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Full text of "Wie Ägypten englisch wurde"

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Geheimrat Prof. Moritz: 


Wie Aegypten 


engliſch wurde 


Deutſche Orientbücherei 
Herausgegeben von Ernſt Jäckh 
X. Wie Agypten engliſch wurde 


Wie Agypten engliſch 
wurde 


von 


Profeſſor B. Moritz 


Geh. Regierungsrat 


Verlag Guſtav Kiepenheuer, Weimar 


Aae ‚Eu Ionen 


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Alle Rechte vorbehalten. 
Copyright by Guſtav Kiepenheuer V 
Weimar 1915 


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An 15. September wurden es dreiunddreißig Jahre, daß die 
engliſchen Truppen in Kairo eingezogen ſind, und damit hat 
in der wechſelreichen Geſchichte des alten Nillandes wieder einmal 
eine neue Periode begonnen. 

Nach der engliſchen Darſtellung ſieht es ſo aus, als ob dieſe 
Beſetzung Agyptens mehr durch eine Kette von Zufälligkeiten zu— 
ſtande gekommen ſei, daß nämlich die Londoner Regierung durch 
den Gang der Ereigniffe im Nillande behufs Wiederherſtellung und 
Aufrechterhaltung der Ordnung daſelbſt und ſomit in letzter Linie 
im eigenſten Intereſſe von Europa zu der Okkupation gezwungen 
worden ſei. In Wahrheit aber war ſie das Endziel einer für Eng— 
lands Intereſſen als notwendig erkannten, und abgeſehen von eini— 
gen Schwankungen rückſichtslos durchgeführten Politik. 

Seitdem mit der Feſtigung und Ausbreitung der engliſchen 
Macht in Indien Agypten immer mehr das Durchgangsland 
dorthin für England geworden war, war auch der Plan, es in 
engliſche Hände zu bringen, mehr oder minder ernſt in England 
erörtert worden. Wir können Lord Eromers Behauptung Modern 
Egypt I, 91) auf ſich beruhen laſſen, daß ſchon Napoleon III. im 

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4 TAX 7. 51 


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Jahre 1857 den Plan einer Aufteilung Nordafrikas gehabt habe, 
wobei Agypten an England, Marokko an Frankreich und Tunis 
an Sardinien fallen ſollte. Jedenfalls war in den vierziger und 
fünfziger Jahren in Agypten die Beſorgnis vor einer engliſchen 
Okkupation ſchon ziemlich verbreitet. „Es gibt in England Ver— 
treter einer Partei, die darauf hinarbeitet, ſich Agyptens eines 
Tages zu bemächtigen“, warnte 1857 ein Franzoſe feine Lands— 
leute (Merruau, L’Egypte contemporaine, S. 120). Wirklich 
ernſt wurde die ägyptiſche Frage erſt mit dem Suezkanal, der, 
von Franzoſen geplant und mit franzöſiſchem Gelde erbaut, dem 
ſchon damals bedenklich groß gewordenen politiſchen Einfluß Frank⸗ 
reichs die Vorherrſchaft in Agypten zu ſichern drohte. Der Suez⸗ 
kanal bildet den Ausgangs- und Angelpunkt der neuſten Geſchichte 
Agyptens. England hatte ſeinen Bau zunächſt zu verhindern, dann 
ſeiner Vollendung die größten Schwierigkeiten zu machen ſich 
bemüht, denn „es durfte nicht erlauben, daß eine andere Macht 
mit dem Kanal die Beherrſchung des kürzeſten Weges nach Aſien, 
zumal nach Indien in ihre Hand bekäme“. Als der Kanal aber trotz 
alledem zuſtande gekommen war, „konnte es für England keine 
Frage ſein, daß er nunmehr in engliſche Hände kommen müſſe, und 
ſeine Beherrſchung bedang natürlich die Beſetzung von Agypten“. 
Das waren die Leitſätze der engliſchen Politik, die in den eng— 
liſchen Darſtellungen immer wiederkehren. Die Notwendigkeit 
dieſer Politik war ſeit 1869 in England erkannt worden und bil— 
dete fortan den roten Faden in der engliſchen Behandlung der 
geſamten orientaliſchen Frage. Das Glück begünſtigte die Aus⸗ 


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führung dieſer Politik in ungeahnter Weiſe, und an rückſichts— 
loſer Ausnutzung jeder Gelegenheit hat es die engliſche Diplomatie 
nicht fehlen laſſen. Die einzige Macht, von der ernſter Widerſtand 
zu befürchten war, Frankreich, wurde ſchon im folgenden Jahre 
durch den Krieg mit Deutſchland vorläufig matt geſetzt und er— 
reichte unter der Republik überhaupt nie mehr die Machtfülle des 
Kaiſerreiches. Schon 1875 bot ſich eine Gelegenheit, einen Fuß 
nach Agypten zu ſetzen. Die Finanzlage des reichen Landes war dem 
Bankrott nahegekommen, einesteils durch die Verſchwendung 
des Khedive Iſmail Paſcha, mehr aber noch durch ſeine Ausbeu— 
tung ſeitens ſchamloſer franzöſiſcher Schmarotzer und der ihn aus— 
wuchernden Pariſer Bankiers. Voll Mißtrauen gegen Frank— 
reich hatte er ſich um Hilfe nach England gewendet: um Bargeld 
zu bekommen, verkaufte er feine Suezkanalaktien, 176 602 Stück 
A 20 Pfund Sterling, für 4 Millionen Pfund Sterling — 
heute ſind ſie mindeſtens 32 Millionen Pfund Sterling wert — 
und erbat ſich ſodann zur Ordnung der Finanzen einen erfahrenen 
Fachmann. Man ſchickte ihm den Briſtoler Bankdirektor Cave. 
Wohl auf deſſen Suggeſtion zeigte ſich die engliſche Regierung 
bereit, die Schulden und das — Protektorat von Agypten zu 
übernehmen. Nur Lord Derby, der Miniſter des Außeren, war 
ſchließlich gegen den Plan, angeblich gegen das Protektorat, in 
Wahrheit wohl aber bloß gegen die Übernahme der Schulden, 
denn er hoffte Agypten billiger zu bekommen. Und darin hatte er 
ſich nicht getäuſcht. Denn inzwiſchen war die orientaliſche Frage 
wieder akut geworden, und ſie hatte für England ſeit dem Krim— 

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krieg ein ganz anderes Geſicht bekommen. Es war nicht die Nicht⸗ 
erfüllung der in dem Hatti ſcherif von 1857 ſeitens der Türkei zu⸗ 
geſagten Reformen, wie England auch jetzt noch der Welt weis⸗ 
zumachen ſucht, ſondern die Rückſicht auf die ruſſiſche Drientpo: 
litik, die England zu einer völligen Anderung der eigenen veranlaßt 
hatte. Die Aus dehnung des ruſſiſchen Einfluſſes auf dem Balkan 
ſeit 1871, die ſchließlich zu dem großen Türkenkriege von 1877/78 
führte, hatte England die Überzeugung beigebracht, daß der Durch⸗ 
bruch Rußlands durch die Meerengen in das Mittelmeer und durch 
Perſien und Meſopotamien in den Perſiſchen Golf auf die Dauer 
nicht mehr zu verhindern ſein würde. Um ſo ernſter wurde nun die 
Sicherung des Suezkanals in die Hand genommen. In einer 
Note vom 6. Mai 1877 an das Petersburger Kabinett erklärte 
Lord Derby, daß ein Verſuch Rußlands, den Suezkanal zu ſperren 
oder den Verkehr mit Indien zu ſchädigen, von Großbritannien 
als eine Bedrohung Indiens betrachtet werden würde. Das war 
alſo fünf Jahre vor der Okkupation Agyptens. Bezüglich des 
ruſſiſchen Durchbruchs in den Perſiſchen Golf änderte ſich aller: 
dings die engliſche Anſicht wieder; dreißig Jahre ſpäter wurde 
jeder Verſuch dazu als casus belli bezeichnet. Konſtantinopel 
dagegen und Kleinaſien wurden ſchon damals definitiv Rußland 
überlaſſen; aber ſie für Rußland zu erobern, daran hat damals 
wohl noch keiner in England gedacht. Dieſe Schwenkung der 
engliſchen Orientpolitik erklärt die Nichtintervention Englands 
in dem Kriege von 1877/78. Für alle Fälle aber ließ man ſich die 
Inſel Cypern abtreten als Sprungbrett für eventuelle Unter: 
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nehmungen in Kleinafien oder Syrien-Meſopotamien. Die Zu— 
ſicherung an die Türkei, dafür die aſiatiſchen Provinzen gegen 
Rußland zu verteidigen, iſt alſo mit dem offenen Bewußtſein, 
ſie nicht zu halten, erteilt worden. Nach dem Kriege kam dieſer 
Stellungswechſel gegenüber der Türkei unter anderem in der Dal: 
tung Englands während der verſchiedenen Phaſen der armeniſchen 
Frage zum Ausdruck, in der es mit Rußland Hand in Hand ging, 
ſpäter auch in der mazedoniſchen Frage. Immerhin, mag die Stim— 
mung in England ſeit dieſer Zeit antitürkiſch geweſen ſein, ruſſophil 
iſt ſie erſt in den letzten Jahren geworden, ſeitdem die Gefahr eines 
Krieges mit Rußland wegen Afghaniſtan, reſp. Indien — den 
König Edward als Prinz von Wales a damned good thing ge- 
nannt haben ſoll — definitiv beſchworen war. Wenn nun auch der 
ruſſiſche Krieg ohne den befürchteten Durchbruch Rußlands nach 
dem Mittelmeer geendet hatte, ſo glaubte das Londoner Kabinett 
mit der Sicherung des Suezkanals nicht länger warten zu ſollen. 
Zudem hatte inzwiſchen die Entwicklung der Ereigniſſe in Agypten 
darauf hingedrängt, die Okkupation für die nächſte Zeit ins Auge zu 
faſſen. Die Finanznot Iſmail Paſchas, deſſen Schuldenlaſt bis 
Ende 1876 die Höhe von neunundachtzig Millionen ägyptiſcher 
Pfund (gegen drei Millionen im Jahre 1863) erreicht hatte, hatte 
hart an den Bankrott geführt und der Verſuch, dieſen zu verhüten, 
zu einer europäiſchen Einmiſchung, zunächſt in der Form einer Über— 
wachung durch eine Kommiſſion, die ſich allmählich zu der ſechs— 
köpfigen internationalen Staatsſchuldenkaſſe, kurz die Dette pu= 
blique genannt, auswuchs, dann ſchließlich zum Sturz Iſmail Pa- 

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ſchas, deſſen Abſetzung England in Konſtantinopel verlangte und, 
von den verblendeten Franzoſen unterſtützt, auch durchſetzte. Mit 
Iſmail Paſcha war das letzte ernſte Hindernis einer engliſchen 
Okkupation aus dem Wege geräumt. Er hatte Englands Abſichten 
auf Agypten längſt erkannt und wäre vielleicht imſtande geweſen, 
ihre Ausführung zu hindern. Sein Sohn und Nachfolger Taufik 
Paſcha, ſchwach und beſchränkt, war vollkommen unfähig, den 
Gang der Ereigniſſe aufzuhalten und iſt deshalb von den Eng— 
ländern ſpäter als verſtändiger Mann geprieſen worden. Die 
Quinteſſenz ſeiner ſtaatsmänniſchen Weisheit beſtand in Lord 
Cromers Augen (Modern Egypt II, 332) darin, daß er (genau 
wie Cromer ſelbſt) jedesmal, wenn ſeine Poſition in eine Klemme 
kam, „einen Miniſterſündenbock in die Wüſte ſchickte“. 

Den letzten Anſtoß zur Intervention gab die rebelliſche fremden— 
feindliche Bewegung in dem ägyptiſchen Offizierkorps. Von Iſ— 
mail Paſcha als Gegengewicht gegen die europäiſche Bevormun— 
dung ins Leben gerufen, wuchs ſie ſeinem Nachfolger ſo über den 
Kopf, daß ihre Führer 1881 die ganze Macht in den Händen 
hatten. Mit ihrem Siege begann auch im fanatiſchen Volk eine 
gegen die Europäer gerichtete Bewegung, die eine europäiſche 
Intervention unvermeidlich machte. Aus den Enthüllungen von 
Wilfr. Blunt (Secret history of the occupation of Egypt 227) 
wiſſen wir jetzt, daß in London ſchon im Winter 1881/82 die Aus⸗ 
führung dieſer Intervention für den kommenden Sommer be— 
ſchloſſen und die militäriſchen Maßnahmen in allen Einzelheiten 
feſtgeſtellt worden waren. In ihrem ägyptiſchen Vertreter E. 
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Mallet (ſpäter Botſchafter in Berlin) befaß die englifche Regie— 
rung den rechten Mann, der es verſtand, die Entwicklung der Dinge 
zu dieſem Ziele zu treiben. Er ſorgte dafür, daß die Zuſtände in 
Agypten nicht mehr zur Ruhe kamen, ſo daß der deutſche und der 
öſterreichiſche Vertreter amtlich erklären mußten, das einzige 
Mittel, die Beruhigung des Landes herbeizuführen, ſei der Abgang 
von Mallet (Bemmelen, L’Egypte et Europe II, 316). Er ging 
dann auch ſchließlich, aber erſt, als eine engliſche Flotte vor Aleran- 
drien erſchienen war. Zu ihrer Überwachung war zwar eine fran— 
zöſiſche mitgekommen. In dem Moment aber, wo der engliſche 
Admiral nach den künſtlich hervorgerufenen Unruhen in der Stadt 
zu der längſt geplanten Beſchießung ſchritt, taten die Franzoſen 
den Engländern den Gefallen, rechtzeitig von der Bühne zu ver— 
ſchwinden. Ob das nur eine von den vielen Torheiten der franzö— 
ſiſchen Politik in Agypten geweſen iſt, oder ob ſchon damals andere 
Argumente in Wirkſamkeit getreten ſind, wie z. B. beim Abſchluß 
der Entente vom April 1904, wird vielleicht noch einmal zutage 
kommen. 

Jedenfalls war die Beſchießung von Alexandrien ebenſo wie ihre 
Begründung ſeitens des Admirals Seymoureineflagrante Rechts- 
verletzung, in den Augen der engliſchen Diplomatie (Gladſtone) 
aber „ein Akt der Selbſtverteidigung“ (Cromer, Modern Egypt !, 
298). Seymour begründete ſein Ultimatum damit, daß er den 
Agyptern das Recht beſtritt, angeſichts ſeiner drohenden Flotte die 
Befeſtigungen inſtand zu ſetzen, und da er befürchtete, daß ſein Ulti— 
matum angenommen werden würde, begann er die Beſchießung 

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ſchon eine Stunde vor Ablauf desfelben. Für die Beſchießung 
mußte ſpäter der ägyptiſche Steuerzahler büßen und ſchwere Ent— 
ſchädigungen, im ganzen 4341000 ägyptiſche Pfund S mehr als 
90 Millionen Mark an Levantiner, Italiener, Malteſer, Eng: 
länder und andere Leute zahlen, die dabei zu Schaden gekommen 
ſein wollten und nun die Gelegenheit benutzten, ein Vermögen zu 
machen. Erbauliche Details darüber bringt der Malteſer Jour— 
naliſt Vizetelly in feinem Buch From Cyprus to Zanzibar. 
Daß die Zerſtörung der Stadt in der Hauptſache von dem eng— 
liſchen Admiral durch die abſichtliche Verzögerung der Landung 
verſchuldet worden iſt, haben einwandfreie Augenzeugen (z. B. 
Prof. G. Schweinfurth) ſchon damals erklärt. Es folgte nun der 
„Feldzug“ gegen Arabi Paſcha, den Führer der „Rebellenarmee“ 
und zwar nach dem bis ins einzelſte längſt feſtgeſtellten Plane 
(Cromer J, 323, Anm. 2) vom Suezkanal her, obwohl dem her⸗ 
beigeeilten „querulierenden“ (I, 323) Erbauer feierlichſt verſichert 
wurde, die Neutralität „ſeines“ Kanals ſolle reſpektiert werden. 
Die „Rebellenarmee“ beſtand aus zirka 8000 Mann Soldaten, 
etwa 10— 12000 zu Schanzarbeiten zuſammengetriebenen Bau— 
ern und 1— 2000 militäriſch wertloſen Beduinen, unter ihnen 
mancher Verräter. Der Führer Arabi hatte es zwar in ſechs 
Jahren vom gemeinen Soldaten ſchon im zwanzigſten Lebens— 
jahre bis zum Oberſtleutnant gebracht, aber ausſchließlich durch 
die perſönliche Gunſt des Khedive Said Paſcha, denn vom Mi— 
litär verſtand er gar nichts (ſeine Selbſtbiographie bei Blunt, 
481); er war der Typus des ägyptiſchen Fellachen, mit einer ge⸗ 


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wiſſen Bauernſchlauheit begabt, ganz unwiſſend, frech und feige 
(Blunt, 385). Vor der Schlacht, deren Datum ſchon ein Monat 
vorher feſtgeſetzt war (Cromer J, 323, Anm. 2), hatte man eng- 
liſcherſeits noch die Vorſicht gebraucht, die einigermaßen fähigen 
Unterbefehlshaber Arabis durch Beſtechung — nach Blunt, 
424, Anm. 1 mit falſchen Goldmünzen — zum überlaufen zu 
veranlaſſen. Erſt dann erfolgte die Farce der Schlacht oder rich— 
tiger nächtlichen Überfalls, währenddeſſen Arabi weit hinter der 
Front erſt betete und dann die Flucht ergriff“. Unter den wehrloſen 
Haufen der flüchtenden Agypter richtete die engliſche Kavallerie 
ganz unnötigerweiſe ein furchtbares Gemetzel an und beſetzte dann 
nach einem ſtarken Marſch — der einzigen militäriſchen Leiſtung 
des „Feldzuges“ — Kairo, am 14. September 1882. 

