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Full text of "Wille und Macht 12.1944, Heft 1/2 + Heft 5/6"

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HERAUSGEBER: BALDUR VON SCHIRACH 


Dn dm ba: 
Bruno Brehm / Das Eigene 
Heinrich Zillich / Anekdoten aus dem Krieg 
Mirko Jelusich | Der Mann der Geschichte 


KZ Gedichte von Dr. Hans Gstettner — Martin Raschke | | Wintersonnenwende — 
Paul A. Weber | Kasperl, Tod und Teufel — Eugen Rümelin | Die politischen Testamente 
Friedrichs des Großen — Neue Bücher — Kunstdruckbeilage 


Heft 1/2 Berlin, Januar/Februar 1944 Preis 30 Pf. 


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| für der nationallosialiitchen Jugend 


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HERAUSGEBER: Zare VON SCHIRACH 

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x Bruno Brehm / Das Eigene 
Heinrich Zillich / Anekdoten aus dem Krieg 

Mirko Jelusich Der Mann der Geschichte 


ie Gedichte von Dr. Hans Gstetiner — Martin Raschke 4 | Wintersonnenwende — 
A. We eber / Re Tod und Teufel — Eugen Rümelin / Die politischen Testamente 


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| z des Großen — Sau BEN Kunstdruckbeilage 


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Berlin, Januar/Februar 1944 Preis 30 Pf. 


INHALT 


Fr 


Bruno Brehm: Das Eigene 


Dr. Hans Gstettner: Wiedergeburt, Klage, Wind aus dem Osten, r 
| Flug über dem Schwarzen Meer (Gedichte) 


Heinrich Zillich: Anekdoten aus dem Krieg 
Martin Raschke A: Wintersonnenwende 
Mirko Jelusich: Der Mann der Geschichte 

| Fritz Usinger: Wo wir wohnen 


KLEINE BEITRAGE 
Eugen Rümelin: Die politischen Testamente Friedrichs des Großen 


NEUE BÜCHER 


Günter Kaufmann: Abschied von ,,Wille und Macht 


KUNSTDRUCKBEILAGE 


H. Schachinger: Schulbub 
Tilman Riemenschneider: Kopf der Eva 
Paul Mathias Padua: Stilleben 
Prof. Fritz Klimsch: Zwei Brunnenfiguren 
Werner Paul Schmidt: Kühe am Hügel 
Prof. Thorak: Paracelsus 
Joseph Raabe: Bildnis des Frhr. von Eichendorff (1809) 


Die Bilder aus der GroBen Deutschen Kunstausstellung stellten Verlag Heinrich Hoffmann 
und Verlag Bruckmann, München, zur Verfügung 


Führerorgan der nationalfozialiftifchen Jugend 


HERAUSGEBER: BALDUR VON SCHIRACH 


Jahrgang 12 Berlin, Jonuar / Februar Hefi f/2 
Bruno Brehm: 


Das Eigene 


Nur in der Fremde erkennst du das Eigene, dort spricht es dich an, als riefe 
dich unter unbekannten Menschen leise und eindringlich eine Stimme, die dir 
so vertraut klingt, als hätte dich deine Mutter bei deinem Namen gerufen. Gehst 
du dem fremden Schönen nach, ‚genießt du das Glück eines anderen Landes unter 
einem blaueren Himmel, fühlst du dich ledig und frei, meinst du es dir unter der 
wärmeren Sonne auch einmal so gut gehen zu lassen, wie es den Menschen um 
dich her gut zu gehen scheint, dann erreicht dich dieser Ruf, dem du dich eben- 
sowenig verschließen kannst wie der Stimme des Gewissens. 

Kleine gotische Adlerfibel, schlichte Gewandnadel im Museum einer bulga- 
rischen Schule am Schwarzen Meer, zwischen verblaßten Tanagra-Figürchen, 
zerbrochenen Ollámpchen, verstaubten Glasperlen und grünspanüberzogenen 
Münzen aus griechischen Gräbern — kleine Fibel mit den rotglühenden 
Almandinaugen, deren reichere, stattlichere Schwestern in Schweden und in 
Oberitalien, in Bayern und in Siebenbürgen gefunden worden sind, aus deinen 
Edelsteinaugen strahlt der gleiche Glanz, der auch aus den farbenfrohen Fenstern 
gotischer Dome leuchtet. Nicht nur die Zeit, auch die Gedanken bleichen die 
Farben aus, marmorblaß sind die einst bunten Götter und Fabelwesen der grie- 
chischen Tempelgiebel geworden, zerschlagen wurden die nie verblassenden 
Glutfarben der gotischen Fenster und was heute noch übriggeblieben ist in 
Rouen, in Chartres, in Erfurt und nicht allzuvielen anderen Kirchen, das ist, so 
wie du, kleine Fibel, nur ein kleiner Rest einer Schönheit, die in ihrem Glanz 
von dieser Welt nicht ertragen wurde. Damals in den frühen Morgenstunden, 
eigenste Kunst, sickerte dieses Leuchten in dich ein, in der Kaiserkrone strahlte 
es wieder auf, und alles, was heute noch von ihm erhalten ist, gleicht nur einem 
winzigen Wölkchen im Abendrot, da schon der ganze Himmel erblaßt ist. 

Frühzeitig hast du aus Edelsteinaugen schauen gelernt, und daher wird dein 
Blick immer aus anderen Tiefen hervorbrechen, das menschliche Maß, die kühle 
Ruhe, der gelassene Blick werden dir fehlen, jede Zeit, die nur an das Dies- 
seitige glauben kann, wird dich mißverstehen. Denn du bist unter einem anderen 


2 Brehm / Das Eigene 


Gesetz angetreten als die Künste der anderen Völker. Hoch im Norden wurden 
die kleinen, der spätrömischen Kunst entstammenden und die von den Völker- 
wanderungsstürmen aus den innerasiatischen Steppen hereingewehten Tier- 
gestalten zu neuen, oft winzigen Maschinen gleichenden Gestalten umgeformt, 
deren Wahrheit nicht die eines Spiegelbildes, sondern wie wir heute sagen 
würden, die einer Konstruktion und die eines Rhythmus ist. Diese Tiere der 
Gewandnadeln, der Halsringe, der Helme, Spangen, Schwertbánder und der 
wenigen in Holz erhaltenen Schnitzereien bewegen sich nicht aus sich selbst, 
sie springen nicht, sie jagen einander nicht nach, sondern sie werden von Kráf- 
ten durchflutet, zerlegt, zerrissen, zerkerbt und verschlungen. Was diese rátsel- 
haften Wesen einer Kunst, für die wir kein anderes Wort besitzen als ornamen- 
tale Kunst, zusammenhált, ist nicht die kórperliche Einheit ihres Tierleibes, 
sondern der strenge Rahmen, dessen hartes Gesetz das UbermaB an Kraft zu- 
sammenzuhalten bemüht ist. Drängt sich aber in der Wikingerzeit diese rätsel- 
hafte Kunst dichter an das Leben heran, dann sucht sie nicht dadurch wirklicher 
zu werden, daß sie die Gestalten der Natur, Tier, Mensch und Pflanze nachahmt, 
sondern daB sie, statt dem Zusammenhalt durch Verflechtung oder Rahmung zu 
vertrauen, mit Hánden und FüBen um sich greift und so ihren Halt sucht. Sie 
stellt also nicht Gestalten, sondern Kráfte dar, gleichgültig ist sie gegen das Bild, 
aufgeschlossen ist sie für das Tun. Nicht wie der Mensch, wie das Tier, wie die 
Pflanze aussehen, sondern was sie bewirken, geht sie an. Verborgen unter den 
Kráften bleiben die Bilder. 


Ob nun die Ritterrüstung den Edelmann, ob der heizbare Pilotenanzug den 
Flieger, ob das Unterseeboot die Besatzung ummanteln, ob Schnabelschuhe, 
Puffenärmel, geschlitzte Wämser, Visier und Harnisch, Perücken, Zópfe, Reif- 
rócke und Federhüte die Gestalt des Menschen vermummen und überkleiden, 
oder ob Krabben, Fialen, Schnecken, Muscheln und Rollwerk die Bauformen 
überwuchern, wie Wolkenschatten ziehen diese verhüllenden Formen über 
unsere Geschlechterreihen dahin, hier abdeckend, dort freigebend, von der Kunst 
auf das Leben, vom Leben auf die Kunst übergreifend und schließlich in die 
groBe Gegenwelt, in die alles umformende Technik einmündend. Wie einstmals 
die Edelsteine im Geschlinge der Bandgeflechte aufleuchteten und dem Auge den 
Weg durch das Dickicht der Formen wiesen, so blinken nun die Signallichter 
auf, wie einst das Geflecht ineinandergriff, so greifen nun Zahnráder ineinander, 
wie einst das unerfahrene Auge ratlos vor dem scheinbaren Gewirr der Orna- 
mente war, so staunen wir heute das verschlungene Leitwerk in der Kanzel 
eines Flugzeuges an. Klein, wie einst die frommen Beter in den dunklen Domen 
mit den im Lichte aufglühenden Fenstern, stehen heute von Feuern überflammt 
in ihren schlichten blauen Kitteln die Monteure zwischen den gewaltigen Hoch- 
öfen. So wie einst die Beine der Ornamenttiere eingesetzt waren, so sind heute 
die Kolben der Maschinen eingelagert. Immer wirst du in unserer Welt stehen, 
auch wenn sie sich scheinbar gewandelt hat, in einer Welt des Grauens, wenn 
du sie mit dem ruhigen Blick des Griechen siehst, in einer Welt der Unruhe, des 
Angetriebenseins, in der dich die heute entfesselten Kräfte anbrüllen und dir mit 
Vernichtung drohen. Denn von allem Anbeginn an drängt diese Kunst, drängt 
unser Wesen, das sie verkórpert, über das Menschliche hinaus, in das Himm- 
lische oder in das Hóllische. Und weil die seit jeher mit so hohen und so dunk- 
len Máchten verschwisterte Kunst nicht das Leben und die Schónheit abspiegelt, 
droht ihr die Gefahr, bei geänderter Zeit, beim Wechsel der Träume zu unent- 


f 


Brehm / Das Eigene 3 


wirrbaren Fratzen zu erstarren. Das Bild des nackten oder des von schön- 
fließenden Gewändern verhüllten Menschen aber bleibt zu allen Zeiten ver- 
ständlich, es ist überschaubar wie das steinerne Haus des griechischen Tempels, 
der nie so schwer und dunkel wie ein nordischer Dom droht, in dessen Gewände 
Engel und Ungeheuer nisten wie die Vögel im Geäst eines Riesenbaumes. Wir 
sind ungerecht gegen unsere Kunst, wenn wir sie mit dem Maßstab des Südens 
messen wollen oder wenn wir das, was seit jeher ihr Eigenstes war und was in 
hundert Verwandlungen immer wiederkehrt, als eine Abirrung ansehen. Tun 
wir das, dann müssen wir uns eingestehen, daß wir seit jeher auf Irrwegen ge- 
wandelt sind; denn unser Wesen, wie es sich in unserer Kunst und in allen 
Werken unseres Hirnes, unseres Herzens und unserer Hände widerspiegelt, ist 
im Grunde immer das gleiche geblieben. 


Es war zu Venedig; ich hatte die großen Gemälde Tintorettos und Veroneses 
bestaunt, in denen sich die verklungene Größe der Stadt unvergänglich rühmt: 
die Weite des Meeres flutet durch diese Bilder, Diesseitiges und Jenseitiges war 
innig verwoben, das Rühmen auf den Bildern schien kein Ende nehmen zu 
wollen. Mein Weg führte mich durch ein kleines Kämmerchen, in dem, gegen 
die großen Gemälde der Venezianer gehalten, einige winzige Tafeln des Nieder- 
länders Hieronymus Bosch hingen. Es war, als hätte man die Unendlichkeit in 
kleine Fingerhüte gepreßt. Höllenfeuer flammten auf, Felsenzacken stachen 
dunkel in den brandroten Himmel, spitzes Geäst zackte gegen die gefährliche 
Glut, Fabeltiere und Fabelmaschinen bedrohten die Menschen. Da sanken die 
weiten Säle und die festlichen Räume der venezianischen Meister in Nichts zu- 
sammen vor der Tiefe dieser Bildchen. Bei einem Fliegerangriff im Westen mußte 
ich an die Bilder des Hieronymus Bosch denken, als allenthalben die. Leucht- 
stábe aufflammten, als die Scheinwerfer über den Himmel tasteten und die 
grellen Lichter der Leuchtschirme sich niedersenkten. Wie gleichen seine Fisch- 
ungeheuer den fliegenden Festungen, wie ähneln seine vermummten Gestalten 
unseren für diese großen, luftdünnen Höhen eingehüllten Fliegern! 


Als ich ein paar Tage später mit jener Wehmut des Abschiednehmens, mit der 
wir in dieser Zeit so vieles, was uns lieb ist, betrachten, in die abendstille Peters- 
kirche auf dem Graben in Wien eintrat, da sah ich im matten Licht die vielen 
schwebenden Engel, die sich wie Schmetterlinge auf den Blumen, auf den Ge- 
simsen der Altäre niederließen, da hörte ich beinahe das Rauschen der Engels- 
flügel. Mir kam in den Sinn, daß die Genien und die Engel, die Heiligen und 
die Heroen in Kirchen und in Schlössern auf den großen Deckenbildern zur 
selben Stunde das Fliegen verlernt hatten, da sich der Mensch selbst im ersten 
Luftballon zu den Wolken erhob. Und da in keiner Kunst als in der des Abend- 
landes so viel geflogen und geschwebt worden ist, haben die geflügelten Wesen 
die veránderte Zeit nicht gleich wahrhaben wollen, sie haben es noch ein paar 
Jahrzehnte versucht, aber sie haben es doch nicht mehr zusammengebracht. 

Wie eine ferne Brandung scháumte das goldene überquellende Zierwerk mit 
seinen Wellenspritzern über die ruhig ausschwingenden Gesimse, das Rauschen 
der unsichtbaren Wellen setzte sich in den aufflatternden Gewändern fort, und 
in diese Stille hinein, in die man sich ein tróstendes, leises Spiel der Orgel er- 
sehnt hátte, knatterte das Motorengeráusch eines Fliegers. So sind die Tráume 
vom Fliegen und so ist die verwandelte Wirklichkeit, so sind die gemalten 
Bránde und so ist das Feuer, das vom Himmel fállt und durch die Náchte dieses 
Krieges leuchtet. 


2 Brehm / Das Eigene 


Gesetz angetreten als die Künste der anderen Völker. Hoch im Norden wurden 
die kleinen, der spätrömischen Kunst entstammenden und die von den Völker- 
wanderungsstürmen aus den innerasiatischen Steppen hereingewehten Tier- 
gestalten zu neuen, oft winzigen Maschinen gleichenden Gestalten umgeformt, 
deren Wahrheit nicht die eines Spiegelbildes, sondern wie wir heute sagen 
würden, die einer Konstruktion und die eines Rhythmus ist. Diese Tiere der 
Gewandnadeln, der Halsringe, der Helme, Spangen, Schwertbánder und der 
wenigen in Holz erhaltenen Schnitzereien bewegen sich nicht aus sich selbst, 
sie springen nicht, sie jagen einander nicht nach, sondern sie werden von Kräf- 
ten durchflutet, zerlegt, zerrissen, zerkerbt und verschlungen. Was diese rätsel- 
haften Wesen einer Kunst, für die wir kein anderes Wort besitzen als ornamen- 
tale Kunst, zusammenhält, ist nicht die körperliche Einheit ihres Tierleibes, 
sondern der strenge Rahmen, dessen hartes Gesetz das UbermaB an Kraft zu- 
sammenzuhalten bemüht ist. Drängt sich aber in der Wikingerzeit diese rätsel- 
hafte Kunst dichter an das Leben heran, dann sucht sie nicht dadurch wirklicher 

zu werden, daß sie die Gestalten der Natur, Tier, Mensch und Pflanze nachahmt, 
sondern daß sie, statt dem Zusammenhalt durch Verflechtung oder Rahmung zu 
vertrauen, mit Händen und Füßen um sich greift und so ihren Halt sucht. Sie 
stellt also nicht Gestalten, sondern Kräfte dar, gleichgültig ist sie gegen das Bild 
aufgeschlossen ist sie für das Tun. Nicht wie der Mensch, wie das Tier, wie d: 
Pflanze aussehen, sondern was sie bewirken, geht sie an. Verborgen unter c 
Kráften bleiben die Bilder. 


Ob nun die Ritterrüstung den Edelmann, ob der heizbare Pilotenanzuc 
Flieger, ob das Unterseeboot die Besatzung ummanteln, ob Schnabels 
Puffenärmel, geschlitzte Wämser, Visier und Harnisch, Perücken, Zöpfe 
rócke und Federhüte die Gestalt des Menschen vermummen und über 
oder ob Krabben, Fialen, Schnecken, Muscheln und Rollwerk die B 
überwuchern, wie Wolkenschatten ziehen diese verhüllenden Fo: 
unsere Geschlechterreihen dahin, hier abdeckend, dort freigebend, vo 
auf das Leben, vom Leben auf die Kunst übergreifend und schli- 
große Gegenwelt, in die alles umformende Technik einmündend. "V 
die Edelsteine im Geschlinge der Bandgeflechte aufleuchteten und . 

Weg durch das Dickicht der Formen wiesen, so blinken nun 
auf, wie einst das Geflecht ineinandergriff, so greifen nun Zahn: 
wie einst das unerfahrene Auge ratlos vor dem scheinbaren 
mente war, so staunen wir heute das verschlungene Leitw 
eines Flugzeuges an. Klein, wie einst die frommen Beter in : 
mit den im Lichte aufglühenden Fenstern, stehen heute vo 

in ihren schlichten blauen Kitteln die Monteure zwischen 
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die Kolben der Maschinen eingelagert. Immer wirst du 

auch wenn sie sich scheinbar gewandelt hat, in einer ` 

du sie mit dem ruhigen Blick des Griechen siehst, in 
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4 Brehm / Das Eigene 


In den Uffizien von Florenz stand ich lange vor dem Rundbild der Madonna 
des Michelangelo, das die Mutter Gottes als große, über die Schultern nach rück- 
wärts greifende Riesin darstellt, der Josef den Christusknaben reicht. Hinter 
dieser so bewegten und doch so geschlossenen Gruppe lungern, durch nichts mit 
den heiligen Gestalten vorne verbunden, im hellen Lichte eines Frühlingstages, 
als hielten sie in einem griechischen Gymnasium Rast von Leibesübungen, 
schöne nackte Jünglinge. Endlich hatte ich ein Werk dieses Großen dicht vor 
mir, dessen Fresken in der Sixtina unerreichbar wie Wolken über uns schweben; 
nun sah ich, wie groß und streng er auch im kleinen war, wie kühn er Christ- 
liches und Griechisches nebeneinander stellte, ohne die innere Ordnung des 
Bildes zu gefährden. In Michelangelos Nähe verstummen die andern Bilder, 
selost die holden Gestalten Botticellis erstarrten, als hielten sie mitten im schwe- 
benden Schritte inne. Befangen ging ich weiter und sah mich im nächsten 
Augenblicke einem Gemälde gegenüber, das ich wohl von Nachbildungen her 
gekannt, von dem ich aber nie geahnt hatte, daß es mich so in seinen Bann 
ziehen werde. Es war der Portinari-Altar, den der flandrische Meister Hugo 
van der Goes im Jahre 1467 zu Brügge im Auftrag des Medici-Vertreters gemalt. 
Sein Mittelstück stellt die Anbetung der Hirten, seine Seitenstücke, je zwei 
männliche und zwei weibliche Heilige mit der Familie des Stifters dar. Das an 
und für sich große, zweieinhalb Meter breite, zwei Meter hohe Bild schien mir 
noch weit größer zu sein. Meine Bezauberung mag von der Farbe ausgegangen 
sein. Ob es das geheiligte Blau des Gewandes der Gottesmutter war, das sich 
in so vielen Tönungen durch das ganze Bild zog, ob es die goldene Garbe oder 
die rührenden Blumen in den Gläsern vorne zwischen den anbetenden Engeln 
waren, die innige Verzückung der Gesichter, das fromme Beten der knienden 
Engel, ich weiß es nicht. Der Anruf des Eigenen läßt sich nicht zer- 
gliedern, er ist Wohllaut und Geheimnis, er läßt das Fremde auf 
einmal wirklich anders und er läßt das Eigene wie seit je ver- 
traut erscheinen. Die Körperschönheit, die Kraft, die Kühnheit Michel- 
angelos waren vergessen, die Zartheit Botticellis schmolz wie Schnee dahin vor 
diesen starken Farben des flandrischen Meisters, das Unwirkliche der Engel 
schien mir weit wirklicher als die nackten Jünglinge des Michelangelo, aus allen 
Gesichtern des Niederländers rief es mich, aus allen Falten rauschte es mir ent- 
gegen: das sind wir! So innig ist unsere Sprache, so hold träumen wir, wenn 
wir Ruhe finden, so haben wir von unseren farbigen Fenstern die starken Farben 
gelernt. 


Ich weiß nicht, wie ich dieses tiefe Glück schildern soll. Es ist, als wäre man 
nach langer Abwesenheit wieder heimgekommen und finde nun alles genau so 
wieder, wie man immer davon geträumt.“ Alles, was auf solch einem Bild ge- 
schieht, jede Bewegung eines Gesichtes, jedes Lácheln, jede Falte, jedes Gras 
ist einem vertraut, wenn man das Bild auch noch nie gesehen hat. Und wie vor 
dem Bilde des van der Goes stand ich bald darauf vor dem des Memling: ich 
hórte den verschwebenden Harfenklang, da die beiden Engel zu FüBen des 
Thrones der Gottesmutter ihr Spiel unterbrochen hatten, damit der eine dieser 
himmlischen Musikanten dem Christuskind einen Apfel reichen kónne. Vor das 
Bild von Dürers Vater trat ich, als tráte ich vor den eigenen Vater, die Bilder 
des Rubens verstand ich auf einmal ganz anders, mitten in Italien war ich nun 
vom Eigensten umgeben, und ich liebte es auf einmal. wie ich es noch nie ge- 
liebt. Unsere Welt! Unsere Gesichter! 


H. Schachinger: 
Schulbub 
Große Deutsche 


Kunstausstellung 
München 1943 


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Tilmann Riemenschneide 


Brehm / Das Eigene 5 


Bin ich vielleicht ungerecht gegen die großen Italiener? Laßt mich doch un- 
gerecht sein, laßt mich sagen, daß mir die Goes, die Memling, die Eyck mehr 
bedeuten als die Raphael und die Michelangelo! Es sind so viele gegen unsere 
Kunst ungerecht, daß es wirklich nichts ausmacht, wenn ich sie mehr liebe als 
alles. Wir sollen, wir dürfen nicht vergleichen! Vergleichen wir das strenge 
Innere italienischer Kirchen mit unseren durchseelten Räumen, wir müßten 
sagen, uns friere bei den Italienern, sie enthielten nichts von dem, was wir in 
einem Gotteshaus suchen nicht unseren Jubel, nicht unseren Schmerz und vor 
allem nicht den ewigen Flügelschlag unserer Sehnsucht. 


Die Germanenkópfe der Trajans- und der Markussáulen und all die vielen 
Germanendarstellungen der vatikanischen Sammlungen sind ja auch nicht schón 
im klassischen Sinn, eine so junge, so barbarische Heftigkeit spricht aus ihnen, 
die auch den rómischen Bildhauern nicht entgangen war. Nicht anders als einst 
die Kelten oder die Germanen standen nach der Einnahme Athens unsere Alpen- 
jäger auf den Stufen der Akropolis und spähten, mit schweren Nagelschuhen 
die hohen Stufen nehmend, unter gebráunten Hánden nach den fernen schnee- 
bedeckten Hóhen, über deren Pásse sie hierhergezogen. Schón wie die Griechen 
waren unsere Jäger nicht, aber sie hätten ihre Brüder unter den Köpfen der ge- 
fangenen Germanen in den rómischen Sammlungen finden kónnen. 


Was zwingt uns denn auch, den MaBstab fremder Schónheit an unsere Kunst 
zu legen? Dürers Melancholie ist die Schwester jener trauernden gefangenen 
Germanenfrauen auf den römischen Siegesdenkmälern, ihre Trauer ist die 
gleiche, die über der Stirn jener ins Unglück geratenen und gefangenen Germa- 
ninnen liegt. Die Zeichnung von Dürers Mutter ist weit entfernt von irgend- 
welcher Schónheit, sie ist so háBlich, wie das Alter einen Menschen háBlich 
machen und ausmergeln kann. Aber es ist die Mutter, der Sohn hat sie gezeich- 
net, und der große Sohn stößt mit dieser Zeichnung bis auf den Grund des 
Lebens, bis zum geheimnisvollen Welken und Sterben durch. | 


Die Bilder des Louvre in Paris waren zu dicht gehängt; wie in einer Vogel- 
handlung flirrte und trillerte es durcheinander. Lange verweilte ich vor den 
Gemälden Leonardos, das Geheimnisvolle der Madonna in der Grotte ergriff 
mich, von der Mona Lisa konnte ich mich lange nicht trennen; ihr Lächeln war 
mir die entfaltete Blüte, deren Knospen die lächelnden klugen Jungfrauen von 
den Portalen französischer Kathedralen sind. Das Neue erhält nur deshalb 
solchen Bestand, weil es alt und durch viele Geschlechter vorbereitet ist. Eigent- 
lich wollte ich nach diesen beiden Bildern nichts mehr ansehen, gedankenver- 
loren ging ich weiter, bis mich ein Bild nicht weiterließ: Der barmherzige Sama- 
riter von Rembrandt. In der Ruhe des Bildes versank alles wie in einem braunen 
See. Das spáte Abendlicht wármte auch meine Wange, auch ich stellte mich auf 
die Fußspitzen und blickte mit dem Knaben über den Rücken des Reittieres auf 
den andern Burschen, der mit dem zweiten Knaben den von den Ráubern so übel 
zugerichteten Wanderer zu der Herbergstreppe trágt, von deren Stufen der 
barmherzige Samariter nach dem Geretteten blickt. Neben der Hauswand stehen 
die Pferde, aus einem Fenster sehen drei von dem sinkenden Licht der Sonne 
überhauchte Kópfe. Auch wir blicken mit abendschweren Augen in dieses Bild, 
das mit seiner goldglánzenden Stille weit fort ist von der Kunst des Südens, der 
es sich durch die fast reliefartige Anordnung seiner Gestalten náhert. Es ist so, 
als lóse dieses Bild in einem ganz andern Sinne noch einmal die Frage des 


6 Brehm / Das Eigene 


Gleichnisses vom barmherzigen Samariter: wer denn der Nächste sei. Die großen 
Werke, die das Letzte aussagen, sind auf der ganzen Welt einander die nächsten. 
Auch dieses Bild Rembrandts steht am Ende einer langen Reihe, oft hat sich der 
Meister mit diesem Stoff auseinandergesetzt, immer wieder hat er die einzelnen 
Gestalten verschoben, er hat das Licht des Tages, er hat den ruhelosen Flacker- 
schein der Fackeln des Nachts versucht, er hat die Gruppen schräg in die Tiefe 
gestellt und er war zum Schluß zu einer so einfachen und klaren Anordnung 
gekommen, wie sie eine italienische Grablegung etwa*zeigt. Nun scheint alles 
so einfach, als könnte es nicht anders sein. Aber das Einfache ruht immer in der 
Tiefe verborgen, ein ganzes schweres, duldendes Leben gehört dazu, um es zu 
finden und zu heben. Nun ist es aber so klar und so schlicht geworden, nun 
beglückt es so, wie wenn man an den Säulen des Parthenon feststellt, daß ihre 
Hohlstreifen gerade die Schulterbreite eines Mannes haben oder wie wenn man 
sieht, wie durch das sanfte Geriesel griechischer Gewänder der schöne Mensch 
durchscheint wie die aufgehende Sonne durch leichtes und flaumiges Gewölk. 
Und auch du begreifst dieses Gleichnis, wer der Nächste ist, da du nur das ver- 
stehen kannst, was du liebst. 


Nun siehst du auch, wie die Felsen der Madonna in der Grotte des Leonardo 
jenen gotischen Baldachinen gleichen, unter denen in unseren Domen die Mutter 
Gottes thront, nun siehst du, wie sich die alten Formen der Kunst in die neuen 
der Natur verwandelt haben, nun weißt du, daß es unser Licht ist, das die blauen 
Berge hinter der Mona Lisa durchleuchtet, und alles, was getrennt nach Nord 
und Süd schien, findet sich auf den großen Werken vereint und voneinander 
durchdrungen wieder. Habe ich nicht auch, als ich zum ersten Male nach Ober- 
italien kam, immer wieder an Shakespeare denken müssen, habe ich bei klugen 
Mädchengesichtern nicht immer wieder an Porzia, bei schönen Jünglingen an 
Romeo gedacht, habe ich nicht mit seinen Augen das Land geschaut? Nie hat 
sich, schien es mir, dieses Land selbst so dargestellt, wie es der große Dichter 
aus dem Norden auf die Bühne gebracht hat. 


Die Künste gehen nur aneinander vorbei, wenn sie nicht die letzten Höhen 
erreichen, sie sind einander feind, wenn Größeres mit Kleinerem der anderen 
Kunst zusammenstößt. Ich erfuhr es mit schmerzlicher Deutlichkeit im Rathaus 
zu Amsterdam, das van Campen im Stile Palladios erbaut hat. Rembrandt hatte 
für den großen Saal ein Bild zu liefern: Das Gastmahl des Claudius Civilis, bei 
dem es zum Schwur auf das Schwert der batavischen Verschwörer im Kampf 
gegen die Römer kommt. Es war, dem Ausmaß nach, ein großes Bild, es hätte 
in seinen Goldfarben in dem weißen Saal wie eine Sonne über einem Schneefeld 
gewirkt, es ist ein Bild von der Heftigkeit und Wucht Hamlets, und deshalb 
hatten es die allzu kühlen Ratsherren abgelehnt, weil es ihnen wohl zu wild und 
zu barbarisch schien. Heute hängt das Mittelstück des zerschnittenen Bildes in 
Stockholm. Wäre es uns unverstümmelt erhalten geblieben, wir hätten es getrost 
neben die Fresken Michelangelos in der Sixtina stellen können. Man bedenke 
doch: einmal wird auf ein Schwert geschworen, treu zu uns selbst zu stehen, 
dieser Schwur gegen Rom wird in wildglühenden Farben gemalt, und dieses Bild 
wird dann von jenen Menschen zerschnitten und verkauft, deren Land selbst so- 
lange diesen Kampf geführt hat. Es scheint zuviel Glut in unserer Kunst zu sein, 
die immer wieder in selbstvernichtenden Flammen auflodert. Aber wenn wir 
dies nicht begreifen, wer soll es denn verstehen? Unsere Kunst wirkt im Süden 
kalt, unlebendig und starr wie das zerklüftete Marmorgebirge des Mailánder 


Brehm / Das Eigene 7 


Domes. Wir verstehen es, wenn der Italiener Filarete im fünfzehnten Jahr- 
hundert ausrief: „Verflucht, wer diese Pfuscherei erfand! Ich glaube, nur Bar- 
barenvolk konnte sie nach Italien bringen!“ 


Nur in der Fremde lernst du das Eigene kennen: Auf der Fahrt nach der an 
der ägyptischen Grenze gelegenen Oase Siwa sahen wir am Rande der grellen 
gelben Wüste im rótlichen Abendlicht gewaltige Pyramiden aufsteigen. Erst 
beim Näherkommen erkannten wir, daß wir hier keine Gebilde von Menschen- 
hand, sondern gewaltige pyramidenfórmige Felsenformen vor uns hatten, nach 
deren Vorbild wohl einst die gewaltigen Steinmassen der Königsgräber am 
Rande der Nilebene aufgetürmt worden waren. Muß nicht auch, dachte ich mir, 
einem vom Nil zu uns kommenden Mann das Rippenwerk und die Pfeiler, die 
Kreuzrosen und die Kapitele unserer Dome wie ein versteinerter Wald er- 
scheinen? Muß einem solchen Mann nicht der Anblick unserer großen gotischen 
Flügelaltäre wie das Wachsen von Himmelsbäumen erscheinen, ob dies nun ein 
Goldbaum ist wie der zu St. Wolfgang oder ein brauner Waldbaum wie der zu 
Kefermarkt, muß er nicht meinen, diese Bäume, wie der Krakauer, könnten 
weiterwachsen und das steinerne Gehäuse der Kirchen sprengen? Ist nicht dieses 
Braun des Holzes, sieht es ein solcher Mann aus der Fremde, an unseren Geigen 
eines Symphonie-Orchesters, so, als töne aus ihm die Stimme unserer Wälder? 
Ist nicht dieses Braun unserer Felder vor dem Aüfgehen der Saat wie alle Sehn- 
sucht nach dem Wohlklang der Welt? Die Kirche des Klosters von St. Florian 
bei Linz ist im italienischen Barock erbaut, ihre Gesimse sind klar, hart und 
schwer, ihre Farben sind kühl. Wir können das ja oft genug beobachten, wo 
Italiener bei uns im Barock unsere Kirchen umgebaut haben, ob in Passau, in 
Würzburg oder in Hildesheim: sie sind dem eigentlichen Wesen unserer Kunst 
fremd, ja feindlich, sie zerstören durch Vernunft und Klarheit etwas, dem man 
durch Vernunft und Klarheit eben nicht beikommen kann. Schmerzt den 
Italiener in seinem Lande unsere Form, so empfinde ich die seine bei uns nicht 
weniger hart und fremd, seine Girlanden hängen so schwer, seine Pfeiler stoßen 
so hart in die Höhe. Aber in St. Florian haben die Söhne der oberösterreichischen 
Bauern, die Vettern der stolzen Bauernäbte, in dieser kühlen Kirche das Chor- 
gestühl geschnitzt, das geigenbraune, das stolzgeschwungene, das sich wie 
Segel im Winde bläht, das von einem wärmeren Atem durchhaucht ist, das von 
Orgeltönen vollgesogen und aufgequollen scheint, und dieses Chorgestühl wärmt 
den kühlen Raum, es spricht in der gleichen Sprache zu dir wie die so anmutig 
geschwungene Treppe des Stiegenhauses oder der rótlichbraune festliche Kaiser- 
saal des Klosters, die von Prandauer, dem großen deutschen Meister, sind. 


In der Mitte von Mainz steht sein gewaltiger Dom. Auch nach ihm hatten die 
Flammen gegriffen, sein Inneres ist fast ganz ausgeräumt, der Weihrauchduft 
war dem Brandgeruch gewichen. Aber im Chor stand noch das braune gewaltige 
Gestühl, das schóngeschwungene, reichgezierte, und ich mußte es streicheln, 
wie ich vor vielen Jahren die kleinen blonden Kinder gestreichelt habe, die wir 
bei unserem Einmarsch in Italien antrafen und die uns erinnerten, daß hier ein- 
mal Langobarden geherrscht. 


Wir waren durch die kahlen Berge Albaniens gezogen, durch steiniges, von 
dem hüllenden Mantel der guten Erde entblößtes Land. Wir waren aus Griechen- 
land gekommen, wir hatten gesehen, wie die Vernichtung des Waldes das Ge- 
sicht des Landes entstellt. Nur im Innern des Landes, wo weder Türken noch 
Venezianer das Holz fortführen konnten, weil es zu weit von den Häfen war, 


8 Brehm / Das Eigene 


haben sich helle Laubwälder wie in Thüringen erhalten. Nun saßen wir, müde 
von Märschen und Bildern, gereinigt vom Staub und gesättigt, in dem fast leeren 
Zimmer eines mohammedanischen Schneiders nahe dem Boden auf der weiß- 
überzogenen Polsterbank, tranken schwarzen Kaffee und drehten gedankenlos 
an dem Rundfunkapparat herum, den unser wohlhabender Quartierwirt erst kurz 
vor dem Krieg gekauft, und der sich in der Leere dieses islamischen Wohn- 
raumes ganz seltsam ausnahm. Da rauschte es mit einem Male auf, als ziehe das 
Brausen und Sausen der so lange nicht mehr geschauten Wälder über uns hin; 
wir hatten zufällig Beethovens Neunte eingestellt, wir ließen die Hände sinken, 
wir wagten uns nicht ins Gesicht zu sehen, sonst wären uns die Tränen ge- 
kömmen. Ob Freund oder Feind die Sinfonie sendeten, weiß ich nicht, sie 
schwebte ja, an keine Sprache gebunden als an die innerste, jenseits dieser 
irdischen Begriffe. Unser albanischer Gastwirt war leise eingetreten und hatte 
sich neben uns hingehockt. Er sah uns forschend an, aber ich glaube nicht, daß 
er sich in unsern Gesichtern besser auskannte als in der Musik. Wir nickten 
ihm kurz zu, als wollten wir sagen: schon gut, wir sind hier bei dir und doch 
nicht, und sahen dann durch das niedere Fenster über ein altersbraunes Ziegel- 
dach, hinter dem, zwischen leicht schwankenden Zypressenwipfeln, ein schlankes 
weißes Minarett in den dunkelblauen Himmel ragte. Ich mußte an die unerlöste, 
an die gleichsam körperwarme und ausweglose, immer wieder in sich zurück- 
fallende Musik des Ostens denken, während diese gewaltigen Kräfte über uns 
hinbrausten. Ich sollte dem Meister noch einmal begegnen, und er konnte mich 
trösten, wie mich kein Wort getröstet hätte: 

Wir lagerten in der Nähe des Arco de Filine, an der Grenze von Tunis und 
Tripolis. Die Mondnacht war klar und kühl. Von der schwarzen Asphaltstraße 
zwischen Küste und Wüste drang Räderrollen herüber, dazwischen klirrten 
Raupenketten. Das war tröstlich zu hören. Noch immer fuhren also einzelne 
Panzer der achten englischen Armee entgegen, um unseren Rückzug zu decken. 
Zwei Wochen vorher waren die Engländer und die Amerikaner in Algier ge- 
landet. Dunkel und ungewiß wie das niedere Buschwerk in den hellen Dünen 
lag die nächste Zukunft vor uns. Wir hatten uns bei dem Rückmarsch, ehe in 
Bengasi die Magazine in Brand gesteckt wurden, mit Wein versorgt. Mit hoch- 
geschlagenem Mantelkragen traten wir hin und wieder vor das Zelt und lausch- 
ten nach den feindlichen Fliegern. Nichts! Nur das Meer rauschte. Allmählich 
verstummte drüben auch der Lärm der Straßen, die Fahrzeuge bogen wohl rechts 
und links ab und gingen zur Ruhe über. Scharf gegen den Himmel stand der 
hohe Triumphbogen von Filine. Dort war der Flugplatz unserer Jäger, aber auch 
dort blieb es still. Gebückt traten wir wieder ins Zelt, tranken weiter und hörten 
den Abendbericht des Rundfunks. Viel hatten wir dazu nicht zu sagen. Wie es 
bei uns stand, wußten wir. Wir hörten nur mit halbem Ohr hin. Da dröhnten 
aus der Ferne die ersten Bombeneinschläge. Die Flak bellte die Antwort. Wir 
traten vor das Zelt. Der Platz der Jagdflieger beim Arco de Filine lag im grellen 
Licht der Leuchtschirme, die Leuchtspurmunition flammte gegen den Himmel 
mit ihren hellen Ketten. Dunkel ragten die Zelte mit ihren Maskierungen aus 
Strauchwerk zwischen den hellen Dünen auf. Uber dem Meer draußen hörten 
wir das Rumoren feindlicher, gegen Osten ziehender Flieger. Uns hier schenkte 
niemand ein paar Bomben, es lag wohl zuviel in den Dünen verstreut, als daß 
es dem Feind dafürgestanden wäre. Als wir wieder in das Zelt zurücktraten, 
ertönte uns aus dem Rundfunk das Violinkonzert von Beethoven entgegen. Wie 
ein dunkler Engel stand dieser Mann mit seinem Bogen mitten unter uns im 
Zelt, und es war, als quelle aus seiner Dunkelheit ein Licht, das ganz anders 
blendete als die Leuchtschirme der englischen Flieger. 


Brehm / Das Eigene 9 


Im Sommer 1919 hatte ich in einem schwedischen Hafen einige amerikanische 
Torpedoboote gesehen, die Matrosen waren ein häßliches Gemisch aus Gelben 
und Schwarzen, sie lärmten und waren betrunken, und der wachhabende Offizier 
mit dem roten Bart, der ihnen mit den Händen in den Hosentaschen untätig zu- 
sah, nahm sich nicht anders aus als ein Sklavenhändler aus Onkel Toms Hütte. 
Ich hatte Fieber an diesem Tag, und bei diesem Anblick wurde mir ganz elend 
zumute; ich schämte mich, daß sich diese Leute als Sieger über uns fühlen und 
in dieser ruhigen Stadt betrunken lärmen und schreien durften. Abends ging ich 
in ein Konzert. Ich hörte nicht viel von Cesar Frank und von Sybelius, das alles 
ging an mir vorüber. Der Kopf schmerzte mich, ich wollte schon nach Hause 
gehen, da sah ich, daß zum Schlusse noch Haydns Kaiserquartett gespielt wer- 
den sollte. Wie oft hatte ich es schon gehört! Ja, ich hatte einmal als Gym- 
nasiast bei einem Schulfest meinem Feind das Cello eingefettet, damit er nicht 
spielen könne. Aber es kommt immer auf die Stunde an, in der du erreicht wirst. 
Wie tief es mich mitten ins Herz traf, vermag ich nicht zu sagen. Ich fühlte, 
was wir verloren, ich ahnte, was zugrunde gegangen war. Das uns heilige Lied 
wurde in seiner ganzen Weihe entfaltet, seine verborgenste Schönheit enthüllte 
sich, tauchte aus den Variationen auf, kehrte gewandelt wieder, die Hand hätte 
ich ausstrecken und rufen mögen: Ach bleibe, bleibe! Du tröstest mich, du 
machst mich glücklich, ich weine ja nur, weil ich weiß, wohin ich gehöre! Und 
das wiederkehrende Lied gab zur Antwort: Diese betrunkenen grüngelben 
Matrosen auf den schmierigen Schiffen in dem Hafen draußen sind ja nicht 
wirklich, das sind Gespenster. Wirklich bin ich, geblieben bin ich. Die Kaiser 
sind nicht mehr, die Kronen sind nicht mehr, der Staat ist zerfallen, aber, hörst 
du mich an, dann weißt du, was ihn einst zusammengehalten hat und was nie 
untergehen kann, weil ich nicht von dieser Welt bin, und wenn du an mich 
glaubst, dann wirst du nicht verlassen sein. 


Es war im griechischen Feldzug, am Abend vor dem Angriff auf die Thermo- 
pylen. Unter uns lag die vom Anhauch des frühen griechischen Sommers über- 
goldete Ebene. Im Osten schimmerte das hier zum erstenmal erblickte Meer 
auf, das aus dem tälerreichen Gebirgsland das weltoffene Griechenland macht. 
Aus der Tiefe des Kessels klirrten die vormarschierenden Panzer herauf. Hoch 
oben, in der letzten Gasse der den Hang hinankletternden Stadt Lamia saßen 
wir auf einer Terrasse und sprachen darüber, ob es uns gelingen werde, die 
zurückgehenden Engländer doch noch zu stellen. Die Dämmerung kam rasch. 
Drüben, an der neuen über die südliche Wand des weiten Kessels führenden 
Paßstraße blitzten durch den Schleier der Dämmerung die Sprengungen der Eng- 
länder auf. Woher der junge Leutnant aus dem Rheinland (er ist zu Beginn des 
russischen Feldzuges gefallen) auf einmal die beiden Flaschen Johannisberger 
hatte, weiß ich nicht. Er habe sie für die Feier des Einmarsches in Athen mit- 
genommen, sagte er, als er den Rheinwein auf den Tisch stellte, aber nun, da 
wir das Meer zum erstenmal sahen, sei dies Grund genug, schon jetzt den Wein 
zu trinken. Die griechischen Weine seien nicht das Richtige für uns, sie werden, 
um sie vor zu rascher Gárung zu schützen, geharzt, sie schmeckten dann so 
scharf, wie ja auch das dunkle Haar der Frauen zu scharf rieche. Der Leutnant 
schenkte behutsam die Gläser voll, wir hoben sie, blickten einander an und 
tranken. Es geschah uns da etwas ganz Seltsames. Wir schmeckten nicht nur 
den guten Wein auf der Zunge, uns wurde so leicht und so frei, der Wein löste 
etwas in uns, das uns flaumzart und unaussprechlich heiter und lieblich schien. 
Wir tranken das Blonde der Frauen und das duftige Gelock über éinem zarten 
Kindernacken, wir tranken das lichte Laub der Buchenwálder und die Wolken- 


10 e Brehm / Das Eigene 


schatten über windbewegten Blumenwiesen, wir schmeckten Apfelblüten und 
frische Nüsse, wir atmeten duftendes Heu und blühende Linden, wir tranken 
das heilige Vaterland selbst und lösten die Lippen von dem Glasrand wie aus 
einem Kuß. 

Wir setzten die Gläser ab und umschlossen sie mit beiden Händen, als hätten 
wir eine zarte Flamme vor dem kalten Anhauch der Nacht zu schützen. 


Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Wipfel des Hains auf, 
Sieh! und das Ebenbild unserer Erde, der Mond, 

Kommet nun auch, die Schwärmerische, die Nacht kommt, 

Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns 

Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen 
Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf. a 


Dumpf hallte von der Südwand des Kelles eine Sprengung herüber. Von der 
alten ThermopylenstraBe zwischen dem dunklen Gebirge und dem mond- 
schimmernden Meer fingerte bleich ein kleiner Scheinwerfer unsere Vormarsch- 
straße ab. Fledermäuse schwirrten an uns so vorbei, wie am Tage die Schwalben 
vorübergeflitzt waren. 


Ich mußte des großen, dicht an der mazedonischen Grenze gefallenen Kana- 
diers gedenken, der vom Staube der zerfahrenen Straße gelblich gepudert, mit 
schönem Marmorgesicht und weitgeöffneten lichten Augen wie der geschleifte 
Hektor dagelegen war, während klein, dunkel und flink, gebückt unter den 
schweren Säcken, ängstlich nach allen Seiten spähend, die plündernden Griechen 
die Beute aus dem verlassenen englischen Lager geschleppt hatten. Im Vorbei- 
fahren hatte ich das mit einem Blick übersehen, schmerzlich war mir der Krieg 
zwischen den feindlichen Brüdern bewußt geworden, ein freundlicher Blick hatte 
den Toten gegrüßt. 


