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Full text of "Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns auf wissenschaftlicher Grundlage 8.1922"

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THE UNIVERSITY 
OF ILLINOIS 
LIBRARY 


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ZEITSCHRIFT 


FÜR DIE ERFORSCHUNG UND BEHANDLUNG 


JUGENDLICHEN SCHWACHSINNS 


AUF WISSENSCHAFTLICHER GRUNDLAGE 


Zentralorgan für die gesamte wissenschaftliche Forschung, Anatomie, Klinik und 

Pathologie des jugendlichen Schwachsinns und seiner Grenzgebiete, für die 

Fragen der Fürsorge und Behandlung der Schwachsinnigen, für die Fürsorge- 

erziehung, für die Organisation der Hilfsschulen und Anstalten, für die ein- 

schlägigen Gebiete der Kriminalistik und forensischen Psychiatrie und der 

Psychologie mit besonderer Berücksichtigung der normalen und pathologischen 
Geistesentwicklung im Kindesalter 


UNTER MITWIRKUNG VON 


ALT ANTON BINSWANGER HOCHE KELLER 
UCHTSPRINGE HALLE a. S. ‚JENA ` FREIBURG i.B. _BREJNING-DÄNEMARK 
RANSCHBURG PER SOMMER TUCZEK 

BUDAPEST GIESSEN MARBURG 


VOGT ZIEHEN 
WIESBADEN HALLE a. S. 


HERAUSGEGEBEN UND REDIGIERT 


VON 
Dp wen ET PHIL. W. WEYGANDT uno DR. meb. C. KLEEFISCH 
ACHTER BAND 


MIT 1 ABBILDUNG UND 1 KURVE IM TEXT UND 1 TAFEL 





JENA 


VERLAG VON GUSTAV FISCHER 
1922 


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Übersetzungsrecht vorbehalten. 


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Inhaltsübersicht. 


Erstes Heft. 


BÜTTNER, GEORG, Neueinführung einer Hilfsschullehrerprüfung für 

Preußen. . . 

SCHNITZER, HERBERT, Über Einrichtungen für sohwererziehbare Für- 

sorgezöglinge . 

MÖNKEMÖLLER, Bericht an das Tanderdiektorium der Provinz Hannover 
über die Ergebnisse der psychiatrisch-neurologischen Untersuchung 

der schulpflichtigen Fürsorgezöglinge der Provinz k 

BÜTTNER, GEORG, Fürsorge für schwachbegabte Kinder auf dem Lande 
v. HOVORKA, OSKAR, Welche Ursachen des kindlichen Schwachsinns 

ergibt die Anamnese? , 

Besprechungen: Bericht über die x. "Konferenz des Vereins "für 
Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher vom 8. bis 
11. September in Bielefeld und Bethel (ScHoB) 

MEUMANN, E., Über Institute für Jugendkunde (ScHoB) 

v. HENTIG, Ein modernes Jugendgesetz (SCHOB) . 

PETERS, W., Die Beziehungen der Psychologie zur Medizin 
und die Vorbildung der Mediziner (SCHOB) . ; 

Horkrıx, H., Die Ausbildung des Hilfsschullehrers (ScHop) 

Deutsche Anstalten für Schwachsinnige, Re und GE 
pathische Jugendliche (ScHoOpB) . . . 

Deutsche Hilfsschulen in Wort und Bild "(Scuop). 

Ernestinum (ScHoB).. . 

SIEFERT, E., Psychiatrische“ Untersuchungen über Fürsorge- 
zöglinge (ScHoB) . 

Elfter Jahresbericht über den 'schulärztlichen "Überwachungs- 
dienst an den städtischen Volksschulen, Hilfsschulen, Mittel- 
schulen, höheren Knaben- und Mädchenschulen zu Breslau 
für das Jahr 1911/12 usw. (ScHoR) . . 

MELTZER, Leitfaden der Schwachsinnigen- und | Blödenpflge m) 

MURTFELD, Fibel für Hilfsschulen . . . > 

—, Religionsbuch für Hilfsschulen . 

PETERS, W., Zentralblatt für Psychologie und psychologische 
Pädagogik (KL). . . 

WEYGANDT, W., Soziale Lage und Gesundheit des Geistes und 
der Nerven (Kı.) ; Ss 

Fürst, M., Jahrbuch der Schulgesundheitspflege (EL) . 


S 32212 


Seite 


71 
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92 


92 


IV Inhaltsübersicht. 


Mitteilungen: I. Welche Anforderungen müssen an die V 
Schulärzte gestellt werden? (KıL.) . 
II. Die erste Prüfung für Lehrer und Lehreri: 
schulen in Deutschland (KL) . 
Plastische Massen für Gesichts- und Schädelabg 3 SKEJ 


Zweites Heft. 


LrenmM, KURT, Itard, Söguin, Montessori und die deutsche Hilfsschule 
Die neue Preußische Prüfungsordnung für Lehrer und Lehrerinnen 
an Hilfsschulen ; à 
Kırmsse, M., Ein Fall von farhiliärein Kreiinmus aus 5 dem. 18. Jahr- 

hundert . 
REIN, OSCAR, Bericht über den allgemeinen Fürsorge- “Brziehungs-Tag 

"an Halle ap", d br d in Lët 
LEHM, KURT, Literatürberiċht SA 

Besprechurigen : The Training School Devoted to the "Interests of 
those whose minds have not developed normally (CAMPBELL) 
Sixty-fifth Annual Report of the Trustees of the Massachusetts 
"Schoöl for the .‚Feeble-Minded at Waltham (CAMPBELL) . 
" STRITTER, D. und MELTZER, Deutsche Anstalten für Schwach- 
sinnige, Epileptische und psychopath. Jugendliche (W.) . 

' SCHLESINGER, E., Schwachbegabte Kinder (Gepon) 

BURGERSTEIN, Leo, Schulhygiene (ScHoB) . 

HERFORT, K., Die Schrift der Schwschsinnigen (ScHop) 

- SCHLESINGER, Schwachbegabte Kinder (KL) . . 
‘ SELTER, HuGo, Handbuch der Deutschen Schulhygiene (W. W.) 
MELTZER, Leitfaden der Schwachsinnigen- und Blödenpflege (K.) 


Drittes Heft. 


SCHOTT, Statistisches zur Lehre vom Schwachsinn und von der Epilepsie 
RızoR, Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge 
.für Geistesschwache. Mit .1 Kurve im Text und 1 Tafel . 


Viertes Heft. 


MENSCHEL, RICHARD HELLMUT, Zur diagnostischen Bewertung von 
"Intelligenzleistungen mittels der Definitionsmethode E 

DE VRIES, ERNST und DE NEVE, J. J. L., Das Vorkommen von 
Schwachsinn in einer holländischen Universitätsstadt . Se 

MONTESANO, GIUSEPPE, Beitrag eum Studium der Dementia infantilis 

RAUTENBERG und GERHARDT, Das Jugendhaus in Friedrichsberg mit 
1 Textfigur  . 

WEYGANDT, W., Über den heutigen Stand der Erforschung und Be 
„handlung des jugendlichen Schwachsinns . : 


97 


. 140 


. 146 
. 164 


. 182 


. 182 
. 185 
. ‘186 
. 186 


186 
187 
188 


. 193 


BE e. 
ZN A 
v. | Aug 


Yachdruck verboten. 


Neueinführung einer Hilfsschullehrerprüfung für Preußen. 


Von 
Georg Büttner-Worms. 


Wer die Fachliteratur der letzten Jahre mit Aufmerksamkeit 
verfolgt hat, wird gefunden haben, daß wiederholt mit Nachdruck 
gefordert wurde eine besondere Fachausbildung für Hilfsschullehrer, 
abschließend mit einer speziellen Prüfung, welche zur endgültigen 
Anstellung als Hilfsschullehrer berechtigt. Als erste Frucht dieser 
Bestrebungen darf man sicher betrachten die allseitige Unterstützung 
und den weiteren Ausbau der Hilfsschullehrerkurse, sowie die Ein- 
richtung des heilpädagogischen Seminars in Essen. Als weitere 
Folgeerscheinung darf man unstreitig auch ansehen die jetzt ver- 
öffentlichte Prüfungsordnung für Hilfsschullehrer in Preußen. 

Sie zerfällt in 14 Paragraphe, von denen sich die fünf ersten 
befassen mit der Zulässigkeit der Bewerber, mit der Prüfungs- 
kommission und Prüfungszeit, sowie mit der Meldung und 
den notwendigen Nachweisen. Die Bestimmungen darüber lauten: 

$ 1. „Die Befähigung zur Anstellung als Lehrer (Lehrerin) an 
Hilfsschulen wird durch Ablegung der Prüfung für Hilfsschullehrer 
(-lehrerinnen) erworben. 

$ 2. Zu dieser Prüfung werden zugelassen: Geistliche, an- 
stellungsfähige Kandidaten der Theologie und der Philologie, Volks- 
schullehrer, welche die Prüfung für die endgültige Anstellung bestanden 
haben, und Lehrerinnen, die mindestens 3 Jahre in wirklichem 
Klassenunterrichte vollbeschäftigt gewesen sind und sich in der 
Praxis bewährt haben. 

Bewerber, die an einer außerpreußischen Hilfsschule tätig sind, 
haben ihre Meldung durch Vermittlung ihrer vorgesetzten Behörde 
bei dem unterzeichneten Minister einzureichen. 

$3. Für die Abhaltung der Prüfung werden nach Bedürfnis 

Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VII. 1 


2 GEORG BÜTTNER, 


in den einzelnen Provinzen Kommissionen gebildet. Jede Kommission 

besteht: 

1. aus einem Provinzialschulrate oder aus einem Regierungs- 

und Schulrate als Vorsitzenden, 

aus einem Kreisschnlinspektor, 

aus einem Hilfsschulleiter, 

aus einem Hilfsschullehrer (Hilfsschullehrerin), 

aus einem Psychiater. 

$4. Die Königlichen Provinzialschulkollegien setzen jährlich 

die Prüfungszeiten an. -Sie werden in dem Zentralblatt der Unter- 

richtsverwaltung veröffentlicht. 

$ 5. Die Meldung zur Prüfung ist 3 Monate vor dem fest- 

gesetzten Zeitpunkte bei dem zuständigen Provinzialschulkollegium 

einzureichen. Dieses entscheidet über die Zulassung zur Prüfung. 

Die nicht im Schuldienste stehenden Bewerber melden sich un- 

mittelbar. Die übrigen reichen ihre Meldungen durch die vorgesetzte 

Dienstbehörde ein, wobei der Kreisschulinspektor sich über Führung 

und besondere Eignung der Bewerber für den Unterricht an Schulen 

für schwachsinnige Kinder auszusprechen hat. Der Meldung sind 
beizufügen: 

1. ein selbstgefertigter Lebenslauf, auf dessen Titelblatt der 
vollständige Name, der Geburtsort, das Alter, das Religions- 
bekenntnis und das augenblickliche Amtsverhältnis des Be- 
werbers anzugeben sind. 

2. Die Zeugnisse über die bisher empfangene Ausbildung, sowie 
über die bisher abgelegten Prüfungen in beglaubigter Abschrift. 

3. Nachweis darüber, daß der Bewerber mindestens 1 Jahr lang 
an einer Schule für schwachsinnige Kinder vollen Klassen- 
unterricht erteilt hat, oder an Kursen für Hilfsschullehrer 
oder an den Übungen eines heilpädagogischen Seminars 
teilgenommen hat. 

4. Nachweis über Ausbildung in mindestens einem der an 
Hilfsschulen zur Verwendung kommenden Zweige der Hand- 
fertigkeit oder in der Gartenarbeit. 

5. Ein Gesundheitszeugnis, das höchstens 3 Monate vor der 
Meldung von einem zur Führung eines Dienstsiegels be- 
rechtigten Arzte ausgestellt ist. 

Die nicht im Schuldienste stehenden Bewerber haben 
außerdem ein amtliches Führungszeugnis einzureichen.“ 

Die nächsten Paragraphen, nämlich 6, 7, 8 und 9 sprechen von 
der Prüfung selbst. Sie lauten: 


RE 


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Neueinführung einer Hilfsschullehrerprüfung für Preußen. 3 


$ 6. „Die Prüfung ist eine theoretische — schriftliche und 
mündliche — und eine praktische. 

$ 7. Für die schriftliche Prüfung stellt der Vorsitzende 
der Prüfungskommission zwei Aufgaben aus dem Gebiete des Hilfs- 
schulwesens, deren eine der Methodik der einzelnen’Unterrichtsfächer 
der Hilfsschule zu entnehmen ist. 

Der Bewerber hat diese Arbeiten in zwei aufeinander folgenden 
Vormittagen unter Aufsicht anzufertigen. Die Arbeitszeit beträgt 
je 4 Stunden. 

Der Vorsitzende weist die Arbeiten den einzelnen Mitgliedern 
der Kommission zur Beurteilung zu. Die: Arbeiten bleiben bei den 
Akten der Prüfungskommission. Wenn die Arbeiten nach dem Urteil 
der Mehrheit der Kommission für ungenügend befunden werden, so 
ist der Vorsitzende berechtigt, den Bewerber von der mündlichen 
Prüfung auszuschließen und die Prüfung für nicht bestanden zu 
erklären. . 

$8 Die mündliche Prüfung erstreckt sich auf alle Gebiete 
der Erziehung und des Unterrichts der Schwachbeanlagten unter 
Bezugnahme auf die allgemeine Erziehungs- und Unterrichtslehre. 

Die Bewerber haben insbesondere nachzuweisen die Bekannt- 
schaft: 

1. mit der Psychologie und ihren Zweigwissenschaften, der 
Psychopathologie, der Kinderpsychologie, mit dem Wesent- 
lichen über den Bau und die Funktionen der Sinnesorgane, 
des gesunden und kranken Gehirns und Nervensystems, mit 
der Psychophysiologie der Sprachfunktionen, den wichtigsten 
Sprachstörungen und den Methoden ihrer Behandlung und 
Heilung; 

2. mit der Methodik aller Unterrichtsgegenstände, der Ein- 
richtung und den Lehr- und Lernmitteln der Hilfsschule; 

3. mit der Geschichte und der Literatur der Hilfsschule, soweit 
sie für ihre Entwicklung von Bedeutung ist; 

4. mit den Fragen der Fürsorge für Schwachsinnige. 

§ 9. Die praktische Prüfung besteht in der Ablegung 
zweier Lehrproben, von denen die eine im Gebiete der Unterstufe 
einer Hilfsschule liegen muß.“ 

Die Schlußparagraphen (10—14) sprechen von den Prüfungs- 
ergebnissen, Zeugnissen, Prüfungswiederholungen, 
Gebühren und dem in Kraft treten. Des Näheren heißt es darüber: 

$ 10. „Über die Ergebnisse der Prüfung in den einzelnen 
Gegenständen wird eine Verhandlung geführt. 

1* 


4 _GEoRG BÜTTNER, Neueinführ. einer Hilfsschullehrerprüf. f. Preußen. 


Die Leistungen werden ‘mit „sehr gut“, — „gut“, — „ge- 
nügend“, — „nicht genügend“ beurteilt. 

. Nach dem Gesamtergebnis der Prüfung ist zu entscheiden, ob 
dem Bewerber die Befähigung als Hilfsschullehrer zu erteilen ist. 

Bei nicht genügenden Leistungen in beiden Lehrproben und in 
der Methodik des Hilfsschulunterrichtes ist die Befähigung zu 
versagen. 

Die Einzelurteile werden in ein Gesamturteil (sehr gut, gut 
genügend, nicht genügend) zusammengefaßt, das dem Lehrer nach 
Schluß der Verhandlung mündlich mitzuteilen ist. 

Die Verhandlungsschrift ist durch den Vorsitzenden und die 
Mitglieder der Kommission zu unterzeichnen und zu den Prüfungs- 
akten zu bringen. Hat der Bewerber die Prüfung nicht bestanden, 
so ist ihm das ebenfalls zu eröffnen. 

$ 11. Auf Grund der bestandenen Prüfung erhält der Bewerber 
(die Bewerberin) ein Zeugnis in folgender Fassung: 


he ‚„ geboren den..... ZU....2%..... Religion, hat 
sich in der Zeit vom..... DIE der Prüfung für Lehrer 
(Lehrerinnen) an Hilfsschulen mit ..... Erfolg unterzogen und 


wird hierdurch auf Grund dieser Prüfung für befähigt erklärt, als 
Lehrer (Lehrerin) an Hilfsschulen angestellt zu werden. 
(Ort), sa: ‚den..s«; 
Die Königliche Prüfungskommission. 
(Siegel und Unterschriften.) 

Die Zeugnisse sind auch durch das Siegel der Prüfungskom- 
mission und durch die Unterschriften ihrer Mitglieder zu vollziehen. 

$ 12. Die Prüfung darf nur einmal — höchstens nach Ablauf 
eines Jahres — wiederholt werden. Zu einer nochmaligen Wieder- 
holung (dritten Prüfung) bedarf es der Genehmigung des Ministers 
der geistlichen und Unterrichts- Angelegenheiten. 

$ 13. Vor Eintritt in die Prüfung ist außer der Stempelgebühr 
von 3 Mk. eine Prüfungsgebühr von 20 Mk. zu entrichten. 

$ 14. Diese Prüfungsordnung tritt mit dem 1. Oktober 1914 
in Kraft.“ 

Als Übergangsbestimmung wurde weiter angeordnet, „daß 
solche Lehrer und Lehrerinnen, die vor dem 1. April 1913 an Hilfs- 
schulen berufen worden sind, an diesen Schulen auch ohne Ablegung 
der Prüfung endgültig angestellt werden können.“ 


—— ee 


Nachdruck verboten. 


Über Einrichtungen für schwererziehbare Fürsorgezöglinge. 


Von 


Dr. Herbert Schnitzer, 
Chefarzt den Kiückenmühler Anstalten in Stettin. ') 


Von jeher hat es in den Erziehungsanstalten Zöglinge gegeben, 
denen gegenüber die zu Gebote stehenden Erziehungsmittel völlig 
zu versagen schienen. Für den Pädagogen mag es schwer sein, sich 
an den Gedanken zu gewöhnen, daß es Elemente geben soll, an 
denen alle erzieherischen Einwirkungen ergebnislos abprallen. Sie 
werden es nicht zugeben wollen, daß es tatsächlich völlig unerziehbare 
Zöglinge geben könnte, und doch zeigt die Erfahrung, daß der Er- 
ziehbarkeit Grenzen gesetzt sind. So schmerzlich die Anerkennung 
dieser Tatsache auch ist, so muß andererseits gesagt werden, daß 
in einzelnen Fällen nur unsere gegenwärtigen Mittel der Erziehung 
nicht ausreichen, um sichtbare Erfolge zu erzielen. Wir sind zugleich 
davon überzeugt, daß bei der fortschreitenden Entwicklung der 
Fürsorgeerziehung solche, die uns heute unerziehbar dünken, später 
mit anderen Mitteln vielleicht sehr wohl erzieherischen Einflüssen 
zugänglich sein werden. Von diesem Gesichtspunkte aus halte ich 
es für gerechtfertigt, den Begriff der absoluten Unerziehbarkeit 
fallen zu lassen und die Zöglinge, die in diese Kategorie gehören, 
als schwer erziehbar zu bezeichnen. Nun ist mit dieser Bezeichnung 
über die Art und Beschaffenheit der schwer Erziehbaren noch wenig 
gesagt, zunächst sicherlich nur das eine, daß sie der Erziehung 
erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Dabei ist selbstverständlich 
die Möglichkeit gegeben, daß die Bestandteile dieser Kategorie einen 


1) Nach einem Vortrag, gehalten auf der Fürsorgeerziehungskonferenz 
der Provinz Pommern 1914. 


6 HERBERT SCHNITZER, 


grundverschiedenen Charakter tragen. Es ist ein recht buntes Bild, 
welches sich da vor unseren Augen aufrollt; wir finden unter den 
Schwererziehbaren zweifellos geistig völlig Normale, freilich in ge- 
ringer Anzahl, und gerade den schwer erziehbaren Fürsorgezöglingen 
gegenüber soll man mit dem Prädikat „Normal“ ganz besonders 
vorsichtig sein. Tatsächlich ist die Zahl der Abnormen so über- 
wiegend, daß das normale Element hinter ihnen fast verschwindet. 
Die Gruppe der Abnormen stellt nun durchaus nicht etwas Einheit- 
liches dar, sondern unter dieser Bezeichnung fassen wir alle Grade 
und Schattierungen der psychischen Anomalien des kindlichen und 
jugendlichen Alters zusammen. Es ist eine ganz neue Formenwelt, 
die sich hier der klinischen Psychiatrie enthüllt, noch sind wir beim 
Durchforschen und Sammeln dieser Formen, noch fehlt es uns an 
einer allgemeingültigen Gruppierung, welche sich aus der Sichtung 
der einzelnen scharf ausgeprägten Typen ergibt. Immerhin können 
wir drei große Komplexe abgrenzen, ich nenne sie Psychopathen, 
Schwachsinnige und Geisteskranke, oder anders ausgedrückt: Grenz- 
zustände, Entwicklungshemmungen und akute Geisteskrankheiten 
im engeren Sinne. Unter den Psychopathen sind es vorwiegend 
die Affektiven und Impulsiven, die moralisch Minderwertigen und 
die Sexuellen, welche infolge ihrer leichten Erregbarkeit und Aktivität 
jederzeit konfliktsbereit sind und eine erhebliche Gefahr für ihre 
Umgebung bilden. Zu ihnen gesellen sich Hysterische und Schwach- 
sinnige, die sich durch ihre Neigung zu Schwindeleien, Eigentums- 
vergehen und Gewalttätigkeiten auszeichnen. Die Geisteskranken. 
Idioten und Epileptiker kann ich hier übergehen, da sie nach Fest- 
stellung ihrer Geistesstörung alsbald geeigneten Heil- oder Pflege- 
anstalten überwiesen werden. Auch wenn die zuletzt genannten 
Kranken für die Fürsorgeerziehung kaum noch in Betracht kommen, 
bleiben in den Erziehungsanstalten immerhin etwa 50°, geistig 
abnorme Zöglinge zurück und liefern nun das Hauptmaterial für 
die Gruppe der Schwererziehbaren. Daß die Zahl der abnormen 
Elemente in den Erziehungsanstalten 50°, und nicht, wie die amt- ' 
liche Statistik ursprünglich annahm, 10°/, beträgt, kann jetzt als 
feststehende Tatsache gelten. Freilich ist die Anzahl derer, die im 
eigentlichen Sinne schwererziehbar sind, in der einzelnen Anstalt 
nicht sehr groß, allein was der Quantität an Bedeutung abgeht, das 
wird durch die Qualität der Zöglinge mehr als ausgeglichen. Jeder 
Anstaltsleiter weiß davon zu berichten, daß ein einziger Zögling 
imstande ist, eine ganze Anstalt zu beunruhigen und zu verhetzen. 
Noch ist lebhaft in unserer Erinnerung die Schreckensnacht, in der 


Über Einrichtungen für schwererziehbare Fürsorgezöglinge. 7 


70 Zöglinge aus der Anstalt Warsow entwichen, nachdem sie alles 
zerstört hatten, was ihnen erreichbar war. Im Grunde war diese 
Revolte, die einen Materialschaden von mehreren tausend Mark ver- 
ursacht hat, die Tat von 4—5 Zöglinge, die als die unsozialsten 
Elemente schon lange bekannt und gefürchtet waren. Soll man 
solche Schädlinge unter den übrigen Zöglingen belassen? Sollen sie 
die Massen vergiften oder glaubt man, daß die Macht der guten 
Elemente ihren verderblichen Einfluß hemmen und unterdrücken 
konnte? Nein, im Gegenteil, sie reißen mit ungezügelter Gewalt 
und in unverkennbarer Freude an zerstörender Arbeit alles nieder, 
was jahrelange Erziehung mühsam aufgebaut hat. Darum erschallt 
aus den Reihen der Anstaltsleiter immer lauter und dringender der 
Ruf: „Nehmt uns die Zöglinge ab, denen wir nicht nützen können, 
die aber unserer Arbeit dauernd unendlichen Schaden zufügen.“ 
Ist dies aber die allgemeine Meinung, und nach den Äußerungen 
auf den Fürsorgeerziehungskonferenzen ist nicht daran zu zweifeln, 
so ist damit zugleich die Frage, ob Sonderabteilungen für Schwer- 
erziehbare zu errichten sind, im bejahenden Sinne beantwortet. Nur 
über das Wie konnte bisher noch keine Einmütigkeit herbeigeführt 
werden. Es gibt da mehrere Möglichkeiten, bei denen Vorzüge und 
Schwächen in verschiedener Weise verteilt sind. Einmal könnten 
völlig selbständige Sonderanstalten errichtet werden, die lediglich 
für Schwererziehbare bestimmt sind; diese müßten, damit sie nicht 
zu klein und zu teuer würden, von mehreren Provinzen zugleich 
beschickt werden. Eine andere Art der Unterbringung wäre die 
in Adnexen an eine bestehende Irren- oder Idiotenanstalt und 
schließlich kämen noch Sonderabteilungen in den Erziehungsanstalten 
selbst in Betracht. Ich will vorwegnehmen, daß ich die letztere Art 
der Versorgung für die beste und zweckmäßigste halte, wenn die 
Trennung von den übrigen Zöglingen eine vollständige und die 
ständige Mitwirkung des psychiatrisch geschulten Arztes gesichert 
ist. Allein diese Bedingung, die Anstellung eines Psychiaters im 
Hauptamt, wird für absehbare Zeit selbst in den größten Erziehungs- 
anstalten nicht zu erfüllen sein. Soweit ich übersehen kann, gibt 
es zurzeit in Deutschland nur eine selbständige Anstalt für schwer- 
erziehbare Psychopathen; die Provinzial-Heil- und Erziehungsanstalt 
in Göttingen, die von dem verstorbenen Göttinger Psychiater Prof. 
CRAMER gebaut wurde und jetzt annähernd 2 Jahre in Betrieb ist. 
Sie besteht aus 3 Häusern, einem offenen Hause mit 10 Plätzen, 
einem geschlossenen Hause mit 20 und einem eingeschossigen Ver- 
wahrungshause mit 24 Plätzen lediglich für schulentlassene männ- 


8 HERBERT SCHNITZER, 


liche Zöglinge. Das feste Haus ist von einer 21, m hohen Mauer 
umgeben und mit den denkbar größten Sicherheitsvorrichtungen 
versehen, so daß mit der Möglichkeit von Entweichungen hier nicht 
gerechnet zu werden braucht. Überdies sind die beiden Abteilungen, 
die das Haus enthält, völlig voneinander getrennt; die eine, zugleich 
Aufnahme- und Beobachtungsabteilung stellt einen Wachsaal mit 
12 Betten dar, die andere besaß ursprünglich einen Schlafsaal mit 
der gleichen Bettenzahl; da jedoch die vorgesehenen 2 Einzelzimmer 
den Bedürfnissen nicht genügten, wurde neuerdings der Schlafsaal 
zu Einzelräumen umgewandelt. Für die anderen beiden Häuser, 
die nichts Charakteristisches bieten, möchte ich von einer Schilderung 
absehen. Die Anstalt wird geleitet von einem psychiatrisch vorge- 
bildeten Arzt, der aus der benachbarten Heil- und Pflegeanstalt 
hervorgegangen ist und dem ein Geistlicher und ein Hilfsschullehrer, 
beide in nebenamtlicher Tätigkeit zur Seite stehen, ein Bürogehilfe 
versieht die Schreibarbeit, ein Hausvater leitet den Dienst des 
Pflegepersonals, welches aus 11 Pflegern besteht, so daß auf 5 Zög- 
linge ein Pfleger gerechnet wird. Von den Pflegern sind sämtliche 
bis auf einen verheiratet. Der ärztliche Leiter beteiligt sich an 
der pädagogischen Tätigkeit insofern, als er Unterricht in Bürger- 
kunde, Gesundheitslehre und verwandten naturwissenschaftlichen 
Gebieten gibt. In der Handhabung der Disziplin lehnt sich die 
Hausordnung an die in den Erziehungsanstalten üblichen Maßregeln 
an, perhorresziert also die körperliche Züchtigung nicht. Was die 
Beschäftigung der Zöglinge betrifft, so steht an erster Stelle die 
Feld- und Gartenarbeit, dann ist aber auch Gelegenheit zur Aus- 
bildung in der Schneiderei, Schuhmacherei, Tischlerei und Korb- 
macherei gegeben. Neben Unterricht und Arbeit werden Turnen, 
Spielen und Musik als wichtige Erziehungsmittel gepflegt. Besondere 
Erwähnung verdient, daß die Anstalt auch Familienerziehung in 
den Kreis ihrer Aufgaben hineingezogen hat. Während in Göttingen 
mit der Heil- und Erziehungsanstalt etwas absolut Neues und Eigen- 
artiges geschaffen worden ist, haben andere Anstalten, die sich ihrer 
schwererziehbaren Elemente nicht ohne weiteres entledigen konnten 
oder wollten, Einrichtungen getroffen, die ihnen eine völlige Ab- 
sonderung der antisozialen Elemente ermöglichen. Solche Sonder- 
abteilungen sind beispielsweise im Frauenheim vor Hildesheim, im 
Magdalenenasyl zu Teltow, im Stift Bethabara zu Weißensee für 
weibliche Fürsorgezöglinge vorhanden. Über Adnexe an Irren- oder 
Idiotenanstalten, in denen Schwererziehbare untergebracht wären, 
liegen Erfahrungen nicht vor. Zwar sind in den Potsdamer An- 


Über Einrichtungen für schwererziehbare Fürsorgezöglinge. 9 


stalten auch schwer erziehbare Fürsorgezöglinge untergebracht, doch 
nieht sowohl in Sonderabteilungen als vielmehr über die einzelnen 
Häuser der Anstalt verstreut. Wenn die Einrichtung solcher Adnexe 
in Frage kommt, so ist es durchaus nicht gleichgültig, ob sie an 
Idioten- oder Irrenanstalten angegliedert werden. Die Irrenanstalten 
sind schon deshalb weit weniger für die Angliederung zu empfehlen, 
weil ihnen der heilpädagogische Apparat fehlt, der den Idioten- 
anstalten zur Verfügung steht. Auch für die krankhaften Fürsorge- 
zöglinge müssen aber pädagogische Grundsätze und Maßnahmen zur 
Geltung kommen. Ferner ist das Material der krankhaften Zöglinge 
den Insassen der Idiotenanstalt in viel höherem Grade wesens- 
verwandt als denen der Irrenanstalt. Wenn also eine Heil- oder 
Pflegeanstalt zu den fraglichen Zwecken benutzt werden soll, so 
kommt meines Erachtens in erster Linie die Idiotenanstalt in 
Betracht. Auch darin wird allgemeine Übereinstimmung herrschen, 
daß nur für schulentlassene Zöglinge eine Absonderung erforderlich 
sein dürfte, während für die schulpflichtigen Kinder die gegenwärtig 
vorhandenen Einrichtungen ausreichen. 

Wo man daran geht, besondere Häuser für schwer erziehbare 
Fürsorgezöglinge zu schaffen, hat man naturgemäß auch in der bau- 
lichen Einrichtung auf die Eigenart der Insassen Rücksicht zu 
nehmen; dies gilt einmal hinsichtlich der dauernden Neigung zu 
Entweichungen und antisozialen Handlungen und dann im Hinblick 
auf die krankhafte Beschaffenheit, soweit es sich um die Versorgung 
abnormer Zöglinge handelt. Demgemäß soll bei allen erforder- 
lichen Sicherheitsvorrichtungen der Charakter der Krankenanstalt 
gewahrt bleiben. Da es sich aber auch um Objekte der Erziehung 
handelt, darf auch das pädagogische Moment nicht vernachlässigt 
werden. Wie diese drei Forderungen, die dem krankhaften, anti- 
sozial gerichteten Zögling gerecht werden sollen, in einheitlicher 
Weise zu befriedigen sind, ist ein Problem, das bis heute nicht 
gelöst ist. Es scheint ja auch so, als ob das sichernde Prinzip dem 
behandelnden und dieses wieder dem pädagogischen entgegensteht, 
also nicht einende sondern nur ausschließende Faktoren! Und doch 
gibt es etwas, was trotz aller Gegensätzlichkeit das einigende und 
versöhnende Bindemittel zu geben vermag, das ist der Geist der in 
dem Hause weht. Es muß der Geist der Liebe sein, die alles ver- 
trägt, alles glaubt und alles hofft, der Glaube an die Kraft des 
Guten im Menschen muß lebendig bleiben, denn wenn erst. einem 
Hause und seinen Hütern an die Stirn geschrieben steht: „Laßt alle 
Hoffnung draußen“, dann soll man auf das schöne Wort „Fürsorge- 


10 HERBERT SCHNITZER, 


erziehung“ lieber verzichten. Deshalb möchte ich als wichtigste 
Forderung an die Spitze stellen, daß nur hervorragend qualifizierte 
Leiter und das beste Erziehermaterial die gedeihliche Entwicklung 
eines solchen Hauses gewährleisten können. Die Sonderanstalt muß 
unter allen Umständen eine Einrichtung der Fürsorgeerziehung 
bleiben und dies muß im inneren Betriebe wie in der äußeren Ge- 
staltung zum Ausdruck kommen. Gewiß können Sicherheitsvorrich- 
tungen nicht entbehrt werden. Eine Einzäunung oder sagen wir 
auch eine Mauer mag das Ganze umschließen, ob sie 2m oder 3m 
hoch zu sein hat, erscheint nicht von erheblicher Bedeutung. Die 
Fenster von starkem Glase mit Dornverschlüssen können außen ver- 
gittert sein, ohne daß das äußere Aussehen des Hauses darunter 
leidet, nur müssen sie normale Größe haben, da erst die kleinen 
oben angebrachten Fenster den Charakter des Gefängnismäßigen 
verleihen. Ein Wachsaal für 8—10 Zöglinge berechnet, dient als 
Aufnahme-, Beobachtungs- und Überwachungsstation, an ihn wird 
zweckmäßig eine Einrichtung für Dauerbäder angeschlossen; auch 
eine kleine Isolierstation für Infektionskranke wird vurzusehen sein. 
Im übrigen ist für die Herstellung möglichst vieler Einzelzimmer 
Sorge zu tragen. Während in den gemeinsamen Schlafsälen ein 
Luftraum von 15—20 cbm ausreichend erscheint, ist als Mindestmaß 
für das Einzelzimmer ein solcher von 25 cbm anzunehmen. Fenster 
und Türen bedürfen hier besonderer Sicherungen, doch erscheint 
mir die Anbringung von vier Schlössern, wie sie an den Zellentüren 
der Göttinger Anstalt vorhanden sind, nicht unbedingt erforderlich. 
Die Einrichtung des Einzelzimmers beschränkt sich auf eine Bett- 
stelle, welche bei Neigung zum Demolieren durch ein Nachtlager 
am Fußboden zu ersetzen ist. Wenn es irgend angeht, halte ich es 
für erwünscht, das Einzelzimmer nicht mit Klosetteinrichtung zu 
versehen. Ausgiebige künstliche Ventilation, Zentralheizung und 
elektrische Beleuchtung sind Einrichtungen, die sich nach dem 
heutigen Stande der Hygiene von selbst verstehen. Neben der 
Wachsaalwache wird eine Laufwache nachts zur Verfügung stehen 
müssen, die alle Räume des Hauses abpatrouilliert, dadurch wird es 
auch möglich sein, das Pflegepersonal in besonderen Zimmern ge- 
trennt von den Zöglingen schlafen zu lassen. Ansammlungen von 
mehr als 10 Zöglingen in einem Raum wird man tunlichst ver- 
meiden. Es ist durchaus zu empfehlen, einzelne Abteilungen zu 
bilden, die schnell und sicher gegen einander abgeschlossen werden 
können, und die nicht mehr als 10 Zöglinge aufweisen. So wird 
man am besten der Möglichkeit von Revolten vorbeugen. Das tägliche 


Über Einrichtungen für schwererziehbare Fürsorgezöglinge. 11 


Leben wird sich aus Arbeit, Unterricht and Zerstreuung zusammen- 
setzen. Beschäftigungsmöglichkeiten müssen innerhalb und außer- 
halb des Hauses gegeben sein. Von allen Beschäftigungen ist 
naturgemäß schon aus hygienischen Gründen die Feld- und Garten- 
arbeit zu bevorzugen, aber auch Werkstättenarbeit, etwa Schneiderei, 
Tischlerei, Schuhmacherei, Bürstenmacherei eventuell auch Matten- 
flechten wird für manche Zöglinge die einzig mögliche Art der Be- 
schäftigung sein. Was den Unterricht betrifft, so wird es sich nur 
um Fortbildungsunterricht für einige Nachmittagsstunden handeln, 
da lediglich schulentlassene Zöglinge in Betracht kommen. Religion, 
Deutsch, kaufmännisches Rechnen, Geschichte, Naturwissenschaften 
können in diesen Stunden besonders gepflegt werden. Für die weib- 
lichen Zöglinge dürften weniger umfassende Sicherheitsvorrichtungen 
erforderlich sein, da sie an Kraft, Energie und Gewandtheit hinter 
den männlichen erheblich zurückstehen. Die Beschäftigung läßt 
sich auch bei den Mädchen recht mannigfaltig gestalten. In der 
Näh- und Flickstube, in der Küche und Wäscherei, auf dem Felde 
und im Garten bietet sich Gelegenheit, die Zöglinge nach ihren 
Neigungen und Fähigkeiten zu beschäftigen. Auf Arbeit und Unter- 
richt müssen Spiel und Zerstreuung folgen, dazu empfehlen sich 
kleine Gesellschaftsspiele, musikalische Übungen, Turnen und Sport. 
Die Anregungen, die den Zöglingen in dieser Form gegeben werden, 
halte ich für ein besonders wichtiges Erziehungsmittel, welches 
von den Zöglingen dankbar und mit Freude begrüßt wird. Sie 
bringen auch insofern Vorteil, als man die zeitweilige Ausschließung 
einzelner Zöglinge von derartigen Zerstreuungen zu einer wirksamen 
Strafe benutzen kann. Damit komme ich auf die Disziplin, die ja 
in einer Anstalt für krankhafte Zöglinge recht schwierige Aufgaben 
stellt. Wenn der Charakter des Hauses als Einrichtung der Fürsorge- 
erziehung gewahrt werden soll, dann darf selbstverständlich nicht 
wie in eigentlichen Krankenanstalten alles ängstlich vermieden 
werden, was nach Strafe aussieht. Wird die Strafe nicht als Ver- 
geltung, sondern lediglich als Erziehungsmittel geübt, dann hat sie 
auch ihre volle Berechtigung, und daß eine Strafe zur rechten Zeit, 
von der rechten Hand und in der rechten Form verabreicht, von 
vorzüglicher Wirkung sein kann, ist außer Zweifel. Die Sache 
würde sich relativ einfach gestalten, wenn man sich für die Ab- 
stufunge der Strafen an die Normen hält, die der Ministerialerlaß 
gibt, freilich ist in diesem auch die körperliche Züchtigung, das 
Schmerzenskind der Pädagogen, enthalten. Früher war das Recht 
der körperlichen Züchtigung den Erziehern gewissermaßen ä diseretion 


12 HERBERT SCHNITZER, 


verliehen, jetzt ist es durch genaue Bestimmungen geregelt und 
dosiert. Ich möchte hier vorausschicken, daß ich die körperliche 
Züchtigung durchaus nicht aus den Erziehungsanstalten und zwar 
auch den leicht krankhaften Zöglingen gegenüber verbannt wissen 
möchte. Allein für ein Haus, welches als integrierender Bestandteil 
einer Krankenanstalt angesehen werden muß, kann ich mich nicht 
entschließen, für körperliche Züchtigung zu plädieren, und ganz be- 
sonders nicht in der Form, wie es in manchen Anstalten geschieht, 
nämlich daß die Verhängung und Vollziehung der Strafe den Charakter 
einer Exekution annimmt. Die maßgebenden Persönlichkeiten beraten 
miteinander, ob und in welchem Maße die körperliche Züchtigung 
stattfinden soll, und dann erfolgt sie nicht etwa auf frischer Tat, 
sondern erst einige Zeit nach dem Delikt, freilich sine ira et studio. 
Auch für den Vorschlag von Zırnen kann ich mich nicht begeistern, 
der die Exekution in eine medizinische Form kleiden will, indem er 
den straffälligen Jugendlichen mit dem faradischen Strom elektrisieren 
läßt, um so durch Zufügung eines intensiven körperlichen Schmerzes 
Abschreckung zu erzielen. Vielmehr halte ich dafür, daß in dem 
Bereich einer Krankenanstalt von körperlicher Züchtigung prinzipiell 
abzusehen ist. Die Entziehung von Vergünstigungen, die allerdings 
recht zahlreich und mannigfaltig gestaltet sein müßten, bietet an 
und für sich Gelegenheit, in sehr empfindlicher Weise zu strafen. 
Man mag auch in den geeigneten Fällen eine Kostschmälerung zur 
Anwendung bringen und man mag selbst den Anordnungen der 
Bettruhe und der Isolierung, die an sich schon therapeutische Zwecke 
verfolgen, den Charakter disziplinärer Maßregeln beilegen, so wird 
man über eine genügende Auswahl von Strafmitteln verfügen, die 
niemals imstande sind, den Geist des Hauses und die Interessen der 
Insassen zu schädigen. Von hoher pädagogischer Bedeutung erscheint 
mir auch, die einzelnen Abteilungen so zu differenzieren, daß sie 
von Stufe zu Stufe ein höheres Maß von Freiheit bieten und die 
Versetzung in ein freiheitlicheres Regime nicht nur eine Bewährung 
voraussetzt, sondern zugleich als Belohnung für gute Führung zu 
gelten hat. Nach diesem Prinzip sind ja auch die einzelnen Häuser 
der Göttinger Anstalt organisiert. Es ist natürlich, daß nach den 
schwerwiegenden Vorgängen, die den Zögling in die Abteilung für 
schwer Erziehbare einweisen, zunächst von einer freiheitlichen Be- 
handlung keine Rede sein kann, allein es wird von dem Erfolg der 
heilpädagogischen Arbeit abhängen, wie bald man dem Zögling 
etwas Vertrauen schenken und kleine Freiheiten gestatten darf. 
Mit der Versetzung in eine offene Abteilung ist das Höchstmaß freier 


Über Einrichtungen für schwererziehbare Fürsorgezöglinge. 13 


Bewegung und das Endziel der Anstaltsbehandlung gewiß noch nicht 
erreicht. Was die reinen Erziehungsanstalten sich zur Aufgabe 
machen, nämlich den Zögling durch die Anstaltserziehung für die 
Familienerziehung vorzubereiten, das muß auch den Sonderanstalten 
für schwer Erziehbare als erreichbares und zu erreichendes Ziel 
vorschweben. 

Wie groß soll nun eine Anstalt für schwer Erziehbare sein? 
Ich meine, daß 70—80 die Maximalzahl dessen darstellt, was man 
einer solchen Anstalt zumuten darf. Das einzelne Haus soll nicht 
mehr als 20 und die einzelne Abteilung nicht mehr als 10 Zöglinge 
beherbergen. Wo eine größere Erziehungsanstalt zu ihren besonderen 
Zwecken kleine Abteilungen für besonders schwer Erziehbare er- 
richtet, werden solche für 6—8 Zöglinge in der Regel ausreichen. 
Die Leitung einer Anstalt für krankhafte Fürsorgezöglinge soll nach 
der gegenwärtigen Ansicht der psychiatrischen Kreise in den Händen 
eines für diese Aufgaben besonders geschulten Arztes liegen. Es 
wird dem Psychiater aber durchaus erwünscht sein, wenn er sich 
der gleichberechtigten Mitwirkung des Theologen oder Pädagogen 
erfreuen darf. Diese Arbeitsteilung kommt schon in der Bezeichnung 
„Heilpädagogische Anstalt“ zum Ausdruck, die auch dem Charakter 
der Anstalt für schwer Erziehbare entspricht. Wie weit der Arzt 
sich an der pädagogischen Arbeit beteiligt, dürfte von seinen Neigungen 
und seinem Geschick abhängen. Es bedarf keiner Frage, daß er in 
die Psyche seiner Zöglinge tiefer eindringt und ein festeres Ver- 
trauensverhältnis zu ihnen erlangt, wenn er nicht lediglich als Arzt 
sondern auch als Erzieher auftritt. 

Was das übrige Personal betrifft, so sind besondere Verwaltungs- 
beamte nur dann erforderlich, wenn die Anstalt selbständig ist, in 
den anderen Fällen können die Verwaltungsangelegenheiten von den 
Beamten der Hauptanstalt bearbeitet werden, von der die Sonder- 
abteilung nur einen Zweig bildet. Für jedes Haus ist ein Hausvater 
notwendig, für jede Abteilung ein Stationspfleger, und diesen sind 
die einzelnen Pfleger unterstellt. Es ist klar, daß nur bestes und 
ausgesuchtes Material zur Besetzung der Pflegestellen in Betracht 
kommt. Sie müssen besonders geschult sein nnd sich im Pflegedienst 
ähnlich gearteter Anstalten bereits bewährt haben. Ihre Tätigkeit 
besteht ja nicht nur in der verständnisvollen Beobachtung und Über- 
wachung der Zöglinge, sondern sie sollen auch die Behandlung nach 
den ihnen gegebenen psychiatrischen und pädagogischen Direktiven 
ausführen, sie müssen also auch erzieherische Fähigkeit und Takt 
bekunden. Wenn erst ganz allgemein Erzieherschulen in Deutsch- 


14 HERBERT SCHNIZER, 


land eingerichtet sind, dann wird die Gewinnung eines geeigneten 
Personals nicht auf so erhebliche Schwierigkeiten stoßen, wie das 
noch heute der Fall ist. Wo aber eine besondere Qualifikation vor- 
handen ist, müssen auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Lage ent- 
sprechende Äquivalente geboten werden. Das Pflegepersonal muß 
von vornherein wissen, daß es sich in einer gesicherten Position 
befindet. Neben einem auskömmlichen Gehalt sind Pensionsberechti- 
gung und die Möglichkeit, einen eigenen Hausstand zu gründen, 
durchaus billige Forderungen. Von der Erfüllnng dieser Forderungen 
hängt es im wesentlichen ab, ob sich ein Stand geeigneter Pfleger 
und Erzieher auszubilden vermag. Dabei wird sich gewiß jeder 
Leiter seine Pfleger und Pflegerinnen für seine besonderen Zwecke 
und Intentionen formen und heranbilden können. Hier liegt der 
Kernpunkt der ganzen Frage; die äußeren Einrichtungen können 
noch so vollkommen und wohldurchdacht sein, sie erhalten erst ihren 
Nutzungswert, wenn das Personal in einem Geiste und mit einem 
Ziele arbeitet, wenn jedes einzelne Glied sich als mittätig und mit- 
verantwortlich an dem großen Werke der Erziehungsarbeit fühlt. 
Die maßgebenden Stellen müssen von der Bedeutung dieser Frage 
ganz durchdrungen werden und fiskalische Gesichtspunkte dürfen 
bei ihrer Behandlung keine Rolle spielen. 

Ich bin am Schluß und möchte meine Ausführungen in folgenden 

Sätzen zusammenfassen: 

1. Die Errichtung von Sonderanstalten oder Sonderabteilungen 
für schwer erziehbare Fürsorgezöglinge krankhafter Be- 
schaffenheit ist notwendig. Sie werden entweder als selb- 
ständige Anstalten oder im Anschluß an Erziehungs- oder 
Schwachsinnigenanstalten eingerichtet. 

2. Sondereinrichtungen sind nur für schulentlassene Fürsorge- 
zöglinge notwendig. 

3. Der bauliche Charakter wie die innere Organisation haben 
neben den sichernden Maßnahmen zugleich psychiatrische 
und pädagogische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. 

4. An der Leitung haben in gleichem Maße der Psychiater 
und der Theologe oder Pädagoge teil. 

5. Durch eine zweckmäßige Abstufung im Gewähren immer 
größerer Bewegungsfreiheit ist auch für Schwererziehbare 
als Endziel und Übergang in die volle Freiheit Familien- 
erziehung anzustreben. 

6. Die Disziplin der Sonderanstalt hat bei Beobachtung erziehe- 


Über Einrichtungen für schwererziehbare Fürsorgezöglinge. 15 


rischer Grundsätze doch den Charakter der Krankenanstalt 
zu wahren. 

7. Zur Gewinnung und Ausbildung eines geeigneten Erzieher- 
personals sind die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. 

8. Ohne Rücksicht auf die Kostenfrage ist hierbei auf die 
änßere Sicherstellung des Personals Bedacht zu nehmen. 


Literatur. 


BREDERECK, Die Behandlung der schwer erziehbaren Fürsorgezöglinge. 
Vortrag. Fürsorge: Erziehungstag in Rostock 1910. 

ÜRAMER, Bericht an das Landesdirektorium in Hannover über die psychia- 
trisch-neurologische Untersuchung der schulentlassenen Fürsorge- 
zöglinge. Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie 1910. 

GRUHLE, Die abnormen und unverbesserlichen Jugendlichen in der 
Fürsorgeerziehung. Zeitschr. für die gesamte Neurologie und 
Psychiatrie 1910. 

KLUGE, Über die Mitwirkung des Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung. 
Zeitschr. für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen 
Schwachsinns 1907. 

— Die Behandlung schwer erziehbarer Fürsorgezöglinge. Allgem. Fürsorge- 
Erziehungstag zu Rostock 1910. 

MAJOR, Über psychiatrische Beobachtungsstationen für Fürsorgezöglinge. 
Zeitschr. f. Psychotherapie 1909. 

Schepr, Pädagogik -— Psychiatrie — Fürsorgeerziehung. Zentralbl. f. 
Vormundschaftswesen usw. 1910. 

SEIFFERT, Wie weit ist die Mithilfe der Psychiatrie notwendig? Psychiatr.- 
neurol. Wochenschr. 1910/11. 

STRITTER, P., Ist die Gründung von besonderen Anstalten für schwach- 
begabte Fürsorgezöglinge notwendig? XI. Konferenz für das 
Idioten- und Hilfsschulwesen 1904. 

THoMA, Untersuchungen an Zwangszöglingen in Baden. Allgem. Zeitschr. 
f. Psychiatrie 1911. 





ere 


Nachdruck verboten. 


Bericht 


an das Landesdirektorium der Provinz Hannover 
über die 


Ergebnisse der psychiatrisch-neurologischen Untersuchung der schulpflichtigen Fürsorge- 
zöglinge der Provinz. 


Von 


Direktor Dr. Mönkemöller, Langenhagen. 


In Nachstehendem erstatte ich den Bericht über die im De- 
zember 1913 und im ersten Quartal 1914 vorgenommene psychiatrisch- 
neurologische Untersuchung der in Anstalten untergebrachten, schul- 
pflichtigen Fürsorgezöglinge der Provinz Hannover. 

Die Untersuchungen der schulpflichtigen Fürsorgezöglinge 
sind im allgemeinen sehr wesentlich zurückgetreten gegenüber den Er- 
hebungen über die geistige Verfassung der schulentlassenen Zöglinge. 
Soweit es sich aus der vom Königlich Preußischen Ministerium des 
Innern herausgegebenen Statistik über die Fürsorgeerziehung Minder- 
jähriger feststellen ließ, ist neben einzelnen Untersuchungen, die in 
Hessen-Nassau, Westpreußen, Brandenburg und der Rheinprovinz 
vorgenommen wurden, ohne die Gesamtheit der schulpflichtigen Zög- 
linge zu erfassen, nur in der Provinz Sachsen im Jahre 1911 eine 
Untersuchung sämtlicher schulpflichtigen Zöglinge vorgenommen 
worden. 

Daß man der Erforschung des Geisteszustandes der schulent- 
lassenen Zöglinge zunächst im allgemeinen eine größere Aufmerk- 
samkeit zuwandte, ist in der Natur der Sache begründet. Die 
Schulentlassenen, die in den Anstalten seßhaft werden — und auf 
die Anstalten werden sich wenigstens vorläufig die psychiatrischen 
Untersuchungen beschränken müssen — stellen ausnahmslos eine 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 17 


Auslese aus dem Erziehungsmateriale nach der schlechten Seite hin 
dar. Hier drängen sich die psychopathischen Elemente zusammen 
und stellen durch die Entladungen ihrer Psyche viel schwerere An- 
forderungen an die Erziehung. Zudem befähigt sie ihre geistige 
und körperliche Entwicklung in ungleich höherem Maße, sich im 
Anstaltsbetriebe unangenehmer und fühlbarer bemerkbar zu machen. 
Da immer wieder der Versuch gemacht werden muß, sie mit der 
Außenwelt in nähere Beziehung zu bringen und ihnen eine größere 
Selbständigkeit zu verleihen, mehren sich bei ihnen die Reibungs- 
flächen. So erheischt die Fortdauer ihrer sozialen Unbrauchbarkeit 
gebieterischer die Feststellung der Quellen, aus denen dieses Ver- 
sagen seinen Ursprung nimmt. Um so mehr, als sie ja in absehbarer 
Zeit in die Welt heraustreten sollen und nur eine richtige Ein- 
schätzung der psychischen Gesamtpersönlichkeit es ermöglicht, das 
spätere Schicksal in solche Bahnen zu lenken, in denen nicht von 
vornherein eine Entgleisung des notdürftig gefestigten Charakters 
zu befürchten ist. 

Bei den Schulpflichtigen, die zudem noch die Anwart- 
schaft auf eine längere Erziehungslaufbahn haben, scheint zunächst 
die Notwendigkeit einer psychiatrischen Feststellung ihres geistigen 
Besitzstandes nicht vorzuliegen. Auch wenn ihr auf krankhafter 
Grundlage erwachsener Asozialismus seine Blasen treibt, tragen die 
Ausflüsse ihrer psychopathischen Denkungsart einen derart kind- 
lichen Charakter, daß sie die Anstaltsdisziplin nicht in zu ein- 
greifender Weise gefährden. Was der Erziehung in diesem Stadium 
praktisch die größten Schwierigkeiten bereitet, ist die geistige 
Schwäche in ihren verschiedenartigsten Abarten und infolgedessen 
ein Versagen im Unterrichte. Das ist natürlich ein Manko, 
zu dessen Bekämpfung mancher Pädagoge den Psychiater nicht 
nötig zu haben glaubt. 

Und doch bleibt eine regelmäßige Untersuchung der Schul- 
pfliehtigen, wenn auch in größeren zeitlichen Abständen ein dringendes 
Erfordernis — nicht nur des Psychiaters. In dieser Zeit liegen ja 
noch die Verhältnisse am übersichtlichsten. 

Die Feststellung der Psychopathologie der Jugendlichen kann 
nie früh genug erfolgen. 

Jetzt spielen noch viele andere Verhältnisse nicht mit hinein, 
die den Überblick verdunkeln. Die Vorgeschichte ist noch am 
lückenlosesten festzustellen, da die Eltern, die an und für sich be- 
rufen sein sollten, hier den nötigen Aufschluß zu geben, in einer 


leidlich großen Zahl von Fällen erreichbar sind. 
Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VIIL 2 


18 MÖNKEMÖLLER, 


Vor allem aber muß man sich immer vor Augen halten, daß 
der Psychiater jetzt oft die einzige Gelegenheit hat, der 
Fürsorgezöglinge habhaft zu werden. Nach der Schulentlassung löst 
sich so gut wie der ganze Bestand aus der Anstaltsbehandlung los. 
Die Vertreter der ausgesprochenen Psychopathie geben ja 
in der Regel nach absehbarer Zeit wieder ihre Gastspiele in den 
Anstalten und eröffnen so dem Psychiater die Möglichkeit, ihnen 
auf den psychischen Zahn zu fühlen. Aber eine große Menge von 
ihnen hält sich trotz ihrer psychischen Minderwertigkeit in der 
Lehre, auf dem Lande oder in der Familienpflege. Gewiß bieten 
diese Minderwertigen milderer Art noch größere Aussichten, sich 
auch durch das spätere Leben durchzuschlagen, ohne in ihre frühere 
asoziale Tätigkeit zurückzuverfallen. Aber eine Gewähr dafür, 
daß die Fürsorgeerziehung nun dauernd einen Erfolg bei ihnen 
erzielt hat, darf man auch von ihnen nicht verlangen. Eine Sicherung 
der gewonnenen Resultate, eine größere Gewähr für die richtige 
Anweisung des Platzes, den sie im Leben einmal einnehmen sollen, 
und eine sichere Verhütung der Schädigungen, die ihnen später 
einmal durch ihre geistigen Mängel erwachsen könnten, erreicht 
man eben dadurch, daß die Eigenart ihrer Psyche festgelegt 
wird. 

Und da auch in ihrer Schullaufbahn die Kenntnis ihrer 
geistigen Mängel dem Pädagogen die Behandlung erleichtert und 
dem Kranken selbst die Laufbahn bequemer macht, die für ihn und 
sein eigenartiges Wesen besonders schwer ist, so kann er vor 
manchen Prüfungen bewahrt werden. Schon allein der Gesichts- 
punkt, daß die Pubertät noch durchgemacht werden muß mit all 
den Schädigungen, die sie der minderwertigen Psyche zufügen kann, 
und angesichts der vielen Aufgaben, 'die dieser Umstand dem Er- 
zieher stellt, sollte die Bedeutung der möglichst frühzeitigen 
Untersuchung begründen. 

Die Schwierigkeiten, die nun einmal mit diesen Massen- 
untersuchungen verknüpft sind, liegen auf der Hand. Daß man 
sich gerade bei diesen kindlichen Exploranden die größte Vorsicht 
auferlegen muß, daß man hier nie auf eine möglichst ausgedehnte 
Selbstkritik verzichten darf, ist eine zu selbstverständliche Forderung, 
als daß man sie noch erst nachzuweisen brauchte. Und ebenso 
selbstverständlich ist es, daß ohne die verständnisvolle Mit- 
arbeit der Erzieher diese Arbeit, wenigstens was die Fest- 
stellung der psychopathischen Charaktere betrifft, nicht 
erfolgen Kann. 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 19 


In dieser Mitarbeit ist gegenüber der ersten Untersuchung ein 
gewaltiger Fortschritt zu verzeichnen. Zunächst ist das Mißtrauen 
gegen das Eindringen der Psychiatrie in die Pädagogik ganz in den 
Hintergrund gedrängt worden. Bei den zahlreichen Überweisungen 
die bei der Überfülle des Fürsorgeerziehungsmaterials den einzelnen 
Anstalten zufallen, ist auch die Sorge der wirtschaftlichen Schädigung 
der Anstalt durch den Verlust des an die Hilfsschulen abzugebenden 
Materials gedämpft, zumal auch die meisten Anstaltsleiter sich mit 
den Vorteilen dieser Überweisung schon so weit vertraut gemacht 
haben, daß sie oft auch ohne den wohltätigen Zwang, den eine solche 
psychiatrische Untersuchung mit sich bringt, aus eigenem Antriebe 
die Trennung von diesen Stiefkindern des Unterrichts vollzogen hatten. 

Vor allem war aber das Verständnis für die Aufgaben, die 
den Erzieher in der Beobachtung der psychopathischen Elemente 
zufallen, ganz erheblich gewachsen. Darin kam der Erfolg der 
Kurse, der Belehrungen und sicher nicht in letzter Linie die eigene 
Mitarbeit der Erzieher in dieser Materie auf das deutlichste zutage, 
die sich bei den Leitern einzelner Anstalten auf das angenehmste 
bemerkbar machte und den Untersuchungen sehr dienlich war. 

Der Modus, in dem sich die Untersuchung vollzog, ent- 
sprach im wesentlichen dem der früheren, nur daß diesmal der nach 
den damals gemachten Erfahrungen verbesserte Fragebogen 
benutzt wurde. Auf die Erhebung einer möglichst lückenlosen Vor- 
geschichte, soweit eine solche bei der Art des Materials und der 
großen Zahl der nicht zu vermeidenden Fehlerquellen zu ermöglichen 
war, wurde besonders großer Wert gelegt. Damit wurde eine Forde- 
rung erfüllt, die seit Jahren nicht nur von allen denen erhoben 
worden ist, die sich mit der Psychopathologie des kindlichen und 
jugendlichen Verbrechers beschäftigt haben — denn bei 
einer sehr großen Zahl des Untersuchungsmaterials kann dieser 
Titel mit Fug und Recht angewendet werden — sie wird auch von 
denen in den Vordergrund gestellt, die sich theoretisch und praktisch 
mit der Erforschung der Psyche des erwachsenen Asozialen 
in all den Abarten seiner unerfreulichen Tätigkeit abmühen 
müssen, zu denen ihn die krankhafte Verkehrung seines Geistes 
zwingt. Die Kenntnis der Familiengeschichte, des Vorlebens, des 
Milieus, aus dem er stammt, die für die Gestaltung des ganzen 
Lebensganges oft von der einschneidendsten Bedeutung ist und für 
die spätere Behandlung — nicht nur in der Fürsorgeerziehung — 
die wertvollsten Fingerzeige geben kann, ist später nur in seltenen 


Fällen noch in einigermaßen brauchbarer Weise zu erlangen. 
I 


20 MÖNKEMÖLLER, 


Wie es auch jetzt, wo die Kinder doch diesen ätiologischen 
Faktoren kaum entrissen sind, häufig sehr schwer wird, volle Klar- 
heit über diese Verhältnisse zu schaffen, geht ohne weiteres daraus 
hervor, daß in 88 Fällen die Eltern seit der Überweisung in die 
Fürsorgeerziehung verschollen oder doch für die Erhebungen nicht 
mehr erreichbar waren: der beste Beweis dafür, in welch zerrissenem 
Milieu die Kinder ihre erste Bildung zu schöpfen gezwungen waren. 

Es mußte auch von vornherein das prinzipielle Bedenken er- 
wogen werden, ob die Nachteile der polizeilichen Erhebungen, 
die eine Ausfüllung der Fragebogen herbeiführen sollten, in richtigem 
Verhältnisse ständen zu dem, was dadurch erreicht werden konnte. 
Es wurde dadurch dem Landesdirektorium sowohl wie den nach- 
forschenden Behörden ein ganz gewaltiges Maß von Arbeit aufge- 
bürdet. Ein weiterer Gegengrund gegen diese Erhebung ist der, 
daß diese Nachfragen, vor allem, wenn dabei das psychiatrische Ziel 
betont wurde, bei den Eltern, die ja der ganzen Fürsorgeerziehung 
so wie so nur zu oft mißtrauisch und abweisend gegenüber stehen, 
diese Abneigung nur stärken und eine unnötige Unruhe verursachen 
konnten. Dieser Nachteil wurde, soweit das anging, dadurch ver- 
mieden, daß in den Schreiben an die recherchierenden Behörden die 
Bedeutung dieser Untersuchung in das richtige Licht gesetzt und 
die möglichste Schonung der Angehörigen anempfohlen wurde. Der 
Erfolg dieser schonenden Fragestellung war der, daß nur in zwei 
Fällen die Eltern sich weigerten, die gewünschte Auskunft zu erteilen. 

Gewiß war auch immer dabei zu berücksichtigen, daß die Eltern 
sich begreiflicherweise eine vornehme Zurückhaltung über die eigene 
Leistungsunfähigkeit, ihren Asozialismus und Alkoholismus aufer- 
legten. Aber das ließ sich durch die Aussagen der Zöglinge selbst, 
der Akten, der Erzieher und der Polizeibehörden meist noch leidlich 
ausgleichen. 

Ein unleugbarer Nachteil bleibt es auch, daß diese Erhebungen 
so gut. wie ausnahmslos von den niederen Polizeiorganen gemacht 
werden müssen, die nicht immer über ein überschäumendes Takt- 
gefühl den Angehörigen gegenüber verfügen, und denen auch nicht 
immer das Verständnis für die Bedeutung ihrer Aufgabe zugemutet 
werden kann. Wie die Fragestellung des Anamnesenbogens jetzt 
gehalten ist, scheint sie aber auch von diesen Organen verstanden 
zu werden. In recht vielen Fällen legten diese sogar ein außer- 
ordentlich großes Verständnis an den Tag und erledigten ihre Auf- 
gabe mit dem größten Eifer und anerkennenswerter Genauigkeit. 

Das zu erstrebende Ziel bleibt ja immer, daß diese Erhebungen 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 21 


bei der Aufnahme eines jeden Fürsorgezöglings von vornherein ge- 
macht werden ohne Rücksicht darauf, ob jemals eine psychiatrische 
Untersuchung vorgenommen werden soll. Da diese Maßnahme vom 
Landesdirektorium bereits ins Auge gefaßt worden ist, sind wir in 
dieser wichtigen Frage einen ‘groben Schritt weiter gekommen. 
Vielleicht erfüllt sich später einmal auch noch der psychiatrische 
Traum, daß diese Erhebungen von einem sachkundigen Arzte, der 
aus praktischen Gründen in der Regel mit dem Kreisarzt identisch 
sein wird, vorgenommen werden, damit die Ausschaltung des ärzt- 
lichen Einflusses, der tatsächlich bei der Verhängung der Fürsorge- 
erziehung bis jetzt so gut wie gar nicht in Frage kommt, einiger- 
maßen wett gemacht wird. 

Tatsächlich haben diese Erhebungen in der weitaus größten 
Zahl der Fälle eine sehr erhebliche Bereicherung unserer Kenntnisse 
über die Vorgeschichte unserer Zöglinge gegenüber den Feststellungen 
in sehr vielen Fürsorgeerziehungsbeschlüssen mit sich gebracht. 
Das gilt in erster Linie für die erbliche Belastung, die Äuße- 
rungen des Asozialismus bei den Eltern und die Krank- 
heiten, die überstanden waren. 

Vor allem aber kam hier erst zutage, was die Zöglinge in ihrer 
frühesten Kindheit an schweren Schädelverletzungen durch- 
gemacht hatten, und inwieweit bei ihnen Momente zutage getreten 
waren, die für eine epileptische Veranlagung sprechen. Dies 
macht oft Vieles verständlich, was bis dahin im ganzen Wesen des 
Kindes aufgefallen war. Darauf beruht der große praktische 
Wert dieser Erhebungen für die gegenwärtige Behandlung. 
Bemerkenswert ist auch die Tatsache, daß in außerordentlich vielen 
Erhebungen festgestellt wurde, daß der Zögling schon von jeher 
als minderwertig eingeschätzt worden war, obgleich das in dem 
Fürsorgeerziehungsbeschlusse mit keinem Worte zum Ausdruck 
gelangt war. 

Die körperliche Untersuchung wurde jetzt in der Weise 
vorgenommen, daß die Zöglinge, die an einem Trage untersucht werden 
sollten, gleich hintereinander vorgenommen wurden. Dabei mußten 
immer schon die nächsten Zöglinge im Zimmer sein, um sich die 
Technik der Untersuchung anzusehen. Dadurch wurde diese wesent- 
lich erleichtert und eine große Zeitersparnis gewonnen. 

Die Beobachtungen und Urteile der Erzieher über die Zöglinge 
in der Anstalt und ihr Verhalten in der Schule war diesmal leider 
nur in einer geringen Zahl von Anstalten schon in die Fragebogen 
eingetragen worden. Dadurch erfuhr die Untersuchung naturgemäß 


22 MÖNKEMÖLLER, 


eine Verzögerung, die Unbefangenheit und Gründlichkeit dieser Fest- 
stellungen litten in gewissem Maße darunter. In mehreren Anstalten 
allerdings waren schon vorher in den Fragebogen ganz ausge- 
zeichnete Charakterisierungen niedergelegt, die auf das deutlichste 
verrieten, wie sehr sich die Erzieher mit den psychopathischen 
Seiten ihrer Schutzbefohlenen vertraut gemacht und wie gut sie 
beobachtet hatten. 

Die Intelligenzprüfung erfolgte nach dem bewährten, etwas er- 
weiterten Schema unter Berücksichtigung aller der Kautelen, die 
bei derartigen Prüfungen nun einmal nicht entbehrt werden können. 
Es muß dabei betont werden, daß bei entsprechender Abstufung 
sämtliche Fragen von 8jährigen normalen Kindern beantwortet 
werden konnten. 

Am wenigsten bewährte sich die Frage nach der Bedeutung 
von Sprichwörtern. Die meisten Zöglinge kannten überhaupt 
keine Sprichwörter, und die meisten hatten sie immer gedankenlos 
und mechanisch im Munde geführt. Da nur in wenigen Anstalten 
die Erklärung geübt worden war, standen sie von vornherein der 
Frage fremd und verständnislos gegenüber. 

Auch auf den EssinGHAus’schen Versuch mußte weit öfter als 
bei der ersten Untersuchung verzichtet werden, obgleich die Para- 
digmata viel einfacher gestaltet worden waren. 

Die gering entwickelte Fähigkeit der Schüler störte im gleichen 
Maße auch die Wiederholung der Lesestücke, obgleich auch 
diese nur sehr kurz gehalten waren. Die Geschichte vom „Brüderchen 
und Schwesterchen“ war in einer ganzen Anzahl von Anstalten 
bekannt, und trotzdem waren es nicht wenige Zöglinge, die nicht 
einmal diese einfache und ihnen bekannte Geschichte zu wiederholen 
imstande waren. 

Während bei der ersten Untersuchung fast an allen Anstalten 
die Prüflinge versucht hatten, durch Besprechung mit ihren schon 
geprüften Kameraden ihren Wissensmängeln abzuhelfen und ein 
möglichst gutes Prüfungsresultat zu erzwingen, wurde dieses Manöver 
bei der diesmaligen Untersuchung nur in ganz vereinzelten Fällen 
beobachtet. Die meisten Zöglinge standen dem ganzen Vorgang 
außerordentlich gleichgültig gegenüber. Wie durch Rückfragen an 
mehreren Anstalten festgestellt wurde, hatten nur ganz vereinzelte 
Zöglinge sich darüber eine Anschauung zu schaffen gesucht, was 
denn eigentlich der ganze Vorgang zu bedeuten habe. Und mit der 
Persönlichkeit des Untersuchers und woher er kam, hatten sich noch 
wenigere beschäftigt. Diese außerordentliche Gleichgültigkeit einem 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 23 


Ereignisse gegenüber, das doch bei der Einförmigkeit des Anstalts- 
lebens einen starken Eindruck auf ihr Gemüt hätte machen müssen, 
ist der beste Beweis für den allgemeinen geistigen Tiefstand, mit 
dem die Fürsorgeerziehung zu kämpfen hat. 

Es wurden im ganzen 816 Zöglinge an 14 verschiedenen 
Anstalten untersucht gegen 589 im Jahre 1909. 


Tabelle I. 





Zahl der untersuchten Zöglinge 











Lfd. Nr. | Name der Anstalt | Religion männlich weiblich Summa 
1 Bernwardshof kath. 72 — 72 
2 Klein Bethlehem $ — 24 24 
3 Döhren P 9 7 16 
4 | Schladen ev. 9 — 91 
D | Großefehn = 46 12 58 
6 | Himmelpforten a 40 21 61 
7 | Guntershausen a — 6 6 
8 Stephansstift > 151 — 151 
9 | Annenstift a 2 2 4 
10 | Burgwedel 5 94 — 94 
11 | Thuine kath. 24 =, | 24 
12 Marienstift Si _ 8 8 
13 _ Linerhaus ev. 42 98 140 
14 ; Hünenburg e 32 35 67 

Summa 603 213 | 816 








Die Verteilung auf die verschiedenen Anstalten war im wesent- 
lichen dieselbe; nur daß im Stephansstifte und Linerhause infolge 
des Hinzutretens der Hilfsschulen eine entsprechende Vergrößerung 
der Anstalten eingetreten war. 

Das Alter, in dem sie standen, geht aus der nachstehenden 
Tabelle hervor. 

Tabelle Il 





Alter der untersuchten Zöglinge 





3 | 2 12 93 
4 | 6 13 129 
5 | 4 14 j 172 
6 4 15 131 
7 12 16 | 53 
8 15 17 4 
9 33 18 | 4 
10 60 21 1 

11 | 93 | 
Summa | 816 


24 MÖNKEMÖLLER, 


Die Hauptmenge drängt sich auf die letzten Schuljahre 
zusammen. Die leistungsfähigeren Elemente, die ja gleichzeitig in 
der Regel die sozialeren und leichter zu behandelnden sind, lassen 
sich eben in der Familienpflege halten. Das Anstaltsmaterial aus 
diesen Jahren stellt einen Extrakt der minder leistungsfähigen Ver- 
treter der Psychopathie dar. Die vereinzelten älteren Zöglinge, die 
zur Untersuchung gelangten, absolvierten meist nur ein vorüber- 
gehendes Gastspiel an ihrer Mutteranstalt, nachdem sie draußen 
vorübergehend Schiftbruch erlitten hatten, nicht selten auf der 
Grundlage ihrer geistigen Unzulänglichkeit. 

Die Heimat, oder genauer gesagt, der letzte Wohnort, der ja 
für die Gestaltung der Verwahrlosung am meisten in Betracht 
kommt, ist in der folgenden Tabelle niedergelegt. 


Tabelle III. 





Heimat der untersuchten Zöglinge. 


Land 331 | Celle 13 


Kleinere Städte 92 | Wilhelmsburg 11 
Hannover (Stadt) 118 | Goslar 9 
Linden 57 | Hameln 7 
Hildesheim 43 | Peine 5 
Harburg 37 | Einbeck 4 
Osnabrück | 28 | Emden | 4 
Lehe, Bremerhaven, Geestemünde 20 | Stade | 83 
Lüneburg 16 | Landstraße 4 
Göttingen 14 | 


Summa | 816 


Gegenüber der letzten Untersuchung ist hier insofern ein ge- 
wisser Unterschied wahrzunehmen, als das Land diesmal entschieden 
stärker vertreten ist. Bei genauer Betrachtung ergibt sich aller- 
dings, daß das ländliche Fürsorgeerziehungsmaterial aus Orten 
stammt, in denen sich die Industrie entwickelt hat. Die Folgen, 
die daraus für die sittliche Entwicklung der Nachkommenschaft 
entstehen können, liegen auf der Hand. Sonst kommen diese 
Unterschiede nur insofern in Betracht, als die weniger leistungs- 
fähigen Elemente in den überfüllten Klassen der Dorfschule schwerer 
zu ihrem gebührenden Rechte kommen können. 

Der verhältnismäßig große Anteil, den Harburg früher stellte, 
hat sich dadurch etwas verringert, daß man dort bei der Überfülle 
des Materials eine eigene Erziehungsstation eingerichtet hat, die 
das Material sichtet. Was aus dieser Stadt jetzt noch der Fürsorge- 
erziehung zuströmt, vereinigt denn auch in der Regel in intellektueller 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 25 


und ethischer Beziehung alle Eigenschaften, die die Verhängung der 
Fürsorgeerziehung als eine unabweisbare Notwendigkeit erscheinen 
lassen. 

Die Berufsstatistik der Eltern weist keine Besonderheiten auf: 


Tabelle IV. 








Beruf der Eltern 











Ländliche Berufe 209 Wanderberufe 46 
Arbeiter 454 Armenhäusler, Rentenempfänger, 

Handwerker 22 Invaliden : 
Bessere Berufe 9 Sonstige Berufe | 33 








Summe | 816 


Daß die ländlichen Berufe verhältnismäßig stärker vertreten 
sind, ist zum Teil dadurch zu erklären, daß auch hier der Einfluß 
der Industrie sich geltend macht. Die „besseren“ Berufe, bei denen 
also die Nachkommen der an Bildung und Besitz besser gestellten 
Eltern in der Fürsorgeerziehung verschlagen werden, erlauben meist 
auch einen Rückblick darauf, daß diese Eltern in gewisser Ver- 
bindung mit der Degeneration stehen. 

Die erbliche Belastung kam bei dieser Untersuchung deut- 
licher zum Ausdruck wie bei der letzten. 


Tabelle V. 


Erbliche Belastung 





| 
Beide Eltern vorbestraft 60 


| 

Geisteskrankheit | 46 
Geistesschwäche 57 | Prostituierte 175 
Nervenkrankheiten 34 | Zuhälter 14 
Epilepsie 23 | Zwangszöglinge (Eltern) 13 
Selbstmord 29 | Fürsorgezöglinge (Geschwister) 159 
Lungenschwindsucht 90 | Eigentümliche Charaktere 119 
Hereditäre Belastung bei beiden Korrigenden 5 

Eltern 220 | Armenhäusler 38 
Trunksucht 511 | Rentenempfänger 44 
Trunksucht bei beiden Eltern | 47 | Blutsverwandtschaft 33 
Taubstummheit | 4| Besondere Talente 5 
Vorbestraft | 260 


Unter den schädigenden Momenten, die auf die Gestaltung der 
Psyche der Nachkommen einen entscheidenden Einfluß haben, steht 
wieder an erster Stelle die Trunksucht. Zwei Drittel der ge- 
samten Erzeuger sind dem Alkoholismus verfallen, — wozu noch die 
unbekannten Väter der unehelichen Kinder einen tüchtigen Zuschub 
beigesteuert haben werden. Zu der derart übertragenen Keimver- 


26 MÖNKEMÖLLER, 


schlechterung gesellt sich noch die unheilvolle Macht des Milieus 
der Trinkerehen und dieser verderbliche Einfluß wird von den vielen 
dem. Alkoholmißbrauch ergebenen Stiefkindern für den Fall nach- 
geholt, daß die Kinder ohne direkte Schädigung ausgegangen sein 
sollten. Die Kinder selbst waren darüber wohl orientiert: auf die 
Frage nach der Trunksucht erfolgte meistens ein ganz bestimmtes 
„Ja“, das so gut wie ausnahmslos seine Bestätigung durch die polizei- 
lichen Nachforschungen erhielt. In sehr zutreffende Form kleidete 
ein 13jähriger Knabe diesen Zusammenhang mit dem verbissenen 
Worte: „Wir haben nichts ausgefressen, aber unsere Eltern saufen!“ 

Unter die Prostituierten sind nicht nur die gewerbsmäßigen 
Dirnen gerechnet, sondern auch die Weiber, die dauernd dem außer- 
ehelichen, geschlechtlichen Verkehr huldigen und meist durch eine 
Reihe von unehelichen Geburten ihre soziale Minderwertigkeit, ihre 
abnorme, gesteigerte geschlechtliche Reizbarkeit und ihre Unfähig- 
keit zu einer planmäßigen Erziehung an den Tag gelegt haben. Sie 
stehen auf derselben:Stufe wie die Zuhälter, die Korrigenden und 
Armenhäusler, die in gleichem Maße sozial, hereditär und erzieherisch 
versagen wie die „eigentümlichen Charaktere“, denen in den Be- 
richten der Polizei oft eine treffende Kennzeichnung zuteil wurde, 
die die Eigenart ihrer psychischen Unzulänglichkeit knapp, aber 
treffend in das richtige Licht stellte. 

Eine recht bemerkenswerte Stellung, was die Schaffung un- 
günstiger Einflüsse für die Nachkommenschaft anbetrifft, nehmen 
auch die Rentenempfänger ein. Wie sie oft durch einen langen 
passiven Widerstand gegen die Wiederaufnahme der Arbeit das 
Unvermögen erwiesen haben, sich aus eigener Kraft zu erhalten, so 
wirkt diese bewußte oder unbewußte Vernachlässigung des eigenen 
Arbeitsvermögens, das chronische Drohnentum als schlechtes Beispiel 
auf die Nachkommenschaft. 


Tabelle YVI. 


Ungünstiges Milieu im Elternhause 


Uneheliche Geburt 182 Die Eltern arbeiten außer dem 


i » , doch später Hause 316 
legitimiert 38 | Vater oder Mutter leben im Kon- 
Die Eltern sind tot (einer oder beide) | 130 kubinat 84 

Se n» leben getrennt 97 | Die Eltern führen ein Wander- 

D „ sind geschieden 34 leben 52 
Der Vater ist verschollen 72 | Die Eltern halten zum Betteln an | 148 
Die Eltern sind sehr arm 232 = » halten zum Stehlen an 40 

e » sind kränklich 56 | Stiefeltern 130 


Die Stiefeltern trinken 21 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 27 


Die unheilvollen Einflüsse, die in der Persönlichkeit der 
Eltern ihre Wurzel haben, gingen in der Regel eine gleich gefahr- 
drohende Verbindung mit den übrigen Faktoren der ganzen Umwelt 
ein, die diese minderwertigen Eltern sich selbst geschaffen hatten, oder 
dem sie und ihre beeinträchtigten Nachkommen doch leichter verfielen. 

Bei den Erhebungen über die ungünstigen Einflüsse, die 
auf den Zögling sonst noch eingewirkt haben, kommen wieder am 
meisten die Widersprüche zwischen den Aussagen der Zöglinge selbst 
oder der Akten mit denen der Eltern zutage, die nur zu gern über 
die schweren Fehler, die sie sich in der Erziehung hatten zuschulden 
kommen lassen, sich selbst zu absolvieren versuchten. 


Tabelle VII. 





Ursächliche Faktoren 





Schwere Geburt 130 | Selbst Alkohol sich verschafft | 38 
Mißhandlungen 268 | Onanie 44 
Unfälle | 124 | Eintritt der Periode 12 
Alkoholgenuß (Bier) 338 | Schulversäumnis 473 

132 | Schulwechsel | 62 


Ze (Schnaps) | 
S (Braunbier) ' 47 | Arbeit außerhalb Haus | 210 


i (Wein) | 8 | Besuch der Kinos 339 
Betrunken gewesen 36 5 sonstiger Schaustellungen 
Wirtshausbesuch ‚174 | (Zirkus usw.) 





Vor allem wurde die Zahl der Mißhandlungen von poli- 
zeilicher Seite in ganz anderem Maße verbürgt als bei der ersten 
Untersuchung, wobei in einer — allerdings nicht zu großen — Anzahl 
von Fällen auf die in bester Absicht erteilten Züchtigungen besorgter 
Eltern mit gerechnet werden muß, die schließlich doch nur dazu 
angetan sind, das Kind dem Elternhause zu entfremden und psychisch 
ungünstig zu beeinflussen. 

In der Regel fiel der Vermerk über die Mißhandlung zusammen 
mit der Angabe der alkoholischen Tätigkeit der Eltern. 

Bei den Zahlen über den Alkoholgenuß muß man sich immer 
wieder vor Augen halten, daß es sich um Kinder unter 14 Jahren 
handelt. Auch wenn in der Regel nur geringe Mengen in Frage 
kommen und die Alkoholaufnahme nur bei vereinzelten Gelegenheiten 
erfolgte, so muß man sich doch daran erinnern, daß hiermit immer 
die Anregung zum Alkoholgenuß gegeben wird, der für die Mehr- 
zahl dieser schwächer veranlagten Kinder, vor allem auch für die 
Nachkommen der Trinker besonders gefährlich ist. Die große Zahl 
der Kinder, die das Wirtshaus besucht hatten, die Tatsache, 


28 MÖNKEMÖLLER, 


daß 36 von ihnen schon betrunken gewesen waren und daß 38 
sich schon selbst Alkohol gekauft hatten, spricht ganze Bände. 

Es waren hier wieder alle Formen der Alkoholaufnahme ver- 
treten, die sich in der Kindheit ihre Opfer erwählen. Gewöhnlich 
bekamen die Kinder Bier, wenn sie mit ins Wirtshaus genommen 
wurden. Die Brücke zum Schnapsgenuß wurde meist dadurch 
geschlagen, daß die Kinder für den Vater Schnaps holen mußten 
und auf dem Nachhausewege aus der Flasche tranken. Mehrere 
Male waren sie von dem betrunkenen Vater gezwungen worden, 
gleichfalls Schnaps zu trinken. Zweimal waren Kinder in ein Wirts- 
haus eingebrochen, um Schnaps zu stehlen. Dreimal hatten solche 
gestohlenes Geld dazu benutzt, um sich Alkoholika zu erstehen. 
Ein Knabe half nur zu dem Zwecke in einem Sommerrestaurant 
mit, um nachher alle stehengebliebenen Reste austrinken zu können. 
Ein Knabe nahm, wenn er vom Weandertrieb befallen wurde, die 
Schnapsflasche seines Stiefvaters regelmäßig mit. In einem Haus- 
halte hatte die Mutter mehrere Male die Suppe mit Schnaps an- 
gesetzt. Bei einer, allerdings kleinen, Zahl war die Neigung zur 
Aufnahme gegorener Getränke schon so ausgeprägt, daß man mit 
größter Wahrscheinlichkeit voraussagen konnte, daß sie in späterer 
Zeit sich dem regelrechten Alkoholismus ergeben würden, sobald sie 
einmal selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen würden. 

Zahlenmäßig sehr hervortretend ist diesmal auch die Arbeit 
außer dem Hause, die ja vor allem in der Großstadt häufig ohne 
weiteres die Kinder dem Elternhause entfremdet, sie den Verführungen 
des öffentlichen Lebens aussetzt, ihnen eine Fülle von Gelegenheiten 
erschließt zu straucheln, ihnen eine unzeitgemäße Selbständigkeit 
verleiht, das Selbstgefühl unnötig hebt und ihnen die freie Ver- 
fügung über Geldmittel möglich macht, von denen sie doch nur 
einen unnötigen Gebrauch machen. Wie der Straßenhandel und 
das Laufburschentum gelegentlich direkt den Weg zum 
Asozialismus eröffnen, wird durch eine Reihe von Beispielen sehr 
drastisch bewiesen. 

Auf gleicher Stufe steht der Besuch der Kinematographen- 
theater, die selbst den jugendlichen Bewohnern der Heide und 
des Moores in ihren minderwertigsten Vertretern die Gelegenheit 
gegeben hatten, ihre Phantasie durch Indianergeschichten, blut- 
rünstige Schauerdramen und Verbrechertragödien zu zerrütten und 
die vielleicht bis dahin schlummernden Verbrechertriebe anzustacheln. 
Erkundigte man sich, was den Zöglingen von dem Besuche in solchen 
Theatern in der Erinnerung haften geblieben war, dann handelte 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 29 


es sich so gut wie ausschließlich um solche Aufführungen, die ihren 
späteren asozialen Leistungen offenbar als Vorbild gedient hatten. 
Mehrere Male hatten die Knaben in derartigen Theatern gearbeitet, 
um so eine bequemere Gelegenheit zu haben, ihrer Gier nach solchen 
Schaustellungen zu genügen. Zwei Zöglinge hatten mehrere Male 
Geld gestohlen, um das Eintrittsgeld in diese Brutstätten einer ver- 
zerrten Phantasie zu erschwingen. Ebenso häufig berichteten sie über 
die seltsamen Erlebnisse der bekannten Heroen Naucke und Lehmann, 
deren groteske Auffassung des menschlichen Lebens in den kindlichen 
Gemütern den Sinn für die nüchterne Wirklichkeit getrübt hatte. 

Unter den Unfällen sind nur die Verletzungen gebucht 
worden, die erheblicher Natur waren, auf die die Angehörigen 
großes Gewicht gelegt hatten, zu denen ein Arzt zugezogen worden 
war, oder bei denen größere Narben und sonstige nervöse Reiz- 
symptome den Schluß erlaubten, daß tatsächlich eine stärkere 
Schädigung des Zentralnervensystems vorgelegen haben konnte. In 
den meisten Fällen erlaubt die Elastizität des kindlichen Organis- 
mus einen völligen Ausgleich der gesetzten Störung. In einzelnen 
Fällen aber konnte ein recht wesentliches Mitwirken des Unfalls 
in der krankhaften Umformung des Geistes nicht von der Hand 
gewiesen werden. 

Tabelle VII. 





Körperliche Krankheiten 





Allgemeine Körperschwäche 22 | Nierenentzündung 2 
Blutarmut 19 | Mittelohrkatarrh 12 
Englische Krankheit 149 | Chirurgische Krankheiten 18 
Spät Laufen gelernt 166 | Magenleiden 12 

„ Sprechen , 228 | Akuter Gelenkrheumatismus 4 
Skrophulose 51 | Influenza 9 
Knochentuberkulose 3 | Typhus 5 
Knochenhautentzündung 4 | Kopfrose 2 
Gelenkleiden 12 | Mandelentzündung 30 
Angeborene Syphilis 3 | Nesselfieber 12 
Krätze 42 | Masern 201 
Brechdurchfall 3 | Scharlach 45 
Magengeschwür 1 | Frieseln 24 
Chronischer Magen-Darmkatarrh 7 | Windpocken 15 
Mastdarmvorfall 1 Keuchhusten 20 
Gelbsucht 1 | Diphtherie 51 
Ruhr 3 | Mùmps 12 
Blinddarmentzündung 3 | Gehirnentzündung 5 
Mundfäule 4 | Wasserkopf 3 
Rippenfellentzündung 5 | Zerebrale Kinderlähmung 3 
Lungenentzündung 38 | Spinale ý 2 
Lungenschwindsucht 22 | Chorea 2 
Brustfelleiterung 2 | Diabetes 1 
Herzerkrankungen | 7| Trophische Störungen 8 





30 MÖNKEMÖLLER, 


Unter den körperlichen Krankheiten, denen ja in der 
Regel nur ein schwächender Einfluß auf die allgemeine Widerstands- 
kraft zuerkannt werden kann und die somit nur als unterstützende 
Faktoren in der ungünstigen Beeinflussung der psychischen und 
sozialen Entwicklung angesehen werden dürfen, sind gerade die 
bedeutsamsten — die Skrophulose, die englische Krank- 
heit, die allgemeine Körperschwäche, die Blutarmut — 
ganz entschieden zu kurz gekommen. Diese Proletarierkrankheiten 
entziehen sich wie so viele chronisch verlaufende Leiden ganz der 
Beobachtungsgabe der Eltern, die sich mit diesen Krankheits- 
zuständen wie mit etwas Selbstverständlichem abfinden. So beweist 
die große Zahl der Kinder, die spät — nach Vollendung des zweiten 
Lebensjahres — laufen und sprechen gelernt haben, daß die eng- 
lische Krankheit bei unseren Zöglingen in ganz anderer Weise 
vertreten ist, als es der Angabe der Anamnese entspricht, wie auch 
der körperliche Befund jetzt noch nachträglich diese Feststellung 
erlaubt. 

Große Lücken müssen auch bei der Erhebung der nervösen 
und psychischen Krankheitssymptome mit in den Kauf 
genommen werden. 


Tabelle IX. 


Nervöse und psychische Abnormitäten 








Krämpfe 144 | Wandertrieb | 8 
Kopfschmerzen 527 | Schlecht veranlagt 302 
Schwindelanfälle 330 | Moralisch sehr schlecht 51 
Ohnmachten 74 Nervös 42 
Absencen | 19 Reizbarkeit 43 
Dämmerzustände 12 Stimmungswechsel 15 
Verwirrtheitszustände 3 | Scheues Wesen 43 
Sinnestäuschungen 3 | Verschlossenes Wesen 113 
Bettnässen 378 | Depressionen 5 
Einschmutzen 24 | Selbstmordversuch 2 
Zähneknirschen 21 | Resistenz gegen Hitze 5 
Aufschrecken aus dem Schlafe 129 | Einspänner 3 
Nachtwandeln 44 | Hilfsschule besucht 46 
Sprechen im Schlafe 126 | Einseitige Begabung 5 
Phantasieren 35 


Für die Minderwertigkeit unseres Materials ist es ganz 
außerordentlich bezeichnend, daß ungefähr die Hälfte früher Bett- 
nässer gewesen ist. Auch die Zahl der Kinder, die schon viel an 
Kopfschmerzen oder Schwindelanfällen gelitten hatten, ist recht be- 
trächtlich. Unter den Krämpfen sind hier auch wieder die Zahn- 
krämpfe mitgezählt worden, die ja im allgemeinen eine leichtere 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 


31 


Form der gesteigerten Erregbarkeit des Zentralnervensystems ver- 


körpern. 


‚Wie diese äußeren Faktoren in ihrer Zusammenarbeit auf die 
kindliche Psyche eingewirkt hatten, spricht sich in der krimi- 
nellen Vorgeschichte aus. 


Tab 


elle X. 


Kriminelle Vorgeschichte 











Frühe Neigung zu Gewalttaten Entjungfert waren | 31 
zeigten 77 | Ein Incest war vollzogen an | 5 
Frühzeitige Neigung zum Umher- Eine geschlechtliche Ansteckung 
treiben zeigten 397 erfolgte bei 3 
Frühzeitige Neigung zum Lügen Konflikte mit den Strafgesetzen 
zeigten | 342 waren erfolgt bei 648 
Frühzeitige Neigung zum Phanta- Zu einer gerichtlichen Verur- | 
sieren zeigten 7 teilung kam es bei 122 
Frühzeitige Neigung zum Stehlen Zu Gefängnis wurden verurteilt | 104 
zeigten 361 | Strafaussetzung erfolgte bei ‚104 
Frühzeitige Neigung zur sexuellen Einen Verweis erhielten | 28 
Betätigung zeigten 51 | Eine aktive kriminelle Beein- 
Frühzeitige Neigung zur Tier- flussung von Altersgenossen 
quälerei zeigten 12 hatten ausgeübt 62 


Auch wenn hierfür die Erhebungen ein betrübend weitergehendes 
Material liefern als für die bisher beigebrachten Momente, entbehren 
auch sie der Vollständigkeit. Auf die Aussagen der Kinder selbst 
mußte hier natürlich ganz verzichtet werden. Die Eltern, die zum 
Teil über die kriminelle Tätigkeit ihrer Sprößlinge nicht ganz 
orientiert sein mochten, wurden außerdem im dunklen Gefühle der 
eigenen Schuld an diesen Entgleisungen und im Oppositionsgefühle 
gegen die gerichtlichen Institutionen bewogen, den Mantel der Liebe 
über diese Verfehlungen zu decken, sie entweder einfach ganz ab- 
zuleugnen oder ihre Kinder als die unschuldigen Opfer fremder 
Verführung hinzustellen zu suchen. Das Studium der Akten und 
die Personalkenntnis der Polizeiorgane füllt diese Listen in recht 
weitgehendem Maße aus. Aber auf Vollständigkeit vermag das 
Strafregister auch so nicht Anspruch zu machen. 

Die meisten Delikte werden überhaupt gar nicht bekannt. So 
muß vor allem dem kindlichen Diebstahl ein noch größeres 
Gebiet eingeräumt werden, als er es schon hat. 

Man muß ja bedenken, daß diese Delikte des Kindes in einem 
milderen Lichte betrachtet werden müssen, als wenn es sich um 
die Straftaten Erwachsener handelt. Der Strafbarkeit der Hand- 
lungen sind sie sich sehr häufig nicht in vollem Maße bewußt. 


32 MÖNKEMÖLLER, 


Leichter unterliegen sie den Verführungen willenskräftigerer Ge- 
nossen. Der suggestive Einfluß des elterlichen Hauses, in dem die 
Gesetzesübertretungen gewohnheitsmäßig ausgeübt werden, drängt 
sie mechanisch in die Arme der Kriminalität. Und an das Ver- 
brechen des Kindes muß von vornherein der Maßstab angelegt 
werden, der durch die geistige und körperlich geringere Leistungs- 
fähigkeit des Täters bedingt wird. 

Aber auch wenn man sich bewußt bleibt, daß die Aussichten 
für die Besserung des Kindes durchaus nicht immer abhängig sind 
von dem Umstande, daß es einmal kriminell aktiv geworden ist, 
beleuchtet die Tatsache, daß ungefähr drei Viertel unserer Zög- 
linge — wohlverstanden, von Kindern, die unter dem 14. Lebens- 
jahre stehen — mit den Strafgesetzen in Konflikt geraten 
sind, oder richtiger, daß es bekannt geworden ist, daß sie sich 
kriminell betätigt haben, in grellster Weise die sittliche Verwahr- 
losung, die in den weitesten Volkskreisen herrscht. Und die be- 
redte Sprache, die diese Zahlen führen, würde einen noch tieferen 
Eindruck machen, wenn die Feststellung gelänge, in welchem 
Alter die erste aktive kriminelle Betätigung dieser Kinder erfolgte. 
Das ist aber, wie sich wieder bei dieser Untersuchung feststellen 
ließ. auch nicht annähernd zu erzielen, so daß dieser Versuch sehr 
bald wieder aufgegeben werden mußte. Nur einzelne Stichproben 
lassen erkennen, wie früh die Verbrüderung mit den Verbrechen 
beginnt. 

Wir können die Verbrechen, die hier in Frage kommen, nur in 
der Weise zusammenstellen, daß wir alles aufzählen, was, falls eine 
strafmündige und zurechnungsfähige Person sie begangen hätte und 
ein gerichtliches Verfahren zustande gekommen wäre, nach den Be- 
stimmungen des Gesetzes hätte geahndet werden müssen. 

Die Einzeldelikte, soweit sie sich feststellen lassen, gehen 
aus Tabelle XI hervor. 


An erster Stelle steht wie gewöhnlich der Diebstahl. Auch 
wenn man gerade ihm zugute hält, daß die kindlichen Eigentums- 
vergehen eine viel größere Verbreitung haben, als man gewöhnlich 
annimmt, und daß hier der Dolus oft wenig ausgeprägt ist, darf 
auf der anderen Seite nicht vergessen werden, daß die meisten 
Kinder mehrfach und recht viele sogar sich sehr häufig der Eigentums- 
vergehen schuldig gemacht hatten. Zum Teil handelte es sich auch 
um wertvollere Objekte, und wenn man bedenkt, daß in dem Straf- 
register 48 Einbruchsdiebstähle verzeichnet sind, kann man 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 33 


nur sagen, daß die kindliche Kriminalität denn doch schon recht 
böse Etappen durchgemacht hat. 


Tabelle XI. 





Kriminelle Handlungen waren in den Akten vermerkt 





Betteln 46 | Brandstiftung 21 
Vagabondage 92 | Baumfrevel 14 
Diebstahl 93 | Friedhofsschändung 2 
Schwerer Diebstahl 4 | Sachbeschädigung 49 
Bandendiebstahl 18 | Widerstand 2 
Einbruchsdiebstahl 48 | Grober Unfug 18 
Felddiebstahl 5 | Urkundenfälschung 3 
Ladendiebstahl 4 | Fälschung von Papieren 2 
Gartendiebstahl 18 | Führung eines falschen Namens 3 
Taschendiebstahl 4 | Vorspiegelung falscher Tatsachen 4 
Mundraub 20 | Beleidigung 7 
Waldfrevel 8 | Begünstigung 2 
Wildern 2 | Notzucht 4 
Raub 13 | Päderastie 3 
Straßenraub 2 | Sexuelle Delikte an kleinen 

Betrug 33 Kindern 10 
Unterschlagung 59 | Exhibition 4 
Hehlerei 8 | Sodomie 1 
Veruntreuung 8 | Blutschande 3 
Bedrohung 2 | Hausfriedensbruch 2 
Körperverletzung 26 | Bahnfrevel 6 
Fahrlässige Tötung 1 | Tierquälerei 15 
Mordversuch 17 1 Gotteslästerung 2 








Auch sonst beweist die Vielgestaltigkeit der kindlichen Krimi- 
nalität — die sich 21mal mit der Brandstiftung befaßte, die 
die Sittlichkeitsvergehen in recht bedenklicher Mannigfaltig- 
keit zeigt, die sich bis zum Raube, zum Versuche der fahr- 
lässigen Tötung verstieg — daß sie nicht ernst genug genommen 
werden kann. 

Obgleich ein sehr großer Teil der Delinquenten sich noch nicht 
im strafwürdigen Alter befand, obgleich in der Regel sofort die 
Fürsorgeerziehung verhängt wurde — (und bezeichnend für die 
Auffassung, die noch in den weitesten Volkskreisen über die Für- 
sorgeerziehung herrscht, ist die Antwort mancher Polizeiorgane, die 
es doch eigentlich besser wissen müßten, auf die Frage, ob eine 
Bestrafung erfolgte: „wurde mit Fürsorgeerziehung bestraft“) — 
obgleich in einer Reihe von solchen Strafverfahren doch hätte an- 
genommen werden können, daß die Frage nach der Einsicht in 
die Strafbarkeit der Handlung hätte erledigt werden müssen — — 
(daß auch nurin einer einzigen Verhandlung ein psychiatrischer 

Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VIII. 3 


34 MÖNKEMÖLLER, 


Sachverständiger zugezogen worden wäre, ist aus den Akten nicht 
zu ersehen) — trotz aller dieser Momente, die Klarheit über die 
geistige Beschaffenheit des Delinquenten hätten herbeiführen können, 
ist es sehr bemerkenswert, daß es noch in 122 Fällen zu einer ge- 
richtlichen Verurteilung kam und daß in 104 Fällen eine Ge- 
fängnisstrafe verhängt wurde. Einen ausgiebigen Trost für 
diese zwecklose Verhängung von Freiheitsstrafen über unsere jüngsten 
Jugendlichen gewährt ja die erfreuliche Tatsache, daß in genau so 
vielen Fällen eine Strafaussetzung erfolgte. Unter dem ganzen 
Material befand sich diesmal auch kein einziger mehr, der schon 
einmal eine Gefängnisstrafe hätte durchkosten müssen. Was das 
für einen Fortschritt bedeutet, kann der am besten ermessen, der 
früher gerade in den Anfangsstadien der Zwangs- und auch noch 
der Fürsorgeerziehung die trostlosen Artefakte kennen lernen 
mußte, die als die Träger einer unzweckmäßigen Strafmethode dem 
sofortigen Einsetzen der Fürsorgeerziehung entzogen, oder was bei- 
nahe noch schlimmer ist, aus der begonnenen Erziehung heraus- 
gerissen worden waren. Die Bewährungszeit wird ja in den Räumen 
der Anstalt, wo ihnen eben jede Entgleisung unmöglich gemacht 
wird, automatisch tadellos überstanden. Die eingeforderten Berichte 
der Anstaltsleiter hüten sich wohlweislich, die Kinder der unzweck- 
mäßigen Strafart zugänglich zu machen. Und so bleibt nur der 
Wunsch bestehen, daß man den Kindern die ganze unnötige gericht- 
liche Verhandlung mit all ihren Gefahren für das kindliche Gemüt 
erspart. Die Jugendgerichte, die ja in ihrer ganzen Handhabung 
die schweren Nachteile einer gerichtlichen Verhandlung für das Kind 
nicht aufkommen lassen, sind meines Wissens nur in der Stadt 
Hannover eingerichtet. 

Das gleiche gilt von dem Verweis, der auch meist nur eine 
Unterbrechung der Erziehung im Gefolge gehabt hat und über dessen 
Erfolglosigkeit alle die einig sind, die diesen Ausfluß der richter- 
lichen Strafgewalt in seiner meist bureaukratisch-konventionellen 
Handhabung von den schon ganz abgebrühten Gemütern unserer 
jugendlichen Kriminellen erfolglos abprallen sehen. 

Wenn in den Auskünften vermerkt war, daß unsere Kinder 
eine aktive kriminelle Beeinflussung an Altersgenossen aus- 
geübt hatten, so handelte es sich meist um eine recht ausgeprägte 
Manifestation der geborenen Führernaturen, bei denen in der Regel 
auch im Anstaltsleben die Befähigung zum „Hauptmann“ und Rädels- 
führer gelegentlich nicht undeutlich zur praktischen Ausgestaltung 
gelangte. 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 


35 


Die körperliche Untersuchung hatte folgendes Ergebnis: 


Tabelle XII. 





Abweichungen vom Normalen im körperlichen Befunde 





Zurückgebliebene Entwicklung 54 | Unregelmäßige Zahnstellung 105 
Schlechter Ernährungszustand 92 | Stiftzähne 6 
Riesenwuchs 4 | Geriefte Zähne 69 
Hautkrankheiten 4 | Hutchinson’sche Zähne 10 
Haarkrankheiten 3 | Doppelte Zahnbildung 3 
Hereditäre Syphilis 13 | Eberzahn 7 
Rachitis 156 | Prognathie 22 
Skrophulose 144 | Progenee 3 
Geschwollene Lymphdrüsen 281 | Fehlen des Zäpfchens 1 
Nävi 12 | Caput obstipum 1 
Struma 12 | Arteriosklerose 1 
Schädelasymmetrien 167 | Herzfehler 7 
Auffällig großer Schädelumfang 34 | Lungenspitzenkatarrh 7 

vw kleiner Br 27 | Leistenbrüche 3 
Tete carree 90 | Kryptorehismus 112 
Schädelnarben 79 | Woasserbruch 1 
Einseitige Blindheit 2 | Lordose 2 
Iridektomie 1 | Fehlen einer Hand 1 
Schichtstar 2 | Schlecht geheilte Knochenbrüche 7 
Traumatischer Star 3 | Fehlen von Fingern 9 
Astigmatismus 1 | Kontrakturen 2 
Schwachsichtigkeit 53 | Steifes Knie 1 
Kurzsichtigkeit 24 | Fußgelenkentzündung 2 
Lidhautkatarrhe 32 | Verkrüppelung der Beine 2 
Schwerhörigkeit 22 Tätowierungen 5 
Mittelohrkatarrh 5 | Mehr als 3 Degenerationszeichen 241 
Behinderte Nasenatmung 38 | Trophische Störungen 15 
Zungennarben 5| Krätze 16 
Chronische Mandelschwellung 24 | Schlaffe Geschlechtsteile 35 
Rachenkatarrh 15 | Hermaphroditismus 1 
Zahnlücken 88 | Phimose 12 
Defekte Zähne 59 





Unter der zurückgebliebenen körperlichen Entwick- 


lung sind nur die hervorstechendsten Erscheinungen gebucht worden, 
während man eine allgemeinere körperliche Verkümmerung recht 
häufig festzustellen in der Lage war. Der Ernährungzustand war 
meist ausgezeichnet und erlaubt die günstigsten Rückschlüsse auf 
die Ernährungsmethoden der Anstalten. Die Vertreter des schlechten 
Ernährungszustandes waren fast ausnahmlos erst kurze Zeit 
den häuslichen Verhältnissen entrissen. Der gesegnetste Appetit, 
der unseren Imbezillen so oft als Ersatz für ihr mangelndes geistiges 
Gut verliehen worden ist und gar nicht selten ruhig das Prädikat 
„Freßsucht“ erhalten kann, verwischt in der Regel bald die Folgen 
der Unterernährung. 


Zu kurz kommt bei der körperlichen Untersuchung die Fest- 
3* 


36 MÖNKEMÖLLER, 


stellung der Rachitis, die sich sehr häufig später so verwächst, 
daß sie keine objektiven Spuren hinterläßt. Das gleiche gilt von 
der Skrophulose, die ohne Zweifel auch gerade in der gesunden, 
hygienischen Lebensführung, die ihnen in den Anstalten zuteil wird 
und bei den meist sehr guten klimatischen Verhältnissen eine aus- 
gezeichnete therapeutische Beeinflussung erfährt. Die große Zahl 
der geschwollenen Lymphdrüsen kann nicht lediglich als 
skrophulöse Erscheinung gedeutet werden. Sie stehen in einer nicht 
geringen Zahl von Fällen jedenfalls in ursächlichem Zusammenhange 
mit den zahlreichen Zahnerkrankungen, die geradezu als Proletarier- 
krankheiten aufgefaßt werden können. Die systematische, durch- 
greifende Zahnbehandlung, wie sie in fast allen Anstalten geübt 
wird, sorgt für die nötige Abhilfe. 

Unter denSchädelasymmetrien, diein überaus großer Zahl 
vertreten sind, wurden nur die ausgeprägtesten Vertreter aufgeführt, 
ebenso wie bei den exzessiv großen und kleinen Schädel- 
umfängen. Auch bei den Schädelnarben wurden nur die 
größeren und ebenso die gehäuften kleinen Narben, wie wir sie als 
letzte Zeichen der rohen Schläge ihrer alkoholistischen Väter oft 
in so überaus typischer Weise feststellen können, aufgeführt. Als 
Träger von Degenerationszeichen sind nur solche Zöglinge 
mit aufgeführt worden, die mehr als 3 aufzuweisen hatten, ohne daß 
ich geneigt bin, denselben irgendeinen größeren Wert beizulegen, 
als er ihnen nach allen unseren wissenschaftlichen und praktischen 
Erfahrungen zukommt. 

Den größten Raum unter den nervösen, von der Norm ab- 
weichenden Symptomen beanspruchen wieder das vasomotorische 
Nachröten, die Steigerung der mechanischen Muskel- 
erregbarkeit, das lebhafte Zungenzittern, die Steige- 
rung der Sehnenreflexe, das Lidflattern bei Augenfußschluß 
und die Empfindlichkeit des Trigeminus. Es handelt sich 
wohl im wesentlichen um physiologische Reizerscheinungen, die mit 
dem Wachstum und der durch die sich vollziehende Pubertät hervor- 
gerufenen Allgemeinreizung des Nervensystems in Verbindung stehen. 
Allerdings können sie bei manchen Zöglingen mit gleich gutem 
Rechte in Verbindung mit der außerordentlichen körperlichen Ab- 
spannung gebracht werden, in der sich die Zöglinge in den Anfängen 
ihres Anstaltsdaseins befinden. Auch der schlechte Ernährungszu- 
stand muß bei der Einschätzung dieser Ergebnisse mit in Rechnung 
gestellt werden. In einzelnen Fällen allerdings, in denen eine 
Summation dieser Erscheinungen und eine Kombination mit anderen 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 37 


nervösen Erscheinungen festzustellen war, mußten daraus weiter- 
gehende Schlußforderungen gezogen werden. 