So hatte die alte bibliſche Weisſagung ſich erfüllt, „die Toch— 
ter Agypten war in die Hand des Volkes des Nordens gegeben“ 
(Jerem. 46, 24), wie der bibelfefte Lord Cromer mit Befriedigung 
feſtſtellt (I, 147). England hatte nunmehr auch mit dem zweiten 
Fuß in Agypten Platz genommen in dem feſten Entſchluß: j’y 
suis, j‘y reste“. Alle ſpäteren Verſprechungen und Verhand— 
lungen über Räumung des Landes waren bewußte Täuſchungen. 

Zunãchſt aber erhob ſich die Frage, was mit dem Lande nunmehr 
anzufangen ſei. Es zu einem Protektorat, einer Kolonie oder der— 


gleichen eigentlich zu erklären, durfte man doch nicht gut wagen an- 
1 Die Begräbniskoſten für die vierundfünfzig gefallenen Engländer 
wurden Agypten aufgebürdet (Milner, England in Egypt, 4. Aufl. 260. 
2 Blunt, Secret history 366: They intend occupying Egypt and 
probably annexing it, on the principle j’y suis, j’y reste. 


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gefichts des Mißtrauens der europäiſchen Mächte, befonders Frank⸗ 
reichs, aber auch des Sultans. Das erftere fragte tatfächlich ſchon 
am 20. September in recht beſtimmter Form an, was die eng— 
liſchen Abſichten bezüglich Agyptens ſeien. So wurde denn, an— 
geblich nur wenige Stunden nach der Schlacht (Eromer J, 331) 
Mallet aufgefordert, Vorſchläge über die künftige Verwaltung 
des Landes zu machen, und gleichzeitig der Botſchafter Dufferin 
in Konſtantinopel zwecks Beruhigung des Sultans informiert, 
daß „die Regierung die baldige Zurückziehung der Truppen in 
Erwägung ziehe“. Einundeinhalb Monat ſpäter wurde er „on 
special mission“ nach Agypten geſchickt. Schon nach drei Mo: 
naten — er blieb im ganzen nur fünf, vom 6. November 1882 
bis Mai 1883 — war er imſtande, der Londoner Regierung ein 
detailliertes Projekt vorzulegen über die in Agypten einzuführende 
Reformpolitik, für die die Aufrechterhaltung der engliſchen Derr- 
ſchaft auf unbeſtimmte Zeit die Grundbedingung ſei. Nach der 
ausdrücklichen Inſtruktion des Miniſteriums durfte er 
aber dieſen Schlußſatz in ſeinem Memorandum nicht 
ausſprechen (Eromer J, 342). Unklar war man ſich anſcheinend 
nur darüber geweſen, in welcher Weiſe der neue Beſitz zu verwal- 
ten ſei, ob wie die indiſchen Eingeborenenſtaaten durch eingeborene 
Beamte unter der Aufſicht von einigen wenigen hohen engliſchen 
oder direkt durch Einſetzung einer größeren Anzahl Engländer. 
Lord Dufferin war für das erſte Syſtem; auch ſein Nachfolger 
Baring⸗Cromer behielt es ſpäter noch bei, wohl mehr nolens denn 
volens, bis er zu dem zweiten übergehen konnte. Abgeſehen von. 


14 


einer größeren Anzahl (26) Offiziere für die neuzubildende ägyp— 
tiſche Armee von zunächſt 6000 Mann war die Zahl der durch 
Dufferin berufenen engliſchen Beamten eine verſchwindend kleine. 

Inzwiſchen hatte man in London erkannt, daß die Leitung 
der engliſchen Politik dort eine hervorragende Kraft erfordere; nach 
einigem Schwanken fiel die Wahl auf Sir Evelin Baring, ehe— 
maligen Major der Artillerie, ſeit Mai 1892 Lord, am 1. Januar 
1899 Earl of Cromer. Ihm war Agypten ſchon gut bekannt von 
ſeiner dreijährigen Tätigkeit an der Staatsſchuldenkaſſe (2. März 
1877 bis 24. Mai 1879) und als Finanzkontrolleur (September 
1879 bis Juni 1880), worauf er in Oſtindien als Mitglied des 
Vizeköniglichen Rates die Finanzen geleitet hatte. In einer faſt 
vierundzwanzigjährigen Tätigkeit hat er dann der Londoner Re— 
gierung bewieſen, daß ſie mit ſeiner Wahl keinen Fehlgriff ge— 
tan hatte. 

Seine Aufgabe war um ſo ſchwieriger, als bei ſeiner Ankunft 
in Agypten (11. November 1883) faſt alles gegen ihn war; die 
mächtige franzöſiſche Kolonie trat ihm mit offener, die ägyptiſchen 
Miniſter, Beamten und Großen des Landes mit ſchlecht verhehlter . 
Feindſchaft entgegen, ebenſo das ägyptiſche Volk, obwohl von ihm 
kein Akt offener bewaffneter Feindſchaft erfolgt iſt wie fünfund— 
achtzig Jahre früher gegen die Franzoſen. Aber Baring zeigte ſich 
der außerordentlich verwickelten, in den erſten fünf Jahren (bis 
1888) zeitweiſe faſt hoffnungslos ausſchauenden Situation voll 
auf gewachſen. Ein Mann von eiſernem Charakter (und Geſund— 
heit), von ſeltenem organiſatoriſchen Talent, von befonderer Be: 

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gabung für das Finanzweſen, von weit überragender diplomatiſcher 
Gewandtheit, zwar mit einem recht weiten und robuſten Gewiſſen 
in politiſchen Dingen, aber von abſoluter Integrität, dies in wohl- 
tuendem Gegenſatz zu manchen ſeiner Landsleute in Agypten, blieb 
er auch in den Jahren ſeiner Machtfülle in ſeinem perſönlichen 
Auftreten einfach, ein Feind von Pomp und Poſe. Allerdings 
durfte er ſeine Talente auch frei entfalten. Er erkennt rühmend an, 
daß die heimiſche Regierung ihm nie mit Inſtruktionen und Di— 
rektiven die Hände gebunden habe (I, 323), eine Behauptung, 
die indes wohl nicht ganz buchſtäblich zu nehmen iſt. 

Es lohnt ſich wohl zu verfolgen, wie der „Macher des neuen 
Agyptens“ es fertiggebracht hat, ohne Anwendung von Gewalt 
vor den Augen des mißgünſtigen Europa Agypten aus einem tür⸗ 
kiſchen Vaſallenſtaat in ein de facto engliſches Protektorat um⸗ 
zuwandeln und in ſeiner Perſon als einfacher doyen des diplo— 
matiſchen Korps, alſo ein primus inter pares, eine Machtfülle zu 
vereinigen, wie ſie kaum ein Pharao oder Sultan der alten Zeit 
beſeſſen hat. 

Zunächſt handelte es ſich darum, eine immerhin noch zu befürch— 
tende Intervention der europäiſchen Mächte zu verhüten. Denn er⸗ 
baut war keine von dem engliſchen Einbruch in Agypten, und an wirk— 
lichem Vorwande hätte es namentlich Frankreich bei ſeinen vielen 
finanziellen Intereſſen nicht gefehlt — es hatte damals ſchon über 
eine Milliarde im Lande feſtgelegt — wie es denn auch tatſächlich 
im Laufe der nächſten zwanzig Jahre in der Politik der bisweilen 
recht groben Nadelſtiche ſich nicht genugtun konnte. Es wurde 
16 


alfo von Lord Granville in einem Zirkular vom 3. Januar 1883 
den Mächten feierlichſt verſichert, daß die Zurückziehung der eng— 
liſchen Truppen erfolgen ſolle, ſobald es der Zuſtand des Landes 
und die Organiſierung der zur Aufrechterhaltung der Autorität 
des Khedive geeigneten Mittel erlauben würde. Bis dahin fiele 
auf die engliſche Regierung die Pflicht, den Khedive zu beraten 
uſw. (Cromer J, 340). Sobald dies Ziel erreicht ſei, würden die 
Truppen zurückgezogen werden. Selbſt im Parlament wurde vom 
Marquis of Hartington ohne Scham vor der Wahrheit verkündet, 
daß die Räumung von Agypten nicht eine Frage von Monaten, 
ſondern nur von Wochen ſei. Der geflügelte Ausdruck von dem pro— 
viſoriſchen Charakter der Okkupation veranlaßte einen franzöſiſchen 
Politiker zu der treffenden Auslegung, er glaube gerne, daß nur ein 
Proviſorium gemeint ſei; aber ein Proviſorium, das ewig dauern 
würde. Tatſäch lich aber gaben die europäiſchen Mächte ſich mit dieſer 
Vertröſtung ad calendas graecas zufrieden; das engliſche Kabinett 
wußte eben, daß keine europäiſche Regierung wegen Agypten Krieg 
anfangen würde. Lord Cromer hat fpäter im Lauf feiner langjäh: 
rigen Tätigkeit feinen Kollegen von der Diplomatie noch ganz an- 
dere Dinge geboten; er wußte, was er ihnen zumuten konnte und daß 
es unter ihnen Leute gab, die auf ſeine Verſicherungen ſchworen. 

So konnte er an die erſte Hauptaufgabe gehen, an die Neuord— 
nung der ägyptiſchen Verwaltung und ihres Fundaments, der Fi— 
nanzen. Im Jahre 1883 war Agypten tatſächlich bankrott. Die 
Lage war noch verſchlimmert worden durch die von Agypten über⸗ 
nommenen Koſten für die Okkupation Entſchädigung für das 
2 Moritz, Agypten 17 


Bombardement von Alexandrien), ganz beſonders aber durch den 
großen national-religiöſen Aufſtand im Sudan, der zu dem Falle 
von Khartum, dem Tode Gordons und dem Verluſte des unge— 
heuren Landes führte. Die Agypten dadurch entſtandenen Verluſte 
werden auf 10 Millionen ägypt. Pfund geſchätzt ( Milner, England 
in Egypt, 4. ed. 183). Für die Kataſtrophe in Khartum machte Ba⸗ 
ring Gladſtone verantwortlich A, 583), auf den er überhaupt ſchlecht 
zu ſprechen war. Gordon ſelbſt hat alle Schuld auf Baring ge— 
ſchoben, ebenſo ſagt Blunt (Gordon at Khartoum VIID, daß 
an dem Mißlingen von Gordons Miſſion kein anderer als Baring 
die Schuld trage. 

Trotz aller Anſtrengungen Barings und ſeiner Mitarbeiter, unter 
denen er den damaligen deutſchen Direktor der Schuldenkaſſe, 
ſpäteren Staatsſekretär Richthofen niemals erwähnt, dauerte es 
aber über fünf Jahre, bis die Gefahr des Bankrotts definitiv be— 
ſchworen und damit auch die Gefahr der Einmiſchung der euro— 
päiſchen Mächte wenigſtens verringert war. Die Maßregeln, durch 
welche Baring das Sanierungs werk zuſtande gebracht hat, Eon: 
nen hier nicht im einzelnen genannt werden; fie waren ebenſo in- 
geniös erdacht wie geſchickt und energiſch durchgeführt. 

Freilich erforderte die Sanierung die Aufnahme mehrerer neuer 
Anleihen, wodurch die ägyptiſche Staatsſchuld Ende der achtziger 
Jahre auf über 98 Millionen und bis 1892 gar auf 106 Mil⸗ 
lionen ägypt. Pfund ſtieg. Wenn dann auch in den dreiundreißig 
Jahren der engliſchen Verwaltung die ägyptiſchen Finanzen auf 
eine geſunde Baſis geſtellt wurden, ſo iſt doch für die Tilgung der 
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Schuld felbft wenig geleiſtet worden. 1914 war fie erſt auf 94 
Millionen zurückgegangen, betrug alſo immer noch mehr als unter 
Iſmail Paſcha. Hatte die engliſche Regierung den ehrlichen 
Wunſch die Schuldenlaſt zu verringern, warum gab ſie die Suez— 
kanalaktien nicht zurück? Nach dem jetzigen Stande derſelben 
würde man damit ein reichliches Drittel der Schuld tilgen können. 
Dieſer Punkt wird in den engliſchen Darſtellungen immer mit der 
größten Vorſicht umgangen. 

Bei aller Anerkennung dieſes Sanierungswerks muß aber doch 
zur Sprache gebracht werden, daß ein großes Verdienſt an dieſer 
Wiederherſtellung des finanziellen Gleichgewichts der internatio— 
nalen Schuldenkommiſſion zukommt, deren Mitglied Cromer 
zwar früher geweſen, die ihm aber ſpäter ein Dorn im Auge wurde, 
angeblich „weil ſie Agypten jährlich 40000 ägypt. Pfund ko— 
ftete” (II. 309), ungefähr ebenſoviel wie der Affenkäfig und Bären- 
zwinger im Zoologiſchen Garten, die ſich Seine Lordſchaft ſpäter 
bauen ließ. Unter vier Augen freilich hat er ſich über die „Caiſſe“ 
ganz anders geäußert und bedauert, daß nichts dergleichen in In— 
dien exiſtiere (E. Dicey, Egypt of the futur 210). Erſt im Jahre 
1904 gelang es ihm, der verhaßten Caiſſe den erſten ſchweren 
Schlag zu verſetzen, indem er ihr jeden Einfluß auf die Verwaltung 
raubte. Seine Hoffnung, daß ſie 1912 ganz verſchwinden würde, 
iſt jedoch nicht in Erfüllung gegangen. Seine endloſen Angriffe 
auf fie zumal in der eingeborenen Preſſe waren um fo ungerecht: 
fertigter, als fie mit Ausnahme der Vertreter von Frankreich und 
Rußland ſtets loyal mit ihm gearbeitet hat. Selbſt Cromers Lob— 
2˙ 19 


redner Milner hat nicht umhin gekonnt, dieſe loyale Mitarbeit der 
Caiſſe anzuerkennen England in Egypt 336). Er legt Wert da⸗ 
rauf feſtzuſtellen, daß die Gegner an ihr ſtets Frankreich und Ruß⸗ 
land waren, deren Widerſtand nur ſchwer zu überwinden war. 

