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Full text of "Zacharias Werner, ein Beitrag zur Darstellung des Problems der Persönlichkeit in der Romantik"

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ZACHARIAS  WERNER 


ZACHARIAS  WERNER 

EIN  BEITRAG  ZUR  DARSTELLUNG  DES 
PROBLEMS  DER  PERSÖNLICHKEIT 
IN  DER  ROMANTIK 

VON 

PAUL  HANKAMER 


1   •  9  -  2  ■  0 
FRIEDRICH  COHEN  BONN 


r 


Alle  Rechte  vorbehalten 
Copyright  1920  by  Friedrich  Cohen  Bonn 


DEM  ANDENKEN  MEINES  FREUNDES 

KONRAD  JESSE 

GEFALLEN  VOR  SEINER  KOMPAGNIE  IM  SIEGE. 
BEI  CHOLM-LUBLIN  1915 


Inhaltsanzeige. 


Vo  rwor  t. 

Erster  Teil:  Seite 

Das   Künstlertum  als  Lebenszweck 7 

Könii^sberg  und  Warschau 

I.  Kapitel:  Der  Werdende Q 

II,          ^         Lehr-  und  Wanderjahre  in  Welt  und  Dichtung  ...  33 

III.  „         Die  Aufnahme  der  Romantik  ^ 62 

IV.  „         Die  Romantik  als  Form  in  Leben  und  Dichtung     .     .  98 

Zweiter  Teil: 

Die  Forderung  der  Einheit  von  Kunst  und  Leben 133 

Berlin,  Weimar,  Köln-Coppet,  Paris,  Weimar 

V.  Kapitel:  Tätiges  Leben 135 

VI.          „          Persönlichkeitsbildung  als  Aufgabe 163 

VII.          ,,          Die  Erkenntnis  des  Schicksals  als  Persönlichkeitstat    .  199 

Dritter  Teil: 

Die  Versöhnung 229 

Rom,  Aschaffenburg,  Wien 

Vni.  Kapitel:  Die  Konversion  als  Lösungsversuch 231 

IX.          „          Der  Katholik 264 

X.          „          Werners  Vollendung 299 


Die  Biographie  ist  der  Schnittpunkt  von  Kunst  und 
Wissenschaft. 

Wissenschaft  insofern  der  Stoff  (im  weitesten  Sinne) 
gegeben  ist  und  der  Versuch  gemacht  werden  soll  ein 
„richtiges"  Bild  des  Helden  zu  gestalten,  in  dem  das 
ganze  Material  verarbeitet  werden  muss.  Die  Quellen 
sind  das  Erste  und  gegeben.  Sie  entziehen  sich  dem 
produzierenden  Ich  und  bleiben  das  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  Objektiv-Feste.  Es  gilt  das  Individuum  als  Gesetz 
zu  erfassen,  nach  dem  sich  die  Quellen-Einzelheiten  zu 
einem  Kosmos  bilden.  Das  Funktionelle  der  Psyche,  das 
in  den  Erlebnissen  als  Form  stets  Immanente  soll  bewusst 
gemacht  werden,  sei  das  Erlebnis  im  Medium  der  Kunst 
oder  des  Lebens,  Nicht  eigentlich  ein  Urerlebnis  ist  das, 
sondern  die  Form  in  der  jedes  Erlebnis  sich  vollzieht. 
Sie  ist  das  im  höchsten  Sinne  Individuelle,  ist  über- 
historisch und  verbindet  trotz  allem  Leben  und  Kunst 
zu  einer  Einheit,  deren  Spannung  in  sich  im  Erleben  des 
Menschen  gerade  Ausdruck  der  Einheit  ist.  Begriftlich 
ist  Kunstwerk  und  Lebenswerk  zu  trennen,  tatsächlich 
ist  es  eine  Einheit,  die  in  der  Zeit  höchsten  Künstlertums, 
in  der  Romantik  in  ihrer  Antithese  erfühlt  und  Pflicht- 
aufgabe wurde. 

Die  Biographie  ist  Kunstwerk,  insofern  das  Individuum 
als  Kosmos  in  seiner  Einzigkeit,  in  seiner  Jenseitigkeit 
von  jedem  verallgemeinernden  Begriff  gesehen  wird. 
Die  Gesetzmässigkeit  des  Menschen  ist  immanent  und 
damit  überbegriffllich,  kann  nur  dargestellt  nicht  logisch 
formuliert  werden.  Das  Sein  ist  hier  nur  im  Werden  zu 
erfassen  und  jeder  Prozess  entzieht  sich  dem  Begriff- 
denken. Sie  ist  Kunstwerk,  da  sie  nicht  etwas  in  ein 
Schema   bringen  kann,   das  dem   Stoff  übergeordnet,  ihn 

Hankamer,  Zacharias  Werner.  1 


in  einen  begritflichen  Zusammenhang  stellt,  sondern  das 
Ich  an-und-für-sich  sieht.  Sehen  soll  wenigstens.  Der 
Biograph  soll  das  Gesetz  im  Ich  seines  Helden  bewusst 
machen,  nicht  nur  das  Individuum  unenträtselt  im  Gegen- 
satz zum  Biographen  oder  seiner  Zeit  sehen  lassen.  Die 
Biographie  hat  die  paradoxe  Aufgabe  der  historischen 
Kunst,  das  Vergangene  in  das  Gegenwartleben,  in  das 
Leben  an  sich  zu  stellen,  Sie  überwindet  also  das  Nur- 
Historische  des  Individuums  und  da  es  nicht  im  Begriff 
geschieht  ist  es  Kunst. 

Simmeis  Begriß"  der  Persönlichkeit  als  individuelles^ 
Gesetz  fasst  in  der  antithetischen  Form  den  synthetischen-, 
künstlerisch-wissenschaftlichen  Charakter  der  Biographie 
in  sich  als  Forderung.  Die  Vorexistenz  der  Quellen  bringt 
aus  der  Geschichtswissenschaft  methodische  Folgerungen 
und  als  Gesammtaufgabe  ergibt  sich  das  nacherlebende 
Einfühlen  bewusst  zu  machen.  Das  ist  die  Methode  der 
Biographie,  durch  die  auch  der  isolierende  Zwang,  der 
aus  dem  Persönlichkeitsbegriff  zu  folgen  scheint,  sich 
lockert.  Das  individuelle  Gesetz  wird  aktiv  in  der  Rezep- 
tion wie  in  der  Produktion,  Die  Rezeption  stellt  den  Zu- 
sammenhang mit  der  Zeit  her  und  ist  sozial.  Die  Auf- 
gabe des  Biographen  ist  es,  in  Auswahl  und  Verarbeitung 
der  gebotenen  geistigen  Reize  das  l^ersönliche,  in  dem 
Reiz-Komplex  selbst  die  Atmosphäre  zu  geben,  in  dem. 
das  Individuum  lebt. 

Werner,  die  eigenartigste  Nuance  seiner  Generation, 
die  als  ganzes  Individuum  ist,  kann  nur  im  Zusammen- 
hang mit  ihr  in  seiner  grotesken  Einzigartigkeit  gefasst 
werden.  Er  ist  durch  und  durch  Kind  dieser  Epoche, 
fühlt  sich  mit  allen  Fasern  in  ihr  wachsend,  weiss  sich 
Mikrokosmos  im  Makrokosmus.  Dieses  Erlebnis  gerade 
bei  der  Aufnahme  der  Romantik  ist  ein  Ausgangspunkt 
des  Centralproblems  seines  Lebens.  Was  ist  Persönlich- 
keit? Die  innere  Spannung  zwischen  Kunst  und  Leben, 
Wollen  und  Tat,  Wissen  und  Handeln  war  übergross, 
grösser    aber    die    Sicherheit,    die    nur    unbewusst    sich 


äussert,  dass  eine  Einheit  da  sei.  Er  erlebte  trotz  aller 
begriftlichen  Gegensätze  sich  als  Individuum,  als  Einheit 
und  Einzigkeit. 

Daraus  folgt  bei  ihm  das  Verschwimmen  des  begriff- 
lich Getrennten.  Alles  ist  nur  Ausdruck  seines  Lebens- 
gefühls, mag  es  Religion,  Kunst  oder  Liebe  heissen,  mag 
es  ein  ästhetischer  oder  ethischer  Wert  sein.  Die  Unmög- 
lichkeit einer  begrifflichen  Sauberkeit  der  Analyse  seines 
Denkens  war  die  Folge,  wenigstens  wenn  das  Wernersche 
nicht  zerstört  werden  sollte.  Seine  Begriffe  sind  nicht 
Begriffe,  sondern  Formeln  mit  Erlebnisinhalt  und  zer- 
rinnen, fasst  sie  der  Logiker.  Werner  erkennt  nur  formal, 
tatsächlich  erlebt  er  und  hat  diese  Gegensätze  extrem 
ausgebildet,  weil  sie  ihm  bewusst  wurden. 

Das  Prinzip  der  Einkerbungen  des  Entfaltungsvor- 
gangs (denn  das  ist  sein  Leben)  wurde  genommen  aus 
dem  Centralerlebnis,  der  Persönlichkeitsfrage.  Sie  w^ollen 
die  einzelnen  Variationen  dieses  Themas,  in  dem  Leben 
und  Kunst  eine  Einheit  für  Werner  ist,  abheben  ohne 
den  Charakter  des  organisch-innigen  Zusammenhangs  des 
Lebenentfaltungsaktes  zu  zerstören;  denn  der  Romantiker 
erlebt  ganz  allgemein  die  immanente  Notwendigkeit  seines 
Lebens,  wie  immer  er  auch  das  Schicksal  fasst,  erlebt  es 
als  einen  organischen  Vorgang,  wofür  Schelling  den 
treffendsten  Ausdruck  fand.  In  dieser  Darstellung  soll 
das  Leben  als  eine  absolute  Totalität,  nicht  als  ein  logisch 
Verknüpftes,  nicht  als  System  erscheinen.  Die  äussere 
F'olge  ist  die  cyklische  Darstellung  die  immer  wieder  die 
Einzelheit  auf  die  Grundwurzel  zurückführt,  was  den 
Eindruck  des  Wiederholens  macht,  ohne  es  meiner  An- 
sicht nach  zu  sein.  Nur  dem  logischen  Denken  ist  ein 
lineares,  grades  Weitergehen  möglich.  Es  gibt  Teile, 
die    summiert    werden.     Ich   möchte  ein   Produkt   geben. 

Aus  dem  Darzustellenden  heraus  ist  die  Form  der 
Arbeit  gewachsen.  Es  gibt  für  die  Biographie  keine  ali- 
gemeingültige Formvorschrift,  ohne  dass  die  Methode  ver- 
gewaltigend   die    feinste    Nuance    gefährdet.     Wie    jedes 


Individuum  eine  ihm  alleingehörige  Gesetzmässigkeit  re- 
präsentiert, so  muss  eine  jede  Biographie  versuchen,  die 
Form  aus  der  Lebensform  des  Darzustellenden  zu  finden. 
Auch  in  diesem  Sinne  ist  die  Biographie  Kunstwerk,  dass 
wie  aus  einem  Erlebnis  heraus  sich  der  Körper  für  die 
Seele  bildet,  dass  sie  eine  organische  Form  schaffen  soll. 

In  Einzelheiten  schmiegt  sich  die  Form  dieser  Arbeit 
dem  Gehalt  an,  folgt  den  Verschiebungen  der  Aufmerk- 
samkeitskonzentration bei  Werner  selbst.  Die  stärkere 
Ausarbeitung  des  psychologisch-biographischen  Elements 
nach  der  Peripetie  liegt  darin  begründet,  dass  Werner 
dieser  Seite  damals  sich  aufmerkender  zuwendet  usw. 
Die  Einheit  scheint  mir  trotz  dieser  Nachgiebigkeit  gewahrt, 
sie  ist  allerdings  nicht  eine  äussere,  sondern  eine  organische 
und  entspricht  der  starken  Lockerung,  die  im  Leben 
Werners  selbst  herrscht.  Der  Centralpunkt  dieses  Lebens- 
kreises und  seine  sozusagen  punktuelle  Einheit  liegt  in 
der  Persönlichkeit-Frage,  die  im  Problem  der  Kunst-  und 
Leben-Einheit  erscheint. 

Mir  scheint  das  ein  (vielleicht  das)  Centralerlebnis 
der  Romantik  zu  sein.  Von  hier  aus  entwirren  sich 
psychologische  Rätsel  der  Persönlichkeiten  ebenso  wie 
logisch-begriffliche  Widersprüche  der  „Systeme"  ihrer 
Denker,  die  geistige  Organismen  sein  wollen  und  sind. 
Der  Schicksalbegriff  der  Romantik  in  seiner  Fragestellung 
wie  in  seiner  verschiedenartigen  Beantwortung  folgt  der 
Akzentuierung  dieser  erlebten  Antithese  und  für  den 
Schicksalbegriff  des  Romantikers  Kleist  bietet  sich  von 
hier  aus  ein  Weg  zum  Mittelpunkt,  der  in  dem  Begriff 
„Wahrheit"  theoretisch  formuliert  auftritt. 

Die  beiden  eigentlichen  Dramatiker  dieser  epischen 
Generation  stehen  aus  tiefster  Persönlichkeitsnotwendig- 
keit polar  in  der  Kunstform  und  ihrem  Gehalt  sich  gegen- 
über. Kleist  lässt  den  Freiheitswillen  fallen,  um  die 
Welt  sich  zu  retten,  Werner  entmaterialisiert  und  vcricht 
alles,  um  auf  den  Wegen  Fichtes  die  Freiheit  zu  retten. 
Beide   erleben   die  „gebrechliche   Einrichtung   der  Welt", 


der  eine  gegen  das  Ich  mehr,  der  andere  letzten  Endes 
nur  im  Ich.  Der  eine  kommt  zur  Unkraft-Erkenntnis, 
wird  Katholik  um  der  Gnadenmittel  der  Kirche  willen, 
der  andere  will  im  Tod  sich  noch  gegen  die  Welt 
behaupten.  Beide  erleben  das  Künstlerschicksal,  das 
zwischen  Ich  und  Welt  den  Abgrund  schaut  und  beide 
wissen  doch  eine  Einheit  als  das  Höchste.  Der  Unkraft- 
Dichter  fasst  sie  formal  im  Mysterium,  das  Calderon  und 
sehr  verschwommen  der  jüngere  Tieck  bietet.  Kleist 
schafft  die  übertragische  Lösung  des  Prinzen  von  Hom- 
burg aus  der  Persönlichkeitstat  der  Personen,  die  das 
Recht  des  Ich  und  das  Recht  der  Welt  zueinander  in 
ein  Verhältnis  setzen,  das  nur  völliges  Unverständnis  als 
These,  nicht  als  Erlebtes  erkennt.  Werner  ist  die  eine 
Seite,  Kleist  die  andere  und  aller  Schmerz  und  aller 
Glanz  dieser  Zeit  liegt  auf  ihm.  Auf  Werner  ruht  ein 
Abglanz;  denn  durch  Kleists  Tragik  erst  versteht  man 
den  Mysterium-Willen  des  Ringenden. 

Das  Ewig-Menschliche  wird  in  Werners  Leben  nicht 
rein  und  gross  zur  Form.  Das  konnte  nicht  hoffnungs- 
lose Aufgabe  dieser  Darstellung  sein.  Sein  Künstlertum 
und  Menschtum  ist  momentgebunden.  Ort  und  Zeit  eben- 
so verhaftet  wie  das  Leben  seiner  Gestalten  in  dem 
Schicksaldrama.  Aber  gerade  durch  sein  Versagen  ver- 
mag er  den  Kampf  dieser  Generation  nach  dem  Mythos 
auch  in  der  Erfassung  des  eigenen  Lebens,  in  ihrer 
Persönlichkeitsbildung  zu  zeigen. 

Zu  Dank  bin  ich  verpflichtet  meinem  Lehrer  Berthold 
Litzmann,  dem  ich  manche  Frage  des  Einzelnen  wie  des 
Ganzen  vorlegte  und  der  immer  Gehör  und  anregende  Ant- 
wort gab.  Während  meiner  Garnisonzeit  in  Emmerich  ver- 
pflichtete mich  der  Bibliothekar  der  Stadtbibliothek  Herr 
Ferdinand  Goebel  zu  grossem  Dank  für  die  Vermittlung 
des  Büchermaterials.  Ich  widme  dieses  Buch  dem  mir 
liebsten  Freunde,  der  für  sein  Vaterland  fiel  als  Einem 
für  alle,  die  für  uns  starben. 


ERSTER  TEIL 


DAS  KUNSTLERTUM  ALS  LEBENSZWECK 

KÖNIGSBERG -WARSCHAU  -BERLIN 


I.  Kapitel. 

Der  Werdende. 

Friedrich  Ludwig  Zacharias  wurde  in  der  Nacht  vom 
18.  zum  19.  November  1768  in  Königsberg,  der  Stadt 
Hamanns  und  Kants  geboren.  Er  war  das  einzige  Kind 
der  Ehe  Jakob  Friedrich  Werners  mit  Louise  Henriette 
Pietsch.  Vater  sowohl  wie  Mutter  kamen  aus  ange- 
sehener Familie  und  ohne  materiell  besonders  gut  zu 
stehen,  zählte  das  Wernersche  Haus  zur  geistigen  Elite 
der  Universitätstadt;  war  einer  der  Treffpunkte  des  gei- 
stigen Königsberg. 

Jakob  Friedrich  Werner  war  schon  als  Dreiund- 
zwanzigjähriger  ordentlicher  Professor  der  Beredsamkeit 
und  Geschichte  an  der  Universität  seiner  Vaterstadt  und 
zeitweilig  ihr  Rektor.  Er  war  ein  vielseitig  gebildeter 
Gelehrter  dessen  gesellschaftliche  Fähigkeit  gerühmt 
wurde  und  der  auch  im  geistigen  Leben  eine  Rolle 
spielte,  die  Beachtung  der  grösseren  Öffentlichkeit  fand. 
Das  historische  Interesse  des  etwas  pedantisch-intellektua- 
listischen  Gelehrten  äusserte  sich  in  seiner  Sammlertätig- 
keit, der  er  in  seiner  Stellung  als  Archivar  der  bekannten 
Wallenrodschen  Bibliothek  genug  tun  konnte.  Literarisch 
stand  er  auf  dem  Boden  der  gottschedischen  Schule  und 
war  Vorsitzender  der  freien  Gesellschaft,  die  1743  ge- 
gründet wurde  und  sich  einige  Jahre  nach  dem  Tode 
Jakob  Werners  mit  der  1741  von  Flottwell  Gottscheds 
Freund  gegründeten  „Deutschen  Gesellschaft  zur  Hebung 
der  deutschen  Sprache"  vereinigte.  Neben  dieser  viel 
verzweigten  Tätigkeit  wirkte  Jakob  Friedrich  Werner  als 


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Theaterzensor  und  erfüllte  diese  taktfordernde  Arbeit  mit 
weitestem  Entgegenkommen  natürlich  im  Sinne  der  „freien 
Gesellschaft". 

Das  geistige  Leben  Königsberg  zu  Beginn  der  zweiten 
Hälfte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  stand  wie  fast  über- 
all in  den  Centren  der  Kultur  des  damaligen  Deutch- 
land  unter  dem  Zeichen  des  Kampfes  zwischen  Pietismus 
und  Rationalismus.  Das  politisch-gesellschaftliche  Leben 
gipfelte  hierin.  Königsberg  war  der  Schauplatz  eines 
besonders  erbitterten  Streites.  Hier,  wo  sich  preussische 
Energie  und  Nüchternheit  paarte  mit  slavischer  Sinnlich- 
keit und  Emptindungsglut  prallten  die  Gegensätze  beson- 
ders schroff  aufeinander.  Der  Organisationsgabe  und 
emsigen  Geschäftigkeit  Flottvvells  war  es  zu  danken,  dass 
ein  äusserer,  entscheidender  Sieg  der  rationalistischen 
Partei  den  Kampf  anscheinend  beendigte.  Vor  allem  ge- 
sellschaftlich war  ihre  Überlegenheit  deutlich.  Der  illustre 
Kreis  des  gräflichen  Hauses  Kej'serling,  in  dem  Kant 
■wie  später  auch  Fichte  intim  verkehrten,  war  ihr  Haupt- 
quartier und  sorgte  für  eine  praktische  Auswertung  der 
geistigen  Kampfresultate,  die  vor  allem  in  der  Besetzung 
der  Hochschullehrerstellen  usw.  bestand. 

Ganz  einseitig  und  ausgesprochen  war  der  innere 
Sieg  dieser  Geistesrichtung  nicht  und  auch  in  den  Kreisen 
der  Faktion  selbst  zeigten  sich  Mittelglieder,  die  diese 
Zeit-  und  Rassetendenzen  —  was  sich  in  Königsberg 
eigenartig  verband  —  in  sich  trugen.  So  Hippel  und 
Ludwig  von  Baczko,  dessen  Lebenstragödic  Werner  in 
der  Vorrede  zum  „Kreuz  an  der  Ostsee"  ehrfurchtsvoll 
erwähnte.  Mag  der  persönlich  verletzte  Dichter  später 
auch  im  Tone  bitterer  Verachtung  von  Königsberg  und 
seinen  Krämern  sprechen,  sicherlich  waren  hier  Männer, 
die  über  die  Schranken  des  engen  Zeitwissens  und  -denkens 
hinausgingen  und  später  auch  der  absonderlichen  Persön- 
lichkeit Zacharias  Werners  gerecht  zu  werden  sich  mühten. 

Im  Mittelpunkt  des  anderen  nicht  so  geschlossenen 
Kreises   stand    der  Magus    des  Nordens  Hamann,    dessen 


11 

bizarre  Lebensform  dem  historischen  Sehen  als  Teil  der 
geistigen  Bewegung  erkennbar  wird,  die  sich  im  Pietis- 
mus und  in  der  Romantik  äusserte.  Als  die  Triebkraft 
seines  geistigen  Seins  erscheint  ein  Phantasie-Gefühls- 
Schauen.  In  diese  Richtung  drängte  er  seine  Anhänger 
religiös  wie  ästhetisch  und  zeigte  schon  Ansätze  zur 
Verbindung  dieser  beiden  seelischen  Energien,  wie  sie  in 
der  Romantik  und  vor  allem  von  Werner  proklamiert 
wurde.  Zacharias  Werner  stand  in  seiner  Kindheit  dieser 
Gruppe  innerlich  nahe,  wenn  er  auch  gesellschaftlich  wohl 
nur  durch  Scheffner  damit  in  Verbindung  gestanden  hat. 
Als  er  bei  seinem  ersten  Weimarer  Aufenthalt  Goethe 
in  eingehenden  Gesprächen  seine  Theorien  auseinander- 
setzte und  ihm  eine  Lebensbeichte  ablegte,  scheint  er 
diese  Verhältnisse  als  sein  Wesen  bestimmend  dargestellt 
zu  haben.  Goethe  verteidigte  sich  und  seinen  Schützling 
Jakobi  gegenüber  mit  der  Erklärung:  ,,dass  er  dem  mo- 
dernen Christenwesen  anhängt,  ist  seinem  Geburtsort, 
seinem  Bildungskreise  und  seiner  Zeit  gemäss.'- 

Der  stark  entwickeile  Trieb  des  Kindes  zum  Reli- 
giösen wurde  in  der  Familie  selbst  sorgsam  gepflegt. 
Kann  man  den  Vater  des  Dichters  als  Vertreter  des  ra- 
tionalistischen Elements  ansprechen,  so  war  die  Mutter 
trotz  grosser  intellektueller  Anlagen  eine  ausgesprochene 
Gefühlsnatur.  Bei  ihrem  Tode  schrieb  Zacharias  Werner 
einem  Freunde :  „Der  Tod  dieser  beispiellosen  Dulderin, 
dieses  Weibes  von  dem  hellsten,  nur  durch  eine  zu 
glühende  Fantansie  unterjochten  Verstände  war  zwar  eine 
Wohltat  für  sie,  sollte  mich  zwar  in  dieser  Hinsicht  nicht 
schmerzen;  aber  sie  hat  mich  mehr  als  vielleicht  je  eine 
Mutter  ihr  Kind  geliebt;  daher  die  Trauer,  deren  ich  noch 
nicht  Meister  werden  kann  und  will.'^  Das  Bild  der 
seltenen  Frau  ist  lange  nur  in  Hoffmanns  visionärer 
Karrikatur  gesehen  worden,  wenngleich  er  selbst  die 
grelle  Farbenwirkung  als  absichtsvoll  aufwies.  Hippel 
pflegte  zu  sagen,  dass  sie  alles  mit  Adlerblick  zu  durch- 
schauen vermöge.     Sie  besass  die  Genialität  der  gefühls- 


12 

massig  denkenden  Naturen  und  ein  inspirationsartiges 
Erfassen  des  Seins.  Durch  und  durch  nervös  steigerte 
sich  ihre  hysterische  Hyperästhesie  später  zu  einem  schwe- 
ren Nervenleiden,  das  ihre  Hemmungslosigkeit  zur  Qual 
der  Umgebung  machte.  In  ihrer  Jugend  war  Louise 
Henriette  Werner  eine  geistige  Potenz,  die  nicht  über- 
sehen werden  konnte  auch  literarisch  produzierend  tätig, 
Ihr  Oheim  Johann  Valentin  Pietsch  war  als  Dichter 
religiöser  Lieder  bekannt  und  die  Mutter  sprach  im 
„Psalmenton"  von  Gott  und  seiner  Heiligkeit.  Wir  be- 
sitzen von  Werner  selbst  eine  natürhch  aus  künstle- 
rischen Zwecken  schattierte  Zeichnung  ihrer  Wesenheit 
und  ihres  Verhältnisses  zu  ihrem  Sohne,  die  Hoffmann 
wahrscheinlich  bei  seiner  Studie  nutzte:  Das  modern  an- 
mutende Psychogramm  der  heiligen  Kunigunde  in  dem 
gleichlautenden  Drama  des  Dichters.  Die  Mutterliebe 
verschmilzt  hier  eigenartig  mit  religiösen  Vorstellungen 
und  unklaren  erotischen  Motiven,  die  aber  bei  der  Früh- 
verwitweten nicht  in  der  Stärke  und  Ausgesprochenheit 
dem  Sohne  gegenüber  zur  Äusserung  kamen  und  stets  in 
der  Schicht  des  Unbewussten  blieben. 

Henriette  Werner  war  erblich  belastet.  Auch  ihr 
Bruder,  der  Regimentsquartiermeister  Pietsch  zeigte  eine 
ähnliche  übernervöse  Steigerung  des  Religiösen  und  gab 
seinem  Hause  die  Atmosphäre,  die  Werner  früh  empfand 
und  auf  sich  wirken  Hess.  Sie  machte  ihn  empfänglich 
für  die  ihm  unverständlichen,  doppelgeheimnisvollen  Kult- 
handlungen des  katholischen  Gottesdienstes,  den  er  in 
der  dem  Hause  gegenüber  liegenden  Kirche  mit  erwar- 
tungsbanger, ehrfürchtiger  Neugier  beobachtete.  Die 
eigenartige  Prachtentfaltung  der  Prozessionen  und  kirch- 
lichen Umzüge  wirkten  auf  di-e  Phantasie  des  Knaben, 
In  das  kindliche  Spiel  drängten  sich  diese  Bilder  und 
Hessen  ihn  Kleidung  und  Gebahren  des  zelebrierenden 
Priesters  nachahmen.  Der  religiöse  Zug  seiner  Seele 
verband  sich  hier  mit  der  Vorliebe  des  Künstlers  für 
auffallende  pomphafte  Umzüge,    der    er  später    so   oft   in 


13 

seinen  Dramen  genüge  tat:  Im  Puppenspiel  mit  seiner 
Cousine  suchte  er  die  religiösen  Handlungen  theatralisch 
zu  gestalten.  Der  Konvertit  steigerte  den  charakteri- 
sierenden Akkord,  der  im  Kinderspiel  und  den  Knaben- 
träumen anklang  zu  seelischem  Leitmotiv  seines  Lebens. 

Eigentlich  das  Theatralische  war  es,  was  ihn  am 
katholischen  Ritus  fesselte  und  aus  seiner  Darlegung 
dieser  Zeit  im  Curriculum  vitae  geht  das  ungewollt  her- 
vor. Gerade  diese  Art  des  Kultus  wird  besonders  unter- 
strichen. Er  empfand  diese  Form  des  Gottesdienstes  als 
eine  Steigerung  der  Wirklichkeit,  als  eine  Überwindung 
und  Erhöhung  des  Alltäglichen,  die  er  selbst  ersehnte. 
Das  Exaltierte  seiner  Frühreife  drängte  ihn  zu  einer  Er- 
höhung des  Tatsächlichen,  wie  man  es  bei  diesen  Kindern 
stets  findet,  ein  Ausdruck  naiv-künstlerischer  Begabung. 
Löst  sich  diese  Überwirkhchkeitssehnsucht  bei  norma- 
len Kindern  in  der  Liebe  zum  Märchen,  bei  Werner 
suchte  sie  in  der  religiösen  Sphäre  Nahrung,  weil  sein 
Wesen  mit  starken  religiösen  Impulsen  durchsetzt  war, 
die  von  der  Mutter  wohl  gerade  in  der  Form  der  Über- 
wirklichkeitssehnsucht besonders  gepflegt  worden  sind. 
Die  Schwäche  dieses  künstlerischen  Charakters  dem  Tat- 
sächlichen gegenüber  wurde  dadurch  gefährlich  unter- 
stützt. In  der  halb  gewollten  Herbeiführung  ekstatischer 
Zustände  lauerte  die  Gefahr  der  Bildung  eines  ver- 
meintlichen Überlegenheitsgefühls  den  Hemmnissen  der 
Realität  gegenüber,  das  zur  Willenserschlaffung  führen 
musste. 

In  der  Vorliebe  des  Knaben  für  eine  Steigerung  des 
Wirklichen  äusserte  sich  früh  die  Unfähigkeit  mit  dem 
realen  Leben  fertig  zu  werden.  Er  suchte  unbewusst 
eine  Welt,  die  seinen  seelischen  Kräften  mehr  entsprach 
und  in  der  er  sich  Herr  fühlte.  Das  zarte,  kränklich 
kleine  Kind,  als  das  er  sich  in  der  „Kurzen  Biographie" 
schilderte,  weckte  den  Mutterinstinkt  der  jungen  Frau  so 
stark,  dass  sie  ihn  auch  später  vor  allem  Hindernden  zu 
bewahren  suchte.     Ihre  Erziehung  war  von  dieser  Sorge 


14 

dauernd  beherrscht.     Fern  vom  Kinderleben  blieb  er,  für 
das  der  Künstler  nie  ein  Wort  fand. 

Erfüllung  der  Sucht  durch  Überwirklichkeit  fand  er 
auch  in  der  Theaterkunst.  Die  Halbwirklichkeit  der 
Bühne  mit  ihren  so  anderen  Lebensgesetzen  war  ihm 
seelische  Notwendigkeit.  Der  Trieb  zum  Leben  in  einer 
reinphantastischen  Welt,  in  der  seine  Erlebnisse  auf 
gleichhohem  Niveau  gehalten  w-urden,  ohne  dass  er  mit 
einem  Zusammenbruch  der  fiktiven  Leistung  rechnen 
musste,  konnte  hier  mühelos  gestillt  werden.  Die  un- 
schwere Einbeziehung  dieses  Fremden  in  sein  Ich  täuschte 
ihm  die  Leistung  einer  lustbetonten  Arbeit  vor,  stärkte 
den  Hang  zu  dieser  Art  des  Erlebens.  In  dem  Kreise 
dieser  Kräfte,  die  er  anschauend  meisterte,  fühlte  er  sich 
sicher,  durchkostete  die  Nuance  jedes  Moments,  indem  er 
sich  ihm  hingab  und  verwechselte  in  seiner  Halbreife  das 
hingebende  Spiel  mit  diesen  Werten  und  ein  wirklich 
kämpfendes  Auseinandersetzen  mit  den  Mächten  des 
Lebens.  Das  theatralische  Erlebnis  Werners  war  das, 
wodurch  diese  Zeit  solange  im  Banne  der  Illusionstheorie 
festgehalten  wurde.  Selbst  als  W^erner  theoretisch  diese 
Auffassung  überwunden  hatte,  ging  er  praktisch  noch 
von  dieser  Hypothese  aus  und  glaubte  die  Bühne  als 
Predigtstuhl  für  seine  religiöse  Sendung  nützen  zu  müssen. 
Seine  zweifellose  Überschätzung  der  läuternden  Wirkung 
der  Kunst,  wuchs  aus  diesem  Erleben  der  Rühnenkunst. 
Er  fühlte  sich  gestärkt  und  voll  von  wirren  Plänen,  Vor- 
sätzen und  Hoffnungen  in  der  Fieberstimmung  des  künst- 
lerischen Genusses,  der  ganz  leicht  erotisch  getönt  war. 
So  feierte  er  die  Bethmann: 

•Da  sahn  wir  Dich,  und  sahn  in  Deinen  Blicken 
Cytherens  Reiz  und  Melpomenes  Spiel,  — 
Da  sahn  wir  Dich  —  und  bebten  vor  Entzücken, 
Und  flammten  vor  Gefühl. 

Die  Sucht  nach  einer  Überwindung  des  Tatsächlichen 
im  Genuss  einer  ekstatischen  Lebensform  ist  Charakteristi- 
kum jedes   künstlerisch    veranlagten  Menschen   und   fast 


15 

jedes  Kindes.  Dass  sie  in  dieser  Stärke  und  spezitisch 
religiös  auftrat,  war  ausser  im  Wesen  Werners  in  seiner 
Erziehung  begründet. 

Es  scheint,  dass  der  Dichter  von  seinem  Vater  — 
dem  24 jährigen  ordentlichen  Professor  —  die  frühreife 
Intelligenz  erbte,  die  sorgfältig  gepflegt  stets  aufnahms- 
fähig  blieb.  Dieses  Zeitalter  ist  reich  an  Früh  vollendeten 
und  die  geistigkörperliche  Frühreife  scheint  in  einem 
biologischen  Zusammenhang  zu  stehen  mit  dem  geistigen 
Rythmus  der  Epoche.  Der  junge  Werner  erlebte  eine 
plötzliche  und  überschnelle  Entwickelung  seines  Intellekts, 
die  naturnotwendig  in  diesem  geistigen  Milieu  mit  einer 
Überschätzung  dieser  Kraft  sich  paarte. 

Eine  gleichartig  fürsorgliche  Pflege  des  Willenslebens 
wurde  ihm  nicht  zuteil  und  so  bildete  sich  eine  gewisse 
unproduktive  Direktionslosigkeit  des  Intellekts  heraus, 
der  sich  in  den  Hang  zur  Parodie  äusserte.  Sein  kritisch 
gerichteter  Geist  erfasste  die  Spannung,  die  zwischen 
der  unklar  gefühlten  „idealen  Forderung"  und  der  Wirk- 
lichkeit lag  und  bei  der  Unfähigkeit  einer  positiven  Lö- 
sung drückte  er  seine  Sehnsucht  nach  einer  besseren 
W'elt  parodistisch  aus.  Diese  Methode  ist  stets  das  Zeichen 
einer  mehr  oder  weniger  grossen  geistigen  ünproduktivi- 
tät  verbunden  mit  einem  scharfen  Intellekt,  zu  denen  sich 
bei  Werner  noch  oft  eine  neurasthenische  Weinerlichkeit 
gesellte,  die  nie  das  Pathos  sittlichen  Unwillens  ganz 
aufkommen  liess.  Die  Überwirklichkeit  gestaltend  im 
Bilde  oder  Gedanken  zu  geben,  war  ihm  noch  nicht  mög- 
lich und  die  negative  Form  der  Forderung  lehrt  erken- 
nen, dass  in  der  ersten  Zeit  das  Bewusste,  Herrschende 
im  geistigen  Leben  Werners  der  Verstand  war,  der  in 
Folge  einer  disharmonischen  Bildung  des  Charakters  ver- 
neinend erschien. 

Das  Kind  der  so  wesensfremden  Eltern  war  ebenso- 
wenig wie  diese  Ehe  eine  Einheit.  Werner  war  eine 
Mischnatur,  die  zwischen  zwei  geistigen  Epochen  und 
zwischen  zwei  Rassen  stand  und  nicht  zu  dem  von  innen 


16 

heraus  sich  entfaltenden  Wissen  der  Persönlichkeit  als 
geistigeinheitlichen  Organismus  kommen  konnte.  Seine 
Entwickelung  ist  das  Suchen  nach  einem  Mittelpunkt, 
den  er  in  oder  ausser  und  über  sich  ahnte  und  den  er 
schliesslich  in  der  Lehre  des  Katholizismus  fand.  Die 
Sonderheit  seines  Wesens  ahnte  er  früh,  fand  aber  zu- 
nächst nirgends  einen  Weg  ihr  gerecht  zu  werden  und 
zerquälte  sich  an  der  logisch  nicht  fassbaren,  zwiespälti- 
gen Wesensform. 

Die  bildete  sich  gefährlich  stark  heraus,  als  nach  dem 
frühen  Tode  des  kränklichen  Vaters  seine  Mutter  die  Er- 
ziehung übernahm,  und  der  ungedämmte  Strom  unge- 
klärter Gefühlswerte  von  ihr  in  die  von  Pubertätswehen 
gequälte  Seele  des  Knaben  geleitet  wurde.  Jetzt  wurde 
die  Doppelzentrigkeit  seiner  Seele  zur  Tatsache  und  zer- 
riss  die  Möglichkeit  harmonischer  Einheit.  Er  wurde 
zum  Doppel-Ich.  In  dem  einen  stand  als  Mittelpunkt 
sein  geschärfter  Intellekt  skeptisch  und  ironisch,  in  dem 
anderen  das  Gefühl,  eine  dumpfe  furchtbare  Glut,  die  im 
rasenden  Wirbel  Vernunft  und  Denken  dahinriss,  wenn 
er  sich  des  Gottes  voll  wusste.  Neben  dem  inbrünstigen, 
gläubigen  Mystiker  stand  beobachtend  und  zerlegend  der 
Logiker.  Für  jedes  Erlebnis  suchte  der  sofort  die  Formel. 
Möglichst  hart  verknöchert  und  rationalistisch  musste  sie 
sein  und  täuschte  auch  ihn  leicht  über  den  Erlebnischa- 
rakter hinweg. 

Seine  gedankliche  Produktivität  ging  aber  zweifellos 
vom  Erlebnis  aus.  Nicht  auf  dem  Wege  des  reinen 
Denkens  gelangte  Werner  zu  einer  weiterführenden  Er- 
kenntnis, sondern  der  Impuls  des  gefühlsartigen  Erleb- 
nisses einer  seelischen  Tatsache  stiess  ihn  weiter.  Der 
Denkprozess  war  intuitiv,  assoziativ,  war  künstlerisch. 
Sofort  aber  fing  sein  kritischer  Verstand  das  Ergebnis 
analysierend  und  definierend  ein.  Der  eigenartige  stol- 
pernde Rythmus  seiner  Prosa  gab  dieses  innere  stotternde 
Drängen  und  Halten  seines  seelischen  Lebens  wieder. 
Wir    fühlen    hier  klar    den    Bewusstseinsvorgang    durch. 


17 

Wie  ein  Aufschrei  möchte  sich  das  losringen,  brach  sich 
an  dem  Hemmnis  seines  Intellekts  und  presste  sich 
tropfenweise  durch  das  enge,  eckige  Röhrensystem  eines 
formalistisch  geschulten  Wissens.  Hier  sprach  kein 
Gottbegeisterter  in  der  Ekstase  von  seinem  Erleben,  hier 
zerlegte  kein  Denker  kühl  Gedachtes  in  seine  Bestands- 
teile —  ein  Erlebnis-Trunkener  schien  sich  nüchtern  stel- 
len zu  wollen  und  seine  wirrende  Vorstellungsfolge  in 
krampfhafter  Anstrengung  fest  zu  halten.  Durch  den  ge- 
fühlsbetonten, künstlerischen  Charakter  der  geistigen  Ar- 
beit entstand  der  Wechsel  überstarker  Leistung  und  qual- 
voller Leere.  Während  er  in  den  Stunden  des  Schaffens 
sich  Gott  gesandt  fühlte,  brach  er  in  den  Zeiten  des  Er- 
schöpftseins unter  seiner  Nichtigkeit  zusammen.  Dann 
stand  er  staunen^i  vor  dem  ihm  selbst  Fremden,  das  seine 
Kunst  schuf.  Er  sah  keine  Einheit  zwischen  dem  Künst- 
ler und  dem  Menschen,  und  erlebte  diesen  Zwiespalt 
selten  stark. 

Seine  nervöse  Überempfindsamkeit  parte  sich  mit  dem 
starken  sexuellen  Drang  des  Phtisikers.  Die  Möglichkeit 
des  freien  Verkehrs  mit  dem  Schauspielpersonal  weckte 
früh  seine  Sinnlichkeit  und  der  verhätschelte  Junge  fand 
in  sich  nicht  genug  Halt,  sein  Triebleben  zu  kultivieren 
und  zu  veredeln.  Eine  seelische  CJnwahrhaftigkeit  wurde 
so  in  ihm  grossgezogen,  die  nicht  nur  bis  zur  Notlüge 
führte,  sondern  sein  Fühlen  und  Schauen  bis  in  die 
Wurzel  hinein  vergiftete.  Schon  hier  keimte  die  Ge- 
fühlsverwirrung, die  eigenartige  Sucht  Werners  psycho- 
logische Einheiten  zu  schaffen  aus  Einzelwerten,  deren 
Widerspruch  er  logisch  und  ethisch  fühlte  und  doch 
auch  als  Einheit  sehen  wollte.  Wenn  die  Mutter  zu  ihm 
als  dem  künftigen  Apostel  und  Lehrer  von  Gott,  seiner 
Heiligkeit  und  allumfassenden  Liebe  sprach,  wenn  sie 
mit  Flammenfarben  Sein  Bild  ihm  malte,  der  berufen  sei, 
seine  Generation  zu  Ihm  zurückzuführen,  erlebte  er  unter  der 
Suggestion  ihrer  Ekstase  Gott  fast  sinnlich.  Durch  seine 
überhitzte   Einbildung    huschten  Erinnerungsbilder    eroti- 

Hankamer,  Zacharia?«  Werner.  2 


18 

scher  Erlebnisse,  die  ähnliche  Gefühlsimpulse  wachge- 
rufen hatten.  In  den  Vorstellungen  des  Halbreifen  ver- 
schlangen sich  im  wirren  Reigen  Heilige  und  Theater- 
mädel, einten  sich  Gottesliebe  und  Wollust  zu  dem  Be- 
griffkomplex, den  er  später  verkündete.  Gestaltete  er 
in  diesen  begeisterten  Stunden  sein  Leben  als  hoch- 
ragenden Dom,  in  dessen  Schatten  er  die  Menschheit 
sammeln  wollte  zu  neuem  heiligen  Leben,  so  durchtollte 
er  die  Nächte  mit  käuflichen  Weibern.  Keine  gesunde 
Reaktion  war  das  für  ihn.  Diese  erotischen  Abenteuer 
waren  Sünden,  zu  denen  die  Schwäche  des  Fleisches  ihn 
trieb.  Er  empfand  den  Fall  mit  schmerzlicher  Reue  und 
wühlte  sich  in  die  Wollust  selbstzerstörender  Verneinung 
seines  doppelseitigen  Wesens.  Er  war  nicht  ehrlich  und 
stark  genug  zu  einer  befreienden,  reinenden,  seelischen 
Tat.  Eichendorf  schilderte  ihn  mit  Recht  so:  „Ein  un- 
ausgesetztes Ringen  mit  wilder  irdischer  Leidenschaft 
und  Weltlust,  der  er  frühzeitig  verfallen,  gleichsam  ein 
schwarzes  und  ein  weisses  Ross  dicht  nebeneinander- 
gespannt, die  ihn  immer  weiter  nach  dem  Abgrund  fort- 
rissen, vor  dem  ihm  graute."  Werner  verlor  immer 
mehr  die  Sicherheit  des  Ruhens  in  sich.  Er  fühlte,  dass 
ihm  die  Herrschaft  über  sein  Leben  entglitt,  dass  er  nur 
Zuschauer  wurde  eines  Kampfes,  der  von  Mächten  in  seiner 
und  um  seine  Seele  gekämpft  wurde,  die  stärker  w^aren 
als  er.  Und  er  rettete  sich  vor  den  Ansprüchen  des 
Lebens  immer  wieder  in  die  Rauschzustände,  die  ihm 
Sinnengenuss,  Theater  und  religiöse  Ekstase  boten.  Die- 
ser Zwiespalt  hätte  sich  nicht  in  solcher  Stärke  ent- 
wickelt, wenn  die  Wissensbildung,  die  ihm  zuteil  wurde, 
in  einem  tieferen  Zusammenhang  gestanden  hätte  zu  dem 
Wesen  des  jungen  Menschen  und  der  Erziehungsrichtung 
seiner  Mutter.  Die  allopathische  Kur  hätte  einer  seelisch- 
gesunden Persönlichkeit  vielleicht  wohlgetan  und  sie  ge- 
stärkt, dem  schwächlichen  Knaben  schadete  sie. 

Die  jungen  protestantischen  Theologen  brachten  ihm 
an   der   Hand   von   G.  F'r.  Seilers   Theologia    dogmatico- 


19 

polemica  die  Geheimnisse  der  Sprache  Ciceros  bei,  viel- 
leicht weil  die  Mutter  die  religiöse  Anlage  des  Sohnes 
so  pflegen  zu  können  glaubte,  vielleicht  weil  die  Lehrer 
mit  dem  akademischen  Handbuch  besonders  gut  umzu- 
gehen verstanden,  und  der  Schüler  sich  gerne  in  die 
■Gedankengänge  des  protestantischen  Scholastikers  verlief. 
So  lernte  er,  den  religiösen  Impuls  seines  Wesens  rationa- 
listisch zu  zerlegen  und  zu  formulieren,  mochte  jedoch 
schon  früh  der  Oberflächenlogik  dieses  systematisierenden 
Lehrbuches  skeptisch  gegenüberstehen  und  sich  zu  einem 
Aufklärungsglauben  reif  fühlen,  den  er  in  seinen  Gesell- 
schaftskreisen herrschend  land,  und  der  ihm  mehr  Spiel- 
raum bot,  seinem  Leben  eine  weltliche  Form  zu  geben, 
als  die  verpflichtende  Forderung  der  Mutter.  Gegenüber 
■dem  Einfluss  des  gesammten  geistigen  Milieus  kam  diese 
Kraft  immer  weniger  durch  und  wurde  eben  nur  als  ein 
Narkotikum  empfunden,  das  für  die  Stunde  der  Er- 
schütterung eine  seelische  Umwandlung  vorzutäuschen 
vermochte,  aber  keinen  tiefergehenden  Eindruck  hinter- 
liess,  der  in  der  Realität  hätte  wirken  können.  Zacharias 
Werner  war  viel  zu  empfänglich  dazu,  sich  dem  herrschen- 
den Tone  aus  sich  heraus  entgegensetzen  zu  können  und 
war  im  lebenslustigen  Kreise  der  jeunesse  doree  ebenso 
gern  bereit  ihrer  Art  sich  zu  fügen,  wie  dem  Einfluss 
der  Mutter  nachzugeben  —  auf  Augenblicke  wenigstens. 
Er  lernte  Ausdruck  und  Inhalt  der  Aufklärungskultur 
und  bot  in  seiner  völligen  Standpunktlosigkeit  allen  Ein- 
flüssen stets  bereite  Aufnahme,  spielte  mit  dem  Gedanken, 
Schauspieler  zu  werden  wie  jeder  phantasiereiche  junge 
Mensch  und  wurde  zwei  Jahre  nach  dem  Tode  seines 
Vaters,  im  Jahre  1784,  als  kaum  Sechzehnjähriger  auf 
der  Universität  Königsberg  als  Student  der  Rechtswissen- 
schaften und  Kameralien  immatrikuliert. 

Warum  er  gerade  diese  Wissenschaft  wählte,  ist 
nicht  ganz  klar.  Seine  eigentliche  Begabung  lag  wohl 
auf  dem  Gebiete  der  Geschichte,  wie  sich  aus  seinem 
künstlerischen  Lebenswerk  erkennen  lässt.    Daneben  hatte 


20 

er  grosse  philosophische  Interessen,  die  sich  später  stark 
äusserten  und  der  historischen  Denkart  den  pragmatischen 
Charakter  gaben,  der  sie  kennzeichnet.  Eine  besonders 
liebevolle  Beschäftigung  mit  der  Rechtswissenschaft  hat 
in  seinen  Dramen  keinen  Niederschlag  gefunden,  wenn- 
gleich einige  verfassungsgeschichtliche  Notizen  verwandt 
wurden  und  er  später  seine  Gedanken  auch  auf  das 
Staatsrechtliche  hinüberspielte.  Er  wurde  wohl  Jurist, 
um  einen  deutlichen,  merkbaren  Gegensatz  aufzustellen 
zu  dem  Lieblingswunsch  seiner  Mutter,  die  ihn  gerne 
zum  Theologen  gemacht  hätte.  Eine  immer  stärkere 
Entfremdung  vom  kirchlichen  Leben  fand  bei  ihm  statt. 
Auf  Jahre  hinaus  empfing  er  1785  zum  letzten  Male  das 
Abendmahl.  Die  protestantische  Kirche  hatte  ihm  nichts 
zu  bieten,  da  er  glaubte  eine  religiöse  Entwicklung  durch- 
gemacht zu  haben,  die  ihn  über  das  Konfessionelle  heben 
konnte.  Immer  hatte  Werner  —  wie  fast  alle  Romantiker 
—  den  Wunsch,  gerade  in  der  ihm  wesensfremden 
Tatsachenwelt  zu  wirken.  Er  mochte  hoffen,  ohne  die 
hemmende  Fessel  eines  konfessionell  und  gesellschaftlich 
gebundenen  Standes,  Besseres  leisten  zu  können.  Denn 
der  Wunsch  Reformator  zu  werden,  war  nie  ganz  tot. 
Als  preussischer  höherer  Verwaltungsbeamter  war  ihm 
eine  entsprechende  gesellschaftliche  Position  sicher,  auf 
die  er  stets  grossen  Wert  legte.  Er  suchte  die  Vor- 
bereitung für  eine  Beamtensinekure  die  ihm  die  äussere 
angenehme  Stellung  bot,  in  der  er  seiner  Art  nach  leben 
konnte.  Das  wenigstens  sah  er  bei  vielen  älteren  Ver- 
wandten und  Bekannten,  die  durch  ihre  Pflichten  als 
Kriegsräte  und  so  weiter  nicht  so  in  Anspruch  genommen 
wurden,  dass  sie  nicht  auf  literarisch-philosophischem 
Gebiet  eifrig  sich  betätigen  konnten.  Später  suchte  er 
durch  alle  mögliche  Vermittlung,  den  Jugendplan  zur 
Ausführung  zu  bringen. 

Aber   seine   geringe   Energie    reichte   nicht   aus,  die 

Bedingungen   des    klugen    Vorsatzes    erfüllen   zu   lassen. 

V  Der  künstlerische  Trieb   nach  Totalität   brach  durch  und 


21 


Terzettelte  seine  Arbeitskraft  so,  dass  er  auf  keinem  der 
Gebiete  zur  Abrundung  und  Durchbildung  kam.  Er  wurde 
geistiger  Eklektiker,  naschte  von  allen  Wissenschaften 
und  zerstörte  die  Möglickeit  einer  Persönlichkeitsbildung 
durch  eine  straffe  Konzentration  der  geistigen  Arbeit. 
Werner  ward  der  typische  Diletant,  der  in  den  Hörsäälen 
aller  Fakultäten  hospitierte,  ohne  die  vielseitigen  An- 
regungen zu  seinem  Persönlichkeitseigentum  machen  zu 
können.  Die  seelische  Zerfahrenheit  des  jungen  Menschen 
steigerte  sich  so,  dass  er  bei  seiner  Sucht  nach  Einheit 
in  der  Mannigfaltigkeit  einer  seelischen  Katastrophe  ent- 
gegentrieb. 

Vor  allem  die  Philosophie  zog  ihn  an  und  er  sass 
zu  den  Füssen  Kants,  der  ein  Freund  seines  Vaters 
gewesen  war.  Es  scheint,  dass  Kants  Lehre  dem  jungen, 
so  andersgearteten  Schüler  nicht  viel  zu  geben  vermochte. 
In  seinem  Briefwechsel  zeigt  sich  kein  tieferes  Verständ- 
nis für  die  kritische  Philosophie  und  beim  kleinsten  An- 
lass  hebt  Werner  hervor,  dass  ein  Irrtum  des  Denkers 
vorliegen  müsse.  Kant  steht  am  Endpunkte  der  rationalis- 
tischen Epoche  des  deutschen  Geisteslebens,  ist  ihr  Ver- 
nichter wie  ihr  höchster  Ausdruck.  Werner  hat  wohl 
nur  die  rationalistische  Seite  seines  Denkens  fassen  können 
und  keinen  prägenden  Eindruck  von  ihm  erhalten,  der 
ihn  bestimmt  hätte. 

Das  Charakteristische  dieser  Epoche  Werners  ist  die 
absolute  Rezeptivität,  das  fortgesetzte  Aufnehmen  aller 
Reize,  die  sich  ihm  boten.  Kaum  in  der  Auswahl  des 
Stoffes  zeigten  sich  zunächst  die  Linien  eines  persönlichen 
Seins.  Wahl-  und  ziellos  nahm  der  Lernende  alles  an, 
nichts  auf,  diktierte  in  allen  Gefühlen  und  Begriffen,  die 
ihm  der  Zufall  bot.  Werners  Seele  redete  in  fremder, 
erlernter  Sprache.  Unter  dem  übermässigen  Druck  von 
aussen  herangebrachten  Wissenstoßes  konnte  sich  die 
erst  schwächliche  Kraft  seines  persönlichen  Seins  nicht 
aufrichten.  Werner  erlitt  zunächst  das  typische  Schick- 
sal des  Kindes  einer  Epigonenzeit  und  einer  reinen  Ver- 


22 

Standeskultur.  Er  nahm  sie  leicht  an  und  trug:  sie  wie 
ein  verhüllendes  Kleid.  Sein  Wesen  selbst  kam  erst 
sehr  viel  später  zum  Ausdruck,  als  wesensgleiche  Ideen 
ihm  nahe  gebracht  wurden  und  den  Entwicklungsgang 
in  einem  revolutionären  Tempo  vorwärtsrissen.  Seine 
Produktivität  war  rezeptiv.  Er  selbst  drückte  diese  Er- 
kenntnis später  seinem  Freunde  Hitzig  gegenüber  aus: 
^Ich  suche    überall   verwandte  Seelen   auf   und  finde   sie 

77 

wenigstens  in  Büchern  und  so  habe  ich  die  Satisfaktion, 
dass  ich,  wenn  ich  auch  nicht  besser  schreibe  als  andere, 
doch  besser  lese."  Der  Weg  der  Entwicklung  Werners 
ging  vor  allem  später  fast  analytisch  aus  seinem  Wesen 
heraus,  bedurfte  aber  stets  eines  starken  äusseren  Reizes- 
durch  wesensgleiche  Persönlichkeiten  oder  Gedanken. 
Er  war  eine  Apostelnatur  mit  oft  starkem  geistigen 
Temperament,  Lehrer  einer  neuen  Lehre  war  er  nie  und 
so  musste  er  notwendig  ein  bestehendes  Glaubenssystem: 
bejahen  und  ^  sich  ihm  anschliessen,  mochte  er  auch 
jahrzehntelang  an  die  Möglichkeit  glauben,  selbst  der 
Begründer  einer  neuen  Kirche  werden  zu  können. 

Auch  zu  Beginn  seines  geistigen  Eigenlebens  stand 
eine  menschliche  und  philosophische  Persönlichkeit  bereit, 
durch  deren  Eintluss  er  erst  zu  sich  selbst  zu  kommen 
vermochte.  Werner  war  in  Gefahr  gewesen,  sich  völlig 
zu  verlieren.  In  wildem  Genussleben  war  er  nahe  daran, 
körperlich  und  seelisch  sich  zu  erschöpfen,  als  kurz  vor 
dem  Eindritt  in  den  Verband  der  Universität  der  Kandidat 
der  Theologie  Nohr  als  sein  Lehrer  Einfluss  auf  ihn 
gewann  und  ihm  neben  dem  reinen  Lehrstoff  auch  für 
eine  Charakterbildung  Nahrung  bot.  Da  er  ihm  die 
Gedichtsammlung  widmete,  deren  beherrschender  Mittel- 
punkt Rousseau  war,  können  wir  mit  grösster  Wahr- 
scheinlichkeit annehmen,  dass  er  ihn  seinem  Schüler 
gegeben  hatte.  Auth  während  seiner  weiteren  Ent- 
wicklung in  dieser  Zeit  hat  Nohr  wohl  die  schwierige 
Aufgabe  eines  Mentors  bei  dem  ewig  Schwankenden 
übernommen,  der   sich   sehr  leicht    für  kurze  Zeit  lenken 


23 

Hess  und  der  formenden  Hand  kaum  Widerstand  zu 
bieten  schien. 

In  der  Aufnahme  Rousseaus  kann  man  den  ersten 
bewussteren  V^ersuch  Werners  sehen,  zu  einer  Über- 
windung seines  seelischen  Gegensatzes  zu  gelangen; 
denn  er  nahm  die  Lehren  des  Genfer  in  einer  eigen- 
artigen Doppelheit  auf.  Das  lag  keimhaft  in  dieser 
Philosophie  der  französischen  Revolution,  verstärkte  sich 
aber  durch  Werners  Einstellung.  Eine  Verneinung  des 
Lebenswillens  verband  sich  unwahrscheinlich  mit  der 
Persönlichkeitsstärkung,  eine  Flucht  aus  der  Welt  stand 
neben  dem  W'illen  sie  mit  Ausnutzung  aller  Möglichkeit 
literarisch-geistig  zu  reformieren.  Vielleicht  ist  es  auch 
dem  Einfiuss  Nohrs  auf  Grund  Rousseauscher  Gedanken 
zuzuschreiben,  dass  der  junge  Schüler  zu  seiner  praktischen 
Berufswahl  kam,  durch  die  er  sich  ein  Wirkungsfeld  für 
seine  revolutionären,  sozialen  Gedanken  zu  schaffen 
hoffte. 

Werner  begann  sich  nun  bewusst  als  Apostel  zu 
fühlen.  Der  neue  Lehrgehalt,  den  er  aus  Rousseau 
schöpfte,  war  von  seinem  Urheber  mit  stark  oppositio- 
nellen Akzenten  versehen  und  stand  in  einem  schroffen 
Gegensatz  zu  der  Durchschnittsauffassung  der  Zeit,  wie 
sich  das  politisch  und  sozial  in  der  französischen  Revo- 
lution, geistig  in  der  allgemeinen  Umwälzung  des  Denkens 
gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  ausdrückte,  an  der 
Rousseau  entscheidenden  Anteil  hat.  Rousseau  hatte 
sich  in  Ton  und  Geste  als  Vorläufer  der  neuen  Zeit 
gegeben  und  in  der  Rolle  des  Märtyrers  gut  und  gerne 
gefühlt.  Diese  äussere  Form  war  das,  was  der  junge 
Werner  zunächst  fand  und  übernahm. 

Leise  ßng  eine  geistige  Eigenbewegung  an,  die  sein 
Ich  als  Gegensatz  zur  Umwelt  empfinden  lehrte.  Rein 
gefühlsmässig  war  dieses  Wissen  zunächst,  mehr  ein 
Wunsch  und  eine  Ahnung,  \Verner  betonte  die  oppositi- 
onelle Färbung  der  Gedanken,  während  er  den  tatsäch- 
lichen   geistigen   Widerspruch    der   Rousseauschen   Welt- 


24 

auffassung  zu  der  Zeitmeinung  höchstens  in  ihrer  Ober- 
flächenformulierung erkannte. 

Als  den  literarischen  Abschluss  dieser  Epoche,  der 
gleichzeitig  der  Beginn  der  neuen  Lebensform  sein  sollte, 
erschien  1789  bei  Härtung  der  Band  Gedichte.  In  einem 
eigenartigen  Gegensatz  steht  das  Pathos  der  Widmung 
zu  dem  Gehalt  dieser  Gedichte.  Werner  stiess  die 
literarischen  Produkte  einer  erledigten  Entwicklungsspanne 
ohne  Rücksicht  auf  Wert  oder  Unwert  ab,  zeigte  sich  hier 
als  Literat,  der  eben  bekannt  werden  möchte  und  alles 
Greifbare  zusammenfasste,  sich  seelisch  prostituierte  aus 
Eitelkeit.  Wie  wenig  die  „Rettung"  trotz  der  grossen 
Worte  ihm  genutzt  hatte,  bewies  schon  der  unbewusste 
Gegensatz  der  Vorrede  zum  Inhalt,  der  den  Beginn  der 
neuen  Weltanschauungsbildung  als  noch  sehr  wenig  tief 
und  rein  sentimental  erkennen  lehrt. 

Der  literarische  Erstling  charakterisiert  in  gewisser 
Weise  Werners  ganze  Kunst.  Er  ist  ein  formales  Talent 
ohne  ein  formales  Genie,  ohne  Schöpfer  zu  sein.  Eine 
literarische  Erziehung  liess  ihn  früh  die  äusseren  Formen 
meistern,  liess  ihn  auch  früher  sprechen,  als  er  etwas  zu 
sagen  hatte,  gab  ihm  die  geschickte  Wortkunst,  die  ge- 
fällig das  Wort  dem  Sinne  anschmiegte,  ohne  aber  Kon- 
vention und  Banalität  vermeiden  zu  können.  Eine  fein- 
hörige Rythmik  steht  zu  Gebote,  und  Bilder,  wie  man 
sie  lesen  konnte  bei  Wieland,  Klopstock,  Claudius  und 
weniger  Grossen,  w^erden  geschickt  drapiert.  Die  Gedichte 
sind  flüssig  und  verraten  eine  gewisse  Kultur.  Ein 
Eklektiker  schrieb  sie.  Kein  Mensch,  der  nach  einer  Form 
ringt,  eigenes  zu  sagen  und  in  dieser  Sucht  alle  nutzt 
und  verwirft.  Nein,  ein  junger  Literat  spielt  mit  erlernten 
Formen,  die  ihm  alle  zu  Gebote  stehen.  Ein  Virtuose 
zeigt  Kunststückchen.  Es  ist  ein  Verbinden  inhaltlicher 
wie  formaler  Reminiscenzen  zu  einem  Gebilde,  das  kein 
Eigenleben  hat. 

Überall  fühlt  man  die  Fülle  der  Vorbilder,  die  so  un 
zusammenhängend  nebeneinander  gedrängt  sind,  dass  man 


___________  ^ 

Werner  als  Menschen  nur  gerecht  werden  kann,  wenn 
man  den  Band  als  unkritische  Ernte  der  Entwicklungsjahre 
anspricht,  in  denen  im  stärksten  Wechsel  die  verschieden- 
artigsten Einflüsse  in  die  ungeschützte  Seele  des  jungen 
Menschen  strömten.  Man  durchläuft  die  ganze  Skala 
unterschiedlichster  Auffassungen,  erhält  Belehrungen  di- 
rekter und  indirekter  Art,  wie  er  sie  von  seiner  geistigen 
Umgebung  erhalten  hatte.  Ein  Schüler  tritt  als  Lehrer 
auf  und  die  didaktische  Form  beherrscht  das  Ganze.  Weder 
künstlerisch  noch  menschlich  ist  schon  ein  Mittelpunkt 
gefunden,  noch  ist  die  geistige  Produktionskraft  nicht  stark 
genug,  die  Einzelheiten  zu  einer  Einheit  zu  verbinden,  aber 
der  produktive  Trieb  schon  zu  stark,  nur  aufzunehmen. 
Deutlich  zeigte  sich  die  Apostelnatur  des  jungen  Dichters, 
die  neben  dem  Literatentum  steht.  Er,  der  sich  gerettet 
fühlte,  wollte  retten  und  stellte  sich  seiner  Zeit,  die  ent- 
artet und  rettungsbedürftig  schien,  in  Kämpfer-  und  Pro- 
phetenstellung gegenüber.  Neben  Kampfrufen  für  Rousseau 
und  eine  höhere  Sittlichkeit  äussert  sich  eine  ungesunde 
versteckte  Sinnlichkeit.  Schon  hier  klingt  das  eigenartige 
Motiv  der  Liebe  an,  das  er  später  verkündete,  und  fasst 
die  beiden  Seiten  seines  Wesens  zusammen,  ohne  dass  es 
.schon  zu  einer  bewussten  Einigung  im  Liebebegriff  kommt: 
„Als  ich  Dich  in  Rosenschöne 
Vor  dem  Altar  knieend  fand",  .  .  . 
beginnt  die  erste  Strophe  eines  Gedichts  und  die  zweite 
kontrastiert  dazu 

„Als  ich  drauf  im  Tanze  freier 
Mich  um  Deinen  Busen  schlang  .  .  ." 
und  die  Dissonanz  sucht  notdürftig  die  Lösung,  die  Werner 
auch  später  fand: 

„Bist  Du  ewig  mir  verloren. 
Dennoch  bin  ich  ewig  Dein. 
Könnt  ich  sterbend  Dich  umarmen, 
Sollt'  mich  schnell  in  Deinen  Armen 
Cypris  Dir  zum  Schutzgeist  weihn". 
Gerade  dieser  unwahre  erotisch-religiöse  Ton  klingt  durch, 


26 

ist  vielleicht  das  einzig  wesentliche  der  Sammlung.  Ganz 
bewusst  geworden  ist  das  jedoch  noch  nicht  und  die 
persönliche  und  künstlerische  Standpunktlosigkeit  ist  das 
Charakteristische.  Die  Gefahr,  dass  ihm  alles  zur  Parodie 
werde,  ist  gross  und  lauert  wie  ein  Lachkrampf  in  der 
oft  hoch  gespannten  Stimmung  seiner  ersten  Lyrik.  Es 
ist  die  Folge  der  inneren  Halbwahrheit  dieser  Worte,  die 
wir  als  reine  Klangwerte  ohne  Seele  ahnen. 

Kleine  satirische  Meisterwerke  sind  die  „Grabschrif- 
ten". Aber  kein  Überlegener  spottet,  sondern  ein  Mit- 
schuldiger: Das  ist  unser  Gefühl  bei  seinen  Invektiven. 

Hier  sprach  der  Schüler  Rousseau«,  der  die  Welt 
ablehnte,  weil  sie  nicht  der  Forderung  des  moralischen 
Glaubens  entspricht.  Werner  kommt  zu  einem  intellek- 
tualistisch  gefärbtem  Weltschmerz,  der  vielleicht  tief  ge- 
fühlt sich  nicht  gefühlhaft  äusserte,  sondern  in  der  In- 
vektive  zur  moralisch -kritisierenden  Form  sich  bildete. 
Gefühlstöne  klingen  an,  wurden  aber  nie  rein.  Es  war 
der  Sohn  der  Aufklärung,  der  in  seiner  Zeit  stehend  und 
ihrer  Lebensanschauung  verhaftet,  nicht  die  Zeit  mit  neuem 
Geiste  sich  erschuf,  sondern  die  alte  verneinte  und 
schmähte.  Das  innerlich  Unproduktive  dieser  Epoche 
Werners  spricht  sich  hier  aus,  das  seelisch  Halbfertige 
des  Zustandes  rief  diese  Form. 

So  stehen  diese  Gedichte  am  Ende  einer  Entwicklung, 
die  der  Künstler  und  Mensch  zu  überwinden  sucht.  An- 
sätze zu  dem  neuen  Weltbilde  zeigen  sich  und  weisen  in 
die  neue  Zeit  hinein.  Er  hatte  seinen  Künstlerberuf  als 
das  ihm  Entsprechende  noch  nicht  entdeckt,  hatte  nur 
nahen  und  fernen  Freunden  eine  äussere  Leistung  auf 
weisen  wollen  und  dabei  war  ihm  die  Ahnung  seines 
Künstlertums  aufgegangen.  Eine  Steigerung  der  Persön- 
lichkeit Hess  sich  durch  die  Oppositionsstellung   erhoffen. 

Dazu  waren  jedoch  erst  sehr  schüchterne  V^ersuche 
vorhanden  und  noch  herrschte  eine  oberflächliche  Lite- 
rateneitelkeit vor.  Die  beiden  Lebensanschauungen  stan. 
den     in     der    Sammlung    sich     unverbunden     und     ohne 


27 

ihre  Gegensätzlichkeit  lü^^cn  zu  können  gegenüber,  mag 
auch  wahrscheinlich  die  Tendenz  gegen  die  äusserliche, 
leichtere  Lebensform  mehr  der  späteren  Zeit  angehören. 
Die  erste  Berührung  mit  Rousseau  löste  in  ihm  den  Apostel- 
trieb, den  Wille  zu  lehren,  der  ebenso  wie  bei  Kleist 
Ausdruck  der  künstlerischen  Produktivität  war. 

Schon  zu  Beginn  seiner  Tätigkeit  liebte  Werner  es, 
sein  Apostelamt  bei  jungen  Mädchen  auszüben.  Der  junge, 
interessante  Literat  wusste  sich  ihnen  gegenüber  ganz  in 
der  Rolle  des  idealen  Reformators  zu  geben,  der  keine 
als  rein  seelische  Forderungen  an  sie  stellte  und  in  ge- 
dankenkühler Schwärmerei  einen  billigen  Erfolg  bei  den 
ästhetisierenden  Königsbergerinnen  zu  erzielen  vermochte. 
Der  leicht  erotische  Ton  dieser  Beschäftigung  wurde  ihm 
nicht  klar,  da  er  seine  sexuellen  Bedürfnisse  in  ganz 
anderen  Kreisen  stillte.  Werner  ist  gegenüber  Frauen 
gleicher  Gesellschaftskreise  stets  unerotisch  gewesen. 
Die  slavische  Bedientenhaftigkeit  seines  Wesens  trat 
hier  in  die  Erscheinung.  Er  suchte  beim  Weibe  völ- 
vöUige  Hingabe,  die  er  bei  gleichgestellten  Frauen  wohl 
nicht  fordern  zu  können  glaubte.  Seine  drei  Gattinnen 
sowohl  wie  die  Fülle  weniger  legitimer  Frauen,  die  in  den 
Fragmenten  der  Tagebücher  erwähnt  werden,  stammten 
aus  niedrigen  und  niedrigsten  Schichten.  Die  Doppel- 
centrigkeit  seiner  Seele  wird  in  seinem  Sexualleben  so  Form, 

Der  Briefwechsel,  den  er  Ende  1796  mit  Pequilhen  er- 
öffnete, zeigt,  dass  er  auch  im  Kreise  seiner  Altersgenossen 
früh  eine  Lehrtätigkeit  aufnahm,  die  nach  den  brieflichen 
Lehrstunden,  die  er  hier  gab,  stärker  gewürzte  Speisen 
bot.  Er  ironisierte,  plauderte,  und  suchte  eine  glatte 
Eleganz  in  der  Formulierung  seiner  gelesenen  Neulehre, 
schreckte  vor  einer  Andeutung  erotischer  Erlebnisse  nicht 
zurück  und  wusste  sich  einen  kleinen  Kreis  von  Freunden 
zu  schaffen,  der  an  ihn  glaubte  und  seine  geistige  Über- 
legenheit gerne  anerkannte.  Als  er  später  nach  Königs- 
berg zurückkehrte,  konnte  er  schon  gelegte  Fundamente 
nutzen. 


28 

Um  diese  Zeit  machte  Werner  eine  schwere  Krank- 
heit durch,  die  ihm  den  Gedanken  des  Todes  näher 
brachte.  Dieses  Erlebnis  des  Todes  trieb  die  geistige 
Entwicklung  stärker  auf  das  Irrationale.  Literarisch  hob 
sich  dieser  Zug  noch  immer  nicht  deutlich  hervor  und 
in  der  Öffentlichkeit  trat  Werner  keineswegs  als  Neu- 
mystiker auf.  Er  wurde  Mitglied  in  der  „Deutschen  Ge- 
sellschaft", deren  Charakter  als  Kampforganisation  gegen 
den  Pietismus  festgestellt  wurde.  In  der  mit  ihr  in  Ver- 
bindung stehenden  „preussischen  Monatsschrift"  gab  er 
unter  dem  Zeichen  -r-r  „Ein  paar  Worte  über  die  Königs- 
berger Bühne",  die  ebenso  wie  seine  Beiträge  in  den 
„Annalen  des  Theaters"  glatte  und  persönlichkeitslose 
Kritiken  sind,  die  keine  Sonderheit  in  Auffassung  und  Ton 
verraten.  Sie  bezeugen  seine  dauernde  Anteilnahme  für 
die  Bühne  und  die  Schauspieler,  das  normale  Interesse 
des  Liebhabers,  der  für  die  Theaterkultur  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  so  bezeichnend  ist.  Der  Sprachgebrauch  und 
die  Geistesart  des  Rationalismus  hatte  sich  fest  um  das 
Persönliche  Werners  gelegt,  und  verstärkte  noch  die 
Spannung  zwischen  den  beiden  Polen  seines  Ich. 

Als  äusseren  Abschluss  der  akademischen  Jahre 
machte  Werner  eine  längere  Reise,  die  ihn  über  Berlin 
nach  Dresden  führte.  Sie  vermochte  ihm  einige  Werte 
zu  vermitteln.  Der  Antiken-Saal  liess  ihn  erlebnislos; 
der  werdende  Romantiker  fand  keinen  Weg  zu  den 
Griechen,  „erwärmte"  sich  aber  vor  dem  Bilde  der 
Sixtina  und  vor  Correggios  sinnlicher  Farbengebung  ging 
ihm  ein  Ahnen  der  inneren  Wahlverwandtschaft  auf. 
Ein  leiser,  bald  verwehender  Takt  seiner  Lebensmelodie 
Ein  ihm  rätselhaftes  Erlebnis  jener  neuen  Welt. 

Welchen  Beruf  er  für  sich  gewählt  hatte,  ist  nicht 
zu  sehen.  Juristische  Probleme  hatten  ihn  anscheinend 
die  letzte  Zeit  nicht  mehr  in  Anspruch  genommen. 
Er  gerierte  sich  als  freier  Literat  und  Schöngeist,  be- 
teiligte sich  an  wissenschaftlich-literarischen  Gesellschaften, 
wusste   in  „geschäftigem  Müssiggang"  seinem  Leben  den 


2f> 


Anschein  der  Tätigkeit  zu  verleihen.  Auch  die  weitere 
Rezeption  Rousseaus  hatte  nicht  vermocht,  seiner  Per- 
sönUchkeit  einen  festen  VViderhalt  zu  geben  und  Werner 
,  sah  mit  fast  objektiver  Zurückhaltung  der  Wirrnis  seines 
Innern  zu,  vermochte  nur  in  der  Schicht  des  Ästhetischen 
eine  Stellung-  zu  nehmen.  Sein  Weltbild  ist  literarisch, 
nicht  eigentümlich,  wechselnd  und  ohne  bestimmte  Nuance. 
So  erfasste  er  auch  Rousseau  nachdem  das  Gefühl  der 
Rettung  verblasst  war.  Die  innere  Zerissenheit  wurde 
sentimental  gepflegt  und  bildete  sich  zum  Weltschmerz, 
zur  Verneinung  des  Lebenswillens  in  dieser  so  geschaffenen 
Welt.  Er  wagte  noch  nicht  das  Problem  als  das  zu  sehen 
w^as  es  war:  Eine  Eigenart  seiner  Persönlichkeit,  vielleicht 
der  PersönHchkeit  an  sich;  er  suchte  und  fand  die  Er- 
klärung in  der  „gebrechlichen  Einrichtung"  der  Welt. 

Schon  sehr  früh  fand  die  Verlegung  der  seelischen 
Disharmonie  seiner  Persönlichkeit  in  das  Äussere,  in  die 
Welt  statt.  Man  hatte  sie  zu  verneinen.  Eine  oft  weiner- 
liche, oft  spöttische  Verurteilung  der  gegenwärtigen 
Kultur  war  die  selbstverständliche  Folge  dieser  rettenden 
Erkenntnis.  Hier  traf  Werner  zweifellos  den  tieferen 
und  eigentlichen  Konzeptionspunkt  der  Philosophie  Rous- 
seaus, der  im  Grunde  nicht  ausging  von  einem  sozialen 
Erlebnis,  sondern  durch  die  Erkenntnis  der  Differenziert- 
heit der  Eigenseele  zu  der  Verurteilung  der  Kultur  und 
Zivilisation  als  Quelle  dieser  Schuld  kam.  An  vielen 
Stellen  lässt  sich  der  Ausgang  von  dem  Persönlichkeits- 
problem feststellen,  und  die  Ablehnung  der  Entwicklung 
der  Kultur  als  eine  Flucht  vor  der  Ablehnung  der  Per- 
sönlichkeit erkennen. 

Der   seelische  Aufbau  Werners  war   dem  Rousseaus 
ähnlich  und  so  war  es  notwendig,  dass  der  Modephilosoph 
zu  dem  „Heiligen"  des  Dichters  wurde.  Noch  1808  sprachen 
Tagebuch  und  Gedicht  die  Wahlverwandtschaft  aus: 
„Dein  Lied  \var:  (Schon  als  Knabe  musst  ichs  finden) 
Mein  eigen  Herz  mit  blutiger  Schrift  geschrieben 
Im  Spiegel 


30 

Eine  gefühlsbetonte  Übernahme  der  Weltanschauung 
im  Allgemeinen  erfolgte,  die  mehr  potenziell  als  tatsäch- 
lich die  Einzelheiten  bot,  die  Poppenberg  und  Vierling 
auf  Rousseau  zurückführen  möchte.  Aus  seinem  Erlebnis 
kam  Werner  zu  vielen  gleichartigen  Folgerungen. 

Der  Akt  ist  wohl  so  zu  denken,  dass  Rousseaus 
Lehre,  soweit  sie  mit  der  damals  noch  herrschenden 
Aufklärungskultur  leicht  zu  verbinden  war,  bewusst  über- 
nommen wurde.  Die  Elemente  mussten  auf  dem  Boden 
des  Rationalismus  gefasst  werden  können  und  schon 
irgendwie  von  Werner  vorgebildet  sein.  So  verteidigte 
er  ein  dogmenloses  tolerantes  Christentum  nicht  so  sehr 
aus  der  Erkenntnis  des  Gefühls,  als  religiöser  Kraft, 
sondern  aus  der  kritischen  Verfiachung  der  Religions- 
inhalte heraus.  Nur  die  Geste  nahm  er  zuerst,  nicht 
den  Geist  seiner  Lehre.  Er  stellte  sich  in  einen  Gegen- 
satz zum  Geschichtlichen,  träumte  von  einem  goldenen 
Reiche  der  Güte  und  Schönheit.  Bewusster  forderte  er 
jetzt  eine  Ordnung,  die  seinem  Wesen  mehr  Recht  gab 
und  weniger  Forderungen  stellte,  die  ihn  nicht  so  leicht 
zu  Fall  brachte.  Was  Werner  als  Kind  in  dem  ekstatischen 
Erleben  der  Religion  und  des  Theaters,  als  Halbreifer  im 
erotischen  Rausch  gesuchu  und  gefunden  hatte,  wollte 
der  intellektualistisch  Gebildete  jetzt  durch  den  Aufbau 
seiner  Weltanschauung  erreichen :  Rousseau  bot  in  seiner 
Philosophie  ihm  die  Möglichkeit,  alles  abzulehnen,  das 
seiner  Lebensform  Widerspruch  und  Hemmung  war.  So 
wurde  die  Aufnahme  Rousseaus  ein  Akt  seelischer  Not- 
wehr, eine  äussere  Legitimierung  seines  Wesens.  Von 
seinen  Gedanken  ging  kein  Impuls  aus.  der  zu  etwas 
Neuem  führte.  Werner  lernte  von  Rousseau  nicht  eigent- 
lich, sondern  bildete  ihn,  soweit  es  nötig  war,  um,  damit 
er  sich  in  ihm  bestätigt  fand.  Er  suchte  hier  nicht 
Rousseau  sondern  sich  selbst. 

Stark  blieb  vor  allem  die  bequeme  Sucht  in  einem 
Ausserhalb  die  Schuld  für  seine  Sünde,  seine  Zerissen- 
heit    zu    linden.     Der    Versuch    der    nächsten    Zeit,    aus 


31 

dem  quälenden  Halbzustande  herauszukommen,  ging  auf 
den  Wegen  Rousseaus,  der  auch  fernerhin  eine  Rolle  in 
der  Entwicklung  Werners  spielte.  Nicht  mit  einem  Male 
löste  er  dem  Dichter  die  eigene  Zunge  zum  persönlichen 
Sprechen;  aber  das  Ahnen  einer  Wahlverwandtschaft 
gab  ihm  Sicherheit  zu  sich  selbst  und  Werner  übersetzte 
sich  die  seelische  Gleichartigkeit  Rousseaus  den  ver- 
schiedenen Phasen  seiner  EntAvicklung  entsprechend. 
Wie  er  sich  sah,  sah  er  seinen  Heiligen.  Durch  ihn 
erfolgte  eine  nicht  immer  bewusste  Einstellung,  die  die 
schnelle  Aufnahme  der  Romantik  durch  W^erner  erklärt. 
Andererseits  vertiefte  die  Romantik  den  Gehalt  Rousseaus. 
Das  eigentliche  Verarbeiten  des  Philosophen  erfolgte 
bei  ihm  erst  durch  die  Romantik,  wie  Rousseau  anderer- 
seits diesen  Prozess  wohl  mit  bestimmte;  eine  Wechsel- 
wirkung, die  äusserst  bezeichnend  ist  und  als  typisch 
für  das  geistige  Leben  der  Romantiker  viele  Phänomene 
erklärt.  Halb  bewusst  Übernommenes,  das  der  Urform 
des  Ich  entsprach,  wurde  durch  einen  neuen,  ähnlichen 
Tieiz  erst  über  die  Schwelle  des  Bewusstseins  gehoben, 
erhielt  dadurch  eine  besondere,  persönliche  Note  und 
erschien  als  Eigentum  und  Neuerwerbung  des  Aufnehmen- 
den. Als  er  schon  mit  der  Romantik  sich  eingehend 
4iuseinandergesetzt  hatte,  schrieb  er  seinem  Freunde: 
„Gefallen  Dir  Schlegel  und  Tieck  nicht,  so  wirst  Du 
auch  in  Rousseau  (der  auch  mein  erster  ist)  eine  Tiefe 
des  Gefühls  finden,  was  die  Mutter  der  Kunst  und  der 
Religion  ist."  Werner  erlebte  nicht  nur  Rousseau,  ihn 
aber  besonders  stark,  als  eine  Bestätigung  seiner  Sonder- 
art. Er  suchte  diese  Bestätigung  seiner  Persönlichkeit 
ausserhalb,  weil  er  sie  in  sich  nie  fand. 

Während  eine  gefühlsorientierte  Persönlichkeit  bei 
ähnlichem  Erleben  stets  durch  die  Kraft  ihres  inneren 
Instinkts  in  der  Bahn  gehalten  wäre,  verlor  Werner 
infolge  seines  ausgeprägten  Doppel-Ich  das  Bewusstsein 
der  Leitung  seines  Lebens,  ohne  die  innere  Sicherheit 
genialer    Naturen    dafür    einzutauschen,    dass    irgendwie 


32 

sein  Wesen  wie  es  war,  die  Gewähr  dafür  bot,  gut  zu 
sein.  Für  den  reinen  Mystiker  besteht  ein  kosmischer 
Zusammenhang  zwischen  Ich  und  Welt-Gott,  dessen  Im- 
manenz sie  erlebten.  Bei  Werner  legte  sich  das  Schwer, 
gewicht  auf  ein  etwas  ausserhalb  seiner  zersplitternden 
Persönlichkeit.  Die  Welt  erhielt  den  Charakter  der  über- 
legenen Kraft  die  im  Gegensatz  zum  Ich  als  solchem 
stand.  Unter  der  Welt  nahm  er  die  bestehende  historische 
Wirklichkeit,  die  sehr  oberflächlich  gefasst  wurde.  Die 
rationalistische  Einstellung  Werners  sorgte  dafür,  dass 
zunächst  keine  tiefere  Auffassung  durchkam. 

Der  häufige  Zusammenbruch  seines  sittlichen  VVollens 
vor  der  Stärke  des  Augenblicks,  vor  dem  was  die 
katholische  Moraltheologie  mit  dem  Ausdruck  „Nächste 
Gelegenheit"  bezeichnet,  suchte  eine  theoretische  Fassung. 
Da  die  Erklärung  von  Werner  nicht  in  der  Persönlichkeit 
gefunden  wurde,  nahm  die  Realität  immer  stärker  die 
F"ärbung  eines  feindlichen  Elements  an.  Bei  der  Stärke 
seines  Erlebens  konnte  er  an  der  Reinheit  seines  Wollens 
nicht  zweifeln.  Unter  günstigen  Verhältnissen  wusste 
er  sich  gut  und  sittlich.  An  eine  Variationsfähigkeit 
seines  Ich  aus  sich  heraus  zum  Guten  und  Bösen,  musste 
der  Rationalist,  der  sonst  sich  aufgab,  zweifeln  und 
rettete  sich  in  den  Dualismus  von  persönlichem  Wollen 
und  gegnerischer  Welt.  Die  Summe  aller  Hemmungen 
der  Materie  wurde  Werner  zum  Schicksal,  dem  er  sich 
ausgeliefert  fühlte,  als  er  sich  unfähig  erwies,  sein  Leben 
zur  Form  zu  gestalten. 


33 


II.  Kapitel. 

Lehr-  und  Wanderjahre  in  Welt  und  Dichtung. 

Der  junge  Mensch  hatte  nicht  nötig  sich  nach  einer 
Brotstelle  zu  drängen,  da  der  Vermögensstand  ausreichte, 
ihm  im  mütterlichen  Hause  eine  ziemlich  sorgenfreie 
Existenz  zu  sichern,  weil  Werner  keineswegs  Verschwender 
war.  In  Geldsachen  war  er  stets  geizig  und  penibel 
und  wusste  mit  seinen  Mitteln  hauszuhalten,  wenn  es 
sein  musste.  Der  Mystiker  und  Dichter  stand  in  seinen 
Briefen  oft  neben  dem  rechnenden,  sehr  genau  rechnen- 
den Vermögensverwalter  und  diese  Nebensächlichkeit 
zeichnete  sein  seelisches  Doppelt-Ich  karikierend  nach. 
Da  also  jeder  äussere  Druck  fehlte,  konnte  der  junge 
Literat  ohne  einengende  Fessel  eines  wesensfremden 
Berufs  in  voller  Freiheit  seinen  Ideen  leben.  Er  war 
einer  der  Mittelpunkte  des  literarischen  jungen  Königs- 
berg, das  nicht  sehr  fortschrittlich  war  und  mit  der 
aufblühenden  Klassik  keine  besondere  Verbindung  besass. 

Durch  Kant  trat  die  Stadt  in  den  Mittelpunkt  des 
philosophischen  Interesses.  Fichte  weilte  einige  Zeit  da 
und  Hess  dort  seine  „Kritik  jeglicher  Offenbarung"  er- 
scheinen, die  als  Kants  Werk  aufgenommen  wurde.  Mit 
ihr  setzte  Werner  sich  auseinander,  vielleicht  auch  im 
Glauben,  Kant  vor  sich  zu  haben.  Er  selbst  lernte 
F"ichte  nicht  persönlich  kennen,  der  im  Hause  seiner 
Mutter  verkehrte;  denn  ein  unstätes  Wanderleben  begann 
damals  und  persönliche  Angelegenheiten,  die  zum  Skandal 
ausarteten,  hielten  ihn  von  dem  gesellschaftlichen  Leben 
Königsbergs  ferner.  Die  Stellungnahme  Werners  zur  Offen- 
barungs-Kritik, die  nicht  eben  eine  Grosstat  des  Philoso- 
phen w^ar,  wird  durch  die  Antwort  Fichtes  deutlich.  Werner 
musste  sich  durch  diese  platte  Auffassung  der  Religion 
abgestossen  fühlen  und  mochte  sich  mühen,  ihren  Gefühls- 
charakter wenigstens  Rousseauisch  zu  fassen.    Darin  sah 

H  ankamer,  Zacharias  Werner.  3 


34 

der  Kantianer  Fichte  eine  Disziplinlosigkeit  des  Geistes 
die  in  Verbindung  mit  dem  gekränkten  Autorenehrgeiz 
auf  Grund  des  gesellschaftlichen  Urteils,  das  er  in  Königs- 
berg über  Werner  gefällt  wusste,  zu  der  scharfen  Ver- 
wahrung führte,  in  der  er  Werner  als  Libertin  kenn- 
zeichnete. 

Bis  dahin  hatte  der  junge  Literat  trotz  seines  wenig 
vorbildlichen  Lebenswandels,  der  seinen  Bekannten  nicht 
verborgen  bleiben  konnte,  noch  immer  die  äussere  Form 
gewahrt,  sodass  er  in  allen  Häusern  möglich  blieb.  Sein 
slavischer  Bekenntnisdrang,  der  an  Tolstois  Gestalten 
erinnert,  paarte  sich  mit  einer  grossen  Angst  vor  dem 
Skandal.  Dadurch  erhalten  seine  öffentlichen  Proklamati- 
onen diese  überreizte  Schamlosigkeit  und  den  Ton  des 
sich  seelisch  Wegwerfens.  W'erner  musste  sich  jedesmal 
in  die  Wollust  des  Selbstvernichtens  hineinpeitschen  und 
verlor  dabei  die  seelische  Wahrhaftigkeit,  die  allein  diese 
Entblössung  innersten  Lebens  als  ehrliche  Notwendigkeit 
erweisen  und  verständlich  machen  kann.  Er  war  zu 
abhängig  vom  Urteil  der  Vielzuvielen,  besass  nicht  die 
Sicherheit  des  reinen  Menschen,  um  ohne  ekstatische 
Übertreibung  der  Öffentlichkeit  gegenüber  sein  anders- 
gerichtetes W'ollen  aussprechen  zu  können.  Er  war  eben 
seinem  Wesen  nach  trotz  allem  Gesellschaftsmensch. 
Und  wohl  hauptsächlich  aus  gesellschaftlichen  Gründen 
trat  Werner  am  7.  Januar  1792  in  die  Königsberger 
Loge  zu  den  drei  Kronen  ein.  Von  irgendwelcher  künst- 
lerisch-philosophischen Stellungnahme  erfahren  wir  nichts, 
und  der  Besuch  der  Sitzungen  hörte  in  dem  Augenblick 
auf,  als  Werner  gesellschafthch  boykottiert  wurde.  Königs- 
berg hat  den  eigentlichen  Freimaurer  Werner  nicht  ge- 
sehen, ihm  nichts  hierin  bieten  können,  und  nur  den 
gesellschaftlichen  Anschluss  verstärken  sollen.  Ein  Skandal 
hinderte  das. 

Im  Winter  1791  lernte  er  in  Königsberg  Friederike 
Schmidt,  ein  übelbeleumundetes  Mädchen  aus  PYankfurt 
an  der  Oder  kennen.    Solange  dieser  Verkehr  sich  in  der 


35 

Form  abspielte,  die  man  bei  Werner  !e:ewohnt  war,  konnte 
er  auf  verständnisvolle  Unterstützung  rechnen.  Die  skrupel- 
lose, energische  Frau  aber  gewann  durch  ihre  starke  Erotik 
die  völlige  Herrschaft  über  den  Neurastheniker  und  brachte 
ihn  zu  dem  Entschluss  sie  zu  heiraten.  Mit  der  eigen- 
artigen Verbissenheit  und  dem  verkehrten  Feingefühl  dieser 
Charaktere  redete  er  sich  die  Verpflichtung  dazu  ein,  die 
nichts  anderes  war  als  der  Ausfluss  der  sexuellen  Hörig- 
keit, in  die  er  geraten  war.  Die  Pflicht  hierzu  wurde 
theoretisch  ihm  nahe  gebracht  durch  die  Ideen  Rousseaus, 
die  sein  literarischer  Freund  Graf  A.  A.  Leopold  von  Lehn- 
dorf-Bandels  in  einer  Preisschrift  „De  matrimonio  inaequali" 
behandelt  hatte.  Werner  nahm  solches  Interesse  daran, 
dass  er  eine  französische  Übersetzung  davon  gab,  die 
unter  dem  Titel:  Trait6  des  Mesalliances  .  .  par  F.  L. 
Zacharias  Werner  1792  in  Berlin  erschien.  Da  er  seinen 
Plan,  diese  Ideen  in  die  Praxis  umzusetzen,  immer  deut- 
licher zum  Ausdruck  brachte,  suchte  man  ihn  von  seiner 
Geliebten  zu  trennen,  erreichte  jedoch  nichts  weiter  als 
einen  plötzlichen,  hysterischen  Energieausbruch,  an  dem 
auch  der  erbitterte  Widerspruch  seiner  Mutter  nichts  änderte, 
Werner  floh  aus  Königsberg  und  liess  sich  nach  einer 
abenteuerlichen  Reise  durch  das  unruhige,  unsichere  Land 
in  Warschau  mit  ihr  trauen,  um  jeden  Widerstand  gegen 
ein  weiteres  Zusammenleben  unmöglich  zu  machen. 

Dann  kehrte  der  Rousseaujünger  nach  Königsberg 
zurück,  um  weiterhin  sein  Reformatorleben,  das  er  jetzt 
im  Glänze  des  Martyriums  sah,  fortzusetzen.  Er  begegnete 
dem  eisigen  Widerstand  fast  der  gesamten  Gesellschaft. 
Durch  sein  übereiltes  Handeln  hatte  er  auch  die  Freunde 
verloren,  die  wie  Baczko  sich  für  den  extravaganten  jungen 
Menschen  verwandt  hatten.  Werner  sah  sich  völlig  isoliert, 
glaubte  aber  im  ehrlichen  Vertrauen  auf  den  menschlichen 
Wert  der  angefeindeten  Frau  den  Kampf  gegen  die  von 
ihm  theoretisch  verachtete  und  ihm  doch  so  notwendige 
Gesellschaft  aufnehmen  zu  können  und  zu  müssen.  Auch 
mit  der  Mutter  kam  noch  keine  Aussöhnung  zustande,  so 


36 

dass  ein  Zusammenleben  mir  ihr  ausgeschlossen  war.  So 
kaufte  er  sich  „im  Herbste  1792  ein  Gütchen  von  7 '/j 
Hüben  (Hufen),  mit  vollen  Scheuern  und  verbarg  mich  da 
mit  dem  mir  angetrauten  Weibe". 

Der  junge  Literat  erlebte  nach  Rousseaus  Theorie 
einen  Winter  abgeschlossen  von  der  Kultur  und  Zivilisa- 
tion. Er  mochte  gehofft  haben,  auf  dem  Wege  der  Ein- 
fachheit zu  der  seelischen  Einfalt  zu  gelangen,  deren 
Fehlen  ihm  immer  mehr  bewusst  geworden  war.  Sein 
pädagogischer  Trieb  suchte  sich  in  der  Erziehung  der 
Gattin  zur  Höhe  seiner  idealen  Forderungen  Genüge  zu 
tun,  fand  aber  bei  ihr  nicht  das  Entgegenkommen  und 
den  Erfolg,  den  er  gewohnt  war  und  erwartet  hatte,  schon 
um  die  philiströse  Ungläubigkeit  der  Königsberger  Ge- 
sellschaft von  seinem  überlegenen  Blick  überzeugen  zu 
können  und  sie  damit  zurückzuerobern.  Die  Ernüchterung 
kam  schnell  und  gründlich,  ohne  dass  er  jedoch  fähig  ge- 
wesen wäre,  sich  von  dem  Banne  der  Frau  zu  befreien. 
.„Aber  eine  Hure  und  das  unschuldige  Land!  Ich  ver- 
wünschte  tausendmal  das  Landleben  und  verkaufte  im 
Jahre  1793  das  Gut  mit  ledigen  Scheuern  und  einigem 
Profit".  Dieses  Erlebnis  musste  bei  dem  labilen  Charakter 
Werners  einen  äusserst  tiefen,  momentanen  Eindruck 
machen.  Hier  trat  ihm  die  Realität  in  einer  Persönlichkeit 
entgegen,  deren  Entwicklung  abgeschlossen  war,  so  dass 
er  keinen  Einfluss  auf  sie  ausüben  konnte.  Der  Kampf 
um  die  Seele  des  Weibes,  der  so  vernichtend  ergebnislos 
endigte,  brach  zunächst  den  idealen  Impuls  Werners  und 
machte  einer  Resignation  zur  Realität  Raum. 

Er  erkannte  die  Unmöglichkeit,  sich  in  seiner  Vater- 
stadt zu  behaupten  und  durchzusetzen.  Wenngleich  sein 
väterliches  Erbteil  ausgereicht  hätte,  der  rechnende  Werner 
sah  ein,  dass  er  nach  seiner  Ehe  versuchen  musste,  sich 
eine  Existenz  zu  schaffen.  Dazu  mochte  ihn  auch  die 
quälende  Erkenntnis  treiben,  dass  er  künstlerisch  unpro- 
duktiv war  und  unter  dem  Druck  des  Zusammenlebens 
mit  dieser  Frau  sich  geistig  nicht  so  fortentwickeln  werde, 


37 

wie  er  es  erhofft  hatte.  Aus  dieser  Zeit  ist  nichts  er- 
halten, was  eine  Entwicklung  Werners  erkennen  Hesse. 
Eine  notwendige  Reaktion  Werners  auf  die  äusseren 
Hemmungen.  Königsberg  war  ihm  völlig  verleidet,  da  es 
an  Spott  dem  literarischen  Reformator  nicht  fehlte  und 
nur  die  komische  Seite  dieser  „Tragödie",  wie  Werner 
die  Epoche  nannte,  den  meisten  bewusst  wurde. 

So  kam  es,  dass  er  seinen  alten  Plan  wieder  aufnahm 
und  sich  eine  Stellung  in  der  Verwaltung  zu  schaffen 
suchte.  Da  er  die  Verbindung  mit  seinen  Königsberger 
Bekannten  gelockert  hatte  und  auch  wohl  glaubte  sich 
selbst  durchsetzen  zu  können,  ging  er  nach  Petrikau,  wo 
ein  Freund  eben  Kriegsrat  geworden  war.  Wenn  er  als 
der  Dichter  der  ^Söhne  des  Thals",  glaubte,  es  hätte  ge- 
nügt sich  als  Referendarius  anstellen  zu  lassen,  um  längst 
Kriegsrat  zu  sein,  so  befand  er  sich  in  einem  nur  psycho- 
logisch verständlichen  Irrtum.  Da  er  seine  wissenschaft- 
liche Vorbildung  nicht  abgeschlossen  hatte,  wäre  dieser 
Versuch  sehr  schwierig  gewesen,  wurde  hoffnungslos  durch 
die  Heirat  mit  seiner  Frau,  die  ihn  gesellschaftlich  auch 
in  Petrikau  unmöglich  machte.  Als  er  den  direkten  und 
indirekten  Widerstand  fühlte  und  man  ihm  mit  einigen 
leeren  Versprechungen  die  Stellung  eines  supernumeraren 
Kammersekretärs  vorschlug,  nahm  er  diesen  subalternen 
Posten  an.  Die  nächsten  Jahre  standen  vöUig  unter  dem 
Druck  dieses  Zustandes,  der  die  Eitelkeit  Werners  quälte 
und  ihn  zu  hundert  Bitten  an  alle  näheren  und  ferneren 
Bekannte  zwang. 

Trotz  aller  Unsicherheit  der  politisch-militärischen 
Lage  Hess  Werner  im  Herbst  des  Jahres  seine  Frau  nach- 
kommen und  lebte  neben  ihr,  um  sich  immer  mehr  von  ihr  zu 
entfremden.  Ein  Zusammenleben  mit  dem  nervösen,  jetzt 
immer  stärker  durch  materielle  Fragen  gestörten  Werner 
konnte  für  diese  Frau  nichts  fesselndes  bieten,  da  eine 
anregende  und  vermittelnde  Geselligkeit  auch  hier  fehlte. 
Werner  war  bald  dieser  Lage  überdrüssig  und  trug  sich  mit 
neuen  Plänen,  die  der  Zufall  zur  Reife  zu  bringen  schien. 


„Im  Frühjahr  1794  brach  die  Madalinsky'sche  Insui- 
rektion  aus",  berichtete  er  1804  seineßi  Freunde  Fenkohl. 
„Ich  verliess  Petrikau  mit  Beistimmung  meiner  Frau  und 
mit  Urlaub,  und  ging  nach  Berlin,  um  wo  möglich,  dort 
anzukommen."  Berlin  reizte  ihn  als  literarischen  Mittel- 
punkt und  auch  wohl,  weil  er  trotz  Rousseaus  Schwärmerei 
für  „das  unschuldige  Land"  erkannt  hatte,  dass  er  seinem 
ganzen  Wesensbau  nach  in  die  Grosstadt  gehörte.  Er 
hoffte  im  freien  Berlin  seiner  Heirat  wegen  nicht  so  her- 
metisch vom  Gesellschaftsleben  abgeschlossen  zu  werden 
und  sich  hier  eine  entsprechende  Position  leichter  schaffen 
zu  können.  Seine  Vorliebe  für  Berlin  blieb  bestehen,  auch 
als  er  jetzt  nach  einigen  Versuchen  einsehen  musste,  dass 
im  Augenblick  nichts  zu  erreichen  war.  Werner  kehrte 
nach  Königsberg  zurück.  Dort  trug  er  in  der  Deutschen 
Gesellschaft  die  in  den  „Ausgewählten  Schriften"  nicht 
wiedergegebene  Freiheitsode  vor,  die  einen  gewissen  for- 
malen Fortschritt  nicht  verleugnete  und  nationale  Töne 
im  Rahmen  der  Aufklärungskultur  zu  finden  wusste.  Als 
Ganzes  beweist  sie  ein  Stagnieren  der  Entwicklung  und 
zeigt,  dass  Werner  noch  immer  auf  den  Boden  der  Welt- 
anschauung stand,  die  wir  skizzierten.  Das  Konventionelle 
des  Gehalts  trat  deutlich  hervor. 

Nach  kurzem  Aufenthalte,  in  dem  er  seine  Frau  suchte, 
die  mit  der  Petrikauer  Kammer  hatte  fliehen  müssen  und 
die  ei  zufällig  in  Marienwerder  fand,  reiste  er  nach  Thorn, 
w^o  er  seine  Stellung  wieder  antrat.  Eine  Aussöhnung 
mit  der  Mutter  war  so  weit  wieder  zustande  gekommen, 
dass  er  seine  FYau  bei  ihr  zurücklassen  konnte,  als  er  Mitte 
1794  nach  Plozk  versetzt  wurde.  Sie  hatte  schon  während 
seiner  Abwesenheit  von  Petrikau  mit  einem  Kollegen  ihres 
Mannes  zusammengelebt  und  fing  ein  Verhältnis  mit  einem 
Schauspieler  an,  das  ruchbar  und  zum  Stadtgespräch  wurde, 
so  dass  Werner  sich  von  ihr  scheiden  Hess.  Er  versäumte 
nicht  dem  Freunde  mitzuteilen,  dass  er  der  „unwerten 
Kreatur"  als  Abfindung  ein  kleines  Kapital  gab. 

Der  Aufenthalt  in  Plozk  war  für  Werner  die  Rettung. 


39 

Der  Druck  des  Zusammenlebens  mit  der  Frau,  die  ei 
längst  als  unwürdig  erkannt  hatte,  aus  deren  Hörigkeit 
er  sich  aber  nicht  zu  befreien  vermochte,  wich  von  ihm. 
Er  fand  die  Freiheit  wieder  und  fast  sofort  begann  sein 
künstlerischer  Trieb  neu  zu  leben.  Er  selbst  schwärmte 
von  dieser  Zeit:  „Die  herrlische  romantische  Lage  dieses 
Städtchens  an  den  hohen  Ufern  der  Weichsel,  die  unge- 
bundene, genialische  Garyonlebenart,  die  Heiterkeit  der 
Polen,  alles  zusammen  trug  dazu  bei ,  die  zwei  Jahre, 
die  ich  daselbst  zubrachte,  zu  den  glücklichsten,  frohesten, 
heitersten  meines  Lebens  zu  machen.  Ich  expedierte, 
ging   spazieren,    ritt,   fuhr,   tantzte,   trank   und  dichtete." 

In  den  „Ausgewählten  Schriften"  beginnt  der  II.  Teil 
der  Gedichte  (der  erste  umfasst  nur  die  1789  erschienene 
Sammlung  mit  dem  Gedicht:  „Die  einzige  Realität", 
das  im  Sommer  1794  geschrieben  wurde  und  seine 
seelische  Situation  hell  beleuchtet.  Die  Schicksalschläge 
der  letzten  Zeit  hatten  ihn  geistig  wie  körperlich  mit- 
genommen. Der  Bau  seiner  Weltanschauung  war  unter 
den  Stössen  selbstverschuldeten  Unglücks  zusammenge- 
brochen und  er  erkannte  vor  ihren  Trümmern: 

„Nur  Glaube  strahlt  in  immer  neuem  Glänze." 
Er  fühlte  sich  todesreif. 

Das  war  der  Auftakt  zu  seinem  neuen  literarischen 
Leben.  Durch  die  Gunst  der  Umstände  konnte  die 
Stimmung,  deren  Tiefstand  das  Motiv  mehr  als  literarischen 
Augenblicksimpuls  wie  als  Weltanschauungselement  an 
die  Oberfläche  des  Bewusstseins  treten  Hess,  bald  wieder 
steigen,  aber  ganz  verschwanden  Gefühl  und  Gedanke 
nicht  mehr.  An  den  Punkten,  die  in  dem  stark  wechseln- 
den Rythmus  seines  Lebens  die  tiefsten  waren,  stand 
von  nun  an  irgend  eine  Variation  des  Themas,  das 
immer  quälender,  immer  heischender  einen  Forderungs- 
charakter annahm. 

Im  Kreise  der  nationalsten  Polen  dichtete  er  Schlacht- 
gesänge und  Hymnen,  deren  rhetorischer  Schwung  über- 
trieben   „tyrtäisch"    genannt    wurde.     Werner    entdeckte 


y 


40 

seine  slavische  Seele  und  fühlte  sich  im  Kreise  der 
polnischen  Familien,  deren  beste  sich  ihm  bereitwillig; 
öffneten,  sehr  wohl.  Seine  grosse  Vorliebe  für  diesen 
Slavenstamm  hat  er  auch  im  späteren  Leben  stets  be- 
wiesen. Die  unglücklichen  Freiheitskämpfe  unter  Kosciuska 
begleitete  er  ehrlich  begeistert  als  gelehriger  Schüler 
Rousseaus  und  der  französischen  Revolution  und  fühlte 
sich  in  Plozko  so  heimisch,  dass  er  sich  völlig  mit  Polen 
identifizierte  und  hoffte:  „dass  einst  mein  Grab  im  freien 
Polen  blüht,"  Der  preussische  Beamte  stand  völlig  auf 
Seiten  des  Volkes,  das  er  für  seine  Regierung  verwalten 
sollte  und  nahm  die  spätere  Polen- und  Griechenschwärmerei 
verwieg,  in  der  sich  die  deutsche  Intelligenz  gefiel.  Der 
Sohn  der  Aufklärung  fühlte  nicht  national  und  fand  erst 
später  den  Zusammenhang  mit  seinem  Volke,  Dieser 
Freiheitsrausch  legte  sich  aber,  sobald  er  in  Warschau 
„der  Freiheit  jämmerliche  Priester"  näher  kennen  lernte. 
Dem  Freunde  charakterisierte  er  die  Träger  der  nationa- 
len Bewegung  als  „impertinente,  junge  Bengels,  die  keine 
Mores  und  kein  Geld,  aber  böse  Krankheiten,  Kaufleute, 
die  keinen  Handelsverkehr  und  Kredit,  aber  die  Ideen 
ihrer  alten  Herrschaft  im  Kopfe,  Damen,  die  keinen 
Verstand  und  keine  Schönheit  aber  Schminke  und  Un- 
geziefer haben,"  Wieder  war  der  schwärmende  Rousseau- 
schüler mit  der  Realität  zusammengestossen  und  die 
Übertreibungen  in  dieser  Charakteristik  der  polnischen 
Freiheitsmänner  sind  für  die  Stärke  des  Rausches  be- 
zeichnender als  für  die  tatsächlichen  Zustände, 

Nach  Warschau  hatte  er  sich  1796  versetzen  lassen, 
als  ein  Teil  der*  Kammer  von  Plozk  nach  dort  verlegt 
wurde.  Wieder  lockte  die  Grossstadt  und  versprach 
neue  Anregungen.  Hier  wusste  er  den  Mittelpunkt  der 
nationalen,  geistigen  Bewegung  Polens.  Die  Bilder,  in. 
denen  die  polnischen  Freunde  von  ihrer  heiligen  Stadt 
schwärmten,  leuchteten  in  den  Farben  morgenländischer 
Fracht;  denn  damals  war  Warschau  die  Pforte  des 
Ostens    für   Europa    und    Hitzig,    der    hier    mit    Werner 


41 

zusammentraf,  zeichnete  es  in  den  bizarren,  flatternden 
Linien  des  rätselvollen  Ostens.  Werner  suchte  das  Regel- 
lose, Sinnenreizende,  das  sein  Künstlertum  um  so  mehr 
forderte,  je  weniger  das  Beamtenleben  ihm  diese  An- 
regungen zu  geben  vermochte.  Er  hatte  sich  vorgestellt, 
in  der  Hauptstadt  des  alten  Polenreiches  ähnlich  wie  in 
dem  polnischen  Städtchen,  woher  er  kam,  eine  bedeutende 
Rolle  spielen  zu  können,  sah  sich  aber  bald  völlig  ent- 
täuscht und  auf  Kreise  angewiesen,  die  er  selbst  als 
„schlechte  Gesellschaft"  bezeichnen  musste.    Gesellschaft- 

77 

lieh  waren  die  Deutschen  auf  sich  angewiesen  und  Werner 
bekam  das  Subalterne  seiner  Stellung  zu  fühlen,  sodass 
er  wieder  Anknüpfungspunkte  suchte,  um  auf  irgend 
eine  Weise  frei  zu  kommen,  wobei  er  die  materielle 
Seite  in  den  Vordergrund  schob  und  strikte  ablehnte, 
das  grosse  Examen  zu  machen.  Zu  einer  solchen  Kon- 
zentration war  Werner  in  Warschau  nicht  fähig,  wo  ihn 
das  abenteuerliche  Leben '  der  halborientalischen  Stadt 
bald  völlig  gefangen  nahm.  Die  gemeine  Niedrigkeit 
der  Vergnügungen,  die  er  suchte,  weil  ihm  in  seiner 
Stellung  nichts  anderes  übrig  blieb,  wollte  er  sich  nicht 
isolieren,  weckten  jedoch  seinen  Widerwillen,  so  oft  er 
auch  ihnen  Tribut  zollte  und  sich  mit  Weibern  einliess, 
die  „von  der  höchsten  bis  zur  niedrigsten  für  Gunst- 
bezeugungen bezahlt  sein  wollen." 

Werner  vermisste  vor  allem  freundschaftliche  V'er- 
bindungen,  in  denen  er  seinen  Aposteltrieb  hätte  betätigen 
können.  Nicht  eine  Übernahme  des  Freundschaftskultes 
des  Sturm  und  Drangs  war  das  bei  dem  werdenden 
Romantiker,  sondern  eine  innere  Notwendigkeit,  die  aus 
der  Differenzirtheit  seiner  Seele  entsprang.  Es  ist  die 
Äusserung  der  Einheitssehnsucht,  die  das  Doppel-Ich 
nicht  in  sich  finden  konnte  und  in  einer  geistigen  Ehe 
mit  einem  Freunde  suchte;  es  ist  das  Erlebnis,  das  zur 
"geistigen  Hanse  Friedrich  Schlegels  führte  und  die  Liebes- 
theorien der  Lucinde,  Godwis  und  Werners  erfassen  lehrt. 
In    dieser    Zeit    der    seelischen    Vereinsamung    ent- 


42 

wickelte  sich  bei  Werner  keimhaft  der  Liebebegriff,  dei 
durch  verschiedene  Phasen  seiner  Weltanschauung  ge- 
wandelt wurde  und  in  nächster  Verbindung  mit  quälenden 
und  erhebenden  Erlebnissen  mit  den  Frauen,  die  ihm 
näherstanden,  sich  gestaltete.  An  der  Entwicklung  dieses 
W^eltanschauungselements  lässt  sich  die  innige  Ver- 
schmelzung des  Psychologischen  mit  dem  Logischen 
im  System  Werners  erkennen .  Schon  hier  trat  über  die 
Definition  hinaus,  ja  im  Widerspruch  mit  ihr  die  starke 
sexuelle  Energie  Werners  hervor,  die  in  dem  Wort-  und 
Gedankenbesitz  des  18.  Jahrhunders  die  Lehre  der  Romantik 
unbewusst  suchte.  Aus  der  ps}'^chologischen  Veran- 
lassung heraus  verschmolz  seine  Sexualität  mit  dem 
seelischen  Vereinheitlichungstrieb  zu  dem  Begriff,  dessen 
flimmernde  Konturlosigkeit  für  Werner  kennzeichnend  war. 
Er  lehnte  von  vorneherein  eine  völlige  Identifi- 
zierung des  Eros  mit  dem  sinnlichen  Gefühl  „was  man 
sehr  falsch  mit  Liebe  verwechselt"  ab,  stellte  ihn  aber 
auch  einer  j,mit  dem  Geschlechtstriebe  vermischten  und 
dadurch  erhöhten  Sympatie  der  Gesinnungen  mit  Freund- 
schaft, das  heisst  Hochschätzung  und  gemeinschaftliches 
Hinstreben  zu  einem  edlen  Zwecke  verbunden"  gegen- 
über. Ein  grosses  Weib  könne  man  verehren  aber  nicht 
lieben.  Hier  theoretisierte  Werner  die  psychologische 
Tatsache,  dass  er  gleichgestellten  Frauen  gegenüber 
nicht  erotisch  war.  Trotzdem  er  sich  hinter  Schillers 
Begriff  der  veredelten  Weiblichkeit  versteckte,  erfasst 
man  den  absolut  unschillerschen  Untergrund  dieses  Ge- 
dankens, wenn  er  als  Beispiel  anführte:  „Denkt  Euch 
also  ein  Weib,  von  der  Natur  als  Meisterstück  geformt, 
bei  der  alles  Tugend  wird,  was  bei  andern  F'ehler,  gar 
Laster  sein  könnte.  Ihre  Seele  und  ihr  Körper  sind 
Eigentum,  dessen,  der  sie  liebt;  sie  würde  ohne  Scham- 
röte, vielleicht  selbst  vor  Zeugen,  ihm  alles  preisgeben, 
nicht  aus  Mangel  an  Scham,  sondern  weil  ihre  reine 
Seele  in  dem  edelsten  Triebe  der  Sinnlichkeit  nichts 
Unreines,   und    ihr    richtiger  Verstand    in   der   Mitteilung 


43 

der  Körper,  wo  die  Seelen  eins  sind,  nichts  Inkonsequen- 
tes sieht.  Ihr  Hab  und  Gut  würde  sie  dem  Geliebten  mit 
eben  der  Unbefangenheit  geben,  als  sie  das  seinige  von 
von  ihm  annehmen,  weder  in  Einem  noch  im  Andern 
•ein  Verdienst,  sondern  nur  einen  natürlichen  Trieb  ihres 
Herzens  und  dessen  Erwiderung  sehen.  Die  Narrenpossen 
und  Gesetzbücher  der  bürgerlichen  Welt  sind  ihr  ein 
Mischmasch,  den  sie  nicht  zu  erlernen  braucht.  Ihr  Ge- 
fühl, was  sie  immer  richtig  leitet,  ist  ihr  Gesetz."  Und 
zusammenfassend  definiert  er:  „Liebe  ist  ein  durch  Ge- 
schlechtstrieb veranlasster  unwillkürliche  Drang,  sich  mit 
einer  schönen  Seele  zu  identifizieren."  Die  Worte  „Drang" 
und  „identifizieren"  waren  ihm  zu  farblos.  Er  fühlte, 
dass  sie  nicht  mit  dem  sich  deckten  was  er  sagen  wollte 
und  entschuldigte  sich  mit  der  Unfähigkeit  der  deutschen 
Sprache  diese  Empfindungen  zu  malen.  Die  Definition 
Heinzes:  „Liebe  ist  die  Begierde  mit  einer  Person  anderen 
Geschlechts  Kinder  zu  zeugen",  lehnte  er  ironisch  über- 
legen ab  als  die  des  geistigen  Pöbels.  Als  seinen  Anti- 
poden bezeichnete  er  den  „freilich  sehr  grossen  Verfasser 
des  Ardinghello"  dessen  Helden  alle  mit  dem  Schlüsse 
anfangen  wollten  und  nannte  doch  damit  einen  der  Väter 
seiner  und  der  Romantiker  Liebetheorie. 

Wenn  er  auch  überlegen  darüber  spöttelte,  dass  er 
in  seiner  Definition  „auch  die  Epicuri  de  grege  zu  be- 
friedigen", vom  Genuss  so  viel  hereingebracht  habe 
^als  nur  möglich",  der  Ausgangspunkt  dieser  Gedanken- 
reihe lag  zweifellos  im  Erleben  des  geschlechtlichen 
Aktes.  Werner  rationalisierte  und  mystifizierte  ihn,  suchte 
ihn  in  einer  höheren  Schicht  des  Erlebens  zu  heben, 
um  nicht  das  Erniedrigende  seiner  sexuellen  Exzesse 
sich  gestehen  müssen.  Es  ist  die  geistige  Notwehr,  die 
Werner  immer  wieder  zu  einer  Lebenslüge  trieb,  zu 
einer  systematischen  Einreihung  des  apriori  durch  sein 
Wesen  Gegebenen.  Da  er  nicht  stark  genug  war,  die 
von  ihm  selbst  verurteilte  Sinnlichkeit  zu  bekämpfen, 
erhöhte   er   sie    in    das  Geistige  und   lehnte   mit   grosser 


44 

Geste  den  Genuss  an  sich  ab.  Und  doch  fühlt  man  seine 
unbewusste  Verlogenheit  in  all  diesen  grossen  Worten 
und  ahnt  in  welch'  zerrüttenden  Kämpfen  Werner  zu 
diesem  Ausweg  gedrängt  worden  ist.  Die  brutale  Sexu- 
alität brach  durch  und  gab  dieser  Theorie  den  Charakter 
des  Erzwungenen.  Die  Weltanschauung  Werners  war 
nicht  seine  freie  Tat,  die  Gedanken  waren  Abstraktionen 
des  Erlebnisses,  denen  er  ausgeliefert  war  und  die  er 
vor  sich  zu  verteidigen  suchte.  Er  konnte  sie  an  sich 
nicht  bejahen  und  suchte  sie  gedanklich  in  der  Ver- 
bindung mit  reinen  Begriffen  zu  rechtfertigen. 

Sein  Wille  war,  den  Geschlechstrieb,  dessen  persön- 
lichkeitsüberwindende  Macht  er  als  tierisch  empfand,  zu 
veredeln.  Die  Entwicklung  des  Liebebegriffs  bei  Werner 
zeigte  stets  deutlich  dieses  Wollen.  Der  Charakter  der 
Weltanschauungsbildung  als  eine  unbewusste  Entschuldi- 
gung seines  Seins  verlor  sich  nie  ganz,  da  die 
Spannung  zwischen  Tat  und  Wille  blieb.  Er  veredelte 
und  verfeinerte  sein  S^^stem  statt  seiner  Persönlichkeit, 
sein  Wissen  und  Erkennen  reinte  sich,  während  seine 
Tat  als  Willensausdruck  blieb.  In  dieser  Zeit  erhoffte 
er  durch  seine  System-  und  Begriffskonstruktion  Ver- 
söhnung des  Gegensatzes:  ein  Zeichen  seines  mystischen 
Rationalismus.  Was  dem  Beschwörungsglauben  primitiven 
Denkens  zu  Grunde  liegt,  durch  begriffliches  Erkennen 
überindividuelle  Mächte  magisch  zu  beherrschen,  lag 
letzten  Endes  seinem  Systemglauben  zu  Grunde.  So  ent- 
stand diese  Begrifflegierung. 

Auch  in  seiner  Dichtung  drängte  sich  Gedanke  und 
Sehnsucht  ein: 

„Sie  schmiegt  den  Jüngling  an  der  Einen  Lippe 
Und  presst  sein  Selbst  in  ihre  Formen  ein; 
Durch  beide  zuckt  die  Glut  der  Aganippe 
Verschlungen  trotzen  sie  des  Todes  Hippe, 
Im  Silberblick  zerfliesst  ihr  schönes  Seyn." 
Sogar  im  Wort  hat  Werner  hier  sich  selbst  vorweg 
genommen.    Was  er  später  tiefer  und  sicherer  in  seinem 


45 

Weltanschauungsbau  einfügte,  hatte  er  hier  schon  ge- 
funden. Heinzes  Begriff  der  Liebe  verschmolz  mit  dei 
Fassung  des  Eros,  den  Schiller  und  Jean  Jaques  Rousseau 
in  der  neuen  Heloise  ihm  bot.  Der  Ton  religiöser  Inbrunst, 
-der  die  Briefe  der  Liebenden  in  dem  epochonalen  Roman 
Rousseaus  kennzeichnete  und  ein  Verschwimmen  beider 
Gefühlsarten  andeutete,  wurde  von  Werner  empfunden 
und  übernommen.  Noch  keineswegs  begrifflich,  sondern 
tatsächlich  in  Weiterbildung  der  seelischen  Erlebnisse 
die  in  seiner  Jugend  ihm  wurden.  Auch  Rousseau^ 
denkt  an  keine  Begriffsverbindung,  wehrte  sich  sogar 
gegen  die  gefühlte  Unklarheit  dieser  Seelenäusserungen 
in  seinem  Roman.  Die  erweiterte  Vorrede  zur  zweiten 
Ausgabe  stellte  fest,  dass  es  sich  nur  um  eine  Übernahme 
der  Ausdrucksformen  handle,  die  beide  Gebiete  mit  ein- 
ander in  lose  Wechselverbindung  bringe.  Die  wirkliche 
Verbindung  von  erotischen  und  religiösen  Impulsen  aber 
im  Roman  selbst  bereitete  Werner  auf  seine  spätere 
Lehre  vor. 

Der  Fessel  seiner  ersten  Ehe  ledig,  sehnte  er  sich 
nach  einer  reinen  Frau,  nach  einer  „Schwesterseele". 
Schon  1795  wusste  er  einen  Namen  zu  nennen,  und  in 
den  Briefen  an  seinen  Freund  schilderte  er  verschiedene 
Heiratsmöglichkeiten  in  einem  Tone,  der  in  einem  be- 
zeichnenden Gegensatz  stand  zu  der  gedanklichen  Höhe 
des  Themas,  und  hoffte  auf  die  „Gesellschaft  eines  lieben 
Weibes,  das  ich  schon  in  petto  habe,  aber  bei  meiner 
jetzigen  Lage  nicht  heiraten  kann."  Religiös  drückte 
er  diese  Sehnsucht  in  einem  Mariengedicht  aus  (1797),  in 
dem  er  die  Gottesmutter  bat: 

„So  führe  mir  die  Schwesterseele  zu, 
Die,  rein  wie  Du,  den  Myrthenkranz  mir  flicht." 
Hier  suchte  der  Einheitstrieb  der  beiden  Kräfte 
-einen  Ausdruck,  dessen  klare,  einfältige  Form  von  dem 
komplizierten  Verschwimmen  dieser  Gegensätze  in  späterer 
Fassung  sich  wesentlich  unterscheidet.  Es  ist  noch  mehr 
literarische  Form,  als  erlebtes  Eigentum. 


46 

In  der  Realität  gestaltete  sich  das  wie  immer  bei 
Werner  sehr  wenig  entsprechend.  Bei  einem  Urlaub 
1799  in  Königsberg  verkuppelte  man  ihn  mit  einem 
Mädchen,  das  „eine  Legion  Liebhaber  gehabt,  angeblich 

auch  noch    einige   Tausend   Gulden   in  bonis   hatte 

und  ich,  aus  Tollheit,  aus  Ekel  vor  dem  Cölibat,  halb 
auch  (so  tief  war  ich  gesunken)  aus  Interesse,  heiratete 
sie  ohne  alle  Liebe."  Da  die  Frau  leichtsinnig  bei  der 
Schwangerschaft  die  Hoffnung  Werners  auf  Vaterschaft 
enttäuschte,  zerbrach  auch  diese  Ehe  und  im  Frühjahr 
1801  wurde  die  gerichtliche  Scheidung  ausgesprochen» 
die  ihm  den  Rest  seines  väterlichen  Erbes  kostete. 

Diese  Geschehnisse  des  realen  Lebens  in  ihrem 
grotesken  Widerspruch  zu  seinem  Wollen  als  Dichter 
und  Denker  bildeten  bei  ihm  den  Gedanken  heraus,  dass 
zwischen  seinem  realen  Ich  und  der  sittlich-künstlerischen 
Persönlichkeit  eine  Kluft  vorhanden  sei,  die  er  durch  die^ 
Ausgestaltung  des  Schicksalbegrififs  zu  überbrücken  suchte.. 

Als  er  in  geschlechtlichen  Ausschweifungen  und  im 
unruhevollen  Kampf  um  das  ersehnte  Eheglück  seine 
beste  Mannskraft  opferte,  so  dass  sich  der  Dreissigjährige 
erschöpft  und  todesreif  fühlte,  wurde  dieses  Anschauung 
so  stark,  dass  er  in  seinen  Briefen  immer  wieder  aus- 
sprach, das  Schicksal  verfolge  ihn.  Er  fühlte  sich  als 
Opfer  einer  fremden  Macht,  deren  Art  er  zunächst  nicht 
klarer  zu  fassen  vermochte.  Diese  quälende  Ungewiss- 
heit  über  das  eigentliche  Wesen  seiner  Existenz,  über 
Schuld  und  Unschuld  seines  Seins  konnte  auf  der  Basis, 
der  bisherigen  Weltanschauung  nicht  gefahrlos  entschieden 
werden.  So  suchte  er  eine  Lehre,  die  diese  quälenden 
Gegensätze  löste  und  durch  die  sein  seelischer  Selbst- 
erhaltungstrieb nicht  verletzt  werde;  denn  die  Grund- 
färbung der  Persönlichkeit  Werners  war  ethisch. 

Ein  völliger  seelischer  Zusammenbruch  erfolgte  nie. 
Werner  war  eine  Kompromissnatur  und  geschmeidig 
genug,  seine  Weltauffassung  so  zu  entwickeln,  dass  kein 
tödlicher  Zwiespalt  zwischen  Leben  und  Wollen  entstand. 