Tabelle XII. 


Nervöse Erscheinungen 








Dermographie 333 | Fußklonus 23 
Gesteigerte mechanische Muskel- Gesteigerte Gefühlstätigkeit 23 

erregbarkeit 459 | Herabgesetzte e 15 
Lidspaltendifferenz 28 | Halbseitige Lähmung 1 
Lidflattern bei Augenfußschluß 179 | Abortives Sprechen 7 
Hippus 5| Explosives $„ 5 
Nystagmus 6 | Verwaschene Sprache 6 
Strabismus 57 | Lispeln 5 
Träge Lichtreaktion 1| Stammeln 2 
Starke Pupillenerweiterung 37 | Stottern 5 
Gesichtsfeldeinengung 17 | Unregelmäßige Herzaktion 9 
Pupillendifferenz 31 | Beschleunigte 5 22 
Fazialisdifferenz 42 | Vasomotorische Störungen 8 
Starrer Gesichtsausdruck 3 | Fingerzittern 5 
Trigeminusempfindlichkeit 71 | Sehnenreflexe gesteigert 27 
Ties 5 | Babinskireflex 1 
Zäpfchenschiefstand 15 | Starker Speichelfluß 1 
Fehlen des Würgreflexes 12 | Rombergsches Zeichen 2 
Zungenzittern 174 | Motorische Unruhe 8 
Zungenabweichung 23 | Schreibkrampf 1 
Ataxie 1 | Schlotteriger Gang 1 


Bei der Feststellung der psychischen Eigentümlichkeiten 
ließ sich am bestenerkennen, welche Fortschritte das Anstaltspersonalin 
der Beobachtung der geistig Abnormen gemacht hat, und wie sehr es 
die Bedeutung dieser oft erscheinend so gleichgültigen Erscheinungen 
erkannt hat, die sich aber eben durch ihre Zusammenstellung zu 
einem Ganzen verbinden, das den Begriff des Pathologischen ver- 
körpert und oft viel bedeutungsvoller ist als die Zeichen der mangel- 
haften Intelligenz. 

Was wieder im Vordergrunde steht, sind die Anomalien des 
Stimmungslebens, die sich besonders in der Zeit der beginnenden 
Pubertät in den Vordergrund drängen und hier eine grobe, praktische 
Bedeutung gewinnen. Auch die Labilität des Affektes, die 
das Zusammenleben so oft erschwert, zu den unmotiviertesten Ent- 
ladungen führt, und die Disziplinargenwalt der Anstalt in Funktion 
treten lassen muß, hatte sich jetzt dem Blicke der Erzieher eher 
als krankhaftes Symptom erschlossen und erfuhr oft eine treffende 
Charakterisierung.! 

Die Onanie scheint zahlenmäßig zurückgetreten zu sein. 
Praktisch ist die geringere Zahl nur der Ausdruck eines Wechsels 


38 MÖNKEMÖLLER, 


in der Taktik diesem so verbreiteten Anstaltsübel gegenüber, der 
vom pädagogischen und medizinischen Standpunkte aus nur warm 
begrüßt werden kann. Man wird diese sexuellen Ausschreitungen, 
wofern sie nicht übertrieben werden, nicht zu tragisch zu nehmen 
brauchen, da man sich ja damit trösten kann, daß sie doch nicht 
ganz auszurotten sind und sich von selbst mit der Zeit ausgleichen. 
Und da man immer wieder die betrübende Erfahrung macht, daß 
man die Kinder geradezu zu diesen Ausschweifungen hindrängt, 
wenn man sie bei Ermahnungen mit der Nase darauf stößt, hat 
man die Nachforschungen danach sehr eingeschränkt. Hervorzuheben 
ist, daß in einer Anstalt die gegenseitige Masturbation auf dem 
Wege der psychischen Ansteckung geradezu zur päderastischen Be- 
tätigung auszuwachsen begonnen hatte. 


Tabelle XIV. 





Psychische Eigentümlichkeiten 





Träumerisches Wesen 21 | Manirierte Sprechweise 4 
Stilles a 35 | Grimassieren | 38 
Ernstes e 6 | Dauernder passiver Widerstand 28 
Trotziges e 18 | Sammeltrieb 27 
Roheit 24 | Nächtliche Unruhe | 24 
Renitenz 8 | Sexuelle Reizbarkeit gesteigert 22 
Verschlossenes Wesen 38 | Neigung zur verschrobenen Satz- 
Verdrossenes 5 34 bildung a 
Gleichgültiges ` ,„ 52 | Neigung zu bestimmten Stellungen 9 
Eingebildetes a 12 | Läppische Angewohnheiten 23 
Gedrücktes A 5 | Zwangshandlungen 4 
Schlaffes o 15 | Sinnestäuschungen 3 
Depressive Zustände 18 | Wahnideen 3 
Unmotiviert gehobene Stimmung 3 | Eigenbeziehungen 16 
Unstetes Wesen 33 | Querulatorische Neigung 4 
Stimmungswechsel 160 | Onanieren 45 
Periodizität dabei angedeutet 3 | Sonstige starke sexuelle Betätigung | 25 
Selbstmordneigung 2 | Bettnässen 178 
Neigung zur Selbstbeschädigung 2 | Einschmutzen 5 
Stumpfheit 61 | Anstaltsdiebstähle 1 
Gleichgültigkeit 52 | Komplottierung 8 
Unaufrichtigkeit 38 | Zerstörungssucht 37 
Unaufmerksamkeit 44 | Freßsucht 15 
Unordentlichkeit 72 | Schmutzig 48 
Unsauberkeit 84 | Reizbarkeit 171 
Unselbständigkeit 62 | Erregungszustände 60 
Zerfahrenheit 22 | Rädelsführer 9 
Weinerliches Wesen 12 | Wutanfälle 4 
Gespanntheit 18 | Angriffe auf Umgebung | 6l 
Unkindlicher Ernst 5 | Simulation 5 
Verlangsamung des Denkens 22 | Weglaufen 112 
Gesteigerte Ermüdbarkeit 75 | Periodischer Wandertrieb 9 
Absencen 22 | Impulsive Handlungen 32 
Dämmerzustände 3 | Einseitige Begabung 4 
Nervöses Wesen 12 








Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 39 


Auf die Einzelsymptome der psychischen Epilepsie wird 
jetzt vor allem viel mehr geachtet. Vor allem gelangten die schnell 
vorübergehenden, leichtesten Bewußtseinsstörungen in viel größerem 
Maße zur Beobachtung. Das gleiche gilt von den psychischen Ab- 
weichungen des Schlaflebens, wenn wir auch hier nur einen geringen 
Bruchteil des tatsächlich Geleisteten feststellen werden. Es gibt 
eben in keiner Anstalt eine Wachabteilung, und wo die Brüder 
mit den Zöglingen in einer Stube zusammen schlafen, sind sie in 
der Regel durch das reichlich bemessene Arbeitspensum des Tages 
so in Anspruch genommen, daß sie sich auch durch die geräusch- 
volleren Offenbarungen des nächtlichen Trieblebens ihrer Schutz- 
befohlenen nicht aus ihrem Schlafe aufstören lassen. 

In den Fällen, die sich als „Läufer“ unbeliebt machten, ließen 
sich die Fälle nicht ganz ausscheiden, in denen die Zöglinge aus 
normalen, verständlichen und innerlich genügend motivierten Gründen 
das Weite gesucht hatten. Immerhin wird jetzt gerade dieser Form 
eine ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In einer nicht 
geringen Zahl von Fällen wurde auf das Seltsame und Triebartige 
dieser Zustände hingewiesen, indem die Zöglinge aus unverständ- 
lichen Motiven und unter Umständen, die für ihre Entweichung 
möglichst wenig günstig waren, die Anstalt verließen. In mehreren 
Fällen war dabei eine Periodizität augenscheinlich zu erkennen, die 
in Verbindung mit anderen Symptomen den epileptischen Charakter 
dieser Triebhandlung nahelegte. Wie sehr auch hierbei die Suggestion 
und die psychische Ansteckung mitwirkten, war in einer Anstalt 
sehr deutlich ausgesprochen, in der eine Zeitlang vollkommene 
Ruhe vor dieser unliebsamen Störung des Anstaltslebens geherrscht 
hatte, bis dann plötzlich ohne jeden ersichtlichen Grund eine Flut 
von Entweichungen einsetzte. 

Ein besonderes Augenmerk war jetzt von den Erziehern auf 
die Neigung zu Eigenbeziehungen und Beeinträchtigungs- 
ideen gerichtet worden, die der pädagogischen Beeinflussung und 
dem Verweilen im Anstaltsbetriebe überhaupt immer sehr hinderlich 
im Wege stehen. Nur in drei Fällen hatten sie eine derartige Aus- 
prägung erfahren, daß man von ausgesprochenen Wahnideen sprechen 
konnte, die im übrigen einen sporadischen Charakter trugen 
und an der Oberfläche haften blieben. Auch die Sinnestäuschungen 
waren ganz vereinzelt und trugen meist den Charakter der Ver- 
folgung. Sie waren bei allen auf der Grundlage einer allgemeinen 
epileptischen Anlage erwachsen. 

Die Fälle von Simulation betreffen in zweien die Vortäuschung 


40 MÖNKEMÖLLER, 


von Krampfanfällen, deren Entlarvung keine große Schwierigkeit 
machte. In einem Falle hatte ein Zögling für einen Entweichungs- 
versuch einen vollständigen Erinnerungsverlust vorzutäuschen ver- 
sucht, ohne daß man sonst den geringsten Anlaß gehabt hatte, 
irgendeine krankhafte Grundlage anzunehmen, die diese Erscheinung 
dem Verständnisse näher gebracht hätte. 

Sehr schwach ausgeprägt ist verhältnismäßig bei unseren Zög- 
lingen die Neigung zur Zusammenrottung (Komplottierung), 
die sich auch bei der Ausführung nur in den schüchternsten Grenzen 
hielt und sich meist auf gemeinsame Entweichungen beschränkte. 

Auch die Angriffe auf die Umgebung wandten sich in 
keinem Falle gegen Vorgesetzte und Lehrer, fanden manchmal aber 
auch keine Grenze an der größeren Körperkraft älterer Genossen. 


Die Intelligenzprüfung hatte folgendes Ergebnis: 
Tabelle XV. 





Intelligenzprüfung, negativ für 








Erkennen von Gegenständen 28 | Wiedergabe kleiner Erzählungen | 274 
5 „ Farben 57 deren Pointen 366 
SS „ Bildern 33 Gattungs- und Artfragen 98 
= „ Geldstücken 54 | Gleichungsfragen 198 
a der Uhr 251 | Rückläufige Assoziationen 215 
Orientierung über Zeit 122 | Ebbinghaus-Versuch 257 
Si „ Ort 44 | Masselon- | 263 
S „ eigene Person 112 | Beschreiben konkreter Gegenstände | 253 
u „ andere „ 84 | Definition = 276 
SC , weitereUmgebg. | 107 | Beschrelben abstrakter 370 
Gedächtnis für ältere Vergangenheit | 120 | Prüfung auf abstrakte Allgemein- 
Merkfähigkeit für Bilder 58 begriffe 276 
Se „ Zahlen 217 Fähigkeit, Sprichwort zu erklären | 481 
„ Aufträge 135 »  » Unterschiede klarzu- 
Wiederholung von fünf einstelligen legen 276 
Zahlen 211 | Besitz von Vorstellungen allgem. | 
Nachsprechen von Sätzen 122 Inhalts | 202 
Fingerversuch nach Rieger 116 | Urteilsfähigkeit 213 
Berufsneigung 243 


Als „ninderwertig“ wurden bezeichnet im ganzen 401 =49)/,. 
Das erscheint auf den ersten Blick als eine wesentliche Zunahme 
der Zahl der psychopathischen Zöglinge gegenüber der letzten Unter- 
suchung. Doch liegt dies nicht daran, daß ein strengerer Maßstab 
angelegt worden wäre als damals. 

In erster Linie aber hat die Zahl der schulpflichtigen 
Zöglinge seit jener Zeit gewaltig zugenommen. Da die Zahl der 
in den Anstalten unterzubringenden Zöglinge mit dieser Vermehrung 
nicht Schritt gehalten hat, war die notwendige Folge die, daß der 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 41 


Familienpflege alles zugewiesen werden mußte, was mit gutem Ge- 
wissen auf das strengere Regime der Anstalt verzichten konnte. 
Damit schieden, wie sich das von vornherein erwarten ließ, die 
normalen Elemente in größerer Zahl aus dem Anstaltsverbande aus, 
und die Minderwertigkeit in der Anstalt erfuhr eine Verdichtung, 
eine Tatsache übrigens, die von den meisten Anstaltsleitern schon 
vor dem Beginne der Untersuchungen angekündigt wurde. 

Außerdem haben die Städte Hannover und Harburg, die ja 
einen sehr großen Anteil zum Heere des Asozialismus und der 
geistigen Unzulänglichkeit stellen, wie schon erwähnt, eigene Ab- 
teilungen eingerichtet, in denen der Versuch gemacht wird, die 
Verwahrlosung zunächst auch ohne Zuhilfenahme der Fürsorge- 
erziehung durch geeignete Anstaltsbehandlung zu bessern. Was 
schließlich doch der Fürsorgeerziehung anheimfiel, stellte dann aber 
wieder einen Auszug aus der Gesamtmasse dar, der sich von der 
Normalität recht wesentlich entfernte. 

Schließlich ist die Zahl der psychopathischen Kon- 
stitutionen entschieden gewachsen. Die meisten Pädagogen 
haben eben mit der Zeit ihre Beobachtungsgabe gerade für diesen 
Zweig der geistigen Entartung geschärft. Die anamnestischen 
Angaben über diese gefährlichsten Hauptträger der Verwahrlosung 
erfolgen in ganz anderer Fülle, und recht oft wird jetzt auch schon 
von den Erziehern diese Diagnose richtig gestellt. 

Wir wissen jetzt ja auch allgemein, daß man vor diesen Zahlen 
durchaus nicht den Schrecken zu haben braucht, der bei den ersten 
Untersuchungen auf diesem Gebiete die Laien lähmte, weil er der 
Erziehung das Todesurteil zu sprechen schien. So kam es, daß man 
geneigt war, die Psychiatrie der maßlosesten Übertreibung zu zeihen 
— und das tat eigentlich damals jedermann! 

Man weiß jetzt, daß die Psychiatrie keine zügellosen Streifzüge 
in das Land der Pädagogik machen will. Und seitdem man den 
unhaltbaren Standpunkt aufgegeben hat, daß der Psychiater das 
Votum der Unerziehbarkeit fällen wolle, hat sich der Erzieher 
davon überzeugt, dab mit dem Urteil auf Minderwertigkeit durchaus 
nicht gesagt sein soll, daß aus den Vertretern der leichteren geistigen 
Schwäche nicht etwas gemacht werden könne. Auch der Psychiater 
ist der Meinung, daß die leicht Imbezillen zum Teil den normalen 
Schulgang erledigen können, wenn auch mit Ach und Weh — 
er will auch den psychiatrischen Jugendlichen ihr Plätzchen und 
Fortkommen im späteren Leben durchaus nicht unter allen Um- 
ständen verwehren und in Frage stellen —; seine Ansicht ist, daß 


42 MÖNKEMÖLLER, 


sie sogar in genügendem Maße sozial werden können, wenn man 
auch für die beiden Hauptgruppen der intellektuellen Schwäche und 
des ethischen Versagens immer die Prognose trüber stellen muß, 
und wenn sie auch die Erzieher vor ungleich schwerere Aufgaben 
stellen. 

Über die geringere geistige Leistungsfähigkeit nach 
irgendeiner Richtung hin waren die Erzieher sich alle einig, und 
besonders wo man die Eintragungen über das Verhalten in Anstalt 
und Schule schon vorher vollzogen hatte, war das auch immer in 
mehr oder weniger prägnanter Weise zum Ausdruck gekommen. 
Als einen Hauptvorteil dieser Untersuchungen erkannten es mit 
Recht fast alle Erzieher an, daß sie unwillkürlich gezwungen 
wurden, sich das psychische Bild ihrer Zöglinge möglichst scharf 
vor Augen zu stellen. So schuf die scharfe Charakterisierung Zahlen, 
die der Erzieher bei einer allgemeinen Schätzung von vornherein 
meist für unmöglich gehalten hätte. 

Für die einzelnen Anstalten verteilten sich die Minderwertigen 
nach folgender Tabelle: 


Tabelle XVI. 








Verhältnis der Normalen zu den Minderwertigen nach Anstalten und Geschlecht 





























Summe 
Normal Minderwertig |— a 
normal | minderwertig 

Anstalt = E? eu = a a a 

KE 3 sc 3 EME Ss 
=) EI %Iı3 | %I2|%|Es ER KE 52 KI 

o D = D z D Ei EH 

a E! a E g È ag È 
Bernwardshof 46 | 63 36 | 37 46 63 36 37 
Klein-Bethlehem 10 | 42 14 | 58 10 42| 14 58 
Döhren 3 |34| 2 |30 6| 6 5/7 5 31 11 69 
Schladen 40 | 44 | | 51| 56 40 44 51 56 
Großefahn 26 | 56 | 27 | 58 | 26| 4 5 | 42 33 |57 25 43 
Himmelpforten 31 |75 | 12 | 60 9| 25| 8] 40 44 |72 17 28 
Guntershausen 4 | 67 | CHEZ 4 |67 2 33 
Stephansstift 21 |14 | 130 | 86 | 21 14 | 180 86 
Amienstift 1|50| 1|50 1|50 | 1150 2 |50 2 50 
Burgwedel 63 | 67 31 | 33 63 67 31 33 
Thuine 16 | 66 | 8| 34 | 24 |66| 8 34 
Marienstift | 6| 75 | 2 | 25 6 75 | 2 25 
Linerhaus 28 | 66 | 50 | 50 | 14| 34 | 48 | 50 7 56 62 44 
Hünenburg 24 | 75 | 23 | 67 8| 25 | 12 | 33 47 70| 20 30 








Die Unterschiede, die sich in der Verteilung der Minder- 
wertigen auf die einzelnen Anstalten aussprechen, haben keine 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 43 


prinzipielle Bedeutung. Die Hilfsschulen treiben im Stephansstift 
und Linerhaus die Zahlen für die Minderwertigen beträchtlich 
herauf. Da im übrigen die Verteilung nicht nach bestimmten Grund- 
sätzen vorgenommen wird, spielt der Zufall bei der Zumessung des 
psychopathischen Materials an die einzelnen Anstalten die Haupt- 
rolle, dessen Walten sich natürlich vor allem bei den kleinen An- 
stalten in einschneidender Weise bemerkbar macht. In Schladen 
ist die hohe Zahl dadurch zu erklären, daß die Zöglinge aus dem 
dortigen Aufnahmebezirke verhältnismäßig spät und meist in einem 
Zustande vorgeschrittenster Verwahrlosung eintreffen und daß sie 
auch immer einen starken Anteil an der Minderwertigkeit stellen. 
Das deckt sich wieder mit der alten Tatsache, daß die schwersten 
Objekte der Verwahrlosung inder Regel auf dem Boden 
der geistigen Minderwertigkeit gedeihen. 

Eine weitere Quelle dieser Unterschiede entspringt daraus, daß 
den Anstaltsleitern in verschiedenem Maße die Erkenntnis für die 
Minderwertigkeit ihrer Zöglinge verliehen ist. Wo sie die Selbst- 
überwindung hatten, alle die Momente herauszuschälen, die sich 
zum Gesamtbilde der psychopathischen Konstitution verdichten, da 
stieg natürlich auch die Zahl der Psychopathen in entsprechendem 
Maße. 

Die Mädchen stellen wieder ein etwas größeres Kontingent zur 
Minderwertigkeit, da sie noch in einem höheren Prozentsatze der 
Familienpflege überantwortet zu werden pflegen. 


Tabelle XVII. 


Minder- Minderwertige 


Alter wertige | Mädchen Alter = = 
Knaben | | Knaben Mädchen 
3 — 1 11 | 28 9 
4 1 — 12 | 38 7 
5 3 2 18: | 52 10 
6 1 2 14 | 56 18 
7 3 2 15 | 46 15 
8 5 1 16 | 18 3 
9 15 6 17 | 4 1 
10 26 8 18 1 | 1 
kr age," Dr ep 1 


Summe: 384. Minderwertige Knaben 297, Mädchen 87. 


Daß die Minderwertigen in den Jahresabschnitten der Kon- 
firmation am stärksten vertreten sind, erklärt sich zunächst daraus, 
daß die Zöglinge in diesem Alter überhaupt verhältnismäßig am 


44 MÖNKEMÖLLER, 


meisten der Fürsorgeerziehung zugeführt werden und die normalen 
Elemente von den Anstalten vorher schon im wesentlichen an die 
Familienpflege abgegeben worden sind. 

Daß die als „normal“ geführten Zöglinge das Ideal von Intelli- 
genz, Ethik und Moral verkörpern, ist durchaus nicht immer gesagt. 
Die zahlreichen Elemente, die auf der Grenze stehen und denen 
man mit gleich guter Berechtigung auf jeder Seite der Grenzlinie 
zwischen Normal und Minderwertig ihren Platz anweisen konnte, 
habe ich ausnahmslos als normal bezeichnet. 86 konnte man — 
stets im Einverständnis mit den Erziehern — als an der unteren 
Grenze der Normalität stehend bezeichnen. 12 Normale ließen sich 
mit gleich gutem Rechte als leichtere Formen einer psychopathischen 
Konstitution bezeichnen. 

Allerdings glaube ich, daß sich nach der jetzt sich immer mehr 
praktisch bewährenden Beobachtungsgabe der Erzieher die Zahl 
der Normalen verringert hat, bei denen man trotz ihres jetzt dem 
oberflächlichen Beobachter normal erscheinenden Verhaltens den 
Verfall zur Psychopathie in der Zukunft befürchten muß: bei den 
ethisch schlechten Elementen, den unselbständigen Naturen, den 
Opfern der Pubertät, den larvierten Epileptikern. 

Eine Kategorie weiterhin, von der bei der ersten Untersuchung 
die Erzieher noch einen allzu reichlichen Gebrauch gemacht hatten 
— die künstlich gehemmte Entwicklung — hat jetzt eine 
ganz gewaltige Einengung erfahren. Nur ganz vereinzelte Zöglinge, 
denen man damals noch diese Entschuldigung für ihr geistiges Ver- 
sagen gönnen konnte, haben eine Entwicklung durchgemacht, die sie 
auf den normalen seelischen Durchschnitt brachte. Bei den meisten 
war eine handliche Imbezillität übrig geblieben, die natürlich durch 
die frühere Verwahrlosung eine gewaltige Zuspitzung erfahren hatte. 
Und so konnte man jetzt bei der überwiegenden Mehrzahl der Fälle 
von vornherein dem Kinde seinen richtigen Namen geben: so gut 
wie alle Erzieher hatten sich von diesem Selbstbetruge befreit. 

Die Minderwertigen wurden auch unter folgenden Diagnosen 
untergebracht. Siehe nachstehende Tabelle. 

Obgleich bei dem erweiterten anamnestischen Materiale und 
der gesteigerten Charakterisierungsfähigkeit des Erzieherpersonals 
diese Aufgabe wesentlich erleichtert wurde, muß immer wieder betont 
werden, daß man diese Klassifizierung nur als einsummarisches 
Verfahren bewerten darf, und daß es ganz selbstverständlich ist, 
daß bei einer längeren Beobachtung eine schärfere klinische Charak- 
terisierung möglich gewesen wäre. 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 45 


Tabelle XVIII. 





Klinische Diagnose 





Debilität | 40 | Demenz nach Gehirnhautentzündung | 1 
Imbezillität 216 Typhus |1 
Imbezillitäts-Idiotie | 6 Pubertätsverschlechterung 6 
Idiotie | 1 | Pseudologia phantastica (A 
Mongolismus 1 | Morbus Basedowii 2 
Psychopathische Konstitutionen 59 | Menstruelles Irresein 1 
Moralische Idiotie 5 | Halluzinatorisches Irresein 1 
Imbezillität und moralische Tdiotie | | 16 | Dementia präcox 1 
Epilepsie | 17 5 paranoides 1 
Hysterie 4 | Periodische Stimmungsanomalien 2 
Traumatische Diathese 4 | Paranoischer Charakter 3 
Hypochondrie 1 | Degenerationspsychose 2 
Alkoholismus 2 | Schwere Nervosität 2 
Demenz nach zerebraler Kinder- | | 
lähmung I, A 





Der angeborene Schwachsinn durchlief die ganze Strecke 
bis zu den ausgesprochenen Formen der Idiotie, bis zu einem 
Knaben, der bei der Aufnahme in die Anstalt in seinem Sprach- 
schatze das einzige „Tip-Top“ führte, mit dem er sich zunächst durch 
das Anstaltsleben durchzuschlagen wußte, und einem anderen, der 
seinem Gourmandismus in der Art frönte, daß er seine Nahrung mit 
Vorliebe aus den Resten der Abfallhaufen zu vervollständigen suchte. 

Nur bei einem Knaben bestanden typische epileptische 
Anfälle Er wurde einer Epileptikeranstalt überwiesen. Was 
sonst als der Ausfluß der psychischen Epilepsie angesehen wurde, 
waren ausnahmslos nur ganz ausgeprägte Vertreter dieser Krankheits- 
gattung mit all ihren störenden Einzelsymptomen. Sonst aber spielt 
die Epilepsie ohne jede Fragenochrecht häufig in die Lebensäußerungen 
vieler Imbezillen in schattenhaften Andeutungen hinein und verleiht 
ihren kriminellen Äußerungen den impulsiven Anstrich, der so gerne 
die Kriminalität im Gefolge hat. Bei einer großen Anzahl waren 
in den ersten Kinderjahren lange Zeit klassische Anfälle aufgetreten. 
Deren Kenntnis ist um so notwendiger, als nach der Pubertät die 
anscheinend erloschene epileptische Krankheitsanlage so oft wieder 
zur neuen Ausgestaltung kommt, auch wenn man sich damit tröstet, 
daß die Krankheit zurzeit ganz erledigt sein kann. Bei manchen 
legt ein periodenmäßig auftretender Wechsel im Verhalten und vor 
allem auch in der Leistungsfähigkeit in der Schule den Verdacht 
nahe, daß eine epileptische Grundlage im Spiele sei. 

Das gilt auch von der hysterisch-psychopathischen Kon- 
stitution, die wie die Kinderhysterien überhaupt, oft gar nicht deutlich 


46 MÖNKEMÖLLER, 


ausgeprägt ist, und dann nach dem Eintritt der Pubertät die 
späteren Phasen der Fürsorgeerziehung in unannehmbarer Weise 
zu stören. 

Was die psychopathischen Konstitutionen überhaupt 
anbetrifft,somußdarauf hingewiesen werden,daßhierbeider Krankheits- 
begriff so aufgefaßt werden muß, wie er ursprünglich geprägt war. Im 
Sprachgebrauche, wie er sich hier in der Provinz gerade allmählich 
eingebürgert hat, wird er so gut wie ausschließlich für identisch 
gehalten mit einem schweren, ethischen und moralischen Versagen, 
das ihn auf eine Stufe mit der Schwer- oder Nichterziehbarkeit 
stellt. Aber hierher gehören auch die zahlreichen Abarten des Typus, 
der sich auf der Grenze zwischen geistiger Gesundheit und Krank- 
heit bewegt und in der Regel allerdings nach der letzteren hinneigt. 
Das sind die depressiven Naturen, die Stimmungsmenschen, die 
Affektnaturen, die Einspänner, die Willensschwächlinge. Auch wenn 
sie häufig gerade keinen Bund mit der Tugend geschlossen haben 
und an die Erziehung nicht geringe Anforderungen stellen, sind die 
Aussichten für ihre Zukunft viel besser als für das isolierte und 
konzentrierte Darniederliegen von Ethik und Moral. 

Für sie gilt am ehesten das, was der Psychiater im allgemeinen 
bei derartigen Untersuchungen über die Erziehungsaussichten sagen 
darf: bei allen denen, die aus dem Reiche des Psychisch-Normalen 
heraustraten, sind natürlich die Aussichten auf einen Dauererfolg 
der Erziehung trüber je nach dem Grade der psychischen Abweichung 
von der Norm. Bei manchen kann man auch mit gutem Gewissen 
sagen, daß diese Aussichten mit Null bewertet werden müssen. 
Aber auch bei ihnen wird man die große Vorsicht in der Beurteilung 
gelten lassen müssen. Bei zwei Zöglingen, bei denen nach psychia- 
trischer Auffassung und erst recht nach dem Urteile ihrer Erzieher 
die auffallend große ethische und moralische Entartung, die zudem 
auf dem Boden einer mangelhaften und intellektuellen Entwicklung 
erwachsen war, ein soziales Scheitern mit größter Wahrscheinlichkeit 
in Aussicht zu stellen schien, hatte sich seit der letzten Untersuchung 
eine ganz auffallende Besserung vollzogen. Bei beiden war mittler- 
weile die Pubertät zum Abschluß gelangt, die ja sonst nur zu oft 
bei diesem Material eine ethische und moralische Verschlechterung 
im Gefolge hat. Der so oft in Abrede gestellte wohltätige Einfluß 
der Pubertät auf manche defekte Psyche scheint durch diese Fälle 
wieder erwiesen zu sein. 

Was sich bei dieser Untersuchung von neuem in erster Linie der 
Beachtung aufgedrängt hat, das ist die Tatsache, daß die Zöglinge 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 47 


jetzt noch immer viel zu spät der Fürsorgeerziehung überwiesen 
werden. 
Tabelle XIX. 


Alter beim Eintritt in die Fürsorgeerziehung 





Alter | Anzahl Alter Anzahl 

2 | 3 11 
3 7 12 127 
4 9 13 129 
5 11 14 107 
6 22 15 38 
7 49 16 6 
8 79 17 1 
9 99 18 1 
10 126 21 1 
Summe 816 


Allein die Tatsache, daß eine so große Anzahl von Zöglingen 
in zu vorgerücktem Alter dem Lehrer und Erzieher zur schul- 
mäßigen Behandlung übergeben wird, weil sie sich bis dahin den 
Einwirkungen des Unterrichts in der ausgiebigsten Weise entzogen 
hatten, müßte schon an und für sich genügen, um die Dringlichkeit 
der frühen Überweisung zu begründen. Weit wichtiger ist 
aber die Tatsache, daß sie jetzt in einem Stadium einer geregelten 
Erziehung zugänglich gemacht werden, in dem schon die Verwahr- 
losung in ihrer gröbsten Gestalt eingetreten ist. 

Das prägt sich wieder sehr deutlich in der Zusammenstellung 
aus, in der zum Ausdruck gebracht ist, womit die Überweisung in 
die Fürsorgeerziehung begründet ist. 


Tabelle XX. 


Der Fürsorgeerziehung überwiesen wurden auf Grund des $ 1 
des Gesetzes nach Ziffer 





| 
1 166 2und3 | 37 
2 | 138 1 und 3 | 27 
3 438 128 | 2 
Lé? | E: "ai Summe | 816 


Nach Absatz 1 des § 1 des Fürsorgeerziehungsgesetzes, nach 
dem die Fürsorgeerziehung die Verwahrlosung des Minder- 
wertigen verhüten soll, ist eine verhältnismäßig etwas größere Zahl 
von Zöglingen überwiesen worden wie zur Zeit der ersten Unter- 
suchung. Es tritt aber noch immer vollkommen zurück vor dem 


48 MÖNKEMÖLLER, 


dritten Absatz dieses Paragraphen, nach dem die Fürsorgeerziehung 
das völlige sittliche Verderben der Zöglinge verhüten soll. 

— Nach wie vor verhütet die Fürsorgeerziehung 
die Verwahrlosung nicht, sondern nimmt den Kampf 
gegen sie erst dann auf, wenn die Verwahrlosung 
schon mit der jugendlichen Kriminalität identisch 
geworden ist. — Wie empfindlich gerade die minderwertigen 
Elemente von diesem zu späten Einsetzen der Verhütungsmaßregeln 
betroffen werden, liegt so auf der Hand, daß darauf gar nicht mehr 
hingewiesen zu werden braucht. 

Gewiß liegt das zum Teil an der Rechtsprechung. Die Aus- 
legung des Fürsorgeerziehungsgesetzes, wie sie seinerzeit durch das 
Kammergericht erfolgte, hat in dieser Beziehung großes Unheil an- 
gerichtet. Daß man immerhin trotz dieser Rechtsprechung auch 
dem ursprünglichen Zwecke des Fürsorgeerziehungsgesetzes Genüge 
leisten kann, falls nur der gute Wille vorhanden ist, das geht aus 
der hochgradigen Ungleichmäßigkeit hervor, mit der das Gesetz in 
den verschiedenen Gegenden gehandhabt wird. 

Das kam besonders in dem Rettungshause zu Schladen zum 
Ausdruck, das im wesentlichen als Aufnahmebezirk den südlichen 
Teil von Hannover und speziell den Regierungsbezirk Hildesheim 
hat. Hier waren aus diesem Regierungsbezirke in der Zeit von 
1906 bis 1912 auf Grund des $ 1 nur 61 schulpflichtige und 4 schul- 
entlassene Zöglinge aufgenommen worden, auf Grund des $ 3 da- 
gegen 147 schulpflichtige und 141 schulentlassene. 

Zum Herbst steht uns ja glücklicherweise eine Verbesserung 
des Gesetzes in Aussicht, die uns hoffentlich eine Abänderung dieser 
so oft beklagten Übelstände beschert. 

Während früher die privaten Zöglinge der Anstalten nicht 
in demselben Grade der Verwahrlosung verfallen waren wie die 
öffentlichen, hat sich jetzt dieser Unterschied ziemlich verwischt. 


Tabelle XXI. 





Privatzöglinge in 


Anstalt | männlich | weiblich | normal | minderwertig 








Großefebn 3 3 5 1 
Himmelpforten — 1 — 1 
Hünenburg 2 1 1 2 
Burgwedel 7 — 3 4 
Schladen 3 — 2 1 
Stephansstift 9 — 4 5 

Summe | 3% | 5 | 16 "o 24 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 49 


Wenn früher die Angehörigen, die ihre Kinder freierdings der 
Verwahrlosung entreißen wollten, damit ein größeres Verständnis 
für ihre Aufgaben zeigten — wofern sie nicht der drohenden Für- 
sorgeerziehung aus dem Wege gehen wollten —, kommt jetzt auf 
diese Weise in der Regel die gleiche Zahl Psychopathen und Nor- 
malen in die Anstalten — zum Teil auch, um die Segnungen der 
Hilfsschule mit auszunutzen. Es werden also auch hier die schwereren 
Formen der Verwahrlosung, wie sie sich meistens auf der Grund- 
lage der angeborenen Psychopathie entwickeln, der privaten Er- 
ziehung überwiesen. 

Die praktischen Vorschläge, die als Resultat dieser 
Untersuchung gezeitigt wurden, gruppieren sich in folgender Weise: 


Tabelle XXII. 








Vorschläge, die sich auf das Ergebnis der Untersuchung gründen 








Die Unterbringung in eine Hilfsschule ist notwendig | 224 
Vorläufige Unterbringung in einer Hilfsschule wird empfohlen bei 3 
In der Schule besonders im Auge behalten und eventuell später der Hilfs- 
schule überwiesen 4 
Schulbesuch ist zu verlängern 53 
In die Normalschule zurückversetzen 7 
Einer Idiotenanstalt zu überweisen 2 
5 ‚Epileptiker a 1 
Für einen Stotterkursus empfohlen 9 
Möglichst lange in der Anstalt belassen 210 
Weitere Anstaltsbehandlung eventuell bei der Entlassung zu erwägen 45 
Vorsichtig behandeln 281 
Besonders Vorsicht bei Züchtigungen 266 
Weitere Entwicklung aufmersam verfolgen 509 
Besondere Aufmerksamkeit bei Berufswahl 433 
Vorsicht bei Übergang in Familienpflege 347 
Warnung vor Alkoholismus 13 
Vorsicht beim Turnen 12 
Im Unterricht zu schonen 18 
Augenarzt zur Untersuchung zu empfehlen 9 
Ohrenarzt „ ë = A 5 
Nasenarzt „ Se y „ 4 
Lungenarzt „ e z 3 
Solbadkur zu empfehlen 18 
Beim Militär vorsichtig behandeln 101 
Militärdienst ausgeschlossen ' 136 
Nicht auf das Schulschiff 5 
Rechtzeitig entmündigen 17 


Neben der Feststellung, in welchem Maße überhaupt die Minder- 
wertigkeit unter ihren verschiedenen Gestalten in dem schulpflichtigen 
Fürsorgeerziehungsmateriale vertreten war, galt die Untersuchung 
wieder nebenbei der Ermittlung der in intellektueller Beziehung 
am tiefsten stehenden Elemente, die für die Hilfsschulen ge- 

Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VIII. 4 


50 MÖNKEMÖLLER, 


eignet waren. Sie erfolgte für die einzelnen Anstalten nach der 
folgenden Zusammenstellung: 


Tabelle XXI. 





Die Unterbringung in einer Hilfsschule ist notwendig 











Anstalt KG Knaben | Mädchen | Anstalt. ` | apen | Mädchen 
Bernwardshof 6 — Stephansstift | 158 — 
Klein-Bethlehem — 5 Annenstift | 1 1 
Döhren 4 2 Burgwedel 1 — 
Schladen 2 — Thuine | 3 — 
Großefehn 3 — Marienstift | — — 
Himmelpforten 1 2 Linerhaus 1 32 
Guntershausen — — Hünenburg | Lan 1 


Summe: 224. 181 Knaben, 43 Mädchen 


Seit der letzten Untersuchung hat das Hilfsschulwesen in 
der Fürsorgeerziehung in Hannover einen ganz gewaltigen 
Aufschwung genommen und steht damit an der Spitze nicht nur 
sämtlicher preußischen Provinzen, sondern sogar des ganzen Deutschen 
Reiches. 

Während die Hilfsschule für weibliche Zöglinge, die im Liner- 
haus eingerichtet ist, noch des weiteren Ausbaues bedarf, auf den 
ich hier nicht eingehen möchte, erfreut sich die Hilfsschule im 
Stephansstift einer mustergültigen Ausgestaltung. 

Die Schule am Stephansstift setzt sich jetzt zusammen aus 
einer einklassigen Normalschule, die in Ober- und Mittelstufe zer- 
fällt, und eine fünfklassige Hilfsschule nebst einer Vorschulklasse, 
an der insgesamt fünf Lehrer und zwei Lehrerinnen tätig sind. Die 
Schüler verteilen sich wie folgt: 


Normalklasse 33 Schüler, 


Vorschule 10 5 
1. Hilfsklasse 33 5 
2. a 28 ,„ 
3. » 24 „ 
4. š 24 y 
5. » 24 „ 


Zusammen 176 Schüler. 


Im allgemeinen erfolgt jetzt die Überweisung an die Hilfsschule 
in der Weise, daß bei der Überweisung an die Fürsorgeerziehung 
überhaupt alle die dem Stephansstifte bzw. Linerhause überwiesen 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 51 


werden, bei denen nach den Akten und nach dem Urteile ihrer 
früheren Lehrer ihr völliges Versagen in der Schule sich praktisch 
erwiesen hatte oder die schon draußen die Segnungen der Hilfs- 
schule in Anspruch genommen hatten. Es muß aber gleich betont 
werden, daß das ein nicht ganz einwandfreier Maßstab ist. Jedem 
Fürsorgeerzieher ist die Tatsache bekannt, daß die Urteile der 
früheren Lehrer durchaus nicht immer im Einklange stehen mit den 
tatsächlichen Leistungen der Zöglinge. Das hängt ohne Zweifel 
damit zusammen, daß diese früher durch ihren häufigen Schulwechsel, 
durch ihre noch zahlreicheren Schulversäumnisse und in erster Linie 
durch die passive Resistenz gegen den Unterricht, wie sie aus der 
ganzen Verwahrlosung entspringt, den Überblick über ihre tatsäch- 
lichen Leistungen verdunkeln und oft ganz unmöglich machen, ganz 
abgesehen davon, daß solche Entartungsprodukte überhaupt nur zu 
leicht in dem Milieu überfüllter Schulklassen untergehen. Nur so 
kann man es sich erklären, daß 14 Zöglinge, die draußen dem Hilfs- 
schulunterricht zugewiesen worden waren, in dem gewöhnlichen 
Unterrichte der Fürsorgeerziehung ohne Schwierigkeit mitkamen, 
ein Beweis dafür, daß die Ansprüche an die Hilfsschulenbedürftigkeit 
nicht zu gering gestellt wurden. Es handelte sich dabei um solche 
Zöglinge, die auf dem Wege der vorläufigen Aufnahme überwiesen 
worden waren und bei denen es erst später bekannt wurde, daß sie 
schon Hilfsschüler gewesen waren. 

Sonst erfolgten die Überweisungen durch die anderen An- 
stalten, deren Leiter sich mit der neuen Einrichtung mehr oder 
weniger ausgesöhnt hatten. 

Schwierig bleibt ja noch immer die Feststellung des Zeit- 
punktes, in dem diese Überweisung erfolgen soll. An und für 
sich sollte sieja so früh wie möglich angeordnet werden, damit 
die Zöglinge, sobald es eben geht, in den Genuß der ihnen zu- 
kommenden Erziehungsform kommen. Aber einige Zeit muß man 
ja immer daranwenden, auch wenn die Notwendigkeit der Hilfs- 
schulerziehung noch so klar auf der Hand zu liegen scheint. Es 
muß erst der Einfluß der langen und schweren Verwahrlosung aus- 
geschaltet werden. Es muß auch natürlich der Anschein vermieden 
werden, als ob die Erzieher eine unbequeme Last von sich abwälzen 
wollten. 

Die Schwierigkeit wächst für die jüngsten Jahrgänge. An 
und für sich sollten sie ja die erste Anwartschaft auf diese andere 
Erziehung haben. Aber zunächst kommt für sie die ministerielle 
Vorschrift in Betracht, daß in der Regel die Überweisung erst dann 

4* 


52 MÖNKEMÖLLER, 


erfolgen soll, wenn sich nach zweijährigem Schulbesuche die Un- 
möglichkeit ergeben hat, das gesteckte Ziel der ersten Schulklasse 
zu erreichen. Dazu kommt aber noch das weit größere Bedenken, 
daß in jenen Jahren die Grenzen zwischen normal und schwach- 
sinnig noch weit fließender sind als später, daß die Kriterien, durch 
die sich eine Imbezillität mittleren Grades kennzeichnet, ausnahmslos 
eine gewisse Unsicherheit in sich tragen, und daß der Einfluß der 
Verwahrlosung gerade in dieser Zeit die schwersten Folgen zeitigt. 
So ist es kein Wunder, daß mehrere Vertreter dieser Jahrgänge, 
die nach dem Urteile der Erzieher im Unterrichte jegliche Spur 
eines Fortschrittes vermissen ließen und in psychiatrischer Beziehung 
durchaus dem Bilde einer deutlichen Imbezillität entsprachen, sobald 
sie in die Hilfsschule gerieten, nach einiger Zeit ganz gute Fort- 
schritte machten und sich zu den besten Kräften dieses Erziehungs- 
zweiges entwickelten. Nun wäre das ja an und für sich ein sehr 
erfreuliches Zeichen. Wenn man sie andererseits wieder in den 
Normalschulgang zurückversetzte, würde es sich bald erweisen, daß 
sie jenen Anforderungen wieder nicht gewachsen wären. Aber von 
seiten der aufsichtführenden Organe der Regierung werden an die 
geistige Schwäche der Zöglinge in der Regel nicht geringe An- 
forderungen gestellt. Das geistige Durchschnittsniveau, das von 
Alumnen der Hilfsschule verlangt wird, hat sich im Laufe der Zeit 
ganz entschieden gesenkt, und was früher ohne weiteres der Idioten- 
schule zugewiesen worden wäre, erlangt jetzt oft noch gerade die 
Maturitas für die Hilfsschule. In praktischer Beziehung erweist 
man diesen Knaben einen sehr großen Dienst, wenn man sie mög- 
lichst schnell in ein Regime einführt, das sie so bald der geistigen 
Verwahrlosung entreißt. Die Voraussetzung dafür bleibt aber, daß 
gleichzeitig eine Normalunterstufe vorhanden ist, so daß man 
jederzeit eine Umschulung dieser Überflieger der Hilfsschule vor- 
nehmen kann. 

Zu dieser Umschulung muß ja manchmal auch in späteren 
Jahren gegriffen werden, wenn die einzelnen Vertreter der Im- 
bezillität sich von ihren Schulkameraden gar zu vorteilhaft abheben, 
wenn auch der Verbleib dieser Musterexemplare für ihre Kameraden 
der Gegenstand des Ehrgeizes und Anreizes bildet und nebenbei 
auch die Berufsfreudigkeit des Lehrers wesentlich hebt. Dieses 
Hin- und Herpendeln zwischen den beiden Unterrichtsregimes kann 
ja im Bereiche der Fürsorgeerziehung leicht erfolgen, vor allem 
auch, ohne auf den Betreffenden das Odium zu laden, wenn er der 
Hiltsschule überantwortet wird. Und so gut wie ausnahmslos stellt 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 53 


sich dann auch hierbei heraus, daß diese Champions der Hilfsschule 
in der Normalschule nicht mitkamen, daß ihnen nicht ihr Recht 
wird und daß sie für den übrigen Unterricht einen Hemmschuh dar- 
stellen. Vorausgesetzt, daß man diese Umschulung vornehmen kann, 
sollte man sich daher über die Bedenken hinwegsetzen, die der Über- 
weisung dieser Elemente, die mit genauer Not in der Normalschule 
fortkommen, an die Hilfsschule in diesen Jahren entgegenstehen. 

Weitere Schwierigkeiten für die Überweisung machen die im 
Alter von 13 und 14 Jahren stehenden Zöglinge, bei denen ein 
ausgeprägter Schwachsinn besteht und die nun aller Kennt- 
nisse bar in die Fürsorgeerziehung eintreten. Kommen sie in die 
Anstalten, an welche die Hilfsschulen angegliedert sind, dann können 
sie ja ohne weiteres diesen überwiesen werden. Sind sie aber in 
anderen Anstalten gestrandet, dann ist die Sache schwieriger. Es 
genügt nicht, wenn man sie längere Zeit über den normalen Schul- 
schluß hinaus in der Schule hält. Die Lehrer scheuen die Un- 
annehmlichkeiten und Aufregungen, die mit einem nochmaligen An- 
staltswechsel und dem Herausreißen aus der Umwelt, in der sich 
diese Geistesschwächlinge kaum zurechtgefunden haben, verknüpft 
sind. Eine Verlängerung des Schulunterrichts, die ja auch für den 
Fall nötig wäre, daß sie der Hilfsschule überantwortet werden, setzt 
voraus, daß wenigstens für die meisten Anstalten eine gewisse Ein- 
heitlichkeit in der Verlängerung der Anstaltserziehung besteht. Für 
eine sehr große Anzahl der Schüler wäre es sehr wünschenswert, 
wenn die Hinausschiebung der Konfirmation und damit auch die 
Loslösung aus der Anstalt auf das 16. Lebensjahr festgelegt würde, 
wie es in dem ostfriesischen Bezirke gehandhabt wird. 

Dem steht nun wieder die von manchen Pädagogen geäuberte 
Ansicht gegenüber, daß ebensowenig versäumt werden darf, die 
Zöglinge möglichst rechtzeitig in ihren künftigen Berufein- 
zuführen. Sie weisen darauf hin, daß bei diesen Schwach- 
veranlagten ein großer Teil der erworbenen Kenntnisse im Strudel 
des Lebens sehr rasch wieder verloren geht und daß sie im Kon- 
kurrenzkampfe des Lebens viel weiter zurückkommen, wenn sie in 
ihrem Berufe nicht genügend ausgebildet sind. Das gipfelte in 
dem Ausspruche eines Anstaltsleiters, der den Grundsatz hatte, allen 
diesen schwächeren Naturen von vornherein zu suggerieren, daß sie 
in einen einfachen ländlichen Beruf übergingen: „für sie ist es voll- 
kommen genug, wenn sie so viel lernen, daß sie am Sonntag in der 
Dorfkirche mitsingen können, denn wenn sie das nicht können, 
blamieren sie sich zu sehr!“ 


54 MÖNKEMÖLLER, 


Auch wenn man diesem praktischen Gesichtspunkte noch so 
sehr Gerechtigkeit widerfahren läßt, darf man nicht vergessen, daß 
man diesen Schwachen im Geiste so viel an Kenntnissen mit auf 
den Lebensweg geben soll, als es eben nur angeht, um sie im 
Konkurrenzkampfe möglichst leistungsfähig zu machen. 

Ein Ausweg aus diesem Widerstreite der Interessen, der noch 
dadurch eine Verschärfung erfährt, daß es immer seine Bedenken hat, 
solche halberwachsenen Zöglinge mit den jüngeren in eine Klasse 
zusammenzubringen, ist vielleicht darin zu finden, daß man für diese 
Kategorie Abteilungen schafft, in denen sie schon zur Landwirtschaft 
oder zu irgendeinem Handwerke ausgebildet werden, während gleich- 
zeitig noch ein Hilfsschulunterricht nach Art des Fortbildungs- 
unterrichtes stattfindet. An ihm könnten auch manche Zöglinge 
teilnehmen, die aus der Hilfsschule entlassen worden sind und für 
deren weitere Unterkunft auch immer die Aussichten trüber sind. 

In diese Kategorie können dann auch einzelne Zöglinge ein- 
gereiht werden, bei denen die Pubertät erst Klarheit über den Zu- 
stand geschaffen und eine Verschlechterung des geistigen Verhaltens 
nach sich gezogen hatte, die früher nicht festzustellen gewesen war. 

Ein Vorstadium dieser praktischen Betätigung, die für die Er- 
ziehung der Psychopathen von größter erziehlicher Bedeutung ist 
ist eine möglichst ausgiebige Anwendung des Handfertigkeits- 
unterrichtes. Nicht nur, daß sie zugleich hierdurch gerade in 
praktischer Beziehung weitergefördert werden, es werden auch bei 
ihnen rechtzeitig die mechanischen Fähigkeiten geweckt, die in 
manchen dieser Imbezillen schlummern. Vor allem aber wird in 
ihnen auch die Arbeitsfreudigkeit gehoben und das Selbstbewußtsein 
gestärkt. 

Unumgänglich notwendig erscheint die Forderung, daß in den 
Anstalten, die über eine Hilfsschule verfügen, die Normalschule 
erhalten wird. Das ist schon deshalb erforderlich, um für die Ele- 
mente, die auf der Grenze stehen, im Notfalle den Übergang in 
die Hilfsschule und umgekehrt zu ermöglichen. Es müssen auch 
den Hilfsschülern immer einige Paradigmata besserer Leistungs- 
fähigkeit als Muster und nachahmenswerte Beispiele vor Augen 
gestellt werden können. Und das Lehrpersonal muß immer einen 
Maßstab in der Hand behalten, um sich über das ein festes Urteil 
bilden zu können, was eben noch als normal angesehen werden 
kann. Denn das Urteil für die Leistungsfähigkeit senkt sich er- 
fahrungsgemäß immer mehr, je länger die Erzieher in Beziehung 
mit dem minderwertigen Materiale bleiben. 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 55 


Die Frage, ob für die Psychopathen, die der Erziehung die 
meisten Schwierigkeiten machen, eine Zwischenanstalt erforder- 
lich ist wie für die Schulentlassenen, muß auch nach den Erfahrungen 
der jetzigen Untersuchung verneint werden. Im allgemeinen sind 
die Ausflüsse der kindlichen Minderwertigkeit leichter zu bändigen 
und können im Ralımen der allgemeinen Anstaltsdisziplin im Zaume 
gehalten werden, wenn auch einzelne recht.erhebliche Anforderungen 
an die Geduld ihrer Erzieher stellen. Diese Anforderungen steigern 
sich im Stephansstift, in dem sich ja die Psychopathen sehr wesent: ` 
lich zusammendrängen. Dabei soll ganz davon abgesehen werden, 
daß bei den Überweisungen, die an die Hilfsschule von seiten 
anderer Anstalten erfolgten, gelegentlich ein sehr starkes Hervor- 
treten der asozialen Charaktereigenschaften nicht als Gegengrund 
angesehen wurde, eine verhältnismäßig geringe Intelligenzschwäche 
als ausreichend für die Hilfsschule anzusehen. 

Immerhin hat jetzt die Ansammlung der psychopathischen Ele- 
mente an dieser Anstalt eine so starke Ausprägung erfahren, daß 
man in absehbarer Zeit dazu wird schreiten müssen, eine Abteilung 
einzurichten, in der diese unruhigen Elemente so von der Mit- 
welt abgesondert werden, daß sie den Anstaltsfrieden nicht zu sehr 
stören, die Disziplin nicht zu heftig zerrütten und ihre Umgebung in 
nicht zu nachhaltiger Weise ungünstig beeinflussen. Es bleibt ihnen 
ja trotz dieser Absonderung noch Gelegenheit genug zum Verkehre 
mit ihren normalen und sozialen Genossen, so daß diese Isolierung 
keine nachteiligen Folgen für ihre Psyche haben könnte, an der 
sowieso meistens nicht zu viel zu verderben ist. 

Auch die Zahl der katholischen Zöglinge, für die eine 
Hilfsschulenerziehung als eine dringende Notwendigkeit erscheint, 
ist so stark angewachsen, daß sich die Einrichtung einer ent- 
sprechenden Hilfsschule lohnt. Für die männlichen Zöglinge kommt 
Thuine deshalb nicht in Betracht, weil die Kombination der Er- 
ziehungsanstalt mit einer Haushaltsschule, einem Pensionat usw. 
gewisse Bedenken dagegen aufkommen läßt, eine Ansammlung der- 
artiger minderwertiger Elemente im Rahmen einer solchen Anstalt 
zu belassen. Dabei kann die in psychiatrischer Beziehung nicht 
unwichtige Frage außer acht gelassen werden, ob die Schwester- 
erziehung für derartig psychopathische männliche Zöglinge, vor 
allem für die in der Pubertät befindlichen Psychopathen als eine 
geeignete Erziehungsmethode anzusehen ist, ganz abgesehen davon, 
daß manche weiche und unselbständige Naturen durch den Anstrich, 
den diese Erziehung nun einmal hat, noch mehr ins Feminine hinein- 


56 MÖNKEMÖLLER, 


getrieben werden. Um so geeigneter dürfte der Bernwardshof sein, 
dem schon die zentrale Lage zustatten kommt und in dem sich die 
neuen Einrichtungen unschwer treffen lassen. 

Für die weiblichen Schulpflichtigen katholischer Konfession 
müßte man daran denken, vielleicht später in Klein-Bethlehem eine 
derartige Hilfsschule einzurichten oder doch die Anwärterinnen für 
die Hilfsschule dort zu sammeln und sie die öffentliche Hilfs- 
schule besuchen zu lassen. 

Bei 14 der Zöglinge erübrigte sich noch eine sofortige Über- 
weisung an die Hilfsschule. Bei ihnen genügte es vor der Hand, 
sie noch einige Zeit im Auge zu behalten, um sie dann, wenn es 
nicht gelänge, sie zum Fortschreiten im Unterrichte zu veranlassen, 
der Hilfsschule zu überweisen. 

In gewisser Beziehung bleibt ja jede Fürsorgeerziehungs- 
schule eine Hilfsschule. Auch wenn die schlimmsten Fälle geistigen 
Versagens ausgeschieden sind, bleibt noch eine gewaltige Menge von 
psychisch Minderwertigen zurück, die den Erzieher zwingt, den 
Maßstab herunterzusetzen und eine ganz besondere Mühe und Ge- 
duld im Unterrichte aufzuwenden. Mit einer Normalschule kann 
sie auch jetzt noch keinen Vergleich aushalten. 

In die Normalschule konnten zurückversetzt werden 7, die 
sich in der Hilfsschule so weit herausgemacht hatten, daß man 
wieder den Versuch machen konnte, sie im normalen Lehrgange 
weiterzufördern. 

Zwei, an denen sich die Hilfsschule vergebens abgemüht hatte, 
mußten in eine Idiotenanstalt überwiesen werden. Bei beiden 
war das Ergebnis, daß sie auch hier als vollkommen unerziehbar 
betrachtet werden mußten. 

Bei 53 erschien die Verlängerung des Schulbesuches un- 
umgänglich nötig, wenn man bei dem vorgeschrittenen Alter und 
dem entsprechend mangelhaften Kenntnissen noch einen einigermaßen 
genügenden Abschluß der Schullaufbahn erzielen wollte. 

Bei 210 erschien es angebracht, sie möglichst lange in der 
Anstaltsbehandlung zu lassen und nur mit Vorsicht der 
Familienpflege anzuvertrauen. 

Bei 45 ließ die Art ihrer geistigen Veranlagung und die Art 
ihrer bisherigen Entwicklung es als wahrscheinlich erscheinen, daß 
für sie im Falle ihres Ausscheidens aus der Fürsorgeerziehung in 
irgendeinem Anstaltsverbande Unterkunft beschafft würde, sei 
es nun, daß sie wegen ihrer geistigen Unzulänglichkeit nicht im- 
stande waren, sich zu einer selbständigen Lebensführung aufzuraffen, 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 57 


oder daß ihnen bei ihrer ganzen Veranlagung das sichere Schicksal 
bevorstand, durch ihre kriminelle Lebensführung dereinst die Etappen 
des Arbeitshauses oder der Strafanstalten zu durchlaufen, um dann 
schließlich doch in den Hafen der Irrenanstalt oder des Armenhauses 
einzulaufen. 

Ein Teil von ihnen wird dann in der Heil- und Erziehungs- 
anstalt in Göttingen seine Heimstätte finden. Ihnen schon jetzt 
diesen Lebenspfad vorzuzeichnen, halte ich aber für unmöglich. 
Die Vollendung der Pubertät spricht hierbei immer das letzte Wort, 
und über die Zukunft zu verfügen, ist bei diesen schwankenden 
Naturen ein unmögliches Unternehmen. Immerhin vertreten sie den 
Prozentsatz der Zöglinge, denen man die Etikette der Unerziehbar- 
keit mit gutem Gewissen hätte anheften können, wenn man sich 
überhaupt mit diesem Begriffe befreunden wollte. Bei 17 war die 
soziale Unbrauchbarkeit schon jetzt so ausgeprägt, daß man raten 
konnte, rechtzeitig gegen sie ein Entmündigungsverfahren 
einzuleiten. 

Bei ungefähr dem gleichen Prozentsatze mußte mit Rücksicht 
auf den psychischen Zustand eine allgemeine vorsichtige Be- 
handlung und vor allem Vorsicht bei Züchtigungen empfohlen 
werden. Die Schwierigkeiten, die der körperlichen Züchtigung an 
dem gewaltigen psychopathischen Materiale entgegenstehen, sind so 
oft erörtert worden, daß hier nicht mehr darauf eingegangen zu 
werden braucht. Auch wenn ich nicht glaube, daß die Züchtigungs- 
frage schon von allen Erziehern in der Weise aufgefaßt wird, wie 
man das vom psychiatrischen Standpunkte aus verlangen müßte, 
und daß vor allem dem unteren Erziehpersonale die Einsicht in die 
Gesichtspunkte, die hierbei in Frage kommen, nicht immer verliehen 
ist, habe ich doch im allgemeinen den entschiedenen Eindruck ge- 
wonnen, daß mit der körperlichen Bestrafung nicht über das Ziel 
hinausgeschossen wird; daß man die Züchtigung, auch wenn sie an- 
gewendet wird, nur als ein notwendiges Übel ansieht, und daß die 
Strafgewalt in ihrer körperlichen Betätigung wenigstens in der 
Regel vor den Elementen Halt macht, die als schonungsbedürftig 
bezeichnet worden sind. 

Daß man bei verhältnismäßig vielen Zöglingen die weitere 
Entwicklung besonders aufmerksam im Auge behalten muß, weil 
auch dabei psychiatrische Gesichtspunkte recht wesentlich in Frage 
kommen könnten, daß bei der Berufswahl häufig psychiatrische 
Erwägungen nicht aus dem Spiele gelassen werden konnten, daß die 
Überweisung an die Familienpflege nicht selten unter dem 


58 MÖNKEMÖLLER, 


Zeichen der psychischen Minderwertigkeit stehe, bedarf gleichfalls 
keiner besonderen Hervorhebung mehr. 

Daß bei der Versetzung in die Familienpflege jetzt häufig Zög- 
linge mit versetzt werden müssen, die auf eine vollkommene geistige 
Gesundheit und Unversehrtheit keinen Anspruch machen können, ist 
selbstverständlich und für die leichteren Grade des Schwachsinns 
auch sicherlich kein Unglück, sofern man nur die Gewähr hat, daß 
sie den Anforderungen der Normalschule draußen gewachsen sind. 
Das bedingt natürlich eine genaue Kenntnis der Zöglinge, die aus 
der Vorgeschichte, soweit sie uns aus den Akten zugänglich ist, 
nicht immer gewonnen werden kann. Wir werden demnächst auf 
den etwas mühseligen Weg, diese Kenntnis erst durch eine längere 
Anstaltsbeobachtung zu erwerben, verzichten können, da die Auf- 
nahmestation der Pestalozzistiftung in Langwedel, die im Bau be- 
eriffen ist und eine Beobachtung aller Zöglinge, die in die Familien- 
pflege versetzt werden sollen, verwirklicht, rechtzeitig uns genügende 
Aufklärung über die ganze Artung und vor allem über die geistige 
Leistungsfähigkeit des Zöglings verschafft. Da auch eine psych- 
iatrische Untersuchung dieser Zöglinge vorgesehen ist, wird ein 
lange gehegter Wunsch erfüllt und damit endlich einmal auch der 
Nachweis ermöglicht, daß die in der Familienpflege unter- 
gebrachten Zöglinge durchaus nicht den hohen Grad von Minder- 
wertigkeit verkörpern, der sich in den Anstalten zusammendrängt. 
Jedenfalls wird diese Beobachtung es verhüten, daß noch immer 
einzelne Zöglinge in der Familienpflege untertauchen, die sich erst 
nach vergeblichem Mühen und Plagen in der Normalschule die An- 
wartschaft auf die Hilfsschule erkämpfen müssen, während die 
Psychopathie in ihrer ethisch-moralischen Verkümmerung viel leichter 
den Weg in die Anstalt fand. 

Die Sorge für die Zukunft, vor allem, was die Berufsstellung 
anbetrifft, kommt in besonderem Maße auch den Kandidaten für das 
Schulschiff zugute. Über die Vorzüge dieser Einrichtung, die 
ihr auch vom psychiatrischen Standpunkte aus zuerkannt werden 
müssen, braucht kein Wort verloren zu werden, auch wenn man sich 
des Gedankens entschlägt, daß die Länge dieser Ausbildung nicht 
ganz im Verhältnisse steht zu dem, was in dieser Laufbahn erreicht 
werden kann. Aber wenn schon den körperlichen Anforderungen, 
die an die Zöglinge des Schulschiffes gestellt werden, außerordentlich 
gesteigert worden sind, muß erst recht von psychiatrischer Seite 
darauf gehalten werden, daß nicht solche Elemente dieser Erziehung 
anvertraut werden, die nicht dafür passend sind und die dazu noch 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 59 


geeignet sein könnten, diese wohltätige Einrichtung in Mißachtung 
zu bringen. Man muß auch bedenken, daß die Eigenschaften, die 
für die Schulschifferziehung störend werden könnten, auch in ihrer 
späteren seemänischen Laufbahn und vor Allem auch während ihrer 
militärischen Dienstzeit bei der Marine, der sie doch immer zustreben 
werden, außerordentlich hindernd zur Seite stehen werden. Und 
darum müssen, — auch wenn man für die Intelligenz sich noch 
eine gewisse Milde des Maßstabes konzedieren wollte, alle reizbaren 
und explosiblen Elemente davon ausgeschlossen werden, alle Affekt- 
naturen, alle Stimmungsmenschen, alle Willensschwächlinge, ganz 
abgesehen von den ausgeprägteren Verkörperungen der Psychopathie 
und den Vertretern der schwereren Störungen in Ethik und Moral. 
Diese Gefahr ist um so größer, als gerade diese Elemente nur zu 
leicht in sich den Drang für diese Laufbahn verspüren und sich 
nur schwer davon überzeugen lassen, daß sie nicht dafür geeignet 
sein sollen. Es braucht nicht betont zu werden, daß auch alle die 
Zöglinge, bei denen sich irgendwie die Disposition zu einem künf- 
tigen Alkoholismus nachweißen läßt — leider läßt sich diese 
Gefährdung während des Anstaltsaufenthaltes nur in einem ganz 
geringen Prozentsatze feststellen, — von Schulschiffdienst ausge- 
schlossen werden müssen. Der Alkoholismus ist ein Moment, das bei 
jeder Berufswahl gewaltig in die Wagschale fällt, und nicht minder 
beim Marienedienst wie bei der ganzen Militärlaufbahn. 

Im Alter der Schulpflichtigkeit schon die Auspicien für die spätere 
Fähigkeit zur Militärdienstfähigkeit zustellen, erscheint auf 
den ersten Blick als eine Vermessenheit, da sich bis dahin ja noch 
eine gewaltige Umwandlung der ganzen Persönlichkeit vollziehen 
kann. Es ist selbstverständlich, daß das letzte Wort in dieser Frage 
erst unmittelbar vor dem Diensteintritte gesprochen werden kann. 

Aber man darf nicht vergessen, daß ein großer Teil der Minder- 
wertigen nach der Einsegnung für immer der Anstalt Valet sagt. 
Wenn er nicht über eine besondere große asoziale Neigung verfügt, 
kehrt er nicht wieder dabin surück. Damit entzieht er sich auch 
der psychiatrische Untersuchung in späteren Stadien der Fürsorge- 
erziehung. Daß er sich so lange draußen hält, besagt aber durch- 
aus nicht, daß er nicht über Eigenschaften verfügen könnte, die ihm 
selbst und dem Heeresverbande sein militärisches Wirken als ein 
recht unerfreuliches Ereignis erscheinen lassen müssen. Es ist da- 
her durchaus geboten, schon bei diesen Untersuchungen das Augen- 
merk darauf zu richten, ob er nach seiner allgemeinen Veranlagung 
für den Militärdienst geeignet ist. 


60 MÖNKEMÖLLER, 


An und für sich erscheint es ja als ein erstrebenswertes Ziel, 
daß jeder Fürsorgezögling in der Militärzeit eine Nachschule seiner 
Fürsorgeerziehungslaufbahn durchmacht. Er wird ja dadurch nicht 
nur in seiner Selbstzucht bestärkt und zu einer straffen, beständigen 
Lebensführung angehalten, er wird auch gleichzeitig in seiner 
Selbstständigkeit gehoben, stufenweise der Selbstständigkeit im 
Leben nähergebracht und tut so wieder einen großen Schritt, um 
sich im sozialen Leben zu behaupten. 

Aber für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Fürsorgezöglinge 
bleibt der militärische Dienst ein sehr heißes Pflaster. Dazu ge- 
hören nicht so sehr die mit Intelligenz schlechter bedachten Elemente. 
Es ist bekannt, daß man trotz der sprichwörtlichen Muskotendummheit 
noch ein ganz guter Soldat sein kann. Aber die epileptischen Naturen, 
die reizbaren und explosiven Elemente, die paranoischen Gemüter 
liefern nur zu gerne den Stoff zu Disziplinarvergehungen, 
zur Fahnenflucht und ähnlichen Ausschreitungen. Und wenn 
sich zu diesen unerfreulichen Charaktereigenschaften noch die nötige 
Portion Dummheit gesellt, können sie sich selbst und der Gesammtheit 
den schwersten Schaden zufügen. 

Soweit sich das bei der bisherigen Lebensführung beurteilen 
ließ, und bei dem jetzigen psychischen Status konnte man schon 
jetzt mit größter Wahrscheinlichkeit sagen, daß bei 136 am 
besten gar nicht der Versuch gemacht werden sollte, sie ihre mili- 
tärische Dienstzeit abmachen zu lassen, und daß bei anderen 101 
eine vorsichtige Behandlung während ihrer Militärzeit statthaben 
sollte, soweit das unter den dienstlichen Umständen eben durch- 
geführt werden Kann. Am einfachsten wäre es, wenn bei der Ein- 
stellung der oder die ärztlichen Fragebogen, unter Hinzufügung der 
Äußerungen der Anstaltsleitungen mit eingesandt würden. Es muß 
allerdings noch dahingestellt bleiben, ob diesen Erhebungen unter 
allen Umständen von allen Behörden und allen Militärärzten die 
Bedeutung beigelegt wird, die ihnen aus praktischen Gründen zu- 
kommt. Und noch heikler und in der Praxis tatsächlich noch schwerer 
durchzuführen ist die Forderung, daß während der Dienstzeit auf 
die psychische Verfassung die Rücksicht genommen werden 
muß, olıne die es kaum möglich ist, diese psychisch gefährdeten 
Individuen durch den Dienst durchzubringen. 

Die anderen Maßnahmen, welche hier noch empfohlen werden 
müßten, die Schonung im Unterrichte, — die übrigens nur 
bei 15 in Betracht gezogen zu werden brauchte, — die Vorsicht, 
die beim Turnen geboten erscheint, die verschiedenen Maßnahmen, 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 61 


die in körperlicher Beziehung getroffen werden müßten, be- 
dürfen keiner besonderen Besprechung. 

Die Fragebogen, welche durch diese Untersuchung gezeitigt 
worden sind, sollen in Zukunft den einzelnen Anstalten überwiesen 
werden. Auf diesen Fragebogen ist es vorgesehen, daß die wichtigsten 
Ereignisse des Anstaltslebens eingetragen werden, die von psychia- 
trischem Interesse sind. Die Anstalten haben allerdings ihr ge- 
nügendes Teil an Berichten und Charakteristiken ihrer Zöglinge 
zu leisten. Aber da sie auch von der Bedeutung dieser Feststellungen 
überzeugt sind, da sie genau wissen, worauf es ankommt, und da 
diese Eintragungen des Wissenswerten nur ganz kurz zu sein brauchen, 
kann man erwarten, daß sozusagen eine kurze Krankengeschichte 
zustande kommt, die später bei all’ den Gelegenheiten eingereicht 
werden kann, bei denen die Zöglinge infolge ihrer Psychopathie in 
irgendeiner Weise mit den staatlichen Einrichtungen oder ihrer 
Mitwelt in Widerspruch geraten. 

Das Schicksal unserer Minderwertigen im ferneren Leben hat 
ja überhaupt eine große praktische Bedeutung für die ganze 
Minderwertigenfrage. Das Landesdirektorium der Provinz 
Hannover hat in dankenswerter Weise in Aussicht gestellt, daß 
nach Ablauf einer genügend langen Frist, die man verlangen muß, 
wenn man über die soziale Bewährung sich keinen Irrtümern hin- 
geben will, Nachforschungen nach einer größeren Zahl von Minder- 
wertigen angestellt werden sollen, die durch psychiatrische Fest- 
stellung und ihre Anstaltsführung genügend weit aus dem Rahmen 
des Normalen herausfallen, um einen Zickzackweg im bürgerlichen 
Leben erwarten zu lassen. 

Wie manche Insassen der Irrenanstalten, die nur mit Defekt 
geheilt entlassen waren und deren weiterem Ergehen immer mit 
Skepsis und Pessimismus entgegengesehen werden mußte, diese 
Prognose gelegentlich in erfreulichster Weise Lügen strafen, so wird 
es uns auch bei diesen Sorgenkindern der Fürsorgeerziehung ergehen. 
Bei dem größten Teile aber werden vermutlich diese Nachforschungen 
den Beweis dafür erbringen, daß die psychopathischen Symptome, 
die ihre Fürsorgeerziehungslaufbahn beeinflußten, auch dem übrigen 
Leben ihren Stempel aufdrücken werden, und, daß die möglichst 
frühzeitige Feststellung dieser Symptome nicht nur dem augen- 
blicklichen Zwecke zu Gute kommt. 


62 MÖNKEMÖLLER, 


Psychiatrisch-neurologische 


Untersuchung schulpflichtiger Zöglinge 
an der Erziehungsanstalt..................... 


Nummer: Datum: Name des Untersuchers: 
1. Vor- und Zuname: 
2. Alter: 3. Geburtsort: 


4. In Fürsorgeerziehung eingetreten: 5. Schulklasse 


I. Verhalten vor der Überweisung in die Fürsorgeerziehung. 


6. Stand, Name, Wohnort der Eltern: 

7. Leben diese; sind sie getrennt, ge- 
schieden, verschollen, sehr arm, arbeiten 
sie außer dem Hause, im Umherziehen ? 

8. Ist das Kind unehelich geboren, später 
legitimiert, hat es Stiefeltern, trinken 
diese, leben die Eltern im Konkubinat ? 

9. Sind Geisteskrankheiten, Geistes- 
schwäche, Nervenkrankheiten, Epi- 
lepsie, Trunksucht, Selbstmord, Lungen- 
schwindsucht bei den nächsten Ver- 
wandten (Eltern, Großeltern, Ge- 
schwistern, Onkel, Tante) vorge- 
kommen; waren sie blutsverwandt ? 

10. Befinden sich unter ihnen Verbrecher 
bzw. Bestrafte, eigentümliche Charak- 
tere, besondere Talente, Prostituierte, 
Zuhälter, Zwangszöglinge, Fürsorge- 
zöglinge, Korrigenden, Armenhäusler, 
Rentenempfänger ? 

11. Haben die Eltern das Kind zum 
Betteln, Stehlen usw. angehalten ? 

12. War die Geburt schwer? 

13. Wann hat das Kind gehen gelernt, 
wann sprechen ? ' 

14. Was für Kinderkrankheiten hat das 
Kind durchgemacht (insbesondere eng- 
lische Krankheit, Skrophulose, Gehirn- 
entzündung) ? 

15. Ist das Kind viel mißhandelt worden, 
hat es Unfälle oder Verletzungen er- 
litten und was für welche? 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 63 


16. Hat das Kind Alkohol bekommen 
(Schnaps, Bier, Braunbier, Süßbier), 
war es schon betrunken, hat es schon 
das Wirtshaus besucht, hat es sich 
selbst Alkohol zu verschaffen gesucht ? 

17. Hat es Zahnkrämpfe (Schäuerchen) ge- 
habt, hat es später an Kopfschmerzen, 
Schwindelanfällen, Ohnmachten, son- 
stigen Bewußtseinsverlusten gelitten ? 

18. Hat es an Bettnässen, Einschmutzen, 
Zähneknirschen, nächtlichem Auf- 
schrecken, Nachtwandeln gelitten, hat 
es im Schlafe gesprochen, phantasiert ? 

19. Galt es als schlecht veranlagt, schwach 
befähigt, beschränkt, moralisch sehr 
schlecht, nervös? 

20. War es reizbar, in der Stimmung 
wechselnd, scheu, verschlossen ? 

21. Hat es Selbstbefriedigung getrieben ? 

22. Bei Mädchen: Wann ist die Periode 
eingetreten? War das Kind um diese 
Zeit im Wesen verändert? 

23. Hat es oft die Schule versäumt; die 
Schule gewechselt; hat es außerhalb 
des Hauses arbeiten müssen; hat es 
Kinematographentheater oder sonstige 
Schaustellungen besucht? 

24. Besuchte es die Hilfsschule? Seit 
wann? Klasse? 

25. Bestand von früh auf Neigung zu Ge- 
walttätigkeiten, Umhertreiben, Lügen, 
Phantasieren, Stehlen, geschlechtlichen 
Ausschweifungen, Tierquälerei ? 

26. Bei Mädchen: Ist ein geschlechtlicher 
Mißbrauch erfolgt? Durch wen? Ge- 
schlechtliche Ansteckung ? 

27. Überwiesen auf Grund des Fürsorge- 
erziehungsgesetzes $ ? 

28. Wurden Konflikte mit den Straf- 
gesetzen gerichtlich verfolgt? Wann 
zuerst ? 

29. Welcher Art waren die kriminellen 
Handlungen ? 

30. Wurden sie bestraft und womit? 

31. Erfolgte Strafaussetzung ? 

32. Hat das Kind einen direkten schlechten 
Einfluß auf andere Kinder ausgeübt? 

33. Sind sonstige bemerkenswerte Tat- 
sachen aus dem Vorleben anzuführen ? 


64 MÖNKEMÖLLER, 


II. Verhalten in der Anstalt. 


Vor der Untersuchung auszufüllen ; Überweisungsbogen (Querbogen) 
beifügen! ! 


a) Wie war die Führung in der Anstalt? 


b) Wie war das Verhalten in der Schule (Schulkenntnisse, Verhalten im 
Unterrichte, Anschauung, Auffassung, Aufmerksamkeit, Ermüdbarkeit, 
Rückschritte, Eigentümlichkeiten) ? 


III. Ergebnisse der Untersuchung. 
a) Körperlicher Befund. 


Größe: 1) Schädelasymmetrien:: 
Entwicklung: Schädelumfang: 
Skelettbau: Narben des Schädels: 
ed 
Lymphdrüsen : Gewicht: ') 
Ernährungszustand: 


Zeichen überstandener Lues, 
Skrophulose, Rachitis: 


Hautbeschaffenheit: 
Tätowierungen: Schilddrüse: 
Degenerationszeichen:: Mechanische Muskelerregbarkeit: 
Dermographie: Lidspalten: 


1) Vor der Untersuchung auszufüllen. 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 65 


Bulbusbewegung: 
Pupillenreaktion: 
Gesichtsfeld: 
Gehör : 1) 

Tics: 

Gaumen : 

Zunge: 

Lungen : 
Geschlechtsteile : 


Händedruck : 


Zeigefingernasenspitzenversuch : 


Periostreflex : 
Fußklonus: 
Sensibilität : 
Bewegungen: 
Gang: 


Sprache: 


Pupillenweite: 
Sehfähigkeit: 
Facialis: 
Trigeminus: 
Nase: 

Zähne: 

Herz: 
Bauchorgane: 
Glieder und Gelenke: 
Fingerzittern: 
Bicepsreflex:: 
Patellarreflex:: 
Babinskireflex:: 
Augenfußschluß: 


Haltung: 


Etwaige sonstige körperliche Besonderheiten: 





1) Abweichungen von der Norm vorher einzutragen. 
Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VII. 5 


66 MÖNKEMÖLLER, 


b) Psychischer Befund. 


1. Intelligenzprüfung. 


Erkennen von Gegenständen: von Farben: 
A „ Bildern: „ Geldstücken: 
5 der Uhr: 
Orientiertheit über Ort: über Zeit: 
S „ eigene Person: „ andere Personen: 
5 „ weitere Umgebung: 


Gedächtnis für ältere Vergangenheit: 
Merkfähigkeit für Bilder: 

a „ Zahlen: 

o „ Aufträge: 
Wiederholen von 5 einstelligen Zahlen: 
Nachsprechen von Sätzen: 
Fingerversuch nach Rieger: 
Wiedergabe von kleinen Erzählungen und ihrer Pointe: 
Gattungs- und Artfragen: 
Gleichungsfragen : 

Rückläufige Assoziationen: 
Ebbinghaus- Versuch : 

Masselon- Versuch : 

Beschreibung konkreter Gegenstände : 


Definition konkreter Gegenstände : 


Definition abstrakter Gegenstände : 

Prüfung auf abstrakte Allgemeinbegriffe: 
Fähigkeit, ein Sprichwort zu erklären: 
Fähigkeit, Unterschiede klar zu legen: 

Besitz von Vorstellungen allgemeinen Inhalts: 
Urteilsfähigkeit: 


Berufsneigung: 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 


2. Sonstiges psychisches Verhalten: 
Gesichtsausdruck : 
Sprechweise: 

Haltung: 
Aufmerksamkeit: 
Vorstellungsablauf: 
Ermüdbarkeit: 
Stimmung: 
Grimassieren : 
Negativismus: 
Stereotypieen: 
Sammeltrieb: 
Sinnestäuschungen:: 
Wahnideen: 
Zwwangsvorstellungen: 
Onanieren: 
Bettnässen : 
Einschmutzen : 
Weglaufen: 
Reizbarkeit: 

Neigung zu impulsiven Handlungen: 
Erregungszustände: 
Angriffe auf Umgebung: 
Zerstörungswut: 
Anstaltsdiebstähle : 


Sonstige Auffälligkeiten : 


67 


68 _ MÖNKEMÖLLER, 


IV. Endresultat. 


Normal: 
Minderwertig: 
Diagnose. 


V. Vorschläge. 


1. Die Unterbringung in einer Hilfs- 
schule ist notwendig : 

2. Vorläufige Unterbringung in 
der Hilfsschule ist erforderlich : 
3.In der Schule besonders im Auge 

zu behalten und eventuell später 
der Hilfsschule zu überweisen: 
4.In die Normalschule zurückzuver- 
setzen: 
. Einer Idiotenanstalt zu überweisen : 
. Teilnahme an einem Stotterkursus 
ist zu empfehlen: 

. Schulbesuch ist zu verlängern: 

. Möglichst lange in der Anstaltsbe- 
handlung zu belassen: 

9. Bei Entlassung aus der Fürsorge- 
erziehung ist eventuell weitere An- 
staltsbehandlung in Erwägung zu 
ziehen : 

10. Vorsichtig zu behandeln : 

11. Besondere Vorsicht bei Züchti- 
gungen: 

12. Weitere Entwicklung besonders 
aufmerksam verfolgen : 

13. Besondere Aufmerksamkeit bei Be- 
rufswahl : 

14. Vorsicht bei Verlegung in Familien- 
pflege : 

15. In körperlicher Beziehung ist zu 
empfehlen : 


ano 


© A 





[Seite 8.] 


VI. Weiteres Verhalten in der Anstalt. 


(Hier sind von seiten der Anstalt besondere Ereignisse und Veränderungen 
einzutragen, die in psychischer Beziehung von Bedeutung sind.) 


Bericht an das Landesdirektorium der Provinz Hannover usw. 69 


VII. Anlage. 





A. Satzbildung aus einzelnen ' B. Unterscheidungsfragen (Ziehen). 
Worten (Masselon). : d 
Was ist der Unterschied zwischen: 
Vogel Nest Ei Hand und Fuß? 
Jäger Hase Feld Ochs und Pferd? 
Wasser Berg Tal Vogel und Schmetterling ? 
Krieg Soldat Vaterland Tisch und Stuhl? 
Schnee Winter Frost Glas und Tasse? 
Schnee Frühjahr Sonne Wasser und Eis? 
Bauer Stadt Milch j Tür und Fenster? 
Richter Dieb Gefängnis Baum und Strauch ? 
Schiffer Meer Tod Korb und Kiste? 
Bauer Frühling Korn | Treppe und Leiter? 
Sonne Fenster Stube Teich und Bach? 
Lehrer Schüler Schelte Kind und Zwerg? 
Hund Kind Bein Borgen und Schenken? 
Mutter Sonntag Kirche | Geiz und Sparsamkeit ? 


C. Wiedergabe von kleinen Geschichten und deren Pointe. 


1. Brüderchen und Schwesterchen waren einmal allein zu Hause. 
Da sagte das Brüderchen: „Nun wollen wir es uns schmecken lassen, 
komm in die Speisekammer, da steht die Milchschüssel.“ Schwesterchen 
sprach: „Dort sieht es der Nachbar durch das Fenster.“ „Dann komm 
in die Küche, da ist der Honigtopf.“ „Nein,“ sagte das Schwesterchen, 
„das sieht die Nachbarin.“ „Dann wollen wir in den Keller gehen, dort 
essen wir Apfel und es ist stockfinster.“ „Mit nichten,“ sagte Schwesterchen, 
„das sieht der liebe Gott, der sieht auch im Dunkeln.“ Da erschrak das 
Brüderchen und sagte: „Dann wollen wir lieber gar nichts essen.“ 


2. Über einen Knaben ging einmal ein Holzwagen und brach ihm 
ein Bein entzwei. Als er heimgebracht wurde, fiel seine kranke Mutter 
vor Schrecken in Ohnmacht. Da wurde der Knabe plötzlich still und als 
ihm der Wundarzt das Bein einrichtete, verbiß er die Schmerzen und gab 
keinen Laut von sich. Man fragte ihn: „Tut es dir denn nicht weh?“ 
„Ach ja,“ antwortete er, „aber die Mutter soll es nicht merken, daß sie 
nicht weint.“ 


3. Vor vielen Jahren lebte einmal ein reicher Bauer, dem machte 
sein ungeratener Sohn das Leben schwer. Der behandelte seine Ge- 
schwister schlecht und schlug einmal die Mutter. Da sagte der Vater: 
„Möge dir für deine Tat die Hand aus dem Grabe wachsen!“ Als nun 
der Sohn trotzdem auch noch den Vater schlug, starb er in kurzer Zeit 
und wurde begraben. Als bald darauf die Leute auf den Friedhof kamen, 
sahen sie, wie aus dem Grabe eine Hand herauswuchs. 


70 MÖNKEMÖLLER, 


D. Ebbinghaus’scher Versuch. 


1. Nach langer Wand — — in dem fremden Lande fühlte ich mich 
so schwach, daß ich — — ÖOhn — nahe war. Bis — Tode — mattet 
f — ich ins Gras nieder und — bald fest ein. Alsich erw War 
es schon längst T — . 

2. Dichte Wolkenmass — hatten schon seit mehr — — Tagen die 
Son — nicht mehr zum Durch — kommen lassen: aber heute war der 
Him — klar, es war — schönste — — , ein selten schöner Winter —. 
Die Uhr hatte bereits drei gesch — — , die Sonne wollte soeb — am 
Horiz — — verschw — — . 


3. Es schwamm ein Hund durch einen Fluß und hatte — Stück 
Fleisch — Maule. Da er nun — Bild des Fleisch — im Was — sah, 


glaubte er, es — auch Fleisch und — gierig danach. Da er aber das 
— auftat, entfiel ihm — Stück Fleisch. 

4. Lieber Vat — ! Mir geht es hier in — Anst — sehr gut. Ich 
gebe — Mü —, artig und flei — zu sein und in der Schul — gut zu 
ler — Wenn ich mich gut — — , kom — ich später in die Familien- 
pf — . Vorigen Sonnt — hatte ich viel Kopf — —. 

5. Einem Knaben hatte Jemand ein klein — Beil zum Spiel — ge- 
ge —. Daran hatte er seine große — — und hieb damit, wie es eben —. 


me 


Nachdruck verboten. 


Fürsorge für schwachbegabte Kinder auf dem Lande. 


Von 
Georg Büttner, Worms. 


Schon jahrelang ist in Fachkreisen eine vielbesprochene und 
ventilierte Frage: die zweckdienliche Versorgung schwachbegabter 
Kinder auf dem Lande. Alle möglichen Vorschläge, das ist ja be- 
kannt, wurden seinerzeit gemacht. Es sei nur erinnert an: Besuch 
benachbarter Hilfsschulen, Vergrößerung bestehender Idioten- und 
Schwachsinnigenanstalten, Zusammenschluß günstig benachbarter 
Gemeinden zu einer gemeinsamen Hilfsschule, Errichtung von Kreis- 
oder Amtshilfsschulen, Erteilung von Nachhilfeunterricht usw. Das 
eine oder andere hat sich vielleicht hier oder da bis zu einem 
gewissen Grade verwirklichen lassen. Doch zu einem durchschlagen- 
den Erfolg ist bislang noch keines gekommen. 

Unstreitig sehr zweckdienlich und empfehlenswert wäre die 
Gründung von „Kreishilfsschulen“. Verschiedentlich wurde das auch 
schon anerkannt; auch strebt man danach, den Gedanken mit der 
Zeit in die Tat umzusetzen. Unter anderem trat man im letzten 
Jahre der Sache auch näher in Oberfranken. Mit Recht be- 
tonte man hier, daß „allein wirksame Hilfe geschaffen werden 
könne“ durch die „Kreishilfsschulen*“. Unter dem Vorsitz von 
Regierungspräsident Exzellenz von BREUNER gründete sich 
weiter ein „Schwachsinnigenhilfsverein“. Neben dem Zweck, „Inter- 
esse und Verständnis für die Ausbildung und Erziehung schwach- 
sinniger, aber bildungsfähiger Kinder zu wecken und zu beleben“, 
will sich der Verein nach $ 1 der Satzungen besonders angelegen 
sein lassen, „die Errichtung neuer und den Ausbau bestehender 
Erziehungs- und Bildungsanstalten für solche Kinder und die Unter- 
bringung schwachsinniger Kinder in diese Anstalten“. 


72 GEORG BÜTTNER, 


Ein ganz selbständiges und höchst beachtenswertes Vorgehen, 
solange andere durchschlagendere Maßnahmen nicht getroffen werden 
können, zeigt nun in allerletzter Zeit die Königliche Regierung 
zu Arnsberg. Unterm 7. Juni 1913 erließ sie in dieser Beziehung 
folgende Verfügung: 

„In einer nicht geringen Anzahl von größeren Orten unseres 
Bezirkes sind Dank der Opferwilligkeit der Gemeindeverwaltungen 
Hilfsschulen gegründet worden, in denen die besonders schwach- 
begabten Kinder von geeigneten Lehrkräften nach einer zweck- 
mäßigen Methode unterwiesen und größtenteils zu gesitteten und 
erwerbsfähigen Menschen ausgebildet werden. 

Die meisten Orte jedoch, besonders in den ländlichen Kreisen, 
ermangeln solcher Einrichtungen, und es bleiben noch mehrere 
tausend Kinder ohne hinreichende Ausbildung, die besonderer Be- 
rücksichtigung in Unterricht und Erziehung bedürfen. 

Es muß daher das Bestreben aller für die Pflege der Volks- 
schule in Betracht kommenden Personen und Gemeindeverwaltungen 
sein, die Förderung dieser bedauernswerten Kinder, die sonst in 
der normalen Volksschule verkümmern und oft eine Gefahr für die 
menschliche Gesellschaft werden, in zweckentsprechender Art in 
Angriff zu nehmen. 

Indem wir uns weitere Maßnahmen vorbehalten, ordnen wir zu 
dem gedachten Zwecke zunächst an, daß in allen Schulklassen, die 
einen oder mehrere der ersten vier Jahrgänge umfassen, für die 
des Schwachsinns verdächtigen Kinder ein Personalbogen nach an- 
liegendem Muster geführt werde. 

Um ferner die an diesen Klassen unterrichtenden Lehrkräfte 
zu sachgemäßer Führung der Personalbogen zu befähigen und all- 
mählich in den Stand zu setzen, sich dieser Kinder auch bei dem 
Unterrichte und der Erziehung in einer ihren geistigen Gebrechen 
entsprechenden Weise anzunehmen, ist es erforderlich, daß für jede 
der in Betracht kommenden Lehrkräfte eine geeignete Anleitung 
beschafft werde. Eine solche ist in unserem Auftrage von dem 
Kreisschulinspektor Schulrat ScCHrREFF und dem Stadt- und Hilfsschul- 
arzt Dr. SteinHaus bearbeitet worden und wird im Verlage von 
J. STAHL in Arnsberg erscheinen und für einen mäßigen Preis käuf- 
lich sein. 

Sie wollen der Angelegenheit ihr volles Interesse zuwenden, 
sich bei ihren Revisionsbesuchen überzeugen, ob die Anleitungen 
befolgt und die Bogen richtig geführt werden, und die Lehrkräfte 
mit Rat und Weisung unterstützen.“ 


Fürsorge für schwachbegabte Kinder auf dem Lande. 73 


Als Hilfen werden also hier vornehmlich zwei Mittel 
empfohlen. Vor allen Dingen sollen über alle schwachsinnigen und 
schwachsinnsverdächtigen Kinder auf dem Lande „Personal- 
bogen“ angelegt und geführt werden und zwar von Arzt und 
Lehrer gemeinsam. Bei der Schulentlassung sollen sie zu den 
Schulakten genommen werden und später gegebenenfalls zur Vor- 
lage kommen bei der Frage der Militärdienstpflicht und zum Schutze 
in der Rechtspflege. Er gliedert sich im wesentlichen in zwei 
Hauptpunkte und spricht: IL Vor der Aufnahme in der Schule. 
II. Während der Schulzeit. Bei ersterem Punkte sind „unter Mit- 
wirkung des Arztes aufzustellen: a) Häusliche und wirtschaftliche 
Verhältnisse der Eltern: Wohnung, Familienleben, Ordnung und 
häusliche Zucht, Einkommen, Sorge des Vaters für die Familie, 
haushälterischer Sinn der Mutter und ähnliches. b) Erbliche Be- 
lastung durch Geistesstörung, Nervenkrankheit, Syphilis, Tuber- 
kulose, 'Trunksucht, Verbrechen der Eltern, Blutsverwandtschaft 
der Eltern, uneheliche oder voreheliche Geburt. c) Zahl und Alter 
der Geschwister, ihre körperlichen und geistigen Regelwidrigkeiten. 
d) Verlauf der Geburt; Ernährung und Pflege in den ersten Lebens- 
jahren. e) Beginn und Verlauf des Zahnens, des Gehenlernens, der 
Sprachentwicklung. f) Eigentümlichkeiten bei der Befriedigung 
der leiblichen Bedürfnisse, beim Spiel und im Verkehr mit anderen 
Kindern. g) Krankheiten und Gebrechen. h) Unfälle. i) Neigung 
zu widernatürlichen und verbrecherischen Handlungen. Punkt II. 
„Während der Schulzeit“ zerfällt in zwei Unterabteilungen. A. Unter- 
suchung durch den Schularzt. B. Prüfung durch den Lehrer. Bei A sind 
Aufzeichnungen zu machen über: a) allgemeine Körperbeschaffenheit 
und äußere Erscheinung, Sprache. b) Schädelnaht und Kopfbildung. 
c) Sinneswerkzeuge (Auge, Ohr, Mundhöhle und Zähne, Nase und 
Rachen, äußere Haut). d) Entartungszeichen und Entwicklungs- 
abweichungen, Reste früherer Krankheiten. e) Geistige und körper- 
liche Krankheitserscheinungen. Punkt B hat Aufzeichnungen über: 
a) Aufmerksamkeit und Interesse. b) Anschauungs- und Vor- 
stellungsvermögen. c) Gedächtnis, Urteilsvermögen. d) Sprache. 
e) Schulkenntnisse und Fertigkeiten (Lesen, Rechnen, Schreiben). 
Über die „Weitere Entwicklung in der Schule“ folgen alsdann 
Räume für die acht Schuljahre zu Eintragungen über „Fortlaufende 
Beobachtungen, angewandte Mittel und ihr Erfolg“. Den Schluß 
bildet: Entlassungszeugnis nebst den Angaben für die Militär- 
behörde: 1. Körper- und Geisteszustand (durch den Schularzt fest- 
zustellen). 2. Urteil über Gedächtnis, Merkfähigkeit, Selbständig- 


74 GEORG BÜTTNER, 


keit im Denken und Handeln, Grad der Erwerbsfähigkeit, Orien- 
tierungsfähigkeit in der Umwelt. 3. Leistungen in der Schule 
(Religion, Rechnen, Lesen, mündlicher und schriftlicher Gedanken- 
ausdruck). 4. Charakter. 

Als zweite Maßnahme wird in dieser Verfügung eine „Än- 
leitung“ in Aussicht gestellt zur zweckdienlichen erziehlichen, 
unterrichtlichen und fürsorglichen Behandlung schwachsinniger 
Kinder. Dieselbe ist jetzt, Ende Dezember 1913, im Verlage von 
J. Staut-Arnsberg erschienen, verfaßt von SCHREFF, Königl. Schul- 
rat und Dr. ‘SteınHaus, Stadt- und Hilfsschularzt und betitelt: 
„Das schwachsinnige Kind in der normalen Volks- 
schule. Anleitung zur prüfenden Beobachtung der leistungs- 
unfähigen und zur zweckmäßigen Behandlung der als schwachsinnig 
erkannten Kinder in Erziehung und Unterricht der Volksschule.“ 

Nach einem einleitenden Kapitel über „Der gegenwärtige 
Stand der Versorgung schwachsinniger Kinder durch 
die Schule; Notwendigkeit einer umfassenden Für- 
sorge“ wird im zweiten Kapitel gesprochen über „Ursachen 
des Schwachsinns“, sich gliedernd in solche, „die außerhalb 
des Kindes liegen“ und solche, „die in dem Kinde selbst gelegen 
sind“. Zu ersteren zählen: Alkoholismus, Epilepsie und Hysterie, 
Neurasthenie, Geisteskrankheiten, Syphilis, 'Tuberkulose, Blutsver- 
wandtschaft. Der Alkoholismus mag in weit über ein Drittel 
aller Fälle als erblich belastendes Moment auftreten. Bezüglich 
der Tuberkulose wird gesagt: „Die Tuberkulose wird dann, 
wenn sie gehäuft in Familien vorgekommen ist, aber auch nur 
dann, zu einer körperlichen und damit auch zu einer geistigen 
Minderwertigkeit der Nachkommenschaft führen können und geistig 
widerstandsunfähige Individuen entstehen lassen; als direkte Ursache 
für bestimmte geistige Erkrankungen des Kindesalters oder für die 
Anlage zu solchen, kommt sie wohl kaum in Betracht.“ Über die 
Blutsverwandtschaft heißt es: „Hinsichtlich der Frage nach 
der ursächlichen Bedeutung der Blutsverwandtschaft der Eltern für 
den kindlichen Schwachsinn ist der jetzige Standpunkt wohl der, 
daß einwandfreie Feststellungen darüber noch nicht getroffen sind; 
es ist sehr unwahrscheinlich, daß die Blutsverwandtschaft als Ur- 
sache des angeborenen Schwachsinns in Betracht kommt; in den- 
jenigen Verwandtenehen, denen schwachsinnige Kinder entsprossen 
sind, können gewöhnlich andere Ursachen für die geistige Erkran- 
kung des Kindes ermittelt werden.“ 

Bei den „Ursachen, die in dem Kinde selbst gelegen sind“, 


Fürsorge für schwachbegabte Kinder auf dem Lande. 75 


werden als erste Gruppe angeführt „Geburtsstörungen“. Dann 
folgen „Krämpfe“. Über sie wird gesagt: „Krämpfe können die 
Entwicklung des kindlichen Gehirns ungünstig beeinflussen, wenn 
sie schwer, gehäuft und über längere Zeit sich erstreckend auf- 
treten.“ Bezüglich der „Rachitis“ heißt es: „Als eine wesent- 
liche Ursache des kindlichen Schwachsinns oder weitgehender Minder- 
wertigkeit haben wir nach der Erfahrung die sog. „englische Krank- 
heit“, die wissenschaftlich mit dem Namen der Rachitis belegt 
wird, anzusehen. Nicht jedes Kind aber, das in früherer Jugend 
an Rachitis gelitten hat, wird schwachsinnig. Wir begegnen sehr 
vielen früher an Rachitis erkrankt gewesenen Kindern in den 
Oberklassen, womit zum Ausdruck kommt, daß sie sich intellektuell 
normal entwickelt haben. Nur die ganz schweren Fälle von Rachitis, 
namentlich diejenigen, die mit Krämpfen einhergehen, kommen in 
Betracht.“ „Ansteckende Krankheiten“, heißt es dann weiter, 
„führen nicht immer zu Schwachsinn, schädigen auch nicht in jedem 
Falle die Entwicklung der Hirnrinde, sondern nur unter ganz be- 
stimmten Voraussetzungen.“ Nicht zu vergessen sind auch 
„Nervenkrankheiten“ und „Schädelverletzungen“ als 
hierher gehörig. 

Was „ungünstige, soziale Verhältnisse“ anbelangt, so 
sind sie niemals eine Ursache des kindlichen Schwachsinns. „Sie 
können selbstverständlich die geistige Entwicklung eines Kindes 
ungünstig beeinflussen; das unterernährte und in äußerst dürftigen 
Verhältnissen aufwachsende Kind wird in seiner intellektuellen 
Entwicklung etwas hinter den Kindern zurückbleiben können, denen 
günstigere Verhältnisse geboten werden; das in moralisch nicht 
einwandfreiem Elternhause aufgezogene Kind wird der sittlichen 
Verwahrlosung anheimfallen können. Schwachsinnig aber werden 
diese Kinder nicht.“ 

Trotzdem wird es nicht selten Fälle geben, bei denen diese 
Ursachen nicht sofort ersichtlich sind, und man wird zur eingehen- 
den Untersuchung und Prüfung des Einzelfalles schreiten müssen. 
Zu diesem Zweck behandelt Kapitel III „Prüfende Beobach- 
tung der des Schwachsinns verdächtigen Kinder“ Es 
gliedert sich in: A. „Untersuchung durch den Arzt“, wobei zu berück- 
sichtigen sind: Körperbeschaffenheit, Kopfbildung, Sinneswerkzeuge, 
Entartungszeichen, geistige und körperliche Krankheitserscheinungen, 
und in: B. „Prüfung durch den Lehrer.“ Letztere hat sich zu be- 
fassen mit: Verarbeitung der Sinnesreize, Aufmerksamkeit und 
Interesse, Empfindungsvermögen, Anschauungs- und Vorstellungs- 


76 (GEORG BÜTTNER, 


vermögen, Gedächtnis- und Urteilsvermögen, Phantasietätigkeit, 
Sprache, Schulkenntnisse und Fertigkeiten, Gefühls- und Willens- 
tätigkeit, Affekte, Handlungen. 

Ganz richtig wird am Schluß dieses Kapitels noch bemerkt und 
hervorgehoben, „daß es gänzlich verfehlt wäre, ein schwach- 
sinniges Kind nur nach seinen intellektuellen, nament- 
lich den schulischen Leistungen zu beurteilen. Das 
schwachsinnige Kind muß als Gesamtpersönlichkeit bezüglich seines 
psychischen Verhaltens gefaßt werden. Die eine oder die andere 
der aufgeführten Störungen werden sich immer, oft genug auch 
viele vereint feststellen lassen, jedenfalls stets Mangel an Vor- 
stellungen, Veränderungen der Vorstellungsverknüpfungen, Urteils- 
schwäche und Defekte in den Handlungen. Sie machen das Wesen 
auch des Schwachsinns im schulpflichtigen Alter aus“. 

Dann folgt ein Kapitel IV über: „Der Personalbogen und 
seine Führung; Überweisung von Hilfsschulen und 
verwandte Anstalten.“ 

Unstreitig sehr wert- und bedeutungsvoll ist dann Kapitel V: 
„Versorgung der in der Normalschule verbleibenden 
schwachsinnigen Kinder.“ Mit Recht wird da zuerst her- 
vorgehoben, daß zunächst eine rein körperliche, nachhaltige Sorge 
einsetzen muß, die gewissermaßen den Boden vorbereitet für die er- 
folgreiche erziehliche Behandlung und unterrichtliche Förderung. 
Demgemäß wird eingehend zuerst das Wort geredet der „Leib- 
lichen Fürsorge“. Erst dann kann die „Erziehliche Be- 
handlung“ einsetzen. Es heißt darüber: „Die wichtigste und 
gewiß nicht leichteste Aufgabe stellt dem Lehrer der Schwachen 
die Erziehungspflicht. Die Schwierigkeit derselben liegt zunächst 
in den Kindern selbst, in ihrer mangelnden Intelligenz, ihrem 
schwachen, oft krankhaften Gefühls- und Willensleben. Hierzu 
kommt bei einem Teile derselben der bisherige Mangel aller erzieh- 
lichen Behandlung, bei einem anderen sogar die ungünstige und 
verderbende Beeinflussung durch Elternhaus und Nachbarschaft.“ 
Und zum Schlusse wird gesagt: „Aller Erfolg in der schweren Er- 
ziehungsarbeit an den Schwachsinnigen hängt wesentlich von der 
Persönlichkeit des Lehrers ab. Liebe, uneigennützige Opferfreudig- 
keit, Ruhe, Milde, gepaart mit freundlichem Ernst und fester Kon- 
sequenz müssen sie auszeichnen.“ 

Bei der „Unterrichtlichen Förderung“ wird das Wort 
geredet „Heilpädagogischen Nachhilfestunden, wöchent- 
lich 6 an der Zahl, sich erstreckend auf Religion, Rechnen und 


Fürsorge für schwachbegabte Kinder auf dem Lande. 77 


Deutsch. Als besonders zu beachtende Unterrichtsgrundsätze 
werden aufgestellt: 1. Nichts voraussetzen. 2. Nicht viel auf ein- 
mal darbieten. 3. Lückenlos fortschreiten. 4. Viel wiederholen. 
5. Immer veranschaulichen. 6. Viel selbst erleben lassen. 7. Viel 
gestalten lassen. Wertvoll und beachtenswert ist dabei weiter die 
Anführung kleiner Skizzen über die Art und Weise der ersten 
Unterweisung in besagten drei Disziplinen: Religion, Rechnen und 
Deutsch. Als Lernbücher für den Nachhilfeunterricht werden 
diejenigen der Hilfsschule empfohlen. 

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist auch, was bezüg- 
lich der „Jugendpflege“ gesagt wird. Es heißt unter anderem: 
„Die ernste Arbeit der Jugendpflege an den Schwachen beginnt mit 
der Sorge um ihre Berufswahl. Die Schwachen eignen sich zu 
keinem Berufe, der Selbständigkeit und Vielseitigkeit in seiner 
Ausübung verlangt. Von den Knaben werden deshalb nur wenige 
ein einfaches Handwerk erlernen können, dagegen sind viele in 
kleineren mechanischen Betrieben zu verwenden, wo sie immer die- 
selben leichten Handgriffe zu leisten haben; ganz besonders aber 
empfiehlt sich ihre Beschäftigung im Gartenbau und in der Land- 
wirtschaft. Die Mädchen finden ihr Arbeitsfeld am besten im Hause, 
in der Familie. Bei der Auswahl der Stellen ist vor allem darauf 
zu achten, daß das Hauswesen nicht allzu groß ist, daß die Haus- 
frau sich der Führung desselben persönlich genügend widmet und 
Geschicklichkeit, Liebe und Geduld besitzt zu einer ruhigen, schritt- 
weisen Einführung des oft recht unbeholfenen Wesens in die ver- 
schiedenen häuslichen Verrichtungen. Stellen auf dem Lande und 
in kleineren Städten sind denen der Großstadt vorzuziehen, und 
von letzteren ist sogar mit aller Entschiedenheit abzuraten im 
Hinweis auf die großen Gefahren, die gerade dort der Sittlichkeit 
der schwachsinnigen jungen Leute in erhöhtem Maße drohen.“ Neben 
der Berufswahl ist nicht zu vergessen die Angliederung an Vereine, 
der Schutz bei der Militärdienstpflicht und in der Rechtspflege. 

Überblickt man noch einmal die ganzen Darlegungen des Buches, 
und faßt die Maßnahmen der Königlichen Regierung zu Arnsberg 
noch einmal näher ins Auge, so muß man sagen, sie sind in hohem 
Maße geeignet, die Fürsorge für die schwachbegabten Kinder auf 
dem Lande um ein gutes Stück vorwärts zu bringen. Man ist 
wenigstens hier nicht bei theoretischen Frörterungen stehen ge- 
blieben, sondern hat Hand ans Werk gelegt, um tatsächlich Hilfe 
zu bringen den armen Stiefkindern des Glücks. 





-re 


Nachdruck verboten. 


Welche Ursachen des kindlichen Schwachsinns 
ergibt die Anamnese ? 


Von 


Dr. Oskar v. Hovorka, Ordinarius an der niederösterr. Landes- 
kinderanstalt Gugging, bei Wien. 


Die Ursachen des Schwachsinns der Kinder haben wir im all- 
gemeinen in zwei große Gruppen zu trennen: angeborene und er- 
worbene. Wir sind dabei auf die anamnestischen Daten der An- 
gehörigen, sowie auf den status somaticus der Kinder in erster Linie 
angewiesen. Wenngleich bei der Ermittelung der wahren Ursachen 
die zweite Quelle unserer direkten Untersuchung und Begutachtung 
unterliegt, so wimmelt es bei der ersten sozusagen von einer Un- 
menge subjektiver Momente, welche ihrer oft künstlich aufgebauschten 
Schale erst entkleidet werden müssen, um auf den wahren Kern zu 
gelangen. Die ursprüglichen Angaben der Angehörigen werden 
nämlich oft in einer so unglaublich entstellter oder verballhornten 
Weise dem aufnehmenden Arzte mitgeteilt, daß es einer jahrelangen 
Erfahrung im Umgange mit dem Volke, sowie eigener Kunstgriffe 
bedarf, um das richtige und Wahre zu erfassen; oft kann erst eine 
zweite, oder sogar eine dritte Anamnese Licht in eine Kranken- 
geschichte bringen. Aus diesem Grunde ist bei der kıitischen 
Beurteilung und bei zusammenfassenden Schlußfolgerungen von 
größeren Gruppen von Anamnesen stets eine erhöhte Vorsicht un- 
bedingt notwendig. 