Parallel mit der Reform der Finanzen gingen Cromers Beſtre—⸗ 
bungen zur Neuordnung der ägyptiſchen Verwaltung. Sein Ver— 
hältnis zur ägyptiſchen Regierung war zunächſt das eines wohlwol⸗ 
lenden Beraters, wie das der engliſchen Reſidenten an indiſchen Für: 
ſtenhöfen. Mit der zunehmenden Feſtigung ſeiner Stellung nah— 
men aber ſeine Ratſchläge bald imperative Form an; der Miniſter⸗ 
präſident, der einen Rat nicht annehmen wollte, mußte gehen. So 
entledigte er ſich 1894 Riaz Paſchas, eines Türken (angeblich 
jüdiſchen Renegaten) von großer Klugheit und noch größerer Zä— 
higkeit. Ein Jahr ſpäter wurde er Nubar Paſcha los, wohl den 
gefährlichſten Gegner, den er in Agypten gehabt hat. Auch Nubar 
hatte bei all ſeiner armeniſchen Schlauheit zu denen gehört, die 
den engliſchen Verſicherungen geglaubt hatten, England beabſich⸗ 
tigte nur eine militäriſche Okkupation zum Schutz der Autorität 
des Khedive, und hatte darum die Okkupation begünſtigt. Von 
dem Moment an aber, wo er merkte, daß die Engländer auch die 
Verwaltung des Landes in die Hand nehmen wollten, war er ihr 
erbittertſter Gegner geworden. Das Dufferinſche Syſtem wurde 
nun allmählich durchgeführt, reſp. ausgebaut. Jedes Minifte- 
rium erhielt einen engliſchen adviser (franz. conseiller) zur Be 
ratung oder vielmehr Kontrollierung des Miniſters und des ge 
ſamten Miniſteriums. In Rang und Bezahlung (2000 ägypt. 
20 


Pfund) kam er zwiſchen Minifter (3000 ägypt. Pfund) und 
Unterſtaatsſekretär (1500 ägypt. Pfund). Der älteſte adviser 
war der ſchon vor Cromers Zeit dem Finanzminiſterium aufge— 
drängte. Dann folgte 1891 einer für die Juſtiz, die übrigens 
früher ſchon einen für kürzere Zeit gehabt hatte, 1894 für das 
Innere, dann für die öffentlichen Arbeiten und zuletzt (1906) für 
das Unterrichtsminiſterium. Der adviser war im Miniſterium 
der Herr und regierte nach den Inſtruktionen, die er ſich von Cro— 
mer holte. Die von ihm entworfenen Miniſterialerlaſſe hatte der 
eingeborene Miniſter zu unterzeichnen und die Verantwortung, 
d. h. häufig genug das Odium dafür zu übernehmen. Ein Ver— 
ſuch Widerſtand zu leiſten hätte ihm ſeine Stellung gekoſtet, 
die der eingeborene Miniſter ſchon wegen der 3000 ägypt. Pfund 
nicht gern aufgab. „In important matters British advice must 
be followed“ war die Loſung Milner, England in Egypt 
115. Da die Perſon des Miniſters alſo vollkommen gleichgültig 
war, legte Cromer bei der Auswahl des Kandidaten keinerlei Ge— 
wicht auf ſeine Kenntniſſe oder Fähigkeiten. So nahm er einmal 
zum Kriegsminiſter einen ehemaligen Zeremonienmeiſter, der offen 
erklärte, daß er nicht wiſſe, wie er ein Gewehr anzufaſſen habe. 
Dasſelbe Miniſterium hatte ſchon vorher (1894) einen Armenier 
als Unterſtaatsſekretär bekommen, der ſeine militäriſche Laufbahn 
als Dragoman begonnen hatte. Dies Miniſterium und das Aus— 
wärtige Amt waren übrigens die einzigen, die keinen adviser er: 
d. h. der Hauptinhalt einer vertraulichen Inſtruktion von London 

für Cromer vom 4. Januar 1884 (Modern Egypt J, 382). 
21 


hielten. In dem erften regierte der engliſche Oberbefehlshaber 
(sirdär) der ägyptiſchen Armee, im zweiten der ſchlaue Kopte Bu⸗ 
trus Ghali unter der direkten Aufſicht von Cromer. Ein anderes 
Zeichen ſeiner Achtung vor den ägyptiſchen Miniſtern war, daß er 
bisweilen zwei Miniſterien von einem Miniſter verwalten ließ, 
z. B. öffentliche Arbeiten (Travaux publics) und Unterricht (In: 
struction publique). Der Miniſter ging in jedes Miniſterium 
abwechſelnd und wurde vom Kairiner Salonwitz doppelt publik 
genannt. Später wurden öffentliche Arbeiten und Krieg vereinigt, 
was inſofern verſtändlich war, als beide Miniſterien in demſelben 
Gebäude untergebracht waren; der Inhaber war Waſſerbauinge⸗ 
nieur. Aber vielleicht war dieſe Zuſammenlegung von Miniſterien 
nur eine finanzielle Maßregel, um ein Miniſtergehalt zu ſparen. 

Während der erſten Periode von Cromers Regierung (1883 
bis 1898) war die Verwaltung alſo nach dem Dufferinſchen 
Syſteme geführt worden: die Anzahl der engliſchen Beamten war 
eine ziemlich beſchränkte geblieben, und eine Angliſierung der Ver⸗ 
waltung bis dahin nirgends verſucht worden; auch war als euro: 
päiſche Amtsſprache das Franzöſiſche beibehalten worden, woran 
ſich mancher Engländer erſt gewöhnen mußte. Mit der Wieder⸗ 
eroberung des Sudan 1898 begann aber für Agypten eine neue 
Periode“. Obwohl der Sudan mit vorwiegend ägyptiſchem Gelde 
— 1554000 ägypt. Pfund von Agypten, 800 000 ägypt. 


1 Beinahe wäre damals ſchon die Protektoratserklärung erfolgt, zu 
der Cromer große Luſt hatte, aber Lord Salisbury wollte nicht recht 
(Milner, a. a. O. 400). 


22 


Pfund von England — und vorwiegend ägyptiſchem Militär 
erobert worden war, ſo zwang Cromer die ägyptiſche Regierung 
zu einem Vertrage, durch den zwar ein Kondominium feſtgeſetzt 
wurde, in dem aber England „the predominant member“ war 
(Cromer II, 116). Praktiſch wurde der Sudan eine englifche 
Kolonie, die mit ägyptiſchem Gelde von einem engliſchen General— 
gouverneur mit autokratiſcher Machtvollkommenheit verwaltet 
wurde. Mit dem feſten Beſitz des Sudan fingen die Engländer 
an, ſich auch in Agypten ſicherer zu fühlen, und nun ſetzte eine Per 
riode ein, in der die Angliſierung der Verwaltung mit Hochdruck 
verſucht wurde;. Zu dieſem Zweck wurde das Land mit einer Un- 
menge von jungen engliſchen Beamten überſchwemmt, häufig 
Leute mit bedenklich geringer Bildung, aber deſto größeren Anſprü— 
chen. Da die meiſten von ihnen keine andere Sprache als Engliſch 
konnten, ſollten nun die eingeborenen Beamten gezwungen werden, 
Engliſch zu lernen. Zwar wurde auch von den Engländern die 
Kenntnis des Arabiſchen verlangt, doch waren die Prüfungen, in 
denen fie dieſelbe nachweiſen follten, mehr eine Farce. Am meiſten be: 
rufen zur Angliſierungs arbeit war das Unterrichtsminiſterium. Hier 
hatte Cromer einen Mann an die Spitze geſtellt, zunächſt als Ge⸗ 
neralſekretär, ſeit 1906 als adviser, der bis 1891 Lehrer an einer 
kleinen ſchottiſchen Miſſionsſchule in Alexandrien geweſen war, alſo 
noch nicht mit der Bildung eines deutſchen Volksſchullehrers aus: 
gerüſtet. Dieſer brachte das Niveau des Unterrichts, beſonders des 
1 Cromer ſagt freilich im Jahresbericht für 1900, S. 51: The En- 

glish ... have no desire to Anglicize the country. 
23 


höheren, planmäßig herunter, der früher unter franzöſiſcher Leitung 
immerhin einige Erfolge gehabt hatte. Da das engliſche Lehrer— 
material meiſt kläglich war, fo war auch das Reſultat des Unter: 
richts entſprechend. Hatten die Schüler früher von europäiſchen 
Sprachen wenigſtens noch leidlich Franzöſiſch gelernt, das allen 
Orientalen mundgerecht zu ſein ſcheint, ſo lernten ſie trotz maſſen— 
haften Imports engliſcher Lehrer das Engliſche doch nicht, das 
dem Agypter nun einmal nicht zu liegen ſcheint. Überhaupt ging 
die ganze Dreſſur in den ſogenannten höheren Schulen einzig und 
allein darauf hinaus, brauchbare Subalternbeamte heranzubilden. 
Engliſche Kleidermoden und Fußball war das einzige, was die 
Schüler lernten und trieben, und dazu noch — allerdings ſehr gegen 
den Willen des Miniſteriums — Politik. Nämlich die total ver⸗ 
kehrte Behandlung des Unterrichtsweſens war der Hauptgrund, 
daß die ſeit Mitte der neunziger Jahre immer ſtärker einſetzende 
nationaliſtiſche Propaganda gerade auf den Schulen am meiſten 
Anhang fand. Als Cromer ſpäter (1906) noch die ungeheuerliche 
Unvorſichtigkeit beging, Saad Saghlul, einen Führer der Natio— 
naliſten und ehemaligen Spießgeſellen von Arabi, zum Unterrichts: 
miniſter zu machen, wurde auch die Diſziplin in den Schulen total 
zerrüttet, die der einzig ernſtliche Erfolg geweſen war, den die Angli— 
ſierungspolitik bis dahin erreicht hatte. Freilich als nun die Natio—⸗ 
naliften die „politifche und kulturelle Erziehung“ des Volkes ſelbſt 
in die Hand nahmen, bewieſen fie fofort ihre völlige Unfähigkeit zu 
poſitivem Schaffen. Sie begannen — echt ägyptiſch — das Haus 
beim Dache, indem ſie gleich eine Univerſität gründeten, zu der alle 
24 


Vorbedingungen fehlten. Trotz ungeheurer auf fie verwendeter 
Summen wurde die Univerſität ein glänzendes Fiasko. 

Die Leiſtungen der engliſchen Okkupation auf dem Gebiete der 
Volksbildung werden am beſten illuſtriert durch den Stand der 
Analphabetenfrage. Im Jahre 1898, alſo nach fünfzehnjähriger 
Zivilifierungsarbeit, gab es in Agypten noch mehr als 91 Proz. 
Analphabeten; nur 8 Proz. des männlichen und 1 Proz. vom weib— 
lichen Geſchlecht konnten leſen und ſchreiben (Milner, a. a. O. 392). 
Zur Entſchuldigung der engliſchen Verwaltung mag geſagt wer— 
den, daß die Ordnung der Finanzverhältniſſe ihr wichtiger er— 
ſchienen war und für die Volksbildung nur wenig Mittel erübrigt 
werden konnten. Dieſe Entſchuldigung kann aber für die neunziger 
Jahre nicht mehr gelten, wo die finanzielle Lage des Landes in 
glänzender Weiſe ſich hob. 

Im Jahre 1884 hatte das Budget des Unterrichtsminiſteriums 
125179 ägypt. Pfund betragen, im Jahre 1890 gar nur 81000 
ägypt. Pfund; im Jahre 1894 war es nur unbedeutend geſtiegen 
bis auf 141709; 1897 war es wieder zurückgegangen auf 105180; 
1898 betrug es 105 220; 1899 107 964; 1900 etwa 150000); 
1901 150000; 1902 1500007; 1903 197000; 1904 203 500; 
1905 276000; 1906 374000; 1907 374000 ägypt. Pfund. 
Gewiß find dieſe Summen bei einem Jahresbudget von 11 bis 14 
Millionen ägypt. Pfund ungebührlich gering, andererſeits aber groß 
genug, um damit etwas leiſten zu können. Die Leiſtung nun, die mit 
dem Aufwand dieſer mehr als 2 Millionen ägypt. Pfund = 42 

1 Schätzungsweiſe; die genauen Ziffern waren nicht zu ermitteln. 

23 


Millionen Mark in zehnjähriger Arbeit erreicht wurde, war, daß 
die Zahl der Alphabeten beim männlichen Geſchlecht von 8 Proz. 
auf 8 ½ Proz., beim weiblichen von 2 Proz. auf 3 Proz. ſtieg, alfo 
eine Verminderung der Analphabeten von bzw. 1 Proz. 

War die Behandlung des Schulweſens alles andere, nur kein 
Ruhmestitel für die engliſche Reformarbeit in Agypten, ſo hatten 
Cromers Anſtrengungen auf anderen Gebieten beſſeren Erfolg. 
Von ſeiner Tätigkeit auf dem Finanzgebiet iſt oben ſchon die 
Rede geweſen. Da der Reichtum Agyptens auf ſeinem Ackerbau 
und dieſer auf dem Bewäſſerungsſyſtem beruht, ſo hatten ſich 
Cromers Anſtrengungen ihm beizeiten zugewendet. Für dieſes 
Gebiet wußte er ſich die Mitarbeit von Männern zu ſichern, die 
ihre Schule in Indien gemacht hatten und zum Teil Autoritäten 
erſten Ranges waren. Sie brachten das Bewäſſerungsweſen auf 
eine Höhe, die es früher wahrſcheinlich nie gehabt hatte, und die 
nun ein Hauptgrund für das rapide Steigen des nationalen 
Wohlſtandes wurde. Dieſe Tätigkeit der Engländer wurde von 
der Bevölkerung auch am meiſten, vielleicht allein anerkannt und 
hat ihnen gewiſſe Sympathien verſchafft. Leider aber ſchien in die— 
ſem Miniſterium (der öffentlichen Arbeiten) der alte Krebsſchaden 
des Bakſchiſchweſens unausrottbar zu ſein. Das Unweſen war ſo 
ſchamlos, daß Cromer ſelbſt es zugeben mußte Modern Egypt II, 
424, 425). Er redet dort zwar nur von Unterbeamten, aber eng- 
liſche Unterbeamte gab es doch nicht, und bei einem Prozeß eines 
engliſchen Inſpektors von dieſem Miniſterium gegen die einhei— 
miſche Zeitung Muaijad kamen Dinge ans Tageslicht, die in eng: 
26 


liſchen Büchern immer mit ſittlicher Entrüſtung der „verrotteten 
türkiſchen Wirtſchaft“ vorgeworfen werden. In der anderen Ab: 
teilung desſelben Miniſteriums, dem Bautendepartement, war 
dieſes Unweſen bei der Ausſchreibung und Vergebung von Liefe— 
rungen, Bauten uſw. ebenſo tief eingeriſſen. Hier kann Cromer 
der Vorwurf nicht erſpart bleiben, daß er keinerlei Anſtrengungen 
gemacht hat, dieſen Augiasſtall der Korruption zu reinigen. Un— 
bekannt konnten ihm dieſe Zuſtände nicht ſein, denn es wurden ihm 
Fälle direkt angezeigt. Oder hat ſeine Allmacht vor einzelnen Per— 
fonen haltmachen müſſen? Aber er verſtand es doch ſonſt, ihm un: 
angenehme Perſonen, wenn ſie ihm auch von hoher Stelle aufge— 
drängt waren, hinauszumanövrieren. 

Das Jahr 1904 bezeichnete den Höhepunkt ſeiner Macht. 
Die Gefahr der Einmiſchung Frankreichs hatte bis dahin noch 
immer als ein Damoklesſchwert über ſeiner Reformarbeit ge— 
ſchwebt. Zwar hatte man den alten böſen Feind in Faſchoda 
gründlich gedemütigt, aber ganz ſicher fühlte man ſich immer 
noch nicht. Da kam man auf einen genialen Gedanken. Die eng: 
liſche Politik erforderte nicht ſeine Vernichtung; im Gegenteil, 
er ließ ſich mit ſeinem Rachedurſt gegen einen anderen, noch 
viel gefährlicheren Feind mit Vorteil gebrauchen. So kam es 
nach nicht zu langen Verhandlungen (ſeit Herbſt 19039 am 
8. April 1904 zu dem Abkommen mit Frankreich, an deſſen 
Zuſtandekommen Cromer und Gorſt wohl den Hauptanteil ge— 
habt haben; denn der Hauptgegenſtand desſelben betraf Agypten 
und den Hauptnutzen zog England, reſp. Cromer. Frankreich 

27 


gab feinen zwanzigjährigen Widerſtand gegen die Angliſierung 
Agyptens definitiv auf, denn England ſchenkte ihm Marokko, was 
ihm nicht gehörte, in vollem Bewußtſein der verhängnisvollen 
Verwicklungen, die aus dieſem Dangergeſchenk mit Deutſchland 
entſtehen mußten (Dicey, 121). Solche Politik war früher in 
England nicht beliebt geweſen; noch zwanzig Jahre vorher hatte 
Lord Granville geſagt: „We had no right to give away that 
which did not belong to us“ (Cromer II, 56). Aber dieſes Mei⸗ 
ſterſtück der engliſchen Staatskunſt machte Cromer die Bahn frei 
zur Ausführung feines Planes der Umwandlung Agyptens in eine 
engliſche Kolonie oder Protektorat. Eine zweite Periode energiſcher 
Angliſierung der Verwaltung ſetzte ein. Als Haupthindernis der 
ſelben war der Fluch des „Internationalismus“ geblieben. Mit 
dieſem Ausdruck bezeichnete Cromer die früher erworbenen Rechte 
der Europäer zur Sicherſtellung ihrer Intereſſen, jetzt der letzte 
Schutzwall gegen engliſche Willkür, nämlich die drei Inſtitu—⸗ 
tionen der internationalen Schuldenverwaltung, der gemiſchten 
Gerichtshöfe und der Kapitulationen. 