Im Frühling war's, im Garten von Sievering; die Wiesen waren noch fahl, die 
Knospen standen schon prall, die Trauerweide neben dem Tor war so hell, als 
tráufle das Licht des werdenden Jahres durch ihre hüngenden Zweige. Die 
Veilchen dufteten, die Himmelsschlüsseln leuchteten auf. Beim Stutzen der 
Büsche hatte mich ein solcher Eifer gepackt, daß ich in der Pause zwischen zwei 
Stráuchern genau so mit der Schere klapperte und plapperte, wie ich dies als 
Kind bei meinem Haarschneider bestaunt hatte. Zog ich abends den Rock aus, 
dann roch der gute alte von den vielen Feuerchen, an denen ich das alte Laub 
verbrannt, genau so schón nach Rauch wie die Kleider aus der Bubenzeit, wenn 
wir verbotenerweise im Vorfrühling das dürre Gras an den Bahndámmen ver- 
brannt oder, wie wir sagten, wenn wir gezündelt und gebrandelt hatten. 


Gegen Abend kam ein langer magerer Obergefreiter zu mir auf Besuch, er 
traf mich beim Feuerchenschüren neben dem im Winter umgestürzten Garten- 
zaun. Dem jungen Mann mochte mein Feuerchen zu klein, zu hinterlands- und 
friedensmáBig vorgekommen sein, er hob einige von den morschen Planken auf 
und legte sie behutsam über das kleine Feuerchen. Dann raufte er ein wenig 
dürres Gras aus, hockte sich zu mir und schob den Zunder unter die etwas 
feuchten Planken. „Zäune verheizen“, meinte er, selbstgefállig lächelnd, „das 
haben wir in Rußland gelernt." Ich sah den hochaufgeschossenen jungen Mann 
von der Seite an und nickte: „Ja, das lernt man schnell, wenn es kalt wird. Die 
Russen verstehen es noch besser, ich glaube, die kónnen fast den Schnee zum 
Brennen bringen." Der Obergefreite blies vorsichtig in die bläulich züngelnden 
kleinen Flammen: „Allmählich kommen wir auch dahinter.“ 


Brehm / Das Eigene 11 


Nun ist dieser Bub, den ich noch als kleinen Kerl gekannt habe, auch schon 
Soldat. Mir fielen die jungen Landser ein, die ich beim Quartiersuchen in den 
kleinen russischen Städtchen in den dämmerigen Zimmerchen mit den arm- 
seligen Zeitungspapiertapeten angetroffen. Sie waren dort schweigend bei den 
verhármten Frauen der „gewesenen Menschen" gesessen, während ihre Kame- 
raden mit den drallen Mádchen vor den Haustüren gescherzt hatten. Die blassen 
Frauen hatten nicht gesprochen und unsere jungen Burschen auch nicht. Die 
verhármten Frauen hatten wohl an lángst vergangene Zeiten gedacht und unsere 
Jungen mógen wohl für ein paar Stunden davon getráumt haben, daheim bei 
ihren Müttern zu sein. Ich hatte leise wieder die Tür geschlossen, wenn mich 
die Frauen erschrocken und die Landser hilflos angestarrt, beide wohl bangend, 
ich kónnte durch eine Frage den so zart gesponnenen Traum zerreiBen. 


Dieser junge Mann, der im Krieg seine Mutter verloren, hátte ganz gut auch 
bei einer fremden Frau in solch einem armseligen Zimmerchen sitzen kónnen, 
und hátten ihn die weniger empfindsamen Kameraden gefragt, was er dort getan, 
dann hátte er gesagt, er habe Eier kaufen oder ein wenig Russisch lernen wollen. 
Wieder rupfte der lange Obergefreite ein Büschel Gras aus und schob es in die 
nun schon helleren Flammen. Er war kurz vor dem Falle Stalingrads verwundet 
und mit einem Flugzeug aus dem feurigen Kessel gebracht worden. Nun blickte 
er dem steil aufsteigenden weiBen Rauch nach, und da er meinen Blick gespürt 
haben mochte, sagte er leise: ,,Den vielen toten Russen haben wir nie ins Gesicht 
geschaut." Mit einem Stóckchen stocherte er in der Glut herum und machte den 
Flammen Luft. „Und später unseren toten Landsern auch nicht mehr." 


Ich stand auf und brach einen Fóhrenzweig ab, dessen Nadeln ich zwischen 
den Fingern zerrieb. Hatten wir im ersten russischen Herbst dicht neben der 
Rolibahn Smolensk—Moskau in den großen Wäldern gehalten, dann hatten die 
Fahrer rasch mit ein paar Fóhrenzweigen das Auto gegen Fliegersicht getarnt. 
Ging dann der Vormarsch weiter und wurden die Maskierungen abgeworfen, 
dann zermalmten die Räder die frischen Zweige, die genau so herb dufteten wie 
die Nadeln, die ich zwischen meinen Fingern zerrieb. Durch den aufsteigenden 
Rauch des Feuerchens im Garten zu Sievering sah ich die endlosen Sandwege, 
die weit in das Land hinauswandernden Staubwolken, die verwahrlosten dichten 
Wälder, die dunklen moorigen Seen mit den weißen Wasserrosen und das lichte 
verfallene Schloß jenseits des Wassers, das im Abendlichte so neu erstand, als 
wäre es nie zerstört worden und seine Menschen und seine Zeit nicht verdorben 
und versunken. 


„Den Arm kann ich schon wieder heben", meinte der junge Mann, der vom 
Spital her noch ein wenig blaß und spitz war, „in der nächsten Woche rücke ich 
wieder zu meinem Bataillon ein." 


„Ja, die Kompanie, das Bataillon! Die Kameraden!" sagte ich. „In Afrika bin 
ich aus der Alamein-Stellung zurückgefahren, da sind an der schwarzen StraBe 
ein langer Leutnant und ein kleiner Feldwebel gestanden, die haben mich ge- 
beten, sie mitzunehmen. Bis wohin ich sie mitnehmen solle, habe ich gefragt, 
und woher sie denn kommen? Bis zum náchsten Spital, hat der Leutnant geant- 
wortet, und sie kommen aus der Stellung. Sie beide hätten, habe ich darauf 
gesagt, schon lángst in ein Spital gehórt, denn dieser Leutnant und dieser Feld- 
webel sahen so heruntergekommen aus, daB sie ihre zu weit gewordenen Hosen, 
sollten ihnen diese nicht bis zu den Knien rutschen, vorne mit beiden Händen 
zusammenraffen und hochhalten mußten. Sie waren so blaß und so mager wie 
Gespenster, sie konnten kaum geradestehen, man sah ihnen die schwere Ruhr 
auf den ersten Blick an. Im Spital, hat darauf der Leutnant erwidert, seien sie 


12 Brehm / Das Eigene 


wohl schon gewesen, aber da haben sie von der Offensive Rommels gehört, und 
da seien sie heimlich ausgerückt, um auch mit dabei sein zu können. Aber nun 
habe sie ihr Bataillon wieder zurück ins Spital geschickt, und dahin möge ich 
sie mitnehmen. 

„Aus dieser Offensive ist wohl nichts geworden?“ fragte der Obergefreite. 

„Nichts geworden, mein Lieber.“ 

„Und wir haben euch schon in Alexandrien gesehen." 

„Wir uns auch. Der Leutnant und der Feldwebel hätten sich in ihren zu weiten 
Hosen auch mitgeschleppt, denn die wollten auch dabei sein.' 

„Und die Italiener?" - 

„Ithaker sagen unsere Landser zu ihnen. Die Ithaker tun, was sie können.“ 

„Viel ist das wohl nicht?" 

„Sie begreifen das Unerbittliche dieses Raees nicht. Manche sind sehr tapfer, 
sie fahren mit ihren schlechten Panzern vor und lassen sich zusammenschießen. 
Aber das sind dann Bravour-Arien. Die breite Masse des Volkes und der Sol- 
daten versteht gar nicht, worum es geht. Das ist kein Krieg auf ihre Art. Bei 
Homer schreien die Helden auf, klagen sie, jammern sie. Wenn wir oder wenn 
die Engländer über die zerstörten Städte klagen wollten, dann hieße es auf 
beiden Seiten: Was klagt ihr denn? Ihr versteht es wohl nicht, gelassen Schläge 
hinzunehmen. Das sind zwei Welten, lieber Freund, die einander nie verstehen 
werden." 

„Die Russen klagen auch nicht", sagte der Obergefreite. 

„Nein, die klagen auch nicht. Die sterben stumm, Sie sind vielleicht noch 
weiter von der Welt des Mittelmeeres, von den schónen und von den sich so 
menschlich gebenden Menschen entfernt als wir. Wenn du die russischen Dich- 
ter lesen wirst, dann wirst du sehen, wie fremd ihnen diese Menschen des Südens 
sind, fast lácherlich kommen sie ihnen vor.' 

„Und doch haben die Italiener eine heroische Kunst!” 

„Das ist das römische Erbe, das dieser eine Mann erwecken will. Das andere 
ist groBe Oper mit Heldentenóren. Die Kunst ist der Ausdruck dessen, wonach 
man sich sehnt. In ihren kühlen Kirchen schauen die lebhaften Italiener herum, 
fáchern und lácheln und lassen sich gehen. Unsere Leute sitzen still und stumm 
in unseren von Leidenschaft und Unruhe erfüllten Kirchen. Was wir verschwei- 
gen, was wir nicht durch Gebärden oder durch Worte auszudrücken vermögen, 
verrát einzig und allein unsere Musik." 


„Du meinst also, daß die Kunst immer das Gegenteil von dem ausdrückt, was 
ein Volk selbst ist." 


. „Nicht gerade das Gegenteil. Aber Kunst und Leben ergeben zusammen erst 
das, was ein Volk ist. Die langweiligen Englánder haben in ihren Romanen alle 
Heiterkeit und allen Witz, für die in ihrem Leben selbst kein Raum zu sein 
scheint.“ 

Es war ganz dunkel geworden. Der Rauch hatte sich verzogen. Am Rande des 
Feuers rollte sich das verbrannte Gras weiß ein. Die Flammen standen steil und 
hell. Wir hielten unsere Hände über das Feuer, die Finger wurden rot wie glü- 
hendes Eisen. Ein paar unter das Laub geratene Kastanien krachten in der Glut. 

„Sag einmal, mein Lieber, dichtest du vielleicht?“ fragte ich meinen jungen Gast. 

Der Obergefreite machte sich wieder mit dem Feuer zu schaffen und schwieg. 
Ich konnte nicht erkennen, ob Glut oder Blut seine Wangen röteten. Da er nicht 


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Brehm / Das Eigene 13 


antworten wollte, versprach ich ihm, niemandem etwas zu verraten, er könne 
es mir ruhig eingestehen. 


Er sah mich von der Seite an: „Hast du gedichtet, wie du so alt warst wie ich?“ 


„Und wiel Wild drauf los! Ganze dicke Hefte voll. Hymnen, Sonette, Lieder, 
was du nur willst. Und dazu jeden Tag fast an dir Braut ein Gedicht in einem 
Brief aus dem Feld.“ 

„Und was waren das für Gedichte?“ 

„An den Abend, an den Morgen, an die Nacht, an den stillen Mittag, an die 
Stunde des Pan, an die Geliebte, an die Sterne, an den Mond, an den See, an 
das Wasser, an die Erde, an Gott und an die Welt.” 


„Gute Gedichte?“ 


„Keine guten Gedichte, gutgemeinte vielleicht. Aber, wie gesagt, vor allem 
viele — die Hauptsache aber, sie haben mich glücklich gemacht." 


„Und mich die meinen auch", gestand der Obergefreite. 
„Gute Gedichte?" wollte ich nun wissen. 
* „Wenn du erlaubst, ich glaube, sie werden wie die deinen sein." 


„Dann ist alles gut. Das gehört sich so für einen deutschen jungen Mann in 
ernster Zeit. Aber was dichten heute Obergefreite in RuBland und auf Urlaub 
in der Heimat?" 


Der Obergefreite láchelte: ,Ich glaube, da hat sich wenig geándert: Wetter- 
meldungen, Beleuchtungsangaben, Windstárken, Tageszeitenfeststellungen, bota- 
nische Exkurse, astronomische Betrachtungen, seelische Standortsrapporte und 
Urlaubswünsche in gehobener Sprache.“ 

„Gut, mein Sohn. Aber du siehst daraus, wie recht ich hatte, wenn ich meinte, 
daß die Kunst aus der Sehnsucht erwächst. Im Kriege dichten wir vom Abend- 
frieden, und beim Abendfrieden rufen wir uns die Tage des Krieges zurück. 
Drum nütze jetzt die Zeit zum Lernen. So viel Zeit wie als Soldat im Feld wirst 
du später nie wieder haben.“ 

„Zeit wohl, aber keine Lehrer.“ | 

„Die Lehrer mußt du dir suchen. Wir hatten während des ersten großen Krieges 
genug Gelegenheit, etwas zu lernen. Und was man in diesen Tagen lernt, vergißt 
man nie mehr. Mir hat während der Gefangenschaft in einem russischen Spital 
ein preußischer Hauptmann die Arien aus den Mozart-Opern vorgepfiffen und 
ich habe später nie wieder so den Glanz und die Süßigkeit dieser Melodien ge- 
hört wie damals, als ich sie in mich hineingetrunken habe. Um uns herum ist 
so viel Kunst und Kultur gehäuft, daß wir das alles ganz selbstverständlich hin- 
nehmen, wir sind überfüttert. Aber in der Kargheit der Kriegstage sinkt das 
wenige, was wir in uns aufnehmen, viel tiefer in uns hinein, was wir da auf- 
nehmen, das bleibt. Dieser Krieg an der Zeitwende zerstört so viel, daß wir alles, 
was wir uns heute ansehen, so anschauen müssen, als sähen wir es zum aller- 
letzten Male." 


„Ja, es geht viel zugrunde. Wir werden es nie mehr ersetzen können.” 
„Wenn wir selbst nicht zugrunde gehen, werden wir Neues schaffen können.” 
„Aber das verlorene Alte können wir doch nie mehr erreichen.” 


„Aber wir werden immer ahnen können, wie es einmal gewesen ist. Wie du 
. heute noch an einem erhaltenen Glasfenster eine ganze Kathedrale in ihrer kaum 
vorstellbaren Schönheit erträumen kannst, so wird unseren Enkeln einmal 
unsere Musik helfen, zu ahnen, wie das Zerstörte gewesen ist. Wie einst die 
eingestürzten Gewölbe, die geborstenen Pfeiler, die verbrannten Altäre und die 


14 | Brehm / Das Eigene 


zerschmetterten Engel ausgesehen haben? Ach, sie alle hatte der gleiche Atem 
durchweht, der Bach, Mozart, Haydn und Beethoven beseelt hat. Sie hat das 
gleiche Feuer verschlungen, das sich auf den Bildern des Hieronymus Bosch an- 
gekündigt, die gleichen Maschinen haben sie zerstört, die unsere frühe Kunst 
vorausgeahnt, die gleichen Dämonen haben sie vernichtet, die im steinernen 
. Wald unsere Dome gefesselt und gebannt waren. Die im Guten so tiefe, milde 
und holde nordische Welt, die menschenferne, ist im Bösen hart und erbarmungs- 
los. Aber das, was in allen unseren Bildern an Unbegreiflichem noch da ist, es 
lebt in der Musik weiter, und dort kann es nicht getroffen und vernichtet wer- 
den, solange wir selbst noch leben. Und wenn du unsere Soldaten marschieren 
siehst, dann wirst du wissen, wie viele von diesen Geheimnissen noch in unserem 
Volke leben. Und da du bald wieder in ihren Reihen stehen wirst, wejBt du ja 
auch, wofür du marschierst.“ 

Das Feuer war ausgegangen. Wir standen auf. Mein Obergefreiter reichte 
mir die Hand und ging. Ich sah ihm lange nach, denn ich sah ja nicht nur ihn 
allein fortgehen, sondern so viele mit ihm, die wir liebhaben und an denen 
unsere Herzen noch ganz anders hängen als an allen Schätzen unserer Kunst. 


Wiedergeburt d 


Wenn Ole liebe Welt verfinkt, 

weil mein Herz am Born der Sehnſucht trinkt, 
wenn es dunkelt In der Schlucht und raufcht, 
weil mein Mund Ole Liebe mit der Tiefe taufcht, 
wenn ein goldner Funke auf dem Antlitz bebt, 
das fich träumend aus dem Leld erhebt, 

wenn die weißen Blüten an dem Baum 
zärtlich ſchwingen über meinem Traum, 
wenn Die Bienen Summen und die Welt 

felig wieder in mir Einzug hält, 

dann, gellebte Mutter, mar ich dein. 

Froh geh’ ich durch dich Ing Leben ein. 


Klage 


Immer noch kenne ich nicht des wogenden Meeres Geheimnis. 
Weiß nicht, warum ee mich lockt, weiß nicht, warum es mir droht. 
Immer noch kenne Ich nicht der ſcheidenden Küfte Geheimnis. 
Weiß nicht, warum fie mir Troft, trauervoll felber, gewährt. 
Immer noch kenne ich nicht der grünenden Erde Geheimnis. 
Weiß nicht, warum fie dem Tod, dem fie verfallen, entblüht. 
Immer noch ift mir ver(legelt der vielgeftaltigen Tiere 

ſtumme Bedeutung. Es grüßt liebend und ſchaudernd mein Blut. 
Immer noch kenne ich nicht der Nacht und der Sterne Geheimnis. 
Fremd ift mein eigener Blick mir, ber Ich Kinder gezeugt. 

Immer noch kenne ich nicht der Nacht und der Sterne Geheimnis, 
das mich mit Frieden umgibt mitten in Kampf und Gefahr. 

Ringe um mich ftürzt die Welt in taufend Trümmern zufammen. 
Immer noch kennt fie nicht der, den fie im Sturze begräbt. 


15 
Wind aus dem Often 


freudlos wehen die Winde, das Antlitz ſchmerzend, von welther. 

Graue Ode umfegt hart unfer nacktes Geficht. 

Ift es nicht felber khon ftarr und gedulvig und flach wie des großen 

Landes Geſicht, das den Sturm unmiflend trägt, unbemegtt 
Stirnenverwandelnder Wind, du erfüllt uns die Höhlen der Augen, 

und die Träne entftürzt. Graufamer wird unfer Blick. - 
Wind weht Durchs Haupt uns und Wind Durch des Herzens verödete Kammern. 
Staub find deine Völker, nur Staub. Und es verweht fie der Wind. 

Afiene fteinerne Götter, die unzugänglichen, meifen, 

thronen lächelnd und fremd hoch auf dem Dache der Welt. 


Flug über dem Schwarzen Meer 


Nichts Feftes mehr da unten und hier oben! 

Mein Herz iſt nun zum Mittelpunkt erhoben. 

Des Meeres Kraft, des filbern überlonnten, 

umwogt es weit mit zarten Horizonten. 

Von ihm aus führt ein ſeder Weg ins Große. 

In meiner Bruft erblüht die helle Rofe 

der Winde, die um ihren Uríprung hreifen. 

Aue grüner Flut hebt der gebanhenleifen, 

der weißen Möwen kühner Tanz die Schwingen. 

Aus meinem Herzen will die Welt entipringen. 

Schon hüllen feſtlich ſich in veilchenblaue 

Gemänder neue Götter, die ich ſchaue. 

Dort, wo fie ſchillernd aus den Waffern ftelgen, 

fteht eine Stadt am Meer in tiefem Schweigen. 

Noch ift fie dDächerlos und ſchwarz von feuern, 

die längft erloſchen. Doch den Dienft erneuern 

am ungefügen Altar fromme Hände. 

Wie leuchten jung der Opferfeuer Brände! 

Wie weht der Wind fo rein! Die Tropfen glänzen 

an jedem Zweig. Geſchmückt mit Blütenkränzen, 

des Volkes Genien heilige Häufer fügen. 

Die Frauen ſtehn am Quell mit goldnen Krügen. 

Der Knaben Antlitz, ſonnenklar vollendet, 

dem Werk der Weifen ift ee zugewendet, 

da es von Spielen glüht und von Gelängen. 

Und alle ſpeiſt der Tifch, zu dem fie Drängen. 

Von Brot und Wein gelabt im tiefften Grunde 

wird Dank und Preis das Wort in ihrem Munde. 

Schon hüllen feſtlich ſich in veilchenblaue 

Gewänder neue Götter, die ich ſchaue. 

Hoch über Land und Meer will ich ſie loben. 

Es ftrahlt mein Herz, zum Mittelpunkt erhoben! 
Gefr. Dr. Hane Gftettner 


Heinrich Zillich: 
Anekdoten aus dem Krieg 


„Habt acht I^ 


Die Bücher melden, daB der groBe Krieg im Herbst des Jahres 1918 zu Ende war. In 
Wirklichkeit glomm er in düsteren Feuern an den zerfetzten Grenzen weiter, schlug 
auch in Flammen empor und fiel erst in Asche, nachdem mancher Mutter Sohn viele 
Monate später ins Gras gebissen hatte. Die Soldaten Usterreichs, die in die neuen 
Staaten im Osten heimkehrten, wuBten ein Lied davon zu singen, denn der Sterz wollte 
nicht warm werden in ihrer Faust, und bald rief man sie auf zu den alten Regimentern, 
die nun neue Nummern trugen und auf neue Kriegsherren vereidigt, noch rasch, ehe 
es wirklich Frieden wurde, gegen einen neuen Feind marschieren mußten, der aus 
lauter Frontkameraden bestand. 

So fochten einstige Soldaten des Kaisers wider einander, die in ungarischen Heeren 
gegen solche in rumánischen, tschechischen und serbischen. Sie alle hatten vordem, 
gleichgültig wie ihre Muttersprache gewesen sein mochte, auf das deutsche Kommando 
„Habt acht!" in einem Glied die Absätze zusammengeschlagen; ihre Väter hatten es 
ebenso getan beim Ruf des alten Befehls, der schon zu jener Zeit erklang, als Prinz 
Eugen die Standarte des Reichs über dem Osten entfaltete. Nun übten die letzten kaiser- 
lichen Soldaten die gewohnten Gewehrgriffe auf ungewohnte Kommandos einer neuen 
Sprache, die ihre Muttereprache war oder auch nicht. Das gelang ihnen zwar, doch ihr 
Lerneifer blieb gering nach vier Jahren Sieg und Niederlage. Sie wären lieber daheim 
gesessen, hátten gepflügt, gesát und Kinder gezeugt. Aber man hatte sie nicht gefragt, 
als es 1914 ins Feld ging und sie jubelnd gehorchten, und man fragte sie auch jetzt 
nicht nach ihrem Willen. Sie stellten sich ins Glied, lieBen sich führen, und manche 
schlichen in der Nacht davon, bis die Gendarmen sie wieder holten. . 


Eines Abends zog eine solche Kompanie in zerschlissenen Uniformen, deren Flecken 
aus den Schützengráben des Isonzo stammten, nach langem Marsch durch den kalten 
Regen des Jahres 1919 in ein Dórfchen ein, das die ebenso bekleideten Soldaten des 
Feindes schon verlassen hatten. Man stellte Vorposten aus, begann tüchtig abzukochen, 
denn Schafe und Schweine zeigten damals die merkwürdige Neigung, den Truppen in 
Massen nachzulaufen, und nachdem man in den vollen Bauch noch eine Feldflasche 
Wein gegossen hatte, denn auch Fásser rollten damals zahlreich den Soldaten nach, 
hángte man die FuBlappen zum Trocknen in die Zimmer einer leeren Schule auf, und 
dann lagen die Männer bald auf dem Ohr. Die drei Offiziere, die miteinander deutsch 
sprachen, weil sie es früher getan hatten und weil ihr Mutterlaut nicht der gleiche 
war, suchten ihr Quartier in einem Bauernhaus, wo sie am Herd zusammenrückten und 
gähnend und schláfrig Erinnerungen aus dem großen Krieg austauschten. 


Einer sagte, die Vorstellungen des Volkes vom kleinen Krieg, den sie nun erlebten, 
seien manchmal verwunderlich; da habe ihn ein alter Bauer gefragt, gegen wen der 
Kaiser aufmarschiere, und eei ohne Begreifen dafür gewesen, als er zur Antwort erhielt, 
seine Volksbrüder hätten ihn, den Bauer, befreit und der Kaiser könne nicht eine 
Rotte mehr in Bewegung setzen; so 80, habe der Bauer erwidert, dergleichen hóre man, 
aber der Herr Leutnant móge ihn ernsthaft belehren, gegen wen der Kaiser Krieg führe. 


Zu dieser Erzáhlung schüttelte der andere Leutnant, der wie der Bauer zum Volk 
gehórte, in dessen Heer sie alle standen, unwillig den Kopf und meinte: in Osterreich- 
Ungarn sei das SelbstbewuBtsein manches armen Teufels verdorrt, wogegen der erste 
Leutnant, ein Deutscher, einwandte, und seine erschópften Züge belebten sich etwas: 
der Bauer habe im Kaiser wohl noch die alte reichhafte Ordnung gesehen, die alle 
Vólker im Osten vereinige. 

Na ja, winkte der Oberleutnant ab, solche Zeiten seien endgültig vorbei. 

Sie schwiegen ein Weilchen versonnen, tranken und rauchten, dann sprachen sie 
vom Vormarsch, der morgen weitergehen werde, allerdings mangele es an geeigneten 
Wegskizzen. Ach was, tróstete der Oberleutnant, er marschiere halt bis an den Rand 
seiner Karte! 

Mit diesem Witz erhob er sich, streckte die Arme und rief nach dem Burschen im 
Vorraum, sich die Stiefel ausziehen zu lassen, doch der kam nicht, auch die Burschen 
der anderen waren verschwunden. Als der jüngste Leutnant die Haustür óffnete, um ins 
Freie hinauszurufen, prallte er an einen der gesuchten Soldaten, der lallend zwei Stall- 
eimer voll Wein über die Schwelle hob, sie abstelite und sich den Schweiß wischte. 


Zillich / Anekdoten aus dem Krieg 17 


l 


Dabei beqann der Kerl albern zu lachen und verriet auf die scharfen Zurecht- 
weisungen der Offiziere, daß die Kompanie sich samt und sonders auf die Strümpfe 
gemacht habe um den Keller eines reichen Händlers zu leeren, und da sollten die 
Herren Offiziere doch nicht zu kurz kommen. 

Verdammt, nach dem saumäßigen Marsch, nach dem fetten Essen sind die Kerle 
noch zu einer solchen Schandtat bereit! fluchte der Oberleutnant in zornigem Erstaunen 
und rannte in den Regen hinaus der Schule zu. 

Als er mit seinen Kameraden dort eintraf, fand er die Angaben des Burschen be- 
stätigt, und was er noch nicht wußte, erfuhr er von den grölenden, völlig betrunkenen 
Soldaten, die bereitwillig erzählten, daß sie alle schon geschlafen hätten, als einer von 
ihnen, der Bolschewik, wie sie ihn nannten, weil er in Rußland in Gefangenschaft 
gewesen war heimlich, damit es die Unteroffiziere, deren Quartier im oberen Stock 
lag, nicht merkten, den einen weckte, dann den nächsten, und ihnen verriet, in der 
Nähe wohne ein reicher Schaf- und Weinhändler, ein Jude; und einer nach dem anderen 
zog leise davon, auch der Unteroffizier vom Tag kam mit, und bald kehrten sie zurück 
voll des Weins und brachten Schafe, die sie abstachen, ohne sie zu braten, denn 
ihre. Bäuche waren vom Abendessen noch dick, ach, es sei eine verdammt feine Sache 
gewesen. 


Wogend und jubelnd umringten sie die Offiziere, boten ihnen Wein an und mühten 
sich nur wenig. Haltung anzunehmen, als sie, statt Freude zu ernten, in einer Weise 
angebrüllt wurden, daß ihnen sonst Hören und Sehen vergangen wären, 


Aber sie waren außer Rand und Band, hatten schon vorhin die Befehle der Unter- 
offiziere mißachtet, die den Unfug zu spät entdeckt, und ließen sich jetzt nur mit Mühe 
in den großen Schulraum bringen, wo der Oberleutnant, bleich vor Empörung, erklärte, 
er werde dem Rädelsführer fünfundzwanzig aufzählen lassen. 


Als hätte dieser darauf gewartet, trat er in die Stube und schrie, im Keller stehe der 
ausgeflossene Wein so hoch, daß man darin schwimmen könne, doch jählings ver- 
stummte er verdutzt, von festen Unteroffiziersfäusten gepackt, deren er sich gleich darauf 
zu erwehren versuchte, wobei er mit verzerrtem Mund die stillgewordene Menge auf- 
hetzte, den Offizieren den Schädel einzuschlagen. Die Betrunkenen, davon in rasende 
Wut versetzt, schoben sich tobend heran; es schien, als müßten die Leutnants beim 
nächsten Atemzug von der Ubermacht vernichtet und zertreten werden. 


Einer der Bedrohten riß die Pistole heraus, die hier nichts mehr retten konnte, der 
zweite taumelte fassungslos an dıe Wand; da aber, während ihm schon hundert Hände 
nach der Brust faßten, rief der Oberleutnant ein einziges Wort in den Raum, ein Wort, 
das diese ehrlichen Soldaten, die nur von der endlosen Dauer des Krieges verwirrt 
waren, immer willig befolgt und jahrelang gehört hatten, nun aber‘\seit Monaten nicht 
mehr, das deutsche Befehlswort: „Habt acht!” 

Und das alte Kommando, so selbstverständlich gerufen wie jemals in den Jahr- 
hunderten kaiserlicher Ostherrschaft, es bannte die Sinnlosen auf den Fleck. Die Waffen, 
bereits von der Wand gerissen, sanken, die Unteroffiziere sprangen vor und standen als 
Schutzwall vor den Leutnants, und schon ertönte der zweite Befehl: „Im Hof ohne 
Gewehr antreten!” 

Rascher als je vergatterte sich die Kompanie draußen. Der Regen fiel. Es war dunkel 
und kalt. Und alle wußten, was nun folgen mußte nach dem Soldatengesetz. 

„Nieder!“ brüllte der Oberleutnant, und die Kompanie warf sich in den aufgeweichten , 
Boden. 

„Aufl“ und sie stand. 

In harter Eintönigkeit ließ der Offizier, die Beine breit und die Fäuste in die Hüften 
gestemmt, seine Leute sich hinlegen und aufspringen, bis sie den letzten Rest des 
Rausches aus den keuchenden Lungen gestoßen hatten. 

Erst nach geraumer Zeit merkte er, daß er deutsch kommandierte. Ohne mit der 
Wimper zu zucken, fiel er in die Befehlssprache des Heeres, dem sie zuletzt zuge- 
schworen hatten. 


Der wegbefohlene Hunger 


Im August 1917 brannte im Bisortetal die Drahtseilbahnstation samt den Verpflegs- 
lagern einer Gebirgsbrigade ab, wodurch bei den hoch auf dem Monte Pasubio liegenden 


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Zillich / Anekdoten aus dem Krieg 19 


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Kompanien Schmalhans für einige Zeit Küchenmeister wurde. Nun mögen kampf- 
erprobte Soldaten, wie es diese waren, die zu den besten Österreichs gehörten, in allen 
Lagen die Stirne gegen den Wind recken, wenn ihnen aber der Fastenspeichel in die 
Zähne läuft und der Magen knurrt, knurren sie mit dem Mund. Doch ehe dies geschieht, 
wird ihr Offizier Himmel und Hólle in Bewegung setzen, um die EBschalen zu füllen. 


Ein Oberleutnant, der dafür bekannt war, daB er vor Untergebenen und Hóheren die 
Ohren steif hielt, rief von der Gratstellung táglich mehrmals beim Regimentsstab an 
und erklärte, seine Kompanie fráBe schon Fliegen und Läuse und sei imstande, alles 
kurz und klein zu schlagen, wenn sie nicht die vorgeschriebene Menge an Brot und 
Fleisch empfinge und was ihr sonst zustehe. 


Sein Eifer half ihm wenig, und als er schließlich einsah, daß er noch vier oder fünf 
Tage lang mit Mann und Maus weiterhungern müsse, bemühte er eich, den Soldaten, 
die sich bei ihm über die mangelhafte Verpflegung beschwerten, die Gründe der Not 
darzulegen. Doch gab es einige, die sich nicht überzeugen lassen wollten und heimlich 
gegen ihn hetzten. Da entschied er sich, die Unzufriedenheit einfach wegzubefehlen. 


Er ließ die Kompanie hinter dem Grat, auf dem die Schützengräben verliefen, 
antreten, und. zwar in Reih und Glied, Zug hinter Zug wie auf dem Kasernenhof, 
Gewehr geschultert, als ginge es zum Exerzieren. Aber die hier auf dem steilen Hang 
warteten, blickten besorgt um sich und glaubten, der Offizier habe den Verstand 
verloren, denn fiele es jetzt den [Italienern ein, eine einzige Wurfmine herüber- 
zuschicken, was sie tüglich taten, und gerade auf diese kahle Lehne, so müsse die 
ganze Kompanie in die Luft sausen. 


Doch das scherte den Oberleutnant nicht. Er prüfte sorgsam die Richtung jedes 
Zuges, ging langsam von Mann zu Mann, musterte alle, rückte hier an einer Patronen- 
tasche, dort an einem schlechtgerollten Mantel, nahm ein Gewehr in die Hand und 
blickte durch den Lauf, ob er sauber sei, schimpfte, weil ein Soldat die Bergstiefel 
nicht geputzt hatte, und benahm sich wie ein Feldwebel, der vor einer Parade die 
letzten Stáubchen von den Uniformen wegpustet. 


Nach einer halben Stunde erst, wáhrend es den meisten eisig ums Herz wurde und 
alle immer häufiger in die Luft blinzelten, ob dort das scheuDliche Heulen nicht nahte, 
ließ er stillstehen und verlas den Kompaniebefehl von einem Blatt, genau so, wie es 
im Hinterland geschah, und der hatte folgenden Wortlaut: „Ich befehle, daB die 
Kompanie von heute ab keinen Hunger mehr hat", kommandierte dann „Abtreten!“ 
und blieb mit den Offizieren ein weiteres halbes Stündchen rauchend und in heiterem 
Gesprách auf dem gefáhrlichen Platz. 


Fortan beschwerte sich niemand über die dürftige Nahrung und jeder wartete 
geduldig, bis der Zuschub wieder in Gang kam. 


Der RiB im Rock 


Während des Alpenkriegs vertrieben sich manche Offiziere die Langeweile in den 
einsamen Stützpunkten mit den tollsten SpáBen und Einfállen. Einer dieser jungen 
Männer, ein Oberleutnant bei den Jägern, verblüffte die Kameraden häufig durch die 
Kunst, das preuBische Stakkato nachzuahmen, wie er es nannte, also jene abgehackte 
Redeweise, die von den Witzbláttern damals den Offizieren gern angedichtet wurde. 


Eines Abends kam er'zum Regimentsstab, der gerade beim Essen eaB, grüBte den 
Oberst, setzte sich und erhielt sogleich aufgetischt. Da entdeckte ein Leutnant an seinem 
Rock einen Riß und deutete darauf. 

„Tatsächlich — Riß!“ antwortete der Oberleutnant und fuhr fort: „Besichtigte näm- 
lich, meine Herren, vor einer Stunde Stützpunkt 6. Gehe ans Drahtverhau. Bemerke, 
Posten gegenüberliegender italienischer Feldwache legt auf mich an. Sehe Mündung 
seines Gewehrs als Ring. Kopfschuß demnach unvermeidlich. Schicke mich drein. Sache 
von einer halben Sekunde gewesen. Da, als ich schon die Kugel in der Stirn zu fühlen 
glaube, plötzlich Blindgänger einer Gebirgshaubitze, auf mich abgefeuert, rast nieder. 
Blindgänger und Kugel in der Luft zusammengeprallt. Ich folgerichtigerweise unverletzt 
geblieben. In leichtem Schreck ins Drahtverhau gefallen. Daher Riß!“ 


Wandte sich um, während alle nach Atem schnappten, zog den Rock aus und rief: 
„Ordonnanz, náhen!", warf ihn dem Soldaten zu und aß ruhig weiter. 


20 Zillich / Anekdoten aus dem Krieg 


Dieser Oberleutnant wurde etliche Tage später mit einem Schuß durch die Brust 
ohnmächtig vom Stützpunkt 6 herabgebracht. Als die Bahre beim Hilfsplatz des Regi- 
mentsstabs eıntraf, liefen dessen Offiziere heran, fragten die Träger nach den Um- 
ständen der Verletzung und bedauerten den Kameraden. 

Da öffnete er die Augen, betrachtete sie schweratmend der Reihe nach, und wie 
er schließlich auf seinem Oberleib ausgebreitet den blutigen Rock entdeckte, darin 
er verwundet worden war, hob er ihn mühsam in die Höhe, sah die Einschußöffnung 
und sagle trocken: „Tatsächlich — RiB!" 


Dann fuhr er fort: „Diesmal fehlte Blindgänger. Brustschuß unvermeidlich“, warf den 
Rock zur Seite und röchelte: „Ordonnanz nähen!” 


Während die Kameraden zwischen Lachen und Befremden noch schwankten, flüsterte 
er: „Schicke mich drein —." Hierauf schloß er die Augen und verschied. 


Die Zielscheibe 


Der Fähnrich Heinrich F., der mit seinem Regiment zu Beginn des Weltkrieges ins 
erste Gefecht kam, merkte dabei, daß die noch unerfahrene Mannschaft unter dem 
serbischen Feuer ihre Ruhe verlor und zu hastig und ohne zu zielen schoß. 


Sofort erhob er sich und stand aufgereckt zwischen den Schützen wie auf dem 
Exerzierplatz, als übte er dort die Schwarmlinie ein. Wie er es hundertmal im Frieden 
getan, rief er auch hier die Soldaten mit Namen an, befahl, den Gegner ordentlich aufs 
Korn zu nehmen, langsam abzudrücken und das Gewehr nicht zu verreißen, und gab 
ihnen mit solchen altgewohnten Worten Mut und Zuversicht zurück. 


Ihr nun treffsicheres Schießen leitete er auch weiterhin aufrecht und schien lange Zeit 
gefeit zu sein gegen die serbischen Kugeln, bis ihn endlich doch eine niederwarf. Da 
rief er, im Sturze noch die Kämpfenden aufpeitschend und dem Sieg verschworen: „Seht 
ihrs, wie lange die da drüben brauchen, um einen Mann zu treffen, der wie eine Ziel- 
scheibe steht!‘ 


Winterſonnenwende 
Von Martin Rafchke - gefallen im Often 1943 


Steht / Pferde / fteht! Der Jahrhrelo tft geendet / 
des Nordlands Völker fenken tief ihr Haupt 

voll Hoffnung / Daß Ote Zeit (ich endlich wendet / 
die fie Der Sonne Blick fo lang beraubt. 


Der Alpen Kämme ſchon / die holde Ferne / 
das Band der Flüffe Pferde / greift nur aue! 
Nah tft die Weltenzeit / wo Sommerfterne 
erhellen froh der Erde grünes Haus. 


In Eis und Schnee begraben alle Zonen / 

gefroren blickt der blaue See herauf. 

Du / ſchõnes Land / in dem die Deutſchen wohnen / 
mach wieder deine blauen Augen auf! 


' Eilt / Sonnenpferoe / eilt! Die goldnen Lanzen 
meri" th mit Macht durchs dunſtende Gezelt. 
Die Nebelfahnen flattern / doch wir pflanzen 
des Lichtes Zeichen in die Winterwelt. 


/ P 


Mirko Jelusich: 


Der Mann der Geschichte“ 


Es gibt wohl kaum eine Zeit, in der sich der Wellenschlag der Geschichte zu 
so unerahnt riesenhaften Wogen auftürmte wie in der unsern. Wir erleben die 
sich über die ganze Erde erstreckende Entladung einer Krise, die, wo nicht 
schon mit der Reformation, so doch gewiß mit der Aufklärung des 18. Jahr- 
hunderts begann und, während des ganzen 19. Jahrhunderts latent fortgesetzt, 
sich mit jeder falschen wirtschaftlichen Auswertung jeder neuen Erfindung, mit 
jeder Verschlechterung der Lebensbedingungen der breiten Masse verschärfte. 
Denn darüber ist sich wohl niemand, der die Stürme dieser Zeit denkend- mit- 
erlebt, im Zweifel, daß das Grundproblem des gegenwärtig tobenden Kampfes 
ein soziales ist: unter furchtbaren Geburtswehen ringt sich ein Neues ans Tages- 
licht, bestimmt, sowohl das schlechte Uberalterte des Kapitalismus wie die 
trügerische Scheinlösung des Marxismus zu überwinden. Mag es bei den ver- 
schiedenen Völkern, bei denen es fast gleichzeitig seinen Herrschaftsanspruch 
siegreich anmeldete, verschiedene Namen und zum Teil selbst verschiedene 
Formen haben — immer ist es auf einen und denselben Kern zurückzuführen: 
auf die soziale und nationale Revolution, die endlich darangeht, den Wurzeln 
des unter der Scheinordnung der Zivilisation fortwuchernden Chaos zuleibe zu 
rücken und es durch eine wahre, durch eine naturgemäße Ordnung zu ersetzen. 


Wenn man sagt, die von unserer Generation zu lösende Aufgabe sei ein 
soziales Problem, so könnte dies den Anschein einer Hinneigung zur mecha- 
nistischen Geschichtsauffassung erwecken, die alles Weltgeschehen auf mate- 
rielle Notstände zurückführen und daraus alle wirtschaftliche, politische und 
schließlich kulturelle Entwicklung ableiten will. Diese Auffassung, würdig der 
Zeit, in der sie entstand, des-mechanisierten Maschinenzeitalters, der Anbetung 
von Kraft und Stoff ohne den Geist, der beide beherrscht, ist heute überwunden. 
Die Taten der Geschichte und alles, was die Menschheit weiter und höher führte, 
gingen nicht von einer amorphen Masse aus, die stets nur zu geneigt war, in 
den Sumpf ihrer Trägheit immer tiefer zu versinken, sondern von den einzelnen, 
in deneh sich kristallisierte, was in den Vielen als dumpfe, hilflose Sehnsucht 
vegetierte. „Männer machen die Geschichte!“ Dieses Wort Treitschkes, blitz- 
artig alle Dunkelheit erhellend, lóst alle Zweifel und stellt das Problem in aller 
Klarheit vor uns hin. DaB sie freilich nicht Rufer in der Wüste bleiben dürfen, 
daB die Masse ihnen folgen muB, ist selbstverstándlich; aber — und darauf 
kommt es an — sie sind es, die den Weckruf ausstoBen, ohne ihre Stimme bliebe 
die Welt stumm, ohne ihren Antrieb die Welt tot. 


So werden wir den sichersten Maßstab der Kräfte, die unsere Zeit bewegen, 
erhalten, wenn wir den Mann der Geschichte, das geschichtliche Genie be- 
trachten, ihn in seiner Wesenheit erforschen, aus den vielen Einzelschicksalen, 
die das Weltgeschehen im Lauf von Jahrtausenden uns bietet, das allgemein 
Gültige ableiten, gleichsam die chemische Formel, auf die seine einzigartige 
Erscheinung zu bringen ist. Dabei wollen wir uns dessen bewußt bleiben, daß 
die Abstraktion nicht zu weit gehen darf, daB diese Formel nur für einen Teil 
seines Wesens bestimmt bleibt: denn jeder Mann der Geschichte unterscheidet 
sich von allen anderen Artgenossen zutiefst, da gerade er eine besonders aus- 
geprägte Persönlichkeit darstellt; wir wollen indessen zugleich nicht vergessen, 
daB ihnen allen, Eroberern und Erneuerern, dennoch etwas gemeinsam ist: eine 
Urkraft, die geheimnisvoll aus den Tiefen ihres Genius aufsteigt und die Welt 
aus den Angeln hebt, in denen sie schlecht saB. 


Zwei Eigenschaften sind es vor allem, die den Mann der Geschichte in seiner 
hóchsten Steigerung kennzeichnen. Vor allem seine Fáhigkeit, ja, sein seelischer 


°) Vortrag, gehalten im Rahmen des „Wiener Dichterkreises im Rathaus zu Wien. 


22 Jelusich / Der Mann der Geschichte 


Zwang, sachlich zu sein. Kleinere Naturen, mag das Weltenschicksal sie auf 
noch so exponierte Posten gestellt haben, werden die ihnen gestellten Aufgaben 
persönlich betrachten und daher auch persönlich zu lösen suchen. Daraus ergibt 
sich notwendig, daß die von ihnen unternommenen Lösungen, wenn sie über- 
haupt gelingen, zeitbedingt sind und mit ihrem Erlöschen ebenfalls vergehen. 
Sachliche Lösungen hingegen gehen, wie schon der Name sagt, von der Sache 
aus: von der Natur der Dinge. Sie bleiben daher auch natürlich und infolge- 
dessen dauernd, zumindest solange die Natur der Dinge sich nicht ändert. Denn 
Sachlichkeit ist Wille zur Ordnung, zu einer artgemäßen, dem zu Ordnenden 
entsprechenden Einfügung und Verflechtung. So können wir also den Mann der 
Geschichte als einen Mann der natürlichen Ordnung bezeichnen, als einen im 
höchsten Sinne des Wortes kosmischen Menschen. 


Ebenso wichtig wie diese erste Eigenschaft, das Vermögen einer richtigen 
Erkenntnis der Weltgesetze, ist auch die zweite: der Wille, ihnen Geltung zu 
verschaffen. Denn es genügt nicht, das Richtige zu wissen, man muß es auch 
durchzusetzen verstehen, über alle Widerstände hinweg, die sich ihm entgegen- 
stellen. Das Beispiel des großen Nationalökonomen List beweist die Richtigkeit 
dieses Satzes. In seinen Erkenntnissen war List seiner Zeit, ja, seinem Jahr- 
hundert weit voraus. Aber trotz unablässiger Bemühungen, die schließlich seine 
Lebenskraft aufzehrten, gelang es ihm nicht, sich durchzusetzen. Bemühungen — 
die Weisheit der Sprache sagt es klar heraus: er mühte sich; aber er war nicht 
stark genug, diese Mühe fruchtbar zu gestalten. Der Mann der Geschichte aber 
hat diese Stärke und benutzt sie voll natürlicher Weisheit, bald treibend, bald 
zurückhaltend, um die platonische Idee seiner Erkenntnis in die Wirklichkeit 
der Tatsachen umzusetzen. 