47 

Die  geistige  Energie  bog  nC^tigenfalls  alles  in  die  Richtung, 
die  erstrebt  wurde.  Ein  Kampf  entstand  erst  bewusst 
bei  und  durch  Goethe  urd  auch  da  suchte  er  zunächst 
nur  einen  Kompromiss.  Dadurch  erklären  sich  die  Schwierig- 
keiten, eine  genaue  Kurve  dieser  Entwicklung  nachzu- 
zeichnen. Ständig  blieb  aber  das  Bestreben,  das  lösende 
Wort  zu  finden  und  die  Frage  seines  Lebens  sich  selbst 
zu  erklären  und  zu  rechtfertigen,  denn  ein  absoluter 
Verzicht  auf  die  Sittlichkeit  seiner  Existenz  war  für  ihn 
vollkommen  ausgeschlossen,  wobei  die  Sittlichkeit  etwas 
Transcendentes  war,  ein  Befehl  von  ausserhalb,  dem  er 
sich  fügen  musste.  Tatsächlich  war  Werner  stets  der  An- 
hänger des  kategorischen  Imperativs  —  im  Wollen,  nicht 
in  der  geistigen  Tat.  Die  war  Vermittlung.  Sein  Suchen 
ging  über  verschiedene  Systeme  und  Persönlichkeiten, 
die  ihn  zum  Teil  von  seinem  Ausgangspunkt  abdrängten, 
ohne  ihn  ganz  vergessen  machen  zu  können. 

Als  Werner  1798  in  die  neugegründete  Loge  zum 
goldenen  Leuchter  eintrat,  mögen  ihn  auch  Erwartungen 
materieller  Art  mitbestimmt  haben,  aber  letzten  Endes 
erhoffte  er  hier  die  Lehre  zu  finden,  von  der  aus  er  seine 
Weltanschauung  entwickeln  könnte.  Es  scheint,  dass 
Werner  in  der  Zwischenzeit  sich  mit  der  Lehre  des 
Freimaurertums  eingehender  beschäftigt  hatte.  Eine  Ver- 
tiefung des  Lehrgehalts  vollzog  sich,  die  fast  verge- 
waltigend war.  Er  gab  der  Lehre  erst  die  Farbe,  die 
ihm  entsprach,  um  dann  als  Eigentum  der  Gemeinschaft 
dieses  Eigene  zu  verkünden.  Lehren  wollte  er  wieder, 
als  Künstler  aktiv  mitarbeiten.  1796  hatte  er  sich  an 
Deutschlands  Dichter  gewandt  und  zürnend  ihnen  zuge- 
rufen, dass  s'.e  dem  grossen  Plane  der  Vorsehung  wider- 
ständen in  ihrem  ewigen  Geleier  von  Küssen  und  Wein. 
Nun  trat  er  selbst  vor  die  Brüder  hin  als  Sämann  der 
„Saaten  für  die  Ewigkeit".  Er  war  überzeugter  Anhänger 
des  Freimaurerordens,  hoffte  ihn  zum  Weltbunde  zu 
weihen  und  zu  erhöhen,  wenn  die  Ewigkeitssaat  auf- 
gegangen sei. 


48 

Die  Aufgabe,  die  er  dem  Freimaurerorden  als  Brudei 
Redner  vorzeichneie,  war  eine  mit  Rousscaus  Gedanken 
durchsetzte  Menschheitserziehung,  wie  Lessing  sie  skizziert 
hatte.  Das  Programm  des  Neuhumanismus  im  18.  Jahr- 
hundert verband  sich  hier  mit  mystischen  Elementen,  die 
er  der  Geheimlehre  des  Ordens  entnahm  und  die  vor 
allem  die  Schicksalidee  Werners  düster  färbte. 

In  dem  undatierten,  anscheinend  häufig  überarbeiteten 
„Fragment",  dessen  genaue  zeithche  Einreihung  nicht 
möglich  ist,  dass  aber  als  Produkt  dieser  Jahre  ange- 
sprochen werden  muss,  steht  der  Orakelspruch: 

Ersteht,  Erschaffen,  aus  des  Grabes  Schwelle, 
Dann  also  spricht  des  Schicksals  grosses  Buch: 
Aus  Nacht  und  Blut  entspricht  des  Lichtes  Quelle. 
Schon  das  Erlebnis  des  geschichtlichen  Gesetzes  im 
blutig  unterdrückten  Freiheitskampfe  der  Polen  hatte 
diesen  Gedanken  geweckt,  die  Geschichte  des  Freimaurer- 
ordens kristallisierte  sich  um  diese  Idee.  Als  er  in  seiner 
„Rede"  die  Entwicklung  des  Ordens  darstellte  und  seine 
Bedeutung  für  das  Weltganze  aufzuweisen  sich  mühte, 
musste  der  Vorsehungsglaube  von  diesem  Stoff  aus  und 
auf  Grund  der  psychologischen  Situation  die  pessimistische 
Note  dem  Ich  gegenüber  trotz  des  beherrschenden  Opti- 
mismus hervortreten  lassen.  Auch  hier  ist  die  charak- 
teristische Gegensatzverbindung  vorhanden.  Der  Einzel- 
heit gegenüber  ist  das  Schicksalwalten  pessimistisch  ge- 
schaut, als  ganzes  optimistisch  gesehen  und  der  Gedanke 
bildete  sich  von  hieraus,  dass  für  das  Einzelne,  das 
Individuelle  in  jeder  Form  das  Schicksal  zum  Verhängnis 
werden  muss,  dem  Allgemeinen  aber  zum  Segen. 

Werner  sah  in  dieser  Zeit  sein  ver.nichtetes  Leben 
mit  seiner  Qual  und  Enttäuschung  als  eine  strenge 
Erziehung  zu  dem  Beruf  des  religiösen  Dichters  und 
wurde  von  dem  Gedanken  seiner  Zeit  veranlasst,  das 
als  den  Sinn  der  Weltentwicklung  anzusprechen,  das 
Walten  der  Vorsehung  von  der  weltpädagogischen  Seite 
zu    erfassen.     Die    Erkenntnis    seiner    Unfähigkeit,   selbst 


49 

die  Bahn  seiner  Entwicklung;  zu  bestimmen  und  der 
eigenartige,  seelische  Masochismus,  der  in  ihm  lag,  suchten 
und  erzwangen  diese  Weltauffassung.  Werner  besass 
ein  grosses  Bedürfnis  nach  geistiger  Ruhe,  sehnte  sich 
nach  dem  dolce  far  niente  einer  rein  beschaulichen 
Lebensführung,  das  mit  dem  Trieb  zur  äusseren  Wirkung 
eigenartig  kontrastierte  und  seinem  Leben  das  Stossweise, 
Impulsive  gab,  das  ihn  in  seiner  künstlerischen  Ent- 
wicklung von  der  Lyrik  zum  Drama  führte.  Er  erschien 
sich  mehr  getrieben  als  selbst  gehend  und  musste  den 
Schicksalgedanken  zu  der  Form  entwickeln,  die  er  in 
seinen  „Söhnen  des  Thals"  proklamierte,  wobei  er  unter 
dem  starkwirkenden  Einfluss  zunächst  Schillers  stand, 
auf  den  er  in  der  Darstellung  seiner  Liebestheorie  schon 
verwies. 

In  dem  Erscheinungsjahr  des  Wallenstein  lag  die 
Konzeption  des  ersten  Dramas,  das  Werner  veröffentlichte. 
Wie  stark  der  Dramatiker  Schiller  auf  den  Künstler  Werner 
gewirkt  hat,  beweist  selbst  die  oberflächlichste  Lektüre 
seiner  „Söhne  des  Thals",  „Weihe  der  Kraft"  usw.  Er 
selbst  empfand  sich  als  berufenen  Nachfolger  des  Grossen 
und  wurde  von  Iffland  und  vielleicht  auch  von  Goethe 
erhofft.  Nach  Schillers  Tod  schrieb  Werner  an  Scheffner: 
„Was  sagen  Sie  zu  Schillers  Tode.  Er  hat  mich  wie  Blei 
befallen.  Wie  kurz  ist  das  Leben!  Welcher  Posten  ist 
jetzt  vakant."  Mit  seiner  Kunst  wirkte  Schiller  gleich- 
zeitig und  sehr  intensiv  gedanklich  auf  ihn,  der  allerdings 
die  übernommenen  Elemente  aus  dem  Zusammenhang 
löste  und  in  dem  krausen  und  schnellen  Rezeptionsprozess 
völlig  umgestaltete,  so  dass  der  Ausgangspunkt  kaum 
erkenntlich  blieb.  Der  Name  des  Dichters  bei  der  Dar- 
legung des  Liebebegriffes  ist  ein  Wegweiser,  der  kaum 
fehlen  dürfte. 

Schiller  war  als  Persönlichkeit  ethisch  orientiert.  Jede 
Faser  seines  Wesens  war  von  ethischen  Tendenzen  durch- 
drungen und  seine  Weltauffassung  kannte  nur  einen  Richt- 
punkt: Das  Ethos.    Das  stand  auch  in  der  Welt,  die  seine 

Hankamer.  Zacharias  Werner.  * 


50 

Kunst  schuf,  als  herrschender  Mittelpunkt.  Der"  innere 
Rythmus  seines  ethischen  Lebens  wurde  in  seiner  Kunst 
Form  von  den  Räubern  bis  zu  Demetrius  sich  entfaltend, 
im  Charakter  sich  wandelnd,  im  Tempo  wechselnd.  Er 
schuf  jeweils  die  Welt  seiner  Gestalten  von  der  dumpfen^ 
schwülen  Atmosphäre  der  Räuber  bis  zu  der  herben, 
strengen,  fast  nüchternen  Luft  seines  Teil.  Allen  seinen 
Werken  war  die  Beziehung  auf  eine  überindividuelle  Wer- 
tung, auf  ein  transzendentes  Ethos  gemeinsam,  das  erst 
den  Menschen  und  ihren  Taten  Mass  und  Wesen  gab. 
Für  Schiller  war  das  Bezeichnende  und  Entscheidende  der 
Persönlichkeit  die  Stellung  zum  Sittengesetz.  „.  .  er  ging 
nicht  von  gegebenen  Menschen  aus,  sondern  von  einem 
a  priori  moralisch  gedachten"  sagt  Gundolf.  Seine  Kunst 
erhielt  dadurch  eine  Unwirklichkeit  im  höheren  Sinne. 
Sie  machte  die  Welt,  wenn  auch  nicht  zur  Allegorie,  so 
doch  zu  einer  inferioren  Grösse,  zu  einer  Halbheit,  die 
sich  erst  durch  das  Sittengesetz  zu  einem  Ganzen  rundete. 
Erst  dadurch  wurde  die  Welt  Kosmos  und  interessierte 
nur  insofern  sie  dieses  Sittengesetz  demonstrierte.  Durch 
die  Erfüllung  des  sittlichen  Gebots  hob  sich  der  Mensch 
zur  Persönlichkeit.  Das  Individuum  war  bei  Schiller  durch 
das  Sittengesetz  wesentlich  bestimmt.  Genie  war  ihm 
der  Mensch  mit  dem  überlegenen  Sittlichkeitsgefühl.  Jeder 
seiner  Helden  könnte  Hamlets  Wort  sprechen.  Sie  waren 
Gesandte  des  absoluten  Sittengesetzes,  deren  Dynamis 
sie  zum  Kampf  mit  der  Welt  zwang.  Das  Dramatische 
ist  bei  Schiller  der  Konflikt  der  Vertreter  des  absoluten 
Sittengesetzes  mit  denen  der  Konventionsethik  und  auch 
einige  Male  der  Kampf  des  Menschen  in  sich  mit  dem 
persönlichen  Ehrgeiz  und  der  sittlichen  Forderung.  Wo 
der  Dichter  darüber  hinaus  ging,  riss  der  Künstler  den 
Ethiker  fort.  Aber  wohl  immer  schimmert  dieser  Grund- 
gedanke durch.  Den  Beruf  suchte  und  fand  das  Individuum 
nicht  so  sehr  in  sich  als  in  der  transzendenten  Welt.  Für 
Schiller  wäre  die  tragische  Möglichkeit,  dass  zwei  an  sich 
gleichberechtigte  Kämpfer    für    das   Ethos    aufträten    und 


51 

die  geschichtliche  Notwendigkeit  den  Kampf  nur  eben 
in  ihrer  menschlichen  Person  nach  zeitlichen  Bedingungen 
so  oder  so  entschiede  —  was  Thomas  Mann  in  seiner 
Fioranza  zu  geben  versucht  —  nicht  vorhanden.  Eine 
Einheit  zwischen  Sittengesetz  und  Individuum  wo  beider 
Wesen  gewahrt  bliebe,  ist  ihm  nicht  gelungen.  Die  schöne 
Seele  verliert  den  Charakter  als  Persönlichkeit,  ist  Seele 
gewordenes  Sittengesetz  aber  nichts  Persönliches  mehr. 
Beide  Kräfte  bleiben  tatsächlich  getrennt  trotz  .aller  Ver- 
suche und  anscheinender  Verbindung. 

Das  Urerlebnis  Schillers  ist  nicht  so  persönlich,  wie 
man  es  allgemein  sieht,  und  wie  auch  Gundolf  es  formuliert. 
Wenn  er  Recht  hätte,  wäre  zweifellos  eine  intensivere  Ver- 
bindung von  Ethos  und  Persönlichkeit  in  der  Kunst  Schillers 
erfolgt,  als  sie  tieferer  Analyse  sich  zeigt.  Die  von  der 
Persönlichkeit  fast  bewusst  gelöste  Form  der  Schillerschen 
Kunst  beweist,  dass  das  Urerlebnis  anders  war,  wobei  es 
bich  natürlich  nur  um  Nuancen  handelt.  Nicht  die  Ent- 
wicklung des  Begriffs  Individuum  war  der  Keim  zur  Wand 
iung  in  der  ethischen  Auffassung  Schillers,  der  Begriff 
Gesellschaft  bestimmte  diesen  Vorgang.  Ein  sozial-ethisches 
Erlebnis  ist  das  Erste,  nicht  ein  individual-ethisches.  Erst 
Fichtes  Grundstellung  ist  in  der  Persönlichkeit,  erst  seine 
Ethik  hat  die  Verbindung  zwischen  Persönlichkeit  und 
Ethos  vollendet.  Schiller  fühlte  diese  Forderung  und 
suchte  sie  zu  lösen,  konnte  sie  aber  nicht  gedanklich 
erfüllen. 

Die  künstlerische  Kraft  des  Dichters  macht  das  ver- 
gessen, kann  aber  durch  sein  Urerlebnis  nicht  ganz  die 
Zweiteilung  ausgleichen.  Die  allzu  scharfe  Kontrastierung 
der  Charaktere  wurzelt  ebenfallls  in  dieser  überindividuellen 
Erfassung  des  Ethischen.  Er  stand  bei  der  Darstellung 
darüber  im  Sittengesetz,  nicht  im  moralischen  Menschen 
a  priori. 

Hatte  sich  schon  in  der  Weltauffassung  der  früheren 
Stufe  bei  Werner  der  Gegensatzcharakter  des  Schicksals 
zum  Individuum  angedeutet  gefunden,    in    dem    schroffen 


53 

Dualismus  zwischen  der  historisch  gewordenen  Realität 
und  dem  Ich,  die  Übernahme  der  Schillerschen  Gedankenwelt 
brachte  eine  Vereinigung  von  Schicksal  und  Sittengesetz  zu 
Wege,  wobei  das  Sittengesetz  in  eine  Kampfstellung  zur 
Persönlichkeitsforderung  zu  stehen  kam. 

Das  Wort  Schicksal  ist  hier  für  \A'erner  Träger  zweier 
Begriffe.  Zunächst  erscheint  als  Schicksal  die  Wirklich- 
keit, die  im  strengen  Kausalzusammenhang  gebundene 
Welt,  Sie  hat  ihre  stärkste  Kraftäusserung  gegen  das 
Individuum  im  Tode.  Tod  und  Schicksal  erscheinen  denn 
auch  an  vielen  Stellen  in  engster  gedanklicher  Verbindung. 
Von  da  aus,  wo  Rousseau  als  Ausgangspunkt  zu  nennen 
w^ar,  ging  ein  Weg  in  der  Entwickelung  des  Schicksal- 
gedankens weiter,  während  der  andere  von  Schiller  seinen 
Ausgangspunkt  nahm  und  zur  Identifikation  von  Schicksal 
und  Sittengesetz  führte.  Hier  ist  es  Vorsehung,  VVeltplan; 
es  ist  die  Ordnung  des  Seins  ausserhalb  und  über  der 
Individualität.  Die  von  Werner  noch  mehr  instinktiv 
gefundene  Einheit  der  Begriffe  lag  in  dem  Gegensatz  beider 
zum  Individuum  und  in  dem  Erlebnis  der  überpersönlichen 
Macht  der  beiden  Kräfte. 

W^ährend  die  inhaltliche  Entwickelung  des  Schicksal- 
begrißes  hauptsächlich  unter  anderen  Einflüssen  erfolgte, 
ist  die  formale  Seite,  die  Stärke  der  Antithese  Mensch- 
Schicksal  durch  die  Übernahme  und  Verarbeitung  Schiller- 
scher Gedanken  wesentlich  mitbestimmt  worden  und  auch 
die  pädagogische  Seite  dieses  Gedankens  ist  w^ohl  auf  ihn 
zurückzuführen,  wenngleich  sie  später  erst  ihre  Eigenart 
erhielt  und  tief  in  der  Psyche  Werners  wurzelte. 

Eine  reiche,  produktive  Arbeit,  die  allerdings  nur 
Ansätze  brachte,  kennzeichnete  die  letzten  Jahre  des  Jahr- 
hunderts für  Werner.  Die  vielen  Keime,  die  sich  ent- 
wickelten, waren  keineswegs  von  jener  zielwissenden 
Einheitlichkeit,  die  das  geistige  Leben  eines  Grossen  cha- 
rakterisiert. Der  überzeugungslose  Literatenzug  blieb 
in  dem  Bilde  auch  dieser  Epoche  noch  deutlich.  Das  rein 
Spielerische    der  Gedankenarbeit    offenbarte    sich   in    den 


53 

beiden  Gegenstücken  „Phantasie"  und  „Wahrheit",  die  be- 
wusst,  nicht  aus  innerer  Notwendigkeit  sich  gegenseitig 
begrenzend,  sondern  auf  den  Tadel  des  Freundes  ihn 
korrigierend,  den  Zwiespalt  seines  Denkens  zeigten.  Werner 
stand  in  dieser  Zeit  in  einer  geAvissen  Kritik  seinem 
Doppel-Ich  gegenüber.  Es  war  ihm  bewusst  geworden, 
dass  er  zwischen  zwei  Lebensformen  zu  wählen  hatte 
und  er  fühlte  den  inneren  Gegensatz.  So  wie  der  deutlich 
bewusst  wurde,  war  er  nicht  mehr  so  klaffend;  dem  die 
Liebe  Werners  gehörte  schon  ausgesprochen  der  „Phan- 
tasie". Sein  Gefühlsleben  erhielt  eigene,  echte  Inhalte 
und  nahm  eine  persönliche  Richtung  auf  das  Religiöse, 
die  sich  mit  seinem  Eros-Kult  verband  in  der  Verehrung 
der  Heilandmutter. 

Dieses  rehgiöse  Motiv  tauchte  jetzt  immer  häufiger 
auf.  In  dem  Gedicht  „Phantasie"  forderte  er  Rückkehr  des 
Enthusiasmus  und  der  holden  Schwärmerei  des  Glaubens, 
die  „jeder  Seele,  die  vom  Erdenstaube  müde"  Erquickung 
bringe.  Immer  deutlicher  gestaltete  sich  die  Kampfansage 
gegen  die  „Tyrannin  Aufklärung",  gegen  die  Vorherrschaft 
des  Verstandes.  Werner  erkannte  die  Bedeutung  der  Ge- 
fühlskraft für  seine  geistige  Existenz  und  von  da  aus  fand 
er  den  Weg  zu  der  neueren  Kunst,  die  er  in  dem  Ab- 
schiedsgedicht an  das  18.  Jahrhundert  gefeiert  hatte.  Schon 
hier  zeichnete  sich  der  Teil  seines  späteren  Systems  ab, 
in  dem  er  Schillers  Anregungen  folgend,  die  von  der 
ganzen  Romantik  aufgenommen  wurden,  den  Geschlechts- 
unterschied geistig  vertieft  als  Zartheit  und  Kraft  (Weihe 
der  Kraft!)  definierte  und  so  Phantasie  und  Wahrheit  in 
einer  besonderen  Erscheinungsform  fasste  und  zu  einer 
Einheit  (Ehe-Synthese    bringen  wollte. 

Der  Erosbegriff  erreichte  hier  die  für  Werner  grösste 
Reinheit.  Die  PYau  ist  berufen  das  kontemplative  Element, 
in  beschaulicher  Zurückhaltung  zu  hüten  und  zu  bewahren, 
da  das  Tatleben  des  Mannes  seine  Pflege  unmöglich  macht. 
In  dieser  Erscheinungsform  ist  der  Zusammenhang  mit 
den  Gedankengängen  der  Klassik  am   deutlichsten   wahr- 


54 

zunehmen  und  nur  in  kleinen  Zügen  auf  die  spätere 
Fassung  vorbereitet. 

Auch  die  Religion,  zu  deren  Verkündigung  er  sich 
berufen  fühlte,  entbehrte  noch  aller  eigentlichen  Mystik 
und  ist  mit  der  Weltanschauung  der  Humanitätszeit  noch 
fast  restlos  gleichzusetzen.  Hatte  er  aber  in  seiner  Königs- 
berger Zeit  mehr  aus  reinen  Verstandesgründen  für  eine 
tolerantere  Religionsauffassung  gekämpft,  jetzt  fasste  er 
die  Gefühlsfärbung  des  religiösen  Lebens  und  kam  von 
da  aus  zu  der  Forderung  einer  grösseren  Einheitlichkeit, 
wie  er  sie  über  den  Formen  und  Formeln  der  einzelnen 
Kulte  in  der  Geheimlehre  des  Freimaurerordens  aus- 
gesprochen fand.  Nicht  aus  einer  Vernunftüberlegung 
heraus,  sondern  aus  der  Sehnsucht  nach  gefühlsmässigem 
Religionerleben  näherte  er  sich  dem  Ausdruck  und  der 
Form  des  Katholizismus.  Auch  bei  Werner  war  die 
Marienverehrung  der  Ausgangspunkt,  weil  er  hier  den 
Schnittpunkt  von  Liebe  und  Religion  vorfand.  Seine 
Umgebung  —  das  katholische  Polen  —  mochte  mitwirken, 
ohne  dass  jedoch  jetzt  schon  die  Forderung  nach  einem 
„geläuterten  Katholizismus"  erhoben  worden  wäre.  Über- 
haupt waren  alle  diese  Gedanken  noch  äusserst  keimhaft 
und  zeigen  sich  nur  dem  retrospektiven  Blick  als  ent- 
wicklungsfähige Ansätze,  die  in  der  romantischen  Epoche 
Werners  erst  Form  gewannen.  Zaghaft  nur  begann  das 
eigentliche  Leben  in  Werner  sich  zu  äussern.  Langsam 
und  unter  schweren,  plötzlichen  Rückschlägen  entwik- 
kelte  sich  eine  W^eltaufifassung,  die  noch  nicht  vollendet, 
aber  in  den  Grundzügen  schon  ziemlich  klar  im  l.  Teile 
der  „Söhne  des  Thals"  proklamiert  wurde.  Auch  in  ihm 
sind  mehr  Möglichkeiten  als  die  Erfüllung,  auch  er  liegt 
noch  weit  ab  von  der  eigentlichen  romantischen  „Voll- 
endung" Werners,  die  im  „Kreuz   an  der  Ostsee''  erfolgte. 

Diese  Zeit  stand  unter  dem  Einfluss  des  Oberlotterie- 
assessors Mnioch  und  der  mehr  indirekten  Wirkung  des 
jungen  Hitzig.  Von  Mnioch  schrieb  Werner  kurz  nach 
dessen  Tode :  „Der  wahrhaft  grosse  Dichter  und  Religiöse 


würdigte  mich  seiner  genauen  Freundschaft,  Ich  ver- 
danke ihm  in  Hinsicht  meiner  ästhetischen  und  religiösen 
Ideen  sehr  viel.''  Auch  mit  seiner  klugen  und  feinsinnigen 
Frau  verband  ihn  ein  Freundschaftsverhältnis.  Mnioch 
war  einer  der  vielen,  anregenden  Persönlichkeiten  dieser 
Übergangsepoche  und  Hitzig  schilderte  die  Tragik  dieses 
Künstlertums  treffend,  dass  überall,  wo  er  seine  Stimme 
erhob,  Grössere  als  er  gleichzeitig  das  Ähnliche  auszu- 
sprechen suchten,  ^ 

Gerade  deswegen  war  der  Einfluss  auf  Werner  günstig. 
Eine  absolut  überragende  Künstlerpersönlichkeit  würde 
seine  Entwicklung  wahrscheinlich  in  eine  wesensfremde 
Bahn  gedrängt  haben.  Mnioch  vermochte  Werner  nur 
Anregung  aber  keine  Vollendung  zu  geben  und  aus  dem 
mehr  theoretisch  als  praktisch  Gebotenen  konnte  der 
wenig  jüngere,  aber  langsamer  Reifende  leichter  das 
ihm  Entsprechende  wählen.  Mniochs  Entwicklung  würde 
scheinbar  demselben  künstlerischen  Ziel  entgegen  ge- 
gangen sein,  wie  Werner  es  tat.  Mit  den  Romantikern 
hatte  er  geistige  Beziehungen,  die  sich  auch  zu  literarischer 
Verbindung  verdichteten. 

Das  Bezeichnendste  für  Mnioch  ist  die  Verbindung 
von  Maurertum  und  den  romantischen  Ideeansätzen,  die*^ 
sich  bei  ihm  finden.  Er  ist  der  Verfasser  des  Maurer- 
Bundeslieds  und  hat  Werners  Auffassung  des  Ordens 
stark  beeinflusst.  Durch  ihn  ist  er  zu  der  Neulehre  ge- 
kommen, die  er  so  als  die  Lehre  des  Ordens  empfand. 
Unter  seinem  Einfluss  beschäftigte  der  Dichter  sich  ein- 
gehender mit  der  Geschichte  dieser  Geheimgesellschaft 
und  unter  den  Augen  Mniochs  wuchs  das  Drama,  in  dem 
alle  diese  Ideen  sich  spiegeln,  und  das  nur  den  Brüdern 
ganz  verständlich,  neu  und  gewandelt  der  Menschheit 
die  Heilslehre  künden  sollte.  Es  ist  das  m.enschliche 
Verdienst  Mniochs  den  ihm  untergeordneten  Landsmann 
—  er  war  in  Elbing  1765  geboren  —  so  freundschaftlich 
geleitet  und  ihm  dadurch  Gelegenheit  gegeben  zu  haben, 
den  fehlenden  äusseren  Halt  zu  bekommen.    Die  steigende 


56 

Tendenz  Werners  zur  inneren  Festigung,  die  unverkenn- 
bar ist,  war  nicht  zuletzt  sein  Werk. 

Es  ist  ein  Zug,  der  sich  bei  Werner  immer  findet 
und  der  später  seinen  theoretischen  Ausdruck  erhielt, 
dass  er  in  den  Zeiten  auch  stärkster  Abhängigkeit  einen 
Jünger  haben  musste.  In  Warschau  war  das  der  junge 
Hitzig,  der  Ende  1799  dorthin  in  die  Verwaltung  kam. 
Der  junge  Berliner  Jude  war  von  seiner  Zeit  schon 
vorgebydet  und  bot  einen  empfänglichen  Nährboden  der 
in  erdrückender  Fülle  auf  Werner  einstürmenden  Ideen. 
Der  Vorgang  der  neuen  Weltanschauungsbildung  war 
derartig  revolutionär,  dass  Werner  eines  Menschen  be- 
durfte, der  gerne  diese  ewig  w'echselnden  geistigen  Bilder 
anschauend  zum  Verweilen  zwang  und  durch  Frage  und 
Antwort  eine  Klärung  herbeiführen  half. 

In  einer  kleinen  Schrift  wohl  aus  dem  Jahre  1806 
„Über  die  allmähliche  Verfertigung  der  Gedanken  beim 
Reden"  schildert  Kleist  einen  geistigen  Vorgang,  den  er 
auf  die  paradoxe  Formel  brachte:  l'idee  vient  en  parlant." 
Dieser  seeliche  Prozess,  den  er  nach  eigenem  Erleben 
zeichnete,  ist  in  solcher  Ausgesprochenheit  bezeichnend 
für  das  geistige  Leben  der  Romantiker.  Es  ist  die  formale 
Folge  des  Denkens  dieser  Epoche.  Man  könnte  sagen, 
dass  der  Monolog  des  Denkvorgangs  sich  hier  erkennbar 
spalte  zum  Dialog.  Selbst  die  kleinste  Aktion  des  Kon- 
trahenten, der  als  Gegenspieler  empfunden  wurde,  steigerte 
dramatisch  die  Denkenergie,  da  sie  unbewusst  als  Kampf- 
äusserung  der  eigenen  Persönlichkeit  erschien.  An  sich 
brauchte  im  einzelnen  Fall  kein  Zusammenhang  zwischen 
dem  Sprecher  und  Hörer  zu  bestehen,  denn  der  Hörer 
ist  nur  die  Projektion  des  eigen  Ich  in  die  Tatsächlichkeit, 
wohl  aber  war  ein  intimer  seelischer  Zusammenhang 
im  Ganzen  sehr  förderlich.  So  war  wohl  das  Grund- 
erlebnis Kleists,  wenn  es  in  der  Schärfe  auch  nicht  ganz 
in  dem  Fragment  zum  Ausdruck  gebracht  wurde. 

Das  ist  die  letzte  Ursache  des  Jüngertums  für  Werner, 
eine    der    letzten    zartesten    Wurzeln    des    romantischen 


57 

Freundschaftskultus  und  der  Liebeidee;  denn  die  Roman- 
tiker suchten  selbst  in  dem  Du  das  Ich,  wie  sie  anderer- 
seits im  Ich  das  Du  erkannten,  wobei  das  Du  als  das 
Rezeptive,  das  Ich  als  das  Produktive  genommen  wurde. 
Sie  alle  sind  bewusst  Meister  und  Jünger  zugleich.  Die 
latente  Energie  ihres  Seins  bedurfte  der  Erweckung  durch 
eine  gleichgerichtete  Kraft,  nahm  aber  nur  die  an,  deren 
Schwingungen  auf  sie  abgestimmt  waren  und  entwickelte 
sich  fast  von  selbst.  Der  Rezeptionsvorgang  der  Roman- 
tiker ist  im  grossen  gesehen  solch  ein  Dialog,  wie  Kleist 
ihn  analysierte.  Eine  unendlich  verfeinerte  Rezeptivität 
und  eine  ebenso  einseitige  Aktivität  ist  die  antithetische 
Einheit  der  geistigen  Wesenheit  der  Romantik,  das  Zeit- 
alter der  Übersetzung,  wie  Brentano  im  Godwi  ironisiert. 
Übersetzung  kann  Nachdichtung  sein  im  Sinne  des  Dichters 
wie  Übertragung  in  das  eigene  Ich.  Wilhelm  August 
Schlegel  stellte  den  einen  Pol  dar,  Friedrich  Schlegel  den 
anderen  und  trotz  dieses  Weltengegensatzes  waren  sie 
nicht  nur  äusserlich  Brüder.  Werner  verband  in  sich 
beide  Pole  besonders  deutlich,  wollte  stets  gleichzeitig 
Meister  und  Jünger  sein. 

Zunächst  wurde  die  Persönlichkeit  Hitzigs  von  der 
Energie  der  Weltanschauungsrevolution  einfach  negiert, 
setzte  sich  aber  dann  auch  als  Eigenwert  —  vor  allem 
auf  moralischem  Gebiet  —  durch  und  wurde  ein  wirk- 
licher Anreger  für  Werner,  der  seine  kleinen  Unannehm- 
lichkeiten und  seine  grossen  Pläne  mit  ihm  durchsprach. 
Werner  erlebte  gerade  den  Zusammenbruch  seiner  zweiten 
Ehe,  den  der  Neurastheniker  anscheinend  nur  wenig  ernst 
nahm,  während  er  in  Wirldichkeit  die  ganze  Lebens- 
auffassung des  Menschen  färbte.  Gerne  liess  er  sich  von 
Hitzig  bemitleiden  und  kokettierte  mit  seiner  Qual,  die 
er  als  Folge  des  Schicksals  nicht  als  persönliche  Schuld 
ansprechen  zu  können  meinte.  In  empfindungstrunkenen 
Stunden  w^eihte  er  den  jungen  Menschen  in  die  dunklen 
Geheimnisse  seines  Lebens  ein,  enthüllte  ihm  mit  selbst- 
quälerischer Wollust  alle  seelische  Schmach  und  befreite 


58 

sich  durch  die  Beichte,  die  seinem  Wesen  Erlösung 
brachte. 

Es  ist  anzunehmen,  dass  Werner  ähnhch  wie  in 
seinen  Briefen  den  ^verschiedenen  Empfängern  gegenüber 
Mnioch  und  Hitzig  als  wesensverschiedener  Mensch  ent- 
gegentrat. So  konnte  er  sich  seelisch  vollkommen  aus- 
geben und  beiden  Seiten  seiner  Persönlichkeit  damit 
gerecht  werden.  Die  Stimmung,  die  wir  aus  der  Dar- 
stellung Hitzigs  kennen,  ist  nur  eine  psychologisch  be- 
schränkte Seite.  Die  Gesamtheit  der  seelischen  Situation 
dieser  Zeit  ist  wohl  ruhiger,  als  w-ir  sie  durch  Hitzigs 
Augen  zu  sehen  vermögen.  Das  geht  aus  der  Entschieden- 
heit hervor,  mit  der  er  unter  grossen  finanziellen  Opfern 
die  Trennung  der  nach  seinem  Empfinden  unsittlichen 
Ehe  durchsetzte  und  die  verhältnismässig  grosse  Konzen- 
tration mit  der  er  sich  der  Arbeit  an  den  „Söhnen  des 
Thals"  hingab,  die  1800  begonnen,  1802  (22.  Februar) 
Hitzig  als  vollendet  mitgeteilt  wurde,  obgleich  ein  ein- 
gehendes historisches  Studium  zu  Grunde  lag  und  mancher- 
lei äussere  Hemmnisse  dazwischen  traten. 

Biographisch  ist  eine  Einreihung  der  „Söhne  des 
Thals"  (I.  Teil:  die  Templer  auf  Cj^pern)  als  Abschluss 
dieser  Epoche  berechtigt.  Die  in  den  Werken  aufge- 
nommene Fassung  ist  eine  Überarbeitung,  die  den  späteren 
romantischen  Mystizismus  mehr  hineinlegte  als  heraushob. 
Werner  gestand  selbst  Hitzig,  dass  „die  Haupttendenz 
in  ihm  nur  schwankend  ausgedrückt  sei"  und  wir  sind 
berechtigt,  es  dahin  zu  erweitern,  dass  erst  durch  die 
briefliche  Interpretation,  die  schon  unter  dem  Einfluss 
der  Romantik  erfolgte,  die  sogenannte  Haupttendenz  her- 
vortritt. Selbst  in  der  Überarbeitung  ist  das  Eingefügte 
als  spätere  Arbeit  deutlich  erkennbar  und  der  Gehalt 
der  ersten  Fassung  geht  über  die  Auffassung  der  „Rede" 
von  1798  kaum  wesentlich  hinaus.  Die  bisherige  Dar- 
stellung dieses  Dramas  (am  wenigsten  die  Poppenbergs) 
leiden  unter  der  Suggestion  des  zweiten  Teils,  der  eine 
ganz    andere    Akzentverteilung    in    den    „Templern    auf 


59 

Cypern"  veranlasste  als  sie  ursprünglich  von  Werner 
gedacht  worden  war.  Das  Bild  auch  des  Künstlers 
Werner  ist  noch  viel  unmystischer,  als  man  es  zeichnet 
und  die  „Templer  auf  Cypern"  stehen  der  Kunst  Schillers 
noch  näher  als  der  Romantik. 

Werner  hat  in  den  Eingangscenen  die  verschiedenen  u^x^  ^jic^rc 
Typen  des  _völlig  verkommenen  Ordens  geschildert  und  --vt-ev«^  /^  • 
im  Gegensatz  zu  seiner  späteren  Behauptung,  dass  auf 
der  Moralität  der  Templer  kein  Gewicht  läge,  jedes 
einzelne  Laster  durch  einen  besonderen  Vertreter  ge- 
kennzeichnet. Der  Orden  als  Ganzes  ist  reif  zur  Ver- 
nichtung und  die  in  seinem  Bann  stehenden  Menschen, 
selbst  wenn  sie  schuldlos  sind,  werden  durch  ihn  in  das 
Schicksal  gezogen.  Das  ist  ihre  Tragik.  Die  spätere 
Haupttendenz,  dass  die  Schuld  des  Ordens  die  Propaganda 
eines  nüchternen  Deismus  sei,  würde  durch  eine  weniger 
grosse  Sittenverwilderung  viel  deutlicher  gemacht  worden 
sein.  Die  Handlung  entwickelt  sich  im  Ursachenzusammen- 
hang ohne  besondere  mystische  Untermalung  und  die 
Weisheit  des  Ordens:  „Aus  Blut  und  Dunkel  quillt  Er- 
lösung" ist  auf  der  Grundlage  der  Parallelstelle  in  dem 
„Fragment'-  weniger  tief  zu  fassen.  Die  Märtj^rerrolle 
Mola5's  wird  im  Rahmen  des  Weltgeschehens  angeschaut 
und  die  Maurerlehre  auf  ihn  angewandt,  dass  Form  und 
Farbe  wandelbar  seien,  während  der  Urstoff  ewig  lebe. 
In  der  „Rede"  war  dieser  Gedanke  in  seiner  seichten 
Tiefe  ausgedrückt : 

Zwar  der  vSturm  entblättert  eine  Blume ; 

Denn  den  Templer  traf  das  Henkers  Schwert; 

Doch  von  Erdenbosheit  unversehrt. 

Blieb  der  Flammenstern  im  Heiligtume." 
Man  muss  sich  davor  hüten,  das  spätere  romantische 
Niveau  dieser  Gedanken  schon  hier  als  vorhanden  anzu- 
sehen. Alle  diese  Ideen  sind  in  ihrer  Tiefe  erst  später 
erfasst  worden  und  im  Zusammenhang  der  I.  Fassung 
des  Dramas  als  ziemlich  oberflächlich  zu  erkennen.  In  dem 
Komplex    von   Ideen    und  Symbolen,   die    von   dem   Frei- 


60 

maurertum  Werner  geboten  wurden,  waren  Gedanken 
und  Zeichen,  die  er  später  in  Böhmeschen  Geist  über- 
setzte. Das  konnte  um  so  leichter  geschehen,  als 
Böhme  in  dem  Material  alchymistisch-mA^stischen  Den- 
kens formale  ISIöglichkeiten  gefunden  hatte,  seine  Er- 
kenntnisse auszudeuten  und  durch  das  Rosenkreuzer- 
tum  in  der  Geheimlehre  des  Freimaurerordens  eine  Fülle 
gleicher  Ideen  latent  war,  wahrscheinlich  sogar  Inhalt- 
einzelheiten Böhmes  lebten. 

Formal  ist  das  „Dramatische  Gedicht"  ein  Fortschritt, 
der  das  stürmische  Tempo  illustriert,  in  dem  sich  die 
Entwicklung  Werners  damals  vollzog.  Die  Sprache  schmiegt 
sich  leicht  dem  Gedanken  und  auch  der  Stimmung  an, 
deren  Umkreis  nicht  gering  ist  und  von  sublimster  Opfer- 
sehnsucht bis  zum  burlesken  Kneipton  reicht.  Ist  auch 
im  Gesamtbau  des  Dramas  keine  Rücksicht  auf  Bühnen- 
möglichkeit genommen  worden,  der  theatralische  Instinkt 
W^erners  manifestiert  sich  in  einer  Fülle  von  Einzelheiten, 
die  das  Dramatische  nur  zu  oft  "  veräusserlichen.  Die 
Charakterzeichnung  ist  knapp  und  klar  und  bietet  einige 
sehr  wirkungsvolle  Rollen.  Die  Erweichung  der  Persön- 
lichkeit im  IVtystischen  ist  keineswegs  vorhanden  und  es 
fehlt  in  der  ersten  Fassung  auch  das  xAntithetische  im 
Charakteraufbau,  das  für  den  späteren  Werner  so  bezeich- 
nend wurde.  Der  Aufbau  und  die  Behandlung  des  Stoffes 
lässt  die  Schule  Schillers  erkennen,  dessen  stilisierter 
Realismus  des  „Lagers"  das  Vorbild  Werners  gewesen 
zu  sein  scheint.  Mit  ihm  hat  es  auch  den  Charakter 
der  Exposition  gemeinsam;  denn  die  „Templer  auf  Cypern" 
sind  nur  als  eine  Einleitung,  als  ein  Auftakt  zu  der 
Katastrophe  gedacht. 

Erst  durch  die  Entwicklung  und  Vertiefung  der 
Weltanschauung  Werners  in  der  kurzen  Zwischenzeit, 
die  beide  Teile  trennt,  entwickelten  sich  die  Ansätze  und 
Keime  zu  dem,  als  was  sie  eben  durch  den  Expositions- 
charakter des  ersten  Teils  im  Zusammenhang  mit  der 
Fortsetzung  später  erschienen.     Der  Gedankengehalt  der 


61 

„Templer  auf  C3-pern„  ragte  kaum  über  das  hier  ange- 
deutete geistige  Niveau  der  Zeit  hinaus  und  erhielt  seine 
Tiefenwirkung  durch  die  Übersetzung  in  die  romantische 
Gedankenwelt,  die  während  der  Vollendung  des  ersten 
und  vor  dem  Beginn  des  zweiten  Teils  von  Werner  auf- 
genommen wurde. 

Erstrebt  hat  Werner  wenn  auch  nicht  bewusst  schon 
damals,  was  er  später  künstlerisch  gestaltete  und  predigte. 
Die  Zerlegung  der  Entwicklung  hat  uns  alle  Einzelheiten 
aufgewiesen;  aber  es  w^aren  noch  Einzelheiten,  die  ihres 
Wertes  und  ihres  Weltanschauungscharakters  nicht  sicher, 
künstlerisch  nicht  von  innen  heraus  Form  suchten.  Der 
überwältigende  Einfluss  der  Kunst  Schillers  drängte  den 
unstät  Suchenden  auf  diesen  Weg  und  man  fühlt  das 
innere  Wehren  und  Sträuben  durch  und  das  Tasten  nach 
dem,  was  er  eigentlich  sagen  möchte,  nach  Erfüllung  der 
künstlerischen  Konzeption. 

Durch  Mnioch  und  vielleicht  auch  durch  Hitzig  war 
er  mit  den  Grundlehren  der  Romantik  wenigstens  indirekt 
in  Berührung  gekommen,  mochte  auch  durch  die  Zeit- 
schriftenlektüre in  polemischer  und  entstellter  Form  einiges 
von  ihrem  Wollen  erfahren  und  bei  seiner  genialen  Empfind- 
lichkeit für  wesensgleiche  Impulse  in  der  geistigen  Atmo- 
sphäre diese  Energien  verspürt  haben.  Dazu  kam  in  dieser 
Epoche  eine  tiefere  Erfassung  der  Neu-Inhalte  Rousseaus 
und  all'  das  bereitete  die  Empfänglichkeit  Werners  für 
die  neue  Lehre  vor,  schuf  dieses  Kunstwerk,  das  bei 
merklichem  Schwanken  zwischen  zwei  Kunstformen  tat- 
sächlich mehr  zur  Klassik  tendierte,  w^ährend  das  Kunst- 
wollen mehr  zur  Romantik  drängte.  Durch  die  verhältnis- 
mässig geringe  Umarbeitung  (1807)  konnte  er  die  innere 
Stimme  des  Dramas  dann  auch  so  stärken,  dass  dem 
Oberflächenblick  die  Einheit  gewahrt  blieb  und  der 
romantische  Timbre  herrschte.  In  einem  vor  allem  neigte 
sich  das  Erstlingswerk  der  neuen  Zeit  zu:  in  der  starken 
religiösen  Tendenz,  die  das  am  wenigsten  Übernommene 
war.  Das  Werner  Eigentümlichste,  das  ihm  Eigentum  nicht 


62 

erworbener  Besitz  war,  war  das  Romantischste.  Eine 
Feststellung,  die  wesensbezeichnend  ist  für  die  Evolution, 
die  sich  in  Werner  vollzog. 

Zwischen  zwei  Welten  stand  dieses  Drama,  aber 
Werner  hatte  sich  entschieden  für  die  eine,  die  er  sich 
in   kurzer  Zeitspanne   stürmend   eroberte. 


III.  Kapitel. 

Die  Aufnahme  der  Romantik. 

Es  war  eine  seelische  Notwendigkeit,  dass  der  Lyriker 
und  Rhetor  zum  Dramatiker  wurde.  Menschlich  durch 
die  Freundschaft  Mniochsundder  Logenbrüder,  künstlerisch 
durch  die  Erlebnisstärke  der  Freiheitslieder  und  Maurer- 
gedichte war  er  sich  seiner  selbst  bewusster  geworden. 
Die  Energie  dieses  selbständigeren  Lebens,  der  starke 
Rythmus  seiner  Weltanschauungsbildung  rief  das  Drama 
als  die  eigentliche  Form,  die  der  in  ihm  „rasenden  Wild- 
heit" (wie  er  Chamisso  schrieb)  entsprach;  denn  das 
Drama  ist  die  Kunstform  der  Epochen  und  der  Individuen, 
in  denen  die  innere  Spannung  explosiv  sich  lösen  muss 
und  wird  stets  da  ihren  Höhepunkt  erreichen,  wo  der 
revolutionäre  Schwung  das  geistige  Leben  vorwärts  stösst. 
Bei  einem  Volke  wird  das  sein  wie  bei  dem  Einzelnen. 
Der  Beginn  der  seelischen  Revolution  Werners  erzwang 
diese  formale  Wandlung. 

In  dieser  Zeit  exaltierter  Spannung,  die  den  Arbeits- 
prozess  Werners  kennzeichnete,  musste  sich  die  Lüge 
seiner  zweiten  Ehe  lösen.  Werner  erlebte  den  Eros  in 
einer  Form,  die  mehr  als  alles  andere  seine  damalige 
seelische  Steigerung  erkennen  lehrt. 

Die  Schilderung,  die  er  seinem  Freunde  davon  gab, 
ist    1804   gewiss   literarisch  gefärbt,   aber    man    fühlt   die 


63 

Starke  Erschütterung  dieses  intuitiven  Eros  noch  deutlich 
durch:  „Ich  begegnete  sie  auf  der  Strasse  und  ihr  Anblick 
fuhr  mir  wie  ein  Blitzstrahl  in's  Herz.  Diese  Grazien- 
gestalt war  es,  deren  Bild  mir  zeitlebens  dunkel  vorge- 
schwebt hatte;  sie  war  für  mich  bestimmt;  ich  liebte  sie 
vom  ersten  Augenblick,  als  ich  sie  sah,  und  ich,  der  zwei- 
mal geheiratet  und  sich  getrennt  hatte,  liebte  jetzt  in 
meinem  dreiunddreissigsten Jahre  zum  erstenmal."  Im  Sep- 
tember heiratete  er  das  Mädchen,  die  Tochter  eines 
Warschauer  Schneidermeisters,  als  deren  Name  er  Mal- 
gonszata  Mankviatovska  nannte.  Die  junge,  schöne  Frau, 
deren  glühende  Phantasie  ihm  entsprach,  schenkte  dem 
Dichter  jede  mögliche  Anregung  zu  künstlerischer  Arbeit. 
Die  letzten  Fähigkeiten  seiner  vSeele  w^urden  in  dieser 
erlebnistrunkenen  Zeit  in  ihm  wach.  Ihr  hat  er  zu  danken, 
dass  er  seinen  Künstlerberuf  klar  erkannte  und  mit  so 
lebendiger  Energie  die  geistigen  Reize  aufnahm,  die  ihm 
die  Romantik  bot. 

Werners  seelisches  Tempo  war  zu  ausgesprochen  künst- 
lerisch, um  sich  in  ruhiger,  geniessender  Arbeit  des 
Neuen  zu  bemächtigen.  Er  besass  die  Hyperästhesie  jener 
Zeit,  die  in  fast  schmerzender  Stärke  auf  alles  reagierte, 
was  an  realen  und  idealen  Kräften  hemmend  und  fördernd 
wirksam  wurde.  Sie  verzerrte  jedes  Erlebnis  in  ihre 
polaren  Extreme,  zerriss  jede  Einheit  zunächst  in  der 
letzten  vSteigerung  des  Einzelnen  und  suchte  diese  revo- 
lutionäre-destruktive  Tendenz  dann  in  der  Vereinigung 
der  Extreme  wieder  zu  überwinden.  Sie  sind  nicht 
Herrn  des  Erlebens  sondern  seine  Gefangene.  Ihnen 
fehlte  die  göttliche  Gelassenheit,  die  Goethe  selbst  im 
Rausch  des  Geistes  nie  verliess,  Sie  glaubten  das  Leben 
zum  Erlebnis-Kunstwerk  zu  poetisieren  und  entstalteten 
oft  nur  die  Kunst.  Vor  allem  Werner,  Sein  Leben 
erhielt  den  ungesunden  ekstatischen  Zug.  Alles  ergriff 
er  in  kampfartiger  Steigerung  der  Seelenkräfte.  Die  Psyche 
des  Romantikers  war  eben  nur  so  leistungsfähig.  Es  w^ar 
die  Folge  des  Künstlertums   dieser  Generation,  der  Aus- 


64 

druck  des  produktiven  Drangs,  der  allen  Künstlernaturen 
verhaftet  ist.  Wenn  Fichte  später  den  Enthusiasmus  als 
die  normale  Lebensform  wollte,  so  war  es  Ausdruck  des 
Erlebniswissens,  dass  nur  in  dieser  Überleistung  ohne  Ent- 
spannung" die  letzte  Forderung  von  der  Generation  erfüllt 
w'erden  konnte. 

Die  geistige  Unmässigkeit  Werners,  der  kranke  Drang 
nach  intervalloser  Anspannung  aller  Seelenkräfte  gab 
seinem  erotischen  Leben  das  Kennmal.  Eine  Briefäusserung 
Werners  Hitzig  gegenüber  zeichnete  das  Niveau  dieses 
Zusammenlebens:  „Mit  dem  Deutschen  will  es  bei  meiner 
Frau  noch  nicht  recht  fort,  dagegen  haben  wir  uns  eine 
andere  Sprache  erfunden,  die  recht  gut  geht.  Das  Rauschen 
des  Waldes,  des  Windes,  der  Wellen,  heisst  bei  ihr  Jezj^k 
Boga,  die  Stimme  Gottes."  In  ihrer  Liebe  öffneten  sich 
bei  Werner  alle  Tiefen  des  Gefühls,  erhob  sich  die  Mystik, 
um  alles  Erleben  zu  fassen,  bei  dem  die  Worte  und 
Begriffe,  die  ihm  bisher  zu  Gebote  standen,  stammelnd 
versagten.  Mochte  ihm  Religion  und  Kunst  schon  als 
Mittelpunkte  geistigen  Lebens  definiert,  zunächst  Träger 
scheinen,  immer  herrischer  klang  das  Liebemotiv  durch 
und  w^urde  das  Centrum  der  seelischen  Welt  für  ihn, 
deren  Verkündigung  er  als  Lebensberuf   auferlegt  fühlte. 

Ende  1801  ging  er  mit  seiner  jungen  Frau  nach 
Königsberg,  da  die  Mutter  ihn  rief  und  seine  Frau  in 
ihn  drang  „meine  Mutter  nicht  zu  verlassen,  sondern  sie 
mit  ihr  zu  besuchen  .  .  .  Ich  gab  nach,  nahm  im  Dezember 

1801  vierteljährigen  Urlaub   und  blieb  bis  zu  Ende  März 

1802  in  Königsberg  ..."  Da  er  erkannte,  dass  die  schwer- 
kranke Frau  die  Verwaltung  des  Vermögens  nicht  mehr 
leisten  konnte  und  er  für  seine  Zukunft  fürchtete,  kehrte 
er  mit  Urlaub  bis  auf  weiteres  im  Juli  1802  nach  Königs- 
berg zurück  und  opferte  seine  Frau  und  sich  in  der 
Pflege  der  Nervenkranken.  Durch  die  Umstände  ge- 
zwungen lebte  er  sehr  zurückgezogen  und  konnte  so  den 
Versuch  machen,  „den  sehr  prosaischen  Ehestand  in's 
Idealische    heraufzustimmen  ...    Im    Winter    verkrochen 


65 

wir  uns  wie  die  Dachse  und  lasen  zusammen,  d.  h.  ich 
radebrechte  ihr  aus  dem  Deutschen  in's  Polnische  den 
„Egmont-'j  „Götz  von  Berlichingen",  „Genoveva",  „Jungfrau 
von  Orleans",  „Macbeth  usw.  .  .  ."  Werner  hat  in  dieser 
Zeit  wirklisch  seelisch  Genüge  gefunden  und  sich  auf 
seine  innig  geliebte  Frau  konzentriert,  Hess  sich  von  dem 
erotischen  Erleben  in  einen  Rauschzustand  versetzen, 
der  durch  den  gegensätzlichen  Reiz  der  quälenden  Er- 
nüchterung bei  den  Ausbrüchen  der  h3-sterischen  Mutter 
doppelt  aufreibend  wurde  und  die  Sucht  nach  Ekstase 
noch  steigerte. 

Das  eigenartige  Kolorit  der  seelischen  Situation 
Werners,  der  mit  einer  Art  geistiger  Wollust  die  neuen 
Gedanken  an  sich  riss,  die  Erfüllung  seines  Wesens  durch 
sie  in  fast  sexueller  Gier  suchte  und  erlebte,  erhielt  eine 
neue  Note  durch  seinen  Verkehr  mit  dem  Prediger 
Christian  Mayr  (als  Meister)  und  Raphael  Bock  (als  Jünger^. 
Mayr  war  schon  äusserlich  eine  groteske  Gestalt,  ver- 
wachsen, schielend  und  im  Gang  schleichend.  Bei  einer 
krankhaften  Überentwicklung  seiner  Phantasie  war  sein 
Wesen  gekennzeichnet  durch  ein  Nebeneinander  gemeinster 
und  grösster  Eigenschaften,  war  eine  Karikatur  der  Seele 
Werners  von  faszinierendem  Reize  für  alle  Mischnaturen. 
Werner  war  ihm  zeitweise  gänzlich  verfallen,  küsste 
in  den  Briefen  „seine  heiligen  Hände"  und  stand  völlig 
unter  der  Suggestion  dieses  seltsamen  Heiligen,  der  ihm 
die  Lehre  brachte  vom  Urchristentum,,  seiner  Sucht 
zur  Versinnlichung  des  Religiösen  reichlich  Nahrung  gab 
und  Novalis  Schwelgen  in  Blut  und  Fleisch  noch  überbot. 
Mayr,  dessen  Kreuzbrüder- Orden  wohl  in  die  Tradi- 
tion der  Rosenkreuzer  zurückweist,  ist  für  die  Verarbeitung 
der  Böhmeschen  und  romantischen  Gedankengänge  im 
Sinne  eines  unklar-äusserlichen  Mystizismus  bei  Werner 
mitbestimmend  gewesen.  Maurer-Mysterien  und  Heilands-  ^ 
Lehre  verband  er  bewusster  und  mystischer,  als  Werner 
es  bisher  vermocht  hatte  und  sah  in  dem  geheimnisvoll 
Verhüllenden    eine    Notwendigkeit    der    Religion.     „Denn 

Hankamer,  Zacharias  Werner.  «> 


66 

Menschen,  die  Gott  fürchteten  und  Recht  taten,  waren 
die  Anbeter  oder  Verehrer  Gottes  im  Geiste  und  in  der 
Wahrheit.  Immer  verborgen  vor  Menschen,  nur  vor  dem 
Gott,  der  in's  Verborgene  sieht,  offenbar,"  schrieb  er 
Werner,  indem  er  bedauerte,  nicht  mit  ihm  und  Bock 
zusammen  das  besprechen  zu  können;  denn  er  war  sich 
der  Macht  seines  persönlichen  Einflusses  bewusst.  Mit 
der  Behauptung,  zum  Orient  und  dem  Kreuzesbrüder- 
Orden  Beziehungen  zu  haben,  in  den  er  Werner  aufnehmen 
würde,  fing  er  die  Eitelkeit  und  den  Geheimnishunger 
Werners.  Aber  der  -j-  Bruder  Sincerus  hielt  den  r  Bruder 
Samuel  hin  und  der  Einfluss  Hess  bei  örtlicher  Entfernung 
bald  nach.  Zweifellos  hat  dieser  Mann  halb  Lügner, 
halb  Prophet  eine  Gewalt  über  Werner  ausgeübt,  die 
den  ganzen  Aufnahmeprozess  der  Romantik  mitbestimmte, 
wenn  auch  andererseits  die  durch  diese  Arbeitsleistung 
veranlasste  Sensibilität  den  Eindruck  einer  solchen  Per- 
sönlichkeit verstärken  musste. 

Durch  ihn,  der  alle  Religionskulte  genoss  und  vom 
Judentum  bis  zu  den  Herrenhutern  religiöse  Narkotika 
suchte,  wurde  Werner  wieder  kirchlich,  nahm  das  Abend- 
mahl, in  dem  Mayr  Blut  und  Fleisch  schmecken  zu 
können  sich  suggerierte  und  kam  zu  dem  Plan  des 
gereinigten  Katholizismus,  in  dem  schleiermacherisch  alle 
religiösen  Entwicklungskeime  zur  Entfaltung  gebracht 
werden  sollten.  „Ich  erbitte  vorläufig  hauptsächlich 
darüber  Belehrung,  ob  der  Weg  zum  Heilande  durch 
die  Patriarchen  der  Urwelt  allein  führt,  oder  auch  durch  die 
patres  ecclesiae  romano-catholicae  (sc,  der  Urkirche).  Mir 
ist  das  sehr  nötig  zu  wissen  und  bald  zu  wissen,  um 
nicht  in  der  besten  Absicht  zu  straucheln,"  fragte  er  den 
Meister. 

Der  erste  und  später  der  zweite  Teil  der  „Söhne  des 
Thals"  formte  sich  so  unter  dem  Erlebnis-Dreiklang: 
Liebe,  Religion  und  Kunst.  Ihre  theoretische  Formulierung 
fand  er  in  der  Romantik  und  wie  er  von  hier  erst  zu 
ihr  kam,  führte   das  den  Suchenden  durch  die  Wirrnisse 


67 

der  Gedankenwelt,  in  die  er  damals  eintrat  und  die  er 
als  seine  Heimat  begrüsste. 

Zunächst  und  besonders  stark  wirkten  zwei  Romantiker 
auf  ihn,  die  im  Wesensbau  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit- 
einander haben  und  deren  Auffassung  für  die  Aufnahme 
der  Romantik  durch  Werner  entscheidend  wurde.  Schleier* 

machei: und    Wackenrodefr—  Dass    sie    es    gerade    sein 

mussten,  war  kein  Zufall,  sondern  lag  darin  begründet, 
dass  Werner  hier  ausgesprochen  fand,  was  in  ihm  war. 
Er  betonte  diese  Tatsache  besonders  stark  ..."  Du  weisst 
es  vielleicht  und  ich  mache  keinem  ein  Geheimnis  daraus, 
dass  ich  seinen  vortrefflichen  Reden  über  die  Religion 
sehr  viel  Aufregung  in  mir  geschlummerter  Ideen  ver- 
danke. Selbst  was  ich  hier  geschrieben  habe,  klingt 
wie  Nachbeterei,  ist  es  aber  nicht  wie  ich  glaube; 
wenigstens  schreibe  ich  nicht  ein  Wort,  welches  ich 
nicht  in  succum  et  sanguinem  mit  meiner  innersten 
Überzeugung  amalgamiert  hätte  .  .  ." 

Schleiermacher  hatte  als  das  Wesen  der  Religion  defi- 
niert, dass  sie  ein  Aufgehen  im  Universum  sei:  „ihr  Wesen 
ist  weder  Denken  noch  Handeln  ^ondern  Anschauung 
und  Gefühl.  Anschauen  will  sie  das  Universum,  in 
seinen  eigenen  Darstellungen  und  Handlungen  will  sie 
es  andächtig  belauschen,  von  seinen  unmittelbaren  Ein- 
flüssen will  sie  sich  in  kindhcher  Passivität  ergreifen 
und  erfüllen  lassen."  Die  Opferung  des  Ich  im  Erleben 
Gottes  ist  ihr  Kern  und  die  kontemplative  Form  dieses 
Vorgangs  wurde  stark  unterstrichen.  Alles  Äusserliche 
und  Formale  erschien  dazu  nebensächlich.  Die  reine, 
geistige  Aufnahme  des  Kosmos  war  das  einzig  wesent- 
liche und  in  jeder  Religionsform  stofflich  gebunden  auf- 
zuweisen. Der  Erlebnischarakter  wurde  immer  wieder 
gefordert  und  damit  eine  persönliche  Note  als  ihr  Wesen 
festgestellt.  „.  .  .  So  liegt  die  Sache  der  Religion  und 
so  selten  ist  sie,  dass,  wer  von  ihr  etwas  ausspricht, 
muss  es  notwendig  gehabt  haben,  denn  er  hat  es  nirgend 
gehört."    Schleiermacher  hatte  seinen  eigenen  Religions- 


68 

begriff  in  scharfer  Form  der  Metaphysik  gegenübergestellt, 
die  den  Menschen  als  Mittelpunkt  aller  Beziehungen, 
als  Bedingung  alles  Seins  und  als  Ursache  des  Werdens 
auffasse.  Auch  gegenüber  der  Moral  wird  sie  scharf 
abgegrenzt.  Die  Religion  legte  den  Schwerpunkt  wieder 
in  das  Universum,  machte  den  Raub  des  sich  unendlich 
und  ewig  fühlenden  Menschen  wieder  gut."  Geraubt  nur 
hat  der  Mensch  das  Gefühl  seiner  Unendlichkeit  und 
Gottähnlichkeit  und  es  kann  ihm  als  unrechtes  Gut  nicht 
gedeihen,  wenn  er  nicht  auch  seiner  Beschränktheit  sich 
bewusst  wird,  der  Zufälligkeit  seiner  ganzen  Form,  des 
geräuschlosen  Verschwindens  seines  ganzen  Daseins  im 
Unermesslichen."  Nur  der  Trieb  anzuschauen,  wenn  er 
auf  das  Unendliche  gerichtet  ist,  setzt  das  Gemüt  in 
unbeschränkte  Freiheit.  Nur  die  Religion  rettet  es  von 
den  schimpflichsten  Fesseln  der  Meinung  und  Begierden. 
Das  Universum  wurde  bei  dem  Anschauungsakt  als  das 
eigentlich  Handelnde  gesetzt  und  Schleiermacher  defi- 
nierte: „Alle  Begebenheiten  in  der  Welt  als  Handlungen 
eines  Gottes  vorstellen,  das  ist  Religion.  Es  drückt  ihre 
Beziehung  auf  ein  unendliches  Ganzes  aus."  Nicht  nur 
im  Sein  soll  das  All  angeschaut  werden,  auch  im  Werden, 
in  dem  Verknüpftwerden  der  verschiedenen  Epochen. 
„Dann  erscheint  euch  die  Gestalt  eines  ewigen  Schick- 
sals .  .  .  ,  vergleicht  ihr  dann  das  abgesonderte  Streben 
des  einzelnen  mit  dem  ruhigen  und  gleichförmigen  Gang 
des  Ganzen,  so  seht  ihr  wie  der  hohe  Weltgeist  über 
alles  lächelnd  hinwegschreitet,  w^as  sich  ihm  lärmend 
widersetzt;  ihr  seht  wie  die  hehre  Nemesis  seinen  Schritten 
folgend  unermüdlich  die  Erde  durchzieht,  wie  sie  Züch- 
tigung und  Strafe  den  Übermütigen  austeilt,  welche  den 
Göttern  entgegenstreben,  und  wie  sie  mit  eiserner  Hand 
auch  den  Wackersten  und  Kräftigsten  abmäht,  der  sich 
vielleicht  mit  löblicher  und  bewunderungswerter  Stand- 
haftigkeit  dem  sanften  Hauch  des  grossen  Geistes  nicht 
fügen  wollte."  Nach  höher  strebt  der  Religiöse.  Über 
Natur,   Menschheit    und    Ich  hinaus    zu   der  Ahnung   der 


69 

Universalität  des  Alls,  wo  all  das  nur  als  eine  unter 
unendlich  vielen  Modifikationen  erscheine.  Der  Wert 
des  Moralischen  verschwindet  hier  und  der  Mensch  muss 
demütig  werden  in  der  Erkenntnis,  dass  er  von  hier  aus 
gesehen  in  seinem  Gutsein  doch  den  schlechteren  seiner 
Brüder  gleiche.  Hier  lerne  er  sein  Ich  aufzugeben  im 
All,  erkenne  als  seine  Aufgabe  sich  vom  Unendlichen 
afftzieren  zu  lassen,  um  nicht  in  der  einseitigen  Aus- 
bildung zur  Virtuosität  den  Zusammenhang  mit  dem 
Kosmos  zu  verlieren."  So  verschwinden  mir  auf  meinem 
Standpunkt  die  euch  so  bestimmt  erscheinenden  Umrisse 
der  Persönlichkeit;  der  magische  Kreis  herrschender 
Meinungen  und  epidemischer  Gefühle  umgibt  und  um- 
spielt alles,  wie  eine  mit  auflösenden  und  magnetischen 
Kräften  angefüllte  Atmosphäre.  Sie  verschmilzt  und  ver- 
einigt alles  und  setzt  durch  die  lebendigste  Verbreitung 
auch  das  Entfernteste  in  eine  tätige  Berührung.  Und 
die  xA-Usflüsse  derer,  in  denen  Licht  und  Wahrheit 
selbständig  wohnen,  trägt  sie  geschäftig  um.her,  dass  sie 
Einige  durchdringe  und  Anderen  die  Oberfläche  glänzend 
und  täuschend  erleuchte."  Immer  wieder  durch  die 
Reden  klingt  der  mahnende  Ruf  die  hemmenden  Schranken 
der  Induvidialität  nieder  zu  legen  und  eins  zu  werden 
mit  dem  All,  ohne  im  Jenseits  noch  im  Hunger  nach 
persönlicher  Unsterblichkeit  selbst  gewählte  Einschränkung 
zu  ersehnen.  „Mitten  in  der  Endlichkeit  eins  werden  mit 
dem  Unendlichen  und  ewig  sein  in  einem  Augenblick, 
das  ist  die  Unsterblichkeit  der  Rehgion.*' 

Diese  neue  Botschaft  brachte  Schleiermacher  seiner 
Zeit.  Friedrich  Schlegel  der  feinste  Gradmesser  geistiger 
Kräfte  seiner  Epoche  zeigte  in  der  grossen  Stärke  der 
Einwirkung  an,  wie  tief  das  Bedürfnis  dieser  Auffassung 
jener  Epoche  war.  In  ihr  fanden  sie  die  Möglichkeit 
einer  Universalierung  ihrer  isolierten  Egos.  Schleier- 
raacher  führte  das  Denken  der  Zeit  von  Fichte  zu 
Schelling.  Werner  wurde  von  ihm  bestimmend  beeinflusst. 
Bis  in  Einzelheiten,  bis  in  Bild  und  Gleichnis  hinein,  lässt 


70 

sich  das  nachweisen.     Und   gleichzeitig  fast  nahm  er  die 
Ideen  Wackenroders  auf. 

In  schlichter  Form  hatte  Wackenroder  im  Verein  mit 
Tieck  die  neue  Kunstauffassung-  vorgetragen  und  dabei 
Religion  und  Kunst  innig  verbunden."  Aus  solchen  Bei- 
spielen wird  man  ersehen,  dass,  wo  Kunst  und  Religion 
sich  vereinigen  aus  ihren  zusammenfliessenden  Strömen 
der  schönste  Lebensstrom  sich  ergiesst."  Gegen  die 
Kunstwissenschaft  seiner  Zeit  hob  er  den  Erlebnischarakter 
des  Schaffens,  gesteigert  zur  Ekstase  hervor,  und  suchte 
durch  grundtastende  Analyse  dieses  geheimnisvollen  Vor- 
ganges zu  neuen  Tatsachen  zu  gelangen.  Das  fand  er: 
„wird  man  nun  nicht  endlich  begreifen,  dass  all  das 
profane  Geschwätz  über  Begeisterung  des  Künstlers  wahre 
Versündigung  sei,  —  und  überführt  sein,  dass  es  dabei 
doch  geradezu  auf  nichts  anderes  als  den  unmittelbaren 
göttlichen  Beistand  ankomme."  Eine  so  stark  passivistische 
Note  Avurde  dem  Künstlertum  gegeben,  dass  er  fordern 
konnte:  „Der  Künstlergeist  soll,  wie  ich  meine,  nur  ein 
brauchbares  Werkzeug  sein,  die  ganze  Natur  in  sich  zu 
empfangen."  Die  Persönlichkeit  des  Künstlers  in  seiner 
rein  menschlichen  Existenz  stiess  Wackenroder  ab,  sodass 
ihn  dieser  Zwiespalt  folgern  liess,  man  solle  nur  die 
Kunst  verehren,  nicht  aber  die  Persönlichkeit  des  Künstlers. 
Als  Schaffender  aber  ist  der  Künstler  ein  Priester,  ein  Ge- 
weihter, desser  Werk  man  nicht  mit  kleinlichem  Tadel  sich 
nähern  dürfe.  Alle  Kunst  komme  von  Gott  und  jede  Kunst- 
form berge  den  „Funken,  der  von  Ihm  ausgegangen  sei." 

Wie  Gott  sich  direkt  als  Künstler  in  der  Natur 
äussere,  rede  die  Kunst  in  Bildern  der  Menschen  und 
bediene  sich  einer  Hieroglyphenschrift,  in  der  das  Gei- 
stige mit  dem  Sinnlichen  geheimnisvoll  sich  verbinde. 
Die  Kunstwerke  wurden  mit  dem  Gedanken  Gottes  in 
Parallele  gesetzt.  Bei  dieser  Auffassung"  rücken  Kunst 
und  Religion  nahe  zusammen.  „Sowie  aber  diese  zwei 
göttlichen  Wesen,  die  Religion  und  die  Kunst,  die  besten 
Führerinnen  des  Menschen   für   sein    äusseres    wirkliches 


71 

Leben  sind,  so  sind  auch  für  das  innere  geistige  Leben 
des  menschlichen  Gemüts  ihre  Schätze  die  allerreichhal- 
tigsten  und  köstlichsten  Fundgruben  der  Gedanken  und 
es  ist  mir  eine  sehr  bedeutende  und  geheimnisvolle  Vor- 
stellung, wenn  ich  sie  zweien  magischen  Hohlspiegeln 
vergleiche,  die  mir  alle  Dinge  der  Welt  sinnbildlich  ab- 
spiegelen,  durch  deren  Zauberbilder  hindurch  ich  den 
wahren  Geist  aller  Dinge  erkennen  und  verstehen  lerne." 
So  ungefähr  sah  Werner  die  beiden  grossen  Rehgiosen 
der  Romantik. 

Dass  er  nicht  sofort  den  ganzen  Umfang  ihrer  Ge- 
danken und  gleich  tief  erfasste,  war  selbstverständlich, 
und  es  ist  hier  versucht,  nur  das  in  den  Systemkreisen 
der  Beiden  schärfer  zu  umzeichnen  was  für  Werner  wichtig 
wurde.  Die  Intensität  der  Einwirkung  Wackenroders  auf 
ihn  zeigt  der  Ausruf  Werners  gegen  Hitzig:  „Grosser  Gott, 
warum  kann  ich  den  Wackenroder  nicht  aus  der  Erde 
kratzen.  Gegen  diesen  religiösen  Koloss  sind  alle  neuen 
Kunstmenschen  noch  Neophyten." 

Dieses  Gedankenchaos  erhielt  seine  Richtung  und 
kosmische  Gliederung  durch  den  starken  Eindruck,  den 
der  damals  zuerst  von  Tieck  wiedererweckte  Jakob  Böhme 
auf  Zacharias  Werner  in  diesem  entscheidenden  Augen- 
blick machte.  „Ich  habe  hier  in  Königsberg  Gelegenheit 
gehabt  nur  ein  Bändchen,  der  wie  ich  höre  zahlreichen 
Schriften  des  alten  Böhme  zu  erschnappen;  habe  dieses 
Bändchen  mit  frommer  unschuldiger  Andacht,  —  denn 
anders  kann  man  keinen  geweihten  Schriftsteller  oder 
Dichter  wie  Du  selbst  weisst  lesen  — ,  gelesen  und  habe 
gefunden,  nicht  nur  dass  er  das  Original  oder  Vorbild  der 
jetzt  werdenden  Dichtkunst,  —  was  noch  nicht  gar  zu  viel 
wäre  —  wirklich  ist;  sondern  auch,  dass  er  eine  artem 
poeticam  für  den  Künstler  enthält,  wie  sie  wohl  die  bis- 
herigen Geschmackslehrer  von  Horaz  bis  Heydenreich, 
nicht  geliefert  haben  möchten",  schrieb  er  seinem  jungen 
Freunde  Anfang  1802  nach  Warschau.  Er  erkannte  so- 
fort den  Zusammenhang  des  Mystikers  mit  Scheiermacher, 


„der  nur  einem  anderen  weit  grösseren  Verfasser  nach- 
gebetet (hat)  nämlich  dem  Jakob  Böhme". 

Werner  hat  die  Schrift  „Vom  dreifachen  Leben  des 
Menschen"  zunächst  gelesen.  Sie  gehört  dem  Jahre  1619 
an  und  ist  eine  Weiterführung  der  grundlegenden  Aus- 
führungen des  Buches  von  den  „drei  Prinzipien  des  gött- 
lichen Wesens".  Wenn  die  Schrift  auch  nicht  von  der 
gleichen  künstlerischen  Farbigkeit  ist  wie  „die  Morgen- 
röte im  Aufgang",  von  einer  feinseelischen  Lyrik  ist  sie 
durchtränkt  und  durchglüht  von  der  starken  religiösen 
Inbrunst,  die  allen  Werken  dieses  künstlerischsten  der 
Philosophen  eignet.  In  kaum  zu  entwirrender  Verbindung 
traten  die  teilweise  selbst  schon  von  Böhme  veranlassten 
Philosopheme  der  Romantik  vor  allem  der  Naturphilosophie 
in  die  geistige  Revolution  Werners  ein  zusammen  mit  den 
visionären  Bildern  des  Görlitzer  Meisters  und  trieben 
seine  gedankliche  Konsequenz  eigenartig  verzerrt  zu  dem 
Unkraftkult  und  den  Weihebegriff.  Böhmes  Erlebnis  ging 
aus  von  der  Zwiespältigkeit  des  Lebens  und  er  drückte 
diesen  Gedanken  gerade  im  „dreifachen  Leben"  scharf  aus, 
so  dass  der  Zufall,  der  Werner  dieses  Buch  in  die  Hand 
spielte,  die  starke  Einwirkung  noch  begünstigte,  obwohl 
die  Variationen  der  Lehren  des  Mystikers  ziemlich  gering- 
fügig sind  und  nur  durch  begriffliche  Deutlichkeitsgrade 
sich  unterscheiden,  so  dass  die  benutzte  Schrift  keine 
wesentliche  Entscheidung  über  die  Aufnahme-Eigenart  der 
Böhmeschen  Philosopheme  fällte. 

Dreifach  sei  das  Leben  in  seinem  Quell  und  seinem 
Streben.  Das  endliche  materielle,  das  in  der  Dreifaltig- 
keit Gottes,  in  der  Liebe  ruhende,  nach  Gott-Liebe  sich 
sehende  und  das  immaterielle  Leben,  das  in  sich  als 
Ich-Gott  urständet  und  in  sich  die  Gefahr  des  ewigen 
Verderbens  trage.  Die  Mehrteiligkeit  des  Lebens,  das 
des  Guten  und  Bösen  teilhaftig  ist,  wird  als  Voraus- 
setzung jedes  Lebens  erkannt  und  kommt  aus  Gott 
selbst.  Gott  wird  von  Böhme  antithetisch  erlebt  und  er 
findet    zwei    Kräfte    in    ihm,    deren    eine    die    Natur,    die 


73 

andere  der  Wille  sei.  Beide  sind  einander  Bedürfnis  und 
nötig,  um  die  ewige  Geburt  des  Seins  zur  Erfüllung  zu 
bringen.  Diese  Entzweiung  ist  kein  Kampf  in  Gott  son- 
dern versöhnt  durch  die  Liebe  und  nur  notwendiger  Quell 
des  göttlichen  Entfaltung-Leben.  Zur  Offenbarung  der 
\\'under  seiner  ewigen  Weisheit  schuf  Gott  die  Welt.  Es 
hat  ihn  gelüstet,  die  Wunder  der  ewigen  Natur  in  tausend- 
fältigen Gleichnissen  sichtbar  zu  gestalten.  In  allem  ist 
ein  Göttliches  und  so  stirbt  diese  Welt  nicht,  sondern 
wandelt  sich  und  das  einmal  Geschaffene  wird  bleiben  als 
„figürliches  Gleichnis".  Der  Mensch,  der  in  Gott  die  Wie- 
dergeburt seiner  göttlichen  Persönlichkeit  in  der  Durch- 
brechung des  Irdischen,  in  der  Überwindung  der  Ichheit 
erreicht,  schaut  so  die  Welt  als  Gleichnis  des  sich  ewig 
gebärenden  Gottes.  Ihm  wird  alles  Geschehen  zum  Mythos, 
zur  Offenbarung  des  göttlichen  Lebens.  Alles  wird  ihm 
zu  einer  Einheit,  zu  einem  Kunstwerk  göttlicher  Totalität, 
Die  Universalität  alles  Lebens  in  Gott  verbietet  die 
Ich-Sucht.  Sie  ist  in  dem  Vereinzelnen  und  Ich-Wollen 
die  Erbsünde.  Sie  trat  gegen  eine  Einreihung  in  das 
Natur-Gott-Ganze  und  forderte  Herrschaft  gegen  den  Vater, 
statt  Spiel  in  Gott.  Die  Erlösung  ist  zu  finden  in  der 
'Verneinung  des  Nur-Ich,  im  Gott-All-Wollen.  Deswegen 
ist  der  Lehrgehalt  der  Religionen  nebensächlich.  Im  Willen 
steht  unser  Leben  und  all  unser  Handeln.  Solange  wir 
im  Willenkreise  des  Ich  beharren,  sind  wir  der  Elemente 
Kinder  und  untertänig  diesem  Geiste.  Neben  dem  Stoff 
aus  den  Elementen  und  Sternen  aber  trägt  der  Mensch 
einen  Funken  aus  dem  Lichte  und  der  Kraft  Gottes  in 
sich,  der  durch  den  Sündenfall  verloren,  durch  Christus 
aber  uns  wieder  eingeboren  ist.  Die  Wiedergeburt  muss 
sich  von  innen  heraus  gestalten  und  kann  nicht  durch 
Wissen  göttlicher  Dinge  erfolgen.  Ein  Willensakt  der 
Reue  wird  gefordert,  der  alles  menschliche  Wollen  in  den 
Willen  Gottes  versenke.  Selbst  der  Abfall  von  Gott  ist 
nicht  vernichtend,  dem  Suchenden  wird  neue,  grössere 
Heiligkeit  zuteil;  denn  Gott  will  den  Menschen  nicht  zer- 


74 

Stören  sondern  erfüllen ;  denn  sein  Wesen  ist  Sanftmut  und 
Liebe.  Drei  Reiche  also  kämpfen  um  den  Menschen,  die 
Macht-  oder  Ich-Sucht,  das  Wohlleben  und  die  All-Liebe. 
Sie  sind  die  drei  Prinzipien  Böhmes,  die  drei  Möglichkeiten 
der  Lebensform. 

Böhme  stellt  immer  wieder  das  Erlebnis  als  den  ein- 
zigen Weg  zu  Gott  fest  und  weist  dem  Verstand,  der 
eigenmächtig  sucht,  die  tiefste  Stufe  an.  In  seinem  geistigen 
Leben  spielte  die  Vernunft  nur  eine  untergeordnete  Rolle. 
Sie  hatte  den  krausen  Wegen  seiner  künstlerisch-religiösen 
Visionen  nachzugehen,  in  die  Diktion  der  Zeit  und  in 
ihre  Denkart  einzupressen,  was  ihm  unmöglich  war,  in 
ganz  eigener  Form  zu  sagen.  Das  Denken  blieb  für  Böhme 
mehr  oder  weniger  Übersetzung  seines  erlebten  Mythos  in 
eine  fremde  Sprache.  Wenn  das  Geschöpf  sich  in  den  Mittel- 
punkt des  Weltganzen,  in  Gottes  Willen  gestellt  hat  „er- 
kennt" er,  denn  dann  erst  wird  er  in  seiner  Ohnmacht 
stark  und  sehend.  Gott  tut  durch  ihn  Wunder;  denn  es 
ist  seine  Lust  sich  in  den  Schwachen  zu  offenbaren.  Jede 
Persönlichkeit  ist  gesetzt  zur  Offenbarung  des  göttlichen 
Seins  und  in  Erfüllung  dieser  Aufgabe  wird  der  Mensch 
im  Kampf  gegen  den  Geist  der  Welt  zu  Leistungen  er- 
hoben, die  er  nicht  in  sich  wusste  zuvor.  • 

Durch  die  Wiedergeburt  wird  der  Gott  der  Liebe,  der 
in  der  Seele  des  Menschen  lebt,  als  der  geistige  Mittel- 
punkt erlebt  und  dadurch  der  Mensch  in  Zusammenhang 
mit  der  Totalität  des  Seins  gesetzt.  Schleiermachers  Be- 
griff der  Religion  erscheint  in  der  Zerbrechungsforderung 
Böhmes,  durch  die  die  Schranken  des  Ich  fallen  und  die 
Kampfstellung  der  Individuen  gegeneinander  aufhört.  Ein 
Spiel  miteinander  soll  unser  Leben  sein  nach  Gottes  Willen 
und  ein  Gleichnis  der  Einheit  der  Seelen  in  Gott.  Des- 
halb darf  kein  Hochmut  die  Menschen  trennen.  Das 
Leben  selbst  in  die  Welt,  die  nur  eine  Herberge  ist,  wird 
dem,  der  aus  der  Vernunft  heimgekehrt  ist  in  den  A^'illen 
Gottes  köstlich.  Wenn  die  Seele  den  Segen  trägt,  dann 
segnet  Gott  den  Leib  und  alles  Tun.    Der  Tod  hebt  nur 


das  weltliche  Prinzip  auf,  in  dem  der  Mensch  im  Sünden- 
fall ein  Leben  gesucht  für  sich.  Sein  Ewiges  bleibt  aber 
der  Form  nach  so,  wie  es  der  Mensch  im  Weltleben 
wollend  gestaltete. 

Besonders  bezeichnend  ist  in  dieser  Schrift  die  starke 
polemische  Tendenz,  die  sich  durch  alle  Kapitel  durch- 
zieht und  oft  in  direkter  Auseinandersetzung  mit  den 
Gegnern  Worte  gewinnt,  die  an  Schärfe  den  Angriffen 
gegen  Böhme  nicht  viel  nachstehen.  Der  Theosoph  sprach 
hier  seines  Wertes  als  religiöser  Erneuerer  sich  wohl  be- 
wusst  und  die  Nuance  der  Schrift  musste  auf  Werners 
schon  durch  Rousseau  gleich  gestimmte  Meinung  einen 
stärkenden  Eindruck  machen. 

Die  Aufnahme  der  Gedankenwelt  Böhmes  durch 
Werner  geschah  mit  einer  solch'  vergewaltigenden  Ein- 
seitigkeit, dass  nur  eine  Einzelheit  zunächst  aus  dem  Zu- 
sammenhang genommen  und  passivistisch  umgestaltet 
wurde.  Böhmes  mystisch-künstlerischer  Erkenntnisbegriff 
war  bis  zu  der  Formel  der  Unkraft  getrieben,  ohne  dass 
jedoch  der  besonnene  Aktivismus  dadurch  aufgegeben 
wäre.  Das  starke  Erleben  der  Immanenz  Gottes  im 
Menschen,  nahm  dem  Gedanken  alles  zerstörende.  Anders 
bei  Werner.  Er  fühlte  sich  von  dem  Muss,  das  jeden 
geistig  produktiven  Menschen  hält,  nicht  aus  seiner  Per- 
sönlichkeit heraus  gezwungen,  sondern  wurde  durch  die 
Spannung  zwischen  diesem  Muss  und  seinem  sinnlichen 
Trieb  zum  Glauben  an  eine  Transcendenz  der  führenden 
Kraft  geleitet,  die  eine  persönlichkeits-zerstörende  Wir- 
kung haben  musste.  Die  Worte,  die  Werner  aus  Böhme 
übernahm,  sind  Böhmesch  gesprochen  nur  die  Buchstaben, 
die  er  mit  fremdem  Geist  füllte.  Wenngleich  der  Weihe- 
begriff in  allen  Einzelheiten  zweifellos  auf  Böhme  zurück- 
weist, im  Ganzen  seinem  Erkenntnisbegriff  formal  ent- 
sprach, der  Gehalt  dieser  Formel  ist  geistiges  Eigentum 
Werners  durch  die  zerreissende  Spannung  zwischen  trans- 
cendentem  Gott  und  Persönlichkeit,  die  gerade  durch  ihre 
Vereinigung  und  Trennung  noch  verstärkt  wurde. 


76 

Die  Philosophie  Böhmes  wurde  für  Werner  das  Me- 
dium, in  dem  sich  die  Gedanken  Schleiermachers  und 
Wackenroders  eigenartig  brachen.  Sie  erhielten  jetzt  die 
naturphilosophische  Tönung  und  durch  Böhme  wurde  der 
Boden  für  die  Aufnahme  Schellings  vorbereitet.  Wenn 
Werner  Mitte  1803  nach  Klarstellung  seines  Systems 
schrieb:  „übrigens  glaube  nicht,  dass  ich  von  Fichte  und 
Schelling  gestohlen  habe,  ich  habe  von  Fichte  die  Wissen- 
schaftslehre, von  Schelling  leider  noch  garnichts  gelesen", 
so  beweist  er  dadurch  zum  mindestens,  dass  er  die  Gleich- 
artigkeit der  Gedankengänge  aus  Kritiken  ihrer  Werke 
kannte. 

Schelling  stark  von  Böhme  beeinflusst  glaubte  als 
Piatons  und  der  Mysterien  Lehre  verkünden  zu  können, 
dass  es  vom  Absolutem  zum  Wirklichen  keinen  stetigen 
Übergang  geben  könne."  Der  Ursprung  der  Sinnenwelt 
ist  nur  als  ein  vollkommenes  Abbrechen  von  der  Abso- 
lutheit durch  einen  Sprung  denkbar-"  Die  Möglichkeit 
des  Abfalles  liege  im  Absoluten,  der  Grund  der  Wirk- 
lichkeit aber  einzig  im  Abgefallenen  selbst.  Das  Reale 
muss  die  Negation  des  Absoluten  sein.  Ichheit  ist  die 
höchste  Potenz  des  Für-Sich-Seins  und  gleichzeitig  der 
Punkt,  wo  in  der  gefallenen  Welt  die  urbildliche  sich 
wiederherstellt.  Als  der  Endzweck  der  Geschichte  sei 
die  Versöhnung  des  Abfalls  durch  die  Wiederauflösung 
in  der  Absolutheit  zu  erkennen.  Ihr  Wesen  ist  eine  suc- 
cesiv  sich  entwickelnde  Offenbarung  Gottes.  Die  Aufgabe 
der  Individualität  und  des  Einzelwollens  wurde  auch  von 
ihm  als  Notwendigkeit  gefordert.  Verneinung  des  Willens 
zum  Leben  war  der  Centralgedanke,  der  mehr  oder  we- 
niger klar  hervortrat  und  die  These  Böhmes  von  dem 
Zerbrechen  des  Irdischen  stark  in  den  Vordergrund  stellte. 
Wohl  mit  dieser  Akzentuierung  setzte  sich  Böhmes  Lehre 
bei  Werner  fest. 

Zu  Grunde  liegt  diesen  Gedankengängen  das  Rätsel- 
wort Christi:  wer  sein  Leben  liebt  wird  es  verlieren  und 
wer    es    in    dieser  Welt   hasst,    wird   es   ewig    gewinnen. 


77 


Nach  der  Auffassung  der  Naturphilosophie  war:  alle  Ge- 
burt Geburt  aus  Dunkel  ans  Licht;  „das  Samenkorn  muss 
in    die  Erde    versenkt   werden  und  in  Finsternis  sterben, 
damit  die  schönere  Lichtgestalt  sich  erhebe  und  am  Son- 
nenstrahl sich  entfalte".    Werner  hat  diesen  Leitsatz  aller 
orientalisch-christlichen  Mystik  immer  wieder  ausgedrückt. 
Nicht  begrifflich  deutlich  aber  in  der  fascinierenden  Kunst- 
form der  „Hymnen  an  die  Nacht''  hatte  er  diese  Idee  wohl 
im  Athenäum  gefunden;  in  den  Ekstasen  der  Todeswollust 
gelebt,    die    durch    die    künstlerische    Grosskraft   Novalis 
Form  geworden  waren.    Sie  waren  aus  Böhme  erwachsen, 
leuchteten    in    seinen    helldunklen    Farben    und    Werner 
nahm   sie  geniessend  tief  in  sich.     Bewusst  kam  Werner 
zu  Novalis   jedoch    erst,    als    er    sich    mit    der  Romantik 
schon  völlig  auseinandergesetzt  hatte,   zu   einer  Zeit,   als 
ein  anderer  bejahender  Einfluss  eine  entscheidende   Wir- 
kung Hardenbergs  von  hier  aus  unmöglich  machte.    Aber 
die  Gedankenwelt    der  Naturphilosophie,    die    durch    den 
Namen  Schellings  nur  charakterisiert,  nicht  begrenzt  wer- 
den soll,  enthielt  zweifellos  indirekte  und  direkte  Elemente 
der  Philosophie  Novalis.    Nur  in  kleinen  formalen  Beson- 
derheiten unterscheiden  sich  diese  Gedanken  bei  den  ein- 
zelnen Anhängern  und  die  Überindividualität  trat  hier  wie 
oft  in  der  Romantik  als  Signum  der  geistigen  Lebensform 
deutlich    zu   Tage.     Ihr    einigender    Quellpunkt    liegt    in 
Böhme.     Die  geistige  Atmosphäre  dieser  Zeit  war  gefüllt 
von  Keimen  dieser  Ideen  und  in  der  vielartigen  Almanach- 
urid  Zeitschriftenliteratur  boten  Berufene  wie  Unberufene 
diesen  Geist. 

Es  ist  zu  einfach  gesehen,  wenn  man  Werner  zum 
Nachbeter  Novalis  machen  möchte ;  denn  dieser  Auf fasssung 
war  der  Freimaurer  Werner  schon  Ende  der  neunziger 
Jahre  nähergekommen,  wobei  Rousseau  ihm  die  Zunge 
gelöst  haben  mag,  der  dieser  Weltanschauung  nicht  fern 
stand.  Rousseau  wurde  jetzt  in  seiner  Bedeutung  als 
Vorläufer  erfasst  und  die  im  eifrig  gelesenen  „Freimütigen" 
zum  Teil    veröffentlichte   und   kritisierte   Correspondence 


inedite  bewies  ihm  durch  eine  auffallend  ähnliche  Stelle  die 
nahe  Verwandtschaft  des  Franzosen  mit  dieser  Seite  der  Ro- 
mantik. Sie  gab  ihm  erneut  den  Beweis,  dass  er  bei  aller 
Rezeptivität  doch  nur  Eigentümliches  gestalte  und  nuanciere. 

Aus  dem  Wirrwar  der  emporgeschleuderten  Einzel- 
heiten, die  Werner  noch  erlebnisglühend  dem  jungen  Hitzig 
weitergab,  formte  sein  einheitssuchender  Intellekt  ein 
System,  das  er  im  Zusammenhang  seinem  Freunde  Peguilhen 
am  5.  Dezember  1803  darlegte,  nachdem  er  schon  Mitte 
Oktober  als  Antwort  auf  seinen  „schönen  ausführlichen 
Brief  über  das  neue  Kunstwesen"  es  versprochen  hatte. 
Sein  Freund  befand  sich  damals  in  Berlin  und  war  von 
dem  Treiben  der  neuen  Männer  vor  allem  ihrer  Un- 
moralität  abgestossen.  Das  erklärte  Werner  schon  damals: 
,.  Moral  ist  auch  mir  heilig  und  die  Grundlage  der  mensch- 
lichen Geselligkeit.  Aber  es  gibt  etwas  Höheres,  eine 
heihge  Musik,  die  uns  durchs  Leben  begleitet,  unser  Ver- 
hältnis zum  Höchsten;  wenn  wir  die  kennen,  so  wird 
Moral  zur  Notwendigkeit.  Das  ist  die  Rehgion,  die  sich 
uns  bald  als  Kunst,  bald  als  Liebe  offenbart". 

Wohl  unter  der  Einstellung  auf  diese  Anschauung 
des  Empfängers  werden  Religion,  Moral  und  Kunst  als 
die  heihge  Drei  hingestellt.  In  einem  Briefe  an  Hitzig  (am 
selben  Tage  schrieb  er  die  erwähnte  Stelle  an  Peguilhen) 
gab  er  zum  ersten  Male  die  Dreifaltigkeitslehre  von  Liebe, 
Kunst  und  Religion,  indem  er  dem  Freunde  schrieb,  er 
freue  sich:  „dass  Du  Dich  ...  in  die  Arme  der  Kunst 
geworfen  hast,  die  einzig  und  allein  mit  ihrer  hohen 
Mutter  der  Religion  und  ihrer  Verbündeten  der  echten 
Liebe  uns  in  den  Mühen  des  Lebens  trösten  kann,  und 
mit  den  beiden  eine  innere  Einheit  bildet,  die  ich  durch 
den  Namen  der  Grazien  nicht  entehren  mag,  sondern 
schlechthin  mit  dem  Namen  der  Dreieinigkeit  bezeichnen 
muss;  denn  dieses  herrliche  Symbol  ist  jedem  klar,  der 
den  Bezug  weiss  in  dem  Religion,  Liebe  und  Kunst  zu 
einander  stehen".  Früher  hatte  er  nur  Kunst  und  Re- 
ligion    als    Erscheinungsformen     einer    Einheit     gesehen 


und  geklagt:  „Warum  haben  wir  doch  noch  nicht  einen 
Namen  für  diese  beiden  Synonima?"  Die  bewusste  Einfüh- 
rung der  Liebe  in  die  Dreiheit  geschah  erst  nach  Vollen- 
dung der  „Söhne  des  Thals",  so  dass  nur  in  der  Umarbei- 
tung des  ersten  Teils  diese  Idee  angedeutet  werden  konnte. 

Hier  wies  er  der  Liebe  einen  weniger  auffallenden 
Platz  zu,  da  er  von  einer  anderen  Seite  an  das  System 
herangeführt  wurde  und  eine  auch  praktische  Probleme 
streifende  Darstellung  zu  geben  hatte,  die  den  Fragen 
des  Freundes  gerecht  werden  musste,  und  vor  allem  den 
wohl  im  Anschluss  an  Lucinde  aufkommenden  Verdacht 
beseitigen  sollte,  dass  die  Romantiker  die  Moral  völlig  im 
Leben  ignorierten.  Gerade  die  Liebe-Theorie  Friedrich 
Schlegels  hatte  Berlin  in  moralische  -Erregung  versetzt  und 
erst  in  Schleiermachers  Briefen  Verständnis  und  Vertei- 
digung gefunden.  Tatsächlich  führte  Werner  gegen  Ende 
diese  Dreifaltigkeit  doch  ein,  nachdem  er  die  Stellung  und 
Bedeutung  der  Liebe  vor  diesem  Verdacht  der  Unmoral 
besser  geschützt  zu  haben  glaubte. 

Er  schätzte  die  Moral  theoretisch  hoch  ein,  wenn  sich 
auch  ihr  Wert  gemäss  seiner  psychischen  Eigenart  nicht 
neben  Religion  und  Kunst  behaupten  konnte.  Selbst  Mayr 
gegenüber  hob  er  lobend  Höffners  Moralität,  Bocks  schwan- 
kende Haltung  hierin  tadelnd  hervor.  Kennzeichnend  ist 
die  Bemerkung,  die  er  Sander  gegenüber  machte  und  in 
der  er  die  Moral  und  Ästhetik  scharf  trennte  jedem  auf 
seinem  Gebiete  völlig  Recht  gebend.  Der  kategorische 
Imperativ  bestehe  zu  Recht  und  werde  auch  von  ihm 
anerkannt. 

Im  realen  Leben  wird  die  Moral  vom  Staate  ge- 
pflegt. Seine  Aufgabe  sei  es,  eine  Gemeinschaft  zu  iso- 
lieren, dadurch  ihr  die  Möglichkeit  zu  geben  sich  zu  voll- 
enden und  der  Menschheit  vollendet  wiedereinzureihen. 
Durch  das  Zugeständnis  den  sich  isolierenden  Menschen 
gegenüber,  den  vollkommenen  Besitz  ihrer  Persönlichkeit 
zu  verbürgen,  gewinnt  der  Staat  sie  und  bildet  sie  von 
Stufe  zu  Stufe  zu  einer  Aufgabe  des  Egoismus.    Der  voll- 


so 

endete  Staatsbürger  erkenne  sich  als  Teil  eines  Ganzen, 
in  das  er  sich  freiwillig  einfügt,  da  er  als  Notwendigkeit 
der  Natur  erkennt,  dass  nichts  Isoliertes  bestehen  kann 
und  darf.  Die  Bildung  zum  freiwilligen  Verzicht  auf  das 
Ich  wird  vom  Staat  dadurch  erreicht,  dass  er  seinen  Bür- 
gern ein  sittliches  Ideal  gibt  und  dadurch  Moral.  Durch 
Moral  wird  der  Bürger  zur  Veredelung  seiner  Persönlich- 
keit befähigt.  Zur  Aufgabe  seiner  Induvidualität  bringt 
ihn  erst  die  Religion.  Durch  sie  lehrt  ihn  der  Staat  den 
Sinn  für  das  Unendliche  der  Natur  und  ihrer  Gesetze  und 
zeigt  ihm  „wie  er  als  Glied  des  Unendlichen  sich  seines 
Egoismus  entäussern,  Teil  des  Ganzen  sein  und  sich  un- 
bedingt dessen  ewigen  Gesetzen  ergeben  muss". 

Der  Egoismus  war  von  Böhme  wie  Schleiermacher 
scharf  abgelehnt  worden.  Böhme  Hess  ihn  als  die  Erb- 
sünde und  den  Grund  unserer  Entgöttlichung  deutlich 
erkennen.  In  den  Reden  über  die  Religion  hatte  Schleier- 
macher die  Folgen  des  Egoismus,  gegen  dessen  geistigste 
Form  er  die  neue  Lehre  verkündete,  immer  wieder  dar- 
gestellt, hatte  seine  Irreligiosität  hervorgehoben  und  ihren 
Widerspruch  zum  Weltgeiste  erkennen  gelehrt:  „Wenn 
Avir  das  gewöhnliche  Treiben  der  Menschen  betrachten, 
die  von  dieser  Abhängigkeit  nichts  wissen,  wie  sie  dies 
und  das  ergreifen,  und  festhalten,  um  ihr  Ich  zu  ver- 
schanzen und  mit  mancherlei  Aussenwerken  zu  umgeben,, 
damit  sie  ihr  abgesondertes  Dasein  nach  eigener  Willkür 
leiten  möchten  und  der  ewige  Strom  ihnen  nichts  daran 
zerrütte,  und  wie  dann  notwendigerweise  das  Schicksal 
dies  alles  verschwemmt  und  sie  selbst  auf  die  tausend 
Arten  verwundet  und  quält :  was  ist  denn  natürlicher  als 
das  herzlichste  Mitleid  mit  allem  Schmerz  und  Leiden, 
welches  aus  diesem  ungleichen  Streit  entsteht  und  mit 
allen  Streichen,  welche  die  furchtbare  Nemesis  auf  allen 
Seiten  austeilt?" 

Wenn  auch  die  Religion  wesensverschieden  ist  von 
der  Moral,  sie  hängen  aber  insofern  zusammen,  als  Moral 
eine  erzieherische,  vorbildende  und  richtunggebende  Funk- 


81 

tion  auszuüben  hat.  Umgekehrt  stellte  Werner  das  Ver- 
hältnis Sander  gegenüber  fest.  Die  Kunst  und  die  Re- 
ligion hätten  die  Aufgabe,  „das  Herz  wie  ein  Gefäss  durch 
Anschauen  des  Schönen  und  des  Universums  zu  reinigen, 
so  weit,  dass  es  für  die  höheren  Wahrheiten  der  Moral 
empfänglicli  ist  .  .  .'^  Die  kalten  Herzen  der  Alltags- 
menschen müssten  „durch  die  Bilder  des  Übersinnlichen 
erst  entflammt  werden  wie  ein  irdenes  Gefäss  ausgeglüht, 
ehe  die  reine  Milch  der  Religion  in  sie  gegossen  werden 
kann". 

Diese  Erziehung  der  Menschheit  zu  Moral  und  Reli- 
gion ist  nur  möglich  durch  das  Vorhandensein  zweier 
seelischer  Grundkräfte  im  Menschen:  Vernunft  und  Phan- 
tasie. Die  Vernunft  ist  die  Erzeugerin  der  Persönlichkeit. 
Sie  isoliert  das  Ich  und  stellt  es  als  Objekt  der  Anschau- 
ung ausser  uns  dar.  Durch  einen  weiteren  Akt  gibt  sie 
uns  als  verklärtes  Abbild  des  Ich  das  sittliche  Ideal.  Da- 
durch ist  eine  Verbindung  mit  dem  „höchsten  Gut"  her- 
gestellt, die  Isolation  von  der  Welt  jedoch  nicht  gebrochen. 
Hier  sprach  Werner  Böhmes  Definition  der  Vernunft  unter 
Fichtes  Einfluss  nach,  verwischte  aber  das  Spezifische 
der  Wissenschaftslehre  und  Böhmes  Willens-  und  Tätig- 
keitsmoment, das  sich  in  das  Weltanschauungsganze 
Werners  damals  nicht  einfügte,  weil  sie  passivistisch  ge- 
halten war.  (Fichtes  Einfluss  ist  mehr  ein  terminologi- 
scher und  aufbautechnischer  als  eigentlich  inhaltlich.)  Zu 
vereinigen  mit  dem  Universum,  vermag  nur  die  andere, 
hochzuwertende  Kraft  der  Phantasie:  „Dieses  ist  die 
Grundkraft  des  Menschen,  sich  als  Teil  des  ihn  umge- 
benden unendlichen  Ganzen  und  (in  sofern,  als  dieses 
Ganze,  entweder  aus  Gott  geflossen,  oder  Gott  selbst  ist) 
als  Teil  (wenn  ich  es  plump  sagen  soll)  der  Gottheit  zu 
fühlen."  Böhme  nannte  den  Menschen  ein  Partikular  der 
Gottheit  und  die  erkennende  Kraft  des  Göttlichen  im 
Menschen  Verstand. 

Zur  Moral  leitet  die  Philosophie,  die  mit  Fichte  Wissen- 
schaft   genannt  wird    und  als    deren  Aufgabe    anerkannt 

H  ankamer,  Zacharias  Werner.  o 


82 

werden  müssen:  y,aus  den  Gesetzen  unseres  Selbst  die 
Eigenschaften  des  Ideals  (der  Gottheit)  und  die  Gren- 
zen der  uns  umgebenden  Welt  herzuleiten".  Die  Wissen- 
schaft sei  zu  demonstrieren,  Relig'ion  dagegen  Steigerung 
des  Gefühls  zur  Anschauung  des  Universums  ohne  Be- 
weismöglichkeit und  ohne  Idealbegriff.  Eine  religiöse 
Moral  sei  infolgedessen  ein  Widersinn.  Diese  Erkennt- 
nis war  ihm  durch  Schleiermacher  geworden,  die  Eigen- 
art Werners,  die  der  starken  Ausprägung  des  Doppel-Ich 
in  ihm  entsprach,  besteht  darin,  dass  er  sich  bewusst  in 
einen  „prosaischen"  und  „poetischen"  Menschen  spaltete, 
dessen  moralisches  und  religiöses  Leben  keineswegs  para- 
lell  lief,  sondern  sich  oft  weit  voneinander  entfernte. 

Die  Steigerung  des  Gefühls  zur  Anschauung  werde 
nur  möglich  durch  ein  Mittelglied,  und  zwar  durch  „die 
Gestaltung  des  Universums  vermittels  der  Kunst  zum 
Schönen."  Die  Kunst  hänge  also  nur  von  der  Phantasie 
ab  und  sei  nur  von  da  aus  zu  verstehen.  Um  sich  je- 
doch den  Menschen  verständlich  zu  machen,  müsse  der 
Künstler  sein  „freies  Spiel  mit  dem  Unendlichen"  nach 
den  Gesetzen  des  Verstandes  formen,  der  an  sich  „nur 
der  Knüppel  und  Stecken  ist,  uns  durch  dieses  niedrige 
Erdenleben  zu  leiten."  Das  Ziel  der  Entwicklung  sei 
stets,  Notwendigkeit  in  Freiheit  zu  verwandeln  und  so 
kommt  Werner  unter  Benutzung  Fichtescher  Gedanken 
und  mehr  noch  unter  Anwendung  Fichtescher  Termen 
zu  der  zusammenfassenden  Definition  der  beiden  Gegen- 
sätze Moral  und  Kunst:  Moral  ist  „freiwilliges  Anstreben 
zum  höchsten  Gut  (Ideal)  durch  die  Gesetze  der  Denk- 
kraft geleitet  und  Kunst  freiwillige  Gestaltung  (Individu- 
alisierung) des  Unendlichen,  als  dessen  notwendige  Teile 
wir  uns  durch  unsere  Phantasie  fühlen  und  dessen  Ge- 
setzlichkeit wir  in  der  Religion  in  Klarheit  anschauen". 
Damit  hat  Werner  die  Forderung  einer  mythologischen 
und  s3^mbolischen  Kunst  deduciert.  Alle  Kunst  gestaltet 
das  (geistige)  Universum,  individualisiert  es.  Hier  bleibt 
also  die  Kunst  in  der  Sphäre  der  Religion  Schleiermachers, 


83 

ist  hier  noch  keine  „leere"  Mythologie.  Aber  diese 
Kunst  ist  auch  nicht  im  Sinne  Rousseaus  Erleben  des 
Unendlichen,  wenn  gleich  Werner  ihm  hier  sehr  nahe  zu 
kommen  scheint.  Der  Anschauungsakt  und  damit  die 
Kunst  in  der  Schicht  vor  der  äusseren  Formgewinnung 
hat  eine  gesetzmässige  Form,  deren  spielerische,  organi- 
sche Leichtigkeit  der  Kräftebindung  von  Werner  in  einem 
gewissen  Gegensatz  zu  der  strengeren  Formgebung  in 
dem  Stadium  der  Vernunftarbeit  geschaut  wird.  Das  ist 
Allgemeingut  der  Romantik,  die  teleologisch  die  Freiheit 
oder  Gesetzlichkeit  der  Kunst  stärker  oder  schwächer 
betonte.  Bei  der  weiteren  Entwicklung  der  Gedanken 
muss  das  berücksichtigt  und  gegen  die  verwirrende  Ein- 
zelheit festgehalten  werden. 

Die  Gesetze  der  Kunst  seien  dieselben,  nach  denen 
das  Unendliche  auf  uns  wirke.  Religion  sei  stets  das 
Streben  aller  Kunst  gewesen  und  die  Forderung  der 
Romantiker  decke  sich  damit.  Diese  ästhetische  Erkennt- 
nis nahm  Werner  direkt  aus  Böhme,  dessen  Bedeutung 
für  die  Bildung  seiner  Kunstlehre  er  nachdrücklich  her- 
vorgehoben hatte.  Des  TheosophenUrerleben  war  gewesen, 
dass  alles  Vergängliche  ein  Gleichnis  war  und  in  oft 
wunderlichen,  öfter  aber  erhabenen  Bildern  wurde  der 
Symbolcharakter  des  Irdischen  dargestellt.  Alles  Körper- 
liche wandelte  vor  seinen  Augen  sich  zum  Geistigen,  be- 
hielt aber  den  Individualzug  seines  Seins.  Nicht  hinter 
den  Dingen  suchte  er  das  Ewige,  die  Dinge  waren  mysti- 
sche, geheimnisvolle  Äusserungen  des  göttlichen  Seins. 
Der  gotterfüllte  Mensch,  der  „Geist"  wurde .  erleuchtet 
und  schaute  das  Sein  als  die  ewige  Geburt  Gottes,  sich 
selbst  und  die  Natur  als  göttlich.  Er  sah  wieder  die 
Signatura  der  Dinge,  ihre  Idee  und  nur  das  war  erkennen. 
Kunst  wurde  Werner  zur  Tätigkeit  dieses  Symbolsuchens. 
Die  „Phantasie"  stellte  sich  ihm  dar,  weniger  im  Sinne 
Schleiermachers  als  das  All-Gefühl,  mehr  als  die  Kraft 
in  der  Tatsächlichkeit  das  Göttliche  bildlich  zu  erfassen. 
Kunst  war  ihm,  das  Göttliche  in  der  empirischen  Realität 


84 

durch  ein  Symbolbild  wiederzugeben,  war  also  Darstellung 
des  religiösen  Aktes  im  Einzelbild.  In  diesem  Sinne  sei 
jede  Dichtung  religiös  und  müsse  es  sein.  Sei  damit  auch 
sittlich,  wenn  auch  nicht  moralisch.  Sittlich  sind  die 
Grundgesetze  des  Universums,  während  Moral  nur  die 
Gesetze  der  aus  dem  Unendlichen  isolierten  Menschen 
darstelle.  Die  höchste  Kunst  sei  die  Musik,  „weil  bei 
ihr  garnichts  zu  verstehen  ist  und  sie  sozusagen  das 
Universum  mit  uns  in  unmittelbarem  Rapport  setzt."  Die 
neuere  Kunst  versuche  infolgedessen  alle  Poesie  d.  h. 
jedes  künstleriche  Erlebnis  zur  Musik  zu  veredeln. 

In  der  Musik  glaubte  die  Romantik  die  Kunst  sehen 
zu  können,  die  ohne  Mittelglied  das  Seelische  ausdrücke. 
In  ihr  fand  Friedrich  Schlegel  auf  den  Wegen  Hemster- 
huys  das  Fragment  der  künstlerischen  Ursprache,  die 
direkt  die  Schwingungen  des  Geistigen  im  Erlebnis  zur 
Form  verdichte.  Das  war  ihre  Sehnsucht,  die  Sehn- 
sucht dieser  sentimentalischen  Künstler,  die  von  Wacken- 
roder  und  nach  ihm  von  Tieck  ausgedrückt  wurde.  Er- 
schüttert und  gequält  von  der  dämonischen  Gewalt  seines 
Künstlertums  und  bei  dem  Ringen  nach  der  stets  nicht 
völlig  genügenden  Form,  war  es  die  Bitte  Kleists,  seine 
zuckende  stammelnde  Seele  einfach  an  die  Seele  seines 
Freundes  legen  zu  können,  nicht  eine  Sprache  der  Worte 
und  Gedanken  zur  Übersetzung  seines  Erlebens  nötig  zu 
haben,  Wohl  aus  demselben  Erleben  glaubte  Böhme, 
dass  die  Ursprache  des  noch  nicht  gefallenen  Menschen 
nur  verstümmelt  in  der  heutigen  Sprache  anklinge.  Im 
Lied  aber  wusste  er  das  Überbleibsel  dieser  magischen 
Sprachgewalt,  in  ihm  war  Ausdrucksmittel  und  Gegen- 
stand identisch,  bestand  noch  die  göttliche  Einheit,  die 
der  Sündenfall  zerbrochen  hatte.  Sie  war  direkte  Über- 
tragung des  Göttlichen,  Symbol  ohne  Bild. 

Diese  Auffassung  der  Musik  als  den  Höhepunkt  der 
Phantasie-Kunst  bei  Werner  war  der  Ausdruck  der  Sehn- 
sucht nach  reiner  Gestaltung  des  Erlebnisses.  Die  Form 
der  normalen  tatsächlichen  Dichtung  war  nur  ein  Hilfsmittel. 


85 

Das  höchste  war  das  künstlerich-religiöse  Erlebnis,  das 
ungebrochen  durch  die  Sprache  und  Vernunft,  in  ekstati- 
scher Stärke  den  Dichter  durchschäuerte,  das  anscheinend 
passive  Erlebnis  der  künstlerischen  Konzeption.  Die  for- 
male Kunst  ist  nur  ein  Stammeln,  ein  stümperndes  Über- 
setzen der  Vision  in  die  gebrechliche  Sprache  dieser  Welt. 
Ist  der  Künster,  fragt  er,  der  „durch  ein  Chaos  von  Re- 
geln, Studien,  Rücksichten,  was  weiss  ich  alles,  einge- 
zwängt, die  er  doch,  sei  er  noch  so  genialisch,  nicht  über- 
springen kann  in  Worten,  Tonnen,  Farben,  das  geringste 
nachzuklimpern  sucht,  was  der  gewöhnliche  Religiöse, 
erlaube  mir  den  Ausdruck,  in  Minuten  der  Weihe  empfin- 
det, oder  derjenige,  der  sich  und  sein  Inneres  wie  eine 
Aeolsharfe  dem  schönen  Sausen  der  harmonischen  Schö- 
pfung darbietet  und  sich  von  ihm  durchströmen  lässtr" 

Im  historischen  Zusammenhang  mit  der  Sturm-  und 
Drangzeit  scheint  Werner  hier  zu  stehen,  weiter  von  der 
Frühromantik  entfernt,  als  er  in  seinem  Kunstwollen  tat- 
sächlich war.  Der  Weihegriff  aber  würde  missverstanden, 
wenn  man  annähme,  dass  Werner  damit  im  Sinne  der 
Genies  eine  Formlosigkeit  der  Kunst  als  Prinzip  aus- 
spräche. Die  Form,  wie  wir  wissen  untersteht  der  Ver- 
nunftgesetzlichkeit, Die  Weihe  sollte  —  im  engen  An- 
schluss  an  Böhme  —  nur  das  Erlebnis  der  Welt  als 
Offenbarung  Gottes  gewährleisten,  galt  nur  für  die  Schicht 
des  künstlerischen  Produktionsaktes,  in  der  nach  Schillers 
Definition  das  musikalische,  unentfaltete  künstlerische  Er- 
lebnis erst  zur  Gestaltung  drängt.  Werner  fasst  nicht 
eben  sehr  tief  die  Formgebung  des  Erlebnisses  als  eine 
Art  Übersetzung  in  ein  fremdes  Medium  auf.  Die  Kunst 
als  Erlebnis  vollzog  sich  nach  den  Gesetzen  der  Ein- 
wirkung des  Universums,  das  Werner  immer  böhmesch 
als  Dreieinigen  Gott  empfand.  War  eigentlich  identisch 
mit  dem  gesteigerten  religiösen  Akt  Schleiermachers  und 
des  Mystikers.  Die  Kunst  als  F'orm  aber  unterstand  in 
natürlich  nicht  strengstem  Sinne  den  Gesetzen  der  Ver- 
nunft.    Theoretisch    wie   praktisch   ist    aber   Werner    nie 


b6 

ganz  den  Führern  der  Romantik  nahe  gekommen,  die 
Form  und  Gehalt  in  ihrem  organischen  Verhältnis  zu 
einander  früh  erfassten.  Ihre  Einheit  als  Ausdrucksform 
ertastete  er  im  Verfolg  dieser  Gedanken,  geschaut  hat  er 
sie  wohl  nie. 

Bei  Werner  war  die  Stärke  des  künstlerischen  Erleb- 
nisses so  ungleich  viel  grösser  als  seine  gestaltende 
Kraft,  dass  er  die  „Weihe"  nur  in  den  Konzeptionsteil  seines 
schöpferischen  Prozesses  bannte.  Er  fasste  sehr  klar  das 
passive  Moment  im  künstlerischen  Produktionsvorgang 
auf,  das  selbst  Kleist  in  dem  niederdrückenden  Kampt 
um  Guiskard  einmal  ausdrückte :  „Wie  die  Augen  des 
Würfels  fallen,  liegen  sie."  Wackenroder  potenzierend 
fand  Werner,  dass  in  dem  Werk  der  ersten  Dichter  viel- 
leicht nur  eine  Seite  Poesie  sei,  die  nur  deswegen  den 
Namen  verdiene,  weil  sie  einen,  dem  Dichter  selbst  un- 
erklärbaren Nachhall  der  göttlichen  Stimme  von  sich 
gebe.  In  den  „Söhnen  des  Thals"  erscheint  ihm  das 
Wiedersehen  Philipps  und  Adalberts  als  wahre  Poesie. 
„Wie  ich  zu  der  Stelle  gekommen  bin,  weiss  ich  nicht; 
ich  selbst  habe  gar  nichts  dazu  getan.  Nur  weiss  ich, 
dass  so  oft  ich  sie  ansehe,  mich  ein  unerklärbares  Grauen 
vor  meinem  Innern  überfällt.  Es  ist  möglich,  dass  ich 
dieser  Stelle  wegen  und  ein  paar  anderer  ähnlicher  wegen 
die  mir  noch  einfallen,  geboren  bin.  Aber  kann  sich  der 
Mensch  auf  etwas  zu  gute  tun,  wobei  er  bloss  Maschine 
göttlicher  Einwirkung  ist." 

Wie  Schleiermacher  alles  als  Einwirkung  und  Hand- 
lung des  Universums  geschaut  wissen  wollte,  so  sah 
W^erner  die  Kunst  auch  hier  als  eine  gefühlmässige  Hingabe 
an  die  Gottheit  oder  das  All,  die  die  Aufgabe  des  Indi- 
viduums als  Zweck  der  Kunst  proklamierte.  Die  Analyse 
des  Kunstgenusses,  schrieb  Werner  an  Peguilhen,  zeigt, 
dass  bei  stärkerer  Wirkung  „eine  unnennbare  Sehnsucht 
erweckt  werde,  d.  h.  er  regt  den  dir  angeborenen  Trieb 
in  dir  auf,  dich  mit  dem  Unendlichen  zu  vermischen,  nur 
dass  es  diesen  Trieb  zur  freien  Tätigkeit  erhöht." 


87 

„Ich  weiss  sehr  gut,  dass  nicht  nur  Tieck,  Schlegel 
und  Konsorten,  sondern  auch  Wieland,  Bürger,  Hölty, 
Ramler  und  der  sehr  grosse  Klopstock,  man  mag  ihn 
vergessen  wollen  oder  nicht,  in  der  Minute  der  Weihe 
Priester  des  Höchsten  sind,  so  gut  wie  Goethe,  und  dass 
in  den  ungeweihten  Minuten  ein  jeder  ein  armer  Sünder 
ist,  ein  dgrmitans  Homerus,  er  mag  in  die  Schule  ge- 
gangen sein  wo  er  will.  In  den  Söhnen  des  Thals  sagt 
der  Troubadur: 

Dann  dünkt  ich  mir,  ich  schlechter  Bürgersmann 
Ein  Gott  zu  sein,  der  seine  Welt  gestaltet; 
Ich  bin  es  auch  im  Augenblick  der  Weihe  ! 
Wenn  der  vorüber,  ist  es  wie  ein  Traum 
Ich  selber  weiss  nicht,  wie  noch  was  ich  träumte. 
Gleich  sink  ich  wieder  in  mein  Nichts  zurück 
Und  bin  so  schwach  und  töricht  wie  zuvor. 
Der    Künstler    ist    ein    Nachstümper     der    Stimme 
Gottes,  des  Jezyk  Boga,   die  seine  Frau  im  Liebeerleben 
hörte,  als  Stimme  der  Natur.     Von  hier  führte  ihn  Böhme 
auf  seinen  Gedanken  wegen  weiter  und   er  fand:    „Gottes 
Kraft,  die  in  den  Schwachen  mächtig,  was  ist  das  anders 
als  Kunst    und    Religion."     Nicht    in    der   Tat    war  Gott. 
Er  war   im  Rausch  und   in  der  Vision,    in    der  Trunken- 
heit  der  Weihe   kam    er   zu    den  Menschen.     So    musste 
ihm  die  Religion,   die  Hingabe  an  das  All  gleich  werden 
mit  der  Kunst  und  jede  Kunst  musste  religiös  sein,  jede 
Religion  künstlerisch  enthusiastisch.   Nur  eine  Muse  gebe 
es :  Die  Religion,     Alle  Gedichte  und  Kunstwerke  in  der 
Welt  sind  nur  dazu  da,  einen  schwachen  Schimmer  jenes 
Glanzes  wiederzugeben,  der  zu  blendend  ist,  um  vom  un- 
bewaffneten Auge  ertragen  w^erden  zu  können. 

Seine  Form  musste  aus  diesem  Gedanken  heraus  ein 
Kompromiss  sein  zwischen  einer  Phantasieform  und  der  der 
Vernunft  und  tatsächlich  kann  man  Werners  oeuvre  wohl 
am  besten  mit  diesen  Worten  charakterisieren.  Um  seinen 
religiösen  Erlebnisakt  zu  dem  Zwecke  seines  Apostolats 
ausnutzen  zu  können,  musste  er  sich  eine  Form  gefallen 


88 

lassen,  die  von  aussen  an  ihn  herangebracht  wurde, 
gleichzeitig  aber  insoweit  auf  den  Gehalt  zugeschnitten 
sein  musste,  dass  er  wenigstens  in  ihr  nicht  erstickt  wurde 
d.  h.  dass  sie  der  Ausdruck  der  immanenten  Form  war. 
Von  hier  führte  ihn  Pflicht  und  Neigung  dazu,  Ifflands 
Hilfe  in  Anspruch  zu  nehmen,  die  Bühne  im  Sinne  der 
Romantik  zu  reformieren,  anderseits  die  Romantik  mit 
der  Bühne  zu  versöhnen.  Die  Form  war  ihm  nur  Not- 
wendigkeit eines  Mittel,  die  Weihe-Kunst  aber  war  in 
sich  Zweck,  war  Religion  und  Enthusiasmus. 

Es  wurde  letzte  und  einzige  Aufgabe  der  Kunst,  die 
Religion  zu  künden,  die  göttliche  Autklärung  zu  beginnen 
und  zur  Verklärung  zu  steigern.  Kunst  müsse  Gesinnung 
des  Unendlichen  werden.  Hitzig  schrieb  er,  dass  sein 
Schauspiel  ebensogut  Predigt  heissen  könne,  versicherte 
ehrlichen  Herzens  seinem  Meister  Mayr,  dass  seine  Kunst 
nur  Vehikel  zur  Religion  sein  wolle.  Aus  diesem  Ge- 
danken wurde  seine  Auffassung,  dass  die  tragische  Schuld 
des  Templerordens  sei,  an  die  Stelle  der  künstlerisch 
enthusiastischen  Religion  eine  gewisse  humane  Kälte, 
eine  Verstandsreligion  gesetzt  zu  haben,  die  an  sich  löb- 
lich, aber  „nur  für  wenige  höhere  Geister  gemacht  und 
schlechterdings  unvereinbar  ist  mit  einer  aus  Enthusias- 
mus gegründeten  Verbindung  Vieler.-' 

Während  er  Moral  und  Kunst  scharf  trennte,  einte 
er  sie  mit  der  Religion  völlig.  In  beiden  sah  er  das  reine 
künstlerische  Erlebnis  und  die  Forderung  des  Aufgehens 
in  das  Universum,  der  Hingabe  der  Persönlichkeit. 

Der  Trieb  der  Einigung  des  Ich  mit  dem  Universum 
werde  durch  „drei  grosse  Leitern  (im  Sinne  der  Elekti^i- 
zität)"  befriedigt  und  gesichert.  Erstens  die  jedem  Volke 
verhaftete  und  jeder  Religion  mehr  oder  minder  zu 
Grunde  liegende  Idee  „eines  Mittlers,  d.  h.  eines  Objekts, 
in  dem  sich  die  ursprüngliche  chaotische  Natur  und  ihr 
Bezug  auf  den  Menschen  verklärt  repräsentiert.  Zweitens 
die  Liebe,  die  uns  bewegt,  uns  mit  dem  Universum  tätig 
zu  vermischen  und  drittens  der  Tod,  der  uns  drängt,  uns 


89 

am  Ende  ins  Universum  leidend  dahin  zu  geben  und  auf- 
zulösen ..."  Die  Möglichkeit  der  freien  Wahl  dieser 
drei  Notwendigkeiten  unterscheide  Tier  und  Mensch.  Das 
die  drei  Kräfte  Einigende  sei  die  Sehnsucht :  „ins  Unend- 
liche zu  zerfliessen"  und  erkläre  das  Rätsel,  dass  der  Re- 
ligiöse und  der  Künstler  „rein  wollüstig"  seien.  Der  Tod 
„ist  ganz  gewiss  das  non  plus  ultra  der  Wollust."  Der 
Wunsch  nach  persönlicher  Unsterblichkeit  sei  egoistisch 
und  damit  irreligiös,  während  der  Gottesglauben  in  seiner 
Form  mehr  oder  w^eniger  nebensächlich  sei  und  hinter 
der  Idee  des  Mittlers  völlig  zurücktreten  müsse. 

Das  Leben  erscheine  dem  Wissenden  als  Kerker, 
aus  dem  heraus  er  sich  in  das  Universum  sehnt.  „Er 
fühlt  möchte  ich  sagen,  die  Unsterblichkeit  jedes  einzelnen 
Moments,  er  ist  schon  unsterblich  er  bleibt  es  immer,  er 
erhält  die  grösste  Sicherheit.  Und  so  führt  ihn  die  Kunst 
zur  Religion  und  diese  zur  Verklärung.  Und  so  sind  Hei- 
land, Kunst,  Liebe,  Tod,  jedes  in  seiner  Art  für  uns  Mitt- 
ler, beinahe  Synonima,  die  uns  ins  Universum,  für  das 
wir  da  sind,  wieder  mit  mütterhchen  Händen  versenken." 

Den  Mittlergedanken  hatte  Schleiermacher  ihm  ge- 
boten als  Ausdruck  des  starken  Abhängigkeitsbedürfnisses, 
das  wir  in  jener  Epoche  aufwiesen.  Die  Form  des  Lebens 
als  Entzweiung  und  Wiedervereinigung  durch  die  Trennung 
hatte  er  zu  Beginn  der  Reden  im  Menschen  nachgewiesen. 
Durch  ein  allgemeines  Band  des  Bewustseins  seien  die 
Individuen  mit  einander  verbunden,  „sodass  jeder  Einzelne, 
ohnerachtet  er  nichts  Anderes  sein  kann,  als  er  sein 
muss,"  den  Nächsten  erkenne.  Die  beiden  Tendenzen 
im  Menschen  Genuss  und  Tätigkeit  würden  selten  durch 
strengste  Selbsterziehung  zur  Harmonie  und  Gleichnis- 
form des  Universums  gebracht;  die  eine  oder  andere  Ten- 
denz herrsche  vor  und  Aufgabe  der  Mittler  sei  es,  diese 
Masse  voneinander  getrennter  Einzelwesen  „in  jenem  ge- 
schlossenen Ring  zu  gestalten,  der  das  Sinnbild  der  Ewig- 
keit und  V^ollendung  ist".  Böhme  hatte  als  das  Gesetz 
des  Seins,    sowie  es    in's  Bewusstsein  tritt,    erfasst:    Die 


90 

notwendige  Position  des  „Nein"  und  „Ja",  des  Grimms 
und  der  Liebe,  hatte  auch  eine  gegensätzliche  Zuordnung 
der  Individuen  untereinander  erkannt  und  kam  zu  der 
Forderung,  diesen  notwendigen  Gegensatz  in  freier  Tat 
zur  Liebe  und  damit  zur  Harmonie  zu  veredeln.  Schleier- 
machers  Gedankengang  ist  nicht  unähnlich,  wie  auch  die 
Mittlerschaft  mit  anderem  Wort  ein  wichtiges  Element 
der  Böhmeschen  Theosophie  ist.  Diese  Mittler  sende 
Gott  und  ihr  Wesen  sei  die  Verbindung  beider  Tendenzen 
im  höchsten  Masse,  durch  die  sie  nach  beiden  Enden 
der  Linie  wirken  könnten.  Sie  prägten  die  Dinge  um 
zu  einem  Kosmos,  einem  Bilde  ihrer  eigenen  Einheit  „als 
Helden,  Gesetzgeber,  Erfinder  und  Bezwinger  der  Natur". 
Solche  beweisen  sich  durch  ihr  blosses  Dasein  als  Ge- 
sandte Gottes  und  als  Mittler  zwischen  dem  eingeschränk- 
ten Menschen  und  der  unendlichen  Menschheit.  Werner 
erklärte  einmal  seine  Vorliebe  für  den  Katholizismus  mit 
der  Tatsache,  dass  in  ihm  die  Idee  des  Mittlers  trotz  aller 
Entstellung  am  stärksten  ausgedrückt  sei. 