Wie Cromer noch im gleichen Jahre 1904 die Staatsſchulden⸗ 
verwaltung matt ſetzte, iſt ſchon oben mitgeteilt worden. Schwerer 
beizukommen war den gemiſchten Gerichtshöfen (Tribunaux mix⸗ 
tes), einer von Nubar Paſcha aus dem Jahre 1876 herſtammen— 
den Inſtitution zur Entſcheidung von Streitigkeiten zwiſchen Eu— 
ropäern verſchiedener Nationalität und Europäern und Eingebo— 
renen. Dieſe Gerichtshöfe waren ganz unabhängig von der ägyp— 
tiſchen Regierung und hatten ſich allmählich eine Art Souveräni— 


28 


tät angemaßt, die fich felbft über die des Khedive ftellte Bemme— 
len, LEgypte I, 216). Da fie unter dem Schutz der Mächte 
ſtanden, ſo waren ſie de facto eine abſolut unabhängige Behörde, 
und als folche Cromer ein Dorn im Auge. Im Bewußtſein ihrer 
Unantaſtbarkeit hatten ſie es mehrfach gewagt, den Zorn des All— 
gewaltigen zu erregen durch ſcharfes Auftreten gegen die Regierung, 
zuletzt im Jahre 1896, wo der franzöſiſche und ruſſiſche Direktor 
der Schuldenkaſſe ihren deutſchen und engliſchen Kollegen verklagt 
hatten, weil fie der Regierung für den Dongolafeldzug 500 000 
ägypt. Pfund zur Verfügung geſtellt hatten. Im Laufe der fol— 
genden Jahre war es zwar gelungen, die Richter der kleineren 
europäiſchen Staaten allmählich in engliſches Fahrwaſſer zu brin— 
gen, aber das ceterum censeo über ihr Schickſal ſtand bei Cro⸗ 
mer längſt feſtt. In feinem dickleibigen Jahresbericht für 1905 
rückte er mit den Vorſchlägen heraus, wie er ſich die Abſchaffung 
der Tribunaux mixtes ſamt Konſulargerichtsbarkeit und ihre 
Erſetzung durch eine geſetzgebende Körperſchaft dachte. Über die 
Mängel der Tribunaux mixtes und der Kapitulationen? waren 
ſich wohl alle anſtändigen Europäer einig, aber ebenſo einig auch 
darüber, daß ihr Erſatz durch neue Inſtitutionen, die von Eng— 
ländern beherrſcht wären, ungenügend, ja gefährlich ſei, da man 


Drei Jahre nach Cromers Abgang wurde das Mandat der inter— 
nationalen Gerichtshöfe durch Dekret vom 30. Januar 1910, auf wei⸗ 
tere fünf Jahre, bis 1914, und dann noch einmal auf ein Jahr ver— 
längert. 

2 Er ſcheute ſich nicht, feinen Haß gegen die Kapitulationen Luft zu 
machen in Ausdrücken, wie (Report, 1904, S. 53): the régime of the 
capitulations tends to the demoralization of the country. 


29 


erfahrungsgemäß weder zu der Bildung noch der Unparteilichkeit 
engliſcher Richter das nötige Vertrauen haben durfte. Dieſe Re⸗ 
formen des Gerichtsweſens ſollten die Grundlage oder den Über: 
gang zu der Autonomie bilden, die nach dem Wunſche der eng- 
liſchen Regierung Agypten verliehen werden follte. Freilich hat 
Lord Cromer nie verraten, wie er ſich dieſe Autonomie gedacht hat. 
Vermutlich hat er ſelbſt nicht viel darüber nachgedacht, denn es 
iſt ſchwer ſich vorzuſtellen, daß ein Mann, der vierundzwanzig 
Jahre lang ein Land in einer ſo abſolut autokratiſchen Weiſe re— 
giert hat, wie kaum ein altorientaliſcher Deſpot, ſich auf ſeine alten 
Tage ernſtlich und ehrlich entſchließen würde, einen großen Teil 
ſeiner Machtvollkommenheit an die verachteten natives abzutreten. 
Aber die Londoner Regierung hatte es beſchloſſen, und Cromers 
Stimme beſaß bei ihr anſcheinend nicht mehr das alte Gewicht. 

Sein letztes Ziel, die Beſeitigung dieſes „Fluches des Inter— 
nationalismus“, ſollte er aber nicht mehr erreichen. Seit dem 
Jahre 1906 ging es mit ihm bergab. Die Überfülle der Macht 
war dem ungekrönten König von Agypten doch allmählich ſtark zu 
Kopfe geſtiegen und hatte eine Art Cäſarenwahn bei ihm zuſtande 
gebracht. Kein Wunder ſchließlich; er war, ohne es zu merken, 
von einer Clique ſyriſcher und levantiniſcher Schmeichler umgeben, 
die ihn von der Außenwelt immer feſter abſchloſſen. Wenn man 
in feinem Buche nachlieft (II, 189, was er ſelbſt über derartige 
Dinge dachte, muß man von der unbewußten Selbſtverhöhnung 
überraſcht ſein: Flattery is indeed a thorn in the side of the 
Englishman in Egypt, for it prevents Khedives and Pashas 


30 


[andLords!]fromhearingthetruthfrom their own countrymen. 
Die Servilität, auch der höheren engliſchen Beamten, ihm gegen: 
über wurde geradezu grotesk, derſelben Leute, die gegen andere 
Menſchen, Europäer oder Eingeborene, mit einem Hochmut auf— 
traten, der den der alten Paſchas noch überbot. Eromers Jahres- 
berichte für London wurden von dem Leiter des Unterrichtsminiſte⸗ 
riums amtlich als Muſter des engliſchen Stiles geprieſen und in 
den Schulen als klaſſiſche Lektüre eingeführt. Einen Rat oder 
Einſpruch, geſchweige denn Oppoſition, wagte bei dem Allgewal— 
tigen ſchon lange niemand mehr. Es ſoll ſogar ſein Grundſatz 
geweſen ſein, nur darum junge, mit dem Lande unbekannte Leute 
zu Beamten zu nehmen, damit ſie ihm nicht opponieren konnten 
(Dicey, 189). Er nahm aber vielfach Leute, die nicht bloß das 
Land nicht kannten, ſondern die überhaupt nichts kannten. Aus 
den Deklamationen der nationaliſtiſchen Preſſe machte er ſich 
nichts, aber deſto empfindlicher wurde er gegen die Kritik, die ſich 
in England immer ſtärker gegen ſeinen Autokratismus regte. Seine 
geradezu krankhaft gewordene Geſchäftigkeit verurſachte allgemeine 
Unraſt und ſeine geſteigerte Nervoſität verleitete ihn zu allerlei 
Mißgriffen, von denen die Behandlung der Affäre von Denſchawai 
(Sommer 1906) einer der ſchlimmſten war. Bauern in dieſem 
weltabgelegenen Dorfe hatten angetrunkene engliſche Offiziere 
geprügelt; einer von ihnen war am Herzſchlag geſtorben. Cromer, 
der, durch allerlei kleine Zwiſchenfälle aufgeregt, ſich in die fixe 
Idee einer gegen ihn gerichteten allgemeinen Verſchwörung hinein⸗ 
gelebt hatte, ließ nach einem unwürdigen Gerichts verfahren vier 

31 


Bauern henken und dreißig oder mehr grauſamauspeitſchen, derſelbe 
Cromer, der die Abſchaffung des Kurbatſch ſeitens Lord Dufferins in 
einem eigenen Kapitel feines Buches (Bd. II, Kap. XLIW gefeiert 
hat, der feinen Lobredner Budge (Cook’s Handbook 206) im 
Jahre 1901 ſagen läßt: the courbash is no longer employed as an 
instrument of government. Aber der Nationalismus hatte ſeine 
Märtyrer und entwickelte nun eine wüſte Agitation, unter der bald 
alle Europäer zu leiden bekamen. Am Schluß ſeiner Regierung 
mußte Cromer noch erleben, daß eine ſchwere Finanzkriſis ausbrach, 
zunächſt als Folge wüſteſter Grundſtückſpekulation, die bewies, 
daß der fo ſchnell geſtiegene und von Cromer (Report 1906) als 
unerhört in der Weltgeſchichte geprieſene Wohlſtand Agyptens 
zum Teil auf recht ungeſunden Grundlagen ruhte. Es muß für 
ihn etwas überraſchend geweſen fein, nach vierund zwanzigjähriger 
Arbeit dieſen Zuſammenbruch auf ſeinem Spezialgebiet zu erleben, 
deſſen Pflege er ſich beſonders angelegen hatte ſein laſſen. 

Als am 12. April 1907 Cromers Abgang bekannt wurde, 
ging ein allgemeines Aufatmen durch Agypten; immerhin gab es 
einzelne, die ſich ſo von ihm hatten hypnotiſieren laſſen, daß ſie 
glaubten, der Himmel würde nun einſtürzen. 

Er trat vom Schauplatz ſeiner Tätigkeit mit einer regelrechten 
Theaterſzene ab, unwürdig des Mannes und feiner großen Der: 
gangenheit. Am 4. Mai veranſtaltete er im Opernhauſe von Kairo 
eine Verſammlung der europäiſchen und eingeborenen höheren 
Beamten, zu der auch das diplomatiſche Korps und andere euro— 
päiſche Notabeln geladen, aber meiſtens nicht erſchienen waren. 
32 


Nachdem er fich von einem franzöſiſchen Schmeichler, dem Comte 
Serionne, hatte lang und breit verhimmeln laſſen, gab er eine Art 
Rechenſchaftsbericht über ſeine Arbeit in Agypten. Die heftigen 
Ausfälle gegen den Khedive ließen den Schluß zu, daß er auch ihn 
für einen Urheber ſeines Sturzes hielt, und die große Freundſchaft, 
die dieſen mit ſeinem Geſchäftsfreunde, dem damals am Londoner 
Hofe allmächtigen Erneſt Caſſel verband, mochte einen ſolchen 
Verdacht allerdings nahelegen. Sein Abgang von Kairo am 
6. Mai vollzog ſich faſt unbemerkt. Jedenfalls fanden keine Ab⸗ 
ſchiedsſzenen ſtatt, wie bei ſeines Vorgängers Iſmail Paſchas 
Abreiſe, die er fo pathetiſch ſchildert (I, 141) und die Leichenrede, 
die er dieſem hält (J, 144), paßt Wort für Wort auf ihn ſelbſt: 
„He fell as victim to ößpıs the insolent abuse of power.“ Faſt 
denſelben Ausdruck gebraucht fein alter Freund Dicey (Egypt of 
the futur 188) von ihm: the inordinate love of power. 

Wenn in der vorſtehenden Schilderung von Cromers Tätig— 
keit die Schattenſeiten des Mannes etwas ſtärker betont worden 
ſind, ſo iſt das nur aus dem Grunde geſchehen, weil ſie von ſeinen 
Lobrednern beharrlich verſchwiegen werden. Man hört immer nur 
von ſeinen Verdienſten um das Land, aber nichts davon, daß er 
es direkt und undirekt auch ſchwer geſchädigt hat. Um nur ein Bei— 
ſpiel zu nennen, ſo hat noch keiner von ihnen die Geſchichte des 
Verkaufes der ſtaatlichen Dampferflotte zu erklären verſucht. Vier 
größere und etwa ein Dutzend kleinere Dampfer ſamt Werften, 
Docks, Hafenanlagen uſw. wurden 1898 einer engliſchen Privat: 
geſellſchaft für 180000 ägypt. Pfund, knapp der Preis eines 
3 Moritz, Agypten 33 


größeren Dampfers, überlaſſen, obwohl die Flotte dem Staate 
bis zuletzt immerhin noch eine halbe Million Mark eingebracht 
hatte. Für dieſen Akt iſt Cromer verantwortlich, denn er konnte nicht 
ohne ſein Wiſſen und ſeine Billigung zuſtande kommen. Und ſeine 
Pflicht wäre es geweſen, den großen Finanzleuten Elwin Palmer, 
R. Suares und E. Caſſel ſchon früher etwas ſchärfer auf die Finger 
zu ſehen; er hätte dem Lande manche Million ägypt. Pfund 
retten können. Andere Dinge, wie die Zerſtörung der Kartenſamm⸗ 
lungen im Kriegs miniſterium und die Verſchleuderung der Staats⸗ 
archive auf der Zitadelle find von untergeordneten Organen aus: 
geführt worden; zu rügen iſt aber der Mangel an Aufficht, durch 
den ſolche nicht wieder gutzumachende Akte von Vandalismus 
ermöglicht worden ſind. Und wenn jene Lobredner immer wieder 
von den Fortſchritten ſprechen, die Agypten unter ſeiner Regierung 
gemacht hat, ſo darf man billig fragen, ob ſie nicht im allgemeinen 
viel zu teuer bezahlt worden ſind, wie z. B. der Dammbau von 
Aſſuan, und ob eine andere Kolonialmacht mit den verbrauchten 
ungeheuren Mitteln nicht mehr würde geleiſtet haben. Ganz ab⸗ 
geſehen davon, daß gewiſſe ſeiner Schöpfungen einzig und allein 
for show waren, um damit den dummen europäiſchen Touriſten 
Sand in die Augen zu ſtreuen. 

Ich kann dieſen Abſchnitt nicht ſchließen, ohne noch einige Be— 
merkungen über fein Verhalten zu den anderen europäiſchen Mäch- 
ten, vor allem zu Deutſchland und der Türkei, anzufügen. Zu Frank⸗ 
reich war ſein Benehmen ſeit 1904 ganz anders geworden. Nach— 
dem er den Franzoſen zwanzig Jahre lang die bitterſten Wahr— 
34 


heiten geſagt hatte, erſchöpfte er ſich fortan in Liebenswürdig⸗ 
keiten. Um jede Erinnerung an ihre tiefe Demütigung in Fa- 
ſchoda auszulöſchen, wurde ſogar der odiöſe Name offiziell ab- 
geſchafft (Cromer II, 43 Anm.); der Unglücksort mußte amt⸗ 
lich fortan Kodok heißen. Zu dieſem jähen Stellungswechſel tut 
man gut, die lange Liſte von Vorwürfen zu vergleichen, die Cro— 
mers Mundſtück Milner noch 1907 gegen die Franzoſen los— 
laſſen durfte England in Egypt, 340 ff.) und die in dem Urteil 
gipfeln: If French policy towards Egypt was bad before the 
occupation, since the occupation it has been simply dete- 
stable (p. 342). 

In den neunziger Jahren konnte man wohl hören, daß Lord 
Cromer „ deutſchfreundlich“ geweſen ſei. Die Ereigniffe der letzten 
zwölf Monate haben gezeigt, wie übelangebracht es geweſen iſt an 
„Deutſchfreundlichkeit“ im Auslande zu glauben. Jedenfalls iſt 
bei Lord Cromer von ſo etwas nichts zu verſpüren geweſen. In 
ſeinem zweibändigen Werke bemüht er ſich auch mit peinlicher 
Sorgfalt die Dienſte zu verſchweigen, die die deutſche Politik ihm 
in Agypten geleiſtet hat. Dicey und Milner ſind da ehrlicher und 
geben der Wahrheit die Ehre. Selbſtverſtändlich erſt recht ſchweigt 
er von der Kulturarbeit der deutſchen Kolonie, die von allen euro: 
päiſchen die wenigſten Abenteurer, wohl aber die meiſten gebildeten 
Elemente enthielt, deren Dienſte er gelegentlich wohl zu ſchätzen 
wußte. Wir waren eben für ihn und feine Landsleute die damned 
Germans und als ſolche ſeit dem verhängnisvollen Jahre 1904 
ſozuſagen rechtlos. Nur in feiner erſten Zeit, ſolange Fürſt Bis— 
8 35 


marck noch am Ruder war, hatte er vor Deutſchland Reſpekt ge: 
habt. Von dieſem ſagt er: wenn der Herr über ſo viele Legionen 
mal eine Frage ſtellte, fo war es ſelbſtverſtändlich, daß er eine zu- 
friedenſtellende Antwort erwartete Modern Egypt J, 132), wor— 
aus implicite zu folgern iſt, daß er nach Bismarcks Zeit eine 
ſolche Antwort zu geben nicht mehr nötig fand. 

Für Italien hatte er die übliche engliſche Verachtung. Über 
die italieniſchen Koloniſationsbeſtrebungen ſpricht er ſich in wenig 
ſchmeichelhaften Ausdrücken aus (II, 55 bis 58); einmal ſagt er, 
Italien ſolle ſich lieber um ſeine toskaniſchen und neapolitaniſchen 
Bauern bekümmern. Dieſe engliſche Mißachtung der Italiener da⸗ 
tiert aus dem Krimkrieg, wo England der damaligen piemonteſiſchen 
Regierung das Anſinnen geſtellt hatte, ihm einen Teil des Heeres 
zu vermieten. Der Vorſchlag war zunächſt ſeiner Form wegen 
mit Entrüſtung abgelehnt, aber bald angenommen worden, als er 
in weniger verletzenden Ausdrücken wiederholt wurde. 15000 
Italiener wurden damals für ein Darlehen von 1 Million engl. 
Pfund und freie Überfahrt nach Sebaſtopol vermietet. Cromers 
Urteil über die Italiener iſt, wie bemerkt, im allgemeinen weg— 
werfend; doch ſagt er gelegentlich auch das Gegenteil, z. B. in 
ſeinem Jahresbericht für 1906 erklärt er die Anweſenheit der 
Italiener in Agypten für ſehr nützlich. 

Gegen die Türkei teilte Tromer den Haß des offiziellen Eng— 
lands, ſeitdem ſie dort definitiv in Ungnade gefallen war. Und 
doch hatte er in jüngeren Jahren einmal (1879) Finanzminiſter 
in Konſtantinopel (Cromer I, 59 Anm.) und fpäter Botſchafter 


36 


(Blunt, Gordon 321) werden wollen, zu welchem Zweck er eifrig 
Türkiſch ſtudiert hatte. 