Wir haben zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen ein 
Berichtsjahr, und zwar das Jahr 1913, mit 419 schwachsinnigen 
Kindern (155 Knaben, 264 Mädchen) genommen, welche die nieder- 
österreichische Landes-Pflege-- und Beschäftigungsanstalt für 


Welche Ursachen des kindlichen Schwachsinns ergibt die Anamnese? 79 


schwachsinnige und epileptische Kinder zu Gugging, bei Wien, in 
diesem Zeitraume beherbergt hat. Es werden hier schwachsinnige 
Kinder, im Alter von 5 Jahren empfangen, aufgenommen, wurden hier 
geflegt, beziehungsweise beschäftigt oder unteırichtet und verlassen 
mit dem zwölften (Knaben) oder sechzehnten (Mädchen) Jahre-die 
Anstalt, um an andere Versorgungs-, Armenanstalten oder in die 
häusliche Pflege übergeben zu werden. Zur Aufnahme gelangen nur 
Kinder aus dem Kronlande Niederösterreich. 

Unter den angeborenen Ursachen, von welchen die meisten auch 
mit dem Sammelnamen „erbliche Belastung“ bezeichnet zu werden 
pflegen, spielt der Alkoholismus die hervorragendste Rolle. 
Unter den 419 Kindern unserer Anstalt war der Vater in 76 Fällen, 
und zwar bei 34 Knaben und 42 Mädchen, Trinker, die Mutter in 
5 Fällen (1 Knabe, 4 Mädchen), der Großvater in 32 Fällen (8 Knaben, 
24 Mädchen), die Großmutter bei 3 Mädchen, der Onkel in 14 Fällen 
(1 Knabe, 13 Mädchen). Es bestand demnach in der Aszendenz 
die Trunksucht im Ganzen in 130 Fällen (44 Knaben, 86 Mädchen), 
welche Zahl demnach fast ein Drittel der Gesamtsumme ausmacht. 
Doch müssen wir gleich hier eine Bemerkung machen, die mehr 
oder weniger auch für die anderen Erhebungen Geltung hat. Die 
angegebenen Zahlen sind nämlich eigentlich als zu niedrig anzu- 
sehen, da erstens die Angehörigen aus unrichtig angebrachter Scham 
die Trunksucht der Familienmitglieder verschweigen, ferner, weil 
unter den 419 Anstaltskindern neun Findelkinder sind, bei welchen 
nähere anamnestische Angaben überhaupt nicht mehr zu ermitteln 
waren. 

Eine etwas geringere, doch immerhin noch ansehnliche Zahl 
weist die nächste Gruppe auf, nämlich die Gruppe jener Kinder, 
deren AngehörigeStörungenihrespsychischen Verhaltens 
zeigten. Es bestand der Irrsinn des Vaters bei 5 Kindern (2 Knaben, 
3 Mädchen), Irrsinn der Mutter bei 4 Kindern (2 Knaben, 2 Mädchen), 
Iırsinn der Verwandten bei 42 Kindern (14 Knaben, 28 Mädchen) 
demnach im ganzen bei 51 Kindern (18 Knaben, 33 Mädchen). Ferner 
war schwachsinnig bei 12 Kindern (4 Knaben, 8 Mädchen) der Vater, 
bei 18 Kindern (8 Knaben, 10 Mädchen) die Mutter, bei 13 Kindern 
(4 Knaben, 9 Mädchen) die nächsten Verwandten. Schließlich war 
der Vater neurasthenisch bei 4 Knaben die Mutter bei 4 Knaben 
und 5 Mädchen. Die Gesamtsumme dieser psychisch Minderwertigen 
in der Aszendenz macht dennoch mehr als ein Viertel aus, d. h. 
107 Kinder (38 Knaben, 69 Mädchen), deren Angehörige Störungen 
des psychischen Verhaltens aufwiesen. 


80 OSKAR v. HOVORKA, 


Von Epileptischen und zugleich schwachsinnigen Kindern ent- 
hält unsere Anstalt eine nicht unbeträchtliche Anzahl und zwar 
im ganzen 58 (19 Knaben, 39 Mädchen). Dessen ungeachtet gab 
es unter den Angehörigen der Anstaltskinder auffallend wenig 
Personen, welche an Epilepsie litten, und zwar war der Vater 
epileptisch bei 3 Kindern (1 Knabe, 2 Mädchen), die Mutter bei 
4 Kindern (3 Knaben, 1 Mädchen), die nächsten Verwandten bei 
8 Kindern (1 Knabe, 7 Mädchen), im ganzen demnach bei Kindern 
(5 Knaben 10 Mädchen). 

Unter den Angehörigen unserer schwachsinnigen Kinder war 
auch der Selbstmord nicht selten. Bei 21 Kindern (11 Knaben, 
10 Mädchen) endeten die Angehörigen durch Selbstmord und zwar 
der Vater bei 8 Kindern (5 Knaben, 3 Mädchen), (die Mutter in 
keinem der Fälle), die nächsten Verwandten bei 13 Kindern (6 Knaben, 
7 Mädchen). 

Eine Blutsverwandtschaft der Eltern bestand nur bei 
8 Kindern (2 Knaben, 8 Mädchen). Dies würde die neueren An- 
sichten von PEIPERS, REIBMAYR, BUMKE, Kraus u. a. bestätigen, nach 
welchen die Blutsverwandtschaft sogar rasch verbessernd wirken soll. 

Wir untersuchten auch die Verhältnisse der nächsten Ver- 
wandtschaft unserer Kinder in bezug auf schwere Allgemeiner- 
krankungen, besonders Tuberkulose und Syphilis. Bei der Tuber- 
kulose zogen wir nur jene Angehörigen in Betracht, welche an 
dieser Krankheit tatsächlich gestorben sind. Solche Kinder gab es 
bei uns 61 und zwar 24 Knaben und 37 Mädchen; es erlag der Krank- 
heit der Vater in 27 Fällen (9 Knaben, 18 Mädchen), die Mutter 
in 20 Fällen (9 Knaben, 11 Mädchen), die nächsten Verwandten in 
14 Fällen (6 Knaben, 8 Mädchen). 

Die ermittelte Zahl der an Syphilis erkrankten Angehörigen, 
wobei wir allerdings nur die Eltern in Rechnung gezogen haben, 
war auffallend klein; nämlich der Vater war in 4 Fällen syphi- 
litisch und zwar bei 3 Knaben und 1 Mädchen. Ganz abgesehen 
von den absichtlichen und unabsichtlichen Verschweigungen seitens der 
Angehörigen darf uns wohl diese auffallend niedrige Zahl nicht in 
Erstaunen setzen, wenn wir bedenken, das bei syphilitischen Eltern 
ein Abortus, die Früh- und Fehlgeburten der Nachkommenschaft 
die Regel ausmachen. 

Von den übrigen Krankheiten, welche im Sinne. einer erblichen 
Belastung in Betracht kommen könnten, wollen wir noch erwähnen: 
Diabetes bei Angehörigen von 2 Kindern, Taubstummheit bei 3 
Kindern, Fraisen (Eklampsie) bei den Geschwistern von 12 Kindern. 


Welche Ursachen des kindlichen Schwachsinns ergibt die Anamnese? 81 


Schließlich wollen wir den angeborenen Ursachen den soge- 
nannten „Mutterschreck“ beifügen, welcher in den Anamnesen 
so häufig wiederkehrt, bei näherer Prüfung sich jedoch entweder 
auf ein stark übertriebenes ätiologisches Moment oder auf ein post 
hoc, ergo propter hoc zurückführen läßt. Fälle, in welchen die Mütter 
während ihrer Schwangerschaft einen hochgradigen Schrecken als 
Ursache des Schwachsinns ihres Kindes mit großer Bestimmtheit 
angaben, gab es außer den übrigen, leicht zu eliminierenden im ganzen 
elf. Doch ergab sich bei näherer Prüfung auch dieser Fälle, daß 
die meisten dieser Kinder schon von vornherein erblich stark belastet 
waren, indem ihre Eltern, besonders die Väter, oder auch die näheren 
Verwandten notorische Trinker oder geisteskrank waren. Es handelte 
sich in diesen Fällen um schwere psychische Traumen zwischen 
dem zweiten und letzten Schwangerschaftsmonate und zwar: Stolpern 
über eine Eisenbahnschiene knapp vor einem heranbrausenden Zuge, 
Kohlenoxydvergiftung, Verlust eines größeren Geldbetrages, Über- 
fahrenwerden des Mannes, nächtlicher Überfall durch einen frem- 
den Mann, Straßenexzeß, Überfall durch einen entlaufenen Stier, 
Hundebiß, heftige Mißhandlung seitens des trunksüchtigen Gatten, 
Scheuwerden eines Ochsen. Es würde zu weit führen, wollten wir 
alle diese Fälle einzeln analysieren, um den Beweis zu führen, daß 
die meisten von ihnen nicht die vermeintliche Ursache der Geistes- 
krankheit des nachher schwachsinnig zur Welt gekommenen Kindes 
gewesen sind, obwohl nicht in Abrede gestellt werden soll, daß der 
Schwachsinn des vorher erblich belasteten Kindes durch diese 
psychischen Traumen ausgelöst, oder zu mindest beeinflußt worden ist. 
Am wahrscheinlichsten dürfte ein ätiologischer Zusammenhang im 
ersten Falle (Stolpern über die Schiene) anzunehmen sein, in welchem 
das idiotisch geborene Kind zahlreiche amniotische Abschnürungen 
der Finger und Zehen, ja sogar eine intrauterine amniotische Am- 
putation des rechten Vorderfußes aufweist, also ein Fall, bei dem die 
Einwirkung eines zugleich psychisch und somatisch wirkenden 
Traumas gar nicht so unwahrscheinlich ist. Doch auch in diesem 
Falle war der Vater stark neurasthenisch. 

Bei der Beurteilung der erworbenen Entstehungsursachen 
des Schwachsinn wollen wir gleich eine Trennung in zwei Gruppen 
vornehmen und zwar eine solche, welche während der Geburt, und 
eine andere, welche nach der Geburt einwirken. 

Unter den Ursachen während der Geburt ist es vorzugsweise 
die Zangengeburt und die Sturzgeburt, welche von den 
Müttern als Ursache des Schwachsinns ihres Kindes angeführt wurden, 

Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VII. 6 


82 OSKAR v. HOVORKA, 


und es ist in der Tat nicht zu leugnen, daß mitunter ein plötzlich 
einwirkender, oder länger andauernder starker Druck auf das Gehirn 
mit üblen Nachwirkungen in psychischer Beziehung verknüpft sein 
kann. Unter den Kindern unserer Anstalt waren es im Jahre 1913 
im ganzen 6 Kinder (2 Knaben, 4 Mädchen), bei welchen eine Zangen- 
geburt, ferner je ein Knabe und je ein Mädchen, bei welchen eine 
Sturzgeburt vorkam; überdies gab es noch drei Mädchen, deren Ge- 
burt überaus schwer verlief. 

Zu den Ursachen, welche nach der Geburt als zum Schwachsinn 
führend gezählt zu werden pflegen, gehört vor allem der bei den kleinen 
Kindern so häufig vorkommende Sturz aufden Kopf. Schon der 
Volksmund bezeichnet einen offenbar geistig beschränkten Menschen 
als „auf den Kopf gefallen“. 

Wenngleich die meisten Kopftraumen, welche bei kleinen Kindern 
wohl infolge der großen Elastizität der Schädeldecken hunderttach 
meist ohne jede weitere Fulge ablaufen, müssen wir trotzdem zu- 
geben, daß bei vorher durch erbliche Belastung prädisponierten 
oder durch ernstere vorhergegangene Erkrankungen in ihrer Wider- 
standskraft geschwächten Kindern ein sonst unschuldiges Kopftrauma 
in einer anderen Weise ablaufen kann, als bei einem sonst gesunden 
Kinde. Unter den 419 Kindern des Jahrganges 1913 gab es im 
ganzen 17 Kinder (6 Knaben, 11 Mädchen), bei denen die Eltern 
ganz bestimmte Angaben über einen übel abgelaufenen Kopfsturz 
gemacht haben, welchen sie mit dem beim Kinde zum Vorschein 
gekommenen Schwachsinn in Verbindung brachten. Es war dies 
zumeist ein Sturz aus der Wiege, aus dem Bette, vom Tische, von 
der Bank, aus dem Kinderwagen, aus den Armen des Kinder- 
mädchens usw. 

Außer dem physischen Kopftrauma wurden jedoch auch psychische 
angeführt, welche am besten mit dem volkstümlichen Namen „Kinder- 
schreck"? bezeichnet werden. Wir fanden im ganzen 9 Kinder des 
Jahrganges 1913, in deren Anamnesen das Schrecktrauma bei der 
Entstehung des Selhwachsinns die größte Rolle gespielt haben soll; 
so z. B. das Überfahrenwerden durch einen Radfahrer, ein Eisen- 
bahnunfall, das Erschrecken vor einem verkrüppelten Bettler, vor 
einem kettenrasselnden Krampus,!) vor einem heranspringenden 
Hunde, vor einer Ratte im Abort, plötzliches Anspritzen durch einen 
Wasserstrahl, Unterstellen unter den Hahn der Wasserleitung durch 


!) Krampus, d. h. eine Nachbildung des Teufele am Vorabende des 
St. Nikolaustages (Wiener Dialekt). 


Welche Ursachen des kindlichen Schwachsinns ergibt die Anamnese? 83 


das Dienstmädchen, um das schreiende Kind zu beruhigen, Ein- 
schlagen eines Blitzes in unmittelbarer Nähe. Obwohl nun die Folgen 
solcher schwerer psychischer Traumen,. wie die angeführten, durchaus 
nicht zu unterschätzen sind, so ließ sich durch weitere Kritik der 
Anamnesen leicht nachweisen, daß die meisten Kinder entweder 
bereits stark erblich belastet waren, oder sogar schon vorher schwach- 
sinnig gewesen sind. 

Unter den veranlassenden Ursachen für die Entstehung des 
erworbenen Schwachsinns der Kinder hat die Anführung der Menin- 
gitis sicherlich eine Berechtigung. Diese bekanntlich von den 
Müttern stark gefürchtete Krankheit tritt sehr häufig in den ersten 
Kinderjahren auf und endet entweder mit dem Tode oder zu mindest 
mit einer Verstümmelung des psychischen Verhaltens. Kinder, welche 
bereits laufen begannen, mit der Sprache, dem Reinhalten usw. an- 
fingen, verlieren nach dieser Krankheit alle diese Fähigkeiten und 
müssen wieder von vorn beginnen. Wir hatten 16 solche Kinder 
(2 Knaben, 14 Mädchen), welche diese schwere Erkrankung mit- 
gemacht haben. Freilich wird die Meningitis von den Eltern oft 
mit der Kinderlähmung verwechselt, welche ja bekanntermaßen 
einige ähnliche Symptome aufweist, doch einen ganz anderen Ver- 
lauf und andere Folgen hat, als die erstere. Durch genaue Kritik 
der Anamnesen gelang es uns bei 14 Kindern (6 Knaben, 8 Mädchen) 
die betreffenden Angaben richtig zu stellen und auf das wahre 
Maß zurückzuführen. 

Infektionskrankheiten müssen oft als Prügelknabe bei 
der Ursache des kindlichen Schwachsinns herhalten. Unter unseren 
Kindern war es dagegen nur ein Kind, ein neunjähriges Mädchen, 
bei welchem die Mutter den Ausbruch von schweren — Masern als 
Ursache des Schwachsinns beschuldigte. Erst bei der zweiten 
Anamnese wurde nachträglich ermittelt, daß der Vater des Kindes 
im Irrenhause wegen progressiver Paralyse untergebracht sei. 

Sehr groß war die Anzahl der an Rachitis erkrankten oder 
erkrankt gewesenen Anstaltskinder, nämlich im ganzen 138 Kinder 
(42 Knaben, 96 Mädchen), mithin fast ein Drittel der Gesamtzahl. 
Obwohl diese Krankheit bei ihrer Häufigkeit unter den Kindern der 
unteren Bevölkerungsklassen als disponierendes Moment durchaus 
nicht etwa zu unterschätzen ist, liegt es klar an der Hand, daß sie 
mit der Entstehung des Schwachsinns wenig zu tun hat. 

Dagegen wird der verspätete Zahndurchbruch von den 
Eltern als Ursache des Schwachsinns häufig angesehen; das geschah 


bei 25 Kindern unserer Anstalt (8 Knaben, 17 Mädchen), also erst 
6* 


84 OSKAR v. HOVORKA, 


nach dem abgelaufenen ersten Lebensjahre, obwohl nirgends mit 
einer so gewissen Sicherheit gesagt werden kann, daß hier kein 
Zusammenhang bestehe. Denn teils ist diese Erscheinung eine Folge 
der Rachitis, oder die Folge, aber nicht die Ursache des kindlichen 
Schwachsinns bzw. der Idiotie. Bei diesen 25 Kindern fand der 
Durchbruch des ersten Zahnes am Beginne oder im Laufe des 
zweiten Jahres in 21 Fällen statt (6 Knaben, 15 Mädchen), am Ende 
des zweiten Jahres je bei einem Knaben und bei einem Mädchen; 
ein Knabe bekam den ersten Zahn im dritten, ein Mädchen sogar 
erst im vierten Jahre. Es ist bekannt, daß bei Idioten auch der 
Durchbruch der zweiten Zähne erst viel später als bei normalen 
Kindern aufzutreten pflegt, und zwar war dies bei 13 Kindern 
(4 Knaben, 9 Mädchen) der Fall, indem im siebenten bei 8 Kindern 
(3 Knaben, 5 Mädchen), im achten bei 4 Kindern (1 Knabe, 3 Mädchen), 
im neunten bei einem Mädchen der Durchbruch der bleibenden Zähne 
zustande kam. 

Ähnlich verhält es sich mit den Angaben über die Eklampsie 
(Fraisen) der Kinder. Abgesehen nämlich davon, daß die letztere 
keine Erkrankung, sondern nur eine Krankheitserscheinung dar- 
stellt, die auf die verschiedensten Krankheiten zurückgeführt werden 
kann, muß vorzüglich der irrigen Meinung entgegengetreten werden, 
daß die Fraisen stets mit einem schweren Zahndurchbruch 
verknüpft sein müssen. Diese Tatsache ist leicht durch unsere 
Zahlen zu belegen. Unter unseren 419 Kindern des Jahrganges 1913 
gab es 191 (86 Knaben, 105 Mädchen), welche vor ihrem Eintritte 
in die Anstalt an Eklampsie gelitten haben. Darunter waren nur 
95 Kinder (45 Knaben, 50 Mädchen), bei welchen die Eklampsie 
infolge eines erschwerten Zahndurchbruches auftrat, also jene Er- 
krankung, welche im Volke die Bezeichnung „Zahnfraisen“ führt; 
die übrigen 96 Kinder (41 Knaben, 55 Mädchen) litten an Eklampsie, 
ohne daß die Eltern einen Zusammenhang mit dem Zahndurchbruch 
beobachtet hätten. Dies beweist nur, daß die Eklampsie keine 
Krankheit insgemein ist, sondern als die Folge anderer Krankheiten 
aufzutreten pflegt. Nicht ohne Interesse ist die Verteilung dieser 
„Fraisenkinder“ nach den Jahrgängen. Von jenen 95 Kindern, bei 
welchen die Eklampsie im Anschluß an einen schweren Zahndurch- 
bruch auftrat, stammten aus dem ersten Lebensjahre 77 Kinder 
(37 Knaben, 40 Mädchen), aus dem zweiten 16 Kinder (7 Knaben, 
9 Mädchen), aus dem dritten keines, aus dem vierten 2 Kinder 
(1 Knabe, 1 Mädchen); die übrigen 96 Kinder, bei welchen Eklampsie 
unabhängig von der Zahnung auftrat, entstammten 64 Kinder 


Welche Ursachen des kindlichen Schwachsinns ergibt die Anamnese? 85 


(32 Knaben, 32 Mädchen) dem ersten, 18 Kinder (4 Knaben, 
14 Mädchen) dem zweiten, 5 Mädchen dem dritten, 7 Kinder 
(4 Knaben, 3 Mädchen) dem vierten und je ein Knabe und ein 
Mädchen dem fünften Lebensjahre. Es kommen demnach auf das 
erste Jahr im ganzen 141 „Fraisenkinder“ (69 Knaben, 72 Mädchen), 
auf das zweite 34 Kinder (11 Knaben, 23 Mädchen), auf das dritte 
5 Mädchen, auf das vierte 9 Kinder (5 Knaben, 4 Mädchen), auf 
das fünfte 2 Kinder (1 Knabe, 1 Mädchen). 

Als eine recht ungewöhnliche Entstehungsursache müssen wir 
den Genuß von Branntwein seitens der Kinder bezeichnen; wir 
hatten im Vorjahre zwei Kinder dieser Art in unserer Anstalt, und 
zwar je einen Knaben und ein Mädchen. Diesen Kindern gab die 
Mutter bzw. Pflegemutter, da sie äußerst heftig schrieen, „zur Be- 
ruhigung“ Branntwein zu trinken und setzte diese Prozedur monate-, 
ja jahrelang fort. Solche Kinder pflegen nach einem kurzen Er- 
regungsstadium in tiefen Schlaf zu verfallen, welcher bei jeder aber- 
maligen Darreichung präzis eintritt, bis es zu einer chronischen 
Alkoholvergiftung kommt. Die weitere Folge war im ersten Falle 
Schwachsinn, im zweiten Blödsinn. Noch bei ihrer Aufnahme in 
der Anstalt bestand bei beiden Kindern ein heftiges Händezittern, 
wie bei einem echten Alkoholiker, sowie ein eigentümlicher breit- 
spuriger Gang nebst einem eigenartigen zitterigen Wesen. Dieses 
gefährliche und bedenkliche Volksmittel ist noch heute oft im Lande, 
besonders in Schlesien, Galizien und Russisch-Polen sehr beliebt. 

Noch ein anderes fluchbeladenes „Beruhigungsmittel“ führt bei 
Kindern zweifelsohne zu schweren psychischen Störungen. Es ist 
dies eine Abkochung von Mohnköpfen, welche man noch hie 
und da den schreienden Kindern zu reichen pflegt. Das opium- 
haltige Mohnpräparat wird in verschiedener Form dem Kinde ge- 
reicht: in Wien war es früher als Diakodensirup oder unter der 
Bezeichnung von „Bockshörndlsaftl“* ohne Rezept in allen Apotheken 
Wiens um wenige Kreuzer erhältlich, in England, besonders in den 
großen Fabrikorten wie Liverpool, Manchester, Birmingham usw. 
als Godfreys cordial, Mohnsaft, oder sogar als reine Opiumtinktur, 
black drops, leicht erhältlich; in Rußland und im Orient findet es 
als gewöhnliche Abkochung von Mohnköpfen noch heute häufige 
Verwendung. Unsere Anstalt beherbergt drei solche Opfer (2 Knaben, 
1 Mädchen) einer unerhörten Gewissenlosigkeit dieser Sorte von 
Müttern und Ammen. 

In einem unserer Fälle wurde arge Verwahrlosung und Ver- 
nachlässigung als Ursache des Schwachsinns angegeben. Das 


86 Oskar v. HovoRKA, Welche Ursachen des kindl. Schwachsinns usw. 


Kind kam von seiner unehelichen Mutter, einem Dienstmädchen, 
„in die Kost“ nach Ungarn, wo sich die Pflegemutter um das Kind 
gar nicht kümmerte, es nur täglich einmal nährte, später in einem 
fort prügelte und vollkommen sich selbst überließ. 

Werfen wir nun auf die angeführten Ursachen des kindlichen 
Schwachsinns einen kurzen Überblick, so ersehen wir zuerst, wie 
ungemein vorsichtig und kritisch die Angaben der Anamnese auf- 
zunehmen sind. Ferner ergibt sich aus unseren Betrachtungen, daß 
es vorzüglich die Schädigungen des zentralen Nervensystems sind, 
welche sowohl auf die Frucht, als auf den Säugling oder das reifere 
Kind einwirken, welche in der Entstehung des Schwachsinns die 
erste Rolle spielen. Bei der erblichen Belastung sind es in erster 
Linie der Alkohol und die Geisteskrankheiten der Aszendenz, welche 
üble Folgen nach sich ziehen, unter den erworbenen Ursachen be- 
sonders die Traumen und schweren Erkrankungen, welche den 
Schädel und mithin das Gehirn und seine Häute treffen. So er- 
scheinen uns die psychischen Störungen des Kindes als nichts anderes, 
als die Folge von früheren ähnlichen Störungen der Vorfahren, sowie 
Schädigungen der psychischen Werkzeuge. Der Schwachsinn eines 
Kindes macht daher auf uns oft den Eindruck, als ob der Ge- 
samtorganismus auf irgendeiner Entwicklungsstufe 
stehen geblieben wäre, und: wir sehen oft zehnjährige Kinder, 
die den Eindruck von fünfjährigen sowohl in physischer als in 
psychischer Richtung machen. Darum bewahrheitet sich auch der 
alte Erfahrungssatz, daß man aus der geistigen Beschaffenheit des 
Kindes einen Rückschluß auf seine Eltern ziehen oder umgekehrt aus 
dem Vorleben der Eltern die Zukunft des Kindes voraussagen kann. 


— ee 


Besprechungen. 


Bericht über die XIV. Konferenz des Vereins für Er- 
ziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher vom 
8.—1ll. September in Bielefeld und Bethel, erstattet von 
dem Schriftführer, Direktor Schwenk-Idstein. ©. Marhold, Halle 1913. 

Die Versammlung galt in erster Linie dem Studium des gewaltigen 

Werkes, das durch v. BODELSCHWING geschaffen worden ist. Ein Vortrag 

des Sohnes, der jetzt die Anstalten leitet, gibt einen Überblick über die 

Ausdehnung des gewaltigen Arbeitsgebieten. Im Anschluß wurde noch 

die westfälische Anstalt Wittekindshof besichtigt. In seinem Vortrag über 

die erziehlichen Aufgaben des Heilpädagogen behauptet HELLER, daß die 

Anstaltserziehung der Hilfsschulerziehung auf jeden Fall vorzuziehen sei; 

mit Rücksicht darauf, daß ein großer Teil der Fürsorgezöglinge den 

psychopathischen Konstitutionen zuzuzählen ist, fordert er, daß die Er- 
ziehung der Fürsorgezöglinge prinzipiell Heilpädagogen anzuvertrauen sei. 

SCHWENK verlangt auf Grund eigener günstiger Erfahrungen den weiteren 

Ausbau von Arbeitskolonien für Schwachsinnige. KIRMSE gibt einen Über- 

blick über die Entwicklung der Schwachsinnigenfürsorge Deutschlands mit 

Berücksichtigung der übrigen Länder; in zwei weiteren pädagogischen 

Vorträgen behandeln KöÖLLE den ersten Rechenunterricht Schwachsinniger, 

IsRAEL Spiel und Beschäftigung in der untersten Vorschulklasse. Während 

BLÜMCKE vom ärztlichen Standpunkt aus über Krämpfe im Kindesalter, 

ihre Bedeutung und Beziehung zum jugendlichen Schwachsinn spricht, 

gibt KLEEFISCH in einem Vortrag, den ich auch ärztlichen Kreisen sehr 
empfehlen kann, einen Überblick über Mittel und Wege der Zustands- 
erforschung schwachsinniger Kinder. ScHoßB (Dresden). 


E. Meumann, Über Institute für Jugendkunde. Säemann- 
Schriften für Erziehung und Unterricht. Heft 5. B. G. Teubner. 

Die kleine Schrift ist dazu bestimmt, das Interesse weiterer Volks- 
kreise für die Notwendigkeit der Begründung von Instituten für Jugend- 
kunde zu erwecken. Verf. gibt zu diesem Zweck zunächst einen gedrängten 
Überblick über die wesentlichsten Aufgaben der Jugendforschung. Nach 
M. sind hauptsächlich drei Probleme zu erforschen: erstens die Entwicklung 
der Jugend selbst, zweitens das soziale Problem der Beziehung der Jugend- 
entwicklung zu den sozialen Verhältnissen, unter denen die Jugend auf- 
wächst, drittens das Kulturproblem, welche Bedeutung eine rationelle 
Organisation der Jugendbildung für das geistige und wirtschaftliche Leben 
eines Volkes hat. Weiterhin schildert Verf. die wesentlichsten Arbeits- 
methoden; er teilt sie in vier Gruppen ein: erstens die experimentell- 
psychologische Methode, zweitens Sammlung von geistigen und körperlichen 
Leistungen des Kindes, drittens Organisation der direkten Beobachtung 
(Fragebogenbearbeitung, Tagebuchbearbeitung usw.), viertens statistische 
Methoden (z. B. Parallelstatistik der Schulleistungen usw.). Als praktische 
Aufgaben eines solchen Instituts führt Verf. an: Begründung eines Museums 
für Jugendkunde, Begründung eines literarischen Bureaus, Anleitung zu 


88 Besprechungen. 


wissenschaftlichen Arbeiten, Bildung von Arbeitsgemeinschaften mit anderen 
Instituten und lokalen Arbeitsgruppen. Ein Hinweis auf die Verhältnisse 
des Auslands zeigt, daß Deutschland auf diesem Gebiete noch ziemlich rück- 
ständig ist, namentlich Amerika und Frankreich sind uns weit voraus. Am 
Schluß plädiert M. noch dafür, das Institut in Hamburg einzurichten, da in 
Hamburg der Boden bereits gut vorbereitet ist. ScHoß (Dresden). 


v. Hentig, Ein modernes Jugendgesetz. Säemann-Schriften für 
Erziehung und Unterricht. Heft 4. G. B. Teubner, Leipzig. 

Verf. gibt eine klare Übersetzung des Neuen belgischen Jugendgesetzes 
vom 15. Mai 1912, das in drei Teile gegliedert ist. Das erste Kapitel 
handelt von der Aberkennung der elterlichen Gewalt, das zweite befaßt 
sich mit dem Minderjährigen vor Gericht, im dritten folgen Bestimmungen 
über Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit oder die Hilflosigkeit 
der Jugendlichen. In der kurzen Einleitung bringt der Verf. neben einigen 
Erläuterungen Vergleiche von einzelnen Punkten des neuen Gesetzes mit 
dem Children Act, namentlich aber mit den entsprechenden Bestimmungen 
des deutschen, österreichischen und schweizerischen Vorentwurfs zu ähn- 
lichen Gesetzen. v. H. wünscht, daß, wie in Belgien, so auch in Deutsch- 
land dem Strafgericht die Befugnis übertragen werden solle, in allen den 
Fällen die elterliche Gewalt abzuerkennen, in denen dies Gewaltsverhältnis 
durch eine strafbare Handlung schwer und dauernd erschüttert erscheint. 
Als Mangel des neuen Gesetzes bezeichnet v. H., daß die Öffentlichkeit 
im Verfahren gegen Jugendliche nicht angeschlossen worden ist. Die 
kleine Schrift sei allen empfohlen, die für den Ausbau unserer Jugend- 
gesetzgebung Interesse haben. ScHoB (Dresden). 


Peters, W., Die Beziehungen der Psychologie zur Medizin und 
die Vorbildung der Mediziner. Curt Kabitzsch, Würzburg 1913. 
Die Forderung eines Psychologiestudiums der Mediziner ist in den 
letzten Jahren mehrfach von deutschen und ausländischen Psychologen 
(KÜLPE, MARBE, American Psychological Association) erhoben worden; 
denselben Zweck verfolgt der lesenswerte Vortrag von PETERS. An einer 
großen Zahl von Beispielen weist er nach, daß sich die Beziehungen 
zwischen Psychologie und Medizin nicht nur auf die Physiologie (z. B 
Studium der Sinnesfunktionen, der Hirnlokalisation u. a. m.) und auf die 
Psychiatrie, sondern auf fast alle anderen Sonderfächer der Medizin er- 
strecken, so Pharmakologie (z. B. Nachwirkung der Schlafmittel), Hygiene 
(z. B. Genußmittel) Kinderheilkunde usw. Für den Psychotherapeuten, 
für den Gerichtsarzt, für den Schularzt sind psychologische Kenntnisse 
unbedingt erforderlich. P. verlangt deshalb, daß die Psychologie in das 
medizinische Studium aufgenommen werde; die Psychologie soll aber nicht 
im Anschluß an die psychiatrischen Vorlesungen abgehandelt werden, 
sondern vor dem Physikum als besonderes Fach, womöglich Prüfungsfach, 
betrieben werden. ScHoB (Dresden). 


Horrix, H., Die Ausbildung des Hilfsschullehrers. C. Marhold, 
Halle a. S. 1912. 
Verf. ist der Ansicht, daß die angehenden Hilfsschullehrer eine weiter- 


Besprechungen. 89 


gehende Ausbildung für ihr Spezialfach erhalten müssen, als wie das bisher 
durch Ausbildungskurse, Hospitieren usw. möglich war. Er tritt deshalb 
lebhaft für die Errichtung von heilpädagogischen Seminarien ein; zur Auf- 
nahme soll jeder Volksschullehrer berechtigt sein, der die zweite Lehrer- 
prüfung abgelegt und mindestens 5 Jahre im Volkschuldienst gestanden 
hat. Den Abschluß der einjährigen Ausbildungszeit, wofür H. ein aus- 
führliches Programm entwirft, soll eine Prüfung bilden, durch deren Be- 
stehen zugleich die Berechtigung zur Leitung einer sechsstufigen Hilfsschule 
erworben werden soll. An diesen Seminarien sollten übrigens auch Infor- 
mationskurse für Schulaufsichtsbeamte gehalten werden, damit auch bei 
diesen ein tieferes Verständnis für die Hilfsschularbeit erweckt wird. Zum 
Schluß gibt H. noch einen Überblick über die Ausbildung der Hilfsschul- 
lehrer in anderen Staaten; namentlich in Frankreich und in Ungarn ist 
weitergehend für die Ausbildung der Hilfsschullehrer gesorgt. 
ScHoß (Dresden). 


Deutsche Anstalten für Schwachsinnige, Epileptische 
und psychopathische Jugendliche. Den Teilnehmern der vom 
8.—11. September 1912 zu Bielefeld und Bethel tagenden XIV. Konferenz 
des Vereins für Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher ge- 
widmet. KRedigiert vom Dir. Pastor Stritter und Oberarzt Dr. Meltzer. 
C. Marhold Verlagsbuchhandlung, Halle a. S. 1912. 

Der reich illustrierte Band bildet die 3. Abteilung des im Verlag 
von C. Marhold erscheinenden großen Sammelwerkes über die Anstalts- 
fürsorge für die körperlich, geistig, sittlich und wirtschaftlich Schwachen 
im deutschen Reich in Wort und Bild. Das Buch enthält die Beschreibung 
einer Reise von größeren und kleineren Anstalten, die von Behörden, von 
der katholischen Caritas, von der inneren Mission, von Privatpersonen be- 
trieben werden. Besonders reizvoll ist es, die Geschichte der Entwicklung 
einzelner Anstalten kennen zu lernen ; viele hervorragende Menschenfreunde 
begegnen uns hier, die aus tiefer Menschenliebe ihr Leben der Fürsorge 
für die Geistesschwachen gewidmet haben, die solange von der Öffentlichkeit 
ganz vernachlässigt worden waren. Einzelne Beiträge gehen auch über die 
bloße beschreibende Darstellung der Anstalten hinaus und befassen sich 
mit allgemeinen Fragen, mit Fragen der Organisation, mit dem Zusammen- 
wirken von Arzt, Erzieher und Theologen namentlich an konfessionellen 
Anstalten. Die Freude an dem Buch wird aber wesentlich durch die Tat- 
sache beeinträchtigt, daß einige Privaterziehungsanstaltsbesitzer das Werk zu 
selbstsüchtiger Reklame ausgenutzt haben. Wenn ein Direktor die Medaille 
abbilden läßt, die ihm von der Hygieneausstellung zuteil geworden ist, wenn 
ein anderer von Lob überfließende Dankbriefe von Eltern veröffentlicht, so 
erinnert dies Vorgehen recht sehr an Kurpfuscherannoncen in Tageszeitungen. 
Solche Beiträge durften nicht abgedruckt werden neben Beiträgen, die das 
Wirken selbstloser Männer zeichnen. ScHoB (Dresden). 


Deutsche Hilfsschulen in Wort und Bild. Herausgegeben von 
Stadtschulrat Dr. Wehrhahn, Vorsitz. des Verbandes der Hilfsschulen 
Deutschlands. C. Marhold, Halle a. S. 1913. 

Das vorliegende Buch bildet gewissermaßen eine Ergänzung zu dem 


90 Besprechungen. 


oben erwähnten Sammelwerk über die Anstaltsfürsorge. Zalılreiche, größten- 
teils recht gut illustrierte Beiträge aus großen und kleinen Schulgemeinden 
sind geschickt vereint und geben ein treffliches Bild von dem enormen 
Aufschwung, den das Hilfsschulwesen namentlich im letzten Jahrzehnt 
genommen hat. Die einzelnen Beiträge zeichnen sich zumeist durch 
Sachlichkeit aus; neben einem kurzen Abriß der geschichtlichen Entwicklung 
enthalten sie meist noch Mitteilungen über den gegenwärtigen Stand und 
die Organisation des Hilfsschulwesens in den einzelnen Gemeinden; einzelne 
Beiträge, namentlich die Berichte einzelner Großstädte, lassen auch noch 
tiefere Einblicke in die ortsübliche Methodik tun oder befassen sich auch 
mit allgemeinen Fragen des Hilfsschulwesens; meist geben sie auch noch 
ein gutes Bild von den Fürsorgeeinrichtungen, die während und nach der 
Schulzeit in den einzelnen Gemeinden dem Wohl der Hilfsschüler dienen. 
Sehr zu begrüßen ist es, daß an die Spitze des Werkes ein knapper, klarer 
Überblick über die Bedeutung und Entwicklung des deutschen Hilfsschul- 
wesens gesetzt worden ist. Das Buch, das meiner Ansicht nach zu den 
besten Abschnitten des obengenannten Sammelwerks gehört, ist recht ge- 
eignet, der Hilfsschulbewegung neue Freunde zu gewinnen. 
ScHoB (Dresden). 


Ernestinum. Festbericht 1871—1911. Rohlicek u. Sievers, Prag. 
Neben dem Bericht über die wohlgelungene Feier des 40 jährigen 
Jubiläums der Anstalt gibt die Festschrift auch einen kurzen Überblick über 
die Entwicklung der Anstalt, die lange Zeit die einzige Schwachsinnigen- 
bildungsanstalt in Österreich gewesen ist. 1871 vom St. Auna-Verein 
gegründet stand die Anstalt zunächst unter Leitung von Dr. AMERLING; 
seit 1902 steht Dr. HERFORT als ärztlicher Direktor an der Spitze des 
Ernestinum, das jetzt etwa 115 Zöglinge beherbergt. Sehr große Ver- 
dienste um die Entwicklung hat sich die jetzige Präsidentin des Vereins, 
Prinzessin AUERSPERG, erworben; der Unterricht wird erteilt von Lehr- 
schwestern vom heiligen Kreuze aus Menzingen in der Schweiz. Von den 
Beiträgen sei die Abhandlung von KIRMsSE hervorgehoben, der die Anfänge 
der Schwachsinnigenfürsorge in Österreich kurz darstellt. 
ScHoB (Dresden). 


Siefert, E, Psychiatrische Untersuchungen über Fürsorge- 
zöglinge. C. Marhold, Halle 1912. 

H hat im Auftrage des Landeshauptmanns die 1057 in Anstalten 
untergebrachten Fürsorgezöglinge der Provinz Sachsen, schulpflichtige, wie 
schulentlassene, psychiatrisch untersucht. Solche Untersuchungen sind 
während der letzten Jahre in verschiedenen preußischen Provinzen ange- 
stellt und ausführlich publiziert worden; während aber die meisten dieser 
Untersuchungen im großen und ganzen nur eine Wiederholung der 
CrAMER’schen Untersuchungen waren und deshalb trotz mancher inter- 
essanter Mitteilungen doch etwas ermüdend wirkten, ist H. bei seinen 
Untersuchungen selbständig neue Wege gegangen. Er begnügt sich nicht 
mehr mit einer statistischen Feststellung des Prozentsatzes der krankhaften 
Fürsorgezöglinge, er will tiefer in das Wesen der Fürsorgezöglinge ein- 
dringen, untersucht die Einzelindividuen, Normale wie Krankhafte, die er 


Besprechungen. 91 


wieder in Abnorme (Psychopathen), Debile und Imbecille einteilt, nach 
ganz verschiedenen Richtungen hin (Milieu, Belastung, Zeitpunkt des Ein- 
tritts der Unsozialität, Entwicklung (chronische oder akute) der asozialen 
Züge, Art der Straftaten in verschiedenen Lebensaltern, Verschiedenheiten 
nach den Geschlechtern usw.), um so Gesichtspunkte für eine naturgemäße 
Gruppenbildung zu gewinnen und diese Gruppen wieder nach ihrer Zu- 
sammensetzung, ihrer Prognose zu studieren. So erhebt sich das Werk 
SIEFERT’s weit über den Durchschnitt ähnlicher Untersuchungen ; künftige 
Arbeiten über die Entstehung der Kriminalität werden an diesem Werk 
nicht vorbeigehen können. Wenn S. seine psychiatrisch-naturwissenschaft- 
liche Betrachtungsweise freimütig den Anschauungen entgegenstellt, wie 
sie vielfach noch in Erzieherkreisen herrschen, so erkennt er andererseits 
die wahren Verdienste der Fürsorgeerziehung rückhaltlos an. Ich kann 
die schöne Arbeit Arzten und Pädagogen warm empfehlen. 
ScHoB (Dresden). 


Elfter Jahresbericht über den schulärztlichen Über- 
wachungsdienst an den städtischen Volksschulen, Hilfs- 
schulen, Mittelschulen, höheren Knaben- und Mädchen- 
schulen zu Breslau für das Jahr 1911/12 usw. Herausgegeben 
von Stadtarzt Dr. Oebbecke. Grass, Barth u. Co., Breslau. 

Aus dem eingehenden Bericht sei einmal hervorgehoben, daß Breslau 
seit 1911 drei Schulschwestern angestellt hat; die Einrichtung hat sich 
bisher sehr gut bewährt. — Der schulärztliche Dienst an den Hilfsschulen 
hat durch Anstellung eines zweiten Arztes, Einführung regelmäßiger Sprech- 
stunden, direkten Verkehr mit den Angehörigen und ausgiebige Er- 
kundung der gesundheitlichen Verhältnisse der Kinder eine wesentliche 
Erweiterung erfahren. Die Zahl der Hilfsschulkinder im Berichtsjahr 
betrug 1140. Wie bei früheren Untersuchungen so zeigte sich auch diesmal 
die Morbidität der Hilfsschule besonders groß. ÜHOTZEN verlangt, daß 
zu Behandlungszwecken öffentliche oder private Mittel in noch reicherem 
Maße für die Hilfsschule zu Gebote gestellt werden müssen. — In einem 
Anhang teilt Conn seine Ergebnisse von Schülermessungen mit besonderer 
Beziehung auf die Schulbankgrößen mit. ScHoB (Dresden). 


Meltzer, Leitfaden der Schwachsinnigen- und Blödenpflege. 
Karl Marholds Verlagsbuchhandlung, Halle a. S. (Geb. 1,40 M.) 

Der vielerfahrene ärztliche Leiter der K. Landesanstalt für Schwach- 
sinnige in Großhennersdorf in Sachsen hat in kurzer Form für das 
Personal der Schwachsinnigenanstalten eine Darstellung der besonderen 
Pflichten und Aufgaben geliefert, die auch für den Arzt bei seinem Be- 
streben, sein Pflegepersonal auszubilden, eine hochwillkommene Hilfe 
bedeutet. 

Eindringlich prägt er den Pflegern die Grundsätze der Liebestätigkeit 
ein, insbesondere die wichtige Mahnung zur Geduld. Streng verpönt ist 
jede körperliche Mißhandlung. Besonderer Nachdruck wird auf die Körper- 
pflege und die Hygiene der Anstaltsräume gelegt. Vor allem die Rein- 
haltung der Pfleglinge wird eingehend erörtert, auch die Behandlung der 
Inkontinenz, sowie die Wundbehandlung. 


92 Besprechungen. 


In allgemein verständlicher, einleuchtender Weise trägt das Buch 
seine, der Praxis der Schwachsinnigenpflege entnommenen Ratschläge vor. 
Es gibt zweifellos kein besseres Werk zur Anleitung aller derer, die sich 
dem schweren und entsagungsvollen Berufe der Pflege Schwachsinniger 
und Blöder widmen wollen. W. 


Murtfeld, Fibel für Hilfsschulen. Verlag Moritz Diesterweg, 
Frankfurt und Berlin. (Geb. 90 Pf.) 

Das Büchlein bringt in leichtfaßlicher Weise Bilder von Gebrauchs- 
gegenständen, wie sie die Kinder in jedem Haushalte kennen lernen, als 
Umrißzeichnungen und entwickelt dazu die Lautgebung. Die Fibel ist 
recht geschickt zusammengestellt und wird gewiß bei allen Interessenten 
mit Freude begrüßt werden. Allerdings wäre bei der heutigen Repro- 
duktionstechnik die gelegentliche Anwendung farbiger Bilder auch zu 
erwägen gewesen. 


Murtfeld, Religionsbuch für Hilfsschulen. Verlag Moritz 
Diesterweg, Frankfurt und Berlin 1914. (90 Pf.) 

Anschaulich und geschickt geht das Buch von den Erzählungen des 
Alten Testaments aus. 

Eingehend wird die Lebensgeschichte von Jesus, sowie die Erzählungen 
vom Leiden, Sterben und Auferstehen herangezogen. Fünf Abschnitte 
beziehen sich auf die Tätigkeit von Paulus, Bonifazius und Luther. Das 
Büchlein schließt mit dem kleinen Katechismus Luthers, Bibelsprüchen, 
Gesängen und Gesangbuchsversen sowie Gebeten. 


Peters, W., Dr. phil., Zentralblatt für Psychologie und 
psychologische Pädagogik (mit Einschluß der Heil- 
pädagogik). Verlag C. Kabitzsch, Würzburg. Jährlich 10 Hefte 
= L Band zum Preis von 8 M. 

-Die Zeitschrift will in engem Rahmen (das Heft zu 60 Seiten) einen 

Überblick über die gesamte psychologische und psychologisch-pädagogische 

Arbeit der Gegenwart bieten. Sie will knappe, sachliche, nur informierende, 

nicht kritisierende Referate bringen und auch über das Wesentliche aus 

den Nachbargebieten, aus der Psychiatrie, Physiologie und Schulhygiene u. ä., 

orientieren. 

Die vorliegenden Hefte sind sehr reichhaltig, ausführlich und dabei 
recht übersichtlich in der Stoffanordnung. Bei dem riesigen Anwachsen 
der psychologischen Literatur ist hier das Bedürfnis nach einer Sammel- 
stelle glücklich gelöst. Kr.. 


Weygandt, W., Prof. Dr. med., Soziale Lage und Gesundheit 
des Geistes und der Nerven. Verlag C. Kabitzsch, Würzburg. 
Aus Band XIV. Heft 6 u. 7 der „Würzburger Abhandlungen“. 1,70 M. 

Die Schrift gliedert sich in die drei Abschnitte: 

I. Wie wirkt die soziale Lage ein auf Verhütung, die Entstehung 
und den Verlauf der Störungen einer normalen Beschaffenheit 
unseres Geistes und unserer Nerven ? 

II. Wie können die verschiedenen Erkrankungen des Geistes und 
Nervensystems unsere soziale Lage beeinflussen ? 


Mitteilungen. 93 


III. Welche zweckmäßigen Maßregeln zur Verhütung aller jener 
Störungen und Schwierigkeiten ergeben sich aus der Erkenntnis 
dieser Beziehungen ? 

Auf den 42 Seiten ist viel Wissenswertes zusammengetragen und in 
den praktischen Hinweisen steckt eine Menge nutzbarer Gedanken für den 
Fortschritt unseres Volkes. Die Gesetzbücher sind solange unbefriedigend 
als der materielle Besitz bis ins Kleinlichste geregelt und gesichert ist, 
aber das höchste Gut, die Gesundheit und die körperliche und geistige 
Leistungsfähigkeit, keine Beachtung finden. Der Verfasser fordert auch 
mit Recht eine tiefergehende Aufklärung aller Volksschichten. „In der 
Jugendbildung muß diese Psychohygiene mit aufgenommen werden. 
Auf die konfessionelle Konfirmation sollte eine staatsbürgerliche Unter- 
weisung und dann auch eine hygienische Wehrhaftmachung 
theoretisch und praktisch folgen.“ Bei allem Sport und Leibesübungen 
muß ferner der seelische Faktor als der wichtigere hervortreten. Ko. 


Fürst, M., Dr. med., Schularzt in Hamburg, Jahrbuch der 
Schulgesundheitspflege. Mit einem Beiheft: Schulhygienischer 
Notizkalender. Verlag G. Fischer, Jena 1914. Preis brosch. 3, geb. 4 M. 

Das kurzgehaltene handliche Büchlein „möchte den praktischen Schul- 
hygienikern, und zwar Arzten und Lehrern, in übersichtlicher Form einen 

Teil aller wichtigen und wissenswerten Materialien aus der Praxis und 

Fachliteratur ganz konzentriert vorführen“. Der Versuch ist gelungen. 

Nach Originalaufsätzen über Schulkindermessungen und -wägungen, über 

Freiheit im Turnunterrichte, über primitive und qualifizierte Schulhygiene, 

folgt eine Reihe praktischer Hinweise, Vorschriften, Verzeichnisse, Tabellen, 

Übersichten, die in dem Beihefte neben reichlicbem Raum für Notizen 

noch weitere Ergänzungen finden. kr, 


Mitteilungen. 


I. Welche Anforderungen müssen an die Vorbildung 
der Schulärzte gestellt werden? 

Über diese Frage erstatteten in der Sitzung der erweiterten wissen- 
schaftlichen Deputation für das preußische Medizinalwesen vom 14. Januar 
1914 die Herren Geh. Ober-Med.-Rat Dr. Abel und Geh. Med.-Rat Dr. 
Heynacher einen Bericht. 

Die von ABEL vorgelegten Leitsätze wurden von den Deputationen 
angenommen. Sie gingen von der Feststellung aus, daß die Tätigkeit des 
Schularztes Kenntnisse und Fertigkeiten erfordert, die nicht ohne weiteres 
zum Rüstzeug jedes praktischen Arztes gehören, andererseits aber erst 
eine ersprießliche Tätigkeit des Schularztes ermöglichen. 

Es kommen in Betracht Kenntnisse in der Schulhygiene und in der 
Unterrichtshygiene, Kenntnisse der normalen körperlichen und geistigen 
Entwicklung des Schulkindes, der körperlichen und geistigen Erkrankungen 


94 Mitteilungen. 


einschließlich der Verfahren zur Prüfung der geistigen Fähigkeiten. Auch 
die besondere Unterweisung über den Einfluß der Gesundheitsstörungen 
auf die Militärtauglichkeit, über die soziale Hygiene des Kindesalters sowie 
über Entwicklung, Ziel und Organisation des schulärztlichen Dienstes in 
Deutschland erweist eich als erforderlich. 

Da die Vorbereitung für den schulärztlichen Dienst in den allgemeinen 
Lehrgang der Universitäten wegen der schon bestehenden hohen Belastung 
der Studierenden nicht eingefügt werden kann, empfiehlt ABEL in dem 
zweiten Leitsatz die Veranstaltung von besonderen Kursen nach dem 
Muster des 1912 und 1913 in Köln und Düsseldorf abgehaltenen, die 
allerdings noch der Erweiterung bedürfen (s. Veröffentlichungen aus dem 
Gebiete der Medizinalverwaltung, 3. Bd., 15. Heft). 

Für den Stand der Schulärzte ist es von hoher Bedeutung, daß die 
beratende oberste Medizinalbehörde Preußens der wissenschaftlichen Aus- 
bildung der Schulärzte für ihren besonderen und wichtigen Dienst am 
Wohle der Jugend und der Schule ihr Interesse zugewandt hat. 

Für die allgemeine Arzteschaft wird es jedenfalls erfreulich sein zu 
hören, daß ABEL es in seinem Referate für ausgeschlossen hält, daß die 
preußischen Medizinalbeamten nach dem Vorgange von Württemberg und 
Oldenburg durchgängig zu Schulärzten bestellt würden. Dafür sei die 
moderne schulärztliche Tätigkeit doch zu umfangreich und die Medizinal- 
beamtenschaft anderweitig schon zu stark belastet. 

An dieser Stelle möge noch mit Befriedigung hervorgehoben werden, 
daß gerade auch das Wissen über die nervös-funktionelle und geistige 
Seite des Schulkindes, die geistige Entwicklung, die geistigen Erkrankungen 
und ihre Untersuchungsmethoden und die geistige Hygiene nebst Unterrichts- 
hygiene den Schulärzten zugängig gemacht werden soll. Ohne diese 
Kenntnisse bleibt ja dem Schularzt der Anschluß an das innere Wesen 
der Schule, an ihren unterrichtlichen und erziehlichen Grundcharakter im 
Gegensatz zum klinischen Geiste des Krankenhauses ewig fremd. So dürfte 
auch hier, ähnlich wie in den Hilfsschulkursen, der Psychiatrie eine neue 
Lehraufgabe von hoher sozialer Bedeutung für Schularzt, Kind und Schule 
gestellt sein. 

U. Die erste Prüfung für Lehrer und Lehrerinnen an 
Hilfsschulen in Deutschland fand vom 27. bis 30. November 1914 
in Köln statt. Den Vorsitz führte Provinzialschulrat VOLKMER aus 
Koblenz. Als Prüflinge waren angetreten und bestanden sämtlich zwei 
Lehrer und eine Lehrerin aus Köln und eine Lehrerin aus Saarbrücken. 
Von besonderem Interesse sind die Prüfungsaufgaben um so mehr als bei 
der Hilfsschullehrerprüfung die Psychiatrie zum ersten Male offiziell zu 
Schule und Lehrerschaft in Beziehung tritt, indem ein Psychiater unter 
den fünf Examinatoren der Prüfungskommission mitwirkt. 

Die Aufgaben der diesjährigen Kölner Prüfung waren folgende: 

A. Die mündliche Prüfung erstreckte sich auf alle Gediete der 
Erziehung und des Unterrichts der Schwachsinnigen unter Bezug- 
nahme auf die allgemeine Erziehungs- und Unterrichtslehre. 

1. Psychologie und ihre Zweigwissenschaften (Psychopathologie, 
Kinderpsychologie, Physiologie, Sprachstörungen) u. a. 


Mitteilungen. 95 


Die Aufmerksamkeit. — Die Ermüdung. — Vorstellungs- 
typen. — Wert des Anschauungsunterrichts. — Willensbildung 
in der Hilfsschule. Arten und Formen des Schwachsinns. — 
Kriminelle Neigungen des Schwachsinnigen. — Intelligenz- 
prüfungen. — Epilepsie. — Veitstanz. — Degenerationszeichen 
und ihre Bedeutung. — Schilddrüsenerkrankungen. — Des 
Gehirn. — Lokalisationslehre. — Das Rückenmark und seine 
Funktionen. — Das Ohr. — Die Sprache beim Eintritt in die 
Hilfsschule. — Hörstummheit. — Stottern. — Stammeln. 

2. Methodik der Untcrrichtsgegenstände: 
Jeder Prüfling bekam drei Aufyaben: 

Was kann die Hilfsschule in der jetzigen Kriegszeit tun um 
Klärung der Begriffe zu schaffen? — Wie behandeln Sie die 
biblische Geschichte: Der Jüngling zu Naim? — Der Recht- 
schreibeunterricht auf der Unterstufe. — Der Gesangunterricht 
in der Hilfsschule. — Zweck des Handarbeitsunterrichts. — 
Der Turnunterricht. — Der Geschichtsunterricht in der Hilfs- 
schule. — Die Schultafel und die Kreide im Anschauungs- 
unterricht. — Welche religiösen Übungen schließen Sie dem 
Religionsunterricht auf der Unterstufe an? — Woher nimmt 
der Aufsatzunterricht seine Stoffe? — Heimatkunde. 

3. Geschichte und Literatur der Hilfsschule: 
Geschichte der Schwachsinnigenerziehung im Altertum und 


Mittelalter. — Guggenbühl und seine Bedeutung. — Kern und 
Stötzuer. — Der Ministerialerlaß von 1905. — Sammelwerke 
über Schwachsinnigenerziehung. — Werke über Kinderpsycho- 


logie. — Zeitschriften über Schwachsinnigenerziehung. — 
Werke über Sprachstörungen. 

4. Fürsorge für Schwachsinnige: 

Notwendigkeit der Fürsorge fürSchwachsinnige. — Fürsorge für 
schulentlassene Schwachsinnige. — Was kann die Fortbildungs- 
schule hinsichtlich der Fürsorgefrage für Schwachsinnige tun ? 

B. Die schriftliche Prüfung. 

Es wurden zwei Arbeiten gestellt, davon eine aus dem Gebiete 
der Methodik. Arbeitszeit je vier Stunden an zwei aufeinander- 
folgenden Vormittagen: 

Aufgabe und Umfang des Rechenunterrichts in der Hilfs- 
schule. — Die Grenzen der Hilfschulerziehung. 

C. Die praktische Prüfung bestand in je zwei Lehrproben, von 
denen eine in dem Unterrichtsgebieie der Unterstufe lag. 


Weitere Prüfungstermine sind bis jetzt angesetzt worden für Essen, 
Münster, Cassel, Hannover, Halle, Stettin, Danzig. 








Plastische Massen für Gesichts- und Schädelabgüsse. 
I. Bei Toten bedient man sich am besten warmflüssiger Wachsmischungen, 
bei Lebenden kann natürlich nur kalte plastische Masse verwendet werden. 
II. Für Gesichtsabdrücke kann man eine geeignete plastische Masse 
in folgender Weise herstellen: 8 Teile besten Kaninchenleim oder Gelatine 


96 Mitteilungen. 


von hoher Gallertfestigkeit werden in 30 Teilen Wasser aufgequollen und 
hierauf im Wasserbad geschmolzen. Man setzt nun nacheinander 3 Teile 
Leinölfirnis, 44 Teile Schlemmkreide und 15 Teile Papierbrei zu. Den 
Papierbrei stellt man durch 24stündiges Kochen von Druckpapierabfällen 
her und befreit ihn durch Abpressen von überschüssigem Wassergehalt. Das 
Ganze verrührt und verknetet man gründlich durch. Mit dieser bei schwachem 
Erwärmen plastisch werdenden Masse sind die Gesichtsabdrücke leicht anzu- 
fertiger, ohne daß hiermit irgendein Schmieren verbunden ist. Eine Erhärtung 
der fertigen Abdrücke kann dann so vorgenommen werden, daß man letztere 
mehrmals mit Formaldehyd oder Tanninlösung bestreicht. An Stelle von 
Papierbrei wären auch Asbestmehl, gezupfte Watte oder dgl. zu verwenden. 
III. Eine auch ohne Härtung fest werdende Masse läßt sich dadurch 
herstellen, daß man eine Mischung von 20 Teilen Kartoffelmehl in 70 Teilen 
Wasser mit 10 Teilen 24grädiger Natronlauge aufschließt und diesen 
gelatineartigen Kleister mit so viel fein geschlämmter Kieselgur verknetet, 
bis eine plastische Masse entsteht, welche sofort zur Anfertigung der Ab- 
drücke zu verwenden ist. Es empfiehlt sich, die fertigen und völlig hart 
durchgetrockneten Abgüsse mit Zaponlack zu überziehen. d 
IV. Auch eine ammoniakalische Kaseinlösung kann als Bindemittel 
für irgendeinen Füllkörper, z. B. Kreide, Papierbrei oder dgl. zwecks 
Erzielung einer plastischen Masse benutzt werden. Die nachträgliche 
Härtung des hiermit angefertigten Abgusses wäre dann ebenfalls mit 
Formaldehyd vorzunehmen (vgl. Technische Rundschau 1914, Nr. 12). 
V. Ferner um einen Gesichtsabdruck von Gips (Totenmaske) zu 
nehmen ist zunächst erforderlich, daß die gesamte Obertläche mit Olivenöl 
mittels eines feinen Pinsels eingefettet wird. Über die Augen sowie über 
den Schnurrbart legt man gut eingeöltes Seidenpapier, das man dann genau 
an die Konturen der Oberfläche andrückt. (Bei Abgüssen nach dem Leben 
bringt man noch Glasröhrchen oder dicke Strohhalme in die Nasenlöcher 
und verklebt die Zwischenräume mit Butter oder Vaseline.) Die Kopf- 
haare schützt man durch ein turbanartig über den Kopf gebundenes Leinen- 
tuch. Will man die Kopfhaare mit in den Abguß hineinbeziehen, so ist 
es nötig, einen steifen Brei von Mehlkleister anzurühren, mit dem man 
die Haare in einer beliebigen Form festlegt und nach dem Steifwerden 
gut einölt. Sind alle diese Vorbereitungen getroffen, so geht man an das 
Anrühren des Gipses. Man streut den Gips in eine runde Schale mit 
lauem Wasser, dem eine Messerspitze Kochsalz zugesetzt ist, unter ständigem 
Umrühren ein, bis die Masse eine schlagsabnähnliche Konsistenz erreicht 
hat und trägt dann rasch mit einem breiten Löffel den Gips auf das 
Gesicht auf. Nach dem durch den Kochsalzzusatz beschleunigten Erstarren 
kann man die ganze Gipsmaske ohne Schwierigkeit vom Gesicht lösen. 
Will man von diesem Negativ ein Positiv gießen, so ist es nötig, die 
Negativform mit dünner spirituöser Schellacklösung auszupinseln, dann gut 
mit Seifenlösung zu tränken und dann unter ständigem leichten Klopfen 
dünnen Gipsbrei hineinzugießen. Nach dem Erstarren und Hartwerden 
des ebenfalls mit Kochsalz angerührten Gipses läßt sich durch vorsichtiges 
Klopfen das Negativ leicht vom Positiv lösen. (Vgl. auch M. Mayr’'s 
kunsttechnische Lehrbücher „Das Formen und Modellieren“. München 1909, 
1,80 M.) KL. 


— — ep  — — 


98 KURT LERM, 


zulesen.. Ich hatte eben die 600 Seiten von SEsuıns französisch 
geschriebenem Buch niedergeschrieben, als ich aus New York ein 
Exemplar des 1866 veröffentlichten englischen Buches erhielt. Dieser 
alte Band hatte sich unter den aus der Bibliothek eines New Yorker 
Arztes ausgeschiedenen Büchern vorgefunden und war der Person, 
der ich das Buch verdanke, gern überlassen worden ...“ 

So schildert Dr. Marıa Movtessorı in dem Buche „Selbsttätige 
Erziehung im frühen Kindesalter“ ihre Bemühungen, die Werke 
Sesviss zu erlangen. Und wie der fleißigen italienischen Forscherin 
ist es den deutschen Heilpädagogen ergangen, das Buch wurde ge- 
wünscht, ersehnt und war doch nie zu erreichen. Diesem Übelstand 
ist jetzt abgeholfen, das Sehnen wird erfüllt. Phil. Dr. S. KRENBERGER 
hat es unternommen, durch Übersetzung Szsvins Buch „Die Idiotie“ 
und Irarns „Berichte über den Wilden von Aveyron“ den Ländern 
deutscher Zunge zugänglich zu machen. Er hat sich damit ein 
Verdienst erworben, er hob einen Schatz, der verborgen war. 

Das Buch von Dr. Marıa Montessori bildet die Fortsetzung 
der Arbeiten IrArps und rotes und führt hinein in Fragen über 
Erziehung und Unterricht des schwachsinnigen Kindes, die den 
Heilpädagogen im allgemeinen interessieren, dadurch aber, daß ihre 
Beantwortung im Hinblick auf Irarn und Secur erfolgt, erhöhte 
Beachtung erfahren und in Deutschland wieder ganz besondere 
Aufmerksamkeit finden müssen, weil Montzssorıs Buch die deutsche 
Hilfsschulmethodik zum Vergleich heranzieht. 

Es liegen also folgende Bücher der vorliegenden Betrachtung 
zugrunde: 1. Irarns Berichte über den Wilden von 
Aveyron. Nach BourxevisLes Ausgabe von Phil. Dr. S. Krex- 
BERGER, Direktor der Privaterziehungsanstalten in Wien XLII/8, 
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur der „Eos“, Vierteljahrs- 
schrift für die Erkenntnis und Behandlung jugendlicher Abnormer. 
Zweite Ausgabe Wien 1913. Verlag von Karl Gräser u. Co. 
72 Seiten. Mit einem Bilde des Wilden von Aveyron. Preis 
Mk. ,— —=K. 2,40. — 2. Die Idiotie und ihre Behandlung 
nach physiologischer Methode von med. Dr. S. EDWARD 
Sesumn. Nach der englischen Ausgabe des Lehrerkollegiums der 
Columbia-Universität aus dem Jahre 1907 und nach einer ersten 
Übersetzung von Herca Neumans (Wien) bearbeitet und mit 
Bewilligung der Witwe Sesums herausgegeben von Phil. Dr. 
S. KRENBERGER, Direktor der Privaterziehungsanstalten in Wien 
AIS, Verlag von Karl Gräser u. Co, Wien 1912. Mit einem 
Bilde von Dr. Epwarp Skcum. IX u. 222 Seiten. Preis Mk. 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 99 


5— =K. 6—. — 3. Selbsttätige Erziehung im frühen. 
Kindesalter. Nach den Grundsätzen der wissenschaft- 
lichen Pädagogik methodisch dargelegt von`Dr. MARIĄ 
Mosrgssopt. Stuttgart. Verlag von Julius Hoffmann. Mit vielen 
Abbildungen und einer Einleitung des Übersetzers Dr. Orto Kxapr. 
VI u. 347 Seiten. 

Betrachten wir zunächst das Schülermaterial, auf das sich 
ITARDS, SEGUINS und MonTEssorıs Darlegungen beziehen. 

Nach Irarps erstem Bericht war der Wilde von Aveyron „ein 
Kind von 10 bis 11 Jahren, welches man schon einige Jahre früher 
ganz nackt in den Wäldern der Caune gesehen hatte, wo es Eicheln 
und Wurzeln suchte, von denen es sich nährte“. Von drei Jägern 
war es Ende des Jahres 1807 am selben Orte in dem Moment 
betroffen worden, „da es eine Eiche hinaufkletterte, um sich ihren 
Blicken zu entziehen. Nach einem benachbarten Dorf gebracht und 
der Obhut einer Witwe anvertraut, entwich das Kind nach Ablauf 
einer Woche wieder in die Berge, wo es während der strengsten 
Winterkälte, nur mit einem zerlumpten Hemd bekleidet, umherirrte. 
Des Nachts zog es sich an einsame Orte zurück, bei Tag näherte 
es sich den benachbarten Dörfern und führte dieses vagabundierende 
Leben, bis es eines Tages aus eigenem Antrieb ein bewohntes Haus 
des Kantons Saint-Sernin betrat. — Der Knabe wurde dort fest- 
genommen und während zweier oder dreier Tage überwacht und 
gepflegt, dann nach dem Hospiz von Saint-Afrique und von da nach 
Rodez gebracht, wo er während mehrerer Monate behalten wurde. 
Während seines Aufenthaltes in diesen verschiedenen Orten hat 
man ihn nie anders als scheu, ungeduldig und unstet gesehen; er 
versuchte immer zu entweichen ... Ein Minister!), der zugleich 
ein Förderer der Wissenschaften war, glaubte, daß auch moralisch 
entwickelte Menschen aus diesem Vorfall Nutzen ziehen könnten, 
und gab den Auftrag, dieses Kind nach Paris zu bringen... Viele 
Neugierige freuten sich darauf, den Eindruck zu beobachten, welchen 
alle die schönen Dinge der Hauptstadt auf ihn machen würden . 
Was sah man aber statt dessen? Ein Kind von einer ekelhaften 
Unreinlichkeit, zuweilen von spasmodischen Krämpfen ergriffen, sich 
ununterbrochen schankelnd gleich gewissen Tieren der Menagerie, 
alle, die ihm nicht zu Willen waren, beißend und kratzend, keinerlei 
Art von Zuneigung für jene zeigend, die ihn pflegten; mit einem Wort: 
ein vollständig gleichgültiges, auf nichts acht habendes Geschöpf.“ 


D Herr von CHAMPAGNY (nach’ Angabe von Dr. KRENBERGER). 
7* 


100 KuRT LEHM, 


Der junge Wilde wurde im Jahre 1801 dem Taubstummeninstitut 
zugewiesen, an dem Irarp als Arzt wirkte, und Irarp erhoffte viel 
"von einer medizinischen Behandlung. Der Irrenarzt Pınen gab in 
einer Sitzung einen Bericht über den jungen Wilden ab, den Irarv 
wie folgt wiedergibt. „Nach seiner Besprechung der Sinnesfunktionen 
des jungen Wilden erklärte PINEL, daß dessen Sinne derart stumpf 
seien, daß er nach dieser Richtung viel tiefer stehe als einige 
unserer Haustiere; seine unstet herumirrenden Augen, die jeden 
Gegenstand mit derselben Ausdruckslosigkeit betrachteten und 
keinen zu erkennen vermochten, wurden so wenig durch den Tast- 
sinn unterstützt, daß er einen erhabenen Gegenstand nicht von einem 
flachen zu unterscheiden vermöge, das Hörorgan sei gleich un- 
empfindlich gegen die heftigsten Geräusche wie gegen die rührendste 
Musik; er konstatierte ferner den gänzlichen Mangel der Stimme 
mit Ausnahme einiger gleichförmiger Gaumenlaute, wies darauf hin, 
daß der Geruchssinn so wenig ausgebildet sei, daß er mit derselben 
Gleichgültigkeit den feinsten Wohlgeruch, wie den Gestank der 
Exkremente, die sein Lager beschmutzten, hinnahm, und daß schließlich 
der Tastsinn nur auf das mechanische Ergreifen von Gegenständen 
beschränkt sei. Von dem Zustande der Sinne auf die intellektuelle 
Tätigkeit des Kindes übergehend, schilderte ihn der Autor des 
Berichtes als jeder Aufmerksamkeit unfähig (außer für die der 
Befriedigung seiner Bedürfnisse dienenden Dinge) und infolgedessen 
auch unfähig zu allen jenen Gehirntätigkeiten, die aus der ersteren 
resultieren, jedes Gedächtnisses bar, ohne jedes Urteilsvermögen, 
ohne Nachahmungstrieb und derart beschränkt in seinen Ideen sogar 
in bezug auf seine eigenen Bedürfnisse, daß es ihm noch nie ein- 
gefallen war, eine Tür zu öffnen oder auf einen Stuhl zu steigen, 
um Nahrungsmittel, welche man mit Absicht hoch gestellt hatte, zu 
erreichen; endlich sei er auch jeder Mitteilungsfähigkeit beraubt 
und zeige gar keine Neigung, sich durch Gebärden und Bewegungen 
verständlich zu machen; man beobachtete an ihm plötzliche und 
gänzlich unmotivierte Übergänge von apathischem Trübsein zu 
unmäßigem Lachen, einen gänzlichen Mangel jeder Art von Gefühl. 
Sein Unterscheidungsvermögen sei nur eine aus der Gefräßigkeit 
hervorgehende gewisse Berechnung, sein einziges Vergnügen bestehe 
in einem angenehmen Reiz des Geschmacksorganes, seine Intelligenz 
reiche nicht weiter als bis zur Bildung unzusammenhängender, seine 
Bedürfnisse betreffenden Vorstellungen; seine ganze Existenz sei 
mit einem Wort eine rein tierische. — Pıner erzählte hierauf einiges 
aus dem Leben der gänzlich idiotischen Kinder von Bicetre und 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 101 


stellte zwischen dem Zustand dieser Kinder und dem des Kindes, 
das uns beschäftigt, eine Ähnlichkeit fest, die notwendig zu dem 
Schlusse führte, daß die Beschaffenheit des Wilden von Aveyron 
mit der der Idioten identisch sei.“ 

Während Pmer die Bemühungen um den Knaben, ihn „bis zu 
einem gewissen Grade durch Erziehung und Unterricht der mensch- 
lichen Gesellschaft näher zu bringen“, für aussichtslos hielt, wagte 
es Irarp doch, „einige Hoffnung zu bewahren“. Er gründete sie 
„auf die Ursache und die Heilbarkeit dieses anscheinenden Idiotismus*“. 

Irarvs Hoffnung ist auf harte Proben gestellt worden. Die 
Zweifel an dem „anscheinenden“ Idiotismus blieben nicht aus, auf 
erziehliche und unterrichtliche Maßnahmen folgten Fehlschläge, und 
nicht zu verwundern ist es, wenn einst in schwerer Stunde folgende 
von Verbitterung zeugende Worte über die Lippen dieses Menschen- 
freundes kommen: „Unglücklicher! Da meine Mühe und Deine 
Anstrengungen nutzlos sind, kehre in Deine Wälder zurück, zu 
Deinem früheren Leben; wenn aber Deine neuen Bedürfnisse Dich 
von der Gesellschaft abhängig machen, so büße das Unglück, ihr 
nicht nützen zu können und laß Dich in Bieetre von Elend und 
Langweile töten!“ 

So großes Aufsehen der Wilde von Aveyron in Paris erregt 
hatte, die Neugierigen kamen nicht auf ihre Rechnung, die Erziehung 
dieses Individuums war nicht nur die Frage einiger Monate, es war 
nichts damit, „daß man bald aus seinem eigenen Munde die interessan- 
testen Aufschlüsse über sein früheres Leben vernehmen werde“. 

Irarp nahm an, daß die Vergangenheit des bei der Aufnahme 
in das Taubstummeninstitut etwa elf bis zwölf Jahre alten Knaben 
zwei wichtige Abschnitte aufwies. Der erste Abschnitt umfaßte 
etwa vier Jahre. In dieser Zeit dürfte sich das Kind im Eltern- 
hause befunden haben. Dann erfolgte die Aussetzung, und der 
Knabe führte nun etwa sieben Jahre ein Naturleben. Irarp erklärte 
sich nun den gegenwärtigen Zustand des Knaben so, daß, „falls er 
damals schon einiger Ideen und Worte mächtig gewesen war, diese 
ersten Anfänge einer Erziehung infolge seiner Isolierung aus seinem 
Gedächtnis gelöscht wurden.“ Auf diese Annahme hatte er seine 
Hoffnungen gegründet, aber je länger er sich mit dem Knaben 
beschäftigte, um so klarer wurde es ihm, daß er es mit einem 
Idioten zu tun hatte. 

Um ein recht klares und umfassendes Bild von dem Schüler- 
material zu erhalten, dem Segumns Bemühungen galten, sei zunächst 
darauf hingewiesen, daß Sesuın der Schüler Irarps war und daß 


102 Kurt LeEHm, 


er ferner, nachdem es ihm von Esquiror, dem Nachfolger PINELS 
gestattet worden war, in Bicetre Experimente mit den idiotischen 
Kindern angestellt hat, die ihn von der Richtigkeit seiner Grund- 
sätze über Idiotenerziehung und -unterricht überzeugten und ihm 
ein mögliches Ziel, zu dem die Idioten gebracht werden können, 
zeigten. Seine Erfahrungen in Bicötre und seine Ansicht über die 
Zusammensetzung des Schülermaterials bringt er in folgender Dar- 
stellung zum Ausdruck: „Wir wollen zuerst die Kinder betrachten! 
Den Hauptbestandteil einer Anstalt machen natürlich Idioten aus, 
aber unter ihnen gibt es auch Kinder, die durch verschiedene 
Leiden unfähig gemacht wurden, gewöhnlichem Schulunterricht zu 
folgen und für die noch keine erziehlichen Vorkehrungen getroffen 
wurden. Es wäre nutzlos, hier die Eignung von Idioten und ihren 
Verwandten für die Anstalt aufzuzählen; wir setzen voraus, daß 
die meisten der Zöglinge in ihnen ihren Vorteil finden, müssen aber 
eingestehen, daß ihre unterschiedlose Zulassung die Wirksamkeit 
des Institutes schmälern würde, erstens durch das Überwiegen 
gewisser Arten von Leiden unter den zugelassenen Kindern, zweitens 
durch ihre absolute Anzahl ohne Rücksicht auf die Klassifikation. 
Mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Leiden der Aufgenom- 
menen können die Zöglinge so ausgewählt werden, daß die Anstalt 
Leben in sich hat oder niederstürzt wie ein totes Gewicht. Daher 
ist bei ihrer Zulassung große Umsicht notwendig sowohl in Hinsicht 
auf die Anzahl als was die Schwere jeder Art von Fällen betrifft. 
Wenn die Mehrzahl mit automatischen Bewegungen behaftet oder 
unfähig ist zu hören oder Befehle zu verstehen, wenn die Lokomotion 
oder Greiffähigkeit usw. behindert ist, so würde das Übergewicht 
eines dieser Leiden nicht nur auf die individuelle Erziehung sehr 
hemmend, sondern auch auf die vorwärts schreitende und gleich- 
förmige Bewegung der allgemeinen Erziehung der Masse der Schüler 
unheilvoll wirken. — Um die breite Basis einer normalen Anstalt 
für Idioten zu bilden, müssen sie und ihre Verwandten mit Rücksicht 
auf die Zusammensetzung dessen gewählt werden, was wir eine 
wirksame Vereinigung von Unfähigkeiten nennen dürfen. In diesem 
Körper zirkuliert das Leben, wenn auch mangelhaft, und kann ge- 
bessert werden, da die Kinder nach den vielen für die typische Idiotie 
charakteristischen Leiden in der Schule zusammengestellt wurden. 
Auf diese Weise führt die Anstalt in concreto abstrakte Idiotie vor, 
die einen Normalgehalt von Unfähigkeiten und Quasi-Fähigkeiten 
hat, die sich ausgleichen, so daß sie mit einem Kauffahrer zu ver- 
gleichen ist, dessen Ladung für schleunige Abfahrt vorbereitet ist.“ 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 103 


Aus dieser Zukunftsplanung einer Idiotenanstalt nach seinem 
Sinne ersieht man, daß Sesvin in Bicetre kein gleichmäßiges Material 
vorgefunden hatte. Alle Grade geschwächter Intelligenz hatten sich 
hier zusammengefunden. Und es entsteht nun die Frage: Haben 
Sesviss Maßnahmen nur den typischen Idioten oder auch Schwach- 
sinnigen gegolten? Er äußerte sich dazu in dem unserer Abhandlung 
zugrunde liegenden Buch Seite 67 wie folgt: „Das dem Idioten am 
nächsten verwandte Kind wird zurückgeblieben, französisch arriere 
genannt, sein Charakter kann besser bei Vergleichung mit dem 
Idioten dargestellt werden, der gleichfalls in leichten Fällen einen 
Stillstand der Entwicklung zeigt, während das schwachsinnige Kind 
nur zurückgeblieben ist. Der Idiot besitzt ungeregelte Bewegungen, 
kann seine Hände nicht gebrauchen, schwankt beim Gehen mit 
seinem Körper und zeigt einige sensorische Gebrechen und Un- 
vermögen; andererseits ist das zurückgebliebene Kind frei von 
gestörter Aktivität, gebraucht seine Hände natürlich, aber mit 
geringer Wirksamkeit, geht fehlerlos, aber ohne Hastigkeit oder 
Elastizität und zeigt keine sensorischen Anomalien, gebraucht aber 
seine Sinne nicht viel, um seine träge Auffassung zu beschleunigen; 
wenn der Idiot keinen Fortschritt zu machen scheint, und wenn 
das gewöhnliche Kind im Verhältnis zu zehn vorwärts kommt, so 
schreitet das zurückgebliebene Kind nur im Verhältnis zu eins, 
zwei, drei oder fünf vor. Dieses Kind kann mit dem anerkannten 
Idioten zusammen erzogen werden und wird es gegenwärtig auch; es 
liegt in der gleichen Behandlung kein Nachteil, sondern ein Vorteil.“ 

In bezug auf die zuletzt ausgesprochene Meinung ist SEGUIN 
von der ihm folgenden Zeit überholt worden, es wurden besondere 
Vorkehrungen getroffen, um die den Idioten verwandten Kinder, die 
Schwachsinnigen, getrennt von den idiotischen Kindern zu unter- 
richten. Die Idiotenanstalten überließen die schwachsinnigen Kinder, 
falls sie nicht um anderer Leiden willen als einer Anstaltserziehung 
bedürftig erachtet wurden, den Hilfsschulen. Am 16. September 1867 
wurde die erste Hilfsschulklasse Deutschlands eröffnet, und zwar 
in Sachsens Hauptstadt, in Dresden. 

Wichtig für die Zwecke unserer Darlegungen aber ist es, fest- 
zustellen, daß Sesvın Idiotie und Schwachsinn unterschied und die 
für die idiotischen Kinder berechneten Erziehungs- und Unterrichts- 
maßnahmen auch auf die schwachsinnigen Kinder anwendete. 

Wollen wir nun die Kinderschar besichtigen, die Dr. MARIA 
MonTEssorı zum Zweck pädagogischer Experimente um sich sammelte, 
so geschieht das am besten so, daß wir die Forscherin auf ihrem 


104 KURT LEHM, 


Studiengang von der Medizin zur Pädagogik begleiten und geben 
ihr selbst das Wort. „Meine gegenwärtige Untersuchung gilt nun 
eben der Methode der Experimentalpädagogik und hat zur Grundlage 
die Erfahrungen, die mir eine zweijährige Tätigkeit in den „Kinder- 
heimen“ (Case dei Bambini) in Rom geliefert hat. Freilich kann 
ich bis jetzt nur ein Probestück dieser Methode vorlegen, nämlich 
jene, die ich auf Kinder von drei bis sechs Jahren angewendet 
habe; aber ich hoffe, daß mein Versuch bei den überraschenden 
Ergebnissen, die er gezeitigt hat, Lust dazu machen wird, das also 
angefangene Werk fortzusetzen. — lst auch das Erziehungssystem, 
das sich in der Erfahrung ausgezeichnet bewährt hat, noch kein 
abgeschlossenes Ganzes, so bildet es doch. eine organische Einheit, 
die hinreichen dürfte, um in den Kinderheimen und in den ersten 
Elementarklassen mit Erfolg angewendet zu werden. — Es ist nicht 
ganz zutreffend, wenn ich sage, daß die gegenwärtige Arbeit auf 
einer zweijährigen Erfahrung beruhe; denn meine genannten eigenen 
Versuche hätten nicht ausgereicht für all das, was in diesem Buche 
dargelegt werden soll. — Das in den Kinderheimen angewendete 
Erziehungssystem ging in der Tat aus älteren Ursprüngen hervor, 
und wenn unser Verfahren mit normalen Kindern nur eine kurze 
Erfahrung hinter sich hat, so gründete es sich auf vorausgegangene 
längere Erfahrungen mit abnormalen Kindern und war überdies die 
Frucht einer langen Arbeit menschlichen Forschens. — Vor ungetähr 
zwölf Jahren hatte ich als Assistenzärztin an der psychiatrischen 
Klinik der Universität Rom Gelegenheit, die Irrenhäuser zu besuchen, 
um die Kranken zu studieren und für die Kliniken auszusuchen, 
und dabei interessierte ich mich für die im Irrenhaus selbst unter- 
gebrachten schwachsinnigen Kinder. In jener war die thyreoide 
Organotherapie in vollem Schwung, und neben den Unklarheiten 
und Übertreibungen, welche diese Behandlung zeitigte, lenkte sie 
doch das Interesse der Ärzte mehr als in früherer Zeit auf die 
geisteskranken Kinder... Durch das Studium der Schwachsinnigen 
kam ich dann dazu, die besondere Methode kennen zu lernen, die 
Sesvin für die Erziehung jener Unglücklichen angegeben hat und 
mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, der damals auch unter 
den praktischen Ärzten Schule machte, für verschiedene Krank- 
heiten, wie Taubheit, Lähmung, Schwachsinn, Rhachitis, eine 
pädagogische Behandlung anzuwenden. Die Tatsache, daß die 
Medizin für die Therapie die Pädagogik zu Hilfe rufen müsse, war 
der praktische Niederschlag der besonderen Ansichten jener Zeit, 
und in diesem Sinne kam dann die gymnastische Heilung in Schwung. 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 105 


— Meine Ansicht wich jedoch insofern von der meiner Kollegen ab. 
als ich dafür hielt, daß die geistige Minderwertigkeit hauptsächlich 
ein pädagogisches, nicht so sehr ein medizinisches Problem darbiete. 
Auf den medizinischen Kongressen wurde sehr viel verhandelt über 
die medizinisch-pädagogische Methode zur Behandlung und Erziehung 
der Schwachsinnigen, ich aber trug meine abweichende Ansicht in 
einem Vortrag über „moralische Erziehung“ auf dem pädagogischen 
Kongreß zu Turin, im Jahre 1898, vor. Ich glaube, ich schüttelte 
eine reife Frucht vom Baum, denn der von mir vertretene Gedanke 
fand rasch und lebhaft Aufnahme unter Medizinern und Lehrern, 
indem er eine Frage von brennendem Interesse für die Schule in 
Angriff nahm. — Es wurde mir von dem bekannten Unterrichts- 
minister GuIvo Bacceruı der Auftrag erteilt, den Lehrern Roms eine 
Reihe von Vorträgen zu halten über die Erziehung der Schwachsinnigen, 
und diese Einrichtung wurde bald zur „Staatlichen Orthophrenischen 
Schule“, die ich über zwei Jahre lang leitete. — Dieser Schule 
hatten wir eine Klasse von Externen angegliedert, die einen ver- 
längerten Stundenplan hatte und in die wir Kinder aufnahmen, die 
für unfähig beurteilt worden waren, in den Elementarschulen mit- 
zukommen; in der Folge wurde dann unter Beihilfe einer Gesellschaft 
ein pädagogisches Institut gegründet, in welchem neben den Externen 
alle schwachsinnigen Kinder aus der Heilanstalt in Rom unter- 
gebracht wurden.“ Nach einem Aufenthalt in London und Paris 
zum Studium der praktischen Erziehung Schwachsinniger ging 
MonTEssorı selbst daran, solche Kinder zu unterrichten. „In aus- 
gedehnterem Maße als eine Elementarlehrerin und ohne mich ablösen 
zu lassen, war ich anwesend und unterrichtete die Kleinen ununter- 
brochen von acht Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Diese beiden 
praktischen Jahre haben mich zuerst und hauptsächlich auf dem 
Gebiet der Pädagogik heimisch gemacht ... und allmählich gewann 
ich die Überzeugung, daß ähnliche Methoden, wenn sie auf normale 
Kinder angewendet würden, bei diesen zu einer außerordentlichen, 
überraschenden Entwicklung ihrer Persönlichkeit führen müßten.“ 
MonTessorı hätte gern den Versuch gemacht, die für Schwachsinnige 
ausgearbeitete Methode in einer Elementarklasse anzuwenden. Doch 
erfüllte sich dieser Wunsch nicht. Dafür aber bot sich ihr Gelegenheit, 
in den Kinderheimen Roms ihr Verfahren zu erproben. Diese 
Kinderheime sind Hausschulen und werden von den noch nicht 
schulpflichtigen Kindern eines Häuserblocks besucht. Die Kinder 
können den Kinderheimen mit dem dritten Lebensjahr zugewiesen 
werden und dürfen sie bis zum siebenten Lebensjahr besuchen. 


106 Kurr LEHM, 


So bestand also das Schülermaterial MoxTEssorıs aus drei- bis 
siebenjährigen normalen Kindern, aus schwachbegabten und schwach- 
sinnigen und hat somit ihre Methode mit allen Abstufungen des 
Intellekts in Verbindung bringen können. 

Leider hat sie die Fachausdrücke: idiotisches, schwachbegabtes, 
schwachsinniges Kind nicht immer in der wünschenswert strengen 
Weise angewendet. Und das ist doch so notwendig. Aus der 
Geschichte der deutschen Hilfsschule kann man ersehen, wie schädlich 
die Begriffsverwirrung von schwachbefähigt und schwachsinnig auf 
die Entwicklung des Hilfsschulwesens, namentlich in den Anfangs- 
Stadien, gewirkt hat. Frau Montessorı bezeichnet z. B. den Schüler 
Iraros, den Wilden von Aveyron, als schwachsinnig, ihre schwach- 
sinnigen Schüler nennt sie Idioten. Oder wäre die Übersetzung 
ungenau? 

Zurückblickend heben wir nun kurz noch einmal hervor in 
Beantwortung der Frage nach dem Schülermaterial: Irarp unterwies 
einen Anormalen (Idiot), Sesum Anormale (Idioten- und Schwach- 
sinnige), Montessort Anormale (Schwachsinnige) und Normale 
(darunter Schwachbegabte). 

An zweiter Stelle fragen wir nun: Welche Mittel haben Irarp, 
SeGuIn, MONTEssorI angewendet, um ihre Schüler zu fördern? 

Trapp hatte sich für die Erziehung des Wilden von Aveyron 
folgende Ziele gesteckt: 

1. Ziel: Ihn an das soziale Leben zu gewöhnen, indem man es 
ihm angenehmer als das Leben, das er früher geführt, zugleich 
aber auch diesem analoger zu gestalten sucht. 

2. Ziel: Die Empfindlichkeit seiner Nerven durch die energischesten 
Reizmittel und manchesmal durch lebhafte seelische Effekte zu wecken. 

3. Ziel: Seinen Ideenkreis zu erweitern, indem man seine Be- 
dürfnisse vermehrt und engere Beziehungen zwischen ihm und den 
ihn umgebenden Wesen herstellt. 

4. Ziel: Ihn durch die gebieterische Macht der Notwendigkeit 
zur Nachahmung zu zwingen und dadurch zum Gebrauch der Sprache 
zu führen. 

5. Ziel: Seinen Geist zuerst durch die einfachsten Übungen 
mit den seinen Bedürfnissen dienenden Gegenständen zu wecken 
und ihn dann auf die Unterrichtszegenstände zu lenken. 

Wie Irırn diese Ziele zu erreichen suchte, dazu seien einige 
Beispiele herausgegriften. 

Erstes Ziel: Der Wilde konnte nur „schlafen, essen, nichts 
tun und in den Feldern herumlaufen. Man mußte ihn also auf 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 107 


seine Weise glücklich machen, ihn bei Sonnenuntergang schlafen 
legen, ihn reichlich mit den seinem Geschmack entsprechenden 
Nahrungsmitteln versehen, seine Indolenz gelten lassen, ihn auf 
seinen Spaziergängen oder, besser gesagt, Rennen im Freien, und 
zwar bei jedem Wetter begleiten... Es wäre ebenso zwecklos als 
inhuman gewesen, ihn in diesen Gewohnheiten zu stören, und es 
entsprach ganz meinen Intentionen, sie mit seinem neuen Leben zu 
assoziieren, um ihm dieses angenehmer zu machen. Nicht so verhielt 
es sich mit jenen Gewohnheiten, die fortwährend Magen und Muskeln 
in Tätigkeit erhielten und dadurch die Untätigkeit der Nerven und 
des Gehirns steigerten. Ich mußte mich bemühen und es gelang 
mir auch endlich, seine Spaziergänge seltener, seine Mahlzeiten 
minder reichlich und geregelter, seinen Aufenthalt im Bett kürzer 
und seine Tage der Erziehung und dem Unterricht dienlicher zu 
gestalten.“ 

Zweites Ziel: „Im Laufe des Winters sah ich, wenn ich 
durch den Garten ging, den Knaben halb nackt auf dem Boden 
kauern: er verharrte stundenlang in dieser Stellung, einem naßkalten 
Wind ausgesetzt. Nicht nur gegen die Kälte, auch gegen die Hitze 
erwies sich seine Haut unempfindlich; wiederholt ergriff er glühende 
Kohlen, die aus dem Ofen fielen, mit den Fingern und legte sie 
ohne besondere Hast auf das flammende Holz zurück ... Ich habe 
ihm oft die Nasenlöcher mit Schnupftabak vollgestopft, um ihn zum 
Niesen zu reizen, aber immer erfolglos ... Eines Tages feuerte 
ich zwei Pistolenschüsse neben ihm ab; der erste schien einigen 
Eindruck auf ihn zu machen, beim zweiten wandte er nicht einmal 
den Kopf... Es war daher meine Absicht, sie (die Nerventätigkeit 
der Sinnesorgane) durch alle möglichen Mittel zu entwickeln und 
den Geist für die Aufmerksamkeit vorzubereiten, indem die Sinne 
zur Aufnahme von äußeren Eindrücken befähigt wurden. Von den 
verschiedenen Mitteln, deren ich mich zu diesem Zweck bediente, 
schien mir die Hitze das wirksamste zu sein. Es ist eine von 
Physiologen und Politikern anerkannte Tatsache, daß die Bewohner 
des Südens nur der Einwirkung der Hitze auf die Haut jene überaus 
große Sensibilität, welche jener der Nordländer so sehr überlegen 
ist, verdanken. Ich wandte diesen Stimulus auf alle mögliche Art 
an; nicht genug, daß er sehr warm gekleidet, gebettet und sein 
Zimmer stark geheizt wurde, ich ließ ihn auch täglich ein sehr 
hochgradiges Bad nehmen, in dem er zwei bis drei Stunden bleiben 
mußte, während man ihm mit demselben Wasser häufige Duschen 
auf den Kopf machte ... Nach einiger Zeit zeigte sich unser 


108 KURT LEHM, 


junger Wilder für die Einwirkung der Kälte empfänglich ... Ich 
konnte nach drei Monaten eine allgemeine Erregung sämtlicher 
Empfindungszentren konstatieren.“ 

Drittes Ziel: „Als ich daran zweifelte, seinem Geschmack 
eine neue Richtung zu geben“ (Näschereien, pikante Gerichte, Likör, 
gewürzte Speisen hatten seinen abgestumpften Geschmackssinn nicht 
gereizt), „beschloß ich, sein Vergnügen an der geringen Anzahl von 
Gerichten, auf die ihn sein ungebildeter Geschmack beschränkte, 
durch allerlei Nebenumstände zu steigern. Zu diesem Zweck nahm 
ich ihn wiederholt mit nach der Stadt und ließ ihn bei mir. essen. 
An diesen Tagen fanden sich auf meiner Tafel alle seine Lieblings- 
speisen vereint. Das erste Mal, da ich ihm ein solches Fest gab, 
äußerte sich seine Freude in beinahe frenetischer Weise. Offenbar 
fürchtete er, daß sein Nachtmahl nicht so gut sein werde wie sein 
Mittagessen, denn er entwendete aus der Küche eine Schüssel voll 
Linsen, die er durchaus abends nach Hause mitnehmen wollte. Ich 
freute mich über den Erfolg dieses ersten Ausganges, denn es war 
mir gelungen, ihm Freude zu machen; ich brauchte meinen Schütz- 
ling nur öfter in dieser Weise zu bewirten, um seine Bedürfnisse 
durch ein neues zu bereichern, und dies gelang mir auch vollkommen. 
Um den Eindruck zu verstärken, traf ich zu diesen Ausgängen 
gewisse Vorbereitungen, die ihm nicht entgehen konnten. Mit dem 
Hute auf dem Kopfe, ein frisches Hemd für ihn in der Hand trat 
ich gegen vier Uhr bei ihm ein; diese Anstalten wurden von ihm, 
wie ich es gehofft, bald als ein Zeichen seines bevorstehenden 
Ausganges begrüßt. Ich brauchte nur einzutreten, so begann er 
sich schon hastig anzukleiden und unter deutlichen Beweisen seiner 
Freude folgte er mir. Ich erblickte darin kein Zeichen einer 
höheren Intelligenz, denn jeder Mensch weiß, daß der gewöhnlichste 
Hund sich in ähnlichen Fällen ganz ebenso benimmt. Aber zu- 
gegeben, daß der Knabe moralisch auf derselben Stufe mit einem 
Hund stand, so läßt sich doch ein Fortschritt im Vergleiche zu 
seinem ursprünglichen Zustande nicht leugnen, denn die, welche 
ihn bei seiner Ankunft in Paris sahen, wissen, daß er damals in 
bezug auf Unterscheidungsvermögen tief unter dem intelligentesten 
unserer Haustiere stand.“ 

Viertes Ziel: „In den ersten vier oder fünf Monaten seines 
Aufenthaltes hatte der Wilde von Aveyron sich nur für die oben 
bemerkten, mit seinen Bedürfnissen im Zusammenhange stehenden 
(Geräusche empfänglich gezeigt.“ (Kastanie oder Nuß wird geschält, 
Schlüssel der Tür wird berührt.) „Im Laufe des Frimaire begann 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 109 


er die menschliche Stimme zu hören und, wenn zwei Personen sich 
in dem an sein Zimmer grenzenden Korridor unterhielten, näherte 
er sich der Türe, um sich zu überzeugen, ob sie gut verschlossen sei, 
warf die innere Flügeltür zu und drückte dann den Finger auf die 
Klinke, um den Verschluß noch sicherer zu machen. Einige Zeit 
später bemerkte ich, daß er die Stimme der Taubstummen oder, 
besser gesagt, den gutturalen Laut unterschied, den sie beim Spielen 
auszustoßen pflegen; ja er schien sogar zu erkennen, von welchem 
Ort dieser Lärm ausging, denn, falls er ihn auf der Stiege vernahm, 
verfehlte er nie, rasch hinab oder hinaufzusteigen, je nachdem, ob 
die Schreie von oben oder unten erklangen. Anfangs Nivose konnte 
ich eine noch interessantere Beobachtung machen. Eines Tages, da 
er in der Küche damit beschäftigt war, Kartoffel zu kochen, stritten 
sich hinter seinem Rücken zwei Personen, scheinbar ohne im ge- 
ringsten seine Aufmerksamkeit zu erregen. Eine dritte Person trat 
hinzu, mischte sich in die Diskussion und begann alle ihre Repliken 
mit den Worten: „Oh, das ist anders!“ Ich bemerkte, daß der 
Wilde von Aveyron, so oft dieser Person sein Lieblingsausruf „Oh“ 
entschlüpfte, den Kopf nach ihr umwandte. Am selben Abend machte 
ich, als er sich zu Bett legte, einige Versuche mit diesem Laut und 
erzielte so ziemlich das gleiche Resultat. Ich stellte dasselbe Experi- 
ment mit allen anderen Selbstlauten an, aber ohne jeden Erfolg. 
Diese seine Vorliebe für den O-Laut bestimmte mich, ihm einen 
Namen zu geben, der auf „o“ auslautete, und meine Wahl fiel auf 
Viktor. Dieser Name ist ihm geblieben und, falls er laut ausge- 
sprochen wird, reagiert er fast immer darauf, indem er sich um- 
wendet oder herbeikommt. — Aus demselben Grunde hat er vielleicht 
später die Bedeutung der Verneinung „non“ begriffen, der ich mich 
oft bediene, um seine Irrtümer zu berichtigen, wenn er seine kleinen 
Übungen unrichtig macht.“ 

Fünftes Ziel: „Da ich bei ihm einen ausgesprochenen Sinn 
für Anordnung bemerkt hatte, nahm ich mir vor, Nutzen daraus zu 
ziehen. Er war imstande, aus dem Bett aufzustehen, um Möbel 
oder Gegenstände, die zufällig nicht an ihrem gewohnten Platze 
standen oder lagen, wieder in Ordnung zu bringen, und wandte seine 
ganz besondere Sorgfalt allen. an den Wänden hängenden Dingen 
zu, von welchen jedes seinen bestimmten Haken oder Nagel hatte; 
wenn an dieser Einteilung das geringste geändert wurde, fand er 
keine Ruhe, bis nicht alles wieder in der alten Anordnung aufge- 
hängt war. Ich beschloß daher, die Dinge, auf die ich seine Auf- 
merksamkeit konzentrieren wollte, in derselben Weise anzuordnen 


110 KURT LEHM, 


und hing jeden der drei Gegenstände auf einen Nagel unterhalb 
der ihn darstellenden Zeichnung auf und ließ sie dort einige Zeit 
hängen. Als ich sie dann herunternahm und Viktor gab, hing er 
sie sofort in der richtigen Ordnung wieder auf. ... Ich klebte 
auf ein Brett, das zwei Fuß im Quadrat maß, drei Stücke Papier 
von sehr ausgesprochenen Formen und grellen Farben. Das eine 
war eine rote Scheibe, das zweite ein blaues Dreieck und das dritte 
ein schwarzes Viereck. Ich verfertigte hierauf aus Karton in den 
gleichen Farben dieselben Figuren, bohrte in die Mitte einer jeden 
derselben ein Loch und befestigte sie auf den auf den anderen 
festgeklebten Papierformen angebrachten Nägeln, so daß die Karten- 
figuren die anderen vollständig zudeckten; ich ließ sie einige Tage 
hindurch in dieser Anordnung hängen und als ich sie dann weg- 
nahm und Viktor zum Wiederaufhängen gab, löste er diese Aufgabe 
vollkommen richtig. Ich drehte hierauf die Tafel um, so daß die 
Ordnung der Figuren sich veränderte und, da Viktor auch jetzt 
jede der Kartonformen auf die korrespondierende Papierform hing, 
gewann ich die Überzeugung, daß diesmal nicht das Gedächtnis, 
sondern die vergleichende Urteilskraft die Arbeit getan hatte.“ 

„Ich ließ die 24 Buchstaben des Alphabets in großen Charakteren 
auf zwei Zoll große Kartonstücke drucken und ließ in eine Tafel 
von 1?/ Fuß im Geviert eine ebenso große Anzahl von Fächern 
einschneiden, in welche die Kartonbuchstaben, ohne geklebt zu 
werden, eingepaßt wurden, so daß man sie nach Bedürfnis versetzen 
konnte. Ferner ließ ich die gleiche Anzahl von Buchstaben in 
Metall herstellen; diese sollten dem Schüler zum Vergleich mit den 
gedruckten Lettern dienen und von ihm in die entsprechenden 
Fächer eingefügt werden. Der erste Versuch mit dieser Methode 
wurde in meiner Abwesenheit von Frau Gu£rın gemacht; ich war 
sehr erstaunt, als sie mir bei meiner Rückkehr erzählte, daß Viktor 
alle Buchstaben unterschied und richtig einreihte ... Es war 
nicht schwer, ihn dazu zu bringen* (zu ordnen), „indem man ihm 
die Buchstaben durcheinander gemischt gab, so oft man ihn an die 
Tafel rief. Obwohl ich wiederholt die Stellung der gedruckten 
Buchstaben änderte, indem ich sie in andere Fächer legte, und trotz 
der Nebeneinanderstellung einander ähnlicher Buchstaben, wie großes 
E und F, kleines g und c, ließ er sich in der richtigen Unter- 
scheidung nicht irremachen. Durch die vielseitige Übung mit allen 
Buchstaben wollte ich Viktor für den primitiven Gebrauch derselben, 
d. h. als Ausdrucksmittel jener Bedürfnisse, die man durch die 
Sprache kundgibt, vorbereiten.“ 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 111 


„Man wird mir nur schwer glauben, daß fünf oder sechs ähn- 
liche Proben“ (Viktor bekam Milch, wenn er das Wort LAIT richtig 
zusammengestellt hatte) „genügten, nicht nur ihn die methodische 
Anordnung der das Wort „lait“ bildenden vier Buchstaben zu lehren, 
sondern auch, ihm einen Begriff von der Beziehung zwischen Sache 
und Wort zu geben. Zu dieser Annahme ist man wenigstens nach 
dem, was sich am nächsten Tag ereignete, berechtigt. Als er sich 
anschickte, sich nach dem Observatorium zu begeben, steckte er aus 
eigenem Antrieb die bewußten vier Buchstaben ein, und sobald er 
bei Lemeri, der ihn, wie oben erwähnt, immer mit Milch bewirtete, 
angekommen war, zog er die Lettern aus der Tasche und legte sie 
auf den Tisch in der zur Bildung des Wortes „lait“ erforderlichen 
Reihenfolge.“ 

Die bisher zur Kenntnis gebrachten erziehlichen und unterricht- 
lichen Maßnahmen ITtArvs entstammen dem ersten Bericht über den 
Wilden von Aveyron. Vergleicht man damit die Schilderungen der 
weiteren Entwicklung des Knaben, wie sie Irar» in einem zweiten 
Bericht bietet — er enthält folgende Kapitel: 1. Die Entwicklung 
der Sinnestätigkeiten, 2. die Entwicklung der intellektuellen Funk- 
tionen, 3. die Entwicklung der Gemütsfähigkeiten — so erkennt 
man allenthalben den scharfen Beobachter, der jede Äußerung der 
unentwickelten Psyche sorgsam wahrnimmt, um sie seinen Absichten 
dienstbar zu machen, der jedem aufflammenden und wieder ver- 
glimmenden Funken geistiger Regung folgt, um einen Weg ins 
herrschende Dunkel des Geisteslebens zu finden, der versucht, nicht 
intakte Leitungsbahnen betriebsfähig zu machen. Ein bewunderns- 
wertes Schaffen nach psycho-physiologischem Prinzip. 

Secuin bezeichnet gleich im Titel seines Buches die Methode 
genauer, nach der er die Idioten behandelte, er nennt sie physio- 
logische Methode. Im ersten Teil des Buches entwirft er ein 
umfassendes Bild der Idiotie (Defininition, Ursache; Umstände, 
unter denen Idiotie hervorgerufen wird; endemische Idiotie, einfache 
Idiotie, Pathologie, Auftreten in der Kindheit, motorische Symptome, 
sensorische Symptome, Sprach- und Intelligenzfehler, moralischer 
Sinn, Vergleich der Idioten mit ihren Verwandten; der Schutz, dessen 
sie bedürfen; die durch das Studium der Idiotie gemachten und zu 
erwartenden anthropologischen Entdeckungen, Personalbogen). Im 
zweiten Teil handelt er von der physiologischen Erziehung 
(Methode, Verhütung der Idiotie, Behandlung in der Jugend, all- 
gemeine Vorschriften, Beginn der Erziehung, Definition des Systems, 
unsere Gymnastik, zweierlei Arten von Unbeweglichkeit, die abnormen 


112 KURT LEHM, 


Bewegungen, Erziehung zur Ruhe, Erziehung zum Gehen, die Hand 
des Idioten, Erziehung zum Greifen, Erziehung zur Arbeit, Ver- 
besserung besonderer Anomalien, einige Apparate für spezielle 
Gymnastik, die Nachahmung, Erziehung der Sinne, der Tastsinn, 
Geschmack und Geruch, das Gehör, die Musik, der Sprechunterricht, 
das Gesicht, Farben, Formen, Bauen, Größenbestimmung, Distanz- 
messuhg, Zeichnen, Schreiben und Lesen, der Lesestoff, der 
Anschauungsunterricht, Zahlen, Handlungen, Beziehungen, Gramma- 
tisches, das Gedächtnis, die Phantasie, Übersicht, das Prinzip der 
physiologischen Erziehungsmethode, die Gesetze der Perzeption, 
Unterschied von Mensch und Tier, die Einheit der Natur, Kritik 
anderer Systeme, das Prinzip der Vergleichung, das Ziel des Unter- 
richts). Der dritte Teil trägt die Überschrift Moralische Be- 
handlung (Geschichte, Definition, Verhältnis der Idioten zur 
moralischen Behandlung, Strenge und Züchtigung, Belohnungen, 
Liebkosungen, moralische Einwirkungen, die moralischen Bedingungen, 
die Erziehung der Kinder durch die Kinder, die Befähigung zur 
Ausübung des moralischen Trainings, die Autorität und der Gehorsam, 
der Befehl; Gesichtszüge und Gestalt, Proportion und Haltung; der 
Blick, der Einfluß der Körperteile auf die Wirksamkeit von Befehlen, 
die Geste, die Sprache, der unmittelbare Befehl und der Zwang, 
der mittelbare Befehl, was kann man mit Erfolg befehlen?, der 
zufällige, konditionelle und freigewählte Befehl; andere Formen des 
Befehls, Milderungen des Befehls, das Ziel der moralischen Erziehung, 
Erziehung zur Selbstbeherrschung, Erziehung zum Essen, die Arbeit 
als Erziehungsmittel, die Bewertung des Geldes, die Vergnügungen 
der Zöglinge, Ausflüge, Spielzeug, Liebe und Wohlwollen). Im 
vierten Teil spricht Stsum von der Anstalt (Name, Geschichte, 
Lage, die Gebäude, einzelne Räume, im Freien, die intellektuelle 
Organisation a) die Art der Zöglinge, b) die Zahl der Zöglinge 
c) die Wärter, d) die Hausmutter, e) die Lehrerinnen, f) der Turn- 
lehrer, g) der Aufseher, h) der Direktor, i) Direktorenkonferenz; 
Schwierigkeiten der Praxis). 