Die  Mittlerschaft  ist  ein  Element  der  Christus-Reli- 
gion, wohl  jeder  Religion,  die  eine  Verbindung  zwischen 
dem  Leben  und  dem  Jenseits  herstellen  .will.  Böhme 
hatte  in  seiner  Lehre  das  Mittlertum  Christi  sehr  ver- 
geistigt. Die  Mittlerschaft  Christi  zwischen  Gott  und 
Mensch  rückte  immer  mehr  in  den  Vordergrund  seiner 
religiösen  Auffassung  und  gipfelte  in  der  religiösen  Ver- 
geistigung der  Eroslehre,  die  Werner  tief  beeinflusste. 
Mit  der  umprägenden  Kraft  seiner  Persönlichkeit  schuf 
Werner  aus  diesen  Teilen  sich  seine  Idee,  deren  psycho- 
logische Grundlage  dieselbe  war,  wie  die  seiner  Meister- 
und  Jüngerschaftlehre.  Mittlerschaft  ist  Meister  und 
Jüngerschaft  je  nachdem  man  den  Standpunkt  wählt  beim 
Mittler  oder  dem,  dem  vermittelt  wird.  So  erscheint  das 
Freimaurerwort  Meister  in  dieser  erhöhten  Bedeutung  als 
Bezeichnung  für  Christus.  Einer  Freundin  schrieb  der 
Dichter  später,  dass  die  Meisterschaft  (-Mittlertum)  am 
klarsten    im  Spiegel    der  Liebe    von  Spee    dargestellt  sei 


91 

und  deutete  so  an,  dass  die  Liebe,  die  in  Christus  Per- 
son war,  das  eigentliche  Mittlertum  sei,  wie  Böhme  sie 
gefeiert  hatte.  Alles  war  von  der  Liebe  Gottes  durch- 
pulst und  der  Atem  der  Welt  war  Gottes  Liebe.  Durch 
die  Liebe  verband  sich  der  Mensch  aus  seiner  Einzelheit 
wieder  mit  der  Gott-Natur.  War  bei  Schleiermacher 
eine  hierarische  Stufung  und  Gliederung  durch  die  Mitt- 
lerschaft ebenso  sehr  angedeutet  als  die  Einheit,  die  Liebe 
vermittelte  bei  Böhme  die  Alleinheit  in  ihrem  organischen 
Einsseins,  die  Totalität  des  geistig-körperlichen  Lebens. 
So  wurden  Werner  Kunst,  Religion  und  Liebe  eine  Ein- 
heit; denn  die  „Phantasie"  ist  in  ihrer  aktiven  Erscheinungs- 
form eben  die  Liebe  und  das  farblose  Wort  in  Verbindung 
mit  der  psychologischen  Einstellung  Werners  bei  diesem 
Briefe  Hess  ihn  hier  den  begrifflich  s^'stematischen  Umweg 
machen.  In  seiner  Gedankenwelt  schuf  sich  die  Erlebnis- 
dreifaltigkeit der  Kunst,  Religion  und  Liebe  ihre  Form 
und  lehrte  ihn  die  philosophische  Formel  für  die  mysti- 
sche Einheit  dieser  Seelenkräfte  überall  aufzuspüren  und 
zu  seinem  Eigentum  zu  machen. 

Über  den  Begriff  der  Liebe,  wissen  wir,  hatte  Werner 
schon  Gedankenansätze  in  der  vorromantischen  Epoche 
gebildet,  die  sich  nun  mit  den  neuen  Lehren  vereinten. 
Damals  schon  lag  der  Konzeptionspunkt  im  Erlebnis  der 
sexuellen  Vereinigung  und  der  Geschlechtstrieb  war  die 
gestaltende  Dynamis  dieser  Begriffsform.  Erotische  Ne- 
benschwingungen bei  seinen  Anregern  konnten  für  Wer- 
ners feine  Empfindlichkeit  für  den  Religion-Liebebegriff 
nicht  wirkungslos  bleiben.  Böhme  nannte  den  Fortpflan- 
zungstrieb der  Kreatur  Sehnsucht  nach  dem  Paradies, 
sah  in  dem  reinen,  geistigen  Eros  der  Menschen  ein  Symbol 
des  Göttlichen,  und  nutzte  zu  vielen  Zwecken  das  Gleichnis, 
Seine  künstlerische,  geistige  Sinnlichkeit  schuf  in  seinen 
Werken  jene  zitternde,  glühend-farbige  Atmosphäre,  die 
von  feinster  Erotik  durchstrahlt  war.  Dann  las  Werner 
in  den  Reden  Schleiermachers  eigenartige  Worte.  Der 
schilderte    die    Religion:    „Schamhaftig    und  zart  wie  ein 


92 

jungfräulicher  Kuss,  heilig  und  fruchtbar  wie  eine  bräut- 
liche Umarmung,  ja  nicht  wie  dies,  sondern  er  ist  alles 
dieses  selbst."  Nun  vermochte  Werner  das  von  ihm  da- 
mals als  viel  zu  matt  und  farblos  empfundene  Wort  „iden- 
tifizieren" erfüllt  mit  neuem  Gehalt  in  dem  entsprechen- 
den Kolorit  aufglühen  zu  lassen:  „Aber  der  Liebende  ist 
und  soll  der  Geliebten  sein  ein  Mittler  der  Gottheit.  Mit 
dem  Liebenden  soll  sich  der  Geliebte  werfen  in  das  Uni- 
versum und  den  Strahl  den  beide  vom  Höchsten  erhalten 
.  ,  .  aussprühen,  dass  sich  daran  erwärme  die  übrige 
Welt." 

Das  Sich-Verlieren  des  Ich  im  Geschlechtgenuss  ist 
das  Grundmotiv  und  von  da  aus  wurde  zunächst  die  Iden- 
tifikation der  Liebe  und  Religion  erfasst.  „Mein  Weib, 
die  Kunst  und  die  Religion  sind  die  Hauptsachen,  die  mir 
das  Leben  wert  machen",  schrieb  er  an  Fenkohl.  Und 
diese  Identifikation  von  Liebe  und  Gattin,  gerade  weil  sie 
sich  so  absichtslos  gab,  beweist  die  erotische  Färbung  des 
Begriffs.  „Durchs  Fleisch  ist  Liebe  bei  uns  eingekehrt" 
sagte  er  im  Prolog  zur  Weihe  der  Kraft.  Werner  über- 
trug nicht  nur  den  Eros  Piatons  in  die  sexuelle  Liebe, 
sondern  er  durchsetzte  den  ganzen  Komplex  des  Liebes- 
begrifts  mit  erotischen  Energien.  Nach  Karoline  Herders 
Urteil  besass  er  die  Kunst  „auf  der  Laute  der  Empfin- 
dungen zu  spielen  und  führt  uns  unvermerkt  zu  einer 
krankhaften  Empfindung  von  Heilands  und  Begattungs- 
liebe". So  schrieb  er  an  Scheffner:  „die  Gewässer  ent- 
schleiern alle  Geheimnisse  der  ewigen  Liebe  von  der  im 
Rheinfall  zu  Schaffhausen  ausgesprochenen  höchsten  to- 
benden Wollust  an,  bis  zu  der  im  diamantenen  Staubach 
zu  Lauterbrunn  symbolisierten  Verfliessung  zweier  lieben- 
den Seelen  in  Gott."  In  den  Liebesscenen  des  Kreuzes 
an  der  Ostsee,  die  die  „heilige,  romantische  Liebe"  schil- 
dern sollen,  verwirrten  sich  stammelnde  Wollust  und 
heilige  Liebe  zu  einer  logisch  kaum  zu  fassenden  Einheit. 
Dorothea  Schlegel  lehnte  die  Kunigunde  empört  ab,  weil 
die  Mutterliebe  von  Erotik  angekränkelt  sei.     In  welcher 


93 

engen  Verbindung  fast  ohne  moralische  Wertscala  ihm 
die  Liebe  erschien,  schrieb  er  dem  väterlichen  Freunde 
Scheffner  am  25.  Mai  1806  in  einer  sehr  bezeichnenden 
Stelle.  „Ich  habe",  heisst  es  da  „den  Kelch  aller  Schmerzen 
und  Wonnen  der  irdischen  Liebe  bis  auf  die  Hefe  leeren 
müssen,  habe  in  den  Armen  meiner  mir  immer  noch 
heiligen  und  seelen verbundenen  Malgona  .  .  die  Verschmel- 
zung mit  dem  Unendlichen  unter  Freudenthränen  nicht 
ahnen  sondern  fühlen  müssen,  habe  in  den  Armen  der 
niedrigsten  Bordellhuren  die  tiefste  Entartung  des,  dessen 
ungeachtet,  immer  noch  nicht  erloschenen  Grundkeims 
der  (immer  Göttlichen)  Liebe.  .  .  studieren  müssen."  So 
weit  ging  er,  dass  er  das  Geschlechtserlebnis  auch  unab- 
hängig von  der  geistigen  Bedeutung  des  Mannes  für  die 
Frau  als  Mittlertum  definierte.  „Ein  jeder  rechtschaffener, 
liebender  Mann,  wenn  er  auch  keine  Verse  liest,  aber 
liebt,  ist  ein  ihnen  gesandter  Heyland  .  .  ." 

Durch  die  Einführung  des  sexuellen  Elements  in  den 
Liebesbegriff  wurde  die  Passivität  auch  in  diese  Erlebnis- 
form des  Universums  hineingetragen.  Er  aber  suchte 
hierin  die  Aktivität,  die  vor  allem  in  der  Caritas-Liebe 
vorhanden  ist.  Sein  Caritas-Gebot  war  ihm  Veredelung 
des  menschlichen  Geschlechts  durch  die  Kunstpredigt,  also 
eine  Tat,  durch  die  er  in  dem  Wirkungszusammenhang 
des  Kosmos  eingriff.  In  diesem  Sinne  war  er  Meister, 
aktiv.  So  sehr  er  bemüht  war,  der  Forderung  nach  Akti- 
vität gerecht  zu  werden,  auf  Grund  seiner  seelischen  Lage 
konnte  er  nicht  zu  einer  reinen  Forderung  nach  der  Tat- 
handlung, zu  der  ihn  dann  Fichte  drängte,  kommen.  Neben 
seinem  Meistertum  stand  auch  hier  das  Jüngertum,  ohne 
das  er  jetzt  schon  den  Liebebegriff  in  dieser  Richtung 
ganz  durchdacht  hätte.  Dazu  führte  ihn  später  das  Er- 
leben. Hier  ahnte  er  ihre  Duplizität,  wusste  ihr  aber 
noch  keinen  klaren  Ausdruck  zu  geben,  als  er  hervorhob, 
dass  in  den  indischen  Mythen  die  Idee  der  „alles  bele- 
benden Liebe'-  verborgen  sei,  indem  sie  lehrten,  in  jedem 
Grundwesen  „sei  Mann  und  Weib  zugleich". 


94 

Der  psychische  Ausgangspunkt  für  Werner  ist  das 
Erlebnis  des  passiven  Einswerdens  mit  dem  Universum, 
das  „Wollüstige"  des  Künstlers  und  Religiösen.  Die 
höchste  Steigerung  dieser  Wollust  ist  der  Tod,  „die  Ver- 
wesung, die  uns  dem  Unendlichen  wiedergibt".  Schleier- 
macher hatte  die  Aufgabe  der  Persönlichkeit  gedacht,  als 
religiösgeistigen  Akt.  Werner  nahm  diesen  Gedanken  in 
ganz  anderer  Form  auf,  die  weniger  vergeistigt  war.  Er 
forderte  das  tatsächliche  Opfer  der  Persönlichkeit,  des 
individuellen  Lebens,  sah  im  Tode  die  höchste  Wollust, 
weil  er  allein  ganz  die  Verbindung  zwischen  Ich  und  All 
herzustellen  vermochte.  Böhmes  Anregungen  und  natur- 
philosophische Philosopheme  führten  ihn  zu  dieser  theore- 
tischen Feststellung,  die  in  der  Todessehnsucht  (der  Todes- 
angst beigemischt  war)  des  früh  Gealterten  psychologisch 
begründet  lag.  Der  Tod  war  nur  Vernichtung  der  Form, 
einer  Form  sogar  nur,  die  nicht  erstrebenswert  war,  deren 
Aufgabe  Mittelpunktsforderung  der  Religion  Schleier- 
machers war.  Es  war  die  Erkenntnis  der  Naturphilo- 
sophen, die  Lehre  der  plotinschen  Mystik,  die  über  Böhmes 
Besonnenheit  hinaus  in  den  Hymnen  an  die  Nacht  ihm 
wohl  neu  entgegengetreten  war,  nachdem  er  sie  schon  in 
der  vorherliegenden  Epoche  aus  der  Geheimlehre  des  Frei- 
maurerordens entnommen  hatte.  Auch  Rousseau  bot  An- 
haltspunkte zu  diesem  Gedanken.  Es  war  die  extreme  theo- 
retische Weiterführung  der  Grundforderung  Werners,  die  in 
der  Vernichtung  der  Persönlichkeit  lag,  zu  der  er  seelisch 
gezwungen  war,  da  er  an  den  Wert  seiner  Individualität 
nicht  mehr  glauben  konnte.  Die  Lehre  gipfelte  hier,  ohne 
jedoch  jemals  mehr  als  Lehre  zu  sein.  Er  suchte  die  see- 
lische Vernichtnng  des  Ich,  nie  den  Tod.   Und  er  predigte: 

Ausgesöhnet  ist  der  Fluch 

Aber  wandellos  der  Spruch : 

Sterben  muss  und  auferstehen 

Was  da  will  das  Leben  sehen. 

Sterben  muss  die  düstere  Glut 

Die  noch  in  der  Selbstheit  ruht  .... 


9^ 

In  der  Erklärung  der  Phosphoroslegende  aus  dem 
zweiten  Teil  der  Söhne  des  Thals,  die  er  Scheffner  in 
einem  Briefe  vom  29.  Januar  1805  gab,  sind  diese  Ge- 
danken im  Zusammenhang  besonders  deutlich  ausge- 
sprochen. Die  Zerbrechungslehre  Böhmes  bot  Werner 
hier  sogar  die  Worte,  ihre  Extremität  lässt  den  Ein- 
fluss  der  Naturphilosophie  erkennen,  so  eifersüchtig  auch 
Werner  sein  Autorrecht  dem  Freunde  gegenüber  her- 
vorhob. 

Die  Aufgabe  des  Individuellen  im  realen  Leben,  in 
der  eigentlichen  Tätigkeit  wurde  vergeistigt  in  der  For- 
derung zum  Ausdruck  gebracht,  dass  um  die  Religion  zu 
sichern,  eine  Kirche  notwendig  sei  deren  Aufgabe  es 
stets  gewesen,  gegen  den  Egoismus  der  Regierenden  die 
Sache  der  Menschheit  zu  führen.  Keine  Pfaffenherrschaft 
werde  dadurch  proklamiert,  sondern  die  Herrschaft  der 
Besten.  Als  Keimzelle  dieser  Welt  umfassenden  Organi- 
sation stelle  er  sich  den  Orden  vor,  den  er  gegründet 
wissen  mochte,  der  keiner  Religionsform  verpflichtet 
und  anscheinend  literarisch  sein  solle.  „  .  .  .  Die  Kunst 
muss  das  Medium  sein  und  von  den  dazu  Verbündeten 
absichtlich  geleitet  werden  die  Menschheit  durch  religiösen 
Sinn  zu  veredeln  und  zu  verbinden."  Als  Mitglieder  der 
neuen  Kirche  nennt  er  die  Schlegel,  Tieck,  Fichte  u.  a. 
„wenn  sie  nicht  Windbeutel  und  Pralhänse  sind". 

Zu  Beginn  des  Briefes  hatte  er  in  der  Depression 
eines  Moments  geschrieben,  dass  er  wohl  nie  mehr  wirken 
könne,  da  seine  Energie  immer  mehr  schwinde.  „Ich  muss 
mich  also  darauf  beschränken,  Zunder  zu  werfen,  wo  ich 
kann,  und  w^ürde  glücklich  seyn,  wenn  ich  auch  nur  einen 
Menschen  für  das,  was  mir  wahr  und  heilig  ist,  ent- 
flammen könnte."  Hitzig  hatte  er  die  Notwendigkeit  der 
Gründung  eines  Ordens  für  die  neue  Religion  berichtet, 
schränkte  das  aber  dahin  ein,  dass  er  eine  Verbindung 
derjenigen  anstrebe,  die  Sinn  für  das  Höchste  hätten. 
Diese  Absicht  durchzog  von  nun  an  sein  Leben,  nachdem 
Ansätze  dazu  (z.  B.  in  den  Reformplänen  des  Freimaurer- 


1)6 

Ordens  usw.)  schon  aufzuweisen  waren.  Die  Aufgabe  des 
Ich  glaubte  er  in  dieser  Form  erreicht,  seine  isolierenden 
Schranken,  die  auch  der  Wirksamkeit  gezogen  waren, 
sollten  in  der  Vereinigung  fallen.  Jenes  Gleichnis  der 
kosmischen  Harmonie,  von  der  Schleiermacher  gesprochen 
hatte,  hoffte  Werner  in  diesem  Überorden  zu  erreichen.  Der 
Wirkung  der  Einzelpersonen  konnte  er  seiner  Weltauf- 
fassung und  der  eigenen  Art  nach  nicht  diese  Leistungs- 
kraft zutrauen.  Das  brachte  er  bewusst  und  unbewusst 
immer  wieder  zum  Ausdruck.  Der  Held  des  ersten 
Dramas  war  eine  Vielheit  von  Personen,  eben  ein  Orden, 
auch  in  dem  „Kreuz  an  der  Ostsee"  waren  eine  Über- 
individualität ,die  zwei  Liebenden'  der  Mittelpunkt.  Wer- 
ner, der  die  Vernichtung  des  Ich  forderte,  erkannte 
noch  nicht  seine  Bedeutung  als  Sendungsträger  und 
glaubte  die  Aktivität  erst  in  einer  überpersönlichen  Or- 
ganisation, deren  Individualcharakter  er  aber  tastend  er- 
fühlte, gewährleistet. 

Diese  Forderung  war  schon  vor  ihm  in  der  Romantik 
von  Schleiermacher  und  Friedrich  Schlegel  z.  B.  erhoben 
worden  und  lag  in  der  romantischen  Psyche  begründet, 
deren  Differenziertheit  kulminierend  zur  geistigen  Ehe  als 
Erfüllung  ihrer  Teilhaftigkeit  drängte.  Für  Werner  lag  der 
Ausgangspunkt  in  dem  Erlebnis  der  Einheitslosigkeit  des  Ich 
und  in  dieser  Epoche  suchte  er  sie  durch  eine  mehr  äussere 
Verbindung  mit  anderen  Individuen  mittels  Ehe,  Freund- 
schaft und  Organisation  zur  Einheit  zu  bringen.  Das  ist  der 
Untergrund  seines  Ordensplans.  Er  wünschte  die  Gründung 
einer  Pepiniere  der  Heiligen  ohne  den  nebensächlichen 
Formelkram;  „denn  wozu  immer  die  ewig  starren  Falten, 
wenn  wir  lebendiges  Fleisch  haben".  Ganz  naturgemäss 
musste  der  Ekstatiker  Werner  aus  seinem  Wesen  heraus 
zu  einer  Verachtung  des  Historisch-Formalen  kommen, 
jedem  Mystiker,  dessen  Lebensgrundlage  in  der  unio 
mystica,  dem  Erleben  Gottes  in  sich  lag  und  der  weder 
Beweis  noch  beglaubigte  Zusicherung  nötig  hatte,  war  die 
Kirche  zum  mindesten  nebensächlich.    Böhme  sowohl  wie 


97 

Schleiermacher  'stärkten  in  Werner  den  Trieb,  der  also 
nicht  als  Mystiker  sondern  als  nicht  mehr  seiner  selbs: 
sicherer  Flüchtling  später  in  den  Schoss  der  Kirche  eilte. 

In  Königsberg  hatte  er  versucht  die  Keimzelle  seines 
Ordens  aus  dem  kleinen  Kreis  der  jungen  Leute,  die  sich 
um  ihn  und  Mayr  schaarten,  zu  bilden,  spann  auch  gleich- 
zeitig Fäden  nach  Berlin,  wo  Hitzig  im  Kreise  von  Chamisso 
und  Varnhagen  von  Ense  für  ihn  Propaganda  machte. 
Ihm  hatte  er  am  17.  Oktober  1809  geschrieben:  „Geben 
muss  man  der  Welt,  der  jämmerlichen,  von  Gott  entfrem- 
deten Welt  das  Beispiel  einer  solchen  Verbindung  in 
Prosa,  in  Natura,  sie  mag  Sekte,  Orden,  wie  sie  will,  ge- 
tauft werden."  Werner,  dessen  praktische  Organisations- 
gabe sehr  gering  war,  suchte  auch  weiterhin  Anknüpfungs- 
möglichkeiten, um  sein  modernes  Aposteltum  zum  Aus- 
druck zu  bringen.  Die  literarische  Wirkung  durch  Bücher 
hielt  er  nicht  für  ausreichend,  glaubte  aber  die  Bühne  als 
Kanzel  benützen  zu  können.  An  Iffland  schrieb  er,  dass 
es  seine  Absicht  gewesen  sei,  dem  ihm  innigst  verbun- 
denen Freimaurertum  in  den  „Söhnen  des  Thals"  ein 
Lehrgedicht  zu  geben.  Er  hoffte  den  Schausspielerdichter 
für  seine  Pläne  gewinnen,  und  zwischen  Romantik  und 
Bühne  die  fehlende  Brücke  herzustellen.  Und  diese 
Brücke  glaubte  er  bauen  zu  können  durch  künstlerische 
Ausnützung  des  Katholizismus,  dessen  Gehalt  und  Mytho- 
logie er  ausnutzen  wollte.  Denn  nicht  nur  eine  lockere 
Zufallsverbindung  zwischen  Bühne  und  Kunst  der  Roman- 
tik erstrebte  er,  sondern  eine  von  innen  umgestaltende 
Reform  der  Tragödie  durch  eine  Wandlung  des  Schick- 
salbegriffs, durch  eine  Änderung  der  Weltanschauung, 
aus  der  die  neue  Kunst  in  ihrem  Gehalt  erwachsen  sollte. 
Wirken  wollte  er  ja  und  jetzt  bot  sich  dazu  die  Gelegen- 
heit. Deshalb  drängte  er  nach  Berlin  zu  kommen,  um 
hier  im  Mittelpunkt  des  geistigen  Lebens,  die  richtige 
Plattform  für  sein  Wirken  zu  erhalten. 

Die  Grundidee  dieser  Gedankengänge  war  die  mehr 
oder    weniger    klar   ausgesprochene   Forderung  der   Auf- 

Hankamcr,  Zacharias  Werner.  7 


98 


gäbe  des  Individuums,  die  er  in  den  Söhnen  des  Thals 
als  Leitmotiv  erklingen  Hess:  „Die  stolze  Ichheit  Avird 
ans  Kreuz  geschlagen"  und  die  in  seiner  Auffassung  des 
Schicksals  ihre  bezeichnendste  Form  erhielt. 


IV.  Kapitel. 

Die  Romantik  als  Form  in  Leben  und  Dichtung. 

Das  Beherrschende  in  der  Lebensauffassung  Wernei's 
war  damals  der  Religionsbegriff  Schleiermachers  in  der 
Schattierung  Böhmes.  Er  wurde  der  Ausdruck  der  geistigen 
Lebensform,  wie  in  der  Romantik  fast  allgemein  sich  nach- 
weisen lässt.  Von  hier  aus  wurde  der  ganze  Zusammen- 
hang des  seelischen  Geschehens  neu  erfasst.  Vielleicht 
am  stärksten  äusserte  sich  die  von  Schleiermacher  be- 
stimmte religiöse  Einstellung  Werners  im  Schicksalglauben. 
In  seiner  feinen  Studie  über  die  Religion  sagt  Simmel: 
„Indem  hier  das  Innere  und  ein  ihm  Äusseres  sich  begegnen, 
enthält,  von  jenem  aus  gesehen,  der  Schicksalbegrift  ein 
Moment  von  Zufälligkeit,  das  seine  prinzipielle  Spannung 
gegen  den  von  Innen  kommenden  Sinn  unseres  Lebens 
auch  dann  zeigt,  wenn  das  Schicksal  einmal  als  der  genaue 
Vollstrecker  dieses  letzteren  auftritt."  Im  Zufallsmoment 
des  Äusseren  entfaltet  sich  die  religiöse  Kraft,  da  es  un- 
begreiflich und  je  nach  Einstellung  als  sinnvoll  oder  un- 
sinnig gesehep  werden  kann. 

Wackenroders  Weltbild  schloss  sich  in  der  Planidee 
Gottes,  die  alles  einte.  Schleiermachers  Darstellung  der 
Religion  hatte  das  Schicksalgefühl  als  vielleicht  die  we- 
sentlichste Form  der  Religion  herausgestellt.  Das  Uni- 
versum sollte  als  das  Handelnde  angeschaut  werden.  Alles 
Einzelne  war  nur  Teil  eines  Ganzen,  war  nur  Darstellung 


99 

des  Unendlichen,  reihte  sich  in  ein  kosmisches  Geschehen. 
Solches  Sehen  der  Dinge  und  Menschen  war  für  Schleier- 
macher Religion.  „So  war  es  Religion  wenn  die  Alten 
die  Beschränkung  der  Zeit  und  des  Raumes  vernichtend 
jede  eigentümliche  Art  des  Lebens  durch  die  ganze  Welt 
hin  als  das  Werk  und  Reich  eines  allgegenwärtigen  We- 
sens ansehen  .  .  .;  es  war  Religion  wenn  sie  für  jede  hilf- 
reiche Begebenheit  wobei  die  ewigen  Gesetze  der  Welt 
sich  im  Zufälligen  auf  eine  einleuchtende  Art  offenbarten, 
den  Gott,  dem  es  angehörte,  mit  einem  eigenen  Beinamen 
begabten  und  einen  eigenen  Tempel  ihm  bauten."  „Alle 
Begebenheiten  der  Welt  als  Handlungen  eines  Gottes  vor- 
stellen, das  ist  Religion.  Es  drückt  ihre  Beziehungen  auf 
ein  unerkdliches  Ganzes  aus."  Religion  ist  Glaube  und 
Schleiermachei  gab  seiner  Zeit  hier  die  Möglichkeit  ihre 
Antithese  in  der  Anschauung  zu  lösen.  Über  dem  Wider- 
streit des  Wirklichen  stellte  er  die  schicksalhafte  Einheit 
des  Universums. 

Aus  der  Analyse  der  Psyche  Werners  wurde  der  von 
ihm  selbst  erkannte  eigenartige  Mangel  an  innerer  Ein- 
heit und  Zielsicherheit  erchlossen.  „Ich  werde  nicht 
fertig,  weder  mit  meinem  Briefe,  noch  mit  meinen  Studium 
noch  mit  meinem  Kunstwerk,  noch  mit  meinem  Leben "^ 
schrieb  er  Ende  1804  an  Scheffner.  Da  er  diese  Stö- 
rungen seines  inneren  Lebens  nach  aussen  verlegte,  sah 
er  sich  nun  von  dem  starken  religiösen  Zug  seiner  Welt- 
auffassung gedrängt,  darin  irgendwie  das  Walten  einer 
Gottheit  zu  sehen,  um  die  Würde  seines  Menschdaseins 
gewährleistet  zu  wissen.  Der  Schicksalbegrifif,  der  sich 
in  ihm  entwickelte,  näherte  sich  dem  Zustand,  den  Hoff- 
mann in  den  Serapionsbrüdern  festhielt. 

Ein  grosser,  allbeherrschender  Plan  schien  sich  Werner, 
als  Religiösem  im  Alleben  zu  zeigen.  Nach  ehernen  Plan- 
ideen vollzieht  sich  die  Entwicklung,  baut  sich  nach  den 
Gesetzen  auf,  die  dem  Universum  immanent,  in  einem 
Widerspruch  stehen  zum  Individuum  und  seinem  Glück- 
willen.    Der    ist  egoistisch    und    dadurch  auch   unsittlich. 


100 

Die  Auffassung  des  Schicksals  ist  in  dieser  Zeit  bei  Werner 
völlig  sozial  und  stand  im  schrofiesten  Gegensatz  zur 
Persönlichkeitsforderung.  Werner  brachte  schärfer  noch 
als  die  übrigen  Denker  den  Gegensatz  zum  Individuum 
hinein,  weil  der  Ausgangspunkt  für  ihn  in  diesem  Erlebnis 
lag.  Seine  Lebensform  musste  irgendwie  entschuldigt  und 
das  hiess  für  den  Romantiker  in  einen  Zusammenhang 
mit  dem  Leben  der  Gemeinschaft,  mit  dem  All  gebracht 
werden  und  wurde  es  —  durch  die  Verneinung.  Die  schroffe 
Antithese  zwischen  Persönlichkeit  und  Schicksal  wurde 
von  ihm  so  zugespitzt,  dass  des  Schicksals  Aufgabe  und 
Gebot  war,  die  Persönlichkeit  auch  körperlich  zu  ver- 
nichten. Auf  der  Grundlage  seiner  Weltanschauung,  die 
in  der  Aufgabe  des  Persönlichen  kulminierte,  e*»hob  sich 
dieser  Schicksalgedanke  und  entwickelte  sich  unter  dem 
Einfluss  der  Naturphilosophie  zu  dem,  was  den  gedank- 
lichen Gehalt  der  ersten  Dichtungen  bildete.  Schon  in 
seiner  vorromantischen  Epoche  hatten  sich  Keime  ähnlicher 
Tendenzen  gezeigt.  Nun  traten  neue  Kräfte  in  Tätigkeit 
und  wurden  für  die  Ausbildung  und  Entwicklung  seines 
Schicksalglaubens  von  Bedeutung,  brachten  diese  Idee  in 
eine  innige  Verbindung  mit  dem  Ganzen  der  Seelenrevo- 
lution Werners. 

Der  neue  Begriff  entstand  dadurch,  dass  das  Lebens- 
gesetz der  Naturphilosophie  als  Wert  in  die  Schleier- 
machersche  Formel  gesetzt  wurde.  So  erhielt  es  nicht 
nur  einen  kosmischen,  sondern  immer  mehr  einen  ethischen 
Charakter.  Das  Lebensgesetz  wurde  Forderung,  wurde 
Sittengesetz.  Hier  traf  Werner  von  romantischen  Ge- 
dankengängen beeinflusst  die  von  ihm  durch  Schiller  er- 
fasste  Gleichsetzung  des  Schicksals  mit  dem  Sittengesetz, 
dessen  Inhalt  sich  freilich  wesentlich  geändert  hatte.  Der 
Gegensatz  zwischen  Schicksal  und  Persönlichkeit  war 
noch  verschärft  und  die  Transcendenz  noch  erhöht  worden. 

In  der  Auffassung  der  Naturphilosophie  umfasste  das 
Lebensgesetz,  das  „Stirb  und  werde",  das  ganze  Weltall, 
war  ihm  immanent,  war  die  Lebensform  des  Daseins. 


101 

Hatte  er  unter  dem  ersten  Einfluss  Rousseaus  die 
historisch  gewordene  Realität  als  Gegenspieler  empfunden, 
so  schien  jetzt  das  Leben  in  dieser  Welt  an  sich  und 
überhaupt  eine  Last,  die  den  Schicksalscharakter  nicht 
vorleugnete.  Da  er  als  Gegner  dem  zum  Universum 
drängenden  Geiste  gegenüberstand,  verlor  es  immer  mehr 
den  moralischen  Wert,  der  die  Persönlichkeit  unterschie- 
den hatte.  Die  Tatsachen  und  Handlungen  der  Wirklich- 
keit stellten  sich  immer  mehr  jenseits  von  Gut  und  Böse. 
Auch  das  Laster  diente  dem  Entwicklungsgesetze,  wurde 
von  der  Gottheit  genutzt  zur  Läuterung  und  zur  Erfüllung 
überwirklicher  Zwecke.  Die  religiöse  Einstellung  Schlei- 
ermachers hatte  vom  Standpunkt  des  Universums  aus  die 
moralischen  Unterschiede  der  Einzelnen  als  verschwindend 
klein  erkennen  lassen.  Schelling  (in  seiner  Methode  des 
akademischen  Studiums  1803)  und  unter  seinem  Einfluss 
auch  später  Fichte  (in  den  Grundzügen  des  Zeitalters) 
hatten  die  Notwendigkeit  eines  Zustandes  vollendeter 
Sündhaftigkeit  in  der  Geschichte  der  Menschheit  gelehrt. 
Böhme  hatte  mit  weiser  Einschränkung  freilich  festge- 
stellt, dass  die  Sünde  selbst  zur  inneren  Zerbrechung 
förderlich  sein  könnte.  Hatte  nicht  Rousseau  den  Fall 
Juliens  und  Saint  Preux'  als  Voraussetzung  ihrer  seelischen 
Läuterung  erkannt?  Werner  nahm  diese  Gedankengänge 
an  und  gestaltete  sie  um.  Um  seinen  göttlichen  Zweck 
erfüllen  zu  können,  hatte  er  alle  Erscheinungsformen  der 
Liebe  erleben  müssen.  Dieses  Müssen  war  Schicksal  und 
als  solches  sittlich  im  höheren  Sinne.  Die  Gedanken- 
gänge, die  ihn  zu  der  Erkenntnis  des  Gegensatzes  zwischen 
Moral  und  Religion  geführt,  öffneten  sich  ihm  an  diesem 
Zeitpunkt,  in  dem  er  seine  Existenz  als  wertvoll  gesichert 
sah.  Die  unmoralische  Handlung  wurde  Mittel  des  Schick- 
sals, ihn  zu  erfüllen,  da  sie  den  moralischen  Eigen- 
wert vernichtete,  also  das  Persönlichste. 

Wie  die  körperliche  Krankheit  dem  Phlogiston  erst 
die  Wege  zum  eigentlichen  Sein  öffnet,  so  auch  die  Sünde, 
die  in  Qualen    die  Seele    aufschreien    lässt    zu  Gott.     „O 


102 

selige  Sünde,  die  uns  solchen  Erlöser  gab",  konnte  Au- 
gustinus in  ähnlichem  Erleben  ausrufen.  Qualenfreudig 
nannte  er  einmal  seine  Mutter  und  auch  auf  ihn  passte 
dieses  Wort.  Es  war  ihm  Gebot,  die  Qual  des  Daseins 
zu  suchen.  Das  Schicksal  —  das  qualdurchglüte  Leben  — 
wurde  die  Kelter,  die  sein  Wesen  vollenden  solle.  „Ist 
es  mein  Verdienst,  dass  diese  Bedrückung  mich  etwas 
geläutert  und  gereinigt  hat?  Habe  ich  mein  Herz 
dem  Schicksal  hingetragen,  um  es  in  die  Presse  zu 
nehmen,  oder  habe  ich  vielmehr  in  unsehger  Verblen- 
dung dem  Glücke  nachgejagt  ohne  es  verdienen  zu 
wollen." 

So  wurde  ihm  sein  Leben  in  dieser  Welt  wertvoll 
gerade  durch  die  seelischen  Katastrophen  und  die  Lei- 
den, die  ihn  aufstöhnen  Hessen  in  den  Briefen  und 
Tagebüchern.  In  einem  Briefe  vom  28.  Oktober  1802 
hatte  er  sich  dem  jungen  Hitzig  gegenüber  einen  von 
allen  Gattungen  des  Leides  und  Freude  geschwächten 
Menschen  genannt,  den  das  Schicksal  verworfen  habe. 
Seine  Pflicht  sei  es  gewesen,  kein  weibliches  Geschöpf 
aufs  Neue  in  die  unerbittliche  Nemesis,  die  ihn  verfolge, 
zu  verflechten,  schrieb  er  kurz  nach  seiner  letzten  Ehe 
Scheidung.  Noch  1809  sprach  er  einmal  mit  dem  legeren 
Wortgebrauch,  der  ihm  eigentümlich  war,  Scheffner  gegen- 
über von  dem  ihn  ablässig  verfolgenden  Schicksal. 
Dieser  Gewalt  gegenüber,  die  über  dem  Leben  des  Ich 
zu  stehen  schien,  wusste  er  keinen  andern  Weg  als  Er- 
gebung und  Anerkennung.  Werner  musste  in  der  Sünde 
das  Mittel  des  Schicksals  sehen,  wollte  er  nicht  sich  selbst 
aufgeben.  Er  suchte  in  der  antithetischen  Form  seines 
Denkens  theoretisch  das  Unsittliche  zu  versittlichen,  weil 
er  die  Unsittlichkeit  seiner  Existenz  praktisch  nicht  ändern 
noch  sich  eingestehen  konnte.  „Ich  mache  mir  viele  Vor- 
würfe darüber  aber  alles  was  ist,  muss  sein",  und  er 
entschuldigt  sich  damit:  „denn  was  kann  ich  dafür,  dass 
ich  so  bin."  Das  Ich  ist  eine  Notwendigkeit  geworden 
für  Werner  und  erscheint  als  Maschine  der  „im  verborge- 


lOo 

nen  lenkenden  Hand  Gottes,"  ist  also  stets  sittlich  auch 
im  Unsittlichen, 

Der  Höhepunkt  der  Verneinung  des  Individuellen 
war  erreicht:  Die  moraliche  Lebensform  des  Einzellebens 
wurde  fast  als  im  Gegensatze  zum  ethischen  All-Schick- 
sal stehend  empfunden.  Die  Vernichtung  des  Ichs  als 
seine  Forderung  wurde  auch  auf  die  Sittlichkeit  des  per- 
sönlichen Lebens  anscheinend  ausgedehnt.  Nach  seinem 
Wesensbau  musste  hier  für  Werner  die  höchstmögliche 
Steigerung  der  Antithese  erreicht  sein,  gab  er  doch  sich 
selbst  insofern  auf,  als  die  Sehnsucht  nach  dem  Wissen  um 
die  Sittlichkeit  seiner  Existenz  Ausgangspunkt  dieser  Ge- 
danken gewesen  war  und  er  den  Widerspruch  trotz  aller 
Theorie  fühlte. 

Der  Gedanke  kulminierte;  denn  gerade  die  scharfe 
Wendung  aller  Ideen  gegen  das  Individuum  bewies  die 
Stärke  dieser  Tendenz  bei  Werner.  Irgendwie  musste 
sich  der  Weg  öffnen  um  ihm  im  System  eine  entsprechen- 
de Stellung  zu  schaffen.  Über  die  reine  Antithese  musste 
zu  einer  Synthesis  geschritten  werden.  Die  Einführung 
des  Individuums  als  positivere  Grösse  in  die  Weltanschau- 
ung erfolgte  unter  Ausnutzung  psychologischer  Tat- 
sachen, für  die  Werner  eine  Erklärung  suchte  und  bei 
Böhme  vor  allem  schon  vorgebildet  fand. 

Werner  hatte  das  Phänomen  des  ekstatischen  Schaffens 
Vor  allem  in  dem  plötzlichen  Wechsel  der  schöpferischen 
Kraft  und  Ohnmacht  erlebt,  und  erkannte  dieses  Auf  und 
Ab  des  geistigen  Lebens  in  allem  Tun.  Der  Moment 
erhielt  eine  überragende  Bedeutung,  drohte  die  seelische 
Einheit  zu  zerstören,  da  er  den  geistigen  Dualismus 
deutlich  machte. 

Das  Doppel-Ich  wurde  theoretisch  überwunden  in 
dem  Begriff  der  Weihe.  Direkt  im  Anschluss  an  die  Mit- 
teilung, dass  ihm  Jakob  Böhme  entgegengetreten  war, 
formulierte  er  den  neuen  Begriff  „wie  käme  ich  Schwacher, 
der  sich  vor  einem  etwas  schmalen  Weichselkahn,  vor 
einem    alten  Pferde,    vor  Gott  weiss   was   noch    fürchtet. 


104 

dazu  mein  Schicksal,  die  schiefen  Urteile  der  mich  um- 
gebenden Menschen,  Falschheit,  Achselzucken,  dumme 
Bosheit,  alles,  womit  man  jeden  honneckt,  der  einen 
Schritt  aus  der  alten  Landstrasse  weicht,  nicht  nur  das 
sondern  eine  vergeudete  Jugend,  eine  umflorte  Aussicht 
auf  die  Zukunft  selbst  den  Gedanken  des  Todes  und  jedes 
Schlages,  den  mir  mein  immer  geschäftiges  Missgeschick 
noch  hinter  dem  Vorhang  zeigt  —  wie  käme  ich,  sage 
ich,  dazu,  wenn  nicht  des  Herren  Kraft  in  dem  Schwachen 
mächtig  wäre." 

Durch  Gottes  direkten  Beistand  wusste  er  sich  über 
diese  Fehler  seiner  empirischen  Individualität  erhoben 
und  man  erwartet  die  Weiterführung"  dieses  Gedankens 
auf  moralisch-persönlichem  Gebiet.  Werner  kam  jedoch 
zu  einer  anderen  Ausführung  des  Begriffs  der  Durch- 
göttlichung.  Des  Herren  Kraft  war  ihm  die  F'ähigkeit 
zu  Kunst  und  Religion,  also  das  Künstlertum  und  die  Re- 
ligiosität, die  in  einem  überlegenem  Widerspruch  zur 
Moralität  standen,  in  sich  theoretisch  die  persönlich  ein- 
geengte Moral  überwanden. 

Seinem  Verleger  Sander  gegenüber  unterscheidet  er 
sich  in  Auffassung  und  Beurteilung  der  Dinge  scharf  in 
prosaisch  und  poetisch,  wobei  er  den  poetischen  Zustand 
ziemlich  deuthch  mit  dem  der  Weihe  gleich  setzt.  In 
den  Höhepunkten  des  Lebens  stand  er  unter  der  Weihe 
der  Gottheit  die  ihn  schuldlos  verliess,  wenn  er  in  den 
Abgründen  zu  versinken  drohte.  Dieser  Lösungsversuch 
war  nicht  aus  dem  moralischen  Leben  gewonnen.  Das 
Künstlertum  Werners  Hess  ihn  diese  Theorie  als  Abstrak- 
tion des  Erlebten  finden.  Der  Weihebegriff  steht  in 
nächster  Verbindung  mit  seiner  Definition  der  Kunst,  als 
die  Art  des  Schauens,  in  der  das  Universum  zum  Ab- 
glanz Gottes  wurde.  Begrifflich  ging  sein  Denken  die- 
selbe Bahn,  die  Novalis  durch  Böhme  nahm  und  die  in 
den  Lehrlingen  von  Sais  zur  Erkenntnis  wurde,  dass  nur 
ein  Gott  das  Göttliche  erfassen  könne.  Werner  aber 
nahm    bezeichnend  für   die   Stärke  des  Doppelich-Gefühls 


105 

ein  zeitliches  Nebeneinander  von  Gott  und  Tier  im  Men- 
schen an.  Der  Zwiespalt  zwischen  Mensch  und  Künstler, 
der  in  der  Romantik  eines  der  Urerlebnisse  war,  suchte 
hier  die  erste  Versöhnung.  Sie  war  nur  ein  Kompromiss 
und  musste  noch  über  verschiedene  Stadien  bis  zu  Klä- 
rung. Bezeichnend  für  den  Romantiker  war,  dass  nicht 
das  Menschtum,  sondern  das  Künstlertum  die  erste  Brücke 
über  die  Antithese  des  Ichs  schlug.  Die  Auffassung  der 
Kunst  als  ein  ekstatisches  Schaffen  unter  dem  direkten 
Einfluss  Gottes,  die  auch  Wackenroder  verkündet  hatte, 
wurde  ausgewertet  und  liess  diese  Formel  finden,  die 
wohl  als  die  eigenartigste  Fassung  des  Shafetsburyschen 
„second  maker"  angesprochen  werden  kann,  ohne  dass 
der  Engländer  sie  beeinflusst  hätte. 

Das  Ich  in  seinem  eigentlichen  Wesen,  in  seinem 
Einzig-Sein  wurde  noch  nicht  schärfer  gesehen,  wenn 
gleich  sich  gerade  in  dem  Unkraft-Weihebegriff  die  Mög- 
lichheit zu  einer  positiven  Fassung  zeigte.  Noch  halte 
über  alles  hinweg  das  dumpfdröhnende  Motiv:  „die  stolze 
Ichheit  wird  ans  Kreuz  geschlagen."  Aber  in  einigen 
Nebenbemerkungen  lässt  sich  schon  der  neue  Gedanke 
erkennen,  der  sich  duichzusetzen  versucht  und  neben 
dem  Hauptthema  und  gegen  es  sich  behauptet.  Noch 
warf  das  Universumgesetz  auf  das  kleine  Ich  seine  gigan 
tischen  Schatten,  verdunkelte  es  aber  nicht  mehr  völlig. 
Das  Ich  wurde  hier  schon  als  Zweck  empfunden  und 
entzog  sich  wenn  auch  nicht  völlig  bewusst  und  ent- 
schlossen dem  Vernichtungsgesetze.  Es  war  ein  positiver 
Wert  in  ihm  und  den  suchte  Werner  ahnend  zu  fassen. 
Die  Anregungen  aller  Philosopheme  nahm  er  hierzu   auf. 

Schelling  sah  in  der  Ichheit,  diesem  gerade  bei  ihm 
schillernden  Begriff,  auch  den  Schnittpunkt  des  Absoluten 
mit  dem  Realen  und  bot  die  Möglichkeit  der  Wertung 
des  Individuellen  als  die  Besonderheit. 

Wackenroder  wie  Schleiermacher  und  Böhme  hatten 
Punkte,  an  denen  eine  Wertung  des  Induviduellen  sich 
zeigte.     In  den  Herzensergiessungen  wurde  immer  wieder 


106 

festgestellt,  dass  „Schönheit  in  der  Kunst  nicht  etwas  so 
armes  und  Dürftiges  ist,  dass  eines  Menschen  Vermögen 
sie  erschöpfen  könnten Ihr  Licht  zerspaltet  viel- 
mehr sich  in  tausend  Strahlen,  deren  Widerschein  auf 
mannigfaltige  Weise  von  den  grossen  Künstlern,  die  der 
Himmel  auf  die  Welt  gesetzt  hat  in  unser  entzücktes 
Auge  zurückgeworfen  wird."  Von  diesem  Gedanken  aus 
kam  Wackenroder  zu  der  grossen  demütigen  Toleranz 
den  Schaffenden  gegenüber,  die  ihn  in  Dürer  und  Raffael 
Brüder  sehen  lehrte.  Die  Gottheit  schaffte  Millionen  In- 
dividuen, die  zu  ihrer  Lust  und  Qual  leben.  Viele  so 
wunderlich,  dass  sie  jenseits  der  Erkenntnis  stehen  „.  .  . 
lasst  uns  wiederum  die  Mannifaltigkeit  der  erhabenen 
Geister  bewundern,  welche  der  Himmel  zum  Dienste  der 
Kunst  auf  die  Welt  gesetzt  hat".  Im  ewigen  Geiste  aber 
lösen  sich  die  Verschiedenheiten  in  Harmonie  auf:  „domi 
aus  all  den  Millionen  von  der  Erde  abgeschiedenen  Leben 
baut  er  jenseits  jenes  blauen  Firmaments  eine  neue  glän- 
zendere Welt  näher  um  seinen  Thron  herum,  wo  jedes 
Gute  seinen  Platz  finden  wird."  Böhmes  Auffassung  der 
Welt  als  Bild  Gottes,  dessen  Unendlichkeit  in  immerwäh- 
render Geburt  sich  zu  offenbarem  strebe,  gab  den  Platz 
für  die  Einführung  des  Persönlichkeitsbegriffes.  Aus  dem- 
selben religiösen  Erlebnis  war  Schleiermacher  zu  seinem 
„höheren  Realismus"  gekommen,  der  vielfältige  Verschie- 
denheit der  einzelnen  Wesen  als  Symbole  des  unendlichen 
und  lebendigen  Alls  forderte.  „Im  Unendlichen  steht 
alles  Endliche  ungestört  nebeneinander.  Alles  ist  eins 
und  alles  ist  wahr."  Von  seiner  Auffassung  des  Univer- 
sums als  Kosmos,  die  Böhme  am  feinsten  ausgedrückt 
hatte,  kam  er  zu  dem  eigentlichen  romantischen  Begriff 
der  Individualität,  den  er  in  der  zweiten  Rede  also  um- 
schrieb: „Keiner  ist  dem  andern  gleich  und  in  dem  Leben 
eines  jeden  gibt  es  irgend  einen  Moment,  wie  der  Silber- 
blick unedlerer  Metalle,  wo  er  sei  es  durch  die  innige 
Annährung  eines  höheren], Wesens,  oder  durch  irgend 
einen  elektrischen  Schlag  gleichsam  aus   sich   heraus  ge- 


107 

hoben  und  auf  den  höchsten  Gipfel  desjenigen  gestellt 
wird,  was  er  sein  kann.  Für  diesen  Augenblick  war  er 
geschaffen,  in  diesem  erreichte  er  seine  Bestimmung  und 
nach  ihm  ging  die  erschöpfte  Lebenskraft  wieder  zu- 
rück." Zu  Eingang  der  ersten  Rede  konnte  Werner 
lesen:  „Es  ist  die  innere,  unwiderstehliche  Notwendigkeit 
meiner  Natur,  es  ist  ein  göttlicher  Beruf,  es  ist  das,  was 
meine  Stellung  im  Universum  bestimmt  und  mich  zu  dem 
Wesen  macht,  welches  ich  bin." 

In  der  Weihe  der  Unkraft  war  das  Ich  zum  Träger 
der  Gottheit  geAVorden  und  damit  ein  Gegensatz  aufge- 
stellt zwischen  dem  Ich  als  Wirklichkeitserscheinung  und 
dem  Ich  als  Zweckträger  des  Göttlichen.  Hier  erschienen 
noch  beide  Formen  im  zeitlichen  Nebeneinander  und  die 
gedankliche  Fortentwicklungsmöglichkeit  zur  erlösenden 
Synthese  reifte  nicht  aus.  Aber  Werner  fand  hier  wenig- 
stens einen  Mittelpunkt,  der  über  seinem  geistigen  Zwie- 
spalt stand.  Er  ging  den  Weg  seiner  Generation.  Der 
Romantiker  war  viel  zu  differenziert,  um  sich  als  einheit- 
lich geschlossene  Persönlichkeit  zu  fühlen  und  aus  diesem 
Gefühl  der  Einheit  heraus  sich  eine  W^eltanschauung  zu 
schaffen.  Friedrich  Schlegel  sagte  im  Athenäum  „Hat 
man  nun  einmal  die  Liebhaberei  fürs  Absolute  und  kann 
nicht  davon  lassen,  so  bleibt  einem  kein  Ausweg,  als  sich 
selbst  immer  wieder  zu  widersprechen  und  entgegenge- 
setzte Extreme  zu  verbinden.  Um  den  Satz  des  Wider- 
spruchs ist  es  doch  unvermeidlich  geschehen,  und  man  hat 
nur  die  Wahl,  ob  man  sich  dabei  leidend  verhalten  will, 
oder  ob  man  die  Notwendigkeit  durch  Anerkennung  zur 
freien  Handlung  adeln  will." 

Werner  ahnte  die  Einheit  seiner  selbst  im  Künstler- 
tum.  Als  Schaffender  erkannte  er  den  Persönlichkeits- 
wert, da  sein  Da-  und  Sosein  nötig  war,  um  einen  ganz 
bestimmten  Zweck  zu  erreichen.  Denn  Kunst  —  wissen 
wir  —  war  ein  Mittel  der  Religion  und  ihr  Mittelcharakter 
trat  wohl  unter  der  Energie  dieser  Ideen  immer  mehr 
hervor.     Das  Aposteltum    war    ihm   jetzt    seelische    Not- 


108 

wendigkeit,  um  seine  Wesensform  gerechtfertigt  zu  wissen. 
Nur  in  der  Erfüllung  dieses  gottgewollten  Berufs  war  er 
„geweiht"  und  seine  Lebenssehnsucht  war,  Priester  des 
Allerhöchsten  zu  sein,  und  so  über  den  Wechselfällen 
seiner  Erdenexistenz  sich  zur  Persönlichkeit  im  Sinne 
Schleiermachers  zu  erheben. 

Während  Werner  von  dieser  geistigen  Revolution 
erschüttert  wurde,  die  durch  die  rasende  Hast  der  ver- 
schiedenartigsten Eindrücke  und  durch  die  anscheinend 
vernichtende  Stärke  ihrer  Fremdkräfte  ihn  das  Aufgeben 
der  Individualität  erleben  Hess,  trug  er  sich  mit  künst- 
lerischen Plänen.  Der  Aufnahmeakt  nahm  seine  gesamte 
Energie  in  Anspruch  und  wenn  er  auch  immer  wieder 
betonte,  dass  es  seine  eigenen  Ideen  seien,  so  kam  die 
zerstörende  Kraft  dieses  Vorgangs  für  sein  Persönlich- 
keitsgefühl indirekt  umso  stärker  zum  Ausdruck.  Erst 
nachdem  sich  das  wirre  Chaos  ein  Avenig  geordnet  hatte, 
konnte  die  Produktivität  sich  formend  bemühen,  das  neue 
Wissen  zu  gestalten  und  der  Mitwelt  zu  predigen,  konnte 
gleichzeitig  den  Bildungsprozess  dieser  Ideen  zum  Posi- 
tiveren hin  beeinflussen,  sodass  das  Kunstwerk  dieser 
Epoche  alle  Gedanken  in  sich  saugte,  andererseits  aber 
auch  sie  weiterentwickelte.  Vor  allem  im  Begriff  der 
Persönlichkeit. 

Das  neue  Drama,  der  zweite  Teil  der  „Söhne  des 
Thals",  der  trotz  des  Widerspruchs  seines  Verlegers  „die 
Kreuzesbrüder"  genannt  wurde,  nahm  im  Herbst  und 
Winter  1802  schnell  Gestalt  an,  so  dass  er  am  28.  Februar 
1803  Peguilhen  berichten  kann,  dass  es  bis  auf  einige 
Scenen  vollendet  sei.  Hitzig  wurde  über  die  Ent- 
stehung brieflich  auf  dem  Laufenden  gehalten,  ohne  dass 
jedoch  die  —  wohl  unbewusste  —  Entwicklung  in  ihren 
Einzelheiten  klar  zum  Ausdruck  gekommen  wäre.  Ein 
äusseres  Zeichen  dieses  klärenden  aber  auch  hemmenden 
Vorgangs  ist,  dass  er  noch  fast  das  ganze  Jahr  an  dem 
Werke  arbeitete  und  feilte,  obwohl  er  gleich  nach  dem 
ersten  Wurf  glaubte,    dass   dieser  Teil    besser   würde  als 


109 

der  erste.  Ein  Jahr  nach  den  „Templern  auf  Cypern" 
erschienen  1804  die  Kreuzbrüder  bei  Sander  in  Berlin. 

Hatte  der  erste  Teil  mehr  eine  Zustandschilderung 
gegeben,  worin  der  Orden  als  todesreif  dargestellt  war 
und  die  verschiedenen  Kräfte  aufgedeckt  wurden,  die 
seine  äussere  Vernichtung  zur  tragischen  Sicherheit 
machten,  so  gab  der  zweite  Teil  „das  Opfer  der  Ver- 
wandlung". Nur  die  letzten  Scenen  des  Trauerspiels 
wurden  gespielt  und  der  Prolog  skizzierte  den  historischen 
Verlauf.  Äusserlich  fiel  der  Templerorden  der  Habsucht 
und  den  Intriguen  seiner  moraUsch  gleich  minderwertigen 
Gegner  zum  Opfer,  tatsächlich  aber  wird  nur  die  Form 
vernichtet,  das  Kleid  zerrissen,  das  nicht  mehr  dem  In- 
halt entsprach.  Der  Ewigkeitswert,  der  sich  hinter  den 
historischen  Formeln  barg,  konnte  nicht  untergehen.  Der 
Weltgeist  forderte  das  Wandlungsopfer  der  Allgemeinheit 
zu  nutzen,  der  gegenüber  der  Orden  —  als  Individuum 
grösseren  Stils  —  und  die  Einzelperson  zurückzutreten 
haben.  Das  Entwicklungsgesetz  des  Universums,  die  Tod- 
Geburt  sollte  hier  Form  werden.  Im  Gegensatz  zu  den 
Künstlern,  die  sich  an  dem  gleichen  Stoff  versucht  hatten, 
wollte  er  „das  hochtragische  Fatum  des  Ordens"  ent- 
wickeln. Da  lag  die  Konzeption,  deren  latente  Energie 
bei  der  Aufnahme  der  Romantik  aktiv  wurde,  so  dass  sie 
als  Kristallisationspunkt  zur  Wirkung  kam  und  den  zweiten 
Teil  der  Söhne  des  Thals  zu  dieser  Form  bildete. 

Als  er  das  Drama  begann,  hatte  er  das  Fatum  ge- 
sehen wie  Schiller  es  in  seinen  „angestrengten  und  herr- 
lichen Versuchen"  dargestellt  hatte:  Das  Sittengesetz,  das 
den  moralisch  verkommenen  Orden  strafend  treffen  sollte, 
jetzt  war  es  im  Sinne  Schleiermachers  und  der  Natur- 
philosophie ordnende  Natur,  die  über  dem  Moralisch-Mensch- 
lichen stand.  Absichtlich  blieb  die  Moralität  ohne  beson- 
deren Akzent,  da  sie  als  sekundär  in  Wert  erkannt  war 
und  nur  individuelle  Werte  oder  Unwerte  bezeichnet  hätte. 
Die  Persönlichkeiten  verlieren  auch  dichterisch  die  Um- 
risschärfe   des   ersten  Teil   und   ihre  Konturen  lösen  sich 


110 

in  dem  flimmernden  Zwielicht  des  übermenschlichen  Ge- 
schehen, das  sich  an  ihnen  vollzieht,  das  sie  opfert. 
„  .  .  wenn  ich  überhaupt  in  meinem  ganzen  zweiten  Theil 
die  Idee  der  Opferung  Isaaks  durch  Abraham  (diese  acht 
göttliche)  versinnbildlichen  wollte,  so  wäre  es  (natürlicher 
Weise)  Kleckerei,  da  ich  grelle  Farben  brauchen  müsste  . . . 
aber  die  Idee  bleibt  dem  ohne  geachtet  göttlich .  .  .^  schrieb 
der  Dichter  nach  Böhmes  Auffassung  zu  Beginn  der  Arbeit. 
Da  nicht  persönliche  Leistung  den  Orden  erzeugte,  son- 
dern das  Walten  des  schicksalhaften  Weltgeistes  „so  ist 
es  sein  Recht,  die  morsche  Hülle  des  Ordens  vorsätzlich 
zu  zerstören,  wie  der  Künstler  eine  von  ihm  selbst  ge- 
formte, missratene  Bildsäule  zerschlägt,  um  daraus  eine 
edlere  zu  formen".  Er  allein  handelt,  er  allein  schafft 
sein  Werk,  das  Vernichtung  scheint  und  Verklärung  ist. 

Von  den  Menschen  wird  die  Wirklichkeit  nicht  gelebt 
sondern  ertragen.  Diese  Auffassung  Werners  trat  in 
seiner  Kunst  deutlich  zu  Tage.  Seine  Helden  handeln 
w^eniger  als  sie  vielmehr  heroisch  leiden.  Sie  lassen  das 
Entwicklungsgesetz  an  sich  zur  Erfüllung  gehen  und 
sträuben  sich  nicht  dagegen.  Ihr  „Silberbhck"  ist  das 
Dulden  des  Opfertodes.  Das  menschliche  wie  auch  künst- 
lerische Interesse  Werners  ist  zunächst  nicht  denen  zu- 
gewandt, die  als  die  Auserkorenen  der  Zukunft  Träger 
des  Seins  sind,  sondern  denen,  die  von  der  eisernen  Not- 
wendigkeit zermalmt  werden  müssen.  Eine  Definition 
des  Tragischen  würde  von  dem  Dichter  der  Söhne  des 
Thals  so  gegeben  worden  sein:  „Tragisch  ist  das  Unter- 
liegen der  moralisch  Guten  dem  Lebensgesetz  gegenüber, 
da  sie,  die  Vertreter  eines  Toten,  trotz  ihrer  Überlegen- 
heit als  Persönlichkeiten  im  Naturzusammenhang  zum 
Sterben  verurteilt  sind." 

Das  Schicksal  erscheint  nicht  nur  als  die  Kraft,  die 
jede  Tat  in  einem  Zusammenhang  zu  höheren  Zwecken 
umw^ertet,  sondern  als  Dynamis,  aus  der  analytisch  sich 
das  Geschehen  entfaltet  und  trotz  theoretischer  anders 
gerichteter    Nebenbemerkungen    bleibt    •  lieser    Analvsis- 


Hl 

Charakter  des  Geschehens  ohne  eigentliches  Handeln  der 
Persönlichkeiten  bestehen.  Dieses  Sehen  liess  auf  der 
Bühne  als  Symbol,  als  Vernunft-Bild  des  Schicksals  das 
Thal  erscheinen,  das  künstlerisch  ein  völliger  Fehlgriff^ 
Werners  theoretisch  im  Formbegriff  dargelegte  Sucht  nach 
fasslichen,  äusseren  Zeichen  beweist.  Mitwirken  mochte 
neben  literarischen  Vorbildern  dazu  sein  Wunsch,  durch 
dieses  Vorbild  einer  Gemeinschaft  hoher  Art  auf  die  Form 
des  Freimaurerordens  einzuwirken. 

Eine  Handlung  im  dramatischen  Sinne  konnte  sich 
nicht  durchsetzen,  obgleich  der  Kampf  des  Dramatikers 
Werner  gegen  den  Philosophen  oft  deutlich  hervortrat. 
Im  Verlauf  der  Arbeit  drohte  eine  Person  alle  Energien 
des  Dramas  an  sich  zu  reisen  „ein  Mann,  der  ohne  bigott, 
Eiferer  oder  Schurke  zu  sein,  den  Orden  und  Molay, 
seinen  Freund,  seinen  höheren  Zwecken  opfert,  ein  Mann 
ohne  Leidenschaft,  gemacht  die  Welt  zu  beherrschen": 
Wilhelm  Erzbischof  von  Paris,  der  den  Prozess  leitete. 
Werner  ist  der  Gefahr,  die  seiner  Auffassung  des  Indivi- 
duums hier  drohte,  dadurch  begegnet,  dass  er  den  Erz- 
bischof zum  Mitglied  des  Thals  machte.  Nicht  aus  per- 
sönlichen Motiven  wird  seine  Kampfenergie  geweckt,  den 
unumstösslichen  Spruch  des  waltenden  Thals  vollzieht  er 
„ein  veredelter,  das  heisst  vom  Egoismus  entkleideter 
Richelieu".  Unpersönlich  wie  der  Henker  des  Schicksals 
soll  er  seine  Pflicht  erfüllen  und  wo  er  sich  für  Momente 
als  Richter  fühlt,  ist  die  künstlerische  Freude  Werneis  an 
diesem  Charakter,  die  er  im  Briefe  oft  äusserte,  für  den 
Verstoss  verantwortlich  zu  machen.  Denn  sein  eigenes 
Urteil  soll  und  darf  nicht  egoistisch  bei  dieser  Urteilsvoll- 
streckung mitwirken.  Gerade  da  hier  eine  Gefährdung 
dprch  Individualitätkult  drohte,  suchte  Werner  jede  Per- 
sönlichkeitsleistung, die  ein  Individualverdienst  hätte  wer- 
den können,  auszuschalten  und  auch  Wilhelm  von  Paris 
soll  eine  Marionette  des  Fatums  bleiben;  denn  das  In- 
teresse konzentriert  für  Werner  sich  darauf,  „die  Wirk- 
samkeit des  Thals  darzustellen,  Avelches  im  Verborgenen 


112 . 

das  Depot  der  heiligsten  Wahrheiten  der  Menschheit  auf- 
bewahrte ;  zu  Verkündern  (wenn  ich  sagen  dürfte  Missionaren) 
dieser  Wahrheit  für  den  christlichen  Erdstrich,  die  Templer 
ernannte".  Die  tiagische  Schuld  des  Ordens  ist  seine 
eigenmächtige  Rationalisierung  der  Religion,  ihre  Ver- 
mischung mit  Politik  usw.,  gegen  die  sich  Schleiermacher 
ebenfalls  gewandt  hatte.  Nur  dann  kann  die  Idee  des 
Thals  erfüllt  werden,  wenn  die  Verbindung  von  Religion 
und  Kunst  zu  einer  neuen  Einheit  gebracht  werden  kann, 
die  den  Enthusiasmus  der  Liebe  in  sich  trägt  und  dadurch 
die  unproduktive  Kälte  einer  Verslandesreligion  überwindet. 
Die  Masse  des  Volkes,  die  Menschheit  soll  erwärmt,  nicht 
nur  den  Geistesaristokraten  Nahrung  geboten  werden. 
Dazu  ist  die  Lehre  der  Templer  nicht  angetan,  die  aus 
egoistischen  Gründen  nur  den  Wenigen  etwas  geben  wollte. 
Sie  sündigten  gegen  das  Weltgesetz,  das  Verleugnung 
der  Persönlichkeit  fordert,  weil  sie  sich  zu  einer  an  sich 
hohen  Stufe  der  Weltanschauung  als  Einzelwesen  erhoben 
auf  Kosten  ihrer  Aufgabe,  die  sie  zu  Aposteln  bestimmt 
hatte.  Die  individuelle  Seelenkultur  ist  ihre  Sünde  und 
der  Träger  der  neuen  Form,  Robert,  wird  erst  erst  dann 
für  vollendet  erklärt,  als  er  das  höchste  Persönlichkeits- 
opfer, den  Verzicht  auf  die  „krüppelichte  Unsterblichkeit" 
als  Individuum  leistet  und  sich  dem  Universum  hingibt. 
Molay  stellt  sich  erst  da  in  die  Reihe  der  Helden  und 
Heiligen  des  Thals  neben  Christus,  Moses  nnd  Osiris  als 
er  freiwilig  die  Vernichtung  seines  Lebens,,  den  Opfertod 
wählt  und,  als  seine  Freunde  ihn  retten  wollen,  selbst  in 
den  auflodernden  Scheiterhaufen  springt,  den  ein  Blitz- 
strahl des  Himmels  entzündet.  Wilhelm  von  Paris  ist 
glücklich,  als  er  hört,  dass  auch  er  bald  „verwandelt" 
sein  werde.  Denn  das  alle  beherschende  Gesetz  dieser 
Menschen  ist  „Eins  zu  werden  mit  dem  All". 

Zusammengedrängt  wurde  dies  neue  Evangelium  in 
der  Legende  von  Phosphoros,  die  bewusst  in  Paralelle 
gestellt  war  zu  dem  „Mährlein  vom  Baffomet".  In  der 
Erklärung,   die  Werner  Scheffner  dazu  schrieb,    ist   noch 


11?. 

deutlicher  als  in  der  Erzählung  selbst  Böhmes  Gedanken- 
welt zum  Ausdruck  gebracht.  Im  Baffomet  war  die  Ver- 
kümmerung des  irdischen  Menschen  durch  Geiz  und 
Egoismus  und  damit  die  Herrschaft  des  toten  über  dem 
lebenden  Prinzip  —  wie  Böhme  es  nannte  —  dargestellt. 
Die  Phosphorlegendc  sollte  über  das  Zerrbild  des  frere 
terrible  hinaus  den  Akt  der  geistigen  Wiedergeburt  schil- 
dern, „die  Erlösung  des  Menschen  sowie  die  Auflösung 
der  die  Materie  fesselnden  Ketten,  durch  ihr  Zerrinnen  be- 
zeichnen", mit  Böhmes  Wort:  die  Zerbrechung  und  Wieder- 
geburt. Da  der  Mensch  und  die  Welt  Synonima  sind  „wie 
etwa  das  sich  in  einem  Cylinder  abspiegelnde  Bild  einer 
darunter  gelegten  verstellten  Zeichnung^  hat  die  Darstel- 
lung einen  kosmischen  und  einen  moralischen  Sinn.  Der  ph}'- 
sische  Gehalt  wird  mit  genauer  Verfolgung  Böhmescher  Ge- 
danken dargelegt.  Das  reine  Licht  ist  eine  Emanation  der 
Gottheit,  die  durch  die  Berührung  mit  der  Erde  verunreinigt 
und  eingekerkert  in  anderen  Elementen  zum  Feuer  wird. 
In  ihm  bleibt  die  Sehnsucht  nach  dem  Urlicht  und  die 
belebende  Kraft,  die  die  Körperwelt  zu  erwärmen  strebt. 
Aber  der  Widerstand  ist  zu  gross  und  nur  bei  Zerstörung 
und  Verfeinerung  des  Materiellen  kann  sich  das  reine 
Lichtleben  erfüllen.  Das  höchste  Symbol  der  Wiederver- 
einigung mit  Gott  ist  der  Regenbogen  „in  dessen  Centro 
sich  die  reinsten  Strahlen  spiegeln".  So  wie  die  Regen- 
wolken den  Lichtbogen  erzeugen,  ist  auch  das  reine  Wasser 
der  Heiland  des  Lichts.  Mit  wollüstiger,  alles  vereini- 
gender Kraft  bemächtigt  sich  dieser  Erlöser  seiner  aus- 
schliessend.  Er  verlöscht  das  Feuer,  die  gröbere  in  Ele- 
menten eingekerkerte  Form  des  Lichtes,  vernichtet  es  und 
in  diesem  Sterben  gebiert  es  wieder  das  reine  Licht,  das 
freigeworden  zu  seinem  Urquell  zurückeilt  und  in  ihm 
aufgeht. 

Dementsprechend  lautet  die  moralische  Ausdeutung, 
dass  eine  Emanation  Gottes  im  Materiellen  sich  individuali- 
siert. Das  Denkende  und  Fühlende  das  Phlogiston)  im 
Menschen    ist    die    reinste    Emanation    der    Gottheit    und 

Hankamer.  Zacliarias  Werner.  B 


114 

eigentlich  es  nur  der  Mensch.  Die  umschliessenden  Elemen- 
tarmassen, die  man  Körper  nenne,  sind  nur  der  Kerker. 
Die  organischen  Wirkungen  (Handlungen)  seien  in  Wahrheit 
nicht  Leben,  sondern  Hemmungen  des  wahren  Lebens. 
Das  sogenannte  Leben  hindert  nur  die  Wiedervereinigung 
mit  der  Gottheit.  Nur  in  Gott  selbst  sei  der  Mensch  etwas, 
sein  Individualleben  bleibe  ein  stolzes  Nichts.  Die  Wie- 
dervereinigung erfolge  durch  den  körperlichen  Tod  und 
den  Logos,  der  als  Mittler  das  im  Moralischen  menschlich 
symbolisierte  göttliche  Licht  darstelle.  Die  Stunden  der 
höheren  Weihe  seien  Vorboten  der  V^ereinigung  und  in 
ihnen  habe  das  Göttliche  die  Oberhand  über  das  Irdische 
im  Menschen.  Es  sind  die  Stunden  der  „höheren  Weh- 
mut", in  denen  die  Trauer  über  das  Einzel-Sein  die  Seele 
berühre.  Die  materielle  Erlösung  wird  durch  die  Krank- 
heiten vorbereitet,  da  sie  das  organische  Leben  zugunsten 
des  Phlogiston  schwächten.  Der  körperliche  Tod  als  das 
tatsächliche  Zerrinnen  im  Unendlichen  wird  als  Heiland 
aus  den  Wassern  bezeichnet.  „Wenn  in  einer  Stelle  ge- 
sagt wird,  diese  Kiste  (in  denen  die  Lehre  des  Ordens 
aufbewahret  wurde)  enthalte  den  Tod,  die  Kraft,  die 
Gährung  und  den  Frieden",  so  heisst  dass:  die  ganze 
Weisheit  des  Ordens,  der  aus  Ertödtung  des  Eigenwillens 
die  göttliche  Kraft  in  uns  zu  erzeugen  bestimmt  ist,  so- 
wie aus  Erstarrung  des  Materiellen  (Tod)  das  Leben  neu 
in  der  Gährung  (Verwesung)  und  aus  ihr  die  Beschwich- 
tigung der  streitenden  Kräfte  (Friede)  entsteht.  Die  Mau- 
rerei hat  nur  einen  Zweck,  Wiedergeburt  und  für  die, 
welche  ihn  erreicht,  einen  Trost  Palingenesie,  und  die 
Belege  dazu  sollte  jener  Kasten  erhalten." 

Es  ist  für  die  Art  des  geistigen  Prozesses  bei  Werner 
äusserst  bezeichnend,  dass  er  sein  System,  dessen  Wurzeln 
wir  in  der  Romantik  und  in  Böhme  fanden,  als  eigent- 
lichen Gehalt  der  Freimaurerlehre  ansprechen  zu  können 
meinte.  Sein  Schauen  war  so  produktiv,  dass  er  jede 
Entwicklungsmöglichkeit  fast  vergewaltigend  zur  Vollen- 
dung in  seiner  Form  ausreifen  Hess.    Er  war  unfähig  etwas 


115 

anderes  zu  sehen  als  sein  Bild  und  fand  beim  leisesten  Ähn- 
lichkeitsreiz einer  Einzelheit  das  Ganze  als  Synonyme.  So 
konnte  er  annehmen,  in  diesem  Werke  die  Maurerei  in 
ihre  Bestandteile  „chemisch  zerlegt"  und  nur  das  Dunkel 
aufgehellt  zu  haben,  das  durch  die  vielen  törichten 
Symbole  und  die  geschwätzige  Sentimentalität  über  die 
Lehre  sich  gebreitet  hatte.  Er  identifizierte  Maurer  und 
Christ  und  hoffte  im  Maurertum  die  Keime  des  Urchristen- 
tums wieder  zur  Entfaltung  bringen  zu  können,  dessen 
Lehre  er  hier  zu  verkünden  meinte. 

Das  war  seine  Absicht  gewesen.  Er  wollte  dem  Frei- 
maurerbunde ein  Lehrgedicht  geben,  hatte  diesem  Wollen 
seine  Kunst  geopfert,  die  er  im  Epilog  als  Form  und  also 
nebensächlich  abtat.  Abtuen  musste  nach  seiner  Auf- 
fassung der  Kunst.  Das  erklärt  die  ästhetischen  Mängel 
zumeist,  wie  auch  auf  dem  Boden  dieser  passivistischen 
Weltauffassung  die  eigentlich  dramatische  Form  sich  nicht 
gestalten  konnte.  Künstlerisch  ist  dies  Werk,  das  er  nach 
Schillers  Wallenstein  ein  dramatisches  Gedicht  nannte 
eine  Talentprobe,  die  aufmerken  Hess  und  mit  Recht  Iff- 
lands  Interesse  erweckte.  Gelang  es  den  Dichter  von 
seinen  scheinbaren  Äusserlichkeiten  abzubringen  und  seine 
theatralische  Gewandtheit  mit  dem  dramatischen  Instinkt 
zu  einen,  so  musste  er  Erwähnenswertes  leisten.  Dass 
das  Formale  ganz  mit  seiner  Weltauffassung  verschmolzen 
war,  war  nicht  zu  erkennen  und  verurteilte  die  Erzie- 
hungsversuche Ifflands,  die  nach  Werners  schmeichelndem 
Brief  einsetzten,  von  vornherein  zur  Erfolglosigkeit. 

Auf  einen  engeren  Kreis  Gleichgesinnter  wirkte  das 
Drama  in  dem  Sinne  den  Werner  gewollt  hatte,  ästhetisch 
fand  es  nur  wenig  Beachtung  und  wurde  von  Jean  Pauls 
Spott  gegeisselt.  Die  Romantiker  gingen,  wie  Werner 
geahnt  hatte,  entweder  daran  vorüber  oder  dagegen  vor, 
und  auch  der  materielle  Erfolg,  den  er  sich  davon  ver- 
sprochen hatte  für  seine  Versetzungswünsche  blieb  aus, 
obwohl  er  eine  rührige  Reklame  bei  allen  Leitenden  zu 
machen  sich  mühte. 


116 

Vor  allen  mit  den  Romantikern  versuchte  Werner 
durch  Hitzig  und  Peguilhen,  der  als  Kriegs-  und  Domainen- 
rat  an  der  Berliner  Oberrechenkammer  beschäftigt  war, 
Fühlung  zu  gewinnen,  um  seinem  Plane  eines  Kunstor- 
dens einen  realen  Untergrund  zu  schaffen ;  aber  mit  Aus- 
nahme der  Freunde  Hitzigs,  die  einige  Zeit  auf  ihn  hörten, 
war  sein  Bestreben  fruchtlos.  Der  Kreis  in  Königsberg 
jedoch  schloss  sich  enger  um  ihn  und  hielt  ihn  noch  mehr 
von  den  geistig  und  gesellschaftlich  Führenden  fern.  Erst 
gegen  Ende  seines  Königsberger  Aufenthalts  trat  er  mit 
Scheffner  in  Verbindung  und  gewann  in  ihm  einen  väter- 
lichen Freund,  in  dessen  Hause  auch  seine  Frau  gern 
aufgenommen  wurde,  deren  „sancta  simplicitas"  einem 
gesellschaftlichen  Verkehr  nicht  sehr  dienlich  war.  Der 
überall  Verbindung  suchende  Literat  verfehlte  nicht, 
Kotzebues  Aufenthalt  in  Königsberg  zu  nutzen,  die  per- 
sönliche Bekanntschaft  des  Vielbekannten  zu  machen,  um 
seine  weitreichenden  Beziehungen  für  sich  verwenden  zu 
können. 

Der  Zustand  seiner  Mutter  verschlechterte  sich  immer 
mehr  und  zwang  ihn,  seinen  Urlaub  zu  verlängern.  In 
Warschau  stiess  er  auf  Widerstand.  Je  mehr  er  sich  in 
seine  Arbeit  an  dem  Drama  hineinwühlte,  und  je  sicherer 
das  Wissen  um  sein  Künstlertum  in  ihm  wurde,  umso 
stärker  bildete  sich  der  Widerwillen  gegen  seine  Beamten- 
stellung heraus.  Die  Briefe  dieser  Zeit  sind  beherrscht 
von  den  Bitten  um  Vermittlung  einer  Pension,  da  er  kein 
eigenes  Vermögen  mehr  hatte  und  „von  der  Gnade  einer 
verrückten  Mutter"  leben  musste.  Grotesk  wechselten 
diese  Bitten  mit  Darlegungen  seines  Systems  und  zeichnen 
den  zermürbenden  Zwiespalt  seiner  Lage  gut  nach.  Die 
Empfindlichkeit  des  Dichters  litt  dazu  noch  unter  den 
hämischen  Gerüchten,  die  über  den  auffälligen  Einsiedler 
in  Königsberg  geklatscht  wurden.  Die  Eifersucht  seiner 
jungen  Frau,  die  vor  allem  unter  den  h3'sterischen  Aus- 
brüchen der  Kranken  zu  leiden  hatte,  am  Hause  gebunden 
war    und    hinter    den    geheimnisvollen    Zusammenkünften 


117 

der  Jünger  Werners  alles  vermutete,  steigerte  sich  da- 
durch, dass  seine  Zeit  fast  völlig  von  literarischen  Arbeiten 
absorbiert  wurde.  All  das  wirkte  zusammen,  um  den  Tod 
seiner  Mutter,  der  mit  dem  Ableben  Mniochs  wie  er  glaubte 
auf  einen  Tag,  den  24.  Februar  1804  fiel,  zu  einem  zer- 
reissenden  Erlebnis  zu  gestalten.  Die  Qualen  der  letzten 
Krankheitstage  Hessen  alles  andere  verblassen  und  die 
Tote  als  Märtyrin  erscheinen,  der  er  auch  in  tausend  Ver- 
fehlungen der  Jug-end  wehe  getan  hatte. 

Seine  religiöse  Hyperästhesie,  die  der  Umgang  mit 
Mayr  steigerte,  sah  in  dem  Leid  einen  Wink  der  Gottheit 
zur  inneren  Einkehr,  zur  Aufgabe  seiner  Persönlichkeits- 
liebe, die  der  Grund  aller  Sünde  war:  .  .  .  „wie  viel  gäbe 
ich  darum,  sie  noch  eine  Woche  zu  erwecken  und  mein 
gepresstes  Herz  in  Reuethränen  zu  entladen."  Er  quälte 
sich  mit  der  Frage  ab,  warum  die  Schuldlose  soviel  habe 
leiden  müssen  und  da  er  keine  Antwort  zu  finden  wusste, 
rettete  er  sich  in  den  Christen-  und  Maurerglauben  an 
die  Unerforschlichkeit  der  göttlichen  Vorsehung.  Ihr  warf 
er  sich  ganz  in  die  Arme,  steigerte  sein  rehgiöses  Leben 
zu  einer  qualvollen,  wollüstigen  Sehnsucht  nach  Selbst- 
vernichtung. Damals  war  es,  wo  er  nach  achtzehn  Jahren 
am  Charfreitag  zum  ersten  Male  wieder  zum  Abendmahl 
ging.  Seine  religiöse  Inbrunst  glühte  alles  verzehrend 
in  ihm.  Selbst  die  eben  vollendete  Dichtung  erschien  ihm 
kalt  und  schal,  nicht  fähig,  eine  Ahnung  von  dem,  was 
ihn  durchschütterte,  den  Menschen  zu  geben.  Das  wollte 
er  jetzt  als  Künstler  aussprechen.  So  konzipierte  er  das 
Kreuz  an  der  Ostsee,  in  dem  er  von  seinem  Erleben 
zeugen  wollte.  Ein  religiöses  Kunstwerk  sollte  erstehen, 
nicht  ein  Lehrgedicht  für  einen  Kreis ;  ohne  Didaktik  und 
ohne  Störung  durch  direkte  Predigt  sollte  es  die  auf- 
zuckenden Energien  seiner  Liebereligion,  zum  Gedicht 
gestaltet,  der  Menschheit  schenken.  Aus  dem  tiefsten  Er- 
lebnis der  mystischen  Einheit  der  beiden  Kräfte  sollte  es 
quellen  und  sein  Weib  und  ihn  darstellen  in  dem,  was  die 
Sehnsucht  der  geweihten  Stunden   sie  als  Eigenschicksal 


118 

erhoffen  und  erbitten  liess.  Der  Bühne  gedachte  er  ein 
echtkatholisches  Drama  zu  geben  und  hatte  den  Glau- 
ben, dadurch  „die  Kunst  und  mein  Schicksal  zu  ver- 
söhnen". 

Schon  in  seinem  ersten  Briefe  an  Iffland  kündigte 
er  das  neue  Drama  an,  musste  aber  einige  Monate  später 
gestehen,  dass  er  über  die  Umarbeitung  der  beiden  ersten 
Akte  nicht  hinausgekommen  war.  Die  hatte  er  in  Königs- 
berg und  auf  der  Reise  nach  Warschau  geschrieben  und 
über  den  Plan  mit  Kotzebue  und  auch  wohl  mit  seinen 
nächsten  Freunden  gesprochen.  Ein  halbes  Jahr  später 
meldete  er  ihm  die  Vollendung  des  ersten  Teils,  da  eine 
Trennung  in  zwei  Teile  zu  je  drei  Akte  sich  notwendig 
erwiesen  habe,  um  den  Stoff  ganz  einzufangen.  Er  hatte 
unter  dem  langsamen  Fortschreiten  der  Arbeit  sehr  ge- 
litten und  nur  aus  Furcht  vor  dem  Plagiat  Kotzebues, 
das  ihn  als  literarischen  Dieb  bei  weiteren  Zögern  ver- 
dächtigen könnte,  hatte  er  den  Abschluss  des  Stückes 
schneller  gefördert,  vielleicht  auch  aus  diesem  Grunde  die 
Zweiteilung  des  Dramas  vorgenommen,  da  die  Schlussakte 
sich  nicht  bilden  wollten.  Erst  1806  erschien  die  Buch- 
ausgabe, nachdem  Iffland  die  Aufführung  des  Stückes  mit 
sehr  schmeichelnden  Worten  abgelehnt  und  als  Anerken- 
nung des  künstlerischen  Wertes  ihm  ein  Geldgeschenk  über- 
wiesen hatte.  Das  Drama  ist  infolge  dieser  Zufälle  lange 
unter  der  Hand  Werners  geblieben.  In  Einzelheiten  des 
Stücks  lässt  sich  der  Entwicklungsgang  der  Jahre  er- 
kennen, ohne  dass  das  Grundthema  dadurch  verwischt 
wäre.  Dass  der  zweite  Teil  trotz  fortgesetzter  Arbeit 
nicht  ausreifte,  ist  wohl  dadurch  zu  erklären,  dass  die 
weitere  Bildung  Werners  unter  Einflüssen  und  zu  Zielen 
sich  entwickelte,  die  dem  Konzeptionspunkt  fern  lagen. 
Bereits  in  den  „Söhnen  des  Thals"  hatte  er  immer 
deutlicher  das  Urchristentum  „den  Sieg  des  geläuterten 
Christentums"  als  Mittelpunkt  der  Darstellung  empfunden. 
Da  richtete  sich  der  Kampf  des  echtkatholischen  Erz- 
bischofs als  Thal-Bevollmächtigten  „gegen  den  durchaus 


119 

prosaischen  Drang  eines  durch  keine  Phantasie  begränzten 
Critizismus",  jetzt  wollte  er  „den  Sieg  der  christUchen 
Gottheit  über  den  Heidengöttern"  darstellen,  die  Christia- 
nisierung des  Preussenvolkes.  Dass  dieser  Sieg  nicht  ge- 
waltsam oder  durch  eine  positive  Tat  erfolgen  konnte, 
war  für  den  damaligen  Werner  selbstverständHch.  Das 
Lebensopfer  des  preussischen  Königssohnes  und  seiner 
Braut  Malgona,  der  Tochter  des  Masurenherzogs,  sollte 
den  Sieg  erzwingen.  Die  Liebe  der  beiden  jungen  Men- 
schen war  ihm  keine  Episode.  Ihr  Tod  sollte  in  einem 
Akkord  alle  Töne  seines  Evangeliums  erklingen  lassen 
und  irgendwie  die  Einheit  von  Liebe  und  Religion  als  Er- 
scheinungsform der  Selbstaufgabe  in  der  Vereinigung  mit 
dem  Universum  bezeugen. 

Das  Heilige  sollte  hier  kämpfen  mit  dem  Dämonischen. 
Böhme  hatte  ihn  diesen  Gegensatz,  der  bei  Werner  einen 
besonderen  Entwicklungsgang  machte,  gelehrt  und  Schleier- 
macher ihn  gefärbt.  Dämonisch  sind  die  Menschen,  die 
nicht  von  der  All-Liebe  durchdrungen  in  sich  den  Mittel- 
punkt suchten  und  fanden,  die  sich  emporgebildet  hatten 
zur  übermenschlichen  Grösse,  ohne  in  der  Verleugnung 
des  eigenen  Wollens  Gott  zu  suchen.  Wir  kennen  den 
Vertreter  des  Dämonischen  in  dem  „Kreuz  an  der  Ostsee" 
nicht  aus  Werners  Darstellung.  In  dem  allein  erschie- 
nenen ersten  Teil  des  Werkes  wird  er  nur  exponiert. 
Aber  Hoffmann,  dem  Werner  das  Stück  vorlas  und  den 
er  als  Komponisten  gewann,  gab  in  den  Serapionsbrüdern 
den  Eindruck  wieder,  den  Waidewuth  der  Priesterkönig 
auf  ihn  gemacht  hatte,  der  gegen  die  Götzen,  die  er 
selbst  mit  Feuer  —  dem  verderbten  Licht  — ,  belebt  und 
die  sich  gegen  ihn  empörten,  kämpfte,  ein  Imperator  del 
doloroso  regno,  Dantes  würdig.  Ihn  und  die  Welt  der 
Dämonen  besiegen  die  Heiligen,  das  mystische  Paar  Mal- 
gona  und  Warmio,  weil  sie  die  Träger  der  Liebe  und  da- 
mit des  Lebens  sind.  Sie  sind  geweiht,  stehen  in  dem 
grossen  „Wesenring'',  dessen  Mittelpunkt  Gott  ist,  der 
durch  sie  wirkt.     Als  seine  Bühnenfigur,  als   das  Symbol 


120 

seines  Mitwirkens  ist  der  Bischof  Adalbert  gedacht  ,,der 
,  .  .  die  deutschen  Ordensritter  wie  das  Schicksal  leitet", 
in  dem  Endkampf  gegen  die  dämonischen  Mächte  gewiss 
die  Entscheidung  realisieren  sollte  und  immer  als  Warner 
und  Mahner  in  den  entscheidenden  Augenblicken  auftritt, 
ohne  aber  eine  solche  Aktivität  zu  zeigen,  wie  der  Erz- 
bischof Wilhelm. 

Soweit  sich  aus  dem  ersten  Teil  des  Kreuzes  an  der 
Ostsee  erkennen  lässt,  sollte  der  Spielmann  das  Geschehende, 
das  von  innen  heraus  sich  entwickelnde  Schicksal^  nicht 
so  sehr  leiten,  als  wissend  begleiten.  Ihm  scheint  halb 
die  Rolle  des  Chors  zugewiesen,  der  den  Zusammenhang 
zwischen  dem  empirischen  Geschehen  und  der  geistigen 
Wirklichkeit  aufzuweisen  hat,  halb  die  Rolle  des  Fatums. 
Die  Auffassung  des  Geschehens  ist  etwas  gewandelt,  lässt 
eine  leise  Schwächung  der  Abhängigkeit  der  Einzelheit 
vom  Schicksal  zugunsten  der  Individual-Handlung  des 
Einzelnen  erkennen.  Dass  sie  bewusster  war,  geht  aus 
der  Bemerkung  Werners  Iffland  gegenüber  hervor:  die 
Entscheidung  solle  fallen  durch  den  freiwilligen  Opfertod 
Malgonas  und  Warmios.  Während  in  den  „Söhnen  des 
Thals"  die  eigentliche  Entwicklung  auch  ohne  das  Opfer 
des  Lebens  durch  Mola}'  sich  entschied,  sollte  hier  eine 
Tat  der  Individuen  bestimmend  eingreifen. 

Das  Opfer  der  Liebenden  steigert  sich.  Der  erste 
Teil  —  die  Brautnacht  —  gipfelt  in  dem  freiwilligen  Vei- 
zicht  der  Beiden  auf  Erfüllung  ihrer  Liebe,  in  der  Ver- 
klärung der  Geschlechtsliebe  durch  die  Heiligkeit.  Er 
w^ollte  die  romantische  Liebe  gestalten  und  gab  eine  Dar- 
stellung seines  Liebebegriffs,  der  den  Zwiespalt  zwischen 
Gottosliebe  und  Gattungstrieb,  den  Malgona  selbst  em- 
pfindet, in  der  Ekstase  wollüstiger  *Verzichtsqual  löste. 

„Höre,  du  Segnende 

Sündern  Begegnende 

Mutter  der  Gnaden,  mich, 

Blitze  entladen  sich 

Treffen  mich  zündend  hier, 

Sund,  ich  erliege  Dir. 


121 

Sie  überwindet  sie:  „O  lass  mir  erscheinen  die  heilige 
Liebe.     Sich  reinen,  vereinen  die  feindlichen  Triebe". 

In  allen  den  schillernden  Farbentönen,  die  diese  Ge- 
fühlsverwirrung in  sich  birgt,  malt  Werner  die  Stimmung 
dieser  Stunde.  Von  der  Sehnsucht  „Zu  glühn  an  Dir, 
Dich  einzusaugen"  bis  zu  der  milden  Bitte  Warmios  um 
die  Schwesternliebe  Malgonas  leuchten  sie  auf,  binden 
sich  zu  einer  flimmernden  Einheit  der  wollüstigen  Gottes- 
liebe, die  in  dem  Gatten  Jesus  zu  finden  glaubt,  die  Eini- 
gung mit  Ihm  seelisch -körperlich  erlebt.  Begrittlich  hat 
Werner  wie  Böhme,  in  diesem  Drama  die  Gattungs-  und 
Gottesliebe  getrennt  und  der  Heilandliebe  den  höheren 
Wert  zugesprochen.  Die  Verneinung  der  Glück-  und  Er- 
füllungsforderung der  beiden  Einzelpersonen  ist  noch  über 
das  System  hinaus  gesteigert.  Liebe  ist  aktive  Versen- 
kung in  das  Universum  und  in  dieser  Aktivität  lag  ein 
„Erdenrest  peinlich  zu  tragen".  Werners  Einstellung  in  der 
Zeit  der  Konzeption  war  absolut  passivistisch  und  so  stellte 
er  den  passivistischsten  Akt  der  Einigung  mit  dem  Univer- 
sum dar,  die  völlige  Zerbrechung,  den  Tod.  Der  Tod  erst 
liess  alles  Isolierende  restlos  aufgehen  in  die  ewige  Liebe, 
in  die  Einheit  aller  Liebe  in  Gott,  in  den  höchsten  Wonne- 
brand. Als  die  drei  Knappen,  ihre  Schützlinge  verteidigend, 
fallen,  spricht  der  Spielmann:  „Drei  Märtyrer  zusammen 
Entglühn  in  Opferflammen."  Der  Opfertod  verbindet  die 
Einzeln  im  All  zu  der  Einheit,  von  der  auch  Wilhelm 
weiss,  der  sterbend  im  Gedanken  an  sein  Weib  die  Worte 
findet:  „Mathilde  in  dem  reinen  Gefilde  wir  uns  einen." 
Und  zu  dieser  höchsten  Einheit  sollte  der  Tod  die  beiden 
Liebenden  führen  in  der  „Weihnacht"  dem  zweiten  Teil 
der  Tragödie,  in  dem  sie  ihre  Weihe  erlitten. 

Begrifflich  ist  dieser  Gedanke  klar.  Psychologisch 
erreichte  Werner  diese  kühle  Klarheit  keineswegs.  Da 
die  Form  der  Liebe  für  ihn,  wie  jede  Form  letzten  Endes 
nebensächlich  sein  sollte,  verwischte  sich  die  Gefühlsfarbe 
und  floss  im  Erlebnis  verwirrend  zusammen.  Der  ero- 
tische Timbre    war   auch    in    def  Gottesliebe    der   beiden 


122 

Opfernden,  die  begrifllich  den  tatsächlichen  Einheitspunkt, 
den  ihr  blinder  Trieb  in  dem  Besitz  der  Person  suchte, 
in  Gott  erkannten,  gefühlsmässig  aber  Gott  mit  geschlecht- 
licher Inbrunst  empfinden.  Das  Erlebnis  überwältigte  den 
Philosophen  und  sein  Liebesbegriff  stand  zu  seiner  Äusse- 
rung in  einem  Gegensatz,  der  Werners  Weltauffassungs- 
bildung treffend  charakterisiert. 

Er  wollte  hier  die  Caritasliebe  in  ihrer  höchsten  Form 
geben  und  damit  den  Mittelpunkt  des  Christentums,  wie 
er  es  sah  und  sehen  wollte,  seit  er  Böhme  kannte.  Die 
Grundgedanken  dieses  Christentums  sind  ungefähr  die- 
selben, die  wir  in  den  „Söhnen  des  Thals"  als  Maurerlehre 
definiert  fanden  und  der  „geläuterte  Katholizismus",  zu 
dessen  Propaganda  Werner  sich  damals  berufen  fühlte, 
ist  damit  umschrieben.  Mit  dem  historischen  Katholizismus 
hat  diese  Lehre  so  gut  wie  nichts  gemein  und  Werner 
befand  sich  völlig  im  Recht  wenn  er  den  Vorwurf  seiner 
Freunde,  er  verführe  seine  Jünger  zum  Katholizismus,  als 
unberechtigt  zurückwies.  Werner  schrieb  Scheffner,  dass 
er  in  diesem  Schauspiel  katholische  Mythen  verwandt 
habe,  weil  das  Fatum  im  Sinne  Schillers  für  die  Modernen 
nicht  ansprechend  sei.  Die  Forderung  Friedrich  Schlegels 
variierte  er  zu  der  Behauptung,  dass  die  Bühne  ihr  Heil 
nur  in  Katholizismus  finden  könnte.  Aber  einschränkend 
bemerkte  er  dazu,  er  habe  sie  nur  „in  dem  Sinne  brauchen 
wollen,  wie  Sokrates  im  Piaton  die  hellenischen  Mythen, 
als  Propädeutik  höherer  Anschauungen  und  glaube  also, 
dass  kein  vernünftiger  Mensch  deshalb  —  so  weniger  jenen 
für  einen  Heidenpfaffen  halten  kann  —  bei  mir  die  Tonsur 
wittern  wird." 

Werner  hat  auch  nach  seiner  Konversion  dieses  Drama 
als    christlich    anerkannt.     Vielleicht    wegen    der   begriff-  || 

liehen  Entscheidung  für  die  Gottesliebe,  sicher  aber  auch 
wiegen  der  von  ihm  erfassten  Schicksalsidee  des  Christen- 
tums, die  er  hier  einzuführen  suchte.  Die  Weltanschauung 
des  Christentums  ist  übertragisch.  Die  Überwindung  des 
Schicksals  wird  Symbol   in    dem  Christusmysterium     das 


123 

nicht  mit  Golgatha  abschliesst,  sondern  in  der  Auferstehung 
des  Gottmenschen  gipfelt.  Die  Jenseitsorientierung  dieser 
Religion  bedingt  schon  an  sich,  dass  ein  erdgebundenes 
tragisches  Geschehen  nicht  mit  der  Vernichtung  des  irdi- 
schen Lebens  abschliesst.  Das  Wertvollste  und  Wesent- 
liche des  Menschen  ist  die  körperfremde,  unsterbliche  Seele. 
Ihre  Läuterung  und  Verklärung  durch  ein  qualvolles  ir- 
disches Geschick  ist  Ziel.  Die  furchtbare  Erschütterung, 
die  das  Schicksal  der  Griechen  zur  Folge  hatte,  da  mit 
dem  Tode  das  freudlose  Ende  des  Lebens  gekommen  war, 
ist  einer  Weltanschauung  unmöglich,  in  der  das  Leben  im 
Tode  nicht  abgeschlossen  ist,  sondern  recht  eigentlich  erst 
beginnt.  Der  Christusreligion  ist  der  Tod  und  die  da- 
durch mögliche  Verklärung  der  höchste  Lebenszweck. 
Die  eigentlich  heidnische  Tragödie  musste  durch  die  Ein- 
führung dieser  Weltauffassung  zum  Mysterium  sich  weiten, 
musste  in  der  Verklärung  des  Helden  das  Pendant  zur 
Auferstehung  des  opfernden  Gottes  finden.  Wir  ahnen, 
wie  Werner  sich  den  Abschluss  seines  Dramas  dachte. 
Der  Opfertod  der  beiden  Liebenden  war  der  Sieg,  wie 
Christus  Tod  der  Sieg  war.  Die  göttliche  Gnade  war 
dadurch  verdient  und  ihr  Walten  rührte  die  Herzen  der 
Menschen.  Das  Christentum  kam  als  Gnade  über  die 
Heiden.  Die  Idee  des  stellvertretenden  Opfers,  die  eine 
Voraussetzung  der  Rechtfertigungs-  und  Erlösungslehre 
ist,  sollte  in  diesem  Drama  gestaltet  werden.  Malgona- 
Warmio  erleben  das  Märtyrer-Schicksal  im  Wissen,  dass 
nicht  nur  sie  sich  vollenden,  dass  dadurch  auch  die  Mensch- 
heit vollendet  wird,  indem  sie  die  Gnade  durch  ihr  Opfer 
in  Gott  lösen. 

Wir  definierten  den  Schicksalsbegriff  Werners  in  den 
„Söhnen  des  Thals"  als  eine  Verbindung  Schleiermachers 
mit  Schiller  und  der  Naturphilosophie  zu  einer  neuen 
Einheit.  Schon  in  diesem  Fatum-begriff  lag  ein  starker 
christlicher  Einschlag.  Das  Fatum  stand  in  einem  schroffen 
Gegensatz  zum  Individuum,  aber  nur  insofern,  als  das 
Einzelwesen    irreligiös    eine    persönliche,    irdische   Glück- 


124 

forderung  im  Widerspruch  mit  dem  Allleben  forderte. 
Sein  Erdenschicksal  war  in  aller  Qual  doch  Vorsehungstat, 
diente  dazu,  es  durch  die  Zerbrechung  zum  höchsten 
Glück  zu  führen.  Die  Liebe  von  oben  nahm  daran  teil 
und  Linderung  und  Zustimmung  bot  sie  durch  äussere 
Zeichen,  Aus  dem  innersten  Drang  seines  Wesens  war 
Werner  zu  dem  Gnadenglauben  des  Christentums  ge- 
kommen. Die  Vorstellung  Gottes  als  des  liebenden  Vaters 
hatte  das  eiserne  Fatum  nicht  zu  einer  mechanischen  Not- 
wendigkeit werden  lassen.  Was  der  Katholik  Werner 
später  in  den  Worten  gab: 

Gott  trieb  durch  das,  was  hier  unten 

Schicksal  heisst,  und  uns  macht  wimmern 

Unterdess  von  oben  flutet 

Auf  uns  Blinde  Segenslichtstrom 
hat  sich  in  sein  System  immer  wieder  eingedrängt  und 
die  Gnade  stellte  die  Verbindung  zwischen  Mensch  und 
Schicksal  her.  In  diesem  Stücke  sollte  durch  die  Be- 
nutzung katholischer  Mythen  das  antike  Schillersche  Fatum 
ganz  überwunden  werden.  Das  Schicksal  der  Liebenden 
sollte  Tat  des  All  werden,  zu  der  die  Gnade  Gottes  es 
erhob.  War  Molays  Tod  und  sein  Leben  ein  Selbstopfer 
gewesen,  um  das  Fatum  zu  erfüllen,  suchte  er  so  die 
Transcendenz  des  Schicksals  mit  seiner  Persönlichkeit  mehr 
äusserlich  zu  verbinden,  hier  sollte  die  S3mthese  inner- 
licher und  vollständiger  werden.  Das  Persönlichkeitleben 
als  Ganzes  sollte  als  Schicksalleben  erscheinen,  als  eine 
Einheit,  die  in  sich  ungebrochen  war.  Für  die  Christin 
Malgona  gab  es  keinen  Gegensatz  zwischen  Schicksal  und 
Lebenswillen.  In  der  Gnade  (Werner  hätte  wohl  mit 
leichter  Version  sagen  können :  in  der  Weihe)  erschien 
Schicksal  und  Ichforderung  versöhnt.  Nur  der  Heide 
Warmio  erlebt  den  Kampf  der  Wahl,  löst  ihn  aber  durch 
die  Gnadenfürbitte  des  Heiligen. 

Ebenso  wenig  rein  wie  das  Liebegefühl  ist  der 
Schicksalbegriff  durch  Werner  dargestellt  werden.  Die 
Energie  seines  psychologischen,  früheren  Systems  wurde 


125 

durch  die  neue  Auffassung  nicht  ganz  gebrochen.  Der 
Widerstand,  den  diese  Weltanschauung  Werner  dem  Künstler 
bot,  ist  wohl  der  tiefste  Grund  dafür,  dass  sich  der  zweite 
Teil  nicht  vollendet.  Das  innere  Schwanken  verrät  sich 
in  der  häufigen  CJmarbeit  des  Stücks,  die  immer  da  bei 
Werner  sich  zeigt,  wo  er  sich  mit  neuen  Werten  ausein- 
anderzusetzen hat.  Eine  Anregung,  die  jetzt  aktiv  wurde, 
drängte  ihn  stärker  in  die  neue  Richtung.  Es  scheint, 
dass  der  Reiz,  der  ihn  zu  der  Wandlung  seines  Schicksal- 
glaubens veranlasste,  erst  während  der  Ausführung  und 
nach  der  Konzeption,  (die  im  Fatumbegriff  der  „Söhne  des 
Thals"  lag)  zur  Einwirkung  kam  und  nun  nicht  mehr 
reine  Form  gewinnen  konnte.  Das  Avürde  auch  erklären, 
warum  Werner  gerade  bei  der  Interpretation  des  Fatum- 
begriffs  in  dem  „Kreuz  an  der  Ostsee"  zweifellosen  Schwan- 
kungen ausgesetzt  war.  Er  ist  ein  Kompromiss  zwischen 
den  Fatum  und  der  katholisch-christlichen  Schicksalauf- 
fassung, die  ihm  in  den  Dramen  Calderons  entgegentrat. 
1803  erschien  A.  W.  Schlegels  erster  Band  des  spa- 
nischen Theaters,  der  drei  Dramen  des  grossen  Spaniers 
brachte.  Als  Ouvertüre  dazu  gab  er  in  der  „Europa" 
den  Aufsatz  „Über  das  spanische  Theater",  der  Werner 
sicher  nicht  entging.  Das  „Kreuz  an  der  Ostsee"  ist 
nicht  nur  im  Titelanklang,  sondern  in  der  Tiefe  des  Ge- 
halts von  Calderon  beeinflusst.  In  Auswertung  der  Ideen 
der  beiden  Schlegel  wie  auch  Goethes  fand  Schelling  in 
dieser  Zeit,  dass  Calderon  der  gesuchte  Endpunkt  der 
('romantischen)  Kunst  sei  und  suchte  den  Beweis  dafür  in 
der  Definition  des  Tragischen,  als  in  dem  Verhältnis  von 
Freiheit  und  Notwendigkeit.  Shakespeare  erschüttere  durch 
ein  Charakter-Fatum,  in  dem  die  Freiheit  nicht  mehr  zur 
Äusserung  komme.  Der  „Sophokles  der  differenzierten 
Welt"  ist  ihm  Calderon,  der  Freiheit  und  Notwendigkeit 
versöhnt  habe.  Hier  begann  sich  deutlicher  die  Linie 
durchzuzeichnen,  die  Werner  suchen  musste.  Ob  er  da- 
mals nähere  Kenntnis  dieser  Auflassung  .Schellings  besass, 
ist  mit  dem  zur  Verfügung  stehenden  Material   kaum  zu 


126 

entscheiden,  bleibt  auch  nebensächlich.  Er  konnte  durch 
die  eigene  Denkenergie  leicht  dazu  gelangen,  sowie  er 
Calderons  Kunst  kennen  lernte,  die  das  System  Werners 
eine  Zeit  bestimmte  und  dann  durch  die  Tätigkeitsforde- 
rung Fichtes  zunächst  überwunden  Avurde,  um  in  der 
„Kunigunde"  etwas  und  völlig  in  der  „Mutter  der  Makka- 
bäer"  zum  Durchbruch  zu  kommen. 

Auch  formal  lässt  sich  die  Dynamis  dieser  Kunst  in 
dem  „Kreuz  an  der  Ostsee"  erkennen.  Waren  die  „Söhne 
des  Thals"  auch  im  zweiten  Teil  noch  als  Arbeit  der 
Schiller- Schule  erkenntlich,  dieses  Drama  stellt  er  in  einen 
bewussten  Gegensatz  zu  der  „Jungfrau  von  Orleans",  die 
nur  äusserlich  romantisiert  sei.  Sein  Drama  war  aus  dem 
Geiste  der  Romantik  geboren,  was  ihm  dasselbe  sein 
musste,  aus  dem  Geiste  Calderons,  der  auch  Tiecks  „Ge- 
noveva"  mitbestimmt  hatte.  Die  Form  Calderon-Tiecks 
sollte  ihm  die  Möglichkeit  geben,  auch  der  Bühne  gerecht 
zu  werden;  denn  Werner  empfand  sehr  stark  den  Schaden, 
den  er  seinem  Lehrgedicht  dadurch  zufügte,  dass  er  es 
nicht  für  die  Aufführung  geschrieben  hatte,  die  alleine  die 
volle  Auswertung  des  religiösen  Apostelpathos  gesichert 
hätte.  Er  war  viel  zu  sehr  Bühnenpraktiker,  um  nicht 
die  Unmöglichkeit  eingesehen  zu  haben,  sein  Erstlings- 
werk auf  die  Bühne  zu  bringen.  Das  „Kreuz  an  der  Ost- 
see" sollte  bühnenfähig  werden  und  das  veranlasste  ihn 
mit,  die  Teilung  vorzunehmen  und  er  schmeichelte  sich 
dabei,  dass  die  Brautnacht  reicher  an  Handlung  sei  als 
die  Piccolomini. 

Werner  war  so  in  den  Bann  der  neuen  Schule  ge- 
raten, dass  er  trotz  aller  Kenntnis  des  Technischen  der 
Bühnenwirkung  in  den  Grundfehler  verfiel,  das  drama- 
tische Geschehen  lyrisch  zu  umspielen.  Er  musikalisierte 
es  formal  und  untermalte  jede  Stimmung  des  Moments  im 
Wechsel  des  Versmasses,  Übertreibend  nutzte  er  den 
Formreichtum,  den  die  Romantiker  boten,  und  suchte 
selbst  Tieck  noch  durch  feinste  Unterschiede  zu  über- 
treffen.    In    weicher  Musik    licss   er   die   Seelenregungen 


137 

der  Liebenden  Wort  werden.  Man  muss  das  Drama  als 
den  Versuch  ansprechen,  die  von  ihm  anerkannte  Forde- 
rung der  Romantiker  zu  erfüllen,  alle  Poesie  zur  Musik  zu 
veredeln.  Die  geschlossene  Einheit  des  Dramas  wurde 
dadurch  aufgelöst  zu  einer  Vielheit  seelischer  Einzel- 
situationen, die  oft  nur  durch  den  rein  tatsächlichen  Zu- 
sammenhang der  Handlung  gebunden  wurden.  Das  Charak- 
terdrama der  Modernen  und  das  Situationsdrama  der  An- 
tiken war  in  Calderon  zu  einer  gewissen  Einheit  gekomxmen, 
die  Werner  erstrebte,  ohne  sie  zu  erreichen.  Er  war 
nicht  in  sich  sicher  genug  und  suchte  jeden  möglichen 
Vorwurf,  der  einen  oder  anderen  Richtung,  zu  entkräften. 
Diese  zarte  Tönung  der  seelischen  Entwicklung  stand  in 
einem  eigenartigen  Widerspruch  zu  den  effektsuchenden 
äusseren  Geschehnissen,  durch  die  Werner  den  theatra- 
lischen Körper  für  die  überzarte  Seele  zu  retten  suchte. 
Er  kam  nicht  zu  einer  Einheit. 

Dieser  Fehler  im  Aufbau  war  die  natürliche  Folge 
des  Versuchs  den  in  Schillers  Schule  gebildeten  Theatra- 
liker mit  dem  Romantiker  Calderon  zu  verbinden.  Auch 
hierin  scheint  der  Zwiespalt  der  künstlerischen  Konzep- 
tion des  Dramas  wie  die  Entscheidungslosigkeit  Werners 
sich  zu  zeigen.  Er  wollte  eine  V^ersöhnung  der  beiden 
Gegensätze,  nicht  eine  direkte  Wahl  zwischen  den  beiden 
Formen.  Doppelt  stark  trat  das  wohl  hervor,  da  die  Ex- 
position der  seelischen  und  realen  Situation,  aus  der  dies 
Mysterium  sich  entwickeln  sollte,  für  sich  allein  im  ersten 
Teil  stand.  Das  epische  Moment,  was  stets  mehr  oder 
weniger  in  diesem  Teil  des  Dramas  sich  bemerkbar  macht 
und  bei  dem  an  sich  fremden  Milieu  Werner  zur  Weit- 
schweifigkeit verführte,  suchte  er  durch  äussere  Handlung 
vergessen  zu  machen.  Die  Entwicklung  zur  Gott-Ge- 
schlechts-Liebe  konnte  auch  eine  katastrophale  Steigerung 
nicht  finden,  blieb  Zustand  und  Ruhe,  da  eben  eine  Einheit 
und  keine  Entscheidung  tatsächlich  gefunden  wurde.  Das 
wirklich  dramatische  Geschehen  hätte  erst  der  Schlussteil 
bringen  können,  erst  da  wären  die  Personen   in   stärkere 


128 

Bewegung  geraten  und  hätten  vielleicht  durch  ihre  see- 
lische Energie  eine  schärfere  Durchzeichnung  der  Charak- 
tere erzwungen.  Das  Verwischen  der  Konturen  der  lei- 
tenden Personen,  das  schon  den  zweiten  Teil  der  Templer 
gegenüber  dem  ersten  bezeichnete,  musste  hier  in  er- 
höhtem Masse  eintreten,  da  das  seelische  Zerrinnen  der 
Liebenden  in  einander,  die  Lösung  der  individuellen 
Dissonanz  zur  religiösen  Harmonie  im  All  die  Absicht 
war.  Im  Keim  war  damit  das  Dramatische  schon  krank 
und  trotz  und  wegen  einzelner  Höhepunkte  das  Werk  als 
ganzes  gegenüber  den  Thalsöhnen  ein  Rückschritt.  Einige 
Darstellungen  bewiesen  die  gute  Beobachtungsgabe  des 
Dichters,  der  einen  „Cyklus  polnischer  Weiblichkeit"  gab, 
und  die  Eigenait  der  Atmophäre  des  polnischen  Leben 
gut  traf.  Wenngleich  er  sich  bemüht  hatte,  die  Didaktik 
hicht  direkt  zu  geben,  letzten  Endes  war  und  sollte  auch 
dieses  Werk  eine  Predigt  sein;  denn  „Kunst  ist  Spiel  mit 
dem  Ernste ;  wie  lange  ich  spielen  soll,  wird  vom  geneigten 
Leser,  wie  lange  und  was  ich  handeln  soll  von  Gott  und 
mir  abhangen-",  schrieb  er  mit  Bezug  auf  dieses  Stück 
seinem  Freunde  Scheffner  aus  Warschau. 

Dorthin  war  er  kurz  nach  dem  Tode  seiner  Mutter 
zurückgekehrt  und  betrieb  auf  jede  Art  und  Weise  seine 
Versetzung  nach  Berlin.  Das  langsame,  zögernde  Fort- 
schreiten der  künstlerischen  Arbeit  glaubte  er  auf  die 
Überhäufung  mit  Amtsgeschäften  zurückführen  zu  müssen 
und  fürchtete,  dass  seine  dichterische  Produktivität  unter 
dieser  wesensfremden  Arbeit  ersticken  könne.  Dann  hatte 
er  umsonst  gelebt.  Scheffner,  Iffland,  Peguilhen,  Sander, 
alle  wurden  sie  mit  Bitten  bestürmt  eine  Änderung  der  Le- 
benslage zu  erwirken  und  jeden  höheren  Beamten,  der  in 
Warschau  vorsprach,  versuchte  der  langsam  bekanntere 
Dichter  für  sich  und  seine  Kunst  zu  interessieren.  Er 
dachte  an  eine  Beamten -Sinecure  in  Weimar,  hoffte  in 
Erfurt  auf  passenden  Unterhalt  und  legte  Iffland  nahe, 
ihm  beim  Berliner  Nationaltheater  irgendeine  Officianten- 
stelle    zu    beschaffen    oder    ihn   in   dem   wohlfeileren   und 


129 

ländlichen  Potsdam  unterzubringen.  In  dem  Überarbeiteten 
regte  sich  wieder  die  Sehnsucht  nach  Rousseauscher 
Stille,  nach  dem  Landleben  und  zurückgezogener  Arbeit. 
Sowie  er  aber  die  Möglichkeit  sah,  zwischen  dem  stillen 
Erfurt  und  Berlin  zu  wählen,  entschied  er  sich  mit  ganzer 
Seele  für  Berlin, 

Da  vermutete  er  die  Fülle  der  Anregung  jeder  Art, 
die  der  Künstler  notwendig  habe,  um  nicht  zum  passiven 
Mystiker  herabzusinken.  Er  fühlte  die  Gefahr,  die  ihm 
nahe  war,  dass  seine  Aktivität  fern  vom  Leben  in  einem 
wollüstigen  Schwelgen,  in  mystischen  Erlebnissen  sich  ver- 
lieren könnte.  Der  Erfolg  seiner  literarischen  Bemühungen, 
der  sich  zu  zeigen  begann,  stärkte  seinen  Trieb,  den 
Apostelberuf  aufzunehmen.  Am  27.  Mai  1805  schrieb  er 
an  Scheffner:  „Der  Hauptgrund  (für  Berlin)  ist  aber  der, 
dass  mir  Berlin  für  meinen  Plan  mehr  Spielraum  darbietet 
und  dass  ich  lieber  Leben  und  irdische  Glückseligkeit  auf- 
opfere, als  den  mir  von  Gott  ins  Herz  geschrieben  Beruf." 
Er  weiss,  dass  er  „auf  andere  wirken  muss  und  es  haupt- 
sächlich nur  in  Berlin  kann.  Es  wird  für  mich  ein  Pathmos 
sein  aber  —  Gott  weist  mich  hin".  Als  Pflicht  empfinde 
er,  sich  in  seiner  Persönlichkeit  zu  opfern  für  die  göttliche 
Idee  trotz  der  Wahrscheinlichkeit  „Schande  und  Spott, 
die  ärger  sind  als  Hunger  und  Tod,  zu  ernten'^.  Er  be- 
kennt, dass  er  nur  Mittel  ist  und  legte  immer  und  immer 
wieder  das  Bekenntnis  ab,  als  Individuum  nichts  zu  sein 
und  die  Liebe  nicht  zu  verdienen,  die  man  ihm  schenke, 
da  er  doch  nur  fast  ohne  eigenes  Wissen  einer  göttlichen, 
ihm  nicht  gehörigen  Idee  Form  verliehen  habe.  Das  war 
das  persönliche  Bekenntnis  zu  der  eigenen  Lehre.  Aber 
ein  neuer  Ton  klang  jetzt  hin  und  wieder  an,  der  in  seinem 
Weihebegriff  laut  geworden  jetzt  vielleicht  durch  die  Auf- 
nahme ähnlicher  Gedankengänge  anderer  verstärkt  das 
Entsagungsmotiv  umspielte.  Werner  wurde  selbstbewusster 
im  eigentlichsten  Sinne  des  Wortes,  er  erfasste  sich  in 
seiner  Persönlichkeit  als  Mittel  eines  harmonischen  Zweck- 
verbandes, wie  Böhme  immer  betont  hatte. 

Hankamer,  Zacharias  Werner.  9 


130 

Gegen  literarische  Einwände  verteidigte  er  sich  damit, 
dass  er  seiner  Individualität  gemäss  die  gebotenen  Rat- 
schläge nicht  befolgen  könne.  In  den  Briefen,  die  dieser 
Zeit  angehören,  fand  neben  demütigen,  selbstvernichten- 
den Urteilen  auch  dass  Wissen  von  seinem  Werte  eigen- 
artig Platz.  Als  Antwort  gegen  den  Vorwurf  des  Mysti- 
zismus verwies  er  Scheffner  die  herabwürdigende  Be- 
nutzung dieses  Wortes,  die  einem  ehrlichen,  denkenden 
Menschen  nicht  zieme.  Der  wahre  Mystiker  sei  gewiss  schon 
deshalb  einer  der  vielseitigsten  Menschen,  weil  er  auf  einen 
Vesuv  stehe,  von  dem  er  Alles  im  Umkreise  übersehen  könne, 
^Nur  Besonnenheit  thut  ihm  Not,  um  nicht  in  den  Krater  zu 
stürzen,  und  die  gibt  uns  die  Kunst,  welche  ich  etwa  als 
die  zur  Besinnung  gekommene  Religion  definieren  möchte." 
Dieser  wahre  Mystiker  will  er  sein  und  der  muss  handeln. 
Was  er  geschrieben  hatte,  schien  ihm  nur  das  matte  Ab- 
bild dessen  zu  sein,  w^as  er  tatsächlich  zu  wirken  gedachte. 
Sobald  die  Gelegenheit  sich  biete,  werde  er  seinen 
Orden  stiften.  Werner  glaubte,  dass  die  Zeit  reif  sei 
und  nach  der  Tat  verlange,  „Gewirkt  muss  werden  und 
auch  von  mir",  schrieb  er  kurz  vor  der  Abreise  nach 
Berlin.  Mit  dem  Maurertum  setzte  er  sich  in  schärfster 
Form  auseinander  und  löste  sich  als  Persönlichkeit  mit 
bestimmter,  ihm  gehöriger  Anschauung  von  ihm  ab.  Er 
erkannte,  dass  der  Freimaurerorden  in  seiner  damaligen 
Form  nicht  identisch  war  mit  dem,  was  er  lehrte  und 
überwand  dadurch  die  Gefahr  seiner  produktiven  Rezep- 
tivität,  die  nie  den  Eigenw^ert  eines  Gedankens  ihn  hatte 
erkennen  lassen.  Mochte  er  dabei  auch  unter  dem  Ein- 
fluss  des  gleichdenkenden  Scheffners  stehen,  hier  war  von 
ihm  ein  Gegensatz  zwischen  seinem  geistigen  Eigentum 
und  dem  Besitz  der  anderen  erkannt,  der  für  den  Beginn 
einer  neuen  Phase  seiner  Entwicklung  bezeichnend  ist, 
da  er  ihm  früher  nicht  bewusst  geworden  war. 

Der  Wille  zum  Aktivismus,  der  nie  ganz  gebrochen 
gewesen,  äusserte  sich  jetzt  in  enger  Verbindung  mit  einer 
positiveren  Wertung  seiner  Individualität,  und  in  einigen 


131 

Nebenbemerkungen  streifte  er  hier  schon  den  Helden 
seines  nächsten  Dramas:  Luther,  mit  dessen  Reforma- 
tionsberuf er  sich  wahlverwandt  fühlte.  Wortwendun- 
gen und  einige  Gedanken  legen  die  Vermutung  nahe, 
dass  neue  Kräfte  wirksam  wurden.  Die  aktivistische 
Forderung  Böhmes  wurde  jetzt  deutlicher  erfasst  und  zu 
erfüllen  gesucht,  wodurch  allein  schon  eine  stärkere  Be- 
tonung des  Individuums  die  Folge  sein  musste,  sobald 
Werner  das  Künstlertum  als  seinen  Beruf  erkannte  und 
dem  Individualismus  der  Kunst  erfassen  konnte.  Seine 
Weiterentwicklung  bleibt  ziemlich  im  Ringe  Böhmescher 
Formeln,  die  von  der  neuen  Energie,  die  auf  ihn  wirkte, 
iedoch  wesentlich  geklärt  wurden  und  ihre  Äusserlichkeits- 
Mystik  mehr  verloren.  Böhmes  eigentliche  Gedanken 
traten  deutlicher  aus  den  Verkleidungen  hervor. 

Auch  als  Rezensent  suchte  Werner  in  das  literarische 
Leben  einzugreifen.  Sowohl  die  jenaische  wie  haUische 
Literaturzeitung  hatten  ihn  um  Beiträge  gebeten,  und  sie 
hatten  je  eine  Rezension  von  ihm  übernommen.  Der 
geistige  Arbeisprozess  Werners  hinderte  von  vornherein, 
dass  er  in  dieser  Art  irgend  eine  Leistung  zustande 
brachte.  Dem  einzelnen  Kunstwerk  gegenüber  stand 
er  ohne  Massstab  gegenüber,  da  ihm  der  Organismus- 
begriff nie  aufgegangen  war.  Ihm  war  das  Einzelwerk 
nicht  ein  in  sich  vollendeter  Mikrokosmos,  sondern  stand 
in  dem  Allgemeinzusammenhang,  waren  ihm  doch  alle 
Werke  der  Kunst  nur  dazu  da  „einen  schwachen  Schimmer 
jenes  Glanzes  wiederzugeben,  der  zu  blendend  ist,  um  vom 
unbewaffneten  Auge  ertragen  werden  zu  können".  Diese 
Auffassung,  mit  dem  Weihebegrift  des  Künstlers  ver- 
wachsen, Hess  ihn  Einzelheiten,  die  seiner  Richtung  ent- 
sprachen, überstark  als  besondere  Werte  empfinden  und 
nie  zu  einen  Totaleindruck  und  Gesamturteil  vom  Kunst- 
werk aus  gelangen.  Er  sah  nur  sein  Evangelium,  wenn 
sich  irgend  ein  Anhaltspunkt  bot,  produzierend  hinein  und 
verdrehte  sich  nach  Goethes  Wort  dann  „  gar  zu  sehr  den  Hals, 
um  hinaufzusehen".    Die  innere  Standfestigkeit  die  neben 


132 

dem  Einfühlungsvermögen  Eigenart  des  Kritikers  sein 
muss,  besass  er  gar  nicht,  und  sein  Lob  klang  mehr  wie 
Schmeichelei  als  wie  ehrliches  Urteil.  Diese  Seite  der 
künstlerischen  Tätigkeit  Werners  brachte  keinen  Erfolg, 
mochte  aber  seine  Entwicklung  zum  Individuum  doch  be- 
fördern, da  jede  Kritik  eine  Gegensatzstellung,  wenn  auch 
noch  so  verhüllt,  in  sich  birgt. 

Bis  in  den  Spätsommer  1805  sah  Werner  keine  Mög- 
lichkeit trotz  aller  Verbindungen,  die  er  angeknüpft  hatte, 
von  Warschau  wegzukommen.  Die  ihm  unangenehme 
niedrige  Verwandtschaft  seiner  Frau  drückte  ihn,  das 
Verhältnis  zu  dem  jungen  fordernden  Weibe,  deren  Nerven 
durch  die  lange  Krankenpflege  angegriffen  waren,  ver- 
schlechterte sich  trotz  der  wirklichen  Liebe  Werners  zu 
seiner  Malgona.  Auch  der  Minister  von  Stein  konnte  ihm 
keine  bindende  Erklärung  geben,  versprach  ihm  aber, 
wirksam  zu  sein.  Bestimmtere  Versicherung  bot  ihm  der 
Geheimrat  Kunth,  der  im  Gefolge  des  Ministers  reiste  und 
persönlichen  Anteil  an  ihn  und  seine  Frau  zu  nehmen 
schien.  Sein  Einfluss  setzte  auch  durch,  dass  Werner  als 
expedierender  Kammersekretär  nach  Berlin  berufen  wurde 
und  die  Zusicherung  erhielt,  seinem  Künstlertum  leben 
zu  können. 

Mitte  Oktober  reiste  Werner  nach  Berlin,  seiner  neuen, 
ersehnten  Wirkungstätte. 