Bezüglich des Verhältniſſes von Agypten zur Türkei hatte 
Cromers unmittelbarer Vorgänger Dufferin in ſeinem grund— 
legenden Reformmemorandum vom 6. Februar 1883, $ 14, aus: 
drücklich anerkannt, daß Agypten nach wie vor von der Pforte 
abhängig bleiben müſſe, zumal da auch die Sympathien des Landes 
mit dieſer ſeien. Später ließen ſie zwar nach, dafür aber ſtieg das 
Anſehen deſto höher, das Sultan Abdul Hamid verſtanden hatte, 
ſich bei den mohammedaniſchen Agyptern zu erwerben. Und das 
war Lord Cromer ſehr zuwider. Krampfhaft war er darum be— 
müht, jeden politiſchen Einfluß des Sultans von Agypten fernzu— 
halten, vor allem die ein⸗ oder zweimal drohende Beſetzung des 
Landes durch türkiſche Truppen. Zur Bekämpfung des Mahdi im 
Sudan wollte er allerdings der ägyptiſchen Regierung geſtatten, 
türkiſche Truppen vom Sultan zu erbitten, unter der Bedingung 
aber, daß ſie für ihre Hilfe von der türkiſchen Regierung bezahlt 
würden und nach Erledigung ihrer Aufgabe das Land wieder zu 
verlaſſen hätten (I, 379). Im übrigen war er damals (1884) der 
Anſicht, daß es im Intereſſe Englands, Agyptens und der ganzen 
ziviliſierten Welt ſei, den Sudan eher dem Mahdi als dem Sul— 
tan zu überlaſſen (I, 559, ein Standpunkt, der ſich auf demſelben 
Niveau befindet, wie der von Cromers Antipoden Blunt, wenn 
er ſagt (Gordon at Khartoum, 453): Wenn je das Recht in 
der Welt triumphiert hat, dann war es beim Falle von Khartum 
(durch den Mahdi). Beide Äußerungen find charakteriſtiſch für 

37 


den Tiefſtand der engliſchen Rechtsbegriffe, die ebenſo wie die eng⸗ 
liſchen Anſichten über politiſche Moral von den deutſchen weltver⸗ 
ſchieden find. Sein Haß gegen den Sultan hinderte aber Cromer 
nicht, im Bedarfsfalle den Sudan als Eigentum des Sultans zu 
reklamieren. Als vierzehn Jahre ſpäter, am 19. September 1898, 
Kitchener in Faſchoda mit dem Franzoſen Marchand zuſammen⸗ 
ſtieß, wurde die Übergabe des Ortes an die Engländer verlangt 
„im Namen des Sultans, da das Land ſtets zur Türkei gehört 
habe“. So berichtet ein franzöſiſcher Augenzeuge, der Arzt der 
Marchandſchen Expedition (Tour du Monde 1912, 383). Und 
zufrieden mit Kitchener, dem er ſonſt gelegentlich Lektionen erteilte 
(Dicey, 189), ſagt Cromer (II, 115): he very wisely hoisted the 
Egyptian (d. h. türkiſche) flag only, während er in Khartum, wo 
die Täuſchung nicht nötig war, beide, d. h. eine große engliſche und 
eine kleine türkiſche, gehißt hatte. Als man den Sudan aber feſt in 
der Hand zu haben glaubte, war vom Sultan keine Rede mehr. 

Allerdings hatte die Beſtimmung der ſtaatsrechtlichen Stellung 
des neuen Sudan Cromer einiges Kopfzerbrechen verurſacht. Er 
hatte ſich der Erkenntnis nicht verſchließen können Modern Egypt 
II,113), daß der Sudan als osmaniſches Territorium zu betrachten 
und demgemäß in Übereinſtimmung mit den Beſtimmungen der 
kaiſerlichen Firmane von des Sultans Vaſallen, dem Khedive, zu 
regieren ſei; aber die Pflicht ihn vor dem „baneful regime of in⸗ 

„The English gentleman if you like is half barbarian too“ fagt 


Kitcheners Geſchichtsſchreiber Steevens (With Kitchener to Khartoum, 
S. 167). 


38 


ternationalism“ zu ſchützen und vor allem dafür zu forgen, daß 
british influence paramount“ bleibe, zwang ihn und die Londoner 
Regierung, den etwas ungewöhnlichen Ausweg des Kondomini— 
ums zu wählen, das heißt der „Ausübung ſouveräner Rechte durch 
die Königin von England in Verbindung mit dem Khedive“ Gb. II, 
116) — der den Sudan nur zweimal beſuchen durfte —. Um 
dieſen Anſpruch vor der Welt zu begründen, war es, der erſte und 
wichtigſte Punkt, einen ‚valid title‘ hierfür zu finden, und dieſer 
‚valid title‘ war jetzt natürlich, das Recht der Eroberung.“ „Es 
iſt wahr, daß der Sultan einige Worte von wirkungsloſem Proteſt 
murmelte“ (ib. II, 118); man verſicherte deshalb feinem Vertreter 
in Agypten Muchtar Paſcha, die Rechte des Sultans würden 
durch das Arrangement nicht beeinträchtigt. „Don den Mächten 
erfolgte nirgends ernſter Widerſtand.“ Leider! Sie hatten ſeiner 
Verſicherung getraut, daß der freie Handel im Sudan den An— 
gehörigen aller Nationen offen ſtehen ſolle. Dieſe Konzeſſion wurde 
aber illuſoriſch gemacht durch die höchſt willkürlichen Verfügungen 
des engliſchen Generalgouverneurs, mit denen er den Handel be 
ſchränkte und unerwünſchte Konkurrenz ausſchloß. Im übrigen er⸗ 
klärt Cromer mit zyniſcher Offenheit (II, 118), daß niemand (von 
den Mächten) vorbereitet geweſen ſei, gegen den Stachel zu löcken; 
ein ſimpler platoniſcher Proteſt würde nur unnötige Aufregung ver— 
urſacht haben, aber natürlich wirkungslos geblieben fein. Il faut la 
guerre ou se taire“ hatte ein franzöſiſcher Diplomat (Wadding— 
ton) einmal geſagt'. 
1 Siehe Anhang. 
39 


Sein letzter Zuſammenſtoß mit der Türkei war die Taba-Si⸗ 
naiaffäre von 1905, die ſich über ein halbes Jahr hinzog und bei— 
nahe zum Kriege geführt hätte. Das Komiſche dabei war, daß 
niemand wußte, was der Zankapfel Taba eigentlich war, nämlich 
ein öder Sandplatz gegenüber von Akaba von etwa einem Quadrat⸗ 
kilometer Ausdehnung mit knapp einem halben Dutzend Palmen 
und einem Brunnen mit untrinkbarem Waſſer. Da die eigentlich 
ganz unbedeutende Affäre in ihren Anfängen wenig bekannt iſt, an- 
dererſeits ihre Behandlung durch Cromer ſeine Nervoſität in den 
letzten Jahren illuſtriert, ſo mögen einige Details darüber folgen, 
über die ich zum Teil als Augenzeuge berichten kann. 

Im Frühjahr 1905 waren große türkiſche Truppentransporte 
von Syrien nach Akaba und von da weiter nach Jemen gegangen, 
wo im April Sanaa nach fünfmonatlicher Blockade an den Fmam 
verloren gegangen war. Akaba bekam dadurch erhöhte Wichtigkeit 
und eine ſtärkere Garniſon, deren Unterhalt ſich aber bald als ſehr 
ſchwierig zeigte. Ohne Befehl von Konſtantinopel hatte der 
Kommandant Ruſchdi Paſcha auf der Suche nach Weideplätzen 
das allerdings zur Sinaihalbinſel (alſo Agypten) gehörige Taba 
mit etwa fünfzig Mann beſetzt, wahrſcheinlich ohne ſich viel dabei 
zu denken, denn eine genaue Grenzabſteckung hatte in der dortigen 
Wüſte bis dahin nie ſtattgefunden. Die Nachricht hiervon, die im 
Januar 1906 nach Kairo kam, erregte große Aufregung. Cromer 
ſcheint damals große Angſt vor einer türkiſchen Invaſion in Agyp— 
ten gehabt zu haben. Es waren allerdings im ſüdlichen Syrien 
und im Hidjaz etwa 6000 Mann türkiſche Kerntruppen vorhan— 
40 


den, aber ausſchließlich für die Zwecke des Bahnbaues nach Me: 
dina, der in dieſem Jahre wirklich erſtaunliche Fortſchritte machte. 
Mit den Türken, fürchtete man, würde ein deutſches Armeekorps 
kommen, und lächerlich umſtändliche Paßvorſchriften für Suez 
waren noch jahrelang eine Folge dieſer Angſt. Beim Beginn der 
Affäre war der Khedive, der befürchtete, daß Cromer feine Inter— 
vention in Konſtantinopel beanſpruchen würde, raſch nach der Dafe 
Siwa gereiſt in der ausgeſprochenen Hoffnung, daß die Sache 
bis zu ſeiner Rückkehr zu Ende gegangen ſein würde. Sie kam 
aber anders. Was die Nervoſität Cromers bei ihrer Behandlung 
ſteigerte, war die Erkenntnis, daß im Falle eines Zuſammenſtoßes 
mit den Türken, woran dieſe aber gar nicht dachten, auf die ägyp— 
tiſchen Truppen nicht zu zählen ſein würde; von Offizieren ſoll ſo— 
gar ein Anſchlag auf das Arſenal von Khartum geplant geweſen 
ſein. Er ließ darum, da die Negerbataillone für alle Fälle im Su— 
dan bleiben mußten, das Korps der Coaſt Guards, einer auf Ka: 
melen berittenen Grenzſchutztruppe, an die öſtliche Grenze rücken; 
außerdem wurde ein engliſcher Kreuzer, Diana, nach Akaba ge— 
ſchickt. Doch kam es diesmal nicht zur Beſchießung, ſondern erſt 
ſechs Jahre ſpäter im Tripoliskrieg, wo die Italiener das wehr— 
loſe Fort, ein ſchönes Baudenkmal des Mittelalters — von dem 
Mamlukenſultan Kanſuh el Ghori erbaut — zuſammenſchoſ— 
ſen ſamt einem kleinen Dampfboot. 

So hatte Cromer aus der urſprünglich harmloſen Sache, die 
durch die beiderſeitigen Grenzbehörden ſehr gut hätte geordnet 
werden können, eine Haupt- und Staatsaktion gemacht und mit 

41 


dem Kriegsfeuer bedenklich gefpielt. Am 30. April wurde von 
England in Konſtantinopel eine Art Ultimatum übergeben. In— 
zwiſchen war aber der Sultan über die Bedeutungsloſigkeit des 
Streitobjekts aufgeklärt worden und gab nunmehr Befehl, den 
Platz zu räumen (zirka 15. Mai), der bei der ſofort ins Werk 
geſetzten Grenzregulierung ägyptiſcher Grenzpoſten wurde. Die 
völlig wertloſe Sinaihalbinſel, in der auch die lange gehofften 
Mineralſchätze ſich nicht gefunden haben, hat ſeitdem in den Au— 
gen der Engländer beſondere ſtrategiſche Bedeutung erlangt. Wohl 
deshalb iſt ſie bei dem neueſten engliſchen Projekt der Aufteilung 
der Türkei als unmittelbarer, Agypten nur als mittelbarer eng⸗ 
liſcher Beſitz bezeichnet. Vorläufig freilich iſt ſie in türkiſchen 
Händen. 


*. * 
* 


Als Cromer Agypten verließ, war fein Nachfolger in der Perſon 
ſeines ehemaligen Mitarbeiters Sir Eldon Gorſt ſchon da. Ein 
Sohn des früheren Unterrichtsminiſters Sir John Gorſt, war 
Eldon Gorſt jung nach Agypten gekommen in die hohe Stellung 
eines Unterſtaatsſekretärs im Finanzminiſterium, wurde Oktober 
1899 adviser für das Miniſterium des Inneren und hatte im Sep⸗ 
tember 1899 den gleichen Poſten im Finanzminiſterium übernom— 
men. (Sein Nachfolger hier wurde der letzthin in den Zeitungen als 
ehemaliger engliſcher Geſandter in München genannte Vincent 
Corbett, eine Kreatur Cromers, die auch mit ihm fiel.) Während 
dieſer Zeit hatte Gorſt ſich mit dem franzöſiſchen Vertreter Cogor⸗ 
dan angefreundet; beide gaben ihre Stellungen in Kairo gleichzeitig 
42 


im Herbſt 1903 auf, Cogordan, um Direktor im Auswärtigen 
Amt in Paris zu werden — wo er ſchon im nächſten Jahre ſtarb — 
während Gorſt als Unterſtaatsſekretär für das Auswärtige nach 
London ging. Es wurde vermutet, daß die beiden am Zuſtande— 
kommen der Entente cordiale, dem folgenſchweren Abkommen vom 
April 1904 am meiſten beteiligt geweſen ſeien. Der gefügige und 
gewandte Gorſt ſchien der Londoner Regierung der rechte Mann 
zu ſein, den neuen Kurs in Agypten zu ſteuern, bei dem Cromer 
nicht hatte recht mittun wollen. Die von ihm zu ſtraff angezogenen 
Zügel ſollten gelockert, die Nationaliſten durch Gewährung 
von allerlei Freiheiten gewonnen werden. Aber die Erbſchaft eines 
ſo großen Mannes wie Cromer anzutreten, wäre auch dann 
keine leichte Aufgabe geweſen, wenn der Nachfolger kräftiger als 
Gorſt geweſen wäre. Schon nach feinem Nußeren war er nicht der 
Mann, Cromer zu erſetzen. Klein, faſt verwachſen zeigte er ſich 
häufig in einem Sportanzuge, womöglich noch ohne Mütze. Bald 
wurde er in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr beachtet. Es 
ging ihm aber der Ruf eines klugen Kopfes und gewandten Fi— 
nanzmannes voraus; dabei war er perſönlich wohlwollend und 
zweifellos von dem beſten Willen beſeelt. Ohne ſeine Fähigkeiten 
in Zweifel zu ziehen, muß man ſich doch billig darüber wundern, 
daß er dem Ruf der Londoner Regierung Folge geleiſtet hat. Ein: 
verſtanden wie er mit deren ägyptiſcher Politik war, auf eine 
Autonomie hinzuarbeiten, glaubte er zwar, daß das Land dafür 
vorläufig noch nicht reif ſei, hätte aber wiſſen müſſen, daß die Na⸗ 
tionaliſten der gegenteiligen Anſicht waren und eine Verfaſſung 

43 


auf Grund parlamentariſcher Inſtitutionen für ſofort forderten. 
An dieſem Irrtum iſt er in wenigen Jahren zugrunde gegangen. 
Und daß von den vielen Hoffnungen, mit denen er empfangen 
wurde, nichts in Erfüllung ging, war für ſeine Freunde eine böſe 
Enttäuſchung. 

Mit feinen engliſchen Landsleuten verdarb er es von vornherein, 
als er ihnen in etwas geheimnisvoller Verſammlung die Grund— 
linien ſeiner neuen Politik bekannt gab, mit denen wohl nur wenige 
werden einverſtanden geweſen ſein, und ihnen ein weniger ſchroffes 
Benehmen gegenüber den Agyptern zur Pflicht machte. Von feiner 
ſechsjährigen Erfahrung im Finanzminiſterium hatte man erwar- 
tet, daß es ihm wenigſtens gelingen würde, die Finanzkriſe zu 
überwinden, die ihm Cromer hinterlaſſen hatte. Aber zu nicht ge— 
ringer Überraſchung zeigte ſich Gorſt unfähig, auch nur dieſer Ka— 
lamität Herr zu werden; freilich war ſie durch mehrere ſchlechte 
Baumwollernten, die trotz guten Niles eingetreten waren, ver— 
ſchärft worden. Die finanzielle Not nahm in den nächſten Jahren 
eher noch zu; erſt im Jahre 1910 zeigte ſich dank einer guten 
Baumwollernte vorübergehend eine Beſſerung, aber ganz über— 
wunden war die Kriſe bis Kriegsausbruch noch nicht. 

Ein noch ſchlimmerer Mißgriff Gorſts war ſeine, wohl den 
meiſten Europäern unverſtändliche Nachſicht gegenüber den Hetze— 
reien der Nationaliſten. Der Ausdruck „Nationalismus“ mit 
feinem Schlachtruf „Agypten den Ägyptern“ if eine Errungen— 
ſchaft der Arabizeit, erfunden von einem der europäiſchen Berater 
Arabi Paſchas. 

