben, um 4 Leichenkandelaber zu unterhalten,
Armen an Festtagen Bier zu verabfolgen und Pilgrime zu unter-
stützen, sowie Begräbnisse zu veranstalten, sagen in ihrem Be-
richte: Kein Dachdecker und kein Zuspitzer (poyntour) soll in
der Stadt ansässig werden, ohne in die Gilde einzutreten, und
diese Gilde, die allerlei rel'giöse und soziale Dinge zum Zwecke
hat, setzt auch fest, daß keiner dem andern bei der Ausübung
des Gev/erbes Um'echt tun soll
Auf eine andere Art, wie eine rein religiöse Brüderschaft
der Handwerker sich zu einer Handwerkszimft geradezu um-
wandehi mußte, macht Ashley nach mir nicht zur Verfügung
stehenden Akten der St. Johannes Gilde zu Bristol, die meist
aus Schneidern bestand, aufmerksam^). „Zu Beginn des 15« Jahr-
and der Communalty der Stadt ihre alten Statuten und neue
Satzungen über eine Aufsichtskommission von 4 Herren aus dem
Gewerke bestätigen lassen.
^) Ashley a. a. O. S. 155.
238 Kapitel 9.
hunderts machte sich das Bedürfnis fühlbar, die schon vorher in
London, York und anderen Städten des Reiches geltende
Ordnung der Dinge auch für Bristol einzuführen. So wurde
denn seitens des Bürgermeisters und des städtischen Rates an-
befohlen, daß in Zukunft kein Angehöriger des Schneider-
gewerbes in den Bürgerverband der Stadt aufgenonmien werden
solle, wofern sich nicht vorher der Meister und die vier Vor-
steher besagter Gilde Johannes des Täufers zu Bristol bei dem
Bürgermeister, dem Sheriff und dem städtischen Rat dafür ver-
bürgt hätten, daß der Betreffende in guter Vermögenslage, gut
beleumdet, handgewerksgeübt und erfahren sei." Hier zwingt
also der Rat von Bristol anscheinend die Gildebrüder^), da sie
nun einmal Schneider und allein geschäftskundig sind, ver-
mutlich auch den um das Stadtbürgerrecht ansuchenden
Schneider am besten kennen, tun seiner eigenen Sicherheit wlDen
Pflichten und Rechte zu übernehmen, die mit den Zwecken der
Gilde an sich gar nichts zu tun haben und sie notwendigerweise
zu einer handwerksmäßigen Berufsgenossenschaft (craft guild,
Company), machen mußte. Doch bleibt, wie spätere Urktmden
zeigen, die alte St. Johannisgilde neben der neuen craft guild
ruhig weiter bestehen; man kann sich denken, wie das nun beides
bald durcheinander geht, und so dürfte das oft an anderen
Stellen auch geschehen sein.
Im Jahre 1437 muß diese Entwickelung der Vereinigung von
allen Korporationen, Brüderschaften, Gilden, Zünften usw. in den
Gewerben und bei den Händlern vollendet und alles in fester
^) Herr Oberamtsrichter Sonnenkalb schreibt mir, daß er das
nicht für einen „Zwang** von Seiten der städtischen Behörden halte,
sondern daß dieser „Zwang** nur eine Form sei, um eine Charter zu
erlangen. Man entwarf eine Charter oder ordonnance, legte sie der
städtischen Behörde oder dem Könige vor und erbat sich diese. Dann
hatte sie zwar die Form eines Befehls, enthielt aber nur das, was man
selber gerne haben wollte. Das ist richtig und selbst in der kaiser-
lichen Kanzlei wurde häufig so verfahren. In unserem Falle würde dai
dann ein geschicktes Manöver der Bristoler Schneider sein, den
Zunftzwang für sich zu erlangen; man behielt den Namen der Gilde
und wurde in Wahrheit Zunft. Sehr wohl möglich.
Die Handwerker-Verbände. 239
Ordnting gewesen sein, Li diesem Jahre wird, wahrscheinlich
um wieder einmal einen Raubzug gegen die Gewerke zu unter-
nehmen, ein Gesetz erlassen'}, worin „les maistres, gardeins
et gentz des plusurs gildes, fratemitees et autres companies in-
corporatz*' untersagt wird, neue Ordntmgen zu machen, bei
Strafe von 10 £ für jeden Fall» Sie sollen bis spätestens zum
Feste des Heiligen Michael vor den Friedensrichtern und den
Giefgouvemeuren ihrer Städte, Flecken und Dorfer alle ihre
Patente und Privilegien zur Eintragung tmd Bestätigung ein-
reichen tmd diese sollen in Gültigkeit bleiben und nicht ver-
ändert werden, wenn nicht die Friedensrichter und die Chef-
gouvemeure nach gehöriger Prüfung gestatten, sie zu ändern«
Es war nämlich, wie das Gesetz bemerkt, vorgekommen, daß
die Genossenschaften ihre Befugnisse verändert hatten, zu ihrem
eigenen Vorteile und zum gemeinen Nachteile des Volkes (pur
lour singuler profit et commtme dammage au poeple). Dieses
Gesetz hatte natürlich nicht den Zweck, eine weitere Ent-
Wickelung des Gewerbes und ihre zeit- und fachgemäße Kodifi-
zienmg zu verhindern, sondern den, die Handwerker zu zwmgen,
für das „inspeximus** ihrer Charter zu zahlen. Dafür haben wir
«in prachtvolles Beispiel in Exeter^), ein Beispiel, das diese
Art von Regierungsfreundlichkeit grell beleuchtet. Auf Gesuch
von Leuten der Schneiderzunft in Exeter gab nämlich Konig
Eduard IV. 1466 ein Patent für die Zunft heraus, wonach es
dieser Zunft gestattet sein sollte, eine Gilde zu Ehren Johannes
des Täufers zu begründen^). Diese soll sich einen „Meister and
iiij Wardens ^) wählen und sich Statuten machen, ivie es ihr gut
^) Statutes at large VoL I. S, 584.
') Smith English Gilds. S. 309 £f.
») Statutes at large. Vol. U. S. 99.
*) Hier ist also die Zunft viel früher vorhanden, als die Gilde.
Diese nennt sich gilde or fraterhyte in the honor of Seint John Baptist.
•
') Also keinen Alderman oder Graceman, sondern einen Maister.
Man beachte, wie Namen und Begriffe schon durcheinander gehen.