In noch vorbildlicherer und noch gründlicherer Weise ist es 
kaum möglich, die Grundlagen für eine Methode zu schaffen und ein 
Erziehungs- und Unterrichtssystem aufzubauen, wie es SEGUIN getan 
hat. Mit scharfem wissenschaftlichen Erkennen studiert er den 
Zustand seines Schülermaterials, damit beginnt das Buch, aus den 
Ergebnissen dieses Studiums leitet er seine Erziehungs- und Unter- 
richtsgrundsätze ab, ihre Darlegungen füllen als zweites und drittes 
Kapitel den Hauptteil des Buches, mit weitschauendem Geist zeichnet 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 113 


er die innere und äußere Organisation des Idiotenanstaltwesens, 
fordert schon Konferenzen der Direktoren der Idiotenschulen zum 
Zweck der Verbesserung der Erziehungs- und Unterrichtsmethoden 
und betrachtet sein Wirken als eine Pflicht gegen unseren Herrn 
Jesum Christum, gegen die Schüler, gegen eine heilige Idee. Ein 
ernstes, vom Pulsschlag der Nächstenliebe belebtes Buch. Aus dem 
oben skizzierten reichen Inhalt einige für die Frage der Methode 
typische Beispiele nur, es ist unmöglich auf alles einzugehen, obwohl 
jeder Abschnitt im Hinblick auf Erziehungs- und Unterrichtsfragen 
entstand und darum jedem Kapitel besondere Aufmerksamkeit für 
unseren Zweck geschenkt werden möchte. 

I. Nach Srevurx ist Idiotie „eine spezifische Erkrankung der 
kranio-spinalen Achse, die durch Nahrungsmangel im Uterus und 
beim Neugeborenen hervorgerufen wird. Sie benachteiligt meistens 
die Funktionen, die den Reflex, die instinktiven und bewußten 
Lebensäußerungen entstehen lassen. Daher bewegt sich der Idiot, 
fühlt, versteht und will, aber unvollkommen; er tut nichts, denkt 
an nichts und kümmert sich um nichts (schwerste Fälle); er ist 
gesetzlich minder verantwortlich, isoliert, ohne Assoziationen, eine 
in unvollkommene Organe eingeschlossene Seele, ein Einfältiger.... 
Obwohl Nahrungsmangel das ganze Wesen in Mitleidenschaft ziehen 
kann, so beeinflußt er vor allem eine Reihe von Organen, z. B. die 
der Sprache, des Gehörs oder der lokalen Kontraktilität. — Obwohl 
die Idiotie den Kindern keine besondere Körperform aufprägt, so 
erscheint doch die Mehrzahl der Idioten, sei es infolge unangemessener 
Ernährung oder wegen Mangels normaler Willensaktivität beim 
Heranziehen der Extremitäten an den Körper, um die verschiedenen 
Stellungen zu bilden, nie so mißgestaltet wie unproportioniert ... 
Um zu schließen, was wir über die Größe des Idiotenkopfes zu 
sagen haben: er ist meistens ganz normal, doch erscheint er im 
Kindesalter zu groß, da er auf einem kränklichen Körper steht, und 
später zu klein, da zwar der Körper gewachsen ist, der Kopf aber 
infolge des Mangels spezieller Ernährung und des Fehlens intellek- 
tueller Gymnastik nicht... — Diese Verehrung oder Beschäftigung 
(mit irgendeinem Ding) beweist, daß der Idiot, wenn er von selbst 
keine andere Verbindung mit der Welt bilden kann, zu einer solchen 
bereit ist, wenn wir nur wissen, wie wir ihm dabei helfen sollten... 
Sagt uns denn nicht der Idiot, indem er seine krankhaften Gesten 
macht, stumm: „Sieh, was ich tue; wenn du mich es besser und 
mehr lehren kannst, so wollte ich es tun!“ Es ist wahr, daß die 
geringste Tätigkeit für ibn zuviel ist.und ihn zurückschrecken läßt, 

Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VIII. 8 


114 KURT LEHM, 


bevor er erzogen wird; aber wenn es uns gelingt, ihn glauben zu 
machen, daß er ein reelles Ziel erreicht hat, dann erscheint der 
Eifer und breitet einen Schimmer der Befriedigung über sein Antlitz. 
Er ist für Lob, Tadel, Befehle und Drohungen sogar für imaginäre 
Strafen empfänglich, er fühlt die Leiden, die er begreift, mit, er 
liebt, wer ihn liebt, er bemüht sich Freude zu machen, wer ihm 
Freude macht ... 

II. Idioten kann man nach den vor 1837 angewendeten Methoden 
und Behandlungsarten weder erziehen noch heilen, aber die meisten 
Idioten können durch die physiologische Erziehungsmethode in mehr 
oder weniger vollkommenem Maße von ihrer Unfähigkeit befreit 
werden. Diese Methode besteht in der Anpassung der Prinzipien 
der Physiologie durch physiologische Mittel und Instrumente an die 
dynamischen, perzeptiven, reflexiven und spontanen Funktionen der 
Jugend... Damit unsere Methode tatsächlich physiologisch sei, muß sie 
sich sowohl in ihren Prinzipien als in ihren Mitteln und Instrumenten 
der heilsamen Entwicklung und dem Gebrauch der Funktionen, ins- 
besondere jener des Relationslebens anpassen; damit dieser Satz wahr 
sei, darf er keine Lücke offenlassen, keinen Widerspruch gestatten 
Der Mensch, der eine Einheit ist, wurde zu Studienzwecken künstlich 
in seine drei hervorragendsten Lebensäußerungen Aktivität, Intelligenz 
und Willen zerlegt. Wir betrachten den Idioten als einen in den 
Äußerungen dieser Dreieinigkeit kranken Menschen und verstehen 
unter der Methode zur Erziehung von Idioten oder Menschen die 
naturwissenschaftliche Einwirkung, durch die die Einheit der 
Menschheit, soweit als es in unseren Tagen möglich ist, mittels der 
Dreieranalyse erreicht werden kann. Die Aktivität wird mit 
. Ausnahme ihrer willkürlichen und organischen Funktionen in die 
Kontraktilität und die Sensibilität mit ihren spezifischen Tendenzen 
eingeteilt; die Intelligenz zerfällt in mancherlei Subfunktionen und 
der Wille in seine proteusartigen Äußerungen von der Liebe bis 
zum Haß. Das Vorwiegen einiger dieser Funktionen bildet eine 
Krankheit; ihre Perversion führt zur Geisteskrankheit; ihr merkliches 
Fehlen bei der Geburt beinhaltet Idiotie, späterhin Imbezillität und 
noch später Wahnsinn. Physiologische Erziehung einschließlich 
hygienischer und moralischer Schulung stellt die Harmonie dieser 
Funktionen beim jungen Menschen so weit als möglich wieder her, 
indem sie sie ideell voneinander trennt, um sie praktisch in ihrer 
Einheit wieder herzustellen. Das ist das psycho-physio- 
logische Prinzip der Methode... Schulung und Erziehung 
beginnen, wo vorher Funktionen aufgehört haben. Der Beginn der 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 115 


Behandlung jedes Kindes ist dort, wo sein natürlicher Fortschritt 
stillstand; so viel Kinder, so viel Anfänger. Für jede Funktion 
oder Fähigkeit ist der Anfang verschieden. Ein Kind benutzt eine 
Reihe von Organen in einem gewissen Maße und eine Reihe anderer 
in minderem oder größerem Umfang. Ein Kind ist im Sprechen 
vorgeschritten und im Gebrauch seines Gesichtes zurück, ein anderes 
in Nachahmung vorgeschritten und in Vergleichung zurück usw. 
Aus allen diesen Verschiedenheiten in der Abstufung der diversen 
Funktionen in verschiedenen Individuen geht die Notwendigkeit 
hervor, die Mittel und Instrumente, die zur Besserung so vielerlei 
rückständiger Funktionen verwendet werden, so darzustellen, als ob 
die zur Idiotie und ihren Verwandten gehörigen Anomalien wirklich 
in gleichem Grade bei allen Idioten zu finden wären... — Das 
erste Bedürfnis eines Volkes und eines Individuums ist die durch 
eigene Schulung des Muskelsystems erworbene Kraft. Unsere Gym- 
nastik unterscheidet sich von der gewöhnlichen in ihrem allgemeinen 
Ziele, da sie ein Gleichgewicht der Funktionen zu schaffen bezweckt, 
nicht, indem sie das Muskelsystem über die anderen emporhebt, 
sondern im Gegenteil, indem sie dem Nervensystem, als dem bei 
der Idiotie am meisten erschütterten, mehr Beachtung schenkt ... 
— Da unsere Sprache die Darstellung aller menschlichen Eindrücke 
und Antriebe durch die Kombination von Lauten und Artikulationen 
ist, liegt es auf der Hand, daß die Idioten sie für die unmöglichste 
und ihrer Natur antipathischeste Handlung halten müssen, weil sie 
verlangt, was ihnen am meisten abgeht, das Zusammenwirken einiger 
Fähigkeiten mit einigen Organen ... Die mechanischen Vorgänge 
beim Sprechen sind zweierlei, der eine, der in der Nachahmungs- 
klasse durch Nachahmung zur Bildung von Artikulationen gelehrt 
wurde, und der andere, von dem wir sahen, daß er von der Musik 
zur Schulung der Stimme hergenommen wurde. In der ersten, zum 
Beginn der Artikulation bestimmten Lektion muß man das Kind 
seine Nachahmungsübungen für den Morgen und Abend ohne 
Erinnerung, Erklärung oder Umstände wiederholen lassen; die 
Bewegungen werden hauptsächlich in die Hände konzentriert, die 
Hände zum Gesicht gebracht, die Finger in oder an den Mund 
geführt. Alle Teile des Gesichtes werden in Verbindung mit den 
Fingern bewegt und die Nachahmung in zweierlei Absicht ausgeführt: 
erstens dem Kinde von außen nach innen einen analytischen Über- 
blick durch das Tasten, das Gesicht und die Bewegung der in 
die Handlung des Sprechens verwickelten verschiedenen Teile zu 


geben, zweitens, um es schweigend nach uns die Bewegungen der 
H 


116 KURT LEHM, 


verschiedenen zum Sprechen verwendeten Teile ausführen zu lassen. 
Auf der zweiten Stufe werden die Hände nach und nach weg- 
genommen, die Gesichter des Lehrers und Schülers kommen einander 
näher, erhalten einen besseren Überblick übereinander und die 
Ausführung der Nachahmung wird wärmer, lebhafter und genauer. 
Darauf werden alle Sprechorgane, Lippen, Zunge usw. in jeder 
Richtung und in jeder Art frei bewegt und plötzlich bringen wir 
die Lippen wie zufällig, mitten in der stummen, mimischen Übung, 
während sie ganz geschlossen sind, auseinander, indem wir einen 
Laut ausstoßen, der Ma oder Pa, gleichviel, ob so oder so, lautet... 
— Unsere Methode, schreiben und lesen zu lehren, unterscheidet 
sich nicht von dem, was vorher gesagt wurde; wir benutzen hier 
Verschiedenheiten, dort Ähnlichkeiten, sowohl in der Form als im 
Laut, um die Bedeutung eines jeden durch sein Korrelat zu ver- 
stärken. In dieser Hinsicht ist unsere Methode nicht so sehr eine 
gedächtnismäßige als eine vergleichende... Wir benutzen zwei 
Alphabete, eines aus massiven Buchstabenformen, das andere gedruckt; 
das erste paßt auf die Formen des zweiten, das zweite ist auf 
Karten, die auf einem Rahmen leicht in Kolonnen, Gruppen oder 
einzeln angebracht und entfernt werden können. Wenn die tiefst- 
stehenden Anfänger einen Keil von einem Viereck unterschieden 
haben, können sie zu diesem Alphabet gebracht werden. Das Kind 
wird vor unsere Alphabettafel gesetzt; wir legen ihm’die drei 
erhabenen Buchstaben I, O, A vor und dieselben auf Karten gedruckten 
Buchstaben werden auf das Brett gesetzt. Wir geben ihm das 
massive I, während wir es gleichzeitig benennen, damit es auf das 
gedruckte gelegt werde“ usw. 

Im Vergleich zu Iraups Berichten bedeutet Brousse Buch in 
bezug auf Darstellung der Erziehungs- und Unterrichtsmethode 
einen gewaltigen Fortschritt. Dort der philosophische Gedanke die 
treibende Kraft, experimentell festzustellen, „welche bisher nicht 
festgestellte Summe von Kenntnissen und ldeen der Mensch seiner 
Erziehung verdankt“, hier die Nächstenliebe der allgewaltige Antrieb, 
dem Suchenden und Strebenden das Banner vorantragend mit der 
Aufschrift: Die Idiotie ist heilbar! Lesen sich Irarps Berichte wie 
ein Erziehungsroman, in dem da und dort psychologische und physio- 
logische Betrachtungen eingeflochten sind, so erweist sich SEGuUmns 
Werk als eine im wesentlichen nur der Methode dienende und diese 
systematisch ausbauende Arbeit. Irarp bahnte zunächst die Ent- 
wicklung der Sinne an, beeinflußte dann die intellektuellen Funktionen 
und widmete sich dann der Pflege der Gemütsfähigkeiten. SEsuIns 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 117 


Plan erstrebte zuerst die Entwicklung des Muskelsystems, dann die 
des Nervensystems und der Sinne und ging dann über zur Bildung 
von Begriffen, Ideen und schloß ab mit der moralischen Behandlung. 
Es basierte beider Methode auf physiologischem Prinzip. 

Um Montessorıs Methode zu kennzeichnen, wähle ich einen 
Abschnitt aus dem Kapitel „Methoden das Lesen und Schreiben zu 
lehren“. Sie sagt da: „Beim Unterricht der Schwachsinnigen beob- 
achtete ich folgende Tatsache: Ein schwachsinniges elfjähriges 
Mädchen, das normale Kraft und Bewegungsfähigkeit der Hand 
hatte, lernte nicht nähen und nicht einmal die Vorstufe davon, 
das Stopfen, wobei die Nadel erst über, dann unter den Einschlag 
geschoben wird, indem man eine Änzahl Fäden das einemal auf- 
nimmt, das anderemal fallen läßt. Ich ließ nun das Kind an den 
Fröbelschen Matten arbeiten, wobei ein Streifen Papier innen und 
außen quer zwischen senkrechte, oben und unten befestigte Papier- 
streifen mit Fäden angeheftet wird. Dies brachte mich auf den 
Gedanken der Ähnlichkeit zwischen beiden Übungen, und die Beob- 
achtung des Mädchens hatte großes Interesse für mich. Nachdem 
sie m dieser Fröbelarbeit geschickt geworden war, leitete ich sie 
wieder zum Nähen an und bemerkte mit Freuden, daß sie nun fähig 
war, dem Stopfen zu folgen. Von dieser Zeit an ging unserem 
Nähunterricht regelmäßig dieses Fröbelsche Weben voraus. — Ich 
erkannte, daß die zum Nähen nötigen Bewegungen der Hand geübt 
worden waren, ohne daß das Kind nähte, und daß man also das 
Kind lehren konnte, wie eine Verrichtung auszuführen ist, ohne daß 
man diese selbst tun läßt. Ich sah besonders, daß vorbereitende 
Bewegungen ausgeführt und zu mechanischer Fertigkeit gebracht 
werden können, wenn man sie auch nicht an der Sache selbst 
sondern an der auf sie hinleitenden Vorbereitung anstellen läßt. 
Die Schüler können sich dann an die richtige Arbeit machen und 
sie ausführen, ohne daß sie vorher mit ihr zu tun gehabt hätten. 
— Der Gedanke kam mir, auf diese Weise könnte ich auch das 
Schreiben vorbereiten, und diese Vorstellung beschäftigte mich aufs 
lebhafteste. Ich wunderte mich über dessen Einfachheit und ärgerte 
mich, daß mir das vorher nicht eingefallen war, was mir nun durch 
Beobachtung des Mädchens eingegeben wurde. — Da ich die Kinder 
bereits gelehrt hatte, die Umrißlinien der ebenen geometrischen 
Figuren zu berühren, so brauchte ich sie ja nur anzuleiten, den 
Buchstabenformen des Alphabets mit den Fingern 
nachzufahren. — Ich ließ nun ein prächtiges Alphabet anfertigen 
in Kurrentschrift, die kleinen Buchstaben 8 cm hoch, die großen im 


118 KURT LEHM, 


Verhältnis. Diese Buchstaben waren aus Holz und !/, cm dick, die 
Konsonanten blau, die Vokale rot bemalt. Die Unterseite dieser 
Buchstabenformen wurde anstatt bemalt bronziert, damit sie dauerhaft 
wären. Von diesem Holzalphabet hatten wir nur ein Exemplar, 
daneben aber noch eine Anzahl Karten, auf denen die Buchstaben 
in derselben Größe und in den gleichen Farben gemalt waren wie 
die hölzernen. Diese gemalten Buchstaben wurden auf den Karten 
nach Gegensatz oder Ähnlichkeit der Form in Gruppen geordnet. 
— Zu jedem Buchstaben des Alphabets hatten wir ein Bild, dar- 
stellend einen Gegenstand, dessen Namen mit dem Buchstaben 
begann. Darüber war der Buchstabe in Schreibschrift groß gemalt, 
neben diesen die Druckform, aber viel kleiner. Diese Bilder sollten 
das Gedächtnis für den Laut des Buchstabens unterstützen, und der 
kleine Druckbuchstabe bildete den Übergang zum Lesen der Druck- 
schrift. Diese Bilder sind ja kein neuer Einfall, aber sie ergänzten 
eine an sich ganz neue Anordnung. Ein solches Alphabet war 
allerdings sehr teuer, es kostete, handgemacht, 250 Lire. — Der 
interessanteste Teil meines Versuchs bestand darin, daß ich, nach- 
dem den Kindern gezeigt worden war, wie sie die beweglichen 
Holzbuchstaben auf die in Gruppen gemalten legen sollten, die 
Kinder nun auch anhielt, der Umrißform nach Art -fließen- 
den Schreibens nachzufahren. Ich bereicherte diese Übung 
noch auf mannigfaltige Art, und so lernten die Kinder die Formen 
der Schriftzeichen nachzuahmen, ohne zu schreiben. 
Es fiel mir dabei etwas auf, was mir zuvor nie in den Sinn 
gekommen war, nämlich, daß wir beim Schreiben zwei Arten der 
Bewegung ausführen; neben der Bewegung zur Erzeugung der Form 
geht nämlich die Bewegung zur Handhabung des Schreibwerkzeuges 
her. Und als daher die Schwachsinnigen darin geübt waren, den 
Formen aller Buchstaben nachzufahren, konnten sie den Schreibstift 
noch nicht halten. Einen Stift sicher zu halten und zu handhaben, 
setzt einen besonderen Muskelmechanismus voraus, der von der 
Schreibbewegung unabhängig ist und neben all den zur Erzeugung 
der verschiedenen Buchstabenformen nötigen Bewegungen hergehen 
muß. Wenn ich die Schwachsinnigen zu den das Schreiben charak- 
terisierenden Bewegungen veranlaßte, indem sie die Buchstaben mit 
den Fingern berühren mußten, übte ich die psycho-motorischen 
Bahnen mechanisch ein und befestigte das Muskelgedächtnis für 
jeden Buchstaben. Es blieb also noch die Vorbereitung des zum 
Halten und Führen des Schreibwerkzeugs nötigen Muskelmechanismus 
übrig, und diese veranlaßte ich, indem ich zu der schon beschriebenen 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 119 


noch zwei weitere Stufen hinzufügte. Auf der zweiten Stufe berührte 
das Kind den Buchstaben nicht mehr nur mit dem Zeigefinger der 
rechten Hand, sondern mit zwei Fingern, dem Zeigefinger und dem 
mittleren Finger. Auf der dritten Stufe fuhr es den Buchstaben 
mit einem kleinen hölzernen Stift nach, der so gehalten wird, wie 
die Feder beim Schreiben ... Wegen des Abtastens der Buchstaben 
kann mir der Gedanke, ich könnte sie aus Sandpapier ausschneiden 
und auf glatte Karten aufkleben, wodurch ein Material entstünde, 
das dem in den ersten Übungen für den Tastsinn verwendeten ganz 
ähnlich wäre ... Es wurde mir klar, daß ich ein Papieralphabet 
beliebig vervielfältigen könne und daß dann viele Kinder es gleich- 
zeitig verwenden könnten, nicht nur um die Buchstaben kennen zu 
lernen, sondern auch um die Wörter zusammenzusetzen. In dem 
Sandpapieralphabet fand ich nun den gesuchten Führer der Finger, 
die den Buchstaben berühren sollten.“ 

Schon aus dieser Probe kann man ersehen, da MONTESSORI 
gleich Irarn, gleich Srsvın das physiologische Prinzip in ihrer 
Methode durchführt. Ja, kann man denn überhaupt von einer 
Methode MonTessorı sprechen, da sie in vielen Punkten starke An- 
lehnung an Sesvin und Irar?) zeigt? Ursprünglich stammt diese 
Methode nicht von Montessori, doch bleibt ihr das Verdienst, die 
Methode IrArn-SEesuın weiter ausgebildet zu haben. Lehrern, die 
an die experimentellen Methoden herangehen wollen, empfiehlt 
Monrtzssorı die Irarvschen Berichte zum Studium, da sie hier einen 
guten Begriff erhalten „von der Geduld und Selbstverleugnung, mit 
der man die Beobachtung der Erscheinungen betreiben muß“. Aus 
Irarvs Verfahren erkannte sie auch, wie die Erziehung zu gestalten 
sei, wenn der Übergang vom Naturleben zum sozialen Leben ohne 
Härten sich vollziehen solle. „Gewiß hat der Mensch im sozialen 
Leben sich Annehmlichkeiten verschafft, und die menschlichen 
Gemeinschaften haben eine kräftige Menschenliebe entstehen lassen. 
Gleichwohl gehört er immer noch der Natur an, und besonders als 
Kind braucht er sie, um aus ihr die zu seiner körperlichen und 
geistigen Entwicklung nötigen Kräfte zu beziehen... Bei der 
Erziehung der Kleinen wiederholen sich die erzieherischen Vorgänge, 
die Irarv behandelt: wir müssen den Menschen, der unter die 
Lebewesen und daher zur Natur gehört, vorbereiten für das soziale 
Leben, weil dieses, weil es sein besonderes, ihm eigentümliches 
Werk ist, notwendigerweise auch der Äußerung seines natürlichen 


1) Über die Beziehungen der MONTESSORI-Methode zu FRÖBEL, 
PESTALOZZI, COMENIUS ist eine besondere Arbeit in Aussicht genommen. 


120 KURT LEHM, 


Tätigkeitstriebes entspricht. Die Vorteile aber, die wir dem Kind 
im sozialen Leben bereithalten, kommen dem kleinen Kind in noch 
sehr geringem Maße zu; denn es ist in den ersten Jahren seines 
Lebens ein vorwiegend vegetatives Geschöpf. Diesen Übergang nun 
durch die Erziehung zu mildern, indem ein wesentlicher Teil des 
Erziehungswerkes der Natur selbst gewidmet ist, ist ebenso notwendig 
als es ist, das Kind nicht plötzlich und gewaltsam von der Mutter 
wegzureißen und zur Schule zu bringen. Dies letztere findet die 
beste Regelung in den Kinderheimen, die innerhalb der Häuser liegen, 
in denen die Eltern wohnen, wo also der Ruf des Kindes die Mutter 
erreicht und die Stimme der Mutter ihm antworten kann.“ 

Aus der Geschichte der „Kinderheime“ berichtet MONTESSORI 
folgendes: „Es war gegen Ende des Jahres 1906, ich war eben aus 
Mailand zurückgekommen, wo ich bei der Internationalen Ausstellung 
Mitglied eines Komitees für die Zuerkennung von Preisen auf dem 
Gebiet der wissenschaftlichen Pädagogik und der Experimental- 
psychologie gewesen war, als ich von dem Ingenieur EDOARDO 
Taramo, dem Generaldirektor der „Römischen Gesellschaft für 
zweckmäßiges Bauwesen“ aufgefordert wurde, die Einrichtung von 
Kinderschulen in seinen Mustermietshäusern in die Hand zu nehmen. 
Herr Taramo hatte den glücklichen Gedanken, alle Kleinen der 
Mieter eines solchen Hauses im Alter von drei bis sieben Jahren 
zu sammeln und sie in einem zum Hause gehörigen Saal unter 
Aufsicht einer ebenfalls im Hause wohnenden Lehrerin spielen und 
arbeiten zu lassen. Es bestand die Absicht, jedes Haus sollte seine 
eigene Lehrerin bekommen, und da die Gesellschaft in Rom bereits 
über 400 Häuser besaß, schien das geplante Werk ungeahnte 
Möglichkeiten der Entwicklung zu bieten. Die erste Schule sollte 
eröffnet werden im Jahre 1907 in einem großen Mietshaus im 
San Lorenzo-Viertel, das gegen 1000 Personen beherbergt. In dem- 
selben Viertel besaß die Gesellschaft bereits achtundfünfzig Gebäude, 
und Herr Taramo gab sich der Hoffnung hin, daß sobald als möglich 
sechzehn solcher „Schulen im Hause“ eröffnet werden könnten. 
Diese neue Art von Schulen wurde von Frau Orca Lopi, einer 
gegenseitigen Freundin von Herrn Taramo und mir, mit der glück- 
lichen Bezeichnung „Casa dei Bambini“, Kinderheim, belegt. Unter 
diesem Namen wurde die erste unserer Schulen am 6. Januar 1907, 
in Nummer 58 der Via dei Marsi eröffnet. Sie wurde der Leitung 
einer Lehrerin unter meiner Verantwortung anvertraut. Von allem 
Anfang an erkannte ich die ungeheure soziale und pädagogische 
Tragweite einer solchen Einrichtung, und während damals meine 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 121 


Vorstellungen von dem Triumph der Zukunft übertrieben erscheinen 
mochten, geben heute schon viele zu, daß das, was ich damals voraus- 
sah, Wahrheit geworden ist. Am 7. April desselben Jahres, 1907, 
wurde das zweite Kinderheim im San Lorenzo-Viertel eröffnet, und am 
18. Oktober 1908 wurde ein weiteres eingeweiht von der Humanitären 
Gesellschaft zu Mailand; das Arbeiterheim derselben Gesellschaft 
unternahm die Herstellung des nötigen Unterrichtsmaterials. Am 
folgenden 4. November tat sich ein viertes Kinderheim auf in Rom, 
diesmal nicht im Arbeiterviertel, sondern in einem neuen, von 
Familien der mittleren Klassen bewohnten Haus in der Via Fama- 
gosta, in dem als „Prati di Castello“ bekannten Teil der Stadt; und 
im Januar 1909 begann man in der italienischen Schweiz die Waisen- 
häuser und die Kinderschulen nach Fröbelschem System umzuwandeln 
in „Kinderheime“ und unsere Methoden und Lehrmittel einzuführen.“ 

Man möchte sich bewogen fühlen, einem gütigen Geschick zu 
danken, daß es eine deutsche Frau!) mit einem deutschen Mutter- 
herzen, das für die Kinder schlug, wie Frau Dr. Moxtessorı an die 
Spitze eines so segensreich wirkenden sozialen Unternehmens stellte. 
Mein Amt als Hilfsschullehrer heißt mich jede Förderung der Unter- 
richts- und Erziehungsmethoden dankbarst begrüßen; wenn man aber 
abwägt zwischen der Bedeutung der Leitung der Kinderheime und 
der Bedeutung einer Erprobung der Anormalenpädagogik MONTESSORI 
in Elementarklassen, diesen Wunsch hegte die Autorin unseres Buches, 
so darf man berechtigterweise den Schluß ziehen, daß das erstere 
zunächst wertvoller ist als das letzte, was aber später immer noch 
nachgeholt werden kann, wenn die Frage der Casa dei Bambini durch 
die Erfahrungen der Zukunft noch eine umfassendere Beleuchtung 
hinsichtlich der Durchführbarkeit in anderen Orten mit anderen Ver- 
hältnissen erhalten und die Methode Moxtessorı vor allem in Ab- 
teilungen mit nur anormalen Kindern ihre Bewährung erwiesen 
hat. Unsere deutschen Kindergärten nach Fröbelschen Grundsätzen 
sind m. E. durch die Casa dei Bambini nicht überholt. 

Nun soll uns ein Blick auf die Stundenverteilung und in den 
Erziehungsplan das Erziehungswerk MoNnTzssorıs noch näher bringen. 
Für den Winter hat Montessorı folgenden Stundenplan festgesetzt. 
Beginn: 9 Uhr. Schluß: 4 Uhr. 9—10: Empfang und Begrüßung. 
Nachprüfung in Beziehung auf Reinlichkeit. Übungen in alltäglichen 
Verrichtungen (Ablegen von Kleidungsstücken, gegenseitiges Anziehen 
der Schürzchen, Nachprüfung des Zimmers in bezug auf Ordnung 
und Reinlichkeit der Gegenstände). Sprachübungen: die Kinder 


1) Vgl. den Nachtrag. 


122 KURT LEHM, 


erzählen, was man gestern getan hat; moralische Unterweisungen, 
gemeinsames Gebet. 10—11: Verstandesübungen (gegenständlicher 
Unterricht, unterbrochen von kurzen Ruhepausen, Namengebung, 
Sinnesübungen). 11—11'/,: Einfache Leibesübungen (nützliche und 
gefällige Bewegungen: richtige Körperhaltung, Vortreten, in Reihen 
gehen, grüßen, aufmerksame Haltung, Gegenstände artig hinreichen). 
11',—12: Mahlzeit, kurzes Gebet. 12—1: Freie Spiele. 1—2: 
Von der Lehrerin geleitete Spiele, womöglich im Freien. Abwechs- 
lungsweise machen die Größeren Übungen in praktischen Besorgungen: 
das Zimmer reinigen, abstäuben, die Gegenstände ordnen. Allgemeine 
Nachprüfung in Beziehung auf Reinlichkeit. Gespräch. 2—3: Hand- 
arbeit: Formen, Zeichnen usw. 3—4: Gemeinsames Turnen mit 
Gesang, womöglich im Freien; Übungen in der Fürsorglichkeit: 
Wartung von Pflanzen und Tieren. Das Kinderheim ist also Tages- 
anstalt, und diese Einrichtung wird auch in Deutschland für die 
Hilfsschulen erstrebt, Leipzig ist bereits mit gutem Beispiel voran- 
gegangen und andere Städte werden folgen, es sollen Horte mit den 
Hilfsschulen verbunden werden, so daß die Kinder den größten Teil 
des Tages in der Obhut der Schule sich befinden, und so kann 
ein nachhaltiger Einfluß auf die Entwicklung der Kinder erzielt 
werden. Auffallend ist es, daß Monrtzssorr in den Stundenplan 
keine Ruhepause eingefügt hat, eine Pause zur Mittagsruhe für die 
Kleinen. Sie behilft sich, da es noch an den nötigen Einrichtungen 
fehlt, in der Weise, daß die Kinder, vor allem die Kleinen, während 
der Mittagszeit zu ihrer Mutter gehen. Für eine Hilfsschul-Tages- 
anstalt halte ich aber eine Mittagsruhe für die doch nervös meist 
anfälligen und rasch ermüdenden Kinder dringend notwendig, und 
jede Hilfsschule müßte eine Ruhehalle oder dergl. haben. 

In dem von Montzssorı entworfenen Stundenplan spielt sich 
tagtäglich der Erziehungsplan in seinen Hauptphasen ab, doch nicht 
so, daß der Stundenplan die Freiheit der Betätigung beschränkt, 
die Übungen in alltäglichen Verrichtungen aber werden stetig am 
Anfang vorgenommen. Der Erziehung der Muskeln dient das Turnen. 
„Unter Turnen und unter Erziehung der Muskeln überhaupt müssen 
wir eine Reihe von Übungen verstehen, die den Zweck haben, die 
natürliche Entwicklung der physiologischen Bewegungen (wie des 
Gehens, Atmens, Sprechens) zu befördern, diese Entwicklung in 
Obhut zu nehmen, wenn das Kind in derselben zurück ist oder 
krankhafte Anlagen zeigt und das Kind zu jenen Bewegungen zu 
ermuntern, die zu den gewöhnlichen Verrichtungen des Lebens 
dienen wie zum Ankleiden, Auskleiden, Knöpfen der Kleider und 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschulle.. 123 


Schnüren der Schuhe, Tragen verschiedener Gegenstände.“ Als 
turnerische Spiele werden Übungen mit Pendel (Gummiball an 
Schnur), Seil (mit Kreide auf dem Boden gezogener Strich, darauf 
gehen die Kinder), Wendeltreppchen (kleine hölzerne Wendeltreppe 
von spiraler Anlage) u.a. in die Betätigungen des Tages eingeflochten. 
Sesuın, auf den Montessorı hier Bezug nimmt, hat ähnliche Gleich- 
gewichtsübungen betrieben (Fußtapfen am Boden, Treppenleiter) 
und sagt von diesen Übungen, daß sie vortrefflich seien für den 
Kopf, „der seine regulierende Kraft nie geahnt hat, denn zwischen 
so vielen Schwierigkeiten gehen, heißt denken. Er meint hier das 
Gehen nach Fußspuren. Wie wichtig ihm das Gehen erscheint, sagt 
auch der Satz: „Die Stetigkeit des Fußes ist die Basis für die 
Stetigkeit des Körpers und die Genauigkeit der Hand.“ Als 
erzieherische Gymnastik bezeichnet Moxtessorı die bei der Pflege 
von Pflanzen und Tieren nötigen Bewegungen und Tätigkeiten, das 
Gießen, Futterstreuen, Bücken, Hacken usw., auch bei Sesuın sind 
solche Übungen aufgeführt, „welche aus den allen Kindern gemein- 
samen täglichen Arbeiten und Vergnügungen entlehnt sind“ (Spaten, 
Schubkarre, Gießkanne, Bogen, hölzernes Pferd, Hammer, Ball). 
Weiter hat Montessori Übungen zusammengestellt, um die Greif- 
bewegungen zu entwickeln, die zum An- und Auskleiden nötig sind 
(Knöpfen, Schnüren, Zuhaken, Binden). Sesvın hat auch viel Mühe 
darauf verwendet, die Hände seiner Idioten geschickt zu machen. 
Er verwendete Klötze in Dominoform, das Nagelbrett, Einpassen 
geometrischer Figuren, Aufheben winziger Gegenstände (Glasperlen, 
Stecknadeln, Oblaten usw.), Aufwickeln von Schnüren, Zu- und 
Aufknöpfen, Zu- und Aufschnüren, Auffädeln von Perlen usw. Zu 
den Handarbeiten der Montessorischen Schule (Töpferei, Bauen mit 
Backsteinen) hätte er sich natürlich angesichts seines Schülermaterials 
nie aufschwingen können. Der Erziehung der Sinne widmen SEGUIN 
und Montzssorı einen großen Abschnitt ihres Planes. „Die 
Erziehung der Sinne hat den Zweck, eine Verfeinerung in der 
Wahrnehmung der Unterschiede der Sinnenreize herbeizuführen“, 
sagt Montessorr und will so auf die praktische Lebensbetätigung 
vorbereiten. Diesem Zwecke dienen „Bildung der allgemeinen 
Empfindungsfähigkeit, des Tast- und Wärmesinns, des Sinnes für 
die Schwere und die Körperlichkeit; Erziehung des Sinnes für das 
Körperliche, Erziehung des Geschmacks- und Geruchssinnes, Er- 
ziehung des Gesichtssinnes und Erziehung des Gehörsinnes.“ Aus. 
einer Zusammenstellung der Übungen Szsvıns und Moxtessorıs für 
die Erziehung der Sinne ergibt sich folgendes Bild: 


124 KURT 


SEGUIN: 


LEHM, 


MONTESSORI: 


Übungen zur Verfeinerung der allgemeinen Empfindungsfähigkeit. 


Wenn die peripherischen Tast- 
nervenenden erregbar oder krankhaft 
empfindlich sind, — müssen wir uns 
beeilen, die Nervenenden durch fort- 
gesetzte Reibung gegen harte Sub- 
stanzen mit stärkerem Epithel zu 
bedecken; alles, was rauh genug ist, 
ist für diesen Zweck gut genug, wie 
Ziegeltragen, grobgrifiige Kurbeln 
drehen, graben, sägen usw. 

Wenn die äußeren Tastnervenenden 
stumpf oder gefühllos sind, müssen 
die Gegenstände der Berührung nicht 
rauh, sondern substantiell sein. Die 
Hand muß „mit Federn wie zum 
Spaß gekitzelt oder über Körper von 
Glätte und Widerstände verschiedenen 
Grades, wie über eine Marmorplatte, 
über Samt usw. geführt werden. Sie 
muß abwechselnd in kalte und warme 
Flüssigkeiten, in Mengen von Körpern 
verschiedener Härtegrade oder Elasti- 
zität, wie in Kissen, die mit Eider- 
daunen, Rinde, Erbsen, Mehl, 
Schrot usw. gefüllt sind, getaucht 
werden. Das Kind muß ohne Zu- 


hilfenahme des Gesichts den Unter. 
schied zwischen dem Inhalte dieser 


Kissen durch den bloßen Eindruck 
des Gefühls umgeben.) S. nächst. 
Abschn. MONTESSORI.) 


Großes Rechteck, je zur Hälfte 
mit glattem Papier und Sandpapier 
überzogen. 

Täfelchen, abwechselnd mit Streifen 
aus glattem und aus Sandpapier über- 
zogen. 

Holztäfelchen, das in Abstufungen 
überglastes oder Sandpapiər mit zu- 
nehmender Feinheit des Sandbelags 
als Belag hat. 


Täfelchen aus „gleichförmigen 
Papierstreifen von verschiedener 
Glätte“. 


Stoffe: „zwei Arten von Samt und 
zwei von Atlas, Seide von allen 
Graden der Feinheit, Wolle von der 
rauhesten bis zur glättesten, Baum- 
wolle und Leinen.“ 

Wärmesinn: Kleine Gefäße mit 
Wasser verschiedener Wärmegrade, 
von außen zu berühren. Hände in 
kaltes, laues, heißes Wasser stecken. 

Sinn für dieSchwere: Holz- 
täfelchen von 24, 18, 12 g. 





Erziehung des Sinnes für das Körperliche. 


| Bausteine und Würfel Fröbels, mit 

verbundenen Augen nach den Arten 
ordnen. Ebenso wird mit anderen 
kleinen Gegenständen verfahren, Zinn- 
soldaten, kleine Bälle, Münzarten, 
Samen, Weizen, Reiskörner. „Die 
Kinder werden stolz darauf, daß sie 
ohne Augen sehen und rufen: „Hier 
sind meine Augen; ich kann mit den 
Händen sehen.“ 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI 


SEGUIN: 


und die deutsche Hilfsschule. 125 


MONTESSORI: 


Erziehung des Geschmacks- und Geruchssinnes. 


„Wenn das Kind nur zu wenigen 


Gegenständen Neigung hat, deren Ge- | bunden. 
schmack und Geruch wir es lieben | ‚Jasmin, frisches Brot, Butter, 
und wünschen gelehrt haben, dann 
setzen wir hier unsere Hebel an. 


Ein Geruch erregt die Aufmerksam- 


‘keit des Kindes; seine Hand, die nie | 


etwas gehalten hat, bringt die duftende 
Blume an die Nase oder öfter an den 
Mund, eine sehr häufige und merk- 
würdige Verwechslung dieser beiden 


Sonst keine Einzelbeispiele ausge- 


führt. | 


Sinne.“ | 


Dem Kind werden die Augen ver- 


Unterscheide Veilchen und 
0l, 
Essig, Gewürze, Kaffee, sauer ge- 


wordene oder angebrannte Milch. 


Erziehung des Gesichtssinnes. 


„Neben einem Stab, der ein Meter | 
lang und an jeder Oberfläche eingeteilt 
ist, legen wir ein anderes, neun Dezi- 
meter langes und ebenso markiertes, 
ein drittes von acht, ein viertes von 
sieben bis zu dem kleinsten, das nur 
ein Dezimeter lang ist. Nachdem wir 
den Vergleich mit zwei Stäben be- 
gonnen, mit dem längsten und kürze- 
sten, vermengen wir sie bald alle 
miteinander usw. 


Einsatzfiguren: Spitzwinkliges, 
rechtwinkliges Dreieck, Quadrat, 
Rechteck, Rhombus, Trapez, Fünf- 
eck, Sechseck, Kreis, Ellipse. — Acht-, 
Sieben-, Sechs-, Fünf-, Vier-, Dreieck. 


„Farben werden im dunklen Zimmer 
mit farbigen Fensterscheiben gelehrt. 
Kärtchen, Bänder, Bälle, Marmor- 





I. Übung des Auges im Unter- 
scheiden der Dimensionen. 
1. Zylinderförmige feste Ein- 
satzfiguren aus Holz. 
2. Große Stücke in abgestufter 
. Größe (vierseitige Prismen). 
Übungen des Auges im Erkennen 
der Form, und Wahrnehmung 
mit dem Gesichts- und Tastsinn 
zugleich. Geometrische Einsatz- 
figuren aus Holz- (Fünf-, Sechs-, 
Neun-, Zehneck, Kreise, Ellipse, 
Oval) Stäbe verschiedener Länge. 
Übungen mit drei Arten von 
Karten. 
l1. Karten, auf denen die blaue 
Figur aufgezogen ist, Kind 
legt die entsprechende Holz- 
form darauf. 
. Karten, auf denen die Figur 
durch einen Umriß von blauem 
Papier _nachgemacht ist. 
Dazu hölzerne Einsatzfiguren. 
Karten, worauf die Figur in 
Schwarz gezeichnet ist. Über- 
gang vom Körperlichen zur 
Ebene, zur Linie. 
IV. Wahrnehmung von Farbenunter- 
schieden: Erziehung des Farben: 
sinns. 


II. 


III. 


126 KURT LEHM, 


SEGUIN: MONTESSORI: 


kugeln und Muster aller Arten von| Lebhaft gefärbte Stoffe, Puppen, 
farbigen Gegenständen werden ent- | Wollbälle; Farbtäfelchen, Übungen 
sprechen, vorausgesetzt, daß man auf | in Unterscheidung der Schattierungen. 
ihre Ahnlichkeit und Unähnlichkeit 

immerfort hinweisen und sie prüfen 
kann. Bälle und die sie auffangenden 
Becher gleicher Farbe und alle Arten 
ähnlicher Dinge mit paarweisen 
Farben können gleichzeitig verwendet 
werden, wobei darauf zu achten ist, 
daß bei dem Versuche, dem Geiste 
eine Eigentümlichkeit dieser Körper, 
z. B. die Farbe beizubringen, nicht 
eine andere Eigenschaft des Körpers, 
z. B. seine Form, so in die Augen 
springe, daß sie die ganze Aufmerk- 
samkeit des Kindes anzieht und die 
Farbe ausschließt. Wir haben das 
schon öfter beobachtet. Die durch 
diese Mittel erworbene Vertrautheit 
mit den Farben ist auf Dinge des 
täglichen Gebrauches oder des Ver- 
gnügens wie die Kleidung, Blumen, 
Früchte usw. anzuwenden.“ 





Wie auch die Sprache an Sinneswahrnehmungen zu knüpfen 
sei, schildert MoNnTEssorI so: „Zu diesem Zweck habe ich die drei 
Stufen, aus denen nach Sesviın der Unterricht besteht, zur An- 
wendung bei den Kleinen vortrefflich gefunden. 

Erste Stufe: Die Assoziation der Sinneswahr- 
nehmung mit dem Namen. Wir geben dem Kind zum Beispiel 
zwei Farben, rot und blau. Indem wir Rot vorzeigen, sagen wir 
einfach: dies ist Rot — entsprechend bei Blau. Dann legen wir die 
Spulen vor den Augen des Kindes auf den Tisch. 

Zweite Stufe: Erkennen desdem Namen entsprechen- 
den Gegenstandes. Wir sagen zum Kind: „Gib mir Rot — 
Blau.“ 

Dritte Stufe: Erinnerung an den Gegenstand be- 
zeichnenden Namen. Man zeigt dem Kind den Gegenstand 
und fragt: „Was ist dies?“ und es soll antworten: „Rot“. 

SecuIn besteht fest auf diesen drei Stufen und verlangt, daß 
man die Farben einige Zeit vor den Augen der Kinder liegen lasse. 
Er rät ferner, die Farben nie einzeln, sondern immer zwei zugleich 
zu zeigen, da der Gegensatz das Farbengedächtnis unterstützt.“ 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 


SEGUIN: 


127 


MONTESSORI: 


Erziehung des Gehörsinnes. 


Die Vibrationsempfindungen, welche 
den Gegenstand unserer gegenwärtigen 
Untersuchung bilden, sind Geräusche, 
Musik und Sprache. Diese drei Arten 
haben besondere Wirkung: die Ge- 
räusche auf die Triebe, die Musik auf 
die Impulse, die Sprache auf den In- 
tellekt. . .. Die Gehörsempfindungen 
der Geräusche sind wie Hieroglyphen 
von Naturerscheinungen, die das Ding 
bedeuten, welches das Geräusch hervor- 
ruft; das eine bedeutet strömenden 
Regen, ein anderes das Rauschen des 
Windes, eines bedeutet Sägen des 
Holzes, ein anderes das Braten in der 


Pfanne, das des Kindes Appetit er- | 


weckt. Der von ITARD erzogene 
wilde Knabe hörte nicht den Knall 
einer hinter seinem Kopfe abge- 
feuerten Pistole, aber er hörte den 
Fall einer Haselnuß auf den Boden. 
Wenn neben einem offensichtlich 
tauben Idioten zu einer Zeit, da er 
sehr durstig ist, Wasser aus einem 
Gefäß in ein anderes geschüttet wird, 
wird er seinen Kopf wenden und 
trinken gehen. Was für ein Feld, 
um die Aufmerksamkeit zu erregen 
und das Organ willig und empfindlich 
zu machen.“ 

„Die Unbeweglichkeit wird in ver- 


schiedenen Stellungen gelehrt, stehend, 


sitzend, irgendwie angelehnt, an 
gymnastischen Apparaten, mit dem 
Gewehr, mit Hanteln, Balanzier- 
stangen usw,“ 


I. Ubung in der Unterscheidung 
von Tönen. 

Aufmerksamkeit für Geräusche, 
Abscheu gegen grelle und unordent- 
liche Geräusche. „Zur Abstufung 
von Geräuschen haben wir kleine 
Schachteln im Gebrauch, die mit mehr 
‚oder wenigen feinen Gegenständen 
(Sand und Kieselsteinen) gefüllt sind. 
Durch Schütteln der Schachteln 
werden die Geräusche erzeugt. 


| 


Übungen im Stillesein. „Ich 
lasse die Lehrerinnen auf die ge- 
wöhnliche Art Stille herstellen, und 
dann führe ich die Sache weiter und 
mache die Stille noch tiefer. Ich 
|sage: „St! St!“ in verschiedenen 
Modulationen, bald scharf und kurz, 
bald hingezogen und leise wie ein 
Flüstern. Hiervon werden die Kinder 
allmählich ganz gefangen genommen. 
Ich füge dann wohl auch noch bei: 
„noch stiller noch stiller!“ 
Hierauf setze ich wieder st! st! ein, 
lasse es immer leiser werden und 
wiederhole: „noch stiller!“ mit kaum 
hörbarer Stimme. Nun sage ich in 





128 KURT 


SEGUIN: 


„Wenn Melodien gespielt werden 
sollen, bringen wir das intellektuell 
taube Kind nahe zum Piano und 
lassen es, wenn nötig, zuerst seine 
Hände, eventuell seine Brust gegen 
das Instrument stützen. ... Wenn 
das Klavier in eine richtige Stellung 
gebracht ist, sendet das Klavier seine 
stärksten Schwingungen, dann seine 
sanftesten Töne aus, dann kommt 
eine lange Pause, der wieder Vibra- 
tionen folgen. Dies geschieht im 


Gruppenunterricht unter Anregung | 
durch die anderen Kinder, die zu-| 


hören und selbst singen. Im Gegen- 
satz hierzu soll der nächste Versuch 
zur Perzeption dermusikalischen Laute 
als Einzelübung gemacht werden. Das 
Kind wird einzeln eventuell in ein 


finsteres Gemach gebracht und in| 


einer Entfernung wird Musik gespielt, 
damit sie, unvermischt mit dem Ge- 


räusch oder den Bewegungen anderer | 


Kinder, früher oder später in das 
interesselose Organ eindringe. Auch 


überraschende Töne werden gelegent- , 


lich angewendet, um den Gehörsinn 
unerwartet aufzuscheuchen. 





LEHM, 


MONTESSORI: 


ganz leisem Flüsterton: „Jetzt höre 
ich die Uhr gehen, ich höre das 
Summen der Fliegen und das Flüstern 
der Bäume im Garten.“ Die Kinder, 
entzückt vor Freude, sitzen in solch 
vollkommener Stille da, daß das 
Zimmer wie leer ist; jetzt flüstere ich: 
„Wir wollen die Augen schließen.“ 

Unterscheidung der Töne: 
Pizzolis Satz kleiner Pfeifen, eine 
Reihe von Stimmgabeln. 

Musikalische Erziehung: 
Unterscheidung der Töne; Sinn für 
Rhythmuswecken. Kinder haupt- 
sächlich für den Rhythmus einge- 
nommen, nicht für den musikalischen 
Ton. 

II. Proben für die Hör- 
schärfe. Schweigespiele, die ge- 
heimnisvolle Stimme. 


Das Kapitel über Erziehung des Gehörsinnes schließt SEGUIN 
ab mit einer Abhandlung über den Sprechunterricht. Seite 116—117 
habe ich schon auf Sesvins Verfahren im ersten Sprechunterricht hin- 
gewiesen und es sei hier noch einer Stelle gedacht, die den Meister 
zeigt in dem Bemühen, durch Einwirkung auf die Gehörorgane 


seinen Schüler zum Sprechen zu bringen. 


„Um sie (die Sprache) 


für Idioten genügend eindrucksvoll zu machen, müssen wir sie mit 
ungewöhnlicher Betonung und Emphase verstärken, indem wir mit 
Worten auf das Tronmelfell einwirken, wie moralischer Zwang auf 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule. 129 


den Geist wirkt. Um ferner die deutliche Auffassung des Lautes 
zu lehren, müssen wir ihn sehr nahe und mehr als deutlich hervor- 
bringen, indem wir den Ton sowohl im Umfang wie in der Höhe 
zusammenziehen. Und um den Sinn der Worte als Darsteller von 
Wesen, Eigentümlichkeiten, Handlungen oder Befehlen zu lehren, 
wird die Betonung oder die Emphase besser ihren intellektuellen 
Wert bezeichnen als alle Kommentare, so daß übertriebener Akzent 
und Emphase nicht nur kein zeitliches Hilfsmittel ist, sondern 
unseren ganzen Unterricht bis zu seinem Ende in fortschreitender 
Abnahme begleitet.“ 

Irarps und Sesvins Arbeiten ein in selbstverleugnendem Opfer- 
mut aufgehendes Wirken im Schattenlande der psychischen und 
physischen Unzulänglichkeiten und Unvollkommenheiten, MONTESSORIS 
Erziehungs- und Unterrichtstätigkeit in den casa dei Bambini nach 
Durchschreitung des Halbschattengeländes des Schwachsinns ein 
Aufjauchzen im Forschen und Finden in Freiheit und Selbsttätigkeit 
unter dem blauen Himmelszelt, das gesunde Jugend über sich spannt. 
Irarp und SesuIs, — die die Grundmauern schufen und die Haupt- 
säulen stellten, MonTEssorı, — der es vergönnt war, dem Hause die 
Zier zu schenken. 

Welche Erfolge haben sie gehabt, ITARD, SEGUIN, MONTESSORI? 

Irarv hat einen Idioten, der jahrelang in Abgeschiedenheit von 
menschlicher Gesellschaft gelebt hat, so weit erzogen, daß er sich 
in kleinem, ihm gewohnten Kreis sich zurechtfinden konnte, daß er 
sich so eingefühlt und eingelebt hatte, das ihm das freie Leben in 
der Wildnis verleidet war. Er konnte sich in kleiner Beschäftigung 
nützlich machen. Aus dem Tier war ein Mensch geworden, wenn 
auch unentwickelt nach intellektueller und moralischer Richtung hin. 

Bei Sesvin fehlen abschließende Berichte, aber aus seinem 
Erziehungsplan ersieht man die Endziele, wohin er seine Schüler- 
schar führen wollte. Er half ihnen auf die Füße, auf die Beine, 
lehrte sie stehen und gehen, machte die ungelenke Hand beweglich, 
weckte den Hautsinn, öffnete Auge, Mund und Ohr; er führte die 
Idioten ins Unterrichtszimmer, übte den schwachen Geist, lehrte sie 
sogar schreiben und lesen, in Garten-, Feld- und Werkstattarbeit 
führte er sie ein. 

Montessori gibt bestimmte Tatsachen an für das, was sie 
erreichte: „Ein vierjähriger Junge, der in einem Privathaus nach 
unserer Methode erzogen worden war, überraschte uns auf folgende 
Weise. Der Vater des Jungen war Abgeordneter und erhielt viele 
Briefe. Er wußte, daß sein Sohn seit zwei Monaten Übungen 

Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VIII, H 


130 KurRT LEHM, 


machte, die das Schreiben und Lesen vorbereiteten, aber er achtete 
wenig darauf und hielt auch wenig von der Methode. Eines Tages. 
als er dasab und las und das Kind neben ihm spielte, kam das 
Mädchen herein und legte eine größere Anzahl eben angekommener 
Briefe auf den Tisch. Der Junge wurde darauf aufmerksam, nahm 
einen Brief nach dem andern in die Hand und las laut die Adresse. 
Seinem Vater erschien dies wie ein Wunder... Fast alle normalen 
Kinder, die nach unserer Methode unterrichtet werden, fangen 
jedenfalls mit vier Jahren an zu schreiben und können mit fünf 
Jahren mindestens so gut lesen wie Kinder, die die erste Elementar- 
klasse absolviert haben. Sie konnten in die zweite Klasse ein Jahr 
früher eintreten, als die Kinder sonst in die erste aufgenommen 
werden ... Noch in den letzten Tagen, als dieses Buch schon im 
Druck war, haben wir folgende bei unseren Kindern sehr beliebte 
Leseübungen veranstaltet: auf Zettel schrieb ich lange Sätze, die 
von den Kindern den Vollzug gewisser Handlungen verlangen, z. B. 
„Schließe die Fenstervorhänge, öffne die vordere Tür, dann warte 
einen Augenblick und ordne diese Dinge wieder, wie sie zuerst 
waren,“ „Bitte sehr höflich acht deiner Kameraden, sie sollen von 
den Stühlen aufstehen, sich mitten im Zimmer in doppelter Reihe 
aufstellen, dann lasse sie vor- und zurückmarschieren, und zwar auf 
den Zehenspitzen, daß sie keinen Lärm machen,“ „Bitte drei von 
deinen ältesten Kameraden, die gut singen, sie möchten in die Mitte 
des Zimmers treten. Stelle sie hübsch auf und singe mit ihnen ein 
Lied, das du auswählst“ usw. Sowie ich geschrieben hatte, ergriffen 
die Kinder die Zettel, nahmen sie an ihren Platz mit und lasen sie 
mit gespanntester Aufmerksamkeit und unter lautloser Stille. Ich 
fragte: „Versteht ihr’s?* „Ja! ja!“ „Dann tut, was der Zettel 
euch heißt“, sagte ich, und freute mich zu sehen, daß die Kinder 
die gewünschte Handlung rasch und genau vollzogen ...“ — Es 
gelang mir, eine Anzahl der Schwachsinnigen aus den Anstalten 
orthographisch und kalligraphisch schreiben zu lehren, und zwar 
mit so gutem Erfolg, daß ich sie an einer öffentlichen Schule mit 
den normalen Kindern an der Prüfung teilnehmen lassen konnte. 
Sie bestanden diese Prüfung gut. Diese Ergebnisse erschienen 
denen, die sie sehen konnten, beinahe wunderbar. Mir jedoch war 
es klar, daß die Anstaltskinder nur deshalb neben den normalen 
hatten bestehen können, weil ihre Bildung auf einem anderen Wege 
angestrebt worden war. Ihre psychische Entwicklung war gefördert, 
die der normalen Kinder dagegen gedämpft und niedergehalten 
worden. Es kam mir der Gedanke, daß, würde die besondere Art 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule.. 131 


von Erziehung, die bei den schwachsinnigen Kindern so auffallende 
Erfolge gezeitigt hatte, eines Tages auch auf die normalen an- 
gewendet, dann das „Wunder“, von dem meine Freunde redeten, 
nicht länger sich als solches halten, und die Kluft zwischen dem 
verkümmerten Intellekt des Schwachsinnigen und dem normalen 
Gehirn nicht mehr überbrückt werden könnte. Während nun alles 
die Fortschritte meiner Idioten bewunderte, forschte ich nach den 
Gründen, welche die bedauernswerten Kinder unserer öffentlichen 
Schulen auf einer so tiefen Stufe zurückhielten, daß meine unglück- 
lichen Schüler ihnen an der geistigen Bildung die Stange halten 
konnten.“ ... Fast überall sind die auf die Schwachsinnigen an- 
gewandten Methoden mehr oder weniger dieselben wie für normale 
Kinder. Besonders machte eine Freundin von mir, die nach 
Deutschland gegangen war, um meine Forschungen zu unterstützen, 
die Beobachtung, daß, obgleich in den pädagogischen Sammlungen 
der Schulen für Schwachsinnige hin und wieder besonderes Unter- 
richtsmaterial vorhanden war, dieses selten auch angewendet wurde; 
die deutschen Erzieher hatten den Grundsatz, daß es sich empfehle, 
für den Unterricht zurückgebliebener Kinder dieselben Methoden 
anzuwenden wie für normale; doch sind diese Methoden in Deutschland 
viel objektiver als bei uns.“ 

Angesichts solcher Erfolge läßt sich Bewunderung nicht zurück- 
halten, wenngleich als Unterton ein Verwundern mitschwingt, 
ungewollt und doch nieht zum Schweigen zu bringen. Wenn Kinder 
mit fünf Jahren eben so gut lesen wie Kinder am Ende des ersten 
Schuljahres, wenn sie aufgeschriebene mehrgliedrige Gedankengänge 
in nicht eben leichter Ausdrucksform überlesen, dabei geistig durch- 
dringen und erfassen und den darin enthaltenen Aufforderungen 
gemäß handeln, wenn ein vierjähriges Kind nach zweimonatlichem 
Privat-Unterricht Adressen liest, wenn Kinder mit vier Jahren 
schon schreiben, wenn Schwachsinnige (oder Idioten?) in der Prüfung 
mit geistig gesunden Kindern in Rechtschreibung bestehen, soll da 
nicht Bewundern an Stelle des Begreifens treten? Gewiß, das ist 
nicht zu bestreiten und wird Monrtessorıs Verdienst bleiben, daß 
sie die von Irarv und Srsuın und infolge ihrer Sonderstudien der 
Experimentalpsychologie erhaltenen Anregungen in geistreicher und 
zweckmäßiger Weise zu einem System vereinigt hat, und niemand 
wird ihr die Freude an ihren schönen Erfolgen trüben wollen. Aber 
angesichts dieser Einzelerfolge ist damit noch nicht bewiesen, daß 
die Methode Montessorr für Massenunterricht in Elementarklassen 


geeignet ist. Dem Geiste nach lebt sie schon seit Jahren in den 
OU 


132 KURT LEHM, 


Elementarklassen der deutschen Schulen, denn die deutsche Lehrer- 
schaft hat sich stets gemüht, die Ergebnisse der Forschungen der 
Experimentalpsychologie zu verwerten, und die experimentelle Päda- 
gogik geht in diesem Bestreben mit der Schwesterwissenschaft Hand 
in Hand. Die seit Jahren flutende Bewegung der Arbeitsschule ist 
eine auch den Nichtpädagogen bekannt gewordene Erscheinung. 
Nur fragt man sich im Hinblick auf die Erfolge: Muß denn da, wo 
immer Kinder zu einer Erziehungsgemeinschaft vereinigt werden, 
noch dazu Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren, auch das 
Lesen und Schreiben dabei sein? In Deutschland und anderwärts 
zielen die Bestrebungen der Pädagogen dahin, die Übungen im 
Lesen und Schreiben weiter hinauszuschieben aus psychologischen 
und physiologischen Gründen, und nach Monxrtessorı fangen die 
Kinder schon mit vier Jahren an? Ist das eine für das Alter der 
Kinder entsprechende notwendige Betätigung, muß man nicht von 
Verfrühung sprechen? Andererseits aber muß man wünschen, daß 
die Elementaristen nach einer die physische, psychi- 
sche und intellektuelle Entwicklung in vorbildlicher 
Weise anbahnenden und fördernden und die Erschließung 
des gesamten Wesens desKindes günstig gestaltenden 
Methode vorbereitet sein möchten, dann wäre der 
Elementarunterricht ein Spiel für Lehrer und Kind. 
Diese vorbildliche Vorbereitung müssen wir der 
Mutterschule überlassen bzw. die Mütter dazu tüchtig 
machen. Eine wichtige Aufgabe für die Pädagogen! 

Auch die deutsche Hilfsschule zieht Montzssorı vergleichend 
in den Kreis ihrer Besprechungen und zwar auf Grund von Beob- 
achtungen, die eine Freundin in deutschen Schulen für Schwachsinnige 
angestellt hatte. Es ist nicht angegeben, in welchen Hilfsschulen 
die Freundin dem Unterricht beiwohnte, auch der Umfang der 
Beobachtungen ist nicht aufgezeichnet, es ist nur festgestellt, „die 
deutschen Erzieher haben den Grundsatz, daß es sich empfehle, für 
den Unterricht zurückgebliebener Kinder dieselben Methoden anzu- 
wenden wie für normale, doch sind diese Methoden in Deutschland 
viel objektiver als bei uns.“ Dazu ist zu bemerken, daß allerdings 
in Oberklassen der Hilfsschulen, namentlich der gut gegliederten, 
die außer der Vorstufe sechs aufsteigende Klassen umfassen, der 
Unterschied im methodischen Verfahren der Hilfs- und Normalen- 
schule dem Fernerstehenden nicht ohne weiteres auffallend bemerkbar 
werden muß, es sind da die Stufen von der Heilpädagogik zur 
Normalenpädagogik so fein, daß es wohl entschuldbar ist, wenn die 


ITARD, SEGUIN, MONTESSORI und die deutsche Hilfsschule.. 133 


Hilfsschulmethode als der Normalenschulmethode gleich gehalten 
wird. Und doch folgt sie selbst da ganz dem Grundsatz, den 
Lebenserscheinungen, wie sie am Kinde in die Erscheinung treten, 
sich anzupassen, während auf „besonderes Unterrichtsmaterial* 
verzichtet werden kann, weil — und das ist ein großer Erfolg der 
Hilfsschulerziehung — nach den Oberklassen hin das Kindermaterial 
sich mehr und mehr ausgleicht, namentlich in psychischer Beziehung, 
mehr und mehr dem Gesamtwesen der normalen Kinder sich nähert 
ohne jedoch — das sei besonders hervorgehoben — es jemals zu 
erreichen, und die Gründe dafür sind in den pathologischen Verhält- 
nissen des Gehirns, des Nervensystems zu suchen. — Das, was die 
Freundin an „besonderem Unterrichtsmaterial“ im Unterricht vermißte, 
hier kommen die Spezialneigungen der Anhängerin MoNTESSOoRIS 
zum Ausdruck, das hätte sie in den „Vorstufen“ der Hilfsschulen 
vorfinden müssen. Da sind Formenbretter im Gebrauch, wenn auch 
in veränderter Gestalt, da werden Tast-, Gesichts-, Gehörs-, 
Geschmacks-, Geruchsübungen vorgenommen usw. ganz im Sinne 
der Moxtessorıschen Schule, und dort werden diese Übungen gebraucht, 
weil eben die der Vorstufe angehörenden Kinder in der Entfaltung 
der Sinnesentwicklung zurück sind, Ansätze zu den einzelnen 
Tätigkeiten sind vorhanden; die Funktion zur Fähigkeit auszubilden, 
ist, mit SEGUIN gesprochen, dort ein wesentliches Ziel. So werden 
die Kinder unterrichtsfähig gemacht. Allem im einzelnen nach- 
zugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiten. Gesagt 
sei nur das eine, daß eine Methode, die das physiologische Prinzip 
außer acht lassen wollte, für die Hilfsschulvorstufe, Unter-, Mittel- 
und Oberstufe unmöglich ist. 

Und woher hat die Hilfsschule die physiologische Methode? 
Als die Hilfsschulen entstanden, wurden bekanntlich aus Idioten- 
anstalten schwachsinnige Kinder, die hilfsschulfähig waren, dahin 
abgegeben. Weiter waren die Hilfsschullehrer bis zur Begründung 
des deutschen Hilfsschulverbandes Mitglieder der Konferenz für das 
Idiotenwesen. An Berührungspunkten hat es nicht gefehlt und mit 
Irarp, namentlich aber mit Sesum war man dem Geiste nach 
vertraut, ehe ihre Bücher uns zugänglich wurden. Neuer Zufluß 
zu der gewonnenen Erkenntnis kam dann von der experimentellen 
Psychologie und aus grundlegenden medizinischen Büchern über das 
Wesen anormaler Kinder. Unsere eigenen Beobachtungen und Ver- 
suche in der Hilfsschule werden nicht aufhören, aber von der 
medizinischen Forschung am abnormalen Kind erwarten und erhoffen 
wir noch manches, was unsere Bestrebungen fördern kann. Glück- 


134 K. LEHM, TARD, SEGUIN, MONTESSORI u. die deutsche Hilfsschule. 


liche Lösungen müssen besonders von denen kommen, in denen 
Pädagog und Arzt in einer Person vereint sind. 


Nachtrag. 


In der Zeitschrift für Kinderforschung, XXI. Jahrgang, Okt./Nov.- 
Heft schreibt J. TRÜPER u. a.: „Die Dottoressa MoNTESSoRL ist gar 
keine Italienerin, sondern ein Berliner Kind und nur an den Italiener 
Montessorı verheiratet. Die geborene und erzogene Berlinerin ist 
auch ihrem Vaterlande durchaus nicht fremd geworden. Sie steht 
z. B. zu Geheimrat BinswAnGEr in Jena seit langem in Beziehungen, 
ist u. a. oft in Jena gewesen und hat auch schon vor mehreren 
Jahren die Sophienhöhe besucht. 

Ich möchte also hiernach noch einmal das, was Frau MONTESSORI 
bringt, als deutsches Geistesgut beanspruchen, und zwar einmal, 
soweit es vor ihr bereits ComEnxıus, PEstaLozzı und vor allen Dingen 
Frösen und seine Schule, die Anstalten für Schwachsinnige (vgl. 
den 50. Jahresbericht der Württemb. Anstalt Stetten) wie auch 
später der Vläme Dr. Demoor in seiner Schrift: Die anormalen 
Kinder (Altenburg 1912), wie auch wir selbst in „Zeitschrift“ und 
„Beiträgen“ zum Ausdruck gebracht haben, zum anderen auch inso- 
fern, als die gesamte grundlegende Bildung der Frau MONTESSORI 
doch wohl eine deutsche ist; denn darüber sind erfahrene Pädagogen 
mit Fr. Pausen sich wohl einig, daß man in der Jugend das 
Wichtigste lernt und seine Geistesrichtung bekommt. Außerdem 
hat Frau Montessori nicht bloß durch ihre Jugenderziehung, sondern 
auch noch bis zur Gegenwart von deutschem Geiste genommen 
durch ihren Aufenthalt in Deutschland wie durch ihre Verbindung 
mit der deutschen Kultur und Wissenschaft. Das übrige hat sie 
in der Hauptsache, wie wir schon dargelegt haben (Heft 3 v. J.) 
nicht von einem Italiener, sondern von einem internationalen Wissen- 
schaftler Bro erworben. Das Frische und Unmittelbare der 
Schrift der Montessori bleibt wohl ihr persönliches Eigentum, aber 
das Eigentum der Deutschen, nicht nur der Italienerin. Und daß sie 
diese deutschen Ideen so geschickt auf die verkommenen italienischen 
Verhältnisse angewandt hat, bleibt wiederum deutsches Verdienst. 


br 


Nachdruck verboten. 


Die neue Preußische Prüfungsordnung für Lehrer 
und Lehrerinnen an Hilfsschulen. 


A. Erlaß: 


Der Minister 
der geistlichen und Unterrichts- 
Angelegenheiten. Berlin, den 1. Oktober 1913. 
UIIA 129, UIIC. 


Die Königlichen Provinzialschulkollegien 

Die Königlichen Regierungen 
Prüfungsordnung für Lehrer und Lehrerinnen an Hilfsschulen am 
heutigen Tage zur Kenntnis und Nachachtung. Zugleich bestimme 
ich, daß solche Lehrer und Lehrerinnen, die vor dem 1. April 1913 
an Hilfschulen berufen worden sind, an diesen Schulen noch ohne 
Ablegung der Prüfung endgültig angestellt werden können. 

gez. Trott zu Solz. 





erhalten die anliegende 


B. Prüfungsordnung: 


§ 1. 
Die Befähigung zur Anstellung als Lehrer (Lehrerin) an Hilfs- 
schulen wird durch Ablegung der Prüfung für Hilfsschullehrer 
(-lehrerinnen) erworben. 


§ 2. 

Zu dieser Prüfung werden zugelassen: Geistliche, anstellungs- 
fähige Kandidaten der Theologie und Philologie, Volksschullehrer, 
welche die Prüfung für die endgültige Anstellung bestanden haben, 
und Lehrerinnen, die mindestens 3 Jahre in. wirklichem Klassen 


136 Die neue Preuß. Prüfungsordn. f. Lehrer u. Lehrerinnen an Hilfsschulen. 


unterrichte vollbeschäftigt gewesen sind und sich in der Praxis be- 
währt haben. 


§ 3. 

Für die Abhaltung der Prüfung werden nach Bedürfnis in den 
einzelnen Provinzen Kommissionen gebildet. Jede Kommission be- 
steht : 

1. aus einem Provinzialschulrate oder aus einem Regierungs- und 

Schulrate als Vorsitzenden, 
2. aus einem Kreisschulinspektor, 
3. aus einem Hilfsschulleiter, 
4. aus einem Hilfsschullehrer (einer Hilfsschullehrerin), 
5. aus einem Psychiater. 


§ 4. 
Die Königlichen Provinzial-Schulkollegien setzen jährlich die 
Prüfungszeiten an. Sie werden in dem Zentralblatte der Unterrichts- 
verwaltung veröffentlicht. 


§ 5. 

Die Meldung zur Prüfung ist drei Monate vor dem festgesetzten 
Zeitpunkte bei dem zuständigen Provinzial-Schulkollegiam einzu- 
reichen. Dieses entscheidet über die Zulassung zur Prüfung. 

Die nicht im Schuldienste stehenden Bewerber melden sich un- 
mittelbar. Die übrigen reichen ihre Meldungen durch die vorgesetzte 
Dienstbehörde ein, wobei der Kreisschulinspektor sich über Führung 
und besondere Eignung des Bewerbers für den Unterricht an Schulen 
für schwachsinnige Kinder auszusprechen hat. Der Meldung sind 
beizufügen: 

1. ein von dem Bewerber selbst angefertigter Lebenslauf, auf 

dessen Titelblatt der vollständige Name, der Geburtsort, das 
Alter, das Religionsbekenntnis und das augenblickliche Amts- 
verhältnis des Bewerbers anzugeben sind, 

2. die Zeugnisse über die bisher empfangene Ausbildung sowie 
über die bisher abgelegten Prüfungen in beglaubigter Ab- 
schrift, 

3. Nachweise darüber, daß der Bewerber mindestens ein Jahr 
lang an einer Schule für schwachsinnige Kinder vollen 
Klassenunterricht erteilt oder an Kursen für Hilfsschullehrer 
oder an den Übungen eines heilpädagogischen 
Seminars teilgenommen, 


Die neue Preuß. Prüfungsordn. f. Lehrer u. Lehrerinnen an Hilfsschulen. 137 


4. Nachweis über Ausbildung in mindestens einem der an Hilfs- 
schulen zur Verwendung kommenden Zweige der Handfertig- 
keit oder in der Gartenarbeit, 

5. ein Gesundheitszeugnis, das höchstens drei Monate vor der 
Meldung von einem zur Führung eines Dienstsiegels be- 
rechtigten Arzte ausgestellt ist. 


Die nicht im Schuldienste stehenden Bewerber haben außerdem 
ein amtliches Führungszeugnis einzureichen. 

Bewerber, die an einer außerpreußischen Hilfsschule tätig sind, 
haben ihre Meldung durch Vermittlung ihrer vorgesetzten Behörde 
bei dem unterzeichneten Minister einzureichen. 


§ 6. 
Die Prüfung ist eine theoretische — schriftliche und mündliche 
— und eine praktische. 


SV. 

Für die schriftliche Prüfung stellt der Vorsitzende der Prüfungs- 
kommission zwei Aufgaben aus dem Gebiete des Hilfsschulwesens, 
deren eine der Methodik der einzelnen Unterrichtsfächer der Hilfs- 
schule zu entnehmen ist. 

Der Bewerber hat diese Arbeiten an zwei aufeinander folgen- 
den Vormittagen unter Aufsicht anzufertigen. Die Arbeitszeit be- 
trägt je vier Stunden. 

Der Vorsitzende weist die Arbeiten den einzelnen Mitgliedern 
der Kommission zur Beurteilung zu. Die Arbeiten bleiben bei den 
Akten der Prüfungskommission. 

Wenn die Arbeiten nach dem Urteil der Mehrheit der Kom- 
mission für ungenügend befunden werden, so ist der Vorsitzende be- 
rechtigt, den Bewerber von der mündlichen Prüfung auszuschließen 
und die Prüfung für nicht bestanden zu erklären. 


§ 8. 

Die mündliche Prüfung erstreckt sich auf alle Gebiete der 
Erziehung und des Unterrichts der Schwachsinnigen unter Bezug- 
nahme auf die allgemeine Erziehungs- und Unterrichtslehre. 

Die Bewerber haben insbesondere nachzuweisen die Bekannt- 
schaft 

1. mit der Psychologie und ihren Zweigwissenschaften, der 

Psychopathologie, der Kinderpsychologie, mit dem Wesent- 


138 Die neue Preuß. Prüfungsordn. f. Lehrer u. Lehrerinnen an Hilfsschulen. 


lichen über den Bau und die Funktionen der Sinnesorgane, 
des gesunden und kranken Gehirns und Nervensystems, 
mit der Psycho-Physiologie der Sprachfunktion, den wich- 
tigsten Sprachstörungen und den Methoden ihrer Behandlung 
und Heilung, 

2. mit der Methodik aller Unterrichtsgegenstände, der Einrich- 
tung und den Lehr- und Lernmitteln der Hilfsschule, 

3. mit der Geschichte und der Literatur der Hilfsschule, so- 
weit sie für ihre Entwicklung von Bedeutung ist, 

4. mit den Fragen der Fürsorge für Schwachsinnige. 


S 0 
` 
Die praktische Prüfung besteht in der Ablegung zweier Lehr- 


proben, von denen eine im Gebiete der Unterstufe einer Hilfsschule 
liegen muß. 


8 10. 


Über die Ergebnisse der Prüfung in den einzelnen Gegenständen 
wird eine schriftliche Verhandlung geführt. 

Die Leistungen werden mit „sehr gut“, „gut“, „genügend“, 
„nicht genügend“ beurteilt. 

Nach dem Gesamtergebnis der Prüfung ist zu entscheiden, ob 
dem Bewerber die Befähigung als Hilfsschullehrer zu erteilen sei. 

Bei nicht genügenden Leistungen in beiden Lehrproben oder 
in der Methodik des Hilfsschulunterrichtes ist die Befähigung zu 
versagen. 

Die Einzelurteile werden in ein Gesamturteil (sehr gut, — gut, 
— genügend, — nicht genügend) zusammengefaßt, daß dem Lehrer 
nach Schluß der Verhandlung mündlich mitzuteilen ist. 

Die Verhandlungsschrift ist durch den Vorsitzenden und die 
Mitglieder der Kommission zu unterzeichnen und zu den Prüfungs- 
akten zu nehmen. Hat der Bewerber die Prüfung nicht bestanden, 
so ist ihm dies ebenfalls zu eröffnen. 


§ 11. 


Auf Grund der bestandenen Prüfung erhält der Bewerber (die 
Bewerberin) ein Zeugnis in folgender Fassung: 


Ers y peborén HEN s-e ule a Zioa op uoa 
Bekenntnisses (Religion) hat sich in der Zeit vom . 
. bis .. . . . . der Prüfung für Lehrer (Lehrerinnen) 


an Hilfsschulen mit . . . . . Erfolg unterzogen und wird hier- 


Die neue Preuß. Prüfungsordn. f. Lehrer u. Lehrerinnen an Hilfsschulen. 139 


durch auf Grund dieser Prüfung für befähigt erklärt, als Lehrer 
(Lehrerin) an Hilfsschnlen angestellt zu werden. 


(OR) tar Er den 


Die Königliche Prüfungskommission. 
(Siegel und Unterschriften.) 


Die Zeugnisse sind durch das Siegel der Prüfungskommission 

und durch die Unterschriften ihrer Mitglieder zu vollziehen. 
§ 12. 

Die Prüfung darf nur einmal — frühestens nach Ablauf eines 
Jahres — wiederholt werden. Zu einer nochmaligen Wiederholung 
(dritten Prüfung) bedarf es der Genehmigung des Ministers der 
geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten. 

§ 13. 
Vor Eintritt in die Prüfung ist außer der Stempelgebühr von 
3 Mk. eine Prüfungsgebühr von 20 Mk. zu entrichten. 
§ 14. 
Diese Prüfungsordnung tritt mit dem 1. Oktober 1914 in Kraft. 
Berlin, den 1. Oktober 1913. 


Der Minister der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten. 





Nachdruck verboten. 


Ein Fall von familiärem Kretinismus aus dem 18. Jahrhundert. 


Von 
M. Kirmsse, Anstaltslehrer in Idstein i.T. 


Eine genauere Gesamtkenntnis des Kretinismus besitzen wir 
erst seit kurzer Zeit, wenngleich noch verschiedene Details einer 
weiteren Klarlegung bedürfen, um das Krankheitsbild in vollem 
Lichte erscheinen zu lassen. 

Die älteste „wirklich zuverlässige und richtige Beschreibung“ !) 
des Kretinismus, und zwar des endemischen, stammt von dem be- 
kannten Baseler Arzte Fret PLATER ?), wie schon Dr. Rösch, Gründer 
der Schwachsinnigenanstalt Mariaberg in Württemberg, bemerkt ®), 
und Dr. Bayon bestätigt. Die trefflichen Schilderungen der Kretinen 
finden sich in seinen wiederholt aufgelegten Werken: „Praxeos 
medicae. Liber I“*) und „Observationum in hominis 
affectibus plerisque, etc.“ libri tres. H 

Von späteren Forschern ist namentlich der kaiserliche Leibarzt 
WOLFGANG HoEFER®) in Wien zu nennen, der in seinem „Hercules 
medicus“’) zweckmäßige Ansichten über den Kretinismus ver- 


1) Baron, Beitrag zur Diagnose und Lehre vom Kretinismus. Würz- 
burg 1903, S. 60. 

2) 1536—1614. Der 28. Juli 1914 brachte seinen 300. Todestag. 

3) MAFFEI u. RöscH, Neue Untersuchungen über den Kretinismus. 
Erlangen 1844, I. Bd. S. 3—4. 

4) Erste Ausgabe: Basel 1602, S. 80. 

5) Erste Ausgabe: Basel 1614, S. 35—36. 

a 1614—1681. 

?) Erste Ausgabe: Wien 1657. — In Duodez, ohne Angabe des 
Druckortes, 1665, S. 43—44. — In Quart, letzte Ausgabe, Nürnberg 1675, 


Ein Fall von familiärem Kretinismus aus dem 18. Jahrhundert. 141 


breitete, gegen die die Äußerungen zahlreicher Geschichtsschreiber, 
Naturforscher und Reisenden sich vielfach nur als sehr anfechtbare 
Kuriosa erweisen, wenn andererseits auch einige, wie beispielsweise 
die Beobachtungen von Saussure +!) und Coxe?) sich vorteilhaft von 
ihnen abheben. 

Im 18. Jahrhundert, besonders in dessen zweiter Hälfte, wurde 
das Interesse für die kretinische Entartung sehr lebhaft. Es er- 
scheinen die ersten selbständigen Arbeiten von Fopéré*#) und 
ACKERMANN +), die aber von mannigfachen Irrtümern und Trug- 
schlüssen nicht frei sind. 

ln diesem Zeitalter erhalten wir auch die erste Beschreibung 
eines Falles von sporadischem familiärem Kretinismus. 
Sie stammt aus dem letzten Jahrzehnt des genannten Säkulums und 
rührt von dem Berliner Arzte Dr. Künn her, der sie zweifellos in 
einer medizinischen oder anthropologischen Zeitschrift veröffentlicht 
hat. Leider ist es bisher nicht möglich gewesen, das Original fest- 
zustellen, doch gibt ein Nachdruck den Inhalt wohl annähernd wieder. 
Er befindet sich in einem, vom anthropologischen Standpunkt aus- 
gehenden, umfangreichen Schriftchen,?) das den Titel führt: 


S. 56. — Der erste bemerkenswerte Satz lautet: „Quod quamplurimis 
Alpium incolis tam familiaris et endemia quidem, sit stultitia, alii ascribunt 
aeri, alii aquae, alii cibo et educationi.“ 

1) Voyage dans les Alpes. Neuchâtel 1799, Tom. I—IV. Deutsche 
Ausgabe: Leipzig 1788, namentlich Bd. IV, S. 138. 

DW. Coxe (1747--1828), englischer Reisender, Briefe über den 
natürlichen, bürgerlichen und politischen Zustand der Schweiz. Zürich 
1781—1792, 3 Bde, — Bd. 1, S. 162—164; 176 —185. Bd.2, S.188—197; 
Anhang 178f. 

3) Von FODÉRÉ existieren drei Bearbeitungen, zunächst ein Aufsatz 
in: Opuscules de médecine philosophique et de chimie. Turin 1789. Eine 
besondere Schrift folgte dann: Essai sur le goitre et cretinage etc. 
Turin 1792. Hiervon deutsche Ausgabe: Über den Kropf und den 
Kretinismus, besorgt von Dr. LINDEMANN. Berlin 1796. Endlich kam 
noch heraus: Traite du Goitre et du Crötinisme. Paris 1800. 

4) Über die Kretinen, eine besondere Menschenabart in den Alpen. 
Gotha 1790. Mit 1 Kupfer. 

5) Derartige, vielfach einer erfreulichen Objektivität huldigenden Bücher 
sind in jener Zeit des Aufschwungs der Naturwissenschaften häufig er- 
schienen. Sie alle suchten neben dem Alltäglichen auch das „Wunderbare“ 
im Menschenleben darzustellen und zu erläutern. So kamen denn Schriften 
heraus mit folgenden Titeln: Kosmologische Unterhaltungen. 
UI. Bd. Von den Menschen. Leipzig 1780. Mit 9 Kupfertafeln, 
die „seltsame“, geisteskranke und krüppelhafte Menschen darstellen. Wie 
dies, so nennt sich auch ein um 1800 erschienenes zweibändiges 


142 M. KIRMSSE, 


Das kuriose Buch der Natur. 
Von Jon. Herr. Fischer. Mann- 
heim. Bey der neuen Verlags- 
gesellschaft. 1798. Mit Kupfer 
und Vignette. 380 Seiten. 


Es zerfällt in sechs Teile. Der Erste handelt von den Menschen- 
rassen und Menschenvarietäten. Da liest man von gefleckten, mit 
Warzen bedeckten, behaarten Menschen, weiter von Kakerlaken, 
von Individuen mit allerlei organischen Fehlern, von Riesen und 
Zwergen, von großer Fettigkeit und Schwere und außerordentlicher 
Leichtheit des Körpers. von Menschen mit Schwänzen, Kretinen 
usw. Im zweiten Teile treten „merkwürdige Beispiele“ von außer- 
ordentlicher Leibesstärke, Gefräßigkeit, (Geschicklichkeit einzelner 
Menschen, ferner von Hungerkünstlern, Genies u. dgl. auf. Der dritte 
und vierte Teil behandeln Beispiele von Ahnungen, Visionen, 
Nachtwandlern, von „menschlichen Handlungen in einer Art von 
Sinnlosigkeit und Betäubung“, von menschenfeindlichen Sonderlingen 
und ähnlichen ins Reich der Psychopathologie gehörenden Geistes- 


Werkchen: Sonderlinge. Leipzig, in Joachims Buchhandlung. Auch 
unter diesen Sonderlingen befinden sich viele Idioten u. dgl. Von neueren 
Erzeugnissen dieses Genres verdient genannt zu werden: SALTARINO, 
Abnormitäten. Düsseldorf 1900. Mit vielen Abbildungen. Auch das 
Buch des berühmten Zirkusdirektors ist für die Wissenschaft nicht ohne 
Wert, da es vielfach authentische Dokumente enthält. 

Allerdings ist von der Wirklichkeit bis zur Romantik oft 
nur ein Schritt, wie die zahlreichen Novellen und Erzählungen aus dem 
Anfange des 19. Jahrhunderts über Kretinen, Irrsinnige, Verwilderte be- 
weisen. Das erwachte, und sich in zahlreichen Elaboraten der Wissenschaft 
offenbarende Interesse griff auch auf die Romanschreiber über, die ihrer- 
seits nun den Stoff bearbeiteten. Der erste Roman kommt aus Frankreich 
und hat den durch Dr. IrArv’s Erziehungsversuch bekannten „Wilden 
von Aveyron“ zum Gegenstand: Hyppolite, ou l’enfant sauvage. 
Paris 1803. 2 Tom. Es folgen ähnliche Unterhaltungsschriften; genannt 
seien: MARIUS, Neue Biographien der Wahnsinnigen. Chemnitz 1820. — 
NIEMAND, Memoiren des Herrn de la Folie. Braunschweig 1827. — 
KünHne, Eine Quarantäne im Irrenhause. Leipzig 1835. — BOHEMUS 
(G. Opitz), Frauengröße oder der Blödsinnige. Stuttgart 1835. 2 Teile. — 
E. SPINDLER, Der Kretin. Wesel u. Leipzig 1837. — C. v. WACHSMANN, 
Der Kretin. Leipzig 1839. Den größten Erfolg hatte der in vielen Auf- 
lagen erschienene Roman Ph. GALENS (Ph. Lange), Der Irre von St. James. 
1854. — Merkwürdig ist die Novelle von Ina v. DÜRINGSFELD, Unter 
den Idioten. Hausblätter 1864, da sie allen Ernstes dartun will, daß die 
andauernde Beschäftigung mit Idioten moralisch schwäche. 


Ein Fall von familiärem Kretinismus aus dem 18. Jahrhundert. 143 


zuständen. Im fünften und sechsten Teile endlich werden die Tier- 
rassen behandelt, wobei ebenfalls viele, merkwürdige Eigenarten der 
Tierpsyche Beachtung finden. 

Der uns hier ausschließlich interessierende Abschnitt über 
familiären Kretinismus !) möge im Wortlaut folgen: 


„Diese verstandlosen, zwergartigen Menschen finden sich auf den Alpen 
der Schweiz, Savoyens und des Tyrols: sie kommen aber auch zuweilen 
in anderen Ländern und Gegenden vor. Die meisten haben große Kröpfe; 
doch gibt es auch einige, denen dieser unnatürliche Auswuchs fehlt. Die 
Ursachen, welche diese Varietät hervorbringen, sind noch nicht hinlänglich 
untersucht, und es läßt sich darüber noch nichts bestimmtes sagen, 

Ein merkwürdiges Beispiel von gesunden Eltern, welche lauter Kretinen 
zeugten, hat Herr Dr. Kühn erzählt, und es verdient dieses Beispiel den 
philosophischen Naturforschern ?) zur genaueren Untersuchung vorgelegt 
zu werden. 

Ein Maurer zu Berlin, ein starker, muskulöser Mann, beinahe sechs 
Fuß hoch, welcher viel Einsicht und Verstand hatte, einen ordentlichen 
Lebenswandel führte, und dem Trunke nicht ergeben war, zeugte mit 
seiner, fünf Fuß hohen, starken, gesunden, gut gebildeten und verständigen 
Frau sieben Kinder, alle drei Jahr eins. Von diesen Kindern starben 
zwei sehr jung, und die übrigen fünf waren folgendermaßen beschaffen: 

Das älteste war ein Sohn von 24 Jahren, der ziemlich verständig und 
beredt war, und weder einen dicken Leib, noch einen dicken Kopf hatte. 
Er maß drei Fuß zwei Zoll.) Seine Glieder waren alle grad, auch sehr 
proportioniert. Seine Haut war ohne Ausschlag, und seine Zähne voll- 
kommen und weiß. Sein Kopfhaar war dunkelbraun und lang. Er hatte 
aber weder an dem Kinne, noch an anderen geheimen Teilen, welche zu 
groß für seine Zwerggestalt waren, die mindesten Spuren der Mannbarkeit, 
und hatte noch nie ein Kennzeichen von sich gegeben, daß er fleischlicher 
Begierden fähig sei, so sehr ihm auch dazu Gelegenheit gegeben worden. 

Das zweite Kind war ein 2ljähriger Sohn, groß und stark als sein 
Vater, aber mit einer einfältigen Gesichtsbildung verband er ein trotziges, 
halsstarriges, boshaftes Gemüt, und einen großen Mangel an Verstandes- 
kräften. Seine Geschlechtsteile waren wie die Geschlechtsteile eines zwei- 
jährigen Knaben, und um dieselben war er so glatt, als um sein Kinn. 
Die Testikel in dem kleinen Hodensack hatten die Größe wie bei jungen 
Hühnern. 

Das dritte Kind war ein Mädchen von 16 Jahren, drei Fuß und zwei 
Zoll hoch, sehr blödsinnig, mit einer fast tierischen Gesichtsform, und 


1) S. 75—78. 

2?) Da im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts die Anhänger und Ver- 
treter der empirischen Psychologie, der philosophischen Anthropologie und 
der Erfahrungsseelenkunde, fast ausschließlich das Gebiet der Psychiatrie, 
die als Disziplin noch nicht existierte, inne hatten, so erscheint der Hinweis 
auf sie nicht weiter verwunderlich. K. 

3) Nach heutigem Maße etwa 1,01 m. K. 


144 M. KIRMSSE, 


nicht größer als ihr ältester Bruder. Sie hatte weder ihre Reinigung, 
noch andere Zeichen der Mannbarkeit, noch das Vermögen deutlich zu reden. 

Die beiden kleinsten Kinder, ein Mädchen von 10, und ein Junge 
von 7 Jahren, waren bemitleidenswürdige Geschöpfe. Jedes derselben 
war zwei Schuhe!) hoch, und beide waren einfältige Stammler. So oft 
man sie ansah, oder sie etwas fragte, lachten sie, nach Art der Kretinen, 
mit Ungestüm, und zogen dabei den Mund. fast von einem Ohre zum 
anderen. Sie waren nicht imstande zu sprechen. Die Zunge war un- 
förmlich dick und groß. Sie konnten dieselbe nicht zum Munde heraus- 
strecken oder dünn und spitzig machen. 

Welche Ursache wirkte in diesem Falle auf die Zeugungskraft zweier 
gesunder Menschen so feindselig, daß sie lauter blödsinnige, zwergartige, 
und von Natur unfruchtbare Kinder zeugten? Könnte man diese Ursache 
ausfinden, so würde wahrscheinlich über die ganze Lehre von der Zeugung, 
und folglich auch über die Theorie der Menschenrassen und -varietäten 
ein großes Licht verbreitet werden.“ 


Aus dieser, zwar kurzen, Beschreibung ergibt sich wohl zur Ge- 
nüge, daß es sich in dem Falle um familiären Kretinismus handelt, 
wenn auch manche typischen Kennzeichen hier nicht mit aufgeführt 
sind, was wohl daher kommt, daß man damals vielfach Kretinismus 
und Blödsinn nicht voneinander schied, geschweige denn den ende- 
mischen und sporadischen Kretinismus als zwei Spezies dieser Ent- 
artung klar erkannte. Hingegen finden "wir auch eine Reihe von 
Merkmalen, die die Ansicht bestätigen: Zwergwuchs — mit Ausnahme 
des zweiten Kindes, mangelhafte Entwicklung des Genitalapparates, 
und dann besonders Fehlen der Behaarung und trockene Haut. 

Eine Scheidung zwischen dem endemischen und sporadischen 
Kretinismus findet sich erstmalig bei IpHorkEn in seinem Werke: 
„Der Cretinismus philosophisch und medizinisch untersucht“,?) wo- 
rauf schon GUGGENBÜHL aufmerksam machte: „IrHorEn hat zuerst 
hervorgehoben, wie gewisse Formen des Kretinismus auch in den 
Städten und Dörfern Deutschlands und aller Welt sooftsporadisch 
vorkommen“.?) 


Der betreffende Abschnitt) lautet: 


„Von dem sporadisch vorkommenden Kretinismus. 


Was in den letzteren Paragraphen gesagt ist, bezieht sich auf den 
Kretinismus als endemisch epidemisch herrschendes Übel; allein auch 


!) Schuh gleichfalls Bezeichnung für Fuß. K. 

2) Dresden 1817. 

3) GUGGENBÜHL, Europas erste Kolonie für Heilung des Kretinismus 
auf dem Abendberge. ... HäÄsER’s Archiv f. d. gesamte Medizin. I. Bd. 
1841, S. 295. 

1) IPHOFEN, a. a. O.. II. Teil. § 19, S. 176—177. 


Ein Fall von familiärem Kretinismus aus dem 18. Jahrhundert. 145 


sporadisch kommt derselbe vor. Hier im Orte habe ich schon fünf 
Individuen gesehen, die sowohl ihrer Gestalt als auch ihren Kräften nach 
unverkennbare Kretinen sind und es auch hier wurden. Zwei andere 
wurden in dem nahe gelegenen Dorfe Plauen zu Kretinen, zwei in dem 
Flecken Tarand und einige in den Dörfern Potschappel und Burgk. 

In Freiberg sah ich drei kretinenartige Kinder in einer Familie, und 
diese waren es in dem Zielerhäuschen des daselbst sogenannten Zwingers 
geworden, und drei andere Individuen mit Blödsinn und Taubstummheit 
sind mir überdies in dieser Stadt vorgekommen. 

In den Städten und Dörfern des königl. sächs. Obererzgebirges Anna- 
berg, Schwarzenberg, Schneeberg, Schwarzbach und Markersbach habe ich 
ebenfalls einzelne Kretinen gefunden. 

Sporadisch herrschend wird man den Kretinismus noch an mehreren 
Orten wahrnehmen, sobald dieses Übel gehörig unterschieden und der 
Kretin als Kretin erkannt sein wird. Denn die Ursachen, welche den 
Kretinismus sporadisch erzeugen, vereinigen sich so selten nicht, als die 
Unbekanntschaft mit dieser Krankheitsform es vermuten läßt.“ 


In den folgenden Jahrzehnten wird dann hier und da der spo- 
radische, familiäre Kretinismus wohl erwähnt, aber nicht umfassend 
und gesondert vom endemischen beschrieben. Die ersten genauer 
beobachteten und darum auch eingehend geschilderten Fälle dürften 
die des englischen Forschers ÖurtınG!) sein. Später haben dann 
noch andere englische, französische, und nicht zuletzt auch deutsche 
Ärzte namhafte Arbeiten geliefert. 


1) Two cases of absence of the thyroid body and symmetrical swellings 
of fat tissue at the sides of the neck, connected with defective cerebral 
development. Medico-chirurgical Transactichs, 1860, Vol. XV, p. 303 ff. 


-eo 


Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugend]. Schwachsinns. VIIL 10 


Nachdruck verboten. 


Bericht über den allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag 
zu Halle a. $.’) 


Von 
Dr. med. Oscar Rein, Brandenburg a. H.-Görden. 


Vom 15.—17. Juni 1914 tagte zu Halle a.S. der Allgem. F. E. T. 
unter starker Beteiligung von Pädagogen, Geistlichen, Ärzten und 
sonstigen Berufs- und freiwilligen Arbeitern auf dem Gebiete der 
Jugendfürsorge aus allen Teilen Deutschlands, sowie auch aus 
Österreich und Holland; Regierungen, Provinzial- und Komunalver- 
waltungen, Fürsorge- und karitative Verbände und Vereine usw. 
waren in großer Zahl offiziell vertreten. 

Den öffentlichen Tagungen ging eine Sitzine des Ausschusses 
des Allgem. Frs. Erz. Tages voraus, worin der Bericht des Vor- 
sitzenden P. BackHAusen, Hannover-Kleefeld, und der Kassenbericht 
entgegengenommen, die Tagesordnung der öffentlichen Sitzungen fest- 
gesetzt und das Präsidium gewählt wurden. Als Ort der nächsten 
Tagung (1916) wurde Stuttgart bestimmt. 

Die erste öffentliche Tagung fand statt am 15. Juni abends 
8 Uhr im Stadtschützenhaus in Gestalt eines Begrüßungsabends, 
veranstaltet vom Ortsausschuß, wobei die Teilnehmer als Gäste der 
Stadt Halle bewirtet wurden, während musikalische und gesangliche 
Vorträge zur Hebung der Stimmung beitrugen. Den Willkommen- 
gruß der Stadt entbot Stadtrat Dericke, der auf die schwere aber 
für Volk und Vaterland doch so segensreiche Tätigkeit der Für- 
sorgeerziehung hinwies. Sorge, schwere Sorge, spreche aus dem 
Themawort der Tagung, Sorge um das köstliche Gut des Volkes, die 
Jugend; aber die Anwesenden lassen die Sorge zur Fürsorge werden 
und setzen damit vor sie den Mut und das Vertrauen. Dem guten 


1) Eingegangen im August 1914. 


A 


Bericht über den allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag zu Halle a.S. 147 


Verlaufe der Tagung und den Kämpfern für unsere Zukunft, die im 
Glauben und Vertrauen zu der Jugend deren unermüdlichen Helfer 
sind, galten die Worte des Redners. — Sodann überbrachte Direktor 
Pfarrer Rent, Steinfeld, die Grüße Sr. Eminenz des Erzbischofs 
von Köln und der katholischen karitativen Vereine; er betonte da- 
bei das schöne Zusammenarbeiten der evang. und kathol. Konfession 
im A. F. E. T. — Namens der deutschen Zentrale für Jugendfürsorge 
sprach noch Herr Amtsgerichtsrat Könx, Berlin, Begrüßungsworte. 

Es folgten dann die beiden Vorträge des Abends über „Ernstes 
und Heiteres aus dem Anstaltsleben“. Die Vortragenden, Pfarrer 
Hüpner, Neustadt O.S. und Hausvater Brünzmann, Moorhof (Han- 
nover), schilderten in beredten Worten einzelne Vorkommnisse aus 
ihrer Praxis, verlasen Briefe von Zöglingen, und gaben damit einen 
Einblick in das Anstaltsleben, in die Psyche so manches Zöglings. 
Der Wechsel ernster und heiterer Bilder zeigte recht drastisch welch 
schwere Aufgabe oft den Erziehern gestellt ist, wie aber auch gute 
Erfolge und kleine Freuden sie immer wieder in ihrem Werke er- 
muntern. 

Der Vorsitzende des A. F. E. T. dankte der Stadt Halle im 
Namen der Versammlung für den fr eundlichen Willkommen und die 
gastliche Aufnahme. 

Die 2. öffentliche Tagung am 16. Juni vormittags brachte zu- 
nächst wieder eine Reihe von Begrüßungsansprachen. Der Vor- 
sitzende eröffnete die Versammlung und hieß alle Anwesenden will- 
kommen, in Sonderheit begrüßte er noch die erschienenen Vertreter 
hoher Behörden usw., den Oberpräsident Exz. v. HEGEL und den 
Landeshauptmann der Provinz Sachsen Freih. v. Wırmowskı, den 
Vertreter des preußischen Ministers des Innern u. a.m. Von den 
verschiedenen Begrüßungsansprachen dieser und anderer Herren 
seien nur einige hervorgehoben: 

Geh. Oberreg.-Rat ScHLossEr, der Vertreter des preuß. Ministers 
des Innern, berichtet in seiner Ansprache über die Herrenhausver- 
handlung vom vorhergehenden Tage, wo leider die Novelle zum Für- 
sorge-Erziehungs-Gesetz gescheitert sei am Wortlaute der Regie- 
rungsvorlage. Diese Novelle, die ja vor allem den Zwiespalt in 
der Rechtsprechung von Oberverwaltungsgericht und Kammergericht 
betr. $1 Abs. 3 beseitigen soll, so daß es also in Zukunft leichter sein 
wird bei drohender Verwahrlosung ein Kind in Fürs.-Erziehung 
zu bringen, wird aber hoffentlich im Herbst zur Annahme gelangen. 
Die dem Herrenhause vorgeschlagene Änderung soll dem Vormund- 


schaftsrichter die Möglichkeit ausdrücklich zusprechen, eine statt 
10* 


148 Oscar REIN, 


der Fürs.-Erziehung event. angebotene Unterbringung des Kindes, 
die ihm ungeeignet erscheint, abzulehnen. Mit Annahme der 
Novelle wird die Zahl der Fürs.-Zöglinge, besonders der jüngeren, 
voraussichtlich sehr steigen; viele bei denen bisher die freie Liebes- 
tätigkeit die Unterbringung ohne gesetzlichen Ausspruch der Fürs.- 
Erziehung übernommen hatte, werden in Zukunft der Fürs.-Erziehung 
anheimfallen, so daß es gilt, viel Vorbereitungen zu treffen. Der 
freien Liebestätigkeit bleibt trotzdem noch ein weites Arbeitsfeld in 
der erzieherischen und materiellen Unterstützung so mancher Eltern, 
denn die Grundlage der Erziehung bleibt doch die Familie. Es 
erwächst der freien Liebestätigkeit aber in Zukunft die Pflicht, in 
solchen Fällen, wo Kindern die Verwahrlosung droht, die Fürs.-Er- 
ziehung zu beantragen. — Der Vertreter der Stadt Halle, Stadtrat 
Dr. TepEeLmann gab der Hoffnung Ausdruck, daß der Widerspruch 
in der Auslegung des $ 1 Abs. 3 nun beseitigt werden möge; in 
Halle habe man in dieser Beziehung schon bisher öfters, allerdings 
„mit schlechten Gewissen“, mehr getan, als das Verwaltungsgericht 
eigentlich genehmigt habe, in der Erkenntnis, daß die Fürs.-Er- 
ziehung eine notwendige Ergänzung der allgemeinen Fürsorge einer 
Gemeinschaft sei. Als Vertreter des Rektors der Universität Halle 
sprach Geh. Justizrat Prof. Dr. Fınser in seiner Eigenschaft als 
Strafrechtslehrer über die Aufgaben der Fürs.-Erziehung. Das Kind 
sei nicht eine Verkleinerung des Erwachsenen, sondern 
ein Wesen mit durchaus eigener Art, eigenem Denken und 
Fühlen; dementsprechend müssen auch gegen jugendliche Rechts- 
brecher ganz andere Maßregeln angewandt werden, als gegen 
erwachsene, nicht nur eine verminderte Strafe. Die Zunahme der 
Vergehen Jugendlicher führt Finger zurück auf die allgemeine ge- 
sellschaftliche Umschichtung unserer Zeit, die Entwickelung der 
Großstädte usw. Hierher gehöre z. B. auch die Berufstätigkeit der 
Mütter, die sich infolgedessen nicht so der Erziehung der Kinder 
widmen können. Die Forderung in der Frage der jugendlichen Ver- 
brecher sei: Erziehung und Schutz der Gesellschaft; es 
sei nicht so wichtig, daß ein Kind, das gefehlt habe, 
gestraft werde, als vielmehr, daß es nicht wieder 
fehle. — Geh. Konsistorialrat D. MArrıvs, Magdeburg übermittelte 
die Wünsche des Konsistoriums der Provinz Sachsen; er betonte die 
freudig geleistete Mitarbeit der Geistlichen an der Fürs.-Erziehung. 
An die anwesenden Vormundschaftsrichter wandte er sich mit der 
Bitte, bei der Begründung des Urteils in Fürs.-Erziehungs-Sachen 
die Namen der Geistlichen, die event. über die Familienverhältnisse 


Bericht über den allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag zu Halle a. S. 149 


Auskunft erteilt hätten, nicht zu nennen, wie es im Oberlandesge- 
richtsbezirk Magdeburg mit ausdrücklicher Genehmigung des Heırn 
Oberlandesgerichtspräsidenten bereits geschehe. 

Nach der Begrüßungsansprache und dem Danke des Vorsitzen- 
den hielt Prof. Dr. W. Förster, München, den Hauptvortrag des 
Tages über: „Autorität und Selbstregierung bei der 
Leitung der Jugendlichen“. Die gedruckt vorliegenden Leit- 
sätze des Vortrags waren folgende: 

Die möglichste Heranziehung der Jugendlichen zur Selbstre- 
gierung und Selbstverwaltung empfiehlt sich aus folgenden Gründen: 


1. Als notwendige Anpassung an die psychologischen Bedin- 
gungen hochentwickelter wirtschaftlicher Kulturarbeit. (Quali- 
tätsarbeit verlangt moralische Selbsttätigkeit.) 

2. Als eine wichtige Methode moralischer und staatsbürger- 
licher Erziehung. (Entwicklung von Selbstkontrolle, Gemein- 
sinn, Gerechtigkeitsgefühl.) 

3. Als allgemeine pädagogische Notwendigkeit. (First durch 
praktische Mitarbeit und Verantwortlichkeit für geordnete 
Zustände werden junge Leute innerlich für die Sache 
der Ordnung gewonnen und für freiwilligen Gehorsam 
erzogen. Die einseitige Autoritätspädagogik macht 
einen wirklich autorativen Einfluß auf die Jungen un- 
möglich.) 

4. Als notwendige Anpassung an den besonderen psychologischen 

Zustand der modernen Jugend. (Die anti-autoritäre Stim- 

mung der modernen jungen Leute macht einen möglichst 

geringen Gebrauch repressiver Methoden und eine möglichst 
große disziplinarische Verwertung gerade der 
zur Rebellion tendierenden Charakterkräfte 

[Ehrgefühl, Bandeninstinkte, Tätigkeitsdrang] sehr ratsam. 

Als heilpädagogische Notwendigkeit gegenüber Abnormen 

und Verwahrlosten. (Die abnorm Indisziplinierten sind ganz 

besonders explosiv gegenüber aller bloß repressiv-autorita- 
tiven Leitung. Gegenüber ihrer großen Suggestibilität be- 
dürfen sie einer besonderen Stärkung ihrer Selbständigkeit. 

Ihr Gewissensleben bedarf des kollektiven Haltes 

durch Übung in gemeinsamen sittlichen Entscheidungen und 

Verantwortlichkeiten.) 


or 


Erzieher-Disziplin und Selbstregierung sind beide gleich wichtige 
Faktoren der Jugendbildung, die Jugend muß lernen, eine von 


150 Oscar REIN, 


höheren Instanzen ausgehende Ordnung willig und exakt anzunehmen, 
und sie muß lernen, selber Ordnung hervorzubringen. Wo einer dieser 
beiden Faktoren fehlt, ist ein Mißlingen der Erziehung zweifellos. 