ZWEITER  TEIL 


DIE  FORDERUNG  DER  EINHEIT 
VON  KUNST  UND  LEBEN 

WEIMAR  -  KÖLN-COPPET  -  PARIS  -  WEIMAR 


i 


V.  Kapitel. 

Tätiges  Leben. 

Die  Hoffnung  Werners,  in  Berlin  eine  ihm  entsprechende 
gesellschaftliche  Rolle  zu  spielen,  wurde  nicht  enttäuscht. 
In  den  ersten,  literarisch-interessierten  Kreisen  nahm  man 
den  Dichter  der  „Söhne  des  Thals"  gern  auf,  plauderte  mit 
ihm  über  Fragen,  die  sich  aus  dem  Drama  ergaben.  Er, 
der  Berlin  als  den  Mittelpunkt  der  Virtuosen  der  Flach- 
heit empfunden  hatte,  wurde  von  dem  schmeichlerischen 
Zauber  dieses  Literatentums  leicht  eingefangen  und  wan- 
derte von  einem  Salon  in  den  anderen.  Das  lang  ent- 
behrte Parfüm  der  Gesellschafträume,  das  er  so  notwendig 
hatte  zu  seinem  Wohlbefinden,  schien  ihn  zu  berauschen. 
Eitel  hob  er  in  Briefen  hervor,  mit  welchen  Persönlich- 
keiten er  zusammengekommen  war,  berichtele  über  Theater 
und  Festhchkeit.  Für  seine  Häuslichkeit  fand  er  kaum 
noch  Zeit,  und  seine  kränkelnde  Gattin  sah  sich  auf  sich 
selbst  angewiesen.  Die  Erkältung  ihrer  Beziehungen 
wurde  noch  durch  das  Unglück,  das  sie  traf,  vergrössert. 
Auf  der  Reise  von  Warschau  nach  Berlin  ward  die  Hoff- 
nung auf  Mutterschaft  vernichtet  und  dadurch  die  Sehn- 
sucht Werners  nach  einem  Kinde,  der  er  mehrmals  in  Brief 
und  Dichtung  ergreifend  Ausdruck  gegeben  hatte,  wieder 
enttäuscht.  Der  Schmerz  darüber  steigerte  sich  bei  dem 
Neurastheniker  bis  zur  Selbstmordidee,  von  der  er  wie 
besessen  wurde.  Die  täglichen  Reibereien  nahmen  an 
Schärfe  zu,  da  Werner  seinem  gesellschaftlichen  Apostolat 
selbst  dann  die  Zeit  opferte,  als  die  Frau  infolge  ihres 
Unfalls  ernster  erkrankte.     Das  Zusammenleben  der   bei- 


136 

den  nervösen  Menschen  war  ihnen  eine  Qual.  Leichter 
wohl  als  gehofft  fand  der  Geheimrat  Kunth  den  Weg  zu 
der  Liebe  der  jungen  Polin,  derentwegen  er  die  Über- 
siedlung Werners  so  eifrig  betrieben  hatte.  Die  Vernach- 
lässigte fühlte  sich  in  dem  gütigen  Verstehen  des  ge- 
reiften Mannes  geborgen,  und  unfähig  zu  einer  Lüge  er- 
klärte sie  dem  Gatten,  dass  sie  den  Freund  liebe,  bat  ihn 
mit  Berufung  auf  seine  eigene  hohe  Auffassung  der  Ehe 
um  die  Einwilligung  zu  Scheidung".  Sie  werde  ihm  auch 
ohne  Liebe  die  Treue  der  Ehe  wahren,  wenn  er  es  ver- 
lange, aber  glücklich  könne  sie  nie  mehr  mit  ihm  sein. 
Bei  der  eigenartigen  seelischen  Blindheit  Werners  für 
bestimmte  Realitäten,  für  das  ihm  fremde  Erleben  auch 
des  Nächsten  wurde  er  durch  diese  katastrophale  Wen- 
dung völlig  überrascht  und  brach  zusammen.  In  jäher 
Flamme  schlug  noch  einmal  die  Liebe  zu  dieser  wesens- 
gleichen Frau  in  ihm  hoch.  Erschüttert  und  unter  Tränen 
bettelte  er  um  ihre  Liebe,  bat  um  einige  Tage  Bedenkzeit, 
um  danach  doch  das  gleiche  Wort  zu  hören.  Mit  der 
wollüstigen  Sucht,  sich  selbst  zu  erniedrigen  und  zu  opfern, 
nahm  er  alle  Schuld  auf  sich.  Er  sei  ängstlich,  launen- 
haft, geizig  und  unreinlich.  Seine  Frau  aller  Ehrfurcht 
und  Liebe  wert.  „Wie  konnte  das  junge  Weib,  die  Arme, 
mit  mir  glücklich  sein.  Ich  hätte  klüger  sein,  der  Sucht, 
geliebt  zu  werden,  früher  entsagen,  kein  weibliches  Ge- 
schöpf aufs  neue  in  die  unerbittlich  grässliche  Nemesis, 
die  mich  verfolgt,  verflechten  sollen."  Die  natürliche 
Reinheit,  mit  der  die  Frau  ihr  Erleben  ihn  erkennen  liess, 
vermochte  ihn  dazu,  seinen  Schmerz  zu  der  Ekstase  auf- 
zutreiben, die  ihn  rauschartig  über  äussere  Unannehm- 
lichkeit und  innere  Qual  wegtragen  sollte.  Unfähig,  seine 
Erschütterung  schlicht  und  einfach  auszusprechen  oder 
auszuschweigen.  in  der  Angst  durch  diesen  dritten  Ehe- 
skandal in  die  Mäuler  der  hämischen  Königsberger  zu 
kommen  und  bei  seinen  Gönnern  jede  Gunst  zu  verlieren, 
verzerrte  er  die  Äusserung  und  das  Gefühl  zu  einer 
grotesk-grausigen  Form.    In  Vorstellungen  und  Ausdrucks 


137 

formen  der  Hysterie  zeigte  er  den  Freunden  seine  blu- 
tende Seele,  genoss  das  Mitleid  Johannes  Müllers  und  wei- 
dete sich  an  dem  Erbarmen,  das  man  seiner  Vernichtung 
bot.  Verlogene,  übertriebene  Steigerung  des  Natürlichen 
dünkte  ihm  Wahrheit. 

Da  auch  die  Vorteile,  vor  allem  wirtschaftlicher  Art, 
ihm  klar  wurden,  musste  er  vor  sich  selbst  eine  schau- 
spielerische Erhöhung  des  Seelischen  erspielen,  da  er  bei 
klarem  Urteil  den  eigenen  Anforderungen  nicht  zu  ge- 
nügen, sich  unbewusst  ängstigte.  Erst  in  der  Pose  des 
völlig  Zerknirschten  konnte  er  vor  sich  selbst  bestehen, 
glaubte  er  vor  der  Welt  und  Gott  bestehen  zu  können. 
Dass  aber  seine  kranke  Seele  anständig  und  in  gewisser 
Weise  groszügig  war,  zeigte  die  gute  Form  der  äusseren 
Lösung  des  Konfliktes.  Die  Ehe  wurde  ob  neutrum 
dissensum  geschieden,  und  die  Menschen  blieben  in  freund- 
schaftlicher Haltung  und  Gesinnung  zueinander. 

Werner  war,  wie  fast  jeder  Künstler,  zur  Ehe  kaum 
geeignet.  Stark  mit  seinem  geistigen  Leben  beschäftigt, 
dessen  drängende  Bewegtheit  ihn  zum  inneren  Sehen 
zwang,  hatte  er  nie  Fähigkeit  genug,  sich  auf  einen  an- 
deren Menschen  so  zu  konzentrieren,  dass  er  ihm  Genüge 
bieten  konnte.  Die  so  eigene  Egocentrik  des  Schaffenden 
hinderte  die  Erfüllung  seiner  Sehnsucht,  die  Liebe  zum 
Nächsten  durch  die  Alltäglichkeit  des  Zusammenlebens 
hindurch  zur  Aufgabe  des  Einzelseins  zu  läutern.  Wie 
sein  geistiges  Leben  explosiv  und  visionär  sich  abspielte, 
war  auch  sein  reales  Dasein  ekstatisch  und  durch  den 
hysterischen  Wechsel  jäher  Höhe  und  Tiefe  gekennzeichnet. 
Das  äusserte  sich  im  Umgang  durch  springende  Launen- 
haftigkeit. Werner  sah  in  dem  Liebeerlebnis  nicht  auch 
das  spielerische  Element  (wie  etwa  Friedrich  Schlegel), 
sondern  übertrug  die  krampfartige  Überspannung  jedes 
Gefühls  auch  hierauf.  Die  unnatürliche  Steigerung  des 
Erotischen,  die  sich  schon  in  der  dargelegten  Auffassung 
der  Liebe  im  Mittelpunkt  seines  Weltbildes  zeigte,  löste 
sich  in  zänkischen  Reizzuständen,  die  jeden  Tag  zu  einem 


138 

Ausbruch  kamen.  Als  er  einige  Jahre  später  ein  Ehepaar 
traf,  das  40  Jahre  lang  ohne  Unfrieden  miteinander  gelebt 
hatte,  schrieb  er  in  sein  Tagebuch:  „Glückseliges  Paar. 
Wahrscheinlich  hat  es  nie  geliebt."  Vielleicht  hätte  er 
ruhiger  neben  einer  weniger  aktiven  Frau,  als  seine 
Gattin  war,  gelebt,  deren  Charakter  er  selbst  als  spanisch 
bezeichnete.  So  kam  er  in  selbstquälenden  Tasten  nach 
einer  klaren  Schuld  zu  der  Erkenntnis  der  Notwendigkeit 
dieses  Zusammenbruchs,  dessen  Erleben  von  derselben 
menschlichen  Halbwahrheit  war^  wie  seine  künstlerische 
Welt. 

Die  innere  Lösung  der  Frage  fand  Werner  in  seiner 
Weltanschauung.  Johannes  Müller  hatte  ihm  zum  Ver- 
zicht geraten:  „Gott  hat  dich,  scheint  es,  zu  hohen 
Zwecken  bestimmt,  widerstrebe  seinem  Winke  nicht,  trenne 
Dich  edel  von  Deinem  Weibe  und  erfülle  sein  W^erk."  So 
nahm  er  diesen  tiefverwundenden  Hieb,  auf  und  so  wurde 
er  in  seinem  Rätsel  und  seiner  Qual  verstanden.  Werner 
sah  sich  emporgehoben  über  die  Niederungen  ebenen 
Glücks  zur  einsamen  Höhe  des  Auserwählten  :  „W'as  mich 
betrifft,  so  ist  freilich  der  Glanz  meines  Lebens  und  der 
letzte  Rest  der  Hoffnung  weggewischt.  Der  Gedanke, 
ewig  allein  zu  sein  und  allein  zu  sterben,  ergreift  mich, 
besonders  in  der  Stille  der  Nacht,  mit  fürchterlicher  Wuth, 
und  noch  ist  mein  ganzer  Kopf  dumpf  und  leer.  Aber 
Gott,  dem  es  gefällt,  mich,  wie  die  Märtyrin,  meine  Mutter, 
durch  dunkle  Wege  sich  zuzuführen,  wird  mich  stärken, 
wenn  es  sein  Wille  ist.  Meinem  heiligen  Werke  will  ich 
mich,  von  allen  Banden  der  Natur  losgerissen,  unausge- 
setzt und  ausschliesslich  widmen;  seinem  W^inke  will  ich 
folgen  und  seinem  Rufe,  der  jetzt  laut  zu  mir  spricht. 
Seelen  will  ich  ihm  gewinnen ;  sie  sollen  mir  Vater,  Mutter 
und  Frau  sein  Ich  habe  jetzt  keinen  als  Gott."  Als  In- 
dividuum scheint  er  ausgestossen  aus  der  Gemeinschaft 
der  Menschen.  Er,  dessen  Wesen  dazu  organisiert  war, 
in  der  Gemeinschaft  zu  leben,  der  in  der  Ehe  seine  Er- 
füllung  erhofft   hatte,   litt   unter  der  Einsamkeit    doppelt. 


13» 

Was  er  früher  den  Ekel  gegen  das  Cölibat  genannt  hatte, 
war  der  Ausdruck  nicht  nur  sexuellen  Bedürfnisses,  auch 
die  geschlechtliche  Ausdrucksform  einer  seelischen  Not- 
wendigkeit. In  seinen  privaten  Äusserungen  wie  auch 
in  seinen  künstlerischen  Werken  Hess  er  dieses  Wissen 
nun  oft  erkennen.  „Die  Sucht  geliebt  zu  werden"  schim- 
merte auch  in  den  oft  fratzenhaften  Verzerrungen  stets 
versöhnend  durch  und  reinte  das  Gefühl  zur  Wahrheit, 
Den  Menschenfang,  zu  dem  er  sich  jetzt  doppelt  be- 
rufen fühlte  und  bei  dem  er  die  Liebe  zu  finden  hoffte, 
versuchte  er  vor  allem  in  dem  Kreise,  den  Hitzig  schon 
durch  Werners  briefliche  Programmäusserungen  auf  den 
Kommenden  vorbereitet  hatte.  Varnhagen  von  Ense  und 
auch  Chamisso  gehörten  ihm  an.  Das  Evangelium,  das 
er  ihnen  predigte,  war  noch  stärker  als  bisher  mit  kirch- 
lich gefärbter  Religiosität  durchsetzt,  ein  Beweis  dafür, 
dass  er  seiner  erschütterten  Existenz  hier  einen  neuen 
festen  Boden  zu  schaffen  hoffte.  Überall  suchte  er  mit 
oft  ungeschickten  Händen  und  dem  Mangel  an  Taktgefühl, 
der  in  seiner  eigenen  Haltlosigkeit  begründet  Avar,  den 
Menschen  zu  helfen,  ihr  Priester  und  Seelenführer  zu  sein, 
der  Missverständnisse  und  Spannungen  aus  dem  Wege 
räumen  wollte,  damit  überall  Liebe  sei  und  Vertrauen. 
In  diesem  Kreise  war  er  Meister  und  zu  Vollendung  seines 
Wesens,  Jünger  in  einem  andern. 

Innig  schloss  er  sich  an  Johannes  Müller  an  und 
machte  ihn  zum  Vertrauten  seiner  Nöte  während  der 
schweren  Tage  vor  der  Ehescheidung.  Der  Gleichklang 
ihres  Wesens  schuf  eine  mystisch  gefärbte  Freundschatt, 
in  der  Müller  der  Führer  war.  Werner  verehrte  in  dem 
grossen  Historiker  den  Menschen,  der  das  ihn  drückende 
Problem  des  Fatums  erfasst  und  in  seiner  Wissenschaft 
gelöst  hatte: 

^Des  ew'gen  Schicksals  Rätsel  scheint  gedeutet, 
Wenn  Gott  gesandt,  Johannes,  die  Geschichte 
Der  Gottheit  Kind,  Du  taufst  mit  Geist  und  Feuer!" 
Das  Problem  der  Geschichte  wird  in  ihren  Gesprächen 


140  ,^ 

im  Mittelpunkt  gestanden  haben  und  Werner  mit  der  kon- 
kreten Auffassung  des  Wissenschaftlers  bekannt  geworden 
sein.  Für  eine  ungleich  höhere  Wertung  des  Individuums, 
als  Werner  sie  hatte,  sprach  der  Geschichtsschreiber,  und 
dieser  Gedanke  wurde  ihm  durch  den  grössten  Menschen, 
der  ihm  in  Berlin  entgegentrat,  in  neuer  Fassung  geboten: 
durch  Fichte.  Von  ihm  ging  eine  starke  Energie  aus,  die 
das  Weltbild  Werners  änderte,  ohne  dass  es  direkt  und 
auch  dem  Oberflächenblick  sichtbar  in  die  Erscheinung  trat. 

Im  Winter  1805  und  1806  lernte  er  im  Schrötterschen 
Hause  in  Berlin  Fichte  kennen  und  gab  dem  Freunde 
Hitzig  über  seinen  Eindruck  Bericht:  „Fichte  hat  viel  von 
unseren  Mnioch,  vorzüglich,  wenn  er  in  Eifer  gerät,  ist 
aber  ungleich  tiefer  sublimierter.  Er  wird  hier  so  ungeheuer 
missverstanden,  dass  ich  mich  wundere,  wie  er  das  aushält." 
Ein  Brief  an  Chamisso  zeigt  diesen  Eindruck  als  weiter  an- 
dauernd. Er  nahm  an  seinen  Vorlesungen  über  die  „Anwei- 
sung zum  seligen  Leben"  teil.  Sein  System  sprach  er  als 
Vorschule  der  Religion  an  und  feierte  ihn  als  den  Vorläufer 
einer  neuen,  besseren  Zeit.  Was  Werner  hier  wieder  sofort 
mitzuteilen  sich  mühte,  war  der  neue  Fichte.  Dass  schon 
die  Wissenschaftslehre  und  die  Rechts-  und  Staatsphilo- 
sophie Fichtes  einen  Eindruck  auf  Werner  gemacht  hatte, 
ging  aus  dem  Aufbau  und  dem  Sprachgebrauch  des  ana- 
lysierten Programmbriefes  deutlich  hervor.  Dieser  Ein- 
fluss  konnte  jedoch  zunächst  nicht  besonders  tief  gehen. 
Das  Wesen  der  Wissenschaftslehre  war  dem  geistigen 
Sein  Werners  zu  diametral  entgegengesetzt. 

Die  Wissenschaftslehre,  die  Werner  1803  allein  ge- 
lesen haben  will,  kann  nur  die  „Grundlage  der»gesammten 
Wissenschaftslehre"  aus  dem  Jahre  1794  sein,  oder  ihre 
kurze  Weiterführung  durch  dem  „Grundriss  des  Eigen- 
tümlichen der  Wissenschaftslehre  in  Rücksicht  auf  das 
theoretische  Vermögen"  (1795).  In  den  beiden  möglichen 
Werken  ist  die  Formulierung  durch  Ich-  und  Nicht-Ich 
angewandt.  Die  Darstellung  lag  in  einer  überindividuellen 
Schicht,  wenngleich  Fichte  alle  Gedanken  nahe  an  diesen 


141 

Punkt  heranführte.  Historisch  gesehen  tritt  der  Individuum- 
begriff erst  in  der  „Grundlage  der  Naturrechte  nach  Prin- 
zipien der  Wissenschaftslehre"  (1795)  auf  und  hat  in  dieser 
Fassung  vielleicht  Werner  zu  seiner  Staatstheorie  die  wenig 
eigentümlich  war.  geführt.  Festzustellen  ist,  dass  in  dieser 
Zeit  Werner  auch  von  Fichte  zunächst  eine  gewisse  Ne- 
gation der  Individualität  übernehmen  konnte,  die  in  die 
Formel  gefasst  war:  „alle  Individuen  sind  in  der  einen 
grossen  Einheit  des  reinen  Geistes  eingeschlossen".  Ge- 
rade der  Mittelpunkt  der  Wissenschaftslehre  von  1795,  der 
Begriff  der  Überzeugung,  wurde  als  Mittel  die  Individualität 
zu  überwinden  von  ihm  gegeben.  So  konnte  er  allein  nach 
Fichte  die  Persönlichkeit  als  die  Form  der  Erscheinung 
aufgeben,  um  in  die  V/irklichkeit  d.  h.  in  die  Einheit  des 
reinen  Geistes  aufzugehen.  Damit  war  aber  gleichzeitig 
angedeutet,  dass  das  Individuum  nicht  aus  diesem  System 
verstossein  sein  sollte  und  eine  wichtige  Rolle  noch  zu 
spielen  haben  würde. 

Dass  auch  für  Fichte  eine  tiefere  Erfassung  der  In- 
dividuahtät  selbstverständHch  war,  die  dem  positiven  Ele- 
ment darin  gerecht  wurde,  ging  schon  aus  der  Feststellung 
hervor,  die  er  in  der  „ersten  Einleitung  in  die  Wissen- 
schaftslehre" aus  dem  Jahre  1797  gemacht  hatte.  Die  be- 
kannte Stelle  lautet:  „Was  für  eine  Philosophie  man  wähle, 
hängt  sonach  davon  ab,  was  man  für  ein  Mensch  ist; 
denn  ein  philosophisches  System  ist  nicht  em  toter  Hausrat 
den  man  ablegen  oder  annehmen  könnte,  wie  es  uns  be- 
liebte, sondern  es  ist  beseelt  durch  die  Seele  des  Men- 
schen, der  es  hat."  Die  Weltanschauung  wird  so  als  die 
von  der  Erscheinungswelt  unabhängige,  freie  Tat  des 
Menschen  festgestellt  und  das  Ich  aus  dem  Kausalverband 
der  empirischen  Welt  herausgehoben.  Entschieden  ge- 
schah das  in  der  Sittenlehre  von  1798.  Sie  hatte  gezeigt, 
„wie  das  Individuum  seines  Teilhabens  am  Absoluten  ge- 
wiss wird  in  der  sittlichen  Überzeugung." 

Da  gerade  das  missverstandene  Verhältnis  des  Indi- 
viduums zum  Sittengesetz  Mit-Veranlassung  zum  Atheis- 


142 

musstreit  gewesen  war,  musste  selbstverständlich  dieser 
Begriff  eine  besonders  starke  Akzentuierung  erhalten.  In 
der  Fichteliteratur  besteht  ein  Kampf  um  die  Entwicklung, 
die  sein  System  im  Anschluss  an  den  Atheismusstreit 
durchmachte.  Während  die  einen  einen  völligen  Bruch 
mit  der  bisherigen  Weltauffassung  sehen,  beurteilen  an- 
dere die  Wandlung  als  weniger  tiefgreifend  und  eine 
Weiterführung  vorhandener  Gedankengänge.  Kabitz  hat 
in  den  Studien  zur  Entwicklungsgeschichte  der  Wissen- 
schaftslehre nachgewiesen,  dass  der  Konzeptionspunkt  der 
Fichteschen  Philosophie  an  sich  ethisch  war  und  im  Frei- 
heitsbegriff des  Individuums  lag.  Unter  den  Einfluss  der 
Erkenntniskritik  Kants  wurde  sein  Denken  in  die  Bahnen 
der  Erkenntniskritik  gedrängt,  die  ihn  zu  oft  anscheinend 
jenseits  der  späteren  Entwicklung  liegenden  Punkten 
führte.  Eine  ganz  gesicherte  Entscheidung  über  diese 
Streitfrage  wird  nicht  gegeben  werden  können,  da  die 
entscheidenden  Werke  durch  den  unerquicklichen  Atheis- 
streit  verhindert  worden  sind. 

Als  Werner  persönlich  mit  Fichte  in  Berührung  trat, 
w^ar  diese  Umstellung  bereits  vollständig  erfolgt  und  von 
ihm  gerade  in  den  Schriften  dieser  Jahre  unter  dem  Ein- 
flüsse des  Johannes  Evangelium  (und  auch  wohl  Böhmes) 
vielleicht  am  ausgesprochensten  dargelegt  worden.  Fichte 
hatte  den  Punkt  seiner  Bahn  erreicht,  wo  er  der  bizarren 
Lebenskurve  Werners  am  nächsten  kam  und  naturgemäss 
am  stärksten  auf  sie  wirken  konnte,  während  Werner 
nahe  vor  seinem  Kulminationspunkt  als  gefeierter  Dichter 
einer  bejahenderen  Lebenserfassung  geneigt  war  und  einen 
psychologisch  günstigen  Nährboden  abgab. 

In  der  Wissenschaftslehre  von  1804  schälte  sich  die 
Individualität  in  der  neuen  Form  deutlich  heraus  und 
beherrschte  die  drei  Schriften  des  Jahres  1806,  steigend 
von  den  „Grundzügen  des  gegenwärtigen  Zeitalters"  über 
das  „Wesen  des  Gelehrten  und  seine  Erscheinung  im 
Gebiete  der  Freiheit"  zu  der  „Anweisung  zum  seligen 
Leben".     Nicht  nur   das  Erscheinungsjahr   knüpfte   diese 


143 

Bücher  zu  einer  Einheit.  Sie  sind  ein  in  sich  geschlossener 
Versuch  Fichtes  seine  Lehre,  die  in  der  Wissenschafts- 
lehre von  1804  systematisch  dargelegt  war  einem  brei- 
teren Kreise  fasslich  und  zugänglich  zu  machen. 

Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  Werner  die  Wissen- 
schaftslehre von  1804  gelesen  hatte.  Mitte  November  1804 
entschuldigte  er  sein  langsames  Arbeiten  an  dem  „Kreuz 
an  der  Ostsee"  damit,  dass  er  nicht  nur  schreibe,  sondern 
auch  lernen  müsse.  Im  Ausdruck  und  Ideengehalt  nähern 
sich  die  Briefe  des  Jahres  1805  der  Lehre  Fichtes.  Der 
aktivere  Ton  ist  psychologisch  begründet  worden.  Der 
Gedanke  aber,  dass  die  Einkleidung  der  Phosphoroslegende 
sein  geistiges  Individualeigentum  sei,  der  Gehalt  jedoch 
Wahrheit,  und  also  nicht  individuell,  lag  so  fern  ab  von 
dem  Wort  gebrauch  des  Dichters  und  stand  so  nahe  bei 
Fichtes  Formel,  dass  man  zu  der  Vermutung  eines  ein- 
gehenderen p-ichteStudiums  gedrängt  wird,  das  bei  dieser 
Stimmung  wirksam'  werden  konnte. 

Der  Gedankengehalt  der  Schrifteneinheit  dieser  Epoche 
Fichtes  ist  so  zu  skizzieren: 

Die  empirische  Welt  ist  Erscheinung.  Die  Erkenntnis 
der  Dinge  durch  den  Verstand  ist  nicht  identisch  mit  dem 
Erfassen  des  Seins.  Einen  Ursachenverband  zwischen  den 
Dingen  und  den  Dingen  an  sich  aufzustellen,  ist  er- 
kenntnistheoretisch unmöglich,  da  die  Kausalität  nur  in 
der  Zeit  existiert  und  infolgedessen  nur  auf  Dinge  in  der 
Zeit  zu  beziehen  ist.  Die  Empirie  ist  in  sich  geschlossen, 
als  Erscheinung,  als  vielfältige  Erscheinungsform  des 
Ewig-Einen  den  Gesetzen  des  Verstandes  gemäss.  Sofern 
die  Welt  ein  Tun  des  Ichs,  d.  h.  Gottes  ist,  ist  sie  leben- 
diges Dasein,  sofern  sie  Objekt  ist,  nennt  Fichte  das  Da- 
sein tot.  Die  Natur  ist  in  diesem  Sinne  tot;  j,jedes 
Sicherfassen  des  Ich  ist  —  gleichviel  unter  welcher  indi- 
viduellen Gestalt  es  geschieht  —  ein  Tun  Gottes",  leben- 
diges Dasein,  Auch  das  menschliche  Dasein  ist  zunächst 
reine  Möglichkeit,  lebendiges  Dasein  zu  werden,  weiter 
nichts.    Es  widerspricht  „meinen  tiefsten,  innersten  Ahnun- 


144 

gen,  Wünschen,  Forderungen,  im  Naturzusammenhang 
gebunden  zu  sein".  Rein  theoretisch  ist  auch  das  möglich 
und  Schuld  oder  Tat  ist  es,  wenn  der  Mensch  sich  frei 
setzt  oder  als  Ding  empfindet  Seine  Überzeugung  in 
dieser  Frage  stammt  aus  dem  Gewissen.  Die  Stimme  des 
Gewissens  ist  nicht  nur  negativ,  sie  fordert  in  jeder  Lage 
die  Erfüllung"  eines  bestimmten  Gebots.  „Auf  sie  zu  hören, 
ihr  redlich  und  unbefangen  ohne  Furcht  und  Klügelei  zu 
gehorchen,  dies  ist  meine  einzige  Bestimmung,  dies  ist  der 
einzige  Zweck  meines  ganzen  Daseins."  Nur  die  Tat,  die 
das  Gewissen  gebietet,  habe  der  Mensch  zu  tun,  in 
der  Gewissheit,  dass  sie  gut  sein  müsse,  dass  sie  not- 
wendig in  dem  grossen  Zusammenhang  der  sittlichen 
Weltordnung  sich  einfügen  werde.  „Sonach  besteht 
das  vernünftige  Leben  darin,  dass  die  Person  in  der 
Gattung  sich  vergesse,  ihr  Leben  an  das  Leben  des 
Ganzen  setze  und  es  ihm  aufopfere."  „Das  Leben  in 
der  Gattung  ist  ausgedrückt  in  den  Ideen."  Fichte 
erhob  die  Forderung,  dass  das  Leben  in  der  Idee  alles 
beherrsche  und  dass  man  keinen  Genuss  kennen  dürfe, 
als  den  in  ihr  und  der  Aufopferung  für  sie.  Die  Ent- 
wicklung der  menschlichen  Gesellschaft  vollziehe  sich 
durch  Religiöse  d.  h.  Helden,  die  in  der  Idee  lebten.  Die 
Idee  ist  ein  bestimmter  Gedanke,  der  lebt  und  in  uns  das 
eigentlich  Lebendige  ist.  Sein  Forderungscharakter  soll 
ganz  zum  Ausdruck  kommen  und  in  uns  verwirklicht 
werden.  In  dem  Büchlein  „Über  das  Wesen  des  Gelehrten" 
wurde  das  Leben  in  der  Idee  im  Verhältnis  zu  dem  Indi- 
viduum definiert:  „Die  ewige  göttliche  Idee  kommt  hier 
in  einzelnen  menschlichen  Individuen  zum  Dasein:  dieses 
Dasein  der  göttlichen  Idee  mit  ihnen  umfasst  nun  sich 
selber  mit  unendlicher  Liebe.  Und  dann  sagen  wir,  dem 
Scheine  uns  bequemend,  dieser  Mensch  liebt  die  Idee  und 
lebt  in  der  Idee,  da  es  doch  nach  der  Wahrheit  die  Idee 
selbst  ist,  welche  an  seine  Stelle  und  in  seiner  Person 
lebt  und  sich  liebt  und  seine  Person  lediglich  die  sinn- 
liche Erscheinung    dieses   Daseins    der   Idee    ist,    welche 


145 

Person  keineswegs  an  und  für  sich  selbst  da  ist,  oder 
lebt.  „Im  allgemeinen  ist  die  ursprünglich  und  rein  gött- 
liche Idee  das,  was  der  unmittelbar  von  Gott  Begeisterte 
tun  soll  und  wirklich  tut  für  die  Welt  der  Erscheinung: 
>,Schöpferisch  hervorbringend  das  neue  Unerhörte  und  vor- 
her nie  Dagewesene".  Die  göttliche  Idee  drückt  sich  im 
einzelnen  Auserwählten  teilweise  aus.  Deswegen  ist  das 
Genie  d.  h.  der  Mensch,  in  dem  die  Idee  Ausdruck  sucht 
und  findet,  einseitig,  „Die  Idee  selbst  ist  es,  welche 
durch  eigene  Kraft  in  den  Menschen  ein  selbständiges 
und  persönliches  Leben  sich  verschafft"  .  .  .  „Die  Idee  ist 
nicht  ein  individueller  Zierart,  da  das  Individuum  als 
solches  überhaupt  nicht  in  der  Idee  liegt  ...  sie  treibt  so 
nach  und  nach  jeden  den  sie  nur  wirklich  ergriffen  wider 
den  Willen  und  Dank  der  persönlichen  sinnlichen  Natur 
in  ihm  und  eben  als  bleiben  des  Werkzeug  fort  zu  dieser 
allgemeinen  Wirksamkeit."  Hier  erscheint  die  Antithese 
des  Individuums  die  Werner  so  stark  erlebt  hatte.  Fichte 
sieht  aber  die  lösende  Synthese  durch  die  Idee.  „Die 
Rechtschaffenheit  als  lebendige  und  herrschend  gewor- 
dene Ansicht  geht  auf  die  individuelle  Person  dessen 
über,  den  sie  ergriffen  hat  und  betrachtet  diese,  als  stehend 
unter  einer  bestimmten  Gesetzgebung,  als  existierend  le- 
diglich um  einer  gewissen  Bestimmung  willen  und  als 
Mittel  für  einen  höheren  Zweck.  Der  Mensch  soll  etwas 
sein  und  tun,  sein  zeitliches  Leben  soll  ein  unvergäng- 
liches und  ewiges  Resultat  hinterlassen  in  der  Geister- 
welt; jedes  besonderen  Individuums  Leben  ein  besonderes 
ihm  allein  zukommendes  und  von  ihm  allein  gefordertes 
Resultat  .  ."  Der  Rechtschaffene  betrachtet  seine  indivi- 
duelle Person  selbst  als  einen  Gedanken  Gottes. 

Noch  schärfer  tritt  dieser  Gedanke  in  der  „Anweisung 
zum  seeligen  Leben"  hervor.  „Jeder  ohne  Ausnahme", 
heisst  es  da,  „erhält  seinen  ihm  ausschliesslichen  eigenen 
und  schlechthin  keinem  anderen  Individuum  ausser  ihm 
also  zukommenden  Anteil  am  übersinnlichen  Sein,  welcher 
Anteil    nun    in    ihm   in    alle  Ewigkeit  fort    sich  also  ent- 

Hankamer,  Zacharias  Werner.  10 


146 

wickelt  .  .  Jedes  Individuum  offenbart  in  der  ihm  allein 
eigentümlichen  Art  das  Göttliche".  Fichte  nennt  das 
,den  individuellen  Charakter  seiner  höheren  Bestimmunsf" 
und  nur  in  dieser  Gestalt,  nur  im  Individuum  wirkt  sie. 
Das  Ich  gewinnt  wahre  Individualität,  eigene  Wesenheit 
dadurch  —  und  umgekehrt :  „nur  dadurch  wird  die  Idee 
in  die  objektive  Welt  eingeführt  —  dass  die  Idee  die 
Freiheit  des  Ich  ergreift  und  diese  zum  , sittlichen  Willen' 
umschafft,  das  Ich  zu  ihrem  Organ  erhebt,  so  dass  das 
Ich  die  Idee  in  seinem  sittlichen  Willen  auf  besondere, 
ihm  eigentümliche  Weise  darstellt",  sagt  Goldfriedrich 
zusammenfassend.  Damit  gewinnt  das  Individuum  den 
bisher  fehlenden  Anteil  an  dem  lebendigen  Dasein  und 
verliert  das  Entwürdigende  der  Auffassung,  das  es  vom 
nur  rein  gewöhnlichen  Dasein  aus  hatte.  Jetzt  kann  die 
Forderung  nicht  mehr  unumschränkt  lauten,  vernichtet 
eure  Individualität,  sondern  nur:  Vernichtet  das  in  euch, 
was  dem  eigentlich  lebendigen  Individuum  entgegensteht, 
verliert  auch  nicht  im  Kosmos  sondern  lebt  euer  Leben 
und  erfüllet  den  individuellen  Charakter  eurer  höheren 
Bestimmung.     Veredelt  euer  Ich  zum  Idee-Individuum. 

Dieser  Individuumbegriff  wurde  von  Werner  im  we- 
sentlichen übernommen.  Wie  nahe  er  Böhme  steht,  mochte 
Werner  jetzt  fähig  sein  zu  erfassen.  Genetisch  gesehen 
erscheint  er  als  eine  Erhöhung  der  Weihe  aus  dem  mo- 
mentanen zum  dauernden  Sein  und  damit  einerseits  eine 
Vollendung  der  Negation  des  Persönlichen,  andererseits 
eine  Einengung  des  Absoluten  zum  Individuellen.  Psycho- 
logisch ist  der  neue  Begriff  ein  abschliessender  Versuch 
zu  einer  Einheit  im  antithetischen  Ich  zu  gelangen,  der 
alles  Störende  zum  reinen  Schein  erniedrigt  und  das 
Wesentliche  im  Ich  selbst  zu  erfassen  sucht.  Die  Gefahr 
der  Zerplitterung  des  Ego  in  dem  tausendfachen  Wand- 
lungsvermögen der  romantischen  Psyche  schien  beseitigt 
und  damit  die  Grundlage,  aus  der  sich  die  Forderung  der 
restlosen  Vernichtung  der  Persönlichkeit  erhoben  hatte. 
In  Werners  Denken  hatten  sich  Momente  aufweisen  lassen, 


147 

die  sich  diesem  Punkte  näherten,  aber  historisch  gesehen 
lag  der  Ausgangspunkt  des  Idee-Individuums  für  Werner 
bei  Fichte.  Erst  sein  starker  und  persönlicher  Einfluss 
war  fähig,  die  Entwicklung  durchzusetzen.  Der  Höhe- 
punkt seiner  Weltanschauug  lag  bisher  im  Opfertod  und  die 
Tätigkeitsforderung  wurde  nicht  als  das  Entscheidende 
ausgesprochen.  Werner  kam  erst  unter  Fichte  zu  dem 
Imperativ  des  Opferlebens.  Letzten  Endes  war  das  In- 
dividuum der  Erscheinungswelt  verhaftet  geblieben  und 
begann  erst  jetzt  als  eigentlich  aktiv  in  seiner  Kunst  Be- 
deutung zu  gewinnen.  Weder  der  Erzbischof  noch  der 
Spielmann  handeln  eigenthch.  Sie  räumen  die  zufäligen 
Hindernisse  aus  dem  Wege,  die  der  Erfüllung  des  Urteils- 
spruchs entgegenstehen,  den  die  überweltliche  Macht,  das 
Fatum  oder  im  „Kreuz  an  der  Ostsee"  Gott  in  seiner 
Gnade  gefällt  hatte.  Im  „Kreuz  an  der  Ostsee"  aber  sind 
schon  Einzelheiten  des  neuen  Einflusses  aufzuzeigen. 

Zu  diesem  Stücke  hat  Werner  auch  wohl  in  Berlin 
noch  einzelnes  gefügt,  nachdem  er  mit  Fichte  in  Berüh- 
rung getreten  war.  In  der  Einleitung  zu  dem  Drama 
heisst  es:  „Durch  hartnäckige  Verfolgung  dieser  Idee 
(Ausbreitung  des  Christentums)  —  die  jetzt  selten  jeman- 
den einen  Mittagsschlat  raubt  —  zeichnete  sich  vorzüg- 
lich ein  wackerer  Mann,  der  Böhme  Adalbert  aus."  Dass 
diese  Stelle  eine  Folge  der  beginnenden  Rezeption  Fich- 
tescher Gedanken  ist,  scheint  wahrscheinlich.  Auch  im 
Stück  selbst  zeigen  sich  Ansätze.  Das  Wort  „mit  Frei- 
heit wählen"  und  andere  Einzelheiten  weisen  eben  dahin 
una  ganz  leise,  wenn  auch  noch  übertönt  vom  Entsagungs- 
motiv klang  das  neue  Thema  an.  Die  Auffassung  des 
Lebens,  die  bei  Calderon  die  Tragödie  zum  Mysterium 
wandelte,  hatte  aktive  Tendenzen  in  sich  getragen,  die 
dem  Einfluss  Fichtes  den  Weg  bahnten.  Lebendiges  und 
totes  Dasein  kannte  auch  der  Katholizismus,  der  in  dem 
Begriff  der  Todsünde  sogar  das  Wort  bot.  Das  Johannis- 
evangelium  und  Böhme  verknüpften  Fichtes  Lehre  mit 
dem    Urchristentum    in    der    Prägung    des    Romantikers. 


148 

Mannigfache  Verbindungslinien  liefen  zwischen  den  beiden 
Auffassungen  hin  und  her  lassen  eine  exakte  Entwirrung 
im  Einzelnen  kaum  zu.  Unverkennbar  ist  Fichtes  Ein- 
fluss  auf  Konzeption  und  Gestaltung  der  „Weihe  der  Kraft." 

Iffland  hatte  Werner,  als  der  das  Kreuz  an  der  Ost- 
see ablehnte,  auf  die  deutsche  Geschichte  als  Quelle  ver- 
wiesen. Die  Sprödigkeit  eines  religiösen  Stoffes  an  sich 
für  den  Dramatiker  sei  bekannt  und  ein  preussischer 
Staatsbeamter  dürfe  sicherlich  keinen  katholischen  Helden 
wählen.  Werners  Briefe  an  Iffland  und  Schefifner  hatten 
seine  Stellung  zum  Katholizismus  klar  zu  stellen  versucht. 
Sogar  eine  Reform  des  historichen  Katholizismus  war  ab- 
gelehnt worden,  da  das  gegenwärtige  Zeitalter  zu  schlecht 
sei  im  grossen  Stile  etwas  derartiges  zu  beginnen.  „Luther 
ward  von  Fürsten  unterstützt;  darauf  kann  ich  nicht 
rechnen",  schrieb  er  in  diesem  Zusammenhang.  Mit  dem 
Erstarken  seines  Persönlichkeitsgefühls  und  dem  Wissen 
um  seinen  religiösen  Beruf  mag  die  Figur  des  grossen 
Reformators  eine  bestimmtere  Linie  erhalten  haben,  die 
er  nach  dem  historischen  Vorbild  (er  sprach  eingehend 
mit  Johannes  Müller  darüber)  in  Berlin  korrigierte.  Ein- 
wänden gegen  die  Aufführung  eines  Luther-Dramas  be- 
gegnete er  mit  seiner  Auffassung,  dass  die  Bühne  ein 
„Tempel  des  Herrn  sei  und  kein  Sündenhaus"  und  hoffte 
wohl  durch  eine  dramatische  Gestaltung  Luthers  sich  aus 
dem  Verdacht  zu  bringen,  Geheimkatholik  zu  sein. 

In  kurzer,  intensiver  Arbeit  vollendete  er  das  Drama. 
Im  Februar  begann  er.  Fertig  war  es  Ende  April. 
Werner  hatte  trotz  seines  Zusammenbruchs  bei  der  Ehe- 
scheidung genügend  künstlerische  Energie.  Ja  es  scheint, 
als  ob  er  nach  starken  seelischen  Erschütterungen  mehr 
als  sonst  in  der  Lage  gewesen  sei,  sich  zu  literarischen 
Arbeiten  zusammen  zu  raffen.  Bei  dem  ekstatischen  Zug 
seines  Künstertums  war  das  natürlich.  Am  11.  Juni  1806 
wurde  die  Weihe  der  Kraft  auf  dem  Berliner  National- 
theater gegeben  und  errang  einen  unbestreitbaren  Erfolg 
in  der  stark  zusammengestrichenen  Fassung,    die  Iffland, 


149 

der  selbst  den  Luther  spielte,  bot.  Fünfzehnmal  wurde 
es  vor  ausgekauftem  Hause  gegeben,  bis  ein  Maskenzug 
der  Offiziere  ein  Verbot  des  Hofes  erzwang.  Das  Honorar, 
das  Werner  erhielt,  stellte  einen  Rekord  da.  Die  Presse 
war  in  grösster  Erregung,  ganz  Berlin  teilte  sich  in  Freund 
und  Feind.  Werner  war  die  Sensation  der  preussischen 
Hauptstadt.  Man  griff  ihn  an,  verteidigte  ihn  und  als 
Iffiand  in  der  Lutherrolle  eine  Tournee  durch  Deutsch- 
land antrat,  flog  sein  Name  kampffordernd  durchs  Land. 
Mit  einem  Schlage  war  der  bisher  nur  im  kleinen  Kreise 
genannte  Künstler  in  aller  Munde,  Eichendorf,  der  das 
Stück  am  28.  Februar  1810  sah,  schilderte  im  Tagebuch 
den  tiefen  Eindruck,  den  das  Drama  in  der  blendenden 
Ausstattung  auf  ihn  machte.  Damals  noch  war  das  The- 
ater gedrängt  voll.  Ach:  Tage  vorher  hatten  die  Karten 
bestellt  .  werden  müssen.  Ein  Beweis,  wie  fest  dieses 
Stück  im  Publikum  verankert  war. 

Dieser  Bühnenerfolg  ist  zum  Teil  dem  theatralischen 
Griff  Werners  zuzuschreiben.  Die  „Weihe  der  Kraft"  ist 
der  Akustik  und  Raumwirkung  der  Bühne  völlig  ange- 
passt.  Die  Worte  sind  deutlich  und  stark  genug  auch 
dem  wenig  empfänglichen  Ohre  das  Nötige  zu  sagen. 
Symbolische  Vorgänge  heben  die  innere  Linie  deutlicher 
hervor  und  lassen  die  geistigen  Kräfte  gut  in  die  Er- 
scheinung treten.  Pomphafte  Aufzüge  bieten  dem  Auge 
etwas  und  stärken  das  historische  Kolorit  des  geschickt 
komponierten  Gemäldes.  Auch  die  Hilfe  der  Musik  hatte 
der  Romantiker  zu  seinem  Zwecke  benutzt  und  schuf 
nicht  zuletzt  durch  sie  die  schwingende  Stimmung,  die 
eigene  Atmosphäre,  in  der  diese  Menschen  leben  und 
atmen.  Werner  bewies  sein  Raffinement  in  der  Erregung 
einer  weichen  Sentimentalität  gerade  in  diesem  Schauspiel, 
das  einen  starken  Hauch  wirklich  dramatischen  Geistes 
spüren  Hess.  Bezeichnend  ist,  dass  er  durch  mystische  Unter- 
malung diese  Rühreffekte  erreichte.  Seine  Mystik  trug  auch 
hier  den  passivistischen  Zug,  der  das  Dramatische  lähmte. 
Das  musikalisch  Verschwimmende  wurzelt,  in  diesem  Stück 


150 

vor  allem  deutlich  erkennbar,  nicht  in  dem  rein  lyrischen, 
sondern  in  dem  durch  starke  mystische  Tendenzen  mehr 
übersetzen  als  vertieften  Erleben  der  Realität.  Wo  sich  eine 
Erweichung"  der  Handlung  durch  Lyrik  zeigte,  setzte  sofort 
die  Mystik  ein.  Werners  Gefühlsleben  war  nicht  so  reich, 
dass  er  das  Erleben  rein  aufklingen  lassen  konnte.  Er 
glaubte  seine  Blässe  mit  den  Farben  mystischen  Wissens 
schminken  zu  könijen  und  zu  müssen  und  erreichte  dadurch 
nur,  dass  die  dramatische  Geschlossenheit  dem  Kunstwerk 
verloren  ging.  Seine  Sucht  nach  Myst;k  war  psychologisch 
die  Folge  der  unbewussten  Furcht,  dass  der  reine  Erlebnis- 
prozess  nicht  genügte  dem  Kunstwerk  Leben  zu  geben. 
Sie  war  dem  Ekstatiker  das  Mittel  zur  Erreichung  der 
Höhe  des  (hier  künstlerischen)  Lebens,  die  er  nicht  in 
der  Wirklichkeit  zu  sehen  vermochte. 

Nicht  selbstverständlich  und  mit  der  seelischen  Not- 
wendigkeit eines  Böhme  sprosste  die  Natur-Mystik  auf. 
Sie  war  Aushilfe  für  ein  Versagen  des  Gefühls,  mehr 
Mittel  als  Wesensform  Werners.  Die  Mischnatur  dieses 
Aussenseiters  der  Romantik  kam  gerade  in  der  Mj^stik 
des  Dichters  zum  Ausdruck.  Er  nahm  sie  als  System 
und  bog  nach  ihm  die  Realität  um.  Es  fand  ursprüng- 
lich nicht  eine  direkte  Erfassung  des  Wirklichen  in 
der  m^^stischen  Schicht  statt,  sondern  das  Erlebnis  der 
Realität  wurde  ins  Mystische  übersetzt.  Dieser  anschei- 
nend unwichtige  Unterschied  ist  äusserst  bedeutend.  Auch 
in  dieser  Weltschau  war  Werner  nicht  naiver  sondern  senti- 
mentalischer  Dichter.  Seine  M3'stik  war  reflexiv  und  nur 
in  wenigen  Zügen  autochthon.  Einzelheiten  w^urden  zum 
System  gruppiert  nach  den  Energiepunkten,  die  ihn  je- 
weils bestimmten.  Werner  war  nicht  so  sehr  Mystiker 
als  er  sich  dazu  bildete.  Er  wollte  es  mehr  werden 
als  er  es  sein  musste.  Und  so  ward  die  Mischung  von 
Rationalismus  und  Mystik.  Werner  erlebte  künstlerisch, 
aber  nicht  ausgesprochen  mystisch,  fühlte  die  Gefahr 
einer  rationalen  Verflachung  und  steigerte  deshalb  alles 
in's    Mystische,     wobei    das    Halbbewusste    dieses    Vor- 


•_ 151 

gangs  betont  werden  muss.  Was  für  seine  Weltanschau- 
ungsbildung bezeichnend  war,  galt  vor  allem  für  die 
Übernahme  der  Mystik:  es  war  geistiger  Notwehrakt, 
kein  Ausdruckszwang  im  eigentlichen  Sinne  sondern  ein 
stark  reflexiver  Vorgang.  Natürlich  nicht  im  bewussten 
Wollen  sondern  in  der  tiefsten  Schicht  des  geistigen 
Lebens.  Deswegen  konnte  Werner  seine  Kunst  bis  zu 
einer  gewissen  Grenze  davon  lösen,  wie  es  im  24.  Februar 
geschah. 

Dieser  Charakter  seiner  M3'stik  kam  im  Luther  des- 
wegen deuthcher  zum  Ausdruck,  weil  Werner  in  diesem 
Stück  eine  an  sich  unmystische  Aktivität  des  Handelns 
einer  Persönlichkeit  zum  Ausdruck  brachte  und  sie  mehr 
mystisch  einkleidete  als  formte.  Das  Tätigkeitsmoment 
des  Ideeindividuums  wurde  stark  unterstrichen,  aber  mit 
einer  bezeichnenden  Ängstlichkeit  auch  auf  das  andere 
Element  hingewiesen.  Gerade  diese  Sorgfalt  in  der  my- 
stischen Unterbauung  lässt  die  seelische  Unsicherheit,  die 
Nichtnotwendigkeit  dieser  Anschauung  erkennen. 

Von  allen  Charakteren  Werners  ist  Luther  in  der 
Zeichnung  wohl  am  absichtsvollsten  gegeben.  Die  Stofif- 
wahl  mag  das  zum  Teil  erklären,  da  sie  polemisch  er- 
folgte. Sicherlich  aber  auch,  weil  Werner  hier  als  Fich- 
te-Jünger ein  Ideeindividuum  gestaltete.  Hier  war  eine 
Persönlichkeit  als  Konzeptionspunkt  zweifellos  vorhanden. 
Ideen  spielten  als  Anregung  mit,  aber  nicht  so  wie  in  den 
Söhnen  des  Thals,  wo  das  Fatum,  das  Lebensgesetz  am 
Ausgang  der  künstlerischen  Formung  stand,  weniger  auch 
als  beim  Kreuz  an  der  Ostsee.  Luthers  markante  Profil- 
linie ist  viel  zu  sorgfältig  in's  Wernersche  übersetzt 
worden,  als  dass  eine  solche  Unpersönlichkeit  in  der  Kon- 
zeption wahrscheinHch  wäre.  Mit  kennzeichnender  Liebe 
sind  selbst  Einzelheiten  des  historischen  Luthers  ver- 
wandt. Werner,  dessen  Künstlertum  schwach  genug 
war,  die  Hauptpersonen  zu  Demonstrationsfiguren  seiner 
Lehre  zu  machen,  weil  er  so  seine  Kunst  in  den  Dienst 
der  Religion    zu    stellen  glaubte,    hat    in  der  Weihe    der 


152 

Kraft  versucht,  den  innigen  Zusammenhang  zwischen  Idee 
und  Persönlichkeit,  den  Fichte  ihm  gezeigt  hatte,  zur 
Form  zu  bringen. 

Luther  ist  als  Idee-Individuum  gefasst,  bewusst  ge- 
dacht, mag  auch  der  Apparat  der  übersinnlichen  Theater- 
welt Werners  das  von  innen  heraus  drängende  Leben  oft 
nicht  zur  Geltung  kommen  lassen.  Hier  ist  zuerst  im 
Schaffen  Werners  eine  tatsächlich  synthetische  Form  des 
Geschehens  geworden,  hier  zuerst  ist  die  Dynamis  der  Ge- 
schichte im  Ideeindividuum  erkannt.  Das  geschichtlich  Not- 
wendige wird  hier  zuerst  auf  dem  Gebiete  der  Freiheit  zur 
Tat  und  Aufgabe  dessen,  der  „in  der  Idee  lebt".  Werner  er- 
fasste  die  Geschichte  in  der  religiösen  Einstellung  Schlei- 
ermachers, sah  mit  Böhme  darin  eine  ewige  Geburt  Gottes 
und  suchte  das  Lebensgesetz  der  Naturphilosophie  in  ihr. 
Auch  in  diesem  Drama.  Während  er  aber  in  den  Söhnen 
des  Thals  das  Handeln  des  Fatums  einer  Überwirklich- 
keit mehrerer  Wesen  tibertrug  und  trotz  der  Einführung 
katholischer  Mythen  auch  in  dem  Kreuz  an  der  Ostsee 
stark  zu  dieser  Auffassung  gedrängt  wurde,  geschah  hier 
die  Handlung  Gottes  Fichtisch  durch  einen  Menschen,  der 
in  freiem  Willensentschluss  den  Beruf  übernahm  und  sich 
seines  Handelns  bewusst  wurde. 

„Ich,    schrie   er   —    zündend   traf  der   Schlag    — 

Ich  Avill.« 
Echt  Fichtisch  wird  das  Handeln  an  sich  hoch  bewertet, 
ja  über  dem  schlaffen  Gutsein  anerkannt  : 

„Es  war  ein  Übeltun,  allein  ein  Tun  doch 

Ihr  schlaft  im  schnöden  Traum  —  was  tut  ihr?" 
zürnt  Luther  mit  dem  Fürsten  und  Katharina  fragt: 

„Wer  soll  denn  handeln,  wenn  der  Sünder  niqht? 

Die  Heiligen  —  sie  können  ja  nur  anschauen!" 
Damit  ist  Handeln  mit  Menschsein  gleichgesetzt.  Die 
Auffassung  Werners,  dass  ein  Erdulden  des  Schicksals 
das  Letzte  und  Wesentlichste  ist,  wurde  theoretisch  über- 
Avunden.  „Mit  Freiheif",  „in  freier  Willkür"  wollen  hier 
die  Menschen   lebend    und  handelnd  opfern.     Das  Opfer- 


153 

motiv  bleibt  —  wie  bei  Fichte  —  aber  opfern  heisst  hier 
Kämpfer  sein,  heisst  das  Leben  aktiv  leben,  nicht  erdulden. 

Dieser  Aktivismus  ist  durch  die  Umarbeitung  des 
letzten  Teil  noch  besondeis  akzentuiert  worden.  Nach 
Vollendung  des  Dramas  schlug  Geheimrat  Beyme  ihm 
durch  Iffiand  vor,  Luther  im  letzten  Akte  nicht  schlafend 
auf  der  Wartburg  zu  zeigen.  Er  müsse  gegen  die  Witten- 
berger Bilderstürmer  vorgehen.  Werner  gab  ihm  freudig 
Recht  und  arbeitete  in  kürzester  Zeit  diesen  Teil  um. 
Dass  er  nicht  allen  Anregungen  gleich  folgsam  willfahrte, 
zeigte  er  dem  Tadel  Johannes  Müller  gegenüber,  der  die 
Vollendung  von  Luthers  Persönlichkeit  durch  Katharina 
nicht  in  ihrer  Bedeutung  für  Werner  erfasste  und  als  Episode 
behandelt  wissen  wollte.  Er  ging  nicht  darauf  ein,  liess 
aber  die  Erscheinung  des  Augustinus  wegfallen,  die  dem 
Geschehen  wieder  den  Analysis-Charakter  aufgedrückt 
hätte.  Beymes  Vorschlag  traf  mit  dem  zusammen,  was 
Werner  erstrebte  und  wurde  deshalb  übernommen,  wäh- 
rend er  die  Streichungen  des  Grafen  Brühl  für  die  Aus- 
führung duldete,  im  Druck  jedoch  wieder  einsetzte. 

Nicht  mit  elementarer  Sicherheit  und  Stärke  hatte 
sich  die  Rezeption  Fichtes  durchgesetzt  und  eine  revolu- 
tionäre Neuordnung  im  geistigen  Kosmos  Werners  er- 
zwungen. Die  Weihe  der  Kraft  sollte  ein  Bekenntnis 
sein,  wurde  aber  auch  ein  Kompromiss,  wie  es  seinem 
Wesen  entsprach.  Viele  Äusserungen  sind  missverständ- 
lich, aber  im  Zusammenhang  des  Ganzen  gesehen  und 
durchpulst  von  der  lebendigen  Aktivität  des  Dramas  er- 
scheinen sie  nur  als  tote  Überbleibsel  der  früheren  Epoche 
Werners,  vielfach  als  Folge  des  Idee-Individuums  wie  es 
von  Fichte  definiert  worden  war. 

Auch  in  der  Weihe  der  Kraft  bleibt  ein  Zusammen- 
hang zwischen  dem  Sein  und  dem  Dasein  bestehen,  den 
auch  Fichte  besonders  betont  hatte.  Luthers  Persönlich- 
keit wird  erhöht  durch  die  Leistung,  die  zu  erfüllende 
Aufgabe  als  Idee.  Die  Verbindung  der  empirischen  Per- 
sönlichkeit   auch    in    ihren    nebensächlichen    Einzelhand- 


154 

lungen  mit  dem  Übersinnlichen  vermochte  Werner  nur 
durch  äusserliche  Zeichen  zur  Anschauung  zu  bringen. 
Aber  der  Zusammenhang  war  mit  der  IndividuaUtät  als 
solcher  und  unter  Auswertung  eben  des  Individuellen 
festgelegt  worden. 

Die  Aufnahme  der  Calderonschen  Kunst-  und  Welt- 
auffassungsform wirkte  hier  noch  mit.  Sie  war  eine 
Etappe  auf  dem  Wege  zu  der  Forderung  Schellings  (und 
der  Romantik)  gewesen,  das  Ewige  in  der  Begrenzung 
zu  gestalten.  Schelling  fand  diese  Forderung  in  der  Kunst 
des  Spaniers  erfüllt,  Werner  suchte  sie  im  Idee-Indivi- 
dium  zu  fassen,  nutzte  aber  die  äussere  Form  Calderons 
mit  dazu.  Er  stellte  eine  innige  Verbindung  zwischen 
Dasein  und  Sein  durch  den  Gnadenbegriff  her,  engte 
aber  die  Gnade  zur  Idee  ein;  denn  im  Wortgebrauch  der 
Lehrm^einung  der  katholischen  Kirche  könnte  man  die 
Fichtische  Idee  Berufsgnade  nennen,  ohne  dass  die  ge- 
dankliche Tiefe  Fichtes  damit  ausgefüllt  wäre. 

Werner  selbst  gab  in  einer  Erklärung  seiner  Weihe 
der  Kraft  einem  Unbekannten  gegenüber  den  deutlichen 
Hinweis  auf  die  durch  Fichte  übermittelte  Auffassung. 
„Übrigens  sind  Therese  und  Theobald  nichts  weiter  als 
schuldlose  Kinder  und  nicht  mehr  oder  weniger  Allego- 
rien, als  jeder  bedeutende  Mensch.  Jeder  Mensch  ist  dazu 
da,  um  irgend  eine  sittliche  Idee  zu  repräsentieren."  Hier 
wird  das  spezifische  Tätigkeitsmoment  nicht  klar  genug 
hervorgehoben,  dass  es  aber  vorhanden  ist,  geht  aus  einer 
Bemerkung  desselben  Berichtes  hervor,  in  der  es  heisst 
(über  Theresens  Lied).  „Der  Mai  der  ihn  (den  Glauben) 
erweckt  ist  das,  was  man  einen  göttlichen  Ruf  nennt, 
wie  er  zum  grossen  Luther  erscholl,  als  sein  Freund  an 
seiner  Seite  fiel."     Der  Ruf  forderte  zur  Tätigkeit  auf. 

Das  mystische  Liebespaar  ist  noch  am  stärksten  von 
der  Passivität  infiziert,  aber  die  Interpretation  Werners 
beweist,  dass  er  auch  hier  eine  Tätigkeit  hat  darstellen 
wollen;  denn  die  Repräsentation  einer  Idee  muss  ihrem 
Wesen  nach  aktiv  sein,  weil  die  Idee  aktiv  ist.    Handeln 


155 

ist  im  Sinn  Fichtes  aber  auch  nur  möglich  durch  den 
Besitz  der  Idee.  Das  wird  in  dem  Drama  zu  einem  gei- 
stigen Bewegungsmotiv  verwertet,  durch  welches  eine 
seelische  Entwicklung  Luthers  entsteht.  Der  Kampf,  den 
er  im  Anschluss  an  die  Bilderstürmertumulte  ausficht, 
liegt  eben  in  der  Frage,  ob  seine  Tat  eine  Handlung  nur 
der  empirischen  Persönlichkeit  gewesen  sei,  oder  die  eines 
Idee-Individuums. 

Ich  selber  rief  mich  —  oder  Gott!  vielleicht  — 

Vielleicht  auch  nicht!  —  Ich  bebe  vor  mir  selber. 
und  Katharine  spricht  das  entscheidende  Wort 

Lästere  Deine  Würde  nicht! 

Dir  Starkem  war  die  Kraft,  um  sie  zu  spenden. 

Als  Vertreter  des  rein  empirischen,  nur  in  sich  selbst 
ruhenden  Ichs,  das  nicht  wirkend  in  den  kosmischen  Zu- 
sammenhang des  Geschehens  eingreifen  kann,  weil  er 
sich  nicht  in  seine  Einheit  stellen  will,  ist  dei  Kaiser 
gezeichnet: 

„In  diesem  Riesenbusen  wohnt  kein  Herz, 
Nicht  tönt  in  ihm  der  Gottheit  Anklang  wieder. 
Den  Donnerton  der  Kraft  vernimmt  er  nur, 
Doch  kann  er  nicht  durch  Liebe  ihn  vergöttern. 
Der  Misston  seiner  eigenen  Natur 
Muss  ihn  und  seine  Schöpfung  einst  zerschmettern." 
Hier  erscheint  der   „dämonische  Mensch"  wieder,    gegen 
die  im  „Kreuz,  an  der  Ostsee"  das  Christentum  kämpfte. 
Da  war  er  der  Herr  des  Feuers,  des  gefallenen  Lichtes, 
war  der  Ich-Süchtige  ohne  die  heilige  Liebe.     Hier  wird 
er  mit  einer  leisen  Nuancierung,   die  fast  unmerklich  ist, 
aus  denselben  Gründen  in  einen  Gegensatz  zum  Idee-Indi- 
viduum gestellt.    Warmio  und  Malgona  dulden  gegen  ihn 
den  Opfertod  und  die  aktive  Ver\^ertung  sollte  durch  den 
Fatumvertreter  durch  Gottes  Gnade  stattfinden.   Auch  der 
Kampf  zwischen  Luther  und  Kaiser  Karl  ist   ein  Kampf 
des  Lebens  gegen  das  Tote,  aber  sie  treten  sich  in  han- 
delnden Persönlichkeiten  gegenüber.     Hier  ist  ein  Kampt 


156 

nicht  ein  Dulden.    Dulden  ist  hier  mehr,  vielleicht  zu  sehr, 
die  Rolle  des  Toten. 

Das  Individuum  wird  gesandt  „um  Welt  und  Schick- 
sal zu  vereinen",  sagt  Werner  im  Prolog  zur  „Weihe 
der  Kraft",  wodurch  der  aktive  Charakter  des  Individuums 
noch  einmal  ausdrücklich  festgestellt  ist.  Das  Schicksal 
trat  hier  in  einem  Gegensatz  zu  der  empirischen  Welt 
und  zwar  als  Forderung.  Es  nimmt  den  Inhalt  der  Fichte- 
schen sittlichen  Weltordnung  an,  in  der  die  empirische 
Welt  als  Sphäre  der  Pflicht  erscheinen  muss.  Die  Welt 
und  das  Schicksal  zu  vereinen  als  Aufgabe  des  Gesandten 
bedeutet,  dass  er  seinen  Anteil  an  dem  Absoluten,  seine 
Idee  in  die  Welt  hineinzutragen  hatte.  Sein  Individual- 
charakter  bedingt,  dass  nach  ihm  andere  erscheinen  und 
den  Entwicklungsprozess  in  ihrer  Teilaufgabe  und  Teil- 
erfüllung weiter  führen.  Wenn  die  Idee  in  das  Histo- 
rische tritt,  wird  sie  in  der  Form  ihrer  Erscheinung  wand- 
lungsfähig, wird  Welt,  kann  aber  im  Wesen  nie  sterben, 
bleibt  Schicksal.  In  sofern  sie  Idee-Individuen  waren,  sind 
der  heilige  Adalbert  und  der  heilige  Luther  „Kollegen", 
aber  historisch  grenzen  sie  sich  als  Einzelpersonen  deut- 
lich ab  auf  Grund  des  individuellen  Charakters  ihrer 
höheren  Bestimmung. 

So  musste  Werner  auch  der  persönlichen  Vollendung 
seines  Helden  die  Aufmerksamkeit  schenken  und  die  er- 
folgte durch  die  Ehe,  durch  die  Liebe,  deren  Wesen  auch 
eine  innere  Umgestaltung  erfuhr,  die  ihren  künstlerischen 
Ausdruck  in  „Attila"  und  abschliessend  in  der  „Wanda" 
erhielt. 

Das  Verhängnis-Schicksal  in  der  empirischen  Welt 
wurde  zum  Knecht  des  Idee-Lebens: 

Und  wenn  in  Zweifelsfluth  die  Geister  ringen 
Und  der  Erkennhlis  Feuer  sie  verzehrt. 
Dann  wird  Mein  Knecht,  das  Schicksal  es  voll- 
bringen, 
und  in  Gleichsetzung  der  Liebe  mit  der  Idee  rief  er  Graf 
Brühl  zu,  der  in  der  Idee  lebe: 


157 

Es  kann  des  Schicksals  Pfeil  Dich  nicht  erreichen. 
Neben  der  Umarbeitung  an  den  Templern  auf  Cypern, 
beschäftigte  er  sich  damals  schon  mit  der  Tragödie 
„Attila",  deren  Konzeption  zweifellos  in  diese  Zeit  fiel 
und  eng  mit  den  Tagesereignissen  und  der  Neuorientie- 
rung Werners  zusammenhing,  wenn  er  auch  Jahre  mit 
der  Formgebung  sich  abmühte  und  verschiedene  Einflüsse 
in  dem  Drama  erkenntlich  werden.  Das  durch  keinen 
äusseren  Vorgang  zu  erschütternde  Wissen  um  die  Idee 
in  sich,  um  die  Durchgöttlichung  seines  Daseins,  seines 
seligen  Lebens  im  Sinne  Fichtes  spricht  Attila  aus: 

„.  .  .  und  ich  verlach  das  Lustgegaukel  —  Hier 

(auf  seine  Brust  deutend) 
Wohnt  mein  Geschick,  das  nicht  des  Sturmes  Spiel! 
Noch   schärfer   als   bisher   wurde   hier   der  neue  Persön- 
lichkeitsbegriff herausgestellt.    Attila  weiss  sich  gesandt: 
Und  bin  ich  das?  Ich  bin  es  und  mit  Freiheit! 
Das  Blut,  das  heut  in  Strömen  fliessen  wird. 
Es  fliesst  durch  mich!  Ich  weiss  das  alles,  Alter! 
Doch  ob  die  Menschenschlacht,  durch  mich  ent- 
zündet, 
Verheerend  um  mich  wütet,  ob  der  Jammer 
Der  mir  Geschlachteten  zerreissend  auch 
In  meinem  Inneren  wühlt!  —  Du  kennst  mich 

Vater!  — 
Doch  halt  ich  mich  —  an  etwas  muss  der  Mensch 
Sich  halten,  will  er  nicht  zertrümmert  werden!  — 
Ich  halte  mich,  im  aufgewühlten  Chaos 
An  einem  festen  Punkt:  am  ewigen  Recht! 
Der  Spruch  des  ewigen  Rechts,  des  Schicksals  wird  von 
Attila   gefällt   und   vollzogen.     Er  ist  Richter,    nicht  nur 
Henker  des  Schicksals  wie  der  Erzbischof.    Nicht  nur  aus 
rein  unpersönlichen  Motiven  handelt  er  so.     Um  die  ihm 
Wesensverwandte  zu  schützen,    kämpft  er  und  deutet  so 
die  innige  Verbindung  des  Göttlichen   mit   seiner  Person 
an.     Der  an   sich  kaum  merkliche  Unterschied  zwischen 
Erzbischof  und  Attila  wird  von  hier  aus  in  seiner  ganzen 


158 

Grösse  und  Bedeutung  für  die  Weltanschauung  Werners 
klar.  Das  Verhältnis  zwischen  Persönlichkeit  und  Schick- 
sal scheint  fast  gleich  geblieben  und  ist  doch  von  Grund 
aus  gewandelt. 

Der  Gegenspieler  Attilas  ist  Aetius,  der  Römerfeld- 
herr. Er  steht  zum  Hunnenkönig  in  dem  Verhältnis  Karls 
zum  Reformator.  Aetius  Lebensziel  ist  die  Krone  Roms 
und  der  Welt,  Er  sucht  sie  aus  Eigennutz  und  Herrsch- 
sucht, nicht  aus  dem  inneren  Ruf  und  für  die  Menschheit. 
Dämonisch  reckt  sich  seine  Gestalt  hoch: 

„Ein  Teufel  war  ich  drum?  Nein,  Freund  Gewissen 
Der  Teufel  fiel,  weil  er  auf  halbem  Wege 
Im  Wollen  stehen  blieb  —  sonst  war  er  Gott!  — 
Fort  mit  dem  Blendwerk  täuschenden  Gefühls!  — 
Mein  Will'  ist  Gott  —  die  Welt  erträgt  nur  Einen. 
Will  Attila  das  Feld  mir  räumen  —  wohl!  — 
Sonst  über  seinem  Leichnam  weg  —  zum  Throne! — " 
Attila  kann  auf  sein  Leben  zurückblicken,    als  auf  einen 
Kampf  für    die  Welt   nicht   für   sich    und  Aetius    spricht 
dagegen: 

Nur  eines  blieb:  Die  Kraft,  die  selbst  sich  Gott  ist 
Das  ist  die  Freiheit,  jenes  Sklaverei; 
Willst  Du  die  Welt  befreien  —  entfessle  Dich!  — 
Er  lebt,    weil   er   das  Wollen  hat   und   spottet  beim  Tod 
eines  Römers  in  Fichtes  Terminologie: 

Auch  der  todt,  welcher  nie  gelebt.-  —  Der  Tod 
Ist  rasend  heut  —  er  frisst  sich  selber  auf. 
Aber  er  lebt  nicht  in  der  Idee,  nicht  in  Gott  und  sein  Werk 
bricht  in  sich  zusammen.  Er  hat  die  Kraft,  aber  nicht 
die  Weihe.  Odoaker,  der  künftige  Herr  Roms  tötet  ihn. 
War  der  Gegensatz  zwischen  Idee-Individuum  und 
dämonischer  Nur-Persönhchkeit  in  „Luther"  mehr  durch 
eine  gewisse  Nicht-Aktivität  des  Dämonischen  herausge- 
stellt, der  für  die  Art  der  Aufnahme  Fichtes  durch  Werner 
kennzeichnend  ist,  so  war  hier  die  Tätigkeit  beider  dra- 
matisch ausgenutzt  und  der  mystische  Unterton  des  Idee- 
Individuums  als  das  Entscheidende  empfunden. 


I 


159 

Attila  erfüllt  sich  in  der  Liebe  zu  Honoria,  sein  Werk 
ist  vollendet.  Der  Papst  tritt  ihm  entgegen  als  Vertreter 
der  Macht,  durch  die  das  verdorbene  Menschengeschlecht 
genesen  soll.  Das  neue  Idee-Individuum  löst  das  voll- 
endete ab.  Der  Tod  Attilas  wird  zur  tragischen  Notwen- 
digkeit und  seine  Schuld,  die  er  sühnt,  ist,  dass  er  das 
Viele  wollte  neben  dem  Einen.  Seine  rein  menschliche 
Individualität  hat  ihn  zu  Sünden  verleitet.  Er  hat  sich 
nicht  ganz  auf  das  eine  beschränkt : 

Er  will  auch  gnädig  sein,  gerecht  und  gnädig 
Zugleich  —  wie  Gott  sein  —  darum  ist  er  schuldig. 

Im  Anschluss  an  die  „Weihe  der  Kraft"  hatte  er 
Scheffner  geschrieben:  „Sie  wissen  übrigens  meine  Hypo- 
these, dass  ein  Künstler  (Dichter,  Musiker,  Bildner)  nur 
ein  göttliches  Thema  (zwei  sind  für  einen  Menschen  zu- 
viel, sie  würden  ihn  zerreissen)  variieren  und  schlecht 
variieren  (singen,  dudeln,  abkonterfeien)  kann  .  .  .  das 
mir  von  Gott  zu  seiner  Verkündigung  ins  Gemüth  ge- 
legte Thema  ist:  Vergöttlichung  der  Menschheit  durch  die 
Liebe." 

Attilas  grösste  Schuld  ist,  dass  er  Idee  an  sich,  nicht 
Idee-Individuum  sein  wollte.  Dadurch  wird  deutlich, 
dass  der  Ausgangspunkt  des  Begriffs  des  Idee-Individuums 
für  Werner  in  dem  Suchen  nach  einem  Mittelpunkt  und 
der  Einheit  des  Ich  lag. 

Hinter  Werners  Attila  näher  noch  als  bei  der  Weihe 
der  Kraft  stand  Fichte.  Und  neben  ihm  Napoleon.  Doch 
nicht  Attila  ist  der  Korse.  Schon  Ende  1803  schrieb  Wer- 
ner: „So  ist  z.  B.  Bonaparte  oder  wäre  vielmehr  ein  Prie- 
ster, wenn  die  ganze  Welt  aus  Franzosen  bestände,  da 
er  aber,  zum  Besten  der  Franzosen,  alles  Übrige  zerrüttet, 
so  ist  er  ein  Rebell  gegen  die  Natur,  den  die  Nemesis 
ganz  gewiss  ereilen  wird."  In  Aetius  hatte  Werner  sein 
Bild  des  genialen  Revolutionärs  gezeichnet.  Schon  1806 
nannte  Fichte  Napoleon  den  Namenlosen,  weil  er  nicht 
eingezeichnet  sei  im  Buche  des  Lebens.  Der  so  weltferne 
Mystiker  Werner  suchte  hier  und  auf  diesem  Wege  Ein- 


160 

lass  zu  der  Erlebnis  seiner  Zeit,  Einlass  zu  dem  Schick- 
sal seines  Volkes. 

Interessant  ist  die  angeführte  Stelle  auch  insofern, 
als  die  starke  Persistenz  bestimmter  Auffassungen  in  ihr 
hervortritt.  Es  scheint  bei  der  Entwicklung  der  geistigen 
Welt  Werners,  dass  nur  eine  Wortverschiebung  stattfindet, 
denn  der  Satz  von  1803  könnte  mit  Änderung  einiger  Worte 
auch  1807  geschrieben  sein.  Aber  der  Vorgang  ist  so,  dass 
eine  oft  unmerkliche  Aushöhlung  der  starren  Gedanken- 
hülsen erfolgt.  Die  Wandlung  ist  eine  so  innerliche,  dass 
man  über  die  Gleichartigkeit  des  Ausdrucks  die  Inhalts- 
veränderung leicht  vergessen  kann,  die  allerdings  nur  in 
einer  Nuancierung  —  aber  einer  intensiven  —  liegt.  In 
der  Form  seiner  Kunst  äusserte  sich  diese  Tatsache  seines 
geistigen  Lebens  vor  allem  in  der  Wiederholung  bestimmter 
Charaktere  (Erzbischof,  Adalbert,  Attila  —  Waidewuth, 
Kaiser  Karl,  Aetius),  deren  Verschiedenheit  nur  tieferer 
Analyse  offenliegt.  Die  stetige  Wiederholung  solcher  For- 
men beweist,  dass  ein  Erlebnis  zugrunde  liegt,  dessen 
Einreihung  auf  all  diesen  Wegen  versucht  werden  soll. 
Die  Weltanschauungsentwicklung  Werners,  die  seine  Kunst 
ausdrückt,  ist  dadurch  erneut  erwiesen  als  Versuch  pri- 
märe Tatsachen  des  Erlebens  zu  erklären.  Sie  w^ar  wie 
die  Form  seiner  Kunst  im  letzten  Sinne  analytisch. 

Künstlerisch  ist  der  Attila  wohl  das  geschlossenste 
und  abgerundetste  Werk  Werners.  Zelter  hatte  die  Weihe 
der  Kraft  spottend  eine  Arche  Noahs  genannt,  in  der 
jegliches  Tier  enthalten  sei.  Die  künstlerische  Unmässig- 
keit  Werners,  die  schon  in  den  Söhnen  des  Thals  sich 
zeigte,  die  Zweiteilung  des  Kreuzes  an  der  Ostsee  her- 
beiführte, schwemmte  auch  den  Körper  des  Lutherdramas 
sehr  auf.  Attila  ist  straffer  und  sehniger  im  Aufbau  und 
nur  durch  die  —  gedanklich  notwendige  —  Honoriaepisode 
und  kleinere  Einzelheiten  beschwert.  Der  Konflikt  ist 
stärker  und  wird  von  der  Gegenseite  mit  grösster  Akti- 
vität durch  den  Seelenbruder  Attilas  gefürt,  während 
Luther  durch  das  Wollen  allein  gegen  die  nicht  entspre- 


161 

chendcn,  weil  nicht  aktiven  Gegner  theaterhaft  leicht 
siegte.  Diese  Gefahr,  die  auch  in  dem  Fichteschen  Ge- 
danken des  toten  und  lebendigen  Daseins  steckte,  hat 
Werner  nur  hier  fast  ganz  überwunden. 

Die  Charakterzeichnung  auch  bei  den  Nebenpersonen 
ist  von  einer  blendenden  Sicherheit.  Oft  mit  einigen  Zügen 
ist  das  Bild  markant  gegeben.  Es  zeigt  sich  auch  hier, 
dass  die  Stellung  des  Individuellen  eine  ganz  andere  ge- 
worden ist.  Diese  Menschen  sind  nicht  mehr  im  Univer- 
sum gebunden  und  nur  in  einem  Bewegungsmotiv  aus  der 
kosmischen  Einheit  herausgebildet  etwa  wie  die  Figuren 
Rodins,  dem  Werners  Menschendarstellung  noch  im  „Kreuz 
an  der  Ostsee"  dem  Kunstwollen  und  dem  inneren  Grunde 
der  Weltschau  nach  wohl  am  ehesten  entspräche,  frei 
und  gelöst  leben  und  handeln  sie.  In  sich  sind  sie  ihres 
Gottes  gewiss  und  im  Gefühl  eines  Ewigkeitswertes  in 
der  Manigfaltigkeit  und  der  Begrenzung.  Stärker  noch 
als  die  theoretischen  Zusammenhänge  beweist  diese  künst- 
lerische Wandlung  den  tiefen  Einfluss  Fichtes  auf  diesen 
Romantiker. 

In  der  Tätigkeitsforderung  Fichtes  lag  ein  Element, 
das  der  Kunstauffassung  Werners  bei  der  Aufnahme  der 
Romantik  widersprach.  Das  rein  Wollüstige  des  religiösen 
Künstlers  hatte  in  diesem  System  zunächst  keinen  Raum. 
Nicht  nur  die  künstlerische  Fassung  des  Individuellen  wan- 
delte sich,  auch  die  Stellungnahme  Werners  seiner  Lebens- 
form gegenüber  verschob  sich.  Er  verlangte  von  sich  selbst 
die  Leistung  der  Tat,  die  Erfüllung  seines  Apostelberufes. 

Zur  Durchführung  des  reformatorischen  Plans  war 
er  nach  Berlin  gekommen  und  hatte  enthusiastisch  die 
Arbeit  begonnen,  um  bald  die  tausend  Schwierigkeiten 
zu  fühlen,  die  sich  lähmend  bemerkbar  machten.  In 
seinen  Briefen  schalt  er  die  vielen  Rücksichten  auf 
kleinliche  Bedenken,  die  er  nehmen  musste.  Scharfe  An- 
griffe der  Presse  und  einiger  Gesellschaftskreise  verwun- 
deten den  durch  keine  innere  Sicherheit  Geschützten  und 
und  verleideten  ihm  Berlin.    Der  politisch-militärische  Z\x- 

Hankamer,  Zacharias  Werner.  11 


162 

sammenbruch  Preussens  drohte  ihm  vollends  den  Boden 
unter  den  Füssen  wegzuziehen.  Mit  Hermann  Schmidt, 
Goethes  Schüler,  trat  er  in  Verbindung,  um  nach  Wien 
Fühlung  zu  gewinnen,  doch  schien  der  Plan  sich  zu  zer- 
schlagen. Müller  riet  ihm  dringend  ab.  Trotzdem  ver- 
suchte er  seine  „Söhne  des  Thals"  in  Wien  anzubiingen 
und  versprach  allen  Zensur  Vorschriften  weitestes  Entgegen- 
kommen; denn  in  Wien  hofite  er  den  Resonanzboden 
zu  finden,  durch  den  seine  Predigt  des  geläuterten  Katho- 
lizismusses  die  Stärke  des  Tons  erhalten  würde,  um 
zur  Tat  werden  zu  können.  Ein  niederschmetterndes  Ge- 
schehnis trieb  diesen  Gedanken  zur  Reife. 

Von  der  durch  die  Aufnahme  Fichtes  und  der  Liebe- 
idee gewandelten  Anschauung  aus  hatte  er  die  Umarbei- 
tung des  ersten  Teils  der  .,Söhne  des  Thals"  in  Angriff 
genommen.  Er  stellte  eine  innigere  Verbindung  der  bei- 
den Teile  her,  taufte  den  Erstling  mit  dem  Geiste  der 
Mystik,  Für  die  Bühne  arbeitete  er  das  Drama  auch  auf 
den  Rat  Ifflands  um,  der  das  Lehrgedicht  auf  die  Bretter 
brachte.  Werner  erhob  in  dieser  Zeit  tiefster  Verzweif- 
lung seines  Volkes  seine  Stimme,  um  ihm  den  Weg  zu 
weisen  zur  Höhe  des  Lebens.  Seine  Stimme  verhallte 
wirkungslos.  Das  Drama  fand  eine  kühl-verwunderte  Auf- 
nahme und  fiel  durch.  Als  Künstler  hatte  Werner  seinem 
Volke  nichts  zu  sagen,  das  die  innere  Not  gestillt  hätte. 
Er,  der  eben  noch  auf  dem  Gipfel  des  Erfolges  gestan- 
den hatte,  sah  sich  jählings  gestürzt,  fürchtete  für  seinen 
Künstlerruf  und  bat  Iffland,  keine  Wiederholung  des  Stückes 
zu  geben.  Durch  einen  anonymen  Drohbrief,  der  bei  ihm 
abgegeben  sei,  suchte  er  dem  Ersuchen  Schwergewicht 
zu  geben,  da  man  von  französischer  Seite  Anstoss  nähme 
und  Repressalien  anwenden  könne.  Seine  hemmungslose 
Erregung  und  Niedergeschlagenheit  äusserte  sich  in  einem 
verzweifelten  Briefe  an  Iffland,  den  er  am  Abend  nach 
der  Aufführung  schrieb  und  in  dem  er  seinen  Entschluss, 
jede  weitere  künstlerische  Arbeit  aufzugeben,  bekundete, 
„da  ich  in  dem  Allen  einen  Wink  der  V^orsicht,  die  meine 


163 

Tätigkeit  nicht  zersplittert  wissen  will,  anerkenne". 
Deuschland,  das  für  seine  Ideen  wertlos  sei,  wolle  er 
verlassen,  sicher  Berlin.  Er  mochte  in  dieser  Stunde,  wo 
er  sich  vernichtet  fühlte,  mit  dem  verbissenen  Optimis- 
mus des  Hysterikers,  der  die  Wundersehnsucht  dieser 
Kranken  verstehen  lehrt,  an  seine  Wiener  Hoffnung  glauben. 

Die  Tätigkeit  als  Mensch  wurde  durch  dieses  Erlebnis 
als  über  dem  Künstlertum  stehend  empfunden  und  Wer- 
ners grosse  Aufgabe  war  es  nun  sein  Menschtum  so  zu 
reinen  und  zu  versöhnen,  dass  er  im  Rein-Menschlichen 
Meister  sein  konnte.  Die  Wanderfahrt,  die  er  begann, 
ging  zu  materiellen  Zielen  gewiss,  auch  aber  zu  dem 
Ziele  einer  Vollendung  seiner  Persönlichkeit,  Der  Künstler 
Werner  zog  aus,  den  Menschen  Werner  zu  suchen. 

Am  27.  März  1807  brach  Werner  von  Berlin  nach 
Wien  auf  „um  zu  rekognoszieren". 


VI.  Kapitel, 

Persönlichkeitsbildung  als  Aufgabe. 

Werner  verliess  Berlin  als  Besiegter.  Weder  in  sei- 
nem Leben  noch  in  seiner  Kunst  fühlte  er  sich  erfüllt 
und  als  ihm  der  Zusammenbruch  seines  Schaffens  die  Wir- 
kungslosigkeit seiner  Kunstpredigt  so  quälend  bewusst 
machte,  wurde  in  ihm  die  Frage  laut,  ob  er  Gesandter 
sei  der  Kunst.  Eigentlich  jetzt  erst  wurde  ihm  Persön- 
lichkeit und  Leben  in  ihrem  Zusammenhang  als  Form  und 
Stoff  zur  Frage,  die  wirklich  Mittelpunkt  war.  Hier  be- 
gann sein  Weg  nach  Rom;  denn  im  Zeichen  der  Persön- 
lichkeitsvollendung steht  der.  Kunst  und  Leben  beherrscht 
dieses  Thema. 

Ein  neuer  Abschnitt  seiner  Entwicklung  begann  und 
die  Flucht  aus  Berlin  war  Ausdruck  dieses  Gefühls;  denn 


164 

den  Romantikern  ward  der  Ort  Erlebnis  und  ihre  Reise- 
romane und  Reisedramen  zeigen,  wie  stark  sie  vom  Raum- 
erlebnis sich  abhängig  fühlten.  Im  Schicksaldrama  mit 
seiner  lokalen  Abhängigkeit  der  Personen  wurde  das  zur 
Form  im  Extrem.  Neben  diesen  und  den  äusseren  Grün- 
den, die  ihn  zur  Auswanderung  veranlassten,  standen  an- 
dere. Werner  hatte  die  Trennung  von  seiner  Frau  im 
Rausch  seines  Schaffens  und  Erfolges  nur  anscheinend 
überwunden.  Der  Schmerz  war  mehr  betäubt  als  ge- 
tötet. In  den  Stunden,  in  denen  er  entspannt  unter  den 
Depressionen  litt,  die  sein  Leben  schroff  auf  und  nieder 
warfen,  kehrte  die  Qual  wieder, 

„Nur  wer  die  Liebe  kennt,  versteht  das  Sehnen 
An  dem  Geliebten  ewig  fest  zu  hangen, 
s     Und  Lebensmut  aus  seinem  Aug  zu  trinken. 

Er  kennt  das  schmerzlich  seeHge  Verlangen         * 
Dahinzuschmelzen  in  ein  Meer  von  Thränen, 
Und  aufgelöst  in  Liebe  zu  versinken! 
Wie  mir  die  Bilder  winken, 
Die  alten!  —  Ach  sie  nahen  um  zu  fliehen!  — 
Was  hilft  das  Thal  mit  seinen  grünen  Gluten, 
Die  Strahlen,  welche  golden  niederfluten; 
Ich  seh  nur  Geister  mich  zum  Abgrund  ziehen! 
Wozu  soll  ich  die  goldnen  Blüten  pflücken, 
Kann  ich  doch  nimmer  das  Geliebte  schmücken!" 
Im  August  1806  auf  einer  Reise  von  Berlin  nach  Dres- 
den hatte  er  die  Verse   geschrieben  und  bezeichnete  sie 
der  Freundin  Johanna  Rinck    als    Darstellung   seines   in- 
neren Zustandes.     Er   sah   noch   seine   geschiedene  Frau 
als    die    ihm    seelisch   verbundene   Geliebte.     In    der   Be- 
teuerung dieses  Gedankens  wurde  er  nicht  müde  und  einem 
jungen  Mädchen,  dass  man  an  ihn  zu  ketten  suchte,  schrieb 
er,    dass  er  .  .  „nie  ein  anderes  Weib  geliebt  hätte  noch 
in    Ewigkeit    lieben    könnte,    als    die    eigentliche    Hälfte 
meines  Wesens,   meine  letzte  geschiedene  Frau,   die  Mal- 
gona,  dass  ich  aber  dem  ohnegeachtet  weder  diese  Frau 
selbst  wenn   sie  wieder   ledig   würde,    noch    irgend    eine 


165 

andere,  selbst  wenn  ich  es  gerne  möchte,  jemahls 
heyrathen  könnte,  wie  wohl  ich  die  Malgona,  als  die 
Einzige,  die  ich  (im  höheren  Wortsinne  und  in  alle  Ewig- 
keit in  jeder  möglichen  Gestalt)  überhaupt  jemals  lieben 
kann,  auch  liebe",  jedoch  der  brüderliche  Freund  des 
Mädchen  sein  wolle. 

Gerade  der  Verzicht  auf  den  Besitz  der  Geliebten 
hatte  ihn  das  Abhängigkeitsgefühl  besonders  kennen  ge- 
lehrt. Der  Witwer,  als  der  er  sich  fühlte,  musste  seiner 
Art  entsprechend,  die  Zusammengehörigkeit  mit  dieser 
Frau  in  eine  mystische  Schicht  verlegen  und  dadurch 
seine  Weseneinheit  mit  ihr  sich  sichern.  So  entging  er 
der  Gefahr,  die  er  selbst  als  drohend  empfand,  sich  in 
der  Liebe  zum  Einzeln  zu  verlieren,  „die  mich  als  ein 
tausendgestaltiger  Proteus  in  ihren  feigsten  und  gemeinsten 
Formen  stets  versucht  hat  und  der  ich  fast  zu  schwach 
bin,  zu  wiederstehen".  In  dieses  mystische  Gemeinschafts- 
leben floh  er,  wenn  die  Zweifel  an  seinem  Wert  wach 
wurden  nach  den  erotischen  Abenteuern,  die  ihn  von  der 
Höhe  seines  Priestertums  stiessen.  Die  Nähe  der  Geliebten, 
die  mit  ihrem  neuen  Gatten  in  glücklichster  Ehe  lebte, 
mochte  seine  Entsagungsqual  vermehren  und  ihn  hoffen 
lassen  in  den  Zerstreuungen  der  Wanderfahrt  nach  einem 
Ruheplatz  vergessen  zu  lernen.  Die  psychische  Zerrissen- 
heit Werners  schien  ihm  zu  dem  wechselvollen,  zigeunern- 
den Leben  als  zu  ihrem  homöopathischen  Mittel  zu  drängen 
und  wir  wissen,  dass  es  ihm  die  beste  Arbeitsgelegenheit 
bot.  Zu  Beginn  seiner  Reise  dichtete  er  das  von  Goethe 
gelobte  Sonett:  „Das  Flössholz"  und  gab  seinem  inneren 
Entwurzeltsein  und  seiner  Sehnsucht  nach  Wandlung  darin 
symbolischen  Ausdruck,  trat  in  seinen  Gedichten  als  Wan- 
derer und  Pilger  mit  der  Doppelbedeutung  auf,  die  den 
seelischen  Untergrund  seines  Wandertriebes  kennzeichnen 
sollte. 

Längeren  Aufenthalt  nahm  er  in  Prag,  freute  sich 
an  dem  Volksleben  und  suchte  und  fand  Emlass  beim 
Hochadel,    wo    er    sein    Evangelium    der    Liebe    schönen 


166 

Frauen  predigte,  die  die  erotischen  Schwingungen  dieses 
Piatonismus  mit  weiblichem  Instinkt  ahnten  und  von  dem 
wunderlichen  Lehrer  fasciniert  wurden,  dessen  groteske 
Geste  und  Gestalt  in  einem  pikanten  Gegensatz  zu  dem 
Gehalt  seiner  Botschaft  stand.  Sein  slavischer  Zug  im 
Gefühl  wie  Gedanke  sicherte  ihm  hier  wie  schon  in  Polen 
wahlverwandtes  Interesse  und  sein  mit  erotischer  Energie 
durchsetztes  Wesen  übte  gerade  auf  die  weibliche  Ari- 
stokratinnen einen  geistigen  Bann  aus,  dem  sich  dauernd 
nur  wenige  Frauen  dieser  Kreise,  die  mit  ihm  längere 
Zeit  in  Berührung  kamen,  entziehen  konnten. 

Dass  er  in  dieser  Zeit  geistig  weniger  auf  Frauen 
tieferer  Schichten,  überhaupt  auf  das  Volk  kaum  wirkte, 
lag  in  dem  starken,  schnörkelhaft-spielerischen  Intellektua- 
lismus seiner  Weltanschauung  begründet,  der  nur  auf  dem 
Umwege  über  sein  System  ein  Verständnis  erlaubte.  So 
stand  er  auch  bei  aller  Romantiker-Sehnsucht,  dem  Volke 
nahe  zu  kommen,  doch  immer  ihm  fremd  gegenüber.  Der 
rationalistisch-mystische  Einschlag  seiner  Lehre  hinderte 
ihn  zu  denen  zu  sprechen,  die  stets  hinter  eine  Idee  treten 
müssen,  um  sie  durchzusetzen,  zu  denen,  die  nicht  ein 
Spiel  hier  sahen  sondern  das  drängende  Erleben,  das  nach 
einer  Tat  verlangte. 

In  Prag  vollendete  er  den  „Attila"  (an  dem  er  aber 
auch,  später  noch  feilte),  begann  die  „Wanda"  und  mit 
grossen  Erwartungen  zog  er  in  Wien  ein.  Der  Wiener 
Zensur  lag  sein  „Attila"  vor.  Aus  politischen  Rücksichten 
—  der  Titel  hätte  auf  Napoleon  gedeutet  werden  können  — 
wurde  die  Aufführung  verboten.  Werners  Hoffnungen, 
durch  dieses  Kunstwerk  sich  eine  Position  in  Wien  schaffen 
zu  können,  waren  damit  ins  Wanken  geraten.  Überhaupt 
bot,  wie  er  schon  bald  merkte,  Wien  nicht  den  Nährboden 
für  seine  Lehren,  den  er  von  der  katholischen  Stadt  er- 
wartet hatte.  Weder  in  Gedichten  noch  in  Briefen  spielten 
führende  Namen  eine  Rolle,  so  dass  es  scheint  als  ob  die 
Wiener  Gesellschaft  den  Dichter  weniger  freundlich  auf- 
genommen.    Werner   genoss    in  Wien   die  Stadt  und  das 


167 

legere  Leben  der  Bürger,  suchte  sie  bei  ihren  Festen  auf 
und  gab  sich  den  Annehmlichkeiten  hin,  die  Österreichs 
Hauptstadt  den  Fremden  bot. 

In  einem  bezeichnenden  Gegensatz  zu  diesem  privaten 
(prosaisch  würde  Werner  es  genannt  haben)  stand  sein 
Icünstlerisches  Leben.  Der  Zwiespalt,  den  Werner  theo- 
retisch im  Ideeindividuum  überwunden  hatte,  trat  immer 
wieder  grotesk  zu  Tage.  Nach  den  Mitteilungen  seiner 
Freunde  und  Zeitgenossen  war  er  im  persönlichen  Um- 
gang ein  launig- liebenswürdiger  Unterhalter,  der  jen- 
seits des  Systems  jeden  Scherz  und  alles  Menschliche 
verstand,  mit  klugem  Wort  und  oft  treffendem  Rat  den 
Verkehr  angenehm  machte.  Aber  sein  ganzes  Wesen 
schien  sich  zu  verknöchern,  wenn  er  in  seinem  „Beruf" 
war.  Ein  gewisser  seelischer  Bürokratismus,  den  man 
das  geistige  Beamtentum  Werners  nennen  möchte,  ist 
dann  kennzeichnend  und  beweisst  das  letzten  Endes  Äus- 
serliche  dieses  Weltsehens,  Was  er  oft  ganz  köstlich  in 
Briefen,  selten  in  Gelegenheitsgedichten  an  ungeprägten 
Erlebnissen  plauderte,  fand  keinen  Einlass  in  seine  höhere 
Kunst.  Das  Wien,  in  dem  Werner  lebte  und  liebte,  er- 
schien nicht  in  den  Sonetten.  Er  steigerte  die  Realität 
zum  mystischen  Symbol,  indem  er  sie  künstlerisch  formte. 
So  verschwand  das  Wien  des  Praters,  der  Volksfeste,  die 
Stadt  als  Erlebnisganzes,  erscheint  nicht  sondern  einzelne 
Symbole  seiner  Lebensfrage. 

Da  der  „Attila"  nicht  angenommen  worden  war, 
mühte  sich  Werner  mit  der  schnellen  Vollendung  der 
„Wanda",  bei  der  es  ihm  vor  allem  darauf  ankam,  ein 
Stück  zu  bieten,  das  im  Aufbau  allen  bühnentechnischen 
Anforderungen  genügen  sollte.  Trotzdem  wurde  auch 
dieses  Stück  abgewiesen.  Werners  Hoffnungen  auf  Wien 
waren  damit  zum  Tode  verurteilt  und  in  allen  Erwartungen 
getäuscht  verliess  er  im  Herbst  die  Stadt,  um  in  München 
weiter  zu  suchen. 

Bei  den  beiden  entscheidenden  geistigen  Führern 
Münchens   fand    er   gastliches  Entgegenkommen.     Jakobi, 


168 

der  Dichter  des  Woldemar,  mochte  in  der  Verbindung 
mit  dem  Mystiker,  der  einige  Wesensähnlichkeiten  mit 
ihm  trotz  der  grossen  Formunterschiede  besass,  sich  zu 
kompromittieren  fürchten.  Er  lehnte  seine  Anschauungen 
ab,  während  Karoline  und  ScheUing  über  das  Krankhafte 
und  Verzerrte  hinweg  die  grossen  künstlerischen  Mög- 
lichkeiten Werners  erkannten  und  ihm  so  entgegenkamen^ 
dass  Werner  den  Philosophen  sehr  lieb  gewann. 

Aber  weder  hier  noch  in  Stuttgart,  Frankfurt  und 
Gotha  bot  sich  eine  Gelegenheit,  wie  er  sie  suchte.  Auch 
die  Theater  waren  ihm  verschlossen.  Iffland,  an  den  er 
sich  gewandt  hatte,  um  in  Berlin  seinen  Prolog  zur  Frie- 
densfeier auf  die  Bühne  zu  bringen  und  seinen  Namen 
nennen  zu  lassen,  hatte  trotz  des  künstlerischen  Wertes 
ablehnen  müssen.  Die  Stimmung  in  Berlin  sei  sehr  ge- 
spannt und  jede  Andeutung  der  Katastrophe  könne  zu 
unliebsamen  Folgerungen  führen.  Er  hoffe,  dass  Werners 
Genie  Berlin  erhalten  bleibe.  Über  das  W^ie  wisse  er 
aber  nichts  zu  sagen.  In  München  wurde  diese  Frage 
durch  eine  amtliche  Mitteilung  geklärt,  dass  er  nur  im 
Falle  wirklicher  Dienstleistung,  seine  Stellung  weiterbe- 
halten könne.  Werner  bat  Scheffner  um  seine  Vermitte- 
lung,  wandte  sich  an  Stein  und  Schrötter.  Aber  auch 
in  dieser  tiefen  Depression,  die  zu  der  Sehnsucht  sich 
steigerte  „recht  bald  in  der  Nähe  meiner  gewesenen,  nein! 
ewig  vor  Gott  bleibenden  Frau  zu  sterben"  war  er  von 
seinem  Ideeberuf  so  überzeugt,  dass  er  schrieb :  „Auf 
jeden  Fall  gehen  Sie  von  dem  Grundsatz  aus,  dass  ich 
lieber  betteln  gehe,  als  mich  mit  alberner  Entsagung  meines 
göttlichen  durch  kein  Schicksal  zu  zerstörenden  Lebens- 
zwecks, aufs  Neue  ins  Dienstjoch  spannen  lasse."  Dann 
wisse  er  sich  lebend  tot,   schrieb  er  mit  Fichtes  Worten. 

Auf  seinen  Reisen  trat  er  auch  mit  dem  Freimaurer- 
orden in  verschiedenen  Städten  in  Verbindung  und  nutzte 
ihn  aus,  um  sich  gesellschaftlich  einzuführen.  Eine  gei- 
stige Einwirkung  ging  von  hier  nicht  mehr  aus.  Diese 
Epoche  hatte  Werner  hinter  sich  und  die  Weltanschauung, 


I6d 

die  in  ihr  den  Dichter  des  Fatums  beherrscht  hatte,  stellte 
er  in  einem  Gedicht  an  den  „Thalbruder"  (zum  Gedächt- 
nis Herzogs  Ernst  von  Sachsen  Gotha)  als  überwunden  da: 
„Und  was  der  Zeit,  dem  Räume  nicht  zum  Raube  — 
(denn  jede  Macht,  selbst  Gottes  Zorn  ist  schwächer!) 
Was  Berge  sprengt,  zerbricht  des  Todes  Köcher, 
Das  Schicksal  zwingt:  Das  Riesenkind  der  Glaube'" 

Der  „Glaube"  war  (auch  Fichte  nahm  dieses  Wort) 
die  Gewissheit,  dass  eine  sittliche  Weltordnung  bestehe, 
war  das  Leben  in  der  Idee,  das  Glau-ben  an  den  Lebens- 
zweck als  göttlich,  als  Idee  die  über  jedem  Verhängnis- 
schicksal stehe.  Es  war  sein  Bekenntnis  zur  Freiheit  des 
Menschen,  die  ihm  notwendige  Voraussetzung  war  für 
das  Erreichen  seines  Ziels. 

In  dieser  Überzeugung  trat  er  seinem  Meister  und 
Helios  gegenüber:  Goethe.  Werner  hat  in  Weimar  re- 
kognoscieren  wollen,  wie  in  allen  Städten,  wohin  er  kam. 
Schon  mit  den  „Söhnen  des  Thals'^  hatte  er  durch  Ver- 
mittlung der  Frau  seines  Verlegers  versucht  an  den  Dich- 
ter heranzukommen,  um  von  ihm  eine  Sinecure  in  Weimar 
zu  erhalten.  Goethe  gab  keine  Antwort,  hatte  sich  aber 
mit  dem  Werke  beschäftigt  und  es  abgelehnt  wegen  der 
ihm  widerlichen  Mischung  von  Religiosität  und  Mystizis- 
mus, die  er  nach  Zelters  Analyse  auch  in  der  „Weihe 
der  Kraft"  erkennen  zu  können  meinte.  Der  grossen 
Bühnenbegabung  des  Autors  wurde  er  als  Praktiker  aber 
völlig  gerecht  und  fühlte  das  Geniale  in  der  Konzeption 
des  Luther  durch.  Er  sorgte,  dass  in  der  jenaischen  Lite- 
raturzeitung keine  nur  negierende  Kritik  erschien  und  trat 
dem  Romantiker  vorurteilslos  entgegen. 

Werner  wurde  von  der  Grösse  des  Menschen  und 
Künstlers  tief  ergriffen.  Eine  Ahnung  des  abgrundtiefen 
Unterschiedes  zwischen  seinem  Leben  und  dieser  Existenz 
ging  in  ihm  auf  und  äusserte  sich  in  der  fast  kriechen- 
den Demut  des  Jüngers  vor  dem  Meister,  die  Goethe  mit 
dem  Vorrecht  des  Künstlers  entschuldigte,  das  Geliebte 
zu  verklären.     Die    subalterne  Art   der  Äusserung  seiner 


170 

Verehrung  darf  nicht  vergessen  machen,  dass  eine  zer- 
knirschte Erkenntnis  der  übermenschUchen  Grösse  des 
Helios  Werner  dazu  führte.  Hinter  ihr  steht  die  grosse 
Demut  des  unstät  Ringenden  vor  dem,  der  alles  besass. 
Werners  Entwicklung  suchte  oft  nur  tastend,  aber 
immer  bewusster  den  Zwiespalt  zwischen  Künstlertum 
und  Menschsein  zu  überbrücken.  In  der  ersten  Phase 
der  Romantik-Rezeption  hatte  der  Literat  in  der  Rausch- 
freude des  Schafitens  unter  der  Energie  der  Zeitrichtung 
im  Künstertum,  das  religiöse  Ekstase  war,  die  Lösung 
erblickt,  wenigstens  erhofft.  Der  Weihebegriff  war  die 
Formel  gewesen,  die  das  ausdrückte  und  das  ungelöste 
Nebeneinander  im  Gegensatz  zwischen  prosaisch  und  po- 
etisch aufzeigte.  Das  Idee-Individuum  gab  zunächst  dem 
Künstertum  den  Sieg,  barg  aber  in  sich  die  Veredelungs- 
forderung des  Menschen,  die  immer  deutlicher  zum  Durch- 
bruch  kam,  je  mehr  menschliche  Qual  durch  das  Witt- 
wertum  und  künstlerische  Erfolglosigkeit  dafür  den  Weg 
bereitete.  Diese  Tendenz  kulminierte  in  dem  Brief  an 
Iffiand,  der  jedoch  nur  momentan  eine  einseitig  bestimmte 
Entscheidung  gegen  das  Künstlertum  brachte.  Der  Pro- 
duktionsbetrieb Hess  sich  nicht  töten.  Werner  schrieb  den 
„Attila"  und  die  „Wanda'',  blieb  sich  aber  bewusst,  dass 
er  im  Künstlertum  alleine  sich  nicht  vollenden  würde. 
Er  strebte  nach  einer  Synthese,  hatte  den  Willen  sein 
Leben  als  Form  zu  gestalten.  Das  quälende  Problem  der 
Romantik,  das  Eichendorf  in  seinem  Roman  „Dichter  und 
ihre  Gesellen"  zweifellos  im  Hinblick  auf  diesen  Dichter 
darstellte,  wurde  von  Werner  erlebt.  In  der  mystischen 
Umdeutung  des  Lebens  hatte  er  versucht  die  ReaHtät  zu 
überwinden.  Fichtes  Pflichtlehre  stellte  sie  ihm  als  Wir- 
kungsfeld vor  Augen  und  Werner  musste  sie  nun  auch 
als  irgend  wie  der  Kunst  verbunden  anschauen.  Die 
Forderung  Goethes  auch  hier  zur  Synthese  zu  gelangen, 
künstlerisch  Idealismus  und  Realismus  zu  verbinden,  war 
in  dem  Entwicklungsprozess  als  immant-notwendige  For- 
derung, zu  der  Werner  mehr  oder  weniger  bewusst  selbst 


171 

kommen  musste,  vorhanden.  Aus  dem  Persönlichkeitsprob- 
lem Leben  und  Kunst  führte  ein  Weg  zur  Kunstform  Goethes 
und  es  ist  nicht  Literatenstolz,  der  Goethe  zu  dem  Erzieh^ 
ungsexperiment  mit  dem  Romantiker  verführte,  sondern 
das  Wissen  dieser  Zusammenhänge  zwischen  Kunst-  und 
Lebensform  und  seine  selbstverständliche  Entscheidung 
für  seine  Art,  die  ihm  für  die  seeliche  Situation  Werners 
als  notwendig  erscheinen  musste. 

In  Werners  Bekenntnisbriefen  an  Hitzig  aus  der  Zeit 
seiner  seelischen  Revolution  war  Goethes  Name  als  der- 
des  grössten  Künstlers  genannt  worden,  wie  es  die  Schle- 
gelsche  Schule  vorschrieb.  Eine  tiefere  Einwirkung  auf 
ihn  —  Einzelheiten  sind  unwichtig  —  fand  von  der  Kunst 
des  Klassikers  nicht  statt,  nur  der  rythmische  Erlebnis- 
gleichklang mit  der  Jugenddichtung  Goethes  konnte  dem 
ästhetisch  weniger  als  menschlich  empfänglichen  Ro- 
mantiker etwas  sagen.  Der  vollendete  Goethe  konnte 
ihm  zunächst  nicht  viel  sein.  Erst  als  seine  Entwicklung 
bis  zu  diesem  Punkte  gekommen  war,  führte  ein  Weg 
zu  dem  Klassiker,  in  dem  Werner  die  harmonische  Ein- 
heit beider  Gegensätze  sah,  Leben  und  Kunst  in  der 
Versöhnung  des  Lebens  als  Kunstwerk.  Er  suchte  in 
Goethe  den  Künstler  und  die  einflussreiche  Exzellenz. 
Was  er  fand  war  der  Mensch,  vor  dessen  Grösse  er  sich 
erschüttert  neigte.  Als  Literat  fand  er  Einlass  in  seinem 
Hause,  als  Mensch  rang  er  um  die  Liebe  dieses  Menschen ; 
denn  ehrlicher  ist  kein  Wort  von  ihm,  was  er  je  sagte, 
als  das:  er  suche  Liebe  und  nicht  Beifall.  Die  tiefe  Tra- 
gik dieses  Lebens  war,  dass  die  Bitte  an  das  Schicksal, 
Goethes  Liebe  zu  erringen,  nicht  erfüllt  werden  konnte. 
In  Weimar  fiel  die  Entscheidung  über  das  Leben  des 
Dichters  und  seelisch*  führte  der  direkte  Weg  von  dort 
nach  Rom.  Als  die  höchste  und  reinste  Menschlichkeit 
ihn  nicht  retten  konnte,  blieb  ihm  nur  noch  ein  Weg  und 
der  leitete  ihn  in  den  Schoss  der  katholischen  Kirche.  Mit 
dramatischer  Notwendigkeit  vollzog  sich  diese  Entwick- 
lung   und  Goethe    musste    in  dem  Konvertiten   einen  Ab- 


172 

trünnigen  sehen,  musste  in  dieser  schroffen  Unbarmher- 
zigkeit  das  Verdammungsurteil  sprechen,  weil  er  ahnte, 
dass  Werner  von  ihm  eigentlich  sich  abwandte,  als  er 
den  protestantischen  Glauben  abschwor,  mochte  er  auch 
seinen  Helios  stets  verehren. 

Dr.  Luther,  wie  Werner  in  diesem  Kreise  scherzend 
genannt  wurde,  traf  Goethe  in  Jena  und  wurde  von  ihm 
in  Weimar  eingeführt.  Bald  bildete  er  unter  dem  Schutze 
Goethes  den  Mittelpunkt  des  literarischen  Kreises.  Werner 
las  in  den  ausgewählten  Cirkeln  der  Goethestadt  „Attila" 
und  das  „Kreuz  an  der  Ostsee"  (auch  das  Fragment  des 
zweiten  Teils)  vor  und  erntete  reichen  Beifall.  Um  Frau 
von  Schardt  bildete  sich  die  Werner-Gemeinde,  die  vor  allem 
aus  Frauen  sich  zusammensetzte.  In  ihr  trug  der  Dichter 
sein  System  der  Liebe  vor  und  wurde  der  Seelenführer 
dieser  Menschen.  Ihnen  gegenüber  trat  er  sein  Meister- 
amt an  und  predigte.  Der  Eindruck  des  Ekstatikers  auf 
die  Frauen  Weimars  war  gross  und  wurde  je  nach  Tem- 
perament bespöttelt  oder  bekämpft. 

Wieland,  der  feinste  Psychologe  und  vorurteilsloseste 
Beurteiler  Werners,  der  auch  dem  Rätsel  Kleist's  nahe- 
kam, fand  an  ihm  Geschmack  und  Gefallen.  Die  Männer 
um  Goethe  nahmen  nach  dem  Vorbild  des  Dichters  das 
Äussere  als  Arabeske  eines  wertvollen  Gehalts.  Die  sugge- 
stive Kraft  des  Hysterikers  wirkte  auch  auf  sie  bannend, 
Goethe  erfasste  das  Kämpfertum  des  seltsamen  Heiligen 
und  suchte  ihm  hilfreich  die  Hand  zu  bieten.  Literarisch 
wurde  er  durch  die  Sonette  Werners  angezogen  und 
diese  Form  beherrschte  Weimar  eine  ganze  Zeit.  Ein 
Wettkampf  entbrannte,  der  Werners  Lyrik  anregte.  Bei 
seinem  zweiten  Weimarer  Aufenthalte  teilte  er  Scheffner 
mit,  dass  er  seine  neuesten  kleinert  Gedichte  „mit  Noten, 
die  manches  Interesse  haben  dürften,  noch  dies  Jahr  in 
Alnianachform  herauszugeben  denke."  Zweifellos  unter 
dem  Einfluss  Goethes,  der  auch  vermittelte,  dass  eine 
Auswahl  der  Sonette  Werners  im  Prometheus  erschien. 

Das  Sonett  beherrschte  Werners  Lyrik.    Er  nahm  es 


173 

von  der  Romantik,  die  es  ihm  bot;  aber  es  ist  die  Form, 
die  er  nicht  zufällig  fand,  sondern  bei  der  wir  zu  fühlen 
meinen,  das  sie  ihn  suchte.  1802  tritt  sie  zuerst  entgegen 
in  dem  Gedicht,  das  er  später  überschrieb:  „Unerhörtes 
Gebet".  Dieses  (wenig  vollendete)  Gedicht  deutet  schon 
an,  wie  völlig  diese  Form  gerade  das  Spezifische  Werner- 
scher Kunst  zu  geben  vermag. 

Das  Sonett  ist  der  charakteristische  Ausdruck  zweier 
scheinbar  sehr  verschiedener  lyrischer  Dichtungsarten, 
Zunächst  entspricht  es  einer  sehr  intellektualistischen, 
sehr  bewussten  Kunst,  wie  sie  klassisch  in  Dantes  „Vita 
nuova"  erscheint.  Schon  die  scharfe  Einkerbung  der 
Lösung  und  Spannung  in  der  äusseren  Form,  die  Schwie- 
rigkeit der  Reimverschlingung  machen  es  zur  Bedingung, 
dass  nur  ein  schon  bis  in  die  letzten  Verzweigungen  durch- 
dachter Gedanken-Gefühlskomplex  wie  in  eine  starre  Form 
gegossen  zu  werden  braucht.  Jede  Handlung,  jedes  nicht 
völlig  gedanklich  aufgelöste  Element  eines  Gefühls,  eines 
Erlebnisses  wirkt  hier  störend  und  unharmonisch,  muss 
die  in  ihrer  Feinheit  so  zerbrechliche  Form  sprengen. 
Dem  Sonett  fehlt  jede  elementare  Kraft,  jede  Ursprüng- 
lichkeit. Diese  Dichtform  fordert  nicht  so  sehr  lyrisches 
Erleben,  als  die  Kunst,  seine  Gefühle  streng  komponieren 
zu  können.  Sie  ist  recht  eigentlich  künstlerisches  Aus- 
drucksmittel eines  (im  weitesten  Sinne)  Epigonentums. 
Daneben  nutzte  Werner  es  später,  um  die  feinste  Vibra- 
tion einer  dunklen,  mystischen  Empfindung  zu  fassen,  die 
in  ihrer  zerbrechlichen  Geistigkeit  nicht  stark  genug  war, 
eine  Eigenform  zu  bilden.  Dieser  Gegensatz  ist  durch 
eine  Weiterentwicklung  der  ersten  Form  erklärt.  Eine 
noch  stärkere  Auflösung  alles  Realen  ins  Ideelle  fand  statt, 
alles  wurde  Farbenfläche;  jede  Plastik  wurde  —  bewusst 
oder  unbewusst  —  vermieden.  Ein  feinziseliertes  Kunst- 
werk der  Empfindung  gibt  er  uns  von  überzarter  For- 
mung Auch  hier  haben  wir  sogar  noch  stärker  als  bei 
der  ersten  Art  das  Gefühl  der  Vorexistenz  der  Form, 
Das  Hauchartige,  Zergehende  des  Inhalts  in  den  scharfen 


174 

Konturen  des  Versgefässes  legt  das  Bild  nahe:  Es  giesse 
jemand  weiches,  duftendes  Öl  in  eine  Vase  von  schönen 
klaren  Linien. 

Eine  grosse  Gefahr  bot  diese  Form  jeder  Lyrik:  Das 
Suchen  nach  einer  äusseren,  zugespitzten  Pointe.  Werner 
hat  sie  nicht  immer  zu  meiden  vermocht  und  zeugte  in  dieser 
Kunstform  für  die  seltsame  Verbindung  von  Rationalismus 
und  Mystik,  die  wir  bei  ihm  als  das  Charakteristische  auf- 
weisen. Das  Dramalische  der  Spannung  und  Entspannung, 
das  im  Aufbau  des  Sonetts  angedeutet  lag,  hob  Werner 
nach  dem  Vorbilde  Friedrich  Schlegels  gerne  durch  das 
Zerlegen  der  Einkerbungen  in  Rede  und  Gegenrede  hervor. 

Das  dichterische  Schauen  ist  psychologisch  gesehen 
ein  assoziativer  Vorgang,  der  latent  vorhandenen  Empfin- 
dungen beim  Lyriker  auslöst,  die  mit  dem  Reiz  zu  einer 
neuen  Einheit  gestaltet  werden.  Beide  Elemente  —  Reiz 
und  Empfindung  —  müssen  noch  vorhanden  sein  in  der 
Synthese,  dem  Kunstwerk.  Je  individueller  der  Dichter 
sieht,  um  so  grösser  ist  der  Kunstwert  des  Geschauten 
einerseits.  Andererseits  muss  die  neue  Einheit,  die  der 
künstlerische  Eros  mit  dem  Momentanen  zeugt  und  ge- 
biert so  sein,  dass  wir  zum  nachschaffenden  Erlebnis  von 
diesem  Reiz  aus  fähig  bleiben.  Je  grösser  und  mannig- 
facher seine  Fähigkeit  ist,  den  einzelnen  Reiz  als  Einzel- 
wert  zu  fassen,  den  Individualcharakter,  die  Nuance  zu 
geben,  um  so  bedeutender  ist  seine  lyrische  Fähigkeit. 
Um  so  geringer  (ich  lasse  Einzelfälle  ausser  Betracht)  ist 
sie,  je  weniger  der  Moment  in  der  Gestaltung  Ewigkeit 
erhält.  Goethes  Wort:  „Zustände  gehen  unwiederbring- 
lich verloren"  enthält  in  sich  die  Forderung,  in  der  Lyrik 
diese  „Zustände"  zu  fixieren,  ihnen  Ewigkeit  zu  geben. 
Die  Charakteristik  der  Goetheschen  Lyrik  als  „Gelegen- 
heitsdichtung" im  höheren  Sinne  spricht  dasselbe  aus. 

Bei  Werner  war  —  im  allgemeinen  —  die  Gestaltung 
logisch  gebunden.  Er  sah  sein  System  bewusst  in  die 
Natur  hinein.  Das  wurde  schon  bei  anderer  Äusserungs- 
form    als   kennzeichnend    hervorgehoben.     In    der    Lyrik 


175 

zerstörte  es  jede  grösste  Kunstmöglichkeit.  Er  zeigte,  de- 
monstrierte sein  System  an  Einzelbeispielen.  Die  Natur 
hat  nur  Gleichniswert,  ist  eine  seiner  Mystik,  seitdem  er 
Böhme  kannte,  geläufige  Anschauung.  Diese  Welt  der 
Gleichnisse  wird  mit  grosser  Findigkeit  und  starker  intel- 
lektueller Arbeit  aufgebaut,  nicht  erlebt.  Er  bog  jeden  Reiz 
um  und  zeigt  zuviel  bewusste  Konstruktion,  um  noch  rein 
lyrisch  wirken  zu  können.  Das  assoziative  Element,  das 
eine  gewisse  nicht  am  logischen  Nexus  gebundene  Zwang- 
losigkeit  gibt,  fehlte  fast  vollständig.  Kein  Bild  formte 
sich,  sondern  ein  Gedanke  wurde  in  etwas  hinein  inter- 
pretiert. Die  Reizschwelle,  die  seine  Idee  fesselte,  war 
so  niedrig,  dass  wir  nicht  mehr  das  Empfinden  eines 
wirklichen  Erlebnisses  haben.  Hier  wird  einfach  alles  zum 
Gleichnis  gepresst.  Er,  das  Gesehene  und  das  Geschaute 
stand  in  keineni  Verhältnis,  das  uns  zwingt,  auch  so  zu 
schauen:  Ein  Denker  braucht  zur  Erklärung  seiner  Philo- 
sopheme  Bilder.  Denkt  nicht  bildhaft,  ist  nicht  sinnge- 
bunden. Bei  ihm  führt  die  Natur  kein  Eigenleben  von  stär- 
kerer Vitalität,  so  oft  auch  seine  Rousseausche  Jungendtra- 
dition in  der  Sehnsucht  nach  der  Mutter  Natur  sich  zeigte. 
Dieses  Fehlen  wurde  von  ihm  programmatisch  zum  Kunst- 
wollen  erhoben.  Seine  egocentrische  Geistigkeit  wurde  als 
das  notwendige  Wesen  jeder  Kunst  empfunden.  Werner 
wurde  Expressionist  in  extremster  Form,  ohne  dazu  die 
innere,  umgestaltende  Kraft  als  Künstler  zu  haben. 

Fichte  hatte  die  Welt  zum  Objekt  unserer  Pflicht 
gemacht  und  dem  Tätigen  als  Aufgabe  hingestellt.  Werner 
empfand  die  Natur  als  tot  und  sah  seine  Aufgabe  darin, 
sie  mit  seiner  Idee  zu  durchseelen.  Von  dem  Religiösen 
hatten  die  „Grundzüge"  gefordert:  ..Er  erblickt  alles  nur 
in  dem  einen  und  vermittels  desselbe ;  dann  erblickt  er 
aber  auch  zugleich  in  jedem  Einzelnen  das  ganze  unend- 
liche All."  Seit  Werner  die  Individualforderung  aufge- 
gangen war  und  er  sich  als  den  Ideeträger  der  Liebe 
gesetzt  hatte,  begann  dieser  Weltgestaltungsprozess.  „Du 
Menschengott  sei  die  Natur,"  hiess  die  Forderung  in  der 


176 

Wanda.  Und  nun  wurde  alles  zum  Symbol  nicht  des 
Unendlichen  im  Sinne  Schleiermachers  und  Böhmes,  son- 
dern zum  Ausdruck  der  Wernerschen  Liebeidee.  Seine 
Gedichte,  nach  1805  sind  das  Resultat  dieses  Welterneu- 
erns,  dieses  Versuchs  vom  Ich  aus  die  Natur  aufzubauen. 
Hier  wurde  auch  der  Versuch  gemacht  im  All  zu  zer- 
fliessen,  aber  der  Widerstand,  den  das  Ich  bot,  wurde 
nicht  durch  Vernichtung  des  Ich  aufgehoben,  sondern  der 
Prozess  vollzieht  sich  umgekehrt,  das  Universum  w^ird 
erst  zum  Ich  gebildet.  Die  Art  des  Sehens  war  bei 
Werner  jetzt  bewusst  vergewaltigend,  so  stark  empfand 
er  die  Pflicht-Aufgabe  des  Ideeindividuums. 

Goethe  gab  er  Mitteilung  von  dem,  was  sein  Leben 
erfüllte  und  der  war  objektiv  genug  und  auch  fasciniert 
von  den  webenden  Geheimnissen,  die  des  „wunderlich 
bedeutenden"  Mannes  Beschwörungen  vor  ihm  erstehen 
Hessen.  In  eingehenden  Gesprächen  legte  Werner  Goethe 
seine  Ideen  klar.  Die  Wahlverwandtschafts-Konzeption 
erhielt  hier  ihren  veranlassenden  Impuls  und  dem  Faust- 
dichter blieb  mancher  Gedanke  wertvoll  und  klang  in  den 
Schlussscenen  des  zweiten  Teils  zur  Harmonie  geklärt  an. 
Er  bot  dem  Dichter  der  Liebe  die  Vermittelung,  seine  Ten- 
denzen klarzulegen  und  Hess  ihn  nach  Werners  Worten 
„gelten".  Werners  Hoffnung  wurde  dadurch  so  gross, 
dass  er  mit  der  Bitte  an  ihn  herantrat,  das  Kreuz  an  der 
Ostsee  aufzuführen. 

In  diesem  Drama  war  zuerst  die  Liebe  Thema  seiner 
Kunst  geworden  und  zwar  in  der  eigenartigen  Verbindung 
Böhme,  Schleiermacher  und  naturphilosophischer  Motive, 
die  wir  analysierten.  Ein  Taumel  zwischen  fiebernder 
Wollust  und  der  himmlichen  Liebe.  Der  Eros  sollte  ver- 
christlicht  werden,  trat  als  das  Wesentliche  des  Christen- 
tums, als  das  dem  Heidentum  innerlich  Fremde  und  Über- 
legene in  den  Mittelpunkt:  Die  heilige  Liebe  zum  All 
und  der  Gattung  als  das  aktive  Erleben  der  Gottheit. 
In  der  Zeugungskraft  sah  Werner  die  Gottähnlichkeit  und 
die  biblische  Mythe  des  Sündenfalls  ist  ihm  in  dieser  Er 


177 


klärung  geläufig.  Die  höchste  Aufgabe  des  persönlichen 
Seins  lag  ihm  im  Verzicht  auf  diese  Gottähnlichkeit  und 
die  höchste  Höhe  der  Religion  war  ihm  dieses  freiwiUige 
Opfer.  Dadurch  wurde  die  Liebe  zum  Einzelnen  über- 
wunden ;  das  war  die  zweite  Phase  seiner  Liebetheorie, 
die  in  dem  „Kreuz  an  der  Ostsee**  erstrebt  wurde  und  die 
Umarbeitung  der  Söhne  des  Thals  beeinflusste.  In  dem 
Geschlechtswechsel  der  Astralis-Astralon  wurde  diese 
Überwindung  der  Gattungsliebe,  ihre  Erhöhung  zur  All- 
liebe durch  Verzicht  nicht  durch  Erleben  angedeutet. 

Die  Einführung  des  Idee-Individuums  in  diese  Ge- 
dankengänge hatte  eine  tiefgreifende,  aber  äusserlich 
kaum  merkbare  Wandlung  zur  Folge,  die  unter  Aus- 
wertung erlebter  Wahrheiten  bei  der  Heirat  und  Ehe- 
scheidung der  geliebten  Frau  sich  bildete.  In  der  Weihe 
der  Kraft"  war  das  Priestertum  des  „Ewig-WeibHchen" 
im  Titel  schon  ausgedrückt.  In  mystischer  Weiterführung 
der  Gedanken  der  deutschen  Klassik  und  Romantik  unter 
böhmeschen  Einfluss  erschien  hier  die  \'erbinduno-  des 
Zarten  mit  der  Kraft  als  Weihe  der  Kraft  durch  das 
Milde,  Versöhnende.  Den  Begriff  der  Weihe  brachte 
Werner  damit  aus  der  Sphäre  des  Momentanen  in  die 
des  Dauernden,  gab  ihm  eine  Fichtesche  Note.  Die  Kraft 
ist  die  tätige  Idee  im  Menschen  deren  schroffe  Einseitig- 
keit als  Forderung  im  Attila  ausgedrückt  wurde.  Die 
dadurch  unvollendete  Persönlichkeit  Luthers  sollte  in  der 
Verbindung  mit  dem  Weibe  sich  vollenden.  Das  ist  die 
unklar  gehaltene  Auffassung  des  Dichters. 