240 Kapitel 9.
sdieint^); selbstverständlich werden der Gilde auch weitere
Rechte garantiert, die z. T. gar nicht die Gilde, sondern die
Zunft angehen^). Auf dieses Privileg hin nimmt nun aber die
GOde nicht nur Leute ihres Gewerkes, sondern auch viele andere
Einwohnef^'Ja sogar Stadtfremde auf, mticht verschiedene Ver-
sammlungen, ja, selbst Aufruhrbewegungen und Spaltungen
unter den Bärgem, deren die Stadtverwaltung deswegen nidit
Herr werden kann, weil die Gilde die Polizeigerichtsbarkeit fiber
ihre Mitglieder und ihre Diener (Arbeiter) in dem Privileg für
sich selbst erhalten hat. Endlich wird es dem Maire und seinen
Baillifs doch zu toll. Im Jahre 1482 richten sie an das Parlament
die Bitte um Abhilfe durch Annullierung des Privilegs. Das
Parlament gewährt die Bitte auch; das hilft aber nichts, weil die
Gilde offenbar in den Beutel griff. Die Güde bestand jedenfalls
genau so weiter, wie vorher und machte neue „Ordenances**, so
viel sie wollte; doch scheint sie sich mit der Stadtverwaltung
spater besser gestellt zu haben als vorher. Exeter wird nun nicht
die einzige Stadt gewesen sein, in der solche Dinge oder ähnliche
passierten. Mit der Eintragung und dem Bestätigenlassen der
neuen Bestimmungen wird man nicht immer große Eile gehabt
haben; und wurde man endlich dazu gezwungen, so zahlte man
eben und hatte dann wieder eine Zeit lang Ruhe. ^
Im Jahre 1503 beschloß das Parlament, die Akte von 1437
für das ganze Land zu erneuern'). Zu allem hatten die Gewerke
unterdessen auch noch versucht, „durch ungesetzlidie und unver-
nünftige Bekanntmachungen" die Warenpreise zu ändern und
andere Dinge zu ihrem Vorteile und zum gemeinen Schaden des
^) Also direkt gegen das Gesetz von 1437. Die Statuten und der
Gildeeid sind erhalten. Darin heifit es: „Ihr sollt nicht die Angelegen-
heiten der Brüderschaft oder der Zunft offenbar machen, von welchen
Ihr erfahren habt, daß sie geheim bleiben sollen unter uns selbst**
*] z. B. dafi in der Freiheit von Exeter niemand eine Bude oder
r
Werkstatt für Schneiderei halten darf, ohne dafi er die Freiheit der
Stadt genösse. Um diese zu erlangen, hat ihm Meister und Aufseher ein
Attest auszustellen, dafi er ein ehrenwerter und geeigneter Mann teL
*) Statutes at large. Vol. IL S. 99.
Die Handwerker-Verbände« 241
Volkes ZU wenden. Das Volk murrte offenbar und wandte sich
mit Petitionen an das Parlament. Die daraufhin erlassene Akte
wendet sich dieses Mal an die «Rasters, Wardens and People
of GuildSf Fratemities and other Companies Corporate, die man
weiter unten in der Urkunde unter dem Gesamtnam^ Bodies
G)rporate in eins vereinigt. Im Jahre 1536 wird diese Be-
«tmmiung noch einmal emeuerti ein Zeichen, daß es der Behörde
nicht gelungen war, sie 1503 durchzuführen.
So entschieden weltlicher Natur auch die Gilde-Zünfte^)
in England waren oder wurden, so entbehrten sie doch der
geistlich-sozialen Zwecke niemals, wenn sie auch bei den
Zünften mehr in den Hintergrund traten als vorher bei den reinen
G-lden. Auch die Zünfte hatten Unterstützungskassen, sorgten
für ihre Kranken und Invaliden und gaben Geld an Verarmte.
Wie in den Gilden und Brüderschaften galten auch die Mit-
glieder der Zunft als Brüder'). Doch besteht immerhin ein
Unterschied: wie gesagt, waren und blieben die Zünfte auch als
Zunft-Gilden stets rein lokalen Charakters, meist wurden sie sogar
erst von den städtischen Behörden in den einzelnen Orten ge-
schaffen, während die reinen Gilden, hier den Brüderschaften
nachahmend, vermittelst ihres brüderschaftlichen Wesens doch
auch mit anderen Gebilden gleicher Art in anderen Städten des
Landes, ja selbst auf dem Kontinent, Verbindung unterhielten.
Zu den Zwecken der Bildung der Zunft gehörte es auch
unter anderem, die Arbeit auf eine solche Weise zu regeln,
daß das Publiktun durch die Meister gut bedient wurde, vor
allem aber erstrebte man Abschließung in sich, Ausschließung
des tmlauteren Wettbewerbs, der Fremden und der Bönhasen,
Festsetzung des Lehrlingswesens und der Bedingungen bei Er-
werbung der Meisterschaft, Femhaltung von schädlicher oder
gar betrügerischer Konkturrenz tmd, wenn angängig, Erlangung
^) Ober diese s. namentlich Cunningham a. a. O. S. 394 ff. Dieser
h< die englischen Zünfte nicht für bodenständig, sondern für nor-
mannische, flandrische und deutsche Einfuhr. Ganz richtig!
*) Die Zünfte nehmen wie die Gilden auch Frauen als Schwestern
auf.