Die Ausführungen des Vortragenden gingen davon aus, daß die 
programmatische Forderung der Selbstbetätigung zwar leicht sei, 
daß ihre praktische Durchführung aber auf manche Schwierigkeit 
stoße. Zunächst gehört „Entselbstung“ des Lehrers dazu, er 
muß erst passiv werden, das Wesen des Kindes beobachten lernen, 
um dann mit den eigenen Kräften des Kindes dasselbe vor- 
wärts zu bringen. Die Autorität darf nicht einseitig überspannt 
werden. Führer sein heißt: andere zu Führern zu erziehen, sich 
Stellvertreter schaffen, sich entbehrlich machen. Das ist ebenso bei 
der Jugenderziehung, wie im Staatswesen. Beständige Bevormun- 
dung schadet nur; auch ein kommandierender General darf nicht 
den „Kommandokoller“ haben, darf nicht jede Erbsensuppe selbst 
kochen wollen. Moralische und geistige Autorität ist not- 
wendig; nach den Weisungen des Führers, des Erziehers muß in 
seinem Geiste gehandelt werden, auch wenn er nicht immer direkt 
dahinter steht und jede einzelne Anweisung persönlich gibt. — Der 
Erzieher der Jugend muß sich deren soziale Instinkte und Faktoren 
zu nutze machen, das ist besonders zweierlei: einmal die Neigung 
einzelner zu Führernaturen zu werden (key-boys), und dann 
die Neigung der Masse zur Erzeugung eines Korpsgeistes. Die 
Führernaturen müssen zu Mitregierern der Erzieher herange- 
bildet werden, sonst wirken sie ihnen nur entgegen. Man hat bis- 
her diese Naturen zu sehr ignoriert, man wollte sie gewaltsam nieder- 
halten, so kam es nur zu leicht, daß ihre Kräfte sich ins Negative 
entluden, und sie zu Führern der Rebellion wurden. Diese vor- 
handenen Kräfte muß man leiten und sozialisieren, sie zur positiven 
Mitarbeit gewinnen; entsprechend wie z. B. England den General 
Born: zum Präsidenten in Südafrika einsetzte. — Der Korpsgeist 
der Masse ist eine große Macht zum Guten oder zum Bösen; bisher 
war er nicht legitimiert und richtete sich infolgedessen gegen den 
Erzieher (vgl. auch heimliche Schülerverbindungen auf Gymnasien); 
er muß im Sinne der Mitarbeit verwendet werden; man muß die 
Jugendlichen zu positiver Arbeit für die Autorität heranziehen, wie 
es in England im politischen Leben geschieht in den county-couneils. 
Und diese kameradschaftliche Mitwirkung bei der Er- 
ziehung kann sehr viel nützen, weil der Kamerad gar manches sieht, 
was der vorgesetzte Erzieher nicht sehen kann. Nur wer Kräfte zu 
lösen versteht, vermag auch Kräfte zu binden. Das starre autori- 


Bericht über den allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag zu Halle a.S. 151 


tative System tötet die wirkliche Autorität; die Heranziehung der 
Zöglinge interessiert sie für freiwillige Disziplin. Gerade unsere 
moderne Jugend hat als Reflexion unserer Kulturentwickelung 
ein sehr reizbares Ehrgefühl und eine gewisse Nervosität gegen 
alles, was im alten Tone Subordination verlangt. Ganz besonders 
findet sich bei desorganisierten Menschen, bei Abnormen 
und Verwahrlosten ein ausgesprochener oft krankhaft ge- 
steigerter Freiheitsdrang ; hier besonders ist eine mechanisch repressive 
Behandlung nicht am Platze, denn nur zu leicht erzeugt sie geradezu 
einen „antiautoritäten Krampf“ — Nicht zu verkennen ist 
natürlich, daß in der Selbstbetätigung der Zöglinge, wenn sie un- 
geschickt durchgeführt wird, eine große Gefahr liegt. Die autori- 
tative Führung darf nie ausgeschaltet werden; auch ist die 
Selbstregierung nur für solche Fragen angebracht, wo die Jugend 
kompetent erscheint. Dieses zu entscheiden, und diese Erkenntnis 
und die Anerkennung einer bestehenden von höheren Instanzen ein- 
gesetzten Autorität der Jugend beizubringen, ist Aufgabe des Er- 
ziehers. 

An den Vortrag schloß sich der folgende des Direktor REmpPpis, 
Königl. Erziehungsanstalt Wabern an: 


„Die praktischen Versuche mit der Selbstbetätigung 
der Anstaltszöglinge unter Bezugnahme auf Ergebnisse einer 
Studienreise in England und Nordamerika“. 


I 


In der Anstaltserziehung liegt die Gefahr der Unselbstständigkeit 
nnd Verkümmerung berechtigter Triebe. Um dies zu vermeiden, 
sind die Zöglinge zur selbsttätigen Mitarbeit im Anstaltsleben heran- 
zuziehen. 


I. 

In den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika wird in den 
Reform-Schools das Cottage-System unter Aufwendung großer Mittel 
in weitgehendem Maße durchgeführt, woraus sich die Heranziehung 
der einzelnen Zöglinge zur Mitwirkung im Familienleben, ein Ver- 
antwortlichkeitsgefühl für den Geist des Hauses und Verständnis für 
die Bedingungen des wirtschaftlichen Lebens von selbst ergeben. 
Außerdem bieten der eifrigst gepflegte Sport und häufige militärische 
Übungen ein reiches Feld der Kraftentfaltung. 


152 Oscar REIN, 


III. 

In den Reformatory-Schools Englands, die im Unterschied von 
Amerika wesentlich einfacher eingerichtet sind, tritt das Familien- 
leben zurück hinter dem gemeinsamen Anstaltsleben: durch die 
Übertragung von Aufsichts- und Ehrenämtern, z. T. mit militärischen 
Rangstufen, besonderen Abzeichen und Belohnungen, sowie durch 
intensive Pflege des Sports wird der „selfrespect* in wirksamer 
Weise belebt. 


IV. 

Mit der Übertragung staatlicher Formen auf das gesamte An- 
staltsleben nnd die Einrichtung von jugendlichen Gerichtshöfen mit 
Strafgewalt wird erzieherisch wenig erreicht. Es fehlen im jugend- 
lichen Alter die lebendigen Voraussetzungen hierfür. 

In kleinem Kreise kann jedoch in zwangloser Weise der Sinn 
für die Notwendigkeit und den Zweck solcher Formen und Ein- 
richtungen durch praktische Beispiele und Übungen geweckt und 
betätigt werden. 

È y. 

In jeder Anstalt ergibt sich aus dem jeweiligen Bedürfnis her- 
aus die Notwendigkeit, einzelnen Zöglingen verantwortliche Ver- 
trauensämter in der Hausgemeinschaft, Arbeitsgemeinschaft und 
Spielgemeinschaft zu übertragen. Die Übertragung solcher Ehren- 
ämter kann auch durch Wahl erfolgen. 


VI 
Um das innere Interesse und tiefere Verständnis für das An- 
staltsleben zu fördern, empfiehlt sich zwanglose Heranziehung älterer 
Zöglinge zu Besprechungen über äußere Anstaltsangelegenheiten, 
über die Ausgestaltung der Hausordnung, sowie über Erziehungs- 
probleme, wobei es sich besonders um Weckung des gegenseitigen 
Verantwortlichkeitsgefühls handelt. 


VII. 

Reiche Gelegenheit zur Entfaltung der freien Selbstbetätigung 
bieten die verschiedenen Vereine zur Pflege der körperlichen Aus- 
bildung oder zur Belebung der Anstaltsfeste; ihre Selbständigkeit 
richtet sich nach der Reife der Intelligenz der jeweiligen Zöglinge. 
Es ist jedoch darauf zu achten, daß durch das Vereinswesen das 
übrige Anstaltsleben nicht beeinträchtigt wird. 


Bericht über den allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag zu Halle a. S. 153 


VII. 
Es lassen sich auf diesem Gebiete nur Anregungen geben. Die 
Artund der Grad der Selbstbetätigung müssen als etwas selbständig 
(Gewordenes aus dem Geist des Hauses herauswachsen. 


Beide Vorträge wurden mit großem Beifall aufgenommen und 
besonders der erstere oft von Bravorufen und Zustimmungen unter- 
brochen, leider wurde die Wirkung etwas abgeschwächt durch die 
Diskussion, besonders die lange Rede des ersten Diskussionsredners 
Direktor Pastor Seirrert, Straußberg. Er sagte, die Forderung der 
Selbstbetätigung der Zöglinge sei ja ganz schön und gut, aber er 
warne dringend davor, dab die anwesenden Anstaltsleiter etwa so- 
fort, wenn sie von hier nach Hause kämen, in ihren Anstalten die 
Selbstregierung der Zöglinge in weitestem Maße einführten, er wies 
besonders auf die vom Vortragenden bereits erwähnten Gefahren 
einer ungeschickt durchgeführten Selbstbetätigung der Zöglinge hin 
und forderte, man solle mit der Einführung dieser Neuerung in den 
Fürsorgeerziehungsanstalten mit ihrem doch besonders schwierigem 
Material von Zöglingen erst warten, bis auch Kadettenanstalten, 
Gymnasien usw. sie durchgeführt hätten. — Im Gegensatz dazu be- 
richtete Direktor Beaux, Ohlsdorf Hamburg, über die guten Erfah- 
rungen die er in seiner Anstalt bereits gemacht mit der Selbst- 
betätigung der Zöglinge in verschiedenen von ihnen nach Neigung 
gebildeten Gruppen (Vereinen); nur die Einrichtung von Jugend- 
gerichtshöfen habe sich bei ihm, wie ja auch in Amerika, nicht 
bewährt. 

Der letzte Diskussionsredner, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. ANTON, 
Halle, betrachtete die Frage vom Standpunkte des Psychiaters aus, 
er stimmte dabei im großen und ganzen den Ausführungen des 
Redners bei. Leider herrschte während seiner Worte im Saal infolge 
Aufbruchs vieler Versammlungsteilnehmer zu große Unruhe, daß der 
Redner dem Ref. nur zum kleinsten Teile verständlich war. (Ein 
mir von Herrn Geh.-Rat Anton in Aussicht gestellter Selbstbericht 
über seine Diskussionsrede ist mir leider wohl infolge des Kriegs- 
ausbruchs nicht mehr zugegangen.) 

Mit einem kurzen Schlußwort des zweiten Referenten schloß die 
Tagung. 

Am Nachmittage fand die Besichtigung der Franke'schen Stif- 
tungen statt, woselbst nach vorhergehendem Orgelspiel und Chor- 
gesang im Versammlungssaale der Leiter der Anstalten, Geh. Re- 
gierungsrat Prof. D. Dr. Frıes einen Vortrag hielt über das Thema: 


154 Oscar REIN, 


„August Hermann Franckes Bedeutung für die Pädagogik 
insbesondere für die Anstaltspädagogik“. 


Der Vortragende schilderte den Lebensgang FRAncKE's und die 
Entstehungsgeschichte seines großen Werkes, der Francke’schen 
Stiftungen, die auch jetzt und in Zukunft im Sinne des Stifters ge- 
leitet werden sollen: dem Drange nach Freiheit ist Maß zu halten; 
sicher ist nur der schmale Weg der Pflicht. — Bei dem folgenden 
Rundgang durch die Anstalt bildeten die Zöglinge teilweise Spalier, 
teilweise trugen sie Gesänge vor und zeigten sich -in turnerischen 
Darbietungen. 

Für den Abend des 16. Juli war eine öffentliche Versammlung 
in dem Thaliafestsaal angesetzt, zu der sich eine sehr große Menschen- 
menge eingefunden hatte, Lehrer und Studenten bildeten wohl den 
Hauptteil der Versammlung. Prof. Förster, München sprach hier: 


„Über moderne Erziehungslehren in kritischer Beleuchtung“. 


Seine Ausführungen gipfelten darin, daß nur in der christ- 
lichen Lehre das richtige Erziehungsmittel zu er- 
blicken sei. — Der Erzieher müsse bei der Erziehung ein be- 
stimmtes Ziel im Auge haben, er müsse dabei nicht nur Idealist 
sondern auch Realist sein. Die modernen Erziehungslehren ver- 
nachlässigten oft das Ideale über dem Realen oder umgekehrt. Der 
Vortragende wandte sich dann gegen einzelnes, überall stecke zwar 
ein guter Kern, aber bei allen modernen Methoden werde nur zu 
leicht eine Seite der Erziehung auf Kosten der übrigen übertrieben; 
nur unter dem höheren Gesichtspunkte der christlichen Religion 
lasse sich der rechte Weg in der Erziehung finden. . Die moderne 
Arbeitsschule vernachlässige über dem laborare das orare. — Die 
Ethik des Moralunterrichts könne den Glauben nicht ersetzen. — 
Die amerikanische Methode, daß sich der Erzieher dem Zöglinge 
anpassen müsse, vergesse, daß auch der Schüler sich dem Erzieher 
anpassen müsse. Der Respekt vor der Individualität sei in Amerika 
zu groß, bei uns zu gering. — Der übertriebene Sport fördere nur 
die körperliche Betätigung, während dabei die moralische Ertüch- 
tigung, leide. Durch den Sport werden die Kinder nur zu leicht 
der Familie entzogen, so z. B. die Pfadfinder usw. an Sonntagen; 
dem einzigen Tage in vielen Familien, an dem der Vater zu Hause 
sein kann. Den eisenbeschlagenen Jungfrauen, die man auf den 


Bericht über den allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag zu Halle a. S. 155 


Bahnhöfen treffe, fehle das „Ewigweibliche“. — Bei der sexuellen 
Aufklärung beachte man zu wenig, daß die Zöglinge nicht nur mit 
dem Verstande, sondern auch mit der Phantasie zuhören. — U. a. m. 

Der 1!/,stündige Vortrag wurde von der Versammlung mit 
großem Beifall aufgenommen. 

In der dritten öffentlichen Tagung am 17. Juli stand als erstes 
auf der Tagesordnung die Mitgliederversammlung des Allgem. Für- 
sorge-Erziehungstages (E. V.), worin der Vorsitzende den Geschäfts- 
bericht und den Kassenbericht erteilte, und dann Domkapitular 
Barrris-Paderborn, der Vorsitzende des Ausschusses für Familien- 
pflege eingehende sehr interessante Mitteilungen über „Die Organi- 
sation der Familienpflege“ machte. Seinen Ausführungen 
sei folgendes entnommen : 

Die Familienerziehung ist das Ziel um die Kinder für das prak- 
tische Leben vorzubereiten. Tatsächlich befindet sich auch ein sehr 
großer Teil der Fürsorgezöglinge bei Erreichung der Großjährigkeit 
in Familien, als Lehrlinge, Dienstboten usw. Wenn die Familien- 
pflege für Fürsorgezöglinge in manchen Provinzen etwas zurück- 
gegangen ist so gibt es dafür mehrere Gründe: einmal kommen in- 
folge der bisherigen Handhabung des § 1 Abs. 3 des Fürsorge-Er- 
ziehungs-Gesetzes wenig für Familienpflege geeignete Zöglinge in 
Fürs.-Erziehung; dann aber sei auch ein Mangel an geeigneten 
Pflegeeltern bemerkbar, viele die bereit sind, Fürs.-Zöglinge aufzu- 
nehmen, haben entweder schon solche, oder sie sind auf dem Wege 
der privaten Fürsorge schon mit Zöglingen versorgt; vor allem aber 
ist die Familienpflege im Gebiete der Fürsorgeerziehung noch zu 
wenig ausgebaut: Bisher ist die Familienpflege meist in Zusammen- 
hang mit einer Anstalt, dadurch kommt sie zu schlecht weg, denn 
der Anstaltsvorsteher kann sich zu wenig um sie kümmern, er hat 
dafür, wenn die Familienpflege ausgedehnter wird, keine Zeit, und 
nur das Maß der geleisteten Arbeit bedingt das Maß des Erfolges. 
Die Familienpflege ist noch Neuland, alle darin Tätigen sind 
Autodidakten. Im Familienpflege-Ausschuß kann vorläufig noch nicht 
so viel nach außen sichtbare Arbeit geleistet werden, er muß jetzt 
vor allem praktische Erfahrungen sammeln und besprechen. Das 
Material dazu kann er finden vor allem in den Protokollen der 
Fürs.-Konferenzen der einzelnen Provinzen. Die Behandlung der 
Familienpflege ist ja in den einzelnen Provinzen verschieden, in 
manchen werden Fürs.-Zöglinge sofort in Familienpflege gegeben, 
in anderen erst nach einer vorhergehenden, kürzeren oder längeren 
Anstaltserziehung, je nach der Art der Zöglinge; es wird ja wohl 


156 Oscar REIN, 


überall Zöglinge geben, die ohne weiteres in Familienpflege gegeben 
werden können, andere bedürfen erst der Anstaltsbehandlung und 
wieder bei anderen ist es überhaupt zweifelhaft, ob sie sich je zur 
Familienpflege eigenen werden. 

Der Familienpflege-Ausschuß muß sich zunächst mit den ein- 
zelnen Fragen, die das Problem der Familienpflege stellt, beschäf- 
tigen und sie zu lösen suchen; die wichtigsten sind: 

1. die Frage der Familien, vor allem; wie finden wir die ge- 

eigneten Familien? 

2. die Frage des Fürsorgers, sollen z. B. einem Fürsorger mehrere 

oder nur ein Kind anvertraut werden. 

3. die Beziehungen der in Familienpflege untergebrachten Kinder 

zur Anstalt, zu den Pflegeeltern und zu den leiblichen Eltern. 

4. Das Verhältnis der Kinder untereinander; sollen z. B. Ge- 

schwister in die gleiche Familie gegeben werden u.a. m. 


Der Bericht wurde sehr beifällig aufgenommen, und der Vor- 
sitzende gab dem Wunsche Ausdruck, daß die Tätigkeit des Familien- 
pflege-Ausschusses recht erfolgreich sein möge. 

Nach Schluß der Mitgliederversammlung des Allgem. Fürs.-Er- 
ziehungs-Tages trat man in die weiteren Verhandlungen ein. Die 
nun folgenden Vorträge beschäftigten sich mit den psychopathischen 
Fürsorgezöglingen, einer Frage die ja auch auf den letzten Fürs.- 
Erziehungs-Tagen schon lebhafte Erörterungen gefunden hatte. War 
die Mitarbeit des Psychiaters bei der Fürs.-Erziehung aber früher, 
so auch noch auf der Tagung zu Rostock 1910, eine noch nicht all- 
gemein anerkannte Forderung gewesen, die erst in Dresden 1912 
volle Zustimmung fand (vgl. meine früheren Berichte), so wurde dies- 
mal bereits über Resultate, über Erfolge der psychiatrischen Fürs.- 
Erziehung verhandelt; freilich bleibt auf diesem Gebiete der Zu- 
kunft noch eine große neuschaffende und organisierende Tätigkeit 
vorbehalten, denn noch lange nicht überall ist diese weitgehende 
psychiatrische Mitarbeit praktisch so durchgeführt, wie in den An- 
stalten von denen berichtet wurde. 

Oberarzt Dr. med. REDEPENNING, Göttingen sprach über: 


„Die praktische Arbeit an den psychopathischen 
schulentlassenen männlichen Fürsorgezöglingen“. 
Die Leitsätze seines Vortrags waren folgende: 


1. Die Voraussetzung für die praktische Arbeit an den psycho- 
pathischen Zöglingen ist ihre Auffindung. Die Psycho- 


Bericht über den allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag zu Halle a.S. 157 


pathen erleichtern durch ihre Auffälligkeiten schon selbst 
ihre Auffindung. Sache der Pflegeeltern, Dienst- oder Lehr- 
herren und Fürsorger bei den außerhalb der Anstalt 
Untergebrachten und Sache der Erzieher, Anstaltsleiter, An- 
staltsärzte und der zu gelegentlichen oder regelmäßigen 
Untersuchungen herangezogenen Irrenärzte bei den in An- 
stalten Untergebrachten ist es, diese Auffälligkeiten fort- 
laufend zu beobachten, im Vergleich mit dem Verhalten 
anderer und dem früheren Verhalten desselben Zöglings zu 
bewerten und gemeinsam das Urteil festzustellen. Bei 
einerReihe von Fällen ist zur Beseitigung von Zweifeln 
die Unterbringung des verdächtigen Zöglings in der Be- 
obachtungsabteilung einer Frziehungsanstalt oder 
einer irrenärztlich geleiteten Beobachtungsabteilung nötig. 
2. Nach dem Ergebnis dieser Feststellungen ist zu ent- 
scheiden, ob der Psychopath in seiner bisherigen Um- 
gebung, sei es außerhalb oder innerhalb einer Anstalt, bleiben 
kann oder ob eine andere Unterbringung versucht 
werden muß. Dabei kommen alle Möglichkeiten in Frage: 
Wechsel der Dienst- oder Lehrstelle, Wiederaufnahme in die 
frühere, Aufnahme in eine andere Anstalt, Entlassung aus 
der Anstalt, Eine Reihe von Fällen ist den bei Er- 
ziehungsanstalten bereits eingerichteten oder noch einzu- 
richtenden Abteilungen für Schwererziehbare zu- 
zuführen. Eine andere Gruppe ist in Zwischenan- 
stalten unterzubringen, seien dies nun Abteilungen im 
Anschluß an anderweitige Krankenanstalten wie z. B. in 
Potsdam oder neue Einrichtungen, nämlich eigens für diesen 
Zweck eingerichtete unter ärztlicher Leitung stehende Heil- 
und Erziehungsanstalten wie z. B. in Göttingen. In 
Irrenanstalten gehören nur Geisteskranke. Ein länger 
dauernder Aufenthalt psychopathischer Försorgezöglinge in 
Irrenanstalten ist nach den Göttinger Erfahrungen für die 
Anstalt selbst und für die Zöglinge nachteilig, außerdem 
vom rechtlichen Standpunkt bedenklich. 
3a. Die Zwischenanstalten, deren Verschmelzung mit der 
eingangs erwähnten irrenärztlichen Beobachtungs- 
abteilung nach den Göttinger Erfahrungen empfohlen 
werden muß, haben ihre praktische Arbeit nach den beiden 
Zielen der Heilung und Erziehung einzurichten. Die 
Zwischenanstalten unterscheiden sich deshalb von 


3b. 


OscaR REIN, 


anderen Erziehungsanstalten dadurch, daß in ihnen 
der irrenärztlichen Tätigkeit der breiteste Raum 
gelassen werden muß. Es soll sich nicht nur um eine be- 
ratende oder hausärztliche Mitwirkung handeln. Bei der 
Göttinger Zwischenanstalt ist der ärztliche Einfluß durch 
Anstellung eines Arztes im Hauptamte, dem auch die äußere 
Leitung übertragen ist, gewährleistet. Die Zwischenanstalten 
unterscheiden sich ferner von anderen durch eine be- 
sondere Bauart, die weitgehende Bildung kleiner 
Gruppen ermöglicht, und durch eine größere Zahl von 
Erziehern und Gehilfen. Auch eine kleine Anstalt mit 
etwa 60 Plätzen muß im kleinen ein Abbild aller Anstalts- 
arten in sich vereinigen. Um den unsteten, schwankenden 
Eigentümlichkeiten ihrer Insassen gerecht zu werden, muß 
sie über kleine Abteilungen freiester, durchschnittlicher und 
strengster Art verfügen. Hauptgrundsatz muß eine weiter- 
gehende Berücksichtigung der Einzelpersön- 
lichkeit sein, als esin anderen Erziehungsanstalten möglich 
ist. Die Zwischenanstalten werden dadurch kostspieliger. 
Der Hauptzweck, auch der Zwischenanstalten, soll aber 
die Erziehung bleiben, die unbeschadet der Heilungs- 
aufgaben möglichst ebenso ausgeführt werden soll, wie in 
anderen Anstalten, sowohl was Seelsorge, Unterricht, Be- 
schäftigung und Spielen als auch Werkstätten-, Haus-, Garten- 
und Feldarbeit betrifft. Auch Belohnungen und Bestrafungen 
haben sich — selbstverständlich unter strengster Berück- 
sichtigung der Einzelpersönlichkeit — im allgemeinen dem 
Vorbilde der anderen Anstalten anzuschließen. Bei den aus 
der Anstalt Entlassenen ist neben der Fürsorgetätigkeit eine 
weitere unmittelbare Beaufsichtigung durch die Anstalt 
nötiger als bei anderen Zöglingen. 


. Für einen Teil der Volljährigen ist bei der gegen- 


wärtigen Rechtslage die Entmündigung anzustreben, 
wenn sie auch auf Schwierigkeiten stößt, und ihr Erfolg 
nicht immer den Erwartungen entsprechen wird. Für die 
Zukunft wird immer mehr das Bedürfnis hervortreten, einen 
geringen Teil nicht geisteskranker Psychopathen, nämlich 
hilflose oder gefährliche, über die Volljährigkeit 
hinaus ihrer Eigenart entsprechend zu ihrem oder der All- 
gemeinheit Schutz unterzubringen, z. T. jedenfalls in einer 
neuen Art von Zwischenanstalten. 


Bericht über den allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag zu Halle a. S. 159 


5. 


© 


Die bisherigen Erfahrungen mit Zwischenanstalten er- 
mutigen zu ihrer weiteren Verbreitung. Zweifellos haben 
sie die Arbeit in den anderen Erziehungsanstalten erleichtert. 
Auch haben sie an solchen Zöglingen, auf deren weitere Er- 
ziehung andere Anstalten oft mit Bedauern verzichten mußten, 
noch unverkennbare Erfolge gebracht. 


. Behandlung und Erziehung, Heilung und Besserung lassen 


sich nur gewaltsam oder durch Wortklauberei scharf von- 
einander trennen. Es ist deshalb für die zu gemeinsamer 
praktischer Arbeit an den Psychopathen berufenen Ärzte 
und Erzieher nur dann ein Zusammenarbeiten 
möglich, wenn sie dasselbe Arbeitsziel haben. Das 
einzige fürdie Fürsorgeerziehung aber aufzustellende 
Ziel ist das für alle Erziehung maßgebende sittlich- 
religiöse, 


Pastor DıssELHOF, Kaiserswerth behandelte: 


„Die praktische Arbeit an psychopathischen schulentlassenen 


weiblichen Fürsorgezöglingen“ 


und legte seinem Bericht folgende Leitsätze zugrunde: 

I. Die praktische Arbeit der Vergangenheit (seit 1901) hat 
die Grundlage der Psychopathenfürsorge geschaffen durch Fest- 
stellung der Tatsache: 


1. 


II. 


Unter den schulentlassenen weiblichen Fürsorgezöglingen 
befinden sich (abgesehen von Geisteskranken, Idioten, Epi- 
leptikern usw.) verhältnismäßig zahlreiche Zöglinge (Psycho- 
pathen im engern Sinn und leichtere Schwachsinnsformen), 
die geistig so minderwertig sind, daß bei ihnen das Ziel 
der Erziehung, Selbständigkeit in geordneter Lebensführung 
und in Erwerb des Lebensunterhaltes, nicht zu erreichen ist. 


. Für die geistig Minderwertigen sind sowohl um ihrer selbst 


als auch um der Normalen willen Sonder-Erziehungsanstalten 
mit ständiger psychiatrischer Beratung einzurichten, deren 
Aufgabe es ist, die Zöglinge zu dem erreichbaren Grade von 
Selbständigkeit zu erziehen und ihnen für das spätere Leben 
entsprechende Daseinsmöglichkeiten finden zu helfen. 


Die praktische Arbeit der Gegenwart vollzieht sich 


wesentlich in solchen Sonderanstalten für geistig minderwertige schul- 
entlassene weibliche Fürsorgezöglinge. 


160 


T. 


Oscar REIN, 


In diesen Anstalten werden die Zöglinge zunächst psychia- 
trisch sorgfältig gesichtet (Ausscheiden der noch vorhandenen 
Fälle von Geisteskrankheit, Idiotie, Epilepsie usw.; Klassifi- 
zierung der Form der geistigen Minderwertigkeit: Dishar- 
monische, Hysterische, leicht Schwachsinnige usw.) und so- 
dann regelmäßig psychiatrisch beobachtet, wobei die Schulung 
der Erziehungsschwestern von wesentlicher Bedeutung ist. 


. Auch der allgemeinen ärztlichen Beaufsichtigung und ge- 


sundheitlichen Pflege wird sorgfältige Aufmerksamkeit ge- 
schenkt. 


. Die technische Ausbildung, die durchaus im Dienst der Ge- 


samterziehung zu möglichster Selbständigkeit steht, bewegt 
sich in dem Rahmen einer Haushaltungsschule unter Be- 
achtung und Entwickelung der vorhandenen individuellen 
Fähigkeiten bei großer Mannigfaltigkeit der Arbeitsgelegen- 
heit. Die Arbeit ist Erziehungsmittel, nicht Selbstzweck. 
Soweit die Entwickelung der Zöglinge in der Anstalt in 
Betracht kommt, ist das Ergebnis im allgemeinen günstig 
zu bezeichnen, so lange der Aufenthalt in der Anstalt dauert, 
namentlich bei den Psychopathen im engeren Sinne, wird oft 
nicht unwesentliche Besserung erzielt. 


. Bei der Entlassung aus der Anstalt wird die neuere Um- 


gebung für den Zögling sorgfältig ausgewählt, und die Ver- 
bindung mit der Anstalt in jeder Weise gepflegt. 


. Die Entwickelung der Zöglinge nach der Entlassung aus 


der Anstalt ist im allgemeinen nur so lange erfreulich, als 
der Einfluß der Anstalt maßgebend bleibt. Mit dem Auf- 
hören dieses Einflusses ist namentlich bei den leicht Schwach- 
sinnigen, aber auch bei den Psychopathen im engeren Sinne, 
eine Rückentwickelung sehr häufig verbunden. 

Es ist Tatsache, daß ein beträchtlicher Teil der Zöglinge 
dauernd anstaltsbedürftig bleibt. 


III. Die praktische Arbeit der Zukunft wird deshalb mit 
allem Nachdruck der Fürsorge für die Zöglinge auch nach dem Auf- 
hören der Fürsorgeerziehüung sich zu widmen haben. 


1. 


2. 


3. 


Notwendig ist die Schaffung von Heimstätten, die ihren In- 
sassen lebenslängliche Zukunft gewähren. 

Der Frage nach Stellung unter Pflegschaft oder Entmündi- 
gung ist für die Heimstätten-Pfleglinge besondere Aufmerk- 
samkeit zu schenken. 

Soweit die Heimstätten durch den Arbeitsertrag der Pfleg- 


Bericht über den allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag zu Halle a.S. 161 


linge sich nicht erhalten, werden die verpflichteten Armen- 
verbände zur Unterstützung heranzuziehen sein. 


Die Ausführungen der Vortragenden hielten sich im allgemeinen 
an die aufgestellten Leitsätze unter mehr oder weniger stärkerer 
Betonung der einzelnen Gesichtspunkte; sie stimmten ja auch in 
allen Hauptpunkten überein, vor allem darin, daß bei der Er- 
ziehung derpsychopathischen Zöglinge dem Psychiater 
der entscheidende Einfluß einzuräumen sei; während 
aber der Arzt daraus zur Forderung psychiatrischer Leitung der Heil- 
erziehungsanstalten gelangte, stellte der geistliche Redner die Frage, 
ob psychiatr. oder pädagog. Leiter als diskutabel hin. Bei Er- 
wähnung der Schwierigkeiten, die die psychopathischen Zöglinge 
den Anstalten bereiten, wurde besonders noch hingewiesen darauf, 
daß bei den weiblichen älteren Zöglingen Homosexualität und vene- 
rische Krankheiten eine wichtige Rolle spielten. Vom geistlichen 
Redner wurde hervorgehoben, daß mit der Erteilung von Religions- 
unterricht, besonders bei neu aufgenommenen Zöglingen, Maß zu 
halten sei, da sonst nur gerade das Gegenteil von dem gewollten 
Resultat erzielt werde. 


In der anschließenden Diskussion gab Chefarzt Dr. Schnitzer, 
Kückenmühle bei Stettin, zunächst der Freude darüber Ausdruck, 
daß endlich ein ruhiges Verhältnis zwischen Fürsorgeerziehung und 
Psychiatrie zustande gekommen sei. Er wandte sich dann zu der 
Frage, was nach Aufhören der Fürsorgeerziehung bei Mündigkeit 
der psychopathischen Zöglinge mit diesen geschehen solle; ein kleiner 
Teil bleibe vielleicht freiwillig in Anstalten, die anderen sollten 
eigentlich gegen ihren Willen untergebracht werden, dazu gehöre 
die Entmündigung. Nur verhältnismäßig selten aber komme es 
dazu, vor allem weil kein Antragsberechtigter den Entmündigungs- 
antrag stelle; die Eltern tuen es nicht, weil sie nicht wollen; und 
der Staatsanwalt tue es sehr oft deshalb nicht, weil der vermögens- 
lose Zögling keine Angelegenheiten im Sinne des Gesetzes habe. 
(Aus gleichem Grunde ist es ja auch oft nicht möglich, geistes- 
kranke Verbrecher zu entmündigen. Ref.) 

Landesrat VIEREGGE, Berlin, sprach über die einschlägigen Ver- 
hältnisse in der Provinz Brandenburg, wo die psychopathischen Für- 
sorgezöglinge in Potsdam, in der Anstalt für Epileptische und bil- 
dungsfähige Schwachsinnige untergebracht sind, wobei die Beobach- 
tungszöglinge nicht zusammenliegen, sondern in den einzelnen 
Krankenabteilungen eingereiht werden. Die Behandlung soll nach 

Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VII. 11 


162 Oscar REIN, 


Möglichkeit der in den Erziehungsanstalten angenähert werden. Die 
Sonderanstalten für psychopathische Zöglinge können aber auch der 
Familienpflege nicht entbehren, um die Zöglinge allmählich 
wieder dem Leben zurückgeben zu können; natürlich ist dabei eine 
besondere Auswahl der Pflegeeltern zu treffen. Die so sehr er- 
wünschten Anstalten zur Unterbringung von der Fürsorge entwach- 
senen psychopathischen Zöglingen gibt es leider nicht; die Frage 
der Unterbringung dieser stößt gesetzlich auf die gleichen Schwierig- 
keiten, wie die Frage der zwangsweisen Unterbringung von Alko- 
holisten und psychopathischen Verbrecher. Diese drei Fragen werden 
wohl zusammen zu lösen sein auf dem Wege der Gesetzgebung. 

Oberarzt Dr. LückErATH, Bonn, berichtete kurz über die psycho- 
pathischen Fürsorgezöglinge der Rheinprovinz und ihre Unterbrin- 
gung. Er sprach sich dafür aus, die Zwischenanstalten für diese 
Zöglinge lieber an Erziehungsanstalten anzugliedern, als an Irren- 
anstalten. Auch er erwähnte die Schwierigkeiten der Entmündigung 
des Psychopathen bei der heutigen Handhabung des Gesetzes, die 
intellektuelle Unmöglichkeit zur Besorgung der Angelegenheiten 
und das Vorhandensein einer materiellen Grundlage für die Ange- 
legenheiten verlangt. 

Nach einem kurzen Schlußwort des ersten Referenten und nach 
einem Dankeswort aus der Versammlung für den Vorsitzenden schloß 
dieser die offizielle Tagung des Allgem. Fürs.-Erziehungs-Tages mit 
einem Rückblick auf die Verhandlungen. Am Nachmittag fand gemein- 
sames Essen und abends geselliges Zusammensein in Cröllwitz statt. 

Viele der Teilnehmer der Tagung besichtigten am nächsten und 
übernächsten Tage die in der Nähe von Halle oder an ihrem Reise- 
wege gelegenen Anstalten, deren eine große Menge offiziell zam Besuch 
eingeladen hatten, so vor allem die Landeserziehungsanstalt zu Nord- 
hausen, die Heilerziehungsanstalt Klein-Wensdorf bei Leipzig u. a. m. 

Wie bei früheren Tagungen waren auch diesmal eine Reihe von 
Drucksachen für die Teilnehmer ausgelegt: z. B. Zeitschrift für 
kathol. karitative Erziehungstätigkeit Nr. 6; ferner eine kleine Schrift, 
überreicht vom Evangel. sozialen Preßverband f. d. Prov. Sachsen 
mit einer abbildungsreichen Beschreibung der Landes-Erziehungs- 
anstalt Nordhausen, einem kleinen Artikel über den Geburtenrück- 
gang in Deutschland, und Hinweisen auf die Veröffentlichungen des 
Verbandes. Von diesen Veröffentlichungen lagen auch noch ver- 
schiedene auf, worunter besonders einer auffiel: „Die Leiche im 
Koffer“ eine wahre Geschichte von JoHAnNEs Dose. Dies 
Schriftchen, mit seinem sensationellen Titel und Abbildungen äußer- 


Bericht über den allgemeinen Fürsorge-Erziehungs-Tag zu Halle a. S. 163 


lich eine Nachbildung der bekannten Hintertreppenromane, bringt 
recht anschaulich die sittliche und physische Gefahr der Geburten- 
verhinderung zur Darstellung. — Vor allem aber sei noch hinge- 
wiesen auf die ausliegende Nr. 5 laufenden Jahrgangs des Zentral- 
blattes f. Vormundschaftswesen, Jugendgerichte und 
Fürsorgeerziehung, deren Artikel sich aus Anlaß der Tagung 
mit Fragen der Fürsorgeerziehung beschäftigen. Besonders er- 
wähnenswert ist der erste Artikel: „Die Selbstverwaltung 
der Zöglinge in Fürsorgeanstalten“ von Geh. Regierungs- 
rat Dr. RupoLr Osıus, Cassel. Verf. behandelt eingehend die in 
Betracht kommenden Punkte, das Für und das Wider, und er kommt 
zu dem Resultat: die Selbstverwaltung ist ein nicht zu unter- 
schätzender Fortschritt in der Erziehung der Zöglinge; man soll 
die Frage ihrer Einführung nicht von Versammlung zu Versamm- 
lung hinausschieben, sondern energisch in Angriff nehmen, nicht dem 
Zwange gehorchend und widerwillig, sondern frisch und freudig, mit 
Verständnis und Begeisterung“! 

Von den beiden Hauptverhandlungsthemen der Tagung: Selbst- 
betätigung der Zöglinge bei der Erziehung und Behandlung der 
psychopathischen Zöglinge ist ja das zweite jetzt schon lange keine 
Streifrage mehr; so sehr in diesem Punkte früher die entgegen- 
gesetzten Ansichten aufeinanderstießen, jetzt ist eine prinzipielle Über- 
einstimmung erreicht und nur in untergeordneteren Teilfragen be- 
stehen noch Meinungsverschiedenheiten. Welcher praktische Nutzen 
für die Fürsorgeerziehung aus der Vereinigung von psychiatrischer 
und pädagogischer Tätigkeit ersprießt, zeigte ja gerade die jetzige 
Tagung. Hoffentlich wird auch betr. des anderen Verhandlungs- 
themas bald eine befriedigende Lösung gefunden; freilich wird es 
wohl so manchem der älteren in „Autoritätskrampf erstarrten“ Pä- 
dagogen nicht leicht fallen, umzulernen, und tatsächlich stellt ja 
auch die Forderung der Selbstbetätigung der Zöglinge viel größere 
Ansprüche an den Erzieher, nicht so sehr an seine äußerlichen 
Leistungen, als vielmehr an seine Seelengröße. Denn Seelengröße 
gehört dazu, eine nicht geringe Selbstverleugnung, die eigene Per- 
sönlichkeit zurücktreten zu lassen zugunsten der freien Betätigung 
der Zöglinge. Möge die Zukunft den angebahnten Fortschritt bald 
bringen, sicher wird die Sache der Fürsorgeerziehung großen Nutzen 
davon haben; auch wird eine allgemeine freiere Behandlung der 
Zöglinge dazu beitragen, das der Fürsorgeerziehung ja leider noch 
immer anhaftende Odium der Zwangserziehung zu beseitigen. 


br dr 





11* 


Nachdruck verboten. 


Literaturbericht. 


Weiterführung des Berichtes in Band VI, 4 dieser Zeitschrift 
bis mit Dezember 1914. 


Von 


Kurt Lehm, Hilfsschullehrer in Dresden. 


I. Anstalten für Schwachsinnige, Idioten, Epileptiker. 


Ausführl. Berichte ü. d. Feier des 50 jährig. Jubiläums der Alster- 
dorfer Anstalten am 19. Okt. 1913. Briefe u. Bilder aus Alsterdorf. 
XXXVII, 1. — Das 50 jährige Jubiläum der Alsterdorfer Anstalten. 
Zeitschr. f. d. Erforschg. u. Behandlg. d. jugendl. Schwachs., VII, 56 
— Der Krieg und die Alsterdorfer Anstalten. Briefe und Bilder ans 
Alsterdorff, XXXVIII, 3. — GERHARDT, Die Schule der Alsterdorfer 
Anstalten. Fischer-Jena, 1913. 98 S., 3 M. — HOVORKA, Anstalten für 
schwachsinnige Kinder in Holland. Heilpäd. Schul- u. Elternztg., IV, 3. 
— KELLNER, Die Hamburger Idioten- und Epileptikeranstalt in Alster- 
dorf in Wort und Bild. Agentur d. Rauhen Hauses, Hamburg 26. — 
Kırmsse, Die Schwachsinnigen in Nassau in alter und neuer Zeit. Id- 
stein 1913. — KırMSSE, Unsere Anstalten und der Krieg. Ztschr. 
f. d. Behandlg. Schwachs.,, XXXIV, 12. — Rückblick auf die Ge- 
schichte der Alsterdorfer Anstalten während der ersten fünfzig Jahre ihres 
Bestehens als Anstalt für Schwachsinnige und Epileptische. 1863—1913. 
Briefe und Bilder aus Alsterdorf, XXX VII, 2. — SCHNITZER u. PENSKY, 
Die Geschichte der Kückenmühler Anstalten. Zugleich ein Beitrag zur 
Geschichte der Schwachsinnigenfürsorge in Deutschland. Ztschr. f. d. 
Erforschg. u. Behandlg. d. jugendl. Schwachs., VII, 1/3. — Unsere neue 
Schule. Briefe und Bilder aus Alsterdorf, XXXVIII, 2. — Unser Ferien- 
heim. Briefe und Bilder aus Alsterdorf, XXXVII, 1, — Voss, Meine 
Erinnerungen an Alsterdorf. Briefe und Bilder aus Alsterdorf, XXXVII, 2. 
— WINTERMANN, Über die Erwerbsfähigkeit geistig Geschwächter. Land- 
wirtschaftl. Lehr- u. Heimstätte Albertushof b. Delmenhorst. 


II. Hilfsschulwesen. 


1. Entwicklung des Hilfsschulwesens. BÜÖTTGER, Ergeb- 
nisse der Erhebungen über die sächsischen Hilfsschuleinrichtungen im 


Literaturbericht. 165 


Juni 1913. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 4. — BÜTTNER, 
Vom Hilfsschulwesen. Ztschr. f. d. Erforschung u. Behandlg. d. jugendl. 
Schwachs., VI, 1/3. — BÜTTNER, Zur Entwicklung des Hilfsschulwesens. 
Pharus, 1913, 10. — Entwurf der Satzungen des Verbandes der Hilfs- 
schulen Deutschlands. D. Hilfsschule, VIl, 5. — Entwurf der Geschäfts- 
ordnung des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands. D. Hilfsschule, 
VII, 5. — G., Die Hilfsschule in der Blindenanstalt. D. Hilfsschule, 
VII, 6. — GRIESBACH, Über den Stand der Hilfsschulbewegung in Pommern. 
Pomm. Bl. £. d. Schule und ihre Freunde, 1913, 30. — GÜRTLER, Die 
Jahresversammlung der Vereinigung zur Förderung des sächsischen Hilfs- 
schulwesens am 28. Sept. 1913. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., 
XXXIII, 12. — HOFFMANN, Bericht über die Hilfsschule in Meißen auf 
die Zeit Ostern 1903 bis Ostern 1913. Zu beziehen vom Verf. — Kalender 
f. Heilpädag. Schulen u. Anstalten 1914 bis 1915. Marhold, Halle a. S. 
M. 1,20. - Konfessionelle oder simultane Hilfsschulen ? Pädag. Woche 
1914, 23. — ROGGENBURG, Zwei wichtige Beschlüsse. Eos IX, 1. — 
STÄHLER u. MITTELDORF, Die Hilfsschulen Westfalens. 163 S. Dort- 
mund 1914, Lensing. — WENIGER, Bericht über den 9. Verbandstag 
der Hilfsschulen Deutschlands in Bonn am 25., 26. und 27. März 1913. 
Ztschr. f. d. Behandlg. Schwache, XXXII, 5. — WEHR, Zur Hilfs- 
schullehrerbewegung. Pädagog. Woche 1912, Nr. 50. — WEHRHAHN u, 
Henze, Bericht über den IX. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands 
zu Bonn vom 24. bis 26. März 1913. Marhold, Halle a. S. 247 S., 2M. 
— ZICKWOLF, Der Stand des Hilfsschulwesens am Niederrhein. D. Hilfs- 
schule, VI, 8. 

2. Hilfsschulorganisation. DRESSLER, Das Berliner Hilfs- 
schulwesen. D. Hilfsschule, VII, 9. — EGENBERGER, Die Güte der 
Hilfsschulorganisationen. D. Hilfsschule, VI, 4. — Fuchs, Die Berliner 
Pflichtfortbildungsschule für schwachbeanlagte Jünglinge und Mädchen 
(ehemalige Hilfsschulkinder). Hilfsschule, VI, 3. — JacosI, Berlins 
städtische Schule für schwachsinnige Kinder. Eos, X, 4. 


3. Hilfsschule und Ausstellung. Eurıcke, Die Hilfsschule 
auf der Essener Ausstellung „Unsere Jugend“. Zitschr. f. d. Behandlg. 
Schwachs. XXXIV, 7. — GRÜNKORN, Die Braunschweiger Hilfsschule 
auf der Bugra. Ztschr. f.d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 6. — Bong, 
Arbeiten von Hilfsschülern in der Ausstellung zur vergleichenden Jugend- 
kunde der Geschlechter in Breslau 1913. Ztschr. f. d. Behandl. Schwachs. 
XXXII, 11. — ZIEGLER, Über das Ausstellen von Handarbeiten Schwach- 
begabter. Hilfsschule, VI, 1. 

4. Hilfsschulhaus. HELMCKE, Bau und Einrichtungen von Hilfs- 
schulen. D. Hilfsschule, VI, 10. — Meyer, Das neue Hilfsschulgebäude 
an der Finkenau in Hamburg. Zitschr. f. d. Erforschg. u. Rehandlg. d. 
jugendl. Schwachs., VII, 5/6. — WEHRHAHN, Deutsche Hilfsschulen in 
Wort und Bild. Marhold, Halle a. S., XXVIII u. 385 S.. 15,— M. 


5. Personalbogen und Zeugnisse. BERKHAN, Der neue Per- 
sonalbogen. D. Hilfsschule, VI, 7. — KURTZE, Zeugnisse in der Hilfs- 
schule. D. Hilfsschule, VII. 10. — Nört, Nach welchen Gesichtspunkten 
sind Hilfsschüler zu beobachten und im Personalbogen zu charakterisieren ? 


166 KURT LEHM, 


D. Hilfsschule, VI, 8/9. — PULZER, Schulnachrichten und Zeugnisse an 
Hilfsschulen. Heilpäd. Schul- u. Elternztg., V, 6. — WARBURG, Der 
einheitliche Personalbogen für die preußischen Hilfsschulen. D. Hilfs- 
schule, VI, 11. 

6. Erlässe und Verfügungen. Dekret vom 24. August 1909, 
welches die Prüfung zur Erlangung der Befähigung als Lehrer der Ab- 
normen für Frankreich regelt. Eos, VIII, 3. — Koch, Die Beurteilung 
der Prüfungsordnung für Hilfsschullehrer in einem Teile der Berliner 
Tagespresse. D. Hilfsschule, VII, 1. — Neue Bestimmungen über das 
Hilfsschulwesen in Oldenburg. Hilfsschule, VI, 1. — MÜNTER, Die 
Prüfungsordnung und die Ausbildung der Hilfsschullehrer- und lehrerinnen. 
D. Hilfsschule, VII, 6. — Prüfungsordnung für Lehrer und Lehrerinnen 
an Hilfsschulen in Preußen. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIII, 12. 
— Regierungsverfügung. Prüfung der Schulkinder, die in eine Hilfschule 
aufgenommen werden sollen. Aachen, d. 6. Okt. 1913. D. Hilfssehule, 
VII, 1. — Rösszr, Die Hilfsschullehrerprüfung in Preußen. Städt. Re- 
form 1913, 53. 

7. Ausbildungund Weiterbildung der Hilfsschullehrer. 
BÜTTNER, Heilpädagogisches Seminar. Zitschr. f. d. Erforschg. u. Be- 
handlg. d. jugendl. Schwachs., VII, 4. — BÜTTNER, Vom ersten deut- 
schen „heilpädagogischen Seminar“, Eos, IX, 3. — FRENZEL, Die Lehrer 
der Hilfsschulen. Westpreuß. Schulztg. 1913. 10. — Fuchs, Hilfsschul- 
fragen. Marhold-Halle a. S., 2,60 M. — GRrAF-GILG, Bericht über den 
vierten schweizerischen Bildungskurs für Lehrkräfte an Hilfsschulen und 
Anstalten für Schwachbegabte. D. Hilfsschule, VII, 11. — HoRrRIx, H., 
Die Ausbildung des Hilfsschullehrers. Ein Vorschlag zu ihrer Förderung. 
C. Marhold, Halle a. S., brosch. 1,— M. — MELTZER, Das erste spezial- 
pädagogische Seminar. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIII, 4. 
TRÜMPER-BÖDEMANN, Der 1. sächsische Lehrgang zur Aus- und Fort- 
bildung von Hilfsschullehrern. Ztschr. f.d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 8. 
— WEISSER, Einrichtung und Abhaltung von Kursen f. Hilfsschullehrer. 
Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 3. 

8. Hilfsschularzt. BÜTTNER, Schulärztliche Tätigkeit an der 
Hilfsschule in Worms (1911;1912). Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., 
XXXIV, 1. — HENNEBERG, Bericht über die schulärztliche Tätigkeit in 
den Magdeburger Hilfsschulen. Ztschr. f. d. Erforschg u. Behandlg. d. 
jugendl. Schwachs.. VI, 1/3. — KLEEFISCH, Zur Frage der Tätigkeit und 
Ausbildung des Hilfsschularztes. Hilfsschule, VI, 3. 

9. Stundenplan. KAMMEL, Der diagnostische Wert von Er- 
müdungsmessungen. Heilpäd. Schul- u. Elternztg., V, 9. — ZIEGLER, 
Die erste Unterrichtsstunde am Tag. Ein Beitrag zur Stundenplantheorie. 
Heilpäd. Schul- u. Elternztg., V, 4. 

10. Lehrplan. GLÜCK, Zum Hilfsschullehrplan. D. Hilfsschule, 
VI, 5/6. — HorRIx, Wegweiser durch den Lehrstoff der Hilfsschule. 
2,50 M. Hirt, Breslau. — KRENBERGER, Lehr- und Stundenplan einer 
Privaterziehungsanstalt für schwachsinnige Kinder. Eos, VII, 4. — Lehr- 
plan für die sechsstufige hamburgische Hilfsschule. M. —,60. Julius 
Pudbrese, Hamburg 11, Deichstr. 40. — LEHM, Geschichtslehrplan für die 
drei oberen Klassen einer sechsstufigen Hilfsschule. Ztschr. f. d. Behandlg. 


Literaturbericht. 167 


Schwachs., XXXIII, 8. — MURTFELD, Grundlagen und Stoffe für Hilfs- 
schullehrpläne. Prankfurf a. M., Diesterweg 1914., M. 1,40. — RÖSSEL, 
Kulturgeschichte in der Hilfsschule. Ztschr. f. Kdrforschg. XX, 2. — 
RösseEL, Beobachtungen an schwachbefähigten Kindern bei der Behandlung 
der Nibelungensage. Ztschr. f. Kdrforscbg., XVII, 1/2. — SCHMIDT, 
Zur Stoffauswahl in der Hilfsschule. Ztschr. f. Kdrforschg., XIX, 9/10. 

11. Lesebücher. Jugendschriften. Märchen. BARTENICK, 
Vom Hilfsschullesebuche. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIII, 9. 
— GÜNZEL, Kinderfreund. Süddeutsche Ausgabe des Lesebuches von 
Murtfeld und Seebaum. 1. Teil. Mittelstufe. 217 S. Frankfurt a. M. 1914, 
Diesterweg. 1,80 M. — HiLscHER, Das Märchen als Grundlage des Ge- 
samtunterrichtes in der Hilfsschule. Heilpäd. Schul- u. Elternztg. IV, 4. 
— Kampe, Robinson. Marholds Bücherei. M. —,60. Bei Partiebezug 
M. —,50. Marhold, Halle a. Ss. — Kampe, Ein Korb voll Kirschen. 
Kleine Geschichten für kleine Kinder. M. 0,50. Marhold, Halle a. S. 
— Knaur, Ein Lesebuch für Taubstummen- und Hilfsschulen. 1,50 M. 
Dude, Leipzig. — LEHM, Märchen und Hilfsschule. Ztschr. f. d. Be- 
handlg. Schwachs., XXXIV, 12. — Schixer, Miklas, Tremel. Mein 
Lesebuch. K. K. Schulbücherverlag-Wien, 1913. 1,30 k. — SCHULZE 
u. KAMPE, Jugendschriften für Hilfsschüler. Hilfsschule, VI, 1. — 
SCHULZE, Ep., Deutsches Lesebuch für Hilfsschulen, im Auftr. des Ver- 
bandes Thüringer Hilfsschulen herausgeg. Bd I für die Mittelstufe, Bd. II 
für d. Oberst. Schroedel, Halle a. S. — SELLNER, Zur Lesebuchfrage 
der Hilfsschulen. Eos, X, 4. — VERLEGER u. WAGNER, Lesebuch für Fort- 
bildungsschulen, zum Gebrauch in Hilfs- und Vorklassen. 230 S. Frank- 
furt a. M., Diesterweg. 1,80 M. 

12. Turnunterricht. ECHTERNACH, Handbuch des orthopädischen 
Schulturnens. Berlin, Weidmann 1912. 5,— M. — Harris, Unsere 
Turnstunde. Zitschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 5. — HENNIG, 
Orthopädie und Hilfsschule. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 11. 
— HEvER, Vom Schwimmunterricht in der Hilfsschule. D. Hilfsschule 
V, 10. — LÖckEn, Über das Turnen in Hilfsschulen. Pädag. Woche, 
1913, 30. — UngGar, Das Turnen an unserer Unstalt (Asyl f. schwachs. 
Kdr. „Stephanie-Stiftung“ in Biedermannsdorf). Heilpäd. Schul- u. Eltern- 
ztg., V, 5. 

13. Rechenbücher. Rechenunterricht. CrLassE, Einführung 
der Schüler in die Zeitrechnung, Jahr, Monat, Tag, Stunde. D. Hilfs- 


schule, VII, 7. — EBRECHT u. MURTFELD, Rechenbuch für Hilfsschüler. 
1. Heft: 0,65 M. 2. Heft: 0,65 M. 3. Heft: 0,80 M. 4. Heft (Fort- 
bildungsschule): 0,80 M. — GODDARD, Eine Gruppe schwachsinniger 


Kinder mit besonderer Berücksichtigung ihres Zahlensinnes. Eos, VIII, 3. 
— GRÜNEWALD, Das abschließende Rechnen in der Hilfsschule. D. Hilfs- 


schule, VII, 12. — ROCKENSCHNAUB, Aus der Rechenstunde. Heilpäd. 
Schul- u. Elternztg., V, 8. — RössEL, Zur Belebung des Rechenunter- 
richtes. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 1. — ScHMIDT, 


Lebensvoller Rechenunterricht, das A und O des Rechenunterrichtes in 
der Hilfsschule, vor allem auf der Unterstufe. D. Hilfsschule, VI, 7. — 
ZIETING, Der Kaufmannsladen im Rechenunterricht in der Hilfsschule. 
D. Hilfsschule, VII, 4. 


168 Kurt LEHM, 


14. Stimmbildung. Sprachheilunterricht. EHLERT, Sche- 
matisierte Zungenstellung nach Engel. Sprechen u. Singen, Blätter f. 
Stimmbildg. 1. Jahrg. 2. — ELDERS, Über wissenschaftliche und künst- 
lerische Stimmpflege mit Berücksichtigung der Stotterheilung. Lehrerztg. 
f. Ost- u. Westpr. 1914, 18. — FLaTat, Physiotherapie der funktionellen 
Stimmstörung. Stimme, 9. — FkÜscHELSs, Wesen des Stotterns. Wiener 
med. Wochenschrift, 1914, 20. — Frens, J., Die Sprechtätigkeit im 
Dienste der Erziehung und Gesundheitspfiege. Leipzig 1914. Koehler, 
40 S. 0,80 M. — HaussTEisn, Sprachheilkurse oder Sprachheilklassen ? 
D. Hilfsschule, VI, 4. — HatssTeis, Verhütung und Bekämpfung von 
Sprachfehlern. D. Hilfsschule, VII, 7. — Hrxz, Dice menschliche Stimme 
und Sprache und ihre Pilege im gesunden und kranken Zustand. Alten- 


burg S. A., Bonde 1913. — LenM, Stofisammlung zum Sprechunterricht 
auf der Vor- bzw. Unterstufe der Hilfsschule. VII u. 100 S. Langen- 
salza, Beyer und Söhne. 1914. M. 1.75. — LEHM. Gedanken zu dem 


Sprechunterricht auf der Vor- bzw. Unterstufe der Hilfsschule. Ztschr. 
f. Kdrforschg., XIX, 7. — LIEBMANN, Die psychische Behandlung von 
Sprachstörungen. 125 S. Berlin 1914. Coblentz, 2,40 M. — MAJOR, 
Das Poltern der Kinder und seine Behandlung. Ztschr. f. Schulgesund- 
heitspfl., XXVI, 4. — NADOLECZNY, Lautbildung und Sprachstörungen 
mit Berücksichtigung der Stimmhygiene. D. Arzt als Erzieher, VIII, 7/8. 
— NICKEL, Wie erlernen Kehlkopflose eine für Verkehr und Beruf aus- 
reichende Sprache? D. Hilfsschule, VII, 5. — NICKEL, Die Rachen- 
sprache der Kehlkopflosen. Ztschr. f. Kdrforschg. XVII, 3. — NICKEL, 
Zur Hygiene des Artikulationsunterrichtes in der Hilfsschule. D. Hilfs- 
schule, VI, 6. — NICKEL, Der Artikulationsunterricht in der Hilfsschule. 
D. Hilfsschule, VII, 2. — REINICKE, Psychologische Bemerkungen über 
das Stottern. Ztschr. f. Philos. u. Pädag., 1913, 8. — ROTHE, Sonder- 
Elementar-Klassen für sprachkranke Kinder. 48 S. München 1914. 
Seybold. 1 M. — ARONSOHN, Der psychologische Ursprung des Stotterns. 
Marhold, Halle a.S. 1914. 24 S. 1 M. — SCHARFF, Meine Erfahrungen 
mit Professor Engels Stimmbildungsmethode bei der Behandlung von 
Sprachgebrechen. Evang. Schulbl., LVI, 9. — SEYDEL, Ausschöpfung 
der Bewegungen als physiologisches Prinzip des Stimmansatzes. Stimme, 7. 
— ZUMSTEEG, Die funktionellen Stimmstörungen. Vox, 1913, 1. 

15. Deutschunterricht. BALpRIAN, Sprachliche Verneinungs- 
mittel. Eos, IX, 2. — Baupkıan, Läßt sich das Erscheinen bestimmter 
Laute in manchen Wörtern psycho-physiologisch erklären? Eos, IX, 3. 
— BALDRIAN, Methodische Winke für rationellen Betrieb und zweck- 
mäßige Erteilung des Sprachformenanschauungsunterrichtes. Graeser, Wien, 
VIII u. 120 S. M. 2,40 k. 2.80. — Bartsch, Vom Rechtschreibe- 
unterricht in der Hilfsschule. D. Hilfsschule, VI, 12. — EGENBERGER, 
Der schriftliche Ausdruck bei Schwachsinnigen. Zitschr. für die Erforschg. 
u. Behandlg. d. jugendl. Schwachs., VI. 13. — JÄGER, Über behinderte 
Lese- und Schreibfähigkeit bei Kindern. D. Volksschule, 1912, Nr. 14. 
— Koch, Fingerlesen. D. Hilfsschule, VII, 6. — Korar, Zur Ein- 
führung in das Schreiben und Lesen. Eos, X, 3. — KotAp, Wie bringen 
wir unseren Schwachen die Sprachlaute und deren Zeichen nahe? Eos, 
X, 2. — Leam, Wie ich den ersten Schreib-Lese-Unterricht in meiner 


Literaturbericht. 169 


Hilfsklasse erteile. Ztschr. f. d. Erforschg. u. Behandlg. d. jugendl. 
Schwachs., VI, 1/3. — SAnFTENBERG, Wörterbuch mit Übungsstoff für 
den Unterricht in der Rechtschreibung für Hilfsschulen und verwandte 
Anstalten in meth. Reihenfolge Zasaninengestellt. 2 Hefte, je 0,30 M. 
Selbstverl., Magdeburg, Peter Paulstr. — SOENNECKEN, Ist für Schul- 
neulinge im allgemeinen und für Hilfsschüler im besonderen Fraktur oder 
Antiqua zunächst geeignet? Ztschr. f. Kdrforschg., XVIII, 8/10. — 
TUCHOLSKY, Zur Psychologie des Lesens. Ztschr. f. Kdrforschg. XIX, 3. 


16. Schwerhörigenunterricht. BRETTSCHNEIDER, Welche Ge- 
sichtspunkte sind bei der Aufstellung eines Lehrplanes für Schwerhörigen- 
schulen zu beachten? D. Hilfsschule, VII, 1. — MÜLLER, Schwerhörig- 
keit als Ursache scheinbarer Agraphie und Alexie. Ztschr. f. Kdrforschg. 
XX, 2. — STOBSCHINSKI, Zur Organisation des Schwerhörigenunterrichte. 
Bl. f. Taubstummenbildg., 1912, Nr. 23 u. 24. — WEHLE, Gehörprüfung 
bei schulisch unentwickelten Kindern. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., 
XXXII, 10. 


17. Linkskultur. BUCHNER, Gegenbewegung der linken Hand 
und Symmetrie. Ztschr. f. Kdrforschg., XIX, 12. — DIckHorr, Die 
Ergebnisse der Linkskultur in den Berliner Hilfsschulen. D. Hilfsschule, 
VII, 1. — KATSCHER, Die Linkskulturbewegung. Wissensch. Rundschau, 
1912, 22. — STEINER, Über die Physiologie und Pathologie der Links- 
händigkeit; Münch. med. Wochenschr. LX, 2. 


18. Formen, Zeichnen. BÜTTNER, Vom Formen in der Hilfs- 
schule. Eos, VIII, 1. — HövÉNYES, Zur Frage der Tonarbeit. Eos, X, 1. 
— ScHMIpT, Pinselübungen in der Hilfsschule. Ztschr. f. Kdrforschg. 
XIX, 1. — TRÜMPER-BÖDEMANN, Die Karrikatur im Unterrichte Schwach- 
befähigter. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 1. — LEHM, 
Vorschlag zu einem Zeichenlehrplan für die fünf- oder sechsstufige Hilfs- 
schule. Ztschr. f. d. Erforschg. u. Behandlg. d. jugendl. Schwachs., VII, 4. 


19. Handfertigkeit, Werkstättenunterricht. RÖSSEL, 
Aus dem Werkstättenunterricht. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., 
XXXIV, 6. — Die Bedeutung , des Handfertigkeitsunterrichtes. Bl. z 
Förderg. d. Knabenhandarbt. i. Österreich. XXIV, 3. 


20. Anschauungsunterricht, Heimatkunde. GOSSELCK, 
Zum Anschauungsunterricht in der Hilfsschule. Hilfsschule, VI, 1. -— 
KAMPE, Vom Robinson zur Heimatkunde. Hilfsschule, VI, 3. — RÖSSEL, 
Das Hilfsschulkind und die Heimat. Püdag. Reform 1913, 15. — STOCK, 
Bericht über eine Wanderfahrt mit zwölf Schülern der Berliner Hilfsfort- 
bildungsschule nach der Ruppiner Schweiz. D. Hilfsschule. VII, 10. — 
WITTPOTH, Der Spaziergang im Dienste des heimatkundlichen Unterrichts 
auf der Oberstufe der Hilfsschule.. D. Hilfsschule. VII, 11. 


21. Religionsunterricht. LEHM, Zur Frage des Religions- 
unterrichtes auf der Vorstufe der Hilfsschule. Hilfsschule, VI, 2. — 
LEHM, Vorschlag zu einem christozentrischen Religionslehrplan für die 
sechsstufige Hilfsschule. D. Hilfsschule, VI, 10/11. — MEYER, Zweiund- 
dreißig biblische Geschichten erzählt nach den stilistischen Forderungen des 


170 KURT LEHM, 


Märchens für die Unterstufen evangelischer Hilfs-, Volks- und Sonntags- 
schulen. VIII u. 69 S. 0,60 M. Lipsius u. Tischer, Kiel. 


22. Vorstufe. Spiel. Sonstiges. Damm, M. Was können wir 
aus dem Unterricht in Chemnitz-Altendorf lernen? Ztschr. f. d. Be- 
handlg. Schwachs., XXXIII. 9. — ISRAEL, Beschäftigung und Spiel in 
der untersten Vorschulklasse. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIII, 6. 
— Kırusse, Die Bedeutung der Übung für die Entwicklung der In- 
telligenz Schwachsinniger. Eos, IX, 3. — KOETHE, Der Hauswirtschafts- 
unterricht in der Hilfsschule. Hess. Schulztg. 1914, 18. — LEHM, Im 
sonnigen Eckstübchen. D. Hilfsschule, VII, 7. — LEHM, Tierschutz und 
Hilfsschule. Eos, IX, 3. — RösseEr, Ein Soldatenspiel in der Hilfsschule. 
Bitsch. E d. Behandlg. Schwachs., XXXIII, 1. — ScHaipT, Ein Versuch 
in einer Hilfsschuloberklasse. D. Hilfsschule, VII, 5. — SEIFERT, Spiele 
für den Unterricht schwachsinniger Kinder. D. Hilfsschule, VII, 8. — 
WINTER, Tägliche Übungen. D. Hilfsschule, VII, 5. 


III. Geschichte der erziehlichen Behandlung Schwachsinniger. 
Gedenkblätter. 


ELTES. Dr. v. NÁRAY-SZABÓ. Eos, VIII, 1. — GÜRTLER, 1813 
Friedrich Fröbel 1913. Gedenkblatt. Ztschr. f. Behandlg. Schwachs., 
XXXIII, 10. — HERMANN, BRANDI, Gedenkblatt. D. Hilfsschule, VII, 5. 
— Henze, Heinrich Kielhorn. Ein Leben im Dienste der Hilfsschule. 
D. Hilfsschule, VII, 5. — Kırmsse, Direktor Pastor Stieghorst. Ge- 
denkblatt. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 6. — KIRMSSE, 
Ein autobiographischer Brief und eine Schülercharakteristik von Dr. 
Ferdinand Kern. Ztschr. f. Kdrforschg., XIX, 12. — KIRMSSE, Ge- 
heimer Sanitätsrat Dr. Oswald Berkban. Selbstverlag. Idstein im Taunus. 
— Kırmsse, Dr. med. Karl Ferdinand Kern, ein Bahnbrecher der 
deutschen Schwachsinnigenbildung. Eos, X, 4. — KIRMssE, Gedenkblatt 
zum 100. Geburtstage des Dr. med. Ferdinand Kern. Ztschr. f. d. Be- 
handlg. Schwachs., XXXIV, 7. — Kırmsse, Weise’s Betrachtungen über 
geistesschwache Kinder. Heft 97 d. Beiträge z. Kdrforschg. u. Heil- 
erziehg. Juangensalza, Beyer u. Söhne. 1911. 978. 1,50 M. — 
MELTZER, Zum 80. Geburtstag Berkhans. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., 
XXXIV, 3. — ScHMUTZ, Geschichtliches über den Kretinismus in 
Österreich. Heilpäd. Schul- u. Elternztg. V. 3/5. 


IV. Anormale Kinder. Ursachen und Wesen des Schwachsinns. 
Erziehliche Maßnahmen. 


ANTON, Über die Formen der krankhaften moralischen Abartung. 
18 S. Heft 99 der Beiträge z. Kdrforschg. u. Heilerziehg. Langensalza, 
Beyer u. Söhne. 1912. M. 0,30. — Anton, Zu der Frage der Formen 
der krankhaften moralischen Abartung. Zitschr. f. Kdrforschg. XIX. 11. 
— ? Aus dem Tagebuche einer Mutter. Heilpäd. Schul- u. Elternztg., 
V, 3. — BarrtscH, Von den Schwachen der Klasse. Dtsch. Schulpraxis 


Literaturbericht. 171 


1912, 43. — BAYERTHAL, Über die prophylaktischen Aufgaben der Schule 
auf dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. Psych.-neurolog. 
Wochenschr. XV, 17. — BERGMANN, Die krankhaften seelischen Minder- 
wertigkeiten (Psychopathien), ihre Beurteilung und Behandlung in der 
Schule. Ztschr. f. christl. Erziehgswissensch. 1913, 10/11. — BLEULER, 
Behandlung der moralisch Schwachsinnigen. Schweiz. Korresp. -Bl. 1914, 7. 
— BräÄmıG, Vorsicht bei der Annahme von Schwachsinn bei Kindern. 
D. Hilfsschule, VII, 10. — BRUCKNER, Erziehliche Behandlung der 
„Wilden“ in den Schulen. Eos, IX, 1. — Bruns und FIMMEN, Hilfs- 
schulkunde. Ein Haudbuch für Lehrer und Behörden. Schulze, Olden- 
burg. 1912. 235 S. 5,— M. — BÜTTNER, Wodurch können Hilfsschul- 
erfolge beeinträchtigt werden? Heilpäd. Schul- u. Elternztg. IV, 1. 

BÜTTNER, Über moralisch schwachsinnige Kinder. Eos, VII, 3. — 
BÜTTNER, Schwachbegabte an höheren Schulen. Eos, VIII, 2, — BÜTTNER, 
Wortblinde Kinder. Heilpäd. Schul- u. Elternztg., IV, 12. — BÜTTNER, 
Über das „Neben die Schule gehen“, das „Schulschwänzen® mit be- 
sonderer Berücksichtigung des Wandertriebes. "Eos, IX, 4. — BÜTTNER, 
Über wortblinde Kinder. Ztschr. f. d. Erforschg. u. Behandlg. d. jugendl. 
Schwachs., VIL, 4. — BÜTTNER, Über hörstumme Kinder. Ztschr. f. d. 
Behandlg. Schwachs., XXXIV, 5. — Cron, Sorgenkinder und ihre Be- 
handlung. Leipzig 1913. Turm-Verlag. 56 S. 0,30 M. — CZERNY, 
Die Entstehung und Bedeutung der Angst im Leben des Kindes.. Ztschr. 
f. Kinderforschung.. XX, 1. — Die geistig Zurückgebliebenen und Schwach- 
sinnigen im australischen Staate Viktoria. Eos, VIII, 3. — EGENBERGER, 
Versuche, das Kind an seiner Erziehung mitarbeiten zu lassen. Eos, IX, 2. 
— EGENBERGER, Psychische Fehlleistungen. Ztschr. f. Kdrforschg., VXIII, 
` 8/4. 5. 6. 7. 8/10. — Fuchs, A., Schwachsinnige Kinder, ihre sittlich- 
religiöse, intellektuelle und wirtschaftliche Rettung. Versuch einer Hilfs- 
schulpädagogik. 2. Aufl., Bertelsmann, Gütersloh. M. 9,—, geb. M. 10,—. 
— G. Erkennung des schwachbegabten Kindes im vorschulpflichtigen Alter. 
Bl. f. Volksschulprax. 1913, 5. — GEELHAAR, Das Fortlaufen und Schul- 
schwänzen schwachsinniger Kinder. Heilpäd. Schul- u. Elternztg., IV, 10. 
— GEELHAAR, Die Erziehungsmethode der Montessori für das vorschul- 
pflichtige Kindesalter. D. Hilfsschule, VII, 7. — GEHRY, Wesen und 
Behandlung der moralisch Schwachsinnigen. Schweiz. Korresp.-Bl. 1913, 
44. — GODDARD, Höhe und Gewicht schwachsinniger Kinder in ameri- 
kanischen Instituten. Eos, VIII, 4. — GODDARD, Das Institut für geistes- 
schwache Kinder in Vineland, eine Stätte wissenschaftlicher Forschung. 
Eos, VIII, 3. — GODDARD, Eine Gruppe schwachsinniger Kinder mit 
besonderer Berücksichtigung ihres Zahlensinnes. Eos, VIII, 3. — Häs- 
KOVEC, Die Prophylaxe des Schwachsinnes. Eos, VIII, 2. — HELLER, 
Grundriß der Heilpädagogik. Zweite Auflage. Leipzig, Engelmann. 1912. 
— HELLER, Die erzieherischen Aufgaben der Heilpädagogen. Ztschr. f. 
d. Erforschg. u. Behandlg. d. jugendl. Schwachs., VI, 5/6. — HELLWIG, 
Ein Beitrag zu dem Problem der Einwirkung von Schundliteratur und 
Schundfilms auf geistig Minderwertige. D. Hilfsschule, VIL, 11/12. — 

HILLENBERG, Über die Ursachen des Schwachsinns unserer Hilfsschüler. 
Ztschr. f. Schulgesundheitspfl. 1913, 7. — HÜBNER, Pathologie und 
Therapie der Degeneration. Dtsch. Med. Wochenschr., XXXIX, 20. — 


172 KURT LEHM, 


HOVORKA, Besteht ein Zusammenhang zwischen Fraisen und Schwachsinn ? 
Heilpäd. Schul- u. Elternztg., V, 1/2. — HovorkA, Erbliche Belastung 
und andere, den Kinderschwachsinn veranlassende Momente. Heilpäd. 
Schul- u. Elternztg., V, 10. — HevorkA, Mutterschreck und Kinder- 
schreck. Heilpäd. Schul- u. Elternztg., V, 6. — ISRAEL, Die Macht der Ge- 
wohnheit in der Erziehung Schwachsinniger. Ztschr. f. Kdrforschg., XX, 1. 
— Jansen, Hilfsschule und Volksschule. D. Hilfsschule, VII, 4. — 
KAMPE, Degeneration und Alkoholismus. D. Hilfsschule, VII, 2/3. — 
KIELHORN, Von den Verfehlungen geistig zurückgebliebener Kinder. Dtsch. 
Elternztschr., IV, 5. — Kırmsse, Talentierte Schwachsinnige mit be- 
sonderer Berücksichtigung des Berners Gottfried Mind (Katzenraflael). 
Heilpäd. Schul- u. Elternztg., IV, 1. — KLEEFISCH, Mittel und Wege 
der Zustandserforschung schwachsinniger Kinder. Ztschr. f. d. Behandlg. 
Schwachs., XXXII, 15 — KLUGE, Schwachsinn. Ztschr. f. Krüppel- 
fürs., VI, 1. — KRENBERGER, Itards Berichte über den Wilden von 
Aveyron. Nach Bournevilles Ausgabe. Wien 1913. Graeser & Co. 
2. Ausg. M. 2,— =K. 2,40. — Lazar, Uber psychisch abnorme Kinder, 
Heilpäd. Schul- u. Elternztg., IV, 6. — LEHM, Unterrichtsgeschichte eines 
imbezillen Mädchens (Franz). Ztschr. f. d. Erforschg. u. Behandlg. d. 
jugendl. Schwachs., VII, 5/6. — LEHM, Über Lernweisen und Lernzeiten 
bei schwachsinnigen und schwerschwachsinnigen Kindern. Ztschr. f. 
Kdrforschg., XVII, 1. 2. 3/4. — LOMER, Über graphologische Kenn- 
zeichen des Schwachsinns. Arch. f. Psychiatrie. Bd. 53, 1. — MAJOR, 
Psychastenische Kinder in der Schule. Pädag. Forschg., 4. — May, Die 
Methode Montessori. Ztschr. f. Jgderziehg. u. Jgdfürs., III, 15. — 
MELTZER, Leitfaden der Schwachsinnigen- und Blödenpflege.. 104 S. 
Halle a. S. 1914. Marhold. M. 1,40. — MıktAs, Welche Schulkinder 
sind den von der Gemeinde Wien freiwillig errichteten Hilfsschulen für 
schwachbefähigte Kinder zuzuweisen? Heilpäd. Schul- u. Elternztg. IV, 
7/8. — MOonTEssorı, Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter. 
Stuttgart, Hoffmann. 7,50 M. — MÖNKEMÖLLER, Die Psychopathologie 
der Pubertätszeit. Ztschr. f. Kdrforschg., XVII, 1/2. — MÜLLER, 
‚Jugendliche Wanderbettler, Landstreicher und Großstadtbummler. Soziale 
Kultur 1914, 2/3. — PAPPENHEIM, Die Neurosen und Psychosen des 
Pubertätsalters. 129 S. Berlin 1914. Springer. 3 M. — SCHENK, An 
der Grenze der Bildungsfähigkeit. Eos, X, 4. — SCHLESINGER, Schwach- 
begabte Kinder. Stuttgart. Enke. 1913. 131 S. 5 M. — SCHLESINGER, 
Der Intelligenzdefekt der schwachbegabten Schulkinder. Zitschr. f. d. 
ges. Neur. u. Psych. XV. 8. 564 bis 577. — ScHaipTt, Die Ansichten 
des Abbé Bonnot de Condillac über geistig vernachlässigte Kinder und 
Erwachsene. Eos, VIII, 4. — SCHREFF und STEINHAUS, Das schwach- 
sinnige Kind in der normalen Volksschule. Stahl-Arnsberg. i. W. 1 M. 
— SEGUIN, Die Idiotie und ihre Behandlung nach physiologischer Methode. 
Nach der englischen Ausgabe des Lehrerkollegiums der Columbia-Universität 
aus dem Jahre 1907 und nach einer ersten Übersetzung von Heinrich 
Neumann (Wien) bearbeitet und mit Bewilligung der Witwe Seguins heraus- 
gegeben von Dr. S. KRENBERGER, Wien. Verlag Karl Graeser, Wien. 
5,— M.=6,— K. — STADELMANN, Wie sollen nervenkranke Kinder 
unterrichtet werden? Dtsch. Med. Wochenschr. 1913, 32. — STIER, Die 


Literaturbericht. 173 


funktionellen Differenzen der Hirnhälften und ihre Beziehungen zur geistigen 
Weiterentwicklung der Menschheit. Dtsch. Med. Wochenschr. XXXVII, 
44. — THır, Die religiöse Veranlagung schwachsinniger Schüler. Heilpäd. 
Schul- u. Elternztg., V, 7. — TkrÜMPER-BÖDEMANN, Aussage und In- 
telligenz. Ein Klassenversuch mit Anormalen. Ztschr. f. d. Behandlg 
Schwachs., XXXIV, 8 u. 9. — TRrÜPER, F., Erziehungsfragen und Er- 
ziehungsheime dee Gegenwart, kritisch beleuchtet. Elfte gänzlich umge- 
arbeitete Auflage der Schrift: Das Erziehungsheim und Jugendsanatorium 
auf der Sophienhöhe bei Jena und seine Beziehungen zu den Unterrichts- 
und Erziehungsfragen der Gegenwart. Langensalza, H. Beyer u. Söhne. 
— VILLIGER, Die Erkennung des Schwachsinns beim Kinde. Engelmann, 


Leipzig. 1913. M. 2,40. — Voer u. WEYGANDT, Handbuch der Er- 
forschung und Fürsorge des jugendlichen Schwachsinns unter Berück- 
sichtigung der psychischen Sonderzustände im Jugendalter. Fischer, 
Jena 1912. — WEICKSEL, Angeborener Schwachsinn bei Zwillingen. 
Ztschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., XV. S. 435 bis 442. — WEISSER, 


Das anormale Kind und seine Ausdrucksformen auf der Leipziger Welt- 
ausstellung für Buchgewerbe und Graphik. Ztschr. f. d. Behandlg. 
Schwachs., XXXIV, 7. — WEYGANDT, Idiotie und Imbezillität. Die 
Gruppe der Defektzustände des Kindesalters. Handbuch der Psychiatrie 
v. Aschaffenburg. M. 8,50, geb. M. 10. — WEYGANDT, Schwachsinn und 
Hirnkrankheiten mit Zwergwuchs. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie, 
XXXV, Heft1, 1914. — WILKER, Maria Montessori und ihre Erziehungs- 
methode. D. Dtsch. Schule. XVI, 11. — WUrLFFEN, Das Kind. Sein 
Wesen und seine Entartung. Langenscheidt, Berlin. 1913. XXIV u. 
542 S. 15,— M. geb. — ZIEGLER, Behandlung schwachbegabter Kinder 
im Elternhause. Heilpäd. Schul- u. Elternztg., III, 7/8. — ZIEGLER, 
Umgang mit normalen Kindern, ein nicht völlig außer acht zu lassender 
Faktor bei der Erziehung Schwachbefähigter. Heilpäd. Schul- u. Elternztg.) 
IV, 11. — ZIEHEN, Behandlung psychopathischer Konstitutionen. Wiener 
med. Wochenschr. 1914, Nr. 10. 


V. Vererbungsforschung. Eugenik. Alkoholismus. 


BAYER, Über Vererbung und Rassenhygiene. Jena, Fischer, 1912. 
IV u. 50 S 2 M — Bkrarz, Was kann Erziehung gegen ererbte An- 
lagen erreichen? Ztschr. f. Schulgesundheitspfl., XXV, 7. — DANNMEIER- 
WILKER, Die Aufgaben der Schule im Kampf gegen den Alkoholismus. 
Pädag. Magazin Heft 211. Langensalza, Beyer u. Söhne, 1913. 40 8. 
0,50 M. — Dawwın-SırrısG, Das Wesen der „Eugenic Education“. Eos, 
IX, 2. — GODDARD-WILKER, Die Familie Kallikak. Ztschr. f. Kdrforschg., 
XIX, 1, 2, 3, 4, 5/6. — Gopvarn, Die Familie Kallikak. Eine Studie 
über die Vererbung des Schwachsinns. Deutsche Übersetzung von Dr. 
K. Wilker, Jena. 116. Heft der Beiträge zur Kinderforschung. Langen- 


salza 1914. Beyer & Söhne. Mit 14 Tafeln. 1,65 M. — GODDARD, 
Sterilisation und Segregation. Eos, X, 1. — GONSER, Alkoholfreie Jugend- 
erziehung. Berlin 1913. M. 3,20 geb. — HorFFMANN, Sterilisierung 


der Minderwertigen im Staate Kalifornien. Arch. f. Krim.-Anthrop. u. 


174 KURT LEHM, 


Kriminalist., 1913, 3/4. — KANNEGIESSER, Hat die Blutsverwandtschaft 
der Eheleute einen schädigenden Einfluß auf die Gesundheit der Nach- 
kommen? Münch. med. Wochenschr., LX, 14. — MAIER, Die Verhütung 
geistiger Störungen. Schweiz. Bl. f. Schulgesundheitspfi., XI, 2. — 
MELTZER, Der Mißbrauch geistiger Getränke im Lichte der Wissenschaft. 
D. Hilfsschule, VII, 3. — MEYER, Der Kongreß für Rassenhygiene. 
D. Säemann 1912, 5. — PETERS, Wege und Ziele der psychologischen 
Vererbungsforschung. Ztschr. f. pädag. Psychol. u. exp. Pädag. 1913, 12. 
— Rupprecht, Die Alkoholkriminalität der Jugend. Ztschr. f. Kdr- 
forschg., XIX, 9/10. — SCHAUER, Beobachtungen über die typischen Ein- 
wirkungen des Alkoholismus auf unsere Schüler. 27 S. Langensalza 1912. 
«Beyer u. Söhne. 0,45 M. — SCHWEIGHOFER, Alkohol und Nachkommen- 
schaft. Wien I, Hölder, 1912. 25 S. 23 Tafeln. 1 k 60h. — 
STRAKERJAHN, Bestrebungen auf dem Gebiete der Eugenik. Ztschr. 
f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 1. — Weysanvt, Der Alkoholgenuß 
bei Kindern und der heranwachsenden Jugend und seine Gefahren für die 
Gesundheit vom ärztlichen Standpunkt. Vorträge des 1. deutschen Kon- 
gresses für alkoholfreie Jugenderziehung. Berlin, Mäßigkeitsverlag. — 
WILKER, Alkoholismus, Schwachsinn und Vererbung in ihrer Bedeutung 
für die Schule. Langensalza 1912. Beyer u. Mann. M. 1,20. — WILKER, 
Über Alkoholismus, Schwachsinn, Vererbung. Eos, IX, 1. 


VI. Jugendpflege und Jugendfürsorge. 


ÄBRANOWSKY, Schwachsinnigenfürsorge in Amerika. Ztschr. f. d. 
Erforschg. u. Behandlg. d. jugendl. Schwachs., VII, 4. — BIEHLOHLKWEK, 
Die niederösterreichischen Landesirrenanstalten und die Fürsorge des 
Landes Niederösterreich für schwachsinnige Kinder. Wien. — BOSSHARDT, 
Die Fürsorge für die schulentlassenen Schwachbegabten in Zürich. Zitschr. 
f. Jugenderziehg. u. Jugendfürsorge, III, 4. — BÜTTNER, Über Kinder 
und Jugendselbstmorde, ihre Ursachen und Verhütungen. Heilpäd. Schul- 
u. Elternztg., IV, 10. — BÜTTNER, Bestrebungen zum Schutze geistig 
Minderwerwertiger in der deutschen Rechtspflege und ihr Erfolg. Eos, 
IX, 2. — BÜTTNER, Fürsorgebestrebungen für entlassene Hilfsschüler. 
Eos, IX, 1. — Die Anstaltsfürsorge für körperlich, geistig, sittlich und 
wirtschaftlich Schwache im Deutschen Reiche in Wort und Bild. STRITTER 
MELTZER. Deutsche Anstalten für Schwachsinnige, Epileptische und psy- 
chopath. Jugendliche. Mit 385 Abb., Plänen usw. Marhold, Halle a. 8. 
in Halbld. 14 M. — Die Reichsanstalt für Mutter- und Säuglingsfürsorge 
in Wien. Heilpäd. Schul- u. Elternztg., V, 5. — Durxsiıng, Handbuch 
für Jugendpflege. Beyer u. Söhne, Langensalza 1912. — EGENBERGER, 
Die Lehr- und Arbeitskolonie für Schwachbegabte als Mittel gegen die 
Durchdringung unseres Volkes mit unheilbar Minderwertigen. Friedreich's 
Blätter f. gerichtl. Medizin 1912, 4. — Erziehungs- und Fürsorgeverein 
für geistig zurückgebliebene (schwachsinnige) Kinder in Berlin. (Zehn- 
jähriger Bestand). Heilpäd. Schul- u. Elternztg., IV, 3. — Erziehungs- 
heim für schwachbefähigte Mädchen in Breslau, Pogelwitzstraße. D. Hilfs- 
schule, VII, 8. — ? Erfahrungen und Gedanken einer Mutter über aller- 


Literaturbericht. 175 


hand Fragen aus dem Anstaltserziehungswesen für Schwachsinnige. Heil- 
päd. Schul- u. Elternztg., IV, 3 bis 6. — Finke, Wie bleibe ich mit 
meinen Kindern auch nach der Hilfsschulzeit in Verbindung? Wissensch. 
u. Schule 1914, 6. — Fuchs, Wie gestaltet eich die Zukunft der nicht 
oder schwer erwerbsfähig werdenden geistig Schwachen, und wie wäre da 
zu helfen? Öhmigke, Berlin, 1914. 0,40 M. — FRANKE, Sind auf 
Grund der bisherigen Erfahrungen in der Fürsorgeerziehung besondere 
Anstalten für Psychopathen notwendig? D. Rettgsbote, XXXIII, 4. 5. 
— GNERLICH, Ferienkolonien und Erholungsheime für schwachsinnige 
Kinder. D. Hilfsschule, VI, 7. — GoDDARD, Die Konferenz der National- 
vereinigung für das Studium der Schwachsinnigen und Epileptiker vom 
3. bis 5. Juni 1912 in Vineland, N. J. Eos, IX, 1. — GoHDpE, Ziele 
und Wege zeitgemäßer Jugendpflege unter besonderer Berücksichtigung 
der männlichen Jugend. Sonde, 5. — GÖDECKE, Wie sorgen wir für 
unsere schwachbefähigten Kinder? Die Volksschule 1912, Nr. 17. — 
AO0LDBAUM, Der II. Österreichische Kinderschutzkongreß. Ztschr. f. 
Karforschg., XIX, 2. — GÜnzeL, Kinderelend. Bayer. Lehrerztg. 1913, 13. 
— GRIESINGER, Fürsorge für die Schwachbefähigten nach dem Schulaus- 
tritt mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Frankfurt a.M. 
D. Hilfsschule, V, 8. — HaSENFRATZ u. GRAF, Bericht über die IX. 
Schweiz. Konferenz für Erziehung und Pflege Geistesschwacher in Herisau 
(27. und 28. Juni 1913). Zu beziehen durch Hasenfratz, Weinfelden. 196 8. 
2,— M. HEDMANn, Die sechste nordische Abnormenkonferenz in Helsingfors 
vom 24. bis 27. Juli 1912. Eos, IX, 2. HERZFELDER, Deutsche Für- 
sorgeerziehungsanstalten. Ztschr. f. Kdrschutz u. Jgdfürsorge, 1913, 3. 
— HınkıcHs, Die Unterbringung der Psychopathen. Ztschr. f. d. Er- 
forschg. u. Behandlg. d. jugendl. Schwachs., VI, 5/6. — HOFFMANN, 
Gedanken und Erfahrungen zu dem Verbandsthema: Soziale Fürsorge für 
die aus der Hilfsschule Entlassenen. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs,., 


XXXIII, 3. — HOFFMANN, Unsere Schulentlassenen. Meißen 1914. 
Thieme. — Hormquist, Die Pflege den Geistesschwachen in Schweden 
und die Anstalt Johannisberg imsbesondere. Eos, IX, 2. — ISSERLIN, 


Psychiatrische Jugendfürsorge. Ztschr f. d. ges. Neur. u. Psych., XIV, 
S. 445 bis 482. — Jahresbericht der Arbeitslehr-Kolonie und Beobachtungs- 
Anstast „Steinmühle“, Obererlenbach für das Rechnungsjahr 1911/12. 
-— JosaPHAT, Die achte Konferenz des Verbandes der katholischen An- 
stalten Deutschlands für Geistesschwache. Ztschr. f. d. Behandig. Schwachs., 
XXXIII, 12. — KELLER, Heim-, Heil- und Erholungsanstalten für Kinder 
in Deutschland. Marhold, Halle a. S., XII u. 4598. 18,— M. — 
KESSELDORFER, Schule und Jugendgerichtspflege. Heilpäd. Schul- u. 
Elternztg., IV, 9. — Kırmsse, Die Entwicklung der Schwachsinnigen- 
fürsorge Deutschlands mit Berücksichtiguug der übrigen Länder. Ztschr. 
f. d. Behandlg. Schwachs.,, XXXII, 6 bis 8. — KLEEFISCH, Der Ver- 
band der katholischen Anstalten Deutschlands für Geistesschwache. Eos, 
IX, 3. — KLUMkER, Jahrbuch der Fürsorge. Sechster Jahrgang. Berlin 
1912, Syringer. 367 S. 12.— M. — LAZAR, Uber die endogenen 
und exogenen Wurzeln der Dissozialität Jugendlicher. Heilpäd. Schul- 
u. Elternztg., IV, 11/12, V, 1/2, 5, 7. — Lazar, Arztliche Probleme 
in der Fürsorgeerziehung. Zitschr. f. Kdrschutz u. Jugendfürs., IV, 5. 


176 KURT LEHM, 


Heilpäd. Schul- u. Elternztg., III, 4, 7,8. — Major, Bedürfen die Psy- 
chopathen besonderer Fürsorge und welcher? Der Arzt als Erzieher, IX, 1. 
— MAYER, Schwachsinnigenhilfsverein in Oberfranken. D. Hilfsschule, 
VI, 5. — MEHNERT, Über die Erwerbsfähigkeit und Bewährung ehe- 
maliger Dresdner Hilfsschüler. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., 
XXXIV, 11. — MEYER, Schwachsinn und Kriminalität. Säemann 1914, 5. 
— MIKLAS und KRONBERGER, Fortschritte in der Fürsorge für Schwach- 
sinnige in Österreich seit zehn Jahren. Eos, X, 1. — MÖNKEMÖLLER, 
Einfluß der Verwahrlosung auf die Seele des Kindes. Arch. f. Pädag. 
(Pädg. Forschg.), 3. — MÖNKEMÖLLER, Die Strafe in der Eürsorgeerziehung. 
Ztschr. f. Kdrforschg., XIX., 1, 2, 3, 4. — MÜLLER, Wirkung der Für- 
sorge auf die schülpflicitigen Kinder. Säemann, 6. — MÜLLER, Wie- 
viele Schwachbefähigte werden alljährlich aus den Schulen entlassen und 
wieviele sind der Fürsorge bedürftig? D. Hilfsschule, VI, 7. — 
NEGENBORN, Schularzt und Aushebung. D. Tag 1912, 154. — NERLICH, 
Mord durch einen Imbezillen. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 5. 
— NITZSCHE, Unsere Entlassenen. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., 
XXXIUI, 3. — PıpEr, Ein vierzigjähriges Jubiläum. Ztschr. f. d. Be- 
handlg. Schwachs., XXXIV, 9 u. 10. — PrLoTHow, Das Heilerziehungs- 
heim für psychopathische Knaben in Templin. Ztschr. f. Krüppelfür- 
sorge, VII, 2. — PuLzEr, Die Tagesheimstätte der Edmund Graf Attems- 
Schule in Graz. Heilpäd. Schul- u. Elternztg., V, 4. — RABICH, Jugend- 
pflege und Gericht. Dtsch. BI. f. erz. Unt., 38. — REın, Bericht über 
den allgemeinen Fürsorge-Erziehungstag in Dresden. Ztschr. f. d. Er- 
forschg. u. Behandlg. d. jugendl. Schwachs., VI, 1/j3. — RussEtL-STRUVE, 
Junge Galgenvögel. Ztschr. f. Kdrforschg., XIX, 1, 2, 3, 4. — SAFFIOTTI, 
Die Organisation der Abnormenfürsorge in Italien. Eos, IX, 2. — 
SıFFIOTTI, Die Erziehung der Abnormen in Italien. Eos, IX, 1. — 
SCHENK, Was soll mit solchen unglücklichen Kindern geschehen, die zu 
schwach sind, um an dem Unterrichte der Hilfsschule mit Erfolg teil- 
nehmen zu können? Hilfsschule, VI, 2. — SCHENK, Die Fürsorge für 
die Geistesschwachen in der Vereinigten Staaten von Amerika. Eos, VIII, 1. 
— ScHNITZER, Psychiatrie und Fürsorgeerziehung. Ztschr. f. d. Erforschg. 
u. Behandlg. d. jugendl. Schwachs., VII, 1/3. — ScHonz, Die Bedeutung 
der evangelischen Jugendpflege für unser Volksleben. Berlin 1913. M. —,10. 
— ScHorTT, Psychiatrie und Fürsorgeerziehung in Württemberg. Allg. 
Ztschr. f. Psychiatrie., LXIX, 4. — Schriftleitung. Zehnjähriger Bestand 
des Vereins „Fürsorge x Schwachsinnige und Epileptische“. Heilpäd. 
Schul- u. Elternztg., IV, — SCHWENK, Bericht über die XIV. Kon- 
ferenz des Vereins für ee Unterricht und Pflege Geistesschwacher 
vom 8. bis 11. September 1912 in Bielefeld und Bethel. Marhold, Halle a. S. 
— SCHWENK, Arbeitskolonien für Schwachsinnige Ztschr. f. d. Be- 
handlg. Schwachs., XXXIII, 3. — SENGSTOCK, Über die Jiehrwerkstätten 
und die hauswirtschaftliche Fortbildungsschule des Königberger Vereins 
zur Fürsorge für Schwachsinnige. D. Hilfsschule, VII, 8. — SIEFERT, 
Psychiatrische Untersuchungen über Fürsorgezöglinge. Marhold, Halle a. S. 
1912. 262 S. — STIER, Psychiatrie und Fürsorgeerziehung mit besonderer 
Berücksichtigung der Frage der psychopathischen Kinder. Monatsschr. f. 
Psych. u. Neur., XXXIV, 5. — STRITTER, Seelsorge unter geistig Ab- 


Literaturbericht. 177 


2 £ 
normen. Alsterdorfer Anstalten, Selbstverlag. M. —,20. — TAUBNER, 
Schwierigkeiten bei Unterbringung schwachsinniger Kinder in Anstalten. 
D. Hilfsschule, VI, 10. — VÖLKER, Gefahren der gegenwärtigen Er- 
ziehung und Jugendpflege. Sonde, 5. — WACHSNER, Orthopädische Jugend- 
fürsorge. D. Kinderarzt 1914, 3. — Weiss, Hilfschulkinder in der Wald- 
schule. D. Hilfsschule, VII, 4. — WEYGANDT, Entwicklung und Erziehung 
der Jugend während der Pubertätszeit. Säemann-Schriften, Heft 7 
(B. G. Teubner, Leipzig, Berlin). — WILKER, Hat die Fürsorgeerziehung 
in Preußen Erfolge oder nicht? Evang. Schulbl., LVI, 5. — WITZMANN, 
Dreißig Jahre Fürsorge für schwachsinnige Kinder. Heilpäd. Schul- u 
Elternztg., IV, 12. — WITZMAnN, Fünfte österreichische Konferenz der 
Schwachsinnigenfürsorge in Brünn am 1. und 2. April 1912. Eos, VIII, 3. 
— ZIEMKE, Die Beurtöilung jugendlicher Schwachsinniger vor Gericht. 24 8. 
Heft 92 der Beiträge z. Kdrforschg. u. Heilerziehg. Langensalza, Beyer 
u. Söhne, 1911. M. 0,35. — ZIEGLER, Schwachsinnigenfürsorge und 
Landwirschaft. D. Hilfsschule, VII, 9. — ZIEGLER, Uber die Fest- 
stellung der Bildungsresultate bei schulentlassenen Schwachbegabten. 
Heilpäd. Schul- u. Elternztg., IV, 2. — ZIEHEN, Ärztliche Wünsche zur 
Fürsorgeerziehung bezüglich der sogenannten psychopathischen Konsti- 
tutionen. Ztschr. f. Kdrforscbg., XVIII, 11, 12. — ZIETING, Gedanken 
zu dem Verbandsthema „Soziale Fürsorge für die aus der Hilfsschule 
Entlassenen“. D. Hilfsschule, V, 4. — ZIETING, Statistische Erhebungen 
über die Berufswahl und die Erwerbstätigkeit ehemaliger Hilfsschulzög- 
linge. Hilfsschule, VI, 2 


VII. Kinderforschung. Jugendkunde. Kinderpsychologie. 
Hygiene. 


BÜTTNER, Über die behinderte Nasenatmung mit ihren körperlichen 
und geistigen Schädigungen bei Kindern. Heilpäd. Schul- u. Elternztg., 
IV, 7/8. — FRANKE, Der Schlaf bei Erwachsenen und Kindern. Heilpäd. 
Schul- u. Elternztg., IV, 3. — Katz, Studium zur Kinderpsychologie. — 
SCHÄFER, Beiträge zur Kinderforschung, insbes. die Erforschg. der kindl. 
Sprache. Quelle u. Meyer, Lpzg. 1913. 119 S. 4,— M. — KRUSE- 
SELTER, Gesundheitspflege des Kindes. Enke, Stuttgart 1914. 800 S. 
— LoDe, Unterrichtsfächer im Urteil der Schulkinder. Ztschr. f. pädg. 
Psychol., 5 u. 6. — NEUGEBAUER, Sprachliche Eigenbildungen meines Sohnes. 
Ztschr. f. Kdrforschg., XIX, 3, 4, 5/6. — PRENGEL, Beitrag zur geistigen 
Entwicklung eines dreijährigen Knaben. Ztschr. f. Kdrforschg., XVII, 
5, 6. — SCHARRELMANN, Einige Gesichtspunkte zum Verständnis des 
zeichnenden Kindes. Roland, 4. — SELTER, Handbuch der deutschen 
Schulhygiene. 759 S. Steinkopff, Leipz., 1914. Geb. 30 M. — THIELE, 
Versuch einer Biologie der Schulanfänger. Zitschr. f. Schulgesundheitspfl., 6. 
— VINCENZ, Zur Analyse des kindlichen Geisteslebens beim Schuleintritte. 
66 S. Heft 90 der Beiträge z. Kdrforschg. u. Heilerziehg. Langensalza, 
Beyer u. Söhne, 1912. M. 2,40. — WEIGL, Untersuchungen über den 
Vorstellungsinhalt der in die Schule eintretenden Kinder. Pharus 1912, 8. 
— WILKER, Eine kinderpsychologische Untersuchung für die Eltern. 
Dtsch. Elternztschr., IV, 1. — WILLICH, Über das Interesse eines schwach- 


Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VIII. 12 


178 KURT LEHM, 


begabten Jungen. Ztschr. f. Kdrforschg., XIX, 3 bis 12. XX, 1 bis 3. 
— QUECK-WILKER, Ein erstes Lebensjahr. Pädag. Magazin. 483. Heft. 
Langensalza, Beyer u. Söhne. 1912. 0,80 M. 


VIII. Psychologie. 


Asp, Pädagogische Psychologie. München, Hugendubel, 1913. — Ach, 
Eine Serienmethode für Reaktionsversuche und Bemerkungen zur Unter- 
suchung des Willens. Quelle u. Meyer, Lpzg. 1,65 M. — ADLER, A., 
Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individual- 
Psychologie und Psycho-Therapie. Wiesbaden 1912, Bergmann. M. 6,50. 
— AnscHürTz, Über die Erforschung der Denkvorgänge. Osterwieck, 
Zickfeldt, 1913. 26 S. M. 0,80. — AnscHütrz, Die Intelligenz. 
VIII u. 428 8. M. 5,—. Osterwieck, Zickfeldt, 1913. — BEETZ, Ein- 
führung in die moderne Psychologie. Osterwieck, Zickfeldt, 1913. 1. Bd. 
5 M., 2 Bd. 6 M. — BoopsrTEIN, Problematische Naturen überhaupt und 
im weiteren solche schon im jugendlichem Alter. Ztschr. f. Kdrforschg., 
XIX, 3. — Braun, Psychoanalyse und Kind. D. Pädag. Praxis, II, 5. 
— BRAUNSHAUSEN, Der Vorstellungstypus. Ztschr. f. Kdrforschg., XIX, 
5/6. — BRAUNSHAUSEN u. ENnSCH, Psychologische Profile. Ztschr. f. 
Kdrforschg., XVIII, 3/4, 8/10. — BRINKMANN, Das Experiment in der 
Pädagogik. 64 S. Berlin 1914. Union. Dtsch. Verlagsgesellsch. 1,20 M. 
— BuppeE, Die experimentelle Gedächtnisforschung. Deutsche Schule, 9 
— Damm, et in die Korrellationsstat. Arch. f. Pädag. (Pädg. 
Forschg. ), 3. — DEUCHLER, Über absolute und relative Streuungswerte 
in der psychologischen Forschung. Ztschr. f. pädg. Psychol., 6. — 
Drrorr, Aufmerksamkeit und Apperzeption. Blätter f. d. Fortbildg. d. 
Lehrers, 13. — ELSENHANS, TH., Lehrbuch der Psychologie. Mit 19 Ab- 
bildungen. Mohr u. Laupp, Tübingen. 15,— M., geb. 17,— M. — 
ERISMANN, Untersnchungen über d. Substrat der Bewegungsempfindungen 
und die Abhängigkeit der subjektiven Bewegungsgröße vom Zustand der 
Muskulatur. Arch. f. d. ges. Psychol., XXVIII. — FLÜGEL-SCHILLING, 
Lehrbuch der Psychologie. Langensalza, Beltz, 1913. M. 3,50. — 
FURTMÜLLER, Dr. K., Psychoanalyse und Ethik. Schriften d. Vereins 
f. freie psychoanal, Forschung. Nr. 1. E. Reinhardt, München. M. 1,—. 
— FRIEDMANN, Vorwort zur Charakterologie. Arch. f. d. ges. Psychol., 
XXVII. — FRINGS, Über den Einfluß der Komplexbildung auf die effek- 
tuelle und generative Hemmung. Arch. f. d. ges. Psychol., XXX. — 
GASSMANN u. SCHMIDT, Die Fehlererscheinungen beim Nachsprechen von 
Sätzen und ihre Beziehung zur sprachlichen Entwicklung des Schulkindes. 
Quelle u. Meyer, Lpzg. M. 7,60. — GLÄSSNER, Über Willenshemmung. 
V u. 143 S. Quelle u. Meyer, Lpzg. 4,60 M. — GREGOR, Die Haut- 
elektrischen Erscheinungen in ihren Beziehungen zu Bewußtseinsprozessen. 
Arch. f. d. ges. Psychol., XXVII. — Hans, Dss Verhältnis der experi- 
mentellen Psychologie zur Pädagogik. Deutsche Bl. f. erziehenden Unterr., 
48—51. — HärınG, Untersuchungen zur Psychologie der Wertung (auf 
experimenteller Grundlage) mit besonderer Berücksichtigung der metho- 
dischen Fragen. Arch. f. d. ges. Psychol., XXVII. — HELLPACH, Vom 
Ausdruck der Verlegenheit. — Arch. f. d. ges. Psychol., XXVII. — 


Literaturbericht. 179 


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10. — HENTSCHEL, Zwei experimentelle Untersuchungen an (491 und 
409) Kindern aus dem Gebiete der Tonpsychologie. Ztschr. f. angew. 
Psychol., VII, 1, 2/3. — HILLGRUBER, Fortlaufende Arbeit und Willens- 
betätigung. 50 S. 1,65 M. Quelle u. Meyer, Lpzg. — Hirt, Unter- 
suchungen über das Schreiben und die Schrift. Psychol. Arb., 6, 4. — 
JAMES, Psychologie und Erziehung. Übersetzt von Kırsow. 3. Aufl. 
Engelmann, Leipzig. 134 S. 3 M. — JANDER, Gedächtnis und Phantasie. 
Blätter f. d. Fortbildg d. Fortbildg. d. Lehrers, 16 u. 17. — JESINGHAUS, 
Über die Vorstellungen der Tiere. Pädg.-psychol. Stud., 5 u. 6. — 
KAFKA, Über Grundlagen und Ziele einer wissenschaftlichen Tierpsycho- 
logie. Arch. f. d. ges. Psychol, XXIX. — Kenmr, Methodisches nnd 
Experimentelles zur Lehre von der Tonverschmelzung. Arch. f. d. ges. 
Psychol., XXIX. — Koca, Experimentelle Untersuchungen über die ele- 
mentaren Gefühlsqualitäten. Lpzg., Quelle u. Meyer, 1913. 103 8. 
3.25 M. — KÖHLErR, Ein Beitrag zur Traumpsychologie. Arch. f. d. 
ges. Psychol, XXVII. — KonxsTtamM, Zwecktätigkeit und Ausdrucks- 
tätigkeit. Arch. f. d. ges. Psychol., XXIX. — KRAEMER, Experimeutelle 
Untersuchungen zur Erkenntnis des Lernprozesses. Leipzig, Quelle u. 
Meyer, 1912. 97 S. — KRrASSMÖLLEB, Zur Psychologie des Zahlen- 
bewußtseins. Zitschr. f. Kdrforschg., XIX, 1. — KRETZSCHMAR, Dr. J., 
Entwicklungspsychologie und Erziehungswissenschaft. Eine pädagogische 
Studie auf entwicklungstheoretischer, ethnologischer und kulturhistorischer 
Grundlage. 1. Grundfragen der seelichen Entwicklung. 2. Kinderpsy- 
chologie und pädagogische Forschung. E. Wunderlich, Leipzig. M. 3,—, 
geb. M. 3,80. KUTZNER, Gefühl nach WUNDT. Arch f. d. ges. Psychol., 
XXX. — LASURSKI, Über das Studium der Individualität. Nemnich, 
Lpzg. VI u. 191 S. 5,80 M. — Lay, Reform des Psychologieunter- 
richtes, verdeutlicht an Schülerarbeiten. Thienemann; Gotha 1914. M. 1,20. 
— LESCHKE, Die Ergebnisse und die Fehlerquellen der bisherigen Unter- 
suchungen über die körperlichen Begleiterscheinungen seelischer Vorgänge. 
Arch. f. d. ges. Psychol, XXXI. — LoBsiEn, Über den Einfluß des 
Antikenotoxin auf die geistige Leistungsfähigkeit, Arch. f. Pädk. (Pädg. 
Forschg.), 3. — LoBsIEn, Das Gedächtnis. Zickfeld, Osterwiek 1913. 
2688. 4 M. — LoBsIEN, Die experimentelle Ermüdungsforschung. Ztschr. 
f. Kdrforschg., XVIII, 3/4, 5, 6, 7, 8/10. — Lossien, Die experimen- 
telle Ermüdungsforschung. Ztschr. f. Kdrforschg., XIX, 3 bis 10. — 
Many, Psychologie als Anleitung zur Selbsterziehung im Lehrplan der 
höheren Schulen. Pädag. Forschg., 4. — MARBE, K., Die Bedeutung 
der Psychologie für die übrigen Wissenschaften und die Praxis. Fort- 
schritte der Psychologie und ihrer Anwendungen. Band I, 1. Teubner, 
Leipzig. — MEUMAnN, Abriß der experimentellen Pädagogik. Leigzig 
1914, Engelmann. 461 S. Geb. 3,50 M. — MoEDE, Psychophysik der 
Arbeit. Pädag. Forschg., 1. — MÜLLER-FREIENFELS, Einfluß der Ge- 
fühle und motorischen Faktoren auf Assoziation und Denken. Arch. f. 
d. ges. Psychol, XXVII. — Narorr, P., Allgemeine Psychologie nach 
kritischer Mothode. In zwei Büchern. Erstes Buch: Objekt und Methode 
der Psychologie. Mohr und Laupp, Tübingen. M. 9.—, geb. M. 10,50. 
Das zweite Buch erscheint 1913. — OSTERMANN, W., Das Interesse. 
12* 





180 KURT LEHM, 


Eine psychologische Untersuchung mit pädagogischen Nutzanwendungen. 
Oldenburg u. Leipzig, 1912. Schulzesche Hofbuchhandlung. M. 2.80. 
— PassKkönIG, Überblick über die neuere Psychologie. Pädag.-psychol. 
Studien. XIII, 7. — PETERS, Zentralblatt für Psychologie und psycho- 
logische Pädagogik (mit Einschluß der Heilpädagogik). Würzburg, C. 
Kabitzsch. — PETTOw, Zur Psychologie der Transvestie. Arch. f. d. 
ges. Psychol., XXIX. — PFISTER, Die psychanalytische Methode. Leipzig, 
Klinkhardt, 1913. M. 12,50. — PFISTER, Zur Ehrenrettung der Psych- 
analyse. Zitschr. f. Jugenderz. u. Jugendfürsorge, IV, 11. — PFORDTEN, 
VON DER, Beschreibende und erklärende Psychologie. Arch. f. d. ges. 
Psychol. XXVIII. — PrORDTEN, VON DER, Das Gefühl und die Päda- 
gogik. Heidelberg 1914, C. Winter. 133 S. M. 3,40. — RIGNANO, 
Was ist Räsonnement? Arch. f. d. ges. Psychol., XXVIII. — RITTERS- 
HAUS, Zur Frage der Komplexforschung. Arch. f. d. ges. Psychol., 
XXVIII. — Rost, Einfluß der Unlustgefühle auf den motorischen Effekt 
der Willenshandlungen. Arch. f. d. ges. Pshchol., XXVII. — Borg, 
MANN, Die Hauptergebnisse der modernen Psychologie mit besonderer 
Berücksichtigung der Individualforschung. Wunderlich, Leipzig. 1914. 
392 S., geb. 5,20 M. — Rux, Über das assoziative Aquivalent der Deter- 
mination. 149 S. Quelle u. Meyer, Lpzg. 4,50 M. — RZESMITZER, 
Die psychologische Formung des Unterrichts. Breslau, Goerlich. 79 8. 
1 M. — SantE DE Sancris, Das Maß der Intelligenz. Eos, X, 2. — 
SCHENK, Das psychologische Institut in Vineland N. J. in Nordamerika. 


Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs, XXXIV, 2. — SCHOENEBERGER, 
Psychologie und Pädagogik des Gedächtnisses. Leipzig, Nemnich, 1912. 
146 S. 4,70 M. — Scaunz, Psychologische Wanderungen auf Seiten- 


wegen. Fischer, Jena 1913. (VIII u. 242 8... 8,— M. — SCHULZE, 
Experimente aus der Seelenlehre. Lpzg. 1913, Voigtländer. VII u. 
1128. 2,25 M. — ScHunzeE, Die Bewegungsform bei einfachen Willens- 
handlungen. Neue Bahnen, 7. — SCHUMANN, H., Wunxpts Lehre vom 
Willen. Quelle u. Meyer, Leipzig, 1912. M. 3.—. — ScHüÜSSLER, 
Methode der systematischen Selbstwabrnehmung. Arch. f. Pädk. (Pädg. 
Forschg.), 3. — SELZ, Die Gesetze der produktiven Tätigkeit. Arch. f. 
d. ges. Psychol., XXVII. — STERN, Die Anwendung der Psychoanalyse 
auf Kindheit und Jugend. Ztschr. f. angew. Psychol., VILI, 1/2. — 
STIMPFL, Der Wert der Kinderpsychologie für den Lehrer. 3. verb. 
Aufl. Gotha 1912, Thienemann. 31 S. 0,80 M. — STÖHR, Psycho- 
logie der Aussage. Berlin, Puttkammer und Mühlbrecht, 1911. 189 8. 
3,60 M. — TRUSCHEL, Experimentelle Untersuchungen über Kraftemp- 
findungen bei Federspannung und Gewichtshebungen. Arch. f. d. ges. 
Psychol., XXVII. — Ursan, Der Einfluß der Ubung bei Gewichtsver- 
suchen. Arch. f. d. ges. Psychol., XXIX. — URBAN, Uber einige Be- 
griffe und Aufgaben der Psychophysik. Arch. f. d. ges. Psychol., XXX. — 
WACHTELHORN, Hat der Mensch eine Seele? Lpzg., Vollrath. VI u. 105 8. 
— WEBER, Über normales und pathologisches Lügen. Ztschr. f. pädag. 
Psychol., XIV, 1. — WEHOFER, Farbenhören bei Musik. Ztschr. f. 
angew. Psychol., VII, 1. — WIEDENBERG, Die perseverierend-determi- 
nierende Hemmung bei fortlaufender Tätigkeit. 109 S. Quelle u. Meyer, 
Lpzg. 3,40 M. — WırTH, Eine Bemerkung von G. F. Lıpps zu den 


Literaturbericht. 181 


mathematischen Grundlagen der sogenannten unmittelbaren Behandlung 
psychophysischer Resultate. Arch. f. d. ges. Psychol, XXVII. — 
WULFFEN, Psychologie des Verbrechers. Ein Handbuch für Juristen, 
Arzte, Pädagogen und Gebildete aller Stände. 2 Bände. XXVII, 448 
und 546 S. Langenscheidt, Berlin. Geh. M. 30,—. — ZIEGLER, Be- 
wegungsempfindungen und Bewegungsvorstellungen. Heilpäd. Schul- u. 
Elternztg. V, 8. 9. 10. 11. 


IX. Intelligenzprüfung. 


BLocm, Die Intelligenzprüfung nach der Methode von BINET-SIMON 
in ihrer Bedeutung zur Erforschung des Schwachsinns bei Schulkindern. 
Ztschr. f. d. Erforschg. u. Behandlg. d. jugendl. Schwachs., VII, 4. — 
BrocH, Über Intelligenzprüfungen nach der Methode von BinET und 
Sımox an 71 Hilfsschulkindern der Stadt Kattowitz. D. Hilfsschule., VI, 5. 
— CHOTZEN, Die Intelligenzprüfungsmethode von BinET und SımoX und 
ibre Verwertung für die Schule. Ztschr. f. d. Erforschg. u. Behandlg. 
d. jugendl. Schwachs., VI, 5/6. — HEUER, Intelligenzprüfung der Hilfs- 
schulkinder. D. Hilfsschule, VII, 8/9. — Lopr, Die Intelligenzprüfungs- 
methode BINET-SIMONS nebst den wesentlichen Abänderungen Dr. O. 
BOBERTAGS. Ztschr. f. d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 6. — LoHDk, 
Welche Erfahrungen hat man mit der Intelligenzprüfungsmethode BINETS 
besonders bei Untersuchungen an Schwachsinnigen gemacht? Ztschr. f. 
d. Behandlg. Schwachs., XXXIV, 8. — MEUMANN, Die soziale Bedeutung 
der Intelligenzprüfungen. Ztschr. f. päd. Psychol. u. exp. Pädk. 1913, 9. 
— STERN, Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung und 
deren Anwendung an Schulkindern. Leipzig 1912. Barth. M. 3,—. 
106 S. — WEIıGL, Intelligenzprüfung von Hilfsschülern nach der Test- 
methode. Ztschr. f. Kdrforschg., XVII, 8/10., 11., 12. 


ere 


Besprechungen. 


The Training School Devoted to the Interests of those 
whose minds have not developed normally. Edited by 
E. H. Johnstone, Henry H. Goddard, Alice Morrison Nash. 
Published Monthly by the Training School at Vineland N. J. Preis 
1 Dollar jährlich. 

Die vorliegende Februarnummer 1913 (17 Seiten) enthält folgende 
Beiträge, woraus man ersehen kann, welche Ziele die Zeitschrift verfolgt: 
The De Moore Size-Weight Illusion (experimentell-psychologische Unter- 
suchungen). Pensylvanias Anti-Veneral Campaign (Grundsätze zur Be- 
kämpfung der Geschlechtskrankheiten). The Sleep of the Feeble Minded 


182 Besprechungen. 


(Beobachtungen über* Schlaf und Schlafstörungen bei Schwachsinnigen). 
Bericht über die biochemische Literatur. Untersuchungen an Kindern 
mit Hilfe der Methode von BINET. „Little Sayings and Doings of Children“. 
Schulereignisse. Auskunft über die Bestrebungen der Schule. 

CAMPBELL (Dresden). 


Sixty-fifth Annual Report of the Trustees of the Massa- 
chusetts School for the Feeble-Minded at Waltham. 


Die Anstalt, welche für erziehungsfähige Schwachsinnige bestimmt ist 
und jetzt 1584 Insassen zählt, wurde 1852 gegründet. Sie wurde von 
Dr. SEGUIN organisiert, welcher zu diesem Zwecke für einige Zeit von 
Paris nach Amerika kam. Die von ihm aufgestellten Grundsätze für den 
Unterricht sind in der Hauptsache auch jetzt noch maßgebend. Seit 
25 Jahren ist Dr. W. E. FERNALD Leiter der Anstalt. Trotz erheblicher 
Vergrößerungen besteht noch Platzmangel. 555 Aufnahmegesuche gingen 
im Berichtsjahr ein, von denen nur 186 berücksichtigt werden konnten. 
Eine gesetzliche Handhabe, um die Schwachsinnigen auch nach dem schul- 
pflichtigen Alter zurückzuhalten, besteht nicht. Die Internierung im fort- 
pflanzungsfähigen Alter würde das wirksamste Mittel sein um die Häufigkeit 
des Schwachsinns, der nach der Zählung in W. in 80°/, der Fälle auf 
erblicher Belastung beruht, zu vermindern. Die Angehörigen freuen sich 
über die guten Fortschritte, die die Kinder in der Anstalt machen und 
nehmen sie meist zu zeitig heraus. Es wird empfohlen, jemand mit der 
Aufgabe zu betrauen, das Schicksal der Kinder nach ihrer Entlassung zu 
verfolgen. CAMPBELL (Dresden). 


Direktor Pastor D. Stritter und Oberarzt Dr. Meltzer, Deutsche An- 
stalten für Schwachsinnige, Epileptische und psycho- 
path. Jugendliche. Karl Marholds Verlagsbuchhandlung, Halle, 1912. 


Nach dem Vorbild des 1910 von Dr. BRESLER herausgegebenen Bandes 
„Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für psychisch Kranke in Wort und 
Bild“ erschien nunmehr im gleichen Verlag ein stattliches Werk, das die 
so schwer übersehbaren Verhältnisse der deutschen Anstalten für Schwach- 
sinnige, Epileptische und psychopathische Jugendliche in klarer und an- 
schaulicher Weise vorführt. Es soll keine erschöpfende Statistik gegeben 
werden, vielmehr sind aus den verschiedenen deutschen Staaten namhafte 
Anstalten in einer Art geschildert, die durch präzise Schilderung und vor 
allem auch durch bildliche Darstellung mehr bietet, als eine trockene 
statistische Aufzählung es je zu tun vermöchte. Einige der bedeutendsten 
öffentlichen Anstalten wie Uchtspringe, Kosten, Potsdam, Wuhlgarten, 
Langenhagen sind allerdings nicht vertreten, doch finden sie zum Teil 
ihre Darstellung bereits in den früheren Bänden des Verlages über die 
deutschen Heil- und Pflegeanstalten für psychisch Kranke. Eine besondere 
Scheidung zwischen den öffentlichen und privaten Anstalten oder den 
ärztlich und den pädagogisch bzw. geistlich geleiteten ist nicht vorge- 
nommen. Die Reichhaltigkeit des Inhalts ergibt sich schon aus dem 
Verzeichnis: 


Besprechungen. 183 


Großherzogtum Baden. Dr. phil. Crox’s Jugendheim, Heidel- 
berg. — Die Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische in Kork. — 
Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache in Mosbach. 

Königreich Bayern. Erziehungs- und Erholungsheim für Kinder 
und Jugendliche Geiselgasteig bei München, Besitzer und 
Leiter Dr. phil. ALFONS ENGELSPERGER. — Anstalt St. Josefs- 
haus bei Gmünden am Main, von Direktor J. M. HERBERICH. — 
Assoziationsanstalt Schönbrunn bei Dachau. — Die JOHANN 
E. WAGNER'schen Wohltätigkeitsanstalten (Glött-Deybach, 
Lauterhofen, Holnstein, Absberg, Burgkundstadt, 
Holzhausen) von Direktor JOSEF FUNK. 

Herzogtum Braunschweig. Luisenstift zu Braunschweig, Heil- 
und Unterrichtsanstalt für schulpflichtige epileptische Kinder, von 
Dr. med. OSWALD BERKHAN. — Neuerkeroder Anstalten 
für Schwachsinnige und Epileptiker, von dem Anstaltsvorsteher 
Pastor BROISTEDT. 

Freie Hansestadt Bremen. WINTERMANN’s Institute für schwer- 
erziehbare und schwerlernende Kinder und Jugendliche. Schul- 
vorsteher A. WINTERMANN, Huchting bei Bremen. — Haus 
Reddersen, Erziehungsheim für Geistesschwache in Bremen- 
Horn, von Direktor FRIEDRICH MEYER. 

Freie und Hansestadt Hamburg. Alsterdorfer Anstalten 
bei Hamburg. 

Großherzogtum Hessen. Die Anstalt für Epileptische zu Nieder- 
Ramstadt bei Darmstadt. -— Arbeitslehrkolonie und Beob- 
achtungsanstalt Steinmühle (Kupferhammer E. V. Frank- 
fort a. M.), von Dr. H. HANSELMANN. 

Fürstentum Lippe. Anstalt Eben Ezer bei Lemgo für Geistes- 
schwache und Fallsüchtige, von Pastor WULFHORST. 

Großherzogtum Oldenburg. Die Unterrichts- und Pflegeanstalt 
Gertrudenheim bei Oldenburg, von Med.-Rat Dr. SCuHLAEGER. 

Königreich Preußen. Provinz Brandenburg: Die städtische Idioten- 
anstalt Dalldorf, von Erziehungsinspektor H. PIPER. — Anstalt 
Bethanien in Ketschendorf bei Fürstenwalde (Spree); (für 
Schwachsinnige, Blöde und Epileptische). — Provinz Hannover: 
Pflege- und Erziehungsheim Krietenstein bei Wittlage. — 
Provinz Hessen-Nassau: Die christliche Anstalt für Schwachsinnige 
(früher Mathildenstift) zu Aue bei Schmalkalden, von Dr. phil. 
Emın Dönges. — Das St. Vincenzstift in Aulhausen. — 
Erziehungsheim für schwachbegabte und nervöse Kinder zu 
Hofheim im Taunus, von Geschwister GEORGI. — Die Erziehungs- 
anstalt zu Idstein im Taunus, von Anstaltslehrer M. KIRMSSE 
und Regierungsbaumeister RUMPEL. — Das St. Valentinus- 
haus zu Kiedrich im Rheingau, Hospital für weibliche Fall- 
süchtige. — Evangelische Erziehungs- und Pflegeanstalt für 
Geistesschwache und Idioten in Scheuern bei Nassau a. d. Lahn, 
von Sekretär WıuuıG. -— Treysa (Bez. Cassel), Anstalten 
„Hephata“. — Provinz Ostpreußen: Die Heil- und Pflege- 
anstalt für Epileptische zu Carlshof bei Rastenburg. — Provinz 


184 Besprechungen. 


Pommern: Die Kückenmühler Anstalten bei Stettin. — 
Rheinprovinz: Franz-Sales-Haus in Essen-Huttrop, 
von Direktor SCHULTE-PELKUM, Oberarzt Dr. KLEEFISCH. — 
Arztliches Heilpädagogium und Jugendsanatorium in Geilen- 
kirchen. Leitender Arzt Dr. med. H. HENNES. — Bildungs- 
und Pflegeanstalten für Schwachbegabte des Diakonissen-Mutter- 
hauses zu Kreuznach. (Bethanien zu Kreuznach, Hütten- 
berg zu Sobernheim, Asbacher Hütte, Niederreidenbacher 
Hof bei Fischbach-Weierbach.). — Idiotenerziehung- und Pflege- 
anstalt „Hephata“ zu M.-Gladbach, von Direktor GEORG 
PÄLZER. — Die Anstalten der Franziskanerbrüder von Wald- 
breitbach, Kr. Neuwied. — Pflege- und Erziehungsanstalt für 
schwachbegabte und schwachsinnige Jünglinge und Männer in 
Waldrube bei Bielstein, Kreis Gummersbach, Tochteranstalt 
der Duisburger Diakonenanstalt, Direktor Pfarrer GIESE. — 
Provinz Sachsen: Das Neinstedter Elisabethstift. Von Pastor 
RICHTER, Neinstedt. — B. WILDT’s Erziehungsanstalt für schwach- 
begabte Kinder in Nordhausen (Harz). — Provinz Schlesien: 
Dr. KAHLBAUM’s ärztliches Pädagogium, Görlitz. — Erziehungs- 
anstalt für Geistesschwache zu Leschnitz, O.-8., von Schulrat 
WEICHERT. — Provinzialheil- und pflegeanstalt Lublinitz, von 
Sanitätsrat Dr. KLINKE. — Das „Rettungshaus“ zu Schreiberhau 
im Riesengebirge, Anstalt für Erziehung, Unterricht und Pflege 
Geistesschwacher.. — Provinz Westfalen: Anstalt Bethel bei 
Bielefeld, von Pastor Worr-Bethel. — Israelitisches Landheim 
in Schwelm, von Direktor SILBERBERG, Ahlem-Hannover. — 
Westfälische evangelische Blödenanstalt Wittekindshof zu 
Volmerdingsen bei Bad Oeynhausen. Von Pastor STIEGHORST. 


Königreich Sachsen. Heim für halbe Kräfte (Mädchen), Dresden- A. 21. 
— Direktor P. MÜLLER’s Pensionat für ältere Zurückgebliebene, 
Dresden-Blasewitz. — SCHRÖTER's heilpädagogische Erziehungs- 
und Unterrichtsanstalt, Dresden-Neustadt, von Direktor OTTO 
TRILLITZSCH. — Königliche Landeserziehungsanstalt Chemnitz- 
Altendorf. — Erziehungsheim Glauchau i. Sa., von KURT 
RıcHrER, Besitzer und Leiter. — Die Königlich Sächsische Landes- 
anstalt in Großhennersdorf, von Oberarzt Dr. MELTZER. — 
Die Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische zu Hochweitzschen, 


Anstaltsdirektor Medizinalrat Dr. REICHELT. — Bethesda, 
Niederlößnitz bei Dresden. — Das Martinstift zu Sohland am 


Rothstein, von Lie. theol. Dr. J. GEHRING, Pfarrer. 


Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha. Herzogin-Marie-Stiftung in 
Gotha. 

Königreich Württemberg. Heil- und Pflegeanstalt für Schwach- 
sinnige in Mariaberg, Oberamt Reutlingen, von Inspektor 
ROMINGER. Erziehungsanstalt für geistesschwache Kinder in Schloß 
Neresheim. — Das Schwachsinnigenheim in Schwäb. Hall. — 
Die Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptische 
zu Stetten im Remstal, von Inspektor Pfarrer REISCHLE. — 


Besprechungen. 185 


Die Taubstummenanstalten in Wilhelmsdorf, für normal- 
begabte und für schwachsinnige Zöglinge. 


Die Einzeldarstellungen enthalten geschichtliche Überblicke, Be- 
schreibungen der Gebäude und Einrichtungen, Aufnahmebestimmungen, 
Lehrpläne und -beispiele, Unterrichtsproben, Merkblätter, Verköstigungs- 
pläne, Dienstanweisungen, auch förmliche Krankengeschichten, selbst Bei- 
spiele von Elternbriefen. Die Bilder betreffen nicht nur Baulichkeiten, 
sondern auch Lehrmittel, ferner einzelne Porträts von verdienten Männern 
und von Pfleglingen; meist sind sie anschaulich wiedergegeben, nur hier 
und da etwas klein ausgefallen. Auch Etatsaufstellungen, diagnostische 
Fingerzeige, Anweisungen für Anstaltsfeste und dergl. finden sich eingestreut. 

Kenner des Schwachsinnigenwesens und seiner Entwicklung werden 
auch aus den Darstellungen des Werkes entnehmen, daß in den ver- 
schiedensten Richtungen Fortschritte zum Wohl der Pflegebefohlenen 
angestrebt und erreicht werden. Gerade das Hervortreten an die Offent- 
lichkeit zeugt davon, daß man einer Kritik nicht aus dem Wege geht. 
Mögen auch in der Schwachsinnigenfürsorge Deutschlands noch der privaten 
Initiative zu viele Aufgaben aufgebürdet und eine umfassende öffentliche 
Organisation, die einer durchgreifenden Fürsorge am ehesten gewachsen 
wäre, nur in den Anfängen vorhanden sein, so ist doch zu erkennen, wie 
außerordentlich erfolgreich bereits werktätige Liebe und Begeisterung 
gewirkt haben, so daß sich die Leistungen Deutschlands auf diesem Gebiete 
sebr wohl neben und vor denen anderer Länder sehen lassen können. 
Aufrichtiger Dank gebührt den Herausgebern des Werkes, das weiten 
Kreisen einen Einblick in ein schwer zugängliches und doch gewichtiges 
und bedeutsames Gebiet der Fürsorge ermöglicht. W. 


Schlesinger, Prof. E, Schwachbegabte Kinder. Ihre körper- 
liche und geistige Entwicklung während und nach der 
Schulzeit. F. Enke, Stuttgart 1913. 

ScaL. hält sich bei seiner Darstellung des Schwachsinns im wesent- 
lichen an die Resultate, die er durch die Untersuchungen an 300 schwach- 
begabten Kindern der Straßburger Hilfsschule gewonnen hat; doch wird 
die Literatur bei den einzelnen Kapiteln in weiterem Umfange angezogen. 
ScCHL. hat sein interessantes Material nach vielen Richtungen mit großer 
Gewissenhaftigkeit untersucht. In dem Kapitel über die Atiologie inter- 
essieren besonders die Ausführungen über die Wesenseigenheiten der 
Trinkerkinder; wie viele andere Autoren konnte ScHL. bestätigen, dab 
die Hilfsschulkinder eine abnorm hole Morbidität zeigen; dem Verhalten 
der Sinnesorgane bei den Hilfsschülern ist ein besonderes Kapitel gewidmet ; 
besonders hervorzuheben sind die Betrachtungen über den Intelligenzdefekt, 
dessen Bewertung ScHL. einmal vom praktisch-pädagogischen, zweitens 
vom psychologisch-wissenschaftlichen Standpunkt in Angriff nimmt. Wert- 
voll sind die Ausführungen über die Entwicklung und den Verlauf des 
Intelligenzdefektes. Schwere Charakterfehler fand SCHL. meist nur bei 
leichteren Intelligenzdefekten; bei der zuletzt charakterisierten Gruppe 
scheint es mir überhaupt zweifelhaft, ob es sich um eigentlich Schwach- 
sinnige handelt und nicht vielmehr um Psychopathen, für die der Normal- 


186 Besprechungen. 


schule vorläufig keine bessere Abschiebungsgelegenheit sich darbot als die 
Hilfsschule. Die Untersuchungen SCHL. über die weiteren Lebensschicksale, 
namentlich über die Berufstätigkeit ehemaliger Hilfsschüler lassen erkennen, 
daß ein zu weitgehender Optimismus nicht gerechtfertigt ist; SCHL. fordert 
deshalb auch mit Recht, daß die Fürsorge für die Schwachsinnigen noch 
weiter auszubauen ist. Am Schluß gibt Schu. noch 100 Krankengeschichten ; 
bedauerlicherweise sind sie nicht nach bestimmten Prinzipien gruppiert; 
in ihrer einfachen Aneinanderreihung wirken sie etwas ermüdend. 
SCHOR (Dresden). 


Burgerstein, Leo, Schulhygiene. Aus Natur und Geisteswelt. Bd. 96, 
B. G. Teubner, Leipzig 1910. 

. Das kleine Buch gibt in fünf Kapiteln einen recht guten und klaren 
Überblick über die wesentlichsten Fragen der Schulhygiene. Durch seine 
knappe und gemeinverständliche Darstellungsweise ist das Buch auch für 
Nichtärzte, insbesondere Pädagogen, besonders empfehlenswert. Sehr warm 
tritt der Verf. für gemeinsame Arbeit von Arzt und Lehrer in schul- 
hygienischen Fragen ein; um die Mitarbeit des Pädagogen wertvoller zu 
gestalten, fordert er unterrichtliche Unterweisung der angehenden Lehrer, 
auf der anderen Seite empfiehlt er immer weiteren Ausbau des Schularzt- 
` wesens. ScHoB (Dresden). 


Herfort, Dr. K., Die Schrift der Schwachsinnigen. Separat- 
Abdruck aus dem Berichte der V. österreich. Konferenz der Schwach- 
sinnigenfürsorge. Brünn 1912. 

Verf. gibt einen kurzen Überblick über die Lokalisation des Schreib- 
zentrums im Gehirn und über die wichtigsten Schreibstörungen bei Schwach- 
sinnigen. Auf einer größeren Reihe von Tafeln sind Schriftproben von 
Schwachsinnigen dargestellt; die Analyse der wiedergegebenen, teilweise 
interessanten Schriftproben ist allerdings zu wenig eingehend. 

ScHoB (Dresden). 


Schlesinger, Dr. med., Professor und Hilfsschularzt in Straßburg. Schwach- 
begabte Kinder. Ihre körperliche und geistige Entwicklung während 
und nach dem Schulalter und die Fürsorge für dieselben. Mit 100 
Schülergeschichten und 65 Abbildungen. Enke, Stuttgart. 5,00 M. 

Der Verfasser hatte schon in ähnlicher Weise im Jahre 1907 eine 

Abhandlung von 63 Seiten mit 9 Abbildungen über „Schwachbegabte Schul- 

kinder Vorgeschichten und ärztliche Befunde“ im 46. Band des „Archivs 

für Kinderheilkunde“ und als Sonderdruck in demselben Verlag zu 2,80 M. 

erscheinen lassen. — In dem vorliegenden Band von 130 Seiten führt er 

seine dort begonnenen Untersuchungen und Feststellungen weiter aus und 
zwar nach folgenden Gesichtspunkten: Skizzierung und Einteilung des 

Beobachtungsmaterials, — Atiologie, — Körperliche Entwicklung, — Sinnes- 

organe und Sprache, — Intelligenzdeffekt, pädagogisch und psychologisch 

betrachtet, — Charakter, — Berufsleben, — Fürsorgemaßnahmen während 
und nach der Schulzeit — Schülergeschichten, Epikrisen, Ergebnisse. — 

Es ist eine fleißige und zeitgemäße Arbeit, die der Verfasser in Ver- 
bindung mit der Straßburger Hilfsschule geleistet hat. Mehr und mehr 


Besprechungen. 187 


muß ja die verwirrend große und mannigfaltige Fülle der Erscheinungen, 
die wir unter dem Begriff „schwachbegabt“ zusammenfassen in klar er- 
kannte pathologische Tatsachenreihen aufgelöst werden. Damit ist dann 
ein einwandfreier, solider Boden geschaffen für alle praktischen Maßnahmen 
der körperlichen und geistigen Hygiene auf dem Gebiete des Hilfs- 
schulwesens. Kl. 


Professor Dr. Hugo Selter, Handbuch der Deutschen Schul- 
hygiene. Dresden und Leipzig, Verlag von Theodor Steinkopff, 1914, 
759 Seiten, mit 149 Abbildungen und zahlreichen Tabellen. Preis 28 M. 
geheftet, 30 M. in Leinen gebunden, 32 M. in Hhlbleder gebunden. 

Das Buch soll Arzten, Verwaltungsbeamten, Architekten, besonders 
aber den Lehrern das Wichtigste des großen, vielgestaltigen Gebietes dar- 
bieten. Geh. Rat LEUBUSCHER entwarf einen geschichtlichen Rückblick, 
in dem vor allem die Leistungen des weitblickenden Dr. FRANK im 18. 
Jahrhundert gewürdigt wurden. 

Prof. SELTER, behandelt die Hygiene des Schulhauses und seiner 
inneren Einrichtungen. Die Forderungen der Hygieniker sind gerade 
auf diesem Gebiete zu einer erfreulichen Klarheit ausgearbeitet, wie es 
sich auch in den Darlegungen dieses Abschnittes widerspiegelt. 

Die Leistungen des Nervensystems und seine Beziehungen zur Unter- 
richtshygiene sind von Prof. FRIEDRICH W. FRÖHLICH besprochen, der 
dabei von einer elementaren Darlegung des Aufbaues und der Ent- 
wicklung des Nervensystems ausgeht. Ob die unsicheren Theorien über 
die Bedeutung der Nissl-Schollen (nicht Nissel!) für die Lehrer wichtig 
sind, sei dahin gestellt. Die Neurontheorie ist doch stärker bestritten, 
als aus jenen Ausführungen hervorgeht. Die Cytoarchitektonik hätte 
neben CAJAL und FLECHSIG mehr Erwähnung verdient. 

Vom Bürgerschullehrer GRAUPNER ist der spezielle Teil der Unter- 
richtshygiene behandelt; zunächst erörtert er die Psychologie des Ge- 
dächtnisses und des Lernens, dann die Beziehungen zwischen Intelligenz 
und Kopfgrößc, Körperhöhe und Körpergewicht, darauf die Hygiene der 
Stimme und Sprache, Atmung und Stimme, die Sprachfehler, Schwer- 
hörigkeit, Hygiene des Lesens und Schreibens, weiterhin die Frage der 
beidhändigen Ausbildung, sodann die Anordnung des Unterrichts, die 
Hausaufgaben, die Prüfungen, die Trennung der Schüler nach der Leistungs- 
fähigkeit, ferner Waldschulen und Landerziehungsheime, Schulstrafen usw. 

Dr. med. Frachs schildert die hygienische Fürsorge für das vor- 
schulpflichtige Alter, Prof. F. A. Scumiprt die körperliche Entwicklung 
und Pflege des schulpflichtigen Alters; besonders beachtenswert sind seine 
Ausführungen über die Berufswahl. 

Von Stadtarzt Prof. Dr. von DriGALsKkı werden die krankhaften 
Störungen des Schulkindes beschrieben. Für unsere Leser sind von be- 
sonderem Interesse die Ausführungen über die krankhaften Nerven- und 
Geisteszustände, die allerdings etwas kurz weggekommen sind. Mit Recht 
ist die Tuberkulose und ihre Bekämpfung besonders eingehend dargestellt. 

“  Geheimrat LEUBUSCHER bespricht das Schularztwesen und den Schul- 
arztdienst, während Dr. FLACHS der sexuellen Pädagogik ein besonderes 

Kapitel widmet. 


188 Besprechungen. 


Über das schwachbegabte Schulkind äußert sich zunächst Stadt- 
schulrat WEHRHAHN hinsichtlich des Hilfsschulwesens, während Prof. 
SCHMIDT die Ursachen des jugendlichen Schwachsinns und seine Behand- 
lung in der Hilfsschule bespricht. Den Turmschädel kann man nicht als 
eine besondere Form des Hydrozephalus auffassen. Infantilistische Störun- 
gen, tuberöse Sklerose u. a. m. sollten nicht unerörtert bleiben. Die 
Tätigkeit des Hilfschularztes ist zu wenig eingehend dargestellt. 

Als allgemeine Orientierung wie auch in gewissem Grade als Nach- 
schlagewerk ist das Handbuch den mannigfachen Interessenten sehr wohl 
zu empfehlen. W. W. 


Meltzer, Dr. med., leitender Oberarzt, Großhennersdorf i. S. Leitfaden 
der Schwachsinnigen- u. Blödenpflege. Marhold, Halle a. S. 
1.40 M. 

Ein handliches Bändchen von 100 Seiten in biegsamem Leinenum- 
schlag; dem verdienstvollen Andenken von F. v. BODELSCHWINGH ge- 
widmet. Der Inhalt gliedert sich in 2 Hauptabschnitte und zwar über 
allgemeine und über besondere Dienstpflichten. — In dem letzteren wird 
ausführlich und leicht verständlich zunächst die Pflege des Körpers er- 
örtert, die Hygiene der Räume, der Pfleglinge und der eigenen Person, 
ferner die Pflege und Hygiene bei akuten und infektiösen Erkrankungen, 
bei Siechtum, Sterben und Tod. Ein längerer Abschnitt erörtet dann noch 
recht ansprechend die Pflege des Geistes. Das Büchlein ist in erster 
Linie für das Pflegepersonal geschrieben, doch werden sich auch die 
anderen in der Schwachsinnigenfürsorge und Idiotenpflege tätigen Stände 
manchen wertvollen Rat daraus holen können. Sehr zn begrüßen ist es, 
wenn der Verfasser nicht nur Anweisungen und Aufklärungen gibt, sondern 
auch stets das Gewissen und Pflichtgefühl des Personals anzuregen sucht. 
— Aus dem Werkchen spricht in allem ein warmes Herz für die Kranken, 
tüchtiges Fachwissen, erprobtes praktisches Geschick und treffende Menschen- 
kenntnis. In den meisten Idioten-Anstalten, besonders denen der inneren 
Mission und Caritas, wird es einem dringenden Bedürfnis abhelfen und sei 
daher den Anstaltsleitungen als die zurzeit brauchbarste und billigste 
Pflegeanweisung bestens empfohlen. 

Einige sächsiche Sprach-Provinzialismen werden im Westen Deutsch- 
lands nicht sofort verstanden. Vielleicht fügt der Verfasser bei Neuauflage 
in Klammern bei 

Seite 21. Hader — Aufnehmer, 
„ 24. Waschfloeck = Waschläppchen, 


„ 25. geifern — seibern, sabbeln, speicheln, 
„ 67. betreuen — versorgen, 
„ 84. ketschen = zerbeißen, 
» 90. Salleisten — Selfkante, 
„92. Geheiß = Befehl, Auftrag u. j 
„a 94. nicken = Mittagsruhe halten. 
Auf Seite 57 muß es statt Salizyltalg wohl -talk heißen. Kı. 


+ 


Nachdruck verboten, 


Statistisches zur Lehre vom Schwachsinn und von der Epilepsie. 


Von 
Oberarzt Dr. Schott, Stetten i. R. 


Aus Anlaß der Ausstellung für Gesundheitspflege zu Stuttgart 
1914 hat Verfasser das Material der Heil- und Pflegeanstalt Stetteni.R. 
einer Durchsicht unterzogen, deren Ergebnis hier in Kürze folgen soll, 

Was das Lebensalter zur Zeit des Auftretens der 
Epilepsie betrifft, so ergeben 1500 Epileptikerkrankengeschichten, 
daß 64 °/, in dem Alter bis zu 10 Jahren einschließlich an epileptischen 
Erscheinungen erkranken. Der höchste Prozentsatz mit 13°/, bzw. 
9%, betrifft das erste bzw. zweite Lebensjahr. Ein nennenswerter 
Unterschied zwischen weiblichem und männlichem Geschlecht hat 
sich nicht erweisen lassen. Auf das Alter vom 11. bis 20. Jahr je 
einschließlich entfielen 29°, der Epilepsieerkrankungen; nach dem 
20. Lebensjahr ist in 7 °/, Epilepsie aufgetreten. Bemerkenswert ist 
noch, daß die Entwicklungsjahre für beide Geschlechter keine auf- 
fällige Steigerung der Epilepsieerkrankungen erkennen lassen, eine 
Vermutung, welche an und für sich nahe gelegen wäre. Die Frage 
der Einwirkung der Jahreszeit auf das Auftreten der 
epileptischen Anfälle wurde einer vergleichenden Unter- 
suchung unterzogen. 

Bei einer Gesamtheit von 150390 Anfällen wiesen die Monate 
Mai und Juni sowie Oktober und November einen Höhepunkt der 
Kurve auf. Die höchste Zahl der Anfälle brachte der Juni mit 
9,3°%,, dann der Mai mit 9,2°, und der November mt On, Die 
niederste Zahl mit je 7,4°, wurde im Februar und August beob- 
achtet. 

Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VIII. 13 


190 SCHOTT, 


Nach den Jahreszeiten entfallen auf das Frühjahr (März, April, 
Mai) 25,9°/,, auf den Sommer (Juni, Juli, August) 24,7°,, auf den 
Herbst (September, Oktober, November) 24,8°, und auf den Winter 
(Dezember, Januar, Februar) 24,2 °,,. 


Das Frühjahr weist die größte Zahl der Anfälle auf, ihm am 
“ nächsten kommt der Herbst, welchem sich der Sommer anreiht. Der 
Winter scheint die geringste Zahl von Anfällen zu zeitigen. Die 
Unterschiede sind jedoch nicht sehr groß und schwanken zwischen 
24,2 und 25,9°,. Erwähnung verdient der Umstand, daß der heißeste 
Monat, August, und der Monat Februar die niedrigste Anfallsziffer 
haben. Während die Kurve der weiblichen Epileptiker vom Früh- 
jahr zum Winter gleichmäßig fällt, weist die männliche Kurve für 
den Herbst eine deutliche Erhöhung gegenüber dem Sommer auf 
(25,6 : 24,1 °/,) und hat im Herbst überhaupt den Höhepunkt des Jahres. 
Der Verdacht, daß bier bei den männlichen epileptischen Anstalts- 
pfleglingen ein ungewohnter bzw. verbotener Alkoholgenuß (Most) 
noch eine Rolle spielt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. 

Weiterhin wurden in den Bereich der vergleichenden Beobachtung 
gezogen: Längenwachstum, Schädelwachstum und Körper- 
gewicht. 

Bei 800 Messungen Schwachsinniger und 700 Messungen Epi- 
leptischer ergab sich, daß im Vergleich zum normalen Längen- 
wachstum das Maximum für alle drei in das Alter von 12—13 Jahren 
fällt. Es beträgt für Normale 8 cm Längenzuwachs in einem Jahre, 
für Schwachsinnige 8 cm und für Epileptische 7 cm. Im Alter von 
17—18 Jahren weisen Normale durchschnittlich 3 cm, Epileptische 
und Schwachsinnige nur 2cm Zuwachs auf. Sonstige nennenswerte 
Abweichungen haben sich für das weibliche Geschlecht nicht 
ausfindig machen lassen. 


Beim männlichen Geschlecht (je 1000 Messungen Epileptischer 
und Schwachsinniger) traten gewisse Schwankungen deutlicher zu- 
tage. Das Maximum findet sich für Normale im 5.—6. Lebensjahre 
mit 9 cm Längenzuwachs, für Epileptische im 4.—5. Lebensjahre 
mit 9 cm und für Schwachsinnige im 4.—5. Lebensjahre mit 11 cm. 
Die zweitstärkste Zunahme fällt bei Normalen in das Alter von 
16—17 Jahren, bei Epileptischen in das Alter von 13—14 Jahren 
und für Schwachsinnige von 15—16 Jahren. 


Das Längenwachstum zeigt bei den Schwachsinnigen mit 
0 Jahren, bei den Epileptischen mit 21 und bei den Normalen mit 
2 Jahren den Abschluß. 


2 
2 


Statistisches zur Lehre vom Schwachsinn und von der Epilepsie. 191 


Das Endergebnis des Längenwachstums ist für das 
weibliche Geschlecht normal 160 cm, epileptisch 155 cm und 
schwachsinnig 153 cm im 22. Lebensjahre. Die Kurve der Schwach- 
sinnigen hält sich vom 9. Lebensjahr an, die der Epileptischen vom 
12. Jahre an dauernd unter der Kurve der Normalen. 

Für das männliche Geschlecht liefert das Endergebnis im 
22. Lebensjahre normal eine Durchschnittsgröße von 171 cm, epi- 
leptisch von 166 cm und schwachsinnig von 158 cm. Der Schwach- 
sinn bleibt vom 7. Lebensjahre ab unter der Normalkurve, während 
bei der Epilepsie dies erst vom 17. Jahre an der Fall ist. 

Das Schädelwachstum zeigt beim männlichen Geschlecht 
(1000-Messungen) die größte Zunahme für Epileptische im 5.—6. Jahre 
und für Schwachsinnige im 11.—12. Jahre, während bei Normalen 
das 6.—7. Lebensjahr die Regel bildet. Das jährliche Höchstmaß 
der Zunahme beträgt für Normale 0,8 cm, für Epileptische 1,0 cm 
und für Schwachsinnige 0,5 cm. 

Beim weiblichen Geschlecht trifft das größte Schädelwachstum 
für Normale auf das Alter von 5—6 Jahren, für Epileptische von 
6—7 Jahren und für Schwachsinnige von 5—7 Jahren (2 Maxima). 
Es beträgt für Normale 1,2 cm, für Epileptische 1,0 cm und für 
Schwachsinnige 1,0 cm größten jährlichen Zuwachses. 

Der Schädelumfang im 11. Lebensjahre ist für Epilepsie bei 
beiden Geschlechtern etwas größer als bei Normalen (0,2—0,3 cm). 
Beim Schwachsinn bleibt er bedeutend hinter dem Normalen zurück 
und zwar ist dieser Unterschied beim männlichen Geschlecht ausge- 
sprochener (1,7 cm), als beim weiblichen (0,9 cm). 

Bezüglich des Körpergewichtes ließ sich auf Grund von 
1800 Wägungen beim weiblichen Geschlecht feststellen, daß wir 
bei der Epilepsie ein durchschnittliches Körpergewicht von 58 kg 
und bei den Schwachsinnigen von 50 kg finden, während der Norm 
56 kg entsprechen. Die Gewichtskurve erhebt sich bei der Epilepsie 
schon vom 8. Jahre an dauernd über die Normalen. Die Schwach- 
sinnigen stehen vom 15. Jahre ab unter den Normalen. 

Beim männlichen Geschlecht (2000 Wägungen) weist die 
Epilepsie für das 22. Lebensjahr ein Durchschnittsgewicht von 
67 kg, für die Normälen von 63 kg und für die Schwachsinnigen 
von Dë kg auf. Die Gewichtskurve der Epileptiker übersteigt erst 
im 20. Lebensjahr dauernd die Normalkurve, während sich die 
Schwachsinnigen schon vom 12. Lebensjahre an unter den Normalen 
halten. 


13* 


192 SCHOTT, Statistisches zur Lehre vom Schwachsinn u. von d. Epilepsie. 


Zusammenfassung. 


Die vorliegenden Untersuchungen haben in der Entwicklung 
der Schwachsinnigen und Epileptischen gewisse Abweichungen von 
der Norm ergeben, deren weitere Verfoleung und Durchforschung 
empfohlen werden kann. ‚Je größer das Material, je besser die 
Untersuchungsmethoden sein werden, um so eher können wir hoffen, 
daß Gesetzmäßigkeiten gefunden werden, welche uns einen Finger- 
zeig für die bei Epileptikern und Schwachsinnigen sich abspielende 
krankhafte Entwicklung abgeben. Zur Erreichung dieses Zieles 
beizutragen, ist der Zweck meiner Ausführungen. 


— 


Nachdruck verboten, 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge 
für Geistesschwache. 


Von 


Dr. med. Rizor. 
Oberarzt der Prov. Heil- u. Pflegeanstalt Langenhagen. 


Mit 1 Kurve im Text und 1 Tafel. 


50 Lebensjahre einer Anstalt geben berechtigten Anlaß, die 
Blicke wieder einmal prüfend rückwärts schweifen zu lassen. Auf 
die historische Entwicklung der Anstalt einzugehen, dürfte sich an 
dieser Stelle erübrigen; sie ist bereits anderen Ortes eingehend ge- 
würdigt worden, und zwar im Jahresbericht 1887 beim 25jährigen 
Bestehen der Anstalt von dem damaligen Direktor Dr. WULFF, sowie 
später von Oberarzt Dr. BEur in der Festschrift: „Deutsche Heil- 
und Pflegeanstalten für psychische Kranke in Wort und Bild“ (Verlag 
von Karl Marhold, Halle a. S. 1910); in der letzteren wurde be- 
sonders die vieljährige Periode des unter dem kürzlich verstorbenen 
Direktor Dr. VÖLKER durchgeführten, allen hygienischen Anforde- 
rungen vollkommen Rechnung tragenden Um- und Neubaus der 
Anstalt beschrieben. Wohl aber dürfte Veranlassung vorliegen, dis 
Ergebnisse der 50jährigen Tätigkeit der Anstalt unter den ver- 
schiedenen, vornehmlich ärztlichen Gesichtspunkten nachzuprüfen, 
zumal die Grundlagen für solche Nachforschungen in den exakt 
angelegten und durchgeführten statistischen und tabellarischen Zu- 
sammenstellungen von Dr. Kınp und Dr. WuLrr gegeben worden 
und auf Grund dieser bereits rückschließende Allgemeinzusammen- 
stellungen über größere Zeitperioden aus Anlaß des 25., 30. und 
40 jährigen Bestehens der Anstalt in dem erwähnten Sinn erfolgt 
sind. Und ich glaube, daß gerade das Andenken an die verdienst- 


194 RIZOR, 


vollen Anstaltsleiter nicht besser geehrt werden kann, wenn auf 
diese Weise in ihrem Sinn weitergearbeitet wird. 

Die weitere Zusammenstellung der jährlichen tabellarischen 
Ergebnisse und der nachprüfende Vergleich derselben mit den 
früheren Resultaten erweist sich auch aus verschiedenen anderen 
Gründen empfehlenswert, sogar erforderlich. Zunächt kommt die 
praktisch-ärztliche Frage in Betracht: abgesehen davon, daß die 
Resultate durch die Weiterführung der Zusammenstellungen bei dem 
von Jahr zu Jahr erheblich wachsenden Beobachtungsmaterial zweifel- 
los in einem immer größeren Maße sichergestellt werden können, 
bleiben vor allem allgemein maßgebende ärztliche Gesichtspunkte 
über Ursache und Wesen der geistigen Anomalien lebhafter in Er- 
innerung. Solche Gesichtspunkte sind für die ausgedehnte und viel- 
‘ seitige Tätigkeit eines Anstaltsarztes, die besonders in einer Idioten- 
anstalt nach außen hin leicht als uninteressant und fruchtlos erachtet 
wird, unbedingt notwendig, wenn die ärztliche Tätigkeit anregen 
und befriedigen und vor allem im Interesse der Kranken sowie der 
Verwaltung und Behörden Nutzen bringen soll. Es drängen sich 
für den Anstaltsarzt ganz von selbst Fragen auf, z. B. wie haben 
sich im Laufe der Jahre die Aufnahmeziffern und der Kranken- 
bestand zunächst rein zahlenmäßig entwickelt und wie verteilen sich 
die Zahlen auf die einzelnen größeren Krankengattungen und auf 
die einzelnen Altersstufen. Ferner wie haben sich die Abgangs- 
zahlen entwickelt und wie stellen sich die Abgänge zunächst zahlen- 
mäßig zu den Aufnahmen und dem Bestand, auch wieder in den 
einzelnen Gattungen und Altersstufen und zwar Abgänge durch Ent- 
lassung in eine Familie oder in eine andere Anstalt und die Ab- 
gänge durch den Tod. In Zukunft wird die Prüfung dieser Fragen 
wesentlich erschwert werden, da die Jahresberichte, die einzigen 
bleibenden Stätten, für welche diese bzw. ähnliche Zusammenstellungen 
in größerem Umfange weitergeführt wurden, auf Wunsch der Zentral- 
verwaltung durch Streichung dieser, gerade den Anstaltsarzt inter- 
essierenden Tabellen nunmehr erheblich gekürzt werden und damit 
der äußere notwendige Anlaß zu der regelmäßigen Fortführung der 
sorgsam und mit wohlüberlegten sowie weiterschauenden Plänen und 
Absichten angelegten Tabellen in Fortfall kommt. Die Jahres- 
berichte verlieren dadurch an ärztlichem Wert und werden mehr 
rein verwaltungstechnische Unterlagen vorwiegend finanzieller Natur. 

Aber auch die wissenschaftliche Seite kommt in Betracht. Wenn 
die Ergebnisse auch nichts Neues zeitigen können und sollen, so 
werden sie doch, zumal durch das immer mehr wachsende Material, 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 195 


wie schon hervorgehoben, dauernd in vermehrtem Maße sichergestellt, 
immer wieder als kleinere Bausteine zu größeren kasuistischen Auf- 
stellungen und Bearbeitungen besonders auch bei Erörterung von 
allgemein interessierenden Fragen gerade in unserer Zeit der Prophy- 
laxe und sozialen Fürsorge verwandt werden können. Denn in 
wissenschaftlicher Hinsicht, das brauchen wir uns nicht verhehlen, 
stehen wir hinsichtlich der Erforschung des jugendlichen Schwach- 
sinns noch in den Anfängen, wenn auch die erheblichen Fortschritte 
im letzten Jahrzehnt durchaus nicht verkannt werden sollen. Ferner 
werden gewisse Fragen über den Idiotismus an klinischen Instituten 
kaum zu lösen sein, da hierfür nur Massenmaterial und Beobachtungs- 
reihen über Lebensjahrzehnte der einzelnen Individuen in Frage 
kommen können, die sich nur in einer Anstalt sammeln lassen: hier 
verbringen diese Individuen einen großen, oft den größten Teil ihres 
Lebens; so kann man in einer Anstalt alle Entwicklungsphasen der 
Geistesschwachen, vor allem die juvenile Entwicklung unter ent- 
sprechender Zuhilfenahme des Hilfsschulwesens, dann die Jahre 
voller Arbeitskraft und schließlich auch die Periode des physio- 
logischen, körperlichen und geistigen Rückgangs, oft auch alle zu- 
sammen an dem einzelnen Individuum beobachten. Zum Teil liegen 
darüber in der Literatur keine oder wenige Veröffentlichungen 
vor, und meist resultieren diese aus zu kleinem Zahlenmaterial. 
Gerade dieses Moment wird von Dr. Kno in seiner Arbeit „Über 
den Einfluß der Trunksucht auf die Entwicklung der Idiotie“ 
(Allgem. Zeitschr. für Psych. D. 40 Heft 4 S. 570) ganz besonders 
betont. Von Interesse ist z. B. weiterhin die Erörterung der Frage, 
wie hoch im allgemeinen die Lebensdauer der Idioten einzuschätzen 
ist, wie sich die körperliche Entwicklung vor allem hinsichtlich des 
Längenwachstums und des Körpergewichts in allen Altersstufen ge- 
staltet, Fragen, zu deren weiterer Lösung es erforderlich ist, daß 
sich unter die zu beobachtenden Individuen alle Gattungen des 
Idiotismus und diese durch möglichst zahlreiche Beobachtungsreihen 
hindurch schieben; ferner interessiert auch die Frage, wie sich der 
Krankenbestand zahlenmäßig auf die einzelnen klinischen Unter- 
arten der Idiotie verteilt. 

Schließlich hat aber an solchen tabellarischen Zusammenstellungen 
auch die Zentralverwaltung selbst ein berechtigtes Interesse, zumal 
gerade der Ausbau der Idiotenpflege einen nicht unerheblichen Auf- 
wand ihrer jährlichen Etatmittel für die ihr gesetzlich zufallende 
soziale Fürsorge für Taubstumme, Blinde, Geisteskranke, Epileptiker 
und Idioten für sich in Anspruch nimmt. Gerade hinsichtlich der 


196 RIZOR, 


Frage, ob die enormen Opfer der Provinzialverwaltung wirklich 
nutzbringend angelegt sind und werden, müssen Beweise erbracht, 
muß Rechenschaft abgelegt werden. Andererseits müssen die Zahlen 
der Anstaltspflegebedürftigkeit der Idioten immer wieder nachgeprüft 
werden im Vergleich zu den Zählungsergebnissen der Idioten über- 
haupt. Hat sich der Begriff der Anstaltspflegebedürftigkeit unter 
Einfluß der veränderten sozialen Verhältnisse in unserer Zeit der 
sozialen psychischen Hygiene und der Prophylaxe erweitert oder 
verschoben? Von Bedeutung in dieser Hinsicht ist das preußische 
Gesetz vom 11. Juli 1891, das die Fürsorge für den Schwachsinnigen 
auf eine breitere Basis gestellt hat, ferner möglicherweise die Ent- 
wicklung und örtliche Ausbreitung der Hilfsschul- und Hilfsschul- 
klassenbewegung in den großen und mittleren Städten der Provinz 
und schließlich des Fürsorgeerziehungswesens, soziale Einrichtungen, 
die beide in mannigfacher Weise in das Gebiet der Schwach- 
sinnigenfürsorge hineinspielen. Hat sich der Charakter der Anstalt 
und haben sich somit auch ihre Aufgaben im Laufe der Jahrzehnte 
geändert? Haben sich vor allem die bei der Gründung der Anstalt 
besonders in den ersten Jahren ihres Bestehens gehegten Hoffnungen 
und Erwartungen erfüllt? Muß in Zukunft eventuell neueren Forde- 
rungen der Zeit in veränderter Form Rechnung getragen werden? 
Was für Aufgaben werden sich entwickeln? So ergeben sich auch für 
die Provinzialverwaltung aus solchen Zusammenstellungen eventuell 
Unterlagen für Perspektiven für die Zukunft. 

Zur Veranschaulichung der Krankenbewegung in den 50 Jahren 
mögen die in der Anlage beigefügte Tabelle und Kurve dienen. 

Wir sehen, daß die Bestandziffer dauernd gestiegen ist, wenn 
auch nicht immer in dem gleichen Verhältnis. Ende März 1912 hat 
sie mit 786 Kranken den Höchststand in den 50 Jahren erreicht. 
Gewisse Wellenbewegungen lassen sich wie in allen ähnlichen 
Krankenbeobachtungen nicht verkennen. Aber neben diesen ganz 
natürlichen Erscheinungen kommen noch andere Faktoren von ein- 
schneidender Bedeutung für diesen unregelmäßigen Steigerungsver- 
lauf der Bestandziffer in Frage, die bei der Beurteilung dieser be- 
rücksichtigt werden müssen: Der Bestimmungscharakter der Anstalt 
hat sich nämlich im Laufe der Jahre fraglos erweitert; die Anstalt 
war 1862 gegründet in erster Linie als Erziehungs- und Bildungs- 
anstalt, also mehr von dem pädagogischen Standpunkte aus, insbe- 
sondere in der bestimmten Erwartung, daß die große Mehrzahl der 
Zöglinge durch Erziehung und systematischen Unterricht neben 
Berücksichtigung der körperlichen und hygienischen Pflege soweit 





















































Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 197 
Krankenbewegung 1862—1912. 
Bestand 
am Anfang ER Verpflegt Entlassen Gestorben 
des Jahres pi 2 ol der o der 
m. | w. | Sa. |m. | w.|Sa.| m. | w. | Sa. |m. | w.|Sa.(Verpt.| m. | w. | Sa |Verpfi. 
=. as 23|16 39] 23| 16) 39I—| 1| 1) 20 11—| 1) 26 
31 22| 15, 37122|19| 41] 44| 34| 781 21— | 2| 2,6 1| 1| 2| 2,6 
41| 33| 74|23 |11| 34| 64| 44|108| 2| 1| 3| 28 | 3|—! 3| 28 
59| 43 |102{22/|11/ 33| 81| 54j|135| 9| 817| 126 |—|—|—| — 
72| 46|118ļ|15 16 | 31] 87| 62,149] 5) 5/10| 6,7 2|—]| 2| 1,3 
j 80| 57 |137[|20 |15| 35/100| 72|172|14| 620| 116 | 5| 3 8| 4,7 
81| 63 144|18| 9|27| 99| 72/171|12| 3115| 88 | 3| 2| 5| 2,9 
84| 67 |151 [17 |22| 39101 | 89 1900| 7| 6113| 6,6 | 8| 3|11| 5,8 
86| 801166|16|16 | 32| 102 | 96/198] 7| 6,13) 6,6 | 6| 915| 7.6 
89| 811170116115 | 31]105 | 96/201] 5| 7112| 60 | 6| 4/10! 50 ı 
94 | 85 17923 |22| 45| 117 107 1224| 4 4) 8| 36 | 4'15:19| 89 
109) 88/197 [31112 43] 140 100 240 | 11| 6 17 | 7,1 6| 713, 5,4 
123| 871210125 24 | 49/148 |111 259| 6| 7/13| 5,0 |12| 6118| 69 
130 | 98 |228|25,11| 361 155,109 264 |11| 8'19| 7,2 4| 9/13) 49 
140 | 92 232115 15 | 30155 |107 1262| 9| 7.16) 61 7| 2| 9| 3,4 
139| 98 |237 [17 |14| 31ļ|156 |112 |268|11| 9,20| 7,5 | 6| 4/10, 37 
139| 99 238ļ|15| 5| 20154 | 104 |258|13| 5'18| 7,0 7| 2| 9| 3,5 
134| 97 231 |44 |30| 74| 178 |127 |305|12| 9 21| 69 |11| 5l1b| 52 
155 | 113 | 268 |20 21 | 417175 134 1309| 7| 7114| 45 [|10| 6/16, 5,2 
158 | 121 | 279 | 19 | 14 | 33{ 177 | 135 |312| 5| 6|11| 83,5 |—]| 1| 1| 0, 
172|128 200|25 | 18 | 43|197 146 |343| 5 1520| 58 | 9 2Jıı 32 
31183 |129 |312|29| 15) 4412121144 |356| 8| 4 12| 34 | 5/—| 5 14 
199 | 140 | 339 125 15 | 401 224 1155 1379 |13 | 6,19| 5,0 | 5| 4| 9| 2,4 
206 | 145 | 351 [26 | 18 | 44| 232 | 163 | 395 |11 |10/21| 5,3 J10| 3,13) 3,2 
211 | 150 361 [31 |15| 46|242 |165 407|21| 2|23| 59 | 9/11/20| 4,9 
212 152 364 |388 22| 60| 250 | 174 | 424|11| 3|/14| 33 |8| 6| Se 3,3 
231 | 165 | | 396 135 | 35 | 70{ 266 200 466| 7| 9/16| 34 | 7/8 1 3,2 
252 | 183 | 435 | 43 30 | 73]295 213503115 1328| 5,5 | 8 |13 al 41 
[272187 45942 33 | 7ala14 220/534 |16 18 20| 5.4 [20115135 65 
278 | 192 470 |37 | 24 | 61|315 216 531ļ21|14,35| 6,6 1011020, 38 
| | 
284 | 192 476] 3120| 51315 1212 |527 | 9 | 7 | 16) 30 |15| 6/21 | 4,0 
93 | 291 | 199 490 |48 | 41 | 841339 12401579 |15 | 6 21| 3,6 9| 9/18| 31 
315 | 225 | 540 |61 | 37 | 981 376 |262 |638|17| 3/20! 3,1 [10| 616 | 2,5 
349 | 253 | 602 |31 |35| 66{ 380 | 288 | 668|12| 6 18| 2,7 |11/13|24, 3,6 
357 | 269 | 626 | 48 30 | 78[ 405 | 299 | 704 |24 | 832) 4,5 |12|18|30| 4,3 
369 | 273 | 642 | 60 | 32 | 92| 429 | 305 | 734 |13 |14|27| 3,5 |18|14|32| 4,0 
398 | 277 | 675 | 44 | 23 | 67| 442 | 300 | 742 |12| 9 21 2,7 114/17 |31| 4,2 
416 | 274/690 [41 |31 | 72] 457 | 305 | 762 |21 | 16 37| 4,8 Im 9|28| 3,6 
417 | 280 | 697 |45 22 | 67| 462 | 302 | 764| 8| 8| |16; 21 [21 18/39! 5,1 
433 | 276 | 709 |37 | 20 | 57| 470 | 296 | 766 | 15 10 |28 3,6 |19|18/87| 4,8 
2 | 433 | 268 | 701 |45 27 | 72| 478 | 295 | 773 | 48 14| 62| 80 |12| 6|18| 2,3 
418 | 275 | 693 | 28 | 20 | 48| 446 | 295 | 741 | 13| 7,21) 2,7 |14| 7|21| 2,8 
419 | 281 | 700 | 61 | 35 | 96| 480 | 316 | 796 |39| 15 54| 6,8 |12| 9121, 3,0 
1905 | 429 | 292 , 721 | 52 | 30 | 82| 481 | 322 | 803 | 60 | 36 | 96 | 12,0 |19| 4123| 2,9 
1906 | 402 | 282 ' 684 | 46 | 41 | 87| 448 (323 |771 [14| 721| 2,7 |15|11126| 3,4 
1907 | 419 | 305 | 72+ | 43 | 38 | 81|462 | 343 | 805 | 16 | 18 34 | 4,2 |14|19|33| 4,1 
1908 | 432 | 306 | 738 | 51 | 38 | 89| 484 | 344 | 828 | 17 | 17 | |34 4,1 |20/17 137) 44 
1909 | 446 | 310 | 766 | 64 | 37 1101| 510 | 347 | 857 | 62 10 72 8,4 |14| 8|22| 2,6 
1910 | 434 | 329 | 763 | 58 | 53 |111| 492 | 382 | 874 | 54 | 14 | 68 | 7,8 |18|10|28| 3,2 
1911 | 420 | 358 | 778 | 52 | 33 | 85| 472 | 391 | 863 |40| 9'49| 5,8 |15|13|28| 33 
iaa laitaa lehnte Ale 





198 Rızor, 


zu bringen wären, daß sie außerhalb der Anstalt ihr Fortkommen 
finden. Zwar wurde die Aufnahmefähigkeit nicht von der Bildungs- 
fähigkeit abhängig gemacht, da auch von vornherein für eine Ab- 
teilung für nichtbildungsfähige Elemente gesorgt war. Immerhin 
legte man den Hauptwert auf die Ausbildung der fortbildungsfähigen 
Geistesschwachen, was sich schon allein darin dokumentiert, daß 
man die Leitung der Anstalt in die Hände eines Pädagogen legte. 
So wurden dann im Lauf der ersten 3 Dezennien mit wenigen Aus- 
nahmen nur Individuen von 5—15 Jahren aufgenommen. Es zeigte 
sich aber sehr bald ein wesentliches Moment für das Anwachsen 
der Bestandziffer: die Hoffnungen hinsichtlich der Entlassung so 
mancher Zöglinge verwirklichten sich nicht. Der Abgang stand in 
gar keinem Verhältnis zum Zugang. Einerseits wurden die von 
vornherein nicht bildungsfähigen Elemente noch erheblich vermehrt 
durch die Zahl der Geistesschwachen, deren Bildungsfähigkeit sich 
erst im Laufe ihres Anstaltsaufenthalts erschöpfte. Andererseits 
war man nicht in der Lage, manche von den geistig relativ sehr 
geförderten Individuen, die wohl in der Anstalt und ihrem Betriebe 
brauchbar und nützlich waren, zu entlassen», da sie im bürgerlichen 
Leben doch unselbständig waren und ohne Halt der Anstalt, vor 
allem ohne deren Aufsicht und Anleitung in der Arbeit und der 
ganzen Lebenshaltung nicht existieren konnten. Für sie mußte die 
Anstalt ein Asyl bleiben. Bereits 1877 vermerkte Dr. Kınp in seinem 
Berichte, daß auf diese Weise der Schwerpunkt der Anstalt allmählich 
nach der Seite der Pflege und des Asyls rückt. 


Der Bestand ist gewachsen: 
im 1. Dezennium durchschnittlich um 17,9 Kranke pro anno 


” 2. ” ” ” 12,1 ” ” ” 
” 3. ” ” ” 17,6 ” ” ” 
Sr: S $ LIION dee, Zë 3 
” 5. ” ” ” 8,5 ” ” ” 


Das vierte Dezennium brachte das Gesetz vom 11. Juli 1891 
in seiner Ausführung: in diesem Zeitraum, besonders in den Jahren 
von 1893—99 wächst der Bestand um 200 von 490 auf 690 Kranke, 
mithin pro anno durchschnittlich um 27,75 Kranke. Da drängt sich 
von selbst die Vermutung auf, daß diese schnelle Steigerung der 
Bestandziffer auf die Wirkung des Gesetzes von 1891 zurückzuführen 
war, das den kleinen Armenverbänden eine wesentliche Erleichterung 
der Lasten für die Anstaltspflege der Geisteskranken, Epileptiker 
und Idioten um 2, brachte. In dieser Ansicht wurde man noch 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 199 


durch den Umstand bestärkt, daß in den nächsten 2 Jahren die 
weitere erhebliche Steigerung ausblieb, indem die Bestandziffer 
um 15 und 7, mithin durchschnittlich nur um 11 Kranke pro anno 
wuchs. Man erklärte sich dies Nachlassen der Steigerung sehr leicht 
damit, daß die früher d. h. vor dem Inkrafttreten des Gesetzes 
zurückbehaltenen Kranken mittlerweile so ziemlich versorgt und in 
der Anstalt untergebracht seien und daß sich nunmehr Aufnahme 
und Bestand ungefähr in diesen, von jetzt an wohl als normal anzu- 
sehenden Grenzen halten würden. Aber Dr. VÖLKER warnte s. Zt. 
in seinem Berichte vor dieser Auffassung und machte darauf auf- 
merksam, daß die erwähnte schnelle Steigerung nicht allein eine 
Wirkung des Gesetzes gewesen sei, sondern daß diese ebenso wie 
das spätere auch auffallende Nachlassen derselben natürliche Schwan- 
kungen in der Krankenbewegung überhaupt seien. Die Zeit hat 
ihm durchaus Recht gegeben. Die durchschnittliche Steigerung des 
Bestandes im vierten Dezennium hatte 22,5 Kranke pro anno betragen. 

Im 5. Dezennium stieg der Bestand pro Jahr durchschnittlich 
um 8,5 Kranke. Auch diese Zahl, im Vergleich zu den früheren an 
sich sehr niedrig, fällt auf und muß besondere Gründe haben. Sie 
ist nicht etwa durch verminderte Anstaltspflegebedürftigkeit be- 
dingt. Für den Bestand kommt in erster Linie das Verhältnis 
zwischen Zu- und Abgang in Betracht. So ist die trotz der 
numerisch stetig zunehmenden Zugänge niedrige Wachstumsziffer 
des 5. Dezenniums nur möglich gewesen durch die zahlreichen Ab- 
gänge. Auf diesen Faktor im einzelnen werde ich später eingehen. 

Das Wachstum der Bestandziffer ist wichtig zur Beurteilung 
der Zukunft einer Anstalt. Man kann allerdings nur mit gewissen 
Durchschnittszahlen, die aus einem längeren Zeitabschnitts genommen 
sind, rechnen. In diesem Fall ergibt sich die Zahl 15,7 Kranke 
pro Jahr. 


Der Bestand ist nämlich gewachsen: 


im 1. Dezennium im Durchschnitt um 17,9 Kranke pro anno 
in den ersten 2 Dezennien „ = „1230 ,„ ër 
D m n 3 ” 29 D Dm 15,9 „ ” ” 
” ” ” 4 D 29 ” D 17,5 ” D 29 
» „5 Dezennien a o sé ALT, um SES 


Für den Durchschnittszuwachs ist Voraussetzung, daß für die 
Abgänge gewisse Momente in Geltung bleiben, die besonders im 
letzten Dezennium eine erhebliche Wirkung ausgeübt haben, das ist 
vor allem eine genügend große Zahl von Entlassungen, die, wie wir 


200 Rızor, 


später sehen werden, eventuell nur durch Zuhilfenahme von be- 
stimmten Evakuationen z. B. durch Abgabe an eine Tochteranstalt 
zu ermöglichen ist. 

Von dem Bestand ultimo März 1912 entstammten 90°, dem 
Geburtsorte nach aus der Provinz Hannover. 


Tabelle I. 
Dauer des Aufenthalts des Krankenbestandes Ende März 1912: 


























Jahre |Kranke| Jahre | Kranke | Jahre |Kranke| Jahre | Kranke f| Jahre | Kranke 
unter1| 69 10 13 20 13 30 o 40 4 
1 | 93 11 5 21 16 31 12 41 1 
2 84 12 12 22 9 32 2 42 1 
3 | 60 13 13 23 4 33 4 43 1 
4 , 36 14 13 24 4 34 2 44 0 
5 | 38 15 13 25 9 35 1 45 1 
6 45 16 15 26 10 36 2 46 3 
7 46 17 15 27 15 37 4 47 0 
8 20 18 2 28 5 38 2 48 3 
9 32 19 14 29 6 39 3 49 0 
50 2 











Tabelle III. 
Von dem Krankenbestande Ende März befanden sich bereits in der 





Anstalt: 
1912 1902 
Jahre m | 
Kranke Hi des Bestandes Kranke | %, des Bestandes 

über 50 2 | 0,3 — | — 
» 40 16 ! 2,0 4 0,6 
„30 48 | 6,1 34 4,9 
„ 20 139 17,7 93 13,3 
„ 10 263 | 33,5 251 35,8 
a, "ër 444 56,3 442 63,1 


Leider fehlen weitere Vergleichszahlen aus früheren Jahren, da 
erst Dr. VÖLKER 1902 diese Statistik aufgestellt hat. Während 1902 
auf jeden Kranken durchschnittlich 9,3 Jahre Anstaltsaufenthalt 
entfallen, ergibt sich für 1912 für die gleichen Verhältnisse 9,6; 
mithin eine Steigerung. Dieselbe würde entschieden noch höher 
sein, wenn nicht gerade die Evakuationen der letzten Jahre vor- 
nehmlich die Individuen betroffen hätten, die bereits viele Jahre in 
der hiesigen Anstalt gewesen waren. 

Die Wirkung der Evakuationen macht sich auch geltend in 
der folgenden 





Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 201 


Tabelle IV. 
1885 | 1886 1887 | 1888 | 1889 |1891 ] 1892 | 1893 | 1894 | 















45,60 | 45,70 | 47,13 | 45.09 


bis zu 15 Jahren [45,15 
54,40 54,30 | 52,87 54,91 


über 15 Jahren |54.85 57,6 | 573 | 63,67 | 60,93 








42,4 | 42,7 |36,33 Sei a, 








1903 







| 1895 | 1896 |1897 |1898 | 1809 | 1900 | 1901 | 1902 












bis zu 15 Jahren 


41,69 | 39,46 | 37,54 | 35,86 | 40,96 | 35,15 | 33,1 | 31,2 | 34,2 
über 15 Jahren 


58,31 60,54 | 62,46 | 64,64 59,04 64,85 | 66,9 | 68,8 | 65,8 
I I I 











1904 |1905 |1906 |1907 |1908 | 1909 |1910 EI |1912 | 
bis zu 15 Jahren | 31,7 |34,02 | 33,04 


34,67 | 32,79 
über 15 Jahren | 68,3 | 65.98 | 66,96 


32,4 
65,33 | 67.21 


67,6 


38,1 
61,9 


37,1 
62,2 


34,4 % 
656 | „ 























Diese Tabelle soll durch einen Vergleich der Altersverhältnisse 
eine Reihe von Jahren darstellen, wie durch das Altern des Be- 
standes ‚sich das Zahlenverhältnis der Erwachsenen zu den Kindern 
immermehr zuungunsten der letzteren verschiebt. Es finden sich 
ultimo März 1912 34,4%, des Bestandes unter 15 Jahren, 65,6), 
über 15 Jahre. Die Evakuationen der letzten 3 Jahre, die im all- 
gemeinen nur Kranke über 20 Jahre betroffen haben, verursachen in 
den letzten Jahren den Rückgang der Prozentzahlen für die Er- 
wachsenen. Ziehen wir die Altersgrenze für Erwachsene und Kinder 
mit 18 Jahren, so ergeben sich folgende Zahlen: über 18 Jahre 
51,8 °%, unter 18 Jahren 48,2 °/. 

Die Altersverhältnisse des Bestandes unter gleichzeitiger pro- 
zentualer Verteilung auf die Gruppe der Zöglinge und Pfleglinge 
Ende März 1912 im einzelnen erklärt die folgende 


Tabelle V. Alter des Bestandes unter Berücksichtigung der 
Zöglinge und Pfleglinge. 














Zöglinge Pfleglinge 

Jahre | | | e 
we — | = | = 0,5 0,4 0,9 a, 
„ 5-7] 01 = 0,1 0,7 09 1,6 > 
7—-9| 07 0,4 1,1 2,2 22 4,4 £ 
„» 9-2| 22 1,5 3,7 6,0 2,7 8,7 s 
s. 12-16] 40 2,4 6,4 4,6 2,9 7,5 a 
„ 1-0| 75 4.6 12,1 45 4.5 9,0 ! 
w 20-201 74 42 11,6 14 5,8 7,2 x 
„ 30-40 | 55 4,0 9.5 1,8 4,6 5,9 s 
» 40—50] 23 17 4,0 0,1 1,8 1,9 3 
„ 50—60] 07 1,3 2,0 04 12 1.6 x 
5 60 | 04 Ke 0,4 01 0,3 0.4 G 
50,9 49,1 3 





202 RIZOR, 


Als Durchschnittsalter wurde für Ende März 1912 22 Jahre 
ermittelt, während 1886 als solches 17®/, Jahre festgestellt wurde; 
ich komme auf diese Zahlen bei dem Abschnitt über die Lebens- 
dauer der Idioten zurück. An dieser Stelle ein Wort über die Be- 
griffe Zöglinge und Pfleglinge. Letztere sind mehr oder weniger 
tiefstehende Kranke, nicht bildungsfähig und zu einer nutzbringen- 
den Beschäftigung in den meisten Fällen nicht zu verwenden; sie 
bedürfen eben, wie ihr Name schon sagt, sorgsamer Aufsicht und 
Pflege, besonders auch einer individuellen Berücksichtigung in der 
Ernährung. Die Zöglinge sind bildungsfähig, besuchen in jungen 
Jahren die Schule und beschäftigen sich darüber hinaus in Gärtnerei, 
Landwirtschaft und Werkstättenbetrieb bzw. in Haus- und gröberen 
Küchen- sowie leichteren Handarbeiten. Wir haben unter dem Be- 
stand 50,9%, Zöglinge und 49,1%, Pfleglinge; vor 10 Jahren war 
das Verhältnis 61,3°/, Zöglinge und 38,7%, Pfleglinge. Dieses Ver- 
hältnis hätte sich in den letzten 10 Jahren noch mehr verschoben, 
wenn nicht durch die Evakuationen gerade die Pfleglingsabteilungen 
betroffen worden wären. Auf diesen Punkt komme ich später noch 
einmal zurück. 

Die Trennung der Kranken in die beiden Hauptgruppen Zög- 
linge und Pfleglinge geschieht von rein praktisch-ärztlichem Stand- 
punkte aus; derselbe deckt sich nicht mit klinischen Gesichtspunkten. 
Unter Berücksichtigung dieser letztgenannten ergibt sich folgendes 
Bild: 

Tabelle VI. 





Pfleglinge 




















e a. Zöglinge 
VM -Ty 5 Sa. 
Erankher Lyp männl. | weibl. | männl. | weibl. P 
Hydrozephal. 2 | 2 |2(imit|6(4mit| 12 
| Lähmg.) | Lähmg.) 
Mikrozephal. 2 |2(1 mit 5 1 
|Lähmg. ) 
Turmschädel 2 — 1 3 
Kretinismus — | -— — | 3 3 d d 
Mongolismus 1 1 5 2 9 (yon wie SEN 
tuberöse Sklerose u AN enge — 2 2 
spast. Lähmungen | | 
(dipleg.) — 1 7 | 89 48 
Multiple ‚Sklerose 1 3 cp 4 10 J 
Chorea-Athetose 1 -- 5 5 u H EE 
zerebrale Lähmung 10 7 13 11 41 
schlaffe Lähmung — | — Deb 10 | höchstens 15 J. alt 
19 4 | %0- 159 |= 20,2%, d. Best. 
N ie mmm, —— 0 
— 124 =31 1% u. Zw. 4,5 lo Zögl. 


| der Zöglinge der Pfleglinge 15,7% Pflegl. 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 203 





 Zöglinge Pfleglinge 











männl. | weibl. männ.]| weibl. 











im 1. Lebensdezennium] — — 8 | 12 20 Los 
e A sg 8, 7] Æ j| %4 | sei 2 See 
"a 2 | 2 ZS Srel 
SC S tS Si $ $ Ul Best. 
WE 7 = 1 OU 2 If 
„6. ` Ke | Ka E LN EEE 

mw | |0 |3 

TS, 192-7, 
123 


Verhältnismäßig gering ist also die Zahl der Anstaltsidioten, 
bei denen sich klinisch-organische Symptome deutlich nachweisen 
lassen, Symptome, welche in erster Linie als Beweis für das Zu- 
standekommen der Idiotie, also ätiologisch mit Recht kritisch ver- 
wandt werden können, zumal doch, wie schon erwähnt, gerade die 
Beurteilung der Anamnesen für die Ätiologie von Psychosen und 
Idiotie skeptische Kritik herausfordert. Nur bei 20,2°/, des Be- 
standes findet man also gravierende Symptome organisch-klinischer 
Art, die für das Krankheitsbild charakteristisch sind, d.h. dasselbe 
zu einem gewissen Typ stempeln. Die Zahl kann natürlich wechseln; 
z. B. erscheint die Zahl der Mongolen im Vergleich zu den in anderen 
gleichartigen Anstalten Untergebrachten wie beispielsweise in 
Chemnitz-Altendorf, gering, welche Anstalt 2%, ihres Bestandes auf 
Möngolen gerechnet hat. Von weiteren wissenschaftlich anerkannten 
Untergruppen der Idiotie, z. B. familiär-amaurotische Idiotie, juvenile 
Paralyse, thymöse Idiotie u.a. finden sich zurzeit keine Fälle, ein 
Beweis, daß diese Unterarten gerade nicht häufig sein können. Das 
Gros der Fälle bietet außer vermehrten körperlichen Entartungs- 
zeichen oder Störungen der Sprache, bzw. der Sinnesorgane keine 
für die Idiotie spezifischen Symptome, läßt sich also nicht zu irgend- 
welchen bestimmten Typen unterordnen. Die Tabelle VI läßt auch 
erkennen, daß von den 20,2°/, 4,5°/, auf die Zöglinge und 15,7%, 
auf die Pfleglinge entfallen. Mit typischen Lähmungserscheinungen 
behaftet sind 15,7°, des Bestandes und zwar zu !/, die Zöglinge 
und *, die Pfleglinge; von den 15,7°/, entfallen 10,8, auf Indivi- 
duen unter 20 Jahren, ein Faktor, der für die Beurteilung der 
Lebensdauer der Anstaltsidioten in Betracht zu ziehen ist. 

Ich möchte nun dazu übergehen, das gesamte Aufnahmematerial 
in der Art, wie es in den früheren größeren Zusammenstellungen 
geschehen ist, kritisch zu sichten. Es sind im Laufe der 50 Jahre 


204 Rızor, 


2889 Geistesschwache in der hiesigen Anstalt zur Aufnahme ge- 
kommen. 

Zunächst ein Wort im allgemeinen über die Erblichkeitsverhält- 
nisse. Die Hereditätsfrage wird heutzutage in unserer Zeit der 
Prophylaxe allseitig sehr gewürdigt und ist mit manchen aktuellen 
Fragen der Psychiatrie eng verknüpft, wie sie seit Dezennien über- 
haupt ein aktuelles Thema in der Naturwissenschaft ist. Leider 
sind wir bei der heutigen Erbforschung von einer Kenntnis der 
mannigfachen Faktoren der Vererbung, des Zusammentretens und 
der Aufspaltung elterlicher Eigenschaften noch weit entfernt. Der 
Vererbung unterliegt in erster Linie die Anlage zu psychischen 
Anomalien, denn gerade das Nervengewebe scheint in ganz beson- 
derem Maße einer derartigen Beeinflussung zugänglich zu sein. 
Fraglos spielt die Frage der Abstammung, die eventuelle erbliche 
Belastung, ätiologisch vornebmlich für die Zustände der angeborenen 
Geistesschwäche und ihre weitere Entwicklung eine wichtige Rolle. 
Diese Geistesschwäche ist schließlich direkt ein Symptom der 
endogenen minderwertigen Anlage. In diesem Sinne hat seinerzeit 
Wurrr bei der gleichen Gelegenheit wie der heutigen den so sehr 
bekannten Ausspruch Scaüre's betont: „Wir sind, was wir sind, nur 
zum kleinen Teile durch uns; zum größeren sind wir das Werk 
unserer Ahnen.“ Es haben sich bislang auch keine Gründe gefunden, 
die Annahme, daß die Idiotie in der großen Mehrzahl der Fälle als 
das Endglied eines degenerativen Prozesses in der Familie, als das 
letzte Glied in der Kette der familiären Entartung anzusehen ist, 
fallen zu lassen. Die große Bedeutung einer durchweg ausgiebigen, 
womöglich von verschiedenen Seiten aufgenommenen Anamnese ergibt 
sich also daraus: von selbst. Stets wird es jedoch eine nicht ge- 
ringe Zahl von Fällen geben, bei denen sich die erbliche Belastung 
nicht nachweisen läßt. Die Anverwandten versuchen oft, aus Un- 
kenntnis, z. T. aus falscher Scham die Angaben über Kranke oder 
sittlich entartete Angehörige zu verschleiern. Das Schlußergebnis 
der Hereditätsforschung könnte daher schließlich ganz unbedenklich 
eher noch höher eingeschätzt werden, wie die Zahlen selbst angeben. 
Oft wird man nämlich in Fällen, wo von und nach den verschieden- 
sten Seiten die Belastung geleugnet wird, plötzlich aufgeklärt, wenn 
man im Lauf der Jahre die verschiedenen Angehörigen selbst näher 
kennen lernt, wie sie sich vor allem durch ihr ganzes Verhalten, ihre 
Ansichten und Forderungen, ihre psychische und intellektuelle Eigen- 
art charakterisieren; man stolpert dann sozusagen über die Be- 
schränktheit und den Schwachsinn der Angehörigen, über welche in 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 205 


der Hinsicht gutachtlich und aktenmäßig nichts bekannt war, so daß 
man sogleich verleitet werden möchte, bei dem Betreffenden selbst 
eine Intelligenzprüfung abzuhalten. Ich bin mir also bewußt, wie 
schwer es hält, absolut zuverlässige Zahlen hinsichtlich der erblichen 
Belastung zu bekommen. Für diese Tatsache spricht schon die 
Differenz der Ergebnisse aus den früheren Jahren und denen der 
jetzigen. In der Literatur schwanken die Angaben in dieser Weise 
zwischen !/; und ?/, bis sogar *,°/, der erblichen Belastung. Ich 
vergesse nicht, daß man in der Beurteilung hereditärer Momente 
recht kritisch zu Werke gehen muß. Der Begriff der hereditären 
Belastung wird eben wohl auch verschieden weit gefaßt, bald enger, 
bald weiter. In unseren Zahlen sind bei der psychoneuropathischen 
Belastung berücksichtigt: eigentliche Psychosen inkl. Blödsinn und 
Suizid sowie konstitutionelle Neuro- und Psychopathien und mo- 
ralische Defekte; für sich gesondert berüchsichtigt sind: Trunksucht 
sowie konstitutionelle Krankheiten in der Familie wie Tuberkulose 
und Lues. 


Psychoneuropathische Belastung wurde festgestellt 


in 1040 1300 2037 2889 Fällen 
in den Jahren 1862—1886 1862—1892 1862—1902 1862—1912 
in 32,1 52,6 55,4 50,3%. 


Dieselbe verteilt sich im einzelnen auf folgende Weise: 
Tabelle VII. 





Fälle: 
in den Jahren: 





1300 2037 2889 
a Leg 1862—1892 aa Tooo anne 


Erbl. Anlage von De Seite 4,7 82 77 7,8 
a e 5 7,8 89 87 7,5 

e beiden Eitern Seite 1,3 1,9 3,4 4,7 

Weitere familiäre Anlage 14,5 20,4 269 | 225 
Erbl. und weitere familiäre Anlage 3,8 13,2 8,7 | 7,8 
Psychoneuropathische Belastung 32,1 52,6 55,4 | 50,3 


Ce k | 
Wie oft Trunksucht, Tuberkulose und Lues in der Aszendenz 
gefunden werden konnten, ergibt die 
Tabelle VIN. 


Zahl der Fälle: 1040 1300 2037 
in den Jahren: | 1862—1886 | 1862—1892 | 1862—1902 


2889 
1862—1912 








Potus in Aszendenz 13,9 18,0 | 20,8 20,3 
Tuberkulose in Aszendenz 17,4 22,8 22,9 17,4 
Lues in Aszendenz 0,9 1,3 | 0,8 0,6 





Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VII. 14 


206 Rızor, 


Das Vorkommen der Trunksucht, spezialisiert auf die einzelnen 
Familienzweige, erläutert die 


Tabelle IX. 















Zahl der Fälle: 1040 


2889 
in den Jahren:| 1862—1886 1862—1912 


m. | w. | Sa.| a 





1300 2037 
1862—1892 1862—1902 







Trunksucht b. d. | 





Vater | 58 | 56 1,0 385| 13,3 

n» b. d. Mutter | 1|— 0,1 5| 9| 14 05 
„ b. beiden | 

Eltern| 4 — A 0,4 7 16/ 0,6 

„ b. Großvater |13 | 11, 24 5.0 63) 57.120 5.9 87 721159] 5,5 

n b. Großmutter] — | — | — $ 3| Vi 10) 0,4 

| 20.3 





Berücksichtigt man psychoneuropathische Belastung und Trunk- 
sucht zusammen als erbliche Belastung, so läßt sich keine erbliche 
Belastung nachweisen 


in 1040 1300 2037 2889 Fällen 
in den Jahren 1862—1886 1862—1892 1862—1902 1862—1912 
in 54,0 29,4 23,8 29,3 o; 


mithin konnte durchschnittlich in 70,7 °% erbliche Belastung mit 
Sicherheit nachgewiesen werden. Diese Zahl würde größer sein, 
wenn das Ergebnis der ersten 25 Jahre ein größeres gewesen wäre 
und aus umfangreicheren und auf breiterer Basis angelegten 
Anamnesen hätte gewonnen werden können. 

Trunksucht, Tuberkulose und Lues, die als vornehmlichste Quellen 
der neuropsychischen Erschöpfung bereits allgemein anerkannt sind, 
können gleichzeitig typische Keimschädigungen bewirken. Wieweit 
Lues für die Idiotie als direkte Ursache in Frage kommt, ist schwer 
zu entscheiden, zumal die kongenital luetischen Stigmata allgemein 
zu wenig anerkannt sind und auch die Wassermann’sche Reaktion 
wider Erwarten wenig positive Ergebnisse (nach deutschen Lite- 
raturangaben: 1,5—14,4°/,, nach französischen allerdings erheblich 
mehr) gezeitigt hat. Und in den Fällen, in welchen Lues durch 
Wassermann’sche Reaktion sichergestellt ist, soll noch nicht ohne 
weiteres erwiesen sein, daß sie wirklich die einzige Ursache zur 
Entstehung des Schwachsinns gewesen ist. 

Soweit die endogenen Momente; ätiologisch kommen weiterhin 
auslösende Ursachen in Frage, die anamnestisch vielfach als wahr- 
scheinlich direkte Krankheitsursache angegeben zu werden pflegen. 
Als solche werden beschuldigt: 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 207 


Frühgeburt bzw. erschwerte Geburt infolge Kom- 
plikation oder besonders lange Dauer der- 
selben in . . . . 10 °%, der Fälle 

Fieberhafte Erkrankungen mit, bzw. ohne Krämpfe 
wie z. B. Intermittenz, Malaria, Scharlach, 

Masern, Erysipel, EE iiti a a LOY 


Meningitis usw. in . . TAN Ca oh 
Verletzungen des Kopfes vor Eintritt der Krauk- 

heit in... . 33 ar ss 
Psychische Störungen der Maiteri in der Schwanger- 

schaft in . .. DH 7 e 
Fall- oder akute Enkis der Mutter in der 

Schwangerschaft in . BD no è » 


Tuberkulose selbst, abgesehen von der Hirnhautentzündung, 
spielt in der Genese der Geistesschwäche keine augenfällig direkte 
Rolle. 

Zu diesen Zahlen möchte ich bemerken, daß für die Beurteilung 
dieser letztgenannten, der exogenen Ursachen noch größere Skepsis 
angeraten erscheint als bei der Beurteilung der hereditären Be- 
lastung überhaupt, nur nach der anderen Seite hin. Man darf nie 
Kausalität mit Koinzidenz verwechseln und muß manchem Zweifel 
Raum lassen, ob nicht dieses oder jenes Moment als Ursache aufge- 
faßt wird, das bereits in Wirklichkeit Folge, mithin Symptom der 
vorher schon vorhandenen, allerdings noch nicht erkannten oder 
auch noch nicht erkennbaren Krankheit gewesen ist; besonders gerät 
man in dieser Beziehung in Ungewißheit bei den Angaben über 
Krämpfe im Säuglings- oder Kindesalter ohne weitere Erkrankungen, 
vorwiegend über die sogenannten Zahnkrämpfe, die gern als Schwach- 
sinnsursache angesehen werden. Krämpfe im Kindesalter inklusive 
reiner genuiner Epilepsie wurde in 31,4%, der Aufnahme beobachtet. 
Hinsichtlich der Infektionskrankheiten, die von den Eltern infolge 
ihrer mangelnden Beobachtungsgabe oder auch infolge ihrer elter- 
lichen Eigenliebe vielfach gern als die ausschließliche Ursache der 
Geistesschwäche angegeben wird, weist besonders BONHOEFFER darauf 
hin, daß das recht häufig zu Unrecht geschieht. Weitere Vorsicht 
ist vor allem geboten bei der Würdigung der Angaben über akute 
Erkrankungen oder Störungen bzw. Fall der Mutter während der 
Schwangerschaft. Bei der Gewinnung dieser statistischen Endzahlen 
fiel auf, daß gerade die letzten Jahrzehnte in dieser Hinsicht immer 
mehr negative, bzw. immer weniger positive Resultate brachten, 

14* 


208 RIZOR, 


trotzdem in den Anamnesen regelmäßig nach ihnen geforscht wurde. 
Zweifellos legen die Angehörigen selbst, legt das Volk überhaupt 
im Vergleich zu früher weniger Gewicht auf die ursächliche Be- 
wertung solcher Erscheinungen. Ich möchte wohl glauben, daß 
psychische Störungen bei der Mutter während der Schwangerschaft 
wie nach Schreck, Angst u. dgl. ätiologisch eher nur in hereditärer 
Hinsicht allgemein zu beachten und zu verwerten sind als daß man 
sie als direkt ursächliches Moment anschuldigen könnte. Ebenfalls 
immer weniger positiv sind in ätiologischer Hinsicht die Forschungs- 
ergebnisse in bezug auf schlechte und ungesunde Wohnungsver- 
hältnisse, trotzdem heutzutage allgemein lebhaftes Interesse für 
Hygiene und die allgemeine Aufklärungstendenz unserer Zeit über 
die Anforderungen an die hygienischen Verhältnisse besteht; auch 
nach solchen Ursachen ist regelmäßig gefragt worden. Blutsver- 
wandtschaft der Eltern bzw. Großelteru fand sich in 3,7 °/, der Auf- 
nahmen; bei dieser Aufstellung bin ich nicht in der Lage gewesen, 
zu konstatieren, ob diese Fälle wirklich von beiden elterlichen Seiten 
belastet waren, denn anderenfalls kann die Feststellung der Bluts- 
verwandtschaft kein ätiologisches Interesse beanspruchen. Denn 
nicht die Blutsverwandtschaft als solche, sondern bekanntlich nur 
die homologe Belastung seitens beider Eltern oder ihrer Ascendenten 
bedingt die Entartung der Nachkommenschaft, indem sie die Defekte 
verstärken oder latente in Erscheinung treten läßt. Allerdings soll 
die Häufigkeit der Verwandtenehe, bei der übrigens die Fruchtbar- 
keit gering, die Kindersterblichkeit groß sein soll, ungleich größer 
sein unter den Eltern von Taubstummen, Geisteskranken, Idioten 
und wahrscheinlich auch anderer pathologischer Zustände als unter 
der allgemeinen Bevölkerung. Bezüglich der Frühgeburten als Ur- 
sache der geistigen Anomalien muß darauf hingewiesen werden, daß 
die von Neurologen vielfach aufgestellte Behauptung, frühgeborene 
Kinder seien in höherem Maße als reife zur Little'schen Krankheit, 
Idiotie, Imbecillität und Epilepsie disponiert, sich nach neueren 
Veiöffentlichungen nicht aufrecht erhalten läßt. Wohl soll sich bei 
einem Teil der früh geborenen Kinder eine gewisse Verzögerung 
der körperlichen, intellektuellen und psychischen Entwicklung bemerk- 
bar machen, die darin ihren Ausdruck finden soll, daß diese Kinder 
verspätet laufen lernen, längere Zeit bettnässen, zu Sprachstörungen 
neigen und in der Schule zuerst nur mittelmäßig oder schlecht 
mitkommen. Doch soll diese Entwicklungsverzögerung keine an- 
haltende oder irreparable sein; angeblich erfolgt allmählich ein 
Ausgleich, so daß es den Anschein habe, als ob diese Kinder längere 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 209 


Zeit dazu brauchen, das durch die vorzeitige Geburt entstandene 
Entwicklungsdefizit nachzuholen. 

Die Zahl der Fälle, in denen keine der vorher genannten endo- 
und exogenen Ursachen nachgewiesen werden konnten, beträgt 13,3 °/,. 
Bei den übrigen 86,7%, kommen also entweder eine oder mehrere 
der oben angeführten Entstehungsursachen wahrscheinlich resp. 
möglicherweise in Betracht. 

Die Krankheit soll bei der Aufnahme angeboren gewesen sein 
in 62%, der Fälle; dazu muß ich bemerken, daß die entsprechende 
Zahl für die Zeit von 1887 bis 1912 73,4°, ist. Die höheren 
Prozentsätze der letzten 25 Jahre bei der Gewinnung der statistischen 
Zusammenstellungen z. B. auch, was die erbliche Belastung anbe- 
langt, sind auf den Umstand zurückzuführen, daß eine ausgiebigere 
Anamnesenforschung und eingehendere Begutachtung. eingesetzt hat. 
Hinsichtlich der anamnestischen Angaben darüber, ob die Idiotie 
angeboren ist, kann man wohl nicht mit Unrecht annehmen, daß dies 
auch in Wirklichkeit weit mehr.der Fall ist, als der Befund ausdrückt. 

Unehelich Geborene finden sich unter den Aufgenommenen im 
Durchschnitt 12,4°,; die niedrigste Zahl war 1887: 8,2°%, die 
höchste 1891: 21,3°%,. 1912 wies die preußische Statistik unter 
100 Geburten 9,6 uneheliche nach. 

Ganz interessante Einblicke in die Familienverhältnisse ge- 
währen die folgenden Tabellen X, XI und XII und zwar in die 
Altersverhältnisse der Eltern zur Zeit der Geburt der aufgenommenen 
Kranken und den Kinderreichtum der Eltern zur Zeit der Aufnahme 
des idiotischen Kindes. 


Tabelle X. 






Alter der Eltern bei der Geburt der Kranken: 
Lebensalter 15—20'21—2526—30|31—35|36—40|41— 45 45—50/51—60 61—7 


11 | 101 | 330.| 24,4 | 178 | 12,3 


62 Aal o 
46 | 202 | an 2 150 | 74 14 | DI 


| 
| 





des Vatersin 
der Mutterin 


















Tabelle XI 
Kinderreichtum der Eltern z. Z. der Aufnahme der Kranken: 

















je e| 1| 2| DI 4 | bje NS |s 9  1olıı |12 |18 | Geschwister 
1 Aranken|Vorgeboren 9,1! 1421 168/15.612,0108 9,858] 273021, o à. Fälle 
Kinde nachgeboren)0,0 1 8,2) 20,7118,8/14,8| 7,842 24 210 CES WE te 











210 Rızor, 


Von den Geschwistern waren 52,4°, dem kranken Kinde vor-, 
47,6°), dem kranken Kinde nachgeboren. 


Tabelle XII. 


Für die Zeit ergaben sich und zwar in jeder Familie 

1862—1886 5,3 Kinder pro Ehe 3,1 gesunde Kinder = 58,2 °% 
1862—1892 53 „ aý 3,1 = n = 5R 4 
1862—1902 55  „ RAR 2,1 = n = 6,2°, 
1862—1912 b5 ia a, 8 3,1 Ge „n = 56,2 


Es ergibt sich die interessante Tatsache, daß die Mehrzahl der 
aufgenommenen Idioten sozusagen in den besten Lebensjahren der 
Eltern gezeugt und geboren sind und daß sie aus relativ kinder- 
reichen Familien stammen; es halten sich die vor- und nachgeborenen 
Geschwister in der Zahl so ziemlich die Wage. Die Annahme, daß 
die Geistesschwachen häufig Erstgeborene oder Alterskinder, d. h. 
solche, die bei vorgeschrittenem Alter ihrer Eltern geboren sind, 
spielt also keine Rolle; ebensowenig kommt die Altersdifferenz der 
Eltern ursächlich nachweisbar in Frage. Die höchste Durchschnitts- 
zahl für den Kinderreichtum der Familie war 1892 6,3 Kinder, die 
niedrigste 1898 4,9 Kinder pro Ehe. Es fällt aber auf, daß unter 
den Geschwistern zur Zeit der Aufnahme des betr. idiotischen 
Kindes im Durchschnitt nur 56,4°,, körperlich und geistig gesund 
leben; die niedrigste Durchschnittsprozentzahl war 1902 43 °/,, die 
höchste 1912 80 °/,. 

Nun zu den Geistesschwachen selbst: durchschnittlich 60,8 °/, 
von den Aufgenommenen sind mit der Mutterbrust genährt; die 
laufende Statistik läßt erkennen, daß bis 1901 die Zahl unter 56,1), 
nicht herunter geht, dagegen im letzten Dezennium Zahlen wie 
35,6°%, und 36,1%, gefunden wurden; es muß allerdings dabei in 
Betracht gezogen werden, daß in diesem Jahrzehnt sehr viele Fälle 
(bis 31°,) vorhanden waren, in denen sich über diesen Punkt 
anamnestisch nichts eruieren ließ bzw. nichts festgestellt ist. 


Von den Aufgenommenen 


litten an Skrophulose 16,9%, 
waren gelähmt 12,5%, 
zeigten keine Mängel in der Sprache 45,0% 
, Mängel WA 5 259%, 
„ fehlende Sprache 29,1% 
„ mangelhaftes bzw. fehlendes Gehörvermögen 81%, 


a e ge x Sehvermögen 6,0% 
Die Verteilung der Aufnahmen auf die einzelnen Altersstufen. 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 211 


Tabelle XIII. 
Alter 
Jahre 


| | 
1002-10 1872 -1881| 1882—1891| 1892—1901| 1902—19114 1862 —1911 





1862 





von 1— 5ļ| —|0,9 | 1,8) 1,8 3,1 | 4,9 3,7 DL. Pëlle 
ber 5— 7 [10,3 9,2 11,7 148 127] 11 sl 12,0 Be 
„ 7-9 [20,6 21,1\86,5 24.0192, 22)7 92.6229786! 20,3 $78,8|21,681,5] „np „n 
„ 9—12 [|30,7/27,0 29,3 34.0 231 127,0 24,7 RR 
„ 12—15 |30,728,2 126.5 18.3 16,8) | 15,0 17,2 Ge, 
» 15-20 | 7711,N,5,70=75 6, cal 10,9 1, 10,5 2 
ee | 1,0 9 - 8,4 6.8 (en 4,9 SN d 
sw 30—410 — _ al 21,4 e 21,2] 1,8)18,5| „ „ 
SNE H — = — 08 0,7 Een 
„ 0-0] -ı — _ = Dei | 09 0,6 GE e 
» 60 P en = nF 0,2 | De == nn n 





Tabelle XIV. 


Alter | 1862—1891 | 1862—1901 | 1862—1911 | 


von 1— 5 Jahren | 2,4 
| 





| 837 %, der Fälle 
über 5— 7 Jahre 180 12,4 | 120 d. dr Sé 
e ER 22,7190,3 22,8184,2 216815 |7 2 ? 
” 9—12 >? 31,6 27. J 24) ae 
” 12—15 ? 22,3 192 172 Se: 
a 15—20 , 8,3 9,6 10,5 SE 
0-90 > 08 3,7 | £9) Se AY 
Et 0,6 9,7 1.6115,8 181881, 4 z 
” 40—50 n 0,3 2 wi H n 
„ 50 ” SES 0,5 | 0.6 nn n 


Besonders die Tabelle XIII läßt deutlich erkennen, wie seit 
1891/92, dem Inkrafttreten des Gesetzes, die Aufnahmen unter 5 und 
über 20 Jahren zunehmen. In dieser erweiterten Auffassung der 
Anstaltspflegebedürftigkeit sehe ich weit mehr die Wirkung des 
Gesetzes als in der reinen numerischen Zunahme der Aufnahmen 
überhaupt. 





Tabelle XV. 








Zögli Pflegli 
Alter öglinge eglinge 
m | w | Sa m | w | Sa 

von 1— 5 Jahren — | — 1,6 2,9 45 |% 
über 5— 7 Jahre 0,6 0,2 0,8 5,9 3,8 9,7 = 

NT: AR 3,2 7,7 81 41 | 122 |, 
ee 7,5 b9 | 134 | 96 30 | 126 |7 
„ 12—15 , 82 62 14,4 32 18 | 50 |, 
” 15—20 , 48 42 90 1,5 07 22 |, 
„n 20—30 , 1,7 20 3,7 0,2 05 020% 
» 80—40 „ 0,4 1,4 1,8 0,3 0,1 04 |, 
” 40—50 ; 0,1 08 0,9 0,1 03 04 | „ 
„ 50—60 „ 0,4 — 0,4 0,1 — 01 |, 
n»n 60 n SE 0,1 0,1 KS ebe? == n 


N 
DI 
w 
a| 
l 


212 - RIZOR, 


Diese Tabelle mit Verteilung der Aufnahmen auf die beiden 
Hauptgruppen, Zöglinge und Pfleglinge, interessiert in erster Linie 
den praktischen Anstaltsarzt. Für diese Zusammenstellung habe 
ich allerdings nur die Aufnahmen von 10 Jahren (1900—1910) durch- 
prüfen können, da mir über die früheren Jahre diesbezügliche An- 
gaben nicht zur Verfügung standen. 


Von den Aufgenommenen haben vor Aufnahme in die Anstalt 
eine Schule 


gar nicht 43,2 °/,, ohne Erfolg 26,2 °/, besucht. 


In das letzte Dezennium fällt, wie schon erwähnt, die rapide 
Entwicklung des Hilfsschulwesens. Diese Bewegung hat sich unter 
der rührigen und umsichtigen Leitung des Deutschen Hilfsschul- 
verbandes in staunenswerter Weise überall in Deutschland aus- 
gedehnt. Ich habe mir die Mühe gemacht, die Zugänge des letzten 
Jahrzehnts nach ihrem Aufnahmebezirk zu ordnen, um an der Hand 
der Statistik über die Orte mit Hilfsschulen oder Hilfsschulklassen 
eventuell nachzuweisen, daß unsere Aufnahmezahl bei den bildungs- 
fähigen Zöglingen zurückgegangen ist; zweifellos hat nämlich die 
Aufnahmezahl der Zöglinge abgenommen. Doch ließ sich das er- 
wartete Resultat, das gerade an den Orten, wo Hilfsschulbewegung 
eingesetzt, ostentativ die Zöglingsaufnahmen numerisch zurück- 
geblieben, nicht nachweisen. Wohl scheinen sie infolge der Hilfs- 
schulbewegung sich qualitativ geändert zu haben, d.h. wir bekamen 
Aufnahmen, die bereits die Hilfsschule besucht, jedoch ohne Erfolg 
erledigt hatten, zu uns also dadurch relativ spät, vor allem später 
gekommen waren, als sie im anderen Falle wohl gekommen wären. 
Aber vermutlich hätten diese betreffenden Kranken hier in der An- 
stalt auch nicht weiter gefördert werden können, selbst, wenn sie 

- eher gekommen wären. Denn die Kinder, welche den Schulunter- 
richt in einer Hilfsschule nicht bewältigen konnten, waren in unserer 
Anstalt erfahrungsgemäß auch nicht soweit zu fördern, daß sie sich 
nach einiger Zeit nennenswert nutzbringend beschäftigen konnten. 
Also der numerische Einfluß der Hilfsschulbewegung auf das Auf- 
nahmematerial unserer Anstalt läßt sich nicht beweisen. Man 
darf eher vermuten und hoffen, daß die zahlreichen Besucher 
der Hilfsschulen und -klassen das Material der Normalschulen ent- 
lasten, ohne unserer Anstaltsbewegung Abbruch zu tun. Ein ge- 
wisses Bestreben der Armenverbände durch die Unterbringung in 
Hilfsschulen die Kosten der Anstaltsfürsorge zu ersparen, indem sie 
die Kranken auf diese Weise in der Familie belassen, ist auch so- 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoversahen ‘Anstaltsfürsorge usw. 213 


lange durchaus gerechtfertigt, wie dabei das Interesse der Kranken 
nach allen Seiten hin gewahrt wird. 

Eine weitere sozialpolitische Institution mit merklichem Einfluß 
auf die Anstaltsfürsorge war im letzten Jahrzehnt neben der Anwen- 
dung des $ 1666 B.G.B. (Entziehung der elterlichen Rechte) das Gesetz 
betreffend die Fürsorgeerziehung Minderjähriger vom 2. Juli 1900. 
Dasselbe hat unsere Zugänge numerisch wohl etwas vermehrt. Leider 
wird aber häufig durch diese Zugänge ein wenig guter Einfluß auf 
die übrigen Insassen beobachtet, indem die Fürsorgezöglinge oft 
Elemente sind, die wegen ihrer moralischen Defekte in den Rahmen 
unserer offenen Anstalt im allgemeinen wenig hineinpassen und uns 
häufig durch ihre psychopathischen Züge viele Schwierigkeiten 
machen. In den letzten Jahren scheinen auch die Fälle von Für- 
sorgeerziehung zuzunehmen, in denen das Verfahren nicht aus dem 
Grunde der moralischen Verwahrlosung durchgeführt ist, sondern 
weil die Eltern die ihnen durch evtl. Anstaltsunterbringung ge- 
botene Gelegenheit zur Pflege und zum Unterricht ihrer schwach- ` 
sinnigen Kinder zurückweisen und so das Wohl derselben gefährden, 
sei es aus Unkenntnis des pathologischen Zustandes ihres Kindes 
oder aus Vorurteil gegen die Anstalt, sei es infolge ihres Unver- 
mögens, sich von dem Kinde trennen zu können, oder aus Wider- 
stand gegen die Zahlung des ihnen zufallenden Zuschusses zu den 
Anstaltsfürsorgekosten. Prinzipielle oder generelle Hindernisse gegen 
diese Auffassung der Fürsorgeerziehung bestehen im Gesetz nicht. 
Auch dürfte diese Art der Anwendung, da in Preußen sonst irgend- 
welche klare und bindende gesetzliche oder behördliche Unterlagen 
bezüglich des Unterrichtszwangs für Idioten nicht bestehen, wohl das 
durchaus gerechtfertigt sein, wenn die Kinder wirklich bildungs- 
fähig sind, erscheint aber hart, wenn die Bildungsfähigkeit gering 
ist oder sich bald erschöpft. In diesem neuen Auffassungsmodus 
kann man sozusagen die ersten Anfänge zu einem Zwang der An- 
staltsbehandlung von Geistesschwachen in schulpflichtigem Alter 
sehen, wie ihn z. B. bereits Braunschweig und Bayern klar und präzis 
haben, Preußen aber sehr vermissen läßt. Bezüglich der nicht voll- 
sinnigen, also taubstummen und blinden Kinder, hatte allerdings ein 
ministerieller Erlaß vom 19. 6. 1906 bereits ausdrücklich auf diesen 
Weg der Anwendung der Fürsorgeerziehung hingewiesen. 