Damit haben wir die beiden großen Antriebe kennengelernt, die im geschicht- 
lichen Genie wirksam sind: die Erkenntniskraft, die über bloße Meinung hinaus, 
bei der nur zu oft der Wunsch der Vater des Gedankens ist, zum Eigentlichen 
vorstößt, zum Wesen der Dinge und dadurch zu den Möglichkeiten, die in ihnen 
liegen, und die Willenskraft, diese Möglichkeiten zu gebrauchen und zu Ge- 
gebenheiten zu gestalten. Der Mann der Geschichte sieht nicht, was zu sehen 
er wünschte, er sieht, was ist, mag es ihm lieb oder leid sein, und wird daher 
die Gefahr vermeiden, unter dem Einfluß von Illusionen zu handeln und so not- 
wendig zu verhängnisvollen Fehlleistungen zu gelangen. Darum wird er auch 
nie ratlos sein, vielmehr in jedem Augenblick seiner Wirksamkeit, mag seine 
Umgebung auch vergeblich nach einem Ausweg suchen, wissen,. was er zu tun 
hat. Er wird in sich hineinhorchen und je nach seiner Natur, von der noch zu 
sprechen sein wird, entweder sich seine Erkenntnisse zu Bewußtsein bringen 
oder aber unbewußt der ihn leitenden Intuition folgen — und wird zwar nicht 
einen „Ausweg“, aber den einzig richtigen Weg finden, der dann so selbstver- 
ständlich ist, daß jeder; der nicht weiß, daB höchste Einfachheit eben das Wesen 
des Genies ist, sich fragt, warum nicht auch er diesen „natürlichen“ Weg ge- 
funden habe. 

Zusammenfassend also begreifen wir als kennzeichnend für den Mann der 
Geschichte die Notwendigkeit einer Verbindung von Erkennen und Wollen. 
Erst diese Verbindung schafft die Tat, die schöpferische Tat. Und so sehen wir 
denn in dieser das tiefste, ja, das eigentliche und wesentliche Merkmal des 
großen Erneuerers, des geschichtlichen Genies. Damit gliedert sich unsere 
Untersuchung in die Beantwortung zweier Fragen: Wie gelangt der Mann der 
Geschichte zu seiner Tat? und: Worin besteht sie? 

Wie bei allen schöpferischen Menschen, z.B. auch bei Künstlern — und es ist 
die Frage, ob der Mann der Geschichte diesen nicht zuzuzählen ist — werden 
wir bei ihm zwei umfassende Typen zu unterscheiden haben: das intuitive Genie 


Jelusich / Der Mann der Geschichte 23 


und das Genie der Methode. Jenes — das von Gott begnadete Sonntagskind, 
Fortunatus, der in die unerschöpflichen Schätze seines Innern greift und immer 
Neues daraus hervorholt; dieses — der rastlose Arbeiter, der tiefschürfende, nie 
erlahmende Forscher, der die Schätze der Außenwelt sich zu Diensten zwingt 
und daraus seine riesenhaften Gebäude formt. Auf staatsmännischem Gebiete 
sehen wir die beiden Typen etwa durch Cäsar und Cromwell verkörpert, auf 
militärischem durch Napoleon und Moltke, auf philosophischem durch Leibniz 
und Kant. 

Selbstverständlich muß gleich zu Beginn unserer Untersuchung betont werden, 
daß diese beiden Typen keineswegs in — sozusagen — Reinkultur vorkommen, 
daß vielmehr das intuitive Genie ein reiches Maß an Methodik, das Genie der 
Methode ebenso ein reiches Maß an Intuition besitzen muß. Cäsars Genieblitze 
etwa, wie sie in den Schlachten seines reifen Mannesalters immer wieder auf- 
leuchten, wären umsonst gewesen ohne die jahrzehntelange zähe Erziehungs- 
arbeit an seinen Truppen: er mußte sich das Werkzeug erst schaffen, um un- 
gehemmt wirken zu können; andererseits bekennt sich das größte methodische 
Genie unter den Feldherren, Moltke, eindeutig zur vorherrschenden Bedeutung 
der Intuition, wenn er die Strategie ein System der Aushilfen nennt. Es gibt 
ein altes deutsches Sprichwort, das die Notwendigkeit einer Verbindung beider 
Arten in kóstlich derber Weise ausspricht: , Was nützet ein góldener Kopf ohne 
einen Hintern von Bleil' Wobei wir allerdings, den Sinn dieses Wortes um- 
kehrend. feststellen müssen, daß Fleiß und Methodik ohne Intuition erst recht 
nutzlos sind. | 

Wir dürfen hier hinzufügen, daß gerade hier der Punkt ist, der den Mann der 
Geschichte aufs engste mit seinem Volk verbindet. Denn natürlich wird das 
intuitive Genie meist unter phantasiereicheren, das methodische unter phantasie- 
ärmeren Völkern zu finden sein. Hier also werden Abstammung und Blut- 
mischung eine bedeutsame Rolle spielen, keineswegs aber eine ausschlag- 
gebende. Denn das geschichtliche, wie das Genie überhaupt hat seine eigenen 
Gesetze, die sich mit den im allgemeinen gültigen durchaus nicht decken, und 
deren geheimnisvolles Wesen jeder Forschung zu spotten scheint. Alles, was 
hier an Forscherarbeit bisher geleistet wurde, gemahnt an die oft weitverzweig- 
ten Gänge der Borkenkäfer, die sich stets unter der Rinde halten und an keiner 
Stelle ins Innere des Baumes eindringen. So dürfen wir uns nicht wundern, 
wenn dem nüchternen Hannover ein vorwiegend intuitives Genie wie Scharn- 
horst, dem von Phantasie überquellenden Italien ein methodisches wie Cavour 
entsprang. Selbst innerhalb einer und derselben Familie können wir beide Typen 
finden, so im preußischen Königshaus, wo dem Methodiker Friedrich Wilhelm L 
sein stark intuitive Züge tragender Sohn Friedrich II. gegenübersteht. 


Die Tätigkeit des Mannes der Geschichte nun, mag er ein Genie der Intuition 
oder eines der Methode sein, setzt in dem Augenblick ein, wo er in der be- 
stehenden Ordnung einen Defekt entdeckt, dessen Behebung ihm lebenswichtig 
erscheint. Dieser Defekt wird gar nicht allgemein auffallen müssen, ja es ist 
ein Teil der Genialität des Mannes der Geschichte, ihn früher zu entdecken als 
andere, an unmerklichen Symptomen das schleichende Leiden zu erkennen, das 
die Existenz des Patienten — Staat oder Nation — bedroht, wenn das heilende 
Messer des Arztes es nicht rechtzeitig entfernt. Die Geschichte lehrt sogar, daß 
nicht rechtzeitig erkannte derartige Defekte selten den genidlen Heiler finden: 
sie sind zu groß geworden, als daß ein einzelner noch einzugreifen vermóchte. 
Wir brauchen uns nur der größten sozialen Revolution des Mittelalters, der 
deutschen Bauernkriege, zu erinnern. Der Notstand war allgemein bekannt; so 
war es keineswegs nur dumpfes, versklavtes Bauernproletariat, was sich da 
erhoben hatte, sondern mit ihm bedeutende Stádte mit einem kulturell hoch- 


24 Jelusich / Der Mann der Geschichte 


entwickelten Bürgerstand und sogar ansehnliche Teile des Landadels. Aber weil 
zu viele Köpfe sich erhoben, fand sich der Kopf nicht, der über allen gestanden 
wäre, und so. versandete diese gewaltige Revolution und ertrank schließlich in 
einem Meer von Blut und Tränen, ohne eine Lösung zu finden. Auch die Führer 
der Französischen Revolution von 1789 vermochten, obgleich es ihnen gelang, 
das Bestehende umzustürzen, die alte Ordnung durch keine neue, bessere zu 
ersetzen, zerfleischten sich vielmehr in einem inneren Kampf, der nach und nach 
ihre bedeutendsten Köpfe forderte. Erst als sie sich totgelaufen hatte, brachte 
das Auftreten Napoleons eine Neuordnung zustande — allerdings eine wesent- 
lich andere, als jene sich es vorgestellt haben mögen. 


Gehört dieses frühe Erkennen eines Schadens mehr der Methodik an — ob- 
gleich auch hier das Unbewußte eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt —, 
` so ist das Heilmittel durchaus Sache der Intuition. Dem Mann der Geschichte 
tritt ein Ziel vors Auge, ein Blickpunkt, dem er zustrebt, zwangsläufig, wie im 
Banne einer überwertigen Idee. Und als solche ist dieses Ziel, wenigstens so- 
weit es das Seelenleben dieses Menschen angeht, in gewissem Sinn auch anzu- 
sprechen. Wenn so ein Mann erst einmal alle Zweifel und Hemmungen über- 
wunden, alle Einwände, die ihm Gewohnheit, Besorgtheit, nüchterner Verstand, 
menschliche Schwáche in den Weg legen, beseitigt hat, dann kennt er nichts 
anderes mehr, unterwirft sein ganzes Sein diesem einen Gedanken. So wie der 
Schlag des trainierten Faustkämpfers von viel stärkerer Wucht ist als der eines 
gleichstarken, aber nicht geübten Mannes, so vermag auch der Wille eines 
solchen Menschen mehr als der jedes andern. Denn er ist auf einen Punkt 
konzentriert, weicht in nichts ab, erstrebt nichts anderes, als um jeden Preis, 
auch um den der eigenen Person, Schritt um Schritt seinem Ziele nahezukommen. 


Dies erklárt auch den unbeugsamen Mut, der Menschen dieses Schlages be- 
seelt. Da in ihrer Seele alle anderen Empfindungen und Gedanken erloschen 
sind, hat auch die Furcht keinen Raum mehr darin. In schwármerischer Selbst- 
steigerung mag sich ein solcher Mann als auserwáhltes Werkzeug, als Gesandter 
Gottes fühlen, der berufen wurde, einen ihm gestellten hóheren Auftrag auszu- 
führen, und der nichts mehr scheut, als dieser Berufung nicht zu genügen; der 
realer Denkende mag in der Lósung seiner Aufgabe die Erfüllung einer selbst- 
auferlegten, verantwortungsvollen Pflicht gegen eine Klasse, eine Nation, die 
Menschheit erblicken; der dritte endlich mag dem Antrieb einer unklar er- 
kannten Notwendigkeit folgen, ohne sich Rechenschaft abzulegen darüber, was 
noch freier EntschluB, was schon innerer Zwang ist.. Sie alle aber gleichen ein- 
ander in einem: in der Unbeugsamkeit allen Versuchen gegenüber, sie von ihrem 
Ziele abzulenken, in der Verachtung von Drohung und Verfolgung, Not und 
Gefahr — in der unbeirrbaren Zielstrebigkeit. Ob Luther vor dem Reichstag zu 
Worms sein „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!” ausruft oder Cäsar im See- 
sturm vor Dyrrhachium sein „Nie zurück!", ob Friedrich II. vor der Schlacht bei 
Leuthen seinen Generalen zuruft: „Wir müssen den Feind schlagen oder uns 
alle vor seinen Batterien vergraben lassen!" oder Tegetthoff vor Lissa als letztes 
Signal setzt: „Den Feind anrennen und zum Sinken bringen!" — immer ist es 
derselbe Geist unerschütterlicher Folgerichtigkeit, immer dieselbe verzehrende 
Flamme, der jener, den sie erfaBte, alles zu opfern bereit ist, nur um sie lodernd 
zu erhalten — auch sich selbst. Sie hat Tráumer zu Tatmenschen, Zaghafte zu 
Helden gemacht, und ihrer aller Wahlspruch bleibt das ewige: ,Et quid volo, 
nisi ut ardeat!" Und was will ich denn, als daB es brenne! 

Die restlos sachliche Einstellung des Mannes der Geschichte ist auch der 
Grund dafür, daß es ihm seelisch und also überhaupt unmöglich ist, sich mit 
Teillösungen zu begnügen. Er empfindet ein ihm durch die Gewalt der Umstände 
aufgenótigtes Kompromiß als das árgste Unglück, das ihn treffen kann; er wird 


Jelusich / Der Mann der Geschichte 25 


einem solchen Kompromiß — wofern er es nicht nur als taktisch notwendige 
Zwischenlösung betrachtet — alles andere vorziehen, selbst ein völliges Schei- 
tern seiner Pläne. Denn er weiß auch, daß keine Idee, die einmal in die Welt 
gesetzt wurde, jemals anders überwunden werden kann, als durch eine bessere, 
höhere. So bleibt auch dem Gescheiterten der Trost, daß einmal ein Nachfolger 
kommen wird, der Rächer, der aus seinen Gebeinen entsteht und der sie zum 
Siege führt. Das Kompromiß aber — Weisheit der Sprache auch im Fremdwort! 
— kompromittiert die Idee, es verwässert und lähmt sie und macht sie unfähig, 
je wieder in voller Reinheit zu erstehen: 


Darum ist Folgerichtigkeit eine seiner bedeutsamsten Eigenschaften. Er hat 
den Gedanken zu Ende gedacht, nun hat der Wille dem Gedanken zu folgen. 
Der Zauderer schrickt vor dem letzten Schritt zurück, dem Mann der Geschichte 
ist keiner der letzte. Er weiB, daB das Ideal in seiner hóchsten Vollendung un- 
erreichbar ist, aber weit entfernt davon, sich durch diese Erkenntnis nieder- 
drücken zu lassen, empfindet er sie als einen Ansporn, sich diesem Unerreich- 
baren so weit wie möglich zu nähern. Er strebt nach dem Unmöglichen, kennt 
aber die Grenzen des Möglichen, so vollendet, daß er bis an sie zu gelangen 
trachtet, der inneren Stimme gewiß, die ihn warnen wird, sie zu überschreiten. 


So ist, wenn er erfolgreich sein soll, das Empfinden des Maßes ungemein 
wichtig für ihn. Daß er dieses Empfinden, das er ursprünglich in hohem Grade 
besaß, später verlor, war Napoleons Tragödie, so wie es die des Pompeius war, 
daß er das Maß zu klein nahm und im entscheidenden Augenblick den letzten, 
notwendigen Entschluß nicht zu fassen vermochte. Mit nachtwandlerischer 
Sicherheit geht der Mann der Geschichte seinen Weg, wissend, daß er unüber- 
windlich ist, solange er sich im Einklang mit der Natur der Dinge befindet. 


Damit ist freilich nicht gesagt, daß er blind auf sein Ziel zustürmen müsse, 
ohne der Hindernisse zu achten, die eine feindliche Umwelt — und dem Er- 
neuerer wird die Umwelt immer' feindlich sein — um ihn tütmen kónnte. Er 
besitzt zwei Fähigkeiten, die denen des erfolgreichen Feldherrn ähneln: die 
Fáhigkeit, Anhánger zu sammeln, zu organisieren und aufs engste mit seiner 
Idee und dadurch mit ihm, dem Reprásentanten dieser Idee, zu verbinden, und 
die, drohende Widerstánde richtig zu berechnen. Daraus entwickelt sich aber 
bei aller Einheitlichkeit der einmal eingeschlagenen Linie die Begabung, taktisch 
zu kämpfen, scheinbare Umwege, ja Winkelzüge einzuschlagen, die berechnet 
sind, den Gegner zu täuschen oder an seiner schwächsten Stelle zu packen, 
untätig zu scheinen, bis es Zeit ist, zu handeln, ein Zwischenziel nach dem 
anderen zu verfolgen — entwickelt sich endlich die Begabung, im großen wie 
im kleinen in der Entwicklung neuer Kräfte, Einfälle und Gedanken zü wachsen. 
So erklärt sich die seelische Steigerung, die wir bei allen wirklich großen 
Männern der Geschichte beobachten, so übrigens auch der auffallende Umstand, 
daß so viele von ihnen, ohne Soldaten von Beruf zu sein, hervorragende Heer- 
führer wurden. Der*politische Kampf ist dem auf der Walstatt näher verwandt, 
als man gewöhnlich annimmt: auch er kennt Frontal- und Flankenangriff, Durch- 
bruch und Umfassung, Einkesselung und den Vernichtungssieg. 

Aus dieser Geisteshaltung entspringt auch die bei allen geschichtlichen Genies, 
insbesondere bei allen Erneuerern, vorhandene Neigung, wenn es an der Zeit 
ist, wenn .die Stunde der Entscheidung an sie herantritt, alles zu wagen, alles 
auf eine Karte zu setzen. Es ist in ihnen etwas, was sie den großen Glücks- 
spielern verwandt erscheinen läßt, und in der Tat waren einzelne von ihnen, 
wie Mazarin, Prinz Eugen, Rüdiger Starhemberg, Blücher, Radetzky, leiden- 
schaftliche Kartenspieler. Aber jene Verwandtschaft ist nur eine scheinbare. In 
Wahrheit unterscheiden sie sich vom Hasardeur grundlegend: dieser ist Fatalist; 
er nimmt das Los hin, das ihm beschert wurde, er wagt, fast gleichgültig gegen 


28 Jelusich / Der Mann der Geschichte 


Sieg und Untergang, nur um der würgenden Spannung willen, die ihm das Wag- 
nis beschert. Männer der Geschichte hingegen sind nicht Schicksalsergebene, 
sie sind Schicksalsgläubige. Das hohe Spiel, das sie wagen, gilt nicht ihrer 
Person, deren privates Sein sie mehr oder weniger kalt läßt. Und vor allem, 
sie wagen nicht um irgendeiner Spannung, einer Lust am Kampfe willen, sondern 
um zu gewinnen, um der Idee, der sie dienen, zum Siege zu verhelfen. Darum 
werden sie auch — und hier haben wir den Punkt, wo Intuition und Methode 
sich notwendig treffen und vereinigen müssen — alles aufs gründlichste vor- 
bereiten, ehe sie den großen Schlag tun, werden in oft jahrzehntelanger emsiger, 
dem Auge des nicht eingeweihten Beobachters kaum oder überhaupt nicht 
erkennbarer Kleinarbeit alle Maßregeln treffen, die ihnen zu Gebote stehen, um 
des Sieges so sicher wie nur irgend möglich zu sein. Wenn aber jene große 
Stunde kommt, wenn die äußerste Entscheidung von ihnen gefordert wird, dann 
werfen sie sich mit voller Kraft in den Strudel, entschlossen, ihn als Uberwinder 
zu verlassen — oder überhaupt nicht. 


So sehen wir im entscheidenden Augenblick meist auch einen Menschen vor 
uns, der von dem, als der er bisher erschien, gänzlich verschieden ist. In der 
Vorbereitung verschlossen, schweigsam, ja, wohl gar sich listig verstellend: 
Brutus der Ältere wälzte seine großen Pläne unter der Maske eines Idioten — 
daher auch der Name —, Cäsar hatte in Rom den denkbar schlechtesten Ruf 
eines skrupellosen Lebemannes und Schuldenmachers, Armin der Cherusker galt 
allgemein bei seinen Landsleuten als volksvergessener Römerfreund, Wilhelm 
von Oranien, der mit dem bezeichnenden Beinamen des „großen Schweigers" in 
die Geschichte eingegangen ist, war ängstlich bemüht, die Verbindung mit den 
Spaniern aufrechtzuerhalten, der junge Bonaparte kroch und antichambrierte in 
seiner schlechtsitzenden, schäbigen Uniform bei allen Tagesgrößen, ja, scheute 
sich nicht, deren abgelegte Mätressen zu übernehmen, nur um endlich das 
Kommando zu erreichen, in dem er Seine Kraft entfalten könnte, Bismarck 
wandte allen seinen berühmten Charme zur Gewinnung von Freunden oder 
wenigstens Neutralen auf, um freie Bahn für seine gewaltigen, in diesem Stadium 
noch völlig verhohlenen Entwürfe zu schaffen; in der Ausführung jedoch offen 
bis zur Selbstentblößung, seine Ziele in alle Welt hinausschreiend, die eben noch 
sorgsam gepflegten Beziehungen mit einem Schlage abbrechend oder wenigstens 
völlig vernachlässigend. Man wird die beiden äußerlich so grundverschiedenen 
Erscheinungsformen einer und derselben Wesenheit am leichtesten überblicken, 
wenn man sich das Bild einer Granate vor Augen führt — oder richtiger gesagt, 
die beiden Bilder: das des mattglänzenden, wuchtigen Zylinders, als der sie im 
Ruhezustand erscheint, und das der platzenden, aufbrüllenden, nach allen Rich- 
tungen ihre vernichtenden Kräfte schleudernden Feuerkugel. 


Mit dieser Schicksalsgläubigkeit hängt auch die unzerstörbare Zähigkeit zu- 
sammen, die ein typisches Merkmal aller wirklich großen Männer der Geschichte 
ist. Die meisten von ihnen erlebten Rückschläge, die jeden anderen vernichtet 
hätten, sie hingegen nur noch stärker, umsichtiger, entschlossener machten. 
Cäsar, der catilinarischen Verschwörung nahestehend oder wenigstens mit ihr 
sympathisierend entging nur mit knapper Not der Gefahr, in den Prozeß. gegen 
die Verschworenen verwickelt zu werden; die mohammedanische Zeitrechnung 
nimmt bekanntlich ihren Anfang von der Flucht des Propheten; das republika- 
nische Heer der englischen Revolution, in dem Cromwell als Rittmeister diente, 
erlitt zu Beginn des Krieges Niederlagen, die jeden weiteren Kampf aussichtslos 
erscheinen ließen. Das Reformwerk Scharnhorsts schien durch die Konvention 
zwischen Preußen und Frankreich, die das preußische Heer auf den Höchststand 
von 42000 Mann beschränkte, restlos vernichtet. Napoleon III. büßte seine 
ersten Versuche eines Staatsstreiches mit Festungshaft. Wir können es also als 


Jelusich / Der Mann der Geschichte 27 


ein Hauptkennzeichen des Mannes der Geschichte ansehen, daß ihn Mißerfolge 
nicht entmutigen, daß er auch in ihnen sein Ziel keinen Augenblick lang aus 
den Augen verliert, nicht aufhört, ihm immer wieder zuzustreben, so lange, bis 
er erreicht hat, was nur irgend er erreichen konnte — oder endgültig, das heißt 
sterbend, scheitert. 

Wir haben uns bisher mit den Eigenschaften befaßt, die so ziemlich allen 
großen Männern der Geschichte eigen sind; denn auch die Unterscheidung in 
intuitive und methodische Genies, von der wir ausgingen, ist nur bis zu einem 
gewissen Grade richtig: wir haben selbst gesehen, wie die Grenzen sich immer 
wieder verwischen, ja, wie man oft nicht entscheiden kann, ob eine geschicht- 
liche Persönlichkeit dem ersten oder dem zweiten Typus zuzuzählen ist. Eine 
Unterscheidung aber gibt es, die, vom Körperlichen ausgehend, bedeutsame 
Rückschlüsse auf das Seelische zuläßt und tatsächlich starke Gegensätze 
zwischen den Männern der Geschichte zeigt. Es gibt allerdings auch hier Aus- 
nahmen — sie sollen uns später noch beschäftigen —, im allgemeinen jedoch 
kann man sagen, daß die hier kenntlich werdenden Kontraste schroff ab- 
gegrenzt sind. 


Es ist. vielleicht einigen von Ihnen die scherzhafte Unterscheidung der Männer 
in Schuster und Schneider bekannt. Der Name spricht für sich. Der Schuster ist 
ein untersetzter, kräftiger Mensch, wuchtig — der richtige, gerade Michel; der 
Schneider zartgliedrig, schlank, in Listen erfahren, und ihnen nicht abgeneigt. Man 
könnte auch eine Einteilung in Dragoner und Husaren treffen oder in Säbel- und 
Florettfechter oder sonst eine ähnliche, die aber stets auf dasselbe hinauslaufen 
würde. Diese scherzhafte Einteilung nun entspricht ziemlich genau einer gebräuch- 
lichen wissenschaftlichen, nur daß diese beim Schuster noch eine Unterteilung 
kennt. Sie unterscheidet nämlich die Menschen in einen athletischen, einen pyk- 
nischen und einen leptosomen Typus. Was der athletische Typus ist, werden wir 
gleichfalls ohne weiteres verstehen; ihm entfernt verwandt ist der pyknische 
Typus — vom griechischen „pyknos“, dicht, dick — also jener der dickleibigen, 
geistig trägen Menschen; den Gegensatz bildet der leptosome Typus — griechisch 
„leptos“, zart und „soma“, Leib —, also der zartleibige, schlanke Typus. Es ist nun 
eine bemerkenswerte Tatsache, daß die Männer der Geschichte dem athletischen 
und dem leptosomen Typus ungefähr zu gleichen Teilen angehören, während der 
pyknische, also der dickleibige, aus begreiflichen Gründen nahezu völlig ausfällt. 
Unter 44 von mir durchgesehenen Bildnissen großer Herrscher, Feldherren, 
Staatsmänner und sonstiger Menschen, die in der Geschichte eine Rolle spielten, 
waren 20, also ungefähr die Hälfte, als dem athletischen Typus zugehörig anzu- 
sprechen, darunter Männer wie Scipio Africanus maior, Konstantin der Große, 
Karl der Große, Luther, Gustav Adolf, Cromwell, Peter der Große, Napoleon, der 
Freiherr vom Stein und Bismarck. Leptosome waren unter anderen Demosthenes, 
Alexander der Große, Cäsar, Calvin, Richelieu, Prinz Eugen, Friedrich II., 
Robespierre, Erzherzog Karl, Scharnhorst, Metternich, Moltke und Lincoln. 


Beiden Typen ist ein vulkanisches Temperament zu eigen, aber bei jedem von 
ihnen tut es sich in verschiedener Weise kund. Beim athletischen Typus bewirkt 
jede Gelegenheit eine Eruption, während beim leptosomen diese Eruptionen ge- 
hemmt, um nicht zu sagen gelenkt sind. Es ist, als brenne bei diesen die Flamme 
verhohlener oder werde mit seelischen Sub: anzen gespeist, die beim Athleten 
nicht anzutreffen sind. Man braucht sich bloß Gegensätze vor Augen zu halten, 
wie Luther und Calvin, Gustav Adolf und Moltke, Bismarck und Lincoln. Die 
ersten leicht entflammt, ihren Standpunkt verfechtend, auf ihr Ziel losschreitend, 
die anderen dauernd in kalter Glut brennend, ihre Lage berechnend, ihr Ziel ver- 
folgend. Diese Verschiedenheit geht bis tief ins Menschliche hinein. Der athle- 
tische Mann ist sanguinisch-cholerisch, aufbrausend, dem Leben hingegeben, ein 


28 Jelusich / Der Mann der Geschichte 


großer Zürner und Hasser, der leptosome cholerisch-melancholisch, beherrscht, 
das Leben überlegen genießend oder aber der Askese zugeneigt, wie denn die 
großen Asexuellen ausnahmslos diesem Typus angehören; er zürnt und haßt nicht 
so unverhohlen wie der Athlet, aber er ist unversöhnlich. Ein typisches Beispiel 
dafür ist Friedrich II., der, nachdem er sein halbes Leben lang gegen Maria 
Theresia Kriege geführt hatte, bei ihrem Tode das große Wort fand: „Ich bin nie 
ihr Feind gewesen." Beachten Sie im Gegensatz dazu den glühenden HaB der 
zweifellos dem athletischen Typus angehórenden Maria Theresia, die ihren groBen 
Gegner nie anders als „das Monstrum‘ nannte. Derselbe Friedrich II. aber ver- 
urteilte Richter, deren Spruch er für ungerecht hielt, trotz der Billigung ihres 
Vorgehens durch alle Senate aus eigener Machtvollkommenheit zu Amtsent- 
setzung und Gefángnisstrafen, und sie wurden erst nach seinem Tode rehabilitiert. 


Der Athlet ist der Mann der Praxis und daher fremden Einsprüchen und fremden 
Verbesserungen zugänglich, wenn er deren Stichhaltigkeit erkennt; der Lepto- 
some ordnet die Praxis seiner zuerst festgesetzten Theorie unter und wird diese 
Theorie unverándert festhalten; trifft sie auf berechtigte Einwánde, so wird er sie 
lieber vóllig aufgeben, ehe er sie modifizieren lieBe. Dementsprechend wird sich 
der Athlet zu notwendigen harten Maßnahmen. nur unter schweren inneren 
Kämpfen entschließen; er wird sie zwar konsequent, aber seelisch leidend durch- 
führen. Bezeichnend hierfür ist das Wort Radetzkys über das aufrührerische Mai- 
land: „Ich werde das Blut beweinen, das vergossen werden muß, aber ich werde 
es vergieBen." Der Leptosome hingegen kennt diese inneren Kämpfe nicht, oder 
vielmehr, er hat sie schon durchgemacht, als er seine Theorie aufbaute. Was 
seinem Ideal fortan im Wege steht oder davon abweicht, wird vernichtet, nicht 
aus einer angeborenen Bösartigkeit, sondern weil er es nicht durch solche Be- 
langlosigkeiten wie menschliche Unvollkommenheit beeinträchtigen lassen will. 

Betrachten wir nun unter diesem Gesichtspunkt die Weltgeschichte, so bekom- 
men Zeitepochen und der Ablauf entscheidender Ereignisse ein ganz eigenartiges 
Aussehen. Welches wäre z. B. der Verlauf der Reformation gewesen, wenn Luther 
nicht athletisch, sondern leptosom gewesen wäre; wie anders hingegen wäre 
Calvins Wirksamkeit in dem von ihm begründeten Gottesstaat von Genf gewesen, 
wenn er athletisch — und daher nicht so vollendet asketisch gewesen wäre; was 
wäre das Schicksal Rußlands geworden unter einem leptosomen Peter dem Großen, 
was das Preußens unter einem athletischen Friedrich II.! Hier erst erkennen wir, 
wie vollendet wahr das zu Beginn dieses Vortrages zitierte Wort von Treitschke 
ist: Männer, und, setzen wir hinzu, Menschen machen die Geschichte. 


Aber noch weiter. Die Wirkung großer Männer ist mit ihrem Lebensende nicht 
abgeschlossen, und dies um so weniger, je größer sie waren. Dies erklärt sich aus 
deren Sachlichkeit. So weit aber geht die Sachlichkeit nicht, daß sie die Persön- 
lichkeit völlig auslöschte. Der Mann der Geschichte sieht die Dinge richtig, aber 
er sieht sie durch das Medium seiner Veranlagung, seines Charakters. Darum 
wird auch die von ihm hergestellte Ordnung eine sein, die im Wesentlichen seiner 
Persönlichkeit entspricht. Wenn man, um ein einziges Beispiel anzuführen, Bis- 
marck „den Schmied" der deutschen Einheit nennt, so wird schon durch dieses 
Bild der Typus gekennzeichnet, dem er angehört. So wie sein Schöpfer aber trug 
auch das Zweite Reich athletische Züge, und so wie sein Schöpfer Calvin trug 
das calvinistische Genf leptosom-asketische Züge, und sie übertrugen sich, da 
der englische Puritanismus ein Kind des Calvinismus ist, auf England. Nun ist aber 
das englische Volk in seiner Grundstruktur unzweifelhaft athletisch. Die auf- 
gezwungene, ihnen nicht artgemäße Lebensform mußte daher den Charakter der 
Engländer in verhängnisvoller Weise beeinflussen. Schon in der Zwiespältigkeit 
Cromwells sehen wir das innere Ringen zwischen seelischem Trieb und aner- 
zogenem Zwang. Dieser Prozeß hat sich seitdem fortgesetzt und ist unterbewußt 


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Jelusich / Der Mann der Geschichte 29 


geworden. Immer noch ringt das englische Volk, auch in jenen Teilen, die der 
anglikanischen Hochkirche angehören, mit der ihm eingepflanzten Form des 
Puritanismus, immer noch wehrt sich die athletische Grundlage gegen den 
leptosom-asketischen Überbau. Hier finden wir die Ursache der Zweideutigkeit 
des englischen Charakters, hier den Grund für das fast schizophren anmutende 
Doppelwesen jedes Engländers, der als Privatmann höchsten Wert auf persön- . 
liche Ehrenhaftigkeit legt, und zugleich als Staatsmann sich nicht scheut, die 
perfideste Politik zu treiben, hier endlich auch die Ursache jenes englischen 
Nationallasters, der sonst unbegreiflichen, abstoßenden Heuchelei. 


Die wenigen Ausnahmen liegen sämtlith auf leptosomem Gebiet. Es scheint, daß 
dieser Typus trotz oder wegen seiner Starrheit dazu neigt, ins Gegenteil um- 
zuschlagen. Wir finden hier einzelne Männer, die zu ihren leptosomen aus- 
gesprochene athletische Eigenschaften hinzufügen: sie glühen, sie sind keine 
kalten Rechner, sie neigen zu Zorn und Haß. Ich nenne Alexander den Großen, 
Cäsar, den Prinzen Eugen. Ihre Gelöstheit, die auch ein besonders kennzeichnen- 
des Merkmal des athletischen Menschen aufweist, den Humor, steht die grämliche 
Gewissenhaftigkeit eines typischen Leptosomen wie L: -coln gegenüber oder das 
unmenschliche Doktrinärtum eines Robespierre, der aus lauter Tugendhaftigkeit 
Tausende hinrichten ließ, weil er nur dann sicher war, daß sie nicht mehr 
sündigen würden. 


So ausgerüstet geht der Mann der Geschichte an seine geschichtliche Tat. Er 
kann sie vollführen, er kann an ihr scheitern. Im letzten Fall geht das Rad über 
ihn hinweg, er wird in späteren Jahrhunderten bestenfalls eine Fußnote in einem 
Lehrbuch der Geschichte sein. Gelingt es ihm jedoch, sie zu vollführen, so ergibt 
sich für ihn der zweite. Teil seiner Aufgabe, das Sichern und Verankern des Er- 
oberten. Auch hier aber sehen wir voll mitfühlender Ergriffenheit so manchen 
noch im Hafen untergehen. Die meisten der gewaltigen Neuerer werden ihres 
Werkes nicht froh. Sie sehen das ewig Allzumenschliche und flüchten, wie Cäsar 
und Friedrich II., in unnahbare Menschenverachtung oder verzichten, wie Scipio 
Africanus maior und der Freiherr vom Stein, angesichts der ihnen entgegen- 
schlagenden Feindseligkeit überhaupt auf die Weiterführung. In Wahrheit aber 
sehen sie überscharf, mißkennen die Kräfte, mit denen zu rechnen sie gewohnt 
waren, und ebenso die Schwächen, die sie zu benutzen wußten, und geben andern 
die Schuld — wenn überhaupt von einer solchen gesprochen werden kann —, 
anstatt sie in der eigenen Brust zu suchen. Denn nicht die letzte Tragik des 
Mannes der Geschichte, eine Tragik, von der nur wenige Auserwählte aus- 
genommen sind, besteht darin, daB er nur zu oft all seine Kraft auf die Erringung 
seiner Stellung verwenden mufte und ihm keine mehr übrigbleibt, das Errun- 
gene auszubauen. Wir wissen heute, daB Cásar keinen Augenblick zu früh starb. 
Er hat es selbst ausgesprochen, als er gelegentlich einer der vielen Warnungen, 
die ihm während des ganzen Verlaufes der cassianischen Verschwörung zukamen, 
verächtlich äußerte: „Sie töten einen Toten." Auch Napoleon war erschöpft, 
Cromwell, wahrscheinlich auch Bismarck. Spätern erst war es gegeben, das 
Werk, das jene begonnen hatten, weiterzuführen und zu beenden. 


Denn das ist das Tröstliche jeder genialen geschichtlichen Tat: Sowenig der 
Mann der Geschichte geeignet ist, Schule zu machen, sosehr er als einzigartig 
anzusehen ist, im Tiefsten seiner Persönlichkeit keinem vor und keinem nach 
ihm vergleichbar, so ist es doch der Wille des Schicksals oder wie sonst man die 
geheimnisvolle Macht nennen will, die die Welten lenkt, daß nichts Schöpfe- 
risches verlorengehen kann. Der Stein, einmal ins Rollen gebracht, bewegt sich 
weiter, entweder aus dem hier nutzbringenden Gesetz der Trägheit oder weil an 
die Stelle des Riesen, der ihn wälzte, ein Nachfolger tritt, ein Schöpfer er selbst, 
also ganz verschieden von seinem Vorgänger, und doch ihm wesensverwandt in 


90 Jelusich / Der Mann der Geschichte 


der Kraft, die ihn beseelt. Vom grauen Altertum bis in die neueste, ja, bis in die 
allerneueste Zeit können wir diesen Prozeß in einer großartigen Entwicklung 
verfolgen, und wir finden in dieser alles enthalten, was eine überwundene Geistes- 
richtung mit dem irreführenden Schlagwort „Fortschritt der Menschheit" zu 
nennen pflegte. Denn noch einmal sei es wiederholt: Nicht die gesamte Mensch- 
heit schreitet vorwärts, etwa einer vorrückenden Kolonne vergleichbar, sondern 
der einzelne, der mit mehr oder weniger Gelingen bemüht ist, einen Bruchteil 
dieser Menschheit sich nachzuziehen: Der Mann der Geschichte. 


Weil es aber stets nur ein Bruchteil ist, meist nur seine eigene Nation, wird 
der große Erneuerer gezwungen sein, das von ihm Geschaffene gegen eine ihm 
und seinem Werk fremde, ja feindliche Umwelt zu verteidigen. Denn jede Er- 
neuerung hat als Ursache einen fehlerhaften Zustand, den sie behebt. So muß sie 
notwendig die Mißbilligung aller Mächte finden, die mit diesem Defekt zu 
rechnen und aus ihm ihren Nutzen zu ziehen gewohnt sind. Darum sehen wir 
jeden Mann der Geschichte in den entscheidenden Phasen seiner Tätigkeit sich 
dem Ausbau einer starken, schlagbereiten Kriegsmacht widmen. Es wurde schon 
darauf hingewiesen, wie eingehend sich Cäsar mit der Ausbildung seiner Truppen 
befaßte. In ihrer Manövrierfähigkeit, ihren Marschleistungen und nicht zuletzt in 
ihrer Durchführung großer technischer Aufgaben — es sei nur an die berühmte 
Rheinbrücke erinnert oder an die Belagerungsarbeiten vor Alesia — stand sie im 
Altertum einzigartig da. Ähnliche Reformer waren Kaiser Maximilian I., „der 
Vater der Landsknechte", der die plumpen, schwer beweglichen Ritterheere durch 
die viel beweglichere Infanterie ersetzte, Cromwell und Prinz Eugen, die Schópfer 
der modernen Kavallerietaktik, der letztgenannte durch die Verwendung der 
schweren Reiterei auch Anreger der modernen Panzertaktik, Friedrich II. mit 
seinem keineswegs geisttótenden, sondern vielmehr geistberuhigenden Drill und 
seiner einzigartigen Durchbildung der Feuertechnik, Napoleon, mit dessen 
Kolonnentaktik der Durchbruch seine beherrschende Rolle in der Strategie 
antrat, Erzherzog Karl und Scharnhorst, die Schópfer des Volksheeres. Wie sehr 
sich diese Reformen bis in die Gegenwart fortsetzen, braucht wohl nicht aus- 
drücklich ausgeführt zu werden. 


Neben dieser Schaffung und Ausbildung stehender Heere und der Wehrhaft- 
machung des ganzen Volkes durch die soldatische Dienstpflicht taucht aber 
immer wieder noch ein zweiter Gedanke auf, der namentlich dauernd unruhigen 
Nachbarn gegenüber angewendet wurde: der des Wehrbauern. Wir finden ihn 
fast bei allen Mánnern der Geschichte, die für das Bauerntum überhaupt Ver- 
stándnis hatten, so im Altertum bei Ptolomáus Soter und Cäsar. Diese Männer 
führten den Gedanken auf die Weise durch, daß sie ausgediente Soldaten mit 
Land in den eroberten Gebieten belehnten, an die Gabe die Bedingung knüpfend, 
daB die Lehensmánner dem einbrechenden Feinde als erstes Aufgebot entgegen- 
treten. Ein áhnlicher Gedanke lag ursprünglich auch dem mittelalterlichen 
Lehenswesen zugrunde, ja, wurde sogar noch ausgebildet, insofern, als er sich 
nicht auf die Grenze beschránkte, sondern über das ganze Hoheitsgebiet aus- 
dehnte: Jeder Lehensträger hatte im Kriegsfalle nicht nur selbst einzurücken, 
sondern überdies auch eine vorher bestimmte Anzahl von Wehrmannschaft bei- 
zustellen. Leider verwischte sich dieser Gedanke im Laufe der Jahrhunderte, bis 
er schlieBlich zu einer leeren Form erstarrte. Neu aufgegriffen wurde der Gedanke 
des Wehrbauern vom Prinzen Eugen, der zu Ende des 17. Jahrhunderts zwischen 
der Türkei und Ungarn die sogenannte Militárgrenze organisierte. Hier aber 
finden wir zugleich eine Umkehrung dieser Einführung: die Bewohner und 
Lehenstráger der Militárgrenze waren nicht Wehrbauern, sondern Bauernsoldaten, 
in Regimenter zusammengefaBt, in deren Rahmen sich, auch wenn sie nicht unter 
Waffen standen, ihr ganzes Leben abspielte, in den Wehrdienst hineingeboren 


Jelusich / Der Mann der Geschichte 31 


und erst mit ihrem Tode aus ihm ausscheidend. Diese eigenartige Einrichtung, die 
sich hervorragend bewährte, überdauerte nahezu drei Jahrhunderte und endete 
erst kurz vor unserer Zeit durch die Einverleibung der letzten Reste ihres Gebietes 
ins Königreich Kroatien. 


Doch nicht nur nach außen, auch nach innen muß der Mann der Geschichte sein 
Werk schützen, um den Trägen zur Eingliederung zu zwingen und den Böswilli- 
gen, der ja nirgends fehlt, an deren Sabotierung zu hindern. Dies trachtet der 
große Erneuerer ausnahmslos durch eine Vereinheitlichung der Verwaltung 
herbeizuführen. Die Tragödie des Ersten Reiches der Deutschen besteht nicht 
zuletzt darin, daß dieses oberste Prinzip vernachlässigt wurde. Je selbständiger 
die einzelnen Teile ihre innere Struktur entwickelten, desto mehr lockerte sich 
der Zusammenhang des Ganzen, bis seit dem Unheilsfrieden von Münster und 
Osnabrück nur noch ein loses Band die völlig autonom gewordenen Fürstentümer 
zusammenhielt. Den denkbar größten Gegensatz dazu bildet die straffe Zusammen- 
fassung des französischen Staates, dessen Gebiete erst nach Landschaften, schlieB- 
lich aber sogar nach verhältnismäßig kleinen Arrondissements gegliedert wurden, 
die ihre Leitung von einer obersten Zentrale empfingen. Freilich aber ist Frank- 
reich hierin nicht bahnbrechend vorangegangen; vielmehr finden wir diese Auf- 
teilung schon früher gerade bei den größten Organisatoren der Weltgeschichte, 
abermals bei einem Ptolomäus Soter, bei Cäsar, bei Karl dem Großen. Ihr geist- 
reiches System war ein geniales Auswiegen zentraler Leitung und Selbstverwal- 
tung der Zellen. So war die einheitliche Leitung gewährleistet, entartete aber 
nicht zu einer óden und verödenden Gleichmacherei, wußte vielmehr in kluger 
Erkenntnis des Reichtums der Eigenart diese zu schonen, ja, nützlich zu ge- 
brauchen. Damit wurde nicht nur eine Ordnung des Alltags herbeigeführt, nicht 
nur eine fruchtbare Finanz- und überhaupt Wirtschaftsgebarung erzielt, wurden 
nicht nur Kräfte für nützliche Arbeit freigemacht, die zur Erzielung großartiger 
Gemeinschaftsleistungen vereinigt werden konnten — damit wurde über alle 
Besonderheiten hinaus jener Gemeingeist erzielt, der aus Stämmen Völker und 
aus diesen die Nation macht. Sie entsteht in dem Augenblick, wo in den Seelen 
der einzelnen das Gefühl der Zusammengehörigkeit das der Sonderheit überwiegt, 
sie wird um so stärker, je unbewußter, selbstverständlicher dieses Gefühl wird, 
und sinkt dahin, wenn jenes Aufgehen der Teile in einem Größeren seine Kraft 
verliert, wenn egoistische, zentrifugale Tendenzen den gewaltigen Aufbau 
atomisieren. 


Wir sprachen von der Ordnung des Alltags: denn ewig kann keine Revolution 
währen, sie muß abgelöst werden durch ein Gleichmaß der Tage, das allein 
dauernde Gemeinschaftsleistungen ermöglicht. Dieses Gleichmaß muß aber nicht 
nur nach innen und außen geschützt, es muß auch gesichert werden, vor allen 
Dingen — da man nun nach dem bekannten Wort erst leben muß, um zu philoso- 
phieren — materiell gesichert werden. So sehen wir die großen Organisatoren, 
von denen wir eben sprachen, als vornehmliche Förderer eines starken und ent- 
wicklungsfähigen Bauernstandes überhaupt: Ptolomäus wie Cäsar, Karl den 
Großen wie Cromwell. Ein einziger unter ihnen — Napoleon — bildet eine Aus- 
nahme; er brauchte für die endlosen Kriege, zu denen ihn die Unrast seines 
Geistes trieb, Soldaten und immer wieder Soldaten, und nahm sie vor allen 
Dingen vom flachen Land. Diese Entvölkerung gerade der lebenswichtigen Be- 
zirke aber wurde nicht der letzte Grund seines schließlichen Sturzes. Gewiß ist 
der Bauer in erster Linie der Verteidiger der heimatlichen Scholle und wurde, 
wie wir gesehen haben, von den Männern der Geschichte als solcher auch 
angesehen; aber sein Aufruf, seine notwendige Sammlung unter den Fahnen 
unterscheidet sich grundlegend von dem Raubbau, den wir eben bei Napoleon 


32 Jelusich / Der Mann der Geschichte 


finden. Damals begann jener Aderlaß am französischen Volke, der letzten Endes 
zum tragischen Verfall führte, den wir heute miterleben. ' 


Daß aber auch das geistige Leben seine Sicherung, und noch mehr, seine 
reichste Anregung findet, ist schon in einem tiefen seelischen Bedürfnis des 
Mannes der Geschichte begründet. Denn nicht das letzte, wesentliche Merkmal 
seiner Persönlichkeit ist deren Vielseitigkeit. Die großen Staatenbildner und 
-lenker verlieren sich nicht im engen Bannkreis ihrer politischen Planung, son- 
dern suchen darüber hinaus in jedem menschlichen Bereich tätig und anregend 
zu sein. Der Schriftsteller Cäsar findet begeistertes Lob in den Briefen seines 
politischen Gegners Cicero; ein Staatsmann wie Perikles führte durch große 
Staatsaufträge die Kunst des Phidias zur höchsten Blüte; Prinz Eugen war ein 
Bibliophile edelster Prägung und intimer Freund des letzten großen Universal- 
gelehrten Leibniz; Friedrich II. war leidenschaftlicher und ausgezeichneter 
Musiker — wie übrigens auch mehrere der älteren Habsburger — und Schrift- 
steller, wenn auch nicht Dichter von Bedeutung; Napoleon, ein Kenner und 
Schätzer der Meisterwerke der Weltliteratur — es sei nur an sein Gespräch mit 
Goethe erinnert —, hinterließ ein Gesetzwerk, das seine Herrschaft lange über- 
dauerte. Cromwells, des großen Ausnahmefalls, Kunstfremdheit wird durch die 
Engherzigkeit des Puritanismus erklärt, in der er erzogen war und die er nie 
abzustreifen vermochte; und doch wollen wir uns erinnern, daß er Milton wenig- 
stens als Staatssekretär und Verfasser geistig hochstehender politischer Streit- 
schriften verwendete. Das Idealbild der neuen Ordnung, das der Mann der 
Geschichte in seiner Seele trägt, umfaßt eben alle Lebensgebiete. 