16
242 Kapitel 9.
von vorteilhaften Privilegien, reinliche Scheidung der Gewerke^)
nsw« Das Gnmdelement des Lebens innerhalb der Zünfte ist
die Brüderlichkeit imter allen Mitgliedern und redliche Teilung
der Arbeit unter den Gildebrüdern, damit jeder die Möglich-
keit hat, zu leben und sein Geschäft zu erhalten« Weitere Er-
strebungen sind die allemige Aufsicht über die Güte und Billig-
keit der gelieferten Waren, die Gediegenheit und Zunftmäßig-
keit der Werkzeuge, eigene Gerichtsbarkeit in Gewerbesachen
und bei Streitigkeiten unter den Ztmftgenossen selbst, Be-
freiung von dem Marktzwange u* dgL m« Begründet werden
die Zünfte dadurch, daß man einfach die Statuten, die fast
überall gleichmäßig waren und mutatis mutandis abgeschrieben
wurden, der Stadtverwaltung vorlegte'), welche sie gegen Ge-
bühr dann auch bestätigte. Ändertmgen an den Statuten durften
dann allerdings nur durch die städtischen Behörden erfolgen;
die Bestätigung und die zeitgemäße Änderung solcher Satzungen
seitens der Behörde wurde allerdings als etwas Selbstverständ-
liches gewährt. Später machten die Stadträte gelegentlich aber
doch oft deswegen Schwierigkeiten, weil die Zünfte selbst den
Umfang ihres Betriebes festzulegen suchten und eine weitere
Spezialisierung ihrer Branche, wohin der Zug der Zeit ging,
nicht wünschten. Da wandten sich denn viele neue Zünfte
direkt an den König, der ihnen gegen hohe Gebühren meist
ein Privileg nach ihren Wünschen erteilte [guilds by charter).^
Viele alte Zünfte beriefen sich, um ihr alleiniges Recht auf die
Anfertigung solcher Waren, deren Fabrizierung die abgezweigte»
^) Unter Eduard IIL (37 Kap. 5) wird bestimmt, daß jeglicher
Handwerker und Angehörige von Gewerken vor der nächsten Licht-
meß ein bestimmtes Gewerbe erwählen solle, und daß er, wenn er ein
solches erwählt habe, ffirderhin kein" anderes erwählen solle. Also
das Wechseln in den Gewerben und das Häufen von Gewerben in
einer Hand, z.. B. daß jemand zugleich Maurer« Zimmermann und
Dachdecker war, sollte aufhören.
') T. Smith: English Gullds. S. XXVII. Kings licence was not
necessary th the foundation, und Dugdale beobachtet: they were in
use long before any formal licences were granted into them.
Die Huidwerkcr-Veti>iade. 213
neue Zunft für sich in Ansprach nahm, zu beweistn, auf
ihr langjähriges Bestehen« indem de sidi auf das altrömisdie
Rechtsinstitut der longi temporis praescripto beiitfen (^Ids by
prescription); aber es gab farotzdem — selbst bis in die
Neuzeit hinein — immer noch eine groBe Anzahl ZQafte
oder Zünfte-Gilden« welche nicht ausdrücklich anerkannt
waren (adulterine guSds). Entstanden nun Streitigkeittn
zwischen Behörde und Zünften« dann wandte sich die Bt-^
horde vornehmlich gegen diese adulterine guilds, die am
kichtest^i zu fassen ¥^area Im Jahre 1180 belegte Hehirich ü«
alle adulterine guilds mit Geldstrafe, was in London
z. B* die Goldschmiede« Fleischer, Gewürzkrämer und Tuch*
macher traf^). Aber schließlich war das nur eine Geldfragt.
Die Konige brauchten Geld und für dieses konnte man allek
erlangen« ,JDie Richards", sagt Sonnenkalb (a. a. 0« S. 291), „die
Eduards, Heinrich Vm., Edward VI.« Elisabeth, Jakob L, haben
der eine wie der andere die Zünfte geschröpft, bald in dar
Form von regelmäßigen oder außerordentlichen Abgaben, bald
in der Form der Revision ihrer Charters und Erteilung einer
neuen gegen hohe Kosten, bald in der Form von freiwilligen
oder unfreiwilligen Anleihto mit oder ohne Scherheit/* Aber
Rechte waren bei diesem Systeme zu erlangen. Noch vor dem
Ende des 13. Jahrhunderts hatten die Zünfte ihre Organisation
und ihre Stellung so ausgestaltet, daß sie nicht nur Bewegungs-
freiheit, sondern auch einen maßgebenden Einfluß in der Stadt*
Verwaltung emmgen hatten. Die Regierung Eduards I. (1272
bis 1307) schemt den Wendepunkt in der Geschichte der Zünfte
zu bezeichnen; die Rechte der damals sehr angefeindeten
Companies wurden nun immer mehr erweitert und ihre Inter-
essen im Wesentlichen gefördert. Aber die Zünfte hatten allen
Grund, sich zu sichern, weil ihre Interessen denen der städtischen
Verwaltungen oft genug doch entgegen standen« So hielten sie
sich auf die Gefahr hin« tüchtig in den Beutel greifen zu müssen«
^) 8. über alle diese Dinge SonncnksÜM susgczcicbncte Aus«
f&hnmgen in: ZC, 1897/98« denen ich hier folge.
ur
244 Kapitel 9.
ihrerseits an den König, und dieser gab Lizenzen und Privilegien,
wenn die Städte für deren Unterdrückung nicht mehr zahlten,
als die Zünfte'für deren Erlangung. Seit dem Ende des 15. Jahr-
hunderts gewinnen indessen die Zünfte selbst so starken Anteil
am Stadtregimente, daß der Kampf der Städte gegen die Zünfte
glücklich aufhört.. Schließlich kann niemand Bürger einer Stadt
werden, ehe er nicht Mitglied einer der Zünfte des Ortes ge-
worden ist; der Weg ztun freeman geht durch die Listen der
Companies hindurch. Der Zunftzwang wird von den Gewerken
dtu-chgesetzt; die Steinmetzen gehören zu den letzten Ge-
werk-en, die sich der Zunftorganisation fügten, aber sie haben
sich in der letzten Hälfte des 14. Jahrhunderts ihr doch fügen
müssen. Die freie Ausübung der Gewerbe wird also im späteren
Mittelalter von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer mehr emge-
schränkt, endlich unter Elisabeth ganz verboten. Die Zünfte
nehmen nun den Namen „Company" überall offiziell an^). Die
meisten von ihnen haben jetzt auch e'gene Häuser oder Hallen
in der Stadt oder unterhalten doch wenigstens Mietwohntmgen
für ihre Zwecke; man verlieh ihnen Trachten (liveries), Fahnen
mid Wappen; viele wählen Sinnsprüche für ihr Gewerk, wie die
Steinmetzen: in the Lord ist all our tnist.
Wenn nun die Mitglieder einer Zunft zugleich eine oder
mehrere Brüderschaften oder reine Gilden bildeten'), so war das
Verhältnis derselben zu der Zunft an sich das, daß beide zu-
^) Mistery und craft bedeutet mehr das Gewerk selbst, als seine
Organisation, auch art und science hat die Bedeutung von Handwerk«
Fertigkeit, nicht von Zunft. Im Volksmunde heifien die Zünfte meist
einfach guilds, da man hier sich um den Unterschied zwischen gewerk-
Hoher und brüderschaftlicher Organisation, der doch bestand und
meist in der fiction festgehalten wurde, wenig kümmerte.