So kann die Fürsorgegesetzgebung, deren wichtigstes Ziel die 
Prophylaxe sein soll, dazu beitragen, die Fürsorge für geistes- 
schwache Minderjährige so zu fördern und auszugestalten, wie Geistes- 


214 Rızor, 


schwache auf eine ihrer Befähigung und Eigenart angemessene Er- 
ziehung und Ausbildung Anspruch haben. 

Die Abgänge im allgemeinen ergeben sich zunächst aus der 
Haupttabelle und der Hauptkurve. Die Berechnung für die einzelnen 
Dezennien ergibt die 

Tabelle XVL 





Entlassungen 
Zahl der nicht Todesfälle 
In den Jahren: | Ver- gebessert gebessert Summe 
pflegten 


%, der | absol. |, der | absol. | %, der 
Verpfl.| Zahl |Verpfl.| Zahl |Verpfl. 


bs | 34 | 108| 67 | 57 | 35 


absol. |%, der | absol. 
Zahl \Verpfl.| Zahl 








von 1862—1871 











„ 1872—1881 78, 28 | 157, 58 | 124 | 47 
1882 —1891 100 | 23 | 217i 50 | 163 | 36 
„ 1892—1901 91 | 1,2 | 236| 34 | 276 | 89 
„ 1902—1912 174 | 11 — | 24 | 257 | 32 
386 | 3,7 io | 5,2 
714 1226 377 
2103 


Beide Zahlen, sowohl die einfache Summe sowie die Durch- 
schnittsprozentzahl sind für die Entlassungen wie für die Todesfälle 
in den ersten 4 Dezennien gestiegen, dagegen im 5. Dezennium bei 
den Todesfällen auf die niedrigste Zahl von 3,2%, zurückgegangen, 
bei den Entlassungen aber enorm gestiegen. Dies letzte Moment 
ist auf die Evakuationen zurückzuführen. Dieselben haben im letzten 
Dezennium 235 Kranke, also über 10°, der gesamten Abgänge in 
den ganzen 50 Jahren und über 50°, der Entlassungen im letzten 
Jahrzehnt betragen. Prozentual den Verpflegten hatten wir 1865 
die höchste Entlassungsziffer mit 12,5%, und die niedrigste 1900 
mit 2,1 °. 

Es sind im Laufe der 50 Jahre 2103 Kranke aus der Anstalt 
abgegangen, und zwar auf dem Wege der Entlassung 1226 (ge- 
bessert 512, nicht gebessert 714) und durch Tod 877. Zunächst 
wollen wir die Entlassungen allein für sich ins Auge fassen. Bei 
dieser Gelegenheit ein Wort über den Begriff „Gebessert“. Man 
muß davon ausgehen, daß der Idiotismus vielfach ein noch nicht 
zum Abschluß gekommener Krankheitsprozeß ist, bei dem mithin die 
Maßnahmen der Besserung oft durch unerwartete Krankbheitsschübe 
usw. unterbrochen und beeinträchtigt werden. Es wird in der An- 
stalt durch entsprechende Pflege und Lebensweise der Gesamt- 
organismus gehoben und gekräftigt; zugleich werden die schwach 
entwickelten Funktionen der Nerven und der Psyche mittels be- 
sonderer Übungen, Anregungen und Einwirkungen und durch eine 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 215 


dem hilfsbedürftigen Individuum unter ärztlichem Beirat angepaßte 
Hilfsschulausbildung gefördert, damit in späteren Jahren die Kranken 
vor allem zu nutzbringender Arbeit und Tätigkeit befähigt sind. Es 
muß jedes Mittel versucht werden, in diesen Menschenruinen das noch 
zu fördern und zu gestalten, was die Natur ihnen an restitutions- 
fähigen Eigenschaften gelassen hat. So wurden also als gebessert 
gerechnet diejenigen, welche entweder ins Öffentliche Leben zurück- 
versetzt werden und sich in der Familie ihrer Angehörigen nützlich 
beschäftigen oder sich sogar ihren Lebensunterhalt zum großen Teil 
selbst erwerben konnten. Die Zahl dieser letzteren ist immer ge- 
ringer geworden, weil der verschärfte Kampf ums Dasein die geistig 
schwachen Individuen, die sich sowieso ohne zweckentsprechende 
Leitung im Leben nicht halten können, in kurzer Zeit unbarmherzig 
untergehen läßt. Die Zahl der durch Anstaltspflege und -fürsorge 
Gebesserten ist aber in Wirklichkeit noch erheblich größer. Bei 
bescheidenen Ansprüchen dürfen die Fälle nicht übersehen werden, 
in denen oft schon dadurch viel erreicht worden ist, daß die Kranken 
an Sitten, wie Reinlichkeit und Ordnung, gewöhnt sind oder in denen 
wenigstens die physischen Kräfte flüssig und der schwachen Intelli- 
genz untertan gemacht sind. Vor allem müßte ferner evtl. die große 
Zahl derer noch berücksichtigt werden, welche in der Anstalt selbst 
nur aus Mangel an geeignetem Unterkommen verbleiben mußten, in 
dieser aber alsdann nützliche zum Teil unentbehrliche Arbeitskräfte 
geworden sind, ferner diejenigen, welche in der Anstalt durchaus 
zufriedenstellend, geschickt und fleißig arbeiten, jedoch nur unter 
Berücksichtigung von Aufsicht und Anleitung. Diese beiden Fak- 
toren lassen sich in unserer schnellebigen Zeit draußen im Leben 
immer weniger ersetzen. Dies Moment erschwert die Entlassungs- 
fähigkeit vieler Kranken dauernd in zunehmendem Maße. Aus der 
Tabelle XVI ist zu ersehen, wie die Zahl der Entlassungen über- 
haupt, besonders der gebessert Entlassenen zurückgegangen ist. Man 
muß bei dieser Berechnung die Evakuationen ausscheiden, um zu 
einwandfreien Resultaten zu kommen. An dieser Stelle ein Wort 
über die Evakuationen: es sind solche in großem Maßstabe nur im 
Lauf des letzten Dezenniums erfolgt und zwar: 1904 und 1906 in 
das Asyl zur Pflege Epileptischer und Geistesschwacher zu Roten- 
burg, das auch der Aufsicht des Landesdirektoriums untersteht, 1906 
zahlreiche epileptische und hochgradig pflegebedürftige Kranke in die 
verschiedenen Irren- und Landarmenanstalten der Provinz und 1909, 
1910 und 1911 in unsere 1909 gegründete Tochteranstalt Himmels- 
thür bei Hildesheim. 


216 Rızor, 


Die nicht gebessert Entlassenen setzen sich zusammen aus 
solchen, bei denen nach Ansicht der Angehörigen die Besserung 
nicht schnell genug erfolgt oder von denen sich die Angehörigen 
nicht auf längere Zeit trennen können, also Kranken, welche bereits 
nach kurzer Zeit meist vor Ablauf eines Jahres zurückgenommen 
worden sind; ferner aus solchen, die sich als absolut bildungs- 
unfähig erwiesen haben, aber keiner besonderen, eigene Anstalts- 
einrichtungen erfordernden Pflege und Überwachung bedürfen, also 
die genügende Aufsicht und Pflege in der Familie oder in Asylen 
fanden, bei denen eine regelmäßige dauernde ärztliche Versorgung 
nicht stattfindet. 

Unter den gebessert, zum großen Teil aber nicht gebessert Ent- 
lassenen befinden sich auch solche, deren geistiger Zustand sich im 
Lauf der Jahre erheblich verschlimmerte, indem sie z. B. hallu- 
zinierten oder heftige Erregungszustände häufig mit moralischer Ent- 
artung bekamen. Solche Kranke eignen sich nicht für den offenen 
Charakter und die freiere Verpflegungsform unserer Anstalt, da 
diese für solche Kranke gar keine Einrichtungen besitzt, sie müssen 
möglichst bald an die Irrenanstalten abgegeben werden. Immerhin 
ist aber die Zahl derartiger Kranken gering; jedenfalls kann sie 
unter den Entlassungen nicht zu Buch schlagen; sie konnte für die 
Jahre 1869—1880 und von 1898—1912 festgestellt werden u. zw. 
wurden 24 bzw. 11 Kranke an Irrenanstalten abgegeben; nicht be- 
rücksichtigt sind hierbei 15 Kranke, die 1906 aus Evakuations- 
bedürfnis in Irrenanstalten überführt sind. Unter den vorher 
genannten Kranken sind auch solche, die von vornherein als ander- 
weitig geisteskrank der Anstalt zugeführt waren, deren Aufnabme 
also irrtümlich erfolgt ist, da ihr geistiger Zustand aus den ärzt- 
lichen Aufnahmegutachten als solcher vorher nicht zu erkennen 
gewesen war. Besonders wurde dies beobachtet bei Kranken, die 
aus sehr belasteten und wenig leistungsfähigen Kommunen kamen, 
die vermutlich die höheren Pflegesätze der Irrenanstalt hatten er- 
sparen wollen. 

Bei den Entlassenen interessieren uns besonders 2 Gesichts- 
punkte: 1. das Alter, in dem die Entlassungen erfolgten, 2. die Dauer 
ihres Anstaltsaufenthaltes, beides prozentual berechnet. 

Eine wesentliche Beeinträchtigung bzw. Verschiebung der Zahlen 
ist durch die Evakuationen in dieser Hinsicht nicht erfolgt. Wie 
sich bei den Evakuierten Lebensalter und Anstaltsaufenthaltsdauer 
zur Zeit der Überführung verhalten haben, ist ebenfalls aus den 
Tabellen zu ersehen. 


217 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 


Tabelle XVII. 








Abgänge 
1862—1912 


1902—1912 
Evakuierte 





Überhaupt 





Gestorben 





Gebessert 


Über 
haupt 





Ge- 
bess. 


Nicht 
gebessert 






(See 


ge- 
bess. 


Dan 
EN 





m. | w. | Sa. 


Sa. 





Srurramamoo 











anne er Re 


q= Sa. 





SSES 


ne nn en non 





Tabelle XVII. 


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Von den Entlassenen und Gestorbenen hat sich jeder im Durch- 


schnitt 8,2 Jahre (ausschl. der Evakuierten) in der Anstalt auf- 


1n- 


Eine genauere Aufstellung in dieser Hinsicht über e 


zelne Zeitabschnitte ergibt die 


gehalten. 


218 " Rızor, 
Tabelle XIX. 








Anstaltsaufenthaltsdauer bei den i 
Überhaupt 
Gebesserten | Nicht Gebesserten | Gestorbenen 
1862—1886 4,8 | 3,4 4,4 42% 
1862—1892 5,3 | 3,5 4,9 4,6 „ 
1862—1902 5,6 | 3,9 6,0 Dä, 
1862-1912 7,7% | 6,8 | 9,5 82 „ 


*) ausschl. der Evakuierten: 7,5°/,. 


Die Tatsache, daß die Aufenthaltsdauer der Abgänge immer 
größer geworden ist, muß in erster Linie darauf zurückgeführt 
werden, daß es in den letzten 2 Jahrzehnten immer schwerer ge- 
fallen hat,. Entlassungen zu ermöglichen. Die betr. Zahlen für die 
beiden Dezennien sind: 


1892—1902 5,9 b. d. Gebesserten 4,3 b. d. nicht Gebesserten 
1902—1912 9,8*) ”»» ” 9,7 non nm ” 
*) 9,3 ausschl. der Evakuierten. 


Aus den vorgenannten Tabellen über Alter und Aufenthalts- 
dauer der Entlassenen pflegte Wuurr folgenden Schluß zu ziehen: 
Er berechnete zunächst, in welcher Altersstufe die meisten Ent- 
lassungen lagen und wie die durchschnittliche Anstaltsaufenthalts- 
dauer der betr. Kategorie war, und fand so, in welchem Alter die 
betr. Gruppen der Kranken durchschnittlich wohl in die Anstalt 
gekommen sein mögen. Es stellte sich heraus, daß für die Ge- 
besserten wie die Nichtgebesserten bei dem Eintritt in die Anstalt ein 
relativ hohes Alter vorlag, mithin die Besserungsaussichten vermut- 
lich günstiger wären, wenn die Kranken früher den Vorteil der An- 
staltsfürsorge genossen hätten. Er fand folgende Zahlen: 





1886 gebessert nicht gebessert 
Alter 15—20 Jahre (60 °/,) 9—20 Jahre (74 °/,) 
Aufenthaltsdauer 5 Jahre 31, Jahre 
Aufnahmealter: 10—15 Jahre 5 Ya—16 '/a Jahre 


nicht gebessert unter 1 Jahr Aufenthaltsdauer —50°/, 


1892 
\nach dem 15. Jahre 32 °/, 





Alter 12—15 Jahre (72 °/,) Ma a iS E bT 
Aufenthaltsdauer = 5 Jahre 3 1a Jahre 
Aufnahmealter 7—10 Jahre 8 1—11 1 Jahre 


nicht gebessert unter 3 Jahre Aufenthaltsdauer = 63°), 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 219 


1912 ergeben sich folgende Zahlen: 


Alter 12-20 Jahre (63 °/,) 15—20 Jahre (54,7 %,) 
Aufenthaltsdauer "ie Jahre 6,8 Jahre 
Aufnahmealter 4 14—12 !/ Jahre 8,2 —13,2 Jahre 


nicht gebessert unter 3 Jahre Aufenthaltsdauer = 45,8 °/,. 


Hiernach hätten sich also die Verhältnisse entschieden zum 
Vorteil, wie man ihn schon dauernd gewünscht, geändert, nämlich, 
daß besonders die bildungsfähigen Geistesschwachen möglichst früh 
der Anstalt zugeführt werden. Dem ist aber nicht so: wie wir aus 
der Tabelle XVIII ersehen haben, werden die Zöglinge zum höchsten 
Prozentsatz zwischen 12. und 15. Lebensjahre der Anstalt zugeführt, 
und das ist fraglos zu spät. Im allgemeinen kommen auch die Zög- 
linge im Alter von 9—12 Jahren, ebenfalls ein höherer Prozentsatz 
der Aufnahmen, zu spät in die Anstalt. Wir haben auch keinen 
Beweis dafür finden können, daß die Unterrichtserfolge im Lauf der 
Jahre, wie man es nach der letzten Aufstellung erwarten müßte, 
sich gebessert hätten, was auch zweifellos hätte eintreten müssen, 
wenn die Zöglinge im allgemeinen früher gebracht worden wären; 
Vorraussetzung bleibt dabei, daß die intelektuelle Qualität derselben 
sich nicht verschlechtert hat. 

Wie sich die Abgänge überhaupt, sowie die Entlassungen und 
Todesfälle für sich getrennt auf die einzelnen Hauptgruppen, Zög- 
linge und Pfleglinge, in den einzelnen Altersstufen verteilen, er- 
gibt die 
Tabelle XX. 





Abgänge Entlassungen Todesfälle 























































Alter 

Zöglinge |Pfleglinge | Zöglinge |Pileglinge | Zöglinge | Pfleglinge 
m. | w.| Sa. m.| w.| Sa. m. |w. Sa. m.| w. Sa. | m. w. Sa. m. | w.| Sa. 

| 

| 
von 1—5 ale _bebs! 1,1 Zeg —0,20,2 0,41 — B A oda 
über 5—- 7 10,10, o.lı.3lılo 23] 02 — 0,20,80,6| 14|—1 | —| 281.11 3/9 
» 7-9[0704 1120113 33| 080,4 Län 1,2]0,8'0,3| 1,1] 3,73,3, 7,0 
» 9-12 | 231,7 405,341 94[ 23123) 448,818] 5.6[1,2 2,2, 3,4112,05,2117,2 
» 12-15 [3,428 6,2]1,93,7| 8.6] 4,439 833518 5,31091,0 1,9] 834,312,6 
„ 15—20 [11,7 5,0 16,76,113,5| 9.6[15.4 5,6 21.0[5,6 3,4! 9,013,74,4| 8,1| 6,4. 4,6 11,0 
„n 20-30 | 8,8.4,0 12,8[7,3,3,8111,1[12,0 4,8 16,8/9,113,7112,13,0,1,9, 4,9] 8,15,1/13,2 
» 30-40 | 2,80,9] 4,7133.0.5 3,8] 3,81,2 5.013,50,2] 3,705 11,1 1,6] 1,312] 3,5 
„ 40—50 0.6.03) 1.111.106] 1,7] 0,50,4 0,911,40,4 1,8106 1,1] 1,7] 03 1,1| 1,4 
» 50-60 | 0,60,2| 0,8[0,9,0,3| 1.2| —0,2| 0,2j0,4 —| 0,4|1,50,3 1,8] 1,90,8| 2,7 
„ 60 oil 0.11—0,1| 0.2] — 0,2] 0,20,2) —| 0.2[—| — _—| 0,8) —| 0,3 
DR | 523| | 1582 31,8 215 | 755 











e 
e 


220 Rızor, 


Bei den Zöglingen geht die Mehrzahl durch die Entlassungen 
ab, bei den Pfleglingen die Mehrzahl durch Tod. 


Die Mortalität ist aus der Haupttabelle und der Hauptkurve 
zu ersehen. Die Durchschnittsberechnungen für die einzelnen 
Dezennien gehen aus der Tabelle XVI hervor, und zwar zeigt das 
letzte Dezennium die niedrigste Durchschnittsmortalität. Wir hatten 
die höchste Mortalität 1872 mit 8,9°/, und die niedrigste 1865 mit 
0°. Die preußische Statistik für 1912 ergibt 1,6 Mortalität. Das 
Alter und die Aufenthaltsdauer der Verstorbenen ergeben sich aus 
den Tabellen XVIII und XIX. Die meisten Insassen sind im Alter 
von 15—20 Jahren und weiter von 9—15 und 20—30 Jahren ge- 
storben. Die Prozentzahl steigt also im niedrigeren und fällt im 
höheren Alter ziemlich regelmäßig. Hinsichtlich der Anstaltsaufent- 
haltsdauer ergibt sich, daß die meisten Kranken unter 1 Jahr 
sterben; dann geht die Prozentzahl herunter. Es ist bezeichnend, 
daß die Individuen sich erst umgewöhnen müssen und daß sie aber 
in der Anstaltsfürsorge dann dauernd widerstandsfähiger werden 
und sind. Bei den Zöglingen und Pfleglingen besteht die Mortalität 
in einem Verhältnis von 1 zu 3. 

Unter den Todesursachen finden wir in erster Linie Tuberkulose 
und Gehirnkrankheiten. Störungen betr. des Zentralnervensystems 
wurden in 17,8°, der Fälle als Todesursache festgestellt. Fälle, 
in denen phatologisch-anatomisch makroskopisch keine Anomalien 
des Zentralnervensystems gefunden wurden, konnten ca. 10%, nach- 
gewiesen werden; im anderen Fall fanden sich wenigstens stets 
Lepto- bzw. Pachymeningitis, Hydrocephalus externus bzw. internus 
leichteren oder schwereren Grades. Daß Gehirnsymptome unter den 
Todesursachen bei den Geistesschwachen einen höheren Prozentsatz 
als bei den Normalen ausmachen, ist bei der spezifischen Art der 
Krankheit, derenthalben die Anstaltsfürsorge erfolgte, selbstverständ- 
lich. Anders bei der Tuberkulose. Über diese Todesursache klärt 
die Tabelle XXI auf. Die Tuberkulose ist und war immer ein 
wesentlicher Teil der Todesursache in Anstalten geblieben. Für die 
letzten 20 Jahre war es möglich, statistisch festzustellen, wie oft 
bei der Sektion die Tuberkulose als reine Todesursache festgestellt 
werden mußte und wie oft sie ohne solches Moment als Nebenbefund 
festgestellt wurde. Dies ist ebenfalls aus Tabelle XXI und der 
Kurve XXII zu ersehen. 


Ergebnisse aus 50 ‚Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 221 


Tabelle XXI]. 
Tuberkulose als Todesursache nach Sektionsbefund: 





1862—1886 = 33,0%, | 
1886—1892 = 408 

1892—1902 = 377 
1902—1912 = 276 


y 


” 


einschl. Tuberkulose 
im Nebenbefund 
50,6 


35, 


5 


nm 


1862-1886 — 33 9, 
1862—1892 — 36.9 „ 
1862—1902 — 37,4 „, 


1862—1912 = 325 | 


Kurve XXII. 



































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Es ist zweifellos ein erhebliches Sinken der Prozentzahl in 
beiden Hinsichten zu vermerken, besonders zeitlich, nachdem durch 
den vollkommenen Um- und Neubau der Anstalt allen Forderungen 
der Hygiene Rechnung getragen ist und durch diesen besonders die 
Überfüllung der Anstalt, die wohl mit eine Hauptursache für die 
enorme Höhe der Sterblichkeit an Tuberkulose zu sein pflegt, be- 
seitigt worden. 1886 war die Sterblichkeit an Tuberkulose ca. 4 mal 
größer als im Staat, es ist aber fraglich, ob auch wirklich größer, 
als in eng bewohnten städtischen Arbeitsvierteln, für die die Tuber- 
kulosenfrage stets eine Wohnungsfrage. war und ist. Bei den 
Idioten anderer Anstalten, z. B. Prag, wird bis zu 66,0 °, der Todes- 
ursachen Tuberkulose festgestellt. 

Es bleibt eine bekannte Tatsache, daß die psychisch Kranken 
in Anstaltsfürsorge zu Tuberkulose neigen. Es fragt sich nur, ob 
die Anstalt durch sich selbst größere Ansteckungsgefahr mit sich 
bringt oder ob die meisten Fälle der Tuberkulose mit in die An- 
stalt gebracht worden sind. Seit ca. 10 Jahren wird über diese 
Frage eingehende Statistik geführt, die wohl mehr als unsicher ist. 
Die mutmaßlich in der Anstalt erfolgten Ansteckungen an Tuber- 
kulose können niemals mit aller Bestimmtleit angegeben werden. 


Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VII 15 


933 Rızor, 


Unzweifelhaft direkte Übertragung der Tuberkulose sind in ganz 
vereinzelten Fällen in Krankenhäusern wohl zur Beobachtung ge- 
kommen. Dazu gehört aber ein Zusammentreffen von mehreren 
Umständen, die sich in unseren Anstalten kaum ergeben werden. 
Wenn das schon bei den Erwachsenen und geistig Gesunden zu den 
schwierigen diagnostischen Aufgaben gehört, eine beginnende Tuber- 
kulose zu erkennen und zu lokalisieren, so bestehen diese Schwierig- 
keiten bei unseren Anstaltsinsassen in ganz besonders hohem Maße. 
Abgesehen davon, daß in dieser Frage zuviel von dem subjektiven 
Ermessen des einzelnen Arztes abhängt, kommt in erster Linie in 
Betracht, daß unsere Kranken keine Angaben machen und eben oft 
nur ungenau oder gar nicht untersucht werden können, so daß es 
vielfach fast ausgeschlossen ist, eine Tuberkulose frühzeitig fest- 
zustellen. Die Krankheit kommt fast ausschließlich erst zur Be- 
obachtung, wenn der Prozeß ziemlich weit vorgeschritten ist, so daß 
die Symptome deutlicher werden. Man kann daher auch kaum be- 
stimmen, wann die Krankheit angefangen hat. Praktisch wird die 
Sache so gehandhabt, daß man bei Kranken, die 1—2—3 Jahre in 
der Anstalt sind und nach mehr oder weniger langem Siechtum in 
der Anstalt sterben, annehmen kann, daß sie die Tuberkulose in 
ihren versteckten Anfängen schon mit in die Anstalt gebracht haben. 
Bei Kindern, die mit Erscheinungen von Skrophulose, die doch 
auch auf tuberkulöser Grundlage beruht, aber erfahrungsgemäß im 
allgemeinen seltener zu schwerer Phthisis führt, in die Anstalt ein- 
treten, kann man selbst nach mehrjährigem Aufenthalte immer noch 
annehmen, daß die Krankheit nicht in der Anstalt durch Ansteckung 
entstanden ist. Kranke, die nach längerem Anstaltsaufenthalt 
sterben, haben die evtl. Tuberkulose möglicherweise in der Anstalt 
erworben. Die Frage, auf welche Weise, ist schwer zu lösen. Der 
Tuberkelbazillus ist überall verbreitet und überall können Menschen 
tuberkulös werden. Bei unseren Kranken ist die Disposition zur 
Tuberkulose zweifellos sehr stark vorhanden, was besonders auch 
damit zu beweisen ist, daß sie bereits in 20°, der Aszendenz der 
Kranken vorhanden war. Die wichtigsten Schädigungen, die durch 
Vererbung einem Keim mitgegeben werden können, sind zweifellos 
die Disposition, durch den Tuberkelbazillus leicht infiziert und 
krank zu werden, sowie die, früher oder später schwere Störungen 
des Zentralnervensystems zu erleiden. In dem häufigen Auftreten 
der Tuberkulose in der Anstalt finden wir nun die Tatsache aus- 
gesprochen, daß sie einerseits eine Erscheinung der Körperschwäche 
und der mangelnden Widerstandskraft des idiotischen Organismus 


Ergebnisse aus 50 Jahren der’ hannoverschen Anstaltskürsorge usw. 223 


ist, besonders bei denen, die, vornehmlich körperlich mangelhaft ent- 
wickelt und zurückgeblieben, oft nur einen geringen Grad von 
Lebensenergie haben, die sie unter den äußerlich günstigen Be- 
dingungen der Anstaltsfürsorge eine Reihe von Jahren fortvegetieren 
läßt. Andererseits ist den Anstaltsinsassen durch das Vorhanden- 
sein vieler Tuberkulöser mit ihren häufigen Ausleerungen und der 
mit dieser bedingten Unsauberkeit vermehrte Möglichkeit gegeben, 
den Krankheitserreger in sich aufzunehmen. Dabei darf auch wieder 
das vorteilhafte Moment nicht vergessen werden, daß unsere phthisi- 
schen Kranken wenig oder nie expektorieren, sondern alles herunter- 
schlucken, weiter darf man wohl annehmen, daß, wenn die Tuber- 
kulose nicht existieren würde, wohl eine andere chronische Krank- 
heit der Ausbruch für das Ende der Lebensschwachen sein würde, 
ferner daß sie in der Statistik der Todesursachen wie bei allen Kranken- 
erscheinungen wellenförmig mit den Jahren wieder steigen kann. 
Der geistigen Entwicklungshemmung bei dem Idiotismus ent- 
spricht auch ein Zurückbleiben in der körperlichen Entwicklung. 
Bereits Kın hat sorgfältige Messungen angestellt und seine Resultate 
über das Längenwachstum der Idioten im „Archiv f. Psych.“ 1876 
Bd. 6 S. 447 veröffentlicht. Er konstatierte, daß das Längenwachs- 
tum der Idioten verringert und verzögert ist im Vergleich zu geistig 
normalen Kindern. Alsdann hat später SKLAREK die Kıxv’schen 
Zahlen an seinem Dalldorfer Material nachgeprüft und seine Re- 
sultate in der „Allg. Zeitschrift f. Psych.“ Bd. 58 H.6 S. 1112 ver- 
öftentlicht. Er hat 2 Jahre hindurch seine Kranken regelmäßig 
gemessen und auch gewogen. Es standen ihm 231 Idioten zum 
größten Teil im Alter von 2—16 Jahren zur Verfügung. Er kam 
zu dem Schluß, daß bei den bildungsunfähigen Idioten die Wachstums- 
erscheinungen mit fortschreitendem Alter geringer werden, die 
Bildungsfähigen sich in einer Weise entwickeln, welche der Norm 
bedeutend näher kommt; er konnte also bestätigen, daß körperliche 
und geistige Entwicklung miteinander im Zusammenhang stehen und 
mit dem Stillstand der geistigen Entwicklung eine bedeutende Ver- 
minderung des Wachstums eintritt, ohne daß die Ursache patho- 
Jogisch-anatomisch nachgewiesen werden kann. In unserer An- 
stalt wird bei sämtlichen Kranken zweimal im Jahr das Körper- 
gewicht und einmal im Jahr die Körperlänge festgestellt. VÖLKER 
hat die Gedanken von ken aufgenommen, jahrelang die so 
gewonnenen Zahlen in der Art zusammenzustellen, daß auch 
auf diese Weise alle Kranken und alle Altersstufen zur Be- 


obachtung kommen und viele Kranke sich sogar mit einem erheb- 
15* 


224 . Rızor, 


lichen Teil ihres Lebens durch die Beobachtungsreihen hindurch- 
schieben können; dadurch wird die Zahl der Messungen erheblich 
vermehrt und damit das Resultat derselben bedeutend mehr sicher 
gestellt. Ich habe diese Berechnungen fortgeführt und nach 10jäh- 
riger Beobachtung zum Abschluß gebracht. Die Resultate gründen 
sich also auf ca. 15000 Wägungen und auf ca. 7500 Größenmessungen. 
Zur Erläuterung dienen die Kurve- XXIII und die 


Tabelle XXIV. 





Jahreskoeffizienten 








in dem Längenwachstum bei [in der Körpergewichtszunahme bei 
Alter Geistes- A Geistes- 8 
schwachen Normalen schwachen Normalen 
m. w. m. | w m | w. m. | w. 
8 59 36 48 Bu 1 Za 1,3 | 0,9 
9 23 23 60 57 2 ı 17 34 | 34 
10 30 47 40 47 17 0,6 31 | 19 
11 40 45 52 47 LA 3,4 10 | 235 
12 35 53 34 33 15 | 27 19 | 35 
13 38 59 54 56 23 | 34 23 | 40 
14 39 30 53 57 2,5 2,8 3,1 3,7 
15 37 42 60 | 42 32 | 36 4,7 52 
16 39 12 66 ` 19 | 26 AN 4,1 
17 42 17 42 24 3,9 2,7 5.5 2,7 
18 28 it. I = 3,0 11 5,8 3,0 
19 16 — 64 26 2,6 1,3 3,7 1,7 
20 = 5 20 20 1,0 1,9 20 | 11 
21 — | 4 — —- 0,2 1,5 1,9 0,3 
22 mw $ = 3 1,5 1,0 rl 
23 = 2 = = 1,5 = = = 
24 — — — — — 0,2 — j; = 
25 — | — 20 — 0,3 0,4 3,1 — 
26 | — — — = ae — — 
27 3 — SÉ — — — -— — 
28 10 || es zu Ss = = = = 
29 = | = = = = = z ev 
30 5 | — — — — — — = 
-—— e KE — e KE 
mm mm kg kg 


Die Abweichungen von den normalen Verhältnissen sind bei 
den Körpergewichtszahlen noch weit größer als bei der Körper- 
länge. Auch bei den Jahreskoeffizienten sind Unterschiede zu 
ungunsten der Geistesschwachen nicht zu verkennen. Die Differenzen 
treten besonders hervor, wenn man die jährlichen Durchschnitts- 
koeffizienten miteinander vergleicht. Diese betragen: 


Längenwachstum Körpergewichtszunabme 


m. wW. m. wW. 
der Geistesschwachen 24 mm 22 mm 18 mm 18 mm 
der Normalen Ba e SI äi Sib: "ZS y 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 225 


Der Unterschied zwischen Zöglingen und Pfleglingen tritt be- 
reits auf der Kurve XXIII besonders deutlich in die Augen; für 
das erhebliche Zurückbleiben der Pfleglinge kommt neben ihrer 
allgemein schwächeren Konstitution auch der Umstand in Betracht, 
daß sie weit mehr und intensiver unter evtl. Einflüssen inter- 
kurrenter Krankheiten leiden. Dies Zurückbleiben ist auch bei den 
Durchschnittskoeffizienten festzustellen. Dieselben betragen: 


Längenwachstum Körpergewichtszunahme 
m. W. m. w. 
der Zöglinge - 26 mm 21 mm 20 kg 18 kg 
der Pfleglinge 24 y SE. 16 „ 1,7 


Die Kurve und die Tabelle bestätigen klar und deutlich die 
Kınv’schen und Skuarer’schen Beobachtungen, nämlich die, daß die 
körperliche Entwicklung verringert und vor allem verzögert ist. 

Damit ergibt sich von selbst die Antwort auf die Frage naclı 
der Lebensdauer der Idioten: ınan ist leider nicht in der Lage, die 
Altersverhältnisse der aus der Anstalt Entlassenen und der außer- 
halb derselben Verstorbenen festzustellen, zumal diese in den weitaus 
meisten Fällen die geistig am weitesten Entwickelten und die körper- 
lich am besten Konstituierten sind. Wuurr stellte als Durchschnitts- 
alter des Bestandes 1887 17°/, Jahre fest und 1892 als erreichtes 
Durchschnittsalter der Verstorbenen (344) 14,5 Jahre. Er betonte 
sofort, daß wohl die Anzahl der Fälle zu klein sei, um besondere 
Schlüsse ziehen zu können; es zeige sich aber immerhin, wie sehr 
herabgesetzt die durchschnittliche Lebensdauer der Idioten gegen- 
über der der Menschen überhaupt ist. Ihm schien, daß das 20. Liebens- 
jahr als ein sehr hohes angesehen werden könne, wenn auch nicht 
zu leugnen ist, daß bei der den Geistesschwachen mehr und mehr 
zugewandten Fürsorge durch sorgfältige, zweckentsprechende und 
vor allem rechtzeitige Verpflegung in guten Anstalten allmählich 
die Grenze weiter hinausgeschoben werden könnte oder bereits 
hinausgeschoben sein dürfte. Vergleichen wir mit den Wurrr'schen 
Resultaten unsere Zahlen, so hat Wurrr recht behalten. Wir haben 
1912 als Durchschnittsalter des Bestandes 22 Jahre berechnet und 
aus den sämtlichen Toodesfällen der 50 Jahre als das erreichte Durch- 
schnittsalter 16,9 Jahre gefunden. Beide Zahlen sind gegen früher 
also hinausgeschoben. Nimmt man nun zwischen beiden das Mittel, 
so ergibt sich als mutmaßliche Lebensdauer der Anstaltsidioten ca. 
19,5 Jahre, also das Alter, das Wurnrr angenommen und für relativ 
hoch bemessen hat. Man muß eben berücksichtigen, daß die Geistes- 


226 Rızor, 


schwachen sich körperlich langsamer und überhaupt weniger ent- 
wickeln und daß sie eine vermehrte Disposition zu weiteren Gehirn- 
störungen und zur Tuberkulose bieten, die in der Mehrzahl der 
Todesfälle, wie wir gesehen, als Leben verkürzende Ursachen in 
Betracht kommen; ferner ist die Tatsache zu berücksichtigen, daß 
allein ?/;, aller gelähmten Pfleglinge — die Pfleglinge an sich liefern 
schon die doppelte Zahl der Todesfälle wie die Zöglinge — sich in 
einem Alter unter 20 Jahren befinden. 


Überblicken wir noch einmal alle Nachforschungswege und 
Resultate, so darf man wohl die Behauptung aussprechen, daß an 
eine Idiotenanstalt bei weitem vielseitigere Anforderungen gestellt 
werden, als an irgendeine andere Art von Anstalten: zunächst 
sind sämtliche Altersstufen vertreten und beanspruchen in allem 
gesonderte Berücksichtigung: nach den verschiedensten Richtungen 
muß individualisiert werden, in der Belegung, der Beaufsichtigung, 
der körperlichen Pflege, der Ernährung, der Einschulung und in der 
praktischen Beschäftigung. 


Man war bei der Gründung der Anstalt und auch noch später 
in den 60er Jahren von der Idee beherrscht, mehrere Anstalten zu 
gründen; doch allein die Kostenfrage entschied von selbst für die 
Notwendigkeit, bei einer Anstalt zu bleiben“ Langenhagen ist so- 
zusagen die einzige Geistesschwachen-Anstalt im hannoverschen 
Gebiet geblieben, jedenfalls ist sie die Zentrale der hannoverschen 
Anstaltsidiotenfürsorge, indem sie wohl 95 %, aller anstalsbedürftigen 
Geistesschwachen der Provinz beherbergt. Besonders muß an dieser 
Stelle betont werden, daß die hannoversche Idiotenfürsorge bereits 
früh, 1868 zu der Erkenntnis kam, daß die Leitung der Schwach- 
sinnigenanstaltsfürsorge in die Hände eines Arztes gehört. Die moderne 
Forschung hat diese Maßnahme voll und ganz gerechtfertigt. Man war 
und ist zwar noch vielfach zu leicht geneigt und gewohnt, besonders in 
Laienkreisen, in dem Idiotismus einen chronischen und mehr oder 
weniger unveränderlichen Zustand zu erblicken. Erst langsam kommt 
man dazu, in der „Idiotie“ einen sprachlichen Sammelbegriff zu 
sehen, hinter dem sich Krankheitsbilder der verschiedensten Art und 
wechselvollsten Gestalt verbergen, die durch ihren ganzen klini- 
schen Charakter und Verlauf oft sogar den Anschein einer akuten 
Affektion oder eines neuen Schubes des Prozesses erwecken. Es 
besteht daher die Notwendigkeit einer bevorzugten Anteilnahme der 
Arzte an der Beschäftigung mit den idiotischen Krankheitszuständen, 
weil ihre Erkenntnis und daher eine Garantie für ihre zweckmäßige 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 227 


Behandlung ganz gewiß nur auf dieser Basis gewonnen werden 
kann (Voer). 

Es drängt sich nun die Frage auf, ob die Leistungsfähigkeit 
der Anstalt auch mit den Bedürfnissen der Provinz und den all- 
gemeinen Anforderungen der Zeit mit fortgeschritten ist. In erster 
Linie müssen die Zählungsergebnisse berücksichtigt werden: 

1856: unter 3084 Irrsinnigen allein 1203 Idioten (40 °/,) 

1860: 500 Idioten unter 15 Jahren 


240 m. und 
423 y „ 1 ” ) 183 w. 


1871: von 3436 Idioten (i. Vergl. z. d. Irren wie 3 zu 2) nur 
322 = 9,0 °% in der Anstaltsfürsorge. 


Über die neuere Zeit habe ich keine Ziffern gefunden. 


Nun sind nicht alle Idioten anstaltspflegebedürftig. Dieser Be- 
griff hat sich durch die gesetzliche Regelung der Fürsorge fraglos 
erweitert, indem nicht nur Bildungsfähigkeit und die Unmöglich- 
keit der weiteren häuslichen Verpflegung, sondern auch sehr häufig 
und immermehr die Tatsache, daß solche Geistesschwachen zu Hause 
„unnütze Esser“ sind, Veranlassung zur Anstaltsfürsorge werden. 

Vor allem muß betont werden, dab die Anstalt als Bildungs- 
institut durchaus den Bedürfnissen der Zeit und ihren heutigen 
Ansprüchen entspricht. Unsere Anstaltsschule hat einen Ausbau 
und eine weitere Gliederung erfahren und verfügt über zahlreiche 
Lehrkräfte. 

Ferner genügt die Anstalt durchaus als Kolonie und Asyl. Aber 
sehr fraglich erscheint es, ob sie auf die Dauer numerisch als Pflege- 
anstalt, zumal erwiesenermaßen der Schwerpunkt immer mehr nach 
der Seite der reinen Pflege rückt, den Bedürfnissen genügen wird, 
da erfahrungsgemäß gerade die Überfüllung der Pflegeabteilungen 
die Aufnahmen hindert. Es wäre nur die Möglichkeit vorhanden, 
11.11. 
5. VIL 
schärfer zu fassen. Gemäß diesen Bestimmungen dürfen erwachsene 
Geistesschwache nur Aufnahme finden, wenn sie einer nützlichen Be- 
schäftigung fähig sind. Die Nichtbeschäftigungsfähigen sollen den 
Landarmenanstalten zugeführt werden. Doch dieser Weg ist nur in den 
seltensten Fällen gangbar, da es sich bei den nichtbeschäftigungs- 
fähigen Erwachsenen meist um hochgradig pflegebedürftige Menschen 
handelt. Wie mit solchen Kranken verfahren werden soll, sieht das 
Reglement nieht vor. In Zeiten höchster Überfüllung wurden solche 


bei der Prüfung der Aufnahmeanträge das Reglement von 1897 


228 Rızor, 


Aufnahmeanträge selbstredend abgelehnt. Im allgemeinen hat man 
sich aber stets bemüht, derartige Kranke doch aufzunehmen, schon 
allein um sich vor dem Odium zu schützen, daß die Idiotenanstalt 
vor den anderen Heil- und Pflegeanstalten, das Vorrecht hat, sich 
ihre Kranken auswählen zu dürfen. 

Es kann dann weiter durch Erakuationen Luft geschaffen 
werden. Diese können im allgemeinen nur erfolgen in Landarmen- 
anstalten bei solchen Kranken, für welche die Aufsicht und Pflege, 
“ die sie dort erhalten, als ausreichend erachtet werden kann, oder in 
Provinzial-Irrenanstalten bei den Kranken, deren Geisteszustand 
eine besondere Pflege, wie sie in einer Irrenanstalt geboten wird, 
erfordert. 

Des weiteren wäre zur Entlastung der Hauptzentrale die 
Gründung einer ausgedehnten Familienpflege ins Auge zu fassen. 
Die Unterbringung geisteskranker oder geistesschwacher Personen 
in Familien unter ärztlicher Aufsicht ist eine Form der öffentlichen 
Fürsorge, die überall in neuerer Zeit in Enropa gebräuchlich ge- 
worden ist. Daß der höher stehende Idiot sich im allgemeinen 
ganz besonders zur Familienpflege eignet, haben alle Irrenärzte, die 
in der Familienpflege Erfahrungen gesammelt haben, auch betont, 
Ob aber die Versetzung in Familienpflege im Interesse der Kranken 
selbst als erwünscht zu bezeichnen ist, kann nicht bedingungslos 
bejaht werden. Der Idiot ist ein ausgesprochenes Herdenwesen, er 
fühlt sich in dem großen Haufen unter seinesgleichen ganz besonders 
wohl. Ferner ist es noch nicht erwiesen, daß eine Familienpflege 
bei einer Anstalt, die nur Idioten beherbergt, nur zum Vorteil für 
die Anstalt gereichen kann. Gerade die arbeitsfähigen Kranken 
kommen in Frage, denn um solche muß und soll es sich vor allem 
hierbei handeln; aber derartige Kranke sind jedoch im Arbeits- 
betrieb gerade einer Idiotenanstalt nur schwer und ungern zu ent- 
behren und zu ersetzen, es sei denn naturgemäß durch vollsinnige 
Arbeitskräfte mit hohen Löhnen; es fügt sich also durch die Insti- 
tution der Familienpflege eine Idiotenanstalt auch eine gewisse 
Selbstschädigung zu, deren Folgen in pekuniärer Hinsicht evtl. auch 
durch die Praxis geprüft werden können. Doch wird die Familien- 
pflege unter den obwaltenden Zeitumständen als Entlassungsmodus 
kaum zu entbehren sein. 

- Am weitesten ausgedehnt und am meisten systematisch durch- 
geführt ist die familiale Verpflegung Geistesschwacher bisher nur 
in Uchtspringe. 1908 hatte Professor Atr unter 365 in Familien 
untergebrachten Kranken 234 = 60°/, jugendliche Deffektzustände, 


Ergebnisse aus 50 Jahren der hbannoverschen Anstaltsfürsorge usw. 229 


Schwachsinnige und Idioten, ca. zur Hälfte männlich, zur Hälfte 
weiblich. Nach seinem Urteil sind die Schwachsinnigen, welche 
einer Verpflegung durch die Landarmenverbände anheim fallen, zu 
etwa 50°, besser in einer Familienpflege, alsin einer 
Anstalt dauernd zu versorgen. Nach diesem durch lang- 
jährige Erfahrungen begründeten Urteil muß somit der Einrichtung 
der Familienpflege eine große Bedeutung in der Geistesschwachen- 
versorgung neben der ärztlichen humanitären Seite, vor allem in 
wissenschaftlicher Hinsicht, zugeschrieben werden. 

Wenn man so berücksichtigt, daß die hannoversche Geistes- 
schwachenfürsorge dauernd mit der Zeit und ihren Anschauungen 
und Anforderungen mustergültig fortgeschritten ist und fortschreitet, 
wird man die Tabelle XXV verstehen und ihre Zahlen würdigen 
lernen, die in deutlicher Form die zunehmenden Lasten der Idioten- 
fürsorge charakterisieren, insbesondere welche regelmäßigen Zu- 
schüsse die Anstalt für einen Geistesschwachen pro Kopf und Jahr 
zu leisten hat. Diese haben sich im Laufe der Jahre erheblich 
erhöht. 


Tabelle XXV. 





kostete betrug das 

Dear: die Verpflegung | gezahlte Pflegegeld Zuschuß der Anstalt 

; der Anstalt pro Kopf und Jahr pro Kopf und Jahr 

im Durchschnitt im Durchschnitt 

1890/96 | 370,75 M. 94,70/346,60 M. 24,15 M. 
1896/97 401,87 „ | 97,50/355,87 „ 46,00 
1897/98 397,85 „ 95,00/346,75 „ | 5110 ,„ 
1898/99 400,11 „ 96,00/350,40 ,, 49,71 af Durchschn 
1899/1900 463,40 „ 96,00/350,40 „, 113,00 „7 e 9815 M i 
1900/01 469,83 „ 94,96/346,60 „, 123,23 . , R 
1901/02 453,73 „ 94,80/346,02 „ 107,71 ”] 
1902 03 471,25 „ 94,31/344,23 „ 127,02 „, 
1903/04 470,97 „ 109,56/400,99 „, | 69,98 A fach 
1904/05 502,64 „, |  111,83/408,18 „ | 9446 lm aeu 
1905/06 52268 > | 11094/40493 ` 117.75 "| ‚8 M. 
1906/07 535,56 „, 111,48/406,90 ‚, 128,66 ,„ 
1907/08 610,56 „ 110,68/405,09 „, 205,47 „ ; 
1908/09 646,82 „ 111,24/406,02 ,„ 240,80 A Perche 
1909/10 681,64 ,„ | 131,39/479,57 „ 202,07 „91860 M 
1910/11 678,35 „ 131,59/480,30 ‚, 198,05 d K 
1911/12 698,21 „ \ 180,49/476,29 ‚, 221,92 „ 








Ein noch anschaulicheres Bild hierüber geben besonders die 
Durchschnittszahlen für je 5 der letzten Jahre: 
1897—1902 1902—1907 1907—1912 
98,15 M. 107,58 M. 213,66 M. 


230 Rızor, Ergebnisse aus 50 Jahren d. hannov. Anstaltsfürsorge usw. 


Lassen wir aber alle Ergebnisse der hier durchgesprochenen 
Idiotenfürsorge noch einmal im Geiste an uns vorüberziehen, so 
wird uns zugegeben werden müssen, daß die Kosten durch die Not- 
wendigkeit der zweifellos mustergültigen Anstaltsfürsorge gerecht- 
fertigt sind, vor allem, wenn man in Betracht zieht, daß mit durch 
sie eine wirksame Prophylaxe gegen die Zunahme der Verbrechen, 
der Vagabondage und der Prostitution, die sich zum großen Teil 
gerade aus den Kreisen der Geistesschwachen rekrutieren, zu er- 
` warten und zu ermöglichen ist. 


Die Arbeit ist vor dem Kriege, 1914, eingesandt. 


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Zeitschrif? D.d.Ertorschg.n. Behandlg.d. jugendl. Schwachsiuns. Bd.VUl. 


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der Anstaltsi: 





70 


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65 


67 


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Wabi. Zöglinge 


2-0 Warbl.Pfleglinge 


Mannl.Durchschritt 


Weibl.Durchschnitt. 


Normale mannd Individuen Li Arv 


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56 


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Verlag von Gust: 





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av Fischer in Jena Fans ir ora 


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Nachdruck verboten. 


Zur diagnostischen Bewertung von Intelligenzleistungen 
mittels der Definitionsmethode. 


Von 


Dr. med. Richard Hellmut Menschel. 


1. Einleitung. 


Unter die Diagnose Schwachsinn fallen bekanntlich Krankheits- 
fälle, die in der Schwere der Erscheinungsform weitgehende Unter- 
schiede aufweisen. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Diffe- 
rentialdiagnose zwischen pathologischem Schwachsinn und der 
innerhalb physiologischer Breite liegenden Schwachbefähigung. 

GREGOR!) hat zur Beurteilung derartiger Fälle als differential- 
diagnostisches Hilfsmittel eine besondere Methode ausgearbeitet, 
die in fortlaufenden Untersuchungen am Heilerziehungsheim Klein- 
Meusdorf angewandt wird. 

Die an normalen und pathologischen Individuen aus Definitions- 
versuchen gewonnenen Resultate ergaben bemerkenswert feine und 
eindeutige Unterschiede zwischen den einzelnen Intelligenzgruppen 
= intellektuell Intakte, normal Beschränkte, Debile, Imbezille. War 
somit eine sichere Handhabe für Intelligenzprüfungen geschaffen, 
so mußte doch die bisherige Anwendung, die zwar die Qualität der 


1) GREGOR, „Zur Bestimmung des Intelligenzalters mittels der Defi- 
nitionsmethode. Beitrag zur Kinderforschung und Heilerziehung“, 1920. 
„Untersuchungen über die Entwicklung einfacher logischer Leistungen — 
Begriffserklärung“. Zeitschr. f. angew. Psychol., Bd. 10. „Intelligenz- 
untersuchungen mit der Definitionsmethode“. Monatsschr. f. Psych. u. 
Neurol. Bd. 36, 1919. 

LESMANN, „Vergleichende Untersuchungen über die Definitions- 
leistungen psychisch intakter und nicht schwachsinniger Kinder“. Zeitschr. 
f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 47, 1919. 


Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VIII 16 


232 RıcHARD HELLMUT MENSCHEL, 


einzelnen Definitionsresultate, nicht aber die Gesamtheit, die Quantität 
der Definitionsergebnisse wertete, eine ausreichende Erfahrung in 
der Deutung der Resultate voraussetzen. 

Deshalb hat GREGOR selbst neue Wege für die praktische Ver- 
wendbarkeit der Methode zunächst an normalen schulpflichtigen 
Kindern gewiesen. 


2. Methode und Material. 


Die einzelnen Definitionsresultate werden bezüglich ihrer 
Qualität in bestimmte Klassen eingeteilt. Es werden Definitionen, 
die formal richtig sind und sachlich einwandfrei, als „korrekt“ be- 
zeichnet, Begriffe, die in mehr oder weniger guter Stilisierung das 
Wesen des Begriffs kennzeichnen, als „richtig“. Ferner finden sich 
Begriffe, welche ein unwesentliches Merkmal herausgreifen und die 
Aussage in ungelenker und kindlicher Weise formulieren, sie werden 
als „primitiv“ bezeichnet. Endlich sind „fehlerhafte“ Reaktionen 
und „O“-Fälle zu unterscheiden. Da trotz der Einfachheit der 
Klassifikation diese doch Schwierigkeiten in der einheitlichen Be- 
urteilung machen kann, hat GrEGoR typische Reaktionen für jeden 
Begriff nach den Gruppen EECHER zum Beispiel bei dem 
Begriff Rohr: 


„Stange, die innen hohl \ korrekt“ „dient zum Fortleiten 
ist. Leitungsmittel ’ von Gas und Wasser 
Ofenrohr. Wir haben ein e ist lang, Wasser- 

Di H, D 3 H 
Gasrohr zum Ofen } BT rohr } am 


Das hier entwickelte quantitative System bezweckt, den Unter- 
sucher in die Lage zu versetzen, jede Reaktion im Hinblick auf 
die für das Lebensalter des Geprüften zu erwartende Leistung zu 
beurteilen. Es wurden nämlich gleichzeitig nach ausgedehnten 
Versuchsreihen die Ergebnisse der einzelnen Definitionen in Tabellen 
geordnet, und zwar wurde für jeden Begriff die Qualität der Leistung 
von einer großen Anzahl Schüler registriert; die für diese Stufe 
charakteristische Qualität der Reaktion ist durch die größte Anzahl 
gekennzeichnet. Die korrekten Definitionen sind dabei besonders 
hoch zu bewerten, weil sie sichere Anhaltspunkte für eine höhere 
geistige Entwicklung sind. 

Zur Berechnung des Intelligenzalters vergleicht man, mit 
welcher Altersklasse die betreffende Reaktion gerade noch vereinbar 


ist und zieht aus den gesamten Resultaten den Durchschnittswert 
für das Intelligenzalter. 


) richtig“; 


234 


RICHARD HELLMUT MENSCHEL, 








0=0, 
pr = primitive, 
r = richtige, 
c = korrekte, 
f = falsche Re- 
aktionen : 


Stuhl 
Schrank 
Tisch 
Mantel 
Rohr 
Grenze 


Arm 
Bein 
Mund 
Auge 


Lunge 
Gehirn 


Haus 
Laube 
Zelt 
Schi ff 
Tür 


Arbeit 
Tausch 
Pfand 
Ordnung 
Pacht 


Bündnis 
Kolonie 
Gemeinde 
Gesetz 


Obrigkeit 


Erklärung 
Absicht 
Ursache 
Widerspruch 
Urteil 


Laster 


Mut 
Gerechtigkeit 
Mitleid 

Sitte 
Vergehen 
Irrtum 

Rache 


part 


ka ` ke 


Schulklasse Intelligenzgruppe 



































37 25 19 12 
normale intellektuell normal be- debil reduzierte 
14 jährige intakte schränkte Fürsorge- 
Schüler im Fürsorge- Fürsorge- d Tge- 
8. Schul- zöglinge im zöglinge im zöglinge im 
jahr 8. Schuljahr 8. Schuljahr 8. Schuljahr 
0 [prr e] 0 | £ lpr 
| | 
114 0 /1204| 0 og 1? 1 /1|3/7/0 
3,8 o |2221] 0 |0 2161| 3 |0,6,3|0 
6| 4 O |2221] 0 0/ 613/0] 1 10/4/70 
0| 1 0 2176| 0 0 2170| 2 |1|1/810 
57 2 |142| 2 |3 680] 0 0/8410 
316 1 7134| 4 210 30] 3 /8/3|3|0 
3/1 0 3157| 1 0 4140|. 1 /0/3/7/1 
41 0 1186| 0 ‚0 3160| 0 113/7/1 
5| 1 3 3181] 0 0 3160| 3 |1/8/0,0 
2 1 0 5191] 0 0 2170] 2 /0/1/9|0 
— 1) | 
An ZT’ am 3 |o 110] o Islolalo 
6| 3 0 ‚ 7162) 4 0 4110| 8 /03/1/0 
0| 2 1 1185] 0 |0, 0181| 2 )1/2/8'0 
4| 2 0 4184| 1 011) 61] 2 |1/5/4|0 
110 1 2184| 2 01/51] 2 /0/5/50 
2| 2 0 4174| 0 0 81011] 1 |1/7)3|0 
0/2 0 5173] O |010 9/0] 2 [0/640 
| 
4| 2| 1 1208| 1 1 3140] 2 10/3/7/0 
5j 1 1 |8106] 2 1/12| 40| 4 |1/5/2 0 
18| 4| 2 1292| 0 |415 00] 3 |4/500 
72/0 0 |7171] 3 0 3130] 0 |2/4/6/0 
7/3 2 1121011] 0 214 30| 3 [43/210 
38 0 3202| 1 |1980| 4 jalıl3lo 
8| 2 2 8114| 1 212 40] 4 |3/5/00 
70 0 1013 2| 1 3591] 3 11/3/5/0 
6| 3 0 | 6191 0 1 012| 51| 4 /1/4/30 
| (— 12) (— 17) (— 11) 
po 3 |ala 
6.3 1 1383] 2 314 00| 3 /1/8/00 
9| 8| 2 ı3l82| ı |314 10] 5 |312]2j0 
6.0 10 11] 118] 9 63 110] 5 |7/0/0/0 
6| 5 6 1352| 2 79 10] 5 |6/1/0/0 
9| 3 3 1101| 0 314 20) 4 10/710 
412 13 | 381] 2 1235110] 6 16101070 
(— 8) — 5 | 3 
1 1” | 8l alal 29 21 5 aılalo 
3 4 1560| 2 8900] 5 16/1/00 
4 o mır2] 0 |aıs2lo| 3 l1lel2l0 
6 4 1173|] 0 1413 20| 5 15/21050 
2| 5 | @112] 1 7551 5 [3/22 0 
5 5 1460| 1 ‚5940| 2 |3|6/1'0 
2 1 19 41| 1 314 10] 4 17/00 











mmm zum . un ë 


Zur diagnostischen Bewertung von Intelligenzleistungen. 235 











Schulklasse Intelligenzgruppe 

























































sche iti 19 intellektuell e 21 
pr = primitive, intellektue normal be- ` 
r = richtige, eech intakte e schränkte iR: e 
w : ? 10—11 jährige | 10—11 jährige EE 
c = korrekte, Schüler im 3 e Fürsorge- 
5. Schul- Fürsorge- Fürsorge- ch 2 
f = falche Re- . Schul zögli f Leit zöglinge im 
` jahr glinge im zöglinge im 5. Schuljahr 
aktionen: J 5. Schuljahr 5. Schuljahr é J 
| 0 |fjprr e| 0 t pr r| 0 fopriric 
| | | 
Stuhl 2101711 2220| o 130 o oa 
Schrank 41516) 5 0 8160| 0 |3 417] 1 | 2 017 
Tisch 1/18 12 9 01211230] 0 |3 714 2 |0613 
Mantel 11518 6 1:10 1220| 0 | 314 7 1 | 1 117/11 
Rohr 41712 7 5 |016| 30 2 |4162} 0 |579 
Grenze 824 7| 1 5 1215 20| 8 |416; 1f 6 |110| 4 
Arm 4|1122| 3 3 |ıl 7130] 1 |3| 6144| 0 |2| 3116 
Bein 41817 1 © |o 4191] 1 | 3818| O | 81017 
Mund 51916 0 O |0 4200] 0 [8 120) 2 |0| 0119 
Auge 41320) 3 0 |0 2220] 2 |3| 019 2 0 019 
Lunge 13 8101 3 8| 10 [3 7 4 6 |810| 0f 10 11100 
Gehirn 12) 710 O1 1 | 4720| 15 |2) 61 6 H 3 0 
Haus 624| 9 110 6170| 1 |2|2 2 |0| 019 
Laube 72310 4 1015/50] 4 10110 4 |0| 611 
Zelt 41619 1 | 2119| 2310 1 514 4 | 113| 3 
Schiff 1216) 3 0 017 70 2 1113 1 |0111| 9 
Tür 1119| 8 ı |ıaıso]l 1 |23 2 |0| 2/17| 
| 
Arbeit 9| 324| 4 1 |1101230| 4 |19 D VO BU 
Tausch 11 1512| 1 6 |115| 2/0 6 | 815 13 |1| | 2| 
Pfand 511113| O1 4 |712 10] 6 | 711 9 |750 
Ordnung 2| 8122] 8 4 | 010100 1 116 4 | 811) 3| 
Pacht 12112112] 0 10 16710 9 | 510] 10 |3| 8| 0 
Bündnis 18110112) O 12 |514 3/0| 12 | 9 3| 13 |8 0/0 
Kolonie 11121) 7 0 4 |812 0 DK GM 11 | 730 
Gemeinde 10/2711) O 7 12141 b 1835 12 |81 0 
Gesetz 81018 1 10 |4 7 21] 12 |93 13 /800 
er | -1)| | (— 12) (- 10) | | 
Obrigkeit 30| 8, 2| 0 9 ———— 2/0 7 |400 
Erklärung 5115116 0 ı |221l 00| 3 | 318 AUT 0 
Absicht 616 5 0 6 |7110 6 1131 5 3 |7110 
Ursache sai voam 1 u20 | 9 1500) 10 1100 
Widerspruch 18] 7 3) 0 6 16 2, 0 3 119] 2 12 | 8 1/0 
Urteil 2133| 2] 0 5 |816| 0 7 |611 1 [5150 
Laster 17118 0 11 [121 110 11 112] 1 13 "800 
e E | 
Mut 0121118 5 | 0117] 2 $ € 11| 3 12 |5| 4/0 
Gerechtigkeit |26| 6| 1 8 |9 1/0 10 |12| 2 13 | 7/1, 0 
Mitleid 2134| 3 2 |616| 0 3 1147 9 |930 
Sitte 1611113 9 |5 8 2 14 164 16 | 4 110 
Vergehen 10123) 5 13 |5| 8| 3 5 17] 2 9 112] 0,0 
Irrtum 1129| 0 5 | 214] 3 9 | 510 12 18110 
Rache 5133, 2 5 15] 0 9 |69 11 | 7.31 0 




















236 RICHARD HELLMUT MENSCHEL, 


findliche Ziffern mit vorgesetztem Minuszeichen. Es soll das an- 
zeigen, daß in diesen Fällen innerhalb der Gruppe eine bestimmte 
Zahl von Resultaten ausschaltet, weil die Definitionsbogen diesen 
Begriff nicht gefragt haben. 


3. Ergebnisse. 


Bei näherer Betrachtung der tabellarischen Übersicht ergibt 
sich innerhalb der einzelnen Alters- und Intelligenzgruppen ein 
regelmäßiges Absinken der Definitions- und damit Intelligenzleistung, 
die im folgenden nun einer näheren Betrachtung unterzogen werden soll. 

Was zunächst die 25 intellektuell intakten Fürsorge- 
zöglinge anbetrifft, so zeigen nur 5 Schüler (20 %/,) eine Begabung, 
die einem Intelligenzalter von 14—15 Jahren entspricht. Der Haupt- 
anteil (80 °/,) weist nur ein Intelligenzalter von 11—12 Jahren auf, 
ist somit an der unteren Grenze des Normalen. Schon unter den 
konkreten Begriffen gehören die korrekten Definitionen, die bei 
normalen 14jährigen Individuen über 50°, der Gesamtleistung aus- 
machen, zu den Seltenheiten, annähernd 15°%,. Bei den schwieriger 
zu definierenden Konkreta wie Gehirn, Lunge, Rohr, Grenze, Laube, 
sind bereits die Primitivreaktionen im Anwachsen (25 °,). Dieselbe 
Erscheinung zeigen Abstrakta. Die korrekten Definitionen sind 
immerhin Ausnahmeleistungen und entfallen in der Hauptsache auf 
die oben erwähnten 5 Ausnahmefälle resp. besten Schüler. Dagegen 
ist die Zahl der Primitivreaktionen hier bereits im Anwachsen. 
Noch relativ wenig davon finden wir bei den sozialen Begriffen, wo 
Ordnung und Arbeit fast durchweg richtig definiert werden, während 
schwierigere Begriffe wie Pfand und Pacht bereits 50°/, Primitiv- 
reaktionen zeigen. Unter den politischen Begriffen sind 20°, 
Primitivdefinitionen, während bei den logischen und ethischen Be- 
griffen sich ca. 50—60°, Primitivreaktionen finden. Bei den 
schwierigsten Definitionen wie Laster und Ursache sind bereits über 
die Hälfte Fehlreaktionen. 

Was die Gruppe der normal beschränkten löjährigen 
(19 an Zahl) anbetrifft, so finden wir hier faßbare Unterschiede 
zwischen deren Leistungen auf der einen Seite und den Leistungen 
der intellektuell Intakten und Debilen auf der anderen Seite, wenn 
naturgemäß auch Übergänge vorhanden sind. Das Intelligenzalter 
der Normalbeschränkten berechnet sich im Durchschnitt auf 10—11 
Jahre. Bei den konkreten sowohl als bei den abstrakten Begriffen 
gehören die korrekten Definitionen zu den größten Seltenheiten. 


Zur diagnostischen Bewertung von Intelligenzleistungen. 237 


Die Primitivreaktionen sind im Zunehmen begriffen. Bei Rohr und 
Grenze sind ca. 50°, Primitivreaktionen, bei Laube und Zelt 60 °/. 
Bei den sozialen Begriffen weisen die schwierigeren, abgesehen von 
Ordnung und Arbeit, 70°, Primitivreaktionen auf. Bei den politi- 
schen Begriffen ist die Zahl der Primitivreaktionen von 20°/, bei 
den intellektuell Intakten auf 50°), gestiegen. Bei den logischen 
und ethischen Begriffen ist die Zahl der richtigen Definitionen nur 
noch ca. 10°% der Gesamtleistung. Die Primitivreaktionen haben 
bei weitem das Übergewicht (70—80°,,). Die Begriffe Ursache und 
Laster weisen in dieser Gruppe schon bis zu dreiviertel Fehl- 
reaktionen auf. 

Was die Gruppe der debilen löjährigen (12 an Zahl) an- 
belangt, so stehen wir hier Leistungen gegenüber, die ungefähr im 
Gesamtwert der Gruppe einem Intelligenzalter von 9—10 Jahren 
entsprechen. Korrekte Definitionen sind nicht mehr festzustellen, 
abgesehen von 2 vereinzelten Fällen. Bei den konkreten Begriffen 
sind die richtigen Definitionen ungefähr gleichstark vertreten wie 
die primitiven. Daneben sind aber schon reichlicher 0-Reaktionen 
vorhanden. Bei den Begriffen Grenze, Lunge, Gehirn betragen diese 
schon über die Hälfte. Bei den Abstrakta sind die Leistungen 
bereits sehr mangelhaft. Geläufige Begriffe wie Ordnung und Arbeit 
werden zwar noch von der Hälfte richtig erklärt. Dagegen finden 
wir bei den Begriffen Ursache und Laster ausschließlich Fehl- oder 
0-Reaktionen. Die übrigen Begriffe werden höchstens bis zu 10°, 
richtig definiert. Die Zahl der Primitivreaktionen beträgt "bei 
manchen Begriffen immerhin noch die Hälfte, z. B. bei Mitleid und 
Rache, bei den meisten aber nur 20—30°,, im übrigen Fehl- 
reaktionen. 

Betrachten wir die Gesamtleistungen der eben besprochenen 
3 Gruppen von l5jährigen Fürsorgezöglingen ganz allgemein unter- 
einander und mit normalen Schülern, so ergibt sich folgendes: Die 
Gesamtleistung der Fürsorgezöglinge steht schon bei 
den intellektuell Intakten an der unteren Grenze der 
Norm. Sie entspricht einem Intelligenzalter von 11—12 Jahren, 

" abgesehen von 20°/,, die das geforderte Maß erreichen. Das Ab- 
sinken der Intelligenz ist gekennzeichnet durch den Mangel an 
korrekten Definitionen, durch die Neigung zu Primitivreaktionen, 
die einzelne Fälle schon hart an der Grenze zu den normal Be- 
schränkten erscheinen lassen. Für die Normalbeschränkten ist in- 
sofern ein weiteres Absinken der Intelligenz charakteristisch, als 
hier besonders bei den abstrakten Begriffen, aber auch schon bei 


238 RICHARD HELLMUT MENSCHEL, 


den schwierigeren Konkreta bereits ein deutliches Versagen an 
richtigen Definitionen hervortritt. Die Abstrakta werden naiv oder 
falsch erklärt, wenigstens zum größten Teile. Diese mangelhaften 
Leistungen entsprechen, wie schon oben erwähnt, einem Intelligenz- 
alter von 10—11 Jahren und sind mit einem Alter von 15 Jahren 
als normale Leistung nicht mehr vereinbar. Die Debilen vollends 
stehen auf der Stufe der 9—10jährigen. Charakteristisch ist das 
Hervortreten von Primitivreaktionen bereits bei den Konkreta und 
die vorwiegende Anzahl von Falsch- und 0-Reaktionen bei den Ab- 
strakta, über das die immerhin besseren Leistungen bei einigen be- 
sonders geläufigen Konkreta nicht hinwegtäuschen können. 

Was die Untersuchungen an 10—11 jährigen Fürsorgezöglingen 
anbetrifft, so kommen wir hier zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie 
bei den 15jährigen, nämlich zwischen den einzelnen Intelligenz- 
gruppen ein staffelförmiges Absinken der Definitionsleistungen. Nur 
bestätigt sich, was schon CHorTzen!) hervorgehoben hat, daß bei 
Schwachsinnigen die Differenzzahl im Intelligenzalter bei höherem 
Lebensalter eine höhere ist, d. h. eine niedrige Differenzzahl in 
geringerem Alter besagt ungefähr dasselbe, was eine höhere Diffe- 
renzzahl in höherem Alter ausdrückt. 

Die 10—1ljährigen intellektuell intakten Fürsorge- 
zöglinge weisen ein ungefähres lntelligenzalter von 9—10 Jahren 
auf. Korrekte Definitionen werden, abgesehen von 2 vereinzelten 
Fällen, bei den Begriffen Bein und Gesetz nicht gegeben. Es ist 
das entschieden ein Mangel im Vergleich zu 10—11jährigen nor- 
malen Schülern, die wenigstens bei den Konkreta noch eine recht 
stattliche Anzahl (bei manchen Begriffen bis 25°/,) korrekte Defini- 
tionen geben. Bei den geläufigeren konkreten Begriffen betragen 
die richtigen Definitionen ca. 80°), der Gesamtleistung. Rohr, 
Grenze, Zelt, Laube und Schiff werden bereits vorwiegend (75 °/,) 
primitiv erklärt. Bei Lunge und Gehirn haben wir bereits drei- 
viertel Falsch- oder 0-Reaktionen. Im übrigen jedoch gehören bei 
den konkreten Begriffen die 0-Reaktionen zu den Seltenheiten. Bei 
den sozialen Begriffen sind bei Pfand und Pacht die O-Reaktionen 
im Überwiegen (60 %,), bei den geläufigen Begriffen wie Arbeit und ` 
Ordnung haben wir dagegen noch die Hälfte richtige Antworten. 
Bei den politischen Begriffen werden noch vereinzelte richtige De- 
finitionen gegeben, sonst halten sich Primitiv- und O-Reaktionen 


2) F. CHOTZEN, Die Intelligenzprüfungsmethode von BINET-SIMON 
bei schwachsinnigen Kindern. Zeitsch. f. angew. Psychol. u. psychol. 
Sammelforschung 6, 1912. 


Zur diagnostischen Bewertung von Intelligenzleistungen. 239 


ungefähr die Wage. Unter den logischen Begriffen finden wir bei 
Ursache und Widerspruch zu 90°% 0- und Falschreaktionen, sonst 
sind Primitivreaktionen vorherrschend. Bei den ethischen Begriffen 
wird Laster nur imal primitiv erklärt, im übrigen Falsch- und 
0-Reaktionen. Mut wird in 75°/, primitiv erklärt, auch Rache und 
Mitleid weisen noch verhältnismäßig gute Resultate (60%, Primitiv- 
reaktionen) auf. 

Was die 10—11ljährigen normal beschränkten Fürsorge- 
zöglinge anbetrifft, so stehen ihre Definitionsleistungen, abgesehen 
von vereinzelten Übergängen, eine deutliche Stufe tiefer gegenüber 
den intellektuell Intakten und weisen im Durchschnitt ein Intelli- 
genzalter von 8—9 Jahren auf. Die Zahl der Falschdefinitionen 
hat bei den konkreten Begriffen zugenommen (20°/,). Lunge und 
Gehirn weisen ebenso wie in der vorigen Gruppe zu °/, Fehl- 
reaktionen auf, neuerdings auch Laube. Bei den politischen Be- 
griffen zeigen die Begriffe Kolonie und Gemeinde zu 70°, O- und 
Falschreaktionen, während bei der vorigen Gruppe diese Begriffe 
noch reichlich zur Hälfte Primitivreaktionen ergaben. Bei den 
logischen Begriffen sind Falschreaktionen die Regel. Eine Aus- 
nahme finden wir bei den Worten Erklärung und Urteil, die zu 
50°, noch primitiv definiert werden. (Der Lehrer erklärt eine Ge- 
schichte; zum Tode verurteilen, sind die häufigsten Primitivdefini- 
tionen.) Auch bei den ethischen Begriffen bilden die 0- und Falsch- 
reaktionen die Regel. Selbst die Definition von Mut, die in der 
Gruppe der intellektuell Intakten charakteristischerweise, da es 
sich ausschließlich um Knaben handelt, noch zu 75°/, primitiv er- 
klärt wurde, macht hier keine Ausnahme. 

Bei den 10—11jährigen debilen Fürsorgezöglingen stehen die 
Definitionsleistungen naturgemäß noch weiter. hinter der Norm zu- 
rück. Sie kommen einem Intelligenzalter von 7—8 Jahren am 
nächsten. Bei den konkreten Begriffen ist der Unterschied gegen- 
über den Normalbeschränkten nicht allzu groß. Die Begriffe Lunge 
und Gehirn weisen allerdings fast ausschließlich Fehlreaktionen auf. 
Bei den sozialen Begriffen sind die Primitivreaktionen, abgesehen 
von dem Begriff Ordnung (50°/, Primitivreaktionen) und Arbeit 
(50 %, richtige Reaktionen), in der Minderzahl, dagegen stehen 60 °/, 
0-Reaktionen. 

Bei den übrigen Abstrakten gehören die Primitivdefinitionen 
bereits zu den Seltenheiten, während bei den Normalbeschränkten 
die 0- und Falschreaktionen hier fast noch zu gleichen Teilen ver- 
treten waren, bilden bei den Debilen die 0-Reaktionen die Regel. 


240 RICHARD HELLMUT MENSCHEL, 


Die Intelligenzleistung dieser Gruppe erhält dadurch ein besonders 
mangelhaftes Gepräge. 

Betrachten wir nunmehr die Gesamtleistungen der eben be- 
sprochenen 3 Gruppen von 10—11jährigen Fürsorgezöglingen unter- 
einander und mit den Leistungen normaler Schüler, so kommen wir 
zu folgendem Ergebnis: Die Gesamtleistung der intellektuell Intakten 
steht genau wie bei den 15jährigen deutlich an der unteren Grenze 
normaler Leistungen (Intelligenzalter von 9—10 Jahren). Eine ge- 
wisse Minderwertigkeit in den Intelligenzleistungen ist gekenn- 
zeichnet durch den völligen Mangel an korrekten Definitionen, der 
den Begabteren dieser. Altersklasse noch zukäme, ferner aber auch 
durch die Neigung zu Primitivreaktionen bei den schwierigeren 
Konkreta. Bei den Abstrakten haben wir bereits am häufigsten 
Primitivreaktionen mit Neigung zu Fehlreaktionen. Bei den Normal- 
beschränkten ist die Falsch- und O-Reaktion bei den schwierigeren 
Konkreta und bei den Abstrakten das Zeichen größeren Intelligenz- 
defektes (Intelligenzalter 8—9 Jahr). Die Debilen weisen dann 
vollends nur noch bei den geläufigsten Konkreta einigermaßen be- 
friedigende Leistungen auf, im übrigen ist angesichts der ausge- 
sprochenen Neigung zur absoluten Fehlreaktion der Vergleich mit 
7jährigen nahegelegt. 

Beim Vergleich der Gesamtleistung der 15- und 10—11 jährigen 
fallen zunächst einmal die mittels der Definitionsmethode gewonnenen 
Resultate an Psychopathen mit normalem Intellekt 
auf. Abgesehen von den obenerwähnten Ausnahmen (bessere Einzel- 
leistungen bei 5 Schülern) liegen die deutlich faßbaren Abweichungen 
an der unteren Grenze normalen Intellekts innerhalb physiologischer 
Breite für das betreffende Alter. In der Mehrzahl der Fälle finden 
wir eine eigentümlich. einseitige, vom Milieu beeinflußte Definitions- 
weise. Die für den normalen Schüler charakteristische 
Tendenz, zu scharfumrissenen Allgemeindefinitionen 
zu kommen, hat entschieden gelitten. Am auffälligsten 
Sind gewisse Komplexreaktionen, die mit den Delikten der Fürsorge- 
zöglinge im engen Zusammenhang stehen und auch Schlüsse auf 
den Charakter zulassen. Gerechtigkeit: wenn ich alles mache und 
nichts gestohlen habe. Laster: eine Sünde, die uns drückt, die man 
gern sagen möchte. Handelt es sich doch bei den Psychopathen mit 
normalem Intellekt immer um Individuen, die teils infolge mangel- 
hafter Erziehung, teils infolge moralischer minderwertiger Anlage: in 
Jüngeren Jahren mit dem Gesetz in Konflikt kamen, teils wegen 
Arbeitsscheu und Müßiggang unter Fürsorge gestellt wurden. 


Zur diagnostischen Bewertung von Intelligenzleistungen. 241 


Bei der nächsten Gruppe, den Normalbeschränkten, ist 
die Abweichung von der Norm bereits deutlicher ausgeprägt. Auf 
Schwachbefähigung ohne ausgesprochene Defekte des 
Intellekts weisen auch Anamnese und Schulbeobachtung hin. Die 
abstrakte Denkungsweise ist verloren gegangen. Die 
Begriffe werden ausder rein individuellen und Schul- 
erfahrung in konkretem Sinne zu erfassen gesucht, 
wobei die Definitionen zum Teil kindlichen primi- 
tiven Charakter bekommen. Erklärung: der Lehrer erklärt 
eine Geschichte. Laube: wo die Kinder drin spielen. Dazu tritt 
auch noch sprachliche Ungelenkigkeit und mangelhafter 
Wortschatz, der im Verein mit der einseitigen konkreten Auf- 
fassungsweise bei komplizierten Begriffen bereits zu erheblichen 
Verstößen gegen den Sinn führt. Auch Tautologien (Irrtum: wenn 
man sich irrt) und sprachmotorische Reaktionen (Rache: Rachen) 
finden wir innerhalb dieser Gruppe namentlich be+ den 10—11 jährigen 
gar nicht selten. Dieses letztere ungünstige Resultat läßt uns manche 
Fälle schon hart an der Grenze der debilen Gruppe erscheinen. 

Bei den Debilen sind bereits klinische Zeichen pathologischen 
Schwachsinns leichten Grades nachzuweisen, wofür auch die Anamnese 
mit mangelhaften Schulleistungen spricht. Als bekannt dürfen wir 
eigentlich nur die geläufigeren Konkreta voraussetzen. Aber 
auch sie sind oft sehr unklar und einseitig aufgefaßt, zu- 
meist reine Zweckdefinitionen in. lapidarster Form. 
Bei den Abstrakten, die eigenes Denken verdeutlichen sollen, 
finden wir zu mindestens starke Unsicherheit in der Um- 
grenzung der Begriffe naive Teildefinitionen (Kolonie: 
wo die Kinder im Sommer Milch trinken — Ferienkolonie) — (Ab- 
sicht: wenn man jemand etwas auswischen will — böse Absicht), 
zum großen Teil aber völlige Unkenntnis der Begriffe 
(Fehlreaktionen). Die bei der vorigen Gruppe schon zutage tretende 
sprachliche Unsicherheit und mangelnder Wortschatz sind hier die 
Regel. Die Definitionsleistungen sind deshalb sehr eintönig in der 
Ausdrucksweise; wir finden bei den Falschreaktionen auch immer 
wieder dieselben Fehler in der Auffassung. Reichlich Tautologien 
und rein sprachmotorische Reaktionen lassen über das klinische 
Bild des Intelligenzdefektes keinen Zweifel aufkommen. 

Bei den vergleichenden Untersuchungen zwischen normalen 
Schülern und den Fürsorgezöglingen ist nun noch die Frage zu er- 
örtern, ob vielleicht besonders bei den intellektuell intakten 15jährigen 
Zusammenhänge zwischen moralischer Entwicklung und Intelligenz- 


242 MENSCHEL, Zur diagnostischen Bewertung von Intelligenzleistungen. 


leistung zu konstatieren sind. Derartige Zusammenhänge waren 
jedoch nicht zu konstatieren. Die Intelligenzleistung der moralisch 
Minderwertigen stand auf gleicher Stufe, wie die der moralisch 
Schwachen und eines moralisch Intakten. 

Zusammenfassend läßt sich aus den Untersuchungen folgendes 
feststellen: 

1. Aus der prozentualen Übersicht der einzelnen Definitions- 
leistungen beider Altersgruppen (der 15- und 10—11 jährigen) und 
besonders aus der tabellarischen Übersicht mit quantitativer Aus- 
wertung der mittels der Definitionsmethode gewonnenen Ergebnisse 
ist ein regelmäßiges Absinken der Intelligenzleistungen innerhalb 
der einzelnen Intelligenz- und Altersgruppen zu konstatieren, eine 
Tatsache, die uns den Wert der Definitionsmethode als eines be- 
sonders empfindlichen Instruments zur Intelligenzprüfung dartut. 

2. Die vergleichende Untersuchung von normalen Schülern und 
intellektuell intakten Fürsorgezöglingen bezüglich der Definitions- 
leistungen ergibt eine deutliche Minderleistung der letzteren, die 
an der unteren Grenze der Normalen steht. 

3. Ein Zusammenhang zwischen Intelligenzleistung und Stufe 
der moralischen Entwicklung war nicht nachzuweisen. 

4. Bei einer rückständigen Differenz im Intelligenzalter von 
4—5 Jahren beginnt bei den 15jährigen Fürsorgezöglingen der 
pathologische Schwachsinn, bei den 10—11jährigen beginnt derselbe 
bei einer Differenz von 3—4 Jahren im Intelligenzalter. 


Nachdruck verboten. 


Das Vorkommen von Schwachsinn in einer holländischen 
Universitätsstadt.') 


Von 
Dr. Ernst de Vries und J. J. L. de Neve, Leiden. 


Während der zweiten Hälfte des Jahres 1918 wurde von uns 
eine Untersuchung nach dem Vorkommen von Schwachsinn bei 
Personen unter 21 Jahren in einer holländischen Universitätsstadt 
angestellt. Dies geschah im Auftrage eines Ausschusses, der von 
dem Vorstande des Vereins: „Soziale Arbeit bei Nervenleiden und 
Irrsinn“ zu dem Zwecke ernannt wurde, dem Provinziallandtag der 
Provinz Süd-Holland Material über das Schwachsinnigenproblem zu 
verschaffen. Außer den Angaben der Universitätspolikliniken und 
der Städtischen Anstalt für Schwachsinnige „Voorgeest“ standen 
uns die Daten der Hilfsschule zur Verfügung und erfreuten wir uns 
der offiziellen Mitwirkung der Gemeinde und freundlicher Mithilfe 
verschiedener Personen, darunter der Rektoren. 

Es war uns dadurch möglich, nahezu alle Schwachsinnigen 
persönlich zu sehen, wodurch die Klassifizierung in die verschiedenen 
Gruppen einen hohen Grad von Sicherheit erhält. Des Umstandes, 
daß trotzdem viele Fehlerquellen bestehen bleiben, sind wir uns be- 
wußt; wir werden nicht unterlassen, jedesmal an entsprechender 
Stelle hierauf hinzuweisen. 

Die Anzahl der Idioten und Imbezillen, die wir nicht kennen 
lernten, dürfte nicht sehr groß sein; wir glauben, daß die hier an- 
gestellten Erhebungen einen recht hohen Grad von Vollkommenheit 
aufweisen. Betreffs der Debilen liegt die Sache jedoch anders; von 


1) Übersetzt aus: Tijdschrift voor Buitengewoon Onderwijs, 1920, 
Herausgeber „Haga“ im Haag. 


244 ERNST DE VRIES und J. J. L. DE NEVE, 


dieser Kategorie sind uns sehr viele entgangen. Hierauf kommen 
wir noch ausführlicher zurück. 

Von größter Wichtigkeit ist es, vorher scharf umschriebene 
Gruppen zu unterscheiden. Daher geben wir hier zunächst die 
Definitionen der verschiedenen von uns benutzten Namen: 

Schwachsinn umfaßt alle geistigen Defektzustände, soweit 
diese angeboren oder vor dem 6. Lebensjahre durch eine Gehirn- 
krankheit erworben sind. Es sind bei ihm fünf Gruppen zu unter- 
scheiden: 

Idiotie, 
Imbezillität, 
Debilität, 
Insania moralis, 
Epilepsie. 

Die Patienten der drei ersten Gruppen können zugleich an 
Insania moralis oder an Epilepsie leiden. 

Idiotie ist der geistige Defektzustand, bei welchem sich der 
Intellekt nicht weiter entwickelt als bei einem 3jährigen Kinde. 
Sie umfaßt also die Gruppe derjenigen Patienten, die mit den tiefsten 
Idioten beginnt und nach oben bis zu denjenigen reicht, die einige 
Wörter haben sprechen lernen und zu einfacher handwerksmäßiger 
Tätigkeit imstande sind. Körperlich können sie normal sein, aber 
häufiger sieht man mancherlei Mißbildungen. Die meisten von 
ihnen ist die Ausführung einfacher Handlungen lästig, die Koordi- 
nation der Muskeln gestört. Defekte im Gefühlsleben, in ethischen 
und moralischen Begriffen, sind sehr häufig, brauchen aber für Ein- 
reihung unter den Begriff Idiotie nicht vorhanden zu sein. 

Imbezillität ist diejenige Form intellektueller Minderwertig- 
keit, deren leichtester Grad anfangs kein Hindernis für Schulunter- 
richt- ist, so daß nicht mehr als der Stoff des ersten Schuljahres 
bewältigt werden kann. Auch für die Hilfsschulen sind diese Schwach- 
sinnigen nur ausnahmsweise geeignet, wenn sie nämlich im übrigen 
so ruhig und aufmerksam sind, daß sie den Unterricht der anderen 
Kinder nicht beeinträchtigen. 

Zufolge Untersuchung auf Grund der Biser’schen Skala steht 
der Intellekt der Imbezillen niedriger als der eines 7—8jährigen 
Kindes und beträgt der Intelligenzquotient also '/, oder darunter. 
Beim Beginn des schulpflichtigen Alters steht der Intellekt also 
kaum auf der Stufe eines Kindes von 3 Jahren. 

Die übrigen geistigen Eigenschaften brauchen bei den Imbezillen 
nicht defekt zu sein. 


Das Vorkommen von Schwachsinn in einer holländ. Universitätsstadt. 245 


Debilität, Rückständigkeit, umfaßt die geringeren Grade 
intellektuellen Defektes, bei denen Unterricht sehr gut möglich ist. 
Die .Debilen (Zurückgebliebenen) sind nicht für die gewöhnliche 
Volksschule geeignet; nur wenige von ihnen können unter besonderen 
Umständen, z. B. wenn die Schülerzahl in den Klassen klein ist, 
die Lehrer für die Eigenart dieser Kinder Verständnis haben und 
diese Schüler durch Hausunterricht oder Extralektionen Nachhilfe 
erhalten, im Unterrichte mitkommen, in etwa der doppelten Anzahl 
von Jahren, die unter normalen Umständen erforderlich ist. 

Die Debilität oder intellektuelle Rückständigkeit geht allmäh- 
lich in den normalen Verstand über. Je nach Bedürfnis kann man 
auf der Grenze noch Gruppen von Subnormalen und Dummen an- 
nehmen; jedoch wird ein Versuch zu schärferer Definierung vorläufig 
noch resultatlos verlaufen, da die Grenze nach dem Normalen für 
verschiedene Untersucher (Lehrer, Ärzte, Richter) so sehr wechselt. 

Intellektuelle Rückständigkeit braucht nicht mit ethischen oder 
moralischen Defekten verbunden zu sein; umgekehrt stempeln diese 
jemand auch nicht zu einem Debilen, sondern zu einem Patienten 
der folgenden Gruppe. 

Die Grenzen zwischen Idioten, Imbezillen und Debilen sind 
hier in Übereinstimmung mit Bixer gewählt; von vielen werden sie 
anders gezogen. 

Eine scharfe Abgrenzung besteht jedoch nicht. Ob man einen 
bestimmten Schwachsinnigen als Idioten oder Imbezillen bezeichnen 
wird, kann von seinem allgemeinen Verhalten abhängen. Steht der 
Intellekt des betreffenden Kindes auf der Höhe, die etwa dem Alter 
von 3 Jahren entspricht und ist das Kind zugleich ruhig und an- 
stellig, so daß der Patient für allerlei kleine Hausarbeiten zu ge- 
brauchen ist, dann besteht kein einziges Bedenken, ihn zu den 
Imbezillen zu rechnen, während ein anderer mit demselben Ver- 
stande, der aber durch reichlich große Beweglichkeit und schlechte 
Konzentration der Aufmerksamkeit sozusagen zu nichts zu gebrauchen 
ist, zu den Idioten wird gerechnet werden müssen. 

Unter den Begriff Insania moralis, moralischer Defekt- 
zustand, sind alle angeborenen Minderwertigen mit normalem Ver- 
stande gruppiert, also sowohl die Kriminellen als die schweren 
Psychopathen, die instabilen und die nervösen Naturen. Die Grenzen 
dieser Gruppe sind natürlich sehr verschwommen; was der eine 
noch normal nennt, ist in den Augen des anderen schon ein ernstes 
sittliches Manko. 

Epilepsie. Die Fallsüchtigen müssen eine gesonderte Gruppe 


246 ERNST DE VRIES und J. J. L. DE NEVE, 


bilden, da eine Anzahl von ihnen zu keiner der 4 anderen Gruppen 
gehört. Ihre große Anzahl und die Erheblichkeit ihrer Krankheit 
rechtfertigt die Zuweisung eines besonderen Platzes. Zu den Fall- 
süchtigen sind hier alle an Anfällen leidenden Personen gerechnet, 
einerlei, ob sich diese Epilepsie in Anschluß an eine Gehirnkrank- 
heit entwickelt hat oder sogenannt primär aufgetreten ist. 

Eine Anzahl Epileptiker ist zugleich idiot, imbezill oder debil. 
Man findet sie an beiden Stellen wieder, sowohl in der Rubrik 
Epileptiker als in der persönlich für sie in Betracht kommenden 
Rubrik der einzelnen speziellen Krankheitsform. Weist aber ein 
Epileptiker zugleich moralische oder ethische Defekte auf, dann 
werden diese als Symptom der Epilepsie betrachtet und sind der- 
artige Individuen also nicht mehr unter die Insania moralis ein- 
gereiht. 

Im ganzen wurden bei einer Gesamtbevölkerung von reichlich 
60000 Seelen (also ungefähr 30000 Minderjährigen) gefunden: 
60 Idioten (etwa 2 %,0), 68 Imbezille (etwa 2%, °/,0) und 258 Debile. 
Ferner ergaben sich 41 Fallsüchtige, von denen 16 zugleich ver- 
schiedene Grade intellektueller Defekte aufwiesen und 147 moralisch 
defekte Individuen, unter welchen 20 debil oder imbezill waren. 
Dies alles betrifft allein die Minderjährigen. 

Von den 128 Idioten und Imbezillen wurden zur Zeit dieser 
Statistik 31 in Anstalten für Schwachsinnige verpflegt und einer in 
einem Irrenhause Ferner waren 6 von ihnen früher in der An- 
stalt „Voorgeest“ und einer in einer Irrenanstalt. 10 werden in 
einer Vormundschaft-Stiftung oder einem Internat verpflegt, und die 
übrigen 86 werden zu Hause versorgt. 

Im allgemeinen war die Versorgung dieser Kinder zu Hause 
ausreichend; fast überall wurden die Idioten besser versorgt, als die 
anderen kleinen Kinder und war auch der Zustand ihrer Kleidung 
und Ernährung nicht derartig, daß darin ein Grund zur Unter- 
bringung in eine Anstalt gefunden werden konnte. Natürlich ist 
die Verpflegung in Anstalten in vielen Hinsichten besser, jedoch 
sorgt anderseits eine Mutter, die ihre Pflichten als solche fühlt, im 
allgemeinen mehr für ihr unglückliches Kind als eine Pflegerin in 
einer Anstalt. 

Nur für 5 Idioten und 11 Imbezille fand ich die Versorgung 
sehr unzulänglich. 

Einen anderen Anstrich erhält die Sache, wenn wir nicht nur 
die Verpflegung, sondern auch die geistige Erziehung ins Auge 
fassen. Die letztere war zu Hause nur für sehr wenige demjenigen 


Das Vorkommen von Schwachsinn in einer holländ. Universitätsstadt. 247 


gleichzustellen, was ihnen die Anstaltserziehung in einer oder der 
anderen Form würde bieten können. Sechs Imbezille besuchten eine 
Schule (5 von ihnen die Hilfsschule), 10 andere hatten zu Hause 
eine ausreichende Erziehung. Für die tieferen Idioten ist allein 
Versorgung erforderlich, keine Erziehung; andere, wie z. B. die 
mongoloiden Idioten benötigen u. Æ. wohl ganz entschieden einige 
Erziehung, die ihnen zu Hause nur ausnahmsweise (nämlich in 4 
Fällen) zuteil wurde. 

Wie oben erwähnt, wurden bei den von uns angestellten Er- 
mittlungen reichlich 250 Debile registriert, und wir müssen nun- 
mehr die Frage besprechen, inwieweit diese Anzahl vollständig ist. 
Die meisten Angaben erhielten wir von der Hilfsschule, also indirekt 
durch die Angaben der einzelnen Volksschulleiter. In jüngerem 
Alter wird die Rückständigkeit nur selten erkannt, und auch ist es 
nach Durchlaufen der Schule oft sehr schwer, die Zurückgebliebenen 
wiederzufinden. Sie haben die einfachsten Stellungen in der Gesell- 
schaft bekommen und fallen daher in ihrer Umgebung wenig auf. 
Es kann also nicht verwundern, daß bei einer Gruppierung nach 
dem Lebensalter, wie sie in nachstehender Tabelle vorgenommen ist, 
die Debilen fast ausschließlich in die beiden mittleren der 4 Gruppen 
fallen. 


Tabelle 1. 





Gruppierung nach dem Alter: 





Idioten | Imbezille | Debile 
0— 5 Jahr 17 | 14 30 
6—11 „ 17 17 119 
Ët, 10 16 64 
16-20 „ 16 20 21 


Jedoch auch während des schulpflichtigen Alters wird eine An- 
zahl Zurückgebliebener nicht erkannt, wenigstens nicht dem mit der 
Auslese für die Hilfsschule beauftragten Ausschusse angegeben. 
Diese Schüler findet man zur Hauptsache in den besonderen Schulen. 
Von den öffentlichen Schulen mit insgesamt 5071 Schülern wurden 
in 5 Jahren 93 Schüler als für die Schule für Zurückgebliebene 
geeignet angegeben, von den Privatschulen mit 3622 Schülern 
während desselben Zeitraumes 17. 

Dieser große Unterschied hat viele Ursachen. Zunächst liefern 
die Schulen, wo kein Schulgeld erhoben wird, einen großen Teil der 

Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinne. VII. 17 


248 ERNST DE VRIES und J. J. L. DE NEVE, 


Zurückgebliebenen, und diese Art Schulen sind allein öffentliche. 
Ferner wollen einige Eltern ihr zurückgebliebenes Kind lieber auf 
einer gewöhnlichen konfessionellen Schule haben als auf der neutralen 
Hilfsschule. Des weiteren wird eine Anzahl Zurückgebliebener von 
den Lehrern der besonderen Schulen nicht angegeben, aus denselben 
Gründen, die oben für die Eltern genannt wurden, und schließlich 
zählt für einige konfessionelle Schulen die Rückständigkeit des In- 
tellektes nicht so schwer wie die Vorteile ihrer religiösen Erziehung. 
Durch den Bau privater Hilfsschulen kann man also einem größeren 
Teile der Zurückgebliebenen den für sie erforderlichen Unterricht 
angedeihen lassen. 

Vom sozialen Standpunkte aus ist die Betrachtung an der Hand 
folgender Angabe seitens der verschiedenen öffentlichen Schulen 
interessant. 








Tabelle 2. 
| Rückständigkeit und sozialer Stand: 
Schulgeld: Fl. 60,— Fl.16,—bis Fl.24,— Fl3— | FI. 0,— 
% Zurückgebliebener: 0,3 0,7 2,3 4,— 
| 








Sehr stark fällt hier auf, daß Rückständigkeit unter den niederen 
Ständen der Gesellschaft häufiger vorkommt als unter den höheren. 
Aber doch dürfen verschiedene Fehlerquellen nicht übersehen werden. 
Zunächst kommt es einige Male vor, daß ein Kind, welches dem 
Unterricht einer erstklassigen Schule (Schulgeld Fl. 60,—) nicht 
folgen kann, in eine zweit- oder sogar drittklassige Schule überführt 
wird, wo der Lehrplan und Stundenplan beschränkter sind und das 
betreffende Kind also leichter mitkommt. Wenn man sich etwas 
Mühe gibt, kann man diese Kinder aufspüren. 

Unmöglich ist es aber, zu erfahren, wieviele Kinder wegen 
Rückständigkeit Privatunterricht erhalten. Die Listen des Lehr- 
pflichtgesetzes geben zwar die Namen derjenigen Kinder an, die 
wegen des Empfangens von Hausunterricht vom Schulbesuch befreit 
sind; aber der Grund hierfür wird nicht vermeldet. Ich habe Grund 
zu der Vermutung, daß wiederholt die Ursache dieses Hausunter- 
richtes in Rückständigkeit der betreffenden Kinder zu suchen ist, 
so daß ich glaube, daß der Prozentsatz der Zurückgebliebenen für 
die beiden höheren Klassen auch höher wie in der Tabelle ange- 
geben, zu bemessen ist, vielleicht etwa auf 1°,- 

Unverkennbar aber bleibt der Unterschied in der Anzahl der 


Das Vorkommen von Schwachsinn in einer holländ. Universitätsstadt. 249 


Zurückgebliebenen zwischen der niedrigsten Klasse der Gesellschaft 
und den übrigen. Diese Erscheinung ist einerseits dem Einflusse 
der Erblichkeit zuzuschreiben, wodurch in der ärmsten Klasse mit 
einer großen Anzahl Zurückgebliebenen auch die größte Anzahl 
zurückgebliebener Kinder geboren wird und ferner dem regulieren- 
den Einflusse, der die Rückständigen aus allen Ständen durchweg 
zur Armut führt und andererseits den Kindern mit einem besseren 
Verstand aus den ärmsten Klassen die Möglichkeit bietet, sich zu 
einer besseren Existenz emporzuarbeiten. Dem direkten Einflusse 
der Armut, schlechter Ernährung u. dgl. erkennen wir für das Ent- 
stehen der Rückständigkeit nur eine sehr geringe Bedeutung zu. 

Es ist außerordentlich schwer, die Grenze zwischen Rückständig- 
keit und normalem Verstand immer gleich zu ziehen. Man ist bei 
den höheren Ständen derart geneigt, einen größeren Verstand zu 
fordern als bei den niederen, daß man bei den ersteren schon Rück- 

“ständigkeit diagnostiziert, während man einen gleichen Intellekt bei 
den letzteren noch als normal betrachten würde. Ein Rektor einer 
Schule der ersten Klasse äußerte sich z. B. dahin, daß ein Knabe 
seiner Schule zu den Zurückgebliebenen gerechnet werden müsse, 
der aber, falls er zufällig Zögling einer Schule 4. Klasse gewesen 
wäre, dort hinreichend hätte Schritt halten können. Man darf 
natürlich einen derartig unsicheren, schwankenden Begriff nicht als 
Grundlage einer Einteilung wählen und tut gut daran, sich scharf 
an die eingangs gegebene Definition zu halten. 

Diese Definition stützt sich auf die Unveränderlichkeit der 
Debilität, auf die Unmöglichkeit, diese durch besonderen Unterricht 
oder durch eine sehr geregelte. Erziehung zu verbessern. 

Es ist auffallend, daß die beiden Geschlechter nicht eine gleiche 
Anzahl Schwachsinnige aufweisen: 


Tabelle 3. 


Verhältnis der beiden Geschlechter: 






abe at AS moralischer 
Idiotie | Imbezillität | Debilität Defekt 





Es entfallen auf 100 | 
irgendwie geistig defekte 

100 100 100 

62 42 8 


männl. Personen: 100 
weibl. Personen: 76 


Was die Insania moralis anbelangt, stehen wir auf bekanntem 
D 


Gebiet. Daß Kriminalität viel häufiger bei Männern als bei Frauen 
(og 


250 ERNST DE VRIES und J. J. L. DE NEVE, 


vorkommt, ist allgemein bekannt. Noch stärker tritt dies hervor, 
wenn man, wie es hier geschieht, nur die jugendlichen Personen 
betrachtet. 

Die Ziffern für die Debilen sind nicht ganz genau. Sie wurden 
zur Hauptsache durch die Angaben der Schulleiter erhalten und 
sind also von dem zahlenmäßigen Verhältnis zwischen Knaben und 
Mädchen auf den betreffenden Schulen abhängig. Dieses Verhältnis 
ist in der Volksschule etwa derart, daß auf 12 Knaben 10 Mädchen 
entfallen. Diese Erscheinung ist auf zwei Ursachen zurückzuführen: 
darauf, daß Mädchen eher die Schule verlassen als die Knaben und 
weiter auf den Umstand, daß eine Anzahl katholischer Knaben die 
öffentlichen Schulen besuchen, während die katholischen Mädchen 
meistens auf den besonderen Schulen bleiben. Das Verhältnis der 
Anzahl zurückgebliebener Knaben und Mädchen wird also für die 
letzteren zu günstig (zu niedrig). Groß ist dieser Unterschied aber 
nicht, so daß wir glauben, daß die Anzahl der zurückgebliebenen 
Knaben etwa doppelt so hoch ist wie die der Mädchen. 

Bei den Imbezillen und Idioten findet man ebenfalls, aber in 
abnehmendem Maße, ein Überwiegen der Knaben. Wir erachten es 
als wahrscheinlich, daß dies eine Folge der größeren Variations- 
breite ist, der in so vielen Eigenschaften beim Manne vorkommt. 
Genies und Individuen mit einem über das Normale hinausragenden 
Verstand findet man ebenfalls viel häufiger bei männlichen als bei 
weiblichen Personen. 

Infolge des Umstandes, daß Idiotie und Imbezillität viel mehr 
als Debilität durch bestimmte Krankheiten des Gehirns verursacht 
werden, die wahrscheinlich beide Geschlechter in ungefähr gleicher 
Anzahl antasten werden, findet man bei den stärkeren Graden von 
Schwachsinn nicht einen so großen Unterschied zwischen der An- 
zahl Knaben und Mädchen wie bei den Zurückgebliebenen. Unsere 
Ziffern sind jedoch zu klein, um aus ihnen hinreichend sichere Daten 
abzuleiten. 

Betreffs der Ursachen des Schwachsinns verschaffen unsere Er- 
mittelungen interessante Daten. Der Schwachsinn ist nicht an sich 
eine Krankheit, sondern er ist stets eine Erscheinung und zwar ein 
Symptom, das durch sehr verschiedene Erkrankungen des Gehirns 
hervorgerufen werden kann. 

Wir wollen hierbei drei große Gruppen unterscheiden: 

1. Exogene Krankheiten, bei denen ein von außen komnen- 
der Einfluß das Gehirn angetastet hat, wie z. B. eine Entzündung, 
eine Verwundung usw. 


Das Vorkommen von Schwachsinn in einer holländ. Universitätsstadt. 251 


2. Endogene Krankheiten, bei denen die Abweichung auf 
einer angeborenen Störung in der Gehirnentwicklung beruht. Wahr- 
scheinlich wird sich bei tieferem Studium bei einer Anzahl der 
hierzu gerechneten Formen zeigen, daß dieselben exogen verursacht 
wurden. 

3. Minderwertigkeit des Gehirns, ohne deutliche Ab- 
weichung oder Ursache. Hierunter fallen Keimbeschädigung und 
erbliche Belastung, worüber später ein weiteres, 

Die nachstehende Tabelle zeigt die gefundenen Ziffern. Es 
kamen unter unserem Material längst nicht alle Formen des Schwach- 
sinns vor, so daß diese Liste nicht die vollständige Ursachenlehre 
darbietet. 

Tabelle 4. 









Verteilung nach Krankheitsformen: 


Idiotie | Imbezillität | Debilität 


I. Exogen: 
Verwundung, Gehirnerschütterung 
Enzephalitis, Hirnhautentzündung 
Krämpfe und Fraisen t 
Angeborene Syphilis 
Wasserkopf 
Epilepsie (als mögliche Ursache) 
Störungen durch die Geburt 





| | wwl Sw 





insgesamt: 16 | 19 44 

DL Endogen: 
Mikrozephalie 5 — — 
Mongolismus 11 1 — 
Kretinismus = | 1 2 
Hirnsklerose 2 — 
Kleinhirnataxie 1 3 2 
Körperliche Störungen — — 3 
insgesamt: 19 | 5 7 
III. Keine bestimmte Krankheitsform 26 43 203 








Es scheint uns sehr wahrscheinlich, daß in der dritten Gruppe 
eine große Anzahl Fälle vorkommt, in denen die Patienten gleichsam 
als Zwerge an Verstandesentwicklung angesehen werden müssen, 
als die niedrigsten der Variabilitätskurve, die für jede Eigenschaft 
der lebenden Individuen gilt. 

Diese Gruppe umfaßt bei den Idioten 43 °,, bei den Imbezillen 
62 °%,, bei den Debilen 80°, der Gesamtzahl. Das will also be- 
sagen, daß der größte Teil der Idioten in diesen geistigen Defekt- 


252 ERNST DE VRIES und J. J. L. DE NEVE, 


zustand durch eine Krankheit ihres Gehirns geraten ist, während 
nur bei der kleineren Hälfte der Imbezillen und 1. der Debilen 
deren Abweichung auf Hirnerkrankungen zurückgeführt werden 
kann. Bei den anderen besteht ein Fehler in der Anlage, sei es 
als Keimbeschädigung, sei es als erbliche Belastung. 

Enzephalitis (Gehirnentzündung) und Hirnhautentzündung nehmen 
in der Reihe der Ursachen weitaus die wichtigste Stelle ein. Nur 
der Mongolismus hat eine ihnen entsprechende Bedeutung für Idiotie. 
Die beiden ersteren führen meistens schwere Zerstörungen herbei; 
für das Entstehen von Debilität ist ihre Bedeutung weniger groß. 

Krämpfe und Zuckungen nahmen wir dann an, wenn keine 
bestimmte Hirnerkrankung bestanden hatte, aber doch ernstere 
Störungen als nur Fraisen vorhanden gewesen waren. Zu den 
schwereren Graden von Schwachsinn führten sie nicht. 

Epilepsie findet hier nur insoweit einen Platz, als sie die 
mögliche Ursache für Schwachsinn sein kann. Die Fälle, in denen 
Anfälle bei halbseitig gelähmten Kindern infolge von Enzephalitis 
auftraten, rechnen wir also nicht zu Epilepsie; vielmehr sind diese 
in die zweite Gruppe untergebracht : 

Störungen durch die Geburt (Asphyxie, Frühgeburt, Zangen- 
geburt) betrachten wir nicht als Ursachen für Idiotie; es sei denn, 
daß dieser als letzter Tropfen das Maß eines in Anlage sehr minder- 
wertigen Nervensystems zum Überlaufen bringen. Wohl können 
u. E. diese schädlichen Einflüsse Debilität zur Folge haben. 

Keimbeschädigung und erbliche Belastung machen das Nerven- 
system in der Anlage minderwertig. Indessen muß man u. E. jedem 
dieser beiden Momente eine ganz verschiedene Bedeutung zuerkennen. 

Keimbeschädigung kann vorliegen bei Alkoholismus des Vaters 
oder der Mutter, bei schweren Erschöpfungszuständen der Frau 
während der Schwangerschaft; auch durch Gifte, wie u. a. Schwefel- 
kohlenstoff, kann sie eintreten; jedoch ist dies zu selten, um in einer 
Statistik wie dieser, einen Platz zu finden. 

Erbliche Belastung kann dort vorhanden sein, wo sich in der 
Familie Fälle von Irrsinn oder Epilepsie finden. Das Nervensystem 
ist dann minderwertig und offenbar nicht imstande schädlichen Ein- 
flüssen zu wehren, die von einem normalen Nervensystem ohne all- 
zustarke Reaktion ertragen werden. 

Auch ist Rückständigkeit direkt erblich von den Eltern auf das 
Kind. Eine nähere Spezifizierung dieser ätiologischen Gruppe können 
wir allein für die Zurückgebliebenen geben; die Ziffern für Idioten 
und Imbezillen sind zu klein und zu unsicher. 


Das Vorkommen von Schwachsinn in einer holländ. Universitätsstadt. 253 


Tabelle 5. 








Ursachen der Rückständigkeit bei 136 für die 
Hilfsschule tauglich Befundenen: 





Unter 136 Schülern sind: | 10 Geschwisterpaare. 


Von , j sind: | Zurückgeblieben 18 Väter, 18 Mütter, darunter 4 mal 
beide Eltern. 