Hier endlich stellt sich uns die zwingende Notwendigkeit entgegen, die Frage 
zu beantworten, was der Mann der Geschichte denn eigentlich will — will nicht 
aus einer verstandesmäßig geschöpften Erkenntnis heraus, sondern noch viel 
mehr aus den unbewußten Quellen der Intuition, aus dem Auftrag der welt- 
beherrschenden und weltleitenden Mächte, deren Sendbote und Bevollmächtigter 
er ist. Eine neue Ordnung, sagten wir. Aber diese müßte, für sich gelassen, letzten 
Endes doch zur Erstarrung und damit zur Unfruchtbarkeit und einem wenn auch 
langsamen Absterben führen. Das Glück also der möglichst großen Zahl? Aber 
auch dieser Lieblingstraum des Rationalismus ist längst als Unmöglichkeit ent- 
larvt, so wie das Perpetuum mobile eine Unmöglichkeit ist, als dessen Gegensatz 
jene allgemeine Glückseligkeit ein Perpetuum stabile voraussetzt, einen niemals 
mehr gestörten Zustand der Ruhe, ohne Leidenschaften, ohne Strebungen, ohne 

neue Erkenntnisse. Mit Recht sagt Schopenhauer: „Ein glückliches Leben ist 
unmöglich. Das Höchste, was ein Mensch erlangen kann, ist ein heroischer 
Lebenslauf." 


Und hier haben wir zugleich die Lósung. Wir sprachen von der Flamme, die im 
Mann der Geschichte verzehrend brennt, und die er um jeden Preis lodernd 
erhalten will. Sein letztes Ziel, seine hóchste Aufgabe ist es, diese Flamme im 
Herzen seines Volkes zu entfachen, diesen Heroismus zum Leitgedanken seines 
Volkes zu machen. Dabei muB ,heroisch" durchaus nicht bloß im Sinne eines 
Schlachtheldentums verstanden werden, sondern darüber hinaus in dem einer 
allgemeinen Haltung, in der Láuterung von allem Gemeinen, im Empfinden nicht 
nur des einzelnen, sondern der Gesamtheit, daB sie eine geschichtliche Sendung 
— ich wiederhole: durchaus nicht ausschließlich kriegerischer oder konquistado- 
rischer Art — zu erfüllen hat, und in dem festen Willen, diese Sendung zu erfüllen. 

Ein solches Feuer brennt, ein solcher dadurch hervorgerufener Elan — denn 
auch im Bereich des Psychischen gilt das Gesetz von der Umwandlung der Wárme 
in Kraft —, ein solcher Elan wirkt durch Jahrhunderte. Denn den Mann der Ge- 
Schichte zeichnet das Vermógen aus, über sich hinaus zu denken. So wird er seine 
Idee der Gemeinschaft einpflanzen wie einen Baum, stark genug, daB das Ge- 


Jelusich, / Der Mann der Geschichte 33 


wachsene auch Stürmen trotzen kann, und zugleich im höchsten Maße entwick- 
lungs- und bereicherungsfähig. Es ist ihm nicht darum zu tun, selber zu ernten 
— wenn er es erlebt, so empfindet er es als Gnade —, sondern darum, daß in einer 
späteren Zukunft die Früchte reifen und einer desto größeren Gemeinschaft zugute 
kommen, je gróBer der Gártner war, der den Keim pflanzte. 


Wir haben die ewigen Gesetze kennengelernt, unter denen das Wirken ge- 
schichtlicher Persönlichkeiten steht, wir haben aber auch gesehen, daß diese 
Gesetze ohne solche schöpferischen Persönlichkeiten tot bleiben müssen. Wenn 
wir die Nutzanwendung auf unsere Zeit ziehen, jene Peilung, um derentwillen 
wir die ausgeführten Gedankengänge entwickelten, so werden wir sie in der 
Erkenntnis erblicken, daß Kräfte, Gesetze und Männer von welthistorischem 
Format auch heute wirksam sind, daß sie auch heute mit jener Kompromißlosig- 
keit, die wir als eines der Wesensmerkmale des Mannes der Geschichte kennen- 
gelernt haben, an die Lösung ihrer gewaltigen Aufgaben gehen. 

Ihrer ist die Tat; unser ist der Glaube und die Treue. 


Wo wir wohnen: 


Glaube mir: Ich weiß zu dienen! Durch die Himmel, durch die Stuben. 
Einem großen Schicksal untertan, Die Vergeßlichkeit 

Das zu Háupten mir erschienen, Schreit! Die Toten steigen aus den Gruben. 
Füg ich mich dem unbekannten Plan. . Das ist, wo wir wohnen! Sei bereit! | 


Wissend, daß die Beute nicht erjagbar Trag das Kleine achtsam auf dem Finger! 


In den Jagden dieser Welt, Niemals weißt du — wenn es fällt — 

Und das Schlichteste nicht sagbar, Ob es Perlen wert ist, ob geringer — 
Wenn uns nicht ein Blitz erhellt. Oder eine Welt. 

Kleinste Mühe ist die grófite. So beschreiten wir das Wunderbare, 

Feuer im Verborgnen glühn. Ohne es zu sehn, 

Daß es dich im Tagwerk tróste, Und die atemlose Flucht der Jahre 

Siehst du fern ihr Funkensprühn. ' Läßt uns einsam stehn. 

Schwer zu lernen solches Wissen: Still, ganz still, und horch! Das obre Sausen, 
Aller Vater ist das Feuer. ` Manchmal fern, dann wieder nah! 

Hinter allen Finsternissen Trink in tiefen Zügen dieses Grausen, 
Wälzt es ungeheuer! | - Daß die Welt geschah. | 

Denke dran, denke dran: Zittre, daß in himmlischen Geleisen 

Heut noch sind die Dinge arm. Stürme toben, die du nie ermißt — 

Doch ein Nichts löst solchen Bann, Und schon fühlst du mächtig an dir reißen, 
Und schon tobt Alarm. Und dein Leben, das vergangen ist, 


Treibt hinab Waldsäume im Verfall. 
| Unsichtbare Hände würgen, zerr’n, 
l Und das Chaos stürzt mit schwarzem Schwall 
In das Reich des Herrn. 
Fritz Usinger. 


Kleine Beiträge 


Die politischen Testamente 
Friedrichs des Großen 


Friedrich II. hat zwei politische Testa- 
mente hinterlassen, von denen das eine 
aus dem Jahre 1752, das zweite aus dem 
Jahre 1768 datiert. 

Das erste Testament ist also abgefaßt 
nach den beiden ersten schlesischen 
Kriegen, das zweite nach dem dritten 
schlesischen Krieg, den wir gewöhnt sind, 
den Siebenjährigen Krieg zu nennen. Mit 
der Abfassung dieser politischen Testa- 
mente folgt Friedrich einem Brauch im 
Hause Brandenburg, der seit dem Großen 
Kurfürsten befolgt wurde, wo die Herr- 
scher eine Art Rechenschaftsbericht über 


den von ihnen geführten und verwalteten 


Staat zu erstatten pflegen. Die Testamente 
Friedrichs gehen über den Rahmen eines 
solchen Rechenschaftsberichtes noch hin- 
aus und geben seinen Nachfolgern Ermah- 
nungen und Ratschläge für die Zukunft. 


' In einer Zeit, in der es für Deutschland 
um Sein oder Nichtsein geht, wendet sich 
unser Blick mehr noch wie sonst dem 
groBen preuBischen Kónig zu, den die Ge- 
schichte nicht nur den „Großen“, sondern 
vielleicht noch schóner und richtiger den 
„Einzigen“ genannt hat. 

Wir sehen in Friedrich nicht die ver- 
kitschte Lesebuchfigur, zu der deutsche 
Schulmeister vergangener Perioden den 
großen König gestempelt haben. Wir 
sehen vielmehr in ihm einen ganz Großen, 
aber auch einen Menschen von Fleisch 
und Blut, der sich nicht in einen mensch- 
lichen Normalrahmen einfügen láBt. 

Von fanatischer Härte gegen sich selbst 
und seine Umwelt, menschlichem Glück 
längst entwóhnt, einsam und ein Men- 
schenverächter großen Stils, entspricht 
Friedrich so gar nicht dem Ideal, das sich 
der . Alltagsphilister und Untertan von 
seinem Fürsten gern zu machen pflegte. 

Dex „alte Fritz mit dem Krückstock', wie 
er uns in dem berühmten Stich von Chodo- 
wicki überliefert ist und an den sich die 
vielen Lesebuchanekdoten knüpfen, wäre 
letzten Endes fast eine etwas langweilige 
Figur, während der lebenswahre König in 
seiner dämonischen Größe und seiner 
bösen Menschenverachtung manchmal fast 


etwas Schreckhaftes hat. Überhaupt: Was. 


hätte wohl Friedrich der Große für ein 
Gesicht gemacht, wenn man ihn Friedrich 
den Guten genannt hätte 7! 

Der Fünrer eines Staates und Volkes in 
siebenjähriger Kriegsbedrängnis, von ganz 
Europa bekämpft, vom deutschen Reichs- 


tag in Regensburg geächtet, von der so 
genannten guten Gesellschaft im preußi- 
schen Hinterland einschließlich des eige- 
nen Hofes als politischer Hasardeur längst 
aufgegeben, von vıelen seiner Generäle 
und Soldaten nicht verstanden, reißt 
seinen Staat und sein Volk vom Abgrund 
zurück, an dem er mehr wie einmal steht 
und wird als „Nur-Preuße” seit der 
Schlacht von Roßbach, ihm selbst un- 
bewußt, zum deutschen Nationalhelden, 
der die Grundlagen zur späteren deutschen 
Einheit legt. An ihn, den keine Nieder- 
lage, nicht Kolin, nicht Hochkirch und 
selbst nicht Kunersdorf zu Boden drückt, 
für den es nur dıe Wahl zwischen der 
Selbstbehauptung oder dem Giftfläschchen 
gab, das er immer bei sich führte, an 
diesen Friedrich denken wir, wenn wir 
seinen Geist wieder heraufbeschwören, 
der einem unwürdigen Nachfolger, den 
er nur zu gut kannte, mit seinen politischen 
Testamenten einen Wegweiser geben 
wollte. Daß Friedrich Wilhelm II. mit 
seinem Bischofswerder und seinen „Rosen- 
kreuzlern" die Richtlinien des großen 
Königs nicht verstand und nicht beach- 
tete, führte geradlinig auf Jena und Auer- 
stedt zul 

Von König Friedrich stammt ein Satz, 
den er für die Ausbildung der Armee ge- 
prägt hat: 


„Aimez donc les details 

ils ne sont pas sans gloire 

c'est le premier pas 

qui méne à la victoirel" 
Frei übersetzt: 


„Kümmert euch um die kleinsten 
Einzelheiten, 

sie sind nicht ohne Wert, 

das ist der erste Schritt, 

der zum Siege führt.” 


Entsprechend diesem Grundsatz geht 
der König auch in seinem Testament auf 
alle Einzelheiten der verschiedenen Zweige 
der Staatsführung ein. Ein weiteres 
charakteristisches Moment, sowohl in 
seinen Testamenten wie in seinen anderen 
uns überlieferten Schriften ist Friedrichs 
absolute Sachlichkeit. So benennt er in 
seinem Testament seinen hochbegabten 
Bruder Heinrich, der das Leben lang des 
Königs Kritiker und Antipode war, als den 
künftigen Oberbefehlshaber des preußi- 
schen Heeres. Oder: als begabtesten 
Kavallerieführer, „der allen voran geht“, 
bezeichnet er den General von Seydlitz, 
mit dem er des Öfteren zusammengeraten 
ist, weil der groBe Kavallerieführer ihm 


Kleine Beiträge l 35 


häufig widersprach und das Gegenteil 
eines sogenannten bequemen Unter- 
gebenen war. 

Doch lassen wir in den folgenden Aus- 
zügen aus den beiden Testamenten den 
König selbst zu Worte kommen. 


Aus dem politischen Testament von 1752 


Uber die Behörden der Do- 
mänenverwaltung und ihre Be- 
setzung 


„Zur Besetzung aller dieser Finanzämter 
sind mehr Ehreumánner erforderlich, als 
der Staat gewöhnlich hervorbringt. Zu 
glauben, die Welt sei von Bösewichtern 
bevölkert, heißt denken wie ein Menschen- 
feind. Sich einbilden, alle zweibeinigen 
Wesen ohne Federn seien Ehrenmänner, 
heißt sich wie ein Dummkopf täuschen. 
Ein Herrscher muß so viel Menschen- 
kenntnis besitzen, um wenigstens an die 
Spitze der Provinzen ehrliche Männer zu 
stellen. Da ihre Zahl klein ıst, so findet 
man sie leichter. Ich habe alte, aus- 
gediente Offiziere zu Präsidenten gemacht, 
und ich bin mit ihnen besser gefahren als 
mit den in der Beamtenlaufbahn Empor- 
gekommenen. Die Offiziere verstehen zu 
gehorchen und sich Gehorsam zu ver- 
schaffen, und wenn man ihnen irgend 
etwas zur Prüfung übergibt, führen sie es 
selber aus und mit größerer Zuverlässig- 
keit als die anderen." 


Uber die Religion und die 
Konfessionen 


„Für die Politik ist es völlig belanglos, 
ob ein Herrscher religiös ist oder nicht. 
Geht man allen Religionen auf den Grund, 
so beruhen sie auf einem mehr oder minder 
widersinnigen System von Fabeln. Ein 
Mensch von gesundem Verstand, der 
diese Dinge kritisch untersucht, muß un- 
fehlbar ihre Verkehrtheit erkennen. Allein 
diese Vorurteile, Irrtümer und Wunder. 
geschichten sind für die Menschen ge- 
macht, und man muß auf die große Masse 
so weit Rücksicht nehmen, daß man ihre 
religiösen Gefühle nicht verletzt, einerlei, 
welchem Glauben sie angehören. 

Die Juden sind von allen dıesen Sekten 
die gefährlichsten, denn sie schädigen den 
Handel der Christen und sind für den 
Staat nicht zu brauchen. Wir haben die 
Juden zwar wegen des Kleinhandels mit 
Polen nötig, aber wir müssen verhindern, 
daß sie sich vermehren. Sie dürfen nicht 
nur eine gewisse Zahl von Familien, son- 
dern auch eine gewisse Kopfzahl nicht 
überschreiten. Wir müssen ihren Handel 
einschränken, indem wir sie vom Groß- 


handel fernhalten und ihnen nur den 
Kleinhandel gestatten. ' 


Uber Strafen und Belohnungen 


„Preußens Herrscher haben zum Glück 
selten Strenge nötig. Nur Hochverrat ver- 
dient harte Bestrafung. Jedoch läßt sich 
oft verhüten, daß Menschen eich zu 
solchen Schandtaten verführen lassen Im 
letzten Kriege erfuhr ich, daß der Abt von 
Grüssau mit einigen Geistlichen und Edel- 
leuten eine Verschwörung zugunsten des 
Wiener Hofes anzettelte. Ich ließ sie 
gefangensetzen oder verbannte sie wäh- 
rend der Kriegswirren in andere Provinzen. 
Dadurch wurde ibnen die Möglichkeit ge- 
nommen, sich schuldig zu machen, und sie 
entgingen Bestrafungen, die sie unfehlbar 
getroffen hätten, wenn sie frei ihrer 
Neigung hätten folgen dürfen. Nach dem 
Frieden kehrten sie ruhig in ihre Heimat 
und zu ihren Gefährten zurück, und die 
Vernünftigen unter ihnen müssen mir 
Dank dafür wissen, daß ich sie gezwungen 
habe, ihre Unschuld zu bewahren." 


Uber das Zeremoniell 
„Die meisten Könige Europas haben 


. Sich selbst eine Art von Ketten geschmie- 


det, unter deren Last sie oft seufzen. 
Mein Vater besaß den Mut, die seinen zu 
brechen, und, seinen Spuren folgend, habe 
ich das mir überlieferte Maß der Freiheit 
getreulich bewahrt. Ich habe ihn sogar 
noch überboten, indem ich mir die frem- 
den Gesandten, soweit wie nur irgend 
möglich, vom Leibe halte. Es gibt in 
Preußen keine Rangstufen, keine Etikette, 
keine Botschafter. Dadurch sind wir ge- 
sichert vor allen Streitigkeiten um den 
Vortritt und vor allen aus dem Stolze der 
Kónige entspringenden Schikanen, die an 
anderen Hófen ernste Aufmerksamkeit be- 
anspruchen und eine Zeit verschlingen, 
die man nützlicher für das Allgemeinwohl 
anwenden kann." 


Uber das Verhalten gegenüber 
den Mächten Europas 


„Ein erfahrener Staatsmann muß sich 
stets verschieden benehmen und sein Ver- 
halten stets den Umständen anpassen, in 
denen er sich befindet, und den Menschen, 
mit denen er zu tun hat. In der Politik 
ist es ein großer Fehler, stets hochmütig 
aufzutreten und alles mit Gewait durch- 
setzen zu wollen, aber auch stets sich 
sanftmütig und nachgiebig zu zeigen. Ein 
Mensch, dessen Benehmen immer das 
gleiche ist, wird bald durchschaut, und 
man darf eich nicht durchschauen lassen. 


38 Kleine Beiträge 


Bleibt unser Charakter kein Geheimnis 


mehr, so sagen unsere Feinde: ‚Wir werden 
dies und jenes tun, dann wird er so und 
so handeln.‘ Und dabei täuschen sie sich 
nicht. Wer dagegen in seinem Benehmen 
wechselt, führt sıe irre, und sie täuschen 
sich in ihren Annahmen. Ein so kluges 
Benehmen erfordert aber stete Selbst- 
beobachtung. Weit entfernt, seinen Leiden- 
schaften nachzugeben, muß man unbedingt 
den Entschluß fassen, den das eigene In- 
teresse vorschreibt. Die große Kunst be- 
steht darin, seine Absichten zu verbergen. 
Zu dem Zweck muß man seinen Charakter 
verschleiern und nur maßvolle, durch 
Rechtsgefühl gedämpfte Festigkeit durch- 
blicken lassen." f 

An anderer Stelle: „So muß je nach 
Lage, Zeit und Person unser Verhalten 
verschieden sein. Ist die Zeit reif zum 
offenen Bruch, so empfiehlt sich ein festes 
und stolzes Auftreten. Aber man soll das 
Gewitter nicht grollen lassen, ohne daß 
zugleich der Blitz einschlágt. Hat man 
viele Feinde, so muß man sie trennen, den 
unversöhnlichsten heraussuchen und sich 
auf ihn stürzen, mit den anderen aber 
verhandeln, sie einschläfern und selbst 
unter Verlusten Sonderfrieden mit ihnen 
schließen. Ist erst der Hauptfeind nieder- 
geworfen, dann ist es Zeit, auf die anderen 
zurückzukommen und über sie herzu- 
fallen, unter dem Vorwand, daß sie ihren 
Verpflichtungen nicht nachgekommen 
seien." 


Über áuBere Politik 


„Machiavelli sagte, eine  selbstlose 
Macht, die zwischen ehrgeizigen Máchten 
steht, müBte schlieBlich zugrunde gehen. 
Ich muß leider zugeben, daB Machiavelli 
recht hat." 

„Die Politik der kleinen Fürsten ist ein 
Gewebe von Schurkenstreichen. Die Poli- 
tik der großen bedingt viel Klugheit, Ver- 
stellung und Liebe zum Ruhm. Es ist für 
einen Staatsmann ganz verkehrt, stets 
schurkisch zu handeln; er wird dann bald 
durchschaut und verachtet. Scharfsinnige 
Köpfe ziehen aus gleichartiger Haltung 
ihre Schlüsse. Daher muß man seın Spiel 
nach Möglichkeit ändern, sich nicht in die 
Karten sehen lassen und sich in einen 
Proteus verwandeln, muß bald lebhaft, 
bald langsam, bald kriegerisch, bald fried- 
fertig erscheinen. Auf diese Weise führt 
Ihr Eure Feinde irre und macht sie in ihren 
Anschlägen gegen Euch vorsichtig. Es 
empfiehlt sich aber nicht nur, sein Be- 
nehmen zu wechseln; man muß es vor 
allem auch den Ereignissen anpassen, der 


bin frei 


Lage, in der man sich befindet, der Zeit, 
den Orten und den Personen, mit denen 
man zu tun hat. Droht Euren Feinden nie; 
die Hunde, die bellen, beißen nicht. 
Beobachtet im Verkehr mit den Mächten 
verbindliche Formen, mildert stolze oder 
beleidigende Ausdrücke. Ubertreibt nicht, 
wenn es sich um kleine Zwistigkeiten 
handelt. Habt nie Euren eigenen Stolz, 
sondern stets das Staatswohl im Auge. 
Seid verschwiegen in Euren Geschäften; 
verbergt Eure Absichten. Zwingt die Ehre 
des Staates Euch, den Degen zu ziehen, so 
falle auf Eure Feinde Donner und Blitz 
zugleich!" 


Zweites politisches Testament 
von 1768 


Aus der Einleitung; ,Es ist Pflicht jedes 
guten Staatsbürgers, seinem Vaterland zu 
dienen und sich bewußt zu sein, daB er 
nicht für sich allein auf der Welt ist, son- 
dern zum Wohle der Gesellschaft beizu- 
tragen hat, in die ihn die Natur gesetzt 
hat. Dieser Pflicht habe ich nach Mafgabe 
meiner schwachen Einsicht und meiner 
Kräfte zu genügen gesucht, seit der Tod 
meines Vaters mich zum Tráger der hóch- 
sten Staatsgewalt in PreuBen machte. Ich 
von der törichten AnmaBung, 
mein Verhalten als Richtschnur für meine 
Nachfolger anzusehen. Nur zu sehr merke 
ich, daß ich ein Mensch bin, dh. ein Wesen, 
das aus Gutem und Schlechtem gemischt 
und dem Irrtum unterworfen ist, dessen 
Einsicht schwach und dessen Gaben be- 
schränkt sind. Immerhin habe ich den 
Vorteil einer 29jáhrigen Erfahrung in den 
Staatsgescháften, und so würde ich mich 
der Nachwelt gegenüber als schuldig füh- 
len, legte ich ihr nicht Rechenschaft über 
mein Verhalten und über die Mafinahmen 
in der Rechtspflege, dem Finanz- und 
Heerwesen und in der Politik, an denen 
ich zeitlebens gearbeitet habe, teilte ich 
ihr nicht die Ansichten mit, die ich mir 
durch langjährige Überlegung zum Besten 
der öffentlichen Wohlfahrt gebildet habe. 
Ein Pilot, der die Gewässer kennt, die er 
lange befahren hat, kann dem jungen 
Schiffer wertvolle Ratschläge geben, der 
die Klippen nicht kennt und an ihnen 
Schiffbruch leiden könnte.” 


Aus dem Kapitel über Finanz- 
wirtschaft 


„Unser Volk ist schwerfällig und träge. 
Mit diesen zwei Fehlern hat die Regierung 
immerfort zu kämpfen. Durch Euren An- 
trieb bringt Ihr die Masse in Bewegung, 
aber sie bleibt sofort stehen, sobald der 


Prof. 
Thorak: 
Paracelsus 


Große Deutsche 
Kunst- 
ausstellung 
München 1943 


Digitized by ` 200 IC 
e 


loseph Raabe, Breslau 1809: Joseph Freiherr v. Eichendorff als „Schwarzer Ritter“ 


Kleine Beiträge 37 


Antrieb einen Augenblick nachläßt Nie- 
mand kennt etwas anderes als den alten 
Brauch. Man liest wenig, kümmert sich 
wenig darum, wie es anderswo hergeht 
und erschrickt daher bei allem Neuen. 
Ich habe meinem Volke nichts als Gutes 
erwiesen, und doch glaubt es, ich wollte 
ihm das Messer an die Kehle setzen, so- 
bald es sich um eine zweckmäßige Reform 
oder eine notwendige Änderung handelt. 
In solchen Fällen bin ich meinen ehrlichen 
Absichten, der Stimme meines Gewissens 
und meiner langen Erfahrung gefolgt und 
ruhig meinen Weg gegangen." 


Uber Juden 


„Wir haben zu viel Juden in den 
Stádten. An der polnischen Grenze sind 
sie nótig; denn der Handel liegt in Polen 
ganz in den Hánden der Juden. Sobald 
eine Stadt aber von der polnischen Grenze 
entfernt ist, werden die Juden zu Schád- 
lingen durch den Wucher, den sie treiben, 
den Schmuggel, der durch ihre Hánde 
geht, und tausend Schurkereien, die zum 
Schaden der Bürger und der christlichen 
Kaufleute ausschlagen." 


Urteile über Offiziere 


„Ohne Zweifel kommt als Armeeführer: 


zu allererst mein Bruder Heinrich in Be- 
tracht. Náchst ihm ist Oberst Anhalt der 
Mann, der dieser Aufgabe am besten ge- 
wachsen ist. Er hat andere Fehler, aber 
über dergleichen muß man hinweggehen, 
wenn das Staatswohl es fordert. Man muß 
sich stets der Tüchtigsten bedienen und 
die fähigen Leute anstellen, sonst nimmt 
der Krieg eine schlimme Wendung, und 
man schließt einen schlechten Frieden." 

„Bei der Kavallerie steht General Seyd- 
litz allen voran. Nach ihm kommen Kruse- 
marck, Dalwig, der kleine Röder. General 
Bülow ist meisterhaft, Manstein sehr gut, 
Hoverbeck gut, der Prinz von Württemberg 
schneidig, aber kurzsichtig, Reitzenstein 
sehr verdient, Czettritz gut, aber zu sanft, 
Zastrow und Alvensleben gut, Manstein 
sehr tapfer. Der Rest ist mittelmäßig und 
zur Detachementsführung ungeeignet. 

Bei den Husaren haben wir Lossow, 
einen hervorragenden Reiterführer, sehr 
befähigt, einen Flügel zu kommandieren 
oder wozu man ihn sonst verwenden will. 
Werner ist gut, darf aber keine Infanterie 
bekommen. Der alte Möhring ist ein guter 
Offizier, Prittwitz hervorragend und zu 
allem geeignet, was man ihm aufträgt. 
Dazu eine Anzahl guter Stabsoffiziere und 
junge Leute, die sich täglich weiterbilden 
und zu den schönsten Hoffnungen be- 


rechtigen. Es fehlt nicht an Führern für 
die Kavalleriedetachements. Nur wäre zu 
wünschen, daß wir für die Infanterie mehr 


hätten. Hoffentlich werden sich noch 
welche entwickeln." 
Uber Religion 
„Ein altes | metaphysisches Märchen 


voller Wundergeschichten, Widersprüche 
und Widersinn, aus der glühenden Ein- 
bildungskraft des Orients entsprungen, hat 
sich über Europa verbreitet. Schwärmer 
haben es ins Volk getragen, Ehrgeizige 
sich zum Schein davon überzeugen lassen, 
Einfáltige es geglaubt, und das Antlitz der 
Welt ist durch diesen Glauben verándert 
worden. Die heiligen Quacksalber, die 
diese Ware feilboten, haben sich zu An- 
sehen gebracht, sie sind Herrscher ge- 
worden, ja, es gab eine Zeit, wo sie 
Europa durch ihr Machtwort regierten In 
ihrem Hirn entstand jener Priesterhochmut 
und jene Herrschsucht, die allen geist- 
lichen Sekten zu egen ist, wie auch ihr 
Name laute. Ehedem mischte sich die 
Geistlichkeit in alle Staatsangeiegen- 
heiten; heute scheint der Brauch außer 
Mode gekommen zu sein. 

Das lutherische und reformierte Bekennt- 
nis, die bei uns vorherrschen, können dem 
Staat niemals schaden, vorausgesetzt, daß 
ihre Geistlichen in den jetzigen Schranken 
gehalten werden. Sie können unbegrenzt 
Gutes tun; aber man soll sie zurechtweisen, 
sobald sie sich in Dinge mischen, die sie 
nichts angehen. Halb Cleve und ein Drit- 
tel von Schlesien sind katholisch. Die 
Regierung soll die Katholiken nicht nur 
dulden, sondern sie auch vor allen Ver- 
folgungen und Ungerechtigkeiten schützen, 
die man ihnen etwa antun will. Denn es 
geht den Staat nichts an, welche metaphy- 
sische Anschauung im  Menschenhirn 
wohnt; genug, wenn jedermann sich als 
guter Staatsbürger und Patriot benimmt." 


Ministerrat 


„Ich habe nie einen Ministerrat ab- 
gehalten; denn recht besehen, gibt es 
nichts Schädlicheres. Jede Regierung be- 
darf eines Systems, und es ist aus- 
geschlossen, daß viele Köpfe so viele ver- 
schiedene Interessen einheitlich zu- 
sammenfassen und unverrückbar auf das 
gleiche Ziel hinstreben können. Anders 
ein Herrscher, der in seiner Hand alle 
Zweige der Regierung vereinigt, der sie 
wie ein Dreigespann Stirn an Stirn lenkt 
und sie dem vorgesteckten Ziele entgegen- 
führt. Zudem muß man sich darauf gefaßt 
machen, daß jede Beratung, bei der viele 


38 Kleine Beiträge 


zugegen sind, nie ganz geheim bleibt, daß 
unter ihren Teilnehmern Männer sind, die 
eich befeinden oder aus Eigensinn auf 
ihrer Meinung beharren, und daB somit 
mehr Nachteil als Vorteil daraus entsteht. 
Ein Herrscher, der sich auf seine Geschäfte 
versteht, sie einheitlich zusammenfaßt und 
richtig rechnet, kommt allein viel weiter 
als mit allen Ministerräten. Er handelt mit 
Nachdruck und Tatkraft und wahrt das 
Geheimnis, was nie geschehen kann, wenn 
sechs bis sieben Personen zusammen- 
kommen müssen, um sich über einen Ent- 
schluß zu einigen." 


Uber Maria Theresia 


„Die Kaiserin Königin versteht sich auf 
die Kunst, geschickte Minister zu finden 
und anzustellen. Ihr Ministerrat übertrifft 
durch kluge und planvolle Leitung der Ge- 
schäfte diejenigen aller anderen Herrscher. 
Sie regiert selbst und führt ihren Sohn in 
die Geschäfte ein, und dieser folgt ihren 


Anregungen. Fürst Kaunitz und Hatzfeldt ` 


sind ihre besten Minister. Ihre berühm- 
testen Heerführer sind Lacy und Laudon. 
Verlöre sie diese, so fiele es ihr schwer, 
unter der großen Zahl, die ihr bleibt, 
gleichwertige herauszufinden. Bis jetzt ist 
indes die österreichische Kavallerie 
schlecht. Die Infanterie ist besser, beson- 
ders im Stellungskrieg, und die Artillerie 
ist vorzüglich.“ 


Uber äußere Politik 

„Der Gipfel der Staatskunst besteht 
darin, die Gelegenheit abzuwarten und 
sie nach Gunst der Umstände zu benutzen. 

Der größte Irrtum, in den man verfallen 
kann, ist der Glaube, irgendwelche Herr- 
scher oder Minister nähmen Anteil an 
unserem Schicksal. Diese Leute lieben nur 
sich selbst; ihr Vorteil ist ihr Gott. Ihre 
Sprache wird einschmeichelnd und freund- 
lich, in dem Maße, wie sie uns brauchen. 


Sie werden Euch mit verruchter Falsch- 


heit schwören, Eure Interessen wären 
ihnen ebenso teuer wie die eigenen, aber 
glaubt das nicht und verstopft Eure Ohren 
vor diesen Sirenentónen." 


e Von fremden Gesandten 

„Bei uns werden die fremden Gesandten 
überwacht. Man beobachtet die Leute, 
die in ihren Häusern verkehren, ihre 
Sekretäre und ergreift alle nur denk- 
baren Maßregeln, um ihnen auf die Finger 
zu sehen, sowohl um zu verhüten, daß sie 
 Bestechungen vornehmen, wie um die 
leichtsinnigen Leute, die bei ihnen ver- 
kehren, vor der Gefahr zu warnen, in die 
sie sich begeben. Man kann die Aufsicht 


über diese Gesandten nicht scharf genug 
üben; denn bei ihrem langjährigen Auf- 
enthalt in Berlin haben sie gelernt, mit 
dem mánnlichen, namentlich aber mit dem 
weiblichen Geschlecht umzugehen und sich 
auf diese Weise Kenntnisse zu verschaffen, 
die sie nicht erlangen dürften. Gibt es 
doch Dinge, die mit dem  dichtesten 
Schleier bedeckt bleiben müssen, wie die 
eigenen Entwürfe, die geheimen Bündnisse, 
die man schlieBt, die Veránderungen im 
Heerwesen, die starken und schwachen 
Seiten des Staates, die Einkünfte und 
Hilfsquellen der Finanzwirtschaft. Diese 
Dinge müssen sogar den Verbündeten 
geheim bleiben; denn wer heute unser 
Freund ist, kann morgen ein Feind sein. 
In der Politik gibt es Gelegenheiten, wo 
man schwächer scheinen muß, als man ist, 
um die Bundesgenossen zu größeren An- 
strengungen zu bewegen, als ihnen lieb 
ist, aber auch solche, wo man möglichst 
furchtgebietend dastehen muß, wenn man 
dadurch erreichen kann, daß der Feind den 
Frieden nicht bricht.“ 


SchluBwort 


,Nachdem ích die Bürde der Regierung 
mein ganzes Leben lang getragen habe, 
bin ich nicht so unsinnig, noch nach 
meinem Tode herrschen zu wollen. Jeder 
muB seine Last tragen und so weise regie- 
ren, wie er es vermag, indem er seine 
Entschlüsse je nach Gelegenheit und Um- 
stánden faßt. Ich bestehe nur auf den 
Haupteigenschaften, die ein Herrscher be- 
sitzen muB. Er muB ein Ehrenmann sein. 
Die Wohlfahrt seines Volkes mu8 ihm am 
Herzen liegen; sie ist unzertrennlich von 
der seinen. Er muß emsig und wachsam 
sein, oder die Maschine bleibt stehen; 
miBtrauisch in den Finanzen, denn die 
meisten Finanzbeamten sind Schufte Er 
muB sich vornehmen, selbst zu arbeiten 
und sein Heer kommandieren; denn das 
ist das einzige Mittel, eine gute Armee 
zu haben. Seine Truppen verschaffen ihm 
dann im Frieden Achtung und lassen ihn 
im Kriege siegen. Auch kann sich Preußen 
nur behaupten, wenn ein zahlreiches Heer 
es gefürchtet macht, sind wir doch von 
überlegenen Feinden umgeben, mit denen 
wir von heute auf morgen Krieg bekom- 
men kónnen. Der Herrscher muB in die 
Zukunft blicken, um die Dinge, die im 
Werden sind, vorauszusehen, muß seine 
Nachbarn beobachten und Bündnisse nur 
dann eingehen, wenn er die Bedingungen 
reiflich erwogen hat, und nur mit Herr- 
schern, die zu dieser Zeit die gleichen In- 
teressen haben wie er. Ich rate ihm, seinen 


Neue Bücher 39 


Ehrgeiz und seine Absichten zu verbergen, 
in seinen Entschließungen vorsichtig und 
in ihrer Ausführung energisch zu sein. 
Endlich muß er in alle Einzelheiten der 
Regierung eindringen, damit er selbst 
herrschen kann. Er darf Eigensinn nie mit 
Festigkeit verwechseln, sondern die guten 
und stichhaltigen Gründe müssen über 
Vorurteile und Leidenschaften siegen. 
Jedem Herrscher, der diese Bedingungen 
erfüllt, prophezeie ich die größten Er- 
folge, dauernden Ruhm und persönliche 
Achtung. Nichts als Unglück aber sehe 


ich für die voraus, die ihrer Trägheit nach- 
geben und den Dingen ihren Lauf lassen, 
statt einzugreifen, bei denen Bequemlich- 
keit und Schlaffheit über. ihre Pflicht 
siegen, so daß sie die Leitung der Armee 
und des Staates in andere Hände legen. 
Ich wünsche, daß dergleichen nie vor- 
kommt*)." Eugen Rümelin 


°) Die politischen Testamente des großen Königs 
waren ín französischer Sprache abgefaBt. Die hier 
wiedergegebenen deutschen Auszüge beruhen auf der 
Übersetzung von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. 
Verlag Heinz Treu, München 1941. 


Neue Bücher 


„Die Judenfrage in Ungarn”. Jüdische Assi- 
mila, On und antisemitische Bewegung 
im 19. und 20. Jahrhundert. Von Klaus 
Schickert. Essener Verlagsanstalt 
1943, zweite, neubearbeitete Auflage. 
Der Verfasser hat kürzlich in dieser 

Zeitschrift den Kriegsschauplatz Israel im 

Zusammenhang mit der politischen Krieg- 

führung erörtert. Er wurde kurz darauf 

vom Reichsleiter Alfred Rosenberg zum 

Leiter des Frankfurter Instituts zur Er- 

forschung der Judenfrage bestellt. Die 

Neubearbeitung seines grundlegenden 

Werkes über die ungarische Juden- 

frage legitimiert ihn der wissenschaft- 

lichen Welt gegenüber zu solcher Aufgabe. 

Neben einem Werk des Madjaren Julius 

Szefkü erfaßte bisher lediglich Schickert 

die Bedeutung der Judenfrage für die Ge- 

schichte der befreundeten ungarischen 

Nation. Zur ersten Auflage schrieb die 

Zeitschrift „Magyar Kultura“: „Wahr- 

heiten, die wehtun, doch Feststellungen, 

bei denen der Verfasser leider recht hat.“ 

Nach einer breiten Darstellung der Ver- 

hältnisse im Mittelalter geht der Autor 

auf die Entwicklung im 19. Jahrhundert 
ein, die heute noch ihrer endgültigen Liqui- 
dierung harrt. Durch eine ausführliche 

Darstellung des Wirkens der Antisemiten 

Istöczy und Simonyi erbringt er den Nach- 

weis, daß der ungarische Antisemitismus 

stets eine bodenständige Bewegung ge- 
wesen ist und keineswegs eine deutsche 

Exportware Die jüdische Agitation hat 

jahrzehntelang den latenten Antisemitis- 

mus im Madjarentum durch den Hinweis 
zú diskreditieren versucht, er sei aus dem 

Reich importiert, womit sie auf die in kul- 

turellen Dingen leicht wachzurufenden 

Empfindlichkeiten spekulierte. Diese Agi- 

tation hat zweifellos dazu beigetragen, die 

Lösung der Judenfrage zu verzögern, auf- 

halten wird sie diese nicht können. In Ver- 


bindung hiermit erinnert Dr. Schickert in 
einem von sachlicher Zurückhaltung ge- 
tragenen Bericht an den Ritualmord von 
Tisza-Eszlar, der um 1882 die europäische 
Welt in Atem hielt. Daß Völker nichts aus 
der Geschichte lernen — diese Wahrheit 
tritt dem Leser wieder vor Augen, studiert 
er den Anteil des Judentums am Sturz 
der Habsburger und ihren führenden An- 
teil an der Bolschewistenherrschaft des 
Bela Kun. Mit schamloser Gescháftigkeit 
sind sie auf der anderen Seite, als das 
Schreckensregiment der 133 Tage zu Ende 
geht, um in Kürze die kapitalistischen 
Schlüsseletellungen eines liberalistischen 
Systems wieder in Besitz zu nehmen. 
Schickert gibt vom letzten Weltkrieg die 
Verhältniszahlen der Toten madjarischen 
und jüdischen Blutes bekannt, die in 
frappanter Weise die Drückebergerei der 
Kinder Israels beleuchten. Nicht verwunder- 
lich, daß sich der Anteil der Juden am Hoch- 
schulstudium - in der gleichen Zeit ver- 
doppelte. Schickert kommt zum Schluß, 
daß kein Land und keine Nation mehr 
Begabung und Fähigkeit zur Assimilation 
fremden Volkstums gezeigt hätte als die 
Madjaren. Er beweist das Scheitern 
der Assimilierungsbestrebungen gegenüber 
Israel. Wo sonst hätte diese Einschmel- 
zung gelingen können, fragt er, wenn nicht 
in Ungarn! Aber das Zeitalter der Assi- 
milation ist zu Ende. Das Judentum ist eine 
Rasse, die sich nicht aufsaugen läßt. Die 
man im Zuge der Ideen von 1789 als Brüder 
empfing, wurden zu Herren. Die Dissi- 
milation, um derenSchwierigkeiten Schickert 
weiß, ist keine deutsche, sondern eine 
europäische Forderung, vor deren Erfüllung 
das Madjarentum heute steht, da die Ent- 
scheidung für oder gegen den jüdischen 
Bolschewismus fällt. Schickert zitiert in 
diesem Zusammenhang ein kluges Wort 
von Wilhelm Grau, mit dem er auch Un- 


40 Neue Bücher 


garn eindringlich beschwört: „Hätte Karl 
Marx im Getto gelebt — gäbe es keinen 
Lenin." Viele Madjaren, die ihr Volk und 
Blut lieben und reinhalten wollen, werden 
dem deutschen Autor Dank wissen. Kif. 


Dichter und Krieger 

Für das erst unserer Zeit wieder eigene 
unmittelbare Verhältnis zwischen Dichter 
und Volk sind die Reden anläßlich der 
Dichtertreffen in Weimar lebendige Zeug- 
nisse. Zwei Veröffentlichungen liegen vor 
uns. (Die Dichtung im kommenden Europa, 
Weimarer Reden 1941, Dichter und 
Krieger, Weimarer Reden 1942, heraus- 
gegeben von Dr. Rudolf Erckmann, Han- 
seatische Verlagsanstalt Hamburg) Sie 
sprechen aus, wie im alles und alle er- 
fassenden Kampf des Reiches und Europas 
die deutschen Dichter ihre Stellung in der 
Front beziehen möchten. Von einem 
glanzvollen Einsatz. der geistigen Kräfte 
für die seelische und politische Kriegfüh- 
rung wird uns allerdings nichts verraten. 
Vielleicht wáre das Stoff und Anrequng 
tür die Zusammenkunft des fünften Kriegs- 
jahres. Beteuerungen sind beglückend, 
praktischer geistiger Kriegsdienst auf brei- 
tester Ebene noch nützlicher. Beide Bände, 
die jetzt vorliegen, beginnen mit den Be- 
grüBungen durch Wilhelm Haegert, 1941 
sprachen Hanns Johst, Rudolf Erckmann, 


Hans Baumann, Bruno Brehm, Moritz 
Jahn, 1942 Edwin Erich Dwinger, Wil- 
helm Ehmer, Wilhelm Scháfer, Gerhard 
Schumann, Georg de Vrinq und Hermann 
Burte. Was die Dichtertreffen den Dich- 
tern bedeuten, klingt auch in diesen Reden 
durch, das Gefühl, Auge in Auge mit 
denen zu stehen, die der gleichen Arbeit 
dienen. Für uns Hórer und Leser aber be- 
deuten die Reden das persónliche Be- 
kenntnis neben dem Werk und seine 
schönste Bestätigung. Von Hans Baumann 
bis Wilhelm Scháfer, Kraft, Wille und 
Glaube eint alle im selben Herzschlag, 
mit dem Dienst im Wort dem Reich und 
seinem Sieg zu dienen. Gibt es wohl eine 
leuchtendere Urkunde als die, die Wil- 
helm Schäfer unserer Bewegung und ihrer 
Jugend ausstellt, indem er sie mit den im 
Weltkrieg gefallenen Studenten vergleicht. 
Jene Briefe seien erschütternd durch ihre 
Lauterkeit und Treue, ein Gram aber 
wiche nicht von ihm vor ihrer geistigen 
und seelischen Hilflosigkeit. „Es stand 
nicht qut um ein Vaterland, das seine ge- 
bildeten Söhne so unberaten in die 
Gärten des Todes schickte. Dies hat sich 
nach den Briefen, wie ich sie heute aus 
der Front erhalte, gewandelt. Ein anderes 
Vaterland als das von 1914 stand da- 
hinter. Niemayer. 


Abschied von „Wille und Macht" 


Mit der vorliegenden Ausgabe der Zeitschrift des Reichsleiters Baldur von Schirach 
erfüllen sich zehn Jahre stetiger Führung der Schriftleitung dieses Organs. Das äußere 
Bild der Arbeit hat sich gewandelt wie der Mensch. Was ich mit zwanzig Jahren über- 
nahm, lege ich dankbar für das erwiesene Vertrauen mit dreißig Jahren in die Hände 
des Herausgebers zurück, um den Dienst mit der Feder wieder gegen den Waffendienst 
einzutauschen. Das Führerorgan der jungen Generation in einem solchen Lebensabschnitt 
zu leiten, bedeutete hóchstes Glück. Uber den verliehenen Titel hinaus galt es un- 
abláBlich, den inneren Anspruch, ein Sprachrohr der Jugend zu sein, durch eine ver- 
antwortungsfrohe Führung zu erwerben. 

Die Zeitschrift soll das Spiegelbild politischer und geistiger Entwicklungen sein, die 
jedes Jahr seit der nationalsozialistischen Revolution hervorgerufen hat. Wir haben 
uns freudig bemüht, an ihnen teilzuhaben, weil wir die Überzeugung besitzen, daß jede 
Auseihandersetzung letzthin fruchtbar ist. 

„Wille und Macht" ist Euer treuer Begleiter im Frieden und im Krieg. Die Zeitschrift 
bringt Euch Jahr für Jahr Baldur von Schirachs Grüße, bittet Euch für eine kurze Weile 
zum Nachsinnen in schöpferischer Pause. Zwischen seinen Gedanken und den Eueren, 
Kameraden und Freunde, so lange Zeit ein stiller Mittler gewesen zu sein, erfüllt den 
Abschied mit Glück und Dank. Und dieser Abschied gilt nicht dem toten Papier, sondern 
der lebendigen und kämpfenden Gemeinschaft, deren Stimme zu hüten im Chor einer 
großen Zeit ein froher Dienst war. Günter Kaufmann 

Gebietsführer 


Hauptschrlitlelter: Günter Kaufmann. Anschrift der Schriftleitung: Wien XIX, Sieveringer Str. 19. Verlag 
Franz Eher Nachf. G. m. b. H. (Zentralverlag der NSDAP.]. Berlin SW 58. — PI Nr. 8 vom 1. März 1938. 
Druck: Buchgewerbehaus M. Müller & Sohn, Berlin SW 68. 