Das  Neue  in  dem  Liebebegriff  Werners  war  die  Ein- 
stellung auf  das  Persönhche.  Katharina  erkennt  in  dem 
geschmähten  Reformator  das  Bild,  das  ihre  Seele  trug. 
Dieses  Individuum,  und  nur  dieses  kann  und  muss  sie 
besitzen.  Mann  und  Weib  sind  nicht  mehr  nur  durch 
Geschlecht  an  einander  gebunden  in  der  dumpfen  Sehn- 
sucht des  Einswerdens.  Sie  erhalten  einen  Idee-Individu- 
umcharakter, deren  Einzigheit  und  Persönlichkeit  in  Ver- 
bindung steht    mit  der  Gottheit,    klar  getrennt   und  eben 

Hankamer,  Zacharias  Werner.  12 


178 

dadurch  verbunden.  Nur  dieses  Ideeindividuum  kann  mit 
diesem  Ideeindividuum  zusammen  zur  Einheit  werden^ 
Jeder  Mensch  kann  nur  einmal  heben,  betonte  Werner 
öfters  aus  diesem  Gedankengrund  heraus.  Die  Variation 
des  Themas  in  der  Weihe  der  Kraft  ist  das  mystische 
Verhältnis  der  Freundin  Katharinens  mit  dem  Freunde- 
Luthers. 

In  dem  Luther-Drama  war  die  Erfüllung  der  Ideeliebe- 
durch  die  Ehe  und  in  der  Variation  durch  den  Tod  er- 
reicht. Im  Attila  ist  die  Vollendung  der  Persönlichkeit 
durch  eine  mystizierte  reinseelische  Verbindung  gegeben. 
Honorias  und  Attilas  Liebe  ward,  nach  dem  Worte  des 
Papstes:  „als  Gott  den  Attila  und  Dich  gedacht  und  der  Ge- 
danke Leben  ward  auf  ewig."  Hier  ist  im  engsten  Anschluss 
an  Böhme  die  Seite  der  Ideeliebe  hervorgehoben,  die  als 
Weiterführung  der  Übergeschlechtlichkeitder  Liebenden  im 
Astralis-Astralon  ausgedrückt  war.  Die  Erscheinungsform, 
des  Weiblichen  und  Männlichen  als  rein  empirisch  ist  nicht 
das  Wesentliche.  Der  Verzicht  auf  körperliche  Einheit  war 
damit  neu  begründet  für  Werner.  Die  Ideeliebe  war  Liebe 
zu  der  Idee,  der  Seele,  die  in  Gott  eine  Einheit  war,  und 
sich  nach  Anschauung  Böhmes  notwendig  entzweien 
musste,  sowie  sie  von  Gott  abfiel.  In  Attila  sind  auch 
die  erotischen  Nebentöne  dieses  Motivs  am  wenigsten  zu 
hören.  In  einem  Essay  über  das  „menschliche  Leben",, 
das  in  diesen  Zeitraum  hineingestellt  werden  muss,  hat 
Werner  seine  Gedanken  über  den  Eros,  seine  „Idee"  klar- 
gelegt, die  eine  eigenartige  Paraphrase  der  Anschauung 
Böhmes  ist  in  der  Färbung  der  Idee-Lehre,  wie  er  sie  von 
Fichte  genommen  hatte.  Rousseau  und  der  Sympathie- 
Begriff  des  18.  Jahrhunderts  dienten  zum  Aufbau. 

Das  höchste  Leben,  die  Dreifaltigkeit  Gottes,  sei  die 
ewige  Umarmung  der  höchsten  Kraft  und  Zartheit  im 
klaren  Selbstbewusstsein:  Vater,  Sohn  und  Geist.  Das 
Wesen  dieser  Gottheit  sei  die  Liebe,  deren  Sehnsucht 
nach  sich  selbst  die  Gestalt  erzeuge,  die  im  Welt-Ganzen 
oder   im   Symbol    des  Einzeldinges    erscheine.     In   jedem 


179 

Wesen  variiere  sich  das  Urwesen  in  der  Doppeleinheit  von 
Zartheit  und  Kraft,  die  sich  in  der  Lösung  vom  All-Gott  zur 
ichhaften  Existenz  entzweie  und  im  Menschen  als  Weiblich 
und  Männlich  getrennt  offenbare.  Die  Sehnsucht  der  Hälften 
zur  Wiedervereinigung"  dränge  die  von  Gott  Abgefallenen 
in  das  Leben  dieser  Welt.  Leben  im  eigentlichen  Sinne 
sei  das  momentgebundene  Sich-Finden  und  Trennen.  Der 
Trieb  diesen  Moment  zum  klaren,  dauernden  Bewusstsein 
zu  erweitern,  verbürge  die  Ewigkeit  unseres  Seins. 

In  drei  Akten  vollziehe  sich  dieses  Erlebnis  unserer 
Einheit.  Der  erste  sei  der  des  Anschauens  zweier  Ge- 
liebten, der  als  dunkle  augenblickliche  Wiedererinnerung 
der  ursprünglichen  Liebe  des  Getrennt-Einen  in  Gott  er- 
klärt wird.  Der  zweite  Akt  sei  die  gegenseitige  Reini- 
gung, die  Läuterung  von  dem  Irdisch-Persönlichen  durch 
die  Ahnung  der  Idee -Individualität  und  das  religiöse  Er- 
leben der  göttlichen  Einheit.  Der  Gehalt  des  dritten 
und  höchten  Aktes  sei  das  Bewusstsein  der  Liebe,  das  im 
Augenblick  der  gegenseitigen  Umarmung  in  den  sich 
Einigenden  aufflamme. 

Dieser  Bewusstseins-Moment,die  Brautnacht  (der  Unter- 
titel des  ersten  Teils  des  „Kreuzes  an  der  Ostsee")  eröffne 
eine  neue  Möglichkeit  der  Liebe  zweier  Hälften  durch  die 
Entstehung  neuen  Lebens  sei  es  Mensch  oder  Blütenkeim. 
Für  das  Individuum  bedeute  er  in  der  Erfüllung  seines 
Lebenssinnes  den  eigentlichen  Tod,  den  Liebe-Tod,  die 
Verklärung,  Der  sogenannte  Tod  sei  nichts  als  ein  Aus- 
ruhen, wenn  der  Liebe -Tod  nicht  erlebt  ward.  Werner 
scheint  hier  an  eine  Reinkarnation  und  Seelenwanderung 
zu  glauben. 

Es  ist  durch  alle  Umwandlung  zum  Eros- Erlebnis 
nicht  ganz  verwischt,  dass  wir  hier  eine  Übersetzung  der 
unio  mystica  vor  uns  haben.  Schon  bei  Böhme  ist  die 
Vereinigung  mit  Gott  nicht  mehr  in  der  scharfen,  begriff- 
lichen Deutlichkeit  der  klassischen  Mystik  vorhanden. 
Werner  übersetzt  sie  sozusagen  zurück  in  das  Liebe-Er- 
lebnis, aus  dem    sie    sich    in    feinster  Vergeistigung    ent- 


180 

wickelt  hatte.  Die  Geistigkeit  der  mystischen  Gott-Wol- 
lust wird  im  Begriff  gewahrt,  im  Erleben  sinnlich  ver- 
gröbert. Der  Entwicklungsgang  Werners  geht  zur  klas- 
sischen Mystik  und  sogar  zu  einer  weniger  sinnlichen 
Übersinnlichkeit,  als  Böhme  sie  bot. 

Es  ist  deutlich,  dass  zwischen  der  Entwicklung  seines 
Schicksalgedankens  und  dem  Liebebegriff  eine  Wurzel- 
einheit besteht.  Die  Durchschneidung  beider  Linien  fand 
in  der  „Wanda"  statt,  die  Werner  in  Wien  bis  zum 
Schlussakt  gearbeitet  und  in  Weimar  vollendet  hatte. 
Goethe  brachte  sie  zum  Geburtstage  der  Herzogin  am 
30.  Januar  1808  auf  die  Bühne. 

An  den  Mythos  gemahnend,  den  Aristophanes  im 
Symposion  Piatons  dichtet,  das  als  Ausgangspunkt  der 
Eros -Mystik  zu  bezeichnen  ist,  lehrte  diese  Kunstpre- 
digt, dass  Mann  und  Weib  von  Ewigkeit  gepaart  seien 
und  mit  Schicksalsnotwendigkeit  sich  suchen  und  finden 
müssen.  Das  ist  in  Wanda  die  tragische  Notwendigkeit, 
die  über  äussere  Hemmnisse  und  innere  Schuld  sich  er- 
füllen muss. 

Denn,  Dir  von  Anbeginn  verwandt 
Seit  unser  Sein  sich  einem  Schooss  entwandt 
Bin  ich  in  Dir,  Du  bist  in  mir  geboren 
Kein  Schwur  zerreisst  ein  ewig  Band, 
Dieses  '  Gebundensein    zweier    Menschen    aneinander    ist 
kein  mechanischer  Zwang,  kein  Verhängnisschicksal,  son- 
dern   Schicksal    im  Sinne    der  sittlichen  Weltordnung,   es 
ist  Aufgabe.     „Ihres  Wesens  Zweck"  sollen  Rüdiger  und 
Wanda    erkennen    und   in  fast   wörtlicher   Vorwegnahme 
Fichtes  in  Ausdeutung  Böhmes  stellt  Libussa   die  Forde- 
rung:   „l.)arum,    was    ihr   seid,   erfüllet".     In    den    Reden 
hat    Fichte    später    seine    Auffassung    zusammengefasst: 
„Die    eigentliche    Bestimmung    des    Menschengeschlechts 
ist:  Das  es  mit  Freiheit  sich  zu  dem  mache,    was   es   ei- 
gentlich ursprünglich  ist".     So   wollte   auch   hier  Werner 
den  Freiheitsgedanken  Fichtes  ausgedrückt  wissen,  tastete 
aurh  hier  n^ch  den  Persönlichkeifsbegriff,  den  Fichte  ver- 


181 

kündigte.  Der  tragische  Konflikt  in  der  Wanda  ist  durch 
den  Eid  geschaffen,  mit  dem  sie  sich  ihrem  Volke  ver- 
lobte und  dessen  Erfüllung  sich  nicht  mit  ihrer  Idee- Auf- 
gabe vereinen  lässt.  Der  Selbstmord  und  die  Tötung 
des  Geliebten  löst  den  Konflikt  „heidnisch",  wie  Werner 
hervorhebt.  Der  Verzicht  und  das  rein  seehsche  Verbin- 
den (wie  bei  Attila  und  Honoria)  ist  der  Heidin  eine  Un- 
möglichkeit, da  es  wesentlich  christlich  ist.  Werner  wollte 
hier  das  Schicksal  der  Heiden  darstellen  und  seine  Über- 
windung als  Persönlichkeitstat  im  Sinne  Fichtes  definieren, 
zu  der  Wanda  trotz  ihrer  Grösse  nicht  fähig  ist.  Die 
Zuneigung  spricht  das  aus: 
Euch  wollen  offenbaren 

Hab  ich  in  diesem  Lied:  der  Heiden  Lieben; 
das,  mag  das  Herz  es  brechend  auch  versöhnen, 
das  Hallelujah  doch  nicht  lässt  ertönen, 
Von  dem  ich  noch  im  Attila  geschrieben. 
Weint  Ihr  mit  Wandas  grossem  dunklem  Herzen, 
Preisst  Ihn,  der  uns  verlieh  die  Sternenkerzen!  — 
In  diesem  letzten  Verse  wurde  das  mystische  Symbol  an- 
gedeutet unter   dem   das  Heidnische  und  Christliche  hier 
auftrat:  Stern    und    Blume.     Die   Blume    ist    das    im  Ele- 
mentreich,  im    Irdischen    wurzelnde.     Der    Stern    ist    die 
Ideeexistenz    der    Blume    ewig    und    im    Reiche    Gottes. 
Böhme   legte    das   Symbol  nahe,   dessen   Entstehen    aber 
weit  zurückzuliegen  scheint  und   seine   bekannteste,  auch 
von  Böhme  bestimmte  Formel  in  Brentanos  Spruch  erhielt: 
O  Stern  und  Blume,  Geist  und  Kleid 
Lieb,  Leid  und  Zeit  und  Ewigkeit, 
der  eine  bildliche  Häufung  der  Antithese  gibt,  die  Werner 
treffen    wollte.      Die    erste    Formulierung    dieses    Gegen- 
satzes gab  Werner  in  seinem  Erklärungsbrief  des  Luther- 
Dramas  (w^ohl  Anfang  1806):   „Ihre  (der  Seele;  edlere  Ge- 
fühle allein  begleiten  sie  in  eine  bessere  Welt;  denn  Liebe, 
Jugend,  Kunst  sind   ewig  aber  dort    sind    sie    nicht  mehr 
Blüthen,  es  sind  Sterne,  die  mit  dem  Glauben  brüderlich 
vereint,    alles  Irdische    vergessend,  nur    für    die  Gottheit 


182 

glühen".  Die  Blumenform  der  Liebe  Wandas  musste  in 
dem  Konflikt  zwischen  den  Pflichten  als  Königin  und 
Weib  vernichtet  werden.  Sie  wurde  verklärt  zum  Stern. 
Die  Symbolblurne  Böhmes,  die  Lilie,  wächst  aus  den  Flu- 
ten, in  die  sich  Wanda  stürzt  empor,  Versöhnung  der 
Wiedergeburt  kündend. 

Goethes  Urteil  über  Wanda  war  wohl  auf  Grund 
seiner  genauen  Kenntnis  des  Wollens  sehr  günstig.  Er 
lobte  den  klaren  Aufbau  und  die  zarte  ins  Geheimnis  sich 
bergende  Ausführung  des  Dramas.  Dem  Theaterdirektor 
Goethe  gefiel  es,  ein  romantisches  Stück  vor  sich  zu 
sehen,  das  sich  seinen  äusseren  Forderungen  nach  wohl 
auf  allen  Theatern  geben  lasse.  Der  äussere  Erfolg  war 
sehr  gross  und  das  Stück  behauptete  sich  längere  Zeit 
auf  dem  Spielplan  in  der  Ausstattung  und  Regie,  an  der 
Goethe  und  Werner  zusammen  gearbeitet  hatten. 

Durch  seine  Kunst  kam  er  Werner  auch  persönlich 
näher.  Goethe  erfasste  das  Lebensproblem  Werners  und 
verteidigte  es  warm  Jakobi  gegenüber.  „Der  Schauspie- 
ler, Musikus,  Maler,  Dichter,  ja  der  Gelehrte  selbst  er- 
scheinen mit  ihren  wunderlichen,  halbideellen,  halb  sinn- 
lichen Wesen  jener  ganzen  Masse  der  aus  dem  Reellen 
entsprungenen  und  an  das  Reelle  gebundenen  Weltmen- 
schen wie  eine  Art  Narren,  w^o  nicht  gar  wie  Halbver- 
brecher, wie  Menschen,  die  an  der  levis  notae  macula 
laborieren.  Sollen  denn  also  unter  dieser  desavantagier- 
ten  Kaste  nicht  auch  gescheite  Leute  entstehen,  die  be- 
greifen, dass  gar  kein  Weg  ist,  um  aus  diese  Verlegcn- 
zu  kommen,  als  sich  zum  Braminen,  wo  nicht  gar  zum 
Brama  aufzuwerfen."  Werner  wollte  diese  —  modern  von 
Thomas  Mann  erfasste  —  Verlegenheit  im  Ideeindividuum 
lösen,  durch  das  er  Brama  und  Bramine  zugleich  war. 
Die  beharrliche  Konsequenz  dieses  Suchens  zwang  selbst 
Goethe  zur  Anerkennnug.  Er  sah  das  Phänomen  Werner 
als  Produkt  dieser  revolutionären  Zeit  und  suchte  es 
von  dieser  Voraussetzung  aus  zu  verstehen.  Als  Werner 
Ende  März  von   ihm    schied,  durfte  er    der    freundschaft- 


183 

liehen  Anteilnahme  Goethes  gewiss  sein,  der  damals  mit  den 
Wahlverwandtschaften  innerlich  beschäftigt  Werner  sehr 
entgegengekommen  war,  mehr  als  er  Goethes  Welt.  Nicht 
ftur  gelten  Hess  der  ihn,  er  nahm  auch  von  ihm  an.  Die 
mystische  Vertiefung  der  Wahlverwandtschaft  hat  einige 
Verbindungswurzeln  mit  der  Liebe -Schicksalslehre  Wer- 
ners, wo  durch  der  „Entsagung  seelige  Qual"  ebenfalls 
die  Lösung  gefunden  worden  war. 

Werner  ging  von  Weimar  mit  dem  ehrlichen  Willen 
in  Vollendung  seiner  Menschlichkeit  zum  Goetheschen 
Persönlichkeitsbegriff  zu  kommen.  In  mystischer  Ver- 
schnörkelung  hatte  er  die  Forderung  nach  dieser  Har 
monie  sich  selbst  gestellt  in  dem  Sonett  „Morgen  und 
Abend"  : 

„Tag  oder  Nacht;  Dir  wohnt  es  im  Gemüthe 
Sey  Du  nur  mit  Dir  selber  Feierabend 
So  brauchst  Du  für  den  Sonntag  nicht  zu  sorgen. 
Die  Mystik  hatte  er  gesucht,  da  er  das  Einfach-Mensch- 
iche  (das  „Heidnische"  Goethes  für  Werner)  nicht  reinen, 
nur  verklären  konnte.  Im  „Wiegenlied"  und  in  anderen 
Gedichten  hatte  er  versucht,  dem  Rate  Goethes  zu  folgen, 
Iffland  gestand  er  seine  erworbene  Erkenntnis,  dass  die 
höchste  artistisch-dramatische  Nh^stik  darin  bestehe,  „der 
zwar  mystischen,  aber  doch  klaren  Natur  gleich,  Men- 
schen plastisch  und  lebend  zu  schaffen,  wie  Shakespeare, 
Goethe,  Schiller  und  mein  teurer  Iffland.  Ich  bin  daher 
fest  entschlossen,  das  laufende  Jahr  noch  mit  den  beiden 
schwierigsten  Arbeiten,  dem  zweiten  Teil  der  Söhne  des 
Tals  (Umarbeitung)  und  des  Kreuzes  an  der  Ostsee  fertig 
zu  werden  und  dann  meine  schriftstellerische  Tätigkeit 
ausschliesslich  auf  aufführbare  d.  h.  solche  Stücke  zu  ver- 
wenden, welche  den  Gebildeten  befriedigen  und  den  Hand- 
werksmann packen."  Werner  war  nicht  ein  Betrüger, 
der  Goethes  Freundschaft  mit  einer  bewussten  Lüge  er- 
kaufen wollte  und  den  lernwilligen  Jünger  spielte  zu 
diesem  Zwecke.  In  den  „Augenblicken  der  Weihe"  glaubte 
er  den  Sieg  über  seine  zweite  Natur  schon  gewonnen  zu 


]84 

haben,  um  nach  dem  ersten  Zusammenbruch  sich  vorbe- 
haltlos dem  Stärkeren  zu  ergeben.     Sowie  er  in  den  Kreis 
Goethes  —  etwa  im  Briefe  —  trat,   war    er    der  amüsante 
Plauderer  und  Spötter,  um  bald  wieder  bei  seiner  Mystik» 
Zuflucht  zu  suchen. 

Über  Leipzig  ging  Werner  nach  Berlin,  um  die  wirt- 
schaftliche Seite  seiner  Existenz  zu  klären.  Seine  Wanda 
wurde  von  Iffland  scharf  abgelehnt  wohl  unter  dem  Ein- 
druck der  scharfen  Presseangriffe,  die  gegen  Werners 
Liebetheorie  und  Kunst  gerichtet  waren  und  gegen  die 
Goethe  seine  Confession  im  Prometheus  erscheinen  liess. 
Damit  löste  sich  Werner  literarisch  von  Berlin.  Die  Ein- 
quartierungslasten veranlassten  ihn  auch  seinen  Berliner 
Hausstand  auflösen  und  er  begann  seine  ruhelose  Wander- 
schaft durch  Deutschland  wieder,  auf  der  er  die  ihm  freund- 
lich Gesinnten  aufsuchte  und  irgendwo  eine  Stätte  suchte 
und  ein  Wirkungsfeld.  In  Aschaffenburg  knüpfte  er  mit  Dal- 
berg,  der  schon  seine  „Söhne  des  Thals"  anerkennend  auf- 
genommen hatte,  freundschaftliche  Verbindungen,  die  ihn 
sogar,  der  nicht  politisch  zu  denken  verstand,  zum  An- 
hänger des  Rheinbundgedankens  machten.  Durch  seine 
Güte  wurde  er  später  materiell  sicher  gestellt. 

Seine  Reise  schlug  sich  künstlerisch  in  einer  Fülle 
mystischer  Sonette  nieder,  die  den  eigenartigen  Umge- 
staltungsvorgang des  Wernerschen  Sehens  kennzeichnen. 
Tief  ergriff  ihn  die  „altgothische  Baukunst  in  Cöln"  deren 
Zusammenhang  mit  seinem  Kunstwollen  ihm  ahnend  auf- 
ging, ohne  dass  der  mystisch  -  poetische  „Pilger"  fähig 
gewesen  wäre  das  auszusprechen.  Ihn  vernichtete  die 
quälende  Erkenntnis  des  Kampfes,  der  durch  Goethe  in 
ihm  auf  den  Kulminationspunkt  gebracht  worden  war. 
Die  Rheinreise  Werners  vollzog  sich  im  Zeichen  der  Ro- 
mantik. Sie  war  die  erste  Etappe  auf  dem  Wege  von 
Weimar  nach  Rom  und  erhielt  ihr  Siegel  in  dem  Sonett 
„Der  Cölner  Dom": 

Hier  sitz  ich,  hier,  im  alten  Cöln  am  Rheine! 

Als  mich  der  Vater  Rhein  hierher  getragen, 


185- 

Da  war  es  mir,  als  könnt  ich  alles  wagen 

Und  jetzo  sitz  ich  hier  im  Dom  und  weine! 

Es  weht  aus  der  gemalten  Fenster  Scheine 

Mich  durch  die  Riesensäulen  an  ein  Zagen, 

Ich  wag'  es  kaum  die  Augen  aufzuschlagen 

In  diesem  Weltenembryon  von  Steine !  — 

Werd  ich  es  noch,  ich  Schwacher,  es  vollbringen?!  — 

Als  Antwort  schlägt  es  zwölf  in  dumpfen  Tönen; 

Die  Mittagsglocke  weckt  die  Mitternacht! 

Sind  wir  vollbracht,  wir  Herrlichen,  wir  Schönen? 

Hör  ich  den  Dom,  den  Rhein,  das  Weltall  klingen; 

Und  von  dem  Kreuze  bebt's:  Es  ist  vollbracht! 

Es  war  notwendig,  dass  er  in  der  Architektur  die 
Form  am  tiefsten  erfasste,  die  das  musikalische  Element 
am  stärksten  ausdrückte,  die  Goiik,  die  Heine  versteinerte 
Musik  nannte.  Die  ungeheure  seelische  Bewegungsener- 
gie, die  alle  Wände  zu  Bew^egungslinien  verfeinerte,  die  in 
ekstatischer  Inbrunst  die  Materie  zum  Himmel  riss,  in  den 
zuckenden  Konturen  der  Tier-  und  Teufelsfratzen  form- 
auflösend sprühte  —  die  empfand  er  vernichtet  als  Vol- 
lendung. Das  „Es  ist  vollbracht"  sprach  ihm  diese  Kunst 
nicht  nur  religiös,  auch  ästhetisch  aus.  Sie  war  die  Form, 
nach  der  er  getastet  hatte.  Das  sich  eigentlich  als  Ar- 
chitektur Verneinende  der  Gotik  packte  ihn,  das  Unpla- 
stische, Malerisch-musikalische  ihrer  Form.  Das  konnte  er 
fassen,  weil  es  ihm  entsprach  und  sich  seinem  Sehen  fügte. 
Dem  eigentlichen  Wesen  der  Architektur  stand  er 
fremd  gegenüber.  Er  konnte  das  Charakteristische  weder 
dieser  ganzen  Kunst tbrm,  noch  des  Einzelwertes  sich  be- 
wusst  machen.  Das  mathematische  Moment  in  der  Raum- 
kunst,  ihre  Verbindung  mit  dem  Stofflichen,  die  Erden- 
schwere wiedersprachen  seinem  Wesen  und  seinem  Kunst- 
wollen. Die  starke  Betonung  des  Seelischen  und  die  Art 
seines  Sehens  führten  ihn  zur  Malerei,  die  man  die  eigent- 
lich christliche  Kunst  genannt  hat.  Sie  war  dem  spiri- 
tualistischen  Erotiker  in  ihrer  unsicheren  Kontur  des 
Körperlichen  äquivalenter. 


186 

Gerade  in  dieser  Epoche  trat  eine  Sonderheit  des 
"künstlerischen  Schauens  stärker  hervor  und  nuancierte 
seine  Lyrik.  Ihm  formte  sich  die  sehnende  Gewalt  der 
Wasser,  der  drückenden  Nebel  nicht  zur  Gestalt,  zum 
Körperhaften.  Wo  Goethe  den  Erlkönig  schaut,  sieht  er 
der  „Wolken  weissagendes  düsteres  Grau".  Selbst  die 
Gestalt  der  Mutter,  die  ihm  (in  der  Romanze  zum  Bei- 
spiel) erscheint,  ist  aufgelöst  m  Licht  und  durch  dunkle 
Nebel  sieht  er  nur  „an  einem  rosenfarbenen  Band  die 
goldne  Harfe  glühen".  Hier  spricht  zu  uns  das  Unkon- 
krete, Zergehende  des  Wernerschen  Wesens,  das  eine 
Folge  des  antithetischen  Aufbaus  seiner  Psyche  ist.  Die 
Farbe  entsprach  ihm,  weil  sie  zerfliessender,  schwebender, 
feinkörniger  ist  als  das  Körperhafte.  Bezeichnend  ist,  dass 
Kunigunde  in  der  Ekstase  das  Yisionsbild  nur  als  Farben- 
wert sieht:  „Golden  war  die  Rüstung  und  die  Schärpe,  war 
immergrün  und  seiden  floss  sein  dunkles  Haar".  Ein 
süsslicher,  fast  pervers  wirkender  Akkord.  Im  Rheinfall 
haben  wir  die  Farbenorgie: 

„Doch  der  König  Gold 

Die  Sonn'  aufrollt  den  azurnen  Saum 

Und  den  Schaum,  auf  der  tanzenden,  tönenden  Höh' 

Bekrönt  ein  sehnendes  rosiges  Roth  .  .  ." 
Rosenrote  Gletscher,  azurne  Saphirhallen,  goldener  Äther, 
der  blutigrote  Mond  sind  ihm  geläufig.  Werners  Farben- 
sinn ist  entwickelt  und  sein  Gefühl  für  den  Charakter  der 
einzelnen  Farbe  sehr  fein.  Bräutliches  Grün,  gieriges 
Grün,  sehnendes  Rot,  jungfräuliches  Silber,  Purpur  als  die 
Farbe  des  jungen  Helden. 

Die  Farbe  hatte  bei  ihm  eine  mystische  Bedeutung,  wie 
^r  es  in  den  Thalsscenen  vor  allem  zum  Ausdruck  brachte. 
Farbensymbole  sind  in  den  Geheimlehren  fast  jedes  Erd- 
teils und  jeder  Zeit  vorhanden.  Bei  Böhme  und  von  ihm 
aus  in  der  ganzen  Romantik  werden  sie  symbolisch  gesehen. 
In  dem  Sonett  „Die  pontinischen  Sümpfe"  findet  sich 
ein  sehr  bezeichnendes  Bild,  das  sein  Nur  -  Farbe  Sehen 
<:harakterisiert: 


187 

In  Doppelreihen  Bäum'  auf  beiden  Seiten, 
Mit  vollem  Laub,  wie  grüngestählte  Reiter." 
Werner  hatte  nicht  die  Bäume  als  Ritter  oder  Reiter  ge- 
sehen, sondern  das  Metallgrün  als  aparte  Nuance  empfun- 
den, die  wollte  er  in  seinem  Bild  fassen.     Er    wollte    die 
Farbe,  nicht  den  Gegenstand  malen  im  Bild. 

In  der  Kunst  der  Farben,  in  der  Malerei  konnte  er 
die  kinetische  Energie  ausgeprägt  finden,  das  sich  Ver- 
mählen und  Einswerden  gegensätzlicher  Werte  (Farben) 
wie  er  es  in  seiner  Liebestheorie  vor  allem  begrifflich, 
gestaltend  in  der  Form  seiner  Kunst  zeigte.  In  ihr  fand 
er  das  wieder,  was  den  Romantikern  die  höchste  Steige- 
rung der  Kunst  in  der  Musik  sehen  Hess  :  Die  Bewegungs- 
kraft, die  alle  in  sich  ruhenden  Einzelheiten  zum  Orga- 
nismus der  Melodie  zusammenzwang. 

Über  sein  Verhältnis  zur  Musik  wissen  wir  wenig. 
Seine  dramatische  Kunst  war  auch  äusserlich  mit  ihr  ver- 
bunden. Er  war  zweifellos  musikalisch,  ohne  nach  eige- 
nem Zeugnis  ausgebildet  zu  sein  und  eine  Organbegabung 
dafür  zu  haben.  Man  wird  Werner  durch  die  Art  seines 
seelischen  Lebens  als  Musiker  des  Geistes  bezeichnen 
können  und  damit  eine  Charakteristik  der  Romantik  geben. 
Bei  seiner  visuellen  Art  musste  er  zur  Malerei,  als  die 
ihm  wahlverwandte  Kunst  geführt  werden. 

Diese  Veranlagung  bestimmte  seine  Stellung  zur  Plastik. 
Als  er  inParis  vor  dem  Apollo  von  Belvedere  stand,  musste  er 
Goethe  Recht  geben,  dass  „diese  Reinheit, Freiheit,  Kühnheit 
und  vergöttlichte  Menschheit .  .  von  der  Kunst  des  Christen- 
tums bis  jetzt  unerreicht  geblieben,  vielleicht  unerreich- 
bar sei."  Aber  die  liebelosen  Augen  des  Gottes  er- 
schreckten ihn.  Er  fand  hier  nur  formale  Kunst  die 
irdisch  und  also  tot  für  den  Mystiker  war.  Die  „Sünde 
des  Fleisches"  lauerte  für  die  sexuelle  Überempfindlich- 
keit Werners  in  diesen  Formen.  Er,  der  höchste  seelische 
Bewegungsintensität  suchte,  sah  in  dem  harmonischen 
Ausklang  leichter  Geste  die  Friedhofsruhe  des  Geistes. 
Ästhetische  und    ethische   Momente    vereinigten   sich  auf 


188 

Grund  seiner  Auffassung,  dass  Ruhe  Tod  ist  und  das 
Rein-Empirische  das  Träge,  Leblose,  Sündhafte  zu  der 
Bitte: 

Jesus,  Christus,  Heiland  lass  mich  trinken 
Aus  dem  Lebensborn,  doch  nicht  versinken; 
Lass  mich  schauen  an  des  Scheines  Werke 
Schaun  das  Bild  der  Zartheit  und  der  Stärke, 
Lass  mich  schwelgen  in  der  Erdenschöne, 
Aber  Meister,  lass  mich  sinken  nicht! 
Und  sieh  da,  es  nahen  die  Dämonen, 
Herrliche,  vollendete  Gestalten, 
Den  beseelten  Marmor  zu  bewohnen; 
Fürsten,  die  im  Reich  der  Formen  walten! 
Wie  sie  fest  in  sich  begründet  thronen. 
Und  im  Raum  die  Ewigkeit  entfalten! 
Engel  sind  es,  Engel,  die  gesunken, 
Aber  noch  des  ew'gen  Lebens  trunken." 
Die  plastische  Kunst  der  Antike  war  ihm  die  Kunst 
des  Scheins  und  der  Form.     Sie  war  liebelos  in  dem  Sinne 
wie    Böhme    und    sein  Jünger    die   Liebe    sahen   als    den 
einigenden  Atem  Gottes,   der    im  All    Leben    schuf.     Die 
Schönheit  dieser  Gestalten  barg  in  sich  nur  den  Eros  der 
Heiden,  nicht  die  Vollendung  der  Liebe  in  Gott.     Sie  war 
nur  das  Bild  der  Zartheit  und  der  Stärke,  nicht  die  Ver- 
klärung  und  Einigung.     Dämonen  bewohnen   es,  Wesen, 
die  in  sich  begründet   thronen.     Sie    stehen,  wissen    wir, 
ausserhalb  der  Liebe-Einheit,  wie    er    seine    dämonischen 
Menschen  jenseits  des  Lebens  in  Gott  gestellt  hatte.    Sie 
sind  Fürsten    des   Scheins    und    der   Formen,    des   reinen 
Daseins  und  als  solche  fähig,   in   sich  abgeschlossen  und 
in  majestätischer  Ruhe  ihr  Einzeldasein  zu  repräsentieren. 
Diese  Kunst  berührte  das  Problem   dieser  Zeit:   Per- 
sönlichkeitsvollendung und  religiöse  Hingabe  an  das  All, 
berührte  das  Problem  seiner  Kunst:  Darstellung  der  Men- 
schen als  in  sich  geschlossene  Wesen  der  Scheinwelt  oder 
mystisch  verbundene  Erscheinungsformen  des  Göttlichen, 
die  nicht  als  Einzelpersonen  gegeben  werden  sollte,  son- 


189 

dern  als  Ausdrucksbewegung  des  Alls,  wofür  wir  in  der 
Form  Rodins  ein  Gleichnis  fanden.  Die  Verbindung  von 
Ruhe  und  Einzelsein  wurde  von  Werner  als  identisch  er- 
fasst  und  aus  dem  Ästhetischen  in  die  Weltanschauungs- 
sphäre gehoben,  da  für  ihn  die  Kunst  nicht  reine  Form 
(im  engeren  Wortsinn)  war,  wenigstens   nicht  sein  sollte. 

Überall  fühlte  er  nach  dem  geistigen  Erlebnisunter- 
grund durch,  und  so  wurde  ihm  ästhetisch  und  ethisch 
die  Gotik  des  Kölner  Domes  bahnweisend  in  Dichtung 
und  Leben.  Hier  fand  er  die  Erfüllung  der  christlichen 
Kunst,  höchste  Bewegung,  die  den  Stein  zur  Welt  organi- 
sierte, beseelte.  Das  Wort  „Weltenembryon  aus  Steine" 
suchte  das  zu  greifen,  was  Schelling  in  der  Kunstform 
Calderons  gefunden  hatte,  die  Fähigkeit  im  Begrenzten 
das  Ewige  zu  schauen.  Die  Calderonrezeption  Werners 
war  durch  die  Einwirkung  Fichtes  überkreuzt,  wodurch 
die  Individualität  aus  dem  All  begrenzt  herausgeholt 
wurde.  Goethe  hatte  ihn  zunächst  in  dieselbe  Richtung 
gewiesen,  gab  aber  der  Energie  Werners  eine  Zeitlang 
nach,  sodass  Werner  eine  viel  leichtere  Verbindungsmög- 
lichkeit zwischen  „Heidentum^  und  „Christentum"  annahm, 
als  sie  tatsächlich  bestand.  An  der  Gotik  erlebte  er  den 
klaffenden  Widerspruch,  der  von  der  anderen  Seite  im 
Antikensaal  des  Louvre  im  klar  wurde.  Durch  den  Ge- 
gensatz,  in  dem  er  zunächst  Böhme  und  Calderon  sah, 
war  ihm  die  Aktivität  der  Weltanschauung  des  Katholiken 
trotz  der  passiven  Äusserungsform  sichtbar  geworden. 
Die  Interpretation  des  Idee  Individuums  durch  die  Goethi- 
sche  Lebensform  verschärfte  ihm  den  Kontrast  dieses 
Weltsehens  zu  dem  Böhmes  und  Calderons  und  verband 
beide  zu  einer  Einheit,  als  deren  Ausdruck  er  das  Kreuz 
an  der  Ostsee  empfand,  um  dessen  Ausführung  er  bat. 
Das  wäre  ein  Merkmal  seines  Sieges  über  Goethes  „Hei- 
dentum" gewesen,  ein  Beweis  der  Gleichberechtigung  der 
christlichen  Kunstform  im  modernen  Athen.  Weimar  und 
Rom  wären  zur  Synthese  gebracht  w^orden. 

In  der  Steigerung  der  Stimmung   beim  Abschied   er- 


190 

hoffte  er  wohl  selbst  auch  in  sich  diese  Verbindung.  Köln 
war  der  Wendepunkt  in  seiner  Auffassung,  der  Beginn 
seiner  Entscheidung  für  das  Christentum,  und  was  ihm 
identisch  damit  war,  für  den  Katholizismus.  Im  eigent- 
lichsten Sinne  war  Köln  für  Werner  das  deutsche  Rom. 
Weiter  gingen  die  Tage  und  Reisebilder  an  ihm  vor- 
über und  sein  Tagebuch,  nur  zu  seiner  Erinnerung  ge- 
führt erzählt  die  einfachen  Vorkommnisse,  zählt  die  Namen 
der  hundert  Menschen  auf,  die  er  sprach  und  die  ihn 
freudig  oder  zurückhaltend  aufnahmen.  Von  Kirchen,  die 
er  besuchte,  weiss  es  zu  berichten,  von  Mädchen;  und 
jedes  kleine  Abenteuer  ist  darin  verzeichnet  in  einer  Form 
oft,  die  nur  verständlich  ist  durch  den  völlig  privaten 
Charakter  der  Notizen  und  die  das  quälende  Doppelleben 
des  Liebesgesellen  illustriert.  Über  Süddeutschland  ging 
es  zur  Schweiz,  die  er  zu  Fusse  durchquerte.  In  Inter- 
laken  wurde  er  mit  Frau  von  Stael  bekannt  und  sah 
den  Schauplatz,  auf  dem  er  den  24.  Februar  später  spielen 
liess.  Am  24.  August  betrat  er  den  Boden  Italiens  und 
seine  müde  Erlösungssehnsucht  weinte  sich  in  einem 
Gedicht  aus,  das  ihn  nahe  der  Konversionstimmung  zeigt 
und  beginnt  und  schliesst: 

Ihr  kommt  zu  spät,  ihr  ewig  jungen  Lauben; 

Ach  hätt'  ich  früher  euer  Grün  geschauet 

Als  noch  des  Lebens  Morgen  mir  gegrauet! 

Ich  kann  nicht  leben  mehr!  —  ich  kann  nur  glauben 

Und  doch  —  o  dass  ich,  ewig  junge  Lauben, 

Nicht  früher  euer  duftend  Grün  geschauet! 

Es  ist  zu  spät !  —  der  düstre  Abend  grauet! 

Ich  kann  nicht  leben  mehr  —  werd  ich  noch  glauben? 
Auch  in  den  Briefen  an  Goethe  kam  verhüllt  im  Plauder- 
ton und  Verehrungsbeteuerungen  die  Bitte  um  Ruhe  und 
Frieden  zum  Ausdruck.  Der  Wechsel  der  Menschen  und 
Gegenden  liess  nur  die  Oberfläche'seiner  Seele  aufstrudeln. 
Tief  unten  blieb  ihm  die  Sehnsucht  und  seine  Kunst  formte 
nach  den  Gesetzen  seines  Seins  die  Bilder  zu  Offenbarun- 


191 

gen  seiner  Idee,  An  Goethe  schrieb  er  „Noch  bemerke 
ich  über  die  Schweizerreise,  dass  sie  über  die  Natur, 
Sprache  und  Symbolik  der  Gewässer  unerhörte  Auf- 
schlüsse verbreitet  und  eine  poetische  Hydraulik  begrün- 
den könnte."  Er  gestaltete  sie  in  den  Gedichten  der  Zeit: 
die  Wollust,  reine  Liebe,  Entsagung  und  Witwertum.  In 
alles  hinein  sah  er  seine  Lebensqual.  Der  Kampf  zwischen 
Weimar  und  Rom,  den  er  immer  von  neuen  kämpfte, 
formte  er  als  ästhetisches  und  ethisches  Erlebnis  in  seiner 
verhüllenden  Weise  im  Sonett  „Helenik  und  Romantik". 
Der  Göttin  von  Cythera  Ruf:  „ich  forme,  ich  verkläre" 
ist  ein  Versuch  Werners  auch  hier  zu  einer  Einigung 
beider  Forderungen  zu  kommen.  Aber  er  besass  dazu 
menschlich  und  künstlerisch  nicht  die  Kraft,  sah  sie  er- 
füllt in  Goethe,  den  er  den  Sophokles-Shakespeare  nannte. 
Das  Ringen  um  diese  Einheit,  an  der  Kleist  zerbrach, 
war  auch  in  Werner  und  musste  bei  seiner  Wesensart 
innig  mit  dem  Menschliehen  verbunden  erscheinen,  ohne 
die  gleiche  gigantische  Wucht  wie  bei  dem  grössten  deut- 
schen Dramatiker  anzunehmen.  Der  Widerstand,  den 
Werner  bot,  war  nicht  gross  genug  ihn  zu  zerstören  und 
er  wurde  aus  seiner  Schwäche  zum  Sieger. 

Schon  bei  dieser  ersten  Italienreise  zeigten  sich  Symp- 
tone  des  Konversionswillens.  Dass  er  nicht  zur  entschei- 
denden Tat  wurde,  lag  daran,  dass  ihn  Goethe  in  Weimar 
erwartete.  Deswegen  brach  er  schon  in  Oberitalien  seine 
Wallfahrt  ab.  Der  Aufenthalt  bei  Frau  von  Stael  bewies, 
wie  er  um  das  Problem  des  Katholizismuses  immer  enger 
kreiste,  das  im  Tagebuch  als  ständiges  Gesprächsthema 
der  Tafelrunde  erscheint.  Die  ganze  Atmosphäre  dieses 
Kreises  war  mit  katholischen  —  in  der  Auffassung  dieser 
Zeit  katholischen  —  Tendenzen  durchsetzt.  Als  die  künstle- 
rische Atmosphäre  des  Kreises  seine  Schaffenskraft  anregte, 
tauchten  verschiedene  Gestalten  vor  ihm  auf:  Maria  Stuart,. 
Christine  von  Schweden.  An  ihr  musste  ihn  in  dieser 
Stimmung  die  Konversion,  zu  der  die  Tochter  Gustav 
Adolfs  sich  entschloss,  interessant  sein.     Am  22.  Oktober 


192 

•entschied  er  sich  für  die  Kunigunde.  In  der  Geschichte 
ihres  Lebens  fand  er  etwas,  das  ein  Lebensproblem,  mit 
dem  er  rang,  berührte:  Das  sexuelle  Entsagen,  von  dem 
spätere  Legenden  erzählten.  Im  Mittelpunkt  seines  Kam- 
pfes stand  die  Liebeidee  und  hier  fand  er  eine  katholische 
Darstellung  dieser  Frage, 

Proteusartig,  wie  er  geklagt  hatte,  drängt  sich  das 
Begehren  immer  wieder  in  den  Begriff  der  Liebe  ein  und 
alles  Entsagen,  auf  das  auch  wohl  Goethe  damals  ihn 
hinwies,  reinigte  die  Liebeidee  nicht,  in  der  die  Persön- 
lichkeitsforderung mit  dem  Askesewillen  zur  Alliebe  be- 
sonders fühlbar  und  quälend  kontrastierten.  Der  Konzep- 
tionspunkt dieses  Dramas  stand  der  Konversionsstimmung 
sehr  nahe  und  die  endgültige  Vollendung  wurde  denn 
-auch  in  der  Zeit  nach  dem  Übertritt.  Könnten  wir  die 
verschiedenen  Fassungen  des  Dramas  verfolgen,  so  be- 
Sassen  wir  die  Möglichkeit,  die  Schwankungen  dieser  Zeit 
genau  an  ihnen  nachzuweisen. 

Von  Schlegel  wurde  ihm  die  Lehre  Saint  Martins 
nahegebracht,  die  in  dem  Sternenglauben  Harduins  auch 
für  die  Kunigunde  wichtig  wurde.  Unter  starker  Benut- 
zung Böhmescher  Gedanken  hatte  der  Franzose  sein 
System  ausgeführt,  dessen  Mittelpunkt  Werner  verwandt 
war.  Durch  den  Menschen,  mit  dem  die  Natur  gefallen 
sei,  suche  sie  sich  zu  Gott  zu  erheben.  Nach  dem  Fall 
aller  Menschen,  der  sie  zur  Versöhnung  durch  Christus 
reif  mache,  werde  mit  der  gcreinten  Menschheit  die  Natur 
in  Gott  versöhnt.  Werner  folgte  diesen  krausen  Gedan- 
kengängen liebevoll  und  hörte  den  Ruf  des  Mystikers  als 
an  sich  gerichtet:  Das  Christentum  müsse  vertieft  und 
neugefasst  werden.  Das  Rom-Motiv  klang  fordernd  und 
laut  an  und  die  Stimmung  Werners  verdüsterte  sich  so, 
dass  er  das  Schauspiel  der  Stael,  in  dem  ein  eitles  Weib 
durch  den  Tod  des  Kindes  bekehrt  wurde,  als  Offenbarung 
und  Warnung  des  zürnenden  Gottes  schaute,  der  die 
Dichterin  rief. 

Als  Apostel    eines   Christentums,    das    starke    katho- 


193 

lische  Tendenzen  in  sich  trug,  schied  er  von  Coppet  und 
ging  nach  Paris.  Die  eigentliche  Grosstadt  mit  ihren 
sozialen  Problemen  und  der  neu  sich  bildenden  techni- 
schen Kultur  kam  dem  Romantiker  garnicht  zum  Bewust- 
sein.  Die  Nuance  Paris  in  ihrer  Eigenart  als  politisch- 
wirtschaftlicher Mittelpunkt  des  kontinentalen  Europas 
wurde  nie  getroffen,  obwohl  Werner  im  Salon  der  Ma- 
dame Recamier  und  der  Gerando  auch  mit  den  Trägern 
dieser  Kräfte  in  Berührung  kam.  Nur  die  pikante  Erotik 
der  Weltstadt  wurde  Erlebnis,  und  in  zugespitzten  ironisch- 
erotischen Bemerkungen  zeichnete  er  den  Gegensatz  der 
französischen  petites  bourgeoises  zu  der  verpflanzten  deut- 
schen biederzart-ästhetischen  Weiblichkeit,  ^die  ich  eine 
Kartoffelpastete  nennen  möchte."  Paris  war  ihm  die  Stadt 
der  Liebe,  der  Kunst  und  Religion.  Er  genoss  die  Sinnen- 
kultur Paris'  in  hungriger  Gier,  um  sich  „in  der  Residenz 
der  methodischen  Tollheit  die  letzten  ToUhörner  abzu- 
laufen," Die  Darstellung,  die  er  von  diesem  Leben  Goethe 
gab,  war  eine  Wernersche  Variation  der  Stimmung,  die 
in  der  marmornen,  kühlen  Form  der  römischen  Elegien 
lebte.  Aber  vor  der  Antike  stand  der  von  sinnlicher  Gier 
gepeitschte,  in  sich  selbst  zerrissene  Mensch  fassungslos. 
Von  dieser  spielerischen  Freude  an  der  Erdenschöne,  von 
dem  Sieg  der  Schönheitliebe  über  den  Trieb  wurde  er 
nur  vernichtet.  So  konnte  er  die  Mächte  des  Irdischen 
nicht  bannen  und  nur  in  der  mystischen  Ekstase  seiner  Re- 
ligion fand  er  Stärke.  In  dieser  Stimmung  formte  sich 
die  Kunigunde. 

Werner  wollte  sie  im  altdeutschen  Colorit  geben. 
Die  Liebe  dazu  war  auf  seiner  Rheinreise  wachgeworden. 
Er  trug  sich  damals  auch  mit  der  Idee,  einen  Stoff  aus 
den  Nibelungen  zu  gestalten.  Die  Form  mochte  ihm  ein 
Kompromiss  scheinen  zwischen  Mystik-Romantik  und  Goe- 
thes Kunst.  Als  Vorbild,  das  auch  in  der  vorliegenden 
Fassung  der  Kunigunde  durchschimmert,  hatte  er  Tiecks 
Genoveva  mit  einem  Einschlag  der  Konsistenz  schiller- 
scher Dramatik  gedacht.     In    der  Zeit  und  Situation   des* 

H.ankamer,  Zacharias  Werner.  13 


194 

Entschlusses  liegt  der  Beweis,  dass  sich  in  dem  Wort 
„altdeutsch"  das  neue  Kunstwollen  mehr  verhüllt  als  aus- 
spricht. Die  Verbindung  von  Sophokles,  Shakespeare  und 
Calderon,  eine  Übersetzung  der  gotischen  Kunstidee  in 
das  Dramatische,  war  seine  Absicht ;  denn  Goethe  wollte 
er  dieses  Drama  als  Zeichen  seiner  Erfüllung  aufweisen 
und  das  innere  Schwanken  der  Formen  ist  als  Ausdruck 
der  tatsächlichen  künstlerischen  Standpunktlosigkeit  der 
Entscheidungszeit  zu  erklären. 

Die  Köpfe  des  Kaisers,  Herzog  Heinrichs,  Irners  und 
Harduins  weisen  Züge  auf,  die  an  den  starren,  holzschnitt- 
artigen Charakter  mittelalterlicher  Bildwerke  erinnern. 
Ihr  seelischer  Gestus  gemahnt  oft  an  die  ekstatisch  -  er- 
starrte Linie  gotischer  Statuen.  Werner  tastete  mit  ver- 
wunderlich sicherm  Instinkt  nach  einem  primitiven  Expres- 
sionismus, der  einzigen  Form,  in  die  seine  Konzeption 
gebannt  werden  konnte.  Der  archaistische  Zug  ist  aus 
dieser  Ahnung  gewählt  und  würde  vielleicht  auch  Goethe 
mit  dem  Dichtwerk  ausgesöhnt  haben.  Werner  musste 
diese  Form  wählen,  weil  sie  allein  die  Möglichkeit  gab, 
bei  scharfer  Kontur  doch  die  letzten,  fast  tonlosen  Schwin- 
gungen des  Seelischen  zu  erfassen.  In  dieser  Konzeption, 
die  wir  durchfühlen,  ist  die  Kunigunde  vielleicht  der 
grösste  Kunstformgedanke  den  Werner  dachte,  auch  hier 
dem  Kämpfer  Kleist  entgegnend,  der  in  seinem  Guiskard- 
fragment denselben  Weg  mit  grösseren  Schritten  ging. 
Den  nervösen,  hastenden  Rythmus  formten  die  sich  ver- 
wirrenden Gefühle.  Der  fieberhaft  drängenden  Dialog  suchte 
die  leisesten  Vibrationen  dieser  feingliedrigen  Seelen  ein- 
zufangen.  Im  Prisma  seiner  Psyche  sprüht  das  Licht  ver- 
schwimmend auf  und  grelle  Kontraste  füllten  die  einfarbig 
gedachte  und  gewollte  Fläche  in  komplementären  Farben. 

Kunigunde  ist  in  frei  entsagender  Liebe  ihrem  Ge- 
mahl treu.  Der  ungestillte  Muttertrieb  lebt  in  ihr  und 
ist  von  erotischen  Lichtern  leicht  umspielt.  Da  sie  ge- 
schworen hat,  Harduin  nicht  zu  verraten,  der  gegen  ihren 
Gatten    sich   erhoben  hatte    und    den    sie    als    christliche 


195 

Judith  zum  Verzicht  brachte,  weil  er  sich  schämt  vor 
einem  Weibe  sein  Wollen  verloren  zu  haben,  kann  sie 
nicht  Antwort  geben,  wo  sie  die  Nacht  weilte.  Des  Ehe- 
bruchs wird  sie  beschuldigt.  In  harten  Kampf  zwischen 
Königsehre  und  Liebe,  setzt  Heinrich  das  Gottesgericht 
an.  Als  Kämpfer  gegen  den  Verleumder  bietet  sich  Har- 
duins  Sohn  Florestan,  der  unerkannt  im  Heere  dient  aus 
reiner  Liebe  zu  Kunigunde.  Die  schaute  in  religiöser 
Ekstase  ihren  Streiter:  „Golden  war  die  Rüstung  und  die 
Schärpe  war  immergrün  und  seiden  floss  sein  dunkles 
Haar.  Also  sah  den  Jüngling  ich  im  Strahl  erglühn,  Ihn 
des  Greises  Sohn  einst  mir  als  Sohn  erblühn".  Wie  ein 
Leitmotiv  im  Sinne  Wagners,  wie  Golos  Lied  zieht  dieser 
Farbenakkord  durch  das  Denken  der  Kaiserin.  In  ihm  fühlt 
sie  den  Gottgesandten  und  Sohn,  ihre  „Idee"liebe.  Er  tötet 
den  Gegner,  fällt  aber  auch.  Im  Sterben  neigt  sich  Kuni- 
gunde über  ihn  und  hört  sein  Wort:  „Madonna!  Lächelst 
Du?"  Da  im  Moment  des  höchsten  Schmerzes  verwirrt 
sich  Denken  und  Fühlen,  Mutter-,  Heiland-  und  Gattenliebe 
fliessen  zusammen  und  werden  zu  dem  Schrei :  „Ja,  jetzt 
ist  Ehebruch!"  Die  Heilige  findet  sich  wieder  und  beugt 
sich,  die  Schuld  ihrer  nicht  ganz  vernichteten  Einzel- 
liebe erkennend  vor  Gott.  Mit  den  Klängen  des  De  Pro- 
fundis  mischt  sich  ihr  Dankgebet  zum  liebenden,  ver- 
zeihenden Gott.  Sie  weist  dem  Kaiser  als  Mann  seinen 
Beruf  zum  tätigen  Leben,  sie  selbst  wählt  das  Kloster 
als  Vertreterin  der  kontemplativen  Lebensform  des  Weibes. 
Dass  die  Grundzüge  des  Geschehens  in  den  Zusam- 
menhang dieser  Epoche  gehören  ist  ersichtlich.  Seine 
Auffassung  der  Liebe  ist  die  Voraussetzung  des  drama- 
tischen Konflikts  und  nur  hieraus  zu  verstehen.  Es  ist 
die  höchste  Steigerung  dieses  Gedankens  und  von  einer 
psychologischen  Überfeinheit,  die  —  unabhängig  von  der 
Formgebung  —  Werner  seiner  Zeit  vorausstellt.  Die  Un- 
fähigkeit des  Dichters  sie  ganz  zu  gestalten,  wissen  wir  zum 
Teil  in  seiner  geistigen  Situation  begründet,  in  die  er  durch 
Goethes  Forderung  gebracht  war.     Die  Konversion  wurde 


196 

insofern  jstörend,  als  er  aus  Ehrfurcht  vor  der  Heiligen 
nicht   alle  Mittelstimmungen  der   Liebe   darstellen   durfte. 

Auch  jenseits  des  Momentanen  lag  im  Wesen  Werners 
ein  Grund  dieser  Unfähigkeit.  Der  Boden,  aus  dem  das 
System  Werners  erwuchs,  war  psychologisch.  Wie  er 
nie  ganz  von  dem  Analysischarakter  des  Geschehens  im 
Kunstwerk  loskam,  so  war  auch  seine  Weltanschauungs- 
bildung in  der  Hauptsache  eine  Analyse  seines  psycho- 
logischen Seins,  so  ehrlich  er  auch  rang  sein  Ideeindivi- 
duum zu  gestalten,  synthetisch  sein  Ich  weiter  zu  bilden. 
In  unbevvusster  Selbsttäuschung  und  gemäss  seinem  Dop- 
pel-Ich suchte  er  das  Logische,  durch  das  er  in  Einzel- 
heiten auch  weitergeführt  wurde,  als  Äusserungsform. 
Es  bot  ihm  in  den  rastlos -wechselnden  Inhalten  seiner 
Entwickung  das  Ruhende,  zerstörte  aber  immer  mehr  dem 
Künstler  die  Fähigkeit  den  psychologischen  Inhalten  an- 
schmiegende Form  zu  geben.  Das  stets  wieder  neuen 
Ausdruck  und  neue  Versöhnung  suchende  Urphänomen 
wechselte  proteushaft  Gestalt  und  Form,  blieb  aber  stets 
formelhaft  das  Eine  und  verleitete  zur  Annahme,  dass  die 
Bewegung  nur  in  sich  erfolge  und  kein  tatsächliches  Weiter- 
gehen sei.  Auch  im  Künstlerischen  erschien  so  das  Psy- 
chologische logisch  erdacht,  war  es  aber  keineswegs.  Vor 
allem  in  der  Kunigunde  stört  dieser  Schein,  da  er  hier 
aus  den  angegebenen  Momentsgründen  noch  stärker  wurde. 

Die  Worte  wirken  plump,  eindeutig  und  logisch.  Sie 
erhalten  gerade  an  den  wichtigsten  Stellen  eine  Eindeu- 
tigkeit, die  falsch  ist  und  als  eine  Zufälligkeit  den  tragi- 
schen Gefühlskonflikt  auszulösen  scheint.  Das  Ineinan- 
der-übergehen  der  Gefühle  macht  eine  gleich  vibrierende, 
malerisch-musikalische  Sprachgebung  nötig  und  die  fand 
Werner  nicht  ganz.  Der  Sprache  des  Schauspielers  bleibt  es 
überlassen,  durch  phonetische  Färbung  und  mimisches  Spiel 
den  feinsten  Hauch  des  Seelischen  zu  geben,  der  durch  das 
zu  grossmaschige  Wortgitter  entfloh.  Kleist  in  ähnlicher 
Zwangslage  vermochte  durch  unbewusste  Ausdrucksbewe- 
gungen seiner  Personen  das  Letzte  zu  sagen.   Werner  suchte 


197 

alles  in  Worte  zu  bannen,  die  rationaler  und  bewusster 
sind.  Da  er  das  Unterbewusstsein  mit  quälender  Sucht  be- 
grifflich machen  wollte,  erweckte  er  den  Eindruck  der  Un- 
anständigkeit. Nicht  so  sehr  seine  Sinnlichkeit  war  der 
Grund  dafür,  sondern  die  Einheit  von  Mystik  und  Rationa- 
lismus in  ihm.  Eines  Teils  verführte  ihn  das  Einheitwollen 
dieser  Denk-Gegensätze  zur  Verbindung  aller  Antithesen, 
anderen  Teils  zwang  diese  Veranlagung  ihn,  die  Abgründe 
menschlichen  Gefühls  begrifflich  zu  machen.  Was  vielleicht 
als  tiefste  Offenbarung  menschlich-tierischer  Seelenabgrün- 
de in  anderer  Form  (etwa  in  der  Art  von  Kleist's  Penthe- 
silea)  uns  erschüttert  hätte,  musste  in  diesem  Bewusst- 
machen  anekeln,  weil  hier  die  Notwehrform  seiner  Be- 
griffsbildung plump  erkenntlich  wird  und  die  unnatür- 
liche, künstliche  Kälte  der  Begriffe  solcher  Erlebnisse 
unerträglich  gegensätzlich  zum  Inhalt  ist :  rationalisierte 
Erotik. 

In  der  „Idee"  lebt  auch  Kunigunde.  Deutlich  wird 
das  Thema  angeschlagen.  Als  Kunigunde  das  Frauen- 
tum  als  „dulden  und  im  Frieden  ruhen"  bezeichnet,  sagt 
der  Kaiser: 

Nein,  Du  kannst  mehr,  den  Frieden  spenden 
Den  Blitz  des  Unheils  kannst  Du  wenden 
Wie  Judith  ihr  Volk  errettet  hat 
Hast  Du  oft  mir  gerettet  die  Friedenssaat ! 
Den  Beruf  der    christlichen   Judith    weiss    sie    durch 
dieses  Wort  für  sich  bestimmt  und  handelt  danach.     Auch 
sie  ist  zur  Weihe  der  Kraft  bestellt,    auch    in    ihr    sollte 
des  Ewig- Weiblichen  erlösende    und    erfüllende    Sendung 
verklärt  werden.     „Sie  gab  mir  das  Vollbringen"  bekennt 
der  Kaiser.     Die  schwache  Zartheit  wird  selbst  zur  Kraft. 
Am  Schluss   der  positiven  Entwicklung    des  Idee  -  Indivi- 
duums zeigt  sich  noch  einmal  deutlich  die  Entwicklungs- 
linie aus   dem  Unkraft-Weihebegriff   und    das  W^eib    hebt 
sich  zur  höchsten  Höhe,  zum  Ewig  -  Weiblichen    in  Wer- 
ners Version.     Der  Fichtesche  Idee-Begriff  ist  in  der  ge- 
druckten Fassung  der  Kunigunde   ganz  überwuchert  von 


198 

katholisch-christlichen  Ideen.  Dass  er  sich  aber  so  wohl 
hier  wie  in  der  Mutter  der  Makkabäer  durchsetzte,  be- 
weist wie  sehr  er  im  Centrum  Werners  stand. 

Durch  ihn  wurde  uns  die  Notwendigkeit  klar,  dass 
seine  Geschöpfe  zwischen  Himmel  und  Erde  standen, 
heimatlos  hier  und  da,  wie  Werner  der  Pilger  zwischen 
Erde  und  Himmel  wanderte  voll  Sehnsucht  nach  beiden. 
Durch  ihn  erhalten  Werners  Helden  das  grausige  Stigma 
der  Halbwirklichkeit.  Die  Geschöpfe  stehen  und  gehen 
nicht  auf  fester,  brauner  Erde.  Unwirklichen  Ganges 
schreiten  sie  wie  über  Wolken  und  ihre  eigentliche,  Wer- 
ner unbewusste  Tragik  (denn  sie  war  die  seines  Lebens) 
scheint  es  zu  sein,  dass  sie  traumwandlerisch  die  Wirk 
lichkeit  nicht  schauen  können.  Denn  die  Welt,  die  sie 
durcheilen,  wird  aus  ihrer  Idee  gesponneu,  wird  erst  ge- 
schaffen aus  ihrem  Sein  in  dieses  Dasein. 

So  stark  war  das  Ethische  in  Werner,  dass  er  die 
Realität  opferte.  Um  die  ihm  aus  seinem  Ethos  not- 
wendige Freiheitsforderung  des  Individuums  zu  erfüllen, 
tötete  er  das  Leben  der  Welt  ganz.  Sie  wurde  Projektion 
des  Ich  in  ein  Ausserhalb.  Da  er  damit  aber  das  Welt- 
Schicksal  nicht  mehr  als  jenseitige  Notwendigkeit  empfinden 
konnte,  sondern  als  Ausdruck  der  Persönlichkeit,  wurde  es 
Aufgabe  des  Menschen.  Die  Vergangenheit  wurde  höchste 
Schuld,  Dabei  wusste  er  sich  doch  ihr  verhaftet.  Es 
gab  kein  Vergessen,  weil  er  kein  Verzeihen  fühlte.  Er 
fühlte  die  Kausalität  aller  seelischen  Entwicklung  und 
musste  sie  doch  verneinen.  Werner  konnte  sein  Leben 
nicht  aus  sich  gestalten,  war  aber  zu  viel  Ethiker  die  Ver- 
antwortung für  sein  Tun  ganz  abzulehnen.  Der  Weg  aus 
diesem  Zwiespalt  wies  deutlich  nach  Rom  und  er  hatte  ihn 
schon  betreten.  Noch  einmal  war  er  bei  Goethe,  dessen 
Eindruck  er  mit  dem  des  Apollo  verglichen  hatte.  Sein 
Auge  aber  könne  auch  Leben  wecken.  Das  letzte  retar- 
dierende Moment  vor  der  Peripetie.  Als  Kunstwerk  die 
ser  Zeit  entstand  der  24.  Februar.  Künstlerisch  ein  Be- 
weis, dass  er  Goethes  Einfluss  nachgab,  dem  Ethos  nach 


199 


höchste    Forderung    und    Erkenntnis,    psychologisch    ein 
Zeichen  des  Grauens  und  der  Verzweiflung. 


VII.  Kapitel. 

Die  Erkenntnis  des  Schicksals  als 
Persönlichkeitstat. 

Als  Werner  kurz  vor  Neujahr  1809  von  Paris  nach 
Weimar  kam,  um  zum  zweiten  Male  Goethe,  seinen  He- 
lios, aufzusuchen,  war  er  völlig  in  seiner  Kunigunde  ein- 
gesponnen. Unter  dem  22.  November  1808  hatte  er 
Goethe  aus  Paris  von  seinem  neuen  Drama  Nachricht 
gegeben,  das  „ohne  Mystik,  Geistererscheinung  pp."  ge- 
halten sein  sollte.  Bis  zum  7.  Januar  glaube  er  das  Stück 
fertig  zu  haben,  und  nach  dreiwöchentlichem  Einstudieren 
könne  es  dann  am  30.  Januar  gegeben  werden :  „insofern 
nicht  (was  ich  Ew.  Exzellenz  submittiere)  das  Kreuz  an 
der  Ostsee  lieber  gespielt  werden  sollte."  Das  Kreuz 
an  der  Ostsee ! 

Goethes  Stellung  zu  Werner  hatte  sich  völlig  ge- 
wandelt. Eine  innere  Reaktion  hatte  eingesetzt,  durch 
die  er  in  einen  fordernden  Gegensatz  zu  ihm  geriet,  der 
in  Verbindung  stand  mit  der  schrofferen  Stellung  den 
Spätromantikern  gegenüber,  die  er  eingenommen  hatte. 
Nicht  mehr  geltendlassend  sondern  Entscheidung  fordernd 
nahm  er  ihn  auf.  Die  Situation  des  literarischen  Kampf- 
platzes hatte  sich  so  gewandelt,  dass  er  ohne  Selbstauf- 
geben seine  duldende  Haltung  nicht  weiter  behaupten  zu 
können  glaubte.  Mit  persönlichen  Verhältnissen  zusam- 
men, die  in  der  Spannung  zwischen  Goethe  und  dem 
Herzog  begründet  lagen,  bildete  seine  künstlerische  Un- 
zufriedenheit einen  Reizzustand,  der  durch  Werners  Un- 
fähigkeit, die  Gefahr  nicht  durch  missliebige  Äusserungen 


200 

mystischer  Art  noch  zu  erhöhen,  gesteigert  wurde.  Goethe 
hatte  nicht  mehr  das  Vertrauen,  das  Werner  zum  Ver- 
standenwerden nötig  hatte. 

Zu  einer  schroffen  Abweisung  kam  es  am  Sylvester- 
tage, als  Werner,  zum  Mittagessen  gebeten,  auf  die  Auf- 
forderung Goethes  hin  ein  nicht  erhaltenes  Sonett  vorlas,, 
in  dem  der  Mond  mit  einer  Hostie  verglichen  wurde.  Eine 
unverhüllte  Kriegsansage  Goethes  war  die  Folge  und  vor 
allem  die  bestimmte  Ablehnung,  einer  Darstellung  solcher 
religiösen  Mystik  den  W' eg  zur  Bühne  zu  bahnen.  Die  zu- 
versichtliche Hoffnung  Werners  wieder  eines  seiner  Dramen 
auf  der  Bühne  zu  sehen,  war  völlig  zerstört,  wenngleich 
das  persönliche  Verhältnis  zwischen  Goethe  und  Werner 
sich  am  5.  Januar  schon  so  weit  geklärt  hatte,  dass 
Riemer  schrieb  :  „Werner  hat  eine  derbe  Lektion  bekom- 
men, ob  verdient  oder  unverdient,  das  will  ich  nicht  un- 
tersuchen. Indess  wird  sich  die  Sache  schon  wieder 
machen.  Er  wird  nach  wie  vor  bei  uns  essen,  nur  muss 
er  keine  Oblaten  offerieren."  Wollte  Werner  seinen  Ehr- 
geiz befriedigen,  so  musste  er  sich  den  Forderungen 
Goethes  beugen  und  ein  Drama  versuchen  nach  seiner 
Kunstauffassung.  An  Beieitwilligkeit  dazu  hatte  es  ihm 
nicht  gefehlt. 

Sein  Suchen  nach  einer  neuen  Form,  das  wir  ver- 
folgten, war  ausgegangen  vom  Wunsch  ohne  lügende 
Verleugnung  seiner  Überzeugung  dahin  zu  gelangen. 
Dass  er  sich  nur  weiter  entfernt  hatte,  war  ihm  noch 
nicht  bewusst  geworden,  sah  Goethe  aber  jetzt  wohl  ein. 
Den  Durchbruch  der  durch  die  religiöse  Mystik  mitbe- 
dingten Form  musste  der  Meister  bei  seinem  Jünger  zu 
hindern  suchen,  als  er  mit  dem  Interesse,  das  ihm  der 
Romantiker  auch  jetzt  noch  persönlich  und  künstlerisch 
abnötigte,  als  literarisch  -  menschlicher  Pädagoge  Werner 
fordernd  entgegentrat.  In  dem  Briefe  aus  Heidelberg  hatte 
Werner  ihn  um  einen  Stoffvorschlag  gebeten  und  Goethe 
griff  nun  diesen  Plan  auf,  um  die  Erziehung  zu  vollenden. 
Aus  persönlichem   Gespräch   und    dem  Schaffen  Werners 


201 

kannte  Goethe  dessen  Schicksalsglaubcn  und  als  er  ver- 
suchte den  Romantiker  tür  die  Bühne,  und  was  ihm  das- 
selbe scheinen  mochte,  für  seine  und  Schillers  Kunstauf- 
fassung zu  gewinnen,  sah  er  hier  den  Punkt,  wo  eine 
Verbindung  herzustellen  war.  Er  mochte  in  theoretischen 
Gesprächen  diese  Auffassung  geklärt  haben,  als  der  Zu- 
fall einen  bestimmten  Rahmen  bot.  „Nun  traf  es  sich, 
dass  in  einer  Gesellschaft  bei  Goethe,  in  der  auch  Werner 
war,  aus  den  Zeitungen  eine  schauerliche  Kriminalge- 
schichte vorgelesen  wurde,  welche  mit  einem  besonders 
merkwürdigen  Zusammentreffen  der  Jahrestage  verbun- 
den war;  diese  empfahl  Goethe  Werner  als  einen  geeig- 
neten und  fruchtbaren  Stoff  zu  einem  kleinen  einaktigen 
Schauspiel,  wie  er  es  von  ihm  wünschte,  Werner  gmg 
sogleich  darauf  ein  und  schon  nach  einer  Woche  brachte 
er  Goethe  das  bekannte  einaktige  Trauerspiel,  den  24.  Fe- 
bruar", berichtet  Schubert.  Am  27.  Februar  meldete  sich 
Werner  mit  einem  Argument  zu  einer  Tragödie  und  am 
10.  März  spj-icht  das  Tagebuch  Goethes  von  einem  kleinen 
Stück  Werners.  Pauline  Gotter  erzählt  nach  Goethes 
eigenem  Bericht:  „Goethe  hat  ihm  die  Aufgabe  gegeben 
und  streng  eingeschärft,  all  sein  verruchtes  Zeug  dies- 
mal wegzulassen,  sein  ganzes  Talent  aufzubieten  und  et- 
was Ordentliches  zu  Stande  zu  bringen,  das  ganze  Stück 
dürfe  nur  aus  drei  Personen  bestehen.  In  14  Tagen  ist 
das  ganze  Stück  Jz\  Goethes  Zufriedenheit  beendet  ge- 
wesen und  nun  hat  Werner  auch  die  Wirkung  des  Se- 
gens schreiben  sollen;  aber  nach  den  ersten  Blättern  hat 
Goethe  gemeint,  er  solle  es  gut  sein  lassen,  das  gelänge 
ihm  nicht  und  so  i^t  es  auch  unterblieben." 

Als  Konzeptionspunkt  wird  stets  folgende  Briefstelle 
gegeben:  „Ich  schied  in  Thränen  von  ihm  (Mnioch)  und 
—  sonderbar  sind  die  Winke  der  Gottheit  —  er  starb,  er 
mein  verehrter  Freund  den  24.  Februar  des  Jahres  (1804), 
an  demselben  Tage  zu  Warschau,  als  meine  Mutter  zu 
Königsberg  starb."  Der  Brief  aus  dem  das  bekannte  Zitat 
entnommen  ist,  das  zweifellos  Titel  und  Gehalt  des  Dra- 


202 

mas  beeinflusste,  war  am  30.  März  1804  im  ersten  Schmerz 
über  den  Tod  seiner  Mutter  und  seines  Freundes  ge- 
schrieben. 1809,  5  Jahre  später  schrieb  er  die  Tragödie 
deren  Inhalt  kurz  folgender  ist :  Kunz  Kuruth  hat  im 
Jähzorn  seiner  Jugend,  als  der  Vater  seine  Braut  be- 
schimpfte, ihm  das  Messer,  mit  dem  er  die  Sense  schliff, 
entgegengeworfen.  Er  fehlte,  aber  die  seelische  Erschüt- 
terung des  Vaters  veranlasste  einen  Schlaganfall,  an  dem 
er  starb.  Sterbend  fluchte  er  dem  Sohn  und  dem  kom- 
menden Geschlecht.  Seit  dieser  Zeit  geht  es  mit  allem 
bergab.  Der  reiche  Kunz  wird  arm.  Sein  Sohn  tötet 
schuldlos  im  Kinderspiel  das  Schwesterchen  und  flieht 
später  nach  Paris.  Dort  glaubt  der  Vater  ihn  gestorben. 
Ein  wechselvolles  Leben  hat  der  Sohn  hinter  sich  als  er 
reich,  und  wie  er  glaubt  entsühnt,  unerkannt  in  sein  elter- 
liches Haus  zurückkehrt.  Dort  ist  inzwischen  die  äussere 
Not  so  gross,  das  der  Schuldturm  droht.  Alle  Gedanken 
des  verbitterten  Vaters  drehen  sich  um  diese  Katastrophe 
und  um  den  Erwerb  von  Geld.  Er  weiss,  dass  sonst  ihm 
nur  der  Selbstmord  bleibt.  Von  vornherein  ist  ihm  der 
Fremde  verdächtig.  Durch  eine  Nebenfrage  erfährt  er 
von  seinem  Reichtum.  Seine  durch  starken  Alkoholge- 
nuss  aufgewirrten  Gedanken  krallen  sich  um  den  Wunsch, 
das  Geld  des  Fremden  zu  seiner  Rettung  zu  nutzen. 
Gegen  die  aufkeimende  Sünde  wehrt  sich  Kunz  zunächst 
und  will  beten.  Er  kann  es  nicht  m<^hr.  Dunkel  drängt 
sich  die  Erkenntnis  ihm  auf,  dass  einer  von  beiden  ster- 
ben muss:  Er  oder  der  Fremde.  Seine  Entscheidung 
ist  noch  nicht  zum  Bewusstsein  gekommen.  Der  Dolch, 
mit  dem  Kurt  seine  Schwester  tötete,  fällt  vom  Nagel 
und  wird  in  dem  Dämmerzustand  des  Wollens  einge- 
steckt. Die  kleinste  Assoziation  genügt,  um  das  unter- 
bewusste  Wollen  zur  Tat  werden  zu  lassen.  Beim 
Versuche  das  Geld  zu  stehlen,  weckt  der  Vater  den  Sohn, 
der  mit  dem  Schrei:  „Diebe,  Mörder!"  emporfährt.  Da 
sticht  der  Vater  ihn  mit  den  Worten  nieder:  „Mörder 
selber  Du!"     Der    Fremde    hatte    im  Gespräch    erwähnt, 


203 

dass  er  einmal  ohne  sein  Wollen  einen  Menschen  getötet 
habe  und  Kunz  hatte  das  zu  seiner  Selbstverteidigung  in 
den  vorhergehenden  Gewissenskämpfen  benutzt.  Der 
Sterbende  gibt  sich  zu  erkennen  und  Kunz  schliesst  das 
Drama : 

Wohlan  —  in  Gottes  Namen  !  — 

Ich  büsse  gern  das  was  ich  schwer  verdient!  — 

Ich  geh  zum  Blutgericht  und  geb  die  Mordtat  an ! 

Wenn  ich  durchs  Henkerbeil  bin  abgetan, 

Dann  mag  Gott  richten  —  ihm  ist  alles  offenbar 

Das  war  ein  24.  Februar 

Ein  Tag  ist's  —  Gottes  Gnad'  ist  ewig. 
Die   ganze  Handlung  spielt   an    einem    24.    Februar,    dem 
selben  Tag,  an  dem  vor  Jahren  der  Vater  Kunz  verfluchte. 

Und  kam  ein  Unfall,  der  das  Herz  traf,  war 

Es  stets  am  24.  Februar." 

Erst  Jahre  nach  der  Fertigstellung  des  Kunstwerks 
erschien  das  Drama  im  Druck  und  ist  zweifellos  geän- 
dert worden.  Das  beweist  schon  die  Notiz  im  Schriften- 
verzeichnis der  zu  erwartenden  Neuerscheinungen  des 
ßrockhaus'schen  Verlages  für  die  Michaelismesse  1814.  Bei 
der  Anpreisung  der  Urania  (1815)  heisst  es:  „Als  die 
vorzüglichste  Zierde  dürfen  wir  aber  gewiss  die  Tragödie 
Werners:  „Der  24.  Februar"  nennen,  welche  zuerst  in 
diesem  Tagebuche  mit  den  neuesten  Verbesserungen  des 
verehrten  Herrn  Verfassers  erscheint."  Diese  Verbesse- 
rungen werden  wohl  in  einer  stärkeren  Unterstreichung 
des  Religiösen  oder  besser  in  dem  Hineintragen  religiöser 
Ausdrücke  bestanden  haben,  gegen  die  sich  Goethe  viel- 
leicht gewandt  hätte.  Werner  war  inzwischen  konver- 
tiert und  Priester  geworden.  Dass  eine  äussere  grössere 
Umgestaltung  erfolgt  wäre,  ist  nicht  anzunehmen,  da  die 
künstlerische  Konzeption  so  geschlossen  Form  gewonnen 
hatte,  dass  eine  grosse  Umarbeitung  das  Kunstwerk  ver- 
nichten musste. 

Schon  vor  der  Weimarer  Aufführung  hatte  Werner 
auf  Anraten    der   Madame   de  Stael    und    Benjamin    Con- 


204 

stants  eine  Änderung  vorgenommen,  die  jedoch  den  Schick- 
salgedanken nicht  entscheidend  traf  und  auf  Grund  ästhe- 
tischer Einwürfe  erfolgte.  Zum  Teil  waren  sie  aufbau- 
technisch, um  die  Zwangslage  des  Vaters  zwischen  Mord 
und  Selbstmord  dem  Zuschauer  deutlicher  zu  machen, 
zum  Teil  sollten  sie  den  Mord  durch  Gernütsverwirrung, 
wie  Werner  Goethe  schrieb,  menschlich  näher  bringen. 
Den  „Genius  des  Stückes"  aber  wollte  er  nicht  antasten. 
Dass  er  die  Anregungen  der  französischen  Kritiker,  die 
A.  W.  Schlegel  als  unnötig  ablehnte,  in  der  endgültigen 
Fassung  verarbeitete,  ist  erkenntlich,  ohne  dass  man  beim 
Fehlen  der  Handschrift  genaueres  feststellen  kann.  Dass 
der  entscheidende  Schluss  schon  in  der  Urfassung  vor- 
handen war,  geht  aus  der  Bemerkung  Werners  in  der 
Selbstbiographie  hervor,  er  habe  seinen  Konversionswillen 
schon  deutlich  im  24.  Februar  ausgedrückt. 

Brahm  hat  wohl  zuerst  auf  eine  eigenartige,  noch 
jetzt  oft  übersehene  Sonderheit  hingewiesen,  die  dem 
Drama  vor  allen  anderen  Schicksalträgödien  eignet.  „Bei 
aller  Ähnlichkeit  aber  zwischen  Blunt  und  24.  Februar 
kann  ein  Unterschied  nicht  scharf  genug  hervorgehoben 
werden :  Jene  schwächlichen  Sophismen  mit  denen  bei 
Moritz  sich  die  Personen  über  ihre  Schuld  zu  täuschen 
suchen,  und  die  Tieck  mit  einer  Leichtigkeit  sich  aneignete, 
die  ihm  gewiss  nicht  zur  Ehre  gereicht  —  jenes  Philo- 
sophem  werden  wir  bei  Werner  nicht  finden.  Seine  Fi- 
guren sind  von  ihrem  Schuldbewusstsein  aufs  tiefste  durch- 
drungen ;  der  Fatalismus  ist  —  wenn  ich  den  Ausdruck 
gebrauchen  darf  —  gleichsam  ein  Privatvergnügen  des 
Dichters,  seine  Personen  sind  nur  wenig  davon  infiziert." 

Ganz  genau  hat  er  den  Sachverhalt  nicht  dargestellt. 
Programmatisch  wird  die  Schuldfrage  erst  nach  der  Tat 
gestellt  und  da  ganz  im  Sinne  der  Willensfreiheit  beant- 
antwortet.  Das  Fluchschicksal  wird  empfunden,  selbst 
noch  in  den  Schlussworten  und  doch  die  Verantwortung 
von  den  Personen  übernommen.  So  scheint  mir  das  Pro- 
blem des  24.  Februar  gedanklich  dem  Kritiker  vorzuliegen. 


?05 

Unberührt  ist  die  Darstellung  und  Wertung  des  Schick- 
sals in  der  vorliegenden  Fassung  des  Dramas  gegenüber 
der  ersten  Form  nicht  geblieben.  Eine  kleinere  Äusser- 
lichkeit  beweist  das  schon  und  bietet  einen  richtung-ge- 
benden  Haltungspunkt,  den  man  bisher  wohl  nicht  ge- 
sehen hat.  Der  Untertitel  der  Ausgabe  von  1814  heisst 
„Führe  uns  nicht  in  V^ersuchung".  Wahrscheinlich  ist 
das  geändert  aus  dem  Untertitel:  „Die  Wirkung  des  Flu- 
ches" von  der  Pauline  Gotter  spricht.  Der  alte  Titel 
klingt  an  im  Prolog: 

„Ein  Lied  hab  ich  gesungen 
Dir  Volk  ein  heidnisch  noch  vom  alten  Fluche." 
Eine  Untersuchung  des    1814    geschriebenen  Prologs    so- 
wohl wie    der    vorliegenden   Fassung    des  Stückes    zeigt 
eine  augenfällige  Doppelauffassung:  Fluch  und  Versuchung. 
Einesteils  spricht  er  von  der  Versuchung : 

„Immer  muss  der  Mensch  sein  auf  der  Hut 
Vor  den  Gedanken,  die  dem  Höllenschlund  entstammen." 
Diese  Versuchung  aber  trifft  nur  den  Schuldigen  und 
damit  stellt  Werner  eine  Verbindung  her,  mit  dem  früheren 
Begriff  des  Fluches.  Der  Fluch  ist  Sündenstrafe  gewor- 
den, und  Kurt  betet  infolgedessen:   „ wende  dich  du 

Fluch  der  Rache".     In  diesem  Werke,  sagt  das  Vorwort, 
schauert  entgegen: 
Was  .  .  . 

Im  ungerechten  Freveltun  und  -schalten 
Den  dauernden  Verbrecher  überdauert 
Und  sicher  ihn  erlauert. 
Eisernes  Schicksal  nannten  es  die  Heiden; 
Allein  seitdem  hat  Christus  aufgeschlossen 
Der  Höllen  Eisentor  den  Kampfgenossen, 
So  schafft  das  Schicksal  weder  Lust  noch  Leiden 
Den  Weisen,  die  mag  Hölle  blinken,  blitzen. 
In  treuer  Brust  des  Glaubens  Schild  besitzen." 
Mit  einer  Reueträne  kann  der  gläubige  Christ  den  Fluch 
wenden.    So  werden  die  Begriffe  Fluch  und  Sündenstrafe 
mit  dem  der  Versuchung  zu  einer  Einheit  verbunden,  die 


206 

das  Fluchschicksal  in  die  katholische  Lehre  übernehmen 
lässt.  Durch  diese  Fassung  war  die  Verantwortung  des 
Individuums  nicht  aufgehoben,  da  Gott  niemanden  über 
seine  Kräfte  prüft  und  jeder  Sündenfall  nach  der  Lehr- 
meinung der  katholischen  Kirche  eine  freie  Entscheidung 
des  Willens  trotz  aller  Versuchung  des  Erzfeindes  zur 
Voraussetzung  hat. 

Dass  diese  katholische  Auslegung  nicht  ganz  iden- 
tisch ist  mit  der  Auffassung  der  Zeit,  in  der  er  das  Drama 
schrieb,  ist  wohl  selbstverständlich,  wenngleich  ihm  da- 
mals die  Vorarbeit  zur  Kunigunde  zwang  sich  mit  der 
katholischen  Lehre  besonders  eingehend  zu  befassen  und 
die  Tendenz  dieser  Zeit  für  eine  neue  eingehende  Be- 
schäftigung mit  diesem  Mittelpunktproblem  Sicherheit  bie- 
tet. Aber  dass  Werner  von  diesem  Drama,  das  die  Wir- 
kung des  Fluches  schildern  sollte,  als  dem  Lied  spricht, 
das  „nie  mich  reute",  während  er  in  der  Weihe  der  „Un 
kraft"  nach  seiner  Konversion  eine  strenge  Abrechnung 
hielt  mit  fast  allen  übrigen  künstlerischen  Produkten,  be- 
weist, dass  der  Konzeptionspunkt  in  der  Nähe  des  Sün- 
denstrafe-Versuchungsbegriffs lag.  Die  Willensunfreiheit 
hätte  in  einem  derartig  schroffen  Gegensatz  zur  katholischen 
Morallehre  wie  auch  zu  seiner  ganzen  Weltauffassung  ge- 
standen, dass  er  ihre  Ablehnung  wenigstens  im  Prolog  als 
neue  Erkenntnis  dankbar  gefeiert  hätte,  wenn  hier  eine 
Änderung  erfolgt  wäre.  Die  genaue  psychologisch-moti- 
vierende  Untermalung  der  Handlung,  das  Hervortreten- 
lassen der  Stimmung  und  Atmosphäre  als  W^urzelboden, 
aus  dem  die  Handlung  der  Personen  erwächst:  Das  We- 
sentlichste und  das  Künstlerisch-charakteristischste  wäre 
in  dieser  Form  unsinnig  gewesen,  wenn  ein  absolut  wir- 
kendes Schicksal  auch  gegen  die  Verantwortung  seine 
Helden  zur  Tat  gezwungen  hatte.  Mag  die  Schattierung 
in  der  zweiten  Fassung  mehr  den  christlich- katholischen 
Begriff  herausgeholt  haben,  der  gedankliche  Untergrund 
war  schon  zu  Beginn  ein  ähnlicher. 

Das  wird  durch  einen  Anklang  an  das  Fluchrequisit 


207 

im  Attila  unterstützt.  Der  Seelenkampf  Hüdegundens, 
ob  sie  den  geschworenen  Mord  an  Attila  vollziehen  soll, 
wird  in  diesem  Drama  in  seiner  bejahenden  Lösung  ver- 
anlasst durch  das  Beil,  mit  dem  ihr  Geliebter  von  Attila 
hingerichtet  wurde  und  das  sir  bei  der  Schwester  Wal- 
ters findet.  Diese  Versuchung  hätte  sie  überwinden  kön- 
nen, wenn  nicht  ihr  Wollen  auf  die  Tat  eingestellt  ge- 
wesen wäre.  Der  Zufall  wird  von  ihr  genutzt,  das  äus- 
sere Geschehen  in  ihr  inneres  Wollen  gezogen  und  noch 
zuletzt  weist  sie  im  freien  Entschluss  jede  Versöhnung 
mit  Gott  zurück.  Ihr  Gegenspiel  ist  Attila,  der  die  sich 
häufenden  Warnungszeichen  mit  dem  zitierten  Wort  abtut 
und  nach  Leos  Ausspruch  die  Prüfung  überwindet.  Sein 
freier  W^illensentschluss  reinigt  ihn  von  aller  Schuld  und 
der  Papst  spricht:  „So  künd  ich  Dir  Versöhnung  Deiner 
Sünden."  Durch  diese  Parallelhandlung  wird  der  Ver- 
suchungscharakter des  Zufalls,  der  Hildegunde  bestimmt, 
deutlich. 

Von  hier  aus  scheint   mir   ein  Weg  zum  Aufbau  der 
Konzeption  des  24.  Februar  zu    führen    und    ein    anderer 
aus  der  Wanda,  die    zeitlich    dem  Schicksalsdrama   noch 
näher    steht.      Auf    die    Aufforderung    ihres    Heerführers 
jetzt  und  sofort  anzugreifen,  während  der  Befehl  Wandas 
gelautet  hatte  um  Mitternacht,  entgegnet  die  Königin: 
Entflohen  ist  mir  noch  nicht  die  Kraft  zum  Wollen! 
Ich  sprach  um  Mitternacht  und  dabei  bleibt !  — 
Seht  ihr  im  Abendsturm  die  Wolken  rollen, 
Den  Weltgeist  wie  er  Stern  und  Blüten  treibt? 
Sie  müssen  dem  Moment  Gehorsam  zollen; 
Der  Mensch  nicht  dem  der  Weltgeist  einverleibt !  — 
Erst  schlürf  ich  ihn  in  vollen  gierigen  Zügen, 
Dann  führ  ich  Euch  um  Mitternacht  zum  Siegen! 
Und  dass  hier  eine  bewusste  Auseinandersetzung  mit  dem 
Zeitschicksal  gewollt  ist,  geht  aus  den  folgenden  Strophen 
hervor: 

Ludmilla:  Um  Mitternacht!  Früh  gab  mir  mein  Getreuer 
Den  letzten  Kuss  und  starb  um  Mitternacht! 


208 

Wanda:      Um  Mitternacht  entquoll  der  Liebe  Feuer 

Dem  Licht,  zu  dem  es  kehrt  —  um  Mitternacht 
Rüdiger:    Um  Mitternacht  brach  Wanda  goidne  Leier 

Der  Löwenheld  und  schied  —  um  Mitternacht. 
Begrifflich  ausgedrückt  sagt  Wanda,  dass  der  Ideeträger 
frei  über  dem  Moment,  über  der  Zeit  steht,  dass  er  sie 
wählen  kann  seinem  Wesen  entsprechend.  Auch  die 
Zeit  ist  als  empirisch  ihm  Untertan.  Deutlicher  noch 
drückt  das  eine  Stelle  der  Kunigunde  aus,  die  diese  Auf- 
fassung in  das  Katholisch  -  Christliche  übersetzt.  Die 
Kaiserin  preist  die  Schönheiten  der  verschiedenen  Län- 
der, in  denen  „Gottes  Liebeswallen  ströme"  und  feiert 
Italien.  Auf  die  Frage  Luitgardis,  die  nach  Habsburg 
ziehen  wird,  wo  „die  Gletscher  von  ferne  leuchten",  ant- 
wortet sie,  dass  sie  der  leuchtenden  Wärme  getreu  blei- 
ben wolle,  dass  sie  sich  der  gütigen,  stillverzichtenden 
Gottesliebe  weihe.     Sie  fährt  fort: 

Drum  ward  auch  der  Mai  mir  zum  Hüter  erkoren: 
Mein  Herr  und  Gemahl  ward  im  Maien  geboren; 
Im  Maien  vereint  uns  zu  geistigem  Band 
Auf  ewig  des  Bischofs  gesegnete  Hand; 
Die  feindlichen  Polen  entbrannten  im  Wüthen, 
Im  Maien  da  kamen  sie  Frieden  uns  bieten 
Im  Mai  wir  fundierten  den  ßamberger  Dom 
Und  ziehen  im  Mai  jetzt  zur  Krönung  nach  Rom ! 
Hier  ist  die  Tat,  die   seelische  Tat  Kunigundes   zur  Vor- 
aussetzung   der    Natur-    und    Zeitabhängigkeit    gemacht. 
Kunigunde  weiss  sich  ihrem  Berufe    treu    und    empfindet 
den  Mai  als    die    ihr    entsprechende  Zeit,    empfindet    das 
zeitlich   gebundene   Schicksal   als    Mittel    des    Ideelebens, 
sich  zu  erfüllen. 

„Und  ihr  Knecht  das  Schicksal  eint. 
Was  für  immer  ist  vereint," 
kündet  Libussas  Geist. 

Fichte  hatte  gelehrt,  dass  die  Natur  den  Menschen 
Objekt  der  Pflicht  sei  und  der  Ausgangspunkt  seiner  prak- 
tischen Philosophie  war,  das  der  Mensch  sich  frei    setze. 


•209 

Er  stellte  sich  ausserhalb  des  Ursachenverbandes  der 
Wirklichkeit.  „Du  wirst  nun  nicht  länger  vor  einer  Not- 
wendigkeit zittern,  die  nur  in  deinem  Denken  ist,  nicht 
länger  dich  das  Denkende  mit  dem  aus  dir  selbst  hervor- 
gehenden Gedachten  in  eine  Klasse  stellen."  In  immer 
neuen  Variationen  hatte  Fichte  das  von  dem  Einfluss  der 
Wirklichkeit  freie  Dasein  als  das  Leben  in  der  Idee 
erfasst  und  dargestellt.  Der  Anklang  an  das  Requi- 
sitenschicksal in  der  Wanda  beweist  die  Orientierung 
nach  Fichtes  Weltanschauung.  Für  die  Verantwortlich- 
keit der  Mörderin  spielt  diese  Prüfung,  die  zur  Veran- 
lassung wird,  keine  Rolle,  denn  nichts  Reales  soll  einen 
bestimmenden  Einfluss  auf  den  Menschen  haben.  Die 
erste  Tat,  die  Fichte  von  jedem  forderte,  war  eben  die 
Heraussetzung  des  Ich  aus  dem  Reiche  der  Dinge.  Nach 
seiner  Auffassung  bestimmt  der  moralisch  handelnde 
Mensch  letzten  Endes  die  Wirklichkeit.  In  der  Bestim- 
mung des  Menschen  hatte  das  die  erste  und  deshalb 
schroffe  Formulierung  gefunden.-  „In  aller  Wahrnehmung 
nimmst  du  lediglich  deinen  eigenen  Zustand  wahr".  Der 
Gegenstand,  das  Ding  ist  nur  das  vom  Ich  unbewusst 
als  Vorstellung  eines  Dings  Erzeugte  und  Fichte  kommt 
zu  der  Definition  dieser  Tätigkeit,  die,  wie  wir  wissen, 
Werner  als  Aufgabe  des  Ideeindividuums  erkannte,  als 
„ein  tätiges  Hinschauen  dessen,  was  ich  anschaue,  ein 
Herausschauen  meiner  selbst  aus  mir  selbst."  Kurz  nach 
seiner  ersten  Berührung  mit  Fichte  schrieb  er  dem  Freunde 
(22.  Februar  1806):  „Das  Schicksal  ist  die  Umgebung, 
welcher  sich  unser  Geist  (der  Gott  in  uns)  erschafft,  um 
durch  deren  willkürliche  Vernichtung  zur  Freiheit  (der 
ersten  Stufe  der  Vergöttlichung)  zu  gelangen."  Voraus- 
setzung für  die  moralische  Freiheit  ist  die  Tathandlung 
des  Menschen,  die  ihn  und  sein  Leben  in  die  Idee 
setzt.  Dass  diese  Handlung  Aufgabe  sei  und  nicht  not- 
wendig, hatte  Fichte  oft  ausgesprochen.  Die  geistige  Tat 
des  Menschen  bestimmt  sein  ganzes  Leben  in  der  Wirk- 
lichkeit und  von  ihr    aus    baut    sich    in    der    praktischen 

Hankamer.  Zacharias  Werner.  14 


210 

Philosophie  erst  die  Welt  auf.  Werner  gestaltete  die  Ne- 
gation. Die  Menschen  des  Fluchdramas  nehmen  ihren 
Fluch  wie  eine  Idee,  werden  zu  Fluchträgern,  so  wie 
W^erner  seine  Ideeträger  gezeichnet  hatte. 

Durch  Fichte  hatte  Werner  wohl  Böhme  erst  in  seinem 
tatsächlichen  Gehalt  erfassen  gelernt  und  hatte  seinen 
Fluchbegriff,  wie  er  ihn  in  den  Sex  puncta  theosophica 
klarlegte,  erkannt.  Da  hiess  es:  „es  bekleidt  manch 
Fluch,  dass  eines  dem  andern  wünschet,  wenn  das  an- 
dere den  Fluch  erreget  hat  und  desselben  fähig  ist,  als 
solches  denn  unter  gottlosen  Eheleuten  gemein  ist,  da 
eines  dem  andern  den  Teufel  und  das  höllische  Feuer 
wünschet.  So  sie  denn  beide  gottlose  sind,  sollte  ihnen 
denn  auch  nicht  ihr  gottloser  Wille  geschehen,  dass  sie 
gottlose  Kinder  zeugten.?  .  .  .  wollen  sie  nicht  (Christus 
folgen),  so  fahren  sie  dahin,  wohin  sie  wollen.  Also  ist 
auch  ihr  Saame,  und  also  wird  manches  Kind  eine  Distel 
und  böses  Thier  geboren,  und  wird  im  Zorn  Gottes  ge- 
tauft. .  .  .  Darum  quellet  in  ihm  der  Zorn  Gottes,  dass 
er  seinen  Willen  nicht  vom  irdischen  abbricht,  und  gehet 

in  Reue  seiner  Bosheit Es  ist  alles    magisch,    was 

der  Wille  eines  Dinges  will,  das  empfähet  er.  Eine  Kröte 
nimmt  nur  Gift  an  sich,  wenn  sie  gleich  in  der  besten 
Apotheke  sässe,  desgleichen  auch  eine  Schlange;  jedes 
Ding  nimmt  nur  seiner  Eigenschaft  in  sich :  und  ob's 
guter  Eigenschaft  Wesen  ässe,  so  machets  doch  Alles  in 
sich  zu  seiner  Eigenschaft."  Vor  allem  in  dem  Drama 
Werners   die    äussere  Welt,    Ort,   Ding  und  Atmosphäre. 

Psychologisch  erkennbar  ist  dieser  Umstaltungspro- 
zess  der  Tatsächlichkeit  zu  dem  Ichleben  im  24.  Februar 
durch  eine  Überfülle  von  Assoziationen  gegeben,  die  die 
beiden  Menschen  immer  wieder  zu  dem  in  ihnen  brennen- 
den Fluche  zurückführen. 

Die  beiden  Menschen  sehen  den  Fluch,  den  man 
ihre  negative  Idee  nennen  möchte,  in  alles  hinein.  Sie 
schaffen  sich  eigentlich  erst  die  Luft,  in  der  sie  leben, 
den  Boden  auf  dem  sie  stehen,  laden  den  Fluch  erst  auf 


211 

das  Haus,  weil  alles  in  ihm  eine  Beziehung  zu  dem  hat, 
worum  ihre  sündige  Seele  als  Mittelpunkt  kreist.  Wie 
Attila  sein  Richteramt,  das  ihm  aufgetragen  war,  in  Frei- 
heit auf  sich  nimmt,  so  nehmen  diese  Menschen  ihr  Fluch- 
sicksal,  ihre  Negation  der  Idee.  Das  Leben  in  der  Idee 
war  seliges  Leben,  das  ihre  ist  freigewähltes  Sünden- 
leben, von  dem  sich  zu  lösen  ihnen  der  Wille  fehlt.  Auf 
die  schärfste  Formel  gebracht:  in  der  Konzeption  Wer- 
ners ist  das  Fluchschicksal  eine  Schöpfung  der  Indivi- 
duen selbst,  eine  grausige,  bindende  Fiktion  ihres  Wollens. 
Die  bei  Böhme  nachgewiesene,  von  Fichte  oft  darge- 
stellte Lehre  der  Gestaltung  der  Welt  aus  dem  Geistigen, 
führte  ihn  dahin. 

Dass  von  den   Personen  selbst  ihre    Individualschuld 
an   dem   geistigen  Sein  ihrer  Existenz  erkannt  wird,    be- 
weist die  in  der  unmystischen  Sprache  des  Stückes   aus- 
gedrückte Erkenntnis  und  das  Bekenntnis: 
j,0,  nimm  die  Bibel!  lass  uns  beten,  singen 
Wenn  jetzo  Dunkel  auf  unsern  Augen  ruht 
Kann  uns  zu  retten  doch  —  vielleicht  uns  noch  gelingen. 

Drum  bet'!" 

„Das  kann  ich  nicht  seit  achtundzwanzig  Jahren 

Seitdem  der  Alte  starb." 
Sie  leben  unter  eigener  Verantwortung  in  der  Negation 
der  Idee,  in  der  Sünde.  Die  Sünde  ist  für  Fichte  und 
Werner  die  Trägheit,  das  Nicht- Wollen,  wie  wir  auf- 
wiesen. Das  Fluchschicksal  in  seiner  Zeit-  und  Ort- 
Gebundenheit  ist  eine  Potenzierung  der  dem  Wollen  ent- 
gegengesetzten Kräfte,  die  der  Mensch  überwinden  soll. 
Sei  es  in  der  zu  Grunde  liegenden  Anekdote  angedeutet 
gewesen  oder  nicht,  Werner  hat  es  beibehalten  oder  ge- 
wählt, um  Fichtisch,  aber  nach  seiner  extrem- veräusser- 
lichenden  Art  den  Trägheitscharakter  der  Sünde  in  die 
Erscheinung  treten  zu  lassen.  Von  hier  aus  gesehen 
konnte  Werner  das  Schicksal  in  dieser  krassen  und  engen 
Form  wählen  und  als   verantwortliche  Tat    der  Personen 


212  ' 

ansprechen,  die  sich  im  Gegensatz  zu  ihrer  Bestimmung 
dem  Bann  von  Raum  und  Zeit  unterwerfen,  statt  das 
Ewige  in  sich  wirksam  zu  machen  durch  den  Zeit  und 
Raum  überwindenden  Glauben,    durch  die  Wiedergeburt. 

Hier  haben  wir  den  Konzeptionspunkt  des  24.  Februar 
zu  suchen  und  hier  zeigt  sich  der  Wurzelzusammenhang 
der  zwischen  dieser  Schicksalstragödie  und  dem  Weltan- 
schauungsganzen des  Dichters  besteht. 

Auch  in  der  ersten  Fassung  wird  sie  wohl  nicht  ganz 
Gestalt  geworden  sein.  Der  seelische  Prozess,  der  die  Welt 
zu  dem  Ich-Bild  formte,  war  ja  unbewusst  und  dem  Ver- 
stand erscheint  die  Realität  als  gegeben  und  die  Not- 
wendigkeit als  von  anderen  Kräften  gesetzt.  Das  konnte 
also  auch  nur  die  Meinung  der  handelnden  (Fichtisch  ge- 
sprochen: nie  ht-handelnden)  Personen  sein,  so  lange  sie 
nicht  zur  Erkenntnis  ihrer  Sündhaftigkeit  und  zur  Tat 
des  sich  Freisetzens  gekommen  waren.  Erst  auf  dem 
Gebiete  der  praktischen  Vernunft  erscheint  die  Freiheit. 
Erst  im  Augenblick,  da  Kunz  sich  dem  Gerichte  stellen  will, 
zerbricht   die  Notwendigkeit,    wird   das   freie  Individuum. 

Den  von  Goethe  gegebenen  engen  Stoffkreis  sollte 
Werner  nicht  zerbrechen  und  dadurch  wurde  er  noch 
stärker  an  das  Geschehen  gefesselt.  Eine  Erweichung 
der  Realität,  wie  sie  in  seinen  übrigen  Dramen  zu  beob- 
achten ist,  war  ausgeschlossen.  So  gab  Werner  ohne 
w^eitere  Deutung  die  Tatsächlichkeit,  die  ihm  nur  Erschei- 
nung war  und  nur  als  Erscheinung  im  Rahmen  der  engen 
Zeitnotwendigkeit  eingepresst  sich  geben  sollte.  Die 
einmal  gelöste  künstlerische  Erlebnisenergie  drängte  ihn 
von  selbst  immer  tiefer  in  die  Atmosphäre  hinein,  die 
seinem  psychologischen  Sein,  nicht  seiner  theoretischen 
VVelterfassung  entsprach.  Alles  in  ihm  bangende  Ent- 
setzen mit  dem  er  seine  vernichtete  Existenz  betrachtete, 
gestaltete  er  hier  zu  der  Fluchatmosphäre,  zu  dem  Schreck- 
gedicht, „das  mir, 

bevor  ich's  sang,  als  Wetterwolke 

den  düstern  Sinn,  den  trunknen  Geist  verwirrte, 


213 

und  als  ich  sang  es,  schwirrte 
Gleich  Eulenflügeln'*. 
So  wurde  der  Fichte- Böhme- Jünger  zum  Dichter  der 
Schicksaltragödie  und  der  Freiheitsphilosoph  stand  am 
Ausgangspunkt  der  Gedankenreihe,  die  zum  24.  Februar 
führte.  Nur  der  bizarre  verschnörkelte  Gang  des  Werner- 
schen  Denkens  hat  wohl  veranlasst,  dass  man  diese  Zu- 
sammenhänge bisher  noch  nicht  sah,  sicher  aber  auch 
die  psychologisch  leicht  zu  begründende  Tatsache,  dass 
nicht  der  ganze  Werkplan  Werners  zur  Aufführung  kam. 
Werner  sollte  und  wollte  auch  ein  Drama  des  Segens 
schreiben,  legte  es  Goethe  zur  Begutachtung  vor.  Am 
29.  März  ist  Werner  „abermals  mit  einem  Schema  zu 
einem  Nachspiel"  bei  Goethe,  der  es  ablehnte  aber  selbst 
einen  Plan  dazu  machte.  Wir  haben  hier  nur  die  Naclu- 
seite  der  Wernerschen  Schicksalidee  wie  er  selbst  im 
Prolog  andeutet: 

„Ein  Lied  hab  ich  gesungen 
Dir  Volk  ein  heidnisch  noch  vom  alten  Fluche 
Doch  dürfte  bald  die  Zeit,  die  hohe  kommen 
Die  (rasseln  hört  man  schon  vom  Schicksalbuche  die 
Blätter)  wo,  wenn  erst  die  That  gelungen, 
Das  Lied  auch  wieder  neu  wird  angeglommen. 
Ich  meine  das  im  frommen 

Christlichen  Glauben  blühende  Lied  vom  Segen!" 
Das  Segenlied  sollte  das  selige  Leben  nicht  als  Zu- 
fallsglück, sondern  als  das  der  Idee  und  Freiheit  dar- 
stellen, wobei  dem  Zeit-  und  Ort-  gebundenen  Schicksal 
die  Rolle  des  Dieners  zufiel,  das  durch  die  ethische  Tat 
der  Menschen  sich  ihrem  Lebenszwecke  unterwerfen 
musste.  Wir  wissen,  dass  Werner  an  einen  „durch  kein 
Schicksal  zu  zerstörenden"  Lebenszweck  glaubte,  ein  Dienst- 
verhältnis des  Schicksals,  wie  es  in  der  Wanda  prokla- 
miert war,  annahm.  Dem  Charakter  des  24.  Februar 
entsprechend  würde  dieses  Leben  in  der  Idee  nicht  in 
der  Grösse  des  Heroismus'  sondern  in  der  Proportionen 
des  bürgerlichen  Familienstückes  sich   dargestellt   haben. 


214 

Dass  die  Form  des  Familiendramas  an  sich  Werner 
Raum  zu  bieten  schien  auch  für  die  Darstellung  romantischer 
Gedankenkunst  geht  aus  einer  früheren  wohl  an  Friedrich 
Schlegels  ähnlichem  Fragment  entwickelten  Bemerkung 
des  Dichters  hervor,  dass  nicht  die  Darstellung  des  Fami- 
lienlebens Kotzebue  künstlerisch  widerwärtig  mache:  „eine 
wohlorganisierte  Familie  ist  vielmehr  eines  der  schönsten 
Symbole  des  Universums." 

Die  zum  Verständnis  des  24.  Februar  benutzte  Stelle 
der  Wanda  und  Kunigunde  deutet  den  Ideegehalt  an. 
Auch  hier  wäre  eine  Zeitbestimmung,  aber  eine  im 
Ideeleben  begründete  dargestellt  worden.  In  der  theore- 
tischen Erkenntnis,  die  den  Menschen  —  nach  Fichte  — 
abhängig  setzt  von  den  Dingen,  hätte  sich  das  geäussert 
als  Wirkung  des  Segens,  als  ein  Kausalnexus  ausserhalb 
der  individuellen  Verantwortlichkeit;  tatsächlich  und  ethisch 
gesehen  wäre  es  die  Folge  der  freien  Tat  gewesen,  die 
darin  bestanden  hätte,  dass  die  Individuen  die  im  Segen 
ausgesprochene  Bestimmung  erfüllen  wollten,  wodurch 
sie  das  Zeitschicksal  in  ihren  Dient  zwangen.  Hier  drohte 
Gefahr  für  Goethes  Erziehungsplan.  Das  Leben  in  der 
Idee,  das  heisst  in  Gott,  trug  stets  einen  gewissen  asketi- 
schen Zug,  der  in  der  Kunigunde  den  Charakter  des  frei- 
willigen Verzichtes  auf  Mutterschaft  angenommen  hatte 
und  sich  mit  katholischen  Tendenzen  vereinigte.  Nach 
Goethes  Anschauung  war  das  Grund  genug,  sofort  eine 
Weiterführung  zu  hindern.  In  dem  oben  genutzten  Brief 
vom  22.  Februar  1806  heisst  es:  „Glaubst  Du,  dass  Frei- 
heit nicht  auch  meine  Göttin  ist?  —  Ich  schwöre  Dir, 
dass  sie  es  ist,  Sie  ist  die  Grundlage,  die  erste  Stufe 
der  Religion,  aber  wer  wird  immer  auf  der  ersten  Stufe 
bleiben?  Es  giebt  einen  Punkt,  auf  dem  Freiheit  zur 
Notwendigkeit,  Glaube  zum  Schauen  wird."  Dieser  Punkt 
ist  das  freigewählte  Leben  in  der  Idee,  die  nach  seines 
Meisters  Lehre  immer  mehr  jedes  persönliche  Wollen 
aufzehrt  und  ihre  immannte  Notwendigkeit  in  der  Gestal- 
tung  des  Lebensraumes,  des  Schicksals  auswirken  lässt. 


215 

Der  24.  Februar  erscheint  so  als  Gestaltung  des  Minus, 
das  Segendrama  des  Plusschicksals,  um  ein  Begriffs- 
spiel der  Romantik  anzuwenden.  Erst  durch  die  Ausfüh- 
rung des  ganzen  Planes,  durch  die  Darstellung  des  Plus  und 
Minus  wäre  der  Fiktionscharakter  der  Schicksal-Dichtung 
voll  und  ganz  zum  Ausdruck  gebracht,  erst  da  hätte  das 
Ich,  das  ethische  Ich  als  der  Herrscher  über  Zeit  und 
Raum  dagestanden,  erst  da  wäre  das  Leben  im  roman- 
tischen Sinne  Kunst,  freies  Spiel  mit  dem  Unendlichen, 
geworden.  Dass  Werner  und  Goethe  es  gewollt  haben, 
scheint  sicher  und  lehrt  verstehen,  dass  Goethe  das  schein- 
bar so  plump  und  brutal  gedachte  Stück  zu  den  „vor- 
züglichsten Geistesoperationen  und  unter  die  geistigen 
Produkte  Werners"  rechnete. 

Werner  hatte  in  seiner  Weise  den  Schicksalsgedanken 
Schillers  weitergeführt,  hatte  in  der  Kunst  den  Schick- 
salbegriff von  Kant  zu  Fichte,  parallel  zur  philosophischen 
Entwicklung  und  der  Kunst  der  Epoche  wenn  auch 
mit  viel  geringerer  Kraft  als  Schiller  in  dem  Drama 
weitergezogen.  Werner  wollte  in  dem  Parallelismus  der 
beiden  Werke  in  dem  Spielen  mit  dem  Plus-  und  Minus- 
schicksal das  treffen,  was  der  Romantiker  formal  mit 
der  romantischen  Ironie  sagte.  Auch  er  stand  über 
dem  Werke  als  das  eigentlich  Synthetische.  Der  geistige 
Gedanke  Fichte- Schlegels  wurde  ethisch  vergröbert  und 
Werner  gab  sich  in  der  Rolle  des  Wissenden,  dem  Plus 
und  Minus  nur  als  Erscheinungsformen  des  Einen  im 
Wollen  der  Persönlichkeit  bewusst  sind. 

Angedeutet  in  der  Stufenfolge  der  Entwicklung  der 
Religion  war  diese  Vergeistigung  des  Schicksals  zur  Welt- 
anschauungslorm  des  Individuums  schon  von  Schleier- 
macher in  den  Reden,  wo  eine  Erfassung  des  Universums 
als  Schicksal  in  drei  Formen  dargestellt  wurde:  als  blin- 
des Geschick  —  dieser  Auffassung  entspricht  die  Fetisch- 
Religion;  als  motivierte  Notwendigkeit  —  der  Gottesbe- 
griff zerspaltet  sich  in  Einzelgötter  als  der  Verkörperung 
der  „heterogenen  Elemente    und  Kräfte    des    unbestimmt 


216 

Mannigfaltigen."  Der  dritten  Auffassung  des  Universums 
als  Totalität,  als  Einheit  in  der  Vielheit  entsprach  das 
Aufgehen  im  Universum  als  Schicksalgebot,  entsprach 
jetzt  für  Werner  das  Leben  in  der  Idee. 

In  der  Vorrede  zum  24.  Februar  liess  er  sein  Wissen 
um  den  Fiktionscharakter  des  Schicksals  durch  die  Be- 
zeichnungen „heidnisch  Lied",  „christlich  Lied"  in  einem 
antithetischen  Spiel  durchschimmern.  „Religion  haben 
heisst  das  Universum  anschauen  und  auf  der  Art,  wie  ihr 
es  anschaut,  auf  dem  Prinzip,  welches  ihr  in  seinen  Hand- 
lungen findet,  beruht  der  Wert  eurer  Religion,"  Durch 
Fichte  verstand  Werner  das  Wort  Schleiermachers  und 
schrieb  damals  die  Vorrede  zur  „Wanda",  in  der  er  das 
Drama,  das  Schicksal-  und  Liebeidee  verband,  als  „Lied 
der  Heiden-Liebe"  bezeichnete,  die  das  Schicksal  nicht 
zu  versöhnen  wisse. 

Der  Ausgangspunkt  dieser  Gedankenreihe  die  zu  dem 
antithetischen  Spiel  der  beiden  Werke  als  Minus  Plus 
führte,  lag  für  Werner  in  Böhme  und  Fichte.  Wahr- 
scheinlich kam  der  Anstoss  dazu  aus  einem  Schicksal- 
drama, aus  Karl  Philipp  Moritz'  „Blunt".  Im  Gegensatz 
zu  seiner  Vorlage,  dem  Drama  „the  fatal  curiosity"  von 
Lillo,  hatte  Moritz  den  Abschuss  des  Dramas  nicht  mit 
der  Ermordung  des  Sohnes  durch  den  Vater  gegeben, 
sondern  ein  Nachspiel  angefügt.  Nach  der  Tat  ruft  der 
Mörder  aus:  „O  dass  doch  dies  alles  ein  Traum  wäre! 
—  dass  es  ein  Traum  wäre!"  Der  Dichter  erfüllt  mit 
Hilfe  der  allmächtigen  Phantasie  dem  Mörder  die  Bitte, 
noch  einmal  spielt  die  Scene  vor  der  Tat  und  das  Wort 
der  Mutter  rettet  den  schlafenden  Sohn.  Der  Knoten  löst 
sich  und  alles  geht  zum  glücklichen  Ende.  Welch  starke 
Antriebe  von  hier  aus  zu  Werner  gehen  konnten,  ist  klar. 
Er  mochte  aus  dem  Anruf  der  Phantasie  seine  eigene 
Auffassung  des  Seins  heraus  lesen: 

„So  rufe  mir  den  Augenblick 

Eh,  noch  die  Tat  geschah 

Ruf  ihn  mir  noch  einmal  zurück ! 


217 

Ein  Tag,  dem  nur  die  Freude  lacht 
Und  keine  Stürme  dröhn 
Steig  auf!     Und  jene  Schreckensnacht 
Sei  wie  ein  Traum  entflohen." 
Vielleicht  wurde  noch    ein  Gedanke,    der    diesem  Wollen 
nahe  lag,    wirksam.     Aus    seinem  Briefe    an    Iffland    aus 
deni  ersten  Aufenthalt  in  Weimar  wissen  wir,  das  er  die 
Realitätsschicht  des  Geschehens  gleich  der  mystischen  Na- 
tur darstellen  wollte.    Das  hatte  er  im  24.  Februar  getan. 
Aber  über  dieser  Schicht  glaubte    er   die   höhere,    eigent- 
lich reale.     Über  dem  Gebiete    anscheinender   Kausalver- 
bindungen   das    Gebiet    der    Freiheit    in    Gott,     Ähnliche 
Gedankengänge  wie   beim    heidnisch  -  christlichen  Schick- 
saldrama des  Kreuzes    an    der  Ostsee    mochte    er  gehen, 
Ideen  auftauchen  sehen  die  durch  das  Erleben  der  Gotik 
doppelt  wach  geworden    waren,    und    ihn    näher    zu  Cal- 
deron    führten.      Im    Segensnachspiel    hätte    er    vielleicht 
versucht  das  Drama  im  Mysterium    (in    natürlich    gewan- 
delter Form)  ausklingen  zu  lassen,  die  Tragödie  dadurch 
zu  versöhnen.     Der  24.  P'ebruar  erscheint  so  als  ein  Total- 
ausdruck dieser  Stimmung-    und  Gedankenepoche.     Auch 
künstlerisch  ein  Zeichen   der   nahen  Konversion,    in    dem 
alle  Kräfte,  die  in   seinem    Leben    tätig    gewesen    waren, 
noch  einmal  zu  Wort  kamen  aber  schon  zur  Konversion 
bereit  und  bereitend.     Es  war  ein  Selbstbekenntnis  Wer- 
ners, ein  Ausklang  seiner  Verzweiflungsstimmung,  die  den 
Ruhelosen  packte,  der  durch  die  Tatforderung  Fichtes,  die 
er  in  Goethe   erfüllt   sah,    immer   mehr   zur  Verurteilung 
seiner  Lebensform  gezwungen  war.    Zwischen  Sesto  und 
Mailand  hatte  er  im  Herbst  des  vorigen  Jahres  in  dem  Sonett 
„Kurze  Biographie"  die  Rechnung  mit  sich  selbst  aufgestellt 
und  erkannte  im  schroffen  Gegensatz  zu  seiner  Aufgabe: 
„Und  Leben  saugt's  mit  allzu  gierigen  Zügen. 
Ein  ewig  Kind,  kann's  saugend  nur  sich  fügen 
Und  weiss  nicht,  ach  zum  Kampfe  sich  zu  rüsten 
Die  Weihnacht  deckt  das  grässliche  Gefilde 
Von  seinen  Folterwonnen,  Sünden,  Thränen." 


218 

Wie  Kunz  Kuruth  wusste  auch  er  nur  im  Tode  da- 
mals Ruhe.  Die  Frage  nach  Erlösung,  die  er  dem  Meister 
und  Heiligen  Rousseau  da  gestellt  hatte,  war  von  ihm 
mit  der  Tätigkeitsforderung  Fichtes  beantwortet  worden. 
Friede  habe  er  erst  nach  dem  Tode  in  Gott  gefunden. 
„Dies  hörend  zog  ich,  aber  mutlos,  weiter"  ;  beginnt  das 
als  Schlussgedicht  der  Trilogie  „Wallfahrt  nach  Meillerie" 
gefasste  Fragment  Pissevache,  in  dem  ihm  die  verheissende 
Fata  Morgana,  das  Bild  der  katholischen  Kirche  aufstieg, 
die  er  im  Besitz  der  Macht  glaubte,  ihn  zu'  entsühnen. 
Auch  hier  fand  er  keine  Antwort  im  diesseitigen  Leben, 
wusste  nur  wieder:  „Ich  kann  nicht  leben  mehr,  ich  kann 
nur  glauben."  Die  erlebte  Tragik  seines  Lebens  wurde 
im  24.  Februar  zur  Form.  Wie  sein  Meister  ihm  ant- 
wortete, fühlte  er  sich  durch  den  Schein  um  sein  Sein 
betrogen,  gestaltete  das  gespenstige  Scheinleben,  das  von 
der  unerbittlichen  Nemesis  beherrscht  war.  „Die  Eume- 
niden  haben,  die  Strafenden  mir  Alles  —  mehr  genom- 
men," hatte  der  Jünger  zu  Rousseau  gebetet.  Es  war 
seine  Schuld,  die  er  bekannte,  und  es  war  ein  Symbol 
seines  Lebens,  dass  er  das  Drama  des  Segens  nicht  so 
geben  konnte,  dass  es  Goethe  befriedigte.  Wie  Kaiser 
Heinrich  in  der  Kunigunde  stand  er  vor  den  Trümmern 
seines  Lebens,  die  ihm  den  Ausgang  versperrten.  Wie 
jener  harrte  er  des  überirdischen  Rufes  der  Gnade,  die 
ihn  aus  der  Wirrnis  seines  Schuld-Schicksals  hinausführen 
sollte.  Die  durch  den  Jahrestag  bei  der  Arbeit  geweckte 
Erinnerung  an  den  Doppeltod,  an  die  Erinnerung  der  Zeit 
nach  dem  Ableben  der  , Märtyrerin'*  führte  ihn  zu  ähn- 
lichen Gedanken,  stärkte  noch  das  Gelühl  der  Schuld. 
Das  Muttermotiv,  das  in  der  Konversion  immer  wieder 
anklang,  ertönte  Bekehrung  fordernd.  Ihr  gegenüber 
hüllte  er  sich  nicht  mehr  in  das  Schicksal,  ihr  trat  er  als 
Büsser  und  Bekenner  gegenüber.  So  fügte  sich  die  Le- 
bensqual Werners  in  die  Form,  die  er  unter  Goethes 
Hilfe  schuf  aus  allen  Elementen,  die  ihm  zu  Mitteln  seiner 
Kunst  geworden  waren. 


219 

Die  künstlerische  Konzentration  des  kleinen  Stim- 
mungsdramas, dessen  Entwicklungslinie  auf  das  lyrische 
Drama  der  Gerstenberg  und  Klopstock  zurückweist,  ist 
erstaunlich.  Es  erschien  als  die  letzte  fast  krampfhafte 
Spannung  des  Künstlers,  und  dieses  Krampfartige  prägte 
sich  in  der  Gestaltung  aus.  Fast  zu  konzentriert  ist  Auf- 
bau und  Stimmung,  „Branntwein"  soll  Goethe  es  ge- 
nannt haben,  wohl  in  dem  Gefühl  dieses  Übermasses,  das 
für  Werner  eine  künstlerische  und  menschliche  Notwendig- 
keit war,  weil  er  im  Leben  wie  in  der  Kunst  im  Extrem 
leben  musste,  da  die  innere  Sicherheit  und  der  innere 
Ausgleich,  die  Kunst  und  Leben  zum  Spiel  und  zur  Tat 
gestalten  konnten,  ihm  nicht  gegeben  und  von  ihm  nicht 
erworben  war.  Werner  hat  viel  bewusster  als  man  glau- 
ben sollte  auch  hier  den  Kampf  zwischen  Rom  und  Wei- 
mar gekämpft  und  es  ist  die  überlegene  Ironie  der  seeli- 
schen Notwendigkeit  gegen  sein  Wollen,  dass  der  Torso 
des  Planes  nur  im  24.  Februar  als  das  künstlerische  Mal 
dieses  Kampfes  dasteht. 

Die  Kunstlehre,  die  Werner  im  Anschluss  an  die 
Rezeption  der  Romantik  und  Böhmes  gegeben  hatte,  war 
in  ihrem  Verhältnis  war  Erlebnis  und  Dichtung  zu  Gunsten 
des  Erlebnisses  passivistisch  gewesen.  Die  aktive  Formung 
war  als  sekundär  erkannt  worden.  Fichte-Goethes  Tätig- 
keitsforderung war  jetzt  auch  auf  das  ästhetische  Gebiet 
angewandt.  Sein  Wollen  trat  bewusst  dem  Erlebnis  ge- 
genüber, suchte  nicht  passiv  daraus  die  Form  sich  ent- 
wickeln zu  lassen.  Unter  dem  Drucke  Goethes,  be- 
schränkte er  die  Form  des  Gedichts,  war  als  Künstler 
dem  Erlebnis  gegenüber  souverän.  In  ihrer  beschränkten 
Art  ist  diese  Tragödie  die  Verbindung  der  romantischen 
und  klassischen  Kunstform.  Das  musikalisch  -  lyrische 
Element  verband  sich  mit  der  plastischen  Menschendar- 
stellung. Die  All-Natureinheit  der  Fluchatmosphäre  war 
Lebenselement  scharfkonturiger  Menschen,  die  in  ihr  leb- 
ten und  doch  Individuen  blieben.  Wie  in  der  Fassung 
des  Schicksalbegriffs   Moira   und   fichtische  Freiheitslehre 


220 

sich  fanden,  so  verknüpften  sich  die  Kunstformen  der 
gegensätzHchen  Zeittendenzen  hier.  Es  war  eine  Vollen- 
dung aber  nicht  in  der  Grösse  weltumspannender  Kunst^ 
wie  die  Romantik  sie  dachte,  eine  Vollendung  in  engster 
Beschränkung,  die  in  dem  zeit-  und  ortgebundenen  Fluch 
sich  gleichnishaft  zeigte.  Der  24.  Februar  ist  ein  Kabi- 
nettstück, das  Heine  zu  den  „kostbarsten  Erzeugnissen 
unserer  dramatischen  Literatur"  rechnen  zu  müssen  glaubte. 

Goethe  war  mit  dem  Werke  sehr  zufrieden.  Es  war 
für  die  Bühne  geschrieben  und  täuschte  eine  innere  Ge- 
schlossenheit vor,  die  ihm  vielleicht  als  Zeichen  einer 
möglichen  Gesundung  willkommen  war.  Seine  Stellung 
als  Erzieher  und  Leiter  der  jüngeren  Generation,  zu  der 
ihn  die  Frühdramatiker  berufen  hatten,  war  von  ihnen 
mehr  und  mehr  angefeindet  worden.  Von  ihm  weg  schien 
die  Entwicklungslinie  der  deutschen  Literatur  führen  zu 
wollen.  Nun  hatte  er  die  grösste  Bühnenbegabung  der 
Schule  zu  seinem  Glauben  bekehrt  und  mochte  hoffnungs- 
Iroher  werden.  Wohl  aus  diesem  Gefühl  heraus  ehrte  er 
den  24.  Februar  durch  die  Bezeichnung  „tragischer  Teil", 
von  Schiller  zu  Werner  die  Brücke  schlagend  in  der  Er- 
kenntnis der  hier  gelungenen  Vereinigung  der  Klassik 
und  Romantik. 

Werner  schien  sich  immer  mehr  von  seinem  Kunst- 
wollen ab  zu  Goethe  zu  bekennen.  Suchte  wenigstens  dem 
Kunstwollen  Goethes  immer  näher  zu  kommen.  In  seiner 
lyrischen  Produktion  machte  sich  ein  episch-ruhiger  Ton  be- 
merkbar. Im  Rythmus  und  ßildgut  des  Nibelungenliedes 
halte  er  den  Zug  der  drei  Könige  besungen  und  hielt 
sorgfältig  darauf,  nicht  wieder  durch  mystische  Religion 
den  „Heiden"  Goethe  zu  erzürnen.  Den  Höhepunkt  dieser 
Linie  bildet  die  burleske  Ballade  „die  drei  Ritter". 