44 


Nach deſſen Entfernung aus Agypten war der Nationalismus 
für einige Zeit eingeſchlafen, bis er von dem jungen Muſtafa Ka⸗ 
mil zu neuem Leben erweckt wurde. Dieſer hatte, dem Zuge ſo 
mancher ſeiner Landsleute ſeit Muhammed Ali Paſchas Zeit fol— 
gend, in Frankreich einige Jahre ſtudierens halber zugebracht, war 
dort mit den englandfeindlichen Kreiſen bekannt geworden und 
hatte in ſich den Beruf zum Befreier Agyptens vom engliſchen Joch 
entdeckt. Als er 1893 ſeine Laufbahn als Politiker begann, zählte er 
ſiebzehn Jahre. Mit dem Gelde ſeiner Anhänger gründete er 1900 
die Tageszeitung „Liwa“ („Fahne“), die an Schärfe der Oppoſi— 
tion das ältere Blatt „Muaijad“ des Scheich (ſpäter Paſcha) Ali 
Juſſuf überbot und bald die verbreitetſte Zeitung in Agypten wurde. 
Lord Cromer ließ ihn gewähren, und da er von der eigenen Jugend 
her zeitweiſe noch liberale Anwandlungen hatte, legte er den Ti— 
raden dieſer Blätter keine Bedeutung bei. Er ſagte einmal (Jahres- 
bericht für 1906), daß er jahrelang dieſe Preſſe aufmerkſam ver— 
folgt, aber keinen einzigen brauchbaren Gedanken in ihr gefunden 
habe. Das einfachſte Mittel, dieſe Agitation einzudämmen, wäre 
eine Beſchränkung der zügelloſen Preßfreiheit geweſen, die in 
Agypten weniger denn in irgendeinem andern Lande am Platze 
war. Aber Se. Lordſchaft war der unerſchütterlichen Überzeugung, 
daß Preßfreiheit eine Art Sicherheitsventil ſei, durch das der 
Überſchuß politiſcher Leidenſchaft verpuffen müſſe, eine unverſtänd— 
liche Anſicht in einem Lande, wo bei der allgemeinen Unwiſſenheit 
(mindeſtens neunzig Prozent Analphabeten), die durch religiöſen 
Aberglauben beſtärkt wurde, jedes Stück bedrucktes oder beſchrie— 


45 


benes Papier mit heiligen Reſpekt und für eine Art Offenbarung 
angeſehen wurde. Aber Cromer konnte nachſichtig ſein; für den 
ſchlimmſten Fall hätten ihm Machtmittel genug zur Verfügung 
geſtanden. Im Jahre 1906, als das Treiben der Nationaliſten 
ihm doch zu toll wurde, verwarnte er fie durch eine ſtärkere Ver⸗ 
mehrung der Okkupationstruppen, was die ägyptiſchen Steuer⸗ 
zahler rund eine Million koſtete“. Muſtafa Kamil hatte jahrelang 
nach Frankreich ausgeſchaut, woher ihm die Hilfe kommen ſollte. 
Das anglo-franzöfifche übereinkommen von 1904 war darum 
ein Donnerſchlag für ſeine Hoffnungen. Frankreich hatte Agypten 
wieder einmal in Stich gelaſſen, und dieſes Mal anſcheinend 
definitiv. 5 

Von ſeinen ungetreuen Freunden verlaſſen, deren Verrat er 
in den ſtärkſten Ausdrücken geißelte', kultivierte er fortan feine 
Beziehungen zu Konſtantinopel und ſuchte auch Anknüpfungen 
in Deutſchland. Er überlebte zwar noch den Sturz Cromers, 
aber das Scheitern aller Hoffnungen war wohl mit ein Grund 
zu ſeinem frühen Tode am 10. Februar 1908. Selbſtloſigkeit, 
Mut und ehrliche Begeiſterung für ſeine Sache haben ihm auch 
ſeine Feinde nicht abſprechen können. Er hatte zudem genügend 
politiſche Einſicht beſeſſen, die Bewegung in vernünftigen Grenzen 
zu halten, ſie gegen die Engländer zu konzentrieren. Das wurde 

1 Die Laſten, die Agypten von den engliſchen Okkupationstruppen 
hatte, waren ſehr verſchieden. 1893 betrugen die Koſten 137000 ägypt. 
Pfund, 1894 nur 85000, 1913 aber 150000 ägypt. Pfund. 


2 In feinen Briefen an Madame Adam: lächage de la France, le 
nefaste Delcassẽ uſw. 


46 


unter feinen unfähigen Nachfolgern anders. Einer von ihnen hatte 
die Eitelkeit, ſeine Erwählung zum Oberhaupt der Partei Edward 
Grey „amtlich zu notifizieren“, ohne ſelbſtverſtändlich einer Ant: 
wort gewürdigt zu werden. Verächtlich machten fie ſich bald durch 
ihre Feigheit: wenn ſie belangt werden ſollten, zeigten ſie zu einem 
Martyrium keinen Mut, ſondern zogen es vor, ins Ausland zu 
verſchwinden, wozu ihnen die Richter gewöhnlich Zeit ließen. Der 
Mangel an politiſcher Bildung und Klugheit bei dieſen Leuten 
wurde wettgemacht durch eine lärmende, wüſte Agitation, haupt: 
ſächlich unter der Schuljugend und dem Mob; aber auch das 
Beamtentum war zum großen Teil im geheimen nationaliſtiſch 
geworden. Wie zur Zeit des Arabi bekam die Bewegung immer 
mehr einen religiöſen, gegen die einheimiſchen Chriſten (Kopten) 
wie gegen die Europäer gerichteten Charakter, ſo daß jetzt auch die 
nichtengliſchen Kreiſe ſich bedroht fühlen mußten und Schutzmaß— 
regeln ernſtlich in Erwägung zu ziehen begannen. Hätten die Führer 
einen Funken geſunden Menſchenverſtandes gehabt, ſo hätten ſie 
ihre Anfeindung nicht auf die Europäer ausgedehnt, in denen ſie 
Bundesgenoſſen gegen die Engländer hätten ſehen ſollen, aber ſie 
waren genau ſo ſtupid, wie ſeinerzeit Arabi und Genoſſen. Die 
Vertreibung reſp. Flucht eines der Haupthetzer, des fanatiſchen 
Herausgebers der Zeitung „Liwa“, eines bekannten Chriſten— 
feindes, erfolgte leider zu ſpät. 

Die Ermordung des chriſtlichen Miniſterpräſidenten Butrus 
Ghali am 20. Februar 1908 und der jubelnde Beifall, den die 
feige Tat bei hoch und niedrig im Lande fand, zeigte plötzlich den 

47 


Abgrund, zu dem die Gorſtſche Verſöhnungspolitik geführt hatte. 
Der Mörder war ein unreifer Apothekerburſche, dem die Lektüre 
der nationaliſtiſchen Zeitungen und der Umgang mit den Führern 
in der Schweiz den Kopf verdreht hatte. Die Gerichtsverhandlung 
gegen ihn wurde von den nationaliſtiſch geſinnten Richtern mona⸗ 
telang hingezogen und nur mit Mühe konnte die Verurteilung 
des Mörders erreicht werden, der dann von feinen Parteigenoſſen 
natürlich zum Märtyrer erhoben wurde. Und ſo groß war der 
Einfluß der Nationaliſten, daß bei der Rekonſtituierung des Mini⸗ 
ſteriums einer ihrer Anhänger das Präſidium erhalten konnte und 
ſeine Geſinnung nur wenig zu bemänteln brauchte, ſolange Gorſt 
noch im Amte blieb. Das dauerte im ganzen knapp vier Jahre 
(Mai 1907 bis März 1911). In dieſer kurzen Zeit aber ging 
ein guter Teil der Cromerſchen Errungenſchaften wieder verloren, 
vor allem die Diſziplin und der Geiſt der Ordnung, den feine Leute 
mit ſo großer Mühe gepflanzt hatten. In faſt allen Zweigen der 
Verwaltung ſtießen die Engländer auf die mehr oder minder 
offene Feindſchaft der eingeborenen Beamtenſchaft. Im Militär, 
nicht bloß bei den Soldaten, ſondern namentlich bei den Offizieren, 
wurden Fälle von Indiſziplin und Angriffen auf die Fremden 
immer häufiger, ganz wie zur Zeit Arabis. Zu Beginn von 1911 
erreichte die Unraſt einen bedrohlichen Grad. Durch die immer 
heftigeren Angriffe der Nationaliſten in Angſt verſetzt, ſchloſſen 
ſich die Kopten (etwa dreiviertel Million, gegen 10 Millionen 
Mohammedaner) zu einer Liga zuſammen, und da ſie mit ihren 
Klagen und Forderungen bei Gorſt kein Gehör fanden, er ſogar 
48 


offen gegen fie Partei ergriff, fo wandten fie ſich um Hilfe nach 
England, an Regierung, Parlament und Preſſe. Das veranlaßte 
die Mohammedaner, ſich ihrerſeits zu einer Gegenliga zuſammen— 
zuſchließen, an deren Spitze der alte Miniſterpräſident Riaz Paſcha 
trat. So war die Bevölkerung des Landes in zwei Parteien ge— 
ſpalten; die Stimmung erhitzte ſich auf beiden Seiten immer 
mehr, ſo daß es ſchon zu Zuſammenſtößen kam (K. Mikhail, Copts 
and Moslems 95 ff.). Die Londoner Regierung verhielt ſich aber 
auch jetzt noch teilnahmlos; jedenfalls ließ ſie eine äußerlich be— 
merkbare Anderung in ihrer Politik nicht eintreten; am 16. Mai 
noch erklärte Grey im Parlament, daß er die Haltung Gorſts 
vollkommen billige. Aber nicht bloß den Kopten, auch den Europäern 
war ſie unverſtändlich. Es wurde darum vermutet, daß man das 
Land abſichtlich in Anarchie treiben laſſen wolle, wie 1882, um 
dann einen wirklichen Vorwand zur Annexion zu bekommen. Auf 
alle Fälle endete Gorſts Regierung mit einem vollſtändigen Fiasko. 
Als er Agypten im April 1911 todkrank verließ, war es tatſächlich 
der Anarchie nahe. 

Wer oder was jetzt der Londoner Regierung die Augen über 
die Gefahr der Lage geöffnet hat, iſt nicht bekannt. Tatſächlich aber 
hatte fie nun (Sommer 1911) erkannt, daß ein Mann mit ſtarker 
Hand not tat, der das Land kennen mußte und dort Vertrauen 
beſaß. Und ſolchen gab es nur einen, Lord Kitchener, als Beſieger 
des Mahdi und der Buren damals wohl der populärſte Mann 
in England. Er wurde am 15. Juli ernannt, kurze Zeit nach dem 
Tode des unglücklichen Gorſt. Einige kurze biographiſche Notizen 
4 Moritz, Agypten 49 


über Kitchener und feine merkwürdige Laufbahn dürften wohl am 
Platz fein. Der ehemalige Mobilgardiſt (oder Franktireur?) von 
1870 hatte es in der engliſchen Armee bis zum Leutnant gebracht, 
als er ſie 1882 verlaſſen mußte. Im Jahre darauf wurde er in 
der neugebildeten ägyptiſchen Armee als Major angeſtellt und war 
1890 ſchon Oberſt, 1891 Polizeipräſident von Kairo, im April 
1892 Generalmajor und Oberſtkommandierender der ägyptiſchen 
Armee. Seine ganze Tätigkeit galt fortan der Vorbereitung des 
Krieges zur Wiedereroberung des Sudan, die er 1896 bis 1899 
vollbrachte. Nicht unerwähnt möge bleiben, daß er während ſeiner 
ägyptiſchen Zeit ſtark antifranzöſiſche Geſinnung zeigte. Im De— 
zember 1899 verließ er Agypten, um nach Südafrika zu gehen, wo 
er den Burenkrieg zu einem gewiſſen Abſchluß brachte. Darauf zum 
Oberbefehlshaber in Oſtindien ernannt, reorganiſierte er das etwas 
veraltete Heer, wobei er den Vizekönig, den klugen Lord Curzon, 
zur Strecke brachte. Im Oktober 1911 trat er ſeine neue Stellung 
in Agypten an. 

Bei der Übernahme von Gorſts Nachfolge hatte er ſich der 
Londoner Regierung gegenüber ſchwerlich auf ein beſtimmtes Pro— 
gramm verpflichtet, ſondern ſich anſcheinend carte blanche geben 
laſſen. Als Grey am 18. Juli im Unterhauſe erklärte, die ägyp— 
tiſche Politik würde Gegenſtand der Erörterung zwiſchen der Re 
gierung und Kitchener ſein, wird die Sache vielmehr ſo gelegen 
haben, daß ſie ſich die Anſicht des Unentbehrlichen zu der ihrigen 
machen mußte, und am 16. Auguſt erklärte der Unterſtaatsſekretär 
betreffs der koptiſchen Frage, daß man keine Inſtruktionen darü— 
50 


ber an Kitchener ſchicken würde (recte: dürfte). Er zeigte ſich auch 
ohne ſolche der Situation vollauf gewachſen. Seine erſte Aufgabe 
war die Beruhigung des Landes. In kurzer Zeit gelang es ihm, 
die beiden feindlichen Ligen zur Auflöſung zu bringen. Mit dem 
nationaliſtiſchen Miniſterium wurde er ebenſo raſch fertig. Der 
geſinnungstüchtige Miniſterpräſident Muhammed Said bekehrte 
ſich nach einem ſchwächlichen Widerſtandsverſuche ſchnell und der 
unträtable Saghlul flog hinaus. Die Nationaliſten ſahen Kit— 
cheners zum Schlage erhobene Hand und wurden immer klein— 
lauter, ſo daß er größere Gewaltmaßregeln gar nicht anzuwenden 
brauchte. Nur einmal ſchlug er zu. Im Sommer 1912 wurde eine 
ſogenannte Verſchwörung entdeckt; ein paar Schüler und unreife 
Jungen hatten angeblich Verabredung gepflogen, Kitchener und 
den Khedive zu ermorden. Das Ganze war tatſächlich nichts weiter 
als ein Dummerjungenſtreich. Aber die Gerichte mußten die Sache 
todernſt nehmen und verurteilten in merkwürdigem Gegenſatz zu 
ihrem verbrecheriſchen Zögern vier Jahre früher die Jungen zu 
mehrjähriger Zuchthausſtrafe. Dieſe unverdiente Härte tat aber 
Wunder. Die Haupthetzer zogen es vor, den Boden zu räumen, 
als er ihnen nun zu heiß wurde, und ihre Helfer und Anhänger im 
Lande, beſonders die kapitalkräftigen, nahmen raſch ab, ſo daß der 
Agitation auch der finanzielle Boden entzogen wurde. Wenn unter 
Gorſt die Nationaliſten ſich rühmen konnten, achtzig Prozent der 
mohammedaniſchen Bevölkerung für ſich zu haben, ſo hatte Kit— 
chener in knapp einem Jahre ihre lärmende Agitation totgemacht 
und dem Lande die Ruhe wiedergegeben. Und damit hatte er ſich 


* 51 


den Dank nicht nur der Europäer, ſondern auch eines großen Teiles 
der eingeborenen Bevölkerung erworben, die im Grunde weiter kei— 
nen Wunſch hatte als in Ruhe zu leben und möglichſt viel „ginẽh“ 
(Goldſtücke) zu ſammeln. Sie gewann bald eine gewiſſe Zuneigung 
zu ihm, die auf Gegenſeitigkeit beruhte. Denn auch Kitchener hatte 
für das Land, dem er ſeine beiſpiellos glänzende Karriere verdankte, 
ein aufrichtiges Intereſſe. Zumal für den Bauernſtand, deſſen gute 
Eigenſchaften er an ſeinen Soldaten und Arbeitern während der 
Sudankriege kennen und ſchätzen gelernt, hatte er ein Herz und 
war bemüht, ſeine materielle Lage zu verbeſſern, in erſter Linie ihn 
gegen die althergebrachte Auswucherung zu ſchützen. Freilich waren 
feine Maßregeln (wie das ſogenannte Fünffeddangeſetz) mehr gut 
gemeint als wirklich nützlich. Mit den Staatsfinanzen dagegen 
ging er in einer Weiſe um, die feinen Finanz- advisers wenig 
Vergnügen machen konnte; überhaupt war er in finanziellen Fra- 
gen, namentlich wenn ſie ſeine eigene Perſon betrafen, nichts weniger 
denn kleinlich. 

Auch den politiſchen Wünſchen der Agypter zeigte er ſich ent— 
gegenkommend, indem er auf dem Wege zur Gewährung der Au- 
tonomie einen Schritt vorwärts tat. Seit Lord Dufferin hatte 
das Land an repräſentativen Inſtitutionen eine „Generalverſamm— 
lung“ und einen „gefeßgebenden Rat“ mit recht beſchränkten Be⸗ 
fugniſſen gehabt. Beide Inſtitutionen wurden im Juli 1913 er- 
ſetzt durch eine geſetzgebende Verſammlung, beſtehend aus 66 ge— 
wählten und 24 von der Regierung ernannten Mitgliedern. Da- 
mit aber ihre Beſchlüſſe der Regierung nicht unbequem werden 
52 


konnten, behielt dieſe fich das Recht vor, an dieſe Beſchlüſſe nicht 
gebunden zu ſein, machte aber dafür das Zugeſtändnis, daß die 
Verſammlung das Recht des veto für neue Steuerforderungen 
haben ſollte. 

Dieſe Konzeſſion, wenn ſie auch nicht ſehr bedeutend war, iſt 
von den Anhängern der alten Cromerſchen Politik ſchwerlich ge— 
billigt worden. Noch 1909 hatte ſich Milner (a. a. O. 308) ſchon 
gegen jede Erweiterung der alten repräſentativen Inſtitutionen 
ſcharf ausgeſprochen. 