Se ò „ haben: | 35 einen zurückgebliebenen oder idioten Bruder oder 
Schwester. 

e a haben: | 15 ein Familienglied in einer Anstalt für Irrsinnige 
oder Schwachsinnige. 

5 j „ haben: | 75 ein oder mehr der vier obengenannten belasten- 


den Momente. 
haben: 20 einen Alkoholisten als Vater oder Mutter. 


: 2 a war: | 11 mal die Geburt schwer. 
x š „ bekamen: 4 eine Gehirnerschütterung im jugendlichen Alter. 
5 j 5 litt: 4mal die Mutter während der Schwangerschaft an 


Nierenerkrankung oder starker Unterernährung. 


Es fällt auf, wieviel häufiger erbliche Belastung (die ersten 4 
Gruppen) gefunden wird als Keimbeschädigung. Wiederholt kommen 
auch beide vor, wobei dann der Alkohol, wo derselbe auf ein in der 
Anlage minderwertiges Nervensystem einwirkt, viel mehr Schaden 
anrichten kann als bei Gesunden. 

Direkte Erblichkeit der Rückständigkeit fanden wir in fast 
einem Viertel (23,5 °/,) der Fälle. 





ën 


Nachdruck verboten. 


Irrenanstalt S. Maria della Pietà in Rom (Prof. G. Mincazzını). 
Beitrag zum Studium der Dementia infantilis. 


Von 
Dr. Giuseppe Montesano, Oberarzt und Privatdozent. 


Während der letzten zwei Jahrzehnte sind zahlreiche Fälle von 
mehr oder weniger schwerem geistigen Verfall bei Individuen, die 
sich in den ersten Lebensjahren befinden, und die einige Jahre hin- 
durch nach der Geburt bezüglich des Verstandes normal erschienen, 
beschrieben worden. Mit Ausnahme der Fälle, in denen der Verfall 
auf eine Meningitis, Meningo-Encephalitis oder auf eine Epilepsie 
mit deutlichen, mehr oder weniger häufigen Krampfanfällen zurück- 
zuführen ist, war der Rest bisher in zwei Gruppen eingeteilt, 
nämlich eine, die unter der allgemeinen Bezeichnung Dementia in- 
fantilis und die andere, die unter dem mehr speziellen Namen 
Dementia praecocissima bekannt sind. Erstere wurde von WEYGANDT 
und HELLER abgegrenzt: das klinische Bild derselben wäre durch 
Erkrankung in der Anfangsperiode, durch nicht große Herabsetzung 
der Affekte, durch Störungen der Aufmerksamkeit, die jedoch immer 
leicht angeregt werden kann, durch psychopathische Episoden in 
Form von Erregung oder mehr oder weniger schweren Verwirrung, 
mit oder ohne halluzinatorischen Symptome und endlich durch tiefen 
unheilbaren geistigen Verfall, welcher an die Idiotie erinnert, 
charakterisiert; oft beständen auch Störungen der Sprache bis zu 
einer wirklichen Aphasie und außerdem katatone Erscheinungen. 

Auf die Dementia praecocissima hat zuerst De Sancrıs die Auf- 
merksamkeit gelenkt; in derselben beständen ähnliche Symptome, 
wie in der Dementia praecox jugendlicher und erwachsener Indi- 
viduen; in den bisher beschriebenen Fällen, die das eine oder das 
andere der erwähnten Symptome aufwiesen, traf man aber zu viele 


Beitrag zum Studium der Dementia infantilis. 255 


Verschiedenheiten an, um eine einzige Gruppe darstellen zu können. 
Es sind somit akute und subakute, mit Apathie, Negativismus, 
Katalepsie ausheilende Formen mitgeteilt worden. Auch bezüglich 
der chronischen Formen ist Ds Saxcris geneigt, drei Abarten anzy- 
nehmen, je nachdem katatone, hebephrene-katatone Symptome, oder 
ein einfaches, beständiges, intellektuelles Defizit mit Unteraffektivität, 
sonderbaren Ideen, Erregbarkeit, Perseveration in den Bewegungen 
und den Haltungen vorliegt. 

Diese Einteilung hat das Verdienst, den katatonen Symptomen 
bezüglich des Unterschiedes von den anderen Formen von Schwach- 
sinn, nicht einen absoluten Wert zuzuschreiben, denn es ist bereits 
seit langem bekannt, daß diese Symptome in Individuen, die von den 
verschiedenartigsten Krankheitsformen befallen sind, wie auch sogar 
in ganz normalen, in den ersten Lebensjahren sich befindlichen 
Individuen, auftreten können. DE Saxcrıs jedoch erklärt nicht, 
welches das allen Formen der Dementia praecocissima gemeinsame 
pathognomonische Symptom sei. In Übereinstimmung mit dem, was 
die Mehrzahl der Autoren in bezug auf die gewöhnliche Dementia 
praecox annimmt, müßte das in Frage stehende Symptom die emotio- 
nelle Abstumpfung sein; aus der Sichtung der Kasuistik jedoch 
scheint es, daß nicht alle die genaue Bedeutung dieser Benennung 
verstanden, oder wenigstens die wahre Abstumpfung von der Pseudo- 
abstumpfung nicht haben unterscheiden können. 

Einige Autoren scheinen die emotionelle Abstumpfung der Ab- 
stumpfung der Zuneigungen gleich anzusehen, doch ist dies etwas ganz 
anderes. Bei der ersteren fallen die emotionellen Reaktionen ver- 
schiedener Reize aus; die Handlungen werden ohne jene Färbung 
ausgeführt, die durch die emotionellen Störungen gegeben wird, welche 
während ihrer Ausführung entstehen; bei der anderen fällt eine der 
Ursachen der Handlungen, wie der Gemütsbewegung, die im Grunde 
genommen nichts anderes sind, als fehlgegangene Handlungen, 
aus, einer der Beweggründe unserer psychischen Äußerungen und 
zwar jener, welcher durch die Anhänglichkeit an gewisse Gegen- 
stände oder Personen, folglich durch Sympathie, Interesse für die- 
selben, dargestellt wird. Die Erschöpfung einer dieser Quellen von 
Gemütsbewegungen schließt nicht die Notwendigkeit in sich ein, 
daß auch alle die anderen ausfallen müssen. Der Idiot äußert ge- 
wöhnlich, obwohl er nicht in der Lage ist Zuneigungen zu hegen, 
nicht wenige Gemütsbewegungen bezüglich der Befriedigung seiner 
wenigen materiellen Bedürfnisse. 

Wann ist nun die Emotivität im allgemeinen abwesend oder 


256 GIUSEPPE MONTESANO, 


abgeschwächt, abgestumpft, wie man gewöhnlich sagt? Sowohl ein 
Schizophrener, wie ein Melancholiker und ein Epileptiker, können 
in einen stuporösen Zustand verfallen, in welchem u. a. auch die 
emotionellen Äußerungen aufzuhören scheinen; aber der genaue 
Beobachter wird finden, daß, während der erstere jedem Reize 
gegenüber absolut gleichgültig ist, die anderen eine wenn auch noch 
so leichte Bewegung, hauptsächlich des Auges, aufweisen, was ein 
Beweis dafür ist, daß eine Empfindungs- und Gemütsreaktion er- 
zeugt wird, nur daß die Äußerung derselben außerordentlich ge- 
hindert ist; ersterer weist wirklich einen Mangel an Gemütsbewegung 
auf, bei den anderen besteht letztere, doch findet sie ein Hindernis, 
zum Ausdruck zu kommen. 


Die Unterscheidung sollte leichter sein in den Fällen, in denen 
nicht eine vollständige oder fast vollständige Hemmung der moto- 
rischen Äußerungen, sondern nur ein stärkerer Widerstand ihrer 
Erzeugung gegenüber besteht. Nicht immer jedoch findet diese statt, 
besonders in den Fällen, in denen ganz besonders die ausdrucks- 
vollen Äußerungen (mimische, artikulierte Sprache, Ton der Stimme) 
gehindert sind, so daß sie daher arm und fade erscheinen. Be- 
kanntlich findet etwas Ähnliches beim epileptischen Schwachsinne 
statt, in welchem immerhin eine emotionelle Überregbarkeit be- 
steht; wenn nun von den Erscheinungen, denen man besonders den 
Wert eines Zeichens der Epilepsie zuschreibt, nämlich den konvul- 
siven, keine Spur besteht, oder nur früher solche bestanden, und 
man hingegen anfallsweise psychopathische Äußerungen hat, welche 
an die Dementia praecox erinnern, durch Symptome der Kata- 
tonie, des Manierismus, Wunderlichkeiten, stereotypische Hand- 
lungen, so läßt die Armut, die Einförmigkeit der emotionelle Äuße- 
rungen an diese letztere Krankheit denken, während eine wirkliche 
und echte emotionelle Abstumpfung fehlt. 


Die Beschreibung zweier Fälle dieser Art, die ich zu beob- 
achten Gelegenheit hatte, und zwar einen derselben lange Jahre 
hindurch, scheint mir geeignet, die Aufmerksamkeit auf diese 
möglichen Verwechselungen zu lenken und die Verschiedenheiten 
aufzuklären, die in den Krankheitsbildern der Dementia infantilis 
auftreten können. 

1. Fall. B. M., 19 Jahre alt, aus Rom. Nichts in der Familien- 
geschichte. Bis zum Alter von 3 Jahren war er allen, die mit ihm in 
Berührung gekommen waren, als normales Kind erschienen. In jenem 


Alter wurde er von Zeit zu Zeit anfallsweise von nervösen Störungen, in 
Form von klonisch-tonischen Zuckungen der Glieder, leichter Abweichung 


Beitrag zum Studium der Dementia infantilis. 257 


des Mundes und der Augäpfel, Blässe, Bewußtseinsstörung, die jedoch nur 
von kurzer Dauer waren, befallen; es bestand weder Zungenbiß noch 
Incontinentia alvi et urinae. Nach dem 5. Lebensjahre ließen diese Anfälle 
nach; indessen nimmt man bei dem Kinde eine leichte Geistesschwäche 
wahr, die sich in der Schule deutlich zeigt, wo es in einem. Zeitraume 
von mehreren Jahren nur die beiden untersten Klassen durchmachen kann. 
Der Charakter wird allmählich immer jähzorniger, besonders nach einem 
Anfall von Grippe, an dem Patient im Alter von ungefähr 16 Jahren litt. 
Von da an beobachtete man auch Perioden von Aufregung, die mit motorischer 
Übertätigkeit, beständigem Reden, Singen, Neigung, die Anwesenden zu 
belästigen oder wie ein kleines Kind zu spielen, Auflehnen gegen die 
Eltern, Schlaflosigkeit, häufige Aufstehen während der Nacht und Umher- 
laufen in der Wohnung einhergehen. Diese Perioden waren von ver- 
schieden langer Dauer. In den letzten Jahren bemerkte man auch Grimassen 
und sonderbare Handlungen. Im August 1920 wurde Patient in die 
Irrenanstalt S. Maria della Pietà in Rom aufgenommen. 


Das, einige Tage nach.der Aufnahme, verfaßte Tagebuch teilt 
ein unregelmäßiges Abwechseln von Zuständen vollkommener Ruhe 
mit solchen der Aufregung mit. Während der ersteren ist Patient 
entweder apathisch oder vollzieht sonderbare Handlungen, legt sich 
in unbequemer Lage auf den Boden; bisweilen redet er vor sich 
hin mit leiser Stimme und manieriert oder lacht ohne augenschein- 
lichen Grund, zeigt weder Interesse für das Milieu, noch Sympathie 
irgendwelcher Person gegenüber, indem er sich immer von allen 
fern, selbst den Verwandten gegenüber gleichgültig verhält. Während 
den Erregungszuständen beobachtet man fast beständige Bewegungen, 
die zum größten Teile die oben erwähnten Handlungen wieder- 
geben, jedoch in einer mehr übertriebenen und groben Weise. 
Unter den neuen Handlungen, die aber ebenfalls einen stereotypen 
Charakter aufweisen, beobachtet man Auflesen von Steinen, Herunter- 
ziehen der Hose, Zerreißen der Kleider, Beschmieren der Wände des 
Aborts mit Exkrementen, plötzlichen Versuch, jemanden von den 
Anwesenden zu schlagen, ohne daß irgendein augenfälliges Zeichen 
von Aufregung bestände. Alle diese Handlungen weisen einen plumpen 
Charakter auf; oft besteht Incontinentia alvi et urinae. í 


Nach einem Aufenthalte von einem Jahre ändert sich Auf- 
führung und Benehmen; die Ruhe wird andauernder, die oben be- 
schriebenen, sonderlichen, stereotypischen Handlungen fallen weg; 
der Gesichtsausdruck des Patienten ist der einer etwas traurigen 
Person; er verbringt die Zeit mit lautem und sehr langsamem Lesen 
irgendeiner Zeitung; nur selten und flüchtig beteiligt er sich mit 
einigen kurzen Sätzen an der Unterhaltung der Anwesenden; beim 
Besuche der Verwandten oder des Arztes merkt man auf seinem 


258 GIUSEPPE MONTESANO, 


Gesichte ein vorübergehendes Lächeln; ersteren gegenüber gewahrt 
man auch etwas Gefühlserguß; den Aufforderungen des Personals, 
von seiner gewöhnlichen Haltung abzulassen, leistet er nicht sogleich 
Folge; der Widerstand wird nach einer kurzen Zeit überwunden 
ohne zu heftigen Handlungen Anlaß zu geben. Nahrung wird gern 
und reichlich genommen, die persönliche Reinlichkeit ist ziemlich 
gepflegt und der Schlaf ist regelmäßig. 

Tagebuch vom 25. Oktober 1920. — Er gibt genaue Aus- 
kunft über Namen und Abstammung; die anderen Fragen bezüglich 
der Orientierung über Zeit und Raum werden mit Achselzucken 
beantwortet, um anzudeuten, daß er hierüber nichts weiß; in dem 
Referenten erkennt er einen Arzt. 

In bezug auf sein Vorleben gibt er an, daß es ihm scheine, er 
habe einige Jahre hindurch die Schule besucht, doch kann er nicht 
sagen wie viele Jahre; die Fortschritte ‚waren „so, so“. Er leugnet 
irgendwelchen Mißbrauch, Krankheiten von Belang, nervöse Störungen 
in Form von Kopfschmerzen, Schwindel, Krämpfen. In bezug auf 
die Ursache seiner Internierung sagt er, es scheine ihm, nie etwas 
Schlechtes begangen zu haben; wird ihm mitgeteilt, was von den 
Familienangehörigen angegeben, oder in den früheren Tagesberichten 
niedergelegt worden ist, so antwortet er, sich nicht zu entsinnen. 
òr zeigt sich zufrieden, noch einige Zeit in der Anstalt zu bleiben. 
Der Arzt bemerkt, daß Patient der Befragung mehr Aufmerksam- 
keit erteilt, obwohl das Interesse nicht immer deutlich ausgedrückt 
ist. Die Gesichtszüge haben einen eintönigen Ausdruck, wie einer 
Art leichter Verstimmung, der Blick ist jedoch immer auf den 
Fragenden gerichtet und folgt ihm, wie unter lebhafter Neugierde. 
Die ‚Antworten sind verspätet, langsam und kurz, mit häufigen 
Unterbrechungen und Zeichen, als ob Patient, um die entsprechende 
Handlung auszuführen, ein nicht leichtes Hindernis zu überwinden 
habe. Nicht selten kommt es vor, daß man im Augenblicke, in dem 
es ihm gelingt, den Gedanken auszudrücken, ein leichtes, flüchtiges 
"Lächeln bemerkt, offenbar vor allem durch Erweiterung der Lid- 
spalte; der Ton der Stimme bleibt stets eintönig und weinerlich. 

Vom somatischen Standpunkte aus ist hervorzuheben: Plagio- 
cephalie, Plagioprosopie, zurücktretendes Kinn, verschiedene Unregel- 
mäßigkeiten der Zähne. Nichts von Bedeutung auf Kosten der 
Organe des vegetativen Lebens; bei der neurologischen Untersuchung 
fallen auf: etwas schwache Patellarreflexe, Dermographismus mit 
stark ausgeprägter erster vasospastischer Phase. 

Der Zustand des Patienten bleibt während der folgenden Monate 


Beitrag zum Studium der Dementia infantilis. 259 


unverändert. Vom 2. bis 6. Januar wird er besonderen psychologi- 
schen Untersuchungen unterzogen, wie diese in den vom Verfasser 
geleiteten Schulen für anormale Kinder in Gebrauch sind. 

I. Ideenschatz und Hervorrufung desselben. — Die 
gewöhnlichen, außerhalb der Schule, bei normalen Individuen des- 
selben Alters und derselben sozialen Lage vorhandenen Kenntnisse 
sind erhalten, nur dies pontane Hervorrufung der betreffenden Aus- 
drücke ist sehr selten, während dieselben sofort erkannt werden, 
wenn sie vom Untersuchenden angegeben werden. Schwerer als die 
Erinnerung an Namen einzelner Gegenstände, die er zu Gesicht 
bekam, oder von denen ihm der Begriff gegeben wurde, blieb das 
Hervorrufen jener, die in einer bestimmten, vom Untersuchenden 
genannten Kategorie einbegriffen waren: z. B. Obst von roter Farbe. 
Tiere, die fliegen und doch keine Vögel sind, usw. Beim Aufzählen 
der einzelnen Eigentümlichkeiten sehr gewöhnlicher Gegenstände 
(Schaf, Tisch usw.) werden spontan nie mehr als eine oder zwei 
angegeben; bei Definitionen (wer ist der Onkel, der . Groß- 
vater?) bleibt die Antwort aus, ebenso auf die Aufforderungen, die 
hauptsächlichsten Bedeutungen gewöhnlicher Gegenstände näher zu 
bestimmen (wozu dienen die Fenster, der Schrank?) oder Auf- 
klärungen zu geben (warum besitzen die Fenster Glas?, warum be- 
sitzen die Schränke horizontal gelegte Bretter?). 

Bezüglich der Fragen, welche eine Kenntnis positiver oder 
negativer Kennzeichen gewöhnlicher Gegenstände voraussetzen und 
in welchen eine einfache Verneinung oder Bejahung erfordert wird 
(kann man Töpfe oder Kasserolen aus Holz herstellen?, sind alle im 
Wasser lebenden Tiere Fische?, ist jedes Metall von gelber Farbe 
Gold?), werden die Antworten genau gegeben; verlangt man aber 
bezüglich irgendeiner Frage Beispiele, die geeignet sind, die Be- 
jahung oder Verneinung zu begründen, so schweigt Patient. 

Die in den Programmen der:zwei untersten Klassen der Ele- 
mentarschule einbegriffenen Schulkenntnisse sind nur teilweise er- 
halten. Patient liest korrekt; beim Schreiben macht er zahlreiche 
Schreib- und grammatikalische Fehler, beim Rechnen kann er 
nur zweistellige Zahlen zusammenzählen oder abziehen und die 
Fehler sind sehr zahlreich, besonders wenn in diesen Rechenexempeln 
Zahlen geliehen oder übertragen werden müssen; von den Rede- 
teilen erkennt er nur die Hauptwörter, die Beiwörter und die Zeit- 
wörter. 

U. Merkfähigkeit. — Werden dem Patienten vier zweisilbige 
Wörter vorgesagt, die untereinander keine logische Verbindung oder 


260 GIUSEPPE MONTESANO, 


Assonanz aufweisen, so werden dieselben ganz genau wiederholt und 
zwar in derselben Reihenfolge, in der sie gehört wurden; nimmt 
die Zahl zu, so werden nur noch zwei oder drei, außerhalb die 
Reihenfolge, wiederholt. Ebenso findet eine Wiedergabe einzelner Verse 
sofort und genau statt, nur dürfen sie nicht zehn Silben über- 
schreiten. Die größte Zahl von Figuren einzelner, sehr gewöhn- 
licher Gegenstände, die 5 Sekunden lang gesehen, mit einer doppelten 
Anzahl anderer vermischt, und in derselben Reihenfolge, in der sie 
zuerst gesehen wurden, angeordnet, wieder erkannt werden konnten, 
sind drei. 

IHI. Kombinationsvermögen. — Dem Patienten wurden 
mehrstellige Zahlen vorgesetzt, dann wurde er aufgefordert, dieselben 
umzustellen und die hieraus erhaltenen neuen Zahlen anzugeben. 
Die Aufforderung bleibt ohne jegliche Antwort. Auf die Frage, was 
ein Kind darstellen würde, wenn man ihm zwei Flügel gäbe, ant- 
wortet er: einen Engel. Die Frage, was aus einer Orange werden 
würde, wenn die Schale grünlichgelb, die Gestalt anstatt rund, läng- 
lich, der Saft anstatt süß, sauer würde, bleibt unbeantwortet. 

Aufgefordert, mit Hilfe der drei folgenden Wörter: Mutter, Fest, 
Blumen, einen Satz zu bilden, denkt Patient lange Zeit nach und 
sagt endlich, daß er sich hierzu nicht fähig fühle. Auf die Frage, 
wie ein Maler den Teufel darstellen könne, antwortet er: Hörner 
und hält dann inne. 

IV. Vergleichungs- und Abstraktionsvermögen. — 
Über Kennzeichen, die dem Hunde und dem Schafe gleich sind, be- 
fragt, bleibt die Antwort aus, ebenso bezüglich der Sonne und des 
Mondes. 

V. Intellectuelle Leistungen, deren Ausführung be- 
sondere Schwierigkeiten entgegengesetzt werden. 

a) Widerstandsfähigkeit der Aufmerksamkeit gegen- 
über ablenkenden Reizen: Bourvon’scher Versuch. — 
Patient wird aufgefordert, sämtliche a auf einem 14 Zeilen langen, in 
fetten Buchstaben gedruckten Buchstücke zu unterstreichen; ange- 
wandt Zeit 17 Minuten und 30 Sekunden; Zahl der übersprungenen 
Buchstaben 8 (auf 59), die meisten in der 2. und in der 3. Zeile, 
keine Verwechslung. 

b) Widerstandsfähigkeit bei einer längerdauernden 
Arbeit. — 103 Additionen, jede aus zwei dreistelligen Zahlen be- 
stehend. Die Operationen werden in 49 Minuten vollzogen; Maximum 
der gelösten Operationen in der Minute: 4, dies jedoch nur einmal, 
häufiger sind 2 und bisweilen auch 1, besonders im Anfange der 


Beitrag zum Studium der Dementia infantilis. 261 


Arbeit, gegen Ende nicht selten 3. Gesamtzahl der Fehler: 24 
häufiger gegen das Ende; bisweilen wird in derselben Minute jede 
Aufgabe fehlerhaft gelöst. 

c) Ergänzungsprobe. — Kurze Sätze, in welchen einige 
Buchstaben fehlen. Es ist Patient nie gelungen, die fehlenden Buch- 
staben zu erraten; für einzelne Worte ist die Ergänzung gelungen, 
doch nur, wenn es sich um sehr geläufige lange Worte handelte, in 
denen nur ein Buchstabe fehlte, z. B.: wenn in Maccheroni der Buch- 
stabe n fehlte. 


d)Suggestibilität. — Aufgefordert zu sagen, welche von zwei 
gleichen Linien die längste ist, antwortet er, nach langer Betrach- 
tung, er wisse es nicht, ebenso, wenn er gefragt wurde, wo, auf 
illustrierten Postkarten, welche häusliche Szenen darstellen, be- 
stimmte Gegenstände (Katzen, Vögel, die in Wirklichkeit nicht vor- 
handen waren) abgebildet seien. 


2. Fal. A. F., 27 Jahre alt. Vater Alkoholiker und Neuropath, 
Tante mütterlicherseits Psychopathin. In den ersten Lebensjahren legt 
Pat. nur eine gewisse Lebhaftigkeit an den Tag; er zeigte sich sehr 
intelligent. In die Elementarschule geschickt, beweist er sich einige Monate 
hindurch ruhig und macht genügende Fortschritte; dann zeigt er sich 
unruhig und unbändig, weshalb er aus der Schule gejagt wird. Hierauf 
wurde er in eine Schule für psychisch Anormale, die unter der Leitung 
des Verfassers stand, aufgenommen. Er war damals 7 Jahre alt; sofort 
zog er die Aufmerksamkeit auf sich wegen der Veränderlichkeit seines 
Betragens, das bieweilen diszipliniert, bisweilen unruhig war, indem er die 
lautesten Schreie ausstieß, selbst wenn er in sanftester Weise ermahnt 
wurde. In anderthalb Jahren machte er die zweite Klasse durch, dann 
wurde diese Schule geschlossen und Pat. kehrte in die Volksschule zurück, 
die er sprungweise besuchte, ohne daß es ihm jemals gelang, die Uber- 
gangsprüfung in die vierte Klasse zu bestehen, da er immer häufiger von 
leichten psychomotorischen Reizanfällen mit Jähzorn, Tätlichkeiten Anfälleh 
befallen wurde, während derer er seine Kameraden kratzte oder biß. 
Häufig floh er auch von zuhause und blieb mehrere Tage von Schule und 
Haus entfernt. Die Zustände der Reizbarkeit waren von kurzer Dauer, 
häufig folgten sie dem auch nicht übermäßigen Genusse von Wein. Niemals 
Krampfanfälle. 


Im Alter von 11 Jahren wird er zum ersten Male in die Irren- 
anstalt S. Maria della Pietà in Rom aufgenommen. Außer einigen 
morphologischen Degenerationszeichen (Plagiocephalie, Plagioprosopie) 
werden dystrophische Stigmata der Heredosyphlis, ein frühzeitiges 
Greisengesicht wahrgenommen, aber keine wahrnehmbaren Störungen 
auf Kosten der Organe des vegetativen Lebens, nicht einmal bei der 
neurologischen Untersuchung. Vom psychischen Standpunkte aus 


262 GIUSEPPE MONTESANO, 


bemerkt man: große Unruhe, beständiges Fragen um Erklärung über 
alles, was ihm unter die Augen kommt; mehr als genügende spon- 
tane Aufmerksamkeit bezüglich der Intensität, doch leicht veränder- 
lich was das Objekt anbelangt. Begriffsschatz von Sachen außer- 
halb der Schule nicht geringer als der eines normalen Kindes vom 
gleichen Alter; nicht wenig herabgesetzt ist hingegen der Schatz 
der Schulkenntnisse, welche den besuchten Klassen entsprechen; 
selbst die gewöhnlichsten Rechenaufgaben bleiben ungelöst. 

Im Laufe weniger Monate wird Patient immer ruhiger und 
geordneter, so daß er entlassen wird. 

Im Jahre 1906 wird er zum zweiten Male aufgenommen; im 
ärztlichen Aufnahmezeugnis wird eine so große Geistesschwäche 
hervorgehoben, daß Patient den Straßenjungen zur Zielscheibe des 
Spottes geworden sei. Die Untersuchung ergibt: einen stumpf- 
sinnigen, wie der Arzt sagt, manierierten Gesichtsausdruck, ein- 
tönige, rhythmische Stimme, stereotypisches Neigen des Kopfes nach 
einer Seite. Patient verbringt die Tage, indem er wenige und 
immer die gleichen Handlungen vollzieht und zwar unter ver- 
schiedenartiger Abwechslung; er klatscht mit den Händen, bückt 
sich, als wolle er Gegenstände vom Boden aufheben, singt Volks- 
lieder, bricht plötzlich, anscheinend ohne logischen Grund, in ein 
Gelächter aus, greift die anderen Insassen an und verteilt Faust- 
hiebe. Nach einem einmonatlichen Aufenthalte verschwindet dieses 
Syndrom, das Betragen wird normal, nur bekundet sich eine nicht 
schwere Geistesschwäche. Patient wird entlassen, nach einem an- 
deren Monate wird er jedoch vom neuen in die Irrenanstalt ge- 
schickt. Im ärztlichen Zeugnisse wird ein beständiges Entfliehen 
aus dem Hause, Verachtung der Gefahren hervorgehoben. Bei der 
Untersuchung wird eine vollständige Orientierung sowohl bezüglich 
der Zeit, als des Ortes festgestellt; er erinnert sich der früheren 
Aufnahmen; bestätigt sein mehrmaliges Entfliehen aus dem Hause 
nach der letzten Entlassung und sagt, daß er auf den Straßen das 
„Lied von Bartolomeo“ gesungen habe, was ihm etwas Geld, unge- 
fähr einen Franken, einbrachte; hiermit verschaffte er sich Speise in 
den Wirtschaften und Unterkommen in den Herbergen, die Straßen- 
buben plagten ihn häufig, nannten ihn einen Blödsinnigen und 
stahlen ihm oft das Geld. Er rechtfertigt seine wiederholte Flucht 
mit den Mißhandlungen von seiten seines oft betrunkenen Vaters 
und erweist sich sehr anhänglich an seine Tante, die für ihn die 
Stelle der Mutter eingenommen hat und würde gern zu ihr gehen, 
wenn er aus der Irrenanstalt, in der er übrigens gern verweilt, ent- 


Beitrag zum Studium der Dementia infantilis. 263 


lassen wird. Der Arzt bemerkt einen fast blödsinnigen Gesichts- 
ausdruck, die Sprache ist eine langsame und singende. Er wird 
auf die medizinisch-pädagogische Abteilung gebracht und in der 
Buchbinderei angestellt. In einigen Monaten bringt er es soweit, 
in wirksamer Weise zu helfen; auch die Schule besucht er, ohne 
jedoch irgendeinen Vorteil daraus zu ziehen, obwohl er nur die 
zweite Klasse der Elementarschule besuchte. Nach einem fast 
6monatlichen Aufenthalte wird er plötzlich von einem stuporähn- 
lichen Zustande befallen; er bleibt unbeweglich im Bette, ohne ein 
Wort zu sagen, auf Fragen bemerkt man nur eine leichte Ver- 
änderung des Blickes, die Aufmerksamkeit auszudrücken scheint; es 
besteht kein Widerstand gegen die passiven Bewegungen; bisweilen 
werden die passiv gegebenen Stellungen der Glieder beibehalten, 
aber nur kurze Zeit lang. Auf diesen fast 14 Tage anhaltenden 
Zustand folgt ein anderer von schwerer krankhafter Erregung, mit 
Neigung zum Zerreißen, ungereimten Reden, so daß man bisweilen 
halluzinatorische Störungen vermuten könnte, mit stark gefärbter 
Mimik und Stimme und mit Unsauberkeit. Patient wird in die 
Zentralirrenanstalt zurückgeschickt. Der erwähnte Zustand dauert 
einige Monate, dann wird Patient ruhig, so daß er wieder in die 
medizinisch - pädagogische Abteilung übersiedeln kann; doch nach 
kaum einem Monat tritt ein neuer Anfall schwerer Aufregung ein, 
der die Rückkehr des Patienten in die Zentralirrenanstalt wieder 
notwendig macht. Die Erregung dauert einige Monate, hört dann 
auf und Patient bleibt dann über ein Jahr ruhig und diszipliniert; 
er führt die verschiedenen Handarbeiten, zu denen er verwendet 
wird, aus, ohne jedoch ein besonderes Interesse für dieselben an den 
Tag zu legen. Ungesellig den anderen gegenüber, zeigt er sich 
mitteilsam nur seiner Tante gegenüber, die ihn regelmäßig besucht. 
Im Jahre 1913 wird er als unschädlicher Schwachsinniger entlassen ; 
aber im Jahr 1918 kommt er wieder zurück. Nach Aussagen der 
Tante war Patient indessen zuerst in einem Armenhause, dann in 
einem Hospiz für Schwachsinnige in Ferentino (Provinz Rom) 
untergebracht. Zu den Waffen gerufen, blieb er drei Monate im 
Kasernendienst, wurde dann ausgemustert. Nach Rom zurückgekehrt, 
wurde er in ein Hospiz für Bettler untergebracht, wo er bis zur 
letzten Zeit geblieben ist. Wiederum von einer Aufregungsperiode 
mit pantoklastischen Neigungen befallen, wurde er in ein Kranken- 
haus überführt und einige Tage später in die Irrenanstalt. Patient 
war bei seiner Ankunft schon wieder ruhig und zeigte sich voll- 
kommen orientiert; er berichtete über seine Vergangenheit in kurzen 
Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VIII. 18 


264 GIUSEPPE MONTESANO, 


Worten, jedoch ohne Ungenauigkeiten. Nach kurzer Zeit wurde er 
in ein Hospiz für chronische Kranke nach Ancona geschickt, wo er 
bis Juli 1920 immer ruhig blieb. Wieder in die römische Irren- 
anstalt zurückgekehrt, wird er in der Buchbinderei verwendet, ver- 
läßt aber von Zeit zu Zeit die Arbeit, indem er eine große Unlust 
zu arbeiten und eine größere Stumpfheit als gewöhnlich an den 
Tag legt. 

Status praesens. — Patient befindet sich in einem Zustande der 
Untätigkeit: er verbringt die Tage auf der Abteilung in Ruhe, sein 
Gesichtsausdruck ist anscheinend ernst; er wechselt selten einige 
Worte mit den anderen Insassen, nähert sich hingegen immer dem 
Arzte, wenn dieser die Visite macht, um ihn fast immer zu fragen, 
was er von ihm denke, ob er fortgehen könne oder nicht. 

Beim Reden bleibt der Gesichtsausdruck immer der gleiche, 
nar das Auge erscheint lebhaft, folgt dem Fragenden mit Interesse 
und der Ausdruck ändert sich je nach den Antworten, die jener 
gibt. Die Stimme ist eintönig wie die eines Kindes, das die Lektion 
hersagt, ohne Gesten; die Haltung ist eine stereotypische. 

Die, wie im vorhergehenden Falle vorgenommene, systematische 
Intelligenzprüfung gibt ähnliche Resultate. 

Auch hier ist die Erhaltung des außerhalb der Schule erworbenen 
Vorstellungsschatzes und die große Schwierigkeit der- spontanen Er- 
innerung hervorzuheben. Namen von Gegenständen, Eigenschaften, 
gewöhnlichen Handlungen, werden angegeben, wenn die Sinne direkt 
beteiligt sind; alles übrige beschränkt sich auf Wiedererkennungs- 
erscheinungen. Bezüglich der Schulkenntnisse ergibt sich folgendes: 
Patient liest korrekt, schreibt mit dicken Buchstaben wie ein Schüler 
der 2. Elementarklasse, mit häufigen Schreibfehlern, liest und schreibt 
die Zahlen unter Tausend gut, doch ist er außerstande selbst die 
einfachste Rechenaufgabe zu lösen, wie z. B. zwei einstellige Zahlen 
zusammenzuzählen. Hierbei mußte man, beim Widerstandsversuche 
mit anhaltender Anstrengung, die Zusammenzählungen durch einen 
anderen Versuch ersetzen, nämlich durch das Zählen von 50 Gruppen 
von Punkten, die untereinander verschieden waren und zwischen 
7 und 12 schwankten. Das Zählen ging mit sehr großer Langsamkeit 
vonstatten, mit nicht mehr als 4—5 Gruppen in der Minute und 
nicht wenigen irrigen Resultaten (9), und dies häufiger im Anfange 
als am Ende der Arbeit. Die Bourvon’sche Probe, mittels 32 Zeilen 
einer gewöhnlichen Zeitungskolonne (Schriftart: Garmond), wurde in 
10 Minuten und 30 Sekunden, mit einer Menge von Auslassungen 
(47), die 38°, entspricht, durchgeführt. Besser als im anderen In- 


Beitrag zum Studium der Dementia infantilis. . 265 


dividuum wurde die Ergänzungsfähigkeit gefunden. Es wurden genau 
einige Wörter ergänzt, bei denen 2—3 Buchstaben unterlassen worden 
waren, es wurde sogar ein kurzer Satz gut ausgelegt, in welchem 
die Lücken der einzelnen Wörter aus 1 oder auch 3 Buchstaben 
bestanden. Die Ergänzung fand in verhältnismäßig kurzer Zeit statt 


Epikrise. 


Sämtliche oben beschriebenen Fälle weisen eine fortschreitende 
Geistesschwäche auf, die in der frühesten Kindheit beginnend, 
immer schwerer wurde in Verlauf von psychopathischen Episoden, 
charakterisiert durch mehr oder weniger schwere psychomotorische 
Erregungen, aber reich an emotiven Äußerungen im Gegensatze 
zu anderen Symptomen, die man bei Schizophrenen antrifft (sonder- 
liche, stereotype Handlungen, Manierismus, Hindernisse, katatone 
Symptome), bisweilen durch halluzinatorische Verwirrung. 

Die andauernde Schwäche betrifft weniger die Urteilsfähigkeit 
als die geistigen Handlungen: die kombinatorischen Operationen 
sind unmöglich (hierher gehört nicht das Rechnen, das infolge der 
langen Übung eine Gedächtniserscheinung geworden ist); die Er- 
innerung ist langsam und verlangt Anstrengung; es besteht eine 
große Armut an Zuneigungs- und Emotivitäts-Äußerungen. Der 
Blick ist immerhin lebhaft und intelligent und obwohl fast voll- 
ständig die Initiative der Handlungen fehlt, werden die befohlenen 
mit großer Aufmerksamkeit vollzogen, trotz der Zeit und der Mühe, 
die sie beanspruchen. 

Das klinische Bild der psychopathischen Episoden dieser meiner 
Fälle hat eine große Ähnlichkeit mit den in der Literatur unter 
dem Namen „Dementia praecocissima“ beschriebenen; nur daß in 
diesen letzteren die Symptome nicht periodisch, sondern beständig 
sind. Es ist wahrscheinlich, daß es sich um eine identische klini- 
sche Form handelt, denn wir wissen auch, daß bei anderen Geistes- 
krankheiten, z. B. der manisch-depressiven Phrenosis, die Kontinuität 
bestimmter Symptome nicht ein notwendiges charakteristisches Kenn- 
zeichen darstellt. In meinen Fällen hat die, zwischen der einen 
und der anderen akuten psychopathischen Episode wahrgenommene 
Geistesschwäche, Symptome, die gewiß nicht die der echten 
„Dementia praecox“ sind. Man kann daher ausschließen, daß man 
es mit dieser Form zu tun habe, obwohl man in den akuten Epi- 
soden Symptome antrifft, welche daran erinnern. Ich glaube dasselbe 
auch für die anderen obenerwähnten Fälle behaupten zu können, 


bei denen die dem Augenscheine nach schizophrene Symptomatologie, 
18* 


Leitrag zum Studium der Dementia infantilis. 267 


den Ton des Instrumentes charakterisieren. Die Färbung, welche 
die Worte, die Handlungen einer erwachsenen, intelligenten, ge- 
bildeten, empfindlichen Person aufweisen, ist in der Tat sehr ver- 
schieden von der eines Kindes, eines Greises, in denen das Streben, 
in bezug auf die Quantität, vermindert ist und die Zahl der während 
der Ausführung der verschiedenen Handlungen aufsteigenden Nei- 
gungen deshalb geringer ist. Der Ausdruck ist bei diesen beiden 
eintöniger, obwohl derselbe beim Kinde viel lebhafter ist als beim 
Greise, und zwar infolge der größeren Empfindlichkeit, Reizbarkeit 
und Leichtigkeit, auf die äußeren oder inneren Ereignisse mittels 
der wenigen von ihm besessenen Neigungen zu reagieren. Dem 
Kinde ähnelt der Schwachsinnige, gerade weil er reizbar ist, während 
bei dem Blödsinn, bei der Dementia senilis die Äußerung äußerst 
eintönig, farblos ist, sei es, weil die Neigungen, die erwachen 
könnten, nur wenige sind, sei es, daß das Erwachen durch die Ver- 
minderung der reaktiven Fähigkeit mehr erschwert wird. 


Doch muß man auch die Fälle einer Verminderung der reaktiven 
Fähigkeit in emotioneller Form der Resonanz, wie man im weiteren 
Sinne des Wortessagen würde, von den anderen unterscheiden, in denen 
die Reaktion eintritt, die Entwicklung derselben jedoch, ihre Äuße- 
rungen, besonders die äußeren, mehr oder weniger gehemmt sind. 
Ich glaube, daß gerade hierin das Unterscheidungsmerkmal zwischen 
dem wahren Schizophrenen und dem Pseudoschizophrenen liege. 
Niemand wird leugnen wollen, daß es Fälle gibt, in denen die Ge- 
mütsbewegung auftritt, die äußeren Kundgebungen jedoch verhindert 
sind. Sehr gewöhnlich ist z. B. die Hemmung gewisser emotioneller 
Äußerungen, obwohl jenes Erwachen von Neigungen stattgefunden 
hat, welches die Ursachen derselben bildet. Wieviele gibt es nicht, 
die von einem schweren Unglücke betroffen, wie gefühllos werden, 
selbst überrascht, daß kein äußeres Zeichen, keine Träne, keine 
Veränderung der Gesichtszüge den innern herben Schmerz andeutet! 
Kein Wunder, wenn die Störung zunimmt durch Hemmungen ver- 
schiedener Art und Dauer, bis zum Stupor, in welchem der innere 
emotionelle Zustand höchstens in einer kaum wahrnehmbaren Bewegung 
des Auges zu lesen ist. 

In der echten Schizophrenie hingegen fehlt gerade, meiner 
Ansicht nach, die Resonanz, die sekundäre Reaktion, oder ist 
dieselbe nur sprungweise, flüchtig und in unregelmäßiger Weise vor- 
handen; die Neigungen erwachen nicht, oder nur vorübergehend und 
spärlich, in dem Augenblicke, in welchem die expressiven und 


268 GIUSEPPE MONTESANO, 


faktiven Handlungen stattfinden; und daher kommt es, daß sie den 
Eindruck machen, als wären sie von Automaten ausgeführt. 

Wahrscheinlich handelt es sich um zwei verschiedene Störungs- 
lokalisierungen. In vielen Arbeiten habe ich behauptet, daß unsere 
sämtlichen psychischen Kundgebungen als Reaktion auf das was 
unsere Sinne anzeigen, von der Peripherie unseres Körpers ausgehen 
und nur damit sie die eine oder die andere Form annehmen, greift 
das Nervensystem ein. Wenn dies der Fall ist, so kommt die abso- 
lute Gleichgültigkeit, der Mangel an Emotivität oder die Stumpfheit 
derselben von einer Störung der reaktiven Fähigkeit der peripheren 
Organe, während die Pseudostumpfheit, die Verminderung der ex- 
pressiven Zeichen einer stattgefundenen Gemütsbewegung von 
Nervensystemstörungen, von Hindernissen, auf welche die Nerven- 
strömungen stoßen, um den einen oder den anderen Weg einzuschlagen, 
herrühren wird. 

Es ist hier nicht der Platz, die Beweisgründe anzuführen, die 
zugunsten dieser Theorie sprechen, um so mehr, da ich dieselben 
bereits in den erwähnten Arbeiten dargelegt habe. Gewiß werden 
diese meine klinischen Fälle nicht die schwere Frage über die 
Lokalisierung der psychischen Erscheinungen lösen ; ihre Beschreibung 
hat nur den Zweck, hervorzuheben, wie bei der Dementia infantilis 
eine Gruppe, welche mit der Schizophrenie der Erwachsenen gemein- 
same Kennzeichen besitzt, von einer anderen unterschieden werden 
muß, welche dieselben nur dem Anscheine nach besitzt und die 
daher nur Pseudoschizophrenie genannt werden kann. Wie sehr sich 
diese zweite Gruppe der Dementia infantilis von WEysAnpr nähert 
und ob es sich um der Intensität oder auch der Qualität der Störungen 
nach verschiedene Formen handelt, dies kann ich nicht sagen; jeden- 
falls drängt sich eine Nachuntersuchung aller beschriebenen Fälle 
von in dem ersten Lebensalter erworbener Geistesschwäche auf, 
zwecks einer deutlicheren und genaueren Einteilung, als die, welche 
bisher bestanden. 


Literatur. 


AGOSTINI, Contrib. alla Casist. della Demenza precocissima. Perugia 1920. 

L. CramPI, Demenza precocissima. Riv. It. di Neuropat. Psichiatr. ed 
Elettrot. Catania 1919, Bd. XII. S 

CoSTANTINI, Due casi di Dementia praecocissima. Riv. di Pat. nerv. 
e ment. 1908. 

—, Nuovo contrib. allo stud. clin. della Dem. praecocissima. Riv. sper. 
di Freniatria 1911. 


Beitrag zum Studium der Dementia infantilis. 269 


DE Sancrıs, Dementia praecocissima cataton. o catatonia della prima. 
infanz. Roma 1908. 

—, Ancora sulla Demenza precocissima e sulla catatonia della infanz. 
Roma 1909. 

—, Quadri clin. di Dementia praecox nell’ infanz. e nella fanciull. Riv. 
di Neurop. Psich. ed. Elettrot. Catania 1919. 

HELLER TH., Dementia infantilis. Zeitschr. f. d. Erforsch. u. Behandl. 
d. jugendl. Schwachs. 1909, 8. 17. 

MOoNTESANo, La psicologia degli Imbecilli. „L’Assistenza dei minorenni 
anormali“ 191b. 

—, Sentimenti e emozioni. Riv. d'Antropologia 1916. 

—, Il fenomeno allucinatorio. Quaderni di Psichiatria 1918. 

—, Falsa intuizione di ricordo. Quaderni di Psichiatria 1920. 

RAECKE, Katatonie im Kindesalter. Arch. f. Psych. 1909, S. 245. 

VoGT, Über Fälle von Jugendirrsinn im Kindesalter. Allgem. Zeitschr. 
f. Psych. 1909, S. 542. 

WEYGANDT, Dementia praecox u. Idiotie. Zeitschr. f. jugendl. Schwachsinn 

Bd. I, 1907. 


Nachdruck verboten. 


Das Jugendhaus in Friedrichsberg. 


Von 
Abteilungsarzt Dr. Rautenberg und Hauptlehrer Gerhardt. 
Mit 1 Textfigur. 


Die Station für Jugendliche der Staatskrankenanstalt Friedrichs- 
berg ist in einem freundlich gelegenen Landhaus untergebracht. 
Als Neubau kurz vor dem Kriege fertiggestellt, konnte das Haus 
während des Krieges als Sonderlazarett für Soldaten mit Sprach- 
störungen gute Dienste leisten, während es seiner eigentlichen Be- 
stimmung erst im Oktober 1920 übergeben wurde Es enthält 3 
große und luftige Schlafsälee 2 Tagesräume, 1 Unterrichtsraum, 
1 Untersuchungszimmer, 1 Arbeitsraum neben den nötigen Neben- 
gelassen und bietet für 30 Zöglinge Platz. Vor dem Haus liegt 
südwärts ein großer Ziergarten mit einem Wasserbecken und Spring- 
brunnen; jeder Junge erhält im Frühjahr ein Stück dieses Gartens 
zur eigenen Bebauung zugewiesen. Der Hintergarten, welcher durch 
eine versenkte Mauer mit nur brusthohem Drahtzaun abgeschlossen 
ist, so daß die Kinder einen freien Ausblick aus dem Garten haben, 
ist mit einigen Turngeräten versehen und wird als Spiel- und 
T'urnplatz verwandt; auch soll hier den Kindern Gelegenheit zur 
Tierzucht gegeben werden. 

Gedacht war das Haus zunächst als Behandlungsstation für 
die mannigfachen Zustände von Schwachsinn, Psychopathie usw. 
auch bei Erregungen Jugendlicher, ferner als Beobachtungsstation 
für die Fürsorgezöglinge. Die Behörde für öffentliche Jugendfürsorge 
hatte aber mit der Überweisung von Zöglingen Bedenken, solange 
diese Station nach außen als Anstaltsabteilung galt und auch 
wirklich geisteskranke Jugendliche beherbergte. Die Behörde ver- 


Das Jugendhaus in Friedrichsberg. 271 


blieb damit auf dem früheren Grundsatz, daß eine derartige Be- 
obachtungsstation nicht eine Irrenanstaltsabteilung sein dürfe, sah 
aber in der Angliederung einer solchen Station an eine Irrenanstalt 
keine Bedenken mehr. Lange Verhandlungen mit der Gesundheits- 
behörde waren allerdings nötig, manche Schwierigkeiten galt es zu 
beseitigen und auch manche Bedenken zu zerstreuen, um endlich 
das Haus zur eigentlichen Beobachtùngsstation zu machen und als 
offene Abteilung aus dem Rahmen der geschlossenen Anstalt 
und der damit verbundenen Bestimmungen herauszunehmen, zunächst 
versuchsweise. Von dem Zeitpunkt an war die Behörde für öffent- 
liche Jugendfürsorge sofort bereit, Zöglinge aus dem Waisenhause 
und aus der Erziehungsanstalt zu überweisen, und hat auch bislang 
schon eine ganze Reihe von Fürsorgezöglingen hierhergeschickt, 
sobald eine Beobachtung von den Färsorgeärzten für nötig erklärt 
war. Auch die Oberschulbehörde hat sich bereits entschlossen, 
schwer zu beurteilende Schüler, besonders aus den Hilfsschulen, auf 
die Unterrichtsfähigkeit und die Geistesverfassung hin hier unter- 
suchen zu lassen. So sind u. a. auch schon körperlich kranke und 
schwache Jungen hierhergebracht worden, teils zur längeren Be- 
obachtung, teils zur ambulanten Untersuchung, um die Frage eines 
Hausunterrichts zu entscheiden. Endlich hat auch das Wohlfahrts- 
amt in einigen Fällen von dieser Beobachtungsstation Gebrauch 
gemacht, um die Frage der Berufsfähigkeit prüfen zu lassen. 

Ganz zweifellos lag die Notwendigkeit für eine derartige psy- 
chiatrische Beobachtungsstation für Jugendliche schon lange vor, 
um mit allen Hilfsmitteln der psychiatrischen Klinik die Unter- 
suchungen und Beobachtungen auch erschöpfend durchführen zu 
können, was auf den Beobachtungsstationen des Waisenhauses und 
der Erziehungsanstalt nicht möglich ist und auch nicht möglich 
sein wird, solange nur nebenamtlich angestellte Ärzte in der Behörde 
und Erziehungsanstalt das ungeheuer große und schwierige Be- 
obachtungsmaterial zu bearbeiten haben. Der ärztliche Einfluß muß 
im Vordergrund stehen und daher muß der Arzt täglich auf solchen 
Stationen sein und mit den Jungen leben, er muß auch als Mensch 
zu ihnen in ein persönliches Verhältnis zu kommen suchen, da er 
nur auf diesem Wege die Jungen in der Eigenart ihres Charakters 
verstehen kann und nur so wirksam helfend in die Bekämpfung alles 
anti- und asozialen Denkens, Fühlens und Handelns solcher Jungen 
eingreifen kann, fußend auf dem ärztlichen Untersuchungsbefund. 
Diese Forderung ist m. E. nicht nur für den Erzieher und Heil- 
pädagogen, sondern auch für den Arzt unerläßlich. 


RAUTENBERG und GERHARDT, 


272 





Jugendhaus in Friedrichsberg. 


Das Jugendhaus in Friedrichsberg. 273 


Auch auf der hiesigen Beobachtungsstation arbeiten ein Arzt 
und ein Heilpädagoge zusammen und geben, sich in ihren persön- 
lichen Erfahrungen über die geistige und seelische Verfassung eines 
jeden Jungen ergänzend, gemeinsam das Urteil über die Fragen der 
Erziehungs-, Unterrichts-, Berufsfähigkeit ab; auch die Fragen der 
strafrechtlichen Verantwortlichkeit, der Einsicht und des bedingten 
Strafaufschubs ($ 51, 56 StGB.) werden vom Arzt nicht ohne Hinzu- 
ziehung des Pädagogen beantwortet. Dieses harmonische Zusammen- 
arbeiten von Arzt und Heilpädagogen gibt natürlich dem Betrieb 
und Leben in dem Hause von vornherein ein gesundes Gepräge, 
führt es ja so von selbst auch zu einer verständnisvollen und inter- 
essierten Mitarbeit des Pflegepersonals, in dessen Hand doch zu 
einem nicht unbeträchtlichen Teil die Durchführung aller Heil- und 
Erziehungsinitiativen ruht. 

In Betrieb genommen wurde das Haus mit 10 jugendlichen 
Kranken, welche bis dahin auf anderen Abteilungen der Anstalt 
untergebracht waren; es handelte sich um ruhige Schwachsinnige 
und abgelaufene Psychosen. Die Zahl der Aufnahmen beträgt bis 
jetzt fast 100, davon sind von der Fürsorgebehörde überwiesen 
etwa 50. Es überwiegt stets die Zahl der Beobachtungsfälle, welche 
einen mehr oder weniger ausgeprägten Schwachsinn mit Kriminalität, 
mit Störungen des Trieb- und Gefühls- und Willenslebens bieten, 
während vorläufig noch die Zahl der organisch bedingten Defekt- 
zustände (Chorea, Athetose, Little, Epilepsie, Lues hereditaria usw.) 
gering ist. 

Die Beobachtungsdauer für die Fürsorgezöglinge erstreckt sich 
im allgemeinen über einige Monate, da zur Entscheidung in den 
gestellten wichtigen Fragen für die Zukunft derselben die Ergeb- 
nisse der ärztlichen Untersuchungen und Prüfungen nicht genügen, 
sondern da die Zöglinge auch in ihrem ganzen Denken und Fühlen, 
in ihrer Charaktereigenart durchschaut werden müssen und vor 
allem die Schwankungen, denen solche Jungen erheblich unterworfen 
sind, nur bei einem längeren Aufenthalt und bei einer praktischen 
Beschäftigung festgestellt werden können. Alle Patienten werden 
nach der Biner-Sımon’schen Intelligenzprüfungsmethode untersucht 
und die kriminellen Jugendlichen auch nach der JaKoBsonn’schen 
Gesinnungsprüfung; allerdings müssen bei der Feststellung z. B. der 
Unterrichts-, Erziehungs-, Berufsfähigkeit durchweg praktische 
Gesichtspunkte in den Vordergrund gestellt werden. Kompliziertere 
Fälle werden dem psychologischen Laboratorium der Anstaltsklinik 
zugeführt. Bei allen Jugendlichen werden auch eingehende sero- 


274 RAUTENBERG und GERHARDT, 


logische Blutuntersuchungen gemacht (WASSERMANN, STERN, ÄBDER- 
HALDEN), aus ätiologischen Aufklärungs-, wie auch therapeutischen 
Gründen. 

Der Pädagoge hat aus praktischen und erzieherischen Gesichts- 
punkten alle Zöglinge in 2 Gruppen geteilt, die Schulpflichtigen 
und Schulentlassenen, welche auch räumlich über Tag und Nacht 
getrennt sind. 

Die Kleinen, im Alter von ca. 8—15 Jahren, nehmen den Lehrer 
wohl am meisten in Anspruch, denn bei ihnen ist eine einigermaßen 
einheitliche Veranlagung und Entwicklung in geistiger Beziehung 
nicht vorhanden und deshalb auch eine gemeinsame schulische 
Förderung nicht möglich. Bei ihnen tritt die Forderung auf Einzel- 
unterricht sehr stark hervor, der aber natürlich nicht in dem ge- 
wünschten Maße entsprochen werden kann. Immerhin sind für diese 
Gruppe 3 Unterrichtsabteilungen geschaffen worden. Da die Kinder 
wenig oder gar nicht imstande sind, sich selbständig zu beschäftigen, 
sondern bei jeder Aufgabe ständig überwacht und unterstützt werden 
müssen, ist ein Unterrichten aller zu gleicher Zeit nicht möglich. 
Hier müßte der Lehrer, solange die geringe Zahl der Zöglinge die 
Anstellung einer weiteren Lehrkraft (Lehrerin für die Kleinen und 
die evtl. noch aufzunehmenden Mädchen) zu teuer erscheinen läßt, 
die Pfleger zur Unterstützung bei seiner Arbeit heranziehen können, 
da sonst durch Zersplitterung seiner Zeit und Kraft zu wenig wirk- 
licher Unterricht auf den einzelnen kommen würde. Sonst bieten 
sich hier dem Lehrer dieselben Schwierigkeiten, wie im viel- 
gestaltigen Unterricht an Schwachsinnigen und Epileptikern. Beim 
Unterricht der Älteren im Alter von 15—20 Jahren sind dagegen 
nicht soviel Hemmungen zu überwinden, weil bei ihnen eine größere 
Einheitlichkeit in der Entwicklung besteht. Wenn auch einige von 
ihnen höhere Schulen besucht haben und einzelne sogar die Be- 
rechtigung zum Einjährigendienst erlangt haben, so stehen diesen 
in dem vorgeschrittenen Alter die mit guter Volksschulbildung Ent- 
lassenen an praktischer Lebenserfahrung kaum nach. Durchweg 
wird man aber auch bei diesen den Nachweis einer geistigen Minder- 
wertigkeit führen können. 

Aber nicht nur der Intellekt, sondern auch das Gefühls- und 
Willensleben ist bei ihnen recht verschieden entwickelt. Nicht allen 
eignet soziales Denken und Empfinden; neben dem Asozialen findet 
sich auch der Antisoziale. In ihrem Benehmen zeigen sich große 
Schwankungen, die auf das Unentwickeltsein ihres Charakters zurück- 
zuführen sind. Teils möchten sie schon Erwachsene sein und ver- 


Das Jugendhaus in Friedrichsberg. 275 


suchen sich als solche zu gebärden, teils stecken sie aber noch im 
kindlichen Entwicklungsstadium. Diese Übergangszeit ist wohl die 
schwierigste, die ein Mensch durchzumachen hat, weil ihm zur Er- 
kenntnis seiner Lage noch die nötige Einsicht mangelt. Da geht 
es natürlich nicht ohne Sturm und Drang. Noch steckt man voll 
kindlichem Egoismus, von dem man möglichst viel herüberretten 
möchte in das schöne Land der persönlichen Freiheit des Er- 
wachsenen, und dabei möchte man auch schon so ganz als erwachsener 
Mensch angesehen werden. Man hat schon soviel verdient und 
ebenso schnell oder noch schneller wieder vertan, man hat schon 
sovielerlei Erfahrungen hinter sich und beansprucht auch deshalb, 
wie ein Erwachsener behandelt zu werden. Aber man vergißt oder 
weiß es überhaupt noch nicht, daß das ersprießliche Zusammenleben 
der Menschen nur möglich ist, wenn der einzelne seine Sonder- 
wünsche möglichst dem Allgemeinwohl unterordnet und sozial denken, 
fühlen und handeln lernt. Dazu gehört aber viel Selbstbescheidung 
und Selbstzucht. Die volle Herrschaft über das gesamte Triebleben, 
über das liebe Ich zu bekommen, ist keineswegs eine so leichte 
Sache, die man von heute auf morgen lernen könnte, sie will geübt 
sein. Hierin liegt der kritische Punkt. 

Solange man noch Kind bleibt, ist der kategorische Imperativ 
verkörpert im Willen der Eltern und der Lehrer, der Erwachsene 
soll ihn aber in sich tragen. Nicht selten arten die Entgleisungen 
der sogenannten Flegeljahre ins Krankhafte aus und können dann 
auch unter Umständen zu Dauererscheinungen werden. Das Problem 
der Erziehung Jugendlicher ist noch verhältnismäßig neu, wenigstens, 
wo es sich um die breite Masse der Volksjugend handelt. 

Wenn nun auch dieses Beobachtungshaus für Jugendliche zu- 
nächst wohl für andere Aufgaben als die der Erziehung bestimmt 
ist, so darf man doch erwarten, daß, soweit es unter den gegebenen 
Verhältnissen möglich ist, in ihm auch der Aufgabe der ethischen 
Beeinflussung Rechnung getragen wird. Eine ebenso schwere, wie 
dankbare Arbeit für den Erzieher, in erster Linie für den dazu be- 
rufenen Pädagogen. Als erste Forderung wird man an den Erzieher 
Jugendlicher stellen müssen, daß er Verständnis für dieses Zeitalter 
der Entwicklung besitzt, und daß er den nötigen Takt dafür auf- 
zubringen imstande ist, die natürlichen Unarten als normale Er- 
scheinung anzusehen, wo nötig, Nachsicht zu üben, und anderenfalls 
mit Strenge ungehörige oder gar gefährliche Auswüchse zu unter- 
binden. Nicht jede Ungezogenheit darf ihn in den Harnisch bringen. 
Er muß sich dessen immer bewußt bleiben, daß es sich um Symptome 


276 RAUTENBERG und GERHARDT, 


einer gewissen Entwicklungsperiode handelt, die unter Umständen 
eine recht lange Zeit in Anspruch nehmen kann. Je gestörter das 
seelische Gleichgewicht bei seinen Zöglingen ist, um so ruhiger und 
fester wird der Erzieher sein müssen. Ein großes Maß von Geduld 
und Freundlichkeit, die ein Ausfluß innigster Anteilnahme am 
Geschick und Gedeihen seiner Zöglinge sein müssen, darf von ihm 
gefordert werden. Und wenn in diesem und jenem Falle der Erfolg 
lange auf sich warten läßt oder wohl gar ganz ausbleibt, dann muß 
er gegen eigene Niedergeschlagenheit ankämpfen. 

In dem Hause für Jugendliche ist allerlei Vorsorge getroffen, 
um die in ihm wohnenden Knaben auch erziehlich beeinflussen zu 
können. So wurde schon erwähnt, daß außer einem eigenen Unter- 
richtszimmer auch ein besonderer Arbeits- und Beschäftigungsraum 
vorhanden ist. 

Die Kleinen wie die Großen erhalten, natürlich zu verschiedenen 
Zeiten, Unterricht mit den nicht unbeschränkten Hilfsmitteln einer 
derartigen Station. Im Stundenplan der Kleinen treten Lesen, 
Schreiben, Rechnen und Anschauungsunterricht, der gelegentlich 
draußen erteilt wird, als Hauptunterrichtsfächer auf, während Mo- 
dellieren und Zeichnen sich mit den Beschäftigungen des Flechtens 
und Ausschneidens in die sogenannte Freizeit teilen müssen. Der 
Unterricht der Größeren bezieht sich auf Deutsch, Rechnen, Ge- 
schichte, Geographie und Naturgeschichte. Es liegt auf der Hand, 
daß der Gesinnungsunterricht im Vordergrunde steht; zeitweilig 
werden in freierer Weise auch Besprechungen über Politik, Bürger- 
kunde und soziale Einrichtungen an Hand von Zeitungslektüre ein- 
geschoben. 

Ein Haupterfordernis für eine Station mit einer größeren Anzahl 
älterer Fürsorgezöglinge ist genügende Gelegenheit zu praktischer 
Betätigung und körperlicher Ausarbeitung. Aus diesem Grunde ist 
es sehr erwünscht, daß alle Zöglinge in den Werkstätten der Anstalt 
(Buchbinderei, Tischlerei, Schlosserei, Schuhmacherei, Schneiderei, 
Tapeziererei, Maschinenhaus usw.) zur Arbeit untergebracht werden 
können; es sind auch schon eine ganze Reihe, z. T. mit gutem Erfolg, 
dort beschäftigt worden, jedoch macht in vielen Fällen die Krimi- 
nalität der Zöglinge eine Einstellung in die wichtigen Anstalts- 
betriebe unmöglich. Deswegen ist eine praktische Beschäftigung 
im Hause selbst geplant (Stuhlflechterei und Tischlerei), ferner 
werden ältere Zöglinge auch in Gartenkolonnen mitbeschäftigt; ge- 
plant ist allerdings, unter einer besonderen und fachmännischen 
Leitung, die sich im großen Wartpersonal immer leicht findet, 


Nachdruck verboten. 


Über den heutigen Stand der Erforschung und Behandlung des 
Jugendlichen Schwachsinns. 


Von 
Prof. Dr. phil. et med. W. Weygandt, Hamburg-Friedrichsberg. 


Das letzte Menschenalter hat für die Erforschung des krank- 
haften Seelenlebens bedeutende Errungenschaften gezeitigt und nicht 
minder auch hinsichtlich der Fürsorge hervorragende Kulturfort- 
schritte gebracht. Vielleicht am eindruckreichsten ist der Gegen- 
satz zwischen einst und jetzt auf einem Sondergebiet, das damals 
nur gelegentlich Gegenstand wissenschaftlicher Bestrebungen war 
und hinsichtlich der therapeutischen Seite sich noch zum größten 
Teil auf Wohltätigkeitsunternehmungen ängewiesen sah: das große 
Gebiet des jugendlichen Schwachsinns, der schon in der Kindheits- 
stufe hervortretenden psychischen Defektzustände, die dem werdenden 
Organismus die Möglichkeit der vollwertigen Menschwerdung von 
vornherein abschneiden und auch in leichterer Ausprägung die 
intellektuelle und moralische Reifung in Frage stellen. 

Die psychiatrischen Zeitschriften ums Jahr 1890 weisen ver- 
hältnismäßig wenig Spezialarbeiten aus dem Bereich der Idiotie 
auf; anscheinend haben die makroskopisch erstaunlichen Fälle wie 
Mikro- oder Hydrocephalie oder Kretinismus wohl das Interesse ge- 
weckt, aber die offizielle Psychiatrie ging über die abseits von den 
augenfälligsten Kuriositäten liegenden Probleme in diesem Gebiet 
noch wenig hinaus. Eher regte es sich in den westlichen Ländern, 
wo mehr Ärzte mit der Leitung von Idiotenanstalten betraut waren; 
BOURNEVILLE schloß aus Sektionsbefunden auf die thyreogene Natur 
der Myxidiotie, Keen und LANNELoONGUE gingen in ihren Heil- 
bestrebungen den Fehlweg der Kraniektomie bei Mikrocephalie. In 
unseren gangbarsten Lehrbüchern jener Zeit finden sich die Idiotie 


Über den heutigen Stand der Erforschung und Behandlung usw. 279 


und Imbezillität sozusagen nur anhangsweise, auf wenigen Seiten 
erledigt, meist ohne den Versuch einer Differenzierung der mannig- 
fachen Gruppen. Nur tastend wurde auf Beziehungen zwischen 
Kretinismus und Schilddrüse hingewiesen, so in KrÄpeELin’s Psychiatrie, 
3. Aufl., S. 562; eine viel beachtete Diagnostik erwähnt bei der Er- 
örterung der Sektion eines Kretinenfalles das Hirn überhaupt nicht; 
ein angesehener akademischer Lehrer sprach noch geraume Zeit 
von dieser wichtigen Abnormität als einem Ludus naturae; noch bis 
in das vorletzte Jahrzehnt ließ VırcHuow’s Autorität als Grundlage 
des Kretinismus die Tribasilarsynostose annehmen, während tat- 
sächlich die Verknöcherung bei den Kretinen erheblich verzögert, 
keineswegs verfrüht ist (vgl. historische Übersicht in WxyGanpr, 
„Über Virchow’s Kretinentheorie“, Neurol. Zentralblatt 1904, Nr. 7—9). 

Zum größten Teil beruhten diese Rückständigkeiten darauf, 
daß dem Psychiater nur ausnahmsweise Fälle von Kindheitsdefekten 
vor Augen kamen und die Fürsorge meist nichtärztlichen Helfern 
überlassen blieb. Wohl hatte am 11. Juli 1891 das preußische Ge- 
setz über die außerordentlichen Armenlasten die Landarmenverbände 
verpflichtet, für Bewahrung, Kur und Pflege der hilfsbedürftigen 
Geisteskranken, Idioten, Epileptischen, Taubstummen und Blinden, 
soweit dieselben der Anstaltspflege bedürfen, in geeigneten Anstalten 
Fürsorge zu treffen, und die Jahresversammlung des Vereins deutscher 
Irrenärzte hatte 1893 nach Referaten von SıEemEns und Zınn dieses 
Gesetz dahin ausgelegt, daß nicht unter ärztlicher Leitung und Ver- 
antwortung stehende Anstalten für Geisteskranke, Epileptische, 
Idioten nicht den Anforderungen der Wissenschaft, Erfahrung und 
Humanität entsprechen und nicht als geeignete Anstalten im Sinne 
jenes Gesetzes betrachtet werden können. Tatsächlich war aber 
daraufhin nur in den preußischen Provinzen Brandenburg, Sachsen, 
Posen, Schlesien, Hannover, Schleswig-Holstein teils durch Neu- 
gründung von Anstalten, teils durch Übernahme bestehender An- 
stalten in Provinzialbetrieb dem Gesetz entsprechend eine ärztlich 
geleitete Schwachsinnigenfürsorge eingerichtet worden. Anstalten 
erstanden demgemäß zu Potsdam, Uchtspringe, Langen- 
hagen usw. Mecklenburg hatte die ärztlich geleitete Anstalt 
Lewenberg bei Schwerin. 

Im übrigen zeigten die um die Jahrhundertwende bestehenden, 
etwa 75 Anstalten für jugendliche Schwachsinnige die allermannig- 
fachsten Einrichtungen, fast durchweg unter nichtärztlicher Leitung. 
Es bestanden große Anstalten, durch Private und wohltätige Ver- 
bände errichtet, mit ärztlicher Beihilfe betrieben, wie Kücken- 

Zeitschrift f. d. Erforschung u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns. VIII. 19 


280 W. WEYGANDT, 


mühle bei Stettin, Alsterdorf bei Hamburg, Stetten in 
Württemberg. Dann auch mannigfache geistliche Stiftungen, wie 
Neuendettelsau in Mittelfranken, von der Inneren Mission er- 
richtet, Niedermarsberg in Westfalen vom St. Johannesverein, 
Ursberg, eine katholische Gründung im bayerischen Regierungs- 
bezirk Schwaben. Besonders zu erwähnen waren die vorwiegend 
für Epileptiker bestimmten v. BovenschwingH'schen Anstalten. 
Manche süddeutsche Anstalten hießen offiziell „Kretinenanstalten“. 
Mehrfach hatten unternehmende Pädagogen eine Anstalt errichtet. 
Einige Anstalten umfaßten viele Hundert Insaßen, bis zu mehr als 
Tausend, andere waren sozusagen auf den Familienkreis abgestimmt, 
mit nur ganz wenig Pflegebefohlenen. Vielfach waren Schwachsinnige 
aller Altersstufen vertreten, oftmals auch Geisteskranke anderer 
Art, Epileptische, Schizophrene, selbst Altersblödsinnige. 

Es ist nicht zu leugnen, daß vom psychiatrischen Standpunkte 
manche Beanstandung begründet war. Mit bescheidenen Mitteln, 
die vielfach durch wohltätige Spenden gewonnen waren, wurde ge- 
arbeitet und dementsprechend war der Stand der allgemeinen 
Hygiene im Durchschnitt nicht sehr hoch. Nach Wurrr erfolgten 
in den Schwachsinnigenanstalten 41°, und manchmal noch mehr 
Todesfälle durch Tuberkulose, mehr als doppelt soviel wie in Irren- 
anstalten. Die ärztliche Hilfeleistung war vielfach noch ganz un- 
zulänglich, gewöhnlich war der Dienst einem Arzt nebenamtlich 
übertragen, der keineswegs jeden Tag erschien. Selbst eine mit 
Personal gegen 2000 Köpfe zählende Anstalt bediente sich eines 
3 km entfernt wohnenden Landarztes. Spezialistische Vorbildung war 
Ausnahme. Hpygienisch bedenkliche Einzelheiten konnte man auf 
Schritt und Tritt finden, Ohrblutgeschwülste, Hautdruckbrand usw.; 
Bettnässen verursachte furchtbaren Gestank. Zwangsmittel waren 
mehrfach anzutreffen, Zwangsjacken, Zwangsstühle, Zwangsbänke; 
nicht zu billigende Disziplinarmittel waren in Übung, so wurde 
gelegentlich die Prügelstrafe empfohlen. Manche Straflisten sahen 
bei Unfolgsamkeit Kostabzüge bis zur Entziehung von 2 Mahlzeiten 
vor. Revisionen von seiten einer überwachenden Behörde waren 
vielerorts eine Seltenheit, die gelegentlich eine Reihe von Jahren 
ausblieb. 

Unterricht wurde wohl erteilt, doch nicht gerade intensiv; von 
den 2300 Insassen in Bayern wurden 1902 nur 15,8°, als unter- 
richtsfähig bezeichnet. Am ausgiebigsten war die Fürsorge durch 
Verpflegung und Kleidung. Im allgemeinen war die Kost einfach, 
doch ausreichend. Zweifellos haben die meisten Stifter jener An- 


Über den heutigen Stand der Erforschung und Behandlung usw. 281 


stalten segensreiches erstrebt und auch erreicht, wenn man sich 
die trostlosen Formen der Fürsorge vor der Anstaltserrichtung ver- 
gegenwärtigt, wo beispielsweise hilflose Idioten läusebedeckt in 
Kästen gehalten wurden oder Schwachsinnige öffentlich masturbierten 
und sich den Unterhalt erbetteln mußten. In rührender Weise 
haben manche Hilfskräfte ihr ganzes Leben der Pflege jener „Ärmsten 
der Armen“ gewidmet, unendliche Entsagung und ein riesiges Maß 
humaner, christlicher Liebestätigkeit bedeutet es, wenn manche 
Pflegerin einer geistlich geleiteten, auf das Bescheidenste ausge- 
statteten Anstalt 50 und mehr Jahre unermüdlich, bei äußerst langer 
Arbeitszeit die Schwachsinnigenpflege getrieben hat, wie ich es je- 
weils anerkannt habe (vgl. Weycanpt, Die Fürsorge für schwach- 
sinnige Kinder in Bayern, Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, LX, S. 842). 

Das Bessere bewährte sich freilich auch hier als Feind des 
Guten; immer wieder wurde von psychiatrischer Seite darauf hinge- 
wiesen, daß noch mehr für jene Unglücklichen geschehen müsse, 
wenn man auch im Falle ihrer Unheilbarkeit doch alle erdenkliche 
Sorgfalt ihnen zuzuwenden bestrebt sei. In der Tat haben manche 
psychiatrischen Anstalten und Kliniken wenigstens einer Reihe von 
angeborenen Schwachsinnigen ihre Pforten geöffnet, und in größerem 
Umfange wurden ärztliche, insbesondere auch psychiatrisch gebildete 
Kräfte herangezogen. An manchen Anstalten wurden Jugendabtei- 
lungen angegliedert, so in Haar bei München; Friedrichsberg 
hat ein Haus für Jugendliche, besonders aus der Jugendfürsorge 
überwiesene, ferner eine Kinderabteilung in der offenen Station. für 
Psychisch-Nervöse, und schließlich auf andere Stationen verteilt 
zahlreiche Fälle schwererer Defektzustände aus dem Jugendalter. 

Die wissenschaftliche Erforschung jenes dunklen Gebiet machte 
bedeutsame Fortschritte, mindestens in dem gleichen Tempo, wie 
die Fortschritte der Psychiatrie überhaupt. Die histologische Prüfung, 
leider durch die Schwierigkeit der Beschaffung von Sektionsmaterial 
behindert, hat doch in systematischer Weise das Wesen rätselhafter 
Abnormitäten aufgeklärt. Bestimmte Formen, die man vor einem 
Menschenalter noch nicht kannte, haben sich in gleicher Weise unter 
der klinischen und mikroskopischen Forschung herausgebildet, wie 
die amaurotische Idiotie, die taberöse Sklerose, der Mongolismus usw. 
Die Serumforschung hat die bedeutende Rolle der Syphilis für die 
Entstehung jugendlicher Schwachsinnsformen gelehrt, wodurch sich 
alsbald auch neue Behandlungswege eröffneten. Als besonders be- 
deutsam erwies sich die Anwendung der Lehre von der inneren 
Sekretion; es fiel Licht auf den Kretinismus und durch die Schild- 

19* 


282 W. WEYGANDT, 


drüsenbehandlung, die auch bei endemischen Formen durch v. WAGNER 
in Steiermark, von mir in Unterfranken usw. erfolgreich angewandt 
wurde, sind vielfach erstaunliche und bei sporadischen Fällen 
geradezu wunderbare Ergebnisse gezeitigt worden; daneben hat 
sich .eine mannigfache Reihe besonderer Formen endokrin bedingter 
Entwicklungshemmungen ergeben, wie die Adiposogenitaldystrophie, 
die Akromegalie mit Schwachsinn, die pluriglanduläre Insuffizienz. 
Bedeutsam aufklärend wirkte die Lehre vom Infantilismus durch 
anderweitige, entwieklungsstörende Umstände, wie Infektion, Gift, 
innere Krankheiten usw. Auch Hirnprozesse, die für gewöhnlich 
die späteren Jahre befielen, sah man ausnahmsweise die Entwicklung 
des jugendlichen Geistes stören. In jüngster Zeit lernte man die 
unheimliche Bedeutung der anscheinend durch Grippe bedingten 
Hirnentzündung mit ihrer Störung der Ganglien des Hirngrundes 
für die jugendliche Entwicklungshemmung erkennen. 

Der deutsche Verein für Psychiatrie hat nach einem von mir 
am 28. April 1905 erstatteten Referat über Idiotie!) nach ihren 
wissenschaftlichen Grundlagen und nach dem Stand der Fürsorge 
einen Ausschuß hervorragender Kenner des Gebietes eingesetzt, der 
weiterhin aufklärend zu wirken strebte Auch die vorliegende 
„Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen 
Schwachsinns“ bemühte sich, in der Richtung einer psychiatrisch be- 
leuchteten Fürsorge und einer mit allen Hilfsmitteln der Wissen- 
schaft eindringenden Prüfung der schwierigen Probleme fördernd 
zu wirken. Wenn ihr Abnehmerkreis auch nicht sehr groß wurde, 
hat sie doch in weitesten Kreisen ernstliche Beachtung gefunden 
und namentlich auch die Zustimmung ausländischer Gelehrter er- 
langt und hat manchen zur Mitarbeit angeregt. Erfreulicherweise 
kommt auch in der Schriftleitung des ältesten Organs im Bereich 
des Jugendschwachsinns, der jetzigen Zeitschrift für die Behandlung 
Schwachsinniger, der ärztliche Standpunkt seit Jahren klarer und 
gewichtiger zur Geltung. 

Nicht nur in der Literatur und auf den Versammlungen der 
Psychiatrie und der Neurologie und selbst der allgemeinen Medizin 
werden Probleme aus dem Bereich der Schwachsinnigenforschung 
häufiger erörtert, sondern auch in den Versammlungen des Vereins 
für Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher werden 
ärztliche Beiträge wesentlich häufiger geboten und mit Interesse 
entgegengenommen. Mehrfach sind auch besondere Kurse über das 
Schwachsinnigenwesen veranstaltet worden, so von SOMMER in Gießen. 


1) WEYGANDT, Über Idiotie. Verlag Marhold, Halle 1905. 


Über den heutigen Stand der Erforschung und Behandlung usw. 283 


Über den Umfang der Literatur, die sich den Problemen des 
jugendlichen Schwachsinns widmete, konnte man an sich nicht 
klagen. Der größere Teil war für Nichtärzte bestimmt, einzelnes 
zeigte vorwiegend homiletische Züge. Manche Erscheinungen, wie 
die „Hilfsschule“ spiegelten besondere Einrichtungen und Bestrebungen 
dankenswert wieder, gab doch überhaupt die Entwicklung des Hilfs- 
schulwesens für Schwachbefähigte den Beweis, daß wenigstens für die 
Mittelstufe der jugendlich Defekten in Deutschland besonders gut ge- 
sorgt ist, ebenso wie auch die zahlreiche psychisch defekte Kinder ein- 
schließende Fürsorgeerziehung im Anschluß an $ 1666 des Bürgerlichen 
Gesetzbuchs eine bedeutende Ausdehnung und Vertiefung erfahren hat. 

Der Anschluß der Veröffentlichungen an die streng wissenschaft- 
liche Literatur wurde nicht immer gewahrt, konnte doch noch vor 
wenigen Monaten ein Mitarbeiter der „Hilfsschule“ in geradezu 
rührender Ahnungslosigkeit davon sprechen, der Verfasser dieser 
Zeilen kenne nur eine graduelle Einteilung der jugendlichen Defekt- 
zustände! Es ist leicht nachzuweisen, daß das Gegenteil das Richtige 
ist und niemand in der Gruppierung des jugendlichen Schwachsinns 
nach ätiologisch-klinischen Familien soweit ging wie ich, sind doch 
nach meinen neuesten Einteilungen etwa 50 verschiedene Formen 
des jugendlichen Schwachsinns aufzustellen! 

Es sei eingefügt, daß sich zurzeit von Gruppen jugendlicher 
Schwachsinns- und Defektzustände, die ursächlich-klinisch sämtlich 
zu unterscheiden sind, folgende, auf Vollständigkeit keinen Anspruch 
erhebende Liste aufstellen läßt: 

1. Geistige Entwicklungshemmung durch Erziehungsmangel. 


2. $ i „  Sinnesmangel. 

3. Angeborene Hirnentwicklungshemmung, Anencephalie. 

4. ð “ ‚ Mikrencephalie. 

5. Angiodystrophia cerebri (Ranke). 

6. Entzündliche Hirnentwicklungsstörung, Mikrencephalie. 

7. Lokale entzündliche Hirnentwicklungsstörung, Porencephalie. 

H j S ‚ atrophische Sklerose. 
1 — 2 x A , striäre Encephalitis. 
10. 1 ‚ Meningoencephalitis. 


11. Hydrocephalie. 

12. Amaurotische Idiotie. 

13. Tuberöse Sklerose. 

14. Diffuse Gliose. 

15. Mongoloide Degeneration. 
16. Dystrophischer Infantilismus. 


nf 


wm 


284 W. WEYGANDT, 


17. Kardialer Infantilismus. 

18. Toxischer Infantilismus. 

19. Infektiöser Infantilismus. 

20. Idiotia thymica. 

21. Hyperthyreoidismus. 

22. Sporadischer Hypothyreoidismus. 

23. Endemischer Hypothyreoidismus, Kretinismus. 
24. Strumöser Schwachsinn. 

25. Strumiprive Degeneration. 

26. Dysgenitalismus. 

27. Akromegaler Schwachsinn. 

28. Hypophysärer Schwachsinn mit Zwergwuchs. 
29. Dystrophia adiposogenitalis. 

30. Dysadrenalismus. 

31. Pluriglanduläre Insuffizienz. 

32. Athetoide Demenz. 

33. Syphilidogene Idiotie. 

34. Syphilidogener Hydrocephalus. 

35. Infantile Paralyse. 

36. Alkohologener Jugendschwachsinn. 

37. Choreatische Jugendentwicklungsstörung. 
38. Epilepsie mit Schwachsinn. 

39. Chondrodystrophischer Schwachsinn. 

40. Schwachsinn bei Turmschädel. 

41. Dementia praecox vor der Pubertät. 

42. Dementia infantilis (praecocissima). 

43. Manischdepressive Psychose in der Kindheit. 
44. Neurasthenie in der Kindheit. 

45. Hysterische Degeneration in der Kindheit. 
46. Sclerosis multiplex in der Kindheit. 

47. Westphal-Strümpell’sche Pseudosklerose. 
48. Friedreich’sche Ataxie mit Schwachsinn. 
49. Traumatische Idiotie. 

Welche Änderung haben nun der alles zermalmende Krieg 
und die Revolution gebracht? Zunächst wurde selbstverständlich 
die wissenschaftliche Bearbeitung unterbrochen. 

Kriegseinflisse kamen auch bald bei den Schwachsinnigen- 
anstalten zur Geltung. Verhältnismäßig unschwer ließ sich männ- 
liches Pflegepersonal durch weibliches ersetzen. Aber entsprechend 
dem Anschwellen des Liebesgabenstroms für die Soldaten flossen 
die Spenden für die Schwachsinnigen spärlicher. Die Ernährung 


Über den heutigen Stand der Erforschung und Behandlung usw. 285 


wurde einfacher und knapper, wenn schon die selbstbetriebene 
Landwirtschaft vielen Anstalten noch eine ziemlich günstige Lebens- 
haltung ermöglichte. Rührend, wie nach dem Bericht einer der 
bedeutendsten Schwachsinnigenanstalten die Zöglinge aus der Pferde- 
krippe den dem karger gewordenen Pferdefutter beigemischten ge- 
färbten Zucker herausnaschten. Die Milchlieferung ging zurück, 
Reis fiel fast ganz aus, auch Gries, Haferflocken und andere, für 
die jüngeren Stufen besonders wertvolle Nahrungsmittel wurden 
knapper. Die Steckrübe mußte über viele Not hinweghelfen. 
Marmeladenkrätze trat auf; die Ziffern körperlicher Erkrankung, 
besonders an Tuberkulose, stiegen, der durchschnittliche Tages- 
bestand an bettlägerigen Kranken in Großhennersdorf betrug 
1914 3,4°%,, 1916 11,3%, 1918 13,28%. 

Die Sterblichkeitszitfer wuchs beträchtlich, doch im allgemeinen 
nicht mehr, als bei den öffentlichen Irrenanstalten. Soziale Er- 
wägungen darüber, daß mit Aufbietung aller Hilfsmittel die zeit- 
lebens für die menschliche Gesellschaft Wertlosen erhalten wurden, 
während die tüchtigsten Söhne Deutschlands im Felde verbluteten 
sind für den ärztlichen Standpunkt nicht zulässig. Im allgemeinen 
haben die Schwachsinnigenanstalten die harten Kriegsjahre relativ 
günstig ertragen. Zweifellos spielt bei den Toodesfällen die Unter- 
ernährung eine Rolle, auch Hungerödem trat gelegentlich auf; ein 
18jähriger Schwachsinniger, 172 cm groß, starb mit 35,5 kg Ge- 
wicht. In Scheuern wurden 1917 nicht weniger als 53,5%, der 
Todesfälle durch Tuberkulose bedingt. Von wissenschaftlichem 
Standpunkt ist zu bedauern, daß nicht wenigstens die Hirne der 
bedauernswerten Opfer der Hungerblockade der mikroskopischen 
Durchforschung zugänglich wurden. 

Nach dem Kriege hob sich der körperliche Gesundheitszustand 
wieder beträchtlich; die Ziffer der Todesfälle in Lewenberg- 
Schwerin war während des Friedens gewöhnlich unter 10 geblieben, 
im Kriege stieg sie an, 1915/16 auf 21, 1918/19 auf 46, um dann 
wieder erheblich zu sinken. In Alsterdorf sanken die Todesfälle 
von 155 im Jahre 1917 und 100 im Jahre 1919 auf 62 im Jahre 1920. 

Eine andere Gefahr erhebt sich nunmehr für viele Anstalten, 
die ungeheure Teuerungswelle. Insofern freilich sind die Privat- 
anstalten noch günstiger daran gegenüber den öffentlichen, als jene 
hinsichtlich des Personals noch nicht mit den in öffentlichen Be- 
trieben vielfach vorgeschriebenen Bestimmungen Schritt halten müssen. 
Weder die 48-Stundenwoche, noch die Lohnstufen werden von dem 
Personal an privaten, vor allem auch unter geistlichem Einfluß stehenden 


286 W. WEYGANDT, 


Anstalten gefordert. Die in öffentlichen Anstalten neuerdings er- 
wachsenden Schwierigkeiten sind so bemerkenswert, daß gerade 
von psychiatrischer Seite, die früher dem Ordenspersonal ablehnend 
gegenüberstand, weil unter diesem System der ärztliche Einfluß 
nicht hinreichend gesichert schien, gegenwärtig ein anderer Stand- 
punkt vertreten wird; auf der Jahresversammlung des Vereins 
bayrischer Psychiater 1921 lautete ein Leitsatz: „Die Pflege durch 
wejbliches Ordenspersonal ist dem bisherigen Pfleger- und Pflege- 
rinnensystem überlegen“. Dieser Punkt ist für die Schwachsinnigen- 
pflege von besonderer Wichtigkeit. Die wachsenden finanziellen 
Schwierigkeiten werden manche Anstaltsverwaltung vor die Frage 
stellen, ob sie nicht ihren Betrieb einer wirtschaftlich stärkeren 
Instanz käuflich übertragen soll, wie es früher aus anderen Gründen 
seitens mancher Anstalten geschah, so indem die Schleswiger Anstalt 
an die Provinz überging. Wie ernst die Lage jetzt geworden ist, 
zeigt sich daraus, daß tatsächlich schon außer zahlreichen kleineren, 
privaten Anstalten auch die Landeserziehungsanstalt für schwach- 
sinnige Kinder in Dessau und die 580 Pfleglinge fassende Idioten- 
anstalt Wilhelm- und Augusta-Stift in Liegnitz aus finanziellen 
Gründen aufgehoben wurden. Würde aus Geldnot nun ein Übergang 
einer Privatanstalt an den Staat ohne weiteres erfolgen, so wären 
durch die Änderungen hinsichtlich des Personals noch ganz besonders 
starke Steigerungen der Unkosten zu erwarten. Die Bedenken er- 
scheinen nicht unbegründet, daß daraufhin nach anderer Richtung 
intensiver gespart werden müßte und schließlich die Pfleglinge etwa 
durch Kostvereinfachung und andere Umstände ungünstige Folgen 
eines solchen Wandels zu tragen hätten. Um solche Folgen zu ver- 
hüten, dürfte vorkommenden Falles der Ausweg rationeller sein, daß 
seitens öffentlicher Instanzen größere wirtschaftliche Beihilfen an 
die Anstalten überwiesen würden, ohne daß der Betrieb in jener 
die Kosten gewaltig steigernden Weise, wie bei den öffentlichen 
Anstalten, geändert zu werden brauchte Die Beibehaltung des 
ordens- und vereinsmäßig inkorporierten Personals, das seinen Dienst 
vielfach unter dem Gesichtspunkte christlich-caritativer Liebes- 
tätigkeit ausübt und auf die modernen Forderungen keinen An- 
spruch erhebt, erscheint unter den obwaltenden Verhältnissen als 
der günstigere Weg für das Wohl der Pfleglinge, auf das es ja 
doch in erster Linie ankommt. 

Sehr wohl aber könnte bei entsprechenden Vereinbarungen 
zwischen den Anstalten und den behördlichen, um Unterstützung 
angegangenen Instanzen doch von letzteren ausbedungen werden, 


Über den heutigen Stand der Erforschung und Behandlung usw. 287 


daß der ärztlichen Beratung und Überwachung ein größerer Einfluß 
als bisher gewährt werde. Die Fortschritte der ärztlichen Wissen- 
schaft in Erkennung und auch Behandlung der jugendlichen Defekt- 
zustände lassen es dringend ratsam erscheinen, daß die bisher noch 
immer unzulängliche Fühlungnahme mit den Fachärzten enger und 
ergiebiger wird. Ohne allzu große Schwierigkeit könnte in dieser 
Richtung schon gewirkt werden, wenn bei Todesfällen den Fach- 
ärzten öfter Gelegenheit zur wissenschaftlichen Prüfung der Schwach- 
sinnsformen gegeben wird, indem ihnen die Obduktion und mikro- 
skopische Untersuchung des Hirns ermöglicht wird. Eine Reihe 
wissenschaftlicher Institute ist jederzeit bereit, hier helfend einzu- 
greifen. Wir haben im Anschluß an die Staatskrankenanstalt 
Friedrichsberg und Psychiatrische Universitätsklinik Hamburg, die 
selbst über zahlreiche Insassen aus dem Bereich des jugendlichen 
Schwachsinns verfügt, ein großes hirnanatomisches Forschungs- 
institut, das jederzeit bereit ist, bei vorkommenden Fällen in nicht 
zu großer Entfernung selbst die Hirnobduktion vorzunehmen oder 
aber das herausgenommene Hirn, das lediglich in übersandte 
Konservierungsmittel eingelegt zu werden braucht, der genauesten 
wissenschaftlichen Prüfung zu unterziehen und der betreffenden 
Anstalt über das Ergebnis zu berichten; ebenso ist unser serologisches 
Laboratorium jederzeit zu eingehendster Prüfung von Blutserum, 
Liquor usw. nach WASSERMANN, ÄBDERHALDEN USW. bereit. 
Erwähnt sei, daß die erhöhte Sterblichkeit der Schwach- 
sinnigenanstaltsinsassen im Laufe des Krieges wenigstens die vieler- 
orts geläufige Überfüllung der Anstalten abgestellt hat. Neubauten 
wären zurzeit ja auch wegen der ungeheuren Kosten nicht auszu- 
führen. Auch in künftigen Jahren wird man darauf gefaßt sein 
müssen, daß nur in der einfachsten Weise gebaut werden kann, 
höchstens Fachwerkbauten oder in Barackenform. Ernst genug 
sind die Aussichten, denn die jetzigen Lücken in den Reihen der 
Anstaltsinsassen werden doch im Laufe der Zeit wieder ausgefüllt 
werden. Daß die Zahl der Schwachsinnigen wächst, ist leider zu 
erwarten. In dieser Richtung ergeben sich schwere Sorgen aus der 
Zunahme der Syphilis während des Krieges und seiner Folgejahre, 
ferner aus der nach dem Kriege mit unheimlicher Wucht ein- 
setzenden Zunahme des Alkoholismus. Es sieht leider nicht danach 
aus, als ob angesichts der Lebensart der heutigen Menschheit, die 
den 20-jährigen schon Anspruch auf Mitbestimmung in allen öffent- 
lichen Angelegenheiten gibt, aber unter Mißachtung dessen, was 
Geistes- und Körperkultur fordert, sich zu den oberflächlichsten, 


288 W. WEYGANDT, 


schädlichsten Genüssen hindrängt, wenigstens die heranwachsende 
Jugend die denkbar günstigste Förderung finde. Wohl ist nach 
Artikel 120 der Reichsverfassung die Erziehung des Nachwuchses 
zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit oberste 
Pflicht der Eltern, worüber die staatliche Gemeinschaft wachen 
soll, und nach Artikel 122 ist die Jugend gegen Ausbeutung, sowie 
gegen sittliche, geistige und körperliche Verwahrlosung zu schützen. 
Die Wirklichkeit zeigt aber bedrohliche Bilder, die Verwahrlosung 
ist in jäher Zunahme begriffen und grauenvoll steigt die Kriminalität, 
Genußsucht und Verwilderung der Jugend. Kennzeichnend ist die 
Gründung eines „Vereins ehemaliger Fürsorgezöglinge* in Hamburg, 
dessen Organ „Die Stimme“ sich mehr durch anspruchvolles Auf- 
treten, als durch Verständnis für die Tiefe des Problems bemerklich 
macht. Sowohl die Fürsorgeerziehung wie auch die Jugendgerichte 
haben immer schwerere Aufgaben zu bewältigen; die Fälle der 
Berliner Jugendgerichtshilfe stiegen von 1914—1918 folgendermaßen: 
1131, 1413, 2681, 3158, 4687! Aber noch dämmert keine Aussicht 
auf Besserung, ja nur auf Einsicht bei größeren Volksmengen und 
ihren Führern. Der Kongreß für alkoholfreie Jugenderziehung 
21.25. Mai 1922 in Berlin enthüllte traurige Bilder. Der intellek- 
tuelle und ethische Gesamtdurchschnitt unserer Jugend droht be- 
trächtlich zu sinken. 

Vor 15 Jahren begann diese Zeitschrift ihren Weg, um die 
Erkenntnis und Behandlung der seelischen Mängel des Jugendalters 
auch vom ärztlichen wissenschaftlichen Standpunkte kraftvoll zu 
fördern. Trotz mannigfacher Schwierigkeiten, die vor allem durch 
den Krieg gesteigert wurden, ist es gelungen, manche wertvollen 
Beiträge zu liefern, und die Helfer des Werkes können sich mit 
ruhigem Gewissen vergegenwärtigen, an der Hebung der Schwach- 
sinnigenfürsorge ein gut Teil mitgearbeitet zu haben. Die Not 
unserer Zeit zwingt zu dem Eingeständnis, daß der Verlag das 
dankenswerte Opfer, das er bisher mit hohem Verständnis und edler 
Begeisterung für die Wissenschaft, insbesondere auch für die von 
der Zeitschrift gepflegten Forschungen gebracht hat, unter den 
gegenwärtigen Verhältnissen nicht weiter zu tragen vermag. In 
dem Zeitpunkte, in dem diese Zeitschrift ihr Erscheinen einstellt, 
ist ein kritischer Abschnitt in der Schwachsinnigenfürsorge erreicht. 
Die ärztliche Erforschung des Wesens und der Behandlungsmög- 
lichkeit der schwereren Defektzustände gibt günstige Aussichten, 
deren Verwirklichung freilich des engen Handinhandarbeitens 
zwischen Wissenschaft und praktischer Fürsorge bedarf; die degene- 


Über den heutigen Stand der Erforschung und Behandlung usw. 289 


rativen Formen jugendlicher Defektzustände allerdings erscheinen 
dem gegenüber in bedrohlicher Zunahme begriffen. Die humane 
Liebestätigkeit, die im vorigen Jahrhundert die Schwachsinnigen- 
anstalten vorwiegend geschaffen hat, wird nicht ausreichen, dieser 
Gefahr zu begegnen. Von sachkundiger, insbesondere psychiatrischer 
Seite wird ernstlich auf die wachsende Not hingewiesen. Mögen 
diejenigen, die die Verantwortung für die kulturelle Führung des 
deutschen Volkes übernommen haben, sich darüber klar werden, 
welche hohe Bedeutung den psychiatrischen Problemen der Er- 
forschung und Fürsorge jugendlicher Defektzustände für die Ge- 
sundheitslage und Geisteshöhe des gesamten Volkes innewohnt. So 
wie es keinen drastischeren Beleg gegen die kommunistische Irr- 
lehre von der absoluten Gleichheit aller Menschen gibt, als den 
Hinweis auf die von Natur völlig asozialen Idioten, so findet sich 
auch kein Arbeitsgebiet, auf dem sich edelste Humanität so rein 
altruistisch betätigen kann, wie in der Schwachsinnigenfürsorge. 


+. + 








G. Pätz’sche Budıdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a.d.S. 


"EB Paychoteg; 
ZEITSCHRIFT 


FÜR DIE ERFORSCHUNG UND BEHANDLUNG 


JUGENDLICHEN SCHWACHSINNS 


AUF WISSENSCHAFTLICHER GRUNDLAGE 


Zentralorgan für die gesamte wissenschaftliche Forschung, Anatomie, Klinik und 

Pathologie des jugendlichen Schwachsinns und seiner Grenzgebiete, für die 

Fragen der Fürsorge und Behandlung der Schwachsinnigen, für die Fürsorge- 

erziehung, für die Organisation der Hilfsschulen und Anstalten, für die ein- 

schlägigen Gebiete der Kriminalistik und forensischen Psychiatrie und der 

Psychologie mit besonderer Berücksichtigung der normalen und pathologischen 
Geistesentwicklung im Kindesalter 


UNTER MITWIRKUNG VON 


ALT ANTON BINSWANGER HOCHE KELLER 
UCHTSPRINGE HALLE a. S. TENA FREIBURG i. B. BREJNING-DÄNEMARK 
RANSCHBURG SIEMERLING SOMMER TUCZEK 
BUDAPEST KIEL GIESSEN MARBURG 


VOGT ZIEHEN 
WIESBADEN HALLE a. S. 


HERAUSGEGEBEN UND REDIGIERT 


VON 
DR. meD. ET PHIL. W. WEYGANDT uno DR. meo. C. KLEEFISCH 
PROFESSOR, DIREKTOR DER PSYCHIATR. KLINIK UND OBERARZT DES FRANZ. GE HAUSES 
STAATSKRANKENANSTALT FRIEDRICHSBERG -HAMBURG IN ESSEN-HUTTRO! 


ACHTER BAND. VIERTES HEFT 3 Schlussheit, 
MIT 1 ABBILDUNG IM TEXT 


SEMPER 





JENA 


VERLAG VON GUSTAV FISCHER 
1922 





Verlag von Gustav Fischer In Jena. 


Psychologisches Praktikum 


Leitfaden für experimentell-psychologische Uebungen. 


Von 


Dr. R. Pauli, 


a o Professor an der Universität München. 
Zweite, verbesserte Auflage. 


Mit 96 zum Teil farbigen Abbildungen und 4 Tafeln im Text. 
(XVI, 236 S. gr. 8°.) 1920. Mk 18.—, geb. Mk 25.—. 


Inhalt: 1. Einleitung. 2, Psychophysik, 3. Haut- und Muskelempfindungen. 
4. Geruchs- und Geschmacksempfindungen. 5. Gehörsempfindungen. Der statische 
Sinn. 6. Lichtempfindungen. 7. Die Wahrnehmung. 8. Die Raumanschauung; Ge- 
stalt- und Bewegungssehen. 9. Die Zeitauffassung. 10. Die Enge des Bewußtseins, 
Aufmerksamkeit und Denken. 11. Das Gedächtnis. 12. Die Gefühle. 13. Der Wille; 
Psychophysik der Arbeit. 14. Traum und Hypnose. — Stichwortverzeichuis. 


Für jede Wissenschaft bedeutet das Praktikum — neben der Vorlesung — 
den wichtigsten Unterrichtszweig. Die neuzeitliche Psychologie hat sich seit der 
Vervollkommnung ihrer Methode etwas Aehnliches geschaffen in Gestalt der „Ein- 
führungskurse in die experimentelle Psychologie“. Es fehlte jedoch bisher für solehe 
Uebungen ein geeigneter Leitfaden, wie ihn andere Wissenschaften längst besitzen, 
Diesem Mangel sell das vorliegende Buch abhelfen. 


Die Auswahl des Stofles geschah in der Absicht, zunächst nur die wichtigsten, 
anerkannten Tatsachen, d.h. also nicht einen möglichst vollständigen, sondern einen 
möglichst zweckmäßig ausgewählten Inhalt zu bringen. Anders verhält es sich mit 
den Methoden: hier ist eine gewisse Vollständigkeit angestrebt worden, denn die 
Frage nach der Methode ist immer noch eine, wenn nicht die Grundfrage der Psycho- 
logie. Und gerade das Praktikum hat den Zweck, seine Teilnehmer mit den 
methodischen Einzelheiten bekannt und vertraut zu machen, die eine Vorlesung nicht 
zu geben vermag. Bei der Bearbeitung des Buches ist nicht nur an den Psychologen 
und Philosophen, sondern auch an den Pädagogen und den Arzt, kurz an die an- 
gewandte Psychologie im weitesten Sinne des Wortes gedacht. Durch eine streng 
sachliche’ Darstellung der grundlegenden Methoden und Tatsachen soll mehr und 
mehr eine einheitliche Grundlage und ein gesicherter Ausgangspunkt für alle diese | 
Anwendungsgebiete und Forschungsrichtungen geschaffen werden. So wird der Leit- 
faden dem Leiter wie dem Mitglied des Kurses viel kostbare Zeit sparen und dem 
letzteren manche Ergänzung sowie weitergehende Anregungen bieten. Als beste 
Empfehlung darf wohl angeführt werden, daß die erste Auflage innerhalb 
neun Monaten vergriffen war. — 

Die neue Auflage weist gegenüber der ersten eine Reihe von Aenderungen auf. 
Der einleitende Abschnitt ist gründlich umgearbeitet; das gleiche gilt von ver- 
schiedenen Versuchen, so von dem Nachweis des Weber’schen Gesetzes, der Messung 
der Müller-Lyer’schen Täuschung, von den Versuchen über die Wohlgefälligkeit 
von Farben u.a. Neu aufgenommen wurden Versuche über Geruchsadaptation, Ge- 
schinackskontrast, den statischen Sinn, die Gedächtnisfarben, das Bewegungssehen, 
das Rhythmuserlebnis und die Phantasietätigkeit. Sonstige Ergänzungen betreffen 
die Fragebogenmethode, die Intelligenzprüfung und die Behandlung der Regressions- 
linien bei der Korrelationsrechnung. 





Verlag von Gustav Fischer in Jena. 


Die Preise erhöhen sich durch die auf 8.2 des Umschlags angegebenen Teuerungszuschläge, 














Die geistige Entwicklung des Kindes. yon KarıBühler, 
A. 0, Prof. a. d. Univ. München. Mit 26 Abbild. im Text. (XVI, 378 S. gr. 8.9) 
1918. e Mk 10.— 


Inhalt: I. Einleitung. 1. Ueber die Geschichte, den Gegenstand und die 
Methoden der Kinderpsychologie. 2. Ueber die körperliche Entwicklung des Kindes. — 
II. Die Entwicklung des Seelenlebens. 3. Ueber die Bewnßtseinsvorgänge des 
Neugeborenen. 4. Die Entwicklung des aktiven und zweckmäßigen Gebrauchs der 
Sinne. 5. Ueber die ersten Gedächtnisleistungen. 6. Die ersten Gefühle und Affekte, 
7. Die ersten Willensakte. — III. Die Entwicklung der Raum- und Zeitanschauung 
und der Auffassungsfunktionen. 8. Die Ausbildung der Raumanschanung und 
der Zeichenanschauung. 9. Das Vergleichen und die Relationswahrnehmung. 
18. Aufmerksamkeit und Abstraktionsleistungen. 11. Die Zahlwahrnehmungen, das 
Zählen und das Rechnen. 12. Ueber die Dingauffassungen und andere „kategoriale* 
Formungen der Wahrnehmungsinhalte. — IV. Die Entwicklung der Sprache. 
13. Zur Phonetik der Kindersprache. 14. Die Entwicklung der Wortbedentungen. 
15. Ueber den Erwerb der Wortformen. 16. Die Entwicklung des Satzes und der 
Satzgefüge. — V. Die Entwicklung des Zeichnens. 17. Die Vorstadien. 18. Das 
Schema. 19. Das erscheinungstreue Bild. 20. Das Zeichnen und die Sprache. Die 
- völkergeschichtliche Parallele zu den Kinderzeichnungen. — VI. Die Entwicklung 
der Vorstellungsfähigkeit. 21. Ueber die Erinnerungen und andere höhere Ge- 
dächtnisleistungen des Kindes. 22. Die Phantasietätigkeit des spielenden Kindes, 
23. Ueber das Märchenalter des Kindes und die literarpsychologische Analyse der 
Kindermärchen. 24. Die Märchenphantasie des Kindes. — VII. Die Entwicklung 
des Denkens. 25. Zur Analyse der Denkprozesse. 26. Ueber das vorsprachliche 
Denken des Kindes. 27. Ueber das sprachliche Denken des Kindes. 28. Biologische 
Betrachtungen. — VIII. Ueber die Gesetze und Ursachen der geistigen Ent- 
wicklung. 29. Ueber allgemeine Entwicklungsregeln. 30. Ueber die Vererbung 
körperlicher und seelischer Anlagen. 31. Die Be des Spieles in der geistigen 
Entwicklung des Kindes. — Namenverzeichnis. Sachverzeichnis. 


— Die zweite, vermehrte und umgearbeitete Auflage befindet sich im Druck. — 


Die Hilfsschule, XI. Jahrg. 1918, Heft 8: 

.'. . bietet. dem Interessenten die Möglichkeit, einen umfassenden Ueberblick 
und tiefen Einblick in den gegenwärtigen Stand. der Kinderpsychologie und in das 
bis jetzt in ih rErreichte zu gewinnen. In wahrhaft glänzender Weise arbeitet der 
Verfasser überall die zahlreichen vorliegenden Probleme heraus, legt dar, was zu 
ihrer Lösung bereits geschehen ist und was noch geschehen muß und weist auf 
viele neue Aufgaben hin, die die Wissenschaft noch zu bewältigen hat... .. Das 
Werk muß als eine ganz hervorrägende Leistung bezeichnet werden, die 
außerdem angesichts der gewaltigen Fortschritte der Kinderpsychologie seit dem 
Erscheinen des zusammenfassenden Werkes von Compayr& einem gewiß von vielen 
lebhaft empfundenen Bedürfnisse Rechnung trägt. 


Die seelische Krankenbehandlung (Psychothera- 


pie). Ein Grundriß für Fach- und Allgemeinpraxis von Dr. med LR. 
Schultz, Assistent der Psychiatrischen Klinik (Geh. Rat Binswanger) und 
Privatdozent der Universität Jena. Mit 12 Kurven im Text. (XII, 348 § gr. 8°.) 
1919. Mk 16.—, geb. Mk 19.— 
Inhalt: I. Die Möglichkeiten der Psychotherapie. 1. Psychologische 
Orientierung. 2. Die Wege zur Psychotherapie. — II. Die Methoden der Psycho- 
therapie. 3. Populär-Psychotherapie. 4. Die Hypnotherapie, 5. Die Psychoanalyse. 
6. Allgemeine Wachpsychotherapie. 7. Die Heilpädagogik. — III. Besondere Aufgaben 
allgemeiner Art der Psychotherapie. 8. Empfindungs- und Vorstellungsstörungen. 
9. Affektive Störungen. 10. Denkstörungen. 11. Willens- und Bewußtseinsstörungen. 
12. Somatische Störungen. 13. Persönlichkeitsfrage. 14. Psychopathologische Typen. 
15. (Anhang) Massenpsychotherapie. — IV. Das Ziel der Psychotherapie. — Sach- 
und Autorenverzeichnis, 
Die zweite Auflage befindet sich im Druck. 








G. Pätz'sche Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. 8. 



























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