Das  intriguenrciche  Weimar  vermochte  aber  doch 
das  Misstrauen  gegen  Werners  Ehrlichkeit  wieder  zu 
wecken.  Gerüchte,  wie  sie  nur  die  Künstlerkleinstadt  zu 
erzeugen  vermochte,  kamen  zu  Goethes  Ohr.  Ein  wenig 
schikanös  zeigte  der  Herzog  Werner  gegenüber  eine  Lie- 


221 

benswürdigkeit,  die  den  Argwohn  des  Gekränkten  wecken 
musste.  Werner  ging  anscheinend  in  das  Lager  seiner 
Feindin  Jagemann,  der  Geliebten  des  Herzogs,  in  deren 
Haus  Karl  August  ihm  Wohnung  bot.  Selbst  der  unter- 
würfige Ton  des  klärenden  Briefes  überzeugte  ihn  nicht 
und  in  dieser  Stimmung  setzte  Goethe  den  24.  Februar, 
dessen  Rollen  schon  ausgeteilt  waren,  vom  Spielplan  ab, 
schickte  dem  Dichter  das  Original  zurück  mit  unverbind- 
licher Vertröstung  auf  die  Zukunft  und  verliess  am  Tage 
darauf  Weimar,  um  in  dem  stillen  Jena  die  Wahlver- 
wandtschaften zu  fördern.  Werners  Weg  trennte  sich 
von  dem  seinen. 

In  dem  Kreise  der  Frau  von  Schardt  hatte  er  sein 
Lehramt  wieder  aufgenommen  und  suchte  eine  mehr  reli- 
giös-sentimentale als  mystische  Erwärmung  seiner  Jünge- 
rinnen zu  erreichen.  Auch  hier  ist  das  Wollen  Werners 
erkennbar,  ohne  den  Saltomortale  in  das  Reich  seiner  Jvly- 
stik  durch  Veredlung  des  Menschlichen  zu  einer  Erfüllung 
zu  gelangen.  Wie  ehrlich  er  in  dem  Kampf  mit  sich 
selbst  sein  wollte,  bezeugte  (ungewollt)  Henriette  Knebel. 
Werner  gab  bei  Hofe  eine  Erklärung,  wie  er  zu  der 
Mystik  gekommen  sei.  Durch  sie  hätte,  er  gehofft,  die 
Krankheit  des  Zeitalters  zu  heilen.  Sie  sei  der  Ausdruck  der 
Schwäche,  erkannte  er  für  sich  richtig.  In  dem  Sonett  auf 
den  Stephansdom,  als  er  sich  rüstete  vor  Goethe  zu  treten, 
war  dieser  Gedanke,  der  sich  für  Werner  aus  dem  miss- 
verstandenen Spielcharakter  der  Kunst  im  Gegensatz  zum 
Ernst  des  tätigen  Lebens  in  Verwertung  Fichtischer  Ideen 
schärfer  entwickelte,  wieder  von  ihm  angedeutet  worden. 
In  dem  Prolog  zur  Wanda  wurde  er  noch  einmal  pro- 
grammatisch ausgesprochen  und  die  unklare  Schwäche 
(nicht  in  der  verklärenden  Form  der  Unkraft)  als  ihm 
gehörig  anerkannt. 

„Vielleicht  hilft  mir  der  Herr  herauf  zum  Klaren". 
Als  er   Anfang  Juni  Weimar    verliess    und    in    Jena    von 
Goethe    Abschied    nahm,    trug    er   ihm    wie    zum    Beweis 
seiner    Gesundung    das    Ehestandslied    „die    drei    Reiter'' 


222 

vor,  dessen  derbe,  an  Hans  Widerpost  erinnernde  Reali- 
stik Goethe  erfreute.  Als  sich  Werner  von  ihm  verab- 
schiedete, war  wohl  in  beiden  die  hoffende  Erwartung, 
dass  sie  näher  zu  einander  kommen  würden.  ^In  seinem 
grossen,  göttlichen  Auge  sagte  eine  stille  Thräne  und  ein 
Händedruck  ohne  Worte  Versöhnung.  Ich  frage  ihn,  ob 
ich  ihm  schreiben  dürfe;  er  sagt:  „Das  versteht  sich!" 
Er  geht.    Ich  bin  ausser  mir  vor  Freude.    Göttlicher  Tag!" 

Ganz  ist  Goethe  nicht  mehr  aus  seiner  Reserve  her- 
ausgegangen und  schrieb  Werner,  dessen  24.  Februar 
er  im  folgenden  Jahre  zu  einem  Bühnenerfolg  in  Weimar 
verhalf,  einige  Monate  später:  „Es  war  mir  selbst  höchst 
angenehm,  dass  wir  in  Frieden  und  Freude  an  derselben 
Stätte  wieder  geschieden  sind,  wo  wir  zuerst  mit  gutem 
Muthe  und  Willen  uns  zusammengefunden  hatten.  Es 
kommt  nur  auf  Sie  an,  dass  es  immer  so  bleibe.  Sie 
kennen  mich  genug,  um  zu  wissen,  dass  wir  immer  ein- 
mal eine  Strecke  Wegs  mit  Lust  zusammen  fortwandern 
können,  wo  wir  uns  auch  treffen  mögen;  nur  enthalten 
Sie  sich  ja,  mir  Fussangeln  aus  der  Dornenkrone  vor 
meine  Schritte  hinzustreuen.  Lassen  Sie  mich  den  Pfad, 
den  ich  mir  selbst  gebahnt  und  gekehrt,  ruhig  hin-  und 
wieder  spazieren  und  begleiten  mich,  insofern  es  die  Ge- 
legenheit giebt."  Goethe  hatte  erkannt,  dass  sein  Weg 
und  der  Werners  immer  mehr  auseinander  gingen,  da  der 
Kampf  zwischen  Weimar  und  Rom  schon  nahe  vor  der 
endgültigen,  Goethe   unangenehmen   Entscheidung   stand. 

Von  Goethe  wollte  Werner  zu  Frau  von  Stael.  Und 
weiter  nach  Rom  „wohin  meine  ganze  Seele  lechzt",  wie 
er  Scheffner  in  der  Zeit  schrieb,  als  die  Spannung  zwi- 
schen Goethe  und  ihm  zerreissend  stark  war.  Der  Plan 
war  noch  nicht  abgeschlossen.  Wie  ein  wehmütig-hoffen- 
des  Intermezzo  in  den  dunklen  Klängen  dieser  Lebens- 
melodie mutet  das  novellistisch  abgerundete  Liebeerlebnis 
an,  von  dem  sein  Tagebuch  und  ein  Gedicht  in  Rudolf- 
stadt berichtet.  In  der  Liebe  eines  reinen  Weibes  hofite 
er  für  Augenblicke  seine  Erlösung  zu  finden,  aber  wieder 


223 

kam  ihm  die  Erkenntnis,  dass  ihm  das  Recht  fehlte  eine 
Werdende  an  sein  vernichtetes  Leben  zu  ketten.  Nur 
eine  Episode  war  die  Liebe  zu  Friederike  Werlich  und  er 
selbst  sprach  sich  das  Urteil,  Hess  sich  aber  eine  arm- 
selige kleine  Hoffnung:  „Vielleicht  einst,  wenn  Gott  will". 
Noch  dachte  er  in  diesen  Stunden  der  Lebensbejahung 
an  eine  Entsühnung  durch  eigene  Kraft  auf  den  Wegen 
Goethes,  aber  immer  dunkler  wurde  ihm  sein  Leben  und 
das  Grauen  vor  der  Notwendigkeit  seines  körperlichen 
und  seelischen  Zusammenbruchs  sprach  aus  den  Versen, 
„die  Schwarzburg".  Aus  den  Bildern  der  alten  Helden 
drohte  ihm  das  Verdammungsurteil.  „Alles  weht  ihn  an 
mit  Geisterton."  Nur  in  wenigen  Augenblicken  verliess 
ihn  die  würgende  Qual.  Auch  die  liebevolle  Aufnahme 
der  Fürstenfamilie  vermag  ihn  nicht  zu  heilen.  Es  ist  als 
sei  mit  dem  Abschied  von  Goethe  jede  Hemmung  von 
ihm  gefallen.  Die  seelische  Krankheit  steigerte  sich 
plötzlich  und  nahm  Formen  an,  die  den  Psychiater  ebenso 
zur  Analyse  der  Gedichte  auffordern  als  den  Literarhis- 
toriker. Wie  seine  Gestalten  im  Fluchdrama  lebte  er  im 
Bann  der  Furcht  vor  der  Strafe  seiner  Sünde.  Der  Wol- 
ken Grau  wurde  ihm  Vergeltung  weissagend  und  das 
Todesmotiv  klang  wieder  durch. 

In  dieser  Stimmung  ging  die  Reise  weiter  und  seine 
Arbeit  an  der  Kunigunde  schritt  fort.  Über  Gotha  und 
Meiningen  kam  er  Mitte  des  Monats  nach  Frankfurt,  wo 
er  Dallberg  für  die  Pension  dankte,  deren  Zuweisung  ihn 
in  Weimar  erfreut  hatte.  Er  fand  gütige  Aufnahme  und 
trat  in  Verbindung  mit  dem  Theater,  um  den  vierund- 
zwanzigsten Februar  zur  Aufführung  zu  bringen  und  in 
dem  leichtlebigen  Kreise,  in  den  er  geriet,  schuf  er  sich 
neue  Anlässe  zur  selbstvernichtenden  Reue. 

Man  möchte  es  für  bewusst  halten,  dass  Werner  seinen 
Reiseweg  genau  so  wie  vor  einem  halben  Jahre  wiederholte, 
als  wolle  er  die  Stimmung  der  Tage  wiedererwecken,  die 
durch  den  Aufenthalt  in  Weimar  und  Goethes  Einfluss  ver- 
wischt worden  war.    Wieder  fuhr  er  den  Rhein  herunter; 


22-t 

„Die  wilde  Gier  mich  pilgernd  zu  betäuben, 
Die  nirgend  ruhen  mir  vergönnt  noch  hausen 
Trieb  wieder  mich  gen  Cöln." 
Wieder  wie  damals  suchte  er  jetzt  die  Kunst  des  Mittel- 
alters zu  erfassen  und  wurde  der  erste,  der  Goethe  auf 
die  Bildersammlung  der  „Boisseres  und  Bertram"  auf- 
merksam machte  und  ein  künstlerisches  Urteil  abgab, 
das  er  Goethe  gegenüber  warm  verteidigte.  Er  sprach 
aus,  dass  diese  Kunst  neben  der  Raffaels  stehe. 
Wackenrodcr  hatte  auch  mit  dieser  Seite  seiner  Lehre 
Werners  Urteil  gebildet  und  ihm  die  Augen  geöffnet  für 
die  „Einfalt  und  Grösse"  dieser  Kunst,  Friedrich  Schlegel 
ihm  selbst  Einzelnes  vorgedacht.  Das  Kunstproblem,  mit 
dem  er  rang:  Christentum  und  Antike  (in  Winkelmann- 
Goethes  Auffassung)  zu  einen,  wie  er  es  formal  in  der 
Kunigunde  wollte,  im  Rahmen  des  24.  Februar  in  seiner 
Weise  erreicht  hat,  sah  er  hier  wieder  vorbildlich  gelöst. 
„Wie  ist  hier  alles  Göttliche  so  rein  menschlich  interessant. 
Geschämt  habe  ich  mich  bis  ins  Innerste  meines  Herzens, 
dass  ich  das  mich  erfüllende  Göttliche  nur  fantastisch 
und  nebulistisch  pinseln  kann." 

Wenn  auch  versteckt  unter  den  Worten  deutet  sich 
in  den  Tagebuchnotizen  und  dem  Gedicht  seine  begin- 
nende Konversion  an  und  alles  wurde  ihm  zum  Zeichen 
und  Ruf.  Als  er  im  Dom  tief  beschämt  vor  dem  Bilde 
des  Märtyrers  ,der  soviel  litt  und  that  und  ich  so  weni^^" 
stand,  erschütterte  ihn  ein  plötzlicher  Donnerschlag.  Da 
wusste  er  nur  das  Wort  zu  beten:  „Herr  wohl  weilst  Du 
lange."  Werner  war  schon  innerlich  konvertiert.  Wie 
seine  Entwicklung  sprunghaft  auf-  und  niederging,  so  auch 
dieser  Vorsatz,  dessen  Dasein  sich  immer  wieder  äusserte. 
Freier  und  sicherer  betonte  er  das  Religiöse,  spottete 
über  seinen  Mystizismus. 

In  diesem  Erleben  wanderte  er  den  Rhein  zu  Fuss 
herunter,  sah  die  neuentdeckten  Schönheiten  des  Rhein- 
tals mit  dem  religiösen,  symbolsuchenden  Blick,  der  ihm 
eignete.     Über    den    geschleiften  Festungswerken  Ehren- 


j 


225 

breitsteins  sah  er  nach  prächtigem  Ungewitter  die  Sonne 
aufsteigen  „und  dachte  an  mein  zertrümmertes  Leben,  an 
Gott  und  an  Helios",  der  dissonante  Dreiklang  den  er  zur 
Hai  monie  lösen  wollte.  Die  Stimmung  dieser  Zeit  war 
weicher,  zerfliessender,  als  Werner  sie  Goethe  damals 
erkennen  Hess.  Gewissensqualen  folterten  ihn,  er  erkannte 
seiise  künstlerische  Unfruchtbarkeit  als  Apostel.  Hin  und 
her  wurde  er  geworfen  von  Trieb  und  Wille.  Künst- 
lerische Pläne  so  die  Geschichte  Günthers  von  Schwar- 
zenburg  und  die  Ursulalegende  tauchten  auf  und  schwan- 
<3en.  Ein  kleines  Erlebnis  mit  einem  Kinde,  das  zutrau- 
lich mit  ihm  ging  und  ihn  in  das  Haus  der  Mutter 
führte,  weckte  seine  Vatersehnsucht  und  schmerzliche  Er- 
innerung. 

Auch  in  der  ästhetischen  Linie  verläuft  diese  Reise 
parallel  zu  der  Pilgerfahrt  des  vorigen  Jahres.  Dieselben 
Fragen  und  Probleme  wie  damals  und  jetzt  fand  er  eine 
neue  Synthese:  die  zwischen  Plastik  und  Bewegungskunst. 
Seine  Landsmännin  Henriette  Händel  bot  ihm  das  in 
Leben  und  Kunst.  In  Mannheim  traf  er  sie  und  fühlte 
sich  ihr  wesensverwandt.  Das  Leben  der  Künstlerin  war 
gleich  dem  seinen  an  Irrungen  und  Wirrungen  reich. 
Ihr  aber  erkannte  er  den  Kampfpreis  zu,  und  zwischen 
den  barocken,  launigen  Scherzen  über  ihr  Leben  bricht 
Goethe  gegenüber  nicht  nur  die  Bewunderung  für  die 
Künstlerin  hervor,  auch  für  den  Menschen,  der  robuster 
und  kräftiger  als  er  das  Schicksal  meisterte  und  die  Un- 
schuld gewann,  „die  im  Kampf  wir  nur  erlangen." 

Man  könnte  das  Kunstwollen  der  Romantik  in  dem 
Bilde  zu  erfassen  suchen,  dass  sie  die  Ruhe  in  der  Bewe- 
gung schauen  lassen  will.  Kleist  erstrebte  die  Vereinigung 
von  Typus  und  Individualität,  suchte  in  den  Vielheiten  die 
Einheit.  Das  ist  der  Grund  seiner  Gefühlsverwirrung: 
■die  Umsetzung  alles  Seienden  in  die  zitternden  Schwin- 
gungen des  gegensätzlichen  Lebens.  Die  Autlösung  alles 
Festen  in  einen  organischen  Prozess,  in  Bewegung,  war 
Erkenntnis  und  Forderung  der  Romantik.     Nicht  der  Be- 

Hankamer,  Zacharias  Werner.  15 


226 

griff  als  in  sich  geschlossene  Einheit  galt  ihren  Philo- 
sophen,  sie  suchten  die  im  lebenden  Gegenspiel  der  Kräfte 
vibrierende  Synthesis.  Stern  und  Blume  sollten  sich  einen 
nach  dem  Willen  Werners,  die  Gegensätze  seiner  Lebens- 
form zu  einer  Melodie  sich  verbinden,  die  beide  Wider- 
sprüche harmonisch  verknüpfte.  Sein  Wollen,  Ruhe  und 
Bewegung  im  Integral  der  Form  zu  fassen,  das  schaute 
er  in  der  Kunst  der  Händel.  In  einem  Gedicht,  auf  die 
„neue  Pythia"  sprach  er  es  so  aus: 

„Das  Wesen  mit  lebendiger  Form  gepaaret 
Du  (Phöbus  müsste  sonst  mir  Lügen  künden) 
Wirst  im  Beweglichsten  das  Feste  gründen." 
Und  wie  ihm  stets  die  Kunstforderung  in  engster 
Verbindung  war  mit  der  Lebensaufgabe,  stellte  er  die 
Verbindung  zwischen  der  Form  ihres  Lebens  mit  der  ihrer 
Kunst  her.  Sie  hatte  in  den  Wechselfällen  das  Reine,  Kind- 
liche sich  bewahrt,  das  Feste  in  dem  Beweglichsten: 
Die  Unschuld  erworben  im  Kampfe,  Die  künstlerisch- 
menschliche Synthesis,  das  Pilgerziel  Werners  wurde  in 
die  Person  und  Kunst  der  Henriette  Händel  hinein  ge- 
deutet, die  Kunst  der  Pantomime,  die  Verbindung  von 
Plastik  und  Bewegung  in  der  ethischen  Unterlegung  dieser 
Kunst-  und  Begriffsformen,  die  wir  aufwiesen,  hatten  für 
Werner  hier  ihre  Erfüllung  gefunden.  In  der  Lebenstat 
Henriette  Händeis,  die  sich  ein  Schicksal  selbst  gestaltet 
hatte,  mochte  Werner  sein  Urteil  sehen,  mochte  in  der 
Stunde  „der  Weihe"  ähnliches  hoffen:  im  beweglichen 
Fluten  des  Geschehens  sich  selbst  als  schicksalformendes, 
erlebend-gestaltendes  Ich  fest  zu  behaupten.  Aber  er  er- 
litt, dass  immer  wieder  der  Strom  ihn  fortriss  zu  Taten, 
die  er  nicht  wollte  und  sich  nicht  zu  verzeihen  vermochte. 
So  „des  Treibens  müde",  wie  er  schrieb,  kam  er  in  Coppet  an. 
Sein  vierundzwanzigster  Februar  wurde  auf  dem 
Privattheater  der  Frau  von  Stacl  aufgeführt.  Dass  dieses 
Drama  ihn  —  der  den  Sohnmörder  spielte  —  tief  er- 
schütterte, ist  anzunehmen.  Der  Fluchbeladene  stellte 
sich  dem  Gerichte  und  er  mochte  sich  ähnliches  wünschen. 


227 

Im  künstlerischen  Schaffen  suchte  er  Ruhe  und  wie  vor 
einem  Jahre  blätterte  er  in  den  Geschichtswerken  und 
liess  die  Gestalten  der  deutsch-italienischen  Geschichte 
Torüberziehen.  Wieder  tauchte  der  Name  Christines  von 
Schweden  auf,  Maria  Stuart,  Agnes  Bernauerin,  Sultan 
Muhamed  II.  wurden  ihm  interessant.  Eine  Trilogie  der 
Staufen:  Friedrich  der  Zweite,  Manfred  und  Konradin 
nahm  bestimmte  Form  an.  Der  Einfluss  W,  A.  Schlegels, 
mit  dem  er  zusammen  war,  machte  sich  bemerkbar.  In 
den  Wiener  Vorlesungen  priess  er  gerade  den  ritterlich 
glänzenden  Zeitraum  des  Hauses  Hohenstaufen  einem 
deutschen  Shakespeare  als  Stoff  an. 

Werner  wählte  den  Stoff  auch,  um  künstlerische  Lokal- 
studien in  Italien  machen  zu  können,  einen  Plan  und  Zweck 
der  Reise  zu  haben,  deren  inneren  Sinn  er  sich  nicht  ein- 
zugestehen wagte.  Zunächst  schienen  äussere  Umstände 
die  Romreise  verhindern  zu  wollen.  Mitte  September 
unterrichtete  er  Frau  von  Schardt  davon  und  dass  er  be- 
absichtige den  Winter  in  Weimar  zu  verbringen.  Am 
20.  Oktober  aber  schrieb  er  Goethe:  „Es  zieht  mich  eine 
unüberwindliche  Sehnsucht  nach  dem  hochgelobten  Lande 
Italia;  vielleicht  ist  es  mein  Schicksal,  das  mir  winkt, 
vielleicht  will  es  mich  heilen,  oder  mit  mir  enden?  Ich 
will,  ich  muss  die  Sehnsucht  stillen,  wäre  es  auch  nur 
um,  von  ihr  selbst  geheilt,  nachdem  ich  das  schönste 
Land  der  Erde  gesehen,  entweder  dort  Hütten  zu  bauen, 
oder  beruhigt  zurückzukehren,  meinen  Wanderstab  zu 
zerbrechen  und  in  irgend  einem  Flecke  Deutschlands  dann 
still  fortzuleben.  Es  vergeht  kein  Tag,  wo  mir  nicht  aus 
Ew.  Exzellenz  Pilgers  Nachtliede  der  Vers  schmerzlich 
einfällt:  ,Ach,  ich  bin  des  Wanderns  müde^  Dies  soll 
meine  letzte  Wanderung  sein  und  dann  auf  eine  oder 
andere  Art  zur  Ruhe." 

Am  1.  November,  dem  Festtage  Allerheiligen,  trat 
er  die  Reise  an. 


DRITTER  TEIL 

DIE  VERSÖHNUNG 

ROM -ASC  HAFFENBURG -WIEN 


VIII.  Kapitel. 
Die  Konversion  als  Lösungsversuch 

Nicht  mit  einer  befreienden,  klargefassten  Entschei- 
dung für  oder  gegen  einen  Übertritt  verliess  Werner 
Coppet,  aber  eben  diese  Romfahrt  bedeutete  doch  schon 
soviel  wie  ein  zaghaftes  Ja.  Seine  ganze  Einstellung  be- 
weist, dass  er  den  Weg  ging  als  sühnender  Pilger.  Unter- 
wegs betete  er  am  3.  während  einer  kurzen  Reisepause 
in  der  katholischen  Kirche,  und  unterm  5.  meldet  das 
Tagebuch  dasselbe.  Am  7.  weilte  er  im  Hospiz  auf  dem 
Mont  Cenis.  Bei  der  Erzählung,  der  Papst,  der  ins  Exil 
habe  wandern  müssen,  sei  „sehr  ruhig,  ja  heiter  gewesen" 
ruft  er  aus  „Die  Ruhe  ist  die  eines  Heiligen."  Es  schien 
die  Ruhe,  nach  der  er  sich  sehnte. 

Aufklärende  Tagebuchaufzeichnungen  über  die  Cop- 
peter  Tage  sind  uns  nicht  erhalten.  Vielleicht  hat  das 
einen  psychologischen  Grund :  Werner  scheute  sich,  an 
diese  hin-  und  herzitternden  Gefühlswirrnisse  jäh  aufflackern- 
der Entschlüsse  und  müdester  Verzweiflung  erinnert  zu 
werden  und  vernichtete  sie.  Frau  von  Stael  hatte  ihn 
ganz  durchschaut,  wenn  sie  w^enige  Jahre  später  an  Frau 
von  Schardt  schrieb :  „Werners  Einbildung  machte  ihm 
die  katholische  Religion  notwendig;  er  bedurfte  der  Stützen 
von  allen  Seiten.  Er  hatte  soviel  gelitten,  dass  er  den 
Tod  und  das  Leben  auf  gleiche  Weise  fürchtete." 

Schon  während  seiner  Wanderung  durch  Deutsch- 
land war  der  Gedanke  an  den  Tod  oft  in  ihm  wach  ge- 
worden. In  dem  Brief  an  Goethe,  der  ihm  die  Absicht, 
nach  Italien  zu  reisen  kundtat,  hatte  Werner  geschrieben : 


232 

„Sterbe  ich  unterdess  (während  seines  italienischen  Auf- 
enthaltes) so  seien  Sie  versichert"  usw.  Und  in  der  Nach- 
schrift: „Noch  eine  Bitte  habe  ich,  haben  Ew.  Exzellenz, 
die  Gnade  mich  nicht  darüber  auszulachen  und  mir  zu 
erlauben,  Ihnen  (es  ist  vielleicht  das  letzte  Mal)  mein 
ganzes  Herz  auszuschütten!  —  Ich  kann  vielleicht  auf 
der  Reise  nach  Italien  dort  sterben  .  .  .  ,"  Diese  Todes- 
ahnungen sind  die  Zeichen  einer  müden  Resignation,  die 
sich  vor  der  grossen  Entscheidung  hinter  dem  nahen  Tod 
zu  verstecken  sucht.  Vielleicht  kann  man  aus  den  Worten 
an  Goethe  herauslesen,  dass  er,  wenn  dieser  letzte  Ver- 
such, Ruhe  zu  finden,  nicht  gelingen  sollte,  den  Tod 
wählen  würde.  Nicht  als  ob  dieser  Gedanke  Werner  klar 
und  formuliert  als  Entschluss  bewusst  geworden  wäre^ 
aber  im  Hintergrund  steht  er  wie  ein  düsteres  Bild,  dessen 
Schatten  in  die  Seele  fällt.  So  begann  er  seine  Pilger- 
fahrt. 

Auf  und  nieder  wogte  seine  Stimmung,  von  jubeln- 
der, hoffender  Lebensfreude  zu  dumpfer  Furcht.  Das 
Grün  der  Blätter,  die  vorbeiziehenden  Berge  erfüllten  ihn 
„mit  längst  entwöhnter  Heiterkeit."  Dann  quälten  ihn 
Erinnerungen  vergangenen  Lebens,  das  Bild  seiner  Mutter 
stieg  auf  und  diese  Erlebnisse  verdichteten  sich  zu  der 
Romanze  „Die  Mutter."  Tiefste,  wühlende  Verzweiflung 
stöhnt  aus  dem  Gedicht,  und  über  dem  Ganzen  ruht  eine 
dunkle  Todesahnung  und  auch  -angst. 

Hier  wurde  das  Mutterliebe-Motiv,  das  die  Konver- 
sionszeit begleitet,  rein  zum  Ausdruck  gebracht.  Wie 
sich  immer  stärker  der  mystische  Trieb  Werners  in  diesen 
Wochen  zu  regen  begann  und  ihn  in  die  Stimmung  seiner 
ersten  Böhmezeit  zurückführte,  so  wurden  auch  die  Qualen 
und  Gestalten  dieser  Jahre  in  ihm  wach.  Als  er  sein 
Fluchdrama  schrieb,  zwang  die  Erinnerung  fordernd  ihm 
den  Titel  auf.  Die  Mutter  rief  ihn  zur  Sühne,  weil  er 
untreu  war.  Tief  in  das  Dunkel  seiner  Seele  leuchtet 
das  Gedicht:  „Wie  hast  Du  treu  Dein  Flügelpaar  auf  mich^ 
der  immer    treulos  war,    doch  immer    ausgespreitet."     In 


2.53 

der  quälenden  Erkenntnis,  dass  die  übergrosse  Liebe  an 
ihm  verschwendei  worden  war,  lag  für  ihn  der  Zwang 
zur  Bekehrung  und  zwar  durch  das  Mittel,  das  ihm  die 
Mutter  geboten  hatte  :  durch  die  Religion.  Als  Künstler- 
Rehgiose  hatte  Werner  seinen  Weg  begonnen,  wusste 
ihn  nicht  zu  vollenden.  Das  tröstende  Gesicht  verrinnt, 
düstere  Regenwolken  saugen  den  Schimmer  des  Lichtes 
ein.  Dumpf  ertönt  eine  ferne  Glocke.  Des  Büssers  Sang 
verstummt.     „Still  zieht  er  zum  Gerichte." 

In  dieser  Zeit  stand  das  Ziel  seiner  Pilgerfahrt  leuch- 
tend und  trotz  aller  Ängste  verheissend  vor  seinen  Augen. 
Doch  dann  und  wann  verdeckte  eine  dunkle  Wolke  es, 
schien  es  ihm  eine  täuschende  Fata  morgana.  Leise 
machten  sich  psychische  Reaktionsbewegungen  bemerk- 
bar. Der  Pilger  löste  seine  Seele  von  dem  suggestiven 
Bann  des  Konversionsgedankens.  Nichtigkeiten  erzählt 
sein  Tagebuch  bis  zum  28.  Und  dann  wieder  das  alte 
Bild,  eine  tragikomische  Illustration  seines  Zustandes: 
Aus  Kirchen  und  den  Sammlungen  der  Gemälde  und 
Skulpturen,  an  denen  er  sich  wärmend  berauschte,  eilte 
er  in  die  Arme  käuflicher  Mädchen.  Ein  grausig  fratzen- 
haftes Bild  seines  Dreieinigkeitssystems:  Religion,  Kunst 
und  Liebe;  eine  grelle  Parodie  seines  ganzen  Lebens. 
Tage  der  Verzweiflung  und  des  Genusses  mögen  gefolgt 
sein.  Werner  ging  durch  Italien  ruhelos  wie  der  ewige 
Jude,  gehetzt  von  dem  „Gorgohaupt  eines  verprassten 
Lebens."  Was  ihm  zur  drückenden  Schuld  wurde,  mei- 
sterte Goethe  zur  spielenden  Arabeske  um;  Werner  dich- 
tete ein  „Dies  irae",  Goethe  konzipierte  die  Elegien: 

„Eine  Welt  zwai   bist  du  Rom;  doch  ohne  die  Liebe 
Wäre  die  Welt  nicht  die  Welt,  wäre  denn  Rom  auch 

nicht  Rom.*^ 

Das  lag  am  9.  Dezember  1809  vor  ihm:  Rom  die  Stadt 
der  Märtyrer,  der  Heiligen,  der  Entsagenden.  Alte,  in 
der  Verzweiflung  über  sein  Leben  längst  verdorrte  Träume 
keimten  neu  auf    und  Werner   berauschte  sich  an  ihnen, 


234 

wird  an  eine  grosse  Epoche  seiner  Kunst  gedacht  haben, 
die  ihn  von  der  nicht  eingelösten  Lebensschuld  befreien 
sollte.  Eine  religiös  künstlerische  Wiedergeburt  sollte  ge- 
schehen, eine  „Vita  Nuova"  öffnete  ihm  ihre  Pforten.  Er 
fühlte  sich  als  ein  Neuer,  Anderer,  Wie  ein  Rausch 
packte  ihn  der  Gedanke  Rom  „Die  Hauptstadt  der  Welt". 
den  .,TemDel  Gottes"  endlich  betreten  zu  dürfen  und  seine 
Energie  flammte  jäh  auf: 

„Jugend  mag  dein  Veilchenduft  zerrinnen, 
Unschuldlilie  mag  dein  Weiss,  zerstieben, 
Rosenschmelz  der  Liebe  sei  vergangen  ! 
Gluth  fühl'  ich,  die  ganze  Welt  zu  lieben, 
Mut,  mich  selbst  als  Kunstwerk  zu  beginnen, 
Gier  zum  Kampf,  wie  Helden  Gottes  rangen!  .  .  ." 
Sein  Beruf  als  Dichter,  als  „Schöpfer",  dem  er  allein 
treu  geblieben,    sollte  Inhalt  des  neuen  Lebens  sein,    der 
Beruf,    den    die  Mutter    ihn  wies.     In    diesem  Entschluss 
des  Augenblicks  glaubte  er  Weimar  mit  Rom  vermählen 
zu  können,  dachte  den  vertrauten  Gedanken  des  Kunstwerk- 
Lebens,   der  im  Kampf    erworbenen  Unschuld.     Der  Mo- 
ment hob    ihn  über  Schuld    und  Fluch   zur  Tatforderung 
Fichtes,  goethisch  gewandelt  zum  Künstler  als  Souverain 
der  Tatsächlichkeit,    die    er    freigestaltend    in  sein  Werk 
einbeziehe.     In  dem  Sonett  „die  steinernen  Kirchenväter" 
wurden  ihm  die  Bildwerke  zweier  Löwen,  die  das  Portal 
einer  Kirche  trugen,  zum  Symbol,  dass  der  Künstler  das 
Böse  der  Erscheinung  nützen  dürfe.     „Doch  lässt  er  von 
des  Bösen  Lust  sich  rühren,  dann  fehlet  seinem  Baue  die 
Vereinung  und  seine  Schöpferfreude  muss  zerrinnen." 

Im  Gedicht:  „Der  P'eterplatz"  schaute  er  mit  freiem 
hoffenden  Auge  den  Dom  und  im  Symbol  Gott  und  in 
sein  Tagebebuch  schrieb  er:  „Nur  von  meinen  Eindrücken 
spreche  ich  und  da  kann  ich  sagen,  als  ich  nun  die  maje- 
stätischen breiten  Treppen  bestiegen  und  mit  anbetendem 
Schauer  die  Decke  der  einen  Pforte  emporgehoben  und 
das  Innere  des  Tempels  betreten  hatte,  dass  ich  noch 
nie  in  meinem  Leben  so  das  Wesen  der  christlichen  Gott- 


235 

lichkeit,  nämlich  ein  Entsetzen  und  eine  Wehmut,  welche 
erhabenste,  seligste  Freude  nicht  aufkommen  lässt,  em- 
pfunden hatte  ....  Aber  ein  unaussprechliches  Gefühl, 
als  ob  Gott  der  liebende  König  und  Vater  nun  hier  ganz 
eigen  wohne,  als  ob  man  leise  auftreten  müsse,  um  nicht 
den  hohen  hier  säuselnden  Frieden  der  Gottheit  zu  stören, 
ein    unbeschreibliches  Ahnen    von   hoher  Vornehmigkeit." 

Die  nicht  im  Rausch  des  Künstertums  geschriebene 
Tagebuchnotiz  zeigte  die  Durchschnitthöhe  des  geistigen 
Lebens  bei  Werner  als  weniger  zur  Aktivität  reichend.  Die 
deutlich  durchzufühlende  Passivität  dieser  Zeit  verstärkte 
sich.  Die  Forderung,  „sich  als  Kunstwerk  zu  beginnen", 
die  Verbindung  der  Forderung  Fichtes  und  Goethes  trat 
immer  mehr  zurück.  Der  Hang  zur  heiligen  Wehmut, 
dem  wollüstigen  Schwelgen  in  den  Qualfreuden  der  Reue 
brach  mehr  und  mehr  durch.  Nicht  Fichte  war  Werners 
Heiliger  in  der  Konversionszeit,  Böhmesche  Gedanken 
und  Worte  drängten  sich  in  die  Gedichte  wieder  ein,  die 
Stimmung  der  Religion  Böhme-Schleiermachers  bereitete 
ihn  auf  die  Konversion  vor.  Am  Grab  der  Apostelfürsten 
machte  er  in  seinem  „Thomas  von  Kempen"  (Nachfolge 
Christi)  die  Stichprobe  und  traf  die  Kapitel  52/53  des 
dritten  Buches;  die  Stelle,  die  beginnt  mit  dem  Zitat: 
„Gestatte  mir  noch  eine  kleine  Weile,  dass  ich  ausweine 
meinen  Schmerz,  bevor  ich  hinabsteige  in  das  Reich  der 
Finsternis,  das  von  Todesnacht  bedeckt  ist."  Und  weiter 
heisst  es  da:  „In  der  wahren  Zerknirschung  und  Verdemüti- 
gung  des  Herzens  wird  die  Hoffnung  der  Vergebung  ge- 
boren, das  beunruhigte  Gewissen  wieder  ausgesöhnt,  die 
verlorene  Gnade  wieder  zurückgestellt  und  der  Mensch 
vor  dem  drohenden  Zorn  beschützt;  da  begegnen  sich 
einander  im  heiligen  Kuss  Gott  und  die  reuige  Seele." 
Aber  vor  der  Forderung  der  Entsagung  bäumte  sich  sein 
Wille  auf:  „ich  Verächtlicher  bin  zu  stumpf,  um  die  dort 
verlangte  Entsagung  zu  leisten." 

Neben  dem  Muttermotiv  herrschte  das  Motiv  der  Ent- 
sagung   in  der   seelischen  Stimmung  der  Zeit,    einte  sich 


236 

begrifflich  mit  ihm.  Die  Erinnerung  an  die  Mutter,  die 
immer  mehr  die  centrale  Stellung  seiner  Liebe  zu  Mal- 
gona  untergraben  hatte,  war  mit  der  quälenden  Beruf- 
forderung zum  religiösen  Künstlertum  eng  verbunden  und 
das  Künstlertum  legte  ihm  menschlich  das  Entsagen  auf. 
Der  geniessende  Mensch  ist  dem  Künstlertum  verloren 
—  ein  Gedanke,  den  unter  den  Modernen  niemand  stärker 
als  Thomas  Mann  erlebte  und  aussprach.  Wie  unfern  diese 
Erkenntnis  schon  zunächst  dem  Romantiker  Werner  war 
und  ihm  sein  musste,  ist  klar.  Das  Entsagungsmotiv 
klang  bereits  in  der  Lehre  von  der  Vernichtung  des  Indi- 
viduums als  letzte  Absicht  durch,  wurde  ihm  auf  sexu- 
ellem Gebiet  zunächst  deutlich  und  einte  sich  im  Kreuz 
an  der  Ostsee  mit  dem  Vernichtungswillen.  Das  Woll- 
lüstige,  das  Cbermass  an  Gefühlshingabe  statt  beschrän- 
kender Tat,  wurde  aber  erst  im  höchsten  Sinne  über- 
wunden durch  die  Einfügung  des  Ideeindividuums  in  das 
Weltbild  Werners  und  kam  in  der  Liebetheorie  durch 
die  beschränkende  Konzentration  auf  eine  Persönlichkeit 
zum  Ausdruck.  Goethe,  der  damals  in  der  Arbeit  an  den 
Wahlverwandschaften  stand,  konnte  ihm  die  gleiche  künst- 
lerisch-menschliche Forderung  entgegen  halten  und  im 
Banne  dieses  Gedankens  der  ethisch  und  ästhethisch  ihn 
besass,  trat  er  schon  seine  erste  italienische  Reise  an. 
1808  in  Genua  dichtete  er  aus  dieser  Frage  seines  Lebens 
und  seiner  Kunst  heraus  das  Sonett  „Hellenik  und  Ro- 
mantik" : 

„Könnt  Genua,  ich  tausendfach  mich  theilen, 
In  Deinem  Hafen  mit  den  Wellen  fliessen, 
Empor  mit  Deinen  Goldorangen  spriessen 
Mich  wölben  kühn  mit  Deinen  Marmorsäulen 
Zu  Deiner  Töchter  Schaar,  ein  Heros,  eilen, 
Der  Gluthenaugen  Schleier  aufzuschliessen 
Und  alle  Nektarkelche  zu  geniessen, 
Ausschlürfen  jeden,  und  bei  keinem  weilen." 
Diese    Romantiker- Sehnsucht    wies    er    damals    ab.     Die 
wundervollen  Strophen  zeigen   die   enge  Verbindung  des 


237 

Lebens-  und  Kunstwillens    bei  Werner   als    durchaus    be- 

wusst. 

Die  Einstellung  auf  das  Religiöse  in  immer  deut- 
licherem Hinweis  auf  den  Katholizismus  musste  bei  seiner 
seelischen  Lage,  deren  Gleichgewicht  völlig  gestört  war, 
diese  Tendenz  verstärken  und  charakterisieren.  Der  Liebe- 
begriff war  Systemmittelpunkt  und  hier  setzte  die  Ent- 
sagungsforderung besonders  heischend  ein.  In  der  Kuni- 
gunde  war  sie  Konzeptionspunkt  gewesen,  in  Rom  wurde 
sie  deutlich  als  das  Einzige  erkannt,  was  noch  den  Über- 
tritt zum  Katholizismus  hinderte.  Die  sexuelle  Entsagung 
war  der  Mittelpunkt  des  Kampfes,  in  dem  Werner  immer 
wieder  unterlag. 

Rasch  fand  Werner  den  Anschluss  an  die  römische 
Gesellschaft  und  wieder  beginnt  ein  auf-  und  niederwo- 
gendes Leben,  das  ihn  von  einem  Genuss  in  den  andern 
warf,  durch  Bordell,  Museum,  Kirche,  Künstleratelier  in 
wirrer,  alles  vergessenmachender  Schnelle  führte.  Jäh 
wechselnde  Gefühle  flackerten  auf.  Dann  und  wann  wurde 
der  narkotische  Taumel  von  blitzartig  wirkenden  Aus- 
brüchen des  Ekels  und  der  Selbstverachtung  durchbrochen. 
Verzweiflung  Hess  den  tollen  Tanz  aufführen.  Hinter  dem 
scheinbar  ausgelassenen  Treiben  ahnt  man  die  furchtbare 
Seelenqual.  Die  unbestimmte  Angst  vor  einem  Strafge- 
richt, das  ihm  drohe,  stand  wie  ein  Gespenst  hinter  ihm. 
Er  wollte  keinen  Blick  rückwärts  in  sein  Leben,  in  sein 
Inneres  tun.  Durfte  es  nicht,  um  nicht  völlig  zusammen- 
zubrechen. Deshalb  jagte  er  Körper  und  Geist  in  das 
drängendste  Gewühl  der  Genüsse,  dass  kein  Augenblick 
zur  Ruhe  blieb.  Kein  ernstes  Gedicht  gelingt  ihm.  Sein 
Tagebuch  gibt  eine  erdrückende  Fülle  von  Namen,  ver- 
weilt aber  nur  selten  bei  einem  Eindruck.  Eine  ängst- 
liche Flucht  vor  sich  selbst  schien  ihm  wohl  die  einzige 
Rettung  vor  der  furchtbaren  Angst  vor  Gottes  Strafge- 
richt. Diesem  Gedanken  war  er  verhaftet,  sah  ihn 
in  alles  hinein,  aus  allem  heraus.  Schaudernd  stand  er 
vor  dem  „ungeheuersten    aller  Kunstgenies":    vor  Michel 


238 


Angelo.  Sein  „jüngstes  Gericht"  packte  ihn  stofflich,  weil 
es  in  dem  Bannkreis  seines  augenblicklichen  Hauptgedan- 
kens stand:  Gottes  strafende  Gerechtigkeit.  Aus  seiner 
Schilderung  im  Tagebuch  spürt  man  das  innere  Beben, 
das  es  in  ihm  auslöste:  „Eine  wahre  gemalte  Dantesche 
divina  commedia.  Auf  einem  dunkelblauen  Luftgrunde, 
der  schon  das  entsetzliche  der  Scene  andeutet,  erscheint 
im  Mittelpunkt  des  unendlichen  Ganzen  die  Figur  des 
Erlösers  in  den  Wolken,  im  Augenblick,  wo  er  sich  zur 
Linken  wendend,  das  entsetzliche:  „Gehet  hin,  ihr  Ver- 
dammten, in  das  ewige  Feuer!"  ausspricht.  Er  ist  ganz 
nackend  und  nicht  schön,  aber  grässlich  majestätisch  .... 
Selbst  die  ihn  in  zahlreichen  Gruppen  umgebenden  Erz- 
väter (kolossale  akadmische  Figuren)  sind  von  Entsetzen 
ergriffen.  Jeder  hält  sein  Marterinstrument  empor,  Paulus 
das  Schwert,  Laurentius  den  Rost  usw.,  gleichsam  im 
Momente  des  Entsetzens,  um  sich  auch  vor  der  ihm  dro- 
henden Verdammnis  (denn  Herr  wer  kann  vor  Dir  be- 
stehen?) zu  retten  und  es  ist  grässhch-furchtbar,  wie  das 
Haupt  des  Bartholomäus  mit  abgeschundener  blasser  Haut 
unten  aus  den  Wolken  nach  oben  emporguckt".  In  dem 
(späteren)  „Gesang  über  Michel  Angelos  jüngstes  Gericht" 
fieberte  noch  dieses  Entsetzen  und  in  den  Rythmen  des 
Dies  irae  suchte  es  Ausdruck.  Er  hatte  sich  eine  Dante- 
ausgabe beim  Antiquar  gekauft  und  hetzte  seine  Phantasie 
durch  die  furchtbaren  Stätten  des  Inferno,  mit  jener  grau- 
sigen Wollust,  die  für  ihn  darin  lag,  sein  eigenes  Urteil 
sich  zu  sprechen  und  die  furchtbaren  Qualen  zu  erleben, 
die  er  in  dem  schaurigen  Bilde  Dantes  für  den  Wollüst- 
ling sah.  Dann  wieder  schlug  seine  düstere  Verzweif- 
lung in  eine  haltlose,  weichliche  Sentimentalität  um,  den 
völligen  psychischen  Zusammenbruch  andeutend ,  dem 
Werner  entgegentaumelte.  „Gang  in  den  Klostergarten 
Giovanni  und  Paolo  herrliche  Aussicht  auf  verschiedene 
Stellen  bei  dem  himmlischsten  Wetter,  ich  weine  aus 
schmerzlicher  Freude."  Dazwischen  beichtete  er  seinem 
Tagebuch  wieder  von  sexuellen  Exzessen  und  am  9.  Ja- 


239 

nuar  berichtete  er  zum   letzten  Male  von  einer  „Schäfer- 
stunde comme  il  faut". 

Langsam  verebbte  diese  Hochflut,  langsam  wie  eine 
weiche  dunkle  Nacht  kam  die  Ruhe.  Reinend  in  seiner 
schöpferischen  Klarheit  wirkte  Raffael  auf  ihn,  wie  auf 
alle  Romantiker,  mögen  sie  Maler  oder  Literaten  sein. 
Raffael  war  seit  Wackenroder  der  „Lieblingsheilige"  der 
Zeit  und  vor  seiner  Kunst  lernte  Werner  sich  selbst 
finden. 

Am  18.  Januar  begann  er  die  Canzone:  Raphael 
Sanzio  von  Urbino.  Er  feiert  ihn  als  „Heiland  der  Far- 
ben" für  deren  Erlösung  er  sein  Leben  hingegeben  habe. 
Raphael  ist  ihm  der  Vertreter  der  reinen  Liebe.  Er  blieb 
„der  Einfalt  treu",  deshalb  ist  er  der  Unsterbliche.  Eine 
innere  Sammlung  vollzog  sich  und  erhielt  ihren  dichteri- 
schen Ausdruck  in  der  „Kunigunde",  deren  Umarbeitung 
er  vollendete.  Werner  schien  zu  sich  gekommen,  er 
wusste  wieder  weshalb  er  Rom  besucht  hatte,  und  den 
Abschluss  seiner  inneren  Entwicklung  gab  ihm  Goethes 
„Wahlverwandtschaften",  das   hohe  Lied  der  Entsagung. 

Erst  am  31,  Januar  1810  las  ihn  Werner  bei  Frau 
von  Humboldt.  Der  Roman  musste  auf  Werner  bei  seiner 
damaligen  seelischen  Lage  entscheidend  wirken.  Er 
schrieb  darüber  an  Goethe,  nachdem  er  seinen  Übertritt 
ihm  mitgeteilt:  „Beides  (das  Finden  wie  Offenbaren  des 
Katholizismus)  verdanke  ich,  —  o  zürnen  Sie  nicht  Huld- 
vollster! —  Ihren  Wahlverwandtschaften.  Nur  unter  der 
Bedingung  einer  völligen  Entsagung,  heisst  es  darin,  hatte 
Ottilie  sich  verziehen,  und  diese  Bedingung  war  für  ihre 
ganze  Lebenszeit  unerlässlich.  Diese  von  Gottes  Geist 
Ihnen  in  die  Feder  diktierten,  und  als  ich  sie  zuerst,  vor 
ihrer  Herrlichkeit  erstarrend  las,  von  Gottes  Blitz  auf  der 
nämlichen  Stelle,  an  der  ich  jetzt  dieses  schreibe,  illumi- 
nierten, ewigen  Worte,  sie  sind  es  und  —  was  auch  der 
deutsche  Pöbel  über  mich  lügen  mag  —  sie,  diese  Worte 
(und  nicht  der  Sinnentand,  die  Phantasterei,  die  Gaukeley, 
womit  man  alles  Heilige  und  auch   die  Kirche,   die   ewig 


•240 

heilige  überkleistert  hat)  sind  es,  die  mich  katholisch  ge- 
macht haben  und  mich  zwingen,  es  mag  auch  über  mich 
ergehen,  mag  auch  dabei  von  mir  zu  Grunde  gehen,  was 
da  wolle,  es  lebenslang  und  ewiglich  zu  bleiben!" 

Die  Veranlagung  Werners  machte  es  nötig,  dass  ein 
solcher  Ruf  an  ihn  erging.  Er  weist  selbst  oft  auf  seine 
Ängstlichkeit  hin  und  der  Ton  seiner  Briefe  bringt  für 
die  ängstliche  Rücksichtnahme  Werners  fast  Seite  um 
Seite  Bew^eise.  Die  Unfähigkeit,  sich  selbst  als  Richt- 
punkt seiner  ethischen  Lebensform  zu  empfinden,  hatte  er 
nie  überwunden.  Das  Ideeindividuum  war  theoretische 
Forderung  geblieben,  und  die  Wurzel  seiner  Selbstvernich- 
tungssehnsucht trieb  auch  diese  Frucht.  Sie  keimte  aus 
dem  Erlebnis  der  Antithese  seines  ich,  die  der  „Einfalt" 
bar  war.  Das  war  auch  die  Ursache  seines  Hangs  in 
allem  natürlichen  Geschehen  einen  Wink  der  Gottheit 
ängstlich  zu  vermuten  und  zu  erhoffen.  Weil  er  sich  in 
zermürbender  Selbstanalyse  als  unehrlich  und  zwiespältig 
erfasst  hatte,  glaubte  er  der  äusseren  Zeichen  nicht  ent- 
behren zu  können.  Das  Aus-sich-Handeln  als  moralischer 
Mensch  blieb  ihm  fremd  und  von  da  aus  erklärt  sich  seine 
Unsicherheit  bei  jeder  geistigen  Handlung,  sich  als  der 
eigentliche  Urheber  aus  geistiger  Souveränität  zu  be- 
kennen, wenn  eine  folgenschwere  Tat  geschah.  Die  vor- 
handene Eigenbewegung  des  Geistigen  versteckte  sich 
hinter  der  überall  Ruf-suchenden  und  -findenden  Fähigkeit 
Werners,  die  hier  Goethes  Roman  als  den  Endpunkt  der 
Ursachenkette  zu  seiner  Konversion  aufzeigte. 

Der  entscheidende  Schritt  muss  gewiss  gemäss  seiner 
schwankenden,  impulsiven  Natur  ziemlich  plötzlich  ge- 
schehen sein.  Die  wenigen  Tagebuch -Notizen,  die  ge- 
rade von  dieser  letzten  Vorbereitungszeit  vorliegen,  sind 
kühle,  oft  spöttische  Bemerkungen.  Keine  tiefe,  überhitzte 
Mystik.  Er  erzählte  allerlei  Spass  aus  seiner  „lieben" 
Kirche,  war  fröhlich  und  aufgeräumt.  Den  auslösenden 
Impuls  zur  Konversion  gab  ihn  ein  Erlebnis,  das  bezeich- 
nend   für    Werner    ist:    eine    Mädchenkommunion.      Am 


241 

18.  Juni  heisst  es  im  Tagebuch:  „Gang  in  die  Kirche  zum 
Bambin  Jesu.  —  Mädchenkommunion:  Erinnerung  an  meine 
Bekehrung".  Das  Bild  der  jungen  unschuldigen  Kinder 
in  dem  Dämmerdunkel  der  Kirche,  die  Wehmut  die  jeden 
dabei  fasst,  die  weiche  Stimmung,  die  wie  ein  Weihrauch 
über  dem  Ganzen  liegt,  musste  bei  der  extrem  reagieren- 
den Seelenstimmung  Werners  von  faszinierender  Kraft 
sein.  Religiöse,  ästhetische  und  (Mädchen-Kommunion) 
unbestimmte  sexuelle  Reize  vereinigten  sich  zu  einem 
Erlebnis,  das  Werner  über  das  letzte  Hindernis  hinweghob. 
Schon  vorher  hatte  er  sich  allen  Formen  kirchlicher 
Andacht  anbequemt,  mochte  sich  aber  doch  vor  diesem 
letzten  allentscheidenden  Schritt  wehren.  Da  kam  es  wie 
ein  mystischer  Rausch  über  ihn  und  erzwang  die  Tat. 
Denn  für  Werner  war  die  Konversion  eine  Tat,  die  Tat- 
handlung,  die  er  stets  von  sich  gefordert  hatte,  zu  der  ihn 
künstlerisch  Goethe  beim  „24.  Februar"  gezwungen  hatte, 
die  er  menschlich  nicht  hatte  erfüllen  können.  Nicht  erst 
später  kam  ihm  das  zum  Bewusstsein.  Bei  seinem  Auf- 
enthalt in  Paris  hatte  er  zu  Helmina  v.  Chezy  geäussert, 
als  sie  von  der  Abneigung  sprach,  die  zwischen  ihrer 
katholischen  Schwiegermutter  und  ihr,  einer  Protestantin 
bestand:  „Wundern  Sie  sich  nicht,  da  sie  eifrig  katholisch 
ist;  die  Scheidewand  auf  Erden  ist  wenigstens  unüber- 
brückbar." Und:  Goethes  Freundschaft  stand  auf  dem 
Spiel.  Nach  seinem  Übertritt  schrieb  er  ihm:  „.  .  .  .Ihre 
mir  in  Weimar  gesprochenen  Worte  tönen  mir  noch  im- 
mer in  meinen  Ohren.  „Wer",  sprachen  Sie  „mit  mir 
nicht  gehen  kann  oder  will,  von  dem  scheide  ich!  Diese 
Worte  damals  so  viel  als :  Gehet  hin  ihr  Verdammten  in 
das  ewige  Feuer;  sie  sind  mir  noch  immer  schrecklich! 
Unter  allen  Opfern  des  Christentums,  die  ich  nämlich 
bringe,  ist,  Gott  mein  Zeuge,  das  schwerste:  Die  Mög- 
lichkeit Ew.  Exzellenz  huldvolles  Wohlwollen  —  (was 
mir  mehr  ist  als  Sie  sich  vorstellen  oder  beflügelte  Worte 
aussprechen  können)  —  zu  verlieren.  Aber  ich  werde 
dieses  schwerste    aller  Opfer   mit  blutendem    zerrissenen 

Hankamer,  Zacharias  Werner.  16 


242 

Herzen  —  bringen,  wenn  es  sein  muss."  Noch  in  diesen 
Worten  vibrierte  die  ungeheure  Erregung,  die  Goethes 
Wort  und  die  daraus  von  ihm  gezogene  Folgerung  in 
seiner  schwankenden  Seele  hervorgerufen  hatten. 

Werner  war  aus  seiner  Unkraft  heraus  zum  Helden 
geworden,  zum  Helden  der  Schwäche;  denn  er  kam  zum 
Katholizismus  aus  dem  Gefühl  seiner  persönlichen  Un- 
fähigkeit, die  anerkannte  Entsagungsforderung  sonst  zu 
erfüllen.  Eine  ungeheure  Leistung  ward  ihm  zugetraut, 
wenn  er  entsagen  sollte.  War  er  dazu  allein  stark  ge- 
nug? Er  selbst  glaubte  es  nicht,  hatte  zu  oft  erlebt  wie 
sein  stärkstes  Wollen  im  Rausch  eines  Augenblicks  ver- 
sank, hatte  noch  auf  seiner  Reise  von  Coppet  nach  Rom, 
in  Rom  selbst  gesehen,  dass  sobald  der  Krampf  seiner 
Energie  im  Gang  des  Alltagslebens  sich  löste,  er  wieder 
nicht  Herr  seiner  selbst  war.  Er  hatte  ein  Mittel  nötig, 
das  sein  Wollen,  wenn  es  erschlaffen  wollte,  immer  von 
neuem  aufpeitschte.  Im  Katholizismus  mit  seinen  Sakra- 
menten glaubte  er  es  gefunden  zu  haben.  Sein  Wille, 
seine  ganze  Persönhchkeit  war  gebrochen.  In  einem 
Sonett  vom  15.  August  1810  raunte  ihm  der  Dom  zu: 
„Gespalten,  bin  ich  wie  du,  doch  wird  der  Fels  uns  halten". 
Das  Gefühl  der  Nicht-Einfalt,  das  Doppel-Ich,  das  als  das 
Centralproblem  seines  Bewusstseins  in  allen  Phasen  der 
Weltanschauungsbildung  Lösung  suchte,  von  der  Böhme- 
Schleiermacher-Forderung,  über  Fichtes  Ideeindividuuni 
und  der  Goethischen  Forderung  des  Menschen  als  Kunst- 
werk, in  seiner  Konversion  sollte  es  überwunden  werden. 
Durch  die  Entsagung  wurde  der  Mensch  auf  die  Höhe 
seiner  künstlerischen  Forderung  gehoben.  Wille  und  Le- 
ben sollte  sich  so  einen. 

Das  tief  in  seiner  Persönlichkeit  verwurzelte  Sehnen 
nach  einem  Einreihen,  dem  Eintritt  in  eine  haltende, 
stützende  Organisation  erfüllte  der  Katholizismus  ihm. 
Ein  Aufgehen  in  die  mystische  Gemeinschaft  der  Heiligen,, 
eine  Vernichtung  jedes  individuellen  Zuges  seiner  Reli- 
gion; Glied-werden  eines  grossen  Organismusses  ward  ihm 


243 

geboten.  Sein  Lebensvvunsch  ging  in  Erfüllung,  Mitglied 
einer  Gesellschaft  zu  sein ,  kein  Neuleben  schaffender 
Prophet,  aber  ein  Apostel,  dem  eine  grosse,  ihn  ganz 
erfüllende  Idee  eingegossen  ward. 

In  nächster  Nähe  dieses  inneren  Abhängigkeitswillens 
stand  eine  andere  psychologische  Tatsache,  die  der  Vor- 
liebe des  Dramatikers  für  Ceremonien,  Prozessionen  und 
pomphafte  Aufzüge  zu  Grunde  lag  und  auch  in  dem 
Symbolsuchen  Werners  sich  äusserte.  Er  musste  irgend 
etwas  Handgreifliches,  Fassbares  haben,  an  dem  sein  Ver- 
trauen, sein  Glauben  sich  emporranken  konnte.  Deshalb 
wollte  er  sich  ein  grosses,  sichtbares  Faktum  schaffen, 
das  wie  ein  JMerkstein  einen  neuen  Weg  ihm  andeutete. 
Ein  einfaches  inneres  Erleben  war  nach  sovielen  Zusam- 
menbrüchen nicht  mehr  genug. 

In  den  Ritus-Handlungen  der  Kirche,  zu  der  er  kon- 
vertierte, war  die  Verbindung  von  Äusserem  und  Inneren 
in  feiner  Psychologie  der  Schwäche  stets  vorhanden.  Vor 
allem  das  Bussakrament  bot  ihm  eine  durch  äussere  Zeichen 
(ein  Teil  jedes  Sakramentes)  beglaubigte  und  fassliche 
Absolution  der  wie  eine  furchtbare  Last  ihn  zermalmen- 
den Schuld  vergangener  Tage.  Goethe  erzählt  in  einem 
Brief  an  Frau  von  Stein,  er  habe  Karoline  Herder  von  all 
dem  Unangenehmen,  das  sie  in  Karlsbad  erlebte,  durch 
eine  feierlich  gegebene  Absolution  befreit.  Dieses  psycho- 
logische Moment  spielte  bei  Werner  eine  grosse  Rolle  mit. 
Endlich  frei  werden  von  der  Fluchlast,  die  ihn  oft  zu  er- 
sticken drohte  und  ihn  ruhelos  von  Stadt  zu  Stadt  hetzte 
und  in  Rom  zunächst  seelisch  zu  töten  drohte,  war  sein 
erstes  Wollen  und  das  war  der  Weg,  auf  dem  Werner 
folgerichtig  zum  Katholizismus  kommen  musste  und  kam. 

Er  war  nicht  überzeugt  durch  intellektuelle  Gründe, 
kannte  wohl  kaum  mehr  als  oberfiächhch  die  katholische 
Dogmatik.  Sie  würde  ihm  auch  kaum  Schwierigkeiten 
gemacht  haben.  Es  gab  am  Schluss  zwei  Eventualitäten 
für  Werner:  der  Katholizismus  oder  seelischer  und  viel- 
leicht körperlicher  Selbstmord.    Am  19.  April  1810  schwor 


244 

er  seinen  Glauben  ab  und  wurde  in  den  Schooss  der 
„allein  seligmachenden  Kirche"  wie  Werner  nicht  ermüdet 
sie  zu  nennen,  aufgenommen. 

Nicht  zur  Zufallsform  des  italienischen  Katholizismus 
konvertierte  der  Romantiker.  Durch  den  Flor,  den  Ge- 
schichte und  Gewohnheit  im  katholischen  Ritus  um  den 
mystischen  Inhalt  legte,  leuchtete  ihm  das  echte  Gold  des 
religiösen  Erlebnisses.  Er  sah  das  Messopfcr  und  die 
Sakramente  mit  den  Augen  Thomas  von  Kempens,  durch 
das  Medium  der  religiösen  Hyperästhesie  dieses  Mystikers. 
Die  Imitatio  Christi  war  ihm  Führer.  Ein  Kunstwerk 
feinster  Psychologie,  durchfiammt  von  einem  religiösen 
Enthusiasmus,  reich  an  glühendsten  Ergüssen  alles  ver- 
gessender, alles  verleugnender  Gottesliebe.  Als  die  letzte 
erschöpfende  Möglichkeit  der  Verinnerlichung  erschien 
die  Vereinigung  mit  Gott  im  Genuss  seines  Leibes.  Das 
Buch  klingt  aus:  „Alle  Vernunft  und  natürliche  Unter- 
suchung muss  dem  Glauben  nach  und  nicht  vorgehen 
und  darf  denselben  nicht  schwächen.  Denn  der  Glaube 
und  die  Liebe  sind  hier  das  vorzüglichste  und  wirken 
in  diesem  heiligsten  und  allererhabensten  Sakramente  auf 
verborgene  Weise.  Der  Ewige,  Unermessliche  und  un- 
endlich Mächtige  tut  grosse  und  unerforscliliche  Dinge 
im  Himmel  und  auf  Erden,  und  seine  wunderbaren 
Werke  sind  nicht  zu  ergründen.  .  .  Wären  die  Werke 
Gottes  so  beschaffen,  dass  sie  von  der  menschlichen  Ver- 
nunft leicht  erfasst  werden  könnten,  so  wären  sie  nicht 
wunderbar,  nicht  unaussprechlich  zu  nennen."  Völlige 
Hingabe  ist  das  Erfordernis:  „Herr  in  der  Einfalt  meines 
Herzens  opfere  ich  Dir  mich  heute  auf  zu  Deinem  be- 
ständigen Diener,  zum  Gehorsam  und  immerwährenden 
Lobopfer."     Solche  Gedanken  wurden  ihm  hier  geboten. 

Noch  ein  anderes  religiöses  Genie  beeinfiusste  die 
Conversionsstimmung.  Am  27.  Dezember  ISIO  sagt  sein 
Tagebuch:  „Ich  lese  dem  Rauch  und  ältesten  Riepenhausen 
den  Wettstreit  der  Nachtigall  und  Spiegel  der  Liebe  von 
Spee  vor."     Auch   der    war  Werner  kein  Fremder    mehr 


245 

und  hatte  ihn  schon  Jahre  begleitet.  Ein  leichter  eroti- 
scher Ton  schwingt  in  seinen  Gedichten  wie  bei  jeder 
Mystik  mit  und  wurde  stets  von  Werner  als  w^esensver- 
wandte  Stimmung  aufgenommen.  Stärker  bot  den  Novalis 
und  in  dem  Glutmeer  erotischer  Religiosität,  das  in  der 
„Hymne"  flutet,  tauchte  Werner  unter,  berauschte  sich 
an  den  hysterischen  Visionen  sexuell  überhitzten  Fühlens, 
Von  dieser  Seite  sah  er  den  Katholizismus  bei  seiner 
Konversion.  Elemente  seines  alten  Liebe -Religion-  und 
Kunstsystems  schimmern  durch.  Damals  aber  lernte  er 
auch  Franziskus  von  Assisi  kennen.  Die  wunderbare 
Harmonie  dieses  einzigartigen  und  künstlerischsten  Hei- 
ligen erschien  ihm  als  Jdeal  des  Christentums  überhaupt. 
Die  glückliche  Verbindung  reinster  Einfalt  mit  tiefinnig- 
ster Mystik  war  auch  sein  Ziel.  Er  einer  der  komplizier- 
testen, dififerenziertesten  Charaktere  sah  in  dieser  einheit- 
lichen Persönlichkeit  den  „üniversalmenschen".  den  Ka- 
tholiken. 

Erst  ganz  langsam  wuchs  er  in  den  dogmatischen 
Katholizismus  hinein.  Zunächst  nahm  er  fast  nichts  auf, 
das  dem  innersten  Wesen  seines  Charakters  widerspräche. 
Die  Conversion  änderte  ihn  mit  Ausnahme  seines  sexuellen 
Lebens  nicht.  Noch  in  dem  Brief  an  Goethe  kam  zum 
Ausdruck,  dass  Werner  glaubte,  nicht  zum  historischen 
Katholizismus  übergetreten  zu  sein,  sondern  zu  dem,  was 
er  als  das  eigentliche  Wesen  dieser  Form  empfand.  Er 
lebte  in  der  Ekstase,  nicht  in  der  Wirklichkeit  konfessioneller 
Religiosität.  Das  kam  auch  in  seiner  Kunst  zum  Aus- 
druck, sogar  einmal  begrifflich  und  polemisch  in  der  Kuni- 
gunde,  die  er  stark  umarbeitete. 

Die  starke  Gefühlserregung  der  Zeit  schlug  sich  nie- 
der in  den  h'rischen  Arabesken,  die  als  flimmerndes  Linien- 
gewirr die  Gestalten  seines  Dramas  umspielen.  Probleme 
und  Stimmungen  wurden  dargestellt  oder  vertieft,  die  in 
dieser  Zeit  in  Gedicht  und  Tagebuch  das  Wort  suchten. 
Die  Sprengung  der  Form  von  innen  heraus,  die  krank- 
haften Äusserungen  der  hysterischen  Religiosität  werden 


246 

wohl  jetzt  noch  stärker  geworden  sein  und  der  äusseren 
Änderung  an  Stärke  entsprochen  haben. 

In  seiner  Lyrik  formten  sich  in  dieser  Zeit  Sonette, 
deren  weiche,  verschwebende  Stimmung  nur  mühsam  in 
der  Pointe  zusammengehalten  wird.  Jeder  scharf  zu- 
fassende Gedanke,  jede  intellektuelle  Bestimmtheit  fehlten; 
alle  tatsächlichen  Conturen  sind  verwischt.  Eine  Vision 
steigt  auf,  die  nur  das  Gefühl,  das  Schauen  einer  wunder- 
vollen Zartheit  uns  gibt.  Eine  weiche,  zerfliessende  Nacht- 
stimmung, die  zur  Mystik  verdunkelt  wird.  Die  Doppel- 
form Werners  zeigt  sich  hier  wieder.  Neben  solchen 
Sonetten  stehen  spitzfindig  -  logische.  Die  Realität  wird 
stets  vergeistigt,  wird  S3'mbol  oder  Gedanke.-  Eine  Flucht 
vor  der  Realität. 

In  seiner  Kunst  wird  klar,  dass  der  Akt  der  Conver- 
sion  im  letzten  Sinne  eine  Flucht  vor  der  Tätigkeitsfor- 
derung Fichtes  sein  sollte,  wenngleich  die  geistige  Arbeits- 
leistung dabei  anerkannt  wurde  und  ohne  das  Pflichtmuss 
dieses  Philosophen  von  Werner  wohl  kaum  geleistet  wor- 
den wäre.  Das  wesentlich  Fichtische  aber,  das  Werden 
der  Tat  aus  dem  Menschen  selbst,  wurde  von  Werner 
zunächst  aufgegeben.  Er  suchte  jedenfalls  die  Gnade, 
die  Hilfe  Gottes  und  drückte  das  in  seinem  Tagebuch  in 
dem  Ausruf  aus,  der  aus  tiefster  Gewissensqual  empor- 
stieg: „Gott  sei  mir  Sünder  gnädig."  Werner  wich  immer 
mehr  zu  dem  Unkraftbegriff  zurück.  Ziemlich  deutlich 
ist  die  Stimmung  der  Conversion  und  die  spätere  eigent- 
liche Aufnahme  des  Katholizismus  von  hieraus  zu  unter- 
scheiden. Eine  Übergangszeit  verbindet  sie  mit  einander, 
die  in  ihrer  Wertung  besonders  vorsichtiges  Einfühlen 
nötig  macht. 

Aus  der  Conversionstimmung  kam  Werner  langsam 
zum  Alltagsleben.  Eine  Zeit  ohne  scharfes  Profil ;  ein 
ständiges  Vibrieren  seelischer  Zustände.  Man  schaut  ein 
erquickliches  Nebeneinander  von  keimendem  Neuleben  und 
verdorrendem  absterbenden  Alten.  Es  ist  kein  sieghaftes, 
schnelles    Umschaffen    aller    Inhalte;    denn    Werner    kam 


247 

von  einer  negativen  Seite  und  so  musste  naturgemäss  die 
Hauptkraft  des  Katholizismus  in  dem  Negativen,  Prohi- 
bitiven  liegen.  Bei  einer  solchen  Situation  war  ein  jäh 
■umwechselnder  Tenor  unvermeidlich:  Doppelt  stark  bei 
Werner.  Aber  trotz  dieses  irrenden  Wechsels  der  Gefühle 
und  Anschauungen,  die  mehr  Reaktionen  waren,  zeigt 
sich  eine  Tendenz  zur  Klärung  der  bis  ins  Tiefste  auf- 
gewühlten Seele  durch  diese  Zeit. 

In  den  glühenden  Ekstasen  seiner  Konversionszeit 
mochte  Werner  sich  als  weit  über  den  natürlichen  lang- 
samen Verlauf  dieses  Umformungsaktes  vorwärts  getrieben 
fühlen.  Alles  schien  versunken  und  er  sprach  mit  Thomas 
von  Kempen  zu  dem  „Geliebten"  und  kostete  die  Süsse 
seiner  Liebe  von  der  Spee  und  Novalis  wussten.  Und 
jetzt  noch  sind  diese  Stimmungen  nicht  selten.  So  er- 
zählt das  Tagebuch  am  20.  November  1810:  „Ging  mit 
ihm  (Pallavicini)  in  die  Kirche  Maria  inviolata  nach  8  Uhr 
abends,  wo  das  Sakrament  des  48  stündigen  Gebetes  we- 
gen ausgesetzt  ist.  Es  ist  noch  der  Bruder  Odechalskis 
und  ein  anderer  Italiener  da  und  ein  paar  Geistliche. 
Wir  halten  bei  verschlossenen  Türen  und  angesteckten 
Lichtern  bis  zwei  Uhr  nach  Mitternacht  die  Officie  und 
andere  Gebete.  Eine  für  mich  sehr  rührende  Scene,  bei 
der  ich  mitbete  und  mich  meines  künftigen  Klosters  er- 
innere  "     Wir  sehen  das   Bild    seines  Klosters    wie 

er  es  schaute  in  solchen  Stunden.  Die  mit  Schattenflor 
umwundenen  Säulen;  wie  durch  einen  wallenden  Vorhang 
ist  die  Kirche  durch  das  Dunkel  geteilt  von  dem  AUer- 
heihgsten,  wo  vom  flackerndem  Kerzenlicht  umflossen  die 
Eucharistie  siegend  strahlt;  in  die  Stille  der  Nacht  fällt 
das  halblaute  brünstige  Beten  und  von  dem  flimmernden 
glitzernden  Gold  der  Monstranz  flutet  in  zitternden  Wellen 
glühende  Andacht  in  die  Herzen  der  Mönche,  die  der 
Welt  und  dem  Fleische  absterben.  Wir  sehen  die  bleichen 
Asketengesichter  und  die  brennenden  ekstatischen  Augen 
scheinen  Visionen  zu  schauen  von  ungeahnter  Schöne, 
wie  Kunigunde  sie  sah,  wenn  Gott  sie  „umwand".     Karo- 


248 

line  Humboldt  schrieb  er:  „.  .  .  .  Ich  bin  seit  14  Tagen  in 
Albano  wieder  bei  meinen  lieben  Kapuzinern.  Gott  hat 
mich  Sünder  durch  einen  Frieden  begnadigt,  der,  wena 
er  gleich  oft  von  bitteren  Reuetränen  unterbrochen  wird, 
doch  mir  Momente  gewahrt,  die  über  alle  Beschreibung 
süss  und  herrlich  sind.  .  .  .  Keiner  stört,  so  kann  ich  der 
kostbaren  Einsamkeit  so  recht  treulich  in  der  besten  Ge- 
sellschaft, die  ein  Mann  haben  kann,  nämlich  in  der  der 
Bibel,  des  Thomas  a  Kempis  und  des  Dante  ....  geniessen 
.  .  .  ,"  Eine  Mondnacht  schilderte  er  in  ihrem  Genuss: 
„Eine  Schwelgerei,  deren  Süssigkeit  zu  beschreiben  ich 
keine  Worte  finde." 

Mit  Vorliebe  weilte  ei  in  den  Klöstern,  deren  Un- 
Wirklichkeit  er  unbewusst  als  wesensverwandt  fühlte. 
Eine  bange  Furcht,  dass  ein  roher,  rauher  Laut  in  die 
scheinbare  Ruhe  seines  Lebens  falle  und  wirrende  Kreise 
ziehe,  lag  in  ihm. 

In  Rom  war  der  Kreis  seiner  Freunde,  die  diesen 
Zustand  äusserlich  repräsentieren,  der,  den  wir  heute  „die 
Nazarener"  nennen.  Einen  leicht  asketischen  Zug  er- 
kennen wir  in  ihrem  Charakter.  In  ihrem  Leben  herrscht 
der  herb-ekstatische  Gestus,  der  ihre  Bilder  kennzeichnet. 
Will  man  ihr  Wesen  fassen,  so  drängt  sich  Böcklins 
„Franziskus"  der  den  Fischen  predigt,  vor  die  Augen. 
Die  eckige,  ungelenke  Art  ihres  Schauens,  die  prachtvolle 
Leidenschaft  des  mühsam  gezügelten  Rythmus,  derselbe 
klare  und   doch  schwärmende  Blick   der   grossen  Augen. 

Tief  hatten  die  seelischen  Qualen  dieser  Zeit  Werner 
zerwühlt  und  zerrissen  und  den  ekstatischen  Zuständen 
folgte  tiefste  körperliche  Erschöpfung.  Dazu  noch  der 
nervenzerrüttende  Kampf  gegen  jede  sinnliche  Regung.  Der 
Körper,  sexuell  an  reichliches  Geniessen  gewöhnt,  musste 
den  plötzlichen  Wechsel  zur  strengsten  Askese  krampf- 
haft empfinden.  Ein  wohl  nervöser  Zusammenbruch  blieb 
ohne  ernstere  Folgen,  kennzeichnet  aber  die  Stimmung. 
Das  äussere  Bild  Werner,  die  dunklen  brennenden  Augen 
in  dem  bleichen  Gesicht,   das   seine   schlaffen    sinnlichen 


2uy 

Züge  in  nervöser  Spannunc^  hielt,  seine  visionäre  Andacht^ 
mit  der  vor  dem  Altare  im  Gebete  zerfliessend  „hinge- 
gossen" lag:  Wer  ihn,  den  „Santo^  so  sah,  musste  glauben, 
dass  diesem  überreizten  Fühlen  die  groteskesten  Pläne 
entspriessen  würden.  So  hiess  es  denn  auch  bald  in 
Deutschland:  Werner  lebe  als  Eremit  auf  dem  Vesuv  und 
Fr.  Schlegel  schliff  an  dieser  Exaltiertheit  seinen  Witz.  Wir 
erleben  den  Vorgang,  dass  eine  grossangelegte  feinnervige 
Natur  die  Flut  der  Gefühle,  die  das  Christentum  in  sich 
trägt,  in  die  Abgründe  der  Seele,  des  Empfindens  und  des 
Willens  strömen  lässt.  Wie  trunken  ward  er  davon  und 
seine  Worte  klangen  wie  Gestammel,  das  den  Nüchternen 
lächerlich  schien.  Ähnlich  war  es  bei  der  Konversion 
gewesen,  aber  wir  merken  ein  Neues.  Es  fehlt  fast  jedes 
erotische  Element  in  dieser  Empfindung.  Immer  mehr 
läuterte  das  Gefühl  sich  zur  reinen  Flamme. 

Und  neben  solchen  Stunden  stehen  Augenblicke  tief- 
ster Verzw^eiflung,  dunkelster  Angst. 

Oft  wird  er  erkannt  haben,  dass  er  viel  opfern  müsse 
auch  von  dem,  \vas  ihm  gut  schien.  Dann  stiegen  die 
Zw^eifel  auf,  ob  sein  Schritt  gut  und  ehrlich  war,  der  ihn 
in  den  Schooss  der  katholischen  Kirche  trug.  Und  dann 
w^ühlte  er  sich  erneut  in  die  Stimmung  der  Andacht,  wo 
Gott  „die  Seele  küsst",  so  dass  sie  alles  vergisst,  um 
später  doppelt  stark  die  furchtbare  Öde  wieder  zu  emp- 
finden und  völlig  zu  verzw^eifeln. 

Er  hatte  seine  Konversion  aufgefasst  als  den  Ab- 
schluss  seiner  Entwicklung,  als  das  grosse  Nirwana,  ^vo 
nichts  als  Ruhe  sei,  nach  der  er  verlangte.  Und  nun 
war  es  ein  neuer  Kampf,  den  es  auszukämpfen  galt. 
„Mädchenbalgerei  auf  dem  Petersplatze  auch  in  einer 
Strasse.  Bei  beiden  werde  ich  versucht  und  laufe  in 
der  Qual  und  Angst  meines  Herzens  zu  Ostini,  dem  ich 
beichte."  Eine  Woche  später  schreibt  er  die  Stelle  aus 
der  Nachfolge  Christi  in  sein  Tagebuch:  „quod  non  est 
securitas  de  tentatione  in  hac  vita."  Und  einmal  schwankt 
sein   ganzer  Glaube,    das    Fundament,    auf    dem    er   sein 


^50 

neues  Leben  beginnen  wollte.  Es  war  bei  dem  F'est  des 
heiligen  Januarius  in  Neapel.  „Jedes  betete,  was  ihm 
einfiel,  die  Meisten  laut,  Andere  still;  entsetzlich  laut 
schrien  die  dem  Heiligen  verwandten  Weiber,  besonders 
eine  Alte,  die  Vorsängerin  oder  Vorschreierin  schien ;  sie 
schrie  ganz  entsetzlich.  Pausen  weise  hörte  das  Geschrei 
auf,  um  dann  verstärkt  anzufangen.  Es  war  wie  ein 
eigentlich  peruanischer  Götzendienst,  und  doch  unendlich 
rührend  und  herzzerreissend.  Die  Humboldt  versicherte, 
dass  wie  man  ihr  erzählt,  das  Volk  bei  einer  Gelegen- 
heit, wo  das  Blut  nicht  fliessen  wollte,  zum  heiligen  Ja- 
nuar geschrien  habe :  Ruffiano,  wenn  Du  das  Blut  nicht 
fliessen  machst,  so  werfen  wir  dich  ins  Meer.  Es  sei, 
wie  ihm  wolle,  ich  habe  nie  mit  solcher  Inbrust  beten 
sehen.  Auch  ich  war  ergriffen ;  das  Volksgedränge,  das 
wilde,  immer  zunehmende  Geschrei,  einige  vorhergegan- 
gene Gespräche  mit  Schlosser,  worin  er  mich  über  meinen 
Glauben  verwirrt  hatte.  Alles  drang  auf  mich  ein,  und 
ich  betete  in  der  unbeschreiblichen  Angst  meines  Herzens, 
dass  das  Wunder  geschehen  möge.  Umsonst.  Endlich, 
fast  einer  Ohnmacht  nahe,  bete  ich  mit  noch  tieferer  In- 
brunst: „Gott,  wenn  ich  durch  Deinen  Geist  getrieben  an 
diesem  grünen  Donnerstag  den  grössten  und  entschei- 
densten  Schritt  meines  Lebens  that,  wenn  wirklich  dieser 
Glaube  der  allein  seligmachende  ist,  so  gieb  mir  durch 
Flüssigwerden  des  Bluts  deines  Heiligen  davon  ein  un- 
trügliches Zeichen  und  ende  die  Angst  und  Zweifel  meiner 
Seele,  gieb  mir  ein  Zeichen,  dass  ich  Recht  getan  habe!" 
Kaum  hatte  ich  das  gebetet  so  —  Dank  sei  Dir  ewig  all- 
waltende, mit  unseren  kindlichen  Unarten  barmherzige 
Gnade  —  so  in  demselben  Augenblick  fast  schrien  Priester 
und  Volk  auf:  Das  Blut  fliesst!  Jubelnd  fing  die  Musik 
an,  Alles  jauchzte  vor  Freude  und  ich,  ich  war  ausser 
mir  vor  Freude,  denn  mir  war  es  gewiss  ein  Wunder. 
Ich  küsste  Schlossern,  mit  dem  ich  bis  dahin  und  hinter- 
her leider  Gottes  nicht  gut  stand,  heimlich,  und  er  drückte 
mir  die  Hand Schlosser  hält    es  demohnegeachtet 


251 

für  ein  hermetisch  verschlossenes  Gefäss  und  glaubt,  es 
sei  ein  plumper  Trug.  Dem  sei,  wie  es  wolle,  es  floss, 
als  ich  gebetet  hatte,  mir  zum  Trost,  mir  war  es  ein 
Wunder  und  ewig  unvergesslich  ist  dieser  Tag,  Halle- 
lujah!" 

Immer  wieder  finden  wir  den  charakterisierenden 
Wellengang  der  Stimmung  von  Reue  zur  Seligkeit,  von 
Verzweiflung  zum  Frieden.  Aber  dieser  Wechsel  war 
nicht  mehr  so  gewaltig,  alles  in  seiner  elementaren  Wucht 
zerstörend  wie  früher.  Das  Reueerlebnis  im  Wissen  um 
eine  Befreiung  war  lösend  und  reinigend.  Eine  hoffende 
Freude  lag  über  seinem  ganzen  Leben,  über  allen  Worten 
trotz  der  Zweifel,  die  sie  aussprechen. 

Die  Aktivität,  die  durch  die  Konversion  zurückge- 
drängt worden  war,  regte  sich  erneut.  Die  einmal  wir- 
kend gewordene  Kraft  der  Philosophie  des  Willens  konnte 
nie  ganz  getötet  werden  und  nahm  unter  der  Gunst  der 
Umstände  immer  mehr  die  Führung.  Die  selbst  gestellten 
Forderungen  der  ersten  römischen  Tage  wurden  aner- 
kannt. Der  Geist  seiner  Mutter  nahte  sich  ihm  versöhnt 
und  hielt  doch  die  Spannung  ihrer  Forderung  bei,  die  er 
schon  durch  die  Konversion  erfüllt  geglaubt  hatte. 

Die  nun  beginnende  geistige  Tätigkeit  Werners  zeigte 
sich  vor  allem  in  dem  regen  Interesse,  das  er  Rom  als 
Kunststadt  entgegen  brachte.  Seine  Analysen  der  Ge- 
mälde und  Kunstwerke  waren  nicht  mehr  so  durchtränkt 
von  dem  seelischen  Drang  nach  inhaltlicher  Jdentifikation, 
nicht  mehr  so  aufpciischend.  Ruhiger  betrachtete  er  die 
Formschönheit,  erging  sich  in  mehr  formal  -  technischen 
Fragen.  Er  war  in  sich  selbst  sicherer,  überlegener  ge- 
worden und  vermochte  nun  schon  eher  das  spielerische 
Element  des  Künstlerischen  zu  erfassen,  das  eine  sou- 
veräne Stellung  auch  des  Beschauers  nötig  machte.  Wer- 
ner stand  jetzt  mehr  im  Bewusstsein  eigener  Art  und 
eigenen  Wertes  den  Kunstwerken  gegenüber,  zerfloss 
nicht  mehr  so  grenzenlos  und  unpersönlich  im  lyrischen 
Erleben  mit  dem  Anderen.     Er  schloss  sich  ab  und  musste 


bei  seiner  Art  dadurch  selbst  handelnd  und  fordernd  dem 
Fremden  entgegen  treten. 

Wie  bei  ihm  eine  stärkere  Betonung  des  Individuellen 
gleichzeitig  die  Tätigkeitsforderung  bei  der  Aufnahme 
Fichtes  veranlasst  hatte,  so  machte  sich  auch  hier  sofort 
mit  dem  Vollendungsgefühl  der  Persönlichkeit  der  Drang 
nach  Tätigkeit,  nach  Einwirkung  auf  die  Menschen  be- 
merkbar. Das  ist  die  notwendige  Antithese  des  Auf- 
gehens in  das  Universum,  ein  nur  scheinbarer  Gegensatz 
dazu.  Wie  künstlerisch  dieser  Trieb  nach  der  Einführung 
des  Jdee-Individuums  sich  geäussert  hatte  in  dem  Ver- 
such, die  Natur  mit  seinem  Individualanteil  am  Absoluten 
zu  gestalten,  so  zeigte  er  sich  menschlich  stets,  als 
Proselytenmacherei  und  Werner  erklärte  das  mit  Schleier- 
macher als  etwas  selbstverständliches  schon  als  er  sich 
zur  Romantik  bekehrte.  Dieses  Phänomen  ist  im  geisti- 
gen Leben  allgemein  gültig  und  nur  wieder  in  seiner 
Stärke  eine  Eigenart  Werners.  Der  romantische  Gesell- 
schaftstrieb, der  aus  dem  Einigkeitsgefühl  ihrer  bizarren 
Individualitäten  entsprang  und  ihren  feinsten  Ausdruck 
in  der  Lehre  des  späteren  Fichte  erhielt,  äusserte  sich 
hier  positiv.  Werner  wollte  jetzt  die  Isolation,  die  jede 
Persönlichkeitsvollendung  zur  Folge  hat,  dadurch  aufhe- 
ben, dass  er  die  Menschen  zu  sich  bildete,  wie  er  stets 
aus  diesem  unbewussten  Wollen  heraus  sich  als  Erzieher 
im  kleinen  und  als  Kunstprediger  im  Grossen  gerirt  hatte, 
wenn  er  eine  bestimmte  geistige  Einheit  erreichte. 

Die  Inhalte  seiner  seelischen  Form  standen  jetzt  na- 
türlich unter  dem  Eindruck  seiner  Konversion.  Die  neue 
„Idee"  erfasste  ihn,  ermöglichte  ihm  ein  neues  Priestertum 
im  Dienste  dieser  Idee.  Er  fühlte  sich  von  ihr  durch- 
drungen, ganz  erfüllte  ihn  das  Gefühl  des  ihm  Entspre- 
chens  und  war  ihm  Beweis  der  Wahrheit.  Ihm  war  das 
Flüssigwerden  des  Blutes  ein  Wunder  und  ihm  wurde 
die  Konversion  zum  Heile.  So  stark  und  bewusst  wurde 
das  Persönlichkeitsgefühl  von  ihm  erlebt.  Der  seelische 
Egoismus  des  Christentums,  der  in  dem  Glauben   an   die 


253 

persönliche,  unsterbliche  Seele  wurzelt,  kam  bei  Werner 
deutlich  zum  Vorschein  ;  denn  das  Christentum  ist  keine 
persönlichkeitverncinende  Religion  im  höheren  Sinn, 

Bei  der  W'egrichtung.  aus  der  Werner  zum  Katholi- 
zismus kam,  musste  diese  Seite  der  katholisch  christlichen 
Lehre  besonders  deutlich  Form  annehmen.  Die  Persön- 
lichkeitsvollendung  war  das  grosse  Ziel  zu  dem  Werner 
strebte  und  war  die  Konversion  selbst  mehr  als  Verzicht 
auf  eigenes  Wirken  gedacht,  für  Werner  wenigstens  wur- 
den positive  Kräfte  im  Katholizismus  aktiv,  die  ihn  zu 
einer  gewissen  Tat-Vollendung  führten. 

Schon  jetzt  war  ihm  klar,  dass  er  irgendwie  tätig 
sein  müsse  und  das  Problem  seines  Lebens  und  seiner 
Epoche  trat  vor  ihn :  Künstler  oder  Mensch  oder  eine 
Verbindung.  Lange  und  schwer  zweifelte  er,  wie  er  seinen 
Beruf  zu  fassen  habe.  Ob  er  die  „entweihte"  Kunst 
nutzen  solle  für  sein  Amt  oder  sich  vollständig  von  ihr 
trennen.  Endlich  entschloss  er  sich  (nicht  ohne  Schwan- 
ken in  die  andere  Auffassung)  für  seinen  Beruf  als  Priester- 
Dichter  mehr  tatsächlich  als  theoretisch.  Denn  noch  oft 
erklärte  er  im  Gedicht  nicht  mehr  würdig  zu  sein,  „Die 
Oriflamme^  dem  Volke  vorzutragen.  Durch  sein  ganzes 
ferneres  Leben  zog  sich  dieser  Zweifel  weiter.  Auch  auf 
dem  kirchlich  -  religiösem  Gebiet  klärte  sich  seine  An- 
schauung, zeigte  sich  seine  Schaffensfreude.  Er  wollte 
wohl  noch  immer  ein  Kloster  stiften,  aber  das  sollte  nicht 
mehr  eine  Stätte  der  absoluten  Verneinung  der  Welt,  der 
Überwindung  der  Tatsächlichkeit  durch  die  Ekstase  sein. 

Werner,  der  sich  sein  Leben  lang  als  Priester  ge- 
fühlt hatte,  suchte  auch  in  der  neuen  Ordnung  einen 
Meistergrad  und  als  er  die  Stelle  im  Thomas  von  Kempen 
fand:  „Expecta  ordinationem  meam  et  senties  inde  pro- 
fectum"  w^urde  sie  ihm  zu  einem  Zeichen  Gottes.  Er  be- 
durfte dazu,  weil  er  dreimal  verheiratet  gewesen  war, 
der  päpstlichen  Dispens  und  wandte  sich  deshalb  an  den 
in  Savona  gefangen  gehaltenen  Papst.  Gleichzeitig  be 
gann  er  das  Brevierlesen  und    detailierte  Dogmatik-    und 


2Ö4 

Bibelstudien  bei  Ostini,  Es  war  kein  schwärmerisches 
Geniessen  des  mystischen  Inhalts  der  katholischen  Lehre. 
Der  Kardinal  wird  von  Werner  als  eine  unkünstlerische 
Logikernatur  geschildert,  der  ihm  oft  fremd  erscheinen 
musste.  Dabei  besass  trotzdem  Ostini  ein  feines  psycho- 
logisches Verständnis  für  dieses  komplizierte  Seelen- 
leben und  ahnte  selbst  in  den  Auswüchsen,  die  einem 
Nur -Rationalisten  als  komisch  und  unwahr  erscheinen 
mussten,  Wahrheit  und  Ächtheit,  gebrochen  und  verzerrt 
im  Prisma  einer  ihm  wesenfremden  Natur.  So  war  er  im 
erhöhtem  Masse  befähigt  und  berufen,  dem  Convertiten 
Werner  Führer  und  Seelsorger  zu  sein. 

Für  Werners  Entwicklung  war  es  von  ungeheurem 
Vorteil,  dass  er  zwar  tief  religiöse,  aber  im  letzten  Sinne 
nüchterne,  praktische  Charaktere  fand,  die  seinem  Hang 
zur  Mystifizierung  der  religiösen  Wahrheiten  wenig  oder 
gar  nicht  entgegenkamen  und  sich  von  der  Energie  seines 
suggestiv-ekstatischen  Stimmungen  nicht  mitreissen  Hessen. 
Auch  seine  überempfindliche  Gewissensangst  ward  von 
ihnen  als  kränklich  empfunden  und  bekämpft.  Neben 
Ostini  wurde  vor  allem  der  „alte,  herrliche"  Soccio,  ein 
Exjesuit  für  die  Entwicklung  Werners  bedeutsam.  Da- 
neben —  ebenfalls  Jesuit  —  Pallavicini.  Sie  bringen  ihn 
in  den  Kreis  der  Mitglieder  des  aufgehobenen  Ordens  und 
am  29.  November  teilt  er  Soccio  den  Wunsch  mit  „der 
heiligsten  aller  Gesellschaften  näher  zu  treten".  Der  ver- 
sprach sich  für  ihn  zu  verwenden.  Ebenso  Pallavicini. 
Werner  erhielt  die  Regel  des  Ordens  und  fühlte  sich 
überhaupt  schon  als  Novize.  Umso  stärker  traf  ihn  dann 
die  Absage,  die  er  von  dem  geheimen  General  des  auf- 
gehobenen Ordens  empfing.  Der  Grund  der  Ablehnung 
ist  wohl  zu  suchen  in  dem  natürlichen  Gegensatz  dieses 
„Vernunftordens"  gegen  jede  Extravaganz.  Soccio  hatte 
sehr  früh  Werner  dargelegt,  dass  Kasteiungen,  Fasten 
und  so  weiter  nicht  für  einen  Christen  das  Höchste  sei. 
Eine  leise  Furcht  vor  einem  Zusammencruch  dieser  exal- 
tierten   Überreizung    des    religiösen    Gefühls    vor    einem 


Rückfall  in  die  fühere  Stimmung  mochte  m.itsprechcn. 
Damals  empfing  Werner  die  Nachrieht,  dass  seiner  Zu- 
lassung zum  Priesterstande  nichts  im  Wege  stünde;  als 
Neoph^'t  müsse  er  aber  ein  Jahr  warten.  Er  blieb  zu- 
nächst in  Rom. 

Mit  dem  deutschen  Geburts-  und  Geistesadel,  der  da- 
mals in  Rom  weilte,  kam  Werner  schnell  und  innig  in 
Berührung.  Prinz  Bernhard  von  Sachsen-Weimar,  Schlös- 
ser, Willemer,  Marianne  Jung  (Goethes  spätere  Freundin) 
sie  bildeten  ein  Gegengewicht  gegen  die  weitabgewandte 
Tendenz  Werners.  Hier  war  der  Boden,  auf  dem  er  in 
gesellschaftlichbeherrschter  Form  sich  geben  musste.  Hier 
konnte  er  nicht  vergessen,  dass  es  auch  eine  „Gesellschaft" 
gab,  die  ihre  eigenen  Ansprüehe  an  das  Individuum  stellt, 
dass  Leben  identisch  ist  mit  dem  Begriff  „Kompromisse 
schliessen".  Hier  sah  er,  wie  das  Christentum  erschien  in 
der  tatsächlichen  Welt  und  dass  es  so  anderes  war,  als 
er  sich  denken  mochte.  Es  gab  noch  etwas  anders,  als 
glühende  Betrachtungsbilder  vor  seine  Seele  zu  rufen. 

In  der  krankhaft  -  überfeinerten  Empfindung  dieser 
Zeit  mochte  er  dieses  Leben  als  Sünde  empfinden,  wie 
man  ein  gesundes  Lachen  als  niedrig  empfindet  in  den 
Stunden,  wenn  uns  die  Erregung  durchzittert.  Aber  diese 
Tatsächlichkeit  liess  sich  nicht  leugnen  und  wurde  ihm 
immer  deutlicher  klar.  Er  erkannte  hier,  dass  in  ihm  das 
Zeug  lag  .zu  einem  Prediger  einer  aristokratischen  Welt 
und  im  Zusammenhang  erscheint  diese  Zeit  als  die  Vor- 
stufe seiner  späteren  Wiener  Tätigkeit.  Und  noch  etwas 
Neues  gibt  ihm  dieser  Kreis,  woran  allerdings  auch  die 
„Nazarener"  (ich  fasse  sie  mehr  als  Gegensatz  zu  dem 
Kreis  Karolinens  wie  als  Künstlergruppe)  teilhaben:  Liebe 
zu  seinem  deutschen  Volk. 

Werner  war  der  Zögling  einer  kosmopolitischen  Welt- 
anschauung, deren  eigentlicher  Keim  im  Humanitätsge- 
danken der  Klassiker  liegt.  Werners  Idee  der  Gründung 
einer  neuen  Kirche,  seine  Identifizierung  von  Maurerei 
und  dem  Neuchristentum  sind  nur  Variationen  des  grossen 


Themas,  chis  die  Geister  der  klassischen  Epoche  be- 
herrschte. Diese  Zeit  hatte  eine  überreiche  Fälle  geistiger 
Arbeit  zu  leisten  und  diese  Aufgabe  absorbierte  die  Mehr- 
heit der  geistigen  Kräfte  und  Interessen.  Und  während 
Preussen  Jena  und  Auerstädt  erlebte,  erklärte  und  nuan- 
cierte Werner  sein  System  der  Liebe-,  Religion-  und  Kunst- 
einheit. Trotz  allen  Suchens  nach  Altruismus  war  er  eine 
vollständig  egocentrische  Natur.  Er  sah  seine  Qual, 
seinen  Kampf  in  das  All  hinein  und  fand  ihn  überall  wie- 
der, selbst  auch  in  dem  Zusammenbruch  des  politisch- 
militärischen Epigonentums  Preussens.  Wie  er  in  seiner 
Betrachtung  der  Natur  nie  zur  Reinheit  und  Schlichtheit 
durchdrang,  so  sieht  er  auch  hier,  wie  in  einem  Märchen- 
spiegel, in  vergrössertem  Mass  nur  sein  eigenes  Bild  wie- 
der, das  Schicksal  aller  Künstler. 

Man  könnte  das  achtzehnte  Jahrhundert  und  seinen 
Kulminationspunkt  die  Romantik  das  Zeitalter  der  geisti- 
gen Einigung  und  Erneuerung  Deutschlands  nennen  und 
gerade  weil  sie  der  politischen  voranging,  musste  sie  zu- 
nächst den  deutschen  Geist  unpolitisch  machen.  Die  po- 
litische Realität  erschien  der  Generation  Kants  höchst 
nebensächlich.  Jede  geistig  -  führende  Epoche  wird  zu- 
nächst internationale  Tendenzen  haben ;  denn  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  ist  auf  geistigem  Gebiet  das  Internatio- 
nale notwendige  Voraussetzung,  war  es  vor  allem  einer 
Zeit,  die  das  Absolute  suchte  in  der  Kunst  wie  in  der 
Philosophie.  Der  herrschende  Absolutismus,  der  künstlich 
das  Volk  von  jeder  Politik  fernhielt,  verstärkte  den  apo- 
litischen Trieb  der  Deutschen,  deren  Leiter  die  französische 
Revolution  als  internationale  Befreiung  der  geistigen  Füh- 
rerschicht erlebten;  denn  das  war  ihnen  das  „Volk".  Sie 
fassten  diese  Bewegung  im  Grunde  unpolitisch,  kosmo- 
politisch auf.  Das  geistige  Plus  der  Revolution  gegen- 
über dem  Absolutismus  trieb  Deutschlands  beste  Söhne 
zum  Sympathiesieren  mit  den  Fremden  und  zerstörte  die 
Renaissance  des  nationalen  Denkens,  das  durch  den  sie- 
benjährigen Krieg  neu  aufgelebt  war. 


257 

Die  tiefe  Erfassung  des  Geistigen  als  die  Kraft  der 
Geschichte,  die  in  der  Weltanschauung  Fichtes  grandios 
verkündet  wurde,  führte  in  diesem  künstlerischen  Zeitalter 
zu  einer  Verzerrung  und  Übertreibung,  die  zu  einem 
innerlich  haltlosen  Literatentum  leitete,  deren  wertvoller 
Ausdruck  die  Tendenz  der  Romantik  war,  alles  zu  künst- 
lerischer Vollendung  zu  steigern.  Der  wertlose  war  die 
Verästhetisierung  des  öffentlichen  Lebens.  Eine  Über- 
schätzung des  Literarischen  fand  statt,  deren  Folgerung 
wir  bei  der  Persönlichkeitsbildung  Werners  aufwiesen. 
Als  Görres  1807  seine  Deutschen  Volksbücher  herausgab, 
schrieb  er  das  mahnende  Wort,  diese  Volksbücher  nicht 
als  rein  stihstische  Vorbilder  zu  werten,  sondern  sie  ge- 
haltlich als  den  Wegweiser  in  ein  neues  Leben  zu  er- 
kennen. Nicht  zu  den  wenigen  Epigonen  seiner  Form, 
sondern  zum  deutschen  Volke  wollte  er  sprechen,  nicht 
Literat  wollte  er  sein,  sondern  Prophet.  Kleist  erlebte 
ähnliches. 

Die  junge  Generation,  die  in  den  gesicherten  Besitz 
des  neuen  Geisteseigentums  kam,  erkannte  in  der  Lei- 
stung viel  mehr  das  spezifisch  Deutsche,  den  Wert  der 
Volksindividualität  in  der  Lösung  der  Weltkulturaufgaben. 
Fast  über  Nacht  war  Deutschland  in  den  Besitz  eines 
Geistesvermögen  gekommen,  das  den  Erben  ein  Gefühl 
nationalen  Eigenwertes  geben  musste.  Die  national-poli- 
tische Auswertung  der  französischen  Revolution  durch 
Napoleon  erfolgte  auf  Kosten  der  anderen  Völker  und  er- 
zeugte früh  die  Stimmung,  der  Werner  schon  1803  Aus- 
druck verlieh  im  Wortgebrauch  und  Denkrahmen  seines 
damaligen  Systems.  Preussens  Niederbruch  weckte  in 
der  jungen  Generation  alle  Kräfte.  Nach  dem  Worte  des 
Freiherrn  von  Stein  wurde  das  Feuer,  das  Napoleon  ver- 
zehrte, in  Heidelberg  von  dem  Kreise  der  jungen  Roman- 
tiker angezündet.  Görres,  Brentano,  Arnim  arbeiteten  an 
der  sittlich-politischen  Wiedergeburt  Deutschlands.  Arndt, 
neben  Görres  der  politische  Kopf  der  Generation,  trat 
auf.     Sie  alle  aber  standen  mehr  oder   weniger   auf   den 

Hankamer,  Zacharias  Werner.  17 


258 

Schultern  Fichtes,  dessen  Reden  an  die  deutsche  Nation 
wohl  das  Tiefste  am  packendsten  sagten,  was  je  von  einem 
Deutschen  national  gedacht  und  erlebt  wurde. 

Nur  schwer  hatte  der  Mystiker  Werner  den  Weg  zu 
seinem  Volke  gefunden.  Absolut  unberührt  aber  konnte 
er  nicht  bleiben  und  in  der  Gestalt  des  Aetius  hatte  er 
seine  Auffassung  Napoleons  dargelegt.  In  der  ehrlichen 
Verehrung  der  Königin  Luise  hatten  sich  auch  nationale 
Töne  gefunden,  und  der  Verteidiger  Johannes  Müllers,  der 
Bewunderer  des  Rheinbündlers  Dalberg  trat  nun  in  der 
Kunigunde  als  Prediger  deutscher  Einheit  im  Sinne  eines 
Gross-Deutschland  auf:  „Gott  und  die  Eintracht!"  Trat  er 
zunächst  „in  den  Dom  der  Geschichte"  um  mystisch  Gött- 
liches, Ideen  an  historischen  Taten  und  Menschen  zu  erläu- 
tern, so  war  ihm  doch  auch  Luther  erschienen  und  Attila 
hatte  sich  unter  seiner  Hand  in  einen  deutschen  König 
verwandelt.  Kurz  vor  seiner  Konversion  wollte  er  in  der 
Dramatisierung  der  Staufenzeit  nationale  Geschichte  seiner 
Kunst  dienstbar  machen.  Der  deutschnationale  Zug  ver- 
tiefte sich  in  ihm.  Als  er  nach  den  Kämpfen  der  Kon- 
versionszeit wieder  zur  Ruhe  kam,  entwickelte  sich  auch 
dieser  Gedanke  unter  dem  Einfluss  der  deutschen  Gesell- 
schaft in  Rom,  behielt  aber  das  Zeichen  dieses  Augenblicks 
bei.  War  sein  Patriotismus  bisher  mit  seiner  mystischen 
„Idee"  durchsetzt  gewesen,  jetzt  war  er  über  den  Katholi- 
zismus gegangen  und  sollte  dahin  führen. 

Als  Prediger  seines  religiösen  Patriotismus  kam  er 
über  die  Alpen.  Als  ein  Suchender  hatte  er  sie  auf  seiner 
Rom-Wallfahrt  überstiegen,  jetzt  fühlte  er  sich  reich  ge- 
nug^ seinem  Volk  von  seinem  Reichtum  zu  schenken.  Er 
hatte  Heimweh  gehabt  nach  Deutschland.  Schon  im 
Oktober  1811  dichtete  er  ein  Sonett  „Die  Tiber",  das 
zeigte,  wie  er  das  Land  der  Deutschen  mit  der  Seele 
suchte. 

Noch  einmal  versuchte  er  vom  Papst  die  Erlaubnis 
zur  Priesterweihe^,  zu  •  erhalten.  Politische  Wirren  ver- 
eitelten^die  Erfüllung  seines  Wunsches,  dem  zu  Liebe  er 


259 

allein  so  lange  in  Rom  an  der  „falben,  fahlen  Tiber" 
weilte.  Er  wartete  bis  1813,  aber  jeder  Verkehr  mit  dem 
nach  Fontainebleau  gebrachten  Papst  war  unmöglich.  So 
kehrte  er  nach  Deutschland  zurück,  ohne  diesen  Wunsch 
erfüllt  zu  haben,  aber  um  ihn  zu  erfüllen. 

Er  wandte  sich  nach  Aschafifenburg  an  seinen  Gönner, 
den  Fürst  Primas  Dalberg.  Man  nahm  ihn  gütig  auf. 
Dalberg  hatte  er  in  einem  Briefe  die  Gründe  seines  Schrittes 
klargelegt  und  ihm  den  Wunsch  eröffnet,  durch  seine  Ver- 
mittlung Priester  zu  werden.  Ein  kurzer  Aufenthalt  in 
Köln  unterbrach  seine  Reise.  Als  er  wieder  zurückkam, 
war  Dalberg  inzwischen  von  dem  Heere  der  Verbündeten 
aus  seiner  Residenz  verscheucht.  Aber  das  Wohlwollen 
seines  alten  Freundes  ebnete  ihm  auch  weiter  die  Pfade. 
An  dem  Weihbischof  von  Kollberg  fand  er  einen  freund- 
lichen Fürsprecher.  Ebenso  gewann  er  den  päpstlichen 
Legaten,  der  die  Verhandlungen  führte  und  zu  einem 
glücklichen  Ende  leitete.  Ein  Jahr  musste  er  das  Priester- 
seminar in  Aschaffenburg  besuchen.  Werner  erfüllte  diese 
Bedingung  mit  Freuden  und  auch  hier  war  sein  Lebens- 
wandel unsträflich.  Nachdem  die  Formalien  (besonders 
was  seine  drei  Ehen  anging)  vollendet  waren,  empfing 
er  am  16.  Juni  1814  die  Priesterweihe. 

Natürlich  machte  dieser  Schritt  des  Dichters  der 
„Weihe  der  Kraft"  einen  grossen  Eindruck  auf  die  litera- 
risch gebildete  Welt.  In  dem  Brief  Dorothea  Schlegels, 
der  diese  Tatsache  berührte,  spürt  man  den  leisen  Atem 
des  Misstrauens,  das  in  den  Worten  sich  birgt.  Dann 
kam  „Kunigunde",  die  ihr  klares,  echtes  Gefühl  ethisch 
wertete  und  als  Verhöhnung  des  Höchsten  empfand.  Und 
im  Jahre  1813  (der  Druck  trägt  die  Zahl  1814)  erschien 
seine  Weihe  der  Unkraft.  Damals  (am  23.  Dezember  1813) 
schrieb  sie  ihrem  Sohn  Philipp  Veit:  „Werner  hat  jetzt 
meine  Antipathie  gegen  ihn  vollkommen  fertig  gemacht, 
dass  sogar  Friedrich  sie  gutheissen  muss.  Er  ^  hat  ein 
Ding  drucken  lassen  „Weihe  der  Unkraft"  (der  Titel  ist 
so   unsinnig  wie   das  Werk)   worin  er  Busse  tut  und  die 


260 

Weihe  der  Kraft  sozusagen  widerruft.  .  .  .  Anstatt  aber, 
was  eigentlich  sündlich  darin  ist,  das  Unrecht  gegen 
Kaiser  und  Kirche  zu  widerrufen,  bereut  er  oder  tut,  als 
bereute  er  den  „Karfunkel"  und  die  „H^-azinthe".  Das 
ganze  Ding  ist  ein  solcher  Extrakt  von  Hochmut,  Eitel- 
keit und  Verwirrung,  dass  man  durchaus  gar  keinen  Be- 
griff davon  haben  kann,  wenn  man  es  nicht  selbst  liest. 
Eigentlich  ist  es  nur,  dass  er  sich  ganz  ausser  Atem 
läuft,  um  der  jetzigen  Mode  von  Deutsch  und  Religion 
nachzukommen,  damit  er  —  Werner  —  nicht  zurückbleibt ; 
denn  in  Rom  ist  er,  wie  er  nun  sieht,  etwas  altmodisch 
geworden.  Dabei  ist  es  ein  Gemengsei  von  Nibelungen, 
Kirchenväter,  Evangelium,  Dante  und  Friedrichs  „Lied 
eines  Gefangenen"  —  kurzum  eine  wahre  Tollhauswut.  .  .  . 
Friedrich  hat  den  exellenten  Gedanken  gehabt,  dieses 
Zacharias  Werner  Busse  mit  Don  Quichottes  Busse  in  der 
Sierra  Morena  zu  vergleichen,  wo  er  sich  selbst  die  Schläge 
auf  den  H.  .  .  .  zuzählt,  um  die  Pflicht  eines  irrenden 
Ritters  zu  erfüllen."  So  urteilte  nicht  allein  Schlegel. 
Das  ganze  katholische  Wien  war  sich  in  der  Verdammung 
dieses  Gedichtes  einig,  erklärte  es  für  „verrückt".  Und 
nur  wenige  fanden  sich,  die  dem  „alten  Kauz"  wie  Klinkow- 
ström  wenigstens  die  gute  Meinung  zubilligten.  „Nur  ist 
sein  Humor  für  andere  nicht  gut  geniessbar"  schreibt  er 
am  S.Januar  1814.  Werner  hatte  in  seinen  Dramen  sein 
S3'stem  gepredigt  und  als  er  es  jetzt  wiederrief,  wusste 
die  Mehrzahl  nicht  was  er  meinte. 

Ein  Widerruf  seiner  Lehre  in  dieser  Form  war  von 
Werner  nicht  verlangt  worden.  Sein  seelischer  Selbst- 
vernichtungstrieb, dieser  schwächliche  Drang  nach  eigener 
Verdemütigung,  der  ihn  rauschartig  über  die  Hemmung 
seiner  seelischen  Schamhaftigkeit  half,  trieb  ihn  dazu.  Die 
erquälte  Unkeuschheit  des  Geistes  fühlte  die  seelisch-keusche 
Dorothea  in  der  Weihe  der  Unkraft  und  führte  sie  zu 
dieser  vernichtenden  Kritik.  Den  eigentlichen  Inhalt  fasste 
sie  nicht,  weil  er  im  Gestrüpp  wild  wuchernder  Worte 
fast   völlig   verschwand.     Die  Schrift    erschien    in  Frank- 


261 

furt.  Dort  befand  sich  gerade  das  Hauptquartier  der  Ver- 
bündeten. Die  geistige,  politische  und  gesellschaftliche 
Elite  war  versammelt.  Da  trat  Werner  vor  sie  und  ver- 
kündete seine  Seelenwandlung.  Ein  Bild,  das  auf  der 
Grenze  zwischen  dunklem  Ernst  und  grellster  Komik  steht. 
„Gott  grüss  dich  schön,  mein  deutsches  erwachtes 

Vaterland! 
Zu    dem    von  Rom    der    schönen    mich   trieb   ein 

Liebesbrand 
Zum  vollen  Gotteskasten   gab  jener  Witwe  Hand 
Ihr  Scherflein,   nimm  das  meine,  Land  dem  mich 

Gott  verband" 
beginnt  sein  Spruch,  der  in  Nibelungenversen  gehalten 
im  Tongemisch  der  von  Dorothea  angeführten  Stimmen 
weiter  klingt.  Dichterisch  unter  allem,  was  Werner  gab, 
psychologisch  von  grösster  Wichtigkeit  und  für  die  Ent- 
wicklung der  Weltanschauung  \^'erners  von  höchster  Be- 
deutung.    So  beschreibt  er  sein  System: 

„Durch  falsche  Lust  verlockt,  und  durch  das  Spiel 

der  Sinne, 
Doch    wissend,    dass    aus    Liebe    der    Quell    der 

Wesen  rinne 
Setzt  ich  der  kranken  Wollust  Bild   keck  auf  der 

Liebe  Thron 
Und  durch   dies  Gaukelblendwerk  sprach  ich  der 

Wahrheit  Hohn." 
Erweiternd  setzte  er  in  den  Anmerkungen  auseinander: 
„Was  ich  .  .  .  wahrhaft  bekennen  will  ist:  dass  eine  krank- 
hafte Ansicht  der  sogenannten  Liebe,  die  ich  mit  der 
Caritas,  der  sie  doch  diametral  entgegengesetzt  ist,  ver- 
wechselte, mich  verleitet  hat,  jene  gnadenlose,  selbst- 
süchtige, für  das  Hauptmotiv  des  Höchsten  in  uns  (was 
nur  die  gnadenvolle,  gottsüchtige  Caritas  sein  kann)  — 
zu  halten.  Und  zu  dem  Wort  Caritas  macht  er  die  An- 
merkung: „Es  ist  ein  Hauptmangel  unserer  deutschen 
Sprache,  dass  wir  für  Caritas  kein  deutsches  Wort  haben. 
Ich    würde    vorschlagen,    sie    Liebe    zu   nennen    und    mit 


262 

diesem  oft  gemissbrauchten  Wort  sparsam  umzugehen. 
Dagegen  für  die  sogenannte  irdische  Liebe  das  alte  Wort 
„Minne"  wieder  in  Kurs  zu  setzen."  Als  Apostel  dieser 
„Liebe"  nennt  er  Friedrich  von  Spee  und  seine  Mutter, 
deren  Gedichte  nicht  mitgeteilt  werden  könnten.  Über 
den  Begriff  der  „Mutterliebe"  ist  diese  Definition  gegangen. 
Die  höchstmögliche  Höhe  der  Caritas  beim  Menschen  ist 
jetzt  ihm  die  Liebe  der  Mutter.  Hier  fand  die  Verbindung 
zwischen  den  leitenden  Tendenzen  seiner  Konversion 
statt.  Die  sexuelle  Entsagung  und  die  Mutterliebe  ver- 
einten sich  hier  und  er  erfüllte  später  nach  seiner  Fähig- 
keit die  Forderung  des  religiösen  Künstlertums  in  dem 
hohen  Lied  der  Mutterliebe:  „Die  Mutter  der  Makkabäer". 

Die  „Weihe  der  Unkraft"  sollte  sich  nicht  gegen  sein 
Lutherdrama,  als  Darstellung  des  Reformators  wenden. 
Ausdrücklich  betonte  Werner  das.  Er  habe  als  damaliger 
Protestant  nichts  getan,  das  er  widerrufen  müsse.  Mehr 
durch  Äusseres  als  Inneres  ist  der  Gegensatz  zu  dem- 
Lutherdrama  im  Titel  pointiert.  Die  Unkraft  ist  der  Be- 
griff der  Demut  in  m3"stischer  Färbung.  Böhme  hatte  ihn 
dem  Hörenden  gesprochen.  Man  hat  damals  den  Kampf 
gegen  Napoleon  als  den  Kampf  gegen  den  Individualismus 
gefasst.  Eme  Reaktion  der  Massen  gegen  den  Grossen,  das 
Genie.  Diese  Zeit  ist  demütig  im  weiteren  Sinne  und  die 
Mahnug  Werners  trifft  das  Charakteristische  seiner  Epoche. 
Aus  dem  tiefen  Erleben  seiner  Seele  quoll  diese  Forderung 
auf  und  einte  sich  mit  dem  unermesslichen  Strom  der  ganzen 
Generation.  Eine  Erkenntnis,  die  im  engsten  Zusammenhang 
mit  dem  Demutbegriff  steht,  erklärte  er  beizubehalten.  Er  er- 
hielt sie  von  der  Maurerei,  wie  sie  ihn  andererseits  zu  ihr 
brachte,  dass  nämlich  die  „drei  Grundsäulen  aller  mensch- 
lichen Wechselwirkung,  Meister-,  Brüder-  und  Jüngerschaft" 
seien.  Es  ist  nichts  anderes  als  ein  Mittel  innerer  Organi- 
sation der  Menschheit  untereinander  ohne  jede  Erotik; 
deren  psychische  Wurzeln  wir  ausgruben. 

Vor  allem  in  der  Stellung,  die  er  der  Frau  zusprach, 
kam  seine  Wandlung  in  der  Stellung  zum  Eros  zum  Aus- 


263 

druck.  Er  sah  sie  als  Hausfrau  und  Kameradin  des 
Mannes.  In  seinen  Worten  lag  eine  Absage  an  die 
romantische  Auffassung  des  Weibes.  Ihm  war  sie  stets 
das  passive  Element  gewesen.  Sie  hatte  nur  eine  Existenz 
als  andere  Hälfte  des  Mannes,  mit  dem  zusammen  sie  die 
höchste  Vereinigung  mit  Gott  erlebte  und  erleben  sollte. 
Sie  besass  die  Stelle  des  Vermittlers  zwischen  Gott  und 
Mensch,  eine  Stellung,  die  nur  Existenzberechtigung  hat 
im  Blick  auf  den  Mann.  Das  wurde  hier  deutlich,  wo 
der  Beruf  der  Frau  als  Gattin  zurücktrat  hinter  dem  der 
Mutter.  Das  ist  jetzt  Werners  höchstes  Ziel  der  Frau. 
Die  körperliche  Jungfraunschaft  wird  ihm  nie  Zweck  eines 
Frauenlebens,  ist  stets  nur  Übergangsphase.  Die  Frau 
soll  Mutter  sein.  Die  Weihe  der  Unkraft  hat  den  tiefen 
geistigen  Gehalt  des  Muttertums  kaum  angedeutet,  den  aus 
reinstem  Erleben  unter  den  Neuern  Johannes  Sorge  aus  ähn- 
lichen gedanklichen  Keimen  im  Geiste  der  Mystik  zu  ge- 
stalten wusste.  Die  gewollt  unmystische  Auffassung  der 
Geschlechtsliebe  Hess  ihn  nicht  dazu  gelangen.  Das  ist 
die  tiefe  Wandlung,  die  sich  in  der  Wertung  der  Frau  bei 
ihm  zeigte:  Die  mystische  Erotik,  die  Werner  zur  „Ver- 
klärung" des  Weibes  veranlasste,  fiel  weg  und  machte 
einer  brutal  nüchternen  Anschauung  Platz. 

Die  „Weihe  der  Unkraft"  bietet  ihrer  Natur  nach  nur 
die  schroffe,  scharfpointierte  Zusammenfassung  der  Resul- 
tate seiner  Entwicklung  der  letzten  drei  Jahre.  Werner 
hatte  damit  sein  Amt  als  Prediger  begonnen.  Auch  auf 
die  Kanzel  trat  er  und  sprach.  Damals  besuchte  ihn 
Otto  Heinrich  Graf  von  Loeben.  Den  Eindruck,  den 
Werner  auf  ihn  machte,  beschrieb  er  in  einem  Briefe  an 
Eichendorf:  „Auf  dem  Marsche  ging  ich  nach  Aschaffen- 
burg zu  Werner,  der,  wie  Du  wissen  wirst,  nun  Priester 
ist.  Er  war  damals  auf  dem  geistlichen  Seminario  und 
empfing  mich  mit  der  innigsten  Liebe  und  Teilnahme. 
Ich  habe  ihn,  auch  besonders  in  seinem  Äusseren,  wür- 
diger und  stiller  gefunden  als  ehedem.  Er  ringt  nach 
der  Wahrheit  und  erkennt  seine  Mängel  und  seine  sünd- 


264 

hafte  Reizbarkeit   mit  echt  christlicher  Demut  und  Rück- 
sichtslosigkeit,  der  es  nur  um  das  eine  zu  tun  ist.     Gott 
nehme  immer  mehr  jede  leise  Eitelkeit  von  ihm  weg,  denn 
es  kann  auch  eine  geistliche  geben." 
Dieser  Brief  ging  nach  Wien, 


XL  Kapitel. 

Der  Katholik. 

Werner  hatte  nicht  vor,  in  Aschaffenburg  zu  bleiben. 
Er  suchte  einen  grösseren  Wirkungskreis,  als  er  hier  sich 
bot.  Geborener  Preusse  musste  ihn  Berlin  locken.  Aber 
mit  Preussen  verband  ihn  kein  innigeres  Band,  zumal  da 
er  jetzt  Katholik  war  und  sich  zurückgesetzt  fühlte.  „Mein 
liebes  Vaterland  hat  eben  keine  besonderen  Ansprüche  an 
mich  und  da  mein  gnädiger  Monarch  mich  nach  13  jährigem 
ihm  geleisteten  Packeseldienste  huldreichst  dem  Hunger- 
tode preisgibt,  während  er  den  Herrn  Clemens  Brentano 
und  andere  grosse  Männer  zu  Berliner  Professoren  der 
Ästhetik  kreiert,  so  habe  auch  ich,  wiewohl  ich  aus  vielen 
Gründen  nach  Deutschland  zurück  muss,  nicht  eben  vor- 
zugsweise Lust,  meine  letzten  Pilgerschritte  gratis  im 
Berliner  Triebsand  zu  machen,  sondern  bin  in  gewisser 
Rücksicht  vogelfrei."  Es  war  natürlich,  dass  Werner  sich 
an  eine  katholische  Macht  anzuschliessen  suchte.  Bayern 
und  Österreich  boten  sich  da.  Er  wählte  Wien,  das  er 
schon  vorher  gesucht  hatte  und  wohin  der  Kongress  wie 
ein  saugender  Strudel  alle  Elemente  zog,  die  einen  grossen 
Kreis  für  ihre  Handlungen  suchten.  Für  ihn,  den  Prediger 
der  modernen  Gesellschaft,  bot  sich  lockende  Gelegenheit. 

Wien  besass  dazu  schon  seit  dem  Erfolg  der  Vor- 
lesungen Wilhelm  Schlegels  den  Charakter  eines  Sammel- 
platzes für  die  Romantiker.  Friedrich  Schlegel  und  Doro- 
thea weilten  schon  lange  Zeit  dort,    Eichendorf  und  eine 


265 

Menge  von  Geistern  zweiten  und  dritten  Grades  gruppierten 
sich  um  sie:  Gentz,  Adam  Müller  und  andere.  Schon  von 
Rom  aus  hatte  Werner  mit  den  Kreisen  der  Wiener  Ro- 
mantiker Fühlung  zu  bekommen  gesucht  und  erhalten. 
Die  Briefe  an  Frau  von  Humboldt  wiesen  am  Schluss 
stets  eine  Fülle  von  Namen  auf,  denen  Werner  empfohlen 
werden  möchte.  Seine  „Kunigunde"  (III.  Akt)  erschien 
im  Wiener  „Museum^"  Schlegels,  sein  ganzes  Bestreben 
geht  darauf  hin,  sie  in  Wien  aufgeführt  zu  sehen.  Sein 
Name  wurde  schon  genannt.  Attila  war  nicht  ohne  ge- 
fährdende Eingriffe  der  Zensur  erduldet  zu  haben,  in  Wien 
angenommen  worden  und  erlebte  mehrere  Wiederholungen. 
Von  geschäftskundigen  Händen  war  die  Wanda  zum  Opern- 
text verstümmelt  und  füllte  die  Kasse  des  Theaters.  Nun 
kam  der  von  der  Romantiker-Schule  stets  Totgeschwiegene, 
vom  Publikum  als  Romantiker  erfasste  Dichter  als  Katholik 
und  Priester  nach  Wien,  in  die  Stadt  und  den  Kreis  der 
katholischen  Romantik.  Seine  Aufnahme  war  nicht  all- 
seitig günstig. 

Bezeichnend  dafür  war  sein  Verhältnis  zu  Friedrich 
Schlegel  und  Dorothea,  deren  Misstrauen  vor  dem  hung- 
rigen Enthusiasmus  Werners  psychologisch  leicht  zu  ver- 
stehen war.  Auch  mochten  sie  ein  Kompromittieren  der 
katholischen  Romantik  durch  ihn  befürchten,  wie  sie  es 
für  ihre  Schule  gefürchtet  hatten.  Pfingsten  1814  schrieb 
Dorothea  ihrem  Sohn  Johannes  nach  Rom:  „Werner  soll 
in  Aschaffenburg  Priester  geworden  sein.  Der  hl.  Geist 
wolle  ihn  erleuchten  und  ihm  die  Weihe  der  wahrhaftigen 
Einfalt  und  Demut  verleihen."  Am  14,  August  war  er 
in  Wien  und  am  10.  September  1814  schrieb  Dorothea 
Schlegel  ihrem  Sohne:  „Werner  ist  endlich  hier,  er  hat 
uns  gestern  besucht,  er  ist  ein  Abb6  und  hat  schon  in 
Aschaffenburg  gepredigt,  auch  hier  schon  Messe  gelesen.  . .  . 
Ich  muss  gestehen,  sein  Anblick  ist  mir  nicht  so  zuwider 
gewesen,  wie  ich  es  nach  allen  Beschreibungen  erwarten 
musste;  auch  ist  seine  Unterhaltung  weit  ungezwungener 
und  natürlicher,  als  seine  Schriften.    Unter  das,  was  mir 


266 

ganz  unleidlich  an  ihm  vorkommt,  gehört  das  rätselhafte 
Niederdrücken  der  Augendeckel,  die  tiefen  Reverenzen, 
die  ungeheure  Schnupftabaksdose  und  der  gemeine  Ber- 
liner Dialekt  —  doch  sei  versichert,  wo  wir  ihm  irgend 
nützlich  sein  können,  soll  es  mit  grösster  Freude  ge- 
schehen." Ein  Jahr  später  heisst  es:  „Werner  sehe  ich 
recht  oft;  der  Aufenthalt  in  Wien  scheint  ihm  sehr  wohl 
zu  tun,  geistig  wie  körperlich.  Er  scheint  innerlich  ruhiger 
und  gefasster  zu  werden."  Das  ist  der  Weg,  den  Werner 
in  der  Auffassung  des  geistig-katholischen  Wiens  machte. 
Man  erkannte  seine  tief  ehrliche  Wandlung  und  glaubte 
ihm.  In  den  literarischen  Kreisen  Wiens  wurde  Werner 
sehr  geschätzt  und  war  nebenbei  einer  der  wenigen,  die 
Grillparzers  Bedeutung  früh  erkannten. 

Aber  nicht  dazu  war  er  zunächst  gekommen,  um  als 
Dichter  seinen  literarischen  Beruf  zu  erfüllen.  Er  war 
Priester  und  Piediger.  Carl  von  Dalberg  hatte  er  er- 
klärt, als  Apostel  in  den  Kreisen  der  Gesellschaft  oder 
als  Volksprediger  wirken  zu  können.  Beides  tat  er  hier. 
Er  sprach  zu  ,,lieben"  Wienern  wie  zu  der  internationalen 
Gesellschaft  des  Kongresses. 