Die wirtſchaftliche Lage des Landes blieb nach wie vor ungün— 
ſtig. Die Goldquelle von Agypten war bisher die Baumwollen— 
kultur geweſen. Der Raubbau aber, der im Lande mit ihr, da 
mit allen Mitteln forciert, getrieben wurde, begann ſich zu rächen: 
wenn auch die Quantität der produzierten Mengen geſteigert wurde, 
fo verſchlechterte ſich die Qualität von Jahr zu Jahr. Dieſer Nück- 
gang und die wachſende Konkurrenz auf dem Weltmarkte eröffneten 
der ägyptiſchen Volkswirtſchaft trübe Ausſichten für die Zukunft. 
Während des ganzen Jahres 1913 war die wirtſchaftliche Lage 
des Landes recht ungünſtig geweſen. 1914 kam zwar eine leichte 
Beſſerung, aber bevor noch die große Baumwollenernte verkauft 
war, brach der Krieg aus. Nachdem am 4. Auguſt Englands 
Kriegserklärung an Deutſchland erfolgt war, erſchien zwei Tage 
darauf im ägyptiſchen Staatsanzeiger (Journal officiel) eine 
amtliche Mitteilung, daß „die ägyptiſche Regierung ſich mit 
Deutſchland im Kriegszuſtande betrachte, da das von britiſchen 
Truppen beſetzte Agypten den Angriffen der Feinde Englands aus- 

53 


geſetzt ſei“. Dieſe Erklärung war erlaffen im Namen des Khedive. 
Nun war aber dieſer (wie Kitchener) ſchon ſeit Monaten im Aus⸗ 
lande und wäre als Vaſall der Pforte zu einem ſolchen politiſchen 
Akt überhaupt nicht berechtigt geweſen. Tatſächlich iſt die Erklä— 
rung von dem ägyptiſchen Miniſterium unter dem Druck des eng- 
liſchen Generals Byng erlaſſen worden, der bald darauf die Okku⸗ 
pationstruppen nach Frankreich führte, vor der Abfahrt noch in 
geheimnisvoller Weiſe von bereits erfochtenen Siegen fabelte. 
Sein Nachfolger wurde der ſchon in den Ruheſtand getretene 
General Maxwell, der nun als oberſte Behörde im Lande eine Art 
Militärdiktatur repräſentierte. Unmittelbar nach jener Kriege: 
erklärung wurden alle deutſchen (18 mitzuſammen 86000 Tonnen) 
und öſterreichiſchen Schiffe in den Häfen von Alexandrien und 
Port Said nach zum Teil gewaltſamer Löſchung ihrer Ladung 
interniert, im September dann die diplomatiſchen und konſu— 
lariſchen Vertreter trotz ihres Proteſtes gezwungen, das Land zu 
verlaſſen. Ihnen mußten alle zum Teil ſchon ſeit Jahrzehnten an— 
geſeſſenen Männer und ſelbſt Frauen folgen, ſoweit die erſteren 
nicht bereits feſtgenommen und nach Malta geſchickt worden 
waren. Höhniſch konnte die anglofranzöſiſche Preſſe melden, Agyp⸗ 
ten ſei nun frei von den Deutſchen, die das Land fo lange „ver— 
peſtet“ hatten. 

Nachdem im Oktober die Türkei zur Verteidigung ihrer Exi— 
ſtenz (S. 8) ſich genötigt geſehen hatte, in den Krieg einzutreten, 
wurde auch ihr von England am 6. November der Krieg erklärt, 
zur Beruhigung der Agypter aber mit der Verſicherung, daß Eng- 
54 


land alle Laſten desſelben auf ſich nehmen wolle, ohne die Teilnahme 
der Agypter daran zu verlangen. Dieſes Verſprechen wurde inſo— 
fern nicht gehalten, als England bis Ende des Jahres nicht weniger 
als viereinhalb Millionen ägypt. Pfund bares Geld aus dem 
Lande zog. Der Staatshaushalt ſchloß zum erſten Mal ſeit langen 
Jahren mit einem erheblichen Fehlbetrag von 1700000 ägypt. 
Pfund ab (bei 15100000 Einnahme und 16800000 Ausgabe, 
der durch Steuererhöhung ausgeglichen werden ſollte. Und auf die 
Mitwirkung der ägyptiſchen Truppen in einem Kriege gegen die tür— 
kiſchen zu verzichten, war nach den Erfahrungen in der Taba-Si—⸗ 
nai⸗Affäre ein Gebot einfachſter Vorſicht; zudem war der einzig 
brauchbare Teil derſelben, die Negerbataillone, im Sudan unab— 
kömmlich. Auf die engliſche Kriegserklärung antwortete die Pforte 
ſchon am 14. November mit der Verkündigung des Djihad. Zwar 
hatten die Engländer Agypten gegen die Türkei hermetiſch abzu⸗ 
ſperren ſich bemüht, doch war es ihnen unmöglich, das Eindringen 
ſolcher Nachrichten zu verhindern. Darüber, daß die Djihaderklä— 
rung keine unmittelbare Wirkung weder in Agypten noch im Sudan 
haben würde, hat man ſich türkiſcherſeits ſchwerlich Flluſionen hin: 
gegeben. Wenige Tage ſpäter, am 20. (2 November, mußte die 
Suezkanal⸗Geſellſchaft, wahrſcheinlich unter engliſchem Druck, er: 
klären,, daß ſie die Neutralität des Kanals nicht mehr wahren könne 
und genötigt ſei, ſich mit ſeinen Verteidigern zu verbünden und 
dieſen feine geſamten Hilfsmittel zur Verfügung zu ſtellen“. Eng— 
land hatte die Neutralität des Kanals in dem anglofranzöſiſchen 
Abkommen vom 8. April 1904 ausdrücklich anerkannt. 

55 


Als im Dezember der drohende türkifche Angriff zur Gewißheit 
wurde, nahm ihn die engliſche Regierung zum längſt geſuchten Vor: 
wand, die Beſitzergreifung Agyptens in Form einer Protektorats- 
erklärung zu verkünden. Am 18. Dezember erklärte ſie, daß „an— 
geſichts des Kriegszuſtandes, der ſich aus dem Vorgehen (action) 
der Türkei ergibt, Agypten unter den Schutz Sr. Majeſtät [des 
engliſchen Königs! geſtellt und hinfort ein britiſches Protektorat 
bilden wird. Die Oberhoheit der Türkei iſt damit zu Ende, und 
Sr. Maj. Regierung wird alle zur Verteidigung Agyptens und 
zum Schutz ſeiner Einwohner und Intereſſen nötigen Maßregeln 
ergreifen“. Zur Erläuterung machte der Home Secretary am 
23. Dezember noch die Mitteilung, daß „jetzt, wo die Oberhoheit 
der Türkei über Agypten zu Ende iſt, die Agypter aufhören, feind— 
liche Untertanen (alien enemies) zu ſein, obwohl ſie nicht britiſche 
Untertanen werden“. Wenige Tage vorher, am 19., war ein 
High commissioner, Oberſtleutnant Me Mahon an die Spitze 
der Regierung geſtellt, der Khedive Abbas Hilmi abgeſetzt und 
ſein Onkel Huſſein Kamil Paſcha zum Sultan von Agypten er— 
nannt worden. Das Dokument darüber, der Taufſchein dieſer 
neuſten Epoche von Ägyptens Geſchichte, lautet: „Angeſichts f 
des Benehmens (action) Sr. Hoheit Abbas Hilmi Paſchas, 
früher (lately) Khedive von Agypten, der zu des Königs Feinden 
übergegangen Cadhered) iſt, hat Sr. Majeſtät Regierung es für 
angemeſſen geſehen, ihn von dem Khediviat abzuſetzen, und dieſe 
hohe Würde iſt mit dem Titel Sultan von Agypten Sr. Ho— 
heit dem Prinzen Huſſein Kamil Paſcha, älteſt lebendem Prinzen 
56 


der Familie Mehemet Alis, angeboten und von ihm angenom— 
men worden.“ 

Daß Prinz Huſſein Kamil als älteſter Sohn des verſtorbenen 
Khediven Iſmail Paſcha das älteſte (geboren 20. Dezember 
1843) Mitglied der zahlreichen vizeköniglichen Familie, ſeine 
Erhebung zum Sultan alſo ganz in Übereinſtimmung mit dem 
osmaniſchen Thronfolgegeſetz erfolgt iſt, war nur Zufall. Tat— 
ſächlich war eben kein anderer Prinz da, der im Lande auch nur 
entfernt ſolches Anſehn genoß, wie er. Seine Wahl war demnach 
ein recht geſchickter Griff der engliſchen Regierung. In den Tages⸗ 
zeitungen waren ſeinerzeit allerlei Bemerkungen über angeblich 
hohe Zivilliſte, Apanagen uſw. zu leſen, die er ſich ausbedungen 
haben ſollte. Ich gebe deshalb eine kurze Überſicht über die Höhe 
der ägyptiſchen Zivilliſte in den letzten zehn Fahren nach dem amt: 
lichen Budget: 1904: 257 319 ägypt. Pfund, 1906: 255361, 
1910 (unter Gorſt!): 281803, 1911: 278306, 1912: 284949, 
1913: 283663, 1914/15: ca. 281282 ägypt. Pfund. 

Die offizielle Zivilliſte des Sultans überſteigt demnach die des 
Khediven nicht. Sollten ihm aber außerordentliche Zuwendungen 
in größerer Höhe bewilligt fein, fo wäre dies nur ein Akt der Ge 
rechtigkeit, da ihm früher unter Lord Cromer der größte Teil feiner 
Beſitzungen zugunſten des Staates für einen fehr geringen Preis 
abgenommen worden war. Die Protektoratserklärung konnte 
keine Überraſchung mehr fein. Schon 1899 lag fie in der Luft 
(S. 22), Milner beſchrieb um dieſe Zeit die politiſche Lage Agyp— 
tens als „verhülltes Protektorat, deſſen Hülle ſehr dünn ſei“, und 


57 


1904 konnte Gorſt (bei Milner a. a. O. 419) offen ſagen, daß 
die Hülle eigentlich ſchon gefallen ſei. 

Weshalb die engliſche Regierung die Form des Protektorats 
für Agypten und nicht gleich die Annexion gewählt hat, hat ſie 
bisher nicht verlauten laſſen. Oder ſoll das Protektorat nur der 
Übergang ſein zu der letzteren, nach dem Vorgange von Cypern, 
das am 5. November, alſo noch vor der Kriegserklärung an die 
Türkei, aus der Form des Protektorats in die der Annexion über⸗ 
geführt wurde? 

Die türkiſche Regierung erwiderte auf die engliſche Heraus— 
forderung mit der Achtung Huſſein Kamil Paſchas durch den 
Scheich ül Iſlam und mit dem Befehl an das vierte Armee 
korps, ihn zur Beſtrafung zu bringen. Einſtweilen erwies ſich 
aber ihre Rüſtung zur Eroberung von Agypten als noch nicht 
ausreichend. 

Die Veränderung ſeiner ſtaatsrechtlichen Stellung hat auf 
Agyptens Verwaltung ſoweit bisher bekannt keinen größeren Ein- 
fluß geübt. Als äußeres Zeichen der Loslöſung von der Türkei iſt 
die Nationalflagge ein wenig verändert, ſtatt des einen Halb— 
mondes im roten Felde find es jetzt ihrer drei (die bisherige Staats- 
flagge des Khediven). Von den Miniſterien iſt das der auswär⸗ 
tigen Angelegenheiten abgeſchafft worden, da die Vertretung 
Agyptens dem Auslande gegenüber fortan durch die beſchützende 
Macht erfolgen ſoll. Und ſelbſtverſtändlich wird auch die diploma— 
tiſche Vertretung der fremden Mächte in Kairo aufhören ſollen, 
ſo daß der Hof des Sultans fortan ohne den letzten Schimmer 


58 


der Selbſtändigkeit fein würde, der den khedivialen Hof bisher 
umgeben hatte. 

Für ſeinen Gewaltſtreich hatte England die Zuſtimmung Frank— 
reichs de facto ſchon ſeit 1904; dagegen ſcheint die von Rußland 
und Italien bisher noch nicht zu erlangen geweſen zu ſein. Die 
Hauptſache aber iſt, wie die Macht ſich dazu ſtellen wird, die 
nächſt England die größten wirtſchaftlichen Intereſſen an Agypten 
hat, und das iſt Deutſchland. 

Der deutſche Einfluß in Agypten hat eine wechſelreiche Ge— 
ſchichte. Es hat Zeiten gegeben, wo das deutſche Element dort 
eine bedeutendere Rolle geſpielt hat, als das engliſche, wo die 
deutſche Sprache ſchon ſeit den fünfziger Jahren auf der Militär— 
ſchule gelehrt wurde und in den ſiebzigern einen Hauptgegen— 
ſtand des Unterrichts auf den höheren Schulen bildete und eine 
Reihe von Deutſchen höhere Stellen in der ägyptiſchen Regierung 
bekleideten. Mit dem Einzug der Engländer iſt das alles ver— 
ſchwunden; nicht einmal an den internationalen Gerichtshöfen 
iſt die deutſche Sprache zugelaſſen, wie Engliſch (übrigens erſt 
ſeit 1905), Franzöſiſch und Italieniſch. War es den Engländern 
gelungen, den deutſchen Einfluß in Schule und Regierung zu unter: 
drücken, ſo konnten ſie aber doch nicht verhindern, daß er ſich in 
anderer Form Eingang und Geltung im Lande verſchaffte. Deutſche 
Induſtrie, Handel und Schiffahrt haben es verſtanden, im Lande 
Fuß zu faſſen und trotz der Mißgunſt von Engländern, Franzoſen 
und Genoſſen ſich allmählich durchzuſetzen. Erſt 1884 war Deutfch- 
land zum erſtenmal in der Statiſtik des ägyptiſchen Handels 

59 


mit 0,5 Proz. Anteil am Import, 1886 mit 0,1 Proz. am Er 
port erſchienen. Aber nur zwanzig Jahre ſpäter hatte es bereits 
den dritten Platz erobert. Um den zweiten, den ſeit langen fahr: 
zehnten Frankreich inne hatte, entſpann ſich ein ſcharfer, aber kurzer 
Wettbewerb, aus dem Deutſchland bereits 1911 als Sieger her: 
vorging. Im ägyptiſchen Handel kam es von da an hinter England, 
das ſeit alten Zeiten, jedenfalls ſeit dem Beginn des neunzehnten 
Jahrhunderts den erſten Platz inne hatte, wenn auch natürlich in 
weitem Abſtand. Vom Geſamthandel betrug Englands Anteil 
41 Proz., Deutſchlands knapp 13 Proz., Frankreichs 8,8 Proz. 
Wahrſcheinlich aber war Deutſchlands Anteil noch erheblich höher, 
als die angegebene Ziffer, da viele Waren, die den Um, refp. 
Durchweg durch nichtdeutſche Län der nehmen mußten, von der 
ägyptiſchen Statiſtik dieſen zugezählt wurden. 

Dieſer Sieg war um ſo höher einzuſchätzen, als die Verbin— 
dung Deutſchlands mit Agypten viel umſtändlicher und koſtſpie— 
liger war, als die der Mittelmeerländer. 

In dem Suezkanalverkehr hatte die deutſche Schiffahrt, die ſeit 
der Mitte der ſiebziger Jahre ſich bemerkbar gemacht hatte, be 
reits 1890 die zweite Stelle, dem Tonnengehalt (nicht der Schiffs: 
zahl) nach erobert. Während ſie aber damals kaum ein Sechſtel 
der engliſchen ausmachte, war ſie namentlich im Lauf des letzten 
Jahrzehnts dieſer immer näher gerückt und betrug 1913 ſchon 
faſt ein Drittel von ihr. 

So hatte die kleine deutſche Kolonie, die der Zahl ihrer Mit— 
glieder nach (1874) erſt an ſiebenter Stelle unter den Fremden 
60 


kam, in einem ehrlichen Konkurrenzkampf ohne Schädigung der 
Rechte anderer ſich ihren Platz an der Sonne Agyptens errungen. 
Wohl mochte bei den Engländern die Befürchtung aufſteigen, daß 
der deutſche Einfluß ſich nunmehr auch auf anderen Gebieten gel— 
tend machen könnte, und daß vor allem die Agypter richtigere 
Vorſtellungen von der Kultur und der Macht Deutſchlands er— 
halten könnten. Daher wurde die Verfolgung von allem, was 
deutſch hieß, im Herbſt 1914 mit ganz beſonderer Gehäſſigkeit 
fortgeſetzt. Sie machte nicht einmal halt vor den Diakoniſſen des 
deutſchen Hoſpitales von Kairo, die durch lange Jahre auch man— 
chem kranken Engländer ihre Pflege hatten angedeihen laſſen, eine 
beſſere jedenfalls, als er fie in engliſchen Hoſpitälern und bei eng- 
liſchen nurses hätte finden können. Auch ſie mußten, zum Teil mit 
der häßlichen Beſchuldigung von Spionage, das Land ihrer Tä— 
tigkeit verlaſſen, in dem fie fo ſegensreich, auch von den Einge— 
borenen anerkannt, gewirkt hatten. 