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Hille. | 


1 de nationallozialiichen Jugend 


\ HERAUSGEBER: BALDUR VON SCHIRACH 


` Aus dem Inhalt: 


j Colin Ross / Um was geht der Kampf? 
E 
Richard Biedrzynski | Die Anklage der Ruinen 


| Der neue Weg Land und Stadt 
| 


. Walter Staup | Vom Werden des deutschen Bauern in Europa — Ländliche Ausbildung:- 
wege — Friedrich Kann | Neuordnungsfrogen des Landes Rudolf Kreutzer | Gedich!: 
Kunstdruckbeilage Unsterbliche Erinnerung deutscher Kultur 


Heft 5/6 Berlin, Sommer 1944 Preis 30 Pf. 


| 
| 
| 
| x 


INHALT 


Colin Ross: Um was geht der Kampf? 
Hölderlin: Aussprüche E 
Rudolf Kreutzer: Apollofalter. Pan (Gedichte) 
Johann Peter Hebel: Betrachtungen über ein Vogelnest 
Der neue Weg | Land und Stadt 
Rudolf Kreutzer: Der Falke; Nach dem Gewitter ( Gedichte) 
Richard Biedrzynski: Die Anklage der Ruinen 
Rudolf Kreutzer: Der Köhler (Gedicht) 
Walter Stauß, RKTL., Berlin: Vom Werden des deutschen Bauern in Europa 


KLEINE BEITRÄGE 
Ländliche Ausbildungswege 


ERLESENES 


Friedrich Kann: Neuordnungsfragen des Landes 
Friedrich Paulsen: Ländliche Lebensfülle um 1860 


KUNSTDRUCKBEILAGE 


Adolf Saenger: Der Schäfer 
Gerhart Kraaz: Norwegische Fjordlandschaft 
Gerhart Kraaz: Märkische Waldlandschaft 
Prof. Klaus Richter: Waldkauz 
Bernt Notke: Selbstbildnis 


(Photo: Verlag Ellermann, Hamburg) 


Elias Holl: Rathaus in Augsburg 


(Photo: Staatl. Bildstelle, Berlin) 


Chor von St. Lorenz, Nürnberg 
(Photo: Staatl. Bildstelle, Berlin) 


Hannover, Leibniz-Haus 
(Photo: Kunstgesch, Seminar Marburg) 


Im Text: Adolf Saenger, Karl Rössing 


Malle, acht 


führerorgan der nationalfozialitichen Jugend 


HERAUSGEBER: BALDUR VON SCHIRACH 


Jahrgang 12 Berlin, Mai/ Juni Hefi 5/6 


can Re: Um was geht der Kampf? 


Wesen, Hintergründe und Ziele des Weltkrieges 


Seit bald fünf Jahren steht die Menschheit im Kampf. Man kann ruhig sagen die 
Menschheit; denn die wenigen Völker, die noch nicht direkt von ihm erfaßt 
sind, werden zumindest indirekt von ihm berührt. Und ginge es nach dem Willen 
der sogenannten Vereinigten Nationen, wäre auch der letzte Staat längst in das 
blutige Ringen Rineingezogen. Der Druck, der gerade jetzt von Washington und 
London auf die wenigen noch übriggebliebenen neutralen Staaten ausgeübt wird, 
dient ja eingestandenermaßen keinem anderen Zweck. 

Größe und Tragik der Technik ist es, daß die einst so unermeßlich weite Welt 
zu einem kleinen Globus zusammenschrumpfte, den das moderne Flugzeug in 
60 Stunden umkreist. Und so liegt wohl ein unentrinnbares Verhängnis darin, 
daß Differenzen zwischen einzelnen Staaten, wie Differenz von Ideologien, die 
ehedem nur zu lokal begrenzten Auseinandersetzungen geführt hätten, heute 
einen weltweiten Konflikt auslösen. 

Aber bei aller Zwangsläufigkeit des Geschehens, die vielleicht darin liegt, 
sollte man doch annehmen, daß sich die Beteiligten an diesem ungeheuerlichsten 
Ringen, das Weltall und Menschheit je erlebten, darüber klar sind, um was der 
Kampf geht. In erster Linie sollte man wähnen, daß dies von jenem Land und 
Volk gilt, das gewissermaßen am Anfang des Weltkonflikts steht, das zum min- 
desten von der Verantwortlichkeit für seine weltweite Ausbreitung nicht frei- 
gesprochen werden kann. 

Der Krieg begann mit einem Streit um die deutsche Stadt Danzig und den so- 
genannten Korridor. Man kann nicht sagen: er begann „bekanntlich‘ damit, man 
muß im Gegenteil heute an den ursprünglichen Anlaß erinnern. So unendlich 
viel ist inzwischen geschehen, daß dem Gedächtnis der Menschen bereits zu 
entschwinden anfängt, daß dies alles um der Frage willen begann, ob die 
deutsche Stadt Danzig wieder zu Deutschland kommen und ob das deutsche Ost- 
preußen mit Deutschland durch einen Korridor verbunden werden solle. 

Es ist heute eine historische Tatsache, daß man weder in London noch in Paris 
so bereit gewesen wäre, um Danzigs willen einen Krieg auf Leben und Tod mit 
dem militärisch so starken Großdeutschen Reich zu wagen, hätte man nicht über 


2 Ross / Um was geht der Kampf 


bindende Zusicherungen aus dem Weißen Hause verfügt, daß auch diesmal wie 
im vorigen sogenannten ersten Weltkrieg die Vereinigten Staaten mit ihrer 
ganzen Macht an die Seite Englands und Frankreichs treten würden. 

Man hatte um so weniger Grund, an den von Franklin Roosevelt gemachten 
Zusicherungen zu zweifeln, als die Vereinigten Staaten ja seit dem ersten Amts- 
antritt des Präsidenten Roosevelt in wachsendem Maße einen Kreuzzug und 
Vernichtungskrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland predigten. Man 
kann nun zwar über die Berechtigung der Gründe, die ein Land und Volk zu 
solch gefährlicher, die Auslösung eines Weltkonflikts einschließender Politik 
veranlaßten, verschiedener Ansicht sein; aber man sollte doch meinen, daß ein 
Land und Volk, das eine solche Politik treibt, sich zum mindesten der darin 
liegenden Verantwortung bewußt ist und weiß, warum es diesen gefährlichen 
Weg einschlägt. 

Um so erstaunlicher ist es, wenn man heute, mehr als zwei Jahre nach dem 
Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, mehr als drei Jahre seit dem Anfang des 
Schießkrieges der USA. gegen Deutschland, mehr als vier Jahre seit dem Beginn 
des Weltkonflikts, mehr als sechs Jahre nach der berüchtigten Quarantänerede 
des Präsidenten Roosevelt in Chicago, in der er bereits unverhüllt zur Quaran- 
täne der von ihm als Aggressoren bezeichneten Staaten, d. h. zum Kriege gegen 
Deutschland und Japan, aufrief, seit bald zwölf Jahren nach dem Amtsantritt 
eben dieses Mannes, der als der „Kriegspräsident‘ in die Geschichte eingehen 
wird, um so erstaunlicher ist es, muß man nochmals sagen, wenn nach so langer 
Zeit, nach so ungeheuren Opfern, nach solch unvorstellbaren Kriegsanstren- 
gungen und dem Kriege dienenden Umwálzungen in den Vereinigten Staaten 
von Amerika diese plötzlich die Frage stellen: Wozu das alles? Um was geht 
eigentlich der Krieg? Wofür kämpfen wirt? | 


Es gehört zum System der Franklin Rooseveltschen Administration, alles, was 
dem Präsidenten nicht paßt, was ihm im Wege ist oder auch was er selbst ver- 
bockt hat, als Faschismus oder Nazismus abzutun, als „Fünfte Kolonne” oder 
Nazipropaganda. Aber es dürfte selbst den gerissensten Propagandisten des 
Weißen Hauses, des State Department oder dem OWI nicht leicht fallen, diese 
an der amerikanischen Front wie an der amerikanischen Heimatfront plótzlich 
auftauchende Frage: Wofür kämpfen wir? als Nazipropaganda abzutun. 


Diese Frage stellen nicht nur die amerikanischen Soldaten in dem granaten- 
zerwühlten Trichtergelánde von Monte Cassino, in den Schlammgráben des 
Nettuno-Brückenkopfes oder in den Baracken und Bars des „Europäischen 
Operations-Theaters", wie England in bundesfreundlicher Weise genannt wird, 
von dieser Frage ist die amerikanische Presse voll, von ihr hallen die Wandel- 
gänge des Kongresses wider, und sie ist das Tagesgespräch von Main Street. 


Es ist erschütternd, daB im fünften Kriegsjahr eine solche Frage gestellt wer- 
den kann. Augenscheinlich sind die Amerikaner noch nicht genügend im Kriege, 
augenscheinlich haben sie noch nicht genügend gelitten und geopfert, augen- 
scheinlich haben sie noch nicht genügend Blut vergossen, um sich dieser Er- 
schütterung voll bewuBt zu werden. Für einen Europáer, für einen Deutschen 
insbesondere, ist es ungeheuerlich, daß eine solche Frage überhaupt gestellt 
werden kann. Ich glaube, man kónnte eine Rundfrage durch ganz Deutschland 
veranstalten, unter den deutschen Soldaten, unter den deutschen Arbeitern, 
unter Frauen und Kindern — man würde nicht einen einzigen finden, keinen 
Mann, keine Frau, keinen Greis, kein Kind, der nicht auf die Frage: Wofür 
k&mpft ihr? sofort die Antwort wüBte: , Wir kámpfen um unser Leben und unser 
Land, für unsere Freiheit und für unser Recht, und wir kämpfen schließlich auch 
für eine bessere Zukunft." 


Ross / Um was geht der Kampf 8 


Wenn auf die Frage: Wofür kämpft ihr? jeder Deutsche sofort die klare, prä- 
zise Antwort weiß und unter den Amerikanern kaum einer, so ist damit schlag- 
artig der fundamentale Unterschied zwischen den Gründen des Kriegseintritts 
auf deutscher und amerikanischer Seite beleuchtet. Deutschland kämpft, weil es 
. muß, weil ihm der Krieg aufgezwungen wurde, und Amerika, weil — ja, warum 
kämpft Amerika eigentlich? Die Frage können wir doch nicht beantworten, 
wenn die Amerikaner selbst die Antwort nicht wissen. Und so müssen wir sie 
an sie richten und sie fragen: Warum kämpft ihr eigentlich? Warum seid ihr 
eigentlich in diesen Krieg eingetreten? Warum habt ihr ihn ausgelöst durch 
eure Versprechungen und Garantien an Polen, an England, an Frankreich, aber 
auch an Jugoslawien, an Griechenland, an lauter Staaten, die euch eigentlich 
nichts angehen, die nicht nur auf einem anderen Kontinent, die in einer anderen 
Hemisphäre liegen? Wie kommt gerade ihr dazu, die ihr die Erfinder der 
Monroe-Doktrin seid, die ihr euch seit mehr als einem Jahrhundert jede Ein- 
mischung in euren Raum, eure Hemisphäre so eindringlich verbeten habt? 

Daß all die Antworten eurer Propaganda, eures Präsidenten, eures Außen- 
ministers und eures Propagandachefs, mit denen sie die Welt überfüttern, nicht 
stichhaltig sind, erlebt ihr jetzt ja im eigenen Land. Daß weite Teile eures Volkes 
nicht für die ,, Menschlichkeit", die Demokratie, das Selbstbestimmungsrecht und 
die Freiheit der kleinen Nationen zu kämpfen bereit sind, wenigstens nicht einen 
so furchtbar schweren und blutigen Krieg, wie er jetzt nötig zu werden droht, 
hat doch einer eurer lautesten Propagandisten der internationalen Mission Ame- 
rikas, Wendell Willkie, zu seinem Leidwesen bei den Vorwahlen in Wisconsin 
erfahren. Und warum diese scheinbar plötzliche Wandlung vom Internationalis- 
mus zum Isolationismus zurück? Doch nicht etwa weil die Amerikaner plötzlich 
ihren eigenen Idealen untreu geworden sind, nicht mehr bereit, für diese Ideale, 
wo es nötig ist, selbst das Leben hinzugeben, sondern weil sie erkannt haben, 
in welcher Weise der amerikanische Idealismus von einigen skrupellosen Poli- 
tikern für ihre eigenen Zwecke mißbraucht wurde. 

Dieser Idealismus ist schwer mißbraucht worden, und der Schock über diesen 
Mißbrauch hat im amerikanischen Volk jahrzehntelang angehalten. Deshalb war 
es diesmal ja auch nicht möglich, das amerikanische Volk zu einem neuen 
Kreuzzug für die Demokratie, für die Freiheit und für alle Menschheitsideale zu 
entflammen; deshalb mußte diesmal das amerikanische Volk, wie die bekannte 
Zeitschrift „Fortune“ es ausdrückte, heimlich „hinterrücks an den RockschóBen" 
in den Krieg hineingezogen werden. Man ist sich heute in den USA. allgemein 
darüber klar, und man spricht es auch offen aus, daß dieser Krieg Roosevelts 
Krieg ist, daß keine zwingende Veranlassung dafür vorlag. Eine Zeitlang hat 
verständlicherweise das erschütternde Ereignis von Pearl Harbour das gesamte 
amerikanische Volk über die wahren Hintergründe getäuscht. Pearl Harbour 
machte es dem Präsidenten leicht, darüber hinwegzutäuschen, daß seine auf den 
Krieg abzielende Politik schließlich zu Pearl Harbour führen mußte. Und 
schließlich' sind nicht wir es, sondern amerikanische Zeitungen und amerika- 
nische Politiker, die immer wieder darauf hinweisen, daß Roosevelts Pressions- 
politik gegenüber dem Reich der aufgehenden Sonne die Explosion von Pearl 
Harbour auf dem Gewissen hat und daß die Pacht- und Leih-Lieferungen an Eng- 
land, die Zurverfügungstellung von Kriegsmaterial und Kriegsschiffen an die 
Feinde Deutschlands, sein Schießbefehl, die offenen Angriffe der unter seinem 
Befehl stehenden amerikanischen Kriegsflotte auf deutsche Schiffe ja längst vor 
Pearl Harbour offenen Kriegszustand mit Deutschland bedeuteten. Wie gesagt, das 
sind heute alte Geschichten und Selbstverständlichkeiten, die jedes Kind weiß. 
Was aber niemand, weder an der Front noch in der Heimat, weiß, ist: Warum 
wird dieser Krieg geführt, der nicht der Krieg des amerikanischen Volkes, son- 


2 Ross / Um was geht der Kampf 


bindende Zusicherungen aus dem Weißen Hause verfügt, daß auch diesmal wie 
im vorigen sogenannten ersten Weltkrieg die Vereinigten Staaten mit ihrer 
ganzen Macht an die Seite Englands und Frankreichs treten würden. 

Man hatte um so weniger Grund, an den von Franklin Roosevelt gemachten 
Zusicherungen zu zweifeln, als die Vereinigten Staaten ja seit dem ersten Amts- 
antritt des Präsidenten Roosevelt in wachsendem Maße einen Kreuzzug und 
Vernichtungskrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland predigten. Man 
kann nun zwar über die Berechtigung der Gründe, die ein Land und Volk zu 
solch gefährlicher, die Auslösung eines Weltkonflikts einschließender Politik 
veranlaßten, verschiedener Ansicht sein; aber man sollte doch meinen, daß ein 
Land und Volk, das eine solche Politik treibt, sich zum mindesten der darin 
liegenden Verantwortung bewußt ist und weiß, warum es diesen gefährlichen 
Weg einschlägt. 


Um so erstaunlicher ist es, wenn man heute, mehr als zwei Jahre nach dem 
Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, mehr als drei Jahre seit dem Anfang des 
Schießkrieges der USA. gegen Deutschland, mehr als vier Jahre seit dem Beginn 
des Weltkonflikts, mehr als sechs Jahre nach der berüchtigten Quarantänerede 
des Präsidenten Roosevelt in Chicago, in der er bereits unverhüllt zur Quaran- 
täne der von ihm als Aggressoren bezeichneten Staaten, d. h. zum Kriege gegen 
Deutschland und Japan, aufrief, seit bald zwölf Jahren nach dem Amtsantritt 
eben dieses Mannes, der als der „Kriegspräsident” in die Geschichte eingehen 
wird, um so erstaunlicher ist es, muß man nochmals sagen, wenn nach so langer 
Zeit, nach so ungeheuren Opfern, nach solch unvorstellbaren Kriegsanstren- 
gungen und dem Kriege dienenden Umwálzungen in den Vereinigten Staaten 
von Amerika diese plötzlich die Frage stellen: Wozu das alles? Um was geht 
eigentlich der Krieg? Wofür kämpfen wir? 


Es gehört zum System der Franklin Rooseveltschen Administration, alles, was 
dem Präsidenten nicht paßt, was ihm im Wege ist oder auch was er selbst ver- 
bockt hat, als Faschismus oder Nazismus abzutun, als „Fünfte Kolonne” oder 
Nazipropaganda. Aber es dürfte selbst den gerissensten Propagandisten des 
Weißen Hauses, des State Department oder dem OWI nicht leicht fallen, diese 
an der amerikanischen Front wie an der amerikanischen Heimatfront plötzlich 
auftauchende Frage: Wofür kämpfen wir? als Nazipropaganda abzutun. 


Diese Frage stellen nicht nur die amerikanischen Soldaten in dem granaten- 
zerwühlten Trichtergelände von Monte Cassino, in den Schlammgräben des 
Nettuno-Brückenkopfes oder in den Baracken und Bars des „Europäischen 
Operations-Theaters", wie England in bundesfreundlicher Weise genannt wird, 
von dieser Frage ist die amerikanische Presse voll, von ihr hallen die Wandel- 
gänge des Kongresses wider, und sie ist das Tagesgespräch von Main Street. 


Es ist erschütternd, daß im fünften Kriegsjahr eine solche Frage gestellt wer- 
den kann. Augenscheinlich sind die Amerikaner noch nicht genügend im Kriege, 
augenscheinlich haben sie noch nicht genügend gelitten und geopfert, augen- 
scheinlich haben sie noch nicht genügend Blut vergossen, um sich dieser Er- 
schütterung voll bewußt zu werden. Für einen Europäer, für einen Deutschen 
insbesondere, ist es ungeheuerlich, daß eine solche Frage überhaupt gestellt 
werden kann. Ich glaube, man könnte eine Rundfrage durch ganz Deutschland 
veranstalten, unter den deutschen Soldaten, unter den deutschen Arbeitern, 
unter Frauen und Kindern — man würde nicht einen einzigen finden, keinen 
Mann, keine Frau, keinen Greis, kein Kind, der nicht auf die Frage: Wofür 
kämpft ihr? sofort die Antwort wüßte: „Wir kämpfen um unser Leben und unser 
Land, für unsere Freiheit und für unser Recht, und wir kämpfen schließlich auch 
für eine bessere Zukunft.” 


Ross / Um was geht der Kampf 3 


Wenn auf die Frage: Wofür kämpft ihr? jeder Deutsche sofort die klare, prä- 
zise Antwort weiß und unter den Amerikanern kaum einer, so ist damit schlag- 
artig der fundamentale Unterschied zwischen den Gründen des Kriegseintritts 
auf deutscher und amerikanischer Seite beleuchtet. Deutschland kämpft, weil es 
. muß, weil ihm der Krieg aufgezwungen wurde, und Amerika, weil — ja, warum 
kämpft Amerika eigentlich? Die Frage können wir doch nicht beantworten, 
wenn die Amerikaner selbst die Antwort nicht wissen. Und so müssen wir sie 
an sie richten und sie fragen: Warum kämpft ihr eigentlich? Warum seid ihr 
eigentlich in diesen Krieg eingetreten? Warum habt ihr ihn ausgelöst durch 
eure Versprechungen und Garantien an Polen, an England, an Frankreich, aber 
auch an Jugoslawien, an Griechenland, an lauter Staaten, die euch eigentlich 
nichts angehen, die nicht nur auf einem anderen Kontinent, die in einer anderen 
Hemisphäre liegen? Wie kommt gerade ihr dazu, die ihr die Erfinder der 
Monroe-Doktrin seid, die ihr euch seit mehr als einem Jahrhundert jede Ein- 
mischung in euren Raum, eure Hemisphäre so eindringlich verbeten habt? 

Daß all die Antworten eurer Propaganda, eures Präsidenten, eures Außen- 
ministers und eures Propagandachefs, mit denen sie die Welt überfüttern, nicht 
stichhaltig sind, erlebt ihr jetzt ja im eigenen Land. Daß weite Teile eures Volkes 
nicht für die „Menschlichkeit“, die Demokratie, das Selbstbestimmungsrecht und 
die Freiheit der kleinen Nationen zu kämpfen bereit sind, wenigstens nicht einen 
so furchtbar schweren und blutigen Krieg, wie er jetzt nötig zu werden droht, 
hat doch einer eurer lautesten Propagandisten der internationalen Mission Ame- 
rikas, Wendell Willkie, zu seinem Leidwesen bei den Vorwahlen in Wisconsin 
erfahren. Und warum diese scheinbar plötzliche Wandlung vom Internationalis- 
mus zum Isolationismus zurück? Doch nicht etwa weil die Amerikaner plötzlich 
ihren eigenen Idealen untreu geworden sind, nicht mehr bereit, für diese Ideale, 
wo es nötig ist, selbst das Leben hinzugeben, sondern weil sie erkannt haben, 
in welcher Weise der amerikanische Idealismus von einigen skrupellosen Poli- 
tikern für ihre eigenen Zwecke mißbraucht wurde. 

Dieser Idealismus ist schwer mißbraucht worden, und der Schock über diesen 
Mißbrauch hat im amerikanischen Volk jahrzehntelang angehalten. Deshalb war 
es diesmal ja auch nicht möglich, das amerikanische Volk zu einem neuen 
Kreuzzug für die Demokratie, für die Freiheit und für alle Menschheitsideale zu 
entflammen; deshalb mußte diesmal das amerikanische Volk, wie die bekannte 
Zeitschrift „Fortune” es ausdrückte, heimlich „hinterrücks an den RockschóBen" 
in den Krieg hineingezogen werden. Man ist sich heute in den USA. allgemein 
darüber klar, und man spricht es auch offen aus, daB dieser Krieg Roosevelts 
Krieg ist, daß keine zwingende Veranlassung dafür vorlag. Eine Zeitlang hat 
verständlicherweise das erschütternde Ereignis von Pearl Harbour das gesamte 
amerikanische Volk über die wahren Hintergründe getäuscht. Pearl Harbour 
machte es dem Präsidenten leicht, darüber hinwegzutäuschen, daß seine auf den 
Krieg abzielende Politik schließlich zu Pearl Harbour führen mußte. Und 
schließlich sind nicht wir es, sondern amerikanische Zeitungen und amerika- 
nische Politiker, die immer wieder darauf hinweisen, daß Roosevelts Pressions- 
politik gegenüber dem Reich der aufgehenden Sonne die Explosion von Pearl 
Harbour auf dem Gewissen hat und daß die Pacht- und Leih-Lieferungen an Eng- 
land, die Zurverfügungstellung von Kriegsmaterial und Kriegsschiffen an die 
Feinde Deutschlands, sein Schießbefehl, die offenen Angriffe der unter seinem 
Befehl stehenden amerikanischen Kriegsflotte auf deutsche Schiffe ja längst vor 
Pearl Harbour offenen Kriegszustand mit Deutschland bedeuteten. Wie gesagt, das 
sind heute alte Geschichten und Selbstverständlichkeiten, die jedes Kind weiß. 
Was aber niemand, weder an der Front noch in der Heimat, weiß, ist: Warum 
wird dieser Krieg geführt, der nicht der Krieg des amerikanischen Volkes, son- 


4 Ross / Um wäs geht der Kampf 


dern des amerikanischen Präsidenten ist, in den er das amerikanische Volk 
gegen seinen Willen hineingelockt hat? Wäre es anders, niemals könnte heute 
diese erschütternde Frage nach dem Warum des Krieges gestellt werden. 


Wie gesagt, es ist nicht unsere Sache, diese Frage zu beantworten. Es ist nicht 
unsere Sache, den amerikanischen Kriegstreibern Argumente für den von ihnen 
entfesselten Weltkrieg zu liefern. Wenn diese Frage von unserer Seite gestreift 
wurde, so nur, um auf den fundamentalen Unterschied der Beweggründe auf 
deutscher und amerikanischer Seite einzugehen. 


Es ist natürlich ganz klar, daB Danzig und der Korridor nicht der eigentliche 
Grund, sondern nur der Anlaß für den Ausbruch eines Krieges waren, der prak- 
tisch die ganze Welt umfaßt, und daß selbst dieser Weltkrieg nur die Teil- 
erscheinung eines sehr viel größeren Konflikts ist, den die Völker der Erde 
gegeneinander wie in ihren eigenen Herzen auskämpfen müssen. 


Wir Deutsche haben uns nie angemaßt, Welt- und Menschheitsprobleme lösen 
zu wollen, fremden Völkern und erst recht nicht fremden Kontinenten unsere 
Ideen, unsere Einrichtungen, Sitten und Gebräuche, unsere Vorstellungen von 
Gut und Böse, von Gott und der Welt aufdrängen zu wollen. Man kann uns vor- 
werfen, was man will — das nicht. Wir und erst recht das nationalsozialistische 
Deutschland haben nie eine andere Politik gemacht als eine deutsche für 
Deutschland und für Deutsche. 


Dárin liegt natürlich auch unsere Schwäche. Unsere Feinde, die Amerikaner 
nicht anders als die Briten oder die Russen, haben immer behauptet, für die 
. Menschheit zu kámpfen. Ob es nun das Ideal des ,sowjetischen Arbeiter- 
paradieses", der Pax Britannica oder des American Way of Living ist, wofür sie 
kámpfen, immer geschieht es und geschah es im Namen der ganzen Menschheit 
und für die ganze Menschheit. 


Die Amerikaner wie die Englánder haben mit ihren Menschheitsidealen bisher 
recht gute Geschäfte gemacht. Das Britische Weltreich beruht nicht anders auf 
ihnen als das amerikanische Imperium. Der amerikanische Unabhángigkeitskrieg 
hätte vielleicht einen anderen Ausgang genommen, zum mindesten hätten die 
gegen ihr Mutterland rebellierenden britischen Kolonisten auf dem amerika- 
nischen Kontinent nicht die begeisterte Unterstützupg Europas, übrigens auch 
die Deutschlands, gefunden, hätte man nicht in Europa der „Bill of Rights" ge- 
glaubt, der Verkündigung, daB es um die Menschenrechte, um Leben, Freiheit 
und Glück aller Menschen ginge, sondern richtig erkannt, daB die eigentliche 
Ursache die war, daB die britischen Kolonisten auf amerikanischem Boden keine 
Steuern zahlen wollten. Wir wollen nun keineswegs ins Extrem fallen und den 
Amerikanern allen Idealismus abstreiten; im Gegenteil, wir haben ihnen diesen 
ja zuerkannt. Aber gegenüber der geradezu abgründigen Verleumdung alles 
dessen, was Deutschland überhaupt je geschaffen hat, die heute jenseits des 
Atlantiks üblich geworden ist, kann vielleicht einmal darauf hingewiesen werden, 
daB schlieBlich die Verkünder dieser Menschenrechte Sklavenhalter waren und 
daB sie nicht daran dachten, von diesen so feierlich der Welt verkündeten 
Menschenrechten den eigenen Sklaven auch nur eine Kleinigkeit abzugeben. 


Hat sich bis heute daran so viel geändert? Ist es nötig, auf die Lage der Neger 
in den Vereinigten Staaten hinzuweisen? In dem gleichen Land, das angeblich 
den Krieg für die Freiheit aller Menschen führt und den Vernichtungskrieg 
gegen Deutschland mit Deutschlands Rassenpolitik begründet, sind Rassen- 
unruhen an der Tagesordnung, sind nicht nur Neger und Negermischlinge von 
gleichen Rechten ausgeschlossen, sondern Angehórige des mexikanischen 
Brudervolkes, wenn sie über die Grenze in das benachbarte Texas kommen. Man 


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Ross / Um was geht der Kampf | 5 


hat sich in den Vereinigten Staaten seinerzeit sehr darüber aufgeregt, daß in 
deutschen Gaststätten das Schild „Juden unerwünscht“ hängt. Ein ähnliches 
Schild, nur noch in drastischerer Form, kann man in Texas in Hotels und Restau- 
rants sehen, das Mexikanern den Zutritt verbietet. Die mexikanische Regierung 
mußte ernsthafte Vorstellungen in Washington gegen diese Diskriminierung 
erheben. Der Washingtoner Korrespondent der „Daily Mail" veröffentlichte erst 
` dieser Tage einen Bericht, über die Negerfrage. Er schreibt darin, daB selbst in 
den Nordstaaten, in denen die Neger im Gegensatz zu den Südstaaten an der 
Ausübung des Wahlrechts nicht gehindert werden, kein Farbiger — also nicht 
nur kein Neger, sondern niemand, der nur einen Tropfen schwarzen Blutes in 
den Adern hat — ein Hotel oder ein Restaurant betreten darf, in dem Weiße 
verkehren. Er schildert die Neger-Ghettos, in denen die Farbigen eng gedrängt, 
unter sanitáren Verhältnissen leben müssen, die schlimmer seien als die 
schlimmsten Slums Europas. Wörtlich schreibt der Washingtoner Korrespondent 
der „Daily Mail": „Erreicht die Hoffnungslosigkeit in irgendeiner Gemeinschaft 
einen bestimmten Grad, ist der Ausbruch von Verbrechen unvermeidlich. Soll es 
in den Vereinigten Staaten Herrschende und Beherrschte geben, dann laBt uns 
wenigstens ehrlich sein, ändert die Verfassung und gebt offen zu, daß Neger die 
Vorteile der Weißen nicht teilen können.“ 


An solcher Offenheit hat es bei den Angelsachsen immer gefehlt, während 
wir Deutsche nach Ansicht vieler stets allzu offen waren. Aber es sieht jetzt so 
aus, als ob diese Offenheit, dies ganz klare, eindeutige Sichbekennen zu dem, 
was man glaubt, was man für richtig hält, wofür man kämpft, einerlei, ob es dem 
andern gefällt oder nicht, einerlei, ob es in die Weltmeinung paßt oder nicht, 
letzten Endes zum Siege führen wird. 


Die feindliche Lüge ist drauf und dran, sich zu überschlagen, ja sie hat sich 
bereits überschlagen. Man braucht bloß zu lesen, was vor einem halben Jahr 
über die Atlantic Charta, über die Moskauer Zusammenkunft, über die Teheraner 
Beschlüsse in der feindlichen Presse und Offentlichkeit geschrieben und gesagt 
wurde, und was man heute darüber schreibt und sagt. Ich kann mir ersparen, 
Beispiele dafür anzuführen. Wer die internationale Propaganda verfolgt, kann 
sie dutzendweise herzählen. 


Als die Atlantic Charta und die Teheraner Beschlüsse verkündet wurden, pries 
die amerikanische Zeitschrift „Life“ sie ebenso wie alle anderen amerikanischen 
Zeitschriften als die erlösende Formel, als das Größte und Schönste, was man 
sich vorstellen kann. Am 20. Dezember vorigen Jahres konnte man in der 
gleichen Zeitschrift „Life“ über die Teheraner Erklärung den Satz lesen, daB sie 
alles löse, wenn man ihr Glauben schenken könne. Andernfalls sei sie ein 
kolossaler Betrug. Und am 3. April dieses Jahres schrieb die gleiche Zeitschrift 
über die Atlantic Charta, daß die Geschichte der Atlantic Charta die Geschichte 
ihrer Verletzungen sei, und weist in dem gleichen Aufsatz darauf hin, daß die 
Lüge bereits bei der Geburt der Atlantic Charta Pate gestanden habe. Die 
Atlantic Charta soll, wie immer wieder aller Welt verkündet wird, die amerika- 
nischen Kriegsziele verkörpern. „Wie vereint sich das", fragt die amerikanische 
Zeitschrift mit Recht, „mit der Tatsache, daB Amerika sich noch keineswegs im 
Kriege befand, als Präsident Roosevelt sie zusammen mit Churchill verfaßte, der 
gleiche Roosevelt, der damals — es war im August 1941, also vor seiner 
Wiederwahl — immer wieder versicherte, daB eg sein hóchstes Ziel sei, Amerika 
aus dem Kriege herauszuhalten und Amerikas Jugend nicht auf fremde Schlacht- 
felder zu schicken?" ' 


Heute werden Atlantic Charta, Teheraner Beschlüsse und Moskauer Ab- 
kommen nirgends auf der Erde mehr ernst genommen, und auch mit noch so viel 


6 Ross / Um was geht der Kampf 


„Punkten“ vermag Amerikas Außenminister die Inhaltlosigkeit und praktische 
Wertlosigkeit dieser allgemein menschlichen Erklárungen nicht zu vertuschen, 
auch wenn er, wie es in der amerikanischen Presse heiBt, mit seinen 17 Punkten, 
die kein politisches Programm umreiBen, sondern Gebote sind, Wilson um drei 
Punkte schlágt und den lieben Gott gar um sieben. 

Verschwommener Idealismus und Internationalismus, blinder Glaube an vage 
Menschheitsideale, ja derart in die Augen springende schóne Lügen wie etwa 
die von der Gleichheit der Menschen waren móglich, als es noch keine Mensch- 
heit im heutigen Sinne gab, d. h. als die Erde noch so groB und weit war, daB 
die Völker getrennt voneinander lebten, als sie nur durch gelegentliche Reisende 
oder bestenfalls Handels- oder Kriegsexpeditionen miteinander in Berührung 
traten. Diese Epoche líegt gar nicht so weit zurück. Wir Alteren, wir Fünfzig-, 
Sechzig- und Siebzigjährigen haben sie in unserer Jugend noch erlebt. 

Es ist die Tragik der Menschheit, daB in dem Augenblick, wo durch die Mittel 
der Technik und durch die Schrumpfung der Erde erstmalig alle Völker mit- 
einander in Berührung treten und damit die physische Móglichkeit zu einem 
wirklichen Weltreich, einer universalen Religion und Ideologie gegeben wäre, 
zugleich die Unmóglichkeit ihrer Verwirklichung in Erscheinung tritt. 

Der Nationalismus ist keineswegs eine deutsche Erfindung. Er ist vielmehr 
eine Welterscheinung, von der der amerikanische Imperialismus trotz aller 
universalen Tarnung genau so getragen ist wie der sowjetische. Und die Krise 
des britischen Weltreichs liegt ja eben gerade darin, daB ihm die ráumliche und 
rassische Basis fehlt, über die die kontinentalen Imperien der USA. wie der 
USSR. verfügen. Dieser Nationalismus ist in Thailand genau so lebendig wie 
etwa in Mexiko, und die Indianer Amerikas fangen heute an, genau so rasse- 
bewußt zu werden wie etwa Tibetaner und Mongolen. 

Der Nationalismus nicht im staatlichen, sondern im völkischen Sinne, d.h. das 
BewuBtwerden der Sonderbedingungen einer bestimmten Rasse innerhalb eines 
bestimmten Raumes, ist ohne Zweifel eine der Triebkräfte unserer Zeit. 

Allein die Strömungen einer Epoche sind nie so einfach, daB sie auf einen 
Nenner gebracht werden können. Sie sind immer gleichzeitig These und Anti- 
these, und so gehen diesen regionalen Strómungen universale parallel. Jeder, der 
sich nicht mit dem materialistischen Aspekt begnügt, weiß, daB dem äußeren 
Geschehen auf der Erde innere Triebkräfte zugrunde liegen. Er weiß, daß die 
innere Revolution, die Menschheit und Weltall ergriffen hat, stärker ist als die 
äußere. Wenn nicht alle Zeichen trügen, befindet sich die Menschheit wieder 
auf dem Wege zu einer mehr transzendenten Einstellung. Nachdem um die 
Jahrhundertwende der Rationalismus seinen Hóhepunkt erreichte, nachdem die 
Leugnung nicht nur Gottes, sondern auch der Seele im Bolschewismus ihre poli- 
tische Form gefunden, schwingt das Pendel wieder zurück, und für jeden 
Sehenden ist klar, daß Adolf Hitler nie zur Macht gekommen wäre, daß der 
Nationalsozialismus niemals das ganze deutsche Volk hätte ergreifen können 
und daß dieses nationalsozialistische Deutschland nicht einer Welt von Feinden 
zu trotzen vermóchte, wie es dies zur maßlosen Verblüffung seiner Gegner 
fertig bringt, wäre es nicht getragen von den transzendenten Strömungen der 
Zeit, d. h. vom Glauben, der Berge versetzt, mag dieser Glaube sich auch noch 
nicht in einer klar erkennbaren Form manifestiert haben. Nichts ist wohl wider- 
sinniger und grotesker, als das nationalsozialistische deutsche Volk der Glau- 
benslosigkeit, des neuen Heidentums zu zeihen; denn es gibt keinen Glauben, 
der nicht von Gott kommt. 

Es ist noch verfrüht, von all dem zu sprechen. Viele Menschen würden es 
nicht verstehen, und vor allem wollen sie es im andern Lager nicht verstehen. 
Der Grund dafür liegt unter anderem darin, daß die Technik gewissermaßen die 


Ross / Um was geht der Kampf 7 


geistigen Disziplinen überholte. Sie hat der Menschheit eine Macht- 
vollkommenheit über die Natur verliehen, der sie geistig- 
seelisch nicht gewachsen ist. Man kann auch sagen, die geistig- 
seelische Konzeption der Weltfragen ist der technisch-natur- 
wissenschaftlichen Weltbeherrschung noch nicht nachgekommen. 
Hier liegt ohne Zweifel einer der Gründe für die tragische Weltzerstórung, die 
wir heute erleben. Dieser entscheidenden Frage — kann man beinahe sagen um 
die Existenz des Erdballs; denn wir sind ja bald so weit, ihn in die Luft sprengen 
zu kónnen — kommt man nicht mit nebelhaften Phrasen, wie Menschlichkeit, 
Freiheit und Gleichheit, bei, am allerwenigsten wenn sie so wenig ernst gemeint 
sind wie in Washington, London oder Moskau. | 

Es geht heute darum, daß das Gleichgewicht zwischen mate- 
rialistischen Móglichkeiten und idealistischer Verantwortlich- 
keit wiederhergestellt wird. Die Menschheit ist in einen Kampf um ihr 
Dasein und ihre Existenzbedingungen eingetreten, wie ihn in gleicher Erbar- 
mungslosigkeit nur der Urwald kennt. Und wieder müssen wir sagen, daB nicht 
wir Deutschen es sind, die diesen Vernichtungskampf und Ausrottungskrieg auf 
unsere Fahnen geschrieben haben. Waren es denn deutsche oder amerikanische 
Politiker und Publizisten, welche eiskalt von der Notwendigkeit der Dezimierung 
und Ausrottung des Volkes schreiben, mit dem man sich im Kriege befindet? 
Erst dieser Tage liegen aus der amerikanischen Presse Äußerungen amerika- 
nischer Soldaten von der Normandie-Front vor, die dahin lauten: ,, Amerikanische 
Soldaten von der Invasionsfront schreiben, wenn sie bisher vielleicht noch 
Zweifel an der Notwendigkeit der Ausrottung des deutschen Volkes hatten, so 
hätten sie die Erbitterung wie die Tüchtigkeit, mit der die Deutschen kämpften, 
eines Besseren belehrt.‘ 

Dies ist eine Haltung, die nicht nur der deutschen, sondern der europäischen 
Auffassung vom Krieg zutiefst widerspricht. Mit unseren europäischen Kriegen, 
so erbittert sie auch geführt werden mochten, war immer der Begriff der Ritter- 
lichkeit verknüpft. Für einen europäischen Soldaten, einerlei welcher Nation er 
auch angehören mag, ist die amerikanische Vorstellung geradezu unfaßbar, den 
Gegner ausrotten zu müssen, weil er ein tapferer Soldat ist. Von deutschen 
Internierten, die aus den USA. zurückkamen, kommt uns die unfaßbare Kunde, 
daß amerikanische Verwundete ihre Verwundung Deutschland, dem deutschen 
Volke und dem deutschen Heere gewissermaßen zum persönlichen Vorwurf 
machen. 

Wenn dieser Krieg jetzt in und um Europa so furchtbar geworden ist, so 
grauenhaft, wenn er so wider alle Begriffe deutscher und europäischer Hhren- 
haftigkeit und Ritterlichkelt geführt wird, so, weil raumfremde Mächte ihre uns 
gänzlich fremden Ideen von Kriegführung nach Europa hineintragen. Das gilt 
von den eurasiatischen Kriegs- und Kampfmethoden der Sowjets nicht anders 
als von denen der Amerikaner. Und hierbei kommen wir wieder zu einem sehr 
ernsten Punkt, der einmal klargestellt werden muß. Jeder, der Amerika wirklich 
kennt, der dem amerikanischen Volk unvoreingenommen gegenübersteht, kennt 
seine großen und guten Bigenschaften. Wie sollte es auch anders sein; letzten 
Endes ist der Amerikaner doch Blut von unserem Blut. Er ist in seiner über- 
wältigenden Masse ein auf fremden Boden verpflanzter Europäer. 

Aber dieses jahrhundertelange Leben in einem fremden Raum hat den „Ahnen- 
geistern des Bodens" Zugang zu seiner Seele gegeben. Die Ahnengeister dieses 
Bodens sind indianisch, und alle Indianerromantik darf uns darüber nicht hin- 
wegtäuschen, daß die indianische Rasse eine der grausamsten und erbarmungs- 
losesten ist, die es je auf dem Erdenrund gab. Und diese Grausamkeit ist auch 
in die auf indianischen Boden verpflanzten Weißen eingegangen. Da sie Weiße 


8 ` Ross / Um was geht der Kampi 


sind, Europáer, konnten die charakteristischen Eigenschaften der roten Rasse 
natürlich nicht ganz von ihnen Besitz ergreifen; aber sie drangen doch ein, und 
da sie sich nicht offen manifestieren durften, bémáchtigten sie sich des Unter- 
bewuBtseins, um von da um so furchtbarer hervorzubrechen. 

Oder gibt es eine andere Erklärung dafür, daß Menschen, Männer wie Frauen, 
die uns Deutschen äußerlich und innerlich ähnlich erscheinen, die angeblich uns 
an Großherzigkeit und Humanität noch übertreffen, daß diese freundlichen, 
friedlichen Menschen plötzlich Gefallen daran finden, ihre Mitmenschen in 
geradezu unvorstellbarer Weise zu quälen, zu martern und unter grauenhaften 
Foltern zu töten? Der Marterpfahl der Rotháute hat in den Lynchpfählen, an 
denen man unglückliche Schwarze bei langsamem Feuer verbrennt, seine 
Wiederauferstehung gefunden, genau so wie sich die Mannbarkeitszeremonien 
der Indianer in den Initiationsriten amerikanischer College-Verbindungen 
wiederverkörpern. Wer aus eigener Erfahrung weiß, mit welch geradezu sadi- 
stischer Grausamkeit junge Leute bei solchen Initiationsriten körperlich und 
seelisch gefoltert und mißhandelt werden, hat einen erschreckenden Blick in die 
sonst so großherzige und menschenfreundliche Seele des Amerikaners getan. 

Diese versteckte, latente Grausamkeit kommt auch in Gangstern und Gangster- 
romantik wie in den Methoden der amerikanischen Polizei zum Ausdruck. 
Schließlich darf man doch nicht vergessen, daß in amerikanischen Polizeigefäng- 
nissen die Methode des „Third Degree", d.h. der Folterung von Untersuchungs- 
gefangenen zur Erpressung von Geständnissen, längst üblich war, ehe überhaupt 
irgend jemand an Nationalsozialismus dachte und man seine eigenen Grausam- 
keitsinstinkte abreagieren konnte, indem man den Nazis Folterungen unterschob, 
an deren Ausmalung man seine geheime Lust fand. Es ist ganz klar, daß diese 
normalerweise in der amerikanischen Seele versteckte und ängstlich gehütete 
Neigung zur Grausamkeit bei Gelegenheiten, wie Krieg und Revolution sie 
bieten, wild hervorbrechen. Dazu kommt, wie gesagt, daB die Amerikaner Krieg 
im europäischen Sinne, d.h. den ehrlich und ritterlich geführten Krieg, gar nicht 
kennen. Amerika hat vom Anfang seiner Geschichte an nur zwei Arten von 
Krieg gekannt: den Indianerkrieg und den gegen Schwächere. In dem Krieg 
gegen die Indianer lernten die amerikanischen Siedler alle Methoden eines 
hinterhültigen und erbarmungslosen Vernichtungskrieges, und sie waren ge- 
zwungen, ihn mit den gleichen Methoden zu führen. Es ist nicht genügend 
bekannt geworden in der Welt, daB die Amerikaner in den Indianerkriegen 
genau so erbarmungslos gekämpft haben wie die Rothäute selbst; sie haben 
ebenso skalpiert, ja sie haben sogar Prämien auf Skalpe ausgesetzt und damit 
ein niedriges, merkantiles Moment in die Kámpfe gebracht, die von den Indianern 
bei aller Grausamkeit doch immerhin noch mit einem gewissen rein kämpfe- 
rischen und damit ritterlichen Geiste geführt wurden. Die Geschichte der 
Indianerkriege ist voll von den gemeinsten Vertragsverletzungen von seiten der 
WeiBen gegen die Roten. Und schlieBlich war der Krieg gegen die Ureinwohner 
ein Ausrottungs- und Vernichtungskrieg. Daher kommt den Amerikanern wohl 
auch jener Gedanke, das Volk, mit dem man kümpft, auszurotten, der uns Euro- 
páern völlig fremd ist. 

Diesen erbarmungslosen Vernichtungswillen haben die Amerikaner ja sogar 
ihren eigenen Landsleuten gegenüber zum Ausdruck gebracht, am grauenhafte- 
sten im Sezessionskrieg mit dem berühmten oder, richtiger gesagt, berüchtigten 
Zug General Shermans durch die Südstaaten, als dessen Ziel und Absicht er 
äußerte, daß er den Südstaatlern nichts lassen wollte als die Augen zum Weinen. 
Ist es bei solcher Geistes- und Seelenhaltung Angehórigen des eigenen Volkes 
gegenüber verwunderlich, daß man einem fremden Volk, also dem deutschen, 
gegenüber die gleichen Methoden anwenden möchte, ja daß man darüber hinaus- 


Ross / Um was geht der Kampf 9 


geht, indem man dem Feinde, auch seinen Frauen und Kindern, nicht einmal die 
Augen zum Weinen lassen will, sondern mit Phosphorkanistern ihnen ruchlos 
auch das Augenlicht zu nehmen trachtet? | 

Das Kapitel des Brand- und Bombenkrieges gegen die deutsche Zivilbevölke- 
rung ist noch nicht zu Ende geschrieben. Deutschland hat die Archive darüber 
noch nicht geöffnet, vielleicht aus Stolz, vielleicht aus Scham für den Feind, der 
so Grauenhaftes begeht, und vielleicht wird die Welt erst dann von dem Umfang 
des Ungeheuerlichen erfahren, das man deutschen Frauen und Kindern antat, 
wenn die amerikanischen und britischen T errorflieger aus deutscher Gefangen- 
schaft zurückkehren und von dem erzählen, was sie empfanden, als sie gewahr 
wurden, was sie angerichtet haben. 