') Oft gehörten mehrere Gilden zu einer städtischen Zunft; in
der Grafschaft Norfolk gab es 909 Gilden und Brüderschaften, während
nur ein halbes Hundert Zünfte vorhanden waren. In den frommen
Gemeinschaften waren auch oft Mitglieder mehrerer Zünfte, Nicht-
h and werker, auch Stadtfremde.
Die Handwerker-Verbände, 245
xiächst ganz selbständig nebeneinander bestanden^)« Die frommen
Genossenschaften hatten dann ihre eigenen Beamten, Kassen
tmd ihr eigenes Vermögen, da das Geld ja nicht eigentlich ihnen,
sondern dem HeiL'gen gehörte'). Bei anderen Gewerken ver*
schmolzen aber, wie wir schon hörten, Ztmft und Gilde oder
Brüderschaft Bei einer dritten Gruppe trat allmählich ein loser
Zusammenhang ein, namentlich seit der Aufhebung der Bruder-
schaften im Jahre 1547. In diesend Falle versteckten sich diese
hinter der Ztmft, gaben Vermögen und Selbstverwalttmg auf, um
ihre Ziele und Zwecke weiter verfolgen zu können, und bildeten
„innere Ringe'*, wie L. Keller sagt, besonders societies, ffir deren
Bestehen Toulmin Smith schon Beweise beibringt, und die vnr
in der Company of masons noch kennen lernen werden.
Auf dem flachen Lande kommt es natürlich sehr schwer zu
einer Zunftbildung. Wo nicht die hofhörigen Inntmgen bestehen
bleiben, besitzt man hier unter den Handwerkern überhaupt
keine Organisation außer Gilde oder Brüderschaft. So bunt also
in den Städten sich die Entwickelung der Handwerker-Genossen-
schaften gestaltete, so einfach lagen die Dinge meist auf dem
Lande. Allmählich hat sich das Handwerkertum hier wohl
ganz verloren, ist ausgestorben oder in die Städte abgewandert
oder ist lediglich ein Nebengewerbe zu Ackerbau und Viehzucht
geworden oder vielmehr geblieben. Es lohnt sich kaum, auf
diese Verhältnisse weiter einzugehn.
^) Dafür führt Ashley a. a. 0. Bd 11. S. 93 ein klassisches Beispiel
an; Ein aus dem Jahre 1439 stammendes Testament eines Londoner
Pelzhändlers verfügt: „Ich vermache der Vereinskasse der zu meinem
Gewerke gehörenden Corpus Christi Brüderschaft 6sh, 8d und der
Vereinskasse der zu meinem Gewerke gehörenden Brüderschaft Unser
lieben Frau 6sh, 8d. — Ein solches Nebeneinanderbestehen von
Zunft, frommen Vereinen und Kassen hat ja auch an sich nichts Auf-
fälliges; es ist das auch in Deutschland so gewesen und es ist heute
noch so, daß neben den Innungen besondere Krankenkassen, Sterbe-
kassen usw. bestehen,
') Ashley a. a. O. II. S. 145. Gierke: Genossenschaftsrecht Bd 1.
$. 384.
246 Kapitel 9.
^ In den Zünften gibt es nur Mitglieder und Lehrlinge; auf
die Arbeiter wird keinerlei Rücksicht genommen. Die Lehrlinge
haben natürlich noch keine Rechte in der Zunft, sondern unter-
liegen nur ihrer Fürsorge. Die Mitglieder sind an sich unter-
einander alle gleich und haben gleiche Rechte; aber auch hier
tritt bald ein Unterschied innerhalb der Zünfte ein« indem man
auf der einen Seite die Gesellen peinigte und gewissermaßen
zwang, aus der Ztmft auszuscheiden und besondere Gesellen-
Verbände mit eigenen Vorstehern, Beamten, Kassen und Inter-
essen zu bilden, auf der anderen Seite dadurch, daß sich die
Reicheren und Vornehmeren unter den Meistern über die
Ärmeren, namentlich solche, welche kein eigenes Geschäft imd
Haus besaßen, erhoben, sie quälte und aus der Zunft entweder
ganz herauszubeißen versuchte oder ihnen doch wenigstens
Recht, Ansehen und Freude an der Sache nahm. Über diese
Versuche, unter denen die Zünfte seit dem 15. Jahrhundert ent-
arteten, kam es dann wieder zu Streitigkeiten und Kämpfen.
5. Entartung der Zünfte. Alle Zünfte einer Stadt
waren ebenso wie alle Gilden und Brüderschaften untereinander
gleich und gleichberechtigt, aber die aristokratische Bewegung
des 14. und 15. Jhs brachte zwischen ihnen einen Unterschied
zuwege. Einige Zünfte sonderten sich ab, erhielten besondere
Rechte und konstituierten sich als die „großen" Zünfte.
Es wurde Sitte, daß gewisse reiche und einflußreiche Zünfte
besondere Trachten (liveries) anlegten, wozu an sich alle
Zünfte berechtigt waren. Denn noch 1411 war allen Gilden«
Brüderschaften und Gewerken, die in guter Absicht gegründet
und eingerichtet waren, auf Antrag generell gestattet worden«
besondere Zunfttrachten. zu tragen. Indessen waren nicht eben
alle Zünfte in der Lage, sich solche livery zu beschaffen, und
in vielen Zünften, die beschlossen, Zunfttracht anzulegen, wieder
nicht alle Mitglieder. Nun begann die Wohltat Plage zu werden;
da viele Zünfte gar nicht imstande waren, einen Antrag auf
Erlaubn's, eme Zunfttracht anzulegen, zu stellen, erhoben sich
die Livery Companies wieder über die Zünfte ohne Zunft-
tracht und galten im Volke imd lülei den Behörden bald mehr als
Die Handwerker-Verbände. 247
die fibrigeiL Wie das immer gang und gäbe war, maßten sidi
diese i^ioheren Zünfte" akbald auch mehr Rechte an, hier dieses,
dort jenes, und bald war die Ungleidiheit der Zünfte fix und
fertig.