Der  Wiener  Kongress.  Eine  Fieberphantasie  des 
sterbenden  18.  Jahrhunderts  voll  Glanz  und  Farbe,  aber 
mit  dem  eigentümlichen  Ton  des  Halbwirklichen,  der  uns 
erschauern  macht.  Die  Epigonen  der  Epigonen.  Ohne 
Grösse  und  Überzeugung,  Man  kämpfte  in  Wirklichkeit 
gegen  das  Neue,  aber  tat,  als  sehe  man  das  überall 
keimende  Leben  nicht.  Es  liegt  etwas  über  dem  Ganzen, 
das  uns  nach  dem  Regisseur  fragen  lässt,  der  diese  Szenen- 
bilder mit  Geschmack  und  Verständnis  für  theatralische 
Wirkung  stellte.  Man  glaubt  den  Geruch  alter,  übermalter 
Kulissen  zu  spüren,  die  lange  Zeit  nicht  gebraucht  waren. 
Vielleicht  war  der  Wortschatz  dieser  Menschen  ein  neuer. 
Der  Schatz  ihrer  Idee  schien  nicht  bereichert.  Das  alte 
Leben  begann,  wo  fast  vor  einem  Vierteljahrhundert  es 
hatte  aufhören  müssen.  Und  neben  diesen  fast  gespenstig 
wirkenden  Menschen,  die  nicht  immer  runden  geglätteten 


267 

Menschen  der  neuen  Zeit.  Ein  eigentümliches  Geschlecht, 
das  halb  im  18.  und  halb  im  19.  Jahrhundert  wurzelte 
mit  einer  hypertrophischen  Entwicklung  einiger  seelischer 
Organe,  während  andere  verkümmert  waren,  Görres  cha- 
rakterisierte dieses  Geschlecht,  das  einen  Napoleon  er- 
zeugte und  überwand:  „Das  ist  die  Verdammnis  dieser 
Generation,  dass  sie  nicht  auf  einem  Strome,  sondern  auf 
stürmischen  Wellen  getragen,  nicht  weiss,  wo  sie  ihr  Haupt 
hinlegen  soll,  weil  alles  noch  schneller  wechselt,  als  das 
Fleisch  und  jeder  Gedanke  jeden  Augenblick  einen  neuen 
Herrn  bekommt."  Eine  Mischung  von  Sehnsucht  und  Hohn. 
Und  in  ihrem  Schoss  barg  sie  ihren  Künder  und  ihr  Kind : 
Heine  den  Spätling  der  Romantik. 

Von  diesem  schillernden  Goldgrund  hob  sich  die 
düstere  Gestalt  des  Busspredigers  Werner  ab,  der  mit 
dunklen,  lohenden  Augen  seine  Visionen  sprach  vom  Tod 
und  dem  letzten  Gericht,  von  Hölle  und  Ewigkeit.  Und 
wie  früher  sassen  die  Marquis  in  der  Kirche,  und  ihnen 
gehörte  das  leichte  Grausen,  das  sie  bei  diesen  W^orten 
durchbebte  als  notwendiges,  vererbtes  und  durch  Tradi- 
tionen geheiligtes  Empfinden  zum  Leben. 

Werner  stand  noch  selbst  unter  den  nur  langsam  sich 
hebenden  Schatten  des  „Entsetzlich  Vielem  fast  Unverzey- 
lichem",  das  ihn  belastet  hatte.  In  seinen  Worten  zitterte 
noch  die  Angst  vor  unsühnbarer  Schuld.  Er  selbst  glaubte 
sich  befreit  und  erlöst  und  sah  die  anderen  noch  in  den 
Schatten,  denen  er  entflohen.  Aus  diesem  befühl  sprach 
er  zu  ihnen  in  dem  bizarren  Ton  seiner  Sprache,  mit  der 
glühenden,  selbstvernichtenden  Qual  seiner  Seele.  Er 
sprach  in  Formen,  die  innerer  Drang  füllte  und  sprengte 
und  oft  musste  er  diesen  Menschen,  denen  die  Worte  da 
waren,  die  Gedanken  zu  verheimlichen,  „verrückt"  er- 
scheinen. Ihnen,  denen  jede  Möglichkeit  genommen  war, 
an  die  innere  Wahrheit  des  Lebens  zu  glauben,  ward  er 
zum  Narr,  dem  man  als  mildernden  Umstand  einräumte, 
dass  er  bona  fide  handelte.  „Er  tobt  wie  ein  Narr,  spricht 
populär  wie  ein  Fiaker  und  freut  sich  einen  Ort  gefunden 


2fi8 

ZU  haben,  wo  ihm  niemand  widersprechen  darf.  Ein 
Ärgernis  der  kathohschen  Geistlichkeit  wird  er  durch  den 
Erzbischof  und  Fürsten  Metternich  aufrecht  erhalten,  mag 
es  aber  sonst  wohl  wie  ein  Schwärmer  ganz  redlich 
meinen.  Lebt  übrigens  auch  still  und  ohne  Ärgernis  wie 
ein  guter  Pfaffe.  Eine  unglückliche  Liebe  hat  Werner 
zum  Narren  gemacht",  so  urteilte  K.  v.  Nostiz  und  Varn- 
hagen  von  Ense  schrieb:  „Mehr  noch  als  je  vorher  im 
Schauspiel-  und  Gesellschaftswesen  entfaltete  er  seine 
Fratzenhaftigkeit  jetzt  auf  der  Kanzel." 

So  nahmen  ihn  die  auf,  denen  der  Glaube  an  Werner 
fehlen  musste.  Auch  in  dem  nicht  romantisch-katholischen 
Wien  betrachtete  man  ihn  mit  einem  aus  Verständnis- 
losigkeit  erwachsenen  Misstrauen,  das  unverhohlen  zum 
Ausdruck  kam.  Er  störte  den  Durchschnitt,  den  Wien 
immer  so  sehr  liebte,  war  zu  sehr  Preusse  auch  als 
römischer  Katholik. 

Als  Bussprediger  war  er  nach  Wien  gekommen  und 
hatte  zu  den  Gliedern  des  Fürstenkongresses  sprechen 
wollen.  Ein  Fremdling  in  Wien  zu  den  Fremden.  Und 
er  wurde  als  Fremdkörper  empfunden  und  gehasst.  Der 
Wiener  Klatsch  konnte  sich  nicht  genug  von  ihm  er- 
zählen. Den  noch  teilweise  josephinisch  denkenden  Geist- 
lichen war  er  als  Reformer  verhasst.  „Der  Pfarrer  Baron 
Semerau  bereute  ihn  zur  Predigt  geladen  zu  haben"  lautet 
eine  Mitteilung  der  Polizeiakten.  Diese  ungewöhnliche 
Gestalt  Hess  sich  nicht  in  das  Normalschema  eines  fest- 
besoldeten Stadtgeistlichen  unterbringen  und  musste  An- 
stoss  erregen  bei  der  durchschnittlichen  Auffassung.  All- 
gemein galt  er  als  „Vorläufer  der  Jesuiten",  die  der  Po- 
panz des  18.  Jahrhunderts  waren.  Die  Polizeiakten  lauten 
auf  den  Jesuiten  Pater  Zacharias  Werner.  „.  .  .  er  soll 
ihnen  Eingang  verschaffen.  Heute  könnte  man  glauben, 
er  habe  etwas  davon  fallen  gelassen.  —  Werner  aspiriert 
zu  einem  Bischof."  Seine  Äusserung,  er  wolle  in  Öster- 
reich keine  Pfarrstelle  annehmen,  wurde  in  diesem  ver- 
fehlten   Sinne    ausgelegt.     Richtiger    war    wohl    die    Be- 


269 

hauptung,  dass  Werner  bald  abzureisen  willens  war,  er 
scheine  Wien  nicht  zum  ständigen  Aufenthaltsort  nehmen 
zu  wollen. 

Seine  Wirksamkeit  als  Geistlicher  war  ihm  als  Fremden 
eigentlich  nicht  erlaubt.  Aber  er  stützte  sich  auf  die  zu- 
nächst durch  römische  Empfehlungen  gewonnene  Freund- 
schaft des  greisen  Wiener  Erzbischofs  Sigismund  von 
Hohenwart  zu  Gerlachstein.  Zeitweise  scheint  man  in 
den  Kreisen  der  Regierung  geschwankt  zu  haben,  ob  man 
„den  ordnungswidrigen  Vorgang  des  Erzbischofs  in  An- 
sehen Werners"  nicht  inhibieren  solle.  Den  grossen  Ein- 
fluss  des  Erzbischofs  auf  den  Kaiser  kannte  man  aber  zu 
wohl  und  begnügte  sich  damit,  Werner  im  öffentlichen 
wie  im  privaten  Leben  überwachen  zu  lassen.  Als  Rand- 
bemerkung eines  Aktenstücks  beschied  im  April  1815  der 
Kaiser,  dass  W^erner  in  Wien  zu  bleiben  das  Recht  habe, 
solange  er  sich  klaglos  benehme. 

In  der  Schilderung  Werners  als  Prediger  sind  sich 
die  Quellen  ziemlich  gleich.  Sie  variieren  nur  in  der 
Beurteilung  und  das  lag  in  dem  Wesen  Werners  begründet 
„Ergreifende  Gedanken,  erhabene  Schilderungen,  höchst 
poetische  Anschauungen  w^echselten  auf  das  grellste  mit 
ganz  nüchternen,  für  den  Ort  nicht  passenden  Bemerkungen 
mit  fast  lächerlichen  Details",  urteilt  Karoline  Pichler  von 
ihm.  Neben  Bildern  von  eigenartigem  Reiz  standen  andere 
von  absurdester  Geschmacklosigkeit.  Einmal  vergleicht 
er  die  Patriarchen  mit  den  Sonnenblumen,  die  sich  dem 
Licht  des  kommenden  Heilands  zuneigten  und  dann  ver- 
gleicht er  die  Unzulänglichkeit  einer  einzelnen  guten  Hand- 
lung, die  man  impulsiv  im  Augenblick  tut,  damit,  dass 
der  Bettler,  der  im  Evangelium  ohne  hochzeitliches  Kleid 
komme,  seine  Lumpen  mit  kostbaren  Spitzenrnanschetten, 
die  er  anhabe,  rechtfertigen  wolle.  Man  hat  das  Gefühl, 
als  verlasse  ihn  für  einen  Augenblick  der  ekstatische 
Schwung,  der  seine  Worte  bisher  getragen  habe.  Daneben 
mag  aber  auch  der  Wunsch,  recht  volkstümlich  zu  sein, 
ihn  zu   dieser  Ausdrucksweise  geführt  haben.     Anknüpf- 


270 

ungen  an  Tagesereignisse  profanster  Art  sind  keine  Selten- 
heit. Er  wollte  dadurch  den  Stoff  der  Predigt  den  Hörern 
näherbringen.  So  fügte  er  einmal  bei  Erwähnungen  des 
Kaisers  Titus  erklärend  hinzu;  „den  ihr  hier  auf  dem 
Theater  in  der  Oper  vorgestellt  sehet". 

Werner  suchte  Abraham  a  Santa  Clara  bewusst  nach- 
zuahmen, aber  bei  der  Verschiedenheit  ihrer  Charaktere 
musste  das  misslingen.  Der  Wiener  Volksprediger  sprach 
aus  naivster,  urwüchsiger  Seele  in  der  Sprache  des  Volks, 
zu  dem  er  reden  wollte.  Werner  musste  Epigone,  Nach- 
ahmer werden,  der  sich  aufgibt,  nicht  der  sich  gibt.  Sein 
Bildungsgang,  sein  Leben  war  ein  ganz  anderes.  Und 
sein  Publikum.  Was  den  Zuhörern  des  prächtigen  Abra- 
ham a  Sancta  Clara  kaum  derb  erschien,  wirkte  hier  an- 
stössig. 

Wir  haben  von  diesen  Predigten  denselben  Eindruck, 
wie  von  der  Mehrzahl  seiner  literarischen  Erzeugnisse. 
Sie  alle  sind  brüchig  und  fleckig.  Die  besten  Intentionen 
zeigen  in  der  Ausführung  irgend  einen  Fehler,  einen 
Sprung,  der  ihre  Schönheit  oft  vernichtet,  immer  schmälert. 

Und  doch  hat  er  nicht  nur  äusserlich  den  tiefsten 
Eindruck  auf  seine  Zuhörer  gemacht.  Die  Energie  seiner 
ganzen  Persönlichkeit,  die  in  seinen  Worten  flammte,  die 
überzeugende  Kraft  der  Wahrheit  seines  religiösen  Er- 
lebnisses, die  immer  durchbrach  durch  störendes  Beiwerk, 
riss  die  Zuhörer  weg,  zwang  sie  in  den  Bann  seiner 
Worte.  Da  sprach  ein  Mensch,  der  die  ganze  Qual  der 
Verzweiflung  ausgetrunken  hatte,  der  die  furchtbare  Angst 
der  Schuld  bangend  ertragen.  Man  warf  ihm  vor  —  Wer- 
ner spricht  selbst  einmal  davon  —  dass  er  sein  Leben 
vor  ihnen  ausbreite.  Nie  aber  wühlte  er  im  Schmutz 
des  Schmutzes  willen.  Mochten  seine  Freunde  —  er  selbst 
vielleicht  —  fürchten,  dass  ihn  Eitelkeit  dazu  triebe,  in 
Wirklichkeit  war  es  der  dämonische  Aufopferungsdrang, 
der  ihn  zwang,  sein  Innerstes  zu  opfern,  jetzt  in  der 
Priesterabsicht  andere  zu  retten. 

Seine  ungezügelte  Gestikulation  war  nur  ein  äusseres 


271 

Zeichen  dafür,  dass  ihn  der  Impuls  des  Augenblicks  packte, 
dass  ihn  der  Rausch  des  Erlebens  fasste  und  er  nicht 
wie  ein  Schauspieler  sprach.  Dadurch  erhielt  sein  Gestus 
etwas  hysterisch-ekstatisches,  das  aufreizend  auf  die  Zu- 
hörer wirkte  und  sie  zu  ihm  riss.  „Seine  Art  die  Sachen 
vorzutragen  und  seine  Aktion'',  sagen  die  Polizeiakten, 
sind  so  abprall  und  verständlich  unverständlich,  dass  die 
Leute  zur  Mystik  gewaltsam  hingezogen  werden  und  eine 
Art  von  Glaubensschwärmerei  entstehen  muss  .  .  .  ."  Man 
hielt  ihn  für  einen  päpstlichen  Abgesandten  ^,die  Klöster 
zu  bevölkern-',  so  sehr  spürte  man  die  furchtbare  Ener- 
gie, die  in  seinen  Worten  vibrierte,  den  bannenden  Zau- 
ber dieser  asketischen  Weltanschauung  aus  dem  Munde 
Werners. 

Die  Gebildeten  d.  h.  die  obere  Gesellschaftsschicht 
war  nicht  fähig,  das  religiöse  Temperament  Werners  an- 
ders zu  erfassen,  als  literarisch-gesellschaftlich,  schuf  sich 
daraus  eine  Sensation. 

Zu  einem  gesellschaftlichen  Ereignis  wurde  diese 
Predigt  und  zu  einer  literarischen  Unterhaltung,  der  auch 
Andersgläube  beiwohnten.  Charakteristisch  hierfür  ist 
das  erste  Aktenstück,  das  Floeck  fand.  Es  ist  eine  An- 
zeige eines  „rechtlichen,  angesehenen  Mannes",  der  sich 
beschwert,  dass  Juden  und  Jüdinnen  die  Kirchen,  wo 
Werner  predige,  füllen.  Es  drohe  zu  Ausschreitungen 
gegen  sie  zu  kommen,  wenn  das  niedere  Volk  ihre  An- 
wesenheit bemerke. 

Das  gewöhnliche  Volk  zeigte  für  Werners  Art  ein 
'feineres  Verständnis,  weil  es  den  Glauben  an  den  Men- 
schen besass.  Mit  fanatischer  Verehrung  hing  es  an 
Werner  und  Hess  sicti  von  ihm  berauschen  im  Schmerz 
der  Reue,  warf  sich  mit  ihm,  während  die  Gebildeten 
Gewolltes  zu  fühlen  meinten,  anbetend  vor  dem  Alier- 
heiligsten  nieder,  das  zu  preisen  Werner  sich  in  plötz- 
licher Wallung  nicht  für  würdig  und  fähig  erklärte.  Und 
was  den  Intellektuellen  anstössig  erschien,  dass  Werner 
stets  seine  Person  in  Relation  mit  seinen  Worten  stellte, 


272 

war  ihnen  ein  neuer  Beweis  seiner  Ehrlichkeit.  „Das  ge- 
meine Volk  hält  den  Werner  und  verehrt  ihn  als  einen 
Propheten,  und  es  lässt  sich  nach  dem  Urteil  aller  Ver- 
ständigen nicht  absehen,  welche  Folgen  seine  wiederhol- 
ten Predigten  hervorbringen  werden.  Man  läuft  hin,  um 
ihn  zu  hören,  und  sollte  dabei  Gesundheit  und  Leben  zu 
Grunde  gehen."  Man  fürchtet  in  der  „Polizei- Hofstelle" 
eine  reglementswidrige  Verinnerlichung  des  religiösen 
Lebens  des  Volkes.  Vielleicht  nicht  grundlos.  Die  ganze 
Zeitstimmung,  Krieg  auf  Krieg,  musste  selbst  den  letzten 
Mann  des  Volks  in  einen  Zustand  erhöhter  Reizsamkeit 
versetzen  und  ihn  für  eine  Aufnahme  religiöser  Ideen,  die 
so  im  Überschwang  vorgetragen  wurden,  empfänglich 
machen. 

Wien  befand  sich  in  einem  Übergangsprozess.  Als 
Werner  zum  ersten  Male  in  Wien  gewesen  war,  zeigte 
sich  der  Einfluss  des  Josephinismus  noch  stark  und  nach- 
haltig —  wenigstens  in  seinen  Schattenseiten.  Damals 
fand  er  sehr  richtig  Wien  etwas  „protestantisch".  Einer 
Berliner  Freundin  schrieb  er:  „Wir  haben  hier  Trauer- 
spiele, die  so  viel  lehrreiche  Sentenzen  enthalten,  dass 
sie  statt  Jesus  Sirach  in  der  Berliner  Sonntagsschule  von 

Anfang  bis  zu  Ende  gelesen  werden  könnten Der 

Aberglaube  und  die  Bigotterie  werden  hier  durch  aufge- 
klärte Journale  mit  so  vielem  Glück  verfolgt,  dass  man 
namentlich  den  Katholizismus   noch   geringei    achtet,    als 

in  Berlin  und    z.    B.    die    „Weihe    der    Kraft" mit 

Beifall  deklamiert  wurde,  hauptsächlich  wegen  der  darin 
enthaltenen  aufgeklärten  protestantischen  Grundsätze." 
Mit  dem  Einzug  der  Romantiker  änderte  sich  das  mehr 
und  mehr  und  nur  die  immer  Jahrzehnte  nachhinkende 
Bureaukratie  lebte  noch  in  dieser  Tradition  ruhig  weiter. 
Das  Volk  wurde  Träger  eines  neuen  religiösen,  katholi- 
schen Lebens. 

Hier  finden  wir  eine  Wirkung  der  Romantik  auf  das 
Volk:  Die  religiöse.  Das  Volk  führte  nur  auf  religiösem 
Gebiet  ein  Gefühlsleben  und  von  der  neuen  Wunderwelt 


des  Gefühls  vermochte  es  nur  diese  Seite  zu  sehen  und 
nachzuerleben.  Eine  tiefwühlende  Umwandlung  begann. 
Von  den  Führenden  fast  direkt  auf  das  Volk  übertragen, 
drang  es  nur  langsam  nach  oben  in  die  Kreise  der  „Ge- 
bildeten" vor  und  hatte  auf  diesem  Weg  sich  wieder  in 
die  Formel  des  Konfessionellen  vermummt,  die  das  Volk 
nicht  zu  missen  vermochte.  Der  Mann,  der  diese  Bewe- 
gung in  Wien  leitete  und  in  seine  Art  zwang,  war  Cle- 
mens Hoffbauer,  der  Sohn  eines  armen  Bauers,  der  sich 
mit  eiserner  Energie  vom  Bäckergesellen  zum  Vicar  sei- 
nes Ordens  jenseits  der  Alpen  emporgearbeitet  hatte  und 
auch  auf  Werner  beherrschenden  Einfluss  erlangte, 

Clemens  Maria  Hoffbauer  stammte  aus  Mähren,  wo  er 
zu  Tasswitz  im  Jahre  1751  geboren  wurde.  Eine  kluge, 
tiefreligiöse  Erziehung  verstärkte  den  angeborenen  Hang 
zum  religiösen  Leben.  Haringer  berichtet  über  den 
grossen  Einfluss  seiner  Mutter  auf  ihn  und  lässt  Hoff- 
bauer erzählen:  „dass  ihr  Grundsatz  der  gewesen  sei, 
man  müsse  den  Kindern  eigenen  Willen  nicht  lassen,  so- 
bald sie  nur  zwischen  Ja  und  Nein  zu  unterscheiden  wüss- 
ten."  Diese  Verleugnung  des  eigenen  Willens  führte  bei 
ihm  nicht  zur  Schwächung  seines  Wollens.  Zacharias 
Werner  sagte  einmal:  „Ich  kenne  unter  den  Lebenden 
nur  drei  Kraftnaturen:  den  Napoleon,  den  Goethe  und 
P.  Hoffbauer."  Sein  Leben  ist  eine  eigenartige  Mischung 
von  einem  fatalistischen  aber  stets  positiven  Gott  ver- 
trauen im  eigentlichen  Sinne,  wie  Jesus  es  forderte,  und 
einer  prachtvollen  Energie,  die  sich  durch  nichts  beugen 
Hess.  In  einigen  Zügen  erinnert  er  an  den  Heiligen  von 
Assisi,  aber  ihm  fehlte  die  hohe  intellektuelle  Kultur  des 
italienischen  Patriziersohnes.  Religiöses  Genie  blitzt  auch 
bei  Hofifbauer  durch,  ohne  aber  so  rein  menschlich  und 
künstlerisch  sich  formen  zu  können  wie  bei  Franziskus, 
Hoffbauer  war  im  Verhältnis  zu  Franziskus)  zu  wenig 
Künstler.  Seine  Stärke  war  weniger  Liebe  als  Glaube, 
weniger  Gefühl  als  Willen.  „Wenn  ich  sehen  könnte", 
sagte  er  einmal,  „so  wollte  ich  nicht  sehen,  um  nur  glau- 

H ankamer.  Zacharias  Werner.  18 


274 

ben  zu  können."  Ihm  war  das  Glaubensgebot  eine  zeit- 
weilige bewusste  Ausschaltung  des  Eigenwillens,  kein 
Aufgehen  ins  Universum,  wie  Schleiermacher  es  forderte 
kein  Zerfliessen,  kein  Unpersönlichwerden  wie  bei  Werner. 
Ekstatische  Zustände  werden  von  ihm  nicht  berichtet, 
passen  auch  nicht  in  die  klaren,  reinen  Farben  seines 
Lebensbildes.  Eine  wohltemperierte  Freudigkeit  lag  über 
den  grossgezeichneten  Zügen  seines  Gesichtes,  das  eine 
disziplinierte  latente  Energie  mehr  zu  verbergen  suchte 
als  zu  zeigen,  eine  in  sich  gefestigte  Natur,  die  von  der 
eigenen  Kraft  überzeugt,  sie  nicht  anderen  und  sich  be- 
wusst  werden  lassen  wollte  und  deshalb  sprach:  „Seid 
demüthig  meine  Brüder,  sonst  kommt  euch  das  Wort  vor 
wie  eine  Fabel."  Eine  Kraftnatur,  die  sich  vollständig 
in  den  Denkkreis  dessen  gegeben  hat,  der  sagte:  „Seid 
sanftmütig  von  Herzen  und  liebet  eure  Feinde." 

Dieser  Mann  war  eine  organisatorische  Kraft  ersten 
Ranges.  Er  war  weitsichtig  genug,  zu  erkennen,  dass  diese 
innere  Wiedergeburt  vom  Volke  aus  vor  sich  gehen,  von 
unten  nach  oben  sich  durchbrechen  müsse.  Als  Mittel 
wusste  er  die  Predigt. 

Auf  seine  Einladung  hin  predigte  Werner  oft  bei  den 
Ursulinerinnen,  denn  Werner  hatte  bei  der  ersten  Berüh- 
rung mit  Hoffbauer  sofort  in  ihm  die  Meisternatur  ent- 
deckt und  wurde  sein  Jünger.  In  der  sich  selbst  ernie- 
drigenden Art  Werners  sprach  er  es  oft  und  öffentlich  aus, 
dass  er  in  ihm  den  Grösseren  verehrte.  So  rief  er  ein- 
mal von  der  Kanzel  herab  den  Zuhörern  zu,  bei  Hoffbauer 
zu  beichten.  Er  sei  nicht  würdig,  ihm  die  Schuhriemen 
zu  lösen.  Der  Organisator  fing  die  überbrausende,  eksta- 
tische Glut  Werners  ein  und  nutzte  sie  klug  und  geschickt 
aus,  in  dem  er  sie  eindämmte  und  in  das  religiöse  Alltag- 
leben Wiens  nicht  ohne  Schädigung  ihrer  Originalität 
einfügte. 

Den  Inhalt  dieser  exegetischen  Predigten  bildete  sein 
System,  das  die  katholische  Kirchenlehre  sehr  aktiv  ver- 
arbeitete und  im  Ausdruck  und  oft  auch  Gehalt  nahe  seiner 


275 

früheren  Mystik  stand  aber  gereinigt  von  aller  geheimen 
Erotik,  geklärt  und  mit  voller  Anerkennung  der  kirchlichen 
Dogmen.  Die  Keime,  die  sich  in  der  Weihe  der  Unkraft 
gezeigt  hatten,  sind  zur  Entfaltung  gebracht  und  der  Ein- 
fluss  Hoffbauers,  der  für  Werners  Entwicklung  die  Stelle 
eines  katholischen  Fichte  annahm,  trat  deutlich  hervor. 

Ein  tief  mystischer  Zug  liegt  in  diesem  System.  Kein 
verworrenes  Gerede,  Tieferfühltes  wird  versucht  im  Worte 
knöchern  gewordene  Formeln  zu  fassen.  Erkennt  man 
das,  so  sieht  man  in  diesen  steinernen  Formen  lebenden 
Inhalt.  Über  die  katholische  Mystik  hinweg  ist  er  diesen 
Weg  gegangen.  Augustinus  und  Tauler  sind  die  beiden, 
die  er  namentlich  aufzählt.  Aber  Theresia  und  andere 
katholische  Heilige,  vor  allem  Thomas  von  Kempen  wur- 
den von  ihm  aufgenommen,  den  er  in  der  Weihe  der  Un- 
kraft besonders  dankbar  gefeiert  hatte  und  Friedrich  Spee, 
dessen  er  da  ebenfalls  liebend  gedachte.  Wir  fühlen  aber 
auch  alle  die  übrigen  geistigen  Kräfte  hier  noch  wirksam, 
die  seine  Entwicklung  geleitet  hatten.  Böhme  glauben  wir 
zu  hören,  wenn  er  die  Natur  als  die  geoffenbarte  Gnade 
des  dreieinigen  Gottes  erklärt,  die  aber  nur  dem  Begna- 
deten zu  erscheinen  vermag  als  Gottes  Werk,  in  dem  er 
Seelenfrieden  und  Trost  findet.  Dem  aber,  in  dessen 
Herzen  es  Abend  geworden  ist  erscheint  sie  „arm,  kalt, 
leb-  und  trostlos".  Diesen  Zusammenhang  von  Natur  und 
Gott  „durch  ein  Bild  in  das  Gemüth  der  Menschen  zu 
werfen"  ist  Poesie.  „Durch  Poesie  sind  schon  Tausende 
bekehrt  worden."  Das  hätte  Werner  und  hatte  er  schon 
vorher  sagen  können,  nur  ist  jetzt  eben  der  Katholizis- 
mus Bekehrungsziel. 

Im  Mittelpunkt  seines  Katholizismus  stand  die  Caritas- 
Liebe.  Sein  Beweis  für  die  Eigenexistenz  würd«  lauten 
amo  ergo  sum  und  sein  Gottesbeweis  geht  folgenden  Weg: 
weil  ich  liebe,  bin  ich.  Meine  Liebe  aber  ist  unvollkom- 
men. Die  vollkommene  Liebe  muss  existieren  und  diese 
vollkommene  Liebe  ist  Gott.  „Der  Satz:  Gott  ist  die 
Liebe,  ist  ein  Postulat  der  Vernunft  und  der  Natur."   Ihm 


576 

ist  das  ganze  menschliche  Leben  eine  Erziehung  zur  gött- 
lichen Liebe.  „Was  ist  denn  Erlösung  anders  als  Befrei- 
ung unserer  Liebe."  Weisheit  f.st  „klargewordene  Liebe." 
Nachdrücklich  hebt  er  hervor,  dass  jede  geschlechtliche 
Färbung  dieses  Liebebegriffes  ihm  ferne  liegt.  In  der 
Weihe  der  Unkraft  hatte  er  versprochen,  dass  er  seinem 
„System  zumal  in  meiner  davon  gemachten  Anwendung 
auf  Glaubenswahrheiten  ohnestreitig  als  grundfalsch 
schwärmerisch  und  irrig  verwerfe  und  ihm  gewiss  keinen 
Einfluss  auf  meine  etwaigen  künftigen  Arbeiten  je  ver- 
statten wolle."  Das  scharfe  Herausholen  dieses  Gegen- 
satzes zwischen  Liebe  und  Minne  ist  stets  durchge- 
führt. Wollust  ist  nach  dem  Selbstmorde  und  dem 
Morde  eines  anderen  die  allerschwerste,  schändlichste, 
beleidigendste  Sünde,  weil  sie  Liebe  lügt.  Und  im  Ton 
des  Alten  Testaments  spricht  er:  „Gott  ist  ein  eifersüch- 
tiger Gott  und  will  nicht,  dass  die  ihm  allein  gebührende 
Liebe  verschwendet  werde  dem  Fleische."  Die  Worte 
Paulus  schweben  ihm  vor,  wenn  er  die  Keuschheit  zwar 
das  Allerhöchste  nennt,  aber  mit  der  Liebe  solle  sie  ver- 
bunden sein,  mit  Milde  und  Sanftmut.  Die  grosse  welt- 
umschlingende Vereinigung  aller  Menschen  in  der  Liebe 
ist  gelöst  durch  den  Mittler  Christus.  „Euch  aber,  die 
ihr  ringt  und  Euch  sehnt  nach  einer  Thräne,  die  mit  Euch 
fliesst,  Euch  rufe  ich  zu:  Ihr  habt  ja  den  Versteher  aller 
Herzen,  seyd  c^etrost!"  In  dem  Kampf  zwischen  Wollust 
und  Liebe  im  Menschen  sieht  er  das  Welträtsel.  In  der 
ganzen  Natur  spiegelt  sich  dieser  Kampf  um  die  endliche 
Versöhnung.  Diese  Versöhnung,  das  Überwinden,  ist 
nicht  „durch  irgend  ein  jämmerliches  Skelett  oder  Kno- 
chengebäude, das  wir  Moral  nennen"  zu  erreichen.  „Nein 
die  gewaltige  Liebe  des  Menschen  zum  Fleische  kann  nur 
gebändigt  werden  durch  etwas  Mächtigeres,  Stärkeres; 
durch  die  Liebe  zum  Fleisch  gewordenen  Gotte,  Jesu 
Christo,  der  Geist  und  Blut  zugleich  ist."  Jeder  Mensch 
sei  zur  Liebe  geschaffen,  das  wüssten  auch  Jünglinge  und 
Jungfrauen  sagt  er  einmal  mit   fasst    wörtlichen  Anklang 


277 

an  Böhme,  dessen  Intention  hier  reiner  und  „einfältiger" 
getroffen  wurde,  als  in  dem  Liebebegriff  des  früheren 
Werner.  «Sie  wissen  und  verstehen  es  auch  beide,  dass 
der  wahre  Bräutigam  der  Braut  der  Seelenbräutigam  und 
Blutbräutigam  Jesus  sey  und  die  wahre  Braut  des  Bräu- 
tigams auch  wieder  der  Seelenbräutigam  Jesus  Christus." 
Diese  Liebe  eint  das  Menschengeschlecht  und  diese 
Einigung  zur  Gemeinschaft  ist  nicht  möglich  ohne  Demut, 
ohne  Aufgeben  des  Ich  in  diese  Allheit.  Kein  trunkenes 
Sichversinken,  kein  Zerfliessen,  sondern  ein  bewusstes 
Aufgeben  seines  Eigeninteresses,  mehr  aktiv  als  passiv. 
^Thätige  Liebe"  nennt  es  Werner  einmal.  Das  aktive 
Element  der  Caritas-Liebe,  nach  dem  Werner  schon  1803 
tastete,  wurde  von  ihm  jetzt  besonders  akzentuiert  ent- 
sprechend der  positiven,  aktivistischen  Färbung  seines 
Lebens,  die  er  in  das  Wort  der  Kunigunde  und  der  Un- 
kraftweihe  fasste:  „Die  beste  Reu' ist  Bessertun !"  Durch 
die  tätige  Nächstenliebe  stellt  sich  der  Mensch  in  den 
Kreis  der  Menschheit  hinein,  verstärkt  ihn  und  schafft 
ihn  erst  eigentlich.  Sie  stellt  die  Brüderschaft  der  Mensch- 
heit her  und  adelt  Gebende  und  Nehmende.  Es  ist  das- 
selbe gedankliche  Ziel,  zu  dem  er  in  seiner  romantischen 
Epoche  ging,  auf  einem  ganz  anderen,  nur  wortgleichem 
Wege.  Die  anscheinende  Selbstwiederholung  erfolgt  in 
der  Verlegung  des  Gedankens  in  eine  reine,  religiöse 
Schicht.  Über  diese  Entwicklung  hin  kommt  er  zum  Be- 
griff des  Glaubens.  „Der  Quell  und  der  Ursprung  des 
christlichen  Glaubens  ist  die  Demuth  der  Vernunft,  welche 
sich  liebend  beuget  unter  Gott."  Von  dieser  Definition 
aus  ist  die  Behauptung:  „Das  Glaubensvermögen,  die 
Glaubensfähigkeit  ist  es,  was  den  Menschen  zum  Men- 
schen mache,"  zu  verstehen.  Jeder  Mensch  ist  nach  ihm 
mit  Glauben  geboren.  Er  ist  eine  „Unkraft"  des  Intellekts. 
Die  Einreihung  der  Menschheit  in  ein  System,  die  Eingliede- 
rung in  einem  Organismus,  an  dessen  Göttlichkeit  Werner 
keineswegs  zweifelte,  war  sein  Ziel.  Durch  die  Unkraft  des 
Intellekts  erhoffte  er  die  Schaffung  einer  einheitlichen  geisti- 


278 

gen  Kultur,  deren  Fehlen  schon  Novalis  in  „Die  Christenheit 
und  Europa"  zu  ähnlicher  Forderung  und  Hoffnung  geführt 
hatte.  So  nur  glaubte  er  die  revolutionäre  Zerrissenheit  des 
modernen  Geisteslebens  heilen  zu  können.  Auch  der  Glau- 
bensbegriff Werners  war  Heroismus  der  Schwäche,  ein  tä- 
tiger Verzicht.  Er  war  gedacht  als  ein  Opfer  der  indivi- 
duellen Verstandesbildung,  die  ihm  als  Böhmejünger  nie 
bedeutsam  für  das  eigentliche  Wesen  des  Menschen  war. 
Wichtig  war  ihm  das  All-Gefühl,  die  Religion  Schleier- 
machers gewesen.  Die  trat  aber  früher  schon  vor  der 
Tatforderung  zurück,  jetzt  besonders  weit.  Er  erfasste 
hier  gleichzeitig  Böhmes  Wollen. 

Das  Spezifische  des  Glaubens  ist  ihm  nicht  das  Gefühl. 
Auch  bei  dem  Liebebegriff  ist  das  Gefühlsmomenf  abge- 
schwächt gegen  früher.  In  Fichtes  Bahnen  geht  jetzt  sein 
Weg.  Etwas  von  der  hastenden  Aktivität  des  totgeweihten 
Phthisikers  ist  zu  spüren.  „Aber  es  ist  hier  nicht  bloss  von 
der  Anregung  eines  edlen  Gefühls  die  Rede  und  wir  dür- 
fen auch  selbst  bei  dem  lieblichsten  Bilde  nicht  zu  lange 
verweilen,  weil  das  göttliche  Christentum  nicht  in  blossen 
Gefühlen,  selbst  den  edelsten  nicht,  sondern  weil  es  im 
lebendigen  Glauben,  süsser  Hoffnung,  thätiger  Liebe,  nicht 
bloss  gegen  unsere  Freunde,  sondern  auch  gegen  unsere 
Feinde  besteht."  Und  ähnlich  und  gleich  scharf:  „Das 
Christenthum  besteht  nicht,  wie  einige  glauben,  in  blossen 
Gefühlen,  in  ein  paar  Thränen,  in  einigen  flüchtigen  Rüh- 
rungen, damit  ist  die  Sache  nicht  abgetan."  Dabei  pre- 
digte er  keine  äusserliche  Werkheiligkeit.  Öfters  betonte 
er  die  Verinnerlichung  des  religiösen  Lebens  als  erste 
Notwendigkeit.  Er  sprach  von  dem  Lippenwerk  des  Ge- 
betes und  wir  finden  eine  Äusserung,  die  zu  dem  Bilde, 
das  man  uns  von  dem  konvertierten  Werner  nur  zu  oft 
machte,  in  keiner  Weise  passen  will:  „Es  hat  Heilige  ge- 
geben, welche  in  Staub  und  Asche,  in  Ketten  und  Cilicien 
gebüsst  haben,  aber  Staub  und  Asche  meine  Freunde, 
Ketten  und  Cilicien  sind  ausser  uns,  das  was  in  uns  ist, 
das  Herz  muss  trauern,  das  Herz  muss  büssen  .  .  .  ." 


279 

Bei  solcher  Auffassung  des  Katholizismus  konnte  sich 
keine  Intoleranz  entwickeln.  „Mancher  schlechte  Katho- 
lik", heisst  es  in  den  Geistesfunken,  „wird  viel  schwerer 
die  Seligkeit  erlangen,  als  viele  fromme  Protestanten, 
Juden  und  Heiden.  Mancher  Heide,  der  Jesum  Christum 
nicht  emmal  dem  Namen  nach  kennt,  wird  gewiss  leichter 
und  eher  selig,  als  diese  schlechten  nichtswürdigen  Ka- 
tholiken." Weit  entfernt  von  jedem  Renegaten -Hass  er- 
klärte er  die  Reformation  aus  Missverständnissen.  „Durch 
diese  Spaltung  sind  nicht  etwa  Menschen  von  uns  ge- 
trennt, die  schlechter  sind  als  wir,  nein  die  edelsten, 
schönsten,  zartesten  Seelen."  Die  Juden  nannte  er  in  dem 
judenfeindlichen  Wien  „unsere  älteren  Brüder". 

Die  nationale  Tendenz  hatte  sich  weiter  entwickelt 
und  eine  tiefere  religiöse  Umbildung  durchgemacht.  Ihm 
ist  die  „Deutschheit" :  „Der  kühne,  ja  kecke  Versuch  des 
Volkes,  früher  als  es  nach  dem  Lauf  der  Begebenheiten 
geschehen  wird,  zur  Freiheit  der  Kirche  Gottes  zu  ge- 
langen. Das  Wesen  der  Deutschheit  beruht  daher  auf 
inneren  Anschauungen  und  ist  im  eigentlichen  und  tief- 
sten Sinne  poetisch;  in  demselben  liegt  aber  auch  zu- 
gleich die  Inkonsequenz  im  Denken  und  im  Thun  und  das 
fessellose  Streben  nach  der  Freiheit  der  Kinder  Gottes." 
Man  könnte  dieses  Wort  die  tiefgreifendste  Erfassung  Böh- 
mes (natürlich  vom  Standpunkt  des  Konvertiten)  nennen, 
zu  der  Werner  kam.  Die  nationale  Tendenz  in  dieser 
Färbung  lässt  den  philosophus  teutonicus  neben  Fichte 
als  den  Vater  dieser  Gedanken  erkennen  und  zeigt  wieder 
wie  eigenartig  sich  Epigonentum  und  ureigenes  Erleben 
in  Werner  verbinden. 

Das  Nationale  wird  in  seiner  geistigen  Form,  in  sei- 
ner eigentlichen  Art  erfasst  als  Ausdruck  eines  geistigen 
Individuums,  eines  Mikrokosmos.  Werner  sieht  es  in  der 
religiösen  Schicht.  In  diesem  Sinne  ist  ihm  ganz  Europa 
getrennt  in  zwei  Lager:  dem  deutschen  und  nicht-deut- 
schen und  als  das  Charakteristische  unserer  Zeit  erscheint 
ihm  das    Tendieren    zur  Deutschheit,    als    den  Mittelweg 


280 

des  Strebens  zur  Freiheit  der  Kinder  Gottes.  Und  ähn- 
lich: „Europa  muss  nun  einmal  verdeutscht  werden,  es 
muss  aber  katholisch  verdeutscht  werden."  Wenn  dieser 
Prozess  zu  Ende,  dann  ist  damit  der  Verbindungspunkt  ge- 
funden zwischen  einem  Katholizismus,  der  zu  viel  Wert  auf 
Formen  legt  und  einer  alle  Form  durchbrechenden  Religi- 
onsauffassung. Die  prägnanteste  Formulierung  dieser  For- 
derung der  Verbindung  von  „freier  lebendiger  Überzeu- 
gung" als  deutsches  Element  mit  dem  römischen  des 
„Glaubens"  (im  Sinn  des  Glaubens  als  Fürwahrhalten  von 
Tatsachen  ohne  Erleben)  lautet:  „Die  unserer  Zeit  ange- 
messenste Darstellungsweise  des  katholischen  Christen- 
thums  ist:  dasselbe  als  Grundbedürfnis,  als  Postulat  und 
Culminationspunkt  der  reinen  Menschheit  darzustellen, 
was  bisher  noch  nicht  gesehen  ist.  —  Darum  also  und 
weil  alle  Völker  Europas  nach  der  Deutschheit  oder  nach 
der  Verdeutschung  streben,  ist  der  gegenwärtigen  Zeit  eine 
echt  deutsch-katholische  Dogmatik  hoch  von  nöthen.  Eine 
solche  Darstellung  der  Dogmen  ist  noch  nicht  da  und 
muss  erst  gefunden  werden.  Hierzu  gehört  aber  eine 
grandiose  Verständigung  zwischen  Rom  und  Deutschland, 
eine  Verpflanzung  der  Deutschheit  nach  Rom,  eine  Ver- 
deutschung Roms,  welche  jedoch  sehr  schwer  ist  und  nur 
dadurch  möglich  wird,  dass  alle  Jahre  ein-  bis  zweihundert 
junge  Römer  auf  deutsche  Universitäten  geschickt  werden, 
um  an  denselben  zu  studieren,  auf  diese  Weise  die  Deutsch- 
heit kennen  lernten  und  sie  dann  nach  Rom  zurück- 
brächten." 

Diese  Stelle  und  Auffassung  vollendet  das  Bild,  das 
die  Romantiker  im  Deutschtum  sahen.  Für. Novalis  lag  der 
intellektuelle  Schwerpunkt  wie  für  den  Dichter  des  „Meister" 
in  Deutschland.  Es  war  ihm  die  Verkörperung  höchster,  vor 
allem  philosophischer  Geisteskultur.  Görres  betont  in  seinem 
Aufsatz:  „Über  den  Fall  Deutschlands  und  die  Bedingungen 
seiner  Wiedergeburt"  dass  der  Kampf  gegen  Napoleon,  den 
er  nahen  fühlte,  das  Ringen  des  Deutschtums  und  Nicht- 
deutschtums  sei  um  die  Herrschaft  der  Welt  und  Kultur. 


281 

Die  Verbindung  der  politisch-nationalen  Wiedergeburt  mit 
einer  religiös-moralischen  wurde  von  Werner  schon  früh 
als  nötig  empfunden.  Achim  von  Arnims  „Gräfin  Dolores 
Reichtum,  Schuld  und  Busse"  betonte  ebenfalls  die  enge 
kausale  Verknüpfung  einer  ethisch  religiösen  Renaissance 
mit  dem  Wiedererstehen  der  deutschen  Nation.  Indivi- 
duell kam  Werner  wiederum  von  einer  ganz  anderen  Seite 
zu  seiner  Formel.  Historisch,  d.  h.  im  Zusammenhang 
mit  seiner  Zeit  gesehen,  ist  sie  eine  extreme  Weiterent- 
wicklung dieser  Ansätze,  die  Schleiermacher  in  dem  Re- 
ligionsreden wohl  zunächst  veranlasste. 

Klar  lässt  sich  der  Einfluss  des  Katholizismus  auf  den 
Schicksalbegriff  erkennen.  Wir  finden  eine  Menge  Ver- 
suche, alle  Funktionen  der  Seele  als  Erscheinungsformen 
des  Willens  gefasst.  Die  Liebe  ist  der  Wille,  sich  für 
den  Nächsten  zu  opfern,  der  Glaube  ist  der  Wille,  sein 
menschliches  Wissen  aufzugeben  für  das  göttliche,  Hoff- 
nung der  Akt,  seinen  Willen  dem  Gottes  gleich  zu 
machen.  „Der  Weise"  definiert  er  in  diesem  Sinne,  „ist 
derjenige  Mensch,  welcher  das  Gute  stark  und  mächtig 
will."  Erkenntnis  ist  die  Belohnung  des  guten,  Gott  nicht 
widerstrebenden  Willens.  Der  Satz  „Fax  hominibus  bonae 
voluntatis  ist  für  unser  Jahrhundert  gewissermassen  ein 
neuer  Satz."  Sein  Endziel  der  Entwicklung  des  Menschen 
ist  das  Erlangen  der  ewigen  Seligkeit.  „Hierzu  bedarf 
es  allein  des  Willens.  Der  Wille  bestimmt  den  Wert 
oder  Unw^ert  des  Menschen;  der  das  Gute  wollende  Wille 
beseligt  ihn,  der  das  Böse  wollende  Wille  verdammt 
ihn.  Keine  Sünde  ohne  Willen,  so  ruft  uns  der  Gnaden- 
held Augustinus  zu  ....  .  Die  wahre  christliche  Liebe 
ist  der  auf  Gott  allein  als  die  unendliche,  ewige,  ver- 
söhnende Liebe  hinzielende  Wille."  Mit  diesen  Worten 
stellte  er  sich  schroff  gegen  jeden  überindividuellen  Schick- 
salglauben und  bekannte  sich  zu  einer  individuellen  Wil- 
lensfreiheit. Hier  ist  er  deutsch  in  seiner  Auffassung, 
hier  ist  er  Böhmejünger  wie  nie. 

Eine    interessante    Entwicklung    hat    die    Ideetheorie 


282 

Werners  in  der  Zwischenzeit  durchgemacht.  ,,Ein  jeder 
Mensch  hat  drei  Seiten,  nämlich  erstens  die  pragmatische, 
insofern  er  auf  andere  wirkt,  zweitens  die  symbohsche, 
insofern  er  eine  Idee  anschaulich  macht,  und  drittens  die 
ethische  Seite,  insofern  er  will  Gott  oder  den  Teufel.  Die- 
jenige Seite  aber,  die  über  die  Seligkeit  entscheidet,  ist 
weder  die  pragmatische  noch  die  symbolische,  sondern 
einzig  und  allein  die  ethische  Seite,  der  Wille."  Hier  ist 
keine  Rede  mehr  davon,  dass  das  Individuum  nur  lebt 
durch  die  Idee.  Hier  hat  es  Eigenexistenz  und  Eigen- 
recht, ist  erst  ganz  Individuum  und  frei  in  sich. 

Im  engsten  Anschluss  an  die  Lehre  der  katholischen 
Kirche  ist  ihm  die  Gnade  zum  Erlangen  der  Gottesan- 
schauung unbedingte  Voraussetzung.  Aber  die  kirchliche 
Lehre  sagt  ebenfalls,  dass  diese  Voraussetzung  bei  jedem 
Menschen  erfüllt  sei  und  nur  vom  Willen  des  Einzelnen 
hänge  die  Erfüllung  ab.  Der  menschliche  Wille  muss  den 
Weg  der  Aufopferung  gehen.  „Ist  der  Mensch  etwa  ein 
kraftloses  Wesen?  Mit  nichten;  wie  wäre  er  dann  König 
der  Schöpfung?  Der  Mensch  gelangt  zur  wahren  gött- 
lichen Kraft,  zur  Kraft  in  Jesum  Christo  nur  durch  Selbst- 
verleugnung, durch  Selbstentsagung,  durch  Vergessen 
seines  Ichs,  durch  Demuth."  Die  „Unkraft"  zeigt  sich 
hier  deutlicher  in  ihrer  katholisch  dogmatischen  Version. 
Aber  sie  ist  sehr  scharf  von  allen  Gefühlstendenzen  pas- 
siver Art  befreit  und  zum  Willenakt  geworden.  Der  Wille 
trat  immer  mehr  an  die  beherrschende  Stellung  in  der 
Lebensphilosophie  Werners.  Die  Rezeption  des  Katho- 
lizismus war  nicht  rein  die  einer  Gefühlsmacht.  Seine 
Konversion  enthielt  diese  Keimzelle  und  besonders  dem 
Einfluss  des  Pater  Clemens  Hoffbauer  ist  die  weitere  Ent- 
wicklung in  dieser  Richtung  zu  verdanken. 

Das  war  Werners  Weltanschauung  als  er  die  Vorrede 
zum  24.  Februar  schrieb,  dem  Lied  „das  nie  mich  reute." 
Fichte  stand  in  dieser  Weltanschauung  neben  Böhme  und 
Augustinus.  Der  Wille  und  die  Selbstverantwortlichkeit 
wurden  in  strenger  Form  als  entscheidend    erkannt    und 


283 

Werner  vermochte  dieses  sogenannte  Schicksaldrama  mit 
einer  wenig  bedeutenden  Biegung  des  Ideegehalts  in  seine 
Willensreligion  einzufügen.  Ein  Beweis,  wie  weit  er  sich 
damals  schon  in  der  Theorie  seinem  jetzigen  Weltbild 
genähert  hatte. 

Die  passivistische  Färbung  seines  Charakters  und  die 
Erscheinungsform  der  Willensfreiheit  in  der  katholischen 
Moral  und  Dichtung  v^ereinigte  sich  bei  Werner  und  führte 
den  Künstler  auf  den  Wegen  Calderons  zu  dem  Marter- 
stück, zur  „Mutter  und  Makkabäer".  Sie  und  ihre  Söhne 
sind  die  berufenen  Vertreter  der  Wernerschen  Anschau- 
ung: „ Und  so  ist  denn  der  wahre  Christ,  die  wahre 

Christin  Herr  des  Schicksals,  Herr  aller  Verhältnisse, 
Herr  des  Lebens  und  Herr  endlich  auch  des  Todes."  Und, 
definierte  der  katholische  Werner,  mit  ganz  anderem  In- 
halt als  der  Dichter  des  Kreuzes  an  der  Ostsee  „Der 
Märtyrertod  ist  keine  Qual,  sondern  er  ist  die  schöne 
Belohnung  des  Schmerzes." 

In  unsympathischem  Druck  erschien  in  der  Brock- 
haus'schen  „Urania"  (Taschenbuch  für  Damen)  auf  das 
Jahr  1815  Werners  Schicksaltragödie,  in  demselben  Jahre 
„Kunigunde"  und  1820  die  vier  Jahre  vorher  abgeschlos- 
sene „Mutter  der  Makkabäer",  die  geschrieben  wurde,  um 
das  Heilige  zu  verherrlichen.  Werners  dramatischer  Buss- 
gesang war  das ;  denn  sowohl  Kunigunde  wie  der  24.  Fe- 
bruar waren  aus  der  Konversionsstimmung  entwachsen 
und  wurden  von  dem  Konvertiten  „bekehrt",  möchte  man 
sagen.  In  dieser  Zeitspanne  hatte  sich  Werner  bewusst 
für  das  Künstlerpriestertum  entschieden.  Seine  Auffassung 
der  Kunst  als  Mittel  der  Bekehrung,  als  Offenbarung  des 
Göttlichen  in  der  Natur  und  Geschichte  erleichterte  ihm  das. 
Die  Kunst  ist  ihm  die  Sehnsucht  nach  dem  Erlöstwerden, 
nach  dem  Erlöser.  Auch  hier  also  ist  ihm  Kunst  gleich 
Religion,  aber  das  Einigende  liegt  nicht  mehr  in  dem  Woll- 
lüstigen  aller  Religion  und  Kunst.  Das  Kunstwerk  ist 
ihm  ein  Bild  der  Gottheit  im  Stoffmittel  der  Natur.  „Und 
was  ist  es    denn,    was  Ihr    in  Euern  Dichtern,   Romanen 


284 

und  Komödien  schön,  herrlich  nennt,  was  Ihr  in  und  an 
ihnen  bewundert?  —  Was  ist  es  denn  anders  als  ein  ein- 
zelner Funken  aus  dem  unendlichen  Lichtmeer  der  Gott- 
heit?" Mit  einer  leichten  Verschiebung  der  Akzente  ist  so 
eine  grundtiefe  Änderung  der  Ästhetik  Werners  erreicht. 
Nur  diese  göttliche,  religiöse  Kunst  vermag  dem  Menschen 
etwas  zu  geben.  Das  sagte  auch  der  Nicht  -  Katholik, 
aber  Religion  und  Gott  sind  im  Kern  völlig  gewandelte 
Begriffe,  die  kaum  mehr  als  die  Wortschale  gleich  und 
gemeinsam  haben. 

War  seine  frühere  Kunstpredigt  erfüllt  gewesen  von 
dem  Ideegehalt,  der  ihm  damals  eignete,  die  „Mutter  der 
Makkabäer"  wurzelte  ganz  in  dem  Katholisch-christlichen, 
ist  die  bildliche  Verdichtung  seiner  neuen  Weltanschauung. 
Auch  dieses  Werk  ist  in  Werners  Sinne  ein  Bekenntnis 
nicht  so  sehr  des  Rein  -  Menschlichen  in  ihm,  das  noch 
immer  unter  der  Identifikation  mit  dem  Nur-Individuelien 
litt,  sondern  seines  Idee-Menschtums.  Während  wir  aber 
in  der  früheren  Epoche  den  Gegensatz  der  beiden  Seins- 
formen literatenhalt  scharf  ausgeprägt  fanden  und  in  der 
krampthaften  Übersteigerung  seines  Sehen woUens  erfühlten, 
ist  hier  ein  versöhnenderer  Ausgleich  gefunden.  Sein  und 
Wollen  sind  nicht  mehr  so  antithetisch.  Ruhig  und  har- 
monischer stehen  die  Welten  nebeneinander,  als  deren 
beider  Glied  Werner  den  Menschen  wusste. 

Er  wollte  das  Hohelied  der  Mutterliebe  und  die  Welt- 
überwindung durch  den  Glauben  darstellen.  Als  Motto 
wählte  er  die  Stelle  aus  Jesaias:  „Kann  auch  ein  Weib 
ihres  Kindleins  vergessen,  dass  sie  sich  nicht  erbarme 
über  den  Sohn  ihres  Leibes?"  Die  höchste  Mutterliebe 
vermag  selbst  das  und  Salome  spricht  die  Worte  zur 
zweifelnden  Braut  ihres  Sohnes: 

„Der  Gluth  und  Treu  der  Mutterliebe 

Es  gleichet  ihr  an  Stärke  nichts  auf  Erden, 

Im  Himmel  nichts,  als  der,  der  ihn  gegründet! 

Was  sonsten  Liebe  heisst,  kann  Hass  auch  werden, 


285 

Und  durch  den  glühendsten  der  Himmelstriebe, 
Wird  Höir  auch  oft  in  unserer  Brust  entzündet; 
Doch  ewig  treu  verbindet 

Bleibt  Mutterliebe  —  will  wie  Gott  nicht  töten, 
Beieben  nur!  —  Von  tieferm  Schmerz  zerfleischet 
Ist  mein  Herz;  ich  theile  deine  Nöten! 
Doch  flammt  mir  auch  selbst  im  gebrochnen  Herzen, 
Das  Abramsopfer  durch  die  Nacht  der  Schmerzen." 
„Gegenwärtige  Tragödie"  heisst    es   in    der  Vorrede 
des  Dramas,  „habe  ich  am  Anfang  des  Jahres    1816    ge- 
dichtet.    Erst  zwei  Jahre  später   erfuhr  ich,  das  derselbe 
Gegenstand  französisch  und  nach  dem  Französischen  auch 
teutsch  bearbeitet  worden  se}'.     Beide  Bearbeitungen  sind 
mir  nie  zu  Gesicht  gekommen."     Das  stimmt  nicht  ganz. 
In  einem  Briefe  vom  28.  Dezember  1818  schrieb  er  Hitzig, 
dass  er  mit  der  Mutter   der  Makkabäer  noch    beschäftigt 
sei.    Wir  haben  an  eine  Überarbeitung  zu  denken,  deren 
Spuren  sich  aber  wohl  nicht  erkennen  lassen. 

Die  Quelle,  die  er  nutzte,  ist  die  Erzählung  des7.  Ka- 
pitels im  2.  Buche  der  Makkabäer.  Wie  schon  in  dem 
Vorworte  der  „Kunigunde-  entschuldigt  er  sich  auch  dies- 
mal, dass  er  „wie  unser  vortrefflicher  Schiller  sich 
genötigt  gesehen  habe,  die  Tatsachen dem  drama- 
tischen Bedarf  gemäss-  zu  modeln.  Kritikern  gegenüber 
macht  er  dramaturgische  Gründe  geltend,  frommen  Ge- 
mütern weiss  er  einen  andern  Grund  namhaft  zu  machen. 
Die  Wirklichkeit  er  nennt  sie  die  sogenannte)  sei  ja  nur 
Schale  des  eigentlich  Wirklichen. 

Die  symbolische  Deutung  des  Realen  durch  Werner 
machte  naturgemäss  die  Darstellung  der  Zeit  in  ihrer  ge- 
schichtlichen Tatsächlichkeit  unmöglich.  Das  musste  dem 
Dichter  zu  unwichtig  sein.  Auf  „Kunigunde",  die  fast 
krampfhaft  das  historische,  so  schlecht  sitzende  Gewand 
nicht  zu  verlieren  sich  bemüht,  folgte  dieses  Schauspiel 
aus  dem  Jahre  62  vor  Christus,  in  dem  die  Personen  das 
Christentum  schon  zu  kennen  scheinen,  denken  und  spre- 
chen, als  wäre   Antiochus  Nero,  Antiochia  Rom.     Selbst- 


286 

WO  das  antike  Kolorit  gewahrt  ist,  fehlt  jede  genauere 
Charakteristik.  Wir  können  das  Drama  nicht  als  histori- 
sches Schauspiel  werten.  Werner  wollte  das  auch  gar- 
nicht.     Wollte  es  wohl  nie. 

Die  Stellung  Werners  zur  Geschichte  war,  stets  nur 
im  Stärkegrad  wechselnd,  von  seiner  mystischen  Auffas- 
sung der  Wirklichkeit  bestimmt. 

„Sei  in  der  Chronik  nichts  davon  zu  lesen 

Nicht  ihr,  dem  Ruf  des  Innern  muss  ich  dienen. 

Was  im  Gemüt  gelebt,  ist  dagewesen" 
sagte  der  Dichte  der  „Weihe  der  Kraft".  Schon  durch 
Rousseau  in  seiner  Forderungsstellung  zur  Wirklichkeit 
bestärkt,  sah  er  bereits  vor  der  Aufnahme  Böhme-Schleier- 
machers in  ihr  nur  die  Symbolerscheinung  des  Göttlichen. 
Mit  Schelling  war  ihm  die  Geschichte  eine  kontinuierliche 
Selbstoffenbarung  Gottes,  die  Böhmesche  immerwährende 
Geburt  der  Gottheit.  Ihr  Gesetz  vollzieht  sich  als  Fatum 
im  Geschehenden.  Durch  das  Ideeindividuum  erhielt  die 
Persönlichkeit  einen  Anteil  an  der  Gestaltung  der  Wirk- 
lichkeit zum  Sein,  da  es  das  Mittelglied,  der  Mittler 
beider  zu  sein  vermag.  Soweit  die  Geschichte  Seinsoffen- 
barung ist,  soweit  ist  sie  wertvoll.  Nur  soweit  Poesie, 
als  sie  ist  ...  .  „Darstellung  des  göttlichen  Moments,  in 
dem  Geist  und  Herz  sich  vereinigend,  sich  in  ihrem  bei- 
derseitigen Urquell,  die  Gottheit  verlieren."  Die  historische 
Handlung  interessiere  nur  in  Betreff  der  Quelle  (als  Offen- 
barung Gottes)  nicht  der  Wirkung  in  der  Geschichte,  im 
Realen,  sagte  der  Böhmeschüler,  dessen  Lehrer  das  „Histo- 
rische" im  Sinne  des  Formalen,  Zufälligen  fasste.  Das 
eigentlich  Historische  ist  nebensächliche,  verkleidende  oder 
gar  störende  Arabeske.  In  dieser  Auffassurg  des  Ge- 
schichtlichen standen  seine  Dramen.  In  der  Weihe  der 
Kraft  vor  allem  war  er  im  Äusseren  historisch  gewesen, 
hatte  Luthers  Worte  seinem  Reformator  in  den  Mund  ge- 
legt, sicherlich  aber  wollte  er  gerade  da  nicht  „historisch" 
sein,  sondern  das  Göttliche  als  „Folie"  geben,  wollte  im 
Geschichtlichen  die  Offenbarung  der  Idee  fassen.     Nur  die 


287 

Aktivität  der  Persönlichkeit  zeugte  von  einer  tieferen 
Wandlung  seiner  Auffassung  der  Geschichte,  Johannes 
von  Müller  brachte  ihm  damals  noch  mehr  als  sonst  die 
Quellen  nahe,  aber  zweifellos  war  dieser  Luther  in  die  Welt 
Fichte-Böhme-Schleiermachers  versetzt,  lebte  im  „zweiten 
Prinzip",  war  Ideeindividuum.  In  Coppet  zeigte  sich  eine 
Zunahme  des  historischen  Interesses,  die  wir  auf  den 
Einfluss  A.  W.  Schlegels  zurückführten  und  Kunigunde 
kann  als  Versuch  Werners  angesehen  werden,  das  Histo- 
rische nicht  nur  als  Maske  zu  nützen,  ohne  dass  er  dieses 
Wollen  zu  gestalten  vermochte.  Hier  war  ihm  das  Histo- 
rische mehr  gewesen.  Hier  wollte  er  die  Synthese  von 
Realität  und  Idealität,  die  er  Goethe  gelehrig  versprach, 
nicht  nur  im  Raum,  auch  in  der  Zeit  geben,  wollte  das 
Problem  der  historischen  Kunst  in  Goethes  Sinne  lösen. 
Die  Kunigunde  in  ihrer  ausgeführten  Form  kann  auch 
hier  wieder  als  Konversionsdrama  gelten,  zeigt  den  Weg 
an,  den  er  in  der  Mutter  der  Makkabäer  schritt.  Auch 
hier  war  Weimar  das  „retardierende   Moment"    gewesen. 

Die  historische  Epik  wie  das  historische  Drama  der 
Romantik  entwickelte  sich  in  ihr  zu  der  verschiedenarti- 
gen Form  vom  Mythos  bis  zum  geschichtlichen  Dicht- 
werk. Der  Ausgangspunkt  ihrer  historisch-künstlerischen 
Versuche  lag  sowohl  in  dem  Gefühl  der  Abhängigkeit 
ihres  Persönlichen  von  überpersönlichen  Werten,  von  ge- 
schichtlichen Kräften,  wie  in  ihrer  Sehnsucht  nach  dem 
Mythos  als  Ausdruck  des  Absoluten  in  der  Welt  der  Er- 
scheinung. Beide  Richtungen  kreuzten  sich  im  Laufe  der 
Entwicklung  sow^ohl  im  Zeitganzen  wie  in  den  Persön- 
lichkeiten und  führten  je  nachdem  zu  einer  stärkeren  Be- 
tonung der  Geschichte  als  Mythos  oder  Entwicklung. 

Dauernd  am  ausgesprochensten  hatte  der  Wissen- 
schaftler-Künstler A.  W.  Schlegel  wohl  den  genetischen 
Charakter  der  Geschichte  empfunden  und  er  legte  mit  der 
Forderung  nach  einem  deutschen  Shakespeare  das  Rein- 
Historische  der  Königsdramen  wohl  bewusst  Werner  nahe, 
der  als  Sohn  eines  Historikers  stets   eine  Freude   an  der 


288 

geschichtlichen  Form  besass;  denn  auch  in  Werner  war 
der  Doppelquell  der  Geschichtssucht  der  Romantik  vor- 
handen, ohne  dass  die  genetische  Auffassung,  deren  Spuren 
wir  in  der  Entwicklung  der  Schicksalidee  als  Weltan- 
schauungsform der  Völker  und  Individuen  sahen,  je  sich 
rein  durchsetzen  konnte.  Das  Rein-Historische  wurde  von 
ihm  als  untragisch  abgelehnt.  Als  er  Iffland  dasschrieb,stand 
er  in  der  Nähe  Calderons,  gab  die  Mythossehnsucht  seiner 
Generation  in  dieser  eigenartigen  Formulierung  wieder. 
Da  schon  griff  er  tastend  nach  dem  Ideeindividuum,  dessen 
Übertragik  er  nicht  klar  erfasste.  Das  Nur- Individuelle 
konnte  seiner  ^Meinung  nach  nicht  zum  Einfühlen,  zur 
höchsten  Illusion  führen.  Nur  im  Kampf  überhistorischer 
Kräfte  glaubte  er  das  tragische  Erlebnis  dem  Zuschauer 
aufzwingen  zu  können.  Er  ist  wohl  der  Romantiker,  der 
am  stärksten  den  M3'thosgehalt  des  Historischen  suchte 
und  empfand. 

Das  lag  in  seiner  menschlichen  Persönlichkeit  be- 
gründet, sicherlich  aber  auch  in  seinem  Künstlertum. 
Werner  war  Dramatiker,  d.  h,  er  vergegenwärtigte  das 
Geschehen.  Das  genetisch  Historische  stellt  aber  eine 
Distanz  von  der  Gegenwart  her,  die  mehr  ist  als  die  rein 
zeitliche.  Jeder  Dramatiker  hat  bewusst  oder  unbewusst 
den  Mythos  in  der  Geschichte  gesucht  und  nur  dem  Epiker 
konnte  es  gelingen  eine  Synthese  zwischen  dem  Eigent- 
lich -  Historischen  und  dem  Allgemeingültigen  der  Ge- 
schichte zu  finden.  Was  der  Dramatiker,  was  Werner  in 
der  Geschichte  suchte,  war  eine  Steigerung  der  Wirklich- 
keit, eine  Manifestierung  der  ewigen  Idee.  Gerade  im 
Medium  des  Geschichtlichen  glaubte  er  den  „Idee"- Cha- 
rakter* seiner  Helden  und  Geschehnisse  durch  den  inneren 
Kontrast  am  deutlichsten  zeigen  zu  können  —  einerseits. 
Ein  bewusstes  Überwinden  des  Geschichtlichen  also.  An- 
dererseits bot  ihm  die  Distanzierung  durch  das  Historische 
den  Kothurn,  der  das  Überwirkliche  dieser  künstlerisch- 
tatsächlichen Gegenwart  dem  Zuschauer  bildhaft  machte. 
Rücksichtslos  vergewaltigte  er  das  Historische,  behielt  nur 


289 

die  Schale.  Natur  und  Geschichte  waren  ihm  hierin  fast 
gleich,  Stoff,  den  sein  Idee- Ich  zu  gestalten  hatte.  Wie 
er  als  Lyriker  nie  zu  einer  eigentlichen  Synthese  von 
Natur  und  Ich  kam,  so  stellte  er  im  Drama  sein  Bild  des 
Absoluten  dem  geschichtlichen  einfach  gegenüber. 

Dieses  Kunstwollen  —  soweit  man  es  nicht  Kunst- 
zwang nennen  möchte  —  wurde  nuanciert  durch  die  Ein- 
flüsse des  katholischen  Christentums.  Es  ist  eine  den 
Kirchenvätern  wie  Scholastikern  geläufige,  in  ihrer  Welt- 
anschauung fest  verankerte  Anschauung,  dass  die  Ge- 
schehnisse des  alten  Bundes,  die  Erzählungen  des  alten 
Testaments  Hinweise  und  Symbole  des  kommenden  Er- 
lösers, seines  Lebens  und  Sterbens  seien.  Mit  einem 
künstlerisch  äusserst  feinen  Empfinden  ist  der  Kranz  die- 
ser Vorbilder  des  kommenden  Heilandes,  den  das  Messias- 
Evangelium  des  Matthäus  begonnen  hatte,  weitergeflochten. 
Das  alte  Testament  wurde  zur  Mythologie  für  die  Christen, 
wurde  mit  ihrem  Gegenwartsleben  gefüllt  und  gedeutet. 
So  wurden  Werner  ja  auch  Hiob  und  das  Liebelied  Sa- 
lomons  zur  höchsten  Poesie,  weil  sie  ihm  Symboldarstel- 
lungen des  Gottmenschen  Christus,  seiner  Liebe  zu  uns, 
seines  Leidens  für  uns  w^aren.  Zu  dieser  Symboldarstel- 
lung seines  Lebens  und  seiner  Zeit  wollte  Werner  die 
Erzählung  des  Makkabäerbuches  erheben. 

In  der  „Mutter  der  Makkabäer"  ist  das  Historische 
in  sofern  genutzt  worden,  als  er  aus  der  geschichtlichen 
Gegenwart  Motive  übernahm.  Antiochus  ist  nicht  nur 
gestaltgeschichtlich  im  Schaffen  Werners  eine  Weiterbil- 
dung des  Aetius,  er  ist  auch  der  Versuch,  das  Charakter- 
bild Napoleons  neu  zu  fassen  und  durch  den  Befehl  Salomes 
den  Sohn  des  Königs  zu  retten,  deutete  Werner  auf  die 
Tat  Österreichs,  das  dem  jung-en  König  von  Rom  Asyl 
bot.  Die  Verfolgung  des  Papsttums  durch  den  Kaiser 
spielt  leise  in  die  Darstellung  hinein,  ohne  dass  sie  jedoch 
direkt  Wort  und  Gedanke  wird.  Das  Leben  und  die  Ge- 
schichte ist  Gleichnis,  aber  das  Gleichnis  an  sich  ist  Dar- 
stellungsmaterial. Die  „tiefmystische  Natur"  soll  im  Kunst- 
Hank  a  m  c  r ,  Zacharias  Werner.  1 9 


290 

werk  erreicht  werden,  die  auch  nur  im  Gleichnis  spricht. 
Das  Finden  der  Zusammenhänge  zwischen  Sein  und  Da- 
sein sollte  durch  die  Apotheose  Salomes  erleichtert  werden. 
Die  übermenschliche  Leistung  weist  auf  den  übermensch- 
lichen Beistand,  dessen  theatralische  Erscheinungsform 
wie  sonst  angewandt  wurde. 

Schon  einmal  hatte  ein  Genie,  das  in  dieser  Weltauf- 
fassung stand  und  von  hier  aus  seine  Kunstwelt  aufbaute, 
seinen  Entwicklungsgang  gekreuzt:  Calderon.  Damals 
erwuchs  aus  dieser  Verbindung  beider  Einheiten  das  Misch- 
produkt des  „Kreuzes  an  der  Ostsee"  mit  seiner  flimmern- 
den Einheit  von  Wollust  und  Gottesliebe,  seinem  Schwan- 
ken zAvischen  Fatumschicksal  und  Vorsehung,  zwischen 
Tragödie  und  Mysterium,  das  die  Formvollendung  ver- 
hinderte. Stärker  als  bei  allen  übrigen  Dramen  machte 
sich  hier  der  formale  Einfluss  Calderons  bemerkbar,  dessen 
„standhafter  Prinz"  das  Vorbild,  dessen  „wundertätiger 
Magus"  im  Einzeln  fördernd  war. 

In  der  Komposition  hat  eine  sehr  deutlich  erkennbare 
Lockerung  der  Bindungen  stattgefunden.  Es  sind  —  oft 
sehr  geschickt  gruppierte  —  Bilder,  die  vor  uns  ausge- 
stellt werden,  ein  loses  Aneinanderreihen  von  Momenten, 
aber  ohne  inneren,  engsten  Zusammenhang.  Ganze  Scenen 
kann  man  ohne  jede  Gefahr,  als  reine  Zustandsschilde- 
rungen  aus  der  dramatischen  Entwicklung  streichen.  Man 
spürt,  worauf  Werner  hinaus  wollte  aber  gleichzeitig,  dass 
es  ihm  nicht  gelungen  ist.  Er  wollte  den  dramatischen 
Prozess  möglichst  auf  seine  primitivste  Form  reduzieren. 
Seine  Absicht  ist  —  wie  etwa  der  spätere  Tolstoj  wirk- 
lich tut  —  nur  die  markantesten  Striche  zu  geben,  sie 
von  uns  ergänzen  zu  lassen.  Der  Versuch,  hierin  Cal- 
deron nachzuahmen,  ist  ihm  vollständig  misslungen.  Die 
prachtvolle  Selbstversändlichkeit  etwa  des  Aufbaus  des 
„standhaften  Prinzen"  ist  auch  nicht  annähernd  erreicht. 
Es  fehlt  das  Organische,  wie  aus  sich  Wachsende  der 
Komposition  fast  jedes  Calderonschen  Stücks.  Die  durch 
die  übertragische  Lösung  bedingte  Entspannung  des  Dra- 


291 

matischen  führte  zu  einer  undramatischen  Erschlaffung 
des  Ganzen.  Ein  kompliziertes  Nebeneinander  von  Moti- 
ven, Hauptpersonen,  Stimmungen  vereitelt  die  kristallene 
Klarheit  Calderonscher  Technik.  Nur  das  Äusserliche, 
das  scheinbar  Saloppe  dieses  Arbeitens  wird  erfasst  und 
wiedergegeben.  Und  dieses  Bestreben  stand  mit  dem  ihm 
im  Blute  liegenden,  theatralischen  Instinkten  in  scharfem 
Kampf  und  verzerrte  die  Einheit  des  Stils. 

Ganze  Scenenfolgen  sind  rein  episch,  ganze  Situa- 
tionen sind  mit  deutlich  spürbarer  Freude  am  Detail  trotz 
ihrer  Unwichtigkeit  ausgemalt.  Der  erste  Akt  ist  z,  B. 
fast  ohne  jeden  dramatischen  Impuls,  bietet  in  der  Ent- 
wicklung seiner  Handlung  eine  gerade  Linie,  die  sich 
kaum  zur  Kurve  krümmt.  Selbst  der  so  leicht  dramatisch 
zu  fassende  letzte  Akt  bringt  nur  eine  Fülle  von  Ge- 
schehen und  behält  das  epische  Tempo,  Die  Vorgänge 
rollen  ab,  ohne  dass  sie  uns  in  ihre  Bewegung  hineinzu- 
reissen  wissen.     Sie  sind  nicht  gegenwärtig. 

Das  Drama  vollendete  die  Entwicklung  der  Schick- 
salidee im  Sinne  des  katholischen  Christentums,  im  Form- 
Gehalt  der  Kunst  Calderons.  Es  ist  keine  Tragödie  im 
eigentlichsten  Sinne,  sondern  ein  Mysterium,  dessen  über- 
tragischer versöhnender  Abschluss  in  der  lösenden  und  ver- 
klärenden Göttlichkeit  allen  Geschehens  Werner  in  derselben 
pointierten  Deutlichkeit  erkennen  Hess,  wie  Calderon  es  im 
„wundertätigen  Magus"  getan  hatte.  Salomes  Geist  er- 
scheint Versöhnung  bietend  und  selbst  Antiochus  wird  ent- 
sühnt. Der  Symbolsinn  des  Tatsächlichen,  sein  eigentlicher 
Seinsgehalt  über  der  Schicht  des  Wirklichkeit  wird  geklärt 
und  das  Qualvolle  dieser  Schicksale  sollte  nun  als  sinn- 
volle, zweckmässige  Notwendigkeit  erscheinen.  Schon  der 
(sicher  erst  nach  der  Leipziger  Schlacht  geschriebene)  Apo- 
theose-Schluss  der  Kunigunde  w^ar  Zeichen  der  Konversion 
zu  Calderon  gewesen  und  löste  die  Dissonanz  durch  den  Ver- 
zichtfrieden der  Heiligen  und  des  Kaisers  im  übertragischen 
Sinne.  Auch  diese  Form  w^ar  von  Calderon  zu  entleihen. 
Es  ist  vor  allem   psychologisch    wichtig,    dass    erst    dem 


292 

Konvertiten  diese  Versöhnung  gelang.  Im  Kreuz  an  der 
Ostsee  und  irgendwie  im  24.  Februar  lag  sie  in  seiner 
Absicht,  erreichte  nur  im  Attila  eine  gewisse  Form.  Ein 
Beweis,  wie  eng  das  Künstlertum  und  Menschsein  trotz 
quälenden  Gegensatzes  in  Werner  verbunden  war,  ist  dass 
er  nicht  fähig  war,  diese  Form  rein  in  ihrem  Wert  als  drama- 
tisches Aufbauprinzip  zu  nutzen.  Für  ihn  ist  Form  nie- 
mals identisch  mit  Technik  und  tief  erlebte  er  die  Ver- 
wurzelung des  sogenannten  Formalen  der  Kunst  mit  dem 
Erlebnis,  das  seine  geringe  Distanz  zum  Kunstwerk  er- 
klärt und  in  der  begrenzten  Negation  aller  Form  zu  Be- 
ginn seiner  romantischen  Epoche  zum  Ausdruck  kam. 

Die  Konzeption  lag  in  der  Nähe  des  Kreuzes  an  der 
Ostsee,  an  dessen  2.  Teil  er  damals  arbeitete.  Es  suchte 
den  Kampf  des  Christentums  (denn  dieses  Judentum  ist 
nur  „der  ältere  Bruder"  des  Christentums)  gegen  das  ent- 
göttlichte  Heidentum  zu  geben.  Alte  vertraute  Klänge 
tönen,  aber  in  der  Variation  des  kirchlichen  Hymnus. 

Wie  in  den  „Söhnen  des  Thals"  und  dem  „Kreuz  an 
der  Ostsee"  wird  hier  ein  Abrahamopfer  gebracht.  Da- 
mals aber  war  der  Tod  eine  Wollust,  das  Selbstopfer  der 
höchste  Genuss  und  keine  ethische  Leistung  menschlicher 
Art.  Jetzt  aber  ist  das  Opfer  menschlich  qualvoll  und 
nur  das  Wissen  um  das  Jenseits,  um  den  Sinn  all  des 
Furchtbaren  hält  Mutter  und  Kinder  aufrecht.  Wie  stets 
bei  diesem  Romantiker  scheint  Werner  sich  wieder  einmal 
selbst  zu  wiederholen,  aber  der  Gleichklang  der  Worte 
und  die  äussere  Identität  des  gedanklichen  Schemas  ver- 
mag nur  den  Oberflächenblick  zu  täuschen.  Diese  Varia- 
tion des  Themas  verlegt  es  in  eine  ganz  andere  Tonart, 
in  eine  ganz  andere  Gefühlsw^elt.  Wieder  wird  der  Kampf 
dieser  beiden  Mächte  ausgefochten  durch  ein  Ideeindivi- 
duum und  einen  dämonischen  Menschen,  zwischen  Salome 
und  Antiochus.  Aber  die  Konversion  aller  geistigen  Le- 
bensinhalte ist  gerade  durch  diese  Gleichartigkeit  deutlich 
zu  erkennen. 

Werner  wollte  die  von   ihm   ersehnte  „Einfalt"  ciiur 


298 

Persönlichkeit  gegenüberstellen,  deren  psychische  Difife- 
renziertheit  zur  Vielheit  geworden,  fühlte  den  grossarti- 
gen Antagonismus  dieser  beiden  Welten,  deren  Kinder 
Salome  und  Antiochus  sein  sollten,  öfters  wirklich  sind, 
stellte  die  Juden-Christin  in  ihrer  hart  und  schroff  um- 
rissenen  Einheit  dem  Spross  einer  überfeinerten  Epigonen- 
kultur entgegen.  Die  Märtyrin  dem  „Affen  Alexanders". 
Er  fasste  hier  das  Problem  seines  Lebens,  rührte  an  das 
Problem  seiner  Zeit.  Dass  er  es  wollte,  beweisen  die 
Worte:  „Zwei  Haupteigenschaften,  die  uns  hoch  vonnöten 
sind,  hat  unsere  Zeit  verloren,  nämlich:  Grandiosität  und 
Einfalt.  Aus  dem  Verlust  der  letzteren  der  Eigenschaften 
ist  das  Elend  und  der  Jammer  unserer  Zeit  zu  erklären, 
dass  die  Menschen  das  Einfachste  und  Klarste  nicht  fas- 
sen wollen,  sondern  dass  sie  sich  viele  Künste  machen, 
wie  es  in  der  Bibel  steht." 

Wir  sind  ihm  auf  den  Wegen  gefolgt,  auf  denen 
Werner  seine  innere  Antithese  zu  sühnen  suchte.  So  be- 
wusst  aber  hatte  er  das  Problem  sich  noch  nicht  gestellt, 
vielleicht  sich  nicht  zu  stellen  gewagt.  Nun  aber  wusste 
er  das  Ziel  und  den  Weg:  „Zwei  Flügel  sagt  der  grosse 
Thomas  von  Kempis  in  seinem  goldenen  Buche  von  der 
Nachfolge  Jesu  Christi,  zwei  Flügel  erheben  die  Seele 
des  Menschen  zu  Gott,  die  Einfalt  nämlich  in  der  Absicht 
und  Meinung  und  die  Reinheit  des  Gefühls  und  Willens." 
In  dem  Willen  zu  dieser  Einfalt  die  „ausgeht  auf  einen 
Punkt,  die  alles  bezieht  auf  das  Eine,  auf  Gott;  die  sich 
sammelt  auf  das  Eine  auf  Gott"  wurde  die  differenzierte 
Vielheit  seines  Ich  gebunden.  „Werdet  klar  im  Christen- 
tum", rief  er  seinen  Hörern  zu.  Er  fand  in  der  Ziel- 
strebigkeit auf  Gott  den  Weg  zu  sich  selbst,  suchte  und 
fand  im  Erleben  des  Christentums  die  innere  Einheit:  das 
neue  Ideeindividuum.  War  es  schon  Attilas  tragische 
Schuld  gewesen,  das  Viele  zugleich  zu  wollen,  wurde 
dieses  Einheitsuchen  damals  durch  die  Beschränkung  auf 
eine  bestimmte  Tätigkeit  und  Aufgabe,  eben  auf  die  Idee 
erreicht,  jetzt  fiel  die  pragmatische  Seite  des  Individuums 


294 

weg,  nur  sein  ethisches  Streben  zu  Gott  oder  dem  gottlos- 
vielfältigen Ich  entschied.  Der  Mittelpunkt  und  das  Eini- 
gende lag  für  den  Mystiker  nicht  eigentlich  im  Menschen, 
sondern  in  der  Gottheit  und  sein  Wille  zu  Gott  gibt  ihm 
das  Zentrum  des  Seins;  denn  alle  Erscheinung  ist  viel- 
fältig und  vervirorren.  So  weit  das  Individuum  für  sich 
existiert,  ist  es  Erscheinung  und  nur  sein  Sehnen  weist 
ihm  den  Weg,  da  er  voll  Unruhe  (die  Äusserung  seiner 
Manigfaltigkeit)  ist  „bis  er  ruht  in  Dir  o  Gott".  Der  beste 
Weg  zu  ihm  ist  das  Christentum,  das  einzige  wahre 
Christentum  ist  der  Katholizismus,  der  innerliche,  nicht 
der  heidnisch-äusserliche.  So  dachte  Werner  als  Dichter 
der  „Mutter  der  Makkabäer". 

Der  Mensch,  der  die  Einheit  in  sich  suchte,  ward 
zum  Widerspruch.  Schwebt  zwischen  Sclave  und  Halb- 
gott. Die  Reihe  der  dramatischen  Gegenspieler,  der  Idee- 
individuen und  des  dämonischen  Ich-Menschen  schloss  sich 
hier.  Salome  ist  die  am  stärksten  Abgeschlossene,  in  sich 
Sicherste.  Der  straffste  Willensmensch,  der  nach  Werners 
Weltauffassung  zwar  leidet  in  dem  Empirischen  aber 
handelt  in  der  eigentlichen  Realität.  Sie  „will"  im  Sinne 
Fichtes,  dessen  Lehre  hier  noch  zu  erkennen  ist. 

Salomes  Grösse  liegt  in  ihrer  grandiosen  Einfalt,  in 
der  absoluten  Unkompliziertheit  ihrer  Psyche.  Dieses 
Weib  hat  nur  eine  Art,  das  Leben  zu  sehen,  oder  besser 
nicht  zu  sehen.  Sie  schaut  nur  den  Adonai,  der  das  Ge- 
setz gab  und  richten  wird  und  die  Liebe  ist  und  die  Ge- 
rechtigkeit. Sie  ist  verwachsen  mit  jener  Welt  und  ragt 
halb  hinein  und  geht  doch  auf  der  Erde.  Nicht  wie  sonst 
bei  diesen  Halbmenschen  Werners,  Fremdling  hier  und 
dort.  Alle  die  verwickelten,  vielfältigen  Fragen,  die  von 
dieser  Erde  wirr  sich  an  ihr  Ohr  drängen,  werden  durch 
ihre  Einheit  so  fast  furchtbar  selbstverständlich  gelöst. 
Eine  grosse  majestätische  Gelassenheit  liegt  über  ihrem 
Wort  und  dem  Gestus  ihres  Charakters.  Ihr  bleibt  im 
Leben  kein  ungelöster,  problematischer  Rest,  ihrem  Glau- 
ben   ist    alles    klar.      Keinen    Schritt    wird    sie    über    die 


295 

Grenzen  ihres   Ichs    tun,    also    keine    Sünde.     „Hätt'   ich 

Judiths  Ruf "     Aber   sie    weiss,    dass  ihr  Schicksal 

ein  anderes  ist.  Nichts  wird  sie  halb  tun.  Jedes  Wort, 
jede  Tat  trägt  als  Stempel  ihr  ganzes  Wesen.  Und  möchte 
man  Kunigunde  den  Typ  des  Stimmungsmenschen  nennen, 
das  Genie  der  Halbheit,  so  ist  sie  eine  F'anatikerin  des 
Ganzen.  Mit  starkem  Schritt  geht  sie  durch  die  Welt. 
Gross  und  schlicht.  Man  möchte  glauben,  Michelangelos 
Sibyllen-Madonna  auf  dem  bekannten  Jugendrelief  des  Künst- 
lers sei  ihr  Bild.  Denn  der  klare,  grosslinige  Charakter 
dieser  Frau  wirkt  dämonisch,  wie  diese  Gestalt  mit  dem 
Gesicht  der  Schicksalgottheit.  „Bist  du  die  Nemesis", 
fragt  Antiochus,  als  er  sie  zuerst  sieht.  Ihm  muss  sie 
so  erscheinen.  Sie  in  ihrer  Existenz  ist  schon  an  und 
für  sich  die  klare  Verurteilung  seines  Lebens  und  der 
Instinkt  des  Antagonismus  lässt  ihn  sofort  dieses  Wort 
finden.  Er  hatte  —  bangend,  dass  er  ihn  finde,  sich  selbst 
unmöglich  mache  seinen  „Bruder"  gesucht  —  und  ehrt  ihn 
erst.  „Die  Heldin  soll  den  Helden  nicht  beschämen."  Zwi- 
schen ihnen  beiden  schlägt  die  Grösse  eine  Brücke  über  die 
Menschen  unter  ihnen.  „Ach  könnt  auf  mich  ich  deine  Seele 
nehmen!"  antwortet  Salome.  Und  der  Dialog  geht  weiter: 
„Ein  Wüthrig  seyn  heisst  Menschen  gerne  morden,  sind  denn 
das  Menschen?"  „Gott  erschuf  auch  sie!„  „Ja  wäre  deines 
Gleichen  mir  geworden,  so  würd  ich  ungern  morden .... 
Das  ist  ein  Mährlein,  denn  wie  würden  die  denn  Menschen 
heissen  —  wären  sie  geschaffen  vom  Zufall  nicht,  des 
blinden  Chaos  Affen!"  So  spricht  er,  so  möchte  er  sein. 
Aber  er  selbst  fühlt  seine  Lebenslüge  halb  und  mummt 
sich  unbewusst  zur  eigenen  Selbstverteidigung  in  das 
Wesen  Alexanders,  peitscht  sich  zu  Taten  auf,  die  er 
nicht  erdachte.  „Und  Alexander?"  fragt  er  Salome  als 
Antwort  auf  eine  Aufforderung.  Hier  rührt  Werner  an  die 
Ideenlehre,  gewandelt  zur  Karrikatur  des  Affen  Alexan- 
ders. „Nun  dass  ich  den  Bruder  dir  erschlug,  es  war 
im  Rausch,  hat  Alexander  doch  den  Philotas  auch  er- 
schlagen, den  Busenfreund."     Sein  ganzes  Wesen  ist  auf 


296 

Nachahmung  gestellt,  da  er  sich  des  inneren  Rufes  bar 
einen  ertrotzen  will.  Das  Beispiel  Salomes  lässt  ihn  mit 
Leben  und  Reich  spielen.  „Ich  will  jetzt  den  Triumpfzug 
halten,  du  lehrtest  spielen  mich  mit  der  Gefahr."  Und  doch 
ist  etwas  Grosszügiges  in  seinem  Charakter,  das  uns  ihm 
näher  bringt.  Aber  die  im  frevelnden  Übermut  als  Vor- 
bild gewählte  Grösse  verzerrt  sein  Gesicht  zu  einer  Fratze. 
Auch  hier  streift  Werner  einen  genialen  Gedanken,  fasst 
ihn  sogar  halb:  Den  modernen  Halbhelden,  an  dem  alles 
problematisch,  mannigfach  ist,  der  seine  Einheit  verloren 
hat  und  sich  selbst  sucht  in  der  Geschichte. 

Die  Konzeption  des  Stückes  ist  vielleicht  gehaltlich 
die  dramatischste  die  Werner  hatte.  Seine  künstlerische 
Kraft  reichte  bei  weitem  nicht  aus,  sie  zu  gestalten. 
Die  monumentale  Linie  der  Tragödie  Avurde  zerstört. 
Nur  das  bleibt  von  der  Konzeption  tatsächlich,  dass  allein 
Salomes  und  Antiochus  Kopf  von  dem  dramatischen  Licht- 
kegel scharf  gefasst  werden.  Alle  übrigen  Personen 
werden  trotz  der  grossen  Schattierungsmühe  wenig  leben- 
dig. So  zerbrach  das  Kunstwollen  unter  seinen  formen- 
den Händen  wie  immer.  Der  so  stark  intuitiv  arbeitende 
Dichter  schaute  stets  grandiose  Visionen  in  der  „Weihe", 
wenn  er  des  Geistes  voll  ist.  Aber  er  vermochte  sie  nicht 
in  seinem  Werk  zu  gestalten  und  wir  ahnen  nur  die 
Grösse  des  Geschauten  durch  einen  Schleier,  den  der 
Dichter  vor  unseren  Blicken  breitet.  Diese  Erscheinung 
macht  es  dem,  der  hinter  und  aus  dem  Erreichten  das 
Gewollte  herauszuspüren  imstande  ist,  so  schwer  das  rich- 
tige Urteil  zu  treffen.  Dieses  fast  allen  Dramen  Werners 
eigene  Problematische  erklärt  die  enthusiastische  Über- 
schätzung seiner  Produktion.  Man  sah  den  grossen  Wurf 
seiner  Konzeption  und  sah  sie  erfüllt  in  das  eigentliche 
Werk  hinein.  Nur  so  versteht  man,  dass  man  ihn  neben 
Shakespeare  stellte.  Dass  ihm  Gestalten  erschienen,  die 
Hebbel  zu  fassen  suchte,  ist  so  erklärt.  Auch  hierin  ist 
er  Romantiker,  die  letzten  Endes  aus  dieser  künstleri- 
schen Gestaltunosunfähigfkeit  zu  ihrem  zersetzenden  Form- 


297 

prinzip  kamen.  Werners  Nuance  ist  das  innige  Ver- 
schmelzen des  Goldes  mit  dem  Kupfer  verwirrender  Kün- 
stelei, die  das  Doppel-Ich  des  Mystikers  und  Rationalisten, 
des  Heiligen  und  Wollüstlings,  des  Propheten  und  Narren, 
des  ruhlos  Beharrenden  in  seiner  Kunstform  wiederspie- 
gelte. Im  Willen  war  sein  Leben  gross  und  rein,  so  war 
auch  sein  Kunstwollen  von  fast  kleistischer  Grösse  und 
wies  von  dem  grössten  deutschen  Dramatiker  Kleist  auf 
Hebbel,  deutete  die  Linie  der  Grabbe,  Büchner,  Wede- 
kind, Strindberg  an.  Er  war  der  Dichter  der  dissonieren- 
den Menschen,  ohne  es  sein  zu  wollen;  denn  wie  im 
Leben  so  suchte  er  in  der  Kunst  die  Synthese  und  Har- 
monie. Das  Neue,  Eigene,  das  er  bietet,  ist  nicht  die 
neue  Form,  nur  eine  Einzelheit:  der  antithetische  Halb- 
held vor  allem  in  der  Gestalt  der  Kunigunde  und  des 
Antiochus.  Menschlich  bedeutsam  war,  dass  ihm  Kuni- 
gunde die  Heilige,  Antiochus  aber  der  Verworfene  war. 
Menschlich  hatte  er  das  Antithetische  überwunden. 

Werner,  der  Dramatiker  ist  —  abgesehen  von  Form 
(die  als  Übergang  von  der  französisch-klassizistischen  über 
Schiller  zu  Kleist  weist)  und  didaktischem  Ziel  —  in  der  Zeich- 
nung seiner  Charaktere  viel  moderner,  als  man  zu  glauben 
geneigt  ist,  weil  man  sich  durch  eine  wulstige  Schale  hin- 
durch arbeiten  muss.  Kunigunde  und  Antiochus  als  geschaute 
(nicht  immer  dargestellte)  Charaktere  könnten  der  Literatur 
des  20.  Jahrhunderts  angehören  und  ihr  Bild  ist  gegen  Helena 
und  Julian  (in  Ibsens  Kaiser  und  Galliläer)  kaum  verblasst. 
Er  ist  als  Dramatiker  ein  Übergang.  Romantiker  auch 
hierin;  denn  von  dieser  Zeit  konnte  ihr  Prophet  wie 
Historiker  Friedrich  Schlegel  zweifelnd  fragen,  ob  sie  über- 
haupt fähig  sei,  ein  abschliessendes  Kunstwerk  zu  geben. 

Den  Eindruck,  den  wir  aus  diesem  Drama  als  bio- 
graphischer Quelle  erhalten,  ist  der  einer  gesunden,  ruhi- 
gen Klärung  des  seelischen  Lebens  Werners.  Kein  Schwel- 
gen in  den  Schmerzen  des  Martertums.  Die  fast  keusche 
Zurückhaltung  Werners  auch  in  diesem  Punkte  spricht 
für  eine  innere  Wandlung.     Das  aus  der  Geschichte  seiner 


298 

Gestalten  bekannte  mystische  Paar,  das  in  der  Ideeliebe 
sich  eint,  tritt  hier  auch  auf.  Es  war  der  Träger  der 
religiös-sexuellen  Liebe  gewesen.  Der  erotische  Klang 
war  verschieden  stark  und  verhallte  mit  eigenartigem  Ton  in 
der  „Kunigunde",  wo  sich  Mutter-  und  Gattenliebe  mischte. 
Das  war  der  Übergang.  Schon  in  der  Kunigunde  schlug 
er  das  Thema  Mutterliebe  an  und  brach  das  alte  Motiv 
der  religiösen  Erotik.  Wir  verfolgten  die  theoretische 
Scheidung  der  beiden  Elemente  dieser  Verbindung,  sahen 
die  zentrale  Stellung  der  Mutterliebe  immer  deutlicher 
hervortreten.  In  der  „Mutter  der  Makkabäer"  ist  auch 
praktisch  diese  Scheidung  vollzogen.  Kein  unreiner  Ton 
stört  die  Einheit  des  Gefühls  der  Mutter.  Mit  peinlichster 
Sorgfalt  hat  Werner  alles  Schillern  der  Empfindungen  in 
gebrochenen  Farben  zu  vermeiden  versucht.  Und  wir 
brauchen  nur  Kunigundes  Liebe  zu  Florestan,  ihrem  Wahl- 
sohn zu  nennen  neben  Salomes  Muttergefühl,  um  uns  die 
Entwicklung  zur  vollständigen  Reinheit  klar  zu  machen. 
Und  rein  ist  auch  die  Liebe  Benonis  zu  Cidli.  Keine  phan- 
tastische, mystifizierte  Verklärung  der  Gattenliebe:  Das 
legale  Band  der  Ehe  verbindet  sie.  Kein  Wort  von  Ent- 
sagung und  seliger  Qual  wie  bei  Heinrich  und  Kunigunde. 
Die  Ehe  in  ihrer  natürlichen  Funktion  wird  von  Werner 
anerkannt.  Die  krampfartige  Überspannung  des  Keusch- 
heitsbegriffes der  ersten  Übergangszeit  ist  zu  einer  ruhi- 
geren Betrachtung  der  tatsächlichen  Verhältnisse  gelockert. 
Fast  brutal  ist  die  Auffassung  der  Ehe  ausgesprochen. 
Nach  dem  Tode  ihres  Gatten,  dem  sie  noch  nicht  an- 
gehören konnte,  wird  Cidli  das  Weib  Judas  Makkabäus: 
„Gebiehr'  mir  Helden  Gottes".  Als  Beruf  der  Frau  er- 
scheint in  Steigerung  der  kirchlichen  Lehre  rein  die  Fort- 
pflanzung des  Menschengeschlechts. 

Die  hysterische  Zerfahrenheit,  die  sich  wegwerfende 
Entblössung  der  letzten  Geheimnisse  innersten  Erlebens 
hat  sich  gewandelt  zur  Ruhe,  zu  einem  stillen  Sichbe- 
scheiden. Werners  Bild  in  jenen  Tagen  sehen  wir  auf 
der  Radierung  von  Johann  Ender.     Eine  stille  Resignation 


299 

auf  dem  hageren  Gesicht.  Kein  fahriger  Zug,  alles  von 
einer  selbstverständlichen  Energie  gehalten.  Vielleicht 
kann  man  eine  leichte  Müdigkeit  finden  und  den  Phthisiker- 
zug  in  dem  mageren  hohlwangigen  Antlitz,  der  den  na- 
henden Tod  kündigt. 


X.  Kapitel. 

Werners  Vollendung. 

Im  Juni  1816  trat  Werner  eine  Reise  nach  Janow, 
einem  Landstädtchen  in  Podolien  an.  Dort  war  er  ein 
Jahr  Gast  der  Familie  Grocholski  und  Choloniewski.  Sein 
Freund  Hoffbauer  hatte  ihn  mit  der  Mission  betraut, 
den  Boden  zu  ebnen  für  ein  Redemptoristenkloster.  Von 
dieser  Familie  w^ar  der  Plan  freudig  aufgenommen  und 
der  junge  Graf  Stanislaus  Choloniewski,  der  als  Diplomat 
in  russischem  Dienst  beschäftigt  war,  verwandte  sich 
energisch  dafür.  Damals  wurde  Werner  zum  Ehren9om- 
herrn  ernannt  und  trat  in  brieflichen  Verkehr  mit  den 
Familien,  deren  Namen  in  seinem  Testament  oft  erwähnt 
werden.  Der  Briefwechsel  lässt  uns  einen  tiefen  Blick 
in  die  Seele  des  Priesters  und  Menschen  tun  und  zeigt 
den  Seelsorger  in  seiner  aufopfernden  Tätigkeit,  in  seinem 
alltäglichen  Dienst.  Er  zeigt  trotz  aller  Hüllen  den  Men- 
schen Werner  in  seiner  Vollendungssehnsucht  und  der 
Qual  eines  tapferen  Lebenskampfes. 

Noch  einmal  fasste  ihn  eine  tiefe  Leidenschaft  zu 
einem  Menschen,  der  in  den  eigentümlich  verschnörkelten 
und  verheimlichenden  Briefen   unter    dem    Namen  Alexis 

auftritt „zwar    liebe    ich    Alexis    nach    oder    neben 

meiner  Mutter  (das  sage  ich  an  ihrem  Sterbetag,  wo  man 
nicht  lügt)  ich  liebe  den  Alexis  über  alles  hienieden". 
Hinter  diesem  Pseudonym  verbarg  der  Priester  aus  leicht 
zu  verstehenden   Gründen    den  Namen    der   junge  Gräfin 


300 

Cäcilie    Choloniewska ,    die    Schwester    der    Gräfin    Gro- 
cholska. 

Wir  haben  in  diesen  Briefen  die  Darstellung  einer 
„Liebe"  im  Sinne  der  Weihe  der  Unkraft,  ein  wichtiges 
Dokument  für  die  psychologische  Erkenntnis  dieser  Hei- 
ligenliebe, einen  Beweis,  dass  Werner  in  seiner  Weise 
der  Vollendung  sich  näherte. 

Liest  man  diese  bizarren  Gefühlsgebilde  eines  Tod- 
kranken, aus  deren  Wortgebung  es  wie  flackernde  Unruhe 
aufschlägt,  diese  zuckenden  Ausrufe,  die  wie  aus  qualzer- 
rissener Seele  sich  emporwühlen,  dann  mag  man  ihre 
Einschätzung  als  VoUendungssymptone  unrichtig  finden. 
Wer  aber  tiefer  sieht  über  dieses  Wernersche  Exterieur 
hinaus  in  den  Wesenskern  dieser  Bekenntnisse,  wird  es 
verstehen.  Die  Briefpsychologie  lehrt  die  starke  Ab- 
hängigkeit des  Schreibenden  vom  Empfänger.  Wir  haben 
uns  diesen  Prozess  e^wa  zu  denken  als  ein  instinktives 
Rücksichtnehmen  und  eine  unbewusste  Suggestion  der 
Persönlichkeit,  an  die  man  schreibt.  Der  feiner  reagie- 
rende Mensch  wird  in  doppelstarkem  Kontakt  mit  dem 
Empfangenden  stehen.  Werner  musste  also  stets  sehr 
von  dem  psychischen  Milieu  abhängig  sein,  in  das  sein 
Brief  treten  würde.  Das  Schreiben  wurde  die  Resultante 
der  nicht  immer  gleichstarken  Komponenten:  Werners 
Augenblicksstimmung  und  der  Stimmung,  in  der  er  seine 
Freunde  glaubte. 

Der  polnische  Katholizismus  ist  vom  Gefühlsleben 
stark  beherrscht.  Das  ekstatische  Erleben  religiöser  Ge- 
fühle war  damals  bei  dem  in  Martyrerstimmung  sich 
fühlenden  Volke  besonders  gross  und  der  polnische  Hoch- 
adel übernahm  diese  Gefühlswelt  als  ererbtes  Gut  und 
baute  sie  weiter  aus.  Die  nach  innen  schlagende  Glut 
slavischen  Empfindungslebens  nährte  bei  dieser  Familie 
sich  aus  einem  furchtbaren  Erlebnis.  Die  Gräfin -Mutter 
verbrannte  bei  einem  Feuerunglück  im  Schlosse  und  ihr 
Schatten  lag  düster  und  schwer  über  dem  Leben  der 
Familie.    Man  betete  zu  ihr,  wie  zu  einer  Heiligen.    Der 


301 

Gestus  des  ganzen  Lebens  ward  von  ihr  beherrscht  und 
erhielt  durch  diese  Konzentration  auf  eine  Verstorbene, 
Verklärte  eine  hysterische  Unwirklichkeit.  Alles  war 
vergeistigt.  Überzarte,  dumpfe  Empfindungen  mochten 
besonders  in  der  Seele  des  Mädchens,  Cäciliens  keimen 
und  sie  empfänglich  machen  für  die  suggestive  Kraft  des 
katholischen  Gottesdienstes.  Ihr  musste  ein  religiöses, 
jedes  Gefühl  im  jäh  steigenden  und  fallenden  Rythmus 
zum  tief  erschütternden  Pathos  werden. 

In  ihre  Mitte  trat  Werner,  selbst  innerlich  noch  ein 
Werdender.  Er  ging  nach  Polen,  wo  er  seine  Entwick- 
lung erst  recht  eigentlich  begonnen  hatte.  Wie  ein  be- 
deutsamer, bedachter  Zug  erscheint  das,  den  ein  Künstler 
in  diese  Tragödie  (besser  im  Sinne  Werners  in  dieses 
Mysterium)  seines  Lebens  hineindichtete,  dass  er  sich  da 
in  seiner  Art  vollendete,  wo  er  sich  in  seiner  Art  begann. 
Die  Wahlverwandtschaft  mit  diesen  Menschen,  die  ihm 
im  Seelenbau  glichen,  musste  stark'^auf  ihn  wirken  und 
aus  Werners  Briefen  fühlt  man  die  Angst  heraus,  in  dieses 
schnell  kreisende  Gefühlsleben  wieder  hereingerissen  zu 
werden.  Seine  Aussprache  mit  Hoffbauer,  die  in  diesen 
Briefen  erwähnt  wurde,  mochte  wohl  aus  dieser  unklaren 
Angst  geboren  w^orden  sein.  Sie  bew^eist,  dass  Werner 
die  Gefahr  fühlte  und  schon  auf  einen  Punkt  gekommen 
sein  musste,  wo  er  diese  Lebensführung  als  von  der 
seinen  verschieden  empfinden  konnte.  Dieser  kleine  Zug 
ist  ein  klares  Zeichen  auf  dem  Weg,  den  wir  Werner 
zur  Vollendung  seiner  so  dissoluten  Persönlichkeit  gehen 
sehen.  Er  beweist  auch,  dass  der  Sturm  der  Gefühle, 
der  die  Sätze  der  Briefe  in  einander  zu  jagen  scheint, 
nicht  die  Tiefe  der  Seele  zu  erreichen  vermag,  wo  die 
stille  Sehnsucht  harrte  auf  die  Stunde,  da  sie  sich  zur 
Vollendung  aufrichten  durfte  und  sterben.  Er  wurde  hin- 
eingerissen fast  wider  Willen.  Die  Liebe  der  jungen 
Gräfin  war  die  Macht,  die  in  letzter  Stunde  die  Reife  zu 
hindern  suchte.  „Das  Wesen,  das  jetzt  den  wahren  Ge- 
genstand seiner  Anbetung  (die  es  aus  einem    nur  diestm 


302 

einzigen  Wesen  möglichen  und  also  allerdings  enormen 
Missgriff  verschwendet  hatte)  im  Welterlöser  gefunden  hat." 
Werner  kam  in  diese  Welt  als  ein  Heiliger  verehrt. 
Der  grosse  Büsser,  mit  dem  von  Leidenschaft  und  Sünde 
zerfressenen  Gesicht,  über  dem  ein  milder,  versöhnender 
Glanz  jetzt  zu  liegen  schien;  und  wie  ein  Heiliger  lebte 
er.  Seltsam  war  alles,  was  er  sagte  und  tat.  Seltsam 
und  wie  von  einer  inneren  Glut  erfüllt.  So  hatte  sich 
die  Phantasie  des  Mädchens  ihren  „Heiligen"  gestaltet; 
so  und  noch  grösser,  unfasslicher.  Dieses  Bild  sah  sie 
wieder  in  ihn  hinein.  Der  verwirrende  Reiz  dieses  von 
allen  Sünden  befleckten  Menschen,  den  sie  mit  einem 
hysterischen  Schauder  liebte,  zwang  sie  in  seinen  Kreis. 
Sie  liebte  ihn  mit  jenem  halbdunklen  Gefühl,  das  nicht 
zur  Klarheit  kam,  bis  er  es  in  überreiztem  Feingefühl 
ahnte  und  ihr  es  bewusst  machte.  Keinen  Augenblick 
scheint  er  gezögert  zu  haben,  das  zu  tun,  was  ihm  Pflicht 
schien.  „Ich  bemerke  im  voraus,  dass  ich  mit  förmlicher 
und  ausdrücklicher  Erlaubnis  unseres  grossen  Alexis  .... 
den  väterlichen  Freund  Hoffbauer  über  die  Hauptsache 
und  das  Wesentliche  meines  Verhältnisses  zu  Alexis  au 
fait  gesetzt  habe,  ein  Verhältnis,  das  in  seiner  Tiefe  auf- 
gefasst,  nichts  anderes  als  dem  hohen  und  heiligen  Wesen 
höchst  ehrenvoll  sein  kann,  das  jetzt  den  wahren  Gegen- 
stand seiner  Anbetung  (die  es  aus  einem,  nur  diesem 
einzigen  Wesen  möglichen  und  also  allerdings  enormen 
Missgriff  verschwendet  hatte)  im  Welterlöser  gefunden 
hat.  Hierauf  machte  ich  Hoffbauer  aufmerksam  und  fragte 
ihn  wiederholentlich  ( .  .  .  .  )ob  er  bey  solchem  Verhältnis 
mit  Alexis  es  für  ratsam,  ja  moralisch  möglich  halte, 
dass  ich  nach  Janow  reisen  könne,  was  ich  sehr  stark 
bezweifle."  Aber  trotz  seiner  „Virtuosität  sich  zu  quälen", 
warf  er  sich  nichts  vor,  das  seine  Liebe  beschmutzt  hätte. 
Zu  roh  sei  er  mit  ihr  umgegangen,  klagt  er  sich  allein 
an.  Einmal  nur  brach  ein  natürlich  egoistisches  Gefühl 
durch.  „Meinen  und  Euren,  denn  mir  gehört  er  mehr  an 
als  Euch,    als   Dir   sogar,    lieber  Joseph  ( —  Gräfin    Gro- 


303 

cholska)",  nannte  er  ihn,  suchte  aber  die  erwachten  Ge- 
fühle auf  das  einzige  Ziel  zu  lenken,  das  er  kannte,  auf 
den  Welterlöser.  Er  vollbrachte  das  Opfer,  eine  Liebe, 
die  ihm  galt,  seinem  Gott  zu  geben.  Mag  auch  der  Ton 
der  Briefe  leidenschaftlich  klingen,  nie  kann  man  erken- 
nen, dass  das  Gefühl  unklar  wird,  wie  etwa  Kunigundes 
Wort  und  Tat.  Die  „Einfalt"  ist  unzweifelhaft  gewahrt. 
Er  führte  Alexis  über  diese  Welt  erhoben  „auf  Flügeln 
der  Liebe"  zu  Gott.  Diese  Liebe  ist  vergeistigt  zur  Ca- 
ritas und  nur  ein  geistiges  Band  innerster  Gemeinschaft 
der  Seelen  umschlingt  sie:  den  sterbenden  Priester,  das 
kaum  zum  Leben  erwachte  Mädchen.  Oft  steigerte  sich 
sein  Gefühl  zur  Höhe,  die  ihn  schreiben  liess :  „Ich  liebe 
den  Alexis  unendlich,  über  alles  hienieden.  Aber  meine 
Liebe  und  Trauer  über  die  Trennung  von  ihm  hier  auf 
Erden,  (denn  dort  oben,  wenn  ich  dorthin  gelange,  wird 
unsere  verklärte  Liebe  nichts  trennen),  ja  Dir  sag  ich's 
mein  zartester  Freund,  mein  treuer  Bruder  Joseph,  ich 
liebe  den  Alexis,  liebe  ihn,  was  man  lieben  nennen  kann, 
er  ist  mein  zweiter  Gedanke  morgens,  mein  vorletzter 
nachts,  erfüllt  den  Tag  über  mein  Sehnen!  Aber  meine 
Liebe  und  irdische  Trauer  über  den  irdischen  Verlust 
wird  fast  ganz  aufgelöst  in  der  tiefen,  entzückenden 
Verehrung,  die  ich  für  diesen  jungen  Heiligen  habe  . .  . ." 
Als  er  lange  Zeit  auf  den  Brief  warten  muss,  ist  sein 
erster  Gedanke  Alexis  sei  gestorben  und  man  wolle  ihm 
den  Tod  verheimlichen.  „Kein  Tag  verging,  w^o  ich  nicht 
auf  der  Post  fragen  liess.  Meine  Angst  wuchs  in  der 
Stille  von  Tag  zu  Tag  furchtbar."  Er  erbat  sich  Porträt 
und  Locke  von  Alexis. 

Sein  Gefühl  ist  rein  und  gut  und  seine  Stellung  zwi- 
schen Gott  und  dem  Heiligen  in  ihrer  quälenden  Gefähr- 
lichkeit liess  ihn  wohl  das  Wort  sprechen:  „Gott  führe 
mich  immer  so  seltsam,  dass  immer  die  Qual  mit  mir,  der 
Schein  gegen  mich  ist."  Dann  wieder  findet  der  Priester 
und  Freund  grosse,  feine  Worte  für  Alexis  und  die  Seinen. 
Er  sprach  von  dem  viel  zu  seraphischen  Geist  und  seine 


304 

Furcht  um  ihn  nahm  die  Form  an:  „Aber  wenn  Gott  sich 
meiner  hartherzigen  Rohheit  gnädiglichst  als  Mittel  be- 
dient, den  Alexis  über  die  Welt  erhoben  auf  Flügeln  der 
Liebe  zu  sich  zu  führen,  das  gibt  Euch  kein  Recht,  mir 
meinen  Alexis  durch  delikate  Roheit  zu  töten."  In  diesem 
Zusammenhang  spricht  er  von  „Onkel-  und  Tantenge- 
schmeiss."  Die  überquellende  Angst  um  die  zarte,  schöne 
Seele  des  Mädchens,  das  ihn  liebte,  durchbrach  hier  die 
sonst  so  sorgsam  gehütete  Form.  Der  gute  Mensch  in 
Werner  richtet  sich  mit  einer  zürnenden  Geste  auf  gegen 
die  Leute,  die  mit  plumpen,  unheiligen  Fingern  an  das 
Heiligtum  dieses  Lebens  zu  tasten  wagten.  Er  hat  ihr 
wahrscheinlich  den  Weg  gewiesen,  den  sie  gehen  sollte: 
in's  Kloster  und  sie  war  ihm  darin  gefolgt.  Vor  der 
Welt  wollte  er  sie  hüten,  aber  auch  hier  in  dem  Asyl 
drohte  ihr  noch  Fährnis.  „Es  wäre  entsetzlich,  wenn 
dieses  hohe  heilige  Wesen  zerrissen  würde  von  nieder- 
trächtiger auch  geweihte  Mauern  füllender  Lieblosigkeit." 
Um  genau  den  Entwicklungsgang  verfolgen  zu  können, 
den  sie  ging  und  den  er  bangend  mitschritt  in  seinen 
Gedanken,  erbat  er  sich  Notizen  dessen,  was  sie  sprach. 
Mit  feinem  Verständnis  hat  er  die  Eigenart  dieser  Wahl- 
verwandten zu  erfassen  vermocht  und  wollte  ihr  das 
Recht  der  Eigenentwicklung  gegen  Freund  und  Feind 
wahren.  Hier  erklärte  Werner  zum  erstenmal  scharf  das 
Recht  eines  religiösen  Individualismus. 

Das  ist  das  Endergebnis  dieser  qualvollen  Zeit.  Sie 
ist  gewiss  nicht  ohne  schwere  und  tieferschütternde 
Kämpfe  gewesen.  Aber  er  hat  sie  für  sich  ausgefochten 
und  kein  trüber,  unreiner  Ton  konnte  in  ihr  Verhältnis 
dringen.  Seine  Liebe  zu  „Gottes  und  meinem  Alexius" 
konnte  er  ohne  Lüge  neben  der  Liebe  zu  seiner  Mutter 
nennen  und  der  Ton,  der  über  diese  Liebe  schwebt,  klingt 
in  dem  Gedicht  „an  Stanislaus  C."  aus. 

In  dieser  Zeit  machte  Werner  auch  eine  schwere 
körperliche  Krankheit  durch,  die  er  kaum  überstand  und 
die  den  Ton  der  Briefe    mitstimmte.     Trotz    der    leichten 


305 

Art,  in  der  er  von  dieser  Eventualität  spricht,  Hessen 
-die  Nähe  des  Todes  und  die  Körperschwäche  ihn  noch 
mehr  extremen,  nervösen  Impulsen  folgen  als  sonst.  In 
seinem  ersten  Wiener  Brief  schrieb  er  darüber:  „Was 
Casimirs  (=  Werner)  Krankheit  betrifft,  so  überfiel  ihn 
schon  am  21.  November  ein  entsetzlicher  Fieberfrost,  er 
achtete  jedoch  wie  gewöhnlich  nicht  darauf.  Aber  den 
Tag  darauf,  Sonntags  musste  er  nach  der  Messe  morgens 
zu  Bette.  Der  sehr  geschickte  Arzt  Malfatti  und  ein  an- 
derer namens  Jäger  kamen  des  Abends  und  erklärten  die 
Krankheit  für  eine  falsche  Lungenentzündung.  Dem  Pa- 
tienten enthüllten  sie  nicht  die  ganze  Gefahr  ....  Er  war 
krank  seit  dem  23.  November  1817  bis  zum  S.Januar  1818 
röm.  Stils,  wo  er  seine  erste  Ausfahrt  hielt.  Der  närri- 
sche Mensch  ängstigte  sich  nicht  sowohl  vor  dem  Tode,  als 
dass  er  ohne  Testament  nicht  sterben  wollte,  an  Euch  hat 

er  dabei  fortgesetzt  gedacht und  was  diesen  casimir- 

nen  Duselpeter  in  seiner  Todeskrankheit  sehr  geplackt 
hat,  w^ar  eine  unbeschreibliche  Neugier,  wie  es  doch  jen- 
seits wohl  aussehe .M"  Mag  man  diese  Schilderung^,  die  er 
in  der  Genesungsfreude  geschrieben  hat,  nicht  für  ganz 
echt  halten  und  Werners  Versicherung  „nur  Appetit 
zum  Leben  hat  er  nicht  den  allermindesten"  etwas  miss- 
trauen, welch  ein  Unterschied  gegenüber  der  Zeit,  da 
Frau  von  Stael  von  ihm  schreiben  konnte,  er  fürchte  sich 
in  gleicher  Weise  vor  dem  Leben,  wie  vor  dem  Tod. 
Jetzt  steht  er  Tod  und  Schicksal  fast  als  Herr  gegenüber. 
Damals  unter  dem  Schauer  vor  der  Grösse  des  Au- 
genblicks mochte  er  sein  Leben  wiederum  prüfen,  ob  es 
gross  und  gut  geworden.  Vielleicht  und  wahrscheinlich 
fand  er  es  nicht  so,  wie  er  es  glaubte  führen  zu  müssen, 
dachte  an  die  Zeit  zurück,  als  de;  Konvertit  geträumt 
hatte  von  einem  Büsserleben,  fern  von  der  Welt  in 
den  hohen  Mauern  eines  Klosters,  die  allen  Lärm  des 
Lebens  verhallen  Hessen.  Wohl  aus  solchem  Erleben 
heraus  sagte  er:  „Es  geht  mit  der  Bekehrung  eines  Men- 
schen oft  gerade  so,  wie  mit  einer  fruchtbaren  Witterung. 

Hankamer,  Zacharias  Werner.  20 


306 

Des  Morgens  ist  es  ganz  klar,  ganz  heiter,  das  Firma- 
ment ohne  Wolken  ;  des  Mittags  ist  es  ganz  trübe,  dunkel, 
ganz  umwölkt  und  regnet.  Gerade  so  ist  es  beschaffen 
mit  und  in  einem  zu  Gott  sich  wendenden  und  bekehren- 
den menschlichen  Herzen.  Anfangs  lässt  der  Herr  seinen 
göttlichen  Gnadenstrahl  ins  Herz  fliessen.  Mit  diesem 
kommt  Frieden,  Trost  und  Süssigkeit  in  dasselbe.  Aber 
bald  hat  dieses  Erquickliche  ein  Ende,  es  kommen  die 
Prüfungen."  Der  Weihebegriff  im  Wortgebrauch  des 
Katholizismus  scheint  das.  Aber  hier  wusste  er  die  Ver- 
söhnung, fühlte  er  den  Vorsehungssinn  dieser  Qual:  „Der 
Herr  entzieht  uns  seinen  süssen  göttlichen  Trost,  weil 
er  uns  erzieht," 

Wieder  tauchte  der  alte  Zweifel  auf,  ob  er  berufen 
sei,  als  Dichter  den  „Bussgesang"  zu  Ende  zu  singen, 
oder  ganz  sich  selbst  zu  leben,  eingekapselt  in  seiner 
eigenen  Reue  und  seinem  Gefühl.  Hier  lag  ein  Zwiespalt. 
Werner  fühlte  halb,  dass  die  mönchische  Seite  des  Ka- 
tholizismus nicht  zu  ihm  passte  und  spürte  doch  wieder 
den  Trieb  sich  zu  vollenden  als  Katholik.  Die  Entschei- 
dung fiel  zu  Gunsten  des  tätigen  Lebens.  1820  gab  er 
nach  längeren  Zögern  die  „Mutter  der  Makkabäer"  her- 
aus, nachdem  zu  Beginn  des  Jahres  1818  die  „geistlichen 
Übungen  für  drey  Tage"  gedruckt  worden  waren,  in  denen 
Werner  seine  Weltanschauungs Wandlung  auch  als  L3^riker 
erkennen  Hess. 

Neben  der  Gruppe  der  Gedichte,  die  im  Sonett  ihre 
notwendige  und  entsprechende  Form  fanden,  standen 
schon  früh  und  an  allen  Ruhepunkten  seiner  Entwicklung 
Gedichte,  in  denen  eine  konkretere  Art  des  Schauens  sich 
zeigte.  Diese  Seite  trat  nach  seiner  Konversion  deutlicher 
hervor.  Es  fehlte  jenes  hastende  hysterische  Tempo,  das  man 
bei  fast  allen  künstlerischen  Erzeugnissen  Werners  fühlt 
oder  ahnt.  Ein  ruhiges  Verweilen  war  ihm  nun  ermöglicht. 
Werners  Auge  ruhte  länger  und  ruhiger  auf  einer  Einzelheit, 
die  sich  ihm  bot.  Novalis,  Claudius,  Spee,  Volks-  und* 
Kirchenlied  waren    ihm  Vorbild.     Neben    diesen   Einwir- 


307 

kungen  stand  ein  erneuter  stärkerer  Einfluss  der  künst- 
lerischen Seite  der  Bibel.  Nicht  nur  Einzelbilder,  den 
Geist  dieser  Poesie  suchte  Werner  festzuhalten.  Er  nennt 
ihn  den  „Psalmenton". 

Ansätze  zur  religiösen  Lyrik  finden  sich  früh.    Wer- 
ners  erstes  Sonett  ist  religiösen   Inhalts    und    besonders 
die  Marienverehrung  ist  schon  früh  als  konventioneller  In- 
halt seiner  Lyrik  nachzuweisen.  Hier  aber  war  der  religiöse 
Gehalt  noch  nicht  Eigentum.    Geistliche  Poesie  im  Sinn  der 
dichterischen  Formulierung  religiöser   Erlebnisse    ist   bei 
Werner  wenig  nachzuweisen.     Vielleicht  ist  hier  die  Stelle 
seines  Innenlebens,  die  er  schamhaft  verhüllte.     Ein  psy- 
chologisches Rätsel  bei  der  sonstigen  seelischen  Unkeusch- 
heit  Werners.     Im  „Abschied  von  Rom"  heisst  es  : 
„Was  dorten  mir  ward  kund  getan 
Künd  ich,  wills  Gott,  wohl  einmal  an 
Durch  Wort  und  Blick  den  Brüdern; 
Denn  was  der  Herr  uns  kundig  macht, 
Das  wandelt  in  des  Busens  Nacht 
Und  singt  sich  nicht  in  Liedern." 
Ähnlich  in  der  Disputa: 

„Psalmen  nicht  die  Harfe  klinget 

Doch  die  Seele  Psalmen  denkt." 
Ihm  schien  die  Kunst  nicht  ernst,  nicht  gross  genug,  diese 
Offenbarung  zu  verkünden. 

Neben  wenigen  anderen  Gedichten  heben  sich  als  die 
beiden  Hauptwerte  der  geistigen  Lyrik  Werners  deutlich 
hervor:  „Eucharistia  oder  das  allerheiligste  Sakrament  des 
Altars,  ein  Messhymnus,  nach  des  Raphaels  Sanzio  . .  .  Fre- 
skogemälde, genannt:  La  Disputa  del  Sakramento"  und  die 
„Geistlichen  Übungen  für  drei  Tage".  Die  „Disputa"  ge- 
hört formal  wie  inhaltlich  der  Übergangsepoche  Werners 
an,  die  nach  der  Konversion  einsetzt.  Zunächst  erscheint 
sie  als  reine  Beschreibung  oder  besser  Interpretation  des 
Raphaelschen  Gemäldes  gedacht  gewesen  zu  sein.  Wohl 
unter  dem  Einfluss  des  Calderonschen  Mysteriums:    „Die 


308 

Geheimnisse  der  heiligen  Messe"  versuchte  er  dann  ein 
gewisses  episch  -  dramatisches  Element  hereinzubringen 
und  die  Bildinterpretation  sich  mit  dem  Verlauf  der  Messe 
entwickeln  zu  lassen.  Das  ist  ihm  freilich  nicht  sehr  ge- 
lungen. Neben  Calderons  Bühnenweihfestspiel  darf  dieses 
Machwerk  —  trotz  feiner  Einzelheit  —  sich  nicht  nennen. 
Das  Charakteristische  dieser  Dichtung  ist  die  Halbheit 
der  Form:  halb  Epos  halb  Lyrik.  Die  Verwischung  dieser 
beiden  Grenzen  ist  für  jene  Epoche  in  der  Lyrik  Werners 
das  Bezeichnende.  Auch  der  innere  Stil  ist  dadurch  cha- 
rakterisiert. Wir  spüren,  dass  Werner  eine  neue  Form 
sucht  ebenso  sehr  wie,  dass  er  sie  noch  nicht  gefunden 
hat;  merken  inhaltlich,  dass  er  seine  Gedanken  in  das 
Gewand  katholischer  Dogmen  und  Lehren  hüllt.  Eben 
dieser  Parallelismus  der  Form  und  des  Inhalts  in  ihrem 
Übergangscharakter  weckt  die  Hoffnung  auf  ein  gleich- 
zeitiges Ausreifen  beider.  Neben  beliebig  zu  erbringen- 
den Beispielen  des  alten  Stils  machen  sich  die  Einflüsse 
Spees  und  Novalis  in  potenziert  extremer  Form  merklich. 
Wir  haben  Strophen,  die  nicht  nur  an's  Perverse  sich 
wagen,  nein,  die  diese  Grenze  überschreiten.  So  die  Schil- 
derung des  Johannes,  (die  wir  durch  das  Tagebuch  als 
am  24.  November  1810  konzipiert  wissen): 

O  wie  sich  die  Rosenlippe 

Schamhaft  süss  zusammenschliesst, 

Als  ob  Christi  Blut  sie  nippe 

Ob  er  züchtig  gleich  verhüllet 

Ich  am  Liliennacken  schau 

Dass  die  milden  Glieder  füllet 

Schön  gewundener  Wellenbau 

Der  zur  zarten  Sohle  quillet. 
Eine  Strophe  zeigt  uns  die  Vermischung   beider  Formen 
wie  in  einem  Schulbeispiel: 

Doch  eh'  Luna  darf  erscheinen 

In  des  Springquells  Wogenchor, 

Muss  die  Nacht  erst  Sterne  weinen 

Weil  der  Quell  den  Tag  verlor. 