Die Völker sind in eine Phase gegenseitiger Vernichtung eingetreten, die alles 
übertrifft, was man je für möglich gehalten hätte, und es ist an der Zeit, einmal 
auf die tieferen Gründe hinzuweisen, die zu der Katastrophe des Grauens und 
der Grausamkeit führten. Und es ist ebenso nötig, einmal klarzustellen, daß 
Grauen und Grausamkeit nicht nur vom Osten her nach Europa hineingetragen 
wurden, sondern auch vom Westen. 

Um auf den Ausgangspunkt noch einmal zurückzukommen, auf den Kardinal- 
punkt, von dem aus allein die Weltkatastrophe zu erkennen und vielleicht zu 
lösen ist: Es ist ein Kampf nicht so sehr um die Macht als um Lebensraum. 
Menschen sind biologische Wesen, die Raum brauchen, wie altes, was auf Erden 
atmet. Alles, was auf der Erde lebt, schafft sich diesen Raum und kämpft, wenn 
nötig, um ihn, Menschen nicht anders als Tiere oder Pflanzen. Es ist unsinnig, 
Völker, noch dazu solche von stärkster Vitalität, auf engstem Raum zusammen- 
drängen zu wollen. Man braucht sich doch nur Karten der Vorkriegszeit anzu- 
sehen, um zu erkennen, auf wie engen Raum Deutschland und Japan zusammen- 
gedrängt wären und schier erdrückt wurden von dem britischen Rot und dem 
russischen Grün, die den Erdball überschwemmten, und den USA., die die ganze 
eine Erdhälfte als ihr Eigentum erklärten und trotzdem darüber hinaus noch 
Ansprüche auf die andere Erdhälfte erheben. 


Aber statt dies auf der Gegenseite, im Lager der raumbeherrschenden Raub- 


machte der See und der Steppe zu erkennen und dem deutschen Volke wenig- 


stens seinen bescheidenen Anteil an den Gütern der Welt zu gönnen, deren 
gleichmäßige Verteilung man scheinheilig in Charten und Deklarationen und 
soundso viel Punkten proklamiert, suchte man selbst die Vereinigung des deut- 


Republik 1918 den Anschluß proklamierte und erklärte, daß dieses Deutsch- 
Osterreich ein Teil Gesamtdeutschlands sei, die großen Raubmächte selbst diese 
bescheidene Einigung verboten und verhinderten, bis Adolf Hitler sie erzwang. 

‘Allein im gegenwärtigen Weltkonflikt handelt es sich ja nicht nur um 
Deutschland, nicht nur um Europa, sondern es handelt sich um die Neuordnung 


auf einer zu klein und zu eng gewordenen Erde. 


Diese Neuordnung, Friede und Ruhe streben wir alle an. Wir Deutschen nicht 


' weniger als ihr Amerikaner. Oder glaubt wirklich einer in USA., daB das 


deutsche Volk, das so unendlich harte und blutige Kriege führen mußte, das so 
Entsetzliches erduldete und erduldet, aus reiner Kampfeslust Kriege führt, daB 
es nicht dringender und tiefer nach Frieden verlangt als die Menschen in USA., 
denen ein gütiges Geschick bisher. noch das Wissen darum ersparte, was Krieg 
— heutiger Krieg — bedeutet. 

Diese internationale oder richtiger übernationale Ordnung auf der Erde kann 
nun nicht am grünen Tisch geschaffen werden, sie läßt sich nicht durch irgend- 


L 


qo Ross / Om was gehl der Kampi 


welche Systeme, und seien sie noch so ausgeklügelt, konstruleren, sondern sie 
kann nur beruhen auf einem Gleichgewicht der Kräfte oder, sagen wir richtiger, 
auf einer gewissen Ausbalancierung. Diese kann heute nicht eine zwischen 
Ländern und Völkern sein, sondern sie muß zwischen Rassen und Räumen, 
zwischen Hemisphären oder, sagen wir richtiger, Sphären geschaffen werden. 

Kein Mensch in Deutschland hat die Monroe-Doktrin je bestritten. Wir haben 
das Wort „Amerika den Amerikanern” immer anerkannt, und wir überlassen es 
ganz den Amerikanern, wie sie die Verhältnisse innerhalb ihrer Sphäre ordnen 
wollen. Aber wir müssen ihnen ebenso eindeutig klarmachen, daß wir jede Ein- 
mischung in unsere Sphäre ablehnen und mit uns alle Europäer. 

Ehe nicht klar erkannt ist, daß eine halbwegs stabile Weltordnung 
ohne Europa als gleichberechtigten Faktor nicht denkbar ist, 
können die Waffen nicht ruhen. Und Europa kann unter den heutigen 
Verhältnissen neben den anderen Großraummächten, der so- 
genannten westlichen Hemisphäre, dem eurasiatischen Steppen- 
kontinent und der großostasiatischen Wohlstandssphäre, durch 
kein noch so ausgeklügeltes System zu diesem gleichberechtig- 
ten Faktor werden ohne Deutschland. 

Wenigstens einzelne fangen an zu erkennen, daß Europa für die Stabilität der 
Weltordnung, auch für die Menschen im Raume der westlichen Hemisphäre, un- 
erläßlich ist und daß ein solches Europa ohne Deutschland nicht zu existieren 
vermag. So verblendet ist man schließlich selbst in London und in Washington 
nicht, nicht zu erkennen, daß eine Sowjetisierung Deutschlands eine Sowjetisie- 
rung Europas zur Folge hätte und damit eine Macht von ungeheurer Gewalt 
geschaffen wäre, der das vereinigte britische und amerikanische Imperium hoff- 
nungslos unterliegen müßte, zumal sich diese Sowjetunion allen Anzeichen nach 
auch in Asien, und zwar im gesamten asiatischen Raum, verankern würde. 


Aber von der Utopie eines demokratischen Deutschlands vermag man sich 
noch nicht zu lösen. Man ist noch nicht so weit, zu erkennen, daß die Zeit dafür 
ein für allemal vorbei ist. 


Demokratie ist heute ein Wort ohne Sinn geworden oder, sagen wir richtiger, 
ein Wort, unter dem sich jeder etwas anderes vorstellt. Der ursprüngliche Sinn 
dieses Wortes, der vom Recht des freien Mannes auf freiem Grund, ist zutiefst 
in der deutschen Seele verankert. Von ihm ist in dem Zerrbild der plutokratisch- 
bolschewistischen Demokratie jedoch nichts mehr vorhanden. Auch die Sowjet- 
union nennt sich schließlich eine Demokratie, und es wird Zeit, eine neue 
Terminologie zu schaffen, in der sich Begriffe mit den Worten, 
die sie ausdrücken sollen, decken. 


So ist nichts grotesker als das Schlagwort von der Gleichheit der Menschen. 
Die Menschen sind nicht gleich, nicht einmal die innerhalb eines Volkes, ge- 
schweige die verschiedener Völker, und es ist ehrlicher und anständiger, dies 
zuzugeben, als die Fiktion aufrechtzuerhalten und sie gleichzeitig so mit Füßen 
zu treten, wie es die Amerikaner den Negern gegenüber tun. 


Die Erkenntnis von der Ungleichheit der Rassen bedeutet keineswegs eine 
Herabsetzung der einen gegen die andere. Jedes Volk ist davon überzeugt, einer 
besonders tüchtigen Rasse anzugehören, wenn nicht der besten. Oder leiden 
etwa unsere britischen oder amerikanischen Gegner in diesem Punkte an falscher 
Bescheidenheit? Sind wir es eigentlich oder die Engländer, die sich für das „aus- 
erwählte Volk" halten? Haben wir unser Land als „Gottes ureigenstes“ bezeich- 
net, oder waren es die Amerikaner? Ihnen dient das vorgebliche Ideal zur mora- 
lischen Rechtfertigung der Ausnützung der angeblich „Gleichen“, tatsächlich 
aber ,Ungleichen". Niemals wurden Menschen so brutal, so gemein, so erbar- 


— —— 


Ross / Um was geht der Kampf 41 


mungslos ausgenutzt als zu Beginn der kapitalistischen Epoche, nachdem die 
Französische Revolution die Freiheit und Gleichheit aller Menschen proklamiert 
hatte. Im Gegensatz dazu muß jeder nur halbwegs gerechte Feind anerkennen 
und hat auch anerkannt, daß Deutschland seine Kolonien einwandfrei verwaltete. 
Wäre es anders gewesen, hätten dann die deutschen Askaris, auch als alles ver- 
loren war, bis zuletzt treu auf deutscher Seite ausgehalten? Jeder Deutsche, der 
nach dem ersten Weltkrieg in ehemalige deutsche Kolonien kam, war gerührt 
von der Anhänglichkeit der Eingeborenen an Deutschland, in Afrika nicht anders 
als in der Südsee. Die törichte Kolonialschuldlüge ist längst widerlegt, und es 
ist Zeit, daß man endlich mit der ähnlich törichten von dem „nazistischen 
Herrenrassen-Standpunkt” aufräumt. 


Allerdings weiß man, daß diese Verleumdung daher rührt, daß Deutschland 
sich zu Beginn seiner nationalen und sozialen Revolution gegen eine Rasse 
innerhalb seines eigenen Volkes wenden mußte, die jüdische. 


Auch zu diesem deutsch-jüdischen Krieg muß einmal ein klares Wort gesagt 
werden. Das nationalsozialistische Deutschland hätte de jure den Juden die 
Gleichberechtigung geben und sie de facto unterdrücken können, wie es die 
Amerikaner gegenüber den Farbigen machen, ja wie sie es in gesellschaftlicher 
Hinsicht selbst den Juden gegenüber tun. Das ist ja das Groteske an den USA., 
daß hier der Jude, der politisch und geschäftlich herrscht, gesellschaftlich ge- 
ächtet ist. Die Spannungen, die darin liegen, werden sich noch einmal in furcht- 
barer Weise Luft machen, und vielleicht wird man dann in den USA. erkennen, 
daß auch in der jüdischen Frage ein klares, offenes Bekennen zu den Tatsachen 
richtiger ist als die Methode des Vertuschens und der Lüge. 


Und man wird dann auch anerkennen, daß die Maßnahmen, die von deutscher 
Seite nach der Machtergreifung gegen die Juden getroffen wurden, berechtigt 
und maßvoll waren. Wenn diese Maßnahmen im Laufe der Zeit immer mehr 
verschärft werden mußten und es schließlich zu einem erbarmungslosen deutsch- 
jüdischen Krieg kam, in dem das alttestamentarische Wort „Auge um Auge, 
Zahn um Zahn" zu furchtbarer Wirklichkeit wurde, liegt die Schuld bei jenen, 
die sich mit der 1933 getroffenen Regelung nicht zufrieden gaben, die aus dem 
sicheren Port des Exils den Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland 
entfesselten; erst den des Boykotts und dann den der Waffen. 


Heute 1st dieser Krieg weit über den Machtbereich eines Mannes und eines 
Volkes hinausgewachsen. Und wenn es zu einer Gesamtentscheidung der jüdi- 
schen Frage auf der Erde kommt, liegt die Schuld bei denen, die von amerika- 
nischem Boden aus Deutschland zu immer härteren Maßnahmen zwangen. Bei 
dieser Gelegenheit muß noch auf etwas anderes hingewiesen werden: auf die 
ungeheure Verantwortung, die jene trifft, die unter der Vorgabe, für die Freiheit 
des Wortes zu kümpfen, einen geradezu unvorstellbaren Feldzug der Lüge und 
der Verleumdung führten. Die Lüge ist anerkanntermaßen ein legales Kampf- 
mittel der anglo-amerikanischen Kriegführung. Englánder wie Amerikaner haben 
sich nach Beendigung des vorigen Krieges offen der Greuelmärchen gerühmt, 
die man zur Diskreditierung und Diffamierung des deutschen Volkes erfunden 
hatte. Die angeblich von den Deutschen belgischen Kindern abgehackten Hände 
sind die berüchtigtsten dieser Greuelerfindungen. In den Vereinigten Staaten 
wurden Kinder ohne Hände durch das ganze Land geschleppt und als die an- 
geblichen Opfer deutscher Grausamkeit gezeigt, um das amerikanische Volk 
kriegswillig und kriegswütig zu machen. Hätte man von deutscher Seite etwas 
Derartiges gemacht, so hätte die Gegenseite unzweifelhaft mit der Behauptung 
geantwortet, die Deutschen hätten den Kindern die Hände abgehackt, um sie als 
angebliche Opfer britischer bzw. amerikanischer Grausamkeit vorzuführen. Als 


12 Ross / Um was geht der Kampf 


Deutscher scheut man sich selbst heute noch, eine entsprechende Behauptung 
in die Welt zu setzen, obgleich man nach all dem, was die Gegenseite fertig- 
gebracht hat, nicht einmal hundertprozentig sicher ist, ob diese belgischen 
Kinder, die man in den Jahren 1915 und 1916 den Amerikanern als Opfer deut- 
scher Grausamkeit vorführte, nicht von der Gegenseite selbst verstümmelt 
worden sind. Wer die Geschichte des amerikanischen Verbrechens, aber auch 
der amerikanischen Polizei kennt, kann dergleichen nicht einmal für unmöglich 
halten, so sehr er auch vor der Vorstellung zurückschaudert und so sehr er sich 
scheuen mag, auch nur den Verdacht auszusprechen. 

Uber all das wird die Zeit hinweggehen, und wenn die Welle des Grauens und 
der Grausamkeit einen gewissen Sättigungsgrad erreicht hat, wird sie plötzlich 
in sich zusammenbrechen und ohnmächtig an den Strand rollen. Und über dem 
geglätteten Meer blutiger Leidenschaften wird eine neue Sonne des Friedens 
aufgehen. 

Diese Friedenssonne wird uns um so eher leuchten, je früher wir uns von allen 
" lügenhaften Vorstellungen frei machen und das Leben, das wir leben müssen, 
und die Erde, auf die das Schicksal uns gesetzt hat, so sehen, wie sie sind, nicht 
etwa, wie wir sie uns in Wunschtráumen vorstellen. 

Für jeden, der Augen hat zu sehen, zeichnet sich das zukünftige Bild der Erde 
ganz klar ab. Es ist eine Erde der GroBráume, auf der in GroBorganismen zu- 
sammengefaBte Völker ihre Gesellschaftsformen und ihre Lebensbedingungen 
nach den immanenten Gesetzen ihrer Rasse und ihres Raumes ordnen. Diese 
Großräume sind: die Westliche Hemisphäre, GroBeuropa, zu dem Afrika gehört, 
der Eurasiatische Steppenkontinent und die GroBostasiatische Wohlstandssphäre. 


Das sind ,die groBen Vier" und nicht etwa Roosevelt, Churchill, Stalin und 
Tschiangkaischek, die gegenüber diesen Schicksalsgestaltungen doch nur als 
recht ephemere Erscheinungen zu wirken vermógen. 


Da die Neuordnung der Erde aus dem Raum, und zwar aus dem Cioßraum 
erfolgt, entsteht für ein maritimes Imperium von der Art des britischen eine 
besonders schwierige Lage. Das fühlt man auch in England. Daher die Unruhe 
und die Sorge um die Zukunft, die nirgends größer ist als gerade in England. 
Es ist Großbritanniens Tragik, daß es die Gefühle Deutschlands ihm gegenüber 
immer verkannte und bisher jedes Wort aus deutschem Munde falsch auslegte. 
England muß sich entscheiden, welche von den zwei Möglichkeiten es wählt: 
, ob es den Weg in den europäischen Raum zurückfindet oder vorzieht, ein Helgo- 
land der westlichen Hemisphäre zu werden. 


- Wahrscheinlich liegt freilich diese Entscheidung nicht mehr in seiner Hand. 
Der Gang der Ereignisse vollzieht sich mit schicksalhafter Zwangsläufigkeit. 

Weil wir Deutschen von dieser schicksalhaften Zwangsläufigkeit bis ins 
Innerste überzeugt sind, gleichzeitig aber auch wissen, daß das Schicksal uns 
in der kommenden Welt die Verantwortung für den europäischen Raum zu- 
gedacht hat, die wir übernehmen müssen, ob wir wollen oder nicht, können wir 
so starken. Herzens eine Lage ertragen, an der vielleicht jedes andere Volk 
bereits zerbrochen wäre. | 


Weil wir wissen, daß es nicht nur um uns geht, sondern daß eine halbwegs 
leidliche Ordnung der Welt, ein Friede auch nur auf absehbare Zeit ohne unsern 
Sieg unmöglich ist, harren wir aus. Und deshalb sind wir auch überzeugt davon, 
daß wir nicht zugrunde gehen, sondern daß wir nach all dem, was wir getragen 
und ertragen haben, nach dieser furchtbarsten Feuerprobe, durch die je ein Volk 
gegangen ist, vom Schicksal und vom Herrgott als fähig und bereit gefunden 
werden, einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau der neuen und besseren Welt 
zu leisten, an die wir aus tiefster Seele glauben, 


Aus der „Gregorsmesse“, Lübeck, Marienkirche 


Unsterbliche Erinnerungen deutscher Kultur 


Selbstbildnis 


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Rathaus von Elias Holl, Augsburg 


Des Herzens Woge fchäumte nicht fo ſchön 
y empor, und würde Geiſt, mwenn nicht 

der alte tumme Fels, das Schicklal, 

ihr entgegenftände. 


Wert tft der Schmerz, am Herzen des Menfchen zu liegen und dein Vertrauter zu fein, o Natur, 
denn er führt von einer Wonne zur andern, und eo Ift kein anderer Gefährte, Denn er. 


Hölderlin. 
| Apollofalter 
Du lichter Falter, Darin geheimnisvoll gläfern 
All deiner Brüder Das Geäft der Adern erblüht. 
Zartefter, Schónfter - Manchmal bewegſt du 
Erfcheinft du mir wleder, Leife die Schwingen, 
Holde Erinnerung, Daß fie erzittern, die purpurnen Monde 
Hergeroeht aus den Sommern der Kindheit, Auf der Fittiche Flaum, 
Siiber geflügelter, | Und nicht mag’ Ich zu atmen, 
Den ich lange vergaß? Denn es bangt mir das Herz, 
Wieder, wie einft als Knabe, Daß du Dich aufhebft, Goldäugiger, 
Beuge ih mich herab, Zu den Höhen des Lichte 
Reglos, mit GB erfchrochenem Atem, Und er wieder entſchwebt 
Und feh fie gebreitet, Auf den filbernen Flägeln, 
Die zitternd gelpannten, Der felige, holde, 
Defhe zerbrechlichen Flügel, Der Traum von der Kindheit. 
Pan 


Im hohen Mittag hebt er fein Geficht 

Aus einem Buſch voll wilder, roter Rofen, | | 
Und feiner Faun entichwirrt ein Schwarm von Schmetterlingen, 
Dann ſiehſt du Ihn bei weißen Lämmern ſtehen. 


` 


Er ſchreckt am Bach die nackten Schnitterinnen 

Und Kinder hör'n ihn lachen hinter Brombeerhecken. 
Dann lagert breit er zwiſchen Rinderherden, | 
Bei prallen Eutern und gehörnten Stirnen. 


Doch menn Die ftillfte aller Stunden kommt, 

Setzt an Die Lippe er die holdene der Flöten, 

Und füBen Zauber biäft er in die goldnen) Winde. 
Dann laufcht die Hirfchkuh hoch auf dunkler Schnetfe, 


Die Brunnen raufchen leifer in den Büfchen, 
Delphine tauchen filbern aus Den Meeren, 
Die Löwen ftehen ſtill vor Felfenhóhlen 
Und felbft die Adler hören auf zu kreiſen. 
Rudolf Kreutzer. 


Betrachtungen über ein Vogelnest 


Ein Künstler mag mit seinen Instrumenten nach manchem mißlungenen Ver- 
suche zuletzt etwas herausbringen, das einem Finkenneste gleichsieht, und alle, 
die es sehen, können es von einem wirklichen Neste, das der Vogel gebaut hat, 
nicht unterscheiden. Alsdann bildet sich der Künstler etwas ein und meint, jetzt 
sei er auch ein Fink. Guter Freund, dazu fehlt noch viell Und wenn ein wahrer 
Fink dazukäme und könnte dein Machwerk durchmustern, wie der Zunftherr ein 
Meisterstück, so würde er den Kopf ein wenig auf die linke Seite drücken und 
dich mit dem rechten Auge kurios ansehen, und wenn er menschlich mit dir zu 
reden vermöchte, würde er sagen: „Lieber Mann, das ist kein Finkennest! Ich 
mag's betrachten wie ich will, so ist's gar kein Vogelnest. So einfültig und un- 
geschickt baut kein Vogel. Was gilt's, du Pfuscher hast's selber gemacht!" Das 
würde der Fink zu dem Künstler sagen. 

Ebenso ist's mit einem verachteten Spinnengewebe. Der Mensch kann kein 
Spinnengewebe machen. Ebenso ist es mit dem Gespinst, in das sich ein Raupen- 
wurm einwebt, wenn seine Verwandlung anheben soll. Ein Mensch kann kein 
Raupengespinst machen. 
. Ein Wort mehr! Alle Finkennester in der Welt sehen einander gleich, vom 

ersten im Paradiese bis zum letzten in diesem Frühlinge. Kein Fink hat's vom 
andern gelernt. Jeder kann's selber. Die Finkenmutter legt ihre Kunst schon mit 
in das Ei. Ebenso alle Spinnengewebe, ein jeder nach seiner Art. Man weiß es 
wohl, aber man denkt nicht daran. Noch ein Wort mehr! Das erste Nest eines 
Finken ist ebenso künstlich wie sein letztes. Er lernt's nie besser. Ja, manches 
Tierlein braucht sein Gespinst nur einmal in seinem Leben und braucht nicht viel 
Zeit dazu. Es würe übel daran, wenn es zuerst eine ungeschickte Arbeit machen 
müßte und denken wollte: „Für dieses Jahr ist’ qut genug, übers Jahr mache ich's 
besser." Noch ein Wort! Jedes Vogelnest ist ganz vollkommen und ohne Tadel, 
nicht zu groB und nicht zu klein, nicht zu wenig daran und nicht zu viel, dauerhaft 
für den Zweck, wozu es da ist. In der ganzen Natur sind lauter Meisterstücke. 
Aber was der Mensch zur Geschicklichkeit bringen soll, das muß er mit vieler 
Zeit und Mühe lernen, und bis er's kann, bekommt er manche Ohrfeige vom 
Meister, der selber kein vollkommener ist. Denn kein menschliches Werk ist voll- 
kommen. Ist darum ein Mensch weniger als ein Fink? — Weit gefehlt! 


Denn erstlich nicht der Vogel baut sein Nest, und nicht das Würmlein bettet 
sein Schlafbett, sondern der ewige Schöpfer tut's durch seine unbegreifliche All- 
macht und Weisheit, und der Vogel muß nur das Schnäblein und die FüBlein und, 
sozusagen, den Namen hergeben. Deswegen kann auch der Mensch kein Vogel- 
nest und kein Spihnengewebe machen. Gottes Werke macht niemand nach. 


Zweitens, wie der ewige Schópfer an seinem Orte jedem genannten Geschópf 
seine Wohnung bereitet, aber nicht jede auf gleiche Art, dem einen so, dem 
anderen anders, wie es nach seinem Bedürfnisse und Zweck recht ist, also hat er 
etwas von dem góttlichen Verstande dem Menschen lassen in die Seele tráufeln, 
daB dieser nun nach seiner eigenen Überlegung für mancherlei Zwecke bauen und 
hantieren kann, wie er selbst meint, daß es recht sei. Der Mensch kann ein 
Schilderháuslein verfertigen, ein Waschhaus, eine Scheune, ein Wohnhaus, einen 
Palast, eine Kirche, jedes nach seiner Weise, so auch eine Kirchenuhr oder eine 
Orgel usw. Das alles aber macht er nicht wie das Tier, nur von blindem Eifer 
bewegt, sondern mit wachem, besonnenem Geiste. 


Drittens hat der ewige Schópfer dem Menschen die Gnade verliehen, daB er in 
allen seinen Gescháften von unten anfangen und sie durch eigenes Nachdenken, 
durch FleiB und Ubung bis nahe an die Vollkommenheit der góttlichen Werke 
hinbringen kann, wenn schon nie ganz. Das ist seine Ehre und sein Ruhm. 

Joh. Peter Hebel. 


Pd 


Der neue Weg 
Land und Stadt | 


Man muß wissen, wo man herkommt, denn dies bestimmt zwar nicht das urständige 
Wesen, aber die Bedingungen und Wegstrecken seiner Verwirklichung und seiner Ent- 
faltung. Und nun: sieht man genau zu, so findet man, daß am Anfang nicht der Bauer 
und der Stádter stehen, nicht zwei also, sondern der eine heile Mensch. Der steht da als 
Mann und Frau; als erdepflegender, weltfahrender, gemeinschaftsbetreuender, als 
dichtend-verdichtender, als priesterlich gottgelenkt-lenkender und heilend-ratender 
Mensch, und verbindet diese Erlebniswege und Fähigkeiten, die so vielfältig in ihrer 
Weltspiegelungskraft sind, wie der Menschenleib aus vielfáltigen Organen zusammen- 
schwingt, und nicht aus Herz oder Leber, Lunge oder GiedmaBen allein leben kónnte. So 
verbanden die altgermanischen Menschen jeweils mehrere der menschlichen Ausdrucks- 
formen, und das Spiel der Kráftebindungen wechselte im Ablauf der Sippen, durch Zieh- 
sóhne immer wieder ins MaB gebracht. Das Bebauen der Erde war nichts abgelóst Be- 
sonderes, sondern die selbstverstándliche Grundlage des Lebens. Im Thing wurde die 
Gemeinschaft geregelt; manche der ,Bauern" wuBten am besten Rechtsüberlieferung zu 
wahren und Recht zu ordnen; manche wieder waren viel unterwegs und sagten Ge- 
dáchtnis und Zukunftsimpuls der Menschen an allen Orten im groBen Atemsturm des 
tónenden Stabreim; manche waren berufen, immer wieder die Gemeinschaft in Ver- 
bindung zum göttlichen Kreis zu schmelzen und den göttlichen Gesamtwillen in den 
eigenen Willen einfluten zu lassen; manche trieben Handelsfahrt und erkundeten die 
Welt. Alle waren zugleich „Bauern“. 

Später kam die Sonderung. Sie mußte kommen, sollte der Mensch seine Kräfte ganz 
bis an die Grenze ausschreiten, erkunden, beherrschen und endlich einsetzen lernen. Der 
werdende Geiger, der Griffe und Tonleitern übt, ist eine Qual und eine Not für alle Be- 
teiligten: der Meister aber entzückt, befreit, löst neue Kräfte aus in allen Hörern. 
Schópfung muB durch die Chaotisierung der Stoffe hindurch, durch Experimente und die 
Verführung zu lockenden Sonderwegen. Das 19. Jahrhundert bedeutete und bedeutet 
die áuBerste Sonderung, Spaltung, Entgeistung, ein groBer Wirbel, der viele kleinere 
und in ihrer Art kostbare und kóstliche Wirbel in sich aufgenommen hat; ihm nach kann 
endlich nur eine neue Ordnung folgen. Lange genug war der Mensch in seine Teile 
zerlegt. Tráumen wir nicht: es gibt keine uranfángliche Einheit, die wieder herstellbar 
wäre; nichts wiederholt sich in der Welt, vieles ähnelt sich, da die Konstruktionsprinzipien 
der Schópfung einige feste sind, aber nichts ist gleich dem anderen. Nicht die alte, aber 
eine neue Einheit steht als nächtes Ziel vor der Geschichte, d. h. vor den Menschen, 
deren Tun ja ,Geschichte" wird. Hölderlin formulierte es so: „Der heilige Friede des 
Paradieses geht unter, daB, was nur Gabe der Natur war, wieder aufblüht als er- 
rungenes Eigentum der Menschheit." Dies das Prinzip; die Form müssen wir selber 
schaffen. Es kann heute nicht ein und derselbe Mensch Erde bebauen, Maschinen kon- 
struieren, Handel treiben, Recht raten, Wissen und Weisheit lehren, Gesundheit geben, 
Erleuchtung dichten und malen. Zu groß hat sich die Vielfalt der Welt enthüllt. Doch 
kann man von jeder dieser Seiten her Ballast abwerfen. Stollen treiben zur Mitte hin, zum 
Menschen hin, zum Herzen hin, und jeder kann das Ganze im Herzen umfassen, zum 
Ganzen hin seine Sinne, seine Kräfte schulen und befreien und das Teilhafte immer 
stárker vereinfachen, die Technik immer herrscherlicher in Dienst nehmen, kann in 
Kindern und Freunden die Grenzen seiner Welt immer weiter und fließender gestalten, 
über das Teilhafte hinausschauen und Anteil an der Fülle gewinnen. 

Wie ist das gemeint? Ja, das kann nur von allen Seiten gleichzeitig und gleichteilig in 
Angriff genommen werden. Nicht das ist entscheidend, daB der Bauer physikalisch- 
chemisch-technische Zeitschriften liest, dies bleibt wie ein Anhauch an der Spiegelscheibe, es 
verweht. Fertiges von auBen heranzutragen, ist sinnlos. Aber jene in jedem Menschen 
urangelegten Grundfragen, die zu Erfindung und Technik, zu Philosophie und Erkenntnis, 
zu Dichtung und Malerei und Musik geführt haben, nun in jedem Menschen neu aus dem 
Schlaf zu wecken, das ist der Weg. Man muB die Fragen wecken, und sie müssen lieb- 
gewonnen werden. Es muB so lange das verkalkte Fiederwerk der Seele behámmert 
werden, bis sie fähig wird zu erleben: Sieh — daß Erde und Sonne und der Mond und 
alle Sterne sich im Raum riesenhaft kreisend dem Ohr unhórbar umeinander bewegen, 
das geht hervor aus dem Spiel der Spannung der beiden Kräfte, Anziehung und Ab- 
stoBung, Liebe und Haß, Sichinsichselbstversenken und  Dem-anderen-entgegen- 
stürzen. Der Wille zur Gestalt baut mit solchen Prinzipien die Schöpfung. Nur wer des 
nachts in aller Stille draußen unter dem Himmel das Erlebnis der mit- und gegenein- 


* 


16 Der neue Weg 


anderkreisenden Welten in sich wachsen ließ, klingen wie eine Melodie und ziehen wie 
ein Schmerz, wird später im hellen Tag die Erkundung der Strukturkräfte im einzelne 
richtig ansetzen und voranbringen können. I 

Scheint euch das zuviel verlangt vom Durchschnittsmenschen? Wohl nicht, wenn man 
es richtig ansetzt, die Wege allerseits erprobt und den Mut hat, an die Aufgabe des 
Fühlens zu glauben neben dem Denken und dem Wollen, also Seele, Geist und Leib als 
lebendiges Spielwerk des Menschen ernst nimmt, nachdem die Geschichte wechselnd 
nur je eine dieser Kräfte in den Vordergrund stellte (und stellen mußte, um sie zu er- 
fassen): das reiche Mittelalter das Fühlen, die Neuzeit von 1400 ab etwa das Denken, 
vom 19. Jahrhundert ab das Wollen. Konkret gesehen heißt das: zum Beispiel daß die 
Wissenschaftler Formen finden müssen, um nicht die Stoffergebnisse, sondern die Fragen 
und Erlebnisse an die Mitmenschen heranzubringen, daß die Heilkunde nicht als 
falscher Segen bloß von fertigen Pillen im alphabetischen Schmerzensregister ausge- 
schüttet wird, sondern vom Erzieher als Grunderlebnis von Leib und Menschenwesen 
-in Einklang mit der gesamten Schöpfung aus Tages- und Jahresablauf, Mineral, Pflanze und 
Tier gebracht wird; daß die durch nur erfolgsüchtige Spezialisierung eng und dürr ge- 
wordene Arbeitswelt erweitert wird durch die Erziehung zur Willensfreiheit der Selbst- 
verantwortung, zur schöpferischen Anwendung der menschlichen Hand, zur Stille der 
Seele, zur Ubung des Denkens (so wie einstmals dieser kleine Werdeweg im großen 
Werdeweg der Geschichte vorgelebt wurde, von Sokrates, der umherging und heftig, un- 
erbittlich seine Fragen an die Welt stellte und mit den Freunden sprach, die dies 
wiederum weitergaben, so daß es nun wuchs wie eine Lawine, in deren Mitte der 
fragende Mensch verborgen_lag, und nun, nachdem die Lawine ihre Bahn durch den 
ganzen Berghang gezogen hat und am Boden zerspellt ist, wieder frei geschaufelt 
werden muß, um viele Erfahrungen schmerzhafter, schöner und üppiger Art reicher). 

Nun ist es ja jedem Aufmerksamen ganz klar: Dies alles gilt nicht etwa nur für den 
Bauern, um dessen starr gewordene Welt aufzubrechen und ihn hineinzureiBen wieder 
in das schópferische Urelement, so daß er Mitträger der Zukunft, Mitgestalter der Schön- 
keit, Erkenntnis und Kunst werden kann, sondern es ist nur dann richtig angesetzt, wenn 
es ebenso den Stádter erfaBt. Weder die staubige Dürre und Uberhetztheit der Stadt, noch 
die karstige Ungeistigkeit des Landes ist für sich allein zu ändern: die Zweiheit, die 
Spaltung muß überhóht werden von Formen, die der dreifaltigen Einheit des ganzen 
heilen Menschen Entfaltungsraum geben. Denn beide Welten, Stadt und Land, sind 
fällig geworden zur Umschmelzung. Der Bauer ist seit Jahrhundeten aus der aktiven 
Mitgestaltung der Menschenwelt in Gemeinschaftsform, Erkenntnis und Kunst heraus- 
gefallen, die Stadt hat ihn überwuchert. Seit langem schon ist es undenkbar geworden, 
was einmal, selbstverständlich wär: daß die kleinen Dorfkirchen bis zum verborgensten 
Gewólbestein, die Grabkreuze auf dem Friedhof, die Schópfkellen und Tópfe und Stühle 
im Haus schón waren und jedem namenlosen Meister, jedem selbstwerkenden Bauern ins 
schöne Maß gerieten, einfach weil seine Menschlichkeit heil, seine Seele im Herzen wach 
und wohlgenährt von Gottesnáhe war. Dies ist lange vorbei. Kunst und Forschung 
geschah seitdem im städtischen Raum. Sie schloß den Bauern, und das Ländliche als Ur- 
schöpferisches überhaupt, immer stärker aus, erstickte es und stauchte diese Menschen 
tief zurück ins Entwürdigte; Arbeitstier oder Museumsstück. 


Das Programm der Zukunftsaufgabe wurde erstmals um 1800 angedeutet. Es gab da 
zugleich mit der klassisch-romantischen Geistigkeit eine groBe sogenannte agronomische 
Bewegung, und man versuchte eine rationelle Durchdringung einerseits, ein geistig- 
seelisches Neuerlebnis andererseits, wodurch das Ländliche ins Gesamtmenschliche ein- 
bezogen werden sollte. Damals wurden unsere Landstraßen mit Obstbäumen bepflanzt, 
Hunderttausende von Obstbáumen wurden durch den Willen tätiger Menschen in Süd- 
deutschland gesetzt, und es entstand die nicht mehr nach Traditionen und überalterten 
Instinkten. sondern aus BewuBtsein und Nachprüfung geleitete Landwirtschaft. 


Das Idea} jener Zeit um 1800, die ja insgesamt ein erster Entwurf zukünftiger Ziele 
war, ist in Goethe zu einer unverlierbaren Gestalt geworden: das geduldige und streng 
sachliche Befragen der Natur in langen Forschungsreihen, und das vom Herzen her er- 
schütterte, liebende Staunen vor der Schöpfung, die nur beide zusammen den Weg 
finden zu den „Urphänomen“, zu den großen Grundgestalten und Leitideen der 
Schópfung, die in sich alie Anlagen zu reicher Fülle beschlieBen. Das 19. und beginnende 
20 Jahrhundert mußten erst einmal den ersten Entwicklungsakt zum Abschluß bringen, 
ehe der vor-angedeutete zweite aufsteigen kann. Die Technik zog ihre leuchtende und 


— — 


— — 


Dar avas Wop 17 


zerstorende Kometenbahn, die städtische Entwicklung entartete ins Form- und Maßlose. 
Heil und Ubel wirbelte in denselben Hexenkessel. Die alten Gemeinschaftsordnungen 
waren zerfallen, die neue Ordnung — aus der Bewährung der Persónlichkeiten — noch 
nicht reif; ängstlich RRC der Bürger die Mumifizierung der solcherweise freigelasse- 
lieb Denken und Wollen dem billigen Materialismus, Zu dem jene 
eigentliche Erwerbung der Neuzeit, das selbständig wache Befragen der Weltumgebung, 
in der Popularisierung entartete. Die Verödung des Landes, und die auf Nervenkitzel 
und wirtschaftliche Ausnutzung der Menschenkraft gebaute Siedehitze der Stadt wuchsen 
sich zu aktivem und passivem Pol ein und derselben Krankheit aus, und die beiden zu- 
grundeliegende geist-seelische Heimatlosigkeit des Menschen trieb die Weltgeschichte 
zur Katastropbe, die von 1914 ab offen das zeigte, was vorher verborgen gegoren hatte. 


Wie es der einzelne im Lebensablauf seiner Werdejahre sieht, so zeigt es sich auch im 
großen: Wohl wird eine Epoche überwunden, und die nächste zieht auf, und andere Werte 
triumphieren, aber aus jeder Vergangenheit bleibt, nachdem die schönen Schalen 
zerstört und verfallen sind, der süße oder herbe Kern übrig und wird mitgenommen, und 
schließlich wird das krisenhafte Wer den insgesamt verwandelt in eine neue Stufe des 
Wirkens und des Die-Bausteine-Wägen-und-Fügens, ins Erwachsensein. So wäre nun 
heute der Extrakt der Neuzeit zu gewinnen, die wache Persönlichkeit, die ihre Welt 
selber prägt und verantwortet: das Ziel, auf das alle abendländische Entwicklung von 
Anfang an ausgerichtet war. Die Mitte: der Mensch, der der Schöpfungsfülle der Land- 
schaftsnatur dient. und die Verwandlung der Elemente im Austausch und Kräfte- 
spiel betreibt — passive und aktive Seite des Lebens in gefühlshafter, in flutender 
Durchdringung. Stadt — ber im Maß; Land — aber in Bewegtheit und durchpulst von 
jenem Frage-und-Antwort-Spiel, das die Würde des Menschen ausmacht und alle Kultur 
trágt und schafft; Fluktuieren der Stánde, das nicht von der Tradition, sondern von der 
Persönlichkeit her die Ausfüllung der Berufe und Lebensráume bestimmt werden läßt. 
Man kann das Landproblem nicht lösen, wenn man nicht zugleich das Stadtproblem 
richtig angreift, weil nur aus dem Austausch beider Bezirke fruchtbare Zukunft entstehen 


einen neuen Menschen: Wer sich das bewußt macht, versteht, daß nicht für ein altes 
„Zurück zum Land" geworben wird, sondern für ein ganz neues Erobern des vollen 
menschlichen Lebensraumes, für eine auf neue Ebene gehobene und neu gerundete Be- 

egnung mit den Schöpfungskräften, das: ebenso fühlend, denkend und dienend oder 
gestaltend zugleich ist, wie die uralte kultisch-instinkthaft schaffende Epoche der Früh- 
zeit war — nur auf der Ebene des Bewußtseins aufbauend: „als errungenes Eigentum 
der Menschheit!” | 


Man sage nicht, daß das zu hohe Worte für die einfache Arbeit des Einrichtens von 
Landdienst, Kinderlandverschickung, Dorfbüchereien USW. seien. Die ganze Arbeit 
würde verpuffen, wenn ihr die Einsicht in den ganzen, tieferen Zusammenhang nicht zu- 
grunde liegt. Es ist eine Phrase, zu sagen, alles Echte und Rechte sei einfach. Der Werde- 
prozeB ist immer ungeheuer vielfältig. Das Ergebnis, wenn es gut und schön sein 
soll, ist einfach, nicht der Weg. In diesem Fall heißt das: Es geht nicht, „einfach“ so- 
genannte Kultureinrichtungen des bisherigen, also unmäßig städtischen Lebensstils aufs 


sehen, wie der ländliche Mensch zu einer Zerrgestalt geworden ist durch die blinde 
Übernahme der stádtischen Mode, in die er seinen völlig anders entfalteten Leib und 
Gang nun am Sonntag einpreßt? Jeder kulturellen Beeinflussung muß zugrunde liegen 
das Bewußtsein, daB Stadt wie Land des 19. Jahrhunderts krank sind, — „Großstadt wie 
„plattes Land" sind Namen für Entartungserscheinungen. GroBstadt: Einige genieBen 
den bunten Trubel (wobei noch sehr fraglich ist, ob dieser Genuß ein Gewinn ist), die 
Mehrzahl ist in graue Fahrtrinnen und sonntags in brausende Vorortzüge eingesperrt, 
und wird nun durch die Entwöhnung von der Stille dazu gebracht, schließlich auch die 
Stille nicht mehr ertragen Zu wollen oder vielmehr zu können. Plattes Land: Die Stille 
ist zur Odnis geworden, die durch ihre lieblose Leere dasselbe erreicht wie der Lárm 
der Stadt, nämlich die Menschen unterliegen und hóren auf, Fragen an Welt und Leben 
qu stellen, damit ihre Menschlichkeit überhaupt erstickend. 


Der Aufbau eines neuen Gemeinschaftslebens auf dem Land kann nicht ohne Einbe- 
ziehung einer erneuerten, gemáBigten stádtischen Gemeinschaít geschehen, aber für 


18 Der neue Weg 


beides müssen vom Kern her neue Formen überlegt und erprobt werden. Das bedeutet: 
Eine kostbare und große Aufgabe steht vor allen denen, die sich dem ländlichen Bereich 
zuwenden. Alles und jedes muß dort neu begründet werden: die Natur muß wieder 
gefühlt und befragt werden, denn täuschen wir uns nicht — der Bauer hat die nahe Be- 
ziehung zu ihr längst weitgehend verloren, er wagt es nicht, sein Gefühl für die Natur- 
schöpfung einzugestehen und zum Erkenntnisorgan zu steigern, und er hat es nicht 
gelernt, sein Denken und Beobachten zu schulen und fragend einzusetzen; die Ge- 
meinschaft muß neu gebaut werden, denn teils ist sie längst aufgelöst, teils ist sie ein 
starres Gefängnis des , man" geworden, einer Gruppenschablone, die der Persönlichkeit 
das Brandmal des Un-Moralischen aufpreBt; die herrschaftliche und liebende Durchdrin- 
gung des Lebens, wie jede Form von gestaltender EigenáuBerung bis hinauf zur reinen 
Kunst und ihrem Erleben sie bedeutet, muB völlig neu eröffnet werden, denn seit einigen 
Jahrhunderten ist es so (und auch die bedeutende Landliteratur unserer Tage, wie 
Griese, Oberkofler usw., hat bisher keinen neuen Typ des ländlichen Menschen als Vor- 
bild ausgeprägt), daB das ländliche Leben abläuft, als gäbe es keine Kunst, als sei sie 
Schall und Rauch und blauer Dunst, als seien von Homer über Michelangelo und Grüne- 
wald bis Goethe und Möricke und Bach, Mozart und Beethoven alle diese Künstler un- 
klare Arabesken einer nur durch Produktions- und Machtverhältnisse in wechselnden 
Formen sich trudelnden Erde. Daß Kunst die unmittelbare Verbindung und Verständi- 
gung zwischen dem Menschen und der göttlichen Weltordnung herstellt, ist dem Erlebnis 
entglitten und vom Bewußtsein noch nicht aufgenommen worden; es muß erkannt und 
dann erlebt und geübt werden. 

Es ist also, wie man sieht, so ziemlich alles zu tun und alles zu erwarten übrig für diese 
Zukunft, der unter ungeheuren Wehen eben der Weg freigekämpft wird. Aus uns soll 
sie geboren werden: Statt des matt gewordenen Spiegels eine neue Welt, in der alles 
Frage, alles Antwort ist dem Glücklichen, der sich ihr tätig verschreibt. O. St. 


4 


Der Falhe 


Schön, mit gebreitetem Fittich, der Sonne felig verſchwiſtert, 
Steht er ftrahlend im Blau, dem Schaum der Wolken entftiegen. 
Sehet, es raucht fein Gefieder golden im Dampf des Geſtirns, 
Und keine Schwere mehr rührt der Schwingen reglofe Waage. 


Warf ihn ein Gott In die Luft, ben filbernen Winden zum Spiele? 
Fing er fich, gläfern verftrickt, im Kriftall des unendlichen Athers? 
Aber fiehe, er regt fich, und langfam beginnt er zu hreifen, 

Hell umflutet von Licht und in felerlich⸗ ruhvollem Bogen. 


Schneller dann eilt er die Bahn, und verzückt in feligem Spiele 

Schließt fich enger Der Kreis, und òa dein geblendeter Blick 

Schon taumelnd im Sturz ihn vermeint - ſchwirrt er, ein güldener Pfeil - 
Zitternd und monneberaufcht der Sonne ins flammende Herz. 


Nach dem Gewltter 


Die gelben Fackeln des Gewitters find verbrannt. 

Ein letzter Donner ſiel mit Poltern noch hinab 

Weit hinterm Berg, zerſchellend in dem Jann, und wie Getrapp 
Von meißen Roffen raufchte Regen in das Land. 


Doch fieh: ſchon kommt die erſte Schwalbe angeflogen. 
im naffen Laub glänzt Sonne ſchon vertraut, 
Und überm Wald ſteht hinoerlelig und aue Duft gebaut 
Der holde, fiebenfarbige, Der Regenbogen. 
Rudolf Kreutzer. 


Richard Biedrzynski: 


Die 8 der Ruinen 


Uber das Unwiederholbare der gemordeten deutschen Kunststädte 


„Unersetzliche Kulturdenkmäler wurden vernichtet.” 

Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht von einem beliebigen Tage. 