Und dann erfolgte der Schlag gegen den deutſchen (und öſter— 
reichiſchen, aber nicht türkiſchen) Handel, mit dem man die Wurzel 
des deutſchen Einfluſſes zu treffen hofft. 

Nach einer Verfügung des Generals Maxwell vom 7. Auguſt, 
vervollſtändigt durch eine Proklamation vom 15. Auguſt d. J. 


Es durfte auffallen, daß dieſe Verordnung nicht auf die Angehörigen 
der Türkei ausgedehnt iſt. Die Erklärung iſt vielleicht die, daß Agypten 
die Einfuhr einer Menge von Lebensmitteln aus der Türkei, Getreide, 
Früchte, vor allem aber Vieh nicht entbehren kann. Faſt das geſamte 
Schlachtvieh, deſſen Agypten bedarf, Kamele inbegriffen, kommt aus 
Syrien und Nordarabien, und der Sudan wird noch auf lange Zeit 
hinaus außerftande fein, dieſe Einfuhr vollſtändig zu erſetzen. 


61 


ſollen „zwecks befferer Kontrolle des Handels in Agypten“ deutſche 
und öſterreichiſche Kaufleute, Geſchäfte und Geſellſchaften ihre 
Tätigkeit nur bei Gewährung einer beſonderen Lizenz fortſetzen 
dürfen, und dieſe Lizenz berechtigt nur zur Liquidierung des Unter— 
nehmens. 

Mit dieſer Verordnung iſt dem deutſchen Handel, gegen den 
der Krieg Englands in der ganzen Welt gerichtet iſt, nun auch in 
Agypten offiziell ein Ende gemacht worden. Die Zeit wird lehren, 
ob dieſer billige Sieg von Dauer ſein wird. — 

An den Pyramiden von Giſeh fragte mich einmal ein Araber, 
wie lange die Herrſchaft der Engländer in Agypten dauern würde. 
Ich konnte ihm nur erwidern, daß die Pyramiden ſchon viele 
Dynaſtien hätten kommen und gehen ſehen, daß ſie wohl auch das 
Ende der engliſchen Herrſchaft ſehen würden, und daß manche der 
fremden Dynaſtien nur eine kurze Dauer in Agypten gehabt 
haben. 


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Sudan ift feit feiner Wiedereroberung für Agypten noch 
mehr ein Schmerzenskind geworden, als er es vorher ge— 
weſen war. Mit vorwiegend ägyptiſchem Blute und Gelde erobert! 
und mit ägyptiſchem Gelde befruchtet und verwaltet ift er tatſäch⸗ 
lich eine engliſche Kolonie geworden, die ausſchließlich von Eng— 
ländern beherrſcht wird und England allein zugute kommt. 

In Agypten hatte man dieſe Wendung wohl geahnt, und die 
geſetzgebende Verſammlung hatte im Jahre 1899 offiziell erklärt, 
daß der Sudan ein integraler Beſtand von Agypten ſei. Cromer 
hat darauf (Jahresbericht für 1900, S. 4) anerkannt, daß dieſe 
Anſicht „ſubſtantiell“ richtig fei, aber hinzugefügt, daß „jedoch das 
politiſche Regime des Sudan von der angloägyptiſchen Konven— 
tion beherrſcht würde“. 

1 fiber die Koften, die der neue Sudan Agypten verurſacht hat, 
ſ. weiter unten. . 

Die Verluſte der Agypter in den beiden Schlachten des Feldzuges 
von 1898 waren: am Atbara 57 Tote und 381 Verwundete, bei Umm— 


dirman 30 Tote und 279 Verwundete; die der Engländer 24 Tote und 
104 Verwundete bzw. 25 und 106. 


5 Moritz, Agypten 65 


In der folgenden Zufammenftellung habe ich verfucht, eine Über: 
ſicht über die Koſten zu geben, die der Sudan Agypten bisher verur⸗ 
ſacht hat, muß aber bemerken, daß die Angaben wahrſcheinlich weit 
hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. In den amtlichen engliſchen 
Quellen weichen ſie zum Teil ſtark voneinander ab, ohne daß erſicht— 
lich iſt, wie dieſe Differenzen zu erklären ſind. Dazu kommt, daß 
in den Cromerſchen Berichten verfchiedene Poſten in den Nechnun- 
gen des Sudan mit denen von Agypten häufig fo verquickt find, 
daß ein klares Bild nicht zu gewinnen und der Verdacht der abſicht⸗ 
lichen Verſchleierung nicht ganz von der Hand zu weiſen iſt. 

Zunächft hatte Agypten nach dem Sudanvertrag für das Defisit 
des Sudan aufzukommen, d. h. die Differenz zwiſchen Einnahmen 
und Ausgaben desſelben zu zahlen. Außerdem hatte der ägyptiſche 
Staatsſäckel noch außerordentliche jährliche Zuſchüſſe zu leiſten, die 
z. B. 1899 und 1901 mehr als die doppelte Höhe der zur Deckung 
des Defizits erforderlichen Summen erreichten. Über dieſe Zuſchüſſe 
erfährt man nur aus Gorſts Mitteilungen bei Milner (a. a. O. 
417) und leider nur bis zum Jahre 1903, dem Ende feiner Tätig: 
keit im ägyptiſchen Finanzminiſterium. In Cromers Berichten ſind 
ſie bisweilen mit der Deckungsſumme verquickt oder gar nicht an⸗ 
gegeben, ebenſowenig in dem Sudanhandbuch von Gleichen“. 

Die Angaben dieſer beiden letzten Quellen repräſentieren alſo 
die ganze Höhe der von Agypten für den Sudan gezahlten Sum— 
men wahrſcheinlich nicht. 

Count Gleichen, Handbook of the Sudan. — The Anglo-Egyp- 
tian Sudan, 1905. 

66 


1897 
1898 


1899 nach 
Cromer 
Gorſt 
Gleichen 


1900 nach 
Cromer 
Gorſt 
Gleichen 


1901 nach 
Cromer 
Gorſt 
Gleichen 


1902 nach 
Cromer 
Gorſt 
Gleichen 


1903 nach 
Cromer 
Gorſt 
Gleichen 


1 Statesmans Vearbook 100000. 
2 Statesmans Vearbook 213000. 
3 Statesmans Vearbook 317 255. 
4 Statesmans Vearbook 417179. 
5 Statesmans Vearbook 389721. 
6 Statesmans Vearbook 389721. 


5* 


Einnahme 
2 


35000 


124500 
127000 
126 596 


140000 
157000 
156888 


238500 
242 000 
242309 


270000 
270000 
270226 


462000 
336000 
462605 


Von Agypten zu 


Ausgabe Defizit deckender Betrag 
2 2. Cromer Rep. 550378 
235000 2000007 200000 
510 
509 500 415000 
509000 382000 n. Gorſt 757000 
511693 3850979 
598000 417 000 
599000 442000 n. Gorſt 558000 
614780 457 892 
403000 164500 
626000 384000 n. Gorſt 912000 
629969 387 660˙ 
517000 247 000 
640000 370000 n. Gorſt 431000 
639493 369 2675 
618000 156000 
686000 350000 n. Gorſt 397000 
810019 347414“ 


67 


Einnahme Ausgabe Defisit Von Agypten zu 


deckender Betrag 
1904 nach 
Cromer 535000 629000 53000 
und 576000 Cromer Rep. 380000 
Gleichen 531000 815500 284500" A 
1905 nach 
Cromer 569000 875000 2 Cromer Rep. 380000 
(Rep. 1906, 124) 2 
1040000 
(Rep. 1905, 130) 
1906 „ 804000 832000 28000 Cr. Rep. 380000 
f . e 
1907 „ 825000 1078000 253 000 Gorſt Rep. 380000 
1908 „ 969000° 1207000 238000 1 253000 
1909 „ 104020051153 0005 113000 2 208000 
1910 „ 1171007 1214676 43669 £ 325000 
1911 „ 1311218 1350854 39636 Kitchener 360000 
Report 
1912, 1428605 1490668 62063 4 335000 


1913 „ 1654149 1614007 +40 142 


1913 ſtoppte Kitchener die Weiterzahlung der Sudanfub- 
vention, die vertragsgemäß nur bis zur Herſtellung des budgetären 
Gleichgewichts fortdauern ſollte. Agypten muß aber an den Sudan 
weiterzahlen die Zollgebühren, die für die nach dem Sudan be- 
ſtimmten Waren in denägyptiſchen Eingangshäfenerhobenwerden. 


! Statesmans Vearbook 379 763. 
2 Statesmans Vearbook 1915: 979343 und 1163 657. 
3 Statesmans Vearbook 1915: 1042 599 und 1153519. 


68 


Nach der obigen Zuſammenſtellung, die, wie bemerkt, hinter 
der Tatſächlichkeit höchſtwahrſcheinlich noch zurückbleibt, hat der 
Sudan bis zum Jahre 1912 Agypten mindeſtens 6806378 ägypt. 
Pfund gekoſtet, dazu die Koſten ſeiner Eroberung, von denen 
auf Agypten 1632000 ägypt. Pfund entfallen‘, zuſammen alſo 
8438378 ägyptiſche Pfund S mehr als 170 Millionen Mark. 

Dieſe Summe hat der ägyptiſche Steuerzahler für England 
aufbringen müſſen, damit es dieſe ſeine neuſte Kolonie politiſch 
und wirtſchaftlich unabhängig machen konnte. 

Welche Vorteile hat nun Agypten vom Sudan? In allem 
Ernſt hat Cromer wiederholt' als ſolche angegeben: „Befreiung 
Agyptens von der Mahdiſtengefahr (die ſeit Mitte der neunziger 
Jahre nicht mehr exiſtierte) und die Sicherung des Nils“, als ob 
die Mahdiſten ihn hätten ableiten wollen oder können. Der einzige 
tatſächliche Nutzen, den Agypten bisher vom Sudan gehabt hat, 
iſt ein gewiſſer Anteil am Handel, der aber nur ſo lange fortdauern 
wird, wie es England paßt. 

General Gordon hat vor mehr als dreißig Jahren den Sudan 
eine koſtſpielige Beſitzung für Agypten genannt. Gegenwärtig iſt 
er noch viel koſtſpieliger geworden, aber keine Beſitzung mehr ge— 
blieben. Und für Europa iſt er faſt ein verſchloſſenes Land. Zwar 
hatte Cromer' wiederholt emphatiſch beteuert, daß laut Artikel VII 


des Sudanvertrages mit Agypten den Untertanen einer oder 
Cromer, Modern Egypt II, 106, gibt nur 1154000 an. 
2 Modern Egypt II, 549. Report für 1900, 4. 
Modern Egypt II, 119; ferner in feiner Feſtrede bei Eröffnung 
der Eiſenbahn vom Nil zum Roten Meer. 


69 


mehrerer Mächte keine beſonderen Vorrechte bewilligt werden 
würden, daß mit anderen Worten der Deutſche, der Franzoſe, der 
Italiener und andere genau auf den gleichen Fuß im Handel ge— 
ſtellt werden ſollten“. Dieſe Zuſicherung war wohl der Grund, der 
die Mächte veranlaßt hatte, ihren Widerſtand gegen den Vertrag 
fallen zu laſſen. Die Wirklichkeit hat ſich aber ganz anders ge— 
ſtaltet. Der engliſche Generalgouverneur, der ſich bis 1910 wie 
ein unbeſchränkter Herrſcher fühlen durfte“, hat es verſtanden, ent: 
gegen Cromers Zuſicherung, jede nicht engliſche Handelsbetäti— 
gung durch ſeine höchſt willkürlichen Verordnungen nahezu un— 
möglich zu machen. Nach dem Sudanvertrage haben ſeine Ver— 
ordnungen Geſetzeskraft. 

Als das einfachſte Mittel hierzu erſchien ihm die Monopoli— 
ſierung der wichtigſten Landesprodukte, aller Verkehrsmittel und 
überhaupt aller möglichen Einnahmequellen? Hierdurch iſt in erſter 
Linie die rapide Steigerung der Einnahmen zu erklären, die alſo 
keineswegs ein Beweis für das wirtſchaftliche Aufblühen des 
Landes iſt. 

Am 1. Mai 1903 wurden die wichtigſten Landeserzeugniſſe, 
Gummi arabicum, Kautſchuk, Elfenbein und Straußenfedern in 
den hauptſächlichſten Produktionsgebieten für Regierungsmono⸗ 
pol erklärt. Gummiund Elfenbein allein brachten 1914 ca. 700 000 
ägypt. Pfund, faſt die Hälfte des ganzen Einnahme-Budgets ein. 

In dieſem Jahre wurde ihm nach indiſchem Muſter ein Staatsrat 


(council) zur Seite gegeben. 
2 Vacoub Pasha Artin, England in the Sudan, 31. 


70 


Konzeſſionen wurden nur noch an engliſche Geſellſchaften ver— 
geben. Unter ſolchen Umſtänden iſt der freie Handel im Sudan 
allen Nichtengländern faſt unmöglich gemacht. Während der Im—⸗ 
port nach dem Sudan 1913 aus England und den engliſchen 
Kolonien, hauptſächlich Aden und Oſtindien, rund 848000 ägypt. 
Pfund ausmachte, betrug er für alle übrigen Teilnehmer, inkl. 
Amerika zuſammen knapp den achten Teil davon, 101641 ägypt. 
Pfund. So geſtaltet ſich in der Wirklichkeit jene von Cromer 
verſprochene Gleichſtellung der Europäer in dem Sudanhandel. 

Vor zweiunddreißig Jahren zwang die engliſche Regierung 
Agypten, den Sudan aufzugeben; daß er ein teurer, nutzloſer Be— 
ſitz ſei, war damals die Anſicht der engliſchen Landeskenner, die 
auf die Entſchließung der heimiſchen Regierung vielleicht nicht 
ohne Einfluß geblieben war. Die Anſichten haben ſich ſeitdem ge— 
ändert. Heute gilt der Sudan als ein Zukunftsland; heute iſt er 
das größte Produktionsgebiet der Erde für Gummi arabicum! 
und Elfenbein. Der Ertrag der Baumwolle hat ſich in zwei Jahren 
faſt verdoppelt', und ihr Anbau ſteht vor einem unabſehbaren Auf— 
ſchwung, wenn einmal die gigantiſchen Bewäſſerungsprojekte (für 
13 Millionen ägyptiſche Pfund) ausgeführt werden, die dem Lande 
1 Million acre neues Kulturland ſchaffen ſollen. Auch der Gold— 
reichtum des Sudan iſt keine Mythe mehr, ſeitdem die Minen 
von Gebeit' und beſonders Umm Nebadi' ihre Schätze enthüllt 


11912: 603 511 ägypt. Pfund, 1913 nur 371528. 

2 1912: 88 549, 1913: 152110. 

b An der Bahn Nil Rotes Meer, 115 km von Port Sudan. 
Oſtlich von Station VI der Wüſtenbahn Wadi Halfa— Abu Hamed. 


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haben. Aber nicht nur zur Hebung der natürlichen Reichtümer 
haben die Engländer ihre Zivilifierungsarbeit im Sudan unter: 
nommen. „Es iſt pure Heuchelei, zu ſagen, daß wir im Intereſſe 
des Volkes hier ſind. Wenn es von unſerer Verwaltung profitiert, 
um fo beſſer für es, aber hier find wir im Intereſſe des Em- 
pire“, hat vor einigen Jahren ein engliſcher Sudanbeamter offen 
herausgefagt‘. Denn noch wertvoller als durch feine Reichtümer 
iſt der Sudan für England durch ſeine geographiſche Lage als 
Bindeglied in der Kette der Kolonien, mit denen es Afrika vom 
Kapland bis Agypten in ſeiner Hand hält. Und Agypten ſelbſt iſt 
vollſtändig in der Gewalt des Herrn des Sudan, der ſeinen Lebens 
nerv, den Nil, in der Hand hält und mit den Mitteln der mo⸗ N 
dernen Technik kontrolliert. Weiter vervollſtändigt der Beſitz des 8 
Sudan mit dem Suezkanal und Aden die Beherrſchung des Roten 
Meeres und hat England die Möglichkeit gegeben, auch den weſt—⸗ 
lichen Teil von Arabien unter ſeinen Einfluß zu bringen, nachdem 
es die Oſt⸗ und Südſeite ſchon lange unter ſeine Kontrolle reſp. 
Herrſchaft gebracht hatte. Und was der Beſitz Agyptens und des 
Suezkanals für die engliſche Herrſchaft in Indien bedeutet, iſt 
bereits in der Einleitung geſagt worden. 

So iſt der Sudan, wenn auch nicht wirtſchaftlich, jedoch mit 
Agypten zuſammen gegenwärtig die wichtigſte Beſitzung Englands, 
aber damit auch ſeine Achillesferſe. 

1 Vacoub Pasha Artin, a. a. O. 123. 


Druck von Mänicke und Jahn in Rudolſtadt 


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