Innerhalb der Mitglieder der Zünfte schieden sich die
Mitglieder, welche sich Zunfttracht anschaffen konnten (Live-
rymen), bald von den andern und genossen mehr Ansehen« Aus
ihnen vornehmlich wurden Beamte und Vorstand der Genossen-
schaft gewählt. Schließlich entstand e'ji besonderes Recht, die
Zunfttracht zu tragen und wurde als besondere Ehre an gewisse
Mitglieder der Genossensdiaft vom Vorstande natürlich gegen
hohe Gebühr verliehen, eine Ehre, an die sich bald genug auch
das Vorrecht knüpfte, daß der Vorstand nur aus den liverymen
gewählt werden dürfe. So wurde der „Liveryman" e!n gewisser
höherer Grad in den Zünften, während die übrigen Mitglieder
der Zunft als einfache householders weniger Rechte und An-
sehen genossen, aber auch weniger zahlten. Und nun begann
dasselbe Spiel der Bedrückung der Ärmeren, dieselbe Ab-
schließung der Liverymen unter sich innerhalb der Handwerker-
verbände, dieselbe Behandlung, wie sie vor mehreren hundert
^Jahren in der Vollbürgergilde den Handwerkern insgesamt von
Seiten der Kaufleute zu Teil geworden war.
Die Verfassung der Zünfte entwickelte sich, als diese aristo-
kratische Bewegung durchgedrungen war, so, daß die Be-
amten der Zunft, Stewards oder wardens, nur aus den Liverymen
gewählt werden konnten, ja in vielen Fällen hatten auch die
Liverymen allein das aktive Wahlrecht. Die wardens wählten
unter sich einen Prime-warden, dessen Titel später meist
t,master * wurde. Die drei Vorsteher sind die eigentlichen Ge-
schäftsführer und Richter der Zunft. Alle Zunftbeamten wurden
auf ein Jahr gewählt, dann traten sie wieder in die Reihe der
bloßen fellows, aber natürlich der liverymen zurück, wenn sie
nicht wiedergewählt oder gar in ein höheres Amt befördert
wurden. Es hatte die ganze Institution etwas von der Ämter-
wahl im alten Rom an sich. Wie man dort erst Quaestor, dani^
Aedil, dann Prätor, schließlich Konsul wurde, so stieg man i^i
248 Kapitel 9.
En^and vom tmder warden zum Upper warden und
zum master auf, um dami im hCoutI of assirtante***), dem Rate
der Zunft, wie in Rom im ^«Senate" zu endigen« Ab untere^
meist bezahlte Beamte besaßen die Zünfte einen Büttel (beadle)
und einen Sekretär (clerk). Die gewählten Beamten der Zünfte
leiteten selbstverständlich auch die Vollversammlung der Ge-
nossenschaften, in der natürlich die liverymen das große Wort
fiihrten« Darum gilt diese von Jahr zu Jahr weniger. Der Rat
(Court of assistants) trat allmählich ganz an die Stelle der Voll-
versanunlung der Mitglieder. Die Assistants beau&ichügten mm
die Beamten, bew31igten den Etat und berieten mit den Beamten
die nötigen politischen Maßnahmen der Genossenschaft, ja, ne
änderten sogar die Satzungen nach ihren Willen. Wie die Be-
amten, so konnten auch die Mitglieder der G>urt of asnstants
nur aus den liverjmien gewählt werden. Man hielt diese Ver-
fassung ziemlich fest, so daß bis 1834 nur wenige Anderunges
daran vorgekommen sind.
So entartet, bestanden also die Zünfte fort; aber schon srit
der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts merkte man ihre Ent-
artung auch an anderen Anzeichen, so an den Erschwerungen
und Beschränkungen im Erlangen der Mitgliedschaft, an den
Familienzuwenducgen, durch welche man den Handwerks-
betrieb durch Vererbung vom Sohn auf den Sohn oder auf den
Schwiegersohn zum Monopol einzelner Familien zu machen ver-
suchte, und scUießUch auch daran, daß man den Warenpreis zu-
ungunsten des Publikums und zu ergenem Vorteil in die Hohe
zu schrauben unternahm. Das Publikum petitionierte dieserhalb
^) Dieser Ausschuß findet sich zuerst bei den reichsten und
industriellen Zfinften. 1397 bei den Grocers, 1463 bei den
mercers in London. Unter Philipp und Maria erfolgte die erste gesetz-
liche Bestimmung darüber, daß ein solcher Ausschuß in allen Zfinften
vorhanden sein mfisse, unter Jacob L wurde bestimmt, daß das Wahl-
irecht der Zfinfte von der communitas, also der Gesamtheit der fellowa«
ganz und gar auf die Court of assistants fibergehen solle. Die aristo-
kratische Bewegung innerhalb der Zfinfte hatte damals vollkommen
gesiegt
Die Einziehung d. Kirchenguter u. die Reform d. Brüderschaften« 249
viel an das Parlament, die Unztifriedenheit unter den kleinen
Leuten und den Gesellen wuchs im ganzen 15. und 16. Jahr-
bundertf und die Gesellenverbände und Arbeitergilden wurden
immer zahlreicher und großer, je mehr die Zünfte entarteten.
Streiks und Aufstände rissen nicht mehr ab, ja selbst die Lehr-
finge veranlaßten Unruhen^), namentlich wegen der zahlreich
astmehmenden Fremden, die ihnen den schon so beschwerlichen
Weg zur Selbständigkeit noch weiter erschwerten« Aber es ge-
schah nie etwas Rechtes und Durchgreifendes. Die über große
Geld- und Machtmittel verffigenden Zfinfte und die Liverymen
fohlten sich zu sicher; es blieb im wesentlichen beim alten, bis
die Zeit und die Umänderung der ganzen Lage, das Wachsen
der Industrie und der Schiffahrt im 19» Jahrhundert von selber
hier entscheidend auftraten.
Kapitel 10.
Die Einziehung der Kirchengtiter und die Reform
der Brüderschaften.
1. DasGesetz von 1545. Das Bild, welches wir aus den
Urkunden gewinnen, ist also derartig, daß wir klar erkennen, daß
die Verfilzucg von Gilden und Zünften schon um 1400, spätestens
in der Zeit der Anfänge der Tudors vollständig fertig war; die
Entwickelung hat sich so vollzogen, daß sie sich vereinigten«
lind die Ausdrücke craft companies oder kurz: companies und
guilds oder Brüderschaften jetzt gleichbedeutend und nicht mehr
recht auseinander zu halten sind; das Volk unterschied sie gar
nicht mehr.
Nun erinnern wir uns, daß unter Heinrich Vm. die Refor-
mation in England die Stellung des Staates zu den gesamten
^) Wie die am evil May Day 1517, die von 1586 usw. Brentano:
Arbeitergilden l S. 79.