309 

Wir  haben  es  hier  mit  einem  Gebilde  zu  tun,  dessen 
Wurzeln  in  zwei  Erdreichen  liegt.  Aber  es  ist  doch  ein 
bewusster  Versuch,  eine  neue  Form  zu  finden  für  die 
neuen  Inhaltswerte,  eine  Etappe  auf  dem  Weg  der  lyri- 
schen Entwicklung  Werners.  Den  Schlusspunkt  bedeuten 
die  „Geistlichen  Übungen  für  drei  Tage," 

Die  Übungen  verfolgen  einen  praktischen,  religiösen 
Zweck.  Sie  sind  erwachsen  aus  den  Exerzitien  des 
Ignatius  von  Loyola,  der  seinerseits  auf  Thomas  von 
Kempen  fusst.  Werner  liebte  sie,  weil  die  Nachfolge 
Christi  sowohl  wie  die  Exerzitien  auf  seine  geistige  Ent- 
wicklung wohltätig  eingewirkt  hatten.  Überall  suchte  er 
sie  einzuführen.  Seine  „Geistlichen  Übungen"  sollten  in 
geringerer  Zeit  und  anderer  Form  denselben  Zweck  er- 
füllen. Werner  spricht  zu  uns  als  Asket  und  katholischer 
Priester,  aber  er  spricht  zu  uns  auch  als  Dichter.  Sie 
erschienen  mit  einem  Nachwort,  das  den  inneren  Zusam- 
menhang, die  feinsinnige  Komposition  dieser  Betrachtungen 
sehr  gut  analysiert  und  Werners  Prosa  auf  einer  ge- 
wissen Höhe  zeigt. 

Die  „Übungen"  sind  durch  den  Rahmen  der  einzelnen 
Halbtage  von  einander  abgeteilt,  in  Akte  zerlegt.  Diese 
natürliche  Teilung  hat  Werner  geschickt  durch  formale 
Akzente  betont  und  sich  hierdurch  einen  grossen  künst- 
lerischen Vorteil  gesichert.  In  das  leicht  in's  Uferlose 
Verschwimmende  einer  solchen  lyrischen  Komposition  ist 
ein  straffendes  dramatisches  Element  gebracht.  Mit  feinem 
Verständnis  hat  er  innerhalb  jedes  dieser  Einschnitte 
Spannung  und  Lösung  durchgeführt.  Jeden  Halbtag  hat 
er  für  sich  durch  scharfe  Umgrenzung  wieder  zur  Ein- 
heit erhoben.  Durch  die  Gleichheit  des  Rythmus,  durch 
inhaltliche  Gegenüberstellung  verklammert  er  die  Teile 
fest  in  sich  zusammen  z.  B.  sieben  Todsünden,  sieben 
Gnadenmittel,  Tod  des  Sünders,  Tod  des  Gerechten  usw. 
Die  Dichtung  erhielt  dadurch  eine  Einheit,  die  sie  nicht^ 
in  eine  lose  Zusammenstellung  religiös -lyrischer  Einzel- 
dichtungen zerfallen  lässt.     Dabei  wirkt  er  weder  Inhalt- 


310 

lieh  noch  formal  eintönig.  Der  Reichtum  der  lythmischen 
Formen  Werners,  die  Fülle  religiöser  Ideen  und  Gefühle 
vereinigen  sich,  diese  Gefahr  vermeiden  zu  helfen. 

ßewusst   hat  Werner   eine   neue  Form    erstrebt    und 
—  gefunden.    Schon  die  gewählten  Rythmen  kennzeichnen 
das  Neue  dieser  Lyrik  für  Werner.     Eine  merkliche  Vor- 
liebe für    einfache   liedartige    Formen    ist    nicht    zu    ver- 
kennen.   Jeder  Künstelei  ist  er  aus  dem  Weg  gegangen. 
In  schlichten  Linien  gibt  der  rythmische  Bau  den  Gehalt. 
Durch    rythmische  Schattierung   bringt    er   z.   B.  in    dem 
dreiteiligen  Gedicht:   „Busse"    eine   klare    Abstufung    der 
Stimmung  zustande.     Die  „Trostlosigkeit"  beginnt: 
„Ich  bin  von  Sünden  ganz  umfangen 
Und  ich  weiss  weder  aus  noch  ein. 
Die  „Selbstanklage" 

Wir  haben  Dich  verlassen 
Um  schnöden  Sündenlohn. 
Die  „Reue" 

Fliesset,  o  fliesset  in  Strömen  hernieder 
Thränen  der  Reue  und  büssender  Schuld. 
Ein  glücktrunkenes  Jubeln  klingt  In  dem  Rythmus: 
Es  ist  vollbracht,  die  Thräne  versieget 
Gewaschen  im  Blute  des  Lammes  die  Schuld." 
Der  Stil   (im    engeren    Sinne)    sucht    diese   Selbstbe- 
schränkung durchzuhalten,  straffe  Konzentration  des  Wor- 
tes führt  zu  einer  ungewollt  wirkenden  Bildhaftigkeit  und 
drängt  zu  scharfen  Konturen.  Das  Charakteristische  seiner 
früheren  Kunst,  das  Zerfallende,  Überreife  ist  überwunden. 
Sie  ist  rund  und  plastisch  geworden,  wirkt  nicht  mehr  so 
körperlos.  Fast  immer  ist  Handlung  das  Darstellungsmittel. 
So  bietet  die  Schilderung  der  sieben  Todsünden  keine  Aus- 
malung des  Zustandes,  sondern    es    wird    versucht,    eine 
einheitliche  Handlung  zu  geben,    indem    eine    die    andere 
aus  sich  entstehen  lässt.     Eine  möglichst  grosse  Bildlich- 
keit und  noch  konkretere  Fassung   wird    versucht.      Die 
letzten  abstrakten  Elemente    werden   ausgemerzt.    Jedes 


311 

allzu  deutlich  Symbolisierende  ist  vermieden.  Durch  alle 
Gedichte  ist  das  Wollen  nachzuweisen,  keine  Reflexionen 
zu  geben  sondern  Bilder.  Zwanglos  stellen  sie  sich  ein 
und  zwanglos  werden  sie  durchgeführt.  Eine  Fülle  wirk- 
lich geschauter  Bilder  lässt  sich  aufzeigen.  Die  Edel- 
metalle sind  böhmesch  gestorbene  Strahlen  vom  Licht  der 
Gottheit.  Der  Sünder  verschläft  den  Tag  mit  Lachen. 
^Wie  die  Windsbraut  die  Blätter  vom  Baum  rafft,  mit 
Heulen  und  Pfeifen,  Wird  alle,  die  dann  in  Erd  und  Meer 
zum  Weltgerichte  reisen,  Wird  Gier  sie,  gerichtet  zu  wer- 
den, ergreifen."  Die  konkrete  Schilderung  des  Sterbens: 
^Wenn  schon  die  Totenkerze  in  Sünderhänden  brennt." 
Von  Dantesker  Farbe  ist  das  Bild  des  Weltenrichters: 
Und  nun  der  Jesus,  der  dann  nicht  mehr  söhnet, 
Kommt  ein  Gewalt'ger  mit  Blitzen  gekrönet. 
Aber  mehr  noch  als  formale  Einzelvorzüge  können  wir 
an  dieser  Lyrik  geniessen.  Wir  werden  in  ein  grosses, 
wirkliches,  ungekünsteltes  Erlebnis  eingeweiht,  werden 
durch  die  suggestive  Kraft  dieses  Lebens  in  seine  Stimmung 
gezwungen.  Was  wir  qualvoll  in  den  meisten  Gedichten 
Werners  fühlen,  die  artistische  Halbwahrheit  seines  Schau- 
ens,  das  Gewollte  seines  Gefühls,  hier  fehlt  es.  Hier 
zwingt  er  uns  zu  glauben.  Eine  stille,  zurückgehaltene 
Energie  strafft  sich  in  diesen  Versen,  eine  Energie  des 
Erlebens,  wie  wir  sie  (in  der  Lyrik)  noch  nicht  bei  Wer- 
ner sahen.  Die  Sucht  das  Letzte  nicht  ahnen  zu  lassen, 
sondern  auszusprechen,  hier  stört  sie  uns  nicht.  Wir 
spüren  eine  fast  stolze  Scham,  sein  Allerheiligstes  zu 
bergen,  dass  wir  nur  den  Vorhang  sehen,  der  ihn  uns 
deckt.  Man  hatte  bei  vielen  seiner  Lyrismen  das  Gefühl : 
Nicht  Überfluss  quillt  schäumend  empor,  sondern  Ohn- 
macht peitscht  sich  in  den  ekstatischen  Taumel.  Hier 
wissen  wir,  dass  sich  eine  innere  Überfülle  drängt,  Wort 
zu  werden. 

Dieses  reine  Gefühl  in  einfacher  Form  wird  zum 
Kunstwerk,  dessen  gehaltene  Harmonie  uns  zur  Andacht 
zwingt.     Alle  Gefühlstöne  religiösen  Lebens    werden    an- 


312 

geschlagen  von  tiefster,  zerrissener  Angst,  bis  zur  jubeln- 
den Gewissheit  des  Auserwähltseins,  vom  „de  profundis" 
bis  zum  „te  deum  laudamus". 

Werners  „Geistliche  Übungen"  bergen  Edelsteine  re- 
ligiöser Lyrik,  die  auch  neben  den  schönsten  Werten  der 
Kunst  eines  Novalis  nicht  ihren  Glanz  verlieren.  Ihre 
Abhängigkeit  von  den  geistlichen  Liedern  Hardenbergs^ 
die  er  sogar  in  seinen  Predigten  zitierte,  ist  sofort  er- 
kenntlich in  Rythmus  wie  Stil,  aber  damit  sind  sie  nicht 
abgetan.  Hier  ist  der  Dichter  kein  Epigone,  weder  in 
Form  noch  Inhalt,  Er  hat  von  Hardenberg  gelernt  aber 
ist  dann  eigene  Wege  gegangen,  die  ihn  in  ein  anderes 
Land  führten,  als  Novalis  es  sah.  Wo  er  dieselben  Wege 
geht,  sieht  er  mit  eigenen  Augen.  Im  naiven,  reinen 
Schauen  nimmt  er  ihr  Bild  auf  und  selten  brechen  sich 
die  Strahlen  so,  dass  wir  nicht  sehen  können  wie  er. 
Vergleichen  wir  nur  etwa  das  hohe  Lied  der  Liebe,  die 
„Hymne"  Novalis  mit  dem  Gedicht  „Ewige  Seligkeit".  Dort 
ein  Rausch  in  grandiosen  Visionen,  hier  ein  gebändigter 
Impuls  jubelnder,  hoffender  Freude.  Wir  wissen  vom 
Dichter  der  „Kunigunde"  usw.,  dass  er  auch  diese  Far- 
ben geben  kann,  aber  hier  zwang  er  sich  zur  Formen- 
und  Gefühlsbeschränkung. 

Einigemale  drängt  sich  der  Priester,  der  Katholik 
vor  den  Menschen,  einigemale  durchstösst  das  „beschränkte 
Sittliche"  das  Moraldidaktische  die  künstlerische  Form. 
Aber  das  sind  Einzelheiten,  Unbedeutenheiten.  Im  Gan- 
zen bedeutet  diese  religiöse  Lyrik  den  Gipfel  der  Lyrik 
Werners  und  ein  fernsichtiger. 

Für  die  rein  menschliche  Entwicklung  Werners  war 
die  neue  Form  ein  Vollendungszeichen.  Das  Drama  hat 
eine  starke  seelische  Spannung  zur  Voraussetzung.  Der 
Dramatiker  Werner,  der  im  Katholizismus  zu  einer  ge- 
wissen Lösung  seines  Wesens  kam,  musste  notwendig  in 
dieser  Kunstform  versagen.  In  der  Entwicklung  seiner 
Lyrik  zeigten  sich  epische  Momente,  die  auch  den  Aufbau 
der  Mutter  der  Makkabäer  lockerten.     Der  Konvertit  Wer- 


313 

ner    pflegte  —  wenn    auch    ohne    grössere    künstlerische 
Werkleistung  —  diese  Gattung. 

Werner  besitzt  keinen  eigentlichen  epischen  Stil,  wäh- 
rend sein  Schaffen  zuletzt  stark  von  epischen  Formen 
durchsetzt  ist.  Sein  dunkles  Ahnen,  Tasten  nach  einer 
spezifisch-epischen  Diktion  ist  klar  zu  fühlen,  aber  bleibt 
eben  keimhaft  und  unentwickelt.  Als  metrische  Form  der 
epischen  Versuche  seiner  letzten  Epoche  wählte  Werner 
die  Kanzone.  Er  durfte  sich  mit  Recht  rühmen,  sie  ge- 
schickt gehandhabt  zu  haben  sowohl  was  Rythmus  als 
auch  Reimtechnik  angeht.  Der  Reimreichtum  dieser  Form 
wird  ihn  für  sie  eingenommen  haben.  Der  überquellende 
Fluss  des  Gleichklangs,  der  in  der  Wernerschen  Lyrik 
quoll,  ist  hier  geschickt  und  ungezwungen  benutzt. 

Zu  den  epischen  Versuchen  wurde  Werner  in  Rom 
vor  allem  durch  inhaltliche  Bildbetrachtung  geführt  und 
in  der  Darstellung  des  Lebens  Raphaels  wirkte  er  wie 
ein  Cicerone,  litt  an  den  Fehlern,  die  durch  diese  Veran- 
lassung nahe  gelegt  wurden.  Er  interpretierte  den  Bild- 
stoff von  sich  aus  und  begann  sein  Predigeramt,  das  er 
in  seiner  Kunst  stets  hatte  erfüllen  wollen,  im  Eifer  und 
Geiste  der  Konversion  nicht  eben  zum  Nutzen  dieser  Form, 
die  eine  Erzählung  verlangt  und  nicht  eine  fortwährende 
Verschnörkelung  der  Linien  des  Geschehens  durch  das Über- 
mass  von  Reflexionen  jeder  vor  allem  moralischer  Art 
Er  spottet  in  „Raphael  Sanzio  von  Urbino",  indem  er  die 
Kanzone  selbst  sprechen  lässt : 

„Ich  bin,  man  weiss  es,  spricht  sie,  vielem  Sprechen 
Nicht  eben  feind ;  doch  soll  ich  was  erzählen ! 
'nen  Lebenslauf,  Tragödie  und  so  ferner; 
So  mag  ieh  mich  auch  noch  so  ängstlich  quälen, 
Ich  kann  mich  immer  meiner  nicht  entbrechen, 
Ich  bin  und  bleib  in  allem  immer  —  Werner !'' 
Und  etwas  später  setzt  er  sie  zurecht  : 

,,Ganz  hübsch  geschwärmt,  Kind,  doch  wir  verletzten 
Die  Gattung  gar,  drum  denk  einmal  zu  enden, 
Lyrisch-didaktisch  epische  Kanzone!" 

Stets  wird  der  Fluss   der   äusseren   Handlung   völlig 


314 

abgedämmt  und  nur  durch  sehr  deuthch  merkliche  Über- 
gänge wieder  eingeführt.  Es  fehlt  bei  aller  Weitschwei- 
figkeit an  wirklich  epischer  Breite.  Werner  hat  mit  Aus- 
nahme seiner  Balladen-Epopoe:  „Die  drei  Reiter"  keine 
wirklichen  epischen  Werke  schaffen  können.  Die  Fülle 
der  epischen  Versuche  des  Dichters  beweist,  dass  er  diese- 
immanente  Tendenz  seines  Schaffens  fühlte.  Seine  künst 
lerisches  Formkraft  war  nicht  gross  genug,  das  Epische 
streng  zu  wahren  und  stets  versickerte  die  Erzählung 
in  Schlammsand  der  Didaktik;  aber  gerade  der  ungewollte 
epische  Einschlag  in  seiner  lyrischen  und  dramatischen 
Kunst  ist  biographisch  wertvoll. 

Die  durch  die  Form  der  Kanzone  als  episch  empfun- 
denen Versuche  der  Zeit,  in  der  Werner  sich  in  seiner 
Weise  vollendete,  machten  die  innere  Formw^andlung  der 
Lyrik  mit  und  sind  an  Einzelheiten  reich,  die  von  der  seeli- 
schen Geschlossenheit  Werners  Zeugnis  geben.  Der  Prediger 
aber  verdrängte  den  Dichter  immer  mehr.  Der  Zwiespalt 
zwischen  Mensch  und  Künstler  löste  sich  für  Werner  un- 
merklich und  still.  Er  konnte  als  Mensch  sich  in  seiner 
Weise  nur  erfüllen,  wenn  er  den  Künstler  opferte.  Es 
geschah  ohne  aufreibenden  Kampf  langsam  wie  das  Ver- 
löschen eines  leuchtenden  Lichtes,  dem  die  notwendigere 
Flamme,  die  wärmen  soll,  die  Nahrung  mehr  und  mehr 
entzog.  Das  Schicksal  des  Romantikers  erfüllte  sich,  der 
doch  in  der  höchsten  Form  seinen  Gegensatz  nicht  verbin- 
den konnte,  weil  der  Dualismus  zu  stark  war  und  die  Per- 
sönlichkeit zu  schwach.  Eine  Synthese  zwischen  Mensch 
und  Künstler  im  Katholizismus  fand  kein  Romantiker  ganz. 
Werner  vielleicht  noch  —  als  Lyriker  —  am  meisten  von 
allen.  Als  Lyriker,  weil  hier  die  seelische  Spannung 
leichter  und  spielender  ist.  Hätte  der  Romantiker  Wer- 
ner über  den  Kompromiss  zwischen  Künstlertum  und 
Menschentum  zur  Synthese  gelangen  können,  so  hätte  er 
als  Epiker  sich  notwendig  vollendet. 

In  die  Tiefen  der  geistigen  Wurzeln  des  Formprob- 
lems weist  das  Aufkeimen   seines  epischen  WoUens,  das 


315 

diese  Kunstform  als  die  seiner  geistigen  Lebensform  im- 
manent erfühlte.  Als  der  reifende  Friedrich  Schlegel  den 
Roman  für  die  höchste  Gattung  der  Poesie  erklärte,  war 
in  ihm  das  ahnende  Wissen,  dass  seine  Kunsttheorie  und 
damit  das  Kunstwollen  der  romantischen  Epoche  hier  gip- 
felte, weil  hier  auch  für  das  menschliche  Problem  dieser 
Generation  der  künstlerische  Beweis  einer  Erlösung  aus 
sich  selbst  wäre  erbracht  worden.  Im  Epos  wird  die 
Tatsachenwelt  nicht  durch  die  Verneinung  künstlerisch 
überwunden.  Der  Epiker  gestaltet  mehr  als  jeder  andere 
Dichter  die  Tatsachenwelt.  Er  ist  ihr  Souverain  und  be- 
herrscht sie.  Die  Romantik  wollte  bewusst  den  Weg 
gehen  nach  Innen  und  zurück  nach  Aussen.  Bewusst 
stellte  Novalis  die  Forderung  „Nach  innen  geht  der  Weg" 
als  Antithese,  um  dadurch  zur  Synthese  zu  gelangen. 
Vom  Geiste  aus  suchten  sie  den  Weg  zur  Natur  zurück, 
um  nicht  in  der  reinen  Verneinung  der  Tatsachenwelt 
sie  zu  überwinden,  sondern  ihr  Dasein  bejahend  wirklich 
erst  Herr  zu  werden.  Die  epische  Form  ist  der  Ausdruck 
absoluter  Abgeschlossenheit  dem  Darzustellenden  gegen- 
über, ist  Ausdruck  in  sich  geschlossener  Persönlichkeit, 
die  etwas  beherrscht,  mit  etwas  spielt.  Die  romantische 
Ironie  ist  so  höchste  Steigerung  epischen  Wollens.  Nicht 
im  Verzicht  auf  das  Ausser -Ich  wollte  diese  Generation 
sich  vollenden,  sondern  in  dem  Beweis  ihrer  Herrschaft. 
Die  Kurve,  die  von  Fichte  zu  Schleiermacher  und  weiter 
zu  Schelling  führte,  zeichnete  dieses  Wollen  der  Epoche 
in  der  Philosophie  nach.  Werners  Weg  war  bei  aller 
spielend-wirrenden  Individualität  der  Weg  der  Romantik, 
nicht  in}  Sinne  eines  notwendigen  Endpunkts  im  Katho- 
lizismus, sondern  in  der  Bahnrichtung  des  Wollens  und 
des  Ergebnisses  seiner  Kunst  und  seines  Lebens. 

Eine  Seite  an  Werner  war  durch  den  Lauf  der 
Entwicklung  tief  in  Schatten  getaucht:  Sein  Humor. 
Eine  bissige  Satire,  dann  und  wann  ein  scherzhafter  Ver- 
gleich im  Gedicht  oder  Tagebuch,  das  waren  die  einzigen 
künstlerischen    Erscheinungsformen    dieser    Anlage:    Ein 


316 

Lustspiel  (Der  Rattenfänger  von  Hameln)  hatte  er  180& 
konzipiert  und  ein  paar  Scenen  davon  hübsch  ausgeführt. 
Aber  die  Stimmung  seines  Lebens  hatte  für  diesen  Ton' 
keinen  Raum  und  schrill  und  dissonant  erklingt  er  zu 
dem  schweren,  dunklen  Thema:  „Ich  kann  nicht  leben 
mehr,  ich  kann  nur  glauben."  Jetzt  fiel  ein  leichter  Glanz 
wärmend  auch  hierhin,  wo  verkümmerte  Freude  sich 
öffnete  und  mit  scheu-herbem  Duft  zu  blühen  begann.  In 
einem  Schreiben  an  Kreutzer,  Sekretär  des  Kronprinzen 
von  Bayern,  heisst  es  unter  dem  10.  Februar  1816  schon: 
„  Einstweilen  so  viel,  dass  Werner  ....  in  der  Kirche  ebenso 
der  Gottesfurcht  ergeben,  als  in  den  Gesellschaften  ein 
lustiger  Mann  mit  viel  Witz,  Gelehrsamkeit  und  dichte- 
rischem Talente  erscheint,  für  die  Meisten  ein  Rätsel, 
sich  selbst  aber  nicht  ganz  klar  zu  sein  scheint."  Die 
„Meisten"  sagten,  „dass  Pater  Werner  dermahlen  selten 
einheimisch  ist,  nicht  predige,  sondern  immer  auf  dem 
Fasching  sey."  Der  verärgerte  Konfrater,  der  ihn  so 
tadelte,  wusste  nicht,  dass  sein  Wort  in  die  verstärkende 
Akustik  der  Polizeihofstelle  fallen  würde.  Wir  haben 
unter  diesem  „immer  auf  den  Fasching  sein"  wohl  nichts 
weiter  zu  verstehen,  als  dass  Werner  die  vielfachen  ge- 
sellschaftlichen Anforderungen,  die  Wien  an  ihn  stellte 
jetzt  ruhig  erfüllte,  ohne  sich  durch  übertriebene  aske- 
tische Anschauungen  beirren  zu  lassen.  Soccios  Wort 
mochte  ihm  wieder  bewusst  werden,  dass  keine  äusser- 
liche  übertriebene  Selbstverleugnung  im  Katholizismus 
verlangt  werde.  Er  hatte  es  fast  verlernt,  die  Welt  ruhig 
und  gut  zu  sehen  als  das,  was  sie  war.  Jetzt  konnte  er 
es  „ohne  Schaden  zu  leiden  an  seiner  Seele".  Die  Dinge, 
die  Geschehnisse  wurden  nicht  mehr  als  die  wuchtigen,, 
kantigen  Steine  empfungen,  die  seinen  Weg  zur  Vollendung 
erschwerten  und  ihm  die  Füsse  wund  stossen  Hessen.  Er 
nahm  sie  gütiger,  verstehender  und  ging  so  leicht  dadurch. 
In  dem  Briefwechsel  mit  der  Familie  Grocholski- 
Choloniewski  findet  sich  der  barocke  Humor  oft  neben 
den    Ausrufen    eines    Kämpfenden,     etwas    ungelenk    und 


317 

tolpatschig,  aber  bei  aller  Ungeschicktheit  spürt  man  die 
Wahrheit  dieses  Gefühls,  das  sich  nicht  recht  zu  geben 
wusste  und  etwas  verschüchtert  und  über  sich  staunend 
ins  Leben  schaute. 

Neben  der  weltlicheren  Beschäftigung,  die  man 
tadeln  zu  müssen  glaubte,  erfüllte  Werner  in  aufopfernd- 
ster Weise  seinen  Priesterbc'uf  und  machte  vor  keinem 
Stand  und  keinem  Geschlecht  Halt.  „Der  arme  Kanoni- 
kus", schreibt  er  am  5.  Mai  1818  an  den  Grafen  „macht 
mir  viel  zu  schaffen.  Er  sitzt  den  ganzen  Vormittag 
im  Beichtstuhl  und  glaubt  gern  den  Thränen  der  Gläu- 
bigen, die  ihm  versichern,  dass  Gott  sein  Thun  segne." 
Auf  der  Kanzel  war  er  noch  immer  tätig  und  erfolgreich, 
wenn  auch  der  Ton  seiner  Predigten  verblasste  und  der 
leicht  theatralische  Anstrich  seines  Auftretens  den  Wie- 
nern schon  bekannt  war.  Er  hatte  noch  grosse,  seel- 
sorgerische Erfolge  und  war  der  Liebling  des  Volkes. 

Auch  hier  nahte  sich  langsam  die  Vollendung  im 
Sinne  Werners,  die  religiöse  Wiedergeburt  Österreichs  im 
Katholizismus.  Werner  hat  das  völlige  Reifen  auch  seiner 
Saat  nicht  mehr  erlebt,  aber  er  sah  überall  die  neue 
Frucht  keimen  im  Volke  wie  in  den  Spitzen  des  Hochadels. 

Aus  dem  weiteren  Kreis,  der  sich  um  Hoffbauer  und 
Werner  gruppierte,  \vuchs  eine  Organisation,  die  lose  und 
doch  durch  den  gleichen  Willen  eng  verkettet  sich  lang- 
sam von  Wien  über  Österreich  ausbreitete  und  die  Re- 
form der  Josephinischen  Kirche  an  Haupt  und  Glieder  be- 
gann. Ihren  literarischen  Ausdruck  erhielt  diese  Rich- 
tung in  der  religiösen  Halbwochenschrift  „Die  Ölzweige", 
die  auch  von  Werner  zur  Veröffentlichung  der  Nachrufe 
Hohenwarts  und  Hoffbauers  benutzt  wurden,  die  seine 
Vorrede  zu  den  „Übungen"  als  eine  Art  Eigenrezension 
brachten  und  nach  seinem  Tode  eine  Würdigung  seines 
Wirkens  zu  geben  versuchten. 

Hoffbauer  hatte  die  Gründung  einer  Zeitschrift  und 
einer  Bibliothek  früh  als  nötig  und  nützlich  erkannt.  „Die 
Deutschen  lesen  gern  und  es  ist  ein  Übel,  dass  man  ihnen 


318 

nichts  rechtes  zu  lesen  gibt."  1819  erschienen  die  „Öl- 
zweige" in  Wien,  die  zunächst  von  Passy  später  von 
Silben  redigiert  wurden.  Während  Friedrich  Schlegel, 
der  auch  an  den  „Ölzweigen"  mitarbeitete,  in  seiner 
„Concordia"  mehr  die  grosszügige  Propaganda  für  eine 
Einigung  aller  auf  katholischer  Grundlage  betrieb  und 
das  Problem  Staat  und  Kirche  zu  lösen  suchte,  blieb  diese 
Zeitschrift  in  ihren  Tendenzen  äusserlich  bescheidener 
und  wandte  sich  mehr  an  Geistliche  und  gebildetere  Laien, 
erklärte  religiöse  und  ethische  Fragen.  Kleine  anspruchs- 
lose Gedichte,  Heiligensentenzen  und  Erzählungen  im 
Volkston:  das  war  ihr  Inhalt.  Ihr  Ziel  eine  Vertiefung 
des  religiösen  Lebens  unter  Anknüpfung  an  die  histori- 
schen Werte  asketischer  Literatur.  „Lasset  uns  dem  nach- 
streben, was  zum  Frieden  dient,  (Römer  14,19)"  ist  das 
Motto  und  in  der  Vorrede  heisst  es:  „Gönnt  euch  die 
Müsse,  kommet,  erfahret  und  sehet ;  denn  es  hat  wahr- 
haftig der  Herr  wundersame  Dinge  vollbracht,  getreue 
Gedanken."  Von  Zeit  zu  Zeit  stellen  einige  Notizen  oder 
Abhandlungen  den  Zusammenhang  mit  dem  Katholizismus 
anderer  Länder  her.  Übersetzungen  aus  dem  französi- 
schen Schwesterorgan  „Conservateur"  und  „Defenseur" 
betonen  bewusst  eine  gewisse  Internationalität.  Sonst  ist 
ein  nationaler  und  speziell  österreichischer  Einschlag  un- 
verkennbar. Eine  Fülle  religiöser  Werte  w^urde  hier  ge- 
boten. Ohne  Engherzigkeit  wurden  von  Abraham  a  Sancta 
Claras  Sprüchen  bis  zu  den  ekstatischen  Liebesäusserun- 
gen der  heiligen  Therese,  von  den  prachtvollen  Versen 
des  „Cherubinischen  Wandersmann"  bis  zu  den  Hymnen 
lateinischer  Kirchenväter  alle  Früchte  geerntet.  Eine  tiefe 
Religiosität  paarte  sich  mit  einem  feinen  Verständnis  für 
dichterische  Werte  und  gab  der  Zeitschrift  ein  glänzendes 
Signum.  Das  Betonen  des  Katholischen  und  zwar  Ro- 
mantisch-Katholischen im  Gegensatz  zum  Josephinismus 
wirkte  nicht  unangenehm  durch  das  Vermeiden  jeder 
Überschärfe  und  durch  die  Erkenntnis  einer  warmen  Über- 
zeugung, die  man  aus  jedem  Wort  herausspürt. 


319 

Blättert  man  in   den   alten  Bänden  ( — 1823)  nach,  so 
begegnet  man  einer   Fülle    von    Gedanken,   Motiven   und 
Namen,    die    in  Werners   Entwicklung    eine    grosse  Rolle 
spielen.     Spee,  Thomas   von  Kempen,  Tauler,  Franz   von 
Assisi  und  andere  Namen.     Der  heiligen  Kunigunde  Schick- 
sal wird  erzählt   und    analoge  Heiligenleben.     Geist    von 
seinem  Geist  spricht  aus  den  Sätzen  Friedrich  Schlegels. 
„Auch   war   die    sichtbare  Natur    von    jeher    nur  Symbol 
des  Geistes,  eigentlich  ein  Sinnbild    des  Göttlichen,  denn 
denn  sie  ist  ein  in    die  Anschauung   getretener  Gedanke 
Gottes  und   wird   es  immer    bleiben,    so    lange    sie    seyn 
wird  ....     Der  heilige  Blick  des  Katholiken  sieht  überall 
in  allem,  was  ist  und  erscheint   das  Heilige  nur  nicht  in 
der  Sünde;  alles   hat    für    ihn    eine    sinnvolle  Bedeutung, 
nur  nicht  die  Sünde  ....  daher   die  Symbolik   der  Natur 
—  ihre  Blumensprache  —  welche  der  unverdorbene  Natur- 
mensch im  Orient  liesst,  der   überbildete    Europäer   aber 
nicht    mehr    versteht."     Eine    mystische    Auffassung    der 
Religion  wird  verteidigt  und   die  Lieblingsheiligen  dieser 
Männer    sind   fast   alle  jene   Menschen,    die    in    Gott   die 
Liebe  sahen  und    deren  Weltanschauung    aus    dieser  Ge- 
fühlswurzel erwuchs.     Weniger    Intellektualisten    als  Ge- 
fühlsnaturen stehen   im    Vordergrund.     Im    vierten   Jahr- 
gang z.  ß.  ist  eine  Rezension  des  von  Silbert  übersetzten 
Theoiimus  oder  „von  der  Liebe  Gottes",    den  Franz  von 
Sales  schrieb.     Im  III.  „der   heiligen  Theresia  Liebeskla- 
gen und  Aufruf  der  Seele  zu  Gott".     Diese  Mystik   wird 
als  „Anfangspunkte  des  christlichen  Nachdenkens  („Nach 
den  Sprüchen  des  Angelus",  ist  der  Untertitel)  anerkannt. 
Eine  vom  Individuum  abhängige  Mystik  wurde  als  falsch 
scharf  abgelehnt.    „Der  Menschengeist  kann  also  nur  emp- 
fangen und  das  Empfangene  sich  aneignen,  aber  schaffen 
kann  er  nicht  .  .     Hier  liegt  die  Quelle  aller  scheusslichen 
Missgeburten  einer  falschen  in  sich  wurzelnden  Mystik." 
Das  könnte  Werner  geschrieben  haben. 

Mit  dem  Volke  verstand  sich  Werner.     Weniger  gut 
stand  er  mit    den    Menschen    seines    Gesellschaftskreises. 


320 

Aus  den  Protokollen  der  Polizeistelle  geht  hervor,  dass 
Klatsch  und  Verleumdung  ihn  überall  zu  beschmutzen 
suchte.  Auch  Friedrich  Schlegel  schrieb  (am  3.  Juli  lbl9) 
an  Dorothea:  „Die  Freunde  in  Wien  haben  einen  ausser- 
ordentlichen Hang  zur  Klatscherei  und  Verleumdung." 
Der  enge  mehr  als  bureaukratische  Geist  des  Josephinis- 
mus lag  den  Wienern  noch  in  den  Gliedern  und  Hess  sie 
vor  jeder  religiösen  wie  menschlichen  Eigenart  erschreckt 
zurückfahren.  Die  sandige  Seichtheit  Karoline  Pichler- 
scher  Phrasen  in  Gedichten  wie  ^Erinnerungen"  lassen 
den  Geist  ahnen,  der  in  einem  der  lührenden  Salons  des 
damaligen  Wiens  herrschte,  besser :  knechtete.  Er  Hess 
Werner  am  5.  Mai  1818  an  den  Grafen  Choloniewski 
schreiben:  „Noch  einmal  von  unserem  Kanonikus.  Wäh- 
rend seine  Feinde  ihm  nichts  schaden  und  das  Volk  ihn 
aufs  innigste  liebt,  so  cujonieren  ihn  seine  Freunde  hier 
durch  die  allerengbrüstigste  und  asthmatische  Ansicht 
aller  Lebensverhältnisse  und  alles  dessen,  was  not  thut, 
so  entsetzlich,  dass  er  einen  Festungsarrestanten  beneiden 
könnte  und  sich  in  allem  Guten  durch  seine  hiesigen 
Freunde  gelähmt  sieht.  Nicht  durch  seinen  geistigen  Va- 
ter, aber  wohl  durch  einige  von  dessen  zuvielen,  wie- 
wohl  guten  Anfängern "      Stanislaus    Choloniewski 

klagte  er  den  Mangel  an  Menschen,  welche  auf  seine  Ge- 
danken eingehen  möchten  und  schnitt  „darüber  Gesichter 
wie  Kinder".  Die  einzigen  in  seiner  Umgebung,  die  fähig 
wären,  diesen  „exaltierten  Menschen"  zu  verstehen,  waren 
Hofifbauer  und  der  Erzbischof  von  Wien.  Sie  waren  allein 
imstande,  ihn  in  Wien  und  für  Wien  zu  erhalten;  denn 
Werner,  der  durch  keine  äusseren  Bande  an  Österreich 
gefesselt  war,  dachte  oft  an  Flucht  aus  dieser  Umgebung, 
der  er  fast  zum  Ärgernis  ward,  da  er  mit  Dirnen  ver- 
kehrte, wie  mit  Gräfinnen,  die  sein  Wort  gewandelt  hatte. 
Schon  früh  tauchte  der  Plan  auf,  nach  Berlin  und 
von  dort  nach  Rom  zu  gehen.  Aus  den  Briefen  des 
Grafen  Stanislaus  Choloniewski  erfahren  wir,  dass  sein 
Ziel  damals  das  Elsass  war,  ohne  den  Grund  und  eigent- 


321 

liehen  Zielort  zu  kennen.  Vielleicht  „Deutschtum  emer- 
gierend."  Von  einem  anderen  Plane  sind  wir  etwas  besser 
unterrichtet.  Aus  den  Akten  der  PoHzeihofstelle  (vom 
12.  Februar  1816)  ist  ein  Schreiben  erhalten,  das  ohne 
Unterschrift  mitteilt:  „Der  Kronprinz  von  Bayern  scheint 
an  dem  hier  befindlichen  Abbe  Werner  ein  besonderes 
Interesse  zu  nehmen,  beinahe  scheint  es,  als  ob  er  den 
Abbe  an  sich  ziehen  wollte."  Wir  wissen  nur,  dass 
Unterhandlungen  gepflogen  wurden,  die  wohl  nicht  ganz 
mit  Unrecht  im  Zusammenhang  mit  der  Pensionsfrage 
gebracht  werden, 

Hoffbauer  hielt  ihn  immer  wieder,  weil  er  seine 
eminente  Arbeitskraft  richtig  einzuschätzen  wusste  und 
sicherte  ihm  die  Bewegungsfreiheit,  die  Werner  für  sich 
als  religiöser  Mensch  in  Anspruch  nahm.  Die  an  und 
für  sich  höchst  unwichtige  Feststellung  über  Werners 
Absicht  Wien  zu  verlassen,  gewinnt  in  diesem  Zusam- 
menhang eine  andere  Bedeutung.  Sie  wird  zu  einem 
neuen  Indicium,  dass  Werner  sich  zu  einem  religiösen 
Individualismus  bekannte  und  zwar  auch  für  sich. 

Diese  individuelle  Note  ist  naturgemäss  in  den  dog- 
matisch-öffentlichen Auseinandersetzungen,  wie  sie  für 
1819  in  der  Vorrede  zur  „Mutter  der  Makkabäer"  sich 
finden,  am  wenigsten  erkennbar.  Nur  die  spezifisch  Wer- 
nersche  Formulierung  der  Idee  der  Gottesabhängigkeit 
etwa  zeigt,  dass  er  diese  Gedanken  selbständig  zu  be- 
arbeiten gesucht  hat.  Er  hat  sie  in  sein  „System"  ge- 
bracht. Gegen  den  in  sich  Vollendung  suchenden  Individu- 
alismus fasst  er  der  Christ  und  Katholik  die  irdische  Ent- 
wicklung nur  als  einen  Teil  der  endgültigen  Entfaltung 
des  Wesens  auf.  Die  letzte  Reife  erhält  sie  in  der  An- 
schauung Gottes.  Auf  dieses  Ziel ,, einfältig"  hinzuarbeiten 
ist  Pflicht  und  Weihe  des  Lebens.  Hoffend  schliesst  er 
diese  Apostrophe  an  Goethe  und  seine  Jünger:  „Besonders 
erscheint  die  der  dermaligen  Welt  schon  auf  die  Füsse 
tretende  Nachwelt  zu  ernsten  und  edlen  Sinnes  zu  seyn, 
um  auch  dem  glänzenden  Talente  nicht  die  thätige  Rich- 

Hankamer,  Zacharias  Werner.  21 


322 

tung  des  ernsten  Willens  auf  ein,  über  den  frevelnden 
Spott  so  gar  des  mächtigsten  verneinden,  mithin  absolut 
protestierenden  Geistes,  geschweige  denn  über  die  edle 
Keckheit  [die  als  Wesen  des  Deutschtums  erkannt  war] 
auch  des  kräftigsten  Sterblichen,  erhabenes,  festes  posi- 
tives Ziel  zu  erlassen,  und  sonach  (vielleicht  ohne  das 
selbst  schon  ganz  bestimmt  zu  wissen  oder  zu  wollen) 
dennoch  der,  nur  in  krankhafter  Krisis  eines  Zeitalters 
von  den  Völkern  verkennbaren  —  Demuth  wiederum  Bahn 
zu  brechen,  nämlich  der  freiwilligen  Beschränkung,  durch 
welche  man  allein  den  wahren  Meister  erkennt  oder  besser 
gesagt —  der  Furcht  Gottes,  die  der  Weisheit  Anfang  ist!" 
Dieses  Zitat  zeigt  die  Selbständigkeit,  mit  der  Wer- 
ner den  verblassten  Begriff:  Furcht  Gottes  mit  neuer 
Farbe  sich  malte.  Das  ist  ein  Vorgang,  der  scheinbar 
an  die  Aufnahme  des  Katholizismus  bei  seiner  Konversion 
erinnert,  wo  es  sich  mehr  —  was  die  dogmatische  Seite 
angeht  —  um  eine  Änderung  der  Worte  als  der  Begriffs- 
inhalte handelte.  Hier  aber  ist  ein  Begriff  der  katholischen 
Lehre  individuell  gegeben,  ohne  etwas  von  seinem  Wesen 
verloren  zu  haben.  Immer  liefer  war  Werner  in  den 
Katholizismus  hineingewachsen.  „Das  steht  hier  im  Ka- 
techismus, den  ich  immer  mit  mir  habe.  Also  können 
wir  dagegen  nichts  einwenden",  lautete  ein  Beweis  der 
Erbsündelehre,  in  einer  seiner  letzten  Predigten.  Dog- 
matisch stand  er  ganz  auf  dem  Boden  der  kirchlichen 
Lehre.  Aber  es  ist  kein  enger,  harter  Zwang  mehr. 
Er  hat  sie  in  sich  aufgenommen.  Kein  Kleben  an  Wort. 
Er  baute  sich  mit  dem  Material,  das  sie  ihm  bot,  eine 
Weltanschauung,  die  sein  Eigentum  war.  Werner  brauchte 
sich  nicht  mehr  als  Bettler,  als  Fremdling  zu  fühlen.  Es 
hat  wahrscheinlich  eine  Zeit  gegeben,  wo  er  von  der 
Macht  des  als  fremd  gefühlten  Katholizismus  am  stärk- 
sten beeinflusst  wurde.  Die  letzte  Zeit  war  eine  gewisse 
Reaktion  gegen  die  vergangene  Epoche.  Wiederum  ein 
Symptom  für  Werners  Vollendung,  die  als  ein  Bekenntnis 
zu  einem   „gemässigten"    Individualismus    zu    bezeichnen 


323 

ist,  nur,  dass  jetzt  der  Raum  begrenzt  ist,  in  dem  die 
Persönlichkeit  sich  „ausleben"  kann. 

Vielleicht  kann  man  behaupten,  dass  an  dem  Begriff 
der  christlichen  Individualsünde,  die  er  als  Nicht-Tun  im 
Sinne  Fichtes  nahm,  sich  ihm  erst  eigentlich  der  Begrifif 
der  Persönlichkeit  kristallisierte.  Wir  sahen  bei  seiner 
Konversion,  wie  der  eigenartige  Kommunismus  der 
katholischen  Religion  ihn  anzog,  wie  er  ihn  besonders 
stark  aufnahm  und  am  Schluss  der  Entwicklung  wurde 
Werner  im  ehrlichen  Suchen  zu  dem  anderen  Punkt  ge- 
führt, zum  religiösen  Individualismus.  Und  noch  eine 
andere  Seite  des  Katholizismus  hat  in  dieser  eigenartigen 
Konstellation  als  eine  Macht  gewirkt,  die  das  Individuum 
sich  kristalisieren  liess:  die  Dogmatik. 

Werners  eigenwillige,  seltsam  verlaufende  Entwick- 
lung ist  nur  mühsam  zu  verfolgen  und  die  Einflüsse,  die 
wirkend  werden,  ändern  sich  so  stark,  so  individuell,  dass 
man  ihre  Quelle  oft  kaum  mehr  zu  ahnen  vermag.  Oft 
möchte  man  —  so  paradox  es  klingt  —  annehmen,  dass 
seine  Entwicklung  fast  unabhängig  vom  Ganzen  sich  voll- 
zieht, dass  er  sich  nur  im  höheren  Sinne  als  Glied  einer 
historischen  Gesellschaft  fassen  lässt.  Dann  wieder  — 
wenn  man  die  Fülle  der  Einflüsse  für  sich  überschaut  — 
möchte  man  zweifelnd  fragen,  ob  noch  etwas  Eigenes 
übrig  bleibt.  Die  activo-passive  Natur  Werners  erklärt 
dieses  eigenartige  Phänomen.  Einer  schier  unbegrenzten 
Aufnahmefähigkeit  der  scheinbar  widersprechendsten  Ele- 
mente stand  ein  ebenso  starker  Tätigkeitsdrang  gegen- 
über, der  jedes  Element  in  seiner  Weise  umarbeitet,  zu 
seinem  Eigen  machte,  übersetzte.  Im  Katholizismus  stand 
er  aber  einer  der  stärksten  Mächte  gegenüber,  die  in  das 
Seelenleben  eingreifen  können  und  so  musste  die  Wand- 
lung des  Aufgenommenen  weniger  deutlich  erkennbar 
sein.  Die  Änderung,  die  Individualisierung  des  Fremden 
ist  hier  (besonders  bei  dogmatischen  Werten)  fast  unmög- 
lich. Die  Entwicklung  Werners  zum  eigentlichen  Indi- 
viduum, das  sich  seines  Wesens,  das  heist  seiner  Begren- 


324 

zung  gegen  Fremdes  bewusst  wird,  hat  unter  dem  Ein- 
druck dieser  Erscheinung  gestanden.  Fast  nie  blieb  ein 
Gegensatz  zwischen  dem  geistigen  Ausser -Ich  und  dem 
Ich  bestehen,  auch  gedanklich  fand  ein  Versenken  in  den 
Kosmos  der  Ideen  statt,  die  seine  Zeit  ihm  bot,  zerfloss 
seine  Eigenart  in  diesem  All  ohne  Grenze  in  sich  selbst. 
Hier  aber  stand  er  einem  Ausser-Ich  gegenüber,  das  er 
glauben  muss.  Über  den  Begriff  des  „Glaubens"  ging 
ein  Teil  des  Weges,  den  er  machte. 

Ihm  war  der  Glaube  „Demuth  der  Vernunft,  welche 
sich  liebend  beugt  unter  Gott".  In  dieser  Definition  lag 
das  Verzichtelement  an  der  Oberfläche.  Das  Kampfmo- 
ment, das  dem  Verzicht  vorausgehen  musste,  wurde  durch 
die  Talsache,  dass  der  Akt  des  Glaubens  im  System- 
ganzen als  Willensakt  hervortrat,  sichergestellt.  Werner 
setzte  sich  mit  der  Dogmatik  auseinander,  musste  das  in 
seiner  Priestertätigkeit,  die  auch  apologetisch  war;  denn 
nach  der  Lehrmeinung  des  Katholizismus  gehen-  die  Dog- 
men über  die  Vernunft  zwar  hinaus,  sind  aber  nicht  ver- 
nunftwidrig und  können  also  verteidigt  werden.  Seine 
Systembildung  allein  beweist  schon,  dass  er  wählend  und 
ordnend  tätig  sein  wollte,  aber  an  dem  spröden  Stoff  der 
Dogmen  konnte  er  nicht  in  seiner  Weise  herangehen. 
Ihre  Eigenexistenz  wehrte  sich  gegen  die  Vergewaltigung. 
Er  konnte  sich  nur  teilweise  mit  ihnen  identifizieren  und 
fühlte  die  Scheidung  ganz  anders  als  je  in  einer  geistigen 
Aufnahme,  wurde  dadurch  sich  seiner  Abgeschlossen- 
heit aber  auch  seines  Wertes  und  seiner  Eigenart  rein 
menschlich  bewusst.  Das  Idee-Individuum  Fichtes  hatte 
ihm  als  Künstler  den  Eigenwert  sicher  gestellt.  Bei  der 
Begegnung  mit  Goethe  war  ihm  die  Persönlichkeit  an 
sich  als  Ziel  aufgegangen  und  war  der  Kampfpreis  ge- 
wesen. In  seiner  Entwicklung  als  Katholik  suchte  er  den 
gleichen  Endpunkt  und  fand  ihn  in  seiner  Weise.  Er  ward  In- 
dividuum und  dass  er  bei  aller  Überzeugung  das  „unschätz- 
bare Kleinod  der  untrüglichen  Wahrheit  gefunden  zu  ha- 
ben" auch  bei  anderen  nicht  nur  das  Absolute  (das  war 


325 


ihm  das  katholische  Christentum)  sondern  auch  den  Wert 
des  Persönlichen  sah,  beweist  seine  Verehrung,  die  er 
Goethe  und  Frau  von  Stael  entgegenbrachte. 

Noch  1814  hatte  er  sich  brieflich  an  Goethe  gewandt, 
sein    zitierter   Exkurs    in    der  Vorrede    der    „Mutter    der 
Makkabäer='  wandte  sich  —  in  gewissem  Sinne  huldigend 
an  ihn.     Und  während  man   ihn  als   „fanatischen  Re- 
negaten^ einem  urteilslosen  PubUkum  vorführte,  beteuerte 
er  hier  wieder  feierhchst:  „.  .  .  .  eben  weil  ich  die  Qual, 
langen,  lebenslänghchen,    ehrlichen,   jedoch    vergeblichen 
Suchens  aus  eigener   schmerzhafter  Erfahrung  kenne,  so 
bin   ich  von  allem  Parteihasse    gegen    edle    Sucher,    wes 
Glaubens  und  Volkes  sie  auch  sein  mögen,  aufs  weiteste 
entfernt.     Ich  nehme  vielmehr,   selbst   mit  Rücksicht    auf 
meine  priesterliche  Würde  gar   keinen  Anstand,    laut    zu 
bekennen,  dass  mir    edle,    rastlose    Sucher    das    Wahren, 
die  noch   nicht    dahin    gelangt    sind,    wo    das  Gefundene 
(nicht  das  Erfundene,   noch   zu  Erfindende)    alles    fernere 
Suchen  zur   Thorheit,   alles  Finden   zum  Lohne   der  Ent- 
sagung macht,  zwar  insofern  sie    das    ewig   nur    zu  Fin- 
dende noch  erst  erfinden  wollen,  je  edler   sie  sind,  umso 
bedauernswerter  aber  auch  insofern  sie  aus  ganzer  Seele 
und   mit    reinem  Herzen    suchen,    nicht    nur    unendlicher 
schätzbarer,  sondern  sogar   dem    Ziele   näher  erscheinen, 
als  die  Vielen   der    gegenwärtigen    Zeit,    die    das    unver- 
diente und  nie  zu  verdienende  Glück  im  Kreise  des  ewig 
und    einzig    Wahren,    im    katholischen    Glauben    nämlich 
geboren  zu  sein,  gedankenlos  verkennen,  dieses  göttliche 
Kleinod  bald  gemütlos  verbilden,  bald  gefühllos  vergeuden." 
Diese  Entwicklung  zur  in  sich  geschlossenen  Persön- 
lichkeit   zeigte   sich   auch   klar    erkennbar    im  Stil   seiner 
Predigten,  die  jede  Zwiespältigkeit  verloren  hatten.    Nichts 
mehr  von  der  jäh  wechselnden  Art  der  Stimmungen  und 
des    Tons,    den    wir    als    für    den    Konvertiten  -  Prediger 
charakteristisch  aufwiesen,  nichts  von  den  grellen  Farben, 
die  er  nebeneinander  zu  setzen  liebte.     Eine  stille,   feine 
Kunst.     Die  blasse  Schönheit  leicht  getönten  Pastells  hegt 


326 

Über  diesen  Bildern.  Etwas  von  der  Stimmung  eines 
ruhigen  Sonntags.  So  spricht  keiner,  dessen  Seele  furcht- 
bare Abgründe  birgt  voll  dunkler  Angst  und  hohe  Berge, 
von  denen  leuchtende,  hoffende  Verheissung  strahlt,  so 
kann  nur  einer  sprechen,  der  seiner  Erfüllung  harrt. 
Selten  steigt  je  ein  Ton  auf,  der  uns  ahnen  lässt,  welche 
Sturmmotive  einmal  hier  klangen,  bald  fällt  er  zurück 
in  das  kaum  gewellte  ebene  Meer,  auf  dem  eine  bleich 
goldene  Sone  liegt. 

Eine  leichte  Müdigkeit  wird  man  aus  dem  Rythmus 
dieser  Sätze  hören  und  man  sieht  den  Mund,  der  etwas 
mühsam  die  Worte  formt,  die  nur  matt  von  der  Stimme 
getragen  werden.  Aber  ein  glückliches  Lächeln  findet 
man  oft  in  den  Worten.  Wenn  er  die  Weihnacht  sieht: 
„Es  war  eine  kalte  Dezembernacht  und  das  Kindlein  fror 
im  kalten  Stalle.  Ich  bin  überzeugt,  dass  in  dieser  Nacht 
nicht  die  Sterne  geleuchtet  haben,  denn  es  wurde  ja  das 
Licht  der  Welt  geboren,  gegen  welches  der  Glanz  aller 
Sterne  nichts  ist.  So  wie  sich  die  Sonne  verfinsterte,  als 
der  Herr  am  Kreuze  hangend,  sein  Haupt  neigte  und 
starb.  Endlich  von  des  Öcbsleins  und  Eseleins  Hauch 
erwärmt,  schlug  das  Kindlein  seine  Augen  auf  und  weinte, 
diese  Tränen  flössen  schon  über  den  ersten  Verdammten." 
Seine  Naturschilderungeh  (die  sehr  selten  sind)  zeigen 
die  Eigenart  einer  ungewollten  natürlichen  Schlichte, 
die  selten  durch  eine  allzu  originelle  Form  des  Sehens 
sich  aufdrängt,  Werner  erzählt  das  Evangelium  mit  un- 
gesuchten Worten  und  meist  ungesuchter  Ausfüllung  der 
leeren  Flächen.  Nie  drängte  er  sich  vor.  Alle  Prediger, 
sagte  er  einmal,  seien  gleich  gut,  denn  sie  sprächen  das 
Wort  Gottes.  Das  oft  allzu  Äusserliche  seines  Vortrags 
war  abgelöst  von  einer  tiefen  scheuen  Erfurcht  vor  dem 
Wort  des  Herrn.  Eine  klare  reme  Ruhe  lag  über  seiner  Rede. 

Und  auch  der  letzte  Zweifel  löste  sich  für  Werner, 
ob  er  Mönch  werden  sollte  oder  nicht.  Ob  er  den 
Katholizismus  und  das  Christentum  sehen  sollte  von 
dieser   negativen   Seite   aus   oder   rein  menschlich.     1820 


327 

am  15.  März  war  Clemens  Hoff  bauer  gestorben.  Er  hatte 
Werner  jedenfalls  nie  zum  Eintritt  in  den  Redemptoristen- 
orden  ermuntert  und  wir  dürfen  sogar  als  wahrscheinlich 
annehmen,  dass  er  aus  seinem  natürlichen  psychologischen 
Verständnis  heraus  den  Dichter  davon  abhielt.  Erst  nach 
seinem  Tode,  am  Tage  nach  Maria  Empfängnis  1822 
empfing  er  aus  der  Hand  des  Pater  Passerat  das  Ordens- 
kleid. Bald  aber  legte  er  es  wieder  ab,  was  natürlich 
in  Wien  eine  Quelle  der  verschiedensten  Mutmassungen 
Avar.     Dorothea  Schlegel   wusste   unter  dem   19.  Februar 

1823  darüber  zu    berichten  „ dass    er   sie    in    den 

letzten  Monaten  wieder  verliess,  darüber  weiss  kein  Mensch 
den  Grund  anzugeben,  am  wenigsten  die  Redemptoristen. 
Wir  haben  mit  ihm  nicht  darüber  gesprochen.  Er  schien 
beunruhigt  über  ein  solches  Gespräch.  Der  Grund  lag 
gewiss  meistens  in  seiner  ihm  natürlichen  Unstätig- 
keit,  die  wohl  mit  seinen  körperlichen  Übeln  zusammen- 
hing. Die  Redemptoristen  haben  ihn  mit  Thränen,  einige 
unter  ihnen  fussfällig  beschworen,  als  Gast  bei  ihnen  zu 
bleiben,  wie  er  es  schon  ein  Jahr  lang  zur  allgemeinen 
Zufriedenheit  gewesen  war;  umsonst.     Er  bestand  darauf, 

eingekleidet   zu    werden und   so    verliess    er    ganz 

plötzlich  das  Haus,  oder  vielmehr,  er  kehrte  vom  Lande 
nicht  wieder  dorthin  zurück."     Friedrich  Schlegel  schrieb 

(2,  Juni   1823)  an   Stanislaus    Choloniewski :    „ Was 

sein  Austritt  aus  dem  Redemptoristenorden  betrifft,  so 
hätte  er  freilich  besser  getan,  sich  niemals  in  ihm  auf- 
nehmen zu  lassen ;  denn  selbst  abgesehen  von  seinem 
Gesundheitszustand  war  er  nicht  dazu  berufen,  so  dass 
seine  wahren  Freunde  und  die  ihn  näher  kannten,  ihn 
den  später  getanen  Schritt  garnicht  übel  zu  nehmen  ver- 
mochten. Konnte  er  zwar  nicht  umhin,  durch  seinen 
Austritt  aus  dem  Kloster  im  ersten  Augenblick  ein  ge- 
wisses Missbehagen  und  verschiedene  nicht  sehr  schmei- 
chelhafte Urteile  hervorzurufen,  so  machte  er  sein  Ver- 
sehen wieder  gut  und  bezahlte  der  Welt  die  aufgenom- 
mene Schuld  durch  sein  herrliches  Testament " 


328 

Werner  wusste,  dass  er  in  seiner  exponierten  Stellung 
sich  bei  solchem  Schritt  dem  Urteil  der  Welt  aussetzte, 
das  ihn  nie  geschont  hatte.  Dass  er  trotzdem  ehrlich 
seinem  Gefühl  folgte,  war  eine  Tat  und  die  letzten  Motive 
dieses  Austritts  zeigen  uns  Werner  als  vollendet.  In 
einem  Brief  an  Hitzig  (11.  Dezember  1822)  gab  er  an, 
dass  neben  „subjektiven"  Gründen:  Krankheit  und  Ge- 
mütserschütterung noch  anderes  ihn  zu  solchem  Tun 
zwangen:  „Diese  subjektiven  Gründe  vergesellschaftet  mit 
der  vorerwähnten  untilgbaren  Achtung,  ja  Verehrung 
alles  rein  Menschlichen,  haben  neuerlich  nicht  nur  auf 
meine  Ansicht  über  klösterliche  Verbindungen  überhaupt 
Einfluss  gehabt,  sondern  auch  auf  meine  Entschiessungen. 
Ich  war  nämlich  früher  entschlossen  gewesen,  mich  dem 
hier  in  Wien  erneuerten  Redemptoristenorden  einzuver- 
leiben, einer  durch  sittliche  Reinheit,  redliches  Streben 
und  unermüdlichen  Eifer  für  das  Gute  gewiss  höchst  aus- 
gezeichnete geistliche  Versammlung.  Ich  hatte  schon  das 
'Ordenshabit  angelegt  und  war  im  Begriff,  in  das  Novizat 
einzutreten,  legte  aber  das  Ordenskleid  wieder  ab  und 
trat  ganz  aus  dem  Orden  aus  —  jener  Gründe  wegen: 
denn  sonnenklar  ist  mir  geworden,  dass  das  Christentum 
unmöglich  etwas  anderes  ist,  als  der  alles  Wahre,  Gute 
und  Schöne  krönende  Kulminationspunkt  der  durch  die 
Gottheit  gereinigten  Menschheit;  dass  mithin  kein  Orden, 
(insofern  er  im  christlichen  Sinne  nach  aussen  wirken  soll)- 
umhin  könne,  alles  menschlich  Schöne,  Wahre  und  Gute 
mit  inniger  Liebe  anzuerkennen  und  zu  umfassen!  So 
bin  ich  denn  also  wieder  wie  wohl  vorläufig  für  den 
Winter,  abermals  in  einem  anderen  geistlichen  Hause 
(dem  Augustinerkloster  in  Wien)  gegen  bare  Bezahlung 
eingemietet  und  beköstigt,  doch  wieder  ein  homo  sui  juris 
und  will  lieber  leblang  nicht  nur  Weltgeistlicher,  sondern 
sogar  Titularrat,  Titulardomherr,  Titulardichter  bleiben, 
als  jemals  Titularmensch  werden."  Diese  tapferen  Worte 
haben  noch  ein  wahrscheinlich  früheres  Pendant  in  dem 
von    Regiomontanus   aufgezeichneten    Satz:    „Mir  ist    ein 


329 

Heiliger  mitten  in  der  Welt,  der  preisgegeben  allen  Ge- 
fahren zur  Sünde,  ausgesetzt  allen  Verführungen  und 
Gelegenheiten  zum  Sündenleben  dennoch  mit  und  durch 
Jesum  Christum  Sieger  ist  der  Welt,  der  Sünde,  der  Hölle, 
des  Teufels  und  seines  eigenen  Fleisches  —  hundertmal 
lieber  und  er  hat  auch  viel  mehr  Verdienst  bei  Gott,  als 
ein  Heiliger  im  Kloster." 

Werner  war  über  den  tiefgefühlten  Antagonismus  von 
Welt  und  Gott  hinaus.  Ihm  war  die  Welt  jetzt  wirklich 
eine  Offenbarung  des  Schöpfers,  „rein  menschlich"  als 
schön  und  gut.  Und  derselbe  Mensch,  der  1808  in  Paris 
vor  den  Bildern  der  Antike  sich  bangte,  sah  jetzt  im 
Christentum  den  vereinigten  Höhepunkt  aller  Schönheit 
des  Lebens  und  opponierte  gegen  eine  die  „Erdenschöne" 
bewusst  verneinende  Auffassung  des  Katholizismus.  Rein- 
menschlich das  Christentum  näherzubringen  und  es  dar- 
zustellen, hatte  er  als  Zweck  seiner  Predigten  angegeben. 
Nicht  das  Asketische  suchte  er  sondern  die  reine,  ein- 
fältige Menschlickeit  des  Christentums.  Er  hatte  die  letzte 
für  ihn  erreichbare  Synthese  gefunden,  die  ihn  der  Welt 
wiedergab,  ohne  ihn  dem  Jenseits  zu  rauben.  Er  war 
fertig  mit  seinem  Lebenswerk,  das  schwer  und  mühsam 
gewesen  war,  das  ihn  hatte  die  Welt  verneinen  lassen, 
um  sich  zu  finden  und  das  jetzt  doch  ausklang  in  einem 
Hymnus  auf  die  Schönheit  der  Welt.  Er  hatte  nicht  mehr 
nötig,  sie  zu  verleugnen ;  denn  darin  hatte  das  Bewusst- 
sein  gelegen,  dass  er  nicht  stark  genug  war,  sich  ihr 
gegenüber  zu  behaupten.  Jetzt  konnte  er  ihre  Schönheit 
schauen,  wie  sie  der  Heilige  von  Assisi  schaute,  wenn  er 
zur  Sonne  sprach:  „Schwester  Sonne"  und  dem  armen 
Narr  half,  sich  des  Steins  zu  erbarmen,  der  in  dem  kalten 
Schmutz  lag  und  nach  Licht  und  Wärme  sich  sehnte. 

Die  letzten  Tage  waren  gross  und  gut.  Seine  Pre- 
digten —  so  berichtet  man  —  waren  mit  einer  sehnenden 
Glut  erfüllt,  die  wie  warmes,  rotes  Blut  ihnen  Leben  gab. 
Seine  letzte  Lebenskraft  gab  er  hin  in  seinem  Beruf.  „Es 
ziemt    einem    edlen    Streiter,    auf    dem    Schlachtfelde    zu 


330 

Sterben"  wehrte  er  besorgte  Freunde  ab.  Am  5.  Januar 
hielt  er  seine  letzte  Predigt  und  brach  dann  zusammen. 
Er  starb  am  17.  Januar  1823.  „Unser  Freund  hatte 
einen  gar  süssen  und  ruhigen  Tod.  Seine  Krankheit 
währte  in  Wahrheit  bloss  10  Tage  und  er  schlief  kann 
man  sagen  ein,  bevor  man  erkannte,  die  Gefahr  sei 
so  nahe  und  gross."  Als  seinen  Trostspruch  im  Tode 
hatte  er  sich  das  Wort  des  Heilands  gewählt,  das  er  zu 
Maria  Magdalena  sprach:  „Ihr  sind  viele  Sünden  ver- 
geben, denn  sie  hat  viel  geliebt." 

Neben  seinem  Meister  Clemens  Hoffbauer  liegt  er 
begraben.  Als  man  seine  Leiche  dorthin  brachte,  folgte 
eine  unabsehbare  Menge  von  Menschen.  Und  neben  den 
Aristokraten  des  Wiener  Hochadels  drängte  sich  das  Volk, 
das  ihn  den  Heiligen  nannte,  weil  es  fühlte,  dass  dieser 
„Narr  Gottes"  eine  grosse,  glühende  Liebe  hatte  zu  allen 
Menschen  und  zu  Gott.  Und  während  er  den  Grossen 
ein  Ärgernis  war,  ein  Schauspiel,  hatte  das  Volk  ein 
feines  Verstehen  für  den  Enthusiasmus,  für  diese  heisse 
Leidenschaft  nach  Gott. 

Werners  Leben  war  kraus  und  wirr.  Aber  es  war 
ein  Suchen  und  erzwingt  unsere  Achtung,  mögen  wir 
über  Weg  und  Ziel  denken,  wie  wir  wollen.  Jeder,  der 
seinen  Wegen  zu  folgen  sucht,  wird  erleben,  wie  ihn  diese 
starke  Zielstrebigkeit,  vielleicht  oft  zum  Schaden  der  Kri- 
tik in  die  Bahnen  des  Helden  zwingt.  Aber  wer  soll  dem 
Leben  nicht  glauben,  dass  er  lebte,  wenn  er  sieht,  dass 
es  kein  feiges  Sich -Ergeben  war,  sondern  ein  ehrliches 
tapferes  Kämpfen.  Muss  man  die  Konversion  als  eine 
Tat  der  Notwehr  auffassen,  zu  dem  ihn  die  innere  Not 
zwang,  sein  weiteres  Leben  ist  kein  duldendes,  müdes 
Sichgehen-  und  Tragenlassen.  Werner  hat  sich  als  Per- 
sönlichkeit vollendet  in  eigener  Arbeit.  Dieser  Teil  seines 
Lebens  war  voll  Arbeit  und  Entsagung.  Es  war  ein 
Heroismus  der  Schwachheit.  Thomas  Mann  fand  dieses 
Wort  als  Signum  unserer  Zeit. 


Anmerkungen  *). 


Zu  Kapitel  I. 
S.9.  Er  war   das   einzige  Kind:  .  .  .     Korrekturfehler:    Das   einzige 
lebensfähige  Kind  .  .  .     Werners  Bruder  Jakob  Heinrich  geb. 
17,58    und    seine  Schwester  Friederike   Luise   geb.   1761    sind 
ganz  jung  und  weit  vor  seiner  Geburt  gestorben. 

S.  10.  Hamann:  Eigenartiger  Weise  wird  sein  Name  von  Werner 
nicht  erwähnt.  Diese  Tatsache  ist  kein  Beweis  für  seine 
Nebensächlichkeit.  Ich  vermute  jedoch,  dass  er  auf  den 
jungen  Werner  keinen  tiefer  gehenden,  direkten  Eindruck  aus- 
übte, da  der  geistig  nicht  fähig  war  damals  ihn  aufzunehmen. 
Ob  und  wie  weit  Hamann  latente  Energien  in  ihm  auf- 
speicherte, kann  mit  dem  zur  Verfügung  stehenden  Material 
nicht  entschieden  werden.  Es  liegt  nahe,  ihn  neben  Rousseau 
zu  stellen  und  als  Vorbereitung  (unbewusste  natürliche)  auf 
die  Romantik  zu  charakterisieren.  Da  jedoch  die  Tendenzen 
erst  durch  die  Romantik  im  Wesentlichen  entfaltet  werden  und 
Hamann  zweifellos  neben  Herder  der  erste  Vorläufer  dieser 
ganzen  Epoche  ist,  kann  eine  Untersuchung  der  bestehenden 
Gleichartigkeiten  nicht  ohne  grosse  Gefahr  der  Verzeichnung  ge- 
geben werden  —  wenigstens  nicht  bei  dem  Stand  der  Quellen. 

S.  13.  „Kurze  Biographie"  ein  Sonett  von  seiner  ersten  Italienreise 
(A.  S.  I  173)- 

S.  19.  Warum  er  gerade  diese  Wissenschaft  wählte:  Aus  Floecks 
Briefsammlung  (IL  355/356)  ist  jetzt  Licht  darauf  gefallen. 
In  der  Eingabe  Werners  an  das  Präsidium  der  Kriegs-  und 
Domänenkammer  in  Königsberg  (23.  Mai  1792)  heisst  es: 
„Schon  seit  Acht  Jahren  studiere  ich  auf  hiesiger  Universität 
und  widmete  mich  zunächst  der  Jurisprudenz  vorzüglich  den 
historischen  und  philosophischen  Wissenschaften.  Anfangs 
zum  akademischen  Fache  entschlossen,  vertauschte  ich  aus 
mehreren  Gründen  diesen  Entwurf,  mich  in  einer  camera- 
listischen  Laufbahn  zum  königl.  Dienst  zu  routinieren." 


*)  Ich  muss  mich  beschränken  auf  einige  notwendige  Ausfüh- 
rungen, Tatsachenkorrekturen,  die  durch  Floecks  Briefe  Werners  nötig 
■wurden,  (da  die  Reindruckbogen  der  ersten  Kapitel  schon  vorlagen), 
und  auf  Hinweise,  die  den  Gedanken  in  einer  andern  Richtung 
fortführen  als  die  Darstellung  es  ermöglichte. 


332 


Zu  Kapitel  II. 

S.  33.  In  Geldsachen  war  er  stets  geizig  und  penibel:  Floeck  (Werners 
Briefe  II.  S.  385  flgde.)  hat  zu  dieser  Nebenfrage  neues  Ma- 
terial gebracht,  das  den  jungen,  leidenschaftsverblendeten 
Werner  als  Verschwender  erweist.  Es  scheint  aber,  dass 
nur  diese  Frau  den  Geiz  Werners  so  in's  Gegenteil  zu 
kehren  wussten.  Im  Ganzen  besteht  diese  Charakteristik  zu 
recht. 

S.34.  In  der  er  Werner  als  Libertin  kennzeichnete:  im  Briefe  an 
seine  Königsberger  Bekannte.  Er  ist  ohne  Namennennung 
veröffentlicht  in  Fichtes  Leben  und  literar.  Briefwechsel  I. 
S.  145.  INIedicus  bezieht  die  Abfuhr  auf  Werner  (Medicus, 
Fichte  S.  55).  Dass  sich  Werner  zu  einer  offiziellen  Kritik 
aufgeschwungen  habe,  ist  sehr  unwahrscheinlich.  Weder  die 
Kritik  in  dem  „Gothaischen  gelehrten  Anzeiger"  noch  die  in 
der  „Allgemeinen  deutschen  Bibliothek"  sind  Werners  geistiges 
Eigentum.  Sonstige  Rezensionen  sind  mir  nicht  bekannt 
worden. 

5.34.  Friederike  Schmidt.    Vgl.  Floeck,  Werner  IL  S.  385. 

S.  35.  Der  erbitterte  Widerspruch  seiner  Mutter:  Floeks  neues  Material 
beweist  im  Gegensatz  zu  unsern  späteren  Ausführungen  nach 
Selbstanklagen  des  Dichters,  dass  Werner  seine  kranke  Mutter 
auf  seine  Seite  zu  ziehen  wusste.     Vgl.  vor  allem  IL  400. 

5. 35.  Er  hatte  durch  sein  übereiltes  Handeln:  Blazko  hatte  in  dem 
Rousseau-Schüler  den  Künstler  erkannt  (Blazko:  Geschichte 
meines  Lebens  VI.  S.  234/235)  und  suchte  ihm  eine  Sekretär- 
stelle bei  dem  Minister  Schröter  zu  sichern. 

S.  38.  Freiheitsode:  Gubitz  druckt  sie  zum  Teil  in  den  ., Berühmten 
Schriftstellern  der  Deutschen"  IL  S.  i"}!  flgde. 

S.  39.  An  den  Punkten,  die  in  dem  stark  wechselnden  Rythmus:  Der 
Endpunkt  dieser  Gedanken  ist  das  Gedicht  aus  dem  Herbst 
1808  „Ihr  kommt  zu  spät,  ihr  ewig  jungen  Lauben".  A.  S.  I. 
S.   171. 

S. 45.  Auch  Rousseau  denkt  an  keine  Begriffsverbindung:  „Schwärmerei 
ist  der  höchste  Grad  der  Leidenschaft.  Sobald  sie  ihren 
Gipfel  erreicht,  sieht  sie  in  ihrem  Gegenstande  die  verkörperte 
Vollkommenheit;  sie  macht  alsdann  ihrem  Abgott  aus  ihm 
und  wie  sie  auf  religiösem  Gebiete  der  Liebe  ihre  Sprache  ent- 
lehnt, so  entlehnt  umgekehrt  die  Schwärmerei  der  Liebe 
wieder  der  frommen  Andacht  ihre  Sprache.  Sie  sieht  nur 
noch  das  Paradies,  nur  noch  Engel,  Tugenden  der  heiligen 
Freuden  des  Himmelreiches.  Vermag  sie  wohl  in  dieser  Ver- 
zückung, in  der  nur  erhabene  Bilder  sie  umschweben,  ihre 
Gefühle  in  niedern  Worten  zu  schildern  ?  Wird  sie  sich  über- 
winden können,  ihre  hohen  Gedanken  durch  alltägliche  Aus- 
drücke in  den  Staub  zu  ziehen  und  zu  entweichen?  Wird 
sie  nicht  vielmehr  ihrer  Sprache  einen  höheren  Schwung  geben, 
ihr  den  Stempel  des  Adels  und  der  Würde  aufdrücken?    Was 


333 

reden  Sie  von  Briefen,  von  Briefstil?  Als  ob  das  in  Frage 
kommen  könnte,  wenn  man  an  solche  schreibt,  die  man  von 
Herzen  liebt!  Da  schreibt  man  keine  Briefe  mehr,  sondern 
Hymnen."  Das  schrieb  Rousseau  in  der  Vorrede  zur  IL  Auf- 
lage (Reklam  I.  S.  13/14)-  Trotz  der  Abwehr  begrifflicher 
Verbindung  ist  hier  doch  eine  Verschmelzung  der  beiden 
seelischen  Energien  geboten,  die  Werner  sehr  weit  in  das 
Problem  hineinführen  konnte. 
S. 58.  Die  Söhne  des  Thals:  Über  dieses  Drama  arbeitete  Felix 
Poppenberg,  Zacharias  Werner,  Mystik  und  Romantik  in  den 
Söhnen  des  Thals  Berlin  1899.  (Berliner  Beiträge  zur  germa- 
nischen und  romanischen  Philologie,  Germanische  Abteilung 
Nr.  2.) 

Über  die  Einflüsse  des  Freimaurertums  auf  die  Dichtung 
Werners  wie  der  Epoche  bietet  F.  J.  Schneider  in  seinem 
Buche  „die  Freimaurerei  .  .  ."  (Prag  1909)  bei  nötiger  Vor- 
sicht gutes  INIaterial. 

Zu  Kapitel  III. 

S.  63.  Malgonszata  Mankviatowska  in  Wirklichkeit  hiess  sie  Marchwia- 

towska.     (Vgl.  Floeck,   Werner  L,   5Q.  Anm.). 
S.yz.  Werner  hat  die  Schrift  „Vom  dreifachen  Leben  des  Menschen": 

Gewöhnlich  umgeht  man  die  Frage  nach  dem  ,, Büchlein", 
das  Werner  zunächst  von  Böhme  las.  Floek  (I.  43)  nimmt 
die  erste  Schrift  Böhmes  ,,die  ]\Iorgenröte  im  Aufgang"  an. 
Dagegen  spricht  meines  Erachtens  der  gedankliche  Zusammen- 
hang. Der  ganze  Brief  ist  aus  dem  Erlebnis  Böhmes  ge- 
schrieben. „Des  Herren  Kraft  ist  in  den  Schwachen  mächtig" 
(2.  Kor.  12,9:  lautet  die  Anmerkung  I.  39),  ist  mit  seinen 
Folgerungen  produktive  Böhme-Erinnerung  Werners.  In  dem 
Büchlein  (Die  INIorgenröte,  ist  dem  Umfang  nach  ein  Buch) 
Böhmes  Vom  dreifachen  Leben  (Schiebler:  Werke  Böhmes 
IV.  Bd.,  S.  15,  I.  Absatz  50)  heisst  es:  „Aber  so  sie  (die 
Kreatur)  in  Gottes  Willen  ergeben  ist,  so  tut  Gott  in  der 
Kreatur  Wunder;  denn  es  ist  seine  Lust,  sich  im  Schwachen 
zu  offenbaren".  Der  Gedankengang  Werners  wird  von  hier- 
aus bis  zum  Weihe-  imd  Unkraftbegriff  verständlich. 

5. 77.  Rousseau  wurde  jetzt:  Die  Veröffentlichung  findet  sich  in 
Nr.  120  des  „Freimütigen"  für  das  Jahr  1803. 

5. 78.  Doch  er  erklärte  schon  damals:  Diese  Stelle  ist  fast  wörtlich 
von  Schleiermacher  übernommen,  der  sich  in  seiner  IL  Rede 
darüber  auslässt.  (In  der  Ausgabe  Martin  Rades  in  der 
deutschen  Bibliothek  S.  50.) 

S.82.  Kunst  freiwillige  Gestaltung  des  Unendlichen.  Vgl.  zum  Folgenden 
Fritz  Strich,  die  INIythologie  in  der  deutschen  Literatur  II 
Bde.  Halle  iqio.  Über  Werner  speziell  IL  218/231  das  Buch 
lässt  deutlich  (wenn  auch  indirekt)  die  Abhängigkeit  und 
Originalität  Wemerns  erkennen.  Werner  geht  auch  von  Schleier- 


334 

macher  aus  aber  mehr  noch  von  Böhme,  den  er  konsequent 
weiterdenkt,  nicht  sklavisch  in  den  Bahnen  Friedrich  Schlegels 
und  Novalis'  aber  doch  im  engeren  Zusammenhang. 

Zu  Kapitel  IV. 

S.  105.  Die  Auffassung  der  Kunst  als  ein  eicstatisches  Schaffen:  Vgl. 
Oskar  Walzeis  „Prometheussymbol"  und  seine  Weiterführung 
des  Gedankens  in  „die  Sprache  der  Kunst".  (Jahrbuch  der 
Goethe-Gesellschaft  I.   1914.) 

S.  108.  Das  neue  Drama:  ich  verweise  für  Einzelheiten  auf  Poppen- 
bergs Arbeit. 

S.  HO.  Die  Ideen  der  Opferung  Isaaks  durch  Abraham:  Sie  wurde 
ihm  wohl  geboten  durch  Böhmes  INIysterium  magnum  W.  V. 
S.  391.  Kapitel  48. 

S.  III.  All  das  wirkte  zusammen:  Der  Todestag  Mniochs  ist  in  Wirk- 
lichkeit nicht  der  24.  Februar  gewesen.  Der  Freund  starb 
einige  Tage  vorher. 

S.  120.  Er  wollte  die  romantische  Liebe:  Den  Begriff  des  Eros  bot 
ihm  Böhme  in  seiner  Christusliebe,  die  aber  tatsächlich  rein 
ist.  Er  zieht  sich  von  den  „3  Prinzipien"  an  durch  alle  Werke 
Böhmes. 

S.  124.  1803  erscheint  A.  W.  Schlegels  erster  Band  des  spanischen 
Theaters:  Er  enthielt  die  Stücke:  „Über  allem  Zauber  die 
Liebe",  „Blume  und  Schärpe",  und  „die  Andachte  zum  Kreuze". 

S.  125.  In  Auswertung  der  Ideen:  Sie  erfolgte  in  den  Vorlesungen 
über  „Philososophie  der  Kunst".     S.  W.  V.  S.  353  flgd. 

S.  125.  Calderon:  In  dem  Briefmaterial,  das  zur  Verfügung  steht, 
wird  Calderons  Name  nicht  erwähnt.  Die  gehaltlichen  Zu- 
sammenhänge sind  aber  zu  augenscheinlich,  als  dass  nicht 
ein  kleines  Zeichen  dahin  führen  müsste.  Ausser  des  Calde- 
ronischen  Titels  ist  es  bezeichnend,  dass  er  seiner  Frau  einen 
spanischen  Charakter  zuerkennt.  Der  Brief,  in  dem  das 
geschieht,  ist  vom  30.  März  1804  datiert  vmd  richtet  sich  an 
Fenkohl  (Regiomontanus).  Es  heisst  da  nach  einer  ein- 
gehenden Charakteranalyse  seiner  Frau:  „Kurz  ein  in  allem 
energischer,  ich  möchte  sagen,  spanischer  Charakter".  Diese 
damals  seltenere  Charakteristik  durch  diese  Nationalität  ist 
um  so  bezeichnender  als  er  sonst  stets  ihre  Art  als  den  Aus- 
druck des  spezifisch-polnischen  Wesens  empfindet  und  nennt. 

Zu  Kapitel  V. 

S.  135.  In  den  ersten  literarisch  interessierten  Kreisen:  Schütz  (Bio- 
graphie S.  56)  nennt  Fichte,  Fischer,  Hirt,  Lewezow,  Johannes 
von  Müller,  Schadow,  A.  W.  Schlegel,  von  Schütz,  Uhden. 
A.  V.  Humboldt,  Iffland,  Schrötter,  Sander,  Die  Unzelraann, 
Graf  Brühl  u.  a.  wären  noch  zu  nennen. 

S.  138.  Wie  die  Märtyrin,  meine  Mutter:  Es  ist  bezeichnend  für  den 
Verlauf  der  weiteren  Entwicklung  Werners,  dass  er  in  diesem 


335 

Augenblick  sich  neben  seine  Mutter  stellte.  Hier  ist  eine 
Etappe  auf  dem  Weg  zur  Mutterliebe  in  ihrer  psychologischen 
und  metaphysischen  Formuherung  und  Energie,  die  wir  weiter 
verfolgen  werden. 

S.  140.  Die  Wissenschaftslehre,  die  Werner  1803:  Die  W.  L.;  die 
Fichte  i8oi  vollendete,  ist  vor  der  Gesamtausgabe  der  Werke 
nicht  veröffentlicht  worden. 

S.  142.  In  der  Fichteliteratur  besteht  ein  Kampf:  Vgl.  hierzu  die  gut 
orientierende  Arbeit  von  Alfred  Schmid:  Fichtes  Philosophie 
und  das  Problem  ihrer  inneren  Einheit  Freiburg  1904. 

S.  142.  In  der  Wissenschaftslehre  von  1804:  Eine  Darstellung  seines 
Individumbegriffs  gab  2ilaria  Raich  in  ihrer  aufschlussreichen 
Schrift:  „Fichte,  seine  Ethik  und  seine  Stellung  zum  Problem 
des  Individualismus",  Tübingen  1905.  Sie  setzt  die  Einheit 
der  Lehre  voraus  und  gibt  keine  Entwicklung. 

Zur  Idee- Lehre  vgl.  T.  Goldfriedrich:  Die  historische  Ideen- 
lehre in  Deutschland  Berlin  1902:  Werner  könnte  das  Wort 
„Idee"  in  dem  Sinne  der  Vorrede  des  Kreuzes  a.  d.  O.  auch 
aus  Kants  „Kritik  der  reinen  Vernunft",  unklar  erfasst  auch 
uns  Schellings  „Vorlesungen  über  die  IMethode  des  akade- 
mischen Studiums"  haben.  Der  biographische  Zusammen- 
hang aber  und  die  sich  dann  stärkende  Tätigkeitsforderung 
weist  zu  bestimmt  auf  Fichte,  als  dass  ein  berechtigter  Zweifel 
möglich  erschiene.  Unvereinbar  ist  der  Ideebegriff  Schellings 
mit  dem  Fichtes  nicht,  da  sie  beide  aus  Kant  diesen  Begriff 
nehmen  und  weiterführen.  Sie  ergänzen  sich,  da  Schelling 
die  teleologische  Seite  vorzüglich  aus  Böhme  mit  ästhetischer 
Färbung  und  in  enger  Verbindung  mit  der  Organismus-These 
Schlegel-Schleiermachers  herausholt,  Fichte  ihre  Erscheinung 
auf  dem  Gebiete  der  praktischen  Vernunft  verfolgt.  Ihr 
Spezifikum  erhält  die  Ideenlehre  bei  Fichte  durch  die  Ver- 
knüpfung mit  dem  Individuum  und  der  Tatforderung  und 
wird  dadurch  in  der  Romantik  wirksam.  Wenngleich  Hegel 
die  Idee  erst  systematisch  auswertete,  scheint  mir  die  Fassung 
der  Idee  durch  ihn  keineswegs  die  eigentliche  Grundlage  des 
„Lebens  in  der  Idee",  dessen  Entwicklung  über  Heine,  Hebbel 
in  die  moderne  Kunst  einer  Untersuchung  wert  wäre.  Schon 
E.  A.  Boucke  (Heine  im  Dienste  der  Idee:  Euphorion  XVI 
S.  ii4flgde.)  stellte  für  Heine  den  Einschlag  Fichtes  fest, 
der  einer  näheren  Analyse  sich  stets  bei  der  Forderung  des 
Lebens  in  der  Idee  im    19.  Jahrhundert  zu  zeigen  scheint. 

S.  150.  Wo  sich  eine  Erweichung  der  Handlung  durch  Lyrik  zeigte: 
Irmler  (Über  den  Einfluss  von  Werners  Mystik  auf  sein 
dramatisches  Schaffen  Diss.  Münster  1906)  hat  in  seiner  wenig 
tiefen  Untersuchung  die  Duplizität  der  mystischen  und  realen 
Handlungen  nachgewiesen,  die  Fränkel  für  dieses  Drama 
eindringender  aufwies. 

S.  151.  Hier  ist  eine  Persönlichkeit  .  .  .  Konzeptionspunkt:  Das  ist 
natürlich  nur  in  dem  Zusammenhang  des  Wernerschen  Schaf- 


336 

f'Mis  giltig.  Mehr  als  irgendwo  in  seinen  Dramen  sonst  ist  das 
der  Fall  und  mag  neben  Fichtes  das  Werk  Ifflands  und 
INIüUers  sein,  die  nur  dadurch  wirken  konnten,  dass  die 
geistige  Situation  des  Dichter  selbst  persönlichkeitsbejahender 
war.  Die  Doppelheit  tritt  im  Titel  schon  auf:  Luther  oder 
die  Weihe  der  Kraft.  Die  eingehende  historische  Analyse 
Luthers  scheint  mir  ein  Beweis  für  unsere  Behauptung  zu 
sein.  Ich  glaube  feststellen  zu  können,  dass  nur  in  seiner 
Fichte-Epoche  der  Konzeptionspunkt  hier  liegt. 
S.  162.  Die  Umarbeitung  des  ersten  Teils  der  Söhne  des  Thals:  Die 
äussere  Veranlassung  kam  von  Iffland,  der  ihm  am  4.  No- 
vember 1805  schrieb^  dass  er  in  Hamburg  eine  Bühnenbe- 
arbeitung der  Söhne  des  Thals  gefunden  hatte  und  ihm  10 
Friedrichdors  anbot  für  die  Durchsicht  und  eine  ev.  Bear- 
beitung. Durch  die  Umarbeit  veraltete  der  zweite  Teil,  in 
dem  das  Liebemotiv  zwischen  Astralis-Astralon  und  Robert 
nicht  fortgeführt  war. 


Zu  Kapitel  VL 

S.  168.  Jakobi,  der  Dichter  des  Woldemar:  Seine  schroffe  Stellung- 
nahme erhellt  vor  allem  aus  dem  Briefe  vom  ig.  Februar  1808 
an  Goethe,  in  dem  er  sein  Schicksal  als  Literat  mit  dem 
Goethes  zu  verbinden  sucht;  er  schickt  ihm  2  Broschüren, 
von  denen  eine  gegen  ihn,  die  andere  gegen  Goethe  ge- 
richtet war.  Er  klagt  spottend  gegen  die  revolutionäre 
Tendenz  der  Neuen,  Seine  Stellung  gegen  Werner  ist  fast 
persönlich  gehässig  und  als  Freund  Jean  Pauls  greift  er 
Werners  Kunst  als  Phantasiekunst  an!  Er  prägt  das  Wort 
vom  „Redoutensal",  das  Goethe  sich  nach  der  Entfremdung 
zu  eigen  macht.  (Auserlesener  Briefwechsel  IL  S.  406/407.) 
Goethe  antwortet  am  7.  März  wohl  gegen  Erwartung  ver- 
teidigend und  gibt  Jakobi  einen  nicht  undeutlichen  Wink: 
„dass  die  deutsche  Dichtung  diese  Richtung  nahm,  war  un- 
aufhaltsam und  wenn  etwas  daran  zu  tadeln  ist,  so  tragen 
die  Philosophen  auch  einen  Teil  der  Schuld  .  .  ."  Er  wirft 
Werner  vor,  dass  er  das  Heilige  (Sittlich-Schöne)  mit  dem 
Reizenden  verkuppele  (G.  B.  20.  S.  26/27). 

S.  168.  Karoline:  Sie  schreibt  am  12.  Oktober  1807  an  Luise  Gotter: 
(IL  S.  512)  „Es  ist  wunderlich,  indessen  sehr  wahr,  dass  ich 
bis  jetzt  seine  Weihe  der  Kraft  noch  nicht  gelesen,  auch  für 
keins  seiner  Produkte  ein  gutes  Vorurteil,  nach  den  Bruch- 
stücken, die  ich  von  ihm  sah,  habe.  Aber  der  Mann  hat 
mir  durch  sein  Wesen  ein  Interesse  dafür  gegeben,  .und  in 
dem,  was  ich  wirklich  von  ihm  nun  kenne,  lässt  sich  ein 
grosses  und  des  Fortschreitens  fähiges  Talent  (obschon  der 
Verfasser  selbst  nicht  mehr  jung  ist)  nicht  verkennen.  Die 
Kiaft  seiner  Darstellung  hat  er   bisher    nur    an    unrichtigen 


337 

Gedanken  verschwendet.  Das  geheime  Orden-Wesen  hat  ihn 
bestrickt  und  die  Liebe  zur  Allegorie  ihn  von  der  rechten 
Poesie  abgeführt.  Ich  kann  mir  denken,  dass  er  wirklich 
noch  einmal  ein  tüchtiges  Schauspiel  schreibt  und  weiss  eben 
nicht  viele,  von  denen  ich  mir  dies  vorstellen  könnte".  Am 
I.  März  1809:  „Er  ist  ein  redlicher  Geselle  und  wenn  du 
mit  ihm  gesprochen  hättest,  würdest  du,  denk  ich,  gefunden 
haben,  dass  er  auch  ein  redlicher  Freund  ist.  Seine  Schau- 
spiele haben  viel  barbarisches  an  sich,  und  darin  sind  sie 
am  barbarischsten,  worin  sie  am  gebildesten  und  modem- 
gesinntesten sind,  indessen  ist  sein  Talent  der  Darstellung 
gross,  wovon  auch  der  Attila  wieder  zeugt.  Er  war  lange 
in  Coppet  und  Frau  v.  Stael  goutiert  sein  originelles  Wesen, 
wie  Schlegel  uns  schrieb."     (II.   S.  548.) 

S.  169.  Er  sorgte,  dass  in  der  jenaischen  Literaturzeitung:  Wie  für 
das  ganze  Verhältnis  Goethes  zu  Werner,  so  für  diese  Epoche 
besonders  ist  das  Quellenmaterial  ziemlich  abschliessend  in 
dem  Passus  des  II.  Teils  der  Schrift  der  Goethegesellschaft: 
Goethe  und  die  Romantik  zusammengestellt.  Es  sollen  hier 
einige 'Daten  folgen:  Werner  trifft  Goethe  in  Jena,  wo 
beide  bei  Frommann  hauptsächlich  verkehren.  Am  1 1 .  De- 
zember nennt  Goethe  in  einem  Brief  an  J.  H.  Meyer 
Werner  einen  „sehr  genialischen  Mann,  der  einem  Neigung 
abgewinnt,  wodurch  man  denn  in  seine  Produktionen,  die 
ims  andern  erst  einigermassen  wiederstehen  nach  und  nach 
eingeleitet  wird",  „und  so  kamen  wir  über  die  seltsamen 
Aussenseiten  dieser  Erscheinung  in  den  Kern  hinein,  der 
wohlschmeckend  und  kräftig  ist".  (An  Zelter  16.  Dezember.) 
Der  PersönUchkeitsreiz  Werners  wird  durch  den  Brief  vom 
16.  Dezember  an  Wolf  besonders  deutlich  gemacht,  da  Goethe 
zu  erkennen  meint,  „dass  der  Autor,  wenn  er  einigermassen 
vom  Geiste  begünstigt  ist,  seine  Sachen  selbst  bringen  vmd 
reproduzieren  solle".  Eine  Einschränkung  erfolgt  erst  durch 
die  Tagebuchnotiz  vom  S.Januar  1808  „Über  Werners  Liebe- 
hypothese und  was  daran  zu  bedenken  und  zu  erinnern". 
Am  25.  setzt  er  sich  mit  den  „Christianern"  auseinander  und 
konstatiert  „Werners  Cophtazismus  und  heimliche  Lüsternheit 
der  Herrn".  Riemer  notiert  direkter  unter  demselben  Tage: 
„Werners  Cophtazismus  und  heimliche  Lüsternheit".  Am 
5.  April  gibt  er  Goethes  Lösung:  „Goethe  bemerkte,  Werner 
verwechsele  die  äLfäm-\  mit  dem  epujc;".  Am  26.  August  spricht 
■  er  nach  des.  gleichen  Zeugen  Tagebuch  von  Werners  und 
Schlegels  Pfiffigkeit  und  gibt  eine  tiefschauende  Erklärung 
Werners:  „die  meisten  JNIenschen  im  Norden  haben  viel  mehr 
Ideales  in  sich,  als  sie  brauchen  können,  als  sie  verarbeiten 
können:  daher  die  sonderbaren  Erscheinungen  von  Senti- 
mentalität,  Religiosität,   Mystizismus". 

S.  184.  Durch  seine  Güte  wurde  er  später  materiell  sichergestellt: 
Aus  Weimar  (24.  April  1809)  berichtete  er  Scheffner,  dass 
Hankamer,  Zacharias  Werner.  22 


338 

der  Fürst -Primas  Carl  Dalberg  ihm  eine  jährliche  Pen- 
sion von  looo  Gulden  zuerkannt  habe.  Als  Entgelt  solle  er 
für  die  Museumsgesellschaft  in  Frankfurt  kleine  Vorlesungen 
geben,  die  in  zwangloser  Reihenfolge  und  ohne  persönliche 
Anwesenheit  des  Dichters  geliefert  werden  könnten.  Gleich- 
zeitig erhielt  Jean  Paul  die  gleiche  Ehrung.  Die  Zuwendung 
erfolgte  bis  zur  Aufhebung  der  Souveränität  des  Bistums 
durch  den  Wiener  Kongress. 

Gegen   die  Gleichstellung  Werners    mit  Jean  Paul    eiferte 
brieflich  Jakobi.     (Auserlesene  Briefwechsel  IL  412.) 

S.  187.  Als  er  in  Paris  vor  dem  Apollo  von  Belvedere  stand:  Eine 
ungleich  ruhigere  Ablehnung  der  antiken  Plastik  gab  er  1805 
Iffland :  „Die  lebensvolle  Welt  der  Griechen  ist  für  uns  nichts 
mehr  als  etwa  eine  Dresdener  Antiken  Gallerie,  durch  die 
man  bewundernd  aber  kalt  geht,  um  sich  an  Raphaels  heiligen 
Sixtus,  an  Corregios  Magdalena,  zu  erwärmen.  Mir  ist  es 
wenigstens  in  Dresden  so  ergangen".  Dass  diese  Bemerkung 
eine  extreme  Weiterbildung  der  in  dem  „Gemälde"-Dialog 
angedeuteten  Theorien  ist,  die  Werner  einseitig  nach  seinem 
Erlebnis  umwertet,  scheint  mir  zweifellos.  Er  musste  durch 
Goethe  für  die  Sinnenschönheit  erst  geweckt  werden.  In  Rom 
ist  ihm  wohl  wahrscheinlich  die  Möglichkeit  einer  grossen 
Plastikleistung  vom  Christentum  aus  klar  geworden  durch 
Rauch,  der  auch  seine  Büste  schuf.  Trotzdem  wurde  nicht 
einmal  die  starke  Bewegungskraft  des  Plastikers  Michel  Angele 
von  ihm  erfasst,  so  eigentlich  fremd  hieb  er  dieser  Kunst- 
art, die  ihm  im  Formwollen  entgegengesetzt  war.  Psycholo- 
gisch mochte  das  andere  Moment  mitwirken  und  es  ist  als 
sicher  anzunehmen,  dass  sein  überreiztes  Gefühl  —  trotz 
Thorwaldsen  —  ihm  auch  da  noch  den  spezifisch  sinnlichen 
(nicht  allein  im  Sinne  von  sexuell)  Charakter  dieser  Kunstart 
als  achristlich  empfinden  liess. 

S.  178.  In  einem  Essay  über  das  menschliche  Leben:  Floeck  hat  es 
zuerst  veröffentlicht  (IL  377/386.  Seine  (ohne  Angabe  zwin- 
gender Gründe)  gewählte  Datierung  18 14  erscheint  mir  un- 
berechtigt. Besteht  die  von  Floeck  gewählte  Datierung  1814 
zu  Recht,  so  ist  Vierlings  Behauptung,  dass  die  Konversion 
Werner  nicht  eigentlich  wandle,  nicht  nur  berechtigt,  sondern 
Werner  ist  als  Lügner  überführt.  Ende  181 3  (der  Druck 
trägt  die  Jahreszahl  1814,  aber  Ende  Dezember  1813  schreibt 
Dorothea  Schlegel  ihrem  Sohn  über  diese  Bekenntnisschrift), 
erschien  Werners  Weihe  der  Unkraft,  in  der  er  seine  Liebe- 
theorie abschwor  und  sie  als  unsittlich  bezeichnete.  Inhaltlich 
gehört  der  Essay  in  den  Zeitraum  1805  bis  18 10  und  steht 
nahe  neben  der  Sclbstrezension  Werners  im  Prometheus  (1808) 
und  der  Liebetheorie  vor  allem  der  Wanda  (i  807/1 808),  an 
die  er  in  einigen  Wortfügungen  erinnert,  wenngleich  die 
Persistenz  bestimmter  Bildformeln  über  Jahre  hinweg  für 
Werner    zu    charakteristisch    ist,    als  dass  ich  wagen  würde, 


_  339 

daraufhin  eine  zeitliche  Fixierung  zu  geben.  Es  verdient 
erwähnt  zu  werden,  dass  wir  in  den  drei  Akten  des  Liebe- 
Erlebens,  die  Werner  konstruiert,  eine  eigenartige  Rücküber- 
setzung der  Unio  mystica  haben,  die  in  die  sinngebundene 
Erlebnislage  zurückführt,  aus  der  in  wundervoller  Geistigkeit 
die  philosophia  teutonica  ihr  Gott-Erleben  empor  entvvickelte. 
Böhme  zeigt  schon  eine  Entspannung  der  strengen  Form, 
hält  sich  aber  trotz  der  Symbol-Bilder  (und  trotz  aller  psycho- 
analytischen Darstellung),  von  der  Sinnenliebe  fem. 
S.  192.  Könnten  wir  die  verschiedenen  Fassungen  des  Dramas  ver- 
folgen :  Der  handschriftliche  Nachlass  Werners  scheint  unauf- 
findlich.  Schon  Schütz  klagte  darüber,  dass  der  Verlags- 
anstalt der  Nachlass  nur  zum  geringsten  Teil  zur  Verfügung 
gestellt  wurde.  Dem  testamentarisch  bestimmten  Ordner 
scheint  vieles  zum  Opfer  gefallen  zu  sein.  (Vgl.  zur  Nach- 
lassfrage O.  Floeck,  Werner  und  Iffland.  Im  Aar  1913 
Januarheft  S.  535.) 
S.  193.  Er  trug  sich  damals  mit  der  Idee,  einen  Stoff  aus  den  Nibe- 
lungen zu  gestalten:  Goethe  und  die  Romantik  IL  S.  13.  Paro- 
dierend nutzte  er  die  metrische  Form  und  die  Ausdrucksweise 
in  dem  „Lied  der  heiligen  drei  Könige  aus  dem  Nibelungen- 
lande". A.  S.  I.  i82flgde.  Auch  in  der  „Kunigimde"  sind 
Wortformen  des  Mhd.  benutzt. 
S.  193.  Tiecks  Genoveva:  Ihr  Einfluss  ist  augenscheinlich.  Selbst  die 
Gefühlsverwirrung  Kunigundens  ist  da  angedeutet,  als  Geno- 
veva den  Eindruck  Golos  auf  sie  und  die  Verschmelzung 
mit  dem  Visionsbild  Gertrud  erzählt: 

Mir  w^ar,  als  leuchteten  in  ihm  die  Blicke, 
Als  lächelte  in  ihm,  was  ich  geschaut, 
Als  mir  der  hohe  Traum  hemiederkam. 

(Tieck,  Schriften  II,  89.) 
In  der  Behauptung  stilistischer  Abhängigkeit  darf  man  jedoch 
nicht  zu  weit  gehen,  obwohl  er  schon  1803  an  Hitzig  schrieb, 
dass  er  von  dem  Buche  noch  auf  dem  Sterbebette  Trost 
erhoffe.  Das  Kunstwollen  Werners  ging  aber  über  die  Form 
Tiecks  hinaus.  Werner  hat  von  Tieck  auch  wohl  das  böh- 
mesche  Adjektiv  „siderisch". 

Zu  Kapitel  VIL 

Vgl.  hierzu  meine  Dissertation  „Z.  Werner,  der  24.  Fe- 
bruar"  19 19,  in  der  ich  Einzelheiten  bot. 

S.  iqg.  Am  30.  Januar:  Goethe  hatte  für  den  Geburtstag  der  Herzogin 
von  Werner  ein  Stück  erbeten.  Vgl.  Goethe  imd  die  Ro- 
mantik IL  S.  23. 

S.  213.  Werner  sollte  und  wollte  auch  ein  Drama  des  Segens  schreiben: 
In  meiner  Dissertation  habe  ich  den  Brief  vom  10.  März 
irrtümlich  auf  das  Segensdrama  bezogen  (S.  34).  Fertig  ist 
das   Stück    nicht   geworden.     Das   ändert   an   der  Tatsache 


840 

des  Schemas  aber  nichts,  die  durch  die  Tagebuchstelle  Goethes 
erwiesen  ist.  Im  Plan  war  das  Segendrama  zweifellos  vor- 
gesehen. 

S. 218.  Die  durch  den  Jahrestag:  Werner  pflegte  den  24.  Februar 
besonders  zu  feiern.  Am  24.  Februar  1806  schrieb  er  an 
Johannes  Müller:  „Heute  ist  meiner  verklärten  Mutter  Sterbe- 
tag. Ich  habe  ihr  das  Amt  halten  lassen  und  -«ill  den 
heutigen  Tag  in  der  Stille,  in  Fasten  und  Gebet  feiern.  Du 
bist  der  einzige,  mit  dem  ich  hier  beten  kann.  Willst  Du 
an  meinem  Hausaltar  für  meine  Selige  mit  mir  beten,  so 
wirst  Du  mich  herzlich  erfreuen."  Die  Konzeption  des  Stücks 
erfolgte  am  27.  Februar  also  im  Bannkreis  dieser  Erinnerung. 

S.  219.  Sein  Wollen  trat  bewusst  dem  Erlebnis  gegenüber:  Hier  liegt 
meines  Erachtens  eine  der  wichtigsten  Fragen  der  Romantik, 
der  Mittelpunkt  ihrer  ästhetischen  Versuche  und  von  hieraus 
ist  die  Genesis  der  romantischen  Ironie  zu  geben.  Sie  stellt 
sich  als  ein  Versuch  da,  das  Erlebnis,  sein  Rein-Empirisches 
und  Nur- Persönliches  durch  das  Geistige,  das  im  höchsten 
Sinne  Individuelle  und  nach  Ansicht  Fichte-Schlegels  Ob- 
jektive zu  überwinden.  Bezeichnend  ist,  dass  sobald  Werner 
den  Formwillen  dem  Erlebnis  überordnen  will,  er  in  die 
nächste  Nähe  dieses  Gestaltungsmittels  geführt  wurde.  Eine 
bewusste  Abhängigkeit  von  F.  Schlegel  ist  wohl  nicht  anzu- 
nehmen, da  Weiner  die  Kunst  nie  im  Sinne  Schlegels  als  Spiel 
nahm.     Beide  kamen  aber  über  Fichte. 

S. 220.  Die  burleske  Ballade  „die  drei  Reiter":  Düntzer  (S.  164/165) 
konnte  leicht  nach  Werners  Tagebuch  feststellen,  dass  der 
Herausgeber  der  Gedichte  in  den  A.  S.  (IL  102)  fälschlich 
sie  in  das  Jahr  18 14  gelegt  hatte.  Fraglich  erscheint  mir, 
ob  der  Konvertit  in  der  Zeit  nicht  tatsächlich  eine  Umarbei- 
tung vornahm,  die  diese  Datierung  erklären  könnte.  (Im 
Text  ist  versehentlich  der  Druckfehler  „drei  Ritter"  stehen 
geblieben.) 

S. 224.  Die  Bildersammlung  der  Boisseret  und  Bertram:  So  schrieb 
Werner.  Walzel  (Geistesleben  d.  18.  u.  19.  Jahrhunderts  S.  295) 
hat  die  Quelle  seiner  Auffassung  in  Fiiedrich  Schlegels  Europa 
1803  II,  2,  ißoflgde.  sowie  in  dessen  poetischen  Taschenbuch 
für  das  Jahr  1806  (S.  ßigflgde.)  gegeben.  Das  Nacherleben 
Werners  ist  aber  trotz  dieser  Abhängigkeit  zu  beobachten  hier, 
wie  auch  in  Rom.  Meine  teilweise  andersartigen  Resultate 
der  Rheinreise  erklären  sich  aus  dem  verschiedenen  Aus- 
gangspunkte. 

8. 224.  Als  er  im  Dom  tief  beschämt:  Dieses  Gedicht  (A.  S.  I.  S.  190) 
ist  neben  dem  Pissevache  -  Fragment  Merkstein  auf  dem 
Wege  von  Weimar  nach  Rom:  „da  endet  Gott  den  Schrecken; 
. . .  der  sanfte  Mond  erweckte  mich  nicht;  jedoch  der  Donner, 
der  mich  schreckte".  Für  die  psychologische  Grundlage 
seiner  Konversion  ist  dieser  Passus  beweisend.  —  Nebenbei 
ist  die  Datierung  in  den  A.  S.  als  im  Juni   1809   durch   die 


341 


Tagebuchnotizen  genauer  festzulegen  auf  den  28.  und  29. 
des  Monats  frühstens,  da  an  den  beiden  Tagen  die  Vorgänge 
spielen.  —  Hier  scheint  mir  auch  die  Quelle  zu  sein  für  die 
Erklärung,  die  ein  Freund  Werners  in  einer  Rezension 
der  Schrift  „Werner  kein  Katholik"  in  den  Blättern  f.  1.  U. 
1827  {S.  1191)  für  die  Konversion  gab:  „In  schwacher  Stunde, 
hingerissen  durch  die  furchtbare  Pracht  eines  Naturereignisses, 
wie  es  ihm  nach  der  mündlichen  Erzählung  eines  Augen- 
zeugen in  Rom  begegnete,  wie  es  auch  Luther  neben  Alexis 
begegnete,  reifte  der  Entschluss  zum  Übertritte".  Natürlich  ist 
möglich,  dass  der  gleiche  Vorgang  sich  in  Rom  wiederholte 
und  assoziativ  die  ähnliche  Stimmung  erzeugte. 


Zu  Kapitel  VIII. 

S. 234.  Im  Gedicht  „der  Petersplatz":  Hier  müssen  zuerst  die  Namen 
Wackenroder  und  Tieck  genannt  werden,  mit  deren  Augen 
Werner  Rom  sah.  Man  möchte  fast  annehmen,  dass  die 
„Herzensergiessungen"  und  „Phantasien"  ihm  als  Cicerone 
dienten.  Sicher  ist  ihr  Sehen  bewusst  oder  unbewusst  die 
Voraussetzung  der  Kunststudien  Werners. 

Die  „Peterskirche"  ist  in  den  Herzensergiessungrn  ähnlich 
empfunden  wie  das  Tagebuch  sie  darstellt:  „Du  erweckst  mit 
Deiner  stummen  Unendlichkeit  Gedanken  auf  Gedanken  und 
lässt  das  bewundernde  Gemüt  nimmer  in  Ruhe  kommen  .  .  . 
Die  staunenswürdige  Wirklichkeit  dieses  unglaublichen  Traumes, 
welche  die  Einbildungskraft  erschreckt  .  .  .  (Du)  umhüllst  sie 
mit  der  Gottheit,  die  ewig  aus  Deinen  Mauern  spricht". 
Auch  die  Formulierung  der  christlichen  Kunst  als  Wehmut 
ist  indirekt  schon  durch  die  Gedankenfolge  Wackenroders 
gegeben.  „Aber  ach!  selbst  dieses  Wunder  der  Welt,  wie  ver- 
schwindet es  in  der  kleinen  Unendlichkeit  der  Dinge  dieser 
Erde." 

S. 237.  Aus  seiner  Schilderung  im  Tagebuch:  Interessant  ist  der  Ver- 
gleich mit  der  von  Tieck  in  den  „Phantasien  über  die  Kunst 
für  Freunde  der  Kunst"  gebotene  Beschreibung  des  gleichen 
Gemäldes.  Auch  er  sieht  „die  furchtbaren  Gestalten",  ver- 
gleicht Michel  Angelos  Gemälde  mit  dem  Werke  Dante« 
und  erfasst  den  Moment:  „Christus  spricht  das  Urteil,  seine 
sanfte  Mutter  erschrickt,  sie  verbirgt  sich  und  schmiegt  sich 
an  ihm,  der  Erlöser  ist  in  heftiger  Bewegung,  soeben  steht 
er  auf,  und  das  entsetzliche  Urteil  ertönt  aus  seinem  Munde 
....  Schauder  und  Entsetzen  ergreift  den  Beschauer." 
Zweifellos  steht  Werner  unter  der  Suggestion  dieser  Schilde- 
rung, aber  er  steigert  die  Stimmung  des  Grauens  noch,  löscht 
jede  leise  Hoffnung  aus.  Tieck  ist  überlegen  genug,  auch 
die  Komposition  des  Werks  anzugeben,  das  Formale  zu 
sehen  und  zu  werten.     Werner  hört  nur  die  Stimme   seine« 


342 

Gewissens.  Tieck,  möchte  ich  sagen,  bleibt  episch,  Werner 
wird  dramatisch  zu  dem  Ausruf  gedrängt,  „denn  Herr,  wer 
kann  vor  dir  bestehen". 

S.  238.  Raffael  war  seit  Wackenroder:  Auch  in  der  Auffassung  und 
Wertung  Raffaels  stand  Werner  im  Bann  des  kunstUebenden 
Klosterbruders,  der  den  „himmlischen  Raphael"  als  den  reinen 
und  reinenden  Künstler-Menschen  sah.  Vgl.  aus  den  „Herzens- 
ergiessungen" :  Raphaels  Erscheinung,  der  Schüler  und  Raphel, 
der  merkwürdige  Tod  des  . . .  Malers  Francesco  Francia  und 
die   immer  wieder  auftauchende  Vorliebe  Wackenroders   für 
ihn.     Aufmerksam  mache  ich  auf  die  Art,  wie  Werner  diese 
Wertgrösse  in  sein  Weltsystem  hineinzog.    Für  die  Allgemein- 
heit  dieser  Anschauung   nur   ein    Beweis:    Friedrich   August 
V.  Klinkowström  (Fr.  A.  v.  Klinkowström  u.  s.  w.  von  Alphons 
Klinkowström   Wien  1877)    schreibt    am    2-].  Nov.   1810    an 
David  Runge  von  Rom  aus:  „Der  tiefe  stille  Sinn  in  Michel 
Angelo  und  Raphael  führt  jeden  an  auf  sich  selbst  zurück". 
S.  249.  Und  einmal  schwankte  sein  ganzer  Glaube:  Diese  Schilderung 
in  Werners  Tagebuch   vom    5.  Mai  18 10   in  Neapel   ist   als 
psychologisches  Dokument  von  grösstem  Wert.     Als  typisch 
für   seinen  Katholizismus,    sie    zu   fassen,    wie   es   wohl   ge- 
schehen ist  (z.  B.  von  Julian  Schmidt)  geht  nicht  an.     Eine 
solche  spezifische  Augenblicksstimmung  in   diesem  Sinne   zu 
werten,    geht  gegen   die  primitivsten  Grundsätze  jeder   psy- 
chologischen Betrachtung. 
S.  260.  Die  Schrift  erschien  in  Frankfurt:  Der  vollständige  Titel  dieses 
Widerrufs  lautet:  Die  Weihe  der  Unkraft.     Ein  Ergänztmgs- 
blatt  zur  Deutschen  Haustafel  von  Fried.  Ludwig  Zacharias 
Werner.     Cum  notis  variorum  die  besser  sind  als  der  Text. 
Dixi    sed   —    animam    salvavi?!     Frankfurt  am  Main   18 14. 
(Deutsche   National-Literatur  Bd.  151  S.  225.)      In    der   Be- 
urteilung Dorotheas  zeigt  sich  symptomatisch  die  Umstellung 
des  Schlegelschen  Kreises  von  der  Literatur  zur  konservativen 
Politik  für  Kaiser-  und  Papsttum.     Im  selben  Jahre  erschien: 
„Die  Weihe   der  ünkraft  von  Fr.  Ludw.  Zacharias  Werner, 
nebst  einer  Antwort  von  einem  Deutschen,  Deutschland  1814". 
Das  Pamphlet  ist  unbedeutend,  geht  an  Werners  Kernpunkt 
ganz    vorüber.     Die  Romantiker   werden    scharf   angegriffen, 
Goethe   (Wahlverwandschaften)    und   Schiller   (Jungfrau   von 
Orleans)  tadelnd  gestreift.    Klopstock,  Ewald  von  Kleist  und 
Ramler   werden    als   Vorbilder    genannt.      Eine  Strophe   als 
Kennzeichnung: 

„Ihr  neuästhet'schen  Schönen,  lasst  eure  Finger  ruhn, 
Es  gibt  für  Bücherschreiber,  weit  nützlichers  zu  thun. 
Madam'  und  Köchin  kochen,  im  löblichen  Verein, 
Und  alle  Wahlverwandtschaft  mag  ferne  von  Euch  seyn"  (S.41). 
S.  262.  Man    hat    damals    dem   Kampf:    In    der  Weihe    der  Unkraft 
brachte  Werner  einen  ihm  lieben  Vergleich  wieder: 


343 


Und  dass  ich  emst  es  ende,  wie  ich  es  ernst  begann 
So  Sprech  ich  noch  Euch  beide,    Krieger  und  Priester  an 
Die  Beid'  Ihr  Menschenretter  vom  Höchsten  seid  gesandt, 
Im  Wege  nur  verschieden,  im  Ziele  nah  verwandt. 
Schon   1806  in  seinem  Briefe  an  Chamisso  klang  das  an 
„Auch  mit  Ihrem  Stande  scheinen  Sie  nicht  zufrieden.    Das 
tut  mir  leid,  da  Sie  religiös  sind,    und  es  zum  priesterlichen 
Stande   keine   bessere  Vorbereitung   gibt   als    den   Soldaten- 
stand .  .  ."     Eichendorf   nahm    in    seinen  „Dichter   und  ihre 
Gesellen"  dieses  Motiv  Werners  auch  auf  und  löste  ebenfalls 
dadurch,    dass    der  Offizier  Viktor    katholischer   Priester  mit 
der  Tendenz  Werners  wird,  das  Problem.    (Den  Hinweis  auf 
den  Roman  Eichendorfs  als  Gestaltung  des  Lebensschicksals 
Werners   verdanke   ich   meinem  Lehrer  Berthold  Litzmann.) 


Zu  Kapitel  IX. 

'S.  268.  Der  Wiener  Klatsch :  Eine  interessante  Quelle  für  Werner 
hat  Prof.  Dr.  Oskar  Floeck  erschlossen,  der  uns  in  den 
Nummern  g/12  des  dritten  Jahrganges  des  „Aar"  die  Polizei- 
berichte über  ihn  mitteilt.  Neben  vielen  interessanten  Einzel- 
heiten über  seine  Tätigkeit  als  Prediger  enthalten  sie  eine 
Fülle  biographischen  Materials. 

S.  270.  Werner  suchte  Abraham  a  Sancta  Clara:  Haringer  tadelt 
deshalb  auch  leise  seine  ganze  Art  als  nicht  traditionell  und 
gegen  den  Stil  und  die  Diktion  der  Kanzelrede  \-erstossend. 
Das  Märchen,  dass  Varnhagen  von  Ense  erzählt,  Werner 
habe  einmal  in  mehr  als  zweideutiger  Weise  die  Zunge  und 
ihre  Lust  am  Böses-Reden  geschildert,  spukt  noch  immer 
in  der  Literatur  über  Werner,  obwohl  schon  Hagen  darauf 
hinweist,  dass  dieser  Vergleich  sich  bei  Abraham  a  Sancta 
Clara  findet. 

S. 275.  Über  die  katholische  Mystik:  Von  zeitgenössischen  Autoren 
verdankt  er  wohl  besonders  Fritz  von  Stollberg  eine  Fülle 
von  Anregung,  dessen  Buch  „"Geschichte  der  Religion  Jesu 
Christi",  i.  Teil  1806,  2.  Teil  1807  von  Fr.  Schlegel  in  den 
Heidelbergischen  Jahrbüchern  besprochen  wurde  und  das 
auch  schon  früher  {1806  Brief  an  Johannes  von  Müller  vom 
24.  Februar)  in  sein  Gesichtsfeld  getreten  war. 

Zu  Kapitel  X. 
S. 299.  Hinter  diesem  Pseudonym:  Ich  stütze  diese  Hypothese  auf 
folgende  Gründe:  Werner  musste  wissen  dass  er  von  der 
Polizei  überwacht  wurde.  Dass  diese  Gesinnungsspionage 
nicht  vor  dem  Siegel  seiner  Briefe  Halt  machte,  musste 
Werner  annehmen,  und  auch  die  geringste  Möglichkeit  zu 
meiden  suchen,  durch  deren  Verkennung  er  hätte  moralisch 
verdächtigt  werden  können.    „Die  Wespen  der  Verleumdung" 


344 

summten,  wie  er  selbst  sagt,  damals  besonders  stark.  In 
der  Vorrede  zur  Mutter  der  Makkabäer  beklagte  er  sich  über 
das  Vorgehen  einer  wenig  vornehmen  Journalistendique,  die 
„für  ein  Spottgeld,  nämlich  für  den  geringen  Botenlohn  eines 
noch  geringeren  Korrespondenzartikels",  seinen  guten  Ruf 
dem  Publikum  verkaufte.  Und  Werner  hatte  diesen  ver- 
trauenslosen Augen  etwas  zu  verbergen,  das  er  seinem  Freund 
und  Beichtvater  ehrlich  anvertraute:  seine  Liebe  zu  einem. 
Mädchen,  das  in  diesen  verschleiernden  Briefen  unter  dem 
Namen  Alexis  auftritt. 

Er  führte  sie  auf  „den  Flügeln  der  Liebe  zu  Gott",  von 
dieser  Welt  weg  in  ein  Kloster.  „Mein  alter  geistlicher, 
teurer  Vater  .  . .  hofft  und  lässt  sagen,  die  Nachrichten  wären 
so  günstig,  dass  Alexis  wohl  bald  dort,  wo  Alexis  ist,  oder 
doch  in  der  Nähe  ein  klösterliches  Asyl  würde  finden  können 
parmi  les  fleurs  de  son  sexe  .  .  ."  (IL,  318).  Was  soll 
dieser  Hinweis  auf  das  Geschlecht,  wenn  es  sich  um  einen 
jungen  Mann  handelt?  In  dem  gleichen  Brief  (auf  der 
gleichen  Seite)  heisst  es:  „.  .  .  lasst  ihn  bald  für  euch  in  Öl 
malen,  für  mich  in  Miniatur.  Um  Gottes  Willen  schickt  mir 
von  ihm  eine  Haarlocke !"  Im  Testament  bestimmt  er,  dass 
der  Familie  Choloniewski-Grocholski  eine  Haarlocke  und  das 
ölgemalte  Miniaturbild  einer  Klosterf  r  au  zurückgegeben  werden 
solle.  Das  nur  in  Frage  kommende  Mitglied  dieser  Familie 
ist  Cäcilie  Choloniewski,  die  Nonne  wurde.  An  sie  richtet 
er  das  so  erst  lebendig  werdende  Sonett  an  Cäcilie  (vom 
(vom  22.  November  1816,  A.  S.  II,  S.  119).  Ob  auch  das 
folgende  Sonett  darauf  zu  beziehen  ist,  vermag  ich  ohne 
Wissen  des  Klostemaroens  der  Gräfin  nicht  zn  entscheiden. 
Der  Hinweis  auf  das  Alexis-Erlebnis  (vgl.  oben  S.  340/341) 
scheint  die  Vermutung  zu  bestätigen. 

S. 315.  Werner  besitzt  keinen  eigentlich  epischen  Stil:  Am  23.  April 
181 1  schrieb  Werner  an  Knebel:  „Dramatisches  habe  ich  seit 
meiner  Abreise  von  Jena  noch  keine  Zeile  gedichtet.  Da- 
gegen habe  ich  viel  Liebe  und  Fleiss  an  ein  Werkchen  in 
italienischer  Kanzonenform  verwendet,  was  beinahe  fertig  ist. 
Es  ist  episch  und  hat  zum  Gegenstand  Raphaels  d'  Urbino 
Leben.  —  Ich  glaube  das  Metrische  ist  mir  nicht  ganz  miss- 
lungen,  und  denke  es,  da  es  nur  wenig  Bogen  enthält,  in 
ein  paar  Monaten  zu  enden  ...  —  Wenn  Ew.  Hochwohl- 
geboren  gelegentlich  von  diesem  meinem  kleinen  epischen 
Gedicht  den  durchlauchtigen  Herzog  prävenieren  wollen,  so 
würden  Sie  mich  sehr  verbinden,  da  es  hauptsächlich  auf 
Sr.  Durchlaucht  Antrieb  geschehen  ist,  dass  ich  mich  im 
Epischen  zu  versuchen  veranlasst  bin." 

S. 315.  Zu  den  epischen  Versuchen:  Auch  hier  war  wohl  Wacken- 
roder  das  Vorbild,  dessen  „Zwei  Gemäldeschilderungen"  (in 
den  Herzensergiessungen)  aber  ästhetisch  viel  höher  stehen. 
Er  weiss,  dass  ein  Bild  „eigentlich  garnicht  zu  beschreiben" 


345 

ist  und  sucht  den  Gehalt  dadurch  zu  fassen,  dass  er  die 
seelische  Situation  der  Personen  in  Monologen  sich  aus- 
sprechen lässt,  die  in  ihrer  still-feinen  Eigenart  das  lyrische 
Einfühlen  Wackenrodes  erweisen.  Bilderbeschreibungen  im 
eigentlichen  Sinne  bot  in  den  Phantasien  Tieck,  dessen  Aus- 
deutung des  jüngsten  Gerichtes  wir  erwähnten.  In  der  ähn- 
lichen Art  sind  „Wateaus  Gemälde"  und  „Über  die  Kinder- 
figuren auf  den  Raphaelschen  Bildern".  Ein  Mittelding 
zwischen  Rapsodie  und  Darstellung.  Auch  hier  ist  die  Weiter- 
führung dieser  Versuche  in  dem  Dialog  A.  W.  Schlegels  „die 
Gemälde"  natürlich  wirksam.  Die  ästhetische  Theorie,  die 
den  Versuch  erlaubte,  dem  geistigen  und  seelischen  Erlebnis- 
gehalt aus  der  Technikform  ein-er  Kunstgattung  in  viele 
andere  zu  übersetzen,  da  der  „symbolische"  Gehalt  (das  Wort 
im  Sinne  der  Romantik  als  allgültig  genommen)  vielgestaltig 
sich  verkünden  lässt  —  diese  Theorie  ist  von  Werner  über- 
nommen. Die  epische  Auswertung  des  bildlich  Dargestellten, 
die  das  Nebeneinander  der  Fläche  in  einem  zeitlichen  Nach- 
einander zu  erfassen  sich  müht,  ist  Werners  Eigenart.  Sowohl 
Tieck  und  auch  wohl  Schlegel  wie  vor  allem  Wackenroder 
suchen  (ein  Beweis  intensiveren  Aufgehens  in  die  Anschauimg 
der  Bild-Einheit)  gerade  das  Nacheinander  zu  vermeiden,  die 
Zeitlosigkeit  der  Fläche  und  den  momentanen,  einheitlichen 
Erlebnisakt  lyrisch  anzudeuten.  Werners  künstlerische  Erlebnis- 
fähigkeit ist  hier  weniger  differenziert  und  feinfühlig.  Trotz- 
dem hat  er  interessante  Bildschreibungen  gegeben,  interessant 
psychologisch  (z.  B.  die  oben  zitierte  Beschreibung  des 
jüngsten  Gerichts)  und  ästhetisch.  Ein  Kunstwerk  in  seiner 
Art  ist  z.  B.  die  Beschreibung  des  betlehemitischen  Kinder- 
mordes. (Schütz  IL  S.  197),  wo  Werner  nicht  nur  die  Stim- 
mung gibt,  sondern  sehr  geschickt  auch  die  räumliche  Kom- 
position vor  unserm  Auge  aufbaut. 

Auch  später  wird  das  Bild  noch  Konzeptionspunkt,  z.  B. 
für  die  Ballade  „Sieg  des  Todes"  (A.  S.  IL  93). 


346 


Berichtigungen. 

Seite  7  rauss  es  heissen  statt  Königsberg -Warschau -Berlin; 
Königsberg-Plozk-Warschau  und  entsprechend  muss  die  Aufzählung 
der  durch  das  Raum-Erlebnis  des  Romantikers  wichtigen  Ortsnamen 

Seite  133  beginnen:  Berlin  usw. 

Seite  43  und  45  ist  die  „Korrektur"  Heinze  in  Heinse  zu  ver- 
bessern. 

Seite  332:  In  der  Anmerkung  zu  Seite  35  ist  beidemale  statt 
Blazko  wie  im  Text  richtio^  Baczko  zu  lesen. 


VERLAG  VON  FRIEDRICH  COHEN  IN  BONN 


Mitteilungen  der  Literarhistorischen 
Gesellschaft  Bonn 

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