„Mit einer Roheit, die sie einst sicher, aber sicher auch zu spät bereuen 
werden, werfen sich unsere angelsächsischen Feinde auf die alten Städte und 
Stätten unserer Kunst. Mancher herrliche Zusammenhang ist ohne jeden 
kriegsmäßigen Grund zerstört. In manchen schlimmsten Fällen wird uns so ohne- 
dies nichts mehr bleiben als das Bild des Gewesenen. Um so treuer und tiefer 
wollen wir es uns einprägen, das einzelne Verlorene ebenso wie das unver- 
lierbare Ganze." Wilhelm Pinder. 


Der Satz des Wehrmachtberichtes, der sich seit Rostock und Lübeck, seit 
Münster und Mainz, seit Nürnberg und Köln, seit Frankfurt und München so oft 
wiederholt hat, zieht die lapidare Anklage der wortreichen Klage vor. Er prä- 
zisiert ein Verhalten, das einen einzelnen Menschen wie ein ganzes Volk in 
den Stunden höchsten Verlustes und tiefen Schmerzes zu ergreifen pflegt: Jede 
billige Ausflucht, jeder falsche Trogt verstummt. Nur die Tatsache selbst, nüch- 
tern festgestellt und als Rapport gegeben, entspricht dem Ausmaß jener Zer- 
störungen, die von Engländern und Amerikanern mit einer verbrecherischen 
Nichtsnutzigkeit angerichtet worden sind und jede Katastrophe der Natur über- 
bieten. 


Was unsere Bilder zeigen, sind zum Teil letzte Erinnerungsblätter einer nun- 
mehr verschütteten Wirklichkeit, die Jahrhunderte wuchs und bestand und den- 
noch in einer einzigen Stunde getilgt worden ist. Das Unersetzliche dokumentiert 
sich nur noch in einem schwachen Abglanz des Gewesenen, in einem Epilog 
der Kameral 


Von vielen dieser Werke höchsten abendländischen Ranges — es sind dar- 
unter die zerstörten Gesamtkunstwerke ganzer Städtel — ist nicht einmal so 
viel geblieben, daß wir Deutschen daran jene unausrottbare und unbesiegliche 
„Ruinensentimentalität“ entfachen können, die wir etwa dem Heidelberger Schloß 
mit verdoppelter Liebe und tráumendem Herzen zugewandt haben. Dort erhöht 
die Passion eines Bauwerkes seine Unvergänglichkeit, wie uns die zerschlissene 
Uniform eines preußischen Offiziers aus dem Siebenjährigen Kriege noch im 
Glaskasten des Zeughauses die Ehrfurcht vor der Geschichte lehrt. Aber hier 
— in Lübeck und Köln, in Frankfurt und Nürnberg, in Mainz und München — 
ist das Unersetzliche so hinweggerissen, daß nicht einmal mehr die Phantasie 
in den Ruinen nisten kann. Die teuflische Konsequenz dieser Verwüstungen 
läßt keinen Zweifel über den nichtswürdigen Hochmut, der uns zugedacht ist. 
Der Feind spricht von ,wissenschaftlichen" Bombardierungen und meint damit 
die Gründlichkeit seiner Absichten. 


Was da unersetzlich geworden ist, bezieht sich auf steinalte Formen eines 
gebauten Lebens, das nicht wiederholbar ist, wie sich in der kórperlosen Sprache 
der Dichtung eine Szene, eine Ballade, eine Erzáhlung wieder erwecken und ver- 
vielfältigen läßt; wie sich in der raumlosen Gewalt der Musik ein Lied, eine 
Symphonie, eine Sonate fortzupflanzen vermag. Denn die Existenz eines Bau- 
werkes liegt in der unmittelbaren, einmaligen und leibhaftigen Anschauung des- 
selben. Die Fähigkeit, durch Steinsetzungen einen Raum so zu umbauen, daß 
er die alarmierende Kraft eines Sinnbildes für den hat, der ihn betritt, ist die 


20 Biedrzynski / Die Anklage der Ruinen 


Charakterprobe jeder großen Architektur. Kein Bild ersetzt daher jene be- 
stürzende und befreiende Gewalt, die von solchen steinernen Lebewesen der 
Architektur ausgeht, da sie durch die Jahrhunderte hindurch gewachsen sind. 


Deshalb ist ein großer und ruhmreicher Bau auch stets mehr als die Summe 
dessen, was Menschenwerk an ihm vollbracht hat. Es offenbart sich da noch 
etwas Rätselhaftes und Geheimnisvolles, das über den Willen des einzelnen 
hinausgreift oder ihm vorangeht. Die Erscheinungsformen der deutschen Kunst 
bewegen sich nicht in einem selbstherrlichen ästhetischen Raum, sie verewigen 
auch nicht nur den Willen der Geschlechter, die sie hervorgebracht haben, 
sondern sind Ausdruck einer geschichtlichen Vorsehung in der Sprache der 
Kunst. Der Mainzer Dom gibt ein Beispiel für das, was unwiederholbar ist: 


Was mehr als fünf Jahrhunderte im Wandel der Pläne und Entwürfe, der 
religiösen und politischen Ideen, der Generationen und Stile, der Notfälle und 
Katastrophen in sich schließen, ist diesem Dom abzulesen. Die Summe dessen, 
was Menschenwerk an ihm ist, gehört zu unserem .höchsten Reichsstolz. Aber 
` mehr noch als diese Summe großartigen Wollens und Kónnens bewegt uns der 
Gedanke, der nur von ganz seltenen Denkmälern der Geschichte gilt: Alles, 
was die Baumeister hier geleistet haben, geschieht nach dem geheimen und. 
heiligen Willen des Doms. So zwingend, so traumhaft richtig ist sein Wuchs 
und Werdegang, so einheitlich in seinem geheimen Sinn, daß man von der Macht 
eines steinernen Lebewesens sprechen muß. Der Wille der Geschichte ist hier 
unbeirrbarer als der Ehrgeiz und Anspruch des Individuums. 


Der Dom durchläuft und vollendet vom Urbau her seine Altersstufen nach 
einem Gedanken Gottes. Er folgt im Schrittmaß der Zeitalter, die seine eigenen 
Lebensringe sind, einer geheimnisvollen Notwendigkeit. Er übersteigt alle Maße 
des feurigsten Eifers, der glühendsten Hingabe, der strengsten Ausdauer, die 
einem Menschenalter, ja einem ganzen Jahrhundert gesatzt sind. Zu jeder Zeit 
ist er größer und mächtiger als die Menschen, die ihn gebaut haben. Er nimmt 
das, was wir sonst als eigenen Geist der Zeit betrachten, als ihren Stil, als ihren 
besonderen Ausdruck, als ihr unverwechselbares Charakterbild, völlig in seine 
überzeitliche Gewalt, 


Man kann sagen, was früh und spát an ihm ist. Man kann sehen, wie er spar- 
sam, zuchtvo:!, aus Stein geschmiedet: salisch beginnt, wie er sich festlich, wir- 
kungsvoll, vielfáltig: staufisch verziert, was die Gotik an ihm vermag, was der 
Barock an ihm vollendet und selbst noch, was das Rokoko in ihm erfüllt. Aber 
das Geheimnis, der Zauber seines Lebensweges liegt darin, daB keln Beitrag der 
Zeit, kein Eigenwille eines Stils ihn überwáltigt, auf Kosten des Ganzen reicher 
und ármer zugleich macht. Gerade dort, wo er es scheinbar haben will, treten 
die „Stile“ in sein geschichtliches Leben ein. Nicht nur im richtigen Augenblick, 
sondern auch mit unfehlbarer Sicherheit im Hinblick auf seine organische Voll- 
endung am einzig richtigen Platz. 


So wird er zu einer Harmonie der deutschen Móglichkeiten. So versóhnt sich 
Grundverschiedenes in ihm. So flieBen in der lebendigen Anschauung alle Alters- 
siufen des Werkes zu einer Einheit zusammen, die die Geschichte selbst be- 
wirkt hat. 


Es gibt Beispiele in Deutschland ungezählt, an denen man dieses Geheimnis 
des Unbewußten, der natürlichen Vorsehung auch in der Architektur sehen kann 
und muß. Nennt man Namen, so fallen sie mit unwillkürlicher Übereinkunft 
auf die Stadtkronen der Reichskunst, vor allem auf Nürnberg, Köln und Lübeck, 
‘nunmehr auch auf Frankfurt, München und das Wunder im Elsaß — das Straß- 


Biedrzynski / Die Anklage der Ruinen 21 


burger Münster. Wir sind auch anderorten nicht verlegen um die Hülle und 
Fülle unserer Kunstschöpfungen. Aber hier sehen wir mit der Klarheit des 
Schmerzes und des Verlustes, was unersetzlich ist: 


Gerade diese Stadtlandschaft von Lübeck, die einer politischen Wegweisung 
im leeren Raum des ungestalteten Ostens folgt und Charaktergeständnis eines 
neuen Menschenschlages ist. Man muß Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund, 
Riga und Reval aus der Ferne übersehen, nicht aus dem ragenden Gegenüber 
allzunaher Eindrücke, um die vollkommene Einheit von Menschenwerk und 
Landschaft zu empfinden. So sah Caspar David Friedrich seine geliebten Heimat- 
städte im sicheren Gefühl, wie sehr hier der gestaltende Bauwille dem un- 
begrenzten Raum des Tieflandes gewachsen ist. Denn alle diese Stadtland- 
schaften, die auf die exemplarische Schöpfung Heinrichs des Löwen, auf Lübeck 
zurückgehen, geben der Natur ebenso ihr Gepräge, wie die Elemente der nor- 
dischen Landschaft in sie restlos eingegangen sind. 


Weite Räume sind zu beherrschen. Als Wegzeichen zu Lande, als Seezeichen 
für die Schiffahrt setzen die kantigen Türme gleichsam ihre Kompaßnadeln in 
das Meer der unendlichen Weite. Es handelt sich um dünnbesiedeltes Kolonial- 
land von expansivem Charakter. Die dichtgedrängten altfränkischen und alt- 
deutschen Städte sperren sich gerne ab, hegen und pflegen ihre Heimlichkeiten: 
Erker, Giebel, Gasse und Brunnenplatz. Die jungen schnellaufstrebenden Städte 
des Ostens aber wiederholen einen Typus, bilden Gruppen und geben den Schiffen 
das Geleit-von Hafen zu Hafen, von Kontor zu Kontor. Gruppen werden selbst 
innerhalb einer Stadt gegründet. Das kleine Wismar hat drei stalze Stadtkirchen, 
„hingestellt“, nicht „gewachsen“. 


Wie aber dieser Mensch von Lübeck aussieht, dieser Hansebürger, der den 
prachtvollen Patrizierstolz der nordischen Raumeroberung vertritt, der das 
Holstentor und in riesenhafter Zusammenschau als hinreißende Selbstdarstellung 
der Bürgerschaft die Marienkirche und das Rathaus von Lübeck baut, der über- 
all die lanzengleichen Masten aufrichtet, die auch den Wehrriesen von St. Ma- 
rien in Danzig umstellen — das hat uns Bernt Notke in seiner „Gregorsmesse 
gesagt. Denn in diesem Bilde, in dieser sonst so „popenhaft starren Versammlung 
geistlicher Würdenträger“ schaut uns barhäuptig mit offenem Blick ein Selbst- 
bildnis des Hansemenschen schlechthin an, das zum Seelenspiegel der ganzen 
Landschaft geworden ist: „Hier ist ein Deutscher am Werke gewesen, ein Nieder- 
deutscher mit all seiner Kantigkeit, Schroffheit, Scheu und Hintergründigkeit; mit 
dem sich Schwertun seiner Bewegung, mit seinem Mangel an leichter, verbind- 
lich láchelnder Eleganz; mit dem sturen Ernst, die ganze Schöpfung immer wieder 
von neuem, von grundauf beginnen zu sollen; mit seinem Ringen um Gestalt, 
um den letzten Ausdruck phrasenloser Selbstenthüllung und mutiger Schicksals- 
bejahung." (Harald Busch.) x 


Dem läßt sich nichts Besseres zur Seite setzen. Bernt Notkes Selbstdarstellung 
ist ein stellvertretendes Beispiel, ein wahres Schlüsselbild für die Stadt, mehr 
noch für den Raum, den sie bewältigt hat. Jede Auswahl bleibt angesichts der 
unteilbaren Großartigkeit dieses Gebildes fragmentarisch. Es gibt keinen Zweck, 
der in dieser völlig durchgeformten Stadt ehemals nicht seinen künstlerischen 
Sinn erfüllte — oft nur nebenbei, scheinbar zwanglos, aber stets von ungesuchtem 
Daseinsstolz. Das Ganze ist mächtiger als die Erlesenheiten, die es birgt. Neben 
der Schriftsprache der hohen Kunst wird auch das Plattdeutsche vernehmlich, 
das Volkstümliche, Fabelhafte und Versteckte neben dem Außergewöhnlichen 
und Einmäligen — die Drolerie neben dem Ernst, die Hafenmasken vom Chor- 


22 | Biedrzynski / Die Anklage der Ruinen 


gestühl neben der Senatorenwürde der Patrizierkunst. Hier ist eine Stadt zum 
Gesamtkunstwerk geworden. Eine rätselhafte Sicherheit in allem, was Menschen- 
händen in seltenen Gnadenfällen wie von Natur aus gelingt, hat die königliche 
Hauptstadt der Hanse mit einer anzustaunenden, kaum zu sagenden Vollkommen- 
heit erfüllt. 


Dies ist das Unersetzliche. 
e 


Den Ruhm der Stadt, deren größter Ruhm Albrecht Dürer gewesen ist, hat 
Luther als „Auge und Ohr Deutschlands" gepriesen. Und Adalbert Stifter fand 
die Worte: „Nürnberg hat auf mich einen ungeheuren Eindruck gemacht. Ich 
ging nach meiner Ankunft in der Stadt herum, bis es finster wurde, und kam 
vóllig berauscht nach Hause. Das ganze Ding war mir wie feenhaft, ich war 
eine Gestalt auf einem Dürerschen Bilde. Nürnberg ist die schónste Stadt, 
die ich je gesehen habe, sie ist in ihrer Ganzheit ein wahrhaftiges Kunstwerk." 


Aber was hier so instinktsicher gewachsen ist, konnte Stifter ebensowenig 
sehen wie die Romantiker, die Nürnberg aus einer Sehnsucht heraus entdeckten, 
die im letzten irrte. Sie meinten in schwármerischer HerzensergieBung eine 
verwunschene Schónheit, ein altfránkisches Idyll, eine Meistersingerkulisse, ein 
künstliches Mittelalter, dessen Beseitigung eine der denkmalspflegerischen Groß- 
taten der letzten Jahre gewesen ist. Was nunmehr für unsere Augen hervor- 
trat, ist ein gewaltiger militärischer Organismus, der größte des Mittelalters 
überhaupt, den die „Spieß“ bürgerzeit hervorgebracht hat — denn das schimpf- 
liche Wort hat ja einen ursprünglichen, ehrenhaften Sinn: Nach draußen drohende 
Abwehr, nach innen Zuflucht und Geborgenheit, nach der Feldseite eine in 
Stein gepanzerte Uneinnehmbarkeit, nach der Stadtseite eine in Jahrhunderten 
gewachsene Wohngemeinschaft, nun allerdings winklig, gemütlich und ver- 
schachtelt, so daß gesagt worden ist, in diesem von innen auf die Straße ver- 
legten Wohnraum gehe die Stadtfamilie gleichsam von einem Zimmer ihrer 
vertrauten Behausung in das andere. 


Früher machten die alten Fachwerkbauten den ländlichen und ackerbürger- 
“lichen Charakter der Stadt unter der Kaiserburg aus. Um so großartiger und 
ewigkeitlicher muß der Gegensatz gewesen sein zu den großen Pyramiden der 
. steinschweren Hallenchöre von St. Sebald und St. Lorenz, die wie Schiefer- 
gebirge aus dem schattenhaften GrundriB der winkligen Stadt aufragen. Ver- 
gessen wir nicht, daB Dürer und mit ihm das ganze Geschlecht seiner Zeit: 
Veit StoB, Adam Kraft und die handwerkliche Dynastie der Vischer in eine 
fertige Stadt der vollendeten Gotik hineingeboren worden ist. Wer hat hier 
mehr gegeben oder mehr empfangen — die Stadt oder ihre größten Söhne? 
Man sieht gerade hier eindeutig: Der Genius dieser Stadt ist der Grund und 
Boden, das Fundament und der Sockel, auf dem sich die hohen Werke der 
groBen Meister erheben wie die Apostel auf den Schultern der Propheten. Das 
Ganze ist ein leibhaftiger Organismus, sprießend wie das pflanzenhafte Ornament 
des Sakramentsháuschens von Adam Kraft, das in seiner höchsten Höhe wie eine 
biegsame Rebe am Gerüst der Gewólbe hochklettert. Nürnberg ist nichts ohne 
die großen Namen der Dürerzeit. Aber diese berühmten Nürnberger sind auch 
nichts ohne das Gebilde dieser Stadt. 


Dies ist das Einmalige! 


Biedrzynski / Die Anklage der Ruinen 23 


Welche Stadt hat sich so magisch geschmückt mit den Herrlichkeiten ihrer Bau- 
kunst, die im Schoße der Jahrhunderte lagen, wie Köln! Als der Dom noch nicht 
vollendet war, ragte GroB-St. Martin am Rhein wie ein Roland der Architektur am 
Strom, hochaufschieBend über die geduckten Háuser, eine nun ausgebrannte 
Fackel, von der nur die eisernen Klammern und die steinernen Pfosten des Turm- 
sockels stehengeblieben sind. Welch Weg von der steinschweren Riesenkraft der 
Frühzeit, von den groBen Schwüngen der dreibláttrigen Chóre — Maria im Capitol 
und Zwölf Aposteln — zu dem Wunderbau der glásernen Gotik, die sich im alten 
Teil des Doms ihr Denkmal setzte, ist hier beschritten worden! In dieser Stadt ist 
beides aufbewahrt: das Römische und das Deutsche, das Brunnentiefe, das in die 
uráltesten Schichten der Vergangenheit sagenhaft hinabhorcht, und das Himmel- 
andenkende, Sich-Abschleudernde von aller Erdkraft, wie es die Gotik ersehnte 
und zustande brachte. Wieviel ist hier begonnen, wieviel vollendet worden — im 
Ebenmaß doch alles in allem durch die Jahrhunderte, so daB das Gebilde der Stadt 
ebenfalls eine Einheit in der Vielfalt wurde. 

Auch dies Jahrtausend eines gebauten, unersetzlichen Lebens ist nicht mehr! 


* 


Ein Baumeister im Auftrag des geheimen Stadtgeistes — das Beispiel dafür 
liefert Elias Holl. „Seine“ Stadt ist Augsburg, deren Könige, die Fugger, die 
Medici des Nordens genannt werden können und deren einer an Karl den Fünften 
schreibt: „Es ist wissentlich und liegt am Tage, daß Euer kaiserliche Majestät die 
römische Krone ohne mich nicht hätte erlangen können 


Augsburg ist stolz auf sein Alter. Als Elias Holl das Rathaus baut, ist die Stadt 
sechszehnhundert Jahre alt. Sie reicht in die Römerzeit. Der Weg nach Italien 
steht ihr jederzeit frei. Die Renaissance ist für sie nicht nur ein gelehrter Zeitstil, 
sondern eine Frage der Gesinnung, die in einer schöpferischen Stunde und in einer 
schöpferischen Hand fruchtbar wird und nun echtes römisches Format erreicht — 
das Pathos der Sachlichkeit, den Stolz des Zweckhaften, die geniale Einfachheit. 


Fast will es als städtebauliche Fügung erscheinen, daß das Mittelalter Augsburg 
nicht im Wege steht, als es Renaissance-Stadt wird. Die Hauptkirchen liegen 
am Rande der Altstadt. Am Nord- und Südende in Tornähe. So kann Elias Holl 
das alte gotische Rathaus abreißen und in die Stadtmitte seine Stadtkrone setzen 
— das erste Hochhaus der Neuzeit. 


Viele Modelle und zahllose Pläne sind erhalten. Sie zeigen, was Elias Holl in 
Venedig und Vicenza sah. Sansovinos Bibliothek und Palladios Paläste, Bauten 
mit vorgeblendeten Säulenhallen, sind darunter. Sie zeigen aber auch, was er 
schließlich aHes unterlassen hat. Er verzichtet zuletzt auf jede Wirkung aus der 
Fassade, baut einen kubischen Block, dessen innere Anordnung sich dem Äußeren 
mitteilt: Halle und Saal inmitten des Würfels, Treppenhäuser zu beiden Seiten, 
die durch Türme heroisiert werden. Die Türme flankieren ihrerseits den Giebel 
über dem Rathaussaal. | 


Was Schinkel zweihundert Jahre spáter als Testament hinterláBt, ist hier vor- 
weggenommen: Klares Betonen der Konstruktion durch die Gliederung, kein Bau- 
teil ohne Zweckbestimmung, alles knapp, klar und echt. Elias Holl gewinnt seine 
höchste Freiheit durch Achtung des Gesetzes. Es lautet: Ruhe und Größe. 

Mit diesem Bau erreicht Deutschland Weltrang in der Architektur der Renais- 
sance, selbständigen Anschluß an die Cancelleria in*Rom und an den Palazzo 


i 


24 Biedrzyaski / Die Anktage der Ruinen 


Farnese. Der Geist der alten freien Reichsstadt Augsburg hat in Elias Holl einen 
völlig sinngemäßen Ausdruck gefunden, ein Bündnis aus dem Willen der Stadt 
und der Macht ihres größten Dieners. 

2 

Und dennoch soll die Rede sein von unzerstörbaren Werten, von unvergäng- 
lichen Werken in uns, nachdem dies alles schwer getroffen und zunichte gemacht 
ist? Nicht in dem Sinne freilich, daß wiedererstehen kann, was unwiederholbar 
ist. Aber das Geschaffene ist ja zugleich auch ein Schópferisches, gerade wenn 
man es nicht abhängig sieht von dem Genie eines einzelnen, noch so erlauchten 
Künstlers, sondern von dem Genie des Volksgeistes, ohne den die einzelnen nicht 
emporragen würden auf den Schultern der Gemeinschaft. 

Es gibt kein Land, das so reich und unberechenbar ist in seinen Verschwen- 
dungen wie Deutschland. Es gibt kein Volk, das so oft nach den großen Er- 
schöpfungspausen seiner Geschichte dort begonnen hat, wo es aufhörte, wie das 
deutsche, Es gibt kein Reich in Europa, das so alt und so jung in einem Atem sein 
kann wie das unsere. 

Wir haben die Reichshauptstädte und die Stile gewechselt und haben dennoch 
in allen Wandlungen uns selbst erhalten. Wir haben die Hierarchie der Künste 
durchmessen und in der Musik fortgedacht, was in Stein vollendet war. Wir haben 
in langen Anmárschen der Geduld durch die Kette der Generationen hindurch, 
der Prophezeiung gewiß und der Erfüllung sicher, unsere Kraft gesammelt, bis sie 
sich zum erstenmal in der staufischen Plastik perikleisch vergeudete, so daB Bam- 
berg zu unserer Akropolis geworden ist. Ein zweites Mal haben Jahrhunderte 
hindurch die kleinen Meister daraufhin gespart, was die Dürerzeit mit einer un- 
vorstellbaren Energie in zwei Generationen wie eine Saat der Natur selbst aus- 
streute. Wir haben aus den Trümmern des Dreißigjährigen Krieges eine Volks- 
kraft gerettet, für die es kein erklárbares Argument gibt, und zum drittenmal und 
diesmal sogar mit verteilten Rollen im Süden und Norden des Reiches zugleich 
die groBe volkstümliche Baukunst des Barock und die groBe Kunst der Fuge ge- 
schaffen. Wir haben noch einmal in der Malerei von vorne angefangen und dem 
Abendland das Programm der romantischen Malerei gestellt, als wieder wie durch 
einen Gnadenakt der Natur die kleistische Generation der Runge und Friedrich 
auferstand. Und plótzlich zeigte sich: Was der niederdeutsche Meister Bertram 
im vierzehnten Jahrhundert für Hamburg gab: die Wucht seiner wortkargen, zu- 
geknópften, aber innerlich phantasiestarken Menschen, die bekenntnishafte Ehr- 
lichkeit dieser unanfechtbaren, ganz in sich geschlossenen Existenzen, diese 
reinen und schlichten, scheuen und herzlichen, tátigen und ausdrucksvollen Ge- 
stalten — dies alles wiederholte sich bei Philipp Otto Runge aus derselben un- 
zerstórbaren Mitgift seines Küstenstammes. Sein Elternbildnis láBt ihn beinahe 
mehr als Erzplastiker erscheinen, denn als Maler von romantischer Empfindsam- 
keit. Die metallische, wie aus Eisen gegossene, kubische Form, die diesen Figuren 
zugedacht ist, vertritt die Eindeutigkeit ihrer Charaktere, und die Standhaftigkeit 
ibres Willens. In einen Mantel des Schicksals geschmiedet, so stehen diese hart- 
knochigen Niederdeutschen vor uns, sehr áhnlich dem frommen Geschlecht der 
Bewáhrung, das Meister Bertram gebildet hat. 

So bleibt die rassische Mitgift über die Jahrhunderte hinweg dieselbe und 
offenbart sich in dieser zeitlosen Gleichung zwischen zwei Künstlern. Es wieder- 
holt eich die wortkarge und mutige Sprache des Küstenstanimes, die bürgerliche 
Aufrichtigkeit in einer phrasenlos empfundenen Welt, der sture Ernst und die 
leise Innigkeit. Es offenbart sich die Ubereinkunft der gleichen Impulse und es 
vollzieht. sich unbewuBt und unwillkürlich mit naturgesetzlicher Kraft, nie ver- 
lóschend, sich stets verjüngend, mit sicherer Unbeirrbarkeit die unzerstórbare 
Kraft des Volksgeistes 4 


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Karl Rössing, Berlin: Die Holzflöher (Holzstich) 


Der Köhler 


Der Köhler ruft des Nachts im fchroarzen Wald. 
In hohen Wipfeln laut der Axthleb hallt. 

Die Stange ſchlägt er in des Mellers Brand. 
Der Funke ſtiebt um feine braune Hand. 


Der Köhler ift ein finſterer Gefell, I 
Die Brut umfpannt ein rauchgefchmärztes Fell. 

Sein Bart weht brandrot um das Rußgeficht 

Und in den Augen glimmt ein böfes Licht. 


Der Köhler hat nicht Weib und auch nicht Kind. 

Er fchläft bei Moos und Pilz in Wald und Wind. 
Š Die Kröte unht, der Marder fchleicht vorbei. 

Zur Mitternacht weckt ihn ein Eulenfchrel. 


Dann fchleppt im weißen Mond er Holz zuhauf. 
Der Wanderburſch fchridst jäh im Traume auf. 
Und laufcht der Stimme, die im Dunkel fchallt: 
Der Köhler reft des Nachts im ſchwarzen Wald. 


Rudolf Kreutzer. 


Walter Stauß: 


Vom Werden des deutschen Bauern in Europa 


Alles Leben hängt ab von den Kräften und den Regeln der Natur, aus der 
es wächst. Auch das deutsche Leben wird sich entfalten oder es wird in Gefahr 
geraten mit dem Boden seiner Heimat, seiner Prdduktivität und Gesundheit. 
Denn so wie unser deutsches Volk seinem heimatlichen Boden gerecht wird, 
wie es ihn einschätzt, pflegt und entwickelt, so wird es schließlich auch allen 
übrigen Faktoren der Umwelt gerecht, den anderen Völkern, der technischen, 
wirtschaftlichen und politischen Dynamik der Welt, der eigenen Gesundheit. 
In diesem Sinne ist die Heimat ein Spiegel der Welt, und aus dem geschicht- 
lichen Werdegang des deutschen Bauern können wir Wesentliches ablesen für 
die künftigen Daseinsentscheidungen unseres gesamten Volkes. 

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Das Klima Europas ist teils humid, das heißt, die Höhe der jährlichen Nieder- 
schlagsmengen ist größer als die Höhe der jährlichen Verdunstung, teils semi- 
humid, das heißt, während kürzerer Zeiten im Jahr ist die Verdunstung größer 
als die Niederschlagshöhe. Die Regenmengen durchsickern also ständig oder 
mit kurzen Unterbrechungen den Boden Europas, sie führen unmittelbar lösliche 
und mittelbar im Wasser (als einem Träger von Säuren) lösliche Stoffe in den 
Untergrund oder fällen sie in den tieferen Bodenschichten aus. Das klimatische 
Gegenteil ist das aride und das semiaride Klima, in dem die Niederschlags- 
mengen geringer sind als die Verdunstungshöhe. Hier dringen die Regen- 
mengen mehr oder weniger tief in den Boden ein und werden in den folgenden 
Trockenzeiten dank der Struktur des Erdreichs wieder an die Oberfläche ge- 
zogen und verdunsten. Der Boden der ariden Gebiete wird nicht vom Wasser 
durchspült, in ihm wandern die Niederschlagsmengen nur auf und ab und gehen 
wieder in die Luft. Diese Gegensátzlichkeit der beiden Klimaten hat auf die 
ganze Lebewelt einen bestimmenden EinfluB. 


Der Pflanzenbestand der humiden Gebiete ist der Wald, der wilde Urwald. 
Die riesigen Urwaldgebiete des Amazonas, des Orinoco und ihrer Nebenflüsse 
im tropischen Südamerika, des Kongo in Zentralafrika sind die ausgesprochen- 
sten Zeugen humider Klimate. Die Urwálder Europas, wie die von Bialvstok 
und der Karpaten, zeigen am unberührtesten die Flora der semihumiden 
Klimaten. Dagegen stellen die Wüste Gobi, die Sahara und die Kalahari die 
klarsten Beispiele streng arider Klimaten dar, wáhrend die Steppen Nord- und 
Südamerikas, Nord- und Südafrikas und Australiens Vertreter des semiariden 
Klimas sind. Die Bóden der humiden und semihumiden Klimaten zeigen Hori- 
zonte, jeweils bestehend aus einer humusreichen Krumeschicht, dar- 
unter eine Bleichzone und als Untergrund roten Boden voller säurelöslicher 
Stoffe. Das ist die Folge der Wanderung des Regenwassers im Boden mit den 
Abschwemmungserscheinungen lóslicher und säurelöslicher Stoffe. Die Böden 
der ariden und semiariden Gebiete dagegen sind horizontlos. 


Die Natur ist stets bestrebt, einen Gleichgewichtszustand zu erreichen. In den 
humiden Gebieten ist er erreicht, wenn der Urwald den Boden vor den Schäden 
der hohen Regenmengen schützt. Wird der Wald gerodet, so tritt eine Ver- 
heidung ein, wie sie sich in großen Gebieten der Lüneburger Heide und der 
Lausitz darstellt. Diese Gebiete haben noch im Mittelalter dichte Eichenwälder 
getragen. Die ariden Steppengebiete dagegen gehan der Verwüstung, einer 
Wüstenbildung entgegen, wenn das alte Gleichgewicht der Steppe zerstört wird. 
Wüstenbildung in den Steppengebieten und Heidebildung in den 
Waldgebieten zeigen, daß der von der Natur erstrebte Gleichgewichts- 
zustand zerstört worden ist. Wo der Farmer in den Steppengebieten der Prärie 


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Adolf Saenger: Pferde im westfälischen Land (Lithographie) 


umbricht und Jahr für Jahr Weizen baut, um mit dem geringsten Aufwand den 
Höchsten Ertrag zu erzielen, da wird das Gleichgewicht zerstört und der Verlust 
der Bodenfruchtbarkeit ist die zwangsläufige Folge. Große Strecken in den 
Weizenanbaugebieten der Vereinigten Staaten von Nordamerika zeigen diese 
Folge einer kapitalistischen Ausnutzung des Bodens. Die Struktur des Bodens 
wird verschlechtert, der Wind nimmt die feinen Bodenteilchen fort und der 
Regen schwemmt die Ackerkrume ab, die Wüstenbildung setzt ein. Nur die 
Schaffung von Windstreifen als Schutz gegen die Sandstürme und beste Pflege 
des Bodens durch Humusanreicherung und durchdachte Fruchtfolge können die 
weitere Ausdehnung der Wüstenbildung verhindern. Solange die Steppen Nord- 
amerikas als Viehweiden genutzt wurden, blieb der alte Gleichgewichtszustand 
erhalten, erst als Ackerschlepper und Mähdrescher kapitalistisch eingesetzt 
wurden, setzte die Wüstenbildung ein. 


Anders ging die Entwicklung der Landwirtschaft in den semihumiden Gebieten 


Europas vor sich. Hier wurden die Wälder gerodet und Brotkorn angebaut, 


längst ehe der Kapitalismus das Streben nach Gewinn überspitzt hatte. Hier 
entwickelte sich der Landbau allmáhlich und hatte Zeit, sich von den Er- 
fahrungen des vergangenen Jahres, des vergangenen Jahrzehntes und des ver- 


28 Stauß / Vom Werden des deutschen Bauern in Europa 


gangenen Jahrhunderts lenken und anpassen zu lassen. Die Natur antwortet auf 
jeden Fehler mit einem Minderertrag, und mehr gefühlsmäßig als verstandes- 
mäßig schufen die Rodebauern Europas und insbesondere Deutsch- 
lands eine Form der Bodennutzung, die eine weitgehende Erhaltung der alten 
Bodenfruchtbarkeit erreichte und sogar zu einer Vermehrung der Bodenfrucht- 
barkeit führte. Wohl wurden auch in diesen Gebieten aus Unkenntnis Fehler 
gemacht, die Lüneburger Heide beweist es. Aber diese Fehler sind in engen 
Grenzen geblieben und haben nicht zu einer Verheidung großer Teile Europas 
geführt. Allerdings hat die Ziege in den südlichen Gebieten Europas eine ver- 
hängnisvolle Rolle gespielt, da sie die Schuld an der Verkarstung weiter Ge- 
birgsstrecken in Spanien, Italien und des Balkans durch die Verhinderung einer 
neuen Waldbildung trägt. In den eigentlichen Ackerbaugebieten aber ent- 
wickelte namentlich der deutsche Bauer die alte Dreifelderwirtschaft, die ein 
Drittel des Ackers mit Wintergetreide bestellte, ein Drittel mit Sommergetreide, 
und das letzte Drittel als Schwarzbrache pflügte und eggte, ohne es zu bestellen. 
Durch die Schwarzbrache wurden die klimatischen Schäden des Bodens, die 
durch den zweijührigen Getreidebau eingetreten waren, wieder aufgehoben. 
Durch das Pflügen und Eggen in mehrfacher Folge während des Frühjaurs und 
Sommers wurde die alte Ackergare wieder erzielt, so daB der im Herbst einge- 
säte Winterroggen oder Winterweizen wieder gute Erträge bringen konnte. 
Diese alte Fruchtfolge hat sich viele Jahrhunderte lang erhalten und hat es er- 
móglicht, die Bodenfruchtbarkeit der Bóden zu erhalten und zu steigern. Gleich- 
zeitig wurde die Schwarzbrache benutzt, um tierischen Dung in den Boden zu 
bringen und ihn durch wiederholtes Pflügen gut einzumischen und gleichzeitig 
das Unkraut zu vernichten. So ist die alte Dreifelderwirtschaft mit der Schwarz- 
brache keine erdachte Betriebsform, sie ist vielmehr aus den ‚Erfahrungen von 
Jahrhunderten gewachsen. 


Erst jetzt ist der Stand unserer Wissenschaft auf dem Gebiete der Bodenkunde 
und Klimakunde so hoch, daß eine Begründung für die Entwicklung der Drei- 
felderwirtschaft gegeben werden kann. Die Bauern, die sie entwickelten, hatten 
noch kein Mikroskop, sie wußten nicht, daß die Erde von unzähligen Kleinlebe- 
wesen bewohnt wird und daß das Leben und Wirken dieser zum Teil mikrosko- 
pisch kleinen Pflanzen und Tiere für das Pflanzenwachstum von größter Bedeu- 
tung ist. Sie wußten nicht, daß es Bakterien gibt, die Stickstoff aus der Luft 
ziehen und für die Pflanzen aufbereiten, sie wußten nicht, daß zwischen den 
Lebewesen über dem Boden und den Lebewesen im Boden die engsten Beziehun- 
gen bestehen und daß sich beide Gruppen gegenseitig fördern und auch schädi- 
gen können, je nachdem, wie der Boden gepflegt wird. Die alten Bauern wußten 
nichts von chemo-physikalischen Dingen, sie kannten die Bedeutung der 
Kolloide — der säurelöslichen Senkstoffe — nicht; aber trotz aller ihrer Un- 
kenntnis waren sie in der Lage, durch genaue Beobachtung der Natur die 
Formen der Bodennutzung zu entwickeln, die eine Erhaltung und Vermehrung 
der Bodenfmuchtbarkeit sicherte. Sie fanden immer die Mittel, um die Schäden 
zu verhüten, die durch den Verlust des natürlichen Gleichgewichtszustands, der 
durch die Rodung der Urwálder bedingt war, hätten auftreten können. Die 
Summe der alten Erfahrungen aus der guten Beobachtung der natürlichen Vor- 
gánge hat sich so zu einer tiefen Bauernweisheit verdichtet, die lángst ge- 
fühlsmáBig das erkannt hatte, was heute erst die Wissenschaft 
verstandesgemáB zu begründen vermag. 


Die alte Dreifelderwirtschaft mit der Schwarzbrache hat sich in Europa viele 
Jahrhunderte erhalten. Erst zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts beginnt 
allmählich die ,Besommerung" der Brache mit Hackfrüchten, Kartoffeln und 


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Leibniz-Haus in Hannover 


Stauß / Vom Werden des deutschen Bauern in Europa 29 


Rüben, mit Futterpflanzen, Klee, Wicken, Serradelle, Bohnen und Peluschken. Der 
Hackfruchtbau gibt die Möglichkeit, den Boden während der Wachstumszeit 
zwischen den Kartoffel- und Rübenreihen zu hacken und zu häufeln, so daß die 
Luft für die Kleinlebewesen Zutritt hat und gleichzeitig das Unkraut vernichtet 
wird. Die „Brachearbeit“, die früher den Verlust einer Ernte bedingt hatte, wird 
also jetzt so durchgeführt, daß gleichzeitig eine Ernte dabei gewonnen wird. 
Ja, es hat sich dann herausgestellt, daß von der besommerten Brache die 
höchsten Nährwerte vom Hektar geerntet werden, in den Kartoffeln und in den 
Zuckerrüben werden die meisten und lebenswichtigsten Nährwerte für die 
menschliche Ernährung gewonnen. Daher ist man jetzt bestrebt, den Anteil an 
Hackfrüchten zu erhöhen, um die Kohlehydrate für die menschliche Ernährung 
von einer möglichst kleinen Fläche zu gewinnen. Der Feldfutterbau dagegen 
gibt dem Boden die Schattengare, die er unter dem alten Urwald gehabt hatte. 
Hackfruchtbau und Feldfutterbau sind daher in der Lage, dem 
Boden die Struktur wieder zu geben, die er durch den Getreide- 
bau verliert und die für die Erhaltung seiner Fruchtbarkeit not- 
wendig ist. Daß dabei durch Stalldunggaben Sorge für die ausgiebige 
Ernährung der Kleinlebewesen getragen werden muß, sei nur angedeutet. 


So hat der früher unbewußte Kampf gegen den Verlust der Bodenfruchtbar- 
keit, der durch die klimatischen Gegebenheiten bedingt ist, die heutige Form 
der landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland und Europa geschaffen. Sie 
setzen sich mit nur sehr wenigen Ausnahmen aus einer großen Zahl von einzel- 
nen Betriebszweigen zusammen, die sich gegenseitig ergänzen und steigern. Die 
Besömmerung der Schwarzbrache mit Feldfutter und mit Hackfrüchten gab die 
Futtergrundlage für die Rinderhaltung und durch den Kartoffelbau auch für die 
Schweinemast. Der Stalldung der Nutztiere ist die Grundlage für 
die Brhaltunc der Humusbildung des Bodens. Das Stroh des Ge- 
treidebaues ist die Grundlage der Stalldungerzeugung und 
Hinterkorn die der Hühner- und Schweinehaltung. So stellt der 
báuerliche Betrieb des europäischen Waldgebietes eine organische Ver- 
bindung vieler einzelner Betriebszweige dar, die sich gegenseitig in bezug auf 
ihre Ertráge steigern und in bezug auf die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit er- 
gänzen. Die vielseitige und vielgestaltige báuerliche Wirtschaft ist nicht das 
Ergebnis einer erdachten Organisation, sie ist velmehr ein Organismus, der nach 
jahrhundertelanger Erfahrung gewachsen ist. 


Damit ist der landwirtschaftliche Betrieb in seiner Vielseitigkeit und Viel- 
gestaltigkeit nicht kapitalistisch, wenn man unter Kapitalismus ein Streben nach 
Reichtum versteht, das nicht an die weitere Zukunft denkt. Das Ziel insbeson- 
dere der deutschen Landwirtschaft in Europa ist es immer gewesen, den folgen- 
den Geschlechtern den Boden so zu hinterlassen, daß er seine Aufgaben zu 
erfüllen vermochte. Unser Landwirt hat immer, ob bewußt oder unbewußt, bei 
der Nutzung des Bodens auf sehr weite Sicht gedacht und geplant, und so hat 
er es vermocht, die Fruchtbarkeit der Böden, das kostbarste Gut eines Volkes, 
zu erhalten und zu vermehren. Hätte das die Landwirtschaft nicht verstanden, 
dann böte unser Boden nicht mehr die Möglichkeit, den wachsenden Völkern 
Europas die Sicherheit ihrer Ernährung zu geben. Denn wo die Böden einmal 
verheidet oder verwüstet sind, da ist es kaum möglich, sie wieder für die Er- 
nährung der Menschen sinnvoll zu nutzen. 


So ist das Erbe verpflichtend, das wir von unseren bäuerlichen Ahnen be- 
kommen haben. „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu 
besitzen", dieser Goethe-Spruch gilt nirgends mehr als für die deutsche und die 
gesamte europäische Landwirtschaft. 


Kleine Beiträge 


Ländliche Ausbildungswege 


Den Weg zurück aufs Land zu erschlie- 
Ben und zu bahnen, und die aktive Entwick- 
lung des landeigenen Nachwuchses zu ord- 
nen und voranzuführen, das sind mit die 
dringendsten Aufgaben heute. Die für den 
ländlichen Bezirk des sozialen Ganzen sor- 
genden Stellen (Reichsamt für Landvolk 
und Reichsjugendführung vor allem) haben 
diese Arbeit gemeinsam weit vorangetrie- 
ben. Es ist für die Überleitung aus dem 
stádtischen in den lándlichen Bereich der 
„Landdienst“ geschaffen, es sind, damit zu- 
sammenhängend, Ausbildungsstadien der 
ländlichen Bezirke überhaupt geprägt und 
geklärt worden, und es wird sehr Mühe ge- 
tragen um die kulturelle Arbeit, d. h. eine 
Belebung der persönlich-geistigen Aktivität. 


Die gesamte Arbeit für den ländlichen 
Bereich ist ja sehr stark angewiesen auf die 
jetzt zur Verantwortung heranwachsende 
und die nachfolgende jüngste Generation, 
da man erst von diesen noch wandlungs- 
fähigen Menschen erwarten kann, daß sie 
alles, was an technischer Intensität und 
seelisch-geistiger Selbständigkeit ange- 
strebt werden muß, nicht nur äußerlich, 
sondern auch inwendig einzusetzen und zu 
entfalten verstehen. Unter diesem Gesichts- 
punkt ist besonders die Auswirkung der 
kriegsbedingten „Kinderlandverschickung“ 


wichtig, weil sie dle Jugend von klein auf 
und ganz nahe und ungestört in das Er- 
lebnis des Ländlichen und Naturverbun- 
denen hineinstellt, so daß man hoffen kann, 
daß viele Jungens und Mädchen sich für das 
Land entscheiden und den bösen Bann der 
Stadtsucht durchbrechen werden. 


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Inzwischen ist für díe, die schon bisher 
diesen Weg gehen wollten, der ,Land- 
dienst” ausgebaut mit dem Ziel, eine 
Elite bšuerlichen Nachwuchses zu schaffen, 
die dann möglichst vorbildlich und akti- 
vierend, wie die Hefe den Teig so überall 
die ländliche Gemeinschaft durchsetzen 
könnte. Von 3500 Landdienstfreiwilligen im 
Jahr 1935 stieg die Zahl auf 19595 im Jahr 
1941/42 und 38522 im Jahr 1943/44. Mit 14 
bis 18 Jahren kommen diese Jungen und 
Mädchen in eine Gemeinschaft, die nun 
strenge Arbeit und einfache Lebensführung 
bedeutet, aber in Sauberkeit, Ordnung und 
sorgfältiger Betreuung. Der Leiter der 
Schule des Amtes Bauerntum-Landdienst 
in der Reichsjugendführung äußerte sich 
dazu: „Es wurde im Landdienst rück- 
sichtslos mit der verantwortungslosen Ein- 
stellung gebrochen, daß derjenige für das 
Land gerade noch gut genug ist, der zu 
allem anderen nichts taugt. Die Entwick- 
lung des Landdienstes wurde nicht auf 
Kosten der Auslese erreicht. Mit der Zahl 
stieg auch die Qualität der Landdienst- 
mannschaft." Die Verpflichtung geschieht 
vorláufig nur für ein Jahr, in dem sich 
zeigt, ob die Umstellung auf das Leben mit 
dem Lande móglich und fruchtbar ist. Denn 
die Landdienstler kommen — wie eine Sta- 
tistik des letzten Jahres zeigte — nur zu 
8,3 Prozent aus ländlichen Kreisen; 21,8 Pro- 


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Wohnraum im 
Landdienstheim 


zent waren Kinder von Facharbeitern und 
Bergleuten, 13,8 Prozent von Angestellten, 
13,5 Prozent von freien Beamten, 12,2 Pro- 
zent von Hilfs- und ungelernten Arbeitern, 
usw. Die endgültige Entscheidung für das 
Land wird vorláufig leider noch immer sehr 
stark behindert durch den Einspruch der 


Kleine Beiträge 31 


Eltern, die ihre herkómmliche Vorstellung 
von Lebensbequemlichkeit und Versiche- 
rung nicht durchschauen können und lieber 
abwarten wollen, bis die Kinder spáter Nutz- 


nießer der bewältigten Krise des ländlichen 
Lebens werden können, als daß sie sie jetzt 
die Schwierigkeiten der Umgestaltung mit- 
machen lassen — wobei allerdings der Ge- 
winn an menschlicher Arbeitsfreude und 
freiem Atemraum unter Gottes Himmel für 
nichts geachtet wird. 