250 Kapitel 10.
kirchlichen Institutionen gänzlich veränderte. Der Konig war
nunmehr auch das Oberhaupt der Staatskirche und ihres Ver-
mögens; es stand ihm frei, namentlich in bezug auf das letztere
sehr nach Willkür zu schalteUi sobald er sich nur der Zustimmung
des damals sehr gefügigen Parlamentes versicherte. Es machte
sich auch den geistlichen Körperschaften! Klöstenii Vereins*
häusem, Stiften gegenüber die Kirchenveränderung in derselben
Weise geltend, wie gegenüber den Brüderschaften, ja im UiDr
blicke auf diese um so mehr, als sie nach protestantischen Be-
griffen überflüssig waren, ja schädlich wurden, weil man nicht
mehr durch Askese tmd fromme Werke der Gnade Gottes
sich zu versichern brauchte/ Seit 1536 begann tatsächlich die
Einziehung der Klöster, Abteien und kirchlichen Anstalten in
England; 1545 kamen auch die geistlichen Stiftungen, Brüder-
schaften tmd religiösen Gilden an die Reihe. Das Parlament tagte
zu Westminster tmd beschloß, dem Könige das ausdrückliche
Verfügungsrecht über alle solche Anstalten tmd frommen
Stiftungen zu gewähren, die in Verfall geraten seien; femer setzte
man gesetzlich fest, daß der König das Recht habe, für die Zeit
seines Lebens Bevollmächtigte zu ernennen, die befugt sein
sollten, diejenigen Ländereien und anderen Besitztümer der er-
wähnten Einrichtungen und Stiftungen, die ihnen der König be-
zeichne, für ihn einzuziehen^). Der König befahl daraufhin den
zuständigen Beamten, ein Verzeichnis aller Stiftungen tmd ihrer
Besitztmgen und Einkünfte einzusenden und gleichzeitig Bericht
zu erstatten über den Zweck, für den sie begründet waren, sowie
darüber, wie die Einkünfte der Institute bisher verwendet
wurden. Das geschah^). Die Beamten fanden ntm die wunder-
^) Statutes at large Vol IL S. 371 f.; Ashley: Engl. Wu-tschafts-
geschichte Bd 2 S. 146. Getroffen wurden Colleges, Free Chapela,
Chantries, Hospitals, Fraternities, Brotherhoods, Guilds and Stipen-
diary Priests. Eine Bestimmung lautet: All Chantries, Colleges, Frater-
nities etc. and their eands shall be in the order and survey of the
Court of Augmentations.
') Solche Berichte sind noch vorhanden über die Gilde der Pilger
von Ludlow, über die St. Nikolas Gilde von Worcester, über die Gilde
^ ^ ^
L»-^*'*,''^! «*•
f 9. ^m£ ceflüxcti eoie Sdbefidro^ zwisdKx «cüdicx
imcG!i&i: tta'-ernHÄ brotberhooo» anc grtiis)
icü^iOKSi Zn^edLec aodi ^eu-erblliäie br.beti. c. xu bei
(xlde tmd Zuz^. bereits in elnandes- ubergegacgesi s':iic
feadenttfiec« txxmpaiues and leLowships -rf acysierles c^
verÜereD ^eomadb ^xxzüidi ihren Eesilz tmd ihre
sur
SfaadEford iw Avoc. über di^ Oilc« Sasde Crucis ic Bynnynghaii
die Caotana 4« Der^tience k: -parochia de Astone ac inir«
de ByrntynghaiD in d^milatu predicto. Alle bei Smrth
Gtdldc 5, 1^, 2C2, 221. 347. 259.
*) Statute« «t large Vol. U. $. 397 ff.
252 Kapitel 10.
Einkünfte, diese nur den Teil, der religiösen Dingen gewidmet
war, doch so, daß die den werktätigen oder geselligen Zwecken
zugewandten Einkünfte unangetastet blieben* Mit anderen
Worten: 1. Den Zünften geschah als solchen überhaupt nichts;
2. diejenigen Genossenschaften aber, die nichts als religiöse
Brüderschaften waren, fielen als zwecklos einer natürlichen Auf-
losung anheim; 3. die mit den Zünften engverbundenen religiösen
Brüderschaften verloren nur einen Teil ihres Vermögens und
ihrer Einkünfte, konnten aber ganz ruhig innerhalb der Zunft
bestehen bleiben; nur selbständige Vermögen und eigene ßn-
künfte durften sie als Brüderschaft nicht weiter besitzen, so daB
sie finanziell von der Ztmft, neben der oder innerhalb welcher
sie bestanden, abhängig wurden.
3« Die Folgen des Gesetzes. Machen wu: uns ganz
klar, wie die Dinge nun verliefen. Nach dem Gesetze wurden in
den Grafschaften Kommissionen ernannt, die die Bestimmungen
desselben ausführen sollten. Für diese Kommissionen gibt das
Gesetz in § 10 ff. ganz bestimmte Instruktionen. Sie sollen die
Bücher, Urkunden und Akten der betr. Genossenschaften ein-
sehn und auf das Genaueste in jedem einzelnen Falle feststellen^
wie die Dinge bei den verschiedenen Vereinigungen liegen, d. \u
was nun eigentlich aus dem Vermögen tmd Einkünften an Unter-
stützungen, Besoldungen, Wachskerzen usw. bezahlt worden ist«
was zu anderen Zwecken im Laufe der Zeit verwendet wurde
usw. Die Summen, welche nachweislich für religiöse Zwecke
verausgabt worden waren, wurden dann überall glatt ein-
gezogen; was zu Armentmterstützung, Unterhaltung von
Schulen, Zahlungen an die Pfarrkirchen u. dgl. verwandt wurde,
schätzte man nach dem Durchschnitt der letzten fünf Jahre ab
und legte diese Summe als eine jährliche, in zwei Raten an den
König zu zahlende Rente den Korporationen als Last auf. Dafür
leistete die Krone die bisher von den Vereinen geleisteten Unter-
stützungen an die Armen weiter, unterhielt eventuell die Schulen,
zahlte den Schulmeistern ihr Gehalt u. dgl., verwendete aber
auch eventuell Reste, die verbl'eben, ganz nach Gutdünken«
Da aber die Leute, welche Unterstützungen erhielten, allmahliA
Die Einziehung d. Kirchengfiter u. die Reform d. Brüderschaften. 253
ausstarben, die Renten und die Zinsen aus den eingezogenen
Besitztfimem doch forÜIefeni so war die Krone nach einiger Zeit
in der Lage, die Gelder überhaupt beliebig zu verwenden, z. B,
die Schulen pi vermehren tmd die Universitäten zu unterhalten
sowie soziale Maßregeln für die Armen und Bedürftigen generell
zu treffen usw^ und das ist, wie die Bill in der Einleitung sagt,
gerade der Zweck des ganzen Gesetzes gewesen« Die Zünfte,
welche die betroffenen Brüderschaften unter sich aufnahmen,
bezahlten die Renten an den Kronschatz halbjährlich genau so
in der Höhe weiter, wie sie sie im Durchschnitte der letzten
fünf Jahre an die verschiedensten Stellen, an Arme, an Priester
usw. gezahlt hatten, nun jedoch an eine einzige Stelle, statt an
viele^). Die Brüderschaften und Gilden verschwinden offiziell
ganz; aber die Zünfte, welche sie zum größten Teil deckten, be-
standen ruhig weiter und führten den Namen, den sie hatten,
auch in der Zukunft: neben der offiziellen Bezeichnung com-
panies für die Ztmft heißen sie im amtlichen Stile nun nicht
mehr guäds, brotherhoods u. dgL, sondern es findet sich jetzt
hier und da für die Unterabteilung der Zunft, welche die alte
Brüderschaft darstellt, die Bezeichnung Society, soweit nicht ge-
dankenlose Schreiber die alten Bezeichnungen aus Vorlagen
übertragen« So heißt auch bei den Steinmetzen die alte Brüder-
schaft nunmehr Society of freemasons^).
Es ist nun sehr interessant zu sehen, daß das ganze Gesetz
im Unterhause starken Widerspruch erfuhr, und nach den Proto-
kollen der beiden Häuser ist die Bill mehrmals zwischen dem
^) 8. Ashiey: Englische Wirtschaftsgeschichte VoL 2. S. 148 ff.,
woselbst auch die nötigen Beweise. Es versteht sich für die damalige
Zeit in England ganz von selbst, daß die Suppe nicht so heiß gegessen
wurde, wie sie gekocht war. Die Kommission und die ausführenden
Beamten behandelten die Sache sehr individuell und ließen mit sich
reden. Sehr vieles, was das Gesetz klar vorschrieb, wurde nicht
ausgeführt. Aber alle Gilden und ihre Güter waren doch der Willkür
der Kommissare ausgeliefert und gesetzlich in den Händen des Königs.
Was es den Zünften kostete, ihren Bestand und ihre Neuorganisation
zu schützen, läßt sich heute nicht mehr sagen, war aber nicht gering.
*) s. Statutes at large Vol. II. S. 418.
254 Kapitel 10.
Hause der Lords, die die Regierungsvorlage' axmahmeni und deni
Unterhause, das sie zunächst abwies, hin- und hergesdioben
worden. Nach Ashley stellt der Kirchenhistoriker Bumet')
die Sache so dar: „Es setzten viele Bürger dem Gesetze Wider-
stand entgegen und wurden dahin vorstellig, daß die von ihnen
vertretenen Gemeinden nicht imstande wären, Kirchen und
andere öffentlichen Zwecken dienende Stiftungen, die mit
ihren Gilden und Brüderschaften in Verbindung ständen, ferner-
hin zu unterhalten, wenn auch die aus deren Ländereien
erwachsenen Einkünfte dem Könige überliefert würden« Der
Widerstand ging hauptsächlich von den Bürgern der Städte Lyne
ux:d Coventry aus. Diese betrieben die Sache so eifrig, daß sie
mit bezug auf den die Gilde-Ländereien betreffenden Teil des
Gesetzentwurfes schließlich das ganze Haus auf ihrer Seite
hatten. Daher suchten diejenigen, die die Interessen des Hofes
dem Hause gegenüber vertraten, sie (d. h. die Opponenten) mit
der Zusicherung zu beschwichtigen, daß ihre Gilde-Ländereien
ihnen zurückerstattet werden sollten. Die Vertreter der beiden
Städte gaben nach; das Gesetz ging auf Grund des ihnen zu-
gesicherten Versprechens endlich durch, und dieses Versprechen
wurde späterhin vom Protektor eingelöst." Indessen kann das
nur für die beiden Städte Lyne und Coventry und vielleicht
wenige andere der Fall gewesen sein; denn die Gilden der
meisten Städte verloren auch ihre Gilde-Ländereien, soweit
diese Stiftungsvermögen waren, und sahen sie niemals wieder
zu den Zwecken verwendet, denen sie gewidmet waren'). Für
die Freemasons kam das wahrscheinlich überhaupt nicht in
Betracht, da die Brüderschaft zweifellos keine Ländereien be-
sessen hat.
^) Gilbert Bumet (1643—1715). Er schrieb eine History of
reformation of the church in England. Seine Darstellung wird durch
das Council Book d. h. die Protokolle des Kronrates gestützt.
') Viele Zünfte haben sogar mit schweren Opfern überhaupt
ihre Existenz erkaufen müssen, so namentlich die Londoner; nur mit
Mühe haben sie ihre Wohltätigkeitsanstalten erneuern können, s.
Sonnenkalb in: ZC. 1897/98. S. 345. 1898/99 S. 192; Mecklenburg.
Logenbl. Jg 37. 1906/09 S. 202.
Die Einziehung d. Kircbengfiter u. die Reform d. Brüderschaften. 255
4« Das Problem. Diese Aktion« die das Gesetz von 1547
zur Folge hatte, war eine der größten Umwälzungen, welche die
englische Gewerbegeschichte überhaupt zu verzeichnen hat; es
war ein Unwetter über die Zünfte, Gilden und Brüderschaften
dahingebraust, das ihre ganze Vergangenheit durchschnitt und
vemiditete, ihre Existenz in Frage stellte und ihr Vermögen zerr
mfirbte. Freilich die Zünfte als gewerbliche Interessen-Gemein*
Schäften blieben bestehen und hielten sich auch, aber die Brüder-
schaften wurden aufgelöst und verschwanden, mit ihnen ihr
Vermögen, ihre Archive^), ihre Zwecke, der Ertrag ihrer
Arbeiten usw. Auch alle Gilden waren beseitigt, soweit sie
nicht mit den Zünften ganz verfilzt waren, und dann selbst ging
diesen der Teil dahin, der ihre religiös-soziale Macht geb'ldet
hatte, ihre Kassen für Arme und Sieche, ihre Wohltätigkeitsr
Institute, ihre Stiftungen. Alles war verloren, nur das nackte
Leben retteten die Zünfte mit vieler Mühe und schwerem Gelde.