Wer sich aber fürs Land entscheidet, geht 
seinen guten Weg weiter: der Einsatz ge- 
schieht vorwiegend in Dorflagern, d. h. ein- 
zelne Arbeit bei ausgewählten Bauern, und 
gemeinsames Leben und Lernen im Lager, 
das nach den Erfahrungen der Hitler-Jugend- 
Heimbauten möglichst sowohl schön wie 
praktisch und fortschrittlich eingerichtet 
ist, so daß „die kleinen Alltäglichkeiten von 
der Spindordnung bis zur gründlichen Kór- 
perpflege am Morgen und Abend, vom 
Schuhputzen bis zur Sauberkeit im Tages- 
raum" eine gute und wichtige Grundlage 
einer künftigen gestrafften und selbstver- 
antwortlichen Lebensführung bauen kón- 
nen. Denn „wir alle wissen, was noch in 
sozialer, hygienischer und erzieherischer 
Hinsicht in Tausenden unserer Dórfer zu 
tun ist", daB also eine richtige und sach- 
liche Gewóhnung an neue Gedanken und 
Gefühle, wie das ein solcher gemeinschaft- 
licher und zugleich erzieherischer Lebens- 
stil ermóglicht, der beste Weg ist. 


Nach zweijährigem Lageraufenthalt 
schließt die Landarbeits- bzw. Hausarbeits- 
prüfung ab. Dem folgen zwei Jahre Land- 
wirtschaftslehre oder Lehre in einem Son- 


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derberuf (Winzer, Melker, Schäfer usw.), 
mit Abschlußprüfung, nachfolgender Praxis, 
und eventuell Besuch der höheren Landbau- 
schule mit DiplomabschluB. Ziel ist die Zu- 


Schlafraum im 
Landdienstheim 


weisung eines eigenen Hofes resp. die weit- 
gehend selbständige Ausübung eines weib- 
lichen Landberufes. Für die Ausbildung der 
Landdienstführer und -führerinnen sind 
eine Reihe „Lehrhöfe“ eingerichtet, eigene 
Betriebe von 60 bis 125 ha GróBe, auf denen 
in einjáhriger Lehre Jungens und Mádchen 
gemeinsam ausgebildet werden. 

So ist hier eine Bahn eróffnet, die sich 
einfügt in das gleichzeitig begonnene 
System von ländlicher Berufsgliederung 
und -sicherung und das ländliche Gefüge 
klar und entschieden in die gesamte Sozial- 
ordnung einbauen hilft. Eng da hineln ge- 
hórt die kulturelle Arbeit, die, soweit es die 
Jugend betrifft, in Arbeitsgemeinschaften 
etwa der Werkarbeit — zur Erweckung und 
Entfaltung der  eingeschlafenen eigen- 
schöpferischen Gestaltungskräfte — oder 
des BDM.-Werkes ‚Glaube und Schönheit” 
besteht, von eınem gesunden und sinnge- 
mäßen Kochen über den Bauerngarten — 
der an Gemüse und Kräutern und Blumen 
reich sein muß — und die Gesundheitspflege 
zur Gestaltung des Wohnens und der Ar- 
beits- und Festkleidung (für die man den 
überalterten Ausdruck „Tracht“ besser ver- 
miede) reichend, und vom Landdienstheim 
und Arbeitsdienstlager her den Versuch 
zum Entwickeln wirklicher Gemeinschafts- 
feste tätig vorantreibt. So ist kräftig klaf- 
fend von jeder Seite her die Bresche in das 
alte verhärtete Gebilde lebensabseitiger 
Ländlichkeit geschlagen und läßt den Wind 
durchblasen —. St. 


Erlesenes 


Neuordnungsfragen des Landes 


Von 1882 bis 1933 verminderte sich die 
Zahl der in der Landwirtschaft berufs- 
tätigen Menschen von rund 16,0 Mil- 
lionen auf 13,7 Millionen und von 1933 bis 
1939 auf 12.3 Millionen. Demgegenüber 
steht eine Zunahme der städtischen Be- 
völkerung von 1882 bis 1933 von 24,2 auf 
52,3 Millionen. So ergibt die Volks-, Be- 
rufs- und Betriebszählung 1939, daß die 
Zahl der land- und forstwirtschaftlichen 
Berufszugehörigen seit 1933 um rund 1,5 
Millionen, also um über 106 v.H. ab- 
genommen hat... 

Die Zahl der in der Land- und Forstwirt- 
schaft tätigen Bevölkerung ist 1939 mit 
12265000 an einem Punkt angelangt, der 
nicht weiter unterschritten werden darf, 
falls nicht größte Schädigungen für den 
Volkskörper eintreten sollen. Der Abzug 
der Menschen aus der Landwirtschaft hat 
nicht nur die überzähligen Arbeitskräfte 
und den Geburtenüberschuß erfaßt, son- 
dern in den Bestand der landwirtschaft- 
lichen und bäuerlichen Familien, ins- 
besondere der Inhaber von Kleinst- und 
Kleinbetrieben, eingegriffen. 

Diese Tatsache ist von seiten der ge- 
werblichen Wirtschaft inzwischen auch er- 
kannt worden. MaBgebende Stimmen hahen 
darauf hingewiesen, daß Industrie und Ge- 
werbe für die Zukunft nicht mehr mit dem 
bisherigen Menschenstrom aus dem Land- 
volk rechnen kónnen. Die zukünftige Aus- 
weitung der Industrie ist unter anderem 
durch folgende MaBnahmen zu erreichen: 


1. Durch eine weitere Entwicklung des 
technischen Fortschrittes und Ratio- 
nalisierung des Arbeitsprozesses; 

2. durch eine Arbeitsteilung innerhalb des 
großeuropäischen Wirtschaftsraumes. 


Es zeigt sich, daB mangels geeiqneter 
Aufstiegsmöglichkeiten im eigenen Berufs- 
stande eine Zunahme der Klein- und 
Kleinstbetriebe festzustellen ist. Die 
Betriebsinhaber wurden durch die aus- 
geweiteten Möglichkeiten, außerhalb der 
Landwirtschaft eine lohnende Beschäfti- 
gung zu finden, veranlaßt, in einer anderen 
Berufsart eine teilweise oder ganze Ergän- 
zung ihres Einkommens zu suchen. Die bis- 
herigen Betriebe wurden auf eine Größe 
verkleinert, die es ermöglicht, daß die an- 
fallenden Arbeiten im wesentlichen von 
der Frau und den Kindern und mit der 
dem Manne verbleibenden Freizeit bew&l- 
tigt werden konnten. So entstanden neue 


zusätzliche Kleinbetriebe, die keine 
eigene Lebensgrundlage besit- 
zen und den Keim der endgültigen 
Abwanderung in einen anderen 
Berufin sich schließen. 

Es ist einleuchtend, daB erst eine Be- 
stimmte Größe das erforderliche Einkom- 
men sichert. Neben der Sättigung von 
Mensch, Tier und Boden müssen Erzeug- 
nisse in genügender Menge zum Verkauf 
bereitgestellt werden können. Diese Tat- 
sache enthebt nicht der Notwendigkeit, 
durch eine Angleichung der Preise 
der land wirtschaftlichen Erzeug- 
nisse an die Werte der Erzeug- 
nisse der übrigen Wirtschaft die 
dringend notwendige Verbesse- 
rung des Einkommens vorzunehmen. 


Das seit Jahrzehnten mangelnde Ein- 
kommen innerhalb der Landwirtschaft hat 
auch eine Reihe arbeitswirtschaftlicher Br- 
schwernisse im Gefolge, die gemeinsam mit 
den übrigen Gründen die Abkehr aus dem 
landwirtschaftlichen Beruf gefördert haben. 


Die arbeitswirtschaftlichen 
Schwierigkeiten sind folgendermaßen 
gekennzeichnet: 


1. ein überwiegendes Vorherrschen der 
Handarbeit in der Masse der landwirt- 
schaftlichen und bäuerlichen Betriebe 
erschwert die Arbeit; 

2. eine ungeheure Besitzzersplitterung 
verhindert den Einsatz landwirtschaft- 
licher Maschinen in vielen Teilen des 
Reiches und erfordert einen ungeheu- 
ren Zeitverlust an Wegen von und zur 
Arbeitsstätte und einen ungeheuren 
vermeidbaren Transport; 

3. eine unzweckmäßige Hofgestaltung er- 
fordert eine vermeidbare Lastenbewe- 
gung und verhindert den Einsatz der 
technischen Hilfsmittel. 


Jeder hat die Möglichkeit, im Jahresablauf 
festzustellen, wie heute genau noch in der 
gleichen Form wie vor hundert Jahren der 
Stallmist von Hand gestreut, das Gras und 
das Getreide von Hand gemäht, die Kar- 
toffel mit der Hacke gerodet wird. Dies ist 
festzustellen, obwohl für die verschiede- 
nen Arbeitsvorgánge entsprechende Ma- 
schinen entwickelt sind. 

Ein Vergleich z.B. zur Industrie zeigt, 
daß hier bis zur Fließbandarbeit und zum 
Vollautomaten der Arbeitsgang rationali- 
siert ist, und daß die alten Arbeitsformen 
nur noch in Museen studiert werden 
können. Es bedarf hier keines Hinweises 


Erlesenes l 33 


dafür, daß innerhalb eines Bauern- 
hofes eine derartige Mechanisie- 
rung von Natur aus nicht möglich 
ist. Sicher ist aber, daß durch 
einen zweckmäßigen Einsatztech- 
nischer Hilfsmittelein großer Teil 
der Handarbeit und der Lasten- 
bewegung beseitigt werden kann. 


Ein weiterer Hinderungsgrund liegt bei 
der fehlenden bisherigen Fortentwicklung 
der Jandwirtschaftlichen Gebäude. 
Eine Feststellung des Alters der Gebäude 
ergibt, daß die Mehrzahl ein Alter von 50 
und mehr Jahren aufweist. Sie sind in 
einer Zeit aufgebaut, als die Erzeugungs- 
leistung und Arbeitsform weit hinter der 
heutigen zurückstanden. Dort, wo damals 
zwei bis vier Kühe mit 1200 bis 1500 Liter 
Jahresleistung standen, stehen heute sechs 
bis zehn mit 2000 bis 4500 Liter Jahres- 
leistung. Die Acker-, Wiesen- und Weide- 
erträge sind auf Grund besserer Wirt- 
schaftsformen, besserer Stallmistpflege und 
Anwendung künstlicher Düngemittel, der 
Pflanzenzüchtung und Sortenauswahl um 
das Doppelte und Dreifache gestiegen. Der 
gesamte vermehrte Arbeitsaufwand wickelt 
sich in den gleichen Gebäuden ab. So sind 
heute in bäuerlichen Familienwirtschaften 
von rund 20 Hektar jährlich rund 40 000 
Zentner im Jahresablauf zu bewegen. Fast 
zwei Drittel der gesamten Arbeit wickelt 
sich auf dem Hofe ab. Die Mittel blieben 
trotz der gewaltigen Leistungssteigerung 
der Landwirtschaft versagt, die Gebäude 
der Leistungssteigerung und der Entwick- 
lung der Technik entsprechend anzupassen. 


Der Siegeszug der Elektrizität und 
Wasserversorgung in den verschie- 
densten Formen in Industrie, Handel und 
Gewerbe hat noch längst nicht jedes Dorf 
und jeden Hof zur Erleichterung und Be- 
schleunigung der Arbeit erreicht. Heute 
sind noch rund eine Million landwirtschaft- 
licher Betriebe über 0,5 Hektar ohne elek- 
trisches Licht und Kraftanschluß. Außer- 
dem sind noch rund 65 v. H. der ländlichen 
Gemeinden ohne eine gemeinschaftliche 
Wasserleitung. Gepflasterte oder 
asphaltierte Straßen zur Erleichterung 
und Beschleunigung des Transportes und 
Verkehrs fehlen noch in weiten Teilen der 
ländlichen Bezirke, 


Die Umlegung als wichtiges Mittel der 
Bodenordnung verbessert die Lage der 
Bauernhöfe nach zwei Richtungen: 


gar 


a) der Arbeitserleichterung, 


b) der Erhöhung der Erträge und damit 
der Einnahmen. 


Die Arbeitserleichterung wird offensicht- 
lich, wenn z.B. statt einhundert und mehr 
nach der Umlegung noch drei bis sechs 
Grundstücke vorhanden sind. Der umfang- 
reiche Leerlauf von Mensch und Tier wird 
beseitigt und der Einsatz der vorhandenen 
technischen Hilfsmitte] erst ermóglicht. Auf 
Grund der Kleinheit der Grundstücke war 
bisher der Einsatz vieler Maschinen ein- 
fach unmóglich. Der freiwerdende Arbeits- 
aufwand kommt einer erhóhten Intensivie- 
rung und einer Verringerung der Arbeits- 
überlastung zugute. 


Welche unmóglichen Formen die Zer- 
splitterung annehmen kann, zeigt folgendes 
Beispiel: Ein Betrieb von 30,27 Hektar 
Fläche hat 162 Parzellen. Die Entfernung 
aller Parzellen vom Hofe beträgt 206 Kilo- 
meter. Bei der Eigenart der landwirtschaft- 
lichen, Arbeit, die eine ständige Wieder- 
holung aller Arbeitsgänge auf allen Par- 
zellen verlangt, müssen in einem solchen 
Betrieb im Jahr viele Tausend Kilometer 
zurückgelegt werden. 


Aus einem weiteren Beispiel werden die 
Folgen. der Besitzzersplitterung klar er- 
sichtlich. Ein Betrieb in der Gegend von 
Schwäbisch-Hall hat 35 bewirtschaftete 
Feldgrundstücke (60 Parzellen und eine 
Gesamtqröße von 12;6 Hektar). Die Ge- 
samtentfernung vom Wirtschaftshof zu 
jedem einzelnen Grundstück und zurück 
beträgt 121,5 Kilometer. Eine Berechnung 
bat ergeben, daß, um diese Wege zurück- 
zulegen, im Laufe des Wirtschaftsjahres 
6500 Kilometer Pferdewege und 5500 Kilo- 
meter Männerwege zurückgelegt werden 
müssen. Die Zurücklegung dieser Wege 
erfordert in diesem Betrieb einen Zeitauf- 
wand von 1300 Pferdestunden und rund 
1100 Männerstunden. Das gibt 145 Pferde- 
tage und 123 Männertage (rund ein Drittel 
des Wirtschaftsjahres). Die Bewirtschaf- 
tung von einem Hektar Fläche erfordert 
demnach durchschnittlich einen Leerlauf 
von 11,5 Pferdetagen und 9,7 Männertagen. 
Der Betrieb hat insgesamt einen Arbeits- 
und Zeitaufwand je Hektar und Jahr von 
durchschnittlich 21 Pferdetagen und 33 
Männertagen, d.h. der Leerlauf beträgt im 
Verhältnis zum Gesamtaufwand rund 55 
Prozent (Pferdetage) bzw. rund 30 Prozent 
(Männertage). 

Die Erfahrungen, die in der zurück- 


Neues Dort (Entwurt Wolfram Vogel) 


liegenden Zeit gewonnen worden sind, er- 
geben, daß durch die bisherigen Um- 
legungsmaßnahmen im Durchschnitt mit 
einer 20prozentigen Ertragssteigerung auf 
Grund der vorstehenden Ersparungen an 
Kraft und Zeit und Verringerung der 
Grenzen gerechnet werden kann. Es tritt 
also neben der Arbeitserleichterung eine 
nicht unwesentliche Ertragssteigerung ein, 
die eine Verbesserung der bisherigen Le- 


bensgrundlage bedeutet. 


— — — 


Hoi - und Gartenplan zu einem Neubauernhof in Hufengröhe. Entwurf Wolfram Vogel 


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Die Tatsache, daß innerhalb des 
Altreiches einschließlich der 
Alpen- und Donaureichsgaue und 
dem Sudetengau rund zehn Mil- 
lionen Hektar landwirtschaft- 
licher Nutzfläche  umlegungs- 
bedürftig sind, kennzeichnet die Bedeu- 
tung, die dieser Aufgabe zukommt. 

Im Gegensatz zu den Maßnahmen der 
Umlegung vor 1933, die sich fast aus- 
schließlich auf eine Zusammenlegung der 


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EE 


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Rriesenes 935 


Grundstücke und der Schaffung eines ge- 
ordneten Wegenetzes beschränkte, sieht 
die jetzige Reichsumlegungsordnung die 
Ausdehnung dieser Maßnahmen auch für 
die Ortslage vor. Sie gibt die Möglich- 
keit der Aussiedlung von Höfen aus 
der engen Dorflage auf die Gemar- 
kung. In vielen Fällen ist damit erst das 
einzige Mittel für die gesunde, arbeits- 
wirtschaftlich einwandfreie Gestaltung der 
verbleibenden Hófe, die Pflege der Bau- 
kultur und der Schónheit des Dorfes, die 
Erhöhung der Feuersicherheit, den Bau 
hygienischer Wohnungen, gesunder Ställe 
und ordnungsmäßiger Nebenanlagen ge- 
geben. e 


Eine umfassende Neuordnung erfordert 
eine ungefähre Übersicht darüber, welche 
Kosten die Durchführung der technischen 
Aufgaben verursacht. Es liegen hierfür 
verschiedene Schätzungen des Reichs- 
minísters für Ernährung und Landwirt- 
schaft, des Reichsnährstandes, des Reichs- 
kuratoriums für Technik in der Landwirt- 
schaft in Verbindung mit dem Deutschen 
Institut für Wirtschaftsforschung vor. Sie 
sind teilweise auf Grund vorhandener 
Unterlagen, teilweise auf bestimmten Er- 
fahrungssätzen je Großvieheinheit ge- 
staffelt nach  BetriebsqróBen oder all- 
gemeingültigen Erfahrungssätzen auf- 
gebaut. Es sind hierbei nachfolgende 
Zahlen zum Ansatz gelangt: 
1. Neubildung deutschen Bauerntums 

(ohne neue Gebiete im Osten) .. 6,0 Milliarden 
2. Neubauernhöfe im Rahmen der 

Dorfauflockerung ................ 7.2 m 
3. Neubauten und Umbauten von 


Höfen im Altreich einschließlich 
Sudetengau, Alpen- und Donau- 


reichsgaue ...................... 22,9 ge 
4. Landarbeiterwohnungsbau ........ 3,9 Ge 
5. Technislerung einschließlich Ener- 

gileversorgung.................... 12,3 


52,3 Milliarden 


In diesen Beträgen sind nicht die Kosten 
für den Aufbau der Landwirtschaft und 
der Neubauernhófe in den neuen Ost- 
gebieten, in den eingegliederten Gebieten 
von Kärnten und Steiermark, in Elsaß und 
in Lothringen enthalten. Es sind weiter- 
hin die Kosten der Meliorationsmaß- 
nahmen, der Regelung der Wasserwirt- 
schaft, der Umlegung der Moorkultivierun- 
gen, der Schaffung qünstiger Verkehrsver- 
háltnisse und der allgemeinen Dorfanlagen 
nicht eingeschlossen. 

Es ist darüber hinaus notwendig, ein 
gesundes Preisgefüge für die landwirt- 
schaftlichen Erzeugnisse und den landwirt- 


schaftlichen Bedarf sicherzustellen, das es 
auch ermóglicht, ein gerechtes Lohnein- 
kommen für alle Berufstátigen in der 
Landwirtschaft zu gewährleisten. Es ist 
dabei selbstverständlich, daß auch die 
Frage der Altersversorgung in der Land- 
wirtschaft eine dem Landvolk gerecht 
werdende Lösung findet. 


In dieser umfassenden Form erfüllt die 
Aufrüstung des deutschen Dorfes in Ver- 
bindung mit der Schaffung einer gesunden 
ländlichen Arbeitsverfassung die Aufgabe, 
dem deutschen Landvolk die volle Teil- 
nahme an dem sozialen, kulturellen und 
wirtschaftlichen Leben des gesamten deut- 
schen Volkes sicherzustellen. 


Die genaue Erfassung des wirklichen 
Verhältnisses der einzelnen Familie und 
des einzelnen Hofes machte es notwendig, 
neue Darstellungsmethoden zu entwickeln, 
da die bisher für solche Zwecke vor- 
handenen statistischen Methoden nicht 
ausreichten. So wurde der Bestandsplan 
und das Wunschbild in zeichnerischer, 
maßstäblicb genauer Darstellung ent- 
wickelt. Sie gestattet es, die Zusammen- 
hänge des einzelnen Hofes und innerhalb 
des Dorfes der einzelnen Familie und des 
Hofes klar zu erkennen. Sie gibt dem 
Planer die Möglichkeit, die Verhältnisse 
einer Landschaft, das soziale Gefüge, die 
Familienverhältnisse, die vorhandenen Le- 
bensgrundlagen abzulesen. Sie enthält 
alle Unterlagen, die zur Planung der Neu- 
ordnung und der Handhabung der er- 
forderlichen vorbereitenden Maßnahmen, 
der Lenkung des Grundstückverkehrs, des 
Pachtwesens, der Bauvorhaben in Hof und 
Dorf, für alle klein- und qroßräumigen 
Neuordnungsmaßnahmen erforderlich sind. 


Die einheitliche Anwendung dieser Ar- 
beit über das gesamte Reich ermöglicht 
den Vergleich aller Darstellungen unter- 
einander. Sie erschließt damit erstmalig 
die Möglichkeit, allen Gegebenheiten ge- 
recht zu werden und das Leben des Volkes 
in den tiefsten Wurzeln, den Menschen 
und den Boden zu erfassen, und in das 
bestmögliche Verhältnis zueinander zu 
bringen. 


Neben der Verkürzung der Wirtschafts- 
wege ist natürlich eine Verkürzung 
der Arbeitswege innerhalb des 
Hofes selbst und ein weitgehender Er- 
satz der bisherigen Handarbeiten durch 
entsprechende Maschinen erforderlich. Es 
ist so, daß rund zwei Drittel sämtlicher 


3 Erlesenes 


Arbeit im Hofe anfallen. Vor allem ist eine 
Verringerung der Lastenbewegung not- 
wendig, die ohne weiteres z.B. durch 
Selbsttránken beim Vieh, Gebläse zum 
Transport von Heu und Stroh, Höhen- 
. fórderer und Aufzüge, Düngerbahnen, Kar- 
toffelsilos und zweckmäßige Anlage der 
Rübenkeller zu erreichen ist. Eine ent- 
scheidende Entlastung bildet ferner die 
Melkmaschine, die gerade die schwierigste 
Arbeit, die meist von der Bäuerin getragen 
wird, beseitigt. Ohne sie ist der zukünf- 
tige Bauernhof nicht denkbar. Es gehören 
ferner hierher die Elektrokleinmotoren für 
die verschiedenen Arbeitsvorgänge in der 
Stall- und Hauswirtschaft. Erforderlich ist 
“eine in jeder Hinsicht arbeitswirtschaftlich 
einwandfreie Bauweise, die vor allem auf 
die  hauswirtschaftlichen Belange der 
Bäuerin Rücksicht nimmt. 


Das einzelne Dorf steht nun nicht 
allein. Seine Lebensbeziehungen verbin- 
den es mit benachbarten Gemeinden. Es 
steht wie diese mit dem Hauptdorf und 
dieses mit dem Kreis in lebendiger Ver- 
bindung. Die Neuordnungsplanung er- 
streckt sich daher über mehrere in sich 
durch die verschiedensten Formen ver- 
zahnte Gemeinden. Dies sind z.B. un- 
zweckmäßige Gemarkungsgrenzen, Ein- und 
. Ausmürkerbesitz usw. So entstehen Neu- 
ordnungsgebiete, die naturgemäß eine um- 
fassendere und zweckmáBigere Gesamt- 
lósung als die eines einzelnen Dorfes zu- 
lassen. Gleichzeitig damit kónnen Fragen 
der Verwaltungsvereinfachung und -reform 
usw. gelóst werden. 


So führt das Wunschbild des einzelnen 
Dorfes über die Planung des Neuordnungs- 
gebietes zur Planung der  Hauptdorf- 
bereiche und zu dem Kreisraumordnungs- 
plan. Der Kreisraumordnungsplan hat die 
Aufgabe, die gesamten Lebensfunktionen 
eines Kreises im Sinne einer neuen 
Lebens- und Wirtschaftsordnung zu ent- 
wickeln und aufeinander abzustimmen. 
Dies gilt sowohl für die Fragen der Land- 
wirtschaft im weitesten Sinne, als auch 
für die gewerbliche Wirtschaft, das Wege- 
und Straßennetz, das Verkehrswesen, den 
Wasserhaushalt, die  Energieversorgung, 
das kulturelle Leben, die Landschafts- 
gestaltung und eine zweckmäßige Verwal- 
tung, die allen Lebensbedürfnissen gerecht 
wird. 


Aus: Friedrich Kann, „Aufbruch des Landvolkes” 
Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt a. Main 


Friedrich Paulsen: 
um 1860 


Wenn ich ein solches Bauernhaus mit den 
Großstadthäusern vergleiche, in welchen 
nun ein immer mehr anschwellender Teil 
unseres Volkes lebt und aufwächst, dann 
kann ich nicht umhin, die fortschreitende 
Verarmung der Jugend zu beklagen, Ver- 
armung an Bildungsmöglichkeiten und Ver- 
armung an Freuden. Dort war die ganze 
Welt in lebendiger Wirklichkeit gegenwär- 
tig: die Natur mit allem Reichtum ihrer 
Formen und Erzeugnisse war uns zugäng- 
lich und vertraut, Acker und Felder, Wiesen 
und Weiden, Heide und Moor, fließende 
Bäche und stehende Gräben, Wehlen und 
Teiche, Dünen und Hügel, Deiche und 
Dämme, Watten und Priele, Flut und Ebbe, 
wir kannten sie, nicht von einem kürzen 
Sonntagnachmittagsausflug, sondern aus 
täglichem intimstem Umgang, in jedem Gra- 
ben haben wir gewatet und Fische gefan- 
gen, in jedem Teich und Fluß gebadet, 
jeden Bach abgedämmt, auf jedem Acker 
gepflügt, in jeder Fenne gearbeitet, auf 
jeder Wiese Heu gemacht; über jede Heide 
sind wir gesprungen und haben Beeren ge- 
pflückt oder den Eidechsen zugesehen, auch 
wohl einmal eine Schlange gescheucht, von 
jeder Düne haben wir uns im Sommer 
heruntergewälzt oder im Winter auf Schlit- 
ten herabsausen lassen. So haben wir den 
Himmel bei Tag und bei Nacht gesehen, am 
Morgen das Erblassen der Sterne und das 
Aufleuchten des Frührots erlebt, am Abend 
der untergehenden Sonne ins Angesicht 
geschaut und die ersten Sterne wetteifernd 
gesucht und gezählt, das heraufziehende 
Wetter beobachtet und die sengenden 


. Blitze in fast fühlbarer Nähe niederfahren 


sehen, den Regen über uns niederrauschen 
lassen und in der glühenden Sonne nackt 
im Sande gelegen. Auf Pferden haben wir 
uns getummelt, ohne Sattel und Zaum man- 
chen Ritt getan, bis der Reiter zur Erde glitt 
oder auch einmal kopfüber in den Graben 
geschleudert wurde; mit Kälbern und Läm- 
mern haben wir gespielt, mit Pferden und 
Kühen auf der Weide gelegen, mit Schafen 
und Ochsen, die den Weg nicht wollten, den 
sie sollten, sind wir um die Wette gelau- 
fen; den Fischen haben wir mit Netzen und 
Schlingen nachgestellt, den Vögeln ihre 
Nester abgelauscht, den Kibitzen und Reb- 
hühnern die Eier genommen, den Gras- 
mücken und Bachstelzen die Jungen ‚mit 
Fliegen füttern helfen, ob sie sie schätzten 


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Klaus Richter, Berlin-Stahnsdorf: Der Waldkauz 


Eriesenes 37 


oder nicht. Kurz die ganze Natur lag inner- 
halb des Bereichs nicht nur unserer Augen, 
sondern auch unserer Hànde und Füfe, wir 
lebten mit ihr als ein Teil ihrer selbst. 


Und wie die Natur, so lag das ganze 
menschliche Dasein in unserem Bereich, 
nahe, faßlich, verständlich. Alle elemen- 
taren Künste der Kultur hatten im Haushalt 
ihren Ort; das Großstadtkind sieht nur die 
fertigen Dinge und ihre Verzehrung, wir 


sahen sie alle entstehen, vom ersten Anfang. 


bis zur Vollendung, das Brot und das Bier, 
des Hemd und die Jacke, fast nichts kam 
in unseren Gesichtskreis, von dessen Her- 
stellung wir nicht eine anschauliche Er- 
kenntnis gehabt hátten. Denn auch die 
Dinge, die das Haus nicht selber herstellte, 
sahen wir entstehen: der Schneider kam 
und schnitt auf dem groBen aufgeschlage- 
nen Klapptisch nach großem Papiermuster 
den Stoff zum Anzug zurecht, dann setzte 
er sich, ein Wunder zu sehen, mit, unter- 
geschlagenen Beinen auf denselben Tisch 
und nähte die Stücke zusammen. Im Früh- 
jahr und Herbst kam der Zimmermann auf 
einige Tage ins Haus, besserte aus und fer- 
tigte Neues, hobelte und sägte, natürlich 
wir immer dabei zusehend und wohl auch 
einmal Hand anlegend. Und was nicht ins 
Haus kam, das suchten wir auf; bei dem 
alten Schuhmacher waren wir häufig Gäste: 
man wartete eine Stunde, um das zum Aus- 
bessern gebrachte Schuhwerk gleich wieder 
mitnehmen zu können, und sah ihm inzwi- 
schen zu, wie er mit Leder und Leisten, mit 
Ahle und Pechdraht, mit Schusterhammer 
und Messer hantierte oder am Abend durch 
eme gefüllte Wasserkugel das Licht des 
dürftigen Ollámpchens auf einen Punkt 
sammelte. 


Und nicht minder kehrten wir gern beim 
Schmied ein: es war ein fröhlicher Mann, 
und er hatte es gern, wenn wir im Winter 
aus der Schule kommend vorsprachen und 
zusahen, wie er das weißglühende Eisen 
mit der Zange aus der Kohlenglut zog und 
mit dem Hammer bearbeitete, daß die Fun- 
ken in alle Ecken der dunklen Werkstatt 
stoben und die Mädchen laut aufschrien. 


Wie abstrakt und oberflächlich und dort, 
tig bleibt hiergegen die Vorstellungswelt 
des Großstadtkindes. Die Natur sieht es 
nur auf dem Papier, das Bilderbuch und das 
Lesebuch geben blasse Vorstellungen von 
Feld und Wald, von Tieren und Pflanzen, 
höchstens daß es noch einmal am Sommer- 
nachmittag die Dinge selbst sieht, aber 
wieder nur von weitem und ‚ohne an sie 
heranzukommen: alles ist vor ihm ver- 


schlossen und vergittert. Dagegen hat es 
täglich um sich eine Welt künstlicher Dinge 
und Vorgänge, in deren Inneres es nicht 
hineinzusehen vermag: die elektrische 
Lampe und die Straßenbahn, das Telephon 
und das Automobil, das Warenhaus mit 
seinen tausend die Begierde, aber nicht die 
Erkenntnis herausfordernden Dingen, das 
Museum mit seinen unverstanden angestarr- 
ten Kunstwerken oder Resten einer nur 
dem Gelehrten erreichbaren Vergangenheit. 
So wächst es auf unter lauter Din- 
gen, die ihm stumm bleiben, und 
endlich gewöhnt es sich, nicht 
mehr zu fragen, sondern mit der 
Oberfläche und der unverstande- 
nen Benutzung sich zufrieden zu 
geben. 


Und nicht viel anders steht es mit den 
menschlichen Verhältnissen, den privaten 
und den öffentlichen. Die Großstadtmen- ` 
schen sehen sich nur von weitem und 
kennen sich von der Oberfläche, sie wissen 
voneinander Namen und Titel, Stellung und 
Parteirichtung und derlei AuBerliches, aber 
die Wurzeln des Daseins des andern, die 
erreichen sie nicht und darum wissen sie 
auch von dem Innersten des persónlichen 
Lebens so wenig. Ich bin oft erstaunt ge- 
wesen, nach dem Tode eines Mannes, den 
ich jahrelang gekannt, den ich táglich ge- 
sehen hatte, aus seiner Biographie zu er- 
fahren, wie wenig ich im Grunde von ihm 
gewuBt hatte. Dagegen im Dorf weiB jeder 
vom andern, nicht bloB von gestern und 
vorgestern, sondern von Eltern und Groß- 
eltern her; man sieht die Verháltnisse, unter 
denen er geworden ist, in denen er lebt, 
seine Frau und Kinder, seine Heimstätte 
und seine Arbeit, sein Gedeihen und Miß- 
lingen. Ë 


Und ähnlich mit den öffentlichen Angele- 
genheiten. Man liest davon in der Zeitung 
und redet davon am Biertisch und vielleicht 
in der Volksversammlung. Aber wie am 
letzten Ende „der Staat" und „die Gesell- 
schaft‘ aussieht und wirkt, davon gewinnt 
der Junge, der auf dem Lande aufwächst, 
viel eher eine lebendige Anschauung. Ich 
kannte den Landvogt und den Aktuar in 
Bredstedt, ich wuBte, zu wem man geht, 
wenn man dies oder jenes Geschäft hat, 
ich kannte die Gemeindebeamten und die 


, Kirchspielversammlung und wußte, wie es 


darin hergeht, ich wuBte, was der und jener 
zu tun hatte, der Vater hatte das Gescháft 
selbst jahrelang gehabt, und ich hatte ihm 
Handlanger- und Botendienste dabei ver- 
richtet. Ich wußte von den Rechtsgeschäf- 


38 Erlesenes 


ten, von Hypotheken und Stempelpapieren, 
von Kaufbriefen und Mietsvertrágen, sie 
gingen früh durch meine Hände. Ebenso 
von Steuern und Abgaben, die „Quittungs- 
bücher" über bezahlte Grundsteuern und 
Koogssteuern, Kirchen- und Schullasten 
lagen in der Schatulle des Vaters, und er 
verwehrte mír nicht sie durchzusehen. So 
hab ich auch von Einnahmen und Ausgaben 
des Haushalts früh konkrete Einsicht ge- 
habt: was die Ochsen und Schafe, der Rog- 
gen und Hafer, das Heu und Stroh kosteten 
und also einbrachten, war das tägliche Ge- 
sprách. Und wie mit den Preisen der Er- 
zeugnisse die Landpreise stiegen und fielen, 
wie die Art des Anbaus des Landes mit dem 
Wechsel der Konjunktur sich ánderte, wie 
der Kornbau zurückging, als der Fettvieh- 
export nach England in den 50er Jahren be- 
gann, wie bei steigenden Wollpreisen die 
Aufzucht von Schafen sich rasch vermehrte 
und wieder nachlieB, als der groBe Import 
von Australien einsetzte, alles dies lag vor 
den Augen schon des aufmerkenden und 
aufhorchenden Knaben. 


Und nicht bloß die wirtschaftlichen Ver- 
háltnisse der Gegenwart, auch ihre Einord- 
nung in den geschichtlichen Zusammen- 
hang wurde ihm sichtbar. Meine Jugend- 
jahre fielen in die Zeit mächtig aufstei- 
genden Gedeihens der Landwirtschaft; sie 
begann langsam in den 40er Jahren, ging 
dann stoB weise aufwärts in den 50er Jahren, 
man führte das Steigen aller Preise, der 
Pferde, des Hafers, des Fleisches, auf den 
Krimkrieg zurück, der die Nachfrage für 
den Militárbedarf rasch in die Hóhe trieb. 
Dann kamen die 60er Jahre mit der wach- 
senden Industrie, die Jahre des Aufschnel- 
lens nach dem Krieg von 1870, in denen das 
Land unbegrenzten Wert zu erhalten schien. 
Vorher war aber eine Zeit der Not gegan- 
gen, die den Eltern noch lebendig vor der 
Seele stand und oft in den Gesprächen 
vorkam: in den 20er, 30er Jahren waren die 
Erzeugnisse der Landwirtschaft fast wertlos 
und unabsetzbar gewesen; für einen drei- 
jáhrigen Ochsen wurden 10—12 Taler Ham- 
burgisch, für eine Tonne Hafer zwei Mark 
Lübsch, für ein Pfund Butter zwei Schilling 
(15 Pfg. bezahlt. Kein Wunder, daß die 
Geldknappheit aufs áuBerste stieg und daB 
die schónsten Bauernstellen in Masse für 
nichts im Konkurs verkauft werden mußten; 
wer Schulden hatte aus früherer besserer 
Zeit, oder wer ein wenig leichter das Geld 
ausgab, der kam alsbald von Haus und Hof. 

Von allen diesen Dingen hatte ich eine 
lebendige Anschauung, ehe ich die Namen 


von „Staat“ und „Gesellschaft“ gehört 
haben mochte: in der friesischen Sprache 
gibt es keine Wörter dafür. Was will gegen 
solche konkrete Belehrung der Unterricht 
besagen, den das Stadtkind, so Gott will, in 
der Schule über die „Verdienste der Hohen- 
zollern um die Bürger und Bauern" oder 
über die , Verderblichkeit der sozialdemo- 
kratischen Lehren" erhált? oder den es sich 
selber aus Zeitungen oder Gesprächen ge- 
winnt? Ich hab nachher zeitweilig mit Lei- 
denschaft Nationalökonomie studiert; es 
war die Freude, das, was ich aus der An- 
schauung kannte, nun in der großen Theo- 
rie wiederzufinden; vor allem hat es mir 
aus diesem Grund Roschers Natíonalókono- 
mie des Ackerbaus angetan; ich hab sogar 
den Vater dahin gebracht, von mir Vor- 
tráge darüber sich halten zu lessen, natür- 
lich nicht Kathedervortráge. 


Nicht minder lag auch die soziale Struk- 
tur in einfacher und durchsichtiger Gestalt 
vor Augen. Das Dorf bildete eine überseh- 
bare Lebensgemeinschaft. Das tragende 
Grundgerüst machten die selbständigen 
Bauernhöfe aus. Daran lehnten sich die 
Handwerke: alle notwendigen Arbeiten 
waren vertreten, jeder Handwerker hatte 
regelmäßig eine Anzahl Bauern als seine 
Kundschaft, der Müller, der Schmied, der 
Rademacher usw.; ihre Aufträge waren die 
Unterlage seiner Lebenshaltung. Dazu kam 
als eine dritte Gruppe der Pastor, der Schul- 
lehrer, der Arzt, der Beamte; sie standen 
einigermaßen außer oder über der Gesell- 
schaft, sie mit Leistungen versehend, die 
nicht auf einheimischen, bodenständigen 
Künsten beruhen. Ebenso trat die soziale 
Schichtung, die Klassenbildung in privater 
Form faßlich zutage. Es gab Großbauern, 
sie waren mehr in den neuen Kögen hei- 
misch, die nicht selbst mit Hand anlegten 
bei der Arbeit, dann eine sehr breite Schicht 
von mittleren Bauern, die regelmäßig mehr 
oder minder sich selber an der landwirt- 
schaftlichen Arbeit beteiligten. Dann folgte 
eine Schicht kleiner Besitzer, die auf dem 
eigenen Landbesitz nicht mehr ausreichende 
Arbeit für die Familienmitglieder hatten 
und daher durch übernommene Dienste ihr 
Einkommen steigerten, sei es durch Fuhr- 
dienste oder durch Krámerei, Tagelohn und 
Handwerk. Endlich kamen die eigentlichen 
Tagelöhner, die nur ein Haus mit Garten 
und vielleicht noch Land für eine Kuh oder 
ein paar Schafe hatten, sonst eg mieteten, 
sie standen meist in regelmäßigem Arbeits- 
verhältnis zu einem Bauernhof, ihre Kinder 


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Adolf Saenger: Ländliches Gespräch (Zeichnung) 


gingen erst als Hütejungen, dann alsDienst- 
boten in Stellung. Endlich am Rand eine 
sehr kleine Schicht von Armen, meist durch 
Krankheit und Unglück heruntergekom- 
mene oder auch durch eigene Schuld, durch 
Trunk und Trágheit verkommene Familien: 
sie lebten von gelegentlicher Arbeit und 
vom Betteln. Einige Insassen des Armen- 
hauses, erwerbsunfáhige Alte, unversorgte, 
meist uneheliche Kinder, Krüppel, Idioten, 
machten den Beschluß. 


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So lag die Gliederung der Gesellschaft 
nach dem Besitz sichtbar vor Augen, man 
wußte von jedem Bauern, wieviel Demat 
Land er besaß, und von jeder Familie, in 
welchen Verhältnissen sie sich befand, sah 
auch, wie die Verhältnisse von dem Ver- 
halten abhängig waren, warum diese Fa- 
milie im Aufsteigen war, jene nicht auf 
einen grünen Zweig kommen konnte: alles 
Dinge, die in der Großstadt unsichtbar oder 
doch undurchsichtig bleiben. Womit es 


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denn doch wohl zusammenhängt, daB aller- 
lei seltsame,Meinungen hier so leicht sich 
durchsetzen, z. B. daB das ökonomische Er- 
gehen des einzelnen von seinem Verhalten 
überhaupt nicht abhángig sei oder daB seine 
Verhältnisse nun eben von den Verhält- 
nissen kommen und áhnliche. 

Hinzufügen möchte ich noch dies, daß 
die soziale Gliederung die Einheit 
der Lebensgemeinschaftnichtauf- 
hob. Es gab in dieser Bauerngesellschaft 
nirgends eine Spaltung, eine Kluft zwischen 
den Klassen, wie sie im Osten des Landes 
vorhanden ist, ja wie sie hier eigentlich die 
Grundiage der ganzen Gesellschaftsordnung 
bildet: die Spaltung in Rittergutsbesitzer 
und Tagelóhner, in offiziersfáhige Familien 
und Gemeine, in Gebildete und Ungebildete, 
in Hochwohlgeborene und überhaupt Nicht- 
geborene. Alle Stufen des Besitzes waren 
durch kontinuierliche Ubergánge verknüpft; 
zwischen allen bestand, wenn auch mit Ab- 
stufungen, conubium und commercium; man 
saß, wie in der Kirche, so in der Schule und 
im Wirtshaus beisammen. In der Schule 
hatten die Kinder der reichen Bauern neben 
denen der Tagelóhner ihren Platz, und 
selbst die Insassen des Armenhauses saBen 
durch die Klasse verteilt, je nachdem ihre 
Fáhigkeiten und ihr FleiB ihnen einen Platz 
verschafften. Im ganzen hatten natürlich 
die Wohlhabenden den Vorzug, schon we- 
gen des regelmäßigeren Schulbesuchs; aber 
zuletzt gab doch die persónliche Leistungs- 
fáhigkeit den Ausschlag. Und nicht anders 
war es beim Spiel: jeder gilt, soviel er 
kann; eine Ausschaltung kam auch hier 
nicht vor, wenn einer sich nicht selbst un- 
móglich machte. Und dieses einheitliche 
Leben in der Jugend setzte sich fort auch 
bei den Erwachsenen. Zwar traten die Un- 
terschiede des Besitzes stárker hervor; doch 


Tanzplatzes und der Kegelbahn, der Lieder- 
tage und des Ringreitens: auch der Knecht 
und das Dienstmádchen waren nicht ausge- 
schlossen. Und so kamen denn Zwischen- 
heiraten nicht so gar selten vor; ein tüch- 
tiger und bewáhrter Knecht konnte um die 
Tochter eines Bauern oder die Hand seiner 
Witwe anhalten, ohne von vornherein der 
Ablehnung gewiß zu sein, und das Umge- 
kehrte kam wohl noch háufiger vor, daB 
Bauernsóhne Tóchter von Handwerkern 
oder kleinen Leuten, die dienten, heirateten. 

Dieser demokratische Charakter der Ge- 
sellschaft prägte sich auch überall in der 
Sitte und Sprache aus. Wie man bei der 
Arbeit und bei Tisch auf dem Fuß der 
Gleichheit verkehrte, es war selbstverständ- 
lich, daß die Dienstboten bei uns mit am 
Tisch aßen, so machte die Sprache in einer 
bemerkenswerten Weise alle zu Gleichen: 
alle Gleichaltrigen nannten sich du, da- 
gegen wurde die ältere Generation ohne 
Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung 
mit der Anrede durch den Namen, wie die 
Eltern durch die Anrede mit Vater oder 
Mutter, geehrt, während sie die jüngeren 
mit dem du ansprach. Nur der Altersunter- 
schied, ein allgemein menschlicher, nicht 
gesellschaftlicher Unterschied gab eine 
Vorzugsstellung. Ausgenommen waren nur 
die Pastoren, Lehrer, Beamte, die natürlich 
mit ihren Amtsnamen angeredet wurden, 
meist auch Fremde waren und nicht Frie- 
sisch redeten. So bin ich, wenn ich als 
Student oder junger Doktor nach Hause 
kam, von den älteren Leuten, auch unserem 
Tagelöhner, mit du angeredet worden, viel- 
leicht einmal mit einer Art Entschuldigung: 
eigentlich darf ich ja wohl so nicht mehr 
sagen; während ich sie mit dem Namen 
anredete. Es wäre mir einfach gegen den 
eingeborenen Sprachsinn gegangen, anders 


blieb auch hier die Gemeinsamkeit des zu verfahren. Aus: „Aus meinem Leben“ 


] An unsere Leser! 


Der Präsident der Reichspressekammer hat in Durchführung der vom Reichsbevollmächtigten für den totalen 
Kriegseinsatz erlassenes Richtlinien auf dem Gebiet des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens ais Sofortmaßnahme 
verschiedene Einschränkungen angeordnet.. Aus diesem Grunde stellt auch die Zeitschrift „Wille und Macht" 
ibr Erscheinen zum 1. Juli bzw. ab Folge 7/8 bis au! weiteres ein. 

Im Einvernehmen mit der Reichspressekammer wird der für die nicht mehr erscheinenden Folgen einer 
Zeitschrift bereits bezahlte Anteil des Abonnementspreises im allgemeinen von den Verlagen dem Deutschen 
Roten Kreuz überwiesen, da eine Rückzahlung dieser zum großen Teil nur sehr geringen und für die Lebens- 
haltung des einzelnen Lesers zweifellos unerheblichen Beträge einen Arbeitsaufwand bewirken würde, der 
mit den allgemeinen Anstrengungen zum totalen Kriegseinsatz und damit zur Erringung des Sieges nicht im 


Zentrelverlag der NSDAP. Franz Eher Nachi. GmbH. 
Zweigniederlassung Berlin. 


Hauptschriftleiter: Heinz Frank, z. Z. bei der Wehrmacht. Stellvertreterin: Ortrud Stumpfe. Anschrift 

der Schriftleitung: Berlin SW 68, Mauerstr. 88, Fernspr.: 110022. — Verlag Franz Eher Nachf. G. m. b. H. 

(Zentrelverlag der NSDAP.), Berlin SW 68. — Pi. Nr. 8 vom 1. März 1938. — Druck: Buchgewerbehaus 
M. Müller & Sohn, Berlin SW 68. 


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