Sie müssen bald daran gegangen sein, sich den veränderten
Verhältnissen anzupassen, das Zerstörte wieder aufzubauen und
das Verlorene durch Neugründungen zu ersetzen. Sie haben
ihre Kassen (Charities) allmählich erneuert, haben wieder an-
gefangen, sich ihrer Kranken und Invaliden anzunehmen und
haben ihre sozialen Verbindungen, die doch zum größten Teile
ihre Machtstellung bedeuteten, erneuert. Indessen interessiert
uns das hier nicht mehr, da es fürderhin für uns ilicht auf die
Zünfte, auch nicht auf die Zunft der masons ankommt, mit der
der spätere Freimaurerbund nicht das Gerbgste zu tun hat,
sondern allein auf die Brüderschaft. Und diese war auch in dem
Steinmetzengewerke unwiderruflich dahin, gesetzlich aufgehoben.
Aber das Interesse daran blieb wach bei den ehemaligen
Bfüdem, ja wuchs sogar noch in den wild erregten Zeiten nach
Heinrichs Vm. Tode, wo man nicht wußte, was werden sollte,
und wo die Lösung der religiösen Frage für jeden emzelnen
^) Daher ist zwischen dem Cooke-Ms und den der Zeit nach
nächsten Constitution en-Hs eine Lücke von mehr als 150 Jahrea.
Alle Urkunden der Brüderschaft verschwanden kurz nach 1547.
256 Kapitel 10.
aktuell und nicht nur Tagesfrage, sondern im wahrsten Sinne
des Wortes Herzens- und Gewissensache war« Noch hatten
sich die Parteien nicht deutlich geschieden; aber Jedermann
hatte das Bedürfnis sich über die religiösen Neuerungen klar
zu werden und sich mit Freunden tmd Gleichgesinnten aus^
zusprechen und dazu Stellung zu nehmen« Jetzt erst recht in
diesen religiös bewegten Tagen wären die Brüderschaften mit
ihren religiösen und ethischen Zwecken und ihrer sozialen
Praxis am Platze gewesen«
Es war zu Ende und doch bei den Steinmetzen so leicht
wiederherzustellen« Die Idee bestand noch und die Logen als
Arbeitsstätten der Steinmetzen und als alte Heimstätten der
Genossenschaft bestanden auch weiter. Keinem der nun
isolierten Brüder konnte man wehren. Freunde um sich zu
versammeln und irgendwo zu verkehren. Selbst die geistige
Verbindung untereinander fehlte nicht: wie immer in den Zeiten
der Not bot sie eben die Idee, die bestehen blieb und ihre
Wirkung geltend gemacht haben wird« Es kam nur darauf an,
auf neuer Grundlage die nun einmal vernichtete Organisation
der Brüderschaft wieder aufzubauen.
« r
Dafür boten sich zwei Wege« Entweder konnte man etwas
ganz Neues bilden, wie das unter Elisabeths Regierung manche
der religiösen Gilden in England wirklich getan haben, oder
aber man konnte an die Zünfte als lokale Teile des Gewerk$
anknüpfen, sich diesen vorläufig organisatorisch anschließen und
so gewissermaßen von den Einzelorten aus die zerrissene Ver-
bindung über ganz England allmählich wiederherzustellen ver*
suchen« In diesem Falle blieben Name (Logen) und Organisation
(Form) wie bisher, aber die Sache wurde eine ganz andere:
aus der religiösen Brüderschaft wurde die philosophisch-
speculative Society mit ihren erziehlich-humanitären Zwecken,
ihren ritualen und symbolischen l^tteln tmd ihrer ,4ieiligen*
geheimen Forschungs- und Tempelbau-Arbeit.
Diesto letzteren Weg scheinen die Steinmetzen ein-
geschlagen zu haben: die einzelne Teile der neuen Societjr
wurden örtlich, städtisch, unfaßbar, ohne doch völlig in der
Die Einziehung d. Kirchengüier o. die Reform d. Brüderschaften. 257
Zunft aufzugehen, neben der üe eine ganz selbständige Ab-
teilung, einen abgesonderten Verein unter dem Namen der
Society of freemasons bildeten« Sie knüpften an die Logen an,
hießen auch Logen, hatten aber weder mit den alten bruder-
schaftlichen Logenversammlungen, noch auch mit den Werk-
maurer-Logen, den Arbeitsstätten der Steinmetzen, das ge-
ringste zu tun; sie krochen bei der Zunft unter, die ihnen in
ihrem Hause und in ihrer Kirche Unterkunft gewährte und sie
deckte, führten aber kein Gemeinschaftsleben mit der Zunft«
Freilich kamen diese Brüder vorerst mit leeren Händen, aber,
da die Zunft ihr mit ihren Mitteln aushalf, so gestalteten sich
doch auch nach gewisser Zeit wohl hier geordnete und ertrag-
liche Zustände.
Im einzelnen können wir den ganzen Vorgang der all-
mählichen Sammlung der zersprengten Herde in der letzten
Hälfte des 16. Jahrhunderts und die Art, wie das geschah und wie
sich die kleine Gemeinde hielt, wuchs, sich wieder mit der
Zeit vergrößerte und Verbindung miteinander anknüpfte, nicht
mehr verfolgen; keine Urkunde, kein Schriftsteller meldet dar-
über ein Wort, kein Überbleibsel bildet einen Merkstein für den
Lauf des Weges. Nur daß es geschah, sehen wir deutlich. Im
einzelnen wird das sich auch individuell -und eigenartig genug
entwickelt haben. London spielt dabei natürlich die Hauptrolle;
hierhin müssen wir vornehmlich unser Augenmerk richten. Aber
die Society entsteht und entwickelt sich nicht in London allein;
in York, in Chester, in anderen Orten tauchten diese „specula-
tiven" Gesellschaften der neuen Steinmetzen-Brüderschaft auf
und das Logenwesen Uüht nach dem fortentwickelten alten
Gebrauchtume der ehemaligen Brüderschaft der freemasons an
neuen Stätten, zu neuen Zwecken, in neuer Arbeit und tritt
in Blüte in das 17. Jahrhundert ein.